Napoleon I.
August Fournier
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Napoleon I
Eine Biographie
von
August Fournier.
Dritter Band:
Die Erhebung der Nationen und Napoleons Ende.
Zweite, umgearbeitete Auflage.
WIEN. LEIPZIG.
F. TEMPSKY. m^B G. FREYTAU.
1906.
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Alle Rechte vorbehalten.
Druck Ton Rudolf M. Rohrer in Brünn.
Inhalt
Erstes Kapitel: Im Zenith (1810—1812)
Der Widerstand der Nationen. Pius VII. Bannfluch.
Seine Überführung nach Savona. Die Einverleibung des
Kirchenstaates. Das Konzil des Empire. Europa und das
Papsttum. Der Volkskrieg auf der spanischen Halbinsel. Ein-
verleibung des Landes bis zum Ebro in Frankreich. Napoleon
und Joseph. Massenas Expedition nach Portugal. Warum
Napoleon das Kommando nicht übernahm. Der Handels-
krieg mit England. — Die Kontinentalsperre als Kampf-
mittel der Revolution. Napoleon und die Schiffe der
Neutralen. Das Edikt von Trianon. Vernichtung englischer
Fabrikate. Die „Lizenzen". Napoleons Zollpolitik. Vermin-
derte Aufnahmsfähigkeit des Auslandes. Die Handelskrisis
von 1810 und 1811. Versuche einer Annäherung an England.
Die Vermittlung Hollands scheitert. Holland wird französische
Provinz. Andere Reunionen. Verhältnis zu Dänemark und
Schweden. Neapel und Sizilien. Finanzlage Englands. Pläno
zu dessen Vernichtung. Die Finanzen Frankreichs und der
Schatz des Kaisers. Die Weltherrschaft. — Verwicklung mit
Rußland. Die polnische Frage. Ein Expose Champagnys.
Russische Rüstungen. Der türkische Konflikt. Rußland und
die Neutralen. Die Oldenburger Frage. Oftensivpläne des
Zaren. Französische Rüstungen. Diplomatische Weiterungen
Die Urheberschaft des Krieges. Innere Politik Napoleons.
Der Rheinbund. Frankreich und Preußen. Das französisch-
preußische Bündnis. Metternichs Sonderpolitik und die austro-
fränkische Allianz. Erfolglose Werbung um Schweden und
die Türkei. Das russische Ultimatum. Die Fürstenversammlung
zu Dresden. Goethe über Napoleon. Napoleons weltgeschicht-
liche Bedeutung.
Zweites Kapitel: Moskau (1812)
Mahnungen und Warnungen. Napoleon bleibt zum
Krieg entschlossen. Seine Sorge für das Heer. Der Kaiser
im Felde. Die Gliederung der Großen Armee. Die Aufstellung
der Russen. Feldzugspläne. Irrtümer beiderseits und deren
Folgen. Des Kaisers ursprüngliche Absicht. Der Einmarsch
n
Ö*sUÄ
in Littbauen und die Sendung de Pradts. In Wilna. Erste
Unfälle. Barclay und Bagration. Nach Drißa. Opfer des Vor-
marsches. Nach Witebsk. Napoleon versäumt die Schlacht.
Rasttage. Nach Smolensk. Der Kampf um Smolensk. Er-
wägungen. Napoleon beschließt weiter zu gehen. Der Chau-
vinismus der Russen. Kutusow. Die Schlacht bei Borodino.
Nach Moskau. — Der Einzug der Franzosen. Der Brand und
seine Urheber. Napoleon erwartet Friedensanträge. Die
Russen verstärken sich und der Zar bleibt fest. Gründe für
dessen Haltung. Napoleons Entwürfe sind gescheitert. —
Rückzugspläne. Der Auszug aus Moskau. Die Affäre bei
Malo-.Taroslawetz. Die Entscheidung für die alto Straße.
Die Rctraite. Gefecht bei Wjasma. Hunger und Kälte. In
Smolensk ist ein Verweilen unmöglich. Gefechte bei Krasnoi.
Die „Isolierten". Trostlose Situation des Heeres. An der
Beresina. Der Brückenschlag bei Studjenka. Der Übergang
am 27. November. Kämpfe am 28. November. Der Abmarsch
der Nachhut. Grauenhafte Szenen. — Die Maletsche Ver-
schwörung. Das 29. Bulletin. Napoleon verläßt die Armee.
Wieder in Paris.
Drittes Kapitel: Leipzig (1813) 138
Politische Konjunkturen. Die Anfänge einer neuen
Koalition gegen Napoleon. Sein Appell an die Staatsbeamten.
Neue Rüstungen. Die Stimmung der Bevölkerung. Yorks
Abfall. Dessen Tragweite. Napoleons Appell an die Nation.
Das Konkordat von Fontainebleau. Finanzoperationen.
Der Kaiser und die Volksvertretung. Die Thronrede vom
14. Februar 1813. Das System bleibt ungeändert. — Napoleon
ruft den Rheinbund auf und appelliert an die Verbündeten.
Friedrich Wilhelm III. und die Konvention von Tauroggen.
Drohende Werbung des Zaren. Dessen polnische Plline. Öster-
reichs Friedenspolitik. Franzi, lehnt die Forderungen Napoleons
ab und schließt mit Rußland einen Waffenstillstand. Friedrich
Wilhelm verläßt Berlin. Preußen mobilisiert. Territoriale
Politik und nationaler Enthusiasmus. Der russisch-preußische
Allianzvertrag. Preußen erklärt den Krieg an Frankreich.
Sachsen. England und Schweden. Metternichs erfolglose
Friedens Werbung. Österreich als bewaffneter Vermittler.
Der Kaiser bei der Armee. Mängel des neuen Heeres. Die
Schlacht bei Lützen. Der König von Sachsen. Österreich
und die Verbündeten. Napoleon droht in Wien. Er wünscht
einen Separatfrieden mit Rulilaud. Die Sehlaebt bei Bautzen.
Unzureichende Kriegsergebnisse. Der Waffenstillstand von
Pläswitz. — Franz I. in Böhmen. Der Rcichenbacher Ver-
trag. Metternich in Dresden. Die Verlängerung des Waffen-
stillstandes. Napoleon nimmt Österreichs Vermittlung au.
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III
Seit«
Der Prager Kongreß. Österreichs Schwenkung zum Kriege.
Napoleon lehnt Metternichs Ultimatum ab. Franz I. erklärt
ihm den Krieg. — Streitkräfte Frankreichs und der Ver-
bündeten. Kriegspläne hüben und drüben. Napoleon gegen
Blücher. Die böhmische Armee gegen Dresden. Die Kämpfe
um Dresden. Rückzug der Verbündeten. »Annaberg" oder
., Altenberg"? Französische Niederlagen bei Großbeeren und
an der Katzbach. Napoleons Erwägungen der Kriegslage.
Kulm. Ein neuer Operationsplan. Neys Niederlage bei
Dennewitz. Das „System des Hin und Her". Notlage der
Armee. Die Teplitzer Verträge. Blüchers Rechtsabmarsch und
seine Folgen. Napoleon in Düben. Nach Leipzig! Die Schlach*
bei Wachau und das Gefecht bei Möckern. Die Sendung
Merveldts. Der 18. Oktober. Die Schlacht bei Leipzig geht
für Napoleon verloren. Der Rückzug durch Leipzig. Verfall
der französischen Armee. Das Gefecht bei Hanau. Napoleon
in Mainz.
Viertes Kapitel. Elba (1814) 237
Völker und Fürsten. Die Franzosen. Unzulängliche Geld-
mittel und unzulängliche Streitkräfte. Ferdinand von Spanien
und Pius VII. Die Auflösung des Empire. Die Mission
St. Aignans. Napoleon denkt nicht an Frieden. Das Mani-
fest der Verbündeten. Volksstimmung in Frankreich. Laines
Adressenentwurf. Schließung des Gesetzgebenden Körpers-
Operati onspläne der Verbündeten. Durch die Schweiz und über
den Rhein nach Frankreich. Die Miuisterkonferenz in
Langres. Das Gefecht bei Brienne und die Schlacht bei
La Rothiere. Napoleon in Troyes. Nachgiebige Instrukti-
onen. Beginn und Abbruch der Verhandlungen in Chätillon.
Das Anerbieten Oaulaincourts. Krisis im Lager der Ver-
bündeten Napoleons Siege über Blücher. Er wendet sich gegen
Schwarzenberg. Wiederaufnahme der Verhandlungen in Chätil-
lon. Der Rechtsabmarsch Blüchers und die Dreiteilung der ver-
bündeten Streitkräfte. Das Gefecht bei Bar sur Aube.
Craonne und Laon. Napoleon in Reims. Der Vertrag von
Ghaumont. Bemühungen Metternichs und Oaulaincourts
um den Frieden. Napoleons Hartnäckigkeit. Ihre weltge-
schichtliche Begründung. Ein neuer Operationsplan. Die
Schlacht bei Arcis sur Aube. Aufgefangene Depeschen.
Neues Manifest an die Franzosen. — Napoleon in S. Dizier.
Er eilt nach Paris. Zu spät! Einzug der Verbündeten. Der
Senat dekretiert die Absetzung des Kaisers. Die Haltung
der Marschälle bestimmt ihn zur Abdankung zu Gunsten
seines Sohnes. Marmrmt fällt ab. Waffenruhe. Bedingungslose
Abdankung. Der Vertrag mit Europa. Die letzten Tage in
Fontainebleau. Abschied und Abreise nach Elba. — Neue
IV
Tätigkeit auf Elb ff. Das Idyll von Marciana. Marie Luise
bleibt fern. Napoleon und die Italiener. Mißstimmung in
Frankreich. Ihre Ursachen. Die Armee bonapartistisch.
Talleyrand und Mariotti. Zwiespalt der Mächte auf dem
Wiener Kongreß. Napoleons Kalkül. Abfahrt vonPortoferrajo.
Landung bei Cannes. Das Zusammentreffen bei Laffray. Die
Armee erklärt sich für Napoleon, Grenoble, Lyon, Paris.
Fünftes Kapitel. Waterloo (1815) 817
„Friede und Freiheit." Das neue Ministerium. Na-
poleon und Benjamin Constant. Krieg statt Frieden. Europa
erklärt Napoleon in die Acht. Sein Versuch, sich den
Mächten zu nähern, scheitert. Verstimmung im Volke.
Widerstand bei den Behörden. Die Gesinnung der Armee.
Die Nationalgarden. Keine Konstituante. Die „Zusatzakte"
vom 22. April. Der Motiveubericht. Die Grundrechte und
die Volksvertretung. Napoleons Einwendungen. Die öffent-
liche Meinung gegen die Verfassung. Das „Maifeld". Die
zweite Kammer und die neuen Pairs. Die Thronrede vom
7. Juni 1815. — Rüstungen in Frankreich. Wellington und
Blücher. Feldzugspläne. Der französische Aufmarsch. Napoleon
ergreift die Offensive. Seine Disposition für den 16. Juni.
Ligny und Quatre-Bras. Der entscheidende Beschluß des
preußischen Hauptquartiers. Grouchy nach Osten. Napoleon
wendet sich gegen Wellington. Grouchys Berichte. Die Auf-
stellung bei Belle-Alliance. Der Schlachtbefehl am 18. Juni.
Grouchy soll heran. Er kommt nicht. Die Schlacht bei
Waterloo. Die Flucht.
Sechstes Kapitel. Sankt Helena. (1815—1821) 357
Paris während der Schlachttage. Napoleon im Elysee.
Der Ministerrat. Der Staatsstreich der Kammern. Sie fordern
die Thronentsagung des Kaisers. Dessen Abdankung am
22. Juni. In Malmaison. Die provisorische Regierung gegen
Napoleon II. Von Malmaison nach Rochefort. Auf der
„Saale". Napoleon überliefert sich den Engländern. Die
Spuren der Hundert Tage. Der Urteilsspruch Europas. —
Auf Sankt Helena. Der Gefangene und sein Kerkermeister.
Der Hof von Longwood. Napoleons Lebensweise. Seine
Gespräche: die Religion, der Staat, die Frauen. Er lehnt
Befreiungspläne ab. Das System des Gefangenen. Wahrheit
und Dichtung. Die „Briefe vom Kap der Guten Hoffnung".
Die Rechnung auf die britische Opposition täuscht. Napoleon
ernstlich krank. Er stirbt. — Der geistige Nachlaß des
Kaisers. „Der Feldzug von 1815." Die Tendenz der Diktate.
Anweisungen Napoleons für seinen Sohn. Das Prinzip der
Nationalität Die bonapartistische Legende. Napoleon und
die Geschichtschreibung. Wissenschaft und Wahrheit.
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V
S*ite
Anhang.
I. Literarische Anmerkungen 392
II. Beilagen.
1. Briefe Napoleons an Maret, 1813 418
2. Aus Briefen Metternichs an Hudelist, 1812 und 1813 420
3. Kaiser Franz an den König von Preußen und den
Kaiser von Rußland, 3. Juli 1813 480
4. Metternich an Maret, 21. August 1813 432
5. Schwarzenberg an Kaiser Franz, 28. August 1813 . . 483
6. Graf Neipperg an Metternich, 1. Oktober 1821 .. . 434
Berichtigungen und Zusätze zum zweiten Band .... 437
Corrigenda:
Seite 17, Zeile 18 von oben statt „Kolonialwaren und Manufakturen"
lies: „Kolonial- und Manufakturwaren";
44, „ 3 von unten statt „intreten" lies: „eintreten";
„ 64, „ 10 „ n „ „6. August" lies: „16. August";
„ 180, „ 8 „ „ „Makranstädt"lies: „Markranstädt";
„ 202, „ 7 von oben statt „an kein Volk gebundene" lies: „an
kein Volk innerlich gebundene";
„ 286, n 16 von unten statt „in diesem Jahre" lies: „in diesen
Jahren";
„ 256, „ 15 von unten statt „eine" lies: „seine";
„ 295, „ 6 „ „ „ „Herren" lies: „Herrn";
„ 297, „ 10 „ ., n „Soor" lies: „Sorr";
„ 358, „ 20 „ „ „ „ihm" lies: „sich".
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Erstes Kapitel.
Im Zenith.
Es bildet ein entscheidendes Moment im Herrscherleben
Napoleons 1., daß ihm in dem Augenblicke, da er die Regie-
rungen Europas niedergeworfen und seinen Plänen unschäd-
lich gemacht zu haben glaubte, in den Regierten ein noch un-
bezwungener Feind entgegentrat. Diese nachträgliche Oppo-
sition der Völker hatte er ollenbar nicht vorausgesehen, als
er den Staaten den Krieg erklärte, und damit denselben.
Fehler begangen, dessen sich seine Vorgänger im revolutionären
Regiment von Frankreich schuldig machten. Denn so wenig
wie diese — Konvent und Direktorium — sich darum gesorgt
hatten, ob die Nationen Europas auch wirklich durch sie von
ihren Fürsten befreit und unter die Führung der Franken-
republik versammelt sein wollten, so wenig fragte der Im-
perator danach, ob sie auch wirklich seiner Oberleitung unter-
geordnet und mit seinen Gesetzen beschenkt zu sein wünschten.
Er meinte für seine ehrsüchtigen Zwecke genug getan zu
haben, wenn er die einzelnen Länder in Verfassungen und
unter Gouvernements brachte, die ihm taugten, weil sie von
ihm abhingen; für nationale Instinkte hatte er nur sehr wenig
Verständnis, so wenig, daß er sie auch bei den Franzosen
übersah, die er für ewig mit Holländern, Deutschen, Italienern
und Spaniern in ein Reich zusammenzukleben hoffte. Natürlich.
Was er in seiner Jugend besessen und frühzeitig eingebüßt
hatte, war ein bloßes Völkerschaftsbewußtsein gewesen, das
Italiener gegen Italiener, Korsen gegen Genuesen, den Dialekt
gegen den Dialekt bewaffnete. Den gewaltigen Patriotismus,
der um alle Angehörige eine* mächtigen Stammes von gleicher
Sitte und Sprache sein festes Band schlingt, den kannte er
nicht. Dafür war er auch ein zu eifriger Jünger der kosmo-
politischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts gewesen, die den
Unterschied der Stämme ebensowenig wie den der Stände
gelten ließ und in einem freien Weltbürgertum ohne Sonderart
Fournier, Napoleon I 1
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2
Der Widerstand der Nationen.
ihr Ideal erblickte. Ihr hatte er gehuldigt bis er nur noch
den einen Traum träumte, die nivellierte Menschheit dereinst
insgesamt unter sich zu sehen. Darum gab es für ihn auch
nur Bevölkerungen, keine Nationen, und jene glaubte er be-
zwungen zu haben, wenn er ihre Armeen geschlagen und ihre
Regierungen gedemütigt hatte. Da geschah es aber, daß, als
er sich an ein Volk wagte, bei dem die nationalen Instinkte
in hohem Maße entwickelt waren — es war das spanische —
dieses Volk, von Zorn entflammt, die seinen Herrschern ent-
fallene Wehr aufgriff und, zum Äußersten entschlossen, den
Kampf fortsetzte. Und derselbe volkstümliche Geist des Wider-
standes wider den Grenzenlosen regte sich bald überall, und
es kennzeichnet die genialsten unter den Gegnern des Fran-
zosenkaisers, daß sie, diese Bewegung würdigend, in der
Volksbewaffnung das wirksamste Mittel der Abwehr erkannten.
So hatte Pitt in England schon Yor Jahren sein Freiwilligen-
heer auf die Beine gestellt, so Stadion in Österreich auf die
Errichtung einer Landwehr gedrungen, so forderte Scharnhorst
in Preußen unablässig die allgemeine Wehrpflicht. Es barg
einen tiefen Sinn, wenn der österreichische Minister dem
russischen Bevollmächtigten vor dem letzten Kriege sagte:
„Wir haben uns als Nation konstituiert."*)
Und welche Energie war mit diesem volkstümlichen
Element in den Kampf gekommen! In Spanien, das Napoleon
mit einem Spaziergang seines Schwagers Murat nach Madrid
gewonnen zu haben glaubte, gelangte der entfachte Brand
nicht mehr zum Verlöschen, und Österreich, obgleich am Bande
des Ruins, wußte 1809 Kräfte in den Streit zu führen, die
dem großen General mehr zu schaffen machten als die Kabinetts-
armeen des Wiener Hofes je zuvor. Dazu war der Aufstand
in Tirol und Norddeutschland in vereinzelten Flammen auf-
gelodert, und in Rußland hatte eine populäre Strömung das
Schwert des Zaren gegen Österreichs Truppen in Ruhe ge-
halten. Schien es nicht verhängnisvoll für Napoleon, daß just
zu derselben Zeit, als in Europa der nationale Haß die Völker
bewaffnete, sich auch unter den Franzosen eine patriotische
*) Martens, Recueil des traites conclus par la Russie, HL 32.
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Pius' VII. Bannfluch
3
Tendenz gegen den heimatlosen Ehrgeiz ihres Herrschers
regte und der nationale Staat wider das internationale Empire
in eine heimliche aber zielbewußte Opposition trat? Eben als
im Frühling 1808 der spanische Aufstand ausbrach, kam in
Paris die Polizei einer republikanischen Verschwörung auf
die Spur, die Malet, ein entlassener General, mit Kameraden
seiner Gesinnung angezettelt hatte und der auch einige Sena-
toren — Garat neben anderen — nicht ganz fremd gewesen
sein sollen.*)
Diesem volkstümlichen Widerstande der Nationen gegen
des Kaisers Politik hatte sich im Jahre 1809 auch der hl.
Vater hinzugesellt. Nicht mit den Waffen seines Weltfürsten-
tums trat er in den Kampf ein; die waren ihm von Napoleon
zerbrochen worden; sein Land war okkupiert, die Verwaltung
fremden Bevollmächtigten übertragen, und nur der formelle
Akt fehlte noch, um das Erbe St. Peters als das zu bezeichnen,
was es seit dem April 1808 tatsächlich war, eine Provinz des
Empire. Nein, mit der Gewalt seiner geistlichen Autorität,
die ja ebenfalls auf einer breiten, populären Grundlage be-
ruhte, rüstete er sich gegen den Imperator. Kaum hatten die
Spanier losgeschlagen, so protestierte er, mitten aus den fran-
zösischen Besatzungstruppen heraus, wider seine Vergewal-
tigung und verbot den Bischöfen in den dem Kirchenstaat
entrissenen Legationen, dem neuen Herrn den Eid zu leisten.
Als dann der Kaiser, nach den Siegen in Bayern, aus Wien
mit zwei Dekreten vom 17. Mai 1809 antwortete, welche „die
Schenkung Karls des Großen zurücknahmen", den Papst
seiner weltlichen Herrschaft — mit der Berufung auf Christi
Wort, sein Beich sei nicht von dieser Welt — völlig ent-
kleideten und das Patrimonium des Apostelfürsten als Ge-
bietsteil des französischen Reiches erklärten, da veröffentlichte
Pius VII. seinerseits, unter dem Eindrucke des Tages von
Aspera, eine seit Monaten vorbereitete Exkommunikations-
bulle gegen seinen Bedränger. Damit war die ganze große
mehrhundertjährige Frage des Konflikts zwischen Kaisertum
*) Siebe Madelin, Fouche" II. 47. 50, wo auch noch ein zweites,
von Servan, dem giiond istischen Kriegsminister des Jahres 1792, ange-
stiftetes Komplott erwähnt wird.
1*
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4 Die Überführung des Papstes nach Savoua.
und Papsttum aufs neue aufgerollt und Napoleon mußte eine
Lösung suchen. Er wählte diejenige, die seinem offensiven
Wesen und dem universalen Systeme der Revolution, das er
vertrat, am meisten entsprach. Kaum hatte er in Schönbrunn
vernommen, daU der hl. Vater die Bannbulle an den Kirchen-
türen von Rom habe anschlagen lassen, so sandte er dem
König von Neapel, der in seine Absichten eingeweiht war
und das römische Unternehmen unter seine Oberleitung ge-
nommen hatte, die heimliche Weisung, man müsse den Papst,
wenn er Empörung predige, verhaften; derlei sei nicht un-
erhört, Philipp der Schöne und Karl V. hätten ähnlich ge-
handelt (19. Juni). Mnrat, der bald darauf vom Kaiser
ein zweites Billett erhielt, in dem über Pius zu lesen
war: „Keine Schonung mehr! Das ist ein wütender
Narr, den man einsperren muß," Murat nahm den Wink
für das, was er war, ein Befehl, und am 6. Juli, just
als bei Wagram die Würfel zu Frankreichs Gunsten fielen,
ward der Papst im Quirinal festgenommen und aus Rom fort-
gebracht — zunächst nach Grenoble und von dort, auf eine
besondere Ordre des Kaisers, nach Savona an der Riviera,
immer im strengsten Gewahrsam.*) Etwas später, noch vor
dem Abschluß des Wiener Friedens, befahl Napoleon die Über-
siedlung der Kardinäle und Ordensgenerale, der päpstlichen
Kanzlei und der Archive nach Paris, wohin er auch den hl.
Vater zu berufen gedachte, um ihn, als Werkzeug seines un-
eingeschränkten Willens, unmittelbar zur Hand zu haben. Nur
auf Pouches Widerraten blieb Pius in Savona, von wo er
erst im Juni 1S12 nach Fontainebleau überführt werden sollte.
Und wenn nun Pius sich der geforderten Dienste weigerte?
Auch für diesen Fall suchte man vorzukehren. Nach seiner
Rückkehr aus dem Feldzug, und nachdem er sein Eheprojekt
*) Siehe die Briefe an Murat in Corresp. XIX. 15.884 und
bei Leccstre, I. n. 459. Hinterher hat der Kaiser die Verhaftung, die
er doch selbst insgeheim angeordnet, in einem Brief an Pouche, der
ihn nicht gerade geheim zu halten brauchte, für Narretei erklärt: den
Staatssekretär Pacca nur hätte man festnehmen, den Papst aber ruhig
in Rom lassen sollen; nun sei freilich an der Tatsache nichts mehr zu
ändern (Corresp. XIX. 15.555). Auf St. Helena hat er dann seine
Mitschuld eifrig abgeleugnet.
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Die Einverleibung des Kirchenstaates. 5
mit der österreichischen Prinzessin ins Reine gebracht und
damit dem Papste den letzten Rückhalt an einer aufrechten
katholischen Macht genommen hatte, ließ Napoleon durch ein
Senatskonsult vom 17. Februar 1S10 offen die Einverleibung
des Kirchenstaates in Frankreich, dessen Zerlegung in zwei
Departements und die Erhebung Roms zur zweiten Stadt des
Kaiserreichs als Staatsgesetz erklären. Dem hl. Vater wurde
eine jährliche Rente von zwei Millionen Franken zugesprochen,
während seine Nachfolger sich bei ihrer jeweiligen Stuhl-
besteigung auf die vier Artikel der gallikanischen Kirche von
1GS2 verpflichten sollten, in denen die Freiheit der Krone
Frankreichs von einer auswärtigen geistlichen Macht, die
Fehlbarkeit des Papstes in Glaubenssachen und dessen Ab-
hängigkeit von den Beschlüssen der Konzilien, wie sie das
von Konstanz ausgesprochen hatte, festgestellt worden waren.
Die Absicht, die der Kaiser hierbei verfolgte, lag auf der
Hand: die widerstrebende Kurie durch ein gefügiges Konzil
zu meistern und sich untertänig zu machen. Hatte er doch
schon im Juli 1807 an Eugen geschrieben, er werde sich
nicht scheuen, die Kirchen von Gallien, Deutschland, Italien
•und Polen in einem Konsistorium zu versammeln und sieh
ohne Papst zu behelfen.*)
Und der Papst widerstrebte wirklich. Er verweigerte nicht
nur seine Bestätigung, als das erzbischöfliche Offizialat in
Paris die Ehescheidung Napoleons von Josephinen aussprach,
was zur Folge hatte, daß dreizehn italienische Kardinäle —
man nannte sie die „schwarzen" — ihre Teilnahme an der
darauffolgenden Vermählungsfeier versagten, er verweigerte
auch den vom Kaiser ernannten Bischöfen die kirchliche
Investitur, die ihm das Konkordat vorbehalten hatte. Es half
nichts, daß man ihm seine Ratgeber entzog, um den milde
angelegten Mann, der in kanonischen Fragen nicht eben die
genauesten Kenntnisse besaß, leichter zu gewinnen, nichts,
daß sich Österreich um die Beilegung des Streites bemühte,
und nichts auch, daß Napoleon gegen Ende des Jahres 1810
strengere Maßregeln gegen seinen Gefangenen vorschrieb, ihn
*) Siehe Band II, S. 238.
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6
»Staat and Kirche,
seines Sekretärs, seiner Papiere und jeder Möglichkeit eines
brieflichen Verkehrs, ja sogar seines Schreibzeuges berauben
ließ : Pius blieb fest. Wenn er auch hie und da zu Konzessionen
geneigt geschienen hatte, als: Krönung Napoleons zum Kaiser
des Abendlandes, spätere Verständigung über die weltliche
Herrschaft, Aufnahme fremder Mitglieder in das hl. Kollegium
bis zur Hälfte, so hatte doch Napoleons Strenge gegen die
schwarzen Kardinäle, die, ihrer Einkünfte beraubt, in den
Osten Frankreichs verbannt wurden, gegen diejenigen, die
in Rom zurückgeblieben waren, gegen die italienischen Klöster,
schließlich gegen ihn selbst, ihn immer wieder davon zurück-
gebracht. „Der Kaiser ist ein Mann," hatte er zu dem öster-
reichischen Unterhändler, v. Lebzeltern, gesagt, „der nie das
will, was er vorgibt zu wollen; seine eigentlichen Absichten
verrät er nie. Wo ist die Garantie, daß er nicht alles, was er
heute vereinbart hat, morgen wieder umstößt?" Eher wollte
Pius das Schisma als die Unterordnung der Statthalterschaft
Christi unter einen weltlichen Herrn.*)
Unter solchen Umständen — die kirchlichen Verhältnisse
Frankreichs und Italiens gerieten in Unordnung — mußte
Napoleon, wenn er erreichen wollte, was er zu erreichen
wünschte, einen entscheidenden Schritt vorwärts tun. Das
ursprünglich geplante allgemeine Konzil war ihm von seinem
Kirchenrat widerraten worden, der sich eher für ein National-
konzil aussprach. Doch schon in diesem Conseil ecclesiastique,
der einmal, am 16. März 1811, unter seinem Vorsitz und in
Gegenwart Cambaceres' und Talleyrands beriet, bekam er von
dem gelehrten Abbe Emery den Einwand zu hören, daß ja doch
auch der französische Katechismus den Papst als „das sicht-
bare Oberhaupt der Kirche"' erkläre, „dem alle Christen Ge-
horsam schuldig seien", daß die Kirche sich dieses Oberhauptes
*) Nach Äußerungen der Pariser Prälaten hätte Pius' erste
Weigerung, die von Napoleon ernannten Bischöfe zu bestätigen, ihren
Grund darin gehabt, daß der Kaiser sein Versprechen, die „Organi-
schen Artikel" des Jahres 1802, die vielfach über den Inhalt des Kon-
kordats hinausgingen, zu beseitigen, nicht gehalten und, dem soge-
nannten „italienischen Konkordat" von 1803 entgegen, in Italien
Klöster aufgehoben, im Venezianischen Bischöfe ernannt hatte. Wel-
schinger, Le Pape et l'Empereur, p. 215.
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Das Konzil des Empire. 7
nicht entäußern dürfe, ohne sich zu gefährden, und daß auch
Bossuet, den Napoleon als Gegner des Ultramontanismus so
gern im Munde führte, es ausgesprochen habe, der hl. Vater
bedürfe zur Ausübung seiner kirchlichen Funktionen der
völligen Unabhängigkeit von irgendwelcher weltlichen Macht
— worauf dann der Kaiser allerdings glattweg erwiderte, das
möge zu Bossuets Zeiten, im 17. Jahrhundert, zutreffend ge-
wesen sein, als es in Europa eine ganze Anzahl anerkannter
weltlicher Herren gab und keiner dem andern die staatliche
Superiorität über den Papst gönnte, jetzt aber, wo Europa nur
ihn als einzigen Gebieter anerkenne, falle diese Bücksicht
weg.*) Nebenher ließ er sich gegen die Nachfolger Petri
vernehmen, „die fortwährend die Christenheit für die Inter-
essen des kleinen römischen Staates, nicht größer als ein
Herzogtum, in Zwiespalt brachten". Als dann ein neuer Ver-
such dem Kaiser ergebener Bischöfe in Savona zu keinem
bindenden Zugeständnis des Papstes geführt hatte und im
Juni 1811 die Prälaten Frankreichs und Italiens in der Notre-
Damekirche zum Nationalkonzile sich versammelten, zeigte
sich auch hier ein unerwarteter Widerstand. Gleich ihre erste
Kundgebung war eine Treuebezeigung gegen Pius VII., dessen
Zustimmung sie zuvor einholen wollten, ehe sie die vom
Kaiser geforderten Bestimmungen betreffs der Investitur
trafen, während Dieser doch, gerade umgekehrt, mit den Be-
schlüssen der Versammlung auf den Papst einen Druck aus-
zuüben gedachte. Erst nachdem die Beratungen suspendiert,
drei widerstrebende Prälaten eingekerkert, andere bedroht
*) Diese von der stolzesten Herrschsucht diktierten Worte
blieben von Emery nicht unerwidert. Auch der gegenwärtige Zustand,
sagte er, könne einmal ein Ende nehmen und die Voraussetzung
Bossuets wieder eintreffen. Die Prälaten, entsetzt über die Kühnheit
ihres Genossen, wollten ihn beim Kaiser entschuldigen, doch Dieser
antwortete: „Sie irren, meine Herren, ich bin gar nicht aufgebracht,
gegen ihn. Er hat gesprochen wie Einer, der seine Sache weiß und
beherrscht. Und so will ich, daß man mit mir rede." Talleyrand meinte
freilich beim Weggehen: „Das ist der einzige Mensch, der es fertig
bringt, dem Kaiser die Wahrheit zu sagen, ohne ihm höchlich zu miß-
fallen." Ebenda, p. 168 ff. nach Paccas Memoiren und der „Vie de
M. Emery M von Gossel in.
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8 Europa und das Papsttum.
worden waren, ward das wiedereröffnete Konzil dahin gebracht,
ein von Napoleon diktiertes Dekret zu dem seinigen zu machen :
daß, wenn der Papst über sechs Monate mit der Institution
eines vom Kaiser ernannten Bischofs säume, dieser vom Me-
tropoliten des betreffenden Sprengeis instituiert werden könne
(5. August 1811).*) Es wurde schließlich erreicht, daß Pius in
Savona hierzu seine Zustimmung gab, aber nur soweit die
Bischöfe Frankreichs und des Königreiches Italien in Be-
tracht kamen; die des Kirchenstaates nahm er aus, um nicht
indirekt der witli rrechtlichen Okkupation desselben zuzu-
stimmen, und forderte seine Räte zurück. Damit war der Streit
nicht beendet. Der Papst blieb des Kaisers Gefangener.
Noch war es unbestimmt, ob Pius in diesem Kampfe
unterliegen würde. Aber wer die allgemeine Lage überblickte,
konnte derartiges wohl vermuten. Die üble Behandlung, die
das Oberhaupt des Katholizismus erfuhr, und dessen Appell
an die Gläubigen machten auf diese nicht den tiefen, zur Tat
aufreizenden Eindruck, wie es etwa in früheren Jahrhunderten
der Fall gewesen wäre. Die Welt war erstaunlich weltlich
geworden. Sogar der Wiener Hof hatte sich über die Bannbulle
des Papstes hinweggesetzt, als er die Erzherzogin nach Frank-
reich ziehen ließ. „Nicht eine einzige schützende Stimme
erscholl von den katholischen Thronen herab", schreibt Kar-
dinal Paeca in seinen Memoiren. Und dazu kam, daß ein
großer Teil der Gegner des Kaisers: Engländer, Russen,
Preußen als Andersgläubige gar nicht in den Bereich der päpst-
lichen Autorität gehörten, während hinwieder strengkatholische
Völker, wie die Polen, gerade in der festesten Verbindung
mit Napoleon ihre Rechnung zu finden hofften. Ja, sogar die
eigenen Untertanen des hl. Vaters äußerten dem neuen Herrn
gegenüber zwar einiges Widerstreben, ließen sich aber schließ-
lich die militärisch-zweckmäßige Administration, die Reform
des Justizwesens, die Hebung des Unterrichts, die Regulierung
von Flüssen und Straßen, die Trockenlegung der Sümpfe und
*) Die Institution durch die Erzbisehöfe war in Frankreich nichts
unerhörtes; sie war zur Zeit Heinrichs IV. erfolgt, ehe dieser König
seinen Frieden mit der Kirche machte.
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Der Volkskrieg auf der Iberischen Halbinsel. 9
.andere wertvolle Neuerungen des gottlosen Regimes grollend
gefallen.*)
Nur auf eine Nation — wenn man etwa von den Bauern
Tirols absieht — übte das Schicksal Pius' VII. eine ihre
politische Haltung mitbestimmende Wirkung: das waren die
Spanier. Ihre Priester ermüdeten nicht, ihren Mut gegen den-
jenigen zu stählen, der, wie sie sagten, die Altäre ebenso
bedrohe wie die Throne.**) Noch in den letzten Tagen des
Jahres 1808 hatte die revolutionäre Zentraljunta, die für den
exilierten König Ferdinand die Regierung führte, die Nation
zum Guerillakrieg aufgerufen, d. i. zur Bildung von Banden
unter Führung eines Mönches oder eines gedienten Offiziers
mit der Aufgabe, kleinere französische Detachements zu über-
fallen, Kuriere abzufangen, Waffen- und Munitionstransporte
wegzunehmen u. dgl. Und die Mahnung hatte augenblicks
Folge gefunden. Die Guerillas waren überall und nirgends,
sie ließen sich zwar vertreiben und verfolgen, aher nicht ver-
nichten, und bildeten eine Kriegsplage ohnegleichen. Bald
nach jenem Aufruf verkündete ein Manifest den Völkern
Europas, daß es sich in Spanien um die Freiheit aller
Nationen handle, und forderte zur Unterstützung auf. Und
nicht vergeblich. Die Engländer, die bisher lediglich als
Feinde Napoleons auf der Halbinsel erschienen waren, traten
jetzt in ein offenes Freundschaftsbündnis mit den spanischen
Insurgenten und verpflichteten sich zum äußersten Kraft-
aufwand. Und wenn sie auch diese Zusage nicht voll ein-
lösten — es standen kaum je mehr als 30.000 Briten an der
Seite der Spanier — so war es doch ein genialer Mann, der
die englischen Hilfstruppen befehligte: Wellesley, Lord
Wellington, wie er seit der Schlacht von Talavera hieß. „Wenn
der Krieg auf der spanischen Halbinsel andauert, ist Europa
*) Hierüber jetzt M adelin, La doraination frangaise ä Rome,
1809—1814 (Revne d. d. mondes, 1905, Bd. 28, S. 646 ff.).
**) In einem der von spanischen Geistlichen zu Kriegszwecken
verfaßten Katechismen wird Napoleon neben der menschlichen eine
teuflische Natur beigelegt, die Ermordung eines Franzosen als ein ver-
dienstliches Werk, die Unterlassung des Kampfes als todeswürdige
Infamie bezeichnet.
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10 Napoleon gebt nicht nach Spanien.
gerettet", pflegte er zu sagen, und danach handelte er. Klug
berechnend, mehr defensiv als in gewagten Unternehmungen
seine schmalen Kräfte riskierend, hielt er den überlegenen
Gegner hin und erreichte seinen Zweck: die Wunde am Leibe
des Empire blieb offen. Trotz den 200.000 Mann, die ihnen
Napoleon zurückgelassen hatte, waren seine Marschälle nicht
imstande, das Land zu pazifizieren. Untereinander uneins, des
auf reibenden Kampf es, der keinerlei Gewinn versprach, unlustig,
und oft unsicher, ob sie den Befehlen aus Paris oder denen
aus Madrid zu folgen hätten, brachten sie es nur zu unbe-
deutenden Erfolgen, und als der Kaiser von Schönbrunn nach
Paris zurückkehrte, lauteten die Berichte aus dem Süden
nicht allzu günstig.
Nun erwartete Jedermann, Napoleon werde selbst wieder
nach Spanien gehen, die ungefügen Generale zur Ordnung
bringen und mit der überlegenen Kraft seines Genies den
entscheidenden letzten Sieg erzwingen. Er hatte daran gedacht
und in Briefen an Clarke und Berthier wiederholt davon ge-
sprochen, aber er ging doch nicht nach Spanien. Von den-
jenigen, die ihn genauer kannten, sagten die Einen, er habe
in dem von Fanatismus durchtobten Lande sein Leben nicht
aufs Spiel setzen wollen, die Andern, er sei durch seine Ehe-
scheidung und Wiedervermählung abgehalten worden, was
wahrscheinlicher klingt. Nicht unmöglich auch, daß ihn jetzt
dasselbe Motiv, das am Anfang des Jahres 1809 seine Rückkehr
nach Frankreich beschleunigt hatte, hier zurückhielt: das
Mißtrauen gegen Talleyrand und Fouche, die er, während
seines Feldzuges in Österreich, in geheimen Beziehungen mit
Murat, dann mit dem heimgeschickten Bernadotte bemerkt
hatte. Jedenfalls äußerte er sich bald sehr geringschätzig über
die spanische Affaire — wohl um sich selbst nicht zu wider-
sprechen, da er doch schon vor Monaten behauptet hatte, sie
sei durch ihn endgültig beseitigt worden — und begnügte sich,
die Aktionen seiner Generale von Paris aus zu leiten.
Und anfangs schien es auch wirklich, als sollte dies hin-
reichen. Am 19. November 1809 hatten die Franzosen bei
Ocana über die letzten regulären Truppen Spaniens gesiegt,
deren geschlagene Reste nach Cadix geworfen, und damit die
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Annexion des Landes bis zum Ebro.
11
Provinz Andalusien fast gänzlich in König Josephs Hände
gebracht. Nun blieben nur die Guerillas und das englische
Hilfskorps in Portugal übrig. Die Ersten achtete der Kaiser
wenig. Von ihrer grauenvollen Bedeutung hatte er keine Vor-
stellung und glaubte es wohl auch nicht, wenn er hörte, der
Krieg mit ihnen sei noch weit entsetzlicher als seinerzeit der
in der Vendee. Besser dachte er von den Engländern. „Nur
die Engländer sind das einzige Gefährliche in Spanien", läßt
er Ende Januar 1810 und später wiederholt durch Bcrthier
an Joseph schreiben. Aber sollte. man der paar tausend Briten
nicht Herr werden können auch ohne ihn, namentlich wenn er,
wie er nun tat, die Streitkräfte auf der Halbinsel bedeutend
erhöhte und Massena, den tüchtigsten seiner Marschälle, mit
Schmeicheleien und Versprechungen für das Unternehmen
gewann, Portugal Wellington abzujagen ? Ney und J unot sollten
unter Massena kommandieren, Soult, der an der Spitze der
Armee in Andalusien stand, ihm von dort nach Portugal zu
Hilfe kommen. So sicher war Napoleon des Erfolges, daß er
am 8. Februar 1810 ein Dekret erließ, das die nördlich vom
Ebro gelegenen Provinzen Biscaya, Navarra, Arragon und Ka-
talonien der spanischen Staatsverwaltung entzog, sie in vier
französische Militärgouvernements verwandelte und vier Gene-
rale: Suchet, Dufour (später Reille), Augereau und Thouvenot
mit der höchsten bürgerlichen und militärischen Gewalt über
dieselben ausstattete. Sie sollten für die ihnen unterstehenden
Truppen aus den Einkünften dieser Provinzen sorgen, da die
Regierung Josephs nicht imstande sei, die Hilfsquellen des
Landes so energisch auszubeuten, daß sie die Armeekosten be-
streiten könne; nur von Paris hätten sie fortan Befehle zu em-
pfangen. An die Stelle der spanischen Farben trat in diesen
Gebieten die Trikolore. Ein begleitender Brief an Berthier von
demselben Tage sprach noch allgemeiner die Absicht des Kaisers
aus, die Verwaltung alles von seinen Generalen eroberten
spanischen Landes in deren Hände zu legen; auch die Steuer-
erhebung wurde ihnen eingeräumt. Und wenn nun die Er-
oberung weiter f ortschritt? Wenn Suchet von Katalonien
immer tiefer nach Süden vordrang, und Massena wirklich
Portugal den Engländern abgewann? Dann fiel wohl schließlich
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12 Napoleon und Joseph.
ganz Spanien unter französische Verwaltung. Und war das
am Ende nicht besser als Hunderttausende französischer
Soldaten und Hunderte von Millionen französischen Geldes
bloß für die Selbstherrlichkeit eines ehrgeizigen Bruders zu
opfern, der aus eigener Kraft seinen Thron doch nie ver-
teidigen könnte? Man will aus gewissen Anzeichen vermuten,
der Kaiser habe damals — im Frühjahre 1810 — vorüber-
gehend wieder daran gedacht, den jungen Bourbon Ferdi-
nand VII., nachdem er ihn mit seiner Nichte, der Tochter
Lucians, vermählt und zur Abtretung der annektierten Landes-
teile genötigt haben würde, nach Spanien zurückzusenden. Aber
die Sache ist zu schlecht verbürgt, um sie unbedingt gelten
zu lassen.*) Bestimmt wissen wir nur, daß Joseph, den die
Abtrennung der vier Provinzen um das bißchen Kredit brachte,
das er sich durch seine Mäßigung bei den Liberalen des Landes
erworben hatte, seinen Minister Azanza nach Paris sandte, um
dort die Zurücknahme des Februar-Ediktes zu erwirken, und
Dieser nach langem Warten schließlich die Aufklärung erhielt,
der Kaiser habe die Einverleibung ganz Spaniens in Frank-
reich, „dessen natürliche Fortsetzung es bilde", beschlossen, sein
König solle abdanken und damit nur so lange noch warten, bis
die Engländer von der Halbinsel vertrieben seien.**)
*) Masson, Napoleon et sa famille, VI. 118 stellt diese Hypo-
these auf und Sorel, VII. 435 nimmt sie an. So lange sie aber nur auf
schlecht überlieferten Angaben in Lucians Memoiren (HI. 155) beruht,
wird ihr kaum eine ernstere Bedeutung einzuräumen sein. Die Anwesen-
heit der fünfzehnjährigen Lolotte in Paris, vom Jänner bis in den Juni
1810, könnte auch mit der stets von der „Familie" gewünschten Ver-
söhnung der beiden Brüder allein in Verbindung gestanden haben.
Hatte doch seinerzeit Mutter Lätitia zu diesem Zweck sogar die Ver-
heiratung Napoleons mit ihr im Auge gehabt.
**) Der bestürzte Diplomat bekam sogar die betreffenden Doku-
mente — die Verzichturkunde Josephs und ein Manifest Napoleons an
die Spanier — fix und fertig in die Hand gedrückt. In der Kundgebung
hieß es: „Mein Bruder hat mir freiwillig die Krone zurückgegeben, die
ich ihm abtrat, und mich angefleht, den Untergang seiner Untertanen
nicht zuzulassen. Er kennt Eure Angelegenheiten, er rief meinen Schutz
an und bestand darauf, daß ich Euch in mein Reich aufnehme. w Ein
starkes Stück an Verdrehung der Tatsachen! Das Gegenteil war die Wahr-
heit. Azanza hatte in Paris die Zwiste und Diebereien der französischen
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Massenas portugiesische Expedition scheitert. 13
Alles kam nun auf Massena an, und ob sein Zug gelang.
Er sollte nicht gelingen. Die Festungen, die den Weg nach
Portugal verlegten, kapitulierten erst nach langer und hart-
näckiger Gegenwehr, was Wellington eine Frist gab, die er
dazu nutzte, bei seinem methodischen Rückzug alle Hilfs-
quellen zu vernichten und im Norden von Lissabon einen drei-
fachen Fortsgürtel vom Meere bis zum Tajo zu ziehen. An
dieser starken Stellung bei Torres vedras brach sich schließlich,
trotz einem wichtigen Erfolge bei Busaco im September 1810,
die Kraft des Franzosenheeres, dem die Entbehrungen des
Vormarsches sehr hart zugesetzt hatten und das weder
aus Frankreich noch von Soult her die nötige Unterstützung
erhielt, so daß Massena im Frühling 1811 nach Spanien zurück-
kehren mußte. Nach einer neuen Schlappe, die er Anfang Mai
bei Fuentes de Onoro erlitt, verlor er das Oberkommando, das
der erzürnte Kaiser Marmont übertrug.
So war Portugal nicht erobert, England vom Festlande
nicht vertrieben, vielmehr der Brite durch seinen Sieg über
den trefflichsten Marschall des Kaiserreichs in seiner Gel-
tung wesentlich erhöht. Dagegen litten die einzelnen fran-
zösischen Heeresteile und ihre gezwungenen Alliierten un-
säglich. Ungezählte Menschenleben verschlangen Krankheit,
Hunger und die heimliche Tücke des Gegners. „Dies ist ein
grausamer Krieg," schreibt ein Offizier der rheinbündischen
Truppen über den unaufhörlichen Kampf mit den Guerillas,
Generale und die Exzesse der Soldaten als die Hauptursache des allge-
meinen Aufruhrs, die Mäßigung Josephs als das einzige Mittel, das Land
zu beschwichtigen, bezeichnet und gebeten, den König nur noch ein Jahr
lang wirksam zu unterstützen ohne die Integrität Spaniens zu verletzen.
Jene Aktenstücke gelangten übrigens nicht nach Madrid. Sie fielen
einer Guerilla in die Hände und standen bald darauf in spanischen
Tnsurgentenblättern und im „Courrier de Londres" abgedruckt (Pertz,
Die polit. Bedeutung des Jahres 1810, in den Abhandlungen der Ber-
liner Akademie der Wissenschaften von 1861, S. 196 ff.). Joseph, der stets
mit seiner Abdankung gedroht hatte, solange der Kaiser noch an dem
Familiensystem festhielt, konnte jetzt, trotz solchen demütigenden
Zumutungen, dazu den Entschluß nicht finden. Er blieb, wie er es
nannte, „der Türhüter der Spitäler, Zeug- und Invalidenhäuscr von
Madrid".
14 Warum Napoleon das Kommando nicht übernahm.
„hier gilt nichts als Sieg oder Tod und am Ende — doch der
Tod."*) Das Kegiment der sächsischen Fürstentümer zum
Beispiel, das im Frühjahr 1810 2300 Mann stark in Spanien
angekommen war, hatte bereits im September 1000 Mann
verloren und über 1200 in den Spitälern liegen. Im Oktober
waren davon nur noch 27 Mann dienstfähig. Von den Truppen-
körpern, die der Kaiser über die Grenze sandte, langte immer
nur ein Bruchteil, und kein großer, am Bestimmungsorte an.
Die Entmutigung der Krieger wuchs fortwährend, und nur
die eine Hoffnung hielt sie bis ins Jahr 1812 aufrecht: der
große Schlachtenkaiser werde sicher noch kommen, um die
Kampfesnot ruhmreich zu endigen.
Aber er kam auch jetzt nicht, wenn sich gleich die Lage
immer schwieriger gestaltete. Und das hatte wieder seinen
ganz bestimmten Grund. Er kam nicht, weil er in dem Krieg
auf der Halbinsel nur eine nebensächliche Episode der ge-
waltigen Fehde erblickte, die er an allen Ecken des Kontinents
gegen Großbritannien führte, ein sekundäres Moment, das
sofort jede Bedeutung verlieren mußte, sobald anderwärts der
große Streit siegreich zu Ende geführt war! Und da dieser
seine volle Tätigkeit in Anspruch nahm, so durfte er — dies
war offenbar sein Erwägen — sich nicht persönlich in die
untergeordnete Einzelheit des peninsularen Gefechtes ein-
lassen, das ihn vom Zentrum seiner Politik und deren nächsten
Zielen allzuweit entfernte. Kurz gesagt, der Handelskrieg war
ihm die Hauptsache, er bildete den wesentlichsten Teil seines
Systems. Als er ihn im Jahre 1S10, zur Zeit, da er Massena
gegen Lissabon aussandte, mit erhöhtem Eifer wieder aufnahm,
war es seine Überzeugung, England sei durch die Blockade
bereits so sehr finanziell geschwächt, daß nur noch ein paar
Jahre Ausdauer hinreichen würden, um seine Macht völlig
zu erschöpfen. Und es fehlte in der Tat nicht an Symptomen,
welche die Ansicht unterstützten. Der englische Staatsschatz
hatte durch die ewigen Subsidien an die Kontinentalmächte
und die kostspieligen Expeditionen nach Spanien und Holland
stark gelitten; die Noten der englischen Bank hatten bereits
*) liernays, Die Schicksale des Groliherzogtums Frankfurt und
seiner Truppen. S. 120.
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Der Handelskrieg mit England. . 15
über zwanzig Prozent an Agio eingebüßt; auf dem Festlande
nahm man das Pfund Sterling, das gemeiniglich mit 25 Fran-
ken gewechselt worden war, nur noch zu 17 Franken
an. Seit dem Jahre 1S07 war die Wollindustrie in York und
Wiltshire ebenso notleidend geworden wie die Baumwollmanu-
fakturen in Manchester und Glasgow und die Eisenwerke von
Sheffield und Birmingham. Die indirekten Abgaben, mit denen
der Staat seine Bedürfnisse zu decken suchte, lasteten schwer
auf den Fabrikanten und — schwerer noch — auf den Arbei-
tern.*) Eine Handelskrise war die selbstverständliche Folge,
und die Bankbrüche häuften sich. Schon eiferte im Parlament
eine respektable Opposition gegen die Fortführung des Krieges.
Und die Kontinentalsperre war bisher noch nicht einmal in
ihrem vollen Umfange durchgeführt worden. Geschah dies erst,
so meinte Napoleon sicher zu sein, daß England sich beugte,
um Frieden bat und auf seine Alleinherrschaft zur See ver-
zichtete. Dann war natürlich auch der Kampf in Spanien zu
Ende. War es unter solchen Umständen — so mochte er
rechnen — nicht widersinnig, selbst über die Pyrenäen zu
gehen, anstatt von Paris aus alles zur schärfsten Anwendung
des Blockadesystems vorzukehren? Aus Spanien wäre dies,
schon des schlechten Verkehrs wegen, unmöglich gewesen.
Nein, nein, Wellington war nicht bloß auf der Iberischen
Halbinsel zu besiegen. Denn nicht die physische Kraft des
einen oder anderen britischen Expeditionskorps war der wesent-
liche Gegner, sondern die materielle Kraft des britischen
Reichtums, der diese Expeditionen ausrüstete, Koalitionen
*) Die Kosten für die Lebenshaltung einer Londoner Familie des
Mittelstandes hatte sich von 540 Lst. vor den Franzosenkriegen auf 900
während derselben erhöht, um nach dem Friedensschluß in den zwanziger
Jahren auf 750 Lst. zu fallen. Die Ausgaben einer Landarbeiterfamilie
waren von 1792 bis 1813 von 27 Lst. auf 48 gestiegen und betrugen
1823 wieder 32 Lst. (Siehe Rose's Auszug aus Lowe, The Present
State of England in regard to Agriculture, Trades and Finance", 1823 bei
Lumbroso, Napoleonc e l'Iughilterra, p. 430.) Natürlich stellten sich
die Budgets der von der Konkurrenz der Maschine bedrängten gewerb-
lichen Arbeiter noch sehr viel ungünstiger: die Weberlöhne waren in
der Zeit von 1795 bis 1810 von 39 auf 15 Shilling per Stück gefallen.
(Nach Gaskell, „Artisans and Machineiy", 1836, cit. von Rose, Na-
poleonic studies, p. 195.)
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16 Die Anfänge der Kontinentalsperre.
warb und Aufstände zettelte. Dieser mußte vernichtet werden,
und dieser vor jedem andern.
So drängte alles nach der einen Frage hin: ob sich die
Kontinentalsperre wirklich in der vollen, dem britischen
Nationalvermögen so verderblichen Strenge durchführen ließ,
wie Napoleon es für möglich hielt? In ihrer Beantwortung
lag die Entscheidung über das Schicksal der Welt.
Es ist in dieser Lebensgeschichte wiederholt angedeutet
worden, daß der Gedanke, den seit hundert Jahren währenden
Krieg mit England fortzuführen, indem man den britischen
Industrieartikeln und Kolonialwaren den kontinentalen Markt
entzog, nicht in Napoleons Kopf entsprungen, sondern früheren
Datums war. Tatsächlich ist er im Schöße der revolutionären
Regierung von Frankreich schon zu einer Zeit entstanden, als
der junge General Bonaparte eben erst in Italien seine Lor-
beeren zu pflücken begann.*) Die Machthaber der Republik
*) In einem Briefe vom 22. Juli 1796 schrieb Malle t du Pan
an Thugut: „Der Haß gegen England hat neue Kraft gewonnen; die
Vorbereitungen zu einer Landung daselbst werden fortgesetzt, und es
ist ein Plan gefaßt und zum Teile auch schon durchgeführt, England
die Häfen des Kontinentes zu verschließen." Eine Woche später: „Man
wird England, soweit man es vermag, den Markt des Kontinentes ver-
sperren, damit seine Einkünfte, seine Fabriken, kurz, seine wichtigsten
Hilfsquellen angreifen, hierdurch den "Widerspruch der britischen Nation
hervorrufen, und auf solche Weise die Regierung zwingen, um Frieden
zu bitten." (Correspondance inedite, II. 118. 120.) Ein Artikel des
offiziellen „Redakteur" vom 29. Oktober desselben Jahres enthält den
Satz: „Unsere Politik muß sich darauf beschränken, den Handel Eng-
lands und damit seine Macht zu ruinieren, indem man es vom Kontinent
ausschließt." Zwei Tage später verbot das Gesetz vom 10. Brumaire V.
(31. Oktober 1796) die Einfuhr aller englischen Produkte und Handels-
waren und überdies aller Artikel, die vorzugsweise in England erzeugt
wurden, wie Baumwollensamte, Musseline, Wirkwaren, Shawls, Kristall-
waren, Zuckerraffinade usw. ( Aus dem „Recueil des lois concernant les
douanes", Par. 1876 abgedruckt bei Lumbroso, p, 49 ff.) Der Motiven-
bericht dazu erklärte dies als eines der wirksamsten Mittel, die heimischen
Mannfakturen wieder emporzubringen, „den Verkauf und den Konsum
englischer Waren in der ganzen Ausdehnung der Republik zu verhindern."
(Siehe Moniteur vom 29. Venddmiaire V). Die Einfuhr englischer
Artikel nach Frankreich hatte übrigens auch schon der Konvent — in
Dekreten vom 1. März und 9. Oktober 1793 — streng verboten.
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Napoleon und die Schiffe der Neutralen. 17
waren von der Richtigkeit der Idee durchdrungen, und der
Kaiser ist ihr treu geblieben. Unablässig hat er im Verkehr
mit den einzelnen Staaten darauf hingearbeitet, bis er, Sieger
über Österreich und Preußen, im November 1806 von Berlin
aus jenes Blockadedekret erließ, das alle Schiffe, die unmittel-
bar aus England und dessen Kolonien kamen, von den Küsten
des Kontinents fernhielt. Durch die Edikte der Engländer
vom 11. und 25. November und die Dekrete Napoleons vom
23. November und 17. Dezember 1807*) war dann auch der
Seehandel der Angehörigen neutraler Mächte unendlich
schwieriger geworden, so sehr, daß die Kegierung der Ver-
einigten Staaten von Amerika ihren Bürgern geradezu den
Verkehr mit Europa untersagte, ihnen ihre Baumwolle, anstatt
sie nach Frankreich oder England auszuführen, selbst zu ver-
arbeiten riet, dafür aber auch französischen und britischen
Schiffen die Konfiskation in den amerikanischen Häfen an-
drohte. Nur fand sie nicht viel Gehorsam für ihr Verbot. Im
Gegenteil. Amerikanische Reeder nahmen englische Kolonial-
waren und Manufakturen an Bord und handelten damit unter
falschen Angaben über deren Herkunft nach Holland, den
Hansestädten, den preußischen und russischen Häfen. Im
Mittelmeer deckte die neutrale türkische Flagge auf Schiffen
griechischer Kaufleute die britische Fracht, die nach Triest,
Venedig, Genua etc. eingeführt wurde. Dieser ausgedehnte
Zwischenhandel störte nun freilich den großen Plan Napoleons
aufs empfindlichste, und er war darauf bedacht, ihn ebenso
lahm zu legen wie den direkten Kommerz mit England. Er
erließ im März 1810 ein Edikt, das sich geradezu gegen die
Neutralen kehrte, indem es die griechischen Schiffe im Süden
genauester Durchforschung nach der Provenienz ihrer Ladung
unterwarf, die Amerikaner dagegen — und hier kam ihm jenes
Verbot der Regierung von Washington trefflich zu statten —
in allen französischen und Frankreichs Waffen erreichbaren,
d. i. okkupierten Häfen mit Beschlagnahme bedrohte. Erst
als die Vereinigten Staaten das Embargo gegen die franzö-
*) Siehe Band n. S. 167. 235, wo es statt „1806" natürlich
„1807" und statt „14. Oktober" für das britische Edikt „11. November"
zu heißen hat.
Fournier, Napoleon I. -
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18
Das Edikt von Trianon.
sischen Kauffahrer aufhoben, erklärte sich Napoleon bereit,
amerikanische Schiffe in den französischen Häfen zuzulassen,
wenn auch nur solche, die ihre Ladung direkt über den Ozean
nach Frankreich brachten. Solche, die vorher englische Häfen
berührt hatten, und jene, die in der Ostsee Kommerz trieben,
wurden nach wie vor feindlich behandelt.*)
Der Handel der Neutralen war es jedoch nicht allein,
der Napoleons Politik wider England beirrte. Ihm zur Seite
hatte sich ein immenser Schleichhandel entwickelt, der, trotz
allen Dekreten und Verordnungen, den Kontinent fortwährend
mit den verfemten englischen Kolonialwaren und Webeartikeln
versah; allerdings zu hohen Preisen, während in den Londoner
Lagerhäusern die Entwertung der heimischen Produkte immer
größere Fortschritte machte. Die Differenz, d. i. die Prämie
für den Schmuggel, belief sich 1810 durchschnittlich auf
ungefähr fünfzig Prozent. Um nun diesem Pascherwesen ein
Ende zu machen und zugleich den durch den spanischen Krieg
und die stetig sinkenden Zolleinnahmen verschlechterten
Staatsfinanzen aufzuhelfen, erließ der Kaiser am 5. August
des genannten Jahres zu Trianon ein Edikt, das von Baum-
wolle, Zucker und anderen Kolonialwaren — „die ja sämtlich
englischen Ursprungs seien" — einen Einfuhrzoll von fünfzig
Prozent des Wertes und darüber forderte und Depots solcher
Waren, die, unverzollt, innerhalb vier Meilen jenseits der fran-
zösischen Grenze lagen, zu konfiszieren befahl. Damit wollte
er den Schmugglern gleichsam das Geschäft abjagen und
seiner Schatzkasse, der „außerordentlichen Domäne" („do-
maine extraordinaire"), die ihm ein Senatskonsult vom
30. Januar 1810, unabhängig vom Haushalt des Staates und
*) Thiers, XII. 32 ff. Corresp. XX. 16.348. XXI. 16.743.
17.206. Auch die Maßregel gegen die Xeutralen ist schon vom Direk-
torium vorgedacht gewesen: Anfang Januar 1798 empfahl es den gesetz-
gebenden Körperschaften, alle neutralen Schiffe, die englische Ware
führten, wer immer dio Eigentümer wären, in Beschlag zu nehmen und
jedem neutralen Fahrzeug, das in England angelegt habe, die fran-
zösischen Häfen zu verschließen. (Sybel, Geschichte der Revolutions-
zeit, V. 36.) Der Zweck war, wie man angab, die Freiheit der Meere
BU schirmen (Mallet du Pan, II. .'{90).
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Vernichtung englischer Fabrikate. 19
seiner Kontrolle, eingeräumt hatte und in die, neben den
reichen Erträgen der Kriegszüge und den Kenten von den
fremden Staatsgütern, auch der Zoll floß, einen erheblichen Zu-
schuß sichern.*) Ein späteres Dekret, vom 18. Oktober aus Fon-
tainebleau datiert, bestimmte, daß englische Manufakturartikel
in Frankreich sowohl wie in den verbündeten Ländern, wo
immer man ihrer habhaft wurde, dem Feuer überliefert werden
sollten. In der Tat sah man während der nächsten Wochen
allenthalben französische Soldaten über die Grenze gehen, im
Verein mit den Zöllnern Magazine erbrechen, den Fleiß briti-
scher Arbeit zu Haufen tragen und in Asche verwandeln, Zucker
und Kaffee aber auf Munitionswagen laden und nach Antwerpen,
Mainz, Frankfurt, Mailand führen, wo sie öffentlich versteigert
wurden. Dabei waren Prämien auf den Eifer gesetzt, während
Pascher und Hehler den drakonischen Strafen eines im
November 1810 eigens zu diesem Zweck eingesetzten Gerichts-
hofes verfielen. Zu solcher Härte hatte sich das Kontinental-
system ausgebildet. Sie wurde nur in Frankreich dadurch gemil-
dert, daß hier einzelne Eeeder für gutes Geld — das gleich-
falls in den kaiserlichen Tresor floß — die Erlaubnis erhielten,
gewisse Gattungen englischer Produkte, namentlich unentbehr-
liche Material- und Farbwaren, zu importieren und französische
*) „Geben wir dem Staatsschatz den GewinD, dessen sich sonst
der Schmuggel bemächtigen würde, gewähren wir Erleichterungen für
die Einfuhr der Kolonialwaren und erhöhen wir die Abgaben dafür"
hatte der Zolldirektor Collin an den Kaiser gesehrieben. (Darm-
städter, Das Großherzogtum Frankfurt, S. 308, wo auch die ZitTern
der Zolleinnahmen Frankreichs: 1807:60, 1^09: 1 1 Millionen verzeichnet
eind.) Das Senatskonsult vom 30. Jänner 1810 schuf nichts neues,
sondern regelte nur die Verwaltung des Kriegsschatzes, den Napoleon
nach dem Feldzug von 1805 mit einem Teil der österreichischen Kriegs-
beute gegründet und seither mit den klingenden Ergebnissen seiner
siegreichen Waflfengänge reich dotiert hatte. Die „außerordentliche
Domäne*' sollte, wenigstens teilweise, „die Auslagen für die Armee, für
Belohnungen von Militär- und Zivilpersonen, für Errichtung von Monu-
menten, Herstellung öffentlicher Bauten und Arbeiten, Ermunterung
der Künste und Vermehrung des Glanzes des Kaiserreiches bestreiten".
Bis Anfang 1810 sollen die Fonds des Domaine extraordinaire zwei
Milliarden betragen haben. (Vgl. Rnpelle, Les Finances de la Guerre
de 1796 ä 1815. Annales de l\5cole polit, 1892, p. 656.)
2*
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20 Die „ Lizenzen u .
Weine und Kornfrüchte nach England auszuführen. Und damit
die Industrie dabei nicht zu kurz komme, war diese Erlaubnis
an die Verpflichtung gebunden, mit den Agrarprodukten
zugleich auch Fabriksware zu exportieren, was dann zur Er-
zeugung minderwertiger Massenartikel, namentlich in Seide,
führte, an denen nicht allzu viel gelegen war, wenn sie
von den Engländern, die nur Naturprodukte aufnahmen,
zurückgewiesen und „ad usum delphinorum', wie man sagte,
ins Meer versenkt wurden. Das Geschäft blieb dennoch ein sehr
vorteilhaftes, und mancher Spekulant ließ sich die „Lizenz"
ein gutes Stück Geld kosten.
Es konnte nun freilich nicht geleugnet werden : das System
der Lizenzen durchbrach den großen Plan, den der Kaiser mit
der Kontinentalsperre verfolgte. Es bewahrte nicht nur die
Engländer, die damals, 1810, nach Mißernten von Hunger
und Not bedroht waren, vor einem bösen Schicksal, sondern
gab auch außerhalb Frankreichs, wo Napoleon unnachsichtig'
auf der Sperre bestand, Anlaß zu arger Mißstimmung.*) Was
Napoleon zu einer solchen, seiner ganzen Politik widerspre-
chenden Haltung bewogen haben mochte, erfährt nur, wer
einen Blick auf die wirtschaftliche Lage seines Keiches in jener
Zeit wirft.
Das Blockadesystem hatte ohne Zweifel einzelnen Zweigen
der französischen Industrie einen mächtigen Anstoß gegeben
und die Ausdehnung des Empire durch die siegreichen Feld-
züge deren Absatzgebiet vergrößert. Das war namentlich bei
der Baumwoll- und Seidenindustrie, in der Woll- und Luxus-
branche und bei den Eisengewerken der Fall. Andere — die
Leinenmanufaktur z. B. — hatten zwar mit den Kolonien
einen wichtigen Markt verloren, dann aber doch in dem ver-
mehrten Export nach den kontinentalen Nachbarländern zu-
reichenden Ersatz gefunden. So war, trotz dem Verfall des
Seehandels, im ganzen während der ersten fünf Jahre des
Kaiserreiches die Lage der gewerblichen Produktion Frank-
*) Daß auch das Direktorium schon „Lizenzen" verkaufte, erfährt
man aus einem Briefe Mallct du Pans vom 28. Jänner 1798. (Cor-
respondance inedite, II. 398.)
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Napoleons Zollpolitik. 21
*
reiche eine durchaus befriedigende.*) Sie schuf dem Landmann
kaufkräftige Konsumenten, dem Staate willige Steuerträger,
dem Kaiser eine treue und ergebene Anhängerschaft im Volke.
Und das war stets Napoleons vornehmster Gesichtspunkt ge-
wesen. Deshalb hatte er das Empire schon 180G gegen jeden
fremden Import der wichtigsten Artikel (Webewaren, Seifen
u. 8. w.) verschlossen,**) deshalb der Ausfuhr heimischer In-
dustrieerzeugnisse mit den Waffen einen Weg über Frankreichs
Grenzen weit hinaus in die seinem politischen Einfluß unter-
worfenen Länder gebahnt. Denn das darf man nicht meinen,
daß er je daran gedacht habe, aus dem gegen Großbritannien
abgeschlossenen Kontinent ein einheitliches Wirtschaftsgebiet
mit freiem Handelsverkehr zu machen. Nein, er war, wie
Konvent und Direktorium vor ihm, Hochschutzzöllner und
ein so entschiedener Gegner des Freihandels, daß er z. B. von
Leon Says Lehrbuch der politischen Ökonomie, das 1803
erschienen und für die Beseitigung der Zölle eingetreten war,
keine neuen Auflagen zuließ. Und dabei sperrte er nicht nur
Frankreich gegen jede Einfuhr — selbst die italienische und
die deutsche von jenseits des Rheins — ab, sondern hinderte
auch den Verkehr der anderen Lander untereinander, wo er
konnte. So, wenn er z. B. durch ein Edikt aus dem
Oktober 1S10 das Königreich Italien nur für die Ein-
und Durchfuhr französischer Waren offenhielt, womit den
Österreichischen Tuchen, den Schweizer Baumwollzeugen und
denen vom Rhein ein wertvolles Absatzgebiet verloren ging;
so, wenn er durch ein Dekret aus derselben Zeit die italienische
Rohseide mittels hoher Ausfuhrzölle der Schweiz und dem
*) Das Erstarken der französischen Industrie zur Zeit Napoleons
drückt sich am deutlichsten darin aus, daß der Import an Rohstoffen
und Halbfabrikaten in dem Zeitraum zwischen den Jahren vor der
Revolution und denen nach dem Kaiserreich um ein Drittel zunahm,
während der an Industrieprodukten auf die Hälfte sank. S. Rocke,
Die Kontinentalsperre und ihre Einwirkungen auf die französische
Industrie, S. 40 nach Moreau de Jonnes, Le commerce au 19. siecle.
(Par. 1825.) S. 186.
**) Vor kurzem hat Ch. Schmidt, Le Grand-Duche de Berg (Paris
1905), p. 333 ff. auf die Bedeutung des Tarifs vom 80. April 1806
treffend hingewiesen.
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22 Schutzzölle uud Exportbegünstigung für Frankreich.
bergischen Lande vorenthielt, damit sie ausschließlich den
Lyoner Fabrikanten zugute käme, die dann mit ihrer mäch-
tigen Konkurrenz das lombardische Gewerbe erdrückten.*)
So hat er immer nur der französischen Industrie zu dienen
gesucht, deren Interessen ein im Juni 1810 ins Leben gerufener
„Fabriks- und Gewerberat" wahrzunehmen hatte, und er hat
es getan, um sie seinem Regime gutgesinnt und opferwillig zu
erhalten. Er spricht das in einem Briefe vom 23. August 1810
an den Vizekönig Eugen, der gegen jene Verfügung Vor-
stellungen erhob, deutlich aus: „Ich kann Ihre Bemerkungen
nicht billigen. Mein Grundsatz ist: Frankreich vor Allem. Sie
dürfen nicht außer acht lassen, daß, wenn der englische Handel
das Meer beherrscht, dies deshalb der Fall ist, weil die Eng-
länder zur See am mächtigsten sind; es ist daher nur in der
Ordnung, daß der Handel Frankreichs, des mächtigsten
Staates zu Lande, ebenso auf dem Kontinent triumphiere,
sonst wäre alles verloren. Besser für Italien, es kommt in einem
so wichtigen Falle, wie in diesem, Frankreich zu Hilfe, anstatt
sich mit Zollämtern zu bedecken. Verlöre ich einmal eine große
Schlacht, so würden aus dem alten Frankreich eine, zwei Mil-
lionen Menschen unter meine Fahnen eilen und alle Börsen
mir offen stehen, Italien dagegen würde sich beiseite
drücken/'**) Solcher Opfermut, der ihm seine persönliche
Machtstellung in Europa sicherstellte, wollte belohnt sein:
darum die Schutzzölle für die französische Industrie auf Kosten
der Produktion in den anderen Staaten, darum die Begünsti-
gung ihres Exports in die abhängigen Länder, die sich den
guten englischen Artikeln verschließen mußten, um minder
*) S. die nächste Note.
**) Corresp. XXI. 16.824. Am 26. August schreibt er an seinen
Stiefsohn: „Die italienischen Zollstätten müssen genau auf demselben
Fuß, wie die französischen, funktionieren; denn sonst, ich verberge es
Ihnen nicht, werde ich Italien mit Frankreich vereinigen. Italien ist
z. B. überschwemmt mit Schweizer Waren; alle bedruckten Zeuge
und Cotonnaden kommen aus der Schweiz, während Frankreich von
solchen Waren strotzt. Meine Absicht ist, daß die bedruckten Zeu2fe
aus Deutschland und der Schweiz in Italien nicht mehr zugelassen
werden und nur noch aus Frankreich dahin gelangen." Corresp. XXI.
16.829.
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Verminderte Aufnahmsfähigkeit des Auslande». 23
gute und oft auch teurere französische Fabrikate aufzunehmen
und obendrein — wie im Großherzogtum Berg — die eigene
Produktion durch die fremde lahmgelegt zu sehen. Es war
eine ökonomische Tyrannei, die der politischen zur Seite ging
und ohne Zweifel zur Erregung der Nationen das Ihrige
beigetragen hat.
Aber alle Sorgfalt konnte die französische Industrie
nicht davor bewahren, daß auch sie die Nachteile des politischen
Systems, das ihr nützen wollte, zu fühlen bekam, und in den
Jahren 1810 und 1811 eine Krisis erfuhr, die allen Kredit —
und auch den des Kaisers — tief erschüttern sollte. Die Vor-
teile, welche die Schutzzollkonjunktur bot, hatten immer
neue Etablissements ins Leben gerufen, die bald über den
inländischen Bedarf weit hinaus produzierten. Damit war die
Sorge für den Export wichtigste Kegierungspflicht geworden,
und Napoleon mochte, wie es ihm mit Deutschland und
Italien gelungen war, so auch bei Spanien, als er das Land für
sein Haus gewann, die Absicht verfolgt haben, es der franzö-
sischen Industrie noch zugänglicher und der britischen Kon-
kurrenz noch unzugänglicher zu machen als das bis dahin der
Fall gewesen war.*) Da bewirkte aber der durch die Expe-
dition des Jahres 1808 hervorgerufene Aufstand des spanischen
Volkes das gerade Gegenteil: die mit nahezu siebzig Millionen
bewertete Ausfuhr nach der pyrenäischen Halbinsel sank in
dem einen Jahre auf die Hälfte und dann nur noch immer
tiefer, da einerseits der andauernde Krieg die Konsumtions-
fähigkeit der Bevölkerung verminderte, anderseits die eng-
lische Hilfsaktion dem britischen Import den Zugang über
Portugal offen hielt. Und dazu kam, daß auch Holland, durch
den Verlust seines Handels her abgebracht, weniger aufnahms-
*) „Während Spanien im einzelnen Fiankreich und seinen
Handel (durch seine Zölle) bekämpfte, standen seine Häfen, und ins-
besondere die im Biskayischen Golf, dem Handel Englands offen, und
die in Spanien, wie in Frankreich, verbündeten Blockadegesetze halfen
nur den Schmuggel der Engländer begünstigen, deren Waren sich von
Spanien aus über Europa verbreiteten." So heißt es in dem von Napoleon
selbst verfaßten Bericht seines Ministers des Äußern vom 24. April
1808. Corresp. XVII. 13.776.
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24
Die Handelskrisis von 1810 und 1811.
fähig geworden war, und ebenso die deutschen Länder, durch
die Kriege in Armut geraten, die Hoffnungen der französi-
schen Exporteure nicht mehr erfüllten.
Da stellte sich die Notwendigkeit ein, der französischen
Industrie wenigstens daheim zureichenden Absatz zu sichern,
d. Ii. vor allem die landwirtschaftlichen Kreise kaufkräftig zu
erhalten. Das sollte geschehen, indem man diesen den eng-
lischen Markt zuganglich machte — denn Wein und Korn
nahm man dort gerne auf. Daher die Lizenzen. Aber ihre
Wirkung war verschwindend gering gegenüber dem Nachteil
im großen, der dem gewerblichen Leben Frankreichs schließlich
aus seiner auswärtigen Politik erwuchs und den Napoleons
Zolledikt von Trianon, da es den Preis der Rohstoffe noch
höher hob, nur noch verschärfte. Dieses Edikt hatte überdies
auch den Nachteil, daß es den Handel mit Kolonialwaren zur
wüsten Spekulation ausarten ließ, was den Geldmarkt aufs
ungünstigste beeinflußte. Als nun die Industrie, die ihre zahl-
reichen, auf die frühere günstige Konjunktur kalkulierten
Neugründungen häufig mit erborgten Kapitalien vorgenommen
hatte, der verminderten Ausfuhr wegen die Zinsen dafür nicht
mehr voll aufbrachte, kam es zum Zusammenbruch großer
Bankhäuser, der weite Kreise ins Mitleid zog. Nun wurden den
Fabrikanten allenthalben die Kredite gekündigt, was wieder
den Sturz vieler Industrieetablissements, in anderen die
Einschränkung des Betriebes und die Brotlosigkeit Tausender
von Arbeitern zur Folge hatte. Dadurch sah sich dann auch
noch die Landwirtschaft in ihren Einkünften geschmälert,
und so ward die Krisis schließlich allgemein. Es war ein Zirkel
der verhängnisvollsten Art, wenn Napoleon durch die Un-
summen, die er dem Auslande für die Erhaltung seiner Armeen
und für seinen Kriegsschatz abnahm, den Markt, den er der
heimischen Industrie zu erobern gedachte, selbst wieder ent-
wertete. Was wollte es da sagen, wenn er jetzt 18 Millionen zur
Unterstützung einzelner Unternehmer hergab, damit sie ihre
Werke in Tätigkeit erhalten konnten, neue Nutzbauten auf-
führen ließ, um die feiernden Arbeitskräfte zu beschäftigen,
Erfinder, wie Jacquard, reich belohnte, Millionenpreise für die
Entdeckung neuer Verfahren ausschrieb, den Anbau von Baum-
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Versuche einer Annäherung an England. 25
wolle in Südfrankreich und Italien förderte und die Seiden-
industrie dadurch heben wollte, daß er seine Paläste mit Möbeln
und Tapisserien aus Lyoner Stoffen ausstatten ließ? Das waren
sehr schöne Zeugnisse für die Energie seiner Verwaltung,
aber doch wieder nur Notbehelfe, die "das einmal erschütterte
Vertrauen in den Segen seiner ruhmreichen Staatsführung
nicht wieder völlig herzustellen vermochten.*)
Das wäre nun doch wohl der Moment gewesen, den
definitiven Frieden mit England ernster als bisher ins Auge
zu fassen. Aber der Weg dahin war gerade jetzt, als die Krisis
in ihrer vollen Schärfe auftrat, ungangbar geworden. Der
Kaiser hatte es allerdings zu Beginn des Jahres 1810 versucht,
seine letzten kriegerischen Erfolge auch in London zu ver-
werten. Es war ja möglich, daß man dort, durch das Mißlingen
der Expedition nach Antwerpen nachgiebig gemacht, einem
Frieden zustimmte, wie er ihn wünschte. Um hierüber Sicher-
heit zu gewinnen, hatte er Holland vorgeschoben. Dieser
Staat war bereits daran, dem Kontinentalsystem zum Opfer
zu fallen. Nur durch ihre Schiffahrt, ihre Kolonien, ihren
Handel waren die Generalstaaten zu Geltung und Reichtum
gelangt, darauf allein waren sie angewiesen, und wenn
Napoleons Gesetze, die allen Kommerz zur See unmöglich
machten, zu strenger Durchführung kamen, war ihr Ver-
derben unausbleiblich. Das wußte der Kaiser sehr genau.
„Holland wird seinem Ruin nicht entgehen können", hatte er
schon im März 1808 an seinen Bruder Ludwig geschrieben,
als er ihm die spanische Krone antrug, in der Absicht, das
Niederland mit Frankreich zu vereinigen.**) Ebenso war ihm
bekannt, daß die Holländer die Schiffe der Amerikaner und
ihre britische Fracht mit offenen Armen bei sich aufnahmen
*) Über die Intensität der Krisis im Zusammenhange mit der
verminderten Aufnahmsfähigkeit des auswärtigen Marktes belehrt u. a.
das Sinken des Exportes an Seidenwaren nach Deutschland von
45 Millionen Franken auf 16 in der Zeit von 1810 auf 1811. S. Darm-
stadters vortreffliche „Studien zur napoleonischen Wirtschaf tspolitik"
in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, n. 600.
**) Siehe den in Band H. S. 253 zitierten Brief bei Rocquain,
Napoleon et le Roi Louis, p. 165 und Corresp. XVI. p. 500.
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26 Die Vermittlung Hollands.
und die Waren weiter ins Innere des Erdteils verschickten,
um so wenigstens einen Bruchteil ihres ehedem so großartigen
Speditionshandels zu retten. Damals hatte Ludwig Spanien
abgelehnt und auch Napoleon den Annexionsplan fürs erste
beiseite gelegt. Nach dem österreichischen Kriege aber war
er sofort darauf zurückgekommen. Er nahm jetzt zum
Vorwand, daß die Holländer nicht imstande gewesen seien,
der englischen Invasion im Jahre 1809 mit genügenden
Kräften zu begegnen. Und tatsächlich waren ja die Briten
auch mehr durch das Sumpffieber als durch die Truppen des
Königs von Antwerpen fort und zur schleunigen Rück-
kehr nach der Insel Walcheren genötigt worden, wo sich eine
Abteilung allerdings noch ein paar Monate lang behauptete.
Als dann Ludwig nach Paris eilte, um sich und sein Land
gegen den Vorwurf des „Verrates an Frankreich" zu ver-
teidigen, teilte ihm Napoleon offen seine Absicht mit, Holland
dem Empire einzuverleiben, ihn selber aber mit einem
deutschen Fürstentum auszustatten. Ja, am Tage darauf,
3. Dezember 1809, vernahm es auch der Gesetzgebende Körper
aus seinem Munde: „Holland, das zwischen Frankreich und
England liegt, ist das Mündungsgebiet der wichtigsten Arterien
meines Reiches. Es werden Veränderungen notwendig; die
Sicherheit meiner Grenzen und das wohlverstandene Interesse
beider Länder verlangen sie gebieterisch." Und zehn Tage
später hieß es schon in einem offiziellen Bericht, Holland sei
nur „ein Teil von Frankreich". Nur das eine Zugeständnis er-
hielt der König, daß ein holländischer Vertrauensmann vorerst
nach England gehen durfte, um dort insgeheim die Zurück-
nahme der Dekrete von 1807 zu verlangen und dafür die Räu-
mung Hollands und der Hansestädte durch die Franzosen, im
Falle der Ablehnung aber deren Reunion mit Frankreich in
Aussicht zu stellen. Diese Mission, bei der es Napoleon offenbar
nur darum zu tun war, England durch eine Drohung zur
Nachgiebigkeit zu bewegen oder, wenn dies fehlschlug, ihm
die Schuld für die Annexion Hollands aufzuladen, scheiterte.
Ludwig schickte zwar den Amsterdamer Bankier Labouchere,
einen Schwiegersohn Barings in London, zu Wellesley, dem
englischen Minister des Äußern, damit er ihm in bewegten
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Sie scheitert.
27
Worten vorstelle, wie es um die Unabhängigkeit seines Vater-
landes geschehen sei, wenn England jene Edikte nicht zurück-
ziehe, der Bote erhielt aber nur zur Antwort, Holland habe jetzt
für England lange nicht mehr die Bedeutung wie zuvor, viel
größere habe Spanien, wo ja der Krieg fortdauere, jene Edikte
seien nur Verteidigungsmittel gegen Napoleons Blockade -
dekret, auf die man nicht verzichten könne, solange dieses auf-
recht bleibe. Und keinen besseren Bescheid erhielt ein Agent
Fouch£s, den der immer geschäftige Polizeiminister, um Napo-
leons Intentionen zu dienen, ohne dessen Vorwissen, aber unter
dem Scheine seiner Mitwissenschaft, nach London entsandt
hatte: man könne, sagte man ihm, in des Kaisers Maß-
nahmen — Napoleon hatte am 20. Januar 1810 die militärische
Besetzung Hollands zwischen Maas und Scheide angeordnet —
kein friedliches Symptom erblicken, sei übrigens bereit
offene Vorschläge entgegenzunehmen.
Als dieses Mittel in London seine Wirkung verfehlt hatte,
variierte Napoleon sein Thema. Er nahm zwar Holland noch
immer nicht ganz für Frankreich in Anspruch, denn für einen
solchen Gewaltstreich war der Augenblick, wo alle Welt von
seiner Vermählung mit der „Tochter der Cäsaren" Frieden
und Ruhe erhoffte, allzu ungeeignet, aber er nötigte Ludwig
einen Vertrag auf, der alles niederländische Gebiet auf dem
linken Rheinufer, d. i. Seeland, Brabant und das linkswaalische
Geldern an Frankreich überließ, die Bewachung der ganzen
holländischen Küste einem französischen Okkupationskorps
von 6000 Mann und französischen Zollwächtern anheimgab
und überdies den König zur Ausrüstung von fünfzehn großen
Kriegsschiffen verpflichtete, wogegen der Kaiser den seit
Jahren gehemmten Handel Hollands mit Frankreich frei-
zugeben versprach (16. März 1810).*) Und nun, nachdem die
französische Aufsicht jeden Zugang sperrte, sollte der Unter-
händler Hollands nochmals in England sein Glück versuchen;
vielleicht vermochte die Tat sein Begehren zu unterstützen.
Aber auch jetzt mußte Labouchere vernehmen, daß der König
und die Mehrheit des Ministeriums gegen die Aufhebung der
*) De Olercq, II. 328.
28 König Ludwig legt die Krone nieder.
Edikte seien, die der britischen Industrie manchen Vorteil ge-
bracht hätten, und daß die Unabhängigkeit Hollands allein noch
keine Gewähr für den Frieden böte, da das Haupthindernis in
Spanien läge. Da gab Napoleon den Gedanken, England
durch Holland zum Frieden zu bewegen, auf. Als er durch
seinen Bruder von dem heimlichen Treiben Fouches ver-
ständigt worden war, verlor Dieser sein Portefeuille, und der
„Moniteur" mußte jede Nachricht von Verhandlungen mit
Großbritannien als „unsinnige Verleumdung" dementieren,
was wieder in London, wo man die Eröffnungen des Polizei-
ministers als authentisch angesehen hatte, die Stimmung stark
verbitterte.*) Von einer Annäherung der beiden Gegner war
nun auf lange Zeit nicht mehr die Rede. Napoleon dachte
nur noch daran, England durch den Schlag, den Massena
in Portugal zu führen hatte, mürbe zu machen, und lehnte
selbst eine ihm günstige Auswechslung der Kriegsgefangenen
ab, um dem Feinde auf der Halbinsel keinerlei Sukkurs zu
gewähren. Gegen Holland aber fiel jetzt jede Rücksicht weg.
Die Vertragsbestimmungen blieben unerfüllt, die Zollschranken
aufrecht; das französische Okkupationskorps ward auf das
Vierfache der festgesetzten Truppenzahl vermehrt und übte
im Verein mit den fremden Zöllnern unerträgliche Akte
der Willkür; auf Beschwerden tönten aus Paris nur Beleidi-
gungen zurück. Da hielt es Ludwig mit seiner königlichen
Ehre nicht mehr vereinbar, die Krone auf dem Haupte zu
behalten; er legte sie am 1. Juli 1810 zugunsten seines jüngeren
Sohnes — der ältere war im März 1809 Großherzog von Berg
geworden — nieder und begab sich heimlich nach Österreich.
Napoleon war von diesem eigenmächtigen Schritt seines
Bruders immerhin überrascht und sprach in herben Worten
über dessen Undank.**) Und im Grunde war es ja auch eine
Verlegenheit für ihn, so vor aller Welt im Zwiespalt mit seinen
*) Es war dabei von einer Teilung der amerikanischen Kolonien
zwischen Frankreich und England und der Ausstattung Ferdinands VH.
mit Mexiko gesprochen worden. S. Co quelle, Napoleon et PAngleterre,
p. 245 ff.
**) Siehe Band I. S. 35 das Gespräch mit Berthier. Es ist
interessant damit ein anderes zu vergleichen, worin der Kaiser kurz
Holland in. Frankreich einverleibt. 29
nächsten Anverwandten zu erscheinen. In der Sache freilich
ward dadurch nichts geändert. Denn noch ehe die Kunde von
Ludwigs Rücktritt in Paris anlangte, lag dort schon ein Dekret
fertig, dessen erste Bestimmung lautete: „Holland ist mit dem
Reiche vereinigt." Nun ward es kundgemacht (9. Juli 1810).
Lebrun, der ehemalige Kollege Napoleons im Konsulate, ging
als dessen Statthalter in die neue Provinz.
Man beobachte die Methode, die in diesen Usurpationen
liegt. In Holland wie in Spanien täuschen die Brüder die
Hoffnungen des Kaisers, da weder Joseph noch Ludwig sich
den starken nationalen Impulsen wider das Empire entziehen
können. Anstatt nun diese Impulse zu würdigen und zu
achten, hält Napoleon bloß seine Brüder für zu schwach, zu
ehrgeizig, zu eigenwillig, um ihm zu dienen. Sein tiefes Miß-
trauen erstreckt sich fortan auch auf sie, und er bricht mit
dem Familiensystem, um, sozusagen, Europa in eigene Regie
zu nehmen.*) In Holland wie in Spanien geht er in gleicher
Weise vor. Dort annektiert er im März 1810 das Land bis
zur Waal, hier im Februar das Land bis zum Ebro, und dabei
waren, hier wie dort, die Urkunden bereits vorbereitet, welche
die gänzliche Einverleibung beider Königreiche in das Kaiser-
reich auszusprechen hatten. Nur daß in Spanien die nötige
Voraussetzung, d. i. die Vertreibung der Engländer, noch
fehlte. Aber es sollte bei diesen Annexionen nicht bleiben.
„Die Beschlüsse des britischen Konseils von 1806 und
1807 haben das öffentliche Recht Europas zerrissen. Eine neue
Ordnung der Dinge lenkt das Universum." Mit diesen Worten
empfahl Napoleon dem Senate, die Vereinigung Hollands mit
Frankreich zum verfassungsmäßigen Gesetz zu erklären. Aber
nachher dem schwedischen Gesandten mitteilte, er habe seinen Bruder,
den er liebe nnd dessen Erziehung sein Werk gewesen sei, vom Throne
gejagt (!), weil er machtlos den holländischen Schmuggel geduldet
habe. (Lefebvre, V. 73.)
*) Im September 1810 sagte er u. a. zu Metternich: „Da gibt es
Verwandte, Vettern, Basen; all das taugt nichts. Ich hätte auch meinen
Brüdern die Throne nicht überlassen dürfen. Aber man wird eben nur
mit der Zeit klug. Ich hätte bloß Statthalter und Vizekönige ernennen
aollen." (Metternich, Nachgelassene Papiere, n. 398.)
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30
Audere Reunionen.
nicht davon allein war in dem Reskript die Rede, nicht bloß
die Mündungen der Scheide, der Maas und des Rheins forderte
er als „neue Bürgschaften" gegen England, auch die der Weser
und der Elbe verlangte er, und die gehorsamen Senatoren er-
klärten wirklich in einem Konsult vom 13. Dezember 1810
außer Holland auch noch die gesamte deutsche Nordseeküste,
d. h. die Gebiete von Oldenburg, Lauenburg, der drei Hanse-
städte Bremen, Hamburg und Lübeck, die Fürstentümer Arem-
berg und Salm, mit Teilen von Hannover, das erst im Januar
1810 an J£röme gefallen war, von Westfalen und von Berg,
das von Paris aus verwaltet wurde, kurz über 600 Geviert-
meilen, als Bestandteile des Empire. Es geschah, „um, was ein
Hauptzweck seiner Politik sei, den deutschen Geist noch mehr
zu entwurzeln", wie Napoleon einmal an Ludwig geschrieben
hatte.*) Die neuen Territorien sollten drei Departements mit
den Hauptorten Osnabrück, Bremen und Hamburg bilden. Und
dafür nicht der geringste Rechtstitel, keinerlei Rechtsgrund»
auch nicht einmal zum Schein, sondern bloße Willkür! Und
mit derselben Willkür hatte Napoleon im November 1810 die
schweizerische Republik Wallis inkorporiert, „da man das
Interesse Italiens und Frankreichs nicht dieser armseligen
Bevölkerung opfern könne", und den Kanton Tessin mit der
unverhohlenen Absicht, ihn dem Italienischen Königreich ein-
zuverleiben, militärisch besetzen lassen. „Die Reunionen sind
durch die Umstände geboten", sagte der Minister des Kaisers
in seinem Bericht an den Senat. Aber was war dann nicht
alles durch die Umstände geboten? Durch die Umstände war
die Zahl der Departements des Empire Frangais bereits auf
130 gestiegen, war Napoleon nicht nur Kaiser dieses Reichs,
das sich im Osten bis an die Save erstreckte, sondern auch
König von Italien, Mediator der Schweiz, Protektor des Rhein-
*) Am 20. Mai 1810, bei Rocquain, Napoleon et le Roi Loui* T
p. 273 (Lecestre, II. n. 615): „.Faurais considerä le tröne de Hollande
comme un piedcstal sur lequel j'aurais ötendu Hambourg, Osnabrück
et nne partie du nord de rAllemagne, puisque c/eüt ete un noyau de
peuples qui eüt depayse" davantage l'csprit allemand, ce qui est le
premier but de ma politique." Es ist derselbe Brief, der mit den grau-
samen Worten schloß: „Man regiert die Staaten mit Vernunft und
Politik, aber nicht mit oiner verseuchten Lymphe.'*
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Verhältnis zu Dänemark und Sohwedeu.
31
blindes geworden, waren seine Brüder und sein Schwager auf
Throne gelangt, die nur so lange aufrechtstanden, als es dem
Herrn in Paris beliebte. Durch die Umstände konnte er
ebensogut die Vereinigung von ganz Europa unter seinem
Zepter rechtfertigen, wenn er die Macht dazu besaß. Und dahin
gingen in der Tat seine Gedanken.
Übrigens war auch hierin Napoleon nicht originell, denn
mit dem Blockadesystem wider England war auch die Reunion
der deutschen Nordseeküste bereits von den Direktoren ins
Auge gefaßt worden, und schon vor zwölf Jahren hatte Sieyes
diese Gebiete als den „für Frankreich wichtigsten Teil des
Erdballs" bezeichnet: besitze man sie, dann könne man die
Engländer von Gibraltar bis nach Holstein, ja bis zum Nordkap
von allen Festlandshäfen ausschließen. *) Dieses Programm
schien sich jetzt erfüllen zu sollen. Denn auch Dänemark, da3
derzeit sein Staatsgebiet noch über Norwegen ausdehnte, hatte
sich der Aufforderung Napoleons, die Waren der neutralen
Schifte zu proskribieren, allsogleich gefügt. Der seit dem
Bombardement Kopenhagens im Jahre 1807 ins Maßlose ge-
steigerte Haß gegen die Engländer ließ Friedrich VI. den
empfindlichen Nachteil übersehen, der daraus notwendig für
sein Land entstand, und außerdem bewegte den Dänenkönig
noch die Hoffnung, mit Hilfe Frankreichs vielleicht dereinst
auf den schwedischen Thron zu gelangen, der bald zur Er-
ledigung kommen mußte. Diese Erwartung freilich sollte sich
nicht erfüllen. Denn in Schwedens politischer Haltung war
gleichfalls eine Wendung eingetreten. Noch während des
Krieges gegen die russisch-französische Allianz, der den
Russen Finnland, den Franzosen Schwedisch-Pommern mit
Stralsund und Rügen in die Hände lieferte, war dort Gustav IV.,
dessen unkluge Feindseligkeit gegen Napoleon und starres
Festhalten an dem unzuverlässigen England den Staat in so
üble Lage gebracht hatten, im März 1809 vom Throne entfernt
und durch seinen Oheim Karl XIII. ersetzt worden. Dann
hatten die Schweden mit Rußland und (im Januar 1810) mit
Frankreich einen Frieden geschlossen, der ihnen zwar Pommern
*) Siehe Bd. I. 8. 231.
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32 Bernadotte wird Kronprinz von Schweden.
wieder zurückgab, sie jedoch zur strengsten Beobachtung der
Kontinentalsperre verpflichtete. Ja, sogar zur Kriegserklärung
an England ließ sich Karl XIII. im November 1810 herbei,
nachdem er kurz zuvor — er war alt und kinderlos — Berna-
dotte, der sich durch seine Leutseligkeit in Schwedisch-
Pommern Sympathien erworben, als Kronprinzen angenommen
hatte, freilich kaum ahnend, daß er damit just keinen Freund
des Franzosenkaisers an seine Seite berief. Napoleon, dessen
Wohlmeinung schwedischerseits eingeholt worden war, hätte
allerdings am liebsten Friedrich, den Dänenkönig, auf
Schwedens Thron gesehen, da ihm eine starke skandinavische
Macht als Gegengewicht gegen Rußlands Ausdehnung
wünschenswert erschien, hatte aber, als die Schweden hierfür
wenig Neigung zeigten, den Gedanken aufgegeben. Dann war
er an seinen Stiefsohn Beauharnais herangetreten, der ablehnte,
weil seine Gattin eine Nichte des verbannten Schwedenkönigs
und überdies als strenge Katholikin nicht geneigt war, Pro-
testantin zu werden. Und als dann auch noch Berthier sich
weigerte, Frankreich für die Krone Schwedens zu verlassen,
und eine kleine Partei in diesem Lande sich mit großem Ge-
schick für Bernadotte einsetzte und um des Kaisers Zustimmung
zu dessen Kandidatur bat, da sagte Napoleon nicht mehr nein,
ließ sich aber von seinem Marschall das Wort geben, daß
Schweden an England den Krieg erklären werde, was dann
auch wirklich geschah.
Und wie Napoleon den höchsten Norden des Weltteils
seinem Hauptfeinde streitig zu machen suchte, so trachtete
er auch im äußersten Süden Herr zu werden. Dort saßen die
Briten fest auf Sizilien, wo sie die bourbonische Königsfamilie
unter dem Druck steter Einmischung und Bevormundung
hielten. Von hier aus hatten sie im Jahre 1809 eine Expedition
gegen Neapel unternommen, allerdings mit demselben kläg-
lichen Erfolge, wie die gegen Antwerpen im Norden. Darauf
hatte dann Napoleon geantwortet, indem er seinen Schwager,
den König Joachim von Neapel, ermächtigte, Sizilien den
Engländern abzujagen oder doch ihre Truppen dort einge-
schlossen zu halten, damit sie nicht Verstärkungen nach
Spanien und Portugal senden konnten. Dieser Versuch Murats
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Neapel und Sizilien. 33
gegen Sizilien scheiterte im Jahre 1810. Im folgenden
Sommer sollte er, unterstützt von der Touloner Flotte, wieder-
holt werden. Da jedoch die Schiffe nicht auszulaufen ver-
mochten, wurde das Unternehmen verschoben. Im Grunde
bildete es, wie die Eroberung Spaniens und Portugals, gleich-
falls nur ein sekundäres Moment, und Messina konnte, wie
Lissabon, auf anderen Wegen gewonnen werden.*)
*) Interessant ist, was man damals wissen wollte und worüber
der englische Bevollmächtigte, Lord Bentinck, nach Hause berichtete,
daß nämlich Königin Karoline, seitdem ihre Enkelin Marie Luise Na-
poleon geheiratet hatte, eine Verständigung mit den Napoleoniden
wider England suchte, dessen Druck sie nur mit dem größten Wider-
willen ertrug. Der Plan soll gewesen sein, daß ihre Truppen 1811
die Engländer auf der Insel angriffen, während Murat Messina forcierte.
Dann Bollte Sizilien gegen eine entsprechende Entschädigung an Diesen
oder an Napoleon gegeben werden, der Bourbonenprinz Leopold aber eine
Nichte des Korsen zur Frau nehmen. (Browning, Caroline of Neapel
in der English hist. review, 1887, p. 492 ff nach Bentincks Depeschen.)
Ein vollgültiger Beweis für diese Dinge ist nicht erbracht. Jedenfalls
ist Napoleon auf derlei Anmutungen, die Karoline übrigens stets in
Abrede gestellt hat, nicht eingegangen. Er soll lediglich der Königin
seine Heirat mit Marie Luise angezeigt und dabei — wie man wissen
wollte — von außeritalienischen Entschädigungen für Neapel gesprochen
haben. (Demelitsch, Metternich, I. 504.) Doch auch das ist schlecht
verbürgt. Glaubhafter ist, was man sich in Wien erzählte, Karolinc
habe, als sie von der Vermählung ihrer Enkelin hörte, ausgerufen :
„Das fehlte noch zu all meinem Unglück, daß ich des Teufels Groß-
mutter wurde." (Montet, Souvenirs, p. 111.) 1811 war auch viel von
einer Einverleibung Neapels in das Empire und von der Ungnade
Murats die Hede. In den Tagebüchern der Königin Katharine von
Westfalen liest man darüber. Die Ungnade wäre verdient gewesen, denn
Murat, der von der neuen Verwandtschaft Napoleons mit dem sizilischen
Hofe Schlimmes für sich befürchtete, war gesonnen, sich möglichst
unabhängig zu stellen, und hat vielleicht schon jetzt an eine nationale
Herrschaft über ganz Italien gedacht. Im Sommer 1811 erließ er De-
krete, durch die alle Franzosen, die in Neapel dienten, zur Naturalisation
verhalten wurden, und schon vorher hatte er, um seine finanziellen
Kräfte zu stärken, die Ausfuhr von Baumwollsamen und den Import
französischer Tücher mit starken Zöllen belegt. Das mußte dann freilich
alles widerrufen werden, wenn er sein Königreich behalten wollte. Und
er behielt es. Napoleon hatte zwar Metternich bereits im September 1810
gestanden, daß er es bereue, seinen Schwager auf den Thron Neapels
gesetzt zu haben; aber er mochte den offenen Widerstand des furcht-
losen Soldaten und damit eine neue Verlegenheit scheuen; auch war
Schwester Karoline nicht ohne Einfluß in Paris.
Fournier, Xupoleon I. 3
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34 Finanzlage Englande.
Eins ergibt sich mit Deutlichkeit, wenn man die un-
endliche Geschäftigkeit Napoleons in dieser Zeit überblickt:
daß sich alle diejenigen gar sehr getäuscht sehen mußten, die
von seiner Verbindung mit einem alten Herrscherhause seine
Versöhnung mit dem System der alten Staaten erhofft hatten.
Und ebenso gingen Jene in die Irre, die ein Jahr später in
der Geburt seines Sohnes ein Unterpfand des Friedens er-
blickten. Denn gerade jetzt, im Frühling 1811, nahmen seine
Pläne den höchsten Flug: Spanien und Portugal werden früher
oder später, sei es durch Eroberung — noch stand Massena
vor Lissabon — sei es durch den Gang der größeren Ereignisse,
an Frankreich fallen; von der Südspitze des italienischen Fest-
landes bis dort oben hinauf, wo der Kontinent ins Eismeer
taucht, standen bereits die Regierungen, wie es schien
willenlos, unter seinem Einfluß, und nur mit dem slawischen
Koloß des Ostens mußte die Rechnung erst noch bereinigt
werden. Wozu hätte man denn auch den halben Erdteil zur
Heeresfolge verpflichtet, wenn nicht, um endlich Herr über
den ganzen zu werden?
Und was an neuen Nachrichten aus England kam, war
nur angetan, den Kaiser auf dem eingeschlagenen Wege fest-
zuhalten. Dort gestalteten sich die ökonomischen Verhältnisse
infolge der Reunionen der Küstenstaaten mit Frankreich,
und bevor sich der Handel neue Wege im Osten bahnen konnte,
immer bedenklicher. Zwar hatte Britannien die meisten Kolo-
nien Europas jenseits des Ozeans (darunter die französischen
Bourbon, Isle de France und Cayenne) in seine Gewalt be-
kommen, aber die Hoffnung auf einen gewinnreichen Export
von Manufakturartikeln dahin war unerfüllt geblieben, da man
Kolonialwaren dafür in Tausch nehmen mußte, denen Napoleon
den europäischen Markt immer dichter verschloß. Überdies
war es im geeinten Königreich selbst durch die Anwendung
von Maschinen zu einer Überproduktion gekommen, die, fast
nur noch auf den Schleichhandel angewiesen, nicht rentierte.
Das britische Parlament mußte den bedrängten Fabrikanten
einen Staatskredit eröffnen. Allerdings hatte auch die fran-
zösische Industrie die Krise noch keineswegs überwunden, aber
da war die Hilfe, wie der Kaiser meinte, nur eine Frage kurzer
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Pläne zu dessen Vernichtung. 35
Zeit. Als er, wenig Tage nach der Geburt seines Kindes, die
Glückwünsche einer Deputation der Handels- und Gewerbe-
kammern entgegennahm, sprach er mit der größten Zuversicht
von seinem schließlichen Siege. Den Gedanken an Frieden
wies er jetzt offen weit von sich. „Sie sehen", sagte er, „wie
weit herunter England heute ist. Ludwig XIV. und
Ludwig XV. waren seinerzeit genötigt, Frieden zu schließen,
und auch ich hätte ihn längst suchen müssen, wenn ich, wie
jene, das alte Frankreich regierte; aber ich bin nicht der Nach-
folger der französischen Könige, sondern derjenige Karls des
Großen, und mein Keich ist eine Fortsetzung des Kaiserreichs
der Franken. In vier Jahren werd' ich eine Marine haben.
Sind meine Geschwader erst drei oder vier Jahre zur See,
dann können wir uns mit den Engländern messen. Ich weiß,
daß ich drei oder vier Seeschlachten verlieren kann;*) gut,
ich werde sie verlieren: aber wir sind mutig, stets gestiefelt
und gespornt, und wir werden durchdringen. Ehe zehn Jahre
vergehen, werd' ich England unterworfen haben. Kein Staat
Europas wird mehr mit ihm verkehren. Meine Zollschranken
sind es, die den Engländern das größte Übel zufügen. Hat
es doch mit seiner Blockade sich selbst am meisten geschadet,
indem es uns lehrte, wie wir seine Produkte, seinen Zucker,
seinen Indigo entbehren können. Nur noch einige Jahre und
wir werden daran gewöhnt sein. Bald werd* ich Rübenzucker
genug haben, um ganz Europa damit zu versorgen. Für Ihre
Fabrikate steht Ihnen in Frankreich, Italien, Neapel, Deutsch-
land ein weites Feld offen." Dann kam der Kaiser auf den
französischen Staatshaushalt zu sprechen und sagte u. a. : „Ich
nehme jährlich 900 Millionen lediglich von meinem eigenen
Land ein und habe 300 Millionen in den Tuilerien liegen; die
Bank von Frankreich ist mit Silber gefüllt, während die eng-
lische keinen blanken Sou besitzt. Seit 1806 hab* ich mehr
als eine Milliarde an Kontributionen hereingebracht. Ich allein
habe Geld. Österreich hat bereits Bankrott gemacht, En Bland
wird ihn machen, und England nicht minder."**)
*) „Drei oder vier Flotten", nach einer andern Lesart.
**) Die Rede ist hier — als Bruchstück — in ihrer ursprüng-
lichen Fassung mitgeteilt, wie sie aus zwei von einander unabhängigen
3*
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36
Die Finanzen Frankreichs.
Die letzteren, Frankreichs Finanzen betreffenden Bemer-
kungen des Kaisers bedürfen ein Wort näherer Beleuchtung.
Allerdings gewann auch Metternich, als er sich 1810 längere
Zeit in Paris aufhielt — die Geschäftskrisis war damals freilich
noch nicht in ihrer vollen Stärke aufgetreten — die Ansicht:
„Frankreich ist unstreitig der reichste Staat des Kontinents
und kann in finanzieller Hinsicht jedem anderen Trotz bieten."
Aber er setzt doch einschränkend hinzu: „Die Kassen des
Staates sind leer, die des Monarchen sind gefüllt." Und das
kam der Wahrheit nahe, denn den 900 Millionen Einnahmen
des Jahres 1810, von denen Napoleon sprach, standen 954
Millionen Ausgaben gegenüber, und wenn man auch annehmen
durfte, daß die Annexionen von Rom, Illyrien, Holland, der
hanseatischen Departements und der neue Tarif von Trianon
zur Erhöhung der Einkünfte beitragen würden, so waren doch
daneben die Ziffern des Heeresetats rapid gewachsen. Nach
dem Staatsvoranschlage für das nächste Jahr forderte das
Kriegsministerium 506 Millionen (1810: 389), das Marine-
ministerium 157 Millionen (1810: 120), bezifferten sich die
Einnahmen mit 1056, die Ausgaben mit 1103 Millionen.*)
Um dieser Lage gerecht zu werden, hat Napoleon in einem
Elaborat vom Dezember 1810 anstatt jedes Anlehens, das er
als „unmoralisch, weil künftige Geschlechter belastend" be-
zeichnete, nur Erhöhung der indirekten Steuern (droits rSunis)
in Aussicht gestellt, denen er als neue Auflage das Tabaksmono-
pol hinzufügte. (Er rechnete für dieses auf ein Erträgnis von
80 Millionen Franken.) Das Präliminare erwies sich als irrig.
Die Krisis des Vorjahres hielt an und wurde noch durch
eine schlechte Ernte verschärft. 1811 war zwar ein Weinjahr,
aber kein günstiges für das Getreide. Die Dürre, welche die
Reben zu denkwürdiger Süße ausreifen ließ, verbrannte die
Quellen in der Revue oritique des Jahres 1880 veröffentlicht wurde.
Die Version, die man bei Thiers (XHI. 22 — 27) findet, repräsentiert
offenbar eine nachträglich redigierte Form, in der die Worte des Kaisers
den Diplomaten, den deutschen Zeitungen u. dgl. zugingen. In Miots
Memoiren (III. 189) erscheint eine dritte Lesart.
*) Ich folge hier den von Mollicn, Memoires III. 110 mitge-
teilten Ziffern des Voranschlages.
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Der Schatz des Kaisers.
37
Ähren; die Mehlpreise stiegen auf nahezu das Doppelte; der
Konsum schränkte sich dementsprechend ein, und mit ihm
verminderte sich der Steuerertrag. Die Zölle, die am 1. Oktober
1811 140 Millionen hätten ergeben sollen, lieferten nur 56,
die indirekten Steuern statt 122 nur 60 Millionen Franken. *)
So schloß das Jahr mit einem beträchtlichen Defizit. Freilich
war es richtig, wenn Napoleon seinen Schatz mit 300 Millionen
bezifferte — Mollien gibt sogar 100 Millionen mehr an —
aber davon lagen nicht mehr als etwa die Hälfte bar vor;
der Best bestand in Schuldforderungen an Staaten und
Private auf lange Sicht. Man sieht, so glänzend, wie der
Kaiser das Bild der Finanzen Frankreichs darstellte, war es
nicht, namentlich wenn man die ungeheure Geldlast des
spanischen Krieges im Auge behält, die abzuschütteln noch immer
nicht gelungen war und die bereits eine tiefe Bresche in die
„außerordentliche Domäne" gelegt hatte. Man ermißt daran,
wie schwer es ihn traf, daß, wie wir noch hören werden, Ruß-
land sein Gebiet dem französischen Export verschloß, gerade
jetzt, wo die Annexion Hollands und Nordwestdeutschlands
keineswegs die großen Hoffnungen, die der Schatzminister auf
sie gesetzt hatte, rechtfertigten und der Kaiser danach streben
mußte, die Einnahmsquellen und damit die Stcuerkraft der
Franzosen zu vermehren, indem er ihren Produkten auch im
Osten neue Märkte eroberte. So hat ihm wohl, wie 1809, auch
drei Jahre später mit die Rücksicht auf die Finanzen den
Krieg als geboten erscheinen lassen. **)
Wer mit jener Anrede des Kaisers an die Industriellen
seine Befehle an den Marineminister aus demselben Monat
*) DarrastUdter, a. a. O. S. 583.
**) Vgl. Band H. 285. Es wird bezeugt, daß der Minister Mollien
dem Kaiser vom Kriege mit Rußland abriet, weil die Finanzen des
Staates der Ruhe bedürfen, worauf er zur Antwort erhielt: „Im
Gegenteile, sie geraten in Verwirrung und bedürfen deshalb des Krieges."
(Sögur, Histoire et Me*moires, IV. 67.) Ahnlich hatte sich Napoleon
schon früher einmal zu Mollien geäußert: „Die Finanzen sind schlecht;
die Bank ist in Verlegenheit; hier kann ich diese Dinge nicht in Ordnung
bringen." Das war in derselben Nacht gewesen, in der er, 1805, Paris
▼erließ, um in den Krieg gegen Osterreich zu ziehen, aus dem er die
ersten Fonds für den Kriegsschatz heimbrachte. (Mollien, I. 410.)
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38
Die Weltherrschaft.
März 1811 zusammenhält, der findet da seinen ganzen großen
Weltherrschaftsplan in den gewagtesten Entwürfen angedeutet.
Nicht mehr das Reich Karls des Großen, nicht den Kontinent
von Europa, nein, das ganze Erdenrund fordert er jetzt unter
sein eisernes Zepter. Zwei gewaltige Flotten, eine ozeanische
und eine für das Mittelmeer bestimmte, will er in den nächsten
drei Jahren hergestellt wissen; für die eine faßt er Sizilien
und Ägypten, für die andere zunächst Irland ins Auge. Und
ließen sich die Dinge in Spanien und Portugal gut an, so
sollten noch im Jahre 1812 Expeditionen ans Kap der Guten
Hoffnung, nach Surinam, Martinique u. a. entsendet und
60.000 bis 80.000 Mann, „die feindlichen Kreuzer vermeidend",
über beide Hemisphären verteilt werden.*) Zur gleichen Zeit
ist aber auch schon der letzte entscheidende Festlandskrieg
wider Rußland in Vorbereitung, um den Zar, wenn er sich etwa
nicht unbedingt in das Föderativsystem unter napoleonischer
Hoheit einfügen wollte, zu bezwingen und auf den Weg nach
Asien zu verweisen.
Mit einem einzigen gierigen Blick umfaßte der Kaiser der
Franzosen die ganze Welt, und so völlig beherrschte ihn der
Gedanke seiner künftigen Allherrlichkeit, daß er ihn gar nicht
mehr zu verheimlichen suchte. „Man will wissen, wohin wir
gehen", sagte er. „Wir werden mit Europa ein Ende machen
und uns sodann wie Räuber auf weniger kühne Räuber als wir
sind werfen und uns Indiens, zu dessen Herren sie sich ge-
macht haben, bemächtigen."**) Als der bayrische General
Wrede, der sich im Frühsommer 1811 in Paris aufhielt, dort
gelegentlich ein Wort zum Frieden sprach, erwiderte ihm der
Imperator mit Härte in Ton und Mienen : „Noch drei Jahre und
ich bin Herr des Universums." ***)
*) Corresp. XXI. 17.434. 17.435.
♦*) Gohier, Memoires II. 108.
***) Heil mann, Wrede S. 187. Dieses Zeitausniaß war jedoch
nur ein beiläufiges. Im November 1811 soll er zu De Pradt gesagt
haben: „In fünf Jahren bin ich der Herr der Welt. Es gibt nur noch
Rußland, und das werde ich zermalmen.'* (De Pradt, Histoire de
l'ambassade dans le Grandduche* de Varsovie en 1812, p. 23.*
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Verwicklung mit Rußland. 39
Je fester Napoleon auf den schließlichcn Erfolg seiner
Kontinentalpolitik wider England baute, um so mehr mußte
ihm darum zu tun sein, den britischen Waren auch die letzte
Zuflucht zu rauben: die russischen Häfen. Er hatte sich also
vor allem mit Kußland auseinanderzusetzen, um es für den
Anschluß an seine Maßregeln gegen die neutrale Flagge, an
seinen Zolltarif zur Abwehr der Kolonialwaren und an sein
Vernichtungsdekret wider die Depots englischer Manufakturen
zu gewinnen. Das war nun entweder auf gütlichem Wege, wenn
der Zar sich fügte, oder mit Gewalt denkbar, wenn er wider-
strebte. Wie die Dinge lagen, war das Letztere das wahr-
scheinliche.
Wir kennen schon die ersten Anfänge einer ernsten Ver-
stimmung unter den beiden Alliierten. Sie datiert vom Kriege
des Jahres 1809 her, wo es Rußland an Eifer der Unterstützung
gegen Österreich fehlen ließ, worauf dann Napoleon das
Herzogtum Warschau durch galizisches Land vergrößerte. Die
Vermählung des Kaisers mit einer österreichischen Erzherzogin
konnte bereits als ein Schachzug gegen die Macht des Zaren
dargestellt und erzählt werden, daß genau an demselben Tage,
an dem Napoleon den Fürsten Schwarzenberg in Paris
zur Unterzeichnung des Heiratskontraktes auffordern ließ —
d. i. am 6. Februar 1810 — dem Gesandten in Petersburg
geschrieben wurde, ein von ihm am 4. Januar unterzeichneter
Vertrag könne die Ratifikation nicht erhalten. Dieser
Vertrag betraf Polen. Alexander I., voll Sorge, das Herzogtum
Warschau könnte sich einmal unter dem Protektorate des
Franzosenkaisers über das ganze Gebiet des alten National-
reiches erstrecken, hatte von Frankreich Garantien hierüber
gewünscht, und Canlaincourt, dem noch immer seine In-
struktion vor Augen lag, Rußland zu beruhigen, war darauf
eingegangen und hatte in aller Form versprochen, daß das
Königreich Polen niemals wiederhergestellt, ja der Name
„Polen" in öffentlichen Dokumenten von Niemandem ge-
braucht werden solle. Dies unterschreiben hieß für Napoleon
eine der wertvollsten Waffen gegen Rußland aus der Hand
legen, an der er in den Jahren 1806 und 1809 emsig ge-
schmiedet hatte, und überdies mit seiner Kraft dafür einstehen,
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40 Die polnische Frage.
daß der Versuch zu einer Herstellung Polens auch von keiner
anderen Seite mit Erfolg gewagt wurde. Und wenn jetzt noch
eine Nötigung vorhanden gewesen wäre, dem Zaren dieses
Zugeständnis zu machen. Aber eine solche lag, seitdem die
österreichische Heirat den Kaiser Franz an Frankreichs Seite
gebracht hatte, nicht mehr vor. Kurz, Napoleon ratifizierte
nicht, und nur um den Alliierten nicht zu brüskieren, ließ er
in Petersburg ein Gegenprojekt in Vorschlag bringen, mit
dem er sich lediglich verpflichten wollte, keine Unternehmung,
die auf die Restauration des alten Jagellonenreichs abzielte,
zu unterstützen und seinerseits die Bezeichnung „Polen" zu
vermeiden. Das sollte in einem geheimen Vertrage verbrieft
werden. Damit war aber Alexander nicht zufrieden. Er
wünschte einen offenkundigen Traktat, der den Fran-
zosenkaiser vor aller Welt verpflichtete, d. h. ihm die Polen
entfremdete; er blieb bei seinem ursprünglichen Verlangen
und berief sich auf die Zusagen, die er kurz nach Abschluß des
Schönbrunner Friedens erhalten hatte.*) „Der Kaiser," sagte
er zum französischen Gesandten, „hat mir doch die positivste
Sicherheit versprochen und damals auch geben wollen; warum
nun nicht mehr?" Die Antwort hätte der Wahrheit gemäß
lauten müssen: Weil der Kaiser der Franzosen, der sich jetzt
schon für den „einzigen Herrn Europas" hält, den Bruch mit
Rußland bereits fest ins Auge gefaßt hat und nur den Vorteil
gewinnen will, ihn dann in Szene zu setzen, wann es ihm
taugen wird.
In einem Vortrag Champagnys vom 16. März 1810 wird
es als unabwendbar angenommen, daß die wirtschaftliche Lage
des Zarenreiches dieses, namentlich nach der Vernichtung
des holländischen Zwischenhandels, früher oder später Groß-
britannien zutreiben werde. An einen definitiven ehrenvollen
Frieden Frankreichs mit dieser Macht sei nun aber nicht
zu denken, da sie die Veränderungen in Spanien, Neapel,
Holland und Westfalen (Hannover) nie gutheißen und die
Kolonien nicht zurückgeben, alles andere aber nur einen
kurzen Waffenstillstand bedeuten und die französischen Ge-
*) Siehe Band U. S. 822, für das Frühere S. 327.
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Ein Expos£ Charapagnys. 41
schäftsleute zu falschen Hoffnungen verleiten würde. „Ohne
deshalb die Mittel zu verschmähen, mit denen der Zweibund,
dessen Grundlage nun zusammenbricht, noch forterhalten
werden kann und ohne auch auf jede Aussicht zu verzichten,
in einer Unterhandlung mit dem britischen Kabinett einige
Sicherheit zu gewinnen, müssen wir doch von vornherein Kur-
land als den natürlichen Verbündeten Englands betrachten
und auf dem Kontinent die möglichen Eesultate der An-
näherung dieser beiden Mächte bekämpfen, solange dies noch
in unserer Macht steht . . . Indem Eure Majestät den Frieden
zwischen Kußland einerseits und England und der Türkei
anderseits hintanhält, sichert sie sich die Möglichkeit, die
spanische Affaire zu beendigen, die Briten aus Portugal zu ver-
jagen und ihre Herrschaft im Westen und im Süden zu be-
festigen." Das wichtigste Mittel, sich für den Systemwechsel
Rußlands zu rüsten, sei, sich der Polen völlig zu versichern, ent-
weder indem man Preußen — das überhaupt aufzuteilen wäre - —
Schlesien abnimmt und so die Verbindung Warschaus mit
Sachsen herstellt, oder indem man alle ehedem polnischen
Lande vereinigt und Österreich für Galizien durch Schlesien
und Glatz entschädigt. „Der Nachteil, der darin läge, Österreichs
Macht in Deutschland vermehrt zu haben, würde durch zahl-
lose Vorteile dieses Planes aufgewogen, der unwiderruflich die
Geschicke Europas in die Hände Eurer Majestät legte. E3
wäre dann tatsächlich das Reich Karls des Großen wieder-
hergestellt, vermehrt und gestärkt durch die Erfahrungen eines
Jahrtausends, denn dann wäre Rußland von dem zivilisierten
Europa, England vom Kontinent getrennt."*) Napoleon war
durchdrungen von der Richtigkeit dieser Sätze. Er lehnte denn
auch den von Alexander gewünschten offenen Vertrag wegen
*) Das geheime Expose Champagnys steht bei Schilder, Ale-
xander I., III. 471 ff. Es ist als Interzept aus dem Jahre 1812 be-
zeichnet. Wahrscheinlich wurde es aber schon 1810 in Paris von
Xesselrode erworben. S. dessen Briefe an Speranski in seinen „Lettres
et papiers", Hl. p. 249 ff. Wir wissen, daß Napoleon an solchen
Denkschriften mitunter selbst mitarbeitete. Ob das hier der Fall war,
laßt sich nicht feststellen. Der Gedanke an eine Fälschung, wie wir
einer solchen in einem späteren Memoire über Preußen begegnen, kann
hier nicht Raum gewinnen, da jeder innere Anhaltspunkt dafür fehlt.
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42 Alexander und Czartoryski.
Polens endgültig ab, „da er sich nicht verpflichten könne unter
Umständen die Waffen gegen ein Volk zu ergreifen, das ihm
nur gute Dienste erwiesen habe; er müßte das wie eine Schande
für Frankreich empfinden," und als ihm Fürst Kurakin, der
Bruder des Gesandten, die etwas verspäteten Glückwünsche
des Zaren zu seiner Heirat überbrachte, sprach er bereits von
Krieg, den er zwar nicht wolle, den er aber in dem Augenblick
erklären würde, wo Rußland sich England näherte.*) Alles,
wozu er sich herbeiließ, war, daß er die Polen zur Buhe
mahnte, um des Zaren Verdacht nicht zu wecken.
Der russische Monarch wußte längst, woran er war. Schon
im März und April 1810 hatte er in Unterredungen mit Czar-
toryski den alten Gedanken einer nationalen Einigung Polens
unter seinem Zepter zur Sprache gebracht und dem Jugend-
freunde versichert, es sei dem Franzosenkaiser viel weniger
um die Wohlfahrt Polens als darum zu tun, „sich dieses Landes
wie eines Instruments in dem Zeitpunkte zu bedienen, wenn
er einmal Rußland den Krieg machen will". Das war zu derselben
Zeit, da er in Paris auf die Vertilgung des Namens „Polen *
drang. Als Czartoryski, der hiervon unterrichtet war, auf den
Widerspruch hinwies, log ihm der Zar vor, nicht er, sondern
Champagny hätte die Streichung des Wortes verlangt. Ja,
später, als Napoleon schon endgültig abgelehnt hatte, ließ er
noch heimlich in Warschau verbreiten, in Paris sei der Ver-
trag, der die Vernichtung der Nation aussprach, angenommen
worden und der Kaiser habe sich damit ihrer Sympathie für
allezeit unwürdig gemacht. So gewinnt die ganze von Alexander
eingeleitete Verhandlung in der polnischen Frage den Cha-
rakter einer großen Intrigue, um den französischen Einfluß in
Warschau aus dem Felde zu schlagen. Sie repräsentiert eins
der Mittel, mit denen auch der Zar sich auf den bevorstehenden
Bruch rüstete. Aber während Napoleon ihm gegenüber noch
bei Drohungen blieb, hat er bereits im Januar 1810 sich
*) Vandal, II. 420. Im Dezember 1810 sagte Napoleon zu
üeneral Foy, er habe 120.000 Mann ausgehoben, denn sobald Rußland
sich England nähern würde, müßte er ihm den Krieg erklären. Nach
Giraud de PAin, Le gene>al Foy, zitiert von Sorel, VII. 521.
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Russische Rüstungen. 43
militärisch in Stand zu setzen begonnen,*) so daß er zu Anfang
des nächsten Jahres Czartoryski gegenüber bereits — aller-
dings arg übertreibend — auf eine Wehrkraft von über
300.000 Mann, die in den Donaufürstentümern nicht gerechnet,
hinweisen und ihm den Gedanken nahe legen kann, die
polnische Armee möge sich ihm anschließen, damit er, von
Preußen unterstützt, mit 100.000 Mann seiner Truppen sofort
bis an die Oder vorrücken könne.**) Und auch in Wien
hatte Alexander um Unterstützung geworben, wo es trotz
der Heirat noch immer eine starke franzosenfeindliche,
dem leitenden Minister abgeneigte Partei gab, deren Ein-
fluß Metternich aber, nachdem er aus Paris zurückgekehrt
war, ohne große Mühe zu entkräften vermochte. Damals — im
Oktober 1810 — hatte er dem Kaiser Franz I. seine dort ge-
wonnene Überzeugung also vorgetragen: „Im Jahre 1811
wird der materielle Friede auf dem europäischen Kontinent
durch eine neue Schilderhebung Frankreichs nicht gestört
werden. Im Verlaufe dieses Jahres wird Napoleon mit ver-
stärkten eigenen Streitkräften seine Bundesgenossen zu einem
gegen Rußland gerichteten Hauptschlage sammeln. Den Feld-
zug wird Napoleon im Frühjahr 1812 beginnen."
Blieb der Franzosenkaiser ununterrichtet von jener In-
trigue seines Alliierten und dessen Rüstungen? Das kann man
schwer annehmen, und wir wissen auch, daß er von Warschau
her über militärische Bewegungen jenseits der russischen
Grenze Andeutungen erhielt. Waren sie nur eine Folge seiner
Drohungen? oder stand der Krieg doch näher als er sich ihn
gedacht? und mußte er mit der Möglichkeit rechnen, daß er
ausbrach, noch bevor es ihm gelungen war, „die spanische
Affaire zu beendigen"? Darin hätte keine geringe Gefahr
gelegen, denn seine besten Truppen standen jenseits der
Pyrenäen, und was in deutschen Territorien stationiert war,
war verhältnismäßig wenig. Er mußte nun ernstlich an die Ver-
mehrung seiner Streitkräfte denken. Inzwischen mochte die
*) Im Jänner 1810 wird Miloradowitsch zum Oberkommandanten
einer neuen Armee von zunächst 45.000 Mann ernannt. (Russ. General-
stabswerk über 1812, I. 23.)
**) Czartoryski, Memoire*, IT, 228.271 ff. Vandal, II. 433.
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44
Der türkische Konflikt.
Diplomatie ihre Schuldigkeit tun. Die Differenz in der
polnischen Frage bildete übrigens nur ein einziges Glied in
einer ganzen Kette von Zwistigkeiten, die sich im Laufe der
beiden Jahre 1810 und 1811 zwischen den Alliierten von
Tilsit ergaben. Ein nicht minder trennender Umstand lag dort,
wo Napoleon Kußland heimlich stets aufs eifrigste bekämpft
hatte: in der Türkei. Die Russen waren siegreich über die
untere Donau gegangen und hatten so entschiedene Erfolge
errungen, daß der Friede mit der Pforte in nahe Aussicht
rückte. Napoleon war davon aufs unangenehmste berührt, denn
er mußte die fortdauernde Beschäftigung russischer Streit-
kräfte im Süden wünschen, wenn er einmal im Norden Zugriff.
Um dies durchzusetzen, suchte er, da er nicht offen gegen
den Alliierten auftreten wollte, Österreich vorzuschieben. Er
riet Metternich, Serbien zu okkupieren, das Rußland für sich
forderte, und versprach, ruhiger Zuschauer zu bleiben, wenn
der Wiener Hof dem Zaren die Donaufürstentümer streitig
machte. Kaiser Franz ging hierauf ebensowenig ein, als er
den lockenden Versprechungen des Zaren nachgab. Jener hatte
aber doch erreicht, daß die Türkei, von dem Interesse, das
Frankreich und Österreich an ihrem Schicksal nahmen, unter-
richtet, in ihrem Widerstande gegen die russischen Forderun-
gen beharrte und der Krieg seinen Fortgang nahm.
Das waren jedoch untergeordnete Dinge im Vergleich mit
der Hauptangelegenheit, d. i. der Haltung Rußlands in Sachen
der Kontinentalsperre. Sie war es, die der Entfremdung von
Anfang an zugrunde lag und auch schließlich den offenen
Bruch herbeiführen sollte. Wir sahen, wie richtig man in
Paris dieses Moment einschätzte. Kein geeigneteres gab es,
um die wahren Absichten der Petersburger Regierung kennen
zu lernen. Ging hier der Zar auf die Zumutungen Frankreichs
ein, dann stand der Krieg noch nicht in unmittelbarer Nähe
und Napoleon konnte hoffen, mit den Spaniern fertig
zu werden, ehe er seine ganze Kraft für den unvermeidlichen
Kampf um den Kontinent verwendete, weigerte Alexander sich
aber, dann konnte der weit ungünstigere Fall intreten, daß er
nach zwei Seiten hin kämpfen mußte. Man wollte sehen.
Mitte Oktober 1810 hatte Napoleon den Zar auffordern
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Rußland und die Kontinentalsperre. 45
lassen, die Schiffe neutraler Flagge, „die ja doch nur englische
Waren führen*', an seiner Küste mit Beschlag zu belegen, wie
es seit dem Mai in den französischen und den Frankreich
zugewandten Hafen der Fall war. „Nimmt sie Bußland in
Beschlag," heißt es in der betreffenden Depesche an den Ge-
sandten, „so versetzt es England den Gnadenstoß und endet
mit einem Male den Krieg." Und an Alexander selbst schrieb
der Kaiser: „Es hängt nur von Ew. Majestät ab, den Krieg
andauern zu lassen oder den allgemeinen Frieden herbei-
zuführen." Zugleich ward der Zar ersucht, auf Schweden ein-
zuwirken, daß es die Massen englischer Handelswaren in seinen
Gothenburger Lagerhäusern vernichte. Um Alexander Zu-
trauen einzuflößen, ging der Franzosenkaiser dem jungen
Grafen Tschern ischeff, Alexanders vertrautem Adjutanten
gegenüber weit aus sich heraus und gab sogar das Geheimnis
preis, daß Metternich ihm zur Zurücknahme der Erfurter Zu-
sagen geraten habe. Alles umsonst. Der Zar lehnte ab. Er
konnte nicht anders. Seit dem Abbruch der direkten Handels-
verbindung mit England im Jahre 1807, als sich der Export
russischer Naturalien seines wichtigsten Debits begab, hatten
sich die ökonomischen Verhältnisse des Landes in steigendem
Maße verschlechtert. Schon drei Jahre später erhob sich das
Defizit zur Höhe der Staatseinkünfte, und das Papiergeld
sank auf ein Viertel seines Nennwertes. Wahrlich, wenn Napo-
leon im März 1811 der Pariser Handelskammer mit so großer
Zuversicht den Bankrott des nordischen Reiches in Aussicht
stellte, so wußte er wohl schon lange vorher, worin die finan-
zielle Bedrängnis des Alliierten ihren Ursprung hatte. Barg
es nicht den Wunsch, sie noch zu vermehren und die Kata-
strophe zu beschleunigen, wenn er in Petersburg auch noch auf
eine Abweisung der Neutralen drang? Nein, der Zar durfte
hierauf nicht eingehen. Wo sollte er denn, einem künftigen
Angriff Napoleons gegenüber, noch wirksame Unterstützung
in der Welt finden, wenn er selbst jetzt England ruinieren half?
Er -erwiderte das Ansinnen Frankreichs mit der Erklärung^ er
wolle gerne nach wie vor an dem antibritischen System des
Tilsiter Vertrages festhalten und jedes Schiff, das nicht den
untrüglichen Beweis seiner Herkunft liefern könne, wegnehmen,
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46
Alexander I. und die Neutralen.
dürfe sich aber nicht entschließen, darüber hinauszugehen, da
Bußland die Kolonialprodukte nicht entbehren könne und auf
die Zufuhr der Neutralen angewiesen sei. Daß die Letzteren
lediglich britische Waren führten, stehe nicht außer Zweifel.
Dagegen erkläre er sich bereit, auf Schweden den von Napo-
leon gewünschten Druck auszuüben, und lasse zu diesem. Zweck
Tschernischeff seinen Kückweg nach Paris über Stockholm
nehmen. Der Franzosenkaiser erfuhr es ja nicht, daß hier der
Sendling des Zaren einen ganz anderen Auftrag auszurichten
hatte. Er hatte Bernadotte zu versichern, daß sich Rußland
niemals zu einer Zwangsmaßregel gegen Schweden bestimmen
lassen werde, worauf der „Kronprinz" von Beteuerungen seiner
Ergebenheit für den Zar und seiner Abneigung gegen Napoleon
überfloß.*) Mit der Weigerung des Zaren war die Politik
Napoleons an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen. Denn
sobald Rußland die neutrale Flagge in seinen Häfen duldete,
blieb der Kontinent dem britischen Export offen, und Eng-
land konnte daraus neue Hoffnung und Kraft zum Wider-
stande schöpfen. Wenn noch irgend etwas zur Überzeugung de3
Imperators fehlte, daß er Rußland vorerst bekämpfen müsse,
um England zu Grunde zu richten und der Welt Herr zu werden,
so fand er es in einer Maßregel Alexanders, die einen geradezu
feindseligen Charakter gegen Frankreich trug, obgleich auch
sie durch das wirtschaftliche Interesse des russischen Staates
entschuldigt werden konnte. Ende Dezember 1810 erschien
ein Ukas, der einerseits neutralen Schiffen den Zugang zu den
russischen Häfen erleichterte, so daß fortan Kolonial- und
Industriewaren unter jedem Vorwand ausgeladen und südwärts
über Brody und auf anderen Wegen nach den Binnenländern
verhandelt werden konnten, anderseits aber die Einfuhr von
gewissen Luxusartikeln, von Seidenwaren und Weinen, teils
verbot, teils durch hohe Zölle bis zur Unmöglichkeit er-
schwerte.**) Nun gehörten Seidenwaren, Weine und Luxus-
*) Unter anderem vorsicherte er, er sei von Napoleon, aus
Eifersucht, im Felde stets so postiert worden, daß er leicht hätte fallen
können. (Revue hist. XXXVII. 74; Sbornik, XXI. 24) Man ver-
gesse nicht, Bernadotte war ein Gaskogner.
**) Der Ukas steht in französischer Übertragung im „Moniteur tt
vom 81. Jänner 1811.
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Die Oldenburger Frage. 47
artikel unter die Haupterzeugnisse Frankreichs und bildeten
die wesentlichsten Gegenstände seines Exports. Da mußte denn
gerade jetzt, wo die französische Industrie unter einer Krisis
litt und die Ausfuhr nach Rußland dringender als je benötigt
hätte, das Edikt Alexanders doppelt schwer empfunden werden.
Dazu kamen neue Nachrichten von russischen Rüstungen, von
Festungsbauteii am Dnjepr und an der Dwina, und aus
Spanien noch immer keine Siegesbotschaft, sondern das Ver-
langen Massenas nach Verstärkungen, da er sich sonst der
britischen Verteidigungswerke vor Lissabon nicht bemächtigen
könne: es waren keine erfreulichen Aussichten, unter denen
das Jahr 1811 begann.
Aber war nicht Napoleon selbst mit einem Willkürakt
vorangegangen, der Rußland empfindlich treffen mußte?
Unter den norddeutschen Strandländern, deren Einverleibung
in Frankreich im Dezember, kurz nach dem Eintreffen der
russischen Absage, Gesetz wurde, befand sich, wie erwähnt,
auch Oldenburg, dessen Fürst mit dem russischen Herrscher-
hause nahe verwandt war.*) Napoleon hatte anfänglich dem
Herzog die Wahl gelassen, ob er sein Land für eine Ent-
schädigung durch Erfurt dahingehen oder französische
Truppen und Zollwächter darin aufnehmen wolle. Aber als
der bedrängte Regent erst nach einigem Säumen auf die
letztere Zumutung einging, ward ihm — das alte Spiel —
bedeutet, es sei nun zu spät und sein Land bereits einverleibt.
Am 22. Januar — die Nachricht vom Ukas des Sylvestertages
war eben in Paris eingelangt — unterzeichnete Napoleon
das Dekret, das die Besitzergreifung Oldenburgs anordnete
und die herzogliche Familie mit ihren Rechten an Erfurt wies,
das, ehevor kurmainzisch, dann preußisch, seit 1806 zur Dis-
position der französischen Verwaltung stand. Es war nicht
unrichtig, wenn der Zar dem französischen Botschafter erklärte,
die Tat sei ein Faustschlag, ihm vor ganz Europa ins Gesicht
versetzt, und zugleich eine flagrante Verletzung des Tilsiter
Friedensvertrages, mit dem Napoleon die Integrität Olden-
*) Herzog Feter, der für seinen geisteskranken Vetter Wilhelm
die Regierung führte, gehörte, wie der Zar, dem Hause Holstein-
Gottorp an; sein jüngerer Sohn Georg war dessen Schwager.
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48 Offensivpläne des Zaren.
burgs feierlich garantiert hatte. Er wandte sich in einem
Rundschreiben an die europäischen Mächte, worin er Ver-
wahrung einlegte gegen die Kränkung der Rechte des Hauses
Holstein-Gottorp auf das Herzogtum. „Welchen Wert" — hieß
es darin — „können die Allianzen haben, wenn die Verträge,
auf denen sie beruhen, den ihrigen nicht behalten?" Also war
dies der Bruch? Xoch nicht. Der Schluß des Protestes lautete
einlenkend und die Fortdauer der Allianz trotz alledem be-
tonend. Aber das waren Worte. Die Handlungen der russischen
Politik ließen eine Verständigung nur schwer zu. Der Zar wie«
nicht nur das Ansinnen Napoleons, den Ukas vom 31. Dezember
zu widerrufen, zurück, indem er erklärte, das sei eine durch
die üble Finanzlage des Landes diktierte, rein interne An-
gelegenheit, sondern schob auch zu gleicher Zeit seine Truppen
an die Grenze vor, um, wie er es schon Czartoryski mitgeteilt
hatte und nun auch dem preußischen Gesandten erklärte, in
das Herzogtum Warschau einzurücken, die Polen an sich zu
ziehen, an die Oder vorzudringen und so den Krieg zu einer
Zeit zu beginnen, wo Napoleon in Spanien vollauf beschäf-
tigt, in Deutschland noch nicht hinreichend widerstands-
fähig war. Der Kalkül war nicht ganz richtig, denn ein-
mal war es durchaus nicht sicher, ob die Polen sich
nicht ernstlich widersetzten, und zweitens konnten auch die
deutschen Mittelmächte, zum mindesten Österreich, den
starken Machtzuwachs Rußlands nicht gleichgültig mitansehen,
geschweige denn unterstützen. Und da die Rüstungen des
Zaren nicht völlig verborgen blieben, so brachten sie — wenn
es nicht zur Offensive kam — nur den Nachteil, Napoleon zu
um so größeren Anstrengungen bewogen zu haben, der jetzt
mit allen Mitteln danach trachten mußte, einem Zusammen-
stoß in Deutschland gewachsen zu sein. Er hatte freilich
schon im Oktober 1810 für diesen Zweck Anordnungen ge-
troffen — die Streitkräfte sollten dort auf 180.000 Mann und
400 Geschütze gebracht, in Polen neue Befestigungen ange-
legt werden*); mit Eifer zu rüsten hatte er aber doch erst
*) Corresp. XXI. 17.000: An den Kriegsminister Clarke vom
6. Oktober 1810, mit der Bemerkung: „Nehmen Sie in Betracht, daß
die Truppen in Spanien noch lange dort zu bleiben haben.**
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Französische Rüstungen. 49
nach dem Eintreffen der Nachricht von Alexanders Dezember-
Ukas begonnen. Da erhielt Massena den Bescheid, er müsse
sich ohne Nachschübe behelfen, und Davout, der mit einer
Armee an der Elbe stand, die Nachricht, seine Streitkräfte
würden auf 80.000 Mann gebracht werden, mit denen er —
so hieß es in einem späteren Befehl aus dem März 1811 —
„wenn es sich darum handeln sollte, gegen Rußland zu ope-
rieren", im Fluge nach Danzig zu eilen und die 90.000 Mann,
über die er dann dort verfügen würde, durch 50.000 Polen
und Sachsen zu verstärken hätte.*) Es war eine wertvolle
Unterstützung für Napoleon, daß die Polen sich, wie Czar-
toryski seinem kaiserlichen Freunde nicht verschwieg, den
Lockungen Alexanders versagten und damit dem russischen
Offensivplan seine wesentlichste Voraussetzung raubten. Der
Zar kam auch davon zurück und wollte nun nur noch einen
Verteidigungskrieg innerhalb der Grenzen seines Reiches
führen.**) Napoleon aber behielt Zeit und Gelegenheit genug,
sich militärisch in Stand zu setzen. Beide Kaiserreiche sind
fortan zum Kampf entschlossen, aber beide sorgsam auch
darauf bedacht, es weder sich gegenseitig noch die Welt merken
zu lassen. Eines Jeden Bemühung ging dahin, sich Bundes-
genossen und Hilfskräfte zu schaffen und nebenher bis zum
letzten Augenblick seine Friedensliebe und Bundestreue zu
*) Corresp. XXI. 17.514. In einem zweiten Briefe von demselben
Tage (24. März 1811) erklärte der Kaiser, daß er, woferne ihn die
Russen nicht angreifen sollten, was er, solange sie mit den Türken
handgemein sind, wohl annehme, seinerseits keine Angriffsbewegung
während des Jahres 1811 machen, sondern nur rüsten wolle, bis er
durch Unterhandlungen Zeit gewonnen haben werde, eine offensive
Position zu erlangen. (Corresp. XXI. 17.516.) Im Dezember 1811 gab
er dem preußischen Gesandten Krusemarek zu, daß er seit dem Er-
seheinen des i-ussischen Ukas sich im Stillen für den Krieg bereitet
habe.
**) Alexander erklärte dies später, indem er darauf hinwies, wie
während der früheren Kriege in der Ferne der Adel stets unmutig
darüber geklagt habe, daß man ihm für entlegene Zwecke seine
Bauern rekrutiere, und die Regierung beschuldigte, den Streit leicht-
fertig hervorgerufen zu haben. Darum sollte es jetzt ein Verteidigungs-
krieg im eigenen Lande, ein nationaler Krieg sein. (C. Schilder,
Alexander I. III. 501.)
Fournier, Napoleon 1. 4
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50
Maret und Caulaincourt.
beteuern. Dabei war kein kleiner Aufwand an Künsten und
Finessen der Politik nötig, für die Napoleon in Champagny
nicht mehr den richtigen Mann sah; er enthob ihn im April 1811
seines Amtes als Minister des Äußern und vertraute das
Portefeuille Maret an, der sich weit rascher und ge-
schmeidiger seinen Winken zu fügen verstand. Auch Cau-
laincourt, der den schönen Worten, mit denen Alexander
seine Absichten verbarg, zu viel Glauben geschenkt hatte,
ward aus Petersburg abberufen und durch Lauriston, einen
Mann ohne eigenes Urteil, ersetzt. Wir kennen heute
den Inhalt des sieben Stunden währenden Gesprächs, das
Napoleon mit dem heimkehrenden Botschafter führte^
der dabei mit großer Offenheit erklärte, man müsse Ruß-
lands ökonomische Lage in Rechnung ziehen und ihm des-
halb den Handel mit den Neutralen gewähren, habe doch
der Kaiser selbst die Blockadegesetze mit seinen Lizenzen
durchbrochen; worauf Napoleon nicht viel anderes zu erwidern
wußte als er wolle keinen Frieden, der, wie jener von Amiens,
seinen Handel ruiniere — was nicht richtig war — er wolle
eine Allianz, die ihm nütze; diese sei dazu nicht mehr imstande,
seitdem man die Neutralen zulasse, sie sei ihm überhaupt nie
förderlich gewesen. Da ging dann Caulaincourt so weit, ihm
es auf den Kopf zuzusagen, man wisse in Europa nur zu gut,
daß er die Länder mehr für sich als für deren eigenes Interesse
in Anspruch nehme.*)
Das war am 5. Juni 1811 gewesen. Am 16. — einen Tag
vor Eröffnung des Nationalkonzils — hielt der Kaiser vor dem
Gesetzgebenden Körper eine Thronrede, die sein System all-
seitiger Ausdehnung auf seiner vollen Höhe zeigen sollte. Er
habe den Kirchenstaat mit dem Kaiserreich vereinigt und den
Päpsten in Paris und Rom Paläste angewiesen. „Sie werden,
wenn ihnen sonst die Interessen der Religion am Herzen liegen,
oft ihren Aufenthalt im Mittelpunkt der Christenheit (d. i.
in Paris) nehmen, so wie einst der hl. Petrus Rom dem Auf-
enthalt im heiligen Lande vorgezogen hat." Er habe Holland
dem Reiche einverleibt, das ohne dieses Gebiet nicht vollständig
*) Vandal III. 175 ff. nach unedierten Dokumenten.
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Diplomatische Weiterungen. 51
wäre, habe die deutschen Küsten annektiert, um eine innere
Verbindung mit der Ostsee zu gewinnen und seine maritimen
Hilfskräfte zu vermehren; die Erwerbung von Wallis sei seit
der Mediation vorgesehen gewesen und entspreche den Inter-
essen der Schweiz und denen Frankreichs und Italiens; mit
den deutschen Rheinbundfürsten sei er zufrieden. In Spanien
habe England selbst sich als Kämpfer eingestellt. „Hat es
dort erst seine Kräfte erschöpft, hat es erst all die Übel an
sich selbst erfahren, die es seit zwanzig Jahren über den
Kontinent ausgießt, ist erst die Hälfte seiner Familien in
Trauer gehüllt, dann wird ein Donnerschlag den Krieg auf der
Halbinsel beenden, Britanniens Armeen vollends vernichten
und Europa und Asien mit diesem Abschluß des zweiten
punischen Krieges rächen." *)
„Und Asien 1" Man sieht, sein Blick wich nicht von Indien,
diesem stolzen Ziele seines Ehrgeizes. Es zu erreichen, führte
ein Weg über Ägypten, und wir wissen, wie er gerade jetzt
wieder eine Expedition dahin in seine Entwürfe aufnahm,
sich allerdings nicht verbergend, daß dazu eine Seemacht
nötig sei, über die er noch lange nicht verfügte. Es gab aber
noch einen andern Weg dahin, der über Rußland führte und
durch Landsiege zu erkämpfen war: Wollte man solche Siege,
dann bedurfte es, sie vorzubereiten, nur noch tüchtiger
Rüstungen während einiger Monate. Diese Zeit zu gewinnen,
war fortan Napoleons wesentlichstes Bestreben, um so mehr,
als gerade jetzt der Rückzug seines besten Marschalls aus Por-
tugal die Hoffnung auf das Freiwerden der auf der Halbinsel
engagierten Armeen stark herabgestimmt hatte. Er spann des-
halb die Oldenburger Angelegenheit in Verhandlungen mit
Alexander weiter, indem er den Zar, nachdem Erfurt abgelehnt
worden war, aufforderte, ein anderes Entschädigungsobjekt zu
nennen. Als da aber, kaum angedeutet, der Wunsch nach einem
Stück des Warschauer Gebietes zum Vorschein kam, erklärte
Napoleon dem Botschafter Kurakin in offener Audienz am
15. August 1811: man möge sich nicht einbilden, daß er dem
Herzog von Oldenburg jemals, und selbst wenn die russische
*) Corresp. XXH. 17.813.
4*
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52 Diplomatische Weiterungen.
Armee auf dem Montmartre lagern sollte, auch nur einen
Zoll breit warschauischen Landes abtreten würde, dessen
Integrität er garantiert habe. Es sei zwar nicht gerade sein
Geschmack, im Norden Krieg zu führen, er werde ihm aber,
wenn man ihn dazu zwinge, nicht ausweichen und Ruß-
land, das keinen Alliierten finden werde, seine polnischen
Provinzen abnehmen.*) Das war dieselbe Sprache, der wir
bereits 1803 vor dem Kriege gegen England begegnet sind; hier
ist sie dazu bestimmt, die Polen für sich zu beeinflussen. Ale-
xander leugnete natürlich jede Absicht auf polnisches Land
ab, machte aber auch keinen anderen Ersatzanspruch gel-
tend, sondern benutzte vielmehr das ihm mit Oldenburg
angetane Unrecht als Handhabe für um so größere Nachgiebig-
keit gegen den neutralen Handel. Und damit verschärfte sich
der Gegensatz noch mehr; denn hier lag ja die Entscheidung.
„Ich sage es Ihnen noch einmal," schrieb Maret im November
1811 an Lauriston, „und Ihnen allein: die Affaire Oldenburg
bedeutet für Rußland und für uns sehr wenig, das Kontinental-
system ist alles. Nur dürfen Sie diese Frage nicht berühren
und aus der Linie nicht heraustreten, die Ihnen vorgezeichnet
ist." Das heißt, der Gesandte darf mit keinem Worte über
den eigentlichsten Gegenstand der Entfremdung sprechen, um
nicht am Ende den Bruch vor der Zeit herbeizuführen, die der
Kaiser für den Beginn der Feindseligkeiten bereits bei sich
festgesetzt hatte. Es war der Juni 1812.**) Bis zu diesem
Termin, den er gewählt, weil er dann erst mit seinen Vorberei-
tungen zu Rande zu sein und in Rußland gewisse für die Er-
nährung und Beförderung seiner Armeen notwendige Bedin-
gungen anzutreffen hoffte, bis dahin wird er immer aufs Neue
in den Zar dringen, sieh über ein Verständigungsmittel zu
äußern, und wenn Alexander darauf nicht einging, dessen
Schweigen der Welt gegenüber als feindselige Streitlust denun-
*) Vandal III. 212 ff. hat die Unterredung, die fast nur in
einem Monolog Napoleons bestand, nach Berichten des Gesandten und
anderer Zeugen rekonstruiert.
**) Siehe das gemeinsam mit Maret am 16. August 1811 — am
Tage nach der Ansprache an Kurakin — ausgearbeitete Memoire bei
Vandal, HI. 224.
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Die Urheberschaft des Krieges. 53
zieren, ihn als den eigentlichen Urheber des Krieges hin-
stellen. Und so ist es auch tatsächlich in weiteren Kreisen
Überzeugung geworden. *)
Noch vor Ende 1811 sagte Napoleon zu dem Gesandten
Preußens, man meine in Rußland, er sei in Spanien zu sehr
beschäftigt, um nach anderer Seite hin eine furchtbare Macht
aufzustellen. Das sei ein Irrtum. Er könne ganz gut die Eng-
länder auf der Halbinsel dulden, sie würden seine Armeen doch
nicht vertreiben. Zunächst müsse er freilich nun den Krieg im
Norden zu Ende führen, dann erst könne er sich wieder nach
Süden wenden.**) Und das stimmte zu den Tatsachen. Denn als
das Jahr, unter steten Beteuerungen seiner Friedensliebe, zu
Ende gegangen war, hatte er nicht nur Davouts Armee bis auf
100.000 Mann gebracht, aus Danzig und Magdeburg mit je
*) Die Urheberschaft des Krieges von 1812 ist vielfach, nament-
lich durch Vandal, Rußland zuerkannt worden. Und das ist insoferne
richtig, als der Zar schon 1810 militärisch und diplomatisch gerüstet
und im Jahre darauf eine Zeitlang sogar Lust zur Offensive gezeigt
hat. Er würde aber nach dem Refus der Polen, und wenn man ihn
wirtschaftlich nicht bedrängt hätte, den Krieg sicher gerne vermieden
haben. Anders stand die Sache bei Napoleon. Auch er war schon früh
im Jahre 1810 (siehe oben das Märzmemoire) von der Notwendigkeit
des Bruches überzeugt, da er als sicher annahm, daß Rußland sich nicht
freiwillig dem Kontinentalsystem einfügen werde nur daß er damals
den Krieg noch nicht in solcher Nähe sah, in der ihm dann ihn die rus-
sischen Rüstungen zeigten. Sie haben auch die seinigen beschleunigt und
die längst gefaßte Absicht, Alexander unter Umständen mit Gewalt
in seinen wirtschaftlichen Heerbann gegen England zu zwingen, früher
zur Tat werden lassen als er ursprünglich geplant hatte. Auch er hätte am
Ende auf den Waff engang in den nordischen Einöden nicht eben ungerne
verzichtet, aber doch nur um den Preis völliger Unterwerfung deB
Zaren unter seinen Willen, die er für ausgeschlossen halten mußte. So war
auch dieser Krieg nur die Folge seiner herrischen Diktate, gegen die sich
jetzt die letzte aufrechte Macht des Kontinents empörte, wie früher andere
sich empört hatten, und insoferne wird man in ihm, und in ihm allein,
den Urheber auch der russischen Fehde erkennen müssen. Damit stimmt,
was Metternich schon im Oktober 1810 an Nachrichten aus Paris mit-
brachte (siehe oben S. 43) und was er später, im Mai 1813, an Bubna
schrieb: „Wir haben das Unmögliche getan, um zu beweisen, daß
Rußland den Frieden störte." (Oncken, Österreich und Preußen im
Befreiungskriege, II. 378.)
**) Ranke, Hardenberg, III. 217.
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54
Frankreichs Streitkräfte.
25.000 Maiin Waffenplätze ersten Ranges gemacht, den
deutschen Rheinbund zur Aufstellung von 120.000 Streitern
vermocht, sondern auch zwei neue französische Armeekorps,
90.000 Mann, unter Oudinot und Ney am Nieder- und Mittel-
rhein errichtet, und durch Eugen eine italienische Armee von
80.000 Mann sammeln lassen, abgesehen von der Garde und
den Reserven und ganz unabhängig von den in Spanien fech-
tenden Streitkräften. Und alles das war fast unmerklich dis-
poniert worden, so daß Rußland kaum eine genügende Vorstel-
lung davon erhalten hätte, wenn es nicht Tscherniseheff, der in
Paris geblieben war, gelungen wäre, sich durch Bestechung
die wichtigsten Standesziffern zu verschaffen. Sie raubten dem
Zaren vollends alle Lust, hinter dem Niemen hervorzutreten,
aber sie nahmen ihm doch nicht, wie Napoleon gemeint haben
mochte, den Mut, den unvermeidlichen Kampf zu bestehen.
Wenn auch manche Stimme in seiner Umgebung — die seiner
Mutter, seines Bruders Konstantin, seines Kanzlers Rum-
jantzow — für den Frieden sprach, so gab es doch auch
andere, die zur Ausdauer rieten, namentlich die der fran-
zösischen und preußischen Emigranten. Der Sieg über die
Türken an der Donau und die Aussicht, seine dort stationierte
Armee bald an sich ziehen zu können, festigte die Zuversicht
des Zaren. Darum, und wohl auch, weil er seine Streitkräfte
weit überschätzen mochte, denn sie standen großenteils nur
auf dem Papier, schwieg er fortan auf Napoleons weitere Er-
öffnungen und Wünsche, sich über ein Verständigungsmittel
zu äußern, die er richtig als dilatorische Behelfe erkannte, und
ließ es ohne Gegenzug geschehen, daß der Franzosenkaiser
immer neue Kriegerscharen auf die Beine brachte und nach
Deutschland vorschob.
Es war ein riesiges Heer, das der Imperator ins Feld zu
stellen dachte. Viermalhunderttausend Mann versicherte er
dem preußischen, eine halbe Million dem österreichischen
Gesandten, und selbst diese Ziffer sollte schließlich noch hinter
der Wahrheit zurückbleiben. Solche Massen hatte seinerzeit
auch die Republik gegen ihre Feinde aufgeboten, doch mit dem
Unterschiede, daß damals der Enthusiasmus der jungen Freiheit
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Napoleons Despotismus im Innern. 55
und die Not des Vaterlandes die Volkskraft Frankreichs be-
wehrten, während jetzt nur der eiserne Wille des Herrschers
die Widerstrebenden unter die Waffen rief. Immer schwerer
lastete seit seinem letzten Kriegszuge sein Regiment auf den
Franzosen. In den Städten wurde das geringste Zeichen der
Unzufriedenheit, das sich hervorwagte, der Anlaß zu Miß-
trauen, Verfolgung und Strafen, und seit 1811 stieg die Zahl
der eingezogenen Staatsverbrecher auf dritthalbtausend. Sie
sind auf den bloßen Befehl des Kaisers oder seines neuen
Polizeiministers Savary hin arretiert worden und werden
— eine Neuauflage der alten „Lettres de cachet" —
ohne Prozeß gefangen gehalten, hier Einer, „weil er Napoleon
haßt", dort Einer, „weil er seit 1811 in Briefen an seinen
Bruder regierungsfeindliche Ansichten äußert", ein Dritter
wegen „religiöser Anschauungen" etc. Geschworene, die nicht
im Sinne der Regierung votiert haben, gelangen selbst vor die
Gerichte. Seit dem Februar 1810 gibt es eine besondere Zensur-
behörde in Paris mit einem Generaldirektor, mehreren Audi-
toren und an fünfzehn bis zwanzig Zensoren, damit die Zensur,
wie der Kaiser will, nicht der Polizei überantwortet bleibe.
Buchdrucker und Buchhändler werden in Eid und Pflicht ge-
nommen. Mit der größten Dienstwilligkeit wird nun verboten
oder verändert, was nur den Schein der Unzufriedenheit des
Gewaltigen erwecken konnte. Da muß z. B. aus einem Buch
eine anerkennende Stelle über die englische Verfassung
entfernt werden, ein anderes muß seinen Titel „Geschichte
Bonapartes", weil dies zu wenig submiß klingt, in „Denk-
würdigkeiten zur Geschichte der Feldzüge Napoleons des
Großen" umwandeln. Und bis an die fernen Grenzen des
Empire reicht die emsige Fürsorge der Zensur. Seitdem die
Hansestädte französisch sind, dürfen Schillers „Räuber",
„Maria Stuart", „Wilhelm Teil", Goethes „Faust" dort nicht
mehr aufgeführt werden. Und vollends die Zeitungen! Von
den ehedem unabhängigen Pariser Blättern sind zwei, der
„Publiciste" und der „Mercure de France" ganz unterdrückt,
die anderen verlieren ihre Fonds und werden völlig von der
Regierung abhängig. Ende 1811 gibt es nur noch vier Zeitungen :
den „Moniteur", das „Journal de PEmpire", die „Gazette de
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56 Wissenschaft, Kunst, Unterricht.
France" und das „Journal de Paris". Ein eigenes Amt (Bureau
de l'Esprit public) versorgt sie mit Siegesberichten aus
Spanien oder mit Artikeln über italienische und französische
Musik, um — während Hunderttausende zum blutigen Kampfe
sich rüsten — die Aufmerksamkeit der gelangweilten Haupt-
stadt von der Politik abzulenken. Freilich sucht Napoleon
diese Härte gegen die Presse auf der anderen Seite durch Aus-
zeichnungen für Gelehrte und Künstler wettzumachen. Er
schmückt sie mit dem Kreuze der Ehrenlegion, stattet sie mit
Pensionen aus, macht die Gros, Gerard, Guerin zu Baronen,
die Lagrange, Monge, Laplace zu Grafen und beklagt es, daß
Corneille nicht mehr lebe, den er zum Fürsten hätte erheben
wollen. Er kommt sogar, auf das Fürwort der Frau von Re-
musat, seinem Gegner Chateaubriand zu Hilfe und äußert ge-
legentlich sein Befremden, daß dessen „Genius des Christen-
tums" vom Institut noch nicht mit einem der „Zehnjahres-
preise" (Prix decennaux) bedacht wurde, die er 1804 zu dem
Zweck gegründet hatte, um Frankreich seinen Vorrang in der
litterarischen Welt behaupten zu helfen. Savary bemühte sich
sogar darum, daß der gefeierte Dichter nach Ch6niers Tod
1811 in die „Akademie", oder wie sie damals hieß, die zweite
Klasse des Instituts, gewählt werde. Nur daß Napoleon vorher
dessen Antrittsrede durchlas und wegstrich, was ihm nicht
gefiel, worauf sie ganz unterblieb.*) Im übrigen trug er Sorge,
daß die Universitätsschulen, namentlich die Lyceen, nicht
durch die sehr stark gewordene Konkurrenz der geistlichen
Schulen zurückgedrängt würden. Er erließ zu diesem Zweck
im Jahre 1811 ein Dekret, das die letzteren auf eine in jedem
Departement einschränkte, die nur in einer Stadt errichtet
werden durfte, in der e3 bereits ein Staatslyceum gab, worüber
die Präfektcn zu wachen hatten.**)
Und wie in den Städten, so mußte bald auch auf dem
flachen Lande die Regierung ihre Autorität mit harten Maß-
regeln stützen. Der französische Bauer hatte sich bisher als
*) S. Bärante, Souvenirs I. 341 ff.
**) Siehe die unterrichtende Studie Charles Schmidts: „La rS-
forme de l'Universite* imperiale en 1811 (Paris, 1905), p. 33 ff.
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Schwierigkeit der Konskription. 57
der zuverlässigste Anhänger des Kaisers erwiesen. Wohl zum
Teil deshalb, weil er, schwerer beweglich als der Bürger, bei
einer ergriffenen Partei länger beharrte und der Ordnung
schaffende General nun einmal sein Mann gewesen war; dann
aber wohl auch, weil im französischen Landvolk eine gewisse
Neigung für den Militärdienst vorherrschte, der immerhin eine
Anzahl Männer ernährte und — wenn der Tapfere nur not-
dürftig sich zu bilden verstand — in ansehnliche Stellungen
brachte. Napoleon konnte dreist sagen, wie er es tat: „Was
kümmert mich die Ansicht der Salons und der Schwätzer!
Ich höre nicht darauf. Ich kenne nur eine Meinung: die der
Bauern. Das Übrige hat keine Bedeutung." Aber auch diese
Zuneigung der Landlcute fand ihre Grenzen, als man auf
den Dörfern immer häufiger von den zahllosen Opfern
hörte, die der fürchterliche Krieg jenseits der Pyrenäen ver-
schlang, und daß nun ein zweiter beginnen sollte, in fernen
Landen, von deren Schrecknissen die Braven von 1807 genug
zu erzählen gewußt hatten. Kein Wunder, daß der Konskription
der Altersklasse von 1811, die dem Kaiser 120.000 Mann zu-
führen sollte, keinerlei Begeisterung entgegenkam. Bis an 8000
Franken zahlten die Bemittelten für einen Stellvertreter, und
von den Armen entflohen viele Tausende. Für die Ausreißer — es
waren teils solche, die sich der Stellung entzogen hatten, teils
solche, die nachher desertiert waren — wurden dann die
Familien, die Gemeinden, ja der ganze Kanton haftbar ge-
macht und dieses neue „Geiselgcsetz" mit größter Strenge
durch fliegende Kolonnen (Colonnes mobiles) durchgeführt.
Sie brachten von den 60.000 Flüchtlingen nur 30.000 ein;
der Rest versteckte sich in Wäldern und unzugänglichen
Gebirgsgegenden. Dieser Erfahrung entsprechend ward die
Aushebung von 120.000 Mann der Altersklasse von 1812 zu
Beginn dieses Jahres mit der größten Strenge bewerkstelligt.
All diese Rekruten wurden nach Deutschland dirigiert, während
im Reich über 100.000 Mann Nationalgarden aus den Jahr-
gängen von 1809 bis 1812 bis Lübeck hin die Garnisonen be-
zogen. Die weite Entfernung von den Heimatsorten empfanden
sie schwer, und nur die Not der letzten Mißernte machte vielen
das Soldatenlos erträglicher.
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58 Veränderungen im Rheinbund.
Und nicht minder hart, ja noch viel härter als auf Frank-
reich, drückte die Faust des „Protektors" auf die Lande des
deutschen Rheinbundes, dessen Fürsten im April 1811 Ordre
erhalten hatten, ihre Kontingente bereitzustellen. Westfalen,
durch die Verschwendungssucht seines Königs Jeröme finanziell
aufs Äußerste herabgekommen, so daß Steuererhöhungen und
Zwangsanleihen den Bankrott nicht mehr aufhielten, mußte
gleichwohl seine Armee auf 30.000 Mann erhöhen und über-
dies 20.000 Franzosen mit ihren Pferden ernähren, wodurch
die Vorteile der einheitlichen und zielsicheren Administration,
die vorbildlich für manchen anderen Rheinbundstaat ge-
worden war und ihre guten Früchte getragen hatte, fast gänz-
lich aufgewogen wurden. Als Jeröme Vorstellungen machte,
hieß es zurück, es stände ganz in seinem Belieben, von seinem
Throne herunterzusteigen. Ähnlich war es in Bayern, das zwar
nach dem Kriege von 1809 mit dem Gebiete des Dalbergischen
Bistums Regensburg belohnt worden war, dafür aber Südtirol an
Italien und Ulyrieü, Ulm und andere kleinere Territorien an
Württemberg abtreten, hohe Schuldsummen für den Schatz
des Kaisers auf sich nehmen und an 30.000 Mann für den
Krieg stellen mußte. Das besser angeschriebene Württemberg
tauschte 40.000 Seelen, die es an Baden abtrat, gegen 140.000,
die es von Bayern erhielt. Baden mußte für seinen Zuschuß
Hessen-Darmstadt vergrößern. Wie Spreu schüttelte der Korse
die deutschen Regierungen und Untertanen durcheinander! Der
Staat des Fürstprimas ward für den Entgang von Regensburg
durch Fulda und Hanau vergrößert und zum „Großherzogtum
Frankfurt" erhoben, freilich mit dem willkürlichen Vorbehalt,
daß nach Dalbergs Tode der Vizekönig Eugen, der durch die
Neuvermählung des Kaisers seine Aussichten auf den italie-
nischen Thron einbüßte, diese Souveränität antreten solle, „da
die weltliche Herrschaft von Priestern seinen Grundsätzen
entgegen sei", wie Napoleon sagte. Dalberg mochte fürchten,
der ungeduldige Machthaber jenseits des Rheins könnte diesen
Grundsätzen am Ende noch vor dem festgesetzten Termin
Rechnung tragen, und empfahl sich durch die servilste Ge-
fügigkeit, indes sein Volk unter den drückendsten Auflagen
seufzte und seine Truppen für den spanischen Krieg in weit
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Die Haltung seiner Fürsten. 59
größerem Maße herangezogen wurden als der Bundesvertrag
heischte. Er arbeitete im Jahre 1811 einen wohl für Napoleon
berechneten „Überblick über den Rheinbund und seine
Organisation" aus, mit dem er dessen Erweiterung zu einem
die ganze Nation umfassenden Deutschen Bunde unter
Napoleon als Erbmonarchen befürwortete.*) „Der Wille des
Kaisers", sagte sein Staatssekretär Eberstein, „ist bei uns
oberstes Gesetz." Allen voran aber rüstete Sachsen wie im
Fieber, namentlich im Herzogtum Warschau, wo Napoleon
ungeheure Vorräte an Kriegsmaterial aufhäufte. Alle Streit-
pflichtigen wurden einberufen, eine Nationalgarde ward er-
richtet. So standen die Regierungen des Rheinbundes mit ihren
Truppen dem Kaiser unbedingt zur Verfügung. Weh' ihnen,
wenn sie sich lässig erwiesen. „Wenn die Bundesfürsten",
schrieb Napoleon im April 1811 an Friedrich von Württem-
berg, „über ihre Neigung zur gemeinsamen Abwehr auch nur
den leisesten Zweifel in mir entstehen lassen, sind sie, ich
gestehe es frei, verloren. Denn ich ziehe Feinde unsicheren
Freunden vor. "**)
Da waren denn nur noch die deutschen Mittelmächte,
Preußen und Österreich, die Besiegten von Jena und Wagram,
in Pflicht zu nehmen. Was Preußen betraf, so hatte es
Napoleon nicht vergessen, daß er das Land schon einmal er-
obert und nur aus Rücksicht für dasselbe Rußland aus den
Händen gelassen hatte, gegen das er sich jetzt zum Streit
erhob, und auch nicht vergessen, daß er schon einmal als
Sieger am Niemen kampiert hatte. Diese Position wieder und
damit die Möglichkeit für eine wirksame Offensive zu gewinnen,
ehe es zum offenen Bruche kam, war jetzt sein ganzes Streben.
Konnte das nicht etwa gelingen, indem er Preußen, wie
Holland zuvor, unmittelbar in seine Gewalt brachte? Derlei
*) Siehe die Mitteilung v. Heyls im Augustheft 1903 der Zeit-
schrift „Vom Rhein."
**) Corresp. XXI. 17.553. Daß dies keine leere Drohung war.
geht aus einer Tagebuchnotiz der Königin von Westfalen hervor, die
am 11. Jänner 1811 in ihr Journal schreibt: „Der Kaiser ist mit dem
Großherzog von Baden sehr unzufrieden, er scheint unter den Fürsten
zu sein, die versehwinden weiden." (Revue historiquo, XXXVITI. 95.)
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60
Frankreich und Preußen.
scheint ihm wirklich einen Augenblick lang im Sinne gelegen
zu haben. Jenes offizielle Memorandum aus dem April 1810
hatte bereits die Selbständigkeit dieses Staates in Frage ge-
stellt. Ein von Esmenard* ) gefälschter Kapport Champagnys
vom November desselben Jahres, worin der Minister dem Kaiser
die Aufteilung Preußens zugunsten von Sachsen und Westfalen
anrät, soll auf guten Informationen des Fälschers beruhen.
Anfang 1811 verzeichnet Königin Katharina von Westfalen
gleichfalls die Notiz von der bevorstehenden Zerstückelung
des Hohenzollernstaates in ihrem Tagebuch. Und um dieselbe
Zeit geht ein Gerücht durch die spanischen Blätter, der Best
von Preußen solle an Berthier gegeben werden.**) Der Gedanke
ward aber bald wieder aufgegeben. Es war doch vielleicht
möglich, daß die Vernichtung Preußens ebensowenig ohne
Widerstand der Bevölkerung ablief, wie die Spaniens, so
groß auch der Unterschied zwischen den heißblütigen Süd-
ländern und den „vernünftigeu, kalten, toleranten und jedem
Exzeß abholden" Norddeutschen — so charakterisierte sie
Napoleon — sein mochte. Gerade das Beispiel der Spanier
konnte verführerisch auf alle unzufriedenen Elemente in der
„schlechten Nation, die er gar nicht liebte und in deren
Geistern eine starke Widerstandskraft lebte", wirken. Und
über das geheime Treiben des „Tugendbundes", wie man die
Gesamtheit der deutschen Franzosenfeinde nun einmal zu be-
zeichnen pflegte, trafen die übertriebensten Berichte in Paris
ein. Nein, kein Gewaltstreich! Mußte denn nicht auch
Preußen nach dem Siege über Rußland dem Beherrscher
Europas als reife Frucht in den Schoß fallen? Viel klüger,
die noch immer nicht ganz unansehnlichen Hilfskräfte
Friedrich Wilhelms III. auf friedlichem Wege sich dienstbar
zu machen und sich so die Stellung am Niemen zu sichern.
Dies war schließlich der Plan Napoleons. Und er gelang.
Gelang, einmal der unseligen Lage wegen, in der sich Preußen
befand, dessen einzelne Landesteile einerseits von Davout,
*) Siehe Band II. S. 126.
**) Siehe meinen Aufsatz über „Stein und Gruner in Österreich"
in der „Deutschen Rundschau", Jahrg. 1888, S. 187.
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Scharnhorst in Petersburg. 61
anderseits von Warschau her und endlich durch die rasch ver-
mehrten französischen Besatzungen in Stettin, Küstrin,
Glogau und Danzig fortwährend bedroht waren, und zweitens,
weil auch jetzt wieder, wie 1805 und 1809, den Absichten des
Eroberers in Friedrich Wilhelm mit seinem Mißtrauen gegen
sein Volk und seiner felsenfesten Überzeugung von des Korsen
Unüberwindlichkeit ein Helfer wider Willen zur Seite stand.
Um dem Staate die bedrohte Existenz zu retten, hatte
Hardenberg, der im Vorjahre als Staatskanzler ans Ruder
getreten war, im Mai 1811 Bündnisanträge in Paris gestellt.
Darauf war die Antwort ausgeblieben. Napoleon, der den Krieg
mit Rußland damals noch nicht wünschte, wollte sein äußerlich
friedliches Verhältnis zu dieser Macht nicht durch einen
Schritt seiner Diplomatie vorschnell kompromittieren; auch
wollte er vorerst in Deutschland hinreichend gerüstet sein,
ehe er Preußens Vorschläge erwiderte. Sein Schweigen ver-
mehrte aber in Berlin die Sorge derart, daß sich Hardenberg
der von Scharnhorst geführten Patriotenpartei näherte und
auch den König zu Rüstungen bestimmte, die im Sommer, so
verdeckt wie möglich, zu einer Verstärkung der Machtmittel
auf nahezu das Doppelte der mit Napoleon vereinbarten 42.000
Mann führten. Der König wandte sich nun, obgleich der Zar
auf frühere Briefe nicht befriedigend geantwortet hatte, noch-
mals an Alexander und sandte Scharnhorst im tiefsten Ge-
heimnis nach Petersburg, damit er dort eine Militärkonvention
verabrede. Nach England wurde ein Begehren um Subsidien
adressiert. Beides war nicht ganz ohne Erfolg. Der Zar
hatte zwar seinen Offen siv plan aufgegeben und sich mit
dem Gedanken einer hinhaltenden Verteidigung im eigenen
Reiche vertraut gemacht; nun aber erklärte er sich
doch — wenn auch nur „im allgemeinen" — bereit,
seine Armee im Kriegsfall „so schnell als möglich" in
Marsch zu setzen und, „wenn es sein kann", bis an die
Weichsel, ja, nach besonders günstigen Zufällen, „auf die man
jedoch nicht rechnen dürfe", noch darüber hinaus vorzu-
schieben, während Preußen inzwischen das Vordringen des
Feindes gegen diesen Fluß auf jede Art zu hindern hätte. So
stand es in der Konvention, die Scharnhorst am 17. Oktober
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62 Napoleons Forderungen.
an der Newa abschloß.*) Und auch England gestand die ge-
wünschten Subsidien zu und sandte Kriegsmaterial nach
Kolberg. Aber ehe noch diese Ergebnisse in Berlin bekannt
wurden, war Friedrich Wilhelm III., der nicht viel Hoffnung
auf Kußland setzte, schon wieder anderen Sinnes geworden.
Noch im August hatte er, durch Napoleons Rüstungen mit
neuer Angst erfüllt, doch wieder in Paris anklopfen lassen.
Sollte man denn, so mochte er fragen, die Existenz des
Staates einem unsicheren Wagnis anvertrauen, ohne sich wenig-
stens die Möglichkeit eines rettenden Vergleichs offen zu
halten? Hardenberg widersprach nicht. Und nun blieb auch
Napoleon nicht mehr stumm. Natürlich. Denn jetzt waren
seine Verstärkungen in den Oderfestungen, in Westfalen und
Polen soweit gediehen, daß er mit Preußen wieder in dem
Tone reden konnte, den er dem Berliner Hofe gegenüber
anzuschlagen gewohnt war. Er forderte vor jeder weiteren
Unterhandlung die Unterbrechung der preußischen Rüstungen.
Das ward zugestanden; die Rüstungen wurden eingestellt;
ja, Blücher, der beim Franzosenkaiser tief in Mißgunst stand,
verlor sein Kommando. Und nun begehrte Napoleon weiter
kategorisch: entweder Eintritt Preußens in den Rheinbund,
oder Schutz- und Trutzbündnis mit Frankreich unter Bei-
stellung von 20.000 Mann und drei Kriegsfahrzeugen für den
Fall des Konflikts mit Rußland und von Kaperschiffen wider
England mit der Verpflichtung, die Küstensperre aufs
strengste durchzuführen. Das waren harte Bedingungen, und
es entstand die Frage: mußte man sie ohne jeden Widerstand
hinnehmen? Man hatte ja jetzt, Ende Oktober, die Konvention
mit Rußland und konnte auf englisches Geld rechnen. Noch
einmal bäumte sich Hardenberg auf und riet dem König,
Berlin zu verlassen und mit dem Zaren und England gemein-
same Sache zu machen. Aber Friedrich Wilhelm, von den Geg-
nern der „Patrioten", den Ancillon, Albrecht, Grawert u. A.
beraten, widerstand. Er hatte 1809 die Erfahrung gemacht, daß
diejenigen Unrecht behalten hatten, die damals den Zusammen-
bruch des Staates weissagten, wenn man sich nicht Napoleon
*) Martens, VII. 32 (§ 14).
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Scharnhorst in Wien.
6M
entgegenstelle. War es jetzt anders? Er sah mit seinem nüch-
ternen Blick die Schamhorstsche Konvention mißtrauisch an
und gewahrte in den verschiedenen Klauseln, die sie enthielt,
nur das Eine, „daß ein hoher Grad von Tätigkeit seitens der
russischen Armeen kaum zu erwarten stehe, die sich offenbar
bald dabei begnügen würden, auf ihren ersten Kriegsplan
zurückzukommen, den man nur mit Widerstreben und nur
darum verlassen habe, um sich unser zu versichern".*) So nach-
teilig auch ihm die französischen Bedingungen erschienen, sie
ließen doch den Staat am Leben, während gegen Frankreich
zu fechten, so lange das Genie seines Kaisers überwiegende
Kräfte in den Kampf führte, den „unabweislichen oder
doch gewiß höchst wahrscheinlichen Untergang" bedeutete.
Ein Verlassen Berlins würde, meinte er, „weit mehr Verderben
als Nutzen bringen, und zwar in jeder Hinsicht". Nur eins gab
er Hardenberg zu, bevor er die Petersburger Konvention ver-
warf: daß man Österreich sondiere. Denn nur wenn auch dieses
siel) mit Kußland und Preußen kräftig verbände, wäre Aus-
sicht auf einigen Erfolg vorhanden, den er freilich vor Allem
in der Erhaltung des Friedens sehen wollte. Im übrigen aber
sollten die Verhandlungen mit Frankreich nicht unterbrochen
werden.
Nun ging Scharnhorst heimlich nach Wien. Aber was er
dort erfuhr, war nicht danach angetan, das Abkommen mit
dem Gewaltigen aufzuhalten, und so kam es, von Napoleon
selbst bis zu dem Augenblick verzögert, wo er Preußen endlich
ganz umzingelt hatte, am 24. Februar 1812 als Offensiv- und
Defensivallianz zustande. Darin waren die Bedingungen Napo-
leons keineswegs ermäßigt, eher noch verschärft. Vor Jahres-
frist, als Hardenberg dem Kaiser ein Bündnis und preußische
nilfe anbot, war es unter Vorbehalten geschehen, die
nicht nur die Integrität des Landes verbürgen, sondern auch
die Erhöhung der preußischen Kriegsmacht bewirken, die
Festung Glogau zurückbringen und bestimmte Terrainerwer-
bungen sicherstellen sollten. Jetzt war von alledem nicht mehr
die Rede, und der Februarvertrag wurde für Preußen eine
x ) Duncker, Aus der Zeit Friedrichs des Großen und Friedrich
Wilhelms TTT., S. 415.
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64
Das französisch-preußische Bündnis.
Demütigung ohnegleichen. Nur in Spanien, Italien und der
Türkei — hieß es darin — hat Preußen Frankreich keine
Heeresfolge zu leisten, sonst überall in Europa. Gegen Ruß-
land stellt es 20.000 Mann und 60 Geschütze unter den Befehl
Napoleons, etwa die Hälfte der ihm überhaupt zugestandenen
Armee; die andere Hälfte hat in den schlesischen Festungen,
in Potsdam, vorzüglich aber in Kolberg und Graudenz zu
garnisonieren, wo die Kommandanten ihre Befehle vom fran-
zösischen Generalstab erhalten. Die Franzosen marschieren
ungehindert durch den ganzen preußischen Staat, einen Teil
Schlesiens ausgenommen; ihre Generale requirieren, beschaffen
die Lieferungen für die Armee und sorgen für Ordnung und
Sicherheit in deren Interesse. Diese Armeelieferungen, die
Preußen im größten Maßstabe zu leisten hat, werden von
der alten Kriegsschuld in Abrechnung gebracht. Wider England
verspricht Friedrich Wilhelm die schärfsten Absperrungs-
maßregeln und die geforderten drei Kriegsschiffe.*) So hatte
der patriotische Aufschwung des Jahres 1811, der vielleicht
im Frühling, da Rußland den Angriffskrieg plante und
Napoleon noch unzulänglich gerüstet war, zu Erfolgen hätte
führen können, mit Untertänigkeit geendet, für die der König
nichts gewann als vage Versprechungen von Entschädigung durch
Gebietszuwachs im Falle des Sieges — Versprechungen von
Napoleon, der seit 1807 immer bedauernd wiederholte: „Wie
konnte ich diesem Manne nur so viel Land übriglassen!"**)
Zu dem Entschluß des Preußenkönigs, sich in dem bevor-
. stehenden Kriege Frankreich anzuschließen, mag das ihrige
*) Vergl. den aus vier Instrumenten bestehenden Vertrag bei
De Olercq, n. 354 ff. Es ist von hohem Interesse zu sehen, wie
sicher Napoleon schon in jenem mit Maret gemeinsam ausgearbeiteten
Memoire vom 6. August 1811 (siehe oben) den Termin für den Abschluß
der Allianzen mit Preußen und Österreich — „nach sechs Monaten" —
festsetzte.
**) Damit soll die Haltung Friedrich Wilhelm III. keineswegs
abfällig beurteilt werden. Auch die Erhebung zu jener Zeit wäre ein
unsicheres Wagnis gewesen, wenn man erwägt, welche Massen von
Streitkräften Napoleon, unbeschadet der Kriegsaktion in Spanien, gegen
Bußland ins Feld führte, wie rasch er später, nach deren Untergang,
ein neues Heer auf die Beine stellte und wie er selbst dann noch
über die verbündeten Preußen und Russen zu siegen wußte.
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Metternichs Souderpolitik. 65
immerhin auch die Haltung Österreichs beigetragen haben.
Scharnhorst hatte im Dezember 1811 in Wien nur erfahren, daß
Kaiser Franz augenblicks nicht imstande sei, irgend Hille
zu gewähren. Die Wahrheit war: Österreich stand auf franzö-
sischer Seite. Aus den Schriftstücken, mit denen jenerzeit
Metternich seinen Herrn beriet, geht hervor, daß die Wiener
Politik entschieden wider den Zar Stellung nahm. Schon
die Aktion Kußlands gegen die Türkei in den Donaufürsten-
tümern trennte die beiden Mächte. Dann hatte Alexanders
Plan, Polen wiederherzustellen und es als einiges Reich unter
russischer Hoheit konstitutionell zu regieren, in Wien gleich-
falls arg verstimmt, denn er beanspruchte von Österreich
die Aufgebung Galiziens, wofür Rußland zwar Serbien und
einen Teil der Donaufürstentümer bot, die man aber doch
erst wieder hätte erobern müssen, woran in einem Kriege
gegen Napoleon nicht zu denken war.*) Gewiß, auch wenn
man sich an den Franzosenkaiser anschloß, konnte Galizien
für den Donaustaat verloren gehen, da der Imperator, wie
man annahm, sofort das einige Polen gegen Rußland aus-
spielte, und es war auch schon im Sommer 1810 in Paris
zwischen Napoleon und Metternich davon die Rede gewesen;
aber einmal bot Jener dem seit dem letzten Kriege gänzlich
verarmten Donaustaate das wichtige Illyrien mit der Seeküste
als Äquivalent für das polnische Land und überdies noch, als
Preis für Österreichs Mitwirkung am Kriege, weiteren Gewinn,
den der Wiener Hof mit der Inngrenze gegen Bayern und dem
preußischen Schlesien — „eine uns nicht nur bequem gelegene,
sondern im Falle der Wiederherstellung des Königreiches Polen
fast unumgänglich nötige Provinz'' — in Vorschlag brachte.
Denn daß Preußens Auflösung — es mochte Partei nehmen,
welche es wollte — unfehlbar erfolgen müsse, war für Metter-
nich eine ebenso ausgemachte Sache wie der Sieg der französi-
*) In einem Vortrag vom 28. November 1811 — kurz bevor
Scharnhorst eintraf — zählte Metternich alle Sunden Rußlands auf,
„welches bereits zweimal seine Alliierten ihrem eigenen traurigen
Schicksal überließ", und das „unter der schwachen Regierung Alexan-
ders I. wahrscheinlich wieder in die Steppen Asiens zurückgedrängt
werden wird." (Nachgelassene Papiere, II. 429.)
F o u r n i e r, Napoleon I. 5
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66
Österreichs Anlehnung an Frankreich
sehen Waffen im Kriege mit Rußland.*) Dann war allerdings
die völlige Abhängigkeit auch der Wiener Politik von der
napoleonischen unvermeidlich. Aber selbst in dieser ab-
hängigen Stellung wollte Metternich die Konjunkturen nutzen
und wenigstens das untertänige Österreich stärken, wenn schon
ein freies nicht mehr möglich war. Und Napoleon setzte sich
den Wünschen seines Schwiegervaters nicht entgegen. „Die
schlesische Frage ist beim kleinsten Fehler, den sich Preußen
zuschulden kommen läßt, entschieden", erklärte er dem öster-
reichischen Botschafter im Dezember 1811; ja selbst, wenn
sich Preußen nicht von der vorgeschriebenen Linie entferne,
könne er in einem glücklichen Kriege über Schlesien zu.
Österreichs Gunsten verfügen, da es dann an Kompensations-
objekten nicht fehlen werde und dem König Friedrich Wilhelm
jede andere Provinz passen müsse, während Schlesien die
einzige sei, die Österreich abzurunden vermöchte.**)
So war man in Wien dazu gekommen, sich in eine enge
tätige Allianz mit Frankreich zu begeben, die bestimmte Vor-
teile in Aussicht stellte. Dieser Entschluß war bereits gefaßt
und auch schon Schwarzenberg, der von Paris aus warm dafür
eingetreten war, angekündigt, als Scharnhorst nach Wien kam.
Man begreift nun leicht, daß seine Mission scheitern mußte, ja,
man begreift sogar — wenn man es auch gewiß nicht entschul-
digen wird — daß Metternich dem Sendboten des in seinen
Augen verlorenen Staates zum Anschluß an Rußland riet, d. h.
zu eben jenem „Fehler", der die schlesische Frage sofort zu-
*) „Preußen ist nicht mehr in die Reihe der Mächte zu rechnen",
versicherte er dem Kaiser Franz Anfang 1811, und in einem Vortrage
vom 28. November desselben Jahres: „Preußen befindet sich in der
hoffnungslosen Lage, in jeder zu ergreifenden Partei seine nur zu
wahrscheinliche Auflösung besorgen zu müssen." In demselben Schi ift-
stücko heißt es aber auch: „Nach vorhinein zu berechnenden, auf frühere
Erfahrungen, besonders auf jene der letzten Zeit, gestützte Probabi litäten,
spricht aller Anschein unleugbar für französische Siege." (Nachgelassene
Papiore, II. 427. 435. 437.) Damals schätzte Metternich die französische
Armee auf 200 bis 230.000 Mann. Wie mußte es ihn in seiner Politik
bestärken, als er später von der doppelten Anzahl hörte!
**) Metternichs Nachgelassene Papiere, 11.442. Maret brachte
in Vorschlag, Preußen für Schlesien mit den baltischen Provinzen
Kußlands zu entschädigen.
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1756 und 1812.
67
gunsten Österreichs lösen mußte. *) Und als ob der bloße Name
Schlesiens die Zeit der großen Kaiserin wieder in Erinnerung
gebracht hätte, die um die entrissene Provinz drei Kriege
gewagt hatte, so suchte man jetzt den französisch-österreichi-
schen Allianzvertrag vom Jahre 1756 hervor, um das neue
Schutz- und Trutzbündnis mit Frankreich nach seinen Be-
stimmungen, ja teilweise nach seinem Wortlaut, abzufassen. **)
Am 14. März 1812 unterzeichnete Schwarzenberg in Paris die
Vertragsurkunde. Österreich, das sich aufs neue zur Konti-
nentalsperre verpflichtet, stellt für den Krieg gegen Rußland
30.000 Mann zu Frankreichs Unterstützung, die jedoch — un-
gleich den preußischen Hilfstruppen — ungeteilt unter öster-
*) Am 17. Dezember hatte Schwarzenberg in Paris die ent-
scheidende Audienz. Den Bericht darüber wird Metternich nicht vor
dem 25. erhalten haben. Bis dahin blieb Scharnhorst ohne definitiven
Bescheid. Am 26. empfing er ihn mit der Erklärung, Österreich sei
außer Stande zu helfen, und mit dem Winke, Preußen werde in jeder
anderen Partei als der russischen noch unglücklicher sein. (Siehe
Metternich, Nachgelassene Papiere, 11.442 und Lehmann, Scharnhorst
II. 434.) Wenn bei Duncker, Aus der Zeit Friedrichs des Großen und
Friedrich Wilhelms III. S. 422, Metternich dem Abgesandten gegenüber
auch noch die Äußerung in den Mund gelegt wird, Österreich werde
Frankreichs Partei nicht nehmen sondern neutral bleiben, so ist davon,
wie ich Professor Lehmanns freundlicher Mitteilung verdanke, in
Scharnhorsts Berichten nichts enthalten.
*♦) „Die Grundsätze — schreibt Metternich am 8. Juni 1812
an den Gouverneur von Galizien, Grafen Goeß — nach welchen der
Kaiser allein in ein näheres Verhältnis mit Frankreich zu treten sich
je bereit finden lassen würde, fanden sich in dem Allianztraktat mit
Frankreich vom Jahre 1756. Auf dieselbe Basis, und insofern selbe
noch auf die allgemeinen Verhältnisse Europas anwendbar waren, wurde
der neue Traktat gegründet. Der Vergleich des einen Vertrages mit dem
anderen beweist diese Wahrheit unleugbar, die Worte sogar sind fast
dieselben, und dieser Umstand ist nicht einer der minder wesentlich
herauszuhebenden". (W. St. A.) Gewiß, die Worte waren fast dieselben,
und der Art. 3 von 1812 ist mit den Artikeln V und VI von 1756
ganz gleichlautend. Aber die Machtverhältnisse waren himmelweit
verschieden, so daß, was dazumal als freie politische Entschließung
einer Großmacht galt, jetzt nur noch notgedrungene Fügsamkeit eines
bankrotten Staates war, dessen Minister die letzte Weisheit in der
Allianz mit einem Souverän erblickte, von dem er selbst zugeben mußte,
daß „sein monströser Zweck die Alleinherrschaft war und ist".
5*
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<>8
Die austro-fränkische Allianz.
reichischer Führung stehen, von keinem französischen General
Befehle annehmen und nur den Weisungen Napoleons gehor~
chen sollten. Bei der Wiederherstellung Polens wird Österreich
Galizien behalten, und nur wenn es freiwillig einen Teil davon
dazu hergeben wollte, dafür durch lllyrien entschädigt werden.
Die Integrität der Türkei bleibt garantiert, d. h. Rußland wird
nichts davon für sich gewinnen, die Erfurter Zusage ist zurück-
genommen. Und zum Schluß heißt es: „Im Fall eines glück-
lichen Ausgangs des Krieges verpflichtet sich der Kaiser der
Franzosen, dem Kaiser von Österreich Kriegsentschädigungen
und Gebietsvergrößerungen zuzuwenden, welche nicht allein
die dargebrachten Kriegsopfer aufwiegen, sondern auch ein
Denkmal bilden sollen der engen und dauerhaften Verbindung,
die zwischen beiden Souveränen besteht/ 4 Da von lllyrien
bereits die Rede war, bleibt hier nur noch an Schlesien zu
denken übrig, denn es war ja „die einzige Provinz, die Öster-
reich abrunden konnte".*)
So hatte sich Napoleon auch der deutschen Mittelmächte
versichert, und von der Südspitze Kalabriens bis zur Memel,
vom Kap Finisterre bis in die Bukowina gehorchte der Kon-
tinent seinem Winke. Freilich hätte er gerne auch Schweden
und die Türkei, die alten Feinde Rußlands, in sein System
aufgenommen — oder vielmehr: darin festgehalten — damit
sie von Norden und Süden her den Gegner angriffen, wenn er
ihm im Zentrum den entscheidenden Stoß versetzte. Doch
hier zog er den Kürzeren. Als sich in Stockholm die Ab-
gesandten Frankreichs und Rußlands den Rang abzulaufen
suchten, hielt Bernadotte den Augenblick für günstig, sich dem
Lande seines künftigen Regiments durch eine große Erwerbung
zu empfehlen. Er bot seine Allianz demjenigen an, der ihm
zur Gewinnung Norwegens verhelfen würde. Aller Beteuerun-
*) Der Vertrag steht bei De Clercq, II. 369 ff. Ea ist anzu-
nehmen, daß Napoleon Österreich Schlesien viel lieber zugewendet,
ah auf lllyrien verzichtet hätte. Einem Manne, der ihm dazu riet,
dieses sofort gegen Galizien zu vertauschen, antwortete er: „Ich sehe,
daß Sie von der Wichtigkeit dieser Provinzen keine Idee haben. Sie
sehen nicht, daß ich, sobald ich sie zum Stützpunkt wähle, einen
Fuß in Rom. den andern in Konstanttnopel habe." Pasquier, Me^
moires, II. 76.
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Erfolglose Werbung um Schweden. 69
gen, mit denen er im Dezember 1810 Tschernißcheff überhäuft
hatte, vergessend, klopfte er zunächst bei Napoleon an, weil in
Schweden die öffentliche Meinung noch immer an ihm hing;
die Kronprinzessin, die Desiree Napoleons vom Jahre
1795, war in Paris für ein Bündnis tätig. Aber der Fran-
zosenkaiser wollte von einer Annexion Norwegens nichts
wissen, da Dänemark treu zu ihm hielt und ein Truppenkorps
zur Deckung der Nord- und Ostseeküste zu stellen bereit war.
Er seinerseits brachte die Wiedergewinnung Finnlands nach
dem Sieg über Kußland in Vorschlag, wenn Schweden mit
40.000 Mann gegen Alexander marschieren und zugleich den
Krieg wider England energisch betreiben wollte. Aber gerade
dieses doppelte Engagement gegen Rußland und das britische
Reich erschien der schwedischen Regierung nach den früher
gemachten Erfahrungen unmöglich. „Man verbarg sich nicht,"
— ■ heißt es in einem nachträglichen Berichte des schwedischen
Ministeriums an Karl XIII. vom 7. J änner 1813 — „daß ein
Krieg mit Rußland, der notwendig auch Feindseligkeiten mit
England herbeiführen mußte, die Kräfte Schwedens überstieg,
daß eine englische Flotte im Baltischen Meere während des
Sommers alle Unternehmungen von Seiten Schwedens gegen
Rußland hindern konnte, daß die Küsten Schwedens inzwischen
der Rache Englands preisgegeben waren, daß der Handel
ebenso wie die Küstenfahrt einstweilen ganz aufhören und
daraus eine allgemeine Not entstehen mußte, daß vielmehr
Schwedens großer Bedarf an Getreide eben mit diesen beiden
Mächten, England und Rußland, ein fortgesetztes friedliches
Verhältnis heischte u. s. w." Da traf es Bich, daß die in diesem
Zeitpunkte höchst unkluge Besetzung Pommerns durch die
Franzosen, angeblich um den Schleichhandel zu stören, Napo-
leon die Sympathien der Schweden raubte, und nun konnte
Bernadotte es wagen, gegen den Franzosenkaiser so vorzugehen,
wie es der langjährigen persönlichen Spannung zwischen den
beiden Männern entsprach. Schweden erklärte sich zunächst
neutral, wodurch es aus dem Kriegszustand wider England
heraustrat, dann lehnte es den französischen Antrag ab und
näherte sich Rußland, dem es seine Mitwirkung für den Fall
zusagte, daß Alexander der Eroberung Norwegens nicht nur
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70 Beilegung des russisch-türkischen Konflikts.
zustimme, sondern auch durch ein Hilfskorps dazu mitwirke,
man wolle dann gemeinsam im Norden Deutschlands landen
und Napoleons linke Flanke bedrohen. Dänemark würde man
durch deutsches Gebiet entschädigen. Der Zar ging darauf ein,
und am 5. April 1812 kam ein Abkommen zwischen Schweden
und Rußland zustande, das später, bei einer Zusammenkunft
Bernadettes mit Alexander im August zu Abo, eine neue Be-
kräftigung erfahren sollte.
In der Türkei, wo Sultan Mahmud gerne die ihm aller-
dings erst in den ersten Monaten des Jahres 1812 dargebotene
Hand Napoleons angenommen hätte, lagen die Verhältnisse
doch so, daß selbst der Großherr seiner Absicht nicht folgen
konnte. Noch im letzten Herbst hatten ja die Russen Erfolge
errungen und darauf den Frieden unter relativ günstigen Be-
dingungen angeboten, nur um den Krieg an der Donau zu
enden, bevor das große Streiten gegen die Franzosen begann;
sie forderten nicht mehr beide Fürstentümer für sich, sondern
waren bereit, sie bis auf Bessarabien und die Sereth grenze
zurückzugeben. Das geschah in einem Augenblicke, wo die
türkische Staatskasse leer, der Zustand der Armee ein kläg-
licher, der Wunsch der Bevölkerung nach Frieden und Erholung
ein allgemeiner geworden war. Nur die zügellosen Janitscharen
riefen noch nach Krieg. Was halfen da die Versprechungen
Napoleons: die Krim, die Tatarei, alles Land, das die Pforte
in den letzten vierzig Jahren verloren hatte, wenn man die
100.000 Mann nicht aufbrachte, die er als Hilfsheer forderte?
Auch dürfte der Kaiser der Franzosen aus seinen alten Ab-
sichten auf Morea und Kandia doch etwas zu wenig Hehl ge-
macht haben.*) Und dazu drohte England, es werde, wenn
*) In dem Vortrag Champagnys vom März 1810 (siehe oben S. 41)
lautet eine bemerkenswerte Stelle: „Der zweite Gegenstand — der
erste war, für die Fortdauer des Krieges zwischen Türken und Russen
zu sorgen — wäre, die Pforte unauffällig dahin zu bringen, daß sie
Ew. Majestät Morea und Kandia abträte für die Unterstützung, die
sie erhalten würde, um sich der kleinen Tatarei und der Krim zu
bemächtigen, Länder, die ihr für die Versorgung Konstantinopels viel
wichtiger sein müssen. Es ist hier nicht der Ort," sich über dieses alte
Projekt auszulassen, das aber, im Falle eines Bruches mit dem russischen
Hof, besonders diskutiert zu werden verdient.« (Schilder, Alexanderl.
IH 475.)
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Die Türkei versagt eich.
71
der Sultan das französische System annehme, die Dardanellen
forcieren und Stambul verbrennen. Der Divan, den Mahmud
befragte, erklärte sich für den Frieden mit dem Zaren, der
dann auch Ende Mai 1812 unter der Bedingung, daß fortan
der Prath die Grenze bilde, zustandekam.
Das waren nun freilich sehr empfindliche diplomatische
Niederlagen, die Napoleon in Stockholm und am Bosporus
erlitt. Insbesondere, daß er sein Prestige in Konstantinopel
eingebüßt hatte, war ihm peinlich, wo gerade die Türkei
einen der wichtigsten Faktoren in seinen Zukunftsplänen dar-
stellte. Aber der Sieg über Bußland schien ihm auch
ohne die Diversion der Türken möglich, und dieser Sieg im
Norden mußte ohne Zweifel auch den Süden der Macht des-
jenigen erschließen, der Süd und Nord, wie Ost und West,
seinem Willen zu beugen wünschte.*) Es war die Zeit, im
März 1812, wo er seinem Generaladjutanten Narbonne gegen-
über die Idee aussprach, über das niedergeworfene Zarenreich
hinweg nach Indien zu ziehen und dort die Herrschaft
der Briten zu zerstören.**) Jedenfalls gebot er über eine
*) Eine Hofdame der Zarin, Gräfin Edling, will es später
auf dem Wiener Kongreß, von Eugen Beauharnais, erfahren haben,
daß es Napoleons Absicht gewesen sei, nach der Bezwingung Rußlands
sich gegen Konstantinopel zu wenden. (Memoires p. 196.) Das stimmt
durchaus damit überein, daß er vor dem Feldzug auch mit den aufstän-
dischen Serben anknüpfte, um dort den russischen Einfluß aus dem
Felde zu schlagen und sich zugleich einen Sukkurs gegen die Pforte,
zu erwerben. „Nach Eurem Untergange", sagte der Großvezier zu dem
russischen Unterhändler, „würden wir an die Reihe kommen". (Boppe,
La France et les Principautös danubiennes, Annales de l'Ecole poli-
tique, 1896. p. 346). Vgl. auch Bernadottes Äußerung zu dem russi-
schen Gesandten Suchtelen: „Man (Desiree?) meldet mir, Napoleon
wolle in zwei Monaten mit Rußland fertig sein, um dann nach Kon-
stantinopel zu gehen" (Sbornik, XXI, 445). Die Meinung war auch
in der Armee verbreitet. Ein Offizier schreibt, nachdem Moskau erobert
war, er hätte Petersburg vorgezogen, man dürfe sich aber nicht so
weit von den türkischen Provinzen entfernen, „denn nach einer guten
Allianz mit Alexander, der, er wolle oder nicht, wie die Anderen in
unserem Gefolge marschieren wird, müssen wir im nächsten Jahre nach
Konstantinopel und von da nach Indien gehen." (Zitiert von Sorel,
VII, 588.)
**) Villemain, Souvenirs, p. 176. Siehe unten.
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72 Daw russische Ultimatum und die Sendung Narbonnes.
überwältigende Macht, als er den letzten Schritt zur Be-
herrschung des Kontinents hin tat. So fest entschlossen er
hierzu war, so entschieden verharrte auf der anderen Seite
Kaiser Alexander I. bei seinem Widerstande gegen die
napoleonische Diktatur, die gar so dreist in die materiellen
Interessen Rußlands eingriff. Der Bruch war unvermeidlich.
Alles Zögern beruhte nur noch auf militärischen Rücksichten.
Am 30. April 1812 übergab endlich der russische Botschafter
in Paris das vom 8. datierte Ultimatum des Zaren: er wolle
nur dann über einen Vergleich mit Frankreich unterhandeln
— wobei er allerdings auf den Verkehr mit den Neutralen
nicht verzichten könnte — wenn die Franzosen vorher Preußen
und Schwedisch-Pommern geräumt haben würden. Um noch
etwas Zeit zu gewinnen, antwortete Napoleon nicht sogleich
hierauf, sondern sandte vielmehr Narbonne zu Alexander mit
einem Brief und einer Note, die man — obzwar am 3. Mai
abgesendet — auf den 25. April zurückdatierte, als hätte man
das russische Ultimatum noch nicht gekannt.*) Darin hieß es,
der Kaiser habe noch einen letzten Versuch gemacht, um Eng-
land zum Frieden zu bewegen und damit allen Zwist aus der
Welt zu schaffen. Und daran war so viel richtig, daß in der Tat
.Maret am 17. April an den britischen Minister des Äußeren,
Lord Castlereagh, geschrieben hatte, man sei bereit, Portugal
dem Hause Braganza zurückzugeben, wenn England Murat
und Joseph anerkennen und die Pyrenäische Halbinsel sowie
Sizilien räumen wollte. Dann wollte man auch die eigenen
Truppen aus Spanien herausziehen.**) Es war das alte Spiel,
das Talleyrand schon vor zwölf Jahren so treffend gekenn-
zeichnet hatte. Denn daß England Joseph nicht anerkennen
würde, lag auf der Hand und wurde auch alsbald in London
erklärt. Geschah aber doch das Unwahrscheinliche, dann
standen Napoleon für den Kontinentalkrieg noch weitere
200.000 Mann erfahrener Truppen zur Verfügung, die in
Spanien frei wurden und für den Kampf der Waffen wie für
allfällige Unterhandlungen schwer ins Gewicht fielen. Die
*) Ernouf, Maret, Duc de Bassano, S. 354.
**) Corresp. XXIII. 18.652. Coquelle, p. 287.
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Die Fürstenversaramlung in Dresden. 73
Sendung Narbonnes hatte tatsächlich nur, wie es in dessen
Instruktionen hieß, den einen Zweck, sich unter guten Vor-
wänden möglichst viel Kenntnisse über die militärischen Dis-
positionen des Gegners zu verschaffen.
Während dieser Bote nach Wilna eilte und Maret den
Fürsten Kurakin in Paris mit Redensarten hinhielt, verließ
Napoleon am 9. Mai mit einem großen Teil seines Hofstaates
die Stadt. Er fuhr nach Dresden, um dort gleichsam seine
Macht drohend auszulegen, und wir glauben es, daß er sich
davon nochmals eine einschüchternde Wirkung auf den Zar
versprach.
In Dresden versammelten sich huldigend die Fürsten des
Rheinbundes, über die der Korse unbedingter gebot als seit
langer Zeit ein römischer Kaiser deutscher Nation. Auch der
letzte von diesen, Franz von Österreich, fand sich ein. Hatte
Napoleon die Zusammenkunft mit seinem Schwiegervater ge-
wünscht, um seine Verwandtschaft mit der ältesten Dynastie
der Welt als Relief für seine unerhörte Geltung zu be-
nützen? Er hat damals Franz I. aufgefordert, ihn auf seinem
Kriegszuge zu begleiten.*) Dazu ist es allerdings nicht ge-
kommen. Im übrigen aber trat der Kaiser von Österreich,
trotz allem vertraulichen Verkehr mit dem Eidam, ebenso
gehorsam wie der König von Preußen und die kleineren
„Souveräne" in den Schatten des gewaltigen Parvenüs, der die
Grenzen zwischen den romanischen und germanischen Ele-
menten Europas verwischt und deren Kräfte zum Entschei-
dungskampf über das Schicksal des Weltteils vereinigt hatte.
Gewiß, es war die Triebfeder persönlichsten Ehrgeizes und
unendlicher Herrschsucht, die diese Massen in Bewegung setzte,
ein schier unerträglicher Zwang, der sie kittete, aber wen der
Genius auf Höhen geführt, wo ihm über dem weiten Horizont
des Ganzen das Einzelne sich entrückte, der konnte hier einen
Bund europäischer Kulturpotenzen zu erblicken meinen, ge-
rüstet, um unter der Führung des größten Feldherrn die Zivili-
sation des Westens erobernd nach Osten zu verbreiten und den
*) So schrieb M. Ludovica an ihre Mutter. S. Guglia, Die
Kaiserin Maria Ludovica, S. 141.
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74
Goethe über Napoleon.
Völkerhader zur Einheit auszugleichen, der konnte versucht
sein, mit Goethe von Napoleon zu sagen:
„Worüber trüb Jahrhunderte gesonnen,
Er übersiehts in hellstem Geisteslicht,
Das Kleinliche ist Alles weggeronnen,
Nur Meer und Erde haben hier Gewicht.
Ist jenem erst das Ufer abgewonnen,
Daß sich daran die stolze Woge bricht,
So tritt durch weisen Schluß, durch Machtgefechte
Das feste Land in alle seine Rechte."
Oder waren diese an Marie Luise gerichteten Worte nur
huldigende Konvenienz, mit denen jetzt, wo der Kaiser die
höchste Stufe seiner Macht erklommen hat, der große Huma-
nist des Jahrhunderts ihm Beifall spendet? Nein, für Goethe
stand Napoleons Große außer Zweifel. Er hat genau heraus-
empfunden, was dessen historische Bedeutung ausmacht: sein
gleichsam instinktives Handeln im Dienste des Idealen. „Na-
poleon," sagte er, „der ganz in der Idee lebte, konnte sie doch
im Bewußtsein nicht erfassen; er leugnet alles Ideelle durchaus
und spricht ihm jede Wirklichkeit ab, indessen er eifrig es zu
verwirklichen trachtet." Den Aufwand des Imperators an
niedriger Hantierung und Gemeinheit eigennützigen Strebens
übersah der Dichter souverän. Mochten Andere von den
Greueln des Krieges und dem drückenden Zwange der Über-
macht reden, er behielt nur das letzte Ziel im Auge : die Verei-
nigung der Völker in höherer Gesittung. Und von diesem
Standpunkt aus hatte Goethe recht, Napoleon den führenden
Männern der Geschichte beizuzählen. Denn sie Alle waren es
nur, weil sie im Banne großer Ideen gehandelt hatten, gleich-
viel welches ihre eigensten Zwecke gewesen. Wohl drängte der
mazedonische Alexander aus der Enge seines kleinen Staates
hinaus nach der Beherrschung der Welt und grub seinen Namen
durch Taten ohnegleichen in das Gedächtnis der Jahrtausende
ein, aber was ihn auf den Weg dahin gebracht hatte, war doch
nur die gewaltige Expansivkraft der hellenischen Kultur ge-
wesen, in deren Dienst er den Zug nach Osten unternahm.
Wohl begründete Karolus Magnus mit den Waffen ein Welt-
reich, aber doch nur als ergebenes Werkzeug der Moralideen
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Napoleons weltgeschichtliche Bedeutung. 75
des Christentums, das sich die jungen Völker des Nordens er-
oberte. Und wenn wir jetzt Napoleon auf der gleichen Bahn
finden, Fenn wir auch ihn begierig sehen, seine Person zu
höchst zu stellen und alle Welt unter seinem Willen zu ver-
sammeln, so ist dieser Wille doch zum guten Teile sein eigener
nicht, sondern das Organ jener Zivilisation der Humanität,
an der die Geisteskräfte von Jahrhunderten sich gemüht, ehe
sie Gemeingut des Erdkreises werden sollte. Unter Strömen von
Blut, allerdings. Aber die Gesetzbücher der Menschheit sind
nun einmal mit Blut geschrieben, ob es der Einzelne am Kreuze
vergieße oder Millionen sterbend dafür zeugen. Überall, wo
der Franzosenkaiser gesiegt hatte, erblicken wir den Anlauf
zu einer höheren sozialen Ordnung: am Manzanares wie am
Tiber, am Rhein und an der Elbe, in Neapel und in Polen, in
Preußen und in Österreich, hier unmittelbar unter dem Druck
der Eroberung, dort mittelbar, weil ein Widerstand gegen den
Mächtigen forthin nur möglich schien, wenn man sich mit
seinen eigenen Waffen bewehrte. Hat doch, um nur an Eines zu
erinnern, der verlorene Schlachttag von Jena allein das ganze
innere Wesen des preußischen Staates verändert.*) So war es
ein Kulturprozeß von größter Bedeutung, der im Jahre 1812
die letzten Grenzen europäischer Gesittung aufsuchte. Daß der
Anwalt, der ihn mit seinem Degen führte, für sich als Entgelt
die Herrschaft der Welt begehrte, erscheint geringfügig da-
neben.
Aber die Völker Europas standen nicht auf dieser Höhe
*) Vgl. E. Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation untei
Stein und Hardenberg, S. 133, und den Brief Gneisenaus vom Jahre
1807 mit der Stelle: „Wollten die übrigen Staaten das Gleichgewicht
wieder herstellen, dann müßten sie sich dieselben Hilfsquellen eröffnen
und sie benutzen" bei Pertz, Gneisenau, I. S. 302, zitiert von Koser,
Die preußische Reformgesetzgebung in ihrem Verhältnis zur fran-
zösischen Revolution (Hist. Zeitschr. 73. 199). Koser liefert übrigens
den Nachweis, daß die Neugestaltung des preußischen Staates zwar
auf den Anstoß der Kriegsereignisse hin, aber nicht gerade nach fran-
zösischen Mustern erfolgte. Über preußische Reformbestrebungen, die
vor 1806 nicht zur Tat werden konnten, hat Hintze in dor „Histor.
Zeitschrift," 76. Bd. gehandelt und Thimme in den „Forschungen
zur brandenburgischen und preußischen Geschichte", 18. Bd., Friedrich
Wilhelms persönlichen Anteil daran festzustellen gesucht.
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76 Bange Zweifel.
der Anschauung. Sie forschten in Napoleon nicht nach der
idealen Mission, die er unbewußt vollführte, und konnten sich
demnach auch nicht mit ihr darüber trösten, daß er jm offen-
kundigen Drange seiner persönlichen Absichten ihre Un-
abhängigkeit bedrohte, ihre Söhne auf die Schlachtfelder
zwang, ihnen Handel und Erwerb beschränkte und die Auto-
ritäten ihres Glaubens befehdete. Sie haßten ihn bitter. Am
stärksten trat diese feindselige Gesinnung bei jenen beiden
Völkern hervor, die der Kultur des revolutionären Humanis-
mus am fernsten standen und in denen sich die ursprünglichen
Instinkte des Nationalgefühls und der Religiosität am reinsten
erhalten hatten: bei den Spaniern und den Russen. Die
Ersten waren noch nicht bezwungen. Ob es wohl mit den
Zweiten gelang?
Zweites Kapitel.
Moskau.
Während Napoleon in Dresden den Staat seiner Herrlich-
keit zur Schau stellte, marschierten seine Kolonnen an die
Weichsel. Ks war ein Heer wie es bis dahin die Welt nicht
gesehen hatte. Nahe an fünfthalbhunderttausend Streiter
waren auf dem Wege nach Rußland, und was an Reserven nach-
träglich nach Osten gezogen wurde, brachte die Armee des
nordischen Feldzugs auf über 600.000 Mann. Lange und eifrig,
den Gegner bis zum letzten Augenblick mit Unterhandlungen
hinhaltend, hatte sich der Kaiser gewappnet und unerhörte An-
strengungen den Völkern zugemutet, bis er endlich hoffte, mit
sicherer Überlegenheit des Feindes Herr zu werden. Allerdings
nicht ohne eigene Zweifel. Segur erzählt in seinen Aufzeich-
nungen, daß er in Paris zur Zeit dieser gewaltigen Rüstungen
zuweilen in größter Aufregung aus seinen Gedanken auffahrend
ausgerufen habe, er sei für einen so entfernten Krieg noch
nicht genug vorbereitet und bedürfe weiterer drei Jahre.
Barante berichtet nach dem Zeugnis Mouniers, des neuen
Kabinettsekretärs, er habe sogar körperlich unter seinen
Skrupeln gelitten. „Er brachte einen großen Teil der Nächte
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Mahnungen und Warnungen. 77
schlaflos zu, konnte stundenlang auf einem Kanapee liegend,
seinen Betrachtungen nachhängen, bis er in einen unruhigen
Schlummer verfiel. Ohne gerade krank zu sein, war er doch
nicht gesund. Geschäfte, die nicht nach Wunsch gingen, er-
regten ihn jetzt nicht mehr wie ehedem, sondern langweilten
ihn eher und schienen ihn sogar zu entmutigen." *) So las
er die ewig trostlosen Berichte aus Spanien gar nicht mehr
selbst, sondern ließ sich vom Chef seines "Militärkabinetts,
Oberst d'Albe, über sie referieren. Dennoch aber war er War-
nungen und Einwendungen, die Einzelne aus seiner Umgebung
wagten, unzugänglich geblieben und hatte sie mit allem Eifer
zu widerlegen gesucht. Unter den Mahnern hatte Caulaincourt
obenan gestanden. Der kannte Kußland und kannte den
Nationalstolz des russischen Volkes; dieses würde, meinte er,
nicht an Frieden denken, solange noch ein Feind auf vater-
ländischem Boden stünde; er wies auf die Unsicherheit der
gezwungenen Alliierten hin, auf den Haß der deutschen Völker-
schaften, der unter dem Beutesystem der Franzosen empor-
gewachsen war, auf das unwirtliche Kriegstheater, dessen
Schrecken aus dem Feldzuge von 1807 bekannt genug wären,
und zitierte Alexanders eigene Worte, er wolle sich eher nach
Kamtschatka zurückziehen, bevor er Provinzen abträte oder in
seiner vom Feinde eroberten Hauptstadt einen Frieden unter-
zeichnete, der doch nur ein Waffenstillstand wäre. „Wir werden
unsere Kräfte nicht auf3 Spiel setzen," hätte der Zar gesagt,
„wir haben Raum genug hinter uns, halten unsere Armee wohl-
organisiert beisammen und lassen unser Klima und unsern
Winter für uns Krieg führen. Die Franzosen sind tapfer, aber
nicht so ausdauernd wie die Unsrigen, sie werden leichter mut-
los. Wunder wirken sie nur, wo ihr Kaiser dabei ist; der kann
aber nicht überall sein. Es ist wahrscheinlich, daß er uns
schlagen wird, wenn wir die Schlacht annehmen. Doch das wird
ihm noch immer nicht den Frieden verschaffen. Die Spanier
sind oft geschlagen worden, aber darum noch lange nicht
besiegt oder unterworfen."**) Dann kam Poniatowski aus
*) Bar ante, Souvenirs, I. 331 f.
**> Van dal, III. 183 (nach einem ungedruckten Bericht).
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78 Napoleon bleibt zum Krieg entschlossen.
Warschau nach Paris und schilderte das wüste, unwegsame
Litthauen, schilderte dessen Adel, der bereits halb russisch ge-
worden sei, das Volk kühl und wenig empfänglich, und ver-
sicherte, man dürfe sich von dessen Befreiung keine allzu großen
Erfolge versprechen. Darauf lenkte der ältere Segur die Blicke
des Kaisers auf Frankreich zurück, das nach dem Feldzug auf-
hören müßte Frankreich zu sein, sobald es zu Europa erweitert
würde; das Ende wäre dann, daß an die Stelle der Monarchen
des Weltteils die Generale des Empire als Statthalter träten,
die, ehrgeiziger als die Offiziere Alexanders des Großen, viel-
leicht nicht erst den Tod ihres Herrn abwarten würden, um
selbst zu herrschen. Und ähnlieh sprach Duroc. Aber Alle
hatten vergeblich geredet. Von seinen Alliierten, erwiderte
Napoleon, besorge er nichts: Preußen sei an jeder Bewegung
gehindert, mit den süddeutschen Höfen und mit Österreich
verknüpfe ihn das Band der Verwandtschaft. Übrigens seien
die Deutschen von langsamer methodischer Art, und er würde
immer noch Zeit i'ür sie gewinnen. Die Ehrsucht seiner Generale
sei ihm bekannt; sie werde aber eben durch den Krieg ab-
gewendet. Habe dieser seine Gefahren, so der Friede nicht
minder. Denn zöge er seine Armeen ins Innere des Landes,
so würden hier in Muße und Kühe viel zu viel ehrgeizige Inter-
essen und waghalsige Leidenschaften keimen, als daß er ihrer
Herr zu werden vermöchte. Meint man da nicht die Wort-
führer des Konvents und die Radikalen des Direktoriums zu
hören? Und ist es nicht der alte Träumer von ehemals,
der jetzt wieder das Schicksal als letztes Argument ausspielt?
./Ich fühle mich", sagte er, „nach einem Ziele hingetrieben, das
ich nicht kenne. Wenn ich es erreicht haben werde, wird ein
Atom genügen, mich niederzuwerfen. Bis dahin vermögen alle
Anstrengungen der Menschen nichts gegen mich." *)
Hatte er so die Vorstellungen seiner Umgebung zum
Schweigen gebracht, so wandte er sieh mit neuer Energie der
tausendfältigen Sorge für das riesige Heer zu, dem es an nichts
gebrechen sollte. Und fürwahr, bis ins kleinste Detail war die
Ausrüstung vorgesehen. Außer den Munitionsparks der ein-
*) Se-gur, Histoire et Memoires, IV. 87 ff.
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Seine Sorge für das Heer. 79
zelnen Korps waren in Modlin, in Thorn und Pillau, in Danzig
und Magdeburg Reservelager mit vielen Millionen von Pa-
tronen angelegt. Um ungefähr 1300 Geschütze nach Rußland
zu schaffen, waren 18.000 Pferde bereitgestellt worden, und
überdies wurden aus Danzig und Magdeburg Belagerungsparks
gegen Dünaburg und Riga dirigiert. Für die wasserreiche
Gegend führte man zwei Brückentrains mit; außerdem hatte
jedes Armeekorps seine Pontons und Werkzeuge. Für Pferde-
depots an der Weichsel und Oder hatte Preußen zu sorgen.
Die wichtigste Aufgabe lag in der Verpflegung solcher Massen.
Sie erforderte die größte Aufmerksamkeit, da, wie Napoleon
nicht müde wurde, seinen Unterfeldherren zu versichern, eine
so große Menschenmenge, enge beisammen, nicht vom Lande
werde leben können. So wurden denn auf Tausenden von
Wagen den französischen Truppen Mehl und Reis nach-
geführt, zum Teil von Ochsen befördert, die man dann zu
schlachten gedachte. Mitte Januar traf der Kaiser Anordnungen
zur Aufhäufung von Lebensmitteln für 400.000 Mann auf
50 Tage in Danzig und in den Oder- und Weichselstädten.
Außerdem hatte Preußen mit Lieferungen für 20 Tage auf-
zukommen. Zwei große Transporte sollten Mehl und Zwie-
back von Elbing zu Wasser nach Wilna bringen. Danzig,
Elbing, Warschau, Thorn, Marienburg, Bromberg, Modlin ent-
hielten riesige Vorräte davon, Danzig allein 300.000 Zentner
Mehl und zwei Millionen Zwiebackportionen. Wollte man nicht
auch noch die Nahrung für anderthalb Hunderttausend Pferde
der Armee mitführen, so mußte man für den Feldzug eine
Jahreszeit abwarten, die auf Wiesen und Feldern grünes Futter
bot. So spielte die Armeeadministration in die Politik hinüber;
sie hat, wie wir wissen, die Eröffnung des Krieges bis zum Som-
mer verzögert.*) Und auch das war nun erreicht, ohne daß die
Russen — wie Napoleon gefürchtet haben mochte — inzwischen
*) Segur (IV. 94) erzählt, Napoleon sei durch eine Lebensmittel-
krisis, veranlaßt dureh den Mißwachs im Vorjahre, zwei Monate länger
in Frankreich zurückgehalten worden. Das ist insofern nicht ganz
richtig, als jenes mit Maret verfaßte, die ganze Politik gegen Rußland
zusammenfassende Memoire vom 16. August 1811 bereits vom Juni
des nächsten Jahres als Termin für den Beginn des Krieges sprach.
{Siehe oben S. 52).
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80
Der Kaiser im Felde.
die Offensive ergriffen und über die Grenze drangen. Der
„letzte Akt", wie er beschwichtigend sein russisches Unter-
nehmen nannte, konnte beginnen.
Am frühen Morgen des 29. Mai verließ der Kaiser Dresden
und fuhr zunächst nach Posen, wo er am 31. eintraf, um von
hier über Thorn und Danzig nach Königsberg weiterzureisen.
Er hatte auch für seinen Aufenthalt im Felde schon im
Januar eingehende Anordnungen getroffen. Zur Fahrt nach
dem Kriegsschauplatze diente ihm ein bequemer Reisewagen,
in dem er arbeitete und nächtigte und dem seine reiche Suite
teils zu Pferde teils ebenfalls zu Wagen folgte. Kam der Zug
in einen Ort, wo das Hauptquartier aufgeschlagen wurde, dann
waren im Xu in dem ansehnlichsten Hause ein paar Zimmer
für ihn eingerichtet, deren bestes als Arbeitskabinett zu
dienen hatte, mit kleinen Tischen in den Ecken für die Sekre-
täre und einem größeren in der Mitte, wo Oberst d'Albe sofort
die gewünschte Karte ausbreitete, die des Abends zehn Wachs-
lichter beleuchteten. Denn auch ein ganzes transportables
Kabinettsarchiv und eine sorgfältig ausgewählte Landkarten-
sammlung begleiteten den Kaiser. Sie waren auf der Fahrt
ebenso gut von einem Piquet Gardekavallerie bewacht wie der
Wagen, in dem er saß. Im Biwak wurde ein Rechteck von
hundert zu zweihundert Klaftern abgesteckt und mit Schild-
wachen umgeben, das neben dem Zelte des Kaisers noch sieben
andere enthielt: eins für die Großoffiziere (Duroc, Caulain-
court), eins für die Adjutanten, eins für die Ordonanzoffiziere,
eins für die Sekretäre usw. Das Napoleons war in zwei Salons,
ein Arbeitskabinett und ein Schlafzimmer abgeteilt; einer der
zwei Generaladjutanten vom Dienst schlief des Nachts im
zweiten, die Hälfte der Ordonnanzoffiziere im ersten Salon.
Der Adjutant hatte ein großes Portefeuille mit den eben be-
nötigten Karten, einen Kompaß, färbige Stecknadeln und
Schreibrequisiten stets zur Verfügung des Kaisers zu halten.
Die Mappe war auf dem Marsche einem der beiden Chasseurs
de portefeuille anvertraut, die in der Suite mitritten. War der
Kaiser zu Pferde, so hielt auch schon ein Page das Fernrohr
bereit und Schreibzeug, wenn es benötigt wurde, und Cau-
laincourt, der wieder seinen Dienst als Oberststallmeister
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Des Krieges Anfang.
81
versah, die eben in Gebrauch stehende Karte, so gefaltet, daß
der Blick Napoleons sogleich auf die entscheidende Stelle
fallen konnte. Drei Maitrcs d'hotel und ein Piqueur zu Pferde
hatten Menagekörbe vor sich auf dem Sattel, zwei berittene
Kammerdiener trugen Medikamente und chirurgische Instru-
mente. Stieg der Kaiser vom Pferde, so saßen auch sofort vier
Chasseurs der Eskorte ab und umgaben ihn in entsprechender
Entfernung. Sie blieben um ihn, während er die Gegend reko-
gnoszierte. So war das Einzelnste vorgesehen, und niemand
vom „militärischen Hause" Napoleons würde sich auch nur die
kleinste Unregelmäßigkeit gestattet haben. Überall herrschte
präzise Ordnung, alles war auf den Wink des Kriegsherrn ein-
gerichtet.*)
Narbonne hatte aus Wilna als Antwort zurückgebracht,
was bereits vor Jahresfrist von Caulaincourt gemeldet worden
war: den Entschluß des Zaren, sich, wenn es sein müsse,
bis in die entlegenen Tiefen seines weiten Reichs zurück-
zuziehen und nicht eher an Frieden zu denken, als bis
die Franzosen es wieder verlassen haben würden.**) Zugleich
blieb Alexander bei seiner Forderung, Preußen zu räumen,
und jetzt nahm Napoleon den Handschuh ohne weiteres auf.
*) Siehe das Reglement bei Margtieron, III. 536 ff. und vgl.
Odeleben, Napoleons Feldzug in Sachsen, S. 95 ff.
**) „Alexander verkündete, daß er, wenn selbst der Kaiser nach
Petersburg oder Moskau gehen würde, sich verteidigen, oder vielmehr
Feinen Feind erschöpfen wolle, indem er ihn vorrücken und sich mit
Märschen zugrunde richten lasse, da Napoleon die Okkupation des
Landes soweit weg von allen seinen Hilfskräften nicht lange auszuhalten
vermöge." Castellane, Journal, 26. Mai 1812,1.96. Vgl. Vandal,
III. 430 nach unedierten Berichten: „Der Zar zeigte auf der Karte auf
einen Punkt im östlichen Asien und sagte: „Ist Napoleon zum Krieg
entschlossen und begünstigt das Glück die gerechte Sache nicht, dann
wird er bis hierher gehen müssen um den Frieden zu finden." Dazu
stimmt auch ein Brief Alexanders an Richelieu, den Gouverneur Süd-
rußlands, vom 9. April 1812, worin Dieser den Auftrag erhält, „wenn,
was Gott verhüten möge, irgendeine Katastrophe uns zwingen sollte,
soweit zurückzugehen, daß Ihre Provinzen in Gefahr gerieten", die ihm
anvertraute Gräfin Narischkin ins Innere zu begleiten. Der Brief be-
zeichnet als Zufluchtsorte Pensa, südöstlich von Moskau, oder Saratow
an der Wolga. (Rochecho uart, Memoire«, p. 167.)
Pournier, Napoleon I. 6
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82
Die Gliederung der Großen Armee.
Er hatte seine „Große Armee" in drei Gruppen zerlegt,
von denen die eine unter seinen Oberbefehl, eine zweite unter
Eugen, eine dritte unter J eröme gestellt war. Die Hauptarmee
umfaßte die Elite des Heeres: die Garde, ein starkes Korps
unter Davout, ein zweites unter Oudinot, ein drittes unter
Ney, dem zwei württembergische Divisionen unterstanden, ein
viertes (das X.) unter Macdonald, dem die Preußen unter
Grawert zugeteilt waren, endlich die Kavalleriereserve (zwei
Korps) unter Murat, zusammen 250.000 Mann.*) Zur zweiten
Heeresgruppe unter dem Vizekönig von Italien gehörten das
italienische und das bayrische Armeekorps und überdies ein
französisches Reiterkorps, im ganzen 80.000 Mann. Die dritte
Armee unter Jeröme faßte die Polen unter Poniatowski, die
Sachsen unter Reynier, die Westfalen unter Vandamme, der
den König beraten sollte, und ein aus Polen, Sachsen und West-
falen gemischtes Kavaileriekorps in sich, gleichfalls an 80.000
Streiter. Das Heer war nur zur kleineren Hälfte französisch,
die größere stellten die abhängigen Völkerschaften. Im ganzen
genommen war es — wenigstens was die Franzosen betraf —
voll guten Geistes, stolz auf seinen Führer, der Kriegstaten
so freigebig zu belohnen wußte und an dessen Genie man un-
bedingter glaubte als je. Wenn auch einzelne Generale auf
die allzu junge Mannschaft hinwiesen, die den Beschwerden
nicht gewachsen sein werde, wenn sie auch, wie Rapp, offen
eingestanden, daß sie lieber in Paris geblieben wären: es gab
andere genug, die noch keine Lehen empfangen hatten und
keinen Herzogstitel besaßen, und wer weiß, ob so bald wieder
*) Die Angaben über die Stärke der einzelnen Armeekorps sind
nicht ganz übereinstimmend. Die Tabelle in Fezensacs Souvenirs be-
ziffert z. B. die Garde mit 35.800 Mann, während sie nach authen-
tischen Quellen 47.000 zählte. Sie zerfiel in die Division der alten Garde
(unter Lefebvre), zwei Divisionen der jungen Garde (unter Mortier)
und die Gardekavallerie (unter ftessieres). Die Stärke des Davoutschen
Korps betrug nach den amtlichen Quellen 69.553 Mann (Fabry. Cam-
pagne de Russie, IV. Annexe p. 262). Thiers, der die kaiserlichen
Tabellen benützt haben will, spricht von 97—99.000. Ungefähr die
letztere Anzahl, 100.000 Mann, nennt auch Napoleon ini Gespräche mit
Katharina von Westfalen. (Siehe deren Tagebuch von 1812, in der
„Revue historique" von 1888.) Castellanes Journal, 19. Juni 1812,
•pricht von 80.000.
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Die Aufstellung der Küssen.
83
die Gelegenheit kam, beides zu erwerben?*) Ob auch gleich
in Holland und Illyrien Aufruhr über die Konskription ent-
standen war, Tausende französischer Militärflüchtlinge ge-
fesselt herbeigeführt werden mußten und zwischen Preußen
und Franzosen schon in den ersten Tagen ein blutiges Kencontre
über einen Verpflegstrain entbrannte, so waren das doch nur
Untergeordnete Momente.
Ende Mai stand das Heer von Königsberg und Elbing
die Weichsel aufwärts bis Nowo Alexandria hin, indes die
Österreicher unter Schwarzenberg — Erzherzog Karl hatte den
Befehl über das Hilfskorps abgelehnt — bei Lemberg sich
sammelten. Diese weite Ausdehnung der alliierten Streitkräfte
ließ die Bussen im Unklaren, ob der Vorstoß Napoleons im
Norden, bei Kowno und Grodno, oder südlich, von Warschau
her, erfolgen werde. Sie mußten hier wie dort bereitstehen,
um nicht überrumpelt zu werden, und teilten zu diesem Zweck
ihre verfügbaren Kräfte in zwei Armeen, von denen die eine
nördlich um Wilna unter dem Oberbefehlshaber Barclay de
Tolly, eine andere unter Bagration — beide Generale hatten
sich im Feldzuge von 1807 ausgezeichnet — südlich vom Pripet
ihre Aufstellung nahm. Eine dritte gegen Schwarzenberg be-
stimmte Abteilung unter Tormassow war in Wolhynien erst
in der Bildung begriffen. Die Armee Barclays zählte nur
111.000 Mann,**) die Bagrations 66.000; diese mußte aber, als
sie nordwärts rückte, um die Fühlung mit dem Hauptheer zu
gewinnen, nahe bei 30.000 Mann an Tormassow überlassen,
der dadurch über Gebühr verstärkt wurde, da österreichiseher-
seits versichert worden war, man werde den Krieg als selb-
*) Noch aus dem verbrannten Moskau heraus schreibt einer:
„Man spricht davon, nach Indien zu gehen. Wir haben ein so großes
Vertrauen, daß wir Uber die Möglichkeit des Erfolges eines solchen
Unternehmens nicht weiter nachgrübeln, nur etwa über die Anzahl der
Monate, die der Marsch benötigen und wie lange dann die Briefe aus
Frankreich brauchen würden. Wir sind an die Unfehlbarkeit des Kaisers,
an das Gelingen seiner Pläne gewöhnt." (Castcllane. Journal, 5. Ok-
tober 1812, I. 165.)
**) Buturlin (Campagne de Russie) hatte sie mit 127.000 an-
gegeben, doch ist, diese Zahl nicht festzuhalten. Siehe u. A. Loewen-
stern, Memoire9 (ed. Weil) I. Annexe III.
6*
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84 Feldzugspläne.
ständige Macht, d. h. nicht allzu eifrig, führen und die Frank-
reich zugesagte Streitkraft sicher nicht vermehren. Es lagen
also den 400.000 Mann der ersten Aufstellung Napoleons etwa
nur 150.000 Russen gegenüber, und diese getrennt, denn Ale-
xander, der sich das Zurückweichen ins Innere schon mit Rück-
sicht auf die öffentliche Meinung nicht ohne Kampf denken
durfte, hatte einen von dem 1807 aus dem preußischen ins
russische Heer übergetretenen General Phull ausgearbeiteten
Kriegsplan angenommen, wonach eine starke Armee vor dem
Feinde sich auf ein verschanztes und mit Reserven besetztes
Lager bei Drissa zurückziehen sollte, um dort den Streit
zu wagen, während ein zweiter Heerkörper ihn, wenn er dort-
hin nachrückte, in Flanke und Rücken zu belästigen hätte.
Drissa würde dann ungefähr dieselbe Rolle zufallen, die
Wellington mit so viel Erfolg den Torres vedras anvertraut
hatte. Allerdings stand noch eine russische Armee unter Ad-
miral Tschitschagoff in der Walachei, eine zweite schwächere
unter Steinheil in Finnland. Aber diese beiden hatte die Po-
litik eben erst freigegeben; sie kamen für den Beginn der
Feindseligkeiten noch nicht in Betracht.
Daß er dem Feinde so weit überlegen war, vermutete
Napoleon nicht. Er schätzte dessen Kräfte um vieles höher.*)
Vielleicht war es dieser Irrtum, der ihm und seinem
Heere vor jedem anderen verhängnisvoll wurde. Denn
er ließ ihn einen Plan entwerfen, den er möglicherweise
bei genauerer Kenntnis vom Feinde nicht gefaßt haben
würde und in dessen eifriger Verfolgung er seine Truppen
aller Unbill aussetzte, die ihnen bei einem methodischeren
Feldzuge erspart geblieben wäre. Dieser Plan ging dahin,
mit der ersten Armee, deren linker Flügel unter Macdonald
bei Tilsit über den Niemen rücken und von da mit den
*) In den Aufzeichnungen zweier Offiziere des großen Haupt-
quartieres finden sich die Belege für solche Überschätzung. Segur nennt
als Gesamtanzahl der Russen 300.000, Fezens ac 330.000. Der Letztero
beziffert die beiden Armeen Barclays und Bagrations allein mit 230.000
Mann. Die Abteilung des Letzteren wurde immer in ihrer ursprünglichen
Stärke (66.000 M.) festgehalten. Napoleon selbst schätzte Barclay auf
150.000, Bagration auf 100.000 Mann.
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Irrtümer beiderseits und deren Folgen. 85
Preußen nordwärts operieren sollte, über Kowno auf Wilna
vorzudringen und zwischen Barclay und Bagration durch-
zubrechen. Die zweite und dritte sollten der ersten zur Rechten
staffeiförmig über Grodno folgen, um, gleichsam einen mäch-
tigen Keil bildend, den Riß zwischen den feindlichen Heer-
teilen zu erweitern, damit sie dann getrennt umfaßt und ge-
schlagen werden konnten. Aber merkwürdiges Schicksal ! Gerade
die ungeheuren Massen, über die Napoleon verfügte, sollten ihn
in Nachteil setzen. Derselbe General, der im Jahre 1796 mit
40.000 Mann unerhörte Triumphe errungen hatte, sollte nun,
mit der zehnfachen Kraft bewehrt, eines weit geringeren
Feindes nicht Herr zu werden vermögen. Und so paradox es
klingt, es war im Grunde nur natürlich. Denn der Überzahl
der Franzosen wagte Barclay allein nicht, wie er sonst gerne
gewollt hätte, sich zum Kampfe zu stellen, auch nicht auf die
befestigte Düna gestützt. Er suchte vielmehr retirierend weiter
rückwärts den verlorenen Anschluß an Bagration, der sich in
der gleichen Absicht zurückzog. Da nun aber die Entfernung
Beider durch die zwischendrängenden Heeressäulen der Fran-
zosen immer größer wurde, konnte ihre Vereinigung — wenn
Bagration der ihm drohenden Umarmung entschlüpfte —
erst nach weitem Rückmärsche bewerkstelligt werden. Und so
kam es, daß sie, fortwährend ihre Verbindung suchend, vor den
Franzosen wichen, die Schlacht nicht annahmen, die Napoleon
mit fieberhafter Ungeduld herbeisehnte, den Feind durch
wüstes Land und auf verheerten Wegen hinter sich herhetzten,
bis ihn seine Vorräte nicht mehr erreichen konnten, seine
Truppen vor Erschöpfung versagten und das stolze Heer so
arg zusammenschmolz, daß es den Sieg, den es endlich mühe-
voll errang, nicht mehr entscheidend auszunützen vermochte.
Das war im wesentlichsten der Gang der nächsten Ereignisse,
die eine Katastrophe vorbereiteten, wie sie die Geschichte ent-
setzlicher nicht kennt.
Man wird hierbei nicht übersehen dürfen, daß Napoleon
zwar sehr lebhaft an Moskau als letztes Ziel seiner Unter-
nehmung, aber doch wohl kaum daran dachte., dieses Ziel noch
mit diesem spät begonnenen Feldzuge zu erreichen. In Paris
hatte er seinen Vertrauten verkündet, er denke nur Alexander
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86 Des Kaisers ursprüngliche Absicht.
und die russische Macht, durch den Verlust Polens geschwächt,
hinter den Dnjepr zurückzuwerfen. In Dresden sagte er zu
Metternich, die Kampagne solle bei Minsk nnd Smolensk ihr
Ende erreichen; dort wolle er Halt machen, die beiden Plätze
befestigen, in Wilna sein Winterquartier nehmen, das eroberte
Litthauen organisieren und seine Armee auf Kosten Rußlands
ernähren. Sollte das dann nicht zum Frieden führen, so würde
er im nächsten Jahre bis zum Zentrum des Landes vordringen
und ebenso geduldig, wie im ersten Feldzuge, die Nachgiebig-
keit des Zaren abwarten. Diese Absicht, mit der das ganze Ver-
pflegswesen zusammenhing, bestand noch, als Napoleon sein
Heer über die russische Grenze führte. In dem Manifest, das
er da an seine Soldaten richtete, nannte er den Krieg, den er
begann, den „zweiten polnischen Krieg", und in Wilna
versicherte er dem General Sebastiani, er werde die Düna nicht
überschreiten, denn über sie hinauszugehen wäre in diesem
.Jahre unfehlbares Verderben. Polen, das er den Eus3en ent-
reißen wollte, ward freilich in seiner größten Ausdehnung
gedacht, die es im 17. Jahrhunderte gehabt hatte, als auch
Smolensk noch daeu gehörte, und in dieser Stadt gedachte er
zu bleiben, wie er zu Jomini sagte, der für den Nachschub der
Verpflegsmittel sorgen sollte.*) Man sieht, er hatte ur-
sprünglich durchaus nicht einen raschen Vorstoß ins Herz von
Rußland geplant, wie einzelne Militärschriftsteller festhalten
wollen, und es war gewiß gegen seine wohl und lange überlegte
Absicht, so schnell nach Moskau zu kommen. Die verderbliche
Hast der Bewegung ward ihm vom Feinde aufgedrungen. Doch
nun zu den Ereignissen selbst.
*) Siehe Metternich, Nachgelassene Papiere, I. 125; Sögur,
Histoire et mernoires, IV. 281; Jomini, Prelis politique et militairc
des campagnes de 1812 ä 1814, 1. 75. Hier wird auch von einem Tisch-
gespräch in Wilna erzählt, wobei sich der Kaiser über seine Absichten
genau so wie in Dresden zu Metternich äußerte: „Wenn Herr Barclay
meint, ich würde ihm bis zur Wolga nachlaufen, irrt er gewaltig. Wir
werden ihm bis nach Smolensk und an die Dwina folgen, wo eine
gute Schlacht uns Kautonncments geben wird. Ich werde mit dem
Hauptquartier nach Wilna zurückkehren, um hier den Winter zu ver-
bringen, werde eine Truppe der Pariser Oper und des Theatre franc,ais
kommen lassen. Jm nächsten Mai wird dann das Geschäft beendigt,
wenn wir nicht noch während des Winters Frieden machen."
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Der Einmarsch in Litthauen.
87
Am frühen Morgen des 23. Juni hat der Kaiser — in den
Überrock eines polnischen Lanzenreiters gehüllt und mit einer
schwarzen Mütze auf dem Kopfe, nur von Caulaincourt, Bcr-
thier und Ney begleitet — südöstlich von Kowno den gün-
stigsten Punkt für den Übergang über den Niemen erkundet.
Nach Mitternacht beginnt derselbe auf drei Brücken und wahrt
einige Tage. Kein Feind, einige Kosaken ausgenommen, ist zu
sehen. Niemand macht den Franzosen das jenseitige Ufer
streitig. Und Napoleon hatte auf Widerstand gerechnet. Nun,
er hofft ihn vor Wilna, der großen Stadt Litthauens, zu finden.
Dahin dirigiert er seine Armee. Dort weilt Alexander. Der Zar
hatte den Polen wiederholt seine Sympathien entgegen-
gebracht. Jetzt will er wenigstens dem Franzosenkaiser sein
Spiel erschweren. Und das scheint ihm zu gelingen. Denn von
dem Enthusiasmus der Litthauer für den „Befreier" Polens
vernimmt das anrückende französische Heer nur wenig. Endlich
muß der Zar Wilna räumen, wo am 28. Juni Napoleon mit
den Seinigen einzieht. Von Widerstand war wieder kaum die
Bede. Schwache russische Posten wurden mit spielender Leich-
tigkeit vertrieben. Die erwartete Schlacht blieb aus. Und auch
in der Stadt nicht die erhoffte Begeisterung, keinerlei Opfer-
mut, nicht die vielen Tausende von Streitern, auf die man ge-
rechnet hatte, nicht Geld oder sonstige Unterstützung. Der
Kaiser war voll Unmut hierüber. Es störte seine Kreise. Denn
seine Absicht war gewesen, im Herzogtum Warschau die natio-
nale Begeisterung aufs neue anzufachen, damit sie von hier
aus die russischen Polen erfasse und in ihnen dem Zaren neue
Feinde schaffe, bereit, mit den Waffen die Idee ihrer alten
Unabhängigkeit zu verfechten. Darum hatte er noch von Paris
und später von Dresden aus als seine Absicht verbreiten lassen,
das alte Königreich solle wieder erstehen, darum hatte er als
seinen Vertreter einen außerordentlichen Gesandten, den Abbe
de Pradt, Titularerzbischof von Mecheln, nach Warschau ge-
schickt, damit er dort das Ministerium, dem der König von
Sachsen souveräne Vollmachten zugestanden hatte, zu möglichst
großen Opfern an Kriegskräften bewege und einem Reichstag,
der einberufen wurde, des Kaisers Schutz ankündige. Es sollte
eine „Konföderation", wie im alten Polen, gebildet werden,.
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88 Die Sendung de Pradts.
die ihre Agenten und Kundmachungen nach Russisch-Polen
zu entsenden und der russischen Armee ähnliche Verlegen-
heiten zu bereiten hätte, „wie sie die französische in Spanien
erfährt." Die Nation sollte „in eine Art Rausch" versetzt und
nur mit den österreichischen Provinzen eine Ausnahme ge-
macht werden, „da man einen Alliierten nicht verstimmen
dürfe".*) Alles das sollte de Pradt geschickt ausführen, aber
ohne bis ans Ende zu gehen. Denn des Kaisers Absicht war es
auch jetzt nicht, das alte Polen wirklich wiederherzustellen,
sondern nur die Hoffnung darauf in der Nation so sehr zu be-
leben, daß sie den Krieg gegen Rußland als Unabhängigkeits-
kampf auffaßte und mit dem Aufgebot all ihrer Kräfte
führen half. Die entscheidende Stelle in der Instruktion für
de Pradt lautete dementsprechend, der Kaiser werde einer
Abordnung der Konföderation, die er erwarte, erwidern, daß
die Wiedergeburt ihres Vaterlandes nur von ihrem Eifer, ihren
Anstrengungen, ihrem Patriotismus abhänge. Dieses Verhalten
möge auch dem Gesandten zur Richtschnur dienen.**) Also: mög-
lichste Ausnutzung der nationalen Wünsche in seinem In-
*) Napoleon hatte für diese Mission zunächst Talleyrand ins
Auge gefaßt, der sich 1807 in Warschau beliebt gemacht und jenerzeit
die russisch-französische Allianz sehr ungern gesehen hatte. Aber
während der Kaiser in den letzten Jahren von dem Bündnis allmählich
abgewichen war, war Talleyrand Alexanders heimlicher Bundesgenosse
und Vertrauensmann geworden, der sich gelegentlich nicht scheute,
den Zar um eine größere Summe zur Begleichung dringender Auslagen
zu bitten. (Siehe Schilder, Alexander. II. 397) Ahnte Napoleon diese
Beziehungen? und versuchte er den gefährlichen Mann unschädlich zu
machen, indem er ihn durch den Auftrag in Polen Alexander gegen-
über kompromittierte? Jedenfalls schien es ihm gut, Talleyrand aus
Paris fortzubringen, während er im Osten Krieg führte. Aber der Herzog
von Benevent hatte wenig Lust, sich zu exponieren, und dürfte abge-
lehnt haben. Daß er in seiner G-eldsucht die ihm unter Diskretion
angebotene Vertrauensstellung rasch zu einer Spekulation an der Wiener
Börse benützte, brachte ihn aufs neue in Ungnade und verschaffte de
Pradt. auf Duroes Fürwort, die Sendung (Ernouf, Maret. p. 378).
Möglich ist auch, daß Talleyrand, indem er die ihm aufgetragene Ver-
schwiegenheit verletzte, geradezu die Absicht verfolgte, die unangenehme
Mission loszuwerden. Die Sache ist noch nicht geklärt.
*♦» Die Instruktion für de Pradt vom 28. Mai 1812 in Corresp.
XXLII. 18.734.
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In Wilna.
89
teresse, jetzt, wie 1807, und nichts weiter. Pradt versah sein Amt
schlecht, und der Kaiser sah sich in seinen Erwartungen
getäuscht. Schon daß die Warschauer die 70.000 Mann, die
sie stellten, kaum zur Hälfte bezahlen konnten, woraus Frank-
reich neue Unkosten entstanden, ließ ihn die Herstellung der
alten polnischen Eepublik von einer ganz anderen Seite be-
trachten, als sie die nationalen Patrioten ansahen. „Ich kann
nicht begreifen," hatte er im letzten Dezember einmal an
Davout geschrieben, „wie dieses Land beanspruchen kann,
eine Nation zu werden." Jetzt sagte er zu Alexanders Abge-
sandten Balascheff, dem Polizeiminister, der ihn — wohl mehr
zur Kundschaft als zu diplomatischer Unterhandlung — in
Wilna aufsuchte, um ihm zu versichern, daß der Zar zu ver-
handeln bereit sei, wenn der Feind sein Reich wieder verlassen
wolle, u. a.: „Glauben Sie etwa, daß mir etwas an diesen pol-
nischen Jakobinern gelegen sei?" Es war, wie er sich zu
Narbonne äußerte : „Die Polen dulde ich nur als disziplinierte
Macht auf dem Schlachtfelde. Wir werden ein Stückchen
Reichstag haben im Großherzogtura Warschau, weiter nichts."
Als dann dieses Stück Warschauer Reichstag wirklich eine De-
putation nach Wilna schickte und ihn bat, er möge doch nun
nur das eine Wort sprechen, daß das Königreich Polen existiere,
antwortete er ausweichend und mit dem Hinweis auf die Inte-
grität Österreichs, die er gewährleistet habe. So hatte er es
tatsächlich in Dresden mit Franz I. vereinbart.*) Unter diesen
*) Daß dem so ist, geht aus einem Schreiben des Kaisers von
Österreich an seinen Gouverneur in Galizien. den Grafen Goeß, vom
7. Juni 1812 hervor, worin es heißt: „Die Herstellung eines Königreichs
Polen wird wahrscheinlich eines der ersten Resultate des Ausbruches
des Krieges zwischen Frankreich und Rußland sein. Der französische
Kaiser wird an diesem Ereignisse nur einen indirekten Anteil nehmen
und dem zusammenzuberufenden polnischen Reichstage und dem mit
allen Regierungs vollmachten versehenen Warschauischen Ministerio die
Bearbeitung der ehemaligen, das Königreich Polen konstituierenden
Teile, welche nun unter russischer Botmäßigkeit sind, überlassen. Der
Deputation des Reichstages, welche die Herstellung des Königreiches
bei dem Kaiser anflehen dürfte, wird derselbe antworten, daß dieses
die Sache der Polen gelbst sei, daß er ihnen aber ausdrücklich erklären
müsse, daß unter Polen nie die im Besitze Österreichs befindliche
galizische Provinz verstanden werden könne, da er selbe vermöge der
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90
Erste Unfälle.
Umständen war es kein Wunder, wenn es den Litthauern an
Opferwilligkeit fehlte.
Dies hatte übrigens noch einen besonderen Grund. Die
„Befreier" kamen nämlich wie die erbittertsten Feinde, die
„Träger der Zivilisation" wie deren geschworene Gegner, über
das Land hergefahren. Tausende von hungernden Marodeurs
strömten durch die Dörfer, beraubten die Edelsitze und hausten
in wildem Unfug. Ja selbst in Wilna wurde von der Avant-
garde in den Vorstädten geplündert, was auch die enragier-
testen Polen verstimmte und dem Kaiser jenen unerwartet
kühlen Empfang bereitete. Und diese Lockerung der Disziplin,
bei Franzosen und Verbündeten, hatte wieder ihre zwiefache
Ursache. Einmal waren gleich hinter dem Niemen die Truppen,
um den Feind möglichst bald zu erreichen, in Eilmärschen vor-
gegangen, und zwar auf Wegen, die ein mehrtägiger Landregen
gänzlich aufgeweicht hatte, so daß das Vorwärtskommen zur
Qual wurde und Viele, namentlich die blutjungen Rekruten,
dieser Anstrengung nicht gewachsen, zurückblieben. Und dann
kamen auch die Lebensmitteltransporte nicht vorwärts. Die
Wagen blieben stecken. Die Ochsen, soweit sie überhaupt schon
heran waren, wurden, schlecht gewartet, größtenteils von der
Seuche befallen und verendeten. Desgleichen die Pferde, deren
schon in den ersten Tagen über zehntausend an dem nassen
Grünfutter zugrunde gingen, so daß die Garde allein hundert
Geschütze zurücklassen mußte. Der Transportdienst auf den
Straßen war unterbrochen. Die großen Mehlladungen zu Schiff
gelangten allerdings bis in die Wilia, fuhren aber in dem
seichten Fluß auf den Grund, und als die Fracht endlich zu
Wagen bis Wilna gebracht war, befand sich die Armee nicht
mehr dort. Bitterer Mangel trat ein, denn der Feind zerstörte
Traktate vom Monate März 1812 Österreich ausdrücklich und auf ewig
garantiert habe." Ahnlich schrieb Metternich an Hudelist am 6. Juli:
„Kaiser Napoleon hat uns ganz au fait seines Planes gesetzt. Er wird dem
polnischen Reichstag erklären, daß er französisches Blut nicht für die
Sache Polens aufopfern könne, daß er aber Polen, wenn es Kraft genug
habe, sich als solches zu bilden und herzustellen, alle Unterstützung
leisten werde, von Polen aber förmlich Galizien ausscheide als neue
dem österreichischen Kaiser auf alle Zukunft garantierte Besitzung."
(S. Anhang.)
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Barclay und Bagration. 91
auf seinem Bückmarsch alle Mühlen, Scheunen und Speicher.
Es kam vor, daß selbst in der jungen Garde — wie deren
Führer Mortier dem Kaiser berichtete — Soldaten Hungers
starben; andere schössen sich in der Verzweiflung vor den
Kopf. Napoleon mußte zu den Juden seine Zuflucht nehmen,
die allein in solcher Lage Rat schafften. Aber mitunter waren
auch diese Retter in der Not nicht da. „Es fehlt an allem,"
schreibt ein Augenzeuge, „selbst an Juden." Die falschen
Rubelscheine, die der Kaiser in Paris zu Millionen hatte an-
fertigen lassen, fanden wenig Abnehmer.*) So war schon auf
der Strecke von Kowno bis Wilna eine Unordnung eingerissen,
die sich nicht wieder beseitigen ließ. Das Ende lag schon im
Anfang begründet.
Aber auch beim Feinde herrschte genug Verwirrung. Man
darf sich überhaupt die Haltung des russischen Hauptquartiers
nicht sehr zielbewußt denken. Wenn auch Alexander schon im
März heimlich nach Berlin berichten ließ, er werde eher nach
Kasan zurückgehen als einen seiner Unabhängigkeit verderb-
lichen Frieden schließen,**) so ist doch erst im Verlaufe der
nächsten Wochen, gleichsam unabsichtlich, der richtige Weg
zur Vernichtung des Gegners gefunden worden. Für jetzt kon-
zentrierte Barclay die sechs Korps seiner Armee einige Tag-
märsche hinter Wilna, ohne daß die Franzosen es hindern
konnten, und zog darauf eilends nach Drissa, wo in der Tat
ein festes Lager errichtet war. Hier wollte er Bagration er-
*) Siehe Sorel, VII. o77. Pasquier, I. 523, will wissen, daß von
den falschen Noten nur eine kleine Anzahl au Mann gebracht, auf dem
Rückzüge dagegen ganze Ballen verbrannt worden seien. In der geheimen
Druckerei, die in Montrouge etabliert war und unter polizeilicher
Leitung stand, waren übrigens auch — wie schon 1809 — österreichische
Banknoten verfertigt worden.
**) Duncker, Aus der Zeit Friedrichs des Großen und Friedrich
Wilhelms in, Seite 573. Knesebeck, der damals in Petersburg weilte,
um, im Auftrage seines Herrn, zum Frieden zu mahnen, soll für
den Fall, daß es doch zum Kriege kam, den fortwährenden Bückzug
empfohlen und damit auf den Zar einigen Eindruck gemacht haben.
(Siehe Thimme in den Forschungen zur brandenburgischen und
preußischen Geschichte, 1904, Seite 206.)
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92
Nach Drissa.
warten, der mit dem Kosakenschwarm Platows über Nowo-
grudok und Wileika herankommen sollte. Bagration kam nicht.
Er fand den Weg bereits von Davout verlegt, den Napoleon
rasch mit einigen Divisionen bis Minsk vorgeschoben hatte,
damit er dort die zweite russische Armee empfange, die Jerdmc
ihm von Westen her entgegentrieb. Der Busse wagte es nicht,
sich durchzuschlagen, in der Meinung, es stehe die Haupt-
armee des Feindes wider ihn, und wandte sich nach Süden, um
über Bobruisk und Mohilew zu Barclay zu gelangen. Jerdmc
war nicht rasch genug vorgeeilt, um ihn festhalten zu können;
Davout hinwieder, der auch den Gegner noch immer in der
alten Stärke — bei 70.000 Mann — wähnte, wartete in Minsk
auf den Angriff des Königs von Westfalen, ehe er vorstieß; und
so entkam Bagration. Napoleon, außer sich über die Saum-
seligkeit seines Bruders, gab das Oberkommando über die dritte
Armee an Davout, und Je*röine kehrte gekränkt in sein Land
zurück.
Zu derselben Zeit, gegen die Mitte Juli — viel zu spät, da
die Not der Verpflegung den Aufenthalt in Wilna verlängert
hatte — ließ der Kaiser Murat, Oudinot und Ney der russischen
Hauptarmee nach Drissa folgen. Dort sollten sie Barclay in
der Front festhalten, indes er selbst mit den Garden, drei Divi-
sionen von Davout und den Truppen des Vizekönigs Eugen
ihn rechts umging und ihm so die Verbindung mit Moskau und
Petersburg abschnitt. Aber auch diese Absicht scheiterte. Die
Russen erhielten in Drissa Nachricht, daß Bagration nicht
herankommen könne, und da sie den von allem Anfang
schlecht gewählten und ebenso schlecht befestigten Platz
ohne alle Besatzung gefunden hatten, gaben sie ihn nach
unbedeutenden Gefechten mit der französischen Vorhut
auf und zogen ostwärts.*) Nur das rechte Flügelkorps
*) „Weil es der Monarch so haben wollte", schrieb Barclay am
10. Juli an einen Freund (Siehe Baltische Monatschrift, 1888), was
darin eine Art Bestätigung findet, daß, als sich im Heer kritische
Stimmen gegen Barclays Rückzug erhoben, Alexander ihm den Ober-
befehl, den er selbst bisher innegehabt hatte, uneingeschränkt überließ
und ihm bei seiner Abreise nach Moskau vor Zeugen zurief: „Vergessen
Sie nicht, daß ich nur diese Armee habe. Halten Sie sich das stets
gegenwärtig!« Loewenstern, der dies in seinen Memoiren (I. 208)
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Opfer des Vormarsches.
98
unter Wittgenstein blieb zur Deckung der Straße nach
Petersburg zurück, von Oudinot und Saint-Cyr beobachtet.
So war für Napoleon, der übrigens seinen Entschluß
nicht rasch genug ins Werk gesetzt hatte, zum zweitenmal die
Aussicht geschwunden, den Feind zum Stehen zu bringen.
Er ging unerbittlich zurück. Und was hatten diese miß-
glückten Manöver nicht schon gekostet! Je mehr man vor-
wärts eilte, um so größer wurden die Opfer, namentlich auf den
Straßen, die der Gegner vorher gezogen war. Die Maraudage
nahm die größten Dimensionen an, um so mehr als in den
Tagen des Vormarsches an die Dwina die Julisonne heiß her-
niederbrannte und unendlicher Staub das Atmen erschwerte.
General Saint-Cyr, der die Bayern kommandierte, erzählt, sein
Korps habe im Durchschnitt täglich ein Bataillon (800 bis
900 Mann) aus den Reihen verloren; und so war es überall.
Und was in den Reihen blieb, hatte erst recht mit Not und
Elend zu kämpfen. Von regelmäßiger Verpflegung war seit
Wochen keine Rede mehr. Bei der bloßen Fleischnahrung —
denn es fehlte vollständig an Brot und jeglicher Hülsenfrucht
— wurden die Truppen so elend, daß sie während des Marsches
zusammenbrachen. Schließlich kam die Ruhr hinzu und raffte
Tausende weg. Am schlimmsten daran waren die Reiter, denen
die Pferde, die sich nur noch vom alten Stroh der Hütten-
dächer nährten, unter dem Leibe hinstarben und mit ihren
Kadavern die Straßen verpesteten. Es waren fürchterliche
Strapazen, unter denen auch Napoleon litt. Das war nicht mehr
der Mann, der sich in der Winternot des ersten polnischen
Krieges so wohl gefühlt hatte. Ein Unterleibsübel (Dysurie)
hatte sich in den letzten Jahren geltend gemacht. Es be-
schwerte ihn jetzt besonders, da ihm jeder Ritt lästig wurde.
Und dazu kam, daß seine Nerven durch die täglichen Mel-
berichtet — er diente im Generalstab Barclays — sucht auch (I. 204)
Phulls Plan, dadurch zu retten, daß er geltend macht, die Verschanzungen
bei Dri88a seien zur Aufnahme von 60.000 Mann Reserven bestimmt
gewesen, die aber ausgeblieben waren. Doch muß auch er zugeben,
daß die ganze Anlage nur dann einen Sinn hatte, wenn der feindliche
Angriff in der Richtung auf Pskow, das ist nach Petersburg hin erfolgte,
was doeh ganz unsicher war.
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94
Nach Witebsk.
düngen vom Hinschwinden der Armee und bei der steten Jagd
nach einer entscheidenden Aktion, die sich immer nicht darbot,
bis zum äußersten angespannt wurden. Er schien die ruhige
Herrschaft über sich und andere zu verlieren, die er sonst im
Felde bewiesen. Wie sehnte er sich nach einer Schlacht, um
der qualvollen Lage ein Ende zu machen ! „Seit wir den Niemeu
überschritten," schreibt der Maler Albrecht Adam, der im
Hauptquartier Eugens den Feldzug mitmachte und sich gut
unterrichtet zeigt, „beschäftigte ein Gedanke, eine Hoff-
nung, e i n Wunsch den Kaiser und seine ganze Armee : der Ge-
danke an eine große Schlacht! Man sprach von einer Schlacht,
wie von einem Teste, freute sich auf sie und ließ den Kopf
hängen, so oft man sich in der Erwartung getäuscht sah."
Da winkt die Hoffnung wieder. Barclay zieht auf dem
rechten Ufer der Dwina nach Witebsk. Er hat Bagration die
Ordre zugesandt, über Mohilew und Orscha gleichfalls dorthin
zu kommen. Nun gab es für Napoleon zwei Möglichkeiten:
entweder es gelingt ihm, auf dem linken Ufer marschierend,
dem Feind einen Vorsprung abzugewinnen, hinreichend, um
bei Bjeschenkowitschi über den Fluß zu gehen und einen Stoß
in die Flanke der marschierenden Russen zu unternehmen, oder
Barclay stellt sich bei Witebsk, wo er Bagration erwartet, zur
Schlacht. Das Erste traf nicht zu; der Gegner war zu schnell
vorgegangen; es blieb nur übrig, ihm zu folgen. Aber das Zweite
schien zur Tat werden zu sollen. Am 25. Juli traf Murats Rei-
terei zum erstenmal auf ernsten Widerstand. Tags darauf
drückten die Franzosen die russische Nachhut bis Witebsk
zurück, und da stand am 27. das ganze Barclaysche Heer
kampfbereit. Augenzeugen schildern die Freude der Franzosen
über diesen Anblick, die Befriedigung ihres Führers. Und der
Russe war wirklich zum Streit entschlossen, obgleich er nur
noch über 75.000 Mann verfügte, denn, da er Bagration aus
Süden im Anmarsch wußte, konnte er ihn nicht ohne Unter-
stützung Napoleon in die Hände fallen lassen. Es kam aber
doch wieder anders. Davout war von Minsk östlich auf Mo-
hilew gerückt und Bagration an diesem Orte zuvorgekommen.
Dieser hatte dann am 23. Juli versucht, sich Bahn zu machen,
war jedoch nach einem heftigen Kampfe zurückgewiesen
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Napoleon versäumt die Schlacht. 95
worden und ging nun aufs neue südwärts, um im Bogen nach
Smolensk zu gelangen und erst dort mit der ersten Armee
zusammenzutreffen. Die Nachricht hiervon erhielt Barclay in
der Nacht vom 26. auf den 27. Juli, als er bereits in Gefechts-
stellung den Franzosen gegenüberstand. Nun hatte die
Schlacht, erwog er, allerdings keinen Sinn mehr, sondern
konnte nur noch verderblich werden; die Kräfte der Fran-
zosen waren den seinigen weit überlegen, und es war nicht
uu möglich, daß, während bei Witebsk gekämpft wurde, Davout
auf Smolensk losrückte und dort vor ihm eintraf. Freilich,
wenn Napoleon angriff, mußte er Stand halten. Der Kaiser
aber ließ es am 27. bei unbedeutenden Scharmützeln bewenden,
einmal, um möglichst viel Truppen heranzubekommen und
dem Feinde ein „Austerlitz", wie er sagte, zu liefern, dann, um
seine vom Marsch ermatteten Soldaten nicht in der Mittags-
glut des überheißen Tages in den Kampf zu schicken, vielleicht
aber auch, wie man vermutet hat, weil er selbst, in seinen kör-
perlichen und moralischen Kräften angegriffen, zu einem
jähen Entschluß nicht imstande war. Sein Zaudern aber wurde
ihm verhängnisvoll. Der Feind entkam. Die russische Nachhut
unter Pahlen löste ihre Aufgabe, den Abmarsch zu decken,
vollkommen, und am Morgen des 28. Juli war kein Russe mehr
zu sehen. Ein starker Frühnebel, der erst spät am Tage sank,
hatte auch Pahlens Rückzug so gründlich verschleiert, daß
keine Spur übrigblieb, welche die Richtung seiner Bewegung
bekundet hätte.
Die Enttäuschung war ungeheuer. Fast ein Drittel der
Großen Armee war bereits dahin, über 130.000 Mann mußten aus
den Mannschaftsrollen gelöscht werden, und noch war nichts er-
reicht! Die Kavallerie hatte am meisten Einbußen erlitten —
bei der Hauptarmee samt den Davoutschen Korps 23.000 von
62.000 Mann — und war so nahe der Erschöpfung, daß General
Belliard dem Kaiser offen versicherte, noch sechs Tage Vor-
marsch und es gebe überhaupt keine Reiterei mehr. Zudem hatte
man sich von den Flügelkorps allzu weit entfernt: von Mac-
donald, der die Preußen gegen Riga entsendet hatte und mit
seinen Franzosen auf Jakobstadt marschierte, von Reynier, der
zur Beobachtung Tormassows am Pripet zurückgelassen werden
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96 Rasttage.
mußte, endlich von Schwarzenberg, der schon im Anmarsch
auf Minsk gewesen war, um sich der Hauptarmee anzuschließen,
unterwegs aber auf einen Hilferuf Reyniers umkehrte. Denn
Tormassow hatte an demselben 27. Juli, an welchem sich
Napoleon zur Schlacht bei Witebsk rüstete, eine sächsische
Abteilung von dritthalbtausend Mann gefangen genommen
und heischte ernste Beachtung, die ihm der Kaiser bis dahin
versagt hatte. Jetzt stellt er Reynier unter Schwarzenbergs
Befehl, dem er aufträgt, den Küssen zu schlagen und „mit ihm
fertig zu werden". Einen ähnlichen Befehl hatte Oudinot Witt-
genstein gegenüber erhalten : er soll ihn von Drissa vertreiben
und nordwärts Macdonald entgegenwerfen. Aber Wittgenstein
ließ sich nicht werfen, auch nicht als Saint-Cyr zur Verstär-
kung herankam. Mitte August steht er noch immer bei Drissa.
So lagen die Dinge, als Napoleon sich entschloß, seiner
Armee endlich die Ruhe zu gönnen, deren sie so dringend be-
durfte, Munition heranzuziehen und etwas Ordnung in das
völlig zerrüttete Verpflegswesen zu bringen. Zum Glück begann
bei Witebsk — das übrigens regelrecht geplündert worden
war*) — die Gegend fruchtbarer und bevölkerter zu werden,
das Volk selbst reinlicher und wohlhabender als die vertierten
polnischen Bauern Litthauens. Man schöpfte neuen Mut, ob-
gleich gerade während dieser Rasttage der unerträglichen Hitze
und des schlechten Wassers wegen die Ruhr die meisten Opfer
forderte. Auch Davout ward herzu kommandiert. Es wird von
Se'gur erzählt, der Kaiser habe, von der Suche nach den ent-
wichenen Russen zurückkehrend, seinen Degen in Erregung auf
den Tisch geworfen und ausgerufen, hier wolle er bleiben, sich
sammeln und Polen organisieren, der Feldzug von 1812 sei zu
Ende, was zu tun übrig bleibe, werde der nächste besorgen.
Und ähnlich hätte er sich zu Murat, der vorwärts wollte, ge-
äußert: das Jahr 1813 werde ihn in Moskau, 1814 in Peters-
burg sehen, der russische Krieg drei Jahre in Anspruch nehmen.
Und so ungefähr hatte es ja auch auf seinem ursprünglichen
Programm gestanden. Nur e i n Punkt fehlte darin, allerdings
der wichtigste: der Sieg oder, wie er zu Jomini gesagt hatte,
*) Auch die Gardesoldaten hatten sich beteiligt, was der Kaiser
sebtivf tadelte. Castellane, Journal, 2. August, I. 125.
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Rasttage. 97
„eine gute Schlacht". Zwar stand die französische Heeresmacht
zwischen Dnjepr und Dwina, in jenem natürlichen Tore, das
den Eingang zum Keiche der Moskowiter bildete, wie er es sich
für den ersten Waffengang als Ziel gesetzt. Aber was er von
Rußland inne hatte, war nur mit seinen eigenen Verlusten,
nicht mit denen des Feindes erkauft, ein unsicherer und un-
erfreulicher Besitz. Darüber kam er nicht hinweg. Er litt
förmlich unter dem quälenden Gedanken an seine beeinträch-
tigte Geltung. Und plötzlich rückte er damit heraus: er wolle
auch Witebsk nach kurzer Rast verlassen und auf der Straße
nach Moskau weitergehen. Bei Smolensk stehe der Feind; der
werde diese erste eigentlich russische Stadt nicht ohne Kampf
opfern wollen wie das öde polnische Gebiet, vollends wo seine
beiden Armeen nun vereinigt seien; dort müsse es zur Schlacht
kommen. Siege man bei Smolensk, so habe man den Schlüssel
gewonnen, um beliebig nach Moskau oder Petersburg zu ziehen.
Auch könne man dort eher, durch den Dnjepr gedeckt, eine
feste Winterposition gewinnen. Aber vor allem die Schlacht.
„Es ist noch kein Blut geflossen", sagte er zu den widerstre-
benden Generalen seiner Umgebung, den Berthier, Duroc, Mou-
ton, Caulaincourt, die Alle vom Weitermarsch abrieten, „und
Rußland ist zu angesehen um ohne Kampf nachzugeben. Ale-
xander kann nur nach einer großen Schlacht unterhandeln.
Ich werde diese Schlacht, wenn es sein muß, bis vor der heiligen
Stadt suchen und gewinnen." *)
In der Tat, der Zar dachte nicht an Unterhandlung. Voll-
ends jetzt nicht, nachdem er am 18. Juli mit England ein
Abkommen getroffen hatte, das ihm für die Fortsetzung des
Krieges Vorteile verhieß, und nachdem der Sultan den Frie-
densvertrag ratifiziert hatte und die Moldauarmee nach Norden
ziehen konnte. Auch hiervon erfuhr Napoleon, und die Kunde
traf ihn hart. Aber ihre Wirkung war doch wieder die, daß sie
ihn in seinem Streben nach einer raschen großen Entscheidung
nur bestärkte. Nach zwei Wochen Aufenthalts brach er da3
Kantonnement in Witebsk und Umgegend ab. Er wird jetzt die
*) Segur, IV. 205 ff. Die Briefe, die der Kaiser in den letzten Tagen
aus Witebsk an Berthier und Maret schrieb, erwähnen nichts von einem
Abbruch des Vormarsches, sondern sprechen nur von einer kurzen Rast.
Fonrni«r, Napoleon I '
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98
Nach Smolensk.
gesamte im Umkreis der Stadt lagernde Armee — mit den
Truppen Davouts sind es 199.000 Mann — südlich davon zu-
sammenfassen, sie über den Dnjepr werfen und auf dem rechten
Ufer dieses Flusses und durch ihn gedeckt nach Osten rücken.
Der Feind, erfährt er, habe nach der Vereinigung seiner Streit-
kräfte die Offensive ergriffen und sei, von Smolensk her, auf
der geraden Straße nach Witebsk im Anmarsch. Es ist also
nicht unmöglich, daß man unbemerkt an Smolensk heran-
kommt, den linken Flügel des Gegners umgeht und ihm den
Weg nach Moskau verlegt. Diese Operation — ähnlich der
gegen Mack im Jahre 1805 — wurde am 10. August mit der
größten Präzision begonnen; die Truppen gingen bei Rasasna
und Chomino über den Dnjepr und überschritten am 14. bei
Kraßnoi die altrussische Grenze. Die Nachrichten von den Be-
wegungen der Russen waren richtig gewesen. Die herrschende
Stimmung in der Armee und im Volke, die auch den Zar in
ihren Bann zwang, hatte die Verteidigung des altmoskowiti-
schen Bodens gefordert und Barclay sich zum Angriff ent-
schließen müssen. Um die Verbindung mit Wittgenstein nicht
ganz zu verlieren und nicht von rechts her, wo er die Franzosen
in großer Stärke glaubte, überflügelt zu werden, wählte er die
nordwestliche Richtung für seinen Vorstoß, Bagration hält die
Mitte, und nur für alle Fälle ist linker Hand, jenseits des
Flusses, eine Division detachiert. Auf diese Division nun trifft
die Avantgarde Napoleons am 14. August und wirft sie mit
großen Verlusten gegen Smolensk zurück. Schon aber hat ein
Bote Bagration verständigt, der, als er die Gefahr erkannte, in
fliegender Eile ein Korps nach der Stadt marschieren ließ, um
dort den ersten Anprall des Feindes abzuwehren. Er selbst und
Barclay, den er rasch in Kenntnis gesetzt hat, folgen, so
rasch sie können.
Am Morgen des 16. August ist die französische Vorhut vor
Smolensk angelangt und beginnt den Angriff auf dessen
Mauern. Er wird abgeschlagen, und damit ist Napoleons Vor-
haben bereits gescheitert. Denn während er das Eintreffen der
Garden und der Polen abwartet und unterdes nur unzulängliche
Kräfte ins Gefecht setzt, sind die zwei russischen Armeen
herangekommen und wieder im Besitz des wichtigen Knoten-
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Der Kampf um Smolensk.
99
punktes und der Straße nach Moskau. Kein Geringerer als
Clausewitz hat den Kaiser getadelt, daß er auf das rechte
Dnjeprufer ging, anstatt den anrückenden Feind in der Front
anzugreifen, zu schlagen und so Smolensk zu gewinnen. Aber
das wäre — soweit Napoleon über den Feind unterrichtet war
— nur gewesen, was er eine „gewöhnliche Schlacht" zu
nennen pflegte. Der besiegte Gegner hätte sich durch Smolensk
auf seiner Operationslinie zurückgezogen. Das eben wollte er
gerne hindern. Jetzt freilich blieb nichts anderes übrig, vor-
ausgesetzt, daß der Russe sich überhaupt zum Schlagen be-
quemte. Er tat es, aber wieder nur in der Form eines Rück-
zugsgefechtes. Barclay, der das Gros seiner Truppen im Nord-
osten, zu beiden Seiten der Straße, die nach Welisch führt,
aufgestellt hatte, ließ sich nicht bewegen, aus der Stadt her-
aus die Offensive zu ergreifen, sondern schickte vielmehr den
kampflustigen Bagration auf die Moskauer Straße, um sie zu
sichern, während er selbst Smolensk nur von ungefähr 30.000
Mann verteidigen ließ.*) Als Napoleon sich überzeugte, daß es
dem Feinde wieder nicht um den entscheidenden Kampf zu tun
sei, wollte er dessen Stellung forcieren, um ihn so mit Ge-
walt festzuhalten und zum Streite zu zwingen. Aber da zer-
schellte Sturm auf Sturm an den Mauern, so daß den älteren
Offizieren die syrische Festung Akka in Erinnerung kam, und
auch ein Bombardement, das den größten Teil der Stadt ver-
nichtete, ergab kein Resultat. Und noch einen Tag kämpfen
die Franzosen, die nicht weniger als 10.000 Mann eingebüßt
haben, vergeblich gegen die Nachhut des abziehenden Feindes,
bis auch diese freiwillig den Platz räumt. Sie hat nicht ver-
gessen, den nördlichen Stadtteil mit den Magazinen nieder-
zubrennen. Rauchende Trümmer findet der Eroberer, aber
auch hier keinen Sieg. Wenn er nur sofort die Moskauer
Straße weitergezogen wäre ! Barclay hatte, um den französischen
Batterien jenseits des Dnjepr auszuweichen, einen Bogen ge-
macht, dessen Sehne Napoleon beherrschte, da Bagration ohne
ausdrücklichen Befehl gegen Moskau fortmarschiert war. Er
*) £8 war zuerst das Korps Rajewsky, das später durch Dochturoff
und Eugen von "Württemberg in der angegebenen Stärke abgelöst wurde.
YLöwenstern, Mcmoires, T. 220.)
7*
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1 00 Erwägungen.
hätte Jenen leicht überholen und hier zur Schlacht zwingen
können. Aber der Kaiser kannte diese Situation nicht; er
sandte bloß Ney und Murat vorwärts, und als diese am 19. bei
Walutina Gora an die Barclay sehen Truppen gerieten, hielt er
es auch nur für ein Nachhutgefecht und legte der Sache kein
größeres Gewicht bei. Er hatte zwar Junot mit seinem Korps
(etwa 13.000 Mann) auf dem linken Dnjeprufer vormarschieren
lassen, damit er weiter ostwärts den Fluß überschreite. Aber
der hat es, obwohl von Murat verständigt, unterlassen, gegen
die Flanke des Feindes zu operieren, und so konnte Barclay
mit dem Gros seiner Truppen ungehindert fortziehen.
Was nun? In Dresden hatte Napoleon zu Metternich ge-
sagt, sein Unternehmen sei eines derjenigen, deren Erfolg von
der nötigen Geduld abhänge; dem, der sie am meisten übe,
werde der Sieg zufallen. Er hat arg gegen diese Überzeugung
gesündigt. Ehe der Sturm auf Smolensk begann, hatte selbst
Murat ihm zugeredet, er solle nun einhalten, wo es offenkundig
eei, daß der Feind keine Schlacht annehmen, sondern ab-
marschieren wolle. Vergebens. Später, nachdem er Herr der
trümmerhaften Stadt geworden war, machte seine Umgebung
aufs neue Vorstellungen. Kapp, der vom Niemen kam,
schilderte das Elend auf der langen Straße, die zahllosen Opfer
des Typhus und der Dysenterie, die Tausende von Marodeurs,
die sich, halb tot vor Entkräftung, mühselig nach einem Busch
hinschleppten, um ungesehen zu sterben, die Tausende von
Deserteurs, die, in Banden organisiert, in Schlössern und
Dörfern auf eigene Faust hausten, bis das verzweifelte Volk
sie totschlug. Und was antwortete Napoleon? Er kenne das
alles und gebe das Entsetzliche der Lage zu, aber gerade des-
halb sei keine Zeit mehr zu versäumen. Nach der ersten ge-
wonnenen Schlacht würde sich Alles wieder finden. Schwarzen-
berg hatte bei Gorodetschna Über Tormassow einen Vorteil er-
rungen, Saint-Cyr, der Nachfolger des verwundeten Oudinot
im Kommando, endlich am 18. August Wittgenstein bei Polozk
geschlagen und hinter die Drissa zurückgedrängt, was der
Hauptarmee die Aktion nach vorwärts erleichterte. Konnte
diese an Erfolgen zurückbleiben? So war und blieb sein nächstes
Ziel der Sieg über die Hauptmacht des Feindes, und der war
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Napoleon beschließt weiterzugehen, 101
nur auf dem Wege nach Osten, auf der Straße nach Moskau
zu gewinnen. Von einem Stehenbleiben in Smolensk, von dessen
2300 Häusern nur noch etwa 400 bewohnbar waren, war keine
Rede weiter.
Es könnte auffallen, daß der Kaiser seiner Truppen noch
so sicher war. Freilich nur derjenigen, die ihre robuste Natur
und ihr disziplinierter Charakter bei der Fahne festgehalten
hatte. Sie murrten zwar, wie sie 1807 gemurrt hatten, aber
sie gingen weiter, trotz der entsetzlichen Hitze bei Tage, trotz
der mangelnden Nachtruhe, denn die Nachtstationen mußten
zu Rationierungen in den umliegenden Dörfern verwendet
werden, trotz der düsteren Aussicht, die Last des kommenden
Tages vielleicht nicht mehr zu ertragen. Es waren Elitetruppen,
kräftig an Körper und Seele, die 161.000 Mann, mit denen er
Smolensk verließ, besonders die Soldaten Davouts.*) Sie waren
gerne dabei, wenn es vorwärts ging, denn hinter ihnen lag das
Grauen der polnischen Öde, vor ihnen Kampf und Sieg und
Ehre und Lohn, und endlich mußte man ja nach dem ge-
priesenen Moskau kommen.
Freilich, hätte Napoleon genauer zugesehen, er wäre viel-
leicht doch am Dnjepr stehen geblieben oder nach Litthauen
zurückgegangen. Aber sein Blick war in Rußland ebenso trübe
wie er es in Spanien gewesen war. Auch jetzt gewahrte er nur
eine Armee vor sich, die er zu schlagen hatte, und ein Kabinett,
dem er den Frieden diktieren wollte, nichts weiter. Er sah
nicht den neuen Feind, der sich ihm in dem Augenblick ent-
gegenstellte, als er bei Krasnoi das polnische Gebiet verließ
und die altrussische Grenze überschritt, den starken nationalen
Instinkt der Russen, der sich mit ihrer Religiosität und ihrer
Barbarei zu unerhörtem Widerstand verband. Schon machte
er sich überall geltend : im Heere, dessen Kraft und Mut er mit
Fanatismus stählte, am Hofe des Zaren, der sich seinem Ein-
fluß nicht entziehen konnte, in der Bevölkerung, die sich zu
vielen Tausenden bewaffnete und vor dem Kreml in Moskau
ihrem Herrscher zurief : „Laß uns sterben oder siegen !" Na-
*) In Witebsk, Orscha, Mohilew und Smolensk blieben Besatzungen,
etwa 14.000 Mann, zurück. Ebensoviel waren in den letzten Kämpfen
und auf dem Marsche von Witebsk her eingebüßt worden.
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102 Der Chauvinismus der Rassen. Kutusow.
poleon gewahrte nichts davon. Und doch fehlte es nicht an
deutlich redenden Anzeichen. War es denn nicht merkwürdig
genug, daß kaum mehr als ein einziges feindliches Korps zwei
Tage lang einer großen Armee widerstand, ohne auch nur einen
Gefangenen in ihre Hände fallen zu lassen? nicht merkwürdig,
daß der Gegner die durch ihre Gnadenbilder geheiligte Stadt
am Dnjepr eher in Flammen aufgehen ließ, bevor er sie dem
Feinde überantwortete?
Schon forderte der russische Chauvinismus im eigenen
Lager sein Opfer. Es war der Oberbefehlshaber Barclay selbst.
Als Livländer galt er der Armee als Fremdling; am Hofe hatte
er unter den Führern der Altrussenpartei seine erbittertsten
Gegner; mit Bagration war er überworfen, und die Aktionen
litten unter der Zwietracht der Feldherren. Nur der Zar hatte
ihn bisher gehalten; jetzt vermochte auch er es nicht mehr.
Daß er die Stadt der heiligen Jungfrau nicht energischer ver-
teidigt hatte, wurde ihm als unsühnbarer Frevel angerechnet,
und man brachte Alexander dahin, zu glauben, die Schlacht bei
Smolensk — energisch in Szene gesetzt — hätte wirklich zu
seinen Gunsten enden müssen.*) Barclay, der am Ende zu
Rußlands Heil nur getan hatte, was ihm in Polozk vom
Zaren auf die Seele gebunden worden war, die Armee für
späterhin geschont, ward des Oberbefehls enthoben und behielt
nur ein Teilkommando, wie er es zuvor innegehabt. Kutusow
wurde sein Nachfolger und zugleich Oberfeldherr auch über
die von Wittgenstein und Tormassow befehligten Heeresteile.
Er war ein Altrusse, beliebt bei den Soldaten, vom Zaren aber
nur aus Not berufen, der ihn nicht mochte, weil er gegen den
Krieg gewesen war und deshalb die Unterhandlungen mit der
Türkei verzögert hatte, und auch seines im Grunde unverläß-
*) So schrieb der Zar nachträglich an den Admiral Tschitscha-
goff, der die Moldauarmee nach dem Norden führte. Der Brief ist in
dessen Memoiren abgedruckt. Barclay rechtfertigte seine Handlungs-
weise mit der Erhaltung des Heeres für eine entscheidende Tat zu ge-
eigneter Zeit und mit dem Hinweis darauf, daß Napoleon nur unterhalb
der Stadt über den Dnjepr zu gehen brauchte, um ihn aus Smolensk
hinauszunötigen, seine Stellung darin also niemals haltbar gewesen
wäre. Die Rechtfertigungsschrift liest man jetzt auch bei Fahry.
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Die „beilige Haide 41 .
103
liehen Charakters wegen.*) Wir kennen ihn von 1805 her.
Jetzt war er, obgleich erst 67 Jahre alt, ein gebrechlicher
Mann, der nur mit großer Anstrengung zu Pferde stieg und
sich deshalb außer jeder Gefahr halten mußte. Aber er besaß
das Vertrauen der Truppen in hohem Grade, und dieses Pre-
stige gestattete ihm, noch weiter zurückzugehen und erst in
dem zerklüfteten Terrain bei Borodino, wo die Kolotscha in
die Moskwa fließt, die Schlacht zu wagen. Die „heilige Haide"
hieß es dort, und die Sage ging, daß nie ein Feind darüber
hinausgedrungen sei. Da sollte der Kampf ausgefochten
werden. Denn ohne Schwertstreich durfte Moskau nicht dem
Gegner in die Hände fallen; erst kürzlich hatte Alexander den
Bewohnern seinen militärischen Schutz aufs bestimmteste ver-
heißen.
Am 1. September war Napoleon nach Gshazk gelangt, wo
er von ernstem Widerstand hörte, auf den seine Vorhut ge-
stoßen sei. Bald schien kein Zweifel mehr möglich: der Feind
wollte schlagen. Der Kaiser sammelte seine Armee, ungefähr
135.000 Mann, während die Russen nur 127.000 ins Gefecht
führen konnten, darunter 15.000 Rekruten, die man herbei-
gebracht hatte, 7000 Kosaken, die kaum, und 10.000 Milizen,
die gar nicht für den Kampf in Betracht kamen und nur im
Sanitätsdienst Verwendung fanden.**) Dagegen hatte Kutusow
eine ausgewählte Position inne. Er hatte sich rittlings der Mos-
kauer Straße hinter der Kolotscha aufgestellt und einige Erd-
werke aufgeworfen. Die westlichste dieser Redouten wurde von
den Franzosen am 5. September nach erbittertem Kampfe, der
dem Zaren fast 7000, dem Kaiser über 4000 Streiter kostete,
weggenommen, wodurch der linke Flügel der Russen von der
Kolotscha weg an die anderen Schanzen zurückgedrängt ward,
*) „Das Volk wollte seine Ernennung," äußerte sich Alexander
eu einem Vertrauten, „ich habe ihn ernannt, wasche aber, für meinen
Teil, meine Hände. u Später soll er daran gedacht haben, Kutusow ab-
zusetzen und Barclay wieder zu ernennen. Siehe Schiern ann, Nikolaus T.
L 84 (nach Schilder, III.)
**) Diese Verwendung sollte freilich ihren Vorteil haben, da sie
die Kombattanten der mitunter gerne gesuchten Mühe überhob, ihre
Verwundeten selbst nach den Verbandplätzen zu schaffen. (Siehe
Löwenstern, I. 273.)
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104
Die Schlacht bei Borodino.
so daß nun ihre Aufstellung beim Dorfe Borodino ein stumpfes
Knie bildete. Tags darauf entwirft Napoleon seinen Plan. Er
wird den Feind nicht, wie Davout gut rät, in dessen linker
Flanke umgehen — die drohende Bewegung, fürchtete er,
konnte ihn leicht wieder der Schlacht entfremden — sondern
diesen Flügel und das Zentrum nacheinander mit starken
Kräften frontal angreifen und noch weiter umbiegen, auf
solche Weise die nach Westen gerichtete Linie der Bussen nach
Süden umwenden, sie dann über die Straße zurückwerfen und
der Moskwa zu jagen. Wenn Kutusow jetzt nur wirklich stand-
hielt! Napoleon ist durch diesen Zweifel so erregt, daß er die
Nacht vom 6. auf den 7. kaum schläft. Um 1 Uhr steigt er zu
Pferde, um sich von dem Vorhandensein der Russen zu über-
zeugen und nach ihren Lagerfeuern ihre Stellung zu erkunden.
Zum Überfluß war des Abends die Nachricht eingetroffen,
Wellington habe am 22. Juli bei Salamanca über Marmont ge-
siegt. Das war nun jedenfalls zu reparieren. Auch seine Sol-
daten schlafen wenig; müssen sie doch erst von weit her etwas
Nahrung für sich und ihre Pferde holen. Aber sie kommen alle
wieder und kleiden sich in ihre beste Montur, denn es geht
ja nun zu dem lang ersehnten Feste. Man kann es nicht ohne
tiefe Bewegung hören, wie sich auch die Kranken — Deutsche
wie Franzosen — in die Reihen der Kämpfer drängten.
Frühmorgens, um 5 Uhr, fiel auf dem rechten Flügel der
erste Kanonenschuß, um 6 Uhr war die Schlacht bereits im
Gange: auf dem linken Flügel, wo Eugen gegen die Armee
Barclays vorrückend, das Dorf Borodino eroberte, und im
Zentrum, wo Davout, von Ney zur Linken und Murat zur
Rechten begleitet, gegen Bagrations befestigte Mitte vorging,
dessen linken Flügel Junot beschäftigte und Poniatowski mit
den (stark zusammengeschmolzenen) Polen zu umfassen trach-
tete. Mit unendlicher Erbitterung wurde gestritten, und der
Geschichtschreiber ist unsicher, ob er dem Angreifer oder dem
Verteidiger das größere Maß von Heroismus zuerkennen soll.
Jetzt erobert, waren die russischen Redouten bald wieder ver-
loren, um dann wieder gewonnen und wieder verloren zu
werden. Napoleons Fußvolk und Reiter, und die deutschen
Kavallerieregimenter insbesondere, leisteten das Außerordent-
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Die Schlacht bei Borodioo.
105
Uchste, und so ward man schließlich — nachdem die stark expo-
nierte und anfänglich zu wenig unterstützte Armee Bagrations
fast aufgerieben, ihr Feldherr zu Tode verwundet worden war
— Herr der feindlichen Stellung. Aber auch nicht mehr. Die
Bussen wichen allerdings daraus, doch nur, um ein paar tausend
Schritte weiter zurück sich aufs neue zu sammeln und neuen
Widerstand zu leisten. Zu neuem Angriff aber waren die fürch-
terlich heimgesuchten Divisionen Neys und Murats nicht mehr
imstande. Hier, und zwar in dem Augenblicke, da der Feind
sich noch nicht wieder erholt hatte, mußte eine starke Re-
serve eingreifen, um ihn völlig aufzureiben. Eine solche stand
bereit; es waren 20.000 Mann der Garde; inständig begehrten
Murat und Ney ihr Vorrücken: Napoleon versagte es. „Und
wenn morgen eine zweite Schlacht stattfindet," antwortete er,
„womit soll ich sie liefern?" Kaum daß er den Befehl gab,
das zurückgegangene Zentrum des Gegners mit Kanonen zu
beschießen. Man erkannte ihn nicht wieder und schob alles auf
das Fieber einer Erkältung und die Schmerzen, an denen er
tagsüber litt, insbesondere aber auf die abgespannten Nerven,
die nach so viel aufreibender Erregung der neuen Aufgabe
nicht mehr gewachsen waren.*) Er hatte tatsächlich nicht auf
seiner vollen Höhe gestanden und deshalb am 7. Sep-
tember 1812 bei Borodino nur ein Schlachtfeld, keine Schlacht
gewonnen. Die Russen blieben trotz ihren ungeheuren Ver-
lusten — 44.000 Mann an Toten und Verwundeten — die
Nacht über in ihren letzten Positionen und zogen erst am näch-
sten Tage die Moskauer Straße weiter. Sogar dem Zaren wußte
*) Napoleon ist fast von allen militärischen Schriftstellern ver-
urteilt worden, weil er seine Garde nicht hergab. Nur Jomini findet
Worte zur Entschuldigung des Kaisers und gewahrt dessen Fehler
vielmehr darin, daß er den linken Flügel der Russen nicht gleich
von allem Anfang an, solange er noch schwach war, mit noch größerer
Energie bedrängte. Die Vermutung, die Schlacht könnte tags darauf
wieder beginnen, war nicht ganz unbegründet. Barclay, der zwar durch
starke Abgaben an Bagration Eugen gegenüber an der Entfaltung
seiner vollen Kraft gehindert gewesen war, aber doch auch am wenigsten
Terrain eingebüßt hatte, hielt die Erneuerung des Kampfes für not-
wendig, und selbst Kutusow hatte daran gedacht, bis er von den enormen
Verlusten der Armee Kenntnis erhielt, die Napoleon unbekannt blieben.
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106
Kach Moskau.
ihr Feldherr glauben zu machen, es sei keine Niederlage ge-
wesen, was dann in Petersburg als ein Sieg der eigenen Waffen
aufgefaßt und dafür ausgegeben wurde.
Napoleon hatte sich während des Kampfes nicht von
seinem entfernten Standorte fortbewegt, was ihn wohl auch die
Zerrüttung beim Feinde im entscheidenden Momente nicht
gewahr werden ließ. Es war das erstemal, daß er nicht per-
sönlich eingriff — ganz gegen seine sonst geäußerte Über-
zeugung. Er litt ohne Zweifel. Aber was war seine Unpäßlich-
keit gegen den vieltausendfachen Jammer zu seinen Füßen!
Nun war Eylau weit überboten an schreckensvollen Szenen.
Über 70.000 Menschen hatte der eine Tag getötet oder ver-
wundet, und eine Verwundung bedeutete hier nur allzu häufig
den sicheren Tod .*) Napoleon bezeichnete die Schlacht als
die blutigste, die er erlebt, und die, in der am tüchtigsten ge-
kämpft worden sei. Allerdings war gewonnen, daß sich ihm
Moskau erschloß. „Moskau, Moskau!" soll er am Tage darauf
wiederholt in größter Aufregung 'herausgestoßen haben. Aber
hinter Moskau wird eine Armee stehen, die er in ihrer Wider-
standskraft kennen gelernt hat. Sie wird Verstärkungen an sich
ziehen. Aus dem Süden wird eine andere Armee heranrücken,
die gegen die Türken zu siegen gewußt hatte. Seine Flügel und
mit ihnen seine Rückzugslinie werden von überlegenen feind-
lichen Kräften bedroht werden. Das war kein Sieg gewesen,
der den Gegner zur Nachgiebigkeit zwang. Es wird zu neuen
Kämpfen kommen, und wird denen sein Heer noch gewachsen
sein? Nur etwas über 100.000 Mann waren ihm nach dem Ge-
metzel noch übrig geblieben. Drei Tage vor der Schlacht hatte
ein Ersatzkorps unter dem Marschall Victor — 30.000 Mann —
den Niemen überschritten; der Kaiser befiehlt es nach Smo-
lensk zur Vereinigung mit den dortigen Reserven und zur Ver-
stärkung der Hauptarmee nach Moskau. Das ist aber zunächst
auch alles, was er aufbieten kann. Und doch leuchtet sein Auge,
als er am 14. September von einer Anhöhe herab die Riesen-
stadt der Moskowiter gewahrt. Sein Ziel ist erreicht.
*) Die Franzosen hatten 28.000 Mann, nach anderen 30.000
eingebüßt, darunter 49 Generale.
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Der Einzug der Franzosen. 107
Am Morgen des 14. September marschierte Kutusow in
Moskau ein, um es am Nachmittag beim jenseitigen Tore
wieder zu verlassen. Die Bestürzung der zurückgebliebenen Be-
wohner — die Vornehmen und Reichen hatten sich bereits
fortgemacht — war eine ungeheure. Auch sie hatten von einem
Siege bei Borodino gehört, und nun retirierte der Triumphator
und gab die Stadt den Fremden preis. Eine allgemeine Flucht
begann, so daß die Armee kaum vorwärts konnte; aber was in
• der Eile gerettet wurde, war doch nur wenig. Unmittelbar
hinter den Küssen zogen die Franzosen ein, Napoleon erst am
nächsten Tage. Er erwartete, wird erzählt, eine Abordnung der
Behörden. Aber niemand ließ sich blicken. Das war eine erste
Enttäuschung. Andere sollten folgen. In der Stadt war alles
öde, kein Mensch auf den Straßen; wer geblieben war, verbarg
sich scheu hinter den Fensterladen. „Es kam uns vor", erzählt
Adam über den Einzug der Truppen, „als wenn gute Schau-
spieler vor einem ganz leeren Hause spielen sollten." Der
Kaiser ritt in den Kreml, um dort seine Residenz zu nehmen,
und behielt die Garden in der Stadt; die anderen Korps mußten
in der Umgebung unterkommen. Tröstlich war es, daß allem
Anscheine nach kein Mangel herrschte, obgleich schon die
russische Arrieregarde eifrig geplündert hatte und ihre Nach-
folger ihr darin ebensowenig nachstanden wie die zurück-
gebliebenen Leibeigenen der entflohenen Herrschaften; es gab
reichlich Lebensmittel und Fourage, und man begann in den
verlassenen Wohnungen sich einzurichten, um von den unsäg-
lichen Leiden des Feldzuges endlich auszuruhen.
Ruhe sollte jedoch in Moskau nicht zu finden sein. Schon
vor dem Einmarsch hatte man aus der Ferne einzelne dicke
Rauchsäulen emporsteigen sehen, aber das gewöhnliche Schau-
spiel nicht weiter beachtet. In jeder Stadt waren beim Nahen
des Feindes Vorräte verbrannt worden. Bald indes wurde man
aufmerksam. Meldung auf Meldung lief im Kreml ein, es
brenne an verschiedenen Punkten, und nun ließ der Augen-
schein nicht mehr bezweifeln, daß man einen dem Untergänge
geweihten Ort besetzt halte. Denn immer weiter verbreitete sich,
vom Nordostpassat gepeitscht, das entfesselte Element;
Löschungsversuche blieben meist fruchtlos, da es dazu am Not-
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108
Der Brand der Metropole.
wendigsten fehlte. Am Mittag des 16. September stand die ganze
Stadt im Feuer, das seine Funken schon bis in den Hof des
Kreml spie. Endlich hieß es, auch dieser sei ergriffen, und Na-
poleon, der sich kaum erst staunend in der Residenz der Zaren
umgesehen, mußte eilends den Palast verlassen, um — mit
seiner Eskorte mühselig durch den Wirrwarr der Straßen sich
kämpfend — das Lustschloß Petrowskoje zu erreichen. Von
dort sieht er die Metropole, deren Besitz seinem Ehrgeiz als
der höchste Triumph erschienen war, in einem Meer von
Flammen untergehen. Wenn noch etwas hinzukommen konnte,
den Eindruck des grausen Schauspiels auf sein Gemüt zu ver-
schärfen, so war es die Gewißheit, die sich alsbald ergab, daß
nicht Zufall oder Leichtsinn die Brandstifter waren,
sondern daß der Feind selbst die Stadt geopfert hatte, um ihre
Vorräte und Reichtümer nicht in die Hände der Fremden
fallen zu lassen und diesen den Aufenthalt unmöglich zu
machen.*) Napoleon ließ eine Kommission nach der TJr-
*) Daß der Gouverneur der Stadt, Graf Rostoptschin, die Brand-
legung anordnete bevor er die Stadt verließ, wird auch von russischen
Historikern als erwiesen angesehen. Jedenfalls hat er sie wirksam vor-
bereitet. Schon in Briefen aus dem August hatte er davon gesprochen,
daß, wenn Gott den Russen nicht günstig sein sollte, Moskau in
Flammen aufgehen werde, und so konnte man es auch schon Ende
September und Anfang Oktober im „Courrier de Londres" lesen. Als
dann der Graf die Russen immer näher kommen und die Hoffnung auf
Erhaltung der Stadt immer mehr schwinden sah, verdichtete sich jener
Gedanke zum Entschluß. Bereits am 11. September ließ er alle Feuer-
spritzen „als Staatsgut" aus der Stadt schaffen und versicherte zwei
Tage später den Generalen der Armee, Moskau würde, sobald es von
den Truppen dem Feinde schutzlos preisgegeben werde, durch Brand
zerstört werden. Am Morgen des 14. läßt er die Gefangenen frei, gibt
Befehl die Branntweinfässer der behördlichen Vorrate in den Straßen
zu zerschlagen und verläßt die Stadt, die er von einer nahen Anhöhe
seinem Sohne mit den Worten zeigt: „Grüße Moskau zum letzten Mal,
in einer halben Stunde wird es in Flammen stehen." Er selbst legt
dann Feuer an sein Schloß in der Umgebung. Wird durch all das
seine Urheberschaft — die er selbst während der nächsten Jahre offen
zugegeben, ein Jahrzehnt später aber allerdings abgeleugnet hat —
mehr als wahrscheinlich, so wird sie nahezu zweifellos durch den Um-
stand, daß die Franzosen, als sie den Urhebern dos für sie so ver-
derblichen Brandes nachforschten, eine Anzahl Polizeileute unter den
Schuldigen entdeckten, während man noch in einzelnen Häusern die
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Die Urheberschaft.
109
sache forschen und eine Anzahl ertappter Brandleger er
schießen; aber der Wut des Feuers war kein Einhalt mehr zu
tun. Um die Soldaten nicht um all ihre Hoffnungen zu bringen,
gab er die ursprünglich untersagte Plünderung zu. Die Ver-
wüstung war ungeheuer, der Gewinn gering. Die Lebensmittel
waren meist vernichtet. Dagegen hatten die Flammen die
Keller verschont, und Wein und Branntwein wurden in Fülle
an getroffen. Die Wirkung aber war nur, daß die Unordnung zu
höchst stieg, so daß man die seltenen Bauern, die sich herbei-
ließen, Nahrungsmittel nach der Stadt zu bringen, ausraubte,
während man anderseits mit einigen tausend russischen Maro-
deurs fraternisierte und sie laufen ließ, als ob der Krieg vor-
über wäre. Das war freilich der sehnlichste Wunsch aller. Nicht
zuletzt der des Kaisers.
Am 18. September ließ endlich der Brand etwas nach.
Gut drei Vierteile der Stadt lagen in Asche. Die Bewohner
— noch an zehntausend Menschen — irrten obdachlos und
verhungert durch die Straßen. Ein Bataillon Garde hatte den
Kreml gerettet. Napoleon kehrte dahin zurück. Er kann es
Treppen mit öl getränkt and mit einer nach der Straße mündenden
Lunte verbunden fand. Daß nebenbei auch der Zerstörungstrieb und
die Raublust des entfesselten Gesindels, die Rücksichtslosigkeit und
Unvorsichtigkeit der plündernden Soldaten das ihrige beigetragen haben
mögen, ist gewiß. Auch die Stimmung des Volkes kam dazu. Manche
wollten ihre Häuser lieber verbrannt als den Franzosen überliefert
wissen, und nicht wenige der Händler zündeten selbst ihre Vorräte
an, damit sie nicht dem Feinde zugute kämen. (Boyen, Erinnerungen, IL
231.) Das Feuer nahm auch vom Kaufmannsviertel (Kitai Gorod) seinen
Ausgang. (Meneval, Memoires, HI. 65.) Am 6. Oktober schrieb die
Zarin an ihre Mutter: „Unser Volk hat angefangen, Feuer an alle ihm
teuren Gegenstände zu legen, um sie nur nicht in die Hände des
Feindes fallen zu lassen." (Schilder, Alexander I. III. 507). Ein
jüngst vonTzenoff, „Wer hat Moskau 1812 in Brand gesteckt? (Berlin
1900) unternommener Versuch, den durch das Ausbleiben der Deputation
geärgerten Napoleon (!) als den Urheber des Brandes hinzustellen, bedarf
wohl kaum einer ernsten Widerlegung. Eine solche hat gleichwohl
H. Schmidt, „Die Urheber des Brandes von Moskau, 1812" (Greifs-
wald, 1904) unternommen und dabei die ganze Frage ihrer Lösung um
vieles näher gebracht. Daß die Kirchen sämtlich vom Feuer verschont
blieben, ist ein nicht zu übersehendes Moment. Die Franzosen würden
sich nicht gescheut haben, sie in Brand zu stecken, wohl aber die Russen.
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HO Napoleon erwartet Friedensanträge.
nicht glauben, daß Alexander nicht alles tun werde, um wieder
Herr seines Landes zu werden. Täglich erwartete er die Ein-
ladung zur Friedensunterhandlung. Vergeblich. Dann sucht
er sie zu beschleunigen, indem er noch am 20. an den Zar
schrieb: Moskau sei verbrannt; der Gouverneur habe die
Stadt anzünden lassen; vierhundert Brandleger seien auf
frischer Tat ertappt und erschossen worden; das Unglück wäre
zu vermeiden gewesen, wenn Alexander ihm vor oder nach Bo-
rodino einen kurzen Brief geschickt hätte; er würde dann seinen
Marsch nicht bis hierher fortgesetzt haben; er hoffe, sein
Schreiben werde wohlwollend aufgenommen werden.*) Und
nun wartete er aufs neue. Bald ist der September vergangen,
und der Winter steht in drohender Nähe. Die Armee kann nur
durch Streifungen, die immer weiter ausgedehnt werden
müssen, ernährt werden, denn der Brand der Stadt hat es ver-
hindert, dort eine geordnete Verpflegung einzurichten. Dabei
ist viel Gefahr und oft wenig Erfolg. Ein einziges russisches
Korps will binnen drei Wochen dreitausend Franzosen ge-
fangen haben. Dazu kam der Landsturm der Bauern, die ihre
Habe versteckten und ihre Dörfer verteidigten. „Ihr seid die
Nation des russischen Glaubens", riefen ihnen ihre Führer zu;
„sterbet für den Glauben und den Zar. Wozu seid ihr
Rechtgläubige, wenn ihr nicht dem Zaren dienen wollt?" Es
genügte, daß Rostoptschin Napoleon als ungetauft denunzierte,
um dessen Aufruf an die Bewohner des Moskauer Gouverne-
ments wirkungslos zu machen. In der Stadt Wereja ward die
französische Garnison von Parteigängern überrumpelt und
festgenommen. Schon ist die große Straße nach Smolensk un-
sicher geworden, Zuzüge von Lebensmitteln werden abgefangen,
der regelmäßige Kuriergang ist unterbrochen. Die Generale
raten zum Rückzug nach Polen, aber Napoleon kann sich noch
nicht dazu entschließen, seine Niederlage vor der Welt zu be-
kennen, deren Herr er in Moskau hatte werden wollen.
„Denken Sie sich Moskau genommen" — hatte er vor Be-
ginn des Feldzuges zu Narbonne gesagt — ..den Zar versöhnt
*) Corres p. XXIV. 19.213. Der Brief wurde durch einen in
Gefangenschaft geratenen Gardeoffizier befördert.
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Große Pläne von ehe vor.
111
oder durch eine abhängige Regierung ersetzt, und sagen Sie
mir, ob eine Armee von Franzosen und Verbündeten nicht von
Tiflis bis zum Ganges vordringen kann, um dort durch bloße
Berührung allein schon das ganze Gebäude kaufmännischer
Größe in Indien zu Fall zu bringen? Frankreich hätte mit
einem Schlage die Unabhängigkeit des Abendlandes und die
Freiheit der Meere erobert. Alexander der Große" — das Bild
des Mazedoniers verließ ihn nicht — „hatte einen ebenso weiten
Weg nach dem Ganges wie ich von Moskau." *) Als er später in
Wilna sich von Maret trennte, warf er hin, er werde ihn
bald nach Moskau rufen, damit er dort den Frieden ver-
handle.**) So war Moskau, und immer wieder Moskau vor
seinem Auge erschienen. Wie das Bild Jerusalems ehevor die
Phantasie der Kreuzfahrer beherrscht hatte, so die seinige
die heilige Stadt der Reußen. Klingt es wirklich unglaub-
haft, was man im Kreise seiner nächsten Verwandten und
Vertrauten erzählte und was Bernadotte im April 1812 dem
russischen Gesandten anvertraute: er habe vorgehabt, die In-
signien seiner Kaiserwürde, Mantel, Zepter und Krone mit
auf den Weg nach Rußland zu nehmen, um sich im Kreml an
der Moskwa, nachdem er den Frieden diktiert, vom Heere zum
„Kaiser des Abendlandes, Oberhaupt des europäischen Bundes,
Verteidiger der christlichen Religion" ausrufen zu lassen? Nach
Anderen hätte er tatsächlich die Zeichen seiner Macht mit-
geführt, die dann auf dem Rückzug den Kosaken in die Hände
gefallen seien.***) Mit solchen hochfliegenden Plänen war es nun
*i Villemain, Souvenirs, p. 127.
**) Ernouf, Maret, p. 469.
***) Siehe die Mitteilung des russischen Gesandten im Sbornik,
XXI. und die Erinnerungen Sud res, der die Sache von Destutt de
Tracy erfahren haben will, im „Spectateur militaire", 1887, 38. Band,
478. ff. Tracy soll sie von einem Mitglied der kaiserlichen Familie
anvertraut worden sein. Nach russischen Quellen, z. B. Langerons
Denkwürdigkeiten (p. 98), wäre der kaiserliche Fourgon mit den Kost-
barkeiten, Kaisermantel und Zepter, allen Orden und wichtigen Papieren
auf dem \Vege von Wilna nach Kowno von Kosaken angezündet worden.
Vgl. auch die Schilderungen im „Memorial" des Zahlmeisters Peyrusse
(p. 136) und in den Heften Coignets u>. 342). Vandal (LH. 588)
bestreitet nun, daß jene Erzählung auf zureichender Basis beruhe, da
der Krönungsmatitel heute noch im Schatz von "Notre-Dame vorhanden
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112
Die Russen verstärken sich.
vorbei. Dazu war der Friede nicht gesichert, dagegen die groß»
Armee, die ihm den Weg zur höchsten Macht der Erde bahnen
sollte, eingeschrumpft und in ihrer Existenz gefährdet.
Denn Kutusow war allerdings vorerst südöstlich weiter-
gegangen, hatte dann aber, unbemerkt von den Franzosen,
deren herabgekommene Kavallerie die Fühlung mit dem Feinde
verlor, nach Westen umgedreht, um bei Tarutino, südlich von
Moskau, eine vortreffliche, die Rückzugslinie der Franzosen
bedrohende Flankenstellung einzunehmen und sich fortwährend
zu verstärken. Er brachte auch seine reguläre Truppe von
60.000 auf über 80.000 Mann mit 600 Geschützen, wozu noch
die Milizen und 20.000 Kosaken kamen — alle gut und vor-
sorglich gekleidet und verpflegt. Nur büßte er zu gleicher
Zeit einen Mann ein, dessen Tüchtigkeit unbestreitbar, der
ihm aber durch eigene Meinung unbequem geworden war: Barc-
lay verließ, durch Zurücksetzung gekränkt, die Armee. Wer
weiß, wie sich das Schicksal der Franzosen gestaltet hätte,
wenn seinerzeit das Oberkommando seinen Händen anvertraut
geblieben wäre. Übrigens ließen sich auch bei den Flügcl-
armeen die Verhältnisse durchaus zugunsten der Russen an.
An der Dwina verstärkte sich Wittgenstein durch Truppen vom
finnländischen Korps, Rekruten und Milizen bis auf 40.000
Mann, gegen 27.000 Saint-Cyrs, der seinen Sieg bei Polozk
nicht energisch ausgenützt hatte. Im Süden hatte sich die
russische Moldauarmee unter Tschitschagoff am 20. Septem-
ber mit der Armee Tormassows vereinigt, 64.000 Mann, die
das von Schwarzenberg kommandierte Korps, Österreicher,
Sachsen und Polen, im ganzen 41.000 Mann, weit über-
boten. Und aus Petersburg noch immer keine Antwort — ■
und in den kaiserlichen Rechnungen keine Ausgabenpost für die An-
fertigung neuer Insignien nachweisbar sei. Diese Einwendungen nehmen
dem Gerücht noch nicht allen Grund, da es kaum die Insignien des
Jahres 1804, sondern andere gewesen waren, die der Kaiser anzulegen
beabsichtigte, wenn er sich einmal über den „Empereur des Francais"
hinaus erhob. Und daß er hieran gedacht, sich darüber geiiußert, ja sogar
deshalb gelegentlich verhandelt hat, ist nachweisbar. Ob er freilich
jetzt, beim Zuge nach Osten, für den Fall weltbezwingender Siege eine
derartige Zeremonie ins Auge gefaßt hatte, läßt sich durch kein
bestimmteres Zeugnis sicherstellen.
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Der Zar bleibt feit. 113
weder auf einen Brief aus Wilna, noch auf den aus Moskau!
Napoleon ist außer sich. Er denkt einen Augenblick daran,
sich sie zu holen: aber im nächsten ist das unmögliche Projekt
wieder aufgegeben. Er muß sich endlich dazu verstehen, selbst
Unterhandlungen anzubieten, und schickt am 5. Oktober
General Lauriston zu Kutusow. Der aber erklärt, er habe keine
Vollmacht und könne im besten Falle nur ein Schreiben Napo-
leons nach Petersburg befördern. Aber würde ein solches Ant-
fi wort erhalten? Man gewann die Überzeugung, daß auch dieser
3 Schritt nutzlos war.
& An der Newa blieb man fest. Zwar sprach jetzt, wo die
* P Einnahme Moskaus die tiefste Bestürzung hervorgerufen hatte,
^ Rumjantzow, ebenso wie vorher, für den Frieden, desgleichen
# 3 die Kaiserin-Mutter und Großfürst Konstantin, den Barclay
♦ von der Armee weggeschickt hatte, sprachen der Kriegs- und
der Polizeiminister : der Zar blieb dennoch fest, so schwer er
auch die Enttäuschung ertrug, die ihm die Nachricht vom Ver-
luste der Hauptstadt bereitete, nachdem ihm doch kurz zuvor
Kutusow Erfolge bei Borodino gemeldet hatte. Er blieb
fest, nicht weil sich sein sonst so lockerer Charakter plötzlich
in der Not der feindlichen Invasion gekräftigt hätte, nein,
aus anderen Gründen. Einmal, weil er jetzt, wo die Meinung
maßgebender Petersburger Kreise ihn für den Untergang der
reichen Metropole geradezu verantwortlich machte, nicht auch
noch durch einen demütigenden Frieden dauernde Nachteile
über das Land bringen wollte, um so weniger, als gerade infolge
jenes Verlustes die kriegerische Stimmung mächtig anwuchs.*)
Dann war Moskau aufgegeben worden, ohne daß eine zweite
Schlacht stattgefunden hatte: die Armee, die an der Moskwa
sich sogar den Sieg zuschrieb, mußte also doch noch in
Achtung gebietender Stärke vorhanden sein, während die
starken Einbußen der Franzosen zu offenkundig am Tage
lagen, als daß sie nicht auch in Petersburg hätten bekannt
sein sollen. Dazu kam, daß Alexander in den letzten August-
tagen in der finnischen Stadt Abo mit Bernadotte /usammen-
*) Siehe über die dem Kaiser abträgliebe Meinung in jenen
Tagen die Memoiren der Gräfin Edling (p. 75>. Dazu Steins Selbst-
biographie bei Pertz, Stein VI. 2., Seite 179.
Fonrnier. Napoleon I. N
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114
Grunde für seine Haltung.
getroffen war, der ihn zur Beharrlichkeit aufgefordert, ihm
seine Zustimmung zu einer Landerwerbung auf Preußens
Kosten erklärt und ihm das russische Korps, das vertrags-
mäßig Norwegen erobern helfen sollte, zurückgegeben hatte.
Es waren 20.000 Mann unter Steinheü, die Wittgenstein zu-
eilten. Auch mag es in der Umgebung Alexanders nicht an
energischen Naturen gefehlt haben — man denkt unwillkürlich
an den Freiherrn vom Stein, den Jener im Mai zu sich berufen
hatte — die sicher zum Ausharren im Streite geraten und dem
schwankenden Willen des Kaisers eine feste Stütze geliehen
haben werden. *) Endlich hören wir, und er selbst hat es be-
stätigt, daß sich damals unter dem Eindrucke des Moskauer
Unglückes in dem Schüler La Harpes ein innerer Umschwung
zur Religiosität vollzog, der sich noch mehr vertiefen sollte,
als der Krieg schließlich zu Rußlands Gunsten endete. Von
dem ehedem leichtfertigen Fürsten Galitzyn auf die Tröstungen
der Bibel hingewiesen, soll Alexander aus ihr Festigkeit und
Ausdauer geschöpft haben.**) Als die Nachricht vom Brande
Moskaus eintraf, und der Bericht nicht zu melden versäumte,
der Feind habe die Stadt angezündet, rief er aus: „Kein Friede
mehr mit Napoleon! Er oder ich, ich oder er. Nebeneinander
können wir nicht herrschen." Und an Bernadotte schrieb er:
„Nach dieser Wunde sind alle andern nur noch geringfügige
Schrammen. Aber wenigstens gibt sie mir Gelegenheit, Europa
den stärksten Beweis meiner Beharrlichkeit zu liefern, indem
ich den Kampf gegen seinen Bedrücker fortführe."***)So blieb
es beim Kriege. Und es blieb auch bei einem neuen Operations-
plan, den man unter dem Eindruck von Kutusows Siegesbot-
*) Die Briefe, die später im Dezember Stein an den Zar
schrieb (Eist. Zeitschrift, 63. Bd. S. 273 ff.) kennzeichnen den Einfluß,
den er auf ihn gewonnen hatte.
**) Vgl. Edling, a. a. 0. und Alexanders Gespräch mit Bischof
Eylert, 1813, in dessen „Charakterzügen aus dem Loben Friedrich
Wilhelms III." : „Der Brand von Moskau hat meine Seele erleuchtet und
das Gericht des Herrn auf den Eisfeldern hat mein Herz mit einer
Glaubenswärrae erfüllt, die ich bis dahin nie so gefühlt.' 4 Zitiert von
Schieinann, Nikolaus, I. 87.
***) Miscellanea napoleonica, IV. 692, Vgl. auch Tatis-
tscheff, Alexandre et Napoleon p. 611.
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Napoleons Entwürfe sind gescheitert. 115
echaft entworfen hatte: die Armee Wittgensteins wird, mit
dem finnländischen Korps vereinigt, die entgegenstehenden
Franzosen zurückdrängen und dann, während das durch
die Rigaer Garnison verstärkte finnische Korps sie im
Schach hält, nach Süden operieren, um sich mit der von dort
her nach Norden strebenden Armee unter Tschitschagoff im
Bücken Napoleons zu verbinden. Diesen hätte ihnen Kutusow
zuzutreiben. Vorher sollte Schwarzenberg von den ver-
einigten Kräften Tschitschagoffs und Tormassows gleich-
falls nach Westen gedrückt und weiterhin von dem Letzteren
allein beschäftigt und aufgehalten werden. Dieser Plan, der
allerdings den Franzosenkaiser von ßorodino retirierend auf-
gefaßt hatte, blieb jetzt unter der Voraussetzung in Kraft, dali
er Moskau wieder werde verlassen und an den Rückweg denken
müssen. Diese Voraussetzung wollte man durch die Verweige-
rung jeglicher Unterhandlung schaffen helfen.
In der Tat hatte Napoleon fünf Wochen kostbarster Zeit
an die Hoffnung auf den Frieden hingeschwendet, bis es endlich
mit unerbittlicher Klarheit vor ihm stand, er müsse fort von
Moskau. Wer wollte zu zeichnen versuchen, was jetzt im Geiste
dieses Mannes vorging, als er das stolze Gerüst, das er seinem
Ruhme aufgerichtet, Balken um Balken zusammenbrechen sah,
er mit seinem weitblickenden Auge, das nicht nur die
furchtbare Gefahr der nächsten Nähe, den todbringenden
Winter, wo schon der Sommer die Armeen auf die Hälfte ein-
geschmolzen hatte, sondern auch alle fernen Folgen mit er-
spähte: den Aufruhr der gezwungenen Verbündeten und eine
endlose Reihe neuer Kämpfe, um im besten Falle wieder zu
erstreiten, was man vor wenig Wochen noch besessen! Ver-
gebens suchte er den Gedanken an den Verlust seiner Geltung
zurückzudrängen, vergebens vermied er es mit ihm allein zu
bleiben. Wir hören, daß er, was er sonst nie getan, die Mahl-
zeiten ungewöhnlich hinausdehnte, sich von einer zurück-
gebliebenen französischen Schauspielertruppe Stücke vorspielen
ließ, sich eifrig mit einem neuen Statut des Pariser Theatre
frangais befaßte u. a. m. Endlich aber mußte doch Entschei-
dendes geschehen. Vor allem hatte der Kaiser wieder General
zu werden. Das ganze Unglück kam ja daher, daß er bisher
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116
Rückeugspläne.
zu viel Kaiser und zu wenig General gewesen war.*) Als solcher
hatte er jetzt den Rückzug zu beschließen. Da, mitten in den
Vorbereitungen dazu, bei einer der täglichen Revuen, traf ihn
die Kunde, die Russen hätten am 18. Oktober die Offensive er-
griffen, Murat, der zur Beobachtung Kutusows südwärts ge-
schickt worden war, bei Minkowo überfallen und ihn mit
starkem Verlust auf der Straße gegen Moskau zurück-
geworfen. Damit war die letzte Friedenshoffnung zerstört, und
unwiderruflich stand es fest: man mußte wieder kämpfen.
Seit Anfang Oktober erwog Napoleon die Frage, auf
welchem Wege er die unhaltbare Hauptstadt verlassen solle. Er
faßte drei Routen ins Auge: die auf der Straße, welche man
gekommen war, dann die über Kaluga nach Smolensk, und
endlich die nordwestlich über Bjeloi nach Welikie-Luki, die
eine Petersburg bedrohende Haltung zuließ. Er hatte an-
fänglich nicht übel Lust, sich für das dritte Projekt zu ent-
scheiden, weil es am wenigsten die Retraite verriet, kam aber
bald davon zurück. Auch der Weg nach dem Süden hatte
seinen vollen Beifall nicht. „Jede Operation auf Kaluga", heißt
es in den Notizen, die er diktierte, „ist nur in dem Falle ver-
nünftig, wenn sie den Zweck hätte, sich auf Smolensk zurück-
zuziehen. Ist es aber, wenn man schon auf Smolensk zurück-
geht, vernünftig, den Feind aufzusuchen und sich dem Ver-
lust einiger tausend Mann auf einem Marsch auszusetzen, der
doch nur den Anschein eines Rückzuges vor einer Armee hätte,
die ihr Land gut kennt, viele geheime Agenten und eine zahl-
reiche leichte Kavallerie hat?" Man könnte da, entwickelte er
weiter, bei einer Affaire mit dem Gegner 3000 bis 4000 Ver-
wundete bekommen, mit denen man dann eine rückgängige
Bewegung von hundert Wegstunden ausführen müßte, was
wie eine Niederlage aussähe und dem Feinde, wenn er auch
geschlagen wäre, in der öffentlichen Meinung einen Vorteil
sichern würde. Da wollte er noch lieber den Rückzug auf dem
*) „Moskau ist keine militärische, sondern eine politische Position",
hatte er zu Daru gesagt. „Man will in mir hier immer nur den Feld-
herrn sehen, während ich doch als Kaiser da bin." Sögur, V. 85.
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Der Auszug au* Moskau. 117
Wege, den man gekommen war, wählen. „Man hätte hier den
Feind nicht auf dem Halse, man kennt die Straße genau, sie
ist auch um fünf Tagmärsche kürzer. Die Armee würde für
vierzehn Tage Mehl tragen und, ohne Nachzügler zu verlieren,
nach Smolensk gelangen; sie würde sich sogar in Wjasma auf-
halten können und dort Lehensmittel und Futter finden, indem
sie sich nach rechts und links ausbreitet."*) Diese Notizen
stammen aus den ersten Oktobertagen. Bald darauf hat sich
Napoleon dennoch für den Marsch auf der Straße von Kaluga
entschieden, und vollends, als der Vorstoß der Russen Murat
aufzunehmen zwang. Wir werden aber sehen, daß jene Erwä-
gungen gleichwohl zur Geltung kamen.
Am 19. Oktober verließ die Hauptarmee — jetzt mit
dem in Moshaisk stationierten Korps Junots nur noch
108.000 Mann stark — Moskau in südwestlicher Richtung: die
Soldaten überladen mit Beutestücken, deren Last sie nur zu
bald ermatten ließ, Tausende von Wagen in endlosen Reihen,
befrachtet mit der geraubten Pracht der heiligen Stadt, mit
wenig nützlicher und viel unnützer Ware, mit Kranken und
Verwundeten, der Troß vermehrt durch eine Anzahl fremder
Familien, die sich vor dem Haß der Russen flüchteten, das
Ganze einem fahrenden Volksstamme nicht unähnlich. Der
Kaiser hatte in Moskau, wo Mortier mit 8000 Mann
zurückblieb, verbreiten lassen, er wolle nach der Besie-
gung Kutusows zurückkehren, und wirklich erreicht, daß
Dieser meinte, er käme, um ihn zu schlagen. In Wahrheit war
dies nicht seine Absicht. Er dachte vielmehr, um die „Affaire"
und die Tausende von Verwundeten zu vermeiden, dem linken
Flügel des Feindes vorbeizugehen und auf der westlichen
(neuen) Straße Kaluga vor ihm zu erreichen, oder doch Juch-
now zu gewinnen und über Jelnia nach Smolensk zu ge-
langen. Aber die Täuschung Kutusows, mit der Napoleon
so sicher rechnete, daß er dem in Smolensk eingetroffenen
Viktor seinen Marsch nach Kaluga anzeigte und ihn nach
Jelnia dirigierte,**) dauerte nicht lange. Bald nachdem der
*) Corresp. XXIV. 19.237.
*♦) 24. Oktober. Corresp. XXIV. 19.305.
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113
Die AiTaire bei Malo-Jaroslawetz.
Kaiser, durch zwei Korps verdeckt, mit dem Gros des Heeres
westwärts auf Borowsk abgeschwenkt war, kam die Kunde
davon ins russische Hauptquartier, und alsbald machte sich
Kutusow auf den Weg nach Malo-Jaroslawetz an der Lüsche,
um dort dem Feinde die Straße nach Kaluga zu verlegen.
Vielleicht hätte Napoleon seinen Plan ungestört ausführen
können, wenn sein Heer sich rascher vorwärtsbewegt haben
würde. Aber die schwere Belastung der Fußgänger, die
schlechten Pferde der Reiter, die unzulängliche Bespannung
der 600 Geschütze, von denen der Kaiser keins, wie ihm gut
geraten worden war, zurücklassen wollte, der ungeheure Troß,
den er mittschleppte, anstatt ihn auf eine andere Straße zu diri-
gieren, und obendrein starker Eegen, der den Boden weichte,
ließen kaum ein schnelleres Tempo zu. So kam es, daß die Vor-
hut unter Eugen am 24. Oktober nur kurz vor den Russen in
Malo-Jaroslawetz eintraf, wo sich dann sofort ein erbitterter
Kampf um die rasch vom Feinde besetzte Höhe jenseits des
Flusses entwickelte. Sie ward von den Russen verloren, wieder-
gewonnen, in wiederholt wechselndem Streite, bis sie endlich,
nach einem furchtbaren Blutbade, von den Italienern des Vize-
königs dauernd erobert wurde. Mehr aber war nicht erreicht.
Denn Kutusow, der unterdes mit der ganzen Armee herbei-
gerückt war, hielt weiter südlich die Straße besetzt, und es
kam jetzt darauf an, ob Napoleon hier durchbrechen wollte
oder nicht.
Da war es nun doch zu der „Affaire" gekommen. Das Ge-
fecht am 24. hatte den Franzosen mehr als 5000 Mann an
Toten und Verwundeten gekostet. Erneuerte man es in größerer
Ausdehnung am nächsten Tage, dann wurden die Verluste bei
dem erprobten Widerstande der Russen gewiß sehr beträchtlich.
In dem Kriegsrat, den Napoleon abhielt, war kaum eine
Stimme, die Murats, dafür, die meisten entschieden dagegen.
Auch der kühne Mouton, der im Mai 1809 die Situation in der
Lobau gerettet hatte, riet zu möglichst schleunigem Rück-
marsch bis an den Niemen, und zwar auf der großen Straße, die
man gekommen war und die man genau kannte. Damit traf,
wie wir sahen, des Kaisers eigene Überzeugung zusammen.
Auch die Gefahr, in der er heute, am 25., bei einer Rekognos-
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Entscheidung für die alte Straße. 111)
ziening geschwebt, von einem dreisten Kosakenpulk gefangen
zu werden, mochte Eindruck auf ihn gemacht haben. Nur die
Sorge, beim Rückmarsch nach Norden den Feind, den man
bisher immer vor sich gehabt, nunmehr „auf dem Halse zu
haben", gab noch zu denken. Da löste Kutusow selbst die
Frage, indem er am Tage darauf seine Zelte abbrach und
weiter nach Süden ging, gegen die Meinung seines tüchtigen
Beraters Toll und offenbar nur aus Scheu, sich mit Napoleon
zu messen, ein Gefühl, das er seit Austerlitz nicht hatte los
werden können. Dieser aber benützte die Freiheit, die ihm der
Gegner ließ, um sogleich nach Norden umzudrehen und bei
Moshaisk die große Straße zu gewinnen. Schon am 21. war
Mortier aus Moskau abkommandiert worden. Er sollte vorher
noch den Kreml in die Luft sprengen — eine Tat ohnmäch-
tigen Zornes, die übrigens nur höchst unvollkommen gelang.
Am 27. war er mit seinem Korps bei der Armee, die nun in
Eilmärschen nach Westen zog. Sie hatte eine Woche kostbarer
Zeit verloren und durfte sich wohl auch in Wjasma nicht auf-
halten, wenn Kutusow sein Metier verstand.*)
Was nun folgt, ist eine Eetraite, neben der der Marsch
durch die Wüste nach dem vergeblichen Sturm auf Akka wie
*) Die Berichte über die Haltung Napoleons in diesen Tagen
sind nicht zureichend. Daß er den weichenden Hussen nicht folgte
— die sich später doch wieder zur Schlacht stellen konnten — hat
alles in allem genommen nichts erstaunliches. Nur daß er den allerdings
kürzeren Weg von Malo-Jaroslawetz über Medvnj und Juchnow nach
Wjasma nicht einschlug, muß überraschen. Doch hat er sich darüber
iu einem Brief an Berthier für Junot vom 26. Oktober ausgesprochen:
die Kälte und die Notwendigkeit, die Verwundeten — es waren wirklich
3 bis 4000 — loszuwerden, hätten ihn bestimmt, nach Moshaisk zu
gehen. (Corresp. XXIV. 19.807.) Aber die Kälte war noch nicht ein-
getreten. Erst am 27. zeigte sich etwas Nachtfrost bei sonst schönem
Wetter. Der Winter kam 1812 überhaupt später als gewöhnlich über
Rußland. Also konnte nur das zweite Moment bestimmend gewesen sein,
die Last der Verwundeten, denen Napoleon schon in seinen Entwürfen von
AnfangOktobcr eine entscheidende Bedeutung eingeräumt hatte. Übrigens
mochten auch die schlechten Karten, über die er verfügte, und seine
Unkenntnis der Wegverhältnisse mit die Schuld tragen. Vielleicht
meinte er wirklich Medynj nur über Kaluga erreichen zu können, das
Kutusow mit seiner Überlegenheit an Artillerie und Reiterei sicher nicht
ohne eine zweite „Aflaire* in seine Hände geliefert hätte.
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120
Die Retraite.
ein Knabenspiel erscheint. Wird, was vor wenig Wochen in
der Hast des Vorwärtsdrängens die Kräfte nicht verlor, sie
jetzt in der flüchtigen Eile des Bückzuges nicht verlieren?
wird, was dort die Hitze verschonte, nicht jetzt die Kälte hin-
wegraffen? wird, was dort der Not und dem Hunger wider-
stand, ihnen jetzt nicht um so sicherer erliegen, als man nun
nicht mehr Verfolger war, sondern selbst verfolgt ward? Aller-
dings, man hatte ein Ziel. Nur bis Smolensk, hieß es, müsse
man tapfer marschieren. Dort stand das Korps Victors, dort
fanden sich — • so war es wenigstens befohlen worden — reiche
Vorräte, dort, zwischen Dwina und Dnjepr, ließ sich der Winter
überdauern. Und so ging denn die stark demoralisierte Armee
denselben Leidensweg, den sie vor zwei Monaten gegangen war,
wieder zurück, vorbei an dem entsetzlichen Schlachtfelde von
Borodino, wo die Toten noch immer unbeerdigt lagen, an den
Hospitälern, Höhlen des Grauens, aus denen man, was noch
lebte, fortzubringen trachtete, vorbei an den verbrannten
Städten und Dörfern und all den Orten traurigster Ver-
wüstung, ein paar tausend russischer Gefangener mit sich
schleppend, von denen jene, die nicht mehr vorwärts konnten,
einfach erschossen wurden, damit sie dem Feinde nicht ver-
rieten, wie herabgekommen das Heer des noch immer gefürch-
teten Soldatenkaisers war. Seit Anfang November begannen
sich die Nachtfröste fühlbarer zu machen. Die Soldaten waren
meist leicht gekleidet und litten nicht wenig. Auch vom
Hunger. Denn was man aus Moskau an Lebensmitteln mit fort-
genommen hatte, war bald völlig aufgebraucht, und sich seit-
wärts der Straße zu verproviantieren, wie man es früher getan,
unmöglich, da die bewaffneten Bauernscharen dies hinderten,
alles, was ihnen in die Hände fiel, grausam mordeten, und nun
auch der Feind sich wieder zeigte.
Kutusow, von seiner leichten Reiterei trefflich bedient,
hatte zeitig Kunde vom Abzug Napoleons erhalten, machte
kehrt und marschierte mit der Hauptarmee über Medynj,
wo er anfänglich einen neuen Durchbruch der Franzosen
vorausgesetzt hatte, und Silenki gegen Wjasma, während
das Kosakenkorps Platows hinter Davout, der die Arrieregarde
befehligte, nachdrängte. Man müsse marschieren — befiehlt
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Gefecht bei Wjasma.
121
nun Napoleon — wie man in Ägypten marschiert sei, das Ge-
päck in der Mitte, so daß beim Frontmachen nach allen Seiten
gefeuert werden könne. So ging es weiter in schnellem Tempo.
„Der Feind flieht", meldete Platow, „wie noch nie eine Armee
geflohen ist." Die Hast hatte ihren guten Grund. Dadurch, daß
Kutusow den kürzeren, vom Kaiser verschmähten Weg gewählt
hatte, kam es, daß seine Avantgarde unter Miloradowitsch
schon hinter Wjasma, am 3. November, auf die große Straße ge-
langte und die französische Nachhut abschnitt. Nur daß der
Vizekönig Eugen zwei Divisionen aus Wjasma zurücksandte,
rettete Davout. Napoleon war mit der Garde schon weit über
diese Stadt hinaus. Hätte an dem Tage Kutusow mit seiner
ganzen Armee eingegriffen, wie es seine Generale dringend ge-
raten hatten, er hätte dem Feind einen entscheidenden Stoß
versetzt. Er tat es nicht. Von ausdauernder Energie im Wider-
stande, war er höchst zaghaft im Angriff und eher geneigt, dem
Gegner „goldene Brücken zu bauen," da dieser, wie er meinte,
im russischen Winter auch ohne sein Zutun zugrunde gehen
müsse.
Das Gefecht bei Wjasma hatte den Franzosen aufs neue
4000 Mann an Toten und Verwundeten gekostet, 3000 waren
gefangen worden, das Davoutsche Korps völlig in Auflösung, so
daß Ney die Nachhut übernehmen mußte. Am 6. November»
wuchs die Kälte auf acht Grad an, und ein eisiger Nordwind
brachte dichten Schnee.*) Die Straße wurde glatt; massenweise
stürzten die Pferde mit ihren nur stumpf beschlagenen Hufen,
fortan die einzige Fleischnahrung der hungernden Soldaten;
viele Geschütze blieben zurück; lange Reihen von Munitions-
karren wurden in die Luft gesprengt; Reiterei, die ihre Rosse
*) In einigen Aufzeichnungen (Bausset, Gurctzky r Cornitz, Berthe-
zene) wird der Eintritt der st» engen Kälte und des Schnees auf den
4. November, in fast allen üb' igen aber (F^zensac, Castellane, Gour-
gand, Peyrusse, Coi^net, Napoleon im 29. Bulletin) auf den 6. angesetzt.
Castellane (Journal, 1. 1*0) meldet am 3.: „Des Tags herrscht Sommer-
wärme, die Nächte sind kalt"; Fözensac (Souvenirs, p. 288) zum 5.:
„Das Wetter war schön und für die Jahreszeit ziemlich milde (assez
doux) . . . Während des Marsches am nächsten Tage schlug das Wetter
plötzlich um und wurde sehr kalt"; Castellane (a. a. O.) zum 6.:
„Der Schnee stellt sich zum erstenmal dauernd ein (s' ötablit)."
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122 Hunger und Kälte.
verlor, mußte zu Fuß weitermarschieren. Die Disziplin geriet
gänzlich aus den Fugen. Jeder dachte nur an sich selbst. Die
Verwundeten des letzten Gefechtes wurden ihrem Schicksal
überlassen und starben am Wege. Desgleichen Tausende, die vor
Kälte und Ermüdung die Waffen weggeworfen und die Reihen
verlassen hatten. Man duldete sie nicht bei den Beiwachtfeuern
der Nachtrast. Sie gingen beiseite und erfroren haufen-
weise. So sollen auf einem einzigen Biwakplatz in einer
Nacht an 300 Mann gestorben sein. Gar mancher erwar-
tete die Russen, um bei ihnen zu betteln und noch ein paar
Tage des Lebens zu fristen, bis mit dem Feinde seine letzte
Hoffnung schwand, wenn sich nicht vorher schon die Pike eines
Kosaken des Todgeweihten erbarmte. Am größten war das
Elend bei der Nachhut. Einer der Obersten Neys berichtet aus
diesen Tagen: „Das Wenige, das wir an Lebensmitteln hatten,
war aufgezehrt, die Pferde fielen vor Hunger und Anstrengung
und waren von den Soldaten bald verschlungen. Wer sich von
der Straße entfernte, um Nahrung zu suchen, geriet in Feindes-
hand. Da stürzten sich nun unsere Leute auf jeden isoliert
Marschierenden und nahmen ihm seinen Vorrat mit Gewalt;
ein Glück, wenn sie ihm seine Kleider ließen. So waren wir,
nachdem wir das Land verwüstet, darauf angewiesen, uns
selbst gegenseitig zu vernichten." *)
Endlich, wie ein Zeichen der Erlösung, winkten die Türme
von Smolensk den erschöpften Kriegern. Von den mehr als
hunderttausend Mann, die aus Moskau ausgezogen und zu
denen 15.000 Mann Verstärkungen gestoßen waren, antwor-
teten kaum noch fünfzigtausend beim Appell, darunter nur
noch 5000 Reiter in einem elenden Zustande. Daran trug Murat
nicht wenig Schuld, der noch in der Umgebung Moskaus und
dann später auf dem Marsche die armen Leute ganz überflüssig
auf die Kosaken gehetzt hatte, so daß sie ihre Pferde einbüßten
und zu Fuß verdarben. Man nannte ihn darum auch den
„Henker der Kavallerie", während von den anderen Führern
der Vizekönig, namentlich aber der „unverzagte" Ney, im
höchsten Ansehen standen. Und wer die Geschichte dieses
*) Fezcnsac. Souvenirs p. 290.
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In Smolensk.
123
Feldzuges aufmerksam verfolgt, muß hier der öffentlichen
Meinung unbedingt zustimmen; namentlich Ney verrichtete
auf diesem Zuge Wunder an Mut, Umsicht und Kaltblütigkeit
unter den verzweifeltsten Verhältnissen. Napoleon dagegen
ward seine Vorliebe für die Garde, die er schon im Sommer
wiederholt an den Tag gelegt hatte, von den anderen Truppen
sehr verargt. Auch jetzt in Smolensk, wo er am 9. November
eintraf, und wo die Maßregeln zur Verpflegung der Armee
tief unter seiner Erwartung blieben, versah er vor allem
die Garden mit Proviant für vierzehn Tage, was die übrigen
Korps, die nur eine achttägige Ration bekamen, zu Ausschrei-
tungen veranlaßte.*) In der ausgebrannten Stadt gewährten
nur wenig Häuser Unterkunft und Schutz wider die grimmige
Kälte. Die meisten Truppen mußten wieder im Freien über-
nachten, und in den Gassen häuften sich die Leichen. Und hier
sollte man überwintern?
Nein. Denn die Linie zwischen Dwina und Dnjepr war
bereits unhaltbar geworden. Noch auf dem Marsche hatte
Napoleon von Victor eine Nachricht erhalten, die ihn tief be-
kümmerte. Der Marschall mit seinem frischen Korps hatte
nicht in Smolensk bleiben und das Nötige zur Aufnahme der
retirierenden Armee vorbereiten können, sondern war, von
Saint-Cyr gerufen, Diesem mit ungefähr 18.000 Mann gegen
Wittgenstein zu Hilfe geeilt; beide waren dann aber Ende
Oktober bei Tschaschniki von überlegenen Kräften geschlagen
worden. Damit war der Rückmarsch des Heeres von Norden
*) I ber die Ankunft der Armee in Smolensk schreibt der Zahl-
meister Peyrusse in sein Tagebuch zum 10. November: „Alsbald waren
die Magazine erbrochen, eine geregelte Verteilung unmöglich, alles
wurde geplündert. Gewalt und Autorität der Vorgesetzten hörten auf
gegenüber einer Armee, die durch den Hunger und alle Art von Elend
zur Verzweiflung gebracht war. Die Soldaten blieben Herren der
Magazine. Wein, Branntwein, Reis, Zwieback, Gemüse, alles rann durch-
einander und wurde unter die Füße getreten. Die ungehenren Vorräte,
auf solche Art verschleudert, reichten kaum für zwei Divisionen." Wenn
spater Napoleon seine Intendanten der Pflichtverletzung und Korruption
zieh, so kann man leicht auf die Vermutung kommen, er habe dies nur
getan, um nicht eingestehen zu müssen, daß er, der Gebieter der Welt,
zuweilen nicht Herr seines Heeres gewesen war.
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124 Verweilen unmöglich.
her ernstlich bedroht und Napoleon in der größten Unruhe.
Er befiehlt Victor — und er tut es mit beweglichen Worten —
aufs neue vorzugehen und den Feind über die Dwina zurück-
zuwerfen. Wenn es aber nicht gelang, den Befehl auszuführen?
Und dazu traf auch noch die Botschaft ein, Tschitschagoff sei,
nachdem er einen Teil seiner Armee gegen Schwarzenberg und
Reynier (Sachsen) am Bug aufgestellt, mit dem anderen im
Anmärsche gegen Minsk und bereits am 6. in Slonim einge-
troffen. Wenn es nun Wittgenstein und dem Admiral gelang,
sich die Hände zu reichen? Nein, in Smolensk war nicht zu
bleiben. Der Kaiser verweilte auch nur so lange, bis Eugen,
der auf einem martervollen Umweg über Duchowschtschina
herankam, angelangt und die Armee notdürftig restauriert war;
die Nachhut wartete er nicht ab. Schon am 14. verließ er wieder
die Stadt, nachdem er angeordnet, die einzelnen Korps sollten
auf Tagweite voneinander getrennt marschieren. Warum er
dies verfügte, wo doch Kutusow während der vier Rasttage
in Smolensk über Jelnia auf gleiche Höhe herangekommen war
• und jeden Augenblick wieder auf die Marschlinie der Armee
vorstoßen konnte, ist nicht aufgeklärt. Man muß vermuten, er
habe entweder den Feind noch nicht so nahe gewähnt oder
ihm vielleicht die Absicht zugeschrieben, den Franzosen nicht
zur linken Hand zu folgen, sondern sich über Smolensk mit
Wittgenstein zu vereinigen.*) Durch die größeren Distanzen
zwischen den einzelnen Heeresteilen sollte in Orscha eine ge-
regeltere Verpflegung als in Smolensk erzielt werden. Wie
dem auch sei, in den Tagen vom 12. bis 17. November zog die
Armee aus der Stadt. Von den 35.000 Nachzüglern, die mit
ihr dort einmarschiert waren, schloß sich jetzt nur etwa der
vierte Teil der Nachhut unter Ney an. Die übrigen waren
teils vor Kälte und Hunger umgekommen, teils blieben sie,
um zu plündern, zurück. Sie wurden von den heimkehrenden
Einwohnern erschlagen, in die Flammen geworfen, ertränkt.
Die Kranken und Verwundeten hatte man in den Hospitälern
zurückgelassen. Viele von ihnen verloren das Leben, als auf
*) In dem Schreiben an Victor vom 7. November heißt es: „In
wenig Tagen kann Ihr Nachtrab von Kosaken überschwemmt sein".
(Oorresp. XXIV. 19.326.)
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(ief echte bei Krasnoi.
125
Xapoleons Befehl die Türme der Stadtmauer in die Luft
flogen. Es waren Greuel ohnegleichen.
Gleich in den ersten Tagen nach dem Ausmarsch forderte
die bittere Kälte ihre Opfer, und die Armee begann sich aufs
neue aufzulösen. Und da war auch der Feind wieder, und war,
wo man ihn nicht vermutet hatte. Als Napoleon mit der Garde
bis nahe an Krasnoi gelangt war, schob sich die russische Avant-
garde hinter ihm an die Straße vor, und es bestand die Gefahr,
daß nun die einzeln nachkommenden Korps von der 17.000 Mann
starken Abteilung nacheinander geschlagen wurden, während
Kutusow, seine Straße weiter ziehend, dem Kaiser bei Krasnoi
in der Front entgegentrat. Dies hintanzuhalten, blieb Xapoleon,
kühn und auf des Russen Zaghaftigkeit bauend, stehen, um
den zunächst heranrückenden Eugen aufzunehmen. Er hatte
nur 15.000 Mann bei sich — so weit waren auch die Garden
schon herabgekommen — während Kutusow, der bloß noch
einen Tagmarsch von Krasnoi entfernt war, gut über das
Dreifache verfügte, obgleich auch er auf dem eiligen Zuge
durch den tiefen Schnee der Nebenstraßen fast die Hälfte
seiner Infanterie krank oder unfähig hatte zurücklassen
müssen.*) Napoleon hatte richtig gerechnet. Der Kusse
vermied es auch jetzt, wo er doch über die Zustände beim
Feinde genauer unterrichtet sein mußte als bei Wjasma, mit
seiner Hauptmacht, die er nur vorzuschieben brauchte, Napo-
leon festzuhalten, ihn von dem Reste seiner Armee zu trennen
und zu überwältigen. Er blieb bei seinem Zaudersystem, das
er vergebens zu bemänteln suchte und das ihm im Grunde
nur, wie man vernimmt, von der Furcht vor dem Genie des
Kaisers diktiert war, der ihm selbst in solcher Bedrängnis
*) Die regulären russischen Truppen bowicsen in diesem Kriege
nicht die Widerstandskraft, die man bei ihnen voraussetzen sollte. Von
100.000 Mann, mit denen Kutusow die parallele Verfolguu«? Napoleons
begann, lagen Anfang Dezember 48.000 in den Spitälern, obgleich sie
in Pelze gekleidet, gut genährt und nicht so rasch wie der Feind
vorwärtsbewegt worden waren. Mitte Dezember waren von 200.000 Mann
der russischen Armee nur noch 40.000 unter den Waffen. Am besten
scheinen Polen und Deutsche die Kälto ertragen zu haben. (Bernhardt,
Tolls Denkwürdigkeiten, II. 352, 469.)
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126
Die „Isolierten/
noch unüberwindlich schien. Dadurch noch kühner gemacht,
und um auch Davout und Ney vor der russischen Vorhut zu
schützen, ergreift Napoleon am nächsten Tage sogar die
Offensive, indem er annimmt, Kutusow werde angesichts eines
größeren Engagements seine Avantgarde an sich, d. i. von der
Straße wegziehen und so den Weg freigeben. Das Wagnis ge-
lingt — es war am Frühmorgen des 17. November, bei einer
grimmigen Kälte — und auch Davout kann noch nach Krasnoi
kommen. Nun aber droht dem Kaiser die Gefahr, überflügelt
zu werden, und er marschiert nach Orscha weiter, Ney seinem
Schicksale überlassend, der sich nach vergeblichen Kämpfen
mit 3000 Mann in der Nacht über den zugefrorenen Dnjepr
stiehlt, jenseits unter die Kosaken Platows gerät und nach un-
säglicher Mühsal mit kaum 900 Mann hinter Orscha auf die
große Straße zurückkehrt.
Jetzt begann die Kälte nachzulassen, aber nun machten
Tauwetter und mehrtägiger Regen die Straße grundlos und den
Marsch für die Soldaten, die ihre Füße meist nur mit Lumpen
bekleidet hatten, noch peinvoller. Von den kaum 25.000 Mann,
die noch in geschlossenen Reihen übrig waren, während die
„Isolierten" in viel größerer Zahl folgten, warfen aufs neuo
Tausendc die Waffen weg, und sogar die Garde begann zu
wanken. Da trat Napoleon, der an den kalten Tagen häufig zu
Fuß, mit einem polnischen Pelz bekleidet, auf einen Birken-
stock gestützt, vor den Truppen einhergegangen war, unter
seine alten Grenadiere und sprach sie an: „Ihr seht die Des-
organisation meiner Armee. Durch eine unglückliche Verblen-
dung haben die meisten Soldaten die Gewehre von sich ge-
worfen. Wenn auch Ihr diesem schädlichen Beispiele folgt,
so bleibt uns keine Hoffnung mehr. Von Euch hängt das Heil
des Heeres ab!" Es war die höchste Zeit, daß man in Orscha,
wo die Hauptarmee, 18.000 Mann stark, fast ohne Kavallerie
und Artillerie eintraf, durch die Vermittlung der Juden etwas
Proviant erhielt und außerdem Waffen und einige Batterien
vorfand, die man mit den Pferden zweier Pontonparks be-
spannte. Die Kähne ließ man zurück. Man glaubte sie nicht zu
benötigen. War doch die Brücke bei Borissow über die Beresina
von Franzosen besetzt, und hatte man nur erst einmal diesen
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Trostlose Situation.
127
Fluß hinter sich, dann, meinte man, gab es auf dem Wege über
Minsk nach Wilna kein ernstes Hindernis mehr.
Aber es waren der Prüfungen noch lange nicht genug.
Am 22. November erhielt Napoleon die Nachricht, Admiral
Tschitschagoff habe bereits über Minsk Borissow erreicht, die
Franzosen von dort verjagt und sei nun Herr des Über-
ganges. Und was diese Nachricht völlig trostlos machte,
war, daß auch Victor und der wieder zur Armee zurück-
gekehrte Oudinot gegen Wittgenstein nichts hatten aus-
richten können und südwärts auf die große Straße losmar-
schierten. Nun schien das Schicksal des Heeres besiegelt. Im
Rücken Kutusow, im Süden und in der Front Tschitschagoff,
rechter Hand Wittgenstein. Wenn die beiden Letzten an der
Beresina den Franzosen entgegentraten, so war an ein Ent-
rinnen nicht zu denken. Denn das Tauwetter und der Regen
haben die feste Eisdecke geschmolzen, der Fluß ging
hoch, seine Ufer waren versumpft, die Pontons in Orscha zu-
rückgeblieben.
Es war eine Situation, um den Stärksten im Geiste zu
verwirren. Aber Napoleon, den wir auf dem Zuge nach Moskau
vor der Ungewißheit seines Erfolges schwächlich und nervös
gefunden haben, ist jetzt der Gewißheit des Mißerfolges gegen-
über stark und besonnen. Seitdem er wieder General geworden
war, war er es auch ganz. Auch seine körperlichen Übel
schienen geschwunden zu sein. Er befand sich so wohl wie nur
im Winterfeldzuge von 1S07. Dieses Moment darf hier nicht
übersehen werden. Sein Intellekt und seine Energie zeigen in
diesen Tagen höchsten Unglücks und äußerster Verlegenheit
nahezu die alte Kraft. „Er war bleich" — meldet ein Begleiter
— ..aber sein Antlitz war ruhig; nichts in seinen Zügen verriet
seine moralischen Leiden." Sein Blick übersieht die ganze
Größe der Gefahr und erkennt die Mittel zur Rettung, wenn
es noch Rettung gibt. Vor allem müssen die Truppen heran,
die bisher gegen Wittgenstein gekämpft und nicht entfernt
wie die Hauptarmee gelitten haben. Oudinot soll dann mit
seinen 8000 Mann die Abteilung, die Tschitschagoff über
Borissow hinaus entsendet hat, zurückwerfen und sich wo-
möglich des Überganges wieder versichern, während Victor
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128
Au der Beresina.
mit 11.000 von Tschereja, wo er steht, süd westwärts nach der
Beresina zu marschieren und Wittgenstein so lange als möglich
von dort fernzuhalten hat. Nebenbei entledigt sich Napoleon
eines großen Teils des Heertrosses, der noch immer mitgeht,
und auch die Hälfte der Wagenburg wird in Bohr geopfert, um
die Pferde für die geringe Artillerie zu erhalten, die noch vor-
handen ist. Hier vernimmt er von Oudinot, daß zwar Borissow
wiedergewonnen, die Brücke aber von den weichenden Russen
verbrannt worden sei. Noch am Tage vorher hatte er ihm ge-
schrieben: „Sollte der Feind sich des Brückenkopfes bemäch-
tigt und die Brücke verbrannt haben, so daß man nicht über-
gehen könnte, so wäre das ein großes Unglück." Nun war auch
dies eine Tatsache, und Tatsache somit, daß man angesichts
zweier überlegener feindlicher Armeen, auf der Flucht vor
einer dritten, einen Fluß von hundertzwanzig Schritt Breite
mit morastigen Ufern werde überschreiten müssen.
Hätte der Kaiser mit Gegnern zu tun genaht, die ihm nur
halbwegs ebenbürtig waren, weder er noch seine Armee wären
entkommen. Er hätte nicht mit einem doch noch nach Tau-
senden zählenden Rest von Offizieren und Unteroffizieren die
Grenze erreichen, nicht neue Armeen in diese geretteten Cadres
füllen und Europa mit neuen Kriegen überziehen können, wie
er es tatsächlich getan hat. Aber Kutusow war nur darauf
bedacht, „nicht mit abgemagerten Truppen an der Grenze zu
erscheinen", und folgte überraschend langsam. Wittgenstein,
den Victor nicht mehr behinderte, denn er war, gegen des
Kaisers Befehl, schon bei Loschniza auf die große Straße herab-
gerückt, Wittgenstein ist ungenügend über die trostlosen Ver-
hältnisse des Feindes unterrichtet, folgert aus der Abmarsch-
richtung Victors die Absicht des Kaisers, die Beresina i n
ihrem Unterlaufe zu überschreiten, und nähert sich
deshalb, und wohl auch aus Scheu vor dem Imperator, nur vor-
sichtig Borissow, anstatt auf die obere Beresina loszueilen.
Tschitschagoff endlich wird sich als total unfähig erweisen.
Nein, sie waren nicht danach angetan, den größten General
ihrer Zeit zu vernichten. Der Admiral, dessen Aufgabe es nun
eigentlich gewesen wäre, den Kaiser nicht durchzulassen, ging
plump in eine ihm von Oudinot gestellte Falle. Dieser war näm-
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Brückenschlag bei Studjenka. 129
lieh angewiesen worden, einen passenden Ort zum Brücken-
schlag zu suchen und, nachdem er ihn nördlich von Borissow,
südlich von Wjesselowo, bei Studjenka gefunden hatte, dem am
anderen Ufer stehenden Feinde durch Scheinmanöver die Mei-
nung beizubringen, als wolle man im Süden der Stadt über-
gehen. Die Täuschung ward so glücklich durchgeführt und
wurde überdies durch die erwähnte Vermutung Wittgensteins,
die Dieser dem Admiral mitgeteilt hatte, so wirksam unter-
stützt, daß Tschitschagoff eine bereits gegenüber von Studjenka
bei Brili postierte starke Abteilung von über 3000 Mann zurück-
nahm und mit seiner Hauptmacht einen Tagemarsch weit von
Borissow gegen Süden zog, um das französische Heer zu emp-
fangen, wenn es, wie er annahm, mit Schwarzenberg Verbindung
suchend dort über den Fluß ging. Gegenüber von Borissow
blieb nur ein schwaches Korps unter Langeron stehen. Und das
war am 25. November, an demselben Tage, an dem Oudinot
sein Korps von Borissow nordwärts nach Studjenka führte und
dort mit dem Baue zweier Brücken begann, die — wie be-
dauerte man jetzt den Abgang der Pontons! — allerdings erst
am andern Nachmittag fertig wurden. *) Es war wieder
plötzlich Frost eingetreten, das sumpfige Gelände wurde fest,
und der Fluß trieb Eis, was die Arbeit der armen Pionniere, die
bis zur Brust im Wasser standen, gewaltig hinderte. Und das
jetzt, wo jeder Augenblick kostbar war. Endlich konnte der
Übergang beginnen. Eine Anzahl Geschütze, die man auf der
Höhe von Studjenka aufgefahren hatte, beherrschten das jen-
seitige Ufer und hielten die kleine russische Abteilung, die
noch dort stand, vom Strande fern. Beiterei, die hinüber-
schwamm, vertrieb sie. Die Bahn war frei. Sie blieb es auch
am folgenden Tage. Oudinots Truppen, 8000 Mann, die zu-
erst übergingen, bemächtigten sich des Terrains und machten
*) Die von Hart mann (Müitärwochenblatt, Beihefte von 1894,
S. 267) aufgenommene Mitteilung des Genieobersten Paulin, es seien
drei Brücken gebaut worden, widerspricht allen sonstigen Angaben.
Das Mißverständnis liegt darin, daß Wjesselowo für Studjenka genommen
wurde, da das Letztere nicht auf den französischen Karten verzeichnet
war. Man hatte wohl drei Brücken zu bauen beabsichtigt, das Material
reichte aber nicht zu.
Fournier, Napoleon I 9
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130
Der Übergang am 27. November.
sofort Front nach Süden. Urnen folgte in der Dunkelheit
ein Korps von 4000 Reitern, das man neu gebildet und
unter das Kommando des tapferen Ney gestellt hatte, nach-
dem er das seinige bis auf den letzten Mann eingebüßt. Am
nächsten Tage (27.) kontrollierte Napoleon den Marsch über
den Fluß, ließ eine Anzahl „Isolierter" passieren und ging
zu Mittag selbst mit den Garden — kaum 7000 Mann sind
es jetzt — hinüber. Als am Nachmittag eine größere Menge
Isolierter die für Artillerie und Fuhrwerk erbaute Brücke
überschritt, brach sie — es geschah schon zum drittenmal —
und bereitete so manchem ein feuchtes Grab. Als sie wieder
hergestellt war, passierten sie die Korpsreste Eugens und
Davouts, je 1200 Mann, so daß diesseits nur noch das
Korps von Victor (11.000 Mann), dessen Arrieregarde in Bo-
rissow angelangt war, zurückblieb, um den nachrückenden
Wittgenstein aufzuhalten, den Abmarsch der Armee zu decken
und zugleich die Kettung möglichst vieler von den Unbewaff-
neten zu ermöglichen. Denn Napoleon, der jetzt, als er seine
„Große Armee" zusammenbrechen sah, sich nur noch mit
dem Gedanken beschäftigte, wie er eine neue schaffen könne,
rechnete dabei auf diese Schar der Nachzügler, unter denen
sich viele tüchtige Offiziere und Unteroffiziere befanden, die
dann Verwendung finden würden. Darum schickte er noch in
der Nacht zum 28. von jenseits eine Division zur Unterstützung
Victors herüber, der die Brücken auch an diesem Tage noch
zu halten hatte.' Die ganze Armee zählte jetzt 30.000 bis
35.000 Mann unter den Waffen.*) Der Haufe der Isolierten,
von denen der Haupttrupp in der Nacht vom 27. auf den 28.
bei der Übergangsstelle ankam, wird nicht weniger stark ge-
*) Die Angaben sind sehr verschieden und schwanken zwischen
22.000 (Sdgur) und 50.000 (Fezensac). Die letztere Ziffer ist gewiß
unrichtig. Übrigens haben selbst Napoleon keine Tabellen mehr vor-
gelegen. Clause witz in einem Briefe aus Borissow vom 30. November
an Stein spricht von „etwa 40.000", was mit den Angaben des Geheim -
Sekretärs Fain (Manuscrit de 1812) ungefähr übereinstimmt. Das Rich-
tigste dürfte bei Chambray stehen, der am Morgen des 26. den Be-
stand auf 26.700 Mann Fußvolk und 4000 Reiter schätzt. Die Zusam-
menstellung bei Bogdanowitsch III. 271 ist fehlerhaft. Vgl. den
Exkurs bei Osten- Sack eii, Der Feldzug von 1812, S. 339.
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Kämpfe am 28. November. 131
wesen sein. Einen großen Teil dieser Armen hielten Hunger
und Kälte bei dem jenseitigen Dorfe fest. Und auch viele vom
Troß der Moskauer Flüchtlinge mit ihren Familien blieben
dort, da sie sich, trotz aller Mahnung, nicht von ihren Wagen,
die ihre Habe und ihr letztes bißchen Nahrung enthielten,
trennen wollten. Es waren Bilder unsäglichen Jammers.
Aber so ganz ohne jede Störung durch den Feind sollte
Napoleon doch nicht entkommen. Noch am Abend des 27.
war Wittgenstein mit Platow bei Stary-Borrissow auf die Nach-
hut Victors, etwa 4000 Mann unter Partouneaux gestoßen,
die er von der Haupttruppe abschnitt und zur Ergebung
zwang. Dann rückte er ungehindert gegen Studjenka weiter
und hielt hier den Marschall selbst mit dem größten Teil
seiner Streitkräfte fest. Zur gleichen Zeit hatte auch Tschit-
schagoff, über den wahren Stand der Dinge aufgeklärt,
stärkere Abteilungen auf dem rechten Ufer nordwärts ge-
schickt und war dann, recht sachte, selbst nachgegangen. Es
mußte also der Abmarsch der Armee, von der erst nur Eugen,
Davout und Junot über die von den Russen ehevor nicht
zerstörten Brücken über die morastige Gaina nach Sem-
bin weitergezogen waren, nun doch noch erkämpft werden.
Die beiden russischen Führer hatten sich über Borissow zu
gemeinsamem Vorgehen verständigt, und so kam es am 28. No-
vember, während abermals eisige Kälte herrschte, auf beiden
Ufern zum Schlagen: dort hatte sich Victor mit etwa 7000
Mann mehr als doppelter Übermacht zu erwehren, hier mußte
der Anprall von 26.000 Mann, von denen allerdings nur
15.000 ins Gefecht kamen, mit höchstens 10.000 zurückgewiesen
werden. Und auch diese Aufgabe ward von den viel-
geprüften Truppen gelöst. Zwar wichen auf dem rechten
Ufer anfänglich die vorgeschobenen Abteilungen vor dem An-
sturm der russischen Jäger zurück, und selbst die junge Garde
retirierte gegen den Fluß, aber Ney, der an Stelle des aufs neue
verwundeten Oudinot das Kommando auch über dessen Mann-
schaft übernahm, befeuerte seine Leute zu neuem Vorgehen,
so daß sie den Feind warfen und bei einer ewig denkwürdigen
Kavallerieattacke aus dem Walde heraus an tausend Gefangene
machten. Dann wurde noch bis tief in die Nacht hinein ge-
9*
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132
Der Abmarsch der Nachhut.
kämpft, ohne daß die Hussen nennenswerte Vorteile errangen
und ohne daß die alte Garde — es sind nur noch kaum 4000
Mann — ■ ins Gefecht gekommen wäre.*)
Unterdes hatte sich drüben auch Victor, unterstützt durch
die Artillerie des anderen Ufers, gegen Wittgensteins lahme
Angriffe bis zum Abend gehalten und konnte die Dunkelheit
benützen, um mit den Resten seines Korps über den Fluß zu
gehen, nachdem er noch vorher eine große Zahl Unbewaffneter
hinüberbefördert hatte. Den Übergang all der Isolierten und
Flüchtlinge vermochte er aber nicht mehr zu decken. Gleich
am Morgen des Schlachttages, als die russischen Geschütze
zu spielen begannen, waren Tausende, von Entsetzen erfaßt,
auf die Brücken losgestürzt, wo ein gewaltiges, unentwirr-
bares Durcheinander entstand von Wagen und Karren, die den
*) Üb man, wie es geschah, Tschitschagoff, der bereits einen Steck-
brief gegen Napoleon erlassen hatte, absichtlicher Fahrlässigkeit zeihen
darf, steht doch noch dahin. Die russischen Feldherren waren nun einmal
keine Helden, und die französische Armee mit all ihren Isolierten gewährte
aus der Entfernung immerhin den Anblick eines Heeres von 60.000
Mann. Tschitschagoff verfügte etwa über die Hälfte. Es ist also
immerhin begreiflich, wenn auch nicht gerade rühmlich, daß er, auf
den namentlich die Niederlage seines Vortrabes bei Borissow Eindruck
gemacht hatte, als er Wittgenstein noch nicht in der Nähe, Kutusow aber
in der Ferne wußte, nicht sofort auf den Übergangsplatz eilte, sondern
sieh — wie Jomini erzählt — zuvor angesichts der genannten Stadt
aufhielt, um erst noch über eine rasch gebaute Schiffbrücke Verstär-
kungen heranzuziehen. Hat sich doch auch Wittgenstein aus Gründen
derselben Vorsicht von dem Kanonendonner bei Studjenka am 26. nicht
dahin locken lassen, sondern war erst auf dem Umweg über Borissow
langsamer an die Beresina vorgerückt als für einen vollen Erfolg nötig
gewesen wäre. Er hat später sein Verhalten mit der Unpassierbarkeit
des direkten Weges nach Wjesselowo oder ßytschi zu rechtfertigen
gesucht, dem aber die noch erhaltenen Meldungen seiner Untergenerale
widersprechen (Siehe Krahmer im Beiheft zum Militärwochenblatt von
1894, S. 241). Einer dieser Generale, Graf Berg, dem er einen aus-
sichtsvollen Bajonettangriff am 23. untersagte, „da doch nichts mehr
zu erreichen sei", erklärt seine Zaghaftigkeit durch die Anwesenheit
Napoleons: „und diesen fürchtete man wie den Löwen, dem eich kein
Tier zu nahen wagt.« (Historische Zeitschrift 62, 192.) Die Rolle, die
Kutusow spielte, der seine Armee zwei Tagmärsche weit zurückhielt,
spottet allerdings jeder Beurteilung. So scheiterte der Petersburger
Operationsplan an denen, die ihn auszuführen hatten.
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Grauenhafte Szenen. 133
Weg versperrten, Pferden, die, scheu geworden, Kranke und
Verwundete unter ihre Hufe traten, Menschen, die sich mit
ihren letzten Kräften um ein Restchen Dasein balgten, das
Ganze bestrichen von den Kugeln der Feinde. Viele wurden
bei dem Handgemenge, das auf den Brücken entstand, seit-
wärts ins Wasser gestoßen. Viele hatten sich in der Angst frei-
willig den eisigen Wellen oder den rinnenden Schollen vertraut,
andere waren von der nachdrängenden Menge in den Strom
gezwungen worden: die meisten gingen zugrunde. Wenn diese
Szenen an Grauen noch überboten werden konnten, so war es
am nächsten Frühmorgen, als die letzten Bewaffneten sich
mit dem Bajonett ihren Weg über die hölzernen Pfade gebahnt
hatten und diese dann in Brand gesteckt wurden. Da stürmten
die Zurückgebliebenen, Männer, Weiber und Kinder, die
während der Nacht von ihren Feuerstellen nicht wegzubringen
gewesen waren, unter wildem Gebrüll der Kolonne nach in
die Flammen, bis die Balken brachen und ihre verzweifelte Last
in die Fluten abwarfen. Doch wurden ihrer noch fünftausend
die Gefangenen der Russen. Als Tschitschagoff nach dem Ab-
märsche Napoleons an den Übergangsort kam, fand er — so
erzählt er selbst — den Boden bedeckt mit Gemordeten und
Erfrorenen in allen Stellungen, die Bauernhütten von Stud-
jenka vollgepreßt mit Kadavern, im Flusse grausige Knäuel von
ertrunkenen Soldaten, Frauen und Kindern, die über die Ober-
fläche hervorragten, und zwischendurch Reiter, Statuen gleich,
starr und tot auf ihren von Eis umschlossenen Rossen. An
24.000 Leichen hat der Gouverneur von Minsk hier verbrennen
lassen. Es waren nur die, die man auf dem Schlachtfeld
und an den Ufern aufgelesen hatte. In der Beresina aber will
man noch nach zehn Jahren Inselchen und Hügel wahr-
genommen haben, gebildet von den Opfern jener Tage und mit
Vergißmeinnicht bewachsen, wie zum mahnenden Gedächtnis
an das gräßlichste Schauspiel des Jahrhundertst
Nach dem verlustreichen, aber immerhin ruhmvollen
Waffengange am 28. November, der die Pläne des Feindes
zunichte machte — es war wie das letzte Aufflackern eines dem
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134 Die Maletsche Verschwörung 1 .
Tode verfallenen Organismus — brach Napoleons militärische
Kraft allerdings zusammen. Er hatte nun keine Armee mehr,
er hatte nur noch ein Gefolge, das unter dem Zwang einer
fürchterlichen Kälte sich selbst entwaffnete und halb, mitunter
wohl auch ganz wahnsinnig vor Hunger, mit erfrorenen
Gliedmaßen und vom Typhus befallen, auf der Straße
über Sembin und Molodetschno gegen Wilna strebte. Am
3. Dezember, als das Thermometer auf 16 Grad unter
Null zeigte, hatten nur etwa 9000 Mann noch ihre Ge-
wehre; bald aber auch diese nicht mehr, als am 6. die
Kälte auf 24, am 8. auf 27 Grad stieg. Jede neue Nacht
forderte viele Hunderte von Opfern. Napoleon war sich schon
am Tage nach der Schlacht an der Beresina klar geworden,
daß mit diesen Truppen nichts mehr zu tun sei. „Bei solcher
Lage der Dinge" — schrieb er an Maret nach Wilna — „ist es
möglich, daß ich meine Anwesenheit in Paris für Frankreich,
für das Reich, selbst für die Armee notwendig erachte." Damit
war es bei ihm beschlossen. Und aus guten Gründen. Denn
noch vor Smolensk hat er aus der Hauptstadt Frankreichs
eine Nachricht erhalten, die ihm nicht wenig zu denken
gab. Ein republikanisch gesinnter General, jener Malet, der
schon 1808 in ein Komplott gegen das Regiment des Kaisers
verwickelt gewesen und seitdem in einem Pariser Gefängnis,
dann in einer Maison de sante unter Aufsicht gehalten worden
war, hatte hier mit ein paar royalistischen Vertrauten den
Plan gefaßt, Napoleon tot zu sagen, eine Ordre des Senats,
die ihm das Kommando der Stadt übertrug, und ein Senats-
konsult zu fälschen, das eine provisorische Regierung von ge-
mäßigten Republikanern und Konstitutionellen, Moreau und
Carnot an der Spitze, einsetzte. Hierauf gestützt, wollte man
die Munizipalgarde und die in Paris garnisonierende National-
garde gewinnen, sich der Behörden bemächtigen und so das
Empire stürzen. Seit zwei Wochen war vom Kaiser keine
Kunde eingetroffen. Die Bevölkerung hatte anfänglich den
Zug nach Rußland als den letzten entscheidenden Sehritt zur
Begründung eines dauernden Friedens gutgeheißen, war dann
aber durch das immer weitere Vordringen stutzig gemacht,
durch den Brand von Moskau schließlich aus allen Illusionen
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Der Putsch scheitert.
135
gerissen worden und sah fortan nur neue endlose Kämpfe vor-
aus. Auf all das rechnete Malet, als er am Frühmorgen des
23. Oktober ans Werk ging. Ein Regiment Nationalgarden,
die altgediente Munizipalgarde, zwei Generale, die er aus dem
Gefängnis abholte und von denen einer ehemals Moreaus
Generalsstabschef gewesen war, Alle hielten seine Vor-
spiegelungen für wahr und gehorchten ihm. Sie halfen ihm,
Savary, den Polizeiminister, und Pasquier, den Polizeipräfekten,
festnehmen, und der Seinepräfekt Frochot war so überzeugt
von der Sache, daß er bereits im Stadthause den Saal für
die Sitzungen der provisorischen Regierung in Stand setzen
ließ. Erst auf der Kommandantur wurde Malet durch die
Geistesgegenwart zweier Offiziere mit seinem Begleiter ergriffen,
gebunden, und den untenstehenden Truppen verkündet, daß
der Kaiser lebe. „Vive l'Empereur!" scholl es zurück, und der
Putsch war zu Ende. Malet und seine von ihm getäuschten
Anhänger wurden kurz nachher kriegsrechtlich erschossen.
Das war die Nachricht, die Napoleon am 6. November
auf dem Marsche empfing. Was ihm an ihr auffiel und auch
für die Geschichte merkwürdig bleibt, ist der Umstand, daß
von all denen, die so leicht an den Tod des Kaisers glaubten,
keiner sich der Dynastie erinnerte, sondern jeder eine
Änderung im Staatsregiment als etwas nunmehr Selbst-
verständliches hinnahm. „Wie?" rief er in seiner Enttäuschung
aus, „an meine Frau, an meinen Sohn, an die Institutionen
des Kaiserreichs, an das alles hat man also gar nicht gedacht!"
Und damit nicht genug. Wenn derlei bis zu einem gewissen
Grade gelingen konnte, so lange man die Armee nur in der
Ferne wußte, was konnte nicht erst gewagt werden, wenn man
erfuhr, daß sie gar nicht mehr existierte? Und ihr Schicksal
ließ sich doch nicht verheimlichen. War es nicht auffallend,
daß er seit Smolensk keinen Kurier mehr erhalten hatte? Nein,
nein,, er mußte fort, mußte in Paris gleichzeitig mit der Nach-
richt vom Scheitern der Expedition und vom Verderben der
Hunderttausende, die er mit sich geführt, eintreffen, um dem
Eindruck mit der dominierenden Gewalt seiner Persönlichkeit
zu begegnen. Er hatte noch an der Beresina seine Schuldig-
keit als General getan. Nun, wo die Armee sich auflöste, blieb
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IM
Das 29. Bulletin.
für den Feldherrn nichts anderes mehr zu tun übrig als ihr
Hilfe zu schaffen, was auch nur aus der Ferne möglich war.
Die Besorgnis über die Haltung der Deutschen kam noch dazu.
Und so wird er denn, sobald die Kolonne nur einmal bei Molo-
detschno die Wilnaer Heerstraße erreicht hat, sie verlassen und
nach Hause eilen.
Am 5. Dezember — man war unter Arrieregefechten mit
der nachrückenden leichten Reiterei des Feindes, der Tausende
von wehrlosen Gefangenen in die Hände fielen, nach Smorgonj
gelangt — versammelte er seine Marschälle um sich und teilte
ihnen seinen Entschluß mit. Murat solle die Armee hinter den
Niemen führen, Berthier ihm zur Seite bleiben. Vor Wilna
werde man bayerische Truppen unter Wrede und eine frische
Division finden. Für die Reste des Heeres, wie für Frankreich,
sei seine Anwesenheit in Paris unerläßlich. Von dort aus allein
könne er Österreicher und Preußen im Zaum halten. Sie würden
sich's überlegen, ihm den Krieg zu erklären, sobald sie ihn an
der Spitze der französischen Nation — er war in diesem Augen-
blick ganz Franzose — und einer neuen Armee gewahrten.
Vorher hatte er ihnen das letzte Bulletin, aus Molodetschno
den 3. Dezember datiert, von Eugen vorlesen lassen; es war
das 29. und enthielt, wenn auch nicht das unumwundene Ein-
geständnis, so doch Andeutungen vom Untergange der großen
Armee. Volle Wahrheit war darin nicht zu lesen, und dem
Kenner all des Jammers muß es fast wie ein verabscheuungs-
würdiger Scherz mit dem Unglück erscheinen, wenn es u. a.
heißt : „Menschen, welche die Natur nicht hinreichend ge- .
stählt hat, um über alle Wandlungen des Schicksals und des
Glücks erhaben zu sein, verloren ihren Frohsinn und ihre gute
Laune und träumten von nichts als von Unglück und Nieder-
lagen; diejenigen jedoch, die sie allem überlegen schuf, be-
wahrten Heiterkeit und Haltung und erblickten einen neuen
Ruhm in den Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hatten."
Auch wie die Hunderttausende zugrunde gingen, stand nicht in
dem Bulletin. Alles hatte die böse russische Kälte getan. Vor
dem 6. November sei das Heer noch stolz und stattlich und
siegreich gewesen, bis das fürchterliche Klima des Nordens
es verdarb und verzehrte. Daß er selbst, und nur er selbst das
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Napoleon verläßt die Armee.
137
Verderben herbeigeführt, verriet der kaiserliche Autor mit
keinem Wort. Von seinem unausgesetzten Vorwärtsstürmen über
Wilna, Witebsk und Smolensk hinaus in der heißen Zeit des
russischen Sommers, der dem Heere viel mehr Leute gekostet
hatte als der Winter, davon war nichts zu lesen. Und wenn es
schon die Kälte gewesen sein mußte, daß e r sie mit seinem
trotzigen Ausharren in der verbrannten Hauptstadt herauf-
beschworen hatte, davon ward nichts mitgeteilt. Vor allem
mußte die Welt Eines wissen: daß er lebte und sich wohl be-
fand. „Die Gesundheit Seiner Majestät ist niemals eine bessere
gewesen", schloß das Bulletin. Dann nahm er Abschied von
den Generalen und fuhr des Nachts mit Caulaincourt, als
dessen Sekretär Eayneval er gelten wollte, mit Duroc, Lefebvre
und Mouton von dannen.*) Am 6. trifft er mit Maret vor Wilna,
am 10. mit de Pradt in einer Vorstadt Warschaus, am 14. mit
dem Könige von Sachsen in Dresden zusammen, wo er noch
vor sieben Monaten im vollen Glänze seiner Macht die Huldi-
gung der halben Welt entgegengenommen hatte; unerkannt
erreicht er die französische Grenze und am 18. Dezember vor
Mitternacht Paris, wo tags vorher sein Bulletin angelangt war.
Die Fahrt war keine gefahrlose gewesen. Der kühne
russische Parteigänger Sesslawin hatte mit seinen Kosaken
bereits den französischen Haufen überholt, und es galt, an
*) Hier — wie es geschehen ist — von Desertion zu sprechen,
ist ebenso unrichtig und woit unrichtiger noch als dort, wo Bonaparte
das ägyptische Expeditionsheer verließ. Er war Souverän und konnte
seine Armee befehligen oder nicht, wie es ihm gutdünkte, und folglich
auch das Kommando abgeben, wann er wollte. Und der herangekommenen
Truppe Rettung zu verschaffen, vermochte er viel eher, wenn er ihr
vorauseilte als wenn er blieb. Auch den eigentümlichen Schluß des
29. Bulletins hat man oft als cynisch gerügt. Er war hervorgerufen
durch einige Bemerkungen in Briefen seines vertrauten Korrespondenten,
des Staatsrates Fievee, der gelegentlich des Maletschen Putsches an
ilen Armeebulletins tadelte, daß darin niemals zu lesen sei, ob der
Kaiser lebe, „was man doch vor allem darin suche". In einem vorher-
gegangenen Briefe vom 23. Oktober hatte es geheißen: „Die Anwe-
senheit des Kaisers in Paris würde, wenn er ohne Gefahr für die Armee
abkommen könnte, sehr viel Gutes stiften." Napoleon pflegte diesem
Ratgeber ein seltenes Zutrauen zu schenken. (Mot de Fie"v6e, Corres-
pondance).
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138
Der Kaiser wieder in Paris
seinen Feuern unbemerkt vorbeizukommen. Und das bei der
enormen Kälte. Von den hundert polnischen Lanzenreitern,
die zur Eskorte dienten, verlor die Hälfte in einer Nacht die
Pferde und mit ihnen das Leben. Auch das des Kaisers soll
zweimal von Attentaten bedroht gewesen sein: das erstemal
noch auf russischem Boden in Oschmjany, wo ihm die kombi-
nierte Division Loison begegnete und ein französischer Major
einigen deutschen Hauptleuten den Gedanken nahelegte,
ihm das Schicksal Wallensteins zu bereiten; das zweite-
mal in Glogau. Die Angaben über die erstere Absicht sind
sehr bestimmte und lassen nicht zweifeln, daß sie be-
sprochen wurde. Doch ist sie keinesfalls zum ernsten Vor-
satz gediehen, und Napoleon entkam. Sein Stern sollte noch
nicht verschwinden. Aber schon neigte er sich zum Horizont.
Blutrot, wie das Gestirn des Tages vor seinem Untergang, wird
er noch einmal Europa in die Farben von Mord und Feuer
tauchen ehe er im Ozean des Westens versinkt.
Drittes Kapitel.
Leipzig,
Das war ein schmerzliches Erwachen aus dem Traume
von einer unbegrenzten Herrschaft über Staaten und Völker,
den Napoleon geträumt, als er nach Moskau ging! Seine hohe
Geltung die er sich mit einer langen Eeihe genialer Kriegs-
taten erkämpft hatte, war erschüttert. Denn wenn er auch im
letzten Feldzug nicht besiegt worden war, so war er doch ge-
flohen, sei es nun vor dem Mangel, vor der Kälte, vor dem
sicheren Verderben, gleichviel, er war geflohen und der Eindruck
nicht auszutilgenden dieses unerhörte Ereignis in derWelt hervor-
rief. Die „Große Armee", deren tüchtigste Elemente bei
Austerlitz und Friedland gesiegt hatten, existierte nur noch
in kaum nennenswerten Resten. Und wir wissen, was ihm die
Armee war. „Seine Nation" nannte sie einmal mit einem
treffenden Worte Jaucourt, der Freund Talleyrands. Allerdings
stand noch ein Heer seinem Willen zu Diensten, aber es war
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Politische Konjunkturen. 1B9
au Größe dem verlorenen nicht zu vergleichen und lag überdies
gegen Engländer und Spanier zu Felde; allerdings hatte er
noch Alliierte, aber sie waren Alliierte seines Glücks und seiner
Stärke gewesen, und es war doch sehr fraglich, ob sie auch
seiner Schwäche verbunden bleiben würden.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Beweggründe,
die ihn zu seinem Zuge nach dem Osten veranlaßt hatten, so
war es nicht nur die Ausdehnung seiner kontinentalen Macht
über Rußland gewesen, die er erstrebte, sondern vor allem die
völlige Absperrung Europas gegen England, das, dadurch in
seinen wesentlichsten Interessen getroffen, einen Frieden nach-
suchen, sein Heer aus Spanien ziehen und der Weltpolitik des
Eroberers den Ozean eröffnen sollte. Vielleicht wäre dieses Ziel
erreicht worden, wenn Napoleon nach seinem ursprünglichen
Plane bei Smolensk Halt gemacht und Litthauen befreit hätte.
Er hätte seine Armee gesammelt, durch Nachschübe ergänzt,
ein geordnetes Verpflegswesen eingerichtet und in imponie-
render Stärke gegen die beiden russischen Hauptstädte eine
drohende Position eingenommen, die auch auf die großen
Weltverhältnisse nicht ohne Rückwirkung geblieben wäre.
Denn gerade als er den Niemen überschritt, fand er in seinem
Kriege gegen England einen Helfer. Das waren die nordameri-
kanischen Vereinsstaaten, die im Juni 1812 an Großbritannien
den Krieg erklärten. Schon seit zwei Jahren hatte Napoleon
hieran gearbeitet, indem er ihnen Ausnahmen von den De-
kreten von Berlin und Mailand versprach, wenn sie nicht mehr
mit England und dessen Kolonien verkehren oder in London
die Aufhebung der Edikte von 1807 erreichen wollten. Er
wußte gut, daß die Engländer sich hierzu nicht, oder doch nicht
im wesentlichen, verstehen würden. Sie lehnten auch das An-
sinnen ab und benahmen sich überdies durchaus feindselig,
suchten auf allen amerikanischen Fahrzeugen nach britischen
Matrosen, um sie für ihre Marine zu pressen, und erregten der
Regierung von Washington auf dem nordamerikanischen Kon-
tinent Feinde. So kam es dann 1812 zum offenen Kampfe, der
in der ersten Zeit den Briten einige Verluste zur See eintrug.
Diese neue Verwicklung, zusammen mit den stets sich ver-
schlimmernden Finanzzuständen des Inselreichs und einer
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uo Anfange einer neuen Koalition.
drohenden Haltung Napoleons in Kurland, wäre vielleicht ge-
eignet gewesen, den Gedanken eines allgemeinen Friedens in
London zu unterstützen, namentlich da auch auf der Iberischen
Halbinsel das Jahr nicht mit großen Erfolgen für England zu
Ende ging. Denn trotz dem Siege, den Wellington bei Sala-
manca davongetragen und der ihm den Oberbefehl über alle
antifranzösischen Streitkräfte eingebracht hatte — Cadix wurde
dadurch die feindliche Belagerung los — war er durch die
Fehler und die Selbstsucht der Spanier schließlich doch wieder
zum Rückzug an die portugiesische Grenze gezwungen worden.
Aber als in London Kunde auf Kunde aus Rußland eintraf
vom Zusammenschmelzen der Großen Armee, von dem ent-
scheidungslosen Morden bei Borodino, vom Brande Moskaus,
von der Retraite und ihren Schrecken : da war selbstverständlich
von Vergleich und Frieden mit Napoleon nicht mehr die Rede.
Vielmehr gewann jetzt die Kriegstendenz kaum bestritten die
Oberhand. Schon während des Sommers war Großbritannien mit
Rußland zu einem friedlichen Abkommen gelangt und hatte zu
gleicher Zeit durch seinen Einfluß einen Vertrag Alexanders I.
mit der spanischen Regentschaft zustande gebracht (18. und
20. Juli 1812), so daß, als das Schicksal des Feldzuges noch
nicht entschieden war, bereits die Grundlage zu einer neuen
Koalition bestand, die sich nicht so sehr gegen Frankreich
selbst, als gegen das ihm von Napoleon erkämpfte und in dessen
ehrgeiziger Persönlichkeit repräsentierte Übergewicht richtete.
Es ergab sich nun die für die fernere Entwicklung der
Dinge entscheidende Frage: ob nicht auch die im Bannkreise
der napoleonischen Macht stehenden Völker, angesichts der
starken Einbuße, welche diese Macht erlitten, mit oder trotz
dem Willen ihrer Regierungen sich der allgemeinen Bewegung
anschließen werden?
Die genaue Tragweite der Ereignisse in Rußland scheint
Napoleon nicht sogleich erkannt zu haben. Nach seiner Abreise
von der Armee hatte er noch gehofft, diese werde sich in
Wilna nähren und ordnen, die entgegenkommende Division ihr
den notwendigen Halt gewähren, Murat, unterstützt von Mac-
donald mit den Preußen einerseits und von Schwarzenberg
mit Reynier anderseits, hinter dem Niemen sich behaupten
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Die Opfer des russischen Feldzugs.
Hl
können. Als er Warschau passierte, versicherte er der dortigen
Regierung, er habe noch 120.000 Mann. An ein Aufgeben
seiner vorherrschenden Stellung in Europa dachte er nicht.
Er dachte selbst dann nicht daran, als er endlich vernehmen
mußte, daß die Überbleibsel der Hauptarmee sich auch in
«Wilna nicht hatten halten können, sondern, die anlangenden
frischen Truppen in ihre Unordnung fortreißend, unter un-
säglichem Jammer und stündlichen Verlusten über den Niemen
zurück nach Königsberg gebracht werden mußten, wo die alte
Garde nur noch 4 — 500 Bewaffnete, die Gardekavallerie 600
Reiter, meist ohne Pferde, zählte, während der Rest aus einer
chaotischen Masse von etwa 40.000 Mann, darunter einige
tausend Offiziere und Unteroffiziere, bestand, von denen sich
jedoch später kaum die Hälfte als dienstfähig erwies. 500.000
Mann waren verloren, etwa 100.000 in feindliehe Gefangen-
sehaft geraten, einige Tausend lagen in den Lazaretten,
alles übrige war tot.*) Das war viel Unglück. Aber doch nicht
so viel, um allen Mut zu verlieren. Napoleon hatte ja noch die
beiden Flügelarmeen mit 66.000 Mann, dann Nachschübe, die
noch nicht an die russische Grenze gelangt waren, etwa 20.000,
ferner die Besatzungen der Festungen im Osten, 17.000,
*) Im März erzählen die russischen Generale dem österreichischen
Abgesandten Lebzeltern, man habe in den Gouvernements von Minsk,
Smolensk und Moskau 142.000, in der Umgebung von Wilna 46.570
französische Leichen verbrannt. (Lebzeiten« Bericht vom 10. März
zitiert von Luckwaldt, Österreich und die Anfänge des Befreiungs-
krieges, S. 146.) Und wie elend war, was lebte! Am 21. Dezember
schreibt Lefebvre aus Insterburg an Beithier, von der alten Garde
könnten nur noch fünfhundert, bei großer Kälte kein Einziger, schießen.
„Der ganze Rest (etwa achthundert) ist durch Frost beschädigt, und
die Glieder der Leute sind derartig brandig geworden, daß sie sämtlich
umkommen werden, wenn nicht rasch Hilfe geschafft wird. Man hat
heute 200 der am meisten kranken Leute auf Schlitten nach Danzig
gebracht, damit bei ihnen so schnell als möglich eine Amputation an
Fingern und Zehen erfolgen könne". (Rousset, La grande armee de
1813, p. 60). In Clements „Campog.ie de 1813" (Par. 1904) p.20 wird
erzählt, Murat habe am 12. Dezember bei Kowno, in Ubereinstimmung
mit den Marschällen, die Unmöglichkeit erkannt, die Armee zu suin-
moln. ,.Trotz der Energie Neys und Gerards hatten sich die Deutschen
aufgelöst." Und die Franzosen etwa nicht? Auf welche Sorte Leser
rechnet diese Sorte Geschichtschreibung?
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142 Napoleons Appell an die Staatsbeamten.
und außerdem besaß er in jenen Geretteten immerhin ein wert-
volles Material für die Ausbildung einer neuen Armee. Und
eine neue Armee will er ins Feld und im Frühling den Küssen
gegenüberstellen. Sogleich nach seiner Ankunft in Paris werden
umfassende Anstalten zu Rüstungen ins Werk gerichtet, die er
sich auf der Rückfahrt reiflich überlegt haben mag, und schon
wenig Wochen später wird er es einem der deutschen Diplo-
maten recht unhöflich ins Gesicht sagen: der Löwe sei noch
nicht so tot, daß man ihm einen Fußtritt geben könne.
Das Wichtigste war freilich, daß sein Regiment in Frank-
reich noch fest genug stand und das französische Volk ihm den
Gefolgsdienst nicht weigerte. Allerdings, die Behörden und die
Korporationen — die insgeheim Winke erhalten hatten —
ließen es auch jetzt an devoten Huldigungen und Versiche-
rungen unwandelbarer Treue nicht fehlen. In den Antworten,
die der Kaiser darauf erteilte, hören wir ihn auf das Maletsche
Unternehmen hinweisen und auf die Haltung der Regierungs-
organe. „Furchtsame und feige Soldaten", sagte er der Depu-
tation des Senats, „können einer Nation ihre Unabhängigkeit
kosten, zaghafte Beamte aber vernichten die Herrschaft der
Gesetze, die Rechte des Thrones und die gesellschaftliche Ord-
nung. Der schönste Tod würde der des Soldaten auf dem
Felde der Ehre sein, wenn der des Beamten, der fällt, indem er
seinen Monarchen, den Thron und die Gesetze verteidigt, nicht
noch ruhmreicher wäre." In der Erwiderung auf die Ansprache
des Staatsrats erhob er sich zu einem Ausfall gegen die doktri-
nären Naturrechtsmenschen, denen er auch jetzt wieder die
Schuld an der Unsicherheit der öffentlichen Institutionen bei-
maß. „In der Tat," sagte er, „wer hat das Prinzip der Em-
pörung zur Pflicht erklärt? wer dem Volke geschmeichelt,
indem er ihm eine Souveränität zuerkannte, die es auszuüben
nicht fähig war? wer zerstörte die Achtung und Heiligkeit der
Gesetze, indem er sie nicht von den geheiligten Grundsätzen
der Gerechtigkeit, von der Natur der Dinge und des bürger-
lichen Rechtes, sondern lediglich von dem Willen einer Ver-
sammlung von Männern abhängig machte, denen es an allem
Verständnis des Zivil- und Strafrechts, der Verwaltung, der
militärischen und politischen Gesetze fehlte? Ist man berufen,
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Die große Frage. 143
einen Staat zu regenerieren, so gilt es geradezu entgegen-
gesetzten Prinzipien zu folgen. Die Geschichte schildert das
menschliche Herz, in ihr muß man nach den Vorzügen und
Nachteilen der verschiedenen Gesetzgebungen forschen."*)
Welche Absicht verfolgte wohl Napoleon mit diesen Aus-
lassungen? Gewiß nur die, wieder einmal recht deutlich darauf
hinzuweisen, wie er es gewesen war, der seinerzeit den Staat
aus der Verwirrung errettete, in die ihn jener Geist der Em-
pörung gestürzt hatte. Dieser habe sich nun neuestens wieder
geäußert, und ohne Zweifel würde ihm der Staat anheimfallen,
wenn man den Kaiser jetzt im Stiche ließe anstatt ihn mit
allen Kräften zu unterstützen, ihn sowie den Erben seines
Thrones und seiner Grundsätze.
Es kam nun darauf an, ob sich das Volk von Frankreich
mit der gleichen Überzeugung durchdringen ließ. Denn dies war
nötig, wenn es Kapoleon gelingen sollte, mit einem neuen
Heere seine alte Stellung wieder zu erkämpfen.
Bei seiner Heimkehr stand ihm an Rekrutenmaterial nur
die Aushebung von 1813 — die 120.000 Mann derjenigen von
1812 war in Nachschüben während des Feldzugs zum größten
Teil aufgebraucht worden — zu Gebote, etwa 140.000 Mann,
von denen die Mehrzahl im Dezember bei den Depots einrückte
und von den bereitstehenden Cadres aufgenommen wurde.
Binnen einigen Monaten sollten sie hinreichend exerziert sein,
um zur Verwendung zu gelangen. Von gedienten Soldaten
kamen außer den Cadres und den zur Ausbildung der Rekruten
unentbehrlichen Depotbeständen nur vier Regimenter Marine-
artillerie, 3000 berittene Gendarmen, zwei Bataillone Pariser
Munizipalgarde und einige Reservekompagnien in Betracht.
Diese Streitkräfte konnten dem Kaiser in seiner Lage und mit
seiner Absicht auf neuen Kampf und Sieg keineswegs genügen.
Er bedurfte weiterer und weit größerer Machtmittel. Da waren
allerdings die Kohorten der Nationalgarde, bei 80.000 Mann
stark; aber sie waren nicht nach auswärts zu verwenden und
hatten nur teils invalide, teils pensionierte oder verabschiedete
Offiziere zu Führern. Hier mußte nachgeholfen werden. Zunächst
*) Corresp. XXIV. 19.389. 19.390.
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144 Neue Hüstungen.
soll der Senat einen Beschluß fassen, daß die Kohorten, gleich
der Linie, in auswärtigen Kriegen zu dienen hätten, und dann
muß von der „Großen Armee" — wenn einmal das Chaos der
„Isolierten" entwirrt war — an Generalen, Stabs-, Ober- und
Unteroffizieren herbeigesandt werden, was nur irgend noch
tauglich schien. Beides wurde erreicht. Man brachte es da-
hin, dali aus der Nationalgarde selbst, auf Bestellung natürlich,
vereinzelte Bitten um den Vorzug einliefen, gegen den Feind
geführt zu werden, worauf dann am 11. Januar 1813 der ge-
wünschte Senatsbeschluß erfolgte. Dieser eröffnete außerdem
noch die Aussicht auf weitere 250.000 Mann, d. i. 100.000 aus
den vier letzten Altersklassen, die von der Aushebung bisher
nicht betroffen worden waren, und 150.000 Mann der Kon-
skription von 1814, die der Kaiser übrigens erst im Frühling
zu den Waffen rufen wollte. Damit war das Menschenmaterial
für die neue Armee beschafft, und wenn man nun auch noch
aus Spanien Cadres und einzelne größere Truppenkörper —
im Ganzen 40.000 Mann — entnahm, so konnte immerhin
ein achtunggebietendes Heer im Felde stehen. Napoleon
wird sich aber auch damit noch nicht zufrieden geben,
sondern im April vom Senate nochmals 180.000 Mann, National-
garden und Rekruten, heischen, um dann — Desertion, Un-
tauglichkeit, Krankheit berücksichtigt — eine Truppenmenge
von ungefähr 600.000 Mann für den Feldzug von 1813 zur
Verfügung zu haben. Dem empfindlichen Pferdemangel
trachtete er durch Aufkäufe in Frankreich, Hannover und
Braunschweig, in Holstein, ja selbst in Mecklenburg, abzu-
helfen. Außerdem wurde Korporationen und reichen Privat-
leuten der Gedanke nahgelegt, sie könnten sich durch frei-
willige Stellung ausgerüsteter Keiter dem Kaiser besonders
empfehlen, und den Präfekten aufgetragen, aus den vornehmen
und reichen Familien junge Leute für diesen „freiwilligen"
Dienst zu bezeichnen und auszuheben. Napoleon wollte auf
solche Art die Vermögenden durch eine Steuer treffen und sie
zugleich mit dem ihm anvertrauten Schicksal ihrer Söhne an
sich fesseln. Diese „Ehrengarden" (Gardes d'honneur), 10.000
Mann ungefähr, würden nach einem Dienstjahr Leutnantsrang
erhalten und zu einer Art Leibgarde (Garde du corps) ver-
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Die Stimmung der Bevölkerung. 145
wendet werden, an die Kapoleon lange schon gedacht hatte,
ohne daß er bisher — aus Rücksicht auf die Kaisergarde —
gewagt hätte, die Idee auszuführen.*)
Es war die alte rastlose Tätigkeit, die Napoleon im
Januar 1813 entfaltete, die alte Kenntnis seiner Hilfsmittel
bis ins Kleinste, von einem namenlosen Gedächtnis bereit-
gehalten. Man hört nicht auf, zu staunen, wenn man diesen
einzelnen Mann, dem jetzt nicht, wie sonst, die sorgfältig ge-
arbeiteten Tabellen der Truppenbestände vorlagen, unter Ver-
hältnissen, die jedem anderen die Übersicht getrübt und die
Ruhe geraubt hätten, umgeben von Dienern, die nur im Unter-
geordneten Helfer waren, mit unermüdlicher Emsigkeit an
dem Neubau seiner Macht arbeiten sieht, und man bedauert
tief, daß dieses große Genie der Administration, das ehedem
dem Staate Ordnung und Stärke zu verleihen gewußt hatte,
jetzt sich nur noch darin erschöpfte, ihm seine Kräfte zu ent-
ziehen.
Für diese neuen Opfer war es aber nicht genug, die Zu-
stimmung des Senats erreicht zu haben. Man mußte auch den
guten Willen der Bevölkerung gewinnen, oder doch ihren
Widerwillen besiegen, und das war keine leichte Aufgabe. Es
gab wieder Refraktäre und Deserteure in Fülle. Die Stimmung
in der Hauptstadt und in den Departements war keine freund-
liche. Bei einem Kitt in der Vorstadt Saint-Antoine bekam der
Kaiser beleidigende Zurufe zu hören. Der Volkswitz spottete
über den Tuileriengärtner, dessen Granatbäume (grenadiers)
und Lorbeersträucher erfroren seien. Aus der Provence meldete
man revolutionäre, aus den Departements des Westens roya-
listische Umtriebe, aus Belgien offenen Widerstand gegen die
Aushebungen. Dabei blieb es aber auch. Am Ende half hier'
der Patriotismus der Franzosen. Nicht nur Napoleon,
*) Siehe Pasquier, Memoires, IL 59 f. u. 89 und Mollion, Me-
moires. ni. 246 ff. Dieser erzählt, daß der Gedanke des Kaisers durch
die Präfekten nicht in seinem Sinne zur Ausführung gelangte und daß
der Zwang der Maßregel ihm zahlreiche unerbittliche Feinde gemacht
habe. Bei Pasquier heißt es: „Keine Maßnahme hat, wie diese, Napoleon
unversöhnliche Feinde geschaffen und den brennenden Wunsch nach
seinem fall erzeugt."
Fournier, Napoleon I 10
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146
Yorcks Abfall.
aucli Frankreich hatte durch das Unglück des letzten Jahres
dem Auslande gegenüber seine imponierende Position, das
entscheidende Übergewicht eingebüßt. Mochte man nun auch
noch so sehr den ewigen Kriegszustand und seine Konsequenzen
beklagen, ein schwaches Frankreich wollte man dennoch nicht.
Und schon begannen die Folgen des Machtverlustes sich offen
zu äußern.
Zunächst in Preußen, das man nur durch eine bedrohliche
Übermacht gezwungen hatte, sich an die Seite seines Bedrängers
zu stellen. Dort erblickte das Volk in dem Verderben des
großen Heeres, dem die eigenen Krieger entgangen waren, eine
Art Gottesgericht und den Wink, das Joch der erniedrigenden
Bundesgenossenschaft nunmehr abzuwerfen;
„Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen",
sang ihm ein Dichter vor. Die Bedrückung von Seiten der
durchmarschierenden Truppen hatte den Zorn gegen die
Fremden entflammt und einen unendlichen Haß erzeugt, der
nach tätlichem Ausdruck rang. Danach ermesse man die
Stimmung, die in dem preußischen Korps herrschte, das ge-
zwungen war, dem Volksfeinde zu dienen. Es hatte sieh vor
Riga allerdings gut gehalten. Als aber später der russische
Kommandant der Festung, Paulucci, vom Zaren autorisiert,
den General von Yorck, der statt des erkrankten Grawert den
Befehl führte, zum Übertritt zu bewegen suchte und einen
Brief vorwies, worin Alexander sich feierlich verpflichtete, die
Waffen nicht eher niederzulegen, ehe Preußen wieder in seine
Machtstellung vor 1806 eingesetzt sei; als sichere Kachrichten
von der Auflösung der „Großen Armee" und der Verfolgung
der Russen eintrafen; als dann im Dezember, auf dem
Rückmarsch Macdonalds nach Süden, die Abteilung Yorcks
eine russische Division vor sich fand, die sich zwischen sie und
die voraus marschierenden Franzosen eingeschoben hatte und
deren Kommandant Diebitsch in einer Unterredung das Ver-
sprechen des Zaren bestätigte : da schloß der preußische General
am 30. Dezember 1812 bei Tauroggen eine Konvention ab,
derzufolge das Korps auf einem abgegrenzten preußischen
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Seine Tragweite. 147
Terrain am Kurischen Haff neutralisiert wurde und sich ver-
pflichtete, selbst wenn der König den Vertrag verwerfen und
den Zurückzug zur französischen Armee befehlen sollte, zwei
Monate lang nicht gegen Kußland zu fechten.*) Das war eine
entscheidende Tat, weil sie zeigte, daß selbst ein Mann von
eiserner Pflichttreue und konservativster Gesinnung, der den
Scharnhorst und Stein als Eeformatoren durchaus abgeneigt
war, dem allgemeinen Zuge der Volksstimmung Herrschaft
über sich einräumen mußte. „Mit oder ohne König" hatten die
Blücher und Bülow 1809 zugunsten Österreichs agieren wollen;
jetzt weigerten sich sogar die Yorck, gegen die Russen zu
fechten, und es konnte scheinen, als sollte die nationale Ge-
sinnung selbst über die monarchische den Sieg davontragen.
Jedenfalls war die Tat von Tauroggen auf das ganze übrige
Deutschland von unbeschreiblich ermutigender Wirkung. „Die,
deren Erinnerung in jene Zeit zurückreicht," schreibt Ranke,
„werden sich entsinnen, daß die Nachricht davon auch dem
weit Entfernten wie ein Blitzstrahl erschien, der den Gesichts-
kreis durchzuckte und veränderte. Noch unter dem fran-
zösischen Drucke fühlte man allenthalben die ungewohnten
Pulsschläge des nationalen Bewußtseins." **)
Auch der Eindruck, den die Nachricht auf Napoleon
machte, war tief und nachhaltig. Durch die Lehre über die
Aktionskraft der Nationen, die er in Rußland erhalten hatte
und stündlich noch in Spanien erhielt, war sein Blick endlich
auch hiefür geschärft worden, so daß er sich über die moralische
Tragweite des Ereignisses nicht täuschte, das daneben — und
das war ihm in erster Linie fatal — auch noch eine strategische
Bedeutung hatte. Denn nun, nach dem Abfall des alliierten
Korps, war an ein Verweilen der inzwischen verstärkten Armec-
roste in Königsberg nicht mehr zu denken, wohin die Russen
vordrangen und wo sich die feindliche Stimmung im Volke
offen kundgab.***) Murat hatte ebensowenig wie Napoleon
*) Siebe die von Yorck und Diebitsch in der Poscherunschen Mühle
unterzeichnete Konvention u. a. im Anhang zu Blumenthal, Die
Konvention von Tauroggen, S. 55.
**) Sämtliche Werke, 48. 256.
***') Siehe die Erzählung vom Auflauf der preußischen Re-
10*
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148 Napoleons Appell an die Nation.
selbst vermutet, daß die Hussen ihre Offensivbewegung über den
Siemen hinaus fortsetzen würden; nun aber, als Wittgenstein
und Tschitschagoff, und allen voran Platow mit seinen Ko-
saken, westwärts vorrückten, als Macdonalds Truppen anfingen
in Unordnung zu geraten und ein preußisches Reservekorps
unter Bülow sich jeder Mitwirkung entzog, da entschied, sich
der König von Neapel dafür, das ganze Korps Macdonalds,
der nach Paris fuhr, nach Dan zig zu werfen und mit den Resten
der Armee bis nach Posen zurückzugehen, wo er am 17. Januar
eigenmächtig den Oberbefehl an den Vizekönig Eugen abgab
und nach Hause reiste. Ehe noch Napoleon hiervon erfuhr, hatte
er bereits die Nachricht von der Tauroggener Konvention in
Paris zur Geltung gebracht. „Sogleich, nachdem ich den Ver-
rat Yorcks erfahren hatte," schreibt er am 9. Januar an Ber-
thier, ,,hab' ich mich entschlossen, der Nation eine Mitteilung
zu machen, die morgen erfolgen wird, und außerordentliche
Aushebungen zu veranstalten." Die Antwort war der erwähnte
Senatsbcschluß vom 11., der nirgends auf nachhaltigen Wider-
stand traf, so daß Maret immerhin die Gesandten im Auslande
verständigen konnte, es sei die Absicht des französischen
Volkes, „nicht bloß seinen Verlusten entsprechend zu rüsten,
sondern auch sein Ansehen, seinen Ruhm und seine Ruhe
gegen alle Vorkommnisse sicherzustellen." Dem preußischen
Gesandten Krusemarck in Paris versicherte der Kaiser, die
Franzosen würden ihm unbedingt folgen, und nötigenfalls
werde er selbst die Frauen bewaffnen.
Aber wenn das Opfer der neuen Blutsteuer ohne Wider-
stand dargebracht werden sollte, dann mußten auch Ansehen
und Ruhm des Heerführers ungeschmälert gelten. Darum
wurde jetzt, wo es nur anzubringen war, versichert, daß der
Kaiser überall die Russen geschlagen, daß eben nur die böse
Kälte das Heer zerstört habe, welches eigentlich erst unter
Murats Führung zugrunde gegangen sei. Es ist uns ein Ge-
spräch zwischen Napoleon und einem seiner höheren Be-
kruten, am 3. Januar, „die schon früher (d. i. noch vor der Kon-
vention) ihre Meinung, daß es gegen die Franzosen gehe, laut geäußert
hatten", bei Tyszka, Erinnerungen von 1812—15, zitiert von Max
Schulze, Königsberg und Ostpreußen Anfang 1813. S. 39.
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Was ihn unterstützt.
140
amten, dein Grafen Mole, aus dem Februar 1813 bekannt ge-
worden, das deutlich zeigt, wie Jener sich beurteilt zu
sehen wünschte. Bei dieser Gelegenheit sagte er: „Ich habe
niemanden, den ich im Kriege an meine Stelle setzen kann,
und ich wäre sehr glücklich, wenn ich meine Kriege durch
meine Generale führen könnte. Aber sie sind nicht daran
gewöhnt, und es ist auch keiner unter ihnen, der den anderen
zu befehlen vermöchte. Der König von Neapel ist dazu unfähig;
er hat mir meine Armee verloren, denn als ich sie verließ, hatte
ich noch eine, und jetzt hab' ich keine mehr. Nach meiner
Abreise verlor der König den Kopf, er wußte nicht zu impo-
nieren, die Undisziplin stieg aufs höchste, in Wilna plünderten
die Truppen Vorräte im Werte von zwölf Millionen, und der
Soldat war zu nichts mehr zu gebrauchen." *)
Ein anderes Mittel, die Abneigung des Volkes gegen seine
neuen Rüstungen zu besiegen, gewahrte Napoleon in der Bei-
legung seines Streites mit dem Papste. Damit gedachte er
die Masse gläubiger Katholiken, die seine Gewaltmaßregeln
wider Pius VII. ihm abwendig gemacht hatten, wieder-
zugewinnen. Mußten nicht auch sie in dem Untergänge des
Heeres einen Wink des Himmels erblicken, der dem mit dem
*) Revue de Ia Revolution francaise, X. 131 (1887). Napoleon
fuhr noch fort: „Auch ich bedurfte übrigens einer langen Übung in
der Selbstbeherrschung, um von einem solchen Schauspiel nicht erschreckt
zu werden: am Abend vorher war ich der Weltbesieger, kommandierte
die schönste Armee moderner Zeiten, und am Tage darauf war nichts
mehr davon vorhanden!" Mole bemerkt dazu: „Als er diese Worte
sprach, sah ich auf dem Antlitz und in den Augen des Kaisers die
einzige Spur einer Gemütsbewegung, die ich je an ihm bemerkt hatte."
Wie stark aber dennoch seine Gewalt über sich auch jetzt noch war,
erfahren wir namentlich aus den Erinnerungen des Schatzmeisters
Mollien, den er am Morgen nach seiner Ankunft zu sich beschied.
Dieser erzählt, der Kaiser sei jetzt, während er früher, als er von seinen
Siegen heimkehrte, ernst und düster geschienen hatte, heiter und gelassen
gewesen, wie selten, habe sich vorerst eingehend nach der erkrankten Frau
des Ministers erkundigt und dann ruhig und höchst sachlich von Ge-
schäften gesprochen. (Memoircs, HI. 169) Vgl. Bd. II. S. 224 f.
Schwarzenberg fand im April zwar seine Haltung etwas weniger sicher,
seine Sprache weniger schneidend als ehedem, ihn selbst nachdenklicher,
■onst aber vollendet liebenswürdig. (Oncken, Österreich und Preußen
im Befreiungskriege, II. 618 f.)
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150
Pius VII. in Fontainebleau.
Banne belasteten Führer seine Gunst verweigerte? Onkel Fesch,
der Kardinal, besaß den Mut, dies geradezu herauszusagen. Da
mußte Rat werden. Der Papst hatte, wie wir wissen, 1811 in
Savona das vom Nationalkonzil erlassene Dekret, betreffend
die Einkleidung neuernannter Bischöfe, nur unter gewissen
Vorbehalten angenommen; er hatte das Konzil nicht aner-
kannt und den Metropoliten außerhalb des Kirchenstaates die
Institution, wenn die päpstliche Bestätigung ausblieb, bloß in
der Weise zugestanden, daß sie sie im Namen des Kirchen-
oberhauptes erteilten, während der Kaiser wünschte, daß in
solchen Fällen die Einkleidung im Namen des Imperators
erfolgen sollte. Hierauf einzugehen, wehrte sich Pius, der bereits
unter seiner Reue litt, worauf Napoleon, der von der Absicht
der Engländer erfahren haben wollte, an der Riviera zu landen
und sich des Papstes zu bemächtigen, befahl, ihn von Savona
weg nach Fontainebleau zu bringen, wo nun im Winter nach
dem russischen Feldzug unter dem Beistand ergebener
Prälaten aufs neue Unterhandlungen begannen, die der Kaiser
selbst zu Ende führte. Alle Register seiner diplomatischen
Kunst und Künste zog er seinem Gefangenen gegenüber auf.
Einmal stellte er Forderungen ohne Ernst und nur in der Ab-
sicht, sie für anderes, das ihm wichtiger war, fallen zu lassen:
z. B. daß zwei Drittel der Kardinäle von den katholischen
Fürsten zu ernennen wären, daß jeder Papst, bevor er das
Pontifikat anträte, geloben sollte, nichts zu verfügen, was den
vier gallikanischen Artikeln entgegen wäre, und auch von der
Krönung der Kaiserin und des Königs von Rom soll die Rede
gewesen sein (s. unten). Ein andermal warf er dem hl. Vater
seine Unkenntnis in kirchlichen Angelegenheiten vor, nahm
ihn wohl auch im Eifer bei einem der Knöpfe seiner Soutane
und schüttelte ihn, was dann zu dem müßigen Gerede Anlaß
gab, er habe den Stellvertreter Christi mißhandelt. Wieder
ein andermal in den fünf Tagen, die er mit dem Papste ver-
brachte, entrollte er vor ihm ein glänzendes Zukunftsbild von
der Ausdehnung und Machtstellung, zu der er der Kirche ver-
helfen würde — die Rekatholisierung Deutschlands obenan —
wenn Pius sich seinen Wünschen fügen, der weltlichen Herr-
lichkeit entsagen, das Konzilsdekret schlichtweg annehmen
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Das „Konkordat" vom 25. Januar 1813. 151
und seine Residenz in Paris aufschlagen wollte. Aber zu dem
Letzteren war der Papst nicht zu bewegen; er wählte
Avignon, das allerdings in dem Übereinkommen, welches
man schließlich niederschrieb, nicht besonders genannt
wurde und wo es bloß hieß: „Seine Heiligkeit wird die
päpstliche Gewalt in Frankreich und im Königreich Italien
in derselben Art und Form wie seine Vorgänger aus-
üben." Und wie Napoleon hier nachgab, so bestand er
auch nicht auf der ausdrücklichen Artikulierung des Ver-
zichtes auf das Erbe des hl. Petrus. Er ging freilich aus dem
Inhalte des Vertrags von selbst hervor. Am 25. Januar 1813
ward das neue „Konkordat", wie es Napoleon nannte, vom
Papste und von ihm unterzeichnet. Tatsächlich war es nur eine
vorläufige Vereinbarung, „die einem endgültigen Abkommen
zur Grundlage dienen sollte" („comme devant servir de base
a un arrangement definitif"). Das Konzilsdekret bezüglich der
Institution der Bischöfe fand darin als Artikel IV Wort für
Wort Aufnahme, doch wurde dem Papste das Ernennungs-
recht für zehn französische oder italienische und auch für die
sechs römischen Bischofssitze zugestanden. Für seine „ihm
entfremdeten Ländereien" wird er mit zwei Millionen Franken
jährlicher Rente schadlos gehalten. Der Kaiser begnadigt die
widerstrebenden Prälaten.*) Damit hatte Napoleon freilich
nicht alles erreicht, was er ehedem gewünscht: eine Stellung
als kirchliches Oberhaupt, etwa wie sie der Zar in seinem Lande
einnahm, nur noch größer, allgemeiner, wie es der Name der
Kirche besagte, und unbegrenzt, wie ihre Mission war, hatte
er nicht erlangt. Aber der Vorteil, den er zunächst angestrebt,
war doch gewonnen. Er hatte seinen Frieden mit dem Papste
gemacht, und das konnte die Welt nicht rasch genug erfahren.
Zeitungsartikel und Kirchenglocken tönten es hinaus, und
allerorten sang man Te deum laudamus. Wenn auch Pius,
von Bedenken und Reue gefoltert und von seinen alten Räten,
die wieder Zutritt zu ihm erhielten, über Napoleons politische
Situation aufgeklärt, zwei Monate später seine Zusage wider-
") Siehe den Text in der Corresp. XXIV, 19.511, bei Champcaux.
Le droit civil ecclesiastique francais, p. 454 und a. a. 0.
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152 Schlechte Finanzen.
rief, so hatte doch mittlerweile die Kunde vom Versühnungs-
werk zu Fontainebleau ihre Wirkung tun können, und die
militärischen Rüstungen waren dann zum guten Teil beendet.
Außer den Gläubigen hatte aber der Kaiser auch jene zu
gewinnen, die den irdischen Gütern mehr Beachtung schenkten
als den ewigen. Das war nun freilich sehr schwierig, denn
wenn er, wie wir sahen, den russischen Feldzug mit der Er-
wartung unternommen hatte, er werde, wie die Kriege von
1805, 1807 und 1809, materiellen Gewinn und Ordnung in den
Haushalt des Staates bringen, so war die Enttäuschung eine
ungeheure.*) Zum Überfluß war auf dem Rückzug auch die
Kriegskasse mit zehn Millionen in Gold den Feinden — es
sollen übrigens auch Freunde darunter gewesen sein — in die
Hände gefallen. Und die neuen Rüstungen erforderten neue
außerordentliche Ausgaben. Man hatte für 1813 mit einem
Defizit von beinahe 150 Millionen Franken zu rechnen, und
die Abgänge der beiden vorhergehenden Jahre, über 80 Mil-
lionen, waren auch noch nicht gedeckt.**) Mollien, der mit un-
verhohlenem Bangen der Politik des Kaisers folgte, riet zur Er-
höhung der direkten Steuern als dem kleineren Übel. Aber
Napoleon wies jetzt mehr als je diesen Gedanken ab. Er
scheute sich, das persönliche Eigentum des Einzelnen zu
treffen und sich damit Unzufriedene zu schaffen. Ein Kriegs-
zuschlag und die Herabsetzung der Beamtengehalte um ein
Fünftel halfen wenig. Und da die Quelle des Kredits dem be-
siegten Eroberer aus erklärlichen Gründen verschlossen blieb,
und auch die Kirchengüter Italiens und des Rheinlandes zum
großen Teil bereits verkauft waren, ersann &r etwas Anderes.
Er wird sich — Maret soll ihn darauf gebracht haben — an
*) Xoch aus Witebsk hatte er seinem Schatzminister, der im
Rechnungsabschluß der ersten sechs Monate einen Abgang von
40 Millionen Franken auswies, tröstend mitgeteilt, daß er für Kurland
bereite zwei Millionen Rubel Kontributionen ausgeschrieben, in den
Kassen eine Million konfisziert und Salzvorräte von fünfzehn bis zwanzig
Millionen Wert erbeutet habe, die nach Kurland verkäuflich seien.
(Corresp. XXIV. 19.082; Mollien, m. 154.)
**) Nach Thiers, XV. 220 sind die Ziffern folgende: Abgang
von 1811: 46, von 1812: 37, für 1813: 149, in Summe: 232 Millionen.
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Wie ihnen Napoleon aufhilft. 153
das Gemeingut halten. Einige Tausend Gemeinden besaßen
Gründe und Güter, die nicht öffentlichen Zwecken dienten,
sondern verpachtet waren, im Verkaufswerte von 370 Millionen
Franken. Der Pachtschilling war gering, er betrug etwa neun
Millionen. Neun Millionen Zinsen ergaben aber schon 135 Mil-
lionen 5%iger Rente, die damals mit 75 gehandelt wurde. Ga-
rantierte man den Gemeinden ihre neun Millionen jährlicher
Revenuen durch eine Einschreibung von 140 Millionen in das
große Buch der Staatsschuld, so hatte man, wenn man die
Güter von Staats wegen verkaufte, die 230 Millionen für das
Erfordernis, und der Ausfall war gedeckt. Für den Verkauf
hatte die Amortisationskasse*) zu sorgen, die für die Zwischen-
zeit amortisierbare 5% ige Anweisungen emittierte, mit denen
der Minister die Staatsgläubiger, Lieferanten u. dgl. bezahlte,
was bei der Sicherheit der Verzinsung leicht möglich war.
Napoleon selbst kaufte 71 Millionen davon aus seinem
Tuilerienschatz, um die Geltung des Papiers zu erhöhen.
Mollien wehrte sich lange gegen diese Gewaltmaßregel, die
den Gemeinden nicht bloß ihr Gut abnahm, sondern sie auch
für alle Zukunft auf die genannte geringfügige Summe der
Einkünfte fixierte, während naturgemäß ihre Ausgaben
wuchsen und dann nur durch erhöhte Umlagen, die ja doch
schließlich den Einzelnen trafen, zu bestreiten waren. Es
konnte also nur für den Moment scheinen, als wäre der Ein-
zelne mit seiner Habe durch die neuen Anstrengungen des
Staates nicht ins Mitleid gezogen. Aber Napoleon galt lediglich
der Moment. Der große Begründer der Staatsordnung und
Volkswohlfahrt von ehedem ist kaum wiederzuerkennen in
diesem Virtuosen des Augenblicks. Rücksichtslos strebt er
auch jetzt nur — wie im verflossenen Sommer — nach dem
entscheidenden Siege, der ihm Europa zu Füßen legen soll.
Dann will auch er wieder Ordnung und Wohlfahrt stiften, aber
allerdings erst dann.
Als der neue Finanzplan durchberaten war, gelangte er,
wie die Verfassung vorschrieb, vor den Gesetzgebenden Körper.
Vor dem russischen Feldzug hatte man dieses Zugeständnis
*) Siehe Band I. S. 280.
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läi
Der Kaiser und die Volksvertretung.
nicht mehr gemacht; das Finanzgesetz für 1812 war gegeben
worden, ohne die bestellten Legislatoren zu befragen. Ja,
Napoleon schien die feste Absicht gehabt zu haben, nach
seinen Siegen über Rußland den Gesetzgebenden Körper ganz
aufzulösen, von dem er in Dresden zu Metternich 6agte, er
habe ihn geknebelt und diskreditiert und brauche nun nur
noch den Schlüssel des Beratungssaales zu sich zu stecken.
Er hatte damals ein neues Programm im Sinne. „Frankreich",
sagte er, „eignet sich weniger für die Form der Volksver-
tretung als viele andere Länder. Im Tribunat trieb man nur
Revolution; ich habe Ordnung geschafft, hab' es aufgelöst. . .
Übrigens will ich gar nicht die absolute Gewalt, will mehr als
bloße Formen. Ich will etwas, was ganz und gar nur der
Ordnung und dem Gemeinwohl dient. Ich werde den Senat
und den Staatsrat neu organisieren. Der Erstere soll das Ober-
haus, der Zweite die Deputiertenkammer ersetzen. Ich werde
fortfahren, alle Senatoren zu ernennen, ein Drittel des Staats-
rates durch Wahl aus dreifachen Listen hervorgehen lassen,
die anderen zwei Drittel wähle ich selbst. Da wird dann das
Budget gemacht, werden die Gesetze durchberaten. So werd'
ich eine wirkliche Volksvertretung haben, denn sie wird nur
aus erfahrenen Geschäftsleuten bestehen; kein Geschwätz der
Ideologen, kein falsches Rauschgold mehr. Dann wird Frank-
reich auch unter einem untätigen Fürsten — denn es werden
solche kommen — gut regiert werden, und die Art, wie man
Fürsten zu erziehen pflegt, wird vollkommen ausreichen."*)
Die Rede sollte der bestimmten Absicht dienen, Metternich
und mit ihm der ganzen Welt klarzumachen, daß sein Werk,
das Empire, nicht bloß auf zwei Augen stehe, wie er vor
einigen Jahren in einem Augenblick der Offenheit einem
Österreicher gesagt hatte.**) Er werde schon dafür sorgen,
daß es beständig bleibe, auch unter denjenigen Kaisern seiner
Dynastie, denen Geist und Tatkraft nicht in dem hohen Maße
*) Metternich, Nachgelassene Papiere, I. 123.
**) Es war 1809 in Schönbrunn gewesen, wo er zu Bubna sprach:
„All das kann dauern so lang ich lebe. Frankreich kann jenseits des
Rheins nicht Krieg führen. Bonaparte konnte es; mit mir ist das zu
Ende." (Gentz, Tagebücher, I. 198.)
Die Thronrede vom 14. Februar 1813. 155
wie ihm innewohnten. Gut. Daß er aber dabei das Heil allein
von den Bureaukraten erwartete, ließ auch seinen Geist nicht
grenzenlos erscheinen, der es nicht zu fassen vermochte, daß
nur aus einem Zusammenwirken von Theorie und Praxis, nur
dort, wo der Gedanke die Tat zu lenken und umgekehrt das
Werk die Idee zu berichtigen vermag, ein gesundes Staatsleben
sich entfaltet, während er mit der beabsichtigten Alleingeltung
der praktischen Machtfaktoren in ein ebenso unfruchtbares
Extrem verfiel wie die linkischen Rechtstheoretiker, die ihm
in Frankreichs Regierung voraufgegangen waren. War denn,
was er als Grundlagen des modernen Staates erkannte und
mit seinen Heeren, seinen Beamten und Gesetzbüchern in der
Welt verbreitete, nicht auch einmal der Traum solcher
Ideologen gewesen, die er so bitter haßte? Er mochte noch
so geringschätzig über sie urteilen, ohne sie und die Frucht
ihres Denkens wäre sein Name vielleicht gar nicht auf die
Nachwelt gekommen.
Aber diese Pläne des Imperators aus der Zeit seines
höchsten Glanzes waren seitdem durch die Ereignisse unaus-
führbar geworden. Er sperrte jetzt den Saal des Gesetz- t
gebenden Körpers nicht ab, sondern eröffnete vielmehr selbst
am 14. Februar 1813 dessen Sitzungen mit einer Rede, von
der er wünschte, daß sie als eine Mitteilung an die Nation
aufgefaßt und verbreitet würde. Dieser letzte Rest von Volks-
repräsentanz war ihm jetzt ein ganz willkommenes Mittel der
Verständigung. Er verwies auf den Minister des Innern, der
den Beweis führen werde, daß zu keiner Zeit in Frankreich
Handel und Gewerbe in solcher Blüte gestanden hätten wie
zur Stunde, auf den Finanzminister, der Maßregeln empfehlen
werde, die den großen Bedürfnissen Rechnung tragen sollen,
ohne „seinen Völkern" neue Lasten aufzubürden. Er schilderte
den Verlauf des russischen Krieges in der bekannten Weise,
nur daß hier zum ersten Male der „vorzeitig eingetretenen
Winterkälte" Erwähnung geschah, die sich dann jahrzehnte-
lang als ein wesentlicher Bestandteil der Napoleonlegende in
der Geschichte zu erhalten gewußt hat. Außerdem sprach er
vom Frieden mit dem Papste, von den Engländern, die
Spanien wieder hatten räumen müssen, wo die „französische
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156
Das System bleibt ungeändert.
Dynastie" lierrsche und auch weiterhin herrschen werde. Von
der Haltung seiner Verbündeten sei er befriedigt, er werde
keinen aufgeben und die Integrität ihrer Staaten aufrecht
erhalten. Damit war gesagt: er will Polen, den Rheinbund
und Italien, kurz die ganze Machtsphäre des verflossenen
Jahres ungeschmälert festhalten und sichern. „Ich werde
niemals", hieß es wieder wie so oft schon, „einen anderen als
einen ehrenvollen Frieden schließen, der den Interessen und
der Größe meines Reiches entspricht: denn ein schlechter
Friede würde uns alles verlieren heißen, auch die Hoffnung,
und alles wäre in Frage gestellt, selbst die Wohlfahrt unserer
Enkel."*) So war nichts in seinem System geändert, just als
ob nicht eben erst ein unglücklicher Krieg seine Kräfte um
eine erprobte Armee von über 400.000 Mann gemindert hätte.
Aber die Welt hatte ihn ja daran gewöhnt, Außerordentliches
zu wollen, und für ihn war es schon des Opfers genug, daß
er seine Absichten auf die Beherrschung des Erdkreises ver-
schieben mußte, da die Kontinentalsperre nun nicht mehr durch-
zuführen war, England seinen Seehandel nach den Küsten des
Baltischen Meeres, nach Cadix und der Levante ungehindert
weiterbetrieb, und das indische Projekt in entlegenen Fernen
verschwand. Er mußte erst wieder kämpfen und siegen,
*) Corresp. XXIV. 19.581. Bald nachher, am 25. Februar,
erstattete Ministor Montalivet in der Tat den versprochenen Rapport.
Wir kennen diese Exposes von früher her als Mittel der imperialisti-
schen Regierung, die öffentliche Meinung zu gewinnen. Als solche
waren sie dann meist schön gefärbt. Vollends jetzt, wo sich der Kaiser
in einer Zwangslage befand, wie nie zuvor, wo er flüchtig und ohne
Armee heimgekehrt war, während er sonst immer als Sieger auftrat Wenn
nun in dem Berichte u. a. gesagt wird, daß der mittlere Ertrag der,
Bodenkultur unter dem Kaiserreich um ein Zehntel gewachsen sei und
auf fünf Milliarden Franken geschätzt werde, daß die Wertsteigerung
durch Verarbeitung der Rohprodukte 1300 Millionen betrage, daß die
Handelsbilanz eine Aktivpost von 126 Millionen gegen 75 im Jahre
1789 aufweise, daß die neue Rübenzuckerindustrie Ware für 90 Mil-
lionen Franken erzeuge, so kann man diese Ziffern heute noch nicht
genau genug prüfen. Sollte aber Montalivets Behauptung, das Empire
verfüge bereits über eine Million Soldaten und 100.000 Matrosen, als
Maßstab angenommen werden, so waren auch seine sonstigen Dar-
legungen gar sehr übertrieben.
Napoleon ruft den Rheinbund auf. 157
unerhört siegen, um den Faden dort anzuknüpfen, wo er ab-
gerissen war.
Wenn nun Napoleon von den Franzosen nochmals die
Ausrüstung zu einem neuen Waffengang erlangte, so entstand
daneben die Frage: ob er wohl auch noch weiterhin über die
Streitkräfte all seiner Verbündeten werde verfügen können
wie im letzten Feldzug?
Am 18. Januar 1813 hatte er an die Fürsten des Rhein-
bundes geschrieben und sie zur Stellung neuer Kontingente
aufgefordert. Um ihnen Mut zu machen, behauptete er, die
Russen hätten sich schlecht geschlagen und nur die Kosaken
sich in ihrer Art, den Krieg zu führen, tüchtig gezeigt. Die
Große Armee in Deutschland, mit dem Korps von Schwarzen-
berg, betrage noch immer 200.000 Mann (!), die er bis zum
März durch die Nationalgarden, neue Aushebungen und
Zuzüge aus Italien auf eine Höhe bringen werde, die ihn jede
weitere Hilfe von Seiten „seiner Völker" entraten lassen
könnte, wenn nicht — Yorck mit 20.000 Preußen abgefallen
wäre. Dadurch sei die Armee genötigt worden (man merke
wohl: eine Armee von 200.000 Mann), sich vor den Russen
(die so schlecht fochten) hinter die Weichsel zurückzuziehen,
und so sei der Krieg in die Nähe Deutschlands gerückt. Zwar
wäre er mit allen Kräften bereit, die Grenzen des Rheinbundes *
zu verteidigen, aber die Bundesstaaten müßten doch auch die
Notwendigkeit empfinden, sich dabei entsprechend zu be-
tätigen.*)
Auf diesen Appell lautete die Antwort durchaus befrie-
digend, wenn auch die Beteiligung an den Rüstungen, je nach
der Entfernung von Frankreich, eine geringere wurde und die
Stimmung in den Bevölkerungen allenthalben erbittert genug
klang. Der Herzog von Mecklenburg-Schwerin war der einzige
der Rheinbundfürsten, der offen von Napoleon abfiel. Alle
anderen blieben treu. Am gefügigsten zeigte sich, weit ge-
*) S. Corresp. XXIV. 19.462 und den etwas erweiterten Brief an
den König von Württemberg bei Schloßberger, Politische und mili-
tärische Korrespondenz König Friedrichs I. und Napoleons, S. 258 ff.
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158 Haltung der Fürsten.
fügiger als des Kaisers eigener Bruder Jeröme, der Großherzog
von Frankfurt, der sofort eifrigst zwei Bataillone zu rüsten
begann, um Napoleon „Gelegenheit zu neuem Ruhme zu
geben". Eine drückende Akzise lieferte ihm die nötigen Geld-
mittel. Üble Stimmung in Hanau, wo man sich, wie in Frank-
furt, an Yorcks Tat erfreut hatte, wurde mit Entwaffnung
der Bürger und Wegführung einiger derselben nach Mainz
bestraft. Der König von Württemberg, dessen Armeekorps
von 14.000 Mann auf 173 Offiziere und 143 Bewaffnete zu-
sammengeschwunden war, bezeugte zwar dem französischen
Gesandten seine Ungnade und meinte, die Rheinbundsakte ver-
pflichtete die Mitglieder nur so lange, als Napoleon sich tat-
sächlich als „Protektor" zu bewähren imstande sei. Aber als
die Rüstungen in Frankreich diesem Argument den Boden
entzogen, eilte er zu versichern, daß er sogleich, nachd em ihm
das 29. Bulletin bekannt geworden sei, sich damit beschäftigt
habe, sein Bundeskontingent wiederherzustellen. Jeröme von
Westfalen klagte dem Bruder aufs neue seines Staates Geld-
not — für sich selbst hatte er 19 Millionen in Frankreich
angelegt — verstand sich jedoch auf Napoleons kategorische
Zurechtweisung dazu, neben den 20.000 Mann seines Pflicht-
teils noch Magdeburg mit Lebensmitteln für 15.000 zu ver-
sehen. Da kein Geld vorhanden war, wurde schlechtweg
- requiriert. Bayern, das nicht weniger als 28.000 Mann verloren
hatte, mußte ein ganz neues Heer schaffen, was nur möglich
wurde, wenn man im Jahre 1813 mehrmals konskribierte.
Solche Opfer erschienen in München zu hoch, und man über-
legte einen Augenblick, ob man sich nicht neutral halten
sollte, ließ sich aber schließlich doch auch von den gewaltigen
Rüstungen Napoleons einschüchtern und gab zunächst eine
Division ab. Der Rest des Kontingents wurde in einem
Lager bei München unter Wrcde gesammelt, der in der Erinne-
rung an seinerzeit in Paris von Napoleon und jüngsthin von
dessen Marschällen erfahrene üble Behandlung zur anti-
französischen Partei des Kronprinzen Ludwig abgeschwenkt
war. Noch mehr als der bayrische Hof geriet der sächsische ins
Schwanken, da er Polen in die Hände der Russen geraten
und bald auch sein Land von einer russischen Invasion bedroht
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Napoleon appelliert an die Verbündeten. 159
sah. Seine Politik wird ganz von der Haltung seiner beiden
deutschen Nachbarn abhängen, von Österreich und Preußen. *)
Und damit ist die Hauptfrage berührt: ob die beiden
deutschen Großmächte die Allianz mit Frankreich aufrecht
erhalten werden oder nicht? Von ihrer Beantwortung hing
in der nächsten Zeit alles ab.
Früher noch als an den Rheinbund hatte sich Napoleon
an die Höfe von Wien und Berlin mit dem Ansinnen gewendet,
ihre Kontingente zu verstärken. Darauf erfolgte der Abfall
Yorcks. War das zugleich die Anwort Friedrich Wilhelms III. ?
Napoleon, mißtrauisch wie immer, hatte dies vermutet, gab
aber dann doch den Versicherungen des preußischen Gesandten
und des Fürsten Hatzfeld, der, um zu beschwichtigen, nach
Paris gesendet worden war, Raum, daß der König dem Schritte
fernstehe. Diese Versicherungen entsprachen nicht völlig der
Wahrheit. Zwar hatte man am preußischen Hofe während des
Feldzuges nur französische Siege für möglich, ein Scheitern
der Expedition für ausgeschlossen gehalten und sich darauf
eingerichtet. War doch die Abneigung gegen das, was man die
„russische Präponderanz" nannte, in Berlin fast ebenso groß
wie die Lust, das französische Joch los zu werden. Denn das
im Jahre 1807 verlorene Stück Polen nahm jetzt wahrscheinlich
Rußland für sich in Anspruch. Und gerade an Polen hatte
Hardenberg in der letzten Zeit eifrig gedacht, ja sogar gemeint,
Napoleon könnte Friedrich Wilhelm dieses Königreich ver-
leihen, was dann einen starken Wall gegen Osten abgäbe. Aber
*) Über das Vertrauen der Rheinbundfürsten, insbesondere der
süddeutschen, zu Österreich für den Fall, daß das Schicksal weiterbin
sich für französische oder russische Erfolge entschied, vgl. Luckwaldt,
Österreich und die Anfänge des Befreiungskrieges von 1813, S. 207 ff.
Die Furcht vor der russischen Vorherrschaft in Europa war übrigens
an den kleinen deutschen Höfen nicht geringer, eher größer, als der
Widerwille gegen den französischen Druck. Saint-Aignan, der Vertreter
Frankreichs an den sächsischen Herzogshöfen, schreibt gelegentlich
über Karl August von Weimar: „Er liebt nicht die Russen", und
von der Herzogin, im Jänner 1818, sie habe sich geäußert: „Ich wünsche
wahrhaftig nicht, daß ganz Europa Napoleon zu Füßen liege und daß
er Rußland niederwerfe; aber ich wünsche auch die Russen nicht als
Beherrscher Deutschlands." Fischer, Goethe und Napoleon, S. 197.
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160 Friedrich Wilhelm III. und die Konvention von Tauroggen.
das alles setzte französische Siege und den Niederbruch Ruß-
lands voraus. Wie wenn nun doch das Gegenteil eintrat? Es ist
das historische Verdienst des Flügeladjutanten Ludwig von
Wrangel, dem König die notwendige Vorsorge auch für diesen,
aller Welt unmöglich scheinenden Fall nahegelegt und erwirkt
zu haben, daß er im August heimlich, ohne Vorwi6sen Harden-
bergs, mit dem mündlichen Auftrag zu dem preußischen
Hilfskorps gesandt wurde: dessen Befehlshaber solle sich,
wenn die Franzosen über die russische Grenze zurückgedrängt
und von den Feinden verfolgt würden, von Jenen zu trennen
suchen, nach Graudenz zurückgehen und den Eintritt in diese
Festung beiden streitenden Teilen verwehren.*) Nun, wo das
Unglaubliche Ereignis geworden war, hat Yorck zwar nicht
sein Korps nach Graudenz zurückgeführt, was durch den
Voranraarsch Macdonalds und die Wahrscheinlichkeit, wenn
man weiter ging, die Artillerie und den Train einzubüßen,
unmöglich gemacht war, er hat auch nicht, was dem König
vorteilhafter geschienen hätte, da man dann aufs neue hätte
rüsten dürfen, kapituliert, aber er hat doch jene Instruktion
aus dem August in ihrem wesentlichsten Teile erfüllt, d. i.
Preußens Korps für eine selbständigere Aktion wehrhaft
erhalten. Freilich appellierte eine Neutralitätskonvention —
und das war ja wohl auch die Absicht der Russen, als sie
sie vorschlugen — an den politischen Entschluß des Königs, und
der war jetzt, umgeben von Franzosen, nicht leicht zu fassen.
Friedrich Wilhelm war am ehesten geneigt, sich mit Österreich,
wo ebenfalls keine russenfreundliche Tendenz vorwaltete, über
*) S. Thimme, König Friedrich Wilhelm III., sein Anteil an
der Konvention von Tauroggen und an der Reform von 1807 — 1812
(Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, XV Iii,
1905) wo die entsprechende Stelle aus Wrangeis Tagebuch mitgeteilt
und ihre Wahrhaftigkeit durch eine sorgsame Kritik erhärtet ist.
Was die Angaben des Tagebuchs aufs wesentlichste unterstützt, ist
eine spätere Eingabe Wrangeis an den Kronprinzen aus dem Jahre
1838, mit der er, um sich zu empfehlen, auf jenen Dienst vor sechs-
undzwanzig Jahren hinweist, dessen Tatsächlichkeit leicht durch den
König, der noch lebte, zu konstatieren war. (Siehe Thimme im
XIII. Band der Forschungen zur brandenburgischen und preußischen
Geschichte, S. 251 f.)
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Drohende Werbung Alexanders I.
161
eine Mittelstellung zu verständigen, und ein Vertrauter des
Königs, Knesebeck, begab sich deshalb nach Wien. Da traf
Mitte Januar auf weiten Wegen der Antrag des Zaren ein,
man möge sich von Frankreich trennen und ihm anschließen,
er wolle Preußen wieder in den Besitz seiner verlorenen Pro-
vinzen in Deutschland bringen oder für anderweitigen Ersatz,
etwa durch Sachsen, sorgen; würde jedoch der König bei
seinem Bunde mit Napoleon beharren, so müßte er sich als
berechtigt ansehen, zu einer künftigen Teilung des preußischen
Landes mitzuwirken.*)
Das war keine leere Drohung. In Alexanders Ab-
machungen mit Bernadotte zu Abo war von der Annexion
Ostpreußens bis zur Weichsel die Rede gewesen, die der Kron-
prinz von Schweden gleichsam zum Dank für das versprochene
Norwegen zugestand. Und jetzt noch hielt eine starke Partei
in der Umgebung des Zaren daran fest, man solle auf die Be-
dingung der Weichselgrenze hin Frieden mit Napoleon machen.
Diese Partei — Kutusow, die meisten Generale und Rumjantzow
gehörten zu ihr — drang aber nicht durch. Alexander gab
vielmehr einer anderen Auffassung Baum, die ein junger
Diplomat, Xesselrode, mit Glück vertrat. Rußland tue ein
langer und sicherer Friede not, meinte der; ein solcher sei nur
zu gewinnen, wenn durch entscheidende Siege über Frankreich
dessen Übergewicht endgültig zerstört und das alte Gleich-
gewicht der Mächte wiederhergestellt werde. Zu solchem
Unternehmen sei Bußland allein nicht imstande und bedürfe
der Unterstützung der Mittelmächte. Dann wäre es möglich,
der Herrschaft Napoleons so viel Land als möglich zu ent-
ziehen, Frankreich in seine natürlichen Grenzen zurückzu-
drängen.**) Diese Ansicht begegnete sich mit der, die Stein in
einer Denkschrift vom 17. November dem Zaren vorgetragen
hatte: daß Rußland sich nicht weiter auf die Vertei-
digung beschränken, sondern den Krieg noch im Winter, ver-
*) ßoyen, mit dem Alexander im November in diesem Sinne
gesprochen hatte, brachte seine Worte auf Umwegen an den König.
Siehe Meinecke. Boyen I. 251 ff. Alexanders Beglaubigungsschreiben
bei Bai Heu, Briefwechsel, S. 240.
**) Sbornik, XXXI. 298 f
Fournier, Napoleon I. 11
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162 Die polnischen Pläne des Zaren.
stärkt durch Österreich und Preußen, in Deutschland fort-
setzen solle, damit Alexander der Wohltäter und Pazifikator
Europas werde, wie er der Ketter seines Reichs geworden sei.*)
Im Sinne dieser Erwägungen erfolgte dann noch im Dezember
der Befehl an Kutusow, die Landesgrenze zu überschreiten,
erfolgten Eröffnungen an Preußen und Österreich. In der an
den Berliner Hof verzichtete zwar der Zar auf das ostpreußische
Land, tat es aber nicht auf die Erwerbung des Herzogtums
Warschau, in dessen Gebiet er eben einrückte. Der Grund war,
daß er nun wieder, wie im Jahre 1811, eifrig das Projekt eines
einigen Polens unter seiner Herrschaft, d. i. in Personalunion
mit Rußland, erwog. Kur die Rücksicht auf die öffentliche
Meinung daheim, die den Polen abträglich sei, und die andere
auf Österreich und Preußen, die nichts davon erfahren dürften,
weil sie sich sonst sofort Napoleon in die Arme würfen, hin-
derten ihn, damit schon jetzt hervorzutreten, schreibt er am
13. Januar 1813 an Czartoryski. Diese Politik mußte aber
notwendig eine Verständigung mit Friedrich Wilhelm III.
erschweren, und es kam nun ganz besonders darauf an, ob
Knesebeck in Wien fand, was er suchte: die Bereitwilligkeit
zu einer gemeinsamen bewaffneten Vermittlung, um einerseits
die Schwächung Frankreichs auszunützen und anderseits einem
drohenden Übergewicht Rußlands vorzubeugen.
Nirgend war man mehr erstaunt über den Ausgang des
russischen Feldzugs als am Hofe Franz I. Noch im Oktober
hatte Metternich, der es nach Abschluß der französisch-
preußischen Allianz passend gefunden hatte, Hardenberg
näherzutreten, diesem vertraulich geschrieben, er halte nach
der Art, wie die Russen den Krieg führten, die europäische
Existenz ihres Staates für verloren, und da man auch in Eng-
land die Notwendigkeit des Friedens fühle, beabsichtige er eine
allgemeine Pazifikation in Anregung zu bringen. Das war in
der Tat sein Vorhaben, womit er der Gefahr eines
Separatfriedens zwischen Rußland und Frankreich begegnen
wollte. Er trat aber doch erst dann ernstlich mit seiner Absicht
hervor, als, nach dem Einlangen der Berichte vom Rückzug
*) Pertz, Steins tteben III. 212 ff.; Lehmann, Stein, III. 198 f.
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Österreich im Jahre 1812.
163
der Großen Armee, auch er Napoleons Zug für gescheitert
halten mußte und sich für Österreich die Aussicht eröffnete,
aus der bisherigen Untertänigkeit zu einer würdigeren unab-
hängigen Stellung emporzukommen. Dazu sollte die Rolle
des Friedensstifters dienen. Um sie nun aber mit Anstand
spielen zu können, meinte der Minister die geringen Kräfte
des verarmten Donaustaates möglichst schonen zu müssen, was
übrigens schon während des ganzen Feldzugs sein Bestreben
gewesen war. Denn schon im April 1812 hatte er dem
russischen Botschafter Stackelberg in Wien den ostensiblen
Teil des Allianzvertrags mit Frankreich unter der Versicherung
mitgeteilt, Österreich werde sein Hilfskorps gewiß nicht über
30.000 Mann erhöhen, sonst aber nur zu seiner Verteidigung
rüsten, worauf Rußland, dem die Sicherheit von der öster-
reichischen Grenze her ebenso willkommen war, wie den
Österreichern die von der russischen, mit der Bereitwilligkeit
geantwortet hatte, im Falle seines Sieges den Interessen des
Wiener Hofes nicht entgegenhandeln zu wollen. So war es
zu einer Art ungeschriebener Konvention zwischen den zwei
erklärten Feinden gekommen, und die politischen Beziehungen
unter ihnen wurden nur äußerlich abgebrochen. An ein
Einverständnis, das seine Spitze gegen Napoleon kehrte, ist
dabei nicht entfernt und um so weniger zu denken, als man
in Wien doch noch lieber die Oberherrschaft Frankreichs
ertrug, die man mit der Lebensdauer des genialen Kaisers
für zeitlich begrenzt hielt, als daß man einer anhaltenden
russischen Vorherrschaft in Europa die Bahn ebnete, die Gali-
zien, das Napoleon ausdrücklich garantiert hatte, sicher auch
in ihren politischen Kalkül zog. Immerhin gewann Österreich
durch dieses Verhalten die Möglichkeit, sich zu stärken und im
Osten ein Reservekorps von 30 — 40.000 Mann aufzustellen,
ohne von russischer Seite gestört zu werden. Den Krieg
gegen Rußland hat es darum keineswegs, wie gesagt worden ist,
als bloßen Scheinkrieg geführt, sondern eben nur wie eine
Macht, die ihr bißchen Streitkraft zu Rate hält, weil sie unbe-
dingt muß. Wenn jetzt aber, nach dem Feldzuge, Napoleon von
seinem Schwiegervater forcierte, er solle sein Hilfskorps, das
mit den Sachsen und einer französischen Division unter Reynier
11*
164
Metternichs Friedenspolitik.
nach Warschau zurückgegangen war, verdoppeln, damit es die
Hussen beschäftige, während er neue Armeen aushob, so war
dies so gänzlich den Wiener Absichten entgegen, daß keine
zustimmende Antwort erfolgen konnte. Nur durfte auch die
Ablehnung nicht schroff und ohne weiteres ausgesprochen
werden, um nicht Mißtrauen zu erwecken. Was war zu tun?
Metternich, der bisher geheimen Sendboten Rußlands kein
Gehör gewährt hatte und sicher war — und nicht er allein —
Napoleon werde bald ein neues Heer befehligen, fand eine
Auskunft darin, daß er jetzt seine Pazifikationsidee erst recht
vornahm und durch einen besonderen Abgesandten, den General
Bubna, in Paris versichern ließ, nur ein allgemeiner Friede
auf breiter Basis könne die Wunden des letzten Feld-
zuges heilen und die neue französische Dynastie befestigen.
Zugleich ließ er in London zum Frieden raten. Der Franzosen-
kaiser lehnte die unbewaffnete österreichische Intervention
nicht ab, aber seine Eröffnungen an Bubna gewährten ihr wenig
Aussicht auf Erfolg: Spanien werde im Besitze seiner Familie
bleiben, nur seine Truppen sollten es räumen, und auch nur
dann, wenn die Briten Sizilien verlassen wollten, Murat behalte
Neapel, keines der durch Senatsbeschlüsse mit Frankreich
vereinigten Länder (Piemont, Rom, Toskana, Holland, Wallis,
das Hansegebiet, Oldenburg, Parma, Elba, Lauenburg) werde
er aufgeben, vom Herzogtum Warschau nicht ein Dorf.
Dagegen könnten allerdings in Illyrien mit Dalmatien, in
Korfu, kurz in Ländern, die nicht verfassungsmäßig dem
Empire einverleibt seien, Kompensationsobjekte gefunden
werden. Nach Rußland hin mochte Österreich geltend machen,
daß er bereit wäre, die Integrität von Russisch-Polen zu-
zugestehen und die Verpflichtungen der Tilsiter Allianz —
Abschließung gegen England — fallen zu lassen. Da er aber
die österreichische Vermittlung, namentlich bei den Briten,
für aussichtslos halte, so sei es doch vor allem wünschenswert,
daß Franz I. sein nilfskorps verdoppele; er wolle für Subsidien
sorgen. Er lebte eben ganz in der Erneuerung des Krieges.
Für den wollte er der Mitwirkung der Donaumacht sicher
sein. Da störte es ihn, daß ihm aus Wien berichtet wurde,
es sei Metternich, als er vom Zusammenbruch der großen
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Franz I. lehnt die Forderung Napoleons ab. 165
Armee hörte, dem Gesandten Otto gegenüber das Wort ent-
schlüpft, Österreich würde, wenn es nur sein System änderte,
fünfzig Millionen Seelen — Deutschland und Italien — zum
Gefolge haben. Dem mußte entgegengearbeitet werden. Etwa
indem man die dynastische Verbindung zu höherer politischer
Geltung brachte? Napoleon denkt daran und läßt Anfang
Januar Denkschriften darüber ausarbeiten, ob nicht Marie
Luise und ihr Sohn zu krönen wären und ob man nicht Jener
unter Umständen die Regentschaft übertragen sollte. Maret
schreibt es an Otto nach Wien, die Krönung der Kaiserin werde
wahrscheinlich im Laufe des Februar vor sich gehen, Franz I.
möge nur seiner Tochter die Aufrechthaltung der Allianz
feierlich gewährleisten.*) Aber in Wien legte man auf diese
Dinge wenig Wert. Kaum hatte man dort die Sicherheit, daß es
Napoleon nur darum zu tun war, sich seine verlorene Geltung
wieder zu erkämpfen, so richtete Metternich all sein Trachten
bloß noch dahin, den Lärm der Waffen von Österreich fern-
zuhalten und sich unterdes für alle Fälle zu rüsten: er lehnte
die Forderung Napoleons auf Verdoppelung des Hilfskorps ab,
ohne jedoch auf die Seite seiner Gegner zu treten. Er ver-
schanzte sich zunächst hinter seine Rolle als Friedensprediger,
vermied es aber sorgfältig, als Friedensvermittler mit be-
stimmten Bedingungen, die er hätte verteidigen müssen, auf-
zutreten, wozu man finanziell und militärisch noch lange nicht
in der Lage war. Er ermutigte zwar Hardenberg zur offenen
Parteinahme für Rußland, weil dadurch der Krieg bestimmt
im Norden blieb und der Zar und Napoleon voraussichtlich zu
größerer Mäßigung bewogen wurden, unterließ es aber, sich
für den Heimfall des Herzogtums Warschau an Preußen bei
Rußland zu exponieren. Daran scheiterte die Mission Knese-
becks. Sie hatte nur den einen Erfolg, daß der Kaiser dem
Abgesandten sein Wort gab, die in Mähren und Schlesien zu
sammelnde Truppenmacht würde niemals gegen Preußen ge-
braucht werden. Was jetzt und noch später ein weiteres
Hervortreten Österreichs erschwerte, war auch hier, neben
der Schwierigkeit, ein mit schönen Hoffnungen dekoriertes
*) Sorel, VII. 45.
166
Ru ssisch-ös terreichischer Waff ensti llst an <1 .
System plötzlich zu ändern, der Umstand, daß man
der Politik des Zaren mit sehr wenig Vertrauen begegnete.
Ein Schreiben Alexanders I. vom 29. Dezember 1812, das
Franz I. aufforderte, die alten habsburgischen Provinzen, d. i.
namentlich Tirol und Italien, zu besetzen, man wolle alle Kräfte
aufbieten, Österreich wieder dazu zu verhelfen, wurde nicht
zustimmend beantwortet, denn Metternich sah genau, daß
es dem Nachbar dabei nur darum zu tun war, die öster-
reichischen Truppen aus ihrer störenden Flankcnstellung in
entferntere Gegenden zu verlegen und den Wiener Hof durch
eine rasche Tat Napoleon gegenüber unwiderruflich zu kom-
promittieren. Und bald wird man auch für Alexanders erneuerte
Absicht auf Polen unwiderlegliche Beweise in Händen halten.
Nur um jede Kollision zu vermeiden, ließ Franz das Hilfskorps
nicht, wie es der Vizekönig Eugen verlangte, von Warschau
nach Kaiisch gehen, wo es mit den nachrückenden Russen
handgemein werden mußte, sondern Schwarzenberg einen
Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit mit vierzehntägiger
Kündigung abschließen (30. Januar 1813) und die Truppen
nach Krakau zurückziehen, „um sie für den kommenden
Feldzug zu schonen", wie in Paris versichert wurde. Das
war noch nicht der Abfall von Napoleon, wohl aber „der
erste Schritt dazu"; so nannte es der Franzosenkaiser selbst.
Der erkannte sofort alle Nachteile dieser Maßregel, die
Eugen, seines Stützpunktes rechter Hand beraubt, zwingen
mußte, von der Weichsel zur Oder zurückzuweichen. Die
Russen gewannen freie Bahn vorwärtszugehen und schlugen
am 13. Februar bei Kaiisch das nunmehr vereinzelte Korps
Reynier, das sich, arg zugerichtet, nach Glogau flüchtete.
Ihr Vorrücken drückte aber wieder auf ihre Verhandlungen
mit Preußen und mußte sie zu einem Abschluß bringen.
Friedrich Wilhelm III. war durch die exklusiv österreichische
Politik, die Metternich verfolgte, empfindlich berührt. Er war
noch immer derselbe, als den wir ihn in den Krisen von
1809 und 1811 kennen lernten; auch jetzt noch lebte er der
(nicht eben grundlosen) Überzeugung, daß Napoleon nur durch
ein Zusammengehen von Rußland, Preußen und Österreich
zu besiegen sei, und nicht ohne Widerstreben entschloß er sich
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Friedrich Williolm verläßt Berlin.
167
deshalb zu Separatunterhandlungen mit Alexander. Aber er
entschloß sich dazu. Er hatte wohl Yorck desavouiert, ihn in
einer öffentlichen Kundgebung als seiner Stelle entsetzt und
dem Kriegsgericht verfallen erklärt — dann aber doch nichts
davon ausgeführt, sondern vielmehr insgeheim durch den-
selben Boten, der dem General seine Absetzung ankündigen
sollte, dem Zaren ein Bündnis in Aussicht stellen lassen, wenn
er ihn durch rasches Vorrücken an die Weichsel gegen Napo-
leon schützen und seine polnischen Pläne einschränken, d. h.
ihm Danzig und den ehemals preußischen Teil des Herzogtums
Warschau überlassen wolle. Als Alexander hierauf beruhigend
antwortete — er hatte freilich kurz vorher jenen Brief an
Czartoryski geschrieben ! — begab sich der König von Potsdam
nach Breslau, um aus der Nähe der Franzosen, die Berlin be-
setzt hielten, fortzukommen (22. Januar 1813). Dem Fran-
zosenkaiser hatte man vorsichtig bereits durch Hatzfeld von
der Absicht des Hofes, nach Schlesien zu gehen, Nachricht
gegeben; natürlich sollte es nur geschehen, um den heran-
rückenden Russen auszuweichen oder, wie Hardenberg in seinem
Tagebuch die Ausrede stilisiert: „um nicht zwischen Russen
und Franzosen kompromittiert zu sein". Auch hatte Hatz-
feld darauf vorzubereiten, daß man in Verhandlungen mit
Rußland die Neutralität jenes Teiles von Schlesien zu er-
reichen hoffe, der im Bündnisvertrag mit Frankreich als für
fremde Truppen unpassierbar erklärt worden war, „was ganz
und gar den Willensmeinungen des Kaisers Napoleon ent-
sprechen dürfte".*) Es entsprach ihnen natürlich ganz und
gar nicht; aber ehe noch der mißbilligende Bescheid eingelangt
war, hatte man, dem französischen Machtbereich entronnen,
den diplomatischen Verkehr mit Rußland bereits eingeleitet.
Dabei hielt man Napoleon immer noch den Weg offen, sich
durch Bezahlung einer infolge der letzten großen Armeeliefe-
rungen aufgelaufenen Schuld von 90 Millionen Franken oder
durch feste Territorialversprechungen die Verbindung mit
Preußen zu sichern. Napoleon tat aber weder dies noch jenes;
*) Siehe den Brief des Königs an Hatzfeld vom 8. Jänner 1813
bei Oncken, Die Sendung des Fürsten Hatzfeld nach Paris, Deutsche
Revue, 1899. II. 49.
168
Preußen mobilisiert.
er begnügte sich, dem preußischen Gesandten ganz obenhin
von Teilen des Herzogtums Warschau und des Königreichs
Westfalen zu sprechen, ohne sich im Geringsten zu binden, wies
den Schuldanspruch an seinen Minister, der weiter kein Wort
darüber verlor, und versicherte, Requisitionen in Preußen ver-
boten zu haben, während er zu derselben Zeit Eugen und die
Kommandanten der Oderfestungen dazu geradezu aufforderte.
Natürlich erleichterte er Alexander damit seine Werbung. An
dem Tage, da der betreffende Bericht des Gesandten aus Paris
in Breslau eintraf, bewog Hardenberg, der bereits für Rußland
gestimmt war, den König, eine Rüstungskommission ein-
zusetzen, zu der Scharnhorst beigezogen wurde (28. Januar).
Am 12. Februar wurden dann die Linientruppen In Schlesien
und Pommern mobil gemacht, um gegen einen möglichen
Überfall durch die Franzosen, etwa von Berlin her, wo eine
Division unter Grenier stationierte, gesichert zu sein, und
Knesebeck, den man von Wien abberufen hatte, ward zu
Alexander gesandt, um über einen Bundesvertrag zu unter-
handeln. Freilich war des Königs Absicht dabei zunächst nur,
durch den Rückhalt an Rußland gesichert, Napoleon einen
Waffenstillstand vorzuschlagen, der die französischen Truppen
links von der Elbe, die russischen rechts von der Weichsel
halten und die Einleitung zu einem Frieden, etwa auf der
Basis von Lüneville oder Amiens, bilden sollte. Einen Ver-
nichtungskrieg gegen Napoleon zu führen, war vorerst durchaus
nicht sein Wille.
Das war aber der Wille seines Volkes. Und wenn dieses
auch im Jahre 1809 noch nicht stark genug gewesen war, den
König mit sich fortzureißen, jetzt sollte es gelingen. In Denk-
schriften, Petitionen und Adressen, in Zuschriften ergebener
Generale ward es dem Monarchen nahe gelegt, daß jeder Preuße
den Krieg gegen Frankreich, dessen Druck man so tief und
schmerzlich empfunden habe, als einen heiligen ansehe. Und
wie ernst es der Bevölkerung damit war, sah man, als die
Rüstungskommission am 3. Februar die Wohlhabenden und
Intelligenten aufforderte, als freiwillige Jäger ins Heer ein-
zutreten, und einige Tage nachher für das Alter vom 17. bis
zum 24. Jahre jede Ausnahme von der Dienstpflicht aufhob
Territoriale Politik und nationaler Enthusiasmus.
und damit für die Dauer des Krieges allgemeine Wehrpflicht
verkündete. Da zogen sie in hellen Scharen herbei, von Be-
geisterung und Kampfeslust durchglüht, und griffen gierig
nach den Waffen, die man ihnen reichte, während Andre, die
nicht mitfochten, fast ihre letzte Habe opferten, nur um die
Franzosen zu bekämpfen — gewiß zu keinem anderen Zweck,
der König mochte beschließen was er wollte. Es war ein revo-
lutionärer Drang im preußischen Volke, wie damals, als vor
vier Jahren Friedrich Wilhelm zauderte, nur noch stärker.*)
Dazu kam, daß man sich nicht bloß als Preußen, sondern vor-
aus als Deutsche fühlte und sich, wie die Österreicher im Jahre
1809, als „Nation konstituierte", während der König und seine
nächsten Vertrauten — Ancillon, Knesebeck u. A. — auf dem
Boden des territorialen Partikularismus verharrten. Diese
deutschnationale Bewegung im Volke kam aber dem Zaren in-
sofern zu statten, als sie auf den Besitz polnischen Landes
unendlich viel weniger Gewicht legte als die Berliner Re-
gierungspolitik, und Alexander brauchte sie nur wirksam zu
unterstützen, um für seine heimlichen Pläne auf Warschau
Raum zu bekommen. Er hatte deshalb Stein mit Vollmacht
nach Königsberg gesandt, damit er dort die Landstände ein-
berufe und sie zu Geldgaben und Rüstungen vermöge, den-
selben Stein, der als das Haupt der nationalen Partei galt, die
über die Grenzen der deutschen Staaten hinweg nur ein einiges
Deutschland erblickte. „Ich habe nur ein Vaterland," hatte er
im Dezember 1812 geschrieben, „das heißt Deutschland; mir
sind die Dynastien in diesem Augenblicke großer Entwicklung
*) Siehe Band II. S. 282. Man vergleiche mit den dort zitierten
Worten des preußischen Ministers die des englischen Agenten Omp-
teda in einem Schreiben vom 20. Februar 1813: „Der König, der das
Unglück hat, nicht an die Kräfte des patriotischen Eifers zu glauben,
ist nicht mehr imstande, des Enthusiasmus Herr zu werden, der sich
aller Geister bemächtigt und in wahrhaft ehrenwerter Weise zutage
tritt. Weigert sich der König, die ihm von seinen Untertanen dar-
gebotenen Mittel im Sinne der Nation zu gehrauchen, oder zaudert er
auch nur, sich den Bemühungen Rußlands um die Wiederherstellung
der preußischen Monarchie anzuschließen, so halte ich die Revolution
für unausbleiblich und die Armee dürfte das Signal geben." (Ompteda,
Nachlaß, III. 25.)
170 Russisch-preußischer Allianzvertrag.
vollkommen gleichgültig." In Königsberg erreichte er seinen
Zweck vollauf. Der Landtag genehmigte mit Freuden Yorcks
Forderungen in betreif der Komplettierung seines Korps und
ein von Clausewitz entworfenes Landwehrgesetz, im ganzen die
Stellung von ungefähr 40.000 Mann, und öffnete die ost-
preußischen Seehäfen — alles ganz unabhängig vom Hofe und
so, als ob der König dieses Landes bereits endgültig die rus-
sische Partei ergriffen hätte.
Das war aber doch noch lange nicht der Fall. Vielmehr
gerieten die Unterhandlungen zwischen Knesebeck und
Alexander in Kaiisch ins Stocken, weil der Preuße, hartnäckiger
als seine Instruktion es vorschrieb, die Rückgabe der früheren
Besitzungen Preußens in Polen vertrat, wovon der Zar nichts
wissen wollte. Erst als Dieser, auf den Vorschlag Steins, über
den unbequemen Unterhändler hinweg in Breslau selbst einen
Vertrag vorlegen ließ, kam es dort unter dem Eindruck der
immer wachsenden Bewegung in Volk und Armee am
27. Februar zum Abschluß. Am nächsten Tage wurde das Ab-
kommen auch in Kaiisch unterzeichnet. Man verbündete sich
zu Schutz und Trutz zum Zweck der Befreiung Europas und
zunächst der Restauration Preußens in seiner Macht vor 1806.
Dazu wird der Zar 150.000, der König 80.000 Mann, wenn
möglich auch mehr stellen. Rußland garantiert seinem Alliierten
den Besitz Altpreußens, Friedrich Wilhelm gibt seine ehemalige
polnische Provinz (Herzogtum Warschau) auf und begnügt sich
mit einem Landstrich, der Ostpreußen mit Schlesien verbindet.
Beide Mächte werden dahin trachten, Österreich für ihre Sache
zu gewinnen, und Rußland wird Preußens Bemühungen um
englische Subsidien unterstützen. Zur Herstellung der alten
Macht des Hohenzollernstaates bestimmt ein geheimer Artikel
Eroberungen in Norddeutschland — Hannover um Eng-
lands willen ausgenommen — und zwar solche, die das Gebiet
der preußischen Krone zugleich abrunden sollen. Im Artikel III
verpflichtete sich der König, seine Streitkräfte durch das Auf-
gebot einer Landwehr zu vermehren, und am 17. März 1813 er-
schien das entsprechende Edikt, begleitet von einem markigen
Aufruf „An mein Volk" zum Befreiungskrieg von dem so
lange erduldeten Druck fremder Willkür. An demselben Tage
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Preußen erklärt den Krieg an Frankreich. 171
■
kündigte Hardenberg dem französischen Gesandten Saint-
Marsan die Allianz, und am 27. überreichte Krusemarck in
Paris dem Minister Maret Preußens Kriegserklärung.
So hatte in Breslau die Nationalpartei über die Territorial-
partei den Sieg davongetragen, und bald kam die nationale
Tendenz der russisch-preußischen Verbindung in einem zweiten
Übereinkommen vom 19. März 1813 zum Ausdruck. In einer
Proklamation an alle Deutschen des Rheinbundes wollte man
die Befreiung Deutschlands vom herrschenden Einfluß Frank-
reichs als Zweck hinstellen, zu dem Alle mitzuwirken hätten;
jeder Fürst, der nicht innerhalb einer bestimmten Frist dem
Aufruf entsprochen haben würde, sollte mit dem Verluste seiner
Staaten bedroht werden. Wenig Tage darauf ward der ver-
einbarte Aufruf Kutusows, des Befehlshabers der alliierten
Armeen, „An die Deutschen" veröffentlicht, worin im Namen
der beiden Monarchen die Drohung gegen jene Fürsten noch
deutlicher ausgedrückt war, „welche der deutschen Sache ab-
trünnig sein und bleiben wollen"; sie seien „reif zur Ver-
nichtung durch die Kraft der öffentlichen Meinung und durch
die Macht gerechter Waffen". In einem dritten Abkommen vom
4. April einigte man sich über eine Zentral verwaltungs-
koramission von vier Bevollmächtigten Preußens und Ruß-
lands. Stein war, von russischer Seite, dabei und bald die
leitende Kraft der neuen Behörde, die in den besetzten Ge-
bieten Norddeutschlands, mit Ausnahme der hannoverischen
und ehedem preußischen Provinzen, die Administration aus-
zuüben, zu requirieren, eine Landwehr auszuheben hatte.*)
Dabei war es vor allem auf Sachsen abgesehen, wohin sich der
Vizekönig von der Oder weg über Berlin begeben hatte, um
es aber noch im März, auf besonderen Befehl Napoleons, vor
den Russen zu räumen und eine feste Stellung bei Magdeburg
zu beziehen. Alesander hatte sich, um von Warschau abzu-
lenken, zu Knesebeck, wie schon früher zu Boyen, geäußert,
zu Preußens Vergrößerung wäre eben Sachsen, anstatt des pol-
nischen Gebietes, besonders geeignet, was auf Friedrich Wilhelm
*) Siehe die Breslau-Kalischer Verträge bei Martens VII. 62 ff.
und darüber Lehmann, Stein III. 264 ff.
172 Sachsen will neutral bleiben.
genug Eindruck machte, um auf die warschauische Provinz
weniger Gewicht als bisher zu legen. König Friedrich August
war vor den heranrückenden Kosaken mit zwei Reiterregi-
mentern fort nach Plauen und dann nach Regensburg gezogen,
und sein Minister Senfft meinte den Staat am besten aus der
Affaire ziehen zu können, wenn er die sächsischen Truppen in
Torgau sowohl den Franzosen als den Verbündeten vorenthielt
und heimlich ein Bündnis mit Österreich verabredete, das die
Integrität des „crbländischen" Besitzes und für Warschau,
wenn es abgetreten werden mußte, eine Entschädigung zu-
gestand, wogegen Sachsen mit 30.000 Mann die Friedenswer-
bung des Kaisers Franz unterstützen wollte (20. April 1813).
Die Alliierten mochten nun einen Aufstand des sächsischen
Volkes, oder doch des Militärs, und dessen Vereinigung mit
Preußen erhofft haben; doch eine solche Bewegung blieb aus,
wenn man auch in Dresden, erbittert über die von dem reti-
rierenden Davout angeordnete Sprengung der steinernen
Brücke, den beiden Monarchen zujubelte, als sie am 23. April
in die Stadt einzogen.
Scheiterte hier noch der Appell an das Nationalgefühl,
so kam es dafür an anderen Orten zu Erhebungen, die schon
der Nähe der Franzosen wegen ohne nachhaltige Wirkung
bleiben mußten: in Hamburg, wo Mitte März ein Kosaken-
streifkorps erschien und mit Begeisterung empfangen wurde,
in Oldenburg und an den Strandorten, wo übereilte Gewalttat
gegen französische Zöllner und Gendarmen später zu argen
Repressalien führte, als die Russen wieder umkehren mußten
und eine französische Mobilkolonne an ihrer Stelle erschien.
Hätte der Preußenkönig rascher als er es tat, etwa zwei Monate
früher, da alle Welt unter dem frischen Eindruck der Kata-
strophe des großen Heeres stand und Napoleon noch kein
zweites zur Hand hatte, das System gewechselt und die natio-
nale Partei ergriffen, er hätte damit unter den westdeutschen
Völkerschaften reichen Anhang gewinnen und der Aufruf
an die Nation allenthalben ein Echo finden können.*) So aber
*) Am 29. Jänner noch sagte Fürst Hatzfeld in Paris zu Napoleon:
„Alles ist vorbereitet nnd organisiert; Deutschland kommt mir vor
wie ein zum Anzünden fertiges Feuerwerk, das ein einziger Funke in
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England und Schweden. 173
hatte man viel Zeit an die fruchtlose Verhandlung mit Öster-
reich verloren und auch später noch gesäumt, his Napoleon
eine neue Armee aus der Erde gestampft und seine Vasallen
jenseits des Rheins aufs neue an sich gefesselt hatte. Da war
dann jene Wirkung nicht mehr zu erzielen. Die Verbündeten
waren, wenn sie siegen wollten, nur an sich selbst und allenfalls
an die Geldhilfe auswärtiger Mächte gewiesen.
Der Breslauer Vertrag vom 27. Februar sollte außer Öster-
reich auch England und Schweden mitgeteilt werden. Diese
beiden Staaten wurden nun durch Rußland, das seit einem
Jahre mit ihnen verbündet war, in ein näheres Verhältnis zu-
einander gebracht: England garantierte dem Kronprinzen
Karl Johann die künftige Erwerbung Norwegens und versprach
ihm sogar die Insel Guadeloupe und entsprechende Subsidien,
wenn er mit 30.000 Mann in den Festlandskrieg gegen Frank-
reich eintreten wollte. Napoleon, der dergleichen vorausgesehen
haben mochte, hatte Ende Februar 1813 durch einen geheimen
Boten noch einen Versuch gemacht, sich Bernadotte zu ver*
söhnen. Da er aber wieder nicht Norwegen, sondern nur
Pommern und unbestimmte Ländereien zwischen Elbe und Oder
— die bekannte Teilung Preußens — anbot, scheiterte auch
jetzt die Unterhandlung. Am 3. März wurde der schwedisch-
britische Vertrag abgeschlossen, und am 23. schickte der Kron-
prinz einen groben Absagebrief an seinen früheren Souverän.
Diesem blieb Dänemark dafür treu. Notgedrungen. Fried-
rich VI. hätte sich Rußland und England angeschlossen, wenn
die Verhandlungen mit diesen Mächten etwas anderes für ihn
ergeben hätten als die sichere Aussicht auf den Verlust Nor-
wegens ohne jede Entschädigung. Natürlich trat nun auch
Preußen, das bisher im Kriege mit England gestanden hatte, zu
dieser letzteren Macht in ein Verhältnis, das für Friedrich
Wilhelm III. späterhin, gegen dessen Verzicht auf Hannover,
Hildesheim, Ostfriesland und ein Stück von Münster, Subsidien
ergab. Um diesen Monarchen gewiß beim Kriege und damit
Rußland bei der Offensive festzuhalten, verzichtete man in
Brand stecken kann; wenn Preußen sich rührt, wenn es den Pfad der
Volkserhebung beschreitet, so folgt ihm das Ganze nach." Der Kaiser
fiel ihm bei. (Oncken, a. a. O. S. 347 ff.)
174 Metternichs Friedens Werbung in London scheitert.
London auf das Projekt, zwischen Scheide und Elbe ein wel-
fißches „Königreich Austrasicn" zu gründen, wie man vorgehabt
hatte. Der Plan Pitts wurde wieder lebendig : im Kampfe gegen
die französische Übermacht das Gleichgewicht der Staaten her-
zustellen und mit ihm dem britischen Export die alten abhan-
gigen Märkte wiederzugewinnen. Man holte die alte Karte
Europas wieder hervor, die er aufzurollen befohlen hatte, denn
sie sollte aufs Neue zur Geltung kommen.
Das war nun gewiß nicht mehr die Stimmung, die Met-
ternich an der Themse voraussetzte, als er dort durch
Wessenberg seine guten Dienste für einen allgemeinen Frieden
anbieten ließ, worin England Napoleon durch überseeische
Abtretungen dazu bringen sollte, sich auf dem Kontinent ein-
zuschränken und Ruhe zu halten. Das Londoner Kabinett
ging hierauf jetzt nicht mehr ein. Die Stelle in Napoleons
Thronrede, daß nirgends der Besitzstand des Empire in Frage
gestellt werden dürfe, verbürge allein schon die Aussichts-
losigkeit des Schrittes, sagte man. Es war wie vor Jahresfrist,
und die Mission des Wiener Diplomaten scheiterte. Sie
scheiterte nicht zum wenigsten an der öffentlichen Stimmung
des britischen Volkes, die es gewaltig übelnahm, daß in Wien
ein Komplott zur Insurrektion Tirols und der anderen der
Monarchie entfremdeten Alpenländer, an deren Spitze Erz-
herzog Johann als „König von Ehätien" treten sollte, und für
das der britische Agent King bereits einiges Geld ausgegeben
hatte, unterdrückt wurde. So offen äußerte sich die Abneigung
gegen Metternichs hinzögernde Politik, daß der Prinzregent
dessen Abgesandten gar nicht öffentlich zu empfangen wagte.
So wie sich aber England den Friedensmahnungen Österreichs
versagte, so verschloß man sich in Wien dem Drängen Rußlands
und ging über jenen Waffenstillstand aus dem Januar zunächst
nicht hinaus. Und man glaubte für seine Zurückhaltung guten
Grund zu haben. Staatsrat Anstett, der ihn mit Schwarzenberg
verhandelt hatte, hatte damals versichert, sein Herr denke
weder an einen Wechsel in der mit Österreich verwandten
Dynastie Frankreichs, noch daran, Polen zu restaurieren.
Und nun hatte man, just nachdem die Waffenruhe abgeschlossen
war. Kenntnis von jenem Briefwechsel zwischen Alexander und
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Eine „Nuance".
Czartoryski erlangt, der den Plan des Zaren enthüllte, Polen
bei günstiger Gelegenheit in seinen alten Grenzen wiederherzu-
stellen und mit dem Russenreich unter seinem Zepter zu ver-
einigen. Was Wunder, daß man, aus Sorge für Galizien, das
dadurch gefährdet erschien, und jeden neuen Maehtzuwachs
Rußlands fürchtend, sich scheute, einen solchen durch seine
Kräfte zu fördern?*) Nun erfuhr man auch noch, daß Ende
März Czartoryski in Kaiisch aufgetaucht und von da nach
Warschau gereist war. Da beantwortete man denn die kriege-
rischen Mahnungen Alexanders mit nichtssagenden Redens-
arten und schloß sich ihm nicht an.
Diese Momente wirkten dann wieder auf die Haltung
Napoleon gegenüber zurück. Wenn Österreich seine Friedens-
stifterrolle festhalten wollte — und das wollte es schon der
eigenen Unabhängigkeit wegen und um von der französischen
Allianz loszukommen — so mußte man jetzt, nachdem man in
England kein Gehör gefunden hatte, dem Franzosenkaiser Ein-
schränkungen nahelegen, ohne ihn zunächst dafür entschädigen
zu können. Es war kaum anzunehmen, daß er darauf einging.
Denn daß er nicht vor der bloßen kriegerischen Attitüde Ruß-
lands und Preußens klein beigeben würde, wußte Metternich
nur zu gut. Vielleicht aber erwies er sich Vorschlägen seines
Verbündeten zugänglicher, wenn dieser selbst bestimmter auf-
trat. Und das durfte man jetzt, wo die Gefahr, der man in Öster-
reich bisher so sorgsam ausgewichen war, d. i. den Gefürchteten
isoliert auf sich zu ziehen, in weitere Ferne rückte, während
der nahe Kampf die Kräfte der Mächte band, deren Übergewicht
— Rußlands und Frankreichs in Europa, Preußens in Nord-
deutschland — man in gleichem Maße perhorreszierte. Kurz,
man sah in Wien ein, daß man das System um eine „Nuance"
ändern, die Haltung des unbewaffneten Intervenienten mit der
des bewaffneten Vermittlers vertauschen müsse, wenn man
weiterhin seinen Propositionen den gehörigen Nachdruck geben
*) Seit dem Jahre 1818, schrieb später einmal Metternich an
Hardenberg, sei es seine vernehmlichste Sorge gewesen, es könnte ihm
nicht gelingen zu verhindern, daß eine ungeheure Machtvergrößerung
Rußlands das notwendige Ergebnis der Zertrümmerung des französischen
Kolosses würde. (Bailleu, Art. „Metternich" in der Allg. d. Biographie.)
176
Österreichs bewaffnete Mediation.
wolle. Um darin stark zu sein, knüpfte Metternich jenes Band
mit Sachsen, versuchte er, Murat, der, von Napoleons Ungnade
bedroht, sich ihm näherte, Bayern, ja man sagte sogar — was
unrichtig ist — Jerome für seine Partei der neutralen Media-
tion zu gewinnen. Diese Wandlung vollzog sich, nachdem Na-
poleon durch einen neuen Gesandten an Stelle Ottos, den
Grafen Narbonne, in Wien aufs neue die Teilung Preußens
und den Gewinn Schlesiens hatte anbieten lassen, wenn sein
Schwiegervater mit 100.000 Mann an seiner Seite weiter
kämpfen wollte. Metternich lehnte ab, indem er sich auf einen
Satz in der von dem Botschafter überreichten Note stützte,
der die Donaumacht aufforderte, eine schärfer ausgeprägte
Haltung anzunehmen und, wenn es nicht zu den von ihr ge-
forderten Unterhandlungen kommen sollte, als Hauptmacht
(partie principale) in den Kampf einzutreten.*) Damit, meinte
der Minister, räume Napoleon selbst Österreich eine andere
Rolle als die einer bloßen Hilfsmacht ein, wie sie der Vertrag
von 1812 ihm zugewiesen, und spreche einer bewaffneten
Vermittlung das Wort, die er sich bisher verbeten hatte. Man
gab sich, als wäre man durch ihn gleichsam zur Unabhängig-
keit autorisiert, denn man könne doch nicht, meinte Franz I.
in einem Brief an seinen Schwiegersohn, „in erster und zweiter
Linie zugleich stehen".**) So erklärte man sich denn am
11. April nach der einen und der anderen Seite als bewaffneter
Vermittler und kam damit auch in etwas der Stimmung in den
maßgebendsten Zirkeln der Hauptstadt entgegen, die sich an
dem kriegerischen Entschluß Preußens erwärmt hatte und
gegen den Minister drohend Front machte; sie ließ sich nicht
mehr übersehen, selbst wenn man es gewollt hätte. Und als
dann Narbonne verlangte, es solle wenigstens das Hilfskorps
den im Januar mit Rußland geschlossenen Waffenstillstand
_ — — — — *
*) Die französische Verbalnote vom 7. April 1813 bei Luck-
waldt, S. 377 ff.
**) Natürlich war das nur eines der diplomatischen Auskunfts-
mittel, die Metternich mit großem Geschick handhabte. Im Januar
erst hatte er zu Humboldt, dem Vertreter Preußens, gesagt, ein Staat
könne ganz gut neutral bleiben und dennoch einer der kriegführenden
Mächte ein Hilfskorps stellen. (Gebhardt, W. v. Humboldt als Staats-
mann, I. 412.)
Napoleon soll „vernünftig" werden. 177
kündigen, antwortete Metternich nur, die Russen selbst hätten
ihn bereits gekündigt, verschwieg aber weislich, daß dies auf
Österreichs Wunsch und nach Abschluß einer geheimen Kon-
vention vom 29. März geschehen sei, wonach sich das Korps
vor überlegenen Kräften völlig nach Galizien und von da nach
Böhmen ziehen konnte, wo ein neues Heer zu Zwecken der
Meditation des Kontincntalfriedens gerüstet wurde. Ob es in
Aktion trat? Das hing davon ab, ob Napoleon „vernünftig"
wurde, wie Franz I. es Narbonne gegenüber nannte, d. h. ob
er auf sein drückendes Übergewicht in Europa verzichtete.
Die Lage war, wie sie Talleyrand in Paris dem Fürsten Schwar-
zenberg, der dorthin geschickt worden war, um Napoleon zu
sondieren, mit den Worten zeichnete: ,,Der Augenblick ist da,
wo der Kaiser Napoleon König von Frankreich werden muß."
Der scharfsichtige Mann wußte genau, daß er damit einen
unlösbaren Widerspruch ausdrückte.
Es war ursprünglich Napoleons Absicht gewesen, erst im
Mai die Offensive zu ergreifen. Noch Mitte März spricht er in
Briefen an Eugen davon, und daß er nicht bloß mit der von
Diesem befehligten Elb- Armee, sondern auch mit einer zweiten,
in Mainz und Würzburg gesammelten Main-Armee im Norden
Magdeburgs die Elbe überschreiten und in Gewaltmärschen
über Stettin nach Danzig rücken wolle, wo Rapp mit etwa
30.000 Mann, darunter die ehedem Macdonaldschen Truppen,
des Entsatzes harrte. Er meinte für diese Bewegung bis zu
jener Zeit 300.000 Mann zur Verfügung zu haben, um sich in
den Besitz der unteren Weichsel zu setzen. Dann mußten die
Russen zurück, Preußen fiel in seine Hände, und wir sahen
bereits, wie er in seinen Anerbietungen den Staat der Hohen-
zollern aufteilte. Es war eine große Konzeption, wenn auch
noch lange kein Kriegsplan. Bald — nach ein paar Wochen
schon — ward sie fallengelassen. Die Allianz der nordischen
Mächte mit ihren insurrektionellen Tendenzen, der drohende
Verlust Sachsens, namentlich aber Österreichs immer deut-
licher zutage tretende Unverläßlichkeit änderten das Vorhaben.
Napoleon kam zu der Überzeugung, daß er je eher je besser
Fournier, Napoleon I . 12
178
Der Kaiser bei der Armee.
das Gewebe der Diplomatie mit seines Schwertes Schärfe zer-
schneiden müsse, um die Schwankenden durch das Machtwort
des Siegers und das Gut des Besiegten wieder an seine Seite
zu bringen. Darum entschloß er sich, den Krieg früher als
er vorhatte zu beginnen. Am 15. April 1813 verließ er St. Cloud
und war zwei Tage später in Mainz.
Was er hier und bald darauf in Erfurt, wo er sein Haupt-
quartier aufschlug, von den Zurüstungen zu sehen bekam
und was er an Truppen Revue passieren ließ, konnte ihn nicht
eben mit großer Zuversicht erfüllen. Zwölf Armeekorps sollte
— außer der Garde — sein neues Heer umfassen. Davon
waren aber vorerst nur sieben zu seiner Verfügung, und von
diesen stand das erste unter Davout im Hannoverschen, um
die untere Elbe zu dominieren, und kam für die Offensive
nicht in Betracht. Zwei andere mit einem Kavalleriekorps,
einer Gardeabteilung und zwei selbständigen Divisionen
(60.000 Mann) hatte Eugen an der unteren Saale versammelt,
von wo er 48.000 Mann Napoleon nach Merseburg entgegen-
führen wird, der mit der Main-Armee (etwa 105.000 Mann)
von Erfurt nach Weißenfels herankommt; ein italienisches
Korps mit der württembergischen Division (27.000 Mann) ist
unter Bertrand über Nürnberg und Koburg nach Jena und
Kamberg im Anmarsch.*) Es waren demnach nur kaum 200.000
statt der 300.000 Krieger, mit denen er noch vor einem Monat
gerechnet hatte, und da der Feldzug früher als ursprünglich
vorgesehen war begann, ließ auch deren Ausrüstung viel zu
wünschen übrig. Vor allem fehlte es an Kavallerie. Die ganze
Armee — das Korps Davouts abgerechnet — hatte nicht
*) Eingehende Forschungen über die französische Armee des Jahres
1813 hat Osten-Sacken in den „Jahrbüchern für die deutsche Armee
und Marine", 1888, dann jüngst mit einzelnen Richtigstellungen nach
neuen Quellen in seinem Werke „Militärisch-politische Geschichte des
Befreiungskrieges von 1818", II (1904), p. 206, mitgeteilt. Dazu ver-
gleiche man in Lanrezac, La manoeuvre de Lützen (1904), p. 116,
den Stand am 25. April nach den Tabellen im Pariser Kriegsarchiv,
die allerdings mitunter zu hohe Ziffern aufweisen. Auch die Angaben
bei Thiers sind zu hoch, die Camille Roussets dagegen zu niedrig
gegriffon. Die Ziffern in den älteren deutschen Quellenschriften von
Clausewitz, Odelcben, Müffling u. a. sind sämtlich irrig.
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Mängel des neuen Heeres. 179
mehr als 10.000 Reiter, mit denen gespart werden mußte.
Ein Teil der Infanterie hatte die Wallen zu spät bekommen
und sich erst auf dem Marsche einüben können. Die besten Ge-
schütze waren in Kußland verloren gegangen oder standen
jenseits der Pyrenäen; man mußte die zurückgestellten älteren
schwerbeweglichen Kanonen hervorholen. Überdies war die
Bespannung unzureichend und die Korps hatten nur die Hälfte
ihrer Artilleriercserve erhalten. Aber auch sonst fehlte es
allerorten: voraus an Offizieren, und soviel man deren auch
aus Spanien Ijeranzog, sie genügten nicht. Insbesondere
schlecht bestellt war es um den Generalstab. Die Korps von
Marmont und Oudinot hatten gar keinen. Dazu Mangel an
Sanitätspersonal und eine elende Administration. So war es
zum großen Teil ein ungenügend gerüstetes Rekrutenheer, das
jetzt den Riesenkampf um die Weltherrschaft erneuern sollte.
Welcher Unterschied gegen das Vorjahr! Napoleon fühlte
wohl, daß er das volle Gewicht seiner genialen Persönlichkeit
hinzulegen mußte, wenn er siegen wollte. „Ich werde", sagte er,
„diesen Krieg als General Bonaparte und nicht als Kaiser
führen."*)
Einen Vorteil hatte er übrigens außerdem noch auf seiner
Seite: er war den Gegnern an Zahl der Truppen doch weit
überlegen. Der frühe Losbruch traf die Alliierten erst mitten
in ihren Rüstungen. Erst Ende Mai, schrieb Scharnhorst am
2. April, werde die preußische Armee etwas leisten können,
vorher habe man viel vom Glück zu erwarten. Von den Russen
war nach den Einbußen des letzten Feldzugs und nach der
Einschließung der von Franzosen noch immer besetzten
*) Lanrezac, p. 24 ff., verficht die These, es habe sich bei den
Truppen des Jahres 1813 nicht nur um blutjunges, völlig- ungeübtes
Volk, sondern der Mehrzahl nach um bereits ausgebildete Mannschaft
gehandelt, da die 105.000 Mann, die man den früheren Jahrgängen
entnahm, über zwanzig Jahre alt waren und „mindestens ein Jahr ge-
dient hatten." Die letztere Behauptung wäre allerdings erst zu be-
weisen. Richtig ist nur, daß die jungen Leute vom Jahrgang 18 LS
bereits im Dezember 1812 eingerückt waren und bis April nicht ohne
Exerzitien geblieben sein werden. Über den allzu jugendlichen Ein-
druck, den die meisten Truppen auf Augenzeugen machten, gibt es
viele, nicht gut anfechtbare Mitteilungen.
12*
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180 Napoleons Offensivplan vereitelt.
Festungen an der Weichsel und an der Oder nur wenig für
den offenen Kampf übriggeblieben, kaum über 50.000 Mann,
die mit den Preußen noch nicht 100.000 (87.000 und
9000 Kosaken) ausmachten und in drei Armeen unter Wittgen-
stein, Blücher und Tormassow (statt des erkrankten Kutusow,
der noch Ende April starb) eingeteilt waren. Nur Kavallerie
hatten die Alliierten mehr als das Doppelte, ein Vorzug, der auf
den Gang der Kriegsereignisse nicht ohne Einfluß sein sollte.
Als jetzt Napoleon auf Leipzig vorrückte, vereinigten sich diese
Heeresteile zwischen der Elster und Pleiße, und Wittgenstein,
dem der Oberbefehl übertragen worden war, beschloß, am
2. Mai von Pegau aus in die rechte Flanke des von Weißen-
fels heranmarschierenden Gegners vorzustoßen.
Einer solchen raschen Offensive versah sich der Fran-
zosenkaiser keineswegs, wenn er auch am 1. Mai von der Kon-
zentration der Feinde bei Zwenkau und Pegau Kunde erhalten
hatte. Er hatte das Neysche Korps mit fünf Divisionen von
Lützen südwärts gegen Kaja und Groß-Görschen hin zur
Deckung aufgestellt und Marmont befohlen, sich mit dem
sechsten Korps von Kippach aus geradewegs gegen Pegau zu
wenden. So seiner Flanke versichert, dachte er noch Zeit
genug übrig zu haben, um sich Leipzigs zu bemächtigen und
von dorther auf des Gegners rechten Flügel zu fallen. Doch
die Verbündeten kamen ihm zuvor. Er war eben am Morgen
des 2. Mai von Lützen weg, wo seine Garden standen, gegen
Leipzig geritten, wo eine feindliche Abteilung unter Kleist
seinem Vortrab Widerstand leistete, als ihn plötzlich heftiger
Kanonendonner im Rücken belehrte, daß Neys Divisionen von
überlegenen Kräften attackiert wurden. Sofort entschloß er
sich, die im Marsch begriffenen Truppen halten, Eugen mit
zwei Korps von Makranstädt südwärts gegen des Feindes
rechten Flügel, Marmont zur Rechten Neys operieren zu lassen
und Diesen selbst durch die Garde als Reserve von Lützen
her zu unterstützen. Mittlerweile konnte Bertrand rechts von
Marmont des Feindes linken Flügel bedrohen, indes ein drittes
Korps der Eugenschen Armee unter Lauriston sich mit einer
Division Leipzigs bemächtigte und die anderen zur Unter-
stützung bereit hielt. Das alles war im Flug erdacht und ange-
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Die Schlacht bei Lützen.
181
ordnet worden. Es handelte sich nur darum, ob Neys Rekruten
dem Angriff so lange Stand hielten, bis die anderen Truppen
in die Schlachtlinie eintreten konnten. Und was man kaum zu
hoffen gewagt, geschah. Die jungen, ungeübten, überdies
schlecht verpflegten Mannschaften, die dem Rufe des Kaisers
nur mißmutig und widerwillig gefolgt waren, schlugen sich
jetzt mit der größten Hartnäckigkeit gegen die Bravour der
Preußen und waren erst am Nachmittag, nach langen blutigen
Kämpfen, aus den von ihnen besetzten Dörfern — Groß- und
Klein-Görschen, Rahna und Kaja — vertrieben und in Unord-
nung gebracht. Unterdessen hatte aber Marmont in das Ge-
fecht eingreifen, Bertrand sich in seiner drohenden Haltung
zeigen können, und als vollends Napoleon im Zentrum die
Garde vorschickte, um Kaja und die anderen Ortschaften
wieder zu erobern, und ein Korps des Vizekönigs unter Mac-
donald die rechte Flanke des Feindes angriff und ihn zu über-
flügeln Anstalt machte, da mußte Dieser der Übermacht weichen,
und die Schlacht bei Lützen oder Groß-Görschen war von den
Franzosen gewonnen. Napoleon hatte sich an diesem Tage
mehr als je exponiert, um die neuen Truppen zu befeuern.
Zum Lohn bekam er auch von den jüngsten seiner Soldaten,
ja selbst von Verwundeten und Verstümmelten, das enthusia-
stische Vive l'Empereur! seiner alten Krieger zu hören.
Freilich, ein so vollkommener Sieg, wie er sich ihn mit
der Umarmung des Feindes über Leipzig gedacht haben mochte,
war nicht errungen, und es war auch nicht unbedingte Notwen-
digkeit gewesen, daß die Verbündeten sofort des Nachts über
die Elster und dann weiter bis an die Elbe zurückgingen. Sie
hätten vielleicht trotz ihrer Minderzahl — sie hatten nur etwa
70.000 Mann gegen etwa 120.000 Napoleons in der Schlacht
gehabt — bei besserer Führung und wenn der Kampf, der um
7 Uhr zu beginnen hatte, nicht erst um 11 Uhr eröffnet
worden wäre, den großen Schlachtenkaiser besiegen können,
namentlich, wenn der Zar, der gleich dem Preußenkönig beim
Kampf anwesend war, nicht seine Garden geschont und 9000
Mann des Korps Miloradowitsch aus reiner Etiketterücksicht
unbeschäftigt gelassen hätte. Tatsache war, daß Napoleon
größere Einbußen erlitten hatte als seine Gegner: 18.000 bis
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182 Der König von Sachsen.
20.000 Mann waren tot oder verwundet, und darunter sehr viel
Offiziere, die er schwer entbehrte. Fast kein Gefangener, kein
Geschütz war erbeutet worden. Der Mangel an Reiterei und
die doch zu geringe Spannkraft der jungen Infanterie ließen
eine wirksame Ausnutzung des Sieges nicht zu. Daß der ver-
wundete Blücher noch in dunkler Nacht neun Schwadronen
gegen die Franzosen in Rahna anreiten ließ, raubte diesen die
Ruhe und machte sie am folgenden Morgen zur Verfolgung
untüchtig. Die Vorhutgefechte der nächsten Tage waren ohne
Belang. Gleichwohl war der Sieg bei Lützen nicht ganz ohne
Einfluß auf die politischen Verhältnisse: er brachte Sachsen
wieder an Napoleons Seite. Der Kaiser zog am 8. Mai in die
Altstadt Dresden ein und ließ von hier aus den in Prag wei-
lenden König auffordern, sich als Feind oder Freund zu er-
klären, worauf Friedrich August, trotz seinem Abkommen
mit Österreich, das Zweite wählte und Napoleon seine Garde-
Kavallerie und die gesamte Garnison von Torgau zur Ver-
fügung stellte. Ney brach mit seinem Korps nach dieser
Festung auf, um die Sachsen aufzunehmen und zugleich, nach-
dem er zwei andere Korps an sich gezogen, durch das Über-
schreiten der Elbe die Verbündeten von dem jenseitigen
Dresden fortzunötigen. Am 11. Mai ist denn auch die Neustadt
von ihnen geräumt worden, und erst hinter der Spree wird das
preußisch-russische Heer von neuem Posto fassen.
Die wichtigste Frage aber hat der unvollkommene Sieg
von Lützen nicht, wie Napoleon gehofft haben mochte, ent-
schieden : Österreich kehrte nicht zu ihm zurück, wenn es auch
auf der eingeschlagenen Bahn, die zu den Verbündeten führte,
einen Augenblick innehielt und in ein nicht unbedenkliches
Schwanken geriet. Ende April hatte man in Wien den Alli-
ierten bereits ziemlich nahe gestanden. Man sandte ihnen dann
— freilich über die Tragweite der Ereignisse vom 2. Mai noch
nicht genügend unterrichtet, die anfänglich als Sieg der
Preußen und Russen ausgegeben worden waren — am 7. Mai
Stadion, den Minister des Kriegs jah res 1809, in ihr Haupt-
quartier, um dort die Donaumacht nunmehr als „bewaffneten
Vermittler" anzukündigen und Bedingungen mitzuteilen, für
deren Durchführung der Wiener Hof sich mit allen Kräften
Österreich und die Verbündeten.
183
einsetzen wollte. Das Minimum derselben war: Auflösung des
Herzogtums Warschau, Verzicht Napoleons auf die 1810 annek-
tierten überrheinischen Departements (Oldenburg, Hanse-
städte), Verzicht auf das Protektorat über den Rheinbund,
Wiederherstellung Preußens und Abtretung Illyriens und Dal-
matiens an Österreich, das auch eine neue Grenze gegen
Bayern erhalten sollte. Neue Erfolge des Feindes im Felde
würden diese Bedingungen allerdings ermäßigen, die politische
Haltung Österreichs jedoch nicht ändern, die Metternich in
Depeschen vom 29. April den alliierten Monarchen dahin de-
finiert hatte, daß längstens bis 24. Mai 125.000 Mann gerüstet
sein würden, von denen 60.000 die Bestimmung hätten, sich in
Böhmen dem Fortschreiten der Franzosen entgegenzustellen.
Freilich, als in Wien genauere Kunde über den Tag bei Groß-
Görschen eintraf und das französische Heer fast an die
österreichische Grenze heranrückte, wollte Kaiser Franz von
so weitgehenden Zumutungen an seinen Schwiegersohn nichts
mehr wissen. Mit Mühe setzte es Schwarzenberg, der zum -Be-
fehlshaber der Armee in Böhmen ernannt worden war, oder
vielmehr dessen Generalstabschef Radetzky, durch, daß in den
Rüstungen nicht innegehalten wurde. Dagegen erhielt Bubna,
der, wie Stadion zu den Verbündeten, als Agent der vermit-
telnden Macht zu Napoleon gesandt worden war, Instruktionen
nachgeschickt, die weit hinter dem Minimum zurückblieben,
für das man sich Rußland und Preußen gegenüber engagieren
wollte. Nur die Auflösung des Herzogturas Warschau, die Ab-
tretung Illyriens an Österreich und die Verzichtleistung auf
die rechtsrheinischen Departements, wenigstens auf Hamburg
und Lübeck, sollte Bubna zur Bedingung machen. Von einem
Verzicht auf den Rheinbund sollt« er ebensowenig im Tone
strikter Forderung reden wie von der österreichischen Grenze
gegen Bayern. Aber Napoleon, der durch Narbonne von dem
weitgehenden Entgegenkommen unterrichtet war, das man in
Wien noch kurz vorher den Verbündeten bezeugt hatte, trat
Bubna mit dem größten Mißtrauen entgegen, namentlich als
Dieser ihm das Programm Österreichs folgendermaßen mund-
gerecht zu machen suchte: ein allgemeiner Friede sei nur
durch Abtretungen von seiten des Empire möglich, wofür
184
Napoleon droht in Wien.
England Ersatz zu leisten hätte; da nun dieses sich zur Zeit
weigere, so müsse der Imperator den Anfang machen; dann
werde das durch den Kontinentalf rieden isolierte Inselreich
auch seinerseits nachgiebig werden. Mußte diese letzte Be-
merkung Napoleon nicht wie eine hohle Phrase in die Ohren
klingen, ihm, der seit Jahren gerade diese Isolierung Eng-
lands mit allen Mitteln vergeblich betrieben hatte? Er gewann
die Überzeugung, daß Österreich seinen Gegnern doch bereits
weit näher stand als ihm, und ergriff sofort seine Maßregeln.
Dem Kaiser Franz schrieb er: er wünsche zwar den Frieden
mehr als irgendeiner, sei bereit, einen Kongreß zu beschicken,
auf dem selbst die Vertreter der spanischen Insurgenten
Platz finden könnten, und auch dem von Bubna vorgebrachten
Gedanken eines Waffenstillstandes während der Unterhand-
lungen sei er geneigt, nur in Englands Augen lächerlich wolle
er nicht werden, lieber an der Spitze aller hochherzigen Fran-
zosen sterben. Zugleich wies er den Vizekönig, der nach Italien
gereist war, an, bis längstens Ende Juni eine neue Armee zu
sammeln, die G0.000 bis 80.000 Österreicher im Süden festhalten
könnte, »wovon man die Kunde eifrig nach Wien verbreiten solle,
um dort einzuschüchtern. Marie Luise, der er in seiner Ab-
wesenheit die Regentschaft übertragen hatte, mußte dem Vater
in ihren Briefen nahelegen, daß, wenn er sich abwenden sollte,
ihr Gatte, der eine Million Streiter unter den Waffen habe,
alle seine Kräfte gegen Österreich wenden würde. Als wirk-
samsten Trumpf aber spielte er Bubna gegenüber die Drohung
aus, er werde sich mit Alexander vergleichen und ihm War-
schau überliefern. Und die Drohung war nicht ohne reelle
Grundlage. Da er immer mehrere Sehnen auf seinem Bogen
hatte, so machte er wirklich den Versuch, sich ohne Öster-
reichs aufdringliche Vermittlung, die ihm Opfer zumutete, mit
dem geschlagenen Zaren zu verständigen. Caulaincourt sollte
mit dem Antrag auf Kongreß und Waffenstillstand zu den
feindlichen Vorposten gehen, sich die Erlaubnis zu einer Be-
sprechung mit Alexander I. verschaffen und ihm die Gelegen-
heit eröffnen, „sich glänzend für die dumme Diversion Öster-
reichs in Bußland zu rächen", wie es in der Instruktion heißt.
Und was hatte der Herzog von Vicenza zu bieten? Zunächst
£r wünscht einen Separatfrieden mit Rußland. 185
Polen. Das Großherzogtum Warschau und die Republik Danzig
sollten, zwar nicht an Rußland, wohl aber an Preußen kommen,
einen Strich ausgenommen, der den Herzog von Oldenburg
entschädigen würde. Friedrich Wilhelm hätte dafür sein Land
westlich der Oder, d. i. die Mark Brandenburg mit Berlin und
von Schlesien jenen Teil abzutreten, den eine von Glogau nach
der böhmischen Grenze gezogene Linie markiert. Auf diese
Weise fiele Preußen, das seine Hauptstadt fortan in Warschau,
Königsberg oder Danzig hätte, unbedingt in die Machtsphäre
Rußlands. (Brandenburg war für den König von Westfalen,
das Krossener Land offenbar für Sachsen bestimmt.) Auf die
Tilsiter Abmachung gegen England wolle Napoleon nicht
wieder zurückkommen, da es sich um die Anbahnung eines
allgemeinen Friedens handle und der Zar schon selbst ein
System werde finden müssen, um seiner Flagge in der Zukunft
Achtung zu verschaffen.*) Mit diesen Zugeständnissen hoffte
Xapoleon die Koalition zu sprengen. Polen aufgegeben, die
Kontinentalsperre fallen gelassen, mußte das nicht Rußland
genügen? Waren dies nicht die wesentlichsten Punkte des
Zwistes von 1812? Vor sechs Jahren hatte er, was er jetzt
bezweckte, durch den glänzenden Sieg bei Friedland erreicht.
Auch jetzt soll ihm ein zweites Friedland beim Zaren Gehör
verschaffen. Sein Abgesandter harrte noch vergebens der er-
betenen Audienz, als bereits wieder die eisernen Würfel rollten.
Napoleon hatte Ney mit seinen Korps in der Richtung
auf Berlin vorrücken lassen, um die um ihre Hauptstadt be-
sorgten Preußen von den Russen zu trennen. Das war nicht
gelungen, die Verbündeten blieben beisammen, und Wittgen-
stein war sogar entschlossen, bei Bautzen eine zweite Schlacht
zu wagen. Als Jener darüber Sicherheit gewonnen hatte, erteilt e
er am 18. Mai — an demselben Tage, an welchem Caulain-
court offiziell als Kommissar für die Unterhandlung über den
*) Nur ein Teil dieser Instruktion hat in die Korrespondenz Na-
poleons Aufnahme gefunden. Die eigentlichen Präliminar-Vorschläge
sind von Lefebvre (Histoire des Cabinets de l'Europe, V., 331) mit-
geteilt worden, während das Fallenlassen des Punktes der Kontinental-
sperre nur hei .To mini (Pröcis politique et militaire des eampagnes de
1812 ä 1814. I., 261) erwähnt wird, der gleichfalls wörtlich zitiert.
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186
Die Schlacht bei Bautzen am 20. Mai.
Waffenstillstand abgefertigt wurde — Befehl an Ney, den er
bei Luckau wußte, eilends mit der Direktion auf Drehsa, nord-
östlich von Bautzen, heranzurücken und Wittgenstein in den
Rücken zu fallen; dann eilte er selbst am folgenden Tage von
Dresden über Hartha in die Nähe der genannten Stadt. Der
Feind war durch neue Truppen, die Barclay und der preu-
ßische General Kleist herbeiführten, verstärkt und in einem
vorzüglichen Terrain, das im Siebenjährigen Kriege zu
Ansehen gelangt war, verschanzt, um Napoleon, der gleich-
falls Verstärkungen (eine Division Junge Garde, zwei Marsch-
divisionen Kavallerie u. A.) erhalten hatte, zu empfangen,
wenn er von Westen herankam. Als man nun aber im Haupt-
quartier der Verbündeten vernahm, daß auch von Norden
her feindliche Kräfte im Anmarsch seien, sandte Alexander,
anstatt Napoleon sofort mit Übermacht anzugreifen, Barclay
und Yorck Ney entgegen, wodurch es am 19. Mai bei Weißig
und Königswartha zu Gefechten kam, die den Franzosen nicht
mehr Schaden brachten als den Verbündeten und nur zur
Folge hatten, daß nun der Franzosenkaiser am 20. Mai selbst
losschlug, um die Alliierten von Ney abzulenken und Diesem
den Vormarsch zu erleichtern. Mit vier Korps und der Garde
griff er am Mittag von Westen her an, überschritt die Spree
an mehreren Orten und warf des Feindes Vorhut aus Bautzen
hinaus. Am Abend ist es ihm gelungen, jenseits festen Fuß
zu fassen, und unterdes ist auch Ney bereits mit zwei Korps
(etwa 25.000 Mann) bei Klix an den Fluß herangekommen,
während zwei andere mit der Reservekavallerie noch bei Hoyers-
werda und dahinter stehen. Die einbrechende Dunkelheit —
so hatte Napoleon kalkuliert, als er den Kampf erst zu Mittag
begann — ließ es nicht mehr zu dem von Wittgenstein
geplanten Gegenangriff kommen und behielt dem folgenden
Tage die Entscheidung vor, die voraussichtlich nicht zum
Vorteile der Verbündeten fallen wird, weil sie nunmehr in der
Minderzahl sind.
Der Kaiser hat den Plan, Ney gegen Barclay, der die
Rechte des Feindes bildet und an den sich Blücher im Zentrum
anschließt, vorstoßen und die gegnerische Rückzugslinie ge-
winnen zu lassen, während er selbst die Russen in der Front
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Die Schlacht bei Bautzeu am 21. Mai.
187
durch seine persönliche Anwesenheit und aucli durch die Ent-
wicklung starker Kräfte gegen deren linken Flügel über seine
wahre Absicht täuschen wird. Er arbeitet bis zum frühen Mor-
gen und läßt alsbald die Aktion rechts, wo Oudinot komman-
diert, beginnen, um Ney das Zeichen zum Vorrücken zu geben ;
erst dann legt er sich für ein paar Stunden auf dem Schlacht-
felde zur Ruhe. Hätte Alexander seinen großen Widersacher so
ruhig schlafen sehen, er hätte wohl kaum, die Einwendimg
Wittgensteins nicht achtend, an diese r Stelle die Entscheidung
gesucht, wie er es tat, indem er Ney gegenüber den schwachen
Barclay ohne Verstärkung ließ. Dieser ist denn auch schon
nach wenig Stunden weit hinter Gleina zurückgeworfen und
dadurch Blüchers Flanke ernstlich gefährdet. Anstatt nun aber
— wie ihm J omini geraten haben will — seinen Weg im Rücken
Blüchers dreist fortzusetzen, handelte Ney zum erstenmal be-
dächtig. Er konnte ja auch freilich nicht vermuten, daß der
Feind seinen rechten Flügel so unverantwortlich schwach be-
setzen werde, und wollte Reyniers Ankunft mit dem 7. Korps
abwarten. Erst als dieser bei Klix erschien, rückte er aufs
neue vor, nun aber nicht mehr — denn der günstige Moment
ist verpaßt — geradeaus auf Hochkirch, sondern rechts auf
Blücher los, den der endlich über die wahre Lage der Dinge
aufgeklärte Zar mit seiner Garde unterstützt hat und der ibu
bereits mit seinen Geschützen bedient. Er hätte immerhin noch
eines seiner Korps zur Linken die umfassende Bewegung
fortsetzen lassen können, aber auch das scheute er sich zu
wagen und zog alle seine verfügbaren Kräfte an sich. Dadurch
bleibt die Görlitzer Straße offen, und die Masse der Verbün-
deten, die jetzt auch von Napoleon ernsthaft angegriffen
werden, kann sich noch rechtzeitig aus der Schlinge ziehen.
Sie haben die Schlacht, wie verdient, verloren, aber ihr Heer
haben sie gerettet, das der Vernichtung preisgegeben war,
wenn der kühnste Marschall des Kaiserreichs an diesem Tage
seinem Rufe nicht untreu wurde. Umsonst, daß Napoleon dem
Feinde nachdrängt. Es fehlt ihm hier, wie bei Lützen, an der
nötigen Reiterei, und seine Kolonnen sind vom Kampf er-
mattet. Als er Tags darauf, am 22. Mai, selbst zur Avantgarde
vorreitet, um sie zu rascher Tat gegen die hartnäckig wider-
Digitized by Google
188 Unzureichende Kriegsergebnisse.
strebende Nachhut der Russen anzufeuern, verliert er drei
tüchtige Generale seiner Suite und darunter seinen vertrauten
Duroc, den er aufrichtig betrauert.
War das die Schlacht, mit der Napoleon dem Zaren seine
Vorschläge aufzwingen wollte? Gewiß nicht. Von den etwa
lQ'O.OOO Mann, über die er an den beiden Tagen verfügte, hatte
er, da ihm die starke Frontstellung des Feindes nur an den
beiden Flügeln zu operieren erlaubte, bloß 90.000 ins Gefecht
gebracht. Seine Verluste, bei 25.000 Mann, waren weitaus
größer als die der Verbündeten. Und wieder keine Beute, keine
Gefangenen, keine Fahnen, kein Geschütz. Und der politische
Erfolg entsprach dem militärischen. Caulaincourt erhielt von
Alexander I. nicht die Erlaubnis zu einer Besprechung, son-
dern nur den Bescheid, man habe die österreichische Vermitt-
lung akzeptiert und werde nur durch diese Macht Anträge ent-
gegennehmen. Bloß den Gedanken eines Waffenstillstandes
hielten die Verbündeten fest und ließen durch Stadion an
Berthier schreiben, daß sie geneigt seien, über diesen Gegen-
stand bei den Vorposten unterhandeln zu lassen. Es kam nun
darauf an, ob es Xapoleon damit Ernst war.
Der war unterdes, immer fechtend, hinter dem Feinde
hergezogen. Nur das Korps Oudinots hatte er in Bautzen zu-
rückgelassen, um es dann über Hoyerswerda in der Richtung
gegen Berlin zu entsenden, das Bülow mit einem Korps deckte.
Die Verbündeten hatten sich schließlich von Liegnitz und
Jauer rechts ab gegen Schweidnitz gewendet und Breslau
preisgegeben. Sie waren nicht einig über die Fortsetzung des
Krieges. Barclay, der Wittgenstein im Oberbefehl ablöste, war
dafür, mit seinen in Unordnung geratenen Russen nach Polen
zurückzugehen, um sie dort zu reorganisieren und mit Mu-
nition zu versehen, die bereits zu fehlen begann; solle er in
Schlesien bleiben, so bedürfe er sechs Wochen Ruhe. Dieses
Moment — neben der Rücksicht auf Österreich, das den
Waffenstillstand angeregt hatte und dessen Rüstungen noch
nicht beendet waren, wofür man jetzt die Mitte Juni
als Termin nannte — wurde im Lager der Alliierten entschei-
dend, da Friedrich Wilhelm III. nur mit der größten Besorgnis
einer Trennung der beiden Armeen entgegensah. Hätte Napo-
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Erwägungen eines Stillstandes.
189
leon von dieser kritischen Situation seiner Gegner Kenntnis
gehabt, er hätte kaum getan, was er später selbst, und Andere
mit ihm, als den größten Fehler seines Lebens bezeichnet
hat.*) Er wußte nichts davon, und so ließ er sich zum Waffen-
stillstand herbei. Freilich hatte auch er seine besonderen
Gründe dazu. In einem Brief an den Kriegsminister Clarke
vom 2. Juni gab er zwei derselben an: den Mangel an Kaval-
lerie, der ihn verhindere entscheidend zu schlagen, und die
feindliche Haltung Österreichs. Das waren aber nicht alle. Auch
in seiner Armee gab es der Unordnung nur zu viel. Die großen
Verluste an Offizieren in den beiden Schlachten machten sich
empfindlich geltend. Die junge Infanterie versagte auf dem
anstrengenden Marsche; die meisten Korps hatten ein Drittel,
das dritte unter Ney über die Hälfte des Bestandes in den
Spitälern. Infolge der durch die schlechte Administration ver-
ursachten Not desertierten Tausende oder zerstreuten eich in
zügelloser Maraudage, um für sich selbst zu sorgen. So war das
Heer trotz den Nachschüben bald auf 120.000 Mann einge-
schrumpft.**) Dazu kam, daß feindliche Parteigängerkorps in
dessen Rücken manchen Schaden taten, Zuzüge abschnitten,
zwei Artillerieparks eroberten u. dgl. m. Es schien Napoleon
allzu kühn, auf solche Verhältnisse die Hoffnung eines
dritten Sieges zu bauen, den man doch wieder ebensowenig
würde ausnützen können, wie die beiden ersten, und der mit
seinen neuen Verlusten nur dem zaudernden Österreich ein
neues Übergewicht verschaffen mußte. Und noch Eins. Die
Nachrichten aus Paris häuften sich, die von dem sehnlichsten
Verlangen der Bevölkerung nach Frieden sprachen. Sogar die
Männer, deren erprobte Gefügigkeit den Kaiser nur selten
unangenehme Wahrheit hören ließ, die Maret und Savary,
wurden eindringlich mit ihren Bitten um Beschluß der Feind-
seligkeiten, und er glaubte der öffentlichen Stimmung Frank-
reichs für den Augenblick Rechnung tragen zu müssen.***)
*) Jomini, Vie de Napoleon, IV., 814; Derselbe, Preeis L, 281.
**) Lefebvre (V., 348), der sich aus den Akten des Pariser Kriegs-
archivs zu unterrichten wußte, nennt diese Ziffer vor Abschluß des
Waffenstillstandes.
***) S. Ernouf. Maret, p. 534 und in der Corresp. XXV., 20.116,
19U
Der Waffenstillstand von Platvitz.
So ward am 4. Juni — die Armee war unterdes nach Breslau
vorgedrungen, Oudinot stand an der schwarzen Elster Bülow
gegenüber, Davouts Truppen hatten Hamburg besetzt — zu
Pläswitz bei Striegau*) der Waffenstillstandsvertrag unter-
zeichnet. Die Franzosen ziehen sich hinter die Katzbach
zurück, die Verbündeten hinter eine Linie, die von der
böhmischen Grenze über Landeshut, Striegau, Canth östlich
von Breslau an die Oder führt. Von der Mündung der Katz-
bach nördlich rahmt die Oder, dann die sächsische Landes-
grenze, endlich die Elbe bis zur Nordsee das französische Heer-
gebiet ein. Der Krieg hat bis zum 20. Juli zu ruhen.**)
Wenn es Napoleons Absicht gewesen war, mit raschem
Losschlagen der Diplomatie ihr Spiel zu verderben und ins-
besondere das Gespinst Metternichs zu zerreißen, so war ihm
das durch den Frühjahrs-Feldzug nicht gelungen — weder ge-
lungen die Allianz Kußlands mit Preußen zu trennen, noch
Österreich an seine Seite, etwa wie Sachsen, zurückzubringen.
Vielmehr hatte er durch die beabsichtigte Sonderunterhand-
lung mit dem Zaren Diesem nur das Mittel zu einer Pression
auf den Wiener Hof an die Hand gegeben, das alsbald in An-
wendung gebracht wurde. In Wien war man nach dem Ein-
treffen der Kunde von der zweiten verlorenen Schlacht,
namentlich aber nach dem wiederholten Erscheinen Caulain-
courts bei den Vorposten der Verbündeten, in- nicht geringe
Angst geraten. Man fürchtete, Rußland könnte, wie 1805 und
1807, die Partie aufgeben. Da mußte man wenigstens durch
einen äußerlichen Akt den Alliierten entgegenkommen und sie
bei der Sache festhalten. Darum begab sich Franz I. mit seinem
Minister in den ersten Junitagen nach Schloß Gitschin in
Böhmen, um ihnen näher zu sein. Dort traf, von Alexander
den zurechtweisenden Brief an Savary: „Der Ton Ihrer Korrespondenz
gefällt mir nicht. Sie langweilen mich mit Ihrem ewigen Friedens-
bedürfnis.«
*) Koischwitz, „Poischwitz oder Pläswitz", in den Forsch, zur
brandenb. u. preuß. Gesch., XVII., 246 ff. S. auch Corresp.XXV. 20.084.
**) De Clercq, H.
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Frauz I. in Böhmen.
H>1
gesendet, Graf Nesselrode ein, mit der Aufgabe, den förm-
lichen Beitritt der Donaumacht zu betreiben. Was er fand, war
zunächst eine große Abneigung des Kaisers Franz, mit seinen
noch ungerüsteten Kräften in den Krieg einzutreten, so lauge
nicht die Unmöglichkeit erwiesen sei, durch Unterhandlungen
zum Frieden zu gelangen. Aber er erreichte doch, daß Metter-
nich sechs Bedingungen nannte, die er für den Frieden nötig
erklärte und von denen man die ersten vier, wenn sie Napoleon
ablehnte, mit den Waffen gegen ihn geltend machen wollte:
1. die Auflösung des Herzogtums Warschau; 2. die daraus er-
folgende Vergrößerung Preußens nebst der Eückgabe von
Danzig an dasselbe, denn ein starkes Preußen erschien jetzt,
unter den veränderten Verhältnissen, dem österreichischen
Minister notwendig, um mit ihm im Vereine einem Über-
greifen sowohl der französischen als der russischen Macht vor-
zubeugen; 3. Rückfall der illyrischen Territorien an Öster-
reich, das man aus denselben Gründen kräftigen mußte; 4. Un-
abhängigkeit der Hansestädte; 5. Auflösung des Rheinbundes;
6. Wiederherstellung Preußens „möglichst" wie vor 1806. Da
war mit den ersten vier Bedingungen allerdings nicht das
gesagt, was Österreich früher durch Stadion als sein „Minimum"
in Vorschlag gebracht hatte, aber doch etwas mehr als Bubna
Napoleon gegenüber hatte geltend machen sollen. Freilich
hatten sich die Verbündeten am 16. Mai zu Wurschen über ein
viel weiter gehendes Programm geeinigt, d. i. außer den oben
erwähnten Punkten noch über die Trennung Hollands von
Frankreich, die Wiederherstellung der Bourbons in Spanien,
Österreichs auf dem Stande vor 1805, den Rückzug der Fran-
zosen über den Rhein und die Befreiung Italiens: aber die nun-
mehr erlangte Sicherheit der Mitwirkung Österreichs, die
Metternich dem Kaiser Alexander auf dem böhmischen Schlosse
Opoöno persönlich verbürgt haben will, ließ sie bereitfinden,
ohne erst die Wurschener Artikel zur Kenntnis des Gegners
zu bringen, der sie sicher nur in Frankreich als Agitations-
mittel für neue Rüstungen in Wirksamkeit gesetzt hätte, schon
auf die österreichischen Bedingungen hin über einen Frieden
mit Frankreich zu unterhandeln. Denn daß Napoleon, der
Sieger, selbst darauf nicht einsehen würde, schien so gut
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192
Der Reicheubacher Vertrag.
wie ausgemacht. Dieser Friede sollte dann allerdings nur ein
Präliininarfriede sein, dem später erst die Verhandlung über
die definitive Pazifikation zu folgen hätte und die dann nicht
ohne Englands Beiziehung und Zustimmung zustande kommen
durfte. (Zu letzterem mußten sich Preußen und Rußland ver-
pflichten, als sie Mitte Juni Subsidientraktate mit der Lon-
doner Regierung abschlössen, die ihnen das zur Fortführung
des Krieges nötige Geld lieferte.) So kam es denn am 27. Juni
1813 zu Reichenbach, im Hauptquartier der Verbündeten, zur
Unterzeichnung eines geheimen Vertrages zwischen Österreich,
Preußen und Rußland, der schon in OpoÖno formuliert worden
war und die vier unumgänglichen Artikel des Wiener Hofes
neben dem feierlichen Versprechen des letzteren enthielt,
sofort an Frankreich den Krieg zu erklären, wenn Napoleon sie
bis zum 20. Juli nicht angenommen haben würde. Dann aller-
dings sollte der Krieg von den drei Mächten nicht mehr um
jenen bescheidenen Preis, sondern für das ganze umfassende
Programm vom 16. Mai geführt, d. i. Frankreich in seine
natürlichen Grenzen zurückgezwungen werden. Die beiden
alliierten Mächte verpflichteten sich ihrerseits, keiner von
Napoleon etwa beabsichtigten Sonderunterhandlung Raum zu
gestatten.*) So hatte der Wiener Hof die Zustimmung der
Mächte zu Friedensunterhandlungen unter Österreichs Ver-
mittlung erlangt. Es galt nun noch die Napoleons zu gewinnen.
Dieser, der durch die Reise Metternichs zu Alexander un-
*) Der entscheidende Artikel I. lautet : „Xaehdem S. M. der Kaiser
von Österreich die Höfe von Rußland und Preußen eingeladen hat, unter
seiner Vermittlung in Verhandlungen mit Frankreich über einen vor-
läufigen Frieden einzutreten, der einem allgemeinen als Grundlage dienen
konnte, und nachdem er die Bedingungen festgestellt hat, die er (d. h.
er allein) zur Wiederherstellung eines Zustande* des Gleichgewichtes
und dauernder Ruhe iu Europa für notwendig hält, verpflichtet er sich,
an Frankreich den Krieg zu erklären und seine Waffen mit denen
Rußlands und Preußens zu vereinigen, wenn Frankreich diese Bedin-
gungen bis zum 20. Juli dieses Jahres nicht angenommen hat." Unter
die unerläßlichen, Osterreich zum Kriege verpflichtenden Forderungen
wurde auch die Räumung der Weichsel- und Oderfestungen durch die
Franzosen aufgenommen. Das von Napoleon freigegebene Herzogtum
Warschau sollte zwischen den Alliierten aufgeteilt werden, Danzig
jedenfalls Preußen zufallen (Martens. VI.)
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Metternich in Dresden.
198
ruhig gemacht und durch Bubnas Eröffnungen nicht befriedigt
worden war, lud den Minister Österreichs zu sich nach Dresden.
Metternich folgte dem Kufe, nachdem er vorher mit Nesselrode
ins Keine gekommen war, und stand am 26. im Palais Marcolini
vor dem Imperator. In einer neunstündigen Unterredung, in
der, nach Metternichs Bericht, „die abwechselndste Freundlich-
keit mit den heftigsten Ausbrüchen sich mischte" — ging doch
Napoleon so weit, seine zweite Heirat als Dummheit zu be-
zeichnen und Metternich der Käuflichkeit zu beschuldigen —
versuchte Jener, Österreich, wenn schon nicht zur Parteinahme
für ihn zu bestimmen, so doch wenigstens auf den Stand der
bewaffneten Neutralität zu fixieren, während dessen Minister
beharrlich auf dem der bewaffneten Vermittlung stehenblieb.
Diese Beharrlichkeit reizte den Kaiser so sehr, daß er im Zorn
seinen Hut in eine Ecke warf, wie er das in solcher Erregung
nicht allzu selten tat. Noch vor einem Jahr hätte sich Öster-
reichs Minister beeilt, ihn aufzuheben; jetzt unterließ er es. Die
Unterredung ist zu einer welthistorischen Berühmtheit gelangt,
weil man in ihr die entscheidende Wendung für die Politik
des Donaustaates und für das Schicksal Napoleons zu sehen
glaubte. Dies ist nicht richtig. Der Wiener Hof folgte viel-
mehr schon seit einiger Zeit seinem Wunsche nach Unabhängig-
keit, und ein Einhalten in dieser Bewegung war kaum mehr
denkbar, so daß der Franzosenkaiser mit einer Äußerung, die
er in jener Zeit über Metternich tat: „Er glaubt alle Welt
zu lenken, und alle Welt lenkt ihn", hier nicht das Richtige
traf. Auch das Wort, das er dem Minister am Schlüsse jener
Besprechung vertraulich sagte: „Ihr werdet mir ja doch nicht
den Krieg machen", sollte nicht in Erfüllung gehen.
Die Entrevue in Dresden endete damit, daß der Kaiser
Österreich entgegenkam, indem er nicht nur den Allianzvertrag
von 1812 für aufgehoben erklärte, sondern auch die bewaffnete
Vermittlung Franz' I. annahm. Man könnte sich über diesen
Entschluß Napoleons wundern, fände man nicht die Erklärung,
dafür in einer am 30. Juni von Maret und dem österreichischen
Minister unterzeichneten Konvention, des Inhalts, daß im
Interesse der auf einem Kongreß zu Prag stattfindenden
Friedensunterhandlungen der Waffenstillstand bis 10. August
Pournier, Napoleon I. 18
194
Die Verlängerung des Waffenstillstandes.
zu währen und Österreich die Verbündeten für diese Ver-
längerung zu gewinnen habe. Schon in der ersten großen
Unterredung vom 26. Juni hatte sie Metternich als Preis für
die Annahme seiner Mediation angeboten, ein Beweis, daß es
ihm damals noch mit dem Frieden recht Ernst war.*) Und
*) Die Frage, ob Napoleon oder Metternich in Dresden die Ver-
längerung vorgeschlagen habe, war von jeher kontrovers. Nach dein
authentischen Bericht, den der Minister Franz' I. 1820 über die große
Besprechung verfaßt hat (Hclfert, M. Luise, S. 363 ff., und vergleiche
Metternich. Nachgelassene Papiere L, S. 150 ff.), erscheint das
Zweite wahrscheinlicher. Denn darin verzeichnet Metternich folgende
Antwort, die er Napoleon auf dessen Begehr nach Österreichs Neutra-
lität gegeben haben will: ., Kaiser Franz hat den Mächten seine Ver-
mittlung, nicht seine Neutralität angeboten. Rußland und Preußen haben
sie angenommen; an Ihnen ist es heute, sich zu entscheiden. Entweder
Sie nehmen an, dann wollen wir einen Zeitraum für die Dauer
der Unterhandlungen feststellen; oder Sie lehnen ab, dann wird
sich mein Herr unabhängig erachten in seinen Entschlüssen und in
seinem Benehmen", d. h. wenn Napoleon die Vermittlung annimmt,
propouiert Österreich — von einer vorausgehenden Forderung Napo-
leons ist nicht die Rede — eine nicht an die Bestimmungen des Waffen-
stillstand^ Vertrages gebundene Frist für deren Dauer. Neuerdings hat
Luckwaldt, S. 325. die Frage untersucht, ohne sich zu entscheiden.
Eine von ihm beigebrachte Stelle in einem Schreiben Bubnas vom
2. Juli: „Ich tat mein Möglichstes, um die Gründe zu erhärten, die
den Kaiser (Napoleon) bestimmt hatten, so sehr auf der Verlängerung
des Waffenstillstandes zu bestehen", hält er mit Recht nicht für aus-
schlaggebend. Vgl. auch neuesten»: Sorel. VIII., 148, der sogar meint,
es sei nicht leicht gewesen, von Napoleon die Verlängerung zu er-
reichen. Das geht doch wohl zu weit. Denn der von Sorel dabei zitierte
Brief Metternichs an seinen Vater aus dem September 1813: „Ich habe
durch einen verwegenen Streich, durch die Verlängerung des Waffen-
stillstandes um 20 Tage, mein Ziel erreicht", beweist doch nur, daß
der Minister, indem er die Verlängerung vorschlug, von der er wußte,
daß sie Napoleon paßte, alles andre durchsetzte: Aullösung der Allianz,
Annahme der Vermittlung. Die Verlängerung kam den österreichischen
Rüstungen zugute, aber doch noch weit mehr den französischen. Wenn
also Metternich ein solches Angebot dafür machte, daß Napoleon auf
seine Vermittlung einging, so mußte es ihm doch recht sehr um sein
Friedensgeschäft zu tun gewesen sein, das eine feindliche Invasion fern-
hielt. Er selbst erklärte; in den ersten Julitageu dem Grafen Harden-
berg, Kaiser Franz sei überzeugt, daß die ganze Last des Krieges auf
Osterreich fallen, daß daraus für die Monarchie; die größte n Unglücks-
fälle hervorgehen würden, und wolle, um das zu vermeiden, auf jede
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Napoleon nimmt Österreichs Vermittlung an. 195
auch Xapoleon war es keineswegs um Krieg auf alle Fälle zu
tun. Auch er wäre vielleicht bereit gewesen, Frieden zu
schließen, wenn auch am liebsten einen allgemeinen, der allen
Feindseligkeiten mit einem Male ein Ende machte und das
französische Volk beruhigte. Um einen bloßen Kontinental-
frieden, der den Krieg mit England fortbestehen und die
französischen Kolonien in britischen Händen ließ, war es ihm
weit weniger und wohl nur unter zweierlei Umständen zu tun:
entweder nach vernichtenden Schlägen im Felde, die das Über-
gewicht des Empire für lange sicherten, oder in einer be-
sonderen Abkunft mit Rußland, ähnlich jener zu Tilsit. Nun,
um vernichtende Schläge zu führen, bedurfte er ausgedehnter
Rüstungen und dazu eines entsprechenden Zeitraumes, den er
in der Instruktion für Caulaincourt vom 26. Mai mit drei
Monaten berechnet hatte. Davon war der Waffenstillstands-
vertrag vom 4. Juni weit entfernt geblieben. Jetzt ließ sich
ein wertvolles Plus gewinnen, und sofort griff der Kaiser zu.
Zugleich aber hoffte er auf dem Kongreß Gelegenheit zu finden,
sich mit dem Zarenreiche besonders zu verständigen. Er wird
deshalb nicht nur den am österreichischen Hofe beglaubigten
Narbonne, sondern auch Caulaincourt nach Prag entsenden.
Gebietserwerbung verzichten. (Onoken, Österreich und Preußen im
Befreiungskriege, II., 399.) Bald darauf schrieb er an Wessenberg:
„Der Kaiser wird das Unmögliche versuchen, um einen Frieden herbei-
zuführen." (Luckwaldt, S. 336.1 In der Tat war Franz I. sogar nötigen-
falls bereit, die Forderungen wegen Illyriens und der Hansestädte aus
dem Minimum zu streichen, und Metternich unterstützte ihn darin, ohne
alle Rücksicht auf die Reichenbacher Abmachung. Jüngst, hat Wert-
heimer, Der Herzog von Reichstadt, S. f>2, an der Hand einiger Briefe
des Ministers an Stadion aufs neue die Auffassung geltend gemacht,
Metternich sei stets für den Krieg und nur Kaiser Franz bis zuletzt
aufrichtig für den Frieden gestimmt gewesen. Aber bloß nach Zu-
schriften an Stadion, den beredten Wortführer der Kriegspartei, darf
man Metternich nicht beurteilen; an Bubna, der ebenso offen seine
Neigung für den Frieden kund tat, schrieb er anders, und an beide
zu verschiedenen Zeiten, unter verschiedenen Umständen, verschieden.
Selbst an Stadion rfber einmal: „Trachten Sie sie (Russen und Preußen)
zur Raison und dahin zu bringen, daß sie mehr vom Frieden als vom
Krieg erwarten, den sie nicht zu führen wissen.'* (Zit. v. Wertheimer
a. a. O. Anm. 3.) Die Konvention vom 30. Juni in Neumann, II. 365-
13*
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196
Pläne eines Zweibundes.
Allerdings nicht sogleich. Er hält den Marschall zurück, bis
am 26. Juli, nach großem Sträuben der verbündeten Monarchen
und schweren aber gerechten Vorwürfen gegen Metternich,
den Reichenbacher Vertrag nicht geachtet zu haben, zu Neu-
markt die Verlängerung des Waffenstillstandes von den militäri-
schen Unterhändlern unterzeichnet worden war. Wollte er viel-
leicht in Prag nicht unter dem frischen Eindruck der Nachricht
auftreten, daß Wellington am 21. Juni bei Vittoria, weit
nördlich vom Ebro, die Franzosen total geschlagen und in die
Flucht gejagt habe, daß nur wenig feste Plätze ihnen noch
jenseits der Pyrenäen geblieben seien, nach deren Fall Frank-
reich unmittelbar Gefahr drohe? Fürwahr, der Gedanke lag
ihm nahe genug, im Osten die Hände mit Ehren frei zu be-
kommen, und so erhielt denn Caulaincourt die Instruktion
mit auf den Weg, „mit Kußland einen für diese Macht glänzen-
den Frieden zu schließen".*)
In der Hauptstadt Böhmens gelangte Caulaincourt bald
zur Überzeugung, daß hier diesem Wunsche seines Herrn keine
Erfüllung winke. Anstett, der Vertreter Rußlands, war ein
entschiedener Napoleonhasser und außerdem mit Metternich
übereingekommen, die Verhandlungen in der Art wie auf dem
Teschner Kongreß von 1779 zu führen, d. h. sich nicht in
Konferenzen zu besprechen, sondern nur schriftlich, jede
Partei für sich, mit der vermittelnden Macht zu verkehren.
Metternich hatte diese Form gewählt, um jede Möglichkeit
einer Verständigung hinter seinem Rücken auszuschließen, und
*) Ernouf. Maret, S. 574. Daß noch vor kurzem Napoleon einem
allgemeinen Frieden nicht abgeneigt gewesen war, bestätigt Metternich
in einem Briefe vom 28. Juni aus Dresden an Kaiser Franz, „überzeugt,
daß die Frage des allgemeinen Friedens weit leichter durchzufechten wäre
als jene eines bloß kontinentalen Friedens". (Oncken, II., 895.) Maret
übergab ihm damals sogar einen darauf bezüglichen Entwurf. (Fain, II.
145). Die Beteuerung Napoleons auf St. Helena, in Dresden den allge-
meinen Frieden gewollt zu haben, ist durch Montholons „Erzählungen
von St. Helena", S. 107 bekannt geworden. Wenig Wochen später aber
war er schon nicht mehr dafür gestimmt und machte einer österreichi-
schen Sendung nach London Schwierigkeiten. Er rechnete da nur noch
mit einem Kontinentalfried en in seinem Sinne, d. h. mit Rußland
allein auf Kosten Preußens und ohne Rücksicht auf Österreich.
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Der Prager Kongreß.
197
die Verbündeten waren darauf eingegangen, damit sich Öster-
reich um so sicherer Frankreich gegenüber kompromittiere,
das diesen Verhandlungsmodus verwarf. Unter solchen Um-
ständen fand Caulaincourt nichts zu tun, und Napoleon mußte
die Idee eines Separatabkommens mit dem Zaren aufgeben;
er lebte fortan nur noch in dem Gedanken, mit den Waffen
zu erzwingen, was man ihm sonst nicht gewähren wollte, sei
es, daß in diesem Kampfe Österreich neutral blieb, wie er
noch immer hoffte, sei es, daß er seine Rüstungen derart betrieb,
um allenfalls auch allen drei Gegnern überlegen zu werden.
Die Nachricht, daß Alexander und Friedrich Wilhelm auf dem
schlesischen Schlosse Trachenberg mit Bernadotte über einen
Kriegsplan beraten hatten, schien ja ohnehin jeden weiteren
Gedanken an Frieden auszuschließen. Er verließ Ende Juli
heimlich Dresden, um in Mainz mit der Kaiserin-Regentin
und den Ministern zusammenzutreffen, ihre Berichte entgegen-
zunehmen, ihnen Weisungen für die Zeit des nächsten Felü-
zuges zu erteilen und die Divisionen zweier neuer Korps zu
inspizieren. Dann kehrte er am 5. August wieder nach Sachsen
zurück. Nur noch fünf Tage hielten den Schluß des Kon-
gresses auf, und noch war man in Prag über die Formalitäten
nicht hinaus. Natürlich. Denn jetzt lag niemandem mehr
etwas am Frieden. Die Verbündeten hatten ihn von der Ver-
mittlung Österreichs nie erwartet, sondern waren auf sie nur
eingegangen, um der Donaumacht eine „Brücke von jenseits
nach diesseits" zu bauen, und Metternich selbst war schon ganz
kriegerisch geworden, einmal unter dem Eindruck der Ereig-
nisse in Spanien, dann aber namentlich, als Bernadotte, auf
den man in Wien große Stücke hielt, sich in Trachenberg
zur Führung einer aus seinen Schweden, aus Preußen und
Russen zu bildenden Nordarmee bereit erklärt hatte und der
mit ihm vereinbarte Kriegsplan in Reichenbach im Sinne eines
von österreichischer Seite gemachten Vorschlags modifiziert
worden war (s. unten).*) Er hatte jetzt nur noch den einen
*) Am 19. Juli trägt Oberst Latour die österreichischen Propo-
sitionen nach Reichenbach, wo sie gebilligt werden, und am 22. rät
Metternich seinem Kaiser, „alle Zügel schießen zu lassen" und schickt
eine scharfe Note über die Säumnisse auf dem Kongreß an Maret, die
198
Österreichs Schwenkung zum Krieire.
Wunsch, seinen zaghaften Herrn von der Unmöglichkeit eines
Ausgleichs mit Napoleon zu überzeugen, was ihm endlich auch
gelang. Kaiser Franz, dem nun eine achtunggebietende Streit-
kraft zur Verfügung stand, lehnte den Gedanken nicht mehr
ab, sie zu gebrauchen. Sollte man die großen Opfer wirklich
bloß für die Herstellung eines Zustandes aufgewendet haben,
<3en man vor vier Jahren unerträglich gefunden hatte? eines
Friedens, der ja doch keine Dauer versprach? Stadion, der
seit Beginn seiner Mission bei den Verbündeten nicht müde
geworden war, Österreichs Beziehung zu diesen enger zu
knüpfen, und sich im Sinne seiner Instruktionen, ja, über sie
hinaus, ohne Kücksicht auf die Schwankungen an seinem Hofe,
auf eigene Faust betätigt hatte,*) schreibt jetzt bewegliche
Briefe: sein Herr möge sich nicht bei den minimalen For-
derungen begnügen, sondern den Moment benützen, wo man
mit 400.000 Streitern in der Front und in den Flanken eines
Feindes stehe, dem man gleich bei Beginn der Feindseligkeiten
in den Kücken fallen könne. Jetzt sei es, wo man sich volle
Unabhängigkeit und gesicherte Grenzen zu erkämpfen habe.
Der Reichenbacher Vertrag verpflichte nicht, den Casus belli
nur auf die vier Punkte des Minimums einzuschränken. Alles das
verfehlte nicht, seinen Eindruck auf den Monarchen zu machen,
dem bereits die „unvernünftige" Hinterhältigkeit Napoleons
dem Kongreß gegenüber jede Hoffnung auf Frieden geraubt
hatte. Pouche, der in jenen Tagen als neuernannter Gouver-
neur von Illyrien durch Prag gekommen war, hatte hier
viel von der prekären Lage des Franzosenkaisers und der
schwierigen Stimmung seines Volkes erzählt. Die Bevölkerung
Österreichs selbst — die Wiens ausgenommen, wo man neue
Niederlagen und eine dritte Okkupation besorgte — war
schließlich in eine Gärung geraten, mit der Minister und
Monarch rechnen mußten. Broglie, der Sekretär Narbonnes,
dann die Senfhing Caulaincourts beschleunigt hat. (Luckwaldt,
S. 348, 859 f.)
*) Am 17. Mai. als man in der Hofburg das Minimum herab-
minderte, schrieb er aus Görlitz an seine Frau: „Allem Anschein nach
spiele ich für meine Person in diesem Augonbliek ein gewagtes Spiel.
Vielleicht erzähl' ich Dir das einmal." (Handschriftlich.)
Metternichs Ultimatum.
199
berichtet in seinen Erinnerungen: „Wir konnten in Prag nicht
mehr über die Straße gehen, ohne insultiert zu werden."
Was aber das Wesentlichste war: Napoleon gewann end-
lich die Überzeugung, daß er sich in Beziehung auf Österreichs
künftige Haltung geirrt hatte, als er in Dresden zu Metternich
vertrauensselige Worte sprach. Die Berichte Caulaincourts,
namentlich aber die Tabellen über die sehr namhaften öster-
reichischen Rüstungen, die sich die Franzosen in Prag zu ver-
schaffen wußten, ließen ihn das Moment einer Kriegserklärung
von dieser Seite ernster in Erwägung ziehen, als er bisher
getan. Er sah sich plötzlich einer Koalition gegenüber, wie sie
gewaltiger noch nie wider ihn gestanden hatte, und von Mäch-
ten, die er bisher in ihren Interessen unvereinbar geglaubt. Er
machte noch einen letzten Versuch, sie zu stören. Kaum nach
Dresden zurückgekehrt, beauftragte er Caulaincourt, heimlich
bei Metternich anzuklopfen: „wie Österreich den Frieden ver-
stehe und ob es, wenn Napoleon seine Bedingungen annehme,
mit ihm gemeinschaftliche Sache machen oder neutral bleiben
wolle?" Doch dazu war es nun zu spät.*) Metternich übergab
zur Antwort in einem Ultimatum nicht nur die vier uner-
läßlichen Artikel, für die Österreich zu kämpfen sich ver-
pflichtet hatte, sondern alle sechs Punkte, für die es diploma-
tisch eintreten wollte, d. h. er verlangte auch die Auflösung
des Rheinbundes und die Wiederherstellung des alten Preußens,
ja, darüber hinaus, auch noch die wechselseitige Garantie des
Besitzstandes aller Staaten — und alles das. damit Napoleon
ja nicht nachgab; die Erklärung hierauf sollte, ja oder nein,
längstens bis zur Mitternacht des 10. August in Prag eintreffen.
Es mögen immerhin unangenehme Stunden gewesen sein, die
er seit dem Abgang dieses Ultimatums am 8. verlebte.
Wie, wenn Napoleon kurzweg und noch rechtzeitig er-
klärte, daß er darauf einging? Welche Verlegenheit für
Österreich! Denn dann mußte man sich mit einer Ausflucht
helfen, die man sich für alle Fälle offen hielt. Nicht ver-
*) Am 9. August schrieb Caulaincourt an Maret : „Da man nie
s or Zeit nachgeben will, verdirbt und verliert man alles." (Zit. von
Sorel, V1IT., 173.)
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200 Napoleon lehnt ab.
gebenß heißt es in der Einleitung zu dem Ultimatum, die
der Minister Caulaincourt bekanntgab, Österreich seien „aus
vorläufigen Erklärungen" die Bedingungen bekannt, unter
denen die Verbündeten zu friedlichen Abmachungen ge-
neigt schienen und die Franz I. als die einzigen an-
sehe, die wirklich* einen allgemeinen Frieden herbeiführen
könnten.*) Danach war mit dem Ultimatum zwar deutlich
gesagt, daß Österreich, wenn Napoleon die Bedingungen nicht
annahm, zu den Verbündeten abschwenken, aber nicht, daß
es, wenn er zustimmte, Rußland und Preußen daraufhin zum
Frieden zwingen würde. Doch Metternichs Rechnung war
eicher und er konnte immerhin an Stadion schreiben: die Art
der Fragestellung lasse keine Möglichkeit für ein Ja von
seiten Napoleons zu. Der Sieger von Lützen und Bautzen
konnte ein Programm nicht annehmen, das ihm das Ver-
fügungsrecht über seine deutschen Truppen bestritt und ihn
die Weichsel- und Oderfestungen räumen hieß. „Will man
von mir," hatte er damals in Dresden zu dem Minister gesagt,
„daß ich mich entehre? Niemals! Eure auf dem Throne ge-
borenen Souveräne können sich zwanzigmal schlagen lassen
und dennoch jedesmal in ihre Hauptstadt zurückkehren. Ich
aber bin nur ein Sohn des Glücks; ich würde aufgehört haben
zu regieren an dem Tage, wo ich aufgehört hätte, Achtung
zu gebieten." Er ist jetzt empört über Österreichs Zumutungen,
die er in seinen Briefen an Jerome und Cambaceres bis zur
Bedrohung von Venedig übertreibt, und nur um auch seiner-
seits einen Schritt zu tun, bietet er die Auflösung des Herzog-
tums Warschau gegen eine Entschädigung des Königs von
Sachsen, Danzig als Freistaat mit geschleiften Festungswerken,
lllyrien und Dalmatien ohne Triest. Das bekam Bubna noch
am Abend des 9. in Dresden zu hören und berichtete es sofort
nach Prag. Die offizielle Antwort Napoleons aber, der sich die
Stunde nicht hatte vorschreiben lassen wollen und darauf
rechnete, daß man durch Bubna orientiert war, traf erst
am 11. ein, als Narbonne bereits seine Pässe erhalten hatte
und der Kongreß zu Ende war. Am 12. erklärte Franz I.
*) Thiers, XVI. 217; Oncken, Österreich und Preußen. IT, 450;
Luckwaldt, S. 368; Sorel, VIII., 171.
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Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. 201
an Frankreich den Krieg. Ein neues entsetzliches Hingen
begann.*)
Es kann hier nicht daran gedacht werden, genauer die
Kämpfe zu schildern, in denen sich die Völker und Staaten
Europas, ihres wechselseitigen Zwistes vergessend, gemeinsam
der drückenden Übermacht des imperialistischen Frankreichs
erwehrten. Nur die wesentlichsten Momente, und diese nur
in übersichtlicher Weise, dürfen zur Sprache kommen.
Napoleon hatte die Zeit des Waffenstillstandes mit allen
Kräften ausgenützt. Auf über 440.000 Mann wird die Heeres-
macht angegeben, die er jetzt seinen Feinden entgegenstellte.
An Reiterei, deren Mangel er vor Wochen so bitter beklagte,
hatte er nun Überfluß, an Artillerie desgleichen. Und waren
es auch nur die Jüngsten der kampffähigen Jugend Frank-
reichs und der rheinbündischen Länder, die er herbeizog, so
sahen wir doch bei Lützen und Bautzen diese Jünglinge trotz
wetterfesten Männern fechten. Sie werden auch jetzt ihre
Schuldigkeit tun, und würden es sogar mit Lust und Eifer,
wenn nicht Ebbe in der Kriegskasse eingetreten und etwas
mehr Ehrgefühl in die Seelen der Verwaltungsbeamten ein-
gekehrt wäre. Aber die Gelder fehlten für den Sold, und die
Korruption war beispiellos, so daß die jungen Krieger außer-
ordentlich vom Hunger litten, der viele Tausende in die
Spitäler schaffte. Er wird mit eine der Hauptursachen sein,
*) Napoleon hat übrigens das diplomatische Spiel nicht so rasch
verloren gegeben. Die Feindseligkeiten konnten erst nach einer Woche
Aufkündigungsfrist beginnen. Er benützte diese, am auf Österreichs
Ultimatum nahezu einzugehen, gewiß nur, um das Odium des An-
greifers auf andere Schultern zu laden. Aber er erreichte damit nichts
mehr. Am 16. August — Alexander war nach Prag gekommen und
Metternich hatte ihm die Entscheidung anheim gestellt — erhielt sein
Bevollmächtigter in das nahe Köuigsaal ablehnenden Bescheid. Im
Jahre 1814 sagte der entthronte Kaiser zu dem österreichischen General
Koller: „"Was den Prager Kongreß betrifft, so gestehe ich, daß ich mich
in Euch getäuscht habe; ich habe Euch für das gehalten, als was ich
Euch bei früheren Gelegenheiten kennen gelernt, und Ihr hattet Euch
inzwischen zu Eurem Vorteil verändert." (Helfert, Napoleons Fahrt
von Fontainebleau nach Elba, S. 18.)
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202
Die französischen Streitkräfte.
wenn Napoleon in dem großen Hingen unterliegt.*) Woran
es überdies der Armee noch immer mangelte, das war an Offi-
zieren und Unteroffizieren; das Letztere wohl deshalb, weil der
Kaiser die tüchtigsten Elemente in seine Garde zog, die jetzt
bis auf 58.000 Mann angewachsen war und mit jener Sorgfalt
berücksichtigt und bevorzugt wurde, die wir bereits kennen;
es sah fast aus, als ob sich der an kein Volk gebundene Impe-
rator mit diesem Heer im Heere eine persönliche Armee zu
schaffen gedächte. Außerdem gab es jetzt noch vierzehn Armee-
korps, von denen jedoch zwei — die Bayern am Inn unter
Wrede und die Danziger Besatzung — nicht in Betracht kamen
und in die 440.000 Mann auch nicht eingerechnet sind. Von
der unter Davout an der Niederelbe stehenden Heeresabteilung
war ein Korps unter Vandamme (das 3.) abgezweigt und nach
Dresden dirigiert worden. Ein zweites (das 14.) wurde aus
Franken herbeigezogen und unter Saint-Cyr gestellt. Ponia-
towski hatte 8000 Polen durch Österreich, entwaffnet, herbei-
geführt, von denen er ein Korps von 7500 Mann (das 8.) unter
seinem Befehl hielt. Und neben all dem gah es noch fünf
Reservekavalleriekorps unter Murat. der endlich seiner poli-
tischen Schwankungen ledig geworden und wieder zum Kaiser
zurückgekehrt war. Dieser gedachte ihn offenbar durch ein her-
vorragendes Kommando an sich zu fesseln. Die Kriegsmacht war
zum größten Teil zwischen Dresden als Hauptstützpunkt und
Liegnitz postiert, und zwar standen vier Korps — das 3. (Ney),
das 5. (Lauriston), das 6. (Marmont), das 11. (Macdonald) samt
einem Kavalleriekorps — als „Bober-Armee", 130.000 Mann
stark, unter Ney an der Katzbach und am Bober mit der
Front nach Osten. Mit der Front gegen Süden standen bei
Dresden Saint-Cyr und ein Kavalleriekorps, bei Bautzen Van-
*) Die Listen weisen nicht weniger als 90.000 Kranke auf, die
unter den 440.000 Mann, mit denen man die Armee in Deutschland
bezifferte, nicht erscheinen. Sie gingen durch Mangel an Wartung und
Nahrung zum größten Teile zugrunde. Die Korruption erstreckte sich
in die nächste Umgebung des Monarchen. Ein Augenzeuge erzählt,
wie der Zahlmeister Peyrusse von 4000 Franken, die der Kaiser für ein
Denkmal Durocs bei Reichenbach ausgesetzt hatte, 1000 Franken in
die Tasche steckte mit dem Bemerken, das sei so Brauch. (Odeleben,
Napoleons Feldzug in Sachsen, S. 255.)
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Die Streitkräfte der Verbündeten.
203
dämme mit einem solchen, bei Görlitz die Garden, das 2. Korps
(Victor) und ein Kavalleriekorps, bei Zittau Poniatowski: es
war die Hauptmacht, 180.000 Mann, unter des Kaisers eigenem
Kommando. Außerdem waren drei Korps: das 12. (Oudinot),
das 4. (Bertrand), das 7. (Reynier) und ein Kavalleriekorps,
67.000 Mann, die „Arm£e de Berlin", nordwärts detachiert;
sie standen unter Oudinot bei Luckau, Kalau und Kottbus,
während Davouts Korps, das 13., mit 38.000 Mann in Ham-
burg stationiert blieb und Girard in Magdeburg und Wittenberg
ein Zwischenkorps von zwei Divisionen vereinigte.
Auch die Verbündeten hatten während der letzten Mouate
gewaltig gerüstet. Alexander I. hatte das Ergänzungssystem
geordnet, so daß aus allen Teilen des russischen Reiches
Truppen herankommen konnten, bis Mitte August die russische
Feldarmee 180.000 Mann betrug, abgesehen von den großen
Reserven in Polen. Von Seiten Preußens war, dank der Kampf-
begeisterung des Volkes und der stahlharten Energie der
Kriegsleitung, Unerhörtes geleistet worden: bis auf 160.000
Mann hatte man die Feldarmee (auf 100.000 die Landwehr)
gebracht. „Wir haben nun eine Armee", schrieb Gneisenau
schon am 11. Juli an Stein, „wie Preußen nie, selbst in seiner
glänzendsten Periode nicht hatte." Und auch Österreich hatte
alle denkbaren Anstrengungen gemacht und in Böhmen, ohne
die Garnisonen, 127.000 Mann auf die Beine gestellt. Überdies
standen in Innerösterreich 37.000 Mann, um Eugen, im Donau-
• tal 30.000, um die Bayern abzuwehren; in Tirol unterstützte
man die Insurrektion. Die Geldmittel lieferte England, mit
dem man sogleich nach der Auflösung des Kongresses — am
18. August — eine Subsidienkonvention abgeschlossen hatte,
die der Wiener Regierung zunächst eine halbe Million Livres
eintrug.*) Über den Plan, wie man all die Kriegskräfte —
mit den 23.000 Schweden Bernadottes, 9000 Mann englisch-
deutscher Truppen und einem mecklenburgischen Kontingent
waren es über 500.000 Mann — gegen den gefürchteten
Cäsar verwenden wollte, war schon im Juni zu Gitschin, als
*) In dorn Vertrag ist die Aufstellung von 5000 Mann an der
Save, die Aushebung von 6 Bataillonen „Grenzer", und die Unterstützung
der Tiroler Insurrektion vorgesehen. (Das Original im W. St. A.)
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204
Der „Trachenberge!- Kriegsplan**.
Franz I. seine Mitwirkung nur erst in mögliche Aussicht
stellte, eine vorläufige Übereinkunft entstanden, die dann in
den Besprechungen zu Trachenberg mit dem Kronprinzen
von Schweden erweitert und noch im Juli durch die Annahme
österreichischer Zusatzvorschliige in Reichenbach zum Ab-
schluß gebracht wurde (s. oben). Nach diesen allgemein als
„Trachenberger Kriegsplan" bezeichneten Verabredungen
sollten drei Armeen aufgestellt werden. Die Hauptarmee lag,
aus Rücksicht auf das umworbene Österreich, das eine neue
Tnvasion von Norden und eine Okkupation Wiens besorgte,
in Böhmen; sie ward durch starken Zuzug verbündeter
Truppen aus Schlesien auf die entsprechende Höhe gebracht
und zählte am Ende des Waffenstillstandes -über 250.000 Mann;
sie stand unter dem Kommando des Fürsten Schwarzenberg,
der Radetzky als Generalstabschef zur Seite, aber auch die
drei Monarchen mit ihren besonderen militärischen Beratern
auf dem Halse hatte, was keine geringe diplomatische
Kunst erforderte.*) Dann gab es eine Nordarmee unter
Bernadotte, die aus zwei preußischen Korps (Bülow und
Tauentzien), einem russischen (Winzingerode), den Schweden,
im ganzen aus 127.000 Mann bestand; ein gegen Davout hin
detachiertes Observationskorps kam für den sächsischen
Kriegsschauplatz nicht in Betracht. Der Armee in Schlesien
blieben nach dem Abmarsch von 125.000 Mann nach Böhmen
noch etwas über 100.000 — ein preußisches Korps unter Yorck
und drei russische — unter dem Kommando Blüchers, den .
Gneisenau beriet. Der wesentlichste, von Radetzky herrührende
Grundsatz der Kriegführung, den man vor allen befolgen
wollte, war der, daß, wenn der Feind mit seiner Hauptmacht
einer der Armeen entgegentrat, diese zurückweichen sollte,
indes die beiden anderen vorwärtsgingen und losschlugen,
*) Die Schwierigkeit der Leitung dieses Heerkörpers, der aus 127.000
Österreichern, 82.000 Russen und 45.000 Preußen zusammengesetzt
war, lag vornehmlich darin, daß Schwarzenberg für jede Verwendung
nichtösterreichischer Truppen vorerst die Zustimmung des betreffenden
Monarchen einholen mußte, wobei sich namentlich mit Kaiser Alexander
manche Differenz ergab. (Vgl. Schwarzenberg an Kaiser Franz im
Anhang.)
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Napoleon» Operationsentwürfe. 205
das heißt, man wollte den großen Schlachtenkaiser, der doch
wohl die Hauptmacht befehligen würde, die Gelegenheit zu
einem entscheidenden Schlage so lange nehmen, bis die drei
verbündeten Armeen, verstärkt durch das Reserveheer, das
Eußland in Polen sammeln ließ, mit Übermacht und in einer
sonst den Erfolg verbürgenden Kooperation selbst einen solchen
wagen konnten.
Von diesem Plane hatte Napoleon keine Kenntnis er-
halten. Erst spät erfuhr er von dem Marsche russischer und
preußischer Truppen nach Böhmen. Die Absicht, die man
ihm im feindlichen Lager zuschrieb, er wolle auf Wien los-
gehen, hat er nie gefaßt. Er dachte sogar, wozu auch seine
Generale rieten, daran, Dresden aufzugeben und hinter der
Saale eine starke Stellung zu nehmen, um von da aus die
einzeln vorrückenden Armeen der Verbündeten zu schlagen,
gab aber auf ein hingeworfenes Wort Marets, Friedrich II.
habe in ebenso vorgerückter Position den vereinigten Russen
und Österreichern mit Erfolg widerstanden, die sehr richtige
Absicht auf und blieb jenseits der Elbe. *) Er will jetzt
Davout von Hamburg her und Oudinot, nordwärts zusammen-
wirkend, gegen Berlin die Offensive ergreifen lassen, was er
sich erfolgreich denkt, da er die feindliche Nordarmee weit
unterschätzt und hier die Schwäche des feindlichen Auf-
marsches vermutet. Zur Verbindung der beiden hatte eine
der Divisionen unter Girard von Magdeburg ostwärts zu ziehen.
Nach der Einnahme der preußischen Hauptstadt sollten sofort
Küstrin und Stettin entsetzt und so der linke Flügel der
ganzen Aufstellung nach Osten vorgerückt werden. Unterdes
wollte der Kaiser diese Unternehmung durch eine wirksame
Diversion gegen die beiden anderen Armeen sichern, den
Feinden den Angriff überlassend. Woher nun derselbe kommen
würde, war ihm nicht klar. Für alle Fälle nahm er bei Görlitz
mit der Garde und einigen Korps eine abwartende Stellung
ein, in der Vermutung, daß die vereinigten Russen und Öster-
reicher aus Böhmen über Zittau vorbrechen könnten. Dresden
hat er durch Erdwerke und Pallisadcn gegen einen Hand-
*) Pasquit'r, Memoiros, IL, 82.
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206 Blücher eröffnet die Feindseligkeiten.
streich zu schützen gesucht und Saint-Cyr für diesen Fall die
Verteidigung übertragen, in die er übrigens nach wenig Tagen
selbst einzugreifen imstande war.
Die Offensive des Feindes über Zittau erfolgte nicht. Da-
gegen hat Blücher schon vor dem 16. August die Feindselig-
keiten begonnen und die vier französischen Korps unter Ney,
die ihm bei Liegnitz unmittelbar gegenüberstanden, hinter
den Bober zurückgedrängt. Napoleon will dies wieder gut-
machen und Blücher aufs Haupt schlagen. Aber dieser merkte
alsbald — schon an der veränderten Haltung der franzö-
sischen Truppen, wenn nicht an dem „Vive l'empereur", das
herüberschallte — die Anwesenheit des feindlichen Kriegs-
herrn und damit die Absicht eines entscheidenden Vorstoßes,
und tat, wie verabredet war: er wich kämpfend hinter die
Katzbach zurück. Daß dies willkürlich geschah, merkte der
Kaiser anfänglich nicht und drängte eifrig nach, bis er es am
22. inne wurde, „daß die Führer kein ernstes Engagement
wollten". Darauf rückte er wieder in seine Stellung Görlitz-
Zittau zurück, wo ihn unversehens die Bitte Saint-Cyrs um
Beistand ereilte, denn Dresden sei durch den Anmarsch eines
feindlichen Heeres vom Erzgebirge her aufs emstlichste
gefährdet.
So winkte die Entscheidung an ganz anderer Stelle als
Napoleon vermutet, aber sie winkte dort, wo er sie vor allem
gewünscht hatte. In einem Briefe an Maret aus diesen Tagen
heißt es : „Da ohne Schlacht keine Entscheidung erfolgen kann,
so kann uns nichts Glücklicheres begegnen, als daß der Feind
nach Dresden marschiert, weil es dann zu einer Schlacht
kommen muß."*) Er läßt Macdonald mit drei Korps Blüchern
gegenüber stehen und nimmt Ney und das sechste Korps
am 23. mit sich nach Westen, wohin er auch die Garden und
die Korps von ^andamme und Victor dirigiert, die zum
Empfang der Verbündeten nördlich von Zittau bereit gestanden
hatten. Nach dreitägigen beispiellosen Eilmärschen gelangen
die Truppen in die Nähe Dresdens, indes der Kaiser den
kühnen Plan gefaßt hat, die Elbe unterhalb des Feindes, der
*) Oorresp. XXVI, 20.437 (22. Aupu?t).
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Die böhmische Armee rückt gegen Dresden vor. 207
bereits nahe an die Stadt herangekommen schien — Wittgen-
stein hatte am 22. das Lager bei Pirna genommen — zu über-
schreiten, ihn zwischen sich und Saint-Cyr zu bringen, von
seiner Rückzugslinie abzuschneiden und auf Prag loszugehen.
Aber er muß den kühnen Gedanken alsbald wieder fallen
lassen. Saint-Cyr ist zu schwach, um so lange Widerstand zu
leisten, bis die große Umgehung ausgeführt war; man muß daher
den sicheren Weg wählen und dem Gegner von Dresden aus
entgegentreten. Nur Vandamme wird mit 40.000 Mann nach
Pirna und Königstein geschickt, während Xapoleon selbst
am Vormittage des 26. August mit den Garden, die in den drei
Tagen, bei strömendem Hegen, querfeldein, da die Straße
für die Artillerie und den Train reserviert blieb, über neun-
zehn Kilometer von Löwen berg her zurückgelegt haben, in
die Stadt einmarschiert. Die Korps von Marmont und Victor
sind noch unterwegs.
Die Verbündeten waren unterdes tatsächlich nahe an
Dresden herangerückt. Sie hatten ehevor, in einem Kriegsrat
zu Melnik, den Entschluß gefaßt, mit dem Gros der „böhmi-
schen Armee" nach Leipzig hin, auf Napoleons Verbindungen,
vorzugehen, sobald er gegen Bernadotte zog, dann aber,
während des Vormarsches über das Erzgebirge, die gefährliche
Absicht aufgegeben und sich mit dem ganzen Heer Dresden
zugewendet, als sie vernahmen, daß der Kaiser in Schlesien
gegen Blücher zu Felde lag. Die Lockung, sich der wich-
tigen Stadt mit ihren reichen Depots und Reserven zu be-
mächtigen, war groß genug, und so will man denn am
25. August von den Höhen im Süden eine Rekognoszierung
vornehmen, „ob ein coup de main etwa gelingen könnte". Es
kommt aber nicht dazu, da im Hauptquartier die Meinung
vorwaltet, es wäre vorteilhafter, noch weiterhin „zu manö-
vrieren, bis des Gegners Pläne besser aufgeklärt seien". Dies
war namentlich die Ansicht Kaiser Alexanders, der sich von
seinen militärischen Ratgebern — Moreau, der alte Feind
Napoleons, hatte sich zu solchen Diensten eingefunden —
dazu bestimmen ließ, obgleich ein Handstreich an diesem
Tage Erfolg gehabt hätte. Freilich entsprach es weit mehr den
verabredeten strategischen Grundsätzen, ohne große Opfer
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208
Die Kämpfe um Dresden am 26. August.
die Hauptmacht des Feindes von den kleineren Armeen
w eg auf sich zu locken und diese dadurch zu siegreichem Vor-
dringen ihrerseits zu befähigen, d. h. der Hauvtarmee und
der schließlichen Entscheidung näher zu bringen. Darum
betont auch Schwarzenberg in einem Befehl für den nächsten
Tag, den „demonstrativen" Charakter der weiteren Vor-
rückung, die den rechten Flügel — die Russen unter Wittgen-
stein — allenfalls bis in die Pirnaer Vorstadt, das an ihn
sich schließende preußische Korps unter Kleist in den Großen
Garten, ein Korps Österreicher im Zentrum und linkshin
„ohne nutzlosen Menschenverlust" in die Dörfer und Vororte
im Süden und Westen der unterdes kräftig beschossenen Stadt
führen soll. Die Beschießung und der Angriff des linken
Flügels wird auf den Nachmittag des 36. festgesetzt. An diesem
Tage aber — der Kampf gegen Saint-Cyr war bereits im
Gange, da man nun doch die ernste Absicht hat, sich mit einem
Teil der Armee Dresdens zu bemächtigen*) — vernimmt man
vom Herannahen starker feindlicher Massen von Osten her
und schließlich von der Anwesenheit Napoleons in der Stadt:
eine völlig veränderte Lage, die, dem Kriegsplan gemäß, aus
der Offensive in die Verteidigung, ja zum Rückzug überzugehen
gebot. Es ward denn auch beschlossen, von weiteren Angriffen
auf Dresden abzustehen und zunächst nur auf den Höhen
eine feste Stellung zu nehmen, bis die Retraite eingeleitet war.
Die Gründe sind noch nicht aufgeklärt, aus denen es dann
doch nicht zur Unterbrechung des Kampfes, vielmehr, wie
ursprünglich bestimmt worden war, zu dessen verstärkter Auf-
nahme auf dem linken Flügel kam. Nach vier Uhr Nachmittag
wurde rings um die Stadt gekämpft, indes ein Hagel von
(icschossen auf sie niederprasselte.
In der Zwischenzeit waren jedoch, jedes einzelne von
*) Am 26. August schreibt Metternich aus Brüx au Hudelist in
Wien : „Ich bin heute aus dem Hauptquartier zu Reichstätt bei Dippol-
diswalde, vier Stunden von Dresden, eingelangt. Wie ich letzteren Ort
verließ, brachen eben 30.000 Mann auf, um eine große Recounaissance
zu machen. Heute im Tag sollte Dresden angegriffen und mit Sturm
empört iert werden. 60.000 Mann, worunter 20.000 Österreicher, sind
zu dem I'ntt'inelimen bestimmt, zu welchem alle Chancen vorhanden
sind." S. Anhang.
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I'iy Kämpfe bei Dresden am 27. August. 209
Napoleon durch ermutigende Worte angefeuert, die Regimenter
der Garden über die Elbe und in die bedrohten Positionen
gerückt. Sie wehren die ohne einheitliche Leitung und nir-
gends mit überlegenen Kräften unternommenen Stöße ab,
so daß die Truppen der Verbündeten, da sie ohne Sturmmittel
sind und ohne Sukkurs bleiben, keine Erfolge erringen können.
Sie verbluten 6ich nutzlos an der l'mwallung der Vorstädte.
Dann geht, nach 5 Uhr, Napoleon seinerseits zum Angriff
über und drängt links die Russen hinter Striesen, rechts die
Österreicher gegen Löbtau und Cotta, im Zentrum Preußen
und Österreicher gegen Strehla und die Räckuitzer Höhen hin
zurück. Der Tag hat günstig für die Franzosen geendet, ohne
die Korps von Marmont und A'ictor, die erst während der
Nacht anlangen und das Heer wesentlich verstärken.
Am nächsten Morgen ergreift der Kaiser sofort die Offen-
sive, als er die Streitkraft der A'erbündeten, nur in höhere
Positionen gerückt, noch vorfand. Es war freilich von Schwar-
zenberg der sofortige Rückmarsch empfohlen worden, da
Dresden nun doch nicht mehr einfach wegzunehmen, der
Zweck der „Demonstration" erfüllt sei, die Truppe, der es an
Nahrungsmitteln fehle, bei dem unaufhörlichen Regenwetter
6chwer zu leiden habe und der nach Pirna detachierte Prinz
von Württemberg sich gegen Vandamme nicht werde halten
können; aber die Monarchen, insbesondere Friedrich Wilhelm,
waren für die Fortsetzung des Defensivkampfes in guten
Stellungen, wenn der Kaiser die Schlacht erneuere. Er tat
es. Napoleon beschäftigt des Gegners rechten Flügel und
dessen Zentrum, indes Victor mit seinen Kolonnen gegen die
Linke vordringt und sie zwischen Roßtal und Döltzschen durch-
bricht, so daß Murat mit dem äußersten linken Flügel leichtes
Spiel hat. Er bedroht ihn mit seinen Reiterkorps in der Front
und läßt ihn gleichzeitig durch zwei Divisionen von Westen her
umgehen. Eine österreichische Division (bei 9000 Mann) wird
samt ihrem Kommandanten gefangen genommen, der Rest
auf der Freiberger Straße weit zurückgeworfen. Der Fehler
der Verbündeten, die ihre Kavallerie ungenützt im Zentrum
stehen ließen und keinen Vorstoß wagten, neben dem Umstand,
daß ein Korps Österreicher unter Klenau von Tharandt nicht
Fournier. Nii]..,1eon I. H
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210
Rückzug der Verbündeten.
mehr zu rechter Zeit herankommen konnte, förderte hier den
Teilsieg der Franzosen. Im Kücken bedroht — denn Barcia v
hatte den Befehl des Zaren, die Franzosen von der pirnaischen
Stralic zu vertreiben, unausgeführt gelassen — auf der Linken
empfindlich geschlagen, ziehen sich endlich die Alliierten in
der Nacht zurück/') Sie haben in den zwei Tagen über
10.000 Mann an Toten und Verwundeten und über 15.000
an Gefangenen eingebüßt, während ihr Gegner in seiner
geschützten Stellung weit geringere Verluste und einen Er-
folg zu verzeichnen hat. Wenn er ihn mit Umsicht ausnützt,
kann die Hauptmacht seiner Feinde eine Katastrophe er-
eilen, die kein Sieg ihrer andern Armeen aufzuwiegen vermag.
Er hat es nicht getan. Schon deshalb nicht, weil er am
27. abends noch keineswegs gewiß war, ob die Gegner, deren
Hauptkräftc, namentlich im Zentrum und auf dem rechten
Flügel, nur wenig beschäftigt gewesen waren, die Schlacht nicht
noch einmal, und nun mit voller Macht, wagen würden.
Seine Befehle, die er des Abends erteilte, lassen keinen
Zweifel übrig, daß er noch einen dritten Kampftag erwar-
tete. Und in der Tat wurde auch im Hauptquartier der Ver-
bündeten bis tief in die Nacht hinein der Plan diskutiert,
sich auf die Höhen von Dippoldiswalde zurückzuziehen und
dort mit der ganzen Armee das Gefecht zu erneuern,
bis endlich Schwarzenberg die mangelhafte Ausrüstung
der Österreicher, namentlich mit Artilleriemunition, gel-
tend machte und den Bückzug anordnete. Als Napoleon
am nächsten Morgen in die Kampflinie des vorhergehenden
Tages vorritt, sah er die feindlichen Kolonnen auf den Wegen
nach Maxen und Dippoldiswalde in den Bergtälern ver-
schwinden. Da Vandamme mit seinen 40.000 Mann die große
Pirnaer Straße, die über Peterswalde nach Teplitz führt,
*) Namentlich in dem Verhalten Barclays erblickte man im
Hauptquartier der Monarchen einen Hauptgrund für den Mißerfolg
des Tages. Am 31. August schrieb Metternich hierüber an Hudelist :
„Nach beispiellosen Fatiguen und einer in ihrem Entstehen vortrefflich
geleiteten Operazion, welche aber durch die ebenso beispiellose Ineptie
des Generals Barclay de Tolli scheiterte und äußerst kompromittierende
Folgen für uns hätte haben können, hat die Gesamtarmee ihren Rückzug
aus Sachsen am 27. Abends begonnen. 4 * S. Anhang.
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„Aimaberg M oder „Altenberg 1 *?
211
bereits besetzt hielt, war es des Kaisers Überzeugung, daß die
Verbündeten die letztere Stadt auf dem zwar weniger be-
quemen, aber kürzeren Wege über Altenberg zu gewinnen
trachten würden. Er läßt ihnen hier Saint-Cyr und Marmont,
auf der Straße über Eabenau Victor folgen, während Murat
über Freyberg nach Frauenstein marschieren und ihnen von
dorther Flanke und Rücken bedrohen soll. An Vandamme, den
Mortier bei Pirna abgelöst hat, schickt er am 28. ein Schreiben,
daß der Gegner die Richtung auf Altenberg einzuschlagen
scheine und er ihm auf seinen Verbindungen mit Teplitz zuvor-
kommen und namentlich seinem Troß manchen Schaden tun
könne.*) Er selbst hält den Feind, von dem er noch soeben
*) Dieser Brief Berthiers an Vandamme den Pelet, Des prinei-
pales Operations de la campagne de 1813 im „Spectateur militaire" von
1823 mitteilt, wird von allen Geschichtschreibern, auch den militäri-
schen, mit Ausnahme Aster s, mit dem ganz sinnlosen Sehreibfehler
„Annaberg" für das einzig mögliche „Altenberg" wiedergegeben. Weder
der "Wortlaut dieses Briefes noch Napoleons Schreiben an Murat vom
folgenden Tage mit dem Satze: „toute l'armöe sc retire par Altenberg
sur Toeplitz" lassen einen Zweifel übrig. Man hat allerdings in jüngster
Zeit den Versuch gemacht, Napoleons schwer erklärliches Verhalten
in diesen Tagen damit zu rechtfertigen, daß er am 28. August den
Feind wirklich im Abmarsch in der Richtung „auf Annaberg" ver-
mutet und deshalb Vandamme, den er nun nicht für gefährdet hielt,
weiter nicht unterstützt habe, bis er erst am Nachmittag des 29. aus
einem Berichte Marmonts „zu seiner Überraschung" den Abmarsch der
Verbündeten „über Altenberg nach Teplitz" erfuhr. (Jahrbücher für
die deutsche Armee und Marine, 1902, in Ausführung der von Osten-
Sa cken gelegentlich ausgesprochenen Ausi cht : die einzig zur Erklä-
rung mögliehe Annahme sei die, daß Napoleon den Feind im Rückzüge
über Freiberg vermutet und nicht geahnt habe, welchen Ersatz er
hätte gewinnen können, aber auch nicht, in welcher Gefahr sein General
schwebte.) Aber die Argumente, die hiefür angeführt werden, reichen
doch nicht aus, um auf eine Anzahl von Fragen präzise Antwort zu
geben. Z. B.: Was sollte das verbündete Heer in der Gegend von
Annaberg? Wollte es nicht wieder zurück nach Böhmen, wo die Ma-
terialdepots und die Reserven lagen? Und die österreichische Artillerie
hatte nur die halbe Chargierung auf den Weg mitgenommen. Und
wenn das Ziel schon in jener Richtung lag, warum nennt Napoleon
nicht das nähere Marienberg, von wo die Straße über Sebastiansberg
nach Böhmen führte und das ihm geläufiger ist, da es sich wiederholt
in seiner Korrespondenz findet? War es logisch, den Feind im Rück-
züge nach Westen zu vermuten, wo doch gerade dessen linker Flügel
14*
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212 Verwirrung im retiricrenden Heere.
die Erneuerung der Schlacht erwartet hatte, keineswegs für
überwunden; es scheint ihm aber nach seinem Kriegsplan offen-
bar schon ein großer Erfolg, den Anprall der Hauptarraee
siegreich zurückgewiesen zu haben. Hätte er von der Nieder-
geschlagenheit im andern Lager, von der schlechten Stimmung
der Österreicher, von der üblen Ordnung auf dem Rückzüge,
dem Ineinandermarschieren der Kolonnen, so daß 36.000
Preußen unter Kleist, um überhaupt nur vorwärts zu kommen,
von Fürstenwalde ostwärts über das Gebirge auf die Peters-
am 27. umgangen und geschlagen worden war, während Zentrum und
Rechte nahezu intakt blieben? Wie konnte übrigens der Kaiser bei
dieser Vermutung am 28. an Vandamme schreiben lassen: „Ich denke,
daß sie vor dem Feind auf der Verbindung von Tetschen (!), Aussig (!)
und Teplitz ankommen und so seine Equipage, Bagage etc., schließlich
alles, was hinter einer Armee marschiert, nehmen können?"
Konnte Vandamme wirklich auf der Linie Tetscben-Aussig die ßagage
hinter einer Armee wegnehmen, die von Dresden nach Annaberg zog?
Wie konnte der Kaiser am 29. morgen-* an Murat sehreiben: „Vandamme
meldet, daß der Schrecken in der ganzen russischen Armee herrsche",
wenn die Russen auf Annaberg, Vandamme gegen Aussig marschierten?
Und wenn er in demselben Befehl seinen Schwager anwies, von .Freiberg
südöstlich auf Fiauenstein einzuschwenken, „um dem Feind in Flanken
und Rücken zu kommen," ist es da nicht nur natürlich, daß er sich Murat
im Vormarsch über Hermsdorf dachte, der ihn in der Tat in Flanke
und Rücken der über Altenberg marschierenden Kolonnen führte? Und
wenn wirklich Marmonts Meldung vom 29., „der Feind marschiert über
Altenberg", Napoleon „überraschte", mußte sich diese Überraschung nicht
sofort in neuen Ordres, wenigstens was Vandamme betraf, ausdrücken?
Wir finden nichts dergleichen. Erst am 30. läßt er an Mortier schrei-
ben, er solle Vandamme, „wenn er dessen bedarf," mit drei Divisionen
Garde unterstützen. Nein, was Marmont am 29. meldet, ist nur die
Bestätigung dessen, was Napoleon am 28. vermutet („il parait") hat:
daß der Feind auf Altenberg zu marschiere. „Zwar habe gestern",
heißt es in dem Postskript zum Brief an Murat vom 29., „nach Mar-
monts Meldung eine Trainkolonne von Dippoldiswalde die Straße nach
Frauenstein eingeschlagen, sie wird aber bei Hermsdorf die Altenberger
Straße wiedergewonnen haben, "womit gleichsam die Ansicht vom Vortage
bekräftigt wird. Aus diesen, aus Napoleons Briefen (Corresp, XXVI)
geholten Gründen kann ich heute meine Meinung noch nicht aufgeben,
daß es im Brief Berthiers an Vandamme vom 28. August nicht „Arns-
berg", sondern „Altenberg'' zu heißen habe, ungefähr wie in der Note
vom 30. (Corresp. XXVI. 20.492) „Rumburg" und nicht „Naumburg"
zu lesen ist.
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Franz. Niederlagen bei Groß-Beeren und an der Katzbach. 213
walder Straße ausweichen mußten, auf die Gefahr, zwischen
Vandamme und einem nachrückenden Franzosenkorps zer-
malmt zu werden, hätte er von alledem auch nur eine Ahnung
haben können, er hätte wohl kaum eine Sekunde geschwankt,
seinen Sieg durch einen raschen Schlag zu vollenden.*)
Dazu kam aber noch Anderes. Der Kaiser war in den
letzten Tagen von einem Unfall, der die Armee Oudinots be-
troffen, benachrichtigt worden, die von Bülow bei Groß-Beeren
am 23. August geschlagen und zum Rückzug auf Wittenberg
genötigt worden war. Und daran nicht genug, traf eben jetzt,
als er die verfolgenden Korps aussandte, die Kunde von
einem Siege Blüchers über Macdonald bei Wahlstatt an der
Katzbach am 26. ein, der die Ostarmee der Franzosen mit einem
Verluste von bei 20.000 Mann in die Lausitz zurückwarf.
Durfte er unter diesen Umständen noch nach Böhmen ziehen ?
Er überlegte die Frage und beantwortete sie in einer Reihe von
Notizen, die gegen diese Absicht sprachen. Es war ja sein
ursprünglicher Hauptplan, im Süden defensiv zu bleiben und
nur im Norden offensiv vorzugehen. Darum hat er die Affaire
bei Dresden lediglich als Sieg in der Defensive aufgefaßt**)
und seinem Angriffsprojekt auf Berlin und die Oderfestungen,
deren Besatzungen sich nach seiner Berechnung nur bis in den
*) Ein Unwohlsein, welches Napoleon am 28. mittags befiel, als
er auf der Straße nach Pirna gefrühstückt hatte, soll ihn in seinem
Vormarsch gehindert und nach Dresden zurückgeführt haben. Nun, das
Unwohlsein mag auf Wahrheit beruhen; aber es muß ein rasch vor-
übergehendes gewesen sein, denn man sah ihn ,,sehr heiter und lustig"
nach Dresden zurückfahren, wo ihn dann ein Bote, der von der Katzbach
kam, „bei vollster Gesundheit" antraf. Er selbst hat zwei Tage später,
als er von Vandammes Mißgeschick erfuhr, Daru gegenüber jenes Übel-
sein als Grund seiner Rückkehr von Pirna angegeben, da er sich für
vergiftet gehalten habe. (S. Pasquier, Memoires II. 86.) Auch im
Jahre 1815 hat er einigen Generalen seine Haltung nach den Dresdener
Kämpfen mit diesem geringfügigen Zufall erklärt.
**) Das erhellt auch aus der Fassung, in der er Foucbe seinen
Erfolg mitteilt: Meine Avantgarde verfolgt lebhaft den Nachtrab des
Feindes, der an die böhmischen Berge gedrängt ist, während eines
meiner Korps die feindliche Armee auf ihrer Rechten überflügelt, was
noch größere Erfolge verspricht." (Brotonne, Lettres inödites, p. 498,
30. August 1818.)
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214
Erwägungen der Kriegslage.
Oktober halten konnten, sein Hauptaugenmerk zugewendet.
Hier glaubt er persönlich mit stärkeren Kräften eingreifen
zu müssen, während er Dresden bloß in besseren Verteidigungs-
stand setzt. Und nun war es der Politiker in ihm, der sich
zu dem Strategen gesellte und ihn beirrte: „Ich kann
damit erreichen, daß sich die Küssen von den Österreichern
trennen, denn ich kann Österreich gegenüber meine besondere
Bücksicht geltend machen, den Krieg nicht nach Böhmen
.getragen zu haben." Und in der Tat ging auch heimlich eine
Botschaft an Metternich.*) Binnen der nächsten zwei Wochen
will er — Macdonald werde sich gegen Blücher schon behaupten
— Berlin genommen, Stettin verproviantiert, die Werke der
Preußen zerstört und die Landwehr, die er weit unterschätzt,
desorganisiert haben. Die Verfolgung nach Böhmen unterbleibt.
Es muß den Kriegskundigen überlassen werden, die stra-
tegische Seite dieses Planes zu prüfen. Sie haben ihn bisher
zumeist verurteilt. Vielleicht mit Unrecht. Denn wenn Napo-
leon, um die Entscheidung zu suchen, sich nur vor die Wahl ge-
stellt sah, entweder in Böhmen gegen Prag vorzugehen oder
das alte Projekt nach Norden zu verfolgen, war das letztere,
aus Gründen, die er selbst entwickelt, entschieden vorzu-
ziehen.**) Aber es sollte aus beiden nichts werden. Es war
*) In einem Brief vom 29. August an Berthier, der den Adju-
tanten Galbois zu Murat geschickt hatte, heißt es: „Ich sehe nicht
ein, warum Sie dem König von Neapel meinen Verkehr (Communi-
cations) mit den Österreichern zur Kenntnis bringen wollen. 1 *
Lecestre, II. n. 1034.
**) „Ich bin nicht mehr in der Lage, vor dem Feinde nach Prag
zu gelangen,'* heißt es in jenen Notizen vom 80. August, „es ist eine
befestigte Stadt; ich würde sie nicht einnehmen; Böhmen könnte sich
erhoben, und ich wäre in einer schlimmen Lage bei Prag, während
vielleicht die schlesische Armee meine Boberarmee angriffe; auch
könnten sich dann die Armeen von Oudinot und Davout nur de-
fensiv verhalten, und ich verlöre Mitte Oktober 9000 Mann in
Stettin. Ich würde zwar die Elbelinie von Prag bis ans Meer besitzen,
aber hie ist viel zu lang. Würde sie auf einem Punkte durchstoßen, ao
stünde das Gebiet der 32. Division (an der untern Elbe) offen, was
mich nach dem schwächsten Teil meiner Staaten zurückrufen müßte.
Die Hussen, die die Anwesenheit meiner Armee von 60.000 Mann bei
Stettin nicht unberücksichtigt lassen könnten, brauchton nichts für sich
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Kulm.
215
Vandamme nicht gelungen, vor dem Feinde auf der Pirna-
Teplitzer Straße, die er schon am 27. besetzt hatte, in Böhmen
einzutreffen und, wie Napoleon hoffen mochte, die Kolonnen
der Verbündeten bei ihrem Abstieg ins Tal einzeln zu über-
fallen. Schon am 28. hatte der Herzog von Württemberg mit
seinem Korps Russen sich und den Garden unter Ostermann den
Durchmarsch auf diesem Wege erkämpft und ihn am nächsten
Tage ungemein tapfer in blutigen Rückzugsgefechten gesichert,
so daß Vandamme, als er am 29. die Höhe herabmarschierte,
bei Priesten an diesen Truppen einen kräftigen Widerstand
fand, der sich stündlich durch die von der Altenbeuer Straße
herbeikommandierten Regimenter vermehrte. In der Hoffnung,
bald durch Saint-Cyr und Marmont auch seinerseits unterstützt
zu werden, blieb er bei Kulm stehen, wo sich am 30. das Gefecht
zur Schlacht entfaltete. Marmont und Saint-Cyr kamen aber
nicht; sie waren von der Peterswaldcr Straße weg gegen die
Altenborger hindirigiert worden und standen weit entfernt.
Dagegen war Kleist ?ein mutiger Zug gelungen, der ihn un-
angefochten bei Nollendorf in den Rücken Vandammes brachte.
Dessen Korps wird nun zersprengt, bei 10.000 Mann müssen sich
ergeben, der Rest sucht sein Heil in der Flucht über die
Berge. Der Führer selbst, der sich mit Bravour und Umsieht
gegen die Übermacht gewehrt hat, gerät in Gefangen-
schaft.*)
und für Polen zu fürchten . . . Da ich mich am Ende meiner Linie In -
fände, so würde ich mich nicht an die bedrohten Punkte hegeben
können. Ich würde meine Plätze an der Oder verlieren und mich nicht
auf dem Wege nach Danzig befinden. AVenn ich im Gegenteil auf
Berlin marschiere, habe ich sofort einen großen Erfolg, bin In der
Mitte, kann in fünf Tagen an den entferntesten Punkten meiner Linie
6ein, entsetze Stettin und Küstrin, gewinne Aussicht, die Russen von
den Österreichern zu trennen, habe keine Verpflegsschwierigkeiteu, denn
die Kartoffeln, die Hilfsquellen Berlins, die Kanäle usw. werden mich
ernähren." (Corres p. XXVI. 20.492.)
*) Napoleon hatte kaum von dem Mißgeschick Vandammes ge-
hört, so lud er auch schon Diesem die Schuld daran auf, damit sie
nur ja nicht auf ihn falle. Er ging dabei so weit, zu lügen, der General
sei gegen seinen Befehl nach Böhmen eingedrungen. „Ich habe ihm'* —
schreibt er am 1. September an Saint-Cyr — „ausdrücklich befohlen, sich
auf den flöhen zu verschanzen, sein Korps dort kampieren zu lassen
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216
Ein neuer Operationsplan.
Am Frühmorgen des 31. erführt Napoleon die Unglücks-
botsehaft. Des Tags vorher war ein trostloser Bericht von Mac-
donald eingetroffen. Kein Zweifel, der Eindruck, den sein Er-
folg bei Dresden hervorgebracht hatte, war durch die Miß-
erfolge von Groß-ßeeren, an der Katzbach und bei Kulm ver-
wischt. Die Hoffnung auf eine Trennung der Verbündeten
mußte aufgegeben werden, denn ihr Sieg hielt sie sicher an-
einander fest. Es war, um in trübe Stimmung zu geraten.
„Sehen Sie," sagte er zu Maret, „so ist der Krieg. Am Morgen
Sieger, am Abend besiegt. Vom Triumph zum Fall ist oft nur
ein Schritt." Eins war ihm aber klar: er bedurfte dringend
eines neuen Triumphes. Wir wissen, daß er ihn in einem Zug
gegen Berlin suchte. Er hält den Gedanken fest, nachdem er
sich überzeugt hat, daß die Verbündeten nicht sofort wieder
nach Sachsen vorstoßen würden, und schickt Ney voraus, damit
er von Oudinot den Befehl über dessen Truppen übernehme
und die Offensive mit einem Marsch von Wittenberg nach Baruth
einleite. Dann sichert er Dresden durch die Korps von Saint-
Cyr, Victor und Mouton (der die Reste der Vandammeschen
Regimenter gesammelt hat) und bildet aus den Garden, den
Truppen Marmonts und einem Kavalleriekorps eine Reserve-
armee, die er, wenn Macdonald sich bei Görlitz hält, nach
Norden führen will. Aber Macdonald kann sich nicht halten.
Er mußte bis nach Bautzen zurück und meldet nun von dort
in beweglichen W T orten, daß die 60 bis 70.000 Mann, über
und nach Böhmen nur vereinzelte Streifkorps zu entsenden, um den
Feind zu beunruhigen und Nachrichten zu «ammeln." (Lecestre, II.
n. 1058.) Und doch hat es in jenem Befehl an Vandamme vom 28.
isiehe oben) gebeißen, der Kaiser erwarte, daß er noch vor dem
Feind auf der Linie Tetschen- Aussig -Teplitz ankommen werde,
und in jenem Schreiben an Murat vom 29.: „General Vandamme, der
gestern in Nollendorf war, dürfte heute, von der Peterswalder Seite in
Böhmen eingedrungen sein.« (Corresp. XXVI. 20491.) Am Tage
darauf wurde dem König von Württemberg geschrieben: „Vandamme
rückt auf Teplitz los und unterdes folgen vier Armeekorps dem Feinde,
der gestern in Altenberg war." (Goriesp. XXVI. 20495) usw. Es ist.
wie 1798 nach Abukir, wie 1805 nach Trafalgar: der eigene Fehler
wird dem Opfer aufgehalst. Und sie fehlen alle, wenn er ihnen fehlt.
So sucht er den Glauben an seine Unbezwingburkeit in der Öffentlich-
keit aufrechtzuerhalten.
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Neys Niederlage bei Dennewitz. 217
die er noch verfüge, großenteils weder Waffen noch Munition
hätten und sich bei einem neuen Mißerfolge unfehlbar auf-
lösen würden. Darauf darf es der Kaiser nicht ankommen
lassen. Er eilt mit den Reserven seinem bedrängten Mar-
schall zu Hilfe. Er will sie als Verstärkung einsetzen, um den
heftig vordringenden Blücher rasch zu schlagen, und dann
sofort „in großer Eile" auf Berlin marschieren. Gut. Wie aber,
wenn es gar nicht zur Schlacht kam? wenn Blücher, dessen
urkräftiges Ungestüm durch die geistige Überlegenheit seines
Generalstäblers Gneisenau gelenkt und gemäßigt ward, aufs
Neue, wie schon im August einmal, Napoleons Anwesenheit er-
fahrend, zurückwich und ihn hinter sich her in das ausgesogene
Land lockte? Das geschah wirklich. Blücher ging von Hoch-
kirch fechtend zurück nach Görlitz. Diesmal aber merkte
Napoleon die Absicht sofort und ließ von der „Verfolgung" ab.
Er muß nun ohne, wie er gehofft, die schlesische Armee geschla-
gen zu haben, gegen Bernadotte ziehen. Hierzu sind auch schon
die Ordres ausgegeben, als von Dresden her die Nachricht von
einer neuen Offensive der böhmischen Armee an ihn gelangt.
Er wäre übrigens für diesmal im Norden zu spät gekommen,
wo Bernadotte, dank der ausdauernden Energie Bülows und
dem rechtzeitigen Eingreifen der schwedischen und russischen
Artillerie, am 6. September bei Dennewitz so entscheidend
über Ney gesiegt hatte, daß Dieser, von Schweden und Russen
eifrig verfolgt, bis Torgau und weit darüber hinaus flüchten
mußte. „Ihre linke Flanke ist offen," schreibt der geschlagene
Marschall am Tage darauf an den Kaiser, „nehmen Sie sich in
Acht. Ich glaube es ist Zeit, die Elbe zu verlassen und an die
Saale zurückzugehen/'*)
Ehe ihn dieses Schreiben fand, am 6. September, war
Napoleon in Dresden angelangt und gewahrte bei einer Re-
*) Von den übrigen Heercsteilen, die gegen die Nordarmee der
Verbündeten zu operieren hatten, war Girards Division, als sie von der
Affaire bei Großbeeren hörte, umgekehrt und auf dem Rückzüge nach
Magdeburg bei Hagelberg am 27. August zersprengt worden. Davout
dagegen, dessen Korps über die Hälfte aus Holländern und Nieder-
deutschen, also aus den unzuverlässigsten Elementen bestand, hatte
nur einen schwachen Offensivversuch wagen können, der ebenfalls schon
nach der Niederlage Oudinots aufgegeben wurde.
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218
Napoleon im Erzgebirge.
kognoszierung die Höhen der Gebirgsstraßen nach. Böhmen
in feindlichen Händen. Die Alliierten hatten nämlich, durch
ihren Sieg bei Kulm und die Erfolge der beiden andern Armeen
völlig aufgerichtet, auf die erste Kunde von dem neuen Vor-
marsch des Kaisers gegen Blücher eine Diversion zu des
Letzteren Gunsten begonnen. Eine Abteilung von 60.000 Öster-
reichern sollte auf das rechte Ufer der Elbe hinübergehen und
bei Rumburg in die Flanke des avancierenden Feindes fallen,
während der Rest der Hauptarmee die bei Dresden zurück-
gebliebenen Streitkräfte festhielt. Davon hatte wohl Napoleon
kaum Kenntnis, als er zurückeilte, um die Feinde über das
Erzgebirge zurückzuwerfen und unter Umständen einen Vor-
stoß nach Böhmen zu wagen. Das Erste gelingt, das Zweite
unterbleibt; es unterbleibt einmal, weil die Niederlage Neys
den Durchbruch der Elbelinie befürchten ließ, für welchen
Fall der Kaiser in der Nähe sein will, und dann des ungünstigen
Terrains am Geiersberg wegen, von dessen Höhe die Artillerie
nicht zu Tal geschafft werden kann. Überdies waren die nach
Osten detachierten Truppen, sobald man von Napoleons An-
wesenheit in Dresden Kenntnis erhalten hatte, bis auf eine
Division sofort zurückbefohlen worden und standen nun bereit
ihn zu empfangen. Napoleon hat sich selbst von diesen
Schwierigkeiten überzeugt und gibt, da große Erfolge hier,
mit den steilen Defileen im Rücken, nicht zu holen sind, das
Unternehmen auf.*) Am 12. September ist er wieder in
Dresden, von wo er jetzt alle Depots und die gesamte Kricgs-
verwaltung weg nach Torgau dirigiert. Als militärischen
Stützpunkt hält er, zu seinem Nachteil, die Stadt noch immer
*) Am 11. September schreibt er an Murat: „Wäre es möglich
gewesen. Geschütze das Gebirge hinunterzubringen, so hatte ich die
feindliehe Armee in der Flanke angegriffen und wir hätten große Er-
folge errungen, aber alle Anstrengungen waren vergeblich." Er setzt
jedoch hinzu: „Die der Berliner Armee zugestoßenen Ereignisse ver-
hindern mich, hiuüber zu gehen.** (Corresp. XXVI. 20540.) Man hat
ihm mit Recht den Vorwurf gemacht, von Blücher zu früh abgelassen
zu haben, um nach Dresden zurüekzukehren. Hätte er die schlesischc
Armee weit zurückgestoßen, so würde er sich dann reehtshin auf die
durch Böhmen heranraarschierenden Österreicher haben werfen können,
und wer weiß, welchen Gang die Dinge nahmen.
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Das „System des Hin und Her". 219
fest. Als bald darauf die Verbündeten aufs Neue über das Ge-
birge rücken, um einen Zug Schwarzenbergs, der nordwest-
wärts in der Richtung auf Leipzig beabsichtigt ist, zu maskieren,
hindert er diese Absicht, indem er wieder bis gegen Kulm
vorbricht. Zu einem erfolgreichen Angriff erscheint ihm aber
auch jetzt wieder die feindliche Stellung zu stark, da er selbst
durch die Schwierigkeit der Verpflegung seines Heeres genötigt
war, zwei Korps nordwärts zu entsenden, um die Zufuhr auf der
Elbe zu decken. Er muß sich Schwarzenberg gegenüber mit
dem „System des Hin und Her" begnügen, „um die Gelegenheit
abzuwarten", wie er am IS. September an Saint-Cyr schreibt.
Auch hier wünscht er sehnlich angegriffen zu werden, doch ver-
gebens. Die Feinde weichen dem obersten Heerführer aus und
schlagen seine Generale.
Er darf jedoch nicht lange untätig bleiben, da sich der
Kreis der gegnerischen Kräfte um ihn her immer mehr ver-
engt und er die Masse seiner Truppen auf dem eingeschränkten
Räume nur unter täglich wachsender Mühseligkeit ernähren
kann. Nachrichten von Ney, der auf das linke Ufer der Elbe
zurückgegangen war, melden, daß die Armee Bernadottes den
Übergang über diesen Fluß plane und in der Nähe von Dessau .
Anstalten dazu treffe, und daß vom Heere Blüchers eine Ab-
teilung nordwestwärts heranziehe, was ihn fürchten lasse, von
Torgau und Dresden abgeschnitten zu werden. Bei solcher
Gefahr, überflügelt zu werden, befiehlt Napoleon nach einem
rekognoszierenden Vorstoß gegen Osten — es ist der dritte —
den Rückmarsch auf das linke Ufer der Elbe und gibt das
rechte auf.
Seitdem er den entscheidenden Moment nach der Dresdner
Schlacht versäumt hatte, war sein Wille machtlos, er selbst
nur ein Spielball seiner Gegner geworden, bald hierhin, bald
dorthin geworfen, so daß ihn der Volkswitz, seiner wiederholten
Fahrten nach Bautzen wegen, den „Bautzner Boten" nannte,
bis schließlich seine vorgeschobene Position ganz unhaltbar
wurde. Und dazu im Heere die unerquicklichsten Zustände!
Mißmut und Verdrossenheit, wohin man horchte! Voraus bei
den höheren Offizieren. Selbst Fernerstehende mußten auf-
merksam werden. „Es scheint mir," schreibt der württem-
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220
Die Armee wird nicht mehr ernährt.*'
bergische General Franquemont an seinen König am 10. Sep-
tember, „die französischen Generale und Offiziere sind des
Krieges überdrüssig und die Soldaten kann bloß die Gegenwart
des Kaisers beleben." In der Tat, wo sein Auge nicht auf ihnen
ruhte, warfen sie ihre Pflicht ab, wie eine drückende Last, ent-
ledigten sich häufig ihrer Waffen und verließen die Kolonnen
oder stahlen sich unter die Leichtverwundeten, indem sie sich
selbst verstümmelten. Kaum ein Monat war seit dem Wieder-
beginn des Feldzugs verflossen, und schon waren über 60.000
Mann und fast 300 Geschütze in des Feindes Hände geraten,
über 40.000 Kranke und Verwundete lagen in den Lazaretten
von Dresden, Leipzig und Torgau, und Haufen von Hunderten,
ja Tausenden Unbewaffneter zogen nach Westen. Was diese
aus den Reihen trieb, war die entsetzliche Not, die einriß, als
die gepeinigten schlesischen und sächsischen Landschaften ihre
letzte Kartoffel hergegeben hatten und die Zufuhr auf der
Elbe durch das Zurückweichen Neys fast unmöglich geworden
war. „Herr Graf Daru," schreibt der Kaiser selbst am 23. Sep-
tember an den Direktor der Armeeverwaltung, „die Armee
wird nicht mehr ernährt. Es wär* eine Illusion, die Sache
anders anzusehen." Aber er kann nicht helfen. Und doch
gewahrt er bei weitem nicht den ganzen Jammer, den ihm
pflichtvergessene Augendienerei ebenso sorgsam zu verbergen
sucht, als sie ihn nur zu oft über die Wahrheit widerwärtiger
Ereignisse zu täuschen weiß.*) Unter solchen Umständen war
es kein Wunder, daß von den 400.000 Mann, die der Kaiser
Mitte August in Sachsen zur Verfügung hatte, Ende Sep-
tember kaum 250.000 beim Appell antworteten. Und diesen
gebrach es an Ausrüstungsgegenständen, an Kleidung, an
Schuhen und bald auch an Munition, da die Transporte aus
dem Westen immer häufiger von feindlichen Parteigängern
abgefangen wurden, deren Bekämpfung einen unverhältnis-
*) Besonders Bertrand, ein devoter Günstling ohne viel Talent
und Verdienst, bekannt durch seinen Ehrenwrortsbruch vom Jahre 1805
im Kriege mit Österreich, suchte mit derlei Nachrichten sich angenehm
zu machen. Seine Berichte nach der Schlacht bei Groß-Beeren mögen
Napoleon veranlaßt haben, die Nordarmee nicht sofort zu verstärken,
was dann den zweiten Sieg der Preußen erleichtert hat.
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Die Teplitzer Verträge. 221
mäßigen Aufwand an Kavallerie erforderte, woran die reguläre
Armee dann Mangel litt. Während die Alliierten sich um ein
Heer von über 50.000 Mann russisch-polnischer Reserven, das
Bennigsen heranbrachte, verstärkten, kam nur Augereau mit
13.000 von Würzburg auf Leipzig heran. Zwar wurde am
27. September in Paris die Aushebung von 160.000 Konskri-
bierten von 1815 und 120.000 der sieben letzten Altersklassen
gefordert, aber wenn auch der Senat sofort sein Dekret aus-
fertigte, so konnten die neuen Rekruten doch nicht mehr für
die nächste, offenbar sehr kritische Zeit in Betracht kommen.
In dieser ernsten Lage der letzten Septembertage, da sich
„sein Schachspiel verwirrte", wie der Kaiser zu Marmont sagte,
hat er es wieder mit der Politik versucht. Wir kennen einen
Brief an Franz I., den er am 25. durch den Adjutanten
Flahault als Parlamentär dem österreichischen General Bubna,
der mit seiner Division zum Blücherschen Heere detachiert
blieb, überbringen ließ. Darin ward die geplante Übergabe
der polnischen Festung Zamosc zum Vorwand genommen, um
von Frieden zu sprechen. Der Abgesandte hatte daneben die
mündliche Instruktion, zu versichern, daß es seinem Herrn
jetzt ganz besonders um dessen Abschluß zu tun und er bereit
sei, für Österreich und Preußen große Opfer zu bringen,
„wenn man ihn nur hören wolle". Aber Franz I. hatte, unter
dem Eindruck der Nachricht vom Siege der Nordarmee, am
9. September zu Teplitz seine bisherige Waffenbrüderschaft
in ein festes Bündnis mit Rußland und Preußen umgewandelt
und stand nun vertragsmäßig zu diesen.*) Am 3. Oktober wird
er auch mit England einen Allianztraktat abschließen, und fünf
Tage später werden Unterhandlungen, die er in Ried mit
Bayern pflegen läßt, zu einem förmlichen Anschluß dieses
Staates an die Koalition geführt haben .**) So versagt sich die
•) Siehe den Teplitzer Vertrag zwischen Österreich nnd Rußland
hei Martens, III. 17.
**) Der Vertrag mit England brachte auch eine Erhöhung der
am 18. August zugestandenen Subsidien um weitere 500.000 Pfund.
Sonst sind die Bedingungen die der anderen Vertrage vom 9. Sep-
tember. (Original mit den bei Neumann, Recueil des traites conclus
par 1' Autriche, II. 379 nicht gedruckten Geheimartikeln im Wiener
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222
Napoleons Position hinter der Elb*».
Politik dem Kaiser der Franzosen, und alles hängt nur noch
von seiner Feldherrnkunst ab. Sie wird den Abgang an ver-
bündeten Kräften, die mangelnde Begeisterung seiner
Truppen, das Defizit an Mut und Selbstverleugnung in seinem
Heere wettzumachen haben. Wird sie dieser Aufgabe ge-
wachsen sein?
Napoleon hat sich noch im September entschlossen,
Blücher in sicherer Stellung hinter der Elbe zwischen König-
stein und Meißen zu erwarten. „In dieser Position werd' ich",
schreibt er am 23. an Murat, „den Feind mit den Augen ver-
folgen und, wenn er sich auf irgendeine Angriffsoperation ein-
läßt, mich auf ihn stürzen, so daß er eine Schlacht nicht ver-
meiden kann." Aber er wartete vergebens. Mehr als eine
Woche verging, und der Angriff Blüchers erfolgte nicht. Was
war der Grund? Blücher war am 26. mit seinem Heere
_____ *
Staatsarchiv.) Sorel, V1LI. 162 scheint, gleich Üncken U. 462, den von
Bianchi, Storia deüa diplomazia europea in Italia, I, 333 erwähnten
Geheimtraktat zwischen England und Österreich vom 27. Juli 1813, der
dem Wiener Hofe Rechte über Italien eingeräumt haben soll, nicht zu
verwerfen. Er hat nicht existiert. Subsidienverhandlungen in Reichenbach
zwischen dem österreichischen (nicht „englischen") General Xugent und
Cathcart haben zu keiner Konvention geführt, da Metternich eine solche
damals noch für „zu kompromittierend" hielt, wie er in einem Vortrag an
den Kaiser vom 19. August sagt. Erst uaeh Schluß des Kongresses ist es
dazu gekommen. (Siehe oben S. 20$.) Übrigens trägt die von Bianchi
mitgeteilte Protestnote Metternich» an Castlereagh vom 26. Mai 1614,
die sich auf den Geheimvertrag bezieht, alle Merkmale der Unechtheit
an sich: Kaiser Franz erscheint schon am 27. Juli 1813 als Mitglied der
Koalition, der Kaiser von Rußland wird als „König von Polen*' ange-
führt; auch verrät sich die italienische Ma«he in Wendungen wie „au
nome w (statt „nom"), „de la parte" (statt „part"), „partieiper ä V. Exc."
(etatt: „faire part") u. dgl.; das bourbonische Haus wird für den Ent-
gang von Parma und Toscana auf die „Aufteilung der deutschen
Staaten" („partage des Etats d'Allemagne") verwiesen. Echte Briefe
Metternichs vom 26. Mai 1814 an Castlereagh sind durchaus im Sinne
der freundschaftlichsten Beziehung, die damals zwischen Österreich
und England bestand, gehalten. (W. St. A.) Natürlich hat auch
Welschinger Unrecht, wenn er in seinem Buche „Lc pape et l'cm-
pereur", p. 409, sich auf dieses Dokument stützt, worin Kaiser Franz
seine Rechte auf den Kirchenstaat als „König von Rom. erblicher
Kaiser und Haiipt des Deutschen Reiches (Chef du Corps germaniquej"
geltend macht.
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Blüchers Rechtsabmarscli und seine Folgen. 223
von Bautzen über Kamenz in der Kichtung auf Wartenburg
abmarschiert, wo dann Yorck am 3. Oktober gegen Bertrand
den Übergang über die Elbe erkämpfte, während Macdonald
durch Anstalten bei Mühlberg die Meinung beigebracht ward,
man wolle hier über den Fluß setzen. Unterdes war die
russische Reservearmee unter Bennigsen durch Schlesien und
Böhmen bis Teplitz gelangt, die Hauptarmee hatte, Bennigsen
zurücklassend, die Offensive in der Kichtung auf Leipzig er-
griffen, um — es war der Melniker Plan vom August — des
Feindes Verbindungen zu bedrohen, Bernadotte ging am
4. und 5. Oktober bei Dessau gleichfalls über die Elbe.
Von alledem erfährt Napoleon erst recht spät. Noch am
4. Oktober fragt er bei Macdonald an, wo die Blücherschen
Korps stehen. Als er endlich die Wahrheit vernimmt, ist er
höchlich überrascht; derlei große Unternehmung hatte er dem
Feinde nicht zugetraut. Nun wo es offenbar war, daß die
Gegner sich in seinem Rücken vereinigen wollen, ließ sich
die Elbelinie nicht länger halten, und seines Bleibens
konnte in Dresden nicht mehr sein. Er faßt den Plan, zwei
Armeen zu bilden: die eine unter Murat, drei Korps (das 2.,
5. und 8.) und die entsprechende Kavallerie stark, wird er
zwischen das Schwarzenbergsche Heer und Leipzig stellen mit
der Aufgabe, sich durchaus defensiv zu verhalten und nur
allmählich vor überlegenen Kräften des Feindes auf diese
Stadt zurückzuweichen; die zweite will er selbst rasch über
Meißen und Würzen zu Ney führen, sich mit Diesem vereinigt
zwischen Leipzig und die schlesische Armee schieben, die
letztere schlagen und werfen, und dann sieh mit Mural wider
das gegnerische Hauptheer wenden. „Halten Sie die Öster-
reicher so viel als möglich zurück," schreibt er am 7. Oktober
an Murat, „damit ich Blücher und die Schweden vor ihrer
Ankunft bei Schwarzenberg schlagen kann."*) Von diesem
Plane kam er später nur in dem Punkte zurück, daß er Dresden
von zwei Korps unter Saint-Cyr besetzt ließ. War es in der
Absicht, von der Schwarzenbergschen Armee mehr in Böhmen
festzuhalten? oder wollte der Protektor des Rheinbundes die
*) Corresp., XXVI., 20.71$.
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224 Blücher mit Bernadotte vereinigt.
Besidenz des getreuen Bundesfürsten nicht in Feindeshand
fallen lassen und damit sein Prestige schädigen? Gleichviel,
er hatte später in der großen Entscheidungsschlacht den
Abgang der 30.000 Mann bitter zu beklagen.
Vom Herannahen Napoleons erhielten nun aber wieder
Blücher und Bernadotte, die am 7. Oktober zusammen-
gekommen waren und den gemeinsamen Marsch auf Leipzig
beschlossen hatten, lange keine Nachricht. Sie vermuteten
ihn an dem genannten Tage noch in Dresden. Da warf die plötz-
liche Kunde von dem Anrücken des entfernt Geglaubten ihre
Absicht um. Bernadotte, der bisher mit Bücksicht auf seine
persönlichen Interessen in seinem neuen Vaterlande, die durch
eine entscheidende Niederlage gefährdet waren, den Krieg sehr
zurückhaltend geführt und sein schwedisches Korps mit ängst-
licher Vorsicht vor Verlust bewahrt hatte, sprach sofort von
Bückzug über die Elbe, den er auch Blüchern empfehlen wollte,
erklärte sich aber schließlich doch bereit, diesseits zu bleiben
und von Aken südwärts zu marschieren, als der preußische
Feldherr sich anheischig machte, über die Mulde und, mit der
Nordarmee verbunden, hinter die Saale zu gehen. Dieses Manö-
ver hatte zur Folge, daß Napoleon, der ganz sicher auf eine
Schlacht gerechnet hatte, sich doch wieder nur einem aus-
weichenden Feinde gegenübersah. Er ist deshalb in der denk-
bar schlechtesten Stimmung während der vier Tage, die er
vom 11. bis 14. Oktober auf dem Schlosse zu Düben zubringt.
Daß sich Blücher nicht fassen ließ, gibt ihm hier den Plan ein,
gegen die rückwärtigen Verbindungen der schlesischen und
der Nordarmee, das ist bei Wittenberg und Dessau zu ope-
rieren, sie dadurch zurückzunötigen, zu schlagen und über die
Elbe zu drängen, dann selbst auf dem rechten Ufer stromauf-
wärts nach Dresden zu rücken, die dortige Besatzung mit sich
zu nehmen und wider die Hauptarmee loszugehen, um schließ-
lich doch noch „Berlin einen Besuch abzustatten". Von dem
Marsche Blüchers zur Saale, wo Dieser von Halle aus Fühlung
mit der Hauptarmee sucht, weiß er zunächst nichts. Er läßt
wirklich an die Elbe vorstoßen, und da das Korps Tauenziens,
das Bernadotte, ehe er nach Cönnern aufbrach, am Flusse
zurückgelassen hatte, auf das rechte Ufer genötigt wird, wiegt
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-
Napoleon iu Düben. 225
er sich in der falschen Vorstellung, Bernadette sei mit allen
Truppen wieder hinüber. Über Blücher erfährt er erst am
Morgen des 12. annähernd Richtiges; nur vermutet er ihn noch
nicht bei Halle. Und da scheint es ihm allerdings, da Schwar-
zenberg immer entschiedener sich Leipzig nähert, das Nötigste,
Diesen im Südosten der Stadt, noch ehe er sich mit Blücher
vereinigen kann, total zu schlagen. Aber ist es nicht schon
zu spät? Hat er nicht zu lange in Düben verweilt und auf
gute Kundschaft gehorcht, ehe er handelte? Wer, wie Ode-
leben, ihn dort sah, „auf Nachrichten von der Elbe harrend,
auf einem Sofa seines Zimmers, ganz geschäftslos vor einem
großen Tisch sitzen, auf dem ein Bogen weißes Papier lag,
das er mit großen Frakturzügen erfüllte", wer ihn so sah,
den tätigsten Mann der Welt, der konnte leicht, wie Marmont,
von ihm sagen: „Man erkennt Napoleon während dieses Feld-
zugs nicht wieder!" Und doch war er nicht untätig in diesen
Tagen; nur war es eine Tätigkeit ins Ungewisse, bis ihm klar
ward, was er am Morgen des 13. an Ney schreibt: daß er nach
Leipzig zurück muß, „wo unzweifelhaft eine große Schlacht
stattfinden wird".*) Auf sie kam nun freilich alles an. Denn
wie die Dinge lagen, konnte wohl kein Manöver mehr das Zu-
sammenwirken der feindlichen Armeen aufhalten. Strategisch
war Napoleon bereits besiegt, und nur als letztes Mittel blieb
ihm die Entscheidungsschlacht, die er jetzt gegen eine ge-
waltige Übermacht — kaum 200.000 Mann gegenüber 300.000
— wagen mußte. „Wir nahen dem großen Tage des Welt-
gerichts", hatte Metternich schon am 8. an einen Vertrauten
gesehrieben.**)
So schlimm freilich sah der Kaiser seine Lage nicht an,
als er am 14. Düben verließ und nach Leipzig fuhr. Er hatte
nun zwar bestimmte Kunde, daß Bernadotte nicht jenseits der
Elbe stand, aber er glaubte fürs erste doch gegen Norden
und Westen sicher zu sein und bei der Aktion, die er schon
für den kommenden- Tag ins Auge faßte, nur mit
Schwarzenberg zu tun zu haben. Und hätte er nicht so lange
*) Corresp., XXVL, 20.789.
**) An Hudelist. (W. St. A.)
Fournier, Napoleon I. 15
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226 Nach Leipzig.
gesäumt, hätte er das nutzlose Manöver über die Elbe früher
abgebrochen, so war' es auch wirklich so gekommen. Denn
von dem feindlichen Hauptheer war noch keineswegs alles
Murat gegenüber angelangt: Bennigsen mit seinen licserven
und ein Korps, das Dresden beobachtet hatte und nun heran-
komniaudiert worden war, standen am 15. noch zwei Tage-
reisen weit entfernt. Bernadotte, der sich fortwährend im
Rücken bedroht glaubte und mit seinen 60.000 Mann „zum
Schutze Berlins" zurückmarschieren wollte, hatte nur durch
das einstimmige Votum seines Krieg*rates und die Drohung,
die englischen Subsidien einzubüßen, davon abgebracht werden
können. Er war nicht in Verbindung mit Blücher vorgegangen
und blieb aus übertriebener Furcht für seine linke Flanke
am 15. einige Meilen vor Halle stehen. Deshalb hat auch
Blücher nur vorsichtig zu avancieren uud an diesem Tage von
Halle bloß nach Schkeuditz zu gelangen vermocht. Überdies
hatte Schwarzenberg im Süden von Leipzig eine durch die
Flüsse Elster und IMeiße und das Leipziger Ratsholz zerlegte
Aufstellung genommen, und wenn Napoleons Heer nur um
einen Tag früher ankam, «o stand es mit überlegenen Kräften
— er hatte etwa 190.000 Mann zur Verfügung — gegen einen
schlecht situierten Feind und konnte ihn werfen.*) Aber die
*) Es war ursprünglich Schwarzenbergs Plan gewesen, mit seinem
linken Flügel in der Defensive noch weiter nach Westen, etwa bis auf
das Schlachtfeld vom 2. Mai, vorzugehen, um Napoleon den Rückweg
völlig zu verlegen, in der Meinung, daß er dann diesen Rückweg sich werde
erzwingen wollen,wobei es der kooperierenden Übermacht der Allicrtenge-
lingen müßte, ihn bis zur Vernichtung zu schlagen. Dieser Defensivplan,
der das ungünstige Terrain dem angreifenden Feinde zuschob, wurde auf
Intervention des russischen Hauptquartiers am 14. durch einen andern
ersetzt, der die weiten« Umfassung unterließ und schon jetzt vom Süden
aus die Off ensive ins Auge faßte, wobei die Terrainschwierigkeiten zwischen
Elster und Pleiße allerdings mehr die Verbündeten behinderten und
überdies da« Tor im Westen — namentlich wenn, wie es geschehen wird,
Blücher nicht von Halle direkt, sondern vom Norden her auf Leipzig
rückte — offen blieb. Vgl. darüber die gründliche Untersuchung Kerch-
nawes, „Kavallerieverwendung, Aufklärung und Armeeführung bei der
Hauptarmee in der entscheidenden Attacke vor Leipzig* 4 (1904), die der
ehedem so streng verurteilten Strategie Schwarzenbergs gerechter wird.
Übrigens hat bereits in den letzten Jahren in der historischen Litteratur
ein Umschwung in der Beurteilung des bescheidenen, selbstlosen, nicht
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Napoleons Schlacht plan für den 16. Oktober. 227
Garden und die Keiterdivisionen können eist ain 15. zu Murat
stoßen, der tags zuvor in einem Gefecht mit der feindlichen
Avantgarde unter Wittgenstein die Linie zwischen Pleiße und
Liebertwolkwitz behauptet hat. Macdonald wird erst am
nächsten Tage auf dem linken Flügel einrücken. Marmont
muß nördlich der Parthe bleiben, denn Blücher war nun doch
herangekommen. Ney ist noch mit drei Divisionen und einem
Kavalleriekorps bei Düben zurück. Der Kaiser sieht sich daher
genötigt, die Schlacht um einen Tag zu verschieben. Er steht
allerdings an der wichtigsten Stelle, im Süden der Stadt, der
ilauptarmee des Feindes mit starken Kräften gegenüber, aber
die Situation im Norden ist kritischer als er meint und hätte
es noch mehr werden können, wenn sich Bernadotte ent-
schlossen hätte, seine Truppen gleichfalls heranzuführen.
Für den IG. Oktober war nun Napoleons Plan der fol-
gende. Er will mit den Truppen, die bisher unter Murats
Kommando gestanden hatten, die Hauptmacht des Feindes
auf der Linie Markkleeberg-Liebertwolkwitz angreifen uncl be-
schäftigen, indes zwei Armeekorps unter Macdonald und Au-
gerau und die nötige Kavallerie in dessen rechte Flanke
fallen. Hier von einer Umgehung bedroht, Averden die Gegner
ihr Zentrum schwächen müssen, das dann ein entscheidender
Stoß durchbricht, für den nebst den Garden die Divisionen
des Neyschen Armeeteils, inbesondere die des Marmontschen
Korps, bestimmt sind, die Napoleon herzukommandiert. Dieser
Entwurf wird dadurch unausführbar werden, daß Macdonald
spät. Marmont gar nicht auf dem südlichen Schauplatz er-
scheint, so daß der Kaiser gleich im Beginn der Schlacht den
Vorteil des Angriffs einbüßt. Um neun Uhr vormittags be-
ginnen die Verbündeten den Kampf um die Ortschaften Mark-
klecberg, Wachau und Liebertwolkwitz, der sieh mit der größten
Hartnäckigkeit zwei Stunden lang fortsetzt. Erst da zeigt sich
die Tete Macdonalds, und nun überzeugt sich auch Napoleon,
allzu kühnen, aber auch nicht mutlosen, nicht genialen aber auch
keineswegs unfähigen Generals stattgefunden. Vgl. Delbrück in der
zweiten Auflage seines „Gneisenau", Kaulfu 15. Die Strategie Schwarzen-
bergs am 13. bis 15. Oktober 1813 (1902) und die Charakteristik bei
Friederich. Der Hcrbstfeldzuir 1813, I., Hl.
15*
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228 üie Schlacht bei Wachau.
daß er bisher in der Front, die er durch Augereau verstärkte,
mit weit geringeren feindlichen Kräften zu tun gehabt hatte,
als er vermutet, und beschließt jetzt, seinerseits die Offensive
zu ergreifen. Und hätte er die Absicht sofort ausgeführt, nicht
einen Erfolg Macdonalds abgewartet, der sich erst um Mittag
der wichtigen Fosition auf dem Kolmberg bemächtigt, und
kostbare Stunden mit dem vergeblichen Harren auf Marmont
hingebracht, er würde kaum nachhaltigen Widerstand gefunden,
vielleicht die Schlacht gewonnen haben. So aber geht er erst
gegen zwei Uhr zum Angriff über. Er will das Zentrum des
Gegners zwischen Wachau und Liebertwolkwitz durch 100 Ge-
schütze erschüttern und durch eine mächtige Keiterattacke
durchbrechen lassen, während Macdonald dessen linken Flügel
über Seiffertshayn umgeht; dann wird das Gros des Feindes
westwärts in die Flüsse geworfen und von seinen Nachschüben
getrennt. So die Absicht. In der Tat beginnt nun eine fürch-
terliche Kanonade, der eine Kavallcriecharge folgt, die im
feindlichen Zentrum wirklich bis über Güldengossa hinaus-
gelangt. Aber all das ist jetzt zu spät. Während der versäumten
Zeit sind von Alexander die russisch-preußischen Garden und
von Schwarzenberg die österreichischen Reserven von jenseits
der Pleiße auf das Wachauer Schlachtfeld beordert worden;
die Ersteren bringen den Ansturm der französischen Reiter-
division zum Scheitern, und leisten den nachrückenden Ko-
lonnen hartnäckig Widerstand, die Österreicher aber unter
Bianchi werfen die Gegner aus Markklecbcrg hinaus und er-
ringen dem rechten Flügel Napoleons gegenüber namhafte
Vorteile. Unter diesen Umständen nützt es wenig, daß Victor,
von Oudinot mit der jungen Garde verstärkt, bis Auenhayn
vorgedrungen ist und Macdonald den rechten Flügel der Ver-
bündeten bis Groß-Pößna umgebogen hat, auch nichts, daß
ein schlechtüberlegter Angriff des österreichischen Korps
Merveldt in der rechten Flanke auf Connewitz und Dölitz
erfolglos bleibt. Gerade dieser Angriff, von Bianchis Fort-
schritten unterstützt, hat einen letzten Ansturm der alten
Garde auf das Zentrum hintangehalten, indem er sie auf sich
zog. Dadurch ist zwar hier ein weiteres Vorgehen der Öster-
reicher unmöglich gemacht, aber auch keinerlei Entscheidung
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Das Gefecht bei Möckern. 229
erreicht worden. Ein Sieg ist somit von Napoleon nicht er-
rungen. Nur ein unbedeutendes Stück Schlachtfeld ist ge-
wonnen, obgleich die Kräfte auf französischer Seite überwogen
hatten, da von der an Zahl überlegenen verbündeten Armee
ein großer Teil nicht in den Kampf gelangte. Aber gerade
ein entscheidender Sieg mit Flucht und Auflösung des Feindes
hätte müssen errungen werden, wenn seine Sache nicht
gänzlich scheitern sollte. Denn Marmont war unterdes durch
das Yorcksche Korps — während Blüchers Gros gegen eine
von Osten her vermutete Offensive parat blieb — angegriffen
und nach hartnäckigster Gegenwehr von Möckern und Wid-
deritsch bis hinter Gohlis und Eutritzsch an die Farthe zurück-
gedrängt worden. Und so ist trotz dem Terrainerfolg bei
Wachau der Tag für Napoleon verloren, da der nächste schon
des Gegners Kräfte wesentlich vermehren, Bernadottc und
Bennigsen heranführen wird und er nicht mehr gegen eine
der Armeen, sondern gegen alle drei wird fechten müssen.
Obgleich ihn eine Eekognoszierung am Morgen des 17.
Oktober seine üble Situation erkennen läßt, ist er doch noch
nicht gewillt, den Kampfplatz zu räumen. Einmal war ein
Korps (Reynier) noch immer zurück, und ebenso Maret mit
den Kanzleien; deren Eintreffen mußte abgewartet werden.
Dann: hieß es nicht eine Niederlage eingestehen, wenn man
sofort zur Retrai te blies? Und wir wissen, wie ängstlich Napo-
leon gerade über dem Schein wachte. Endlich waren die
Truppen, die sich tags zuvor so trefflich geschlagen hatten,
so sehr ermattet, daß sie den Abmarsch, der gewiß nicht ohne
ernste Kämpfe abging, nicht sogleich antreten konnten.
Wollte man zurück, dann brauchte man Zeit und mußte sie
erst gewinnen. Der Kaiser ließ den bei der Affaire von Dölitz
gefangenen Merveldt vor sich kommen, gab ihm gegen Parole
seinen Degen zurück und sandte ihn am Nachmittag mit An-
trägen, die zunächst einen Waffenstillstand bezweckten, an
Kaiser Franz ins Hauptquartier der Verbündeten. „Warum/*'
sagte er u. A. zu dem Österreicher, „nimmt man meinen Vor-
schlag, zu unterhandeln, nicht an? Ihr seht doch, daß England
den Frieden nicht will.*) Ich werde mich, wenn man will, hinter
*) Dieser Vorwurf bezieht sich auf jenen Annäherungsversuch, den
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230 Die Sendung Merveldts.
die Saale zurückziehen, Bussen und Preußen gehen hinter die
Elbe, Ihr nach Böhmen, und das arme Sachsen soll neutral
bleiben." Er ließ auch durchblicken, was er von seiner euro-
päischen Stellung aufzugeben bereit wäre: Hannover an Eng-
land, die deutsche Nordseeküste, vom Rheinbund Alles was
freiwillig von ihm abfiel, dann Polen, Spanien und Holland,
doch das Letztcrc mir, wenn seine Unabhängigkeit gegen Groß-
britannien gesichert werde. Italien aber sollte nicht mehr in
seine alten Verhältnisse, das ist unter die Vorherrschaft
Österreichs, zurückkehren; es würde nur unter einem einzigen
Herrscher vereinigt dem System von Europa entsprechen.*)
Mit dieser Klausel benahm er der Sendung Merveldts alle
Aussicht auf Erfolg. Denn gerade um die Vorherrschaft in
Italien hatte Österreich zehn Jahre lang gefochten, und ein
Austerlitz hatte dazu gehört, ihm den Verzicht darauf abzu-
ringen. Man einigte sich denn auch rasch im Hauptquartier,
vorläufig den Antrag unbeantwortet zu lassen. Den Wieder-
beginn des Kampfes verschob man, der erwarteten Verstär-
kungen wegen, die man auf etwa 100.000 Mann bezifferte, auf
den nächsten Vormittag. Ein Angriff von der Blücherschen
Armee her, der die Franzosen hinter Gohlis und die Parthe
drückte, ward bald wieder abgebrochen.
Während Napoleon noch auf Merveldts Rückkehr wartete,
die nicht erfolgen sollte, traf er frühmorgens am 18. die
ersten Dispositionen für einen Rückzug nach Westen, in-
dem er Bertrand, der am 16. Lindenau gegen ein österrei-
chisches Korps gehalten hatte, anweisen ließ, auf der Lützener
Straße bis Weißenfels vorzugehen und dort den Flußübergang
zu sichern; zwei Divisionen der jungen Garde sollten ihn in
Lindenau ersetzen. Das war aber zunächst auch alles, und dem
Gesehichtschreiber fehlen die Behelfe, sich und anderen zu
Napoleon am 25. September gemacht hatte, als er seinen Adjutanten
Flahault als Parlamentär mit einem Brief an Kaiser Franz zu den
österreichischen Vorposten schickte. Er erhielt zur Antwort, daß an
einen Teilfrieden nicht mehr zu denken sei, daß man aber seine
Eröffnungen nach England geschickt habe. (Oncken, Aus den letzten
Monaten des Jahres 1813. Hist. Taschenbuch, 1883, S. 12.) S. Anhang.
w ) oiene nurg hersh, Memoiren (deutsch), S. 200 flf., Slmrnik,
XXXI. 336, Toll, III, 523 u. a. a. O.
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Napoleon wagt noch eine Schlacht. 231
erklären, warum der Kaiser nicht schon vorher bei Einbruch
der Nacht, wo Keynier eingerückt, die Armee ausgeruht und
der gute Jiuf des Feldherrn nicht mehr in Gefahr war, mit
aller Energie den Kückzug durch Leipzig hatte antreten lassen.
Hoffte er wirklich auf ein Ergebnis der Sendung Mer-
veldts? Scheute er die Verwirrung des nächtlichen Marsches
durch die Stadt und über die einzige Brücke? Denn andere
hatte man zu bauen unterlassen. Oder dachte er nur für den
schlimmsten Fall sich den Weg offen zu halten? „Der 17. ver-
lief ruhig," erzählt Marmont in seinen Memoiren, „der Feind
wartete seine Verstärkungen ab. Was uns betraf, so waren wir
damit beschäftigt, die Ordnung unter unseren Truppen wieder-
herzustellen. Doch hätten wir von dem Augenblick an unseren
liückzug beginnen, oder doch die Mittel vorbereiten müssen,
um ihn bei einbrechender Nacht zu bewerkstelligen. Aber eine
gewisse Sorglosigkeit Napoleons, die man unmöglich erklären
und nur schwer bezeichnen kann, machte das Maß unsrer Leiden
voll." Wir Spätere haben mehr den Eindruck eines Mannes, der
das Kriegsglück, das seine Genialität so oft zu meistern ver-
standen hatte, noch einmal herausfordern will. Nach Mitter-
nacht hatte der Kaiser das Heer etwas näher an Leipzig
herangezogen, um seine Kräfte für die Defensivschlacht zu
konzentrieren, die ihm entweder den Sieg bringen oder doch
die Möglichkeit bieten soll, den allerdings sehr schwierigen
Durchzug durch Leipzig zu erstreiten. Für den letzteren Fall
will er die ganze Armee des Feindes im Osten beschäftigen,
ihn bei jeder Dorfschaft aufhalten, um so einem seiner Korps
nach dem andern den ungestörten Abmarsch im Westen zu
sichern. So kann der Kampf am 18. Oktober immerhin auch
als eine Art Rückzugsgefecht aufgefaßt werden, allerdings das
großartigste, das die Geschichte kennt.*) Der Kaiser hat nach
dem Eintreffen ßeyniers und dem Abgang Bertrands noch
., Leipzig konnte in der Tat als ein Brückenkopf angesehen
werden, den man leicht einen ganzen Tag hindurch verteidigen kann,
wenn man die Vorstädte und die alte Mauer, ähnlich wie in Dresden,
vorteilhaft zu benutzen verstand", heißt es bei .Tomini, Precis politi-
que et militaire des campagnes de 1812 a 1814; II., 186. Doch weiß
auch er sich die Säumnis Napoleons am Abend des 17. nur mit der
Rücksicht auf die Rendung Merveldts zu erklären.
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232
Der 18. Oktober.
gegen 160.000 Manu und 600 Geschütze; die Verbündeten ver-
fügen über nahezu 300.000 Mann und über die doppelte An-
zahl Kanonen, da auch Bernadotte endlich herangekommen
ist und, nachdem ihm Blücher hochherzig 30.000 seiner Leute
abgetreten hat, am Kampfe teilnehmen wird.*) Freilich wird
weitaus nicht alles von dieser Übermacht in den Kampf rücken,
schon weil der Kronprinz seine Schweden, der Zar seine Garden
schonen will und der Preußenkönig die seinigen nicht minder.
Hunderttausend Mann sollen müßig gestanden haben.
Die französische Armee war am 18. in einer Linie auf-
gestellt, die sich von Connewitz die Pleiße aufwärts bis Dölitz
zog, von da über Probsthaida, Dösen nach Zuckelhausen und
Holzhausen vorsprang, dann nordwärts bis Schönfeld und die
Parthe entlang nach der Halleschen Vorstadt und bis Gohlis
lief. Napoleon selbst nahm bei einer Tabaksmühle an der Col-
ditzer Straße nächst Stötteritz seinen Standplatz. Die Verbün-
deten begannen um 8 Uhr anzugreifen. Sie erreichten in
harten und verlustreichen Kämpfen, daß die Österreicher links
über Dölitz, Dösen und Lößnig hinausdrangen, die Russen im
Zentrum Zuckclhausen und Holzhausen eroberten, die Preußen
unter Bernadotte, der recht spät bei Taucha mit 50.000 Mann
über die Parthe gegangen war und erst am Nachmittag von
dorther in Fühlung mit Bennigsen avancierte, den Feind bis
*) Über die Haltung Bernadettes, die schon seit einiger Zeit
den Gegenstand verschiedenartiger Auffassung in der Gesehichtscbrei-
bung bildet, orientiert ein von dem französischen Emigranten Roche-
chouart aufgezeichnetes Gespräch. Rochechouart, der jetzt in russischen
Diensten stand und im Auftrag des Zaren den Kronprinzen zu eiligem
Vorschreiten zu bewegen hatte, bekam von Diesem n. a. folgende« zu
hören: „Außer dem sehr natürlichen Widerstreben, französisches Blut
zu vergießen, leitet mich auch die Rücksicht auf meinen Ruf. Mein
Schicksal hängt an einer Schlacht; verlier' ich sie, so leiht mir Nie-
mand in Europa einen roten Heller. Mit Napoleou allein wäre die
Sache einfach; er ist ein Spitzbube, den man töten muß, denn so lang
er lebt, bleibt er die Geißel der Welt. Man braucht keinen Kaiser
mehr, der Titel ist nicht französisch, Frankreich braucht einen König,
allerdings einen, der zugleich Soldat ist. Das Geschlecht der Bourbons
ist verbraucht und wird nicht mehr an die Oberfläche emportauchen.
Wer taugt da wohl den Franzosen besser als ich?" (Rochechouart,
Souvenirs, p. 251.)
Die Schlacht geht für Napoleon verloren. 233
au die Dörfer Anger, Krottendorf, Volkmarsdorf zurückwarfen.
Die Dunkelheit machte dem blutigen Wüten ein Ende. Ein
überwältigender Sieg, wie er der Übermacht entsprochen haben
würde, ist, wie man sieht, von den Alliierten nicht errungen
worden. Denn die Stellungen bei Connewitz nnd im Zentrum
bei Probstheida und Stötteritz sind im Besitze der Franzosen
geblieben. Aber die Gefahr, die diesen vom linken Flügel her
droht, wo eine sächsische Division und eine württembergische
Kavalleriebrigade zum Feinde übergegangen waren und wo
namentlich die Fortschritte der preußischen nnd russischen
Kolonnen ihre Schlachtlinie zu durchbrechen drohten — bei
etwas mehr Energie der Führung auch wohl durchbrochen
hätten — zwingt Napoleon schließlich diese Positionen auf-
zugeben und damit seine Niederlage einzugestehen. Schon zu
Mittag hatte er den Rückmarsch des Trains, am Nachmittag
den dreier Reiterkorps angeordnet; bei einbrechender Nacht
fuhr der große Artilleriepark durch die Stadt, und da diktierte
der Kaiser Berthier auch die Ordre für den allgemeinen Rück-
zug. Kurz vorher war er vor Ermüdung eingeschlafen. „Man
hatte ihm", erzählt Odeleben, „einen hölzernen Schemel ge-
bracht, auf dem er, erschöpft von den Anstrengungen der
letzten Tage, in Schlummer sank. Seine Hände ruheten, nach-
lässig gefaltet, im Schoß; er glich in diesen Augenblicken jedem
anderen, unter der Bürde des Mißgeschicks erliegenden
Menschenkinde. Die Generale standen düster und verstummt
um das Feuer, und die zurückziehenden Truppen marschierten
in einiger Entfernung vorüber." Dann begab sich Napoleon
nach Leipzig, wo er im Hötel de Prusse mit Berthier arbeitend
die Nacht verbrachte.
Erst spät nach Mitternacht zogen auch die tapferen Ver-
teidiger von Probstheida und Stötteritz in die Vorstädte hin-
ein. Nur eine Nachhut von drei Korps unter Macdonald sollte
zurückbleiben und den Feind bis zum nächsten Mittag von der
Stadt fernhalten. Erfolgte dann der allgemeine Sturm, so war
es ihre Aufgabe, Leipzig womöglich noch bis Mitternacht zu
verteidigen. Aber es sollte anders kommen. In der Nacht und
am Morgen des 19. war die Verwirrung in der Stadt, in die
alles bei drei Toren hereinströmte, was doch nur bei einem
234 Der llückzug durch Leipzig.
einzigen wieder hinaus konnte, ganz ungeheuer. Am Vormittag
gelang es Napoleon selbst nur mit Mühe sich durch das Chaos
durchzuringen und Lindenau zu erreichen, während um den
Besitz der inneren Stadt bereits heftig gekämpft wurde. Da
täuschte das unvermutete Vordringen einiger russischer Jäger-
abteilungen vom Rosental her den an der hohen Elsterbrücke
postierten Geniekorporal derart über die Lage, daß er die Brücke
vorzeitig sprengte und dadurch die Korps der Arrieregarde
völlig preisgab.*) Es blieb diesen Truppen nur übrig, sich zu
ergeben. Ihre Führer suchten zu entkommen. Hier war es, wo
sich Macdonald mit dem Pferde durch den Fluß schwimmend
rettete, während Poniatowski, der edelste unter den Marschällen
des Kaiserreichs und mit einer der tapfersten, in den Fluten
versank; die anderen, Lauriston und Keynier, wurden gefangen;
sie waren beide verwundet. Verwundet waren auch Xey, Mac-
donald, Marmont, Latour-Maubourg, Sebastiani u. A. Fünf
Divisionsgenerale lagen tot. Bei 60.000 Mann, darunter 25.000
Gefangene hatten Napoleon die beiden Tage vom 18. und
19. Oktober gekostet. Etwas viel für ein Arrieregefecht.**)
Und nicht genug daran. Mit dem Eückzug nach dem Rhein,
der jetzt unerläßlich geworden war, wurden auch die Besatzun-
gen der Elbe-, Oder- und Weichselfestungen aufgegeben, d. i.
nahezu anderthalb hunderttausend Mann. Und noch ein Opfer
forderte der Krieg: die Majestät Friedrich Augusts von
Sachsen, dem Napoleon vor seinem Abgange vorgegaukelt
hatte, er verlasse die Stadt nur, um im offenen Felde zu
manövrieren, und werde sie in zwei bis drei Tagen wieder ent-
setzen.***) Der König ging als Gefangener nach Berlin, und
*) »So wird die Sache von Macdonald (Souvenirs, p. 218)
dargestellt, der überdies erzählt, ein Genieofßzicr habe seinem Vorge-
setzten am 18. Vorschlüge gemacht, die Passage noch während der
Schlacht vorzubereiten, jedoch zur Antwort erhalten, dazu sei Zeit, bis
der Kaiser es anordne. Die Ordre sei ausgeblieben. Man war es eben
gewohnt, daß der Kaiser an alles dachte.
**) Die Verluste beider Teile bei Leipzig sehätzt Gneisenau auf
„sicherlich 100.000 Tote und Verwundete". (Delbrück, Gneisenau,
I., 410.) Es waren mehr. Die Verbündeten allein hatten seit dem
14. Oktober über 50.000 Mann eingebüßt. (Friederich, III, 226.)
***) König Friedrich August selbst hatte sich zu mehreren Per-
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Verfall der französischen Armee.
Stein ward, als Vorsitzender eines „provisorischen Zentral-
Administrations-Departements", Chef der Verwaltung des
Landes im Namen zwar der drei verbündeten Monarchen,
aber zugleich unter der Aufsicht eines Diplomatenrates, dem
Hardenberg präsidierte.*)
Als Napoleon bei Weißenfels etwas Ordnung in das re-
tirierende Heer zu bringen trachtete, hatte er noch etwa
120.000 Mann um sich, die sich anfangs in leidlicher Ordnung
und von der feindlichen Avantgarde unter Yorck und dem
Österreicher Gyulai wenig belästigt, fortbewegten. Aber sobald
man hinter die Saale und dem nachrückenden Feind aus den
Augen gelangt war, bröckelten von dieser Masse mit jedem
Tage Tausende ab. Ein Teil davon warf die Waffen fort und
desertierte, Andere zogen als marodierende Banden von „Frico-
teurs" hinterher, Andere blieben entkräftet zurück. In den
Kolonnen begann der Hungertyphus zu wüten, fortan der treue
Begleiter der Armee. Erst in Erfurt, wo die wenig eifrige Ver-
folgung der Gegner dem Heer eine zweitägige Ruhe gönnte,
konnte* es sich etwas restaurieren und sammeln. Doch schon
jenseits des Thüringerwaldes, den der Kaiser bei Eisenach
umging, um über Fulda und Hanau nach Frankfurt und Mainz
zu gelangen, waren es wieder nur noch kaum mehr als 60.000
Mann, die in Reih' und Glied marschierten. Sie waren bei
Kösen mit den Österreichern in ein verlustreiches Gefecht
geraten und mußten sich auch jetzt die Rückkehr an den Rhein
erst noch erkämpfen, als ihnen am 30. Oktober Wredc bei
Hanau mit einem bayrisch-österreichischen Korps von 30.000
Mann, das er in Eile vom Inn herangeführt hatte, in den
Weg trat. Bis nahe an Fulda war Blücher hinter Napoleon
marschiert. Blieb er auf diesem Wege, so konnte das franzö-
sische Heer, wenn nur Wrede aushielt, in die ärgste La<re ge-
sonen (dem Russen Toll, dem Preußen Nateraer) über Napoleons Vor-
spiegelung geäußert. (Aster, Die Gefechte und Schlachten bei Leipzig,
IL, 307.)
*) Daß diese Behörde sich wesentlich von der Administrations-
kommission des Frühjahrs unterschied und namentlich von den verbün-
deten Regierungen weit abhängiger war als jene, zeigt Lehmann,
Stein, III., 322.
2*6
Das Gefecht bei Hanau.
raten. Aber ini Hauptquartier der Monarchen hatte man die
Ansicht gewonnen, der Feind werde nicht über Fulda und
Hanau, sondern über Alsfeld und Gießen nach dem Rheine
streben, hatte demgemäß Blücher auf diese Straße verwiesen
und auch Wrede dementsprechend instruiert. Dieser glaubte
daher am 30., es nicht mit der ganzen feindlichen Armee zu
tun zu bekommen, und griff herzhaft an; seinen Irrtum erken-
nend, hielt er gleichwohl aus politischen Gründen — »Wir
sind zu neue Freunde, um nicht unsern guten Willen mit Ernst
zu betätigen", sagte er — am Kampfe fest. An diesem Tage
standen übrigens auch Napoleon nicht mehr als etwa 17.000
Mann, darunter die Garden, unmittelbar zur Verfügung; der
Rest der Bewaffneten folgte ziemlich weit zurück. Er wollte
vorerst diese abwarten, ließ sich aber — widerwillig — von
Macdonald bestimmen, dennoch anzugreifen. Mit Erfolg. Dem
Artilleriegencral Drouot gelingt es, eine größere Anzahl Ge-
schütze in des Feindes linke Flanke zu bringen, und Wrede
verliert nach hartnäckigem Widerstande die Schlacht. Der Weg
nach Mainz war frei.
Am 2. November langte Napoleon dort an, um erst nach
mehreren Tagen Aufenthalts nach Paris weiter zu reisen. Von
der halben Million bewaffneter Männer, die in diesem Jahre,
seinem Winke gehorchend, den Rhein überschritten hatten,
kehrten kaum über 90.000 zurück, viele ohne Wehr und mit
dem Gift einer tödlichen Krankheit im Blute, das in der
Rheinstadt sofort in fürchterlicher Stärke wüten und dem
„Typhus de Mayence" ein trauriges Andenken sichern sollte.
„Die Menschenmasse," erzählt ein Augenzeuge, „die alle Häuser
und Straßen anfüllte, war unbeschreiblich; hier sah man die
Soldaten noch mit halbem Leben, von aller Hilfe verlassen,
vom Hunger gepeinigt, unter dem freien Himmel, bei Kälte
und Regen auf harten Steinen liegen und auf den Tod mit
Sehnsucht harren. Zu Hunderten starben sie täglich und lagen
oft mehrere Tage unbegraben auf den Straßen." *) Man sah es,
und auch der Kaiser sah, wenn er aus den Fenstern seines
Paläste? über den Schloßplatz hinblickte, wie die zweite seiner
*) Bookonheimer, Mainz in den Jahren 1813 und 1814, S. 57.
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In Mainz. 237
großen Armeen verdarb. Was er wohl dabei empfinden mochte!
Bevor der Feldzug begann, hatte er in Paris dem Grafen Mole
versichert: „Glauben Sic nur nicht, daß ich nicht auch, wie die
andern, ein fühlend Herz habe; ich bin sogar ein ganz guter
Mensch. Aber seit meiner frühesten Kindheit hab' ich mich
gewöhnt, diese Saite zum Schweigen zu bringen, und nun bleibt
sie stumm." Anders äußerte er sich in der Unterredung mit
Metternich zu Dresden. Dort hatte Dieser ihn gefragt: „Werden
Sie, wenn die ohnehin vorweggenommene Generation Fran-
zosen, die Sie unter die Fahnen gerufen haben, verschwunden
sein wird, werden Sie dann noch an die nächste appellieren?"
und Napoleon, durch die ungelegene Frage erregt, geantwortet :
„Sie sind nicht Soldat und wissen nicht, was in einer Soldaten-
' seele vorgeht. Ich bin im Feldlager groß geworden, und ein
Mann wie ich schert sich den Teufel um das Leben einer
Million Menschen." Beinahe soviel hatten ihm seine beiden
letzten Feldzüge gekostet. Und wenn er jetzt in Mainz für
Kranke und Verwundete Sorge trug, so geschah es auch
nicht sowohl, um sie aus Menschlichkeit zu retten, sondern
vielmehr um sie später wieder verwenden zu können. Denn
all seine Tätigkeit beherrschte der eine Gedanke, den er kürz-
lich in Erfurt aussprach: „Bis zum Mai werd* ich eine Armee
von 250.000 Streitern am Rhein haben."
Viertes Kapitel.
Elba,
So war nun ein zweites Kriegsjahr mit ungeheuren Ver-
lusten für Napoleon zu Ende gegangen. Der nationale Wider-
stand der Bussen hatte ihn auf einem Leidenswege ohne-
gleichen aus dem Zarenlande hinausgenötigt, der nationale
Aufschwung der Deutschen zwang ihn über den Rhein zurück.
Die Politik der Fürsten und ihrer Kabinette verschwand völlig
neben dem elementaren Drang des Völkerwillens nach Unab-
hängigkeit von fremder Willkür. Vergeblich war das Zögern
Friedrich Wilhelms III., das zaudernde Wägen und Messen
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238 Völker und Fürsten.
seiner Diplomaten gewesen: er mußte in den Krieg gegen
den Alliierten des Vorjahres. Vergebens hatte Metternich für
seinen Herrn eine besondere, durch Bündnisse gestärkte
neutrale Stellung ausgesonnen: Franz I. mußte sie aufgeben
und gegen den Eidam das Schwert ziehen. Umsonst, daß
Friedrich August von Sachsen seine Treue gegen den Schöpfer
seiner Königskrone betätigte: seine Regimenter entfremdeten
sich ihm und überließen ihn seinem Schicksal. Und ebenso
waren westfälische Truppen, württembergische Reiter, baden-
sisehes Fußvolk lange schon zum Feinde übergegangen, ehe
Jeröme in der letzten Oktoberwoche sein Land verließ, König
Friedrich I. und Großherzog Karl sich den Verbündeten an-
schlössen. Bald stand der ganze Rheinbund gegen seinen
Protektor. Und wie bei den Deutschen, so gewannen auch bei
den anderen heerpflichtigen Völkerschaften des Kaiserreichs
die Nationalparteien die Oberhand. So bei den Italienern, auf
die der „Misogallo" Alficris nicht ohne Wirkung geblieben
war. Murat mit den Neapolitanern hatte sich noch vor der
Hanauer Schlacht unter dem Vorwand, die Lage seines König-
reichs erheische seine Rückkehr, von Napoleon getrennt. Seine
Gedanken gingen, wie schon ein paar Jahre zuvor, nach
anderen Dingen: er will sich die Krone Neapels retten, ja,
wenn es ging, auch die des ganzen Italien hinzugewinnen —
vorausgesetzt, daß sich hier nicht die Donaumacht in ihre alten
Hechte setzte. Denn schon Ende Oktober 1S13 hatten die Öster-
reicher unter Hiller die Truppen des Vizekönigs Eugen bis
hinter die Etsch zurückgetrieben und Triest samt den dalma-
tinischen Festungen in ihre Hände bekommen. Die Holländer
empörten sich Mitte November in Amsterdam offen wider Na-
poleon und erklärten sieh für das angestammte Haus Oranien.
Und während all dies geschah, hatte auch der spanische Na-
tionalkrieg unter Führung und Teilnahme der Engländer
wieder neue Erfolge über die Franzosen ergeben. Im Septem-
ber war die Seefestung San Sebastian, im Oktober Pampeluna
in "Wellingtons Hände gefallen und dadurch der Weg nach
Buyonne völlig frei geworden, den der Brite, nachdem er von
Napoleons Mißerfolgen gehört hatte, alsbald einschlug und
unter fortwährenden Kämpfen mit Soult fortsetzte. Zugleich
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Wie werden sieb die Franzosen verhalten? 23i*
wich Suchet, um nicht seine Verbindungen mit Frankreich zu
verlieren, aus Katalonien über die Pyrenäen zurück.
So erwehrten sich die Völker des schwer lastenden Über-
gewichts, und die eigenste Schöpfung Napoleons, das inter-
nationale Empire, brach unter dem tatkräftigen Widerwillen
der Nationen zusammen. Nun kam für sein Schicksal nur noch
in Frage, ob denn nicht jetzt endlich auch diejenige Nation,
deren Land und Kraft er zum Stützpunkt seiner Weltherr-
schaft gemacht hatte, seines Regiments überdrüssig wurde, das
in ruhelosem Drange ohne Grenzen ihr Blut und Gut vergeu-
dete? Jetzt konnte er nicht, wie vor Jahresfrist, die widrigen
Elemente der Natur als seine Bezwinger und als die Vernichter
der zweiten gewaltigen Armee anklagen, die ihm in der Hoff-
nung auf Sieg und Frieden überantwortet worden war, und was
er als die eigentliche Grundlage seiner Macht ansah, seine per-
sönliche Geltung, war tief erschüttert. Wird er noch ein drittes
Mal die Mittel zu einein neuen Feldzug erhalten?
Allerdings hatte ihm der Senat, noch ehe auf der Leip-
ziger Ebene der entscheidende Schlag fiel, mit gewohnter
Devotion, wie erwähnt, 280.000 Mann zugestanden. Aber wie
wenig war das, um gegen Europa zu kriegen. Gewiß, auch der
Konvent hatte seinerzeit gegen den ganzen Erdteil den
Kampf aufgenommen, aber damals mit frischen Kräften, die
der Enthusiasmus neuerrungener Freiheit beseelte. Seitdem
waren zwanzig Jahre fast ununterbrochenen Streitens ver-
flossen, die Nation hatte ihre Freiheit wieder eingebüßt, und
ihre Begeisterung für den Mann, der ihr Ordnung und Ruhm
verschafft hatte, war geschwunden, seitdem seine Glorie sich
verdüsterte und an die Stelle erträumter Ruhe und friedlichen
Genießens nur immer neue Fehden mit immer größeren
Opfern traten. Denn die Zeit war lange vorbei, wo der Kaiser
als Sieger dem französischen Volke Provinz auf Provinz zu
Füßen legen und versichern konnte, daß all diese Lorbeeren dem
Lande so gut wie nichts kosteten. Im letzten Jahre hatte er
die klaffenden Lücken des Staatsbudgets nur noch durch einen
dreisten Griff in das Nationalvermögen stopfen können und
den Verkauf der Gemeindegüter angeordnet. Nun stellte sich
heraus, daß dieses Experiment einen sehr geringen Erfolg
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210
Unzulängliche Geldmittel.
gehabt hatte und daß nur ein kleiner Bruchteil der Werte in
Geld umgesetzt werden konnte. So fehlte es dem Staat eben
jetzt, da er sich in der bedrängtesten Lage befand, an den
nötigen materiellen Mitteln. Wo waren sie zu finden, wenn
— die Folge der hohen Blutsteuer — die Äcker brach lagen,
die Industrie feierte, der Handel stockte? Etwa in der Er-
höhung der Zölle? Aber der Import war geringfügig. Oder
in der Vermehrung der Grundsteuer (um 30%), der Türen-
und Fenstersteuer, der Patentensteuer, der Salzsteuer und der
indirekten Steuern? So beschloß der Senat am 11. November.
Aber das Erträgnis wird nicht hinreichen. Man wird im
Januar 1814 die Grundsteuer statt um 30% um die Hälfte er-
höhen müssen, und ebenso die anderen im gleichen Maße, und
gleichwohl vergeblich. Das Steuererträgnis wird in diesem
Jahre einen Ausfall von 50% aufweisen. Die Rente ist bis
auf 50 gefallen, die Aktien der französischen Bank, die ehedem
1400 Franken und mehr gegolten hatten, werden nun mit
wenig über 700 gehandelt. Niemand kauft, denn niemand
hat Geld flüssig. Die Weinbauern behalten ihr Gewächs in
den Kellern; die Magazine der Fabriken sind überfüllt. Napo-
leon wird, wenn er rüsten will, fürs erste nur seinen Tuilerien-
schatz zur Verfügung haben, von dessen Millionen die
nächsten Wochen den größten Teil verschlingen werden.*)
Und wie an Geld, so fehlte es nun auch schon an Leuten
für den Krieg. Zwar die Konskription vom Oktober ging
noch leidlich vonstatten. Der Feind stand ja an der Grenze,
und der Patriotismus forderte sein Recht. Man hatte, um das
Vaterland zu verteidigen, doch keinen andern General, dem
man sich in gleichem Maße anvertrauen konnte, wie dem
*) Die Angaben über den Schatz in dieser Zeit schwanken. Napo-
leon selbst gibt ihn im Gespräch mit dem Frankfurter Banquier Simon
Moritz Bethmann mit 80 Millionen in barem an (s. meinen „Kongreß
von Chatillon", S. 2), seinem Schatzminister Mollien aber schreibt er am
17. November: „Ich habe nur 30 Millionen im Kronschatz." Er wünscht
jedoch, daß verbreitet werde, es seien mehr als 200 Millionen darin. Der
Minister nimmt den vom Kaiser angegebenen Barvorrat als richtig an',
rechnet übrigens noch eine Summe von ungefähr 150 Millionen in
Weitpapieren dazu, die freilich in der kritischen Zeit schwer zu Geld
zu machen waren. (Mollien, Me^noires, III., 345 ff.)
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Unzulängliche Streitkräfte. 241
genialen Kaiser. Darum blieb vorerst die Masse des franzö-
sischen Volkes — die Polizeinoten beweisen es — gut imperia-
listisch. Nur in den dem englisch-bourbonischen Einfluß aus-
gesetzten Provinzen: Flandern, Artois, Normandie und Bretagne
und den südlichen: Guyenne, Gascogne, Provence war die Be-
völkerung gleichgültig gegen die Invasion oder doch dem
Kaiserreich abgeneigt. „Die Bevölkerung", schreibt Barante,
damals Präfekt in Nantes, „begann sich zu rühren und ihre
Unzufriedenheit kam in dem Maße zum Ausdruck, in dem die
kaiserliche Kegierung die mächtige Autorität ihrer Siege ein-
büßte."*) In den übrigen Landesteilen lieferte der Bauer
resigniert seinen letzten Sohn ab, und erst als ein zweites
Senatsgesetz vom 15. November 1813 anordnete, aus den
Altersklassen von 1803 bis 1814, die schon gedient hatten,
aufs neue 300.000 Mann auszuheben, das ist auf die Familien-
stützen und Ehemänner zu greifen, ergaben sich unüber-
windliche Schwierigkeiten. Die Einberufenen stellten sich
nicht oder entüohen in die Wälder, und zu Beginn des neuen
Jahres war, allen Strafgesetzen zum Trotz, von den 300.000
Mann nicht viel mehr als der fünfte Teil rekrutiert. Und
ebenso schlimm stand es um die Errichtung einer neuen Natio-
nalgarde, wie sie der Senat — was bewilligte dieser Senat nicht
alles! — am 17. Dezember in 450 Kohorten anbefahl. Der
Bauer wußte vom letzten Feldzug her, daß der Kaiser, wenn
er Soldaten brauchte, zwischen Miliz und Linie keinen Unter-
schied machte. Er war bereit, seinen Hof zu verteidigen, aber
nicht, ihn mit Weib und Kind im Stiche zu lassen und zur
Armee zu gehen. Keine 20.000 Mann brachte man in den
Depots zusammen. Und selbst für diese geringen Ergebnisse
der neuen Aushebung fehlte es noch an Armaturgegenständen,
Uniformen und Waffen.
Fürwahr, das waren üble Aussichten für die Fortsetzung
des Krieges gegen das verbündete Europa, wenn auch die
Stimmung des französischen Volkes den Kaiser noch nicht
fallen ließ, die liberale Agitation gegen ihn in den tieferen
Schichten noch keinen Boden fand und die Bourbons mit
*) Souvenirs, II., 11.
Fournier, Napoleon I.
16
242 Ferdinand von Spanien und Pius VII.
ihrem Anhang hochmütiger Aristokraten der alten Abneigung
noch immer sicher, vielen ganz unbekannt waren. Wenn
man nur nicht nach zwei Seiten — gegen Süden und Osten —
zugleich hätte Front machen müssen und die Truppen Soults
und Suchets für den Krieg gegen die Alliierten hätte ver-
wenden können. Daran dachte Napoleon wohl, und deshalb
entschloß er sich, den gefangenen Ferdinand VII. von Spanien
freizulassen, ihm sein Land zurückzugeben und mit ihm
Frieden zu schließen. Am 8. Dezember kam in Valencay der
Vertrag zustande. Anstatt nun aber den König sogleich heim-
zuschicken, was nach Wellingtons Zeugnis das einzige Mittel
gewesen wäre, den Engländern den Krieg unmöglich zu
machen, ließ sich Napoleon durch eine Intrigue Talleyrands,
der jetzt mit allen Geheimmitteln der Politik des Kaisers
Stellung zu untergraben suchte, bestimmen, vorerst den Ver-
trag der Regentschaft in Madrid vorzulegen. Diese verweigerte
— Talleyrand war dessen sicher gewesen — die Annahme,
da ein Beschluß der Cortes festgesetzt hatte, man wolle mit
Frankreich keinerlei Vertrag schließen, solange dem König
nicht seine volle Freiheit zurückgegeben sei, und die Unter-
handlungen zogen sich bis in den Januar hin. Die Armeen
des Südens konnten nicht frei werden.
Und wie den König von Spanien, so wird der Kaiser auch
daran denken müssen, seinen zweiten Gefangenen freizugeben:
den Papst. Durch den Zusammenbruch des Empire ward ja
auch seinen kirchenherrlichen Absichten der Boden entzogen.
Wieviel hatte er sich nicht von seiner Gewalt über den heiligen
Vater versprochen! „Von diesem Augenblick" — sagte er
später — „würde ich den Papst wieder erhoben, ihn mit Pomp
und Huldigungen umgeben, ein Idol aus ihm gemacht haben;
nie hätte er seine weltlichen Besitztümer vermissen sollen.
Ich hätte dann meine kirchlichen Sessionen gehalten wie
meine legislativen. Meine Konzilien wären die Repräsentation
der Christenheit, die Päpste deren Präsidenten gewesen; ich
hatte sie erötlnet und geschlossen, ihre Dekrete gebilligt und
verkündigt, wie Konstantin und Karl der Große getan. Wie
fruchtbar an großen Ergebnissen wäre dies geworden! Der
päpstliche Einfluß auf Spanien, Italien, den Rheinbund, Polen
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Die Auflösung des Kmpire. 243
hätte die Bundesverhältnisse des großen Reiches enger ge-
schlossen, und der, den das Haupt der Christenheit auf die
Gläubigen in England und Irland, Kußland und Preußen,
Österreich, Böhmen und Ungarn ausübt, wäre das Erbteil von
Frankreich geworden." Aber das große Reich war nun im
Wanken und sein Einfluß auf die Nachbarländer zunichte.
Es war auf seine nationalen Grenzen zurückgewiesen, und
sein Monarch konnte nicht mehr daran denken, das inter-
nationale Universalsystem des Papsttums weiterhin damit zu
verknüpfen. Gleich zu Beginn des letzten Krieges hatte
Pius VIT. das Konkordat von Fontainebleau widerrufen und
später, als der Kongreß zu Prag tagte und Franz I. sich von
Napoleon trennte, die apostolische Majestät Österreichs als
Anwalt angerufen. Jetzt will ihn der Kaiser freigeben, doch
auch nur gegen einen Vertrag. Der Papst aber weist jede
Unterhandlung aufs entschiedenste zurück, denn nicht in
Paris, nur in Rom könne eine solche geführt werden. Darauf
hält ihn Napoleon fest, was seine politische Stellung nicht
bessert, sondern eher mehr verwickeln muß.
Es blieb ihm zu deren Festigung überhaupt nur noch
zweierlei übrig: entweder mit seinen reduzierten Kräften den
mehrfach überlegenen Feind zu schlagen, oder mit ihm, ehe er
über den Rhein ging, Frieden zu schließen, den Frieden, den
Frankreich seit so viel Jahren vergeblich und jetzt, nach all
den Verlusten, mit doppelt heißen Wünschen ersehnte. Aber
war denn der Friede zu erlangen? Wer.den die Mächte, die
soeben siegreich bis an den Rhein vorgedrungen sind, dort
Halt machen und von Vergleich hören wollen? Und wenn sie
wollen, unter welchen Bedingungen? Die Antwort erfuhr
Napoleon, als um die Mitte November 1813 ein französischer
Diplomat, der Baron von Saint-Aignan, ein Schwager Cau-
laincourts, aus Frankfurt, dem Hauptquartier der verbündeten
Monarchen, in Paris anlangte. Saint-Aignan hatte bisher die
französische Regierung an den Höfen zu Gotha und Weimar,
nicht immer zur Zufriedenheit Napoleons, vertreten, war nach
der Schlacht bei Leipzig in dieser Stadt gefangen und von
den Verbündeten nach Frankfurt mitgenommen worden, wo
man ihm eine ähnliche Rolle zudachte, wie sie Napoleon jüngst
l6*
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244
Die Mission Saint-Aignans.
Merveldt hatte spielen lassen. Metternich eröffnete ihm
nämlich im Beisein und unter formeller Zustimmung Nessel-
rodes, der auch für den abwesenden Hardenberg gutsagte,
und des englischen Bevollmächtigten im österreichischen
Hauptquartier, Lord Aberdeens, daß die Mächte geneigt seien,
Frieden zu schließen, England, die meisten französischen
Kolonien zurückzugeben, wenn Napoleon die natürlichen
Grenzen Frankreichs, das ist den Rhein, die Alpen und die
Pyrenäen als Friedensbasis annehmen und einen Kongreß zum
Zweck einer allgemeinen Pazifikation beschicken wolle. Aller-
dings war diesem Anerbieten die einschränkende Klausel bei-
gefügt, daß der Fortgang des Krieges durch die diplomatische
Verhandlung nicht unterbrochen werden sollte; aber es war
doch der Friede, der da in Aussicht stand, und wer es ehrlich
mit dem Kaiser meinte, mußte ihm raten, sofort anzunehmen.
Denn es war so, wie es in Saint-Aignans Bericht hieß, „daß
Kapoleon der Menschheit viel Übel, Frankreich viel Gefahren
ersparen könne, wenn er die Unterhandlungen auch nicht
um einen Tag hinausschiebe." Das Anerbieten selbst war
die Antwort auf seinen Vorschlag vor der Entscheidung
bei Leipzig und man wählte deshalb eine ähnliche Form
der Mitteilung.*) Was die Verbündeten vcranlaßte, ein-
*) Damals, nach der Unterredung Napoleons mit Merveldt, hatte
Metternich an den leitenden Staatsrat Hudelist in Wien geschrieben:
„Wir werden am Rhein antworten," (19. Oktober 1813, Kongreß von
Chätillon, S. 8.) Der Bericht Saint-Aignans über seine Unterredungen
mit Metternich und die Konferenz in Frankfurt ist später, verstümmelt,
im „Moniteur" vom 20. Jänner 1814 und in Fain, Manuscrit de 1814,
vollständiger von Bignon, Hist. de France, XIII., 24 ff. und Haus-
Bonville, Souvenirs et melanges, p. 119 ff., mitgeteilt worden. Die
von dem Diplomaten niedergeschriebene Note mit den Vorschlägen der
Verbündeten wurde vielfach gedruckt: im Sbornik, XXXI., 341, in
d'Angeberg, Congres de Vienne,L, 76, bei Fain u. a. m. Sorel, VIII.,
200 ff., vertritt die Anschauung, es sei Metternich mit dem Frankfurter
Anerbieten der natürlichen Grenzen nicht Ernst, sondern nur darum zu
tun gewesen, sich der französischen Volksstimmung gegen Napoleon
zu versichern, um dann mehr zu verlangen und entweder den gedemü-
tigten Schwiegersohn unter den Einfluß Österreichs zu bringeu oder
diesen Einfluß, wenn Napoleon sich etwa zur Abdankung gezwungen
sah, auf Marie Luise und ihren Sohn auszuüben. Auch wenn Napoleon
sofort angenommen hätte, meint Sorel, wäre es doch nicht zum Frieden
«
Metternichs Besorgnisse. 245
zuhalten und diesen Frieden anzubieten, ist einmal
darin zn suchen, daß das Kriegsziel der Teplitzer Traktate
mit der Ankunft am Rhein erreicht war, und dann in dem
Grundsatz der österreichischen Politik, Frankreich nicht all-
zusehr einzuschränken, um in ihm immer noch ein gewisses
Gegengewicht gegen Rußlands drohende Übermacht in Geltung
zu erhalten. Diese Ubermacht hatte sich ohnehin bereits Iteim
Abschluß jener Allianzverträge vom 9. September fühlbar ge-
macht, wo der das Herzogtum Warschau betreffende Artikel
des Reichenbacher Vertrages — die drei Mächte werden das
polnische Land unter sich aufteilen — wesentlich abgeändert
worden war, so daß er nun hieß: sie werden sich über dessen
künftiges Schicksal gütlich vergleichen, was den gänzlichen
Anfall an Rußland nicht ausschloß, wenn für Preußen und
Österreich anderweitige Entschädigung gefunden wurde. Wir
wissen, wie sehr Metternich diesen erheblichen Machtzuwachs
des nordischen Nachbars fürchtete, und es war gewiß, daß Er-
oberungen jenseits des Rheins derlei Entschädigungsobjekte
herbeischafften. Darum sollte jetzt Friede werden, und zwar
unter Bedingungen, die dem französischen Volke ehrenvoll
auf der Basis der natürlichen Grenzen gekommen. Dagegen wäre ein-
zuwenden, 1. daß damals Metternich und Abcrdeen, ja sogar Stadion in
einer Denkschrift, die Zurückdrängung Frankreichs hinter den Rhein
und die Alpen als eine große Sache angesehen haben, bei der man sich
begnügen könne; 2. daß Metternich noch am 28. November, also nach
dem Eintreffen einer unzureichenden Antwort Napoleons (am 24.) die
„natürlichen Grenzen" in den Entwurf eines Manifestes an die Fran-
zosen aufgenommen hat, und überdies die Versicherung, die Verbündeten
würden selbst nach Siegen auf französischem Boden nicht mehr als diese
verlangen — Dinge, die dann allerdings weggeblieben sind. (Aberdcens
Bericht vom 28.November bei Oncken, Hist. Taschenbuch, 6. F., IL, 38);
8. daß Kaiser Alexander, der, ehe Stein ankam, unter Metternichs Einfluß
stand, noch am 6. Dezember, nachdem das Manifest bereits veröffent-
licht war, einem Sendboten nach England die Instruktion mitgab, der
Friede sei auf der Basis der „natürlichen Grenzen" mit Frankreich zu
schließen. (Martens, XI., 198.) Es kam dann freilich anders, aber
nicht auf die Anregung Metternichs hin, und es steht auch keineswegs
fest, daß, bei der Kriegsunlust der Monarchen im November, Napoleons
sofortiges Zugreifen nicht zu abschließenden Verhandlungen im Sinne
der Frankfurter Anträge geführt hätte. Gingen doch die Heere erst zu
Ende des Jahres über den ßhein.
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216 Haltung Napoleon».
genug erschienen, so daß sie Xapoleon nicht kurzerhand ab-
weisen konnte. Unterstützte man vollends den Antrag durch
den Einmarsch in Frankreich, so zeigte man damit den Fran-
zosen den vollen Ernst der Situation und gewann ihre Unter-
stützung in einer Pression auf den Imperator, dessen kriege-
rische Zurüstungen man zu gleicher Zeit hemmte und ein-
schränkte. Dafür gelang es nun Metternich, schon auf dem
Marsche nach dem Rhein, sowohl Lord Aberdeen als auch den
Zar zu gewinnen, der damals noch von einer Fortsetzung des
Krieges in Feindes Land nicht sehr erbaut war, weil er damit
den Verlust seines eben erst erworbenen dominierenden An-
sehens befürchten mochte.*) So kam es zur Mission Saint-
Aignans. Metternich selbst äußerte freilich als seine Meinung,
der Schritt werde ohne Erfolg bleiben, und er schrieb es auch
in einem Privatbriefe an Caulaincourt, den er dem Unter-
händler mitgab. War das ein indirekter Wink für Xapoleon,
rasch zuzugreifen? Alles hing davon ab, ob er es tat.
Er kannte seine Lage ganz genau. Das große Projekt
der Kontinentalsperre war in Rußland gescheitert, der Rhein-
bund war jetzt in Deutschland seinem „Protektorat" entrissen
worden. „Ja," hatte er sich in Frankfurt während einer kurzen
Rast im Hause Simon Moritz Bethmanns, des Banquicrs, ver-
nehmen lassen, „mit dem Rheinbund ist's vorbei, ich will
auch nichts mehr davon wissen; im Grunde war es doch nur
ein schlechter politischer Kalkül, ihn ins Leben zu rufen. Auch
das Kontinentalsystem war eine Chimäre; ich werde nicht
mehr darauf zurückkommen."**) So trennte er sich, mit er-
zwungenem Gleichmut, von den Ideen, die mehrere Jahre hin-
durch sein ganzes Sinnen beschäftigt und Hunderttausenden
das Leben gekostet hatten. Kurz nachher sagte er zu seinem
Bruder Joseph: „Meine Situation erlaubt mir nicht mehr, an
*) Alexander äußerte sich in Frankfurt wiederholt zu Labou-
ehere: „Man muß mich nieht für so verrückt halten, daß ich den Krieg
auf das andere Rheinufer tragen werde. Ich werde nieht in den Fehler
verfallen, der meinem Feinde so schlecht bekommen ist, und in Paris
das Schicksal suchen, das er in Moskau erfuhr." (Pasquier, Memoi-
res, II., 111.) Auch die russischen Generale waren gegen einen Vor-
inarseh.
**) Kongreß von Chätillon, S. 2.
Seine Antwort.
247
irgendeine fremde Herrschaft zu denken, und ich werde mich
glücklich schätzen, wenn ich das Territorium des alten Frank-
reichs durch den Frieden erhalten kann. Alles um mich herum
droht den Einsturz. Meine Armeen sind vernichtet und die
Verluste, die sie erlitten, lassen sich nur mit äußerster
Schwierigkeit wieder gutmachen. Holland geht uns unwieder-
bringlich verloren; Italien ist schwankend; das Benehmen des
Königs von Neapel beunruhigt mich. Die Nachschübe für
den Vizekönig, deren Dieser dringend bedarf, langen nicht an,
die Österreicher bedrängen ihn, und die Italiener, die er be-
fehligt, zaudern. Belgien und die Rheinprovinzen geben
Zeichen von Unzufriedenheit. Die spanische Grenze ist in der
Gewalt des Feindes. Wie sollte man in einer solchen Krisis
an auswärtige Throne denken? wie Frankreich, das sich kaum
verteidigen kann, Opfer für eine andere Sache als die seiner
Erhaltung zumuten, wo man doch im höchsten Falle nur
auf solche rechnen kann, die zum Schutz des eigenen Ge-
bietes unerläßlich sind?"*) Und dennoch hat Napoleon den
Friedensantrag der Feinde nicht schlechtweg angenommen, in
einem Schreiben vom 16. November die angebotene Friedens-
basis gar nicht erwähnt und nur Mannheim als Kongreßort
vorgeschlagen. Galt es ihm, etwas mehr Zeit für seine
Rüstungen zu gewinnen, damit er bei den Unterhandlungen
nicht wehrlos dem Diktat der Feinde gehorchen mußte? Oder
wollte er den Frieden jetzt gar nicht, und war es ihm, wenn
er sich überhaupt auf Verhandlungen einließ, nur um den
Schein zu tun, damit die öffentliche Meinung, die so sehn-
süchtig nach dem Ende des endlosen Streites rief, sich be-
ruhige? In der ersten Ministerratssitzung, der er nach seiner
Rückkunft präsidierte, sagte er zu seinen Räten, die auf das
Ruhebedürfnis des Landes und dessen schlechte materielle
Verhältnisse hinwiesen: „Sie sprechen zu viel von Frieden.
*) Miot von Mclito, Memoire.?, HL, 309. Man darf freilich
nicht außer acht lassen, daß diese Worte des Kaisers nur das Prälu-
dium bildeten zu der Forderung, Joseph solle auf das spanische König-
tum verzichten, und deshalb vielleicht düsterer lauteten als Napoleon
selbst seine Lage erschien. Immerhin aber entsprachen sie ganz den
tatsächlichen Verhaltnissen.
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248
Er denkt nicht an Frieden.
Wollen Sie denn von der Höhe herabsteigen, auf die ich
Frankreich emporgebracht habe? Wollen Sie wieder eine
simple Monarchie werden, anstatt ein stolzes Reich zu sein?
Und das wird eintreten, wenn Sie Holland verlieren. Sie
brauchen die Strommündungen und die Barriere gegen
Norden. Bevor ich sie herausgebe, steche ich die Dämme
durch." Und als er ihnen darlegte, wie nur der Abfall seiner
Verbündeten, namentlich Bayerns, seine Niederlagen herbei-
geführt habe, flammte plötzlich sein Auge auf und er rief:
„München muß brennen ! Und es wird brennen !" Das klang
nicht gerade friedlich.*) Freilich, er für seine Person mußte
den Frieden unter den gegebenen Umständen als ein schweres
Mißgeschick empfinden. „Seiner Geltung des stets siegreichen
Eroberers entkleidet," erzählt der Polizeipräfekt Pasquier,
„umgeben von seinen Kapitänen, die er nicht mehr mit Reich-
tümern der unterworfenen Völker beschenken konnte, einer
Nation gegenüber, die alles für ihn getan hatte und nun ge-
rechterweise von ihm Rechenschaft fordorte für das in wahn-
sinnigen Unternehmungen vergeudete Gut und Blut, war ihm
der Gedanke an Frieden zur Pein, ihm, dessen Stolz nicht die
kleinste Verminderung seines Besitzes zu ertragen ver-
mochte."**) Und noch Eins mochte er überlegen. Saint-
Aignan hatte mit seinen Fricdensgrundlagen, die ihm in
Frankfurt mit auf den Weg gegeben worden waren, zugleich
auch die Ankündigung mitgebracht, die Verbündeten würden
keinen Waffenstillstand schließen und die Feindseligkeiten
nicht unterbrechen. So hatte auch er in den Zeiten seiner
Siege wiederholt gehandelt und dann, je nach seinen Erfolgen
— man denke nur z. B. an die Verhandlungen in Lüneville
oder nach Jena — die Friedensbedingungen gesteigert. Seine
Feinde brauchten ihm das nur abgeguckt zu haben, um wäh-
rend ihres Vordringens in Frankreich ihren Tarif zu erhöhen.
Was nützte es ihm da, sich von vornherein zu binden? Er
wollte sich nicht täuschen lassen.
*) Nach (h'ii Anmerkungen zweier Anwesenden: Moles in der
Revue de la Revolution, 1888, und Pasquiers im II. Bande seiner Me-
moiren, S. 99. Siehe obon Band II, S. 59.
**) Memoires, II., 110.
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Das Manifest der Verbündeten.
219
Metternich benützte die aufschiebende Antwort des
Kaisers und den Umstand, daß sie mit der Nachricht von
der Bewilligung der 300.000 Konskribierten durch den Senat
zusammenfiel, um sie in einem Manifest der Monarchen an
das französische Volk zu verwerten. „Die verbündeten Mächte",
hieß es darin, „sind im Kriege nicht gegen Frankreich,
sondern gegen jenes laut verkündete Übergewicht, das der
Kaiser Napoleon außerhalb der Grenzen seines Reiches zum
Unglück Europas und Frankreichs zu lange ausgeübt hat. Der
Sieg hat die alliierten Heere an den Rhein geführt. Der erste
Gebrauch, den Ihre kaiserlichen und königlichen Majestäten
davon gemacht haben, hat darin bestanden, daß sie Seiner
Majestät dem Kaiser der Franzosen den Frieden angeboten
haben." Über dessen Bedingungen hieß es aber nun allerdings
nicht mehr : Rhein, Pyrenäen und Alpen, wie ein erster Metter-
nichscher Entwurf noch enthalten hatte. Kurz zuvor, Mitte
November, war der Abfall der Holländer erfolgt, und da die
Engländer längst mit sich im Reinen waren, ihnen die weg-
genommenen Kolonien nicht mehr zurückzugeben, suchten sie
nach einer Entschädigung auf dem Kontinent und fanden sie
in Belgien. So kam es, daß das britische Kabinett Lord Aber-
deen desavouierte und schon jetzt von den „alten" Grenzen
Frankreichs als Friedensbedingimg sprach. So weit wollten
freilich weder Metternich noch Alexander gehen, schon um
in Frankreich nicht die friedfertige Stimmung zu ver-
scheuchen, aber noch weniger wollte man es sich mit England
verderben, und so hieß es jetzt nur ganz allgemein: „Die ver-
bündeten Souveräne wünschen, daß Frankreich groß, stark
und glücklich sei", und: „Die Mächte verbürgen dem fran-
zösischen Reiche eine Ausdehnung seines Gebietes, wie sie
Frankreich unter seinen Königen nie gekannt hat." So appel-
lierten die Kabinette des alten legitimen Europa — und dies
ist ein neues Zeugnis dafür, wie sehr sie in diesem Augenblicke
von einer volkstümlichen Strömung getragen waren — vom
Monarchen an den Souverän, vom Kaiser an das Volk, vom
Herrscher eines internationalen Empire an die französische
Nation. In dieser Unterscheidung zwischen Fürst und Volk,
dieser Berufung an die höhere Instanz des Letzteren, lag das
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2o0 Volksstimmung in Frankreich.
Gewicht des sonst recht schwächlich klingenden Aufrufs, und
die Wirkung konnte nicht ausbleiben. Napoleon wurde sie aus
den Berichten der Präfekten gewahr, die ihn veranlaßten,
Senatoren und Staatsräte in die Provinz zu schicken, um die
Stimmung zu beleben und der kaiserlichen Regierung freund-
licher zu gestalten. Diese Sendboten erhielten außerordent-
liche Vollmachten. Sie konnten, wenn es ihnen nötig schien,
das Standrecht erklären, den Widerwillen bestrafen und die
Massen gegen den eindringenden Feind bewaffnen. Denn Na-
poleon durfte in seiner Lage selbst den Appell an die alte revo-
lutionäre Kampfesfreude nicht verschmähen, und so ward jetzt
auch die lange verpönte Marseillaise wieder von den Dreh-
orgeln durch die Straßen geleiert. Es half wenig. Am deutlich-
sten zeigte sich dem Kaiser, wie schließlich die Franzosen
selbst zwischen ihm und sich zu unterscheiden begannen, als
am 19. Dezember 1S13 der Gesetzgebende Körper zusam-
mentrat.
Bis zu diesem Tage hatte Napoleon dessen Eröffnung
hinausgeschoben, um den Mitgliedern nicht ganz ohne Beweis
für seine Friedensliebe gegenüberzutreten. Erst nachdem er
der öffentlichen Meinung, die in Maret einen Gegner des
Friedens erblickte, diesen Minister geopfert, d. h. ihm die
Leitung der auswärtigen Angelegenheiten abgenommen und
sie Caulaincourt übertragen hatte, den man als Repräsen-
tanten der Pazifikationsidee ansah, nachdem er dann durch
Diesen am 2. Dezember an Metternich hatte schreiben lassen,
wie er nun auch die angebotenen Friedensgrundlagen annehme,
worauf der österreichische Minister erwiderte, daß der Er-
öffnung des Kongresses nichts im Wege stehe und England
sofort benachrichtigt werde, damit es einen Vertreter sende:
erst da glaubte Napoleon Material genug zu besitzen, um sich,
wie er es in früheren Jahren so oft getan, als friedfertigen
Mann hinzustellen. Diese Korrespondenz — nur diese, nicht
aber die Eröffnungen Saint-Aignans und die aufschiebende
erste Antwort darauf — wurde den Deputierten vorgelegt,
obwohl der Kaiser in seiner Thronrede, mit der er die Mit-
glieder des Gesetzgebenden Körpers zugleich mit denen des
Senats und des Staatsrates ansprach, versicherte, es würden
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Laines Adressenentwurf.
251
alle Originalakten, die sich im Portefeuille des Auswärtigen
Ministeriums vorfinden, mitgeteilt werden. Der Schluß seiner
Botschaft, die an die Nationalehre appellierte, enthielt die
übliche Forderung neuer Opfer: 160.000 Mann National-
garden, denn „die Nationen unterhandeln nur dann mit
Sicherheit, wenn sie all ihre .Kräfte entfalten". Der Senat,
der erst kürzlich durch ein Dutzend sicherer Männer vermehrt
worden war, beantwortete die Thronrede mit einer submissen
Adresse: der Kaiser möge mit einem letzten Kraftaufwand
einen seiner und der Nation würdigen Frieden erkämpfen.
Die Deputierten aber, von denen man insbesondere die Zu-
stimmung zu den erhöhten Steuern begehrte, verstanden die
Sache anders. Es waren durchaus besonnene, zum großen
Teil wenig bedeutende Männer, jeder über vierzig Jahre alt,
an ihre Rolle, nur als parlamentarische Dekoration zu dienen,
seit Jahren gewöhnt, und es mußte viel Unzufriedenheit im
Volke geben, wenn auch sie nicht mehr Ordre parierten. Und
das war der Fall. Ein von dem Bordelaisen Laine vorgetragener
Kommissionsbericht sprach es mit mutiger Deutlichkeit aus:
„Alle Mittel des Widerstandes würden nur dann wirksam sein,
wenn die Franzosen überzeugt wären, daß es der Regierung
wirklich nur um den Ruhm des Friedens zu tun sei und daß
ihr Blut nur für die Verteidigung des Vaterlandes und
schützender Gesetze vergossen werden solle." Die letzte An-
deutung wollte sagen, daß die Franzosen nicht mehr für eine
Regierung der Willkür zu kämpfen gesonnen wären. Darum
sollte der Kaiser gebeten werden, „für die volle und anhal-
tende Ausführung der Gesetze zu sorgen, die den Franzosen
die Rechte der Freiheit und der Sicherheit des Eigentums, der
Nation die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte
gewährleisten." Der Bericht wurde mit einem Sturm von Bei-
fall im Plenum begrüßt und mit großer Majorität — 223 gegen
31 Stimmen — angenommen. Mit Mühe suchten die Regie-
rungsvertreter den wenig gefügigen Wortlaut abzuändern. Es
blieb noch so viel davon übrig, daß der Kaiser im Zorne den
Druck verbot, den Gesetzgebenden Körper unter einem Vor-
wand schloß und den Mitgliedern am 1. Januar 1814 in öffent-
licher Audienz mit großer Heftigkeit den Vorwurf machte, sie
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252 Schließung des Gesetzgebenden Körpers.
hatten ihn entehren wollen, ihm mehr Schaden zugefügt als
zehn verlorene Schlachten, denn man wasche seine Wäsche
nicht vor fremden Leuten; damit hätten sie nur den Feind
herbeigerufen, für dessen Vertreibung sie vorzukehren hatten,
kurz, sie seien ,,faktiös" und er würde sie überwachen lassen.
Die Mitglieder der Adreßkommission, darunter der Dichter
Eenouard, wurden dann durch die Polizei aus Paris abge-
schafft; die Einhebung der neuen Steuern ward durch eine Ver-
ordnung verfügt.*)
Die Schließung des Gesetzgebenden Körpers machte na-
mentlich in den Provinzstädten viel böses Blut, und es will
scheinen, als habe nur der jetzt ins Land dringende Krieg
mit seinen Heimsuchungen und Gewaltsamkeiten Napoleon
und seinem Regiment die Rettung aus einer inneren Krise
gebracht, die sich eben vorbereitete. Für das französische Volk
war er nun, in der Zeit der Not, nicht sowohl Herr mehr
als Feldherr, allerdings der tüchtigste von allen und gewiß
der eifrigste, denn er kämpfte um seinen Thron. Es wird uns
nicht überraschen, noch einmal allen Wundern seiner
Genialität zu begegnen.
Die Verbündeten wollten — wie Metternich es Saint-
Aignan mit auf den Weg gegeben hatte — den Krieg nicht
unterbrechen. Und in der ersten Novemberwoche waren sie auch
über dessen unmittelbare Fortsetzung einig geworden, trotz
dem Einspruch der russischen Generale und einzelner alt-
modischer Militärs vom Schlage Dukas, der eine verschanzte
Aufstellung auf dem rechten Ufer des Rheins und erst im
Frühjahr die Eröffnung der Feindseligkeiten wünschte und
Kaiser Franz einmal dahin brachte, Radetzky, der sofort an-
greifen wollte, mit standrechtlicher Behandlung zu drohen.
Nur über den Operationsplan blieben die Meinungen noch eine
Zeitlang geteilt. Gneisenau hatte für die schlesische Armee
die Offensive durch Belgien vorgeschlagen, während die
Hauptarmee den Rhein zwischen Straßburg und Mainz zu
*) Pasquier, Memoires, IL, 129, Madame de Chastenay,
Memoire», IL, 250.
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Operationspläne der Verbündeten.
253
überschreiten hätte. Schwarzenberg dagegen vertrat die An-
sicht, die Hauptarmee solle durch die Schweiz, die zur Sache
der Verbündeten zu bekehren und keinesfalls in der Flanke
zu lassen sei, nach Frankreich einmarschieren und das von
der alten Strategie geschätzte Plateau von Langres zu ge-
winnen suchen; dadurch würde man, war seine Meinung, den
durch Oberitalien vordringenden Österreichern die Hand
reichen und auch Wellington näher sein; die Blüchersche
Armee hätte bei Bonn und Köln über den Rhein zu gehen,
um der Armee Bernadottes die Eroberung Hollands zu er-
leichtern; die süddeutschen Truppen Wredes sollten am
Mittelrhein Stellung nehmen und ein Korps unter Bülow
ihre Verbindung mit der schlesischen Armee vermitteln. Man
einigte sich dann auf folgende Grundsätze: die des Trachen-
berg-Reichenbacher Abkommens haben sich bewährt und
sollen auch weiterhin gelten; die Hauptarmee marschiert
links ab und trachtet ins Innere. Frankreichs einzudringen;
Blücher geht zu ihrer Rechten über den Rhein und beschäftigt
den Feind so lange, bis die Hauptarmee dessen Verbindungen
erreicht hat; die Eroberung Hollands fällt der Nordarmee zu.
Es war ein methodischer Plan, der viel Zeit beanspruchte und
mehr auf den Gewinn einer Stellung als auf den taktischen
Sieg über den Feind hinzielte. Doch war der eine Satz von un-
bestreitbarer Richtigkeit, mit dem Radetzky ihn verfocht:
„Das ganze mittägliche Frankreich, in welchem sich jetzt kein
Soldat befindet, wird durch diesen Schritt in seinen Organisa-
tionen gehemmt, und der Kaiser Napoleon verliert einen be-
deutenden Teil seiner Mittel." Alexander stimmte zögernd
zu. Friedrich Wilhelm aber, der später nach Frankfurt kam,
war gar nicht für die Invasion, und alles, was ihr entgegen
war, schloß sich ihm an. Franz I. schwankte unschlüssig
zwischen den "Vorträgen Dukas und Schwarzenbergs. Da man
aber nach dem Manifest an die Franzosen verpflichtet war, die
militärischen Maßregeln bis zum Abschluß des Friedens nicht
einzustellen, so sah man sich endlich doch genötigt, vorwärts
zu gehen.
In den ersten Dezembertagen wurden in aller Heimlichkeit
die Befehle an die einzelnen Korps der Hauptarmee erteilt,
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254
Durch die Schweiz und über den Rhein.
am 13. des Monats bei Basel über den Rhein zu rücken. Aber
noch sollte es dazu nicht kommen. Der Zar, von seinem ehe-
maligen Lehrer, Laharpe, einem Waadtländer, beeinflußt, hatte
einer Schweizer Abordnung die Neutralität ihres Landes ver-
bürgt und daraufhin plötzlich erklärt, er würde den Marsch
durch die Schweiz als einen Kriegsfall mit Rußland ansehen.
Die beiden anderen Monarchen gaben ihm nach, und auch
Metternich versprach den Schweizern, ihr Gebiet zu schonen.
Als dann jedoch bekannt wurde, daß aus der „neutralen"
Schweiz Hunderte von Rekruten nach Frankreich zogen und
aus der Gefangenschaft entflohene Offiziere der verbündeten
Armee dort festgenommen und an Napoleon ausgeliefert
wurden, da bestanden Schwarzenberg und Radetzky so fest auf
der Besetzung des Landes, daß auch Metternich ihnen beifiel
und durch heimliche Mittel dahin trachtete, die Okkupation ohne
Blutvergießen, d. i. ohne Widerstand der schweizer Truppen
in Vollzug zu setzen. Sie erfolgte am 21. Dezember, und schon
am 28. war die Hauptarmec — 200.000 Mann — im Besitze
der wichtigsten Juraübergänge nach Frankreich.*) Drei Tage
später, in der Neujahrsnacht, ging auch Blücher mit 60.000
Mann bei Caub über den Rhein. Von der Nordarmee hatte
Bülow mit 30.000 Mann schon am 23. November die hollän-
dische Grenze überschritten. Wrede belagerte Hüningen.
Als die Verbündeten dieserart vorrückten, war es, wie
erwähnt, ihre vorzüglichste Absicht, durch den Einbruch in
Frankreich des Kaisers Rüstungen zu hintertreiben und ihn,
also unfähig zu nachhaltigem Widerstande, dem Frieden ge-
neigter zu machen.**) Ihn vernichten, beseitigen, das wollte man
noch keineswegs. Und in der Tat, es ward erreicht, daß, indem
die beiden Armeen in der ersten Januarhälfte in Frankreich
*) Kongreß von Chätillon, S. 41.
**) »Die militärischen Operationen" — schreibt Gentz am 19. De-
zember aus Freiburg an den Fürsten der Walachei, nachdem er von
den Unterhandlungen gesprochen — „werden nichtsdestoweniger mit
größerem Nachdruck fortgesetzt werden, weil man auf diese Weise die
Reorganisation der Armee im Innern Frankreichs zu verhindern und
dadurch die friedliche Stimmung Napoleons um so mehr zu befestigen
hoftt." Metternich-Klinkowström, Österreichs Teilnahme an den
Befreiungskriegen. S. 140.
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Fortschritte der Alliierten in Frankreich.
255
vordrangen, mehr als der dritte Teil dieses Landes den
Rüstungen entzogen wurde, während das neue Heer Napoleons
noch in den ersten Stadien der Heranbildung sich befand.
Was von dem alten unter Macdonald, Marmont und Victor
am Rheine zurückgeblieben war, und was Ney und Mortier
bei Nancy und Langres sammelten, betrug nicht viel über
50.000 Mann, denn mindestens ebensoviel waren im Monat
Dezember am Typhus gestorben.*) Diese Streitkräfte, die sich
während des Januars 1814, der Übermacht weichend, in der
Direktion auf Vitry an der Marne zurückzogen, konnten nur
unzulänglich durch die Garden und einige Tausend Reserven
vermehrt werden. Die Aushebungen ergaben, wie wir sahen,
wenig neue Mannschaft, und der Versuch einer Levee en masse
scheiterte vollständig; das betreffende Dekret vom 3. Januar
blieb ohne Wirkung.
Napoleon war, ehe er an den Rhein gelangte, der Meinung
gewesen, die Feinde würden erst im nächsten Frühling den
Krieg fortsetzen. Als er dann gewahr wurde, daß er sich darin
geirrt hatte, vermutete er, sie würden mit ihrer Hauptmacht
über den Niederrhein vorbrechen, und hatte auch schon
seine Garden nach Belgien dirigiert, bis er Ende Dezember
zu seiner Überraschung von ihrem Durchmarsch durch die
Schweiz erfuhr, auf deren Neutralität er mit Sicherheit ge-
rechnet hatte. Nun kommandierte er die Garden eilends zurück
und faßte den Plan, die Alliierten bis in die Nähe der Haupt-
stadt herankommen zu lassen, wo er seine neue Armee unterdes
aufgestellt und ausgebildet haben würde. Hier wollte er dann
alle Streitkräfte versammeln und die Entscheidung in einer
Schlacht suchen. Diesen Plan mußte er aber, um den Gegnern
nicht allzu viel französisches Terrain mit seinen Hilfsquellen zu
überantworten, aufgeben und beschloß nun, schon zwischen
Seine und Marne, wenn auch anfänglich nur mit den Resten
der alten Armee, zu kämpfen. Seine Absicht hierbei war, den
getrennt anmarschierenden Feind noch vor seiner Vereinigung
zu schlagen und sich — aus politischen wie aus strategischen
*) Für die Stärke der Korps gibt Houssaye, „1814", S. 59, dio
amtlichen Ziffern. Vgl. auoh Weil, La eampagne de 1814, p. 11.
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256 Politische Spannung.
Gründen — zunächst gegen Blücher zu wenden, der auf St.
Dizier losging, während die Hauptarmee über Montbeliard
und Langres langsam heranzog. Diese Langsamkeit hatte ver-
schiedene Gründe. Einmal war es immerhin etwas Neues, solche
Massen zu bewegen, sie zu verpflegen u. s. w. Dann aber lagen
in der Politik hemmende Momente.
Die Besetzung der Schweiz durch die Österreicher war
nicht nur gegen den Willen, sondern auch ohne Vorwissen des
Kaisers von Rußland erfolgt, der sich nun den Schweizern
gegenüber kompromittiert sah und nur schwer beruhigt werden
konnte. Die Folge war, daß er sich dem Einfluß Metternichs,
dem er sich seit den Leipziger Tagen tatsächlich hingegeben
hatte, entzog und sein Vertrauen Stein zuwandte, der jetzt im
Hauptquartier anlangte. Dieser und Pozzo di Borgo wußten
ihn von dem Standpunkte, den er, von Metternich beredet,
in Frankfurt eingenommen hatte, zu entfernen und davon
zu überzeugen, daß der Krieg mit möglichster Energie bis
Paris zu führen und als dessen Hauptziel der Sturz Napoleons,
des Protektors der Polen, anzustreben sei. Damit gelangte Ale-
xander wieder zu der Anschauung, die er im Sommer 1812 mit
den Worten „Er oder ich" ausgedrückt hatte. Damals hatte
er auch schon einen Ersatzmann für den Imperator ins
Auge gefaßt : Bernadotte sollte es sein, dem er in Abo für
eine Teilnahme am Kriege nicht nur auf Norwegen für
Schweden, sondern, unter Umständen, auch auf die Krone
Frankreichs Aussichten eröffnet hatte. Man darf es wohl im
Zusammenhang mit dieser Hoffnung denken, daß jetzt der
Kronprinz die Invasion nicht mitmachte, sondern sich mit
einem Teil der Nordarmee gegen Dänemark wandte und es
im Kieler Frieden vom 14. Januar 1814 zur Abtretung Nor-
wegens zwang, um sich damit auch das Nest in Schweden
warm zu halten. Dadurch hatte er sich freilich den Ver-
bündeten Rußlands nicht gerade empfohlen; insbesondere
die Österreicher waren schlecht auf ihn zu sprechen. Und als
nun gar, Mitte Januar, Metternich davon erfuhr, daß er Ruß-
lands Kandidat für den französischen Thron sei, weil Ale-
xander auf diese Weise einen gefährlichen Nachbar im Norden
loszuwerden und in Frankreich einen dankbaren Freund zu
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Metternich isoliert den Zar.
257
gewinnen hoffte, da erschien ihm und seinem Herrn das Vor-
wärtsdrängen des Zaren nach Paris in einem so eigentümlichen
Lichte, daß sie den Entschluß faßten, solche Pläne nicht auch
noch, am wenigsten durch das Blut österreichischer Soldaten,
zu fördern. Schwarzenberg, dem schon am 8. Januar die Wei-
sung erteilt worden war, „klug" vorwärts zu gehen, erhielt
jetzt — er hatte sich eben, am 18., des Plateaus von Langres
bemächtigt — den Auftrag, ganz stille zu stehen. Es war auch
gerade der englische Minister Castlereagh im Hauptquartier
eingetroffen und Caulaincourt nach Lüneville herangekommen,
und es stand, außer Alexanders Ehrgeiz, nach Paris zu ge-
langen, nichts weiter der Eröffnung von Friedensunterhand-
lungen im Wege.
Denn* Metternich gelang es, sich mit den beiden andern
verbündeten Mächten zu verständigen. Bei England genügte
es, beiläufig das Wort fallen zu lassen, nach der Vergrößerung
Rußlands könnte Österreich auch daran denken, Belgien zu-
rückzuverlangen, worauf Castlereagh nichts dagegen hatte, daß
Napoleon auf dem Throne blieb, solange das französische Volk
seine Herrschaft ertragen mochte. Diese innere Frage zu ent-
scheiden, entziehe sich, meinte er, dem Einfluß der Mächte, die
sich gegen Rückfälle des Kaisers in sein Eroberertum durch
eine Schutzkonvention untereinander sichern könnten. Nur
wünschte der Engländer aus den bekannten Gründen die Be-
schränkung Frankreichs auf seine Grenzen vom Jahre 1792.
Metternich, der den Rückhalt an Großbritannien gegenüber
Rußland benötigte, gab dies zu und damit sein Frankfurter
Programm (der natürlichen Grenzen) definitiv auf. Nur den
Schein suchte er noch zu retten, indem er eine wechselseitige
Ausgleichung diesseits und jenseits der alten Grenzen zu
Frankreichs Gunsten in die Friedensbasis aufnehmen ließ. Auch
Hardenberg war bald durch Metternichs Zugeständnis ge-
wonnen worden, Österreich werde nicht widerstreben, wenn
Preußen Sachsen annektiere; nur müßte es den polnischen
Plänen des Zaren Widerstand leisten. So war Alexander iso-
liert, und als Österreich auch noch mit seinem Austritt aus der
Koalition drohte, gab er zu, daß mit Napoleon über den
Frieden verhandelt werde. Freilich wollte er dabei noch über
Foumier, Napoleon I. 17
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258 Die Miuisterkonferenz in Langres.
die „alten" Grenzen hinausgehen und Frankreich das Elsaß
abnehmen, um Österreich damit für Galizien zu entschädigen,
wenn er sich ganz Polens bemächtigte, was Metternich natürlich
ablehnte, da ein solcher Tausch zwar für den Rivalen einen
sicheren Machtzuwachs, für Österreich aber nur eine Quelle
politischer Verlegenheiten bedeutet hätte. Bloß das eine gestand
er, von Alexander gedrängt, zu, daß der Krieg während der
Verhandlungen weiter gehen solle.
Nach diesen Pourparlers einigte man sich auf einer
Ministerkonferenz zu Langres, Ende Januar, dahin, daß Be-
vollmächtigte der vier verbündeten Mächte mit Gaulaincourt
in Chätillon zusammentreten und den Frieden mit Napoleon
auf der Grundlage der alten Grenzen verabreden sollten. In
ihrer gemeinsamen Instruktion war jetzt freilich nicht mehr,
wie im Frankfurter Manifest, vom „Empire francais", sondern
nur noch schlechtweg von Frankreich die Rede, und die Be-
zeichnung „Chef du gouvernemcnt" ließ sogar auf alle Fälle
die Frage der regierenden D} T nastie offen. Für die Einschrän-
kung des ursprünglichen Anerbietens auf die Grenzen von
1792 machte man den Abfall Hollands, das weite, vom Gegner
ungehinderte Vordringen in Frankreich und endlich den Bei-
tritt Murats zur Koalition geltend, der am 11. Januar 1814
in der Form eines Vertrags mit Österreich erfolgt war. Dieses
hatte darin, gegen des Königs Verpflichtung, die Koalition in
Italien mit oü.000 Mann zu unterstützen, ihm seine Herrschaft
über Neapel garantiert und überdies für eine Gebietsver-
größerung von 400.000 Seelen auf Kosten des Kirchenstaates
Sorge zu tragen versprochen.*) Metternich hätte allzugern
gleich jetzt, in Langres, auch die noch offenen Fragen über das
künftige Verhältnis der europäischen Mächte zueinander —
vor allem die polnische — geordnet gesehen, was, nachdem
er die Minister Preußens imd Englands für sich gewonnen
hatte, Alexanders Plänen entgegen möglich gewesen wäre, aber
der Zar wich jeder Erörterung dieser Dinge aus und reiste
schließlich aus Langres ab. Zuerst, meinte er, müsse der Krieg
beendet sein. Und der nahm jetzt eben erst seinen Anfang.
*) \e umarm, Recueil, IL, 403.
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Das Gefecht bei Brienne.
259
Am 25. Januar fuhr Napoleon von Paris weg und traf
am 26. morgens in Chälons ein. Blücher war an diesem Tage
von St. Dizier nach Brienne unterwegs, in der eigenmächtig
gefaßten Absicht, der Hauptarmee näherzukommen, vor ihr
her gegen Paris zu marschieren und sie dadurch zu einer
offensiven Aktion zu bestimmen. So war es durch Steins Ver-
mittlung zwischen Alexander und dem Hauptquartier der
schlesischen Armee heimlich vereinbart worden. Blücher ver-
fügte, nachdem er das Korps Yorcks gegen die Mosel entsendet
und dasjenige Langerons bis auf eine Division zur Beobachtimg
von Mainz zurückgelassen hatte, über nicht mehr als 27.000
Mann. Napoleon schätzte ihn auf noch weniger und beschloß,
ihm entgegenzugehen, obwohl auch er nicht mehr als 40.000
Mann besaß und nur 30.000 in den- Kampf schicken konnte.
Er vermutete Blücher noch in St. Dizier, wo er jedoch am
27. nur dessen Nachhut fand, und eilte nun, Marmont zurück-
lassend, hinter ihm her nach Brienne. Hier kam es dann am
29. zum Gefecht, welches Blücher, der bereits im Begriffe
stand, westwärts weiterzugehen, nötigte, südlich nach Trannes
zu weichen. Der Kaiser folgte bis in die Nähe dieses Ortes,
immer in der Hoffnung, Blücher noch, bevor Schwarzen-
berg herankam, aufs Haupt zu schlagen. Diese Hoffnung
wurde aber getäuscht, denn gerade auf diese Vereinigung war
die Bewegung Blüchers nach links berechnet gewesen, wo
Schwarzenberg von Langres bis gegen Bar s. Aube vorgerückt,
hier jedoch, dem Drängen des Zaren entgegen, stehen geblieben
war, da er Napoleon zur rechten Hand, bei Chälons und Vitry,
wußte. Als er von Blüchers Heranmarsch und dessen Schicksal
bei Brienne erfuhr, entschloß er sich nach manchem Weh und
Ach über diejenigen, die nicht eilig genug nach Paris gelangen
konnten, und mit Vorwürfen gegen Metternich, der den Frie-
den noch immer nicht zustandegebraeht hatte, Blücher zu
unterstützen, und schickte ihm zwei Korps zu, die dessen
Kräfte auf 60.000 Mann, durchgängig Russen und Österreicher,
hoben, während Napoleon nur über 40.000 verfügte. Und auch
das Korps Wredes eilte von Joinville herbei, so daß man dem
gefürchteten Franzosenkaiser mit mehr als der doppelten Über-
zahl gegenübertreten konnte. So war, was Dieser zu hindern
17*
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2G0
Die Schlacht bei La Rothiere.
gemeint hatte, geschehen, und schon die Hartnäckigkeit, mit
der Blücher bei Trannes Stand hielt, ließ ihn über die Nähe
der feindlichen Hauptarmee nicht mehr im Zweifel. Ihr waren
seine Kräfte nicht gewachsen. Konnte es doch auch sein, daß
Schwarzenberg, während ihn Blücher hier festhielt, im Süden
gegen Troyes vorging, um auf seine Verbindungen zu fallen.
Darum verzichtete er nicht nur auf jeden Angriff, sondern hatte
auch am 1. Februar bereits den Befehl zum Ab h nach
Westen gegeben, als Blücher bei Rothiere die Offensive
ergriff. Den ganzen Nachmittag erwehrten sich die franzö-
sischen Truppen der Übermacht, bis gegen Abend ihre Linie
auf dem linken Flügel bei Chaumesnil durch das Eingreifen
Wredes durchbrochen ward und die von Napoleon selbst ins
Feuer geführten Reserven den Schaden nicht mehr gut
machen konnten. La Rothiere ging verloren, und mit dem
Dorfe die Schlacht.
Der Sieg der Verbündeten war ein glänzender, und er
wäre vielleicht endgültig gewesen, wenn ihn eine energische
Verfolgung ausgebeutet hätte. Aber diese unterblieb. Die
Alliierten hielten Napoleon eines Widerstandes nicht mehr
fähig. Blücher, der den Oberbefehl in der Schlacht geführt
hatte, schrieb noch am Abend, es sei durch sie „gleichsam
Alles entschieden worden", man werde in acht Tagen in Paris
sein, und unterließ es, rasch hinter dem Besiegten herzueilen
und ihm nicht zu gestatten, daß er Ordnung in seine völlig
verwirrten Truppen brachte. Schließlich verlor man alle
Fühlung mit dem Feinde. Trotzdem empfand Napoleon das
ganze Gewicht des Schlages, den er erfahren hatte. Wenn
er auch ungefährdet bis Troyes gelangen konnte, wo er mit
einer in solcher Lage beispiellosen Energie sofort am Zusam-
menraffen all seiner Kräfte arbeitete, um dem Feinde den
Zugang nach Paris zu wehren, so schien es ihm doch sehr
rätlich, jetzt in den Verhandlungen einen Ausweg zu suchen.
Nur war es zweifelhaft — so schreibt er am 4. Februar au
seinen Minister des Äußern — ob die Verbündeten überhaupt
noch verhandeln wollten.*) Maret, der sich in diesen unglück-
*) Vielleicht um sie dazu williger zu machen, hieß es in der Zu-
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Napoleon in Troyes. 261
liehen Tagen bei ihm in Troyes einfand und das Staatssekre-
tariat übernahm, erzählt in seinen Memoiren, er habe sich
dort zur äußersten Nachgiebigkeit entschlossen und Caulain-
court, der unter den gänzlich veränderten Verhältnissen einen
bestimmten Auftrag für den am 5. Februar beginnenden Kon-
greß begehrte, völlig freie Hand gelassen. „Der Herzog von
Bassano" — heißt es in den Aufzeichnungen — „reichte den
Brief (Caulaincourts) Napoleon und beschwor ihn, nachzu-
geben. Der Kaiser schien zunächst kaum auf ihn zu hören,
dann wies er auf eine Stelle in dem Buche Montesquieus, das
er zerstreut durchblätterte. „Lesen Sie," sagte er, „lesen Sie
laut." Da stand: „Ich wüßte nichts Hochherzigeres als den
Entschluß eines Monarchen unserer Tage, sich eher unter den
Trümmern seines Thrones zu begraben, als Vorschläge anzu-
nehmen, die ein König nicht hören darf." „Ich aber", rief
Maret, „weiß etwas Hochherzigeres: wenn Sie Ihren Ruhm
zum Opfer brächten und damit den Abgrund ausfüllten, der
sonst Frankreich mit Ihnen verschlingen wird." „Gut deun,
Ihr Herren, macht Frieden; Caulaincourt soll ihn abschließen,
soll alles unterzeichnen, was ihn herbeiführen kann; ich will
die Schande ertragen. Aber verlangt nur nicht von mir, daß
ich meine Erniedrigung selbst diktiere." Da schrieb dann
Maret an den Minister, der Kaiser gebe ihm Carte blanche,
um die Verhandlungen zu einem glücklichen Ende zu führen,
die Hauptstadt zu retten und eine Schlacht zu vermeiden, in
der die letzten Hoffnungen der Nation ins Spiel kommen
würden.*) Als Caulaincourt, erschreckt von der Zumutung
einer so großen Verantwortung, am 6. Februar um bestimmtere
Weisung bat, wie weit er gehen könne, brachte Maret den
Kaiser, der am 7. nach Xogent zurückgegangen war, endlich
dahin, daß er noch in der Nacht wirklich „seine Erniedrigung
diktierte". „Es wurde nun festgesetzt" — wird weiter erzählt —
schrift, es sei gar keine Schlacht gewesen, der Feind habe mit seiner
ganzen Macht nur mit 15.000 Franzosen zu tun gehabt, die den Tag über
das Schlachtfeld behaupteten, nur einige Kanonen verloren usw. Das
sollte Caulaincourt betonen. Corresp. XXVII., 21.178.
*) Über die Reihenfolge der Briefe an Caulaincourt gegen
Houssaye's Annahme, „1814 w , S. 93 s. Kongreß v. Chätillon, S. 85.
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262 Nachgiebige Instruktionen.
„daß man selbst Belgien und das linke Rheinufer für den
Frieden dahingehen müsse, und zwar wurden die Instruktionen
in dem Sinne abgefaßt, daß der Bevollmächtigte zuerst
Belgien, dann, wenn unerläßlich, das linke Bheinufer anbieten
solle. Italien, Piemont, Genna, ja selbst die Kolonien sollten
vor allem geopfert werden." Am nächsten Morgen wollte
Napoleon die neue Ordre unterzeichnen. Da waren aber noch
vor Tagesanbruch Meldungen eingetroffen, die alles wieder
umwarfen, und als Maret mit dem Schriftstück im Kabinett
erschien, fand er seinen Herrn in vollem Eifer über seine
Karten gebeugt. „Es handelt sich jetzt um ganz andre Dinge",
ward ihm zugerufen. „Ich bin soeben daran, Blücher zu
schlagen." Und damit war von der Unterschrift nicht weiter
die Bede. Talleyrand hatte Recht: er konnte nicht König
von Frankreich werden, der Kaiser Napoleon.*)
Man machte es ihm aber auch nicht gerade leicht. Denn
der Sieg bei La Rothiere hatte bei den Verbündeten — auch
bei Metternich — den zweifelnden Gedanken wachgerufen,
ob denn wohl nach diesem neuen Mißerfolg Napoleon über-
haupt noch im eigenen Volke politischen Rückhalt genug be-
sitze, um als Garant für den Frieden aufgefaßt zu werden.
Wenn man erwog, daß die Einwohnerschaft die fremden
Truppen nicht unfreundlich empfangen hatte, daß die Ver-
bündeten überall nur den Ruf nach Frieden hörten, so daß
Metternich am 9. Februar nach Wien schreiben konnte: „Die
allgemeine Stimme ist: Napoleon weg!" so war ein solches
Raisonnement immerhin gestattet. Der Zar hatte, seiner in
*) Wenn auch die Mitteilung Maret«; (bei Ernouf, p. 621) richtig
ist, so ist doch nicht zu übersehen, daß Napoleon Blüchers Bewegungen
schon seit mehreren Tafren verfolgte und am 7. Februar abends, nach-
dem er Marmont mit 20.000 Mann nach Sezanne entsendet hatte, an
Joseph schrieb: „Ich habt- noch keine Nachricht vom Herzog von Ragusa
aber ich werde mich mit aller Gewalt auf die Verbindungslinie des Feindes
Meaux-Chälons werfen. In Paris soll man mit den vierzigstündigen Gebeten
und dem ewigen Misereresingen endlich aufhören : alle diese Affenpossen
(singeries) könnten uns schließlich Furcht vor dem Tode beibringen. Sagt
man doch schon lange, daß Ärzte und Priester das Sterben verbittern.
In solcher Lage der Dinge muß man Zuversicht zeigen und kühne
Maßregeln ergreifen." Corresp. XXVIT.. 21.205.
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Beginn und Abbruch der Verhandlungen in Chatillon. 263
Langres gegebenen Zusage uneingedenk, seinen Bevollmäch-
tigten in Chatillon von vornherein angewiesen, die Verhand-
lungen auf jede Art hinauszudehnen. Aber auch die Friedens-
freunde im Hauptquartier meinten, vorerst den Eindruck der
letzten Ereignisse auf die Franzosen abwarten zu sollen, bevor
man sich Caulaincourt gegenüber binde. Als Dieser dann in
einer der ersten, mit lauter Förmlichkeiten ausgefüllten
Sitzungen die offene Frage tat, ob denn die Mächte, wenn er
ihre Vorschläge alle annähme, den Frieden auch wirklich
unterzeichnen würden und der Krieg damit beendet wäre,
erhielt er nur die verlegene Antwort, man könne ihm darauf
jetzt nicht Bescheid sagen, wolle aber die Sache in Erwägung
ziehen. So waren die Verhandlungen ins Stocken geraten,
bis sie der Zar am 9. Februar durch eine Ordre an seinen Ge-
sandten, den Konferenzen fernzubleiben bis er neue Instruk-
tionen erhalte, völlig zum Stillstand brachte. An dem Tag
schrieb Hardenberg in sein Tagebuch: „Der Kaiser Alexander
will die Verhandlungen hinausziehen, unterdessen nach Paris
gehen und dort den Frieden machen." Nur, daß der Weg nach
Paris doch noch viel weiter war, als man ihn sich in jenen
Tagen dachte.
Namentlich die Meinung, die man nach dem Siege bei
La Rothi&re im großen Hauptquartier hegte, man werde nun
dort ohne weitere Kämpfe — Napoleon dachte man sich im
Rückzug nach der Loire — einziehen, sollte sich recht bald
als irrig erweisen.*) Bereits am S. Februar erhielt Schwarzen-
berg sichere Kunde, daß der Franzosen kaiser seine zwar ge-
schlagenen, aber nicht zersprengten Korps bei Nogent sammle,
Verstärkungen aus Spanien heranziehe und zu einer neuen
Schlacht keineswegs außerstande sei. In der Tat waren in
jener Zeit 15.000 Mann von der Südarmec beim französischen
Heere eingerückt. Und nun sah man sich vor die Wahr-
scheinlichkeit neuer Blutopfer gestellt, was bei den Monarchen
*) Nur Knesebeck hatte diese Meinung nicht geteilt, Alexander
jedoch bereits Blücher angewiesen, nicht vor ihm in der Hauptstadt
einzurücken; selbst Schwarzenberg schrieb am 5. Februar nach Hause.
Blücher werde in wenig Tagen vor Paris stehen. (Kongreß von Chatil-
lon, S. 87 und 108.)
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264
Das Anerbieten Caulaincourts.
in Troyes die Frage aufs Neue zur Erörterung brachte, ob
man nicht doch die Konferenzen in Chätillon wieder auf-
nehmen und den Frieden mit Napoleon rasch abschließen
solle. Dies um so mehr, als sich Caulaincourt in einem Briefe
an Metternich vom 9. gegen Gewährung eines Waffen-
stillstandes zu Verhandlungen auf der Basis der alten Grenzen
bereit erklärt hatte. Auch war, wider Erwarten, die französische
Nation nicht gegen den Kaiser aufgetreten, vielmehr erfuhr
man, daß die große Masse des Volkes die Ausschreitungen der
fremden Truppen mit feindseliger Gesinnung zu erwidern
begann. Dazu kam, daß diese Truppen durch Krankheit
bereits schwere Einbußen erlitten hatten.*) Wie sollte das
werden, wenn am Ende in jener Entscheidungsschlacht der
geniale Imperator die Übermacht zum Weichen brachte? So
hatte sich sorglose Zuversicht rasch in kleinmütige Bedenk-
lichkeit gewandelt, für die man die unterschiedlichsten
Gründe aufrief. Es ließe sich, meinte Hardenberg, mit Napo-
leon ganz gut Frieden und vorher auch ein Waffenstillstand
schließen, wenn man durch die Einräumung fester Plätze hin-
reichende Bürgschaft erhielte. Sollte man, fragte Metternich,
bloß um zu erfahren, ob der Kaiser vom französischen Volke
mehr oder weniger Unterstützung zu gewärtigen habe, das
Schicksal eines neuen erbitterten Kampfes versuchen? Die
Verbündeten, sagte Oastlereagh, seien in Frankreich nur ein-
gerückt, um den Frieden zu erobern, den sie am Rhein nicht
schließen zu können glaubten, nicht aber, um einen Thron-
wechsel zu vollziehen. Sie hätten sich deshalb auch an das
gegenwärtige Haupt des Staates gewendet und es zu Unter-
handlungen eingeladen. Jetzt sei man darin engagiert, und
da sich seither keine nationale Bewegung gegen dieses Staats-
oberhaupt kundgegeben habe, dürfe man nicht einen sach-
lichen Konflikt zu einem persönlichen gestalten, was auch gar
nicht in den Wirkungskreis der Alliierten falle. Nur Ale-
xander I. widersetzte sich auch jetzt wieder, und sein Minister
Nesselrode mußte — gegen seine eigenste Überzeugung —
fordern, daß der Waffenstillstand abgelehnt und der Vor-
*) In der Hauptannee allein will man Mitte Februar 50.000
Kranke gezählt haben.
Krisis im Lager der Verbündeten. 265
marsch nach Paris, selbst auf die Gefahr neuer Kämpfe, fort-
gesetzt werde. Dort solle man einer aus Mitgliedern der
offiziellen Körperschaften gewählten Versammlung die
Thronfrage unterbreiten. Spreche sie sich für Napoleon aus,
dann könne man immer noch mit Diesem Frieden machen.
Selbst das eifrige Zureden seines Freundes Friedrich Wilhelm
vermochte diese Anschauung des Zaren nicht zu erschüttern,
der jetzt zwar nicht mehr mit Bernadotte, wohl aber, auf das
Zureden Steins und Pozzos, mit den Bourbons rechnete, in
denen er, wenn er sie auf den Thron brachte, ergebene
Freunde, in dem jungen Herzog von Berry vielleicht einen
Gemahl für seine Schwester Anna zu gewinnen gedachte.
Damit war eine neue Krisis unter den Verbündeten aus-
gebrochen, die nur durch die Ereignisse im Felde beigelegt
wurde. Denn erst als Alexander erfuhr, Napoleon habe die
Offensive ergriffen und gegen Blücher nennenswerte Erfolge
errungen, kühlte sich sein Kriegseifer, der gerade auf Blücher
die größten Hoffnungen setzte, merklich ab, und er gab zu,
daii man mit Caulaincourt über einen Präliminarfrieden auf
der Basis der alten Grenzen weiter verhandle. Komme es unter-
des in Paris zu einer spontanen Bewegung gegen den Kaiser,
so würde man Ludwig XVIII. begünstigen. Als die Verbün-
deten sich Mitte Februar hierüber einigten, war ihnen das letzte
Ergebnis des Waffenganges zwischen Napoleon und Blücher
noch gar nicht bekannt; es stellte sich bald als unerwartet
nachteilig für die Koalition heraus, ganz danach angetan, das
politische Bild wesentlich zu verschieben.
Kurz nach La Rothiere hatten sich die beiden Armeen
der Koalition, schon der Verpflegung wegen, wieder getrennt,
um in parallelen Märschen die Richtung auf Paris zu nehmen:
Schwarzenberg hielt die Straße nach Troyes und Fontaine-
bleau, und Blücher zog mit den Korps Sacken und Olssuwiew
— etwa 40.000 Mann — zunächst nordwärts, um dann über
Fere Champenoise nach Westen zu gehen. Er sollte Yorck,
der von Chälons her hinter Macdonald über Epernay die
Marne entlang marschierte, und Verstärkungen, die unter
Kleist und Kapzewitsch aus Deutschland nachrückten, an sich
ziehen. Das setzte langsame Bewegung voraus, wie denn auch
266 Napoleon redivivus.
Schwarzenberg nur bedächtig vorwärtsging. Da faßte aber
ganz plötzlich Blücher den Plan, mit seinen zwei russischen
Korps nordwestwärts über Montmirail voreilend, Macdonald
an der Marne den Weg zu verlegen, ihn von Paris ab-
zuschneiden und zwischen sich und Yorck zu erdrücken. Er
wartete jetzt jene Verstärkungen nicht erst ab, und hatte so
seine Armee in drei weitgetrennte Kolonnen verteilt. Napoleon,
der Macdonald in Gefahr sah, entschied sich, noch an jenem
8. Februar, mit etwa 30.000 Mann (Ney, Marmont und der
Garde) eine Diversion zu dessen Gunsten zu unternehmen, und
eilte von Nogent, nachdem er dort Oudinot und Victor etwa
ebenso stark zur Beobachtung Schwarzenbergs zurückgelassen
hatte, über Sezanne nach Norden auf Champaubert los, um
„die tüchtigste Armee der Verbündeten", wie er Blüchers
Streitmacht nannte, anzugreifen. In Champaubert befand sich
am 10. Februar das Korps Olssuwiews im Marsche, während
Sacken bereits nach Montmirail vorausgegangen war; der Kat
Gneisenaus, die Korps beizeiten zurückzunehmen, war von
Blücher abgelehnt worden. So wird an diesem Tage Olssuwiew
nahezu vernichtet, und Napoleon stürmt, Marmont zurück-
lassend, Sacken nach, der ihn bei Montmirail — Front gegen
Osten — empfängt. Hier läßt am Vormittag des 11. der Kaiser
hinter der Schutz wand seiner trefflich bedienten Artillerie, die
dem Gegner den Durchbruch verwehrt, seine Truppen heran-
kommen, schwächt absichtlich den eigenen linken Flügel, um
Sackens Angriff dorthin zu leiten, während er dessen Linke mit
überlegenen Kräften bedrängt. Dadurch hat er die Vereinigung
mit Yorck, der von Chäteau-Thierry heranrückt, unmöglich
gemacht; Yorck wird zurückgedrückt und Sacken inzwischen
total geschlagen. Beide ziehen hierauf nach großen Verlusten,
während die der Franzosen gering sind, nach Chäteau-Thierry,
wohin sie der Kaiser am 12. verfolgt und wo ihnen, zu seinem
Bedauern, Macdonald nicht den Weg verlegt. Diesen schickt
er dann mit Verstärkungen nach Montereau an die Seine. Er
selbst wendet sich aber noch nicht sogleich gegen Schwarzen-
berg, denn er hat vernommen, daß Blücher mit den Korps von
Kleist und Kapzewitsch selbst nun auf Montmirail vorrückt,
wohin Marmont vor ihm zurückweicht. Er hält deshalb in
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Siege über Blücher. 267
seiner Verfolgung der in den letzten Tagen geschlagenen
Gegner inne und wendet sich rasch von Chäteau-Thierry
südwärts, um auch der dritten Kolonne das Schicksal der beiden
ersten zu bereiten. Bei Vauchamps treffe Mittag des
14. Februar die Franzosen auf die feindliche Vorhut und
werfen sie, worauf Blücher sofort den Rückzug beschließt.
Dieser geht aber nur unter fortwährenden verlustreichen
Kämpfen vor sich, namentlich als Napoleon ein Kavallerie-
korps unter Grouchy im weiten Bogen dem weichenden Feinde
bei Etoges zuvorkommen läßt. Hier gelingt zwar der Durch-
bruch den tapferen, in bester Ordnung retiriercnden Truppen,
jedoch nur unter den größten Opfern. Bis Chälons ziehen sie
sich dann zurück, wo sich auch Yorck und Sacken mit den
Besten ihrer Streitkräfte wieder einfinden werden. 16.000
Mann waren verloren.
Man hat diese rasch aufeinanderfolgenden Aktionen bei
Champaubert, Montmirail und Vauchamps mit schlecht ver-
pflegten Truppen auf grundlosem Terrain mit den ersten
Siegen des jungen Feldherrn verglichen, und in der Tat, es
ist dasselbe Feuer, dieselbe kühne Energie, dieselbe (jetzt durch
eine reiche Erfahrung geläuterte) Kraft des Geistes. Aber wird
das alles zureichen, um einen so ungleichen Kampf zu einem
erträglichen Ende zu führen? Und wenn der General das
Seinige tat, wird auch der Kaiser ihm nicht wieder, wie so oft
in den letzten zwei Jahren, das Werk stören? Napoleon durfte
nach dem dritten Siege, den er binnen fünf Tagen errungen,
nicht mehr daran denken, der schlesischen Armee weiter zu
folgen. Es war höchste Zeit, sich gegen Schwarzenberg zu
wenden, der in der Absicht nach Westen weitergegangen war,
den Kaiser auf sich und von Blücher abzulenken.*) So blieb
*) Man wird heute nicht mehr, wie es ehedem geschehen ist, die
selbstverschuldeten Niederlagen Blüchers dem Oberfeldherrn zur Last
legen, weil dieser ihm nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen sei. Abge-
sehen davon, daß Blüchers Meldungen den ganzen Umfang seiner Un-
fälle nicht entfernt erkennen ließen, glaubte man im Hauptquartier,
wo man nicht gerade auf große Schlachten erpicht war, Jener werde
sich — etwa wie seinerzeit in Schlesien — vor Napoleon rechtzeitig
zurückziehen können und überdies durch Schwarzenbergs Vorwärts-
bewegung am sichersten von ihm befreit werden. Diese Bewegung ist
2t>8 Der Kaiser wendet sich gegen Schwarzenberg.
nur Marmont Blücher gegenüber stehen, um sich bei dessen
nächster Offensive über Montmirail langsam zurückzuziehen
und die Verbindung mit Napoleon wieder zu gewinnen.
Dieser vermutete die feindliche Hauptarmee schon weit jen-
seits der Seine über Montereau hinaus und begab sich mit
den Truppen Neys, Gerards und den Garden in unglaublicher
Eile nach Guignes am Yeres, wo er auch Macdonald, Oudinot
und Victor vorfand und, bis auf Marmont, seine ganze Armee
am 16. Februar versammelte. Vielleicht — seine Hoffnungen
sind durch die letzten Erfolge ins Maßlose gestiegen — gelingt
mit dem zweiten, weitaus mächtigeren Gegner, was mit dem
ersten so trefflich gelungen war; vielleicht lassen sich auch
die Kolonnen Schwarzenbergs nacheinander schlagen. Und
fast will es den Anschein gewinnen. Am 17. von Guignes
gegen Nangis vordringend trifft Napoleon bei Mormant auf
die Avantgarde des feindlichen rechten Flügels unter Witt-
genstein, der etwas eigenmächtig von Nogent über Provins
nach Paris strebte, und vernichtet sie; und hätte noch am
selben Tage, wie ihm befohlen war, Victor bei Montereau
über die Seine vorstoßen können, immer möglich, daß dann
das österreichische Korps Bianchis, das am 15. bis Fontaine-
bleau vorgerückt war und nun eilends zurückbefohlen ward,
abgeschnitten wurde wie Sacken bei Montmirail. Dieser Vor-
stoß konnte aber erst am 18. von Napoleon selbst unter-
in diesen Tagen auch niemals zum Stillstand gekommen, und wenn
man von einem Befehl des Kaisers Franz vom 13. hat wissen wollen,
der den Generalissimus anwies, nicht über die Seine zu gehen, so ist
ein solcher Befehl allerdings erlassen worden, aber erst am 16., als man
in Troyes bereits wußte, daß Blücher wieder in Sicherheit und Napo-
leon gegen die Hauptarmee im Anmarsch war. (Siehe hierüber meinen
„Kongreß von Chätillon", S. 145.) Über die Auffassung der Sache in
der Umgebung Friedrich "Wilhelms III. vergleiche man die Notiz im
Tagebuche seines Sohnes, des späteren Kaisers, zum 20. Februar:
„Gneisenau schob alles auf die zu große Bravour der Truppen . . .
Die Hauptarmee ging in verschiedenen Kolonnen und Wegen ruhig
vorwärts, an keine Konzentration denkend, da man Napoleon hinläng-
lich mit Blücher beschäftigt glaubte, dem man durch den ununter-
brochenen Marsch der Schwarzenbergischen Armee Luft zu machen
hoffte." (Dechend, Das Treffen bei Bar sur Aube, Beihefte zum Mil.-
Wochenblatt 1897, S. 127.)
Schwarzenberg begehrt einen Waffenstillstand.
269
nommen werden, nachdem Schwarzenberg Zeit gefunden hatte,
all seine Kräfte hinter die Seine und Yonne zurückzuziehen.
Der Oberfeldherr der Alliierten, schon durch das Schicksal
Blüchers tief verstimmt, geriet, als er Napoleons so über-
aus raschen Heranmarsch gegen die Seine erfuhr, während er
ihn, durch die schlechten Wege aufgehalten, noch weit entfernt
vermutete, in helle Verzweiflung. „Um nicht im Einzelnen
geschlagen zu werden," schreibt er aus Bray an Metternich,
der mit seinem Kaiser in Troyes zurückgeblieben war, „werde
ich mich darauf beschränken, die Brücken von Bray und
Nogent hartnäckig (serieusement) zu verteidigen, und meine
Streitkräfte hinter der Seine und Yonne vereinigen." Er ist
außer sich, daß Alexander damals den von Caulaincourt be-
gehrten Waffenstillstand verworfen hatte, den er selbst nun
dringend zu benötigen glaubte, um es nicht zu einer Schlacht
kommen zu lassen. Er will das Versäumnis wieder gutmachen
und läßt sich in Bray vom Zaren und von König Friedrich
Wilhelm autorisieren, noch am 17. in ihrem Beisein einen Brief
an Berthier zu schreiben, in dem er selbst die Waffenruhe an-
regt, da die Bevollmächtigten in Chätillon Auftrag erhalten
hätten, die Präliminarien nach dem Antrage Caulaincourts
abzuschließen und dies am 16. hätten tun sollen. Das Letztere
war jedoch nur eine Finte und wurde von Napoleon sofort
als solche erkannt. Er gewahrte des Gegners schlecht ver-
deckte Verlegenheit und richtete sich hoch auf. „Nach den
letzten Nachrichten" — schreibt er am 18. an Joseph — „ist
bei den Verbündeten alles anders geworden. Der Kaiser von
Rußland, der noch vor wenig Tagen die Verhandlungen ab-
gebrochen hatte, weil er Frankreich noch schlechtere Be-
dingungen als die „alten Grenzen" stellen wollte,*) wünscht
sie wieder anzuknüpfen, und ich hoffe, daß ich doch noch
einen Frieden auf der Basis von Frankfurt erlangen werde,
das Minimum, worauf ich mit Ehren paktieren kann. Hätte
*) Dies war richtig. Alexander hatte sein Projekt, Osterreich für
Galizien mit dem Elsaß zu entschädigen (siehe oben), in Troyes noch
nicht völlig aufgegeben. Erst gegen Ende Februar erklärte er, daß er
nur Westgalizien beanspruche, das nicht mehr zu Österreich gehöre.
(Kongreß von Chätillon, S. 303.»
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270 Wiederaufnahme dor Verhandlungen in Chätillon.
ich (vor den letzten Operationen) einen Frieden mit den alten
Grenzen unterzeichnet, so würde ich zwei Jahre später wieder
zu den Waffen gegriffen und der Nation gesagt haben, das
sei kein Friede gewesen, sondern eine Kapitulation. Nach
dem neuen Stande der Dinge könnte ich dies nicht mehr
sagen, da das Glück zu mir zurückgekehrt ist und ich wieder
Herr meiner Bedingungen geworden bin."*) Ähnlich hatte er
schon nach dem Siege von Montmirail durch Bassano an
Caulaincourt schreiben lassen: „Es gibt keinen vernünftigen
Frieden außer dem auf der Basis von Frankfurt, jeder andere
wäre nur ein Waffenstillstand."**) Danach ward am 17. Cau-
laincourts unbedingte Vollmacht beschränkt, und so kam es,
daß, während vor zehn Tagen die Verbündeten in Chätillon
die Verhandlungen hinausgezogen und Caulaincourt zur Ver-
zweiflung gebracht hatten, jetzt Dieser temporisierte, indem
er den gegnerischen Friedensentwurf eingehend prüfen zu
wollen erklärte und ihn an Napoleon sandte. Eugen erhielt
Ordre, sich in Italien zu behaupten.
Napoleon hatte Recht, es war „alles anders geworden".
Unter dem Druck seiner Siege über Blüoher hatte sich Ale-
xander den Forderungen der drei anderen Mächte gefügt, die
Verhandlungen in Chätillon waren wieder aufgenommen
worden, und Schwarzenberg, der auf seinen Waffenstillstands-
antrag keine Antwort erhalten, dagegen am 18. bei Montereau,
wo ein württembergisches Korps besiegt worden war, eine
Schlappe erlitten hatte, weicht bis Troycs zurück. Der Ober-
feldherr glaubt damit weniger dem Sieger als dem Frieden
das Feld geräumt zu haben, und wenn er Blücher, der sich
rasch wieder erholt hatte, von Chälons herbeiruft, so ist es
nur für den äußersten Fall. Eine Schlacht will er, trotzdem
daß die Verbündeten sicher über 150.000, der kühn nach
Troyes heranrückende Napoleon aber nur über 70.000 Mann
verfügen, nicht wagen, auch schon deshalb nicht, weil erst vor
Kurzem von dem nach Süden detachierten General Bubna die
Nachricht gekommen war, Augereau habe bei Lyon 30.000
Mann zusammengebracht, mit denen er auf Basel operiere,
*) Correspondanee, XXVII., 21.293.
**) Houssaye, „1814", p. 103.
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Der .Reehtsabmarsch Blüchers.
271
was die Entsendung von 15.000 Mann zu Bubnas Verstärkung
notwendig machte. Diese Sorge von Süden her laßt von da
ab Schwarzenberg nicht mehr los. Er geht auch am 23. Fe-
bruar nach Bar sur Aube zurück und denkt sogar bis auf das
gepriesene Plateau von Langres zu weichen, wenn der ge-
fürchtete Feind ihm noch weiter folgen sollte.*) Aber die
Friedenshoffnungen des Oberfeldherrn sollten sich nicht er-
füllen. Als am 17. in Chätillon die Mächte als Bedingungen
des Präliminarfriedens die Grenzen von 1792 und als Garantie
nicht nur die Räumung aller außerhalb Frankreichs besetzten
Festungen, sondern auch die der französischen: Beifort,
Besan£on und Hüningen, verlangten und Caulaincourt davon
Meldung machte, erhielt er von Napoleon zur Antwort: „Ich
bin so erregt über dieses Projekt, daß ich mich schon durch
die Proposition entehrt glaube." Er selbst werde sein Ulti-
matum stellen. Es blieb aus. Der Feldzug absorbierte ihn
völlig. Denn soeben war wieder eine entscheidende Wendung
eingetreten. Blücher, der zwar bis Mery herangekommen war,
den ruhmlosen Rückzug aber nicht mitmaclien wollte, hatte
sich — auf den Rat Oberst Grolmans, des Generalstabschefs
von Kleist — von den Monarchen die Erlaubnis erbeten,
nochmals rechts abzumarschieren, sich mit Bülow und Win-
zingerode, die aus Belgien kamen, zu vereinigen und so ver-
stärkt auf Paris loszugehen. Ein Kriegsrat, der am 25. in Bar
abgehalten wurde, nahm, nachdem er den vom Zaren und
Friedrich Wilhelm befürworteten Gedanken, eine Schlacht zu
wagen, abgelehnt hatte, den Blücherschen Antrag an.**)
Das war ein folgenreicher Entschluß. Denn wer weiß,
was geschehen wäre, wenn auch Blücher sich der Rückwärts-
bewegung angeschlossen hätte. Die Stimmung im Lande war
unter dem schweren Druck der Invasion immer erbitterter
geworden, so daß, namentlich seitdem Napoleon durch seine
letzten Siege wieder hoch in Geltung gekommen war, überall
das Landvolk sich der fremden Bedränger zu erwehren
*) Napoleon hat dio Situation ganz richtig erkannt, als er am
23. an Joseph schrieb: .,Sie scheinen eine Hauptschlacht und ihre Folgen
zu fürchten." (Correep., XXVIL, 21.356.)
**) Kongreß von Chätillon, S. 166 f.
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272 Dreiteilung der verbündeten Streitkräfte.
Buchte.*) Der Enthusiasmus für den Besieger der feindlichen
Eindringlinge wuchs mit jedem Tage, und wenn es dem Kaiser
im Januar nicht gelungen war, den Landsturm aufzuregen,
so konnte es ihm, wenigstens in der östlichen Hälfte Frank-
reichs, im März nicht ganz unmöglich sein.**) Nun, Blüchers
Abmarsch nach vorwärts ließ derlei nicht zu und zog Napoleon,
dem um die Hauptstadt bangte, von Schwarzenberg ab. Denn
die schlesische Armee war sozusagen zur Hauptarmee geworden,
während diese ungefähr die Rolle übernahm, die jener im
Herbstfeldzug zugefallen war. So schrieb es Friedrich Wil-
helm an Blücher. Und da es jetzt auch noch eine eigene
Südarmee gab, so bildeten sich durch diese Dreiteilung der
verbündeten Kräfte ähnliche Verhältnisse heraus, wie sie im
letzten Oktober zum Zusammenbruch des französischen Heeres
geführt hatten. Für Österreich lag darin, daß Preußen und
Russen den offensiven Kampf allein auf sich nahmen, der
Vorteil, seine durch Krankheiten und Abgaben geschwächten
Truppen mehr geschont zu sehen.
Schwarzenberg war denn auch nur zu sehr geneigt, mit
ihnen noch weiter nach Osten zurückzugehen, in der Meinung,
daß er Napoleon selbst hinter sich habe, über dessen Stärke ihm
übertriebene Berichte zugegangen waren und dessen per-
sönliche Gegenwart als ein Heer für sich gelten konnte, das
die Gegner oft von kühner Offensive abhielt.***) Er ist auch
tatsächlich mit der Avantgarde bereits über La Kothiere
*) Man darf, seitdem durch Houssaye, „1814", authentische Daten
hierüber gesammelt sind, Napoleon in seinen Briefen nicht mehr der
Übertreibung zeihen. Schreibt doch selbst der Generalquartiermeister
der Blücherscheu Armee an Gneisenau: „Die Offiziere wagten es kaum
mehr deu Soldaten etwas zu sagen", und Schwarzenberg meinte: „Um
mit diesen Völkern auf einer so großen Linie die Exzesse zu verhin-
dern, müßte man eine Armee im Rücken der Operierenden aufstellen."
Übrigens waren auch die Franzosen keineswegs schuldlos.
**) Siehe das Dekret vom 5. März 1814 im „Moniteur", das jeden
Maire mit dem Tode bedroht, der „anstatt den patriotischen Aufschwung
des Volkes anzuregen, ihn unterdrückt oder den Bürgern von einer
legitimen Verteidigung abrät."
***) „Ich habe 50.000 Mann", sagte der Kaiser einmal zu dem
General Poltaratzky, „und ich, macht 150.000."
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Das Gefecht bei Bar-sur-Aube.
273
hinausgelangt, als er inne ward, daß ihm nur zwei Armeekorps
unter Oudinot und Macdonald folgten; da gibt er den Rückzug
auf, schlägt die Franzosen am 27. Februar bei Bar-sur-Aube
und drängt sie bis an die Seine zurück. Damit war allerdings
Napoleons Plan gestört, der gehofft hatte, es werde den
Marmont und Mortier, die er gegen Blücher zurückgelassen
hatte, gelungen sein, Diesen in der Front aufzuhalten, indes er
hinter ihm nachdrängt und ihn so zwischen zwei Feuer bringt
— und all das, ehe Schwarzenberg seine Abwesenheit merkt.
Nun spielten sich die Ereignisse ganz und gar nicht mehr
nach seinen Wünschen ab. Zwar haben sich am 28. Marmont
und Mortier östlich von Meaux auf dem rechten Ufer der
Marne mit Erfolg Blüchern in den Weg gelegt und dessenVorhut
geworfen, aber Napoleon ist durch späten Aufbruch und
grundlose Wege abgehalten worden, sich schon an diesem
Tage am Kampfe zu beteiligen; die schlesische Armee kann
nordwärts nach Soissons ausweichen, wo eben jetzt die beiden
Korps von Bülow und Winzingerode angelangt sind und den
wichtigen Platz zur Übergabe gezwungen haben. So ist
Blücher nicht nur dem ihm von Napoleon zugedachten
Schicksal entgangen, er hat auch noch — Bülow und Win-
zingerode werden seinem Befehl unterstellt — seine Stärke
auf 100.000 Mann gebracht. Und da nun auch die Hauptarmee
wieder avanciert war, so gestaltete sich plötzlich des Kaisers
Lage überaus schwierig. Wendete er sich von der Marne
zurück zu Schwarzenberg — und er dachte daran — so warf
Blücher Marmont und Mortier über den Haufen und besetzte
Paris. Diese schwere Sorge will er los sein, und so hält er
sich zunächst an diesen Feind. Er hofft ihn, dessen Kräfte er
unterschätzt, mit den 55.000 Mann, über die er verfügt, weit
nach Norden zurückzuschlagen, um dann, während Macdonald
Schwarzenberg an der Seine festhält, über Reims, Chälons,
Saint-Dizier und Joinville in die Flanke und den Rücken der
Hauptarmee zu operieren. Augereau hätte von Süden her
diese Bewegung durch einen Vorstoß über Besangon zu unter-
stützen, die kaum blockierten Festungen in den Ardennen
und an der Mosel könnten mit ihren Besatzungen das kaiser-
liche Heer verstarken, und flammt dann zugleich auch der
Fournior, Napoleon I. 18
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274
Bei Craonne und Laon.
.Volkskrieg auf, so war es möglich, die Feinde zum Rückzug
an den Rhein zu nötigen.*) Ein überkühner Plan, der den
Kaiser nicht mehr loslassen wird, obgleich er gleich in seiner
ersten Voraussetzung an der hartnäckigen Tapferkeit der
Blücherschen Armee scheitern sollte.
Napoleon ist nordostwärts nach Berry vorgegangen, um
sich der Straße von Rheims zu versichern. Von da rückt er
gegen Blücher vor, der sich, einem Rate Bülows folgend,
defensiv verhält. Bei Craonne wird am 7. März ein vorge-
schobenes russisches Korps mit großen Opfern zurückgedrängt,
und zwei Tage später kommt es bei Laon, wo Blücher in starker
Position bereit steht, zur Schlacht. Napoleon hat die Straße
von Soissons gewonnen, während er Marmont von Berry auf
der Rheimser Straße vorschickt, so daß die Armee in zwei
Teilen auf Laon vorrückt, die sich jedoch vor dieser Stadt nur
schwer verstandigen können, da dort sumpfiges Gelände die
beiden Wege scheidet und überdies starke Kosakenpatrouillen
den Kourierdienst erschweren. So kann am 9. Napoleon, der
sich der nächstliegenden Dörfer Semilly und Ardon bemäch-
tigt und wieder bemächtigt, den Tag über nicht erfahren,
daß Marmont, statt am Morgen, erst nach Mittag vor
Laon erschienen ist und erst am Abend das Dorf Athies
erobern konnte, aus dem ihn dann, als er nach Einbruch
der Dunkelheit die blutige Arbeit beendet glaubte, die
Preußen wieder vertrieben, so daß seine Truppen in wilder
Flucht auf der Straße, die sie gekommen waren, bis
Corbeny zurückeilen. Glücklicherweise beeinträchtigte das
Eingreifen von ein paar Tausend Mann, die unter Fabvier
ausgesandt worden waren, um die Verbindung mit Napoleon
zu suchen, und nun umkehrten, eine nachhaltige Verfolgung.
Von all dem hat der Kaiser erst um Mitternacht erfahren,
da auch sein rechter Flügel aus Ardon wieder verdrängt und
die Kommunikation mit Marmont dadurch noch schwieriger
geworden war. Er war außer sich über das Vorgehen des
Letzteren, der sich „wie ein Leutnant" benommen habe.
Freilich konnte er nicht ahnen, daß der Herzog von Ragusa
*) Corrcsp., XXVIL, 21.426, 21.448, u. a. a.0.
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Napoleon in Keims. 275
seit dem Falle von Soissons und der Verstärkung Blüchers
die Sache seines Herrn verloren gab und eben nur noch das
Nötigste tat, und auch dies nicht immer. Napoleon merkte
davon nichts, er sah nur, daß er einen in Unordnung ge-
brachten wichtigen Teil seiner Armee vor einer vernichtenden
Verfolgung zu bewahren hatte. Deshalb bleibt er kühn der
mehr als doppelten Übermacht gegenüber noch am 10. in
Schlachtordnung stehen und erreicht es, da Blücher den
Kampf nicht erneuert, wirklich, daß Marmont sich gesammelt
zurückziehen kann. Dann erst wendet auch er sich nach
Soissons, doch nur, um schon am zweitnächsten Tage von
hier, gleichsam unter den Augen des siegreichen Gegners,
nach Keims hinüberzueilen und ein detachiertes Russenkorps,
das die Stadt mittlerweile besetzt hatte, daraus zu vertreiben,
was am Abend des 14. März gelingt. Dann gönnt er sich und
seinen abgehetzten Truppen ein paar Kuhetage.
Im Hauptquartier der Verbündeten war man unterdessen,
zwar nicht militärisch, wohl aber politisch zu einem neuen
Entschluß gelangt. Daß Caulaincourt die Anerbietungen vom
17. Februar nicht angenommen und Napoleon selbst in einem
Briefe an Kaiser Franz vom 21. das Frankfurter Programm
als sein und Frankreichs Ultimatum bezeichnet hatte, machte
einen solchen nötig. Castlereagh, der schließlich wissen wollte,
wofür England sein Geld ausgab, tat sein möglichstes hierzu.
Am 28. Februar, in der vierten Sitzung des Kongresses zu
Chätillon, wurde dem Abgesandten Napoleons bedeutet, er
habe bis längstens 10. März Gegenvorschläge zu machen, die
jedoch keinesfalls von seinen Propositionen vom 9. Februar we-
sentlich abweichen dürften. Waffenstillstandsunterhandlungen,
zu denen es endlich doch gekommen war, wurden jetzt, nach-
dem seit dem 27. die Verhältnisse sich gebessert hatten, von
den Verbündeten abgebrochen. Und da man nun auch sicher
war, daß der Krieg fortging, durch den allein Napoleon zum
Frieden gezwungen werden konnte — denn das von Caulain-
court begehrte Gegenprojekt blieb aus — schlössen die vier
Großmächte England, Österreich, Preußen und Rußland am
9. März zu Chaumont einen Vertrag ab, der das britische
Reich verpflichtete, das Jahr hindurch fünf Millionen Pfund
18*
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276 Der Vertrag von Chauniont
an die drei Kontinentalmächte zu zahlen, die ihren in Chä-
tillon vorgelegten Entwurf, d. i. Rückkehr Frankreichs in
seine Grenzen von 1792 und volle Unabhängigkeit Hollands,
Italiens, Spaniens, der Schweiz und Deutschlands, mit den
Waffen durchzusetzen sich verbindlich machten, auch wenn
die Anstrengungen hierzu zwanzig Jahre währen sollten. Jede
dieser Mächte wollte sich mit 150.000 Mann beteiligen, wozu
sich übrigens auch England bereit erklärte. Der „defensive
Allianzvertrag", wie man ihn nannte, wurde auf den 1. März
zurückdatiert. Er erhielt erst durch den Sieg bei Laon volle
Geltung. Denn Schwarzenberg war zwar nach seinem Erfolge
bei Bar-sur-Aube bis nach Troyes vorgegangen, dort aber seit
dem 4. März unbeweglich stehengeblieben, obgleich der Zar
in ihn drang, nach rechts hin Blücher zu unterstützen. Man
würde, erklärte der Fürst dem Monarchen, jedenfalls zu spät
kommen und dann allein eine Hauptschlacht riskieren. Unter-
des hätte man die Verbindung mit der Südarmee eingebüßt
und müßte, auch wenn man die Schlacht gewänne, doch wieder
an die Seine zurück, um die Operationen gegen Paris fortzu-
setzen. Schwarzenberg glaubte dabei ganz im Sinne der
ursprünglich angenommenen Kriegsgrundsätze zu handeln,
ähnlich wie er im Februar getan und wie es zur gleichen
Zeit (5. März) Boyen Gneisenau mit den Worten empfohlen
hatte: „Unsere eigentliche Aufgabe ist, durch gleichzeitige
Bewegungen und gut gewählte Stellungen den Feind einzu-
engen; selbst der augenblickliche Schimmer einer kühnen
Waffentat muß dieser größeren Ansicht untergeordnet
werden."*) Alexander aber ließ die Argumente des Oberfeld-
herrn nicht gelten, und als Dieser Operationsentwürfe
vorlegte, mit denen er vorerst den Ausgang des Kampfes
zwischen Napoleon und dem an Kräften überlegenen
Blücher abwarten wollte, kam es in Chaumont zu einer
erregten Szene, wobei der Zar Metternich geradezu fragte, ob
Kaiser Franz etwa seinem General befohlen habe, sich nicht zu
schlagen und an den Rhein zurückzugehen, und Friedrich
Wilhelm sich sogar zum Vorwurf des Verrats verstieg, da
*) Meinecke, Boyen, I.. 367.
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Bemühungen Metternichs u. Caulaincourts um den Frieden. 277
man Blücher opfern wolle.*) Erst als Schwarzenberg sich
gegen jene Vorwürfe verwahrt hatte und endlich Nachrichten
von der Schlacht am 9. März und ihrem günstigen Ausgange
eingetroffen waren, glich sich der häusliche Zwist aus, und
schon in den nächsten Tagen wird auch die Hauptarmee kräf-
tiger in die Aktion treten.
Freilich, auf dem Kongreß in Chätillon gestalteten sich
nunmehr die Dinge immer hoffnungsloser. Zwar hatte Met-
ternich Brief auf Brief an Caulaincourt geschrieben, auf
daß er seinen Herrn zu größerer Nachgiebigkeit bestimme,
denn das russische Projekt, den Herzog von Berry auf den
französischen Thron zu bringen, machte ihm auch jetzt noch
den Frieden mit Napoleon wünschenswert; zwar hatte der de-
legierte Minister des Kaisers in seiner unerquicklichen Doppel-
stellung als Bevollmächtigter Frankreichs und Napoleons
Diesem gegenüber mit Vorstellungen nicht gespart, die ihn
überzeugen sollten, daß, wenn man nicht ein Gegenprojekt
vorlege, das von den Frankfurter Grundlagen abweiche, alles
verloren sei; zwar mahnte Joseph, der als Generalstatthalter
der Kaiserin zur Seite geblieben war, man müsse, angesichts
der Stimmung in Paris, den Frieden haben, er sei gut oder
schlecht, und wenn er auch schlecht wäre, so würde den
*) Diese Anschauung ist dann auch in die Geschichtschreibung
übergegangen, scheinbar unterstützt von einer Denkschrift Radetzkys
aus dem November 1813(!), worin Dieser der Preußen erwähnte, „denen
beim einstigen Frieden, so wie sie sich jetzt zeigen, die wenigsten
Truppen zu wünschen sind." Diese Stelle reicht aber doch nicht aus, um
dem Oberfeldherrn vier Monate später die absichtliche Preisgebung einer
ganzen Armee zur Last zu legen, und in neueren Werken findet sich
auch jene Auffassung nicht mehr vor. Schwarzenbergs stete Furcht vor
dem Verhungern, seine Angst vor der Levee en masse, die er schon in
nächster Nähe organisiert sieht, seine Besorgnis, die österreichischen
Korps im Süden nicht unterstützen zu können, reichen, im Zusammen-
hang mit den aus dem Feldzug von 1813 her übergenommenen Grund-
sätzen, znr Erklärung seiner Haltung vollkommen aus. Nimmt man
endlich noch hinzu, daß er von Metternich darin bestärkt wurde, »das
Heil nicht in der Schlacht, sondern in der militärischen Attitüde zu
sehen", so bedarf es gewiß keines weiter reichenden Verdachtes. Siehe
Metternich. Klinkowström, Österreichs Teilnahme etc., S. 814 ff.
und den ostensiblen Brief Metternichs an Stadion vom 13. März in
„ Kongreß von Chätillon«, S. 344.
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278 Napoleons Hartnäckigkeit.
Kaiser nicht die Schuld treffen, da ihn alle Volkskreise
wünschen: aber alles fand an Napoleons heroischem Eigen-
sinn einen unüberwindlichen Widerstand. Höchstens zur
Abtretung von Wesel, Kehl und Castel wollte er sich
verstehen, im übrigen sollte sein Unterhändler die Ver-
handlungen weiter spinnen. Als dann der Verfallstermin
des 10. März herankam, war Caulaincourt genötigt, aus den
unterschiedlichen Weisungen, die er erhalten hatte, selbst
einen Vertragsentwurf auszuarbeiten und vorzulegen, der weit
von den Forderungen der Mächte abwich.*) Da darnach
nicht nur die „uatürlichen Grenzen" festgehalten waren, son-
dern auch auf das Königreich Italien bloß zugunsten des Vize-
königs Eugen verzichtet wurde, während Elba und Lucca in
französischen Händen blieben, konnte auch Metternich den
Kongreß nicht mehr retten. Er löste sich am 19. März auf.
Und wenn der österreichische Minister selbst dann noch
gehofft hatte, zu einem befriedigenden Ende zu gelangen, so
ward er jetzt binnen wenig Tagen anderer Meinung. Einmal,
weil auch Preußen und England Napoleon definitiv aufgegeben
und den Emissären der Bourbons, wenn auch nicht ihre
Initiative zugesagt, so doch ihr Entgegenkommen in Aussicht
gestellt hatten, dann weil Hardenberg, wenn Metternich Napo-
leon fallen ließe, sich zu Bemühungen bei Alexander in der pol-
nischen Frage anheischig machte, und endlich weil am 20. März
ein Brief Marets an Caulaincourt vom Vortage aufgefangen
wurde, worin der Minister die Weisung erhielt, wenn er auch
noch Mainz, Antwerpen und Alessandria abtreten müßte,
dies nur in vagen Ausdrücken zu tun, da Napoleon selbst
nach der [Ratifikation des Vertrages sich bloß von militärischen
Rücksichten leiten lassen, d. h. je nach Umständen das
Abkommen brechen werde.**) Da es auf solche Art klar ge-
worden war, daß der Franzosenkaiser durchaus nicht „ver-
*) Gedruckt bei Fain, p. 388, bei D'Angeberg, Congres de
Vienne, L, 130 ff. u. a. a. 0. Ein Auszug findet sich in meinem „Kon-
greß von Chätillon«, S. 218.
**) Siehe meine Abhandlung „Der Brief Marets an Caulaincourt
vom 19. März 1814" in der Histor. Vierteljahrschrift, 1900, wo ich
die von Houssaye und den älteren französischen Historikern bezwei-
felte Echtheit feststellen konnte.
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Ihre weltgeschichtliche Begründung. 279
nünftig" werden wollte, war auch der Minister Österreichs
— schon um nicht isoliert zu bleihen — bereit, ihn aufzugeben,
und es handelte sich nun nur noch darum, ihn möglichst rasch
im Felde zu besiegen.
Napoleons unnachgiebige Haltung könnte unbegreiflich er-
scheinen, wenn es sich hier nur um seine persönliche Herrschaft
über Frankreich und nicht um ein großes Prinzip handelte, das
er vertrat und dem im Lager der Verbündeten ein anderes
sich entgegenstellte. Es war für den Repräsentanten der aller-
wärts ausgreifenden, die Grenzen zwischen Staaten und Ständen
nicht achtenden, weltbürgerlichen Revolution schlechthin un-
möglich, sich in das Gleichgewichtssystem der vorrevolutionären
Zeit einzufügen, und nur durchaus logisch, daß er einen
Frieden auf der Basis des alten bourbonischen Territorial-
staates als eine bloße Kapitulation ansah. Da nun aber die Idee
der Revolution und ihre unumgängliche Konsequenz der
Schrankenlosigkeit längst nur noch in diesem einzigen Men-
schenwillen ihre Verkörperung fand, während das französische
Volk bereits notgedrungen in die nationale Bahn eingelenkt
hatte, war ein Konflikt entstanden, der jetzt endlich zur
Lösung kommen mußte. Als man in der Hauptstadt, wo nach
den Februarsiegen die alte Zuversicht eingekehrt war, im März
bloß von einem Rückzüge Macdonalds und von der Nieder-
lage Soults hörte, den Wellington bei Orthez am 27. Februar
geschlagen hatte, und gar nichts von Napoleon, fiel die Rente
auf 51, und man schied sich innerlich wieder von dem, der den
ersehnten Frieden weder sich noch anderen abzuringen ver-
mochte.
Napoleon aber sann in Reims nur darauf, dem Kriege
noch eine günstige Chance abzugewinnen. Er überlegte, ob er
sich nicht mit Macdonald vereinigt der Hauptarmee bei Meaux
in den Weg legen sollte, um ihr dort den Zugang zur Haupt-
stadt streitig zu machen, kam dann aber auf jenen weitaus
kühneren Plan zurück, dessen Grundzüge er schon vor der
Schlacht bei Laon entworfen hatte, und will ihn nun jenem
ersten Mißerfolg zum Trotz ausführen. Zunächst aber wird er
eine „Diversion" unternehmen, von der er sich „unberechen-
bare Erfolge" verspricht. Er wird Macdonald in der Front
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280 Ein neuer Operationsplan Napoleons.
Schwarzenbergs stehen lassen, den er fast mit der ganzen
Armee jenseits der Seine über Nogent hinaus vermutet, und
selbst mit etwa 22.000 Mann in dessen Bücken auf Mery oder
Troyes operieren. Mortier und Marmont bleiben unterdes in
und bei Reims gegen Blücher zurück, um ihm den Weg nach
Paris zu wehren. Noch am 17. bricht er nach Süden auf und
ist am 19. bei Plancy, während eine Abteilung auf Arcis
a. d. Aube marschiert, wohin Schwarzenberg vorgegangen war,
um zur Unterstützung Blüchers, wenn dieser nochmals an-
gegriffen werden sollte, einzugreifen. Als hier die Nachricht
eintrifft, Napoleon habe sich gegen Süden gewendet, ist Kaiser
Alexander, den die Wegnahme von Reims mutlos gemacht
hat, für einen möglichst weiten Rückzug, Schwarzenberg da-
gegen begnügt sich, nach Trannes zurückzugehen, wo er seine
auseinanderliegenden Streitkräfte von West und Ost her kon-
zentrieren will, um dann aufs neue die Offensive zu ergreifen.
Die Konzentrierung war noch nicht vollendet, drei von Westen
herzukommandierte Korps unter dem Kronprinzen von
Württemberg waren erst bis Troyes gelangt, als man im Haupt-
quartier der Verbündeten vernahm, Napoleon sei bereits bei
Plancy über den Fluß gegangen. Nun ließ Schwarzenberg
jene drei Korps von Troyes nach Norden abschwenken und
rückte selbst mit dem Korps Wredes und den russischen und
preußischen Garden gegen Arcis wieder vor, um den Gegner,
ehe er noch mit allen Streitkräften die Aube passiert hat,
zurück und, wenn Blücher ihm nachgerückt war, diesem ent-
gegenzuwerfen. Damit war die Absicht Napoleons, die Linie
der Hauparmee zu durchbrechen und ihre westliche Gruppe
zwischen sich und Macdonald zu zerdrücken, vereitelt. Er selbst
aber hielt jene Konzentrationsbewegung des Gegners für dessen
Rückzug nach Osten und sieht sich, als ihm am 20. die Zurück-
nahme der feindlichen Vortruppen von Arcis gemeldet wird,
in der Meinung bestärkt, daß er einen weichenden Feind vor
sich habe, den er verfolgen und möglicherweise überflügeln
müsse, schon um dessen Vereinigung mit Blücher zu stören.
Der Entschluß, den er dabei faßt, entspricht durchaus seinem
großen Plane: er wird nach Vitry marschieren, diese Stadt,
die vom Feinde besetzt ist, erobern, dorthin Marmont und
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Die Schlacht bei Arcis-sur-Aube
281
Mortier und die Besatzungen von Metz und Nancy heranziehen,
Macdonald über Arcis nachrücken lassen und so mit einer
kompakten Heeresmacht von etwa 90.000 Mann auf die rück-
wärtigen Verbindungen des Gegners fallen. Er selbst verläßt
am Mittag des 20. März Plancy und nimmt den Weg über
Arcis, um Schwarzenberg um so sicherer in der Defensive zu
halten. Hier aber soll er eine bittere Enttäuschung erleben.
Schon am Vormittag hatten Bauern den über Arcis ost-
wärts avancierenden Franzosen das Nahen feindlicher Heeres-
massen von Süden her gemeldet. Napoleon glaubt nicht daran.
Er sendet einen Ordonnanzoffizier aus, der nicht weit genug
vorreitet, um die feindlichen Kolonnen zu gewahren, und den
Kaiser in seinem Irrtum bestärkt. Kurz darauf wird die Armee
im Marsch von überlegenen Kräften angegriffen und ein Teil
in wüstem Gemenge fliehend nach Arcis zurückgetrieben. Dort
an der Brücke über die Aube stellt sich den Flüchtigen
ein Offizier mit gezogenem Degen an der Spitze eines
kleinen Infanteriekarrees in den Weg und ruft: „Wer will
eher hinüber als ich?" Sie erkennen Napoleon und lassen
sich von neuem gegen den Feind führen. Zu gleicher Zeit
wird die Avantgarde unter Ney im Osten der Stadt von Wrede
bei Torcy angegriffen. Ney hält den Ort gegen die andringende
Übermacht, und auch um Arcis wird mit Todesverachtung
gekämpft, so daß der Gegner keinen nennenswerten Erfolg zu
erringen vermag, um so weniger, als nur Schwarzenbergs
rechter Flügel am Kampfe teilgenommen hat, während das
Gros noch von Troyes her im Anmarsch war. Die Be-
obachtung, daß bloß ein Teil der feindlichen Stärke mit-
gestritten hatte, verführt Napoleon, das Ganze für ein Nach-
hutgefecht zu halten und befestigt ihn nur noch mehr in
der Meinung, das Gros des Feindes sei auf dem Rückzüge.
Er bleibt daher dabei, in der einmal gewählten Richtimg
weiter zu gehen, und avanciert in gutem Glauben am Vor-
mittage des 21. gegen die vermeinte Arrieregarde des Feindes,
bis rechter Hand die Korps des Kronprinzen von Württem-
berg in Aktion treten und er es mit einem Male mit der
ganzen großen Hauptarmee zu tun hat. Nun kommandiert
er freilich den Rückzug über die Aube, und nur der Langsam-
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282 Aufgefangene Depeschen.
keit Schwarzenbergs — oder vielleicht dem jetzt jeder Offen-
sive widerstrebenden Zaren — hat er es zu danken, daß er
unter den Augen des Feindes den größten Teil seiner Truppen
fast unbehelligt auf das andere Ufer bringt. Der Best kann
sich, als endlich der Angriff der 100.000 Mann gegen die
30.000 erfolgt, nur noch durch heroisches Streiten den Rück-
weg sichern. Die Schlacht bei Arcis war verloren.
Über vierthalbtausend Mann hat dem Kaiser sein Irrtum
Uber des Gegners Absicht gekostet. Aber seinen Plan hat er
trotzdem nicht aufgegeben. Nur muß er jetzt seinen Marsch
auf Vitry jenseits der Aube fortsetzen, und er tut dies so
rasch, daß man im Hauptquartier der Verbündeten bald nicht
mehr weiß, wohin er sich eigentlich gewendet hat. Macdonald,
der an der Schlacht nicht mehr hatte teilnehmen können,
marschiert ebenfalls jenseits des Flusses nach Nordosten und
kommt mit geringen Schäden seiner Nachhut davon. Bei
dieser Gelegenheit, am 23. März, wird von den Österreichern
ein Kourier aufgefangen, der dem Marschall einen Brief
Berthiers zu überbringen hatte, des Inhalts, der Kaiser stehe
zwischen Vitry und Saint-Dizier im Kücken der großen Armee
und habe seine Kavallerie bereits bis Joinville vorgeschoben.
Und zur selben Zeit läuft den Kosaken ein zweiter Bote ins
Garn, mit einem Schreiben Napoleons an die Kaiserin nach
Paris, das sie in seinen Plan einweiht, sich der Marne und
den festen Plätzen im Osten zu nähern, „um die Feinde
von der Hauptstadt abzuhalten". Diese Briefe und einige
andere aus der Residenz, welche die Unfähigkeit, sie zu vertei-
digen, und die dort herrschende trostlose Stimmung schildern,
dazu die Kunde, daß am 12. März die Engländer Bordeaux
besetzt und die Einwohner sich für die Bourbons erklärt
haben, endlich der Heranmarsch Blüchers über Reims auf
Chalons: all das bringt die alliierten Monarchen dazu, von
der Verfolgung Napoleons, die sie anfänglich geplant hatten,
abzusehen und den gemeinsamen Zug beider Armeen auf
Paris zu beschließen. Ein Manifest an die Franzosen, vom
25. März datiert, legt noch einmal all die Schuld des blutigen
Unfriedens dem Kaiser und seinem unersättlichen Ehrgeiz
zur Last und klagt zugleich das Prinzip an, das er vertritt.
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Neues Manifest an die Franzosen. 283
„Frankreich hat nur seine eigene Regierung verantwortlich
zu machen", heißt es darin, „für all die Übel, die es erduldet.
Der Friede allein kann die Wunden schließen, die ein Geist
allseitiger Eroberung, wie ihn die Annalen der Welt nicht
kennen, geschlagen hat. Dieser Friede wird der Friede
Europas sein, jeder andere ist unzulässig. Es ist endlich an
der Zeit, daß die Fürsten, ohne Störung und Einfluß von außen
her, über das Wohl ihrer Völker wachen können, daß die
Nationen ihre wechselseitige Unabhängigkeit respektieren und
daß die sozialen Einrichtungen gegen tägliche Umsturzversuche
geschützt, das Eigentum gesichert, der Verkehr frei seien."*)
Ging das französische Volk hierauf ein, so kehrte es dem
politischen Programme der Revolution endgültig den Rücken,
und der Mann, der es bisher mit der ganzen Kraft seiner Ge-
nialität und seines ehrsüchtigen Willens verfochten hatte,
war vernichtet.
Es ist Napoleon zum Vorwurf gemacht worden, daß er
nach dem zweiten Schlachttage von Arcis, als er von der
Offensivtendenz des Feindes überzeugt sein mußte, doch nach
Osten weiterzog, anstatt westwärts mit all seinen verfügbaren
Truppen der Hauptstadt zuzueilen, wo er einen tüchtigen
*) D'Angeberg, Congres de Vienne, I., 143. Es hieß nun darin
freilich von Frankreich nicht mehr, seine Grenzen sollten weiter ge-
steckt sein „als je unter den Königen"; man dachte es nur noch in
jenem Umfange, „den ihm Jahrhunderte des Ruhmes und der Wohl-
fahrt unter seinen Königen gesichert hatten." Die Mächte hätten sich
zwar bereit erklärt, „Abänderungen über die Grenzen vor den Re-
volutionskriegen hinaus" zu erörtern, darauf sei aber erst am 15. März
ein Gegenprojekt mit unannehmbaren Bedingungen vorgelegt worden.
Staatsrat Ancillon, der Erzieher der preußischen Prinzen und einer der
vertrauten Berater Friedrich Wilhelms III., hatte auch einen Entwurf
verfaßt, der es nicht verschweigen wollte, daß man seinerzeit in Frank-
furt, wenn auch nur ganz allgemein und unbestimmt, günstigere Be-
dingungen gestellt, sie aber, als Englands Minister die Rückgabe der
französischen Kolonien an die Bedingung der alten Grenzen knüpfte,
einzuschränken sich verpflichtet gefühlt habe. Natürlich wurde dieser
Entwurf als höchst undiplomatisch abgelehnt. Es fehlte auch nur noch,
daß Ancillon den Franzosen erzählt hätte, man habe Englands Wünschen
deshalb Rechnung getragen, weil man sein Geld brauchte. (Siehe
..Kongreß von Chatillon«, S. 237, Anmerkung.)
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284 Napoleon in 8t. Disier.
Vorsprang vor dem Gegner und Zeit gehabt hätte, Maßregeln
zur Verteidigung zu treffen. Aber wer möchte es leugnen,
daß nicht auch der Plan des Kaisers seine großen Vorteile
haben konnte, wenn nicht der Zufall ihn verdarb? Napoleon
war von Vitry weiter über Saint-Dizier und dann südwärts
biß nach Doulevent gelangt, wo er den 25. März verweilte und
nach dem Feinde aushorchte, von dessen Direktion er nichts
wußte. Von dort schrieb Caulaincourt, der ihn begleitete,
Briefe an Metternich, die aufs neue den Frieden anboten, und
dem Schreiber schien es jetzt, als ob es seinem Herrn damit
Ernst wäre.*) Er wußte aber zu gleicher Zeit auch, daß es
bereits zu spät war. In der Tat ging an demselben 25. März
aus dem österreichischen Hauptquartier Graf Bombelles zum
Grafen Artois nach Vesoul, um mit ihm über die Rückkehr
der Bourbons auf den Thron von Frankreich zu verhandeln.
Dem Kaiser blieb danach nur noch sein Degen übrig. Noch
legte er ihn nicht aus der Hand.
Napoleon erfuhr in Doulevent bloß eins bestimmt: daß
ein starkes Korps in der Nähe von Saint-Dizier sich gezeigt
habe. Hatte sich der Feind geteilt und zerstreut? Dann war
er vielleicht, wie ehedem bei Champaubcrt und Montmirail,
zu besiegen. Er rückte sofort gegen dieses Korps und schlug
es am 26. in die Flucht. Es waren 10.000 Mann unter Win-
zingerode, welche die Verbündeten gegen den Kaiser zurück-
gelassen hatten. Diesem fiel es auf, daß es nicht Soldaten
Schwarzenbergs, sondern Blüchers waren, die man gefangen
einbrachte, und er wurde nun ganz unsicher. Er will nach
Vitry zurück, um dort Gewißheit zu erlangen. Schon in Saint-
Dizier fand er sie: alle Nachrichten, die hier bei ihm eintrafen,
stimmten überein, daß die Feinde allesamt auf Paris mar-
schierten. Seine Rechnung auf ihren Rückzug nach Osten
war also falsch gewesen. Was sollte er nun tun? Ihnen vor
der Hauptstadt zuvorzukommen war nicht mehr möglich; sie
hatten drei Tagmärsche voraus. Sich weiter ostwärts wenden,
die Garnisonen an sich ziehen, den Landsturm aufrufen ? Viel-
leicht wäre dies von Erfolg gewesen, denn im ganzen Osten
*) An Hauterive schreibt er am 28.: „Reine Majestät scheint
entschlossen, die nötigen Opfer zubringen.* (Houssayo, „1814", p. 397.)
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Gesprach mit Wessenberg. 285
waren die Bauern bereit zum Widerstande, in Banden durch-
zogen sie das Land und brachten Gefangene ins Haupt-
quartier. Macdonald war deshalb der Meinung, den Krieg im
Elsaß und in Lothringen zu führen, und man hat gewiß nicht
mit Unrecht vermutet, daß auch dem Kaiser dieser Gedanke
mehr einleuchtete, als der andere, den ihm seine Umgebung,
Caulaincourt, Maret, namentlich aber Bertbier und Ney, nahe-
legten, alles zur Rettung der Hauptstadt zu versuchen. Es
waren Stunden äußerster Nervenanspannung, die er in seinem
Arbeitszimmer zu Saint-Dizier eingeschlossen zubrachte, um
sich für dies oder jenes zu entscheiden. Endlich entschloß
er sich doch, über Bar, Troyes, Fontainebleau nach Faris zu
gehen, um dort die letzte große Schlacht zu schlagen. So
erklärte er sich gegen den österreichischen Diplomaten Wessen-
berg, der am 28. März hier kriegsgefangen vor ihn gebracht
worden war und den er in ein politisches Gespräch ver-
wickelte, das seine Friedensabsicht dokumentieren sollte.
„Ich habe verlangt," sagte er, „daß man Frankreich in den
Grenzen belasse, in denen ich es bei meiner Thronbesteigung
fand.*) Aber ich behaupte nicht, daß ich nicht auch, ge-
zwungen, auf ungünstigere Bedingungen hin Frieden schließen
würde." Nur auf dem Besitz von Antwerpen müsse er be-
stehen, da ohne diesen Platz Frankreich es noch lange nicht
zu einer Marine bringen könnte. Österreich sollte von den an-
deren Mächten beauftragt werden, den Frieden zu verhandeln,
und er wäre sicher rasch abgeschlossen. Dann fuhr er fort:
„Die Kaiserin wird von den Franzosen geliebt. Ihrer Regent-
schaft und der des Senats werden sie vor einer Regierung der
Bourbons den Vorzug geben. Sie hat während meiner Ab-
wesenheit in der öffentlichen Meinung sehr viel gewonnen,
und ich bin der Mann dazu, das Regiment in ihre Hände zu
legen." Wessenberg bezweifelte diesen Entschluß. „Nein,
nein," erwiderte der Kaiser, „auch der Ehrgeiz nützt sich ab.
Sie sehen, was das Genie vermag: noch vor zwei Jahren ge-
horchte mir die Welt, heute ist sie wider mich." Damit und
*) Die ersten Worte des Kaisereides lauteten nach der Verfas-
sung von 1804: „Ich schwöre die Integrität des Reiches eu behaupten.«
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286 Napoleon eilt nach Paria.
mit der Versicherung, große Opfer bringen zu wollen, entließ
er den Diplomaten zu seinem Monarchen.*)
Als Napoleon so resigniert sprach, wenn auch freilich nur,
um an den Vater seiner Gattin um Unterstützung zu appel-
lieren, mußte sich ihm seine militärische Lage als recht
verzweifelt verraten haben. In der Tat wußte er bereits, daß
Marmont am 25. bei Fere-Champenoise geschlagen worden war
und daß die Verbündeten ihn und Morticr vor sich hertrieben.
Am Abend des 28. — die Truppen waren an diesem Tage
aufgebrochen — wurde ihm in Doulevent ein Brief des
Generalpostmeisters Lavalette gebracht: seine Anwesenheit
in der Hauptstadt sei unbedingt nötig und, wenn er sie nicht
verlieren wolle, kein Augenblick zu versäumen. Bald darauf
muß er hören, daß die Feinde schon bei Meaux angekommen
sind. Seine Ungeduld steigert sich zum Fieber. In Troyes
angelangt, schläft er kaum. Er übergibt Berthier das Kom-
mando und reitet, nur von den Schwadronen seiner Leibgarde
begleitet, vorwärts, bis er in Villeneuve-sur-Vannes auch diese
Eskorte verläßt, sich mit Caulaincourt in einen Wagen wirft
und in unerhörter Eile dahinrast.
Unterdessen waren die A r erbündeten in die unmittelbare
Nähe der Hauptstadt gelangt, und am 29. floh Marie Luise
mit dem König von Rom nach Blois. Die Räte der Regent-
schaft hatten mit Recht dagegen gesprochen, aber eine aus-
drückliche Ordre Napoleons, seinen Sohn keinesfalls dem
Schicksale des Astyanax auszusetzen, forderte dessen Ent-
fernung.**) Das machte tiefen Eindruck in Paris, wo die Be-
*} Arneth, Wasenberg, L, 188 ff.
**) Am 16. März 1814 an Josepn: „Sollten die Feinde in großer
Stärke gegen die Hauptstadt heranziehen und jeder Widerstand un-
möglich sein, dann lassen Sie die Regentin, meinen Sohn, die Groß-
würdenträger und Minister, die Vorstände des Senates, die Präsidenten
des Staatsrat«, die Großoffiziere der Krone und den Baron Bouillerie
(Schatzmeister der außerordentlichen Domäne) mit dem Tuilerienschatz
in der Richtung auf die Loire abgehen. Verlassen Sie meinen Sohn
nicht und erinnern Sie sich, daß ich ihn lieher in der Seine als in den
Händen der Feinde Frankreichs sähe. Das Schicksal des von den Grie-
chen gefangenen Astyanax ist mir immer als das unglücklichste in der
Geschichte erschienen.« (Oorresp., XXVII., 21.497.) Schon am 8. Fe-
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Zu spät! 287
völkerung durch die zahlreich anlangenden Verwundeten, die
vom Lande hereinflüchtenden Bauern und durch die schreck-
lichen Prophezeiungen des offiziösen Preßbureaus über das
der Stadt bevorstehende Schicksal, wenn man sich nicht wehre,
in unerhörter Angst erhalten wurde. Die Eente fiel bis auf 45.
Joseph, der zurückblieb, verstand es nicht, das Vertrauen zu
heben. Seine Proklamation an die Pariser, sie sollten dem
Feinde widerstehen, da ihm der Kaiser auf dem Fuße folge,
erzeugte keine Begeisterung. Und wenn selbst, so hätte es an
Widerstandsmitteln gefehlt und an Waffen für die Bereit-
willigen. Die Befestigungen, die man angelegt, waren un-
vollendet. Es gab kaum über 30.000 Nationalgarden in Paris.
Diese allerdings haben sich im Verein mit den Truppen Mac-
donalds und Mortiers am 30. März in einer Schlacht vor der
Stadt heldenmütig geschlagen. Erst spät am Nachmittag, als
die Übermacht der Preußen den Montmartre erobert und dort
eine Anzahl Kanonen aufgepflanzt hatte, trat Waffenruhe ein.
Von Joseph, der schon um Mittag geflohen war, ermächtigt,
schloß dann Marmont am Abend eine Kapitulation ab, die den
Verbündeten die Stadt überlieferte.
Zu derselben Stunde ordnete Mortier einen seiner Gene-
rale in südlicher Richtung ab, um für die von Paris sich zurück-
ziehenden Kolonnen Kantonnements einzurichten. Bei der
Eaststation Cour de France traf der Böte in der Dunkelheit
der Nacht auf Reisende, die den Pferdewechsel abwarteten,
und ward von einem derselben angerufen. Es war der Kaiser,
der jetzt den Verlust seiner Hauptstadt erfuhr. Er geriet
außer sich über Joseph und den Kriegsminister Clarke, denen
er diesen Verlust ungerechterweise zur Last legte, wollte
sofort nach Paris weiter und ließ sich erst überzeugen, daß
es zu spät sei, als sich die Feuer von Mortiers Vortrab zeigten
und General Flahault, den er an Marmont geschickt hatte,
mit einem Briefe des Marschalls wiederkam, der die Stimmung
der Pariser als durchaus unlustig zu weiterem Widerstande kenn-
zeichnete. Darauf begab er sich nach Fontainebleau zurück.
bruar Latte er dem Bruder geschrieben: „Ich würde es vorziehen, daß
man meinen Sohn erwürge, als daß ich ihn als österreichischen Prinzen
in Wien aufwachsen sähe.« (Corresp., XXVIL, 21.210.)
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288
Einzug der Verbündeten.
Am nächsten Morgen, es war der 31. März, hielten der
Zar und Friedrich Wilhelm III. ihren Einzug in die eroberte
Stadt. Kaiser Franz von Österreich war nach der Schlacht
von Arcis von Schwarzenberg geraten worden, sich nach Dijon
unter den Schutz der Südarmee zu begeben. Dort war er
mit Metternich zurückgeblieben — wohl mit Absicht, um
nicht als Triumphator über seinen Verwandten im Vorder-
grunde zu erscheinen. Die Monarchen werden in Paris von
einer kleinen, aber unendlich rührigen Partei von Royalisten
mit Hochrufen auf Ludwig XVIII. empfangen und dadurch
vollkommen über die Stimmung der Bevölkerung getäuscht.
Dieser waren die Bourbons durchaus gleichgültig geworden.
Man dachte kaum an sie, und am wenigsten daran, sie zurück-
zurufen. Auf Ergebenheit und Sympathien konnten sie nur
im Umkreise des Faubourg Saint Germain rechnen, wo die
Trauer über die eingebüßten Vorrechte und die bornierte Ab-
neigung gegen alle anderen Menschenklassen mit dem alten
Hofe die alte Zeit zurückzuerlangen wähnte. Vergebens hatte
Napoleon die Altadeligen Frankreichs für sich zu gewinnen
gesucht. Nur wenige unter ihnen, die mit klarem Blick den
Wandel der öffentlichen Dinge durchschauten, anerkannten
und respektierten sein Reformwerk. Alle übrigen sannen
längst auf seinen Fall. Gar mancher ließ sich gerne von
heimlichen Feinden des Kaisers gebrauchen, die seit Jahren
schon den Sturz des nimmersatten Eroberers ins Auge gefaßt
hatten. Jetzt wissen sie den fremden Souveränen ihre Stim-
mung als die des Volkes vorzuspiegeln, und da Talleyrand,
der ursprünglich mit der Regentschaft Marie Luisens koket-
tiert, sie dann aber fallen gelassen hatte, ihre Sache führt, ist
sie bald gewonnen. Der Zar hat in seinem Hause Quartier
genommen. Nur noch schüchtern und zweifelnd spricht Ale-
xander da den Namen Bernadottes aus, der in Paris zu
intriguieren fortfuhr,*) um sofort von seinem Wirte zu
erfahren, daß Frankreich keinen Soldaten mehr wünsche.
„Wollten wir einen, so würden wir den behalten, den
*) „Der Kronprinz hat Skioldebrand zu Alexander geschickt; er
rät ihm zum Frieden. Seine Intriguen in Paris," schreibt Hardenberg
am 31. März in sein Tagebuch. (Berl. St. A.)
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Der Senat dekretiert die Absetzung Napoleons. 289
wir haben, er ist der erste der Welt. Nach ihm würde ein
anderer gewiß nicht zehn Mann hinter sich herziehen." Es
gebe nur Napoleon oder Ludwig XVIII., nichts drittes. Und
der Zar stimmte zu. In einer Erklärung, welche die Verbün-
deten — d. h. Alexander, ohne erst die Zustimmung des Kaisers
Franz einzuholen, die er, wie er sagte, voraussetzte — am
31. März durch den Fürsten von Benevent an den Senat ge-
langen ließen, und die alsbald in tausend Exemplaren die
Straßenwände deckte, hieß es : „ daß sie nicht mehr verhandeln
werden mit Napoleon Bonaparte noch mit irgendeinem Mit-
gliede seiner Familie, daß sie aber die Konstitution anerkennen
wollen, die das französische Volk sich geben würde." Und der
Senat — derselbe Senat, der noch vor wenig Wochen seinem
Herrn und Schöpfer so sklavisch zu Diensten gestanden —
sprach, nachdem er am 1. April seine eigene Unentbehrlichkeit
dekretiert hatte, am Tage darauf die Absetzung des Kaisers
aus und entband Nation und Armee ihres Treueides gegen
ihn. Die Nation hatte nichts dagegen einzuwenden : der Gesetz-
gebende Körper bestätigte das Votum des Senats, und die
hohen kaiserlichen Ämter, der Rechnungshof, der Kassations-
hof u. A. gingen ins andere Lager über. Es kam wie ein Ge-
fühl der Scham über sie, daß fremdes Kriegsvolk — seit vier
Jahrhunderten war es dazu nicht gekommen — in Paris
herrschte, und sie grollten dem, der dieses Schicksal herauf-
beschworen hatte. Wird sich aber auch die Armee, dieses treue
Werkzeug, dem Künstler des Krieges und der Schlachten aus
den Händen winden lassen?
Noch in Cour de France hatte Napoleon Caulaincourt zu
Alexander gesandt und ihn mit aller Vollmacht zum Frieden,
wie ihn die Verbündeten in Chätillon gewünscht, ausgestattet.
Jetzt kehrte Jener nach Fontainebleau zurück, und was er
als des Feindes Antwort mitbrachte, waren im Grunde nur
Napoleons eigene Worte: der Friede mit ihm wäre nur ein
Waffenstillstand, und selbst für die Anerkennung des Sohnes
sei der Vater ein Hindernis. Doch benahm Alexander, wa3 die
Regentschaft betraf, dem Boten nicht alle Hoffnung; nur
müsse der Kaiser vorerst abdanken. Dieser dachte nicht daran.
Man hatte ihn besiegt, aber keineswegs überwunden. Er hatte
Fournier, Napoleon I. 19
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290 Die Haltung der Marschälle.
noch Truppen. Da standen Marmonts 12.000 Mann bei Corbeil
und Essonnes, dahinter Mortier mit 8000; am 1. April war
die Tete der bei Arcis geschlagenen Armee angelangt, am 2.
die Garden, während der Rest noch von Troyes her auf dem
Marsche war. In Kürze konnte er hier nahe an 60.000 Mann
zusammenbringen und brauchte nur die 100.000 Mann, die seine
Persönlichkeit nach seinem eigenen Ausspruch und den Er-
fahrungen dieses Feldzuges dem Feinde galt, hinzuzurechnen,
um zu dem Schlüsse zu kommen, daß man die Flinte noch
keineswegs ins Korn zu werfen brauche. Und außerdem stand
Maison mit einer Abteilung im Norden, Augereau, der aller-
dings Lyon in verdächtiger Eile aufgegeben hatte, im Süden,
Soult und Suchet gegen Engländer und Spanier. Und von den
Soldaten und Offizieren, wenn auch mancherlei Unzufrieden-
heit unter ihnen herrschen mochte, waren doch noch die aller-
meisten für ihn gestimmt. Bei einer Revue am 3. April hatten
die Garden seine Anrede mit dem stürmischen Rufe „Nach
Paris!" beantwortet. Anders freilich die Führer. Zwar gab es
auch unter ihnen feurige Partisane des Kaisers für alle Fälle,
wie Mortier, Drouot u. A. Aber die meisten von denen, die an
zweithöchster Stelle kommandierten, die Marschälle, Herzoge,
Fürsten und Grafen, reich verdient und reichdotiert, hatten
schon im Jahre zuvor den Krieg nur verdrossen weitergeführt,
kein Ende absehend und sich doch so sehr nach ruhigem Ge-
nießen der Früchte ihrer tapferen Arbeit sehnend. Jetzt noch
weiterzukämpfen, erschien ihnen völlig aussichtslos. Und wenn
man siegte, mit welchen Opfern! Und gab es dann Frieden?
Wie leicht war, was folgte, nur der Bürgerkrieg. Zwar die
Rückkehr der Bourbons war ihnen verhaßt, aber es gab noch
einen andern Weg. Daß Caulaincourt die Idee einer Ab-
dankung des Kaisers zugunsten seines Sohnes aus Paris zurück-
gebracht und Napoleon mit seiner Umgebung darüber gespro-
chen hatte, erfuhren die Marschälle, wie sie von dem Absetzungs-
dekret des Senats und der Erklärung der Verbündeten erfahren
hatten, und sahen hierin das einzige Mittel, das herrschende
S3'stem und mit ihm ihre Stellen und ihre Geltung zu retten,
ohne sich neuen Mühen und Unruhen auszusetzen. Am
4. April, nach der Parade, faßten sie sich ein Herz. Ney,
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Abdankung Napoleons zu Gunsten seines Sohnes. 291
Lefebvre, Oudinot und Macdonald traten als Abgesandte der
übrigen vor den Kaiser, bei dem sich auch Berthier neben
Caulaincourt und Maret befand, und trugen ihm vor, daß jetzt,
wo der Senat wider ihn entschieden habe und der Friede ver-
säumt worden sei, nur seine Abdankung übrig bleibe. Die
wollten sie zugunsten seines Sohnes und der Kaiserin als Re-
gentin; die Bourbons wollton sie nicht. Darauf soll Napoleon
dem Senat das Recht bestritten haben, ihm die Herrschaft
zu nehmen, soll ihnen die schlechte Aufstellung der Feinde
gezeigt, seine Streitkräfte aufgezählt, seinen Angriffsplan ent-
wickelt haben: alles umsonst, er mußte nachgeben und unter-
schrieb das verlangte Dokument. Es lautete : „Nachdem die ver-
bündeten Mächte den Kaiser Napoleon als das einzige Hinder-
nis der Herstellung des Friedens in Europa bezeichnet haben,
erklärt Kaiser Napoleon, treu seinem Eide, daß er bereit
sei, vom Throne herabzusteigen, aus Frankreich zu ziehen
und selbst das Leben zu lassen für des Vaterlandes Wohl, das
untrennbar ist von den Rechten seines Sohnes, der Regent-
schaft der Kaiserin und den Gesetzen des Kaiserreichs."*)
Als Napoleon sich hierzu entschloß, lag ihm wohl der
Gedanke nicht fern, die Verbündeten könnten diese bedingte
Abdankung ablehnen. Er wünschte es geradezu, denn dann
konnte er diejenigen, die ihn dazu gedrängt, überzeugen, daß
ihnen nur noch Ludwig XVIII. in Aussicht stehe, und da
würden sie ihm ihre "Unterstützung nicht mehr versagen. Es
*) Es ist nicht ohne Interesse, auch den ersten Entwurf dieser
Abdankungsurkunde zu kennen, den der Kaiser selbst unterschrieb und
aus dem er dann gewisse Stellen strich. Er hatte folgenden Wortlaut:
„Nachdem die verbündeten Mächte den Kaiser Napoleon als das einzige
Hindernis der Herstellung des Friedens in Europa bezeichnet haben,
und der Kaiser gewiß nicht, ohne seinen Eid zu brechen,
irgendeines der Departements dahingehen kann, die bei
seiner Thronbesteigung mit Frankreich vereinigt waren, er-
klärt Kaiser Napoleon, daß er bereit sei, vom Throne herabzusteigen, aus
Frankreich zu ziehen und selbst das Leben zu lassen für das Wohl des
Vaterlandes und um die Rechte seines Sohnes, des Königs, der Regent-
schaft der Kaiserin und der Gesetze und Institutionen aufrecht zu er-
halten, die bis zum definitiven Friedensschluß und solange
die fremden Heere auf unserem Gebiete stehen, keine Ver-
änderung erfahren sollen.« (Corresp., XXVII., 21.555.) S. S. 285-
19*
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292
Marniont fällt ab.
war nur eine Folge dieses Ideenganges, wenn er nicht Caulain-
court allein mit seiner Erklärung nach Paris sandte, sondern
ihm auch Ney und Macdonald zur Seite gab, damit sie selbst
als Sendboten der Armee für ihre Sache einständen. Als solche
empfing sie Alexander am Abend des 4. April. Er schien
fast wankend werden zu wollen, namentlich als Macdonald
ihm versicherte, die Armee könne nur mit Abscheu der Wieder-
kehr des Königtums entgegensehen, da es ihren Taten fern
und ihrem Ruhme fremd geblieben sei. Lehne man dieses Opfer
des Mannes ab, dem sie so lange treu angehangen habe, so
würde sie möglicherweise wieder zu ihm zurückkehren. Sie sei
keineswegs so sehr erschüttert, wie man annehme. Aber diese
Worte sollten noch in derselben Nacht eine eklatante Wider-
legung erfahren. Marmont hatte sich schon zur Zeit, als er
von der Verteidigung der Hauptstadt abstehen mußte, von
Talleyrand gewinnen lassen. „Armee und Volk" — schrieb
er am 3. April an Schwarzenberg — „sind durch das Senats-
dekret von ihren Treueiden gegen Napoleon entbunden. Ich
bin bereit, eine Annäherung von Volk und Armee herbeiführen
zu helfen, welche die Möglichkeit eines Bürgerkriegs und neues
Blutvergießen hintanhalten soll." Darauf ward zwischen ihm
und einem Abgesandten der provisorischen Regierung, die sich
in Paris gebildet hatte, vereinbart, daß sein Korps in der
Nacht vom 4. auf den 5. sich von Essonnes weg nach Versailles,
d. h. in den Bereich der feindlichen Linien begeben werde.
Als dann die Abgesandten Napoleons sein Lager passierten
und ihm von ihrer Mission erzählten, mochte ihn sein eigen-
mächtiger Schritt gereuen und er begab sich mit ihnen nach
Paris, seinem Untergeneral Souham, den er eingeweiht hatte,
auftragend, nichts weiteres vor seiner Rückkehr zu unter-
nehmen. Souham aber, der Verrat fürchtete oder vielleicht auch
Marmonts wahre Intentionen genauer kannte, marschierte
dennoch im Dunkel der Nacht mit 12.000 Mann, denen man
vorgespiegelt hatte, es gehe gegen den Feind, mitten
zwischen die österreichischen Divisionen hinein. Als der Morgen
anbrach, sahen die Tapferen zähneknirschend das Werk ihrer
Führer. Alsbald war dem Zaren davon Mitteilung gemacht
worden, der jetzt das Hauptargument der Sendlinge leichter
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Waffenruhe.
293
Hand zu widerlegen imstande war und den Gedanken an die
Kegentschaft, den auch Österreich nicht hege, von sich wies.
Man erwarte Napoleons bedingungslose Abdankung. Nun gaben
auch Ney und Macdonald die Sache des Kaiserreichs verloren.
Auf dem Rückwege schlössen sie mit Schwarzenberg eine
Waffenruhe ohne Vorwissen Napoleons.*)
Dieser hatte inzwischen vom Abfall Marmonts gehört und,
da nun seine Stellung nördlich von der Loire ganz unhaltbar
geworden war, noch am 5. April den Befehl zum Marsch auf
Pithiviers und Orleans erteilt. Zugleich soll er auch davon
gesprochen haben, sich nach Italien zu werfen, mit Eugen zu
vereinigen, die nationale Idee durch ein Heer und seinen
Genius zu unterstützen, um an Stelle Frankreichs, das ihn
fallen ließ, eine neue Basis für seine heimatlose Politik zu ge-
*) Sorel, VIII., 830, hält auch noch für diese Zeit seine Meinung
fest, Österreich sei es nur um die Kegentschaft zu tun gewesen. (Siehe
oben S. 244). Das ist um so erstaunlicher, als er dafür einen von mir, „Kon-
greß von Chatillon«, S. 856, mitgeteilten Brief Metternichs an Hudelist
vom 9. Februar (!) 1814 anführt, worin es heißt: „Die Frage der
Bourbons, welche mit jedem Tage an Kraft wächst, ist noch sehr pro-
blematisch. Die allgemeine Stimme Frankreichs ist: Napoleon weg!
Das leichtsinnige Volk hat aber noch nicht gedacht, wen man an
Napoleons Stelle setzen könne. Eine Regentschaft ist in der jetzigen
gräulichen Spannung kaum mehr denkbar." Sie war es natürlich in den
ersten Apriltagen noch weniger. In meinem Aufsatz „Marie Luise und
der Sturz Napoleons" (D. Rundschau, September 1902), der auch fran-
zösisch in der r Revue historique", 1903, erschien, habe ich (S. 396) eine
Anzahl authentischer Briefstellen zitiert, die jeden Zweifel ausschließen.
So schreibt Metternich am 7. April 1814 an den Staatsrat Hudelist
nach Wien: «Der Kaiser von Österreich wird derjenige sein, der die
Bourbons einsetzt", am 13. April an seinen Kaiser: „Das Publikum
läßt sichs nicht nehmen, daß E. M. mit der Regierungsveränderung
keineswegs einverstanden 6ind, und Kaiser Napoleon hat unter der
Hand verbreiten lassen, daß Österreich sicher keine Gelegenheit ver-
säumen werde, die napoleonische Dynastie wieder auf den Thron zu
bringen", und am 21. April an Hudelist: „Da wir die Kaiserin und
den Prinzen wegführen, so bleibt die Partei der Regentschaft ohne
eigentlichen Anhaltspunkt." Bedarf es danach noch einer Bestätigung,
so liefert sie Macdonald, der in seinen Souvenirs, p. 272, von einer
Begegnung der Marschälle am 4. April mit Schwarzenberg erzählt und
wie der Fürst zu ihrer großen Überraschung sich dem Gedanken der
Regentschaft ernstlich widersetzt habe.
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291
Bedingungslose Abdankung.
winnen. Aber die französischen Soldaten hatten noch eine
Heimat, und daran mußten solche Pläne scheitern. Darum ist
auch nur sein Befehl, über die Loire zu gehen, verbürgt. Die
zurückgekehrten Marschälle weigern sich nun ganz offen, ihm
Folge zu leisten und erklären am 6. April, daß man bloß no**h
über schwache Trümmer der Armee verfüge, daß diese zerniert
seien und daß, wenn man auch hinter die Loire entkäme, nur der
Bürgerkrieg daraus entstehen würde. Sie raten dem Kaiser,
nunmehr bedingungslos abzudanken. Napoleon zögerte wieder,
schrieb aber dann doch, von seinen Kapitänen im Stich gelassen,
eine neue Abdankungsurkunde nieder, in der er „für sich und
seine Erben auf die Throne von Frankreich und Italien" ver-
zichtete.*)
Mit dieser neuen Erklärung begaben sich die Unterhändler
— Caulaincourt und die beiden Marschälle — nochmals nach
Paris, um dort auf solcher Grundlage mit den Verbündeten
einen Vertrag abzuschließen, der Napoleon den Kaisertitel,
die souveräne Herrschaft über Elba, eine Revenue von zwei
Millionen Franken und vierhundert Mann seiner Garden als
Schutzwache, der Kaiserin Marie Luise das italienische Herzog-
tum Parma, der Mutter und den Brüdern Pensionen zu-
sicherte.**) Elba war von Alexander gegen den mahnenden
Einspruch Talleyrands und Metternichs zugestanden worden.
Selbst Kaiser Franz fand die Nähe des entthronten Cäsars
etwas beunruhigend, und Hardenberg machte dem Zaren
Vorwürfe.***) Und so ging es nicht ohne Widerrede ab,
ehe dem einstigen Diktator des Weltteils dieser geringe
Brocken hingeworfen ward, mehr ein Hohn auf den Begriff der
*) S. auch Houssaye, „1814", p. 635. Houssaye ist übrigens für die
Vorgänge dieser Tage — und er erklärt es selbst — nicht genügend unter-
richtet. Seither sind in Pasquiers und Macdonalds Memoiren, von
denen der Erste der provisorischen Regierung, der Zweite der militäri-
schen Mission angehörte, neue Quellen veröffentlicht worden, die, ein-
ander ergänzend und teilweise berichtigend, mehr Licht verbreiten,
**) De Giere q, H., 402.
***) „Ich erlaubte mir dem Kaiser Alexander Vorwürfe wegen
der Konvention mit Napoleon zu machen. Er berief sich auf das Christen-
tum, das*, den Feinden zu vergeben gebiete. u (Tagebuch zum 11. April,
Berl. St. A.)
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Napoleons Vertrag mit Europa. 295
Souveränität, als ein Beweis, wie eng man ihn zu fassen ver-
mochte. Am 11. April ward die Urkunde des Vertrags
von Fontainebleau in Paris von Ney, Caulaincourt, Mac-
donald und den vier Ministern der verbündeten Mächte
unterzeichnet. Bald darauf, am 12., setzte auch Napo-
leon seinen Namen darunter und machte damit seinen Ver-
zicht perfekt. Mit welchen Empfindungen! War es Resignation
ohne Hoffnung, was ihn erfüllte? Oder fand sein energischer
Geist noch einen Vorbehalt, den er seinem Schicksal ent-
gegensetzte? Fühlte er sich überwunden oder nur geschlagen
— hier im Leben, wie dort im Felde? Einige Tage vor dem
Abschluß des Traktats hatte er Caulaincourt beauftragt, die
Abdankung zu widerrufen und die Verhandlungen abzu-
brechen, weil ein treuer General, Allix, von einem österreichi-
schen Kurier vernommen haben wollte, Kaiser Franz werde
seine Tochter nicht vom Throne stoßen lassen. Die Sache
hatte sich sofort als irrig herausgestellt und die Konferenz
ihren Fortgang genommen. Und noch ein zweites Mal, als
die Urkunde bereits unterzeichnet war, erging ein ähnlicher
Befehl an den Unterhändler; da war es aber zu spät. Nun
stand er vor der vollendeten Tatsache. Seine Herrschaft hatte
unwiderruflich ein Ende. Die Rechnung auf Österreich hatte
sich als falsch erwiesen. Als er vor einigen Tagen an Marie
Luise, die sich in Blois befand, einen Boten mit einem Briefe
sandte, des Inhalts, seine Stunde habe geschlagen, er wolle
sie nicht in sein Unglück verflechten, sie solle sich ganz in die
Arme ihres Vaters werfen, da nahm die charakterschwache
Frau den Wink wörtlich, wollte nur noch Rat von Kaiser Franz
annehmen und weigerte sich schließlich, nach Fontainebleau
zu gehen, wohin sie des Zaren Generaladjutant, Graf Schuwa-
low, geleiten sollte.*) Einzelne aus Napoleons Umgebung,
die sich von seiner Autorität zu urteilsloser Hingebung
hatten bestimmen lassen, mochten sich ihren Herren nicht
denken, wie er jetzt noch weiterlebte. Maret hielt ihn zum
*) Siehe hierüber „Maria Luise und der Sturz Napoleons", a. a. 0.
und Wertheimer, „Der Herzog von Reichstädt", S. 104, nach den-
selben Quellen, gegen Massons gegenteilige Ansicht in dessen „Marie
Louise", p. 578 f. S. auch „Neue freie Presse«, Nr. 14497 u. 14588 von 1905.
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Selbstmordversuch?
Selbstmord entschlossen und räumte seine Pistolen beiseite.
Männer freilich, die nicht unmittelbar im Banne seiner
Persönlichkeit standen und ihn nicht über alle Kritik erhaben
glaubten, wie Metternich, Fouche u. A., muteten ihm einen
derartigen Schritt nicht zu. Und so bestimmt die Nachricht
auch auftritt, der Kaiser habe in der Nacht vom 12. zum
13. April Gift genommen, der unbefangene Geschichtschreiber
wird sich doch nur sehr schwer entschließen können, darauf
einzugehen. So gar unendlich wenig stimmt sie zu dem ganzen
Wesen dieses Mannes, der noch auf St. Helena seine Rolle in der
Welt nicht als beendet ansehen wird, daß man viel eher als
an Gift geneigt ist an einen jener Krankheitszufälle zu denken,
mit denen sich schon jetzt sein kommendes tödliches Leiden
ankündigte, wie damals nach der Dresdner Schlacht in Pirna,
oder anzunehmen, daß er die ungeheure Aufregung der Nerven
durch ein Narkotikum zu dämpfen suchte, das ihm übel bekam.
Jedenfalls war Napoleons Unwohlsein am folgenden Tage
behoben und er in der nächsten Zeit voll neuen Mutes, voll
Zuversicht, voll Hoffnung, und nur um Eins besorgt: um sein
Leben.*)
*) Fain, der Sekretär Napoleons, hat nach dem Tode des Kaisers
in seinem „Mannscrit de 1814" zuerst von dem Selbstmordversuch ge-
sprochen; ihm folgend erzählt Pasquier den Vorfall in seinen Memoiren
IL, 525; ausführlicher ist in Segura Histoire et Memoires (VIL,
196 ff.) davon gebandelt. Segur will sogar von dem Leibchirurgen Iwan
direkt Mitteilung gehabt haben, der, „nachdem er das Leben seines
Herrn außer Gefahr gesetzt hatte, nicht mehr dafür verantwortlich sein
wollte, 4 * eine Verdächtigung befürchtend „den Kopf verlor 14 und davon-
lief. Aber in Segurs Darstellung fehlt es nicht an Widersprüchen. Auch
weicht hiervon Fains Mitteilung das vermutete Gift betreffend ab. Einen
Tag zuvor noch hatte Napoleon Bausset, der einen Brief Marie Luisens
überbrachte, erzählt, wie ihn der Tod auf dem Schlachtfelde von Arcis
an der Aube gemieden habe und Linzugefügt: „Ein Tod, den ich nur
durch einen Akt der Verzweiflung finden könnte, wäre eine Feigheit.
Der Selbstmord entspricht weder meinen Grundsätzen noch dem Range,
den ich in der Welt einnahm." Demselben Boten erschien er „erfüllt
von einer Sorglosigkeit, die sich hinter dem Namen Philosophie ver-
barg, und von einem eigentümlichen Vertrauen in das Schicksal, das
alles regelt und dem sich niemand entziehen kann. 44 (Hörisson, Ca-
binet noir, p. 299.) Macdonald, der den unterzeichneten Vertrag aus
Paris brachte, spricht (Souvenirs, p. 29) nur von einem Unwohlsein,
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Die letzten Tage in Fontainebleau. 297
Schon vor der Abdankung hatte der Palast von Fontaine-
bleau viele seiner militärischen Gäste verloren; bald wurde es
öde um den gestürzten Kaiser. Auch Berthier nahm Urlaub,
um nicht wiederzukehren. Nur wenige Getreue blieben, bis Na-
poleon am 20. April in Begleitung von Kommissaren der ver-
bündeten Mächte — halb Wache und halb Bedeckung — die
Stätte verließ, von der er so oft Europa seinen Willen ver-
kündet hatte. Bevor er in den Wagen stieg, nahm er von der
das den Kaiser, den er „ruhig und heiter u fand, später hinderte am
Diner teilzunehmen. Am nächsten Morgen habe er sein Antlitz allerding»
wesentlich verändert, ihn selbst wie aus Träumen erwachend gefunden.
Von einem Selbstmordversuch erwähnt er nichts. Napoleon selbst sagte
später zu dem österreichischen General Koller, der ihn nach Elba zu
begleiten hatte, noch vor seiner Abreise: „Man will mich tadeln, daß
ich meinen Fall überleben konnte. Mit Unrecht. Ich sehe nichts Großes
darin sein Leben zu enden, wie einer, der sein Geld im Spiel verlor. 44
(Helfert, Napoleon I. Fahrt von Foutainebleau nach Elba, S. 81.) So
spricht doch kaum, wer eine Woche zuvor sich töten wollte. M6ue-
val in seinen Erinnerungen (III., 297) will nach mündlichen Mittei-
lungen Caulaincourts und des Obersten Montesquiou wissen, Iwan
habe tags vorher einen Teil jenes Opiumpräparats, das Napoleon seit
dem manschen Feldzuge — nach Segur seit dem spanischen — bei sich
trug, weggeschüttet; mit dem Reste habe sich der Kaiser vergiften
wollen. Aber nach dieser Darstellung hätte Napoleon selbst dabei zu-
gesehen, wie sein Chirurgus die Dosis des Pulvers — doch wohl bis
zur Unschädlichkeit — verminderte, und konnte daher auf eine sichere
Wirkung nicht mehr rechnen. Die Dosis mochte aber noch immer stark
genug sein, um ernste Beschwerden hervorzurufen, woraus sich Iwans
Verzweiflung leichter erklären ließe als sonst. Thiers sucht das
Vorkommnis in der Nacht vom 11. auf den 12., was sicher unrichtig
ist. Marets (Ernouf, p. 641) eigene Notizen berichten nur, daß der
Kaiser mit ihm an jenem Tage über den Selbstmord viel gesprochen,
ihn aber verurteilt habe. Die lebendigste Schilderung der Vorgänge
in jener Nacht entwirft Charlotte v. Soor (Napoleon et le Duc de Vicence,
IL, 213), doch 6ind diese Denkwürdigkeiten durchaus nicht über allen
Zweifel erhaben. Ebensowenig Napoleons Erzählung davon auf
St. Helena in Gourgauds Journal. Nur authentische Aufzeichnungen
Caulaincourts könnten die Sache entscheiden. Uber Napoleons Besorgnis
für sein Leben in der nächsten Zeit finden sich bestimmte Zeugnisse
bei Helfert a. a. 0. S. 82 und Campbell, Napoleon at Foutaine-
bleau, S. 199. Doch läßt es sich immerhin denken, daß er vor dem
Gedanken zurückschreckte, unter den Händen empörter Untertanen
enden zu sollen. Nichts war entschuldbarer als solche Furcht.
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298
Abschied und Abreise nach Elba.
alten Garde Abschied. Er dankte ihr für den edlen Eifer,
den sie stets bewiesen. Obgleich ein Teil der Armee ihn ver-
raten und verlassen habe, hätte er mit der übrigen den Krieg
doch noch zwei bis drei Jahre hinter der Loire oder anf seine
Festungen gestützt weiterführen können. Aber der Bürger-
krieg würde den Boden Frankreichs durchwühlt haben, und
seitdem ihm dies klar geworden sei, habe er alle seine persön-
lichen Rechte und Interessen dem Glück und dem Ruhme
des Vaterlandes geopfert. Sie sollten — - ermahnte
er — auf dem Wege der Pflicht und der Ehre fortschreiten
und treu dem Souverän dienen, den sich die Nation erwählt
habe. Er hätte seine Existenz enden können, aber er wolle weiter-
leben, um zu schreiben und der Nachwelt die Großtaten seiner
Krieger zu verkünden.*) Dann küßte er den General Petit,
der die Garden kommandierte, küßte ihre Fahne, rief seinen
„alten Brummbären" noch einen letzten Gruß zu und fuhr
von dannen. „Man hörte nur seufzen in allen Reihen", schreibt
Coignet in sein Heft, „und ich kann sagen, daß auch ich Tränen
vergoß, .als ich meinen teuren Kaiser abreisen sah."
Am 4. Mai 1814 warf der „Undaunted" im Hafen von
Portoferrajo Anker, und der entthronte Imperator stieg ans
Land. Er hatte kaum einer Deputation der Einwohner seines
Miniaturreiches erklärt, daß er ihnen die Fürsorge eines Vaters
widmen wolle, als er auch schon zu Pferde stieg, um die Be-
festigungen der Insel zu besichtigen. Er schien damit nicht
eben unzufrieden, hielt aber doch manche Verbesserung für
notwendig und gab auch in der Tat schon in der nächsten Zeit
Ordre, das Eiland Pianosa im Süden mit zwei Batterien aus-
zurüsten. „Es ist ein Gefängnis, was man mir da zuerkennt",
hatte er im April zu Caulaincourt gesagt, „aber ich habe
*) Der Text der Anrede ist in offizieller Redaktion von Fain,
Manuscrit de 1814, mitgeteilt worden und so in die Correspond ance,
XXVII., 21.561, übergegangen. Die oben zitierten tatsachlich ge-
sprochenen Worte sind von den Kommissaren Koller (Österreich), Trucb-
seß-Waldburg (Preußen), Campbell (England) ihren Berichten beige-
legt und später gedruckt worden. Helfe rt, (Napoleons I. Fahrt von
Fontainebleau nach Elba. S. 67.) S. unten S. 312.
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Auf Elba. 299
*
dessen Schlüssel in Händen. Man soll mich dort nicht kriegen.
Ich kann mich sechs Monate lang verteidigen und schließlich
in die Luft sprengen".*) Er fühlte sich nicht sicher
genug. Seine Fahrt durch den Süden Frankreichs hatte
ihm einen tiefen Eindruck gemacht, der ihn noch lange
nicht zu völliger Ruhe kommen ließ. Das war auch, trotz
der Begleitung der fremdländischen Kommissare, eine Reise
voll Gefahr gewesen, so ingrimmig hatte sich das Volk
der Provence gegen ihn erklärt. Nur daß er seinen Platz
im Wagen tauschte, eine österreichische Uniform anzog
und die weiße Kokarde der Bourbons aufsteckte, vermochte
die Wut seiner bisherigen Untertanen von ihm abzulenken.
Mehr als einmal an diesen Tagen gewahrte seine Umgebung
Tränen des Kleinmuts in seinen Augen und alle Zeichen der
Furcht in seinen Worten und Mienen. Royalistische Agenten
hätten das Volk wider ihn erregt, hatte man ihm gemeldet;
und daß die provisorische Regierung dabei die Hand im Spiele
hatte, ließ er sich nicht nehmen. Erst auf der englischen Kor-
vette, die ihn von Frejus — demselben Frejus, wo er, von Ägyp-
ten kommend, einst gelandet war — an Korsika vorüber nach
Elba trug, hatte er ein Gefühl der Sicherheit, und mit ihm auch
sofort den hohen Ton des Regenten wiedergefunden, der ihm
in diesen angstvollen Tagen abhanden gekommen war. Es war
ihm dann ganz recht, daß der britische Bevollmächtigte
Campbell, mehr Bürge als Wächter, in Portoferrajo blieb, wo
nach drei Wochen auch die 400 Grenadiere der alten Garde
anlangten, die er sich im Vertrage von Fontainebleau ausbe-
dungen hatte. Diese, mit einer Anzahl polnischer Lanzen-
reiter, die sich den Garden angeschlossen, einem Teil der fran-
zösischen Garnison, der in seinen Dienst trat, und der ein-
heimischen Wehrkraft bildeten zusammen immerhin eine
kleine Armee von über tausend Mann, für die der Kaiser —
wir wissen, er hatte diesen Titel zu Recht behalten — nun
mit demselben umsichtigen Eifer sorgte, den er ehedem an
die riesigen Völkerheere seiner Weltkriege gewendet hatte.
Doch absorbierte dies und die Bemühung um seine kleine
*) „Kongreß von Chätillon", 8. 238.
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300 Neue Tätigkeit.
Flotille — er erwarb zu einer ihm zugestandenen Korvette noch
zwei weitere Fahrzeuge — nicht seine ganze Tätigkeit. Der
ruhelose Mann, der jeden Augenblick beschäftigt sein mußte,
vertiefte sich in das kleinste Detail seiner kleinen Regierung.
Er hatte auch hier seinen Staatsrat, in den er neben den Ge-
neralen Drouot und Bertrand ein Dutzend Einwohner berief.
Die Beschlüsse desselben galten zunächst der Erhöhung des Er-
trages der Eisengruben von Bio und der Salinen; beides wurde
erreicht. Dann wurden neue Straßen gebaut, Maulbeerbäume
daran gepflanzt, sanitätspolizeiliche Anordnungen getroffen
u. a. m. Aber auch sein eigenes Haus verwaltete Napoleon bis
ins Einzelne, so daß er z. B. viel besser als sein Hofmarschall
wußte, wie viel Matratzen, Laken, Bettstellen u. dgl. er besaß.
In Geldsachen war er von der peinlichsten Genauigkeit. Nicht
ohne Grund. Die vier Millionen Franken, die er vom Tuilerien-
schatze für sich gerettet, werden nicht lange vorhalten, und
Ludwig XA r III. bezahlte die vertragsmäßig bedungenen zwei
Millionen Rente nicht. Wer will es ihm da verargen, daß er die
Steuern seines Ländchens ohne Nachsicht eintrieb? Mußte er
doch sogar seinen geliebten Grenadieren ihr Stückchen Brot
beschneiden. Das Wort, das er im Jahre 1812 auf der Rück-
fahrt aus Rußland in Warschau zu de Pradt geäußert hatte:
vom Erhabenen zum Lächerlichen sei nur ein Schritt, war
damals nicht zutreffend; jetzt hätte es viel eher gepaßt. Auch
der Souverän von Elba hatte seinen Hof halt mit derselben
Etikette, wie sie in Paris Gesetz gewesen war. Aber welcher
Kontrast! Zwar gab es auch in Portoferrajo, in einem Gebäude
von wenig Ansehnlichkeit, das erst durch Ausbau in Stand
gesetzt wurde, allsonntäglich Empfang und Ccrcle — aber wo
waren die stolzen Namen, die ehedem nach einem Blick aus
den Augen des Mächtigen gegeizt hatten? Er mußte sich mit
den Bürgern der kleinen Stadt und deren Ehehälften begnügen,
unter denen Campbell eine Frau gewahrte, die ihm kurz zuvor
seine Uniform ausgebessert hatte. Zwar gab es auch hier einen
Obersthofmarschall, General Bertrand, der mit Frau und
Kindern mitgegangen war — aber wie klein und kleinlich
umgrenzt war sein Ressort! Von der großen Schar der
Kämmerer von ehemals war kein einziger da; die vier Herren,
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Das Idyll von Marciana.
301
die man jetzt so nannte, waren Einheimische. Ein Arzt außer-
dem, ein Apotheker, Peyrusse als Schatzmeister, zwei Adju-
tanten, von denen der eine die Dienste eines Palastpräfekten,
der andere die eines Stallmeisters versah, und der Sekretär
Ifathery bildeten den ganzen Hofstaat. Auch hier war das
Arbeitskabinett eingerichtet wie in Paris, und Rathery saß
an seinem Schreibtisch, wie dort Meneval und Fain gesessen
hatten; auch hier diktierte Napoleon mit gewohnter Hast
seine Dekrete und Billets in reicher Anzahl — aber wie sehr
war, was sie enthielten, von dem verschieden, was dort die
welthistorische Bedeutung seiner Briefe ausgemacht hatte!
„Schelten Sie den Gärtner dafür aus," beginnt ein langes
Schreiben an Bertrand, „daß er drei Gehilfen aufgenommen
hat für einen Garten so groß wie eine Hand." „Sie verlangen",
heißt es ein andermal, „fünfzehnhundert Franken mehr für
Kleidung der Hofleute; das kann ich Ihnen nicht bewilligen . . .
Nehmen Sie dem Portier die Epauletten, sie stehen ihm nicht
gut." All das hätte er dem Adressaten natürlich sehr leicht
kurzer Hand mündlich mitteilen können; aber das hätte jeder
reiche Eigentümer getan, während er doch Souverän war und
den Apparat des Regierens nicht missen konnte, noch wollte.*)
Als die Sommerhitze den Aufenthalt in Portoferrajo un-
angenehm machte, zog sich Napoleon auf die Höhe von Mar-
ciana zurück, wo er mit seiner Begleitung in Zelten wohnte.
Das war ein herrlicher von alten Kastanienbäumen beschatteter
Punkt, von dem aus der Blick weit über das Meer schweifen
konnte, nach dem korsischen Bastia hinüber und nach dem tos-
kanischen Livorno, ein Lugaus ganz nach seinem Herzen. Hier
empfing er den Besuch der Gräfin Walewska, derselben, die er
im Jahre 1807 in Polen kennen gelernt, mit der er seitdem
intime Beziehungen unterhalten und die er in Fontaincbleau
nach Elba eingeladen hatte. Sie kam mit einem Knaben,
seinem Sohne.**) Das tiefe Geheimnis, mit dem der Besuch
*) Pelissier, Le Registre de l'ile d'Elbe, hat aus einer in Car-
cassonne erhaltenen authentischen Abschrift nach den Kopien Rathe'-
rys an 200 Briefe Napoleons herausgegeben, die zum größten Teile
über derartige untergeordnete Dinge in der hergebrachten Form handeln.
**) Graf Alex. Florian Wnlewski, unter Napoleon HI. Minister
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■M)2
Marie Luise bleibt fern.
umgeben wurde, ließ die öffentliche Meinung in ihr die
Kaiserin vermuten. Diese freilich kam nicht. Ihr Vafer hatte
sie bewogen, nach Österreich zurückzukehren, und sie ließ sichs
gleichmütig gefallen. Im Sommer gebrauchte sie eine Badekur
in Aix in Savoyen, zu der ihr Napoleon selbst geraten hatte,
der sie erst im Herbst, erholt und gekräftigt nach den aus-
gestandenen Mühsalen, wiederzusehen gedachte. Doch auch
dann kam sie nicht, was ihn zu harten Vorwürfen veranlaßte,
die wenig Eindruck machten. Die Politik hinderte den Verkehr
der beiden Gatten, und Marie Luisens Neigung wird, nicht
lange nachher, ganz andere Wege wandeln. Sieben Jahre später,
nach dem Tode Napoleons, schrieb sie einmal an eine Freundin :
sie habe für ihn niemals eine lebhaftere Empfindung gehegt,
doch hatte sie ihm, der ihr stets Aufmerksamkeit erwiesen,
gerne noch manches glückliche Jahr gegönnt, „vorausgesetzt,
daß er recht weit von mir wegblieb"*). Napoleon hat sich auf
Elba zu trösten gesucht, obgleich er oft genug des kleinen
Königs von Rom gedachte und Briefe seiner Gemahlin, wenn
auch vielleicht nur aus politischen Gründen, schmerzlich ver-
mißte. Nach dem kurzen Aufenthalte der Walewska kam
Pauline Borghese, die — man will in ihren eigenen vertrauten
Briefen den Beweis dafür gefunden haben — dem entthronten
Cäsar hier gleichfalls mehr als eine Schwester gewesen sein
soll.**) Von don andern Geschwistern kam niemand. Nur
des AulWn. war am 4. Mai 1810 geboren worden. Er war nicht der
einzige uneheliche Sohn des Kaisers. Von anderen kennen wir nach-
weislich: einen Grafen Leon, geb. 1806, dessen Mutter, Frau Revel,
dem Hofstaate der Prinzessin Karoline zugeteilt war, ferner einen sichern
Devienne, geh. 1802 zu Lyon, endlich den Sohn der Beschließerin auf
St. Helena, die später einen Mr. Gordon heiratete. Gordon-Bonaparte
starb 1886 in San Francisco als Uhrmacher. (Siehe hierüber die Zeit-
schrift „Iis Curieux" Nr. 8 von 1884 und Nr. 40 von 1887.)
*) „Correspondance de M. Louise", p. 226.
**) Siehe den Pelletschen Aufsatz in der „Revolution francaise"
von 1904 an der Hand Beugnotseher Papiere, und oben Bd. II, S. 5.
die Note. Man entschließt sich schwer, so krassen Dingen rückhaltlosen
Glauben entgegen zu bringen. Ein geheimer Agent der Bourbons meldet
übrigens im Januar 1815, daß eine schöne Griechin, Madame Thöologo,
deren Mann einen Posten als Dolmetsch erhalteu hatte, die intime
Neigung Napoleon« genoß. (Firm in-Didot, Royaute" ou Empire, p. 197.^
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Napoleon und die Italiener. 303
Mutter Lätitia wollte nicht fernbleiben und übersiedelte
nach Elba.
Nicht daß der Kaiser ohne alle Verbindung mit seinen
Verwandten gewesen wäre. Wenigstens wollte die Geheim-
polizei von Livorno, besonders der französische Konsul Ma-
riotti daselbst und dessen Agenten auf der Insel, von einem
sehr regen Verkehr, namentlich mit Murat, erfahren haben,
der unsicher, ob die verbündeten Mächte Europas ihm auch
den Preis seines Abfalls von Napoleon, seine Herrschaft über
Neapel, nicht streitig machen würden, aufs neue zu dem
Schwager in heimliche Beziehung trat. Was unter ihnen ver-
handelt wurde, wenn überhaupt verhandelt wurde, läßt sich
im Einzelnen um so schwerer feststellen, als die Mitteilungen
wohl nur durch vertraute Boten mündlich besorgt worden sein
dürften. War es die Absicht, einen Plan zur Insurgierung
Italiens, wie er Napoleon im Juni 1814 von einer Anzahl Ver-
schwörer zugeschickt wurde, zu unterstützen? Oder war es die
anilere, in Frankreich wieder emporzukommen? Allzu offen
dürfte sich Napoleon dem abtrünnigen Murat nicht gegeben
haben, für den übrigens, außerhalb Neapels, die Stimmung
in Italien keineswegs sehr günstig war. Dagegen empfing der
Kaiser im Herbste viele Italicner in Portoferrajo, die ihm aus
ihrem Mißvergnügen mit der wiedergekehrten österreichischen
Herrschaft und aus den Hoffnungen, die sie auf ihn setzten,
kein Hehl machten. Immer möglich, daß er sich ihnen nicht
ganz versagte. Sollte etwa die Erinnerung an seine Erlebnisse
in der Provence seine Rechnung auf einen neuen Umschwung
in Frankreich etwas beirrt und seine Blicke nach anderer
Dichtung gewendet haben?*) Aber gewiß trat dieses Moment,
*) Dies« Ansicht vertritt Li vi in Beinern „Napuleonc all' isola
d'Elba". Oh er freilich gut tut, eine von dem anonymen Verfasser der
Broschüre „La verite sur les Cent-Jours u S. 218 mitgeteilte Rede Na-
poleons für völlig authentisch zu halten, ist zu bezweifeln. Denn wonn
darin der Kaiser von einem einigen italienischen Nationalreich mit Horn
als Hauptstadt spricht, so mußte er völlig vergessen haben, was er im
Dezember des Vorjahres zu La Besnardiere über Murat gesagt hatte, der
denselben Plan verfolgte: „Sieht denn dieser Unsinnige nicht ein, daß
nur meine außerordentliche Ubermacht in Europa die Anwesenheit des
Papstes in Rom verhindern konnte? E« ist das Interesse und der "NVunseh
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304 Mißstimmung in Frankreich.
wenn es je mehr ab ein flüchtiger Gedanke war, sogleich wieder
völlig in den Hintergrund, als ihm geheime Nachrichten und
die Blätter keinen Zweifel mehr ließen, daß sich im fran-
zösischen Volk ein Wechsel der Gesinnung vollzog, der ihm nur
förderlich sein konnte.
In der Tat, das Regiment Ludwigs XVIII. erfreute sich
bald einer immer mehr zunehmenden Abneigung. Am 30. Mai
hatte der König seinen Frieden mit den Mächten — darunter
mit England, welches die meisten der eroberten Kolonien her-
ausgab — gemacht, und wenig Tage später auch mit der Re-
volution eine Art Vergleich geschlossen, indem er Frankreich
eine Verfassung, die Charte, verlieh. Diese Konstitution war,
trotz unterschiedlichen Fehlern und Mängeln, immerhin ein
wertvolles Zugeständnis und ließ der Teilnahme des Volkes an
der Gesetzgebung jedenfalls mehr Raum, als Xapolcon ihr je ge-
stattet hatte. Auch war der König ein besonnener Mann, der
den neuen Verhältnissen viel guten Willen entgegenbrachte,
nur alt, sehr schwerfällig und kränklich und nicht imstande,
all die reaktionären Elemente im Zaume zu halten, die seinen
Pakt mit demAufruhr höchlich mißbilligten. Das war vor allem
sein eigener Bruder, der Graf von Artois, jetzt das Haupt einer
ultraroyalistischen Partei von Emigranten, die nach den alten
Zuständen zurückstrebte, die Regierung kompromittierte und
ihr die Masse der Bevölkerung völlig abgeneigt machte. Denn
von großen Sympathien für die Bourbons, von denen Wel-
lington richtig sagte, sie seien dem Lande so fremd geworden,
als ob sie es nie regiert hätten, kann man überhaupt nicht
sprechen. Schon daß sie unter dem Schutze der Fremden den
Thron bestiegen, diskreditierte sie. Eine Karrikatur hatte Lud-
wig XVIII. gezeigt, wie er hinter einem Kosaken zu Pferde
sitzend über die Leichen französischer Krieger hinweggalop-
piert. Es war unklug von dem Monarchen, seinem Freunde,
dem Prinzregenten Georg von England, immer und immer
Europas, daß er dahin zurückkehre." 1 iPallain-Bailleu. Talleyrands
Briefwechsel mit König Ludwig XVII T. S. 163.) Überdies zerstörte
?in Plan auf ganz Italien für immer jede halbwegs mögliche Bezie-
hung zu Österreich, welche Beziehung doch bei einer Wiederkehr nach
Frankreich geltend gemacht werden sollte. S. oben S. 293.
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Ihre Ursachen.
305
wieder seine Dankbarkeit für die bewiesene Protektion zu be-
zeigen, sowie es anderseits nicht klug war, sich durch ein ver-
altetes Zeremoniell von den eigenen Untertanen völlig abzu-
schließen. Und dazu kam vieles andere. Schon daß die neue
Verfassung sich als ein königliches Geschenk darstellte, ver-
letzte den Grundsatz der Volkssouveränität, der bei der eitlen
Nation tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Nun war darin ver-
bürgt, daß den neuen Besitzern von Nationalgütern ihr Eigen
unangetastet bleiben solle, und dennoch sprach einer der
Minister in der zweiten Kammer die Hoffnung auf Rückerstat-
tung an die „rechtmäßigen 4 *' Eigentümer, d. i. an die heimge-
kehrten Emigranten aus. Diese machten jetzt die Opfer ihrer
Treue geltend und ließen sich — da sie zur Beamtentätigkeit
meist nicht zu brauchen waren — durch Pairssitze, Sinecuren
und Pensionen belohnen, genug, um die gesamte arbeitende
Staatsdienerschaft das frühere Regime zurückwünschen zu
lassen. Das Geld zu diesen reichen Dotationen verschaffte sich
der Hof, indem er die „außerordentliche Domäne" Napoleons
willkürlich zur Zivilliste schlug und das feierliche Versprechen,
die indirekten Steuern abzuschaffen, widerrief, was selbst in
der Vendee und der Provence zu Aufläufen Anlaß gab. Und
trotz solchen Benefizien blieb das Streben der Heimgekehrten
doch immer auf die Wiedererlangung ihrer alten Güter ge-
richtet, worin sie von dem sinnesverwandten Klerus wesentlich
unterstützt wurden. Dieser mißbrauchte sogar nicht selten die
Beichte, um Sterbende durch Skrupel an der Rechtmäßigkeit
ihres Besitzes zur Restitution zu bewegen. Begünstigt durch
eine frömmelnde Hofpartei brachte er es außerdem noch zu
ganz anderen Erfolgen. Das unter Napoleon schließlich ein-
gegangene Amt eines Großalmoseniers wurde mit seinem ehe-
maligen Wirkungskreis wieder hergestellt und beirrte den des
Kultusministers; eine polizeiliche Verordnung gebot Sonn-
und Feieriagsheiligung bei Strafe, trotz der in der Charte ver-
bürgten Kultusfreiheit und trotzdem daß das französische Volk
längst nur noch die durch das Konkordat von 1801 angeord-
neten Festtage einhielt; die Straßenprozessionen wurden wieder
eingeführt; ja, es ereignete sich, daß einer beliebten Schau-
spielerin des Pariser Theätre frangais das kirchliche Begräbnis
l'ournier, Napoleon I. 20
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306 Di.,- Armee bleibt bonapartie tisch.
verweigert wurde, was dann freilich einen öffentlichen Tumult
hervorrief.
Machte man schon mit solchen Übergriffen die bürgerliche
Bevölkerung unzufrieden; so verschärfte es diese Stimmung
noch, als die Regierung — aus Dankbarkeit — freie Getreide-
ausfuhr nach England dekretierte, was in den Städten die
Lebensmittelpreise hob und überdies die arme Küstenbevölke-
rung, die ihren Verdienst am Schmuggel schwinden sah, in
Verzweiflung brachte. Daneben beging man der Armee gegen-
über Akte einer geradezu beispiellosen Unvernunft. Nicht nur
daß der alte Adel, die Prinzen obenan, über die neue Nobilität
der Marschälle und Generale spöttelte, man verfeindete sich das
ganze Heer. Dieses war nach der Heimkehr der kriegsgefan-
genen Besatzungen aus dem Osten und der spanischen und
italienischen Armee nicht unbeträchtlich an Zahl und zu groß
für friedliehe Zeiten. Man ließ starke Reduktionen eintreten,
verkürzte die Löhnung der alten Garde und setzte Tausende
von Offizieren auf Halbsold. Dagegen wäre nun nicht allzuviel
einzuwenden gewesen, wenn nicht dafür ebensoviele Royalisten
zu Offizieren ernannt, aus Emigranten und Adeligen eine neue
königliche Garde — 6000 Mann mit Offiziersrang — errichtet
und reich dotiert und eine adelige Militärschule gegründet
worden wären, was nicht nur große Kosten verursachte, son-
dern auch die Wiederkehr der alten Ungleichheit in der
Offizierskarriere befürchten ließ. Als man vollends die Er-
ziehungshäuscr für die Waisen der Ehrenlegionäre aufhob,
erzeugte dies eine ungeheure Entrüstung, selbst in unbe-
teiligten Kreisen. Was Wunder, daß unter solchen Um-
ständen das Heer völlig bonapartistisch gesinnt war und
daß sich, namentlich unter einigen jüngeren Generalen
eine A r erschwörung bildete, die, wenn sie gleich ohne Folgen
blieb, doch bekannt genug wurde, um den Verbannten
von Elba über die Stimmung im Lande zu orientieren? Was
Wunder auch, daß dessen Kredit von Tag zu Tag aufnahm?
„Die Franzosen," sagt ein Zeitgenosse, Fleury de Chaboulon,
„von Natur geneigt, Meinung und Empfindungen zu wechseln,
gingen von ihrer früheren Voreingenommenheit gegen Napo-
leon zu Ausbrüchen der Begeisterung über: sie vorglichen den
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Talleyraud und Mariotü. 307
Zustand der Unordnung und Erniedrigung, in den Frankreich
unter dem Könige verfallen war, mit dem Aufschwung, der
Kraft, der Verwaltungseinheit unter Napoleon, und Napoleon,
den sie vorher als den Urheber aller Übel angeklagt hatten,
erschien ihnen nur noch als großer Mann, als Held im Un-
glück." Gewiß, niemand hatte Lust, ihn herbeizurufen; aber
man begann ihn zu entschuldigen und haßte seine Nachfolger.
Es fehlte nicht an Einsichtigen, welche die Gefahr erkann-
ten, die dieser Umschwung der Gesinnung in sich barg. Einer
der klügsten, Tallevrand, war jenerzeit nicht in Paris, sondern
weilte als Bevollmächtigter Ludwigs XV III. beim großen Kon-
greß in Wien, wo entschieden werden sollte, was an politischen
Fragen der Völkerkrieg noch ungelöst gelassen hatte. Sein
scharfes Auge sah auf Elba den Funken glimmen, der den in
Frankreich sich aufhäufenden Zündstoff zu neuem völkerver-
heerenden Brande entflammen konnte, und er gedachte, ihn
auszutreten. Sein nächster Gedanke war, Napoleon heimlich
entführen zu lassen. Mariotti, sein Vertrauter in Livorno, er-
klärte dies für sehr schwierig und nur, wenn man einen der
Kapitäne von des Kaisers Schiffen gewänne, für möglich.
Man soll dies versucht, aber Napoleons Wachsamkeit die Ab-
sicht getäuscht haben.*) Auch der Chouan Bruslart, der ein-
mal in früheren Jahren dem Kaiser den Tod geschworen hatte,
war offenbar nur in der Absicht zum Präfekten von Korsika
ernannt worden, um von dort aus eine Entführung, wenn nicht
noch mehr, zu unternehmen, was gleichfalls mißglückte.**)
Talleyrand wandte sich in der Sache an die Kongreßmächte
und schlug ihnen — im Oktober 1814 — vor, den Verbannten
nach den Azoren, „fünfhundert Lieues vom Festlande", zu ver-
setzen, eine Idee, die Ludwig XVIII. „exzellent" fand.***) Aber
*) Siehe Jung, Memoire» do Luden Bonaparte, ITL, 222 und
Pellet, Napoleon ä l'ile d'Elbe, S. 62. Wenn aber Jung von Entlas-
sung des Kapitäns Taillade spricht, so steht dem die mehrfach ver-
bürgte Meldung entgegen, wonach Taillade im Dienste blieb und später
auf der Fahrt nach Frankreich die Brigg des Kaisers führte.
**) Siehe die Belege bei Houssaye „1815", I., 172.
***) Noch am 4. Dezember schreibt der Minister an den König,
man müsse eilen, sich des Mannes von Elba und Murats zu entledigen
es sei auch schon Castlereagh dafür gewonnen, nur Metternich noch
308 Zwiespalt der Mächte auf dem Wiener Kongreß.
die Mächte haben vorläufig wichtigeres zu tun: Rußland sorgt
sich nur darum, wie es seine polnische Beute ungeteilt in
Sicherheit bringen könne, Preußen will Sachsen ebenso voll-
ständig für sich gewinnen, und mit solcher Bestimmtheit ver-
fechten beide ihre Absichten, daß darüber ein allgemeiner
Konflikt droht. Frankreich, das die europäische Koalition
. sprengen, sein Ansehen wiedergewinnen und zugleich das ver-
wandte Sachsen — Ludwigs XVIII. Mutter war eine sächsische
Prinzessin gewesen — vor Schaden bewahren will, England, das
einem Übergewicht Rußlands entgegenarbeitet, und Österreich,
dem die Machtvergrößerung seiner beiden Nachbarn ein Dorn
im Auge ist, verbünden sich am 3. Januar 1815 für alle Fälle.
Ist dieses Abkommen auch zunächst geheim geblieben, so war
die Spannung der Mächte doch zu offenkundig, als daß Na-
poleon auf Elba von ihr nicht ebenso unterrichtet worden wäre
wie von der heimlichen Absicht, ihn aus Europa zu entfernen.
Diese war ihm schon Anfang Dezember bekannt geworden, und
er hatte sich bereits auf eine Belagerung eingerichtet, die
Schutzwerke ausbessern und seine Kanoniere übungsweise Bom-
ben werfen lassen. Am liebsten hätte er wohl sogleich Elba ver-
lassen. Aber damals wäre das eine grundlose Vermessenheit
gewesen. Später lieferte, neben den Verwicklungen auf dem
Kongreß, die Wandlung in Frankreich dem Gedanken eine
Basis. Nur die passende Gelegenheit mußte sich noch finden.
In der Unterredung mit Fleury de Chaboulon, der als geheimer
Bote Marets in der zweiten Februarwoche nach Portoferrajo
kam, bezeichnete er den 1. April als wahrscheinlichen Termin
für seine Abreise nach dem Fcstlande. Bis dahin, meinte er,
würden die Fürsten den Kongreß, wahrscheinlich im Unmut,
vorlassen haben und, einmal daheim angelangt, keine Lust
dagegen. (Pall ain-Bai Heu, 8. 151.) Dieser Eifer Talleyrands kühlte
sich aber zuweilen merklieh ab, wenn Murata Chancen auf dem Kon-
greß stiegen, denn dieser hatte dem geldgierigen Diplomaten Aussicht
auf den günstigen Verkauf seines Fürstentums Benevent eröffnet. In
solchen Momenten konnte er sogar, wenn z. B. Pozzo di Borgo ihn auf-
forderte, dem Kongreß die Verhaftung Napoleons nahezulegen, ant-
worten: „Sprechen Sie doch davon nicht, das ist ein toter Mann." (M.
Lehmann, Tagebuch des Freiherrn vom Stein, Histor. Zeitschrift,
N. F.. XXIV.. 446.)
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Napoleons Kalkül. 309
mehr verspüren, sich aufs neue in den Krieg zu stürzen. Nur
solange sie noch beisammen seien, wäre zu besorgen, diiß sie
aus dem Widerstande gegen ihn eine Art Ehrensache machten.
Soviel empfand er doch, daß man, was er nun vorhatte:
Friedensbruch, Treubruch und Verleitung zu diesem, nicht
mit Gewissensruhe mitansehen werde.
Und doch hat er sich schon kurz darauf, noch im Februar,
entschlossen, seinen Plan ins Werk zu richten. Was ihn so bald
dazu vermochte, ist nicht aufgeklärt. Hatte er von dem vor-
läufigen Vergleich der Mächte in der sächsischen und polnischen
Frage am 8. Februar gehört, von der Abreise Castlereaghs
und von den Zurüstungen der Souveräne, den Kongreß zu ver-
lassen, und hielt er nun den richtigen Zeitpunkt für ge-
kommen? Oder hatte er von dem Ausgleich keine Kenntnis
und wünschte die herrschende Uneinigkeit noch rasch für sich
zu benützen? Oder brachten ihn die Schilderungen Fleurys
von dem hohen Grade der allgemeinen Unzufriedenheit in
Frankreich auf den Gedanken, der bourbonischen Regierung
keine Zeit zu beruhigenden Maßregeln zu lassen? Machte es
ihn unruhig, daß immer mehr von seinen alten Grenadieren,
der wenig befriedigenden Existenz auf der Insel überdrüssig,
um ihren Abschied baten? War der erste April im Gespräch mit
Fleury, den er nicht nach Frankreich zurückkehren ließ,
sondern nach Neapel schickte, nur in der Absicht als Termin
bezeichnet, um auch diesem Sendboten seinen Entschluß nicht
zu verraten und das Geheimnis zu wahren? In Paris hat er
später erklärt: „Ich wählte den Augenblick, wo der Kongreß
beendet sein durfte und die Nächte noch lang genug waren, um
meine Flucht zu verbergen."*) Mag sein. Jedenfalls wissen wir,
daß er seine alten Krieger wiederholt mit den Worten zu be-
schwichtigen trachtete: „Ein wenig Geduld, meine Freunde, wir
werden zusammen fortgehen", daß er schon am 16. Februar
Drouot beauftragte, die Schiffe für den 25. in Stand zu setzen,
bis er am 24. — der britische Bevollmächtigte, Campbell, der
England zugleich auch am toskanischen Hofe vertrat, hatte
sich eben nach dem Festlande begeben — seinen Truppen
*) Thiers, XIX. 199. Einen andern Beweggrund S. u. S. 321.
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310 Abfahrt von Portoferrajo.
Befehl erteilte, sich zur Abfahrt bereit zu machen, indes
er die Insel mit der Küstensperre belegte, so daß keine Nach-
richt hinausdringen konnte.*) Auf Elba freilich blieb diese
Absicht nicht verborgen. Am 24. abend3 noch empfing
er Deputationen der Behörden, die ihm ihr Bedauern über
sein Scheiden ausdrückten. Am 26., einem Sonntage,
schütten sich 1100 Mann mit einigen Kanonen auf sieben
Fahrzeugen ein, und bei eingetretener Dunkelheit ging Napo-
leon selbst auf dem „Inconstant" an Bord, nachdem er von
Mutter und Schwester Abschied genommen hatte. Beide hatten
sein Vorhaben gebilligt, einzelne seiner Höflinge, wie Bertrand,
es mit Enthusiasmus begrüßt, desgleichen die Truppen; nur
der ehrliche Drouot machte aus seinen Bedenken kein Hehl.
Aber wer hätte den tollkühnen Spieler, der jetzt, gedrängt
und gelockt, seinen letzten verzweifelten Wurf wagte, zurück-
zuhalten vermocht?
Auf der Fahrt begegnete man einem französischen Kreu-
zer, der nach Livorno steuerte, um sich dort dem Konsul
Mariotti zur Verfügung zu stellen. Seine Bestimmung war,
Elba im Auge zu behalten. Er kam zu spät. Wenn hinterher
Mariotti diese Säumnis beklagte und meinte, er würde mit dem
Schiffe Napoleons Entweichen gehindert haben, so ist dies
doch eine arge Übertreibung. Viel richtiger antwortete Castle-
reagh im britischen Parlament auf den Vorwurf, er habe den
Kaiser entwischen lassen, indem er daran erinnerte, daß Dieser
sich nicht als Gefangener auf Elba befand und daß jeder
Zwang den mit ihm geschlossenen Vertrag verletzt hätte —
abgesehen davon, daß eine Überwachung gar nicht tunlich
gewesen wäre, da die ganze englische Marine nicht hinreichen
würde, das Entkommen eines Menschen von der Insel unmög-
lich zu machen.**)
*) Firmin-Didot, p. 261. Vgl. auch Houssayc, „1815-, L, 177.
**) Hansard, Parliamentary debatea, XXX., 426. Po 11 et, Na-
poleon ä l'ile d'Elbe, S. 84, scheint von dem geheimen Einverständnis
Campbclls, ja Englands, völlig überzeugt zu sein, und das war ja auch
damals eine vielverbreitete Meinung. Einige Tage vor der Abfahrt Napoleons
hatte der geheime Agent Mariottis an Dieson berichtet: „Die von
den Engländern begünstigte Abreise Seiner Majestät wird nächstens
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Landung bei Cannes. 311
Am 1. März warf die Flotille im Golf von Jouan zwischen
Cannes und Antibes Anker, und General Cambronne schiffte
die Garden aus. Bald stand Napoleon wieder auf französischem
Boden. Noch an Bord hatte er sich über die Expedition zu
seiner Umgebung geäußert: er rechne auf die Überraschung
der Bevölkerung, auf die öffentliche Meinung, den Widerwillen
gegen die Alliierten, die Liebe seiner Soldaten, kurz auf alle
napoleonischen Elemente Frankreichs — vor allem aber auf
die Verblüffung, welche eine so große Neuheit (une grande
nouveaute) hervorbringen müsse, und auf die Ratlosigkeit der
Geister unter dem Eindruck einer so unerwarteten und ver-
wegenen Tat. Aber er mußte doch auch noch mit Anderem
rechnen. Er weiß, daß nicht überall in Frankreich die öffentliche
Meinung sich von der neuen Regierung abgekehrt hat und daß,
wenn er sich z. B. jetzt von Cannes auf der großen Straße
fortbewegte, die über Abc und Avignon nach Norden führt,
sein waghalsiges Unternehmen an dem überlegenen Wider-
stände der unerschütterlich royalistischen Bevölkerung der
Provence scheitern würde. Er wird deshalb die Mühsal nicht
scheuen dürfen, die einen Marsch über die noch verschneiten
Pfade der Seealpen begleitet, die Kanonen, die er mitgeführt,
zurücklassen müssen und über Grasse und Sisteron das üau-
phine zu erreichen streben, wo das Landvolk, den Priestern
und Emigranten durchaus abgeneigt, seinen größtenteils aus
Nationalgütern erstandenen Grundbesitz ungestört zu behalten
wünscht. Und in der Tat erwies sich die Einwohnerschaft der
stattfinden. u Aber wer möchte; daraufhin die Richtigkeit der Meldung
annehmen? Man vergleicho damit, was Napoleon zu dem Sendling
Maret-8 sagte: „Sie werden doch nicht glauben, daß die Polizei alles
weiß? Die Polizei erfindet viel mehr als sie entdeckt. Die meinige war
gewiß ebensoviel wert wie die dieser Leute, und doch wußte sie gar
oft nur, was sie nach ein oder zwei Wochen durch Zufall, Unklugheit
oder Verrat erfuhr." Tatsache ist, daß er sein Unternehmen als von
Großbritannien begünstigt hinstellte, so wie er sich auf gute Bezie-
hungen zu Österreich berief — beides in der Absicht, irre zu führen.
Für die wirkliche Haltung Englands bleibt die intime Beziehung des
Hofes zu Ludwig XVIII. und die Politik Oastlereaghs maßgebend, die
in dem Bourbon die sicherste Garantie dafür erblickte, daß die gegen-
überliegenden Niederlande, die der Kongreß durch Belgien vergrößert
hatte, nicht wieder in Frankreichs Hände fielen.
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312 Das Zusammentreffen bei Laffray.
Bergtäler auf dem Wege nach Gap und darüber hinaus durch-
aus freundlich und unterstützte die abgehetzten Soldaten nach
Möglichkeit. Aber die Hauptfrage für Napoleon war doch die,
ob die Truppen, die man auf dem Wege antreffen wird, zu ihm
übergehen, wie er hoffte, oder ihrem Fahneneide, den sie
Ludwig XVIII. geleistet, treu bleiben werden, wozu er selbst
sie bei seinem Scheiden im vorigen Jahre ermahnt hatte.*)
Wenn das letztere geschah, war er verloren.
Von Sisteron weg marschierte man in drei Abteilungen :
ein kleiner Vortrab von hundert Mann unter Cambronne
voraus, dann das Gros unter dem Kaiser und der Nachtrab
mit der Kasse. Bei La Mure traf man auf die Quartiermacher
eines entgegenkommenden Bataillons, das sich schwierig
zeigte, und Cambronne blieb stehen, um Napoleons Befehle
abzuwarten. Dieser entschloß sich, selbst an die Truppe heran-
zutreten, die bei Laffray in guter Position stand. Er ließ das
Bataillon durch Parlamentäre von seiner Anwesenheit unter-
richten und ging ihm dann an der Spitze seiner Avantgarde
entgegen. Der kritische Augenblick war gekommen, da die
Offiziere bereit schienen, ihrer Pflicht mehr Gehör zu geben
als ihren Sympathien. Die Entscheidung fiel, indem die Trup-
pen den Befehl, auf die Ankömmlinge zu feuern, nicht be-
folgten. Und als nun Napoleon auf Pistolenschußweite an sie
heranschritt, seinen grauen Überrock lüftete und, seine Brust
darbietend, hinüberrief: „Wer von Euch wird auf seinen
Kaiser schießen wollen?" da nahmen die Soldaten ihre Mützen
ab, steckten sie auf ihre Bajonette, hielten die Gewehre hoch
und riefen „Vive l'Empereur!" Dann mischten sie sich unter
das Gefolge von Elba und marschierten begeistert hinter dem
verehrten Manne drein. Die Offiziere mußten dem revolutio-
nären Zug ihrer Truppen folgen, und sie taten es gerne.
In Grenoble, der Hauptstadt des DauphinS, die eine starke
Garnison beherbergte, hat unterdes Napoleon auf heimlichen
Wegen ein Manifest an die französische Armee verbreiten
*) Siehe oben S. 298. Der Satz lautete: „Dienet treu dem Sou-
verän, den die Nation erwählt hat." Die später redigierte offizielle
Fassung seiner Ansprache im Schloßhofe zu Fontainebleau änderte dies
in: „Fahret fort Frankreich zu dienen."
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Die Armee erklärt sich für Napoleon. 313
lassen, das er noch auf Elba kurz vor der Abfahrt verfaßt
hatte. „Soldaten, wir sind nicht besiegt worden", begann es.
„Zwei Männer aus unseren Reihen (Marmont und Augereau)
haben unsere Lorbeeren, ihr Vaterland, ihren Fürsten, ihren
Wohltäter verraten. Und nun sollten jene, die wir fünfund-
zwanzig Jahre hindurch Europa durchreisen sahen, um uns
Feinde zn erregen, die ihr Leben damit hingebracht haben, in
fremden Armeen gegen uns zu fechten und unser schönes
Frankreich zu verwünschen, nun sollten sie beanspruchen
dürfen, den Befehl zu führen und unsere Adler anzuketten,
deren Blicke sie nie ertragen konnten? . . . Euer Rang, Euer
Besitz, Euer Ruhm, Besitz, Rang und Ruhm Eurer Kinder haben
keine ärgeren Feinde als diese Fürsten, welche die Fremden uns
aufgenötigt. . . . Ihre Ehrenzeichen, ihre Belohnungen, ihre
Gunst gehören nur denjenigen, die ihnen gegen das Vaterland
und gegen uns gedient haben. Soldaten! kommt und reihet
Euch unter die Fahnen Eures Führers. Sein Dasein besteht
ja nur in dem Euren, seine Rechte sind nur die des Volkes
und die Eurigen, sein Interesse, seine Ehre, sein Ruhm sind
Euer Interesse, Eure Ehre, Euer Ruhm. Kommt! Dann wird
der Sieg im Sturmschritt einherziehen und der Adler mit den
nationalen Farben von Kirchturm zu Kirchturm fliegen bis
hin zu Notre-Dame."*) Dies und noch manches mehr sagte er
den Soldaten Frankreichs, und sie lauschten mit Begeisterung.
Das war dieselbe Sprache, die ihnen so oft für ihre Siege ge-
dankt und neuen Triumph verheißen hatte, die Sprache
des Mannes, der seine Krieger voll zu schätzen wußte, und
wenn auch nur als ein Werkzeug seiner Größe, so doch zu
schätzen wußte, während der Schützling des Engländers sie
bloß als eine Last ansah, und nicht einmal ansah. Und die
Garnison von Grenoble, das Regiment des Obersten Labedoyere
voran, ging über, wie das Bataillon bei Laffray. Die eisen-
harten Männer erlagen der Verführung dieses Einen, wie die
Kinder von Hameln der Pfeife des Rattenfängers. Er war
seines ganzen Erfolges nunmehr sicher. Daß seine Marschälle,
die Macdonald. Oudinot und andere, die ihre Karriere hinter
*> Corresp. XX VITT., 21.682.
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314 Napoleon in Urenoblc.
sich und ihre lang und tapfer erkämpfte Ruhe lieb hatten,
nicht zu ihm übertraten, war ihm begreiflich. Andere aber,
wie Masscna in Marseille uni Ney, der sich sogar vermessen
hatte, den Ankömmling gefesselt vor den König zu bringen,
wurden angesichts der allgemeinen Stimmung unter den Trup-
pen wieder kaiserlich.
So ward das Heer sein. Vollends nachdem er ihm ver-
sichert hatte, daß er gewiß keinen Krieg machen werde. Denn
Krieg wollte die Armee nicht mehr. „Wir müssen vergessen,
daß wir die Herren der Völker gewesen sind", hatte er ihr
in jenem Aufruf gesagt. Und dasselbe, nur noch viel eindring-
licher, erklärte er jetzt auch bei jeder Gelegenheit den Bürgern
der Städte, die — namentlich die Besitzenden — trotz mancher
Sympathie für ihn und aller Abneigung gegen den Hochmut
der Aristokraten, bei seinem Erscheinen doch mit Grund den
Frieden gefährdet sahen. „Die Franzosen", hatte ihm Labe-
doyere mit der größten Offenheit erklärt, „werden alles für
Ew. Majestät tun, aber Ew. Majestät müssen auch für sie alles
tun: kein Ehrgeiz mehr, kein Despotismus, wir wollen frei
und glücklich sein. Darum muß man auch, Sire, das System
der Eroberung und der Gewalt abschwören, das Frankreich
und Ihnen zum Unglück gereichte." Napoleon hatte es sich
gesagt sein lassen. Als er kurz darauf die Vertreter der Be-
hörden 0 renobles empfing, scheute er sich nicht, ihnen zu ge-
stehen: „Ja, ich habe den Krieg zu sehr geliebt; ich werde
fortan meine Nachbarn in Ruhe lassen; wir müssen vergessen,
daß wir die Herren der Welt waren." Er habe die zehn
Monate seines Exils benützt, die Vergangenheit zu über-
denken; die Kränkungen, die er erfahren, hätten ihn, weit ent-
fernt, ihn zu verbittern, nur belehrt; er sehe, was Frankreich
nottue : Friede und Freiheit sei die gebieterische For-
derung der Zeit, er werde sie fortan zur Richtschnur seines
Benehmens machen. Wohl habe er die Größe geliebt und zu
sehr der hinreißenden Gewalt der Eroberung nachgegeben,
nur sei er dabei nicht der einzige Schuldige gewesen, denn
die Mächte Europas mit ihrer Unterwürfigkeit, die Behörden
mit ihrer Eilfertigkeit, ihm Blut und Geld der Franzosen
darzubieten, das Land selbst mit seinem Beifall hätten zu
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In Lyon. Die Bekenntnisse des Eroberers. 315
dein Kriegseifer, der ein allgemeiner war, beigetragen.
Darum sei die Versuchung, Frankreich zur Herrin der
Nationen zu machen, entschuldbar gewesen; man dürfe sie
sich vergeben, aber nicht wieder darauf zurückkommen.*) Und
ähnlich lauteten seine Ansprachen in Lyon, wo er am 10. März
mit T000 Mann eintraf, vom Jubel des Volkes empfangen. Ihm
gelte es jetzt, versicherte er, die Interessen und Grundsätze
der Revolution vor den Emigranten zu schützen, Frankreich
seinen Ruhin zurückzugeben, ohne es deshalb dem Kriege zu
überliefern, den er zu vermeiden hoffe, denn er nehme die mit
den europäischen Mächten vereinbarten Verträge an und werde
in Frieden mit ihnen leben, es wäre denn, daß sie sich in die
französischen Dinge mischten. War ihm eine ausgedehnte
Macht damals nötig, als er weitreichende Eroberungspläne
hegte, so reiche jetzt eine weise begrenzte Gewalt hin, um einen
friedlichen und glücklichen Staat zu regieren. ' Man müsse
sich begnügen, die angesehenste Nation zu sein, ohne den An-
spruch, die anderen zu beherrschen. Nicht was er in früheren
Jahren so oft zur Rechtfertigung seiner aggressiven Politik
vorgebracht hatte: daß er immer wieder nur durch die übrigen
Mächte aus seiner friedlichen Haltung zu Kampf und Erobe-
rung gedrängt worden sei, machte er jetzt geltend. Das hätte
ihm in Frankreich niemand mehr geglaubt. Er mußte seinen
kriegerischen Hang nach Ruhm und Größe eingestehen, wenn
er Eindruck machen wollte. Es klang wie eine Beichte des
großen Eroberers.
In Lyon war er schon wieder ganz Monareh.**) Er loste die
Kammern auf und berief eine aus den früheren Wahlkollegien
zu entsendende Reichsversammlung nach Paris, der er den
karolingischen Namen „Maifeld'*' gab, um die Verfassung zu
ändern und zu bessern und an der Krönung der Kaiserin und
seines Sohnes teilzunehmen. Damit sollte angedeutet sein,
daß seinem Unternehmen zum mindesten von Österreich keine
Gefahr drohe, ja, daß vielmehr ein Einvernehmen zu hoffen sei
*) Fleury de Chsiboulon, Memoire* de 1815, I. 17 l J ff.; Thiers,
XTX. 91f.; Berriat-S. Prix, Napoleon ä Grenoble, im Anhang.
**) „Von Cannes bis Grenoble war ich ein Abenteurer; in dieser
Stadt wurde ich wieder ein Souverän." Gourgaud, Journal ineait, I. 378.
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816 Ludwig XVIII. flieht aus Pari*.
— eine grobe Täuschung, wie er selbst später einigen Ver-
trauten gegenüber eingestand. Ein anderes Dekret wies alle
erst 1814 zurückgekehrten Emigranten aus und konfiszierte
ihre Güter. Außerdem hob Napoleon den alten Adel auf,
ächtete Talleyrand, Marmont, Augereau, den Herzog von Dal-
berg u. A. als Verräter Frankreichs an die Fremden, entsetzte
alle durch Ludwig XVIII. zu Offizieren ernannten Aristokraten
ihrer Posten und löste die Königsgarde, das sogenannte „mili-
tärische Haus" des Königs, auf.
An dem bedrohten Hofe zu Paris war man anfänglich
geneigt, das Unternehmen des „Mannes von Elba" als einen
dreisten Putsch anzusehen, der notwendig scheitern müsse;
man war der sicheren Meinung, er wolle sich über das Gebirge
einen Weg nach Italien suchen, um dort das Volk aufzurufen,
und verbreitete noch lange falsche Nachrichten im „Moniteur"
über seinen' bevorstehenden Untergang, als Jener schon über
das Herz des Heeres gesiegt hatte. In den Kammern fand der
König zwar die Unterstützung der Liberalen, der Frondeurs
von 1800 unter Benjamin Constant und der von 1813 unter
Laine, aber es geschah nichts, als daß man sich in großen
Worten erschöpfte. Denn alle Beschlüsse, wie z. B. der, daß
der Besitz von Nationalgütern unwiderruflich sei und jeder
Angriff darauf mit Gefängnis bestraft werde, kamen zu spät
und erweckten, weil durch die Not des Augenblicks diktiert,
kein Vertrauen. Noch am 18. März, als Napoleon schon bis
Fontainebleau gelangt war, schrieb Ludwig eigenhändig ein
Manifest an die Armee auf, in dem er auf sein für ihre Treue
verpfändetes Wort, auf den Bürgerkrieg im Lande, auf den
Kampf mit den Fremden, der neuerdings drohe, hinwies —
vergebens; ein Reserveheer im Süden der Hauptstadt ging
gleichfalls zu Napoleon über. Der König mußte schließlich
an seine Sicherheit denken und verließ die Hauptstadt am
nächsten Tage.
Am Abend des 20. März schritt Napoleon, auf den Arm
eines seiner Getreuesten gestützt, die Stufen zu den Tuilerien
empor. In den Straßen der Hauptstadt hatten meist militä-
rische Elemente Besitz von dem Terrain ergriffen, das sie nun
ausschließlich für 'sich beanspruchten. Vor dem Schloß jauchzte
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Kapoleon iu den Tuilerien. , 317
ihm die begeisterte Schar seiner Anhänger zu. In der übrigen
Bevölkerung aber war mehr Resignation als Interesse wahrzu-
nehmen. Sie hielt sich abseits. Von dem Enthusiasmus, mit
dem sie ihn 1799 oder 1806 empfangen hatte, keine Spur.
„Alles war düster," erzählt Broglie, „ruhig, indifferent, ohne
zu klagen, ohne zu hoffen, doch nicht ohne Besorgnis."
Und der Kaiser selbst, der heute mit verzehnfachter Aufmerk-
samkeit auf die Stimme der Nation horchte, empfing den
gleichen Eindruck. „Sie haben mich kommen lassen", sagte er
zu Mollien, „wie sie die anderen gehen ließen."
Fünftes Kapitel/
Waterloo.
„Friede und Freiheit", so lautete jetzt die Devise Napo-
leons, mit der er sich den Franzosen zu empfehlen und das
Mißtrauen zu besiegen suchte, das ihm in bürgerlichen Kreisen
doch allenthalben entgegentrat. „Friede !" Wie oft hatte er ihn
bisher versprochen, wie oft gebrochen! Und „Freiheit!" wie
vielfältig hatte er sie unterdrückt! Wenn er jetzt sie zu geben
und zu schützen versprach, wird man ihm glauben? Noch am
Tage seiner Ankunft in Paris versicherte er es auch seinen
Getreuen, den Maret, Cambaceres, Davout und Andern, die sich
in den Tuilerien eingefunden hatten, es handle sich nun nicht
darum, mit der Vergangenheit wieder anzufangen, man müsse
von den Fehlern der Gegner, und von den eigenen, Vorteil
ziehen; er wisse jetzt, was man zu vermeiden und was man
zu wollen habe; die Gewalt habe er nur geliebt, solange er die
Gründung eines riesigen Reiches plante, dazu war sie ihm un-
umgänglich nötig; heute sei davon nicht mehr die Rede. Und
sie vertrauten seinen Worten. Maret übernahm wieder das
Staatssekretariat, Davout ließ sich zum Kriegsministerium
bereden, Cambaceres erklärte sich bereit, provisorisch die
Geschäfte des Justizministers zu führen, Gaudin und Mollien
erhielten die Portefeuilles der Finanzen und des Schatzes
wieder, Caulaineourt das des Äußern und Decres das der
318
Das neue Ministerium.
Marine. Aber das war nicht all/u schwierig gewesen, diejenigen
zu gewinnen, die immer zu ihm gehalten hatten und mehr
oder weniger ohnehin auf ihn angewiesen waren. Das Wich-
tigste bestand darin, der Bevölkerung Garantien zu bieten, daß
er als ein völlig anderer wiederkehrte. Und da war mit Worten
nichts getan, wenn er auch in Paris beim Empfang der obersten
Behörden noch so feierlich versicherte, was er bereits in
Grenoble und Lyon verkündet hatte: er wolle vergossen, daß
Frankreich je der Herr der Welt gewesen, habe auf die Idee
des Weltreichs (Grand Empire), zu dem er in fünfzehn Jahren
allerdings erst den Grund gelegt habe, verzichtet, denke nur
noch an das Glück und die Festigung des französischen Kaiser-
reichs (Empire fran^ais), strebe keine Willkür mehr an, son-
dern nur die Achtung der Person, den Schutz des Eigentums,
den freien Kreislauf der Gedanken; denn die Fürsten seien
bloß die ersten Bürger der Staaten. All das genügte nicht.
Taten wollte man sehen. Napoleon lieferte auch diese. Vor
allem ließ er sieh — nicht ohne Widerstreben und Mißtrauen
— Fouclie als Polizeiminister aufnötigen, in dessen Vergangen-
heit die radikalen und liberalen Kreise eine gewisse Bürgschaft
erblickten und den jetzt selbst die Maret und Caulaincourt als
unentbehrliches Werkzeug empfahlen, da er Fühlung nach allen
Seiten und namentlich auch mit der fremdländischen Diplo-
matie habe. Dann hob er die Zensur auf, die früher ihm, dann
den Bourbon3 arg verübelt worden war, und ließ namentlich
den Zeitungen ein größeres Maß von Freiheit. Ihm kostete dies
jetzt keine sonderliche Überwindung mehr, denn er meinte
richtig, nach dem, was die Presse seit einem Jahre wider ihn
geschrieben habe, bleibe ihr von ihm nichts mehr, doch
manches über seine Feinde noch zu sagen. Aber viel wirksamer
noch als diese Maßnahmen war die Gewinnung Carnots, des
alten, ehrbaren, genialen Verteidigers der Republik, für das
Ministerium des Innern, und Benjamin Constants, des Führers
der Partei der konstitutionellen Monarchie, die ihm zur Zeit
des Konsulats vergeblich widerstrebt hatte, für den wieder ein-
gerichteten Staatsrat.
Noch kurz vor dem Eintreffen des Kaisers hatte ihn Con-
stant im „Journal des Debats*"', das bereits damals eines der
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Napoleon und Benjamin Constnnt. 319
führenden Tagesblätter war, aufs heftigste angegriffen, ihn
mit Attila und Tschengis Chan verglichen, und im Namen der
Freiheitsfreunde die Versicherung abgegeben, er werde sich
nie mit ihm verbinden. Jetzt ließ ihn Napoleon — wie es heißt,
auf den Rat seines Bruders Joseph, der mit der Stael, der
intimen Freundin Constants, in Verbindung stand — zu Hofe
bitten und sprach so offen und vertrauensvoll zu ihm, daß der
feindlich gesinnte Tribun gewonnen ward und es sogar über
sich nahm, dem Kaiserreich zu dienen. Die Nation, sagte er
ihm, habe nunmehr zwölf Jahre lang ausgeruht von inneren
politischen Stürmen, seit einem Jahre ruhe sie vom Kriege
aus: diese Ruhe habe ein Bedürfnis nach Betätigung in ihr
erweckt. Sie wünsche jetzt wieder eine Tribüne und Ver-
sammlungen. Das habe sie nicht immer gewollt. „Sic hat sich
mir zu Füßen geworfen, als ich zur Macht kam; Sie müssen
sich dessen entsinnen, da Sie damals Opposition versuchten.
Wo war Ihr Rückhalt, wo Ihre Kraft? Nirgends. Ich habe
mir weniger Gewalt genommen als mir gegeben ward. Heute
ist alles anders. Der Geschmack an Verfassungen, Debatten
und Reden scheint zurückgekehrt, nachdem eine schwache, den
Nationalinteressen feindliche Regierung zur Kritik der Auto-
rität herausgefordert hat. Aber es ist doch nur die Minderheit,
die solches will, täuschen Sie sich darüber nicht. Das Volk,
oder, wenn Sie lieber wollen, die Masse will nur mich. Sie
haben sie nicht gesehen, wie sie sich um mich drängten, wie
sie von der Höhe der Berge herabstürmten, um mich zu rufen,
zu suchen, zu grüßen. Ich bin nicht, wie man gesagt hat, ein
Soldatenkaiser, ich bin der Kaiser der Bauern und der Plebejer
Frankreichs. Deshalb sehen Sie, wie das Volk zu mir kommt,
trotz allem was geschah. Es besteht eine Gefühlsgemeinschaft
zwischen uns. Ich bin aus den Reihen des Volkes hervor-
gegangen, es hört auf meine Stimme. Ich habe Montmorencys,
Ronans, Noailles, Beauvaus, Mortemarts um mich gehabt, aber
keinerlei Sympathie hat zwischen uns geherrscht. Sehen Sie
diese Konskribierten, diese Bauernsöhne; ich habe ihnen nicht
geschmeichelt, habe sie rauh behandelt, und doch scharten sie
sich um mich und riefen: Es lebe der Kaiser! Sie betrachten
mich als ihren Halt, ihren Retter «egen die Edelleute. Em
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320 Constant Mitglied des Staatsrates.
Wink von mir und die Adeligen werden in allen Provinzen ge-
mordet. Ich will aber nicht der König eines Bauernkrieges sein.
Darum, wenn es möglich ist, mit einer Verfassung zu regieren,
gut, so sei es. Weil ich ein Weltreich gewollt, hatte ich, um es
zu begründen, eine unumschränkte Macht nötig gehabt. Und
wen an meiner Stelle hätte nicht nach der Weltherrschaft ge-
lüstet? Killen nicht Souveräne und Untertanen um die Wette
unter mein Zepter? In Frankreich hab' ich bei einigen unbe-
kannten und waffenlosen Franzosen mehr Widerstand ge-
funden als bei all den Königen, die heute so stolz sind, daß
keiner aus dem Volke ihnen gleicht. Nun bin ich kein Er-
oberer mehr, kann es nicht sein, denn ich weiß, was möglich
ist und was nicht; das Werk von fünfzehn Jahren ist zerstört;
es läßt sich nicht wieder beginnen, man müßte denn weitere
zwanzig Jahre und zwei Millionen Menschen opfern. Und um
nur Frankreich zu regieren, ist eine Verfassung vielleicht
besser. Sehen Sie nun zu, was Ihnen ausführbar scheint und
legen Sie mir Ihre Pläne vor: öffentliche Verhandlungen, unab-
hängige Wahlen, verantwortliche Minister, freie Presse, das
alles ist mir recht. Daneben will ich den Frieden. loh werd'
ihn durch Siege erstreiten. Ich mag in Ihnen keine falschen
Hoffnungen erwecken. Wenn ich auch aussprengen lasse, daß
Verhandlungen mit den Mächten im Zuge seien: es gibt keine
Verhandlungen. Ich sehe vielmehr einem schweren und lang-
wierigen Kriege entgegen. Um ihn zu bestehen, muß die Nation
mich unterstützen. Dafür wird sie die Freiheit fordern. Sie soll
sie haben." So sprach der Kaiser zu Constant, der selbst uns
die Worte überliefert hat, die ihn gefangennahmen. Die Un-
umwundenheit, mit der Napoleon seine Lage zeichnete, machte
Eindruck auf ihn. Er erklärte sich bereit, einen Verfassungs-
entwurf herzustellen.
Also nicht „Frieden und Freiheit!" wie es von allen
Mauerecken Frankreichs widerhallte, sondern im besten Falle
„Krieg und Freiheit!" Und so war es wirklich. Niemand
weniger als der Mann von Elba konnte von den europäischen
Mächten erwarten, daß sie ruhig zusehen würden, Avie er, seine
eingegangenen Verträge brechend, wieder Besitz ergriff von
der Herrschaft über eine der unruhigsten Nationen der Welt,
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Krieg statt Frieden.
321
die Europa mit einem zwanzigjährigen Kampfe beschäftigt
hatte. Sollte denn der ganze riesige Aufwand an Gut und Blut,
mit dem man endlich das alte „legitime" System des Gleich-
gewichts der Staaten hergestellt, umsonst gewesen sein, bloß
weil es einem Einzigen nicht gefiel, sich mit der Souveränität
von Elba zu begnügen? Niemand hatte ihn gerufen, keine
nennenswerte Konspiration, auch im französischen Heere
nicht, seine Wiederkehr begehrt, denn ein Komplott in den
nördlichen Garnisonen hatte sich von Fouche nur für den
Gedanken einer Kegentschaft für seinen Sohn gewinnen
lassen.*) Unversehens war er erschienen, um durch „Verblüf-
fung" zu siegen, und zur Itevolte hatte es erst seiner "Ver-
führung bedurft. Und in welchen revolutionären Formen war
sie zutage getreten ! In welchen revolutionären Akzenten waren
seine Aufrufe von Lyon erklungen!**) Nein, die europäischen
Mächte konnten diesen dreisten Eingriff in das verbriefte
Becht ihrer Politik nicht dulden, sie, die es in ihrer Erklärung
vom letzten März J814 feierlich ausgesprochen hatten, nie
und nimmer mit Donaparte Frieden zu schließen und denen
gegenüber er in Fontainebleau gelobt hatte, für immer auf die
Herrschaft über Frankreich zu verzichten. Daß sie seinem
Unterfangen widerstehen würden, das wußte er — er hat es
ja Constant offen cinbekannt — sehr gut. Er wußte daher auch,
daß er, indem er noch einmal nach der Krone Frankreichs
griff, diesem Lande aufs neue überlegene Feinde schuf und
einen neuen entsetzlichen Krieg heraufbeschwor. Und darin
lag sein im sühnbarer Frevel.
*) Dal» man unter den Gegnern der Bourhona an eine Regent-
schaft gedacht hatte und nicht ausschließlich an ihn, regte ihn, al*
er durch Fleury davon hörte, gewaltig auf und war wohl mit einer
der Beweggründe, die ihn so früh von Elba fortscheuchten. (Vergl.
Fleury de Chaboulon, I. 126).
**) An» 20. Juli 1815, als alles vorüber war, schrieb Metternich an
Hudelist u. a.: „Zwischen Frankreich im Jahre 1815 und im Jahre 1814
ist der Unterschied nicht geringer als zwischen demselben Frankreich
in den Jahren 1814 und 1793. Das einzige Verdienst, welches Bona-
parte um Frankreich und um Europa hatte, war die Zügelung des
Jakobinisnins; aber auch dieses Verdienst sollte ihu nicht überleben,
und er hat den Jakobinismas zum Abschiede an die Welt wieder frei-
gegeben. '* i\\ r . St. A.)
Fournier, Napoleon I. 21
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322 Kuropa erklart Napoleon in die Acht.
Am Morgen des 6. März war die Kunde von der Abfahrt
Napoleons und seiner Truppen von Portoferrajo nach Wien
celangt, wo der Kongreß keineswegs, wie Jener gehofft, sich
schon aufgelöst hatte, sondern Fürsten und Diplomaten noch
fast vollzählig anwesend waren. Unter dem gewaltigen Ein-
drucke der Botschaft fanden sich zunächst die Monarchen
Rußlands und der deutschen Großmächte in dem Entschluß,
dem „Abenteurer*, wie ihn Kaiser Franz nannte, mit ein-
mütiger Kraft zu begegnen, und da mau anfänglich über das
Ziel seiner Fahrt im Unklaren war und Talleyrand Italien als
solches für wahrscheinlich hielt, wurde dem kommandierenden
österreichischen Feldmarschall Bellegarde der Befehl erteilt,
ihn „sofort anzugreifen und aufzureiben". Castlereagh war
zwar abgereist, aber Wellington, sein Vertreter, autorisiert, im
gleichen Sinne sich zu verpflichten. Die beiden trennenden
Hauptfragen, die polnische und die sächsische, hatten bereits
durch Alexanders I. notgedrungene Mäßigung ihre Lösung
gefunden. Dieser hatte, um sein Prestige als Weltbefreier
und Fricdensbringer besorgt, schließlich von Polen so
viel Land an Preußen überlassen, daß es sich mit der Hälfte
von Sachsen (neben der Rheinprovinz) begnügen konnte, womit
sich auch England und Österreich, und schließlich Friedrich
August selbst, einverstanden erklärten. Und so erwies sich
die Rechnung Napoleons auf die Zwietracht der Kabinette,
wenn er je darauf gerechnet hatte, als eine falsche. Sie hatten
jetzt vielmehr alle ein sie verbindendes Interesse, sich ein-
trächtig wider ihn zu wenden: England, das für das neue
Königreich der Niederlande, Preußen, das für seine Provinz
am Rhein besorgt war, Rußland, dessen Zar den Vorwurf, den
Korsen nach Elba gebracht zu haben, durch energische Feind-
seligkeit gegen ihn parieren wollte, und Österreich, dessen
Monarch nicht scheinen mochte, als verbände ihn noch irgend
etwas mit dem Sohne der Revolution, als der sich Napoleon
in seinen Lyoner Dekreten aufs neue gezeigt hatte. Am
13. März hatte der Kongreß eine Achtserklärung wider ihn
erlassen, in der man ihn „als Feind und Zerstörer der Ruhe
der Welt" der öffentlichen Ahndung preisgab, und am 25. er-
neuerten die vier Großmächte ihren Vertrag von Chaumont,
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Seine Versuche, sich den Mächten zu nähern. 32 o
indem sie sich verpflichteten, je 150.000 Mann — England
das Äquivalent an Geld für die Truppen, mit denen es
hinter dieser Zahl zurückbleiben würde — beizustellen und „die
Waffen nicht eher niederzulegen, bevor Bonaparte nicht völlig
außerstande gebracht ist, je wieder Unruhe zu stiften und seine
Versuche, die höchste Gewalt in Frankreich an sich zu reißen,
zu erneuern." Die andern Staaten schlössen sich an.
So war Napoleon von dem Kontinent verfehmt, den er
einst zu seinen Füßen gesehen hatte. Er tat jetzt alles mögliche,
um den ungünstigen Eindruck, den dieses Welturteil auf das
französische Volk machen mußte, abzuschwächen, oder viel-
leicht in Wien selbst eine Milderung zu erreichen. Aber er
hatte gut die Deklaration vom 13. März als ein Machwerk der
Agenten Ludwigs XVIII. hinzustellen: die Wahrheit wurde
doch bald olfenkundig, als die fremden Diplomaten ihre Pässe
begehrten und abreisten. Er hatte gut aller Welt zu versichern
— und es war ihm gewiß Ernst damit — daß er den Pariser
Frieden vom 30. Mai 1814 respektieren werde, und (am
1. April) an alle Souveräne zu schreiben, daß es sein liebster
Gedanke sei, den Kaiserthron Frankreichs für die Befestigung
der Ruhe Europas nutzbar zu machen.*) Wenn er nur einen
Rechtstitel auf diesen Thron hätte geltend machen können
und die Zustimmung der Nation in einer gültigeren Form als
sie im Zuruf revoltierender Truppen oder revolutionärer
Bauernscharen zum Ausdruck kam. Aber das konnte er nicht,
und so war die Antwort nur, daß die Mächte ihre Heere, die
sie noch nicht völlig auf Friedensfuß gesetzt hatten, nach
Westen dirigierten. Es half ihm nichts, daß er schon am
21. März durch Fouche einem englischen Agenten nahelegen
ließ — und jetzt war es ihm auch damit Emst — er sei bereit,
jeden Vorschlag Britanniens entgegenzunehmen, der einen für
beide Teile ehrenvollen Frieden verbürge: es kam keine Ant-
wort. Es half ihm auch nichts, daß er durch heimliche Boten
Brief auf Brief an Marie Luise schickte, die sie nach Frank-
reich riefen, und den Kaiser Franz um die Rücksendung seiner
Gemahlin und seines Kindes bat, da er deren Krönung den
* } Corres p. XX VIII. 21.769.
21*
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324
Sie scheitern.
Franzosen in Aussicht gestellt habe: Kind und Gattin blieben
fort. Die Letztere ließ es schon am 12. März durch Metter-
nich die vornehmsten Geschäftsträger des Kongresses wissen,
daß sie den Entwürfen Napoleons durchaus fernstehe und sich
unter die Obhut der Verbündeten stelle, und versicherte bald
darauf ihrem Vater in einem ebenso ostensiblen Schriftstücke,
wie sie nur seinem Schutz und seiner Leitung anheimgegeben
fcein wolle.*) Der Prinz aber wurde, seitdem ein (übrigens halt-
loses) Gerücht dem Grafen Anatole von Montcsquiou die Ab-
sicht zugeschrieben hatte, ihn nach Paris zu entführen, streng
behütet. Und es half Napoleon auch nichts, daß er, um neue
Zwietracht zwischen den Höfen zu säen, den geheimen Trutz-
vertrag vom 3. Januar Alexander bekannt werden ließ, nichts,
daß er mit Talleyrand in Verbindung treten wollte, der soeben
davon erfahren hatte, er sei mit Marmont, Bourrienne und
zehn andern geächtet worden, und natürlich sich nicht finden
ließ. Zwar erwogen die Fürsten und ihre Rate in Wien, ob
etwa dadurch, daß das französische Volk die Herrschaft Napo-
leons duldete, ein andres Benehmen einzuhalten wäre als das
verabredete. Aber sie entschieden in einem von allen Bevoll-
mächtigten am 12. Mai gezeichneten Protokoll, daß dies in
ihren Entschlüssen keinen Wechsel hervorbringen könne: „Die
Mächte seien zwar nicht befugt, Frankreich eine Regierung
zu geben, aber sie würden niemals auf das Recht verzichten, zu
verhindern, daß sich unter dem ^Titel „Regierung" dortselbst
ein Herd von Unordnungen und Umwälzungen für die andern
Staaten ergebe." Das Anerbieten des Kaisers, den Frieden von
Paris zu respektieren, wiesen sie zurück, denn sie hätten diesen
Frieden mit einer Regierung geschlossen, die für die Ruhe
des Weltteils genügende Bürgschaft bot, würden ihn aber nie-
mals mit Bonaparte eingegangen sein, ohne weit stärkere
Garantien zu verlangen.**) An Foueh6, der angesichts des euro-
päischen Widerstandes gegen Napoleon alsbald auch schon
wider ihn zu intriguieren begann und in Wien heimlich an-
*) 8. Meneval, Memoire« TTI. 418; meine Abhandlung „Marie
Luise und der Sturz Napoleons", S. 411.
**) D ; Angeberg, Congres de Vienne, I. 1184 f. Auch Talleyrand,
Dalberg und Noailles unterzeichneten die Urkunde für Frankreich.
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Verstimmung im französischen Volke. 325
klopfte, schrieb Metternich: „Die Mächte wollen nichts von
ihm wissen. Sie werden ihn aufs äußerste bekriegen, wollen
aber Frankreich nicht bekämpfen."*) Da war es nun wieder die
Alles beherrschende Frage, ob sich die beiden auseinanderhalten
ließen?
Bald war es allen Franzosen bekannt, daß des Kaisers
"Vorgeben von Verhandlungen mit Österreich und andern
Staaten nichtige Täuschting gewesen sei und daß man vor
einem neuen Kriege stehe, der nur auf seine Rechnung komme,
da er nur durch sein Erscheinen hervorgerufen ward. Der Ein-
druck, den diese Erkenntnis auf die Bevölkerung machte, war
ein tief verstimmender und hat — man kann es nicht anders
ansehen — über das Schicksal Napoleons endgültig entschieden.
Die Rente, die auf seine Vorspiegelungen hin etwas gestiegen
war, fiel von nahezu 80, wo sie Anfang März gestanden hatte,
auf 57 im April, was die Besitzenden und insbesondere die
Masse der kleinen Rentiers von ihm trennte. Und nicht die
Börsen der Franzosen allein verfeindete er sich, auch ihre
Herzen. Jahrzehntelang hatten sie sehnsüchtig nach dem Frie-
den ausgeschaut und ihn erst erreicht, als das Kaiserreich zu-
sammenbrach. Nun ward es wieder aufgerichtet, und schon
drohte die blutige Not aufs neue allen Familien, deren Sorge
sich an ein vom Kriege gefährdetes Leben heftete. „Ich kann
es nicht verschweigen," rapportierte der Staatsrat Miot von
Melito, den Napoleon als Kommissar in die Norddepartements
geschickt hatte, „daß Sie überall in den Frauen erklärte
Feinde haben, und in Frankreich ist dieser Gegner nicht zu
verachten."**) Der Kaiser mußte zugeben, daß er von anderen
Sendboten das Gleiche hörte. „Aller Welt hat sich Niederge-
schlagenheit bemächtigt," schrieb ein Engländer aus Paris an
Castlereagh.***)
Bei diesem neuerlichen Wechsel in der öffentlichen Mei-
nung fiel es nur gering ins Gewicht, daß es Napoleon gelang,
bourbonische Bewegungen im Süden, wo der Herzog und die
Herzogin von AngoulSme Getreue um sich sammelten, mit Ge-
*) Metternich, Nachgelassene Papiere, II. 516.
**) Memoires, III. 394. S. unten S. 376.
***) Historische Zeitschrift, 1866.
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326
Widerstand der Behörden.
walt niederzuschlagen und Jenen zu einer Kapitulation, Diese
zur Flucht zu nötigen. Frankreich war damit noch lange nicht
überall den Bourbons entfremdet. Für die Bonaparte aber war
es noch keineswegs ganz gewonnen. Die Vendee regte sich
aufs neue, und es bedurfte immerhin eines Teils der Wehr-
kraft, sie im Zaum zu halten. Das hatte Carnot schon vor
Wochen vorausgesehen, als er Napoleon fragte, ob er wirklich
Zusicherungen von Österreich habe, und auf dessen verneinende
Antwort hinzufügte: „Dann haben Sie noch mehr zu tun als
Sie getan haben/' Daß der Minister, um auf die Volksstim-
mung einzuwirken, von siebenundachtzig Präfekten einund-
sechzig entließ, half wenig, da die Nachfolger erst nach
Wochen zu etwas Einfluß gelangen konnten. Und dieser fand
an den Maires, die meist aus altadeligen Familien entnommen
worden waren, einen zähen, passiven Widerstand. Man ent-
fernte sie zwar, aber ohne Erfolg, weil die liberale Strömung für
die Gemeinden das I?echt, ihre Vorsteher zu wählen, begehrte,
und der Kaiser, der nun einmal in dieses Fahrwasser geraten
war, auch hier nachgab und den Städten mit mehr als 5000
Einwohnern jenes Recht zuerkannte: die Maires sollten von
den Aktivbürgern gewählt werden. (Dekret vom 30. April
1815.) Da nun aber die niederen Volksmassen, Arbeiter und
Tagwerker, d. i. der begeisterte Anhang des Kaisers, dabei
des Stimmrechts entbehrten, so wurden meist die früheren
Bürgermeister wiedergewählt und waren nun nicht mehr zu
beseitigen.*) Das Heer freilich hielt unbedingt treu zu
seinem berühmten Führer, aber doch auch nur, soweit es
unter den Waffen stand. Wohl war jetzt im Lande ein reiches
Menschenmaterial vorhanden: alle die feldgeübten Krieger,
die aus der Gefangenschaft, von der spanischen und italie-
nischen Armee heimgekehrt und dann von Ludwig XVIII.
größtenteils verabschiedet oder beurlaubt worden waren oder
sich ohne Erlaubnis ihrer Dienstpflicht entzogen hatten. Man
berechnete sie auf 120.000 Mann, die das Heer, das an-
fangs kaum 200.000 zählte, für den Kriegsfall verstärken
*) Hierüber hat Houssaye, „1815", I. 503 ft\ eingehend gehandelt.
Dazu vcrgl. Mad. Cltnstcnay, Memoires, TT. 533.
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Die Armee.
327
könnten. Werden sie nicht alle mit Begeisterung herbeieilen,
wenn der Held von Austcrlitz und Friedland seine Adler auf-
pflanzt? Sie taten's nicht, oder doch beiweitem nicht alle, ob-
wohl ihnen in dem Einberufungsdekret versichert worden war,
daß sie sogleich, nachdem der Friede gesichert wäre, entlassen
würden. Nicht mehr als 52.000 waren Anfang Juni in die
Reihen getreten, und Napoleon hatte mindestens auf das
Doppelte gerechnet.*) Natürlich. Auch der härteste Kriegs-
mann sehnte sich endlich nach Ruhe, und nun war er eben
erst ihrer Freuden froh geworden, als ihn des Kaisers Mah-
nung aufscheuchte. „Wir lieben den Pere Violette (d. i. Napo-
leon)", läßt Castlereaghs Pariser Agent einzelne Soldaten zu
ihren Quartiergebern sagen, „viel mehr als den Gros Papa,
den wir nicht kennen (Ludwig XVIII); aber wir sind des
Krieges satt, und wenn wir uns mit ganz Europa schlagen
sollen, nehmen wir lieber den Gros Papa wieder." So konnte
der Kaiser bald gewahren, daß er zwar einen Reichtum an
Offizieren nnd Cadrcs, aber Mangel an Mannschaften habe, die
letzteren zu füllen. Eines Tages fragte er seinen Schatzmeister
Peyrusse im Vertrauen, ob man denn in Paris auch überzeugt
sei, daß er eine große Armee versammeln werde. „Ew. Maje-
stät werden nicht allcinstehen", antwortete Jener. „Ich fürchte
fast", gab Napoleon zurück.
Der Mangel an Kriegsmannschaft rührte übrigens na-
mentlich daher, daß Napoleon sich — immer aus Rücksicht
auf die öffentliche Meinung — scheute, die verhaßte und von
Ludwig XVIII. abgeschaffte Konskription wieder einzu-
führen. Andere Auskunitsmittel, sich Streitkräfte zu ver-
schaffen, versagten. Da wurden z. B. fünf Fremdenregimenter
errichtet, aber nur das polnische brachte es auf 800 Mann, die
anderen blieben weit hinter dieser Ziffer zurück. Aus den Ma-
trosen hoiTte man fünfzig bis sechzig Bataillone zu formieren,
aber es wurden höchstens fünfzehn daraus, und diese kamen
notdürftig erst im Juni zustande. Freiwillige, denen der Kaiser,
die mageren Staatsfinanzen schonend, kein Handgeld zahlte,
fanden sich nur 15.000 bis 30.000 ein. Gewiß, es war noch das
*\ S. Houasaye, ,,1815", IT. 5 in teilweisem Widerspruch mit I. 628.
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328 Die Xationalgardeu.
große Reservoir der Nationalgardcn vorhanden, von denen
Napoleon etwa 200.000 Mann im Alter zwischen zwanzig und
vierzig Jahren nach einem alten revolutionären Gesetz vom
Jahre 1792 mobil machen konnte. Aber er sah nur zu gut,
daß die Nationalgarden in den meisten Städten jetzt durch-
aus demokratisch gesinnt waren und nur dann zu ihm stehen
würden, wenn er ihren radikalen Wünschen entgegenkäme.
Es kann daher nicht überraschen, daß er zögernd an ihre Be-
waffnung schritt und sie für den offenen Krieg nicht in Rech-
nung brachte. Er dirigierte sie in die festen Plätze, wo sie die
Linientruppen ablösten, und gestand ihnen überdies das Recht
zu, Stellvertreter für sich eintreten zu lassen. Er war, wie
Mole dem Lord Holland versicherte, sehr besorgt, daß die re-
publikanische Partei die Oberhand erhalten werde, und be-
klagte die Unmöglichkeit, Frankreich zum Kampfe gegen die
Verbündeten anders zu bewegen, als indem er zu Mitteln
griff, die er immer verworfen hatte; ja, er soll seiner Umge-
bung gestanden haben, daß er nie Elba verlassen haben würde,
wenn er die Notwendigkeit geahnt hätte, in solchem Maße
willfährig gegen die Demokratie zu sein.*) All das ver-
düsterte ihn. „Er war sorgenvoll," schildert ihn einer seiner
Räte; „das Selbstvertrauen, welches früher aus seinen Reden
sprach, der Ton der Autorität, der hohe Flug des Gedankens
waren verschwunden; er schien bereits die Hand des Unglücks
zu spüren, die sich bald schwer auf ihn legen sollte, und rech-
nete nicht mehr auf seinen Stern." Andre fanden ihn leidend,
erschöpft, durch die häufigen heißen Bäder, wie die einen
meinten, durch ein geheimes Übel, wie die andren wußten,
des Schlafes weit mehr bedürftig als sonst; er erschien allen
verändert**) Carnot sah ihn einmal, wie er vor dem Bilde
seines Sohnes Tränen vergoß, der Mann, der doch sonst sich
selbst so gut 7A\ beherrschen wußte wie andre und seelischen
*) Reminiszenzen von H. R. Lord Holl and, S. 166 der deutschen
Ausgabe.
*♦) Miot v. Melito, Hl. 395. Über seine Krankheit a. Ho us 8 aye,
„1815«, I. 614. Vergl übrigens die Mitteilung des österreichischen Ge-
nerals Koller bei Helfert, Napoleons Fahrt von Fontainebleau nach
Elba, 8. 39.
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Keine Konstituante.
329
und körperlichen Schmerz ohne Mienen Wechsel zu ertragen
verstand. Und doch hat er die Anregung aus seiner nächsten
Umgebung, zugunsten seines Sohnes abzudanken, womit nach
den heimlichen Informationen Fouches durch Metternich der
Krieg zu vermeiden war, weit von sieb gewiesen. „Ich bin nicht
so dumm", sagte er zu Lucia n, mit dem er sich — auch ein
der Öffentlichkeit dargebotenes Unterpfand seines Liberalis-
mus — versöhnt hatte und der sich schon als Regent fühlen
mochte. Und in der Tat gewährte, was der österreichische
Minister einem geheimen Agenten, der in Basel mit einem
Boten Fouches zusammentreffen sollte, mitgab, nicht Sicher-
heit genug, um daraufhin das Opfer der Persönlichkeit zu
bringen.*) Als Napoleon hinter diese Heimlichkeiten kam,
war er nahe daran, seinen Polizeiminister verhaften zu lassen,
unterließ es aber doch, um später oft, und bis in seine letzten
Tage, seine Nachsicht dem Manne gegenüber zu bereuen, der
nur noch darauf sann, sich und seine Stellung in da3 folgende
Regime — sei es die Kegentschaft, der Herzog Louis Philipp
von Orleans oder wieder die Bourbons — hinüber zu retten.
Blieb nun aber Napoleon an der Spitze des Staates und
wurde der Kampf unvermeidlich, dann galt es ihm vor allem
auf eins zu achten: daß von dem geringen Ergebnis seines
Appells an die erprobte Wehrkraft Frankreichs ja nichts ins
Ausland dringe, ebensowenig wie davon, daß das Volk dem
Kriegsgedanken unfreundlich gegenüberstand. Deshalb konnte
sich Napoleon nicht entschließen, einer repräsentativen Ver-
sammlung die Sorge um das Zustandekommen der neuen Ver-
fassung anzuvertrauen, die seine freiheitlichen Versprechungen
wahrmachen sollte. Welche Debatten! und am Ende noch die
Gefahr, daß die Volksvertretung ihm in den Arm fiel und ihm
das einzige Mittel entwand, von dem er noch sein Heil erwar-
tete: den Sieg über den auswärtigen Feind. Nein, keine Kon-
stituante. Lieber eine Diktatur, meinte Maret. Aber so gerne
der Kaiser danach gegriffen hätte, er lehnte sie dennoch
ab. Er war in seinen Zusagen, öffentlichen Reden und
Manifesten schon viel zu weit gegangen, um zurück zu können.
*) Metternich. Nachgelassene Papiere, II. 514 ff.
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^30 Die n Zusatzakte u vom 22. April.
Er mußte ein andres Auskunftsmittel suchen und glaubte es
darin gefunden zu haben, daß er, was er gewähren will und bald
gewähren muß, in der Forin einer Novelle zu den früher unter
seinem Kegiment erteilten Verfassungen von seinen Bäten
ausarbeiten und vom „souveränen" Volk einfach genehmigen
ließ. Dazu eben sollte ihm Constant dienen, der sich sofort
an die Arbeit begab.
Am 22. April war das Werk vollendet und trat, nachdem
es einer Kommission des Staatsrates und schließlich dem
Plenum desselben vorgelegen hatte, unter dem Titel „Zusatz-
akte zu den Verfassungen des Kaiserreichs" in die Öffent-
lichkeit. Constants eigene Meinung soll gewesen sein, eine
völlig neue Konstitution zu geben, die gleichsam alle früheren
Gesetzakte des Empires desavouiert hätte, doch dazu hatte sich
der Kaiser nicht bewegen lassen. Dieser wollte vielmehr sein
autokratisches Gebaren von ehedem erklärend rechtfertigen,
und wie er es tat, ist schon deshalb historisch interessant,
weil er jetzt, was er dort im dunklen Drange seiner Herrsch-
sucht unternommen hatte, als ein Vorbedachtes hinzustellen und
dabei seinen Weltherrschaftsplan in das Gewand einer Staaten-
konföderation zu hüllen suchte. „Wir hatten damals den Zweck",
heißt es in der Einleitung zu den neuen Gesetzesartikeln,
„ein großes europäisches Föderativsystem zu begründen, das
wir gewählt hatten als dem Zeitgeist entsprechend und den
Fortschritt der Kultur begünstigend. In der Absicht, es voll-
ständig zu machen und ihm die möglichste Ausdehnung und
Festigkeit zu geben, haben wir unterdes die Gründung meh-
rerer innerer Einrichtungen vertagt, die dazu bestimmt waren,
die Freiheit der Staatsbürger zu verbürgen. Fortan jedoch
ist unser Ziel nur das eine: die Wohlfahrt Frankreichs durch
die Sicherung der öffentlichen Freiheit zu erhöhen. Daraus
entsteht die Notwendigkeit wichtiger Änderungen in den Kon-
stitutionen, Senatskonsuiten und anderen Urkunden, durch
welche dieses Reich regiert wird." Allerdings, es war eine
Staatenföderation, was er gewollt hntte, aber unter der abso-
luten Gewalt eines Einzigen, der nach seinem Belieben einzelne
Glieder dieses Bundes verschwinden ließ, wenn es ihm so
taugte: so Piemont, die italienischen Kleinstaaten, den
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Der Motivenbericht.
331
Kirchenstaat, Holland, die Hansestädte, Oldenburg, Hannover,
die spanischen Norddepartements, das Walliser Land, und wer
weili, woran er sonst noch dachte.*) Allerdings, es war eine
Föderation nnd er selbst weit entfernt, ganz Europa etwa
in Frankreich aufgehen zu lassen; aber daß es in Napoleon I.
aufging, das war sein wahrer Zweck. Hatte er nicht schon im
Jahre 1804 den Widerstand Österreichs gegen seinen Willen
als „Rebellion" erklärt?**) Vielleicht entsann man sich noch
seiner im „Moniteur" des Jahres 1S07 veröffentlichten Mah-
nung an seinen Neffen, den jungen Kronprinzen von Holland,
er habe als die erste seiner künftigen Regentenpflichten stets
die gegen den Kaiser anzusehen. Und hatte er nicht, als er
Lucian zur Übernahme eines Thrones bestimmen wollte, Diesem
zur Richtschnur an die Hand gegeben, „daß Soldaten, Gesetze,
Steuern, kurz alles in dem von ihm regierten Lande nur für
die Zwecke der kaiserlichen Krone da sei?"***) Hatte er nicht
vor fünf Jahren an den Vizekönig von Italien geschrieben,
er würde dieses Land sofort in Frankreich einverleiben, wenn
es sich nicht völlig seiner Zollpolitik fügte?****) Gewiß hatte
das ehrgeizige Tun dieses Mannes mit den himmelweiten Zielen
und der beispiellosen Energie bei all dem Unheil, das es schuf,
viel Wertvolles für die Entwicklung der europäischen Welt,
viel dem „Zeitgeist Entsprechendes" und „den Fortschritt der
Kultur Begünstigendes" mit sich gebracht, und es wäre sicher-
lich ein arges Unrecht, das zu verkennen. Aber daß dies, wie
er nun wollte, ihm stets als idealer Zweck vorgeschwebt habe,
hl nichts weiter als hinterdrein ersonnene Schönfärberei.
Nach dieser Einleitung, die nebenbei den Zweck hatte,
dem Ausland in der feierlichsten Form darzutun, daß das
Kaisertum seine Erobererrolle endgültig ausgespielt haben
wolle, folgten in siebenundsechzig Artikeln die neuen Ver-
fassungshestimmungen. Das Moment der „Freiheit" trat in
*) Vergl. oben S. 59 die Tagebuchnotiz der Königin Karoline
Baden betreffend, und S. 41 das Memorandum Champagnys über Preußen.
**) S. Band H. S. 14.
***) Lucian, Memoire» (ed. Jung) HL 111 und 326.
*♦**) S. oben S. 22.
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832 Die (Grundrechte und die Volksvertretung.
den letzten, Art. 59 bis 6G, hervor: Niemand darf seinem ge-
setzlichen Richter entzogen werden, niemand verfolgt, einge-
kerkert oder verbannt werden, ehe das Gesetz gesprochen
hat; Kultusfreiheit und Preßfreiheit sind zugestanden, die
Letztere unter Verantwortlichkeit vor Geschworenengerichten;
aller gesetzlich erworbene Grundbesitz ist unantastbar, das
Petitionsrecht jedermann eingeräumt; der Belagerungszustand
kann von der Regierung bloß im Falle einer feindlichen In-
vasion, sonst nur durch ein Gesetz erklärt werden. Im übrigen
ward die Umwandlung des früheren Gesetzgebenden Körpers in
eine Repräsentantenkammer von 629 Mitgliedern verfügt, die
von den Wahlkollegien der Departements und der Bezirke ge-
wählt werden, wobei die Anzahl der Wahlmänner sich von etwa
15.000 auf 100.000 hob und das passive Wahlrecht jedem fran-
zösischen Staatsbürger zukam — und die des Senates in eine
Pairskammer, deren Mitglieder der Kaiser ernennt, wenn
sie nicht als Prinzen des regierenden Hauses ohnehin Sitz und
Stimme haben; die Pairswürde ist erblich; die großen Vor-
rechte, die der Senat ehedem besessen hatte, gehen auf die
Pairskammer nicht über. Beide Kammern beraten öffentlich,
können aber selbst die Öffentlichkeit ausschließen. Beide haben
das Recht, Gesetzesvorlagen zu verlangen, zu den von der Re-
gierung vorgelegten Entwürfen Zusatzanträge zu stellen und das
Budget zu bewilligen. Im Abgeordnetenhause hat die Industrie
ihre besonderen Vertreter. Die Minister sind verantwortlich,
können von der Repräsentantenkammer angeklagt werden und
haben dann in den Pairs ihre Richter. Das Recht der Gesetzes-
auslegung, das früher der Staatsrat besessen hatte, fällt den
Abgeordneten zu. Ein letzter Artikel schloß die Bourbons für
alle Zeiten von der Regierung Frankreichs aus.
Ehe Constant seinen Entwurf dem Staatsrat überlieferte,
hatte er mit Napoleon lange Diskussionen über zwei Punkte
gehabt. Einmal mußte die Erblichkeit der Pairie in den libe-
ralen und demokratischen Kreisen, denen man ja doch ent-
gegenkommen wollte, unangenehm auffallen. Aber da meinte
der Kaiser, der auf ein aristokratisches Gegengewicht jetzt
so wenig wie früher verzichten wollte, nach zwei oder drei
gewonnenen Schlachten würde der altfranzösische Adel ihn
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Napoleons Einwendungen. 333
wieder aufsuchen, und dann sei der Betätigung desselben im
öffentlichen Leben in der ersten Kammer ein geeigneterer
Boden bereitet, als seinerzeit im Senate. Ein Zweites war, daß
nach Constants Vorschlag ein besonderer Artikel dem Staats-
oberhaupte das Konfiskationsrecht absprechen sollte, wie er
in die Charte Ludwigs XVIII. Aufnahme gefunden hatte. Doch
da widersetzte sich Napoleon wieder, indem er sagte, er wolle
sich nicht wehrlos den Fraktionen überliefern, und es sei nötig,
daß man die alte Kraft des Kaisers bemerke. „Man drängt
mich da", rief er mit flammenden Augen aus, „in eine Bahn,
die nicht die meinige ist. Man schwächt mich, man kettet mich
an. Frankreich sucht mich und findet mich nicht mehr. Es
fragt, was wohl aus dem starken Arm des Kaisers geworden
sei, aus dem Arm, dessen es zur Bezwingung Europas bedarf.
Man rede mir nicht von Güte, abstrakter Gerechtigkeit, von
Gesetzen der Natur. Das erste Gesetz ist die Notwendigkeit;
die Gerechtigkeit hegt vor allem im öffentlichen Wohl. Ist
der Friede einmal geschlossen, dann- wollen wir sehen. Jeder
Tag hat seine Arbeit, jedem Umstand gebührt sein besonderes
Gesetz, jeder Einzelne hat seine Natur. Ich habe nicht die eines
Engels und wiederhole : es ist notwendig, daß man den Arm des
alten Kaisers wieder gewahre'*'.*) Man siebt, mit dem Herzen
folgte er der Strömung des Tages nicht, der er sich
nur nicht entziehen konnte, weil sie ihm seine Herrschaft zu
verbürgen schien. Wenn aber jedem Umstand sein besonderes
Gesetz gebührte (ä chaque circonstance sa loi), konnten sich
nicht, etwa infolge seiner Siege, Umstände ergeben, die ganz
neue Verfassungsgesetze erforderten? Zu Cambaceres, der ihn
auf die starke liberale Strömung im Volke hinwies, sagte er
einmal, noch vor dem Kriege in Belgien: „Noch ehe sechs
Wochen vergehen, werde ich dieses hohle Geschwätz zum
Schweigen gebracht haben/' Und auf St. Helena versicherte er
wiederholt, er habe für den Fall, daß er im Felde Sieger blieb,
die Kammern beseitigen wollen.**) So bäumte sich hier
der alte Autokrat in ihm auf, den er 6onst so geschickt zum
Schweigen gebracht hatte. Um den Rest der neuen Konsti-
*) Constant, Cent jonrs, p. 48 ff.
**) Chastenay ( Memoire8,n.497: Gourgaud,JournalI.98,U.323.
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<W1 Die öffentliche Meinung über die Verfassung.
tution in Sicherheit zu bringen, gaben seine Räte in dem
strittigen Punkte nach. Der Artikel blieb fort.
Das und Andres wurde aber nach der Publikation der
Verfassung, die drm Volke Frankreichs ähnlich zur Annahme
empfohlen ward, wie ehedem die Senatsgesetze von 1802 und
1804, sehr bemerkt. Vor allem machte der Titel „Zusatzakte"
einen höchst üblen Eindruck in der Meinung der verschiedenen
Parteien. Also wieder nur das alte Willkiirregiment — hieß
es — das Verfassungen von Beamten ausarbeiten läßt, wie ein
Verwaltungsdekret, und sie dann einem Plebiszit unterwirft,
damit unter aller erdenkbaren Pression nur mit Ja oder Nein
abgestimmt werde, ohne die Möglichkeit einer Debatte oder
eines nötigen Amendements? Das ganze politische Frankreich
geriet in Entrüstung hierüber. Die Demokraten insbesondere
bemängelten auch noch das Begnadigungsrecht, das sich der
Kaiser vorbehalten hatte, sein Hecht die Kammerpräsidenten
zu bestätigen u. a. ni. „Man beachtete gar nicht, was an der
neuen Konstitution weise und liberal war," erzählt Broglie, „ge-
nug, es war eine aufgenötigte Charte, eine neue, durchgesehene
und verbesserte Ausgabe der Verfassungen des Kaiserreichs;
was brauchte es mehr, um das Geschrei eines Publikums zu ent-
fesseln, das sich wenig um den Kern der Dinge kümmert?"
So hatte die neue liberale Verfassung bei allen ihren Vor-
zügen, als sie in die Öffentlichkeit trat, nicht den Erfolg, den
sich der Kaiser und seine Mitarbeiter daran von ihr versprochen
hatten. Die „Freiheit'*' wog in der Auffassung der verschiedenen
Parteien den „Krieg" nicht auf, das Mißtrauen war zu groß.
Auch als Napoleon sich docli noch herbeiließ, das Einberu-
fungsdekret für die Wahlkollegien zur Wahl der Deputierten
zu veröffentlichen, die sogleich nach der Verkündigung des
Plebiszits zusammentreten sollten, vermochte er den üblen
Eindruck nicht abzuschwächen. Das zeigte sich insbesondere
bei der Abstimmung. Von den vierthalb Millionen, die im Jahre
1S03 für das Konsulat auf Lebenszeit, 1804 für das Kaiser-
reich votiert hatten, fand Napoleon jetzt, die 214.000 Stim-
men der Armee mit eingerechnet, nur 1,500.000 wieder. Von
den stimmberechtigten Aktivbürgern — etwa fünf Millionen —
hatten sieh demnach, da die Verneinenden kaum 5000 betrugen,
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Das „Maifeld-. 335
über zwei Drittel abseits gehalten. Und auch die Wahlen fielen
wenig günstig aus. Von den 629 Abgeordueten waren nur etwa
80 ausgesprochene Bonapartisten, die sich ihren Kaiser nicht
als konstitutionellen Honarchen, sondern als uneingeschränkten
Diktator wünschten. Über fünfhundert waren Liberale ver-
schiedener Farbe, die zu dem Imperator, auch wenn er sich,
wie er tat, zu ihnen bekannte, kein Zutrauen hatten und nur
nach der möglichsten Beschränkung seiner Gewalt sein Regi-
ment erträglich zu finden bereit waren. Das waren Niederlagen,
die sich nicht verbergen ließen, man mochte das „Maifeld", das
der Kaiser erst am 1. Juni in Paris abhielt und wo das Eesultat
der Abstimmung über die Verfassung verkündet wurde, mit
nocli so viel theatralischem Pomp in Szene setzen.
Eine vielhundertköpfige Menge drängte sich an diesem Tage
um den Champ de Mars, wo der Hof, die Minister, die obersten
Begierungsbehörden, die hohe Geistlichkeit aus verschiedenen
Stadien, Tausende von Wahlmännem aus den Departements,
zahlreiche Deputierte, Nationalgarden, Linientruppen, im ganzen
an45.000 Menschen versammelt waren und den Kaiser 'erwarteten,
der in einem achtspännigen Galawagen, zu Pferde begleitet von
vier Marschällen und einer enormen Suite, herbeikam. Es war
die letzte pomphafte Manifestation des Empire. Nach einer
feierlichen Messe richtete der Sprecher der erschienenen Ver-
treter der Wahlkollegicn das Wort au Napoleon: er möge von
ihnen alles erwarten, was ein Held und Begründer der Ordnung
nur immer von einer treuen, tatkräftigen, in ihrem Wunsche
nach Freiheit und Unabhängigkeit unerschütterlichen Nation er-
warten könne. Das klang sehr loyal, doch stand dem gegenüber
ein Vorbehalt. „Ihren Versprechungen vertrauend", wurde ge-
sagt, „werden unsere Abgeordneten mit reifer Überlegung und
Weisheit unsere Gesetze durchgehen und sie mit dem konsti-
tutionellen Systeme in Einklang setzen", d. h. man halte das
Werk der Verfassungsgebung keineswegs für beendet und das
Volk werde an der Artikulierung seiner Hechte den ilim ge-
bührenden Anteil schon noch nehmen. Zum Glücke hatte man
den Redner vorher noch dazu bestimmen können, folgenden
Satz zu unterdrücken: „Wir scharen uns um Sie, weil wir
hoffen, daß Sie uns aus Ihrem Exil die Reue eines großen
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336 Ansprache und Erwiderung.
Mannes mitbringen." Dagegen ward das Verhältnis zum
Auslande mit Patriotismus berührt und gefragt: „Was
wollen diese Monarchen, die sich mit einem so mächtigen
Kriegsapparat auf uns zu bewegen? Wodurch haben wir ihren
Angriff hervorgerufen? Haben wir seit dem Frieden die Ver-
träge verletzt? Jeder Franzose ist Soldat; der Sieg wird aufs
neue Ihre Adler begleiten, und unsere Feinde, die auf unsere
Spaltungen rechneten, werden bald beklagen, uns herausgefor-
dert zu haben.** „Wir wollen nicht/' hieß es dann, auf das von
Fouche eifrig unter der Hand verbreitete Gerücht von der
Abdankung des Kaisers anspielend, „wen sie uns zum Oberhaupte
geben wollen, und wollen, den sie als solches nicht wünschen."
Auf dies und auf anderes antwortete Napoleon, nachdem das
Resultat der Volksabstimmung bekannt gegeben war und er die
Zusatzakte unterzeichnet und beschworen hatte, in sicherer
Hede. Was die Fremden wollten? Die Niederlande möchten sie
vergrößern, ihnen alle festen Plätze des französischen Nordens
als Grenze zuweisen, sich untereinander in Elsaß und Loth-
ringen teilen. Das müsse zurückgewiesen werden. „Dann, wenn
dies geschehen, wird ein feierliches Gesetz die verschiedenen
zerstreuten Bestimmungen unserer Verfassungen im Sinne der
Zusatzakte vereinigen/' Indem er so selbst die Letztere als
etwas Vorübergehendes bezeichnete, meinte Napoleon den all-
gemeinen Widerwillen noch besiegen zu können. Und auch den
andern heiklen Punkt berührte er. Er würde den fremden
Königen sein Dasein gerne opfern, gegen das sie sich so erbost
zeigen, wenn er nicht sähe, daß sie es auf das Vaterland abge-
sehen haben, was soviel heißen sollte, als man irre sich, ihn
allein für den Stein des Anstoßes zu halten, Zu einem Ver-
trauten sagte er richtiger: „Sie bekämpfen in mir die Revo-
lution."
Aber all das beruhigte die Gemüter doch nicht. Andres ver-
droß geradezu. Daß er, um seine unabhängige Autorität zu
zeigen, nicht im Soldatenrock der Nationalgarde, sondern in
einem blendenden Phantasiekostüm der Majestät erschienen
war, machte einen ebenso ungünstigen Eindruck wie die Aus-
drücke „Mein Volk", „Meine Hauptstadt" in seiner Rede. Man
hatte derlei von dem Sprößling der Revolution nie gerne ge-
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Die zweite Kammer und die neuen Pairs. 337
hört. Und vollends jetzt. Als dann, nach einem Te Deum, Na-
poleon vom Throne herabschritt und auf einem inmitten des
Platzes gelegenen hohen Piedestal die Verteilung der Adler vor-
nahm, bemerkten es selbst die eifrigsten Bonapartisten, daß
auf seine den Nationalgarden zugerufene Frage, ob sie wohl ihre
Adler mit ihrem Blute zu verteidigen bereit wären, das Echo
der Begeisterung entbehrte.*) Nur die Kaisergarden schworen
mit Leidenschaft. „Als sie vor dem Kaiser defilierten," erzählt
ein Augenzeuge, „leuchtete es in ihren Blicken wie von einem
dunklen Feuer; man glaubte auf ihren Lippen das ,Morituri te
ealutant* zu lesen." So hatte das im ganzen recht ermüdende
Fest der neuen Regierung nicht nur nichts genützt, sondern die
Opposition eher noch mehr verschärft. Nur auf einen der Zu-
schauer machte es den vollen und nachhaltigen Eindruck gran-
dioser Macht und Herrlichkeit. Das war ein siebenjähriger
Knabe. Die Geschichte verzeichnet ihn als Napoleon III.
Am deutlichsten kam die Spannung zwischen Volk und
Herrscher zutage, als am 3. Juni die Repräsentantenkammer
zusammentrat. Napoleon hatte darauf gerechnet, daß es möglich
sein werde, die Versammlung zu führen und zu beeinflussen; aber
dieses Mittel versagte gleich am ersten Tage. Denn die Depu-
tierten, die sich beeilten, ihren Wählern ihre Unabhängigkeit
nach oben zu beweisen, wählten Lanjuinais, einen der wenigen
Opponenten im früheren Senat, der seinerzeit gegen das Empire
gestimmt hatte, zum Präsidenten. Von einer Leitung der
zweiten Kammer war somit keine Rede, und es blieb, als ein
Gegengewicht dazu, nur noch die Pairskammer übrig, deren
Mitglieder Napoleon jetzt ernannte. Das waren, außer seinen
drei in Paris weilenden Brüdern Joseph, Lucian, Jeröme, dem
Onkel Fesch und Eugen Beauharnais, seine Minister, die treu-
gebliebenen Marschälle (Davout, Massena, Suchet, Ney, Brune,
Moncey, Soult, Lefebvre, Grouchy, Jourdan, Mortier), eine
größere Anzahl (38) Generale, Bertrand und Drouot voran, vier
Admiräle, vier Erzbischöfe und Bischöfe, mehrere ehemalige
Senatoren, von den Gelehrten jedoch nur Monge, Chaptal und
*) „Die Eide* — erzählt Coignet — „ertönten ohne Energie, der
Enthusiasmus war schwach. Das waren nicht die Rufe von Austorlitz
und Wagram. Der Kaiser bemerkte es wohl".
Fournicr, Napoleon I. 22
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Dir Thronrede vom 7. Juni.
Lacepede, einige Vertreter des alten Adels, darunter eein Ze-
remonienmeister Segur, Staatsräte, Financiers u. a. Auch
Sieycs und Koger-Ducos, die Helfer vom Brumaire, fehlten
nicht. Am 7. Juni eröffnete der Kaiser die Sessionen beider
Häuser mit einer Thronrede, aus der alle Äußerungen fort-
fielen, die am 1. Juni unangenehm aufgefallen waren, und die
deshalb auch einen besseren Eindruck machte. Nahestehende
freilich, wie Lafayette, wollten ihm die Überwindung ange-
merkt haben, die ihm der formelle Verzicht auf die Autokratie
kostete, als er die Worte sprach: „Ich habe die konstitutionelle
Monarchie begonnen. Die Einzelnen sind unvermögend, das
Schicksal der Nationen zu bestimmen; nur die Institutionen
können sie gewahrleisten." Dem fremden Ansturm gegenüber
würden er und das Heer ihre Schuldigkeit tun. Und doch
mußte er sehen, daß er für dieses Opfer an persönlicher Ge-
walt wenig Vertrauen und Anerkennung fand. Denn wenn ihm
auch die Kammer der Abgeordneten am 11. in einer Adresse
die Kräfte des Landes zu dessen Verteidigung zur Verfügung
stellte, so hieß es doch darin, daß „selbst der Wille des sieg-
reichen Fürsten nicht imstande sein würde, die Nation ans
den Grenzen ihrer Verteidigung hinauszuziehen", daß die Zu-
satzakte „fehlerhafte und unvollkommene Bestimmungen"
enthalie, die revidiert werden müßten. Und so groß blieb das
Mißtrauen in den Eroberer von ehemals, daß selbst die ge-
treue Mehrheit der Pairskanuner auf die neuen Institutionen
Frankreichs verwies, „die Europa Bürgschaft bieten dafür, daß
die französische "Regierung niemals durch die Verführung des
Sieges fortgerissen werden könne".
Doch diese Sorge war eitel. Der große General, der am
12. Juni 1815, bekümmerten Sinnes, wie seine Umgebung be-
merkte, zur Armee abreiste, wird schon nach neun Tagen
wiederkehren, besiegt wie nie und vernichtet für immer.
Die ungünstigen äußeren und inneren Verhältnisse, unter
denen Napoleon sein neues Regiment antrat, brachten es mit
sich, daß ihm Anfang Juni nicht die Streitmittel zu Gebote
standen, auf die er ursprünglich gerechnet haben mochte. Um
j;i nicht vor Europa und Frankreich als der alte Angreifer zu
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Rüstungen in Frankreich.
erscheinen, hatte er, selbst als der Krieg bereits drohte, noch
wochenlange mit den Rüstungen gezögert, und sie auch dann
noch als rein defensive gekennzeichnet, indem er z. B. Paris
und Lyon befestigen ließ. Wir wissen, daß er aus Rücksicht
auf die öffentliche Meinung, und um nicht sogleich wieder
die Opfer zu fordern, die ihn ehedem verhaßt gemacht hatten,
die Konskription von 1815 nicht verfügt hatte. Erst nach
den Wahlen wagte es der Staatsrat, die Pflichtigen des Jahres
1815, die bereits im Vorjahre zum Teil mitgekämpft hatten,
als beurlaubt einzuberufen. Die Stimmung hatte sich aller-
dings jetzt insoferne gebessert, als die Sorge vor einer neuen
Invasion der Fremden den Patriotismus belebte. Die Einbe-
rufung fand in zahlreichen Departements, namentlich im Zen-
trum und im Osten des Landes, weit weniger Widerstand als
vor Jahresfrist, und um die Mitte des Juni standen an 50.000
Konskribierte bereit. Nun konnte man es auch unternehmen,
gegen die Säumigen mit Zwangsmaßregeln vorzugehen, den
Gemeinden die finanzielle Sorge für die Ausrüstung und Er-
haltung der Nationalgarden aufzuerlegen, ja, von diesen 45.000
Mann als Reservedivisionen der aktiven Armee zuzuteilen, die,
Garnisonen, Depots usw. abgerechnet, 180.000 Mann zählte.
Die übrigen Nationalgarden, Freikorps, Matrosen usw. bildeten
eine Hilfstruppe von etwa gleichfalls 180.000 Bewaffneten,
die aber für den offenen Kampf nicht in Betracht kamen.
Das war wenig, um gegen ganz Europa zu fechten. Und
welchen Aufwand an Geschick und eifriger Sorge hatte es
nicht schon gekostet, diese Kräfte parat zu stellen ! Die Ricsen-
kämpfe der letzten Jahre hatten alles Kriegsmaterial er-
schöpft und das friedliche Regime Ludwigs XVIII. so gut
wie nichts darauf verwendet; mit fieberhafter Eile mußten
diese Dinge neu beschafft werden, sowie die Tausende von
Pferden für die Kavallerie und die Artillerie auf Kriegsfuß.
Zum Glück hatte man in den Staatskassen 50 Millionen
Franken vorgefunden, von Bankiers für mehr als 3U> Milli-
onen Renten ein Kapital von vierzig Millionen er-
halten, und da auch die Steuern nicht verweigert wurden,
so konnte man immerhin die allernötigsten Auslagen be-
streiten. Der Kaiser hätte nun noch zögern, Zeit gewinnen
22*
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340
Wellington und Blücher.
und sich nicht unwesentlich — um 80.000 Mann binnen
einem Monat, berechnete man — verstärken können, aber er
tat es nicht, sondern ergriff, nachdem alle Mittel der Ver-
ständigung erschöpft waren, die Offensive. Und dies aus guten
Gründen.*)
Die Verbündeten des 25. März hatten den Krieg gegen
Napoleon nicht so eilig in Szene gesetzt, als er beschlossen
worden war. Nur Preußen hatte rasch mobilisiert, ein am
Niederrhein stehendes Korps auf den Wunsch Wellingtons
nach Belgien geschoben, drei andre folgen lassen und in der
zweiten Hälfte April ein Heer dort stehen gehabt, das
sich Anfang Juni auf 120.000 Mann bezifferte und dessen
Kommando wieder Blücher mit seinem treuen Gncisenau über-
nahm. Zu derselben Zeit hat auch Wellington eine aus
Deutschen (Braunschweigern, Hannoveranern, Nassauern),
Engländern und Niederländern zusammengesetzte Armee von
105.000 Mann, namentlich zum Schutze Brüssels und Gents,
gesammelt,**) von denen übrigens 12.000 in den Festungen
lagen und zu den .Feldoperationen nicht herangezogen werden
sollten. Beide Feldherren wünschten die Offensive, um Napo-
leon nicht Zeit zu Rüstungen zu lassen. Aber sie drangen in
Wien nicht durch. Hier hatte man sich für einen Kriegsplan
entschieden, der auf große Truppenmassen basiert war, ein
möglichst sicheres, siegreiches Vorgehen bezweckte und des-
halb viel Zeit erforderte, da die Küssen sehr langsam nach
Westen rückten, Alexander, ohne seine Streitkräfte allzu sehr
zu engagieren, wieder nach der leitenden Rolle des Vorjahres
geizte, und die Österreicher, die diese Absicht des Zaren zu
stören hofften, und auch neuerlicher Vorgänge in Italien wegen,
mit der Zögerung ganz einverstanden waren. In Italien hatte
nämlich Murat im Sinne seines Schwagers schon Ende Marz
losgeschlagen und die Italicner in einer Proklamation zum
*) Für die militärischen Rüstungen Napoleons in diesen Wochen
findet man jetzt das Nötige in Honssaye. ..I81v k , IT (Waterloo). S. 1 ff.
verzeichnet.
**) Die Feldarmee Wellingtons zählte (nach Lettow-Vorbeck,
Untergang Napoleons, I. 480) rund 36.000 Deutsche. 32.000 Engländer,
25.000 Holländer.
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Feldzugspläne. 841
Kampf um ihre Unabhängigkeit aufgerufen. Dann war er
rasch bis zum Po heraufgedrungen, mußte aber, da er die
nationale Unterstützung nicht fand, die er gesucht, vor den
Österreichern zurückweichen, die ihn am 2. und 3. Mai bei
Tolentino besiegten, so daß ihm nur die Flucht nach Neapel
und von dort nach Frankreich übrig blieb. Durch all diese
Umstände veranlaßt, hatten die Mächte schließlich den Be-
ginn der großen Kooperation gegen Frankreich, die man mit
700 — 900.000 Mann durchzuführen gedachte, auf den 27. Juni
verschoben. Wellington erklärte sich — wohl auch aus poli-
tischen Gründen, um eine dominierende Stellung Rußlands mit
geschonten Kräften hintanzuhalten — einverstanden, und
wünschte überdies, daß die Aktion vom Oberrhein her be-
ginne, ehe er und Blücher gemeinsam vorrückten, wie sie es
in einer Zusammenkunft zu Tirlemont am 3. Mai verabredet
hatten. Danach sollte die Offensive nach Frankreich erst am
1. Juli beginnen.
Durfte nun Napoleon den Angriff der Feinde abwarten?
warten, bis ihre Heere auf gleicher Höhe, d. i. in gleicher
Entfernung von Paris angekommen waren und konzentrisch,
die Engländer und Preußen von Nordosten, die Russen und
Österreicher von Osten und Südosten her, in Frankreich vor-
drangen? Seine prekäre Stellung, die Kriegsunlust der
Franzosen und die Notwendigkeit eines raschen Sieges für
seine persönliche Geltung erlaubten es nicht, dem Lande die
Mühsal einer Invasion aufzuladen, ohne einen Schritt getan
zu habon. der sie fernhielt und die ermutigende Wirkung
eines Einmarsches der Gönner der Bourbons auf die royali-
stische Vcndöe und den legitimistischen Süden störte. Da
nun die Mobilisierung der Gegner nicht überall mit der gleichen
Raschheit erfolgt war, die englische und die preußische Armee
bereitstanden, während die russische und österreichische sich
erst bildeten, ergab sich die Möglichkeit, jene in einem kräf- k
tigen Ansturm zu besiegen, ehe diese völlig heran waren. Und
welche politische Folgen konnte ein solcher Sieg nicht haben!
Sollten die Mächte die Erinnerung an ihren letzten Zwist und
das Bewußtsein der Verschiedenheit ihrer Interessen, die kürz-
lich fast bis zur offenen Feindseligkeit unter ihnen geführt
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Der französische Aufmarsch.
hatte, so rasch und völlig wieder eingebüßt haben? Napoleon
wußte es gewiß genau, daß auch in Wien die Chancen der
Bourbons gesunken und die Verbündeten über die Zukunft
des französischen Thrones keiner einigen Ansicht waren. Unter
solchen Umständen entschloß er sich — gegen die Abmahnung
Carnots, wie es heißt — seine erste Absicht, in einem ver-
schanzten Lager vor Paris mit seiner gesamten aktiven Armee
den Feind zu erwarten, aufzugeben, nordwärts die Offensive
zu ergreifen und zunächst in Belgien zu schlagen. Freilich
hatte er nicht seine ganze Feldarmee lüefür zur Verfügung:
10.000 Mann waren in der Vendee notwendig, um den Auf-
stand zu dämpfen, den royalistische Agenten dort, auf dem
alten Felde ihrer Wühlereien, entzündet hatten, und außer-
dem mußten drei Korps unter Suchet, Kapp und Lccourbe
den Osten des Landes vom Rhöne bis zur Mosel, drei andre
kleinere Abteilungen unter Brune, Decacn und Clausel den
Süden zu decken suchen, so daß ihm nur 124.000 Mann für
seinen Angriff über die belgische Grenze übrig blieben. Aber
sie schienen ihm nicht ungenügend.*) Es waren auch im ganzen
tüchtige Kriegsleute, nur im Vollgefühl davon, daß sie allein
dem Kaiser aufs neue zur Regierung von Frankreich ver-
holfen hatten, von maßloser Überhebung und in ihrem Miß-
trauen in die politische Gesinnung ihrer Oberoffiziere zu Un-
disziplin und Ausschreitung nur zu sehr geneigt. In aller Heim-
lichkeit — auch seinen Generalstabschcf Soult nicht genügend
von allen seinen Absichten im Einzelnen unterrichtend —
hat sie Napoleon südlich von der Sambre, zwischen Beaumont
und Philippeville, aufgestellt: 21.000 Garden, fünf Armee-
korps unter Drouet d'Erlon, Reille, Vandamme, Gerard und
Mouton und vier Reiterkorps einer unter Grouchy stehenden
Kavalleriereserve. Am 14. ist er selbst in Beaumont, faßt mit
dem nur ihm eigenen Geschick all diese Truppen hart an der
*) Mau hat ihm in jüngster Zeit nicht ohne Grund wieder, wie
schon früher Charras tat, vorgeworfen, daß er so viel von seiner
aktiven Armee nach anderer Seite detachiert und nicht lieber Kapp
mit seinen 20.000 Mann nach Norden gezogen habe. (Grouard, La
critique de la campagne de 1815, p. 6 und 267).
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Napoleou ergreift die Offensive. 343
Grenze Charlcroi gegenüber zusammen, und beginnt am Früh-
morgen des 15. die Operationen.
Wellington und Blücher, denen die schmalen Kräfte des
Feindes nicht unbekannt geblieben waren, hatten sich schon des-
halb, und weil bisher noch alle Gerüchte von dessen An-
marsch gelogen hatten, einer so raschen Offensive nicht ver-
sehen. Beide Heere haben ihre Korps weit zerstreut: die Eng-
länder, weil ihr Führer „alles decken", Brüssel und Gent
schützen wollte, standen in einem Baume von Binche an der
französischen Grenze westwärts bis Oudenarde, mit der Rück-
zugslinie über Brüssel, wo das Hauptquartier und eine Re-
servearmee lag, ans Meer, die Preußen mit Rücksicht auf ihre
Verpflegung auf einer Strecke von 15 Meilen, von Einehe und
Charleroi ostwärts bis über Lüttich hinaus, mit Namur als
Hauptquartier und der Rückzugslinie an den Rhein. Binche
bildete demnach den Berührungspunkt für die beiden Auf-
stellungen, und rechts davon, bei Charleroi, wo die Straßen
von Brüssel und Lüttich zusammenliefen, wollte Napoleon
durchbrechen. So wie er bei seinem ersten Feldzug in Italien
von Savona über das Gebirge zwischen Piemontesen und Öster-
reichern durchgedrungen war, will er auch jetzt die beiden
Heere trennen und Wellington und Blücher einzeln schlagen,
wie er dort Colli und Beaulieu geschlagen und auf ihre
divergierenden Rückzugsstraßen zurückgeworfen hatte. Hat er
dann die zwei nächsten und wichtigsten seiner Gegner besiegt,
so wird er, aus den Depots verstärkt und mit Rapp vereinigt,
"oi;cn Russen und Österreicher ziehen. Das ist sein Plan. Am
15. Juni besetzt er Charleroi mit leichter Mühe, da die Preußen
unterlassen hatten, die Sambrelinie zu befestigen, und teilt nun
seine Armee in zwei Flügel und eine Reserve. Er schickt Ney,
dem er die Korps von Reillc und d'Erlon zuweist, links auf der
Brüsseler Straße gegen Gosselies, Grouchy, dem er Vandamim*
und Gerard unterstellt, rechts gegen Fleurus vor, während er
selbst sich die Garden und das Korps Moutons vorbehält, mit
donen er nach seinem Ermessen entweder hier oder dort ein-
greifen will. Nachdem die preußischen Vortruppen bei
Gosselies haben weichen müssen und Neys Reiter — vorüber-
gehend — bis nach Quatre-Bras an die Straße Nivelles-Namur
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344 Unvollständige Überraschung der Gegner.
gestreift haben, während Grouchy, dem er selbst sich an-
schließt, über Gilly bis nach Fleurus vorgedrungen ist, hält er
die Überraschung der Gegner für gelungen, den Durchbruch für
vollführt. Doch das war eine Täuschung. Er hätte mit allen
verfügbaren Kräften rasch auch noch über Fleurus hinaus auf
die genannte Straße vorstoßen müssen, um die Konzentrie-
rung der durch Überläufer in letzter Stunde gewarnten
Preußen zu stören und sie, isoliert und noch unvorbereitet, zu
schlagen. Denn Wellington, der seinen Bundesgenossen nicht
für ernstlich bedroht hielt, weil er den Hauptangriff des
Feindes auf sich gerichtet glaubte und in dessen Stoß gegen
die Preußen nur ein Scheinmanöver sah, unterließ es am 15.,
seine Truppen linker Hand zu konzentrieren, und gab erst
am Abend, durch Boten Blüchers spät genug aufgeklärt, seiner
Reservearmee Befehl, am nächsten Frühmorgen nach Süden
vorzugehen. So hätte Napoleon an diesem Tage leicht die Preu-
ßen vereinzelt und unvorbereitet treffen und überwältigen
können. Das hat er — Verzögerungen im Anmarsch und Ermü-
dung der Truppen mochten daran schuld sein — unterlassen.
Aber er vermag es auch noch am folgenden Tage, wenn er sich
nur beeilt. Denn so weit war doch Blücher überrascht worden,
daß ein entfernt stehendes Korps unter Bülow am 16. noch
nicht wird mitfechten können. Auf die Zusage Wellingtons hin,
er werde — immer vorausgesetzt, daß der Feind nicht auch
seine Front angreife — am nächsten Tage mit seiner ganzen
Armee den Verbündeten zu Hilfe kommen, bleibt der Preuße
dabei, sich Napoleon bei Sombreffe zu stellen.*)
*) Die bedingte Zusage Wellingtons liest man in einem Briefe
des zu ihm als Bevollmächtigten entsendeten Miiffling: „Wenn der
Feind nicht bei Nivelles zugleich (d. i. zugleich mit seinem Angriff
gegen Blücher) angreift , so wird der Herzog morgen mit seiner ganzen
Macht in der Gegend von Nivelles sein, um Ew. Durchlaucht zu unter-
stützen, oder im Fall der Feind Höchstdieselben bereits angegriffen
hätte, nach einer zu nehmenden Abrede gerade in seine Flanke oder
in seinen Rücken zu gehen." Pflugk-Harttung, Vorgeschichte der
Schlacht bei Belle-Alliance, S. 55 u. a. a. 0. Ein Brief Gneisenaus vom
17. Mittag (Lettow-Vorbeck, 1. 526) erwähnt die von Wellington
gemachte Voraussetzung nicht, sondern nur dessen „schriftliche Zu-
sicherung, daß, wenn der Feind uns angreifen sollte, er in dessen
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Napoleons Dispositionen für den 16. Juni.
345
Wellington sollte nicht kommen. Er hatte doch zu viel
versprochen. Ob mit Absicht, um den Preußen ihren Entschluß
zum Kampfe nicht zu verleiden, der seine Stellung entlasten
soll und an dem er sich gewiß nach Kräften beteiligen will,
steht dahin.*) Zum Glück kommt aber auch Napoleon erst am
Nachmittag. War es seine Überzeugung, die beiden Gegner be-
reits voneinander getrennt zu haben, oder eine physische Depres-
sion — er war gestern bei Charleroi plötzlich vom Schlaf über-
mannt worden — was den Kaiser hinderte, wie in den früheren
Feldzügen, so auch jetzt, wo doch seine ganze Existenz an
seinen ersten Erfolgen im Felde hing, den Tag bald nach Mit-
ternacht zu beginnen? Oder war es beides? Kurz, Napoleon
erteilt erst spät am Morgen des 16. Juni seinen beiden
TJnterfeldherren seine Befehle. Ney soll bis Quatre-Bras vor-
gehen und sich zum Vormarsch nach Brüssel bereit halten,
während ein Armeeteil gegen Wavre hin aufklärt; Grouchy hat
den Feind in Sombreffe oder in Gembloux anzugreifen und von
dort zurückzutreiben, was der Kaiser selbst über Fleurus mit
der Garde unterstützen will, um sich dann sofort mit Ney ver-
eint gegen Brüssel und die Engländer zu wenden. Napoleon i?t
so sicher, der Preußen, deren Gros er im Rückmärsche ver-
mutet, rasch Herr zu werden, daß er das Korps Moutons einst-
weilen bei Charleroi stehen läßt, um es später vielleicht von
dort sogleich auf die Brüsseler Straße zu dirigieren. Als er
dann bei Fleurus — es war Mittag geworden — nur das Korps
Zietens vor sich sieht, das am Vortage die Sambrelinie geräumt
und bei Gilly gekämpft hatte, will er es völlig unschädlich
machen und beauftragt Ney, er solle, was er vom Feinde vor
Rücken ihn hinwiederum angreifen würde". Nun haben die Franzosen
zwar ihren Vorstoß nicht gegen Nivelles, wohl aber rechts davon gegen
Quatre-Bras gerichtet, das, nach dem Gefecht bei Gosselies und dem
Zurückweichen der dort kämpfenden Preußen nach Osten, in die Front
der Engländer fiel. So ist es auch von den niederländischen Offizieren
des Oranienschen Korps, Constant und Perponcher, richtig erkannt
und deshalb noch am 15. besetzt und gehalten worden.
*) Wenn Lettow-Vorbeck, Untergang, I. 302, von einer durch
politische Motive diktierten Absiebt Wellingtons, Blücher zu täuschen,
spricht, so vermag ich eine solche aus den Quellen ebensowenig heraus-
zulesen wie des Engländers „unbedingte" Zusage.
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346 Ligny und Quatre-Bras.
sich habe, nach Norden zurückdrängen und dann ostwärts den
Preußen in den Bücken marschieren. Und so glaubt er noch um
2 Uhr, daß er es nur mit der preußischen Nachhut zu tun habe,
während Blücher unterdes Zeit gehabt hat, noch zwei seiner
Korps heranzuziehen und eins bei Sombreffe, das andre bei
Ligny zu Zietens Unterstützung aufzustellen. Endlich gewahrt
Napoleon Blüchers Absicht, mit starken Kräften einen Gang
zu wagen. Er ist davon nicht gerade unangenehm überrascht.
Denn wenn jetzt Ney die englische Arrieregarde — auch hier
derselbe Irrtum — zurückgeworfen hat und mit seinen Trup-
pen von Quatre-Bras heranrückt, so ist sicher ein entschei-
dender Sieg errungen, der über den Fortgang des ganzen
Feldzuges zu entscheiden vermag. Mit beweglichen Worten
— „das Schicksal Frankreichs liegt in Ihren Händen!" —
bestürmt der Kaiser den Helden von der Moskwa, sich nun
weiter mit den Engländern nicht mehr zu befassen und mit
seinem Gros unverzüglich nach rechts zu eilen. Ja, es genügt
am Ende dem Kaiser, wenn nur ein einziges Korps von dort-
her dem Feinde in die Flanke fällt, und er befiehlt deshalb
den General Drouet d'Erlon, dessen Truppen noch nicht
ins Feuer gekommen waren, herzu. Wie mochte er jetzt
bedauern, den Tag nicht früher begonnen, Mouton, der
erst nach 4 Uhr die Ordre empfängt, nach Fleurus vorzugehen,
nicht früher schon herangezogen zu haben! Denn Ney selbst
kann nun nicht mehr an der Schlacht teilnehmen. Er hat bei
<^uatre-Bras ernsten Widerstand gefunden, der durch immer
neue Truppen, die ihm Wellington in den Weg wirft, stündlich
wächst, so daß er sich am Nachmittag in die Defensive ge-
drängt und in ein schweres Gefecht verwickelt sieht. Vom
Rechtsabmarsch e ist da nicht die Rede. Aber auch von seinen
Truppen glaubt er nichts entbehren zu können und ruft, gegen
den Befehl des Kaisers, d'Erlon zurück, der, von einem Adju-
tanten Napoleons avisiert, mit seinen 18.000 Mann bereits nahe
an die Preußen herangekommen war. Der macht nun kehrt und
marschiert wieder nach Quatre-Bras, wo er zu spät kommt, um
Neys Mißerfolg aufhalten zu können, während sein Eingreifen
bei Ligny von vernichtender Wirkung hätte sein können. Wenn
nun Blücher hier trotzdem die Schlacht verlor, so geschah es
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Entscheidender Beschluß des preuß. Hauptquartiers. 347
nicht ohne sein eigenes Verschulden. Denn, war schon, mit Rück-
sicht auf die erhoffte Unterstützung, die Aufstellung der Preu-
ßen keine günstige — von St. Amand über Ligny nach Som-
breffe und von da nach Tongrinne — so mußte der Kampf
durchaus defensiv geführt werden, bis der Alliierte in den-
selben eintrat, und mußte defensiv bleiben, wenn er nicht er-
schien.*) Aber das entsprach nicht Blüchers Temperament und
nicht seiner auf Wellington gegründeten Hoffnung. Nachdem
mehrere Stunden um St. Amand und, besonders hartnäckig,
um Ligny gestritten worden war, wobei die Preußen viel mehr
"Verluste erlitten als die geübten alten Kämpfer Napoleons, un-
ternahm der greise Feldmarschall mit den Reserven der Mitte
einen Vorstoß auf dem rechten Flügel. Die Franzosen parierten
ihn. Da hat aber auch schon ihr Kaiser die Schwächung des
gegnerischen Zentrums wahrgenommen. Er durchbricht es,
indem er alle seine Garden einsetzt, und wirft den Feind, dessen
Reiterei versagt, in Flucht von Ligny auf Brye zurück. Blücher
ist in dem Getümmel gegen den Schluß der Schlacht mit
seinem verwundeten Pferde gestürzt; man hält ihn für ver-
loren, und Gneisenau muß die Richtung des Rückzugs angeben.
Er nennt dem 1. und 2. Korps, die bei Ligny gefochten hatten,
Tilly, jenseits der großen Straße, als Sammelpunkt. Hier
wollte er die Abteilungen ordnen und die beiden andern Korps
heranziehen: das 3. unter Thielmann, das, bei Sombreffe von
überlegenen feindlichen Kräften im Schach gehalten, wenig
tätig gewesen und schließlich nach Gembloux retiriert war,
und das 4. unter Bülow, das man nach ArdcncUe dirigiert
hatte. Doch die Flüchtigen ließen sich in Tilly nicht aufhalten.
Sie strömten in der Richtung gegen Wavre weiter, so daß man,
nach einer Beratung im Hauptquartier, diesen Ort zur Ralli-
ierung bestimmte. Daß man dabei an der Kooperation mit den
Engländern festhielt, sollte den Feldzug entscheiden.
Napoleon sah jetzt ein, wie sehr er sich getäuscht, als er
die Preußen in ihrer Konzentration überrascht und auf ihrer
*) Die Preußen hatten 83.000, die Franzosen 79.000 Mann in der
Sehlacht. Zehntausend der Letzteren (Mouton) blieben zurück und
nahmen am Gefecht nicht teil, während von den Preußen hinwieder
20.000 Mann auf ihrem linken Flügel wenig engagiert waren.
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348 Entsendung Grouchy s nach Osten.
Operationslinie zurückweichend gewähnt hatte. Durch die
Schlacht des 16. war er belehrt. Nun, er hatte sie gewonnen
und hatte den Feind fliehen sehen; alles war wieder gut und
gewiß auch kein Zweifel mehr, daß Blücher jetzt auf seiner
Rückzugslinie abmarschierte, um sich, etwa bei Naniur, zu
sammeln. Man meldet aus Gembloux ein starkes feindliches
Korps — es war das Thielmannsche — und der auf der Straße
nach Namur mit zwei Reiterdivisionen zur Verfolgung aus-
geschickte General Pajol trifft auf zahlreiche Flüchtlinge, die
ostwärts eilen — 5000 Versprengte zählte man — was den
Kaiser in seiner Meinung vollends befestigt, er habe sich die
Preußen gründlich vom Halse geschafft und könne, ohne von
ihnen im geringsten belästigt zu werden oder sich sonderlich
beeilen zu müssen, gegen Wellington vorrücken.*) Er gönnt
seinen braven, duTch den Kampf herabgebrachten Truppen
am Vormittag des 17. Buhe und gibt erst um Mittag Grouchy
Befehl, mit 33.000 Mann, d. i. den Kavalleriekorps von Pajol
und Exelmans, den Infanteriekorps Vandamme und Gerard
und einer Division Moutons, Blücher aufzusuchen und zu er-
gründen, wo er sich sammle, ob er Namur bereits geräumt
habe und was er überhaupt beabsichtige. „Marschieren Sie",
hieß es in der Instruktion, „mit allen Ihnen überwiesenen
Leuten nach Gembloux. Klären Sie den Marsch des Feindes
auf und melden Sie mir seine Bewegungen, damit ich durch-
schauen kann, was er tun will. Es ist wichtig, zu erfahren,
was Blücher und Wellington zu unternehmen gedenken, ob
sie beabsichtigen, ihre Armee zur Deckung von Brüssel und ( !)
Lüttich zu vereinigen und eine Schlacht zu wagen." Grouchy
solle, sobald die Preußen Naniur geräumt hätten, es besetzen
lassen, im übrigen aber in steter A 7 erbindung mit dem Haupt-
quartier bleiben, das nach Quatre-Bras verlegt wird. Daraus
geht hervor, daß Napoleon sicher meinte, Blücher sei mit
allen seinen Truppen bis Namur zurückgegangen, könne aber
immerhin — er kannte den Alten — bald wieder im Begriffe
*ein, etwa auf der großen Straße, die nach Löwen führt, gegen
*) Am Morgen des andern Tages schreibt Soult an Ney u. a.:
^Die preußische Armee ist in die Flucht geschlagen (en deVoute);
General Pajol verfolgt sie auf den Straßen nach Namur und Lüttich."
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Napoleon wendet sich gegen Wellington. 349
die Engländer hin zu marschieren. In diesemFallo mußte Grouchy
über Gembloux hinaus auf ihn trelfen und konnte ihn beschäf-
tigen, während Wellington besiegt wurde. All das nahm gewiß
längere Zeit in Anspruch, denn daß die auseinandergerissenen
preußischen Truppen an einem einzigen Tage auf dem Marsche
wieder in Ordnung gebracht und versammelt werden könnten,
wie es tatsächlich der Fall gewesen ist, das glaubte Napoleon
nimmermehr. Und so kam in ihm auch gar kein andrer
Gedanke zur Geltung, selbst nicht der nächstliegende, daß
die von Ligny nach Brye zurückgeworfenen Preußen, dem
wuchtigen Stoße nachgebend, in d i e s e r Richtung weiter nord-
wärts retiriert seien, und am wenigsten der, daß sie, die einen
Verlust von mehr als 20.000 Mann an Toten, Verwundeten und
Vermißten zu beklagen hatten, mit dem Aufgebot ihrer letzten
Kräfte gleich vom Schlachtfelde weg zu dem Verbündeten hin-
gestrebt hätten, um ihn in dem ihm bevorstehenden schweren
Kampfe nicht untergehen zu lassen, sondern ihm siegen zu
helfen.
Als Grouchy nach Osten aufbrach, waren die andern fran-
zösischen Truppen, spät genug, auf dem Marsche nach Quatre-
Bras, um sich mit Ney zu vereinigen und Wellington zu folgen,
der auf die Nachricht vom Unfall der Preußen über Genappe
bis nach Mont Saint Jean nordwärts zurückging und sein
Hauptquartier in Waterloo nahm. Dort fanden sie ihn am
17. Juni in kampfbereiter Stellung. Daß er aber hier in Stel-
lung war und es auch blieb und die Besorgnis Napoleons, er
könnte ihm am Ende nicht Stand halten, keineswegs recht-
fertigte, das hatte seinen Grund darin, daß ihm Blücher aus
Wavre, wo dessen Armee vor Mitternacht bereits wieder
leidlich geordnet stand, die Versicherung zukommen ließ,
er werde ihn, wenn es am folgenden Tage zur Schlacht kommen
sollte, zunächst mit zwei Korps — Wellington hatte nicht mehr
verlangt — dann aber auch mit seinen anderen Kräften
unterstützen. Von dieser Lage der Dinge hatte der Franzosen-
kaiser natürlich keine Ahnung, sonst hätte er — immer
besorgt, Wellington könnte doch wiederum aufbrechen —
ßeine Armee nicht in Marschkolonnen biwakieren lassen. Und
auch am nächsten Morgen kannte er die Sachlage noch nicht,
ItüO Die Berichte Grouchys.
als er den Beschluß faßte, die Engländer anzugreifen und aus«
einanderzuwerfen, wie ehegestern die Preußen. Zwar war in
Berichten Grouchys, die einliefen, die Rede, daß nur eine preu-
ßische Kolonne gegen Osten nach Perwez abmarschiert, eine
andre aber nach Wavre zu gerückt sei; aber das war nur
eine einzelne Kolonne, welcher der Marschall folgte, der er
sicher gewachsen war und die er beschäftigte, während man
Wellington zermalmte, jedenfalls, wie er am Abend des 17.
an den Kaiser schrieb, von den Engländern fernhielt. Und wenn
Grouehy auch am nächsten Vormittag berichten muß, daß drei
preußische Korps „in der Richtung auf Brüssel" marschierten
und ein viertes, „welches von Lüttich kam" (Bülow ist
gemeint) sich mit ihnen vereinigt habe, die Sache mit dem
Rückzug nach Osten demnach unrichtig war, so weiß er doch
„positiv" zu melden, daß diese Masse östlich von Wavre,
an der Löwener Straße lagere und er am Abend
zwischen ihr und Wellington massiert stehen werde.
So wenig Bedrohliches gewahrte daraufhin Xapoleon, daß er
am 18, Juni nicht am Frühmorgen, wie er sonst pflegte,
die Schlacht begann, sondern das Einrücken der Truppen —
es sind 73.000 Mann — in ihre Stellungen erst für neun Uhr
anbefahl, was sich dann, des durch Regen aufgeweichten
Bodens wegen, bis über Mittag verzögerte. Hätte er vermuten
können, daß zur gleichen Zeit sich da3 Korps Bülows durch
denselben Lehmboden und auf ungebahnten Wegen heran-
quälte, und hinter ihm die Geschlagenen von Ligny, um ihm
eine Katastrophe zu bereiten, wie sie wohl selten rascher über
einen Gewaltigen dieser Erde hereingebrochen ist, wie hätte
er sich beeilt, zu fechten und zu siegen!
Um 11 Uhr Vormittag reitet Xapoleon von Caillou, wo
or genächtigt hatte, an Plancenoit vorüber auf der Brüsseler
Straße vorwärts bis zu dem Grundstück La Belle Alliance, wo
die Chaussee sich mählich in eine Mulde hinabsenkt, um etwa
2000 Schritte weiter, hinter dem Gehöfte La Haye Sainte, den
Hügel hinanzusteigen, der hier querüber zieht und an dessen
nördlicher sanfter Abdachung das Dorf Mont St. Jean liegt.
Diesen Hügel hatte sich Wellington für seine Defensivstellung
ausgesucht. Und nur in der Defensive gedenkt er zu schlagen;
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Die Aufstellung bei Belle-Alliance. 351
schon seiner geringeren Kräfte wegen, denn er hat nur 69.000
Mann und weiß auch nicht, daß ein Drittel der Macht seines
Gegners in der Ferne weilt. Aus übergroßer Vorsicht hatte
er 19.000 Mann nach Hai detachiert, um von Westen her nicht
umgangen zu werden. In Wirklichkeit war Kapoleon bloß
um 4000 Mann Kavallerie und Artillerie stärker. Allerdings
sind es die besten Truppen, ,die er seit langem befehligte. Sie
werden — denn es ist ja so ganz vornehmlich ihre Sache, die
sie hier verfechten — mit Hingebung kämpfen und sich den
Sieg nur in der Verzweiflung entreißen lassen. Der Kaiser
hat sie zu gleichen Teilen rechts und links von der Straße
in drei Treffen aufgestellt: am Südrande der erwähnten Mulde,
bei Belle-Alliance, zwei Korps, und zwar links bis an die
Straße Nivelles — Mont Saint Jean dasjenige Reilles, rechts
bis in die Nähe des Schlosses Frichermont das d'Erlons — es
sind die Truppen, die unter Neys Kommando stehen; dahinter,
in zweiter Linie, zwei Kavalleriekorps (Kellermanns und Mil-
hauds) an den Flügeln, und in der Mitte als erste Reserve an
der Chaussee zwei Infanterie- und zwei Reiterdivisionen des
Moutonschen Korps; endlich im dritten Treffen die Garde
als zweite Reserve in der Mitte und mit ihrer Kavallerie
zur rechten und linken Hand hinter den Reiterkorps der
zweiten Linie. Von dem Gehöft von Belle-Alliance aus re-
kognosziert Napoleon seinen Gegner. Er kann dessen Auf-
stellung nicht völlig überblicken, sondern nur was er auf der
Terrainwelle, die er besetzt halt, ins vorderste Glied gerückt
hat; die andern Linien verbirgt die Anhöhe seinem Auge
ebenso sicher, wie sie Wellington gestatten wird, seine ein-
zelnen Reserveabteilungen gedeckt und unbemerkt während
der Aktion zu verschieben und dort einzusetzen, wo der Stoß
des Feindes augenblicks starken Widerstand erfordert. Darauf
reitet der Kaiser die Fronten ab, um die Truppen durch Blick und
Wort zu begeistern und dem Engländer, der das ganze fran-
zösische Heer überschauen kann, zu zeigen, was ihm droht.
Er mochte wissen, daß ein Teil der Wellingtonschen Truppen
aus unzuverlässigen Leuten bestand, wenn auch das Urteil
ihres Führers übertrieben war, der sie noch vor wonig Wochen
„die schlechteste (infamous) Armee, die je auf die Beine
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Der Schlachthefehl für den 18. Juni.
gestellt worden", nannte. Dann erst, nach Mittag, läßt er den
Kampf beginnen. Wie sehr kam dieser Zeitgewinn den Ver-
bündeten zustatten ! Napoleon will — so läßt es sein um 11 Uhr
erteilter SchlachtbefchP) durchblicken — das Zentrum des
Feindes forcieren, der seine Hauptstärke westlich von der
Straße postiert hat, will auf dieser Straße bis Mont Saint Jean
vordringen, dadurch die gegnerischen Streitkräfte auseinander-
werfen, Brüssel gewinnen und Wellington zugleich von dieser
Stadt und von den Preußen nach Westen hin wegdrängen.
(Die Proklamation an die Brüsseler hat er schon, aus Lacken ( !)
datiert, gedruckt bereit.) Um dies zu erreichen, läßt er zu-
nächst, noch bevor die Aufstellung ganz vollendet ist, seinen
linken Flügel das vom Feinde besetzte Schloß Hougoumont
mit Entschiedenheit angreifen, damit sich hierher die Auf-
merksamkeit Wellingtons und von der Mitte ablenke; dann
erst, um halb zwei Uhr, soll der „Hauptangriff" erfolgen. Aber
schon diese erste Berechnung des Kaisers wird nicht zu-
treffen. Die Gegner haben jenes Schloß zur Zitadelle umge-
wandelt und verteidigen es mit unerhörter Kaltblütigkeit gegen
immer neue Angriffe, bis schließlich zwei Divisionen des fran-
zösischen Vordertreffens sich daran verbluten werden, ohne
etwas zu erreichen. Und da Hougoumont sich hält, ohne daß
Wellington es nötig hätte, seinen rechten Flügel auf Kosten
des linken und der Mitte zu verstärken, müssen die Franzosen
ihren llauptangriff hier gegen ungeschwächte Kolonnen unter-
nehmen. Doch nicht genug daran; gerade, wo sie sich dazu
anschicken, erfährt der Kaiser aus einem aufgefangenen
Briefe, daß er auch mit den Preußen zu tun bekommen, daß
ihm Bülow in die rechte Flanke fallen werde, und da, wie um
jeden Zweifel auszuschließen, erscheinen auch bereits rechts bei
dem eine Meile entfernten Chapelle St. Lambert Truppen-
massen, die ein ausgeschickter Adjutant als Preußen erkennt.
Da stand eine Gefahr, mit der er so ganz und gar nicht ge-
rechnet hatte, plötzlich in drohender Nähe; schon in ein paar
Stunden kann Bülow in die Schlacht eingreifen. Um ihm die
Flanke nicht darzubieten, muß der größte Teil der ersten Re-
*) Corrcsp. XXVItl. 22.060.
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Grouchy soll heran. Er kommt nicht.
353
serve unter Mouton nordöstlich von Plancenoit gegen ihn auf-
gestellt werden. Diese Kräfte — bei 10.000 Mann — fehlen
natürlich für den nachdrücklichen Stoß, der Wellington über
den Haufen werfen soll. Und wenn es nur bei Bülow allein
blieb; wenn nur Grouchy die andern Preußenkorps festhielt!
Wie viel lieber, wenn er zur Stelle wäre und Bülow bezwingen
könnte. „Versäumen Sie keinen Augenblick, sich uns wieder
zu nähern und sich mit uns zu vereinigen, um Bülow zu ver-
nichten, den Sie auf frischer Tat ertappen werden", läßt jetzt
Napoleon an ihn schreiben.*) Aber wird ihn die Nachricht noch
erreichen? Sicher nicht vor drei oder vier Stunden. Und wenn,
wird ihn der Feind loslassen, den er doch beschäftigen
soll? Vergebliche Hoffnung. Grouchy stand jetzt wirklich bei
Wavre, wohin er viel zu spät aufgebrochen war, mit einem
Preußenkorps (Thielmann) im Kampfe, während zwei andre
hinter Bülow zu Wellington unterwegs waren und langsam
zwar, doch unerbittlich vorrückten. Er kam nicht los. Später
half er sich mit einer schlechten Ausrede.
So genau aber erkannte Napoleon noch nicht, was ihm
drohte, als er beschloß, nun aufs rascheste mit dem Gegner vor
ihm fertig zu werden, ehe von rechts her der erste Kanonen-
schuß fiel. Da gingen denn die vier Divisionen des Korps d'Erlon
in geschlossenen Kolonnen staffelweise, die zunächst an der
Straße vorauf gegen dns linke Zentrum des Feindes bei La.
Haye Sainte, die andern gegen Papelotte und La Haye vor.
*) Später, auf St. Helena, hat der Kaiser in seinen Diktaten über
den Feldzug behauptet, er habe schon am Spätabend vorher, um 10 Uhr,
an Grouchy einen Befehl nach Wavre erteilt, wo er ihn vermutete:
er solle vor Tagesanbruch von doithcr eine Division nach St. Lambert
dirigieren und damit seine Vereinigung mit der Armee herstellen.
(Corresp. XXXI. p. 179). Das ist nachträglich erfunden, da der Kaiser
damals noch gar nicht wußte, daß sich Grouchy nach Wavre wenden
wolle, und ihm erst um 10 Uhr vormittags am 18. schreiben läßt:
„Der Kaiser wünscht, daß Sic ihre Bewegungen gegen Wavre hin
richten." (Zit. von Lettow-Vorbeck, I. 415). Das war die Antwort
auf einen nach Mitternacht eingelangten Bericht des Marschalls, worin
ein Vorgehen nach Wavre nur unter der Bedingung in Aussicht ge-
stellt war, „wenn sich nach der Meldung der (von Gembloux nach
Sart-a-Walhain ausgesandten) Reiterei die Hauptmasse der Preußen
auf Wavre zurückzieht«. (Houssaye, „1815" II. 249).
Fournier, Napoleon I. 23
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:i54
Die Schlacht bei Waterloo.
Das erstere, an der Chaussee liegende Gehöft ward erstürmt.
Da es aber nicht gehalten werden konnte, und auch der darauf-
folgende Angriff auf die Höhe abgeschlagen wurde, mußten die
Divisionen, von den englischen Kürassieren angefallen, rcti-
rieren. Darauf versuchte Napoleon, der sich bei Belle-Alliance
aufhielt, die rechte feindliche Mitte durch eine Kavallerie-
attacke im größten Maßstabe zu durchbrechen. Das Kürassier-
korps Milhauds stürzt sich auf die Position der Engländer,
aber es hat wenig Erfolg; seinen Ansturm lähmt der aufge-
weichte Boden der Niederung; und wenn es auch auf der Höhe
die feindliche Artillerie zum Schweigen bringt, so erwarten
dahinter zwanzig Karrees die französischen Reiter und halten
Stand. Denn Wellington hatte die Gefahr kommen sehen und
das Zentrum verstärkt, was er um so leichter tun konnte, als
der linke Flügel sich des Angriffs bereits erwehrt hatte und
rechts Hougouinont noch immer Widerstand leistete. Noch
ehe Ney, der den überstürzten Angriff kommandierte, zur
Unterstützung Infanterie nachrücken lassen konnte, mußten
die tapferen Kürassiere weichen. Eine neue, verstärkte Attacke
von sechsunddreißig Schwadronen erfolgt. Ein wahres Meer
von Reitern ergießt sich in wiederholten Anstürmen über den
Plan und spült in fürchterlichen Wogen um die feindlichen Ba-
taillone. Gar manche werden überschwemmt, manche bröckeln
ab, im rechten Zentrum sind die Brigaden der Hannoveraner
und der Deutschen Legion so gut wie außer Gefecht gesetzt,
und eine weite Lücke klafft in der Aufstellung der Briten; und
schon — um 6 Uhr — ist auch La Haye Sainte von den Fran-
zosen erstürmt, desgleichen Papelotte und La Haye, und immer
weiter nach oben dringen die französischen Infanteriekolonnen
vor. Wenn jetzt der Kaiser das unverbrauchte Fußvolk in jene
Lücke schob, so konnte der Erfolg des Tages leicht auf seiner
Seite sein. Napoleon hatte seine Reserven bereits verausgabt,
bis auf die alte Garde. Die wollte er noch nicht daran
setzen. Und er wollte dies nicht, weil um fünf Uhr Bülows
Batterien zu spielen begonnen und Mouton nach Plancenoit
zurückgenötigt hatten. Dieser Platz mußte um jeden Preis ge-
halten werden, sonst geriet der Feind auf die Rückzugslinie
und eine Katastrophe war die Folge. Deshalb hielt Napoleon
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Die Schlacht bei Waterloo.
355
die alte Garde in dem einzigen Moment zurück, der die Ent-
scheidung noch zu seinen Gunsten hätte wenden können. In-
zwischen gelang es Wellington mit einigen Brigaden seines
linken Flügels das Zentrum wieder zu sichern, was freilich
nur möglich geworden war, weil bereits das preußische Korps
Zietens auf die Linke zumarschiert kam. „Die Bataille
ist verloren," rief General Mülfling den anrückenden Ver-
bündeten zu, denen er entgegengeeilt war, „wenn das Korps
nicht im Marsch bleibt und die englische Armee sofort unter-
stützt." Es blieb im Marsch.
Unterdessen hatten sich die junge und ein paar Bataillone
der alten Garde damit beschäftigt, Blücher, der mit den Bülow-
schen Truppen l'lancenoit endlich erobert hatte, wieder daraus
hinauszuwerfen. Das gelang um 7 Uhr abends. Nach diesem
Erfolg läßt Napoleon noch einmal die ganze Linie gegen
Wellington avancieren. Und jetzt nimmt er auch von den 5000
Garden, die er noch übrig hat, alles bis auf ein paar Bataillone
zu einem letzten Stoß ins britische Zentrum zusammen. Es war
die Tat eines Verzweifelten, denn im Grunde hatte er schon
nach den mißlungenen Kavallerieattacken die Schlacht ver-
loren und mußte sich zurückziehen, solange die Schlinge bei
Plancenoit noch offen stand. Freilich war er dann besiegt,
und was galt er noch, wenn er besiegt war? Darum wagte er
alles, was noch den Schein von Kettling blicken ließ. Mit
„Vive TEmpereur!" rückten die Triarier des Heeres, von ihm
selbst bis La Haye Sainte geführt, vor. Als jetzt die Kanonen
Zietens ihr Feuer gegen die von den Franzosen eroberten Stütz-
punkte bei Smohain und Papelotte richten, wird den Kämpfern,
um ihren Mut unerschüttert zu erhalten, mitgeteilt, das sei
Grouchy, der ihren Angriff unterstütze. Im Sturm dringen
die Garden in der Mitle bis an des Feindes letzte Linie.
Doch hier, von einem sicheren Feuer dezimiert, verlieren auch
sie Kraft und Haltung und gehen zurück. Und soeben ist auch
das Fußvolk des Zietenschen Korps in den Kampf eingetreten,
hat die längst ermatteten Franzosen aus den eroberten Ort-
schaften wieder vertrieben, unter denen die rasch gewonnene
Überzeugung, daß man es hier mit neuen Feinden zu tun habe,
eine Panik ohnegleichen erzeugt. Sie erfaßt alsbald alle Reihen.
23*
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Wilde Flacht,
und alles retiriert ohne Ordnung. Jetzt kann die arg zusammen-
geschmolzene Wellingtonsche Armee sogar daran denken, die
Offensive zu ergreifen, zu der ihr Führer vor ihrer Front das
Zeichen gibt. Es ist acht Uhr geworden. Nur drei Karrees der
Garde halten noch vor La Haye Sainte zusammen, wo der
Kaiser in ihrer Mitte im Feuer der englischen Geschütze den
Erfolg des letzten Stoßes abgewartet hatte; auch sie müssen
nun, von Feinden umringt, die sie heroisch abwehren, zurück
bis auf die Höhe von Belle-Älliance.*)
Von hier ans versucht Xapoleon durch seine Adjutanten
die Fliehenden zum Stehen zu bringen; umsonst. Während der
Sturm auf die englische Stellung mißglückte, war rechts auch
noch das dritte Preußen korps eingetroffen; und nun geht den
Franzosen Plancenoit aufs neue verloren. Es war etwa halb
neun. Bald ist die Straße unpassierbar, da die preußischen
Kugeln sie bereits bestreichen, und so flutet westlich davon das
geschlagene Heer in wilder Hast zurück. Napoleon selbst muß
auf seine Sicherheit bedacht sein und reitet, da sein Wagen
in Caillou nicht mehr zu erreichen ist, mit Soult, Drouot und
einer kleinen Suite nach Genappe, nur noch von einer Ab-
teilung der Garde gedeckt. Aber auch hier ist, bei der heftigen
Verfolgung durch die Preußen, kein Anhalten möglich, und
der Kaiser, dem sonst jeder kurze Ritt schon Schmerzen ver-
ursachte, muß bis fünf Uhr morgens im Sattel bleiben, bis
er endlich in Charleroi ein Gefährt findet, das ihn nach Phi-
lippeville bringt. Erst dort kann er sich einige Stunden Ruhe
gönnen. Dann erläßt er Befehle an die nicht am Feldzug be-
teiligt gewesenen Korps, verfaßt die Bulletins über Ligny und
Mont Saint Jean, wie er die Schlacht bei Waterloo nennt, und
diktiert an Joseph nach Paris einen Brief, der beweist, daß
*) Eines der beiden Karrees löste sich dann auf. Das zweite ent-
kam, doch wurde der General, der es kommandierte, Cambronne, ver-
wundet und zur Ergebung: gezwungen. Daß dieser die ihm in den
Mund gelegten Worte: „Die Garde stirbt, doch sie ergibt sich nicht"
(„La garde meurt et ne so rend pas"), nicht gesprochen hat, ist längst
erwiesen. Bertrand will, wie er auf St. Helena erzählte, dieselben
Worte von General Michel vernommen haben. Zuverlässigere Zeugen
als er legen Michel, andere den Soldaten, einen viel kürzeren und drasti-
scheren Ausdruck in den Mund.
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Paris während der Schlachttage. 357
dieser Mann die Hoffnung erst mit seinem letzten Lebenshauche
aufgeben wird. Noch sei nicht alles verloren, versichert er.
Gelinge es ihm nur, sämtliche disponible Kräfte zu vereinigen,
so habe er noch immer 150.000 Mann, ja, mit den National-
garden und den Depotbataillons sogar 300.000 Mann. Wenn
Grouchy nicht gefangen ist, denn er habe noch nichts von ihm
gehört, sei es ihm möglich, schon hier 50.000 Mann zu sammeln
und den Feind aufzuhalten, bis Paris und Frankreich ihre
Schuldigkeit getan haben. Der Bruder möge dafür sorgen, daß
die Kammern ihm in würdiger Weise beistehen. Er schloß
das Schreiben, indem er eigenhändig hinzufügte: „Mut,
Festigkeit!"*)
Sechstes Kapitel.
Sankt Helena.
In Paris hatte man nach der Abreise des Kaisers zur
Armee ängstlich auf Nachrichten gewartet. Und was das
Drückende der Lage bezeichnete : man befürchtete einen Erfolg
des Kriegsfürsten fast ebenso sehr wie eine Schlappe des
Heeres, das er befehligte. Nicht bloß, weil er, siegreich, wieder
der alte unumschränkte Herrscher werden und sich der
Fesseln, die er sich jetzt auferlegt, entledigen konnte, sondern
weil der Krieg damit erst recht begann und wer weiß wann
endete. Schon längst hatte man ja das schreiende Mißver-
hältnis zwischen dem Ruhme der heimischen Waffen und der
Notlage der Nation erkannt. Und war nicht in den letzten
Jahren der napoleonischen Regierung auch diese Glorie recht
auffallend verblaßt? Doch da ertönten am 18. Juni — just
als bei Mont Saint Jean der Donner rollte — die Kanonen
vor dem Invalidenhotel und verkündeten einen neuen ersten
Sieg: es war der bei Ligny. Also waltete doch noch immer
die alte Gunst des Kriegsgottes. Wer sich darüber freuen
konnte, freute sich. Das waren die Revolutionäre und die auf-
*) Fleury de Chaboulon, II. 195 zitiert den Wortlaut des
Briefes, der ihm vom Kaiser diktiert worden war. Ich sehe keinen Grund,
seinem Zeugnis zu mißtrauen. Vgl. Houssaye. „1815", II. 434.
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358 Napoleon im Elysee.
geregten Arbeitennassen von Paris, weil die Anwälte der Legi-
timität und der Bourbons gedemütigt waren, die Bonapartisten,
da ihr Abgott triumphierte, und wohl auch die urteilslose
Menge derjenigen, die sieh bei dem stolzen Gefühl eines fran-
zösischen Sieges begnügten. Die rechnenden Köpfe freilich
ließen die Staatsrente um volle vier Franken fallen.
Aber schon am zweitnächsten Abend war das Bild gänzlich
verändert. Dumpfe Gerüchte von einer grausigen Niederlage
liefen umher, und jetzt blieben die Invaliden stumm. Am
21. schien kein Zweifel mehr möglich: das Heer war zer-
trümmert, der Kaiser auf der Flucht. Ja, es hieß sogar, er
sei schon wieder in Paris. Wie? er hatte also die Armee ver-
lassen, anstatt sie zu sammeln und mit ihr dem Feinde den
Marsch auf die Hauptstadt zu erschweren? Man geriet hier-
über außer sich — doch der Kentenkurs notierte um zwei Fran-
ken höher.
In der Tat. Napoleon befand sich seit dem Morgen des
21. Juni im Elysee, wo er schon vorher gewohnt hatte. Er
hatte in Laon mit den Offizieren seiner Umgebung die nächsten
Maßregeln erwogen und sich für die Fahrt nach Paris ent-
schieden. Grouchy vermutete er in Kriegsgefangenschaft und
übersah erst jetzt die ganze Wirkung der unseligen Sonntags-
schlacht. Sie hatte den Franzosen über 30.000 Mann ge-
kostet.*) Die Übrigen waren zerstoben, und nur mit Mühe
ließen sich einige Tausend sammeln. Und wie leicht hätte er
dies vermeiden, zum zweiten Male siegen können, wenn er
ohne Zaudern nach der Affaire von Ligny die Preußen nicht
aus den Augen verloren, sie ohne Bast verfolgt und sich erst
dann auf die Engländer geworfen hätte, wie er im Jahre 1796
in Italien getan. Der gefährlichste Gegner war ja schon ge-
schlagen, und der andere, welcher der neuen Kriegskunst un-
gelenk gegenüberstand und seine Kräfte schlecht zusammen-
hielt, völlig isoliert verloren, wenn er sich überhaupt zum
Kampfe stellte und nicht nach Antwerpen zurückwich. Und
dann? War es dann nicht möglich, daß die Politik den Spuren
*) Die Armee Wellingtons halte 8000, die Blüchers 7000 Mann
<die meisten vom Bülowschen Korps) verloren.
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Der Ministerrat. 359
der Waffen folgte und den Mächtebund trennte, ehe er noch
zu siegen verstand? „Es gibt in der Geschichte keine ent-
scheidendere Schlacht als die von Belle-Alliance" — schrieb
Gneisenau am 22. Juni an Hardenberg — „entscheidend eben-
sowohl durch die Wirkung auf dem Schlachtfelde selbst, als
durch ihre moralische Wirkung. W'äre sie verloren, was würde
aus der Koalition werden mit allen ihren Kongreßerinnerun-
gen?"*) Aber nicht auf die Feinde allein, auch auf die Fran-
zosen mußte der Ausgang des Kampfes am 18. Juni mächtig
einwirken. So rasch hatten sie sich das Ende nicht gedacht.
Nur der schlaue und intriguante FouchS, den Napoleon durch-
blickte und doch nicht zu beseitigen wagte, hatte ihm seine
Frist bis auf den Tag bestimmt, als er am 20. März zu seinem
Freunde Gaillard sagte, er werde in drei Monaten mächtiger
sein als dieser „furiose Narr", und richtig prophezeit, als er
sich zu Pasquier im Mai äußerte: „Der Kaiser wird eine oder
zwei Schlachten gewinnen, die dritte verlieren, und dann ist
unsere Zeit gekommen/***) Napoleon sah einem Sturm im
Innern entgegen, der ihn nur zu leicht hinwegfegen konnte,
wenn er ihn nicht noch im letzten Augenblicke zu beschwören
verstand. Darum war er nach Paris geeilt, und darum sitzt er
jetzt mit seinen Brüdern und Ministern zusammen, um —
selbst aufs äußerste erschöpft und verstört — das Mittel hierzu
zu erwägen.
Er schien es gefunden zu haben. Nachdem er die Lage
der Verteidigungskräfte als eine nicht ganz hoffnungslose zu
schildern versucht, kam er zu dem Schlüsse: er bedürfe, um
das Vaterland zu retten, einer zeitweiligen Diktatur; er könnte
sich ihrer bemächtigen, doch wäre es nützlicher und der Nation
würdiger (plus nationale), wenn sie ihm von der Kammer
übertragen würde. Aber kaum hatte er dies vorgebracht, so
mußte er von einem seiner ergebensten Anhänger, Regnauld
de Saint-Jean d'Ang&y, hören, daß die Kammer ihn nicht mehr
für berufen halten dürfte, das Vaterland zu retten, und daß
sie das Opfer seiner Abdankung verlangen werde. Und so war
allerdings die Lage. In der Deputiertenkammer, deren Mitglieder
*) Delbrück, Gneisenau, II. 225.
**) Madelin, Fouche", II. 344; Pasquier, Memoires, III. 195.
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360
Der Staatsstreich der Kammern.
seit dem Morgen versammelt waren, hatte die von Fouche
heimlich vermittelte Kunde, daß man im Elysee über ihre Auf-
lösung diskutiere, eine Aufregung sondergleichen hervor-
gebracht, die Kcgnauld nicht hatte beschwichtigen können".
Nun riet Davout, den Gesetzgebenden Körper in eine andere
Stadt zu verlegen; Lucian sprach eifrig vom Ergreifen der
Gewalt, von xVuflösung des Parlaments und Belagerungs-
zustand, und auch Napoleon begann sich bereits diesem Ge-
danken zuzuneigen: da traf die Botschaft ein, die Kammer
habe sich in Permanenz erklärt, halte jeden Versuch, sie auf-
zulösen, für Hochverrat und werde den, der ihn wage, vor
Gericht stellen; die Minister des Äußern, des Innern, des
Kriegs und der Polizei hätten allsogleich vor den Deputierten
zu erscheinen. Das war ein Staatsstreich von unten, der den
befürchteten von oben parieren sollte. Die Abgeordneten des
Volkes — Lafayette an ihrer Spitze — empörten sich gegen
Napoleons Gesetz und Willen, dem nach der neuesten Ver-
fassung das Hecht zustand, die Kammern aufzulösen.
Und so mächtig war diese Strömung des Widerstandes, daß
sie auch die Pairs erfaßte, die den Beschluß der Repräsentanten
zu dem ihrigen machten. Was war da zu tun? Noch saß Na-
poleon mit seinen Ministern beisammen, denen er verbot, dem
Kufe der aufrührerischen Abgeordneten zu folgen, als man ver-
nahm, diese seien drum und dran, den Antrag auf Absetzung des
Kaisers zu stellen, wenn die Geladenen nicht sofort erschienen.
Nun fügte sich Napoleon. Freilich erst, nachdem Davout
unter dem Eindruck des Kammerbeschlusses erklärt hatte, er
könne die bewaffnete Macht für Maßregeln gegen die Volks-
vertretung nicht zur Verfügung stellen. Er selbst sandte —
um den Schein zu retten, daß er nicht gezwungen handle —
die Minister und Lucian als seine Bevollmächtigten zu den
Abgeordneten mit einer Botschaft, in der er mitteilte, er habe
aus Caulaincourt, Carnot und Fouche eine Kommission ge-
bildet, um mit den Feinden Unterhandlungen anzuknüpfen
und den Krieg zu beenden, sofern es mit der Ehre und der
Unabhängigkeit des Landes vereinbar sei; er rechne auf den
Patriotismus des Parlaments. Doch damit gab sich die Kam-
mer nicht zufrieden. Die Mächte hätten ihn geächtet und
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Sie fordern Napoleons Thronentsagung. 361
wollten mit ihm nicht unterhandeln; seine .Kommission sei
demnach unnütz; das Parlament selbst müsse als Unterhändler
auftreten. „An Napoleon allein", rief der Abgeordnete La-
coste aus, „hat Europa den Krieg erklärt. Ich sehe nur einen
einzigen Mann zwischen uns und dem Frieden. Er gehe fort
(nach anderen Berichten: „er spreche ein Wort") und die Ruhe
ist gesichert." Andre drohten mit Entthronung, wenn er nicht
abdanke. Für heute aber begnügten sich die Deputierten, aus
ihrer Mitte fünf Kommissare zu wählen, die mit fünf Pairs
und den Ministern gemeinsam die Mittel zur Kettung des
Staates zu erwägen hatten.
So verging der 21. Juni. Am nächsten Tage verschärfte
sich die Lage derart, daß nun selbst die Brüder zur Abdankung
rieten. Die Abgeordneten hatten den Beschluß ihrer Kom-
mission, eine Abordnung der Kammer mit den Verbündeten
in Verhandlung treten zu lassen, und eine Erklärung des
Kaisers vernommen, er wolle, wenn dann wirklich seine Person
das einzige Hindernis des Friedens wäre, jedes Opfer bringen.
Aber das war nicht, was man wünschte. Wieder rief man nach
der formellen Abdankung Napoleons; wieder forderten Ein-
zelne, daß man ihn einfach absetze, wie im verflossenen Jahr.
Endlich nahm man den Antrag des Deputierten Duchesne an,
den Kaiser im Namen des Staatswohles um seinen Rücktritt
zu ersuchen. Nur eine Stunde Frist bewilligte man noch, damit
er spontan seinen Entschluß fassen könne. Da ging dann ein
republikanisch gesinnter General, Solignac, der schon unter
dem Directoire Volksvertreter gewesen und unter dem Kon-
sulat in Ungnade gefallen war, mit einigen Kollegen ins Elysec,
um dem Kaiser gleichsam im Vertrauen die Bitte vorzutragen,
er möge durch rasche Niederlegung seiner Würde der Auf-
forderung dazu zuvorkommen, und Napoleon versprach es. Als
aber die Deputierten sich entfernt hatten, tobte er und er-
eiferte sich mit verzerrten Mienen und bebender Stimme gegen
das „Gemisch von Jakobinern, Wirrköpfen und Ehrsüchtigen"',
die ihm da Gewalt antun wollten. Nun gerade will er nicht tun,
was sie wünschen. Es war als wollte er der Zeit noch die
letzten Augenblicke seiner Herrschaft abtrotzen. Da sah man
ihn im Park und darauf in seinem Arbeitskabinett mit sich
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im
Die Abdankung.
allein redend auf- und abgehen in unerhörter Bewegung. Seine
Einsicht rang offenbar mit seinem Ehrgeiz einen fürchter-
lichen Kampf. In der letzten Nacht noch — Lafayette gab
es später zu — hätte er die einflußreichsten Mitglieder der
Kammer verhaften lassen, diese auflösen und die Diktatur
ergreifen können. Das war nun versäumt; es hatte ihm dazu
die Entschlußkraft gefehlt. Aber war denn damit schon jeder
Schritt in dieser Richtung unmöglich geworden? Die Pariser
Garnison war nicht unbedeutend, etwa zehntausend Mann von
den Depots der Garde und der Linie. Dazu kamen die revo-
lutionären Bataillone aus den Vorstädten; „Föderierte" nannte
man sie, wie ehedem. Er hatte zwar bisher nur 3000 von ihnen
mit Waffen versehen, aber er konnte allenfalls auf die fünf-
fache Anzahl rechnen. Sie würden ihm wohl, wie die Truppen,
folgen, wenn es gegen das Parlament der Besitzenden ging.
Freilich würde das nicht sein, wie im Brumaire, und sicher
nicht ohne Kampf mit den 20.000 Nationalgarden abgehen,
die, aus dem Mittelstande rekrutiert, bereit standen, die Kam-
mern zu verteidigen. Und wäre das nicht der Beginn eines
Bürgerkrieges, aus dem er im besten Falle als Parteimonarch
hervorginge, unterstützt und damit abhängig von Elementen,
für die er sich längst das Wort „Canaille" zurechtgelegt
hatte.*) Über seinen tiefen Widerwillen dagegen kam er nicht
hinweg — von allen andern Erwägungen, die sich ihm auf-
drängten, ganz abgesehen.**) Und so entschied er sich denn
für den Verzicht. Am Nachmittag des 22. Juni diktierte er
seine Abdankung „zugunsten seines Sohnes Napoleon II.".
Ob die Repräsentanten von dieser Klausel Notiz nehmen
werden? Vorläufig lassen sie zwar dem Kaiser durch eine
*) „Mit der Canaille hätte ich mich in Paris halten können",
sagte er auf St. Helena. Gourgaud, Journal, II. 199.
**) Vor Beginn des Feldzuges hatte er einmal zum Polizeipräfekten
Real gesagt: „Ich sehe sehr gut, was man hatte tun sollen, um die
Massen in Bewegung zu bringen: ich hätte die rote Mütze aufsetzen
und die Leidenschaften entflammen müssen. Aber die rote Mütze würde
mir nicht gut stehen; ich wäre nicht mehr, was ich gewesen war, und
dann: ich bin zu derlei schon zu alt." (Chastenay, Me'moires, II. 497.)
Hinterher gestand er auf St. Helena: „Man muß es am Ende sagen:
ich hatte dazu den Mut nicht.« (Gourgaud, II. 283.)
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In Malmaison.
Deputation ihren Dank aussprechen für das großmütige
Opfer, das er gebracht, ernennen aber sofort Carnot, Fouche
und General Grenier, die Pairs Caulaincourt und Quinette zu
Mitgliedern einer provisorischen Regierung. Es war wie ein
Abbild jenes fünfgliedrigen Direktoriums, das er damals be-
seitigt hatte, als er sich zu der Herrschaft aufschwang, die er
jetzt endgültig verlor. Und auch das gleichgültige Publikum
fehlte nicht, das diesen Dingen jetzt wie jenerzeit von ferne
zusah, ohne just tief erregt zu werden. Ein Augenzeuge meldet :
„Vollständige Ruhe herrschte in der Stadt und wurde nicht
einen Augenblick gestört. Von Regierung zu Regierung hin-
und hergeworfen, hatte das Volk weder Neigung für den, den
es verlor, noch für den, den es bekommen sollte. Es schlief,
in der Erwartung, daß man ihm bei seinem Erwachen sagen
werde, ob es Napoleon II. oder Ludwig XVIII. zu gehorchen
habe." Keinesfalls aber Napoleon I. Sein Regiment der
„Hundert Tage" war zu Ende.
Nur aus jenen untersten Schichten der Bevölkerung, ins-
besondere aus den Vorstädten, zeigten sich in den nächsten
Tagen Trupps vor dem Palais, riefen nach der Diktatur des
Kaisers und ließen ihn hoch leben. Waren es diese Kundgebun-
gen oder war es im allgemeinen die Verlegenheit, die der nun ab-
getane Imperator durch seine bloße Gegenwart der provi-
sorischen Regierung immerhin bereitete, nachdem bekannt ge-
worden war, daß Grouchy seine Korps gerettet, Soult bei Laon
die Trümmer von Waterloo gesammelt hatte und daß etwa
50.000 Mann nach Paris auf dem Wege waren, die — wenn
man von einem Teile der Offiziere absah — alle nach ihrem
Führer verlangten ? man suchte ihn zu bestimmen, daß er sich
aus der Hauptstadt entfernte. Dies gelang schließlich Davout,
der, vom Kaiser mit Vorwürfen gegen die abtrünnigen Minister
empfangen, sich kühl und förmlich seines Auftrages entledigte.
Napoleon weigerte sich nicht Am 25. Juni vertauschte er den
Pariser Palast mit dem Lustschloß von Malraaison, wo ihn die
Exkönigin Hortense, die es von ihrer Mutter geerbt hatte,
empfing. Hier verbrachte er die folgenden Tage, scheinbar in
Erinnerungen versunken an die Zeit, wo er in denselben
Räumen als Konsul die Pläne zu seiner Weltherrschaft entwarf,
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3»>4 Die provisorische Regierung gegen Napoleon II.
und das Projekt seiner Niederlassung in Nordamerika er-
wägend, da ihn Frankreich von sich stieß. Und nicht nur ihn
allein, sondern auch den, zu dessen Gunsten er sich der Macht
entäußert hatte. Denn war nicht schon die Einsetzung einer
provisorischen Regierung am 22., anstatt der Wahl einer Re-
gentschaft, ein widerstrebender Zug der Volksvertretung ge-
wesen? Und wenn es am Ende den ßonapartisten der zweiten
Kammer auch noch am Tage darauf gelungen war, diese dazu
zu bringen, daß sie Napoleon II. als Kaiser von Frankreich
anzuerkennen beschloß, so beschloß sie doch in einem Atem,
daß die provisorische Regierung als „eine Bürgschaft
der Freiheit und der Ruhe der Nation" nebenher bestehen
blieb.*) Und wenn dann gleich eine aus den Kammern ge-
wählte Deputation ins Hauptquartier der Verbündeten ent-
sendet wurde, um ihnen den Frieden auf der Grundlage der
Integrität Frankreichs und der Herrschaft des jungen Bona-
parte nahezulegen, so wußte Fouche, der hinterhältige Präsident
der Fünfmänner, der längst mit einem Vertrauten Lud-
wigs XVI] I. angeknüpft hatte, nur zu gut, daß der Sohn des
gestürzten Kaisers bei keiner der Mächte, auch bei Österreich
nicht, auf Anerkennung zählen durfte.**) Und jene Sendboten
wußten es auch. Als sie auf den Karamerbeschluß aufmerksam
gemacht wurden, antworteten sie, man möge ihn als eine Farce
betrachten, sie hätten die Hände frei und könnten tun, was
sie wollton.***) Darum läßt Fouche auch die Regierungsdekrete
nicht im Namen Napoleons IL, sondern nur in dem des fran-
zösischen Volkes promulgieren.
Inzwischen war aber der Feind, Blüchers Preußen den
*) „Moniteur'* vom 24. Juni 1815.
**) Daß Österreich nicht daran dachte, ergibt sich aus der Weisung
Metternichs an den Agenten Ottenfels aus dem April: „Österreich ist,
vor allen andern, weit davon entfernt, eie (die Regentschaft) zu wünschei» u
(Nachgelassene Papiere II. 515), aus dessen Weisung an Merveldt in
London: „Der Kaiser werde sie nie als eins der Ziele der Anstrengungen
der Mächte zulassen" (Wertheimer, Reichstadt, S. 184), aus Marie
Luisens jeden Gedanken daran mit tiefer Abneigung fortweisenden
liriefen in jener Zeit (Marie Luise und der Sturz Napoleons, S. 415).
***) Metternich an Hudelist, 26. Juni 1815 (W. St. A.). Marie
Luhe u. d. Sturz Napoleons, S. 415 Anm.
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Von Malmaison nach Rochefort.
365
Engländern weit voran, immer näher gekommen, und Mal-
maison wird bald bedroht sein. Da besehließt Napoleon im
letzten Augenblick, am 29. Juni — soeben war ein franzö-
sisches Regiment mit „Vive PEmpereur!" vorübergezogen —
sich der provisorischen Regierung als einfacher General zur
Verfügung zu stellen, nur um die Hauptstadt zu retten und
die getrennten Gegner zu schlagen, wie er sagen ließ. Fouchö
aber gab dem Überbringer der fast naiv klingenden Botschaft
zur Antwort, Napoleon sei durchaus irriger Ansicht, wenn er
die Mitglieder des Gouvernements für so verrückt halte, auf
seinen Vorschlag einzugehen. Man könne ihm nur raten,
schleunigst abzureisen, da man für seine Sicherheit nicht mehr
einstehe. Und das war nicht unwahr. Wissen wir doch, daß
ein preußisches Detachement geradezu Befehl erhalten hatte,
sich seiner Person zu versichern und ihn zu erschießen. Kaum
war der Bote nach Malmaison zurückgekehrt, so befahl der
Kaiser die Abreise. Er war schon in Paris dazu bereit gewesen.
Damals hatte sie Fouche durch allerlei Weiterungen hinter-
trieben, vielleicht um mit der Auslieferung Napoleons den
ersehnten Waffenstillstand zu erkaufen. Wellinerton wenig-
stens wußte von solchen Anerbietungen nach Hause zu be-
richten. Als aber dann die Verbündeten die Waffenruhe unter
jeder Bedingung ablehnten, während die heimkehrenden Trup-
pen den Kaiser zu einem neuen Abenteuer verleiten konnten,
da mahnte Fouche" selbst mit allem Eifer zur Abfahrt. Napoleon
zog seinen Soldatenrock aus und fuhr in bürgerlicher Kleidung
mit Bertrand, Savary und dem General Becker, der von
Regierungs wegen zu seinem Begleiter bestellt war, von dannen.
Die Reise ging über Tours nach der Hafenstadt Roche-
fort, wo zwei französische Fregatten bereit lagen, um ihn
nach Amerika zu bringen, vorausgesetzt, daß es möglich war,
den Engländern zu entkommen, denn die begehrten Geleit-
scheine hatten diese, wie begreiflich, abgelehnt. In Niort
wurde der Kaiser von den Offizieren eines Husarenregiments
erkannt, das ihn bestürmte, an seiner Spitze nach Paris zurück-
zukehren und das Kommando über die Armee zu übernehmen.
Ob damals wirklich, wie ein Getreuer des Kaisers berichtet,
Briefe mit den Generalen Clauzel und Lamarque gewechselt
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366 An Bord der „Saale".
wurden, die in Bordeaux und in der Veniee kommandierten,
um einen Militäraufstand gegen die Pariser Regierung ins
Werk zu richten, läßt sich nicht weiter nachweisen. Jeden-
falls wurde die unmögliche Idee sogleich wieder aufgegeben.*)
Am Tage darauf — am 3. Juli — gelangte man nach Roche-
lort. Hier entstand aus der Schwierigkeit, an dem blockieren-
den englischen Kreuzer, dem „Bellerophon", vorbeizukommen,
ohne daß die Fregatten Schaden litten, eine neue Verzögerung.
Bis zum 8. überlegt Kapoleon täglich und umständlich im
Verein mit seiner Umgebung, in der sich auch General Gour-
gaud, der Kämmerer Graf Las Cases, der junge General-
adjutant Graf Montholon, General Lallemand u. a. befinden,
die Mittel, wie die Briten zu täuschen wären. Es werden aus-
führbare Vorschläge gemacht. Man will ihn auf kleinen
Schiffen heimlich über den Ozean bringen. Aber er lehnt
diec ab. Gegen den Vorschlag eines der Kapitäne der beiden
Fregatten, den „Bellerophon" zu beschäftigen und damit dem
zweiten Segler den Weg zu öffnen, mußte sich Becker wenden,
der den Kaiser nicht ohne Mühe dahin bringt, daß er sich
am 9. nach der nahen Isle d'Aix hinüberfahren läßt und auf
der Fregatte „Saale" Quartier nimmt. Hier sucht ihn Bruder
Joseph auf, der sich in Bordeaux auf einem Amerikaner seine
heimliche Fahrt gesichert hat. Er will ihm diese Gele-
genheit angeboten haben, um hier seine Rolle weiterzuspielen.
Aber die Sache ist nicht verbürgt. Jedenfalls ging Napoleon
auch darauf nicht ein. Inzwischen war eine Nachricht aus der
Hauptstadt eingetroffen, die aller Säumnis ein jähes Ende be-
reitete. Am 8. Juli, einen Tag nach dem Einzüge der Preußen,
war Ludwig XVIII. unter Englands Protektion und der Zu-
stimmung der andern Monarchen nach Paris zurückgekehrt,
und zwei Tage später sind auch diese dort eingetroffen. Jetzt
muß jedes weitere Zaudern Napoleon verderblich werden. Er
*) Montholon, Captivitc de St. Helene, p. 33, spricht sehr be-
stimmt davon. (rourgaud (Journal, II. 559) erwähnt nur einer Art
Kriegsrat am Abend des zweiten Juli: „Man ist der Meinung, nach
Orleans zurückzukehren, wo sich die Armee befindet/' Er erzählt aber
auch, daß ihm Napoleon schon um 9 Uhr seine Instruktionen für Roche-
foit diktierte.
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Napoleon überliefert sich den Engländern. 367
will sich nun geradezu mit dem Kommandanten des englischen
Schiffes, Kapitän Maitland, in Verkehr setzen und von seinen
Feinden ein Asyl ansprechen. Mit diesem Gedanken hatte er
sieh bereits in Paris getragen: jetzt sollte er zur Tat werden.
Als Maitland ihm sagen ließ, man werde ihn nach seinem
Wunsche nach England bringen, und als die meisten Personen
seiner Umgebung, Gourgaud voran, zurieten, entschloß er sich,
das Beispiel jenes Atheners nachzuahmen, der, von seineu
Landsleuten verbannt und verurteilt, bei den Persern, die er
blutig bekämpft hatte, eine Zuflucht suchte und fand. Er habe
seine politische Laufbahn vollendet, schrieb er an den Prinz-
regenten nach London, er komme gleich Themistokles, um
am Herde des britischen Volkes niederzusitzen, und stelle
sich unter den Schutz seiner Gesetze. Und damit ging er am
15. Juli an Bord des feindlichen Fahrzeuges.
Hatte Napoleon vergessen, daß der Vertreter Groß-
britanniens nicht dahinter geblieben war, als man auf dem
Wiener Kongreß die Acht über ihn aussprach? Der Admiral,
zu dessen Kommando der „Bellerophon" gehörte, hatte lange
den strikten Befehl, sich seiner zu bemächtigen und ihn nach
Plymouth zu bringen. Worauf rechnete er also? Denn daß
er rechnete, ist wohl gewiß. Nun, seine Unterhändler hatten
aus ihrer zweiten Unterredung mit Maitland dessen Äußerung
mitgebracht, der Kaiser werde in England aufmerksam be-
handelt werden, denn dies sei ein Land, wo der Monarch und
seine Minister keine willkürliche Gewalt üben und wo die Hoch-
herzigkeit des Volkes und dessen freisinnige Meinung noch
über der Souveränität stehen. Darauf rechnete er, wenn er
6ich freiwillig auslieferte. Aber sein Kalkül war falsch. Als
er den französischen Boden verließ, war er nicht der Gast,
sondern der Gefangene der Macht, die er stets aufs eifrigste
bekriegt hatte.*)
*) Ea ist heute durch die Forschungen Houssaycs („1815" III.
398) erwiesen, daß Napoleon, wenn er nun einmal nicht sein Heil in
heimlicher Flucht suchen wollte, sich noch immer für das kleinere
Übel entschieden hatte, als er sich freiwillig England auslieferte. Denn
bereits waren Boten der königlichen Regierung nach Roehefort unter-
wegs mit dem Auftrage an den Kommandanten der „Saale", ihn dem
Engländer gefangen zu übergeben. Nur als Kuriosum sei hier er-
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368 Die Spuren der „Hundert Tage*.
Und wie lieJi er das Land zurück, in das ihn seine un-
überwindliche Herrschsucht noch einmal geführt! Im Felde
besiegt, von Feinden überschwemmt, von Parteien, die sein
Erscheinen vollends widereinander entfesselt hatte, zerrissen:
das war Frankreich nach dem Tage von Waterloo. Kaum war
die Kunde von der verlorenen Schlacht nach der Provence
gelangt, so brach dort die royalistische Furie los und begann
unter den Bonapartisten, Republikanern und Protestanten von
Marseille, Ntmes, Avignon, Toulouse und Toulon eine Schläch-
terei, die den Schandtaten des jakobinischen Schreckens nichts
nachgab. Und wie der Pöbel unten, so wütete die Kamarilla
oben gegen alle, die der Verführung des Korsen erlegen waren.
Eine Proskriptionsliste sammelte die Namen seiner Getreuen,
und wer nicht zu fliehen vermochte, ward hingerichtet. So
Labedoyere, der ihm vor Grenoble sein Regiment zugeführt,
so Ney, den bei Waterloo der Tod verschmäht hatte, selbst
als er ihn in Verzweiflung suchte. Und die Familie, deren
Mitglieder die Throne Europas bevölkert hatten, solange das
allgebietende Zepter desjenigen die Welt verschüchterte, der
jetzt auf der Reede von Plymouth zum Schauspiel für eng-
lische Gaffer diente, sie war bald in alle Winde zerstoben,
heimatlos wie damals, als sie vor zweiunä zwanzig Jahren aus
Ajaccio flüchten mußte.
In der Nacht vom 25. zum 26. Juli war der „Bellero-
phon" in See gestochen und am nächsten Morgen an die Küste
Englands gelangt, wo das Schiff unter strenger Bewachung
blieb, bis aus London die Entscheidung über das Schicksal
des Gefangenen eintraf. Dort hätte man es am liebsten ge-
sehen, er wäre Ludwig XVIII. in die Hände gefallen und als
Rebell hingerichtet worden, wie der britische Premier Liverpool
noch am 21. Juli an Castlereagh schrien.*) Dem aber war
Napoleon entronnen, und man mußte sich wohl oder übel mit
seinem künftigen Lose beschäftigen. Am 30. ward es ihm ver-
kündet. Da es sich mit den Pflichten gegen England selbst
und die Verbündeten seines Königs schlecht vertragen würde,
wähnt, daß er einmal auf St. Helena meinte, er hätte besser getan,
sich nach Österreich als nach England zubegeben. (Gourgaud, I. 579.)
*) Wellington. Suppliamentary dispatehes, XI. 47.
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Der Urtcilsprucü Europas. 369
hieß es, wenn „General Buonaparte" Mittel und Gelegenheit
behielte, nochmals den Frieden von Europa zu stören, so sei
es notwendig, ihn in seiner persönlichen Freiheit zu be-
schränken. Man habe daher zu seinem künftigen Aufenthalt
die Insel St. Helena bestimmt, deren Klima gesund sei und
deren isolierte Lage es erlaube, ihn mit mehr Nachsicht zu
behandeln als dies anderwärts die notwendigsten Vorkehrungen
zulassen würden. Man gestatte ihm drei Ofliziere, einen Arzt
und zwölf Diener dahin mitzunehmen, die jedoch die Insel
ohne Erlaubnis der britischen Regierung nicht wieder ver-
lassen dürften.*) So das Urteil. Allzusehr mag es Napoleon
nicht überrascht haben, denn der Name St. Helena war schon
zur Zeit der Kongreßverhandlungen, wenn auch nicht offiziell,
so doch in Gesprächen genannt worden, und er mußte auf die
Entfernung von Europa um so mehr gefaßt sein, da sie ihm
doch schon auf Elba gedroht hatte. AVenn er also jetzt
protestierte gegen die Gewalt, die man ihm antat, wenn er
sich darauf berief, daß er ohne Zwang auf ein englisches
Schiff gekommen und daher Englands Gastfreund, nicht Eng-
lands Gefangener sei, so konnte er damit nur Eins beabsich-
tigen: die öffentliche Meinung dieses Landes für sich zu
stimmen und auf sie eine Wirkung auszuüben, die, wenn auch
nicht sogleich, 60 doch vielleicht in nicht zu ferner Zeit sich
geltend machte und seine Fesseln löste. Wir werden ihn
forthin durchaus im Banne dieser Idee leben und handeln
sehen. Freilich vergebens. Denn so einfach lagen die Dinge
nicht, und nicht von England allein ward sein Geschick be- '
stimmt. Zur selben Zeit, am 2. August 1815, wurde in Paris
von Vertretern der Alliierten ein Vertrag unterzeichnet, der
Napoleon als Gefangenen all der vier Mächte erklärte, die das
Abkommen vom 25. März wider ihn getroffen hatten. Seine
Bewachung nur und die Wahl des Ortes seiner Internierung
ward England zugestanden; die übrigen Staaten behielten sich
das Recht vor, Kommissare an seinen Bestimmungsort zu
senden, um sich von seiner Gegenwart zu überzeugen.**)
Am 7. August bestieg Napoleon das Linienschiff „North-
*) Montholon, Captivittf, p. 60.
**) D'Angeberg, II. 1478.
Fournier, Napoleon I. 24
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370
Nach St. Helena.
umöerland", das ihn nach St. Helena bringen sollte. Er hatte
sich Bertrand, Montholon und Las Cases zu Begleitern er-
wählt, doch setzte es auch noch General Gourgaud durch, mit-
reisen zu dürfen. Die beiden Ersten nahmen ihre Familien mit.
Außerdem begleitete der Schiffsarzt O'Meara vom „Bellero-
phon" den Kaiser. Der Abschied von Savary, dessen Begleitung
die britische Regierung ausdrücklich verweigert hatte, und den
andern Personen der Suite wird als ein tiefbewegter geschil-
dert. ,.Sie sehen, Mylord," sagte Las Cases zu dem komman-
dierenden Adniiral, „hier weinen die Zurückbleibenden''.
Drei Tage später, am 10. August, hatte der „Northumberland"
mit zwei Fregatten, welche die Bedeckung trugen, den Kanal
La Manche verlassen, und die Küste Europas verschwand vor
den Blicken des Verstoßenen.
Am 15. Oktober kam die düstere Felseninsel mit ihren
nahezu senkrecht gegen das Meer abfallenden Wänden in
Sicht. In dem einzigen Hafen, Jamestown, legte sich der „North-
umberland" vor Anker. Das für Napoleon bestimmte Land-
haus zu Longwood, auf einer Hochebene mit etwas kühlerer
Temperatur, war noch nicht in Stand gesetzt, und er bezog
unterdes eine Wohnung in der nahen „Briars" benannten
A^illa des Kaufmanns Balcombe, wo er mit den Hausleuten
aufs freundlichste verkehrte, mit den Kindern spielte und
sich manchen Scherz gefallen ließ. Erst im Dezember über-
siedelte er nach Longwooi. Dort ward in einiger Entfernung ein
Kordon gezogen, innerhalb dessen er völlig frei sich bewegen
konnte; verließ er ihn, so hatte ihn ein englischer Offizier zu
begleiten.*) Doch war ihm dies nicht gestattet, wenn Schiffe
in Sicht kamen; dann durfte auch weder er noch irgendjemand
seines Gefolges mit den Einwohnern verkehren. Alle Briefe,
die nach Longwood adressiert waren oder dort geschrieben
wurden, unterlagen der Durchsicht durch den Gouverneur.
Ein solcher war 1815 noch nicht ernannt, und der in diesen
Gewässern stationierte Admiral Cockburn vertrat einstweilen
*) Tn Seaton, „Napoleons captivity in relation to S. Hudson
Lowe" ist dieses Gebiet auf einer Karte von St. Helena verzeichnet;
umschrieb 13 enjrl. Meilen.
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Der Gefangene und sein Kerkermeister. 371
dessen Stelle. Als Diesem Napoleon im Xovember einen Protest
gegen die erwähnten Vorsichtsmaßregeln durch den „Oberst-
hofmarschall" Bertrand überreichen ließ und ihn zurückerhielt,
weil darin von einem „Kaiser" Napoleon die Rede sei und
der Admiral nur einen „General" Buonaparte kenne, begann
zwischen der Gefangenenkolonie und der Behörde ein kleiner
Krieg, der nur noch erbitterter geführt wurde, nachdem der
neue Gouverneur Hudson Lowe angekommen war und sein
Amt mit mehr Pedanterie, als nötig, zu versehen begann.
Auch er ließ den Kaisertitel nicht gelten, da, wie er meinte,
England Napoleons Imperatorwürde niemals während seiner
Regierung und nur vorübergehend auf Elba anerkannt hätte,
nach dem Bruche des betreffenden Vertrages aber keineswegs
mehr dazu verpflichtet wäre.*) Lowe hatte einmal Capri —
nicht sehr glücklich — gegen die Franzosen verteidigt und war
in den Befreiungskriegen dem Hauptquartier Blüchers zuge-
teilt gewesen. Dort mag er allerdings wenig schmeichelhafte
Urteile über den vernommen haben, der jetzt seiner Obhut
anvertraut war. Übrigens tat er als Gouverneur seine Pflicht,
wenn auch verdrossen und verschlossen, wortkarg und seltsam,
immer voll Mißtrauen und um seine Autorität besorgt, aber
ohne die Gehässigkeit, die man ihm in Longwood zuschrieb.**)
*) Dies war nicht ganz richtig, da das Protokoll der Chätilloner
Konferenz vom 17. Februar 1814, das dem Kaiser seinen Titel gibt und
dessen „Erben und Nachfolger" gelten läßt, auch von den englischen
Bevollmächtigten unterzeichnet worden war. (S. D'Angeberg, Congres
de Vienne, I. 110, und Rochechouart, Souvenirs, p. 309.) Die Titel-
frage kam auch einmal, Ende 1816, zwischen Napoleon und Admiral
Malcolm, der Cockburn ersetzte, zur Sprache. Als Dieser ihm vorstellte,
daß man ihn doch nicht mehr als Souverän behandeln könne, ant-
wortete er: „Und warum nicht? Man soll mir diese Ehren zu meinem
Vergnügen in solcher Lage lassen. Was kann das auf dieser Klippe
schaden?" Auf die Frage aber: ob man ihn demnach als Kaiser be-
zeichnen solle? mußte er mit Nein antworten, da er abgedankt habe;
doch General sei er schon seit Ägypten nicht mehr. Er schlug schlecht-
weg „Napoleon" vor, und dazu verstand sich schließlich auch der
Gouverneur. Schiitter, Die Berichte Stürmers (d. österr. Kommissars)
aus St. Helena, S. 61 u. 108.
**) Ich vermag heute dieses vor sechzehn Jahren niedergeschriebene
Urteil nicht zu ändern. Lord Roseberrys in seinem Buche „The last
phase« unternommener Versuch, im Sinne der alten Parteitradition
24*
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o / a Der Hof von Longwood.
Hier hatte man den Kaiser in dem größten ebenerdigen
Hause, einem ehemaligen Meierhofe, schlecht und recht unter-
gebracht. Darin fand sich für ihn neben einem wenig freund-
lichen Schlafzimmer mit einem Baderaum, ein Salon mit einem
Billard, worauf er gerne spielte, ein Speisezimmer und ein
Gemach, das man, wie in vergangenen Zeiten, das „topo-
graphische Kabinett" nannte. In anstoßenden Nebengebäuden
wohnten noch die beiden Las Cases, Vater und Sohn, das Ehe-
paar Montholon und General Gourgaud; Bertrand mit seiner
Familie hatte ein etwas entfernteres Haus bezogen.*) So weit
die Kräfte reichten, wurde der Schein des Hoflebens aufrecht
erhalten. Bertrand behielt seinen Titel eines Obersthofmar-
schalls, Gourgaud bekam — wenn auch wohl nur scherzweise
— den eines Oberststallmeisters und mit ihm die Fürsorge
für die vier Wagen- und acht Keitpferde des Marstalls und
eine Kutsche, in der Napoleon gegen Abend mit den beiden
Frauen ausfuhr, d. h. wenn er sich überhaupt draußen sehen
ließ, was oft monatelang nicht der Fall war. Graf Montholon
überwachte das innere Hauswesen als eine Art Obersthof-
meister. "Uni auch dieser kleine Hof hatte seine Etikette.
Niemand trat beim Kaiser ohne Befehl ein und ohne eine
Audienz nachgesucht zu haben. Niemand durfte in seiner
Gegenwart sitzen, den er nicht dazu aufforderte, und oft stand
Bertrand stundenlang bis zur Erschöpfung. Zur Dinerstunde
erschienen die Damen in Toilette, die Herren in voller L'ni-
form, der Kaiser selbst trug das Großkreuz der Ehrenlegion.
Anfangs hatte Dieser den Vormittag im Bette zugebracht,
dann allein gefrühstückt und um 7 Uhr gespeist. Das hatte
zur Folge, daß er oft des Nachts das Bett verließ, um zu lesen,
oder auch um ein Bad zu nehmen, dessen Zeitdauer er jetzt,
zugunsten des Gefangenen gegen die Maßnahmen der torystischen Regie-
rung und Lowes aufzutreten, hat vor der unbefangenen wissenschaft-
lichen Kritik (durch Rose, in „Napoleon" II. 539 ff., und in „Napoleonic
studies", p. 305 ff., und durch Seaton in „Napoleons captivity in
relation to Sir Hudson Lowe" (1903) nicht standzuhalten vermocht.
*) Zu des Kaisers persönlicher Bedienung waren Marchand, der
erste Kammerdiener, der „Mameluck" St. Denis, zwei Reitknechte und
einige Lakaien mitgenommen worden. Für den Haushalt sorgten ei»
Maitre d'hötel, ein Kellermeister, ein Koch und ein Tafeidecker.
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Napoleons Lebensweife. 373
immer in der Annahme, daß es ihm besonders zuträglich aei,
maßlos ausdehnte. Erst später gewöhnte er sich an etwas
mehr Kegelmäßigkeit, stand — von den Ärzten zu mehr Be-
wegung ermahnt — früh am Morgen auf und arbeitete mit
Hilfe seiner Diener und einer Anzahl gemieteter Chinesen in
seinem Garten. Ziegen und anderes Getier, das eindrang,
schoß er nieder. Da trug er gewöhnlich einen bequemen
Pflanzeranzug, den er Nachmittags mit seiner ehedem ge-
wohnten Uniform oder einem grünen Jagdanzug vertauschte.
Diese Kleider wiesen mit der Zeit Spuren ihrer Dienstleistung
auf, er legte sie aber doch nicht ab, um nicht englische Stofe
tragen zu müssen. Seine übrige Zeit teilte er zwischen Arbeiten
an seinen Memoiren, die er meist Las Cases, Gourgaud oder
Montholon, oft viele Stunden lang ohne zu ermüden, diktierte,
Billard- oder Schachspiel, der Lektüre der englischen Zeitun-
gen, die er jetzt erst lesen lernte, und der neuer Bücher, die ihm
zugeschickt wurden. Des Abends, nach dem Speisen, las er
wohl auch selbst aus Voltaire oder Corneille, aus der Odyssee
oder der Bibel vor und war dann nicht eben erbaut, wenn
eine oder die andre der zuhörenden Frauen ganz respekts-
widrig einschlief.
Weitaus fesselnder allerdings mag es für seine Um-
gebung gewesen sein, wenn er über unterschiedliche ernste
Lebensfragen, über Menschen und Dinge, seine Meinung
äußerte. Diese Meinung war nicht immer die gleiche, sie
wechselte oft je nach seiner Stimmung, aber sie war doch
stets interessant. So zum Beispiel wenn er sich in Hypothesen
über die ewigen Dinge erging und die Frage nach der Herkunft
der Seele und ihrem Schicksal nach dem Tode aufwarf. Er
war dabei durchaus Materialist. „Wo ist die Seele bei eiaem
Säugling? Wo bei einem Verrückten?" fragte er. „Ein
Nagel in Euren Kopf getrieben, macht Euch wahnsinnig. Wo
ist da Eure Seele ? Sie begleitet den Körper, sie wächst mit
dem Kinde und geht mit dem Greise abwärts . . . Ich kann
mich nicht erinnern, was ich vor meiner Geburt war. Und was
wird aus meiner Seele nach dem Tode? Was den Körper be-
trifft, nun, der wird zur Steckrübe oder zur Karotte . . . Wer
einmal tot ist. ist gründlich tot. . . Was ist Elektrizität, Galvanis-
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37-1 Gespräche über Gott und die Welt.
mus, Magnetismus? Da liegt das große Geheimnis der Natur.
Der Galvanisrnus arbeitet in der Stille. Ich, für mein Teil,
glaube, daß der Mensch das Produkt dieser Fluide und der
Atmosphäre sei, daß das Gehirn diese Fluide aufsauge, was das
Leben schafft, daß die Seele sich aus diesen Fluiden zusammen-
setze, die nach dem Tode in den Äther zurückkehren, von wo
sie dann durch andre Gehirne aufgesogen werden . . . Aller-
dings ist der Gedanke an einen Gott das nächstliegende: Wer
hat das alles gemacht? Da ist der Schleier, den zu lüften
unsere Seele und unser Verständnis nicht ausreichen. Die
einfachste Idee wäre die, die Sonne anzubeten, die alles be-
fruchtet. Ich wiederhole, ich glaube, daß der Mensch das
Produkt der von der Sonne erwärmten Atmosphäre ist und
daß nach einiger Zeit diese Wirkung aufhörte . . . Hätte ich
eine Religion zu wählen, so würde ich die Sonne verehren,
die alles belebt; sie ist der wahre Gott der Erde ... Ich würde
am Ende auch an eine Religion glauben, aber nur an eine, die
vom Anfang der Welt an bestünde; doch da ist Sokrates, Plato,
Moses, Mahomet, und da glaube ich nicht mehr. All das wurde
von Menschen erfunden. Ich weiß, um religiös zu sein, zu viel
von der Geschichte und habe selbst genugsam mit Religionen
operiert ... Ich liebe diejenige Mahomets besonders, denn sie
ist weniger lächerlich als die unsrige; die Türken nennen uns
nicht umsonst Götzendiener. Auch hat sie in zwanzig (ein
andermal: in zehn) Jahren die halbe Welt erobert, was dem
Christentum erst nach drei Jahrhunderten gelang... Ich bin
nicht überzeugt, daß Jesus je gelebt habe, und würde an
lie christliche Religion nur glauben, wenn sie von jeher
existiert hätte." Übrigens sei der Katholizismus dem Anglika-
nismus vorzuziehen usw. Als der gläubige Gourgaud meinte,
der Kaiser werde auch noch einmal in Frömmigkeit enden,
antwortet Dieser, man werde erst fromm, wenn der Körper
schwach werde und man seinen Kopf nicht mehr in der Gewalt
habe . . . Religion sei allerdings nötig, aber nur um die Men-
schen gesellschaftlich zu festigen.*) Und dann erging er sich
*) S. Gourgaud, Journal I. 409, 435, 440, 451, 354; II. 22, 270,
275, 437 u. a. a. 0.
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Über deu Staat und seine Verfassung. 375
in zahllosen Gesprächen über Kirche und Staat und über des
Letzteren beste Einrichtung, wobei er sich von der konstitu-
tionellen Wendung, die er zuletzt in Frankreich genommen
hatte, mitunter recht weit entfernte. „Ich hatte vielleicht
Unrecht, Kammern zu bilden; ich glaubte, es werde mir
nützen und mir Mittel verschaffen, über die ich, wenn ich
Diktator blieb, nicht verfügen konnte. Ich hatte Unrecht,
eine kostbare Zeit mit einer Konstitution zu verlieren, um so
mehr, als es von vornherein meine Absicht war, die Kammern
fortzuschicken, sobald ich mich als Sieger und außerhalb jeder
Verlegenheit (hors d'affaire) sah . . . Ich folgte auch nur der
Mode, als ich mich mit einer Verfassung beschäftigte. Denn
eine beratende Versammlung ist eine schauderhafte Sache.
Die englische Verfassung taugt eben nur für England . . .
Beratschlagende Körperschaften muH man nicht einführen;
die Menschen darin, auf die man rechnet, wechseln zu rasch
ihre Meinung. 0, Waterloo ! Waterloo ! . . Alles hing von
Waterloo ab . . . Ich bin der Meinung, daß für Frankreich gar
keine Verfassung taugt; das ist ein rein monarchischer Staat;
das will sagen: keine beratende Versammlung!, keine gesetz-
gebende Körperschaft! Will man in einem Lande eine Revo-
lution anzetteln, dann braucht man nur eine repräsentierende
Körperschaft einzuberufen, und sofort bilden sich zwei Parteien
und es entstehen Haß und Leidenschaften."*) Und wie auf-
merksam hörte man ihm zu, wenn er von seiner Jugend und
seinem Emporkommen erzählte. Freilich nicht immer ganz
richtig, so zum Beispiel wenn er seinem „üiscours" über die
Lyoner Preisfrage**) nachrühmte, er sei tatsächlich mit einem
Preise im Werte von fünfzig Louis gekrönt worden. Seine
großen Erfolge in Frankreich hat er übrigens nicht bloß seiner
Persönlichkeit zugeschrieben. Als er einmal Voltaires „Maho-
met" vorlas und auf den Propheten zu sprechen kam, sagte
er, Dieser habe die Bedingungen für seine welthistorische
Stellung vorgefunden, und fuhr fort: „Das ist so wie bei mir.
Auch ich fand alle Elemente für ein Kaiserreich vor. Man
*) Ebenda, I. 93, 99, 103, 135, 325.
**) S. Band I, S. 37.
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376
Über die Fraue.i.
hatte die Anarchie satt und wollte sie los sein. Wäre ich nicht
gekommen, so hätte wahrscheinlich ein Andrer das Gleiche
getan; Frankreich hätte immer die Welt erobert Ich wieder-
hole: ein Mensch iat nur ein Mensch. Seine Mittel sind nichts,
wenn ihn nicht Umstände und Stimmung (opinion) be-
günstigen. Die Stimmung beherrscht alles."*) Und so
sprach er, der so gerne im Heden sich gehen ließ, auch über
die Personen, die ihm gedient hatten und über die er nicht
immer sich vorteilhaft äußerte, und über tausend unterschied-
liche Dinge. Unter anderem auch über die Frauen im Allge-
meinen und die seinigen insbesondere, über die Anmut,
Schwatzhaftigkeit, Verschwendungssucht und Verlogenheit Jose-
phinens und über die Naivität, Verschwiegenheit und Wahrheits-
liebe Marie Laisens., von der er gelegentlich andeutete, daß sie ihm
in Amsterdam das Leben gerettet habe.**) Und dann er-
zählte er nicht ohne Rehagen von seinen kleinen Abenteuern
daneben, zuletzt noch in Lyon. Aber er ist den Frauen für
ihre Gunst nicht sonderlich dankbar, denn er erklärt, daß er
eine etwac tiefere Neigung violleicht nur einer einzigen,
Josephinen, in seinen jungen Jahren entgegengebracht habe;
er behauptet auch, daß man ihnen in Frankreich viel zu viel
Wichtigkeit (consideration) beilege; sie dürften nie als den
Männern gleichwertig angesehen werden iral seien in Wahr-
heit auch nur Maschinen zur Kindererzeugung. Er fand es
lächerlich, daß man einem Manne nur eine legitime Frau ge-
statte. Ein andermal urteilt er besser über sie. Eo sei gut,
sie zu Rate zu ziehen, sagte er, und wenn er noch einmal wieder
auf den Thron kommen sollte, würde er zwei Stunden im Tage
dem Gespräch mit klugen Frauen widmen. Und daß er wieder
auf den Thron kommen werde, das schien ihm durchaus nicht
*) Gourgaud, 11. 78.
**) Gourgaud, II. 196, 278: „Österreich hat mich gestürzt, je-
doch die Kaiserin hat mir in Amsterdam das Leben gerettet . . . Ich
war ohne Hilfe; sie schickte mir ihren Arzt, ihre Pagen." In den Me-
moiren der begleitenden Personen und in M. Luisens Briefen findet
man über diesen Krankheitszufall nichts. Auch die Kleinkunst Massons
lM. Louise, p. 346 ff.) scheint hier versagt zu haben; er nimmt von der
Aumerknrg Oourgauds keine Notiz.
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Befreiungspläne werden von Napoleon abgelehnt. 377
unmöglich. Er dachte noch „etwa dreißig Jahre" zu leben und
hielt „seine Karriere noch nicht für abgeschlossen".*)
Nicht wenig nahm die Fehde mit Lowe den Kaiser in
Anspruch. Diesem gegenüber geriet er mitunter in höchst
ungerechten Zorn. Einmal drohte er ihm, dem Ersten, der
ohne seine Zustimmung über seine Schwelle treten würde, eine
Kugel vor den Kopf zu schießen, ein andermal nannte er ihn
seinen Henker, so daß der Gouverneur gar nicht mehr erschien,
sondern sich nur täglich durch den diensttuenden Offizier, der
übrigens seinen Schutzbefohlenen auch nur selten sah, über
die Anwesenheit Napoleons rapportieren ließ.**) Napoleon
verfolgte dabei ein ganz bestimmtes System, dem die Hoffnung
auf seine Erlösung zugrunde lag. Er wollte nicht fliehen und
auch nicht gewaltsam befreit werden. Die Gelegenheit hierzu
ward ihm wiederholt in Aussicht gestellt; namentlich glaubten
einige nach Amerika entkommene Getreue, von dorther einen
Überfall auf St. Helena wagen zu können. So wollte im August
1816 ein Marineoffizier namens Fournier mit vier Schoonern
herüber segeln, um den Gefangenen zu entführen. Das lag aber
keineswegs im Sinne Napoleons. Es erschien ihm seiner nicht
würdig, und dann war er auch zu 6ehr um seine persönliche
Sicherheit besorgt. „Nicht sechs Monate", sagte er zu Montholon,
„könnte ich in Amerika sein, ohne von den Mördern überfallen
zu werden, welche die im Gefolge des Grafen von Artois nach
Frankreich zurückgekehrten royalistischen Komitees gegen
mich gedungen haben. In Amerika sehe ich nichts als Mord
und Vergessenheit, ich bleibe also lieber auf St. Helena."
„Mord und Vergessenheit"; er fürchtete das Eine wie das
Andre. Aber damit war keinerlei Resignation ausgesprochen,
nein, er erwartete vielmehr zuversichtlich seine Befreiung von
einem Siege der britischen Opposition oder der Vertreibung der
Bourbons aus Frankreich. Als Lowe bald nach seiner Ankunft
sich anheischig machte, ein neues bequemeres Haus für ihn
*) Gourgaud, passim. Die Äußerungen über die Frauen, I. 390;
II. 8, 81. Vergl. damit oben S. 325.
**) S. Briefe eines solchen Offiziers bei Rose, Napoleonic studies,
p. 395 fl".
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Das System de» Gefangenen.
erbauen und binnen zwei Jahren herstellen zu lassen, erwiderte
er: „Ach, in zwei Jahren gibt es einen Ministerwechsel in
England oder eine neue Regierung in Frankreich, und ich bin
nicht mehr hier."*) Dieser Überzeugung entsprach völlig seine
zwiefache Absicht: einerseits für sich Stimmung unter den
Engländern zu machen, und anderseits das verlorene Zutrauen
der Franzosen wiederzugewinnen.
Das Erstere meinte er zu erreichen, wenn es ihm gelang,
den Beamten des Toryministeriunis zu diskreditieren und sich
als das Opfer unerhörter Willkür hinzustellen. Darum wurde
jede der behördlichen Verordnungen in ihrer Tendenz verdäch-
tigt und in ihrer Wirkung übertrieben. Die Anordnung, daß
dem Gefangenen weitere Spazierritte nur in Begleitung eines
englischen Offiziers gestattet waren, ward mit dem Entschluß
erwidert, völlig darauf zu verzichten und die für seine Gesund-
heit nachteiligen Folgen davon auf das Kerbholz des Gouver-
neurs zu setzen, der ihn der freien Bewegung beraube, und
der Regierung, die ihn in einem so verderblichen Klima zu-
grunde gehen lasse. Als Lowe einmal die Verpflegungsfrage
— vielleicht nicht allzu delikat — berührte, ließ Napoleon
einen Teil seines Silbergeschirres zerschlagen, um durch dessen
Verkauf, wie man erklärte, in den Besitz von eigenen Geld-
mitteln zu gelangen ; d. h. um zu zeigen, zu welchen Opfern
der Geiz dieses Regimes ihn treibe. „Es blieb uns nichts
übrig," schrieb Las Cases schon am 30. November 1815 in iein
Tagebuch, „als moralische Waffen. Um von ihnen den wirksam-
sten Gebrauch zu machen, war es notwendig, unser Verhalten,
unsere Empfindungen, selbst unsere Entbehrungen, in ein
System zu bringen: das war unerläßlich, damit ein großer Teil
der Bevölkerung Europas uns eine lebhafte Teilnahme widmete
und die Opposition in England nicht verfehlte, das Ministerium
*) Lowe gab dem französischen Kommissar Montchenu sein
Ehrenwort, daß Napoleon, der später diese Worte ableugnete, sie ge-
sprochen habe. Der Neubau wurde dann doch begonnen und 1820
fertiggestellt, von Napoleon aber nicht bezogen. Bei Gourgaud (II.
129) findet sich eine Stelle, wo er, 1817, dem König Ludwig XVIII.
nur noch drei Jahre Lebens prophezeit, worauf eine Krisis erfolgen
werde. In England hatte er viel Hoffnung, wie er sagte, auf die Prin-
zessin Charlotte gesetzt, die zu rasch dahinstarb. (Ebenda, I. 82.)
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Wahrheit und Dichtung. 379
wegen seines Benehmens gegen uns anzugreifen/ 4 *) Von „Ent-
beh rungen" war natürlich nicht entfernt die Rede. Napoleon
hatte, nach Montholons Zeugnis, 400.000 Franken in Gold,
fast ebensoviel in Diamanten und Millionen in Kreditbriefen
mitgenommen. Man hatte auch von dem Silberservice ein
Dutzend Schüsseln und Teller für Napoleon zurückbehalten,
-dem ein auf Steingut serviertes Diner Unbehagen verursachte.
Im übrigen lebte man, wie der Kaiser selbst im vertrauten
Kreise eingestand, recht gut**) Aber das durfte nicht nach
außen dringen; für die Außenwelt lebte man in einem mörderi-
schen Klima, nährte sich kärglich, war bedrängt und bedrückt
von einem hartherzigen Diener der englischen Politik, der den
Kerkermeister nur zu wahr spielte. All das mußte dann rasch
und weithin bekannt werden. Das geschah in der Weise, daß
Napoleon ., Briefe vom Kap der Guten Hoffnung" entweder
selbst diktierte oder durch Las Cases abfassen ließ, die
. all die Sünden Lowes und die Leiden seiner Schutzbefohlenen
in einem langen Register darstellten. Diese Briefe gelangten
dann heimlich nach London und erschienen dort im Jahre
1817 in Übersetzung als das vorgebliche Produkt eines Eng-
länders.***) Da wurde die Temperatur als heiß und kalt in
*) Forsytb, Captivity I. 5. Las Cases hat die Stolle, die Lowe
im Original des Manuskriptes kannte, später unterdrückt.
**) „Wir sind hier ganz gut daran, u sagte er, „haben eine gute
Tafel, und wenn wir uns beklagen, so ist es, weil man sich immer
beklagen muß" (Gourgaud, 1. 342). In einem Vierteljahre, vom
Januar bis März 1817, vertilgte die kleine Kolonie ein paar tausend
Flaschen Wein, wobei jeder Lakai taglich eine Flasche Kapwein er-
hielt Der Verbrauch für den Tag weist achtzig Pfund Fleisch, eine
entsprechende Anzahl Hühner u. s. w. auf.
***) Die „Letters from the Cap of Good Hope in reply to M.
Warden, Lettres written from Saint-Helena" (London, Picadilly, 1817 ^
sind in Rückübersetzung als „Lettres du Cap de Bonne Esperance" in
die Sammlung der Werke Napoleons aufgenommen worden, die den
Abschluß seiner offiziell edierten Korrespondenz bildet (Band XXXI).
Sie wenden sich an eine Lady C. und knüpfen an ein 1817 erschienenes
Buch der Sehiftsarztes Warden vom „Xorthumberland" an. Mit Ladv C.
ist wohl jene Lady Clavering, eine Französin, gemeint, au die Las
Oases einen auf der Insel aufgelesenen Diener heimlich absenden wollte,
der aber die Sache verriet und Las t.Ves' Arretierung und Trennung
von Napoleon herbeiführte. (Schiitter, Stürmers Berichte, S. 49.)
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380 Die „ Briefe vom Kap der guten Hoffnung".
jähem Wechsel geschildert, obgleich Napoleon selbst einmal
zu seiner Umgebung im Vertrauen geäußert hatte, wenn man
schon im Exil leben müsse, sei St. Helena am Ende noch der
beste Ort, die Witterung zwar einförmig und nicht gesund,
aber die Temperatur doch mild und angenehm.*) Und was den
Aufenthalt — hieß es in den Kapbriefen — noch verderblicher
in seinen Wirkungen mache, das sei die Beschränkung der
freien Bewegung und des Verkehrs, die der neue Gouverneur
dem Gefangenen auferlege, der keineswegs ein Gefangener sei,
da er sich freiwillig unter Englands Schutz begeben habe, wo
es doch in seiner Macht gestanden hätte, sich an die Spitze
der Armee zu stellen und den Krieg weiterzuführen. „Es waren
irrige Vorstellungen, die Napoleon sich von dem Einfluß eines
freien, großen und hochherzigen Volkes auf dessen eigene
Regierung gemacht hatte, die ihn dazu verleiteten, den Schutz
der englischen Gesetze dem eines Schwiegervaters oder eines
alten Freundes (Alexander I.) vorzuziehen." Das war an die-
selbe Adresse gerichtet, an die sich auch die Schlußphrase
wendete, in der man den Stil Bonapartes kaum verkennen
wird: „Das Schauspiel der Verfolgung und der Ungerechtig-
keit hat mich stets empört. Urteilen Sie, was ich empfand, als
ich in so feiger Weise einen Mann quälen sah, der in sechzig
Schlachten Sieger und einst der Gebieter so vieler Nationen
und Könige gewesen war. Da sagte ich bei mir selbst: „Ich
achte dich noch höher mit deiner Dornenkrone, die fremde
Gewalt auf deine Stirn gedrückt, als mit den vielen Diademen,
die sie ehedem geschmückt haben."
Aber dieser Appell wird vergeblich sein. Denn schon im
März 1817, als Lord Holland von der Opposition die Klagen
Napoleons, wie sie durch Montholon in einer Beschwerde-
schrift zusammengefaßt worden waren, vor das Oberhaus
brachte, ergriff dieses die Partei des Ministeriums, und selbst
hervorragende Parteigenossen Hollands stimmten gegen dessen
Antrag, dem Parlamente die Korrespondenz mit Lowe zur Be-
urteilung vorzulegen. Damit war die Sache Napoleons in Eng-
land fürs erste abgetan, und die ..Briefe vom Kap" blieben
*) T,a< Cases. Memorial, l. Februar 1*16.
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Vergebliche Hoffnung auf die britische Opposition. 381
wirkungslos. Denn wenn auch die Whigs für ihn geltend
machten, daß nur er an der Spitze Frankreichs imstande wäre,
Kußland, dem aufstrebenden iiivalen Britanniens, auf dem
Kontinente die Wage zu halten, so war man jetzt jeder Feind-
seligkeit so sehr überdrüssig, daß man diesen Grund für eine
Befreiung des Gefangenen nicht zureichend fand.*) Vielmehr
verband sich das Kabinett Liverpool-Castlereagh mit den Fest-
landstaaten auf dem Kongreß von Aachen zu einer Überein-
kunft „in betreff der in England entstandenen und in einigen
andern Teilen Europas wiederholten Gerüchte von der Behand-
lung, die man jenem Manne angedeihen ließ, dessen düstere
Berühmtheit noch nicht aufgehört hat, die Welt aufzuregen".
Die Vertreter llußlands, Österreichs, Preußens und Eng-
lands erklärten in einem Protokoll vom 31. November 1818:
„daß die (verschärften) Instruktionen der britischen Eegierung
für Hudson Lowe die einmütige Zustimmung der Signatar-
mächte gefunden haben", und „daß aller Briefwechsel mit dem
Gefangenen, jede Geldsendung oder sonstige Mitteilung, die
nicht der Aufsicht des Gouverneurs unterworfen werde, als
ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit angesehen und be-
straft werden müßte".
So machte der Kontinent Hand in Hand mit England.
Rußland an der Seite der Briten, Napoleons Hoffnung auf
eine W r endung der Dinge zu seinen Gunsten zunichte. Er selbst
hatte bisher von seiner Taktik nur Nachteile gehabt. Denn
durch den heimlichen Verkehr der Kolonie von Longwood
mit Europa und Amerika, der Lowe nicht verborgen blieb, war
dieser zur Verdoppelung seiner Vorsichtsmaßregeln veranlaßt
worden, und wie er sich genötigt sah, schon im November 1816
Las Cases zu verhaften und von der Insel abzuschaffen, so
*) S. Schütter, K. Franz I. und die Xapoleoniden, S. 82. Es
liegt eine auffallende Übereinstimmung darin, daß auch Napoleon in
seinen Gesprächen mit Engländern, die ihn auf St. Helena mit Pässen
des Gouverneurs besuchten und die er sämtlich in der gewinnendsten
Weise empfing, dieses Moment zur Sprache brachte. „Rußland", sagte
er z. B. im Sommer 1817 zu Lord Ainherst, „ist die Macht, die jetzt
am meisten zu fürchten ist. Frankreich und England sind die einzigen
Staaten, in deren Interesse es liegt, sich ihren Plänen zu widersetzen."
{W. Scott, Napoleon, 9. Bd. Anhang IX.)
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382
Napnleuu iTti-tlich kiank.
war er anderthalb Jahre später O'Meara gegenüber zu dem
gleichen Verfahren bemüßigt. Vielleicht hatten es beide auf
ihre Entfernung angelegt, um als Apostel für die Sache des
Verbannten zu wirken.*) Unter den Beschränkungen, die sich
Napoleon in seinem kleinen Kriege mit dem Gouverneur auf-
erlegt hatte, gab es welche, die ihm geradezu schädlich wurden.
So namentlich der Mangel an Bewegung. Er wurde ernstlieh
krank. Die Symptome seines vom Vater ererbten Leidens, des
Magenkrebses, äußerten sich in immer häufigeren stichartigen
Schmerzen und Übelkeiten. Er selbst war sich darüber nicht
unklar, vollends als er später hörte, daß auch seine älteste
Schwester an derselben Krankheit verschieden sei. Da er nun
die ihm von Lowe zugewiesenen Ärzte verschmähte, ward
durch Fesch ein Italiener, namens Antommarchi, ein junger
Chirurg von korsischer Herkunft, nach St. Helena gesandt,
der dort im September 1819 anlangte. Er war es namentlich, der
Napoleon zu einer Änderung seiner Lebensweise bewog und ihn
bestimmte, im Garten zu arbeiten, Ausflüge zu Pferde zu machen
und eine Art Waffenruhe mit dem Gouverneur zu schließen,
der auch seinerseits entgegenkam, indem er das seinem Ge-
fangenen zugewiesene und ohne Wache zugängliche Gebiet er-
weiterte. Was hätte nun auch noch die Fehde genützt? Die
öffentliche Meinung Englands ließ sich ja doch nicht ge-
winnen, Napoleons Zustand aber war inzwischen unheilbar
geworden und verschlechterte sich trotz dem veränderten
Körperregime von Tag zu Tage.
In der Sylvesternacht des Jahres 1820 erzählte er zum
letzten Male in vertraulicher Weise aus vergangenen Zeiten.
Dann nahm seine Krankheit einen raschen Verlauf. Der stets
unruhige, stets arbeitsame Mann wurde matt und müde, lag
auf seiner Bergere und fand keinen Geschmack mehr an irgend-
welcher Beschäftigung, zu der er sich gleichwohl noch zwang,
indem er ab und zu diktierte und seine Papiere ordnete. Nur
mit Mühe Heß er sich bewegen, ins Freie zu gehen. Er
magerte zusehends ab, da er keine Nahrung mehr vertragen
konnte. Sein Puls, der gewöhnlich nie mehr als ßO bis 65
*) Auch Gourgaud verließ ihn, angeblich wegen eines Zwistes
mit Montholon. (Schütter, Stürmers Berichte, S. 122, 127.)
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Er stirbt. 383
Schläge gezählt hatte, wurde nun fieberhaft. Antommarchi
beurteilte das Leiden unrichtig, und Napoleon erbat sich einen
älteren und erfahrenen Arzt der Pariser Klinik. Bevor aber
sein Wunsch den Kontinent erreichen konnte, sollte er zu
leben aufgehört haben. Am 15. April, nachdem endlich ein
englischer Feldscher wenigstens die Gefährlichkeit des Zu-
standes erkannt hatte, diktierte er Montholon sein Testament,
worin er die sechs Millionen Tranken, die vor seiner Abreise
von Malmaison bei dem Pariser Bankier Lafitte hinterlegt
worden waren, und andere Reliquien unter seine getreuesten
Anhänger verteilte. Kurz darauf wurden die Brechanfälle so
häufig, daß man bei dem jähen Schwinden der Kräfte den
Tod in drohendster Nähe vermuten mußte. Am 3. Mai ver-
wirrte sich sein bis dahin klares Bewußtsein; in der zweit-
nächsteu Nacht begann der Todeskampf; am Abend darauf,
am 5. Mai 1821, zehn Minuten vor sechs Uhr, starb er. Nach
der von ihm befohlenen Sektion ward der Leichnam einbal-
samiert und mit der Uniform bekleidet, die der Kaiser ehedem
zu tragen pflegte; in der Nähe von Longwood wurde er be-
stattet. Die Kanonen von St. Helena grüßten den toten Feind,
und Britanniens Offiziere standen in bewegter Ehrfurcht um
sein frisches Grab.
Der Geschichtschreiber .Napoleons I. darf hier, nachdem
die geistdurchglühten Augen des außerordentlichen Mannes
Bich für immer geschlossen haben, die Feder noch nicht fort-
legen. Er hat noch mit einem reichen Nachlaß abzurechnen,
der sich seiner Beurteilung um so weniger entzieht, als er
geradezu eine Berufung an das Gedächtnis kommender Ge-
schlechter bildet. Denn nur der Kampf mit dem Tode hat in
dem Verstorbenen den um seine Geltung abgelöst, und viel-
leicht nirgend hat er diesen mit mehr Eifer und Unermüd-
lichkeit geführt, als auf dem Felseneiland im Atlantischen
Ozean. Wir wissen bereits, wie emsig er sorgte, einen Um-
schwung in England zu seinen Gunsten hervorrufen zu helfen;
die „Briefe vom Kap" sind in diesem Sinne abgefaßt, und
jedes Gespräch mit englischen Besuchern war darauf angelegt.
Aber wir wissen auch, daß er noch ein zweites Ziel verfolgte:
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Der geistige Nachlaß <)«>s Kaisers.
in Frankreich, und hier vor allem, sollte man den Glauben an
ihn wiedergefunden haben, wenn wieder einmal das französische
Volk das Joch der ßourbons abwarf. Und in dieser Absicht
ist er rastlos tätig, seitdem er den Fuß auf den „Northumber-
land" gesetzt hat. Immer wieder finden wir in seinen Ge-
sprächen die Sorge ausgedrückt, die Geschichte könnte, wegen
seiner letzten Niederlage, nicht genug Notiz von ihm nehmen,
und er meint wohl auch, es wäre für seinen Nachruhm
besser gewesen, nn der Moskwa, vor Dresden oder bei Waterloo
zu fallen. Da konnte er dann auch zuweilen ganz offenherzig
von den Fehlern seiner Politik sprechen, unter denen er
insbesondere die Expedition nach San Domingo und die nach
Spanien anführte, und wie er besser getan hätte, den Waffen-
stillstand von 1813 nicht zu schließen oder auf dem Prager Kon-
greß nachzugeben und die Bedingungen von Chätillon anzu-
nehmen.*) Aber in seinen Schriften durfte davon nichts
stehen, die er schon auf dem Schifte und später in Briars und
Longwood oft in eiligster Hast, als gab' es etwas zu ver-
säumen, diktierte. Darin mußte vor allein sein Ansehen als
Kriegsmann untadelhaft wieder zu Ehren kommen. Deshalb
wurde an dem Flecken von Waterloo geschabt und gescheuert,
bis in der Tat nicht mehr Napoleon es war, der die Schlacht
verloren hatte, sondern Grouchy, der, obwohl auf die Straße
gegen Wavre (!) den Preußen nachgeschickt, durch schlechte
Operationen den ganzen Erfolg von Ligny illusorisch machte.
Und daß dieser Erfolg nicht noch entscheidender gewesen war,
daß Blücher zwei Tage später wieder fechten konnte, das hatte
auch keineswegs Napoleon, das hatte einzig Ney verschuldet,
der am 16. trotz aller Weisung nicht eilig genug herankam.
Was Wunder, wenn unter solchen Umständen die genialen
Entwürfe des Kaisers scheiterten ?**) So diktierte Napoleon,
*) Gourgaud, I. 199, 402; IL 71, 265, 346, 506.
**) Mau vergleich«' z. B. mit den heute erwiesenen Tatsachen, wie
sie im vorigen Kapitel in Kürze dargelegt wurden, folgende Stelle in
Napoleons „Campagno de 1815": „Der Marschall Grouchy ging mit
der Kavallerie von Exelmans und Pajol, dem dritten und vierten
Infanteriekorps und der Division T<«t(< vom sechsten ab. Es war ihm
empfohlen, drr preußischen Armee auf den Fersen zu bleiben und sie
am Sammeln zu verhindern, und er erhielt den bestimmten Auftrag,
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„Der Feldzug von 1815".
385
und so schrieben es seine Offiziere nieder. Das war der Lohn
Grouchys, der sich in Amerika den Kopf zerbrach, wie er
seinen Herrn aus der Gefangenschaft befreien könne, und
Neys, der, kaum daß seinen Leichnam die Erde deckte, auch
von demjenigen verurteilt ward, für den er den Tod erlitten.*)
Das Manuskript des „Feldzugs von 1815" gelangte ebenso
heimlich wie die „Briefe vom Kap" nach Europa und er-
schien dort im Jahre 1818 im Druck. Als Autor war Gourgaud
genannt, doch verriet jede Zeile den wahren Verfasser. Nun,
das Werk erfüllte seinen Zweck, und so vollständig, daß noch
mehrere Jahrzehnte später Historiker von Ansehen den Vor-
spiegelungen des Gefangenen von St. Helena sich blindlings
überließen. Aber auch seine andern Mißerfolge im Felde muß-
ten vertuscht werden. In Rußland, gegen das der Krieg „aus
einem Mißverständnis" entsprang, erzählte er O'Meara, sei eben
nur die zu frühe Kälte schuld an dem Unglück der Armee
gewesen. Er hatte eine Berechnung des Wetters auf fünfzig
Jahre nach rückwärts gemacht und gefunden, daß die strengste
Kälte nie vor dem 20. Dezember, also zwanzig Tage später
begonnen habe als 1812. Bei 18 Grad Re"aumur seien in einer
Nacht 30.000 Pferde umgekommen. Man habe die Artillerie,
den Schießbedarf und die Lebensmittel nicht mehr befördern,
den Feind nicht rekognoszieren können, worauf die Truppen in
sich immer nur zwischen der Chaussee Charleroi-Brüssel und dem
Marschall Blücher zu halten, um fortwährend in Fühlung mit der
Armee und in der Lage zu sein, sich mit ihr zu vereinigen. Es war
wahrscheinlich, daß sich der Marschall Blücher auf Wavre zurück-
ziehen werde; er mußte zur selben Zeit dort sein." S. oben S. 353.
*) Aus Anlaß der Exekutionen Neys und Labddoyeres sagte
Napoleon von ihnen: „Man darf sein Wort niemals brechen; ich ver-
achte die Verräter" — als ob er nicht selbst sie dazu verleitet hätte.
Ein andermal: „Ney hat sich entehrt. Er hätte nach Paris zurück-
kehren sollen, was viel nobler gewesen wäre." Und über Labedoyere:
„Er handelte aus Fanatismus und beging Verrat, da er dem König
Treue geschworen hatte." Also war es richtig, was er selbst von sich
sagte: „Ich liebe nur diejenigen, die mir nützlich sind, und nur so-
lange, als sie es sind!" Dann war es wohl auch nicht unrichtig, wenn
Bertrand zu Gourgaud bemerkte: „Dieser Charakter ist die Ursache,
warum er keine Freunde und so viele Feinde hat und warum wir hier
auf St Helena sitzen." (Gourgaud. I. 77, 186, 223. 491 f.; II. 444.)
Fournier. N'sipoleou I 2o
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386
Die Tendenz der Diktate.
Unordnung geraten seien. Die Schlacht an der Moskwa habe
er mit 90.000 Mann gegen 250.000 Russen gewonnen, in der
brennenden Metropole sich mitten in die Flammen gewagt,
sich Haar und Brauen und die Kleider versengt usw. All
das ward gläubig angehört und aufgeschrieben, um bald nach-
her als historische Wahrheit in die Welt zu gehen.
Nebenher diktierte Napoleon noch unterschiedliches An-
dere: die Erzählung von den Anfängen seiner militärischen
Karriere, seinen Anteil an der Belagerung Toulons, an den
italienischen Kriegen, sein Unternehmen in Ägypten, den Feld-
zug von 1800, kurz all seine Leistungen im Dienste der Revo-
lution. Aber auch nur diese. Warum? Warum nicht auch seine
Großtaten bei Austerlitz und Jena, bei Friedland und in
Bayern? Schnitt etwa der Tod den Faden der Erzählung durch?
Nein, denn wir erfahren, daß er im letzten Jahre kriegsgeschicht-
liche Werke zur Beurteilung der Taten Casars, Turennes,
Friedrichs des Großen verfaßt hat, die uns gleichfalls über-
liefert sind. Was konnte ihn wohl abgehalten haben, nicht
noch mehr und Größeres von sich zu berichten? Ein einfaches
Raisonnement, das ihn schon bei seinem Entweichen von
Elba geleitet hat: die Bourbons mußten durch die Revolution
gestürzt werden; nun, er war der Mann der Revolution ge-
wesen, seht, wie er für sie gestritten hat, man kann keinen
besseren finden. Darum aber auch kein Wort von der Zeit, in
der er als Selbstherrscher Frankreich regierte, und auch nichts
von den Eroberungskriegen, die seine Universalherrschaft be-
gründen sollten und Europa gegen ihn aufbrachten: alles nur
Freiheit und Weltfriede! das war die Tendenz. Allerdings
konnte es passieren, daß sich in die Berichte Montholons ein
Gespräch Napoleons mit einem englischen Offizier einschlich,
wo er meinte, je weniger Freiheit die Monarchen zu geben
wünschten, um so mehr müßten sie davon sprechen, denn
die eiserne Rute, mit der man die Menschen regiere,
müsse vergoldet sein. Aber derlei war selten. Im
Ganzen geht durch all diese Gespräche das eine Thema hin-
durch: die Bourbons wird man verjagen, denn sie repräsen-
tieren nur ein Königtum des Adels und der Priester, nicht des-
Volkes; dieses selbst lürfe die Herrschaft nicht an sich
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Napoleons Lehren für seinen Sohn. 387
reißen, davor bewahre Frankreich die Erinnerung an die
Schreckenszeit des Konvents und an die Jämmerlichkeit des
Direktoriums; den einzigen Ausweg biete also nur die volks-
tümliche Monarchie. Daß er sich diese freilich möglichst un-
eingeschränkt dachte, wissen wir bereits aus seinen vertrau-
lichen Äußerungen zu Gourgaud, dem er sogar einmal auf die
Bemerkung, daß in China der Herrscher wie ein Gott verehrt
werde, antwortete, so sollte es auch sein. „Bei einer monar-
chischen Verfassung", sagte er zu seiner Umgebung im
Sommer 1816, „kann nur in der Herrschaft meiner
Dynastie eine Bürgschaft für die wahren Interessen des Volkes
liegen, weil sie die Schöpfung des Volkes ist."
Als er so sprach, war er noch voll Hoffnung für sich
selbst. Fünf Jahre später, zwei Wochen vor seinem Tode,
äußerte er sich ähnlich, doch jetzt nur noch im Interesse
seines Kindes. „Die Bourbons," meinte er da zu Montholon,
der die Worte seinem Sohne weitergeben sollte, „die Bour-
bons werden sich nicht halten. Wenn ich tot bin, wird
überall, selbst in England, eine Reaktion zu meinen
Gunsten stattfinden. Mein Sohn wird nach bürgerlichen Un-
ruhen auf den Thron gelangen. Man verrichtet nur Großes
in Frankreich, wenn man sich auf die Massen stützt. Mein
Sohn muß ein Mann der neuen Ideen und der Sache sein, die
ich überall habe obsiegen machen; er muß überall die neuen
Ideen ausführen, welche die Spuren des Feudalwesens vertilgen,
die Würde des Menschen sichern und die Keime der Glück-
seligkeit entwickeln, die seit Jahrhunderten schlummern; er
muß der Allgemeinheit zuteil werden lassen, was bis jetzt das
privilegierte Besitztum von Wenigen gewesen ist; er muß
Europa in unauflösbare Föderativbande vereinigen und in allen
bis jetzt noch unzivilisierten Teilen der Welt die Wohltaten
des Christentums und der Zivilisation verbreiten. Das muß
das Ziel aller Gedanken meines Sohnes sein, das ist die Sache,
für die ich als Märtyrer sterbe. An dem Hasse, mit dem mich
die Oligarchien verfolgen, möge er die Heiligkeit meiner Sache
ermessen." Gut. Aber was war das mit den „unauflösbaren
Föderativ banden"? War es wieder die weltbürgcrliche Födera-
tion, wie er sie erstrebt hatte? Das konnte seine Meinung
25*
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388 Das Prinzip der Nationalität.
nicht mehr sein, und sie war es auch nicht. Die nationalen
Kräfte eines ganzen Erdteils hatten Frankreich aus der Politik
des „Grand Empire"' in seine von seinem Volkstum umschrie-
benen Grenzen zurückgedrückt. Diese Kräfte heischten Aner-
kennung. Und darum sagte er jetzt auch: „Es gibt nationale
Wünsche, die früher oder später befriedigt werden müssen;
auf dieses Ziel muß man losgehen." Und wie er sich das
dachte, hatte er bereits einmal Las Cases anvertraut: „Man
zahlt in Europa, obwohl zerstreut, dreißig Millionen Fran-
zosen, fünfzehn Millionen Spanier, fünfzehn Millionen Ita-
liener, dreißig Millionen Deutsche. Ich hätte aus jeiem dieser
Völker einen einigen nationalen Körper (un seul et m6me
corps de nation) machen wollen." So empfahl er — gewitzigt
und belehrt durch den Sieg eines mächtigen Prinzips — dem
künftigen Beherrscher Frankreichs ein nationales System im
Innern und nach Außen.*)
Und wie seine Werke und Diktate sein Bild aus der rauhen
Wirklichkeit der Tatsachen in eine ideale Sphäre erheben
sollten, so suchte er dies auch mit seinem letzten Willen zu
erreichen, immer im Hinblick auf die Zukunft seiner Dynastie
in Frankreich und mit der gleichen Geringschätzung der Wahr-
heit. „Ich wünsche," heißt es da, „daß meine Asche an den
Ufern der Seine ruhe, in der Mitte des französischen Volkes,
das ich so sehr geliebt." Dann: „Ich empfehle meinem Sohne,
nie zu vergessen, daß er ein geborener französischer Prinz ist,
und sich niemals zum Werkzeug in den Händen der drei Herr-
scher gebrauchen zu lassen, welche die Völker Europas be-
drücken. Er darf Frankreich niemals bekämpfen, ihm auf
keine Weise schaden, er muß meinen Wahlspruch annehmen:
„Alles für das französische Volk." Ja, um in Frankreich gar
keines der der breiten Masse des Volkes heiligen Gefühle zu
verletzen — und wohl auch aus einem schließlich erwachten
Bedürfnis — hat er, der ehedem Ungläubige, Priester nach
St. Helena kommen, an seinem Sarge beten lassen und in sein
Testament geschrieben: „Ich sterbe in der apostolischen und
*) Montholnn, S. 26f> ft". der deutschen Ausgabe; Las Cases,
Memorial, VII. 169— 17fi.
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Die bonapartistische Legende. 389
römischen Religion, in deren Schoß ich vor länger als fünfzig
Jahren geboren wurde."*) Sollte es aber Franzosen geben, die
mit den Grundsätzen eines religiösen Gemütes die Hinrichtung
des Herzogs von Enghien nicht vereinbar hielten, so sollten sie
jetzt gleichfalls aus dem Testamente von St. Helena erfahren,
„daß sie notwendig war für die Sicherheit, das Interesse und
die Ehre des französischen Volkes zu einer Zeit, als der Graf
von Artois nach seinem eigenen Geständnis sechzig Meuchel-
mörder in Paris besoldete", derselbe Graf von Artois, der
nächstens als Karl X. König von Frankreich werden wird.
Dies war die geistige Hinterlassenschaft des Kaisers, dessen
Ehrgeiz selbst am Rande des Grabes darauf bedacht war, sich
zu genügen, und zu diesem Zwecke mitunter selbst zu un-
erlaubten Mitteln griff. Und mit reichem Erfolg. Als das
Regiment Ludwigs XVIII. zu Ende ging und das seines
Bruders begann, dessen sich jeder tüchtige Franzose schämte,
und als dann eine neue Revolution nur zu erreichen wußte,
*) Schon einige Jahre früher hatten sich in seine Gespräche über
das Wesen der Religionen einzelne Aussprüche eingeschlichen, die
Bertrand auf die Meinung brachten, daß er im Grunde religiös sei,
was freilich damals noch nicht zutraf. So sagte er einmal, in den ersten
Monaten des Jahres 1817: „Die Vergebung der Sünden ist ein schöner
Gedanke, er macht die Religion schön und unvergänglich. Niemand
kann sagen, er glaube nicht oder werde nicht eines Tages glauben. 4 '
Ein andermal meinte er: nur ein Narr könne behaupten, daß er ohne
Beichtvater sterben werde; gäbe es doch so viele Dinge, die man nicht
wissen und sich nicht erklären könne. Später äußerte er sich zu An-
tommarchi: „Nicht jeder ist Atheist, der es sein will." Im Jahre 1820
finden wir zwar noch den Ausspruch : „Obgleich ich fühle, wie ich jeden
Tag schwächer werde, so bin ich doch noch nicht so weit heiunter, um
den Trost der Religion zu bedürfen." Doch er fügte hinzu: „Aber wer
weiß? Selbst Voltaire verlangte vor seinem Tode die Tröstungen der
Religion, und vielleicht könnte auch ich viel Trost und Erquickung
in der Gesellschaft eines Priesters finden, der fähig wäre, mir Ge-
schmack an religiösen Gesprächen einzuflößen und mich fromm zu
machen." (Gourgaud, I. 474; II. 43 u. a. a. 0.) In der Tat konnte
einer der Geistlichen, die Fesch ihm nach St. Helena geschickt hatte,
Abbe Vignali, nach seinem Tode Marie Luise nach Parma melden:
„ihr Gatte sei gestorben, nachdem er sieben Tage vor seinem Ende
mit den Sterbesakramenten versehen worden war, und mit den reli-
giösesten Gefühlen im Herzen." (Neipperg an Metternich, 1. Oktober
1821. S. Anhang.)
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--WO Napoleon und die Geschichtschreibung-.
daß eine Politik selbstsüchtigen Krämergeistes die der Un-
vernunft ablöste: da sproßte die Saat von St. Helena auf dem
von Haß und Unzufriedenheit durchpflügten Boden Frank-
reichs jäh empor. Die besten Dichter der Nation brachten
die junge Legende in Verse, und so mächtig waren die Gemüter
von der Erinnerung an die ruhmvolle Zeit eines größeren Herr-
schers erfüllt, daß auch der ernste Beruf des Historikers der
Strömung unterlag. War es nicht, als ob man sich nach Napo-
leons eigener Vorschrift gehalten hätte, um seine Geschichte
zu schreiben? „Ein französischer Historiker, der das Empire
schildern will," hatte er im Jahre 1816 einmal gesagt, und
seine Worte zogen durch die Welt, „wird, wenn er sonst Mut
besitzt, mir mein gut Teil Geltung zugestehen müssen. Ich
habe den Krater der Anarchie geschlossen und das Chaos
entwirrt. Ich habe die Revolution von ihrem Schmutze gereinigt,
die Völker veredelt, die Könige befestigt. Ich habe einen all-
gemeinen Wetteifer angeregt, jedes Verdienst belohnt, die
Grenzen des Ruhmes weit hinaus erstreckt. Das ist wohl etwas.
Und weswegen könnte man mich angreifen, wo ein Geschicht-
schreiber mich nicht zu verteidigen vermöchte? Etwa wegen
meiner Absichten? Da weiß er genug, um mich loszusprechen.
Oder wegen meines Despotismus? Da wird er zeigen, daß die
Diktatur notwendig war. Wird man sagen, ich hätte die Frei-
heit verhindert, so wird er beweisen, daß Zügellosigkeit,
Anarchie und Unordnung noch vor der Tür standen. Wird man
mich anklagen, ich hätte zu sehr den Krieg geliebt, so wird
er darlegen, daß nur immer ich der Angegriffene war. Wird
man mich beschuldigen, daß ich die Weltherrschaft für mich
gewollt, so wird er sie als das Werk der Umstände dartun und
wie es meine Feinde selbst waren, die mich Schritt für Schritt
dahin gebracht. Oder endlich, soll mein Ehrgeiz der Schuldige
ßein? Nun, er wird davon ohne Zweifel viel in mir finden,
aber vom höchsten und erhabensten der je gewesen, vom Ehr-
geize zu begründen und zu heiligen, kurz die Herrschaft der
Vernunft und die freie Ausübung aller menschlichen Fähig-
keit. Und da wird der Historiker nur bedauern müssen, daß
ein solcher Ehrgeiz unerfüllt geblieben ist."*)
* Las f'iiscs. Memorial. 1. Mai 1816.
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Wissenschaft und Wahrheit.
391
Das war die Parole für die Geschichtschreiber, und so
bestimmt klang das Kommando des unsterblichen Generals,
daß man ihm noch dezennienlange nach seinem Tode gehorchte.
Es kam die Zeit, es war im Jahre 1840, wo seine Leiche
im Triumph nach Paris gebracht und im Dome der Invaliden
beigesetzt wurde, und wo ein Minister Louis Philipps in der
Kammer mit den Worten an ihn erinnerte: „Er war Kaiser
und König, der legitime Souverän unseres Landes; als solcher
könnte er in Saint-Dcnis ruhen. Aber ihm gebührt mehr als
die gewöhnliche Grabstätte der Könige." Ja, es kam der Augen-
blick, wo die Legende von St. Helena selbst den Thron von
Frankreich bestieg, und erst als die Herrschaft Napoleons III.
nicht zu halten vermochte, was die sorgsam gehegte bonapar-
tistische Tradition so freigebig versprochen hatte, da gelangte
endlich auch die Wissenschaft zu ihrem Recht, die auf dem
Bilde des Imperators die Schatten nicht tilgen darf, wenn sie
gleich in ihm der Grüßten einen, die je gelebt, nie verkennen
wird.
Unter den Vorschriften des Gefangenen von Longwood
für denjenigen, dem er den Weg zu bereiten meinte und dessen
baldiges Ende er nicht ahnte, findet sieh auch die folgende:
„Möge mein Sohn oft die Geschichte studieren und darüber
nachdenken, denn sie ist die einzig wahre Philosophie."
Aber gewiß nur dann, wenn sie selbst wahr ist.
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Anhang
i
Litterarische Anmerkungen.
Zum ersten Kapitel. Über die Verhandlungen mit dem Papste
und das Konzil von 1811, an Darstellungen: Haussonville, L'cglise
romnine et le premicr Empire, vol. III. und IV. (grundlegend) und
ergänzend (nach Akten des Pariser Nationalarchivs); Welsch inger,
Lc Pape et 1'Enipereur. 1804—1815, Par. 1905; ferner: Artand, Pie
VII. II.; Majol de Lupe, Un pape prisonnier, im „Correspondant"
von 18s7; H. Chotard, Le Pape Pie VII. ä Savone, 1887 (nach der
Korrespondenz de> Generals Berthier mit Borghese und den Memoiren
Lcbzelterns); De l'radt. Les quatre coneordats (unzuverlässig; vergl.
Napoleons Bemerkungen dazu in Corresp. XXX); die Memoiren
Talleyrands. II.; Pacea», II.: Ranee-Bourray, Memoire in£dit
de Consalvi sur le eoneile de 1811 (Universite cathol. XIV); Ricard,
Le eoneile nationale ile 1811 : Derselbe, Correspondance diplomatique et
memoircs iuedits du eurd. Maury, II; Gosselin, Vie de M. Emery;
Grandmaison, Napoleon et les cardinaux noirs; Aulard, Napoleon et
le elerge* hollandais (La Kevol. fr., 1902); Dudon, Napoleon et les con-
gregations (Etudes de Ja Comp. Jesus. 1901); Madelin. La domination
traneaise ä Rome, 1809 u 1813 (Rev. d. d. m. 1905); Derselbe, LaRomo
de Napoleon, Par. 190G: Metternich, Nachgelassene Papiere IL;
Beer, Zur Sendung Metternichs nach Paris, 1810 (Mittb. d. Inst. f.
öst. Gesch. XVI); Demelitsch. Metternich I (nach Lebzeltems Nach-
laß». Über die Beziehungen zu Spanien außer deu Briefen Napoleons:
Memoiren Josephs, Miots v. Melito, Massenas, VII., Jourdans,
Suchet*. Thiehaults, IV, Reiset«, II, Delagraves (Par. 1902),
Gonnevilles, Lejeunes. IL Marbots (Vorsicht!), Fririon, Jour-
nal historique de la eampagne de Portugal; Foy, Histoire de la guerre
de la Peninsule (dazu Girod de l'Aiu. Lc General Foy); Azanzas
Rechtfeitigungssehrift (Franz. Par. 1815); die Depeschen Welling-
tons (ed. Gurwood). An Darstellungen: Baumgarten, Geschichte
Spaniens I.: Thiers, Consulat et Empire, XII; Sorel, VII; Masson,
Napoleon et sa famille, VI; Maxwell, Wellington; Portz, die poli-
tische Bedeutung des Jahres 1810 (Abhandlung der Berliner Akademie
der Wissensehaften, 1861, wo die Verhandlungen mit Azanza aus
Steiirschen Papieren mitgeteilt werden); Latino-Coelko, Hist. polit.
e militar de Portugal; Atkinson, The compositum and Organisation
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Litterarische Anmerkungen.
393
of the British forces in the Peninsula (Engl. hist. Review, 1902):
Andrews, Massenas Lines of March in Portugal etc. (English
hist. Rev. 1901); Butler, Wellingtons Operations in the Peninsula
(1808—1814) Lond. 1904, 2 Bde.; Costa de Serda, Operations des
troupes allemandes en Espagne de 1808 ä 1813, Par. 1874. Über das
Kontinental system und Napoleons Industriepolitik: Duvergier, Col-
lection des lois, vol. XVI; die „Correspondance" XXI; Kiesselbach,
Die Kontinentalsperre in ihrer ökon.-polit. Bedeutung, 1850; Art. „Kon-
tinentalsperre" von Lexis in Conrads Handwörterbuoh der Staats-
wissenschaften; Clement, Histoire du Systeme protecteur en France,
Par. 1854 (nicht ohne Fehler); Lumbroso, Napoleone e l'Inghilterra
(mit einer Bibliographie); Rocke, Die Kontinentalsperre und ihre Ein-
wirkungen auf die französische Industrie (Dies. 1894); P. Darmstädter,
Studien zur napolconischen Wirtschaftspolitik (Vierteljahrschrift für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1904, 1905), namentlich für die Ge-
schichte der Krisis von 1810 wertvolle Untersuchung; Ch. Schmidt,
L'lndustrie dans le Grand-Ducbe de Berg en 1810 (Revue d'hist. mod.
1904, nach Aufzeichnungen Beugnots noch vor der Krisis); Derselbe,
Le Grand-Duchö de Berg (1905); Hitzigrat, Hamburg und die Kon-
tinentalsperre (Hamb. 1900); Fisher, Studios; Servieres, L'annexion
et l'organisation des departementa hansäatiques, 1810 (La Grande
Revue, 1902); Mollien, Memoires, III (für die Finanzgeschichte Haupt-
quelle); D'Ivernois, Napoleon administrateur et financier, London
1812 (Streitschrift mit statistischen Daten); Ru pelle, Les finances
de la guerre, 1796 ä 1815 (Annales de l'Ecole politique, 1892); die
Memoiren Pasquiers, Miots, Chaptals; Rose, Napoleon and
British commerce (in Napoleonic studies, 1904). Über das Verhältnis
zu Holland: Jo rissen, Napoleon I. et le roi de Hollande, 1868;
F. Rocquain, Napoleon et le roi Louis, 1875; (Louis Bonaparte),
Documents historiques et r^flexions sur le gouvernement de la Hollande
1820, vol. III (deren Authentizität Napoleon in seinem Testament
leugnete, die aber gleichwohl durch die Forschung völlig sichergestellt
wurde); Du Casse, Les rois fieres de Napoleon I. (Appendice):
Wichers, De Regeering van Koning Lodewijk Napoleon, 1806 — 1810.
Utrecht 1892. Bezüglich der geheimen Verhandlungen mit England
außerdem auch noch: Coquelle, Napoleon et l'Angleterre, Madelin,
Pouche II, und die Memoiren Ouvrards (Par. 1827). Über die deut-
schen Nordseestaaten: H äußer, Deutsche Geschichte, III., die „Corre-
spondance" XXII. Bd.; Havemann, Das Kurfürstentum Hannover
unter zehnjähriger Fremdherrschaft 1803 — 1813; Mönckeberg, Harn- *
bürg unter dem Drucke der Franzosen 1806—1814; Wohlwill, Die
Verbindung zwischen Elbe und Rhein durch Kanäle und Landstraßen
nach den Projekten Napoleon I. (Mitteilungen des Vereins für Ham-
burger Geschichte 1884, 4. Heft); (Meyer) Erinneiuugen an Hannover
und Hamburg ans den Jahren 1803 — 1813. Über die Beziehungen zu
Dänemark und Schweden: Garden, Histoire generale des Traites,
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Litterarische Anmerkungen.
vol. IX; Lefebvre, Histoire des Cabinets de rEurope V; Thiers
XIT; Vandal II; Sbornik XXI; Swederus, Schwedens Politik
und Kriege, 1808-1814 (deutsch von Frisch, 1866); A. W. Schlegel.
Über das Kontinentalf ystem und den Einfluß desselben auf Schweden,
1813 (Die von Lumbroso zitierte Schrift der Stadl, Le Systeme Con-
tinental et ses rapports avec la Suede, die in demselben Jahre 1818
erschien, ist mir nicht bekannt. Sie dürfte wohl mit der Schlegel'schen
identisch sein); Wett erste dt s Erinnerungen (herausgegeben von For-
sell in den Schriften der Stockholmer Akademie 1886); Schinkel,
Minnen ur Sveriges nyare historia, Upsala 1880 (enthaltend Briefe des
schwedischen Gesandten aus Paris im Jahre 1810, leider in schwedischer
Übersetzung): Suremain, Memoires Par. 1902; Ahnfeit, La diplo-
matie russe a Stockholm eu 1810 (Revue historique, 1888, XXXVII);
Pingaud, Bernadotte, Napoleon et les Bourbons; Hochschild, De-
siree, reine de Suede. Betreffs Neapels: Helfert, Königin Karoline
von Neapel und Sizilien. 1878 (wo auch die frühere Litteratur ange-
führt ist); Derselbe, M. Karolina von Österreich; Anklagen und Ver-
teidigung, 1884; O. Browning, Caroline of Neapel in der English
historical review 1887 Nr. 6 (auf Grund der Depeschen Bentincks);
St rongoli, Memorie intorno alla storia del regno di Napoli, 1805 — 1813;
Devernois, Memoires; Masson, Napoleon et sa famille, VI; Cha-
vanon et Saiut-Yves, Joach. Murat, Par. 1905; Bonnefons, Marie
Caroline, Reine des Deux-Siciles, Par. 1905 (unzulänglich).
Über die Verwicklung mit Rußland: Die ,,Correspondance"
Bd. XXI. bis XXELI. und die anderen Briefsammlungcn ; die Depeschen
Kurakins und Tschernischeffs im Sbornik. XXI. (dazu Harnack,
Zur Geschichte und Vorgeschichte des Krieges von 1812 in der Hi-
storisehen Zeitschrift 1889); Martens, Recueil des traites conclus
j>ar la Russie, Bd. III und VII; Nesselrode, Lettre» et papiers, III,
(Par. 1904, Briefe an Speranski u. A.); die Memoiren Segurs IV,
Villemains I. Czartoryskis II, Oginskis III, Kozmiaus (pol-
nisch), der Gräfin Edling, der Gräfin Choiseul-Gouffier; Bi-
gnons Souvenirs d'un diplomate; M etterniehs Nachgelassene Papiere;
Bernhardi. Tolls Denkwürdigkeiten; Brays Denkwürdigkeiten (1901);
Mordwinows Archiv (Petersb. 1901, russisch). An Darstellungen:
Vandal, Iii (grundlegend); Sorel, VII; Ernouf, Maret; Tatis-
tcheff, Alexandre et Napoleon; Schilder, Alexander I.. III.; Schie-
rn ann, Nikolaus 1., I: Wassiltschikow, Les Razoumowsky (Französi-
sche Ausgabe), 4. Bd.; Bernhardi, Geschichte Rußlands, II; Tegnär,
Gust. Manritz Armfeit, 3. Bd.; Pingaud, Un agent secret (D'Antraigues);
Rüther. Napoleon und Polen, 2. Teil; Skarbek, Geschichte des
Herzogtums Warschau, Pos. 1876 (2. A. polnisch); Kinkel, Das Groß-
herzogtum Warschau (in Przewodnik naukowy, 1896); Ghika, La France
et les prineipautes danubiennes, 1789—1815. (Annales de l'ecole poli-
tique, 1896i. Über die russischen Rüstungen 1810 und 1811 handelt
die vom russischen Generalstab herausgegebene Geschichte des Feld-
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Litterarische Aumerkungen.
895
zuges von 1812 (Französische Ausgabe) in den ersten Bänden; über
die französischen: Margueron, Campagne de Russie, I — III. Vergl.
auch Bogdanowitsch, Geschichte des Feldzuges im Jahre 1812:
Jahns, Das französische Heer von der Revolution bis zur Gegenwart :
Liebert, Die Rüstungen Napoleons für den Feldzug 1812 (Beiheft
zum Militär-Wochenblatt, 1888); Lettow-Vorbeck, Die französische
Konskription unter Napoleon I. (ebenda, 1892); Leymarie, La con-
scription impöriale. (La Nouvelle Revue, 1901); Schmeisser, Die Re-
fraktärregimenter unter Napoleon I. (Beiheft zum Militär- Wochenblatt,
1890); Derselbe, Die kroatischen, illyrischen und dalmatinischen Kon-
tingente in der Armee des österreichischen Kaiserreiches (Programm
1888); Boppe, La Croatie militaire (1809—1813), Par. 1900. Über die
Verhältnisse im Innern: Die „Correspondance" und namentlich die
Sammlung Lecestres, IL; dann: Thiers, XIII; Forner on, Histoirc
generale des emigres; Madelin, Pouche; Taine, Le regime moderne,
I; Grouchy, Complots contre Tompereur, 1810, 1811 (Nouvelle revue
rötrosp. 1898); Morvan, Le soldat imperial, LT; Barrai, Histoire des
Sciences sous Napoleon Bonaparte, Par. 1889 (unvollkommene Lösung
einer schönen Aufgabe); Welschinger, La censure sous le premier
Empire; Derselbe, La direction generale de l'imprimerie et de la
librairie (in der Zeitschrift „Le Livre" 1887 und 1890); Ch. Schmidt,
La Röforme de l'L'niversitö impöriale en 1811 (Par. 1905); Veron,
Memoires d'un bourgeois de Paris, I.; Fievee, Correspondance et
relations avec Bonaparte, III. (1809 bis März 1813); die Memoiren von
Barante, I, Bourgoing, Pasquier, I, Mollien, III und Savary.
Über das Verl iltnis zu den Rheinbundstaaten: Perthes, Politische
Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herr-
schaft, Bd. II; Winkopp, Der Rheinische Bund, Jahrg. 1810—1812:
Memoires et correspondance du Roi Jeröme; Du Casse, Les rois
freres de Napoleon; Goeeke, Das Königreich Westfalen; (Lehsteu-
Dingelstädt), Erinnerungen eines westfälischen Pagen, Berlin 1905;
Charles Schmidt, Le Grand- Uuche de Berg; Goceke, Das Großherzog-
tum Berg; Bcaulieu-Marconnay, Karl v. Dalberg und seine Zeit;
Darmstaedter, Das Großherzogtum Frankfurt, (Frankf. 1901); (übei
die im Texte berührte Denkschrift Dalbergs von 1811 vgl. das August-
heft 1903 der Zeitschrift „Vom Rhein"); Bernays, Schicksale des Groß-
herzogt umsFrankfurt, 1882; Schloßberger, Politische und militärische
Korrespondenz Friedrichs von Württemberg mit Kaiser Napoleon I. (1805
bis 1813.) 1889; Derselbe, Briefwechsel der Königin Katharina von
Westfalen. 1887; Montgelas, Denkwürdigkeiten; „La Baviere en
1812 et 1813" (Revue contemporaine, 1869); Wohlwill, Weltbürger-
tum und Vaterlandsliebe der Schwaben, 1875. Über die Allianzen mit
Preußen und Österreich: Häusser, III; Ranke, Hardenberg (SS.
WW. 48); Duncker, Preußen während der französischen Okkupation
(Aus der Zeit Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms III.),
vielfach berichtigt durch Lehmann, Scharnhorst TI, Delbrück.
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Li 1 1 erarische Anmerkungen.
Gnei»ciiau I, A.Stern, Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte
der preußischen Reformzeit (1807—1818): Bai Heu, Briefwechsel
zwischen Friedrich Wilhelm III. und Alexander I.; Dazu: Thimme,
Zur Geschichte Friedrich Wilhelms HI. und der Krisis von 1811;
Boye ns Erinnerungen (her. v. Nippold, II); Ernst, Denkwürdig-
keiten von Amalie und Heinrieh von Beguelin; Ompteda, Politischer
Nachlaß; Meinecke, Boyen, I; Gebhardt, Wilh. von Humboldt als
Staatsmann, I; Goldschmidt, Kunth; Fournier. Stein u. Gruner,
Zur Vorgeschichte der Befreiungskriege (D. Kundschau, 1887); Ca-
vaignac, La formation de la Prusse contemporaine II; Wächter, Be-
richte des Grafen Beugnot über die Stimmung in Preußen (Forschungen
zur brandenburgischen und preußischen Geschichte IX.). Dazu: Mar-
tens, Recueil des traitäs conclus par la Russie III., VII; Bignon,.
Histoire de France X; Metternich, Nachgelassene Papiere II; (Bin-
der von Krieglstein), Precis des transactions du Cabinet de Viemie
de 1809 a 1816 (Steiermark. Geschichtsblätter, 1884); Ernouf. Maret;
Oncken, Österreich und Preußen im Befreiungskriegen; Derne litsch r
Metternich, I; Beer, Die orientalische Politik Österreichs. Über den
Aufenthalt in Dresden: Vandal, III; das Journal Cast ellanes; die
Memoiren Baussets, II, des Grafen Senfft-Pilsach, Menevals, II,
der Mm. Durand; das Hofjournal in der Nouv. revue rötrospective
1900; das Tagebuch der Königin Karoline (Rev. hist. 86. Bd.); Guglia,
Kaiserin Maria Ludovica; Welck, Napoleons Aufenthalt in Dresden
1812 (Neues Archiv für sächsische Geschichte, XX.).
Zum zweiten Kapitel. Die Litteratur über den russischen Feldzug
ist unübersehbar. Hier nur das Wesentlichste. Außer dem 24. Bande
der Correspondanee de Napoleon kommen die Memoiren seiner
Generale, die Aufzeichnungen der feindlichen Heerführer, Mitteilungen
deutscher und französischer Offiziere, dann die amtlichen russischen
Quellen in Betracht, die neueren kriegsgeschichtlichen Werken zu-
grunde gelegen haben. Von dem amtlichen französischen Material mag
viel auf dem Rückzüge verloren gegangen sein.
I. Denkwürdigkeiten und Dokumente: a) französischerseits vom
Generalstab herausgegeben: Margueron, Campagne de Russie, P re
partie. Par. 1899 ff. Sammlung aller dienstlichen, auf die Vorbereitung
des Feldzugs bezüglichen Schriftstücke. Von dem auf sieben Bände
berechneten Werke sind bisher drei — bis zum 31. Januar 1812
reichend — erschienen; Fabry, Campagne de Russie, H*me partie;
Operations militaires. Fortsetzung der früher genannten Sammlung für
die Zeit nach dem 24. Juni 1812. Bisher vier Bände und ein Supple-
raentband, bis Ende August 1812 reichend. Murats Berichte nach
des Kaisers Abreise im Dezember sind in „Souvenirs et memoires",
1901, veröffentlicht. Eine Nachlese der kaiserlichen „Correspondanee*
durch Grouchy, Lettre*, ordrus et döcrets, 1812 ä 1814, non inseres
dans la Correspondanee, Par. 1897, bietet für 1812 nichts wesentliches.
Ferner: Du Casse, Memoire» du Prince Eugene, die Memoiren von
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Litterarische Anmerkungen. 397
Rapp, S. Cyr. Dumas, Segur (im 4. und 5. Bande der Histoire
et Memoire«), Bausset, Constant; Gourgaud, Napoleon et la
Grande Armee en Russie ou examen critique de l'ouvrage de Segur;
Fain, Manuscrit de 1812; Villemain, Souvenirs contemporains I (nach
Erinnerungen des Grafen Narbonne); Davout, Correspondance (ed.
Mazade) III; Blocqueville, Le marechal Davout, III. (Briefe des-
selben an seine Frau); die Erinnerungen Oudinots, Macdonalds,
Vandammes, des Chirurgen Bourgeois (1814); Peyrusse, Memorial
et Archives; Derselbe, Lettres inödites (Rev. pol. et lit. 1894); Ca-
stellane, Journal, I (bis 6. Dezember Tag für Tag aufgezeichnet);
Fezensac, Souvenirs militälres; Dutheillet de Lamothe, Mömoires,
Pur. 1899; Roy, Les Francis en Russie. Souvenirs, Tours, 1891:
Seruzier, Memoires (erste Ausgabe 1823); Marbot, Memoire», III;
Lejeune, Souvenirs d'un officier de l'Empire; Pion des Loches,
Mes campagnes; Girod, Dix ans de mes souvenirs militaires. 1805
ä 1815; Berthezene, Souvenirs; Roguet, Memoire» (alte Garde);
Faure, Souvenirs du Nord (Arzt beim Korps Davouts); Lemoine,
Souvenirs anecdotiques ; Sau vage, Relations de la camp, de Russie;
Duverger, Mes aventures dans la camp, de Russie; Mailly-Nesle,
Mon journal pendant la camp, de Russie. Vergl. Bert in, La cam-
pagne de 1812 d'apres des temoins oculaires, Par. 1895 (worin
Mailly-Nesle, Duverger u. A. enthalten sind). Andere in Beanchamp,
Memoires secrets et inedits II. Bd.; Denniee, Itineraire de l'Empereur
Napoleon pendant la campagne de 1812; Coignet (der in diesem
Feldzug schon Offizier ist), Cahiers; Leher, Lettre d'un capitaine
de cuirassiers sur la campagne de Russie. Par. 1885; Sergeant Bour-
•gogne, Memoires 1812, 1813, Par. 1898 (auch deutsch); Vionnet,
Campagnes de Russie et de Saxe. Souvenirs, Par. 1899; Grenadier
Pils, Journal de marche 1804—1814 (ed Cisternes); Mejan, Lettres
sur la camp, de Russie (Mise, napol. LT. nahezu wertlos); Jolly, Sou-
venirs sur la camp, de Moscou (Revue hebdom. 1903); D. de Gelder,
Memoires, Par. 1900; G amiers, De Paris ä Vilna, 1812, d'apres la
«rorresp. d'un aide-major fRev. d. quest. hist. 1895): (Vaudoneourt),
Memoires pour servir a l'histoire de la guerre entre la France et la
Russie en 1812, Lond. 1815; Labaume, Relation circonstantiee de la
campagne de Russie en 1812 (auch deutsch); Larrey, Memoires de
Chirurgie militaire; Colombe, Memoires re6d. Par. 1896; Puibusque,
Lettres sur la guerre de Russie; Serang, Les prisonniers francais en
Russie (6d. Puibusque, 1836). b) Von verbündeter Seite: v. Loßberg,
Briefe in die Heimat geschrieben, während des Feldzuges 1812 in
Rußland, Cassel 1844; Wolzogen, Memoiren des Generals von Wol-
zogen, Leipzig 1851. (Pönitz) Militärische Briefe eines Verstorbenen;
Roos, Ein Jahr aus meinem Leben; Linsingen, Auszug aus seinem
Tagebuch, 1812 (Beihefte zum Mil.- Wochenblatt, 1894); v. Meer-
heimb, Erlebnisse eines Veteranen der großen Armee während des
Feldzuges in Rußland im Jahre 1812; Martens, Vor 50 Jahren,
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L i 1 1 v ra risch e A 1 1 1 nerk u ngen .
Stuttg. 1862; Goethe, Aus dein Leben eines sächsischen Husaren;
Tiedemann, Tagebuch und Briefwechsel, 1812 (Jahrbücher für die
deutsche Armee und Marine. 24. Bd.); Funck, Erinnerungen aus dem
Feldzug des sächsischen Korps 1812; Legier, Denkwürdigkeiten aus
dem russischen Feldzuge; Leisnig, Erinnerungen eines sachsischen
Dragoneroffiziers; Rotenhan, Denkwürdigkeiten eines württembergi-
schen Offiziers, 1812. 3. A. Münch. 1900 (reicht nur bis Moskau);
Thum-Taxis, Tagebuch eines Offiziers im Generalstab der bayrischen
Armee, 1812 (Mitth. d. k. u. k. Kriegsarchivs, 1893); 0. Redlich, Tage-
buch des Leutnants Vossen, vornehmlich über den Krieg in Kußland
1812, Marb. 1892; Haars, Ein Braunschweiger im russischen Feldzug.
Erinnerungen neu herausg. von Hänselmann, 1897; Markgraf Wilhelm
von Baden, Denkwürdigkeiten, Karlsr. 1864; Graf F. W. v. Bis-
marck, Aufzeichnungen, 2. Aufl., Karlsr. 1850 (in württembergischen
Diensten); Tagebuch Jos. Stcinmüllers (herausg. von K. Wild), 1904;
Röder von Borasdorf, Mitteilungen aus dem russischen Feldzuge;
Soltyk, Napoleon en Russie, 1812; Albrecht Adam, Aus dem Leben
eines Schlachtenmalers (im Hauptquartier Eugens bis Moskau); Faber
du Faure, Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzuges
von 1812 in Rußland an Ort und Stelle gezeichnet. (Erste Ausg.,
Stuttg. 1831., franz., Par. 1896). c) Aus dem russischen Lager:
Liprandi hat in einem „Versnch eines litterarischen Katalogs über den
Vaterlandskrieg" in den Schriften der russ.-histor. Gesellschaft von 1874
und 1875 über 400 russische Publikationen namhaft gemacht. Ergän-
zungen dazu lieferte Dubrawin in den Denkschriften der russischen
Akademie von 1883. Auch der russische Generalstab gibt die amtlichen
Kriegsakten heraus. Davon sind bisher zwei Bände in französischer
Übersetzimg (bis Ende 1810 reichend) erschienen. Vergl. insbesondere:
Herzog Eugen von Württemberg, Memoiren. 1862; (Helldorf),
Aus dem Leben des Prinzen Eugen von Württemberg; Bernhard i.
Denkwürdigkeiten des Generals Toll, 1. und 2. Bd.; Tschitschagof fr
Memoires inßdits, Berlin 1855; ausführlicher Par. 1862; dann in Russkaja
Starina 1886; (Dazu: Harnack, Zur Vorgeschichte und Geschichte des
Krieges von 1812, in der Historischen Zeitschrift 61. und 62. Bd.);
Mitarewsky, Erinnerungen von 1812, Mosk. 1871 (russ.); Langeron,
Memoires 1812—1814, publ. p. L. G. Fabry, Par. 1902; Loewenstern,
Memoires ed. Weil, Par. 1903. (Eine ältere deutsche Redaktion,
in kürzerer Fassung, wurde von Smitt unter dem Titel „Denkwürdig-
keiten eines Livländers", Leipzig und Heidelberg, 1858, in zwei Bänden
herausgegeben). Vergl. Bilbassow, Memoiren von Zeitgenossen über
1812 (Histor. Monographien, Bd. II, russisch); Boris Galitzyn, Sou-
venirs d'im officier russe, 1812, 1813, 1814, Petersb. 1849; Comtesse
Edling, Memoires, Mosk. 1888. Das „Russische Archiv" der Jahr-
gänge 1863—1892 enthält, ebenso wie die „Russkaja Starina" von
1870—1890, zahlreiche Mitteilungen von Augenzeugen, Briefe Rost op-
schins, Memoiren von Zeitgenossen u. dgl. Die zahlreichen ungedruck-
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Litterarische Anmerkungen.
399
ten Journale russischer Generale sind von Bogdanowitsch (s. unten)
benutzt worden. Vergl. auch Charkiewitsch, Das Jahr 1812 in den
Tagebüchern, Aufzeichnungen und Memoiren der Zeitgenossen. Wilna
1900 (russ.). Eine gute bibliographische Ubersicht findet man in La-
visse und Rambaud, Histoire generale, IX, 1809—1812; Wilson,
Narrative of events during the invasion of Russia, Lond. 1860 (deutsch
von Seybt 1861) ist unverläßlich.
II. Geschichtliche Darstellungen des Feldzuges: Chambray, Hi-
stoire de l'expedition de Russie. 3 vols. (besonders in den späteren
Auflagen grundlegend), dann die russischen Geschichtswerke von Bu-
turlin, Michailowsky-Danilewski, Smitt, sämtlich überholt durch
die umfassende Darstellung von Bogdanowitsch, Geschichte des
Feldzuges im Jahre 1812, 3 Bde., 1861 — 1863 (deutsch von Baum-
garten) nach den authentischen Quellen im russischen Archiv für Militär-
topographie, jedoch ohne Benutzung der Korrespondenz Napoleons,
durch welche die Darstellung bei Osten-Sacken, Der Feldzug
von 1812, Berlin 1901, in manchen Puiktca weitergeführt erscheint.
Dazu Charkiewitsch, Der Krieg von H12 (Vom Niemen bis Smo-
lensk), Bukarest 1901 (russ.); Skugarowski, Das Jahr 1812,
1898. Außerdem Thiers XIII und XIV; Schilder, Alexander I.,
III. Bd.; Jomini, Preeis politique et militaire des campagne« de 1812
ä 1814; Clausewitz' hinterlassene Werke, VII; Yorck, Napoleon
als Feldherr, II; Labeaudoriere, La campagne de Russie de 1812,
Par. 1902 (eine allzu kurze und ganz unzulängliche Darstellung); bosser
George, Napoleons Invasion of Russia, Lond. 1899; Leo Tolstoi,
Napoleon et la campagne de Russie (französisch von Delines, Paris
1888) ist ein ebenso geistvoller als mißlungener Versuch, dichterische
Vorstellungen in die Geschichte einzuführen. Für die Verhältnisse in
der französischen Armee: Morvan, Le soldat imp6rial, II; Mar-
tinien, Tableau par corps et par batailles des officieis tues et blesses
pendant les guerres de l'Empire, Par. 1899. Speziell a) über die Vor-
bereitungen und den Beginn des Feldzuges : De Pradt, Histoire de
l'ambassade dans le Grand-Duche de Varsovie en 1*12; Biprnon, Sou-
venirs d'un diplomate; Lensky. Notice historique sur les ariuemcnts
qui eurent lieu en Lithuanie pendant l'occupation francaise en 1S12;
Ernouf, Maret, due de Bassano; Comtesse Potocka, Memoire»; Zu-
sammenstellung der diplomatischen und militärischen Maßnahmen
Napoleons I. zur Einleitung de» Feldzuges von 1812 ("Jahrb. für die
deutsche Armee und Marine, 1878); Liebert. Die Rüstungen Napo-
leons für den Feldzug 1812 (Beihefte zum Militär-Wochenblatt, 1888,
9. Heft); Die Verpflegung der großen Armee 1812 in Rußland (Neue
inilit. Blätter, 89. Bd.): die Aufzeichnungen des Militärarztes Blanc
(bis Wilna) in d. Revue d. quest. hist. 1897; Ullmann, Studie über
die Ausrüstung und das Verpflegs- und Nachschubwesen im Feldzuge
Napoleons gegen Rußland, Wien 1891; Marenzi, Kritische Beiträge
zum Studium des Feldzugs 1812, Wien 1896: Skugarewski, Praktische
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400
Litterarische Anmerkungen.
Winke für das Studium der Kriegsgeschichte von 1812 (bis Smolensk,
Streffleurs Zeitschrift 1899 I). 6) über die Schlacht bei Borodino:
Pelet, La Bataille de la Moskwa (Spectateur militaire 1831); Ga-
lizyu, Die Sehlacht bei Borodino, Petersb. 1840; Hof mann, Die
Schlacht bei Borodino, Coblenz 1846; Ditfurth, Die Schlacht bei
Borodino, Marburg 1887; Roth von Schreckenstein, Die Kaval-
lerie in der Schlacht an der Moskwa; Uber die Mitwirkung der
sächsischen Kürassierbrigade in der Schlacht an der Moskwa (Osten:.
Militär-Zeitschrift, 1824). c) Über den Brand von Moskau: Histoire
de la destruction de Moscou en 1812; Rostoptchine, La verite sur
l'incendie de Moscou, Paris 1823; Alex. Segur, Vie du C te Ro-
btoptchine, Par. 1872; R ostoptschins Briefe an Woronzow u. A. im
Woronzow-Archiv, 1870, 1878; seine „ Oeuvres inedites" herausg. von
seiner Tochter Lydia mit einer wichtigen Einleitung; seine Briefe
an Alexander I. in „Le Carnet*, 1903. Dazu das Manuscrit de 1812
Fains, Castellanes Journal, die Memoiren Baussets, II, des Ser-
geanten Bourgogue, Dumas', III, Fezensacs, Boyens, Wol-
zogens, (Lecointe de Laveau), Moscou avant et apres l'incendie,
Par. 1814; Idauof (russ. Kaufmann), Mouvement de la presence des
Francais, Petersb. 1813; Yzarn (franz. Emigrant). Relation du sejour
des Francis ü Moscou, (ed. Gadarnel, Brüssel 1871); M |1,e Fusil
tfranz. Schauspielerin), L'incendie de M. Par. 1817; Aufzeichnungen
des deutschen Nichtmilitärs Klee („Pilgerschaft durchs Leben"). An-
dere, namentlich russische, Litteratur verzeichnet: H. Schmidt, Die
Urheber des Brandes von Moskau 1812 (Greifsw. 1904, gründliche
Untersuchung). Vergl. auch Pierre de S6gur, Rostoptchine en 1812
(Revue de Paris, 1902; und Tzenoff, Wer hat Moskau 1812 in Brand
gesteckt? (Berl. 1900, mit unhaltbaren Ergebnissen), d) Uber die Vor-
giinge an der Beresina vergl. die erwähnten Memoirenwerke, insbeson-
dere Castcllauc, Bourgogne, Langeron, Fezensac, Linsingen,
Löwenstern, Tschitschagoff u. A.; dazu Rochechouart, Sou-
venirs sur la Revolution, l'Einpire etc.; Solignac, La Berezina, Sou-
venirs d'un soldat de la Grande armee, Limogcs 1890. Von allgemeinen
üeschichtswerken: Bogdanowit sch und Chambray. Von Einzel-
studien: Charkiewitsch, 1812, Beresina, Petersb. 1898 (russisches
Hauptwerk), danach Krahmer, Die Operationen der russischen und
französischen Armee im Kriege 1812 von der Schlacht bei Krasnoi
bis zur Beresina (Beihefte zum Militär- Wochenblatt 1894). Vergl.
ebenda: Hartmann, „Der Übergang über die Beresina", nach den
im „Avenir militaire" veröffentlichten Berichten des französischen
Obersten Chapelle und des Genieobersten Paulin; Lenoir, Re-
cherches sur le passage de la Bdrezina (Rev. du genie mil. 1894);
(Segur et Bianca rd), Note relative au passage de la Berezina
it'arnet bist. 1898). Außerdem: Mosbach, Der Übergang über die
Beresina aus ungedruckten Denkwürdigkeiten des polnischen Obersten
Bialkowski (Strefl'leurs Österr. militär. Zeitschrift 1875); Olausewitz
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Litterarische Anmerkungen. 401
{der sich bei Wittgenstein befand), Über die Schlacht an der Beresina
{Brief an Stein, mitgeteilt in der Histor. Zeitschrift, Jahrg. 1888);
Pfuel, Der Rückzug der Franzosen aus Rußland (herausg. von Förster,
Berlin 1867): Lindenau, Der Beresina-Übergang, Berlin 1896. e) Uber
die Rückfahrt Napoleons: Ernouf. Maret; Bernhardi, Denkwürdig-
keiten Tolls; Bernays, Die Schicksale des Großherzogtums Frankfurt
und seiner Truppen; Bourgoing, Itinäraire de Napoleon de Smor-
goni ä Paris; Senfft, Memoire*. Ein gedruckter Bericht von Dunin-
Wansowicz, dem Kommandanten der Eskorte, dessen Bourgoing
i\>. 20) und Ernouf (p. 467) Erwähnung tun, ist mir unbekannt ge-
blieben. /) Uber den Anteil der Verbündeten: Weiden, Der Feldzug
der Österreicher gegen Rußland im .lahre 1812, Wien 1870; Angeli,
Die Teilnahme des österr. Auxiliarkorps im Feldzug Napoleon I. gegen
Rußland ("Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs 1884); Dittrich,
Schwarzenbergs Marsch auf Wolkowysk, 1812 (Jahrbb. für die d. Armee
und Marine, 90. Bd.); Droyscn, Leben des Feldraarscballs Yorck;
G uretzky-Cornitz, Geschichte des 1. Brandenburg. Uhlanenregiments;
Soydlitz, Tagebuch des Yoiekschen Korps, 2 Bde., 1823 (auch fran-
zösisch»; Die Teilnahme des preußischen Hilfskorps am Feldzug von
1812 (Kriegsgcsck. Einzelschriften. 24. Heft, 1898); Pfister, Aus dem
Lager des Rheinbundes. 1812, 1813; Exner, Der Anteil der sächsi-
schen Armee, 1812, Leipz. 1896; Röder, Der Kriegszug Napoleons
gegen Rußland, Leipz. 1848 (mit Benutzung des Tagebuches des Prin-
zen von Hessen); (Cerrini), Die Feldzüge der Sachsen 1812 und 1813;
Zezschwitz, Die Feldzüge der Sachsen 1812 und 1213; Burkers-
roda, Die Sachsen in Rußland; Holtzendor ff, Geschichte der köuigl.
sächsischen leichten Infanterie; Liebenstein, Die Kriege Napoleons
gegen Rußland 1812 und 1818; Minkwitz, Die Brigade Thielmann
im Feldzuge von 1812: Krauß, Geschichte der bayrischen Heeies-
abteilung im Feldzuge gegen Rußland; Heilmann, Feldmarschall
Fürst Wrede; Derselbe. Die bayrische Kavalleriedivision Preysing
dm Jahre 1812 (Jahrbb. für die deutsche Armee und Marine, 7. Bd.);
Miller, Darstellung des Feldzuges der französischen verbündeten
Armee gegen die Russen im Jahre 1812 mit besonderer Rücksicht
auf die Teilnahme der königl. württembergischen Truppen; Bernays,
Die Schicksale des Großherzogtums Frankfurt und seiner Truppen;
Büdinger, Die Schweizer im Feldzug von 1812 (Histor. Zeitschrift
XIX.): Maag, Die Schicksale der Schweizer Regimenter in Rußland
1812, 3. Aufl., Biel 1900. g) Über die Stimmung am Petersburger Hofe:
('■'sso Edling. Memoires; O sse Choiseul-Gouff ier, Mein, sur Ale-
xandre, 1829; J. de Maistrc, Corrcspondance; Pertz, Stein, III. und
VI. 2; Lehmann, Stein, J1I; E. M. Arndt, Meine Wanderungen und
Wandlungen mit dem Freiherrn v. Stein; Derselbe, Erinnerungen aus
dem äußeren Leben (herausg. von Geerds); Boyen, Erinnerungen II;
F om ni er, Stein und Gruner in Osterreich (D. Rundschau, 1887).
III. Uber das Malet sehe Unternehmen: Lafoii, Histoire de la
F our ii ier, Xapnlr-on I. 26
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402
Litterarisebe Anmerkungen.
conjuration du general Malet, Pari» 1814 (unzuverlässig); Saulnier,
Eclaircissements historiques sur la conspiration du gen. M., 1834; Hi-
stoire des societes geerbtes de l'armee et des conspirations militaires
qui ont eu pour objet la destruetion du gouvernement de Bonaparte,
Paris 1815; Desmarest, Quinze ans de haute police; Savary, Me-
moires, VI; Fiövee, Correspondance et relations avec Bonaparte, III;
Fain, Manuscrit de 1813; Pasquier, Memoires, II; Grousset, La
conjuration etc., 1809; Hantel, Histoire des deux conspirations du
general Malet, Paris 1875; Passy, Frochot prefet de la Seine.
Evreux 186 ? ; A. Duruy, La conspiration du general Malet (in der
Revue d. d. mondes, 1879); Guillon, Les complots militaires sous le
Consulat et l'Empire, Paris 1891. Die Berichte Pelets de la Lozere
und Pasquiers an Savary in der „Nouv. revne rötrospect.", 1901. Altere
Littei atur verzeichnet auch Monod, Fragment des Souvenirs du Comte
d'Argout (Rev. napol. 1£02). Dazu George. Public opinion at Paris,
1812 (Engl. hist. rev. 1901 \
Zum dritten Kapitel. I. Vor dem Frühjahrsfeldzuge, a) Uber die
Rüstungen Napoleons und seine darauf zielende innere Politik: außer
der Correspondenz des Kaisers die bereits erwähnte des Staatsrates
Fievee III, die Memoiren Molliens, Pasquiers, Savarys; Fains
Manuscrit de 1813, Thiers, XV und Lauf rey-Kalckstein, VI;
Welschinger, Le pape et l'empereur; Lumbroso, Miscell. nap. VI;
dann Rousset, La Grande Armee de 1813; Pelet, Tableau de la
Grunde Armee en 1813, am eingehendsten jedoch: (Osten-Sacken),
Die französische Armee im Jahre 1813, Berlin 1889. b) Uber die
Schwenkung Preußens: Bailleu, Briefwechsel Friedrich Wilhelms III.:
Droysen, Yorck, I; Eckart, Yorck und Paulucci; Natzmer, Aus
dem Leben 0. v. Natzmers; Henckel-Donnersmarck, Erinnerungen
aus meinem Leben; Aus den Papieren Schöns, VI. Bd. (dessen Selbst-
biographie, zu deren Kritik eine ganze von Maurenbrecher in der allg.
deutschen Biographie verzeichnete Litteratur, namentlich Lehmann,
Knesebeck und Schön); Clansewitz, Hinterlassene Werke, VII;
Seydlitz, Tagebuch des Yorckschcn Korps; Mitteilungen aus dem
Leben des Feldmarschalls Grafen Fr. Dohna; Aufzeichnungen über
die Vergangenheit der Familie Dohna, Bd. IV; Denkschriften des
Ministers Canitz; Rühle, Briefwechsel Th. v. Schöns mit Pertz und
Droysen, Leipzig 1896; Boyen, Erinnerungen II, III (werden neuesten*
in ihrer Zuverlässigkeit angezweifelt); An eil Ions Denkschrift vom
4. Februar 1813 (mitg. v. Lehmann, Hist. Zeitschr., 68. Bd.); (Pritt-
witz), Beiträge zur Geschichte des Jahres 1813; Ompteda, Nachlaß
IL Dann: Ranke, Hardenberg (SS. WW. Bd. 48); Duncker, Preußen
während der französischen Okkupation (Aus der Zeit Friedrichs des
Großen und Friedrich Wilhelms III.); Lehmann, Scharnhorst II;
Derselbe, Stein III; Oncken. Österreich und Preußen im Befreiungs-
kriege, 2 Bde.; (Gedrängte Darstellung in desselben: „Das Zeitalter
der Revolution, des Kaiserreiches und der Befreiungskriege" II); Ca-
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Litterarische Anmerkungen. 403
vaignae, La formation de la Prusse contemporaine, II; Stern, Ab-
handlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reform-
zeit (die Berichte des französischen Gesandten in Berlin enthaltend);
Aegidi, Knesebecks Sendung in das russische Hauptquartier (Histo-
rische Zeitschrift XVI); Pertz, Das Leben Steins, III; Meinecke,
Boyen I; Martens, Recueil des traites conclus par la Russie, VII und
III; Ernouf, Maret. c) Ü her die Konvention von Tauroggen stehen sich
heute zwei Auffassungen gegenüber: die der selbständigen Handlungs-
weise Yorcks ohne Vorwissen und gegen die wahrscheinliche Willens-
meinung des Königs, vertreten durch Droyseu (Yorck), Lehmann
(Scharnhorst), Derselbe. Ein Vorspiel der Konvention von Tauroggen
(Hist. Zeitschr. 64. Bd.), Delbrück, Gneisenau, I, Grobbel, Die
Konvention von Tauroggen (Diss.), Marb. 1892, Kricgsgeschichtliche
Einzelschriften des preußischen Generalstabs, Heft 24 (Teilnahme des
preußischen Hilfskorps am Feldzug gegen Rußland) Beil. 1898, Schie-
rn ann, Zur Würdigung der Konvention von Tauroggen (Hist. Zeitschr.,
84. Bd.), und die zweite, daß Yorck nicht ohne alle Instruktion des
Königs und deshalb auch nicht gegen dessen innerste Überzeugung
gehandelt habe, vertreten durch Max Schultze, Zur Geschichte der
Konvention von Tauroggen, 1898, Onekcn, Die Sendung des Fürsten
Hatzfeld nach Paris. (Deutsche Revue, 1899), Blumenthal, Die Kon-
vention von Tauroggen, Berl. 1901, namentlich aber Thimme, Zur
Vorgeschichte der Konvention von Tauroggen (in den Forschungen
zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, 13. Bd., 1900) und
Derselbe, König Friedrich Wilhelm III, sein Anteil an der Kon-
vention von Tanroggen und an der Reform von 1807 — 1812 (Ebenda
18. Bd. 1905) mit sehr guten, aus dem unedierten Tagebuch Ludwigs
von Wrangel geholten Gründen, d) Über die deutschen Aufstände und
Rüstungen: Gilde meist er, Finks und Bergers Ermordung, Bremen
1814; Ri st s Lebenserinnerungen; Wohlwill, Die Befreiung Hamburgs
am 18. März 1813; Derselbe, Zur Geschichte Hamburgs im Jahre 1813
(Mitteilungen des Vereines für Hamburger Geschichte, 1888): (Holz-
hausen), Davout in Hamburg; Varnhagens Denkwürdigkeiten III;
Lefebvrc. V. e) Über die preußischen Rüstungen insbesondere : die be-
treffende Partie in Häußers deutscher Geschichte IV; Ompteda,
Nachlaß, III. ; Steffens, Was ich erlebte. VII; Lehmann, Borstell
und der Ausbruch des Krieges von 1813 (Hist. Zeitschr. XXXVII);
außerdem die Biographien Gneisenaus von Pertz-Delbrück, Jahns
von Eulcr, Scharnhorsts von Lehmann, Blüchers von Wigger,
Xiebuhrs von Eyßenhardt, Bülows von Vamhagen, Grolmans von
Conrady. Tettenborns von demselben, etc; Ziehlberg, Ferdinande
von Schmettau: Koberstein, Lützows wilde verwegene Jagd in
„Preuß. Bilderb. - , 1887; K. v. L. Adolf Lützows Freikorps, 1884.
f) Über die Verhältnisse in den Rheinbundstaaten: Schloßberger,
Korrespondenz König Friedrichs von Württemberg; P fister, Aus dem
Lager des Rheinbundes. 1812, 1813; Darmstaed ter, Frankfurt:
26*
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404
Litterarische Anmerkungen.
Goecke, Westfalen; Charles Schmidt. Le Graud-Duchö de Berg;
Heilmann, Wrede; Montgelas' Memoiren; Senfft, Memoiren;
Fiat he, Geschichte Sachsens, III; Bonne fons, Un alH6 de Napoleon.
g) Iber Österreichs Politik: Metternichs Papiere, dann: Oncken,
Österreich und Preußen im Befreiungskriege, mehrfach berichtigt durch
Luckwaldt, Österreich und die Anfänge des Befreiungskrieges von
1813; dazu: Gebhardt, Willi, v. Humboldt als Staatsmann I; Oiste,
Der Beitritt Österreichs im Jahre 1813 (Mitth. des k. u. k. Kriegsarchivs
1894); Wertheimer, Die Revolutionierung Tirols 1813 (Deutsche
Rundschau 1904): IM mann, Eine Denkschrift von Genta aus dem
Juni 1813 (Neue Jahrb. für das klassische Altertum, Geschichte etc.
1904); Thiers, XV, XVI; Lefcbvre, V; Sorel, VIII. ä) Über die
Beziehungen zu den andern Staaten und die Anfänge der neuen
Koalition: Castlereaghs Korrespondenz; Hormayr, Lebensbilder
aus dem Befreiungskriege; Bernhard i, Geschichte Rußlands II:
Apercu des transactions politiques du cabinet de Russie (im Sboruik
der russ. bist. Gesellschaft XXXI.); Bignon, XII; Jackson, Dianes
in Bath Archives II; Nessel rodes Autobiographie; Ernouf, Maret;
») rber die Episode Murat:Weil, Le P*-"«-* Eugene et Mu rat, I; Chavanon
et Saint-Yves, Murat. k) Uber Bemadotte: Pingaud, Bernadotte,
Napoleon et les Bourbons; Suremain, Memoires; Woynar, Österreichs
Beziehungen zu Schweden und Dänemark, 1813, 1814 (Archiv für öster-
reichische Geschichte, 77. Bd.); Nielsen, Bidrag til Sveriges politiske
historie 1818, 1*14; v. Schmidt, Schweden unter Karl XIV. Johann;
Touehard-Laf osse, Hist. de Charles XIV, und das im ersten Kapitel
erwähnte Werk von Swedemis.
II. Der Frühjahrsfeldzug von 1813: Von Memoiren sind nur
wenige zu verwerten: die Marmonts, Macdonalds und S. Cyrs
bieten nicht viel; Segur, Thiebault und Fezensac befinden sich-
nicht auf dem deutschen Kriegsschauplätze; das Memorial Peyrusses
ist hier unbedeutend; nur die Memoiren Eugens (von du Casse), die
Papiere Davouts (ed. Mazade und Blocqueville), die beiden Werke
Jominis, „Pr6cis politique et militaire de 1812 ä 1814" und „Vie
politique et militaire de Napoleon", und die Erinnerungen des säch-
sischen Offiziers v. Odeleben, „Napoleons Feldzug in Sachsen", sind
französischerseits von größerer Bedeutung. Wichtig als Quellen werke
sind: Fains Manuscrit de 1813, Norvins' Portefeuille de 1813 und
allem voran dieCorrespondance de Napoleon I. XXV mit den Nach-
trägen bei Lecestre, II. Ferner: Foucart, Bautzen, Par. 1897; Fabry,
Journal des Operations des 3^ me et 5*> me corps d'armee, Par. 1902. Von
uichtfranzösischer Seite: Bernhardi, Denkwürdigkeiten des Generals
von Toll; Müffling, Aus meinem Leben (2. Ausgabe 1855); Eugen
v. Württembergs Memoiren III; Wolzogen, Memoiren; Hell-
dorff, Aus dem Leben des Prinzen Eugen von Württemberg; (Pritt-
witz). Beiträge zur Geschichte des Jahres 1813; Wilson, Private
diary of 1812, 1813, 1814 (unverläßlich); die Memoiren von Boyen,
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Litterarische Anmerkungen.
105
III., von Lüwenstern (ed. Weil), von Langeron (ed. Fabry). Von
historischen Darstellungen des Feldzuges: Schütz und Schulz, Ge-
schichte des Feldzuges von 1813, 2 Teile; Müffling, Zur Kriegs-
geschichte der Jahre 1813 und 1814; Friccius, Geschichte des Krieges
in dem Jahre 1813 und 1814; Michailowski-Danilewski, Denk-
würdigkeiten aus dem Kriege von 1813 (deutsch 1837); Plotho, Der
Krieg in Deutschland und Frankreich 1813 und 1814; Beitzke, Ge-
schichte der Freiheitskriege (2. Ausgabe von Goldschmidt); Charras,
Histoire de la guerre de 1813 en Allemagne (Fragment); Bogdano-
witsch, Geschichte des Krieges von 1813 (deutsch von A. 8.), sind
sämtlich älteren Datums. Von neueren Werken sind zu erwähnen:
Treuenfeld, Das Jahr 1813 bis zur Schlacht bei Groß-Görschen
(Leipz. 1901); Osten-Sacken, Militär.-polit. Geschichte des Befreiungs-
krieges im Jahre 1813, Bd. IIa: Der Frühjahrsfeldzug (bis zum Elbe-
übergang der französischen Aunee, Berl. 1904); Holleben, Geschichte
des Frühjahrsfeldzugs 1813, 2 Bde (Beil. 1904 f); Lanrezac, La ma-
noeuvre de Lützen, 1813 (Par. 1904; umfaßt in enger präziser Darstellung
den ganzen Frühjahrsfeldzug); Clement, Campagne de lbl3 (ohne be-
sonderen Wert, da auf alten Darstellungen beruhend). Vergl. auch
Ulmann, Die neueste militärische Literatur über den Befreiungskrieg
während des Frühjahrs 1813 (Beilage zur „Allg. Zeitung", 21. Februar
1905). Speziell über die Schlacht bei Bautzen neben Foucard: Meer-
heimb, Die Schlachten bei Bautzen am 20. und 21. Mai 1813 (1873).
Nach Bautzen: Foucard, De Bautzen ä Plöswitz (Revue de Cavalerie,
1898 ff. selbst. Par. 1901); dazu „Neue milit, Blätter", XXXI. Über ein-
zelne kleinere Gefechte: Militär-Wochenblatt von 1843 und 1847.
III. Dio Zeit des Waffenstillstandes und des Prager Kongresses:
Corre8pondance de Napoleon, XXV, XXVI; Lccestre, II; Fain,
Manuscrit de 1813, II; Bignon, Histoire de France, XII; Thiers,
XVI (nach Metternichschen Mitteilungen), dagegen Ernouf, Maret
(mit Aufzeichnungen dieses Ministers); Metternich, Nachgelassene
Papiere I und IL Der 1820 niedergeschriebene Bericht über die
Dresdener Unterredung vom 26. Juni b<_i Helfert, Marie Louise (im
Anhang); Broglie, Souvenirs I; Sbornik, XXXI; Radetzky, Denk-
schriften railit.-polit. Inhaltes, 1858 (dazu W ebner, Über zwei Denk-
schriften Radetzkys aus dem Frühjahr 1813); Radetzkys Selbstbio-
graphie (in Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs, 1887); Hormayr,
Lebensbilder aus dem Befreiungskriege, III; Gentz, Depeches inedites
aux Hospodars de la Valachie (ed. Prokesch) I; Desselben, Briefe au
Pilat ; De Clercq, Recueil des traites de la France, II; Martens, Recueil
des traitös conclus par la Russie III. Von historischen Darstellungen:
Oncken, Osterreich und Preußen im Befreiungskriege, II; Ranke,
Hardenberg (SS. Werke, 48 ff.); Lefebvre, V; Luckwaldt, Österreich
und die Anfänge des Befreiungskrieges; Bai Heu, Caulaincourt nego-
ciateur de l'armistice en 1813 (in den Schriften des Haager Historiker-
kongresses 1899); Mecrheimb, Der Waffenstillstand vom 4. Juni bis
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406
Litterarische Anmerkungen.
17. August (Z. f. preuß. Gesch., X); Gobhardt, Humboldt, I; Sorei,
VIII. Uber das Leben am Hoflager Napoleons in Dresden: Ode leben,
N.s Feldzug in Sachsen; vgl. auch Sc h impf f, Napoleon in Sachsen
(Dresden 1894).
IV. Der Herbstfeldzug 1818. Zu den vorhin genannten Werken
treten hier französischerseits die Memoiren Marmonts, F6zen-
sacs, Segurs, Saint-Cyrs, Macdonalds, Xorvins' und Berthe-
zenes wieder hinzu; daneben Bertin, La campagne de 1813 d'apre*
des temoins oculaires (Par. 1896); Roguiat, Considerations sur l'art
militaire, Par. 1816; Du Casse, Vandamme. Von seiten der Verbün-
deten: Reiches Memoiren (herausg. von Weltzien); Colomb, Aus
dem Tagebuche des Rittmeisters v. Colomb 1813 und 1814 (1854, dazu
Beiheft zum Militär-Wochenblatt, 1855); Blasendorff, Fünfzig Briefe
Blüchers (Hist. Zeitschr. LIV); Radetzky, Erinnerungen (in den
Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs, 1887); desselben Denk-
schriften; Barclay s Briefe (in der Baltischen Monatsschrift von 1888);
Radetzky im Feldzug 1813 (Jahrbb. für die deutsche Armee und Marine
1896, 1897); Wolzogen, Memoiren; Kayserlingk, Erinnerungen a.
■der Kriegszeit; Nostitz, Tagebuch (Kriegsgeaeh. Einzelschriften, V);
Briefe eines Neumärkers über seine Erlebnisse 1813 — 1815 (herausg.
von Bardey, 1903); Grauier, Schlesische Kriegstagebücher aus der
Franzosenzeit (insbesondere des Landwehrmajors Doercks) Berl. 1904;
Prokesch-Osten, Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Fürsten
v. Schwarzenberg (Neue Ausgabe 1861); Rochechouart, Souvenirs;
die Memoiren von Langeron und Löwenstein; Thielen, Erinne-
rungen aus dem Kriegerleben eines 82jährigen Veteranen der öster-
reichischen Armee, 1863; Bernhardi, Toll, III; Heilmann, Fürst
Wrede; Mcttcrnich-Klinkowström, Österreichs Teilnahme an den
Befreiungskriegen, 1887 (mit Briefen von Gentz, Metternich und Schwar-
zenberg). Von historischen Darstellungen im Besonderen: das neueste
zusammenfassende Hauptwerk von Friederich, Der Herbstfeldzug 1813,
3 Bde. (1903—1905); (Grouard), Strategie napoleonienne. La camp,
d'automne 1813. Par. 1897. Von älteren Schriften: Pelet, Des princi-
pales Operations de la campagne de 1813 (Spect. milit. 1826, 1828);
Londonderry, Narrative of the war of 1813 and 1814 (deutsch 1836);
Burghersh, Die Operationen der verbündeten Heere unter Schwarzen-
berg und Blücher (deutsch 1844); Hof mann, Zur Geschichte des Feld-
zuges von 1813 (1843); Aster, Schilderung der Kriegsereignisse in und
um Dresden; Wagner, Die Tage von Dresden und Kulm; Lüdtke,
Die strategische Bedeutung der Schlacht bei Dresden (Diss. 1904),
(dazu: Dresdener Geschichtsblätter, 1905); Zahn, Das Verhalten Na-
poleons I. nach der Schlacht von Dresden (Jahrbücher für die deutsche
Armee und Maiine, 1902); Begue de Germiny, La bataille de Dresde
(Revue des quest. hist. 1901, mit dem Tagebuch Gersdorffs u. A.);
Jomini, Replique a Lord Londonderry sur les 6v£nements de la camp,
■de Dresde; Aster. Schilderung der Kriegsereignisse zwischen Peters-
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Litterarische Anmerkungen.
407
walde, Pirna. Königstein und Priesten und die Schlacht bei Kulm:
Helfert, Die Schlacht bei Kulm; Kleist, Von Dresden nach Nollen-
dorf (Beiheft zum Militär- Wochenblatt, 1889, 3); Helldorf, Zur Ge-
schichte der Schlacht bei Kulm; Pierron, Napoleon de Dresde ä
Leipzig; Fabry, Journal des Operations du III. et V. corps en 1813.
Par. 1902; Weil, La cavalerie des armees alliees, 1813, Par. 1886;
Pajol, Pajol en 1812—1814, Par. 1874; Conrady, Grolman; 0. Hai-
nack, Die Ursachen der Niederlage Napoleons 1. 1813 (Hist. Zeitschr. 39.
Bd. 1902); Waas, Napoleon und die Feldzugspläne der Verbündeten
1813 (Hist. Vicrteljahrechrift 1900). Über die Nordarmee der Ver-
bündeten: Geschichte der Nordarmee im Jahre 1813 (Berl. 1854), ins-
besondere: Qui Storp, Geschichte der Nordarmee, 1813, 3 Bde., 1894;
Wiehr, Napoleon und Bernadotte im Herbstfeldzug 1813; (Berna-
dotte), Recueil des ordres de mouvement etc. de S. A. K. Charles
Jean, Prince royal de Suede, Stockholm 1838. Zu der Frage der Be-
urteilung Bernadottes vgl. man auch Pingaud, Bernadotte, Napoleon
et les Bourbons; Mein ecke, Zur Beurteilung Bernadottes im Herbst-
feldzug 1813 (Forsch, zur brandenburgischen und preußischen Ge-
schichte 1894); Pflugk-Harttung, Bernadotte im Herbstfeldzug 1813
(D. Rev. 1905); Pallmann, Die Schlacht bei Großbeeren (Progr. Berlin
1872); Quistorp, Zum Herbstfeldzug 1813 (Jahrbücher für die deutsche
Armee und Marine 1904), Mein ecke, Boyeu, I. Über die schlesische
Armee vgl. Müffling, Zur Kriegsgeschichte von 1813 und 1814, und
die Aufsätze im Militär- Wochenblatt 1844 und 1845; dazu Freytag-
Loringhoven, Aufklärung und Armee.Jirung bei der schlesischen
Armee 1813, Berl. 1900; Wedelstädt, Die Schlacht an der Katzbach
(Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine 1893); Droysen.
Yorck; Delbrück, Gneisenau, I; Widdern, Die Streif korps im deut-
scheu Befreiungskriege, II; Petersdorf, Thielmann; Mirus, Das Tieften
bei Wartenburg; Schels, Die Operationen des Korps Bubna (Österr.
mil. Zeitschrift. III. Jahrg.). Vor der Schlacht bei Leipzig: Kerch-
nawe, Kavalleiievei Wendung, Aufklärung und Arineeführung bei der
Hauptarmee in den entscheidenden Tagen vor Leipzig, Wien 1904;
Bremen, Die entscheidenden Tage vor Leipzig (Beiheft zum Militär-
Wochenblatt 1889); Kaulfuss, Die Strategie Schwarzenbergs am 13.,
14., 15. Oktober 1813 (Diss. 1902). Uber die Schlacht bei Leipzig: vor
allem Aster, Die Schlachten bei Leipzig 2 Bde. (2. Ausgabe 1856);
außerdem die Werke von Hof mann (1835), Naumann und Wuttke
(1863). Eine zusammenfassende Darstellung nach neuesten Ergebnissen
steht noch aus. Nach Leipzig: Kerchnawe, Von Leipzig bis Erfurt
(Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs. 3. Folge, 4. Bd., 1906) konnte
leider nicht mehr benützt werden; Dörr, Die Schlacht bei Hanau;
Bockenheimer, Geschichte der Stadt Mainz 1813 und 1814.
Zum vierten Kapitel. I. Vor Erneuerung des Krieges, a) Über die
ersten Unterhandlungen des Friedens wegen: Castlereaghs Korre-
spondenz; Lord Burghersh, Memoirs (Deutsche Ausgabe, 1844);
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408
Literarische Anmerkungen.
Martens, Recneil ITT., XI.; Metternichs Nachgelassene Papiere I,
II (dazu Bailleu, „Metternichs Memoiren* 4 in der Histor. Zeitschrift
XLIV.): Metternich-Klinkowström, Österreichs Teilnahme etc.;
Fain, Manuscrit de 1K14; Ernonf, Maret; Bignon, Hist. de France,
XIV; Angeberg, Le Congres de Vienne, I; Oncken, Aus den letzten
Monaten des Jahres 1813 (Histor. Taschenbuch 1833); Derselbe, Das
Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und der Befreiungskriege
2. Bd.; Fournier, Zur Geschichte der polnischen Frage (Mitteilungen
des Instituts für östen. Geschichtsforschung, XX. Bd.); Derselbe,
Der Kongreß von Chätillon, Wien, 1900; Roloff, Politik und Krieg-
führung während des Feldzuges von 1814, 1891. 6) (Iber die inneren Ver-
hältnisse Frankreichs: Correspondance de Napoleon, • XX VT und
XXVII; Lecestre, II; Brotonne, beide Sammlungen; Buchez et
Roux, Histoire parlementaire de la levolution fr. XXXIX; Bulletin
des lois; die Memoiren von Mollien, Miot, Bausset, Savary
(neue Ausgabe, 1900), Meneval, Pasquier II, Barante, Broglie,
der Frau v. Coigny (ed. Lamy), der Chastenay (2. Bd.), Mol es (in
der Revue de la Revolution, 1888). Dazu: Beranger, Ma biographie;
Rodriguez, Relation de ce qui s'est pass6 ä Paris a l'epoque de la de-
cheance de Buonaparte (1814); Journal d'un prisonnier anglais (in d.
Revue brittanique V, VI); Journal d'un officier anglais pendant les
quatre premieis mois de 1814 (ebenda IV); Montaignac, Journal
d'un francais depuis le 9 mar« jusqu'au 15 avril 1814; W eh le, Vertraute
Briefe über Frankreich, 1814; Veron, Memoires d'un bourgeois de
Paris, I; Engerand, Paris et les alli&s en 1814 (Nouv. Revue, 1896);
Thiers, XVII; Vaulabellc, Hist. des deux restaurations; Lubis,
Hist. de la restauration; Houssaye, „1814" (grundlegend für die innere
Geschichte, worin auch die Litt erat ur für die Departement algescbichte
des Jahres verzeichnet ist); dazu Chuquet, L'Alsaceen 1814; Pingaud,
Bernadotte, Napoleon et les Bourbons; Welschiuger, Le pape et
l'empereur.
II. Der Krieg in Frankreich, a) Über den Feldzug vgl. man neben
d. Correspondance, XXVII: M6moires du roi Joseph, die Memoiren
von Marmont, Macdonald, Belliard, Lavalette; Fabviers
Journal des Operations du 6«m« corps; Bertin, La campagne de 1814
d' apres des temoins oculaires (Par. 1897); Percy, Journal. An Dar-
stellungen: Girard, La campagne de Paris en 1814; Beauchamps,
Histoire des cnmpagnes de 1814 et 1815; Vaudoncourt, Histoire des
campagnes de 1814 et 1815; insbesondere: Koch, Memoires pour servir ä
l'histoire de la campagne de 1814, 3 vols.; Du Casse, Le gen. Arrighi;
Pajol, Pajol gen. eu chef; Nollet, Oudinot; Masson. Flahaut; Haupt-
werk: Weil, La campagne de 1*14, 4 Bde. Von nichtfranzösischer Seite zu
den im früheren Kapitel aufgeführten Quellenwerkeu von Bernhard i,
Plotho u. A.: (Damitz), Geschichte des Feldzuges von 1814, 4 Bde.;
Sch eis, Die Opeiationen der verbündeten Heere gegen Paris (Österr.
milit. Zeitschrift 1M5); Thielen, Der Feldzug der verbündeten Heere;
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Litterarische Anmerkungen. 409
Derselbe, Erinnerungen; die Memoiren Eugens v. Württemberg;
Boyens Erinnerungen; Müffling, Aus meinem Leben; Reiches
Memoiren; Schulz, Geschichte des Feldzuges von 1814, 2 Bde.;
Nostiz, Tagebuch (Kriegsgeschichtl. Einzelschriften Heft 5 und 6);
Delbrück, Gneisenau; Meinecke, Boyen; Conrady, Grolman; Heil-
mann, Wrede; Varnhagen, Bülow; Droysen, Yorck; Ollech,
Reyher; Kleist, Kleist; Neues über Leop. v. Ger lach (D. Revue, 1900);
Golomb, Blücher in Briefen; Boie, Die Stunde der Entscheidung
vor Beginn der unglücklichen Kämpfe im Februar 1814 (Jahrbb. für die
deutsche Armee und Marine, 1878); Danilewsky, Der Feldzug in
Frankreich; Bogdan owit sc h, Geschichte des Feldzuges von 1814
(Deutsche Ausgabe 1866); Janson, Der Feldzug 1814 in Frankreich,
2 Bde., 1903 und 1905. (Vergl. dazu Wojnovich, Die Geschichte der
Befreiungskriege in Streffleurs Z. 1905); Hiller, Geschichte des Feld-
zuges in Frankreich mit besonderer Berücksichtigung der württember-
gischen Truppen; Oncken, Gneisenau, Radetzky und der Marsch durch
die Schweiz (D. Z. f. Geschichtswissenschaft, X); Rolof f, Entstehung des
Operationsplanes zum Winterfeldzug 1813/1814 (Militär-Zcitschr. 1894);
Waas, Napoleon I. und die Feldzugspläne der Verbündeten von 1813
(Hist. Vicrteljahrschrift, 1900); Sauer, Blüchers Rheinübergang bei
Gaub, 1892; Oechsli, Die Verbündeten und die Schweiz; Rouvier,
Les premiers combats de 1814 (Par. 1895); Petzel, Die Operationen
Napoleons von La Rothiere bis Bar-sur-Aube (Beih. zum Mil.-Wochen-
blatt 1900); Sothen, Das Gefecht, von Etoges (Beih. zum Militär-
Wochenblatt 1894); Dechend, Das Treffen bei Bar-sur-Aube (Beih.
zum Militär-Wochenblatt 1*97); Der Fall von Soissons; Das Nacht-
gefecht bei Laon (Kriegsgeschichtl. Einzelschriften, Bd. II), b) über die
diplomatischen Unterhandlungen während des Krieges neben den oben
angeführten Quellen: Fains Manuscrit de 1814; Sbornik XXXI;
Gentz, Lettrcs aux hospodars de la Valachie I; Ernouf, Maret;
Metternichs Memoiren (unzuverlässig; vgl. Bai Heu in der „Histor.
Zeitschrift", 1888); Nesselro de, Selbstbiographie (deutsch, 1866); Ar-
ne th, Wessenberg, II; Oncken, Lord Castlereagh und die Minister-
konferenz zu Langres (Hist. Taschenbuch 1855); Derselbe, Die Krisis
der letzten Friedensverhandlungen mit Napoleon I. (ebenda, 1886);
Houssaye, „1814 a , mit unrichtiger Auffassung der Politik der Ver-
bündeten; Sorel, VIII; dazu: Fournier, Der Kongreß von Chatillon;
(Die Schrift von Pons de THcrault, Le congres de Chatillon, ist eine
auf Fains Manuscrit basierte Anklageschrift gegen Caulaincourt ohne
historischen Wert); Trapp, Kriegführung und Diplomatie der Ver-
bündeten 1814; Weil, Le Pco Eugene et Murat; Chavanon et
Saint-Yves, Murat; Lehmann, Stein, III; Pertz, Stein, VI; Geb-
hardt, Humboldt, II; Lady Burghersh, Lettres from Germany (auch
deutsch), c) Uber den Sturz Napoleons außer den genannten allgemeineren
Werken: Die Memoiren von Bourrienne, dazu A. B., Bourrienne et
ses erreurs, II. Bd.; Talleyrands Memoiren, II; Desselben Lettres
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•110
Litterarische Anmerkungen.
inedites ä la Princesse du Courlande (Revue d'histoire diplomatique
II); Vitrolles, Memoires et relations politiques, I (über seine Sendung
teilweise unwahr); die Memoiren von Rochechouart, Semallö,
Hyde de Neuville, Moriolles, Segur, Plancy (6d. Masson 1904);
De Pradt, Recit des ev^nements qui ont amene la restauration de la
royaute; Rapetti, La defection d'Essonnes; Chateaubriand, M6-
moires d'outre-tombe und dessen Pamphlet „Bonaparte et les Bourbons" ;
die Memoiren von Joseph, Pasquier, Macdonald, Savary, Me-
neval, Bausset, Fains Manuscrit, Ernouf, Maret, Gourgaud,
Journal inedit. Die „Souvenirs du Duc de Vicence* par M™* Sorr sind
nicht authentisch; es sind Artikel, die ursprünglich unter dem Titel
„Napoleon et le Duc de Vicence" in der „Nouvelle Minerve" von 1838
erschienen waren. Caulaincourt schrieb zwar an Memoiren, war jedoch
über den Anfang nicht weit hinausgekommen, als ihn 1827 der Tod
überraschte. (Sorr, Napoleon en Belgique et Hollandc, p. 5). Von Zei-
tungen: Moniteur, Journal de l'Empire, Gazette de France,
Journal des Debats. Die Pamphlete wider Napoleon sind überaus
zahlreich. Eine Sammlung derselben verzeichnet mit Auszügen daraus:
Germond de Lavigne, Les pamphlets de la fin de l'Empire, des
Cent-Jourset de la Restauration (Par. 1879). (Die Berliner Bibliothek
enthält an 130 Flugschriften dieser Zeit). Von Darstellungen, außer
den genannten Geschichtswerken über die Restauration: Thiers, XVII,
Sorel, VIII, Masson, Marie Louise, und derselbe, Napoleon et sonfils;
dagegen Fournier, Marie Luise und der Sturz Napoleons (D. Rund-
schau, Sept. 1902, französisch: Revue historique, 1903); Dazu: Wert-
heimer, Der Herzog von Reichstadt; Hclfert, Marie Luise; Wehle,
Vertraute Briefe über Frankreich und dessen Hauptstadt in der ersten
Hälfte des Jahres 1814.
III. Napoleon auf Elba, a) Über die Fahrt dahin: Helfert, Na-
poleons Fallit von Fontainebleau nach Elba, 1874 (nach den Berichten
des österreichischen Kommissars Koller); Waldburg-Truchseß (Be-
vollmächtigter Preußens), Napoleon Bonapartes Reise von Fontaine-
bleau nach Frejus, Berl. 1815 (im 6. Band von Schoell, Recueil des
pieces officielles) ; Campbell (Bevollmächtigter Englands), Napoleon
at Fontainebleau and Elba, 1869; Ussher (Kapitän des „Undauntcd"),
A narrative of events etc. (Neu aufgelegt in „Napoleons Last Voyages",
1895, deutsch: „Von Fr6jus nach Elba" von O. Simon, 1894); J.Fabre,
De Fontainebleau u l'ile d'Elbe, 1887 (wertlos); Laborde, Napoleon
et sa garde, ou relation du voyage de Fontainebleau ä Pile d'Elbe,
Par, 1840. b) Über den Aufenthalt auf der Insel: Correspondance,
XXVII. (Die Ergänzungswerke von Lecestre und Brotonne enthalten
nichts für diese Zeit); Pelissier, Le registre de l'ilc d'Elbe, Par. 1897
(mit, 184 Briefen); Peyrusse (des Schatzmeisters) Memorial; am aus-
führlichsten: Pons de l'Herault (Direktor der Bergwerke), Souvenirs
et aneedotes de l'ile d'Elbe (ed. Pelissier, Par. 1897); dazu: Memoire
de Pons de l'Herault aux puissances (6d. Pelissier, Par. 1899, ein
Litterarische Anmerkungen.
411
apologetisches Pamphlet, wie es der Herausgeber richtig bezeichnet).
Die Erinnerungen von Labadie, Larabit und Sellier Vincent hat
Pelissier in der Nouvelle Revue rßtrosp. 1894, 1895 veröffentlicht.
G. Firmin-Djdot, Royaute ou Empire (Par. 1897, enthält u. A. die
Berichte der geheimen Agenten der Pariser Regierung); Fleury de
Oh ab ou Ion, Memoires de la vie privee, du retour et du regne de Na-
poleon en 1815 (Lond. 1820; schildert seine Sendung im Auftrage
Marets). Über Unterredungen Napoleons mit reisenden Engländern:
Ebriugton, Memorandum of two conversations, 1824 (französisch bei
Capefigue, Histoire des Cent-Jours; auch deutsch); Vernon, Sketch
of a conversation with Napoleon (in Miscellanies of the Philobiblion
Society, 1863); anderes bei Holzhausen, Bonaparte, Byron und die
Briten (Frankf. 1904). Von Darstellungen: Lancelotti, Napoleon auf
Elba, Dresd. 1815; Pichot, Napoleon ä l'ilc d'Elbe (nach Peyrusse,
Campbell u. A.); Foresi, Napoleone all' isola d'Elba, 1884; Livi, Na-
poleone all' isola d'Elba, 1888; Pellet, Napoleon ä l'ile d'Elbe, Par.
1888 (die beiden letzteren mit zu viel Vertrauen auf geheime Polizei-
noten); Houssaye, „1815", I; Larrey, Madame Mere; Brunschwig,
Cambronne; Madelin, Fouche, II; jüngst: P. Gruyer, Napoleon,
Roi(!) de l'ile d'Elbe (Par. 1906, mit vielen Illustrationen). Napoleon
selbst diktierte die Geschichte seines Aufenthaltes u. d.T.: „L'ile d'Elbe
et les Cent-Jours" (in Bd. XXXI der Correspondance; wie fast alle
seine Diktate tendenziös und unzuverlässig), c) Über Marie Luise: Four-
nier, Marie Luise und der Sturz Napoleons (D. Rundschau, 1902;
französisch in der Revue hist. von 1903); Wert heim er, Der Herzog
von Reichstadt; Helfert, Napoleon und Marie Luise im Sommer 1814
(.„Dioskuren", Jahrg. 1874). Die irrigen Angaben bei Masson, Marie
Louise, und Houssaye, „1815" beruhen zum großen Teile auf einem
Pamphlet: „Marie Luise und der Herzog von Reichstadt" (1843). d) Die
Litteratur über den Wiener Kongreß gehört nicht hierher. Doch für
die Haltung Talleyrands in der Elba-Frage: Pallain, Correspondance
de T. avec Louis XVIII (deutsch von Dailleu, 1881) und M. Leh-
mann, Tagebuch des Freiherrn vom Stein während des Wiener Kon-
gresses (Hist. Zeitschr. 1888); Blcnnerhasset, Talleyrand; Fournier,
Talleyrand (in der deutschen Rundschau, 1888); Pasquicr,Mömoires III.
e) Über Murat: Helfert, J. Murat, seine letzten Kämpfe und sein
Ende (1878); Dufourcq, Murat et la question italienne enl815; andere
Litteratur bei Chavanon et Saint-Yves, Murat.
IV. Napoleons Rückkehr und Zug nach Paris. Hierfür die Corre-
spondance, XXVIII; die Darstellung bei Monier, Une annee de la
vie de l'Empereur Napoleon (1815; panegyrisch und unvollständig);
Peyrusse, Mömorial; Laborde, Napoleon et sa garde; namentlich
aber Fleury do Chaboulon, Memoires. Dazu vgl. man: Napoleons
Schilderung in Gourgaud, Journal in6dit I 379 ff.; Berriat Saint-
Prix, Napoleon ä Grenoble; am eingehendsten: Houssaye, „1815" I;
Thiers, XIX. Über die Stimmung in Frankreich: die Memoiren von
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412
Litterarische Anmerkungen.
Broglie, I; Pasquier, III; Barante, II; Vitrolles, II; V6ron,
I; B. Gonstant, Memoires aar les Cent-Jours (die ersten Briefe);
Hobhouse, Letters written from Paris, Lond. 1816 f. (Fraiizös. Aus-
gabe 1817, 1819).
Zum fünften Kapitel. I. Die Herrschaft der hundert Tage: Corre-
spondance XXVIII und XXXI; dazu: Portefeuille de Buonaparte"
(deutsch: „Napoleons Brieftasche" (1815) enthält bei Waterloo erbeutete
Briefe von und an Napoleon). Zu den im früheren Abschnitt genannten
Memoiren werken: Mo lös Memoirenfragment in der Revue de la Re-
volution, 1888; Carnot, Expose de ma conduite politique; die Me-
moire« sur Carnot par son fils, II; Garnot, Correspondance avec
Napoleon; Desselben Expose" de la Situation de l'Empire im „Moniteur K ,
15. Juni 1815; (dazu vergl. man die Studie von Welver t in der
Rev. historique, 1905); die Erinnerungen Lavalettes, Savarys VII,
Fouches (mit der bereite angemerkten Einschränkung); Molliens,
III; Villemains, VI; Vitrolles', II; Barras', IV; Lucians, III;
Lafayettes, V; derStael, III; dazu: Alexandre I et M™ deStael 1814
— 1817 (Revue de Paris, 1897); Laborde, Quarante-huit heures de
garde aux Tuileries; Barry, Gahier d'un rhötoricien en 1815; Helene
Williams, Relation des eve^iements etc.; Sismondi, Notes sur l'Empire
et les Cent-Jours (Revue historique IX); Desselben Briefe an seine
Mutter (Revue historique VI, unverläßlich); Desselben Examen de la
Constitution (1815); Hobhouse, Letters (dazu Napoleons Bemerkungen
in der Correspondance XXXI); Davout, Correspondance IV (ed. Ma-
zade); Blocqueville, Le marechal Davout, IV; Vigier, Davout (Par.
189ö); Be"ranger, Ma biographie; Lord Holland, Reminiszenzen;
Picaud, Carnot (188"»); F. v. Weech, Französische Zustände während
der hundert Tage und der Okkupation (Hist. Zeitschr. XVI, 1866, nach
Wellingtons Supplementary dispatches X). Dazu die Geschichtswerke
von Houssaye, I; Thiers, XIX; Vaulabelle, H; Lubis, III;
Thibaudeau, Hist. du Göns, et de l'Empire, X; Bignon, XIV;
Baudouin, Anecdotes historiques du temps de la restauration; He"lie,
Les Constitutions de la France; Pölitz, Europäische Verfassungen III;
Bulletin des Lois, 1815; die Dispatches Wellingtons XII und
Castlereaghs X; die Archives parlementaires, 2fcme seYie; Ger-
mond de Lavigne, Les pamphlets de la fin de l'Empire etc. Zu den
im vorigen Kapitel genannten Zeitungen treten hinzu: „L'Aristarque",
„L'Independant", „Le Patriote de 89 a und „Le Nain Jaune 4 *
als Witzblatt. Die Broch ürenlitteratur verzeichnet Houssaye, I, 538
bis 535, 546 ff. Für die Vjrhältnisse zum Ausland: Die bereits erwähnte
Korrespondenz Talleyrands mit Ludwig XVIII; Pozzo di Borgo,
Correspondance; Romberg et Malet, Louis XVTII et les Cent-
Jours ä Gand (Par. 1898, 1902); Metternich, Nachgelassene Papiere,
II; d'Angeberg, Congres de Vienne, I; Hansard, Parliamcntary
debates, XXX, XXXI; Sorel, VIII; Madelin, Fouche*, II. Die
Litteratur über Mutat siehe zum vorigen Kapitel.
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Litterarische Anmerkungen.
II. Der Feldzug von 1815. Hiefür kommt die Correspondanoe de
Napoteon I. nur wenig in Betracht. Über die Rüstungen: Gouderc
de Saint-Chamant, Napoleon, ses dernieres armees, Par. 1902;
Mauduit, Les derniers jours de la Grande Armee. Des Kaisers Dar-
stellung des Krieges, wie er sie auf St. Helena Gourgaud in die Feder
diktierte, unter dessen Namen dann „La campagne de 1815" im Jahre
1818 erschien, ist die Grundlage für viele historische Darstellungen,
u. A. Thiers' geworden, obgleich alsbald berichtigende Gegenschriften
erschienen; unter diesen insbesondere: Grouchy, Observation snr la
relation de la camp, de 1815 publice par Gourgaud, Paris 1819. Vgl.
auch Heymes, Relation de la campagne de 1815 pour servir a l'histoire
du marechal Ney (in d'Elchingen, Documents in^dits sur la cam-
pagne de 1815); Janin, Campagne de Waterloo (1828); Jomini, Precis
politique etmilitaire de lacamp. de 1815 (Bruxelles 1846). Dazu: Lefol,
Souvenirs; Re"pecaud, Napoleon ä Ligny; Salle, Souvenirs (Nouvelle
Revue, 1895); Gerard, Quelques documents sur la bataille de Water-
loo und desselben „Dernieres observations" gegen Grouchy, worauf:
Grouchy, Fragment« historiques, 1829 und später „Relation succinete
de la camp, de 1815", 1843. Grouchys Memoiren 6ind dann von seinem
Enkel (Paris 1873) mit vielen Dokumenten in Bd. IV publiziert worden.
Doch stimmen die Texte der letzteren nicLt immer mit den Originalen
überein, wie denn auch alle Mitteilungen des Marschalls (und seines
Nachkommen) ebenso sorgfältig geprüft werden müssen wie die Na-
poleons. Vgl. dazu die Memoiren von Berthezene, Lamarque, Fleury
de Chaboulon, Bertons Precis historique, Tagebuchartige Auf-
zeichnungen des Generals Foy in Girod de TA in, Vie militaire du
gen. Foy (Par. 1900), Berichte Flahauts beiMasson, Le gen. Flahaut,
die Pajols in Pajol, P., dazu: Bau du 8, Stüdes sur Napoleon, Par.
1840; die Memoiren Jerömes; Erinnerungen einzelner Offiziere, wie
Petiet, Pontöcoulant, Lemonnier, Larrey (Chefarzt), eines Un-
genannten über die Schlacht bei Waterloo (Nouvelle Revue retrosp.
1896). Amtliche Berichte über die Schlacht bei Waterloo von fran-
zösischer Seite sind nicht veröffentlicht. Was die englischen Quellen
betrifft, so stehen Wellingtons Dispatches XII und Supplementary
Dispatcbes X obenan. (In den letzteren sind die Berichte der Unter-
generale über die Entscheidungsschlacht mitgeteilt.) Dazu Stanhope,
Notes of conversations with the duc of Wellington. Ohne alle Welling-
tonschen Papiere zu kennen, hat Siborne seine streng englisch ge-
färbte „History of the war in France and Belgium 1815" (deutsch,
Berlin 1846, 1847) verfaßt. Später, 1891, hat sein Sohn „Waterloo
Letters" herausgegeben, die als Erinnerungen von Teilnehmern an der
Schlacht immerhin einen illustrierenden Wert besitzen. Dazu Kennedy,
Notes on the battle of Waterloo, Lond. 1865; Woodberry, Journal;
Mercer, Journal of the Waterloo Campaign; Tomkinson, The
Diary of a cavalry officer; Cotton, A voice of Waterloo; Beamish,
History of the Kings German legion, Lond. 1832, 1837. Von nieder-
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114
Litterarische Anmerkungen.
Kindischen Quellen ist heute das Buch von LÖben-Sels, Precis de la
camp, de 1815 (1846) überholt durch de Bas, Prins Frederik der
Niederlanden, 3 Bde., 1896 ff. mit vielen Dokumenten. Von preußischer
Seite bot, nach den zeitgenössischen Mitteilungen von Müffling, Ge-
schichte des Feldzuges usw. (1817), desselben, Aus meinem Leben,
Clausewitz, Der Feldzug von 1815 (Hinterlassene Werke VTIi),
Plotho, Der Krieg der Verbündeten gegen Frankreich, 1815 (1818),
Wagner, Pläne der Schlachten und Treffen, Hof mann, Zur Ge-
schichte des Feldzuges von 1815 (2. Auflage 1849), Schulz, Geschichte
der Kriege, XIV, XV, Damitz, Geschichte des Feldzuges von 1815
(1837), zuerst König er, Der Krieg vom Jahre 1815 und die Verträge
von Wien und Paris (Leipz. 1865), und dann Ollech in seiner Ge-
schichte des Feldzuges von 1815, Berl. 1876) eine zusammenfassende
Darstellung nach archivalischen Quellen, deren Publikation sich aber
nicht immer als einwandfrei herausgestellt hat. Beide Werke sind heute
überholt durch Lettow- Vorbeck, Napoleons Untergang 1815, I (ein-
schließlich der Schlacht bei Waterloo, Berl. 1904), und Pflugk-
Harttung, Vorgeschichte der Schlacht bei Belle- All iance (Berl.
1903); dazu desselben, Verhandlungen Wellingtons und Blüchers
auf der Windmühle bei Brye (Hist. Jahrb. 1902). Vgl. auch: „Zur
Geschichte des Feldzuges von 1815 in „Neue milit. Blätter", 1903.
Hierbei kommen an privaten Quellen in Betracht: Golomb, Blücher
in Briefen aus den Feldzügen von 1814 und 1815; v. d. Marwitz,
Nachlaß; Henckel v. Donnersmarck, Erinnerungen; Nostiz, Tage-
buch (Kriegsgeschichtl. Einzelschriften VI), Memoiren des Generals
Reiche (herausg. von Weltzien) u. A. Außerdem die Berichte an den
König von Württemberg in Pf ister, Aus dem Lager der Verbündeten.
Dazu vgl. man: Delbrück, Gneisenau, II; Conrady, Grolman;
Starklof, Bernhard von Sachsen- Weimar; Treuenfeld, Die Tage von
Ligny und Bclle-Alliance (1880, überholt); M. Lehmann, Zur Ge-
schichte des Feldzuges von 1815 (Hist. Zeitschrift 1877); Bernhardi,
Geschichte Kußlands I. Was insbesondere die Schlacht bei Waterloo
betrifft, so wurde die auf Napoleons Aufzeichnungen basierte Legende
von der ausschließlichen Schuld Grouchys und Neys durch Charras, Hist.
de la camp, de 1815 (1857) vernichtet, der jedoch in der Verurteilung
Napoleons zu weit ging. Dazu: Qu inet, Hist. de lacamp.de 1815 (Par. 1862,
neue Ausgabe 1877 ; auch deutseh). Nach der anderen Seite hatHoussaye
„1815", Bd. II (Par. 1902) in einer sehr eingehenden, auf zahlreiche
noch ungedruckte Quellen begründeten Darstellung sich um die Ent-
lastung des Kaisers bemüht, jedoch in jüngster Zeit an Grouard,
La critique de la camp, de 1815 (Par. 1904) einen scharfsinnigen
Gegner gefunden, der sich wieder — nicht immer mit Hecht — dem
Standpunkt Charras 1 nähert. Vgl. auch Navez, Pourquoi Napoleon
a-t-il perdu la bataille de Waterloo? (Brüx. 1899); Derselbe, Les Beiges
ä Waterloo (Brüx. 1900). Von englischen Darstellungen ist die un-
parteiischeste: Chesney, Waterloo-Lectures (deutsch 1869). Vgl. außer-
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Litterarisclie Anmerkungen.
415
dem: O'Connor-Morris, The campaign of 1815 (Lond. 1900); Wood,
The cavalry in the Waterloo-Campaign; Boulger, The Belgians at
Waterloo (1901); Oman, The french losses in the Waterloo Campaign
(Bnglish hist. rev. 1904); Wolseley, The decline and fall of Napoleon,
1894 (ziemlich wertlos); Ropes (Amerikaner), The campaign of Water-
loo (Lond. 1893); Bustelli, L'enigma di Ligny e di Waterloo, 3 vols,
Viterbo 1897. Über den Beginn der Franzosenflucht: Büdinger,
Wellington (im Anhang). Über Cambronne und die Katastrophe der
Garde: Knesebeck, Leben des Freiherrn Hugh v. flalkett; Poten,
Artikel „Halkett« in der Allg. d. Biographie; Fransecky im Militär-
Wochenblatt von 1876, Nr. 47.
Zum sechsten Kapitel. I. Uber die letzten Tage in Frankreich:
Fleury de Chaboulon, II; Sismondi; Benjamin Constant,
Lettresä M«n« Recamier; desselben „Memoires sur les Cent-Jours" II;
Josephs Memoiren X; Lucians III; desselben, „Verit6 sur les
Cent-Jours"; Pasquiers III; „Esquisse sur les Cent-Jours a (nach
Aufzeichnungen Lafayettes); Savary, VIII; Hobhouse, Letters II;
Carnot, Memoires sur Carnot, II; die Memoiren von Villemain, II,
Fouche, II, Meneval, III, ThiSbault, V, Lafayette, V, Ba-
rante, II, Broglie, 1, Doulcet Pontöcoulant, III, Vitrolles,
III, Gourgaud, Journal H (Pieces annexes). Dazu: Becker, Relation de
ma mission aupres de Napoleon; Metternich, Nachgelassene Papiere,
II; Wellington, Supplem. dispatches X; La Brettoniere, Souvenirs
du vieux Quartier latin ; Peyrusse, Memorial; „Les deux Chambres
de Buonaparte" ; Regnaut-Warin, Cinq mois de l'histoire de France;
Lamarque, Souvenirs; Maitland, Narrative of the surrender of Buona-
parte (auch deutsch); Jourdan de la Pasaardiere (Kommandant
der Brigg „Epervier"), Relation (in Nouvelle Revue rötrospective, 1897),
Montholon, Re*cits de la captivite de St« Helene (auch deutsch),
Comtesse Montholon, Souvenirs de S te Helene (1815, 1816, publ.
par Fleury); General Lallemands Aufzeichnungen und Briefe über
die Einschiffung in Rochefort u. d. T. „Embarquement de l'Empereur
a Rochefort" (in Nouvelle Revue r^trosp. 1899). Die ausführlichste
historische Darstellung findet man im 3. Band von Houssayes „1815 M
(La seconde abdication — La terreur blanche, Par. 1905), wozu dem Ver-
fasser, neben den Documenten der Pariser Archive, auch wichtige hand-
schriftliche Aufzeichnungen privater Natur, insbesondere der Königin Hor-
tense (von H. als „Memoires de Madame X." bezeichnet), Davouts, Gaillards,
Rous8elins und des Kammerdieners Marchand zur Verfügung standen.
Man vgl. jedoch auch: Thibaudeau, X; Thiers, XX; Madelin, Fouchö,
II; Silvestre, Malmaison, Rochefort, S*« Halene (nach Aufzeichnungen
in Rochefort). Die Kammerverhandlungen liest man im „Moniteur".
LT. Über den Aufenthalt auf S. Helena. In erster Linie kommen
hier die Aufzeichnungen der Begleiter Kapoleons in Betracht, u. zw.
Las Cases' Memorial de S* Helene, Par. 1823; Montholons Recits
de la captivite* de Napoleon ä, S*« Halene, Par. 1847, und Gourgauds
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416
Litterarische Anmerkungen.
Journal inödit de 1815 a 1818, Par. 1899, wovon das letztere das
meiste Vertrauen verdient. Dann die „Souvenirs" der Gräfin Mon-
tholon für 1815 und 1816 (Par. 1901) und für die letzte Lebens-
zeit des Kaisers: Antommarchi, Derniers moments de Napoleon,
Bruxelles, 1825, 2 vols. Auch die Berichte der Kommissare sind ver-
öffentlicht: die des Österreichers Stürmer in Schiitter, Die Berichte
des k. k. Kommissars Frh. von Stürmer aus St. Helena 1816—1818
(Wien 1886), des Franzosen Montchenu von Firmin Didot in „La
captivite de S to Helene d'apres les rapports in6dits du Marquis de
Montchenu", Par. 1894, und des Russen Baimain in „Le Prisonnier de
St« Halene" (Revue bleue von 1897). Von Zeugnissen anderer auf der
Insel anwesender Personen sind bekannt geworden: Mrs Abell (ehe-
dem Betsy Balcombe), Recollections of the emperor Napoleon during
the first three years of his captivity (Lond. 1844, 3. Ausgabe 1873);
Leutnant Jackson, Recollections of S. Helena (in „United Service
Magazine, 1843); Militärarzt Henry, Events of a military life, Lond.
1843; Glovers (Sekretär Cockburns) Tagebuch in „Napoleons last
voyages", Lond. 1895; Jackson, „Notes and reminiscenses of a staff
officer" (ed. Seaton, Lond. 1903); Dr. Stokoes (Schiffsarztes auf
dem Admi raischiff „Conqueror~), aus zweiter Hand gesammelte, wenig
verläßliche Notizen in Fremeaux, „Napoleon prisonnier" (Par. 1896,
auch englisch); Lady Malcolms Tagebuch von 1816, 1817 (Lond.
1899). Die von Napoleon diktierten „Lettres du Cap de Bonne Espe-
rance" (in Correspondance, Bd. XXXI), welche 1818 erschienen, be-
gründeten die Märtyrerlegende, die namentlich Nahrung erhielt durch
O'Meara, „Napoleon in exile or a voice from St. Helena", Lond. 1822
(in fast alle europäischen Sprachen übersetzt), nachdem schon vorher,
1816, Warden (Arzt des „Northumberland") mit seineu „Letters
written on board his majestys ship the „Northumberland" and at
S. Helena" (Lond. 1816) dieselbe Richtung eingeschlagen hatte und in
der Quarterly Review n. XXXI und XXXII (1817) als unverläßlich
widerlegt wurde. Die übrigen Diktate Napoleons zurGeschichte seinerzeit
erschienen zuerst als „Memoires pour servir ä l'histoire de France sous
Napoleon, ecrits a S to Helene par les genäraux qui ont partage sa
captivite et publies sur les manuscrits corriges de la maiu de Napoleon",
Paris 1823, 8 Bde., später als Anhang zu der Correspondance,
Bd. 29—32. In Band 32 am Schluß sind die letztwilligen Anordnungen
Napoleons mitgeteilt. Das unter dem Namen Lowes 1830 in Paris er-
schienene „Memorial relatif ä la captivite de Napoleon ä S l « Helene" ist
apokryph. Von Darstellungen ist das grundlegende Werk: Forsyth, Hi-
story of the captivity of Napoleon at S. Helena, 3 Bde., 1853 (nach
den Akten der englischen Regierung). Wertvolle Ergänzungen dazu
bietet Seaton, Napoleon and Sir Hudson Lowe, Lond. 1898, und Der-
selbe, Napoleons captivity in relation to Sit- Hudson Lowe, Lond.
1908; außerdem: Rose, Life of Napoleon im 2. Band und Derselbe
in „Napoleonic studies" (mit Briefen des englischen Majors Gorrequer
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Litterariscbe .Anmerkungen. 417
von S. Helena). Beide wenden sich gegen die schlecht begründete Auf-
fassung Lord Roseberrys in dessen „Napoleon, the Last Phase", Lond.
1900. Wertvolle Beitrage findet man auch in Walter Scotts „Life
of Napoleon", IX, in Lord Hollands „Foreign Reminiscences", in
Yonge, The life of L. Liverpool II, in Schütter, Kaiser Franz und
die Napoleoniden vom Sturz Napoleons bis zu dessen Tode (Wien
1888). Vgl. auch Ad viel le, La bibliotheque de Napoleon ä 8* H6-
]§ne (Par. 1896); Häreau, Napoleon h 8** Helene, opinion d'un m6-
decin (Par. 1829, über die Krankheit Napoleons); Holzhausen, Na-
poleons Tod im Spiegel der zeitgenössischen Presse; Capeletti, La
leggenda napoleonica, Turin 1903; Sorel, L'epopee Napoleonienne.
(Revue bleue, 1904).
Fonrnier, Nnpoleon I 27
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II.
Beilagen.
1. Briefe Napoleons an Marek 1 )
1
Paris, le 29 janvier 1813.
M. le Duc de Bassano, je vous envoyo un article traduit des
journaux anglais qui parait ministeriel et qui est tres remarquable. 2 )
Napoleon.
2.
Goerlitz, le 21 mai 1813.
M. le Duc de Bassano, ecrivez au Baron de Serra s ) pour qu'il
voye le ministre saxon, aön de complöter d'abord le contingent du
Roi, mais avant tout, pour organiser le plus promptement possible
l'artillerie du corps saxon. II faut a ce corps 36 bouches a feu, et
dans ce moment il n'y en a que 12. II faut un approvisionnement
et demi attele, et il n'y a qu'un demi approvisionnement. Dans les
bouches ä feu il faut une batterie de 6 pieces de 12. C'est un objet
tres important et cela peut se faire tres promptement. On doit veiller
ä ce que dans peu de jours toute cette artillerie, personnel et ma-
teriel, parte de Torgau pour joindre le corps du genöral Reynier.
Vous ferez aisöment comprendre que ce manque d'artillerie expose
les hommes a une plus forte perte. II faut egalement compläter la
cavalerie. Outre ce qui en est revenu de Boheme, il y a plusieurs
centaines de cheyaux qu'on peut employer a l'armöe.
Napoleon.
3.
Neumarkt, le 4 juin 1813.
M. le Duc de Bassano, je vous renvoye les depeches qui arrivent
de M. Alquier. 4 ) Napoleon.
») Die auf dem "Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrte Sammlung von
Briefen Napoleons an seine Minister des Auswärtigen, ans der in den beiden ersten
Bänden eine Anzahl unedierter Stücke veröffentlicht werden konnte, enthält nur
noch aus dem Jahre 1813 mehrere Schreiben des Kaisers an Maret, sämtlich in
Abschriften. Die Inedita aus dieser Reihe werden hier mitgeteilt.
>) Die Beilage fehlt.
*) Französischer Gesandter in Dresden.
*) Gesandter in Dänemark. Vgl. Corres p. XXV. 20, 0S8.
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Briefe Napoleons an Maret. 419
4.
Neumarkt, le 4 juin 1813,
ä 4 heures du soir.
M. le Duo de Bassano, vous trouverez ci-joint la copie de l'armi-
stice qui vient d'etre signö. II n'y a pas d'inconvenient ä le faire
raettre dans le journal de Dresde et dans celui de Leipsick. Envoyez-
le ä Alquier par un courrier qui, en passant, le remettra au P«> d'Eck-
mühl. Envoyez-le en Italie par un courrier qui, en passant, le remettra
a Munich. Je ne crois pas qu'il faille, ä cette occasion, envoyer un
courrier extraordinaire ä Vienne. Je serai demain, le 5, ä Liegnitz,
et je vais, de ma personne, avec ma vieille garde m'approcbcr de
Dresde. Tonte l'armee restera a Liegnitz et sur la ligne. Faites
öcrire par les ministres du Roi de Saxe a Luckau et ä Torgau.
Je suppose que l'etat-major aura dejä envoye" l'armistice au general
Durosnel; si ce general nc l'avait pas encore recu, remettez-lui en une
copie pour qu'il l'envoye ä Leipsick, ä Dessau et partout. Ü le signi-
fiera aux avant-postes et aux quartiers russes. Napoleon.
5.
Dresde, ce 6 juillet 1813.
M. le Duc de Bassano, faites connaitre, par mon ministre a
Würtzbourg, que je desire que le Grand-Duc envoye ä l'armee un
nouveau bataillon de 1000 bommes. On pourra y incorporer les de-
tachements composes de vieux soldats qui avaient 6t£> laiss^s pour la
garde des fort« sur le Mein. Napoleon.
6.
Magdebourg, le 12 juillet 1813."
M. le Duc de Bassano, mon intention est que, sur l'extra-
ordinaire de votre budget, un million soit mis a votre disposition pour
donner des secours aux refugies espagnols. II faudra nommer une
commission pour la repartition de ces secours. Je dösire qu'elle soit
presidee par le Comte Otto, 1 ) qui verra, avec l'ambassadeur d'Espagne.
comment cette commission doit etre composee et quels sont les röfugi^s
anxquels il est le plus urgent de donner des secours. Napoleon
7.
Dresde, le 18 juillet 1813.
M. le Duc de Bassano, ecrivez au Baron Reinhard 8 ) afin de
connaitre ce qui retarde le depart des l*«"«« et 2<*es compagnies du
lO&mc. bataillon des äquipages militaires qui s'organisent ä Cassel.
Napoleon.
J ) Otto wurde nach seiner Abberufung von "Wien Staateminister.
*) Französischer Gesandter in Kassel.
27*
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420
Aus Briefen Metternichs an Hudelist.
8.
Dresde, le 3 septembre 1813.
M. le Duc de Bassano, faites connaitre ä mon minist re ä Cassel
qne j'ai autorisl le Duc de Valmy a fournir 500 h. de cavalerie 16göre
du dlpöt de Francfort pour le regiment de Jlröme Napoleon.
Napoleon.
9.
Dresde, le 30 septembre 1813.
M. le Duc de Bassano, faites connaitre au Bon de S'Aignan 1 )
qu'il sonne mal ä propos l'alarme sur tous mea derriöres. La lettre
du bailli elle-meme montre qne ce n'est qu'un parti peu important qui
rode de ce cot6. Sa nouvelle de Thielemann est controuvee.
Napoleon.
Comment depuis le temps que ce ministre est lä a-t-il
si peu 2 ) et si peu de moyens d'Stre instruit. 3 )
2. Aus Briefen Metternichs an Hudelist 4 )
l.
Zur Geschichte der Dresdener Begegnung, 1812.
Dresden, den 23. May 1812.
. . . Wir haben in der größten Ausdehnung Ursache, mit unserem
Aufentbalte zufrieden zu sein. Kaiser Napoleon ist voll Coquetterie gegen
den Unsrigen. Sie gefallen sich wechselseitig, und das gute Resultat
der Zusammenkunft wird sein, daß Beide sich in Zukunft so beur-
theilen werden, wie sie sind. Kaiser N. sagte mir gestern: „Vous aviez
raison, votre empereur est ä cent pour cent au dessus de ce que je croyais.
II me re'duit ä tous moments au silence avec ses 20 ans d'experience."
Eine allerliebste Anekdote ist die folgende: Vorgestern war unser
Kaiser bei seiner Tochter. Kaiser N. kam dazu. „Auf einmal hörte
Kaiser N." — erzählte mir unser Kaiser — „eine Thüre in einer hinteren
*) Französischer Gesandter an den sächsischen Herzogshöfe u.
*) Lücke im Manuskript.
*) Das Postskript von Napoleons Hand. Notiz des Kopisten: „On a souligne ces
dernieres ügnes parce qu'elles etaient ajoutees de la main de Napoleon."
*) W. St. A. Aus der umfangreichen Korrespondens des österreichischen
Ministers mit dem in seiner Abwesenheit die Geschäfte in Wien leitenden Staatsrat
sind hier nur wenige Stücke und aus ihnen auch nur dasjenige veröffentlicht, was den
Zwecken dieser Biographie unmittelbar dienen mag. Für die Zeit nach der Schlacht
bei Leipzig und wahrend dos Winterfeldzuges findet man Mitteilungen aus diesem
Briefwechsel in meinem „Kongreß von Chfitillon", S. 241—266. Die Briefe sind eigen-
händig geschriebene Originale. Sie haben die Tendenz, die Führung der politischen
Geschäfte und die des Krieges in Wien in einem möglichst günstigen Lichte er-
scheinen ru lassen. Dieses Moment in Rechnung gebracht, gewähren sie immerhin
manchen neuen Aufschluß.
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Aus Briefen Metternichs an Hudelist.
421
Ecke des Zimmers krachen; er erschrack sehr und sah so bedenklich
um sich, daß ich ihn gleich fragte: „Si vous voulez, j'irai voir ce que
c'est." Wie stark ist der alte Kaiser gegen den neuen! 1 )
Gegen England wird ein neuer Schritt gemacht. Man raccro-
chirt sich an ein Wort, welches einige Zweideutigkeit darbietet. Im
ersten § der Antwort nemlich heißt es, man müsse vorläufig wissen,
„si la France entendait par dynastie actuelle le roi legitime Fer-
dinand VII et les Cortes constituäs sous son autoritä, ou bien le frere
du rögulateur de la France". Dies scheint peremptorisch. In dem fol-
genden § steht: „le gouvernement agissant au nom de Ferdinand" als
contrahirender Theil vorangestellt. Vorgestern ließ der französische
Kaiser mich rufen und bat mich, die Antwort des L. Castlereagh zu
lesen. Er machte mir die Distinction und frug mich, ob ich nicht sein
Gefühl theile, daß wohl dieses „gouvernement agissant au nom de
Ferdinand" mit Fleiß genannt sei, um die Antwort zu provoziren, ob
nemlich Frankreich mit diesem gouvernement unterhandeln wolle oder
bloß mit dem K. Joseph. Nun, sagt Napoleon, wolle er eben mit den
Cortes und der Rögence in Cadiz unterhandeln; er antwortet demnach
nach England, daß von Ferdinand und seiner Dynastie keine Rede sein
könne, er aber die Cortes von Cadiz zu jeder Negoziation mit England
beiziehen wolle und keinen Anstand nehmen würde, selbe als die wahren
Nationalrepräsentanten zu betrachten. Heute geht die Antwort ab. . .*)
Unser Aufenthalt wird sich wahrscheinlich noch 5 — 6 Tage er-
strecken. Man hat vorläufige Nachrichten von Narbonne aus Tilsit. N.
erwartet ihn gegen den 24- — 25. d. Im Allgemeinen steht N. in seinem
politischen Calcül gegen Rußland wie wir, d. h. er versteht nicht ein
einziges Wort ihrer Politik! Er glaubt nicht an Negoziationen, sondern
an die bataille sans guerre. Er behauptet zu wissen, daß die Russen
sich auf eine Bataille bereiten und sie anzunehmen gesonnen sind. Im
letzteren Falle fällt er mit 400.000 Mann auf einen Punkt — „et qu'ils
devinent ce point s'ils le peuvent", sagte er mir gestern nach seinem
Lever. „J'ai gagne" ma bataille la nuit derniere", fügte er hinzu.
Dresden, den 24. Mai 1812.
Heute ist großes Konzert. Der König von Preußen kommt morgen
früb spätestens. Ich kann mich schmeicheln, allein Schuld an dieser
Herreise zu sein, da Napoleon den König entweder in Berlin, aber
wahrscheinlicher in Glogau sehen wollte. Ich machte ihm Vorstellungen
über die unangenehmo Lage, in welcher sich der König finden müßte,
wenn er entweder gar nicht mit dem Monarchen zusammenkäme, dessen
Armeen alle seine Staaten besetzt halten, oder wenn er diesen Monarchen
») Den Vorfall hat dann Bernstorff aus Wien etwas verändert nach Haus« be-
richtet. 6. Demelitsch, Metternich, I. 537.
*)S. oben S. 72. Nach Coquelle, Napoleon et l'Angleterre, p. 289, wäre die
Antwort nicht a^jreganpen.
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422
Aus Briefen Metternichs an Hudelist.
in seiner Hauptstadt uuter einem Spalier fremder Truppen, oder endlich
nur en passant in einer ebenfalls besetzten Festung sehen würde. N.
entschloß sich alsbald, den König hierher einladen zu lassen. Mit
dieser Einladung kreuzte sich eine des Königs an unsern Kaiser and
Kaiserin, sich nach Berlin zu verfügen. Wie wenig möglich dieses
letztere war, leuchtet von selbst ein. Belieben Sie diese Umstände dem
B. Humboldt zu eröffnen und ihm beizufügen, daß die Dispositionen
des Kaisers N. gegen den König und B. Hardenberg die besten sind.
Ich habe diese Frage auf zu vielen Seiten berührt, um hie von nicht
die volle Überzeugung zu haben.
Dresden, den 25. Mai 1812.
Die Abreise der beiden Kaiser ist auf den künftigen Mittwoch
den 27. oder den 28. d. festgesetzt. Der französische Kaiser geht gerade
nach Posen und Warschau. Narbonne ist noch nicht zurück. Napoleon
geht ihm also entgegen. Graf Romanzoff wird einen großen Meister-
streich machen, wenn er nun noch den Frieden zu erhalten im
Stande ist . . .
Heute ist große Jagd in Moritzburg, welcher sämtliche hohe
Häupter beiwohnen. Gestern war großes Konzert in dem Opern-Saale.
Im Sitzen behauptete der Kaiser abermals die Rechte. Die österreichische
Kaiserin saß links von der französischen und neben ihr Napoleon,
welcher sich, wie ich es vorsah, in eine außerordentliche Coquetterie
gegen unsere Monarch in setzte. Die beiden Kaiser sind vollkommen
zufrieden voneinander, und unser Aufenthalt wird die gedeihlichsten
Folgen haben . . .
Dresden, den 26. Mai 1812.
. . . Aus Rußland nichts neues. Dieses Land liegt bereits außer
Europa, denn in Europa ertönt seine Stimme nicht mehr. Wir haben
hier auch nicht eine einzige Eröffnung. Welchen Augenblick Romanzoff
abwartet, weiß ich nicht. Ich fürchte, sein benäfice du teraps wird
außer aller Zeit fallen.
Prag, den 3. Juni 1812.
. . . Ich habe in Dresden alle Gegenstände, welche ich mir vor-
gesetzt hatte, beendet. Die Aufklärungen über die Militär -Verpflegung
unseres mobilen Auxiliar-Korps sind ganz zu unseren Gunsten ausge-
fallen. Wir haben das Versprechen, daß der Sold des Korps sogar von
der französischen Zcmtral-Kasse wenigstens verhältnismäßig gezahlt
werde; nur die Anweisung selbst ist unseres Wissens noch nicht an
den payeur general de l'armee ergangen, weil der französische Kaiser
sich nicht mit der allgemeinen, mir vom Hofkriegsrate zugeschickten
Übersicht begnügen wollte, sondern einige Details zu wissen wünschte,
über welche keiner der Generäle und Offiziere, welche unsern Kaiser
begleiteten, Auskunft geben konnte. S. M. haben daher befohlen, daß
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Aua Briefen Metternichs an Hudelist.
423
man das Corps mit einem einmonatlichen Sold in Conventionsgeld ver-
sehe, welcher von der österreichische Intendanz aus der allgemeinen
Kasse zu ersetzen kömmt, worüber Graf Wallis 1 ) jämmerlich schreien
wird . . .
Graf Romanzoff ist, wie Sie es bereits directe durch Graf Stackel-
berg wissen werden, vom Schlage gerührt worden. Der Kaiser Ale*
xander hat Narbonne (welcher am Vorabende der Abreise Napoleons
von Dresden aus Wilna eintraf) eröffnet, daß er Kotschubey das
Portefeuille übergeben werde. Er hat ihn (Narbonne) gebeten, sich zu
Romanzoff zu verfügen und sich zu überzeugen, daß Letzterer dienst-
unfähig sei, daß er aus seinem eigenen Munde höre, daß er nicht mehr
„Gesundheitshalber" dienen wolle noch könne, damit ja Napoleon nicht
glauben könne, daß eine Veränderung des politischen Systems jene des
Ministeriums zur Folge hatte. Nun wird sicher Rußland so thätig als
möglich um Frieden mit der Pforte arbeiten, dies um so mehr, als
Narbonne zugleich die Nachricht überbrachte, daß Tschitscbagoff mit
den ausgedehntesten Vollmachten nach Bucurest abgeschickt worden
sei; daß er dort wirklich eintraf, sehen wir aus directon Berichten...
Prag, s. d. 2 )
Die Lage der Dinge im Allgemeinen ist dieselbe; N. scheint
seiner Sache ganz gewiß zu sein und sagte unter Anderm der Kaiserin:
„J'esperais vous revoir dans quinze jours, je ne vous reverrai maintc-
nant que dans 3 mois." Beides dürfte wohl an ein Weib gesagt sein,
aber in dem Datum des 22. liegt wieder ein Beweis der Richtigkeit
seines Calcüls. Am letzten Tage in Dresden sagte ich ihm: „D est
essentiel que je sache vos projets, et si vous ne me les dites pas, vous
repondrez au moins ä mes calculs: je vous laisBe le temps de com-
mencer les hostilites jusqu'au 25 de juin. w Er lächelte und sagte:
„Vous me laissez au moins 3 jours de trop!" Er schreibt auch der
Kaiserin: „Je vais faire une visite au Pc* de Schwarzenberg pres de
Lublin." Floret, welcher in Königsberg sitzt, glaubte, man würde
gegen Grodno durchbrechen. Hat er Recht oder nicht? Dieses werden
die ersten Tage beweinen . . .
Persebeug, d. 21. July 1812.
(Hudelist solle dem Grafen Stackelberg 3 ) im Vertrauen den Inhalt
des von Freiherrn v. Baum 4 ) aus Warschau eingesandten Bericht mit-
theilen, daß der Enthusiasmus der Polen sich auf eine kleine Anzahl
unruhiger Köpfe beschränke und die Stimmung in Litthauen eine voll-
ständig andere sei als diese vorgäben, daß der Kriegsplan der Russen
') Österreichischer Finanzminister.
*) Ans dem Juni, und noch vor dem 30.
*> Rußlands Gesandter in Wien.
*) Buum war Österreichischer Kreishauptmann in Bochnia (Galizien) und tou
seiner Regierung nnch Warschau entsendet wc-rdon.
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424
Aus Briefen Metternichs au Iludelist.
sich als zu fein gesponnen erwiesen habe, daß man einen Flußübergang
bei Kowno nicht vorgesehen hatte, K. Alexander in Wilna überrascht
worden sei, wo Napoleon Anstalten zu einem längeren Aufenthalte
treffe und der litthauische Landtag zusammengerufen wurde.)
Diese Nachrichten können Sie ohne Weiteres dem Grafen Stackel-
berg mittheilen. Für sich aber die Bemerkung behalten, welche mir
Napoleon in Dresden über seinen künftigen Plan machte: „Iis sont
bien sots s'ils croyent que j'en veux ä Moskou. S'ils m'en faisaient
cadeau, je n'en voudrais pas. J'irai ä Wilna et j'y finis la premiere
campagne; j'en ferai un second Vienne. Qu'ils essayent de m'en chasser.
J^i la paix toute faite. Tout ce qui est en decä de la Düna m'ap-
partient et Dieu me garde de vouloir quelque chose au delä. Je ferai
toute cette acquisition sans coup förir. S'ils ne sont pas content« de
cette cession, nous songerons ä la seconde campagne, et j'ignore
cncore oü celle-la me menera a . • .
Carlsbad, 8. Juli 1812.
. . , Vermög der französischen Kaiserin in der Nacht von gestern
zugekommenen Nachrichten ist der K. Napoleon am 24. auf das rechte
Niemen-Ufer hinüber, ohne "Widerstand und mehr als einige plänkelnde
Cosaken, welche sich überall zurückzogen, gefunden zu haben. Er
schreibt, es würden aber nur wenige Tage ohne sehr bedeu-
tende Ereignisse vergehen, und war des besten Muthes, wie alle
seine nahen Umgebungen.
2.
Zur Geschichte des Herbstfeldzuges 1813.
Prag, 16. August 1813.
Wir haben den letzten Termin unserer Ruhe erreicht. Morgen
fangen die Hostilitäten an. Caulaincourt ist demungeachtet immer noch
in unserer Nähe. Er befindet sich seit gestern zu Königsaal, ein kaiseri.
Schloß, welches wir ihm angewiesen haben, weil er hier nicht bleiben
konnte und nicht weggehen wollte. Morgen wird sich wahrscheinlich
seine Abreise bestimmen. Seine Anträge der letzten Zeit trugen für
den Nichthellschenden das Gepräge großer Nachgiebigkeit; für den Hell-
sehenden hingegen hauptsächlich dasjenige des bestimmten Wunsches,
alles drunter und drüber zu werfen. So z. B. genüge Dinen die Be-
merkung, daß wir am 10. den Congreß aufgehoben haben, weil wir
uns nicht über die Form vereinigen konnten und weil Napoleon nicht
durch das Organ Österreichs negoziiren wollte; nun negoziiren wir
nicht, weil Napoleon, seitdem wir aufgehört haben, Mediateurs zu sein,
nur durch uns negoziiren will. Die Kanonen werden diese Anstände
lösen. In Dresden herrscht seit unserer Kriegs-Erklärung eine dumpfe
Verzweiflung. Napoleon hat Bubna im Sinne einer mission de dupe,
wie anno 1809, hergeschickt . . .
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Aus Briefen Metternichs an Hudelist. 425
Um 11 Nachts. Soeben ist der letzte Versuch gescheitert und
Caulaincourt verläßt uns heute Nacht. Er ist über den Gang der Dinge
untröstlich und hat sich vom Anfang bis zum Ende der Negoziationen
als ein wahrer Biedermann betragen.
Prag, den 18. August 1813.
Vorgestern ist der General Moreau hier angekommen. Der K.
Alexander stellt ihn als General-Adjutanten an und sein Einfluß kann
in militärischer Hinsicht nur gut sein. Eine andere merkwürdige Er-
scheinung ist jene des Generals Jominy, Chefs des Generalstabs des
Marschalls Ney, welcher mit allen Plänen durchgegangen und hier ein-
getroffen ist. Er ist ebenfalls in russischen Diensten. Er ist seit
mehreren Monaten bereits in Verhandlung mit der russischen Regierung
gewesen.
Unsere Operationen beginnen nun. Da Napoleon aufzupassen
scheint, so werden wir wahrscheinlich die Offensive ergreifen. Heute
und morgen ist das österreichische Hauptquartier in Schlan, am 20.
in Laim, am 21. in Priesen bey Comotau. Nach allen Nachrichten
herrscht bey den Franzosen die schrecklichste Consternation über un-
sere Kriegserklärung. Napoleon hat vor 8 Tagen noch a l'ordro du jour
gegeben, daß es sicher zum Frieden kommen oder daß sich Oester-
reich für ihn erklären werde . . .
Postelbcrg, den 22. August 1813.
. . . Eine neue politische Scene bietet der Antrag des K. Napo-
leon dar, unverzüglich — während des Kriegs — einen Congreß zur
Herstellung des allgemeinen Friedens zu versammeln. Er hat mir
diesen Antrag durch eine offizielle Note des Herzogs von Bassano
machen lassen. 1 ) Ich habe demselben geantwortet, daß die Mächte,
stets mit den lebhaftesten Gesinnungen zu Gunsten des Friedens be-
seelt, sogleich Rücksprache mit ihren übrigen Alliirten über die mög-
liche Einleitung des großen Werkes treffen und die getroffenen Maß-
regeln sodann dem französischen Cabinette durch uns bekannt machen
würden. . . 2 )
Postelberg, den 23. August 1813,.
Abends 8 Uhr.
Folgendes ist die Stellung der Armeen, welche ich Sie bitte dem
Hofkriegsraths-Präsidenten mitzutheilen. Es scheint, nun ausgemacht,
daß K. Napoleon, ganz irregeführt über die wahre Operation dor alliir-
ten Armeen, mit seiner ganzen Haupt-Macht gegen Schlesien zu stund.
Am 19. engagierte sich ein lebhaftes Gefecht mit dem Blücherschen
») 8. die Note Marets vom 18. August bei Fain, Manuscrit de 1813, p. 817,
deutBCh bei Hormayr, Lebensbilder, III, 481.
*) Siehe unten das Schreiben Metternichs an Maret vom 21. August 1813-
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426
Au« Briefen Metternichs an Hudelist.
Corps in der Gegend von Löwenberg', wo Blücher bis auf den Bober
vordrang und die Franzosen alle Ubergange zerstörten. Am 20. geschah
ein Augriff der Franzosen auf das Blüchersche Corps, bei welchem IL
Napoleon selbst gegenwärtig war und bey welchem man die Stärke
des Feindes auf beiläufig 140.000 M. schätzte. Blücher zog sich zurück,
um sich keiner Vernichtung auszusetzen und die Offensive wieder er-
greifen zu können, sobald der Feind sich von ihm abwenden würde.
Indessen ist Fürst Schwarzenberg mit dem ganzen linken Flügel,
dem Klenauschen Corps und dem Centrum nach Sachsen eingedrungen,
ohne feindliche Corps zu treffen. Er dehnt seinen linken Flügel bis
gegen Freiberg und Dippoldiswalde aus und marschiert in der letzteren
Direktion. Gestern früh um 9 Uhr hat Wittgenstein das Lager bey
Pirna angegriffen und um 10 Uhr Abends mit stürmender Hand em-
portiert. Sein Verlust ist beiläufig nur 500 Mann. Gouvion St. Cyr,
welcher sich seit Polotzk immer gegenüber Wittgenstein befindet, hat
sich nach Dresden zurückgezogen. Diese Nachricht haben wir soeben
erhalten; sie wird den Fürsten Schwarzenberg wahrscheinlich zu einem
schnellen Vorrücken zum Soutien Wittgensteins bewegen . . .
Brüx, den 26. August 1813.
Ich bin heute aus dem Hauptquartier zu Reich statt bei Dip-
poldiswalde, 4 Stunden von Dresden, eingelangt. Wie ich letzteren Ort
verließ, brachen eben 30,000 Mann auf, um eine große Reconnaissance
zu machen. Heute im Tage sollte Dresden angegriffen und mit Sturm
emportiert werden. 60,000 Mann, worunter 20,000 Österreicher, sind
zu dem Unternehmen bestimmt, zu welchem alle Chancen vorhanden
sind. Ich bitte Sie, das letztere Projekt jedoch bis zum Eintreffen
der Nachricht des Gelingens stille zu halten; mißlingt es, so muß man
demselben eine andere Wendung geben. Den FM. Bellegarde l ) können
Sie jedoch in jedem Falle benachrichtigen.
Die Lage der Dinge ist die besonderste. Napoleon ist nun be-
stimmt ganz in der Irre gestanden und sie kann ihm theuer zu stehen
kommen. Er war am 24. noch in der Laußnitz. Unser Einmarsch
nach Sachsen blieb so geheim, daß N. am 19. dem König schrieb, „er
solle in Dresden bleiben, bis er eine Schlacht verloren habe, und da
er dem Feinde 200,000 Mann entgegenstelle, so seye für Dresden auch
nicht die mindeste Gefahr". Indeß stund er in Schlesien. Ein Brief
aus Dresden vom 20. sagt: „Convenez qu'il est assez extraordinaire
d'etre si pres du theatre de la guerre et aussi loin de tout danger que
nous le sommes."
Der Kronprinz von Schweden ist in voller Operation gegen die
Elbe. Zwei komplette westphälische Husaren-Regimenter sind zu uns
übergegangen. S. M. haben sich entschlossen, eine deutsche Legion
zu bilden. Die westphälischen Überläufer haben versichert, ihre ganze
Armee werde nachfolgen.
») Präsident des Hofkriegiratee in Wien.
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Aus Briefen Metternichs an Hudelist. 427
Die Bayern haben einige sehr bestimmto Schritte gegen uns ge-
than, welche kaum einen Zweifel gestatten, daß, wenn Napoleon ein
echec erleidet, sie mit uns cause commune machen dürften. Indessen
wollen sie neutral sein . .
Töplitz, den 27. August 1813.
Gestern um 4 Uhr Nachmittags ist ein Angriff auf Dresden ge-
schehen, in welchem man sich aller Avenuen und mehrerer Batterien
bemeisterte. Um sechs Uhr machte die Garnison einen sehr heftigen
Ausfall auf den Plauenschen Grund. Die daselbst aufgestellten 2 Di-
visionen mußten weichen. Der commandierende Feld-Marschall ließ
alsbald Cavallerie vorrücken, welche die Ausfallenden in der Flanke
packte und schrecklich zurichtete; sie wurden in die Stadt zurück-
geworfen. Man beschoß diese mit Wurfgeschützen, und sie brannte an
mehreren Orten. Heute sollte die Attaque erneuert werden. Man
scheint die Stadt coute qui coute nehmen zu wollen. Diese Nachrichten
sind offiziell aber mündlich durch einen Adjutanten überbracht. Unser
Verlust ist nicht bedeutend . . . Die französische Artillerie soll äußerst
schlecht bedient gewesen sein. Während dem Angriffe sah man Caval-
lerie aus Dresden abziehen, welches vermuthen läßt, daß man die Stadt
nicht bis aufs Äußerste zu vertheidigen denkt. Kaiser Napoleon ist
gestern in Dresden angekommen. Blücher hat, da er den Rückzug der
feindlichen Armee merkte, eine vigoureuse Offensive ergriffen. Sobald
wir etwas Schriftliches haben, werde ich es nach Wien schicken. Ich
habe es noch nicht dahin bringen können, daß in dem Hauptquartier
ordentliche Bulletins geschrieben werden, aus welchen Materialien zu
Bekanntmachungen geschöpft werden. Theilen Sie diese Nachricht dem
Hofkriegsraths-Präsidenten und dem B. Hager 1 ) mit.
Culm, den 81. August 1813,
1 Uhr Frühe.
. . . Nach beispiellosen Fatiguen und einor in ihrem Entstehen
vortrefflich geleiteten Operation, welche aber durch die ebenso beispiel-
lose Ineptie des Generalen Barclay de Tolli scheiterte und äußerst
compromittierende Folgen für Uns hätte haben können, hat die ge-
samte Armee ihren Rückzug aus Sachsen am 27. Abends begonnen.
Es ist genug, die Defileen des Erzgebirges zu kennen, um sich einen
Begriff der mit einem solchen Unternehmen verknüpften Schwierig-
keiten zu machen. Der Rückzug hätte jedoch ohne eine abermalige
Abgeschmacktheit des russischen Generals keine anderweitigen An-
stände erlitten; Barclay, welcher den Befehl hatte, die Teplitzer Straße
mit beyläufig 80,000 M. zu decken und zu verfolgen, warf sich mit
anderen Armeecorps in die Defileen und überließ diese so wichtige
Straße dem einzigen kleinen Corps des Generals Ostermann, aus russi-
') Baron Ilager war Präsident der Polizeihofetelle, d. i. PolizeiminUter.
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428
Aus Briefen Metternichs an Hudelist.
sehen Garden bestehend. Napoleon benutzte den Fehler auf der Stelle,
und zugleich mit unserer Armee hätte das Vandammesche Corps von
beiläufig 40.000 M. in die Ebene debouchiert, es hätte Prag vor uns
gewinnen können und würde die schrecklichste Confusion in die Armee
geworfen haben, hätte nicht den ganzen 29. das kleine Ostermannsche
Corps Wunder der Tapferkeit gewirkt. Es hielt den so überlegenen
Feind nicht nur vollkommen auf, sondern es warf ihn noch vor ein-
brechender Nacht in die Defileen bei Culin zurück. Das heutige Re-
sultat 1 ) liefert das (beiliegende) Extrablatt ...
Ich begreife, daß Sie einige harte Tage ausgestanden haben
müssen. Für uns hier waren es allein der gestrige und der heutige (30.)
in der Furcht des Gelingens des französischen Unternehmens. Nun
stehen die Sachen wieder sehr gut, da Napoleon zwischen drey Siegen
in der Mitte liegt, deren Resultate sich noch nicht berechnen lassen.
So viel ist sicher, daß seine Armee sich en masse sehr gut und en
detail elend schlägt. Sie besteht fast aus lauter Kindern. Unter den
Gefangenen ist mehr als die Hälfte nicht über 17 Jahre alt. Zu den
besonderen Geschicken gehört die Verwundung Moreaus. Er hat die
beydeu Beine auf 10 Schritte von dem Kaiser Alexander emportiert
gekriegt. Er lebt und scheint sogar davon kommen zu sollen. 2 ) Ich
habe ihn erst heute Abend eine ganze Stunde gesprochen . . .
Von meiner Klage über Barclay de Tolly sagen Sie nichts, da
ich sie nicht verbreiten will, obgleich die ganze österreichische Armee
gegen ihn aufgebracht ist. Ohne ihn wären wir in Sachsen . . .
Teplitz, den 3. September 1813.
... Die Lage, in der sich der große Feldherr befindet, muß ihm
neu sefu. Seine Armee schlügt sich sehr gut in Massen. Wie sie ge-
trennt sind oder es an einen Rückzug geht, wirft alles die Flinten
weg. Auf drei Seiten stehen Armeen, welche ihm in jeder Rücksicht
überlegen sind. Wie er sich auf die eine oder die andere Seite wendet,
operieren die Armeen in seinem Rücken, und er muß entweder um-
kehren oder sich schlagen lassen. Wie lange er dieses Spiel in einem
Lande treiben wird, wo er bereits von Pferdefleisch lebt, ist schwer
zu bestimmen. So viel ist in jedem Falle sicher, daß er große Gefahr
läuft, ganz aufgerieben zu werden, und unser Krieg, welcher auf die
Vermeidung sehr großer Feldschlaehten gerichtet ist, ist ganz hierzu
geeignet . . .
Teplitz, den 9. September 1813.
K. Napoleon hat sich, wie ich Ihnen bereits geschrieben zu haben
glaube, von Blücher wieder abgewendet, nachdem er erfahren, daß dieser
General alle Brücken auf der Neiße zerstört hatte. Er schien gegen
') Der Sieg bei Kulm am 30. August.
*> Morcnu starb in I.nun am 2. September.
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Aus Briefen Metternichs an Hudelist.
429
den Kronprinzen ziehen zu wollen,' ist aber au dernier resultat in
Dresden geblieben, wo er heute noch war. Seine Armee stirbt Hun-
gers und verliert durch die Märsche und Gontra-Märsche das Unglaub-
liche. Er scheint jetzt Miene zu machen, als wolle er die Elbe ver-
lassen, welches das Vernünftigere wäre, obgleich es ihm sehr theuer
zu stehen kommen wird, da alle Dispositionen so getroffen sind, daß
alle drei alliirten Armeen ihm auf dem Fuße folgen. Seine Armee ist
in dem übelsten Stande nach dem Zustande der Leipziger Straße zu
berechnen, auf welcher mehr als 30 Tausend Marodeurs und Flüchtlinge
sind. Wir haben nun mehrere Tausend Cosacken in dieser Direktion
abgeschickt . . .
Teplitz, den 28. September 1813.
. . . Gott hat mir Kaltblütigkeit genug gegeben, das Ding poli-
tisch so weit zu führen, und nun führe ich die Sache auch noch mili-
tärisch aus. Die Lage der Armee ist die vortrefflichste. Die größte
Einigkeit herrscht zwischen den Oberen. K. Alexander, welcher auch
im Anfange etwas schnell zu Werke gehen wollte und glaubte, Napo-
leon müsse in 8 Tagen gefressen sein, ist nun ganz und gar mit
mir und Schwarzenberg einig. Sobald die Stunde der Schlacht ge-
kommen sein wird, werde ich der Erste sein, welcher dazu rathen
wird; ich wollte aber N. ohne Gefahr für uns die Hälfte seiner Armee
verlieren sehen, Bennigsen heranziehen, damit Böhmen und unsre Haupt-
communication auf der Elbe gesichert ist, und nun können wir auf
den Rhein, wenn das Glück uns nur halb gut will.
Kein größerer Beweiß, wie schlecht N. seine eigene Lage bereits
ansieht, kann mehr gegeben werden, als seine Schritte gegen uns. Fla-
hault ist erst vorgestern wieder als Parlamentair mit einem Schreiben
N.'s an unsern Kaiser bey Graf Bubna gewesen, in welchem derselbe ganz
natürlich um Frieden bittet, „parceque la continuation de la guerre
ferait le malheur de la France et de l'Allemagne". Unsere Antwort ist
ganz einfach: An einen Separatfrieden ist nicht mehr zu denken und
für den allgemeinen sind die ersten Einleitungen bereits getroffen. Wir
erwarten nur die Antwort von England. 1 ). Nach allen Nachrichten ist die
französische Armee so gut wie aufgelößt . . .
Altenburg, den 15. Oktober 1813.
. . . Die Depeschen, welche uns in die Hände gefallen sind, be-
weisen die äußerste Demoralisation der Armee. N. soll wie ein Eber
schäumen. Der Armee hat man gestern durch einen Tagbefehl kund
gethan, daß Blücher und der Kronprinz wieder auf das rechte Elbe-
ufer zurückgekehrt seien und die Armee nur mit einer Armee zu thun
haben werde. Er hat zugleich versprochen, sie nach Prag zu führen.
Das Ereigniß mit Bayern suchte man auf alle Art und Weise zu ver-
bergen . , . _
') 8. oben S. 230 Anm.
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430 Kaiser Franz an den König von Preußen usw.
Rötha fe. Leipzig, den 19. Oktober 1813,
früh 10 Uhr.
. . . Nun werden die Schreyer doch endlich einsehen, daß unser
Operationen sehr berechnet und gut berechnet waren. Wenn man be-
denkt, welchen Schwierigkeiten das Zusammentreffen 4 aus allen Welt-
gegenden herbeiziehender Armeen auf einem und demselben Schlacht-
feld unterliegt, und wie viel dazu gehörte, die Sachen so zu stellen, daß
keine dieser Armeen en detail geschlagen und ein Feldherr wie Napoleon
zwischen Alle gedrängt wurde, so unterliegt das Verdienst des FM.
Fürsten v. Schwarzenberg wohl keinem Zweifel.
Gen. (iraf Merfeld (!), welcher am 16. durch einen Zufall ganz
allein gefangen wurde, ist gestern, auf Parole entlassen, zurück ein-
getroffen. Napoleon hat mit ihm Stunden lang gesprochen und ihm
aufgetragen, uns zum Frieden einzuladen. Er war in der Stellung des
geschlagenen Feldherrn und zeigte sich bereit über sehr viel — wo
nicht über alles nachzugeben. Wir werden am Rhein antworten, wohin
uns die Wredesche Armee voraneilt. Wrede trifft am 24. Oktober in
Würzburg ein. Also nach Mainz kömmt N. nicht mehr, und was er
über Wesel nach Hause bringen wird, ist sehr problematisch.
Ordruf im Thüringer Walde,
den 28. Oktober 1813.
. . . Die französische Armee löst sich ganz auf. Heute sahen die
Straßen aus wie jene zwischen Moskau und der Beresina ausgesehen
haben mögen. Hunderte sterbender Menschen lagen auf denselben. Die
Desertion, welche die französische Armee erleidet, ist ungeheuer. Es
wird N. schwer werden, einen anderen Übergang-Punkt über den Rhein
zu erreichen als Wesel. Wie er aber diesen erreichen wird, ist nicht zu
bestimmen, da ein Schwärm von Kosaken ihm alle Straßen und Brücken
im Rücken zerstört und er auf eine einzige schmale Straße eingeengt
ist, auf welcher er täglich Gefechte liefern muß . . .
3. Kaiser Franz an den König von Preußen und den
Kaiser von Rußland. 1 )
Gitschin, le 3 juillet 1813.
Monsieur mon frere! Je charge le Comte de Stadion e sou-
mettre ft V. M. les motifs puissans, qui m'ont engage ä proposer ä
V. M. J > un article additionel ä la Convention du 27 juin, qui proro-
•j \V. St. A., Prager Kongreßakten. Konzept. Die beiden Schreiben sind, bis
auf einzelne Varianten im Eingang und Ausgang, ganz gleichlautend. Hier ist der
Wortlaut mitgeteilt, wie er an Friedrich Wilhelm adressiert wurde. Vgl. Luck-
vraldt, Oesterreich und die Anfange des Befreiungskrieges, 8.332.
») Russische Variante: „Le Comte de Metternich que j'enrois conferer ayec le
Comte de Neeselrode developpera a celui-ci les motifs puissans qui m'ont porte h
proposer a V. M. J. . .
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Kaiser Franz an den König von Preußen usw. 431
gerait au 10 aoüt prochain l'epoque du 20 juillet, fixee comme terme
de la negociation qui va s'ouvrir ä Prague entre les plenipotentiaires
des puissances belligeVantes sous ma m&liation. Je me flatte que V.
M. voudra bien partager avec moi la conviction que la faible perte
de tems qui, d'un cote, resulte pour les Operations actives des armees
alltees de cette Prolongation, se trouve d'un autre cote tres com-
pense par l'eloignement de tout danger imminent pour ma capi-
tale — . circonstance du plus baut interet — ä l'ouverture de la cam-
pagne. et par un plus grand developpement que je pourrai donner
aux forces que je m'empresse d'activer sur plusieurs points exposes
de ma monarchie, sans affaiblir l'armee principale destinee ä agir
de concert avec celles de V. M., au cas oü mes efforts pour amener
la paix seraient infructueux et n'auraient pu etre couronne de succes
dans le terme indique\ Je prie V. M. d'etre bien assuree, qu'il m'a
fallu des considerations telles qu'Elle les trouvera exprimees dans un
memoire militaire que je Charge le Comte de Stadion de Lui sou-
mettre, et la certitude que les mesures militaires frangaises se trou-
veront aussi pretes le 20 juillet qu'elles le seront le 10 aoüt et
n'obtiendront aucune augmentation dans ce court laps de tems, pour
avoir pu me determiner ä cette legere extension de l'article premier
stipule dans la Convention de Beichenbach.
La sagesse qui caracterise V. M. ne me laisse pas licu de douter
qu'Elle appröciera la valeur de ces raisons, et peut-etre trouvera-t-Elle
egalement des avantages ä ce delai en ce qu'il facilitera l'organisation
ult^rieure de ses propres mesures et le rassemblement des corps de-
taches de la grandc armee aux lieux oü Elle les aura destines, surtout
des qu'il n'am61iore pas la forte attitude de l'Empereur des FranQais.
Si V. M. devait juger utile de se faire accompagner par le
Comte de Stadion dans la course qu'Elle va faire a Trachenberg, je
m'estimerais heureux, si la commission dont je charge ce ministre
pres du Prince Royal de Suede pouvait influer favorablement sur les
resolutions de ce Prince. Je regarde une forte Operation dirigee par
lui dans un accoid parfait avec Nos Armees comme du plus haut
interet, et je crois que le faible cloignement du renouvellement des
hostilitcs ne sera pas inutilc au concert militaire et politique sur
lequel il s'agira de s'entendre au plutöt avec lui.
II est superflu sans doute que je renouvelle ä V. M. plus que
je ne l'ai fait l'assurance des voeux que je forme pour le prompt
rätablissement d'une paix teile que nous la desirons et que l'exige
le bonheur de Nos Etats et de ma dötermination la moius sujette ä
varier, de defendre la justice de Notrc cause par la somme de moyens
les plus imposants possibles. 1 )
Unis par principes et par un commun interet, mais plus encore
par les sentimens d'amiti6 inaltdrable que je voue ä V. M., j'aime ä
croire qu'Elle apprdciera la confiance entiere 2 ) avec laqueUe je m'adressc
') Eussische Variante: „ . . la justice de la cause ponr laquelle V.M. deplo^e
de si beaux et de si genereux efforts par la somme de .
*> Russische Variante: „la oonfianc*» entiere et la franchise"
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432
Metternich an Maret.
ä Elle et qu' Elle agrecra les assurances du plus sincere attachement
comme de la consideration tres distinguee avec laquelle je suis etc. 1 )
4. Metternich an Maret.
Prague, le 21 Aoüt 1618. 2 )
Je m'empresse d'adresser ä V. E. un office qui lui prouvera que
les Cours de Kussie et de Prusse ont accueillie ayec le meme senti-
ment que l'Empereur mon Maitre la proposition de S. M. l'Empereur
des Fran^ais. Le courrier porteur de la proposition a l'Angleterre par-
tira encore aujourdhui. Comme c'est ä cette puissance principalement
ä se declarer sur le grand objet en question, nous partirons dans nos
ouvertures de tout ce qu'il peut y avoir de points de vue conciliatoires.
Quel est l'endroit que V. E. jugerait le plus propre ä la räunion des
negociateurs? Je desire beaucoup connaitre les idees du cabinet fran-
cais sur cet objet pour tächer de les combiner le plus possible avec
les notres. Je prie V. E. de bien vouloir faire passer l'incluse ä M.
de Floret & Paris. Je la Lui envoye sub volanti pour qu'Elle puisse
prendre connaissance de son objet. M. de Lablanche et les autres
individus attaches ä l'ambassade de France ä Vienne ont ä l'heure
qu'il est pris la route de la Baviere. Nous dirigerons sur la meme
route M. d'Aubernon. Je me flatte que M. le Duc de Vicence aura
prevenu TEmpereur Napoleon que l'Empereur mon Maitre adressera
toujours au quartier general de S. M. I. ses lettres pour son auguste
fille et qu'Elle desire recevoir de ses nouvelles par la meme voye
Recovez . . . 3 )
>) Russische Variante : „ . . les assurances du plus sincere et cordial attache-
ment comme de la haute consideration avec .
») W. St. A. Prager Kongreßakten Eigenhändiges Konzept Metternichs mit der
Anmerkung: „Lettre particuliere au Duc de Bassano. Expedite le 3 Septembre, pa«see
aux avant-postes le 3 septembre." Das Schreiben war bestimmt, die Note vom gleichen
Tage (gedruckt bei Fain, Manusorit de 1813, p. 221) zu begleiten und diejenige
Marets vom 18. August (Fain, ebenda, p. 217) zu beantworten, mit der Dieser Ver-
handlungen wahrend der Feindseligkeiten vorgeschlagen hatte. S. oben den Brief
Metternichs an Hudelist vom 22. August.
*) Auf dieses Schreiben erfolgte noch den 3. September die nachstehende, im
Original erhaltene, eigenhändig geschriebene Antwort:
Dresde, le 3 septembre 1813.
Monsieur lo Comte.
Je recois en ce moment la lettre que vous m'avez fait l'honnenr de m'eorire
le21aout et l'ofüce qui y etait joint. Je ne pouvais apprendre, M. le Comte, qu'avec
beaucoup de satisfaotion l'aooueil fait a la proposition oontenue dans ma note du
18 du mois dernier. Quant a l'endroit le plus propra a la reunion des negociateurs,
le choiz en lui-memo me parait indifferent; que oe choix tombe sur un lieu queleon-
que situe sur les limites reciproques, ou cntre Prague et Dresde, ou entre Prague
et Würxbourg, il nous oonviendra egalement. 8. M. a ecrit a l'Empereur d'Autriche
apres la bataille de Dresde. Les Rußses ont arrOte le parlementaire porteur de cette
lettre. S. M. l'Emporeur Alexandre a fait expriraer des regrets de cet inoident. Nous
avone et6 obligus d'envoyer la lettre de l'Empereur k Zittau, d'oü nous pcnsons
qu'elle sera parvenuc sans obstacle. A la date de nos derniercs nouvelles de France.
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Schwarzenberg an Kaiser Franz.
438
5. Schwarzenberg an K. Franz.
Hauptquartier Altenberg,
am 28. August 1813. ')
Eure kais. kön. Majestät geruhen aus der beiliegenden Beschreibung
unserer zeitherigen Bewegungen das Detail hierüber des mehreren zu
erfahren. 2 ) Der gegenwärtige allerunterthänigste Vortrag hat den Zweck,
Allerhöchstdieselben über unsre Lage im allgemeinen und über die
meinige insbesondere aufzuklären.
Es ist nicht zu verhehlen, daß die Affairen bei Dresden, nooh
weit mehr aber unser gegenwärtiger Bückzug uns einen sehr bedeutenden
Verlust bereits zugezogen haben, und ich kann leider noch nicht be-
rechnen, wie weit derselbe gehen dürfte. Erst hinter der Eger ist diese
höchst nöthige Uebersicht möglich. Ich werde mich hinter diesen Fluß
bei Budin 3 ) aufstellen und alles anwenden, um die von Hunger, Nässe,
und Anstrengungen jeder Art zerrüttete Armee zu sammeln und da-
durch fürs Erste Böhmen 4 ) zu decken. Wir bedürfen jedoch unumgänglich
notwendig Menschen, Pferde und Kanonen. Die beiden erstem, weil
wir davon bedeutend verloren, letztere mehr noch, weil wir davon über-
haupt von Anbeginn des Krieges an — im Verhältniß zu den Fran-
zosen — viel zu wenig hatten. Ich bitte und beschwöre E. M. daher,
die nöthigen Befehle dahin zu geben, daß, mit Beseitigung aller und
jeder Schwierigkeiten, die großen Kräfte aufgeboten werden, welche
Allerhöchstdieselben in der Kraft und dem guten Willen ihrer Unter-
thanen besitzen.
Der Kaiser Napoleon führt den Krieg fast mehr mit Kanonen
als mit Menschen, er setzt unserer Artillerie stets fast das Doppelte
entgegen. Es ist daher unumgänglich nothwendig, daß E. M. die
strengsten Befehle ungesäumt erlassen, daß aus den nächsten Depots
8 12pfündige, 8 6pfündige Positions- und 8 Cavallerie-Batterien aus-
gemustert und zur Armee gesendet werden. Fast ebenso wichtig ist die
Ernennung eines Artillerie-Commandanten, der, mit dem Verdienste
früherer Erfahrungen, Kraft, Thätigkeit und guten Willen verbindet.
8. M. l'Imperatrice etait a Cherbourg oü Elle jouissait d'une bonue sante et d'un
spectaole qui l'intlressait beauooup. 8. M. l'Imperatrioe n'a point enoore enroje
delettres pour son augaste per«; aussltöt qu'U en parviendra, alles seront adressees
an quartier general du Pe* de Schwarzenberg. Celles qui arriTeront pour 8. M.
l'Imperatrice au quartier gen. de l'Empereur seront expediecs Sur le ohamp. J'ai
l'honnenr de vous renvoyer la lettre que tous m'arez adressee pour M. de Floret.
Je prie V. E. de pennettre que je place sous ce pli ma reponse a une lettre tree
oLligeante qu'il m'a äcrite au moment de son depart de Paris. Veuillez agre'er, M.
le Comte, tous mc8 remercimena des soins que tous avez bien roulu donner au
retour des personnes attachees ä l'ambassade de Franoe a Vienne et a eelui de M.
Aubernon. J'ai l'honneur ... Le Duo de Bassano.
») W. St. A., Kriegsakten. Konzept, von der Hand Schwarzenbergs korrigiert.
Der Sieg Ton Kulm dürfte die Schwierigkeiten behoben und den Feldmarschall be-
ruhigt haben.
») Die Beilage fehlt. Ein Bruchstück findet sich im Wiener Kriegsnrchiv.
») Ms.: Bidin.
«) Soll wohl heißen: Prag.
Fournier, Napoleon I. 28
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131
Graf Neipperg au Metternich
Ich schlage dazu nochmals in der Ueberzeugung der unbedingtesten
Notwendigkeit den Erzherzog Maximilian und unter ihm den FML.
Reisner vor, denen wenigstens noch 10 Artillerieoffiziere zugegeben
werden müßten. Unsere Feinde haben 3 bis 4mal mehr Artillerie-
offiziere als wir, und alles, was wir an Artillerie auf unserem Rückzug
verlieren dürften, liegt zum größten Theil an dem Mangel der mög-
lichen Aufsicht der Offiziere.
Mein eigenes Verhältnis betreffend, bin ich E. M., dem Staate
und meiner Ehre folgende Bemerkungen schuldig. S. M. der Kaiser
von Rußland, für seine eigene Person mit dem besten Willen und der
besten Einsicht begabt, verlaßt mich weder im Hauptquartier noch selbst
in den Augenblicken des Gefechtes; er erlaubt mit der höchsten Nach-
giebigkeit fast jedem General in den dringendsten Augenblicken jeden
Rath und jede Bemerkung, theilt sie mir dann mit und setzt mich
dadurch häufig in einen Zustand von Verwirrung und von einander
widersprechenden Ansichten, der an sich schon und ganz besonders da-
durch den Geschäften nachtheilig wird, daß ich öfters, aus unumstöß-
lichen Gründen veranlaßt, zu einer Nachgiebigkeit, selbst in Hauptan-
sichten, genöthigt bin, deren Nachtheil wir jetzt leider schon zu deutlich
sehen. Der General Barclay hat durchaus weder Sinn für Gehorsam,
noch für Geschäfte und ist dabey im hohen Grade eifersüchtig. Eg
entsteht daraus das große Unglück, daß nicht allein auf ihn und
seine Truppen durchaus nie mit Bestimmtheit zu rechnen ist, sondern
auch daß die Generäle Wittgenstein und Kleist meine Befehle ein-
für allemal zu spät und häufig so ganz widersprechend erhalten, daß
daraus bereits jetzt die allerunglücklichsten Folgen entstanden. Alles
dieses, verbunden mit 1000 dabey unvermeidlichen Unannehmlichkeiten,
macht es mir rein unmöglich, für die so hochwichtigen Folgen einer
Unternehmung zu stehen, wo von dem Wohle und der Existenz der
Monarchie die Rede ist. Ich finde mich daher in der unbedingten
Notwendigkeit, E. k. k. M. allerunterthänigst zu bitten, entweder den
Kaiser von Rußland zu vermögen, daß er die Armee verläßt, den
General Barclay entfernt und die Corps von Kleist, Wittgenstein und
Miloradowitsch, jeden für sich, an meine unmittelbaren Befehle ver-
weißt, oder einem andern das Commando der Armee anzuvertrauen,
der mit den Talenten eines Generals die übermenschlichen physischen
und moralischen Kräfte verbindet, die zur möglichen Ausführung wich-
tiger Operationen unter so ganz widrigen Umständen gehören.
6. Graf Neipperg an Metternich. 1 )
Florence, le 1« Octobre 1821.
L'abbe Vignali, comme j'ai eu l'honneur d'en faire mention dans
mon rapport, n'a pas voulu acoepter les secours en argent que S. M.
') W. St. A., Parmesanische Akten. Schütter, Die Stellung der fieterr. Re-
gierang zum Testamente Napoleons I. (Archiv f. öst. Gesch., Bd. 8U), 8. 27, zitiert
ans diesem Brief eine das Testament betreffende Stelle.
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Graf Neipperg an Metternich.
Mino l'Archiduchesse m'avait ordonne de lui faire passer pour la
continuation de son voyage ä Rome. 1 ) Cette auguste princesse, vou-
lant pourtant faire quelque chose pour celui qni avait assiste son
deffunt epoux sur son lit de mort, m'ordonna de lui remettre une
bague sans chiffre ä peu pres de la valeur de mille francs, en lui
faisant promettre de n'en faire mention vis-ä-vis de personne, ce qu'il
fit sans difficultö. Voyant que ce prßtre 6tait tr£s touche des bontes
de S. M., je lui fis encore diverses questions auxquelles il me repondit
avec beaucoup de franchise.
Je lui dis derechef que S. M. savait parfaitement qn'il existait
quelque part un testament de feu son epoux mais qu'Elle ignorait oü il
£tait et son contenu, que ce qui l'etonnait qu'Elle avait 6t6 instruito que
plusieurs membres de la famille Bonaparte en connaissaient les detaüs
et ne s'en cachaient point. Sur oette assertion je vis que l'abbö
Vignali se troublait assez visiblement, et il me repliqua ä diverses
reprises que c'etait impossible, que ce ne ponrrait pas €tre, vu que
personne, excepte les executeurs testamentaires, le general Bertrand et
le Comte de Montholon, ne ponvait en etre instruite, qu'ils avaient
besoin encore de quelque temps pour mettre ordre ä une affaire aussi
iraportante, que S. M. ait seulement l'extreme bonte de prendre patience,
qu'Elle serait instruite exactement des deraieres volontes du ddffunt.
II y ajouta encore que, tant que MM de Bertrand et de Montholon
seraient en Angleterre, il leur serait impossible de mettre la main
ä l'ouvrage, qu'a son depart de Londres le Comte de Montholon avait
dejä eu la permission de rentrer en France, et que le Mar6chal Suchet
avait fait part au Comte de Bertrand que le Roi etait tres bien dis-
pose pour lui, et qu'infailliblement l'arret prononce contre lui serait
lev6 sous peu. L'abbe Vignali me röpliqua ä diverses reprises qu'il ne
fallait pas s'attendre a des richesses parceque l'Empereur n'en possedait
pas, qu'ä St* Helene il recevait ses fonds de la Compagnie. (II m'assura
qu'ä commencer du gen. Bertrand toute la suite etait payee sur le
meine pied que jadis en France, et exactement jusqu'au dernier instant).
Je le questionnai en suite sur les fragments de memoires que le
deffunt ponvait avoir laisse. 11 me repondit positivement qu'il y avait
plus que des fragments, et meme des memoires §crits avec suite. Je
ne pus jamais obtenir de lui qu'il me dit oü ils se trouvaient et par
quels moyens ils avaient et6 soustraits ä la surveillance du gouverneur
de S t0 Helene et envoyes en Europe. A la demande que je lui fis, pourquoi
le docteur Andromacchi(!) n'avait pas voulu signer avec les m&lecins
anglais le rapport fait lors de l'ouverture du corps du d6flfunt, il me
repondit que ce medecin, quoique ce fut lui qui etait charge de l'ope-
ration, n'avait point ete invite par les chirurgiens anglais a signer
l'acte, que d'ailleurs le docteur n'etait point du meme avis qu'eux,
qui attribuaient la cause de la mort ä une lesion de l'estomac, tandis que
lui croyait quil 6tait mort d'une maladie au foie, que d'ailleurs le
•) Über den Uericht vom 29. S*pt«mber, auf den sich Neipperg hier beruft
Tgl. Schiitter, a. a. O. S. 26.
28*
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136
Graf Neipperg an Metternich
docteur Andromacchi publierait an memoire circonstantie rar la maladie
et la mort du däffunt.
L'abbe Vignali me chargca de dire ä S. M. que son epoux avaii
recu les sacrements sept jours avant sa mort et avait montre les sen-
timens les plus religieux.
L'abbe Vignali retourne ä Borne oü il m'a dit qu'il comptait re-
prendre ses anciennes fonctions dans une 6cole oü il avait 6t6 employe
avant son depart pour S* 6 Helene. Peut-etre que, si le Comte Apponyi 1 )
cherchait ä faire sa connaissance, il pourrait en avoir des details su r
lesquels je n'ai pas cru devoir trop appuyer dans ce moment. II a ete
ici chez Louis Bonaparte a sa campagne a 4 mille de Florence, et
aussi chez Mad. de Poss6, fille de Lucien, qui se trouve ici avec son
mari. 2 ) Aucun de ces personnages n'a demande ä se presenter ä S. M.
qui en tout caa les leur aurait refuse.
Je suis persuade, mon Prince, que le ministere anglais aurait pu
se procurer plus de lumieres dans toute cette affaire de la succession
de Napoleon, pour peu qu'il eüt donne plus de suite ä ses recherches,
et que le testament, ä l'heure qu'il est, se trouve dans les mains de
quelque individu de la famille Bonaparte, peut-etre meme en Amerique
pres de Joseph. Le mystere qu'on a repandu sur cet objet tient sana
contredit ä des vues politiques, et encore plus ä des vues particulierea
d'interet de quelque membre de la famille du deffunt qu'il sera difficile
de penetrer.
Daignez agr6er, mon Prince, Phommage de mon tres-profond
respect.
Le Lieutenant General
Comte de Neipperg,
Chevalier d'honneur de S. M.
») Österreichs Gesandter in Born.
*) Christine, die iweite Tochter Luoians, hatte 1818 den schwedischen Grafen
Arrid Posse geheiratet.
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Berichtigungen und Zusätze zum II. Band.
Seite IV Zeile 20 von unten lies „Titularherzoge" statt „Titulars-
herzoge" ;
„ VI „ 11 „ ; , „Fontana Fredda" statt „Fonta
Fredda";
63 „ 2 ., ,. Einen Brief Fultons an Napoleon vom
6. September 1801 veröffentlichte D ub o c
in der Rev. des Rcv., September 1896.
„ 86 6 ., n lies „wollte" statt „wolle";
89 4 .. oben „ „Generalintendanten" statt „Gene-
rals";
95 ,. 1 unten: Frau v. Chastenay sagt in ihren Me-
moiren, II, 244: „Ich kann nicht glauben,
daß er epileptisch war, wenigstens hat
er öffentlich nie einen Anfall gehabt".
., 124 „ 12 „ ., lies „allerdings" statt „allerding";
„137 1 oben „ „zu Cleve und Neufchatel" statt
„zu Neufchatel";
„ 211 ,. 1 .. unten: Später wurden Herzoge: Juno t, Herzog
von Abrantes, Suchet, Herzog von Albu-
fera, Arrighi, Herzog von Padua, Rey-
nier, Herzog von Massa, Kellermann,
Herzog von Valmy, Dalberg und Decres.
235 „ 11 „ „ lies „11. November" statt „14. Oktober";
... 235 3 ., „ „ „1807" statt „1806";
,. 260 „ 20 ; . „ „ „zu nötigen" statt „nötigen";
„ 303 f. wäre darauf hinzuweisen, daß, nach den Erinnerungen de*
Grafen Eugen Czernin (teilweise mitgeteilt von Helfert
in der „Heimat", Jahrg. 1877), Napoleon nach der Schlacht
bei Aspern zu Friedensverhandlungen mit Österreich ge-
neigt gewesen wäre, wenn von diesem ein erster Schritt
geschah. Namentlich habe eich Savary um den Grafen
Czernin als Mittelsperson bemüht. Es kam nicht dazu.
„ 325 Anm. wäre für die Frage der Initiative in der Angelegenheit
einer dynastischen Verbindung Österreichs und des
napoleonischen Frankreich auf die von Helfert,
„Heimat", Jahrg. 1877, S. 862 mitgeteilten Stellen aus
dorn Czerninschen Tagebuch zu verweisen, wonach kurz
vor dem Abschluß des Friedens die Sache von fran-
zösischer Seite berührt worden wäre. Graf Laborde
hätte dem Fürsten Liechtenstein vertrauliche Eröffnun-
gen gemacht, und „es wurde klar, daß bei dieser vor-
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438 Berichtigungen und Zusätze zum II. Band.
geschlagenen Heirat Napoleon selbst der Bräutigam
sein wollte". Graf Czernin erklärte sich Liechtenstein
gegenüber bereit, den französischen Antrag nach Totis
zu überbringen. Der Fürst blieb aber dabei, von der
Sache vorläufig keinen Gebrauch zu machen, „da die
Heiratsproposition die ohnehin so aufgeregte Kaiserin
Luise Beatrix und ihren leidenschaftlichen Ratgeber
Baldacci aufs äußerste erzürnen und daher der Friede
umso weniger zustande kommen würde". Damit erklärt
sich auch die Stelle in dem Briefe Liechtensteins an
den Kaiser: „Binnen kurzer Zeit dürfte Napoleon um
Ew. W. Freundschaft bitten." (Criste, Liechtenstein,
S. 147.)
Seite 380 Zeile 7 von oben aufzunehmen: Miß Berry, Journals and
correspondance, (London
1865, ein Auszug im Corre-
spondant, 1904, das Jahr
1802 betreffend).
.. 331 .. 18 .. .. ?1 Driault, Napoleon Ier et
Tltalie (Revue bist. 1905);
., 333 : , 18 ., unten - ? De la Faye, La Pesse
Charlotte de Rohan et le
Duc d'Enghien, Par. 1904.
333 „ 20 „ oben Picard, Bonaparte et Mo-
reau (Par. 1905; bis zum
Bruch).
„ 333 ., 24 „ unten „ Eni. Daudet, La police
et les Ghouans sous le
Consulat et l'Empire.
., 334 .. 16 „ ;) Plancy, Memoires (Par.
1904).
,, 336 „ 20 „ oben Criste, Johann Fürst zu
Liechtenstein, Wien 1905.
„ 337 22 „ „ „ Auriol, La France, TAn-
gleterre et Naples de 1803
ä 1806. Par. 1904. 2 vols.
., 339 „ 23 ,, , ; „ Doerrio8,Friedr.v.Gent7!'
„Journal de ce qui m'est
arrive au quartier de S. M.
le roi de Prusse« als Quelle
preußischer Geschichte
(Greifswald 1906, Disser-
tation).
„ 339 „ 15 „ unten: Die Relationen von Ebra und Eber-
stein über die Schlacht von Auerstedt
veröffentlichte Treuenfeld, Das Jahr
1813, Beilage 16.
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Berichtigungen nnd Zusätze zum II. Band. 439
Seite 339 Zeile 22 von unten lies „1881" statt „1882";
„ 340 „ 16 „ oben aufzunehmen: Die Memoiren von Saint-
Chamans (Par. 1896) und
Paul in (Par. 1895).
,. 340 „ 18 „ unten ., Sommerfeldt, Die preu-
ßisch-österreichische Poli-
tik d. J. 1807 (Forsch, z.
brandenb. u. preuß. Gesch.
XVIII).
., 340 „ 10 ., lies „Lumbroso" statt „Lombroso";
„ 341 24 „ aufzunehmen: Froidevaux, La politi-
que coloniale de Napoleon
(Revue des quest. hist.
1U01).
Charles Schmidt, La re*-
forme de l'Universite en
1811 (Par. 1905), wo die
einschlägige Literatur ver-
zeichnet ist.
Coquelle, Sebastiani ä
Constantinople, 1806 äl808
(Revue d'hist. dipl. 1904).
Lumbroso, Correspon-
dance de Joachim Murat
(1791—1808) Turin, 1899;
Chavanon et Saint
Yves, J. Murat, Par. 1905;
Seze, Baylen et la poli-
tique de Napolöon (Par.
1904, bestätigt Titeux' Ur-
teil zu Gunsten Duponts).
„ 344 „ 12 „ oben ist „Lucas, Erfurt etc." zu streichen.
,, 344 „ 3 „ unten aufzunehmen: Robinson, Wellingtons
campaigns. Moores cam-
paign of Corona, 1808 —
1810 (Lond. 1904).
„ 346 „ 11 „ „ „ He lfert, „Das Kriegsjahr
1809" in der „Heimat",
Jahrg. 1877.
„ 346 „ 23 „ „ „ Bonnal, La manoeuvre
de Landshut. Etüde sur la
Strategie de Napoleon (Par.
1905); Chelard, Lea ar-
mees francaises jugees par
les habitants d'Autricbe
(Par. 1893).
„ 342 „ 14 „ .,
„ 343 „ 10 „ oben
„ 343 „ 21 ,. unten
„ 343 „ 1 .,
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440 Berichtigungen und Zusätze zum II. Band.
Seite 847 Zeile 8 von oben aufzunehmen: Criste, Liechtenstein;
Ho en, Aspern, Wien, 1906
349 11 „ unten „ Imbert de St Amand,
Les beaux jours de Marie
Louise;
.. 398 „ 1 „ lies „Vertrag" statt „Vortrag".
Von jüngst veröffentlichten Werken, die sich mit dem Leben.
Napoleons I. im ganzen beschäftigen, ist ein kleines, reich illustriertes
Buch des Berliner Universitätsprofessors Dr. Max Lenz zu nennen,
das in der Sammlung „Monographien zur Weltgeschichte" als 24. Band
(Bielefeld und Leipzig, 1905) erschien. Es ist in seinem ersten Teil —
Jugendgeschichte — eingehend gearbeitet und weist da den einen und
andern hübschen Gedanken auf. In seinem weiteren Verlaufe freilich
verliert es durch die apologetische, auf jede Kritik verzichtende Auf-
fassung des Helden und durch zahlreiche Flüchtigkeitsfehler fast allen
Wert. Im letzten Teile vollends, insbesondere vom russischen Feld-
zug ab, erweist sich der Verfasser, nicht nur was den dargestellten
Stoff betrifft, sondern nicht selten auch im Wortlaut, so sehr abhängig
von meinem Buch in dessen erster, 1889 erschienener Ausgabe, daß
ich, weniger zur Wahrung meines geistigen Eigentums, als vielmehr,
um nicht am Ende in den Verdacht zu geraten, ich hätte mich mit
einer fremden Feder geschmückt, einige auffällige Stellen hierher-
setzen muß. Man vergleiche:
Fournier. Lenz.
III, 85: S. 169:
Seit Anfang November begannen Seit Anfang November gab es
sich die Nachtfröste immer fühl- stärkere Nachtfröste; um so schlim-
barer zu machen. Die Soldaten mer in den leichten Kleidern der
waren meist zu leicht gekleidet und Hunger zu ertragen. Denn die Le-
litten nicht wenig. Auch vom Hun- bensmittel, die von Moskau mit-
ger, denn was man aus Moskau von genommen,waren bald aufgebraucht.
Lebensmitteln mit fortgenommin,
war bald völlig aufgebraucht. . .
III, 216: S. 181:
Bald wurde es öde um den ge- Nun ward es öde um den Kaiser . .
stürzten Kaiser . . . (Napoleon zu (Napoleon zu den Garden:) Daß er
den Garden:) Er hätte seine Exi- seine Existenz hätte enden können,
stenz enden können, aber er wolle aber er wolle weiterleben, um zu
weiterleben, um zu schreiben und schreiben und der Nachwelt die
der Nachwelt die Großtaten seiner Taten seiner Krieger zu verkünden.
Krieger zu verkünden. Dann küßte Er küßte den Generaf, küßte die
er den General Petit, der die Gar- Fahnen, rief seinen Braven noch
denkommandiorte,küßteihrcFahne, einen letzten Gruß zu und fuhr
rief seinen „alten Brummbären" davon,
noch einen letzten Gruß zu und
fuhr von dannen.
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Berichtigungen und Zusätze zum II. Band. 441
III, 229: S. 186:
Er näherte sich auf Schußweite, . . . und seinen grauen Überrock
lüftete seinen grauen Überrock und lüftend, die Brust den Grenadieren
rief, seine Brust darbietend, hin- darbietend, ihnen zuruft: „Wer von
über: »Wer von Euch wird auf Euch wird auf seinen Kaiser schießen
seinen Kaiser schießen wollen?" wollen?" Ein brausendes „Vive
Da nahmen die Soldaten ihre Mützen l'Empereur" ist die Antwort,
ab, steckten sie auf ihre Bajonette
und riefen „Vive l'Empereur!" . . .
HI, 270: S. 190:
. . . sich der provisorischen Re- ... als einfacher General wolle
gierung als einfacher General zur er kommen, nur um die Hauptstadt
Verfügung zu stellen, nur um die zu retten und die noch getrennten
Hauptstadt zu retten und die ge- Feinde zu schlagen,
trennten Gegner zu schlagen, wie
er sagen Heß. . .
in, 271: S. 191:
Er habe seine politische Lauf- Er habe, so schrieb er dem
bahn vollendet, schrieb er an den Prinzregenten, seine politische Lauf-
Prinzregenten nach London, er bahn vollendet; er komme gleich
komme gleich Themistokles, um Themistokles, am Herde des*briti-
am Herde des britischen Volkes sehen Volkes niederzusitzen und
niederzusitzen, und stelle sich unter stelle sich unter den Schutz seiner
den Schutz seiner Gesetze. Gesetze.
Und das sind keineswegs alle Stellen, auf die das bekannte Ver-
fahren der vergleichenden Quellenforschung mit Erfolg angewendet
werden kann, und man sucht vergeblich nach einer Erklärung für
solchen, in der deutschen Gelehrtenwelt glücklicherweise vereinzelten
Vorgang. Man könnte allenfalls meinen, daß Herrn Professor Lenz
der große Stoff über den Kopf gewachsen und er — nicht mehr fähig
ihn zu meistern — schließlich genötigt gewesen sei, nach dem ersten
besten Behelfe zu greifen. Aber auch diese Erklärung trifft nicht zu, da
schon in den frühesten Abschnitten von Lenzens Buch sehr starke An-
klänge an das meinige unterlaufen. So z. B. wenn ich (I, 41, 2. A.)
über die bekannte Episode auf Korsika im Jahre 1792 schreibe: „Es
war sein erster Staatsstreich" und Lenz (S. 21) dafür setzt: „Sein
erster Staatsstreich, könnte man sagen." (Unbezahlbar dieses „könnte
man sagen"!) Oder wenn aus meinem (I, 77): „Au destin" hieß jetzt
sein Wahlspruch, den er der Lebensgefährtin, die er sich erkor, in
den Brautring schrieb", bei Lenz (S. 46) der Satz wird: „Au destin",
so lautete der Denkspruch, den Napoleon in Josephinens Brautring
hatte eingraben lassen." Oder wenn eine Stelle zum Jahre 1800 bei
mir (II, 1) lautet: „Zahllose Fremde pilgerten nach Paris, um die
zu unsterblicher Bedeutung gelangten Stätten der Revolution zu
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442
Berichtigungen und Zusätze zum II. Band.
besuchen und den großen Mann zu sehen, der den empörten Wogen
Bube geboten hatte«, und dann bei Lenz (8. 97): „Aus ganz
Buropa strömten die Fremden nach Paris, um den Mann zu sehen,
der den empörten Wogen Ruhe geboten hatte." Doch ich will nicht
weiter danach forschen, wie ein Mann in angesehener wissenschaft-
licher Stellung dahin gelangt sein mochte, so ganz sans phrase Teile
eines fremden Buches in das Beinige hinüberzunebmen; ich über-
lasse das den Psychologen und halte auch mit meinem Urteil über
solches Vorgehen zurück. Aus Dankbarkeit. Denn die an sich ernste
Sache verschaffte mir nebenbei einen sehr heiteren Eindruck. Herr
Dr. G. Roloff, Privatdozent an der Berliner Universität, derselbe,
an den ich, was ich heute bedauere, am Schlüsse meines zweiten Bandes
mehr als vier Seiten sachlicher Erörterungen gewendet habe, Herr
Dr. Roloff hat im letzten Januarheft der „Preußischen Jahrbücher"
diesen Band meines Werkes und unter einem den „Napoleon" von
Lenz besprochen. Dabei kommt nun mein Buch natürlich sehr schlecht
weg. „Insbesondere ist der vorliegende Band," heißt es da, „zum
Führer für den Laien so wenig geeignet wie der erste. Denn in den
Einzelheiten geht Fournier infolge falscher Forschungsmethode häufig
in die Irre und die Gesamtanschauung ist verfehlt, nicht einmal ohne
innere Widersprüche." Nun, ich war, wie meine Leser wissen, auf
dieses Verdikt gefaßt und trage es mannhaft. Ich bin auch gar nicht
überrascht, es mit keiner einzigen Zeile begründet zu sehen« Denn Herr
Dr. Roloff hatte in dem Aufsatze viel Wichtigeres zu tun: er hatte
für das Buch des Herrn Professors Lenz kraftig in die Posaune zu
stoßen und tat es virtuos. „Grundverschieden nach Inhalt und Form
ist das Buch von Lenz... daher ist denn der Napoleon Lenzens ein ganz
anderer als der Fourniers", was dann zum höchsten Lobe des Ersten
und zum bittersten Tadel des Zweiten weiter ausgeführt wird. We»
nun weiß — und sollte Herr Dr. Roloff es nicht wissen? — daß da»
Lenz'sche Buch lange Strecken weit nichts als ein oberflächlicher Aus-
zug des meinigen, in einzelnen Fällen noch etwas Schlimmeres ist,
auf den kann die Wirkung all der lobenden Tiraden und die eifrige
Feststellung der „Grundverschiedenheit nach Inhalt und Form" nur
eine belustigende sein. Außerdem aber hat die hieraus erwachsene
Erfahrung für mich persönlich das Nützliche, daß ich mich fortbin
gegenüber solchen Elementen der wissenschaftliehen Kritik jedes po-
lemischen Wortes überhoben fühle, ein Entschluß, dem sicher kein
Mann von Geschmack seine Billigung versagen wird. Herr Dr. Roloff
wird in Zukunft über mich und mein Werk schreiben können wie, wo
und was er will : ich werde nicht darauf reagieren. Nur heute noch und
nur in einem Punkte will ich ihm erwidern. Dort, wo er meine Aus-
führungen im zweiten Bande zu entkräften sucht, bemängelt er auch
die Gründe für meine Weigerung, seinen „Napoleon I." in meine „Litte-
rarischen Notizen" aufzunehmen, indem er mir vorrückt, ieh hätte ein-
mal in der „Deutschen Litteraturzeitung" (Jahrg. 1900) nicht allzu
übel darüber geurteilt. Richtig. Ich summierte damals mein Urteil
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Berichtigungen und Zusätze zum II. Band. 443
über den kleinen 215 Seiten starken Band dahin, daß ich ihn trotz der
nach meiner Meinung ganz falschen Gesamtauffassung und seinen unter-
schiedlichen Fehlern im Einzelnen, doch noch einen „zureichenden
Wegweiser für alle" nannte, „die das Wissenswürdigste über den außer-
ordentlichen Mann unter Verzicht auf eingehendere Schilderungen und
Erläuterungen und unter Verzicht auch auf jeden Nachweis der be-
nützten Quellen kennen lernen wollen«. Und das unterschreibe ich
heute noch. Aber das konnte mich doch nicht veranlassen, das Buch in
meinem bibliographischen Apparat zu verzeichnen, der, wie es im Vor-
wort heißt, „nur in der Absicht dargeboten ist, jene Leser, die mein
Buch zu erweiterter Lektüre und tiefer gehender Beschäftigung mit
dem Gegenstande anzuregen vermag, auf Werke zu verweisen, welche
ihnen dabei am zuverlässigsten dienen werden". Zu Werken solcher
Art habe ich allerdings das Opusculum des Herrn Dr. Roloff nie ge-
rechnet. Und damit basta.
Wien, im Februar 1906.
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