Voltaire
Josef
Popper-Lynkeus
395- ff. 39
»arbarli Collrgt librars
coli
FROM THB B|qj;BST OF
FRANCIS BROWN HAYES
(CUsa of 1839)
Thif fund it $10.000 tnd iti income It to b« ui«d
"For the purchase of books for the Library"
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Popper (Lynketis),
VOLTAIRE
VOLTAIRE
Eine Charatcteranalyse»
in Verbindung mit Studien zur Astlietilc,
Moral und Politilc
von
Josef Popper (Lynkeus),
Dresden 1905.
Veriag von Cari RdBner.
SEP 2 1920*
Alle Rechte vorbehalten.
Drack vdB B. KUpp«l, QntiiUnbing,
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I n h alts - Verzeich n is.
Seite
Was den Verfasser bcwog, dieses Buch zu schreiben 1
Fernere Absichten bei dessen Abfassung 2
Einige Worte über eine ältere Schrift des Verfassers über Voltaire 4
Man ist seit langem — und besonders heute — mit Voltaire's
Schriften unbekannt, und unrichtige landläufige Urteile werden
ohne Kontrolle hingenommen 5
Gustav Freytag und das Konversations-Lexikon Ober Voltaire . . 6
Brimetiere's Meinung: Voltaire sei nur ein Vulgarisator . . . . 9
Goethe's Meinung: Er habe keine Tiefe 12
Man kann selbst das Größte leisten, ohne Tiefe /u besitzen . . 13
Uber Tiefe hei Schriftstellern und Dichtem \4
Schiller's Vorwurf: Voltaire habe als Dichter »kein Herz abgedrückt'' 16
Entgegenstehende Tatsachen 16
Uber die Wertlosigkeit einer aprioristischen Ästhetik 16
Auch habe Voltaire zu wenig Ernst 21
Solche Naturen wie Voltaire werden leicht mißverstanden . . . 22
Tatsachen, die seinen unübertroffenen Ernst beweisen 23
Wie man sich gewöhnlich einen Pessimisten vorstellt 29
Voltaire als Pessimist und die drei Arten, in denen bisher der
Pessimismus auftrat 30
Voltaire a ls Dichte r 33
Objektive Wertlosigkeit eines jeden absprechenden ästhetischen Urteils 37
Eine jede ästhetische Zustimmung hat für den Künstler eine tiefe
ethische Bedeutung 38
im aligemeinen wird das ästhetische Gefallen oder Mißfallen viel
zu sehr als wichtige Angelegenheit behandelt 40
Bei Kunstwerken berechtigen nur tatsächliche ästhetische Wirkungen
zu ihrer Wertschätzung 41
Emil Faguet tadelt Voltaire's literarische Urteile 44
Voltaire's Ansichten über Shakespeare 45
Voltaire's Ansichten über Rabelais 53
Man kümmert sich um Luxusgefühic viel mehr, als um die wich-
tigsten und notwendigsten Kulturbestrcbungen 57
Die kulturfeindlichen Mächte sind heute wieder in voller Tätigkeit.
Beispiele 58
Schiller's ungerechter Angriff auf Voltaire wegen der Pucelle't . 64
Voltaire's Behandlung dieses Stoffes ist ästhetisch ebenso berechtigt
wie die Schiller'sche, und dabei von ungleich größerem Nutzen 69
— VI -
Seite
Wie Shakespeare die *Jungfrau von Orleans<^ behandelte .... 71
Anfilhning einiger neuerer Werke über Voltaire 73
Aussprüche über ihn 76
Über die verschiedenen Methoden, Voltaire zu tadeln oder zu
degradieren 85
Carlyle's Tadel Voltaire's 86
Hettner's Vorwürfe 8Q
Weitere Tadelsworte Carlyle's 89
Rosenkranz weist den V^orwurf, Voltaire sei nur ein Spötter, zurück 93
Was ferner Carlyle an Voltaire nicht recht ist 93
Über Voltaire's Künste der Pseudonymität 96
Uber die Lust und den Wert, Märtyrer zu sein 98
Eine Predigt Carlyle's über das Lugen 102
Warum man Voltaire seine Vorsichtsmaßregeln vorwirft, und
' anderen nicht 104
Jean Jacques Rousseau's Verhalten als Verfolgter 106
Zulet/t wird er ein Denunziant , . . . . . . . . . . . . 108
Überstrenge Tugendfordemngen führen meist zu den derbsten
' Untugenden . . . 109
Verhalten Rousseau's und Voltaire's der Kommunion gegenüber . HO
Auch in seinen wissenschaftlichen Bestrebungen soll Voltaire
keinen Emst gezeigt haben 114
Selbst in seiner Geschichtsschreibung nicht 116
Kein Geschichtsschreiber entgeht dem Tadel 122
Auch der Qeist und Witz Voltaire's bietet Carlyle einen Grund
7nm Tadfl " 127
V^oltaire hätte statt deren Humor haben sollen 127
David Strauß tadelt es, daß Voltaire flackert , anstatt mhig zu
leuchten . . . . , , , , , , , . . , . , . , . 1_3Q
Franzosische monarchistische und klerikale Gegner Voltaire's t>e -
haupten tatsächlich Unrichtiges und verdächtigen mittelst
gewandter Entstellungen seine edelsten Absichten .... 131
Über die Art von Voltaire's Tätigkeit in der Calas-Affäre . . . 135
Gegnerschaft Lessing's gegen Voltaire 139
Wie Strauß das Verhältnis heider Männer beurteilt . . . , . . lAl
Voltaire und Friedrich der Große . . . . . . . . . . , , 144
Voltaire und Maupertuis 145
Voltaire und Bankier Hirsch 147
Verhalten Friedrich's gegenüber Voltaire 151
Voltaire's Verhalten gegenüber Friedrich 153
Charakteristik Friedrichs des Großen in seinem Privatverkehr . . 161
David Strauß' mystischer Respekt vor dem Königtum 163
Voltaire lebte in jüngeren Jahren gerne an Höfen, war aber nie
em Höfling 104
t /II
— VII —
Seite
Friedrich der Große wäre ohne die französischen Philosophen
ohne Bedeutung für die europäische Kultur und nicht mehr
172
als ein tüchtiger preußischer Landesvater gewesen ....
176
Voltaire's Verhalten Friedrich's Kriegsunternehmungen gegenüber
181
Wie Strauß Voltaire's Tadel zurückweist und Friedrich's Raubkriege
182
mittelst der 1 heorie vom »deutschen Entwicklungsdrang«
rectittertigt
Strauß' Rechtfertigung wird von Friedrich selbst wideriegt . . .
184
Uber die Methode, Deutschland für Preußen zu substituieren . .
186
Ein kleiner Exkiir*? in die Oeschirhtp PreiiRpn's
187
^X^ie Treitschke Strauß noch ühertnimnft
104
Und wip f*r Friedrich (lf*n Ornl^pn rhnraktpri^iVrt
1Q4
VC^ie der Hisloriker lohAnnp«; Müllpr Fripdrirh rprhtfprtiiri
1Q7
V[^iß (^Arlvl^ iihpr dpn Kntxiot von Pri^iiRpn QnnVht
1Q8
Uber komintp nolitisrhp A rmirhtpn iinrl Ma Yiiiipn hpi H !<;tnrikpm
201
Und nrakti^rfipn Pol iti kpm
OlP nPutitTpii FnrnnÄPr nls tncrpndhpurhplndp Nnrmatinpn
202
über das Kriegs- und Friedensproblem . ,
203
204
209
Menschen mit religiösen Uberzeugimgen sind fast immer Freunde
III
Onmdbedingungen der moralischen und polih'schen Qesellschafts-
21o
Versöhnende Betrachtung über Friedrich den Großen und sein
21Q
Uber das Große sich Aufi^^aben zu selbstlofien Zwecken zu stellen
224
1 *Wkn>- 0(1<y^U4A^.".ll..«»
Friedrich's und Voltaire's unerhörte Beharrlichkeit in Verfolcninc
229
selbstgestellter und selbstloser Aufgaben
Was dem Verfasser bei Voltaire vorübergehend oder bleibend mißfiel
233
234
r\- »er- x* ^ ■ n- t.<^ i jr»
234
uas vernaltnis zu Katnanna 11
251
Bemerkungen über eine gewisse Schreibweise Voltaire's ....
Rousseau's Verhalten gegenüber Friedrich dem Großen ....
203
Uber einen ethischen Grundfehler in unserem politischen Denken
263
Voltaire war weder aristokratisch gesinnt, noch mißachtete er das
267
Nach allem ist Voltaire einer der besten und edelsten Menschen
273
Uber das Große, das in der Eigenschaft der Güte liegt .... 275
Uber die Art des Intellekts und der ganzen Persönlich *
keit Voltaire's . . . . . . 281
— v/n —
Seite
Über die Rolle der großen Männer und der großen Massen in
■ der Kulturgeschichte 282
Uber Verstandesgenie's und Qenie's der Phantasie und des Gemüts 285
Einige her\'orragende Beispiele 286
Rousseau's Einfluß 289
Auch in der neueren Musik bemerkbar. Beethoven 291
Rousseau und Voltaire als Politiker 292
Über Vernunfts- und Qefühlspatriotismus 296
Auch das schönste oder erhabenste Gefühl darf nicht zum Anlaß
genommen werden, die physische Integrität irgend eines
Menschen in der Welt zu verletzen . . . . . . . . T 297
Sowohl Verstandes- als Qemütsgenies sind für den Fortschritt der
Menschheit notwendig 7 300
Großer Verstand ist mit Gute wohl vereinbar. Julius Cäsar . . 301
Uber die forcierte Phantastik während des europäischen Mittelalters 303
Entwicklung des Aberglaubens zur Religion und endlich zur Kirche 304
Eine Hauptursache des erschöpften Nervensystems der Europäer 306
Die geistige Bekämpfung des Mittelalters von mehreren Seiten aus 309
Die Geister mit teilweiser Furchtlosigkeit 309
Voltaire hatte vor gar nichts Furcht 310
Voltaire's Reinheit bezüglich religiöser Gefühle 314
Voltaire wird als philosophischer Denker unterschätzt 318
Seine Behandlung des Problems der Willensfreiheit 319
Wie dieses Problem vollständig zu erledigen ist 3^
Voltaire's Einsicht in die Wertlosigkeit aller Metaphysik . . . . 322
Grund der Antipathien gegen Voltaire: Josef de Maistre, Napoleon 324
Voltaire ein höherer Siegfried 327
Seine Naivetat 327
Voltaire: ein naives Welt-Kind 328
Das leicht weinte 331
Das auch gut war 334
Was von yoltaire's angeblichem Geiz und seiner finanziellen Ge-
^ schicklichkcit zu halten ist . 335
Er war tapfer im Kampfe und doch gutmütig 340
»Dem Übel nicht wehren« — ist eine schädliche Maxime . . . 343
Kurze Geschichte der Beziehungen Voltaire's zu J. J. Rousseau . 351
Voltaire's Milde und Nachsicht Rousseau gegenüber 367
Sein lebhafter Sinn für Freundschaft 369
Kurz gefaßte Charakteristik Voltaire's nach der Art seines Intellekts
und nach seiner ganzen Individualität 377
Anhang.
Zwei Gedichte Voltaire's 378
Über ein musikästhetisches Problem 382
[Empört über die beharrliche und fast allgemein herrschende
'-^ Ungerechtigkeit in Beurteilung des Charakters eines
großen und guten Mannes und über die Undankbarkeit in
der Wertschätzung seiner Verdienste um die Menschheit
verfaßte ich diese Schrift über Voltaire.
Eine andere Schrift, die ebenfalls Voltaire behandelt und
im Jahre 1878 zu seinem hundertsten Todestage als Ein-
leitung zu meinem Buche: ^Das Recht zu leben und
die Pflicht zu sterben«*) publiziert wurde, hatte in der
Hauptsache den Zweck, die geistigen Eigentümlichkeiten
Voltaire's hervorzuheben und den Charakter seiner Denk-
und Schreibart in das richtige Licht zu setzen. Die jetzige
Darstellung geht mehr auf seinen moralischen Charakter
und auf die Art seiner Beziehungen zu seiner Umgebung,
und verfolgt das Ziel, das Naturell jener merkwürdigen, so
wenig verstandenen Persönlichkeit bis zur Anschaulichkeit
deutlich zu machen.
Es also hier eine Aufgabe der praktischen Psycho-
logie im Falle einer welthistorischen Figur vor; und es sei
jetzt schon gesagt:
Durch die Lösung dieser Aufgabe^ welche mit aller nur
möglichen Objektivität durchgeführt wurd^ eigab sich die
volle Berechtigung, namentlich den moralischen Charakter
Voltaire^ sowohl in sehiem Privatleben als auch in semen
kulturhistorischen Beziehungen, in ein weit höheres Niveau
*) Im jähre IMS fai dritter Auflage bei Ciri Rdttaer erscbteiieiu
Popptr, Vohairc^ 1
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zu stellen, als es -- von wenigen Ausnahmen abgesehen —
den Beurteilern Voltaire's bisher begründet erschien.
Es ist selbstverständlich, daß man in einer Studie über
einen Mann wie Voltaire über gar viele Din^e und Personen
sprechen muß, zu denen er irgend ein Verhältnis hatte; ich
spreche aber überdies auch über so manches andere, ohne
daß es unbedingt notwendig gewesen wäre, und dies aus
dem Grunde, weil ich eben glaubte, wenn auch in loserem
Zusammenhange mit dem Hauptthema, einiges von Wert
sagen zu können.
Namentlich handelte es sich darum, auf die Vn*
gerechtigkeit im Urteilen bei vielen hochangesehenen
Schriftstellern hinzuweisen. Denn ich halte Unrichtigkeit
einer Ansicht nicht für so schädlich oder häßlich, wenn sie
bei voller Unparteilichkeit entstanden ist, als wenn sie aus
Voreingenommenheit und aus Mangel an Selbstkritik der
eigenen Ansicht hervoigehi Unrichtigkeit des Urteils, die
aus intum, Unwissenheit oder Schwäche der Urteilskraft
Oberhaupt hervoigeht, bringt uns nicht in Entrüstung, sie
ist ehie Sache des Intellekts. Aber Voreingenommenheit,
Blindheit aus egoistischen OefOhlen, ist eine Eigenschaft
des Charakters, und diese kann uns in Aufr^ng bringen.
Man wird versucht, den fAann ohne Oereditigkeltssinn bei
den Schultern zu packen, ihn energisch durchzurütteln und
Ihm fortwährend zuzurufen: »Warum siehst du nicht auch
auf die andere Seite hin? Warum tadelst du bei diesem,
was du bei dem andern ignorierst oder sogar lobst?
Warum hast du pidtziich ein so schwaches Gedächtnis für
alles das, was gegen deine Ansicht spricht? Darf ein
Kritiker, oder gar ein so strenger Sittenrichter partelisch, ja
korrupt sein?«
Aber die korrupten und korrumpierenden Beurteilungen
hören nicht auf, und in der politischen wie in der Uteratur-
Oeschtcfate entstehen, wie die Erfahrung aller Tage beweist,
die meisten falschen Ansichten, namentlich über Personen,
Digitized by
— 3 —
nur aus Mangel an jedem Versuche, von seiner (ver-
schwiegenen) Ansicht sich soweit zu befreien, um auf die
Oegeninstanzen hinzuhoichen, und nicht die Augen vor
all dem zu schließen, was dem Getadelten zugute kommt
Indem ich nun in ziemlich häufigen Fällen mich der
Aufspürung solcher halb bewußter, halb unbewußter, oder
mitunter ganz naiver Ungerechtiglcdten im Urteilen widmete^
ergab sich mir die Pflicht einer sehr segensreichen Be-
schäftigung, nämlich: Masken herunterzureißen; einer
Pflicht, der man gar nicht eifrig genug nachlcommen kamt
Die Detailfragen, die ich in dieser Monographie be-
handle, werden ganz anschaulich das zeigen, was ich so-
eben nur im allgemeinen, daher noch undeutficb^ ausdrfldoen
konnte.
Und da es mir höchst nfltzlich erscheint, an Gerechtig-
keit und Unvordngenommenheit hn Urteile zu gewöhnen,
so knflpfte ich mitunter an einen bloßen kurzen Satz eines
Schriftstellers, namentlich wenn dieser in Ansehen steht,
ziemlich weitUUifige Exkurse an; es geschah aber stets nur
der Sache und der vielleicht im Urteilen weniger geübten
Leser wegen. Femer stellte ich mir mitunter die Aufgabe^
zu zeigen, daß und namentiich wie wir bei der Auffassung
oder Lösung einiger allgemeiner Probleme tSber Voltaire hin-
ausgehen müssen.
Ich mache daher den Leser darauf aufmeiksant, er
möge in dieser Schrift nicht dn bloßes Summarium von
mehr oder weniger hiteressanten Personalien, sondern auch
eine Anzahl von Betrachtungen Ober höchst wichtige Pro-
bleme erwarten; und bitte ihn meine Auseinandersetzungen,
die keine gelegentlichen Einfälle, sondern Resultate jahre-
langen Nachdenkens und Beobachtens sind, mit dem solchen
Problemen gegenüber notwendigen Emst zu prüfen. Ich
hebe besonders die Exkursion über das ästhetische Ur-
teilen, sowie über die Kriegs- und Friedensfrage hervor.
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist verstrichen, seitdem
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jener frühere Aufsatz über Voltaire in dem Werke: ' Das Recht
zu leben« usw. erschien, und im Ablauf dieses langen Zeit-
raums hat sich die Behiedigung des Verfassers über seine
Darstellung immer mehr erhöht; denn er sah immer deut-
ticher, wie notwendig es gewesen war und noch immer ist,
die gangbaren Ansichten über Voltaire's Individualität zu er-
gänzen, zu korrigieren oder zu bekämpfen.
Bornierte Philister und Tugendbokle, fanatische Kirchen-
gläubige wie geistesschwache Religionsschwärmer, enragierte
Chauvinisten und Nationalisten, okkultistische Anbeter
menschlidier Torheiten, die sie des menschlichen Geistes
»Tiefen« nennen, einseitige produktive Künstler, wie eben-
solche nichtproduktive Kunstgemfiter, von ihrer eigenen Wich-
tigkeit Übet alle Gebühr eingenommene Gelehrte, aber auch
voUkommcne Ignoranten — sie alle, meist ohne Sinn für den
£msi des Lebens und ohne Gerechtigkeit im Urteilen, sind als
AnschwäRcr Voltaire's aufgetreten und treten noch heute so aul
Es wurde daher m jener früheren Darstellung versuch^
bei allen diesen Kategorien von JMenschen den Sinn von
den kindischen Ansichten und von den Vorurteilen der
Fibel, der Lehrkanzel und des Salons, wenigstens ein^[efl^
maßen, auf den furchtbaren Emst des Lebens und zur Ge-
rechtigkeit im Urteilen hinzulenken.
Mit Recht hat nuui von jener meiner Darstellung ge-
si^ sie sei sehr enthutotisch gehalten. Sie muBte es
auch sein; denn VoKah^'s Leistungen und E^enachaflen shid
«euer Obeneugung nach vollkommen geeignet, Entbu*
siasmus zu mtgen. Mit Unrecht sagte man aber: die Be-
handhing sei fibermäSig enthusiastisch; und zwar darum
mit Unrecht weil alles» was ich sagte, auf nOchtemster Er-
wigung der Tatsachen basiert wurde; Die Nflchtemhelt
ghig also vonm und der Enthusiasmus lolgle ihr und zwar
notwendigerweise aus den Dmgen selbst heraus.^ Und in
*) Nur hie und da gibt es cfncn formal etwas überhitzten Sitl^
der aber niemals eine sachliche Unrichtigkeit nach sich zieht
— 5 —
der Tat konnte bisher selbst seitens der heftigsten Gegner
nicht eine einzige Stelle oder Behauptung meiner Schrift als
unrichtig dargelegt werden; man war oder ist nur imstande,
mir Behauptung gegen Behauptung — mitunter sogar nur
tine abwehrende Orimasse — entgegenzustellen.
Voltaire's Schriften werden überhaupt nicht mehr ge-
lesen, auch die besseren Werke über Voltaire nur sehr
wenig; aber was das Urteil Ober ihn betrifft, so hat sich
eine Art von Tradition herausgebildet, die nicht weiter ge-
prüft wird, und die bei seinen prinzipiellen Qegnem nicht
selten eine ausgemachte Bösartigkeit der Oesinnung; bei den
mehr oder weniger lauen Oesinnungsgenossen aber einen
nicht geringen Orad von Pietfltlosigkeit, ja oft geradezu von
Frivolität, involviert
»Ein schlechter Charakter!« ~ Das ist die kurze Aus>
druckswdse, die selbst solche Personen gebraudien, die
weder Voltalre*s Werke noch seine Biographie kennen, son-
dern einfach das nachsprechen, was sie Mter gehört oder
gelesen haben, und die von Tatsachen aus Voltaire's Leben,
wenn sie Oberhaupt etwas davon wissen, gewöhnlich nur
die Episode mit dem Bankier Hirsch und seine Konfiikte
mit Friedrich dem OroBen kennen.
Ob aber bei Voltaire nicht auch gute und groBe Charak-
tereigenschaften zu finden sind; ob andere hochgdobte Be-
rOhmtheiten solche in eben dem MaBe besaßen, wie er, ja
ob sie dieselben Oberhaupt besaßen; ob gewisse tatsichfich
vorhandene tadelnswerte Zflge bei Voitaiie wiridich dazu
hüireichen, ihn als »schkditen Chaiakler« zu brandmarken,
ob sie femer nicht gegenfiber seinen Vorzügen verschwinden;
und ob endlich nicht bei für sehr tugendhaft gehaltenen
bedeutenden MSnnem sich bei genauerer Prüfung ebenfolls
und oft noch weit schlimmere Handlungen oder Charakter-
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— 6 -
eigenschaften zeigen als bei Voltaire — um das alles kümmert
man sich nicht.
Woher gerade bei dem Falle Voltaire's diese Hinneigung
zu einer ungerechten Gesamtbeurteilung stammt, welche psy-
chologischen Faktoren hierbei mitwirken, das wird man im
Laufe der folgenden Betrachtungen wohl deutlich genug er-
sehen. Man muli es nur mit Bedauern koristatieren, daß sich
hierbei eine eigentümliche Mischung von Kleinlichkeit, von
>uneigenntitziger Gemeinheit« und gänzlich unbegründetem
moralischen Hochmut und Pharisäismus in den Urteilen selbst
hochgebildeter Menschen zeigt; gerade so, wie wir diese
Eigenschaften in den lieblosen und ungerechten oder wenig-
stens rücksichtslos schroffen Beschwatzungen mensclilicher
Handlungen und Charaktere im philiströsen, privaten Leben
vorfinden.
Seit langem schon besorgt sich das große Publikum,
wenn es sich überhaupt für Voltaire interessiert, seine Kennt-
nisse über ihn entweder aus populären Werken Ober Fried-
rich den Großen oder aus dem Konversationslexikon. Das
vielleicht populärste Werk, das von f-riedrich erzählt, ist
wohl jenes, das Gustav Freytag unter dem Titel Neue
Bilder aus dem Leben des deutschen Volkes« publicierte.
Hier wird im Kapitel »Aus dem Staat Friedrichs des Oroßen«
an zwei Stellen auch von Voltaire gesprochen.
Die eine Stelle lautet: »So hat er den schlechten Mann,
den Voltaire, bald gestreichelt, bald gescholten und gekratzt«
Die andere: Seit 1750 ward ihm die Freude, den großen
Voltaire als Mitglied seines Hofhaltes bei sich zu sehen. Es
war kein Unglück, daß der schlechte Mann nur wenige
Jahre unter diesen Barbaren aushidt*)
*} Ich will schon hier darauf aufmerksam machen, dass ich gele-
gentlicn der Zitate gewisse Worte oder ganze Stellen mit gesperrter
Schrift gebe, die es im Originale nicht sind. Wenn das nicht von mir
offen gesagt würde, wäre es eine TnkorreHheit, da ich es jedoch sag^e,
muß es mir erlaubt sein, es dem Leser zu erleichtern, dasjenige ins
Aiigt m faiaeii, anf was kh betondcres Gewicht lege.
Digitizeü by Google
— 7 —
Auf diese Weise lernen die Deutschen einen Mann be-
urteilen, der, was man auch immer gewohnt sein mag, an
ihm auszusetzen, von den bedcutendbtcn Geistern als ein
Heros der Aufklärung und des allgemein kulturellen Fort-
schritts angesehen wurde und der ein freigebiger Wohltäter
seiner Freunde wie der ganzen Bevölkerung seines Wohnsitzes
Ferney war! Nichts weiter, als daß er ein schlechter Manne
war! Und da man doch nicht Voltaire's Leben und Werke
studiert, Freytag auch gar nichts Näheres darüber sagt, worin
diese Schlechtigkeit besteht, so kann sich der Leser alles
Mögliche hierunter denken. Ich aber nenne dieses Vor-
gehen Freytags ^schlecht«; ein noch so starker Chau-
vinismus, ein noch so lebhaftes deutsches Nationalgefühl
und die damit verbundene Antipathie gegen auüerdeutsches
Wesen, entschuldigt nicht so Ungeheuern Mangel an Ge-
rechtigkeitssinn. Man hat die fehlerhatte Oewohnhtiit, fast
nur Eigentumsdelikte und Verletzungen der physischen Inte-
grität, eigentlich aber nur die ersteren als schlecht« zu be-
zeichnen; die Folge davon ist, daß man fast alle andere
noch so gemeinen oder lieblosen oder kränkenden Handlungen!
wenn sie nur nicht mit der Absicht auf Nutzen begangen
wurden, ruhig hinnimmt Und ich zweifle auch nicht, daß
es Chauvinisten genug geben wird, die z. B. Stehlen und
WediaeUälschen für etwas Schlechteres oder wenigstens für
etwas moralisch Häßlicheres halten, als die Art der Behand-
lung Voltaires duidi Gustav Fr^tag.
Ich war nun auch neugierig zu sehen, wie in einem
sehr veibreiteten Lexilcon zu den Lesern gesprochen wird,
und fand z. B. in dem Brocldiaus'schen Lexilcon (14. Auflage
vom Jahre 1805) im Artilcel »Voltaire« folgendes Schluß*
urteil: » Mehr Talent als Charakter und von Ideinen
Motiven nicht selten beherrscht, dabei dtd und frivol bis
zum ObermaB. So mannigfaltige Wandlungen Leichtsinn
und Eitelkeit ihn durchleben ließen, hat er doch diesen
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— 8 —
Kampf (gegen die philosoiAischen und kirchlJchen Aulori-
tMen) mit Zflhiglceit und grossem ErfcHge durdigefOlirt . . . .«
»Eitel«, »frivol« und »teiclitsinnig« das sind also
jene Eigenschaften, sind allein jene Charrider-Eigenschaften,
die Voltaire zugeschrieben werden, positiv gute und edie
fand jener Artikelschreiber nicht; und mit solcher Belehrung
über den Charakter Voltaire's werden hunderttausende Leser
genährt.
Über den Cfiarakter eines Mannes, der — von unend-
lich vielem andern zu schweiften — Jahre mit der Ver-
teidigung des Calas und Sirven verbrachte; der mitten im
höchsten Wohlstande und im üenuß der Weltberühmtheit
während dieser Verteidigerarbeit an einen Freund schrieb;
-Cette aventure me tient ä coeur, eile m'attriste dans mes
plaisirs, eile les corronipt,< während doch selbst ein so
höchst guter und edler Mensch wie Diderot passiv blieb,
über Voltaires Bemühung^en sich nicht wenig verwunderte
und meinte: »Calas, qu est-ce qui peut l'interesser pour
eux? Quelle raison a-t-il de suspendre des travaux qu'il
aime pour s'occuper de leur defense?
Und was für eine Meinimor mag wohl der alte Benjamin
Franklin von Voltaire gehabt haben, als er ihm seinen kleinen
Enkel brachte, damit er ihn seg^ne? Franklin war ein Mann«
der auch etwas von Menschen und Dingen verstand —
vielleicht so viel, wie jener Artikelschreiber des Brockhaus-
schen Konversationslexikons — sah etwa auch er in Voltaire
nichts anderes als einen »eitlen«, »frivolen« und »leicht-
sinnigen« Mann? —
Nach allem, glaube ich daher: eine gerechte Erinnerung
an Voltaire sei nicht nur zeitgemäß und nutzlich, sondern
zugleich ein Akt der Gerechtigkeit und Pietät; denn meines
Wissens ist überhaupt kein Mensch, der in der Kultur-
geschichte eine Rolle spielt, mit so viel Ungerechtigkeit und
namentlich mit so schnödem Undank behandelt worden, wie
eben Voltaire; Und das auch selbst von selten jener, die
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in der Hauptsache mit seinen Tendenzen einverstanden sind
und die ^rüchte seiner Arbeit sehr gerne genießen, aber so,
wie sie die frische Luft einatmen, nämlich: ohne jemandem
Dank dafür zu wissen. —
Von den prinzipiellen Gegnern ist es natürlich nutzlos
zu sprechen. Ein ehrlicher oder heuchlerischer Anhäng-er
des Kirchenglaubens, sowie ein Gegner aller modernen
Humanitätsprinzipien wird selbstverständlich an den Leistun-
gen Voltaire' s alles schlecht finden, und ihn selbst am aller-
schlech testen.
Und wenn Befürworter der wissenschaftlichen Umkehr,
nämlich zur Religion hin, wie z. B. Bruneti^re, Voltaire auch
als Talent zu degradieren suchen, indem sie behaupten, er
sei kein Originalforscher gewesen, er habe nur offene Türen
eingestoßen« und könne daher nur auf die Bezeichnung eines
>Vulgarisators« Anspruch machen, so ist die richtige Ant-
wort darauf: Sei es so!
Es ist zwar schwer, einzusehen, warum Bruneti^re —
wie man aus seiner Art, davon zu sprechen, deutlich wahr-
nimmt — die Tätigkeit eines Vulgarisators für etwas so Un-
bedeutendes, beinahe Verächtliches, hinstelli Ein Vulgari-
sator ist ein Berufsgenosse des Pädagogen, und, sowie es
grandiose Pädagogen gab, so gab es mitunter auch gran-
diose Vulgarisatoren, und zu diesen gehörte eben, ganz un-
bestritten, Voltaire.
»Eine vollständige Philosophie eine zehnbändige Theo-
logie^ eine abstrakte Wissenschaft, eine Fachbibliothek, ein
großer Zweig der menschlichen Gelehrsamkeit, Erfahrung
oder Erfindung veriddnert sich bei ihm zu einem Satz oder
Vers«; — sagt Taine in seinem Werke: »Die Entstehung
des modernen Frankreich« von Voltaire — »aus der runze-
ligen, schlackigen Masse zieht er die Quintessenz, ein Oold-
oder Kupfefkügelchen, als Muster des Ganzen heraus und
reicht es uns in der bequemsten, handlichsten Form dar:
als Veigleich, Metapher, Epigramm oder Sprichwort In
— 10 —
dieser Hinsicht kann sich weder ein antiker noch ein
modemer Autor mit ihm messen; niemand hat das Verein-
faciien und Popularisieren je so gut verstanden wie er . . .
gleichsam spielend, bringt er die größten Entdeckungen und
Hypothesen des menschlichen Geistes, die Religionen des
Altertums und der Neuzeit, alle bekannten wissenschaftlichen
Systeme und alle Gesamtbegriffe des 18. Jahrhunderts in
kleine * tragbare Sätze. . . . Niemand läßt Bücher ungelesen,
in denen man das c^anze iiieoscliliche Wissen in pikanten
Worten beisammen findet .... usw.
Ich möchte nun wissen, wieso man, selbst als prin-
zipieller Gegner eines solchen Mannes, glauben kann, ihn
durch die Bezeichnung^ Vulgarisator« degradieren zu können.
Nichts weiter als einer von solcher Art wie Voltaire zu sein,
wäre ja scfion ein Verdienst höchsten Ranges! Wie hoch
stellen wir nicht einen h.rasmus, einen Melancfithon, einen
Comenius, nur darum, weil sie Lehrer im grotien Stile waren;
und wenn wir Melanchthon als praeceptor Oermaniae nur
mit Ehrfurcht nennen, warum sollten wir den Lehrer ganz
Europas, Voltaire, nicht ebenso, und noch viel mehr, va^
ehren? Aber — tun wir Bruneti^re den Gefallen» und be-
trachten wir den Beruf eines »Vuigarisators« als einen, g^en
den des selbständigen Schaffens untetgeoidneten; und ich
wiederhole:
Sei es sol
Kann man denn nichts Wohltätiges, nichts Großes für
die Menschheit leisten, wenn man kein wissenschaftlicher
Originalforscher oder tiefgrilndiger Gelehrter ist? War Jesus
von Nazareth dn Originatforscher? oder Franz von Assisi?
oder Luther? oder Rousseau?
Es handdt sich ja bei der objektiven Charakteristik einer
Persdniichkdt nicht darum, sie aus dner Art von Lieb-
haberei als ausgestattet mit allen möglichen Vorzfigen, auch
mit solchen, die sie unbedingt nicht besaß, hinzustdien;
sondern nur um die gerechte Wflrdigung ilirer faktischen
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— 11 —
Eigenschaften und Leistungen.*) Lassen wir aber jetzt die
prinzipiellen Oegner Voltaire' s und ihre mannigfaltigen bos-
haften Angriffe zur Seite, und wenden wir uns zu den
andern: zu allen jenen, die seinen Haupttendenzen zu-
stimmen, und dennoch seine Leistungen und insbesondere
seinen Charakter für minderwertig halten. —
tln Froschpfuhl all das Volk verbannt,
Das seinen Meister je verkannt« —
Diese schönen Worte sprach Ooethei um die Deutschen
für das Andenken an Hans Sachs zu erwärmen.
Hier handelte es sich also um einen Dichter und neben-
bei wackeren Bürger; gemeint ist jedoch im Grunde nur:
Ehrung der Dichter Oberhaupt, und mit dieser Absicht
Goethes wird wohl jeder einverstanden sein.
* Daß Voltaire im Orundc keine wissenschaftliche Größe
im höchsten Sinne war, — wenn man etwa seine loilturgeschichtlichen
Arbeiten ausnimmt — war seit jeher auch meine iVleinung, und ich
sprach sie in schärfster Weise im »Recht zu leben und die Pflicht zu
sterben* schon im Jabre 1878 mit den Worten ans: \n nichts war
er der Einzige oder der unbestritten Erste.« Aber in einer Besprechung
Jenes Buches, die Konrad Schmidt in der Zeitschrift »Die neue Zeit« *
pubh'zierie, erhebt er den Vorwurf, für mich sei »Voltaire überall der
Einzige und Erste,« während ich, wie man sieht, genau das Gegen-
teil sagte! Auch findet dendbe — übrigens als emster und wissen-
•chaftlicher Mann sehr achtenswerte - Referent einen Mangel resp. eine
Überschätzung Voltaires darin, daß in meiner Darstetiung von der
Abhängigkeit Voltaires von der englischen Aufklärungsphnosophie
»nicht die Rede« sei. Dieser Vorwurf wäre gerechtfertigt, wenn ich
eine Biographie Voltaire's geschrieben, oder wenn ich ihn als einen
originellen religionsphilosophisdien Denker Mngettdlt bitte, der alle
seine Arg-ttmente nur sich selbst 7u danken hatte. Beides ist aber
nicht der Fall. Ich hatte im »Hecht zu leben . . . .« viel wichtigere
Dinge zu bespredien, a1« IttenrKetdildifßdie Sondierungen vorzu-
nehmen; ich wollte die besonderen ihm eigcnfünilichon Vorzüge und
Leistungen Voltaire's hervorheben, die ich bisher noch nicht hervor-
gehoben fand. Daß Voltaire sehr von den englischen Deisten beein-
fluRt wurde, kann schon derjenige leicht erfahren, der sich seine ein-
zige Belehrung über ihn eben im Konversationslexikon holt; dort wird
CS ganz ausdrücklich angeführt.
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— 12 —
Nur muß man mit dnigiem Erstaunen fragen, wie es
kommt, daß diese Sorgfalt, die Meister nicht verkennen zu
lassen, so vorwiegend sich nur auf Diditer, oder allgemeiner,
auf Künstler erstreckt Es gibt ja auch noch andere und
ungleich wichtigere Leistungen als z. B. Dictiten?
Trotz aller Achtung und Sympathie für den Nürnberger
Schuster und Dichter — was ist ein Hans Sachs gegen
einen Voltaire?
Und docli sprach Goethe in allen seinen Schriften fast
gar nicht von Voltaire als dem grandiosen Kuiturmensclien,
sorgte sich sehr wenig darum, seine Verdienste um den
geistigen Fortschritt, um Gesittung und Institutionen Europas
nicht verkennen zu lassen, sondern betrachtete ihn fast nur
als Dichter und als — antireiigieis-vorurteilsvollen Geologen.
In den Anmerkungen zu Raincaus Neffe von Diderot
zählte Goethe alle jene Eigenschaften auf, die ein Schrift-
steller besitzen müsse, um für vollkommen gelten tu können.
Er findet deren in heiterer Obersicht« im ganzen wohl-
gezählte 46, alle diese Eigenschaften spricht er Voltaire zu,
nur die in der Reihe erste und letzte nicht, nämlich: »Tiefe
in der Anlage und Vollendung- in der Ausführung.^
Ich habe nun oft bemerkt, mit welchem Vergnügen,
• fast könnte man sagen, mit welcher Wollust sich manche
Literaten auf diesen Ausspruch Goethes stürzten. Da hatten
sie nun die ersehnte Degradation eines ihnen antipathischen
Schriftstellers — antipathisch aus religiösen oder nationalen
oder anderen Gründen — und obendrein von Seite einer
für sie autoritativen Persönlichkeit!
»Und was geschah,« wird man fragen, »mit den noch
übrigen 46 minus 2, also 44 Eigenschaften, die Ooethe
Voltaire in der Tat zusprach?« Die verschwanden eben
jenen Herren vor ihren Augen in nidits, sie hielten sich nur
an die zwei fehlenden.
Nun wird so nuncher es nicht zugeben» daß Voitaire's
Schriften nicht als voltendet hi der Ausführung gelten
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sollen; er mag sogar — es gibt ja keinen objektiven Prüf-
stein fär derlei Ansichten — glauben, wie z. 6. ich es
glaube, daß, im Gegenteil, jene Schriften in ihrer Art ebenso
vollendet durchgeführt sden, wie die Ooethe'schen in ihrer
Art; noch mehr: Man kann meinen, daB selir viele Schriften
resp. Dichtungen Goethes viel salopper und unvollendeter
durchgeführt seien, als selbst die weniger vollkommenen
Voltaire's. Aber allgemein zugestanden dflifte doch werden,
dafi bd Voltaire die Tiefe fehlt
Sei es 8o! sagen wir wieder, wie oben bei Bninetiäes
»Vulgsrisator«. Kann man denn nichts Wohltätiges, nichts
OioBes ffir die Menschheit leisten, und kann man nicht so-
gar — was allerdings weniger wichtig ist — em großer
Dichter sein, wenn man auch keine Tiefe hat?
Es ist seltsam und im Grunde genommen leomisch, in
weichem Maße die Oetuldeten und besonders Literaten und
Ästhetiker jemanden mißachten, von welchem es heißt, er
sei ohne Tiefe. Diese Mißachtung trifft schon den harm-
losesten Prhntmenschen, um so mehr den Schriftstellen
Und doch ist cfie Eigenschaft der Tiefe eine der selten-
sten unter allen, die einen Menschen auszeichnen können;
ebenso selten, ja seltener noch als die Eigoischaft der
OeniaHtü Man mflßte also die aliermeisten Menschen ve^
schien und jene Tadler audi steh selbst
Und doch gibt es' FUrigkeiten, die man im Interesse
der Wohlfahrt und des Fortschritts oder der Vermehrung
der Luxusfreuden der Menschheit ebenso hoch und sogar
noch höher schätzen muß als Tiefe. Sehr viele Männer der
Kulturgeschichte, die wir nur mit dem Gefühl der höchsten
Verehrung und Dankbarkeit nennen müssen, waren in der
Tat ohne Tiefe; ich nenne nur den einen; Konfucius.
Diesem Manne, ohne jede religiöse oder mystische Anlage,
kann sich in Beziehung auf ungetrübten s^nsreichen Ein-
fluss und auf den Lfmfang dieses Einflusses gar niemand
vergleichen j während sein tief angelegter Gegner Lao-tze^
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— 14 —
der ein Mystiker ersten Ranges war, ohne großen Einfluß
blieb. Denn der Taoismus, der ihn als seinen Orflnder ver-
ehrt, hat mit Lao-tzes Spekulationen in seinem Tao-te-kinw
fast gar nichts, nicht einmal die Ethik, gemein, und die
Hauptbedeutung dieses genialen Mannes liegt nur in seinem
theoretischen £infiuß auf einige mystische Philosophen und
Dichter.
Und was die Schriftsteller und Dichter betrifft, worin
äußert sicli bei ihnen die Tiefe?-' Es wird wohl schwer zu
präzisieren sein, wen wir für tief halten, wenigstens begrifflich;
eher ist es möglich, Ikispiele von Autoren anzuführen»
denen wir dieses Epitheton zu- oder absprechen wollen.
Bei den Poeten speziell kann sich die Tiefe entweder
durch das Aufwühlen versteckter Gefühle oder durch ihre
eindringende Psychologie oder durch überraschende Ver-
knüpfung von Begebenheiten dokumentieren; aber auch
durch ihre Weltanschauung im großen und ganzen, sei sie
religiöser oder philosophischer Natur. Speziell die Tiefe der
Weltanschauung ist aber auch jene Ar^ in der die nicht-
poetischen Schriftsteller sich auszeichnen können, und Voltaire
selbst, der sowohl Dichter als auch eigentlicher Schriftsteller
war, w9re somit nach allen den eben angeführten Be>
Ziehungen zu beurteilen.
Wie ich schon sagte: Wir können wohl behaupten, er
besitze in keiner dieser Beziehungen das, was wir uns unter
»Tiefe« vorstellen; das gibt uns aber nicht entfernt das
Recht, ihn nicht Iflr sehr bedeutend zu eridflren. Wie viele
unter jenen, die den Größen der Weltliteratur oder wenig-
stens der nationalen Literatur zugezahlt werden» sind denn
wirklich tief? Kann man selbst Homer tief nennen? Oder
Euripides? Oder Aristophanes? Ist Anakreon, Viigil, Ovid
oder Horaz oder Ptopea tief? Oder Petrarca? Oder
Milton? Radne? Moli^? Oder Lessing? Oder Widand?
Und wenn von philosophischer, resp. Tiefe der Welt-
anschauung die Rede sein soll, dann sind ohne Zweifel
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— 15 —
z. B. gegen Meister Eckhart gehalten, überhaupt die meisten
Schriftsteller und Dichter Europas nicht »tief« zu nennen
und was Ooethe an philosophischer Tiefe aufweist, hat er
zum großen Teile den Mystikern, sowie auch Oiordano
Bruno und Spinoza zu danken.
Dürfen wir aber nur diese eine oder überhaupt nur iigend
eine einzige Eigenschaft zum Maßstab der Bedeutung aUer
Schriftsteller oder der großen Männer der Wetthistorie
wählen? Wir mQssen jede Art von Leistung und Tätigkeit
für sich betrachten, und dfirfen daher ebenso wenig den
Meister Eckhart als unbedeutend hinstellen, weil er z. B.
kdn Kulturhistoriker wie Voltaire oder kein Mathematiker
wie Newton war, als wir Schillers Bedeutung als Dtehter
und Ethiker herabsetzen werden, weil er nicht die Tiefe
Meister Eckharts oder Dschehileddin-Rumis besaß. —
Nun aber die Hauptsache: Wenn von Voltaire gesprochen
whd, so hört und liest man fast keine andere Charak-
teristik seines Intellekts, als eben die auch von Ooethe her-
vofgehobenc^ er sd nicht tief, er sei ein flacher, wenn auch
der geistreichste Aufklärer und Schriftsteller. Nun bedenke
man das geradezu ungeheuerlich Frivole: Voltaire handelte
es sich sein langes Ld)en hindurch darum, die Menschheit
von der schrecklichen Macht der Priesterschaft und von der
Knutldieit des rdigiösen Aberglaubens wie von den Obel-
ständen im Rechtslet>en zu befreien, sowie auch darum, das
Interesse für die neu emporgekommene Naturwissenschaft
fn die weitesten Kreise zu tragen — und da hat man nichts
anderes von einem solchen Manne zu sagen, als daß er ein
Schriftsteller und ein Aufklärer ^ohne Tiefe< war! —
So wie Ooethe, suchte auch Schiller keine Gelegenheit,
der Pflicht der Dankbarkeit gegenüber Voltaire gerecht zu
werden. Wir wissen wohl, dass er in einem Epos über
Friedrich den Großen Voltaire als »freien Denker^^ behandeln
wollte; allein jenes Epos kam nicht zustande. Wohl aber
sprach er über Voltaire in seinem Aufsatz: »Über naive und
. k) i^ . j i. y Google
— 16 —
Sentimentalische Dichtung", um ihn speziell als Dichter zu
charakterisieren und im Wesentlichen als einen Satyriker
zu beurteilen.
»Seine wunderbare Mannigfaltigkeit in äußeren Forment,
heißt es dort, »weit entfernt, für die innere Fülle seines
Ödstes zu beweisen, iegt vielmehr ein bedenkliches Zeugnis
dagegen ab; denn ungeachtet aller jener Formen hat er auch
nicht dne gefunden, worin er dn Herz hAtte abdrücken
können.«
Auch hier kann man sogen: Sd es so!
Er hätte also kein Herz abgedrückt!
Die Tatsachen spfechen zwar dagegen. Voltaire's Tra-
gödien, seine M^rope^ seine Zaire u. a. haben lange Zdt
hindurch den intdligentesten und gefühlvollsten Menschen
jener Zeit wirklich »das Hen abgedrückt«; vom jungen
J. J. Rousseau wissen wir sogar, daß er bd dner Auffüh-
rung von Voltaire's Atzire im Theater zu Oienoble so ge-
waltig erregt wurd^ daß ihm vor heftigem Henddopfdi der
Atem veiging.
Man nimmt heute sozusagen im Vorfaindn an, daß die
Voltaire'schen Tmgödien kdnen poetischen Wert t>esitzen;
und der Orund dieses Vorurteils liegt darin, daß man bd
der jetzt herrschenden Oldchgiltigkdt gegen diese Dramen
sich gar nicht vorstdien kann, daß sie überhaupt zu iigend
dner Zdt gewirkt haben konnten. JMan muß daher die da-
maligen Theateibericht^ namentlich die Äusserungen der be-
deutendsten Persönlichkdten der vornehmen d. h. gebildden
RuiserOesdischaft, lesen, um sich dn richtiges Urtdl zu bilden.
Wohin soll denn dne aprioristische Ästhetik führen?
Muü nicht dn allgemdnes Hin- und HerrSsonnieren in
Ewigkdt fortdauenii wenn man sdnen persönlkhen Oe-
sdimack oder Schulregeln ~ anstatt der tatsachlichen
ästhetisdien Wirkungen — seiner Beurtdiung der Kunst-
werke zugrunde legt? Haben wir in der Naturwissenschaft
schon längst gelernt, Experimente zu kodifizieren, nicht aber
. kiui^ .-. l y Google
— 17 —
logische Spitzßndigkeiten oder (religiöse oder mefaphyslsche)
Scbulvorschrifteti, so mfissen wir doch auch einmal an-
fangen, resolut doi ästhetischen Experimenten, d. l den
tetsichlichen Erprobungen von Kunstwericen bezüglich ihrer
Whicung, gerecht zu werden und nur auf sie allein ^
allerdings bei möglichst allseitiger Beschreibung der be-
gleitenden UmstiUlde solcher Experimente — unsere Aus-
sprüche zu basieren.
Aber eben bei Hervorhebung der begleitenden Um-
stände oder bei der Analyse der faktischen Wirkungen eines
Kunstwerks überhaupt zeigt sich fast immer ganz deutitchi
daß es sich bei ihr viel mehr um Personal- als sach-
liche Fragen handelt. Kaum wird es je eine ästhetische
Wirkung gegeben haben, bei der es nicht leicht gewesen
wäre, durch allerlei mehr oder weniger ehrliche Betrach-
tungen dem schaffenden Künstler das Verdienst an dem
Erfolge zu verkleinern; es mag nun diese Degradation wahr
oder unwahr sein, immer kommt der Streit auf Personalien
hinaus. Bald heißt es, das Publikum war zu wenig be-
lesen, um die Quellen zu kennen, aus denen jener Künstler
geschöpft hat; oder: es war durch irgend weiche Zeit-
umstände sehr empfänglich für dieses spezielle Werk ge-
macht worden usw. usw., so daß man sagen kann, die
Kritik und die Kunst- und Literaturgeschichte bieten eigent-
lich den Schriftstellern eine Gelegenheit, M^disance (mit
mehr oder weniger Intelligenz) zu üben; und so ist es auch
mit den Urteilen im Privatverkehr meistens beschaffen. Es
herrscht ein eigentämlicher Drang, gewissermaßen Schul-
'zeugnisse auszuteilen, anstatt sich nur um den Eindrudc
eines Kunstwerks zu Icflmmem, jedem ohne Kontroverse
das Recht auf seinen Oeschmadc zu gönnen und die
Person des Kflnstiers außer Spiel zu lassen. —
Wie sonderbar nimmt sich der wegwerfende Ton au8>
in dem Ober Voltaires Trauerspiele gesprochen wird, wenn
Popper» VoltAu«. 2
. k) i^ . j i. y Google
— 18 —
man auch nur wenige der damaligen TheatervorgSnge,
nameniUch aus seinen jüngeren Jahren, Icennen lernt!
Nehmen wir z. B. den Erfolg des TancrMe^ der im
Jahre 1759 au^^efOhrt wurde, »ich habe inmitten unserer
Leiden«, schreibt Frau d*£pinay an ein Fräulein Vatori,
»das Odidmnis gehinden, TancrMe zu sehen und dabei In
Trbien zu zerfließen . . . das ist eine rflhrende Neuheit, die
Sie zu Schmerzen und Beifall hinreißt ... Da icommt ein
gewisses eh bien, mon pte vor! ... Ah! Meine Johanna,
sagen Sie mir niemals di blen in diesem^ Ton (der Clairon),
wenn Sie nicht wollen, daB ich sterbe. Übrigens, wenn Sie
einen Liebhaber besitzen, binnen Sie dch schon morgen
von ihm, wenn er kein tapferer Ritter ist; denn es gibt
keine anderen Menschen als solche, um den Frauen Ehre
zu machen: Wenn Sie tugendhaft sind, so sagen sie es
dem Universum; sind Sie es nicht, werden sie lieber tausend
Männer erwürgen, als das zugestehen, und sie werden nicht
essen und trinken, bis sie bewiesen haben, dalj Sie tugend-
haft sind . . . kurz, das alles ist so voll von Schönheiten,
daß man nicht weiß, auf welche man achten soll «
TancrMe verdrehte alle Köpfe,*) man wurde gerührt, man
weinte, man schluchzte. Der größte Feind Voltaire's, Freron,
sagte, nachdem er einige Ausstellungen gemacht hatte:
»Man findet in dem Stücke Empfindung, Einfachheit, und
diese schöne Natürlichkeit der Alten, wie sie z. B. besonders
in der Odyssee vorhanden ist, durchaus keine Schöngeisterei,
keine Sentenz usw.< Auch Diderot bewunderte Tancr^de
trotz der Mängel, die er dem Drama vorwarf.
Bei der Aufführung der M6rope war, wie Condorcet
berichtet, das Parterre so enthusiasmiert, da0 es verlangte,
Voltaire, der sich in einem Winket des Hauses verboi^gen hielt,
möge sich dem Publikum zeigen, was bisher noch nie vor-
Diese ganze Stelle entnehme ich dem Voltaire-Biographen
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— 19 —
gekommen war, und sich seither in unseren Theatern ein-
gebürgert hat Und als sich nun der Autor in der Loge
der Marschaiiin von Villars zeigte, rief man der jungen
Herzogin zu, sie solle den Verfasser der M^rope angesichts
aller umarmen, und sie mußte diesem Ausbruch des Willens
eines vor Freude berauschten Publikums Police leisten!
Was will man nun solchen Tatsachen entgegenstellen?
Und andererseits: Darf man sie ignorieren?
Es ist daher ganz unbegreiflich, wie Schiller am ange-
führten Orte noch weiter sagen kann: »Wir begegnen immer
nur seinem Verstände, nicht seinem Gefühl . . . .«
»Beinahe muß man also fürchten, es war in diesem
reichen Genius nur die Armut des Herzens, die seinen Be-
ruf zur Satyre bestimmte. Wäre es anders, so hätte er doch
irgend auf seinem weiten Weg aus diesem en^^en Geleise
treten müssen. Aber bei allem noch so groben Wechsel
des Stoffes und der äußeren Form sehen wir diese innere
Form in ewigem dürftigen Einerlei wiederkehren . . .■■
Hätte aber Schiller nur ein einziges Mal in der Comedie
Franqaise, z. B. bei der Aufführung der Zaire oder der
M6rope oder des Tancr^e zu Voltaire's Zeit anwesend sein
können» ja vielleicht noch zu Schillers eigener Zeit, so hätte
er an der entzückten Zuhörerschaft ganz andere Wahr-
nehmungen gemacht» als seine Voraussetzung von der
»Armut des Herzens« und dem »Verstände anstatt des Oe*
föhls erklärlich machen könnte.
Die Tatsache selbst, daß die gebildetste Pariser Oe-
sellschaft bei manchen Trauerspielen Voltaire's Tränen ver-
goß, mußte doch Schiller bdcannt sein? Wenn ja, so Ist
sein absprechendes Urteil kern geringes Zeugnis dalfir, zu
welchem unbegründeten Hochmut die theoretische Ästhetik
selbst eine so edle Natur wie jene Schillers bringen kann. Wenn
aber nichts wenn Schiller sich Ober die Wirkungen eines
berflhmten, und von ihm getadelten Schriftstellers nicht zu
informieren gesucht hat, so tritt an die Stelle von Hochmut
2*
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— 20 —
eine nichi geringe Voieingenommenheit Und endlich: Wie
konnte Schiller in dem noch so großen Wechsel des Stoffes
und der äußeren Form nur imma* diese »innere Forme,
d. i. die Satyre, entdecken? In so vielen Gedichten, in
den Dramen, in der Henriadel Alles das findet Schiller —
satyrisch 1
Die Tragödien Voltnre's aber waren auch durchaus
kehle bloßen Erscheinungen des Tages; von ungefähr 1730
bis 1820, also nahezu ein Jahrhundert kmg, wurden sie ^
wie der VoltaireOegner Faguet in seinen »Etudes littMres«
schreibt — »selbst von sehten Feinden als sein Schönstes
angesehen«, und seither hat sich nur eben der Geschmack
des Publikums geändert Im Jahre 1004 wurde eine Stati-
stik der Klassikeraufffihningen in der Com6die Fnin^ise
publiziert. Hiemach wurde seit dem Jahre 1680 Racine
6337 mal, Corneille 4757 und Voltaire 3956 mal aufgeführt.
Da nun Voltaire viel später als Corneille und Racine schrieb,
so ist seine Ziffer eine relativ sehr bedeutende zu nennen *)
— Es ist sogar die Frage, ob einige dieser Dramen, z. B.
Zaire, nicht noch tieute, und selbst auf Nicht-Franzosen,
auch auf die Deutschen, einen starken poetischen Eindruck
machen würden, wenn diese die Objektivität in nationaler
und ästhetischer Beziehung hätten, sie zu lesen oder zu
hören, ohne an den »Franzmann , an die »Germanen' und
viele andere politische und soziale Dinge und namentlich
an Lessings dramaturgische Strafgesetzgebung zu denken.
Wie die Sachen stehen, wird aber ganz gewiß fast jeder
deutsche Gymnasiast, der die Dramaturgie gelesen hat, die
Nase rümpfen, wenn man ihm zumuten wollte^ ein Stück
von »Herrn von Voltaire« zu lesen.
*) Ich mochte mir hier die persönliche Bemerkung erlauben, daß
ich den Voltaire'schen Trauerspielen, Zaire ausgenommen, gar keinen
Oeschmack abgewinnen kann; dasselbe gilt für mich von der Henriade.
Andererseits ist mir die Lektüre von Dramen überhaupt an sich eine
unangenehme Sadie, ich könnte daher nicht mit Orund behaupten,
daß mir genwie nur Voltaires Tbeatenticke kein Vergnflgen madwii.
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— 21 —
Man kann jedoch nicht wissen: Vielleicht weichen ein-
mal die Vorurteile, oder sagen wir, die suggerierten Anti-
pathien gegen die klassisclic französische Tra{,a)die, und bei
einer so gewonnenen, keuschen ästhetischen Emptänglichkeit
kann es vielleicht geschehen, daii Voltaire wiederum und
auch außerhalb Frankreichs das -Herz abdrückt«.
^Ziiwciiens meint jedoch auch Schiller, rührt Voltaire
uns allerdings poetisch, wie z. B. im Ingenu, im Candide,
aber seinem Spott h'egt überall zu wenig Ernst zugrunde,
und dieses macht seinen Dichterberuf mit Recht verdächtig!«
Über Voltaire' s Spott ist im »Recht zu leben . .« schon
einiges gesagt worden und soll auch in diesem Aufsatze
noch gesprochen werden; was aber den beinahe landiäufig^en
Vorwurf: zu wenig Ernst* betrifft, so liegt ihm ein
vollständiges Mißkennen des Voltaire'schen Naturells zu-
grunde.
Schiller und tausend andere mit ihm lassen sich hiar
* durch einen äußeren Schein täuschen; man verwechselt hier
die Miene, mit der etwas gesagt oder abgeschlossen wird,
mit der inneren Oesinnung. Sprechen wir also ein Wort
von dem zu »wenig ernsten« Voltaire.
*
Wer Voltaires Leben und Schriften (nebst Briefen) kennt»
und sich nicht durch Oewohnheitsurtdle Idten läßt, muß
zur Ül>erzeugung gelangen, daß nie ein Dichter oder
Schriftsteller größeren Ernst besaß, als er; auch der
Oberaus edle und grosse Schiller nicht Nur der höchste
Emst konnte ja einen so lusserllch glücklich situierten, be-
rühmten, reichen Mann wie Voltaire dazu bringen, fiberhaupt
über so vieles zu spotten; sieht man denn nichV wie nahe
ihm alles Unheil in der menschlichen Oesellschaft ging?
Wie unaufhöriich er bestrebt war, es zu verbaten und zu-
gleich jede Lebensauffassung zu bekämpfen, dHe darauf
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— 22 —
ausgeht, unser Dasein uns zum Ekel zu machen«? Seine
Prosa-Sdiiifteil, seine Gedichte, seine Briefe werden immer
mehr — namentlich seit dem Lissaboner Erdbeben —
Jahtz^te hindurch, in jeder Form, die diesem großen
Ptosimisten zu Gebote stand, erfOllt vom Wehidagen Ober
die MiBstinde des Lebens; und wenn er mitunter am
Ende SpäBe macht, scheinbar frivol wird, so sollte doch
jeder Menschenkenner es verstehen, wie das aufzufassen ist
Ich erinnere hier an eine Stelle im Tagebuche Beethovens:
»Von nun an wirst du die Menschen verachten!« Glaubt
man wfridich, dafi Beethoven »von nun an« die Menschen
verachtete? DaB er die Menschheit weniger liebte als frfiher?
Gerade das Gegenteil beweisen solche Äußerungen von dem,
was eine oberfllchliche Beurteilung in ihnen findet
So wird auch Heine mißverstanden und man sieht nicht,
— viele wollen es allerdings nicht sehen — daß sein oft
frivol erscheinender Witz am Schlüsse der ernstesten Ge-
dichte nichts anderes ist, als eine Art Deckung im Rück-
zugsgefecht gegen zu stark eindrinj^^ende Gefühle.
Und vielleicht am deutlichsten wird das, was ich hier
sagen will, durch die Worte, die ein besonders als Mensch
bedeutender Maier sprach. Der russische Maler Werescht-
schagin hatte einen Cyklus von Bildern Napoleons auf seinem
russischen Feldzug ausgestellt. >Er lud mich damals ein«,
berichtet Frau Bertha v. Suttner,*) seine Galerie anzusehen
und führte mich von Bild zu Bild, dabei in fesselndster Weise^
halb pathetisch, halb humorvoll Stoff und Tendenz seiner
Kunstwerke erklärend. Wenn er über gar grauenhafte Szenen
einen zwar bittem, aber dennoch einen Scherz machte^ »Wie
können Sie da lachen?« sagte ich vorwurfsvoll »Das
ist bei manchen Dingen das einzige Mittel, um nicht
zu weinen,« antwortete er.
Und in diesem Sinne kenne ich nichts Erschütternderes,
*) In der >N. Fr. Presse« v. 16i Fcbnuur 1904»
. kjui^.o l y Google
— 23 —
als die Ode Voltaire's Zum Jahrestage der Bartholomäus-
nacht^, aus dem Jahre 1772, ein Poem, das nach meiner
Meinung dem bedeutendsten mindestens gleichsteht, was
wir von Horaz, ja von Pindar besitzen. Hat Schiller diese
Ode gelesen? Haben überhaupt alle jene, die Voltaire einen
Ilachen Schriftsteller und Nicht-Dichter nennen, diese Ode
gelesen? Ich zweifle.
Hier ist sie, sie ist wert, im vollen Wortlaut und in der
Ursprache angeführt zu werden:
»Tu reviens apr^s deux cents ans,
Jour affreux, }our fatal au monde.
Que Tabyrne eternel du temps,
Te couvre de sa iiuit profonde!
Tombe ä jamais enseveli
Dans le gnuid fleuve de Toubli,
S^jour de notre antique histoirel
Mörtels, ä souffrir condamn^s,
Ce n'est que des jours fortunes
Qu MI faut conserver la memoire.
C'est apres le triomvirat
Que Rome devint florissante,
Un poltron, tyran de l'Etat,
L'embellit sa main sanglante.
Cest aprH les proscriptions
Que les enfants des Scipions
Se croyaient heureux sous Octave
Tranquille et sournis a la loi,
On Vit danser le peuple roi,
En portant des chalnes d'esclave.
Virgile^ Horace, Poiüon,
Couronn^s de myrte et de lierre»
Sur la cendre de Cic^ron
Chantaient les baisers de Olycere.
Iis chantaient dans les m^mes lieux
Od tomb^rent cent demklieux
Sous des assassins mercenaires
Et les familles des proscrits
Rassemhlaient les jeux et les ris
Entre les tombeaux de ieurs p^res.
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— 24 —
Beilone a d^vas(^ nos dtamps
Par tou8 les fKaux de la guerre.
Cer^s par ses dons renaissants
A bientöt console !a terre.
L'enfer enp^loutit daiis ses flancs
Les depiurables habitants
De Usbonne aux flammes livr^e,
Abandonna-tK>n son s^jour? . . .
On y revint, on fit Tamour;
Et ia perte hit r6par6e.
Tout mortel a verse des pleurs,
Chaque si^e a connu les crimes;
Ce monde est un amas d'horreurs,
De coupables et de victimes.
De maux passes le souvenir,
Et les terreurs de l'avenir
Seraient un poids insupporlable^
Dieu prit piti^ du genre humain:
II le öfyL frivole et valn,
Pöur le rendre molns mistable.«
Man beachte doch die Bitterkeit, die sich in den beiden
Schlußzeileii ausspricht; oder wird es am Ende vielleicht
verblendete oder böswilligfe Menschen geben, die sie falsch
deuten und glauben machen wollen, VaUaire sei selbst
frivol gewesen und habe auch geradezu zur Frivolität auf-
gefordert?
Wenn Männer wie Voltaire oder Heine dem ^^rtHUen
Ernst einen Scherz, einen Witz, eine satyrische Bemerkung
folgen lassen, so geschieht das in dem Betreben, sich da-
durch den Dingen überlegen zu zeigen. Aber so wenig
derjenige, der im Finstern singt oder pfeift, damit irgendwie
beweist, daß er sich nicht fürchtet, so wenig beweist bei
Voltaire die Unterbrechung seines sonstigen Ernstes durch
Scherze den Mangel an wirklich ernstem Oefühl.
Man will Voltaire Ernst absprechen, weil er bestrebt
ist, dem Leben so viel Outes abzugewinnen, als es eben
möglich is^ weil er sich und anderen stets vorhält, nicht
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— 25 —
zu resignieren und sich In trüber Stimmung der Verzweiflung
hinzugeben, sondern heiteren Oemfits zu bleiben, zu Uchen
anstatt zu wetnen, und so über das Leben mit allen seinen
Leiden so gut es geht hinwegzuicommen. Und, was die
Hauptsache ist, er arbeitet nahezu sechzig Jahre hindurch
mit Aufgebot aller seiner Kräfte und unter großen persön-
lichen Gefahren daran, durch Kritik und durch positive
Vorschläge, ja sogar auch durch praktische Bemühungen,
wie T. B. in der Kolonie von Ferney, die Zustände zu ver-
bessern.
Was fefilt einem solchen Manne noch zum Enisti?
Haben etwa jene mehr Ernst, die ihm einen solchen
Mangel gern vorwerfen? Sie vergessen, sie alle vergessen
den himmelweiten Unterschied zwischen dem, was sie
für die Reformen der menschlichen Gesellschaft geleistet
haben und was Voltaire geleistet hat. Man sehe sich doch
einmal alle die Herren nn, die ihm vorwerfen, ^nichts ernst
genommen zu haben ; z. B. jenen Geschichtsprofessor
Schlosser oder die hunderte andere Historiker, Ästhetiker,
Philosophen, Moralisten — von Theologen gar nicht zu
sprechen. Wie viel haben sie der Welt genfitzt im Ver-
gleich zu Voltaire?
Man lese nur das oben mitgeteilte Gedicht und denke
dann daran, daß man den Verfasser dieser weltschmerzlichen
Enunziatron > frivol« nennen konnte!
Nicht einen Augenblick hörte es in diesem Vulkan von
Menschenliebe auf, zu gähren, ganz unbeirrt durch seine
hundert und tausend anderen Beschäftigungen, persönlichen
Sheitigkdten, Geldgeschäfte^ SplBe, ja »Kindereienc, deren
er nach Stendhal's Bemertcung »gar zu viele im Kopfe
hatte«; ein (Iberkiflftlger Trieb erfflllte ihn immer, seine
großen allgemeinen Ziele anzustreben, sie nach Möglichkeit
zu verwiridichen, wie auch von Zdf zu Zeit darüber zu
reflektieren, wie weit sie schon erreicht sdn mögen und
wann Aussicht auf ihre volle Verwirklichung sei Diese
. k) i^ . j i. y Google
— 26 —
Oedanken wflizte er unatrfhöriich in seinem Kopfe lienim;
zuweiten erffltHe ihn Befriedigung mit seiner Tltiglceit,
zuweilen erwartete er die vollen Früchte erst von der
Zukunft
Im Jahre 1769 schrieb Voltaire: Ich werde nicht mehr
von den Früchten des Baumes der Toleranz essen, den
ich gepflanzt habe; aber Ihr werdet eines Tages von ihm
essen, deß seid gewiß.«
Im Jahre 1771 sagt er mit befriedigtem Selbstbewußtsein
in der Epistel an den Autor des Buches von den drei Be-
trügern«*):
»J'ai fait plus en mon temps que Luther et
Calvin.
On les vit opposer, par une erreur fatale,
Les abus aux abus, le scandale au scandale;
Parmi les factions ardents k se jeter,
Iis condamnaient te pape et vouialeni IMmiter.
L'Europe par cux tous fut longtemps d^sol^
Iis ont troubie la terre, et je Tai consol^e.
J'ai dit aux disputants Tun sur Tautre acham^;
Cessez, impertinents, cessez, infortun^s;
Tr^s-sots enbnts de Dieu, ch^rissez-vous en fr^res,
Et ne vous mordez plus pour d'absnrdes chim^res.
Les gens de bien m'ont cru: les fripons ^crasäs
En ont pouss^ des cris du sage meprises;
Et dans TEurope enfin 1 heureux lolerantisme
De tout esprit bien fait devient le cattehisme.
Wenige Monate vor seinem Tode, also ungefähr ein
Jahrzehnt vor der groben Revolufion, schrieb er wiederum:
Wir langen an im gelohten Lande, aber ich werde es nicht
mehr sehen, ich zähle nun vierundachtzig Jahre, nieder-
drückende vierundachtzig Lastjahre, die einen armen Oreis
belasten, vierundachtzig Krankheitsjahre, die mich er-
schöpfen. Erfreut euch, meine Freunde, des Schauspiels,
*) Eine Übersetzung von Voltaire's Versen wäre ein Vandalismus,
außer man betifie die gr66t« Behefnchmig der dcnttdieo Verdomst
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das ich während sechzig Jahren vorbereitet habe und dem
ich nicht mit Euch zuschauen kann. Meine Lebensflamme
verlischt, aber sterbend kann ich sagen wie der alte Lusignan:
»Mein Gott, sectizig Jahre habe ich zu Deinem Ruhme ge-
kämpft.«
Und noch näher seinem Tode, diktierte er seinem
Sekretär Wagniere jene Worte, die diesem zur Bemhigung
dienen sollten, in Anbetracht der kurz vorher vom Abbe
Oaultier herausgepreßten und nur aus Abscheu vor dem
Schindantrer abgegebenen Erklärung^: daß er Gott und die
Kirche um Verzeihung bitte für das Ärgernis, das er dieser
bereitete. Ich meine jenes Glaubensbekenntnis, das die
Nationalbibliothek in Paris aufbewahrt. -^Ich sterbe in
Anbetun^r Gottes, in Liebe zu meinen Freunden,
ohne Haß gegen meine Feinde und in Verwün-
schung des Aberglaubens.
Und man denke an jene unsterbliche Scene, die sich
nur wenige Tage vor dem Tode des vierundachtzigjährigen
Voltaire ereignete. Er war die letzte Zeit hindurch schon
so schwach, daß er nur noch kurze Billets hatte diktieren
können, lag nun in todesähniichem Schlummer — be-
sonders i in folge einer großen Dosis Opium, die er auf seine
eigene Ordination hin zur Stillung seiner Schmerzen ge-
nommen hatte — da rief man ihm zu, daß General Lally,
fQr dessen Unschuld er sich so hmge eingesetzt und so
viel Arbeit aufgewendet hatte, soeben endlich rehabilitiert
worden sei. Bei dieser Nachricht wurde Voltaire wach, und
sofort diktierte er fQr den Sohn des unglücklichen Oenerals
die Worte: »Der Sterbende wird vom Tode erweckt, da er
diese große Nachricht empfängt; er umarmt zärtlich Herrn
von Lally, er sieht, daß der König ein Schützer der Ge-
rechtigkeit ist; er stirbt zufrieden.«
So sieht der flache Aufklärer, der frivole Spötter, der
»gar keinen Ernst hat«, ausl Und hier hat man eines
der praktischen psychologischen Experimente vor sich, von
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denen wir später auch bei Besprechung des Verhältnisses
von Voltaire zu Rousseau noch dns anführen wollen» aus
denen num die wahre Beschaffenheit des Wesens Voltaires,
seines unglaublich wannen Oemfits und seiner hohen Seele
mit Sicherheit erschließen Icann. Von einem solchen Manne
wagt es der Historiker Schlosser zu sagen: »Voltaire war
nur auf Ruhm und Auszeichnung bedacht .... war durch
keine höhere Triebfeder als Eitelkeit bewehrt .... und hatte
Begeisterung für das Einfaclie und Oute nie gekannt.«
Wie soll man eine solche Ungerechtigkeit und Ver-
bissenheit bei dem sonst achtungswerten und noch dazu
stets polternd moralisierenden Schlosser erkiären? Ist es
die Entgegengesetztheit der Naturen? Der nationalen An-
schauungen? Ist es das Resultat spezieller religiösen und
philiströsen Erziehung Schlosser s? Es ist schwer zu er-
klären, wie ein Historiker so blind für eine ganze Reihe von
Tatsachen sein kann, die seinem Urteil über Voltaire so
offenbar entgegenstehen. Noch schlimmer ist es aber, daß
Schlosser mit seiner Ungerechtigkeit nicht allein steht, denn
wir werden im Verlaufe dieser Darstellung noch mehr der-
gleichen Kritiker Voltaire's begegnen!
Mögen doch aiie jene Männer, die Voltaire niciit genug
ernst finden, vortreten und sagen, ob sie sich selbst für
genügend ernst halten, um sich in einer solchen Situation
eines zerrütteten, dem Tode nahen Organismus ebenso zu
benehmen! Welche Erfülltheit von philanthropischer Ge-
sinnung, welche Kraft des moralischen Sinnes dazu gehört,
ist gar nicht auszudenken; glaubt man nun, daß ein Schlosser
oder ein Treitschke oder ein Carlyle, ja, daß selbst Schiller
eine solche Eneigie der Mensdienliebe in sich besaßen,
die fähig gewesen wäre^ sozusagen selbst den Tod zu über-
winden? —
Ein Pessimist darf nicht das Leben genießen wollen,
darf niemals heiter, nicht geistreich, Oberhaupt nicht glück-
Hcfa sein; in jedem Augenblicke seines Daseins soll man an
- 20 —
seiner mürrischen Miene und trfiben Stimmung ericennen,
daß er Pessimist sei — sonst glaubt man ihm nicht! Ein
einziger guter Scherz macht ihn schon verdächtig und löscht
alle Worte» Schriften und Taten aus, die seinen tiefsten
Weltschmerz beweisen! Das ist der urphiliströse Kanon,
nach welchem Voltaire beurteilt wird.
Er hätte ^^n Appetit zum Leben verlieren sollen, dann
wäre man mit ihm zufrieden gewesen; unterdessen be-
trachtet Voltaire das Dasein als einen schlechten Kuchen,
sucht sich aus ihm die Rosinen heraus und rät auch
allen andern Menschen, die Rosinen herauszuklauben! »Man
muß das Leben bis zum letzten Moment genießen schreibt
er im Jahre 1761 an Frau du Deffand, an dieselbe im Jahre
1760: Ich iache über alles* und an Palissot im Jahre 1760:
»Ich will in Heiterkeit mein Leben beschließen. Ich will
lachen; ich bin alt und krank, und ich halte die Heiterkeit
für ein sichereres Heilmitte!, als die Anordnungen meines
teueren und schätzenswerten Tronchin. Ich werde mich,
so lange als ich kann, mokieren über jene Menschen, die
sich über mich mokierten; das vcrgnvigt mich und schadet
niemandem. Erfreuen Sie sich nur, es gibt außer diesem
nichts Gutes.
Und 1761 dem Abb^ von Bemis: »Wenn ich nicht
leid^ lache ich viel, und ich glaube, man soll lachen, so-
lange man kann. Lachen Sie also, denn, am Ende der
Rechnung, werden Sie immer etwas haben, worüber Sie
lachen können.« Im Jahre 1764 an Frau von Champbonin:
»Leben Sie wohl, meine dicke Katze, leben wir solange wie
wir icdnnen; aber das Leben ist nichts als Langeweile oder
geschlagene Sahne (Schaum).« Und 1766 an D'Alembert:
»ich icann nichts mdir leisten; ich werde sterben, und wenn
ich kann, lachend« An Fnu von Saint Julien im Jahre
1765: »Betrachten Sie mich als einen bereits bq^rabenen
Mann und meinen Brief als ein de profundis. Es ist wohl
wahr, daß meine de profundis mitunter sehr heiter sind und
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daB ich sie oft mit dnem Halleluja vertausche; Ich liebe
eS| um mein Grab hemm zu tanzen» aber ich tanze allein,
wie der Ud>haber meiner Kindermuhme Babichon, der
allein in seiner Scheune tanzt . . . Kommt man zur Welt»
so weint man und erfreut die anderen; wenn man
stirbt, soll man lachen und die anderen weinen
machen.«
Wanam doch mißgönnt man diesem großen Pessimbten
seine Weishdt? Wild man in dem Bestreben, ihn zu ver-
dächtigen und zu erniedrigen, nicht ehimal durch seine un-
vergleichliche Liebenswürdigkeit, die so herrlich mit dem
grandiosesten Emst abwechselt, versöhnt?
Und kann man nicht wirklich Voltaire in seinen letzten
fünfundzwanzig Jahren, wie Puschkin es von Gogol sagte,
einen »fröhlichen Melancholikers nennen? —
Beim Pessimismus kann man nach den Erscheinungen,
in denen er in seinen größten Repräsentanten zutage trat,
drei verschiedene Arten unterscheiden.
Die Richtung, die Buddha vertrat, predigt Mitleid mit
allen Menschen und sogar mit Tieren, bleibt aber negativ
und passiv, selbst seine moralischen Vorschriften sind zum
f^eringcn Teil positiver Natur und das Verhältnis zur Lebens-
gestaltung schließt jede Aktion, jedes Streben nach Be-
hebung der Leiden, der Verbesserunj^ der bestehenden
Zustände aus. Und das ist ganz selbstverständlich, denn
der Buddhismus rät ja zur Flucht aus aller Existenz, zum
Aufgeben des Haftens am Leben .
Eine zweite Art des Pessimismus kommt im »Prediger«
zum Ausdruck. Hier wird das Leid des Löbens wohl an-
erkannt, aber vom Mitleid mit den andern, oder gar mit
allem Lebenden, ist keine Rede; und ebenso wenig wird an
eine Aktivität zur Vertiesserung der Let)ensgestaltung ge-
dacht. Jeder möge nur an sich denken, essen und trinken,
heißt es dort, und das Leben, so gut es geht, genießen;
-es bleibt also bei einem tatenlosen, passiven Egoismus.
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— 31 —
Die dritte Art des Pessimismus vertritt Voltaire Er ist
erfiUIt von Mitgefühl nicht nur mit Menschen, sondern auch
mit Tieren; jawohl, ganz ohne Sentimentalität in den Worten
und Oeberden, ohne Hingegossenheit in metaphysische oder
mystische Spdculationen hat Voltaire^ dieser helie^ glödcltche,
witzig!^ lebenslustige Mann, sein Oeffihl für die Tiere aus-
gesprochen, und er war zugleich der erste in Europa, der
dieses OelÜhi vertrat, er, der »flache AufldSrerc im »ratio-
nalistischen, bloB verständigen und gemOtlosen« achtzehnten
Jahrhundert Wie er auch der erste war, der namentlich in
seinen Eizählungen systematisch auf all das Elend, alle
Oiäuel und alle Dummheiten hinwies, welche die Mensch-
heit t>edrflc]cen. Aber er blieb nicht beim Mitleid stehen,
sondern regte unaufhöriich zu Reformen an, die die Leiden
des Lebens verringern oder die Freuden desselben vermehren
sollen, und er ist bis heute noch der gewaltigste Re-
präsentant kultureller Activität, der je gelebt hat.
Von diesen drei Arten des Pessimismus hat der euro-
päisch-amerikanische Teil der Menschheit die Voltaire'sche
allein acceptiert; und wenn man es genauer besieht, so ist
es eben die Aufforderung zur kulturellen Aktivität, die diesem
Pessimismus den Anschein des Optimismus verleiht; ja,
noch mehr, es ist eben diese Aufforderung, die philiströs
angelegte üeister dazu verleitet, das zu Orunde liegende
große Gemüt zu übersehen und von bloßer Verständigkeit
dieser glänzen Richtung zu sprechen. Ein gewisser winselnd
melancholischer, griesgrämiger Orundton, so wünschen es
jene, sollte immerwährend zu huren sein, und den vermissen
sie bei Voltaire und seinen Nachfolgern! Aber man muß
nur genauer hinhorchen; die große Traurigkeit eines durch
das Leid des Lebens erschütterten Gemüts ist da, nur
winselt sie nicht und vermag nicht, Voltaire' s Mut zu er-
schüttern. Solche Dinge, wie wir sie in der oben mit-
geteilten Ode zu hören bekamen, kommen gar oft wieder
zum Ausdruck. Weder in Buddhas Reden, noch im Prediger,
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noch bei Byron oder Leopard! begegnen wir tiefer er-
scliflttemden Worten, als bd VoHalre.
In den »Po^sies diverses. Les d^sagr^ments de ta
vieillesse« ruft er aus:
»Vous serez comme nioi cjuand vous aurez mon äge^
Archeveques, abb^s, empourpres cardinaux,
PrinceSi rois, fermiers g^ndraux;
Cliacun avec le temp devient tristement sage.
Tous nos plaisirs n'ont qu'un moment.
H^s! quel est le cours et le but de ia vie?
Des fadaises, et Ic n^nt.
O Jupiter, tu fis, en noiis cr^ant,
Une froide plaisanterie.«
Und wieder wie in der Ode auf die Bartholomäusnacht
sagt er im philosophischen Wörterbuch mit gleicher Bitter-
keit: »Was mich am meisten vom Dasein einer Vorsehung
fiberzeugt, .... das is^ daß die Natur, um uns Aber die
ungezählten Leiden zu trösten, uns frivol geschaffen hat.«
Solche ernste und tiefe Töne fand ich nur noch bei
Leopaidi und mit besonders vavrandter iOangfaibe bei dem
großen chinesischen pessimistischen Lyriker Lt-tai-pe; sa'n
Pessimismus klingt aber allerdings ganz anders als bei
Voltaire aus; denn er fordert auf, sich zu — betrinken, und er
selbst befolgte diese Aufforderung g^ar zu genau.
Wenn ich nun solche Dinge bei Voltaire finde, wie in
den hier mitgeteilten zwei Gedichten, so frage ich mich:
War dieser Mensch wirklich ohne Tiefe?
*
Lassen wir aber alle Besorgtheit um die Klassifikation
eines Mannes, der hoch über jeder Art von literarischer
oder ästhetischer Klassifikation steht, und halten wk die
merkwürdige und betrübende Tatsache fest, daß es ein
Schiller war, der in Voltaire's Romanen, im Candide^ im
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— 33 ~
Ing^nu» zu wenig Emst fand. »Das macht,« meint Schiller,
> seinen Dichterberuf mit Recht verdachtig*.
Ich möchte hier die Worte abermais anführen, die ich
im »Recht zu leben . . .« schon zitierte, die Worte Mahomeds
nämlich, als man ihm Fehler gegen das Metrum vorhielt:
»Ich bin kein Dichter und brauche keiner zu sein.«
Voltaire bleibt Voltaire, auch wenn er kein Dichter wäre.
Es erscheint mir daher durchaus nicht als besonders
wichtig, seinen Dichterruf retten zu helfen, sowie überhaupt
nicht notwendig, auch seine anderen Fähigkeiten gegenfiber
den mannigfaltigen Ableugnungen und Degradationsversuchen
hervorzuheben und festzustellen; ich spreche aber fiber diese
Dinge zu dem eigentlich nicht Voltaire's Person betreffenden
Zwecke um derartige Beurteilungen in ihrem wahren Werte
aufzuzeigen und solche Urteile selbst zu beurteilen.
Fflr Schiller ist also Voltaire nur als Verfasser der
satyrischen Romane dichterisch von einigem Belang, und im
Grunde genommen ist ihm sein ganzer Dichtert>eruf »mit
Recht verdächtig*.
Man sieht sofort, daß Schiller den Begriff »Dichtung«,
ohne dies ausdrücklich hervorzuheben und in einem —
wenigstens momentanen — Zustande mangelnder Über-
sicht, auf ein bestimmtes, ziemlich enges üebiet einschränkt,
nämlich auf die Kunst: das Gefühl zu bewegen, zu er-
schüttern oder zu rühren; wie Schiller es nennt; das Herz
abzudrücken.
Nun wird es wohl Icaum jemand leugnen, dafi in den
Voitaire'schen Romaneri, ganz abgesehen vom ernsten und
wichtigen Inhalt, Geist und Witz, Menschenkenntnis, ein
glänzender, lebender, kräftiger Stil und, was hier sehr maß-
gebend ist, eine reiche Phantasie zu finden sind; letzteres
gilt ganz besonders vom Candide und l'Ing^nu. Kann man
aber eine schriftstellerische Leistung mit solchen Eigen-
Popper, VoltAtrc 3
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— 34 —
Schäften nicht mit allem Recht »Dichtung« nennen?*) Es
kann wohl jeder nach Belieben sich seine Einteilungen
nutchen und seine Bezeichnungen wählen; wer aber solche
Schriften nicht als dichterisch anerkennen will, der muß
folgerichtig eine große Anzahl von Werken aus dem Ge-
biete der Dichtung hinausweisen, die alle Welt als hinein-
gehörig betrachtet, die zu den Zierden der Weltliteratur
gezählt werden und denen wahrscheinlich Schiller selbst
nicht die Bezeichnung als Dichterwerke vorenthalten hätte.
Denn weder von Schillers philosophischen Gedichten, noch
von allen Lustspielen der Welt, noch von Don Quixote
oder voni rasenden Roland, noch von den unzähligen klei-
neren und größeren satyrischen Schritten der alten wie der
neuen Zeit usw. usw. kann man auch nur im c^eringsten
sa^en. daß sie das -Herz abdrücken . Aucti die Oden
des Horaz, die Bukolika und Georgika des Virg^il, die
meisten Sachen von Ovid, Properz usw. usw. vermögen das
nicht. Und nach dem von Schiller aufgestellten Kriterium
wären also alle Verfasser der erwähnten Arten von Schriften,
darunter Aristophanes, Horaz, Ovid, Ariosto, Cervantes,
Moli^re, ohne * Dichterberuf & !
Da das aber zu behaupten nicht wohl angehen wird,
und da femer ziemlich unbestritten Voltaire mit seinen
Novellen dem modernsten französischen Roman die Wege
gewiesen — nur Diderot könnte ihm darin die Palme streitig
machen — also sogar auch bahnbrechend gewirkt hat, so
mag man ihn ohne jedes Bedenken schon allein w^gen
sdner Erzählungen einen Dichter nennen.
Nun hat er aber auch eine gro6e Zahl von kleineren
Werken In gebundener Sprache verfaßt: Oden, vermischte
*y Für mich ist l'fngenu eine der erschütterndsten Tragödien, die
jemals geschrieben wurden, und dadurch merkwürdig, daß sie zugleidi
eine sozial poh'tisc he Tendenz, eine anschauliche Darstellung der gesdl-
schaftüchen Verhältnisse und eine plastische Herausarbeitung der
Charaktere besitzt Der Hurone ist ein Naturbursche, der mir weit
mehr Interetie und Sympathie erweck^ als PaizHal oder «b Si^fUed.
Dlgitlzed by Google
— 35 —
Dichtungen, Stanzen, namentlich an verschiedene Personen
gerichtete Gelegen heitsverse und dergl. Von allen diesen
Dingen spricht Schiller nicht; Goethe äullerte sich aber zu
Eckermarin ganz entzückt von ihnen. Als dieser ihm er-
zählte, daß er wenig so Schönes i<enne, wie Voltaire's kleine,
an Personen gerichtete Gedichte, so erwiderte Goethe:
Eigentlich ist alles gut, was ein so großes Talent wie
Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten
gelten lassen möchte. Aber Sie haben nicht Unreclit, wenn
Sie so lange hei meinen kleinen Gedichten an Personen ver-
weilen; sie L^ehören ohne Zweifel zu den liebenswürdigsten
Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die
nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmut wäre.«
Was aber eben die vielen kleinen, besser gesagt: kurzen,
Dichtungen Voltaires betrifft, so finde ich") unter ihnen so
viel Schönes, so viel Geist, oft solche Wärme und zum
mindesten eine so wohltuende Liebenswürdigkeit, daß ich
es fQr ein nfltztiches Werk halten wQrde, eine Auswahl dieser
Dichtungen (mit den mitunter notwendigen historischen Er-
läuterungen, wie wir deren ]a auch bei der griechischen
Anthologie, Horaz, Properz u. a. nicht entbehren können)
herauszugeben. Auch mehrere seiner didaktischen oder
philosophischen Dichtungen könnten mit aufgenommen
werden, denn es gibt einige darunter, die den Vergleich
mit Lucrez durchaus nicht zu scheuen brauchen, ja, sie an
Lebendigkeit bd weitem übertreffen. Die wenigsten, selbst
Itterarisch Gebildeten, kennen diese Sachen, es fällt niemanden
dn, sie anzusehen, und doch errdchen oder Qbertreffen sie,
nach mdnem Geschmack wenigstens, so vieles andere in
*) Bei Urteilen über Kunstwerke ist die einzig berechtigte und
mgleich bescheidene Art, sich auszudrücken, in der ersten Person und
Einzahl zu sprechen, also zu sagen: Ich finde das so und so; nicht
aber, wie es üblich ist, in der ronn der Allgemeinheit: Wir finden
oder man findet. Denn letzteres setrt voraus, daß jeder »Sach-
verständige« notwendig dieselbe Ansicht haben werde oder solle, wie
der Kiitiker, wdl nur sie — nach seiner Am Idit die objektiv ricbtlge Iii.
3»
. kjui^.o l y Google
— 36 —
diesem Oenre; objektiver gesprochen: ich glaube^ daß sie
den Lesern, die sie jetzt nicht kennen oder nicht kennen
lernen wollen, weil Vorurteile sie verblenden, ebenso viel
oder noch mehr VeignOgen machen würden, wie analoge
weltberühmte Dichtungen, die wir namentlich von den
Griechen und Römern besitzen/)
Selbst ein so prinzipieller Voltaire-Verklelnerer wie Emil
Faguet sagt, daß, wenn Voltaire nur seine kleinen Verse
gemacht hätte, er in der französischen Literatur einen obersten
Platz einnähme und die berühmtesten Schriftsteller neidisch
machen könnte; und ein anderer Voltaire-Verldeinerer, näm-
lich der Historiker Schlosser, meint, i,die sogenannten Fugltives
allein würden Voltaire's Unsterblichkeit sichern.'* Hat Schiller
diese Dichtungen nicht gekannt? Oder auch in ihnen keinen
DichteriMruf erkannt?
Von den Tragödien Voltaire's sprachen wir schon und
wollen noch hinzufügen, daß sie noch in der napoleonischen
Zeit allgemein bewundert wurden. Nehmen wir weiter
hinzu, daß seine Henriade nicht nur in Prankreich, sondern
in ganz Europa mit Entzücken aufgenommen wurde, so
müssen wir wohl oder übel nicht nur den Tadel Schiller' s,
sondern überhaupt jeden Tadel, und nicht nur Voltaire's,
sondern jedes Dichters und jedes Kunstwerics, für sehr
»verdächtig« haHen.
In der Tat, solche Widereprüche zwischen den Wir*
kungen schriftstellerischer Leistungen und den Beurteilungen
*) Wie bei allen Anthologieen lyrischer Dichtungen müsste auch
bei den Voltaire' sehen nur eine relativ kleine Anzahl ausgewählt wer-
den. Selbst unter des OroBmelstm der L^k, nämHcli Ooethes, Ge-
dichten dürfte wohl nur wenfger als cm Dritteil mit Vergnügen
wiederholt gelesen werden, um so strenger müsste bei allen anderen
Lyrikern die Auswahl geiroffen werden, wenn man nicht ihre Wirining
durdi Verdünnung: mit unwirksamen Produkten ihrer Muse schwächen
will. Am wenigsten Spreu adieint sich bei Heine zu finden.
— 37 —
derselben belehren uns unwiderspredilich darüber, dafi
niemand» auch ebi so emster Ästhetiker wie Schiller nicht,
die Berechtigung und Fihigiceit besitzt, Ober Kunstwerke
em abschließendes und allgemein giltiges Urteil abzugeben;
und zwar aus dem Grunde, weil es eben im GebiLte des
Schönen, (im allgemeinen Sinne genommen) d. h. bei ästhe-
tischen Werturteilen keinen absoluten Malistab gibt. Und
ein absprechendes Urteil ist nicht nur nicht allgemein-
giltig, sondern ganz ohne Sinn, im Falle auch nur einzelne
gegenteilio^e Erfahrungen vorliegen, ja, wenn auch nur eine
einzige solche Erfahrung vorliegt.
Diese Ansicht, daß ein einziger Fall einer ästhetischen
Wirkung ein darauf hin konzipiertes Werk trotz etwaiger
unzähliger Fälle von MiI5fallen an demselben es dennoch
als ein Kunstwerk dokumentiere, wird gewiß nicht wenig
paradox erscheinen; und doch ist sie» allerdings unbewußt»
etwas ganz Alltägliches.
Denn: Wen immer ein Werk ästhetisch berührt, der
wird dieses sein Gefallen daran nicht wegleugnen, nicht
vor sich selbst degradieren, wenn auch noch so viele
private und öffentliche Mißfallens -Urteile ausgesprochen
würden ; nur ganz ausnahmsweise finden sich solche schüch-
terne Naturen, die ihre eigene Empfindung als wertlos gegen-
über allen andern ansehen; besser gesagt: sie halten ihren
Eindruck, ihr unmittelbares inneres Urteil als Tatsache zwar
aufrecht, getrauen sich aber nur nicht» es vor den anderen
auszusprechen.
Und was die produzierenden Künstler betrifft — diese
rechnen jedes menschliche Individuum, dem ihre Sache ge-
^It, es sei wie immer beschaffen, für voll, und ihr ehr-
liches, sachliches Bedürfnis, — wenn es wirididi ein solches
ist — andere JMenschen ästhetisch zu erregen, wird schon
dann, wenn auch noch nicht In gewünschtem vollem
MaBe^ befriedigt, wenn auch nur Ein Mensch von ihrem
Werte isthetisch getroffen wird; es sei das ein Gelehrter
. kjui^.o l y Google
- 38 —
oder ein Ungelehiier, ein Mann oder eine Fiati, eventudi
ein Bauer, ein Kellner oder eine Köcliin.
Und ein solcher Künstler, dem es, wie ich hier voraus-
setze^ nicht um den Lärm und Ruf seiner Person in der
Öffentlichkeit, sondern um Hervorrufung rdn künstlerischer
Empfindung zu tun ist, hat Recht daran, sich — wenn auch
nicht in seinem Ehigeiz, so doch in seinem ästhetischen
Triebe — in solchen Fällen befriedigt zu ffihlen; denn es
ist ein Mensch, der Ihn, d. i. seine OefQhle^ verstanden
hat, und das will nicht wenig besagen 1 Der unwillkflriichen
Anericennung des Wertes einer ästhetischen Zustimmung
auch nur eines einzigen Menschen, er sei sozial oder in-
tellektuell noch so tief stehend, liegt aber ein tiefes ethisches
Moment zugrunde; nämlich die ganz unbewuBte und un-
willkflriiche Anerkennung der Bedeutung eines jeden mensch-
lichen Indhrfduums im Gebiete der Empfindung, -r-
Der Leser möge diese Digression seiner ernsten Be-
trachtung unterwerfen und sie an seinen Erfahrungen prüfen,
er wird deren Richtigkeit und deren ethische Bedeutung
wohl imiTKT mehr erkennen; nunmehr aber wollen wir zu
dem speziellen Falle Voltaire's weiter Stellung nehmen.
Die unumstößliche Tatsache, auf der wir fußen müssen,
ist doch die, daß VoHaire zu seiner und auch noch zu einer
viel späteren Zeit, ungefähr bis zum Be^'nn der Restau-
ration, von der intelligentesten und höchstkultivierten Oesell-
schaft Europas als bedeutender Dichter — er galt als der
größte Poet Europas und das war wahr , sagt Eaguet —
anerkannt und gefeiert worden ist. Unter anderm auch von
Friedrich dem Großen; den man vergebens davon aus-
schließen will, hier mitzusprechen; eigentlich bloß darum
ausschließen will, weil er an Shakespeare, an Cjoethe's Götz
von Berlichingen und der ganzen damaligen deutschen
Dichtkunst keinen Gefallen fand. Aber Eriedrich hat das
Recht auf seinen Geschmack ebenso gut, wie jeder andere,
also auch wie irgend ein, etwa sehr angesehener, Literar-
üiyiiizeü by Google
— 30 -
historiker, Ästhetiker oder Student an einem germanischen
Seminar; und wenn jener große Mann die Schriften Voltaire^
so sonderbar das auch heute anmutet, Ober die Meister-
werke der Alten, z. B. die Henriade Ober die iiias und
Aneide, stellt, sie, wie er ihm einmal schreibt, wiederholt
liest, so ist dies doch das Höchste an Anerkennung und
faktischer ästhetischer Wiikung, was man von einem Dichter-
werke überhaupt erwarten kann. Und ahnlich wie Friedrich
urteilten die glänzendsten Ödster der Zeit, darunter ein
D Alembert, eine Frau von Epinay, Du Deffand u. a.
Ich möchte hier noch speziell die Ansicht eines der
feinsten und edtlsien Geister des 18. Jahrhunderts über
Voltaire's Leistungen als Dichter anführen, nämlich jene von
Vauvenargues. Als Vauvenargues seine »Reflexions« im
Jahre 1747 — seinem Todesjahr — veröffentlichte, war
Voltaire erst in der Mitte seiner Laufbahn, hatte also noch
viele seiner größten Leistungen nicht vollbracht.
Vauvenargues sagt nun in dem Aufsatze »Sur quelques
ouvrages de Voltaire«: ....
Es steht mir nicht zu, eine Kritik aller seiner Schriften
zu geben, da sie doch meine Kenntnisse und Einsichten
weitaus übertreffen. Also will ich auch nicht von der
* Henriade sprechen, die trotz der Fehler, die man ihr vor-
wirft und jener, die wirklich darin vorkommen, dennoch
unbestritten für das größte Werk dieses Jahrhunderts gilt
und für das einzige Werk dieses Genres bei unserer Nation.
Ich werde auch wenig von seinen Tragödien sprechen:
Da es nicht eine derselben gibt, die nicht wenigstens ein-
mal in jedem Jahre gespielt wird, so können auch alle, die
nur einen Funken von gutem Geschmack (besitzen, in ihnen
die Originalität ihres Autors bemerken, die großen Oe-
danken, die gUnzenden poetischen Stflcke, Tetle^ die sie
verschönem, öät starke Bdiandlung der Leklenschaften und
die ktlhnen und erhabenen ZQge^ von denen sie voll sind ....
Wenn es Leute gibt, die denken, daß Voltaire im allgemeinen
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nicht glücklich ist in der Erfindung oder in dem Oewebe
seiner Handlungen, so . . . begnüge ich mich damit, zu er-
widern» da6 derselbe Fehler» den man VoUaire vorwirft, mit
vollem Recht auch mehreren ausgezeichneten Weiken vor-
gehalten wurde, ohne ihnen Unrecht zu tun. Die Lösungen
des Knotens bei Molite sind ebenfalls wenig geschätzt,
und der »Misanthrop«, das Hauptweik der Komödie^ ist
ohne alle Handlung. Aber es ist das Privilegium solcher
Männer wie Molite und Vollaire, liewunderungswardlg zu
sein, trotz ihrer Fehler und zuweilen sogar In ihren Fehlem
selbst« —
Wie wollen die Tadler der Voltahie*schen Dichtung
nun gegen diese Tatsachen ankämpfen? Vermögen sie diese
Urteile aus der Welt zu schaffen? Wollen sie jene Ödster
herabsetzen? Sie verächtlich machen? Alle Schriften mit
Lobeserhebungen, alle för Voltaire begeisterten Abhand-
lungen und Briefe in einem Mörser zerstampfen? Oder
verbrennen? Und i^^laubt wirklich jeder in unseren Tagen
geborene Jüngling, dtr dc^r alt-klassischcn oder der neu-
teutonischen Richtung oder welcher Richtung immer huldigt,
den GröÜen des 18. Jahrhunderts gegenüber im ästhetischen
Oeschmacksurteil die höhere Instanz abgeben zu können?
Vergebliche Muhe!
Es ist unmöglich, jemandem vorzuschreiben, was ihm
gefallen soll, auch unmöglich, vorher zu wissen, was ihm
gefallen wird, und unberechtigt wäre es, irgend jemand
wegen seiner individuellen Geschmacksrichtung zu tadeln
oder zu loben.
Es ist ferner aber auch ganz und gar kein Grund
vorhanden, ästhetisches Gefallen oder Missfallen
an iroend einem Kunstwerk für eine so wichtige
Sache anzusehen, dass man sie zu Kampf- oder
Streitobjekten ausersieht; während hingegen die all-
tägliche Erfahrung lehrt, dass die Streitigkeiten über ästhe-
tisches Gefallen oder Missfallen im persönlichen Vericehr»
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— 41 —
wie in den öffentlichen Kundgebungen der Kritiker gar nicht
aufhören. Die Intoleranz der menschlichen Natur zeigt sich
im Oebiet der Kunstbeurteilung ganz so, wenn auch ohne
entfernt so furchtbare Konsequenzen, wie im religiösen Oe-
biet. Und wenn es sich um einen Meinungsaustausch über
ein Kunstwerk handelt, so muss man fast immer darauf ge-
faßt sein, von der Person, die eine andere Auffassung hat,
beleidigt zu werden. Denn gewöhnlich hält jeder seine
eigene Beurteilung irgend eines Kunstwerks für einen Aus-
fluss, also auch schon darum für einen Beweis, seiner fei-
neren, tieferen Natur, besseren Urteilskraft oder mindestens
seiner grösseren Bildung.
Indessen bleibt doch nichts anderes vom Standpunkt
der Gerechtigkeit aus übrig, als jedem seine üeschmacks-
berechtigung zuzuerkennen, die positiven Tatsachen, d. h.
die Fälle des ästhetischen Gefallens, zu registrieren und auf
Grund dieser Tatsachen zu sagen: Diese Tatsache beweist
die ästhetische Eigenschaft dieser oder jener Dichtung, und
zwar nur für die bekannten positiven, günstigen Fälle; aus
dem sehr einfachen Grunde, weil eine ästhetische Eigen-
schaft und Beschaffenheit eines Werkes ja in gar nichts
anderem besteht, als eben in einer solchen Tatsache. Ne-
gative Fälle, d. iL solche, in denen ein Werk nicht gefällt,
auch in noch so grosser Anzahl, beweisen also nichts gegen
den Wert desselben, sobald es irgendwann wirklich gefallen
hat, denn eine positive Tatsache kann nicht durch noch so
viel entgegenstehende ausgelöscht werden; In ähnlicher
Weis^ wie wir eine Fiau nicht unfruditbar nennen können,
wenn sie noch so oft Früh- oder Fehlgeburten, endlich aber
doch eine Nonnalgeburt zur Welt gebracht hätte;
Man kann also, nach allen hier angegebenen Dedudionen
objektive Werhirteile in der Kunst weder auf einer theore-
tischen Basis, d h. auf Kunstgesetzen, noch auf der prak-
tischen Grundlage ästhetischer Erlahrungszahlen aufbauen.
Es gibt keine aristokratische und keine demokratische Asthe>
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tik, sondern nur ein uneingeschränktes Recht jedes einzelnen
Individuums auf sein OefaUen oder Mi$$falien. Der Ver-
such, eine Ästhetik, »von unten«, statt »von oben« zu be*
gründen — wie das Fechner versuchte — ist daher ganz
aussichtslos ; hier entscheidet keine Statistik, keine Mehrheit
oder Minderhdt, sondern nur jeder Einzelne.
Also jene ffir die Ästhetische Ericenntnistheorie allein
maßgebende Tatsache Ist in unserni Falle die: daß Voltaire
als Dichter seineizelt vielen und sogar geradezu den söge*
nannten Besten seiner Zeit — obwohl das hier irrelevant
ist — genug getan hatten und damit ist bewiesen, daß er
bereits ästhetisch gewirkt hatte; das genfigt aber, trotz Schiller
und aller anderen, um zu behaupten: Er war ein Dichter.
Eine solche positive Tatsache nimmt allen absprechen-
den Urteilen jede Bedeutung und jede Berechtigung, und
wenn sie von noch so vielen, noch so gebildeten oder be-
deutenden Menschen, und während noch so langer Zeit-
räume, gefällt werden. Und es ist auch unmOglkh, über
das Talent eines Könstlers mehr auszusagen, als: eine
ästhetische Wirkung zu gewisser Zeit und bei gewissen
Menschen hervorgebracht zu haben. Ob diese Wirkung
nun länger oder kürzer dauL-ri, oder gedauert hat, — bei
Voltaire dauerte sie übrigens nahezu an hundert Jahre, was
außerordentlich viel ist — bei vielen oder wenigen Menschen
vorhanden war, ist iiiir ein äuBerlicher Umstand. Daß aber
Dauer oder Umfang einer künstlerischen Wirkung garnichts
für den absoluten ästhetischen Wert eines Kunstwerks be-
weist, lehrt die Literatur- und Kunstgeschichte in unzweifel-
hafter Weise. Es gab immer gegnerische Stimmen, die sich
weder durch Dauer, noch durch Umfang der ästhetischen
Anerkennung imponieren liessen, und auch nicht durch
das Lob der Höchst^^ebildeten oder der Künstler selbst.
Man kann ja niemals wissen, wann der Geschmack, sei es
bei den einzelnen Lesern, sei es in ganzen Gesellschafts-
schichten, sich wieder ändert, vielleicht auch wieder zu seinen
— 43 —
froheren Sympathien zurOckkehrt Und so kann es wirklich
geschehen — und die Liteiahiigeschichte zeigt das öfter und
gerade bei Schüler selbst ganz deutlich — daß der oder jener,
früher dnnud als groß anerkannte Dichter im Laufe der Zd^
also wahrend irgendwelcher nahen oder fernen Zukunft, oder
auch mehrerer Zukfinfte^ mehrmals auf- und dann wieder
untertaucht Und jede solche Epoche hat in der günstigen
oder ungünstigen Art ihrer Beurteilung ihrer Weike gteich
und vollkommen recht; denn, wer hat die Befugnis, zu sagen:
»Dieses oder jenes frühere Urteil gilt nicht? Nur das
heutige, oder: nur meines — gilt?«
Kurz: Über eine solche nur relative BcdLulung, über die
blosse Sackgasse tatsächlich \ orhanden gewesenerästhetischer
Wirkungen kommt kein KünsUer je iiinaus/)
*
Auch die kritischen Urteile Voltaire's über die
Werke der schönen Literatur wurden benfitzt, um ihn zu
verideinem.
Aus den obigen Ausführungen folgt wohl unzweifdhaft,
schon im Vorhinein, daß, erkenntniskritisch genommen,
weder Voltaire's Urtdie noch die sdner Cegner von iigend
dnem objekHven Wert sdn können. Aber sdbst vom
Standpunkte der bisherigen, sich für unfehltNu- haltenden
ästhetischen Kritik aus ist es Iddit, zu erkennen, mh wdcher
ganz unberechtigten Süffisance oft Voltaire's Ansichten als
falsch, ja als absurd, hingestdh werden* Außerästhetische
Antipathien, sowie auch direkt künstlerische Oeschmacks*
verschiedenhdten und, natüriich nicht zuletzt, die kindische-
*) Ober alle diese ästhetischen Grundansichten möge man die
betreffenden Stellen ansehen in meinen Werken : • Das Recht zu leben . . .<
(S. 10 der l.und S 16 und 17 der 3 Auflage); »Die technischen Fort-
schritte . . • (S. 23 und 24); >Phantasien eines Realisten« (Die Erzählung :
Traurige Schicksale eine«; Dichter? im 2. Teil dieses Buches). Analoge
Ansichten entwickelte auch der verstorbene Schriftsteller und Dichter
Eduard Kalke in versdiiedenen Monographien.
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— 44 —
sieit Anschauungen bezQgUch des objektiven Wertes aller
derartiger, noch so schön herausaigumentierter, Ansichten
ermöglichen es den Asthetiicem, im Schulmeisterton die von
den ihrigen abweichenden Ansichten Voltaire's verSchtlich
beisdte zu werfen, ja mitunter wie etwas unbegreiflich
Dummes zu stigmatisieren.
»Voltaire,« meint Faguet, »liebte die Literatur, ohne sie
gut zu verstehen.c Er hStte dso wohl die Voriesungen
Faguet's hören müssen, um Literatur zu verstehen?
»Er stellte« — heißt es weiter und man vernehme
doch das Furchtbare! — »Tasso und Ariost über Homer ;
und — womit die ästhetischen Verbrechen Voltaire's den
Gipfelpunkt erreichen — *Pindar existiert nicht für ihn —
. . . vom lateinischen Ahertum bleibt ihm nur Horaz und
Virgil, i
Vergebens sucht man bei Fag^et eine Begründung da-
für, Homer über Tasso und Ariost steilen zu müssen;
und hätte eine solche überhaupt irL^^end weichen Wert? Aber,
aus ganz unbegreiflichen Gründen bestreitet Faguet Voltaire
das Recht, seinen eigenen Geschmack zu haben, einen
anderen Geschmack nämlich, als er, der Literar-Historiker
Faguet. Und mit welchem Schaudern berichtet uns dieser,
daß Pin dar nicht für ihn existierte ! Was lie^ denn aber
daran, frage ich, wenn für jemanden Pindar nicht existiert?*
Sieht denn ein solcher Ästhetiker c^arnicfit ein, wie sozusagen
gewahtätig, aggressiv und hochmütig er vorgeht, wenn er
durch bloße gedruckte Grimassen Ansichten Anderer ver-
ächtlich machen will? Und das erlaubt sich ein Faguet
einem Voltaire g^nüber! Nicht einmal die Oleichberechti-
gung des Geschmacks Voltaire's erkennt er an. Gibt es
größere Charlatane als die landläufigen Ästhetiker und Kri-
tiker mit »positiven c ailgemeinen Ansichten?
*) Nebenbei sei bemerkt, dass Schüler (im Jatire 1794) an Kömer
sdirieb: „Pindar hat mir nie behagen wollen", und dass Körner dieselbe
Empfindung hatte.
. kjui^.o l y Google
— 45 —
Das wird auch in nicht wenig erhdtemder Weise etn-
leuchfen, wenn man liest, da6 Voltaire Homer denselben
Vorwurf macht, den Schiller — Voltaire wegen seines
»Nicht-Herzabdrilckens« macht Im Artikel »Epopöe« in
seinem philosophischen Wörterbuch heißt es, Homer habe
große Fehler, schon Horaz gestehe das zu und auch sonst
alle Männer von Geschmack; nur dn Kommentator könne
blind genug sein, um das nicht zu sehen. »Homer hal
nie Tränen hervorgelockt. Der wahre Poet scheint mir
jener, der die Seele bewegt und rührt; die andern sind
bloße Schönredner.« Merkwürdig ist allerdingfs die sozu-
sagen erkenntniskritische Vorsicht, mit der Voltaire dann,
weit entfernt von dem apodiktischen Ton Scfiiller's, diesem
Urteil den Satz hinzufügt: ich bin weit entfernt, diese
Meinung als Regel vorzuschlagen.* i-lch gebe meine An-
sicht, sagt Montaigne, »nicht als gute, sondern als die
meine. ^ —
Am bekanntesten, man könnte beinahe sagen: am po-
pulärsten unter den Vorwürfen, die Voltaire als ästhetischem
Kritiker gemacht werden, ist der, er habe Shakespeare
verunglimpft und überdies auch nicht verstanden.
Nicht gering ist die Verachtung, welche namentlich die
Deutschen bis auf den heutigen Tag deshalb — demjenigen
entgegenbringen, der als der Erste Shakespeare üt)erhaupt
auf unserem Kontinent propagierte; der niemals, auch in
seiner heftigsten Polemik, aufhörte^ sein Genie zu bewundem,
und nur gegen das bei Shakespeare zu Felde zog, was er
als Rohheiten und Geschmacklosigkeiten ansah.
Bei dieser Gelegenheit, dem Falle Voltaire-Shakespeare,
aber ist es vielleicht deutlicher, als irgendwo im Gebiete der
literarisch-ästhetischen Kritik zu sehen, welcher Mangel an
Oeiechtigkeitssinn bei deren Vertretern zu finden ist; ich
meine hiermit nicht Voltaire^ sondern seine Gegner in dieser
Sache*
Schon die noch immer herrschende Meinung, man könne
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Oberhaupt in dem Gebiete des Oeschmacks etwas Entschei-
dendes sagen — als etwas, das über die bloße ästhetische
Beichte des einzelnen Individuums hinausgeht — beweist,
dass man nicht den Oerechtigiceitssinn besitzt, nach ent-
gegenstehenden Ansichten genügend heramzuhorchen, und
selbst wenn man das getan hat, ihnen gleiches Recht mit
seiner eigenen einzuräumen.
Aber abgesehen von dem Fehlen dieser allgemeinen Er-
kenntnis zeigt sich auch in den einzelnen ästhetischen Streit-
fragen fast niemals das Bedürfnis, entgegenstehende Instanzen
aufzusuchen und sie, wenn selbst erkannt, zu berück-
sichtigen.
Schon oben bei Besprechung von Faguets Bemängelung
der Voitaire'schen ästlietischen Ansichten konnten wir das
beobachten; er, wie alle andern, vindizieren sich ein Privi-
legium und eine höchste Instanz des Oeschmacks, ohne sich
durch irgend etwas irre machen zu lassen.
Bei der Sache Voltaire-Shakespeare aber kann man, wie
sofort ersichtlich sein wird, von vollstandi^rer, ich möchte
sagen allseitiger Blindheit oder Selbstverbiendung sprechen.
Vorerst, als allgemeinster Punkt: Man darf niemandem
einen Vorwurf daraus machen, wenn er gewisse Eigen-
tümlichkeiten eines Dichters nicht vertragen kann; man kann
ihm nur eventuell den Vorwurf machen, seinen persönlichen
Widerwillen als allgemeingiltig hinzusteilen, aber nicht den,
er verstehe jenen Dichter und die Schönheit gerade dieser
Eigenschaften nicht; und noch weniger darf man dies in
einer Form und in einem Tone tun, als ob damit eine In-
feriorität seiner ganzen Individualität dargetan wäre^ wie das
bekanntlich üblich ist.
Des ferneren darf man hierbei nie den Charakter jenes
Kritikers verdächtigen, und ohne Beweis behaupten, er tadle
aus Neid, wie das so oft Voltaire gegenüber behauptet
wurde; und bei ihm um so weniger, zumal er stets die
grOsste Bewunderung für Shakespeare zeigt /Man sehe z. B.
j . . y Google
— 47 —
im philosophischen Wörterbuch den Aufsatz Vom Ver-
dienste Shakespeare s im Artikel Art dramatique«:
»Die Italiener, die Franzosen, die Schriftsteller alier an-
deren Lander«, heisst es dort, »welche nur kurze Zeit in
England verweilt haben, halten ihn (Shakespeare) nur für
einen Markt -Hanswurst, für einen Spaßvogel, noch weit
unter Harlekin, für den verachtens würdigsten Possenreisser,
der je das Volk unterhalten hat. Und doch findet man in
demselben Manne Stücke, die die Einbildungskraft erheben
und das Herz durchdringen. Hier ist Wahrlieit, hier ist es
die Natur selbst, die ihre eigene Sprache spricht, ohne alle
Beimischuno^ von Kunst, hier ist Erhabenheit und doch hat
sie der Autor nicht gesucht.
Und im Aufsatz über die englische Tragödie sagt Vol-
taire: »Er hatte ein Genie voll Kraft und Fruchtbarkeit, ein
erhabenes Naturell« — und nun kommen seine Einwen-
dungen — »ohne geringsten Funken von Oeschmack und
ohne Kenntnis der Regeln.«
Und wie wenig neidisch Voltaire flberhaupt war und
wie intensiv er Schriftsteller und Dichter bewundem und
4tffentlich preisen konnte^ zeigen am besten seine Urteile
über Radne und Moli^ die er Qb^ alle anderen Drama*
tiker der Weltliteiatur stellt
Was aber, zum dritten, diese Scheu vor den behaup-
teten Geschmacklosigkeiten Shakespeare's betrifft, so existiert
sie in höherem oder minderem Grade auch selbst bei seinen
Bewunderern. Schon Wieiaiid in den Noten zu seiner Über-
setzung sprach sich in ähnlicher Weise wie Voltaire aus, )
und bis auf den heutii^^en Tag werden Shakespeare's Dramen
für unsere Bühne bearbeitet und mannigfaltig zugestutzt,
obwohl sie doch von dem Theaterdirektor Shakespeare
schon als Bühnenstücke verfallt wurden. Voltaire zitiert in
semer Lettre ä l'Academie die Mitteilung Marmontel's, der-
*) Dieses Datum entnehme ich Mahrenholtz' Voltiiiebfographie.
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— 48 —
zufolge man Shakespeare in Englands Theatern immer mehr
kürzt, und der berühmte Garrick habe in letzter Zeit auf
seiner Bühne die Totengräberszene im Hamlet, sowie fast
den ganzen fünften Akt unterdrückt; das Stück sei aber
mehr als je applaudiert worden.
Auch werden wenige unter uns die vielen Silben-
stechereien, Wortwitzeleien und deigl. schön oder künstle-
risch finden, und wenn Voltaire gewisse sehr naturalistische
Reden oder Szenen tadelt, so ist zu bedenken, dafi dem
Widerwillen gegen Nahiralismus in der Kunst überhaupt
keine Grenze gezogen werden kann; schon darum nicht,
weil, abgesehen von der Verschiedenheit der Oeschmacks-
richtung, der Naturalismus selbst keine festen Grenzen be-
sitzt Und selbst innerhalb desselben Volkes und inner-
halb derselben BiMungsschichte der Oesellschaft finden sich
stets viele^ die z. B, den modernen Naturafisten gegenüber
genau so empfinden, wie Voltaire Shakespeare gegenüber.
Es handdt sich hier immer nur darum, wie weit der
Geschmack jedes einzelnen duldsam sein will; daß man
überhaupt vor dem oder jenem Widerwillen empfindet, ist
niL-mandem zu verargen und jeder ohne Ausnahme hat da
seine Oeschmacksgrenze, über die hinaus er (zu L^ewisser
Zeit) nicht mehr Toleranz üben will; allerdings können
diese Grenzsteine sich mitunter durch Alter, größere Bildung,
Suggestion usw. sehr verrücken. Ganz plastisch, aber nicht
minder naturalistisch als etwa Shakespeare selbst dem Ge-
schmack VoUaire's erschien, drückte dieser seine ästhetische
Opposition in einer Gesellschaft aus, die ihn in Ferney be-
suchte. Ein Engländer, namens Moore, verteidige seinen
Landsmann Shakespeare gegen VoUaire's Tadel und meinte,
diese von ihm so verpönten Naturalismen seien doch »in
der Natur«.
^Oanz wohl, erwiderte Voltaire in seiner impulsiven
Weise, die ihn mitunter den gesellschaftlichen feinen Ton
vergessen ließ, mit Erlaubnis, mein Hinterer ist auch in der
Natur, aber ich tra^e dennoch Hosen!«
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— 40 —
Selbst in Deutschland wird und wurde Shalcespeare
nicht so unbedingt akzeptiert und in den Himmel aller
poetischen Vollkommenheiten gehoben, wie es die hitzigen
liierarischen Gegner Voltaire's gewQnscht hattea Schon
Merck, der Freund Goethes, rief den Stflrmem zu: »Shakespeare
hat euch ganz verdorl>en!«
Auch in der neuesten Zeit finden manche den Mut,
an Shakespeare ziemlich wesentliche Mängel zu prokla-
mieren.*) In einem alierneuesten Werke, das Shakespeare
behandelt, wird — nach einem Referate, das Werk selbst
kenne ich nicht ~ der so oft ins Auge Springende Mangel
einer einheitlichen dramatischen Komposition .... einer
respektvollen, aber eingehenden und sagen wir es offen,
notwendig gewordenen Kritik unterzogen. Welche
Mängel aber auch die Architektur seiner Form auf-
weisen mag . . . usw.-
Und ein anderer Schriftsteller unserer Zeit, der davon
spricht, daß im Shakespeare'schen Drama :»das Tragische
sich aus dem Charakter entwickelt^ bemerkt dazu: »Es
wurde schon von anderen bemerkt, daß Shakespeare's
Tragik ihre starken Bedenken hat«
Die oben angeführte Stelle Ober die »Mängel einer ein-
heitlichen dramatischen Komposition«, steht ja den Vollatre'-
schen Ausstellungen an Shakespeare's Dramen ganz nahe^
und die Geschichte des französischen Theaters zeigt Über-
dies tatsächlich, wie sehr Voltaire im Sinne des Geschmacks
der Franzosen urteilte.
Bezeichnend hierfür ist die Tatsache, daB noch im jähre
1829 das dazumal hochangesehene »Journal des D6bats< von
Kean's Darstellung des »Lear« schrieb: »Er hat dnige
•) Ich spreche hier von solchen tadelnden ÄuReriirij^ren durchaus
nicht als objektiv giltigen oder als von mir ebenfalls akzeptierten An*
skhten : ich relFeriere nur Tatsächliches behufs Beleuchtung des in Rede
tteiieiulen Oegenttandes*
Popper» Vohair»» 4
— 50 -
Perlen in dem enormen Misthaufen zu finden gewußt, den
das Stück darstellt.«*)
Vor kurzem berichtete der Dichter und Schriftsteller
Alfred Klaar (in der Vossischen Zeitung*^ vom 30. Juli 1904)
in dem Auf satze: * Pariser Theatereindrücke« Ober »Hamlet in
Paris*, Hier wird mitgeteilt, wie Voltaire's Hamlet -Urteil
für lange Zeit in Frankreich den Ton angab; daß bei den
Fnuizosen die rasche Aktion das stärkste Lebenselement im
Drama sei und daher die heutige bedingte Geltung Shake*
speare's in Frankrdch dadurch ermöglicht wurde, daß man
»Stellen ausschaltet, die für uns spiichwörtiich geworden
sind — vieles Gedankliche fallen läßt, aber den Körper der
Handlung mit größter Deutlichkeit und SinnfSlIigkeit aus-
arbeitet«. Und allen diesen Bemericungen über das StQck
und Qber die Aufnahme desselben beim Pariser Publikum
folgt ein prächtiger, ästhetisch wertvoller und ethisch hoch-
zuschätzender Satz, wie man einem ähnlichen in der litera-
rischen Kritik nur selten begegnet »Die Nationen,« heißt
es dort, »bilden verschiedene Seiten der Betrachtung in sich
aus; aber jede fortschreitende dringt an den Kern des Mensch-
lichen; langsam oder rascher, je nachdem ihrer Art; das
Leben zu nehmen, das Problem näher oder ferner liegt . . .«
Dieser Äußerung wahrer Gesittung möchte ich aber
auch eine Bemerkung Voltaire's selbst anfügen, die ihr sehr
nahe verwandt ist. In dem Autsatz »Du theätre Anglais par
J4rome Carre« (aus dem Jahre 1761) sat^^t Voltaire: Zwei
kleine englische Bücher belehren uns, dass diese durch so
viele gute Werke und g^roße Unternehmungen berühmte
Nation auch noch zwei ausgozcichnete tragische Poeten be-
sitzt; der eine ist Shakespeare, von dem man versichert,
er lasse Corneille weit hinter sich; und der andere der sanfte
Otway, weit erhaben über den sanften Racine. Da dieser
*) Mitteilung von j. J. Renaud m der »Grande Revue« vom 15. Okt.
1904 (nach <L »Iii EdK»).
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51 —
Streit nur eine Sache des Geschmacks betrifft» so scheint es,
daß man den Engländern hierauf nichts zu erwidern hat
Wer kann eine ganze Nation verhindern, einen
Dichter ihres Landes mehr zu lieben als den eines
anderen? Man kann doch einem ganzen Vollce nicht
beweisen, daß sein VergnQgen ein unberechtigtes
sei? . . .«
Er will aber, daB die anderen Nationen zwischen dem
Theater von Paris und jenem Londons entscheiden sollen;
woraus ich schliesse, daB man Voltaire's Kritik Shakespeare's
weniger als die eines aprioristischen Ästhetikers ansehen
soll, sondern mehr als die eines Theaterdramaturgen oder
Direktors, der Dramen sozusagen abschätzt, d. h. auf die
Wirkung hin beurteilt, die sie in diesem oder in jenem Orte
und bei diesem oder jenem Publikum zu versprechen schei-
nen. Ein Standpunkt, der, als ein empirischer, den von oben
her sprechenden theoretischen, auf scheinbaren Kunst^esetzen
l)asierenden, jedenfalls an Solidität bedeutend übertrifft.
Und es ist überaus wohltuend, trotz partieller G eigner-
Schaft gegen Shakespeare doch keine Spur von Vorein-
genommen [leit, Parteilichkeit, sondern im Oegenteii den
höchsten Gerechtigkeitssinn bei Voltaire zu finden.
In dem eben erwähnten Aufsatz über das englische
Theater spricht er über den berühmten Monolog im Hamlet
lind den Geist der englischen Sprache. »Sie weist weder
die niedrigsten noch die gigantischsten Ideen von sich ; sie
besitzt eine Cneigie, die andere Nationen fOr Härte halten;
Kflhnheiten, welche solche Geister, die an fremdartige Wen-
dungen wenig gewöhnt sind, leicht fOr Oalimathias halten.
Aber unter diesen Schleiern wird man Wahrheit, Tiefe und
noch ein gewisses anderes entdecken, das anzieht und uns
stirker t>ewegt als das jede Eleganz imstande wSre; es gibt
auch keine Person in England, die diesen Monolog nicht
auswendig kann. Das ist ein roher Diamant, der
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— 52 —
seine Makel hat; wollte man ihn schleifen, würde
er von seinem Gewicht verlieren.
Und da man selbst in gebildeten Kreisen immer nur
von Voltaire als dem wütenden Gegner Shakespeare's spricht,
jedoch seine Aufsätze selbst über dieses Thema niemals
liest, so führe ich aus dieser Abhandlung über >das eng-
lische Theater« noch eine herrliche Stelle an, die unter
anderem zeigt, wie überlegen Voltaire selbst auf das von
ihm befolgte Gesetz der drei Einheiten im Drama herabsieht.
»Es gibt vielleicht kein größeres Beispiel der Verschie-
denheit des Geschmacks unter den Nationen. iMan möge
nach diesem (der Begeisterung der Engländer für Hamlet)
kommen und uns sprechen von den Regeln des Aristoteles
und den drei Einheiten und von der Wohlanständigkett» und
von der Notwendigkeit, die Szene niemals leer zu lassen,
und daß man niemals eine Person ohne deutlichen Grund
tkt- oder austreten lassen solle; daß man eine Intrigue mit
Kunst knüpfen und auf natfirliche Weise auflösen mOsse,
daß man nur in nobeln und einfachen Ausdrücken und die
Forsten mit ihrer gewöhnlichen Wohbmständigkeit sprechen
lassen soll ; daß man sich von den Regeln der Sprache nie*
mals entfernen dOrfe. Es ist klar, daß man eine ganze
Nation entzücken kann, ohne sich so viel Mflhe zu
geben.«
Wenn man die im obigen zitierten Aussprüche Vol-
taire's einmal kennen gelernt hat, so muß sich jdoch wohl
jeder ruhig Denkende fragen: Was will man von ihm? Kann
man gerechter und vernünftiger sprechen? —
Besonders ungerecht ist zum vierten die Art, Voltaire's
Einwendungen gegen gewisse Seiten der Shakespeare'schen
Dichtung durch nationale Gegnerschaft oder Eifersucht,
oder durch nationale Beschränktheit erklären zu wollen. Der
beste Gegenbeweis ist der Umstand, auf den zu meiner
Verwunderung und wenigstens meines Wissens noch nie-
mand — sogar Voltaire selbt nicht in seiner Zurückweisung
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dieses Verdachtes in der aus dem Jahre 1778 stammenden
Vorrede zu Irene — aufmerksam gemacht hat, dass Voltaire
gegen seinen Landsmann Rabelais genau so gewettert hat,
wie gegen Shakespeare.
In einer Note zu dem Gedicht »Le Marsdllois et le lk>n«
sagt er: »Rabelais verschwendete in unwürdiger Weise den
niedrigsten Unflat . . . RabeUus ist darum nicht weniger
ein grober Possenreißer, ein Unverschämter in drei Vierteln
seines Buches, obwohl er der größte Gelehrte seiner Zeit
war, beredt, lustig und mit wahrem Genie b^;ibt«; und
noch kraftiger heißt es in dem Artikel, der speziell Rabelais
gewidmet ist: »Sein Buch ist in Wahrheit eine Anhäufung
des frechsten und rohesten Unflats, den nur ein betrunkener
Mönch von sich geben kann . . Hier sind wir also sehr
nahe bei dem betrunkenen Wilden- , als den einmal Voltaire
Shakespeare bezeichnete*)
Nebenbei möchten wir noch bemerken, dali viele Fran-
zosen, darunter die Höchstgebildeten, z. B. Victor Hugo,
Rabelais zu den grandiosesten Geistern zählen und an seinem
>Unflat nicht den |i:eringsten Anstoß nehmen ; während in
Deutschland ziemlich aligemein ein gerade so großer oder
noch größerer Widerwillen ^egen Rabelais herrscfit, als bei
Voltaire gegen die Naturalismen Shakespeare s und wiederum
bei den Deutschen gegen die — Pucelle !
Ein weiterer Beweis dafür, daß Voltaire jede nationale
Voreingenommenheit fehlte, ist auch dies, dass er Calderon
über Corneille stellte, was umso mehr ins Gewicht fällt, als
sich schwerlich ein größerer Kontrast der ganzen Weltan-
schauung finden läßt, als der zwischen jener des frommen
katholischen Inquisitors Calderon und der Voltaire s.
Der hochgesittete Kosmopolit Voltaire besaß eben keinen
Funken jenes chauvinistischen Oefühls, öas überall, wo es
*) Es ändert nichts an dem Wert meiner Argumentation, daß
Volfadie spiter einmal in einem Briefe an Frau du iMfand tcni Be>
danem darQber iuSeite» R[d>elais to viel Bdees luchgesi^ lu haben.
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sich geltend machen kann, nur Ungerechtigkeit oder Bru-
iaitttt im Gefolge hat »Warum aus einem Gegenstand der
Literatur eine nationale Streitfrage machen?« fragt er *m dem
Auszuge aus Lethe de M. de Voltaire k l'Acad^mie Fran-
^aise (1778) in der Vorrede zu Irene: »Haben die Engländer
nicht genug Uneinigkeiten? Und haben wir selbst nicht
genug Händel? Oder vielmehr, hat nicht die eine wie die
andere Nation genug gro6e Männer in allen Gebieten, um
nicht nötig zu haben, einander zu beneiden? . . . . Icli war
der erstem der ein wenig Gold aus dem Schkunme hervoi^
holte^ in den das Genie Shakespeare's in seinem Jahrhundert
versunicen war . . . .«
Nur an einer einzigen Stelle reißt der Eifer Voltaire hin, an
das patriotische GefOhl zu appellieren, nämlich in jener hef-
tigen Lettre ä VAcadMe Fian^aise, worin er sich über
die Vorrede der Shakespeare-Obersetzung Letoumeur's so sehr
ereiferte^ für welche dieser in den höchsten Kreisen ener-
gische l^opaganda machte. »Der Übersetzer,^ schreibt
Voltaire, ^ strengt sich an, Frankreich England zu opfern,
in einem Werke, das er dem König von Frankreich widmet
und für das er Subskriptionen von unserer Königin und
unseren Prinzessinnen erhielt. Keiner unserer Autoren . . . .
ist in der Vorrede zitiert. Der Name des großen Corneille
findet sich darin nicht ein einziges Mal. Man wird diese
Schwäche eines Augenblicks der heftigsten Erregung — die
auch eine persönliche Ursaciie hatte und wegen dieser in
der Tat erklärlich und sogar gerechtfertigt war — und in
Anbetracht der sonst gleichbleibenden nationalen Vorurteils-
losigkeit Voltaire's gern verzeihen.
Und endlich fünftens: seien alle jene — es sind zumeist
die Deutschen, — die so sehr über Voltaire's Shakespeare-
Kritik entrüstet sind und ihn ihretwegen nicht genug
schmähen können, darauf aufmerksam gemacht, daß ein
prinzipiell ganz gleicher Fall in der Kritik Schiller's an
Bürger's Gedichten vorliegt Auch hier handelt es sich
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um die Antipathie eines Idassisch dirigierten flsthetisctien
Oeschmacks, d. h. einer Oesamtanscliauung, die aus Vor-
bildern unumstöBlich geltende Regeln abstrahieren will —
gegen eine Art dichterischer Produktion, die einem impul-
siven Naturell entspringt, das über solche Regeln nicht
reflektiert und sich um sie gar nicht kDmmeri
Dem AbStande zwischen den Temperamenten Voltaire' s
und Schiller's entsprechend, sind des letzteren Einwendungen
nicht so radikal dem Inhalt und der Ausdrucksweise nach.
Allein hier wie dort wird von dem schlechten, sozusai^en
pöbelhafien Geschmack gesprochen. Voltaire zitiert als Bei-
spiele Stellen aus Othello, Julius Cäsar und im Aufsatz über
die englische Tragödie, namentlich die Friedhofsszene im
Hamlet, wo -die Totengräber trinken, während sie ein Grab
graben, Vaudeville singend, und dabei über die Totenköpfe
Scherze machen, wie sie eben zu il^rem Metier passen.«
In Art dramatique meint Voltaire, so wie Shakespeare mitunter
Desdemona, die Tochter eines Senators, sprechen läßt, sprach
man eben zu Shakespeare'« Zeit; Voltaire meint damit offen-
bar; eine rohe Zeit. Womit er übrigens ganz recht hat.
Schiller wieder meint in dem Aufsatze Über Bürger's
Gedichte im Hinblick auf Bürger, dem er ebenfalls, wie
Voltaire Shakespeare, e^roßes Genie zuspricht: Es ist nicht
genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man
muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist
nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten
Oeistes« . . . »Herr Bürger vermischt sich nicht selten mit
dem Volk, zu dem er sich nur herablassen sollte . . . .c
Schiller beklagt den Mangel eines reinen Genusses an B's.
Gedichten, t>ald wegen der »beleidigten Würde des In-
halts . . .« oder durch ein »unedles, die Schönheit des
Gedankens entstellendes Bild, einen ins Platte fallenden
Ausdruck . . dann wundert er sich, wie andere Kunst-
richter, die Bälger lobten, so viele »VersOndigungen gegen
den guten Geschmack veigeben« konnten.
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— 56 -
Schiller wie Voltaire poleiiiisierten also in gleicherweise
vom Standpunkte einer gewissen äsilietischen Vornehmheit
aus, gewisscrmalien als Aristokraten des Geschmacks, letzterer
überdies im Sinne einer fein gebildeten und gepfen An-
stößigkeiten sehr empfindsamen (Pariser) üeseilschaftsklasse.
Es macht sogar einen beinahe komischen Eindruck, in
der Lettre ä rAcad^mie Fian^aise den förmlichen Schrecken
VoltaiFe's wahrzunehmen» wenn er »gemeine«^ oder »rohe«
Stellen aus Shakespeare anführt und dann ausruft: »Ja, mein
Herr, ein Soldat des Oardekorps kann so antworten,« näm-
lich wie die Schildwache im Hamlet: »Ich habe keine Maus
rascheln gehört«^ — aber nicht im Theater vor den ersten
Persönlichlceiten einer Nation, die sich nobel ausdrücken
und vor denen man sich auch noi>el ausdrücken muB . . .«
Ahnlich sagt Schiller betreffs Bürger: »Ist der Popularität
nichts von der höheren Schönheit aufgeopfert worden?
Haben sie, was sie für die Volksmasse im Interesse ge-
wonnen, nicht für den Kenner verloren?«
Man darf also Voltaire wegen seiner Shakespeare-Kritik
ebenso wenig schmähen, wie man Schiller wegen seiner
Kritik BüTger's schmäht Nur so ist es gerecht Aber alles
in allem genommen kann jeder, der meine oben g^bene
Theorie aller ästhetischen Kritik akzeptiert, diese Streitig-
keiten und besonders die Vehemenz, mit der sie geführt
werden, nur für gegenstandslos und unfruchtliar, ja er muß
sie auch für geradezu kindisch halten. Sowohl Voltaire's
als auch Schiller's Aburteilungen, insofern sie allgemeine
Gültigkeit beanspruchen, sind wertlos. Des ersteren Be-
merkungen, die sich mehr auf das Unpassende gewisser
Sitakespeare'scher Derbheiten für die vornehme Pariser Oe-
sellschaft beziehen, sind jedoch, praktisch genommen, rich-
tig, und sie sind es, wie ja die Erfahrungen mit Shake-
speare's Dramen in l^aris lehren, sogar noch heute.
• *
Diqitizod by GoOgle
— 57 —
Aber welche geringe Wichtigkeit hat doch das alles
gegenober den großen kulhirdlen Bestrebungen Voltaire's!
Mag er ein großer oder kleiner, ein echter oder unechter
Dichter oder gar kein Dichter gewesen sein, auch Icdne
Ahnung von literarischer Kritik gehabt und leider versäumt
haben, sich aus den Koni]>endien der Literatuigeschichte Be-
lehrung Ober das wahre Maß der Schätzung dichterischer
Produkte zu verschaffen! — wen er als Poet oder als
Kritiker nicht behiedigt, der kann sich ja leicht helfen, er
möge sich nur eiligst zu anderen Schriftstdlem wenden, die
fQr seinen Geschmack wirkliche Poeten oder Kritiker sind.
Es gibt deren ja so viele!
Aber verachtet, ihr »sehnsuchtsvollen Hungeriekler« nach
echter Poesie, nur nicht jenen armen Mann gar so sehr!
Wie möchte es euch allen wohl schmecken, wenn ihr
bei einer gerichtlichen Untersuchung — und Mn Mensch
ist ja vor solchen Zufällen gesichert — der Tortur unter-
worfen würdet, wie es ohne Voltaire's BemQhungen noch
heute geschähe? Ihr möget während der Folter mit aller
Innigkeit an irgend einen eurer bewunderten echten und
wahren Dichter denken, wird euch das vor Schmerz be-
wahren? Oder, wenn heute noch der, der üott lästert«,
oder gegen die Kirche schreibt, die grausamen Straten, ja
den Tod nach furchtbaren Foltern ~ wie jener von Voltaire
verteidigte Labarre zu erleiden hätte, könnte er etwa in der
Kunst, in der Dichtung Trost finden? Welches Übergewicht
wird doch in der Beurteiluno^ von Kulturmenschen auf Luxus-
gefühle pelegl, gegenüber den schweren, gewaltigen Be-
mühungen im Bereiche der fundamentalen Lebens Vorgänge!
Und in seltsamer Leichtfertig^keit föhlt man sich heute
so sicher, und vergKit nicht nur, was es gebraucht hat, um
so weh zu kommen, wie wir jetzt es sind; man achtet gar-
nicht darauf, daß wir heute wieder dieselben Mächte an der
Arbeit sehen, die hauptsächlich durch Voltaire's Kämpfe be-
reits so ziemlich, wenn auch nicht g^zlich, unschMich ge-
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— 58 —
macht wurden. Es wird wieder ^egen religiöse Toleranz
agitiert, so als ob ein Bayle, Locke, Voltaire, ein Friedrich
der Grosse nie geschrieben und gewirkt hätten.
Ganz offen betriebene Unterdrückung anderer Religionen
kommt jetzt beinahe täglich vor. So agitieren jetzt die ka-
tholischen Priester in Tirol gegen den Bau einer protestan-
tischen Kirche in Bozen. Die spanischen Bischöfe richteten
vor kurzer Zeit eine Petition an den König, keine protes-
tantischen Schulen mehr zu autorisieren, die schon bestehen-
den zu schließen und die Zirkulation aller nicht katholischen
Bücher, Broschüren, Gesänge usw. zu verbieten. In der
Bretagne, wo die Bevölkerung ganz von den Geistlichen be-
herrscht und daher aufs äußerste verhebet wird, Überwachen
fromme Jünglinge die m den Seebädern badenden Männer
und Frauen, die nicht In die Messe gehen, verfolgen
sie längs des Strandes und brüllen mit schreckhafter Be-
tonung ihnen nach: »Protestant! Protestant!«; womit sie den
Gipfel menschlicher Abscheulichkeit zu bezeichnen beab-
sichtigen.
Man scheut sich auch nicht mehr, »auf Geheifi der
Kirche« Ketzerverordnungen von Seite des Staates zu fördern.
Hat doch Im Jahre 1849 der Erzbischof Pteci von Perugia,
der spätere Papst Leo Xlll., den Papst Pius IX. in Memo-
randen wiederholt aufgefordert, die Inquisition In der allen
Form wieder einzuführen. Ein Professor des Kirchenrechts
an der unter dem direkten Protektorat des Papstes stehenden
Gregorianischen Universität in Rom, nämlich der Jesuit P.
de Luca, verlangt in seinem »Lehrbuch des öffentlichen
Kirchenrechts«, das im Jahre 1901 erschien, ganz offen, Ketzer
mit dem Tode zu bestrafen, »damit niclu die Bösen den
Guten schaden , und weil »die Todesstrafe mitunter für
die Verbrecher (nämlich die Ketzer) selbst eine Wohltat
sei, da sie, wenn sie noch länger lebten, bei ihrer unbeug-
samen Halsstarrigkeit noch schlimmer würden und daher
nur noch heftigere Qualen in der Hölle zu erdulden hätten . .<
— 59 -
»Infolge dessen muß die politische Behörde auf Befehl
und Anordnung der Kirche den Ketzer mit dem Tode
bestrafen, und zwar unterliegen dieser Strafe nicht etwa
bloB diejenigen, welche erst als Erwachsene vom Glauben
abgefadlen sind, sondern auch diejenigen, welche im Irr-
glauben geboren und getauft worden sind . . . endlich
Ist die Strafe da, wo sie Eii^iang gefunden, auch auf alle
Rflcicfftlligen anzuwenden, mögen sie sich gleich
neuerdings bekehren wollea«
Und dieses Buch hat die Ürdcriszcrisur überstanden *
und erhielt vom rVovinzial der römischen Ordensprovinz,
P. H. Carini auf ürund der ^utachtliciien ÄuRerung^ mehrerer
Theologen derselben Gesellsefiaft die Druckerlaubnis*)
In den spanischen Schulen wird nach emem Katechismus
unterrichtet, der vom Bisehof von Madrid revidiert und in
200 000 Exemplaren verbreitet wurde.**) Dort heißt es im
Anhang: Als die Bösen noch nicht wie heutzutage die Frei-
heit besaßen, genügte es, die fünf Kirchengebote zu kennen.
Jetzt aber müßt ihr die weiteren Kirchengebote kennen: ». . .
Du darfst Deine Kinder nicht in konfessionslose Schulen
schicken ... Du darfst weder einen judischen noch prote-
stantischen Arat zu Rate ziehen, noch einem Juden dienen.«
Und femer: »Sagt mir» Kinder, sind Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit entgegen den christlichen Tugenden?« Ant-
wort: »Ja gewiß sind sie es, besonders in dem verkehrten
Sinne^ der diesen Begriffen von den Feinden der Kirche ge-
gel>en wird.«
Frage: »Wessen Betspiei fo^n diejenigen, die Vivat-
nife auf die Freiheit ausstoßen?« Antwort: »Dem Beispiel
Ludfer's, des ersten, der die Fahne der Freiheit erhob . . .«
Frage: ^Worauf begründet sich die Brüderlichkeit der
*) Nach einem Bericht der M. Allg. Z. v. 31. Jinner im.
**) Siehe »Das freie Wort« Nr. 12 <!. J. 1904; nach MitteUungen
m Ungero-Steroberg.
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— ÖO —
Oottlosen?« Antwort: »Auf die Uebe zu den Menschen,
weshalb sie Phitanthropie heißt.«
Frage: »Wer ist der Vater der Philanthropie?«
Antwort: »Der Teufel.«
Und dieses Bekenntnis ist nicht nur in Schulen und
Kirchen vorgiebracht worden, sondern auch der Akademie
der Wissenschaften in Madrid von dnem ihrer hervor-
ragendsten Mitglieder, dem Exminister Alexandro Pidal, in
giflhenden Worten gepredigt worden. Der berühmte spanische
Gelehrte Menendez Pelayo ließ sich sogar bei einer Ähn-
lichen Gelegenheit zu dem t>egeisterten Rufe: »Es let>e die
Inquisition!« verieiten.
Und sogar der König von Spanien selbst scheut sich
nicht, vor aller Welt fOr das Prinzip der Intoleranz offen
einzutreten. Als nämlich vor kurzem in Barcelona dne
protestantische Kapelle eröffnet werden sollte, wandte sich
der dortige Kardinal-Erzbischof an den König mit der Bitte,
dieses ..Unlieil" abzuwenden. Worauf Alphons XIII. (im
Mai 1Q05) antwortete: „Als katholischer König und als er-
gebener und gläubiger Sohn der allcinseii^fnachcnden Kirche
bin ich tief bekümmert durch diesen neuen Anschlag gegen
den Glauben unserer Väter und die Religion des Staates,
dessen Geschicke die Vorsehung mir zu vertrauen für gut
hielt." Gleichzeitig mit all dem aber agitieren die Katho-
liken in Deutschland für ihren sogenannten Toleranz-
Antrag, in welchem sie freieste Entwicklung ihrer kirchlichen
Organisation verlangen; durch welchen Mut der Inkonse-
quenz — in Deutschland das für sich als ein Recht zu
fordern, was sie Andersgläubigen dort, wo sie die Macht
haben, vorenthalten — offenbar die katholische Kirche be-
weist, wie stark sie sich wieder fülih und wie lebhaft der
Trieb in ihr ist, fernerhin noch viel Schlimmeres rücksichts-
los zu unternehmen.
Im ganzen kontinentalen Europa sind alle Wallfahrts-
orte überfüllt, ja die Zahl der Wallfahrer nimmt von Jahr
V Google
zu Jahr zu. In und nahe der Mauptstadt Österreichs wurde
sogar ein Ziihau zu einem Hotel und eine neue Weinstube
vor der Übergabe an das Publikum von Priestern eingeweiht.
In Rußland bekommen jetzt oft die Toten merkwürdige
Briefe in die Hand, die mit ihnen begraben werden; ein
solcher Brief, von einem höheren Geistlichen unterschrieben,
tautet:
»Wir durch Gottes Gnade Metropolit (oder Bischof)
N. N. an unsern Herrn und Freund St. Petrus,
Schlüsselbewacher der Pforten des allmächtigen
Gottes.
Wir lassen Dich wissen, daß, nachdem auf diese Zeit
gestorben ist dn aufrichtiger Diener Gottes, N. N. und daß
derselbe von uns von allen Sflnden absolviert ist und die
Benedeiung darauf empfangen hat, so ist unser sehr ernst-
liches Begehren, daß Du denselben ohne Verhinderung in
das Reich Gottes einlässest; nimm ihn an und laß daran
nichts mangeln. Denn zu diesem ausdrOcklichen Ende haben
wir Ihm diesen Brief der Absolution mitgegeben. Getan in
N. N. und unterzeichnet H. H.«
Vor wenigen Jahren erst äußerte sich Kardinal Farrisi,,
wie Idd es ihm tue^ daß »die IQrche gegen ihre Gegner nur
mit Gebet und Ermahnungen vorgehen könne und keine
anderen Mittel besitze.« Und im Jahre 189Q hielt der
sdir einflußrdche amerikanische Erzbischof Ireland eine
Rede in Paris, in der er ankflndigte: »In der nächsten Zu-
kunft sind die Völker zu einem neuen Kreuzzug gerufen,
der mit dem Triumph der Kirche endigen muß.«
Schon haben in vielen Staaten des Kontinents die Ver-
treter der Gewissensfreiheit und der Gleichberechtigung aller
Menschen bei den maßgebendsten staatlichen Machtfaktoren
viel weniger bjnfluss als die allerdümmsten Gänse, wenn
diese nur dem bigotten hohen und höchsten Adel ange-
hören, und infolge dessen können wir, in der Ferne und
auch in der nächsten Nähe, aus den sogenannten tieferen
— 62 —
Volksschichten und ihren Vertretern bereits das Heulen räu-
diger Bestien in Menschengestalt deutlich vernehmen.
Und schon ist die Folter wieder zu neuem Leben er-
weckt worden! In dem fr5mmsteii Lande Europas, in Spa-
nien, gewöhnen die Klerilcalen die Menschen allmählich an
die immer häufiger angewandte Tortur, vorderhand nur in
weltlichen PkPozessen; so war es im Jahre 1895 in den Oe-
flbignissen von Mont-Juich, und jetzt, im Jahre 19H in Al-
cala dd Valle der Fal^ wo man den Gefangenen durch die
schrecklichsten FoHem Oestflndnisse zu entreißen suchte
In Rußbmdi dessen Regierung und Verwaltung et^enfalls in
streng-kirchlichem Ödste geführt wird, ist Orausamkdt,
gerade wie in Spanien, die natürliche Folge; sie ist dort so-
gar sdtens der Beamten etwas ganz Alltägliches, es gdit
ins OroBe^ während die spanische Regierung sich bisher
noch mit kidnen PorthMien begnügt.*)
*) Auffallenderweise schwieeen fast alle größeren Zeitungen über
die neuesten spanischen Orausamketten. Es ist aber wichtig, zu wissen,
was alles in einem bigotten Staate selbst in unserer Zeit möglich ist,
die sich doch auf ihr hohes Kultumiveau so viel zugute tut und noch
immer auf die nicht-christlichen Völker mit so viel moralischem Selbst-
bewußtsein verächtlich herabblickt, ich will dalier einige Details aus
dem Gerichtswesen in jenem frommen Lande mitteilen.
Als im Jahre 1893 ein Anarchist zwei Dyn:imithomben in das
Lyceums>Theater in Barcelona geworfen hatte und der Schuldige ent-
kommeo war, HeB Oeneril Weyler jeden halbwegs Verdächtigen ein-
sperren und hunderte von jungen Leuten der Tortur unterwerfen;
luert>ei wurden genau die Martern der ehemaligen Inquisition ange-
wendet. Fiincr der Beschuldigten erzählte hierüber dem republikanischen
Journal Iii I'ais , daß, nls er trotz Todrsnndrohung nicht alles bestä-
tigen wollte, was der Lieutnant wünschte, man ihm die Hosen herunter-
ließ, seine Oeschlecfitstelie verdrelite .... ffinf Tage nndiedts
Nächte wurde er durch OciRcln gezwungen, immcrfnrt herumzugelicnf
ohne sich niederzusetzen, seine einzige Nahrung bestand in Brot und
^rodcenem Stoddlscli, ohne einen Tropfen Wasser. Dann hingt« man
ihn an dem Türpfosten seines Kerkers auf, lieH ihn stundenlang in
dieser Lage und wiederholte mehrmals die Verdrehungs-Prozedur an
seinen Oäddechtsteflen.
Im Jahre 18% wurde eine Bombe in eine Prozession in Barcelona
gewoffcn, inul infolgedessen wurden die Gefangenen in Mont-Juich in
ähnlicher Weise behandelt; hierbei wurde aber auch die Metfiode der
Inquisition genau in Anwendung gebracht, die Beschuldigten mit glü-
henden Zangen zu zwiclcen und ihr Fleisch bis auf die Knochen
zu verbrennen.
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— 63 —
Das alles sollte doch die Aufmerksamkeit erregen; sollte
die in den Tag hinein lebenden Banausen und die gewissen-
tosen Ästheten unserer Tage aus ihrem Schmachten auf-
rütteln, und bei ihnen wenigstens das eine bewirken, daß
sie in der Beurteilung von Voltaire's Taten und seiner Ver-
dienste um die Menschheit alle kleinitche Splitterrichterd
bdsdte setzen und wo es nur immer angeht» diesem »Rufer
im Streit« und wahren Standard -Menschen im Kulturkampf
(in seinem allgemeinsten und höchsten Sinne genommen)
nur Dank» Pietät und umsomehr Gerechtigkeit in der Be-
urteilung entgegenbringen. Sich Voltaire*s erinnern, ihn
rOhmen, ist schon halbes Ihm-Nachetfem, und eine solche
Nacheiferung tut dringend not
Wir werden aber sehen, wie es um diesen Dank, diese
PietSt und Gerechtigkeit selbst bd nicht unbedeutenden
Ödstem bestdit istl
«
In den mdsten Schriften fiber Vollaire wird sdne dgent-
iiche wdthistorische Tätigkeit nur ndjenbei, sehr kflhl und
mitainter sogar in ins Schlechte gedeuteter Weise behanddt,
und die größte Wlchtigkdt der Hervorhebung sdner Mängel
als Dichter bdgdegt
Den Ldchtsinn, wie auch die Impietät, die In allem
dem liegt, finde ich empörend. Jeden Menschenfreund
muß dn solches Vorgehen aufs äußerste verletzen, und ganz
besonders bei den großen Männern der Vergangenheit, die
den traurigen Zuständen in den Gebieten der Religion (Kirche),
des Gerictitsverfahrens, der Verwaltung noch nahe genuj^
standen, um den Wert der Voliaire'schen Bemühungen sehr
gut würdigen zu können.
Bei Lessing, bei Goethe, bei Schiller, wie bei unzähligen
anderen bis auf den heutigen Tag, uberwiegft — um Scliopen-
hauer's Wort von der Weiberveneration hier variiert anzu-
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— 64 —
wenden — die Dichtungs- und Kunst-Veneration, und Aber
diesen doch eigentUcli nur selcundären, verhflltnismSsstg nied-
rigen, bloß ästhetischen Standpunkt kamen die beiden
letzteren selten hinaus.
Wie oft begegnet man in den Werken dieser unserer
ersten Schriftsteller der Erwähnung Voltaire's als Kutturheklen?
Lessing rfihmte wohl in einer RezenskHi des Essai
sur les moeurs . . von VoHair^ dieser habe darin in der
Geschichtsschreibung einen ganz neuen Weg eingeschlagen,
sonst aber spricht er nicht von ihm; bis er endlich in der
»Hamburgischen Dramaturgie c in den Rezensionen der Dramen
Voltaire's jenen so beklagenswerten, in ernsten Diskussionen
so unpassenden Ton gegen ihn anschliiL^, der am meisten
dazu beitru^r, speziell die Deutschen gegen die Bedeutung
Voltaire "s überhaupt blind zu machen. Denn sie sagten
sich: ICann ein Mann, der als Dichter so schwach, ja so
verächtlich erscheint, sonstwie irgend eine Bedeutung be-
anspruchen? Lessing ist es auch, der, nebenbei bemerkt,
vielleicht am meisten Schuld daran trägt, in die deutsche
literarische Kritik den hämischen und persönlichen Ton
hineingebracht zu haben, den wir im allgemeinen bis heute
noch nicht los geworden sind. —
Noch mehr trug Schiller zur nahezu allgemeinen Miß-
achtung Voltaire's bei; und zwar durch sein bekanntes, so
populär gewordenes Gedicht »Das Mädchen von Orleans ,
wobei er auf die Pucelle anspielte. Hier trägt Schiller die
Farben so grell auf, daß niemand, der nicht Voltaire als
Verfasser der Pucelle, aber sein gesamtes sonstiges Wesen
und edles Wirken kennt, darauf verfallen würde, daß die
Anklage Schiller's gegen ihn gerichtet sei.
»Dem Herzen will er seine Schätze rauben,
Den Wahn bekriegt er und verletzt den Glauben.
Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen
Und das Erhabne in den Staub zu ziehen.
Den lauten Markt mag Momus unterhalten;
Ein edler Smn liebt edlere Gestalten.«
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— 65 —
Nun war aber niemand je geneigter und in impulsivster
Weise fähiger, das, was ihm wirldich als erhaben und
»strahlend« erschien, anzuerkennen und zu bewundem, als
eben Voltaire. Ihm, der als vierundachtzigjähriger Ords
wihrend seiner letzten Anwesenheit in Faris Turgot's Rechte
ergriff, mit Tranen bedeckte, sie trotz Turgot*s Abwehr
kfißte und unter Schluchzen ausrief: »Laßt mich diese Hand
kflssen, die Gesetze für das Wohl des Volkes gesdiriebenl«;
ihm, der nicht aufhörte^ Newton zu bewundem und fOr den
ersten aller Menschen hielt; der so leicht und gern lobte,
und sogar vieles lobte, was durchaus nicht so hoch stand,
um für erhaben oder strahlend gelten zu können; der in
seinen Tragödien so oft die edelsten Gefühle, ja sogar
ethische Schwärmerei, zum Ausdruck brachte — einem
solchen Manne den Vorwuii zu machen, das Strahlende
zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen«,
ist gar niemand auf der Welt berufen. Auch Schiller
nicht.
»Ich werde niemals auf meine Bewunderung^ Ihrer Werke
verzichten,-- schrieb J.J.Rousseau an Voltaire im Jahre 1750,
■Sie haben die Freundschaft und alle Tugenden im Menschen
dargestellt, die er kennt und lieht. Ich habe den Neid
murren i^^ehört, ich habe die Schreier verachtet und sagte
mir, ohne Furcht zu irren: Diese Schriften, die meine Seele
erheben und meinen Mut entzünden, sind durchaus nicht
Produktionen eines Mannes, der gleich^HÜtig gegen die
Tugend ist. Diese Ansicht Rousseau's macht W(3hl jene
Schiller 's, die nur auf dem Eindruck der »Pucelle« basiert,
mehr als wett.
Auch handelte es sich Voltaire durchaus nicht darum,
den »lauten Marld« zu unterhalten, denn er hatte die Puceile
— was Schiller wohl nicht wuBte — gar nicht für die
Öffentlichkeit bestimmt. Schon aus Furcht vor Verfolgung
hütete sich Voltaire, dieses Werk drucken zu lassen, und
wir wissen aus den Memoiren seines Sekretärs Longchamp»
Popper» Voltsire. 5
L/iyiii^ü<j by Google
— 66 —
daß die Marquise du Chätelet das Gedicht im Oeheimen
in ihrem Schlosse drucken und dann Vohaire mit dem
fertigen Drucke überraschen wollte, dieser aber davon
erfuhr und sie mit dem größten Aufwand seiner Über-
redungskunst dahinbrachte, davon abzustehen. Vielmehr
wissen wir aus Voltaire's Briefen, daß er die Pucelle zu-
nächst zu seiner eigenen Erheiterung und zu der Erheite-
rung der Marquise du Chatelet wie auch eines kleinen
Kreises von Freunden verfaßte.
Wenn Voltaire unwohl oder durch irgend welche Vor-
kommnisse verstimmt war, so nahm er zu Ariosto*s Rasen-
dem Roland oder zur Pucelle seine Zuflucht .»Lesen Sie
mir aus meiner Johanna vor,** pflegte er zu Wagnite zu
sagen» lag dabei, nach seiner Lieblingsgewohnheiti im Bett
und eigötzte sidi an seinem eigenen Weric
Den Plan zu diesem in Arlosto's Manier gehaltenen humo-
ristischen Epos entwarf er im Jahre 1730; das Manuskript
bewahrte er, aus Furcht vor der Geistlichkeit» mit aller
Sorgfalt, aber trotzdem wurde ihm zuerst eine Kopie von
einer Kammerfrau der eben verstorbenen Madame du Chätelet
entwendet.*) tin zweites Mal stahl ihm sein eigener Sekretär
auf Bitten des Prinzen Heinrich von Preul)cn eine Abschrift
der Pucelle, und die Herzogin von Württemberg, ganz be-
geistert von der phantasievollen und unglaublich geist-
reichen und satyrischen Dichtung^, ließ das Epos heimlich
abschreiben und verbreiten. Veröffentlicht wurde es aber
ganz ohne Wissen und e^egen den Willen Voltaire s im Jaiire
1755 durch einen seiner Gegner, der ihm Verlee^enheiten be-
reiten wollte, nämlich durch den Kapuziner Maubert, und
dann durch La Beaumelle. Erst im Jahre 1762 brachte
Voltaire die erste authentische Ausgabe in die Öffentlich-
keit, und zwar unter dem Autornamen: »Dom Apuiejus
Risonius, Benediktiner ; beabsichtigt hatte er eine solche
*) Ich benutze hier die Angaben von Nourisson und Mahrenhoitz.
üiyiiizeü by Google
— 67 ~
. frOher nicht, und schrieb im Jahre 1734 ausdrQcklich an
Tourmont, daß dieses »so frivole Weric nicht bestimmt
dazu sei, an das Tageslicht zu treten, er schSme sich dessen«
und — in Fortsetzung seines sich selbst persiflierenden •
heiteren und liebenswürdigen Tones setzte er hinzu —
»aber, nach allem, man kann seine Zeit noch schlechter an-
wenden.«
Wie man z. B. die Lustspide des Aristophanes und so
viele andere, viel schwächere Produkte der genialen Laune
und Satyre bewundem und zur Weltliteratur zählen kann,
aber Voltaire' s Pucelle davon ausschliessen, ja In ästhetischer
wie moralischer Beziehung verdammen kann, ist mir nicht
begreiflich.
Die Tatsache, von der wir wiederum, korrekter Weise,
ausgehen wollen, ist die, dass im IS. jalKhundert kaum ein
Buch heiteren Inhalts so viel gelesen wurde, wie dieses Epos,
die ^anze Gebildete und vornehme Gesellschaft Europas war
entzückt davon.
Friedrich der Grosse schrieb voll Ungeduld, Voltaire
möge ihm doch endlich die Pucelle senden, la Pucelle!
!a Pucelle! dräiiirt er ihn in einem seiner Briefe. Und in
seinen letzten Pariser Tagen wurde der steinalte Voltaire am
meisten als Verteidiger des Calas und dann als Verfasser
der Pucelle gefeiert.
Es ist wirklich ganz grundlos und sehr überflussig, sich
über die Pucelle irgendwie zu entrüsten, wie das besonders
bei den deutschen Schriftstellern fast die Regel ist! Schlosser
spricht mit förmlicher Empörung von dem Schmutz und
Frevel«, von »frechem Witz und dem boshaftesten Mutwillen
gegen Religion und Sitte!«
Aber alles das, was in der Pucelle steht, hat nichts mit
Schmutz, und schon gar nichts mit Frevel zu tun; ebenso-
wenig richtet sich der Mutwille gegen Religion, denn es
wird nur Aberglaube und was damit zusammenhängt, ver-
spottet Und was die »Sitte« betrifft, so wfirde der Oe*
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— 68 —
brauch dieses Wortes vermuten lassen, daß Voltaire sich
über irgend welche moralische Vorschriften lustig macht;
aber es handelt sich nur um ganz harmlose geschlechtliche
• Ausgelassenheiten, die gar keine Beziehung zu Out oder
Böse haben.
Möge nur jeder, ohne sich im geringsten zu fürchten,
verdorben zu werden, und ohne sich zu genieren, die Pucelle
lesen; und um darüber noch mehr zu beruhigen, will ich
erwähnen, daß, wie Taine mitteilt, dem ernsten und wür-
digen« Malesherbes, dem gelehrten Minister, der, wie be-
kannt, Ludwig XVI. verteidigte und dafür guillotiniert wurde,
die Pucelle so wohl gefiel, daß er sie auswendig wußte.
Es braucht aber niemand zartffihlender oder prüder zu sein,
als ein Malesherbes.
Und ich glaube^ dass die Pucelle auch noch heute viel
Vefgnfigen bereiten kann; man versuche es doch, sie zu
lesen. Es ist nur natürlich, dass religiöse oder gar kirchliche^
vielleicht auch bloß empfindsame Gemüter von der derben
Satyre und den Zoten so abgestossen werden, dass sie das
Poem widerwärtig finden; wie ja auch, umgekehrt, mitunter
sehr ernste Freigeister religiöse Dichtungen oder Kunst-
werke sehr widerwärtig finden; das ist aller keine Frage
des ästhetischen Eindrucks, sondern betrifft nur die Tendenz.
Uebrigens finden viele auch die Zoten des Aristophanes ab*
stossend; auch jene in Macchiavellt's cMandragora» und in
Boccaccto's >E>ecamerone.« Wer aber derartige Anti-
pathien nicht besitzt, der mache sich an die Lektüre der
F*ucelle, vielleicht erfreut sie ihn, bei mir war das in hohem
Malk der Fall, obwohl tin deutscher Kritiker sie schon darum
für wertlos und schlecht hingestellt hat, weil sie weder ein
Epos noch ein Drama, noch ein lyrisches Werk, es also
■ unbestimmt sei, »in welche Rubrik man es einreihen solle **)
Als ganzer, sich immer gleicher, überzeugungstreuer
*) Eine fonnvotlendde Übertragung ins Deutsche dflriie wohl viele
danUnre Leser finden.
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eo —
Mann, der in jeder Situation und bei jeder Beschäftigung
von seinen großen Zielen erfüllt war, gab Voltaire auch in
der Pucdle^ also selbst in einem Manuskript, das nur fQr
eine Intime IddneOesellscIiaft bestimmt war, seinen Tendenzen
ebenso kräftigen Ausdnidc, als ob er zu ganz Europa hätte
sprechen wollen. Auch hier war er der grosse Kämpfer; er
verhöhnte den Glauben an die göttliche Sendung Johanna's,
also den Wunderglauben Oberhaupt, und er degradierte zu-
gleich das Königtum von Oottes Gnaden — er, den man
^schlich für einen eingefleischten Monarchisten hält, während
er die Monarchie nur fflr große Staaten und nur dann fflr
wohltätig hält, »wenn dn Marc Aurel Monarch ist«
Schiller konnte ja seine Jungfrau von Orleans so ideal
auffassen, als ihm gut dünkte, und es steckt gewiss etwas
Schönes in seinem Bestreben, der idealisierenden Tendenz
des menschlichen Gemüts einen Stoff darzubieten. Aber er
hätte nicht nötig gehabt, eine Art Schutz- und Trutz^edicht
als Kommentar zu seiner Dichtimj^ zu verfassen und darin eine
andre Auffassung zu degradieren, die überdies jedenfalls viel
nützlicher wirkt, als die seine; und die vom rein künstlerischen
Standpunkt aus ebenso berechtigt ist, da sie, mit Geist,
Witz und Phantasie dargeboten, in ihrer Art ebenfalls ästhetisch
wirkt, wie andererseits Schülers Art durch Schwärmerei und
Gefühl. Zudem ist es von niemandem je bewiesen worden
und kann es nie werden, daß die eine ästhetische Art der
Wirioing berechtigter oder höher stehend sei als die andere^
obwohl, wie ich sehr gut weiß, es vielen ganz selbstver-
ständlich erscheint, in ästhetischer Beziehung Oetühl weit
tlt>er Oeist oder Phantasie zu stellen.*)
Es mng nebenbei bemerkt werden, daR nach -tller Erfahrung
der WelUiteraturgeschichte die Werke der zweiten Art, also z. B. Lust-
spiele, viel seltener lu großer Wirkung gelangt sind, also wohl sdiwieriffer
zu machen sein dürften, als die Werke der ersten, z. B. als Trauerspiele.
Die nahe Beröhrtuig mit dem furchtbaren Emst des Lebens ist es nur,
die den Scbein erweckt, als ob der tragisdie Dldtler mehr innere Or56e
und Talent besitzen mfisse, als der gelstieidhe und Phantasfediditer.
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— 70 -
Daß man heute noch die Voltaire'sche Darstellung der
Schiller'schcn nicht nur nebenstellen, sondern so^ßv vorziehen
könne, möge man auch au9, den Worten eines sehr feinfüh-
ligen und gescheiten Schriftstellers entnehmen, die ich zur
Belehrung der Einseitigen — man erlaube mir diese Wort-
bildung — hier vorführen will; sie rühren von Laurent
Tailhade her, der anläßlich der Seligsprechung der Jungfrau
von Orleans m der Piuiser Zeitschrift l'Action (vom 14.
April 1Q04) einen längeren Artikel über dieses Thema ve^
öffentlichte.
»Voltaire allein,« heißt es am Schlüsse des ArtilceiSt
»hat gesehen, daß die Jungfrau von Dom R€my eine Possen-
reißerfigur und nur unseres Spottes würdig sei.
Kurze Zeit vor der Tragödie — oh! wie lächerlich! —
von Schiller, in der man Johanna in Xantrailles (oder viel-
leicht in Dunois) verliebt, die Waffen in der Hand und an-
gesichts Orleans steiben sieht, schrieb er, (Voltaire) diese
Pucelle^ welche stets ein Meisterwerk und die Ehre des
menschlichen Ödstes bleiben wird.
Der Kampf zwischen dem heiligen Oeoig und dem
heiligen £)ionys — dem OIQcklichen, der seinen Kopf ver-
loren hatte — ist nicht unwürdig, den Schkichten an die
Seite gestellt zu werden, die sich im Oulliver die Kleinen
und die Riesen liefern. Es ist Schade daß dieses befreiende
Schriftstück nicht mehr verbreitet ist Man sollte es ver-
vielfältigen . . « usw.«
Zum Schluß aber noch folgende Frage: Schiller ist über
Voltaire's Behandlung der Jungfrau von Orleans so überaus
entrüstet, daß er wegen der Pucdle allehi den ganzen Charakter
VoHaire's anschwärzt; warum schweigt jedoch Schiller über
die Art, wie Shakespeare dieses sein Ideal behandelt?
Das menschliche Qemüt ist viel leichter zu rühren, als zu erheitern;
ich halte dnher die Ansicht Plato's, ein Dichter müsse Lustspiele ebenso-
ffut machen künnen, wie Trauerspiele, nicht für richtig. Es hat viele
bewunderte Tragiker, aber sehr wenige bewunderte Lustspieldichter ge-
geben, und nur einer wird in Beidem gleidi bewundert — Shakespeire,
DigitlZCü by Google
71 —
In der »Pucelle wird das Mädchen von Dom R^my
durchaus nicht als schlecht, nicht als p^emein, sondern mit
efner gewissen liebenswürdij^^fjn Schelmerei behandelt, und
alle die kleinen Bosheiten und aiieSat> re im Gedicht Voltaire's
zielen weit melir auf andere Personen, auf Zustände oder
auf Ideen, die er durch LächerU'chmachung angreiten will.
Der ganze Spaß, der Johanna selbst angeht, dreht sich immer
um die Frage ihrer Jungfrauschaft, und diese wird vom An-
fanjT bis zum Ende in allen 21 üesängen als wohlerhalten
hingestellt. Im zweiten Gesang wird nämlich der plötzlich
auftauchenden derben Stallmagd aus dem Wirtshnuse zu
Dom Remy nach »sehr gewissenhafter Untersuchung ein
-auf Pergament geschriebenes Patent ausgefolgt, in welchem
ihr die Jungirauschaft »bescheinigt wird, und der Schluß,
nämlich die letzte Zeile des 21. Gesanges, kündigt das —
nach so vielen schlimmen Gelegenheiten des Lagerlebens —
abermals an, denn sie lautet, wie triumphierend: »Engländer,
sie ist eine Jungfrau!«
Wer nun über diesen Scherz nicht lachen kann oder
wer sich gar darüber, in Tugendnebel eingehüllt, entrüstet,
der verdient nicht, in seinem ganzen Leben überhaupt über
etwas lachen zu können. Die arme Johanna veriiert hier
gar nichts an ihrer historischen Reputation, und mit welcher
Wärme^ mit welchem Mitleid Voltaire sich des Mädchens
an ernstem Orte anninunt, ersieht man mit Freude aus dem
Artikel »Pucelte« in seinem philosophischen Wörterbuch.
Shakespeare aber stellt in Heinrich VI. die Pucelle dar als
eine Hexe^ die sich mit den bösen Oeistem verbinde^ auch
von Talbot und den Cngiändem als Zauberin, und durch-
aus nicht als eine heldenhafte, begeisterte und begdstemde
Prophetin angesehen wird, ihre Leistungen im Kricige stellt
Shakespeare nicht als solche des Mutes, sondern als solche
der Schlauheit und des Befavges hin. Und was endlich ihre
Jungfrauschaft behifft, ihren ganzen Charakter als Frau, als
Mädchen — es ist ein Oraus! aber es ist so so ent-
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— 72 —
puppt sie sich in dem englischen Drama zum Schlüsse als
ganz gewöhnliche Regimentshure. Und nach wie viel LQgen
sie selbst diese Enthüllung macht!
Zuerst weist sie, als Gefangene der Engländer, ihren
Vater als »elenden Bettler und abgelebten Knecht« von sich,
denn sie ist »aus dem Königsgeschlecht entsprossen, heilig
und tugendsam«; »wißt«, spricht sie dann die Engländer
an, »da6 Jeanne d*Arc seit ihrer zarten Kindheit Jungfrau
bliebe selbst in Oedanken keusch und unbefieckic Als sie
aber den Tod vor sich sieht, s^ sic^ um sich zu retten,
sofort: »ich bin schwanger.« York darauf: »Verhflt es
Oottl Die heOige Jungfrau schwanger?« Und nun gibt
Johanna ihre Liebhaber der Reihe nach bekannt »Alencon
war's, nicht Karl, der meine Lieb* genoB,« dann aber: »Nicht
doch, Renier war's, der mich gewonnen«; worauf York:
»Ei, das ist mir ein Mädchen, das nicht weiß, so viele
waren's, wen sie soU verklagen,« und Warwick sagt: »Ein
Zeichen, dafi sie allen willig war«; zum Schluß York: »Und
doch wahrhaftig eine reine Jungfrau!«
Kaum eine einzige Figur in den Shakespeare*schen Dra-
men macht einen so widerwärtigen Eindruck wie jenes
JMIdchen von Orleans; warum also wendete Schiller sich
nur gegen Voltaire und gar nicht gegen Shakespeare? Wenn
Schiller's Reflexionen Aber Voltaire's Charakter in jenem
Gedichte ^Das Mädchen von Orleans richtig wären, so liebt
es also Shakespeare, und sogar iioch mehr als der Verfasser
der Pucelle , dem Herzen »seine Schätze zu rauben, das
Strahlende zu sciiwärzen« und das Lrliabene in den Staub
zu ziehen.«
Ist's denn wirklich so? Hat Schiiier das von Shakespeare
auch geglaubt?
* «
*
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— 73 —
Von unseren Klassikem war es wohl nur Wteland» der
in der Oeffentlichkeii, und nicht etwa nur hi Privatgesprichen,
Voltaire ais KulhiigrSsse richtig einschätzte^ und ihn nicht
btoss vom ästhetischen Schulmdsterstandpunkte aus be-
urteilte;
Im 19. Jahrhundert, namenflich in der ersten Hälfte des-
selben, war in Deutschland nur selten von Voltaire die Rede^
und wenn es geschah, war es zumeist nur Hass und Be-
schimpfung.
Moralisten von der borniertesten Observanz, fanatische
Christen oder Rationalisten, und wie immer in solchen Fällen,
als Schweif der letztgenannten beiden Kategorien: die Ro-
mantiker und die idealistischen, bissigen Ästhetiker konnten
Voltaire nicht klein und nicht schlecht genug machen.
Jedenfalls einer der schlimmsten dieser Gci^ner Voitaire's
ist aber ein Engländer, Carlyle nämlich, über den ich noch
eingehender sprechen werde, und der in seinem Essay
»Voltaires der im Jahre 182Q erschienen war, Lob und
Tadel, Verdächtigung und Beschimpfung, Nörgelei und Ver-
drehung zum Zwecke der Degradation Voitaire's in so ge-
schickter Weise in Anwendung brachte, daß man beinahe
vermuten könnte, der Aufsatz sei von einem Jesuiten ge-
schrieben. Mit seinem Pathos, mit seinen religiös, nament-
lich christlich, gefärbten Exklamationen, weiß er seine Dolch-
stiche so ZI! vergiften, daß, wenn je auf jemanden, so hier
auf den so innig christlich gesinnten C^arlyie, jenes Wort
paßt, das ich in der Erzählung >Nach der Predigt (in den
»Phantasien eines Realisten«^) bildete, nämlich das Wort:
von der »Perfidie des frommen Tierchens
Im Jahre ld56 publizierte Jürgen Bona Mayer eine gute
Studie »Voltaire und Rousseau in ihrer sozialen Bedeutung«.
Im Jahre 1860 erschien Hermann Hettner's »Geschichte
der französischen Literatur im 18. Jahrhunderts in welchem
Werk Voltaire mit Achtung und meistens mit Gerechtigkeit
beurteilt wird.
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— 74 —
Im Jahre 1872 kam dann David Strauß mit sanem
Buche: »Voltaire; sechs Vorträge von Prinzessin Alice von
PreuBen.« Auch Strauß wird Voltaires Verdiensten, Be-
deutung und selbst seinem Charakter ziemlich gerecht, wenn-
gleich es nicht zu verkennen ist, daß sein Deutschtum und
die Anwesenheit der Prinzessin ihn, wohl unbewußt zu
einer gewissen Kflhle bestimmte^ die sogar mitunter eine
komische und zugleich irritierende Wirkung auf manchen
Leser hervortmngt; nämlich dann, wenn Strauß im Tone
des tiberiegenen, aber in gnädiger Herablassung dennoch
wohlwollend uifeilenden Schulmeisters lobt Sein Tadel
wirkt viel weniger irritierend als diese Art von Lob.
StniuB ist, bei allen wirklich enormen Verdiensten um Auf-
kllning und Bildung, doch wohl kein eigentlich feuriger Geist
zu nennen,*) und man kann bei seinem Naturell gewiß keine
lodernde Begeisterung für irgend jemanden erwarten; den-
noch vermochte es das Nationalitätsgeffihl, ihn zu einer
rdathr warmen Biographie Hutten's zu bringen, zu einer viel
wärmeren als jene Voltaire's. Was ist sber fQr die europäische
Kultur ein Ulrich v. Hutten — gesetzt auch, er wäre aK
geworden — im Vergleich mit Voltaire!
Im Jahre 1874 brachte der neue Plutarch« eine schöne
biographische Studie: Voltaire« von Karl Rosenkranz, die
einen sehr wohltuenden Eindruck macht, wie ihn eben nur
ein edler und philosophischer Geist hervorzubringen vermag.
Im Jahre 1878 erschien mein hier schon mehrfach
erwähntes Buch Das Recht zu leben und die Pflicht zu
sterben* mit einem ziemlich umfangreichen Einleitungsicapitel
über Voltaire.
' Sehr ungerecht und g&nz deplaziert erscheint mir jedoch der An-
griff Nietzsche'^ auf Strauß in seinen Unzeitgcniäßen Betrachtungen«;
ungerecht und undankbar gegen dessen Leiälungen und pietätlos gegen
einen solchen lebenslang im edlen Kampfe gegen Pfaffen und Pfäffcrei
vielerlei Art eifrigen Schriftsteller der zugleich auch als Stilist, z. B. in
seinem Ulrich v. Hutten, zu den Zierden der Literatur gehört Nietzsche
ist ein originalerer Geist als Strauß, aber Strauß ein unveigleidilich
scsensreicheier und weniger sdiädlicber Schriftsteller als Nietzsche.
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— 75 ~
Eine durch Oediingtheit und Klarheit, wie auch durch
Objektivittf ausgezeichnete Leistung ist das im Jahre 1885
erschienene zweibändige Werk: » Voltaire's Leben und Weike«
von Richard Mahren holtz, der schon im Jähre 1882 »Vol-
taire-Studien« veröffentlicht hatte.
Sehr gut zur Einführung in das Verständnis Voltaire's
und namentlich der französischen Oesellschaft des 18. Jahr-
hunderts ist das im Jahre 1808 erschienene Buch »Voltaire«
von Dr. Käthe Schir machen
Außer diesen deutschen Werken wären noch die vielen
in neuerer Zeit in Frankreich publizierten Schriften über
Voltaire zu erwähnen, sowohl Bücher als größere Aufsätze,
von denen die meisten, wie z. B. jene von Nicülardüt,
Nourrisson, Brunt tiere, Faguet usw. gegnerisch, mitunter
sogar im höchsten Orade feindselig sind; Mau gras, der über
Voltaire und auch über sein Verhältnis zu Rousseau schrieb,
gehört nicht unter seine Gegner. Ein schon älteres, höchst
belehrendes und mit Gerechtigkeitssinn geschriebenes Werk
ist das in den Jahren 1867 bis 1 876 erschienene -»Voltaire et
la societ^ fran(;aise au XVIil siecle von Desnoiresterres.
Es ist ganz und gar überflüssig^ hier über alle einzelnen
Leistungen und praktischen Täti^^keiten Voltaire's zusprechen;
wenn man sie noch niciit kennt, so kann man sich aus
den oben angeführten Werken, namentlich jenen von Strauß
und Mahrenhoitz, leicht die notwendige Belehrung ver-
schaffen. In diesem Aufsatze handelt es sich mir
vielmehr hauptsächlich darum, die Persönlichkeit Vol-
taire's von dem so massenhaft angeworfenen Kot
zu befreien. Das erscheint mir aber nicht nur darum not-
wendig, weil es eine Forderung der Gerechtigkeit ist, sondern
auch deswegen, weil die wegwerfende oder verkleinernde
Beurteilung eines solchen Kämpfers auf die Wertschätzung
seiner Tendenzen zurOdcwirft, und es für das OlQck der
Menschen sehr wichtig ist, eben diese Tendenzen vor jeder
Oeringschätzung zu l>ewahren.
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— 76 -
Vorerst stellen wir eine ganz kurze Charakteristik Vol*
taire's aus bloßen Zitaten von Schriftstellern zusammen, von
denen die meisten für ihn durchaus nicht allzu begeistert,
einige seine ausgesprochenen Gegner sind; und zwar voran
die relativ günstigsten Aussprüche Über Voltaire's Wirk-
samkeit und Charakter im Allgemeinen:
Carlyle, dn schon zufolge des Unterschieds der innersten
Naturanlage prinzipielier Oegner, sagt*):
»Wenn man Voltaire und seine Tätigkeit aus dem
18. Jahrhundert hinw^ehmen wollte» so würde dies einen
größeren Unterschied in der vorhandenen Gestalt der Dinge
hervorbringen, als die Abwesenheit irgend eines anderen
Individuums bis auf den heutigen Tag hätte hervorbringen
können. Ja, mit dee einajgen Ausnahme Lulher's hat viel-
leicht in diesen letzten Jahrhunderten kein Mensch von bloß
intellektueller Tätigkeit gelebt, dessen Einfluß und Ruf so
durch und durch curoj3äisch geworden wäre, wie dies mit
Voltaire der Fall gewesen ist
Orillparzer (Aus Paris 1836, Besucli in der Bibliothek);
»Oleich beim Eingang Voltaire s Bildsäule von Erz,
dieses Napoleon's der geistigen Welt, oder Robespierre's
vielmehr, dieser Guillotine verjährter Ansprüche und Über-
lieferungen. Man hat ihn mit Recht in einen Imperatoren-
sessel gesetzt, denn er hat die Weit beherrscht und gemacht,
der einflußreichste Mensch aller Zeiten. Er ist jetzt in
Frankreich vergessen, man kauft seine Werke um zehn Sous
den Band, aber er war der Pflug, der die Erde aufriß, in
die die Zeil ihren Satnen le^te.'
Wieiand — als Literat» namentlich Shakespeare's wegen,
ein Gegner Voltaire's:
Nie hat ein Mensch in der Welt so wohltätig gewirkt,
ohne ihr zugleich Böses zuzufügen.**)
Ooethe: »Voltaire wird immer l)etiachtet werden als
*) In seinem Essay 'Voltaire^.
**) Nach dem Oedichtais zitiert.
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— 77 —
der größte Mann der Literatur der neueren Zeit und vielleicht
aller Jahrhunderte; wie die erstaunenswerteste Schöpfung
der Natur .... Eben dieser Voltaire, das Wunder seiner
Zelt*) .... Byron wußte zu gut, wo etwas zu holen war, '
und er war zu gescheit, als daß er aus dieser allgemeinen
Quelle des Lichts nicht auch hätte schöpfen sollen.«**)
Emil Faguet***): >Fur eine Menge von Fragen, die als
Deiailfragen erschehien, die aber von größter Wichtigkeit
sind in der Administration eines Volkes, gab er aus-
gezeichnete Ratschläge. Er plaidierte fOr die Hygiene . . .
gegen die Protestantenverfolgungen, gegen die Strenge der
Zauberei gegenüber ... er verfolgte Punkt für Punkt eine
ganze Reform der Magistratur und der Kriminaljustiz; be-
kämpfte die Käuflichkeit der Beamtensteilen — griff die Tortur
an . . . plaidierte für Milderung in der Behandlung der De-
serteure . . . eiferte gegen die Tüüess träte (ßeccaria war sein
Schüler.) —
Nochmals Carlyleit)
»Gleichzeitig werden, wie uns scheint, selbst Voltaire's
bitterste Feinde nicht leugnen, daß er einen angeborenen
feinfühlenden Sinn für Rechtlichkeit, sowie überhaupt für
jede Tugend besaß. Seine rasciie Empfänglichkeit für jede
Form der Schönheit ist nicht bloß inteilektuell, sondern
auch moralisch.
sSein praktisches Leben lehrt uns dies durch viele
unzweifelhafte und ihm zur hohen Ehre g-ereichende Be-
weise. Den Hilfsbedürftigen war er stets ein bereitwilliger
Wohltäter, und zahlreich waren die hungrigen Abenteurer,
welche seine Freigebigkeit benützten und dann die Hand
zerfleischten, die sie gefüttert hatte.«
»Wenn wir seine edelmütigen Taten, von der An-
*) in »Wahrheit und Dichtung«.
•*i Z« Eekermann, als dieser bemerkte, Byron scheine Voltaire
studiert und benO'.zt zu haben.
••*) In seinem Werke ^ Voltaire .
t; In seinem Essay >Voltaire<^.
üiyiiizeü by GoOglc
— 78 —
gel^genheit des Abb^ Desfontaine bis zu der der Witwe
Calas und der Frdhner von Saint-Cioude, aufzählen, so
weiden wir finden, daß wenige dem Privatleben angehörige
Menschen dnen so umfassenden Kreis der Wohltätigkeit
gehabt, und denselben so gut überwacht haben.« . . . .
»Sollte man meinen, daß Ehrgeiz einen großen Anteil an
dieser Handlungsweise gehabt halie, so mfissen wir be-
merken, daß Voltaire nach Ruhm eben nicht erst zu geizen
brauchte und daß die Liebe zu solchem Ruhme schon an
und fOr sich die Wirkung einer geselligen, menschen-
freundlichen Oesinnung ist, und wQnschai, als einen un-
ermeßlichen Fortschritt, daß alle Menschen davon beseelt
wären.«
Voltahe machte Inbezug auf menschliche Sdilechtigkeit
manche betrübende Erfahrung, aber trotzdem behielt er
immer noch Mitgefühl für menschliche Leiden und fand sein
Vergnügen darin, sie zu lindern, selbst wenn er sich dadurch
nur einen ehrenvollen Luxusgenuli bereitete ....
»Seine freundschaftlichen Verhältnisse scheinen auffallend
beständig und dauernd gegen seinesgleichen scheint
er, so viel wir bemerken können, nicht neidisch gewesen
zu sein-' . . ^Voltaire besaß wahre Herzensgüte, alle seine
Diener und Untergebenen liebten ihn und blieben lange bei
ihm.«
»Wir wissen nicht, daß er jemals in einem einzigen Falle
einer vorsätzlichen Verleugnung seines Glaubens überwiesen
worden wäre, oder daß er bei all seinen Controversen eine
einzige vorsätzliche Unwahrheit ausgesprochen hätte.« . . .
»Gleichzeitig bewahrt Voltaire immer eine gewisse un-
zerstörbare Humanität, eine Seele, die für den Schrei des
Jammers niemals taub und für das Licht der Wahrheit,
Schönheit, Güte niemals gänzlich blind ist« —
David Fr. Strauß*):
*) In seinen Vortiigen über Voltaire.
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— 70 -
»In seinen eigentlichen philosophischen Schriften . , .
darf man nur hOien, welchen Ton er anschlägt, wenn er
von diesen Dingen spricht, um sich zu überzeugen, daß es
ihm damit redlicher Emst war. In das Scherzen und Spotten
veffflit er in der Reget nur dann, wenn er es mit mensch-
lichem DQnkd zu tun hat, der sich einbildet, diese endlosen
Probleme gelöst zu haben« . . .
»Wenn es ihm auch jedesmal zunächst um den einzelnen
Fall zu tun war, der seine menschliche Tdlnahme erweckt
hatten so hatte er doch immer zugleich das Allgemeine^ die
Vetbesserung der Rechtspflege fiberhaupt im Auge . . . .
doch auch Ober das Gebiet der Rechtsgesetzgebung und
Rechtspflege hinaus, auf das der Verwaltung und Staatsein-
richtung überiiaupt erstreckten sich Voltaire's reformatorische
Bestrebungen« . . .
»Das Verfahren gegen die Jünglinge von Abbevflle*)
kam Voltaire so besonders abscheulich vor, weil hier zum
todeswürdigen Verbrechen gestempelt wurde, was höchstens
ein polizeilich zu rügendes Vergehen war. —
»Ich begreife nicht, schrieb damals Voltaire aus
Ferney an D'Alembert, der ilini die Saclie zu gleichmütig
aufzunehmen schien, »wie denkende Wesen in einem Lande
von Affen bleiben mögen, die so oft zu Tigern werden.
Was mich betrifft, so schäme ich mich, auch nur an der
Grenze zu wohnen. Nein, jetzt ist keine Zeit mehr, zu
scherzen; Witzworte passen nicht zu Schlächtereien, wie?
In Abbeville verurteilt Busiris**) im Richtergewande Kinder
von sechzehn Jahren und sein Spruch wird bestätigt, und
die Nation läßt es sicfi [^refallenl' — Auf diesen tief
revolutionären Oedanken möchte ich die Aufmerksamkeit des
•) Die das Cruzifix beschädigt (oder beschmutzt), vor einer Pro-
lesdon den Hut nicht abgenommen und religiös anstößige Lieder ge-
sungen hatten Dehbarre, der eine von ihnen, wurde erst gefoltert,
um ihm GeäUndnissc abzudrängen, diuin enthauptei, dann verbrannt.
**) Ein grausamer Sgyptlsdier Kön^» der alle Fremden am Altare
des Zeus scnlachtete.
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— 80 ~
Lesers ganz besonders hinlenken. — »Kaum spricht man
einen Augenbliclc davon, und geht dann in die leomische
Oper. Es ist wohl eine Schande^ daß ich in meinem AlteO
noch so lebhaft empfinde. Ich beweine die jungen Leuten
denen man die Zunge ausreißt» während Si^ mein Freund,
sich der Ihrigen bedienen, um höchst anmutige Dinge zu
sagen. Sie verdauen also gut, mein lieber Philosoph, und
ich verdaue nicht Sie sind noch jung, und ich bin ein
alter, kranlcer Mann; entschuldigen Sie meine Trauriglceit!«
Wie viele, wirklich sehr schlechte Dichttingen mflßte
man einem Manne nachsehen, der so fühlt? Und wie viele
von den größten Dichtern der Welt besaßen eine solche
Glut und einen solchen Zorn über Gewalttaten? Namentlich
über Gewalttaten, die sie selbst in keiner Weise trafen und
die sich zu ihrer Zeit ereigneten, also für eine »poetische
Bearbeitung^'^ noch nicht brauchbar genug waren. —
Hermann Hettner sagt:
»Er war ungemessen empfindlich und ehrgeizig, aber
er war frei von jener neidischen Eifersucht, welche den
Ruhm für sich ganz allein will und neben sich keine andere
Größe duldet. Wenn er gegen die Crebillon, Montesquieu,
Buffon, J. J. Rousseau zu Felde zieht, so ist er nicht der
Angreifende, sondern der Angegriffene. Gegen Diderot und
D'Alembert hegte Voltaire jederzeit die wärmste Freund-
schaft und Anerkennung; ja gegen jüngere Schriftsteller,
selbst von abweichender Richtung, wie gegen den edlen
Vauvenargues, war er von überraschender Hingebung« . . .
»Im J. 1731 (wo er 37 Jahre alt war) sehnte er sich in-
folge der Oehissigkeit seiner Gegner uud der Eifersüch-
teleien der von ihm fiberstrahlten Schriftsteller nach stiller
Zurfid^ezogenheit. »Mein Ootti« schrieb er an seinen Freund
Qdevillei »was müßte es für ein veignQgliches Leben sein,
mit drei oder vier gleichgesinnten Menschen zusammen zu
*) Von 72 Jahren.
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— 81 —
leben, die Ansichten auszutauschen ohne gegenseitige Eifer-
sucht, sich herzh'ch zu liehen, die Kunst zu pflegen und von
ihr zu sprechen, sich aneinander zu bilden und aufzuklären;
ich träume, ich werde noch eines Tages in einem solchen
Paradies leben.
^Kein anderer als Voltaire ist in Frankreich der Urheber
und Verküiider des in der französischen Revolution SO
wichtig gewordenen Wahlspruchs: Liberte et Egalit^ . . .
Im innersten Herzen grollt Voltaire den Standesunterscbieden
und blosse Geburtsrechte will er unter keiner Bedingung
gelten lassen.
*Man pflegt Voltaire meist der alleroberfiäch liebsten
aristokratischen Engherzigkeit anzuklagen. (Siehe Louis Blanc
in seiner Geschichte der französischen Revolution.) Diese
Anklage ist unbegründet. Dies bezeugt nicht nur seine
menschenfreundliche Wirksamkeit in Femey, das bezeugen
auch viele seiner Briefe und Gedichte . . . Wie fest und
glühend ist sein Hass gegen alle aristokratischen Zusammen-
kettungen . . . Wie bitter kl^ er in einem vertrauten Briefe
daß man an die armen Leute gewöhnlich nur denken wenn
sie und ihre Herden von Seuchen heimgesucht werden . . .«
>Es blieb trotz allem wahr, was O>ndorcet (in seiner
Lebensbeschreibung Voltaire's) sagt, daB Voltaire auch in
seinen geheimsten Briefen und Mitteilungen an die Fürsten,
(Friedrich» Katharina, Gustav III., Christian Vli.) nie seine
politische Überzeugung und Bestrebungen verieugnete.« —
Richard Mahrenholtz:*) »Man hat den Dichter Vol-
taire nur als Aggegrat des tendenzphilosophischen und sa-
tyrischen Kritikers gelten lassen. Und doch beweisen mehr
als eine vertrauliche und darum aufrichtige Äulierung, wie
sehr Voltaire durch unmittelbaren Antrieb zum Dichten hin-
gezogen wurde; wie es ihm immer Selbstzweck, nicht bloß
Mittel seiner politischen und religiösen Tendenz war.«
*) In den •Voltaire-Studien« dieses Literaturhistorikers.
Popper, Voluirr. 6
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— 82 —
»Voltaire soll ausschlieljlich Verstandesmensch pfewesen
sein, ohne Herz und Gemüt, . . . und daß er das Gute, wo
er es ^e\^r\. nur aus Verstandesreflexion getan hätte. Eine
Beurteilung, für die man sich auf Äußerungen Schiller's und
Ooethe's berufen könnte, die aber durch Voltafre's ver-
trauliche Korrespondenz hinreichend widerie;gt wird.« —
Karl Rosenkranz: *)
^Was Voltaire auch leichtfertig oder in leidenschaft-
lichem Zorn gesündigt haben ma^ der Genius der Mensch-
heit muß es ihm vergeben, wenn man den Oreis mit solcher
Gewissenhaftigkeit und Emsigkeit sich des unterdrückten
Rechtes der Unschuld annehmen sieht. Ferney wurde die
Zuflucht der Bedrängten; hier fanden sie Herberge, Rat,
Unterstatzung, hier erblickte nuin das Tribunal der Mensch-
heit" —
Nunmehr dnige Tatsachen:**)
Schon Voltaire's Lehrer hatte bemerkt, daß der Knabe
ein ungemein lebhaftes MitgefOhl besaß und jeder Art von
Leid und Unglück gegenüber den dringenden Wunsch zu
helfen zeigte.
»Mehrere Male In sehiem Ldwn mußte VoHalre um seiner
Schriften willen die Flucht ergreifen.«
Obwohl ein Bewunderer oder wenigstens Vertrauens-
mann Friedrichs des Großen, war er doch so wenig
Schmeichler oder Höfling, daß er, in seiner innersten Seele
von den Kriegstaten Friedrichs wenig erbaut, zugleich mit
seinen Glückwünschen seine humanen Gefühle nicht unter-
drückte, und stets die Bitte an ihn richtete, Frieden zu
machen und die Menschenschlächterei einzustellen.«
»In der Übernahme der Verteidigung des Calas war
das Erstaunliche und Große das in den Annalen Frankreichs
(und anderer Länder) noch nicht dagewesene, daß ein
•) Im Essay ^Voltaire» Neuer Plutarch (Bd. I).
.**) Zumeist nach Schirmacher's »Voltaire« zitiert
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- 83 —
Schriftsteller, eine Privatperson den Rechtsstreit ihm ganz
fremder Leute gegen ein ganzes Heer gewappneter Tra-
dttionen, g^en einen obersten französischen Gerichtshof
aufnahm« »Keiner von den anderen MAnnem, wie
Rousseau, Diderot, d'Alembert usw. hat gleich Voltaire . . .
die Rehabilitierung unschuldig verurteilter Personen oder die
Verteidigung barbarisch bestrafter Freidenker unternommen.*)
Das darf t>esonders bei dem Protestanten Jean Jacques
Rousseau Wunder nehmen. Um so mehr, als bereits 1761
Rousseau von Montauban aus darum angegangen worden,
sich des verfolgten protestantischen Pastors Rochette an-
zunehmen, der 1762 in Toulouse hingerichtet wurde.
Rousseau blieb gegen diese Bitten taub. Und im Jahre 1764,
als die Untersuchungen zur Rehabilitierung des Calas bereits
in vollem Gange waren, erklärte er, sein Äußerstes ffir die
verfolgten Protestanten getan zu haben, faidem er einen
Brief an Christophe de Beaumont, den Erzbischof von Paris,
geschrieben. Voltaire hatte eine andere Auffassung von
dem, was ein Aufklärer von sich und was die Welt von
ihren Aufklärern verlangen dürfte.«
-Inmitten einer grenzenlos frivolen Zeit verstand er,
treue Neigung des Herzens zu bewahren. Zu dieser Treue
gegen Menschen gesellte sich die gleiche Treue gegen
Ideen! Der Greis wiederholt noch das nämliche Credo der
Auficlärung, welches einst das Kind vom Paten Chateauneuf
gelernt.« —
Und das UngUublichste an Konsequenz und Chaiakter-
stSrk^ in der Treue gqpen seine Oberzeugungen bewies er
auf seinem Sterbebette;, am 30. Mai 1778; als Abh€ Mignot
mit dem Pfarrer von St. Sulpice erschien, dieser den mit
dem Tode ringenden vierundachtzigjShrigen Mann zu quälen
begann und dem sterbenden Voltaire die Frage in die
* Uber welchen PtinVt ;c!ioil obcti bCEfigUch DidCfOt ttod
d'Alembert einiges mitgeteilt wurde.
6*
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— 84 —
Ohren schrie, ob er die Göttlichkeit Jesu aniTkcnne! Un-
willig wendete sich der Sterbende von diesem Anfange eines
theologischen Examens ab, stieß mit seiner Rechten an das
ICftppchen des Pfarrers, schob ihn zur Seite und rief, während
er sich auf die andere Seite herumwarf: »Mein Gott! Sprecht
mir doch nicht von diesem Menschen und laßt mich ruhig
Sterinen!«*) Den Tag darauf starb er, sanft und ruhig, wie
er es wünschte; im dunkeln Alkoven, von Allen (auch von
seiner Nichte) verlassen» nur sein Kammerdiener sa6 vor
seinem Bette. »Adieu, mon eher Morand, je me moeurs,«
sagte er zu Moiand, drQckte ihm die Hand und verschied.
•
»Was fOr ein außerordentlicher, herrlicher, gütiger
Mensch mufi das gewesen sein,« wird gewiß jeder denken,
der die eben angefOhrten Urteile über Voltaire gelesen;
wobei ich noch hervorhebe, daß ich die Urteile der fQr ihn
durchaus begeisterten MSnner gar nicht mitgeteilt hatte.
Erfährt man nun zum ersten Maie, weiciie Ansiciiten
über Voltaire aber faktisch die allgemein geltenden sind, so
muß man sich wohl sagen: Wenn ein solcher Mann ge-
tadelt, beschimpft, mißachtet wird, so könnte es gferechter-
weise doch nur dann L;esctiehen, wenn irgend welche
schreckliche Schandtaten in dem Leben dieses Mannes, viel-
leicht irgend welche furchtbare Geheimnisse, die man erst
durch pfenauere biographische Forschun<Ten entdeckt hatte,
vorhanden waren, Fehler oder gar Verbrechen, die man neben
allen Vorzügen und Tugenden nicht ignorieren könne?
Was mag nun dieser Voltaire wohl angestellt haben?
Welche dunkle Punkte finden sich in seiner Lebensführung?
*) Aus den verschiedenen Berichten über Voltaire's Ende tls die
wahrscheinlich richtige Darstellung entnommen.
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— 85 -
Gewiß, es gibt unter den vielen bedeutenden Männern
der Menschheitsgeschichte derer genug, bei deren Beurteilung
Lob und Tadel oder sogar Lob und Verwünschung gleich-
zeitig auftreten müssen, weil sich eben ihr Outes und ihr
Böses gänzlich oder nahezu das Gleichgewicht halten.
Wie steht es damit bei Voltaire?
Wir wollen, damit man das erfahre^ in objektiver Weise
die wtcliiigsten voigebrachten Vorwürfe gerade so wie oben
die Lobesworte, in Folgendem vorfOhren, sie aber auch
einer grfindlichen Beurteilung unterwerfen. —
Wenn man die gegnerischen Bemerkungen in den be-
treffenden Werken studiert, so zeigt es sich, daß sie alle in
folgender Weise charakterisiert werden können:
Man tadelt aus prinzipieller Gegnerschaft
Man tadelt aus Vorurteil.
Man tadelt aus speziellem Mi (V erständnis.
Man verdächtigt oder verleumdet liberhaupt sehr gerne.
Man degradiert Leistunj^en oder Handlungen durch Ver-
olefchun^f mit Leistungen oder Handlungen Anderer, wobei
man aber alles das verschweigt, worin wiederum diese
Anderen keinen Vergleich mit Voltaire aushalten.
Man sucht, ihn herabzusetzen, indem man Andere un-
berechtigt oder willkürlicher Weise emporhebt; oder, indem
man dieselben Taten oder Eigenschalten, die man an Vol-
taire tadelt, bei ihnen beschönigt, oder in besonders
schonender Weise und in milden Worten erwähnt, oder auch
in erkflnstelter Weise und ungerechtfertigter Art rechtfertigt,
oder , indem man solche Fehler, wie auch sonstige Fehler
überhaupt, gänzlich verschweigt
Auch variiert der Ton in den gegen Voltaire erhobenen
Vorwürfen in mannigfaltiger^Weise; bald herrscht ein trockener
Ton, bald der pathetische und entrüstete, bald der scheinbar
ruhige aber desto mehr verkniffene Ton. —
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I
- 86 -
»Nach unserer Ansichtc, meint Carlyle in dem früher
zitierten Essay, tist, wir gestehen es, bei Betrachtung von
Voltaire's Ldien, die Haupteigenschaft, welche sich darin
zeigt, jene, für welche >Gewandtheit< der passendste Name
zu sein scheint.
Nun ist es ja gar nicht zweifelhaft, daI5, zum Segen für
Voltaire s Person wie für seine großen aligemeinen Be-
strebungen, seine Gewandtheit eine ganz aulierordentüche
war; war das aber wirklich seine Haupteigenschaft«? Wie viele
Männer, die man aber neben Voltaire gar nicht nennen darf,
bewiesen nicht ebenfalls eine enorme Gewandtheit! Während
der Renaissance wimmelte Italien von solchen Männern, und
im Frankreich des 18. Jahrhunderts beinahe in gleichem
Grade, wir wollen nur: Beaumarchais, ja wir Icönnten auch
Cagliostro und ähnliche Individuen nennen, die es an Ge-
wandtheit mit Voltaire ganz gut aufnehmen konnten. Und
da man in der Tat bei Nennung dieser Eigenschaften an
solche MSnner denid, so ist die Absicht Cariyle's, Voltaire
zu degradieren, ganz offenbar. Voltaire als Hauptdgenschalt
nur Gewandtheit zuschreiben, ist dasselbe, wie von Na-
poleon sagen: Seine Hauptdgenschaft war ein starkes Ge-
dächtnis, oder sein robuster Körper!
Auch soll Voltaire, nach Carlyte, nur »viele unter-
geordnete Tugenden« gezeigt haben; zufolge welcher
Bezeichnung man also: Unerschütterliche Güie im Privat-
leben, und allgemeine humane Bestrebungen, die erst mit
dem letzten Atemzuge aufhörten, »untergeordnete« Tugenden
nennen müßte! Welche höhere Tugenden, muß man da
wohl fragen, zeigten denn jene anderen großen Männer,
die die Menschheit und Carlyle f;elbst so sehr verehrt?
Auf dieser seltsamen Schätzungsart basierend, und mit
dem weiteren Zugeständnis, Voltaire habe auch »eine an-
gemessene Würdigung der höchsten Tugenden« — welche
Tugenden die »höchsten« sind, darüber Idärt uns Carlyle
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— 87 —
nicht auf -— »und weniger Fehler besessen, als in seiner
Lage zu erwarten und vielleicht zu verzeihen gewesen
wären«, nennt Carlyle Voltaire einen sehr erfahrenen
und hochgeachteten Geschäftsmann «(!) auf welche ge-
nerelle Bezeichnung — die übrigens auch der Reaktionär
Faguet auf Voltaire anwendet — wohl nicht so bald Jemand
verfallen dürfte, der nur im Geringsten Achtung vor aktivster
Menschenfreundlichkeit überhaupt besitzt, geschweige Jener,
der Voltaire s ganzes Leben unvoreingenommen betrachtet.
Aus den bisherigen Wendungen Carlyie's ist wohl
schon zur OenOge zu erkennen, welche hämische Gehässig-
keit In seiner Auffassung und In seinen Ausdrücken versteckt
liegt Obwohl nun im Grunde nicht gar viel daran 11^
wenn er in seiner gewohnten weibisch-spitzen Weise an
Voltan« Medisance abt, wie er sie an so vielen edlen
Männern — sogar auch an Diderot in noch empörenderer
Weise ~~ fibte^ so führte ich dennoch diese Stellen an,
damit der noch nicht genug erfahrene Leser sehe^ wohin
religiöse Erziehung oder Anlage einen sonst bedeutenden
Geist führen kann.
Ich gebe aus demselben Grunde noch ein anderes
analoges Detail, das wohl auch nur von geringer sachlicher,
aber von großer symptomatischer Bedeutung ist. In seinem
Buclie Über Helden und Heldenverehrung^^ nennt Carlyle
gele<:fentlich der Erwähnung der Ovationen, die Voltaire im
Jahre 1778 in Paris dargebracht wurden, diesen den: »Ein-
geschrumpften Oberpriester des Encyclopädismus.«
So wegwerfend, mit verächtlicher Hervorhebung des
alten und kranken Körpers eines Großmeisters der Kultur
und Literatur zu sprechen, ist eine Art, die man sonst nur
in bissigen Aufsätzen polemisierender Zeitschriften von der
unvomehmsten Gattung anzutreffen gewohnt ist. Selbst der
heftigste Gegner des Piapsttaims wird es für unwürdig und
unpassend finden, z. B. den jüngst verstorbenen Papst
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Leo XIII. den >eingeschrurnpftLn Überpriester des Katholl-
zismus< zu nennen, obwohl Leo ebenso oder noch mehr
»eingeschrumpft« und noch älter war als Voltaire.
Man sieht also hier, in diesem an sich unbedeutenden
Detail wiederum, wie die Religiösen, die immer von den
erhatienstoi Transzendenzen und von den unaussprechlichen
Tiefen des Gemüts schwärmen, nicht einmal den ersten
Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen, indem sie gerade
das, was sie für roh oder frivol an Anderen verdammen,
Anderen gegenüber selbst betätigen.
Nun aber wollen wir von dem allgemeinsten Tadels-
worte sprechen, das von Carlyle gegen Voltaire angewendet
wurde:
»Voltaire war ein ^eborner Spötter. Der Spott ist die
kleinste von allen Fähigkeiten, welche andere Menschen sich
Muhe geben,*) mit einem {gewissen Grade von Achtung zu
vergelten. Der Spott ist seiner Natur nach egoistisch
für ihn (Voltaire) ist in allen Dingen die erste Frage
nicht: Was ist wahr? Sondern: Was ist falsch? .... Er
ist bloß ein großer Persifleur kein Dichter und
Philosoph, sondern ein volkstümlicher unterhaltender
Sänger und Redner ein leichtfertiger, sorgloser,
artiger Weltmann «♦♦)
Nach allem, was der Leser bisher über Voltaire erfahren,
ist wohl jede Kritik dieser Cariyle'schen Ansichten ganz
und gar fiberilQssig, man kann sie Oberdies mit allem Grunde
gewiB sehr merkwfirdig nennen. —
Wir finden aber einen allmählichen Obeigang von
diesen Ansichten zu jener von David Strauß, der Voltaire
als Menschen jedes Oemüt abspricht; eine Ansicht, über die
*\ Diese Übersetzung rührt von Krämer her und der ganze Cstty
> Voltaire« ist in der funfbändigen Übersetzung von Cariyle's Essays
erhalten.
**) Die Unterstreichungen rühren von mir her.
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- a9 -
man bei Kenntnis seiner Handlungen und Briefe ebenfalls
nicht wenig erstaunen muß. Sie steht ja auch mit jenen
Aussprüchen Cariyle's in Widerspruch, die wir zu Anfang
dieses Abschnittes zitiert hatten.
H ettner nennt, ähnlich wie Carlyle, den Ton in Voltaire's
Schriften, besonders den Streitschriften» „leichtfertig^; offen-
bar nur darum, weil in ihnen ein enorm beweglicher, schlag-
fertiger, ganz und gar nicht schwerfälliger, langweiliger oder
mürrischer Geist hervorteuchtet Diese unrichtige Auffassung
in solchen Fällen findet man übrigens ziemlich oft; sie ist
zumeist eine unbewußte, instinktartige Finte, um eigene
Schwerfälligkeit in der Darstellung als notwendige Bedin-
gung für Gründlichkeit hinzustellen und so den Mangel als
Tugend zu deklarieren.
Auch soll, nach Hettner, Voltaire^ der doch der beste
JMensch von der Welt, und voll der besten Absichten war,
wie auch voll des grössten Fleißes und des heftigsten Dranges,
Bildung zu verbreiten — eine „mephistophelische^ Natur
besessen haben!
Und femer soll — wiederui» nach Carlyle — Voltaire s
herrschender Beweggrund nur ein „gemeiner Ehrgeiz" und
der „Wunsch, über andere Menschen zu herrschen" Seewesen
sein. Welche Beschuldigung geradezu unverständlich ist
und ebenfalls mit den oben angeführten Lobesworten
Carlyle's in Widerspruch steht: aber von mir miterwähnt
wird, um zu zeigen, zu welchem Widersinn prinzipielle
Gegnerschaft ein lebhaftes Temperament ohne Gerechtig-
keitssinn führen kann.
Aber es soll nicht unausgesprochen bleiben, wa«; ich
mir hierbei außerdem noch denke: Die Beschuldigung eines
„gemeinen Ehrgeizes" als herrschender Beweggrund bei einem
Voltaire, erscheint mir schlimmer als unrichtig oder unsinnig,
nämlich: als ruchlos. Und als beinahe nicht besser er-
scheint mir die Unterstellung Hettner's, der da sagt: Voltaire
ist ein gewaltiger Agitator, welcher in die großen Bewe-
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- 90 —
gungen der Geschichte eingreift, weil es ihm Ruhm bringt
und weil der gereizte Ingrimm seiner Seele ihn dazu zwingt.«
Das heißt doch, jemandem mit aller Gewalt schlecht
machen und seine edelsten Bestrebungen unlauteren Motiven
zuschreiben! Man erinnere sich an die unbestrittene, oben
erzählte Tatsache, wie der beinahe sterbende Voltaire sich
bei der Nachricht von der Begnadigung Laiiy's benahm.
Nur aus Ruhmsucht hat sich Voltaire so vielen Gefahren
ausgesetzt, so oft fluchten müssen oder sich in seiner Ruhe
stören lassen? Oar nicht aus MenschenKebe? Hat der erste
Ptesimist Europa's gar keine philanthropischen OefQhle be-
sessen?
Und was will denn Hettner mit dem gereizten Ingrimm«
hl Voltafav's Seele Schlechtes beweisen? Ingrimm, Zorn bei
Anblick von Unrecht oder Gewalttat, die an anderen ver-
übt werden, beweist doch eben das Vorhandensein jener
edlen, menschenfreundlichen Triebe, oline die ein Reformer
oder Revolutionär (im guten Sinne) gar nicht denkbar ist! —
Die Antipathie Carlyle s, des mürrischen Puritaners aber,
dem die sonni^^e Heiterkeit und das von jeder Mystik freie
Wesen Voliaire s in tiefster Seele zuwider sind, geht so weit,
zu behaupten: „Das höhere Lob, ein rechtes oder edles Ziel
gehabt zu haben, . . . kann ihm aus sehr plausiblen Gründen
ganz und gar verweigert werden." Da hiernach Carlyle das
unausgesetzte Bestreben nach Verbesserungen der mensch*
liehen Zustände in materieller und geistiger Beziehung noch
immer nk:ht als ein „rechtes oder edles" Ziel gelten lassen
will, so müßte man erst bei ihm erforschen, was er denn
eigentlich als „recht und edel** ansieht Wir andern alle
nennen dieses Bestreben Voltaires recht und edel, und
shid jedem dankbar» bei dem wir ein solches zu entdecken
vermögen.
Aber man kann fOr höchst wahrscheinlich annehmen,
daß Carlyle's ,^htes Ziel" irgend dne transcendente
üiyiiizeü by GoOgle
— 91 —
Schaum sc h 1 ä [^erei zur Voraussetzug hat, und das ent-
nehme ich folgenden Stellen in seinem Essay:
»Die göttliche Idee, das was auf dem untersten Grunde
des Scheines liegt, war niemals einem Menschen unsicht-
barer .... Er liest die Geschichte nicht mit den Augeti
emes frommen Sehers .... Er singt kein Miserere über
das menschliche Leben .... Er hänp^t sich nicht auf und
ersäuft sich nicht, denn er weiß recht wohl, daß der Tod
ihn von selbst sehr bald dieser Mühe überheben wird . . .
Das Leiden trägt allerdings für ihn kein kostbares Juwel
im Hauptep sondern ist im O^enteil ein ununterbrochenes
Ärgernis .... wenn er daraus nicht Demut und die er-
habene Lehre der Resignation lernt usw.«
Hiemach sielit man, was Carlyle als rechtes und edles
Ziel vorschwebt; er, Gariyle, sieht, »was auf dem untersten
Grande des Scheines liegt«, dieser Olücklichste aller Sterfo-
lichenl Waram teilt er doch das auf dem »untersten Grande
des Scheins« Erschaute der Welt nicht mit? Es wäre doch
gar so interessant, es kennen zu lernen 1 Und es erscheint
ihm das sogar als eine so leichte Sache, daß er diese Gabe
auch von manchem anderen fordern zu können glaubt,
wenigstens ist man, ohne die »göttliche Idee« gesehen zu
haben, bei ihm unmöglich ein großer JMann. Wie Carlyle
es ja ausdrücklich sagt: »Er Ist kein großer Mann, sondern
bloß ein großer Persifleur . . . .«
Was das Miserere — Singen über das menschliche
Leben betrifft, so muß man Carlyle direkt widersprechen;
denn Voltaire hörte in Schriften und Briefen gar nicht auf,
es zu singeiiv; man hat oben Proben davon j^esefien —
in dem angeführten Gedicht auf die BariholomäusiiaciU sieht
man ja, wie sehr der Menschheit« ganzer Jammer Voltaire
anfaßte, als er es niederschrieb, und ebenso in dem Artikel
»Frivolit^« in seinem philosophischen Wörterbuch — und
sein Miserere-Gesang nach dem Erdbeben von Lissabon hat
bekanntlich kein geringes Aufsehen gemacht, seinem Pessi-
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— 92 —
misnuii trat ja damals Rousseau mit seinem Optiinisfruis
entgegen. Aber darin hat Carlyle recht: Voltaire hat sich
weder erhängt noch ersäuft; soviel wir wissen, haben das
aber auch alle anderen Miserere-Sänger ebenso wenig getan,
und auch Carlyle selbst nicht.
Das Juwel im Haupte des Leidens zu sehen, ist eine
Geschmacksache; wir hören es mit Interesse an. wenn
Meister Eckhart sich nach Bitternissen sehnt und nehmen
es hin, wenn auch moderne, mehr oder weniger mystisch
angelegte oder so kokettierende Menschen solche Juwelen
in den Leiden finden; es ist das ja immerhin eine ästhe-
tisch simulierende Art von Psychopathie. Gewiß ist es aber,
daß von allen Denen, die Carlyle in seinem Buche Über
Helden und Heldenverehrung als große Männer bewundert,
kaum ein einziger sich damit beschäftigte, Juwelen in den
menschlichen Leiden zu suchen, oder sich darauf etwas zu-
gute getan hätte, sie darin zu sehen (etwa durch ein über-
sinnliches GeffihI«); sondern sie trachteten danach, ohne
sich um irgend welche Juwelen zu bekfimmem, diese Leiden
nach Möglichkeit zu vermindern, wie es eben Voltaire tat,
oder Irgend etwas überiiaupt zu tun; wobei diese Armen
gar nicht an das Miserere-Singen dachten, oder wenigstens
während Ihrer Taten zu singen ganz und gar vergessen
hatten! wie z. B. CromweÜ oder Napoleon.
Wenn man sich die von Carlyle in »Helden und Helden-
verehrung« als Helden, d. i. als groBe Männer, hingestellten
Persönlkrhkeiten ansieht, nämlich: Odin, Mohammed, Dante^
Shakespeare, Luther, Knox, Johnson, Rousseau, Bums,
Cromwell und Napoleon, — so wird man mir wohl recht
geben: Die meisten von ihnen haben [uwelen im Leiden
weder gesucht noch gefunden, und vielleicht nur Einer hat
das von Carlyle gewünschte Miserere darüber gesungen. —
Ich möchte auf den Vorwurf Carlyle's und Anderer:
Voltaire sei nur ein Spötter gewesen, zurückkommen. Er
befindet sich mit seinem Spotten zwar in der Gesellschaft
üiyiiizeü by GoOgle
— 03 —
jedenfalls bedeutender Geister, die Jeder als solche anerkennt,
wie Aristophanes, Lucian, Rabelais und Swift, aber es muß
doch auch auf das Wort von Rosenkranz*) hingewiesen
werden, der mit Recht von der Gedankenlosigkeit spricht,
Voltaire als einen Spötter zu schildern, der alles, auch das
Heiligste^ mit seinem Sarkasmus persifliere.
»Man fiberträgt«, meint Rosenkranz, »eine Seite Voltaires,
die er im Kampf mit dem Aberglauben und mit der In-
toleranz entwickelte^ auf den ganzen Schriftsteller. Man ver-
gißt zwei Drittel seiner Arbeiten, die nicht den geringsten
satyrischen Beigeschmack haben. Zu diesen gehören be-
sonders außer seinen historischen Schriften sdne drar
matischen.« JVIan kann aber noch hinzufügen: Seine philo-
sophischen und naturwi8senschaftlk:hen; denn ich möchte
wissen, was z. B. Voltadre's »Elemente der Philosophie
Newtons mit seiner Spottlust zu tun haben. —
Alles, was wir über die Wahrheitsliebe Voltaire's wissen,
und von der auch oben manches mit Carlyle's eigenen
Worten, den Tatsachen gemäß, berichtet wurde, reicht noch
immer nicht hin utid vcrliitidert nicht, ihin eins am Zeuge
zu rücken und mit der bohrenden Bosheit eines Inquisitors
und in salbungsvollem Predigertone Klagen auszustoßen.
»Seine Liebe zur Walirheit, sagt Carlyle, Asi nicht jene
tiefe, unendliche Liebe, welcfie einem Philosophen geziemt . ..
und wir haben kein Beispiel, daß er für eine vollständig
entthronte und verbannte Wahrheit gekämpft habe.«
Man sieht, daß auch hier das Sieghafte in Voltaire's
Natur, sein Mangel an tragischen Situationsgefühlen, die
Abwesenheit alles Winselnden und — man verzeihe den
derben, aber l>ezeichnenden Ausdruck — alles Raunzenden,
die Antipathie Carlyle's erregt Wir haben da die Dissonanz
zweier grundverschiedener Naturen vor uns, und keinem
halbwegs Urteilsfähigen wird diese Antipathie Carlyle's als
*} In leiaem oben genannten Voltaire-AulMtz.
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Beweis gelten, daß Voltaire darum Vorwürfe verdient, weil
er für keine entthronte Wahrheit« geicämpft hat. Denn
was hätte der Vielverlästerte, arme, große Streiter eigentlich
tun mfissen, um es Carlyle recht zu tun? Hätte er sich
mit ausgesprochener Absicht, oder Anderen zum Trotz oder
sich selbst zum Trotz, solcher entthronter Wahrheiten an*
nehmen sollen, auch wenn er sie für keine Wahrheiten
hielt, bloß darum, um ein bißchen Märtyrer zu spielen?
»Voltaire liebte hauptsächlich die Wahrhelten trium-
phierender Art,« wirft ihm Cariyle vor. Nicht also! Sondern
er verfocht eben Ansichten, die er fflr Wahrheiten hielt und
denen er zum Triumphe verhelfen wollte^ und auch wiric-
lieh verhalf; daß diese Wahrheiten Cariyle nicht sympathisch
sind, ist eine ganz andere Sache. Aber noch mehr: Man
könnte nach Carls le's Worten vielleicht glauben, es sei doch
etwas Wahres in ihnen und ihr Sinn sei der, daß VoUaire,
populär ausgedrückt, stets mit dem Strome der öffentlichen
Meinung und aus kluger Berechnung nie gegen ihn
schwamm.
Genau das Ge^^enteil läßt sich aber in vielen und
sehr wichtigen Dingen nachweisen. Als Voltaire Newton's
Lehre auf den Kontinent brachte und bei jeder Gelegenheit
seine Anschauungen gegen jene des Descartes verteidigte,
stand er ganz allein. Die herrschende Schulmeinung
und der Chauvinismus waren seine heftigsten Gegner, und
dies in dem Maße, daß der damalige Kanzler D'Aguesseau
ihm nicht einmal die Erlaubnis geben wollte, seine »Elemente
der Newton'schen Phiiosophiec zu drucken. Die Cartesi*-
sche Philosophie^ welche von Voltaire angegriffen wurden
war also die »triumphierende« und die Newton'sche^ die er
ihr entgegenstellte, die »verbannte« Wahrheit
Beinahe ebenso ging es mit Voltaire's Bestoeben, Shake-
speare den Franzosen anzurflhmen. In der Streitschrift
gegen Shakespeare, eigentlich gegen die übertriebene Shake-
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spearo-Manie, die er als Lettre de M. de Voltaire ä l'Aca-
d^mie Fran<;aise« im Jahre 1776 vorlesen ließ, erwähnt er,
»mit welcher Erbitterung er verfolgt wurde, well er gewagt
hatte, »den Franzosen voizuschlagen, ihre Einsichten durch
jene einer Nation zu vermehren, von der sie bis dahin nichts
als den Namen des Herzogs von Marlborough kannten «
Man betrachtete diese Unternehmung als Hochverrat, als
Impietat
Und noch einer weiteren, durchaus nicht triumphieren-
den Wahrheit wollte Voltaire erst zum Triumphe ver*
halfen, das war die Philosophie Locke*s. »Man kann es
gar nicht b^gr^en,« berichtet Voltaire selbst in seinen
M^molres, »mit welcher Erbitterung und mit welcher Un-
erschrockenheit der Ignoranz man wegen dieses Artikels
(Ober Locke) gegen mich tobte. Die Ansicht Locke's hatte
vorher in Frankreich gar keinen Lärm gemacht, weil die Oe^
lehrten Thomas von Aquino lasen und die große Masse
nur Romane. Als ich nun Locke gelobt hatte, schrie man
gegen ilin und gegen mich. -
Hier haben wir also nicht weniger als gleicli drei -ver-
bannte Wahrheiten* auf einmal, für die Voltaire kämpfte,
und dabei hatte er stets nicht nur die sachliche Opposition,
sondern auch den Chauvinismus gegen sich. Oder sind
etwa die Arbeiten Newton's, Shakespeare 's und Locke's für
Carlyle nicht als Wahrheiten anzusehen? Es ist schade,
daß Carlyle nicht nätier angegeben hat, was für eine Art
von verbannten Wahrheiten er meinte; aber das ist sicher,
wenn er an gewisse Walirheiten dachte, denen fromme
Puritaner große Wichtigkeit beilegten oder nocli heute bei-
legen, wenn er etwa die Wahrheiten des ICatechismus im
Sinne hatte, so war Voltaire allerdings für ihre Verteidigung
durchaus nicht zu haben. Wenn nun die eben angeführten
Tatsachen so deutlich sprechen, und es doch gewiß ist»
daß sie Carlyle nicht unbekannt waren, was soll man von
seinen Vorwürfen gegen Voltaire denken? —
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— 96 —
Auch das ist Carlyle — und vielen Anderen — durch-
aus nicht recht, dali Voltaire sicfi nicht einsperren und noch
weniger für seine Ideen töten lassen wollte.
>Voltaire will kein Zeugnis mit seinem Blute besiegeln.
Seine anstössigen Lehren \cT()ff entlieht er unter tausend
Masken. . . . Richtet man direkte hragen an ihn, so scheut
er sich nicht, zu lügen. Er ist ein Löwenfuchs, der sich
nicht fangen läßt. Die Spürhunde der Monarchie und Hie-
rarchie, die sprichwörtlich eine so feine Witterung und so
scharfe Zähne haben, werden gegen ihn ausgesendet» aber
er ist ein Löwenfuchs "
Und ich wiederum sage: Wie herrlich, wie klug, wie
zweckmäßig, wie über alle Massen nützlich war es doch,
daß Voltaire das alles tat! Es ist wirklich wahr — und
der Leser, der es noch nicht wdB, soll es hier erfahren —
ja es ist ganz unghiublich, wie vollendet Voltaire seine Rolle
als »Löwenfuchs« sein langes Leben hindurch durchzuführen
verstand. Ein gewisser Qu^rard zählte zusammen, wie viel
Pseudonyme bei Heiausgabe seiner Werke er in Verwendung
brachte^ und er fand deren nicht weniger als 137, sage
einhundertsiebenunddreißig Pseudonyme! *)
Und um seine ganze infernalische Schlechtigkeit noch
deutlicher zu zeigen, erwähne ich auch noch seine
Äußerungen über derartige Manöver; sie sind auch an
sich sehr interessant und amüsant.
Im Jahre 1760 schreibt er an d'Alemberf: Luc (das
ist bei ihm der Spottname für Friedrich den Oroßen) spielt
die Rolle des Tauchers, er desavouiert seine Werke und
läßt sie verstümmelt drucken; das ist wirklich sehr ab-
geschmackt, wenn man an der Spitze von hunderttausend
Mann steht«
*) Dies und die folgenden diesbezüglichen Daten entnehme ich
Nourrisson't »Volüdre«. An einem andeien Orte fand ich, wenn ich
m[eh recht erinnere, nur 37; auf die genaue Zahl kommt es wohl
nicht an ?
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Im Jahre 1734 drückt er in einem Briefe an Cideville
die Befürchtung aus, seine Schriften würden ihm Lettres
de cachet, Denunziationen im Parlament, Bittschriften (Ein-
gaben) der Pfarrer und Furcht vor strengen Verurteilungen
zuziehen.
»Voltaire«, sagt Nourrissoni »beschrankt sich nicht
darauf, seine Werke einfach zu verleugnen. Sei es, daß er
einen Mißerfolg beffirchtel, oder eine Unterdrfickung, immer
legt er die Autorschaft mit äußerster Unverschämtheit er-
fundenen Autoren bei, oder seinen Oegnem, oder seinen
Freunden, sogar seinen bereits verstorbenen Freunden.«
Die ^cossaise, behauptete Voltaire, sd nicht von Umi,
sie sei von »Herrn Hume, dem Bruder des Oeschichts-
schreibers und Philosophen David Hume.« Man wendete
aber ein, David Hume habe gar keinen Bruder! Voltaire
kommt niclu in Verlegenheit: es ist wohl nicht sein Bruder,
aber doch ein Verwandter von ihm. »Ich j^cstehe«, sagte
Voltaire, -zu meiner Schande, daß ich ihn für Hume's Bruder
hielt; aber, ob Bruder oder Vetter, jedentails ist sicher er
der Autor der ^cossaise.«
Im Jahre 1736 schreibt er an Herrn Berger: . . . Wenn
unglücklicherweise das Geheimnis des l'Enfant prodigue
aufkommen sollte, schwören Sie immer zu, daß ich nicht
der Autor bin. Für seinen Freund lügen ist die erste Pflicht
der Freundschaff
Und im gleichen Jahr an seinen Freund Thieriot:
; Die Lüge ist nur. dann ein Laster, wenn sie Schaden
bringt, sie ist eine große Tugend, wenn sie gute Folgen
hat. Seien Sie also tugendhafter als je. Man muß lügen
wie der Teufel, nicht etwa schüchtern, nicht nur für eine
Zeit, sondern kühn und immerfort. Lüget, meine Freund^
lüget; bei Gelegenheit werde ich es Euch zurückerstatten.«
An Madame du Deffand schreibt Voltaire bezüglich des
Dictionnaire philosophique portatif, welches Buch ihm mehr
Aufregungen zuzog als irgend ein anderes und im Jahre
Popper. Voltaire. ^
L/iyiii^ü<j by Google
— gs —
1765 vom Pariser Parlament verbrannt und von der römischen
Indexkongregation proscribiert wurde, schon ein Jahr vorher
in Vorahnung dieser Verfolgungen:
»Ich müßte wünschen, nicht geboren worden zu sein,
wenn man mich beschuldigen wfirde^ das philosophische
Wdrteibuch verfaßt zu haben; denn obwohl mir dieses
Weric ebenso wahr wie kfihn zu sein scheint, obschon es
die reinste Moral atmet, so sind doch die Menschen so
töricht, so böse, die Frömmler sind so fanatisch, daß ich
gewiß verfolgt würde. Dieses Weik, welches Ich für sehr
nützlich halte, wird niemals von mir herrühren.« —
Da sehen wir nun deutlich, was Voltaire im Lögen
leisten konnte,*) aber auch, wie notwendig und nützlicli das
Lütgen war. Hätte er sonst seine Aufgaben durchführen
können? Hätte ein Mann mit so heftigem Drange nach
Aufklärung der Menschen und nach Verbesserung der In-
stitutionen wirklich sich den weltlichen und geistlichen
Bestien direkt ausliefern sollen, wobei das ganze Resultat
nur das gewesen wäre, den vielen tragischen Opfern aus
den Reihen der edelsten Kuiturkämpfer noch ein weiteres
hinzuzufügen ?
Denn man darf sich durchaus nicht der Täuschung
hingeben, die von der hohlen Rhetorik romantischer Kultur-
philosophen aufrecht erhalten wird, der Täuschung nämlich:
daß die Leiden und besonders der Tod der Kulturhelden
zur zukünftigen Realisierung ihrer Ideen mehr beitragen als
unbehelligtes Fortleben. Wie viele große Minner wurden
*) Von seinen Verheblu^gen oder Ableugnungen der Autorschaft
aus Furcht vor Mißerfolgen sprechen wir hier nicht, da das efaie rein
literirifiche, also ^janz unwichtige und harnilosc Angelegenheit ist.
Derlei war damals sehr üblich und kommt in der Form einer vorlau-
Ilgen Pseudonymität audi heute noch vor. Selbst der ernste Prisident
des Parlaments von Bordeaux, nämlich Montesquieu, zog sich zurück,
als er den Mißerfolg seines Tempel von Onidos bemerkte, und
leugnete die Autorschaft dieses Werkes ebenso ab, wie die ersten Aus-
gaben seiner Persischen Briefe. (Mitteilung Schlosser*! in »einer Oe-
tchidite des 18. Jahrhunderts.)
Digitized by Google
— 90 —
m
nicht von den christilchen Priestern ins Gefängnis geworfen,
gefoltert und ermordet; ist aber das, was jene Unglficlc-
Kchen angestrd>t liatten» darum sclinelier erreicht worden?
Wire das der Fali, wäre der Tod der »Ketzer« den
Ketzereien von Nutzen, so hätten die geistlichen Fanatiker
gewiß im Morden eingehalten; sie lachen aber über den
sonderbaren Trost, den man aus den Qualen Verfolgter
deduzieren will, und foltern, morden oder verfolgen weiter,
so weit als es die gesellschaftlichen Zustände eben zu-
lassen. Buddha, der (dem Brahmanismus gegenüber) ein
Ketzer war, wie in ihrer Art Mohammed, Luther, Calvin,
Zwingli u. a. haben Enormes für Verwirklichung; ihrer Ziele
geleistet und sind unbehelligt geblieben. Luther maskierte
sich als Junker Jörg, versteckte sich auf der Wartburg und
sandte von dort aus seine Flugschriften in die Welt, ohne
daß er sich und seinen Aufenthaltsort nannte. Das ist
auch eine Art Lü^e, ein Mangel an jenem theatralischen
Heroismus, den rnan von Voltaire verlangt, während man
bei Luther darüber schweigt, Oder hätte man, um Carlyle's
Wunsch zu erfüllen: sein Zeugnis mit seinem Blute zu be-
siegeln, etwa Luther auf der Reise nach und dann in Worms
ohne soldatischen Schutz lassen sollen? Gewiß hätte
Luther selbst sein Leben für seine Ideen geopfert, er war
auch in physischer Beziehung einer der größten Helden —
und Voltaire ist in dieser Beziehung mit ihm gar nicht zu
vergleichen — aber hätte er mehr als toter Luther ffir die
Reformation geleistet als der lebendige Luther?
Es ist wohl schön» sehr schön, sich zum Opffer hinzugeben,
aber es ist weder immer nützlich, noch hat es immer Oberhaupt
einen Sinn. Der Fall des Jesu von Nazareth allein scheint
für die groBe Wiricung des Sichopfems zu sprechen; aber
nach allem scheint der Tod kehl freiwilliger gewesen zu
sein, schon darum, well weder von Besiegung seiner Gegner
noch an das Gelingen einer Flucht zu denken war — und
überdies wäre er ohne die weiteren legendären Zutaten und
7*
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— 100 —
die dogmatischen transzendenten Deutungen dieses Todes
höchst wahrscheinlich resultatlos geblieben; denn noch
lange Zeit nach dem Tode Jesu drang seine Lehre nicht
durch, und er war nur tan Messias, wie so viele andere,
die bei den Juden aufgetaucht waren.
Kehren wir also zu Voltaire zurfick und sagen wir,
wie es wahr ist: Genug der Opfer des Fanatismus! Wer
noch mehr dergleichen tragischen Kitzel durch Märtyrer-
geschichten verlangt, begnüge sich damit, Trauerspiele an-
zusehen oder, wenn er noch * derbere Kost benötigt,
Schlachten beizuwohnen. Und auch unsere Gymnasiasten
und gebildeten Mfldchen sind in unseren Qeschichtswerken
mit interessanten Mord- und Qualgeschichten bereits hin-
länglich versehen. Und nur wer gewissenlos gegen die
großen Kämpfer ist und den ästhetischen Kitzel bei Be-
trachtung ihrer Qualen der fortgesetzten Tätigkeit der-
selben vorzieht, nur der kann den »Löwenfuchs« Voltaire
tadein.
Zudem wäre es interessant, eine Antwort nuf die Fra^e
zu erhalten: Würden Carlyie und alle die anderen sehn-
suchtsvollen Märtyrersucher CS beklagen, wenn Hui), Servet,
Bruno, Vanini usw. durch Flucht, Kampf oder Listen irgend-
weicher Art sich hätten retten können?
Sie werden sich wohl hüten, mit Ja zu antworten.
Den Fanatikern und Despoten aller üattungen wäre es
allerdings sehr willkommen, wenn alle Reformer sich nach
Carlyle's Wünschen richten wollten; wie schön könnten sie
dann herumwirtschaften!
Wenn man die wichtigsten, aber von den bösartigen
Mächten verpönten Dinge zu sagen hat, und bei Publi-
kation derselben sofort auch den Denunzianten mit Nen-
nung seines Namens zu Hilfe kommen wollte, bloB
darum, weil die Geschichte nur so edd und heroisch
aussähe und weil man sich daran erinnert, daß es nach
der Meinung der pathetischen Historiker sich »so schickt«.
üiyiiizeü by GoOglc
— 101 —
oder: weil die fiberfiitzte und aus jeder praktischen
Lebensauffassung entgleiste (auch z. B. von Kant vertretene)
Maxime, unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen, es
so vorschreibt — so würden bei gewissen gesellschaft-
lichen Zuständen alle Reformen schon im Keime erstickt
werden.
So selbstverständlich das ist, so wenig wird es von
den ^^eschichtschreiberulen Tugendpredigem berücksichtigt.
Auch Hettner kla^^t: Wie betrübend, daß gleichwohl
auch in dieser und glänzendsten Zeit (in Femey) Voltaire's
die Flecken nicht fehlen!
Welche Flecken? wird man fragen.
Nach wie vor — verleugnet er seine Bücher,« ant-
wortet Hettner.
Schrecklich! Dreimal schrecklich!
Es ist mir aber wirklich im Grunde genommen ganz
unb^reiflich, warum Hettner, oder irgend wer, sich so sehr
dafflr interessiert, ob Voltaire seine Kampfschriften unter
seinem oder unter einem anderen Namen publizierte; genug,
daß er sie überhaupt publizierte und durch die Pseudonymität
Niemandem Schaden zufügte. Warum dieser heftige Wunsch,
den Pfaffen und weltlichen Strafgericliten ihre Arbeit gar
so erleichtert zu sehen? Mit vollstem Recht schrieb Vol«
taire (im Jahre 1768) an Damilaville Ober die Frage der
Pseudonymität: »Es ist nicht wichtig, zu wissen, aus
welcher Hand die Wahrheit kommt, wenn sie nur flberiiaupt
kommt«
Hettner, als gründlicher Kenner der Zustände im 1 S.Jahr-
hundert, muB doch gewußt halben, daß auch Montesquieu
sich gar sehr hütete, sich als Autor seiner »Persischen
Briefe« zu nennen. Er ließ sie in Amsterdam drucken, ohne
Namen des Verfassers und mit falscher Bezeichnung des
Druckürts; wie ja vor der Revolution — nach der Be-
merkung von Oncken — das so ziemlich bei allem geschah,
was die französische Literatur Bedeutendes hervorbrachte,
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— 102 —
SO lange »die dreifache Zensur der königlichen Pölizd,
des Parlaments und des Klerus herrschte.« Und doch hat
Niemand Montesquieu oder allen anderen Schriftstellem jener
Zeit wegen ihrer Finten und Listen einen Vorwurf gemacht
Nicht minder war es Hettner wohl bekannt, wie oft
Voltaire sich wegen seiner Schriften vor drohenden Ge-
fahren flüchten mußte, nach Holland, Belgien, Deutschland,
nach der Schweiz; daß er schon als junger Mann wegen einer
Satyre auf den sittenlosen Regenten elf Monate in der
Bastille saß, — ist das alles noch nicht genug?
Nein ! Vielen genügt das noch immer nicht! Wie man
sieht, hindert das altes die Geschichtsschreiber vom Schlage
der Carlyle-Hettner nicht, die Weltvoigänge vom Standpunkte
der Kinderfibel aus zu beurteilen, gewissenlos und un*
dankbar gegenüber großen Männern und in dieser Beziehung
ieichtfert^ allen Kulturfortschritten gegenüber zu sein. —
Sehr meifcwQrdtg ist aber auch die Ar^ wie Carlyle
seine ot>en angefflhrten VorwOrfe begründet Seine mit edler
Entrüstung voigebrachte Argumentation ist so bezdchnend,
und zugleich so gefähriich, daß ich deren Hauptgedanken
wörtlich zitieren und dann genauer beleuchten will Nachdem
also Carlyle sich darfiber sehr ungehalten gezeigt, daß
Voltaire »kehl Zeugnis mit seinem Bhite besiegeln will« und
sich sogar »wenn man direkte Fragen an ihn richte, nicht
scheut zu lügen«, kommt uns der fromme Puritaner mit
folgender Betrachtung:
>Wenn das Rechttun davon abhängt, daß man auch
immer an uns recht handelt, wenn unsere Mitmenschen in
dieser Weif nicht Personen, sondern bloße Dinge sind, . . . ,
so ist es bloß in der Ordnung, wenn wir ihnen Lügen auf-
heften. Wenn aber dagegen unser Mitmensch keine Dampf-
maschine, sondern ein Mensch ist, mit uns und mit allen
Menschen und mit dem Schöpfer aller Menschen in heiligen»
geheimnisvollen, unauflöslichen Banden vereint in emer all-
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— 103 -
umfassenden Liebe, welche den Seraph ebenso umschlingt
wie den Glühwurm . . . usw. usw.<
Welche widerwärtige Predigt!
Trotz der »allumfassenden Liebe- wollten die Raffen
Voltaire einsperren lassen, und weder der Seraph , noch
der 3 Glüh wurm halten sich, wenn es gelungen wäre, auch
nur im Geringsten darüber bekümmert.
Tiefsinnio;er, weltumfassender, mystisch - moralischer
Carlyle! Warum predi^^st du das nicht auch dann, wenn
von den Lügen und Listen des von dir so verehrten und
geliebten, allerdings sehr frommen, Cromwell die Rede ist?
Von den Usten, mit denen er den bösen Anschlägen Carls l
gegen ihn auswich und seine Pläne und Feldzüge durch-
führte?*) Oder warum machst du in deinen Schriften
niemals allen den Feldherren und Königen (z. B. deinem
Helden Friedrich dem Großen) einen Vorwurf darausi dafi
sie hn Kriege oder in der Politilc Spione und Lügen und
Listen aller Art zu Hilfe nehmen?
Nach Carlyle's Maxime mOBte ein Fddherr seinen
Truppen vor der Schlacht zurufen: Suchet ja niemals ein
sicheres Versteck auf, oder einen Hinterhalt, von dem aus
ihr dem Gegner schaden könntet! Und wenn er euch suchte
so tretet aus euren Schlupfwinkeln, aus Gebüsch oder
Schatzengraben als ehriiche, offene Männer und Helden
hervor, sagt: »Mein Herr Feind, hier sind wir!« Und bietet
in edler Haltung eure Brust den feindlichen Waffen dar.
Denn ihr dürft nie vergessen, daß unsere Mitmenschen
keine Dampfmaschinen sind, sondern daß diese Feinde mit
uns und mit allen Mitmenschen und mit dem Schöpfer . . . .
in geheimnisvollen Banden . . . und in einer allumtassenden
*) «Auf allen Sdteit hatte Cromwdl seine Schlingen ausgestellt:
Er taucht in seines Königs Blut den frevelhaften Arm . . . sagt
Friedrich der Große in temer an seine Schwester Amalia gerichteten
Epistel Bber das »Ungefllhr«. Ich Mite hier sehr viele andere zitteren
können, die Cromwell ebenso beurteilen, allein Friedrich paßt hier bei
einer Betrachtung über Carlyle'« Ansichten am besten herein.
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— 104 —
Uebe vereint sind, und auch mit dem Seraph und mit dem
Olflhwurm .... usw. usw.
In seinen Schriften Ober Helden und Heidenverehrung,
Über Friedrich den Orofien und andere steht Cariyle durch-
aus nicht auf demselt>en Standpunkt, den er Voltaire gegen-
übet etnntmmt; im Gegenteil lobt er alle jene Menschen,
die irgend etwas mit voller Energie durchfuhren, mit weichen
Mitteln immer. Nur Taten und kein Geschwätze! Das ist
Carlyle's Grundgefühl bei seinen Urteilen über Menschen
und Zustände.
Warum wird er nun bei Voltaire so sentimental? Cariyle
weiß cioch ganz gut, dal) es hei Kulturkämpfen gerade so
gut Feinde, Schlachten und alle Dämonen menschlicher
Leidenschaften gibt, wie in politischen oder militärischen
Kämpfen?
Aus zwei Gründen! Vor allem <^nlt der Tadel Voltaire
als dem energischen Feind des Christentums; und sodann
gefällt es Cariyle und den meisten anderen Gegnern Voltaire's
nicht, daH er den Mut und die Selbständigkeit besaß, den
heilgebrachten Ansichten über das, was »sich schickt« und
was allein »edel und eines großen Mannes würdig« ist,
nicht nur zu trotzen, sondern sie so sehr zu ignorieren,
daß er es nicht einmal der Mühe wert hält, sich zu ent-
schuldigen und im Vorhinein seine Oegengrfinde bekannt
zu geben. Man äiigert sich — ohne es zu wissen — über
diese geistige Suveränifät, und dies umsomehr, als man
sieh^ mit welcher Oeschicklichiceit und mK welchem guten
Erfolg Voltaire seine »Praktiken« durchführte. —
Nur so ist es zu verstehen, warum man nkrht dieselben
Vorwürfe, die man g^en Voltaire's VorsichtsmaBr^n,
Pseudonymität und deigl. erhebt, nicht auch gegen andere
richtet; wir erwähnten ja schon oben Montesquieu. Aber
am bezeichnendsten ist es, daß (meines Wissens) niemandem
einfiel, Rousseau darüber Vorwürfe zu machen, daB er,
als er verfolgt wurde, d)enfa]ls Vorsichtsmaßregeln und
üiyiiizeü by GoOgle
— 105 —
Methoden anwandte, die durchaus nicht den strengen
Orundsätzen entspiechen» die Cariyle, Hettner u. a. Voltaire
entgegenhalten.
Es ist einerseits der arme Teufel, dem gegenüber man
nicht den Sittenrichter spielen will, weil man sich an ihm
nicht so ärgert, wie an dem glucklichen Voltaire, und
andererseits der Tu^^endbold, der so viel von edlen Grund-
sätzen spricht und alle Welt zensuriert, daß man gar nicht
merkt, wie viel er selbst zu wünschen übrig läßt.
Wie in so vielen anderen Fragen, so unterließ Rousseau
auch in der Frage nach der moralischen Zulässigiceit der
Pseudonymität nicht, die strengsten Fordeningen zu stellen.
Wer Rousseau's Charakter nur ehtigermaßen versteht,
wird in seinen Schriften leicht herausfinden, wann er unter
der Maske einer Schwärmerei für Tugend eigentlich nur
einen boshaften Angriff gegen Personen zu richten beat}-
sichtigt, und wobei er, ohne den Namen derselben zu
nennen, doch sicher sein kann, daß die Leser die ange*
griffene Person leicht erraten werden. So sagt er in dem
Vorgespräch zur neuen Hek>ise mit einem gewissen hinter-
listigen (und mir sofort verdflchtig erschienenen) Pathos:
»Hält sich wohl ein £hrenmann vert>orgen, wenn er zu dem
Publikum redet? Darf er durch den Druck veröffentlichen,
wozu er sich nicht zu bekennen wagt? Ich bin der Her-
ausgeber dieses Buches und werde mich als Herausgeber
nennen.'
Und in der Vorrede: »Jeder ehrliche Mann mul^ sich
zu den Büchern, die er herausgibt, bekennen. Deshalb nenne
ich mich an der Spitze dieser Briefsammlung, nicht etwa,
um sie dadurch als mein ausschließliches Eigentum zu be-
zeichnen, sondern um für sie einzusteh'n.*'
In dieser Tugendproklamation spielt Rousseau offent>ar
auf Voltaire's Verleugnung seiner gefähriichen Schriften an,
und will daher den Eindruck einer so viel höheren moralischen
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— 106 —
Natur hervorbringen. Wir wollen daher diesen Tugendhelden
in diesen Beziehungen etwas genauer in's Auge fassen.
Als der Genfer Rat beschlossen hatte, den Emile und
den Contract social zu verbrennen und deren Verfasser, der
sich in die Nähe Oenfs geflüchtet hatte und in seine Vater-
stadt zurückkehren wollte, zu verhaften, wollte Rousseau
durch eine Aussöhnung mit der Genfer Geistlichkeit seine
Rückkehr anbahnen.
Er richtete daher an Vernet, einen sehr einfkilireichen
Prediger Genfs, im August 1762 ein versöhnendes Schreiben
und leu ^^nete« — wie sich der Rousseau-Biograph Mahren-
hohz ausdrückt — das Glauben s h eken n t ni s des Vikars
(in seinem Emile) in einem Briefe an Marcet de Maziere halb
und halb ab.<^ 'Ist die im Glaubensbekenntnis des
savoyischen Vikars enthaltene Lehre,« schrieb ihm Rousseau
»der in Genf herrschenden Religion so offenbar zuwider,
daß gar keine Frage darüber entstehen konnte? — «
Es ist aber wirklich schwer verständlich, wie Rousseau in
dieser Sache noch etwas Fragliches erblicken konnte.
Unterdessen half ihm dieses Schreiben ebenso wenig,
wie der unterwfirftge Brief, den er (am 24. August) an
Montmollin, den Geistlichen von Motiers-Tiavers, schrieb,
oder wie die Teilnahme an der Kommunion in seinem
neuen Wohnorte.
»Bevor ich dem Tische des Herrn nahe,« schrieb
der Verfasser des Emile an Montmollin, »eridäre ich Ihnen
achtungsvoll, da6 ich .... in redlicher Oberzeugung dieser
wahrhaften und heiligen Religion anhänge und das tun
werde bis zu meinem letzten Atemzuge. Ich wünsdie auch
äußerlich stets mit der Kirche vereinigt zu sein, wie ich
es im Grunde meines Herzens bin und wie trostreich es
für mich sein wird, an der Kommunion der Gläubigen teil-
zunehmen.*
Und in der Tat nahte er sich dem „Tisch des Herrn"
und verbraclite den ganzen Tag fastend in der Kirche von
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— 107 —
Motiers! Welcher erbSimliche Anblick! ErbSrmlicher als
jener Heinrichs IV. in Canossa; denn dieser muBte sich aus
politischen Gründen unterwerfen, aber Rousseau kam aus
persönlichen Gründen auf dieses Niveau herab. Und das
ist doch derselbe Rousseau, der im Contract social nur eine
»bürgerliche* Religion verlangt und den savoyischen Vikar
sagen läßt:
^ Nähere ich mich dem Augenblick der Wandlung, so
sammle ich mich .... bestrebe mich, meine Vernunft vor
der Allvernunft zu demütigen , . . Ich spreche die Ein-
setzungsworte mit Ehrfurcht aus, ich messe, so viel von
mir abhängt, ihrer Wirkung allen Glauben bei. Magfauch
an diesem Geheimnisse noch so viel ünbeßreifliches sein
usw. . Nun spricht doch aus diesen Worten, namentlich
aus dem Satze so viel von mir abhängt schon ein ganz
bedeutender Skeptizismus heraus, umsomehr, wenn ein
Vikar sie im Munde führt, der kurz vorher auch die Worte
gebraucht: ^Bei allen diesen aber ist das Evangelium auch
voll von unglaublichen Dingen; von Dingen, die der Vernunft
widerstreben, welche ein denkender Mensch weder be-
greifen noch annehmen kann.
Der Laie Rousseau aber, den wir überdies aus seinen
Briefen vom Beige nach seinem Unglauben bezüglich der
Wunder genau genug kennen, hat wohl über den Wert und
die Wirkung der Einsetzungsworte noch viel skeptischer
gedacht als der Vikar, und der Ausdruck: »Tisch des
Herme im Munde Rousseaus genügt allein schon, um auf
jeden Wahrheitsfreund einen tien>etrflbenden Emdruck zu
machen. Und das war in der Tat schon damals in so
hohem Grade der Fall, daß eine der besten Freundinnen
Rousseaus, die Orftfin Bouffiers, (ihm am 22. Oktober 1762
und wiederholt) darüber schrieb, wie sehr sie und andere
jenen Brief an Montmollin mißbilligen. Rousseau recht-
fertigte sich zuerst damit, daß der savoyische Vikar die
Kommunion »in Einfalt des Gewissens austeilte, umsomehr
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>J. J. Rousseau kommunizieren könne in einem Kult, der
seine Vernunft in Nichts verletzte;« also ganz
im Widerspruch mit den ol>en angeführten Worten im
»Emil«, daß »ein denkender Mensch diese Dinge weder
begreifen noch annehmen könne.« Und da Frau von
Bouffiers von dieser Rechtfertigung durchaus nicht befriedigt
wurde und von neuem Rousseau von dem schlechten Ein-
druck seines devoten Brkfes an Montmollin berichtet, ant-
wortet jener: »Sie sagen, daß mein Brief einen schlechten
Eindruck machte; aber auf wen? Wenn auf d'Alembert und
Vültaire, so beglückwünsche ich micfi dazu. Ich huUe, nie
unglücklich genug zu sein, um deren Biüigung zu erhalten.«
Man sieht deutlich, wie aus Rousseau nur noch der
Eigensinn und die Feindschaft gegen die aufgeklarten
Enzyklopädisten spricht, die ihn verhinderte, sein Veriiaiten
objektiv zu beurteilen.
Zu dem allen hetzte er, in seinem Haß gegen Voltaire,
in seinen Lettres ecrites de la montagne- die Genfer L;egen
ihn auf, indem er diesen die .s^ee^en Voltaire geübte I oieranz
vorwarf, und hierbei denselben als Autor der Sermons des
cinquante« denunzierte; wodurch er den siebzigjährigen Alten
von Ferney bewußt einer noch größeren Gefahr aussetzte,
als es jene war, in der er selbst sich befand !
Und da muß man nun fragen: Was bedeuten alle
Künste der Pseudonymitäten, selbst wenn man sie als Makd
am Charakter Voltaire's ansehen wollte^ gegen diesen ge-
wissenlosen Denunziantenstreich Rousseau's?
Rousseau zeigt in sdnen Confessions so große Ge-
wissensbisse darflber, daß er hi seiner Jugend ein Dienst-
mädchen durch die falsche Beschuldigung eines Diebstahles,
den er selbst begangen hatt^ ins Unglück brachte. Noch
viel, viel mehr Ursache hätte er gehabt, seinen Denunzianten-
sh«ich gegen Voltaire zu bereuen, den er doch als alter,
verfolgter Mann ausgeführt hatte, nachdem er überdies seine
ganze reifere Lebenszeit hindurch nicht aufgehört hatte, von
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— 109 —
Tugend zu sprechen und von Jedermann die reinste Tugend
zu verlangen.
Der Streich Rousseau's traf den um 18 Jahre alteren
Voltaire ähnlich wie der hinterrücks geführte Stich Hagen's
Siegfried traf.
^Ah! Jean Jacques,< schrieb Voltaire ganz konsterniert
(am 10. Januar 1765) an d'Argental: Das ist nicht die Art
eines Philosophen .... es ist infam, ein Angeber zu sein,
es ist abscheulich, seinen Mitbruder zu denunzieren, und
ebenso ungerecht, ihn zu verleumden. Ähnlich an die
Marschallin von Luxembourg: Es gibt ohne allen Zweifel
gar keine Entschuldigung für eine so stratliche und feige
Handluncr
Aber alle diese ethisch so tief abwärts führenden Schritte
hätten gewili unterbleiben können, wenn Rousseau den
Emile, wie es eben Voltaire zu machen pflegte, pseudonym
publiziert hätte! Damit meine irh aber nur dies und will
nur darauf aufmerksam machen, daß man oft vielen
sehr verwerflichen Handlungen ausweichen kann»
wenn man nicht gar zu sehr darauf erpicht ist,
exzessiv tugendhaft oder edel zu sein oder zu er-
scheinen.
Und femer ersieht man wohl aus der ganzen obigen
Betrachtung, daß, wenn das Naturell eines Autors, hier also
Rousseau's oder Cariyle's u, a., ihm Pseudonymität anti-
pathisch macht, dies ckintm doch noch nicht im geringsten
beweist, daß sie wirklich etwas Tadelnswertes involviere.
Man mufi ja gewiß großes Mitleid mit dem wegen
seiner Schriften verfolgten Jean Jacques empfinden, und weder
seine Flucht noch seine halben Ableugnungen, ja selbst
seine Kommunion wird ein einsichtiger Mensch ihm vor-
werfen; aber Carlyle und Genossen und der Verfasser der
Vorrede zur neuen Heloise selbst mögen nur mit gleichem
Maße messen und nicht Voltaire wegen seiner Pseudony-
mität und sonstigen Vorsichtsmaßregeln und Kniffe ver-
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— 110 -
dämmen. Hier fehlt es gänzlich an Oerechtigkeitssinny und,
sachlich genommen, an praktischem Urteil —
Ich will hier nicht unterlassen, die Leser von einem
sonderbaren Umstände zu unterrichten:
Rousseau sagte, er habe bei der soeben erwähnten
Kommunion — geweint!
Vielen wird das als Komödie erscheinen und einen
aiierwider\värtit:fsten Eindruck machen. Rousseau war be-
kanntlich ursprünglich Protestant, wurde dann in Turin i<atho-
lisch, kehrte später zum Calvinismus zurück und sprach in
seinem Glaubensbekenntnis des Vikars und in anderen
Schriften den Dogmen und allem Kultus jeden Wert ab.
Wie konnte er also bei der Kommunion weinen?
Meine Erklärung Ist die: Daß Rousseau ein Geächteter
war, der sich darnach sehnen muBte^ in ligend eine mensch-
liche Gemeinschaft, sei sie auch nur eine kirchliche, wie ein
Gleichgesinnter und Bruder friedlich aufgenommen zu werden.
Und im Bewußtsein seiner Unschuld mußte ja in dieser
Situation dem Gekränkten, von Natur weichen Manne^ an-
gesichts der Verfolgungen und etwaiger religiöser Jugend-
erinnerungen, das Weinen sehr nahe sein.*) Überdies muß
bei einem Mannen der, wie Rousseau, ein so reiches Re-
gister an GefOhlen und zugleich so viel Bereitwilligkeit be-
sitzt, diese Register zu ziehen und sich an ihren Tönen zu
berauschen, eine schon geringe Dosis von Heuchelei so-
zusagen: nur eine leise innere Anregung zur Schauspielerei
— hinreichen, um Szenen zu produzieren, die wie von
Heuchelei gesättigt ersclieinen. Das Weinen Rousseau's
bei der Kommunton verliert durch diese psychologische
Analyse des Vorganges gewiß viel von dem ersten üblen
*) Ntch dem Nfedertcbreiben dieser Stelle ffnde ich in Kousseao't
Bekenntnissen dieselbe Erklärung. Er fügt noch die Worte hinzu:
»Die Tränen der Rührung waren vielleicht die Gott wohlgefälligste
Vorbereitung,^ aus weldien Worten allerdings die religiöse Rück-
ftimdlgkdt wussetu's schon deutf Idi ai eafaielimen ist
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- III —
Eindruck; unmännlich, unwahrhaftig, widerwärtig bleibt die
Sache aber. doch. —
Alle diese Schritte Rousseau's werden nur eben so hin-
genommen; man klagt ihn deretw^n nicht an, sein Charakter
gilt nach wie vor als der eines Tugendhelden. Ahnlkhe
oder gleiche Dinge bei Voltaire aber geben den Anlaß zu
dem heftigsten Tadel.
Ich meine hier vornehmlich Voltaire's sogenannte »sakri*
legische Praktiken«. In der Tat leistete er hierin nichts Oe-
ringes; unbeirrt durch die Angriffe von Seite der Geistlich-
keit, die ihm nicht traute, und seitens der Pariser Philo-
sophen und frdgeistigen Gesellschaft, die ihn des Verrats an
seinen aufgeklärten Ansichten anklagte, stellte sich Voltaire
durc}j alltTlei äulkrliclie Mittel auf guten Fuü imi Papst,
Bischöfen, I^larrern, kommunizierte, beichtete, und schickte
während dessen fortwährend seine furchtbarsten Streit-
schriften, wie sich von selbst versteht: pseudonym, in die
Well hinaus.
Leider waren alle diese Kommunionen, Beichten usw.
notwendige Vorsichtsmaßregeln, die er zur wenit^stens momen-
tanen Beschwichtigung seiner priesterlichen Gegner anwenden
mußte. Sclion der erste Fall dieser Art, die österliche Kom-
munion in Kolmar im Jahre 1753, wurde ihm durch den
Klerus aufgenötigt und durch die Nachrichten, die ihm aus
Paris über den lauernden Groll des Hofes zugekommen
waren. Der Klerus von Kolmar beklagte sich über sein
»gottloses Treiben , die Jesuiten drohten mit dem Staats-
prokurator, selbst der Bischof von Basel hatte, wie der
Jesuit Kreiten in seiner Voltaire-Biographie sich ausdrückt,
»ein wachsames Auge auf Voltaire und wollte für den Fall,
daß dieser seiner Österiichen Pflicht nicht genügte, den
Kirchenliann Ober ihn verhängen 1« Und noch größere Ge-
fahren drohten Voltaire in Fem^ vom Bischof von Annecy.
Die Veranbtösungen zu den auffallenden kirchlichen Schritten
Voltaire*s waren daher stets sehr dringende und es wäre
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— 112 —
ihm nicht eingefallen, sie aus purem Mutwillen zu unter*
nehmen.
Wie rein und munter und wie prächtig ist aber der
Eindruck der Art» wie Voltaire hier mit den Wölfen heulte^
— da das Mitheulen doch schon notwendig war —
gegenüber der niederdrückenden Weise Rousseau's, der,
ohne Funken von Humor, immer trübselig, den Geistlichen
nachgab und seine doch erzwungene Nachgiebigkeit als
freiwillige, ernst gemeinte Tat ausgeben wollte. Er »weintec
bei der Kommunion! Vottaire hingegen lachte nicht nur
innerlich, sondern stattete auch mitunter schon einmal Im
Jahre 1754 seine »Praktiken« mit einem so grandiosen Humor
aus, daß es einem bei dem Berichte seines Sekretärs Collini
Über deriel Possen — die zugleich beweisen, welchen furcht-
baren Emst und welche tiefe Wut er diesen Dingen gegen-
über empfand — ganz wohl ums Herz wird. Und das um-
somehr, als uns zugleich berichtet wird, daß Voltaire den
geistlichen Personen selbst gegenüber niemals verletzend,
sondern stets rücksichtsvoll und liebenswürdig war.*)
Man spricht davon,^ schreibt ihm Frau du Deffand im
Jahre 1768, Sie hätten gebeichtet und kommuniziert . . . .
wenn es wahr ist — welche Verwirrung richten Sie in allen
Köpfen an und welcher Triumph andererseits! Welche In-
dignation, weicher Skandal und für alle ohne Ausnahme:
welches Erstaunen! Man vergleiche nun Voltaire's voll-
kommene Ehrlichkeit, Offenheit und Klugheit in seinen Ant-
worten auf solche Vorwürfe mit der oben angeführten
*) Vielen, die prinzipiell mit Voltaire übereinstimmen, wird gewiß
Voltaire's Humor und Possenreißerei gegenüber religiösem Kultus antf-
pathisch sein; und gewiß sind solche Spaße nicht jedermanns Sache.
Möpe aber nur niemand glauben, der da mit Voltaire nicht mitgeht, er
sei darum irgendwie gesitteter oder vornehmer als jener. Denn derlei
Possen sind eben nur Sache des Temperaments, der Einwirkung der
Sitten der Umgebung seit früher Jugend u. dergl , nichts anderes. Wer
aber Voltaire darum tadeln wollte, zeigt eben dadurch eine noch sehr
rückständige Auffassung der Dinge, nimlich dne ganz ungereclitfertigte
Elirfurcht vor religifitem Kultus.
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- 113 —
Rechtfertigungsmethode Rousseau's! »Noch bin ich kein
Karthäuser, schreibt Voltaire an Choiseul, ^denn dazu bin
ich viel zu viel Schwätzer; aber ich mache regelmäßig
meine Ostern und lege zu Füßen des Kruzifixes alle
Fr^ron sehen Verleumdungen und Pompignan' sehen Ver-
folgungen nieder« und an d'Alembert in voller
Offenheit und im Bewußtsein, keinerlei Tadel zu verdienen:
»Das, was ich dieses Jahr 1768 getan hab^ habe ich schon
mehrere Male getan und werde ich, wenn es Oott gefällt,
wieder tun. Was können die Weisen machen, wenn sie
von unsinnigen Barbaren umringt sind? Es gibt Zeiten,
wo man ihre Verrenkungen nachahmen und ihre Sprache
sprechen muB. Es gibt Menschen, die fürchten, Spinnen
zu essen, es gibt andere^ cfie sie versdilingen.«
Oegenütier den unaufhöriichen Vorwürfen der Freigeister
schreibt er an denselben Jahre 1761): >Sie fragen mich,
warum ich einen Jesuiten bei mir halie;*) ich wollte deren
zwei haben, und wenn man mich Sigert, werde ich zweimal
des Tages Icommuntzieren. Meine liel>en Engel! Wenn
ich 100000 Mann zu meiner Verfflgung hätte, so
wüßte ich, was ich t&te; da ich sie aber nicht habe,
werde ich zu Ostern kommunizieren, und Sie m(Sgen mich
dann Heuchler nennen so vid Sie wollen. Ja, bei Oott • . . .
wenn Sie mich Sigem, so bringe ich auch noch das Tantum
ergo in gekreuzte Reime« —
Wie wohltuend wirkt das klarem offene Vorgehen, die
Abwesenheit alles Versteckten, aller Bemühungen, sich selbst
zu täuschen!
*) Dm war nämlich der Phre Adam, mit dem er Schach spielte
und der so harmlos und beschränkt war, daß Voltaire ihn mit den
Worten vorzustellen pflegte: ^ Vater Adam, aber nicht der erste der
Menschen!« Mitunter soll €• VoHaire verdrossen haben, von Phrt
Adam im Schach besiegt zu werden und da soll er ihm im Arger alle
Schachfiguren an den Kopf, eigentlich in seine Perücke, geworfen
habeat Adam fMcMcte, to tduMll er Iconnte, Voltaire lief inm nach,
rief: Adam, wobist du'?'- Adam kehrte /urfsck, sie setzten sich wieder
zum Schach und spielten ruhig und friedlich eine neue Partie miteinander.
Popper. Voluirr. 8
L/iyiii^ü<j by Google
— 114 —
sehen da einfach Kriegslisten eines Kriegers vor
uns, die weder gut noch böse, sondern nichts anderes als
eben zweckmäßig sind. Die eben zitierten Worte Voltaire's
zeigen das in voller Deutlichkeit, und ich will auch noch
jene Bemerkung (aus dem Jahre 1769) an Frau Dudeftand
hinzufügen, die wohl jeden noch so enggeistig Urteilenden
aufklären kann: »Ja wohl, ich habe erklärt, daß ich nach
der Manier meines Landes gefrühstückt (er meint hier;
kommuniziert) habe; man sagte mir: Wenn Sie also Türke
wären, würden Sie in der Manier der Türken frühstücken?
Ja, meine Herren . . Am Ufer des Ganges würde ich nach
Landes Sitte beim Sterben einen Kuhschwanz in der Hand
halten.«
Während Schiller bloß von dem Mangel an Ernst in
den Dichtungen Voltaire's spricht, behaupten viele andere,
wie z. B. Carlyle, daß er auch in seinen wissenschaft-
lichen Bestrebungen »keinen Ernst gezeigte habe.
Man braucht al>er nur daran zu denicen, was es heißt,
wenn ein Schriftsteller und Dichter, der den exalden Wissen-
schaften ferne stand, sich dem mflhsamen Studium der
Mathematik und Physik unterzieht, um Newton verstehen zu
können und die »Elemente der Newton'schen Philosophie«
bloß zu dem Zwecke auszuarbeiten, um der neuen Natur*
Wissenschaft gegenflber der Kartesischen auf dem Kontinent
zum Si^ zu verhelfen — dann wird sofort der Wklersinn
des obigen Tadels zu Tage treten.
Sprechen wir bloß von Voltaire's Studien in den exakten
Wissenschaften, so ist vor allem zu bemeiken, daß er wohl
der erste war, der Newtons Astronon^e und Optik eiklflrte
und dem allgemeinen VerstSndnIs zugänglich machte*) Er
*) Der erste fachwiMeosdiaftlldie AnlubiffeT Newton*! in Fiank*
reich war Maupertuis.
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— 115 —
verstand nicht nur Mathematik, sondern war auch Beobachter
und Experimentator. Im Schloß Cirey der Marquise du
Chätelet gab es ein mit Instrumenten aller Art reich aus*
gestattetes Kabinet, in dem er mit dieser gelehrten Frau
astronomische, physikalische und chemische Studien trieb»
und Longchamp erzählt ausfQhriich, wie er als Laborant dem
unermfidlichen Voltaire beistand. Dieser experimentierte
über die Oewichts-Anderung der Metalle in warmem oder
gifihendem Zustand^ — einer Fragen mit der sich seinerzeit
audi Boerhave beschäftigt hatte — dber Uchtreflexion, at>er
auch Ober das Nachwachsen abgeschnittener Körperteile bei
Tieren, wobei er sich nicht der Mflhe verdrieBÖi lieB, an
vielen Schnecken und Mollusken seine Beobachhingen zu
machen. Er schrieb für die Pariser Akademie der Wissen-
schaften Abhandlungen Ober die Adessung der lebendigen
Kräfte^ über das Feuer u. a. Volt^ie schtoss aus der Ge-
wichtszunahme glühenden Eisens auf Absorption eines
Körpers aus der Luft, die er, als ebier der ersten, für tin
zusammengesetztes Gas hielt; er war daher ganz nahe der
fünfzig Jahre späteren Entdeckung Lavoisier's, dass der
Sauerstoff dieser Körper sei.
Trotz diesem allen hat er für Carlyle keinen wissen-
schaftlichen Ernst, und Schlosser meint; -Er war ein Feind
von jedem Emst . . .* und ^Ernst, Fleiß und Ausdauer...
war Voltaire lächerlich.« Da muß man denn doch fragen:
Was versteht Carlyle oder Schlosser unter »Ernst«, wenn
ihnen das alles bei Voltaire nicht genügt?
Gewiß war Voltaire kein selbständiger Forscher in diesem
Gebiete; er hatte zu viel andere Dinge zu tun und anderer-
seits sagte er selbst von sich: Ich habe niemals bean-
sprucht, einen so organisierten Kopf zu besitzen wie ein
Newton, wie ein Rameau. Ich wurde niemals die Integral-
rechnung oder den Generalbaß erfunden haben , und in
einem Schreiben an den Kronprmzen von PreuBen (im
Jahre 1736); »Ich habe in meinem kleinen Gebiet nur
8*
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- 116 —
von ferne die Grenzen jeder Wissenschaft b^^rüßen
können.-
Mag das genau wahr sein oder nicht, so ist doch auch
mit solchen »Begrüßungen ein sehr großer Ernst ver-
einbar; man muß nicht wirklich selbständige Arbeiten pro-
duzieren, um für wissenschaftlich ernst genommen zu werden.
Ja es gibt auBerordentlich viele produktive Gelehrte, die
eigentlich sehr wenig wissenschaftlichen Ernst besitzen, und
bloß wie eine Art von Maschinen höherer Art, nach den
gangbaren Methoden, nahezu wie im Schlafe, weiter arbeiten.
Aba* einem so eifrigen Dilettanten, wie Voltaire, der mit
seinen Studien so große aufklärende Zwecke verfolgte, darf
man nicht wissenschaftlichen Emst absprechen. Dabei habe
Ich noch gar nicht angeführt, wie sehr manche physikalische
Abhandlung Voltaire's selbst von so kritischen Naturforschern
wie z. B. Dubois-Reymond geschätzt wird. *) Und die meisten
von jenen, die Voltaire den wissenschaftlichen Emst absprechen,
sehen sehr danach aus, daß sie noch heute Kartesianer wären,
wenn Voltaire nicht Newton auf den Kontinent gebracht
und Descartes' Philosophie so vehement und unaufhAriich
bekämpft hätte. -
Auch mit der Voltaire'schen Geschichtsschreibung
Ist man an vielen Orten sehr unzufrieden. Carlyle meint:
» VoHaire's Oeschichtswerke gehören h-otz ihrer brillanten
Lebendigkeit und ihres schlauen (!) Anscheins von philo-
sophischem Einblick zu den seichtesten, die es gibt Sie
sind weiter nichts, als Register von äulk-rcn Vorfällen,
Schlachten und anderen g;anz oberflächlichen Vorgängen.*
Diese Kritik, die eher eine Nörgelei genannt werden
könnte, steht mit gar vielen anderen Urteilen sehr in Wider-
spruch.
Schon Lessing, der doch ein Oegrier Voltaire's war,
verkündigte in einer Anzeige in der damaligen »Berliner
*) Man sehe dessen Vortrag: »Voltaire alt Naturtorscher«.
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— 117 —
Zeitung- , daß dieser einen ganz neuen Weg der Geschieht-
Schreibung eingeschlagen habe. Femer steht es fest und
ist vielseitig, wenn nicht allseitig, anericannt, daß die englische
historische Schule: Ferguson, Gibbon, Hume und Robertson
Voltaire ihre Methode zu danken hatte — Gibbon und Hume
rechneten es sich sogar zur Ehre an, Voltaire's Schüler zu
sein — *), und Villemain, Schlosser und Buckle fi^ihren sogar
die gesamte neuere Geschichtschreibung auf Voltaire's
»Essai sur Ics moeurs zurück, der hier zum ersten Male
statt nackter historischer Daten den Plan einer Kultur-
geschichte entwarf. Herder schreibt Voltaire das Verdienst
zu, bei ihm werde »die Philosophie von der Geschichte ge-
führt und die Geschichte durch Philosophie belebt«**)
Lord Brougham meinl^ gelegentlich der Besprechung
des Essai sur les moeurs, Voltaire habe die zwei Haupt-
eigenschaften eines Historikers in hervorragendem Masse
besessen: den Geist der geduldigsten Forschung und eine
absolute Un|Nu1eilichkeit***). Und hierzu sei noch die
äusserste Vorsicht gekommen» die er g^nflber allen un-
wahrschehilichen Berichten anzuwenden verstand.
Letztere Eigenschaft hat bdouintiich auch Buckle an
Voltaire gerfihmt
»Voltaire war in der Geschichte und für ihr Studium
ungemein bedeutend« ^ sagt Schlosser in seiner Geschichte
*] Diese Daten entnehme ich Cnndorcct's Voltaire-Biographie, wie
attdi Hettnen »Geschichte der französischen Literatur im IS, Jahrnundert.«
**) Min sehe .hierüber das Werk: »Rousseau und die deutsche
Oeschichtsphilosophle« von Richard Fester.
**♦) Als Beispiel der Unparteilichkeit führt Broucham Voltaire's
Beschreibung Ues Tridentiner Koiizili, an, sowie seine Beurteilunjg des
Papstes Leo X. Ich möchte noch einen hierher gehörigen Fall an-
führen, der zugleich zeigt, wie gerecht und wie fret von Schriftstelier-
eitelkeit Voltaire war. In dem Artikel Juifs im Dictionnaire philosophique
hatte er sich heftig gegen das Volk der joden ausgesprochen; ein portu-
giesischer Jude, Pinto, bekämpfte diese »ungerechten Vorurteile« in
einer Broschüre sehr ausführiich und sandte sie an Voltaire. Dieser
antwortete ihm sehr hofUdi, gab Pfaito recht entschuldigte sich und
versprach ihm, m der neuen Ausgabe seines Weilcs seine Aufienuigen
zu korrigieren, und hielt auch sein Wort
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des 18. Jahrhunderts und des 19. — Man wird seine Bücher
mit grossem Nutzen lesen, wird in seiner Geschichte eine
praktische Anleitung finden, seine Art zu denken und zu
urteilen, auf alle Zeiten, Menschen und Begebenheiten anzu-
wenden ... Er lehrt, wie man die Tatsachen behandeln
soll, damit das Leben der Gegenwart durch Kunde der
Vorzeit wirklich beleuchtet werde und damit wenigstens
die Geschichte durch Wahrheit und Kühnheit den Armen
und Oedruckten gegen die Reichen und Übermächtigen bei-
stehe.« Den Essai sur les moeurs rechnet Schlosser zu den
bedeutendsten Erscheinungen der historischen Literatur des
1& Jahrhunderts. — Der anerkannt hochbedeutende und
von sich selbst nicht wenig eingenommene Universalhistoriker
Schlözer anerkannte, wie sehr er von Voltaire erieuchtet
wurde Und der vielldchi grösste historische Kritiker der
neueren Zeit, Th. Talne, äussert sich in seinem Werlce: »Die
Entstehung des modernen Frankreich« in folgender Art:
»Was die Geschichte betrifft» so werden Grundlagen,
auf denen wir heute bauen, gd^ Man veiigleiche
Bossuet's »Rede Aber allgemeine Geschichte« mit Voltaire's
»Essai Aber die Sitten«, und man wird sofort sehen, wie
neu und fest diese Grundlagen sind. Auf einen Schlajg hat
die Kritik ihr Prinzip gefunden; in anbetracht der Allgemehi-
heit und Unveribideriichkdt der Naturgesetze nimmt sie
an, dass in der moralischen wie in der physischen Wdt
nidits den Naturgesetzen Abbruch tut und dass kdne will-
kfiriiche fremde Intervention den regelmässigen Lauf der
Dinge stört; das ergibt ein sicheres Mittel, zwischen Mythe
und Wahrheit zu unterscheiden. Aus dieser Maxime
entsteht die Erläuterung der Bibel, nicht bloß die Voltaire-
sche, sondern auch die, die man später machen wird. Mittler-
weile durchläuft er (Voltaire) als Skeptiker die Annalen aller
Völker, bringt da und dort einen leichten Strich an, wohl
manchmal zu rasch und übertrieben, besonders wo es sich
um die Alten handelt — denn seine historische Expedition
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— 119 -
ist nur eine Rekognoszierungsreise — aber mit so rich-
tigem Bück, daß wir von seiner übersichtlichen
Karte die Hauptumrisse beibehalten könneiL«
Hier sehen wir also überall das genaue Oegentei] von
Carlyie's Ansicht.
Es ist aber bezeichnend, daß das Streben, Voltaire's
Leistungen zu verkleinem, sich selbst bei denen zeigt, die
ihm sein großes Verdienst um Begründung einer Kultur-
geschichte ohne weiteres zuerkennen. So äußerte sich i»
jOngster Zeit ein angesehener und achtungswerter Gelehrter,
Ferdinand Tönnies, gelegientlich seiner Vortrige »Ober
sozialphilosophische Ansichten der Geschichte«*) Aber diese
große Tat Voltaire's folgendermaßen:
»Dieser Begriff der Kultuigeschichte geht eigentlich auf
Voltaire zurück, er will eben das Innere des Volkslebens
sehen. Seine Begründung dafür ist oberfiftchlich
genug; . . . .« und dann kommt wieder der allgemeine
Vorwurf der Gar-Gründlichen:
«Es ist ja eine große Schattenseite dieses Zeitalters ein
gewisser Mangel an Emst, der sidi auch bei Voltaire ze^
und der ihn auch hier scheitern Iflßtc
Woran etkennt Tönnies, wird man fragen, den »Mangel
an Emst« bd Voltaire? Antwort: Weil er den »Versuch
über die Sitten« »für eine Dame« verfaßte!
Tönnies setzt also voraus, man könne niemals Ernst
besitzen, wenn man etwas für eine Dame auseinander setzt.
Ich sehe keinen Orund dazu. Wohl aber weiß ich,
daß Descartes der Königin Christine von Schweden, und
Leibniz der preußischen Königin Sophie Charlotte wissen-
schaftliche, ja sehr subtile metaphysische Themen mit ganz
genügendem Emst auseinandersetzte, sowie auch Euler seine
»Briefe an eine deutsche Prinzessin« über verschiedene
*) In den Hodisdnil-FcriaUninai in Sabbuis Im Hobil 1903^
vetdffentlicht in der Wiener Zeilsdirift »Dil Wlstco fiir iUec (RedaUloii
von l^f. Dr. Anton Lampa).
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»Gegenstände der Physik und Philosophie« gänzlich ohne
»Mangel an Emst« verfaßte.
Es wird wohl auch angenommen werden können, daß
David Strauß seine der Prinzessin Alice von Hessen gehal-
tenen Vorträge über Voltaire, welche Vorträge dann als Buch
erschienen und allgemein sehr gerühmt werden, ebenfalls
nicht ohne hinreichenden Lrnst gehalten, resp. verfaßt haben
dürfte.
Es müssen übrigens, wie jeder zugeben wird, nicht
immer Königinnen oder Prinzessinnen sein. Wer war z. B.
jene Dame, für die Voltaire den Versuch über die Sitten«
verfaßt hatte? — Es war die Marquise du Chätelet.
Eine der gelehrtesten und emstesten Persönlichlceiten
ihrer Zeit, die bekanntlich über die Philosophie des Leibniz
schrieb, Newton gründlich studierte und zu diesem Behufe
bei den großen Mathematikern Ciaicaut und Bemoulli nutthe»
mah'schen Unterricht nahm.
Überdies ist es bekannt, daß die Quellenstudien Voltaire's
für den Essai und fflr das Si^le — wie ich glaube nach
Villemains Bemerkung — bei weitem gründlicher und um-
fangreicher waren, als man frOher, namentlich aus dem
Orund^ vorausgmetzt hatten weil er allen Anschein von
Oelehrsamkdt vermied und seine Bflcher (um so mehr für
dne Dame) stets angenehm lesbar machen wollte;
Was aber die Hauptsache ist: Hat man je gesehen, daß
eine ganz neue Methode, eine neue Art der Auffassung schon
bei ihrer ersten Aufstellung so grQndlich durchgefflhrt wurde,
wie das später die Nachahmer und Fortsetzer leicht ver-
wirklichen können?
Es ist doch kein Meines Verdienst, überhaupt eine neue^
fhichtliare Auffassung hi die Welt zu bringen, warum will
man dieses Verdienst verkleinem? Und das ist ]a t)ei
Voltalre*s Oeschichtsdarstellung um so weniger am Platz,
da man ja — und auch Tönnies selbst — sehr gut weiß,
welcher Schweiß von den Gelehrten unserer Zeit in zwar
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— 121 —
sehr dicken Büchern, aber vergeblich, aufgewendet wird, um
nur irgend eine neue sozialphilosophische oder geschichts-
philosophische Idee oder Methode — seitMarx's »materialis-
tischer Geschichtsauffassung , die mehr eine Lücke ausgefüllt,
als eine neue richtige Gesamtauffassung gebracht hat in die
Welt zu setzen; oder, wenn sie in die Welt gesetzt wird,
sie vor Anfechtungen zu behaupten. Und dasselbe gilt sogar
von den mühsamen Versuchen, in dem doch kleineren Gebiet
der Wirtschaftsgeschichte irgendwelche Entwicklungsgesetze
aufzustellen; sie alle haben nur ein sehr kurzes Leben, so
daß fast jedes neue Werk dieser Art an den Vogel Strauß
in der Fabel erinnert, der da immer sagt: >Jetzt werde ich
fliegen« und doch kaum mit den Flugein zu flattern vermag.
Und welcher verächtliche Ton! Wie sich doch jeder,
der neben Voltaire in der Geschichte der Menschheit gar-
nicht existiert, herausnimmt, ihn von oben herab zu schul-
meistern!
»Oberflächlich genug«. Dieses »genug« 1 So spricht
ein Schulmeister zu dem Knaben, der ein schlechtes Pen-
sum bringt; spricht man so von dem Verfasser des Jahr-
hunderts Ludwig XIV., des Versuchs Ober die Sitten, der
Elemente der Newton'schen Philosophie usw.? Und spricht
man» selbst wenn der Tadel verdient wire, in solchem Tone
von einem — vielleicht dem wirkungsvollsten — geistigen
Behreier Europas?
Es geschieht aber Voltaire eigentlich ganz recht Warum
hat er es versäumt, Universitätsprofessor zu werden? Dann
hätte der Universitätsprofessor Tönnies gewiß mit dem ge-
hörigen Respekt von ihm gesprochen; aber gegen einen
Mann, der keinen offiziellen Titel besitzt, nicht in fester
Stellung lebt, kann man sich schon manches erlauben!
Vielleicht erklärt sich überdies die respektlose Sprache
in jenem Satze, wenigstens teilweise, auch durch den Um-
stand, daß Voltaire ein Franzose, oder eit^entlich, daß er kein
Deutscher war. Denn man darf nicht vergessen, daii es
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seit langtm und auch noch heute bei den meisten deutschen
Gelehrten gebräuchlich ist, Werke von Gelehrten anderer
Nationen im vorhinein als oberflächlich anzusehen, und
bei Werken von Deutschen fast regelmäßig von der »echt«
oder »wahrhaft deutschen Gründh'chkeit« zu sprechen. Be-
sonders die Franzosen, und seien es die Größten, werden
noch immer von vielen Deutschen unter dem Gesichtswinkel
des Lessing'schen Riccaut de la Marlinite angesehen. —
Kommen wir doch aber zu der Frage der Beurteilung
von Oeschichtswerken Oberhaupt zurfick. Damit hat es eben
eine eigene Bewandtnis.
Selten, vielleicht nie^ wird ein Geschichtsschreiber es
allen recht machen, ob er nun objektiv oder subjektW dar*
stellt, ob er nun Gesetze oder Ideen in dem Laufe der ge-
schichtlichen Begebenheiten nachzuweisen sucht, oder ob
er solche verpönt; ob er die alterprofundeste Gelehrsamkeit
aufwendet oder nicht — er kann immer auf Tadel ge-
faßt sein.
Bei vielen, ja den meisten, gilt eine tendenzlose Ge-
schictitsschreibung für die alleinberechtigte; ferner gilt
Thucydidcs seit jeher für einen der ^ößten Historiker,
ebenso Macaulay als KuUur- und Oescliichlsdarsteller. Und
doch wurde vor kurzem an gelehrter Stelle der Satz wie
selbstverständlich ausgesprochen: Gleich allen großen
Historikern von Thucydides bis Macaulay schreibt M. . . .
Geschichte vom Parteistandpunkte.«
Nun ist aber wiederum in den Augen vieler - aucli
Montesquieu's — das ein großer Fehler bei Voltaire, daß
er eben Geschichte vom Parteistandpunkte des Aufklärers,
des Kulturphilosophen, aus konzipierte, und es dürfte wohl
Herder der erste gewesen sein, der (im Jahre 1774) die
durch Voltaire vertretene Geschichtsschreibung speziell wegen
ihier Verachhing des Mittelalters tadelte.*)
*) entnommen aus Koser' s »König Friedrich der Große«.
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Selbst wenn man Voltaires Unfähigkeit: Tatsachen
und Gestalten der Geschichte aus den angegebenen Be-
dingungen ihres Werdens und Lebens zu begreifen«*) zugibt
— wobei es allerdings sehr fraglich ist, ob das schon irgend
Jemandem gelungen ist — so kann man doch wenigstens nicht
behaupten, daß er die Geschichte mit Bewußtsein fälscht»
und daß er die Erzählung der Begebenheiien zum Zwecke
des Chauvinismus korrumpiert. Aber gerade das werfen
unzählige^ nicht unberühmte^ Historiker des einen Staates
den unzähligen, ebenfalls nicht unberühmten Historikern der
anderen Staaten vor, und man muß sagen: Mit Recht!
Und andererseits: Was die Ffille der Defailstudien be-
trifft, deren Mangel den historischen Werken Voltaire's vor*
geworfen wird, so möge man doch bemerken, daß er noch
viele andere und darunter sehr wichtige, ja viel wichtigere
Dinge zu tun hatte. Mögen die OrOndlicheren ihm das
also zu Oute halten und mögen sie, die nicht anderweitig
so viel beschäftigt sind, wie es Voltaire war, ihre Quellen-
studien im ausgedehntesten Maße betreiben, man wird ihnen
auch dafür dankbar sein, auch wenn sie, wie es höchst
wahrscheinlich ist, keine v Versuche über Sitten zu Stande
bringen.
Voltaire aber hatte alle Hände voll zu tun, während er
Geschichtswerke verfaßte. Denn er stand gleichzeitig In
der vordersten Reihe der Kämpfer, um Vorurteile und Miß-
bräuche aller Art zu bekämpfen, hatte sich um die Aut-
hebung der Folter und um die Verbesserung der Kriminal-
rechtspflege zu kümmern und außerdem sich noch manch
andere, sehr ehrenhafte Aufgaben gestellt, die sich mit der
Bedeutung »gründlicher Quellenstudien« wirklich ganz wohl
vergleichen lassen, wie z. B, die Unterdrückung feudaler
Servitute, die Verteidigung der Calas, Sirven usw. — Das
sind lauter Dinge^ mit denen sich bisher keiner der selbst
*) Worte Ondcen's in seinem ^Zeitalter Friedrich des Großen«.
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allergrundlichsten Historiker belastete — er konnte also nicht
so eingehend wie der Fachhistoriker ruhig in den Bibliotheken
oder Archiven studieren; obwohl er sogar aucii dies bei
Abfassung der »Annales de TEmpire« (deutsche Relchs-
annalen) während seines Besuches am Oothaer Hofe tat und
damit bewies, daß er auch diese Kunst verstand.
Hingegen wird ganz übersehen, daß der persönliche
oder schriftliche Verkehr Voltaire s mit Königen, Prinzen,
Staatsmännern und Feldherren ihm ein Verständnis für
Menschen und Ereignisse, denen er tief hinter die Kuhssen
blickte, eine Weite des Blicks und eine Souverainetät des
Urteils ermöglichte, die kein noch so gründliches Quellen-
studium so nötig es auch unbedingt ist — verschaffen
kann. Daher kommt es auch, daß die Lektüre der Vol-
taire'schen Geschichtswerke dem Leser ein gewisses Oefühl
der Freiheit und Überlegenheit über die Menschen oder Vor-
gänge erweckt; während bei den meisten Werken anderer
Historiker der aus niedrigerer sozialer Position sich gleichsam
in die > große Welt^ eindrängende devote Philister hervor-
guckt Und man wird auch schwerlich einen Historiker
nennen können, der eine solche Menschenkenntnis beweist,
wie Voltaire in seinen Oeschichtswerken; er macht mir in
dieser Beziehung einen ähnlichen Eindruck wie Shakespeare.
Selbst den Oesdiichtsphitosophen, die doch einen
höheren Standpunkt als der reine Historiker einnehmen,
merkt man die sozusagen weltfremde Unbeholfenheit an;
und zwar daran, daß sie Voigffi^ die dem Etnzdgenie^
oder dem Zufall — welche beiden Voltaire als bewegende
historische Faktoren ansah — oder, was am häufigsten zu-
h-lfft: der Schlechtigkeit einzelner oder vieler zuzuschreiben
sind, großen Oesetzen in dte Schuhe schieben wollen und
dabei den Dingen die größte Gewalt antun.*)
•) Sehr belehrend über die Unrichtigkeit der Ansicht, daß die In
dividuen keinen EinfliiR auf den Otir\^ der Geschichte haben, sondern
nur die »Massen«, oder die wirtschafüiche Entwicklung <^ usw. ist
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— 125 —
Möge jeder Spezialforscher, also auch der Quellen-
Historiker, sich seiner Leistungen freuen, es wird kein Ver-
nünftiger ihm sein Verdienst schmälern wollen; »sehe jeder,
wie er's treibe;« aber warum andere^ die sich andere Auf-
gaben stdlen» degradieren wollen?
Und möge der noch so gelehrte und gründliche Historiker
auch noch weiter bedenken, daB auch er der bösen Nach-
rede nicht en^hen wird.
Was kann .man noch mehr an FflUe des Wissens und
der Detailstudien veriangen, als z. B. in Mommsens Rö-
mischer Geschichte zu finden ist?
Und doch gibt es aus dem, wegen seiner Oberflächlich-
keit so verschrieenen 18. Jahrhundert ein ganz kleines Buch
Ober denselben Gegenstand, nämlich Montesquieu's »Be-
trachtungen über die Ursachen der Größe der Römer und
ihres Niederganges,« — welchem Werke sogar Voltaire die
Mangelhaftigkeit der Quellenangaben oder Studien, selbst
falsche historische Zitate vorwarf — von dem der neueste
Herausgeber, der bedeutende Jurist und Rechtshistoriker
Eduard Laboulaye, sagt: »Niemals wird man dieses un-
sterbliche Meisterwerk verdunkeln; es wird mehr als eines
der Bücher überleben, die man heute bewundert. Was ist
denn noch übrig von Niebuhr und seinen geistreichen
Hypothesen, die durch andere Hypothesen abgelöst worden
sind, die nicht weniger geistreich und nicht weni^^er haltlos
sind? Was ist denn geworden aus dem hochlrabenden
Roman, welchen Herr Mommsen, ein immerhin ge-
schickter Altertumsforscher, auf den Namen -Römische
Geschichte- getauft hat? Alle diese Wunder von Gelehr-
samkeit veralten in zehn Jahren, während die »Betrach«
namentlici) der Umsturz der politischen Verhältnisse in Eneland nach
Cromwells Tode. »Richard Crom well zeigte', sagt mit Recht Voltaire
in seinem Siide, daß das Schicksal der Staaten oft vom Charakter eines
einzigen Menschen abhangt« Auch die Polgen des Todes Gustav Adolphs
und der Besieeuns Napoleons bewteien die Bedeutung begabter Indi-
viduell in der Oetoiiciite.
DIgitIzed by Google
— 126 —
tungen« in jedem Menschenalter neue Leser und neue Be-
wunderer finden.«*)
Zum Überfluß finden sich aber sogar Schriftsteiler, die
zu den verbissensten Gegnern Voltaire's zählen, die seine
Oeschichtswerke überaus hoch stellen und gerade das Ent-
gegengesetzte wie Carlyle sagen. So meint Emil Faguet,
Voltaire sei ein guter Historiker gewesen, »weil er das Genie
der Neugierde besaß;**) seine Oeschichtswerke machen ihm
große Ehre; was sie am meisten so empfehlenswert macht,
ist, daß er jedes zehnmal fiberarbeitete. Neue Tat-
sachen und Einsichten, ohne Unterlaß gesammelt und
mit größter Oeduld registriert .... Wenn der »Essai
sur les moeurs« etwas zu sehr Pamphlet ist, so sind das
»SiMes »Karl VII« und »Peter der Oroßec Werice voll Oe-
wissenhaftigkeit, Genauigkeit und großen Talents.«***)
Und schon Condorcet berichtet, daß Voltaire bei seiner
Geschichte Karis XII. nur Originalmemoiren von Augen-
zeugen der Vorgänge benutzte und daß König Stanislaus,
der Freund, Genosse und das Opfer Karls XII.«-, Voltaire
die Geiiauigkeit seiner Darstellung beslätigte.
Carlyle aber sagt speziell von der Geschichte Karls Xll. :
»Das bestgeschriebene Buch Voltaire's, aber ganz ohne
Wahrhaftigkeit«
•
Bei der Kritik der Voltaire'schen Oeschiditsschreibung
sahen wir, wie die Tadler seine positiven Leistungen igno-
rieren und seine mehr oder weniger vorhandene Schwäche
*) Aus W. Ondceti: »Dts Zeitalter Friedrich des OroBoLc (S. 466
des I. Bandes.)
**) Bekanntlich gab auch Ranke auf die frage, was ihn zu seinen
gescMchtlicheti Studien getrieben habe? die Antwort: Die Neugierde,
zu wissen, wie es eigentlich gewesen.
***) Siehe Fa^uet's »Dix-huiti^me Stades »Etudes Utttoaires«! (6. Auf-
lage, 1901, S. 2Ö&).
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in diesem Fache mit aller Schärfe hervorheben; das heißt
wirklich: mit Lieblosigkeit urteilen.
Wenn es sich aber um Geist oder Witz bei Voltaire
handelt) so würde man meinen, es sei jede Nörp^elei aus-
geschlossen; denn Geist und Witz besaß er wie doch kaum
je ein Mensch. Aber man weiß sich zu helfen: Man de^^ra-
diert diese Eigenschaft, indem man sie einer andern an-
geblichen höheren gegenüberstellt, nämlich: dem Humor.
Sein Witz ist, meint Carlyle, »weiter nichts als ein
logischer Scherz, eine Heiterkeit des Kopfes, nicht des
Herzens«.
Und wenn dem so wäre? Ist das ein Verbrechen?
Ein Fehler? Und ist es überhaupt so sicher, daß beide
Arten von Heiterkeit, ästhetisch genommen, nicht gleich-
artig sind? Und, wenn ethisch genommen, brauchen wir
bei Voltaire erst lange zu suchen, um sein »Herz< zu
finden, selbst wenn er auch noch nebenbei in seinen
Schriften auch nur eine Heiterkeit »des Kopfes« hat?
Man wird doch auch nicht einem Rabelais etwa des-
wegen kritische Vorwürfe machen, weil er keinen eigentlichen
Humor, sondern mehr Witz und Satyre besitzt; und gewiß^
ohne äußerste Frivolität, es nicht wagen, diesen Mann, einen
der bedeutendsten Geister und edelsten Menschenfreunde
Europas, degradieren zu wollen!
Es ist auch ganz und gar Ansichtssache, resp. Tempera-
ments* oder Rasseaniage, ob man an Oeist und Witz oder
an Humor bei dem also das OemQt mitspielt eine
größere Freude hat. Ja, an Wichtigkeit ffir die äußere
Weit, an dynamischer Wirkung auf die Oesinnung der
Menschen hat der Humor — der einen mehr statischen
Charakter und eine mehr beschauliche Stimmung zur Voraus-
setzung und aucii zum Resultate hat — jedenfalls bei weitem
nicht die Bedeutung wie ihn Witz, Geist, besonders aber
Satyre großer Schriftsteiler besitzen; vorausgesetzt, dalJ Witz
oder Satyre sich auf allgemein wichtige Vorgänge oder
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Persönlichkeiten beziehen. Ich fand eine Äußerung Goethes
über diesen Punkt, die mit meiner eben ausgesprochenen
Ansicht sehr übereinstimmt. »Nur wer kein üewissen oder
keine Verantwortung hat,- sagte der alte Goethe zum Kanzler
Müller, rkann humoristisch sein . . . freilich, humoristisclie
Augenblicke hat wohl jeder, aber es koiTimt darauf an, ob
der Humor eine beharrliche Stimmung ist, die durch's ganze
Leben geht , . . Wem es bitterer Ernst ist mit dem
Leben, der kann kein Humorist sein.«
Und zu dem Satze Carlyle's vom Witz Voltaire' s als
einer > Heiterkeit des Kopfes, nicht des Herzens« sei als
eine interessante Zufälligkeit mitgeteilt, daß im Laufe jenes
Gespräches zwischen Goethe und Mfliler dieser anführte^
irgend ein Schriftsteller habe gesagt, der Humor sei nichts
anderes, als der Witz des Herzens« Goethe eigrimmte
aufs heftigste üb&r diese Redensart »Witz des Herzens«»
welcher Unsinn! Ich wdB nicht, was Herz ist und
will ihm Witz beilegen! Deigldchen Phrasen streifen an
meinem Ohr vorfiber wie zerplatzte Luftblasen.« Carlyle^
der Goethe in allem so sehr bewunderte^ kannte wohl diese
AuBerungen Goethe's nicht; vielleicht hätte er sonst seine
Bemerkungen Ober Voltaire's Witz unterdrückt Ob man
nun aber Goethe's Ansicht oder jene Carlyle*s akzeptiert, so
wird es trotzdem keinem gesitteten Beurteiler der Dinge
einfallen» einen Humoristen deshalb verkleinem zu wollen,
weil er zu viel »Heiterkeit des Herzens und zu wenig des
Kopfes« besitzt
>Er hat keinen Schimmer von Humor,, heißt es bei
Carlyle weiter, > . . . . vergebens suchen wir in allen seinen
Werken auch nur einen einzigen Zug eines Don Quixote
oder eines Tristram Shandy. Auch Faguet in seinen >Etudes
Htt^raires« zieht den Don Quixote zur Vergleichung heran
und zwar — man sollte es kaum glauben mit Voltaire's
»Pucdlel« »Diese hat nicht jenen notwendigen Fond eines
üigitizeü by Google
— 129 —
komischen Romans,* heißt es dort, »lauter kleine, groteske
Tatsachen . . . .«
Oanz abgesehen davon, daß jeder Dichter sich seine
eigene Manier auswählen kann, und man daher jeden Tadel,
der aus der Vergleichung mit anderen Dichtungen herge-
leitet wird, mit Berufung auf das für alle gleiche Recht zu
schreiben, wie es eben jedem beliebt, vollständige über den
Haufen werfen kann*) — wollen wir den Mangel an Humor
im Cervantes "sehen Sinne bei Voltaire gern zu^^eben; aber
ich stelle eine Get^enfrage: Finden wir im ganzen Cer\antes
oder im ganzen Sterne solche Oedanken wie im Philoso-
phischen Wörterbuch? Oder: Empfindungen wie im Auf-
satz über Toleranz-Ideen?«, wie im »Versuch über die
Sitten?^
Hat femer Cervantes sich der Unterdrückten ange-
nommen, Toleranz gepredigt, wie Voltaire? Hat nicht Cer-
vantes in seinem Don Quixote die Vertreibung der Mauren
und Juden aus Spanien gutgeheißen? usw. Wo kämen wir
aber hin, wenn wir in solcher Weise bei jedem groBen
Mann an seine Mängel, kurz und allgemein: an das, was er
nicht hat, erinnern wollten?!
Lassen wir also alle derartigen Vergleiche.
Hätte etwa Voltaire alle Vorzüge und Talente sämt-
licher anderer Genies aller Zeiten in sich vereinigen sollen,
bloß damit man ihm nicht einen Vorwurf daraus machen
könne, er habe das oder jenes nicht gekonnt? Aber so
etwa sieht die Sache wirklich aus; denn wenn er z. B.
Humor ä la Cervantes besessen hatte, so könnte man ihm
ja vorhalten, er habe keine Satyre gehabt, und so ins
Endlose. —
Diese ganze Art, jemanden zu tadeln, weil er irgend
*) Dafür kann auch ieder tadetn wie tt ihm belieht, er darf aber
seinen Tadel nicht als aflgeiiicin gültigeiL tOndcm nur als Ausdruck
des persönlichen Geschmacks hinstellen, wie man sieht, tut das aber
weder Carlyle noch Faguet
Popp<n VoliMfe. 9
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— 130 —
etwas nicht gekonnt» anstatt dasjenige anzuerlcenneni was er in
der Tat Iconnte^ oder darum, weil er Oberhaupt anders war als
irgend jemand, ist eine lieblose Unart der meisten Icritischen
Schriften, namentlich aber jener, die im vorhinein gegen
jemanden eine gegnerische Stellung einnehmen wollen. So
heißt es z. B. bei Straufi: »Voltaire war kein ruhiges
Licht, sondern ein flackerndes Feuer.c Also da hfitten
wir wieder einen neuen Mangel bei Voltaire entdecktl Es
ist in der Tat keine Kleinigkeit, ein »flackerndes Feuer« an-
statt eines »ruhigen Lichts« zu sein!
Strauß wollte offenbar dem Leser suggerieren, daß die
großen Genies der Deutschen und besonders das größte:
Goethe, doch g'anz andere und zwar höhere Naturen seien,
als jene der Franzosen, also auch als des gröljlen unter
ihnen, -^Voltaire s nämlich. Denn man ist ja seit jeher j^e-
wohnt, sich Goethe nur als Greis in steifer Haltung und in
-olympischer Ruhe vorzustellen, was alles der Voltaire'schen
Beweglichkeit möglichst ento^c^Ljengesetzt ist.
Woraus folgt denn aber, daß ein flackerndes Feuer —
die Richtigkeit dieses Bildes für den Augenblick zugegeben
— weniger wertvoll ist als ein ruhiges Licht? Wenn man
als flackerndes Feuer all das in der Welt bewirken kann,
was Voltaire bewirkte, so ist es nicht nur, sozusag^, voll-
auf in seiner Existenz gerechtfertigt, sondern jedem noch so
ruhigen Licht gegenüber mindestens als gleichberechtigt er-
wiesen; zumal das ruhige Licht Goethes bei aller Grösse sich als
Kulturfaktor lange nicht mit dem Feuer Voltaire's messen
kann — was wohl jeder, der die Einwirkung Voltaires auf
den gesellschaftlichen Zustand Europas und andeimeits jene
Goethes kennt, einsehen wird, und was in Carlyles Satz, den
ich oben zitierte: »Wenn man Voltaire und seine Tit^;keit
aus dem 18. Jahrhundert hinwegnehmen wollte usw.t*)
ebenfalls und noch in ällgemeinerer Sinnendeutlichkeit aus-
gesprochen wird.
*) Seite 76b
Digitized by Google
— 131 —
Es wird wohl die längst veraltete Winckdmann'sche
Kunsttheorie von der Ol)eriegenheit der antiken »Ruhec
gegenüber der leidenschaftitclien »Bewegung« StrauB im
Sinn gelegen sein, als er diesen Satz aussprach, der über-
haupt und nicht nur im Gebiet der Kunst, eine ganz willkürliche
Behauptung involviert. Gewissen Naturen und gewissen
Nationen oder Rassen erscheint Leidenschaft, rasche Ab-
wechslung, Temperament, Unruhe an sich viel vorzüglicher
und auch ästhetisch höherstehend, als Ruhe, Bedächtigkeit,
langsames Tempo.
Hiezu konimt noch der Umstand, daß dem einen als
Ruhe und als ruhiges Licht erscheint, was dem andern
den Eindruck eines flackernden Feuers macht. Die Franzosen
bemerken wohl an Voltaire durchaus kein Flackern, und selbst
während seiner heftigsten Kämpfe nicht; vielleicht, ja wahr-
scheinlich, empfand Voltaire selbst während der Abfassung
seiner Kampfschriften weniger Unruhe, als Strauss oder
mancher andere Deutsche bei der bloßen Lektüre derselben.
So war auch Napoleon während der heftigsten Schiachten
und gefähriichsten Situationen ganz ruhig, sein Herz machte
nicht einen Schlag mehr als sonst, wohingegen dem Leser
seiner Biographie so oft, z, B. gelegentlich der Rflckkehr
von Elba, vor Auffing das Herz Idoplt
Lassen wir also Voltaire ohne Bedenken >flackem!<
*
Einen unbedingt traurigen Anblick bieten jene Oegner
Voltaire's dar, die ihm alles Oute und Orofie, das er an-
gestrebt oder ausgeführt ha^ gewissermaflen unter der
Hand verdrehen und hier immer nur niedrige Aitotive suchen
oder alles ins Geringfügige herabziehen. Das ist eine Spe-
zialität jener französischen Literaten, die den kierikat-royali-
stischen Standpunkt vertreten.
9»
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— 132 —
Als einer der verkniff ensfen ist da der Uteraturhisiorilcer
Emil Faguet zu nennen» und diese ganze Methode zu be-
kämpfen, zu verurteilen, zu verkidnem und verächtlich zu
machen, soll durch einige Stellen aus seinen »Etudes litt^
raires« illustriert werden.
Vor allem beklagt Faguet, daß das 18. Jahrhundert
weder christlich noch franzdsisch war, wobei unter »fran-
zösisch« die konservativ^ aristokratisdie und monarchische
Oesinnung verstanden wird. Nun ist das ein Standpunkt,
den man wohl mißbilligen und bekämpfen kann, gegen
dessen Vertreter sich aber sonst im vorhinein nichts
Schlimmes sagen läßt. Aber die Kampfvveise dieses frommen
Tierchens«-! ^ Voltaire ist ein französischer bourgeois gentil-
homme aus der Zeit der Regentschaft .... sehr reich ge-
worden, ein wenig kühn, sehr frech, der alle Mängel seiner
Abstammung und Erziehung bewahrte.« Hier spricht der
Anhänger der Adelsinstitution und der Verächter bürgerlicher
Sitte; dazu paßt auch der Satz: »Auch ist er wenig militärisch;«
welcher Tadel wohl der Lebensanschauung eines adeligen
Raufboldes, nicht aber der eines gesitteten Schnftsteilers
entspricht
Und nun mögen jene Behauptungen Faguet's folgen,
die, wie so oft bei Polemiken Klerikaler, gleichsam als ihre
kühnen Reiterstückchen anzusehen sind, indem sie den Mut
haben, allbekannte Tatsachen zu ignorieren, ja ihnen direld
zu widersprechen:
»Niemals anerkannte er Denkfreiheit sich selbst gegen-
über« — während es doch bekannt ist, daß er gegensätzliche
Ansichten nicht nur tolerierte, sondern auch deren Vertreter
mitunter sehr freundschaftlich behandelte und unterstützte
(wie schon oben l>emerkt wurde).
»Nichts war ihm lieber als die Teilung Polen's, weil es
eine schöne Manifestation der Kraft war.« Tatsächlich ader
war Voltaire ein prinzipieller Gegner solcher Manifestationen,
wie schon seine Anskditen g^entttier dem kri^[ftihrenden
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— 133 —
Friedrich dem Großen beweisen; und fiberdies spmch Voltaire
in Briefen an Friedricli ausdrücklich davon, daß er die
Teilung Polen*s wegen der dort herrschenden Intoleranz der
lOdholiicen und w^en der Unterdrflckung der Volksbildung
und der Wissenschaft Oberhaupt durch den Adel wflnsche^
und in der sichern Hoffnung, diese Verhältnisse unter Friedrich
und Katharina gebessert zu sehen.
»Er ignorierte die Unterscheidung von Out und Böse«
— welche Behauptung geradezu erstaunlich ist, abgesehen
von tausend Einzeltatsachen, einem Manne gegenüber, der
von sich selbst sagte: »Ich habe einiges Oute getan und
das ist das beste meiner Werke. Das trockenste Herz,'
meint ferner Faguet, >das man je sah — das gehört zum
vorigen und braucht keine spezielle Kritik.
Nun zu den Verdrehungen und Verdächtigungen bei
faguet:
»Aus Ruhmsucht täuschte er allerlei KQhnheiten vor,
die seinem intimen Geschmack eigentiich entgegen waren.«
Das dfirfte wirklich schwer zu beweisen sein!
»Dieser Epikuräer erkennt, dal5 das Glück der andern
zu seinem eigenen notwendig Ist, wenigstens, daß die Leiden
der andern ein unangenetimes Konzert unter seinen Fenstern
gäben « — Faguet merkt also gar nicht, dali eben darin die
Eigenschaft der Oöte besteht, das Glück der anderen zum
eigenen Glück für notwendig zu halten. — > für
einen Menschen, der gewohnt ist, seine Stimme wenigstens
bis an die Grenzen seines Landes zu erstrecken, wird dieses
Gefühl zu einer lebhatten Ungeduld, ein unerträglicher
Schmerz, zu wissen, daß es Unglückliche im Lande gebe
und daß es leicht zu bewirken wäre, daß es deren keine
mehr gebe Ich will von Calas, Sirven und de la
Baire sprechen. Man hat ohne Zweifel zu viel Lärm damit
gemacht • . . Voltaire war ja sein g^anzes Leben lang in
Pkozesse verwickelt, nach der Traditk>n seiner Familie.c
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— 134 —
»Er schreibt für zwei oder drei unschuldig Verurteilte, was
seine Popularitäl wiederherstellt und seine Rancune gegen
die Magistratur befriedigt, und das wird ihm dann von der
Nachwelt so angerechnet, als ob er sein ganzes Leben hin-
durch nichts anderes getan hätten und was übrigens sehr
gut ist«
Hier sieht man ehi Unglaubliches gelanl lAtai sieht
hier das Bestreben, edle Handhingen durch den bloßen
Ton der Berichterstattung und durch eine Summe an-
einander gereihter Ideiner Verdichtigungen und Bosheiten
um ihren Ehidruck auf die Menschen zu bringen; und
zugleich hat man ein vorzuglich klares Beispiel dessen vor
sich, was dn Frommer zu sagen imstande ist, wenn er seinen
Gegner um jeden Ptels schlecht machen und selbst seine
verdienstvollsten^ nicht wegzuleugnenden Handlungen degra-
dieren will. Allerdings ist die Sophisterei so erzwungen,
die Darstellung so sichtlich gekünstelt, daß Faguet wohl bei
wenigen, nicht kirchlich gesinnten Lesern seinen Zweck
erreichen dürfte. Und um Voltaire vollends um alle Ach-
tung zu bringen, vergleicht ilm Faguet mit — Aretin!
Mit einem Menschen, der gar nichts anderes als der,
der Zeit und Gewandtheit nach, erste Revolverjournalist
Europas war; der sich nie um Fortschritt oder Reformen
kümmerte, weder in Künsten noch in Wissenschaft etwas
leistete und sich nie eines Bedrückten annahm! Und in der
wohlbekannten pfäffischen Art bringt Faguet diesen Ver-
gleich auf einem Umweg vor, indem er sich so ausdrückt:
»Die Könige und Prinzen schrieben ihm freundschaft-
lich. Ich will bemerken, daß dasselbe Aretin geschah, aus
densell>en Motiven» und zwischen beiden gibt es Ana-
logien.«
Da nun Faguet gewIB nicht unter diesen Analogien:
Essen» Trinken und Schlafen versteht, so kann er nur die
Charakteranlagen nn Sinne haboii also die Ähnlichkeit von
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— 135 —
Vottaire's Charakter mit jenem dnes der veriottertsten und
egoistischesten Individuen der Renaissance!*)
Was at>er die Verteidigung von Calas betrifft, welche
Faguet als eine Art Prozeß-Sport VoHaire's htnstelll^ so
seien einige Bemerkungen hierQber gestattet.
Obwohl alle Welt von der ^Verteidigung des Calas«
gehört hat, so haben doch nur wenige eine Ahnung davon,
was für ein Stück Arbeit da von Voltaire geleistet werden
mußte und wie sein ganzes Wesen Jahre hindurch von
Mitgefühl für jene unglückliche Familie erregt und ange-
trieben wurde, sich den Mühen dieses Prozesses zu unter-
ziehen, Im allgemeinen wird wohl jeder, besonders nach
Lektüre der oben mitgeteilten Faguetschen Darstellung,
glauben, Voltaire habe in diesem Falle, wie sonst ein Anwalt
zu tun pflegt, bloß Aktenstücke gelesen und dann eine
Satzschrift verfaßt 1
Zur Aufklarung und damit man Faguet's unglaubliche
Entstellung des Sachverhalts in ihrer ganzen Oröfie be-
urteilen könn^ gebe ich m folgendem eine kuize Darstellung
der Tätigkeit und des Oemfitszustandes Voltaire's in der
Caks-Affaire:**)
Im Jahre 1762 geriet der damals achtundsechzigjährige
Voltaire in nicht geringe Erregung, als ihm die Nachricht
zukam, man wolle in Toulouse eine grosse Büßerprozession
zum Gedächtnis eines Mabsacres im Jahre 1562 abhalten,
*) Wenn maii lUese verkniffene Bosheit^ diesen Versuch, große
und edle Bemühungen zu degradieren, und dabei auch die GeistTosig-
keit der Argumentation betraditet, so erstaunt man darüber, daß ein
solcher Herostrat moraliadier Momiiiicirte ein Fnmzose, Professor und
Mitglied der Academie fran^alse «^ein Icann Wenn noch mehrere solcher
MÄnner, solcher Charaktere die französische Jugend in Geschichte der
Uteratur antenfchten irad «He »Zierden des framAtlschen Oelstes« In
ihrer Eigenschaft a!s Akademiker repräsentieren sollten, dann wäre es
um Frankreich sehr schlimm besteilt. Sehr traurig, daß ein solcher
Ocitt einen Lehrstuhl bekommen oder behalten konnte!
**) Wobei Idi nddi der Dttstelinng Nocft in seinem Budie
»Voltttie et Rousseau« anscfaKcsse.
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— 136 —
bei dem 4000 Hugenotten ermordet wurden*). Voltaire
war im Begriffe, Toulouse vor der Welt nach Gebühr zu
züchtigen Unterdessen gedieh die fanatische Stimmung
immer weiter und als Vorbereitung zu dem gottesdienstiichen
Feste der Prozession verurteilte das Parlament von Toulouse
den protestantischen Kaufmann Calas unter der Anklage^
seinen eigenen Sohn ennordet zu haben, um ihm den Über-
tritt zum Katholizismus unmöglich zu machen, zum Tode.
Der edle und an dem Tode seines Sohnes ganz unschul-
dige Calas wurde gerSdert und seine ganze Familie ver-
folgt**)
Als aber endlich die Unschuld des Calas unwiderleglich
an den Tag kam, hatte Voltaire keine Ruhe mehr; von
nun an gab es IQr ihn keine philosophischen^ keine litera-
rischen Ait>eiten, nur das Eine schien ihm jetzt notwendig:
das Andenken des Ermordeten zu rehabilitieren, das Urtdl
kassieren zu lassen, die Ehre von Calas' Witwe, dessen
Söhnen und Töchtern wiederherzustellen und sie wieder in
ihre Güter einzusetzen. Vohaire iiclJ die Familie, die ohne
Asyl, oline Hilfe, ja ohne Brot war, nach Ferney kommen.
In ihreni Namen und auf seine Kosten appelliert er an den
Staatsrat um Revision des Prozesses; er schreibt und läßt
für die Ungiücklichen agitieren, bei dem König, bei den
Ministem, bei Frau von PorTipadour. Er schreibt in jener
Namen und substituiert sich nach Herz und Seele und
Aktivität der verfolgten Familie, und trlii zugleich als Rächer
der verfolgten Unschuld auf In diesem Gemütszustände
verdoppeln sich seine Kräfte und seine Unerschrockenheit
*) Welche Prozession in unserer Zeit, nämlich im J. 1862.
wiedcftiolC wuide.
**) Ich möchte hier auf ein Drama der neuesten Zeit aufmerksam
machen, das die Affäre Calas bebandelt, und das, für meine Empfindung
wenigstens, den Gegenstand in höchst eraster und kriftiger Weise durch-
fuhrt, sehr spannend wirkt und zugleich ein anschauliches Bild des
damaligen Kulturzustandes in Frankreich bietet. Dcr Verfasser dieses
Stückes ist der Wiener Dramatiker Victor Stern.
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— 137 —
Keine andere Beschäftigung gab es während dreier
jähre für ihn, als die Familie Calas zu retten; in dieser Zeit
rechnet er sich — wie er an einen Freund schrieb — jedes
Lächeln, jede Heiterkeit zum Verbrechen an. Und er unter-
lässt absichtlich alle Polemik, jedes harte Wort und jeden
Spott g^gen die Richter, niemals war sein Stil so einfach,
wie jetzt in seinen Schifften in der Calas-Affibe; im Interesse
der Sache» um nicht zu irritieren, wendet er alle Vorsicht
an, irgend jemanden, der hier beteiligt war, zu verletzen, »er
spricht nur halblaut«, wie sich Noel ausdrOdd, und wShrend
er sonst vor Zorn zittert, hält er sich zurQcl^ verbiiigt sein
Genie — er will nichts anderes, als »die bestfirzte Familie
ivtten«.
Mit der Geduld einer Mutter, die ihre Kinder verteidigt,
sucht er zu erklären, wieso die acht Richter, die das Todes-
urteil über Calas aussprachen, sich irren konnten; selbst in
seiner Korrespondenz mit seinen Freunden, wie z. B. in
seinem Briefe an d'Argental vom 24. Juni, hütet er sich, sie
zu beschuldigen, er unterdrückt seine eig^ene Meinung, er
könnte das Parlament niederwerfen — er unterläßt es; denn
es handelt sich ihm nicht um rednerischen oder schrift-
stellerischen Erfolg, sondern um die Ehre des Calas.
Die Anwesenheit der Witwe Calas in Femey, die
in ihrem übergroßen Unglück fast dem Tode nahe war,
erregte in Voltah« den denkbar höchsten Grad von Mitleid;
wenn man seine Korrespondenz aus jener Zeit liest, findet
man immer wieder das grofie Herz, das eine heilige Sache
verteidigt
Am 29. März schreibt Voltaiie an sanen Freund
d'Aigental: »Sie fragen mich vielleicht^ warum ich mich so
sehr für den geräderten Calas interessiere: es geschieht,
weil ich ein Mensch bin, weil ich alle Welt ausserhalb
Frankreich empört sehe Können Sie nicht den Herzog
von Choiseui dazu bewegen, sich über diese schreckliche
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- 138 —
Angelegenheit zu untenichteiii die die menschliche Natur
entehrt? . . .«
Und am 4. April an Damilaville: »Niemals, seit der
Bartholomftus-Nacht, hat etwas so sehr die menschliche
Natur geschindet« Am selben Tage schreibt er an d'Aigental:
»Lacht man noch in Paris?«
Einige Tage nachher hat er vor Auffing das Fieber
und muß Im Bette bleiben.*)
Am 11. Juni schreibt er von neuem an d'Aigental:
»Ich werfe mich Ihnen und dem Grafen Choiseul zu FflBen.
Die Witwe Calas ist in Paris, um Recht zu erlangen. . . .
Im Namen der Menschheit, unterstützen Sie sie, Graf
Choiseul möge sie anhören! . . .«
Am Q. Juli an einen Kaufmann in Marseille: >Teilen
Sie mir mit, mein Herr, ich beschwöre Sie, ob die Witwe
Calas in Not ist . . . und er fügt bei: Das hiefje, auf
alle Menschlichkeit verzichten, wenn man eine solche An-
gelegenheit mit Gleichmut behandeln wollte.«
Am 26. Juli wieder an Damilaville: »Die Abscheulich-
keit von Toulouse beschäftigt mich mehr als die Unver-
schämtheit von St. Sulpice. Ich bitte Sie inständigst, die
Originalakten des Prozesses drucken zu lassen, Herr Diderot
kann tdcht einen Buchhändler zu diesem guten Werke
finden . . . JMÖge Ihr gutes Herz der unglQckIkhen Familie
diesen Dienst leisten! Hierin liegt wahre Philosophle.€
Am 31. Juli an denselben: »Ist es möglich, daß man in
Paris nicht die Memoiren des Calas drucken wllll Out, da
sind andere: lesen und zittern Sie«
Am 7. Au|,^ust an D'Argental: »Man muß dem Kanzler
die Ohren davon gellen machen, man darf ihm keine Ruhe,
keinen Frieden gestatten; man muß ihm immeriort zurufen:
Calas! Calas!«
*) Wagni^re eiiäliH, d«0 ViMn in jedem Jahrestige der
Bartbolomiiu-Nacfat vor Zorn dit Heber bekam.
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— 130 -
Am 21. September schreibt Volteire an Chauvdin:
»Diese AfÜre wird immer wichtiger, sie interessiert die
Vaiker und die Rdtgionen — Am 9. Januar 1703
schreibt er anläßlich des NeujahrsgniBes an seinen alten
Freund Qdeviile^ spricht wieder von der Calas-Affäre und
der Revision des Prozesses: »Ich seufze nach dem revi-
dierten Urteile^ als ob ich dn Verwandter des Toten wfire.«
Und so geht es weiter; die Dinge gehen ihm zu lang-
sam vorwärts. Das Blut kocht mir wegen der Calas.
Wann wird die Revision angeordnet werden?«
Endlich, am 7. März, kam die Affäre an den Staatsrat,
man sprach die Revision des Urteils von Toulouse aus, und
bei dieser Nachricht ruft Voltaire (in einem Briefe an Dami-
laville vom 15. März) aus: t-s gibt also noch Gerechtigkeit
auf Erden, es gibt noch Menschlichkeit! und an den
Referenten Crosne schreibt er: »Mein Herr, Sie haben sich
mit Ruhm bedeckt . . . die Philosophen müssen Sie hoch*
schätzen, und die intoleranten selbst müssen Sie achten . . .«
Und mit diesem allen vergleiche man die Darstellung
Faguet*s: ». . . . Man hat ohne Zweifel zu viel Lärm damit
gemacht . . . Voltaire war ja sein ganzes Leben lang in
Prozesse verwickelt» nach der Tradition seiner Familie« (1)
*
Eine ganz aparte Art, Voltaire zu verkleinem, haben sich
mehrere, zumeist aber deutsche Schriftsteller zurechtgelegt,
indem sie die letzte der von mir zu Anfang angeführten
Methoden in Anwendung bringen: die relative Erhöhung
seiner Gegner.
Mit welcfier Gerechtigkeit hierbei vorgegangen wird»
werden wir sogleich sehen.
Da ist vor allem die beicannte Gegnerschaft Leasings
gegen Voltaire
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— 140
Um Mißverständnissen vorzubeugen, schicke ich voraus,
daB mir Lessing nicht nur eine der edelsten und bedeutend-
sten, sondern auch eine der sympathischesten Persönlich-
keiten Deutschlands is^ und daß es mir nicht im entferntesten
elnMt, iiigend einen bedeutenden JMann, also auch Lesshig
nicht, wegen sekundärer Fehler oder einzelner Handlungen
herabsetzen zu wollen; es kann sich höchstens darum
handeln, das Vorhandensein derselben zu konstatieren, wenn
die Bildung eines Urteils Ober Beziehungen zu andern —
aus Gerechtigkeit gegen diese andern — in Frage steht
Wer nun die Affäre zwischen Voltaire und Lessing
in Berlin kennt» wird wissen, daß jener allen Orund hatten
Aber diesen ungehalten zu sein, und da6 Voltaire's Unwillen
bei seinem impulshren Temperament menschh'ch ganz und
gar gerechtfertigt war; es ist sogar fraglich, ob nicht jeder
in seiner L^ge ebenso losgefahren wäre.
Ich gebe den Fall, der, wie ich aus Erfahrung weiß,
im allgemeinen wenig bekannt ist, während die Angriffe
Lessing's auf Voltaire jedem Knaben in Deutschland in der
Schule aufgedräng^t werden, nach der Darstellung eines ge-
wiß verläßlichen Mannes, nämlich des Philosophen Karl
Rosenkranz, in folgendem wieder:
Voltaire hatte eben das »Si^cle de Louis XIV.« drucken
lassen, Lessing war damals als Übersetzer für ihn tätig, und
Richier, ein französischer Sprachlehrer, der die Korrekturen
für Voltaire besorgte, damit beschäftigt, 24 der besten Exem-
plare des Si^cle auszusuchen, welche den Mitgliedern
der königlichen Familie übergeben werden soUteOt bevor
das Buch irgend einem in die Hände käme.
»Lessing, höchst neugierig darauf, beweg Richier, ihm
den ersten Band eines von Aushängebogen gebildeten
Exemplars zu leihen, natürlich unter dem Versprechen, es
niemandem mitzuteilen. Er hielt dies aber nicht, sondern
borgte den Band weiter an einen Freund, der wiederum
nichts eiligeres zu tun hatten als ihn an die OrSfin Bentindc
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zu verleihen, die ebenfalls nicht rasten konnte, anderen von
dem neuesten Werke des von ihr hochverehrten Autors zu
erzählen, wodurch die Sache Voltaire selber zu Ohren kam.
Er war außer sicli und lürthtett; Mißbrauch, vielleicht
Nachdruck seines Buches, wie es ihm schon oft vorge-
kommen war.
In seiner Aufregung schrieb er einen heftigen Brief an
Lessing. In der Antwort, in deren zweiten Hälfte, lenkt
Lessing ein und gibt eine etwas geschraubte Erklärung»
denn die Schuld einer Leichtfertigkeit in Behandlung der
Sache konnte Lessing doch nicht ableugnen.
Aus dieser unangenehmen Berflhrung mit Voltaire liat
sich aber bd Lessing eine Animosität g^gen denselben fest-
gesetzt, welche später in seiner scharfen, satyrisch bitteren
Kritilc der Dramen Vollaire's in der Hambuig'schen Drama-*
tuigie zum Ausdrudce kam und durch ihre pikante Säuer-
lichkeit mehr als alles andere dazu beigetragen ha^ Voltaire's
poetisches Talent einseitig herabzusetzen.«
In derselben Weise schildert David Strauß diesen Vor-
gang. Anstatt aber die ungerechte, persönlich zugespitzte,
boshafte Lessing'sche Kritik Voltaires irgendwie zu tadeln,
drückt er sich so darüber aus:
Voltaire half durch seinen zornigen Brief an Lessing
auch für die Zukunft eine Waffe schärfen, die ihn noch
schwer verwunden sollte.«
Also Voltaire »half«! So drückt Strauß seine Ansicht
fiber eine persönlich gehässige Kritik aus, wenn es sich um
den deutschen Lessing gegen den Franzosen Voltaire handelt
Ich selbst möchte wohl Lessings respektlosen Ton
gegen Voltahe noch psychologisch wdter daraus herldten
und menschlich milder beurteilen, indem ich mir vorstelle»
jener habe infolge der schmutzigen Geldaffaire zwischen
Voltaire und dem Banquier Hirsch — auf die ich noch zu-
rückkomme — Voltaire als Menschen mißachtet, und da sei
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— 142 —
es ihm leichter angeieoinmen, ihn auch als Dichter mit
ziemlich deutlicher Mißachtung zu l>ehandeln.
Unparteiisch war es aber von Lessing nicht; und man
muB ihn unt>edingt eben wegen dieser Unsadiiichiceit in
der Form der Kritilc und auch deswegen tadehi, wdl er
ganz den Respekt und die Pflicht der Danl(t>ar1ceit vergaß,
die man einem Manne mit so großen Bestrebungen und
Leistungen, die Lessin^^ ja docli besser als irgend jeniaud
zu würdigen verstand, sehuldig ist.
Strauß aber geht darüber hinweg und spricht nur von
»Waffen« und -Verwundungen« in merkwürdit!; kühler
Weise. Handelt es sich denn bei ästhetischen Urteilen um
einen Raufhandel? —
Entsprechend dieser liebevollen Schonung Lessing's
geht Strauß sogar so weit, nur wie in einem Anfluge von
gnädigem Wohlwollen Voltaire neben Lessing gelten zu
lassen. Es wirkt nicht wenig erheiternd, aber auch des
sichtbaren Vorurteils wegen betreibend, von einem David
Strauß folgende Worte zu hören: »Lessing im Elysium wird
sich nicht weigern dürfen, ihn (Voltaire) als seinen franzö-
sischen MtUirbeiter anzueilcennen.«
Also: Es ist zu hoffen, meint Strauß, daß, wenn Vol-
taire schön darum bittet, Lnsing ihn neben sich sitzen läßt
Welche Ofitel Weiche Nachsicht I
Lessing, der nur für Deutschland eine Bedeutung be-
sitzt, und dessen Grundgedanken und Haupttendenzen von
den Franzosen Diderot und Voltaire teils entnommen, teils
angeregt wurden,*) soll Voltaire, dieser Feuersäule, die dem
*) Ich las irgendwo» dafi LcMin^ auf orientalische poetische Stoffe
und auch auf Shakespeare durch — Voltaire aufmerksam pemacht
worden sei. Sein Laokoon basiert sehr auf Diderots Lettres sur les
Boards et maets, Lessing nennt aber Diderot gar nichtund in einer Zeit-
schrift wurde diese Tatsnclie so ausgedrückt: Es war das wieder eine
merkwürdige Begegnung Lessiagfs mit dem französischen Geiste.
»Begegnungen c sedier Ai^ die verschwiegen weiden, bCEdchnet man
sonst ganz anders.
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ganzen Jahrhundert und dem ganzen europäischen Kontinent
vonmschrit^ aus bloßer Outmfltigiceit ein Plätzchen ndsen
sich gönnen!
Alles, was ich hier in Polemik gegen Strauß sage,
wußte dieser gewiß mindestens ebenso gut, ja genauer als
ich; woher also seine sonderbaren Ansichten? Er ist eben
blind gegen sein eigenes Wissen, er ist blind aus natio-
nalem Chauvinismus, es fehlt also wieder der lebendige
Sinn für Gerechtigkeit im Urteilen, wie wir das ja im Laufe
aller dieser Betrachtungen über die Beurteiler Voltaire's so
oft wiederfinden.
Denken wir einmal an folgende Daten:
Lessing wurde im Jahre 1729 geboren, aber schon im
Jahre 1715 übergab Voltaire den Oedipus» ein ganz und gar
freigeistiges, ja revolutionäres» gegen die Priesterschaft ge-
richtetes Drama, dem Thdatre fian^s zur Aufführung.
Als Lesstng zwei Jahre alt war, erschienen die philoso-
phischen Briefe Ober England; als er vier Jahre alt war, er-
sdHen die »Hemlade«^, die voll von Angriffen g^en das
Priestcrtum, gegen Intoleranz und gegen die HerrschergelOste
des Adels gerichtet war. Lessing war dreizehn Jahre alt,
als der Mahomet, ein als antikirchliches Stück hochbedeu-
tendes Werk, erschien, das belcanntlich Goethe übersetzte
und auf die Bühne brachte.
Überdies wäre Lessings wohl bedeutendstes und noch
heute hochgeschätztes Drama, sein Nathan , ohne Voltaire's
»Zaires garnicht denkbar, es ist in der Wahl des Milieu
diesem nacht^ebildet, und die Figur Saladins und die in ihr
ausgedrückte Tendenz, nämlich der Erhebung dieses Un-
gläubigen des Orients über die frommen Christen, entnahm
Lessing ganz direkt den Voltaire'schen Betrachtungen über
die Kreuzzüge. Überdies ist Lessings Stück, dessen ethische
Bedeutung allerdings nicht hoch genug geschätzt werden
kann — wie ich wenigstens empfinde — nicht entfernt so
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voll Wärme und schöner poetischer Empfindung wie Zaire,
dieses gerade von Lessing kritisch so sehr zerzauste Drama.
Und nach all dem soll Voltaire warten und sich
glucklich schätzen, bis Lessing ihn als >Mitart)eiter« gütigst
anerkennen magl
Eine andere bedeutende Persönlichkeit^ mit der Voltaire
in Konflikt kam, und die von deutschen Schriftsteilem
ihm gegenflber ganz gegen alle Gerechtigkeit in Schutz ge-
nommen und mit Vorliebe fiber ihn moralisch erhoben wird,
ist Friedrich der OroBe
Hier zeigt sich der nationale Chauvinismus ganz un-
verhüllt, dabei aber auch kein geringer Grad — sagen wir:
iinhewuliten — Knechtsinns vor dem mächtigen Monarchen
und vor dem Monarchen überhaupt.')
Strauß charakterisiert das Verhältnis dieser beiden Männer
dahin, daß »der Prinz dem Schriftsteller wenig, umso-
mehr der Schriftsteller dem Prinzen und König an
Charakter nachsteht.- Es ist jedenfalls ein sonderbarer,
sehr vereinzelt dastehender, wenn auch wie jeder andere
berechtigter Geschmack von Straub, die Schriften Friedrich
des Groben nur wenig« jenen Voltaires, des nach Ooethe's
Ausspruch »vielleicht größten Mannes der Literatur aller
Jahrhunderte,« nachzustellen. Friedrichs Oden, didaktische
Gedichte, Briefe, dürften wohl allgemein als sehr unt>edeutend
und die historischen Werke als nicht sehr hervorragend an-
gesehen werden**); indessen, es ist ja kein Unglück und von
keiner WichtigkeiV wie jemand seine Lokationen arrangiert;
*) Man könnte hier das wunderbar treffende Wort Oogols an-
wenden: »Die uneigennützige Gemeinheit«
**) Über die noch am meisten gesdiitzte hlstoritdie Schrift Fried-
richs schreibt Körner im Jahre 1788 an Schiller: Die Histoirc de mon
temps« hat viel Schülerhaftes in der Art zu erzählen und in den einge-
streuten (oft sehr platten) Bemainiiigcii.«
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sei es also! Strauß mag von Friedrichs Schriften ganz nach
seinem Geschmack erbaut worden sein!
Ungleich wichtiger ist aber die Frage nach dem
Charakter beider Männer.
Was man Voltaire bei seinem Verhalten in ßerlin und
speziell Friedrich gegenüber zum Vorwurf macht, ist vorerst
sein Vorgehen gegen Maupertuis, den damaligen Msi*
denten der Beriiner Akademie der Wissenschaften. »Sie
schlugen^, schrieb lange nach dieser Affaire Friedrich an
Voltaire in Femey, »mit Ihrer furchteriichen Herkuleskeule
eine Mücke toi Ich für mein Teil wollte den Frieden im
Hause erhalten und tat alles, was ich konnte^ um Sie an
einem Ausbruch zu hindern. Ungeachtet alles dessen, was
ich Ihnen sagte^ störten Sie die Ruhe^ schrieben ein Libdl
unter meinen Augen, und bedienten sich einer Eriaubnts,
die ich Ihnen für ein anderes Werk gegel)en hatte^ um jenes
Libeli drucken zu lassen.«
Condorcet behauptet wohl, Voltaire habe eine »allgemein
gehaltene Erlaubnis von früher her« benfitz^ um den Doktor
Akaklazu drucken. Friedrich mußte das jedoch besser wissen
als Condorcet; oder es kann da auch liegend eine verschiedene-
Auffassung jener Erlaubnis bei Voltaire und bei Friedrich
vorhanden gewesen sein? Wir können das nicht entscheiden
und wollen sogar annehmen, der letztere sei mit semen
Vorwürfen im Recht.
Dann war es unbedingt eine nicht korrekte Art des
Vorgehens und auch eine nicht würdevolle Polemik, die
Voltaire in seinem Doktor Akakia-^ gegen Maupertuis
richtete. Aber einerseits waren derlei heftige literarische
Streitigkeiten an der Tagesordnung^ ; andererseits war, wie
bekannt, der eitle und hochmütige .Modemiepräsident der
provozierende Teil, und Voltaire wußte sich nicht anders
gegen ihn zu wehren. Es war Voltaire selbst, der seiner
Zeit Maupertuis dem König^ für die Stelle eines Akademie-
präsidenten voigeschlagen hatte^ er war diesem also gewiß
Popper, Voluire« 10
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frflher nicht flbetgesinnf gewesen. Aber Maupertuis intrigu-
ierte gegen Voltaire, denunzferte ihn bei Friedrich und wollte,
wie Condorcet erzählt, ihn »entehren und verderben . Er
war nach dem Ausdrucke Carlyle's »ein neidischer Menscli,
voll von verborgenem milzsüchtigen Ärger und stiller Wut«,
hatte, wie Koser (im König Friedrich dtr Grolk) ihn schil-
dert, ein rechthaberisches Wesen, eine gewisse brutale
Offenheit und verlangte immerwährend nach Weihrauch«»
Er verletzte im stolzen Bewußtsein des Mathematikers«
gegenüber den »Schöngeistern* an Friedrichs Hofe alle
anderen so sehr, daß der Marquis d'Argens sogar nach
Maupertuis Tode noch eine polemische Schrift gegen ihn
veröffentlichte.
Keinesfalls kann, nach der Sachlage^ Voltaire's heftige
Kampfwetse als ein Chaiakterdeffelct von irgendwelcher Be-
deutung angesehen werden» zumal die Aggression nicht
von ihm ausging, und Qberdies — wie Collini berichtet —
Voltaire, mit vielen anderen, über ein höchst ungerechtes
Voigehen Maupertuis' gegen den Mathematiker König em-
pört war. Haben doch Ooethe und Schilleri die doch viel
• »idealeret und weniger kampfbereite Naturen als Voltaire
waren, in ihren Xenien ihre literarischen Gegner auch nicht
gar glimpflich behandelt Ooethe sprach von ihnen als von
»Lumpenhunden und weder er noch Schiller haben dadurch
an unsenn Respeld vor ihrem Charakter ehigebfiBi
Man kann sogar mit Sicherheit behaupten, daß, wenn
Ooethe und Schiller ein so enorm impulsives Talent wie
Voltaire besessen hätten, ihre Polemik einen ebenso scharfen,
aber wahrscheinlich bei weitem weniger heiteren — man
kann sagen: liebenswürdigen — Charakter gehabt hätte, wie
jene Voltaire s.*) —
*) Und bei dieser Gel^enheit sei der Leser eingeladen, Voltiire's
»Doirtor Akakia«, sowie die ipitere (in Leipzig veröffenUichte) Schrift
g«gcn Maupertuis zu letcn; es stnhtt alles dtrin von Geist und Wttz^
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Eine andere Sache ist die mit Bankier Hirsch und
dem Handei mit sächsischen Steuerscheinen. Dieser Handel
war von Friedrich verboten, und Voltaire machte, wie man
sagt, von seiner Stellung am preußischen Hofe einen in-
korrekten Gebrauch. Aber schon dies ist nicht gewiß, denn
Mahrenholtz in seiner Biographie Voitaire's meint, es sei
»fniglich«, ob ihm der betreffende Erlaß Friedrichs bekannt
war. Wenn es aber doch so gewesen wäre^ so tat Voltaire
hier das, was zu seiner Zeit von den Aristokraten und den
Männern in hoher Stellung fast allgemein geschah; sie setzten
sich, als Ausnahmen, leichten Heizens fiber fislaüische Ve^
Ordnungen, ja sogar fiber Gesetze, hinw^ weil sie sich
durch ihre I^osltion von diesen eximiert glaubten. Geschah
es doch noch in unseren Tagen, daß z. B. Gesandte an
fremden Höfen ihre Stellung dazu benutzten, um Schmuggel
zu treil>en, da sie wußten, daß an sie adressierte Sendungen
an der Grenze nicht visitiert weitlen.*)
Derartige Verletzungen öffentlichen Rechts seitens ein-
flußreicher oder hochgestellter Persönlichkeiten hielt man
für selbstverständlich, und weit entfernt, das eventuelle Vor-
gehen Voitaire's in dieser Angelegenheit für anständig zu
halten und rechtfertigen zu wollen, möchte ich nur mit
diesen Bemerkungen darauf hindeuten, daß derlei Dinge in
der Auffassung der Zeit und jener Gesellschaftskreise durch-
aus nichts so Tadeinswertes besaßen, wie in unserer, ge-
nauer gesprochen: wie in der heutigen Auffassung der Per-
sonen aus anderen Gesellschaftskreisen.
In der Affare Hirsch wird von manchen Voltaire auch
das vorgeworfen, in einem Dokumente Worte nachtraglich
geändert und eine »Zeile« hinzugefügt zu hal>en. Hiemi
meint Mahrenholtz,**) man kdnne »denuDge Schmierkflnstes
•j Derartiges geschah, n.ich einer Mitteilung Bismarck's, tcHeOt
eines französischen Gesandten am Hofe von St Petersburg.
Im zweiten Band von »Voitaire's Leben und Werke« (S. 6).
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die selbst dnem Schuljungen zu unschlau erscheinen wurden,
einem Voltaire nicht zutrauen, zumal auch die Form der Ur-
kunde eine endgültige Entscheidung nicht gestatte; und in
gleicher Weise sei es willkürliche Annahme, daB der Handel
mit Steuerschdnen erst nachtrilglk^h in einen »Pelz- und
Juwelenhanddc verwanddt worden sd . . . .
Das ganze OesdUtftsgebahren VoHaires gegenOber Hirsdi
bewies vor allem sdne Pfiffigkdt und Oesdiiddidikdt in
Oddsachen» was an und für sich nidits mondisch Taddns*
wertes an sicli hätte, wenn man auch gewohnt ist, sich derid
mit einem Odehrten, Künstler oder Aristokraten unverdnl)ar
zu denken. In der Zeit der Renaissance begegnen wir so
manchem berühmten italienischen Künstler, wie z. B. Titian,
der in Geldangelegenheiten nicht nur ebenso praktisch,
sondern noch viel skrupelloser war als Voltaire. Man kann
also die Hirsch-Affäre, wenn auch nicht schön und nobel,
aber auch nicht verwerflich nennen; ausgenommen, es
könnte Voltaire faktisch ein Betrug nachgewiesen werden.
Letzteres ist aber umso weniger wahrscheinlich, als Voltaire
selbst den Fall den Gerichten zur Entscheidung übergab
und von diesen freigesprochen wurde.
Nun ist aber in jüngster Zeit in die ganze Angelegenheit
vid mehr Klarheit als bisher gebracht worden durch die
Monographie: ^Voltaires Rechtsstreit mit dem Königlichen
Schutzjuden Hirschd 1751« von Dr. Wilhdm Mangold» in
welcher Schrift zum ersten male das ganze noch voihandene
Aktenmaterial veröffentlicht wurde; Das Resultat, zu dem
Mangold gelangt, Ist folgendes: » . . . . Hirschd ist mit
vollem Recht wegen der Ableugnung sdner Unterschrift zu
dner Oddstnfe verurtdit worden, mit vollem Recht auch
zur Herausgabe des vorenthaltenen Wechsds. Inbczug auf
die Juwelen ist er völlig zu sdnem Recht gdcommen, ja er
hat schließlich bd dem Vergleiche noch 1000 Rtb*. gewonnen.
Es bidbt sicher, daß er die Rflckgabe des Wechsds unge-
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böhrlich verzögert hat, daß er Voltaire übcrvorteilie, und daß
er seine Handschrift ableugnete. Wahrscheinlich ist, daß er
Voltaire mala fide der Fälschung bezichtigte.
Voltaire ist sicher von jedem Verdacht freizusprechen
inbetreff der angeblichen Vertauschung der Juwelen durch
minderwertige. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er sich
keiner Fälschung der beiden Scheine schuldig gemacht
Dagegen hat er wahrscheinlich fälschlich die runde Summe
3000 Rtlr. statt 2940 Rtlr. als Schuld angegeben und wahr*
scheinlich fälschlich diese Summe auf eine Barzahlung zu-
rQckgeführt Auch hat er, aller Wahrscheinlichkeit nach, in
seinem Eide den Inhalt der Konvention falsch ang^reben.
Mit Recht sagt er in seinem Essai sur les probabilit^ en
falt de justice: »Quand il s'agit d'öter la vie et l'honneur k
un citoyen, la plus grande probabilit^ ne suffit pas.« So
wollen wir ihn auch deshalb nicht verdammen. Aber wir
müssen und können verdammen, daß er wochenlang hart-
näckig eine Konvention leugnete^ deren Existenz er schließlich
zugab. Das ist das sicherste der hier festgelegten
neuen Ergebni8se.c
Aus diesen wenigen Zeilen wird der mit den Details
der Affaire und mit den mannigfachen Vorwürfen, die man
bisher Voltaire machte, wenig oder garnicht vertraute Leser
so ziemlich alles wichtigere derselben leicht herauslesen.
Am stärksten entrüstet über Voltaire war damals Friedrich
der Große: >Es ist der Prozess eines Schurken, der einen
Spitzbuben betrü|^en will,« schrieb er an seine Schwester
Wilhelmine in Bayreuth; Lessing hatte ziemlich dieselbe An-
sicht von dem Handel, und im Laufe der Zeit verdichteten
sich die Vonvürfe bis zu der Beschuldit^ung, wie sie z. B.
Danzel in seiner Lessingbiographie erhob, daß der be-
rühmte Kämpfer für Licht und Wahrheit nicht mehr und
nicht weniger als zwei Fälschungen und einen, jedoch nur
schriftlichen Meineid sich hat zu Schulden kommen lassen.«
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— 150 —
Aus dem zitierten Resume Mangold's ersieht man, daß
zwar Danzel u. a. mit ihren Vorwürfen viel zu weit gegangen
waren, daß aber jedenfalls zufolge der neuerlichen Forschungen
ein Rest zurückgeblieben ist, der unbedingt einen moralischen
Makel Voltaire's in dieser Affaire bedeutet.
Wie dachte Voltaire selbst darüber? »Ich bin, Oott sei
Danke, schneb er an Darget, »nun meinen Handel mit
dem Alten Testament los, und ich bin untröstlich, daß ich
ihn überhaupt hatte; aber man ist Mensch, die Dinge
schieben sich, ich weiß nicht wie. Ich habe eine
Narrheit begangen, aber ich bin kein Narr . . . .c Und an
Friedrich: »Altes reiflich fiberl^ habe ich einen schweren
Fehler begangen, mit »nem Juden zu prozessieren ... Ich
war gereizt, ich hatte die Manie, beweisen zu wollen, da6
ich betrogen war. Ich habe es bewiesen . . .c
Wie ich selbst diese Angd^^heit ans^e und welchen
Einflufi auf die Beurteilung Voltaire's ich ihr zuschrdben
und gestatten möchte^ soll später bei der allgemeinen Be-
trachtung über Voltaire's Charalder und namentlich der un-
schonen Seiten desselben gezeigt werden. —
Vergleichen wir aber, wie es unser eigentlicher Zweck
ist, in Fragen der Korrektheit Friedrich den Großen mit
Voltaire, so kommt jener, ganz entgegen der Ansicht von
Strauß, noch viel schlechter weg als dieser. Friedrich
kam es auf Inkorrektheiten im Völkerrecht, sei es zu
staatlichen Zwecken, sei es in seinen eigenen Privat-
angelegenheiten gar nicht an.
Was letztere betrifft, so ist es bekannt, daß er die
Souveränetät der kleinen deutschen Staaten oder Städte gar
nicht achtete und dort tat, was ihm beliebte; so z. B. der
freien Reichsstadt Frankfurt a. M. g^enüber, wo er seinem
Gesandten Auftrag gab, seine Manuskripte aus Voltaire's
Oepädc an sich zu nehmen, und wenn dieser sie nicht
herausgeben wollen ihn ins Gefängnis zu setzen. Das war
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doch offenbar eine rein private Angelefrenheit und hatte mit
sogenannten höheren Staatszweck^ sehr wenig zu tun.
Wollte man jedoch denken, es wäre aus politischen Gründen
geschehen, da Friedrich befürchten mußte, durch manche
Manuskripte — es waren aber auch andere dabei, die mit
Politik gar nichts zu tun hatten - kompromittiert werden
zu können» so gilt das doch nicht im Falle der italienischen
Tlnzerin Baiberina.
Friedrich wünschte diese damals im Theater zu Venedig
gefeierte Künstlerin fOr seine Oper, und sein Agent bei der
Republik hatte von ihr bereits die Zusage erhalten, nach
Beriin zu gehen. Da aber ein veriiebter Engländer sie zu
entführen drohte, so Heß der König durch den Agenten sie
nebst ihrer Mutter einfach in einen Wagen packen und,
völkerrechtswidrig, beide unter Bedeckung nach Berlin ab-
führen. Diese plötzliche Abreise soll auch durchaus nicht
mit dem Willen der Tänzerin unternommen worden sein.*)
Und was die eben erwähnte Affäre in Frankfurt betrifft,
so gibt sie Anlaß, gegen Friedrich den Vorwurf einer ganz
nutzlosen, wohlüberlegten und ausdauernden Lieblosigkeit,
ja von Härte, Voltaire gegenüber zu erheben. Es ist zwar
festgestellt, dafi die unglaublichen Brutalitäten des preußischen
Residenten in Frankfurt gegen Voltaire^ sowie gegen seine
Nichte^ Madame Denis, und seinen Sekretär Collhti — die
man in des letzteren Bericht in seinem Buche »JVIon s^jour
aupr^ de Voltaire« nachlesen mag ohne Vorwissen des
Königs geschahen; aber Friedrich war nie dahin zu bringen,
ein Wort der Entschuldigung oder mindestens der einfachen
Desavouiening seiner rohen Beamten vorzubringea Er
wußte sehr wohl, daß dn solches Wort von ihm Voltaire^
*) Dieselbe Barberina heiratete in Berlin keinen Geringeren, als den
berühmten Juristen Cocceii, den Sohn des Kanzlers, unazwar — wie
die Mutter der Tänzerin Collini mitteilte — mit stillschweigender Zu-
stimmung^ des Königs. Friedrich soll in sie verliebt gewesen sein.
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der wegen der vorgefallenen Beschimpfungen und Gewaltakte
ganz außer sich war, gewiß besänftigt hätte; aber trotz
der später noch jahrelang fortgeführten Korrespondenz war
dieses beruhigende Wort aus Friedrich nicfit herauszubringen.
Voltaire koilnte diese Kränkung bis an sein Lebensende
nicht verwinden. —
Es ist also auch in diesem Fall nicht wahr, daß, wie Strauß
sagt, der Charakter Voltaire'? jenem Friedrichs nachsteht. Aber
Friedrich war unbedingt hier der weit Schlimmere; nicht nur,
weil er ein ungleich härteres Naturell besaß als Voltaire,
sondern auch darum, weil er sich mit * 100 000 Schnurr-
bftiten« (wie Voltaire zu sagen pflegte) gehen lassen konnte»
wie er wollte; daher er auch zugleich Zynilcer war, was
man von Voltaire absolut nicht sagen kann.
Der König tat sich durchaus keinen Zwang an, seine
Widerrechtlictikeiten oder Oewaltschritte zu beschönigen.*)
Wo er in seiner >Oeschtchte meiner Zeit« von seinem völker-
rechtswklrigen Einbruch in Schlesien spricht, der ja ohne
vorherige Kri^eridflrung erfolgte^ erzählt er ohne j^e Be-
schönigung, sozusagen ganz naiv, wie er seine militirischen
Vortierdtungen zu verheimlichen suchte^ wie er seinen Ge-
sandten, den Grafen Gotter, pro forma nach Wien sandte»
um von Österreich Zugeständnisse zu verlangen, die ihn
vom Krieg abhalten wflrden; daß aber »die Armee zwei
Tage vor des Grafen Gotter Ankunft in Wien in Schlesien
einmarschierte«. Und Friedrich spricht ganz ruhig von diesem
Einbruch als von einem »kflhnen Rittersh«ich«, der von
einigen als Unbesonnenheit angesehen werden während der
englische Minister sich daraufhin geäußert habe, man möge
Friedrich »in den politischen Bann tun«; das alles erzählt
Friedrich so, als ob es ihn gar nichts anginge. —
*) Einen Unterschied zwischen privater Moral und Moral in Staats-
angelegenheiten erkenne ich nicht an» umsoweniger, als auch bei den
Handlungiien der Stasttminiier net>eii den aUgemeinen politischen
Zwecken meistens mu! in nicht geriqgein OmdepenöoUdie THcl)^ wie
Chigeiz, Haß und deigl., mitspieleo.
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In dem Verhältnisse zwischen Friedrich und Voltaire
wird dem letzteren auch das sehr übel genommen, daß er
seine Stellunc^ an des König;s Hofe zu politiscficn Zwecken
im Interesse P rankreichs auszunützen suchte; zum mindesten
meint man, sei derlei eines Philosophen, oder eines Dichters,
besonders aber eines »Freundes des Königs und Gönners«
unwürdig.
Hier begegnen wir wieder einmal einer sehr deplazierten
Anwendung des Begriffes von Würde! Ich sehe nicht ein,
wieso Voltaire in dieser Beziehung Vorwürfe verdient Er
war ja kein armer Teufel von Pod, der froh sein musste
— wie seinerzeit Ariosto, Tasso und viele andere in alter
und neuer Zeit — an iiigend einem Fflrstenhofe Unterlcunft zu
finden, und dafOr sicli moralisch verpflichtet hielt, in eine Art
Untertänigtceitsverhtttnis zu treten; er war auch weder dn
sentimentaler Dichter, der einen königlichen Hof etwa wie
ein Gralsritter den Montsalvatsch ansieht, noch ein ab-
strakter Philosoph, der nicht aus seiner Gedankenwelt heraus-
tritt und keinen Sinn fflr weltliche aktuelle Angelegenheiten,
noch weniger für politische Intriguen hat
Bei Voltaire's politischen, fibrigens wie es heifit, ziem-
lich erfolglosen Versuchen war durchaus 1^ Verrat gegen
Friedrich, keine boshafte Absicht g^en ihn oder seinen
Staat, sondern einfach die normale Tätigkeit der Diplomaten
im Spiel. Voltaire wollte seinem heimischen Minister ge-
fällig sein und überdies seinem eigenen Ehrgeiz, auch als
praktischer Politiker zu glänzen, vielleicht aucfi am Pariser
Hofe Carriere zu machen, BefriediLjuiig verschaffen. Die
letzten zwei Gründe möchte ich aber so scharf als möglich
hervorheben, um keinen Zweifel darüber zu lassen, daß wir
bei aller Dankbarkeit und Bewunderung für Voltaire niemals
es für eine Eiirensache ansehen müssen, ihm allen Egoismus
abzusprechen. Er war ein praktischer realistischer Mann,
der wohl immer an die ganze Menschheit dachte und für
sie arbeitete, aber auch niemals sein eigenes Wohl und seine
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eigenen Ziele vergaß. Daran tnuli sich selbst der größte
Enthusiast für Voltaire gewöhnen; aber auch sich abge-
wöhnen, eine solche Doppeleigenschaft für entehrend anzu-
sehen; nur einem sehr jungen Menschen von verfälscht-
idealistischer Erziehung könnte eine solche Ansicht verziehen
werden. Geht man übrigens den Meiischen auf den Grund,
so wird man selbst bei den scheinbar weltfremdesten
Geistern, mit höchst seltenen Ausnahmen, stets die gleiche
Doppeleigenschaft finden; nur äuf3ert sich der egoistische
Teil schüchterner und mit unendlich geringerer Geschick-
lichkeit, als bei dem Weltmenschen Voltaire.
Was aber die diplomatische Tätigkeit an Friedrichs
Hofe speziell betrifft, so dürften die — vornehmlich deut-
schoi oder preußischen — Tadler Voltaire's vielleicht sofort
ihre Ansicht Indem, wenn sie sich vorstellen, es hätte ein
Deutscher (oder Preuße), der am Pariser Hofe gut aufge-
nommen wurde, dasselbe getan. Wie würden jene von ihm
sprechen? . . . »Er veigaß über allem Olanz seiner Stellung
keinen Augenblick sein geliebtes Vaterland« würde es dann
wohl heißen, »er war nicht nur (z. B.) Dichter und Phik>soph,
er war und blieb auch Patriot, und als echter Deutscher
(oder Preuße) trachtete er daher zugleich stets danach, nicht
nur für sich selbst persönliche Ehren, sondern auch seinem
Vaterlande politische Dienste zu leisten Sein Souverain
belohnte ihn auch bei seiner Rückkunft nach der Heimat
durch Verleihung eines Ordens, und jeder gutgesinnte
Deutsche (oder Preuße) muß ihm diese hohe Auszeichnung
von Herzen gönnen . . .t usw.
Zufällig existiert ein ziemlich ähnlicher Fall, wie der
von mir hypostasierte, wirklich. Denn Leibniz, der als
großes Genie von Ludwig XIV. glänzend aufgenommen
wurde, benützte diese Gelegenheit, um den König von seinen
Absichten gegen Deutschland durch das Projekt einer Ex-
pedition nach Ägypten abzubringen. Ldbniz wird deshalb
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nie getadelt und es ist auch gar kein Orund zum Tadel
vorhanden.
Das Verhältnis zwischen Voltaire und Friedrich war
aber nicht nur kein Vasallen- oder Höfiingsverhältnis, wie
sonst zwischen Dichter unö Sou verain, sondern auch nicht
entfernt ein Verhältnis von warmer Freundschaft oder das
eines Bewunderers zu einem bewunderten Souverain.
Ober das letztere braucht man ja kein Wort zu verlieren;
der Bewunderer war viel mehr Friedrich, als der Schriftsteller
Voltaire, dem, als einem in die höchsten Wolken reichenden
Weltkopf der König in keiner Weise — weder durch Oenie
noch durch Charakter — Imponierte.
Die Verbindung zwischen diesen beiden Mannern war
vielmehr, wie auch Hettner mit Recht bemerkt, auf beiden
Seiten »nicht ohne Selbstsucht«; und man muß hinzufügen
ohne daß sie einander in dieser Beziehung täuschen wollten
oder wenigstens wirklich täuschten.
Wie deib egoistisch Friedrich die Berufung Voltaire's
an seinen Hof von vornherein auffaßte^ — ungleich ego-
istischer und derber noch als Voltaire — zeigen deutlich
die Worte, die er gleich zu Anfang, wo zwischen beiden
doch noch volle Harmonie herrschte, an Jordan schrieb:
»Dein Odzhais Voltaire soll noch 1300 Taler bekommen;
von den sechs Tagen, welche er sich hier gezeigt, kostet
mich jeder Tag 550 Taler. Das nenne ich einen Lustig-
macher teuer bezahlen. Wohl niemals hat der Hofnarr
bei irgend einem grossen Herrn eine solche Bezahlung
gehabt?.
Hierzu sei vorerst bemerkt, daß die Geldaffairen zwischen
Voltaire und Friedrich ein köstlich erheiterndes Schauspid
bieten; indem Friedrich selbst als der ^^^rösste Geizhals —
man kann auch sagen: »Sparmeister für seinen Staat- —
bekannt war/) der sogar früher als Kronprinz eingegangene
*) Voltaire erzählt in seinen Memoiren, der iUlienische Hofpoet,
der Fiicdriclu Opempline aitaarbeitete, bekam nicht mehr als 1200
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Schulden als König nicht mehr anerkannte und es überhaupt
mit seinen pekuniären Versprechungen — als Absolutist
von reinstem Wasser — nicht sehr p^enau nahm. Voltaire
aber kannte alle diese Eigentünilichkeiten des Königs sehr
genau, traute ihm in Geldsachen keinen Schritt weit und
suchte, wo nur immer es anging, am liebsten sofort oder
im Vorhinein so viel als möglich aus ihm herauszukriegen.
Nun aber beachte man den Ton in jenem Schreiben
an Jordan. So sprach derjenige^ der fflr seine Bewunderung
Voltaire's in seinen Briefen an ihn kaum Worte finden
konnte. »Apollo«, »der schönste Geist Frankreichs«, »der,
welcher Homer übertraf« usw. sind die geviröhnlichen Aus-
drücke. Und im Jahre 1749 schrieb dieser Bewunderer
Voltaire's an Algaroki: »Voltaire verdient wegen seiner
Streiche gebnmdmarkt zu werden, doch werde ich mir nichts
merken lassen, denn ich habe seiner zum Studium der
französischen Sprache nötig«.
Und endlich das allbekannte Wort, das Friedrich zu
Lamettrie über sein Verhältnis zu Voltaire gesprochen haben
soll. »Ich habe ihn noch nöt^, um meine Werke durchzu*
sehen. Man presst die Orange aus und wirft sie dann
fort*; ein Wort, das Voltaire zu Ohren kam. Dieser ge-
wahrte überdies noch so manches, was ihm — merkwürdiger-
weise ganz entgegen der Strauifschcn Aiisicht über den
weit voranstehenden Charakter des Königs — Friedrichs
Wesen in sehr üblem Lichte erscheinen ließ, so daß die
Miikchtung bei beiden eine gegenseitige war. Während es
aber bei Voltaire melir üaminerieen waren, die er sich zu
Schulden kommen ließ, sieht man beim preußischen König
Lfvres Jahresgehalt. Er machte sich daher selbst und zwar eigfenhiiidig
bezahlt, indem er in der königl. Hauskapelle die goldenen Tressen
ablöste und einsteckte. Friedrich war darüber gar nicht erzürnt. »Der
König, der niemals die Kapelle besuchte, sagte bloß, dat5 er nichts
dabei verliere Ich finde dieses Detail atlfierofdentlich erheiternd und
sop:ar wohltnend anzuhören. für ein Dcrvautaikes Völkchen war
doch das, eine Art höherer Boheme!
üiyiiizeü by GoOgle
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dne ganz unglaubliche Oematshärte. David Strauß oder
seine Oesinnungsgenossen mögen entscheiden, welche dieser
beiden Charaktereigenschaften der anderen nachsteht
Im Jahre 1750 beldagte sich Voltaire über Friedrichs
- Charalcter in einem Schreiben an seine Nichte^ Madame
Denis: »Ich sah einen rOhrenden pathetischen und sogar
sehr christlichen Brief des Königs an Herrn Darget*)
gelegentlich des Todes seiner Frau. Ich erfuhr, daß Seine
Majestät am selben Tage ein Epigramm gegen die Ver-
storbene gemacht hatte. Das gibt zu denken.«
Und was bedeuten alle Verdrießlichkeiten, die Voltaire
in Potsdam dem Könic; bereitete, was seine politischen In-
triguen zu Gunsten Frankreichs, gegenüber jenen Streichen,
die Friedrich gegen Voltaire ausführte! Streiche, die
durchaus nicht harmlos waren, sondern für diesen grolie
Gefahren heraufbeschwören konnten und in durchaus hinter-
listiger Weise**) in bester Laune und voll Selbstbefriedigung
unternommen wurden.
Im Jahre 1743 hatte nämlich der König, als Voltaire
sich weigerte, nach Beriin zu kommen, seinem Vertreter, dem
Grafen Rothenbuig in Paris, den Auftrag gegeben, höhnische
Auslassungen, die sich Voltaire in Briefen an den König
über Boyer, den Bischof von Mirepoix, erlaubt hatten diesem
sehr einflußreichen Manne selbst in die Hände zu
spielen, um, wie Friedrich ganz offen bekannte, Voltaire
>ln Frankreich so zu brouillieren, daß ihm nichts flbrig
bleibe^ als nach Berlin zu kommen.«
Und später machte es Friedrich wiederum so mit Briefen
Voltaire s an ihn, in welchen dieser ihn nach seinen Siegen
über Österreich (zugleich mit Ermahnungen, das blutige
♦) Seinen Vorleser.
**) Aber nicht in eigentlich böser Absicht, wie sie z. B. bei J. J.
Rousseau 's Denunziatioii Voltairc's bd dem Oenfer M«gittnt vor-
handen war.
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Kriegshandwerk aufzugeben und Frieden zu schließen) be-
glückwünschte. Nun muß man bedenken, daß Frankreich
mit Österreich damals alliiert war und gerade das benutzte
Friedrich, um durcli eine Intrigue, nämlich einen
Verrat an jenen freundschaftlichen Privatbriefen, •
Voltaire in Frankreich unmöglich zu machen und auf diese
Weise in Berlin festzuhalten. Ais dieser im Jahre 1 742 nach
Paris kam, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß der Hof
gegen ihn in hohem Mafie verstimmt war, und man kann
sich seine Empfindung vorstellen, als er entdedde» daß man
ihm eben jene Olückwflnsche an Friedrich so flbd ge-
nommen hatte
Und wiederum im Jahre 1760 sandte Friedrich vertmu-
fiche Briefe Vollaire's nach England, um Fianicreich mit
seinen Alliierten zu brouiUieren. »Lauter Ferfidien,« bemcrirt
VoHaire hierzu, die einem großen König, namentlich in
ICriegszeiten, erlaubt sind.«
Strauß hat natüriich diese Tatsachen gekannt. Wie
konnte nun Strauß behaupten, Friedrichs Charakter sei der
höhere gegenüber jenem Voltaire's?
Ich gab schon oben die Erklärung für diese auffallende
Ungerechtigkeit des Urteils : Chauvinismus und Respekt vor
dem Königtum.
Wenn aber andere^ denen diese bdden Schwachen fremd
änd, dennoch Friedrichs Charakter Aber denjenigen Vol*
taire's stellen, so rflhrt das von einer andern, sehr veriirei-
teten Art von Devotion her. Es ist nämlich eine alte Er*
fihrung: Wem die größere physische^ d h. äußere^ Macht
zu Gebote steht, der erscheint den Menschen in seinem
Verhiltnis zu semer Umgebung, sei diese noch so bedeutend,
immer als der kräftigere^ ruhigere, in sich »abgeschlosseneret
Charakter.
Nun war Friedrich II. selbst einem Voltaire gegenfil>er
doch immer ein si^reicher, mächtiger Monarch, der Ehren
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und Reichtümer zu erteilen imstande war, aber auch, was
noch viel ausschlaggebender ist, als Herrseher Wacht-
stiihcngewalt über alle, also auch über seine 'Oenie's«, be-
saß; und als Hohenzoller wäre er, ja war er, faktisch nicht
schüchtern gewesen, sie gegen die Personen seiner Umgebung
in Anwendung zu bringen.
Hatte doch Friedrich gdcgentiich der Maupertuis-Affaire
Voltaire Hausarrest gegeben und dnen Grenadier als Wache
vor seine Zimmertfir gestellt; dann, um jenen zu höhnen,
vor seinem Fenster das Buch (»Dr. Akalda«) vom Henlcer
verbrennen lassen, während er säbsi sich neben Voltaire
ans Fenster stellte, um dem Akte zuzusehen.
Friedrich hatte, ganz kurz gesas^, den Sähe! an
seiner Seite. Er konnte sich daher alles erlauben; selbst
den grausamen Scherz, die Philosophen an seinem Hofe
untereinander zu brouilUeren und sie, wie Voltaire an Madame
Denis schrieb, durch eine Art Koketterie untereinander eifer-
süchtig zu machen.*) Im ganzen Leben Voliaire's findet
sich kein Zug von solcher Freude an derartigen Bosheiten.
»Es belustigte ihn«, erzählt ein Bewunderer des
preußischen Königs, nämlich Carlyle in seiner ^Geschichte
Friedrichs des Großen«, »seine Gesellschaft mit der Peitsche
aufzustacheln und sogar die Peitsche auf wunde Stellen
fallen zu lassen.«
Während Friedrich Voltaire immerwährend in tlber-
schwäiiglicher Weise lobte^ forderte er den soeben bei ihm
eingetroffenen jungen Dtchteriing d'Amaud, der Voltaire's
Schfltzling war, zum Wetteifer auf mit »Frankreichs Apollo«,
dessen »Tag schon neigt«, und begrtlßte ihn als »aufgehende
Sonne«. Er wußte wohl, daß d'Amaut diese Begrüßung
nicht verschweigen werde und selbstverständlich hatte
*) Auch Oraff IV Argenthal schrieb an Voltaire: »Der Köniff ist
eine Kokette, die, um mehrere Liebhaber fcstnihaltcn, keinen glficnicb
macht« (Koser in »König Friedrich der Große«) (S. 520).
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Friedrich auch das Verständnis dafür, daß derlei Doppel-
züngigkeit jeden halbwegs empfindlichen Schritt teller nicht
wenig kränken müsse.
Mit Recht verwahrte sich daher Voltaire, dem diese
Herausforderung sehr bald zur Kenntnis kam, sehr lebhaft
bei Friedrich dagegen, ^mit der einen Hand gestreichelt und
mit der andern gekratzt zu werden.« —
Wie wir sehen, kam beim preußischen König zu dem
>SAbel« auch noch eine seltene Hlrte^ ja Liebkisigkeit hinzu.
Von dieser Härte» Lieblosigkeii, ja moralischen Grausamkeit
hat man heute Im allgemeinen keine Vorstellung; denn man
interessiert sich fflr solche Details nicht mehr, da sie von
keiner historischen Tragweite waren, und fibeidies die Per-
sönlichkeit Friedrichs durch die Erscheinung Napoleons so
ziemlich ausgelöscht wurde. Während über Napoleon noch
immer neue Werice oder Aufsätze erscheinen, die sich mit
seinem Privatleben beschäftigen, ist die Literatur Aber die
Details in Friedrichs Leben verstummt Und Diejenigen,
die sich heute noch mit solcher Literatur beschäftigen,
nämlich die preußischen Historiker, die zumeist Hofhistoriker
sind, verschweigen die häßlichen Einzelheiten.
Hier jedoch, wo es sich um eine unrichtige Darstellung
und unpferechte Parteinalune seitens Strauß (und anderer
nicht ausdrücidich üenannter) handelt, mutite über hriedrichs
Cliarakter immerhin einiges gesagt werden, um den Leser
aufzuklären.
Also sei vorerst bemerkt, daß unter jener Härte Friedrichs
weniger jene gemeint ist, die sich auf sein strammes Re-
giment als Absolutist bezieht, obwohl auch da manches zu
sagen wäre; hat sich doch schon Irsing in dieser Be-
ziehung bddagt
Es gibt ja eine unzählige Menge kleinerer und größerer
Maßregeln und Vofgänge, die Friedrich immer mehr bei
seinen eigenen Untertanen gefürchtet und veriiaßt machten,
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und wie bekannt, atmete man freudig aut, als es hieß, er
sei gestorben. Aber es herrscht bei fast allen deutsch- oder
preußisch -patriotischen Schriftstellern die irrtümliche Mei-
nung — und sie vertreten sie mit viel Pathos und Wärme
— daß diese Härten sehr nutzlich, ja notwendig gewesen
wären; man verdanke ihnen die moralische Erziehung der
Preußen und f^mz besonders ihre militärische Tüchtiskeit.
Dennocfi gah es sehr viele Nationen, bei denen die Härten
in der Zivil-Administration und in der militärischen Erziehung
im Verhältnis zum Preußen des 18. Jahrhunderts ganz gering-
fügige waren, und es ging doch! Das Rom der Republik
wie des Kaiserreichs hatte eine unübertroffene Administration,
ein unübertroffenes Heer, das Frankreich's unter Napoleon
desgleichen; von allen Brutalitäten, die unter Friedrich
Wilhelm L und Friedrich dem Großen an der Tagesordnung
waren, war aber in jenen Staaten und auch in vielen anderen
wohleingerichteten Staaten des Altertums wie der Neuzeit
keine Spur vorhanden. AAan gestehe es nur ein, und es ist
sehr nQtzlich, es einzugestehen: Alle jene Roheiten waren
ganz fiberflflssig, und man verwechsle auch nicht TQchtig-
kdt mit Roheit; es ist das Eine vom Andern ganz un*
abhai^lg.
Wir wollen aber nunmehr von jenen Härten sprechen,
die sich besonders im I^vatverkehr Friedrichs manif^tierten.
Friedrichs Verhalten im Privatveikehr! Selbst Männern
gegenüber, die er hoch achtete und denen er vertraut^ z. B.
dem kiänklichen und zartfühlenden Marquis d'Afgens, hörte
er nicht au^ zu äigem und zu sticheln, d' Aigens hält es
nicht länger aus und erbittert, forderte er seine Entlassung. »Als
der Marquis«, berichtet Gustav Freytag in dem oben zitierten
Werke, in dem letzten Brief, den er vor seinem Tod dem
König schrieb, noch einmal nicht ohne Bitterkeif vorhält,
wie höhnend und schlecht er einen uneigennützigen Ver-
ehrer behandelt, da las der König schweigend den Brief.
Aber an die Witwe des Toten schrieb er betrübt von seiner
Popper, Voiuiie. 11
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Freundschaft für den Gatten und ließ ihm In fremdem Land
ein kostbares Denkmal errichten.
So wenig auch dieser Brief an die Witwe und dieses
kostbare Denkmal alles frühere ungeschehen machen konnte^
so sieht man doch, welch ein böser Dämon es war, der
Friedrichs bessere Natur verdarb: der Absolutist aus
nordischem Stamme. Bei keinem Tyrannen der Renaissance
in Italien begegnen wir überflüssigen, nutzlosen Brutalitäten.
So auch — und dieses Detail gibt ein ausgezeichnetes
Bild eines malitidsen Naturells — wenn Friedrich seinen
Kammeiherm, den Baron Pöllnitz» der eine schlimme Ver-
gangenheit hinter sich und u. a. bereits dreimal die Re-
ligion gewechselt hatten oft in der Weise anzapfte, dafi er
ihn frug, ob er nicht gern seine Religion zum vierten
JMale wechsein wolle? »Eh! Mein Ootts sprach erPdIInitz
ein anderes Mal an, »ich habe ganz vei^gessen, wie heißt
doch der Mann im Haag, den Sie l>estohlen haben? Dem
Sie falsches Geld für gutes verkauft haben? Ich bitte Sie,
helfen Sie doch meinem Oedächtnisse etwas nach!< *) Einen
solchen Mann hielt er in seinen Diensten, quälte ihn aber
unaufhörlich.
Nun ist man stets sehr geneigt, einen herben, gelegent-
lich boshaften oder rücksichtslosen Charakter, gegenüber
einem gutmütigen Naturell als den »männlichem , ernsteren
zu betrachten; und vermöge einer eigentümlichen Schwäche
der Urteilskraft, die einen beinahe masochistischen Charakter
besitzt, empfindet man vor dem harten Menschen mehr
Respekt, als vor dem sanfteren^ beweglicheren und heiteren.
Nicht nur der halb unzurechnungsfähige Tasso gegen-
über Antonio, auch ein Racine und die anderen großen
Geister am Hofe Ludwig XIV. erscheinen neben diesem
ais die kleineren Charaktere; wfihrend sie doch nur in ihrer
*) So berichtet es Voltaire in seinen Memoiies; es ist schwer n
glauben, er habe das erfunden.
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- 163 —
besonderen Position einem König gegenüber naturgemäß
unendlich abhängiger von diesem sind, als der König von
ihnen, und daher auch nicht jene Ruhe des Geistes be-
sitzen können wie er, der in voilständifj gedeckter Stellung
^viereckig auf der Basis« ruht; jene Ruhe nämlicii, die irrtümh'ch
wie Würde des Charakters angesehen wird, die jedoch nichts
als eine äusserliche Grandezza des Machtgefühls ist und
nichts anderes besagl als: Wir können jedem geben oder
wegnehmen was uns beliebt, aber niemand anderer kann
uns irgend etwas geben oder nehmen. —
Voltaire sah das alles mit voller Klarheit ein, daher er
mit Recht in einem Schreiben an seine Nichte ausrief:
»ich kann doch nicht, wie er, 150000 siegreiche Soldaten
aufmarschieren lassen!« Wie er ja auch den Charakter
Friedrich's überhaupt besser durchschaute, als irgend jemand,
und frühzeitig schon von ihm sagten er habe den »Anh-
macchiavelli« bk>6 dazu geschrieben, um den anderen in
die Suppe zu spucken.
Und in unveigieichlich treffender, gdstretcher und am
Schlüsse humorvoller und allem überlegener Weise schildert
er den Charakter des preußischen Königs in den Versen,
die ich hier folgen lasse und die er an — des Königs
Schwester, die Maiicgrafhi von Bayreuth, sandte:
»Assemblage ^clatant de qualitds contraires
tcrasant m mortels, et les nommant ses hires,
Misanthrope et farouche avec un air humidn,
Souvent imp^tueux, et quelquefots trop fin,
Modeste avec orgueil, col^re avec fait^esse^
Petri de passions, et cherchant la sagesse^
Üangereux politique et dangereux auteur,
Mon patron, nion disdple et mon persecuteur.«
Alles das nun, was ich bisher Aber Friedrich mit-
geteilt war natflriich wiederum SfmuB sehr genau bekannt;
jedoch in seinem beinahe mystischen Respekt vor dem
Königtum — welchen Respekt er ausdrOckttch in seinem
11»
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— 164 —
Werke der »Alte und neue Glaube bekannte — ließ er
sich von der Souverainetät Friedrichs blenden und konnte
daiier dessen wahres Verhältnis zu Voltaire nicht unbefangen
beurteiien.
B^ibt man sich einmal in ein solches Abhängigkeits-
verhältnis, so geraten die Dinge fast immer so wie bei
Voltaire am Potsdamer Hofe. Besser wäre es daher, man
ginge ein solches Verhältnis gar nicht ein, wie es z. B.
J. J. Rousseau tat. Voltaire verhielt sich hier anders. » Mein
Schicksal ist es, von König zu König zu laufen,« sagt er
selbst, »obwohl ich die Freiheit abgöttisch liebe.«
Nach dieser Bemerkung Voltaire*s und dem äußeren
Anschein nach konnte man leicht zu der irrtümlichen
Ansicht kommen, Voltaire sei ein Höfling gewesen; und
wenn das wirklich so wäre, würde allerdings in uns eine
berechtigte Antipathie g^gen diese Seite seines Wesens
entstehen.
Aber nichts ist unrichtiger, als sich Voltaire
als servil vorzustellen. Damals war eine gebildete, für
äußere Schicklichkeit wohlerzx^;ene und einflußreiche Ge-
sellschaft nur an den Hdfen, in der Aristokratie^ bei all
den Marquisen, Prinzen und Prinzessinnen zu finden, die uns
heute allerdings so wesenlos, so veraltet vorkommt, weil die
französische Revolution sowie die ganzen neueren und neuesten
sozialen Bewingen wie auch die Literatur der neueren
Zeit sie so sehr in den Hintergrund gedrängt, und zugleich
Bildung^ Oesithing und auch Einfluss in unendlich breitere
Volksschichten getragen haben. Voltaire, der eine Fdn-
schmeckematur und zugleich vom Drang zu wiricen erfüllt
war, suchte also jene Oesdlschaftssdiichten sehr gerne aui
Daß er in der Tat ohne diesen Verkehr seine großen
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— 165 —
— nicht nur seine persönlichen — Zide nicht erreicht hätten
wird wohl niemand leugnen.
Aber weder seine äußere Haltung, noch seine Oesinnung
zeigten eine Spur von Servilismus oder Unterwürfigkeit.
Eckermann bemerkte (im Jahre 1828) zu Goethe, man
sehe in Voltaire's kleinen Gedichten, die an Personen ge-
richtet sind, seine -Verhältnisse zu allen Großen und
Mächtigen der Erde und bemerkt mit Freuden, weiche
vornehme Figur Voltaire selber dabei spielt, indem er sich
den Höchsten gleichzuempfinden scheint, und man ihm nie
anmerkt, daß irgend eine Majestät seinen freien Oeist nur
einen Augenblick hat genieren können.c
»Ja«, sagte Qöethe darauf, »vomelim war er. Und bei
all seiner Freiheit und Verwegenheit hat er sich immer in
den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt^ wetehes
fast noch mehr sagen will.«
»Er ist achtungsvoll, sagt auch Taine in dieser Be-
ziehung von Voltaire, ohne sich zu erniedrigen, er schmeichelt,
ohne fade zu werden.« Und Wagniere, der vierundzwanzig
Jahre bei ihm war und dem nicht das kleinste Detail seiner
Handlungen und seines Benehmens entgehen konnte, ver-
sichert ausdrücklich, Voltaire habe niemals in niedriger Weise
liegend jemandem den Hof gemaciU.
Mitunter liest man, Voltaire habe es sehr gekränkt, daß
Kaiser Joseph II. ihn nicht besuchte, als er durch das Terri-
torium von Femey gereist war. Aber die Wahrheit ist, daß,
als Friedrich der Große Voltaire ankündigte, Joseph werde
ihn demnächst besuchen, Voltaire ihm erwiderte, er sei dessen
sicher, daß der Kaiser nicht kommen werde; ebenso schrieb
er seinen Pariser Freunden, die ihm schon im Vorhinein zu
der Ehre eines solchen Besuches gratulierten, der Kaiser
werde niemals zu ihm kommen. Und als endlich Joseph
wiridich an Femey vorbeifuhr, ohne Voltaire zu besuchen,
sagte dieser lachend zu den Leuten, die sich versammelt
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— 166 —
hatten» um die Zusanmienkuirft des Kaisers mit Voltaire mit
anzuseilen; »Habe ich es euch nicht vorhergesagt?«*)
El)enso unrichtig ist die so oft wiederholte AngabCi
Voltaire sei untröstlich darüber gewesen, wlhrend seines
letzten Pariser Aufenthaltes Im Jahre 1778 nicht vom Könige
empfangen wofden zu sein. Es wSre wohl nicht zu ver-
wundem und durchaus kein AnUiß, darin auch nur den
geringsten Servilismus zu sehen, wenn ein so gefeierter,
alter Schriftsteller, der sich der humansten Bestrebungen zeit
seines Lebens rühmen konnte, sich darüber kränkt, sich von
der angesehensten Person im Staate zurückgesetzt zu sehen.
Aber Wagnicre berichtet, daß Voltaire auch über diese
Mißachtung durchaus nicht bestürzt war; man urteilt
immer über ihn,« sagte er, »als ob er ein junger Höf-
ling gewesen wäre, und als ob seine Existenz, sein Ver-
mögen und das ganze GKick seines Lebens nur von dem
Blick des Mrjnarchen ab^Jehanc^en hätte.«**)
Man wird vielleicht an seine endlosen Schmeicheleien
in seinen Briefen an Potentaten mit Unwillen denken? Nun,
diese Schmeicheleien waren fast immer von einer solchen
Beschaffenheit, sie hatten im Ganzen eine solche Tonart,
daß diejenigen, an die sie gerichtet waren, sie durchaus
nicht als Ausfluß von Untertänigkeit oder Servilismus, nicht
einmal von Loyalität, ansehen konnten; ja mitunter wurden
Voltaire's Schmeicheleien mit mehr Schmerz und Widerwillen
empfangen, als es Stillschweigen oder selbst Grobheiten
eines rauhen« Demokraten oder Republikaners hätten be-
wirken können.
*) Als Wabere im Jahre 1779 mit Friedrich über diese Sache
vjpndtj belufUffte tfeh der König nldit wenig über sie und sagte, ohne
sich näher ru erklären, mit einer hunioristisctien Betonung: >l'empeureux!
rempeureuxl« Und es stehtietzt fest, daß es die fromme Maria-Theresia
war, die ihrem Sohne den Biesuch Voltaire's untersagte
** Worüber jedoch Voltaire wirldfch beunruhig war, das waren
die damaligen wütenden Agitationen der Geistlichen und besonders die
Predigten des Ex-Jesuiten de Beaure^^ard vor dem ICönige in der Kapelle
zu Versailles gtgen den »Zentörer der Religkm und der Sitten.«
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— 167 —
Bei Ludwig XV. fiel Voltaire geradezu in Ungnade
wegen der doch so schmeichettiaft aussehenden Anrede^
die nach einer ErsfauffOhning bei Hofe Voltaire als Autor
des FeststOckes an den König richtete^ als dieser in Be-
gleitung seines Hofes durch den Korridor des königlichen
Schkisses einher schritt »Ist Trajan zufrieden?« sprach
Voltaire den König direkt, sozusagen ins Gesicht, an, und
dieser — trotz des sehr schmeichelhaften Vergleichs —
fOhHe den vollen Mangel an höfischem Respekt ganz gut
heraus, antwortete nicht und wandte steh indigniert ab.
Auch Friedrich der Große wußte aus hundert Erfah-
rungen, daß die unzahligen »Salomon des Nordens« u. dergl.
alles, nur nicht die respektvollen Gesinnungen eines Höf-
lings verrieten. Wohl nicht anders Katharina II., die in
Voltaire's Briefen immer als *Semiraniis des Nordens« an-
gesprochen wurde.
Das ganze Verhalten Voltaires speziell Friedrich gegen-
über zeigt in voller Deutlichkeit, wie frei jener von Respekt
vor der Stellung eines Königs als solchen gewesen, und
daß das Leben an einem Hofe für ihn absolut ohne den
mystischen Schein und ohne jene erniedrigende Anziehungs-
kraft war, denen die meisten und selbst bedeutendsten Geister
bis auf den heutigen Tag unterworfen erscliienen. Anfangs
folgte ja Voltaire gar nicht der Einladung nach Potsdam
und schrieb Friedrich, er *ziehe die Freundschaft {zu der
Marquise du Chätelet) dem Ehrgeiz vor.« Erst nach dem
Tode der Marquise, seiner Geliebten, entschloß er sich,
Friedrichs mederholter Einladung zu folgen. Man wird
wohl unter unsern Schriftstellern kaum einen finden,
der sich so lange bitten läßt, noch dazu unter so
glänzenden Bedingungen, der Einladung eines Königs Folge
2U leisten. Was Voltaire l)ewog, dies zu tun, schildert er
präzise in seinen Memoires: »Ich gtoubte^ daß ich ihn Hebte
. . . Ich fühlte mich ihm anhänglich, denn er hatte Oeist und
Grazie; und was mehr ist, er war Könige was immer sehr
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168 —
verführt, in Anbetracht der menschlichen Schwach-
heit,« wie Voltaire mit Selbstironie hinzufügt »Gewöhnlich
sind es wir Schriftsteller, die den Königen schmdcheln,
dieser da lobte mich von den Fttfien bis zum Kopfe.« Und
wie trat Voltaire seine Reise nach Potsdam an? Mit den
Worten: »Ich werde ihn (Friedrich) lehren, sich auf die Leute
zu verstehen,« da er gehört hatte, Friedrich beabsichtige^
ihn mit einem Konkurrenten, nämlich dem jungen Dichter
d'Amaud, zu necken. Sieht — nach alledem — ein Höfling
so aus?
Und an Friedrichs Hofe selbst benahm sich Voltaire
so frei und ungezwungen, wie nur möglich. Ich hatle
keinen Hof zu machen,« berichtet er selbst, ^keinen Besuch
zu erwidern, keine Pflicht zu erfüllen, ich hatte ein freies
Lehen und arbeitete nur zwei Stunden täglich mit dem
König. Und als er Potsdam verließ, und sich endlich auf
sein eigenes Heim als reicher Mann an den Genfer See zu-
rückzog, hatte er sein Ziel erreicht: »Nachdem ich bisher
bei Königen gelebt habe, machte ich mich zum König bei
mir selbst ' Wie wenig aber nachher Voltaire als Höfling
dachte, wie wenig Sehnsucht nach dem Hofleben er hatte,
sieht man leicht, wenn man seine Biographie nur etwas
genauer kennen lernt, und der Ton, in dem er von Priedrich
spricht, zeic^ sogar das Gefühl seiner Superion tät Ich
spreche Ihnen selten von Luc,«*) schreibt er im Jahre 1762
an d'Alembert, »weil ich nicht an ihn denke. Dennoch,
wenn er fähig wäre, ruhig und als Philosoph zu leben und
zu dem Zwecke ä ^laser Tintäme auch nur den hundertsten
Teil von dem daran zu setzen, was es Ihn gekostet hatten
hieB eigentlich der große Affe, den Voltaire in Delices hatte, und der
mHutiter seinen Herrn oder dessen Oftite zu beißen liebte. Voltaire
nannte nun den König von PreuRen in setner Konversation oder in
seinen Briefen »Lucs wie er sagte, »weil Friedrich es so macht wie
mein Affe, der beißt, obwohl man Ihn liebkost«
pflegte. Luc
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um die Menschen zu erwflisen, so könnte ich — ich fflhie
es — ihm doch noch verzeihen.«
Man wild nach dem hier Angeführten nun wohl er-
kennen, daß alle Schmeichdeien Voltaires nur fagon de parier
eines feinen Mannes in vornehmer Oesellschaft und so
wenig ernst- zu nehmen waren und auch genommen wurden,
wie die alltäglichen Höflichkeitsphiasen in den bQigerlichen
Kreisen. Und gerade das Leere^ der Mangel an Innigkeit
in seinen Komplimenten schtttzt das Bild, das wir uns von
Voltaire machen wollen, vor allem Verdacht des Kleinlichen
und Emiedrigendefl. Sehr t)ezek:hnend nannte man daher
die Art seines Verkehrs mit den AUchtigen seiner Zeit:
»tödliche Familiaritäten.«
Ein wirklicher Höfling aber war Goethe. Dieser
Riese hätte es durchaus nicht nötig gehabt, sich von einem
Fürsten abhängig zu machen und er tat es dennoch; und
seine ganze HaUung am Weimarer Hofe, wie seine vielen
Festgedielite, Briefe und sein Verkehr mit den hochgestellten
Kreisen, zeigen, daß er wirkiiciien ungegründeten Respekt,
Devotion, ja Ehrfurcht vor Kaisern, Königen, deren Frauen,
Prinzen, sogar vor mächtigen Ministern besaß. Es ist
nahezu unglaublicfi, welchen mystischen Respekt er vor
der Wurde eines Monarchen hatte, er war wie geblendet,
wenn er einem König g^egenüber trat. Ein so relativ un-
bedeutender Mensch z B Köniü: Ludwig I. von Bayern
war, Goethe verlor doch ihm gegenüber naliezu sein geistiges
Oleichgewicht. Kurze Zeit nach seiner Begegnung mit
Ludwig (im Jahre 1827) sagt er zum Kanzler Müller, es
sei »nichts Kleines, einen so großen Eindruck, wie die Er-
scheinung des Königs, zu verarbeiten. Es koste Mühe,
dabei aufrecht zu bleiben, den Eindrudc innerlich auszu-
gleichen und nicht zu schwindeln.«
Coethe partizipiert hier allerdings an der allgemeinen
Eigenschaft der Deutschen, servil zu sein, und diese Stamm«
gemeinschaft könnte dem Individuum Ooethe einig^maBen
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zugute gehalten werden; allein was war das für ein Indi-
viduum! Er, der in so vielem hocii über allen stand, und
skh liier so schwach zeigtet Oerade die Ehrlichkeit
seiner devoten Äußerungen muB uns, die wir der-
gleichen perhorreszieren, verletzen, und tiUbt auch sein Bild fQr
die Nachwelt; während uns die unter buter Hof phrasen deutlich
durchscheinende »Frechheit« VoHaire's, das Ändieseitestdlen
neben die sogenannten Orofien, weder frivol noch devot er-
scheint, sondern auf vernünftige Menschen den erfrischendsten
und erhehemdsten Eindruck macht
Und was kommt bei der Vasallenanhänglichkeit, l>ei der
treuen Devotion heraus? Man weiß, wie sehr mitunter Ooethe
von Kari August gekränkt wurde, und welch unermeßlicher
Abstand war doch zwischen dem Großherzog von Weimar
und einem Goethe!
»Er hat mich nie verstanden!« zu diesem wehmütigen
Ausruf wurde ein geistiger Koloß ^ebraelit, der Hofliift ein-
atmen wollte; und hier sieht man, wie mitunter, ja gar nicht
selten, >deutsche Treue« sehr hart an Knechtssinn grenzen
kann. Fühlt man sich bei Betrachtutig dieser gekränkten
Stimmung Ooethe's nicht förmlich wie gerächt und auf-
gerichtet, wenn man an Voltaire's Behandlung des preußischen
Königs, ja selbst an seine losen Streiche in Potsdam denkt?
Ooethe muliie seinem verwundeten Herzen mit den
Worten Luft machen: Er hat mich nie verstanden. Voltaire aber
behandelt sein Verhältnis zum preußischen König in etwas
weniger sentimentaler Weise. Der Kronprinz »verwendete
seine Muße , berichtet Voltaire in seinen Memoiren, ^um an
französische Schriftsteller zu schreiben, die in der Welt
einigermaßen bekannt waren. Die Hauptlast fiel auf mich.
Es waren Briefe in Versen, Traktate über Metaphysik, Ge-
schichte, Politik. Er behandelte mich wie einen göttlichen
Menschen: ich behandelte ihn als einen »Salomon«. Die
Epitheta kosteten nichts. Man hat einige dieser Fadaisen
in die Sammlung meiner Werlce aufgenommen und giOddicher*
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weise hat man nicht den dreißigsten Tdl von ihnen ab-
gedruckt«
Es ist unbedingt viel erfreulicher anzusehen, wie sich
diese bMen Großen miteinander herumgebalgt haben, als
das mit aller Wfirde gehandhabte Verhiltnis Ooethe's zum
Oroßherzog und zu andern FOrstKchkeiten zu betiachten.
Voltaire und Friedrich waren doch in jedem Momente
zwei Individuen, jeder fest auf seine FtlBe gestellt, und
niemals war zu bemerken, daß der König den Schriftsteller
als ein Wesen unter sich ansah; und wiederum fiel es
Voltaire nidmalt; ein, sich als ein sozial untergeordneles
Wesen dem König gegenüber zu betrachten.
Man braucht übrigens nur in der »Pucelle« die Stellen
zu lesen, in denen von Karl VII. die Rede ist, so wird man
ebenfalls sofort einsehen, daß Voltaire mehr für die Zer-
störung des Nimbus von Königen, seien es solche mit oder
ohne Gottes Gnaden, geleistet hat, als der cholerischeste
Republikaner.
Denn solche katonische Republikaner, z, B. von der Sorte
Rousseau's, hassen die Monarchen, bewähren aber nicht
jene Oeringschätzung wie ein Mann, der wie Voltaire die
Fürsten (als bloße Fürsten) gar nicht genug ernst nahm, um
sie zu hassen und nicht einen Augenblick ein > Pathos der
Distanz anerkannte.
Wir begreifen nun auch, wie es Vielen ein Labsal sein
kann, auch in dieser Beziehung ein Naturell wie das Vol-
taire's zu beobachten. »Frech«, »verwegen« wird es genannt,
ist es aber im Grunde nicht; es verhütet aber Frechheit,
nämlich jene der sogenannten »Großen . Diese Voltaire'sche
»Frechheit- ist daher ein Glück und eine Schutzwehr; von
jener Sentimentalität des treuen Dieners, der von seinem
»Herrn« gekrSnkt wird, und doch »wie Goethe seinem
gnädigen Herrn immer aufwartete» wie und wo er konnte«,
ist nicht die geringste Spur vorhanden. Und mit einem un-
beschreiblichen Vergntigen betrachte ich daher an der Bflste
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— 172 —
Vol1alre*$ die vom Orafen Josef de Maistie so verabscheute
»unverschämtec Stime^ die mir Trost gewährt für die un-
endlich vielen gesenkten und devoten Stirnen, die unsere
menschliche Würde so oft verrieten und — namentlich ba
den Deutschen — noch heute verraten.
•
Je besser man Friedrichs Wesen kennen lernt,
desto mehr kommt man zu der Oberzeugung, daß
ohne Voltaire und die französischen Literaten
Friedrich der Groß e überliavipt in der europäischen
Kulturgeschichte ohne Bedeutung geblieben wäre.
Mit all seinem Talent und seinem energischen und
pflichtgetreuen Charakter wäre er nie etwas anderes als ein
ausgezeichneter preußischer Landesfürst geworden, wie es
so mancher andere Hohenzoller in größerem oder geringerem
Grade auch; und die europäische Kulturwelt hätte sich um
Friedrich nicht mehr o;ekümmert als z. B. um seinen eben-
falls genialen und energischen Vorfahren, den grolien Kur-
fürsten. Daß er als der einzige dieser Dynastie in der
Geistes- und Sittengeschichte Europa's eine Rolle spielte,
verdankt er eben Voltaire, d'Alembert und den andern außer-
deutschen Geistern, die seinem natürlichen und anerzogenen
engen und harten Charaicter höhere Ziele und Gesittungen
zeigten und einimpften; ganz geeignet, ihn, bei seinen an-
geborenen Fähigkeiten und seiner Position als König, zu
einem mächtigen Werkzeug des Fortschritts zu machen. —
Damit ein pralctischer Staatsmann zugleich eine Kultur-
bedeutung erlangt, genügt es eben bei der heutigen Mannig-
faltigkeit zivilisierter Staaten — im Gegensatz zu den alten
Griechen oder Römern, die im Ocddent ohne wesentlich
konkurrierende andere Staaten allein die Zivilisation ver-
traten — durchaus nicht, nur seinem eigenen Lande nfitzlich
zu sein, es wäre denn, er stände in Ffihlung mit Ideen und
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— 173 —
Bestrebungen, die sich nicht nur auf dieses Land beziehen,
sondern in theoretischer Form, als Diskussionsthema, die
Menschheit überliaupt bewegen.
Ein praktischer Staatsmann hat seine Bedeutung als
Kult Lirgröße auch in dem Falle verwirkt, — er möge diesen
Ausspruch verlachen oder mit welchen Augen immer betrachten
— wenn er in seinem Staate nur solche Reformen ein-
führt, die ihm durch augenblickliche sehr machtige politische
Faktoren: Parteien, Koterieen, Kasten und dergl. aufgedrängt
werden. Wer einem solchen von auIJen kommenden Ge-
dränge nicht um ein Beträchtliches in der Zeit voraus ist,
bedeutet nicht im Mindesten mehr, als ein Werkzeug, als
ein exekutierendes Organ politischer Atächte. Wir sehen
daher, daß alle jene Manner, die wir als Kultiargröfien
ansehen, selbst wenn sie auch zunächst und etwa auch aus-
schließlich für ihr eigenes Land wirkten, dennoch in ge-
wissem Sinne Kosmopoliten waren; d h. sie kflmmerten
sich nicht nur aus patriotischen Motiven, sondern auch aus
allgemeinein» gewissermaßen theoretischen, Interesse um die
fluBeren, aber ebenso intensiv um die inneren geistigen
Vorgänge in den anderen Staaten.
Und so sonderbar das auch klingen mag — weil die
praktische Tätigkeit des Staatsmannes und gar des Soldaten,
mit ihrer massenhaften physischen Wucht, so sehr den Ein-
druck des einzig Realen gegenfiber den WMcungen der
Ideen hervorruft — so ist es doch wahr, daß ein ganz un-
scheinbares Buch, ja ein kurzes Pamphlet, um so mehr eine
politische, soziale, religiöse Literatur, von nachhaltigerer
Wirkung als manche große Staatsaktion und als gewaltige
Kriege sein kann. Es erinnert das an die seinerzeit so über-
raschende Behauptung Faradays, daß in der stillen Zer-
setzung eines Kubikzentimeters Wasser durch ehien ganz
unsichtbaren und unhörbaren galvanischen Strom mehr
elektrische Arbeit geleistet werde, als durch die Blitzentladung
einer Gewitterwolke.
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— 174 —
Diese Behauptung ist wohl nicht neu, allein im Zu-
sammenhange der Digression über Staatsmann und Kultur-
größe mußte sie wiederum vorgebracht werden.
Friedrich der Große war ein Riese an Talent und
Energie, Voltaire desgleichen; aber Voltaire's oder Rousseau's
»rederclien-^ *) leistete unvergleichlich mehr und machte viel
größeren und bleibenderen Eindruck als der Säbel des K<)nigs
von Preußen. Mit Recht spricht man von einem Jahrhundert
Voltaire s, aber Niemandem fällt es ein, von einem Jahrhundert
Friedrich des ürolJen zu sprechen; denn dieser hatte gar
keine Ideen selbständig zu Tage gebracht, sie nicht mit Kraft
geisti^^ propagiert, sondern nur solche Ideen von anderen,
den Philosophen, entlehnt und zum Teile — darin ]ie*j^
eben seine Kulturbedeutung -- als praktischer Staatsmann
in seinem Lande durchgeführt. Aber Friedrich beherrschte
oder beherrscht nicht das Denken eines einzigen Kopfes;
Voltaire tat oder tut das noch heute bei unzähligen Köpfen.
Allerdings gab es auch einige praldische Staatsmänner,
die zugleich KultuigrOßen waren und noch fiberdies die
Ideen aus sich selbst nahmen. So ist Alexander der Oro6e
ein Kulturmensch allerhöchsten Ranges, da er, sogar ent-
gegen den bedeutendsten griechischen Philosophen, den
Orient mit dem Ocddent polltisch und kulturell zu ver-
mählen suchte. Diese Idee stammte von ihm, und er selbst
war es, der sie auch durchführte; in der zweifachen Größe
dieses Unternehmens ist er bislier unerreicht Man wird
auch Julius Cäsar eine politische KulhirgröBe nennen, des-
gleichen den mongolischen Kaiser Chinas: Kublai-Chan,
ebenso Kanghi, den chinesischen Kaiser aus der Mandschu-
dynastie im 18. Jahrhundert, desgleichen Karl den Großen,
Peter den Großen, Friedrich den Grolien, Josef II., Turgot,
in gewissem Maße Napoleon, den Freiherrn von Stein; in
unseren Tagen: Cavour, den g^enwärtigen Mikado Mutsu-
*) Ein Ueblingsausdruck des Cervantes.
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- 175 —
hito, und Marquis Ito, seinen ehemaligen Minister» den Re-
formator Japans.
Was Friedrich den Großen betrifft, so braucht man,
um den Unterschied zwischen einem Kulturmenschen und
einem gewöhnlichen, wenn auch tüchtigen Landesvater«
oder bloß patriotischen Staatsmann drastisch zu erlcennen,
nur jenen mit seinem Vater, Friedrich Wilhelm I., zu ver-
gleichen, welch letzterer ein gar nicht unbedeutender Re-
gent war, ja als Verwaitungstalent für höherstehend als sein
Sohn gilt.
Aber Friedrich II., der einen französischen Hofmeister
hatte und sich schon früfizeitig mit den philosophischen
und humanen Ideen der englischen und französischen Frei-
denker erfüllte, wurde hierdurch von Anfang an weit Ober
das preußische Niveau erhoben; in ein ungleich liöheres,
als sein unwissender und brutaler Vater oder irgend ein
anderer Regent Europas einnahm.
Schon mit Reformideen und großen politischen Emp-
findungen, sowie Interesse für Kunst und Wissenschaft
erfüllt, loun er auf den Thron; und sofort nach der Thron-
besteigung ging er auch schon an die Abschaffung der
Folter in peinlichen Prozessen.
Dies sowohl, als die Promulgierung vollständiger
religiöser Toleranz, die Gründung der Berliner Akademie der
Wissenschaften, die Milderung der Leibeigenschaft und
anderes, was er entweder durchfOhrte oder wegen des Wider-
standes der Junker bloß anstreben konnte^ geschah durchaus
nicht darum, weil etwa das preußische Volk oder auch nur
eine Partei oder Kaste es begehrt^ oder weil Obelstände
im Staatsleben auf EinfOhruiig solcher Refönnen hinlenkten.
Nein, es waren rein positive Fortschritte^ aus Ideen heraus-
geboren, Frflchte seiner frOhen geistigen BeschifHguiig und
seines Umgangs mit den Phitosophen Englands und
namentlich Frankreichs. Und in dieser Beziehung das Aller-
merkwQrdigste Ist wohl das, daß — wie ich in Kosers
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— 176 —
Werk finde — Friedrich einen pädagogischen Katechis-
mus: Dia!og;ue de morale ä Tusage de la jeunesse noblesse*
ausarbeitete, in welchem eine Anweisung zu einem religions-
freien Moralunterricht gegeben wird, und die Kinder
gelehrt wurden, daß, um glücklich zu werden, die Tugend
notwendig sei. Wie weit voraus war aiso Friedrich allen
seinen Nachfolgern!
Man kann es nicht wegleugnen, daß Preußen, und durch
Preußen Deutschland, einer dreifachen französischen Invasion
zu höchstem Danke verpflichtet ist. Der schläfrige und in
vieler, namentlich politischer Beziehung rückständige Geist
wurde durch sie erweckt, der Intellekt aufgeschlossen, das po-
litische Gefühl ethisiert. Die erste Invasion war die der nach
Aufhebung des Edikts von Nantes eingewanderten Huge-
notten; die zweite war die rein intellektuelle durch die fran-
zösischen Philosophen, die von Friedrich dem Großen berufen
wurden, die dritte jene während der französischen Revolution
und der Napoleonischen Kriege. Jede Invasion wiikte in
ihrer Art s^ensreich.
Was aber Friedrich betrifft, so ist es nur dem Geiste
der Aufklärung^ dem er so sehr zuneigte, zu danken, daß er
— wie Sainte-Beuve sich ausdrückte »im Nofden Deutsch*
lands einen Herd der Zivilisation, dn Zentrum der Kultur
und der Toleranz« schaffen konnte. Es hätten sonst noch
hundert tüchtige preuBisdie Landesväter wie Friedrich
Wilhelm L regieren können, und es wäre aus dem rdn
preufiischen Ödste nichts hervorgegangen, was dnem »Herd
der Zhrilisation« oder einem »Zentrum der Kultur« ähnlich
gesehen hätte. —
Wie sdir das hier Aber die Bedeutung des Staatsmannes
als Kultuffaktor Gesagte richtig ist, sah man auch in unsem
Tagen an der echt preußischen Gestalt Bismarck's be-
stätigt. Bismarck steht in Begabung, Eneigie und Pflicht-
treue durchaus nicht hinter Friedrich dem Großen, er über-
traf diesen bei weitem an Gemüt, an Privatgüte, und sdn
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— 177 —
Charakter gewinnt noch immer an Sympathie und Hoch-
achtung, je mehr De(aiis von ihm bekannt werden.
Trotz alledem war Bismarck doch nicht mehr als ein
höchst bedeutender preußischer und deutscher Staatsmann,
in der Kulturgeschichte ist er keine Größe; und wäh-
rend man seine Begabung an sich wie seine Tugenden kaum
hoch genug stellen kann, wird von der öffentlichen Meinung
in Deutschland seine Bedeutung für die Kultur enorm über-
schätzt. Im Gegensätze zu Friedrich, welcher von seinem
Vater so viel zu leiden hatte, daß er Trost in der franzö-
sischen Kulturbewegung suchte, hatte Bismarck hierzu oder zu
ähnlichem nicht nur keinerlei Veranlassung, sondern empfand,
gerade umgekehrt, eine tiefe Antipathie gegen fast alles
Nichtpreußische, in späteren Jahren gegen alles Nichtdeutsche,
besonders aber gegen alles Französische und die ihm nach-
eifernden Deutschen. Schwung, Enthusiasmus für die
Menschheit im allgemeinen und nicht nur für einen einzelnen
Staat, erschien ihm wie eine Art von Windbeutelei. Und
keine einzige seiner praktischen Maßregeln entsprang aus
Prinzipien der Humanität im großen, sondern nur aus po-
litischen Klugheitsrucksichten.
Das allgemeine Stimmrecht war nur ein taktischer Streich
gegen die ihm zu freisinn^e Bourgeoisie, der er auf diese
Weise einen starken Gegner, die Arbeiterpartei, auf den Hals
zu hetzen suchte Die soziale Gesetzgebung, nämlich die
Versicherungsinstitutk>nen, war nur die Folge des gefährlichen
Druckes der Sozialdemokraten, und war ebenso wenig frei-
willig geget)en, wie etwa der Beffreiungsfeldzug Napoleons III.
fiir Italien nach dem Attentate Orsinis.
Wenn es sich um Verbesserungsvorschlige^ z. B. in der
Strafgesetzgebung, um- Abschaffung der Todesstrafe han-
delte, so stand Bismarck immer auf Seite der härteren
JMaßregeln, und er ging sogar so weit, die Todesstrafe mit
dem Hinweis auf die — Unsterblichkeit der Seele begründen
zu wollen! Seht man der Sache auf den Orund, so findet
Popper, VolMirfc 12
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— 178 -
man aUerdings diese Härte in der religiösen Erziehung und
Neigung Bismarcks begründet, und es ist außerordentlich
lehrreich — und ich möchte die Religionspsychologen sehr
darauf aufmerksam machen — daß der von Natur harte,
irreligiöse Friedrich der Große seinerzeit für Milderung in
der Kriminalgesetzgebung (Aufhebung der Folter) war, der
von Natur gemOtvoUei aber religiöse Bismarck jedoch stets für
die strengere Richtung eintrat Genau dasselbe sehen wir
schon nahezu 2000 Jahre frQher in Rom gelegentlich der
Beratungen im Senat über die Behandlung der Mitglieder
der Catilinaiischen Verachwörung. Der freigeistige Julius
Cisar war für das mildere Verfahren, der religiös geahmte
Cato für das strengste: die Todesstrafe.
Im Kultuficampfe gegen die katholische Geistlichkeit
behalf sich Bismarck nur mit Polizei und Gendarmerie; nie
fiel es Ihm, auch nur In Erinnerung an Luther, ein, einen
geistigen Kampf zu fQhien; so daß die Bezeichnung dieser
ganzen Affäre als »Kulturkampf« eigentlich als eine ganz
unverdiente, viel zu hohe, erscheint
Wenn man nun bedenkt, daß Bismarck ungefähr ein
Jahrhundert nach Friedrich dem Grossen wirkte, so sieht
man deutlich, daß Genie allein zu den großen politisch-
ethischen Taten nicht hinreicht, und erkennt zugleich, welche
Wichtigkeit die französische Aufklärungsphilosophie für die
Weit besaß, welche hohe Schule sie für die politische Ethik
bildete, obwohl man sie gewiß in vielen Beziehungen als ober-
flachlich bezeichnen muß.
Genies der Tat, wie Alexander, Cäsar und selbst
Napoleon waren neben ihren speziellen staatlichen oder selbst
egoistischen Unternehmungen auch von überstaatlichen
Tendenzen erfüllt.
Von überstaatlichen Tendenzen oder wenigstens Hin-
neigungen finden wir aber bei Bismarck kaum eine Spur. Zu
keiner Zeit seines Lebens in der Praxis hiieressierte und
noch weniger erwärmte er sich für ailgemdne Kuitundde»
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. — 179 —
für ethisch-politische Ideen, die nicht bloß für PreuBen-
Deutschland, sondern für die Menschheit im allgemeinen
oder wenigstens für die europäische Bildung von Bedeutung
waren. Nicht einmal in den unzähligen allmählich bekannt
gewordenen^Privatgesprächen, die doch zu nichts verpflich-
teten, findet man derlei Themen behandeft, ganz entgegen-
gesetzt zu dem Verhalten Friedrichs des OroBen.
Und nicht nur aus politischer Klugheit, sondern auch
aus Mangel an (sozusagen) außeramtlicher, auBerpieufiischer
oder auBerdeutscher Empfindung berührten ihn auch die
schrecklichsten oder noch so wichtigen Ereignisse in
anderen Staaten nkht, wenn sie eben nicht mit Deutsch-
land's Politik oder Wohlfahrt zusammenhingen, und sein
Naturell und der Mangel an a'ner so einflussreichen prak-
tisch-philosophischen Bewegung wie zur Zeit Friedrichs,
unterstfitzten in dieser Beziehung sdne politische Nüchtern-
heit, oder, wie man es nannte, seine Realpolitik^^. Daß
aber nüchternste Realpolitik mit überstaatlichen Gesinnungen
vereinigt sein kann, bewies ja am besten Friedrich der
Große selbst.
Diese Bemerkungen, die dem Anscheine nach sich bloß
auf die Psychologie eines bestimmten Staatsmannes be-
ziehen, erstrecken sich aber auch ins Aiigemeine. Und da
muß es denn }j:esagt werden, daß die junkerlich-preußische
Natur Bismarcks, die sich in jener Gieichgiltigkeit für die
allgemeine Kultur offenbarte, und die er sogar mit Osten-
tation als die allein richtige bezeichnete, daß dieses Beispiel
eines genialen Mannes sehr viel dazu beitrug, die Oesittuno^
der Deutschen, selbst in deren gebildetsten Schichten, auf
ein weit tieferes Niveau herabzudrücken, als sie durch den
Einfluss der französischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts
bereits erreicht hatten.
AAit Recht sagt Sybel, der preußische Historiker^ in
seiner »Geschichte der Revolutionszeitc von diesen
Schriftstdiem und von deren Jahrhundert selbst:
12*
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— 180 -
»Man hat eine Zeit lang die Aufklärung des 18. Jahr-
hunderts zum Teil in ihren wertlosesten Ausläufern Ober-
schätzt; man ist jetzt nur zu geneigt, ihr weltgeschichtliches
Verdienst zu übersehen, weil es das Gemeingut aller und
der Boden unseres Zustandes geworden ist . . . . Weder
das klassische noch das christliche Altertum, weder das
Mittelalter noch die Reformation nahm einen Anstoß an den
flfgsten Greueln der Kri^führung, an den Qualen einer
grausamen Kriminaljusti^ an einer Vernichtung der politi*
sehen O^iner, gegen welche die Schrecken unserer Revo-
lutionen Kinderspiel sind. Der Gedankt daB das Leben
des einzelnen Menschen fOr die Anderen etwas bedeute^
Ist erst durch das vorige Jahrhundert eine tätige Kraft ge-
worden.« *)
Aber gerade die französischen Philosophen des 18. Jahr-
hunderts, namentlich insofern sie politische und staatsrecht-
liche Fragen behandelten, mußten einem stets konkret und
aktuell vorgehenden Manne wie Bismarck als seichte
Schwätzer vorkommen; dabei übersah er jedoch infolge ihrer
abstrakten und dilettantenhaften Art, die F*robleme zu be-
handeln, deren hohen sittlichen Kern. Und Bismarck selbst
ist es, wie auch vielen anderen praktisch genialen Staats-
männern, mit diesen sittlichen Tendenzen gerade so er-
gangen, wie — nach H eine's schöner Bemerkung — Sancho
Pansa mit dem scheinbar närrischen Idealisten Don Quixoie,
er half zuletzt doch das mit ausführen, was jener im Kopfe
hatte. —
Hat Friedrich der Große es Voltaire und dessen Geistes-
genossen zu danken, daß er überhaupt eine Rolle in der
europaischen Zivilisationsgeschichte spielt, so verdankt er
speziell Voltaire auch Anregungen und Untersttitzung bei
so manchen wichtigen Reformen in der preufiischen Ver-
waltung und Gerichtsverfassung, wie auch bei Abfassung
•) ZiUt nach Hettner.
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— 181 —
des Entwurfs zu den fortgeschrittensten Partieen des preußi-
schen Landrechts. Voltaire war es, der dem König Mate-
rialien betreffs der französischen Administration verschaffte.*)
Wie der König selbst über Voltaire's sogenannten »un-
heilvollen Einfluss« dachte, zeigt u. a. folgende Stelle aus
seinem Briefe vom 18. November 1777: *lch erwarte Ihr
belehrendes Werk über die Mißbräuche der GesetztT^ebung
und zwar mit Ungeduld, denn ich bin überzeugt, darin
Nützliches und Angenehmes zu finden. Es scheint, daß
Europa gegenwärtig im Zuge ist, sich Ober alle Gegenstände
aufzuklären, die am meisten auf das Wohl der Menschheit
Einfluß nehmen, und man wird Ihnen das Zeugnis geben,
daß Sie mehr als irgend einer Ihrer Zeitgenossen beigetragen
haben, die Menschen mit der Fackel der Philosophie auf-
zuklären
Und docfi geht die Undankbarkeit sogenannter patrio-
tischer preußischer Schriftsteller und Historiker so weit,
immer wieder von Voitaire's Frivolität, seinem Mangel an
Emst und von seinem unheilvoUen Einfluss am preußischen
Königshofe zu sprechen.
Eine andere Seite des VerhSltnisses zwischen Voitaire
und Friedrich betraf die Kriegsunternehmungen des
Königs.
Bei Besprechung dieses Veriiäitnisses zeigt StrauB aber-
nuds jene eigentOmliche Deutungsmethode und Ausdrucks^
wdse^ durdi die, wie bei Besprechung der Beziehungen
Voitaire's zu Lessing, auf jeden Fall der Deutsche als
der höhere Mensch erscheint
*) Ich glaiilK'. dieses Faktum der -Oeschichte Brnndenbunn« VOO
PreuB, resp. einer BesfU'echung dieses Werices in der M. AJlg. Ztg.
etitnommen zu haben.
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— 182 —
Die große Frage der Humanitfit, die bei Beurteilung
des Krieges flbeiiuiupt emportaucH erledigt der Verfasser
des Lebens Jesu in rein chauvinistischer Weise
»Voltaire war,« heißt es bei Strauß, »fflr den Frieden
um jeden Preis .... in diesen Friedensdemonstrationen ist
Volttfre der reine Schulmeister und durchaus platt Gewiß
ist der Krieg ein großes Obel und zu VoHalre's Gunsten
darf man nicht veigessen, daß er in der itilchsten Ver-
gangenheit meist nur mutwillige, aus Herrschsucht und
Übermut der Fürsten, namentlich Ludwigs XIV., hervor-
gegangene Kriege vor sich hatte. Aber Friedrichs Einfall in
Schlesien, wovon der siebenjährige Krieg nur die unver-
meidliche Folge war, gehörte in eine ganz andere Klasse.
Friedrich war dabei von dem Entwicklungsdrange des
jungen Staates p^etrieben, an dessen Spitze er soeben ge-
stellt worden war; tiefer gefaßt, von dem Entwicklungs-
drange der deutschen Nation, die für sich einen anderen
Schwerpunkt suchte, als das undeutsch gewordene und
geistig unfrei gebliebene Österreich war.
Diese Ansicht ist wirklich geeignet, einen wahrlieits-
liebenden Menschen aus seiner Ruhe zu bringen; denn
es ist nicht zu ermessen, wie viel Unheil schon in der
Welt aus dieser Denkweise hervorgegangen ist und noch
immer hervorgeht Und hier haben wir wiederum, wie
schon Öfter in dieser Monographie^ einen Fall vor uns,
der Voltaire's wegen nur sehr wenig wichtig ist, aber
mit unwiderstehlicher Gewalt Entrüstung, Aufklärung und
Widerspruch provoziert. Es ist auch nicht Strauß aHein,
der hier gesprochen hat; noch sehr viele andere, z. B.
Tieitschk^ sprachen so und sprechen noch heute so,
und beweisen dadurch, wie alles Talent und Wissen
und alle etwaigen sonstigen Charaktervoizfige nicht davor
bewahren, entgegen aller Gerechtigkeit zu urteilen, wenn
man sich von Überhitzten Oefflhlen allein leiten läßt, und
wenn es auch selbst die schönsten und edelsten wiren.
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— 183 —
Man wird aber sofort 'sehen, daß durch eben diese zur Un*
gereditii^t fahrenden OeHIhle die intelligentesten Ödster
auch zu Verstößen gegen die einfachste Logik und gegen
das primitivste gesunde Denken gebracht werden.
Das sehen wir augenblicklich bei der StrauB*schen
Rechtfertigung von Friedrichs Kriegen mit einem sogenannten
»Entwicklungsdrang« des * jungen Staates . Erdachte
also gar nicht daran, daß man mit einem v Entwicklungs-
drang jede aggressive kriegerische Unternehmung be-
gründen und morah'sch rechtfertigen könnte, daß also die
Situation Friedrichs von keiner andern Raubkriegssituation
prinzipiell verschieden war.
Ein kleiner Staat, wie damals Preußen einer war, kann
ja immer sa^en — anstatt: »Ich will mein Gebiet durch
fremde Provinzen mittelst eines Raubkriegs vergrößern —
»Ich besitze den Drang, mich zu entwickeln«; und ein
bereits großer Staat, z. B. das Frankreich Ludwigs XIV. oder
das heutige Rußland, kann wiederum sagen: Ich bin zwar
schon groß, aber mein Diang geht dahin, mich noch weiter
zu entwickeln.«
Alle kriegslustigen Feldherm oder Fürsten der Welt-
geschichte wollen einen solchen Entwicklungsdrang ihres
Landes bemerkt haben, oder genauer gesprochen: sie hatten
einen soldatischen oder politischen Entwicklungsdrang, den
sie^ in ehriicher oder unehriicher Weise^ als Entwicklungs-
drang ihres Staates oder Volkes auszugeben wußten.
Und überdies: Wer hatte denn eigentlich diesen Ent-
wicMungsdrang^ den Strau6 dem »jungen Staate« zuschreibt?
^ Jung nennt ihn Strauß nur offenbar darum, wdl er noch
nicht so grofi war wie heute — An wem also bemerkte
StrauB diesen Drang? Lag dieser Drang in der Luft?
Oder hat sich etwa damals das preußische Volk oder ein
großer Teil desselben fflr die VeigröBentng Preußens be-
geistert? Oder gar Kriege gewflnscht, um der »deutschen
Nation« zur weiteren Entwicklung zu verhelfen? Von alledem
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- 184 —
war doch in der von Armut, harter Arbeit und absolutistischem
Druck niedergehaltenen Bevölkerung keine Spur vorhanden.
Seien wir ehrlich! Ein Entwicklungsdrang kann doch
nicht einem Begriffe, sei es Staat, sei es Nation, sondern
nur lebendigen Menschen zugesprochen werden — ausge-
nommen: man acceptiert die foppende metaphysisch-logische
Hegel*sche Methode, Oedanken über die Dinge den Dingen
selbst zu 8Ut>stituieren und abstmkten Begriffen Leben zu-
zuschreiben.
Nur eine einzige Person war da, an der jener »Cnt*
Wicklungsdrang« bemerkt werden konnte^ und das war:
Friedrich II. König von Preußen! Und eben diese eine
Person gestand, interessanter Weise ganz offen, — was
Strauß und seine Gesinnungsgenossen nicht eingestehen
wollen — daii der Einfall in Schlesien, also implicite der
ganze Krieg mit seinen Folgekriegen, aus Ehrgeiz unter-
nommen wurde. Und da doch Friedrich das Motiv seiner
Kriege besser kennen mußte, als Strauß und alle anderen
preußisch-deutschen Patrioten, so müssen wir wohl dem
König von Preußen viel mehr glauben, als jedem anderen.
In der Epistel über das Ungefähr. An meine Schwester«
sagt er: »Entflammt, voll Dünkel, brannt' ich da — noch
denk ich es — den Helden nachzustreben, die mein Herz
verehrt«
Und in der »Geschichte meiner Zeit« spricht Friedrich
an sehr vielen Stellen immer von neuem davon, wie sehr
ihn die Ruhmbegierde zum Einfall in Schlesien getrieben
hatte.*) Auch in einem Briefe an seinen Freund Jordan,
geschrieben im Feldlager in Schlesien, sagt er: »Meine
Jugend, das Feuer der Leidenschaften, das Ver-
langen nach Ruhm, ja, um Dir nichts zu verbeigen, selbst
*) ich ließ tnich's die Mühe nicht verdrießen, diese Stellen in
den Humilassenen Werken Friedrichs Ii., Königs von Prenßen (Berlin,
Voß & Sohn. 17S8\ aufzusudien ; sie stehen snf den Seiten 99, 102,
105, 106, 107, 110 des 1. Bandes.
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— 185 —
die Neugierde^ mit einem Worte, ein geheimer Instinkt, hat
mich der Sfissigkeit der Ruhe, welche ich kostete, entrissen
und die Genugtuung, meinen Namen in den
Zeitungen und dereinst In der Geschichte zu
lesen, hat mich verffihrt«
Hat Strauß alle diese Gcstäiidnisse Fricdrich's nicht
gekannt? Wenn nicht, so wäre das kein geringer Mangel
bei einem Historiker, der über Friedrich 's Kriege und deren
Motive schreibt. Hat er sie aber gekannt, so ist der ge-
schichtsphilosophische Bombast von dem >Entwickiungs-
drang des jungen Staates^ zugleich eine nicht zu recht-
fertigende Unehrlichkeit.
Strauß ignoriert mit seiner Darstellung des Kriegsmotivs
ebensowohl, was für Unglück ein jeder Krieg an und für
sich ist, als auch die Völkerrechtsfrage beim Einbruch in
Schlesien, indem er an Stelle des Völkerrechts einen >Cnt*
wicktungsdrang« in die Sache hindneslounotiert
Al>er selbst die allerechtesten preußischen Patrioten
bezweifeln — zum mindesten — da6 damals das Recht auf
Seite Friedrichs war. Hat doch sogar Bismarck einmal
gelegentlich der Denkmalsfrage für Hdne sich in diesem
Sinne deutlich genug geäußert »Man klagt den Dichter
an, daß er von HohenzoHems Aar gesagt, es möchten ihm
die Nägel beschnitten werden, da er so viel zusammenge*
rafft hatte«, sagte Rottenburg, der Chef der Reichskanzlei,
zum Kanzler. Darauf meinte Bismarck: »Hat denn Heine
so unrecht gehabt? Können wir leugnen, daß der Rechtstitel
Friedrichs des CjroBen auf Schlesien nicht einwandfrei war?«*)
Das Material, das Strauß zu Gebote stand, um die
wahren Motive zu Friedrichs schlesischem Krieg kennen zu
lernen, war so reich, daß man nicht genug darüber erstaunen
kann, daß er es so ganz unberücksichtigt ließ. Friedrich
*) Nach Mitteilungen über Oespräche mit Rottenburg in der N.
Fr. Prent vom 4. September 1904.
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— 180 —
selbst sagte: »Die Reclitsfrage ist Saclie der Minister»
die Befehle an die Truppen sind gegeben.« Das
heißt doch deutlich genug sagen: Ich appelliere an die Ge-
walt, die Rechtsfrage kOmmert mich nicht
Bei der Nachricht von dem Tode des letzten minnKchen
Habsbuigers sagte er zu seinem sofort zusaitimenberufenen
Rate: »Ich gebe Euch ein Problem zu lösen; wenn man im
Vorteil ist, soll man sich dessen zu Nutzen machen
oder nicht?«
Von einem Drang des jungen Staates war also keine
Rede, sondern nur vom Ehrgeiz eines jungen Königs.
Und da hatte der philosophische und immer human gesinnte
Voltaire, der zudem seinen königlichen Freund und Schüler
vollständig durchschaute, also doch ganz recht, ihm seine
»Menschenschlächterei« abzuraten. Wenn man aber, wie
StraulJ, solche Ratschläge platte Schulmeisterei nennt, so
fällt dieselbe Bezeichnung auf alle Vorkämpfer für das Aut-
hören der Kriege überhaupt, Immanuel Kant inbeprriffen. —
Bei der Gefährlichkeit, die in den oben zitierten wenigen
Worten von David StrauB liegt, eine Gefährlichkeit, die man
bei Betrachtung der politischen und nationalen Fanatismen
der ganzen neueren Zeit tief genug empfindet, ist es mir
nicht möglich, meine Kritik dieser Worte hier schon zu
schliefen Ich muf^ sie unbedingt weiter fortsetzen.
Ist schon die Substitution des preußischen Staates an
Steile des preußischen Königs Friedrich II. eine sonderbare
Entgleisung eines denkenden Mannes, wie David Strauß,
zu nennen, so ist die Fortführung dieser Substitutions-
methode bis zur Heranziehung der »deutschen Nation
als ein Taschenspidertoinststadc ersten Ranges zu be-
zeichnen.
Die Vorträge über Voltaire hielt Strauß, wie ich glaube^
während des letzten deutsch-französischen Krieges, jeden-
falls aber vor einer deutschen Prinzessin. Es ist daher
kaum zu zweifeln, dad die patriotische oder besser natio-
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— 187 —
nalistische Stimmung ihn, wie viele andere Publizisten, zu
der ganz und gar anti historischen unwahren Auffassung
verleitete, alle Taten Preußens, resp. seiner Souveraine, als
aus dem Gesichtspunkt der deutschen Nation unternomment
anzusehen und darzustellen.
Die Freude darüber, daß sich die Dinge so entwickelt
haben, daß also das stark gewordene Preußen die deutsche
Einheit herstellen half, ja sie erst ermöglichte, wird man ja
Niemandem vorwerfen oder verdenken wollen.*) Aber hier
handelt es sich um eine fälschliche Rückdatierung, um die
Ehrlichkeit der historischen Berichterstattung und was damit
zusammenhängt; und, was fiberdies noch viel wichtiger ist,
um die Korruption des politischen Denkens, die durch jene
Strau6'sche^ fibrigens sehr verbreitete Auffassung; hervor-
gerufen wird.
Darum sei es allen Jenen, die die historischen Vorig^Uige
nicht im Detail verfolgen, gesagt, daß es den Tatsachen
vollkommen widerspricht, die politischen Unternehmungen
der preußischen Souveräne (wie auch der maßgebenden
preußischen Junkerpartei) als, der Absicht nach, deutsche
Unternehmungen hinzustellen; wenn sich auch im Laufe der
Zeit die Dinge in diesem Sinne, aber ohne Vorherwissen
und Vorherwollen der Unternehmer, entwickeHen. Der große
Kurfürst nahm vom Erbfeinde Deutschlands, nämlich von
Ludwig XiV., Subsidien und schloß mit ihm eine Defensiv-
allianz, wie preußische Hofhistoriographen vielleicht mit
Recht sagen, wegen der treulosen Politik Österreichs.«
Der jüngste Geschichtsschreiber über den großen Kurfürsten,
Philippson, der die Schwächen und Irrtümer desselben
sehr liebevoll und schonend bespricht, sagt aber doch in
Mißbilligung jenes Bündnisses mit Frankreich: Niemand
habe sich tiefer vor Frankreich gedemütigt, niemand Deutsch-
*) Ohne den Sieg, der zur deutschen Einheit führte, hätten wir
heute auf dem eoropittdicii Kontinent wieder die Inquisitiott tmd aUti,
was dazu gebort
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- 188 —
lands Ehre und Unabhingigkeit mehr preisgegeben als
damals Kurfürst Friedrich Wilhebn von ßrandenbui^g. Er
habe dadurch nicht b1o8 alle übrigen Eroberungen Frank-
reichs auf deutschem Boden gewShrieistet, sondern auch
Strassbucg ausgelieleri Und das sei auch mit dem Gegen-
sätze zum Kaiserhofe in Wien, mit der Eifersucht und
Missgunst der Reichsffirsten, mit der Ohnmacht der Reichs^
stflnde nicht zu entschuldigen.»
Der König Friedrich Wilhelm I., Friedrich des Großen
Vater, hatte bei allen seinen Maßregeln nie an eine »deutsche
NatioTiv gedacht, er kannte nur sein Preußen und art)eitete
dafür; und um ein Stückchen Land (im Bergischen) garantiert
zu erhalten, ging er ebenfalls einen Vertrag mit Frank-
reich ein.
Friedrich der Große — der, in einem Memoire an
Voltaire, ausdrücklich Frankreich als den Erbfeind Deutschlands
bezeichnete — schloß sogar zweimal eine Allianz mit Frank-
reich, nämlich Re^en Österreich und ^e^en England; und
er hätte, noch mehr als alle seine Vorij;än^er, nur darüber
gelacht, wenn man ihm zugemutet hätte, irgend etwas
Deutschlands wegen ohne Nutzen für Preußen zu unter-
nehmen.
Auch der preuRisclie Hofhiston'ograph Koser in seinem
Werke König Friedrich der Große* gesteht, dali überhaupt
die Reichspolitik, mit der es der König von Preußen wagen
zu dürfen geglaubt hatte, eingegeben und beraten war durch
das preußische Interesse- .... »für Fried nch hatte nach
den Erfahrungen seiner ReichspoUtik von 1743 das wesent-
lichste Interesse dieFrag^ was nur das liebe heilige römische
Reich noch zusammenhalte »die ausschließlich
preußische Richtung der Politik Friedrich^s beginnt mit
dem Jahre 1744«, also sehr bald nach seinem Regierungs-
antritt
Und um der Vollständigkeit wegen von Voigängen
späterer Zeiten zu sprechen und dadurch zu zeigen, daß
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— 180 —
Strauß sich auch durch sie nicht belehren und davon abbringen
ließ, seine These von preußischen Ambitionen zu Gunsten
Deutschlands aufrecht zu halten, sei angefahrt, daß die
grandiose Proldamation von Kaiisch aus dem Jahre 1813^
welche das deutsche Volk zur Erhebung gegen Napoleon
aufrief^ dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. nur
mit großer Mühe abgerungen werden konnte. Und da wir
die so einflußreiche preußische Junkerpartei ebenfalls als
Ausdruck Seht preußischen Ödstes mit erwiUinen können,
so sei daran erinnert, daß sich jene Junker lieber dem Des-
potismus Napoleons, als der freihatlichen Oesefacgebung
Stein>Hardenbeigs unterwerfen wollten, Deutschlands Be-
freiung war ihnen also ganz und gar ^dchgiltig.*)
Und schließlich der wohl eMabuiteste Fall, aus dem
Jahre 1871: Als es sich in Versailles um die Form der
Einigung des siegreichen Deutschland und den Kaisertitel
handelte, sagte der preußische König Wilhelm, er »kümmere
sich kein Haar* um Deutschland, sondern nur um sein
Preußen, und er befürchtete nur, durch Annahme des Kaiser-
titeis an Macht und Ansehen in Preulkn einzubüßen.
Aus allem dem geht wohl zur Evidenz hervor, daß In
allen Bestrebungen der preußischen Souveräne eben an Preußen
und nicht an Deutschland gedacht wurde. Das mag ein
richtiger praktischer Vorgang in Beziehung auf ihren eigenen
Staat gewesen sein, verdient also keinen Vorwurf, nur müssen
falsche Deutungen dieses Vorgangs, wie Strauß und andere
sie geben, vermieden werden.
Nun betrachten wir aber auch noch, in welchem Ver-
hältnis die außerbrandenhurgischen. und später außerpreußi-
schen Deutschen zu Brandenburg- Preußen standen, ob sie
wirklich dessen Souveräne als Vorkämpfer der Deutschen
ansahen, wie man das nach Strauß (und Trdtschke) ver-
muten könnte.
*) Sie wiesen Stein-Hardenberss Reionnen mit den Worten zurück;
Stein wollte mit seteen Edikten ans t>iCB0en einen »Jiideailaat« madien.
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— 190 —
Zorn und Neid trafen das trotzige Glied (Brandenburg
unter dem großen Kurfürsten), das sich neben das Reich
stellte, sagt — Treitschice selbst in seiner Deutschen
Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts«. Und weiter:
»Leibnitz, der begeisterte Reichspatriot, erwies in beredter
Denkschrift, wie der Brandenburger von seinen Mitständen
gedemütigt werden müsse -Auch die Nation sah
mit Abscheu und Besorgnis auf den Staat der Hohen-
zollem« »So oft der unruhige Staat mit einiger Kühnheit
sich hervorwagte, erklang durchs deutsche Land der Jammer-
ruf über den immer tiefer ins Reich dringenden brandenburgi-
sehen Dominat« »jene kleinen Fürsten in Schwaben
und am Rhein, die in Preußen ihren furchtbaren Gegner
sahen« »Auch der Bürgersmann wollte sich zu dem
preußischen Wesen kein Herz fassen« usw.
Nach diesem scheint überhaupt niemand — auSer einigen
modernen Historiicem und Publizisten — in dem preußischen
»Entwicidungsdrang« einen deutschen Drang erblidd zu
haben. Winckelmann schimpfte auf Preußen, Lessing spricht
nach Trdtschlce's eigener Ausdracksweise; »von den
Preußen zuweilen wie von einem halbfremden Volke.« Und
der urdeutsche alte E. M. Arndt »erhob in den Tagen der
Fremdherrschalt nach Jena«, — wie Koser mitteilt (»König
Friedrich der Orofie^ II Seite 060) seine Iddenschaftlichen
Anklagen« gegen — Friedrich den Großen; gegen jenen '
>undeut8chen« König, den »Fianzen-Affen«, den »Feind und
Zerstörer der deutschen Verfassung, dessen Grösse Deutsch-
land zum Verderben und dessen Gedächtnis Deutschland
zum Fluch geworden sei.«
Viele Historiker und Literaten meinen noch immer, die
Taten Friedrichs des Großen hätten erst dem nationalen
Leben Inhalt gegeben, welche Ansicht wohl zuerst Goethe
in »Wahrheit und Dichtung« aussprach. Allein aucli das
wird bestritten. Der ausgezeichnete Nationaiökonom und
Historiker Gothein, obwohl von Geburt ein Altpreuße^
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— 191 —
sagt über die Meinung, diese erhöhte Freude am Dasein
lube e^entlich unsere (die deutsche) Kultur geboren: »Nun
freilich, der Knabe Ooethe hat sich für Friedrich am Fami-
Uentisch begdstert — 20 Jahra frflher wflrde er es für Prinz
Eugen getan haben — und Lessing hat, weil er mit KOnstler-
aiigcn Kri^gsgetflmmel und Friedensschluß mit ansah, die
JMinna geschrieben. — Damit dürfte der Einfluß Preußens
auf unsere Oeistesheroen erschöpft sein. Denn die Annahme^
daß der kategorische Imperativ des Kosmopoliten iCant aus
seiner preußischen Staatsgesinnung hervorgegangen sei,
scheint mir zu gewagt.
Dagegen ist unbestritten» daß die bedeutendsten Dlditer
und Denker unter den geborenen Preußen sich in schärfste
Opposition mit der Oesinnung ihres heimischen Staatswesens
gesetzt haben: Klopstock, Winckelmann, Herder. Dem
Staate Friedrichs daraus einen Vorwurf zu machen, würde
freilich ebenso töricht sein, wie ihm das Hauptverdienst an
der deutschen Kulturentwicklung zuzuschreiben. < *)
Vergebens suchen wir also Deutschtum, wir finden über-
all nur Preußentum:**) wie gesagt, ohne Tadel, nur der
Wahrheit wegen, heben wir das hervor, und weil Unwahrheit
in diesen Dingen sehr schlimme Folgen haben kann, nämlich
Menschen und Völker zu täuschen und sie in Kriege hin-
einzufoppen.
Niclit unterdrucken möchten wir aber auch eine nicht
wenig heiter stimmende Bemerkung Treitschke's. Die preußi-
schen Souveräne» das preußische Volk, die anderen Deut-
•) Aus der Abhandlung «Die Aufgaben der Kulturgeschichte^.
♦♦) Die Gerechtigkeit erheischt es zu sagen, dass es auch einen
ehrlichen Historiker in dieser Frage gibt und noch dazu einen köni^I.
preußischen Hofhistoriographcn, nämlich Reinhold Knser Er sagt in
sdnem Werke über FriMiich den Großen: »Nicht ein großes nationales
ZnkunftsbiM im Auge, nicht als be w nB te r Trigger einer deutschen Mission,
sondern inimer von brandcnbiir^iscli-prcunischen Gesichtspunkten aus-
gehend, hatten gleichwohl die Hohenzollem mit jeder ihrer Erwerbungen
nicht bloß dem eigenen Vorteile, sondern auch der gemeinen Sache, oem
Voricae Denlschlands gedient« (II. Bd. S. M2.)
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192 —
sehen hatten, wie wir sahen, von einem deutschen Drange
in den preußischen Kriegen nichts bemerid, nun soll aber
sogar, nach Treitschlce^ in Friedrichs Soldaten das Deutsch-
tum gearbeitet haben!
»Das Heer, das Friedrichs letzte Schlachten schlug, war
national,« sagt Treitschke in seiner »Deutschen Geschichte«.
Wieso national? wird man fragen. »Die Wert>ungen im
Auslande,« antwortet Treitschke^ »veri>oten sich von selber
in der Not der Zeit«. Es ist aber doch allgemdn bekannt^
was das fOr Leute waren, die Friedrichs Weriietrommd
folgten, sie waren nicht deutsch, nicht einmal preußisch ge*
shint, denn sie waren fiberhaupt gar nicht »gesinnt«; und
was hier sonst noch zu sagen wäre, möge aus Mitleid mit
jenen armen Teufeln verschwiegen werden.*) Und nach
allem diesem soll man Strauil glauben, die deutsche Nation«
habe zur Schlacht bei Mollwitz gedrängt? tinen etwa un-
bewußten Drang der Deutschen, der in dem Ehrgeiz
Friedrichs sozusagen Fleisch geworden wäre, mögen viel-
leicht Adepten einer aufs Politische zielenden Philosophie
des Unbewußten voraussetzen, wir anderen halten uns an
die Tatsachen, die etwas ganz anderes besagen. —
Die Unwahrhaftigkeit, die in den systematischen Be-
schönigungen, Verschönerungen, ja Verdrehungen bei Be-
urteilung politischer Vorgänge liegt, und noch mehr der
dabei mitunter auftretende Zynismus, sind ein nicht gering-
fügiger Faktor in der Heranbildung einer korrupten Art,
Taten und Meinungen zu beurteilen. Fast immer liegt jener
Unwahrhaftigkeit und jenem Zynismus ein Servilismus vor
mächtigen Personen oder gegenüber Massengefühlen zugrunde.
Es scheint mir sehr nützlich zu sein, auf einige Beispiele
hinzuweisen, damit man auch für andere Fälle erkenne,
wessen man sich in dieser Beziehung von b^abten, in
*) Wer sich einigennafien orientieren will, der lese die betrefien-
den Partien in Oviliv Freytag's »Neue Bilder aus der deutodien Vci^
fsngeolieit«.
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— 193 —
mancher anderen Art achtungswerten Schriftstellern zu ver-
sehen hat, und damit man ihnen unaufhöriich auf die Pinger,
die ihre Federn iüiiren, sehe und nach Möglichkeit auch ge-
hörig auf sie klopfe.
Mit dem Beispiele von Strauß haben wir oben be-
gonnen.
Eine ganze Kategorie solcher Unwahrhaftigkeiten und
Ungerechtigkeiten finden wir ferner bei sehr vielen deutschen
Historikern, wenn sie, ihr Urteil in den nationalistischen
Dienst stellend, von den Zeiten der Völkerwanderung
sprechen. Der Einbruch der Oermanen in das römische
Reich wird nicht so wie jeder andere Einbruch anderer
Völker auff^efaßt — obwohl man docfi weil), daß z. B. die
arabischen Eroberer geg'eniiber den unterworfenen Völkern
viel milder waren, als die Germanen gegenüber den er-
oberten Teilen des römischen Reiches — sondern man
spricht von dem »Expansionsdrang eines jugendlichen
Volksstammes , andere sprechen von »der Germanen
unverbrauchter Kraft«, Treitschke von einem »überschwellen-
den Tatendrang der deutschen Nationc, Chamberlain von
ihrer »kraftstrotzenden Hand«.
DaB dies jeder, jeder Volksstamm, jeder kriegerische
Staat von sich sagen könnte, daran denken alle jene Publi-
zisten nicht Nach ihren schönen Worten mfißte man sich
wohl unter den gemuuiischen Horden eigentlich nur eine
größere Ansammlung von lauter edlen, liebenswflidigen
Siegfrieden vorstdien, die von niemandem etwas haben
wollten, was er nicht freiwillig herschenken wfirde^ und
schfichtem errötend in das römische Reich eintraten, nur
um nachzusehen, was es dort neues g9b^ und um zu
fragen, ob sie sich mit ihren klüftigen Ldbem nicht als
lahrende Artisten produzieren dürften — während alle anderen
Wandervölker stets nur als Haufen und Horden von »Bar-
baren« anzusehen wären.
Mit schönen Worten läfit sich vieles erreichen!
Popper, Voltafa«. 13
L/iyiii^ü<j by Google
— IQ4 —
Als die europäischen Mächte im Jahre 1900 China über-
fielen und, gemäß einer Bezeichnung Turgot's gelegentlich
der Teilung Polens, als >Co Briganten'^ dort mit ihren
Armeen hausten, nannte man diese UnttTnehmung »Schutz
vor der gelben Gefahr- und ^Wahrung der heiligsten
Oüter.^ Solche Wendunq^en in der Bezeichnung der Dinge
wird wohl jeder nach obigem Muster in zahlloser Menge
finden können, wenn er die neuere Geschichtsschreibung —
auch die des Tages — verfolgt. —
Ich möchte aber, da wir von Friedrich dem GroMen
und Preußen zu sprechen hatten, noch einiges Hierher-
gehörige vorbringen, das den meisten Lesern sonst wohl un-
bekannt bliebe. Da begegnen wir in erster Linie wiederum
Treitschke, der sich die Aufgabe gestellt hatte, alles
Preußische als deutscli und alles Deutsche als das Tugend-
hafte und Vollkommene hinzustellen. Er beginnt nun die
Beurteilung Friedrichs des Großen mit den Worten: »Der
springende Punkt in dieser mächtigen Natur bleibt doch die
erbarmungslos grausame deutsche Wahrhaftigkeit«
»Seine Staatskunst, 'wenngleich sie die kleinen Künste und
Listen des Zeitalters als Mittel zum Zweck nicht verschmäht,
trägt das Gepräge seines königlichen Freimuts^c
Nun ist es schwer einzusehen, wie »Kfinste und Listen«
zu iigend einer Wahrhaftigkeit» also auch zur deutschen,
passen sollen. Und die Sache wird auch dadurch nicht
»wahrhaftiger«, daß jene KOnste und Listen nur »Mittel
zum Zweck« waren, denn das ist ja immer so und nie
anders; der Listen als solcher wegen ist niemand listig, und
alle Kflnste in der Pölltik wie in irgend einer bdidrigen
privaten Unternehmung sind stets nur Mittel zu irgend
einem Zweck.
Wie es nun aber mit jener »deutschen Wahrtuftigkeit«
Friedrichs bestellt war, zdgt am besten der geradezu un-
Obertroffene schlechte Ruf, in dem er bei den Politikem
sebier Zeit stand Wir erfahren z. E von Treitschke sdbst:
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— 195 —
Sein L.eben lang ward er der treulosen Arglist [geziehen,
weil kein Vertrag und kein Bündnis ihn je vermochte« —
nun wird man die Worte erwarten: sie ehrlich zu halten;
aber ein wahrer Patriot von der Art Treitschke's drückt das
andersaus: »auf das Recht der freien Selbstbestimmung
zu verzichten!«
Nunmehr hat jeder, der sein Versprechen nicht halten
will, sein MSntelchen gefunden! Treitschice hängt es ihm
um, und er Icann nunmehr sagen: »Jch mag auf mein Recht
der freien Selbstt)estimmung nicht veizichten,« und sich auch
seiner »erbarmungslos« grausamen (eventueil: deutschen,
wenn er ein Deutscher ist) Wahrhaftigkeit« rflhmen.
Anders, und als viel weniger edel, als das Treitschke
tut, faßte man merkwürdigerweise in ganz Europa diese
Dinge aut. Alle Höfe Europas — bcriciitet Treitsctike selbst
— »sprachen grollend vom travailler pour le roi de
Prusse.« — Warum halten sie doch so wenig Zutrauen zu
Friedrichs Wahrhaftigkeit? Wahrscheinlich, weil sie ihnen
zu ^erbarmungslos und grausam war?
Hören wir den Historiker in seiner Wahrhaftigkeit
weiter an.
Da Kari VI. starb, ^ sagt Treitschke, »stand ihm fest,
daß dieser große Augenblick nicht verfliegen dürfte, ohne
dem preußischen Staate die volle Freiheit der Bewegung
zu schenken;« wie man aus den letzten Worten ersieht,
fängt die Geschichte an, sehr bedenidich zu werden, denn
^ volle Freiheit der Bewegung« erinnert gar sehr an das obige
»Recht der freien Selbstbestimmung«, — wenn man sein
Wort nicht hatten will. Und wirklich, unser Bedenken
war keine Täuschung, denn Treitschke fährt fort: »In über-
wältigendem Anstürme« — was heißen soll: Plötzlich
und ohne vorherige Kriegserklärung — »bricht er in Schlesien
ein und gab die Lehre« — Lehren gab er auch
noch? wird man fragen; Ja wohl! Er gab also die Lehre:
13*
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I
»daß die Rechte der Staaten nur durch die lebendige Macht
behauptet werden. »
Nun, das heiße ich mir einen zwar kostspieligen, aber
deutlichen und zu Gemüt sprechenden Anschauungsunter-
richt geben. Es ist zwar wahrscheinlich, daß Österreich
ein solcher Unterricht sehr unaufgefordert kam, allein offen-
bar konnte Friedrich in seiner Wahrhaftigkeit sich nicht
bezähmen, Maria Theresia wiehtige Wahrheiten mitzuteilen,
und zwar so eindringhch als möglich, und sollte sie auch
als Lehrgeld dafür die Provinz Schlesien bezahlen.
Indessen fühlte Treitschke doch, daß die Eroberung
Schlesiens ein widerrechtlicher Vorgang war, und so suchte
er sie moralisch und nationalistisch zu rechtfertigen: »Erst
die friedliche Arbeit der Verwaltung gab der Erobenms^
Schlesiens die sittliche Rechtfertigung und führte den Be-
weis, daß jenes vidgescholtene Wagnis eine deutsche Tat
gewesen!«
Wie viel Deutschtum in dieser Tat gewesen, haben
wir oben zur Genüge gesdien; w8re sie aber noch so rein
deutsch gewesen, so genügt doch das bloße Deutschtum
nichts um Unrecht zu Recht zu machen. Und was die
Rechtfertigung durch die Verwaltung betrifft, so herrscht
zwischen der Tat und der später erfolgenden »friedlichen
Verwaltung« ebenfolls kein moralischer Zusammenhangs aus-
genommen, die Schlesier hätten um diese Verwaltung vor
dem Kriege sehr dringend gdieten. Weiß tibrigens nicht
jeder, und besonders der Historiker Treitschke^ daß fast alle
Eroberungskriege nachg^flckter Besitzergreifung eine »fried-
liche Aibeit der Verwaltung« im Oefötge hatten? So ge-
schah es bei den Römern, so auch bei den Engländern und
allen anderen Völkern, wenn sie eben keine Nomaden
waren. —
Die Korruption der politischen Moral bei den Histo-
rikern und Publizisten hat nicht bei alien den gleichen
Grund.
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— 197 —
Bei Treitschke ist es der forcierte Nationalismus; in ihm
arbeitete ein eigentümlicher Fanatismus, der ihn blind fOr
Völkerrecht und Menschenrecht machte. Ist er es doch,
der das furchtbare Wort aussprach: Eine Statue des PhkUas
wiege alle Leiden der griechischen Sklaven auf» wofQr schon
seiner Zdt SchmoUer die richtige Bezeichnung: »herzloser
Zynismus« gebrauchte;
Einen anderen Orund für jene Korruptk>n mflssen wir
bei dem Historiker Johannes Malier voraussetzen. Er sagte
in seiner (von Ooethe flbersetzten) Rede auf Friedrich den
OroBen: »Spräche man vielleicht von der Verletzung
einiger Grundsätze des Völkerrechts; hier zeigt er sich uns
nur in dem Falles daß er dem Drange der Notwendigkeit
nachgab und die dnzige Gelegenheit, seine Macht zu grflndcn,
benutzte.«
Das ist wohl eine sehr milde Behandlung. Noch merk-
würdiger aber ist das, was Müller über Friedrichs Unzu-
verlässigkeit und Vertragsbruch sagt:
»Machte er aufmerksam, wie wenig Sicherheit ein
Pergament verleihe, so lehrt er uns zugleich desto besser
kennen, was einem Staate wahrhaft Gewähr leiste.«
Also ähnlich Treitschke's Theorie von der > lebendigen
AAacht« der Staaten. Treitschke wie Muller erkennen also
überhaupt kein Recht an, sondern nur Gewalt.
Wie kam aber der Schweizer Johannes Müller zu jener
Theorie, derzufolge Friedrich der Große beinahe noch An-
spruch auf unser aller Dankbarkeit hätte, weil er uns ^auf-
merksam machte*, und durch seinen Einbruch in Schlesien
— über den Wert eines Pergamentes belehrte? Welche
Theorie sich auch sehr gut im Privatrecht anwenden ließe,
so daß jemand, der z. B. eine eiserne Kasse erbricht, sich
damit rechtfertigen könnte: Er habe uns nur aufmerksam
machen wollen, wie wenig Sicherheit eine eiserne Kasse
verleihe!
Ich glaube^ bei MüUer war es zum Teile die SchwJkJie
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I
eines Höflings — obwohl er ein freier Schweizer war — oder,
wenn man will, eines auf seinen Qehalt angewiesenen Beamten,
denn er war Historiograph des Hohenzollemschen Hauses;
und zum anderen Teile wohl auch seine Vorliebe für heroische
Taten, nach deren rechtlicher Grundlage er vielleicht nur
wenig fragle. Man sieht das aus seinem ganzen Verhalten
unter Napoleon, dem, als dem größeren Genie, zuliebe er
sogar seinen früheren Helden Friedrich den Großen herab-
setzte.
Die Art der Fieurteilung Friedrichs ist aber so charak-
teristisch für den moralisch-politischen Charakter des Be-
urteilers, daß wir nicht umhin können, noch einen Mann
anzuhören, der von Religion und von moralischem Rigorismus
förmlich triefte, wie wir das oben bei seiner Kritik Voltaire's
sahen; ich mdne nämlich den schnaubenden Tatenenthusiasten
Carlyle
In seiner »Geschichte Friedrich II. von Preußen, genannt
Friedrich der Oiofie«, bespricht er, wie natüriich, das Ver-
halten Friedrichs nach dem Tode Karls VI. »Kein Billig-
denkender kann es dem jugendlichen Manne verargen, daß
er die flammende Gelegenheit dergestalt ergriff und dem
neuen Wahrzeichen folgte: Eine solche Gelegenheit zu er-
greifen und gewagt zu bestreiten, war die Rolle eines jugend-
lichen hochherzigen Königs, der weniger empßbiglich für
die Gefahren und zugänglicher fflr andere Erwägungen
war, als ein älterer gewesen sein wtlrd&c Wie man sieht,
genügt es Cariyle, einen Heklen agieren zu sehen, alles
andere, die Rechtsfragen dabei, sind ihm gänzlich gleichgiltig;
wenn nur etwas getan wird.
Und da Friedlich in sehier »Geschichte meiner Zeit«
davon spricht, er hätte »das Veriangen gehabt, sich einen
Namen zu machen«, welches Veriangen von so manchem
das Völkerrecht achtenden Manne sehr Obel genommen
wurde, so trat Carlyle für dieses Wort Friedrichs mit Be-
geisterung ein.
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— t9Q —
»„Wie gräßlich?*" rufen verschiedene Geschichtsschreiber
aus. »Welch aufrichtiges Eingestehen, daß ein solches Ver-
langen in Ulm r^e gewesen sein mochte: Wie ehrlichl
Das rufen sie nicht aus Was die Berechtigung
seiner schlesischen Ansprüche oder nur seinen eigenen Glauben
an deren Berechtigung angdif, so gewährt uns Friedlich
nicht das geringste Licht, das den Lesern neu sein Ic6nnte.
Er spricht, wenn das Geschäft es mit sich bringt von
jenen seinen belcannten Anrechten'» und zwar mit der Miene
eines Mannes» der erwarte^ daß man ihm auf sein Wort
glaube; aber es geschieht fifichtig und nur im Oeschäftswege,
und er läßt sich nicht auf das mindeste Piadieren ein: —
Ein Mann, möchte man sagen, dem es ziemlich gldchgiitig
ist, was wir davon tuüten, dessen Augenmerk bloß auf das
Praktische gerichtet ist«
Also mit der »Jugendlichkeit« und dem »bloß auf das
Praktische« — d. h. den eigenen Vorteil — gerichteten
»Augenmerk« erledigt Carlyle eine Völkerrechtsfrage; und
Friedrichs ehrliches Eingeständnis des »Verlangens, sich
einen Namen zu machen^ versöhnt ihn nicht nur mit allem
anderen, sondern bringt ihn sogar zur Rührung über den
gar so ^ehrlichen« Mann. Bei Carlyle ist überhaupt - und
nicht nur in Friedrichs Fall — jede noch so brutale Tat
gerechtfertigt, sie muß nur mit Tüchtigkeit, mit Saclikenntnis
ausgeführt werden, und wenn ein Räuberhauptmann seine
Mordtaten noch dazu aufrichtig eingesteht, d. h. sich der-
selben nicht schämt, so wollte ihn Carlyle auch sehr gern
umarmen.
Die Ermordung aller Einwohner des eroberten Saragossa,
die sich nicht zum Chrisfentume bekehren wollten, durch
Kari den Groben findet er ganz in der Ordnung^. Die
Sklaverei in den nordamerikanischen Südstaaten verteidigte
er, den russischen Despotismus nicht minder, über die fran-
zösische Revolution und die Menschenrechte machte er sich
lustig» dalflr aber tadelte er Voltaire, weil er — nicht die
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Heiüe^keit des Schmerzes verstand, kein Miserere über
das menschliche Leben gesungen und seine Kampfschriften
verleugnet hatte! in der Tat ist es ein höchst betrübender
Anblick, bei unseren begabtesten, oft in gewissem Sinne
warm empfindenden Schriftstellem einen so großen Mangel
an RechtsgefflhI und an Menschenachtung zu finden.
In dem sehr populären Werice: »Neue Bilder« . . . von
Freytag wird in ziemlich gleicher Art wie von Strauß und
Treitschice über die Rechts- und Friedensfrage in der Politilc
rücksichtslos hinweggeschritten. »Wenig kümmerte ihn im
Grunde das Recht, welches er auf schleslsche Herzogtfimer
etwa noch hatte und durch seine Federn vor Europa zu er-
weisen suchte. Die Politiker der despotischen Staaten des
17. und 18. Jahrhunderts soigten darum ülieriiaupt nicht, c
In dieser Weise schreitet Freytag filier einen Raubkrieg
hlnw^, ohne den Leser auch nur im geringsten auf das
Unrecht dieser gewalttätigen Politik aufmetksam zu machen»
und nun muß hierbei bedenken, daß die Leser solcher
populären Bficher wie des Freytag* sehen doch zumeist ohne
selbständiges Urteil sind. Noch a^nlscher aber spricht
Freytag Ober die VeigrOBerung Preußens durch Westpreußen.
Er nennt das einen »neuen Erwerb«. Und die Rechtsfrage
eriedigt er in folgender Art: »Waren schon die Ansprüche
des Königs auf Sctilcsien zweifelhaft gewesen, so be-
durfte es jetzt den ganzen Scharfsinn seiner Beamten,
einige mühsame Rechte auf Teile des neuen Erwerbs aus-
zuschni ücken< — anstatt zu sagen: Da kein Recht vor-
handen war, strengte man sich an, durch advokatische
Künste den Schein eines solchen vorzuspiegeln. Und nun
verwendet Freytajnr wieder die bekannte Räuberphiiosophie
von den historischen Missionen« und politischen Auf-
gaben <, der wir ja noch heutigen Tages immerfort begegnen.
»Hundert Jahre, nachdem sein großer Ahnherr die Rhein-
festungen gegen Ludwig XIV. vergebens verteidigt hatte,
gab er den Deutschen wieder die ausdrückliche Mahnung,
üiyiiizeü by GoOgle
I
— 201 —
daß sie die Aufgabe haben, Gesetze, Bildung, Freiheit,
Kultur und Industrie in den Osten Europas hinein-
zutragen« usw.
Und solche Männer, wie Müller, Carlyle, Strauß,
Treitschke, Freytag, sind die Lehrer der Erwachsenen, und
besonders der Jugend, und Bildner ihrer Lebensauffassung!
Die ganze schlesische Angelegenheit Friedrichs des Großen
ist uns zwar heute eine gänzlich veraltete^ aber die Art der
Beurteilung derselben durch die Publizisten Ist es durchaus
nicht Mfliler's darauf bezügliche Schriften sind jetzt un-
gefiüir hundert Jahre alt, seither schrieb hierflber Cariyle im
Jahre 1899, Freytag in den GOer Jahren, Strauß Im Jahre
1672, Treitschke im Jahre 1879; und was sahen wir?
Bei allen das Fehlen jeder Spur von politischer
Moral, nichts als korrupte und korrumpierende Maxi-
men der Politik. Wie soll UnparteSichkeit, Rechtsgefühl,
Friedensliebe in die Oesinnungen der Menschen kommen, da
doch aus der Jugend, die solche Werice studiert, die Beamten,
Professoren, Publizisten und Staatsmänner hervorgehen?
Mit dem »nationalen Entwicklungsdrange« und mit
willkürlicher Zuerteilung historischer Missionen* arbeiten,
um Eroberungskriege zu rechtfertigen; gar nicht daran
denken, daß jede Nation und jeder Staat genau dieselben
Vorwände benutzen kann und daß auf diese Weise — statt
des ewigen Friedens — ein ewiger Krieg unausbleiblich ist
— beweist seitens solcher Schriftsteller einen solchen Man^^el
an Gesittung und an Verantwortlichkeitsgefühl, eine solche
Barbarei des politischen Denkens, daß man sich nicht genug
darüber wundern kann, warum gesittete Menschen diesen
Autoren nicht die deutlichsten Beweise ihrer Verachtung
zuteil werden lassen.
Allerdinors, dieser Gesitteten gibt es nur wenige! Und
das charakterisiert eben unsere Zustände. Alle Nationen des
europäischen Kontinents haben ihre brandstiftenden Natio-
nalitats-Philosophen und ihre Missions-Verleiher, die ihrem
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— 202 -
Volke immer prophetisch jene Mission von der XX'^eHge-
schichte oder der Religion oder von der Kultur zuteilen
lassen, die ihnen — genügende Vorteile bringt.
Was bedeutet das Unheil, das die Verfasser unzüchtiger
Werke, Schriften oder Bilder unter den Menschen anstiften,
gegenüber jenem, das durch das Einpfropfen der brutalen
Oewaltsgesinnungen mittelst schönklingender Emkleidungen
und scheinbarer Rechtfertigung in den Volksmassen bewirkt
wird? Wie kann man sich dann darüber wundem, wenn in
gewissen Phasen der Politik die schlummernde, sophistisch
versch(ynte Barbarei in so grossen Massen der Bevölkerung
plötzlkh hervoibricht, daß ehigeizige und chauvinistische
Politiker sich mit einem Anschein von Walulieit darauf be-
rufen IfGnnen, dieser oder jener Krieg sei populär!
Der Autor des obszönsten Buches ist, gegen solche
Verderber der friedlichen Neigungen in der menschlichen
Natur gehalten, ganz und gar fOr harmlos zu eridflren.
Wenn es sich um Voltaire handelt, können diese Herren:
Carlyle, Strauß u. a. nicht genug ängstUch Mficken seihen;
in der Politik aber, die ihnen paßt, verschlucken sie Kamele,
ist es zu verwundem, daß die Europier ffir die anderen
Kontinente heute genau dasselbe sind wie sdnetzeit die
Normannen für Europa? Allerdings mit dem Unterschiede,
daß die Normannen ihre Raubzüge ohne Tugendschwindel
ausführten, und unseren heutigen tugendheuchclndcn Nor-
mannen auch ihrer würdige Literaten zu Gebote stehen, die
mit idealistisch aussehenden Empfindungen, wie Religion,
Patriotismus oder Nationalität, ihre Raubzüge populär machen,
bevor sie ausgeführt werden, und rechtfertigen, nachdem sie
gelungen sind/)
*) Ein sehr belehrendes Detail aus dem Gebiete der parteHtdien
Gtschichfsdarstellung möchte ich hier noch dem Leser mittenen, der
keine Oelegenheit hat, es auf anderem Wege kennen zu lernen. M&n
wird daraus erkennen, mit welchem Zangefühl Dynasten behandelt
werden, wenn sie einem zu Gesichte stehen, und mit weldier tagend-
haften Entrüstung, wenn das Gegenteil der Fall ist:
üiyiiizeü by GoOgle
— 203 —
Wenn man die Kricgsuntemehmungen der Europier
gegen atiBereuropSische Vdlker betrachtet, nicht nur jene
in früheren Jahrhunderten, sondern auch die heute noch
stattfindenden, und andererseits daran denld, wie manche
Potentaten, Priester, Minister, Abgeordneten und Journalisten
— mit wenigen Ausnahmen — von Religion, Zivilisation,
Kultur-Missionen und dergleichen triefen, so pafit auf diese
ganze Sippschaft nichts besser als der variierte Ausruf
Hamlet's: »Schreibtafel her! Ich mu6 mir's niederschreiben,
da6 einer fromm sein kann und edelmütig scheinen, und
immer fromm sein kann und edelmütig schdnen, und doch
ein Schurke und ein Mörder sein!«
#
Wir knüpften diese (gewiß langatmigen) Auseinander-
setzungen an die Ratschläge, die Voltaire Friedrich immer
wieder gab, endlich den Menschenschlächtereten Einhalt zu
tun. Und in der Tat, wenn man so oft die Massenmorde
durch Napoleons Kriege hervorhebt, so ist nicht weniger
Anlaß, dasselbe bei Friedrich dem Großen zu tun. Der
Unterschied ist nur der, daß Friedrichs Schöpfung aufrecht
blieb. Wäre Napoleon auf dem Throne geblieben und be-
stflnde sein Staat heute noch, etwa in der Größe, die er
zur Zeit seiner weitesten Ausdehnung hatte, so wfirde es
überall wird von der Freveltat N.ipoleons pe?prochen — und
jjeder Schulknabe weiss von ihr — den Herzog von Enghien auf fremdem
Territorium festnehmen und nach Frankreich bringen uncTdort erschießen zu
lassen. Aber ich möchte wissen, ob es ir^nd iem.indem, der nicht speziell
preußische Geschichte studiert, bekannt ist, aati ein genau analoses
Verbrechen dem |;roBen Kurfürsten vorgeworferi werdeo
kann. Dieser h*eß nämlich den opponierenden Jnnker Christian Ludwig
Kalckstein, der sidi nach Polen flüchtete und von Warschau aus gegen
Friedrich Wilhelm mit großem Erfolge heizte, durch seinen dortigen
Gesandfen abfangen, in eine Decke verpacken, in einen NX'agcn
stecken^ über die preußische Grenze transportieren und (im November
1672) in Memel enthaupten. Wie konsequent wird über diese Affäre
gescBwiegen, wie selten wird de selbst «n gehörigen Platze erwihnti
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wohl bei den meisten Histonkern heissen: »Diese Massen-
morde waren notwendig , von der Geschichte vor^fe-
schriebens große Reiche können nur durch Blut zusammen*
gekittet werden , und dergleichen mehr.
Nun soll aber hier nicht unerwähnt bleiben, daß Voltaire
in der Kricjgs- und Friedensfrage einmal auch als Für-
sprecher des Krieges auftrat Und das tat er, als er
Friedrich aufforderte, die Türken zu bekriegen, um »das
Vateriand des Sophokles und des Aldbiades« zu befreien.
Voltaire riet also, wie man es heute ausdrückt, zu einem
»Kultur- und Befreiungskri^c.
Dieses große Thema, Aber welches ein Philanthrop wie
Voltaire seine Meinung aussprach, müssen wir zugleidi mit
dieser Meinung einer Betrachtung unterziehen. Wie steht
es also mit der Humanität in Voltaire's Vorschlag
mit Rücksicht auf seine Zeit? Und wie bezüglich der ethisch-
politischen Forderung, die wir an die als möglichst nahe
wünschenswerte — Zukunft stellen sollen?
In den Questions encyclop^diques liatte Voltaire seiner-
zeit aus allen Kräften gegen den Kri^ im Allgemeinen ge-
schrieben, und mit dem Vers: »Ich hasse alle Helden« und
einigen darauf folgenden auch spezieil auf Friedrich den
Großen sehr deutlich angespidi
Niemand vor Voltaire hat — meines Wissens wenigstens
— solchen Abscheu vor dem Krieg empfunden und in seinen
Schriften so oft zum Ausdruck gebracht, wie er. Auch in
dieser Beziehung steht er an der Spitze aller humanen Oe-
sinnungen und Bestrebungen der neueren Zeit.
Ganz besonders deutlich erscheint seine Empörung
Ober Kriegsgreuel und Kriegsrustungen überhaupt in seinen
gelegentlichen Bemerkunf^en zu den Unternehmungen Ludwig
XIV. Mitunter spricht Voltaire im Siede in so glänzendem
Stil von den Eroberungszügen dieses Königs, dass es auf
den ersten Anblick hin sogar unangenehm auffällt und man
leicht zu einer falschen Auffassung von Voltaire's Oesinnung
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verleitet wird. Aber an sehr vielen Stellen erscheint der
humane Philosoph doch p^ar zu deutlich, als daß ein solches
Mißverständnis Platz greifen könnte.
Nach auiien hin, sagt Voltaire im Si^Ie, war Frank-
reich nach der Schlacht bei den Dünen durch seinen Waffen-
nihm und durch den Zustand, in welchem die übrigen
Staaten sich befanden, mächtig und stark, im Innern aber
litt es: es war in finanzieller Hinsicht erschöpft Man be-
durfte des Friedens.
In den christlichen Monarchien haben die
Völker beinahe niemals ein Interesse an den Landes-
herren. Das siegende Volk hat niemals Vorteil von
der den Besiegten abgenommenen Beute: es be-
zahlt Alles, es leidet beim Glück seiner Waffen
wie beim Unglück, und der Friede ist ihm nach dem
größten Siege beinahe ebenso notwendige wie wenn die
Feinde seine Orenzplätze eingenommen hätten.«
Gelegentlich einer glänzenden Attaque des Prinzen
von Oranien auf die Armee des Marschalls von Luxemburg
sagt Voltaire: >Wenn das Blut ihrer Nebenmenschen
in den Augen der Ehrgeizigen irgend einen Wert
hätte, so würde der Prinz von Otanien dies Gefecht nicht
geliefert haben. Er wußte mit aller Bestimmtheit, daß der
Friede geschlossen war, er wußte überdies, daß dieser Friede
fflr sein Land von Vorteil war, und dennoch setzte er sehi
und mehrerer Tausend anderer Üben zu Beginn eines
allgemeinen Friedens aufs Spiel. — — Diese ebenso
unmenschliche wie grosse Tat, die damals mehr
bewundert als getadelt wurde, usw.«
An einer anderen Stelle im Si^e heißt es: »Schon
seit zwei Jahrhunderten ist es eine der Wirkungen der
menschlichen Erfindsamkcit und der menschlichen Wut, daß
die Verheerungen unserer Kriege sich nicht auf Europa
beschränken Die hidier, die wir durch List und
Gewalt zur Aufnahme unserer Niederlassungen genötigt^
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und die Rothaut«, deren Kontinent wir mit Blut be-
fleclct und ausgeplündert liaben, sehen uns fOr
Feinde der menschlichen Natur an, die aus den ent-
ferntesten Winkeln der Welt herbeieilen «
Und bezüglich der Bereitwilligkeit zu Kriegsrustungen
sagt der Verfasser des Siede, nachdem er die ungeheuren
Vorbereitungen zur Belagerung von Turin detailliert be-
schrieben: »Die Kosten dieses Gerätes der Zerstörung
würden sicherlich zur Gründung und Unterhaltung der
stärksten Kolonie hinreichen. Jede Belagerung einer
groi:ien Stadt erfordert diese ungeheuren Kosten,
und wenn es sich im eigenen Lande um den Wieder-
aufbau eines zerstörten Dorfes handelt» so wird er
verabsäumt.«
Genau so sprechen wir noch heute^ und müssen so
sprechen, weil diese Bemetkung heute noch d>enso aIctueU
ist wie zur Zeit Voltaire*s, —
Zum Zwecice at>er, ein unziviüsiertes Voile wie die Türicen
aus Europa hhiauszuwerfen, die Griechen, als Eiben oder
wenigstens Nachkommen einer grossen Vergangenheit, von
diesen »Barbaren« zu befreien und europäische Kultur
im Orient einzuführen, erschien Voltaire ein Krieg
als erlaubt, ja als eine edle Tat. Er spornte daher
Katharina II. in dieser Beziehung an, — obwohl sie das
aus ganz anderen Gründen von selbst anstrebte — wünschte
ihr in seinen Briefen Stambul, ja übersandte ihr (im Jahre
176Q) sogar das Projekt einer von ihm selbst erfundenen
Kriegsmaschine, sogenannte > assyrische Sichelwagen von
denen er sich im Kampfe mit den Türken Großes versprach.
Zu diesem Projekte fügte er an mehreren Steilen des be-
treffenden Einbegieituriß-sbriefes immer die Worte bei: Ich
bin nicht vom Metier der Mörder;- woraus ich schliel5e
daß er im Grunde seines Herzens doch fühlte, sich eines
solchen Projektes schämen zu müssen — wohi nicht
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vom kriegs technischen, sondern vom Standpunkte der Hu-
manität aus.
In seinem Zivilisationseifcr, der ihn schon die Teilung
Polens mit Freuden begrüssen heß, forderte er Friedrich den
Großen auf, sich mit der russischen Kaiserin gegen den
Oroßtürken zu verbinden, und auch Josef II. hätte er gerne
mittun (Tesehen. In diesem Falle waren also die Soldaten
Friedrichs nicht mehr »gedungene Räuber-, wie Voltaire
und die Enzyklopädisten die damaligen Heere nannten,
sondern Befreier; Voltaire dachte hier ähnlich wie die Fran-
zosen in den Rcvolutionskrici^en und unter Napoleon III.,
der — lind mit ihm mancher andere — sagte: »Wir sind
die einzige Nation, die für eine Idee kämpft<'.*)
Ich halte nun diesen Einfall Voltaires, ein so edles Ziel
er dabei im Sinne hatte, für die einzige ^Naivetät , die
mir in seinem ganzen Leben entgegengetreten ist;
aber unter Naivetat verstehe ich hier jenen auffallenden
Mangel an praktischer Menschenkenntnis, der bei edlen
Menschen mitunter in Momenten des Enthusiasmus fOr eine
große Idee zu Tage tritt, weil solche Menschen in der Fülle
ihres Gefühls sich gar nicht vorstellen können» daB der
andere nicht eben so fühlt wie sie.
Man denke sich doch: Ein König von Preufien, ein
Friedrich II. — mit all seiner Philosophie — soll als Volks-
befreier und Kulturicri^ger agieren!
Nun: Friedrich» als immer nüchteraer Politiker, war auch
In der Tat nicht entfernt gesonnen, wie er sich ausdrOckte^
den »politischen Don Quixote« zu spielen und niemand
wird ihm daraus einen Vorwurf machen — ; er behandelte
Voltaire's Aufforderung, nachdem er sie auch direkt mit den
Worten: »Kommt es mir zu, sie (die Griechen) zu befreien?c
zurtickgewiesen hatten mit nicht geringer Ironie, und hiezu
nutzte er eine formale Inkonsequenz Voltaire's aus.
*) Wobei hier davon abgesehen wird, dafi Napoleon !!I im Jahre
1859 nicht nur für eine Idee, sondern auch f&r einen tüchtigen Land-
gewina kimpftc
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»Während Sie die Kunst verschreien,« antwortet ihm
der Künil,^ die Sie in Ihren Werken die höllisclie nennen,
muntern Sie mich in zwanzij^ Briefen aut, daß ich bei den
Unruhen im Orient nicht müßig bleiben soll. Reimen Sie,
wenn Sie können, diese Widersprüche zusammen und seien
Sie so gütig, mir die Konkordanz zu schicken«. Und an
anderer Stelle scherzt er: ^ Haben Sie vergessen? Ich
habe ihren Artikel Kriep^ in denQuestions encydop^diques
mit Schaudern gelesen usw.
Wie man aber leicht sieht, warhierkein solcher Widerspruch
in Voltaire's Forderung gelegen, wie ihn Friedrich darin sah oder
zu sehen vorgab; denn Voltaire's Kampf gcgtu den Krieg
galt nur dem aus Ehrgeiz unternommenen, wie er sich ja
auch in seinen Erzählungen (z. B. Micromegas i oft genug
äber die Menschen lustig macht, die sich wegen einer Erd-
scholle herumschlagen. Hier aber wünschte Voltaire den
Krieg für Erweiterung des Gebietes der Zivilisation.
Friedrich benOtzte also entweder nur die Odegenhett»
den Schein eines Widerspruchs auszunutzen, um seine
gegenteilige politische Ansicht auch im literarischen Gebiete
zu rechtfertigen; oder er hielt Voltaire's Aufforderung in der
Tat für eine Inkonsequenz.
Ganz gewiß ist es aber, daß, wenn dn wesentlicher Vorteil
von einem Kriege g^gen die TQricen zu erwarten gewesen
wSr^ Friedrich sich weder von ligend einem Abscheu vor
fernerer Menschenschlflchterei, noch von iigend wdchen
Wflnschen oder Deduktionen aller Philosophen der Wdt
bitte bednfiussen und abhalten lassen, zu marschieren!
Nur mit sich selbst, d. h. mit sdnen dgenen Schriften
wollte er nicht gerne in Widerspruch erschdnen, und da schlug
er in dem betreffenden Falle den dn, nicht sdne Taten
zu unterlassen, sondern sdne frflheren Ansichten womög-
lich vergessen oder verschwinden zu machen. Nach dieser
JMethode setzte er z. B. alles daran, um, kaum König ge-
worden, den Druck des von ihm als Kronprinzen verbßten »An-
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timacchiavelli sofort zu sistieren; was ihm aber, wie bekannt,
trotz der Intervention Voltaire's, infolg^e einer Geldforderung
des Verlegers, der das Manuskript besaß, nicht gelungen ist. —
Durfte aber ein Menschenfreund wie Voltaire
überhaupt 7U einem Kulturkrieg raten?
Ich antworte: Bei allgemeinem Nichtvorhanden-
sein jedes Zwanges, Soldat /u sein und Kriegs-
dienste zu leisten, hätte er dazu raten dürfen. Heute,
wo allgemeine Wehrpflicht herrscht, wäre und ist ein jeder
Krieg, auch einer zu dem alleridealsten Zwecke, eine Barbarei
höchsten Ranges; nämlich ein Massenmord nicht nur aller
feindlichen, sondern auch aller jener eigenen Soldaten, die
nicht freiwillig in diesen Krieg hätten gehen wollen.
Nun gab es zu Friedrichs Zeit allerdings keine allgemeine
Wehrpflicht, sondern die Soldaten wurden geworben.
Aber wie ! Berücksichtigt man die damalige Art der Anwerbung,
so stellt sie sich weit mehr als dn Abfangen denn als frei-
willige Stellung dar, und die Brutalitflt, solche Soldaten bloß
als Kriegsmaschinen zu verwenden, die man sich mit Lisi
und Gewalt verschafft hat, nähert sich daher wieder der
heutigen, wo das Wehrgesetz die Gewalt des Staates Ober
Tod und Leben der Staatsbfiiger formalisiert hat, wie das
auch namentlich Rousseau in seinem Contrat social
verlangt.*)
Da aber Voltaire die Art der Soidatenwerbung nicht
zum Gegenstande seiner Kritik gemacht hatte, ja, meines
Wissens, fiberhaupt Niemand im 18. Jahrhundert die Rechte
des Individuums auf seine physische Integrität im
*) über die Vorsänge bei den Werbungen im 18. Jahrhundert kann
man sich sehr ^iit aus u. Freytags -Neue Bilder aus dem Leben des deutschen
Volkes Belehrung verschaffen und zwar aus dem Kapitel: »Aus der
Garnison«. Es heißt dort u A.: »Die Obersten und Werbeoffiziere
raubten und entführten einzige Söhne, welche frei sein sollten, Studenten
von der Universität In Kriegszeiten wurde eine förmliche Razzia an-
gestellt Im siel>eniährigen Kriege wurde von den Preufien in
Schlesien sogar auf die KnalMn der oberen Oymnaiialltlaasen ge-
fahndet « u. s. w.
Popper, Vo'.taii«. 14
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— 210 —
öffentlichen Recht einer moralisch-politischen Untersuchung
unterzog, so wurde von Voltaire wie von den anderen
Philosophen nur an die Verminderung oder Ab-
schaffung der Kriege selbst gedacht, wie das schon
früher besonders vom Abb4 St. Pierre geschaii — ; und
diese Betraclitun^ allein repräsentierte alles dasjenige, was
in jener Zeit von der Humanität der Souveräne oder der
Gesetzgebungen Oberhaupt verlangt wurde. Auch in unseren
Tagen ist man ja iiber diese Wendung der Frage nach dem
Fundamentalrechte der Staatsbürger noch nicht hinausge-
kommen.*)
Abgesehen davon, daß die Reseitif^ung der Krie^^e durch
Schiedsgerichtein Fällen von Ehren-^ und Lebensfragen
der Staaten kaum jemals, oder doch nur in fast unendlich
fernen Zelten zu erwarten ist, ist es auch ganz unrichtig,
jede Art von Krieg beseiti^ren zu wollen. Wenn allerem ein
nur freiwilliger Kriegsdienst vorhanden ist, so wären z. B>
manche Befreiungskriege wohl zu billigende und
höchst edle Unternehmungen, vorausgesetzt, das unter-
drückte Volk oder ein großer Teil desselben will sich von
fremden oder einheimischen UnterdrQckem befreien und ruft
auswärtige Hilfe herbei. NatOrlich setze ich hier voraus»
daß ein solcher Befreiungskrieg nicht ein bloßer Vorwand
zum Nutzen der auswärtigen Hilfsmacht sei, sondern daß
alles mit ehrlichen Dingen zugeht Fälle von gänzlicher und
tdlwetser Unehrlichkeit, von mehr oder weniger politischen
Intriguen werden allerdings ebenfalls vorkommen, derid
kann aber keine noch so durchdachte Institution verhüten;
wir müssen das so hinnehmen, wie so viele andere Ver-
brechen.
*) Während der Drucklegung finde ich, daß doch Jemand diese
Frage in dem von mir behandelten Sinne auffaßte, fn seinem Werke
»Die Entstehung lies modernen Frankreich- (III. Band, 1. Abteilung)
wendet sich nämlufi H Taine ebenfalls gegen das heutige System
der allgemeinen Wehrpflicht und vergleicht es io miBbilUgOldeni
Sinne mit der früheren Methode der Anwerbung.
üiyiiizeü by GoOglc
— 211 —
Aber selbst der friedliebendste Mann — ausgenommen
einen solchen, der nach der Bergpredigt dem Übel nicht
widerstreben« will — wird zugeben, daß z. B. der Befreiungs-
krieg, den die 1000 Freiwilligen unter Garibaldi im Jahre
1860 in Süditalien führten, gar nicht wegzuwünschen wäre.
Denn ohne diese Hilfe wäre das arme Volk von Neapel,
das von einer grausamen absolutistischen Dynastie und
einer ebensolchen Priesterschaft niedergedrückt war und
dessen edelste Männer in schrecklichen Kerkern schmachteten,
noch heute seine Bedrücker nicht los.
Es ist nun wohl g^anz gut möglich, daß die Menschen
mitunter durch unehrliche Mittel, durch Vortäuschungen,
Agitationen aller Art, nicht nur in solche Befreiungskriege,
sondern überhaupt in Kriege mit nur scheinbar edlen
Zielen hineingetrieben werden. Gegen solche Tatsachen,
die die Folge menschlicher Schlechtigkeit sind, läßt sich,
wie gesagt, nichts machen; und nur das Eine kann hierbei
zum (relativen) Tröste gereichen, daß jeder Kriegsdienst ein
freiwilliger sein muß. Wer sich also infolge irgend welcher
Agitationen und Überredungen zum Eintritt in das kämpfende
Heer entschließt, hat es eben nur seiner eigenen Urteilskraft
zuzuschreit>eii und niemand anderer kann und darf ilin so
bevormunden, daß er seine Cntschließungsfreilieit gewalt-
samer Weise einengt oder vernichtet
0^[en Agitationen der einen Art kann man nur wieder
Agitationen anderer, eventuell entgegengesetzter, Art in An-
wendung bringen, ohne daß man vorher wissen kann,
welche von ihnen jeden Einzelnen ausschlaggebend beehi-
flussen wird.
Aber ich setze voraus, daß jeder Mensch von Gesittung
die Abschaffung aller Kriege im allgemeinen wünsche und
sie nur in äußersten Fallen billigen werde; Wenn es nun
wohl auch solche Männer gibt, die genau das Gegenteil
tun und sogar OrOnde anführen, die die Beseitigung der
Kriege als Unglück erscheinen lassen sollen, so ist hier
14*
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— 212
nicht der Ort, auf ihre Ansichten cinziip^chen. Es gibt auch
schon hie und da ganz gute Widerl^ngen derselbeni
wenn auch, wie ich glaube^ sich noch manches andere gegen
sie sagen lieBe. — *)
Nur auf einen höchst wichtigen Umstand soll hier auf-
merksam gemacht werden, nSmlich darauf, dafi es fast
immer nur religiös veranlagte oder religiös ge-
sinnte Geister, oder auch sogenannte »Conser-
vative« sind, die den Krieg nicht beseitigt sehen
wollen; entsprechend der Oesinnung, auf die wir schon
oben bei dem frommen und konservativen Cato gelegent-
lich der Catilinarischen Vcrschwöriiiig hiiigewiesen haben.
Während der antichristliche, irreligiöse Friedrich der
Große, ob/war ein Krieger durch und durch, dennoch ein-
mal zu einem seiner französischen Freunde bei einer Revue
sa^e: 2 Was täte ich, wenn diese so Vielen nicht mehr den
Befehlen eines Einzigen folofen wollten? und meinte:
»Möchten meine Soldaten anfangen zu denken, so bliebe
keiner von ihnen im Heere!« Während ferner der irreligiöse
Voltaire^ wenigstens im allgemeinen, nicht aufhörte, gegen
Menschenschlächtereien zu wüten — schreibt der sehr fromme
Ulf ramontane Joseph de Malstre: »Wenn die Menschen-
seele infolge von Verwöhnungen ihre Elastizität verioren hat,
ungläubig wird, und in l-astem, welche mit einer Ober-
mäßigen Zivilisation Hand in Hand gehen, fault (!), dann
Icann sie nur durch Blut erneuert werden.«
In unseren Tagen sagte der religiösgesinnte und kon-
servative Moltke: »Der Krieg ist eine heilige göttliche
Institution, ist eines der hällgsten Gesetze der Wdt
unterhalt in den Menschen alle großen und edlen OefOhle
usw.;« von den unedlen OefOhlen und den Qualen der
Menschen bei Kriegen schweigt Moltke
*) Man sehe das Kapitd Aber die Wehniflidit in 'Recht zu
leben «
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— 213 —
Der klerikale Marquis de Vogu6 und der uttiamontane
Brünettere sprechen ebenfalls im Sinne de Malstre's.*)
So auch alle frommen preußischen Junker, klerikale
Adelige In Frankreich, alle Frommen in Rußland, ja letztere
bringen sogar eben jetzt, im russisch-japanischen Kri^e^ die
armen Bauern, die mit ihren Familien trostlos darüber sind,
nach Asien geschickt zu werden, zum Gehorsam, indem der
fromme Zar ihnen vom Pferde herab iigend dn eingerahmtes
Heiligenbild vorhält und sie damit »segnet«. Wenn man
daran denkt, so kann man in der Tat ausrufen: »Der
Menschheit ganzer Jammer faßt mich anl«
Der brutale Charakter konservativer Pärtden zdgte
sich, wie in so vielen andern entschddenden Situationen
der politischen Geschichte, in unseren Tagen auf's neue in
der Frage der Unabhäiip^igkeit Norwegens von Schweden.
Es ist doch eine evidente Folge der Achtun vor Menschen-
würde, daß, wenn eine Nation mit einer andern nicht in
politischer Verbindung sein will — und noch dazu, wenn
die ganze Nation es einstimmig verlangt — sie nicht mit
Gewalt zu einer solchen gezwungen werden darf. Ein Volk
ist ja kein privates Eigentumsobjekt, kein Grundstück und
keine Oeldh()rse, die irgend jemandem, z. B. einem andern
Staat angehört, und es kann sich ebenso gut von einer
etwa schon bestehenden Verbindung mit mindestens dem-
selben Recht lossagen, wie es gcfren eine Annexion durch
Waffengewalt protestieren und sich wehren kann.
Aber eine solche Achtung vor den Menschen kennen
Konservative nicht! Die erste Kammer, d. i. die Kammer
der Konservativen in Schweden erklärte sich nach der Unab-
hängigkeitserklärung Norwegens sofort für den Krieg gegen
dieses Land, obwohl der Ministerpräsident selbst sogenannte
»starke« Maßregeln, wie sie die Konservativen wünschten,
perhorreszierte» Die allermeisten, weniger frommen, Liberalen
*) Ich entnehme einige dieser Anführungen den Zitaten, die Tolstoi
in einer Broschüre gegen den Krieg» des Titels: «Besinnet Euoil« mitteflt
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I
— 214 —
und die irreligiösen Sozialisten Schwedens aber protestierten
entschieden g^scn jede Anwendung von Gewalt
Andererseits sind es fast lauter freigeistige
Schriftsteller, die die Barbarei des Krieges ab-
schaffen wollen.
Unter solche Schriftsteller ist auch Leo Tolstoi,
einer der edelsten Gegner des Kric^ies, zu zählen, obwohl
er nicht aufhört, seme moralischen Vorschriften und Lehren
mit den Worten: Religion, Gott, Besthnmung des Menschen,
Christentum usw. zu vermengen. Er vermengt sogar bei
seinen Definitionen der Religionen unaufhöriich das »All«
und die »in Zeit und Raum unendliche und darum uner*
grfindliche Welt« mit einem persönlichen Gott, dem
man »dienen« soll» wen es für den Menschen nur ein Mittel
der Befreiung gibt, »seinen Willen mit dem Willen Gottes
zu vereinigen« — aber ein »All« oder eine »unendliche Welt«
kann doch keinen Willen haben, und noch dazu einen so
gearteten, daß ein menschlicher Wille sich ihm akkunuiiüdieren
könnte!
Und woher Tolstoi überhaupt es weiß, daß ein Gott
existiert, dab er einen Willen besitzt, dal! der Mensch eine
»Bestimmung hat, die er begreifen soll, waiiii und wo
ihm diese Bestimmung von ^Gott« mitgeteilt wurde, und
daß selbst, wenn diese Bestimmung existiert, sie gerade
einen moralischen Charakter haben muß — das alles er-
fährt man nicht. Statt einfach die moralische Empfindung im
Menschen zu wecken, wie das Confucius mit so viel Erfolg
getan hat, verquickt er seine Ethik mit Transzenden/cn, die
ihm noch aus seiner Jugendzeit anhängen, und spricht zu
seinen Lesern, wie man zu Kindern und Bauern oder jungen
Mädchen vom »lieben Gott< und vom »Himmelvater«
spricht Für russische Verhältnisse mag diese Art zu
moralisieren sehr wirksam sein, bei Tolstois Ehrlichkeit ist
aber gar nicht daran zu zweifeln, daB er nicht aus Berechnung,
sondern aus wirklicher Überzeugung so schreibt. Daher ist
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— 215 —
für den intelligenten Leser die Lektüre seiner Schriften so
unangenehm und alle seine Betrachtungen, soweit sie nicht
bezüglich sozialer Übel stände polemischer und kritischer
Natur sind, erscheinen gegenstandslos, ich erlaube mir sogar
zu sagen: kindisch; der gebildete Westeuropäer empfängt
daher von allen seinen positiven Aigumentationen überhaupt
gar keinen ernsten Eindruck.
Unter die nichtreligiösen Schriitsteller ist Tolstoi aber
darum zu zfihlen» weil er mit seinen religiös klingenden
Worten nur eben moralische» aber keinerlei unmoralische
und keinerlei ausser-morallsche Vorschriften, namentlich
kdnerid Absurdität, veitiinde^ d. h.: er ist Ethiker, allerdings
mit eingesprengten religiösen Oewohnheits-Phrasen. Bei
einem de Maistre oder selbst einem Moltke steckt das
Religiöse unendlich tiefer und hat daher auch einen positiven,
nämlich konfessionellen, speziell christlichen Charakter.
Nun entsteht die Frage: Wie kommt es, daß religions-
freie Geister in der Kriegsfrage meist human und religiöse
zumeist inhuman sind? Es sind doch nicht alle jene Reli-
giösen von grausamer oder wenigstens harter Natur?
Der Orund Ist der: daß alle diese von den Begriffen
»Oott« und ^jenseitiges Leben« den Kopf so voll haben,
daß sie, wie balzende Auerhähne, nichts anderes mehr
sehen und hören; und für alles Unglück, das sie durch in-
humane Maßregeln über die Menschen herautbescliwören,
besitzen sie in ihrem Gewissen keine Regung. Sie denken
gar nicht daran, sich darauf zu besinnen, was sie da anstellen,
und kennen daher weder Reue, noch einen Trieb sich zu
korrigieren; denn sie sind von der Religion her gewohnt,
gegenüber einer auch nur moralisch aussehenden Maxime
menschliches Leid, ja menschliche Existenzen, für bedeu-
tungslos anzusehen.
Da der Soldat seine Gesundheit oder sein Leben hin-
gibt, also ein Opfer bringt und Opfer bringen im aligemeinen
eine Tugend ist, so genügt jenen Männern diese eine
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moralische Seite des Kriegsdienstes, die Menschen mit gutem
• Gewissen in den Krieg zu zwingen. Wofür das js^eschieht,
ob man das Recht hat, ein solches Opfer zu verlangen, wer
dieses Recht etwa hätte, ob Opfer von Menschen und die
dadurch erreichten Resultate einander wert sind, das alles
kümmert die Kriegszutreiber nicht. —
Die Freiwilligkeit des Kriegsdienstes ist nun die
Basis und Voraussetzung aller Reformen in diesem
Gebiete.*) Die gesetzlich festgestellte Freiwilligkeit ist aber
erst die hier notwenige ethisch-politische Institution.
Deren Verwirklichung vorausgesetzt, erhebt sich über
diesem mehr politischen Standpunkte des Individualrechts
jedes Staatsbfiigers die weitere rein moralische Frage:
Wann können wir den Krieg Oberhaupt vor unserem
Gewissen für gerechtfertigt halten?; d. h. prädser aus-
gedrOckt: Wann darf der, welcher freiwillig in einen Krieg
*) Pchnfs Rcali^icninfT dieser fundamentalen Reform ist es daher
nur nötig, einen solchen üesetzesvorschlag — sei es anfangs durch noch
SO wenige Vertreter — in die Parlamente einzubringen, und dann durch
fortgesetzte Agitation es dahin zu bringen, daß derselbe endlich einmal
auch durchdringt. Der Vorschlag von Leo Tolstoi und Oustav Herve:
ieder bei einer JWoMlisierung einberufene Reservist (oder nach Tolstoi:
jeder Wehrpflichtige) möge den Dienst verweigern, h:it trar keinen prak-
tischen Wert; denn das würde den Einzelnen nur den größten Strafen
aussetzen, ohne daB das angestrebte Ziel auch nur entfernt erreicht wird.
Die anderen Friedensbestrebungen jedoch, sie seien welctie immer,
können neben meinem Programm der gesetzlichen FeststeUung der Frei-
willigkeit sehr ^t fortbestehen, sie erleiden durch dieses gar keinen
Abbruch; das gilt z. B. von der Schiedsgerichtsbewegung, ebenso von
den Bestrebungen der Sozialdemokratie, intemationnTe Gesinnung zu
ropagieren und dem Arbciterstande (dem »Volk ) einen größeren Ein-
uB auf Kriegsbeschlüsse und die auswärt^ Politik zu sichenu
Allerdings sind diese beiden Arten von Friedensbestrebungen sehr
wenig geeignet, ihr Ziel mit Sicherheit zu erreichen, und sie werden
auch in Ewigkeit hierzu nicht geeignet sein. Sei es nun wie immer, so
steht doch fest, daR, wenn diese Aiiskunftsmittel heute noch oder in
ferner oder naher Zukuntt versagen, durch das Prinzip der Freiwilligkeit,
das wie eine Iteserve im Hintergrunde steht, die physische Integrität
jedes Individuums vor jedem fremden Eingriff mit voller Sicherheit ge-
wahrt erscheint und darauf kommt es bei dieser ganzen Frage in politischer
Beziehung alleni an.
Man sehe übrigens hierüber mein Recht zu leben und die Pflidit
zu sterben« sowie das »Fundament eines neuen Staatsrechts«.
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— 217 —
geht, oder derjenige, der zu einem Krie^ rät oder der ihn
beschließt, es vor sich moralisch verantworten, Leben und
Gesundheit von Menschen zu zerstören?
Antwort: Solche Fälle sind:
Notwehr, also Verteidigung gegen äußere Angriffe,
Femer: Befreiung Unterdrückter, die die Befreiung
wünschen. Sodann: Wirtschafts- resp. Handelskriege
gegen Staaten oder Völker; bei den heutigen sozial-
ökonomischen Zuständen aber nur dann, wenn ab-
solut kein anderer Ausweg zu finden ist, um einer rasch
zunehmenden Bevölkerung Platz zu verschaffen, oder wenn
die Ernährung der Bevölkerung^ aus welchem Grunde
immer, nicht mehr das Lebensminimum erreichen kann.
Solche Wirtschafts^ oder Handelskriege dürfen also
nicht so leichten Herzens unternommen werden, wie man
es bisher gewohnt ist. Nicht um ein Mehr oder Weniger
an Luxusartikeln darf es sich handeln; es muB ganz unbe-
streitbar festgestellt sein, daß im Staate Menschen
hungern mfissen, selbst nachdem die vorhandenen Wohl-
fahrtseinrichtungen ausgenutzt worden sind, und daB femer
auch neue Mittel z. B. Heranziehung der Besitzenden, um
den Ärmeren den Ankauf des Nöt^^en zu ermöglichen,
nichts halfen. Kurz: Eine ehrliche Untersuchung auf statis-
tischer Basis muß nachgewiesen haben, daß in der Tat in
keiner Weise das zum Leben Notwendig:e beschafft werden
kann; erst dann darf man sich cntscliliclkri, ein anderes
Volk mit Krieg zu überziehen, also Menschen zu vei gewaltigen,
zu berauben, ja zu töten; und zwar zu dem Zwecke, in der
Notwehr lieber andere zu verderben, als selbst zu ver-
derben. Dabei ist, wie schon oben vorausgeschickt wurde,
Freiwilligkeit des Kriegsdienstes angenommen.
Es gibt aber eine solche Gesellschaftsordnung, bei der
selbst in den angegebenen zwei Fällen ein Wirtschaits- oder
Handelskrieg (also auch ein Kolonialkrieg) nicht mehr
moralisch gerechtfertigt ist, weil er überflüssig wäre; nämlich:
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— 218 —
wenn eine bedingungslose und ausnahmslose Beteilij^ng aller
am Existenzminimum - bei Einführung einer allgemeinen
Nährpflicht - stattfindet, sodaß kein einziger Mensch das
notwendigste entbehrt, und wenn zugleich im Falle der zu
rapiden Vermehrung der Bevölkerung oder der Abnahme
der Lebensmittel jene Methode angewendet wird, die ich
bei Besprechung des Malthusproblems in dem Buche: »Das
Recht zu leben und die Pflicht zu sterben«*) mitgeteilt habe.
Wenn einmal diese unausweichliche, sozialökonomische
Institution, nach meiner Ansicht wohl die einfachste und
beste unter allen sozialistischen Einrichtungen, realisiert sein
wird, so stellt die ganze Bevölkerung dnes Staates bezüg*
Uch alles zum Leben wirklich Notwendigen eine einzige
groBe Familie dar; und diese Familie wird sich gewIB erst
dann entschlieBen wollen, Freiwillige zum Krieg aufzurufen,
wenn die Not trotz alier allgemeinen Einschränkung im
Konsum und in der Volksvermehrung — auf's Äußerste
gediehen wäre. Ein Fall, der nicht so leicht jemals wiridich
eintreten wird, wenn nkht große Elementarereignisse ihn
herlieifOhren.**)
;) Dritte Auflage 1903.
•*) Schon heute kann man alle Kolonialkriege und •Erwerbungen
Frankreichs als wirtschaftlich ungeredUfertigt und nur durch nationale
Eitelkeit und militärische Großmannssucht erklärlich finden. Denn
Frankreich ernährt sich selbst ohne alle Hilfe seiner Kolonien und seine
Bevölkerung nimmt vermöge der freiwilligen Vorbeugung oder Enthaltung
nicht zu. und vreil eben kein reales Bedürfnis vornanden ist, verstehen
es auch die Franzosen nidi^ zu kolonisieren; das Umgekehrte gilt für
das hent!<re England.
Jeder, der eben nfeht ef^nensfnnig an seiner einmal angenommenen
Theorie (wie z B. Schiedsgenchtsbeweg^ung, Kriegserklänmg bloß durch
das *Volk« und derj^H. mehr) hängt, sondern nur ans j^Toße Ziel der Ver-
hinderung von Krttgen im Auge behält, wird zugeben müssen, daß
dieses Ziel nicht rascher und sicherer erreicht weisen kann, als eben
durch die geset/lich festgestellte Freiwilligkeit des Kriegsdienstes.
Denn da kein zu A^ressionen bereiter Staatsmann (oder so gje-
stiinmtes Parlament oder Volk) im Vorhinein wissen kann, auf wieviel
Kriegsleute er oder sein eventueller Gegner wird rechnen kötmen, so
wird er sich liuien, diplomatische oder politisch-nationaie Intnguen zu
Angriffezwecken zu entwickeln. Heute abersehen wir ein unaufhörliches
Hin* und Hers|rielen von Plänen, Kniffen und Unterhandlungen, wobei
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FaBI man dies alles zusammen, so erscheint das Kriegs-
und Friedensprobtem im Sinne der politischen, sowie der
allgemeinen menschlichen Moral vollständig gelöst
Es war notwendig, hier, zur Steuer der Wahrheit
und Richtigstellung der Ansichten parteiischer Publizisten,
manches Herbe oder Ungünstige über Friedrich den Großen
zu sagen. Nichts davon widerspricht den Tatsachen, und
es dürfte wohl schwer sein, das von mir Gesagte zu wider-
legen.
Eine Erhebung von Friedrichs Charakter Ober jenen
Voltaire's, wie das Strauß und andere Deutsche verfechten,
— das sahen wir — ist ganz unmöglich. Viel eher ist das
Gegenteil begründet. Nunmehr aber wollen wir uns doch
auf ein höheres Niveau stellen und einen zusammenfassenden
Blick auf diese beiden außerordentlichen Minner und ihre
gegenseitigen Beziehungen werfea
Und da frage ich vor allem: Wozu den einen auf
Kosten des anderen erheben? Oder den einen dieser
Großen gegen den anderen ausspielen?
Im Jahre 1736 traten sich die Beiden näher, indem der
Kronprinz an den damals schon weltberühmten Schriftsteller
ein Schreiben voll Bewunderung richtete. Und sie vericehrten
miteinander, persönlich oder durch ihre Schriften, bis zu
Voltaires Tode;*) dieser Verkehr dauerte nicht weniger als
sc^ar rinsch einend friedensförderliche Schiedsgerichtsverträge bloß zur
l8olitTu:i|^; anderer Staaten mit benutzt werden ; und noch immer ist ein
krie^s]ii5ti^Lr Monardi oder Minister imstande, Kriege zu entfachen oder
wenigstens Kriegsbesor£[nisse zu erwecken. Bei meinem Programm wäre
ein solcher Monarch oder Minister nahezu ohnmächtig, er müßte schon
in außerordentlichem Grade seiner Siaatsburger sicher sein, wenn er
Krieg machen wollte, also einen sehr einleuchtenden Kricgsgrund vor-
legen können, wenn er zu Taten schreiten will.
*) Der letzte Brief Voitaire's an Friedrich ist aus Paris vom 1.
April 1778 datiert, am 30 Mal desselben jähret starb Voltaire. Friedrichs
letztes Schreiben an jenen datiert vom 17. Dewnibcr 1777. (Ich zitiere
nach der VoIlaire^Ausgabe von 1785.)
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— 220 —
42 Jahre. Eine Art geistiger Ehe mit allen Wechseifäiien
einer Ehe. Oder vielleicht wie zwei — in dieselben Ideen
und Ziele — Verliebte p:ingen sie miteinander; in den De-
tails des persönlichen Lebens bald voll Wärme und beinahe
ZSrdichkeit, bald schmollend, bald zankend, schimpfend, oft
aufeinander wfitend.
Sie spielten einander allerlei Streiche; Strdche, die ge-
mäß den Sitten des IS. Jahrhunderts eigentlich mehr als
Oaminerieen bezeichnet werden mfi6ten.*)
Angefangen hatten sie damit, einander die höchsten
Titel und Epitheta zu geben. Friedrich nannte Voltaire:
»Catull, Thucydides, mehr als Homer, Apollo auf dem
französischen PlamaB, der schönste Oeist der Welt« usw.
Voltaire nannte Friedrich: »Messias des Nordens, Salomon,
Trajan, Titus, Euere Humanitätc.
Es dauerte aber nicht gar lange, besonders seitdem sie in
Potsdam miteinander lebten, da war Friedrich fOr Voltaire:
»Mohamet, Tartuffe der Große (wegen seines schlesischen
Einbruchs, nachdem er doch den Antimacchiavell geschrieben
hatte), Dionys von Syracus.«
Und im Jahre 1753 schrieb Friedrich an d' Argens; Voltaire
ist der böseste Narr, den ich in meinem Leben kennen
lernte, er ist nur gut zum Lesen. Als Voltaire Potsdam
(in demselben Jahre) verließ, war der gegenseitige Abschied
eisig kalt; bald darauf schrieb Friedrich an seine Schwester
in Bayreuth: Man rädert viele, die es weniger verdienen
als Voltaire. Im Jahre 1761 spricht Friedrich in einem
Briefe an d' Argens von der Perversität seines Herzens«;
und an Voltaire selbst im Jahre 1759: Wenn Sie
keine Fehler hätten, würden Sie das übrige menschliche
Oeschlecht zu sehr erniedrigen <
Voltaire wiederum an d'Argental: »Man muß gestehen^
*) Psychologisch genommen, müssen auch die Charlatenerieen
eines Caghostro, Chevaher D^Eon, Grafen von Saint<Oennain und An-
derer alt systematisch betriebene Oaminerieen angesehen, werden.
üiyiiizeü by GoOgle
— 221 —
es ist schade, daß ein so philosophischer König, so gelehrt,
ein so guter General, dabei ein so perfider Freund ist, ein
undankbares Hltz, ein schlechter Verwandter, ein verab-
scheuungswürdiger Nachbar, ein untreuer Alliierter, ein
Mensch, der zum Unheil des menschlichen Geschlechts
geboren ist, der mit einem hinterhaltigen Geist über Moral
schreibt und mit einem brandigen Herzen handelt«
Aber sie versöhnten sich in den Hauptsachen doch
immer wieder, und wenn sie ihre gegen seitie^en Streiche
auch nicht vergalien, so hatte das auf ihren hohen geistigen
Verkehr doch nicht den geringsten Einfluß, ja auch nicht
auf ihre gegenseitige — wenn auch mit Äro-er eemi sehte
— Sympathie. Selbst jene (herrlich geschriebene) Schmäh-
schrift gep:en Friedrich: Memoires pour la vie de M.
Voltaire, ecrits par iui-meme, die VoHaire nach der Frankfurter
Affaire in seiner ersten Aufwallung niederschrieb, veröffent-
lichte er nicht, er glaubte sogar sie vernichtet zu haben
und ersetzte sie dann durch eine weniger heftige Schilderung
seiner Erfahrungen am Hofe Friedrichs«
Als Friedrich eine große Summe zu Pigalle's Statue
Voltaire's zeichnete und sie mit einem warmen Zustimmungs-
schreiben begleitete, vergaß Voltaire allen OroU; aber nicht
aus kleinlicher Eitdlcest, sondern — wie man es aus seinen
Äußerungen mit voller Sicherheit entnehmen kann — aus
Freude darüber, daß er diesem Akte entnehmen konnte»
wie wohlgesmnt ihm trotz alles Vorgefollenen Friedrich ge-
bfieben war. Es war ein rührendes Versöhnen nach einer
tüchtigen Zänkerei.
Und an Voltaire selbst schrieb der König: »Was auch
kommen mag, ich bin Ihr Zeitgenosse gewesen; ich habe
Voltaire gesehen, und wenn ich ihn nicht mehr sehc^ so
lese ich ihn» und er schreibt mir. c Voltaire und ich«» schreibt
er nach den Revuen von 1775^ »haben die ganze Fahrt
durch Schlesien gemacht und sind zusammen zurückge-
kommen.«
L/iyiii^ü<j by Google
— 222 —
Und wie benahm sich Friedrich nach Voltaire's Tod!
Es Ist wohl in der ganzen Weltgeschichte ohne Bei-
spiel — und nicht ohne die größte Rührung Icann man das
lesen — daß ein toanlcer, alter Krieger im Feldlager, nämlich
der preußische König im schneebedeclcten Gebirge von
Schatzlar, als er den Tod Voltaire's erfuhr, sofort mitten im
militärischen Getümmel und in der Fülle militärischer und
politischer Sorgen, die ücistesfreiheit und -Grölie bcsal5 und
in dieser Situation sich die Muße nahm, einen Nekrolog
auf einen Schriftsteller zu verfassen! Ich meine jene be-
rühmte »Lobrede auf Voltaire^, die Friedrich dann am 26. Sep-
tember 1778 in der Berliner Akademie der Wissenschaften
voriesen ließ. Das bedeutet ungleich mehr, als wenn z. B.
Napoleon in Moskau die Statuten des Theätre Fran<;ais ent-
wirft! Es war das ein Zug menschlicher Größe in Fried-
richs Wesen, dessen nur ein Alexander der Große oder ein
Julius Cäsar fähig gewesen wäre. Und heute? . . .
Ja das muß man sagen, so ging es eben im achtzehnten
Jahrhundert in den Pariser literarischen Kreisen und deren
Angehörigen zu!
Unter Lachen und Spotten, unter Zanken und Versöhnen,
bald mit den feinsten gesellschaftlichen J^anieren, t>ald mit
der Ungezogenheit eines Kindes oder der Ausgelassenheit
liederiicher Studenten und mit Oaminerieen,*) ohne finsteren
oder manischen Emst und frei von jeder religiösen Emp-
findung» gingen fast alle auf gro6e Ziele los oder interes-
sierten sich doch fflr sie auf das Lebhafteste; gesund oder
krank, ja selbst im Sterben begriffen, vergaßen sie ihre
Oberzeugungen nicht.
Als der Atheist und Materialist Lamettrie — bei allem
Oeist und wissenschattlichen Ernst ein üamin durch und
•) Ich unterscheide Oaminerie von Pohssonnerie. Jene ist frei
von böser Absicht« von Haß und von jeder Brutalität; letztere aber, ein
Charakteristikum unseres Zeitalters, besitzt alle diese Eigenschaften in
hervomgeiulein Mi6e.
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— 223 —
durch — im Sterben lag, drängte sich ein katholischer
Priester ins Krankenzimmer, um ihn zu bekehren. Lamettrie
wollte von alle dem nichts hören, was ihm der Priester sagte;
dieser aber blieb immer sitzen. Endlich rief der Sterbende
im argen Schmerz die Worte: Jesus Maria«: aus. Schnell
rief darauf der Priester: »Ah! vous voilä enfin retoiirne a ces
noms consolateurs! Aber Lamettrie entgegnete ihm: Mon
pere, ce n'est qu'une fa^n de parier« und einige Minuten
darauf starb er*)
Und wie haben die zwei Größten unter jenen allen ihr
ganzes Leben hindurch gearbeitet!
Wie waren Friedrich und Voltaire in jedem Augen-
blidcei man kann wirklich sagen: bei Tag und Nacht, in
Gesundheit und Krankheit, immer auf dem Posten; jener der
Pflichten gegen seinen Staat eingedenk, dieser der Bedürf-
*) Aus Nicolai'» »Anekdoten« nach Cariyles »Oesdiidite Friedrich II.«
erzählt.
Lamettrie's Schritlen finden in neuester Zeit immer mehr die ver-
diente Antrkennung. Die Gegner seiner materialistischen Anschauungen
suchen ihn seit jeher dadurch zu dei^radieren, daß f;i> wie ril-; Be>
weis höchster Gottlosigkeit oder Genieinheit -- mit sictnliciieni Behagen
immer wieder erzählen: Lamettrie starb an einer Indigestion. ^ Als ob
das für den Werteines Menschen oder einer philosophischen Anschauung
etwas beweisen würde und als ob noch kein frommer und idealistischer
Mann sich jemals den Magen verdoihen hStle. Ein Prager Kardinal-
Erzbischof, der Fürst Schwarzenberg z. B., stnrb (vor ungefähr 20
Jahren) an einer Indigestion durch Hummer-Mavonnaise, und der war
doch gewiß weder gottlos noch gemein. Selbst etn so ernster Historiker
wie Schlosser scheut sich nicht, von dieser IndipTstion Lamettries, die
er sich bei der Tafel des englischen Gesandten in Berlin zugezogen
hatte, zu sprechen; bloß um seiner Icrttisdien Demerinmff Ober Lamettrie's
Philosophie: Lamctdic habe V^oltaire's Witz und Anderer feinen Spott
in ein förmliches Svstem der Sitteniosigkeit und gottloser Sinnlichkeit
verwandelt, mehr Gewicht zu verleihen.
Schlosser hält nämlich, wie wir schon gelegentlich der «Pucelle«
hervorhoben, Mangel an Prüderie oder Heuchelei in geschlechtlichen
Dingen für — gottlos! Und die philosophischen Arbeiten Lamettrie 's
hat Schlosser onenbar nicht gekannt oder nicht zu würdigen verstanden;
sonst hätte er wissen müssen, daf^ sie weder mit Witz noch mit Spott
irgend etwas zu tun haben, sondern wie z. B. Thomrae machine, höchst
ernste Gegenstinde mit höchstem Emst behandeln. Das muß auch
dcrienif.re ziio;c<^tchen, der kein Materialist ist, aber entg^enstehende
Ansichten dennoch objektiv zu beurteilen versteht
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— 224 —
nisse seiner Freunde, Nachbarn und seiner Bauern in Femey;
beide aber stets eingedenk ihrer sich selbst ge-
setzten Aufgaben gegenüber der ganzen Menschheit
An dies allein muB man sich halten, wenn man diese
Zwei nach ihrer moralischen Bedeutung beurteilen will. Sie
waren, wie damals alle, mit Ausnahme Rousseaus, ohne
Schwärmerei und ohne Sinn für jede Art von Transcendenz,
aber sie besaßen Enthusiasmus für große all^eme ine Ideen
und Ziele und eine Kraft und Wärme bei Bewältigung iiirer
Aufgaben, die niemals übertroften, nur selten, z. B. von einem
Luther, erreicht wurde.
»Sich eine Aufgabe stellen , dieses schöne Wort
von Paul de Lagarde, das sieht man bei jenen Zweien im
höchsten Maße erfüllt.
Und ich habe auch das üefühl, daß bei jedem der
höhere Mensch überhaupt erst dann anfängt, wenn er sich
irgend eine Aufgabe zu nichtpersöniichen Zwecken stellt,
sei diese auch noch so unscheinbar. Eine solche Auf-
gabe mit Beharrlichkeit verfolgen, ist das Realste und zu-
gleich Idealste, das sich denken läßt; es erfüllt einen mit
Kraft gegen fast alles Untieil, - mit Ausnahme höchst
schmerzlicher Krankheiten — und sogar gegen den Oe-
danken, daß man sterben muß. So etwas meinte auch
Luther, wenn er sagte, ein Knecht oder eine Dienstmagd,
die ihren Dienst redlich versehen, seien verdienstvoller als
ein Mönch oder Heiliger. —
Es ist durchaus nicht eine Folge des Verstandes, seinen
Aufgaben mit solcher unverminderter Kraft, ohne Schonung
der eigenen Person, obzuliegen, wie wir das bei Friedrich
sehen; es gehört zu derlei ein ganz eigenes scheinbar trockenes,
aber in Wirklichkeit unverSnderHch warmes Oemtit, das ab-
solut nichts mit Sentimentalität zu tun ha^ sondern das gerade
Gegenteil davon repräsentiert.
Vielleicht wird es jedem, der die Geschichte Friedrichs
des Großen mit Emst näher studiert, so eigehen, wie es
üiyiiizeü by GoOglc
— 225 —
seit jeher mir erging: Ich finde bei keinem Manne der Ge-
schichte eine solche stärkende und wohltuende Empfindung,
wie bei ihm. An ihm wird man gewahr, was Beharrlich-
keit, Mut und Hartnäckigkeit bei Verfolgung einer Auf-
gabe imstande sind; wie es bei Goethe heißt: »Allen Ge-
walten zum Trutz sich erhalten.
Gewiß hat es glanzendurc und großartigere Gestalten
in der Weltgeschichte gegeben; auch war der Schauplatz
ihrer Taten ein weiterer und ihre Ziele umfassender, aber
kaum bei einem finden sich so viele Schwierigkeiten, Gegen-
kräfte, Feinde, Bedrängnisse von so langer Dauer wie in
Friedrichs Laufbahn. Dieses sein negatives — aber dennoch
höchst aktives — Heldentum basiert mehr auf Charakter-
stärke und speziell ethischer Kraft, als die positiven, aggres-
siven Heldentaten, die sogenannten Eroberungen, welche
mehr der geistigen Begabung zu verdanken sind; und das
ist eben der Orund, warum das Beispiel Friedrichs mehr
geeignet ist, moralisch zu erheben, als die Taten irgend eines
anderen grofien politischen Mannes.
Und die^ welthistorisch genommen, relative Oering-
fOgigkeit des von ihm beherrschten Territoriums beweis^
daß es bei solchen Beispielen für ihre stärkende und er-
zieherische Eigenschaft ganz irrelevant is^ wie groß die
Aufgabe ist, die man sich setzt, wenn man sich Oberhaupt
nur eine setzt und sich ihrer beharrlichen Durchfahrung
unterzieht.
Möge jeder darnach trachten, sich in sehiem Gebiete
irgend eine, nicht zu seinem persönlichen Vorteil dienende,
Aufgabe zu stellen und sie so unerl>ittlich und beharriich
als ihm möglich, zu verfolgen; er wird bald bemerken, daß
ihm eigentlich garnichts fehlt, er mag noch SO sehr
welcher Vorzüge immer entbehren.
Und die Befriedigung und Ruhe, die man auf diesem
Wege sich erobert, übertrifft bei weitem jene, die Ruhm
und erfülltes persönliches Streben überhaupt gewähren kann.
Popper. VoitaU«.
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— 226 —
Denn jene Befriedigung tritt nicht nur in den einzelnen
Momenten ein, die einem das Gelingen ehrgeiziger Bestre*
bungen durch äußerliche Anericennung beweisen, sondern
ist in jedem Augenbüclc vorhanden und umhüllt einen wie
mit einer behaglichen, warmen Atmosphäre. Auch tritt nie,
wie in dem andern Falle, eine Art Blasiertheit ein, die die
eigentliche Nichtigkeit alles Ruhmes und alles äußeren
Glanzes vor das Empfinden bringt. Wie ein anderer Mann
mit ebenfalls !:jrolkn Aufgaben, nämlich Bismarck, von dem
ehrgeizigen von Arnim, der gegen ihn wühlte, so schön
sagte: Er will nur Reichskanzler werden, und wenn er's
wäre, würde er einsehen und sagen: Das ist auch nichts!
— Dieses ^auch I Was sagt das alles!
Um sich eine Aufgabe zu selbstlosen Zwecken zu
stellen, ist es durchaus nicht notwendig daH das Thema
einer solchen Aufp^abe ein selbsts^ewalihes sei; es kann auch
ein vom Leben aufj^edrängtcs sein und die Art der Hinge-
bung, nämlich das Bestreben, ihm voll gerecht zu werden,
verwandelt gewissermaßen ein solches aufgezwungenes
Thema, ethisch betrachtet, in ein selbstf^e\s'ähltes.
Was man also aueh treibe, ob es sich um ein Thema
der Wissenschaft oder Kunst, oder um eine politische Tätig-
keit u. s. w. handelt, zu der man eben Lust hat, oder um
Ausfüllung irgend einer von andern abhängigen Stellung
— die mit Bewußtsein und steter Absicht geübte, möglichst
* strenge Pflichterfüllung genügt, um jenes Gefühl der
Selbstbefriedigung hmorzurufen, von dem hier die Rede ist
Es wird kaum genug gewürdigt und verstanden, wie
viel Großes in dieser Aufgabe steckt, schelnl>ar so prosaisch
und doch von so tiefer Bedeutung. Denn in der strengen,
sogar g^gen «ch selbst unerbittlichen Pflichterfüllung
im Grunde die Anerkennung der anderen Menschen als mit
uns selbst gleichartigen Existenzen, denen wir ja eben durch
die ErfOllung unserer Pflichten wohltun wollen, so gut
wie uns selbst Und indem dieses Oefflhl nicht von der
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— 227 -
Sympathie für diese andern Menschen abhänirt, rcsp. nicht
abhängen dart, während es bei der Liebe zu einzelnen sich
nur um solche Sympathie handelt, steht es eben zufolge seiner
Abstraktheit hoch über der Liebe zu irgend welchen
Menschen. Scheinbar gefühllos, ist also Pflichterfüllung in
seinem Wesen ein bedeutendes und starkes Oeföhl —
denn nicht aus Gründen des Verstandes erfüllt man seine
Pflicht.
Vielmehr liegt dem Pflichtgerühi dieselbe Empfindung
zugrunde, die uns bei den Soldaten desselben Heeres in
den Bedräni^nissen des Krieges entgegentritt: das Gefühl
der Kamera derie, die sich in strenger Unterordnung, Dis-
ziplin und steter Hilfsbereitschaft kund gibt, auch wenn
man die einzelnen Individuen gar nicht kennt. Es
schwebt eben in beiden Fällen die Unmasse von Uebeln und
Gefahren vor, denen alle ausgesetzt sind, und das gilt genau
so wie bei den Soldaten im Kriege^ auch bei dem Menschen
im gewöhnlichen Leben, gegenüber dem Unheil, mit dem
die Menschheit von ihr selbst und von der Natur bedrolit
und heimgesucht wird.
Die aus nicht egoistischen Orfinden vorhanden^ be-
wußte und beabsichtigte PfKchterfOUung dokumentiert daher
durch Ihre wohltltigen Wirkungen die Anericennung aller
Menschen als Einheiten einer Oesamthetti zu der wir sdbst
gehören, und diese Art der Anerkennung erstreckt sich —
schon darum, weil es in der Praxis des Wirkens gar nicht
anders geht — auch auf die weiteren Kreise der zu-
nächst Lebenden, mit denen wir gar nicht in direkter Be-
ziehung stehen, und vermöge der Fortwirkung alles Outen
(wie alles Oeschdiens Oberhaupt) auch auf alle zukünftigen
Oeschlediter, ohne daB es nötig ist, da6 man sich diese
Erweiterung der Folgen und Früchte seiner Tätigkeit immer
zum Bewußtsein bringt.
Und nunmehr sehen wir deutlich, daß der Ersatz des
Glaubens an persönliche Unstefblichkeit durch die Vor-
15*
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Stellung der Fortdauer der Menschheit als Gattung eine reelle
Empfindungsbasis besitzt» nicht nur fQr jene Individuen,
die mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit oder nur in ihrer
Einbildung als besonders begabte Individuen auf Nachruhm
rechnen» sondern auch fOr jenc^ selbst ganz Unbegabte^ die
nichts weiter tun, als daß sie ihre Pflicht so strenge als
möglich zu erfflüen trachten.
Jeder Tag, der mit irgend einer selbst philiströs aus-
sehenden Aufgabe ausgefüllt wird, ist eine Art metaphysischer
Betätigung; metaphysisch* insofern genannt, als sie eine
unbeweisbare Grundlage hat; aber nicht im schlechten Sinne
»metaphysisch , da es sich hier um kein sinnreiches Spiel
mit sowohl unbeweisbaren, als auch empfindungsleeren Be-
griffsarchitekturen handelt.
Die Sättigung mit dieser Empfindung für die ganze
Menschheit kann also jeder, der Befrabteste wie der Unbe-
begabteste, auf dem einfachen Wege der bewußten und be-
absichtigten Pflichterfülkmg gewinnen; und auf ein Mehr
oder Weniger der Bedeutung der Leistungen selbst, auf
grössere oder geringere Regabimg, Gelehrsamkeit und der-
gleichen kommt es hierbei t^ar nicht an.
Vergessen wir hier übrigens nicht, an den grolien
Nachdruck zu erinnern, mit dem Kant (in seiner Kritik der
praktischen Vernunft) das Erhabene des Pflichtbegriffes hin-
stellte.
Und ermangeln wir, der Vollständigkeit der Einsicht
wegen, auch nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß wir
in der »F^ichterfüllung« und in der »Stellung von selbstge-
wählten Autjgaben zu nichtpersönlichem Vorteil« wohl ein
Surrogat fQr die persönliche Fortdauer besitzen; daß aber
damit nicht entfernt ein Trost geboten wird fQr den Tod
anderer geliebter menschlicher Individuen. Darüber, daß
wir selbst sterben müssen, können wir uns, wie eben
auseinandeigesetzt wurde, so ziemlich trösten, und fQr die
Unsterblichkeit eine Art von Äquivalent gewinnen; aber für
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— 229 —
den Veriust geliebter Individuen durch deren Tod gibt es,
bisher wenigstens und nach meinem Wissen wenn man
sich nicht mit WilllcQriichlceiten oder Absurditäten abspeisen
lassen will kdneriei Ersatz und kdneiiei Trost —
Wenn bei dem Oedanken an Friedrich den Großen eine
solche Zuversicht in die Kraft des Menschen, ein solches
OefQhl der Befriedigung entsteht^ so liegt das also m'cht an
seinem Oenie^ sondern eben an seinem unerhörten Unter-
werfen unter seine Aufgabe. Mit ebensoviel Bewunderung
wie für seine genialsten Feldzüge und fflr sehien Oeist lese
ich solche Dinge bei ihm, die ich Charakterkraft-Oeschichten
nennen möchte.
So wenn er im jähre 1781 von den furchtbarsten Giclit-
schmerzen geplagt wurde und der Arzt iinn die Kaiirt zu den
Manövern in Westpreußen verbieten wollte, der beinahe
70jährige Friedrich aber darauf bestand und ihm sagte: Doktor,
er betreibt sein Geschäft, ich das ineinige, ich will bis zu
meinem letzten Moment meine Pflicht als König tun.«
Im Jahre 1785, d. i. in seinem 73. Jahre, litt er infolge von
Podagra ganz besonders g-roße Beschwerden.*) je kürzer
aber die ihm zugemessene Frist wurde, um so rastloser
spannte er seine Tätigkeit an. Sonst waren die Kabinets-
beamten früh um 6 oder 7 Uhr angetreten, jetzt bestellte er
sie bereits zu der vierten Morgenstunde. Mein Zustand , er-
öffnete er ihnen, zwingt mich, Ihnen diese Mühe zu machen,
die für Sie nicht lange dauern wird. Mein Leben ist auf der
Neige, die Zeit, die ich noch habe, muß ich benutzen, sie
gehört nicht mir, sondern dem Staate.«
Als nun im letzten Jahre seines Lebens, im Jahre 1786^
der berühmte Arzt und Schriftsteller Dr. Zimmermann aus
Hannover sich von Friedricti, der ihn konsultiert hatte, he-
urlaubte^ sagte ihm dieser» daB er ihn in Potsdam nicht
weiter aufhalten dflrfe, um die Kranken in Hannover nicht
*) Diese Oeschichten entnehme ich wörtlich Koser's Werk über
Fricdridi.
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linger Siztlicher Hilfe zu berauben; dann zog der Konig
seinen großen, weichen, abgetragenen Hut mit der vergilbten
Feder und neigte mit unbeschreiblicher Würde, Huld und
Freundlichkeit sein Haupt zum Scheidegruß: ^Ve^gessen
Sie den guten alten Mann nicht, den Sie hierge*
sehen haben.«
In dieser Situation möge man sich Friedrich den Großen
stets vor Augen haiten und diese Worte stets zu hören glau-
ben» denn sie sind» trotz allem und allem, wahr; er war wirk-
lich dn guter alter Mann. Dieser g^gen andere, aber noch
mehr gegen sich selbst uneibittlich harte Menschj wenn es
die öffentlichen Pflichten galt, weinte bei dem Tode seiner
Mutter und sagte von sich selbst in klagendem Tone^ er
habe zu viel Oeföhl, mehr als alle anderen. —
Wie viel mensdiliches Gefühl, wie viel Liebe er hatte,
ersieht man am besten aus dem Sdireiboi an D'Alembert,
in welchem er ihn Ober den Vertust des Fräuleins deTEspinasse
zu trösten suchte. Dieser große Gelehrte und Schriftsteller,
obwohl von kühlem Temperament, war doch nicht nur einer
der edelsten Charaktere, sondern auch ungemein weichniütig,
man künnte beinahe sagen wehleidig, sowohl in physischer
als in psychischer Beziehung.
Für Fräulein de TEspinasse empfand bekanntlich D'Alem-
bert die höchste Sympathie, vielleicht Liebe; im Jahre 1776
starb ihm diese unersetzliche Freundin und er konnte sich
kaum fassen. Da schrieb ihm Friedrich (am 7. September
desselben Jahres):
»Ihr Briet, mein lieber D'Alembert, wurde mir über-
geben, als ich von Schlesien zurückkehrte. Wie ich sehe, ist
ihr zartes Herz immer noch tief bekümmert, aber ich tadle
Sie darum nicht. Die Kräfte unserer Seele haben ihre Grenzen,
man darf nichts verlangen, was darüber hinausgeht
Die Natur wollte es, daß wir empfindsam seien und die
Philosophie wird uns niemals zur Unempfindlichkeit erziehen
können; und wenn sie es Icönnte^ wäre es der Oesellschalt
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— 231 —
nur schädlich, denn man hätte dann kein Mitgefühl für das
Unglflck der anderen und das menschliche Geschlecht wflrde
hart und erbarmungslos werden. Unsere Vernunft soll uns
vor allen Uebertrdbungen bewahren, aber nicht die Mensch-
lichkeit im Menschen zerstören. Bedauern Sie also Ihren
Verlust, mein Teuerer, ich fflge sogar hinzu, da0 der der
Freundschaft unersetzlich ist; und wer fähig ist, die Dinge
zu schätzen, muß Sie wahrer Freunde für würdig halten,
denn Sie wissen selbst, ein Freund zu sein.
Da es den Menschen, und selbst den Oöttem unmög-
lich ist, das Vergangene zu ändern, so mfissen Sie daran
denken, sich den Freunden, die Ihnen geblieben sind, zu
erhalten, um ihnen nteht jenen tödlichen Kummer zu bereiten,
wie Sie selbst ihn soeben empfinden.
Ich hatte Freunde und Freundinnen; ich verlor
davon fünf oder sechs und glaubte vor Schiiicrz
vergehen zu müssen. Der Zufall wollte es, daß ich diese
Verluste während der verschiedenen Kriege erlitt, die mich
zu unaufhorücher Tätigkeit zwangen, und diese sowie die
anderen unvermeidlichen Zerstreuungen bewahrten mich
davor, dem Schmerze zu unterliegen .... Ich freute mich
früher meinetwegen, Sie bei mir zu sehen, jetzt freue ich mich
darauf auch für Sie, denn Sie werden andere üegenslände
und andere Personen zu sehen bekommen. Ich werde alles
mögliche tun, alle trüben Erinnerunp^en von Ihnen zu ver-
scheuchen, und ich werde mich ebenso sehr freuen, Sie zu
beruhigen, als wenn ich eine Schlacht ^^ewcmnen hatte
Alles das, was Friedrich hier sagt, muii man auf s Wort
glauben, denn wenn je ein Mensch ohne Heuchelei, ja ohne
Pose war, so war er es; in der Politik voll von Ränken und
Gewalttaten, war er im Umgang mit Freunden und in allen
seinen Aeufierungen ihnen gegenüber von höchster Wahr-
haftigkeit
Und war seine Güte auch nicht so leicht erkennbar und
gewissermaßen von der Härte unbeugsamen und nie nach-
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lassenden Pflichtgefühls, sowie von der Schroffheit seiner
(auf Erfahrung beruhenden) Menschen Verachtung überdeckt
wenn man tiefer blickt, so muß man doch sagen: Es
war ein guter alter Mann, der seinen abgetragenen Hut vor
seinem Arzte zog, sich vor jhm würdevoll neigte und Ab-
schied von ihm nahm. —
Und nun sein Oesinnungsgenosse!
Welche vulkanische Tätigkeit sein ganzes, so langes
Leben hindurch, und ganz besonders während der letzten
zwanzig Jahre seines Daseins! Hatte Friedrich seinen sieben-
jährigen» so hatte Voltaire seinen zwanzigjährigen, ja, genau
genommen, sdnen sechzigjährigen Kri^;^ Indem er unaus-
gesetzte Eneigie und unerschöpflichen Oeist bewies, um
IQrche und Parlamente anzugrdfen; achtzehn bis zwanzig
Stunden trotz immerwährender Kribiklichkeit täglich aibeitete,
oR dem Tode nahe; häufig des Nachts durch eine Idee er-
weckt, mit dem Stocke auf den Fußboden schlagend, um
sdnen Sekretär Wagni^ der unten schlief, heraufzunifen
und Ihm sofort emen Essay zu diktieren; der Prozesse fGr
von f^affen und Rkhtem Verfolgte führte^ die ihm so viel
Zeit, Mühe und Oetd kosteten und durch die fortwähren-
den Aufregungen seine Gesundheit untergruben.
Voltaire wie Friedrich, sie machten einen so unofeheuren
Lärm in der Welt! Waren mit Unzähligen in immerwährendem
Krieg, und auch Beide gegeneinander sehr oft in nicht sehr
friedlicher Stimmunj^^. Dennoch schieden sie als Kameraden
auf dem großen geistigen Schlaclitfelde, versöhnt und einig;
und nun ruhen sie beide, der eine von seinen vielen kleineren
Kriegen und seinem großen siebenjähric^en, der andere von
seinem sechzigjährigen Kriege aus ; still sind sie geworden, aber
Ihr Kriegsgeschrei hallt noch heute nach, und nur von ihren
*) Man kann mit gutem Oninde sagen: sechzigiahrig, denn schon
im lahK 1722, noch bevor er sehte Reise nach EngUmd antrat, publi*
zierte er seine nntichristliche »Epistel an Uiania«, und zwar unter dem
Titel: »Le Pour et Contre«.
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— 233 —
Leibern können wir sagen: > Der große Cäsar, tot und Lehm
geworden, verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.€
• *
Die Gerechtigkeit bei Beurteilung; eines Charak-
ters verlangt es bei aller Anerkennung seiner Vor-
züge, mit Sorgfalt und Objektivität auch das her-
vorzuheben, was uns an ihm als Fehler, als tadelns-
wert erscheint Der Zweck hierbei kann natürlich nicht
der sein, der Natur, die diesen Menschen so und nicht
anders hervorgebracht hat, zu kritisieren und ihr gewisser-
maßen Vorwürfe darüber zu machen, daß sie jenes
Individuum nicht genau nach unserem Oeschmad» — der
noch dazu von Mensch zu Mensch ein anderer ist — ge-
schaffen hat Sondern nur darum Icann es sich handeln,
ein bedeutendes Individuum genau und möglichst vollständig
kennen zu lernen, was gewöhnlich eine sehr aufklärende
Wirkung hat, uns nicht nur Menschenkenntnis verschafft,
sondern auch lehrt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und
unberechtigte Wünsche zu hegen, also uns daran gewöhnt,
den Tatsachen ohne Vordngenommenheit ins Auge zu
sdien.
in der bisherigen Darstellung hatte ich versucht, das
Unberechtigte vieler Tadelsworte in Beziehung auf Voltaire
naclizuweisen. Nunmehr will ich alles das zusammen-
stellen, was mir selbst an ihm nicht gefiel, als ich
seine Taten und Äußerungen genauer kennen lernte. Manches,
das muß ich aber im V^orfiinein sagen, mißfiel mir nur im
ersten Moment, und bei näherer Überlegung verlor sich dieses
Mißfallen; solche Fälle werde ich in Folgendem eben-
falls genau so, wie mein Gedankengang sich hierbei ent-
wickelte, zu beliebiger Annahme oder Zurückweisung dem
Leser vorlegen. —
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— 234 —
Da ist zuerst der Fall Maupertuis. Was die Heftig-
keit des Kampfes Voltaire's gegen Maupertuis betriff^ so
habe ich schon bei Besprechung dieser Angelegenheit dar-
gelegt, daß sie ganz und gar berechtigt war, jener verdient
also in dieser Beziehung keinen Vorwurf. Zur weiteren
Bekräftigung fflhre ich Carlyle's Bemeikungen hierfiber (in
seiner »Geschichte Friedrich II.«) an: »Voltaire hatte von
[eher diesem Könige der Wissenschaften ehrfurchtsvolle
Huldigung geleistet und mit einer Art Angst und mit un-
glaublicher Geduld sich sehr viel von ihm gefallen lassen.
Aber alle Dinge haben ihr Ende. Es war vom Schicksal
beschieden, daß der anmaßende Maupertuis tagtäglich und
jetzt mehr als je, dem reizbaren Voltaire zum steigenden
Ärgernis wurden — Us der reizbare Voltaire es nicht länger
aushalten konnte.«
Es wäre wohl unbedingt edler gewesen, zu verzeihen,
wie das ja so oft von denen gepredigt wird, die nichts zu
verzeihen haben; allein Voltaire's Heftigkeit war begründet
und sein Kamj3f durchaus kein moralischer Makel. Wie die
tägliche Erfahrung lehrt, macht es fast niemand anders.
Aber wenn wirklich Voltaire bei der Drucklegung des
Dr. Akakia Friedrich den Großen hinterging, indem er die
einem anderen Werk geltende Druckerlaubnis für diese Streit-
schrift mißbrauchte — so ist das jedenfalls eine Inkorrekt-
heit, die selbst durch die Abwehr g^en Maupertuis' An-
griffe nicht entschuldigt wird. —
Unangenehm war es mir, zu sehen, daß Voltaire im
Kampfe mit manchen Gegnern nach der Bastille rief. Es
versöhnte mich auch nicht, daß die Perfidie seiner Feinde
ins Unglaubliche ging, wie allerdings jeder zugestehen muß,
der die damalige Politik — es waren viele Abb^'s, Jesuiten
und Exjesuiten dabei beteiligt — nur einigermaßen kennen
lernt*) Aber bei näherer Betrachtung fand ich, daß Voltaire
*; Wer sich iber die damaligen Zustände in der Schriftstellerwelt
wenigstens einigcrmaBen orientieren will, lese Voltaire's Aufsätze:
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— 235 —
fast nur gegen Verleumder seiner Ehre nach den Gerichten
rief, und nur gegen jene unversöhnlich war» die ihn nicht
nur persönlich angriffen, sondern auch als Denunzianten
auftraten, um — nach Condorcet's Ausdrucksweise — die
Fanatiker zu Verfolgungen gegen ihn aufeustachdn, wie das
bei j. B. Rousseau, den beiden P^mpignan, Larcher und
Jean Jacques Rousseau der Fall war.
Der abscheulichste unter allen Feinden Voltaire's war
wohl der Cx-Jesuit Abh6 Desfontaines, und es ist lehrreich,
aus diesem einen Falle zu erfahren, was alles Voltaire aus-
zuhalten hatte.*) Voltaire hatte, um den unaufhörlichen An-
griffen seiner Neider auszuweichen, sich nach Cirey (zur
Marquise von Chatelct) zurückgezogen. Da wurde seine
Ruhe durch ein Libell gestört, in welchem sein ganzes bis-
heriges Leben verleumdet wurde, und der Autor dieses
Libells war der Abb^ Desfontaines, der Voltaire seine
Freiheit, vielleicht sein Leben zu verdanken hatte.
Desfontaines war nämlich wegen einer geschlechtlichen
Perversität angekla^, was damals im höchsten Maße kri-
minell behandelt, ja mitunter mit Verbrennen bestraft wurde.
Voltaire, davon unterrichtet, nahm sich des ihm persön-
lich gänzlich unbekannten Desfontaines, dem er sich nur als
Schriftsteller nätier fühlte, energisch an und erwirkte seine
Freilassung, noch mehr, er verschaffte ihm, da er aus Paris
verbannt wurde, ein Asyl bei einem seiner Freunde auf
dem Lande.
Derselbe Desfontaines verfaßte nun jenes Libell gegen
seuien Retter und veranlaßte überdies einen Priester des
Seminars, das Gedicht le Mondain« von Voltaire zu
denunzieren, welche Denunziation diesen der Gefahr einer
neueriichen Verbannung aus Frankreich aussetzte.
In allen rein literarischen Fehden half sich Voltaire
>Le preservatif«, >Les lionnetet^s Htteraires«, »Examen d'un Ubdie
calonuiieux«, aus denen mm ericennt, wie spedell Voltaireseltens seiner
Neider. Oegrier und Revolverlitteraten initge=^pie1t wurde
*) Ich erzähle nach Condorcet's Voltaire- Biographie.
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selber, und man weiß, wie gut er sich zu verteidigen ver-
stand.
Wenn er also nur in den früher erwähnten Fällen per-
sönlicher Gefährdung durch seine Widersacher nach den
Gerichten rief, so kann man ihm desw^en keine Vorwürfe
machen. Denn was geschieht in unseren Tagen, und ganz
altgemein, wenn man in seiner Ehre verletzt und verieumdet
wird? Selbst der friediiet>endste Bflfger, der auch gar keinen
öffentlichen Ruf, sondern nur seme private Reputation zu
wahren wünscht, klagt auf Ehrenbeleidigung und wünscht
die Bestrafung des Beleidigers. Dasselbe tat eben Voltaire.
Zudem war der Ruf nach der Bastille mehr ein sich Luft-
machen, als ein emster Wunsch; einmal darum, well damals
wohl Angriffe gegen die Regierung, die Geistlichkeit und
den Adel mit Haft bestraft wurden, der Bürgerliche aber
keinen Scliutz seiner Ehre zu er\s'arteri hatte. Ferner darf
man bei Voltaire's im Grunde gutmütigem Naturell anneiimen,
daß, wenn er z. B. für Fr^ron die Galeere empfahl, das gar
nicht so buchstäblich genommen werden darf; es war mehr
ciamit gemeint: Er verdiene die Galeere; und derlei
Wünsche Voltaire's, jemanden auf der Galeere zu sehen,
wurden auch damals in PAns> nicht so ernst genommen, wie
sie in ihrer heftit^en Ausdrucksweise aussahen.
Bei Voltaire s Güte und Versöhnlichkeit, die er ja, so oft
es nur anging, genügend bewies, wäre er i^ewiß der Erste
gewesen, nach einer etwai^^^en Verurteilung Freron's zur
Galeere ein herrliches Gnadengesuch an den König zu über-
reichen und Fr^ron nach erfolgter Begnadigung unter Tränen
zu umarmen. Was ich hier als Hypothese aussprach, er-
eignete sich, wie ich eben lese, sogar in Wirklichkeit in
einem Falle, der mir erst nachträglich durch eine aufmerksame
Lektüre der Voltaire-Biographie von Condorcet zur Kenntnis
kam, und der mir einen Beweis dafür lieferte^ daß ich den
Charakter Voltaire's richtig auffasse.
Condorcet erzählt nämlich, daß ein gewisser Travenol,
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Violinspieler an der Oper, sich mit dem Advokaten Rigoley
de Juvigiiy verband, um Libelle gegen Voltaire zu kolpor-
tieren. Auf des Letzteren Betreiben wurde Traveno! ver-
haftet. Der Vater desselben, ein Greis von achtzig Jahren,
ging zu Voltaire und bat um Gnade für seinen Sohn. Im
Augenblick wich Voltaire's Zorn dem ersten Sciirei der
Humanität.* Er weinte mit dem Aiten, umarmte ihn, tröstete
ihn, und lief sofort mit ihm zur geeigneten Stelle, um die
Freilassung seines Sohnes zu erlangen.
Nach diesem allen stört mich sein ^Ruf nach
der Bastille« nicht mehr. —
Der Prozeß und die Atfiire mit dem Bankier Hirsch
in Berlin mißfällt mir, und obwohl ich schon oben alles,
was sich zur Zurückweisung der schlimmsten Beschuldi-
gungen Voltaire's, wie z. B. der Dokumentenfälschung,
sagen läßt, angeführt habe, so erscheint mir doch diese
ganze geschäftliche Manipulation mit Hirsch als
eine sehr unschöne, schmutzige Geschichte.
Ein direkt kriminelles Vergehen, wie Betrug oder falscher
Eid, kann, wie man oben zufolge der Prozeßakten ersah,
wohl nicht behauptet werden, der verbotene Handel mit
Steuerscheinen und Ableugnung einer Konvention, deren
Existenz er später zugab, sind aber so viel wie sicher-
gestellt
Von den so starken Beschuldigungen, die bezflglich der
Hirsch-Af^ gegen Voltaire erhoben wurden, blieb also
nur sehr wenig fibrig; und selbst der Handel mit verbotenen
Steuerscheinen veriiert sehr viel von seinem schlimmen
Anschein, wenn man bedenkt, daß seit jeher eine Inkorrektheit
gegen eine Allgemeinheit, hier also: den Staat, nicht nur
ffir viel weniger häßlich und unmoralisch angesehen wird,
als eine solche gegen Privatpersonen, sondern daß deriei
Vergehen in unzähligen Fällen selbst von sonst höchst
korrekten und in jeder Bczieliunt^ t^esitteten Menschen
begangen werden. Man denke nur an die fast durciigehends
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laischen Sleuerfassionen, oder daran, daß Reisende so oft
und so gerne zollpfychtige Obfekte verheimlichen, und seien
es auch nur untMdeutende Dinge^ deren Cinschmuggeiung
man ja so gerne mit heiterer Miene in allen ihren Details
wiedererzählt.*)
Es bleibt also von der ganzen Geschichte nur die Ab-
leugnun^ des Steuerschein-Handels seitens Voltaire's übrig.
Denken wir nun aber daran, welche grollen Autgaben
sich Voltaire gestellt hatte und daß er zudem ein Moralist
und ein Dichter war, so beriUut uns selbst die so reduzierte
Hirsch-Affäre dennoch immer, als Kontrast zu dem Bilde,
das wir uns von einem Mann mit solchen Bestrebungen
gerne machen, sehr unangenehm.
Und es ist nicht nur ein ideales Fantasiebild, das wir
hier dem Voltaire der Hirsch^Affflre entg^enhalten können,
es sind Männer, die wirldich gelebt haben, und die
uns als Ideale jenem Voltaire g^nenfiber erscheinen. Ein
Diderot, ein Rousseau wäre zu einem solchen Handel und
zu einem solchen Verhalten ganz und gar unfähig gewesen;
ebensowenig ein Ooeth^ ein Schiller oder ein Richard
Wagner.
Und dennoch halte ich es fQr unbegrflndet und m*
gerecht, wegen der Hirsch-Affäre Voltaire einen schlechten
•) Ein lioch ingesehencr österreichischer Aristokrat unJ einstiger
Minister, Altgraf H., der vor ungefähr 25 Jahren starb, bestimmte in
seinem Testamente, dem Staate sei eine so und so große Summe aus
seinem Nachlaß zu vergüten für den Entgang an Zöllen, um die ihn der
Verstorbene bei der Rückkehr von seinen näufiKen Reiten durch Ver-
heimlichungen verkürzt hatte.
Wieso es aber bomm^ daß Inkorrektheiten gegen den Staat viel
gelinder beurteilt — wenn auch viel schwerer bestraft — werden, als
jene gegen Privatpersonen, erkläre ich mir so: Man denkt, der ent-
standene Schaden verteile sidi luf viele Millionen von Menschen, es
treffe also den Einzelnen ganz tinmerklich; ferner weiß man, dali der
Staat stets Macht genug hat, um soiche Schäden in anderer Weise gut
zu machen, und endlich ist ein Staat eine Abstraktion, er liat keine
individuelle Physiognomie, und wir Ilaben daher ebenso wenig Mitgefühl
mit ihm, wie mit einem Insekt, das ffir uns ebenfalls keine Physiognomie
besitzt
üiyiiizeü by GoOgle
— 239 -
oder gemeinen Charaicter zu nennen und ihn desw^n als
ganzen Menschen moralisch unter die oben genannten
Orößen zu steilen. »Man ist Mensch: die Dinge schieben
sich, ich weiß nicht wie« schrieb Voltaire damals an Darget.
Und wer diesen Satz versteht und kein Tugendfanatiker ist,
wird einsehen, daß, so sehr wir die Sache bedauern und
sozusagen aus dem Leben jenes Mannes hinwegwönschen,
ein solcher Fehltritt, und auch mehrere solcher Fehltritte,
nicht imstande sind, die fast unvergleichliche Summe von
Güte und von edler Oesinnung in privaten und öffentlichen
Angelegenheiten vergessen zu lassen und sie in unserem
Gedächtnisse auszulöschen. iMan wird einerseits sehr selten
einen im praktischen Leben stehenden Mann finden, der nicht
hie und da Inkorrektheiten begeht, und wäre er sonst noch
so hoch t-estellt; und anderseits können die obengenannten
Männer, trotzdem sie nicht entfernt solcher sogenannter ge-
meiner Vergehen bezichtigt werden können, durchaus keinen
größeren Anspruch auf. unsere Liebe und Verehrung machen
als Voltaire:
Denn (Iber allem anderen steht Oute; und darin
kann sich nicht einmal Diderot mit Voltaire vergleichen, denn
jener besaß nicht entfernt die Aktivität der Oüte wie dieser.
Schiller, der wohl der reinste und idealste Charakter von
allen gewesen, besitzt Schwung, Erhabenheit, ethischen und
ästhetischen Trieb, kurz alles, was in die Höhe weist, man
kann ihn wohl einen weltlichen Heiiigen nennen; und in-
folge seiner Armut, Kränklichkeit und seines so frühen
Todes scheint er uns umsomehr in ätherischen HOhen zu
schweben; allein, ob er das permanente Feuer der Ofite be*
saB, ist mir nicht bekannt; wie man wei0, wurde es von
manchen Zeitgenossen bezweifelt, wenn nicht Ihm geradezu
abgesprochen.
Das reiche Leben Voltatre's lag offen vor aller Welt,
eine Unzahl von meist neidischen Schriftsteilem machte
es sich zur Aufgabe, an allen Details seiner Lebens^
L/iyiii^ü<j by Google
- 240 —
fOhrung herumzunöigeln, sogar solche Fehler zu erfinden,
als ob Voltaire einer der größten Übeltäter gewesen wäre.
Dennoch sahen wir und werden es noch weiterhin sehen,
wie ungerecht und unbegründet fast alle Vorwürfe sind.
Wollte man aber auch bei anderen Männern von großem
Rufe sich mit ihrer intimeren Lebensführung^ so beschäftigen,
wie es mit jener VoUaire's geschah, so kämen ohne Zweifel
fast alle weit schlimmer davon als der unparteiisch beurteilte
Voltaire.
Was für ein Bild bekommt man z. B. von den großen
deutschen Schriftstellern und Dichtern, die zu üoethe's und
Scliillers Zeit in Weimar lebten! Abgesehen von den so-
genannten Klatsch{Teschichten, die ja durchaus tatsächlich
richtig sind,*) braucht man ja nur die Briefe Schillers an
Kömer zu lesen.
^Von den hiesigen großen Geistern,« schreibt er am
29. August 1787, »Icomnien einem immer närrischere Dinge
zu Ohren«, und nun werden z. B. von Herder die häßlich-
sten Charaidereigenschaften erzähit; selbst der heute als
liebenswürdiger und weiser Mann verehrte Wieland Icommt
schlecht weg; von Ooethe schreibt Schiller, er habe auch
gegen seine nächsten Freunde kein Moment der ErgieBung,
er sei an nichts zu fassen, er sei wohl ein Egoist in un*
gewöhnlichem Grade usw^ und in einem späteren Briefe an
Kömer (vom Jahre 1790) sagt Schiller von Ooethe: >Es
fehlt ihm ganz an der herzlichen Art, sich zu iigend etwas
zu bekennen.«
Von allen den Fehlem, die den deutschen Klassikem
jener Zeit in den eben angeführten Schriften voigeworfen
werden, ist Voltaire ganz frei gewesen, und jene Fehler be-
rühren uns, als Kontraste zu dem Bilde, das wir uns von
Männern mit so hohen Bestrebungen machen, vielldcfat
noch unangenehmer als die Hirsch-Angelegenheit bei Voltaire.
*) Wie ich gitiibe, wurden sie von einem gewissen Böttcher
puMiztert.
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- 241 —
Und Schiller selbst? Können wir nichts Tadelnswertes
an ihm finden, wenn wir uns die unangenehme Aufgabe
stellen wollen, den intimeren Menschen in ihm ganz zu er-
kennen? — Ganz gewiß.
Das Mindeste davon ist z. B. die Tatsache, daß der
fünfundzwanzigjährige Schiller im Prospekt zur Rheinischen
Thalia ankündigte, er schreibe »als Weltbürger, der keinem
Fürsten dient«; das Publikum ist mir jetzt alles, mein
Studium, mein Souverän, mein Vertrauter. Ihm gehör' ich
jetzt an. Vor diesem und keincfn anderen Tribunal v/erde
ich mich stellen. Dieses nur fürchte ich und verehre ich.
Etwas Großes wandelt mich an bei der Vorstellung, keine
andere Fessel zu tragen, als den Ausspruch der Welt —
an keinen anderen Thron mehr zu appellieren als an die
menschliche Seele.« Aber im ersten Heft der genannten
Zeitschrift widmete Schiller den ersten Akt des Don Carlos
— dem Herzog von Weimar, und zwar mit folgenden
Worten: »Wie teuer ist mir der jetzige Augenblick, wo ich
es laut und öffentlich sagen darf, daß Karl August, der
edelste von Deutschlands Fürsten und der gefühlvolle Freund
der Musen, jetzt auch der mdnige sein will, daß Er mir er-
laubt hat. Ihm anzugehören, daß ich denjenigen, den ich
lange schon als den edelsten Menschen schätzt^ als meinen
Fürsten jetzt auch lieben darf.«
Ob nun Schiller den Herzog von Weimar wirklich so
sehr verehrte und liebte — woran man nach Allem wohl
zweifeln kann — oder ob das nur Redensarten waren, die
ihm seine pekuniäre Lage und Abhängigkeit als notwendig,
erscheinen ließ, in beiden Fällen macht die Dedikation
einen sehr schlechten Eindruck, zumal sie mit dem Aufruf
an das Publikum, seinem »Studium«, seinem »Souverain«,
seinem »Vertrauten« so sehr in Wkterspruch steht Auf
keinen Fall war das »Männerstolz vor Königsthronen.«
Hätte Voltaire sich einen solchen Widerspruch und einen
so gemütsinnigen Servilismus jemals zu Schulden kommen
Popper, Volt»ira. 16
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— 242 —
lassen, so wSren fasi alte Biographien Voltaire's voll davon
gewesen, und die so rigorosen Tugendwäditer und Splitter-
richter hätten ihn nicht nur einen Höfling, einen Fürsten-
knecht, sondern auch einen Abtrünnigen gescholten, der das
»Publikum^ gegen einen Herzoge fallen läßt und dergl. mehr.
Auch in g:eschäftlichen Angelegenheiten gibt es bei
Schiller Dinj^'e, die mit dem Bilde, das wir uns von diesem
unübertrotfencn Idealisten machen, durchaus nichtharmonieren.
Mit Vorwissen Schillers ließ Cotta in die Jenaer Literatur-
zeitung Rezensionen der Hören einrücken, die er selbst
bezahlte; und Schiller, der zeiin Jahre früher in der An-
kündigung seiner Thalia das Publikum seinen Souverain
nannte, meinte jetzt (bei der Herausgabe der Hören): »dem
Publikum mu6 man doch alles vonnaGhen.c*)
Und in der englischen Biographie des Verlagsbuch-
händlers Ooschen, die von seinem Enkd herausgegeben
wurden wird von einem geschäftlichen Plane erzählt, den
Schiller diesem Verleger vorschlug» der durch Inkorrektheit
in höchstem iVla6e fiberrascht; Voltaires Steuerschdn-Affäre
ist diesem Kniff gegenflber geradezu harmlos zu nennen.**)
Alles Bisherige jedoch erscheint mir noch immer nicht
als gar so schlimm, da ich Schillers trostlose pekuniäre Lage
als genügende Entschuldigung dafür betrachte; man sieht eben
hier wieder, wie notwendig jedem IMenschen, und um so
mehr jedem höheren Menschen, Ökonomische Unabhängig-
keit ist
Aber was mir wirklich an Schiller als ein Flecken er-
scheint, ist seine Oesinnung in Beziehung auf das Verhältnis
zwischen Goethe und Christiane Vulpius, welche zu
Schillers Lebzeiten noch nicht miteinander vermählt waren. In
*) 2atirt aus dem SdiiUer-Biidie von Fnuiz Mehring.
**) Ich kann diesen Plan Schillers hier nicht wiedererzählen, weil
mir Ooschens Werk jetzt nicht 7u Gebote steht; der Eindruck bei der
seinerzeitigen Lektüre der betretenden Steile (in einer Rezension) war
ffir mlcb ein tief bestfiireoder.
L.iyiiiiüd by Google
— 243 —
dem Standesvonirtdl oder, vielleicht piiziser gesagt^ in der Uel»-
losen Auflassung dieses VerliäHnisses, wie sie Schiller in
seinem ganzen Verhaiien»in Wort und Schrift, dokumentierte,
finde ich einen weit größeren mondischen Defekt, als in
allem, was man Voltaire etwa mit Recht vorwerfen kann.
Die Ableugnung des Steuerscheinhandels und die Maupertuis-
Affäre verschwinden vollständig dagegen. Denn bei Voltaire
haben wir es nur mit schwachen Augenblicken zu tun» die
für die Beurteflung seines ganzen Wesens ganz und gar
bedeutungslos sind; bei Schiller aber in diesem Falle mit
einer höchst unschönen, geradezu prinzipiellen Gesinnungs-
äußerung. Wahrscheinlich spielte Goethe eben auf diesen
Punkt an, als er zu Jemandem (Eckermann?) sagte: »Schiller
ist viel mehr Aristokrat als ich.«
Schiller zeigte sich hier nicht nur philiströs in seiner
Auffassung, sondern eben auch, wie jede Art von Aristokratie,
lieblos, rücksichtslos gegen jenes Mädchen, von dem Goethe
in dem beschränkten Weimar den edlen Mut hatte, zu sagen:
»Sie war immer meine Frau.«
Daß Goethe ein Mädchen, das ein Kind von ihm hat,
heiraten sollte, erscheint Schiller als Torheit! Er wird,
wie ich fürchte, eine Torheit begehen und das gewöhnliche
Schicksal eines alten Hagestolzen haben,« schreibt er am
1. November 1790 an Kömer, »sein Mädchen ist eine Mamsell
Vulpius, die ein Kind von ihm hat und sich nun in seinem
Hause fast so gut als etabliert hat. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß er sie in wenigen Jahren heiratet. Sein Kind soll er
sehr lieb haben, und er wird sich bereden, daß wenn er
das Mädchen heiratet, es dem Kinde zu liebe geschehe und
daß dieses wenigstens das Lächerliche (!) dabei vermindern
könnte. Es könnte mich doch verdrießen, wenn er
mit einem solchen Geniestreich aufhörte; denn man würde
nicht ermangeln, es daffir anzusehen.c
Dem Verfasser der Räuber und von Kabale und Liebe
wäre es wohl besser angestanden, vielmehr Goethe zur
1«*
Digilized by Google
- 244 —
Heirat der Vulpius zu bewegen, anstatt über dieses Ver-
hältnis die Nase zu rümpfen, dem allgemeinen Weimarer
Frauenklatsch zuzustimmen, und es für dne Torheit anzu-
sehen, wenn Ooettie ein Mädchen, das von ihm ein Kind
hatte und das er so liebte, daß er »es nicht leiden mag,
wenn sie gering geschätzt wird« — wie sich Kömer aus-
drQckt — , nicht sitzen lassen würde. Und was das Sitzen-
bleHien mit einem Kinde für ein Mädchen in der damaligen
Oesellschaft*) bedeutete^ wuBte der Dichter der Kindes-
mOrderin sehr genaa
SchKeBen wir aber diese unangenehme Analyse des
Schiller'schen Charakters. Ich sage trotz dem allen: Er war
ein weltlicher Heiliger, und er Jai&bi ffir alle Zeiten der
höchsten Verehrung würdig; allein ich verlange dieselbe
milde und tolerante Auffassung — wie für jeden anderen —
auch für Voltaire.
Was Ooethe betrifft, so war er schon vermöge der
Universalität seines Geistes ein Individuum von höchster
Gesittung; und er hatte auch sonstige hohe, allerdings mehr
negative Charaktervorzüge. Aber von der Ooethe sehen Art
höchster Gesittung und Vornehmheit, die sich doch nie
aktiv bewährt, ist es noch weit bis zur Eigenschaft der
Güte,
So viel ich weiß, galt Goethe bei seiner Umgebung zu
keiner Zeit seines Lebens für warm und noch viel weniger
für gut; sein ganzes Wesen war nicht auf Güte angelegt,
Sinn für Freundschaft besaß er ebenfalls nicht; Schiller war
der einzige Mensch, zu dem er in einem allerdings unvergleich-
lich edlen Verhältnis stand, das aber nur den vornehmen Cha-
rakter eines künstlerischen Gemeinschaftsgefühls hatte, die
rein menschliche Wärme, wie wir sie so oft bei Voltaire^s
Freundschaften finden, fehlte dabei. Zorn und Enhüstung
angesichts von Ungerechtigkeiten, sei es im privaten, sd es
*) Übrigens auch noch in der heutigen.
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— 245 —
im öffentlichen Leben, gab es bei Ooethe niemals, ja er
sagte von sich selbst, er ziehe Ungerechtigiceit der Unord-
nung vor. Nimmt man nun noch alles das hinzu, was über
seine Rücksichtslosigkeiten bei seinen vielen Liebschaften
bekannt ist, so sieht man wohl, da6 Ooethe's privater Cha-
rakter mit jenem VoHaire's nicht entfernt einen Vergleich
aushalten kann.
Richard Wapfn er war zeitlebens ein wahrer Repräsentant
von Ungute, ja so^^ar von Undankbarkeit, und sein Idealis-
mus und alle schönen Gefühle sind bei ihm nur in abstracto,
nämh'ch in seiner Lebensführung als Künstler und in seinen
Musikdramen zu finden.
Und wenn man von Rousseau nichts weiter wüßte, als
daß er fast gar nie aufhörte zu verdächtigen, ja selbst seine
edelsten Freunde zu verleumden, so würde das allein schon
genügen, um ihn tief unter Voltaire zu stellen; alle Hirsch-
Affären und noch soviel derartige Streiche VoUaire's
verschwinden gegen die Charaktereigenschaft,
Menschen leichten Herzens zu verdächtigen.*) Es
Ist wohl wahr, daß Verdächtigen und Kränken keinen Platz
im Kriminalkodex besitzen, während auf inkorrekte Geld-
geschäfte und was mit ihnen etwa noch zusammenhängt,
Strafen gesetzt sind. Ich wfirde auch keinen Grund finden,
warum selbst das größte Genie, das sich in dieser Weise
gegen das Shafgesetz vergeht, nkht gerade so gut bestraft
werden sollte^ wie irgend jemand anderer. Allein trotz-
dem stelle ich sogar einen so verurteilten Voltaire noch
immer hoch über einen unbestraften Rousseau, da bei
jenem der ganze Mensch trotz einzelner solcher Entglei-
sungen gut und edel dasteht (fieser aber in seiner ganzen
*) Ich möchte auch hinzufügen, daß St Beuve von Rousseau sagt,
er geniere sich durchaus nicht, zu hit^en, wenn seine krankhafte Eigen-
liebe uiid seine Eiteilveit ins Spiel kamen, und bezüglich Rousseau's
Anklagen gegen Orimm war St Beuve geradezu ai der Überzeugung
gelangt, daB jener gelogen habe.
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— 246
Naturanlage — man mag sie kfankhalt nemien oder nicht
— als ein hSBIiches Charakteigebtlde uns zur Empörung
bringt Man ist seltsamerweise gewohnt, jene^ die sich
gegen einen Straflcodex veigehen, oder die^ ohne g^en ihn
zu verstoßen, in Eigentumsfragen gemein oder inicorreld
voigehen, ungleich mehr zu mißachten als jene, die das
zwar nicht tun, aber noch so viele Recken des Charakters
hl den sogenannten höheren und feineren Gebieten des Ver-
kehrs aufweisen. Ein gesetzlich korrekter Mensch, z. B. Künstler
oder Schriftsteller oder Philosoph, mag eifersflchtig, miß-
günstig, verleumderisch, klatschsuchtig, boshaft, sachlich un-
ehriich und dergl. sein, so wird man ihn darum doch nicht aus
dem gesellschaftlichen Umg^ang ausstoßen, }a wird sich gar
nichts tnerken lassen, ihn gerne in die ernstesten Ges|:)räche
ziehen und ihm niemals irgend welche Mißachtung be-
zeigen.
Und desgleichen mag jemand noch so viel Un^üte,
Härte, ja Roheit, sei es überhaupt, sei es gegen seine nähere
Umgebung, beweisen, er mag mit der Brutalität seiner Ge-
sinnung noch so viel Unglück anrichten. Verwandte darben
lassen, seine Frau schlagen, mißgünstig und schadenfroh sein
usw., er gilt doch immer für eine Respektsperson, wenn er nur
nicht den Strafkodex verletzt und wenn man ihm nichts
Anti-Konventionelles nachsagen kann. Aber wenn der edelste
Mann etwa in seiner Not einen Paletot stiehlt oder, um
seine Familie momentan vor Hunger zu schützen, sich gegen
das Wechseirecht vergeht, oder auch nur den kleinsten
Bankerott macht, kurz: sich in Geldsachen inkorrekt be-
nimmt, so wird sofort über den ganzen Menschen der Stab
gebrochen.
Eben darin besteht die niedrigste Art des Mam*
monismus in unserer Gesellschaft
Wie ist nun diese Oesinnung zu erkären?
Sie hat einen sozialen, eigentlich wirtschaftlichen Unter-
grund. Es ist eine Folge unserer Gesellschaftsordnung^
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— 247 —
daß fast alle strafbaren Eigentumsdelikte im allgemeinen
doch nur von den armen Teufeln der ungebildeten, un-
feinen Volksschichten begangen werden; es verbindet
sich daher die Verachtung g^en diese, aber auch zugleich
die Besoigthdt des »Satten« um die Sidierhett seines Eigen-
tums, mit dem Urteil Aber solche Handlungen; und es ist
daher weniger eine moralische Antipathie als eine sozial-
ästhetische und ökonomisch*egoistische, mit der wir es hier
zu tun hat>en.
Sieht man nun bei einem Satten, wie es doch Voltaire
war, der ja kleine Oeschäftskünste gar nicht nötig hatten
derlei Inkorrektheiten, so rangiert man ihn sofort in die als
so niedrig angesehene ImmonJitäts-Kat^rie der niedrigen
Volksschichten. —
Alle die geschäftlkhen Händel Voltalre's, die man als
Beweise seines Geizes oder seiner Schmutzerei ansieht
— wie u. a. auch sein Streit mit de Brosses, bei dem
es sich um einen Betrag von nur 280 Livres für Brennholz
handelte ~ sind jedoch nicht anders anzusehen denn a)s
Äußerungen eines enorm impulsiven rechtsgewandten Natu-
rells, das sich in die Meinung, Recht zu haben, im Laufe des
Streites immer mehr einspinnt. Denn es ist doch ganz
undenkbar, daß ein steinreicher Mann, der so grosse Summen
nicht nur für seine Haushaltung und seine zahlreichen Gäste,
sondern aucii für Unterstützungsbedürftige ausgibt, sich
wegen 280 Livres, oder ein andermal wegen Bezahlung der
Miete einer Postkutsche so hartnäckig herumschlagen wird.
Man muli nicht, um Fehler finden zu können, die größten
Inkonsequenzen in einem menschlichen Charakter voraus-
setzen! —
Wenn wir aber den Mangel an Wahrhaftigkeit in
manchen Privataffären Voltaire's, wie z. B. eben in dem
Falle Hirsch, zugeben, so können wir doch behaupten:
Solche Streiche sind gewiß zu tadeln, aber sie beirren uns
nicht Man nennt sie gewöhnlich »niedrige« Charakter-
Digrtized by Google
— 248 —
fehler, ich nenne sie gegenüber uneigennützi j^en Fehlem
wie jenen Rousseau 's, oder gegenüber der üngüte eines
Wagner — ganz unbedeutende Flecken.
Wie glücklich wäre die Menschheit, wenn bei ihren
hervorragendsten Individuen keine anderen Gebrechen als
diesesogenannten »niedrigen« vorhanden wären! Und nicht nur
die Menschheit als Gattung, sondern auch die Menschen als
Privatpersonen — ein wie viel behaglicheres Dasein wäre ihnen
gegönnt, wenn nur Hirsch-Affären zu vetzdchnen wären!
Wie die Menschen jedoch beschaffen sind, so sieht und hört
man alle Tage, daß ngend jemand, der weder im Privatleben
noch in seinem öffentlichen Leben, oder auch nur in seinen
Gedanken fiber die Schicksale der Menschheit Sympathie,
ernstes Interesse oder gar Gflte l>esitzt, von seinem Nichts
aus auf Voltaire als Richter mit moralischer Verachtung her-
absieht Hier verbinden sich in der Tat Phärisäismus, Un-
verstand und Undankbaricdt zu einer widerwärtigen An-
maßung. —
Dann gibt es eine Affäre Grass et, die im allgemeinen
nahezu unbekannt ist und die ich erwähnen muß.
Sie betrifft eine beinahe unglaubliche liittigue Voltaire's
gef^en den Biiclihändler und Kolporteur Grasset, der in Genf
mit einem Manuskript der -Pucelle hausierte und nach der
einen Darstellung dasselbe dem Autor zum Kauf anbot,
nach einer anderen Version das Manuskript für die Pompa-
dour hätte ankauten sollen. Voltaire habe nun dasselbe
Grasset abgelistet und überdies seine Verhaftung veranlaßt,
um die Weiterverbreitung der für ihn so gefähriichen
Schrift zu verhindern. Man muß diese Geschichte am
betreffenden Orte*) selbst nachlesen, — hier würde sie zu
viel Raum l>eanspruchen — die in ihrer verschlungenen und
beinahe operettenhaften Prechheit und Rücksichtslosigkeit
ihres Gleichen sucht Ich war über dieses Vorgehen
*) Siehe Perey et Mangras ^Vie intime de Voltaire« (1885).
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— 249 —
Voltaire's erstaunt, obwohl dem zum Opfer ausersehenen
Orasset trotz der — kurzen — Haft nichts Unangenehmes
passierte^ jedoch wohl hätte passieren können.
Aber auch dieser Fall verliert viel, wenn nicht alles» von
sdnem schlimmen Aussehen, wenn man bedenkt, daß da-
mals Voltaire In so großer und sehr begründeter Furcht
vor Verfolgung lebte, und daB dieses ganze Vorgehen
gegien Orasset als Notwehr gegen furchtbare Ge-
walten, und unmittelbar gegen einen rficksichtslosen Er-
presser, der ihm den Revolver vor die Brust hielt, verflbt
wurde. Orasset war eben dn Mensch, der ohne Rücksicht
auf die Autoren mit verbotenen Büchern und Manuskripten
Geschäfte betrieb, und es ist gewiß, daß der schon stein-
alte Voltaire wegen der »Pucelle«, auf die man in Paris
bereits anfing, in gefaiirdrohender Weise aufmerksam zu
werden, Gefahr lief, auf wer weil) wie lange eingesperrt,
ja vielleicht an Leib und Leben bestraft zu werden. Lr
mußte also alles daransetzen, sich zu retten.
Wer diesem Greise seine Stimmung nur im Ge-
ringsten nachfühlen Icann, muß seine Handlungs-
weise zwar tadein, aber zugleich — entschuldigen;
ja man kann sie nicht einmal tadeln, so wenig wie
man das Niederwerfen des Vordermannes bei einem Theater-
brand als eine schlechte Tat tadelt, da ja der sonst bravste
Mann nicht zögern wird, vorl<ommenden Falles eine solche
Handlung zu begehen. Ein begründeter Tadel kann nur
die Intoleranz der damaligen Regierungen und Geistlichen
treffen, die die Preßfreiheit so sehr t}eschränlcten. —
Ein anderer, ebenfalls weniger belcannter, bedenklicher
Fall ist der Fall Saurin. Auch dieser muß seiner Weit-
läufigkeit wegen z. B. bei Maugms nachgelesen werden.
Der Kern der Sache besteht in folgendem: Voltaire hatte in
seinem Si^e de Louis XIV. im Kapitel über die damaligen
Schriftstdier dem Geometer Josef Saurin — nicht ohne
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— 250 —
Onind — schlimme Dinge nachgesagt Dessen Sohn bat
ihn, in einer nächsten Auflage des Werkes seinen Vater zu
rehabilitieren. Voltaire wollte dem Sohn gefällig sein und
wurde in Verfolgung dieser Absicht dahin gebracht, aus
einem Protokoll, das für Saurin ungünstig war, das be-
treffende Blatt herauszureißen, als er bei dem Besitzer des
Protokolls» Herrn Polier, in dessen Abwesenheit zu Be-
such war.
Das war also wieder unbedingt ein starkes StQck von
Inkorrektheit Voltaire selbst rechtfertigte sein Vorgehen
Polier gegenüber damit: der Streich sd sehr entschuldbar
gewesen, durch das Motiv, das ihn hierbei leitete^ nämlich
dem Sohne eine Oefailigkeit zu erweisen. Das mildert
wohl die Sache, bleibt aber doch eine bedeutende
Inkorrektheit Allerdings wird man schon aus allem Vor-
gehenden entnommen haben, daß es im 18. Jahrhundert
überhaupt mit der Korrektheit im öffentikhen wie im pri-
vaten Leben nicht allzu genau genommen wurde. Ich will
diese Eigenschaft jener Epoche aber noch durch ein Bei-
spiel illustrieren, das die Fälschung Voltaire's im Falle
Saurin in milderem Uchte erscheinen läßt, insofern bei
diesem keinerlei selbstsüchtige Zwecke vorhanden waren.
Und zwar handelt es sich um einen ernsten, strengen Ge-
schichtsschreiber und Parlamentsrat, also einen Rechts-
gelehrten, um keinen geringeren nämlich als um Montesquieu.
Dieser wollte Mitglied der Akademie werden, aber —
wie Voltaire in der kurzen Biographie Montesquieu's in
seinem Si^cle erzählt — die Freimütigkeit, mit der er in den
3'Persischen Briefen« über die Regierung und von den MiH-
bräuchen der Religion sprach, veranlaßte den Kardinal
Fleury, ihn von der Wahl zum Akademiker auszuschließen.
Montesquieu bediente sich nun »eines sehr geschickten
Kunstgriffs % um den Minister auf seine Seite zu bringen.
Er ließ in wenigen Tagen eine neue Ausgabe seines Buches
herstellen, in der alles, was einem Kardinal und Minister
Digitized by Google
— 251 —
verdammlich erscheinen konnte, weggelassen oder gemildert
wurde. Diese neue Ausgabe legte Herr von Montesquieu
persönlich dem Kardinal vor, der nur selten las, aber einen
Teil des Werkes durchblätterte. Dies sichere Auftreten in
Verbindung mit dem Drängen einiger dnfluBrekher Per-
sonen» brachte den Kardinal auf andere Oedanken, und
Montesquieu trat in die Akademie ein. Trotz allem dem
muß man sagen: Auch eine nichtegoistische Inkorrektheit
verletzt selbst dann, wenn sie niemandem schadet, wie in
dem Falle Sauiin, unsem Sinn für Wahrheit und ist daher
eine nur feinere Art von Unmoialitäi
Wohlwollen steht allerdings höher als eine noch so
korrekte Art der Geschichtsschreibung, aber innerhalb ihres
Gebietes ist doch eine unerbittliche Wahrheitsliebe die
hüiiere Tugend. —
Ein Weiteres, das mir bei Voltaire unangenehm auffiel,
betrifft einige Äußerungen, die sich auf die Ermordung des
Zaren Peter III. beziehen. Peter war ohne Zweifel ein
Scheusal und bedrohte auch seine Gemahlin mit Verban-
nung, so daß diese ihm zuvorkommen mußte, wenn sie
sich retten wollte. Sie erreichte auch ihren Zweck, indem
sie die Garde imd den Klerus gewann, sich zur Zarin aus-
rufen, Peter aber auf das Schloß Ropscha bringen ließ.
Dort wurde er jedoch von den Verschworenen ermordet,
und diese Tat war um so weniger geeignet, über sie zu
scherzen, als Katharina selbst dieser Mordtat mitbeschuldigt
wurde.
Voltaire schrieb aber In einem Briefe (vom Jahre 1762)*)
an den Grafen Schuwalow darüber: »Man spricht von einer
heftigen Kolik, die Peter Ulrich von der kleinen Un-
annehmlichkeit befreite^ ein Reich von zweitausend Meilen
verloren zu haben .... Ich gestehe^ daß ich glaube^ ein so
*) Die wichtigsten Daten bei diesem Gegenstände entnehme ich
dem Buche von Desnoirestenes.
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— 252 —
verderbtes Herz zu haben, um von dieser Begebenheit nicht
so sehr skandalisiert zu sein, wie es ein guter Christ sein
sollte. Es kann viel Gutes aus diesem Übel hervoigehen.
Die Vorsehung ist wie ehemals die Jesuiten waren: sie
benutzt alles.«
Als dann nach kurzer Zeit Iwan, der Sohn Katharina's,
der ihr gefährlich zu werden drohte, ebenfalls ermordet
wurden war ganz Europa, das die Ermordung Peters III. fast
billigte^ nkht wenig entrüstet Auch Voltaire, der schon seit
längerer Zeit mit der Zarin in Korrespondenz stand, war in*
digniert und schrieb (Im Jahre 1764) darfiber an d*Alembert:
»Ich ertialte Ihren Brief, in welchem Sie das Vorgehen der
Pliilosophin des Nordens sehr wenig phik>sophisch fmden;
und gleichzeitig verlangt einer Ihrer Mitbrflder (wahrschein-
lich Grimm) ein Exemplar meines Philosophischen Wörter-
buchs fflr sie: aber ich werde es ihr ganz gewiß nicht
schicken, ohne ein Kapitel gegen solche Grausamkeiten hin*
eingesetzt zu hat>en.« Nun ist es — nach Desnoiresterres
— nkht bekannl^ ob Voltaire jenes Kapitel wirklich hinein-
gesetzt hat Hingegen ist es gewiß, daß er später an
Madame du Deffand (im Jahre 1767, d. i. drei Jahre nach
der Ermordung Iwans) schrieb: »Ich bin ihr (Katharinas)
Chevalier allen gegenüber. Ich weiß wohl, daß man
ihr irgend eine Kleinigkeit in Angeleii en heit ihres
Gemahls vorwirft; aber das sind Familienan.i^e-
legcnlieiten, in die ich iTiich nicht hineinmenge, und
übrigens ist es nicht schlecht, wenn man einen Fehler gut
zu machen hat; das verpflichtet zu großen Anstrengungen,
um die Öffentlichkeit zur Achtunir und Bewunderung zu
nötigen, und gewili hätte ihr iiälilicher Gatte kein einziges
der großen Dinge vollbracht, das meine Katharina alle Tage
vollbringt.
Über diese Art, von dem Gattenmord Katharina's zu
sprechen, man kann beinahe sagen — wenigstens dem An-
scheine nach — zu sclierzen, waren Voltaire's Freunde und
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— 253 —
Freundinnen in Paris nicht wenig entrüstet: Horace Walpolc^
die du Deffand, die Herzogin von Clioiseul u. a.
»Voltaire erschreckt micli mit seiner Katharina,« schrieb
Walpolc an die du Deffand, »ein schöner Gegenstand zu
scherzen: Die Ermordung des Gatten und Usurpation seines
Thrones! Es ist nicht schlecht, saj^t er, wenn man einen
Fehler zu bereuen iiat. Eh! Wie macht man einen Mord
wieder gut?«
Der Eindruck jener Worte wird wolil auf jeden ein
höchst verletzender sein, und da mir der Zynismus, der uns
aus ihnen entgegentritt, mit dem menschlichen Wesen
VoHaire's in Widerspruch zu stehen schien, betrachtete ich
es als eine Art von Pflicht der Gerechtigkeit, diesen ganzen
Fall näher zu analysieren. —
Vor allem können wir doch nicht annehmen, daß aus
jenen Worten folge, Voltaire hätte Katharina's Tat gebilligt
oder wirklich für eine gerinj^üg^iCTe Sache angesehen; das
folgt schon aus seiner Entrüstung über sie in dem oben
zitierten Briefe an d'Alembert, wie aus seinem ganzen Cha-
rakter. Wie war er doch im FaUe Calas, la Barre usw.
hoch entrüstet! Wie empört war er über die Ermordung
Monaldeschi's durch die Königin Christina von Schweden!
>Sie war in diesem Falle nicht eine Königin, die einen
Untertanen bestrafte,« heißt es darüber im Si^le, »sondern
eine Frau, die einen Liebeshandel mit einem Morde ab-
schloß . . . Nur auf dem W^e des Gesetzes darf jemand
gerichtet werden. Diejenigen, welche diese Tat zu recht-
fertigen versucht haben, verdienten, die Diener ähnlicher
Herren zu sein. Dieser Fkcken und diese Grausamkeit ver-
unzierten Christinens Philosophie^ die sie zum Verlassen
des Thrones bewogen hatte. In England und allen Ländern,
wo die Gesetze herrschen, wfirde sie bestraft worden sein,
in Frankreich drückte man gegenüber diesem Angriff auf
die königliche Autorität, das Völkerrecht und die Menschlich-
keit die Augen zu.«
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— 254 —
Man kann doch wohl nicht mehr an Menschh'chkdts-
und Rechtsgefuhl verlangen, als sie hier zu Tage treten.
Aber Voltaire hatte überhaupt die Manier, in allen seinen
historischen Schriften wie in seinen Erzählungen, da wo er
von Veriirechen und Schuricerden sprich^ sie meistens in
einem kurzen, scharfen Tone und in solchen stilistischen
Wendungen zu berichten, als ob er seine »Freude daran
hätte«. Daraus entsprang der Eindruck auf viele Biographen
Voltaire's, er sd eine »mephistophdische« Natur gewesen.
Diese Auffassung zeugt aber nur von einem gänzlichen
Mangd an Menschenkenntnis.
Wie oft erzählt man von Schurkerden im privaten oder
dffentiidien Leben in dnem hdteren, sogar von Lachen
untert>rochenen f^usse^ an dessen Ende sogar auch der Zu-
hörer in das Lachen mit dnstimmt! Dieses Lachen be*
deutet aber nicht im mindesten wirkliche Heiterkeit oder
Freude über diese oder jene Schurkerei; auch nicht Befrie-
di^aing Lil)er das Gelingen eines besonderen Scharfsinnes
bei ihrer Ausführung, denn die Niederträchtigkeit kann auch
ohne jeden Witz oder ohne alle Klugheit begangen worden
sein; nur eine nahezu unerwartete Bösartigkeit muß dabei
gewesen sein, und je unerwarteter und je größer die
Schlechtigkeit war, desto mehr scheinbare Heiterkeit und
Lachen ist bei ihrer Wieder;^^qbe vorhanden.
Was bedeutet also dieser scheinbare Zynismus? Gewiß
keine Biiliguni^ der Tat, auch keinen Mange) an Entrüstung,
denn es sind oft sehr moralische Naturen, die diesen An-
schein von Frivolität erwecken. Der wahre Sinn der Sache
ist einfach der, als ob man sap^en wollte: Man möchte i;ar
nicht denken, daß es derlei Bösartigkeit gibt, und hält sich
doch für einen Menschenkenner. Nun sieht man, wie es
wirklich zugeht, und ich erzähle diese Geschichte und muß
dabei lachen, weil ich sehe, mit welcher Naivetät
man das Leben ansieht und wie wir uns damit
blamieren.« In diesem Geiste wirft Voltaire meistens seine
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Berichte über Verbrechen und Gemeinheiten hin, ohne eine
Miene der Entrüstung zu zeigen; aber stets mit der Wir-
kung, dem Leser durch die kurze, nicht von moralischen Re-
flexionen unterbrochene Darstellungswcisc eine Art von
Überraschung zu bereiten. Und der Mangel jeder Rüge
des Schlechten bringt den Leser beinahe dazu, sich selbst
seine Naivetät vorzuhalten und nach der Lektüre zwisclien
Entrüstung über die rkgebenheiten und Beschämung über
seine noch immer nicht genügend große Menschenkenntnis
zu schweben. Man beachte z. B. Voltaire's Candide<;
oder seine anderen Erzählungen; in welchem raschen, wie
munteren Tempo eine Schurkerei nach der anderen da be-
richtet wird; es sieht beinahe immer so aus, als ob das
Ganze nur zur Unterhaltung dienen sollte. Und ich bin
uberzeugt, daß nur aus diesem Grunde Schiller und viele
andere den Eindruck gewannen, als ob fibeiall hierbei »icein
Emst zu Grunde« läge.
Ich will einige solche Stellen als Beispiele anführeni
und zwar zuerst aus dem »Candide«.
Eine Schlacht ist im Gange »Nichts in der Welt war
so schön, so zieriich, so gUbizend, so wohlgeordnet, wie
die beiden Heere. Der Zusammenklang der Trommeln
und Pfeifen, Trompeten, Mörser und lUnonen bildete ehie
Harmonie, wie man sie in der Hölle nicht besser wünschen
kann. Das schwere Geschütz raffte gleich im Anfange der
Schlacht etwa 6000 Mann auf jeder Seite hinweg; sodann
beseitigte das Kleingewehrfeuer noch ungefähr 9 bis 10000
Schurken aus der besten Welt, deren Oberfläche sie ver-
gifteten, c
Da Rangloss an einer Geschlechtskrankheit leidet, »er-
kundigte sich Candide nach der Ursache und der Wirkung
und dem zureichenden Grunde^ wodurch Pang^oss in einen
so kU^lichen Zustand versetzt sei. Ach! sprach dieser,
es ist die Liebe; die Liebe, die Trösterin des Menschen-
geschlechts, die Erhalterin des Weltalis, die Seele aller
empfindenden Wesen, die zarte Liebe.
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— 256 —
Eine »AKec erzählt u. a.: » . . . Die Gefangenen,
meine Gefährten, die, welche sie gefangen genommen hatten,
Soldaten, Matrosen, Schwarze^ Braune, Mulatten, mein Kapitän
endlich, alles wuide niedeigehauen, und ich blieb halbtot
auf einem Haufen von Toten Hegen. Solche Auftritte er-
eigneten sich l>ekanntlich auf einer Strecke von mehr als
zweihundert Meilen, ohne daß man jemals eines der
ffinf Gebete versäumt hätte, die Muhammed für
jeden Tag befohlen.«
Oder folgende Stelle: »Infolge der Arzneien und Ader-
lasse wurde indessen Candids Krankheit in der Tat be-
denklich. Der Pfarrgchilie des Viertels stellte sich ein und
wollte Candid mit großer Sanftmut nötigen, einen auf Rück-
zahlung in jener Welt ausgestellten Einlaßzettel für dieselbe
zu kaufen. Candid wollte sich auf nichts einlassen; die
Betschwestern versicherten, es sei die neueste Mode; Candid
erklärte dagegen, er sei kein Mann nach der Mode. Martin
wollte den Pfaffen zum Fenster hinauswerfen. Dieser
schwur, man werde Candid nicht begraben; Martin schwur,
er werde ihn, den Geistlichen, begraben, wenn er sie noch
langer belästige usw.«
Und aus der Novelle: »Die beiden Getrösteten^:
Aber, sprach Cttophil weiter, denken Sie doch nur an
Maria Stuart. Sie Hebte in allen Etiren einen tüchtigen
Musiker, der einen herrlichen Bariton sang. Ihr Oatte
massacrierte ihren Sanger und Musikus vor ihren Augen,
und in der Folge ließ gar ihre gute Freundin und
liebe Base, die Königin Elisabeth, die sich ffir eine
Jungfer ausgab, ihr auf einem schwarz verhangenen
Schaffot den Kopf abhacken, nachdem sie vorher 18
Jahre hatte im Gefängnis sitzen mflssen.«
In »Scarmentados Reisen«: »Hierauf kam ein Heer
von Mönchen, die je zwei und zwei aufmarschierten,
Mönche von sdlen Arten . . . Auf die Mönche folgte der
Henker, und den Beschluß machten, von einer Mei^ Al-
guazils umgdien, etwa 40 Leute In groben talarartigen Oe>
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— 257
wandern, die mit Teufeln und Flammen bemalt waren. Es
waren Juden, die dem mosaischen Gesetze nicht ganz und
gar hatten entsagen wollen; es waren Christen, die ihre
Gevatterinnen geheiratet, oder unsere liebe Frau von Atocha
nicht angebetet, oder sich geweipfert hatten, ihr Geld der
heiligen Bruderschaft der Hieronyniiten abzutreten. Man
stimmte mit großer Salbung schöne Hymnen und
Bußpsaimen an und verbrannte hierauf sämtliche
Verbrecher bei langsamem Feuer, ein Schauspiel,
das besonders die königliche Familie höchlich zu
erbauen schien.«: im Siede sagt Voltaire (im 17. Kapitel):
^Der Herzog ViWor Amadeus von Savoyen war unter allen
Fürsten derjenige, der am frühesten zu einem tntschlusse
kam, als es ^a!t, seine Verbindlichkeiten zugunsten
seiner Interessen zu brechen.«
Ebenso edahren wir in dem Essai sur les moeurs
alle Verbrechen in der politischen und Kirchengeschichte in
der gewohnten, hastigen und abschnappenden Art; nicht
anders spricht Voltaire auch in den Biographien der Männer
aus der Zeit Ludwigs XIV. Besonders bezeichnend ist in
dieser Beziehung eine Stelle in der Novelle Zadig oder das
Geschick.
Hier erzählt Voltaire^ wie sich ein Frauenzimmer benimmt^
während zwei Männer sich ihretwegen schkigen» von denen
der eine sie vor dem anderen nur beschatzen, also als ihr
Ritter kämpfen will.
»Steh* mir bei,« rief sie 2[adig schluchzend zu, »erlöse
mich aus den Händen des unbarmherzigsten aller Menschen!
Rette mein Leben!« . . Der Kampf b^nnt . . Die Dame,
die mittlerweile auf dem Rasen Ratz genommen hatte^
bringt ihren Kopfputz in Ordnung und sieht
ihnen zu.«
Nach viellachen analogen Erfahrungen bin ich davon
fiberzeugt, daß die allermeisten Leser diese kurze Stelle ent-
weder gar nicht t)eachteten oder andernfalls ihre Furchtbar*
Popper, Veftainb 17
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— 258 —
kdt gar nicht verstanden haben. Und doch hätte der große
Menschenkenner Voltaire dieses Detail gewiß nicht erfunden,
wenn er nicht die Absicht gehabt hätte, dem Leser im Bilde
zu sagen: Mich berührt das nicht mehr, denn ich kenne
die Welt» du aber, sieh her und gib Acht darauf; deigldchen
mußt du bei dner Frau für möglich halten! Es liegt immer
in Vollatre's Manier, solche Dinge zu erzählen, etwas Ana*
loges, wie dne verächtliche Handbewegung^ mit der er
sagen zu wollen schdnt: Machen wir's kurz, wir sollten
die Menschen doch schon genügend kennen, mir wenigstens
kann diese dnzdne Schurkerd nichts neues mehr sagen.
Und etwas von diesem impulsiven Tempo 11^ über-
haupt in allen Prosaschriften Voltaire's. Ob er nun dem
Leser iigend dne Aufklärung im Gebiet der Wlssensdiaft
oder PoÜük bieten, oder ob er auf die Besdiaffenhdt der
menschlichen Charaktere, namentlich der schlechten, den
Blick hinlenken will, immer beleuchtet er den Gegenstand
plötzlich und wie mit einem Scheinwerfer. Und in raschem
Wechsel richtet er dann diesen Scheinwerfer bald auf diesen,
bald auf jenen Punkt.
Als ein Beispiel im wissenschaftlichen, nämlich im
philosophischen Gebiet möchte ich den von ihm schein-
bar leicht hingeworfenen Salz anführen: »Wir sind ebenso
vvenii; Herr unserer Träume, wie unserer Oedanken.« In
welcher überraschenden und drastischen Weise wird da dem
Leser eine hochwichtige philosophische Einsicht vermittelt!
Man kann sehr viele gründliche metaphysische Abhandlungen
lesen und doch nicht so viel aus ihnen lernen, wie aus
diesem kurzen Satze. —
Vielleicht f^eniig-t diese bisherige Auseinandersetzung,
um die Leser Voltaire'scher Schriften vor Unverständnis
und Mißdeutungen zu bewahren.
Es ist übrigens nicht allein Schiller und fast jeder
Deutsche, sondern merkwürdigerweise auch so mancher
bedeutende französische Schriftstdier der Mdnung^ daß die
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Voltaire sehe Schreibweise etwas »Mephistophelisches« an
sich habe.
Alle die, welche in VoHaire's Dtnken oder in seiner
Schreibwelse etwas Mephistophelisches« finden wollen, ver-
gessen die Haupteigenschaft Mephisto's, nämlich, »seine
Freude daran zu haben«. Kann das aber jemand im Ernste
bei Voltaire voraussetzen?
Frau von Stafil sagt in ihrem Buch Über »Deutschland« :
»Er veriaBte Candide, dieses Weile von einer höllischen
Heitericdt; denn es scheint von einem Wesen, von einer
ganz anderen Natur als wir» geschrieben zu sein, gleichgiltig
gegen unsere Leiden und wie ein Dämon oder wie ein Affe
über die Miseren dieser menschlichen Gattung lachend, mit
der er nichts gemein hat« Und Stendhal schreibt: »Die
fremden Kritiicer haben bemeikt, daß in den heitersten
Schmen in Candide und Zadig immer dn Unteigrund
von Bosheit vorhanden ist ... . Der böse Mensch dringt
fiberall hervor.«
Da nun so vorzügliche Geister eine von der meinen so
grundverschiedene Auffassung der Voltaire sehen Schreib-
weise und Gesinnung^ an den Ta^ legen, so hege ich aller-
dings keine ^rolk^ Hoffnung, daß obige philosophische Analyse
ihren Zweck erreichen wird; ich fühle aber trotzdem, daß
meine Auffassung die richtige ist; denn sie geht nicht bloß
aus der Betrachtung der Schreibweise, sondern der ganzen
Persönlichkeit Voltaire's hervor. Und vielleicht liegt es nur
eben an der allgemeinen — nach meiner Meinung un-
richtigen Auffassung des Voltaire'schen Naturells, daß so
zahlreiche Fälle von Mißverständnis seiner Absichten und
Oesinnungen vorhanden sind. —
Ich kann es aber bei dem Bisherigen noch nicht be-
wenden lassen, wenn der hier behandelte Fall vollständig
analysiert werden soll. Voltaire hatte nicht nur die Weit-
geschichte mit großem Verstände studiert und nicht nur in
17*
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— 260 —
sdneifi Privatleben die Schlechtigkeit der Menschen kennen
gelernt» sondern auch im persönlichen Umgange mit den nam-
haften Politikem seiner Zeit einen tiefen Blick in die intimen
TrieM edem ihrer Handlungen wie auch auf Ihre offenli^en-
den Schuikereien geworfen. Und nach diesen Erfahrungen
konnte ihm Katharina*$ Oattenmord nichts so Oberraschendes
mehr sein. Während er alle Mfihe aufbot, die Gesetz-
gebungen und überhaupt alles das zu verbessern und zu
humanisieren, was sich auf dem Wege der allgemeinen Re-
formen eben verbessern lässt, war er wohl der Überzeugung,
daß die private Moral, namentlich der sogenannten Großen
in der Oesellschaft, schwer zu heben sei. Mit was für
Schurken, sogar zynischen Verbrechern, hatte Voltaire in der
höchsten Oesellschaft zu verkehren! Sollte er sie alle immer-
während moralisieren? Was hätte er tun sollen? Genutzt
hätte sein Tadel doch nichts, und er wäre höchstens, oder
bestenfalls, nur ausgelacht worden. Auch die Menschen-
schlächtereien Friedrichs, die doch, wenitTstens im Anfang
seiner Laufbahn, aus Ehrj^eiz unternommen wurden, waren
keine KleinijG^keit, hatte Voltaire deshalb seinen Verkehr mit
dem preußischen König aufgeben sollen? Bei Katharina lag
aber der Pall ganz gleich.
Aus Devotion setzte Voltaire seine Korrespondenz
mit Friedrich und mit Katharina gewiß nicht fort, obwohl
er so manches Häßliche an l)eid6n gefunden hatte; auch die
Schmeicheleien oder die zugesendeten »kostbaren Pelze der
russischen Kaiserin konnten ihn nicht ködern; denn derlei
war er nicht nur schon gewöhnt, sondern er brachte
Komplimenten und Geschenken sehr wenig Respekt und
Achtung entgegen. Aber einerseits seine Absicht, auf diese
mächtigen Persönlichkeiten so lange als möglich im Interesse
des Fortschritts und der Zivilisation dnzuwirken, und anderer-
seits die Erfahrung, daß in diesen Kreisen Veitrecheh etwas
Alltlgliches und sozusagen Normales seien, ließen Voltaire
derlei Handlungen ignorieren und bewogen ihn, sich nicht
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— 261 —
von ihnen zurückzuziehen und hierdurch seinen Wirkungs-
kreis einzuengen.
Dieselbe Denkungsart, die Voltaire g^enüber Friedrich
und Katharina hatte, besaß er übrigens auch in allen anderen
FäUen, wenn es sich um Beurteilung großer historischer
Persönlichkeiten handelte. So z. B. spricht er von Cromwell
(im SiMe) in folgenden Wortoi: ». . . . Jener Cromwell,
der es (England) mit der Bibel in der einen, mit dem
Schwerte bt der anderen Hand und mit der Maskt der
Religion vor dem Gesicht unterjochte, der aber auch
während seiner Regierung alle Verbrechen eines
Usurpators mit den Eigenschaften eines großen
Fürsten verhüllte.«
Es ist eben Tatsache, daß es seit jeher und bis auf den
heutigen Tag Gebrauch war, Menschen trotz aller ihrer Ver-
brechen nicht zu verachten oder aus der Oesellschaft aus-
zuschließen oder sich von ihnen zurückzuziehen; ausgenom-
men, sie wären von den Kriminalgerichten bereits verurteilt und
erst hierdurcli offiziell gebrandmarkt worden. Und das gilt
sowohl im Privatleben als in der öffentlichen, politischen Welt.
Was das erstere betrifft, so ma^ nur jeder an seine eigenen
Erfahrungen in dieser Beziehung denken; es wird gevvili eine
beträchtliche Anzahl von Individuen geben, mit denen er
Umgang pflegt und denen er nicht einmal Vorwürfe macht,
obwohl er entweder von großen Gemeinheiten oder selbst
Verbrechen derselben weiß, welch letztere jedoeh nur in
privaten, aber noch nicht in Gerichtskreisen bekannt sind.
Und was politische Persönlichkeiten betrifft, so wird
weder die Etikette noch selbst die Herzlichkeit gegen Indi-
viduen von vornehmer oder höchster Stellung im geringsten
beeinträchtigt mögen sie was hnnter vert>rochen haben, sei
es in ihrem Privatleben (z. B. gegen Familienmi^ieder), sei
es in ihrer öffentlichen Wirksamkdi Beispiele gibt es un-
zählige» heute wie seit jeher. Um nur einen Fall zu er-
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— 262 —
wähnen, so sei darauf hingewiesen, wie Napoleon III. nach
dem Staatsstreich, also trotz dieses Aktes von Massenmord,
von aller Welt geehrt und besonders von den Höfen und
Potentaten mit aller Auszeichnung behandelt wurde; nicht
nur äußerlich, weil er die Macht des französischen Staates
vertrat, sondern auch aus innerem tintgegenkommen. Noch
mehr gilt das von der förmlichen Ehrfurcht, die man der
verwitweten Kaiserin Eugenie entgegenbringt, in den Jour-
nalen sowohl, als auch seitens der Höfe und der höchsten
Staatsbeamten; obwohl man doch weiß, daß diese Frau bloß
zum Vorteil ihrer Familie, ihres Sohnes namentlich, den
schrecklichen deutsch-französischen Krieg veianlaOte und so
Krankheit und Tod von hunderttausend Menschen mit Be-
wußtsein und Absicht verschuldete. Sie wird trotzdem immer
als die ehrwürdige Dulderin, als »kaiserliche Witwe« mit
ailer möglichen Aufmerksamkeit zartem Mitgefühl, ja mit
Devotion empfangen und so auch in den Zeitschriften be-
handelt
Hiernach muß man im Falte Voltaire-Katharina immer
nur fragen: Was hätte Voltaire da tun sollen? Daß
diese ganze vornehme und vornehmste Gesellschaft moralisch
faul war, wußte er UUigst, ändern konnte er da nichts. Es
wäre also entweder nur flbrig geblieben, sich zurflckzuziehen,
was mit seinen höheren und allgemeineren Absichten nicht
. vereinbar war, oder, wenn er die Korrespondenz fortsetzt^
der Kaiserin einen »Verweis« zu geben, wie er es d'Alerobert
ankündigte, und wie er es ja Friedrich dem Großen gegen-
über w^en seiner »Menschenschlächterei« wirMfeh getan
hatte.
Ob Voltaire Katharina Vorwurfe gemacht habe, steht
wie gesagt, dahin; wenn ja, so iiättc die russische Kaiserin
ihm höchst wahrscheinlich die Notwendigi<eit der Mordtat
auseinander gesetzt und bei der wilden und gefährlichen
Natur Peter's lü., das Verbrechen als einen Akt der Not-
wehr geschildert. Und in der Tat: obwohl die Pariser
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— 263 ~
Freunde über die oben zitierten Worte Voltaire's lebhaft
entrüstet waren, billigte man doch fast in ganz Europa die
Tat Katharina's in anbetracht der Cliaraldereigensciuften
ihres Gatten. Nur der eine Satz Voltaire's ist unl>edingt
nicht zu billigen, den auch Walpole so empört zurfidc-
wiest*) »Obrigens ist es nicht sclilecht, wenn man einen
Fehler gut zu machen hat; das verpflichtet zu großen Al^
strengungen usw.« Diese Ansicht stdit ganz außerhalb der
Sachen ist an sich unrichtig, gäbe aber nur dann gerechten
Anlaß zur wirtdichen Entrüstung, wenn durch ihn eine
Billigung von Verbrechen ausgesprochen werden sollte.
Davon ist aber bd Voltaire kdne Rede^ und ich habe die
Mdnung, daß dieser Satz von ihm nur. so hingeworfen
wurde, um der ganzen Sache, die nun dnmal geschehen
war, wenigstens auch dne gute Seite abzugeiK^nnen oder
absehen zu können. Schöner wäre es aber allerdings ge-
wesen, wenn Voltaire ihn nicht geschrieben hätte. — In
dnem solchen Falle wie dem hier besprochenen ist es aber
interessant und belehrend, daran zu denken: Wie hätte sich
Rousseau dabei benommen?
Ich glaube, er würde, wenn er mit Katharina korrespon-
diert hätte, ihr eine lange Strafpredigt gehalten, aber, gerade
so wie Voltaire, den Verkehr mit ihr nicht abgebrochen
haben, ebenfalls aus dem Grunde, um seine politischen oder
pädagogischen Maximen durch sie ins Werk gesetzt zu
sehen. Und daß Rousseau sich von Katharina nicht zurück-
gezogen hätte, schließe ich nach der Analogie aus seinem
Verhalten Friedrich dem Großen gegenüber. Er empfand
es, genau wie Voltaire, mit Abscheu, daß Friedrich aus Ehr-
geiz so viel Menschenleben opferte, und er wirft ihm, eben-
falls wie Voltaire, die Menschenschlächtereien vor. »Ent-
ziehen Sie mdnen Blicken diesen Degen, der mich blendet
*) Siehe Desnoiresterres' Voltairebioffraphie (Band: Voltaire et
j. J. Rousseau S. 380).
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und verwundet; er hat seine Pflicfit nur zu sehr getan, und
das Zepter ist verlassen,» schreibt er an Friedrich im Ok-
tober des Jahres 1762; und früher einmal: Ich habe viel
Übles von Ihnen gesagt; ich werde vielleicht noch mehr
sagen - Aber in demselben Schreiben ersucht er den preußi-
schen König um ein Asyl in dessen Staaten, da er überall
verfolgt werde, und in jenem ersteren vom Oktober nennt
er ihn: Friedrich den Gerechten und Gefürchieten.<'
Ich möchte zur noch besseren Verdeutlichung des Ge-
sagten auch fülg;ende Stellen aus Rousseau's Confcssions;
hierher setzen, die sich auf diese Zeit beziehen, als er sich
unter den Schutz Friedrich 's des Großen stellen wollte:
»Die angeborene Oerechtigkeitsliebe, die mein Herz be-
ständig verzehrte, im Verein mit meiner geheimen Neigung
für Frankreich, hatte mich mit Widerwillen gegen den König
von Preußen erfüllt, der mir durch seine Grundsätze
und Handlungsweise alle Achtung vor dem natur-
lichen Oesetz und allen menschlichen Pflichten mit
Füßen zu treten schien.« »Unter den eingerahmten
Kupferstichen in Rousseau's Wohnung befand sich ein Por-
trait dieses Fürsten, unter dem ein Distichon stand, das mit
den Worten endete: Er denkt als Philosoph und zeiget sich
als König. .... Der dem vorangehende Vers lautete: Der
Ruhm, der Eigennutz, das ist sein Oott, sein Recht« Etwas
weiter schreibt Rousseau (am selben Orte): ». . . . Deshalb
war ich völlig fil>erzeug^ mit roter Tinte in die Listen des
Königs von Preußen eingetragen zu sein.«
». . . . Oleichwohl wagte ich, mich in seine Oewalt zu
begeben, und war überzeugt, wenig Oefahr zu laufen.«
Und da sich, wie bekannt, Friedrich g^gen Rousseau sehr
entgegenkommend zeigte, Ihn sogar auch pekuniär unter-
stützen und ihm ein Häuschen nach seinem Oeschmacke
bauen lassen wollte schrieb dieser (in den Bekenntnissen):
»Obgleich ich keines von heAdtn annahm, betrachtete ich
Friedrich als meinen Wohltäter und Beschützer und war
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ihm so aufrichtig zugetan, daß ich mich von da an
eben so sehr für seinen Ruhm interessierte, als ich
bisher in seinen Erfolgen Ungerechtigkeit erblickt
hatte.
Rousseau hat sich also von Friedrich nicht zurückge-
zogen, nicht seine Hilfe verschmäht und ihn auch sogar
noch gepriesen.
Es scheint also, wenn selbst ein solcher Rigorist wie
Rousseau, der doch immer jene Haltung einzunehmen suchte,
die dem Maximum der strengen Tugend zu entsprechen
schien, so vorgeht, daß man auch Voltaire keine Vorwürfe
machen kann, und daB es überhaupt, bei der Zusammen-
gesetztheit der menschlichen Charaktere aus Bösem und
Gutem, gar nicht angeht, Jemanden, der sonst Outes
anstrebt,*) wegen einzelner schlimmer Handlungen
ganz zu verdammen, und ihn aus der menschlichen Oe-
sellschaft veii)annt zu wünschen — von dem etwaigen
Schutz derselben abgesdien, wenn ein solcher Oberhaupt
durchfOhrbar ist —
Viel wichtiger aber als alles Bisherige^ wo es sich doch
nur um einige Worte und kelnerid unwürdige Handlung
Voltaire's handelte^ ist es zu fiberiegen, wieso er zu den
Ansichten kam, die seinen Aussprüchen von der »Zweck-
mäßigkeit eines zu reparierenden Fehlers,c von dem »großen
Nutzen des kleinen Obels« und von den »großen Dingen,«
die Katharina im Gegensatz zu Peter III. ausführen werden
zugrunde liegen.
Man fühlt ganz deutlich, daß man diese Aigumentationsart
durchaus nicht gutheißen kann; worin 11^ das? Es
liegt an einem Grundfehler im politisch-ethischen
Denken, der darin besteht, daß wir — noch heute
— die physische Integrität menschlicher Individuen
in Vergleich setzen und sogar hintansetzen gegen-
über irgend welchen Fortschritten, untergeordneten
*) Ich meine iüer: Katharina.
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Vorteilen oder schönen allgemeinen Ideen und
Gefühlen.
Man glaubt, ein Gutes, das zwar nicht absolut für die
Existenz der Menschen notwendig ist, aber doch höchst
wünschenswert erscheint und sich über eine große Zahl
von Menschen erstrecken kann, dürfe und solle der Existenz
eines einzigen oder auch mehrerer, ja vieler Indivi-
duen, vorgezogen werden. Wenn es sich also um »Ehre
des Staates« oder um Crmöglichung von sozialen Reformen oder
um Handelsvorteile und deigl. handelt, so könne man ohne alle
Bedenken Menschen zu solchen Zwecken opfern; also sie
zum Kriegsdienst zwingen oder sie einer religiösen Tendenz
zu Uebe verfolgen, wie zur Zeit der Dtagonnaden und der
Inquisition, oder, wie im Falle Katharina-Peter, einen Menschen,
der irgend welchen Fortschritten im Wege stdit, ermorden
und deigleichen mehr.
Diese so unheilbringende Ansicht ist die Grundlage
unseres barbarischen Denkens in ethischer und politischer Be-
ziehung: und erst, wenn — außer im Falle der Notwehr
— die Achtung vor der physischen Integrität jedes
einzelnen Menschen so hoch gestiegen sein wird,
daß alles andere dagegen ffir nichts gerechnet wird,
kann man von einer erreichten ethischen Kultur
sprechen.
Und daran fehlte es eben, wie bisher bei allen Re-
formern ohne Ausnahme, auch bei Voltaire, der vor allem
die Fortschritte der Zivilisation im Auge hatte, ohne die
fundamentalen Erfordernisse, welche menschliche Exi-
stenzen betreffen, von allen anderen, die nur sekundäre
genannt werden können, zu unterscheiden.
Worin hier Voltaire nur in einem einzelnen Fall und
nur in hingeworfenen Worten gefehlt hat, darin fehlen in
systematischer Weise alle Staatsphilosophen und Politiker,
die dem Staat das Recht über Leben und Tod seiner Bürger
zuschreiben, wie das heute noch beim erzwungenen Kriegs-
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— 267 —
dienst und, noch allgemeiner, in Rousscau's Contrat social
verlangt wird, wo das Leben des Bürgers überhaupt in
erster Linie dem Staate gehört. Im fünften Kapitel des
zweiten Buches des Oesellschaft svertrages meint nämlich
Rousseau: »Wenn der Fürst (Souverän, Staatsoberhaupt)
ihm (dem Staatsbürger) gesagt hat: Dein Tod ist für den
Staat erforderlich, so muß er sterben.« Genau dies Argu-
ment hätte Katharina anführen können, indem sie sich als
zwar nicht rechtliche, aber doch als freiwillige, moralische
und faktische Vertreterin des Staates Peter lU. sc^enOber
hätte aufspielen können. Und etwas von diesem Argumente^
dieser Denkart, steckt eben auch in Voltaire's Satz von
dem vielen Outen, das aus dem kleinen Übel hervoiigehen
könne.*) —
Noch eine Seite im Charakter Voltaire's, die bis auf
den heutigen Tag» namentlich von den radikalen Demokratoi
und den Sozialisten, mit vieler Entrilstung hervoiigehoben
wird, betrifft seine sogenannte aristokratische Oesinnung.
Diese entnimmt man sdnen zahlreichen Äußerungen Aber
den »ungd>i!deten Pöbel«, Aber die »Kanaille« und der-
gleichen.
Nun ist es zwar richtig, daß Voltaire nicht entfernt in
dem Alaße als Reprisenlant des sogenannten niederen Volks
angesdien werdoi kann, wie Rousseau; das hat aber nicht
dasOerIngste mit einer Mißachtung und nichts mit
einem Fehlen an Mitgefflhl zu tun. Der wesenfliche
Unterschied zwischen diesen beiden Reformern liegt im tief-
sten Oninde darin, daß Voltaire voraussetzte, alleVerbesse»
rungen der Oesellschaft sollten von humanen und aufge-
klärten Staatsmännern dem Volke gegeben werden; Rousseau
aber von dem Gedanken erfüUi war, daß sich das Volk die
*) Auf die Wertlosigkeit hinzuweisen, die in Rousseau's Be-
grfindnng: des oben ringeführten Satzes Hegt, ist hier nicht der Platz.
Es wäre gut, das Kapitel über die Wehrpflicht ijn »Recht zu leben« . .
mit Rousseau's V. Kapitel im Contrat social zu verglddien.
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Gesetze und Retormen selber ^eben soll. Politisch ge-
nommen, ist offenbar zwischen beiden Anschauungen eine
grobe Differenz vorhanden — und ich halle die Rousseau'-
sehe für einen i^roßen Fortschritt — aber, was das Huma
nitätsgefühi selbst betrifft, so sind beide o^anz gleichwertig.
Wie sehr Voltaire die bäuerliche Bevöliceruiig achtete^
dafflr zeugt nicht nur seine Korrespondenz, sondern er be*
wies es, mehr als jeder andere und auch als Rousseau,
durch die Tat. Man erinnere sich nur danui, daß er, kaum
in Femey zur Ruhe gekommen, schon die Requftte ä touts
les magistrats du ro^ume zugunsten der Bauern von Saint-
Oaude verfaßte, die mit den Worten b^nnt: »Der
nfitzllchste Teil des Menschengeschlechts, jener,
der uns ernährt, schreit aus dem Schöße des Elends...«
Und wie er, der sich selbst einen Landwirt nannte —
und es auch in großem Stile war*) — der Bevölkerung in
Ferney hilfreich zur Seite stand, ist ebenfalls bekannt. Über-
dies kämj^fte er zeitlebens für Gleichheit aller vor dem Ge-
setze und gegen alle Kastenprivilegien.
Nur in einem Punkt machte er einen Unterschied, und
der betrifft den religiösen Aberglauben. Irrtümhcherweise
nimmt man ziemlich allgemein an, Voltaire habe die ar-
beitende Bevölkerung verachtet, während er doch nur
ihren Aberglauben verachtete und dagegen prote-
stierte, dali die GeisUichkeit und Re^^ierung die Gebildeten
zwingen wollen, sich der Superstition der großen Masse zu
accommodieren. Und nichts wünschte er sehnlicher als die
Möglichkeit, diese große Masse aufzuklären, obwohl er
allerdings an dieser Möc^lichkeit beinahe verzweifelte.
»Aufgabe der Philosophie ist es , schrieb er an Hel-
vetius, den Volksglauben lächerlich zu machen und den
Kanzler wie den Schuhmacher aufzuklären.^ Aber
er hatte wenig Hoffnung. In diesem Sinne schreibt er (im
*) Sein Zuchtvieh war das prächtigste auf dem Kontinente.
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J. 1766) an Damilavüle : »Ich glaube, daß wir einander nicht
verstehen betreffs des Pöbels, welchen Sie für würdig halten,
unterrichtet zu werden. Ich verstehe unter Pöbel die Be-
völkerung, die nur von ihrer Händearbeit lebt. Ich zweifle,
daß diese Klasse von Bürgern jemals die Zeit und die
Fähigkeit haben kann, sich zu unterrichten; sie würden vor
Hungfer sterben, ehe sie Philosophen wären. . . . Nicht der
Handarbeiter ist es, der unterrichtet werden muß, es ist der
gute Bürger, der Stadtbewohner; diese Unternehmung ist
stark lind grol^ genug.
Wie hätte auch damals Voltaire an die Möglichkeit der
Aufklärung des niederen^ Volkes glauben können, wo selbst
die höheren Schichten noch der Aufklärunjr bedurften, und
zudem eine solche ökonomische Befreiung der großen
Massen auch nicht entfernt in Aussicht stand, zufolge der
sie Zeit zu höherer Bildung gewonnen hätten! Und wie
ist es denn heute in dieser Beziehung bestellt? Die ganze
bäuerliche Bevölkerung und der kleine Mittelstand selbst in
den Städten — wenigstens in vielen katholischen und ortho-
dox-gläubigen Ländern, wie Spanien, Bayern, Belgien, Neapel,
Österreichs Alpenländern und Wien, ferner in Polen und Ruß-
land — steht noch fast auf derselben Stufe wie zur Zeit Vol-
talre's; sie haben noch heute keine Zeit, sich zu unterrichten
und es wird ihnen auch von den reaktionären Mächten soviel
als m^^ich die Gelegenheit dazu benommen. Und was wdter
traurige Wahrheit ist: Eine sozialökonomische Reform in
jenem großen Stile^ der die breiten Massen von ihrer harten
Arbeit entlasten würde und ihnen Zeit zur höheren Ausbildung
ließe, liegt in noch weiter Fetne. Daher könnte Voltaire
noch heute wie damals zu d'Argental sagen: »Die Wahrheit
ist nicht gemacht für die unteren Klassen» die in die Messe
und Predigt gehen können, selbst zum großen Vorteile ihrer
Herren.« Und bei dem heutigen Stande der Dinge ist
sogar noch zu unserer Zelt die Bemerkung Voltaire's (tn
demselben Schreiben an d'Aigental) nicht ohne Akhialität:
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— 270 —
»Es ist der größte Dienst» den man dem menschliclien Oe-
schlechte erweisen kann» den törichten Pöbei f&r immer von
den gebildeten Menschen zu unterscheiden, es scheint mir»
daß die Sache auch schon weit gediehen ist Man sollte
die absurde Unverschimthdt jener nicht dulden, die Euch
sagen: Ich will, daß Ihr so denkt wie Euer Schneider und
Eure Wischerin.c
Will man aber das letztere nicht heute noch? Ist nicht
die ganze religiöse Gesetzgebung in vielen Staaten noch
heute von dieser »absurden Unverschämtheit«?
Wenn also Voltaire auch einmal das Wort Kanaille«
gebraucht, so lag in diesem Ausdrucke weder der Wunsch,
das Volk möge Kanaille bleiben, noch irgend eine Ver-
achtung dieser gedrückten Menschenklasse, sondern der
Zorn über ihren geistigen Tiefstand. Alle jene, die Voltaire
als einen Volksverachter hinstellen, wie z. B. Louis Blanc^
tun ihm also vollständig Unrecht
Wir haben heute den immeriiin bedeutenden Fortschritt
gegenQber der Zeit Voltaire's gemacht, daß, nebst dem kleinen
Bevölkerungsteile der sogenannten intellektuellen, eine nicht
geringe Zahl der Industriearbeiter in religiöser Beziehung
hei ist; sie gehen in- keine Messen in keine Predigt und
gewinnen sich mit größter Energie etwas Zelt ab, um sich
zu bilden. Voltaire konnte damals so etwas gar nicht ahnen,
und man erkennt eben daran, was fQr herrliche Früchte seine
und anderer Bemfihungen denn doch getragen hat>en.
Ja, man kann in einer Äußerung Voltaire's sogar schon
eine Ahnung von solcher Möglichkeit erkennen, und diese
Äußerung ist wohl imstande, den verbissensten Gegner
dieses vermeintlichen Aristokraten^ und Volks Verächters«
mit ihm vollkommen zu versöhnen. Es handelt sich näm-
lich um eine Korrespondenz Voltaire's mit dem bekannten
Advokaten und Rechtsgelehrten Linguet.
Dieser schrieb an Voltaire^ er glaube, es sei alles ver-
Jiyiii^uü by Google
— 271 —
loren, wenn man das Volk in die Lage tiringe, zu bemerken»
daß es auch einen Oeist habe.
Voltaire antwortete ihm (am 15. März 1767). Nach
einigen Bemerkungen über Oroiius, Puffendorf und Montes-
quieu kommt er auf die von Linguet anpferegie Fra^e:
»Unterscheiden wir in dem, was Sie Volk nennen, die
Berufe, welche eine gebildete Erziehung erfordern, und jene,
welche nur die Kraft der Arme und eine tägliche Arbeitslast
verlangen. Die letztere Klasse ist die zahlreichste. Diese
wird zum Zwecl<e der Erholung und zu ihrem Vergnügen
nirgendwo anders hingehen als in die ^rolk- Messe und
ins Wirtshaus, weil man dort singt und weil sie dort selbst
mitsingt; was aber die höherstehenden Handwerker betrifft,
die schon durch ihre Profession selbst gezwungen sind,
nachzudenken, ihren Geschmack zu vervollkommnen, ihre
Einsichten zu erweitem, diese beginnen in ganz Europa
zu lesen. Sie in Paris kennen die Schweizer nur als Tür-
steher der großen Herren, oder als jene^ die Molito in
einigen Possen eine unverstandliche Bauernspiache sprechen
ISfit; aber die Pariser würden erstaunt sein, wenn sie in
mehreren Städten der Schweiz, besonders aber in Oenf,
sehen wGrden, wie fast alle Manufakturarbeiter die frde Zeit
zum Lesen benQtzen.
Nein, mein Herr, es ist durchaus nicht alles verloren,
wenn man das Volk in den Stand setzt, gewahr zu werden,
daß es eine Seele besitzt Im Gegenteil: Alles ist ver-
loren, wenn man es wie eine Herde Stiere be-
handelt; denn frflher oder später stoßen sie Euch
mit ihren Hörnern. Glauben Sie, daß das Volk gelesen
und überiegt hat in den Kriegen der weißen und roten
Rose in England, oder in dem Kriege, der Karl I. aufs
Schaffet brachte, oder während der Schrecken der Armagnacs
und Burgunder, oder selbst in denen der Ligue? Das Volk,
unwissend und wild, wurde von einigen fanatischen Dok-
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^ 212 —
toren geführt, wdche schrien: »Töiet alles, im Namen
Gottes! . . .«
Ober diese herriichen Worte sind wir heute noch nicht
hinaus. Und wem Voltaire noch immer nicht genug »Volks-
freund« zu sein scheint, der sd damuf aufmerksam gemacht,
daß Voltaire in Volksfreundschaft, trotz seiner glänzenden
Lebensstellung, Niemandem nachsteht; auch Rousseau nicht
Der Unterschied zwischen beiden, der eben den falschen
Schein zu Ungunstoi Voltahe's hervorruft, ist nur der, daß
dieser sich immer an die intelligenten, mächtigen und ein-
flußreichen Kreise wendet, — »an die fünfhundert Weisesten
der Nation,« sagte er selbst einmal — um die sozialen und
politischen Reformen, also ohne Benützung der W^ucfu der
Massen, durchzuführen; während Rousseau sich fast immer
abseits von den Intelligenten und Mächtigen hält, sie zu
nichts Gutem, aber stets zu allem Bösen geneigt stellt, bei
den Volksmassen nichts als Tugenden voraussetzt, und
ähnlich wie das Evangelium, einen Keil von Haß, Groll und
Neid zwischen Reich und Arm, Vornehm und Niedrig ein-
treibt; durch welche Methode der Sciiein erweckt wird, als
ob er der ^röliere Voiksfreund wäre, allerdinp^s aber auch der
Nutzen entsteht, durch den anpfehMuften Groll der Volks-
massen ihr Selbstbewußtsein namentlich in Beziehungr auf
ihre Macht zu heben, und diese neue Kraft für raschere
Realisierung von Reformen benutzbar zu machen.
Eij^rentliche Revolutionen mit Hilfe der grolieri
Volksmassen zu machen, wäre aber Rousseau
ebenso wenig geneigt gewesen, wie Voltaire; er hat
sich darüber in diesem Sinne direkt ausgesprochen.
In einem Briefe aus dem Jahre 1766 an einen »Welt-
bfliiger«, der ihm mitteilte, daß er Weib und ICinder ver-
hissen woile^ um sich fur's Vaterland zu opfern, schreibt
ihm Rousseau:
»Was mich betrifft, so bekenne ich, daß ich um Nichts
in der Welt auch nicht an der legitimsten Verschwörung
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— 273 —
Teil haben möchte, denn alle solche Untemelimuiif^en können
doch nit^ ohne Aufruhr, Unordnungen, üewaiitätigkeiten,
selbst Blutvergießen ausgeführt werden, und weil nach
meiner Meinung das Blut eines einzigen Mcnsclien von
höherem Werte ist als die Freiheit des ganzen Menschen-
geschlechts. Wer aufrichtig die Freiheil lieht, braucht sie
nicht mit so vielen Mitteln aufzusuchen und ohne Revolution
oder Ruhestörungen zu verursachen, wer frei sein will, der
ist es in der Tat.^
Rousseau stellt also, wohl zu nicht p^eringer Über-
raschung der Meisten, die ihn zu kennen glaubten, den
Satz auf: »Das Leben eines einzigen Menschen ist
mehr werf als die Freiheit des ganzen Menschen-
geschlechts.« Eine grandiose Maxime, die mit seinen
Ansichten und seiner Stimmung im Contrat social in vollem
Widerspruche steht; eine Maxime, welcher der Ethiker bei-
stimmen muß, und die der Realist durch den Satz ergänzen
muß: >— wenn man nicht aus eigenem Antriebe sein Leben
der Freiheit opfern will.«
Wenn wir alles überschauen, was uns an Voltaire miß-
fallen kann, so — glaube ich — mflssen wir nicht wenig
darüber erstaunen, wie wenige Fehler wir an seinem Charakter
entdecken konnten. Er erscheint uns» mit Diderot, als
einer der besten und relativ fehterfreiesten aller namhaften
Männer seiner Zdt und Umgebung. Ja, es ist flberdies
geradezu überraschend, in einer, privat moralisch ge-
nommen, so liederlichen Oesellschaft nicht nur einen so guten,
sondern auch einen so lasterfreien Mann zu finden.
Wie geringl'ügig sind alle Fehler, die wir oben — mit
voller Objektivität, ohne uns von irgend einer Vorein-
Popper. Volutüc 18
L/iyiii^ü<j by Google
— 274 —
genommenheit beirren zu lassen — förmlich mit allem Fleiß
Zusammengesuch t fi a b c n !
Wie viele, unt,Heich schlimmere Sachen ha! es doch bei
den meisten GroÜen der Kulturgeschichte oder der Litteratur-
geschichte gegeben; die man zudem immer — mit Recht
— rühmt, ohne jene dunklen Punkte aus ihrem Leben gejii'en
ihre Verdienste auszuspielen, wie man dies bei Voltaire aus
einer Art von Idiosynkrasie zu tun gewohnt ist. Bei allen
anderen großen Individuen schweigt man, oder spricht nur
nebenbei und in schonendster Form von ihren Fehlem und
läßt es sich, wie es auch sein soll, nicht einfallen, diese
Großen, als ganze Persönlichkeiten, degradieren zu wollen.
Was aber die Güte des ganzen Wesens betrifft, so wird
man in allen Jahrhunderten nur sehr wenige finden» die an
Voltaire hinanreichen. Als Privatmann und zugleich als
Mann des öffentlichen Wiricens so viel Wohlwollen zu be^
sitzen, war nur sehr wenigen Menschen gegeben; möge
nur Jeder In Oedanken die von ihm gdlebtesten oder be-
wundertsten JS^ner Revue passieren lassen — er wird mir
ohne Zweifel Recht geben.
Wenn aber im Veriaufe mdner Diskussionen Über den
Privatcharakter berühmter Männer und der Menschen über-
haupt mancher Leser den Kopf dazu schütteln sollte, daß
bei der Behandlung eines so eimluikeichen Mannes wie
Voltaire solchen Betrachtungen so viel Raum gegeben wird,
so erinnere ich nur daran, daß es sich hier ja darum handelt,
auf jene endlosen Diskussionen zu reagieren, die sich eben
auf den Privatcharakter Voltaire's beziehen.
Und wenn ich so oft auf die Eigenschaft der Oüte
zurückkomme und auf sie ein so großes Gewicht bei Be-
urteilung eines Menschen lege^ so geschieht dies nicht nur
im Hinblick auf die Verteidigung Voltaire's, der von seinen
Gegnern und von Unwissenden oder Unverständigen als
mephistophelisch, als geizig, ungut usw. hingestellt wird,
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— 275 —
sondern ich spreche so viel über Güte auch zu dem Zwecke,
um auf das Große aufmerksam zu machen, das in dieser
Eigenschaft und die unrichtige allgemeine Auffassung
zu korrigieren, welche Güte als etwas Untergeordnetes an-
sieht» das gegen Oenie, Energie, Gelehrsamkeit und der-
gleichen nur von geringer Bedeutung sei.*)
Es ist nicht nur der Nutzen, den man direlct oder in-
direkt von einem guten Menschen zu erwarten ha^ der
Ofite so schätzenswert macht, sondern es ist schon die
blo6e Tatsache^ daß gute Menschen existieren, eine Trost-
ersdieinung inmitten aller der feindlichen JMiclite der Natur
und inneriialb der Menschheit selbst Weder natfirliche
Intelligenz oder Genie, noch Bildung, noch Schönheit oder
bloße flufieilldte Liebenswürdigkeit, auch nicht vornehme
Oesinnung, selbst nicht Schwung und Idealtsmus, vermögen
sich mit Güte an gewissermaßen tröstendem, beruhigendem
Wert zu vergleichen.
Wenn irgendwann in einer Oesellschaft — die doch
wohl zumeist aus boshaften oder mindestens kalten und bloß
eigennützigen Individuen zusammengesetzt ist - ein wahr-
haft guter Mensch erscheint, dem man in der Regel ja diese
Eigenschaft schon am Gesicht ablesen kann, so ist es, wie
wenn inmitten der dunkeln Nacht die Sonne aufgeht. Und
wenn nun zur OOte und zum hilfreichen Wohlwollen
auch noch die äußere Liebenswürdigkeit, und beides in
so hohem Grade, hinzukommt, wie das bd Voltaire und
fast nur bei Voltaire der Fall war, so fühlt man ein höchstes
Wohlt>ehagen bei dem Gedanken, daß überhaupt irgend ein«
mal ein solcher Mensch gelebt hat Ich halte eine solche
Erscheinung und ihr Andenken für weit höher stehend, ais
die Erinnerung an eine Erscheinung grOBter Schönheit» die
zu preisen Künstler nie müde wurden.
*1 Vielleicht der einzige Schopcnhiuer macht hier eine rühinli€lie
Ausnahme, hie und da maait auch Kaiit ähnliche Bemerkuugen.
18*
üiyiiizeü by Google
— 276 ^
Indem ich das sage, bitte ich zugleich den und jenen
Leser, nur nicht sofort seinen vielleicht »nüchternen« oder
»kühlen« Kopf zu schüttein. Da6 man sich infolge aller
meiner Darlegungen von der ganz unbegründeten, ja ab-
surden Ansicht befreit haben werde, Voltaire sei boshafter,
mephistophelischer, geiziger Natur gewesen und dergL mehr,
setze ich allerdings hier voraus, obwohl, wie ich schon oben
sagtev ich dieser Wirkung meiner Auseinandersetzungen mich
nicht ganz sicher fühle
Demnach wende ich mich nur an jene^ die sich von
mir fiberzeugen ließen und sage ihnen: Schüttelt eure KÖple
nicht aUzusehr, wenn ich den Wunsch ausspreche^ man
möge das Andenken an eine solche Indivklualität, die Ofite
und Liebenswürdigkeit in so ungewöhnlichem Ma8e ver>
bunden besaB, wie eben Voltaire^ für höher stehend halten,
als die Erinnerung an die außerordentlichen Schönheiten, die
durch die Kunst- oder real durch die Kulturgeschichte
schreiten.
Man tut ja übrigens schon dei^eichen!
Mit Recht geben sich Tausende gesitteter Menschen
mit höchster Freude und mit einzigartigem Wohlbehagen
dem blolkii Gedanken an die außerordentliche Individualität
iiin, die mit Goethe in die Welt gekommen war. Auch
diese Individualität ist, von der enormen Begabung ganz
abgesehen, eine eigene Art von Schönheit, die der bloß
sinnlich-äußeren Schönheit aller Helenen mehr als ebenbürtig
ist. Und wenn wir den Dingen auf den Grund gehen, so
werden wir finden, daß der rätselhaft starke Einfluß so
mancher Persönlichkeit der Kultur- und namentlich der Re-
ligionsgcschichte nur durch den im p^randioscn Stile ästhe-
tischen Eindruck zu erklären ist, den die eigentümliche In-
dividualität dieser Persönlichkeiten hervorbringt ich nenne
hier nur: Jesus von Nazareth.
Und ich nenne noch weiter: Franz von Assisi. Dieser
»liebenswürdigste aller Christen« wird in der neuesten Zdt
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— 277 —
immer mehr beachtet und geliebt; man forscht immer mehr
und schreibt immer mehr über diesen Mann» der ebenMs
Oflte und Liebenswardiglceit in ungewöhnlichem Maße ver-
eint besafi. Auch die vollstflndig reiigionsfreien, aber ge-
sitteten Menschen smd in diesen wirklich edlen » Heiligen <
wie verliebt, und »Verliebtheit« dürfte auch in der Tat der
richtige Ausdruck fflr jenes Oeffihl sein, das wir solchen
Individualitäten entgegenbringen. Veriiebt ist man aber
Immer nur in Schönheit irgend einer Art; wir können daher
mit vollem Recht die hingebende Sympathie fflr Individuali-
täten als eine ästhetische Stimmung bezeichnen, die mit der
für die berühmten Schönheiten einer Helena, einer Venus
von Milo, eines Antinous usw. als wesensverwandt, aber
ethisch viel höher stehend gelten muß.
Der gleichzeitige ethische Kern in solchen Erschei-
nungen, wie in Franz von Assisi, unterscheidet sie eben
wesentlich von jenen bloß forma! hervorragenden glänzen-
den Persönlichkeiten, an denen es ja auch durchaus nicht
fehlt. Es ist höchst interessant, eine Gestalt wie z. B.
Ignatius von Loyola näher zu betrachten, die man zwar nie
lieben, aber kaum mit genug Staunen studieren kann. Loyola
war in seinen persönlichem Umgang einer der liebens-
würdigsten Menschen, die je e^elebt hatten, und diese Eigen-
schaft — in Verbindung mit seinem an Napoleon erinnern-
den Organisationstalent und mit seiner Ausdauer in der
Ausführung seiner Pläne — half ihm in hohem Maße bei
seinen schwierigen Unterhandlungen mit den schlauesten
Persönlichkeiten seiner Zeit.*)
Er verdankte die seltene Eleganz seiner Umgangsformen
vielerlei Umständen. Er stammte aus einer adeligen Familie^
diente als Edelknabe am Hofe Ferdinands des Katholischen
und besaß eben von Natur aus Noblesse des Charakters^
*) Ich entnehme die hier angeführten Details dem hochbedeuten-
den weil» Eberhard Oothdos: »igiuititis von Loyola und die Oegen-
refoimation.«
Lxiyui^uu by Google
— 278 —
lebhafte» stets aufs OroBe gerichtete Phantasie und eine
ritteriiche Bildung. Aber keine Spur von Oflte! Obwohl er
in seiner Art eben so fromm war wie Franz von Assisi in
der seinigen.
Aber selbst dieser liebenswürdige Ideine Heilige — wie
Renan ihn nennt — besaß jene Ofite eigentlich weniger von
Natur aus; vor seiner Bekehrung war er bei weitem nicht
der, der er nachher war. Die Liebenswürdigkeit und Heiter-
keit des Wesens war da, aber auch Ehigelz, »Begierde^ allen
Olanz und Wert der Welt zu erkennen und an sich zu
reißen , sowie »Prassen, Hochmut und Vergeuden«. Gegen
alles das ist nichts einzuwenden, aber damit wird man nicht
jener Franziskus, den alle guten Menschen heute noch so
lieben, als ob er ihr Kind wäre.
Es war eben sein unglaublich demutsvoller Aberglaube,
dem er seine im Grunde phantastische Güte zu verdanken
hatte, aber auch unsere Liebe verdankt er zum großen Teile
unserer Rührung über seine einzigartige religiöse Naivetät
Wenn man diesen Umstand sich zum klaren Bewußt-
sein bringt, so sieht man erst, was es heißen will, wenn
ein Mann als Typus der Liebenswürdigkeit und Güte galt
und immer gelten wird — falls man ihn nur näher kennen
lernt — , der nichts von Demut an sich hat, die uns zur
bemitleidenden Rührung bringen könnte; der einen enormen
Verstand, also eine Eigenschaft besaß, die zufolge unseres
irrigen Vorurteils im Vorhinein uns an seiner Güte zweifeln
läßt; der niemals an sein eigenes Glück zu arbeiten vergaß,
und der, wenn es galt, auch tapfer dreinzuschlagen verstand.
Und doch bewunderte man seine Liebenswürdigkeit! Der
Dichter Thomas sagte in seiner Ode auf den Tod Voltaire*s:
»Der größte Mann des Jahrhunderts war acugleich der liebens-
würdigste.«
Obwohl nicht adelig geboren, wurde Voltaire doch der
Hauptsache nach in adeligen Kreisen erzogen; in diesen
lernte er Eleganz der Manieren und noch mehr als das.
üiyiiizeü by GoOglc
279 —
Denn in der ganzen Geschichte des Adels im Laufe der
Jahrtausende gab es nie dne solche hochstehende Aristokratie,
wie zu Voltaire s Zeit. Allerdings lag der Grund, aus welchem
dem damaligen französischen Adel die gewohnten schlechten
Eigenschaften der Aristokratien fehlten, darin, dal5 er keine
politische Rolle, sondern nur eine solche als HoHingspartei
am Hofe des Königs spielte. Er konnte daher als eine
Gesellschaftsklasse, die sich in gedeckter, ökonomisch-
sorgenloser Stellung befand» beim Volke in unwilikürlicliem
Respekt stand und schließlich gewissermafkn biologisches
Resultat einer hochkultivierten, begabten und von Natur
liebenswürdigen Nation war, sich der vollsten Entwicklung
schöner Sitte und Bildung hingeben.
Mit Recht sagt Taine in dieser Beziehung: »Hand in
Hand mit der Vervollkommnung der Höflichkeit, des guten
Tones und der Lebensart ging in der feinen Welt diejenige
der Sitten und Manieren; diese haben weder vorher noch
seither, weder in Frankreich noch anderswo« eine solche
Vollkommenheit erreicht wie im achtzehnten Jahihundert am
französischen Hof. Von allen Kflnsten, durch die die
Menschen sich von ihrer ursprünglichen Roheit befreit haben,
ist die der Rflcksichtnahme aufeinander vielleicht die köst-
lichste«, und Lacretelle meint, daß die damaligen Reichen
nichts so sehr fürchteten, wie daß sie fflr gefühllos gehalten
werden könnten.*)
In diesen Kreisen nun bewegten sich Männer wie
d'Alembert, Diderot und vor allem Voltaire, Dieser war
wirklich die Blüte einer Elite der Nation. Jeder, der von
den unzähligen Geschichtdien, die von der Güte und
Liebenswürdigkeit Voltaire's erzählen, auch nur einen kleinen
Teil kennt, oder vielleicht auch nur das beherzigt, was in
diesem Buche über ihn berichtet und gesagt wird, wird zu
*) Ich zitiere das nach Taine's »Das revolutionäre Frankreich«
(II. Bttid, 3. Abtdlmig).
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— 280 —
der Überzeugung kommen, daß eine solche herrliche Indi-
vidualität in der Kiilturg^eschichte nahezu einzig dasteht.
Möge man nur den Mut der Selbstüberwindung haben
und nach Berichtigung seiner überkommenen unrichtigen
Auffassung dieser Individualität das Herz fassen, ihr seine
voile und wohlverdiente Sympathie zuzuwenden.
»Ein Vollblut-Adeliger % meint John Ruskin, »mehr noch
eine fideldame, ist eine grotie Schöpfung , . . .« Wir be-
danken uns für solche Schöpfungen und verzichten gerne
auf sie. Und was ist die schönste Edeldame gegenüber
einem im höchsten Maße guten und zugleich liebens-
würdigen Menschen wie Voltaire?
* «
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Bei genügender Kenntnis der Tatsachen und vorur-
teilsloser Auffassung derselben ist es nicht schwer, Vol-
taire sowohl nach der Art seines Intellelcts, als auch
nach seiner ganzen Persönlichkeit in wenigen Worten
ziemlich erschöpfend zu charakterisieren.
Für die Beurteilung seines Intellekts ist es aber zweck-
mäßig, einen Blick auf die Eigentümlichkeit der hervor-
ragenden Oenien der Menschheit Oberhaupt zu werfen.
Die Fragen ob es die großen Mftnner oder ob es die
groBen Massen sind, auf die bei der geschichtlichen Ent-
wicklung alles ankommt, oder ob es beide sind, wird wohl
jeder unvoreingenommene Beobachter der Dii^ im letzteren
Sinnen nimKch: dafi es beide sind, beantworten.*) Den
Anteil zu bestimmen, der diesen beiden Faktoren hiefbd
zugesprochen werden soll, erscheint mir fedoch unmöglich.
Und für unsere jetzige Betrachtung genügt es, zu konstar
tieren, daß große Persönlichkeiten aus der Kulhiigeschichte
nicht weggedacht werden können, wenn man den Oang der
Dinge möglichst verständlich und einfach beschreiben, d. i.
(im Sinne von C Mach) erklären will
Man mag auf Rechnung jener groSen oder wenigstens
berühmten Individuen noch so wenig setzen, man mag sie
mehr für geschoben als schiebend ansehen, immer wird man
mit voller Berechtigung sagen und behaupten können: sie
*) Dieselbe Ansicht sprach Lind n er in seiner Oeschichtsphslo-
sopbie und analog auch Petzoldt in seiner Abhandlung: >Sonder-
scnulen fOr hervorragend Befähigte« aus.
— 282 —
regen große Ereignisse an, oder: sie lösen groüe Kräite aus;
und darin liegt sclion Bedeutung genug.
Wir brauchen also mit dem in der Gesamtwelt —
wenigstens bisher — geltend gefundenen Energiegesetze
selbst in diesem geistigen Gebiete nicht in Widerspruch
zu geraten, wonach alle Wirkungen den Ursachen stets
äquivalent sein müssen; denn wir haben es hier bloß mit
Auslösungen und nicht mit Produktion von Kräften zu tun,
gewissermaßen mit katalytischen Vorgängen, bei denen die
Gegenwart allein, ohne Abnützung des eigentümlichen mit-
wirkenden Gegenstandes*) genfigt, um ganz bedeutende
Prozesse verwirklichen zu lassen.
Will man daher äußerste Vorsicht in Auffassung der
Rolle beobachten» welche große Indhriduen in der Kultur-
geschichte spielen, so mfiBte man sagen: sie sind die
notwendigen Bedingungen für eine relative Rasch-
heit des Ablaufs wichtiger Ereignisse
Wollte man aber selbst diese Auffassung für zu weit-
gehend ansehen und bedeutende Persönlichkeiten als hloße
Produkte des aligemeinen Ganges der Entwicklung und
diese als von ihnen im letzten Grunde unabhängig schätzen,
so mache man einmal die Probe, sich vorzustellen: die alt-
und neutestamentlichen Schriften, die platonischen und aristo-
telischen Werke, die Pamphlete Luther's und die Voltaire*-
schen und Rousseau'schen Schriften wären nicht geschrieben
worden; man nehme ferner an: Themistokles, Alexander,
Cäsar, Kari der Grolle, Cromwell und Napoleon hätten
nicht existiert — kann irgend jemand glauben, die Ereig-
nisse und die Zustande in der Geschichte der Menschheit
hätten dasselbe oder auch nur ein ähnliches Bild dargeboten,
wie wir es eben kennen? Gewiß nicht
Schriften wie Taten sind produktiv, wie sie auch, ohne
•/ Der Chemiker sapi: Ohne Abnöf7iing' in irgend einem Stöcfaio-
metrischen Verhältnis zu den rtaj^i^iereuden Körpern.
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- 283 —
Zweifel, wiederum Produkte des WdiUuifs sind; und wenn
das schon bei jeder, auch unbedeutenden Persönliclikeit, im
privaten wie im öffentlichen Leben wahr ist, so ist es um
so wafircr bei jenen Individuen, auf die wir einen großen
Reichtum an Wirkungen, das ist an Vorgängen, zurückführen
müssen, weil sie auf jene immer wieder hinweisen; auf jene
Männer nämlich, die wir eben und einzig allein aus diesem
Grunde — also nicht kraft irgend welchen ethischen oder
wissenschaftlichen Maßstabes — die großen Männer der
Kulturgeschichte nennen. Dabei so!! das Wort »groß«
also weder Lob noch Tade! involvieren, sondern bloß eine
Tatsache ausdrücken und dem Ausdrucke: :>Spezifisches
Gewicht« der Physik entsprechen, also nur dazu verhelfen,
das Verhältnis der Dichte kulturgeschichtlicher Einflüsse je
nach den verschiedenen lndi\ iduen kurz zu charakterisieren.
Natürlich kommt es hier nur auf das Persönliche in
diesen Individuen an, das, unabhängig von ihrer zufälligen
Stellung, Umgebung u. s. w. in ihnen von Natur aus
liegt. Denn bei Vorhandensein besonders gunstiger Um-
stände, wie z. B. Geburt auf einem mächtigen Throne, ist
eine g^oße Einwirkung auf die menschlichen Verhältnisse
möglich, ohne daß im geringsten Größe der Persönlichkeit
vorhanden sein muß. Mit Rücksicht auf die Umstände muß
daher zwischen bloß einflußreichen und großen, also
genialen Individuen unterschieden werden, welche Unter-
scheidung durch eine Veigldchung solcher Personen unter-
einander leicht vorzunehmen ist
Auf dem heutigen Standpunkte wissenschaftlicher Ein-
sicht kann man natOrlich nicht mehr, wie einst, daran denken,
in solchen großen Individuen »Werkzeuge« einer Vorsehung^
oder Realisation eines »absoluten Geistes« in seiner »weit-
geschichtlkhen Entwicklung« oder dergleichen mehr, zu er-
blicken. Wir müssen vielmehr in der Natur dieser iVlInner
einen gewissen Fond von Eigentümlichkeiten oder Fähig-
keiten als vorhanden voraussetzen, durch welchen Fond
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— 284 —
ihre Bedeutung unter Jenen Vefliiltnissen zu erklären ist,
unter welchen sie leben.
Wafir ist es, daß die Schätzung: dieses Fonds und
dieser Bedeutung eine nur subjektive ist und bleibt, daß die
Meinungen in dieser Beziehung sehr oft weit auseinander-
gehen, gerade so wie hei der Bewertung des Schönen, und
daß selbst in jenen Fällen, wo wir eine individuelle GröHe
zugeben, uns eine erschöpfende Analyse derselben, eben-
falls wie bei Beurteilung des Schönen, versagt bleibt.
So gut ich das auch weiß, so drängt es mich doch,
meine Auffassung der Bedeutung einer Anzahl persönlicher
Kulturfaictoren wenigstens in kurzer und mehr andeutender
Weise, so wie sie sich mir beim Nachdenken Aber eine
ChaFakteristik Voltaire*s entwickelte^ hier darzulegen. Ich
stelle es dem Leser anhdm, mir zuzustimmen oder nicht
Es handelt sich also um nähere Betrachtung der Persdn-
Hchkdten, die einen bedeutendeien oder bedeutendsten Ein-
fluß auf den Gang der Ereignisse in der Kulturgeschichte
ausübten, wobei wir unter ^Ereignissen« nicht bloß physische,
greifbare Vorgänge, sondern auch die Entstehung von
weitverbreiteten Denkarten oder -Richtungen, sowie
von ü cf ühlsweisen oder Massenempfindungen verstehen.
Von faciiiichen, an sich noch so bedeutenden Leistungen
in Wissenschaft, Kunst, Technik und Politik sehen wir hier
ab, weil wir eben nur solche persönliche Einwirkungen auf
Denken oder Empfinden als Ereignisse in der all-
gemeinen Kulturgeschichte ansehen, die über jedes
Fach oder engere Gebiet hinaus, also auf große Teile der
menschlichen Gesellschaft sich erstrecken, jene großen
fachlichen Leistungen sind zwar leile partieller Kulturkate-
gorien, wirken aber nicht direkt au t Denken oder Empfinden
der großen, außerfachlichen Menschenmassen ein.
Es werden daher selbst so große Forscher wie Newton
oder Faraday, so große Dichter wie Sophokles, Dante
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— 285 —
oder Shakespeare» oder Techniker wie James Watt und
Politiker wie Cromwell nicht hierher gehören. Homer
könnte nur dann mitgezählt werden, wenn er die Mythen,
die er als Dichter behandelte^ selbst erfunden hfitte. Anderer-
seits unter den Gesetzgebern Moses, wenn man von ihm
noch die einstmalige^ jetzt endgültig wideriegte Auffassung
hätten der zufolge er der Verfasser der »Gesetzgebung
Moses'« war. Fsuhis setze ich jedoch als reale Person
und die sogenannten Paulinischen Briefe in der Hauptsache
als von ihm herrührend voraus, obwohl man in der aller-
neuesten Zeit die Echtheit aller dieser Briefe und sogar die
Existenz des Paulus selbst bezweifelt, denn diese Ansichten
sind bisher noch zu wenig anerkannt Bekanntlich wird auch
die Existenz Jesu als historische Person von mancher Seite
angezweifelt, ich betrachte aber hier den Namen »Jesus« als
Zusammenfassung gewisser charakteristischer Aussprüche
und Situationen und spreche übrigens über diesen Punkt
an einem anderen Orte. —
Da scheint es mir nun, daß man zwei wesentlich ver-
schiedene Kategorien der einflußreichen Individuen unter-
scheiden kann: Solche, bei denen sich vornehmlich oder
ausschiietilich ein durchdringender Vers tand geltend macht,
und andererseits solche, bei denen der Einfluß auf die
Kultur- oder Geschichtsentwicklung auf origineller und
starker Phantasie oder auf ebenso beschaffener Empfin-
dung beruht.
Große Energ^ie kann bei beiden Kategnrien vorkommen.
Ein außerordentlich impulsives Temperament gehört zur
zweiten, denn dies ist ja nichts anderes als eine das ^anze
Individuum erfüllende Empfindungsfähigkeit, die nicht ein-
mal eine einseitige zu sein braucht, sondern in allem, was
jenes Individuum unternimmt, von selbst in vehementer
Weise, und andere mitreißend, zutage tritt.
Zu der ersten Kategorie, den Verstandesgenies, kann
man rechnen M den Griechen: Demokrit, Cpikur, Themt-
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— 2Ö6 —
stokles, Aristoteles; bei den Römern: Cäsar; bei den neueren
Italienern: Machiavelli, Galilei, Napoleon, Cavour. Lionardo
war unter anderem auch ein Verstandesgenie, hatte aber
keinen Einfluß auf den üang der Kultur, b\o\i aus dem
Grunde, weil er seine Studien nicht publizierte; bei den
Engländern: Shakespeare, Hobbes, David Hume, Darwin;
bei den Franzosen: Montaigne und Voltaire; bei den
Deutschen: Friedrich der Große, Bismarck, Karl Marx.
Zur anderen Klasse der großen Genies kann man
zählen: Buddha, Plate, Jesus, Paulus, Mohammed, Plotin
und Meister Eckart» Luther» Oiordano Bruno und Spinoza,
endlich Rousseau.
Einige wenige Männer gehören in beide Kategorien zu-
gleich, so: Confucius, Kant» Ooethe
Es kommt nun durchaus nicht darauf an, daß man die
hier angeführte Liste anders ausgefüllt oder vollständiger
wünscht; es werden wohl kaum zwei I\"rsonen in solchen
Aufstellungen genau übereinstimmen, und tiieniaud ist in
solchen Dingen oberste Autorität Möge sich jeder nach
Belieben diese Liste umformen, aber obige Aufzahlung im
ganzen und orolkn wenigstens insoweit akze[it:eren, um
die nachiüigenden Betrachtungen auf sich wirken lassen zu
können. —
Die Verstandesgenies machen den Eindruck der Hel-
ligkeit, des Lichtes, eines sonnigen Tages, die Phantasie-
und Gefühlsgenies den Eindruck einer mondfieUen Nacht;
keine Klarheit, keine Bestimmtheit» aber voll Erregung un*
ausschöpflicher OefQhle.
Wir haben also auch hier» wenn wir die OroBen der
Menschheit in Oedanken an uns vorQberziehen Uissen, etwas
Analoges wie den Unterschied zwischen Khissikem und
Romantikem in dem engeren Gebiete der Kunst
Ästhetisch betrachtet sind die Verstandesgenies als In-
dividuen weniger iiitereösant, als die anderen; besonders
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— 287 —
darum, weil ihnen das ins Unbestimmte sich verlierende
Dunkel fehlt, und Unbestimmtheit bei den meisten Menschen
den fälschlichen Schein des Unendlichen erweckt; hingegen
bringen jene auch nicht den mitunter schwülen und nieder-
drückenden Eindruck hervor, der von den Romantikern«
der Kulturgeschichte ausgeht und der daraus zu erklären ist,
daß alles, was sie uns sagen oder bieten, gewissermaßen
nur wie eine zum Trost erfundene Hypothese, ohne sicheren
Grund und ohne bestimmtes Ziel auftreten kann.
Aber trotzdem, wdch tiefgehende, seien es stille, seien
es aufwühlende Wirkungen! Verweilen wir ein wenig bei
ihnen; es ist interessant und angenehm, gerade ihnen ins
Auge zu sehen.
Da haben wir Plato: Cr flbemimmt und erfindet
grundlegende metaphysische Ideen und ist so der N5hr-
vater der ganzen späteren europäischen Meiaphysilc; er ward
hierdurch und besonders durch seine Unsteiblichiceits*
und Seelenlehre von größerem Einfluß auf das dogma-
tische Christentum als Jesus oder iigend wer anderer;
und erhob die Oeschlechtsliebe in wohl verhältnismäßig
kühle, aber doch ideale Regionen. Durch all dies beherrschte
er die Philosophie, Theologie und Poesie des Abendlandes
in einer von niemandem übertroffenen Weise.
Von Plotin stammt jenes halb metaphysische, halb
theologische Weltgeföhl, das wir das mystische nennen.
Um von dem Einfluß Jesus' von Nazareth zu
sprechen, kann man dem Kunstphilosophen Vischer sehr
wohl zustimmen, der sagte: es sei mit der Erscheinung Jesu
der Menschheit (in Europa und Amerika) eine »neue Seele«
gegeben worden.
Man kann dasselbe von Buddha bezüglich Asiens
sagen; Buddha wie Jesus haben in ethischer und religiöser
— jener mehr in metq>hysischer — Beziehung dn neues
großes Gefühl in die Welt gebracht
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— 288
Paulus verdanken wir einerseits die scharfe theologische
Formulierung der einflußreichsten christlichen Dogmen, an
denen dann noch viele andere Männer, (wie Augustinus
und Luther und Calvin) weiter arbeiteten, und die (zumeist
in sehr trauriger Weise) bis in das intimste Privatleben,
aber auch in große Massenl>ewegungen hineinspielten;
andererseits aber auch den grandiosen Oedanicen einer
universellefl Religion, also eines Intemattonaiismus von
höchster Bedeutung^ indem er das zuerst von den Stoikern
in die Welt gebrachte OefOhl des Kosmopolitismus und der
Humanitftt zur Durchbrechung der jfidischen Re%ion an-
wandte, und so jenes Oeffihl in einer der wichtigsten Be-
ziehungen vorbereitete und realisieren half. Man darf Paulus
dieses enorme Verdienst nicht schmälern wollen, selbst
wenn er seine groBe Rolle nur aus Ehigeiz und Eiferaucht
auf die Apostel der Judenchristen fibemommen hätte. Denn
er übernahm nicht nur die stoische Idee der Menschen-
bruderschaft für den allerdings noch immer beschränkten
Kreis der »Christen' , sondern machte sich auch unter be-
ständigen Gefahren zum reisenden Agenten dieser Idee. Er
flbertraf durch sie Jesus selbst, der nur eine religiöse (etwa
auch soziale) Reform innerhalb des Judentums angestrebt
hatte, und der Beweis dafür liegt nicht nur in einigen der
Aussprüche Jesu, sondern namentlich darin, daß seine sämt-
lichen Jünger fanatische Judenchristen waren, und die Apos-
tel, die mit ihm so intim verkehrt hatten, mußten doch seine
Idee und Ziele gewiß sehr genau kennen.
Luther brachte in die religiöse Empfindung der Christen
einerseits ein gewisses trotziges, andererseits ein solides,
bürgerliches Element hinein. Jener Trotz, vermöge dessen
Luther sogar den Einfall haben konnte, >Oott die Schlüssel
hinzuwerfen,« wenn er sein Oebet um Genesung des
tanken Melanchthon nicht erhOren wflrde, grollte noch
lange Zeit in der Protestantenwelt, und am deutlichsten bei
den Puritanern, in mannigfaltigen Formen nach und hat
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dort gar nicht Unbedeutendes zuwege gebracht Wenn
aber Carlyle Cromwell den grOBten Protestanten nennt, so
kann ich ihm nicht beistimmen; fflr mich ist und bleibt
doch immer Luther der größte »Protestant«. Freilich hat
er, wenn man sein ganzes Wirken vom intellektuellen
Standpunkte aus beurteilt, seine Verdienste um die Kräftigung
der Gemüter wiederum durch die Stärkung des christlich-
religiösen Gefühls mehr als kompensiert, und er hat mehr
als jeder andere dazu b ei j^a- tragen, den Humanismus zu
bremsen. Er war nun eben so!
Von Oiordano Bruno und Spinoza datiert in Europa
das sogenannte pantheistische Weltgefühl, dem sich die
höchsten Intelligenzen, darunter ein Lichtenberg, ein Goethe
hingaben, und für das sogar ein so unmystisch angelegter
Oeist wie Voltaire eine so große SympAthie besaßt daß er den
Spinozismus» nach seinem eigenen Ausdrudc^ »eigentlich
immerwahrend hinter dem Köpfet gegenwärtig hatte.*)
Und — wer wfirde das vermuten? — er nannte Spinoza
den »religiösesten aller Menschen«, genau wie Schidermacher
in seinen »Reden« von ihm sagte, und wie auch in unseren
Tagen der religiös viel weicher geknetete Renan M der
DenkmalsenthfUlung im Haag es aussprach: Spinoza habe
unter allen Menschen Oott am nächsten geschaut.
Rousseau verdanken wir unser heule so allgemeines
Naturgefühl, ferner eine ganz neuartige, edle Glut in den
Sexualempfindungen, sowie auch, infolge seiner mit Herz-
blut und mit noch mehr üalle geschriebenen Bücher, unsere
die Gesellschaft so tief aufwühlende, cholerische politische
Emptindunp^. Durch diese dreifache Richtung seines Ein-
flusses auf Europa — in jüngster Zeit erregt sein Contrat
social sogar die politischen Leidenschaften der Japaner — ist
Rousseau ein Phänomen seltenster Art, und man könnte
tieinahe sagen, noch lange nicht genug bewundert Cr ist
*) Welches Detail ich Nourrisson's »Voltaire« enUiehme.
Pop u er, Voluir«. 19
— 290 —
wohl seit Jesus von Nazareth das originellste und ffir Europa
einflussreichste OemOtsgenie und auch von Rousseau kann
nun sagen, er habe uns eine »neue Seele« gegeben.
Wenn man die Tätigkeit Rousseau s mit jener aller
anderen französischen Philosophen und Schriftsteller seiner
Zeit — Voltaire inbegriffen — vergleielit, so könnte man sagen:
daß sie alle die vorhandene dumpfe politische Atmosphäre,
um sie erträglicher zu machen, immer mehr und mehr
parfümierten, Rousseau aber Fenster und Türen weit
aufriß und einen Strom frischer Luft hereinlieli, um die
schlechte auszutreiben. Auszunehmen von diL^sem Vergleich
wäre also Rousseau s gegnerisches Verhalten in Beziehung
auf Kultur und Aufklärung.
Was das moderne Natuigeffihl betrifft, so sind — ich
sage hiermit nichts neues — OoethCp Byron, Chateaubriand
und unzlhlige andere geringere Dichter, Maler, ja beinahe
die ganze Bevölkerung Europa*s, soweit sie nicht dem Land-
volk angehört, seine Schüler. Was »Liebej: betrifft, so ist
Ooethes Werther, Schiller wahrschäniich in vielen seiner Ge-
dichte sicheriich aber In seinen Crstlings-Dramen, ist sogar
Beethoven und Richard Wagner, dessen »Tristan und Isolde«
eine in dfisterer Olut noch fibertrumpfte »Neue Hdoise«
genannt werden kann, ohne eben diese Neue Heloise
Rousseau's nicht zu denken*)
Es wäre wohl sehr interessant, in einer einsehenderen Weise
die vier originellen weiblichen Individualitäten und ihre Bedeutung
in der europäischen Oefühtsgeschichte zu vergleichen, die uns von
Plato in der Diotiina, von den Evangelien in der Maria Magdalena, von
Dante in der Beitrice und von Rousseau in der Julie der Npuen Heloisc
hingestellt wuideo. Diese vier merkwürdigsten aller Frauenzimmer
hahen nicht nur in der Kunst, sondern durch suggerierende Kraft in
ihrer Darstellung selbst im alltäglichsten Leben, ohne daß man es ahnt
oder glauben wurde, einen enormen Einfluß ausgeübt. Ich überlasse
Kerne die Durchführung Jicscr psychologischen Studie jenen, die mehr
Kenntnisse und Fähigkeiten auf diesem Gebiete besitzen als ich. Ich
begnüge inich mit der Freude, an diese Gegenüberstellung halb ernst,
halb spielend zu denken, und mit der i^rwartung, durch diesen ganzen
Ocdinken vielieiclit cudi mandien Leser angenenm anzuregen.
Digilizod by
— 2gi —
Bei den meisten tief schmachtenden Adagios von
Beethoven glaube ich — und Nietzsche spricht irgendwo
einen ähnlichen Oedanken aus — stets den heiBen Atem jenes
Uebesromanes zu verspfiien; ja in manchen Beethoven'schen
Stfidcen auch etwas von dem politischen Trotz und dem
Frdheits- und Oleichheitszom Rousseau's. Denn in
Beethoven's Musilc finde ich nicht nur die Schwärmerei der
Neuen Heloise» sondern ich höre darin auch die Sturmgefflhle
der französischen Revolution, also wiederum Rousseau, ru-
moren, wie auch philosophische Stimmungen und Betrach-
tungen Aber das Elend der Welt, die Kämpfe, die Tröstungen
und Hoffnungen der Menschen — was alles mitunter beim An-
hören Beethoven*scher Musik durch das Oemut des Hörers
ziehen kann; und nimmt man dazu noch seine reh'giöse
Musik, so erklärt sich bei Beethoven der Eindruck einer
fast alle Seiten der Meiischengdühle iiinfassenden künst-
lerischen Pcrsönliciikeit, wie sie speziell aut dem Gebiete der
Musik kein zweitesmal mehr vorkommt Allerdings gilt das
Gesagte nur für jene, die, wie ich, es in jener Mubik finden
oder zu finden glauben; womit ein Problem berührt erscheint,
dem ich in der speziellen Betrachtung 'Ȇber ein musik-
ästhctisches Problem« (am Schluß dieses Buches) einige
Worte widmen will.
In der Politik steht Rousseau's Einfluß nicht nur auf die
Volksmassen, sondern auch auf die Gelehrten und großen
Geister, wie z. B. Kant, Schiller (in seinen politischen
Dramen), Fichte und viele Andere fest, und gerade in diesem
Gebiete zeigt sich am deutlichsten die Originalität seines
Charakters. Denn mit ihm erscheint nicht nur, wie Brune-
ti^re richtig sagt, zum ierstenmale der Plebejer in der Ge-
schichte der Literatur, sondern — wenn man vielleicht von
Thomas Münzer absieht - auch der erste und zugleich am
gewaltigsten grollende Plebejer auf der politischen Bühne.
Im Gebiete der Pädagogik bildet Rousseau's »Emile ,
diese schwungvolle und liebreich in den Oegenstind dn-
19*
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— 292 —
gehende Veiarbeituiig der Qrundgedanken von Monteigne
und Comenius, wie auch Locke's, die Basis unserer heutigen
Erziehungs- und Unterrichtsmethoden.
Olficklicherweise blieben andere Seiten der Rousseau*-
schen Individuatitat ohne nachhaltigen schädlichen Einfluß;
nimlich: seine reaktionäre Tendenz im Gebiete der Wissen-
Schaft, Kunst und allgemeinen Kultur« die Ober den
Naturzustand hinaus strebt; femer jene im Gebiete der
Religion; und endfich seine politische Ansicht über die
Staatsomnipotenz.
Alle seine unvergleichliche rhetorische Kraft blieb in
üitisen Gebieten wirkungslos, denn ein anderer Riese, Vol-
taire, hatte ihm hier aut die Finger geklopft.
Und so seltsam es auch klingen mag, so steht es doch
fest, daß Rousseau auch als Politiker zu den Reak-
tionären TU zählen ist. Was er auch mit seinem Oleich-
heits- und Freiheitsgroll Großes für Europa geleistet hat,
kompensierte er zum grotSen Teile wieder durch seinen auf
die Römer, und zwar auf die römische Republik (und auf
die Spartaner) zurückweisenden Staatsbegriff. Über die
sogenannte Bürgertugend, über einen fanatischen Patriotismus
kam er nicht hinaus; bis zum frei im Universum auf sich
selbst gestellten, mindestens in den Orundempfindungen mit
allen Menschen kosmopolitisch fühlenden Individuum, das
nur im Falle der Notwehr seinen eigenen Staat oder seine
eigene Nationalität ausschließlich und fiber alles, sonst
aber nur in sekundären Beziehungen zur Geltung zu bringen
sucht — erhob sich Rousseau nicht Bis zum reinen
Menschentum ist er politisch nicht voigedrungen.
Und er wufite das selbst sehr gut Denn im ersten
Brief seiner »lettres foites de la montagne« sagt er aus^
drOcklich: »Humanität und l'atriotismus sind unvereinbar.«
Beide sind aber ganz wohl vereinbar. Man mu0 nur funda-
mentale BedQrfhisse oder Forderungen der Menschen von
den sekundären zu trennen suchen; also die physische
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— 293 —
Integrität von Individuen anderer Staaten oder Nationen, oder
anderer Individuen überhaupt (daher auch des eigenen
Staates) nicht irjS^endwelchen Luxusgefühlen opfern wollen,
wie z. B. dem Ruhm oder der Ehre des eigenen Staates^
oder der Ausbreitung seiner eigenen Religion oder Nationali-
tät und der<(l. mehr.
Wenn ich aber den Ausdruck »Luxusgefühle gebrauche,
so soll damit durchaus nicht gesagt sein, dali Patriotismus,
Nationalitätsgefuhl, Anhänglichkeit an irgend eine Religion»
untergeordnete oder gar verächtliche Gefühle seien. Sie
können höchst edle, sehr warme Gefühle sein und sogar
ihre Anhänger so weit fuhren, daß sie ihnen selbst ihr Leben
opfern. Was aber jeder mit sich selbst machen will, das ist
seine Sache; anderen Menschenleben oder physischen Integri-
ttten gegenfiber sind jedoch alle Jene Empfindungen nur
sekundär oder nur wie Liebhabereien anzusehen, denen zu
Liebe man also nicht zum Mörder werden chirf; ja der
Mörder aus Not» der zugleich Räuber ist» steht ethisch nicht
entfernt so tief und ist auch lange nicht so gefähilich, wie
der Mörder aus jenen sogenannten idealen Beweggründen;
dieses schon darum nicht, weil die letztere Art viel
schwerer zu sättigen ist
Der fanatische Patriotismus Rousseau's, den er aus der
römischen Geschichte der früheren Zeit herholte und Iii
seinem Gesellschaftsvertrag« (namentlich im 4. und 5. Ka-
pitel) und auch im »Emile« zum Ausdruck brachte, obwohl
doch die gröliten Ethiker des Altertums, wie Sokratcs, die
Philosophen der Stoa, die großen römischen Kaiser, ja sogar
schon der g^roße Alexander, über einen solcfien Patriotismus
hinaus waren^ wurde durch Voltaire's Internationalismus
korrigiert*)
♦) AI« ein Zeichen des Zurücktretens höherer ctiiitcher Qesichts-
punkte hinter die Ideale forcierter Züchtung streng nationalistischer
Kulturen in unserer Zeit kann es dienen, daß einer der geachtetsten
Altertiunsforscher unserer Tage, Eduard Meyer, Alexander dem
OroSen den Vorwurf macht, durch aera Bettieben der VerachmelzunK
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— 204 —
Zur Zeit Voltaire's und Rousseau's, eigientHch am Ende
des 17. und bis ungeßhr um die Mitte des 18. Jahrhunderts,
gab es in Europa einen ailerdii^ höchst sonderbaren Inter-
nationalismus, genauer gesprochen: eine Indifferenz gegen
jeden vaterlandischen Begriff, und zwar aus egoistischen
OrQnden, indem die Adeligen, die ja meistens auch Sol-
daten waren, jedem beliebigen Staate ihre miKtärischen
Dienste anboten, wenn sie nur hoffen konnten, Karriere zu
machen.*) Es war das also eigentlich ein Geschäft mit der
Geschicklichkeit im Mordhandwerk. Diese Art von Inter-
nationalismus der Aristokratie, der sich, etwas abgcscliwächt,
noch heute in der Form der Mitgliedschaft fremdstaatlicher
der griechischen mit der orientalischen Kultur jene, die fadleiiisdie, ver-
fliehtet zu haben. Alexander und die Diadochen hätten ~ meint Meyer
in dem Aufsatz: ^Die Kulturfeindlichkeit des Weltbürgertums« (Beilage
2ur M. A. Z. No. 31 des J. 1902) ~ dem hellenischen Mutterboden aie
besten Kräfte entzogen und entfremdet. Dabei t^cht Meyer von der
unrichtigen Voraussetzung aus, der Kosmopolitismus sei die »angemaßte
Herrschaft einer besonderen Kultur fiber ihr natflrlicherweise nicht zu-
gehörige Völker und Gegenden , während doch im Oerrcnteil eine
solche Herrschatts-Anmaßung gerade nur Sache der Vertreter natio-
nalistischer oder Rasse>Kulturen ist Der wahre Kosmopolitisnus ist
gesittet, IriRt jede kulturelle Eigenart g-elten. trachtet aber ludi An-
näherung oder Vermischung vermiedener Kulturkreise, und awar ohne
Oewalfsamlieit, also nvr in jenen Bestandfellen der Kulhiren, die eine
solche Annäherung oder Vermischung^ vertragen. AttCh sclieitit diese
Voraussetzung oder Definition des KosmopoUtismus Alexander's Be-
strebungen in Asien, die ja viel mehr auf Verschmelzung als auf ein
Aufdrängen griechischer Kultur gerichtet waren, zu widersprechen — ich
sage dies mit der einem bedeutenden Forscher gegenüber gebührenden
Bescheidenheit — was er ja selbst durch die bekannte Anordnung von
Heiraten zwischen Griechen und Persem symbolisch andeuten wollte.
Das Ideal nationalistischer Kultur ist nichts anderes als eine ästheti-
sierendc biologische Geschichtsauffassung, die es auf die Pikanterie ab-
gesehen hat, abgegrenzte Oruppenanlagen ins MaBlose entwickelt zu
sefrcn : ungefähr so wie es manche Viehzüchter machen, die nichts
höheres kennen, als JMonstra von Rassetieren aufzuzüchten» und den
Wert von Kreuzungen versdiiedener Rassen, aus UeUiaberei von Son-
derbarkeiten, nicht anerkennen wollen. Eine ins Endlose fnrtq^esetzte
Rasse-Kultur in Form kultureller Inzucht muß zu ebensolchen Mon-
strofiflten führen, wie es die gewissen maßlos dicken Schweine lind
Odtten sind.
*) Das war auch bei dem großen Prinzen Eu^:^en von Savoyen
der Fall, der, ein geborener Pariser und seiner kleinen Gestalt wegen
von Ludwig XIV. zurückgewiesen, in dsterreicfaische Dienste trat
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— 205 -
politischer Veiiretungskdrper manifestiert, steht ethisch ohne
Zweifel unter allen anderen: dem schwarzen, wie dem gol-
denen, am tiefsten. Der sogenannte rote Internationalismus
ist fifaierhaupt nicht tadelswert, sondern neben dem edelsten
und echtesten Patriotismus mindestens gleichberechtigt
Es ist daher ein sehr wichtiges Datum, daß Voltaire
Friedrich dem Großen zum Siege ha Roßbach über die
— Franzosen Olfick wtinschte;*) wie Mahrenholtz in seinem
Werke Ober Voltaire mit Recht sagt: aus Haß gegen das
Jesuitenregiment in Frankreich. Mit diesem Qlflckwunsch
beginnt fflr die Neuzeit die ethische SlaatsaufCassung, die
sich eben seit Voltaire Bahn gebrochen hatte: ihr huldigten
die großen Deutschen, ein Kant, Lessing, Herder, Goethe,
Scliiller; und es sei hier auch Hegel nicht vergessen, der
den Ausgang der Schlacht bei Jena ruhig, d. h. ganz
objektiv, als den Sieg einer höheren Zivilisation über eine
niedrigere betrachtete, und ganz wie Goethe über diese
Dinge dachte, der zu Eckermann sagte: ^Und unter uns,
ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte,
als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur
und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation
hassen können, die zu den kultiviertesten der trde gehört
und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung
verdankte! Überhaupt ist es mit dem Nationaihaß ein eigenes
Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie
ihn immer am stärksten und am heftigsten finden. Es gibt
aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man
gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein
Olfick oder Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre
es dem eigenen beg^et Diese Kulturstufe war meiner
Natur gemäß . . . .«
Diese Oesinnungen des herrlichen Mannes waren eben
genau jene^ die Voltaire als der Erste in unsere Oedanken-
*) Wobei er gleichzeitig Geld für die gefiDgenen uod verwundeten
französischen Offiziere nach Berlin sandte.
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— 206 —
weit brachte; und mit allem Grunde konnte Goethe es gegen
Cckermann aussprechen: »Sie haben keinen Begriff von der
Bedeutung, die Voltaire und seine grossen Zeitgenossen in
meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt
beherrschten. Es geht aus meiner Biographie nicht deutlich
hervor, was diese Männer für einen £infiuss auf mdne Jugend
gehabt . . . .c
Diese ethische politische Oesinnung ist, trotz mancher
zeitweiligen nationalistischen Rflddälle, nicht mehr aus der
Welt zu schaffen; besonders, seitdem die große sozialistische
internationale Strömung der ArbeiterUasse in ihr (von Marx)
erzogen, von anderen darin bestärkt und nunmehr grofi-
gewachsen ist ~
Wie man aber sieht, ist es hier durchaus nicht darauf
abgesehen, -grosse Odühle« zu rauben oder sie zu de-
gradieren.
Die Ansicht, dal] das Vaterland dort sei, wo man sich
wohlbefindet, welche Ansicht »von Euripides bis Voltaire«
vertreten wurde, ist ebenso berechtigt, wie jene, derzufoige
der Patriotismus nichts mit der Nützlichkeit zu tun hat,
sondern eine eigene Art von selbstlosem Gefühl reprä-
sentiert.
Wenn man auch selbst dieses Gefühl nicht teilt, so kann
man es doch, ähnlich wie das bei religiösem Gefühl der
Fall ist. sehr gut und soc^ar sehr leicht verstehen.
»Vaterlandsliebe ist eine Zusammensetzung von fcigen-
liebe und von Vorurteilen, wobei das Streben nach dem Wohl
der Oesellschaft den größten Teil der Tugenden ausmacht,«
meint Voltaire. Die andere Auffassiinj^ des Patriotismus aber,
nämlich als Oemütssache» wird sehr gut durch die Worte
eines Voltaire-Oegners, nämlich Nourrissons, bezeichnet:
»Vateriand ist mehr als Liebe zum Boden: Der Respekt vor
der Tradition, der Kultus der Erinnerungen, die Neigungen
der Familie erstrecken sich auf eine ganze Oesellschaft; und
mit dem Oedanken an dne gemehisame Zukunft, mit der
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Socge um gemeinschaftliche Orö6e^ oder im Angesicht einer
g^gmwdrtigen Gefahr werden gemeinsame Anstrengungen
und hingebende Teihiahme erweckt, die bis zur Aufopferung
des Lebens gehen.«
Am einfachsten k5nnte man wohl jene Art von Patriotismus,
die nichts mit verstandesmäBiger Auffassung zu tun hat und
nur eine besondere Beschaffenheit des Oemfltes ist, als ein
ins Große getriebenes Pietäts-OefOhl definieren.*)
So schön, ja mitunter erhaben, ein solches Pietäts-
gefuhl auch sein m^^, so darf man jedoch darüber das
höhere Gebot der Menschlichkeit nicht vergessen. Man darf
also von niemandem ein solches patriotisches Gefühl ver-
langen, wenn er es nicht selbst besitzt, noch weniger darf
man Opfer von ihm erzwingen wollen, die an seine funda-
mentale Individualität, d. i. an seine physische Integrität,
röhren. Und ebensowenig darf irgend ein Gefühl,
wie es u. a. die Vaterlandsliebe ist, zum Anlaß
genommen werden, die physische Integrität irgend
eines Menschen in der Welt zu verletzen.
Die Achtung vor der Existenz menschlicher Individuen
muB also als oberste ethische Maxime jede andere beherr*
sehen, und eben diese Achtung muß das gemeinsame Band
sdn, das alle Menschen der Erde umschlingt, und das nie,
seilet durch die wärmste Vaterlandsliebe nicht, zerrissen
werden darf. Und jene Achtung aller Existenzen
muß auch die Basis alles Völkerrechts bilden.
Der so aufgefalite Inlernationalisnius ist daher, auf den
Patriotismus bezogen, ein Gefühl erster Ordnung, dieser
selbst ein Gefühl zweiter Ordnung, und nur wenn er sich
jenem unterwirft, also vor menschlichen Existenzen — inner-
halb oder auiierhalb des Vaterlandes - Halt macht, ist der
Patriotismus ein gesitteter; wenn aber nicht — Barbarei. Das
*) Wenn ich nicht irre, j^ebrauchte auch Bismarck einmal in einem
Privatgesprache diese Defimtion.
298 —
ist unter den oben angewendeten Ausdrücken: »funda-
mentale« und t sekundäre« Forderungen zu verstehen.
Und es ist leicht einzusehen, daß dieser hier aulgestellte
Grundsatz die Basis des Völkerrechts werden mufi, wenn
wir überhaupt in Kriegs- und Friedensfragen aus dem heu-
tigen Stadium der Wildheit herauskommen wollen. Nicht
minder klar isl es, daß nicht nur das äußere Staatsrecht
(Völkerrecht), sondern auch das innere Slaatsrcchl auf genau
demselben Grundsatz basieren muii; doch ist uns an dieser
Stelle die Hauptaufgabe die gewesen, dem fanatischen Pa-
triotismus den gesitteten gegenüber zu stellen und das
Verhältnis zwischen dem letzteren und dem berechtigten
Kosmopolitismus zu präzisieren.*)
*) Man wird wohl leicht den Zusammenhang bemerken, der
/wischen diesen Oedanken und jenen besteht, die früher gelegentlich
des Kri^- und Friedensproblenis entwickelt wurden, in präziser und
ztuaminenhänffender Form wurden sie von mir hn Jahre IflBO in einem
Aufsatz dargelegt, welchen ich unter dem Titel Über die not\vendi^:;e
Verbesserung der Gesetzgebung« als Einleitung zu einer Schrift über
die Lösung Oer sogenannten sozialen Frage verfwt littte. Damals schrfeb
nämlich Isak Pereire einen Preis aus für die besten Schriften zur Be-
seitigung des Pauperismus, und ich beteiligte mich an dieser Preis-
ausschreibung, obwohl ich eine Grundbedin^ng Pereire's — er wollte
nämlich von Sozialismus* nichts hören — nicht erfüllte, also keine Aus-
sicht auf einen Preis hatte. Jener Einleitung nun, welche die OrundzQge
eines neuen, ethisch fundicrien Staatsrechts enlhali, gab ich das Motto:
»Für sekundäre Bedürfnisse das Majoritätsprinzip, für
fundamentale das Prinzip der garantierten Individualität^
und daß dieses Prinzip geeignet ist, die wichtigsten sozialen und staats-
rechtlichen Probleme zu lösen, wird man leicht einsehen, wenn man die
Methode studiert, nach der in meinem Buche Das Recht 711 leben
und die Pflicht zu sterben« und in meinem 'Fundament eines
neuen Staatsreclits« (erschienen im Jalire 1^) die soziale Frage
und das Kricgsproblcm behandelt wurden. Seit der Konzciition jener
st.iatsrechtlichen Abhandlung ist nunmehr ein Vierteljahrhundert ver-
gangen, und die genaue Beobachtung aller Vorgänge in unserem öffent-
lichen praktischen Leben und in der wissenschaftlichen Welt, u. a. auch
der 7unehmenden UhelstSnde des Pnrlamentarismiis — zeigte mir immer
deutlicher, daii die t urrtpaische Ocscliscliaft nicht wird umhin können,
sich in der von mir angegebenen Richtung zu refbnniereiu
Allerdinfi;s wird das erst dann emsth'ch begonnen werden, bis man
endlich einsehen wird — wovon ich mich bereits seit mein als dreißig
fahren uberzeuet habe — wie unfruchtbar alle die zehntausend Streitig-
keiten verschiedener Interessenkreise, die unzähligen kleinen Mittelchen
und Flickarbeiten, die immerwährenden Anhäufungen von Reden, Ab-
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— 299 —
So weit auch Voltaire's politische Geistesrichiung von
der heutigen sozialistischen Bew^ng entfernt ist, findet
doch in diesem höchst wichtigen Punkte eine Oemeinsam-
kdt, ja fand» ohne Zweifel, ein segensreicher Einfluß Vol-
taire's auf die geistigen ffihrer der Internationale und hier-
durch auf diese selbst statt
Ob es sich um Frankreich oder um Preußen, um Polen
oder um Rußland handelte, immer war Voltaire nur darum
bemuht, die Regenten für den Fortschritt in jeder Beziehung
anzufeuern, und wie seine Briefe an rriednch den Großen,
an Kaiharina Ii. und andere zeigen, waren für ihn der heute
noch maßg^ebende Länderhunger und das dynastische Gefühl
ganz einfluljlüse, vve>enlose politische Paktoren. Wenn schon
FVovinzen erobert werden soiUen, wünschte er das nur in-
sofern, als sie in die Hände besserer Regierungen und
höherer Zivilisation fallen konnten.
Mit Recht sagte daher Condorcet von Voltaire, daß er
der erste war, der die Interessen der Menschen in allen
Landern und allen Zeiten umfaßte.
Kein größerer Kontrast aber ist wohl denkl>ar, als diese
Oesinnungen Voltalre's und die Staaisauffassung Rousseau's.
Die letztere fflhrt unbedingt früher oder später zu dem, was
sie gerade verhüten will, nämlich: zum Vaterlandsverrat;
unter Vaterland» natürlich, nicht verstanden: die Landkarte^
oder die Dynastie^ oder irgend ein Formales» wie z. B. ein
zum Staatsfetisch erhobener Ehr* und Wflrdebegriff, sondern:
die Menschen eines bestimmten Staates; und unter »Ver*
rate : jenen an ihrem Wohlergehen. Und jene Oesinnungen
Voltaire's ziehen sich mehr oder weniger deutlich durch alle
seine Schriften und Worte, während man bei Rousseau's
Staatsanschauungen die schwüle Atmosphäre eines Begriffs-
fanatikers verspürt; so daii er in politischer Beziehung Ver-
handlungen und Büchern über sozialwissenschahliche, geschichtsphiloso-
phische und anthropologische Theorien und die endlosen Kontroversen
über nationaiukonomische Schulbegriffe sind und bleiben.
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— 300 —
dirb^ WM er in anderen Oefflhlssebieten und in seinem
Enddiungssystem fOr Eriidiiung der Individtialilftt Orofies
getan. —
Es wäre sinntos, nicht nur die enorme Bedeutung, son-
dern aucli die nach vielen Richtungen segensreiche Ein-
wirkung Rousseau 's auf die Entwiclclung des modernen
Europa zu negieren; er ist ganz wohl als eine Ergänzung
zur Voltaire'schen Gt;isksnchtiing zu schätzen, und es ist
eben dem gleichzeitigen Erscheinen dieser beiden großen
Ingenien zu danken, daB wir in vielen Beziehungen schon
ziemhch weit gekommen sind und wohl hoffen können,
auch noch weiter zu kommen.
Ausschließlich Voltaire scher üeist — es wurde den
meisten Menschen doch am Ende etwas kühl zu Mute; aus-
schließlich Rousseau 'sehe Gefühle — es könnte uns viel-
ieicht zu schwül werden! —
Und dieser Gedanke läßt sich auch verallgemeinern:
Man muß es nämlich zugestehen» daß sowohl die Verstandes-
als die Oemütsgenies für den menschlichen Fortschritt not-
wendig sind; oder objektiver ausgedrückt: daß die Mensch-
heit Iceine von diesen beiden Ordßen-iCategorien auf die
Dauer entbehren wilL
Um das einzusehen, braucht man nur daran zu denken,
wie der gesellschaftliche Zustand beschaffen wäre, wenn
bloß eine dieser l>eiden Richtungen vorhanden %^h^ Es
wftre daher auch ungerechtfertigt, die eine auf Kosten der
anderen prinzipiell zu erheben, wenn es auch oft unaus-
weichlich wild, die eine oder die andere in ihrer speziellen
Oesfaltung; mit Hinblick auf zweckmäßig erscheinende Ten-
denzen, zu bekämpfen.
Der Wahrheit, d. i. der Erfahrung gemäß, muß es aber
gesagt werden, daß die wirklich schädlichen Ausschreitungen,
welchen der objektiv urteilende Staatsmann oder Sozial-
phiiosoph mitunter entgegenarbeiten muß, auf Seite des Ge-
fühls- oder Phantasiegebietes iiegen. Allzu extreme Ver-
— 301 —
Standesperioden in der Kultuigeschichte bringen kaum posi-
tive Obelstände, höchstens eine gewisse Langeweile oder
Blasiertheit, in der betreffenden Epoche hervor.
Wohltätige wie — im Sinne des eben Gesagten —
schädliche Wirkungen können also bei beiden Kategorien
eintreten. Und was den persönlichen Charakter ihrer
gruüen Repräsentanten betrifft, so kann Oüte — auf die
bei Beurteilung von Menschen jeder Art alles ankommt —
bei Verstandes- wie hei Gemiitsgenies vorkommen, während
man gewöhnlich geneigt ist, eine Unvereinbarkeit von Güte
und großem Verstand vorauszusetzen, ebenso wie man Ge-
mütsmenschen sicli schwer als böse vorzustellen gewillt ist;
während doch die Lrfahrung immer wieder zeigt, daß beides
gleich unwahr ist
In welch hohem Maße sich hervorragender Verstand
mit Güte, Milde und ethischer Größe überhaupt vereinigen
kann, zeigt am t»esten eine Erscheinung wie die des Julius
Cäsar. Von niemandem in der Welt bis auf den heutigen
Tag an Verstand fibertroffen, vielleicht nicht einmal erreicht
— Ooethe meinte allerdings, mit Napoleon sei der gr56te
Verstand auf Erden erschienen — besaß er, um es kurz
auszudrücken, weniger Calle, als irgend ein Mensch, der
je gelebt hatte; während dagegen das enorme Oemütsgenie
Rousseau davon mehr besaß, als vielleicht irgend dn an-
derer. Und dabei war Rousseau nur ein Mann der Feder,
Casar aber dn Mann der Tat, der größten Öffentlichkeit,
dn Politiker in dem damaligen Rom, und überdies Soldatl
Man könnte, als mit dieser Eigenschaft begabt, nSmlidi:
ohne Oalle zu sein — womit unendlich viel Gutes gesagt ist
— vielleicht noch einzelne Anachoreten anführen; aber selbst
von diesen kann, wenn man die Quelle ihrer Milde, den
religiösen Wahn nämlich, berücksichtigt, mit größter Wahr-
scheinlichkeit angenommen werden, daß ihnen ihre Einsamkeit
hierbei sehr zu statten kam; ein Franz von Assisi, in einem
späteren Zeitalter und m ötientlichem Leben, würde wahr-
. j i^od by Google
— 302 —
schdttlidi ein Torquemada sein; und audi Torquemada
konnte bekanntlich als Knabe niclit dem Schlachten dnes
Huhnes zusehen, ohne in Tränen auszubrechen.
Cäsars Rede im Senat bei Odegenheit der Debatte fiber
die Verschwörung des Catilina ist an politisch «ethischer
Or06e von nichts übertreffen und steht herrlich da, sdbst
neben den edelsten und zartesten SteHen in den Evangelien;
zugleich voll Klughdt und, was In Ant)etracJit ihrer milden Oe-
sinnung geradezu wunderbar erscheint, mitten in dem Toben
heftigster politischer Leidenschaften gehalten.
So viel ich weiß, werden unserer Jugend weit mehr die
politischen Unternehmnngen, Kriegszüge, Brückenbauten
Cäsars erläutert, als seine humanen Gesinnungen in Reden
und Taten. Und doch gäbe es kaum eine wirksamere
moralische Erziehungsmethode, als auf solche Beispiele ein-
dringlich hinzuweisen, und speziell auf die praktische Ethik
des auikrordentlichsten, gesittetsten alier Soldaten: auf
Julius Cäsar.
Die Verstandesgenies (der Tat oder der Schrift) könnte
man vielleicht mit voller Berechtigung die »Weltlichen«, die
Gemüts- und Phantasiegenies die »Geistlichen«, »Priester*
liehen« nennen. Jene kommen aus dem Leben und bldben
im wirklichen Leben. Diese kommen wie aus einer unbe>
kannten, fremden Welt; jene wachen mit uns, diese träumen
mit uns» vielldcht besser: wir träumen mit ihnen.—
Es gibt aber nicht nur unangenehme und schreckliche
Träume^ sondern auch Träume im Schbf — und Träume im
wachen Zustand. Gerade die letztere Art nun spidt im
Völkerieben die gr56te Rolle und zugldch die furchtbarste;
kdn Träumen im Schlaf zerrQttet bekanntlich d^ Organis-
mus, und zumeist die Psyche^ so sehr, wie jenes tialb
absichtliche, halb unabsichtliche Traum - Phantasieren im
Wachsdn.
Die forcierte Phantast ik bei sonstigem Wachsein
und das Sträuben gegen die Erweckung aus diesem partiellen
. ij i^od by Google
- 303 —
Traumzustande bezeichnet einen ungeheuren Zeitraum im
Zustande Europas: das Mittelalter. Es dauerte ungefähr
vom dritten Jahrhundert nach Ermordung Julius Cäsars
angefangen bis zum Tode Voltaire*s, in schwächerem Maße
dauert es eigentlich noch bis zum heutigen Tage.
Theoretisch beginnt es schon viel früher» nämlich
mit der unvergleichlich interessimten, fruchttiaren, aber ebenso
kühnen, ja frechen und Oberaus schädlichen metaphysischen
Erfindung Plato's: die Ideen seien allein das wahrhaft
Seiende, und die von uns allen erlebte Welt nur ein unvoll-
kommenes Abbild desselben.
Seit dem Auftauchen dieser Erfindung beginnt ein viel-
verzweigtes, unaufhörlich gärendes Bestreben der Geister,
Wirkliches für Nicht wirkliches, Erfundenes für Wirklichkeit»
das Unwahrscheinliche für wahrscheinlich, ja das Unmög-
liehe für gewiß tu halten, und mit allen Mitteln der Über-
rLdniigSpitzfindjukeit, des Enthusiasmus und selbst physischer
Gewalt der Menschheit aufzudrängen.
Ganz wie bei Plate wird die direkt erlebte Welt als
Schein, als minderwertig betrachtet, hingegen eine phanta-
stisch ausgeschmückte erfundene Welt als das allein Reale
hingestellt. Das taten aber nicht nur die Theologen allein,
sondern in ihrer Weise auch Philosophen; und diese, sowie
Ästhetiker und Schriftsteller überhaupt, haben mitunter sogar
noch heute den Drang, das, was ist, gering zu achten, und
das, was nicht ist, als das eigentliche Wahre oder Tiefe zu
proklamieren. Noch in unserer Zeit bezeichnet ein einfluß-
reicher Schriftstelier, Carlyle nämlicht in seinem Buche »Ober
Helden und Heldenverehrungc das Christentum in dem ol>en
angegebenen Sinne. Er sagt dort: »Das Christentum, das
heißt, der Glaube an Unslchtbaies, nicht nur als an etwas
Wirkliches, sondern als an das allein Wirkliche«; und Carlyle
ist in diesem Sinne selbst ein Christ
Nichts ist merkwürdiger, atier auch trostloser, ja tra-
gischer, als anzusehoi, wie viele Jahrhunderte^ man kann
Dig'itized by Goo^^le
- 304
sagen mehr als anderthalb Jahrtausende hindurch die be-
gabtesten Ödster sich alle mögliche Mühe gaben, alles das-
jenige, was so schwer zu gfaüben war, durch schweißvoll
herausgepreBte Aiigumentationen wie in einer Art von Rausch
oder Wut sich selbst und dann den tausenden Anderen
aufzudrängen. Und wer nicht wenigstens die Hauptschriften
der rrrüfk-ren Kirchenväter und Scholastiker angesehen hat,
der kennt den menschlichen Geist in einem seiner bedauerns-
wertesten Zustände nicht; der hält noch immer Vernunft
für das Charakteristikon der menschlichen Psyche, der weiü
noch nichts von der mächtigen Fähigkeit der Menschheit —
nicht bloß zur Weisheit, sondern auch — zur Dummheit;
der ahnt noch nicht, daß nicht nur die Vernunft Systeme
errichten kann, sondern, daß die Absurdität das ebenso p^t
trifft Kurz: der weiß nicht, daß man selbst eine Anhäufung
von vielen Millionen Menschen wie Inwohner eines unge-
heuren Hauses von Irren ganz besonderer Art betrachten
muß; als hrr^ die in hundert anderen Richtungen des Lebens
sich ganz normal benehmen, in religiöser Beziehung aber
voll von fixen Ideen und immerwährend damit beschäftigt
sind, neue fixe Ideen aus sich heraus zu projizieren.
Je ein einfaches altes Wort drückt diesen psychischen
Zustand in seinen verschiedenartigen Entwicklungen aus:
Aberglauben als ungeordneten; Religion als theoretisch
geordneten, systemisierten; Kirche als äuBeriich oiganisierten
und hierdurch einer staatlichen Anerkennung fthigen, derartigen
Zustand.*)
Je niedriger das wissenschaftliche Nh^eau der Vöflcer
steht, desto weniger schädlich ist der Abei|^ube ihrer
geistigen und auch ihrer nervösen Konstitution. Denn es
herrscht kein oder wenigstens kein bedeutender Widerspruch
zwischen ihren Meinungen und ihren sonstigen Obeizeugungen,
die sie zumeist den alltaglichen Erfahrungen entnehmen.
*) Ich findf, daß Mobbes ebenfalls ReligMMi als staatlich saolcüo*
nierten Aberglauben definierte.
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— 305 —
Eingehendere Prüfungen der natürlichen und geschichtlichen
Ereignisse finden noch nicht statt, eine V^ergleichung zwischen
diesen und den vom Aberglauben für wahr gehaltenen gibt es
für sie nicht, sie leben also mit diesem allen in einer gewissen
Naivetät, ohne von einem wissenschaftlichen Gewissen ge-
stört zu weiden, in ihrem Wahn weiter. Es gibt daher noch
nichts, was unserer Theologie und Scholastik entspricht.
Theologie und Scholastik, diese greift>aren Beweise
eines schlechten intellektuellen Gewissens, gab es im alten
Griechenland und auch in Rom nicht Dogmen und sonstige
IdtdiKche Lehirndnungen fehlten und man hatte daher nicht
nötig; sie ai^gumentetiv plausibel zu machen; die Wunden
berlchtederMythologie wurden vom Volke naiv hingenommen,
ohne allzugroBe Innigkeit, und ohne mit einer damals noch
fehlenden vernfinftigen wissenschaftlichen Erkenntnis der
Welt in Wklerspruch zu geraten. Aber im späteren, im mittel-
alterlichen Europa entwickelte sich die religiöse Phantastik
In immer heifierem Tempo, die Unvereinbarkeit derselben
schon mit dem gewöhnlichen Menschenverstände wuchs
Immer mehr, der Widerspruch mit der fortschreitenden Kultur
wurde immer größer, und damit auch die Korruption der
Psyche, die Erschöpfung der geistigen und auch der mo-
ralischen Konstitution der ganzen Gesellschaft.
In der neueren und neuesten Zeit, in der trotz aller
Bemühungen freier Geister noch immer abergläubische Vor-
stellungen von selbst hochg^ebildeten Männern aufrechter-
halten wurden und noch werden, ist der Gegensatz zur
hochentwiciceiten wissenschaftlichen Erkenntnis umso
krasser, obwohl dieser ganze korrupte Zustand infolge der
kulturellen und politischen Fortschritte kein so allgemeiner
mehr ist, wie er es im Mittelalter war.
Man wird wohl schon bemerkt haben, daß es sich hier
nicht um Betrachtung der schlimmen Folgen in m oral i seh er
und politischer Beziehung handelt, die mit der Religion,
je reicher und weiter sie entwidcelt ist, desto mehr und
Popper, Voltaü«. 20
Digitizcd by Google
— 306 —
unausweichlich verbunden sind» man kennt sie ja schon zur
Genüge ^ sondern Ich möchte hier auf einen Punkt auf-
merksam machen» der bisher gamicht ins Auge gefaßt wurde,
d. I. wie sdion oben angedeutet wurde, auf die Zerrüttung
der Psyche und des Nervensystems» sogar rein physiologisch
betrachtet.
Dem einfachen, gesunden Verstände widersprechende
Behauptungen für wahr halten, entgegen der fortschreitenden
Kenntnis der Natur und der Geschichte absolut unbewiesenen,
unbegreiflichen Vorstellungen sich unterwerfen und mit
möglichster Innigiceit hingfeben; und das alles Jahrhunderte
lang so forisetzen — woher soll den Europäern ein
gesundes Nervensystem kommen? Wie kann man sich
noch darüber wundern, daß die klassischen Völker und daß
die Chinesen und Japaner eine so ung-leich g^esündere ,G^eistigfe
Konstitution, so viel weniger Anlage zum Irrsinn, so viel
stärkere Nerven besaßen, resp. besitzen, als die Europäer
seit vielen Jahrhunderten?
Daß diese Schwächung der nervösen Natur bei den
Ariern nicht in ihrer Rassenanlage begründet ist, sieht man
daraus, daß in ihren heidnischen Zeiten von einem solchen
Nervenzu Stande keine Spur zu finden ist. Auch die zuneh-
mende Komplikation aller Verhältnisse und die Erschwerung
der ökonomischen Existenz Icann höchstens eine teilweise
Erldärung bieten, denn auch die Japaner und Chinesen
mfissen schwer arbeiten, leben vid Icäiglicher als die Arier
und haben dennoch, wie jeder weiß, das gesündeste Nerven-
system, at)er Iceine Kirche, ja nicht einmal eine Religion«
sondern nur nichtsystemisierten, wenn auch (bei den Chi-
nesen) sehr staricen Aberglauben; sie sind ohne alle Innigkeit
fOr Transzendenzen und frei von unsem aufreibenden Wider-
sprochen mit wissenschaftlichen Ueberzeugungen. Und weil
ihr Aberglauben nicht zur Religion und zur Kirche entartete^
so blieb er ein unschuldiger, naiver, unschädlicher Aber-
glaube
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- 307 —
In einem Werke über Hysterie spricht der Autor*) von
einem dumpfen Hinbrüten mit Lenkung der Aufmerksamkeit
auf Phantasiespiele Die Aufmerksamkeit auf äußere
Sinnesreize ist abgeschwächt, aber immer noch so weit er-
halten, daß das zufließende Empfindungsmaterial mit dem
Komplex der Ich -Vorstellung in normale Beziehung tritt
Das Selbstbewußtsein ist also niemals gestört«; femer:
»Das wissenschaftliche Kriterium der pathologischen
Lflge besteht bekanntlich darin, daß dem Patienten die
Unterscheidung zwischen wirklichen eriebten Voiglbigen
und Phantasievorstellungen nicht mehr möglich ist;« und
>es wird auch von FSUen berichtet, in welchen hysterische
Patientinnen sich selbst wegen schwerer Verbrechen, die sie
gar nicht begangen, denunziert hatten.«
Man vergleiche diese Beschreibungen mit dem »dumpfen
Hinbraten« in Andacht vor religiösen Wahngebilden, mit dem
Glauben an die Berichte über Wundervorgänge, mit den krank-
haften Zerimirschungen und den sich förmlich entpreßten
Selbstanklagen, sei es vor sich selbst oder in der Beichte;
mit der Furcht vor der Hölle, vor dem Verworfensdn vor
Oott und dergl.; man wird die Analogie ganz genau vor-
handen finden.
Der von keinem Zweifel, von keinem Widerspruch be-
rührte Aberglaube, wie er noch in unwissenschaftlichen
Stadien der Menschheit oder bei ungebildeten Volksschichten
in selbst schon vorgeschrittenen Zeiten herrscht, ist also
unbedingt als eine eigene Art von Massen-Hysterie an-
zusehen. So war die europäische Bevölkerung im ersten
Mittelalter, so ist ein Teil derselben in einzelnen Ländern
noch heute beschaffen; man denke an das heutige Spanien,
große Teile von Österreich, an die russische und polnische
Landbevölkerung, an Belgien, einzelne Departements von
Prankreich, an Westfalen usw.
*) Professor Binswanger.
20*
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— 308 —
Seit dem späteren Mittelalter jedoch bis heute, als die
wissenschaftlichen Einsichten immer mehr zunahmen, wurde
der Zwiespalt mit dem abergläubischen Instinkte immer
heftiger, und, da dieser dennoch — durch Suggestion seitens
einzelner ehrlicher Schwärmer, zumeist aber durch egoistische
Agitationen privater Streber oder ganzer Oesellscliafts-
schichten in Scimle und öffentlichem Leben — immer neue
Nahrung fand, entstand an Stelle der reinen Hysterie ein
anderer pathologischer Zustand der Psyche, welcher Zu-
stand zwar einigermaßen an die sogenannte Simulation der
Hysterie erinnert, jedoch, wohl viel richtiger, als eine
religiös geartete Seibstbeileckung angesehen wer-
den muß.
Wir werden hier unwillkürtich an die Ersclieinung der
Selbstbefleckung im sexuellen Gebiete erinnert. Auch da
zwingen sich so viele, Bilder, die sie in sich selbst erzeugen,
mit forciertestem Aufwand an Phantasie für etwas Reales
anzusehen, sie strengen ihre Psyche dabei aufs Äußerste
an, um sich Ober den Widerspruch mit der Wirldichlceit
hinwegzutäuschen, und zerrfitten hieidurch ihr Nervensystem
und ihre ganze Persöniichkdi Auch diese Menschen sagen,
sie hätten von ihrer Phantastilc mehr Vergnügen, als von
allem dem, was ihnen die reale äussere Wdt in dieser
Hinsicht bieten könne; genau so, wie diejenigen, die da
behaupten, die religiösen Vorstellungen und Phanlaslespide
beseligen sie mehr, als alles andere, als alle Wlrklk^hkeit
Man kann das zugeben — allein, muB man fragen, mit
wdchen Folgen? Auf wessen Kosten? Antwort: Auf Kos«
ten der moralischen und intellektuellen Gesund-
heit aller Generationen durch Jahrhunderte hin-
durch !
Daß es in der neueren Zeit besser geworden ist, daß
die religiöse Selbstbefleckung im grofJen und ganzen abge-
nommen, wenn auch nicht aufgeliört hat, ist zweifellos. In
dieser Gesundung liegt eben die Charaktenstilc dessen, was
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— 300 —
man Neuzeit im Gegensatz zum 'MiUelalter< nennt; Eu-
ropa beginnt, sich von dem trschöpfungszustande nach
seinen Phantasieausschweifungen allmählich zu erholen. —
Wiederum sind es große Männer, denen wir dies ver-
danken; Männer, die die Europäer an den Schultern packten
und aus ihrem »dumpfen Hinbrüten« aufzurütteln suchten;
jeder von ihnen in seiner Art.
Und hierzu war nötig, daß jeder dieser großen Er-
wecker vor allem gegenüber geistigen und moralischen
Mächten dnen außerordentlichen Mut besaß: Er durfte,
wenn schon nicht ganz und gar, so doch wenigstens vor
irgend etwas, keine Furcht haben.
Mit Furcht- und Respektlosigkeit, mit einer besonderen
Kraft und Initiative des Charakters weit mehr noch als mit
wissenschaftlichen Fähigkeiten, mußten diese Männer begabt
sein, die, einer nach dem andern, das Mittelalier nledei^
zwangen; und selbst von diesen Starken blieb mancher auf
halbem Wege stehen.
Den Anfang machte, wie mir scheint, Macchiavelii.
Er zuerst hat konsequent eine rein weltliche Politik darge-
stellt und eine gründliche Scheidung derselben von aller
Theologie vorgenommen und zum Bewußtsein gebracht.
Und er hat damit p^iit qcmacht, was uns vor ihm durch
Dantes schwüles, niederdrückendes, den Atem beengendes
»dumpfes Hinbrüten« mit gröJ^tem Aufwand an dekorativer
Phantasie in seiner »Göttlichen Komödie« aus Italien ge-
kommen ist.
Copcrnikus katte keine Furcht vor der Bibel, er tiätte
sonst nicht die Astronomie reformieren können.
Luther fürchtete nicht den Papst, nicht die Mönche
und die ganze katholische Kirche. Vieles andere, z. B. die
Bibel und sogar den Teufel, respektierte er allerdings noch.
Galilei fürchtete weder die Bibel noch den Aristoteles,
sonst hätten alle seine Talente nicht hingereicht, die moderne
Naturwissenschaft zu begründen. Man wird das sofort ein-
— 310 —
sehen, wtnn man sich den vielleicht größten phvsikalischen
Experimentator der Welt, Faraday, an seine Stelle denkt:
Paraday hätte nichts angenommen und nichts zu erforschen
gesucht, was der religiösen Autorität widersprochen halte.
Das können wir nach seinem uns bekanntgewordenen ganzen
Charakter sehr wohl behaupten.
Descartes respektierte die ganze bisherige Philosophie^
Aristoteles wie die Scholastiker, nicht, als er es unternahm,
die autonome, individuelle Philosophie zu begründen. Aller-
dings blieb er auf halbem Wege stehen.
Oiordano Bruno und Spinoza hatten weder vor
der Bibel noch vor iigend einer positiven Religion über-
haupt Furcht
Mit Achtung muB man femer Thomasius und nament-
lich Bayle nennen.
Und man kann in gewissem Sinne auch Ariosto und
besonders Cervantes mit hieiiier rechnen, denn sie töteten
den Respekt vor dem Rittertum.**)
Zu dieser Zeit schrid) Shakespeare seine Dnunen,
ein Dk:hter, der wie keiner vor ihm — vielleicht Euripides
ausgenommen — frei war; der der Bibel wie allem Aber-
glauben furchtlos, und dem Menschenleben objektiv, wie
Galilei der Natur, gegenüberstand.
Und endlich kam VOLTAIRE, der vor gar nichts
in der Welt Furcht hatte, und der nie auf halbem
Wege stehen blieb!
Eben weil er so gar nichts fürchtete, erscheint er noch
heute, nahezu anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tode,
so gewaltig — nicht als fachlicher Forscher, sondern als
Kämpfer, Erwecker und als Aufrüttler; als der treffh'chste
aller Minierer^, als derjenigfe, der gar keinen talsclien Schein
duldete, alie Masken herunterriß; dessen Schriften (nament-
lich in seinen letzten zwanzig Jahren) so gar keine bloßen
*) Betrefli Cervantes stammt diese Bemeriransf, aber In tadelndem
Sinne, von einem sohr tapferen Soldaten, dem der Don Quixote«
durchaus nicht recht war, nämlich dem nissischen General Skobeleff.
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— 311 —
üteraturproduktioiien, sondern Schlachten, und zwar lauter
gewonnene Schlachten sind; der alle Bastionen des Mittel-
alters, wenn schon nicht erstürmte, so doch mOrbe schoß,
und der mehr als irgend ein anderer Mensch durch die
Oesundheit seines Naturells der Feind alles »dumpfen Hin-
brfltens« in geistzerrfittendem Phantasiespiel war. Daher
kommt es, dafi, wie ein iderilcaler Gegner, Nourisson, richtig
sag^ schon der bloße Name Voltalre's zu einem Kriegs-
geschrd geworden, und einer Standarte gleicht, um -die sich
kampflustige Parteien zu gruppieren pflegen.
Was Verneinung für den Fortschritt, für das OlOck
der Menschheit bedeuten kann, sieht man eben am besten bei
einer objektiven Würdi^^ung Voltaire's; weit besser noch als
bei den sogenannten negativen Leistungen Kant s.
Und was Voltaire seinen Intentionen nach fiir die
Reinig^ung der geistigen Atmosphäre der Europäer bedeutet,
erkennt man sofort, wenn man ihn mit den meisten seiner,
selbst bedeutendsten, Zeitgenossen vergleicht, die ebenfalls
große Schritte nach vorwärts machten; und wenn man an
viele, selbst große oder nicht unbedeutende Männer denkt,
die nach ihm kamen. Und dabei handelt es sich, wenig-
stens in der Hauptsache^ immer um den Aberglauben.
*
Es ist nicht zu leugnen, daß die eigentliche, gründliche
Reinigung der geistigen Atmosphäre, namentlich der städti-
schen Bevölkerung, Europa's in religiöser Beziehung nur auf
Rechnung von Voltaire's Witz und Spott zu setzen ist
Denn man braucht sich bloß vorzustellen, daß die Schriften
der englischen Ddsten, denen allerdings Voltaire so viele
ernste Aigumente entnahm, und sämtliche Schriften der
Nachfolger Voltaire's bis zum heutigen Tage^ Feuerbach und
Strauß mitinbegriffen, allein vorhanden wären, aber nkht
Voltaire's Schriften, so wird man wohl sofort fühlen, dafi
Digitized by Google
— 312 —
nur ein ganz kleiner, höchstj^ebüdeter Teil der europäischen
Menschheit vom Aberglauben so befreit wäre, wie es heute
nahezu die Majorität derselben ist
Man darf aber nicht meinen, zu einer solchen befreien-
den agitatorischen Wirkung sei eben bloß Witz und Spott-
sucht notwendig; etwas unendlich größeres muß man be-
sitzen: jene Reinheit, man könnte sagen Keuschheit, gegenüber
aller Halbheit, Unwahrhaftigkeit, Verstiegenheit und kritik-
losen Schwärmerei in Fragen der Religion und Metaphysik,
wie sie eben Voltaire besaß.
Ober die Bedeutung und die Wirkung von Spott» Witz
und Satyie gjBgmfÜxt positiven Religionen herrschen sdir
umichtige Vorstellungen. Man hSlt eine solche Kampfes-
weise fQr eine unteigeordnete und verschliefit sich sogar
der Tatsache^ daB der »Vollairianismus« eine gast^ SM^
mung Europa's bedeutet, über die sich die Anhänger und
Vertreter sogenannter geoffenbarter Religionen bis auf den
heutigen Tag nicht genug entrüsten können.
Es ist zwar richtig, daß die ernsten Aigumentationen in
Voltaire's antireligiösen Pamphleten» seine Entrflstung und
sdn Zorn in seinen Aufsätzen und Bflchem, ebenfalls sehr
viel zur Erschütterung des religiösen Wahns beigetragen
haben, aber der hohe Wert seines Spottes darf darum doch
nicht unterschätzt werden. Worin besteht aber dieser Wert?
Man wird ihn sofort durchschauen, wenn man sich an
das bei seinen Gegnern so beliebte Schlagwort erinnert, daß
Voitaire's Witze oder, wie man gerne verächtlich sagt, seine
-Witzeleien^ gegen religiöse Dinge, frivol seien. Dieser
Ausdruck frivoi< zeigt ganz deutlich, was da vorgeht.
Ich möchte an die bekannte Anekdote erinnern, wonach
einer Anzahl von üelehrten die Frage vorgelegt wurde, wie
es komme, daß das Gesamtgewicht von einer Tonne Wasser
und einem außerhalb der Tonne befindlichen Fisch größer
sei als das Gesamtgewicht beider, wenn der Fisch im
Wasser der Tonne herumschwimmt Alle Gelehrten bis auf
Digilizod by
*
— 313 —
einen zerbrachen sich die Köpfe, dieses Rätsel zu lösen, nur
dieser eine gab dem Frager die Frage zurück: Ob diese
Behauptung denn überhaupt wahr sd, er möge doch den
praktischen Beweis dafür liefern.
Die merkwürdige Tatsache, daß so viele Gelehrte die
Behauptung akzeptierten, obwohl sie allen ihren bisherigen
physiloüischen Erfahrungen widersprach, wäre schwer zu
erklären, wenn nicht noch dn charakteristisches Detail hl
joier Erzählung mit enthalten wäre. Diese Vexierfrage wurde
nämlich nicht von dem ersten besten, sondern von einem
König den Gelehrten voigdegt; Uchtenbeig, bd dem idi
diese Erzählung zuerst fand, berichtet nämlich, es sd das
König Oeorg III. von Engbmd gewesen. Und gerade dieser
sdidnbar nebensächliche Umstand erschdnt mir als das
Wichtigste bd der ganzen Geschichte. — Denn nur der
Respekt vor dnem König war es, der die Gdehrten um
ihren gesunden Verstand und um den Mut des Zweifds
oder der gänzlichen Abweisung eines Widersinnes ge-
bracht hatte.
Wie die Furcht vor Gespenstern die Kraft raubt, sie
auf ihre Realität hin zu prülen, so wirkt die Ehrfurcht vor
Himgespinnsten auf die Vernunft lähmend ein, hindert uns,
sie zu analysieren, und treibt uns an, ihnen Wert und Be-
deutung zu verleihen.
Und das zei\^t sich bis auf den heutigen Tag, wo noch
immer religiöse Lehren nur darum ernst genommen und, ob-
wohl sie mit Vernunft und Wissenschaft im Widerstreit
stehen, nicht im Vorhinein verworfen werden, weil man
Sklave des anerzogenen Respekts vor jenen Lehren ist.
Witz und Satyre geben uns wenigstens den Mut, zu zwei-
fdn, wenn schon nicht den, zu verwerfen, und mehr braucht
es nicht, um uns frei zu machen. Alle Untersuchungen
historischer und philologischer Natur, insoweit sie zur Be-
kämpfung positiver Rdigion und nicht zur objektiven wissen-
schaftlichen Vermehrung unserer Kenntnisse dienen soilefli
Digitized by Google
— 314 —
haben immer die Schwache eines apriorischen Respekts vor
den religiösen Behauptungen zur Voraussetzung. Das wird
schon dadurch bewiesen, daß Icein Christ, er sei noch so
gelehrt, vom Glauben, z. B. an den Islam, nur deshalb frei
ist, weil er dessen Lehren und Behauptungen, das Leben
Mohameds und die ihn betreffenden Legenden, einer grund-
lichen Untersuchung unterzogen, und erst dadurch gefun-
den hat, es sei nichts damit
Diesen Mangel an unbegründetem Respekt bei Voltaire
und bei allen jenen, die ihm darin gleich sind, nennen nun
die Verteidiger der positiven Religion: »frivol«, um pfiffiger-
weise in dieser so wichtigen Beschaffenheit der Gesinnung
etwas Un-Ethisches vermuten zu lassen.
Weit entfernt, daß der Spott und Witz Voltaire's Ober
religiöse Gegenstände als ein Zdchen von Oberflächlichkeit
gelten darf, muB man im Gegenteil alle jene oberflächlich
nennen, die, ohne Witz, mit großem Emst sich jenen Dingen
soweit gefangen geben, um ihnen durch allerid Deutungen
und Wendungen einen Sinn unterzulegen; denn nichts kann
oberflächlicher sein, als ohne Prüfung sofort anzunehmen,
eine Tonne Wasser und der Fisch würden an Gewicht ver-
lieren, wenn man den Fisch in die Tonne steckt, und zwar
bloü darum anzunehmen, weil es — ein König sagt.
Was Religion betrifft, so ist an Voltaire in der Tat
keine einzige schwache Seite zu finden; und trotzdem er
im Laufe eines langen Lebens auch manche Widersprüche
mit früher ausq;esprochenen Ansichten aufweist, so ist doch
auch in Beziehung auf Metaphysik, namentlich insoweit
sie sich mit religiösen Fragen beschäftigt, eine gewisse kon-
stante Orundauffassung bei Voltaire zu konstatieren, über
die die klarsten Denker noch heute nicht hinaus sind.
Daß das ganz besonders für die Negationen gilt, ist
jrewiß; allein in positiver Beziehung sind wir heute auch
nicht weiter, als zu Voltaire's Zeit, trotz allen Aufwandes
von weitläufigen Untersuchungen, trotz aller wissenschaft-
.^ .d by Google
— 315 —
liehen Fortschritte und ungeachtet der Erweiterung unserer
Kenntnisse der außereuropäischen Leistungen im Gebiet der
Metaphysik und Religion.
Es ist erfreulich, ja wahrhaft eifrischend zu sehen, daß
Voltaire bezüglich des vielleicht am wenigsten kindischen
religiös-metaphysischen B^ffs, nämlich des Oottesbegriffs,
frei, besser gesagt, leer ist Seine ganze Überzeugung vom
Dasein eines Oottes pflegte er nur mit der Frage zu be-
gründen: »Wer hat das alles gemacht?« eine Fragen die auch
Napoleon in Egypten an die OeiehrCen der Expedition —
gelegentlich eines Gespräches in sternklarer Nacht — richtete
und, num muB es sagen, eine Frage, die auch den unge-
bildeten Menschen zum scheinbaren Beweise des Daseins
eines Oottes dient. DaB man dann weiter fragen kann:
»Und wer hat nun diesen Gott gemacht? Und wenn er gar
nicht gemacht ist, könnte nictil auch die Welt, ohne jeden
üott, ebenfalls gar nicht gemacht sein?« — welche Ein-
wendun^^^ ja nicht neu ist — , daran denkt man sonder-
barerweise nicht, weder der ganz Ungebildete, noch ein
Napoleon, der sogar noch Laplace den Vorwurf machte,
in seiner Darstellung des Weltsystems sei Oott gar nicht
zu finden.
Aber Voltaire war im Innersten seines Wesens wirklich
frei, und jenes Argument *Wer hat das alles gemacht?«
scheint für ihn doch durchaus kraftlos gewesen zu sein;
denn wie wir schon sagten, er hatte eine gewisse Sympathie
für, oder doch einen gewissen Respekt vor Spinozas Pan-
theismus, und, wie wenig ernst er die Idee eines Oottes-
Daseins nahm, geht am besten aus jener Stelle in dem Ge-
dichte: Les syst^es hervor, wo Voltaire Spinoza an den
Thron Oottes herantreten IflBt:
»Da näherte sich dem groBen Wesen, veitoigen unter
dem Mantel seines Meisters Descartes, ein kleiner Judc^ mit
langer Nase^ blassem Teint; arm, aber zufrieden, ein einsamer
Denker, von subtilem und tiefem Odst, weniger gelesen als
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gefeiert »Verzeiht mir,« sprach er p^anz leise zu Gott,
»aber — unter uns — ich denke, dal] Hir gar nicht existiert!
Ich glaube, es mathematisch bewiesen zu haben. — «
Kann man einen Mann, der so spricht, noch einen wirk-
lichen, ernsten Deisten nennen, als den man Voltaire zu be-
zeichnen gewohnt ist? Gewiß nicht; ein Deist kann solche
Scherze nicht machen. Und ebensowenig kann der einen
Glauben an das Dasein eines persönlichen Gottes besitzen,
der den Satz aussprach: »Wenn Oott nicht existierte^ so
mußte man ihn erfinden.«
An einer anderen Stelle sagt Voltaire: »Das Wort Natur
bedeutet nur die Gesamtheit der Ding^ nicht ein absolutes
Wesen;« Ober welchen Oedanken wir heute noch nicht
hinaus sind, wenn wir nicht willkQtlidie Einfölle zur Grund-
lage einer Metaphysilc machen wdlen, und fiber den der
Mensch auch niemals wird hinaus kOnnen. Zeigen uns
schon solche Äußerungen, wie reinlich Vollaire's Denken
und Fühlen in Beziehung auf religiöse Dinge war, so
gewinnen wir diesen Eindruck auf andere Weise auch noch
dadurch, daß wir seine mehr als sechzig Jahre fortgefflhrte
schriftstellerische Tätigkeit in dieser Hinsicht verfolgen und
sehen, wie da keine einzige schwache Stelle zu finden ist,
die uns an setner wurzelhaften Geistesfreiheit zweifeln hissen
kftnnte. Wie wohl ist uns daher bei ihm zu Mut!
Vergleichen wir aber z. B. einen viel späteren genialen,
höchst trotzigen und vielfach o[)i3ositionellen Geist wie Lord
Byron mit Voltaire. Byron kämpft mit Gott; in seinen
sogenannten Mysterien schlägt er sich mit Gott, Engeln
und Teufeln, und sogar mit ihrer biblischen Auffassung
herum, und befestigt gerade dadurch die Voraussetzung
ihrer Existenz, anstatt sie zu n^ieren;*) und auf mich
*> Es ist zu bedauern, daß diese Methode, jene veralteten Super-
stitionen philosophischen Otchtunpen zugrunde zu legen, noch heute
angewendet wird. Im Jahre 1903 erschien z. B. etwas derartiges unter
dem Titel »Mythen und Mysterienc von Paul Heyse ; darin begegnen
wir wieder den aUen Bekannten: Kain, Ulifh und Oenoisen,
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wenigstens machen alle seine anscheinend kühnen Ausfülle
den Eindruck von Rodomontaden eines eben flügge ge-
wordenen Studenten, der orthodox erzogen wurde, in einem
gewissen Augenblick etwas von Freigdsterd in sich auf-
nahm, und nunmehr zu trotzen und zu poltern beginnt, aber
gar nicht weiß, daß er sich mit lauter Himgespinnsten
herumschlagt Also ein noch unfreierer Verstand, als ihn
Don Quixote besaß, da dieser Windmfihlen fflr Riesen hielt;
denn hier war doch wenigstens etwas da, die Windmühlen
nämlich. Ja, diesem Byron saß das alte Testament noch so
tief in seinem Denken, daß er in »Harolds Pilgerfohrt« die
Erbsünde in vollem Emst in poetische Verwendung nahml
»Unser Leben ist dn Fehler der Natur«, heißt es dor^ »nidit
in Harmonie mit all den Dingen, dne schwere Last, ein
nicht zu entwurzelndes Mal der Sflnde« Voltaire
wäre der Oedanke^ die Ldden des Lebens von der Erbsflnde
oder der Sflnde Oberhaupt herzuleiten, weder im Wachen
noch im Traume, weder in gesundem noch In krankem Zu-
stande eingefallen; meines Wissens berührte er diesen Ge-
danken nur in der Weise, daß er die Frage aufwarf: Und
was haben die armen Tiere getan ? ... Sie haben nicht von
der verbotenen Frucht gegessen und gebären dennoch unter
Schmerzen?!
Dieselbe Reinheit des Geistes wie gegenüber allem
Religiösen zeigte Voltaire in seinem Verhalten zur Meta-
physik, dieser etwas vornehmeren Schwester der Religion.
Obwohl ohne spezielle Befähigung oder Mube zu ein-
dringenden erkenntniskritischen Untersuchungen, durch-
schaute er dennoch, kraft seines groben Verstandes und
seiner unerschütterlichen Herzhaftigkeit gegenüber allen
Schwächlichkdten die Haltlosigkeit aller Metaphysik; und
die Erfahrung mit allen metaphysischen Systemen vor und
nach Voltaire zeigt — bei aller Hochachtung vor der gei-
stigen Enei)gie ihrer Erfinder — wie richtig seine Ansichten
hierin waren.
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Voltaire wird übrigens als philosophischer Kopf —
meiner A\einung nach — sehr unterschätzt. Wenn man
aus seinen zahlreichen Aufsätzen eine Anzahl ihm eigen-
tümlicher Argumentations- und Betrachtungsweisen, sowie
positive Ideen oder Apercjus, die er allerdings nicht weit
genug verfolgt, zusammenstellen wurde, so wäre damit ein
noch heute anregendes und namentlich als Einleitung in
philosophisches Denken sehr nützliches Werk getan Man
sieht das schon aus der schönen, wenn auch kurzen Dar-
stellung von Voltaire als Philosoph in dem Buche von
David Strauß. Ich möchte übrigens bei dieser Gelegenheit
durch ein Zitat aus Schopenhauers »Die Welt als Wille und
Vorstellung« (II. Bd. S. 66Q) zeigen, was dieser strenge
Zensor aller Philosophen von Voltaire als Philosophen hielt.
» ... Im neuen Testamente ist die Welt daiigestellt
als ein Jammertal, das Leben als ein LäuterungsprozeB, und
ein Marterinstrument ist das Symbol des Christentums.
Daher beruhte, als Leibnitz, Shaftesbury, Bolingbroke
und Pope mit dem Optimismus hervortraten, der Anstoß,
den man allgemein daran nahm, hauptsächlich darauf, dafi
der Optimismus mit dem Christentum unvereinbar sei; wie
dies Voltaire, in der Vorrede zu seinem vortrefflichen Ge-
dichte »Le d^sastre de Lisbonne«, welches ebenhdts aus-
draddich g^;en den Optimismus gerichtet ist, berichtet und
eriäuteri Was diesen großen Mann, den ich, den Schmäh-
ungen feiler deutscher Tintenldexer gegenüber, so gern lobe^
entschi^en höher als Rousseau stellt, indem es die größere
Tiefe seines Denkens bezeugt, sind die Einsichten, zu denen
er gelangt war: 1) die von der überwiegenden Oröße des
Übels und vom Jammer des Daseins, davon er tief durch-
drungen ist; 2) die von der strengen Nezessitation der
Willensakte; 3) die von der Wahrheit des Locke'schen
Satzes, daii möglicherweise das Denkende auch materiell
sein könne; während Rousseau alles dieses durch Dekla-
mationen bestreitet, in seiner Profession de foi du vicaire
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319 —
Savoyard, einer flachen protestantischen Pastorenphilosophie;
wie er denn auch, in eben diesem Geiste, gegen das soeben
erwähnte, schöne Gedicht Voltaires, mit einem schiefen,
seichten und lojj^isch falschen Räsonnenient zu Gunsten des
Optimismus polemisiert, in seinem bioli diesem Zweck ge-
widmeten, langen Briefe an Voltaire, vom 18. August 1756.
Ja, der Orundzu«^ und das -(hütov (pvido^ der ganzen Philo-
sophie Rousseaus ist dieses, daß er an die Stelle der
christlichen Lehre von der Erbsünde und der ursprünglichen
Verderbtheit des Menschengeschlechts eine ursprüngliche
Güte und unbegrenzte Perfektibilität desselben setzt, welche
bloß durch die Zivilisafion und deren Folgen auf Abwege
geiaten wäre, und nun darauf seinen Optimismus und
Humanismus gründet.«
Und in der Abhandlung »Ober die Freiheit des mensch-
liehen Willens« kommt Schopenhauer ebenfalls mit grofier
Hochachtung auf Voltaire zu sprechen.
Mir scheint die zweite der von Schopenhauer an Voltaire
gerühmten Einsichten, nSmlich die von der Unfreiheit des
menschlichen Willens, diejenige^ die am meisten Voltalre's
philosophisches Naturell beweisl^ und es gilt das weniger
fOr diese Orundansicht selbst, die sich bd ihm bekanntlich
erst später (nach vielen Kontroversen mit Friedrich dem
Großen) festsetzte^ als fUr die Argumentation, mit der Voltaire
die Nezessitation des Willens stfltzte
Seine hierhergehörigen Bemerkungen sind nicht nur
schlagend, sondern auch sehr weittragend, und in folgenden
Sätzen enthalten: »Der Mensch ist frei, insoferne er das
kann, was er will, aber er ist nicht frei, zu wollen;
es ist unmöglich, etwas ohne Ursache zu wollen;«
»Wir sind ebensowenig Herren unserer Träume wie unserer
Gedanken, und in dem bedeutenden Apercu: *Wir können
nie vorher bestimmen, welchen Gedanken wir in der nächsten
Minute haben werden.^.
Zu dem Problem der Wiilensuntreiheit möchte ich mir
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einige Aufidlrungen zu geben erlauben, deren mir dasselbe
noch heute zu bedürfen scheint So sehr ich nämlich die
Argumentation VoItaire*s und namentlich Schopenhauers als
beweiskräftig ansehe, so glaube ich docli, es sei zur Herbei-
führung einer vollen Überzeug^ung und Einsicht in diesen
schwierigen Gegenstand notwendig, auch darzulegen, woher
— trotz aller Gegenbeweise — doch der Schein der
Willensfreiheit entstehe und wie man diesen Schein analysieren
müsse. Dieser Punkt ist nicht nur fijr die theoretische
Philosophie von größter Wichtigkeit, sondern auch für die
Anwendung auf die Geschichtsphilosophie, namentlicli die so-
gfenannte materialistische , wo die Unterscheidung zwischen
den sich spontan entwickelnden »Oeschichtsgesetzen« (oder
dergl.) und den aus unserem freien Willen unternommenen
Änderungen des historischen oder sozialen Verlaufes der
B^benheiten eine so grosse Rolle spielt
Ich möchte also darauf aufmerksam machen, daß die
Analyse der Tatsache, dem Scheine nach frei zu
sein von mir im Jahre 1878 in dner» allerdings sehr
kunen, Stelle des Werkes »Das Recht zu leben und
die Pflicht zu sterben« gegeben, und offenbar dieser Kürze
wegen vollstSndlg unbeachtet gelassen wurde, Diese Stelle
lautet in der dritten Auflage identisch mit der in der ersten
(und zwar auf S 60 und 61 der ersteren) folgendermaßen:
»Wenn wir gewisse Bemflhungen und Richtungen der
Vergangenheit tadeln, und wenn wir sagen, es hätte auch
anders sein können, so halte man uns nicht das Naturgesetz,
die Notwendigkeit daß es so und nicht anders geschehen
mußte, entgegen. Gewiß, was geschehen ist, kann nicht
ungeschehen gemacht werden.
Wir meinen, wenn von Vergangenheit in Form eines
»Soiiens« gesprochen wird, stets nur dasjenige, was wir für
die Zukunft zu tun hätten, und hierin hindert uns keinerlei
Bedenken; wer, von der Notwendijrkeit alles Geschehens
ernstlich überzeugt, die Hände in den Schoß fallen ließe und
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glauben sollte daß alles Bemühen nutzlos und der Mensch
in seinen Bestrebungen doch nicht frei sei» der würde einem
Mißverständnis dessen» was Freiheit der menschlichen Tätig-
keit in Beziehung zum Natuiganzen behiff^ zum Opfer fidlen.
Menschliche Tätigkeit erscheint uns frei vor
ihrem Eintritt, notwendig nach ihrem Eintritt in
das Weltgetriebe.
Es ist daher nur eine Zeitfrage^ wie unser Od»hren
charakterisiert wird.
So lange unsere Handlungen nicht als eingetreten oder
abgeschlossen von uns angesehen werden, halten wir uns
in ihrer WaJil für frei, und wir wählen in der Tat; je mehr
Zeit aber nach ihrem Verlauf verflossen ist, desto mehr er-
kennen wir ihren Zusammenhang mit dem Ganzen. Es sind
eben unsere Ideen, unsere Triebe, unsere Argumente nicht
wen lerer Beslimmungsgründe des Verlaufs der Natur, als
alles Andere, nur wissen wir nichl, in welchetn Maße sie
ein von uns ang^estrebtes Resultat herbeiführen werden.
Nachher erst seiicn wir, welche Triebkräfte den höheren
Treffer e^emacht haben, . .
Man erkennt also, daß der Anschein von Freiheit bloß
darin seinen Grund hat, daß wir in dem Moment unserer
Entschließungen dem Komplex hier bestimmender Umstände
zu nahe stehen und in die richtige Sehweite erst dann ge-
langen, wenn der Zeitabstand ein genügender geworden ist
Eine hinreichende zeitliche Entfernung von den konkur*
rierenden Faktoren ermöglicht es uns sodann» eine so er-
schöpfende Analyse vorzunehmen, dafi wir unsere Abhängig-
keiten durchschauen können, wenn wir nur ehrlich und
unerschrocken genug dazu sind. Auf diese Weise ist De*
termination mit dem Schebi von Freiheit sehr gut zu ver-
einigen, und der Dualismus von unmittelbarer Gegenwart und
einer selbst noch so nahen Veigangenhelt genfigt, diesen
scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Während iOmt zum
Behufe dieser Sdiwierigfceit den Dualismus des empirischen
Poppet, Voltaict. 21
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— 322
und des inteUigibetn Ichs erfand, welchen Dualismus wir,
a]s eine ganz willkürliche metaphysische Erfindung, von
uns weisen mQssen, ist es daher bloß nötig, an seiner Stelle
jenen anderen Unterschied von gegenwärtigem und ver«
gangenem Zustande unseres Ichs ins Auge zu fassen,
über dessen Zulässigkeit und Realität kein Zweifel obwalten
kann.*)
Was nun die Metaphysik betriff^ so ist sie für Vol*
taire bloß »das Feld der Zweifel und der Roman der Seele«,
welcher Oedanke in unserer Zeit oft in der Form von »Be-
griffsdichtung« zum Ausdruck gebracht wurde. »Sie hat
das Oute,« sagt Voltaire ein anderes JMal,**) »daß sie keine
beschwerlkhen Vorstudien braucht; hier kann man alles
wissen, ohne jemals etwas gelernt zu hallen« . . . und
»wenn man nur einen etwas subtiien und falschen Oeist
hat, so kann man sicher sein, weit zu kommen.«***) im
Jahre 173Q schreibt er: *Die Metaphysik ist nur ein Spiel
des Geistes ..... die ganze Thcodicee von Leibnitz ist
nicht so viel wert wie ein Experiment von Nolle! f) und
ganz kurz zu sprechen, war ihm außer Mathematik und
Experimentalwissenschaft überhaupt eine jede Behauptung
zweifelhaft.
*) Diese hier dargelegte Auffassunc des Freiheitsprobicms weist
fibrigeni auf eine eingehendere Behaiufluiig des Ich - Problems hin,
das mit jenem in tiefwurzelnder Weise zusammenhängt, und die ich an
anderem Orte nodi zu publizieren hoffe. Auch möchte ich noch hinzu-
fügen, dtB mir seit dem ersten Durcitdenken otriger Losung des Pro-
blem? der Wülcnsnc/essitation stet? dunkel vorschwebt, daß ich sie bei
irgend einem älteren Philosophen gelesen oder, als von ihm herrührend,
zitiert irgendwo gefunden hatte, speziell sdiefnt mir Baoon von Verulam
der Urheber derselben zu sein; ich krcmte aber trotz eifrigen Suchens
nirgendwo eine Bestätigung meiner Vennutnnp: finden.
••) Im Artikel Trinit^ des Philosophischen Wörterbuchs
•••) Ganz ähulicli äulkrte sich Goethe zum Kanzler Müller (im
Jahre 1825) über den Hang der neuen Zeit zum Mystizismus »daß
man dabei weniger gründlioi zu lernen pfl^;e. Sonst habe man viel
sein müssen, um etwas zu scheinen. ^
t> Dem Physiker, der sich namentlich als Elektrflcer einen Namen
madite.
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Mit einer solchen Auffassungsart aller Dinge wäre aber
vielleicht die neue Zeit gegenQber dem Mittelalter, wenigstens
in intellektueller Beziehung^ am präzisesten definiert
* •
Man wird mit der Beschreibung von Voltah«'s Eigenart
nicht so bald fertig, und es scheint mir, man könne von
ihm mit Recht sagen: Diesem Menschen imponierte
gar nichts in der Weltj was noch mehr besagt als der
Satz: Er hatte vor nichts Furcht.
Alle die hundert Arten von Furcht wie von grundloser
Ehrfurcht, die fast alle anderen Menschen niederbeugten,
kennt er nicht. Das zeigt sich in seinen Schriften, in seinen
Korrespondenzen mit den mächtigsten Persönlichkeiten
Europa's und auch in seinem persönlichen Verkehr mit den
sogenannten Großen. Diese Eigenschaft bewirkt den Haupt-
reiz bei dem Studium seiner Individualität und erfüllt uns
in einzigartiger Weise mit solchem Lebensmut und solcher
den Dingen überlegenen Heiterkeit.
Ihm imponierte wirklich gar nichts 1 Weder Schulmei-
nungen noch Dogmen, nicht alte Sagen der Geschichte,
nicht metaphysische Systeme, weder mächtige Religionen,
noch Gewohnheitstorhdten iiigendwelcher Art, nicht Minister,
nicht Könige.
Und es ist daher nur natürlich» daß alle jene^ die sich
gerne fürchten, die ein gewisses geheimes Grauen vor
iigend etwas lieben, die gerne einen trüben Respekt und
dunkle Ehrfurcht verspüren, daß alle jene von tiefem Wider-
willen gegen Voltaire erfüllt sind. Denn sie schämen sich
vor ihm; wie jemand, der im geheimen Winkel auf unan-
ständigen Handlungen ertappt wird. Sie haben ein schlechtes
Gewissen In Ihrer Vernunft, die ihnen Vorwürfe macht,
schon wenn sie die Physiognomie Voltaire's vor sich sehen,
aber welche doch nicht die Kraft hat, sie von ihrem Fürchten und
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Ehrfürchten zu befreien. Es ist ganz begreiflich, wenn
ein Graf Joseph de Maistre^ ein Mann, der alles Heil nur
von der Wiederherstellung des mittelalterlichen Papsttums
erwarte^ der an Astrologie glaubt, die Planeten von Oeistem
fahren ISfit und Kriege Mr sehr erwflnscht hilt, um die
»erschlaffte Menschheit aufzufrischen« — in seinen Soirtes
de Saint-P6ter&bourg beim Anblicke des Porträts von Voltaire
ausruft: » . . . . Seht doch diese freche Stim^ die nie vor
Scham errötet, diese zwei ausgebrannten Krater, in denen
nur noch Unzudtt und HaB kochen; diesen Mund, der von
einem Ohr zum andern reicht, und diese von grausamer
Bosheit zusammengekniffenen Lippen, die wie eine Feder
stets bereit sind, sich zu entspannen, um Blasphemieen oder
Sarcasmen heraus zu schleudern. Sprecht mir nicht von
diesem Menschen, ich kann nicht einmal den Oedanken an
ihn ertragen. Ahl Wie viel Schlimmes hat der uns an-
getan!«*)
Die Kategorien von Menschen, die sich über Voltaire
äigem, sind beinahe unzählbar; und aus seiner Orund-
eigenschaft, sich von nichts imponieren zu lassen, erklärt
sich das so leicht, daß man stets mit voller Sicherheit
voraussagen kann, wer sich in jedem gegebenen Falle Aber
Ihn iigem wird Man lese im Buche »Mdnage et finances
de Voltaire« von Louis Nicolardot**) die Zusammenstellung
aller feindseligen Ausspreche fiber Voltaire nach, so wird
man eine sehr interessante Anregung zur Ldsung einer der-
artigen psychologischen Aufgabe erhalten; und immer gelingt
es leicht, die Wurzel ider Feindsdlgkelt im Charakter oder
in der Lebensstellung der Oegner zu entdecken. — Vielleicht
am interessantesten ist die Oegnerschaft Napoleon's.
Es ist ja gar keinem Zweifel unterworfen, daß, wenn
Napoleon und Voltaire gleichzeitig gelebt hätten, jener diesem
*) Aus Nourrisson's »Voltaire zitiert,
**) Wohl einem der wütendsten klerikalen Oegner Voltaire's.
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nicht im mindesten imponiert iiitte. Und das fttlilte Napoleon
sehr wohl, das mußte er instinidiv aus dessen ganzem Wesen
heraus erkennen. Napoleon hatte eine solche Antipathie gegen
Voltaire, daß er — wie, ich glaube, Arao^o in seinem Essay
Ober Volta erzählt — aus dem Worte Voltaire«, das über
der Saaltüre der Akademie der Wissenschaften in grolien
goldenen Lettern stand, die drei letzten Buchstaben aus
dem Marmor auskratzen Heß, um an Stelle Voltaire's den
Namen des großen italienischen Physikers zu setzen.
Und über Voltaire als Schriftsteller soll er, wie Nicolardot*)
berichtet, sich geäufiert haben: »Voltaire ist voll von Schwulst
und Flitter; immer falsch; er kennt weder die Menschen,
noch die Dinge^ nicht die OrOBe^ nicht die Leidenschaften.
Es ist zum Erstaunen, wie wenig er es vertragt, gelesen zu
werden. Wenn der Pömp der Dildion, das Blendweric der
Szene^ nicht mehr die Analyse und den guten Geschmack
betragen, verliert er sofort neunhundert von tausend.«
Napoleon verhinderte auch jeden Wtedeiabdruclc von
Voltaire's Werken.
Aus diesem allen merkt man ganz deutlich heraus, dal*
Bonaparte sogar durch den toten Voltaire so irritiert wurde,
als ob der lebende vor ihm gestanden und nicht genug
Ehrfurcht und Bewunderung vor dem alimächtigen Soldaten-
kaiser gezeigt hätte.
Und dieses Gefühl Napoleons war auch ein ganz
richtiges.
Denn ein Mann, der in seiner Sphäre selbst dn Oenie
wie Bonaparte war, der den König von Preußen ganz wie
irgend einen anderen Kameraden seiner Gesellschaft, bald
liebenswürdig, bM höhnisch behandelte und infolge eines
ihm bekannt gewordenen malitiOsen Zuges Friedrichs seine
Reise nach Potsdam mit den Worten antrat: >Ich will ihn
*) Mi'nan et liiiaiicet de Volttire« par Lotiis Niooludot
II. Bind, S. 348/
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lehren, sich auf die Leute zu verstehen«; der, wie man von
Ihm sagte, die OröBe bewunderte^ aber die OroBen verach*
tete — ein solcher Mann hätte selbst vor einem Geiste wie
Napoleon nicht entfernt jene schflchteme Bewunderung gehegt,
die die größten Genies diesem gegenüber empfanden, wie z. B.
ein Goethe oder ein Byron. Und wer seinen »Mahomed dem
Papste widmet, der wäre auch sehr dazu genciß;t gewesen, von
Napoleon das Wort tragediante« — mit gebührender Vor-
sicht — zu gebrauchen, das Pius VII. diesem entgegen-
schleuderte; und all das Boshafte, das Chateaubriand, die
Stael und die anderen glänzenden Schöngeister gegen Napo-
leon unternommen, hätten diesen gewiß nicht entfernt so
irritiert, wie das beleidigende Ausbleiben der Ehrfurcht oder
der Furcht, das er schon in Voltaire's Physiognomie und
selbst in seinen gewiß nicht ausbleibenden Komplimenten
hätte bemerken müssen.
Die Deutschen haben eine schöne Sage von dem
»Knaben, der das Fürchten nicht gekannt«. Richard Wagner
tut Siegfried als einen solchen Knaben dargestellt, jenen
jungen Helden, an Leib ein Riese, voll von Mut, leer an
Wissen und Verstand, der sich an dem Anblick des groBen
Drachens, den alle anderen fürchteten, bloß belustigte.
Es ist sonderbar, daß diesen Sagen wie andern ähn-
lichen stets mehr oder weniger deutlich der Oedanke zu-
grunde lieg^ daß der Mut, den man doch als eine Tugend
ansieht, nur mit Mangd an Verstand und mit Unwissenheit
verbunden sein kann. Von der Sage der Bibel angefangen,
derzufolge Erkenntnis Sunde sei, trifft man immer auf solche
klcinmüüge und irrige Anschauungen, in denen geradezu
eine Scheu vor Verstand und Wissenschaft zutage tritt, eine
Art asketischer Stimmung, sich — besonders vor einem
despotisch gedachten Oott — ja nur so klein zu machen
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als möglich. Die ganze schiefe Auffassung Rousseau's und
nach ihm vieler anderer: Kultur, Kunst tmd Wissenschaft
als eine Art Sflndenfall und nur Unkultur als mit Mond ver-
einbar anzusdien, gehört ebenfalls in dieses Kapitel.
Was bedeutet aber der Mut von hundert Sieg-
frieden gegen den Mut desjenigen, der nicht nur
einen, sondern gar viele Drachen aus ihren Höhlen
lockte und sie erlegte oder schwer verwundete!
Und das war auch überdies kein Riese an Leib, sondern
ein immerwäiirend kränkelndes Männchen, und nicht darum
so muti^, weil er gar so dumm und unwissend war: denn
hier war es einer der genialsten und bildungsrticlisten
Menschen, die je gelebt haben, der das Fürchten nicht
kannte. —
Indessen; Etwas Gemeinsames hatte Voltaire doch mit
jenem Knaben oder jenem Si^^fried; denn auch er hatte
das Naturell eines Kindes.
So seltsam diese Ansicht im ersten Augenblick er-
scheinen mag, und so gewiß viele es als widerspruchsvoll
und lächerlich finden werden, sich den geistreichsten Mann
der Welt sein ganzes Let>en hindurch als eine Art von Kind,
als naiv, vorzustellen, so ist es darum doch nicht weniger
wahr. Dieser Mann, gescheit wie der Tag, von beinahe
universeller Bildung, der immer noch weiter, l>is zum letzten
Atemzuge^ studiert und schreibt, der sich mit hundert Oeg>
nem henimbdßt, sich, wenn er iigendwie Gefahr wittert,
verstellt und versteck^ schlaue finanzielle Unternehmungen
durctifOhrt und hierdurch ein steinreicher Mann wird —
wo, wild man fragen, bleibt da das »Kind?« Wo die
Naivetät?
Und doch ist es so: ja, einige seiner gescheiteren Zeit-
genossen wußten das schon. Diderot wie Grimm sprachen
mitunter von dem bösen unbesonnenen Kinde^, von dem
»grolien Kinde in Femey-; und nur unter dtm Gesichts-
punkte, daß Voltaire eine naive, kindliche Natur war, ge-
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winnen alle seine oft seltsamen Handlungsweisen eine dn-
hdtUdie Charakteristik. Er war und blieb bis zu seinem
Ende dn Weltkind in jedem Sinn^ den man diesem Aus-
drudc nur geben kann. —
Wenn wir unter »Naivetät« die Abwesenhdt aller Sdbst-
bespiegdung und femer die Eigienschaft verstehen, m allen
Handlungen und Reden ohne alle vorheiigehende Reflexion
und Beredinung^ rdn impulsiv seinem Naturdl frden Lauf
zu lassen — so war Voltaire gewiß naiv, ein naives
Weltkind.
Alle sdne Oewandthdt, sdn fdner Takt, den er in jeder
Umgebung, in den sogenannten höchsten Kreisen und sdbst
bei Hofe zeigte, stehen mit seiner Eigenschaft, naiv und
kindlich zu sein, durchaus nicht in Widerspruch. Denn
man kann naiv sein, ohne dumm und ohne tölpelhaft
zu sein.
Er konnte alle Zügel fallen und sich frei gehen lassen,
auch auf seine gute Naturanlage vertrauen; und wenn er
Anstoß errege, so g:eschah das fast nie darum, weil er
einen falscfien Schritt oder ein unriclitiges Vorgehen zu be-
reuen hatte, sondern seine Umgebung war meistenteils nicht
fähig, diesen genialen Ine^enu zu verstehen. Das: »Es schickt
sich nicht,* -das paßt für einen alten Mann nicht,- »es
ist unter der Würde eines berühmten Schriftstellers u. dgl.
gab es für den frden Ceist Voltaire's nicht; und infoige
dessen weist sein ganzes Leben so viele Züge von Natür-
lichkeit und Unmittdbarkeit auf, die bei einer solchen weit-
männisdien Oewandthdt, Intelligenz, Gelehrsamkeit, kritischen
Kraft, solchem Alter, und in dner Oesdlsdiaf^ die voll
von Noblesse der Manieren war, In Erstaunen setzen.
Und es ist von ganz dnzigem Reiz, mitunter diese
Ndvetfit mit den heftigsten Emanationen sdner großen
Tendenzen und Anschauungen abwedisdn oder geradezu
verbunden zu sehen.
Als sdion sehr alter Mann und Sdiioßherr von Femey
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— 329 —
führte Voltaire einmal die zu Besuch weilenden Damen —
lauter Deganzen der Pariser besten Oeseilschaft und prflde
EnglSnderinnen — in seine Stallungen, um ihnen das Be-
springen der Stuten durch einen Hengst zu zdgen! Wihiend
die Damen, wie es sich schickte^ ihr verschämtes Antlitz
zur Seite wandten, rief Voltaire^ der nichts davon merkte
und immer nur den animalischen Vorgang beol>achtete^ voll
Begeisterung aus: »Sehen Sie doch, meine Damen, dieses
gewaltige Naturschauspiel! Welche Erhabenheit!« — Wenn
das nicht die wahre Größe eines Philosophen wäre, so
könnte man es die Unschuld eines Kindes nennen, aber es
ist beides zugleich.
Nicht wenig naiv und kindlich war es auch, wenn —
wie Charles Poiig^ens berichtet — Voltaire sich zuweilen in
den Morgenstunden mit seiner Haushälterin Barbara, einer
dicken Schweizerin, in Disputationen einließ. Die Haus-
hälterin nämlich drückte Voltaire ganz offen die tiefe Ver-
achtung aus, die sie vor seinem angeblichen Esprit empfand,
und mit dem ehriichsten Glauben der Welt versicherte sie
Voltaire, daB sie nicht begreife, wie es Leute geben könne,
die in ihm nur eine Unze gesunden Verstandes entdecicen.*)
Niemals jedoch zeigte Voltaire so deutlich seine un-
glaubliche Naivetät, seine Unbetdlmmertheit um das »Es
schickt sich nicht fQr mich« und zugleich seine immer-
währende ErfQiltheit von seinen großen Tendenzen, als in
jener Szene, da er, in seinem 70.Jahr^ dem Bildhauer Plgalle
zu seiner Bfiste sitzen sollte.
Voltaire war gegen die Herstdhtng seiner Statue^ die
seine Freunde» auf Anregung von Madame Nedcer, ve^
langten. »Ich zähle 76 Jahre^« schrieb er an Frau Necker»
»und, wie man sagt, soll Pigalle mein Gesicht modellieren,
aber dazu wäre vor allem nötig, daß ich ein Gesicht hätten
während man doch kaum dessen Stelle eiraten könnte.
*) Nach Desnoirettenes zitiert.
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— 330 —
Mäne Augen sind drd Zoll tief eingesunken usw.« und an
d'Alembert: »Der alte Affe^ doi Pigalle unter Ihren Auspizien
In Marmor hauen will, hat alle seine Zähne verloren und
verliert auch sein Augenlicht Er ist ganz und gar nicht
sculptable und in einem Zustande» nur Mitleid zu err^n.«
VoUaire drang aber mit dieser Absicht nicht durch und
bequemte sich endlich dazu, Pigalle zu sitzen;*) jedoch hielt
er keinen Augenbh'ck still, hatte immerwährend seinen Sekretär
Wagni^re neben sich, dem er Briefe diktierte, dazu schnitt
er Gesichter und amü sierte sich damit, Erbsen durch
ein Blasrohr zu schleudern, nur um Pigalle die Aus-
führung seiner Aufgabe zu erschweren oder unmöglich zu
machen.
Plötzlich verwandelte sich dieses weltberühmte, stein-
alte Kind in einen gewaltigen Kämpfer, da ein Zufall an
seine e^roße Aufgabe, die er keinen Augenblick seines Lebens
aus dem Auge verlor, gerührt hatte.
I^igalle hätte unter diesen Umständen näinlich Perney
sicher unverrichteter Sache verlassen, wäre nicht am letzten
Tage seines dortigen Aufenthaltes während des Modellsitzens
die Rede auf die Anbetung des goldenen Kalbes in der
Wüste gekommen. Voltaire, lebhaft interessiert, ließ sich von
dem Bildhauer auseinandersetzen, wie viel Zeit wohl dazu ge-
höre, um ein solches Götzenbild aus Gold henEUSteilen; und als
der Bildhauer meinte, dazu gehörten etwa sechs Monate —
während bekanntlich in der Bibel von 24 Stunden gesprochen
wird — wurde Voltaire durch die Erklärung des technischen
Details einer solchen Bildnerarbeit und durch seine Freude»
in der Bibel wieder eine neue Absurdität entdeckt
zu haben, so gefesselt, daß er stille hielt und Pigalle
wenigstens einen Entwurf fOr seine Statue mit nach Paris
nehmen konnte.
*) Ich henfitzc hier die Darstellung^ in »La vie intime de Voltaire »
aux D^lices et ä Ferney« von Perey und Maugras (1892); sowie teil« ,
weise jene In Dr. Käthe Sdiinnadiert »Voltalft« (1806).
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— 331 -
Eine solche Mischung von Kindlichkeit mit Große, von-
der man noch viele andere Beispiele in Voltaire^s Leben
findet, kennzeichnet, wie man schon lange weiß, eine ganz
besondere Art von Genies. So war es bei Mozart, und
auch in seinen jungen Jahren bei Goethe. Manche, nament-
lich Herder, glaubten, wie man weiß, dieses ^ewifre Kind«
Goethe tadeln zu sollen; indessen hörte Naivetät jeder Art
in Goethes Alter gänzlich auf, während sie bei Voltaire mit
den Jahren eher zu- als abnahm. —
Damit ihm aber nichts zur vollen Kindlichkeit fehle, be-
saß Voltaire auch in hervorragendem Maße die Eigenschaft,
leicht zu weinen.
Daß Tränen bei einem Voltaire nicht aus falscher Sen-
timentalität geflossen kamen, braucht nicht erst bewiesen zu
werden; sein ganzes Wesen spricht gegen eine solche Vor-
aussetzung.
Übrigens ist es bekannt, daß die meisten großen Pariser
Schriftsteller des 18. Jahrhunderts leicht zum Weinen zu
bringen waren. Man braucht nur an Rousseau oder an
Diderot zu denken. Liebesangelegenheiten, Kunsteindrficke^
neue und große philosophische, namentlich ethische Ideen
oder Tatsachen lockten ihnen Trinen hervor. RQhrung und
Enthusiasmus waren bei Ihnen etwas Alltägliches; zwei
Natunnlagen, die man — allerdings neben manchen tadelns-
werten, jedoch sekundären Eigenschaften — bisher in der
Kultuigesch^te noch niemals in diesem Maße beisammen
gesehen hatten und die als ideale Ontndlage in tUdit femer
Zeit die Franzosen zu all' dem Edlen und zu jenen welt-
historisch großen Momenten des politischen Lebens be-
fähigten, die wir als die guten Seiten der französischen
Revolution betrachten. Wenn man nun bedenkt, dali der
neben Friedrich dem Großen gewaltigste Kämpfer der da-
maligen Zeit, Voltaire nämlich, so leicht zu rQhren war und
so leicht weinte — besonders im Theater zerfloß er oft in
Tränen — so kann man daraus lernen, was es mit der so-
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genannten staricen und verschlossenen Minnlichkeit auf sich
ha^ und daß es gar keinen Sinn hat, die stoische Ruhe und
UnerschQtterlichkeit im Affekt als eine Tugend und als
Kennzeichen einer kräftigen Natur anzusehen. Wir sehen
an Voltaire deutlich, daß sich groBe geistige Kraft mit
Weichheit des Gemüts vereinigen kann; daß es durchaus
kein Zeichen von Männh'chkeit sein muß, Schmerz und
Freude in seinem Innern Verschlüssen zu halten, und daiJ
man, im Gegensatz zu einem theatralischen Stoizismus, sich
der Tränen nicht zu schämen braucht, wenn die Natur sich
in solcher Weise Luft zu machen sucht.
Finstere, harte oder vorurteilsvolle Geister mögen sich
darüber lustig maclien, daß Voltaire vom Sterbebette seiner
Geliebten, der Marquise du Chätelet, — »an dem in selt-
samer Vereinigung^ neben dem tiefgebeugten Voltaire sein
bevorzu^er Nebenbuhler und der Gatte, dem sie beide vor-
gezogen wurden, trauerten , wie sich ein philiströser Bio-
graph Voltaire's höhnisch ausdrückt — »hinwegtaumelnd,
ohnmächtig auf der Schloßtreppe zusammenstürzten; süffi-
sante Ästhetiker mögen mit dem überlegenen Lächeln der
Unwissenheit es sehr komisch finden, daß man ihn bei den
Theateraufführungen in Ferney, namentlich l>ei seinen eigenen
Stücken und als Mitspieler, heiße Tränen vergießen sah.
Und wer ist der rohe Oeist, den es nicht rühren oder
der es gar als Schwache auslegen würden wenn er vernimmt,
wie der vierundachtzigjshrige Oreis in Paris in seinen letzten
Tagen den Tod befürchtete; wie als er furchtbar litt, und
Tronchet ihm riet, falls ihm sein Leben lieb sei, sofort
in seine gewohnte Ruhe nach Femey zurückzukehren» Vol-
taire ihn bei der Hand nahm, ihm unter immerwihrendem
Weinen dankte und stets die Worte wiederholte: »Sie sind
mein Lebensretter, nur Sie!«
Es gibt Menschen» und Caiiyle z. B. gehOrt zu ihnen,
die alles, was nicht sie sdbst (»etrifft, nach den Sprüchen
der Fibel und mit der Beschränktheit eines Schulmeisters
Digilizod by Cu
— 333 —
beurteilen, — herrlich spricht über solche Menschen Wie-
land in der Einleitung zu der Obersetzung von Cicero's
Briefwechsel — , die sich gern slarice Geister dflnken und
sagen: Fflr einen Mann, und gar fflr einen Philosophen,
schickt es sich nicht zu weinen; schickt es sich nicht, sich
vor dem Tode zu fQrchten, und schickt sich dies und jenes
nicht Da ist unsereins aus ganz anderem Holz geschnitzt
Wir? Wir verziehen keine Miene^ wir sind Männer, wir
sehen allen Schrecken ruhig ins Angesicht, uns wird man
niemals weder Furdit noch !?flhrung ansehen.
Überlassen wir diese Helden sich selbst Wer einem
Manne wie Voltaire Schwäche vorwerfen will, weil er wie
ein Kind leicht weinen und leicht kichen kann, und nicht
wie vor dem Spiepfel stets seine Attitüden beobachtet, auf
den paßt das Wort Goethe s vom »hohlen Darrn — das
Gott erbarm , und noch besser das derbere Wort von
Napoleon: *Ein seidener Strumpf mit Dreck gefüllt.« —
Man vergißt, wenn man bei einzelnen Zügen in Vol-
taire s Leben morahsierend die Nase rümpft und sich selbst,
oiine es auszusprechen, für eine höhere, moralisch kräftigere
Natur als ihn hält — was namentlich bei deutschen Voltaire-
Biographen häufig vorkommt — man vergißt in solchen
Momenten, wer man seiiist ist und wer Voltaire
war. —
Gewiß war er ein Kind, das wurde ja eben zu zeigen
versucht; aber was för ein furchtbares Kind konnte er
auch sein, da, wo tausend Männer gezittert und wenigstens
innerlich geweint hättenl
Allen duniden Mächten gegenüber war er das schreclc-
lichste enfant tenrible der Welt Dieses IQnd Iconnte nicht
wenig »freche san, und welchen Segen, wdche Befreiung
brachte nicht diese Frechheit in die Wdtl Vor ihr hatte
der ganze europäische Kontinent gezittert, und er tut es
zum großen Teile heute noch. Die Frechheit dieses Kindes
nahm uns die frühere Schüchternheit, die so sehr mit
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— 334 —
Knechtssinn verwandt war; sie gab uns Zutrauen zu uns
selbst und brachte uns zum Bewußtsein, daß nichts da$
Recht hat, zu bestehen, was sich nicht rechtfertigen Icana
Lassen wir also dieses Kind auch mitunter — weinen.
Er war ja auch ein unveigleichHch gutes Kindt
Aus jeder Biographie selbst seiner Gegner, und auch
aus den wenigen in diesem Buche ml^eilten Daten kann
und mu6 das jeder entnehmen. Er war gut und auch über-
aus gutmütig.
Daß er das war, Icann ilbr^;ens wohl nicht besser be-
wiesen werden, als durch die Aussagen seiner Sdcretäre^ die
immer um ihn waren und ihn in allen Details seiner Lebens-
führung beobachten konnten. Der eine, Collini, war 5 Jahre
bei ihm, Longchamp sodann 8 Jahre und endlich Wag^niere
volle 24 Jahre; und nun möge man doch in den Memoiren
dieser Männer nachlesen, was sie von der Oute und auch
von anderen moralischen Vorzügen V^oitaire's berichten.
Dabei war Collini selbst ein gelehrter, intelligenter Mann, der
sehr gut 7U heobachten verstand, Wag-niere ebenfalls ein
durchgebildeter Geist und sie beide edle, wahrheitsliebende
Naturen. Wagniere erzählt, daß alle, die mit Voltaire lebten,
»seine katholische wie seine protestantische oder lutherische
Dienerschaft, seine Vasalien wie die Bewohner seiner Pro-
vinz, in der er die letzten vierundzwanzig Jahre seines Lebens
verbrachtec, Zeugnis ablegen konnten für die Wahrheit
seiner Lobpreisungen von Voltaire' s Charakter. Longchamp
berichtet, daß er bei seinem Eintritt in Voltaire' s Dienste
mitunter über dessen brüskes Benehmen frappiert war, aber
bald einsah, daß das »nur Äußerungen sdnes Idihaften
Temperaments seien, die sich ebenso rasch besänftigten,
wie sie hervortraten, daß sie eben nur vorfibeigehend und
sozusagen oberflächlich, während seine Nachsicht und seine
Ofite solid und dauerhaft waren.«
Ahnlich sagt Wagni^re, daß wenn Voltaire während eines
Unwohlseins aufiahrend gegen seine Dienerschaft gewesen
biymzed by Google
— 335 —
war, er einige Stunden nachher, wenn er sie wieder sah,
sich vor ihnen entschuldigte: »Ich habe meine Leute aus-
gezankt, aber mein Gott» man muß mir verzeihen, denn ich
litt wie ein Unglücklicher.«
Dies alles bezog sich auf seine Gutmütigkeit Was
seine Ofite iKtrifft, Qber die ich ja schon oft sprach und
noch sprechen werde, so ist es liesonders charakteristisch,
daß er, wie Wagnis berichtet, »Wohltaten erwies und dabei
die Kunst besaß, die £igenliä)e jener zu schonen, die er
verpflichtete«, eine Kunst, di^ wie jeder Menschenkenner
weiß, nur sehr selten geübt wird.
Wie gut er war, bezeugt selbst ehi so prinzipieller
Gegner wie Faguet: »Persönlich war er großmfitig, wohl-
tätig und lieh seine Feder den Verfolgtea Aber nicht genug
daran, das Gold fk>ß ebenso leicht aus seinen Händen
in jene der Unglücklichen; Beweis dessen seine Briefe an
seiiicn Pariser Intendanten, den Abbe Moussinot. Und er
war immer großmütiger und wohltätiger, je reieher er wurde.«
Sonderbar ist es daher, daß Voltaire so beharrlich sein
Geiz vorgeworfen wurde. Das wurde beinahe zum land-
läufigen Urteil und baute sich auf alleriei erfundenen oder
falsch gedeuteten kleinen Affären auf, die von seinen Feinden
ins Unmäßige aufgebauscht wurden. Gewiß ist es, daß
Voltaire als kluger Finanzniann und Rechtskundiger sich
niemals übervorteilen oder überhalten lassen wollte und es
überdies verstand — wie sein Sekretär Collini erzählte — ,
seine Kapitalien geschickt zu verwenden, anzulegen und
zu vergrößern. Ist schon Geiz an und für sich kein
Fehler, falls er nicht mit einem harten Herzen gegen
andere verbunden ist — wenn iigend jemand seine Freude
daran hat, für sich geizig zu sein, so geht das niemanden
etwas an — und daher auch eigentlich kein Punkt, der in
der Bi(^phie und Charakteristik eines Mannes der größten
Öffentlichkeit hervoigehoben zu werden verdient, so ist noch
weniger die kluge Finanzkunst eines solchen Mannes zu
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tadeln, obwohl man gewohnt ist, zu denken, sie »schicke
sich« für einen Dichter oder für einen Philanthropen nicht
Wohl dem Manne, sei er sons^ was er woll^ wenn er es
versteht, sich pekuniflr gut zu stellen, wohl fQr Ihn und
wohl fOr seine aligemeinen Zwecke^ falls er welche hat
Voltaire selbst sprach sich darüber in seinen Memoiren
sehr gut aus. Nachdem er von den AnnehmHchkeiten des
von ihm gekauften Landsitzes eizShlt hat, ßhrt er fort: »Es
gibt da allerdings etwas, worüber meine teueren Mitbrflder
unter den Schriftsteilem vor Schmerz zerplatzen könnten;
dennoch bin ich nicht reich geboren; dazu fehlt sehr viel
Man fragt mich, durch welche Kunst ich dazu gelangt bin,
wie ein Oeneralpächter zu leben; es ist gut, wenn ich es
sage, damit mein Beispiel nachgeahmt werde. Ich habe so
viele Schriftsteller arm und verachtet gesehen, daß ich seit
langem beschlossen hatte, deren Zahl nicht noch zu ver-
mehren. . . . Man muß aufmerksam sein auf alle Opera-
tionen des Ministers. . . . Man muß in der Jugend ökono-
misch sein . , . u. s. w.«
Diese teueren »Mitbrüder^, die nicht nur auf seinen
früheren Wohlstand, sondern auch (und noch mehr) auf
seinen Ruhm so eifersüchtig waren, ließen schon im Jahre
1733 Porträts von Voltaire in Paris zirkuhcrcn, in denen
unter anderem auch sein Oeiz an den Pranger gestellt
wurde. Erst viel später bekam Voltaire ein solches Porträt
zu Oesicht. :»Ich habe viel mehr Fehleri« schrieb er da-
rüber am 4« August 1735 an Berger, »als man mir in diesem
Werke vorwirft, und ich habe nicht die Talente, die man
mir darin zuschreibt; aber ich bin dessen ganz sicher, daß
ich die Vorwürfe der OefQhilosigkeit und des Geizes durch-
aus nicht verdiene; JMelne Freundschaft für Sie schätzt
mich vor dem einen, und das Vermögen, das Ich an meine
Freunde verschwendete, vor dem anderen Vorwurf.« Und
ich will hier die Tatsache hinzufügen, daß, wie Condorcet
berichtd, Voltaire schon als junger, also noch durchaus
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nicht so reicher Mann, wie er es im Alter war, seiir oh die
Tantiemen aus den AuHührungen seiner Dramen den Schau-
' Spielern öberiieß und überdies junge Talente unterstützte.
In der Tat wulUe Voltaire nicht nur Revenuen zu ge-
winnen, sondern auch in großem Stiie, wie sich Collini aus-
drückt, auszugeben, und er zeigte bei vielen Gelegenheiten
eine Freigd)igkeity die weit über sein Vermögen hinaus-
ging.'*) Er selbst sagte: »Ich lebe ebenso einfach wie
Diogenes und Aristipp; es ist nur für die anderen» daß ich
so viel Aufwand treibe.«
Und ein anderes AAal gebrauchte er bezflglich seiner
Sparsamkeit, die dgentlidi nur in einer zweckmäßigen FQh-
rung seines Haushaltes bestand» die Worte: »Man muß
ökonomisieren, um freigebig sein zu können.«
Collini berichtet auch, und der Genfer Buchhändler
Gramer bestätigte es, daß Voltaire seit seinem Aufenthalt in
Femey seine Werke den Verlegern ohne jeden Honorar-
anspruch überließ; und niemals,' fügt Collini hinzu, »war
er darauf bedacht, sich auf irgend eines jener filzigen Ma-
növer zu verlegen, deren man ihn beschuldigte . . . Knickerei
gab es in seinem Hause niemals, und ich habe nie einen
Menscfien gekannt, der von seiner Dienerschaft so leicht
zu bestehlen gewesen wäre.«
Besonders der letztere Umstand beweist wohl zur Ge-
nüge, dali bei Voltaire von Geiz gar keine Rede sein kann;
und dem Vorwurfe, geizig gewesen zu sein, liegt, da er
doch so sehr durch zahllose Tatsachen widerlegt wird, ge-
wiß ein unbewußter Neid zugrunde, daß hier ein Schrift-
steller einmal nicht darbte, wie fast alle anderen, sondern
wie ein »Grand-Seigneur« leben konnte.
Allein sieht man denn nicht ein, welche Unterstützung
der Souveränefät aller Welt gegenüber Voltaire auch durch
seinen Reichtum besaß? Warum mißgönnte man ihm diese
*) Maugras »La vic intime . . .« (58)«
Popper« Voltaire^ 22
L lyui^üd by Google
— 338 —
Unabhängigkeit? Welch' pifoyablen Eindruck macht es doch,
zu sehen, wie z. B. d'Alembert in seiner Armut von Friedrich
dem Großen eine Pension und behufs einer Reise nach
Italien zur Herstellung seiner Gesundheit dne spezielle
Unterstützung annehmen mußte! Und nicht weniger trübe
stimmt es, wenn ein Diderot, nur um leben zu können,
seine Bibliothek der Kaiserin Katharina zum Kaufe anbieten
mufit^ und als diese ihm, wie bekannt fai großmfl%er
Weise entgegenkam, an d'Alembert einen Brief voll Jubei
darüber schrieb, daß dieses Jahr »schlecht für die Feinde
der Philosophie ausgefallen« sei; denn »hier ist eine Be-
gebenheit .... usw.« »Ich bin nun glücklich und zwar
vollkommen glücklich,« setzt er noch hinzu.
Man denke skdi, Voltaire wdre in einer solchen Lage
gewesen, wie d'Alembert, Diderot u. a. Es läßt sich dann
mit Sicherheit annehmen, daß, selbst wenn er z. B. von
Friedrich und Katharina unterstützt worden, also zwar vor
Not geschützt gewesen wäre, dennoch sein imponierender
Einfluü auf diese beiden und auf alle anderen einflußreichen
Kreise Europas wesentlich geschwächt worden wäre; auch
in seinen Schriften gewiß jener fast übermütige polemische
Ton nicht zu finden gewesen wäre, der einem pekuniär Be-
drückten so schwer zu Gebote steht, und der docti so wesent-
lich zu dem Eindruck von Voltaire's Werken beigetragen hat.
Und daß ein armer Voltaire nicht jene grandiose Wohl-
tätigkeit hätte ausüben können, durch die er so glanzvoll
sein Dasein verschönerte, ist selbstverständlich.
Einen Fall, der zeigt, wie der geizige Voltaire zu
geben pflegte, will ich nach dem Berichte des berühmten
Schauspielers Lekain kurz anführen. Dieser, der Voltaire in
einer Vorstellung von d'Amaud's »Le mauvais riebe« sehr
gefallen hatte, antwortete ihm auf seine Frage» was ffir Zu-
kunftspläne er habe: er kenne kein größeres Olflck auf
Erden, als Komödie zu spielen; er wolle daher das Metier
sdnes Vaters (eines Goldschmieds) veriassen und trachten,
.^.d by Google
— 33Q —
zu der Truppe der Schauspieler des Königs zugelassen zu
werden. ^Ah! Mein Freund/ rief V^^ltaire aus »tun Sie
das niemals; spielen Sic Komödie zu Ihrem Vereriügen, aber
machen Sie keinen Beruf daraus . . . Eines Tages wird
Frankreich Ihre Kunst schätzen, aber dann wird es keine
Baron, keine le Couvreur, keine DangeviUe mehr geben.
Wenn Sie auf Ihr Projekt verrichten wollen, so leihe ich
Ihnen zehntausend Francs, um Ihr Geschäft zu beginnen,
Sie weiden sie mir zurückgeben, wann Sie können • . . .«
Es hat in Frankreich vide sehr reiche Schriftsteiler ge-
geben — kh will nur Viktor Hugo nennen — und in
Deutschland einige wenige, z. B. Goethe, Richard Wagner;
allein man weiß nichts davon, daß sie je in nur einiger-
maßen ähnlicher Weise verfahren hätten, auch gegen streb-
same Schriftsteller oder Künstler nicht.
Die obige Episode mit Lekain ereignete sicli im Jahre
1750.*) Dieses System der Wohltätigkeit im großen Maß-
stabe setzte Voltaire bis an sein Lebensende fort. In dem
Berichte des Fürsten von Ligne, der im Jahre 1763 in
Ferney war, wird erzählt: >Er g^ibt Unterstützungen allen
Unglücklichen, er errichtet Gebäude für arme Familien und
ist ein Wohltäter in seiner eig^enen Familie, wie in seinem
Dorfe; ein putcr und großer Mann zugleich; eine Vereinigung,
ohne die man weder das eine noch das andere vollkommen
sein kann : denn das Oenie gibt der Oüte eine größere
Ausdehnung und die Oüte dem Oenie mehr Naturiichkeit«**)
Lekain berichtet unter anderem von der Undankbarkeit, die
Voltaire so oft erlebte; von jenen Undankbaren, die über
empfangene Wohltaten erröteten, und die um ihre Nieder-
trächtigiceit auf das Aeußerste zu treiben, ihren Wohltäter
in der unvrflrdl^ten Weise verleumdeten. »Ich habe mehr
•) Siehe: Note sur M. de Voltaire et faits particuHers conceraant
ce grand hotnme, im 92. Bande der Ausgabe von Voltaire's Werken
tut dem Jahre 1789.
*") Aus DetDoireslenvs' Voltaifebudi.
22*
Digitizeti vjoogle
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als einen dieser Sorte gesehen. Ich war Zeuge von Diel^
stählen, die Leute aus allen Ständen an ihm begingen. Er
bedauerte die Einen, verachtete still die Anderen
aber niemals nahm er Rache an irgend einem von
ihnen. Die Buchhändler, die er reich machte . . . haben
ihn immer öffentlich verrissen, aber niemand wagte es, gc^pen
ihn gerichtlich vorzugehen, weil sie alle Unrecht hatten.«
Lekain fögt zur Beleuchtung von Voltaire's gutem Ge-
müt noch hinzu: *Er blieb immer seinen Freunden treu.
Sein Charakter ist wohl impulsiv, sein Herz ist gut; seine
Seele ist mitleidig und gefühlvoll .... Tief und gerecht in
seinen Urteilen über die Werke anderer, voll von Liebens-
würdigkeit, Höflichkeit und Grazie im gewöhnlichen Verkehr;
unbeugsam gegenüber Leuten, die ihn angegriffen hatten —
das ist sein Charakter, nach der Natur gezeichnet. Man
wird ihm niemals vorwerfen können, auch den ärgsten
seiner Feinde zuerst angegriffen zu haben.«
Und mit dieser Bemerkung Lekain's gelangen wir zu
der schönen Seite in Voltaire's Charakter, die sich in seinen
so lange währenden und so zahb«ichen Kämpfen mit
Oegnem und Feinden dokumentiert Man muß Ober diesen
Mangel an Oalle^ an Verbitterung geradezu staunen. Aller-
dings konnte er auch sehr wild werden, wenn er angegriffen
wurden und diese KraftäuBerung setzt die Gutmütigkeit des
Naturells hi um so helleres Llch^ als sie eben nie in
aggressiver Weisen sondern nur in der Notwehr henrorfant.
»Jedoch nach den ersten an ihm begangenen Feindselig-
keiten, « erzählt Lekain, »zeigte er sich wie ein Löwe«, »der
aus seiner Höhle hervorkommt, ermfidet vom Oebelle der
Hunde, die er schweigen machte durch den bloßen Anblick
seiner gesträubten Mähne . . .« Ich habe ihn tausendmal
sagen gehört, daß er in Verzweiflung sei, nicht Crebillon's
Freund sein zu können . . .«
Auch Orimm, ein Oegner Voltaire'Si bezeugt in seiner
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- 341 —
Korrespondenz» daß er nie der Angreifer war, und das tun
auch vide andere
Und da noch immer so vielfach die Meinung herrscht,
Voltaire sei ein rflcksichtsloser Streiter gewesen, der Lust
am Sh«ite gehabt habe, so seien einige seiner Aeußerungen
Ober diesen Gegenstand in vertrauten Briefen hier angefahrt
»Nichts ist skandalöser und trauriger,« schrieb er im
Jahre 1774 an Madame du Deffand, »als zu sehen, wie sich
Leute von Geist gegenseitig zerfleischen; das sind Kinder
derselben Familie, die die Erbschaft ihres Vaters zerstören.
Die Kämpfe unter Schriftstellern sind umsümehr deplaciert,
als man sie für Leute von mehr Vernunft hält ich habe
niemals begonnen.«
An d Alembert schrieb er: Wolilan, verteidigen wir
uns, aber greifen wir niemanden an.< Und an Le Franc:
ijeder Schriftsteller, der kein Spitzbube ist, ist mein Bruder.
Ich habe eine Leidenschaft für die schönen Künste, ich bin
vernarrt in sie. Daher betrübte es mich so sehr, wenn
Schriftsteller mich verfolgen. Ich bin eben ein Bürger, der
den Bürgerkrieg verabscheut und der ihn nur zu seiner
Verteidigung führt.«
Und bei all' den Angriffen und Kränkungen, ja Nieder-
trächtigkeiten, die Voltaire sein ganzes Leben hindurch sowohl
von piinzipidlen Oegnem als von Neidern zu erdulden hatte,
verlor er seine höhere Heiterkeit — wie wir schon oben einmal
andeuteten — durchaus nicht; und es ist überaus wohl-
tuend und tröstend und als Beispiel ermunternd, zu sehen,
wie fiberiegen sich da ein Mensch allen Stötoi und
Schlechtigkeiten g^fenüber zeigte; ich meine nicht bi
ihrer Besi^ng, sondern in der Seelenstärke, sich
durch sie nicht in seiner Stimmung beeinflussen
zu lassen. Voltaire hatte wirklich den Teufd im Leiber
um ali' das so ruhig hinzunehmen und zu verdauen, und
ich erinnere mich oft, wenn ich diese seine Eigenschaft
überdenke, an Napoleon, der beim Übergang Über die Bere-
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— 342 —
sina zu Marschall Ney, der sich wunderte^ daß er von all'
dem Unglflck und der furchtbaren KSlte gar nicht berührt
werde, ihm antwortete: »Ich habe den Teufel im Leibe.«
Da Kardinal Tencin, Erzbischof von Lyon, vor Gram
über mißglückte politische Pläne starb, schrieb Voltaire:
»ich habe niemals begriffen, wie man aus Gram stirbt,«
und diese Gesinnung bewährte er unzählige Male. Im Jahre
1766 schrieb er an den Kardinal von Bemis: ^Was mich
Elenden*) betrifft, so führe ich Krieg bis zum letzten
Moment; mit Jansenisten, Molinisten, Fr6rons, Pompignans,
zur Rechten, zur Linken, mit den FVedigern und mit
J. J. Rousseau. Ich empfange hundert Stöße, ich gebe da-
von zweihundert zurück, und lache . . . Oott sei Dank, ich
betrachte diese Welt wie eine Posse» die mitunter
tragisch wird.«
Man sieht aus diesem letzten Satz selbst hier wieder,
wie Voltaire förmlich den Weltschmerz zurflckdringt, um,
von ihm unbehelligt) weiterlelwn zu können.
Aber so mancher könnte zu dem allen einwenden:
IQlmpfen, siegen, dabei die gute Laune behalten — sei sehr
schön, auch interessant, aber nicht das, was wir erstreben
und nachahmen sollen. Das Höchste sei: »Dulden, dem
Übel nicht wehren«, wie wir das in den Evangelien als
Vorschrift ausgesprochen finden.**)
Hierauf ist zu erwidern: Diese Vorschrift einzuhalten,
bietet, wenn man nur den Einzelfall betrachtet, gewiß einen
ethisch schöneren Anblick; aber man darf dennoch nicht
dazu raten, denn sie allgemein befolgen, heißt: den un*
zähligen, nie aussterbenden aggressiven menschlichen ln>
*) Er nannte sicli weil er behauptete, er sei inunerwibrend
krank.
**) Ich mficfate hier anf den Aufsatz: »Tolstoi und Jherfng«
von dem verstorbenen Dichter und philosophischen Schriftsteller
Eduard Kulke aufmerksam machen, der dieses Thema in sehr
schöner, wenn auch anderer Art als ich behandelt
L.iyuizcd by Google
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dividuen carte blanche geben und endloses Unheil Aber
alle Nachgiebigen oder Schwachen heraufbeschwören.
Denn das Leiden der Angegriffenen oder der
Schwächeren entwaffnet die Aggressiven und die
Nimmersatten durchaus nicht.
Und das sehen wir die ganze Weltgeschichte hindurch;
denn z. B. alle Leiden der Sklaven, nicht nur in dem »heid-
nischen* Rom, sondern auch in den frommen christlichen
Südstaaten der nordamerikanischen Union, haben ihre grau-
samen Herren nicht gerührt; die Sklavenhalter kannten die
Evangelien auswendig, ihre Bischöfe doch gewiß nicht
minder, aber beide kümmerten sich nicht um sie, die Bischöfe
bewiesen sogar gerade aus der Bibel die Reehtmäßigkeit der
Sklaverei. Erst ein blutiger Krieg konnte die Sklaven be-
freien. Und dasselbe war bei allen unterdrückten Oesell-
schattsklassen der Fall; hätten sie dem Übel nicht gewehrt,
SO lägen sie alle noch heute am Boden.
Und dasselbe gilt für die privaten Beziehungen der
Menschen. Also: Zwar nicht aus Prinzip strafen, aber sich
wehren, das ist das Richtige. Wenn man aber denken
wollte, die fortgesetzte moralische Erziehung der Menschen
zu der Maxime, dem Übel nicht zu wehren, — wie das
zum Beispiel Tolstoi meint ^ werde mit der Zeit Frieden
in die Welt bringen, so erwidere ich:
Keine noch so lange Erziehungszeit wird hierzu aus-
rdchen; und wenn sie wirklich ausreichen sollte^ so ver-
gehen Jahrhunderte und Jahrtausende» innerhalb deren
Millionen menschlicher Individuen Leiden erdulden, die sie
durch Anwendung von Notwehr verhindert oder doch ab-
geschwächt h&tten. Diese duldenden Individuen aber dQrfen
wir nicht als etwas VorQbergehendeSi als »Dünger« fflr eine
höhere moralische Kultur der fernen Zukunft ansehen; wer
das tut, dem fehlt die Achtung vor dem einzelnen
menschlichen Individuum, welches heute und mor-
gen wirklich lebt und leidet, aus falscher Rück«
Digitized by Google
— 344 —
sieht vor dem Individuum, das Qbermorgen lebt. Was
hat aber dieses vor jenem voraus? —
Wie gfltig und gutmütig Voltaire war, zeigte sich aber
besonders In seinem Veiiudten gegen seine Feinde; denn
er war trotz aller Energie in der Abwehr jedes Angriffes
Oberaus leicht geneigt, und fast immer sofort bereit, sich
mit dem schlimmsten Feinde zu versöhnen; Rachsucht,
nachtragenden Groll kannte er nicht
Sein Sekretär Longchamp berichtet in seinen Memoiren,
daß Voltaire niemals gegen jemand irgend weichen Groll
behielt wenn man ihm ehrlich entgegenkam und das ihm
angetane Unrecht bedauerte; diese Versöhnlichkeit soll Vol-
taire selbst in den krassesten Fällen von ihm angetanem
Unrecht bewährt haben.
Unendlich liebenswürdig zeigte sich Voltaire unter
anderm nach seinem Streite mit Abb^ Trublet, der
nach heftigster Fehde den Vorschlag zur Versöhnung machte.
»Ich bin nicht boshafter geboren als Sie,« heißt es in Voltaire's
Antwortschreiben, und mit vollem Recht fügt er noch die
Worte hinzu: »ich bin ein Im Grunde guter A^n.c —
Voltaire selbst 1^ auf die Oflte fibeiiiaupt so viel Wert,
daB er von sich selbst sagte: »Ich habe einiges Oute getan,
das ist das Beste meiner Weike.c
Es gibt aber einen entscheidenden experimentellen
psychologischen Beweis daffir, wie der Kern seiner Natur
gut und voll Menschenliebe und Wohlwollen war. Und
zwar zeigte sich das in einer SzenCi die sich auf sein Ve^
hältnis zu J. J. Rousseau bezog, fiber welches wir uns
vorher etwas eingehender aussprechen wollen. —
ist bekaniit, mit welcher Bcharrliclikeit Rousseau
seinem giftigen Hasse gegen die Encyclopädisten und
namentlich gegen Voltaire Ausdruck zu geben suchte.
Seine Lettre sur les spectacles* war von dem Bestreben
eingegeben, die Genfer gegen Voltaire und sein Theater
aufzuhetzen; und er tat das mittelst so pharisäischer Argu-
— 345 —
mentation und mit so sonderiiareii und gekflnstelten Be-
weisen für seine These von der Schädlichkeit des Theaters,
daß man im höchsten Ma6e überrascht wird, den sonst
immer monüisierenden Wahrhettsschwirmer Jean -Jacques
hier die Rolle eines vericniffenen Muckers übernehmen zu
sehen.
Er, der die neue H^loise geschrieben und in einem
Briefe an Duclos es selbst ausspricht, daß *die Lektüre
dieses Romans für Mädchen sehr gefährlich sei«, wirft dem
Theater vor, daß es ^ das Interesse für die Liebe
verstärkt* . . . »Die Autoren bemülien sich, dieser gefähr-
lichen Leidenschaft eine neue Energie und ein neues Kolorit
zu geben eine natüriiche Wirkung solcher Stücke
ist die, die Herrschaft des weiblichen Geschlechts er-
weitern, die Frauen und die Jungen Mädchen zu Erziehern
des Publikums zu machen und ihnen über die Zuschauer
dieselbe Macht zu geben, die sie über ihre Liebhaber aus-
üben.« Und der Erdichter des fascinierenden Liebes-
verhältnisses zwischen Julie und St Preux klagt das Theater
an, durch seine »sflfien Emotionen das Bedürhus nach Liebe
zu erwedcen«!
So spricht derselbe Mann, der selbst Dramen ge-
schrieben und bis ans Ende seines Lebens sehr gerne das
Theater besucht hatte; der im Jahre 1770 in Lyon seinen
»Pygmalion« auf emer Privatbflhne auffflhren ließ, und als
er zum letztenmale Paris besuchte, sofort ins Theater ging !
Aber sein Haß gegen Voltaire und die von ihm repräsentierte
Kultur, seine Eifersucht darüber, daß dieser in Genf,
Rousseau's Vaterstadt, Einfluß und Ansehen besaf), und der
nach seinen litterarischen Erfolgen, namentlich mit der -Nou-
velle Heioisej, ins Ungemessene gehende Hochmut führten
Rousseau dazu, die große Sorge vor Korruption der Sitten
der Genfer, zu deren Kurator und Protektor er sich auf-
warf, vorzuschützen, diese sogar auch direkt gegen Voltaire
. j i^od by Google
— 346 —
aufzuwiegeln und eine Art Verschwörung gegen diesen und
sein Theater anzuzettein.
Bald sprach er öffentlich die l>eleidtgendsten» ganz un-
begrOndeten Verdächtigungen gegen Voltaire aus, bald
schrieb er ihm, g^zlich unprovoziert, die verieAzendsten
Briefe; und einnul, nämlich im Jahre 1764 in den Letfa«s
foites de la montagne^ denunzierte er ihn sogar dem Genfer
Magistrat als Verfasser des Pamphlets >Sermon des cm-
quante«, das Voltaire anonym herausgegeben hatten als Ur-
heber des gefährlichsten Angriffs auf die christliche Religion!
D'Alembert schrieb einmal: »Jean-Jacques ist eine wilde
Bestie^ man darf sie nur hinter Eisenstiben und mit dnem
Stocke berflhren.« Und daß Voltaire ebenfalls oft die Ge-
duld verlieren und bei seinem impulsiven Temperament in
heftigster Weise reagieren mußte, ist selbstverständlich; es
gibt keinen Menschen, der solchen unter der Maske der
Tugend versteckten Perfidien gegenüber ruh\^ bleiben könnte.
»Ich liebe weder seine Werke«, schrieb Voltaire einmal an
d'Alenibert, »noch seine Person, und sein Vorgehen ist
hassen s wert«, und ein anderesmal: »Wie gerne hätten
wir diesen Narren unterstützt, wenn er sich nur nicht als
falscher Bruder bewiesen hätte!
Wenn man das Verhalten Rousseau 's p^egen Voltaire
von den ersten Äuberungen an bis zum Abbruch ihrer Be-
ziehungen, der in hellster Feindschaft erfolgte, chronologisch
und aufmerksam verfolgt, so muß man über beide Männer
in gleichem Maße erstaunen: über Rousseau 's giftige Natur
und über Voltaire's bis fast zum Schlüsse unerschütterliche
Milde in der Beurteilung Rousseau's. Selbst in seinen
stirlcsten Entrüstungsausdrücken sucht er Rousseau's aggres*
sives Vorgehen durch eine Krankhaftigiceit seiner Anlagen
beinahe zu entschuldigen oder doch zu erklären, und immer
wieder und trotz allem will er ihm wohl, wenn es aufs
Ausserste ankommt und anerkennt das bei ihm, was ihm
prinzipiell zusagt, z. B. das Glaubensbekenntnis des Vikars.
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— 347 —
Selbst der Vorwurf, den Manche Voltaire machen: auf
Rousseau's Erfolge eifersüchtig gewesen zu sein, ist gänz-
lich unbegründet; denn aus seinen Kritiken des »Gontrat social «,
der »Nouvelle H^oise« und des »Emile« sieht man deutlich, daß
die Einwendungen und Äusserungen der Antipathie voll-
ständig dem Vdtaire'schen Naturdl und seiner seit langem
bekannten Denkart entsprechen. Und er ließ es ja auch an
Lob nicht fehlen. Nach dem Erscheinen des »Emile« und
des »Cöntiat social« schrid) er an Beaumont: »Jean Jacques
ist ein Narr, so viel stdit fest Nichtsdestoweniger rate ich
Euch, meine Brüder, leset seine Bücher, macht Propaganda
für die darin enthaltenen gesunden Lehren, die eine neue
Bergpredigt sind.« Kann man nach solchen Worten noch
von einer Eifersucht Voltaire's sprechen?
Auch die mitunter geäußerte Ansicht, dal^ der - geradezu
furchtbare — »Sermon des cinquante« von Voltaire aus Eifer-
sucht gegen den Erfolg des Glaubensbekenntnisses des Vikars
und nur zu dem Zwecke so scharf verfaßt wurde, um
»Rousseau s Kühnheiten zu übertrumpfen«, läßt sich sehr
leicht widerlegen. Denn Voltaire hörte in seinen Gesprächen
und Briefen gar nicht auf, diese Leistung Rousseau 's aufs
höchste zu rühmen; und andererseits verleugnete er ja —
in gewohnter Vorsicht — seine Autorschaft des »Sermon.«
Man pflegt doch aber nicht etwas, auf das man eifersflch-
tig ist» zu loben, und ebensowenig eine Arbeit, die man aus
Ehrgeiz unternimmt, zu verleugnen?
Die Sache ist vielmehr die» daß Voltaire vom »Glaubens*
bekenntnis« so erfreut wurden daß er als alter» aber noch
immer frischer und mutiger iObnpfer durch dasselbe ange-
regt wurd^ auch seinerseits Mieder einmal einen Kaptalhieb
zu versuchen. Eine prinzipielle sachliche Anrq|ung involviert
aber keineriei persdnüche Konkurrenzgedanken, das wird
jeder zugeben, der in irgend einer Sache von einer Leistung
eines anderen begeistert und dadurch unmittelbar zu selb-
ständigem Schaffen angeregt wurde.
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— 348 —
Bekanntlich war es Rousseau selbst der die Ansicht
von Voltaire's Eifersucht verbreitete, und in seinem Buche:
>Rous8eau juge de Jean-Jacques«^ bringt er sie in der giftigen
Form zum Ausdruck, er bringe VoUaire um den ruhigen Schlaf,
und dessen grobe Beleidigungen seien nur eine Huldigung
wider dessen Willen. Wagnüre^ der 24 Jahre Voltaire's
SekretSr In fmty war» versichert jedoch» dafi alle Personen,
die Voltaire oft gesehen und genau gelannt haben, es be-
stätigen kennen, daß »sein Schhtf durch den Lärm, den
Rousseaus Schriften machten, niemals auch nur im geringsten
gest5rt wurde«.
Und wir kennen audi einzelne sehr bezeichnende Vor-
fiUle und impulshre Äußerungen Voltaire's» die beweisen,
dafi in seinon Innern kehte Spur von Elfersucht auf Rousseau
vorhanden war. Unter anderen eine Szene in Femey, da
man über Necker sprach und gewünscht hatte, Voltaires
Ansicht über diesen Staats- und Finanzmann zu liören.
Sofort wandte sich jener zu einem an der Tafel sitzenden
Genfer und apostrophierte ihn mit den Worten: *Euere
Republik ist nicht wenig ruhmreich; sie hat Frankreich gleich-
zeitig einen Philosophen geliefert, um es aufzuklären
(nämlich Rousseau), einen Ar/t, um es zu heilen (Tronchin)
und einen Minister, um seine Finanzen in Ordnung zu
bringen (Necker). ^
Überhaupt ist alles das, was von Voltaire's Eifersucht
auf berühmte Schriftsteller so oft behauptet wurde, durch
viele Tatsachen, und namentlich durch unt>erechnete Äußerun-
gen seines impulsiven Temperaments zweifeltos wideriegt
Man hat u. a. besonders viel von semer Eifersucht auf Cor<
ndlle, selbst Racine gesprochen. Aber Wagnidre berichtet
uns, da6| wenn Voltaire das Theater besuchte^ er die
schönen Stellen der aufgeführten Dramen — er wufite sie
alle auswendig — , noch bevor die Schauspieler sie aus*
sprachen, leise vor sich hinflflsterte^ und wurden sie falsch
deklamiert, murmelte er: »O, diese Ungiadcseligen! Henker,
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der du die Schönheiten Gomdlle's umbringst!« Wurden
aber jene Stellen schön rezitieii, rief er oft und ganz laut
aus: »Schön! Bewunderungswflrdigf!« und, wie Wagnis
hinzufügt, tat er das ausnahmlos bei jedem Autor, »obwohl
man ihn der Eifersucht auf alle beschuldit^tc. -
Und da Eifersucht und Eitelkeit so oft beisammen sind
und Voltaire seit jeher beschuldigt wird, eitel p^ewesen zu
sein, mitunter sogar seine glänze Tätig^keit in diesem Sinne
gedeutet wurde — wie wir das z. B. von Schlosser an-
führten — , so seien auch in dieser Beziehung noch einige
Tatsachen angeführt, aus denen man ersehen wird, wie
wenig Voltaire*s Charakter verstanden — wenn nicht ab-
sichtlich mißverstanden wird.
Schon sein allbekannter Ausspruch bezflgllch seiner ge-
santmelien Werke: »Mit so großem Oepflck kommt man
nicht auf die Nachwelt« zeigt Voltaire's ntichteme und von
Selbsigefälligkeit freie Beurteilung der dgenen Leistungen«
Bezflglich Emschätzung seiner Bestrebungen In den exakten
Wissenschaften haben wir bereits oben Voltaire's höchst
bescheidene Ansicht angeführt. Von seiner doch aner-
kannt großen Leistung in der Abfassung des Essai sur ics
moeurs^ sprach er überhaupt nicht, als ob dieses Werk
keinen anderen Wert gehabt hätte als den, der Marquise
von Chäteiet das Studium der Geschichte angenehm zu
machen. Und alle Schmeicheleien, mit denen ihn die Welt
überhäufte, alle die Komplimente Friedrichs des Orolien,
Katharinas und der anderen Souveräne, des Adels, der be-
rühmtesten Staatsmänner und Schriftsteller seiner Zeit
»brachten ihn nicht dazu, an seinen Ruhm zu glauben ;
»im Gegenteil,« berichtet Wagni^e, »seine Bescheidenheit
war eine ganz außerordentliche und aufrichtige.«
Und auf den Grund seiner Sede wird jeder ernste
Mensch blicken und darflber erstaunen, wie frei von jeder
Eitelkeit und Kleinltohkelt Voltaire war, wenn man dessen
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— 350 —
Auffassung der unvergleichlichen Huldigungen während
seines letzten Pariser Aufenthalts erfährt.
Ais nämlich Wagnite bemerkte, daß alle diese Lob-
prelsiingen und Huldigungen auf Voltaire nicht jenen tiefen
und fiberwältigenden Eindruck nuichten, den man hätte er-
warten müssen, sprach er ihm seine Oberraschung^ ja sein
Erstaunen darüber aus. »O, mein Freundet erwiderte ihm
Voltaire, »Sie kennen die Franzosen nicht; sie haben das*
selbe für den Genfer Jean Jacques getan, viele gaben Last-
trägem emen Taler, um auf deren Schultern zu steigen und
Rousseau vorfibergehn zu sehn. Und dennoch hat das
nicht veihindert, dann einen Verhaftbefehl gegen ihn aus-
zufertigen, und er wurde genötigt, sich zu flüchten.«
Ich kenne nun gar keinen Mann in der gesamten Oe-
schichte der Literatur und Kunst — vielleicht Michel Angelo
ausgenommen — , der, noch dazu am Vorabend seines Todes
und im Alter von 84 Jahren, so wenig von den übcr-
schwänglichsten Huldigungen erweicht worden wäre und
seine Überlegenheit über die persönlichen Erlebnisse, so
sehr bewahrt hätte, wie hier Voltaire.
Wer von allen denen, die ihn immer und immer wieder
»eitel nannten, hätte die Kraft besessen, inmitten jener
Szenen von iiberschwängliclister Begeistern iig, wie sie nie
ein Künstler erlebte, den Kopf so hoch zu halten? Ist ein
eitles Naturell einer solchen Kraft fähig?
Und diese Kraft besaß Voltaire nicht darum, weil er der
Anerkennung gegenüber fühlios war, denn er war ja be-
kanntlich z. B. im Theater, als seine »Irene« gegeben wurde,
so tief gerührt, daß er in Tränen zerfloß und ausrief: »Ihr
wollt mich unter Rosen ersticken Die Nüchternheit, mit
der er trotzdem den Wert und die Bedeutung solcher Ova-
tionen richtig beurteilte, stammt eben daher, daß er nicht
eitel war, denn dem Etteln schwindet in der Betäubung die
UrteilskFaft und die Obersicht fiber das Getriebe des Lebens.
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- 351 —
Um eine bequeme Obersicht Ober das VerhSltnis
zwischen Voltaire und Rousseau zu verschaffen, 1^ ich
im Nachfolgenden eine knappe Darstellung der Tatsachen
und namentlich der schiiftildien Äußerungen beider vor.
Im Jalire 1755 sandte Rousseau seinen »Discours sur
i'origine et les fondements de Tinegalit^ parmi les hemmest
an Voltaire; dieser dankte mit einigen selir bekannten
heiteren Bemerkunt^en, aber voll Klarheit und Weisheit des
Urteils*) zugleich wohlwollend und liebenswürdig, und am
Schlüsse schreibt er: sHerr Chapuis teilt mir mit, dali Ihre
Gesundheit sehr geschwächt ist; Sie müssen sie in der
Heimatslutt wiederherstellen, die Freiheit «renief^en, mit mir
die Milch unserer Kühe trinken und unser Gemüse ver-
zehren «
Darauf antwortete Rousseau: »An mir ist es, Ihnen in
jeder Beziehung zu danicen Die Ehre, die Sie
meinem Vaterlande erwiesen, mitfühlend, teile ich auch die
Dankbarkeit meiner Mitbürger, und ich hoffe, daß sie nur
zunehmen wiid, wenn sie aus den Lehren, die Sie Ihnen
geben können, Nutzen gezogen haben werden. Ver-
schönern Sie das Asyl, welches Sie gewählt haben,
klären Sie ein Volk auf^ welches Ihrer Ratschläge wQrdig
ist, und Sie^ der Sie die Ti^enden und die Freiheit so gut
zu schildern wissen, lehren Sie uns, dieselben in unseren
Mauern zu lieben wie In Ihren Schriften**) < und
als Erwiderung auf Voltaire's Einladung nach D^tioes
schreibt Rousseau in seiner gewohnten Emfalts-Affektation
•} Man l^alln cücse herrliche Zurückweisung der Roiisscau sclien
Kulturfeindschaft nicht oft genug lesen; sie ist inhaltlich wie formell
ein Meisterwerk ersten Ranges. Und es ist interessant zu beobachten,
wie aller Eindruck der benuischenden Rhetorik Rousseaus (die schon
Kant pferade?« fürchtete) in seinem Discours durch die kurze Behand-
lung des Gegenstandes durch Voltaire sofort verwischt wird. Vültairc's
Brief ist vom 30. August 1755 aus IMfioes am Ooder See datiert.
Ich möchte den Leser dieser Stelle ersuchen, sich daran zu er-
innern, daß Gustav Fre)'tag von Voltaire nicht anders als von dem
»schlechten Menschen« spricht.
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— 352 —
und Naturliebe-Koketterie: » ich würde es vorziehen,
das Wasser Ihrer Quelle zu trinken, als die Milch Ihrer
Kühe ; aus welcher Bemerkung zu erkennen ist, daß es
Rousseau hier wirklich gelungen ist, selbst die Voltaire'sche
5 Kuhmilch« — als ihm noch viel zu viel civüisiertes
Nahrungsmittel — durch Herabsteigen um noch eine Stufe
tiefer, nämlich bis zum Queilwassers zu stigmatisieren und zu
übertrumpfen; die liebenswürdige Akkommodation VoUaire's
an Rousseau's Natur-Einfalt nützte also Voltaire gar nichts,
und er ist damit in der Tat nur schmählich durchgefallen.
Wir finden dann einen Brief Voltaire's an d'Alembert
(vom 15. Dezember 1755), in welchem der gute Mann
schreibt: »Man hat mich bezüglich des Gesundheitszustandes
Rousseau*s sehr beunnihigti ich möchte gerne nähere
Nachrichten haben. . . .«
Im Jahre 1756 sendet Rousseau ein langes Schreiben
an Voltaire^ in dem er gegen dessen kurz vorher publiziertes
Gedieht Aber die »Zerstörung Lissabons« und Aber »das
Naturgesetz« polemisiert In diesem Briefe ist noch keiner-
lei persönliche Gegnerschaft zu bemerken; im Gegenteile;
denn am Schlüsse sagt Rousseau: »Gott verhüte, da6 ich
denjenigen meiner Zeitgenossen beleidigen möchte^ dessen
Talente ich am meisten ehre, und dessen Schriften am
besten zu meinem Herzen sprechen «
Dieser Rousseau'sche Brief wurde erst im Jahre 175Q
und zwar durch eine Indiskretion veröffentlicht, Voltaire
selbst hatte seinerzeit Rousseau nur den Empfang bestätigt.
Dieser Umstand aber scheint mir sehr die von da an wach-
sende gereizte Empfindlichkeit Rousseau's zu erklären; und
diese meine Annahme wird durch eine Stelle in seinen
»Bekenntnissen^ vollauf bestätigt. Denn dort heißt es:
»Später hat Voltaire die Antwort, die er mir versprochen,
aber nicht gesandt hatte, veröffentlicht Sie besteht in nichts
anderem als in dem Roman sCandide , von dem ich nicht
reden kann, weil ich ihn nicht gelesen habe.« Wenn
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— 353 —
Rousseau eine Schrift von Voltaire nicht las, so kann das
offenbar nur in grollender Stimmung^, in gekränktem Gefühl
wegen der seinerzeitigfen Nichtbeantwortung seines Schreibens
seine Erklärung finden. Und man kann überhaupt die
gereizte Stimmung und den später hervortretenden Haß
Rousseau's ge^^en Voltaire vollständig durch den Ärger da-
rüber erklären, daß seine Schriften, mit Ausnahme des Be-
kenntnisses des savoyschen Vikars und der Partie über den
Selbstmord in der »Neuen H^loise«, von Voltaire niemals
ernst genommen wurden. Wenn dieser Rousseau's Ideen
oder Schriften einer Besprechung unterzog; so geschah dies
stets entweder in Form der Satyre oder gutmütiger, aber
darum doch nicht minder verletzender Scherze oder — in
Privatbriefen — durch derbe Ausdrudesweise in der Aigu-
mentation. So hielt es ja Voltaire vom zweiten Discours
Rousseau's angefangen, bis zu »Emüec, der »Neuen H^loise«
und dem »Oesellscluiftsvertnig«.
So ernst und im Grunde sachlich diese permanente
Opposition eines Naturelis wie jenes Voltaire's gegen die
AuBerungen eines so en^egengesetzten Naturells, wie jenes
eines Rousseau, auch war, so ist es doch leicht zu verstehen,
daß dieser Uber sie tief geloinlct sein mufite^ und der Aus-
druclc »Hanswurst«, den er in seinen Briden, namentlich
in den nach Oenf gesandten der GOer Jahre ti^ügüch Vol-
taire's gebrauchte, zeigt deutlich, welcher Art Rousseaus
Wut gegen Voltaire eigentlich war.
Der verietzten Eitelkeit schreibe ich es mit zu, daß
Rousseau im Jahre 1758 jenen — schon oben erwähnten —
Briet an d'Alembert über das Theater schrieb, in dem es
nur auf Voltaire abgesehen war; und dies mit der echt
Rousseau sehen — leider muß man auch sagen: jesuitischen
oder auch pfäffischen — Art, den Angeg-riffenen in einem
unterp^eordneten Punkte zu loben, um ihn scheinbar un-
parteiisch und sachlich desto mehr tadeln zu können.
Rousseau nahm nämlich ausdrücklich die beiden Voltaireschen
Popper, Voluire. 23
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— 354 -
Dramen: ^Zalre und Casars Tod von den »verderben-
bringenden« Theaterstücken aus. Zugleich leitete er in Genf
eine förmliche Agitation gegen Voltaire's Theater-Bcstre-
himgen ein; an den Dr. Tronchin schrieb er (am 27. No-
vember 1758): *Es Wörde ein Unglück sein, wenn Ihre Ein-
sicht und Ihr Einfluß die Komödie nicht verhinderten, in
Genf festen huli zu fassen und sich vor unseren Toren zu
behaupten ; Rousseau wollte also Voltaire die Freude an
einem Theater — das für diesen zeitlebens eine wahre Leiden-
schaft und Quelle des höchsten Veiignflgens war — nicht
einmal in seinem dgoien Hause gönnen. Bei der detail-
lierten Betrachtung von Rou$seau*s Vofgehen in dieser
ganzen Angelegenheit erstaunt man über die Vehemenz
seiner Agitation; man kann sich sie nicht erklären, ja man
kann ihm kaum Aufrichtigkeit in seiner flbermiBigen Smge
wegen des »Unheils« dutdi ein Theater in Genf zutrauen.
Man muß aber bedenken, daß diese Heftigkeit In der Fonn
und sein lautes Geschrei daher rflhiten, daß er Voltaire weh
tun wollte; und daß andererseits die theaterfeindliche Oe-
sinnung sdbst nur ein Teil und ein Ausfluß der Genfer Er-
ziehung und der ganzen hdmaflichen Atmosphäre war.
Denn sdt Calvin war es Grondsafz Im Genfer Staat darin
Frömmigkdt und Tugend zu sehen, wenn man nidit nur
sich sdbst weltliche Freuden entzieht, sondern womöglich
und in strengster Weise auch anderen jede solche Freude
verdirbt. Daher ließ ja auch Calvin sogar Knaben züch-
tigen, die an einem Sonntag auf der Straße sich unterhalten
und getanzt hatten!
Dieser gallige Keim, andern gern die Freude zu ver-
derben, pflanzte sich in Genf fort und war überdies ganz
speziell in Rousseau in hohem Orade von Natur aus vor-
handen. Seine ganze Opposition gegen alle Errungenschaften
und Annehmlichkeiten der Kultur — für welche Annehmlich-
keiten er selbst, wenigstens im allgemeinen, keine Hinneigung
hatte — erklärt sich nach meiner Mdnung am einfachsten auf
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diese Weise. Kam nun eine so große Begabung für morati-
siefendeDistinktion und Argumentation zu diesem überaus gal-
ligen Temperament, so war damit das Vorhandensein einer ori-
ginellen — aber eben durch die Opposition sehr nfltzUdaen —
Persönlichkeit geg^dben, der man zwar durchaus nicht nach-
ahmt^ der man aber doch erhöhte Aufmericsamkeit auf vor-
handene Schäden veidankte. Aber — diese Negathre darf
nun nicht flberschStzen; es wäre, nur etwas bmgsamer,
auch ohne Rousseau gegangen! Andererseits trifft das
hier Gesagte nicht die positiven ganz enormen Leistungen
Rousseau^ von denen oben die Rede war: die »neue
Seele« seit der »Nouvelle H^loise« und cHe verbesserte Er-
ziehungsmethode (seit dem »Emile«), die Erhöhung der
Würde der einzelnen Persönlichkeit (durch seine politischen
Abhandlungen).
Rousseau steht auch nicht allein mit der Lust am
Freudeverderben, welche Lust ihrem Besitzer in der Form
von Tugend und Frömmigkeit erscheint. Er hat mehrere
Brüder, die sehr weit in der Zeit auseinanderstehen, näm-
lich nicht weniger als fast vierhundert Jahre.
Der Grundkerl von ihnen allen war Savonarola, dann
kam Calvin, dann Rousseau, dann Robespierre.
Ohne jeden Funken von Heiterkeit, Humor oder Liebens-
würdigkeit, absoiut unfähig zu Oefühlen von Freundschaft,
dabei von höchster Uneigennützigkeit, waren sie bis zum
CxzeB von dem Trieb erfüllt, den Menschen die Freude zu
verderben, und nicht weniger von dem Fanatismus» ihre
religiösen oder politischen Ideen — selk>st bis zum Menschen*
mord — rfldcsichtslos durclizuföhren.
Savonarola wurde nur t»ei Zeiten selbst verbrannt,
sonst hätte er» wenn sdn System sich hätte ungestdrt
weiter entvirickdn kflnnen» andere veibiannt Calvin ver-
brannte Servet Rousseau will im Contrat social jeden'
hinrichten lassen, der die »bfirgerliche Religion« verleugnet,
und sein SchtUer, Robespterre Ue6, um nur den einen Fall
23*
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— 356 —
hervorzuheben» Anacharsis Qoots w^gen sdnes Atheismus
guillotinieren.
Wehe der Menschheit, wenn sie die Männer
mit sogenannten »strengen Tugenden« zur Macht
kommen läßt! —
Doch kehren wir zu Voltaire und Rousseau zurflck.
wahrend Voltaire die Jahre hindurch Rousseau gegen-
Ober gänzlich harmlos war, wuchs in diesem der Oroll
gegen Voltaire immer mehr, und als die »Nouvdle H^loise«
einen so enormen Lärm in der Oesellschaft machte, kannte
Rousseau in seiner Aggression keine Rücksicht mehr. Im
Juni des Jahres 1760 richtete er an Voltaire einen Absage-
brief, dessen Schlußsatz in seiner Brutalität beinahe uner-
reicht ist.
»Ich liebe Sie nicht, mein Herr, schreibt Rousseau an
Voltaire, der ihm ^ar nichts getan hatte, als im Gluck und
Ruhm zu leben und in Genf selbst angenehm zu verkehren,
»Sie haben mir den für mich, Ihren Schüler und Bewunderer,
empfindlichsten Schmerz ziigefiig-t. Sie haben Genf für das
Asyl, welches Sie dort fanden, ins Verderben gebracht.*)
Sie haben mir meine Mitbürger entfremdet, zum Lohne für
den Betfall, den ich dort an Sie verschwendete. Sie sind
esi der mir den Aufenthalt in meiner Heimat unerträglich
macht. Durch Ihre Schuld werde ich auf fremder Erde
sterben müssen, jedes Trostes beraubt, den man Sterbenden
gewährt und man wird mich verächtlich in die Orube eines
Schindangers werfen, v^rend Sie in meinem Lande alle
Ehren bekleiden werden, die ein Mensch erwarten kann.
Kurz, ich hasse Sie, da Sie es gewollt haben, aber ich
hasse Sie als ein Mensch, der viel mehr verdiente, Sie zu
lieben, wenn Sie es gewollt bitten.«
Soll Rousseau's Charakter verstanden sein, so müssen
die Hauptstellen dieses merkwürdigen Schreibens näher be-
*) NiiDlidi: durch Theatenmtelliuigeii.
. ij i^od by Google
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leuchtet werden; derjenige, der diese Dinge nicht näher stu-
dierte, kann sie sonst nicht nach Gebühr würdigen.
Mit dem Satze: »Sie haben Genf für das Asyl, welches
Sie dort fanden, ins Verderben gebracht, vergleiche man
die Stelle in Rousseau's Brief an d'Alembert über das
Theater , in der das Lob gerügt wird, welches d'Aleinbert
in dem Artikel ^Genf* der Encyclopädie den Genfer Pastoren
wegen ihrer aufgeklärten Oesinnungen spendete. Rousseau
meint: man dürfe nicht jemanden wegen solcher Eigen-
schaften loben» welche man wohl selbst für rühmenswert
hält, gegen welche aber der Gelobte, da er durch solche
»schändliche Lobsprüche« beleidigt wird, protestieren muB.
Nun: genau das hier Getadelte tut Rousseau» indem er
Voltaire vorwirft» Genf »verdorben« zu haben; denn dieser
war durchaus nicht der Meinung, daß das Theater Genf
verderben werden wenn auch Rousseau das als eine not-
wendige Konsequenz» <8e jeder im voraus wissen mttsse^
ansieht. Der Ausdruck »zum Dank« verschärft die Un-
gerechtigkeit dieses Rousseau 'sehen Oedankenganges noch
mehr, indem er Voltaire eine bewußte boshafte Undankbar-
keit und Rücksichtslosigkeit gegen Genf unterstellt
Der Satz: »Sie haben mir meine Mitbürger entfremdet«
enthält eben die fortwährende ganz grundlose Verdächtigung,
Voltaire intriguiere gegen Rousseau. Wie gewöhnlich sehr
empfindliche Menschen die am w^enigsteri zartfühlenden sind
und stets zu den leichtsinnigsten und gewissenlosesten
Verdächtigungen hinneigen und hierdurch viel tiefer und
immer wiederholt, wenn sie auch noch so oft durch die Er-
fahrung von der Unbegründetheit ihres Mißtrauens Aber*
zeugt werden, gerade die edelsten Menschen in kränkenderer
Weise verletzen, als es einfach grobe Naturen tun können,
so benahm sich Rousseau hier gegen Voltaire; wie ja
auch gegen andere Männer seiner Bekanntschaft
Mit Recht sagte daher ein neuerer französischer Schrift-
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— 358 —
sldlcr: Oeflhriich war ts, Voltaire tum Feinde^ aber noch
gefähificher, Rousseau zum Fieunde zu haben.
Nichts Tatsächliches lag vor, das die Verdächtigung
rechtfertigen konnte; dennoch verleumdete Rousseau Voltaire
in allen seinen Briefen und in seiner Umgebung so be-
harriich, daß man in Paris schon begann, seinen Ver-
dächtigungen Glauben zu schenken. D'Alembert wandte
sich an Voltaire um Auskunft, und dieser antwortet ihm
(am 15, September 1762): ^Wie kann man denken, daß ich
Jean-Jacques verfolgt habe? Das ist eine sonderbare Idee,
eine absurde Idee. Ich habe mich über seinen «Emilec
lustig gemacht, der gewiß eine platte Personnage ist, sein
Brief hat mich gelangwetit. Aber es gibt trotzdem darin (im
»Emile«) fünfzig Seiten, die ich in Marocquin einbinden
lassen mOchte.*) In Wahrheit: Sehe ich darnach aus,
jemanden zu verfolgen? Olaubt man, ich habe großen
Kredit bei den Bemer Priestern? Ich versichere Sie, daß
die Priesterschaft von Genf» wenn es ihr möglich gewesen
v/in, die kleine Zflcht^n^ die sie Jean-Jacques zuffigte^
gerne mir selbst zugefügt hätte«
Rousseau lamentiert dann in seinem Schreiben darüber,
er werde durch Voliaire's Schuld »auf fremder Erde sterben
müssen, jedes Trostes beraubt, den man Sterbenden ge-
währt u. s. w.« Hiermit vergleiche man die Stelle seines
Briefes vom 18. Februar 1758 an Pastor Vernes in Genf,
der ihn nach Oenf eingeladen hatte: Wozu würde es
mir dienen, wenn ich mich zu Euch begehe, um zu
sterben? Ach, ich hätte dort leben sollen! VC^as kommt
darauf an, wo man seinen Leichnam läßt?«
Da muß man doch fragen: Wo hat nun Rousseau seine
wahre Meinung ausgesprochen? Ich beantworte diese
Frage dahin, er habe je nach den Umständen bald das Eine^
t>ald das Entgegengesetzte gesagt
*) Nämiich: Das Glaubensbekenntnis des Vikars.
Digitized by Google
— 350 —
Das hieße Komödie spielen? — Gewiß, aber nicht nur
vor den anderen, sondern auch vor sich selbst. Rousseau
war eben furchtbar irritiert darüber, daß Voltaire in Genf
behaglich lebte und in Ansehen stand, er selbst aber nicht
jene Anerkennungen und Ehrenbezeugungen erhielt, auf die
er so sehnsüchtig wartete. »Sie, der Sie sagen,« schreibt
er am 30. Mai 1762 an Moultou, »daß man mir in Genf
so wohl will, antworten Sie mir über das Faktum, welches
ich Ihnen jetzt vorlege. Es gibt keine Stadt in Europa, deren
Buchhändler nicht mit dem größten Eifer Bestellungen auf
meine Schriften machten. Genf Ist die einzige, wo Rey
(Rousseau's Verleger) kein Exemplar des Oesellschafts*
Vertrags absetzen konnte. Nicht ein einziger Buch-
händler hat sich damit befassen wollen ......
Und im April 1702 ebenfalls an JMoultou: »Können Sie
glauben, daß ich nicht bemerke, wie mein Ruf die Augen
meiner Mitbürger verletzt? Und daß, wenn Jean -Jacques
nicht ein Genfer wäre, Voltaire dort weniger gefeiert
würde? Es gibt nicht eine Stadt in Europa, von der nicht
Besuche nach Montmorency*) kommen, aber man bemerkt
niemals die Spuren eines üenters "
Rousseau hat also immerwährend den Kopf voll von
eifersüchtigen und haßeriüllten Vergleichen zwischen sich
und Voltaire, wobei er sich einbildet, nicht nur der tugend-
haftere, sondern auch überhaupt bedeutendere von beiden
zu sein.
Da ihn Ptotor Vernes zu dnem Besuche nach Genf
einladet, antwortet Ihm Rousseau (am 14. Juni 1759): »Was
würde ich in Ihrer Mitte sein? In Gegenwart eines Meisters
in Scherzen, der Sie so gut unterrichtetl Se würden mich
sehr lacherlich finden, und wir würden uns schwer ver-
ständigen.«
Noch deutlicher zeigt sich der heftige Trieb Rousseau's,
*) Scineni damaUsen Aufenthalte.
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— 360 —
sich über Voltaire zu erheben, in seinem Schreiben (vom
21. März 1763) an MouUou, in dem er sagt:
OewiB ist es auch das beste, was Voltaire für seinen
Ruhm tun kann, sich mit mir auszusühnen;c, und am
31. Mai des Jahres 1766 schreibt Rousseau von Wotton aus
an dlvernois: »Voltaire hat einen an mich gerichteten
Brief drucken und durch seine Freunde verbreiten lassen,
in dem die Arroganz und Brutalität ihre Gipfel erreichen
und in dem er sich bemüht, mir den Haß der Nation zu-
zuziehen Der törichte Stolz, den dieser arme Mann
affddier^ ist dne Licheriichkeit» die von Tag zu Tag zu-
nimmt .... Er ist so dnfiUtig, daß er itichts anderes tut,
als aller Welt zu zdgen, wie er sich meinetwegen
ängstigt«
Wie man sieht, denkt Rousseau immerwährend an
Voltaire als an seinen giflddichen Nebenbuhler; und wenn
man sich an die vielen stoischen Redensarten in seinen
Schriften erinnert, so erscheint diese kleinliche^ fast schaler-
mäßige Eifersucht auf Ruhm gewiß sehr sonderbar. Aber
Rousseau war in der Tat von einer nahezu cholerischen
Eitelkeit; und er wurde von ihr doppelt gequält, denn er
dachte immer daran, daß es für einen so strengen Philo-
sophen und Tugendhelden doch nicht passe, eitel zu sein,
aber sein Naturell trieb ihn doch immer wieder dazu, be-
wundert oder mindestens angestaunt zu werden. In letzterer
Beziehung ist es charakteristiscli, da(i er in Montmorency,
wo er Oast des Marschalls und der Marschallin Luxemburg
war, wo also die feinste Pariser Gesellschaft hinkam,
nicht nur unwissentlich, sondern auch wissentlich Ver-
stösse gegen das Zeremoniell beging.*)
Und was den Innern Kampf zwischen seiner Eitelkeit
und seinem e^;enen Tadd dieser Eitelkeit betrifft» so ist eine
Eriahrung der Fiau von Oenlis ungemein belehrend. In
*i Nadi Mabrenholtz: J. J. Rousseau (S. 84).
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— 361
seinem Buche: Über Helden und Heldenverehrung« erzählt
Carlyle: »Frau von Oenlis nahm einmal Rousseau mit ins
Theater; er hatte sich strengstes Inkognito ausbedungen
— »er wollte iim alles in der Welt' nicht dort gesehen
werden.« Zufälligerv^eise wurde der Vorhang dennoch etwas
gelüftet: Das Parterre erkannte Jean Jacques, beachtete ihn
aber nicht sonderlich! Er sprach seine größte Entrüstung
aus, blieb den ganzen Abend über verstimmt, und sprach sehr
mürrische Worte. Die kluge Gräfin gewann die feste
Überzeugung, daß er nicht zornig war, weil er gesehen
wurden sondem, weil man ihm nicht zujauchzte^ als er ge-
sehen wurde.«
Nimmt man zu diesen Tatsachen noch die immer-
währende Sdbstbespiegelung, sowie das von sich in der
Art Casars sprechen: »Jean Jacques,« anstatt »ich« und
derlei Details mehr, so ericennt man die ganze eitle Natur
Rousseau's in voller Deutlichkeit ^
In der Art der Beurteilung seines Charakters erging es
^ und eilgeht es heute noch — Rousseau genau entgegen-
gesetzt wie Voltaire. Dieser gilt, entgegen allen Tatsachen,
fOr zu schlecht, jener Iflr zu gut. Man kennt eben das
zu wenig, was die intimere Umgebung Rousseau's von
ihm hielt.
Grimm schrieb (im Jahre 1762): »Bis dahin (nämlich bis
zum Erfolg seiner ersten Preisschrift für die Akademie von
Dijon) war er ein Mann der Komplimente, galant, geziert,
honigsüß im Umgang und durch forcierte Redewendungen
beinahe ermüdend. Plötzlich aber hüllte er sich in den
Mantel des Zynikers, und, ohne Naturiichkeit des Charak-
ters, warf er sicli auf das andere Extrem. Aber, während
er mit seinen Sarkasmen herumwarf, verstand er es doch, stets
Ausnahmen zu gunsten derjenigen zu machen, mit denen
er lebte, wie auch mit seinein brijsken und zynischen Ton
viel von jenem Raffinement und jener Komplimentier-Kunst
ZU vereinigen; das tat er besonders im Umgang mit Frauen.«
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— 362 —
Da Grimm sich mit Rousseau entzweit hatte, so m iii-
traute ich dieser Schilderung. Aber sie wird in ihrer Wahr-
heit vollkommen durch Äußerungen eines absolut zuver-
lässigen Mannes bestätigt, nämlich des als überaus unpar-
teiisch, nüchtern und redlich anerkannten d'Alembert. Denn
in seiner Beurteilung des 'Emile sa^ er: >Man muß
Rousseau so genau gekannt haben wie ich, um zu sehen,
in welchem Maße sein Oeist an Schwungkraft gewann
durch die Kühnheit, attes anzugreifen: ich habe ihn vor
ungefähr zwanzig Jahren gesehen, da war er bedächtig^
furchtsam und beinahe ein Schmeichler . . .«
Und an anderer Stelle lobt d'Alembert eine gewisse
Stelle im »Emile«, indem er hervorhebt, sie sei »wahr, ver-
nflnfüg, ohne Übertreibung und ohne affektierten
Zynismus.«
Namentlich in Deutschland wurde Rousseau's Charakter
unrichtig aufgefaßt, indem man in ihm ein Muster von
Tugend und Edelmut sah. Diese Täuschung wurde da-
durch hervoigerufen, dafi Jean-Jacques in so heftiger Weise
gegen die damalige Pariser Oesellschaft, namentlich ihren
Luxus» auftrat, und so lebhaft fQr sogenannte Einfachheit
der Sitten schrieb. Nun befand sich damals die ganze Be-
völkerung Deutschhmds, selbst das Publikum der größten
Städte, noch in einem außerordentlich primitiven Zustande
des häuslichen wie des gesellschaftlichen Lebens, voll von
der philiströsesten Auttassung des Lebens überhaupt und
in dieser Enge des Geistes daher gerne und stets geneigt,
Olanz und Luxus, Oeist und freieres Benehmen im Verkehr
der Geschlechter für unmoralisch anzusehn; genau so, wie
mitunter noch heute Dorf- oder Provinzbewohner alles
städtische Leben, jede gelehrte oder geistreiche Konversation,
in unbewui^tem Neidgefuhl für sündhaft oder mindestens
unsittlich an sehn.
Da kam nun Rousseau den Deutschen als Strafprediger
gerade recht, und sie faßten ihn als einen Sittenprediger
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— 363 —
von reinster Seele auf; noch heute hält man ihn daher für
einen Brennpunkt von > Tugend , Voltaire aber, genau aus
demselben Q runde, für frivol. —
Hier scheint es mir auch am Platze, die Frage zu be-
handeln, ob Rousseau wirklich alle jene Ansichten oder
besser: Gefühle besaß, denen er so beredten Ausdruck zu
geben wußte, oder ob er sie nur vorheuchelt^ also bloß ein
glänzender Schauspieler war.
Meine Ansicht ist die: daß beides zugleich der
Fall war.
Man begegnet Im Leben mitunter Menschen» und
namentlich Frauen, denen es an edlen Oefflhlen nicht mangdl,
sei es gegenQber ihrer näheren Umgebung, sei es gegen-
Ober Kunstwerken, die aber zugleich den Drang haben, sich
an ihren e^;enen Oefflhlen zu berauschen, sic^ wie eine
Katze den Knäuel, hin- und herzuwerfen, und das alles
weniger zu ihrem e^;enen Veignflgen, als zu dem Zwecke^
ihre schönen Oeffihle vor anderen zu zeigen. Komödie ist
aiso unbedingt dabei, aber Gefühle sind darum nicht minder
vorhanden.
Genau so können wir von Rousseau, der Oberhaupt
eine weibliche Natur war, sagen: Er war ein Schauspieler,
aber kein Heuchler. Und infolge der Gleichzeitigkeit von
Oefuhl und Schauspielerei entwickelte sich bei ihm ein sehr
merkwürdiger psychologischer Prozeß : Das eine erhöhte
das andere und wieder umgekehrt, und so verstärkten sie
sich gegenseitig und trieben sich wechselseitig immer mehr
in die Höhe.
Man könnte diesen Prozeß wohl am besten mit jenem
an einer Dynamomaschine vergleichen, bei welcher der
Magnet den Strom im Anker hervorruft, dieser Strom dann
den Magnet verstärkt, letzterer den Ankerstrom erhöht, und
sofort, bis der elektrische Strom sein mögliches Maximum
erreicht. Eine solche Hintereinanderschaltung von zwei
Faktoren, die sich gegenseitig in die Höhe treiben, treffen
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- 364 —
wir auch in Rousseau*s Charakter, bei dem Geföhl und
Schauspielerei sich gegenseitig immer mehr verstärken, bis
sie endlich jenen Strom der Beredtsamkeit in seinen Schriften
hervorbringen, der vielleicht in der ganzen Weltliteratur
nicht seines Gleichen hat. Und nunmehr verstehen wir es
auch, warum diese Beredtsamkeil nur in Rousseau's Schritten
und nicht auch nur entfernt in seiner mündlichen Unter-
haltung 7u finden war; er brauchte eben Zeit, um einen
relativ scluvachen Kern von Gefülilen durch seine
reflektierende ScliauspielertätiL^^keit zu verstarken, das so er-
höhte Gefühl erregte wiederum die Schauspielerei u. s. w.,
derlei konnte aber bei Rousseau's schwer beweglichem
Geiste, da es ein willkürlicher und kein spontaner Prozeß
Ist, nicht rasch vollzogen werden, es mußte eben gemacht,
mußte sozusagen fabriziert werden, obwohl der Autor am
Schlüsse seiner Tätigkeit sich selbst dieselbe Rührung und
Ergriffenheit suggeriert haben mag, wie der Leser seiner
Deklamation sie fühlt, und jener dann selbst glaubte, es sei
das alles — Natur.
So kommt es, daß gerade jener Mann, der nicht auf-
hörte von Natur, Ungekflnsteltheit, Einfachheit usw. zu
schwSrmen, den erktlnsteltsten und berauschendsten Stil be-
sitzt, was ja so oft hervoigehoben wurde und worüber sich
schon d'Alembert, Kant, Btanger u. a. aussprachen, ja be-
klagten; während jener Mann, der nie mit Nahir, Einfach-
hdt und deigleichen viel Aufhebens machte und den man
sich gar nicht anders vorstdien will, als im L4ixus, in ver-
bildeter Oesdlschaft und in Unnatur id>end, den dnhichsten,
ungezwungensten, ungeziertesten Stn besitzt, dem wh* wenig-
stens bd europäischen Schriftstdlem begegnen.*) Voltaire
ist sogar noch einfacher und unmittelbarer als Montaigne,
der, wenn man genauer hinsieht, mit seiner Offenheit und
Ungebundenlieit selbst etwas kokettiert. Und man begreift
*) Nur Julius Cäsar besitzt eine ebenso einfache Schreibweise; lie
ist noch nackter, aber dafür weniger lebendig als jene Voltaire's.
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— 365 —
es auch sehr gut, daß Voltaire, wie Wagniere erzählt, genau
so gut sprach wie schrieb, und daß man ganz den gleichen
Eindruck hatte, ob man ihn las oder ob man ihn hörte;
genau so, wie das bei Goethe der Fall war, der ebenfalls
stets nur an die Sache und nicht an den Effekt dachte, in
jedem Augenblicke alles Erlebte und alle darüber angestellten
stillen Betrachtungen gegenwärtig hatte, oder es im ge-
gebenen Falle seiner Reflexion so unterwarf, als ob es erst
sodien in seinen Kreis getreten wäre. Nur das Tempera-
ment macht zwischen Goethe und Voltaire einen Unter-
schied. Denn, wie sich Taine ausdrfidd, »Voltaire denkt in
Explosionen.«
Wenn aber iigend jemand daran zweifeln wollte, ob in
Rousseau ehi Fond von Komödiantenium steckte^ so sei nur
an jene Fälle erinnert, in denen dieses ganz unverhfittt und
nackt, d h. ohne Oleichzeitigkdt höheren OefQhls, zutage
trat Man lese z. B. seinen Brief an Friedrich den Großen,
als dieser dem damals verfolgten Rousseau ein Asyl in
seinem Staate anbot
»Sie wollen mir Brot getien,« antwortet Rousseau,
»gibt es unter ihren Untertanen keinen, dem es
daran fehlte? « Diese ganz deplacierte Pose
macht wohl auf jeden Menschen von ehrlichem Naturell
einen höchst widerwärtigen Eindruck, und derlei theatralische
Attitüden Rousseau s waren ja dann in der französischen
Revolution das Vorbild zu vielen ähnlichen pathetischen
Phrasen und Tiraden!
Wenn wir also alles zusammenfassen, so erblicken wir
in Rousseau s Charakter die Gleichzeitigkeit von Eigen-
schaften, die begrifflich einander ausschließen: Edles,
ästhetisches und moralisches Gefühl und Schauspielerei,
Mitgefühl — mit unzivilisierten — und Groll und Mißgunst
— gegenüber hoch kultivierten Menschen.
Und auch diese zwei Stimmungen, nämlich das Mitge-
fühl und der OroU triet>en bei Rousseau ein ähnliches Spiel
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— 366 —
miteinander wie seine allgeineine Schwärmerei mit seinem
Komödiantentum» denn auch sie reagierten gi^gendnander,
bis sie die mögliche Grenze der (Dberhitzung erreicht
hatten.
Aber aus nichts wird nichts; um einen solchen Prozeß
möglich zu machen, mufi er eben beginnen können, einer
der beiden Faktoren muß also zu Anfang da sein, so wie
bei dem Prozeß der Dynamomaschine wenigstens eine Spur
von JMagnelismus in den Magnetsdtenkehi vorhanden sein
muß^ und wie auch ein gewisser Fond von Schwärmerei in
Rousseau*8 Sede jedenfalls gesteckt haben muß, bevor seine
Schauspielerei zu wiiken binnen konnte So mußte auch
entweder MitgefQhl mit den niedrig gestellten Volksklassen
oder Groll gegen die glänzende Puiser Oesellschaft im
Vofhineui vorhanden sein. Aus allem nun, was ich von
Rousseau weiß, schließe ich, daß der Groll zuerst vor-
handen war, namentlich die oben erwähnten Aussprüche
von d'Alembert und Grimm bestärken mich in dieser An-
nahme.
Der morosen Anlage in Rousseau*s Naturell verdanken
wir also den großen Fortschritt, daß immer mehr selbst
das niedrigst gestellte Individuum innerhalb der europäischen
Gesellschaft seine menschliche Würde und seine Menschen-
rechte zu fühlen b^ann.
Nun kehren wir abermals zu dem Konflikte zwischen
Voltaire und Rousseau zurück.
Wie benahm sich jener den Angriffen Rousseau's ge*
genat>er?
Als er jenen oben zitierten beleidigenden Absagebrief
mit dem Schlußsatz: »Ich liebe Sie nicht, mein Herr . . . .c
erhielt, schrieb er an Thieriot: »Ich eiiiielt einen langen
Brief von Jean Jacques Rousseau, er Ist ein kompleter Narr ge-
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worden, schadete . . . und im März 1761 an d'Alembert:
Dieser Erznarr, schreibt ge^en das Theater, nach-
dem er eine schlechte Komödie gemacht .... verläßt seine
Freunde; schreibt mir den impertinentesten Brief, den je
ein Fanatiker p;ckritzelt hat. Er tut mir zu wissen: ,Sie
haben Genf korrumpiert, für das Asyl, das es Ihnen gei^eben;*
als ob ich mich je darum bekümiTicrl hätte, die Sitten von
Genf zu mildern, als ob ich irgend ein Asyl nötig, oder
irgend eine Verpflichtung gegen diese Stadt hätte. Ich
antwortete gar nicht auf diesen Brief.« An Damilaville zur
selben Zeit: ». . . . Er beleidigt mich mit heiterem Herzen,
mich» der ich ihm nicht bloß ein Asyl offerierte, sondern
auch mein Haus» wo er wie ein Bruder gelebt hätte«; und
an denselben am 31. Juli 1761: »Ohl Wie wQrden wir
diesen AAann wertgehalten haben, wenn er icein falscher
Bruder gewesen wSre!« Wiederum an Damiiaviüe im Jahre
1764 : »Ein Aizt mfifite an Jean-Jacques ehie Bluttransfusion
vornehmen und ihm anderes Blut in die Adern spritzen,
sein jetziges ist eine Komposition aus Vitriol und Arsenilc
Ich halte ihn fflr einen der unglücklichsten
Menschen, weil er einer der bösesten ist« Im Jahre
1765: »Es ist greulich, dafi es einem solchen Schurken
gegeben war, das Glaubensbekenntnis des Vikars zu
schreiben « »dieser Judas der Bruderschaft «
Und bei aller dieser Entrüstung hatte Voltaire noch
immer, wie seit jeher, eine gewisse Sympathie für Rousseau.
»Seien Sie versichert, daß unter allen jenen, die Ihre Schriften
gelesen haben«, schreibt einmal dieses urgutrnütige Oroß-
Genie an Rousseau, > niemand Sie mehr schätzt, als ich —
trotz aller schlccfiten Scherze.«
Dem entsprechend gal) Voltaire Moultou gegenüber seinen
Wunsch zu erkennen, daü sie beide sich doch miteinander
vertragen und aussöhnen sollten. Als aber Moultou Rousseau
hier\'ün benachrichtit^te und ihm mitteilte, nach der ganzen
Haltung Voltaire s in ihrer Unterredung, »würde ich (Moultou)
L-'iyuizuü by VjOOQle
— 368 —
schwören, daß er Sie liebt«, meinte Rousseau, Voltaire sei
immer nur ein Komödiant, der seine Rolle meisterhaft
spielte der »den Ton zu wechseln weiß, je nach den
Leuten und ^wenn er aufrichtig zurückkehrt, öffne
ich ihm meine Arme. Es ist das beste für seinen Ruhm,
sich mit mir zu versöhnen.«
Bei einer solchen Beharrtichkdt, Voltaire zu verdächtigen
und der ebenso unberecht^en als beleidigenden Zumutung^
daß dieser »aufrichtig zurfickkehre«, war wohl auf eine
Versöhnung nicht mehr zu rechnen.
Trotz alldem war er Rousseau im Innersten seines
Wesens noch immer wohl gesinnt; und dafOr existiert eben
jener unbezweifelbare Beweis von Voltaire*s unglaublicher
Milde, Versöhnlichkeit und Mitleid mit dem Verfolgten,
welchen wir einem Bericht des Fürsten von Ligne ) über
seinen Besuch in Ferney entnehmen**)
>Im Moment, wo er am heftigsten gegen Rousseau
wütete,« schreibt der Fürst in seinen Mömoires du prince
de Ligne, ^und im selben Augenblick, wo er ihn ein Mon-
strum, einen Verbrecher nannte, gegen den es kein genügend
strenges Gesetz gäbe, sagte jemand zu Voltaire: „Ich glaube^
er selbst ist es, der soeben in ihren Hof eintritt." „Wo ist
er, der Unglückliche?" schrie er, ,,cr möoc nur kommen! Ich
breite meine Arme aus, um ihn zu empfangen. Vielleicht
ist er von Neuchatel und Umgebung davongejagt worden!
Man hole ihn, führt ihn her zu mir, alles, was ich habe, soll
ihm gehören!"«
So sah Voltaire's Inneres einem seiner mit Orund ver-
haßtesten Gegner gegenüber aus; von einer Heuchelei in
*) Nach Maugras wie auch nach Desnoiresterres.
Dieser Besuch fand vor der Denunziation in den Lettre« foites
de la montafne statt, die dann allerdings Voltaire zur höchsten Enf-
nistun^ brachten, der er aber sofort in den Senttments des citoyens
Luft machte. Aucii die wildesten Reden Voltaire's in dieser Sdirift
muß man ihm in Anbetracht der unerhörtoi Rouflseau'schen Provolaitiaii
und Denunziation nachsehen«
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— 3» —
dieser Situation lonii absolut keine Rede sein» und nun
möge iigend jemand^ namentiidi von jenen, die seinen Cha-
rakter tadeln, hervortreten und ehrlich zu behaupten wagen,
er besitze mehr Oflte in seinem Wesen als Voltaire!
4
*
Es gibt aber noch eine ganz besondere Ookiprobe da-
rauf, ob ein Mensch einen Kern von Oüte besitzt, das ist
seine Fähigkeit, Freunde zu haben und ein Freund
zu sein.
Und da finden wir nun die schöne Tatsache, daß Vol-
taire von fiüiier Jugend an bis in sein hohes Alter von
Freundschaftsgefühlen erfüllt war und auch wahre Freunde
besaß.
-Niemand sprach je mit so viel Oefühl von dem Reiz
der Freundscliaft wie Voltaire,^ sagt Lonp^champ, und das,
was er an so vielen Stellen seiner Werke davon sagte, sei
es in Vers oder Prosa, würde schon ^enÜL^eri, um uns
zu überzeugen, wie sehr er selbst von diesem Gefühle durch-
drungen war.«
Welch' eine reiche Anzahl von Freunden und Freun-
dinnen zählte er zu den seinen! Allerdings war diese Hin-
neigung zur Freundschaft für ihn wie eine Quelle großer
Freuden, so auch der Anlaß zu vielem Oram. Denn er hatte
das Ungiack, schon in seiner Jugend mehrere Freunde zu
vertieren, bmnders de O^nonville^ von dem er lebenslang
mit größtem Bedauern sprach; der Tod des Präsidenten
de Maisons und der Marquise du ChAtelet kosteten ihn
nicht weniger TrSnen, und dann hatte er den Tod Vauve-
naigues*, de Formont's und anderer zu beklagen. Anderer-
seits hatte er das Olflck, nicht einige seiner Sltesten Freunde
zu fiberleben» deren Umgang während nahezu sechzig Jahren
die früheren Veriuste einigermaßen aufwog, so z. B. d'Aigen-
tal, den Marschall Richelieu, die Marquise du Deffand« Bis
Popper, V«ltMt«. 24
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— 370 —
zu ihrem Tode genoß er die tangjährige Freundschaft von
de Cideville, d'Argenson, des Abbö d'Olivet u. a. Und in
der Mitte seines Lebens gewann er noch neue Freunde^
denen er nicht minder anhinglich war, als den alten, wie
de Saint-Lambert, Marmontd und d'Alembert
Voltaire war unglaublich nachsichtig und flbersah mit
grdßter Leichtigkeit Fehler an seinen Freunden. So machte
er es auch mit Frau du Defiand» die nicht wenig boshaft
(dabei auch ungut) war und während sie in ihren Briefen
an Voltaire von Freundschaft und Bewunderung flberfloß,
in den Pariser Gesellschaften sich ungerecht und rfldcsichts-
los fll>er ihn Äußerte; aber, obwohl Voltaire von diesem
allen wußte» bHd> er ihr immer gleich anhänglich. Es soll
— wie Longchamp, dem ich diese Daten entnehme, mit-
teilt — ziemlich viele Fälle gegeben haben, in denen sich
die seltene Leiclitigkcit und Nachsicht kundgab, mit der
Voltaire selbst über Unrecht und Undankbarkeit junger
Leute, die er mit Wohltaten überhäuft und frijber für seine
wahren Freunde gehalten hatte, hinwegsah und sich sogar
hierüber unwissend stellte; wie er das besonders mit dem
seiner unwürdigen Thieriot machte, von dem er sich nur
darum nicht trennen wollte, weil ihre Verbindung schon von
der Zeit her datierte, da sie beide aus dem Koll^ium aus-
getreten waren.
Man könnte hierin vielleicht einen Beweis von Schwäche
erblicken, aber das wahre Motiv seiner Nachsicht war ein
ganz anderes und ist ganz besonders geeignet, Voltaire's
Charakter, seine Wärme und seinen Fond von Pietät ins
Licht zu stellen. Wenn nämlich seine wahren Freunde Ihm
Vorwürfe darüber machten, seine Verbindungen mit Per-
sonen aufrecht zu halten, die sich durch ihre Undankbarkeit
derselben unwürdig zeigten, so pflegte Voltaire bloß zu
antworten: »Es ist etwas Heiliges in einer lange
währenden Anhänglichkeit« Dieses OefQhl genflgte *
bei ihm, um alles zu verzeihen.
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— 371 —
Und danach veiigleiche man Voltaire mii seinem Be*
dflrfhis und seiner Fähigkeit fflr Freundschaft mit li)gend
welchen anderen Mflnnem der Uteratur und Kunst.
Wie kühl zeigen sich uns Schiller und Goethe dagegen,
wenn wirnach der Wärme ihrer freundschaftlichen Beziehungen
fragen. Es ist zwar riclitig, daß ihr gegenseitiges Verhältnis
ein selten reines war, aber es war mehr ein objektiv kühles,
vornehmes, und von ihren andern Freundschaftsverhältnissen
konnten wir sehr wenig anführen, was sich auch nur ent-
fernt mit der Fülle von Güte, Wärme, Offenheit, mit der
ganzen Hingabe des Naturells vergleichen ließe, die wir
bei Voltaire finden.
Er brachte nicht bloß Wärme und Zartgefühl, er brachte
sogar einen wahren Ungestüm*) In seine freundschaftlichen
Oefflhle — seine Natur empfand es geradezu als ein Be-
dCIrfhiSy sich zu attachieren und fOr andere zu interessieren;^
stets war er diensttiereit, und nie ließ er eine Gelegenheit
vorübeigehen, ohne einen Freund aus Verlegenhelten zu
reißen. Noch ganz jung, liebte er die Jugend und wünschte
nichts sehnlicher, als in ihrer Mitte zu leben. Bemeikte er irgend
ein aufkeimendes Talent, so waren sofort seine Ratschläge,
seine Sympathie und seine Börse zur Stelle. Seine naive
Natur sympathisierte oft mit ganz unfähigen, aber einfachen
und geradsinnigen Menschen, bei denen er sich wohl fühlte.
So hielt er es mit einem gewissen Linant, dem Sohne
tiiner Gastwirtin, bei der er einst gewohnt hatte, einem ganz
unbedeutenden Jüngling, den er unterstützte und zu dessen
offenem und derbem Urteil er Vertrauen hatte. Als Voltaire
sich anschickte, seine eben vollendete Zaire- den Schau-
spielern vorzulesen, mußte Linant mitkommen. Ich wollte
wissen, c schrieb Voltaire darüber an Cideville, *was so ein
naives Herz und ein so geradsinniger Oeist darüber denkte
*) Wie sich Desnoiresterres, dem ich das Material zu dieser Be-
trachtung entnihiD, ausdrückt
24*
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372 —
Wer wurde das bei Voltaire voraussetzen, der immer
als der Über-Zivilisierte, als ein Geist hingestellt wird, der
von aller Natürlichkeit entfernt, sich nur in den Salons ge-
lehrter Frauen und der Pariser Schöngeister wohl fühlen
konnte und nur das Urteil dieser Kreise als das einzig be-
rechtigte ansah?
Ein seltener Zug von Zartgefühl in seinen Freundschafts-
gefühlen war unter anderen der folgende. Der oben erwähnte
Thieriot, einer der jungen Freunde des noch sehr jungen Vol-
taire hätte ihm dne betiächtliche Geldsumme fibeigeben
sollen, behielt sie aber für steh und gebrauchte die Ausrede^ sie
sei ihm während des Besuches der Messe gestohlen worden.
Voltaire der nicht zu täuschen war, tat gar nichts weiter
in dieser Sache, als daß er ihm schrid): »Dieses Abenteuer,
mdn Freund, kann Ihnen wohl alle Lxist lienehmen, wieder
In die Messe zu gehen, aber es soll ndch nicht daran
hindern, Sie immer zu lieben und Ihnen für alle Ihre Be-
mühungen zu danken.« Und an Destouches schrieb Voltaire
über diese Sache: » ich wäre wohl unwürdig,
Schriftsteller zu sein, wenn ich es nicht vorziehen würde,
hundert Louisd'or zu verlieren, als meinen Freund in Ver-
l^enhcit zu briiigen.«
Nach diesem allen denke man nun daran, wie oft
Voltaire als ein trockenes Herz, als gemütlos und als (be-
sonders in seiner Jugend) geizig hingestellt wird; und man
wird wohl einsehen, wie richtig meine Bemerkung zu An-
fang dieser Monographie sei, daß kaum ein Mann so ver-
leumdet, so falsch beurteilt wurde wie Voltaire.
Und, was eddste Freundschaft betrifft, nun erst sein
Verhältnis zu dem jung verstorbenen Otoonvilie! Eines
der zartesten Freundschaftsverhältnisse^ von denen wir über-
haupt Kenntnis haben.
Dieser O^nonville, wie er sich nach seiner Mutter
nannte war der Sohn dnes Parlamentspräsidenten in der
Bretagne. Uebenswflrdig^ id)haft und obwohl er sich dem
kjui^cd by Google
— 373 —
Richterstande widmen sollte, voll von Liederiichkeiten und
Torheiten seines Alters. Diesem Jüngling wandte sich der
junge Arouet (so hieß damals Voltaire noch) mit ganzem
Herzen zu, und er ging darin so weit, ihn zum Vertrauten
seiner Liebe, ja zum Dritten bei seinen Zusammenkünften
mit seiner Geliebten, der schönen Schauspielerin Susanne
de Livry, zu machen. Voltaire dachte gar nicht an die Oe-
fahren eines solchen Vertrauens. Nicht lange, und Fräulein
de Livry konnte den stürmischen Bewerbungen des liebens-
würdigen und unbesonnenen Freundes ihres bisherigen
Geliebten nicht widerstehen. Sie vergaß die herrlichen
Plaudereien Arouet "s, den prächtigen Unterricht, den er
' ihr in der Deklamation gegeben hatte, und verriet ganz
einfach ihren Geliebten, wie Genonviüe seinerseits ihn
verriet
Aber hier erfolgte etwas, was von einer Gemütsart Vol-
taire's zeugte^ die ohne Gleichen dasteht. Er wurde nicht
eifersüchtig, geriet nicht in Wut, nahm sein Unglück mit
Heiterkeit auf, und da er seine Geliebte verioren hatte, war
das ein Orund mehr für ihn, nicht zugleich seinen Freund
zu veriieren, den er mit so aufrichtiger Freundschaft liebte
Er verzieh vollständig, und der sechsundzwanzigjflhrige
Voltaire schrieb sich die Sache mit folgenden Versen vom
Halse:
>Je sais que par ddloyaut^
Le fripon nagu^re k tät6
De !a maitresse tant jolie
Dont j'^tais si fort entete.
II rit de cette perfidie,
Et j'aurais pu m'en courroucer;
Mais je sais quil laut se passer
Des bagatelles dans la vie.«
So beliebt Genonviüe in allen Gesellschaftskreisen auch
war, so hatte ihn doch niemand so gern wie Arouet »Der
kleme O^onvUie schrieb mir einen wunderschönen Brief in
Versen, ich antwortete ihm, aber nicht so schönte lautet ein
Digitizec uy google
— 374 —
Billei Arouet's an Frau von Minteure, »nuinchmal wQnsche
Ich, daß Sie ihn nie kennen lernen, denn Sie 1c6nnien mich
dann nicht mehr ausstehen.«
Dieser so herrliche und begabte junge Mann starb aber
sehr früh, und man muß nun sehen, wie nahe Voltaire
dieser Tod ging und wie er gar nie daran vergessen konnte.
Noch zehn Jahre naeh dem Tode Oenonville's (im Jahre
1729) drückte er seinen Schmerz über diesen Verlust in einer
Epistel Aux mänes de Qenonvillec aus, die vielleicht auch
in dem Leser eine solche Rührung hervorbringen wird wie
in mir, und die ich im Anhang wiedergebe. —
Aber nach der Betrachtung dieser so edlen Freundschaft
möchte ich nicht unterlassen, auf das Verhalten Voltaire's
nach der sogenannten Treulosigkeit seiner Qeiiebten und
seines Freundes nälier einzuf^elien.
Daß ein betrogener Liebhaber die Sache gar nicht tragisch
nimmt und dem glücklichen Nebenbuhler sogar in wärmster
Freundschaft zugetan bleibt, dürfte höchst wahrscheinlich
den meisten Lesern nicht nur als etwas Abnormes, sondern
auch als etwas nahezu Lächerliches erscheinen. Man
wird geneigt sein, ein Naturell, das zu derlei fähig ist,
als dn Icaites, trockenes und daher gegenüber dem vor-
herrschenden »impulsivenc als ein inferiores anzusehen;
man wird sich schmeicheln, ein lebhafteres, wärmeres Oemü^
eine höhere schwäimerische Natur zu besitzen und sich
eine Art tieferen Ffihlens zuzuschreiben, das sich eben nur
in den Explosionen der Eifersucht, in der Rache an den
Verrätern, seilest in deren Ermordung bewähren und genug
tun kann, und jede solche Brutalität zu rechtfertigen vermag.
Ich muB nun sagen, daß, als ich zum erstenmale (d. i.
vor mehreren Dezennien) das Verhalten Voltaire's in dieser
Liebesaffäre kennen lernte, ich über eine solche Höhe eines
Naturells, über eine so glückliche ethische Anlage — und
was nicht zu vergessen ist, bei einem sonst so impul-
siven Temperament — nicht wenig erstaunie.
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Man denke nicht, dafi die körperliche Schwäche Voltaire's
seine geringe Erhitzung für erotische Eriebnisse eridäre und
daß »jeder gesunde kräftige« Mann alles, selbst sein eigenes
Leben oder das Leben anderer, In soldien l^len, bei
solchen Erlebnissen wie mit G^nonville und der de Liviy,
einsetzen müsse. Denn einerseits sehen wir, daß auch die
körperlich schwächlichsten Männer sich in aufbrausender
Brutalität bei Liebes- 'und Eifersuchtsangelegenheiten mit
den allerkräftigsten und allergesündesten messen können;
und andererseits: denken wir doch an die alttin üriechen
in ihrer Blütezeit; sie waren ein überaus kräftiger und
schöner Menschenschlag und dennoch spielte Brutalität aus
Liebe und Uifersucht bei ihnen fast ^ar keine Rolle.
Wie viel Unglück und wie viel Absurditäten wurden
aber verhütet werden, dachte ich mir und denke ich heute
noch, wenn alle Menschen solche Anschauungen über diese
Dino^e besäßen, die ihnen eine derartige Handkino-sweise,
wie jene Voltaire' s, möglich machen könnte! Wenn man solche
Angelegenheiten, ebenfalls von solcher Höhe herab be-
trachten und sie nur als von ganz sekundärer Bedeutung
ansehen würde!
Man überdenke den Fall Voltaire-Uvry-O^nonviile ohne
unsere gewohnten Vorurteile und man wird einsehen, daß
wir in Sachen der Liebe, wie in so manchem anderen Ge-
biete schöner Oefühi^ immer mit latentem, uns unbewußtem
Egoismus umherschwärmen; daß wir andere menschliche
Individuen, die wir geschlechtlich lieben, wie eine Sache
unseres Eigentums, statt als selbständige Persönlichkeiten
ansehen; und daß wir stets sofort bereit sind, mit einem
einzigen Sprunge uns aus sentimentalen und hinschmelzen-
den Oefflhis -Wesen in wutentbrannte Barbaren zu ver-
wandeln.
Voltaire hatte fQr Freundschaft weit mehr Wärme in
seiner Empfindung^ als fOr OeschlechtsHebe^ und auch
foi dieser Beziehung steht seine Individualität in seltenem
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Olanze dar. Man denke nur an Jean Jacques Rousseau, der
nicht imstande war» einen einzigen Freund festzuhalten, und
auch in der Tat bis an sdn Lebensende ohne Freunde
blieb, hingegen fflr Liebe zum anderen Oeschledit in seinem
Naturell eine Olut ohne Gleichen besaß. Er ist in dieser
Beziehung der Repräsentant der Europäer überhaupt, nament-
lich der modernen, bei denen Freund schafl weder im Leben,
noch in der Religion, noch in der Literatur eine Rolle
spielt; während Leben, Literatur und Kunst von geschlecht- •
lieber Liebe strotzen.
Aber das muß durchaus nicht so sein; es ist das
keine den Menschen angeborene notwendige Eigenschaft!
Denn bei Chinesen und Japanern finden wir Freundschaft
unvergleichlich hoch über geschlechtliche Liebe gestellt, sie
findet sich dort im Leben ungleich häufiger als bei uns,
spielt in der Literatur eine hervorragende Rolle und wird in
den iMoralunterweisungen des Konfuzius als eine der Orund-
tugenden hervorgehoben. Die höhere Stufe der Gesit-
tung bei den ostasiatischen Völicem g^nfiber jener bei den
Eurof^tem zeigt sich also auch hierin; und wir sind jenen
Völicem gegenfiber» trotz aller religiösen Schwibmereien und
temperamentvollen, vielleicht tieferen, KunstbetStigungy noch
immer auf einer niedrigen, animalischen Stufe der Ent-
wicklung zurQckgeblieben. Es ist in der Lieb^ wie in der
Religion und wie In der Politik: Kratzt man den Europäer,
so kommt sogleich das wilde Tier zum Vorschein.
Was aber Voltaire's Verhalten im Falle Livry-Oenon-
ville betrifft, so stimmt es sehr gut mit anderen Eigentüm-
lichkeiten seines Charakters, die ebenso selten anzutreffen
sind und ebenso auf den edlen ethischen Kern seiner Natur
hinweisen, wie seine überlegene Ruhe nach dem Verrat an
seiner Liebe.
Nur ein so gearteter Mensch konnte inmitten der hef-
tigsten Kämpfe und Anfeindungen stets zur Versöhnung
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berdi, unbeirrt in seiner Oflte und Menschenliebe^ frei von
Verdrossenheit und mflnischen Stimmungen und immer
lidienswQrdig bleiben.
*
Nein, es ist vefigebtidie Mflhe^ diesen Menschen vor
der Welt ansdiwinen zu wollen! Man braucht ja nur irgend
. ein Porhilt, irgend eine gute BOste Voltaire's, sei es aus
seiner Jugend, sei es aus seinen alten Tagen anzusehen,
und jeder Unvoreingenommene wird sich gewiß sagen:
Bei diesem liebenswürdigen, häßlichen Schelm würde
ich mich wohler fühlen, als bei irgend jemand anderem;
und wenn ich eine Gefälligkeit brauchen sollte, so weiß ich
es gewiß, er würde sie mir mit größter Bereitwiiligl<eit und
Schnelligkeit und mit den anmutigsten Scherzen auf den
Uppen erweisen!
* «
Und fassen wir alles zusammen, so können wir sagen:
Nach der Art seines Intellekts war Voltaire ein
Oeist, der vor nichts in der Welt Furcht hatte
und dem nichts imponierte;
und nach seiner ganzen Individualität
das naivste, beste, mitunter recht unartige,
gescheiteste, gelehrteste und gewaltigste Welt*
kindy das jemals existierte.
So war Voltaire.
Anhang.
0
Epitre.
Attx mAnes de M* de O^nonville.'^)
Toi que le ciel jaloux ravit dans son printemps.
Toi, de qui je conserve un souvenir fidele
Vainqueur de la mort et du temps;
Toi dont la pertc, apres dix ans,
M'esf encore affreuse et nouvelle;
Si tout n'est pas detruit, si sur les sombres bords
Ce Souffle si cache, cette faible ^tincelle,
Cet esprit, le moteur et Tesclave du corps,
Ce je ne sais quel sens qu'on nomme äme immorteU^
Reste inconnu de nous» est vivant chez les morts;
S'il est vrai, que tu sois, et si tu peux m'entendre^
O mon eher O^nonvillel avec plaisir re<;ois
Ces vers et ces soupirs que je donne ^ ta cendre^
Monument d'un amour immortel comme toi.
n te souvient du temps ofi Taimable Eg^rie**)
Dans les beaux jours de notre vie^
Ecoutait nos chansons, partageait nos ardeurs,
Nous nous aimons tous trois! La raison, la folie^
Uamour, Tenchantement des plus tendres erreurs,
Toui r6unissait nos trois coeurs.
*) Die Orthographie ist genau die üi meiner Voltaire-Ausgabe
von 1785.
**) Das Friiileni de Uviy, Voltaires OeUebte.
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Que nous ^tions heureux! m^me cette indigencc^
Triste compagne de beaux jours,
Ne put de notre joie empoisonner le cours.
Jeunes, gais, satisfaits, sans soins, sans pr^voyance,
Aux douceurs du present bomant tous nos d^sirs,
Quei besuiii avioiis-iious d une vaine abondance?
Nous poss^ions bten mieux, nous avions les plaisirs!
Ces phssirs» ces beaux jours coul£s dans la moltesse^
Ces ris, enfans de Tall^gresse,
Sont passes avec toi dans la nuit du trepas.
Le ciely en recompense, accorde ä ta maitresse,
Des grandeurs et de la richesse,
Appuis de l äge niür, eclatant embarras,
Faible soulagement, quand on perd sa jeunesse.
La fortune est chez eile oü fut jadis Tamour.
Les plaisirs ont leur temps, la sagesse a son tour.
L'amour s'est envol^ sur l'aile du bei äge;
Mais jamais l'amiti^ ne iuit du coeur du sage.
Nous chantons quelquefois et tes vers et les miens;
De ton aimable esprit nous c^l^rons les charmes;
Ton nom se m^le encore k tous nos entretiens;
Nous lisons tes ^rits, nous les baignons de larmes,
Loin de nous ^ jamais ces morfels endurcis,
Indignes du beau nom, du nom sacre d'amis,
Ou toujours remplis d'eux, ou toujours hors d'eux-mSme,
Au monde ä rinconstance ardens ä se livrer,
Malheureux, dont le coeur ne sait pas comme on aime^
Et qui n*ont point connu la douceur de pleurerl
Um die feine Seele Voltaire' s zu zeigen und vielleicht
manchem Leser einen ästhetischen Genuß, wie ich ihn habe,
zu bereiten, reproduziere ich hier noch ein anderes Oedichtp
das unter dem Titel: Les Vous et les Tu berühmt ist
Es bezieht sich auf seine einstige Geliebte^ dieselbe
de Livry, von der in der vorhergehenden Epistel die Rede
war. f lüulein de Uviy hatte nämlich sehr bald alle Liebes-
verhältnisse abgebrochen und den reichen Marquis de Oou-
vernet geheiratet. Als Voltaire sie einmal besuchen wollte,
— 360 —
verwdirie ihm der Schweizer des Höfels der Marquise den
Einlafi. Voltaire^ der an dnen ganz anderen Empfang seitens
der schönen Susanne de Livry gewöhnt gewesen war, sandte
ihr hierauf die nachfolgende Epistel
Les Vous et Ie8 Tu.
Phllis, qu'est devenu ce temps
Oü dans un fiacre promen6e^
Sans laquiüs, sans ajustemens,
De tes gräces seules orn^e,
Contente d'un mauvais soupe
Que tu changeais en ambrosie^
Tu te livrais dans ta tolie
A Tamant heureux et tromp^
Qui t'avait consacrfi sa vie?
Le del ne te donnait alors
Pour tout rang et pour tous tr^sors,
Que les agremens de ton äge;
Un coeur tendre, un esprit volage,
Un sein d'albätre et de beaux yeux.
Avec tant d'attraits precieux^
Hdas! qui n'eQt €i6 fHponn«?
Tu le fus, objet gradeux!
Et que ramour me le pardonne!
Tu sais que je t'en aimais mieux.
Ah Madame i que votre vie,
D'honneur aujourd hui si remplie,
Diff^re de ces doux instans!
Ce laige suisse i cheveux Uancs
Qui ment sans cesse ä votie porte^
Phiiis, est l'image du temps:
On dirait qii'il chasse rescorte
Des tendrts Amours et des Ris;
Sous vos magnifiques lambris
Ces enians tremblent de paraitre.
H6las! je les ai vus jadis
Entrer chez toi par la fenfttre,
£t se jouer dans ton taudis.
biyUizeu by LaOO^^lC
— 381 —
Non Madame, <ous ces tapis
Qu' a tissus la Savonnerie,
Ceux que les Persans ont ourdis.
Et toute votre orfdvrerie
Et ces plats si chers que Oermain
A graves de sa main divine;
Et ces cabinets oü Martin
A surpass^ l'art de la Chine;
Vos vases japonais et blancs,
Toutes ces fragiles merveilles;
Ces deux lustres de diamans
Qui pendent ä vos deux oreilles;
Ces riches carcans, ces coUters»
Et cette pompe enchanteresse
Ne valent pas un des baisers —
Que tu donnai dans ta jeunesse;
Noch einmal traf Voltaire mit seiner Jugendgeliebten
zusammen: das war im Jahre 1778 während seiner letzten
Tage in Paris. Er besuchte die damals über achtzigjährige
Madame de Oouvemet, die Witwe war und ihn daher nun-
mehr empfangen konnte. Ais er von der Visite nach Hause
kam, sagte er zu seiner Umgebung: ,»Ah, mes amis, je viens
de passer d'un bord du Cocyte ä l'autre«. Und Madame
de Oouvemet sandte am nächsten Tage der Nichte Voltaire'Sy
der Madame Denis, ein Portrait Voltalre's, das er ihr während
ihrer Liaison gegeben und das sie trotz des Bruches mit
ihm und hotz ihrer Frömmiglcdt treu aufbewahrt hatte. —
Sehr, sehr gern hätte ich das Oespräch der beiden AHen
mit angehdrti
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über ein musikästhetisches Problem.
Bd der großen Rolle^ die in der neueren Zdt die
Musik in unserem OefGhlsleben spidt, ist es wohl ange-
zeigt, hier noch dn musildlsthetisches Problem zu berühren,
auf das mdne Bemerkungen auf 5, 291 hinwdsen.
Es ist gewiß» daß die sogenannte absolute Musik nidit im-
stande sdn kann, so scharf umrissene, begrifflich präzisierfoare
Gefühle, wie z. B. -Freiheits- und Gle}chheitszom< , Sturm-
gefühle der französischen Revolution u, der^l. auszudrücken.
Wenn gesagt wurde, ich oder andere können sie darin
»finden*, so will das nichts anderes besagen, als daß diese
oder jene Musik solche bestimmte Gefühle, oft sogar Oe-
danken, in dem Hörer anzuregen vermat^. Und diese
Möglichkeit hängt offenbar sowoiil von dem Hörer, be-
sonders seiner Assoziationsfähigkeit und Bildung, als auch
von dem Kompositeur selbst ab.
Wieso ein physikalischer, nämlich ein akustischer Vor-
gang, wie es Musik ist — die auch nichts weiter ist
als ein soldier Vorgang — bestimmbare, definieriMre Ge-
fühle, ja sogar Gedanken im Hörer anzuregen vermag, ist
ein Problem für sich; und durchaus kdn anderes als das Pro-
blem, das in dem glddien Effekt liegt, wenn wir Haschischt
Opium, Ltts^s, Champagner usw. genießen. Niemandem
wird es dnfdieit, zu sagen: Der Oenuß dieser Substanzen
»drücke irgend etwas aus«, sondern er wird nur dnfach die
Tatsache konstatieren, daß sie tidsinnige, mystische, hdtere
OefQhle und Oedanken anregen, indem sie den menschlichen
Olganismus in dne Stimmung versetzen. In der er rdativ
produktiver an solchen OefOhien wbd. Wäie die Herstellung
i^'iLjuiz-uü by
— 383 —
solcher Droguen niir eine besondere Fähigkeit Einzelner,
so würden diese gerade so gut unter die Kunstler gezählt
werden müssen, wie heute die Musiker oder Dichter; denn
bei diesen allen wäre das Gemeinschaftliche dies, daß sie
vermöge ihrer natflrlichen Begabung Schwieriglceiten flber-
wältigen und Leistungen zustande bringen, wie es Verhältnis-
mäBig wenigen Menschen gc^^en ist
Damit ist die Sache aber noch nicht abgetan.
Wer die besondere Begabung für Herstellung von
Droguen besäße deren OenuB bei den Oenießenden so
bedeutende Empfindungen ins Leben zu rufen vermag,
hätte an diesen Empfhidungen selbst doch gar kdnen An-
teil; er besaß sie nicht, als er jene Substanzen komponierte
und herstellte; er ist daher dgentlich nur ein Techniker,
oder ein »technischer Künstler«. Solche technische Künstler
gibt es ja auch in den bereits anerkannten Kunstgebieten,
d. h. sie bringen ästhetische Stimmungen hervor, ohne
selbst etwas zu fühlen; sie betätigen eben nur ihr Talent
in Handhabung von Kunstmitteln. Das ist z. B. bei Farben-
künstlern in der Malerei und auch bei vielen musikalischen
Kompositionen sowie bei Reproduktionen und Nach-
ahmungen überhaupt der Fall; woher es auch kommt, daß
man oft erstaunt, was für leere unbedeutende Individuen
solche Männer sein können, die in dem Gebiete der Kunst
doch einen sehr guten, ja berühmten Namen haben. Erst
wenn man Grund hat zu p^laiihen, daß der Künstler die in
uns entstandenen hohen üefühie (vielleicht auch die Oe-
danken) oder doch ihnen einigermaßen analoge selbst be-
saß, als er sein Werk produzierte, so daß wir als Recep-
tive durch das physikalische Medium seiner speziellen
Kunst imstande sind, ihm wenigstens einigermaßen nachzU"
fühlen — erst dann steht die begabte und zugleich höhere
Persönlichkeit vor uns.
Aus diesem Gründe wird niemals ein Beethoven mit
einem noch so begabten Kunsttechniker oder Artisten in
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dne Reihe gestellt werden. Es ist auch, objektiv genommeiip
niclit zu zweifeln, daß die Kenntnis der Lebensumstände Beet-
hovöi's» seiner großen Natur, seines holten Idealismus, ja
sogar seiner persönlichen Erscheinung, sehr viel dazu bd-
trägt, in seiner Musik vides Oroße^ das man ohne diese
Kenntnis nicht in ihr finden wflrdev zu entdecken^ d. h.
anzunehmen, er habe das alles, und wahrschdniich noch
viel mehr als wir, bdm Komponieren selbst empfunden.
In der Instrumentalmusik, die weder mit bestimmten
sichtbaren Formen und Begriffen arbeitet, noch wie das
MusikdraiTia von Wort und Szenerie unterstützt wird, ist
die Kenntnis der Persönlichkeit mit ein wichtiger Teil des
Eindrucks, und macht aus dem rein akustischen Vorgang
eines Musikstückes eine besondere Art von Programm-
Musik.
Auf diese Art wifd es ermöglicht, daß durch den Oe-
danken an die P^önllchkdt des Künstlers gerade so gut
dem bk>ßen musikalischen Tongemalde — unabhängig von
sdner sinnlichen Wohlge^ligkdt — auch dn gewisser
Inhalt, dne Bedeutung assoziiert wird, wie durch dne Über-
schrift, oder durch dne Angabe dessen, was daigestdlt
werden soll. Wir sehen hier, wie der an sich unbestimmte
physiologische Eindruck bloßer Luftschwingungen auf den
menschlichen Organismus durch solche Associationen sich
in psychische Formen, Gefühle und Vorstellungen, umwandelt
Und unter allen Arten der Kunst ist die Instrumental-
musik der interessanteste Fall für die Beobachtung des
Weges, der von der innern Tätigkeit des Künstlers bis zur
inneren Tätigkeit des Aufnehmenden führt. Es ist dies ein
ganz analoger Vorgang, wie z. B. bei dem Prozeß der
Tdegraphie; das Endresultat hängt vom Aufgeber-Apparat,
dem Vermittlungs-Apparat (z. B. dem Leitungsdraht) und
endlich dem Empfangs-Apparat ab. In der Telegraphen-
technik kann Empfangs- und Aufgabeapparat identisch sdn,
— 385 —
in der Kunst niemals; wie groß aber die Verwandtschaft
zwischen Anfangs- und Endstation dieses tcflnstlerischen
Prozesses, d. h. die Ahnlichlceit der Empfindungen zwischen
dem Kunstler und dem Hörer ausfällt, hängt eben sehr von
der Beschaffenheit der Vermittlung, d. I. des objektiven
Kunstwerks — das nur ein rein }3hysikalisches Objekt ist
— und der Art und Beschatfenheit des aufnehmenden
Kunstfreundes ab.
Wenn aber der Eindruck der absoluten Musik durch
die bloße Assoziation mit Inhaltsangaben oder mit Gedanken
an die Persönlichkeit des schaffenden Künstlers erhöht wird,
ja sogar eine außermusikalische Bedeutung erhalten Icann,
so könnte man vielldcht sagen:
Dann liegt das Oro6e gar nicht in der Komposition»
es ist nur eine äußerliche Zutat? — Oewiß: Die Größe
der Persönlichkeit erhöht oder bereichert nicht nur
die kanstlerische B^^abung für die Benutzung der Kunst-
mittel, sondern sie bestimmt und erhöht auch die Wert*
Schätzung des rein physikalischen (akustischen) Kunstwerks.
Und wenn irgend ein Kfinstler sich ü\xf eine solche Ansicht
beklagen und darin etwa eine Herabsetzung seiner ganz
besonderen technischen Könstlerschaft sehen wollte, so
sagen wir ihm bloi^ dies: Sei auch Du eine große Persön-
lichkeit, so wird man dir in gleicher Weise entgegenkommen,
wie z. B. einem Beetlioven!
In der Kunstwelt handeU es sich ja nicht um eine
schulmcislcrliche Klassifizierung der Talente, sondern um die
großen Wirkungen allein, die von den Künstlern als ganzen
Persönlichkeiten ausgehen.*)
Und im Sinne dessen, was hier über das musikästhetische
Problem gesagt wurde, kann man eben auch von Beet-
*) Diese Ansicht ergab sich mir schon vor mehreren Dezennien;
nach Vollendung dieses Meinen Aufeatzes fand ich einige sehr entfernte
Ähnlichkeit mit dieser meiner Hervorhebung der totalen künstlerischen
Persönlichkeit in einigen Aufsätzen von Hausegger.
Popper, Voltaire 25
. kj .i^od by Google
— 386 —
hoven sagen, er habe in die absolute Musilc eine
neue Seele gebracht, wie es otien von Rousseau t»etreffs
unserer Geföhlsweise fiberhaupt gesagt wurde. Wie wir
seit KuUbSL-au den unmittelbaren Natureindrücken noch eine
innere Bedeutung unterlegen, so tun wir wenn auch nicht
alle — es mit der Beethoven'schen Instrumentalmusik.
in diesem Falle lie^t aber etwas Wirkliches, etwas Reales
insoweit zu Grunde, als in Beethoven — wie wir es anders
woher, nämlich aus seiner Biographie, wissen -- in der
Tat eine snlclie Seele vorhanden war und sich in seinen
Kompositionen Luft machte. Bei dem Rousseau'schcn sym-
bolistischen Naturgefühl ist das aber nicht der Fall,
denn in der Natur liegt nichts dergleichen, sie ist keine
Künstlerin, wir supponieren ihr nur fälschlich unsere Oe-
danken oder Gefühle, und wir haben hier den Fall vor uns,
daß der »Aufgabe- Apparat« mit dem ^ Empfanges Apparat«
gar keine psychische Verwandtschaft besitzt Diese Un-
wahrheit, die in dem Ganzen liegt, nenne ich: Kranlc-
liaftiglceit Über dieses spezielle Thema will ich aber an
einem anderen Orte ausffihrlicher sprechen. —
Der von Seite 281 bis inIcL 311 reichoide lailturphilo*
sophische Abschnitt ist nahezu identisch mit meinem Aufeatze^
der unter dem Titel »Voltaire« im Sommer des Jahres 1904
in der Wiener Wochenschrift »Die Wage« erschienen war.
. ij i^od by Google
Verbesserungen.
Es soll heißen auf
S. 14, Z Qu 10 V. o.: „Es wird wohl schwer zu präcisieren sein,
wenigstens begrifflich, wen wir für tief halten."
S. 20, Z. 20 u. 21 V. o.: „ . . . nicht noch heute, auch auf Nicht-Fran-
zosen, ja selbst auf die Deutschen, einen staricen poetisdien Ein*
druck . . . '*
S. 2^ Z. 2 V. u.: „ , . . beschweren, vierundachtzig Krankheitsjahre . . . "
S. 38, Z. 10 v.o.: „Die Freude des Künstlers über die ästhetische Zu^
Stimmung auch nur ..."
S. 40, Z. 7 v.u.: „Es ist aber für die ADlh niciuiieit, also vom Künstler
selbst abgesehen, ganz und gar kein Grund . . . **
S. 43, Z. 8 V. o.: „ . . . oder ungünstigen Art, wie sie ihre Leistungen
beurteilt, gleich und vollkommen recht ..."
S. 48, Z. 6 V. o.: M . . . wenige unter uns bei Shakespeare die vielen
Silbenstecherden, Wortwitze u. dergl. ..."
S. 66, Z. 5 n. 6. V n r „ . . davott abzustehen. Wir wissen auch aus
Voltaire 's Briefen ..."
S. 74, Z. 1 u. 2 V. o.: „Im Jahre 1870 kam dann David Strauf^ mit
seinem Buche; „Voltaire. Sechs Vortrage," weiche Vorträge er
vor der Prinzessin Alice von Hessen gehalten hatte.**
S. 84, Z. 13 V. u.: „ . . . gar nicht mitgeteilt habe . . . **
S. 90, Z. 21 V. o.: M ... in tiefeter Seele zti wider waren . . . **
S. 96b Z. 17 V. o.: „ . . . als Löwenfudis während seines langen Lebens
durchzuführen verstand "
S. 99, Z. 3 v. Ii : „ . . . wtd- r an Besiegung seiner Gegner ..."
S. 101, Z. 10 V. o.: „. . . . glänzendsten Zeit Voltaire's, nämlich in
Femey ..."
S. fOl, Z. 13 V. u.: so leicht zu machen . . . **
S. 101, Z. 5 V. u.: Briefe** zu bekennen . . . **
S 104, Z 7 V. o.: „, . . Energie durchzuführen, sei es mit welchen . . ,**
S. 106t 2. Ivo:,,... könne J. J. Rousseau in einem Kultus kom-
munizieren, der . . . "
25*
Digitlzec uy google
— 388 —
S. 112, Z. 11 V. O.: „ . . . sondern stattete auch schon einmal ..."
S. 114, Z 7 V u : „ . . . Wissensduft, gegenflber der Kaitesischeii, auf
dem Kontinent ..."
S. 122, Z. 11 V o.: „ . . . ein eigenes Bewandtnis ..."
S. 127, Z. 14 u. 15 V. o.: „ . . . nicht gleichberechtigt sind? ..."
S. 141| Z. 7 V. u.: „ . . . den Deutschen Lessing gegenüber dem Fran-
zosen VoHaire handelt . . .
S. 146, Z. 6 V. o.: „ . . . (im „Käiii|r Friedrich der OroBe«) . . . *'
S. 156, Z 14 V. O.: „ . . . an Algarotti ..."
S 170, Z. 7 V. o.: „. . . das Sichandieseitestellen "
S. 201, Z. 7 V. u.: „. . . wundern kann, daß gesittete Menschen . . ."
S. 273, Z 6 V. u.: „ . . . Männer seiner Zeit und Umgebung, ja als
einer der besten aller Zeiten. Und es Ist . . . "
S. 278, Z. 9 V. u.: „ . . . der niemals an scbiem eigenen Olflfik m
arbeiten veigaB . . .**
S. 279, Z. 5 V. u.: „ . . . Eigenschaften der Aristokratie — nimlidi rfick-
sichtsloser Standesegoismus und Kastenhochmut — fehlen . . .
S. 279, Z ^ V. u: M > • * • <)ic Blüte der Elite einer hochlniltivierten
Nation."
&290, Z. 11 u 12 V. o.: „Auszunehmen von diesem Vergleich wäre
Rousseau 's . . . **
Sw31], Z. 22 V. o.: „. . . immer um den Aberglauben; nicht nur
um den religiösen, sondern auch den historischen und um so
manch' anderen Abeiglauben.**
S. 342, Z. 12 u. 13 V. o.: „Ich empfange hundert StdBe, ich gebe dafür
zweihundert zurüdc, ..."
. ij i^od by Google
Von demselben Verfasser erschien:
Selbständige Schriften:
Daa Recht zu leben und die Pflicht zu sterben.
Sozialphilosophische Betrachtungen, anknflfifend an die
Bedeuhing Voltaire's fOr die neuere Zeit (I.Auf 1.1 878,
2. Aufl. 1879, bei E. Koschny, Leipzig. 3. Aufl. 1903
bei C. Reißner, Dresden).
Physikalische Grundsätze der elektrischen Kraft'
fibertrl^ng (1884, bei A. Hartleben, Wien)*)
Ffirst Bismarck und der Antisemitismus (Idöö, bei
H. Engel, Wien).
Die technischen Fortschritte nach Ihrer ästhetischen
und kttlturellen Bedentnng (1886, bei C Reißner,
Dresden).
Flugtechnik, 1. Heft (188Q, bei H. W. Kühl, Berlin).
Phantasieen eines Realisten (unter dem Pseudonym
Lynkeus). 1899, bei C Reißner, Dresden. 2. Aufl.
(2. bis 10. Tausend) im Jahre 1901.
Fundament eines neuen Staatsrechts (1905, bei
C Reißner, Dresden).
Voltaire. Eine Charakteranalyse, in Verbindung mit Studien
zur Ästhetik, Moral und Politik (1Q05, bei C Reißner,
Dresden).
*) Eine energetische Abhandlung.
- 390 —
Einzelne Abhandlungen und kuree Noten:
Maüittiiiatik.
„Ober die AiifHndung der Schwerpunkte mittelst Zirkel uod Lineal**
(Zehschr. d Österr. Ing - u. Arch.-Vereins 1860)
„Beiträge zti Weddle's Methode der Auflösung numerischer OleictilUlgea"
(Sitzungsber. der K. Böhm. Akad d. Wiss. 1861).
»Theorie der Convergcnz wnendh'cher Reihen und bestimmter Integrale,
die keine periodischen Funktionen enthalten" (Sitzungsber. der
Kate. Akad. d. Wiss. 186S).
Physik.
„Über die Benutzung der Nntnrkräfte" ^enthalt den ersten Vorschlag
der elektr Kraftn In [tragung), der Kais. Akad. d Wiss. am
b. Nov. 1S62 versiegelt eingereicht und in den Sitzungsber. 1882
publiziert
„Ober die Quelle und den Betrag der durch Luftballons gdeisteten
Arbeit" (Sitzungsber. d. Kais. Akad. d. Wiss. 1875).
„Über J. R. Mayer's Mechanik der Wärme" (auch erfcenntnistbeoretischeD
Inhalts; im „Ausland" 1876).
„Über die Vorausbtrcehnung der Verbrennungs- oder Bildungswärme
für Knallgas und andere Oasgemenge" (Sitzungsber. d. Kais.
Akad. d. Wiss. 1889).
Elektrotechnik.
„Uber eine neue Konstruktion eines I )aniell-Normalelements und die Her-
stellung von Spannungsetaions" ^.Zeitschr. f. Elektrotechnik 18S7).
„Über einen Wechselstromappamt an Stelle der Induktoilen für Meß-
zwecke** (Zeitschr. I. Hektrotecfanik 1888).
„Über die Messung nicht-induktionsfreier Widerstände mittelst des
Telephons'* (Zeitschr. f. Elektrotechnik 1888).
„Über einen Kompensator mit Flüssigkeits-Rheostaten und TelephCNl
für Volts-Messung** (Zeitschr. f. Elektrotechnik .
„Über eine Anwendung gewisser Konstruktionen von galvanischen
Elementen bei Meßinstrumenten" (Zeitschr. f. Dektrotechnik 18S9>
„Über Edison's pyromagnetische Masdiine** (Zeitschr. f. Elektrotechnik
1889).
„Elektrizitätserzeugung durch Wasserkräfte auf direktem W^e, d. h.
ohne Anwendung hydraulischer Motoren** (Zeitschr. f. Elektro-
technik 1898).
Flugtechnik.
„Flugtechnische Studien: I. Über einige flugtechnische Grundfragen"
(Zeitschr. für Luftschiffahrt 1896).
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— 3Q1 -
„FlugtedtnisdM Studioi: II. Ober Sinhvenninderaiig^ (Zeitschr. d. Österr.
Ing.- u. Arch.-Vereins 1899).
„Zur Beurteilung der v. Lößrschen Sinkformd** (Zeitschr. d. Öfterr. Ing.-
u. Arch -Vereins 1899).
^Lenkbare Ballons" (ein Referat in der Österr. Wochenschrift für den
öffentlich. Baudienst. Heft 26, Jahrg 1904).
Mu€hln€fit€chiiik.
näheren Kenntnis der Kessel^Etnlagen" (Dingl. Polyi Joiini.Jaliig.
1878).
„Über Kondensatoren und Kiililapparate mittelst t)cwegter Luft" (Zeitschr.
d. Österr. Itig - uiiJ Arch-Vereins 1S87).
„Uber Vcrsuchsresuitate und Bcttaditungen betreffs Dampfkondensation
mittelst bewegter Luftf' (Wocbenschr. d. Österr. Ing.- u. Arck-
Vereins 1888).
„Bericht fiber den Popper'schen Luftkondensator in dem Ctabüssement
der HH. Siemens & Halske in Wien" (Wocbenschr. d. Österr.
tnp - n Arch -Vereins 1890)
„Über einea Luftkondensator im allgemeinen imd insbcsonci- re den bei
der SOOpferdigen Fördermaschine auf dem Prokopschacht in Przi-
bnun aufgestellten Luftkondensator" (Österr. Zeitschr. f. Berg- u.
Hüttenwesen 1891).
„Das aelbttventOierende Oradierwetk" (Zeitschr. d. Österr. Ing.- u. Arch.-
Vereins 18Q2).
„Formel für den Einfluß verschieden guter Luftleeren auf den Dampf-
verbrauch" (Zeitschr. d. Österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1893).
NichtwiMcntchaftliclie Gebiete.
„Cbaries Bradlaugb" („Neue Freie Presse" vom 3., 7. u. 8. Oktober 1880).
„China" („N. Fr. Presse" vom 26. August 1881).
„Einige Gedanken über Kant, Ooetfae und Richard WagneT" („N. Fr. Pr.",
Juli bis Oktober 1903).
„Voltaire" (,,Die Wage" vom Juli 1Q*W).
„Fundameiu eines neuen Staatsrechts" („Die Wage" im Jänner und
Febmar 1905).
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