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Full text of "Voltaire. Eine charakteranalyse, in Verbindung mit studien zur ästhetik, Moral und Politik"

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Voltaire 





Josef 



Popper-Lynkeus 



395- ff. 39 



»arbarli Collrgt librars 



coli 



FROM THB B|qj;BST OF 



FRANCIS BROWN HAYES 

(CUsa of 1839) 
Thif fund it $10.000 tnd iti income It to b« ui«d 

"For the purchase of books for the Library" 



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Popper (Lynketis), 

VOLTAIRE 



VOLTAIRE 



Eine Charatcteranalyse» 
in Verbindung mit Studien zur Astlietilc, 
Moral und Politilc 

von 

Josef Popper (Lynkeus), 




Dresden 1905. 
Veriag von Cari RdBner. 



SEP 2 1920* 



Alle Rechte vorbehalten. 



Drack vdB B. KUpp«l, QntiiUnbing, 



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I n h alts - Verzeich n is. 

Seite 



Was den Verfasser bcwog, dieses Buch zu schreiben 1 

Fernere Absichten bei dessen Abfassung 2 

Einige Worte über eine ältere Schrift des Verfassers über Voltaire 4 
Man ist seit langem — und besonders heute — mit Voltaire's 

Schriften unbekannt, und unrichtige landläufige Urteile werden 

ohne Kontrolle hingenommen 5 

Gustav Freytag und das Konversations-Lexikon Ober Voltaire . . 6 

Brimetiere's Meinung: Voltaire sei nur ein Vulgarisator . . . . 9 

Goethe's Meinung: Er habe keine Tiefe 12 

Man kann selbst das Größte leisten, ohne Tiefe /u besitzen . . 13 

Uber Tiefe hei Schriftstellern und Dichtem \4 

Schiller's Vorwurf: Voltaire habe als Dichter »kein Herz abgedrückt'' 16 

Entgegenstehende Tatsachen 16 

Uber die Wertlosigkeit einer aprioristischen Ästhetik 16 

Auch habe Voltaire zu wenig Ernst 21 

Solche Naturen wie Voltaire werden leicht mißverstanden . . . 22 

Tatsachen, die seinen unübertroffenen Ernst beweisen 23 

Wie man sich gewöhnlich einen Pessimisten vorstellt 29 

Voltaire als Pessimist und die drei Arten, in denen bisher der 

Pessimismus auftrat 30 

Voltaire a ls Dichte r 33 

Objektive Wertlosigkeit eines jeden absprechenden ästhetischen Urteils 37 
Eine jede ästhetische Zustimmung hat für den Künstler eine tiefe 

ethische Bedeutung 38 

im aligemeinen wird das ästhetische Gefallen oder Mißfallen viel 

zu sehr als wichtige Angelegenheit behandelt 40 

Bei Kunstwerken berechtigen nur tatsächliche ästhetische Wirkungen 

zu ihrer Wertschätzung 41 

Emil Faguet tadelt Voltaire's literarische Urteile 44 

Voltaire's Ansichten über Shakespeare 45 

Voltaire's Ansichten über Rabelais 53 

Man kümmert sich um Luxusgefühic viel mehr, als um die wich- 
tigsten und notwendigsten Kulturbestrcbungen 57 

Die kulturfeindlichen Mächte sind heute wieder in voller Tätigkeit. 

Beispiele 58 

Schiller's ungerechter Angriff auf Voltaire wegen der Pucelle't . 64 
Voltaire's Behandlung dieses Stoffes ist ästhetisch ebenso berechtigt 

wie die Schiller'sche, und dabei von ungleich größerem Nutzen 69 



— VI - 

Seite 



Wie Shakespeare die *Jungfrau von Orleans<^ behandelte .... 71 

Anfilhning einiger neuerer Werke über Voltaire 73 

Aussprüche über ihn 76 

Über die verschiedenen Methoden, Voltaire zu tadeln oder zu 

degradieren 85 

Carlyle's Tadel Voltaire's 86 

Hettner's Vorwürfe 8Q 

Weitere Tadelsworte Carlyle's 89 

Rosenkranz weist den V^orwurf, Voltaire sei nur ein Spötter, zurück 93 

Was ferner Carlyle an Voltaire nicht recht ist 93 

Über Voltaire's Künste der Pseudonymität 96 

Uber die Lust und den Wert, Märtyrer zu sein 98 

Eine Predigt Carlyle's über das Lugen 102 

Warum man Voltaire seine Vorsichtsmaßregeln vorwirft, und 

' anderen nicht 104 

Jean Jacques Rousseau's Verhalten als Verfolgter 106 

Zulet/t wird er ein Denunziant , . . . . . . . . . . . . 108 

Überstrenge Tugendfordemngen führen meist zu den derbsten 

' Untugenden . . . 109 

Verhalten Rousseau's und Voltaire's der Kommunion gegenüber . HO 

Auch in seinen wissenschaftlichen Bestrebungen soll Voltaire 

keinen Emst gezeigt haben 114 

Selbst in seiner Geschichtsschreibung nicht 116 

Kein Geschichtsschreiber entgeht dem Tadel 122 

Auch der Qeist und Witz Voltaire's bietet Carlyle einen Grund 

7nm Tadfl " 127 



V^oltaire hätte statt deren Humor haben sollen 127 

David Strauß tadelt es, daß Voltaire flackert , anstatt mhig zu 

leuchten . . . . , , , , , , , . . , . , . , . 1_3Q 

Franzosische monarchistische und klerikale Gegner Voltaire's t>e - 



haupten tatsächlich Unrichtiges und verdächtigen mittelst 

gewandter Entstellungen seine edelsten Absichten .... 131 

Über die Art von Voltaire's Tätigkeit in der Calas-Affäre . . . 135 

Gegnerschaft Lessing's gegen Voltaire 139 

Wie Strauß das Verhältnis heider Männer beurteilt . . . , . . lAl 

Voltaire und Friedrich der Große . . . . . . . . . . , , 144 

Voltaire und Maupertuis 145 

Voltaire und Bankier Hirsch 147 

Verhalten Friedrich's gegenüber Voltaire 151 

Voltaire's Verhalten gegenüber Friedrich 153 

Charakteristik Friedrichs des Großen in seinem Privatverkehr . . 161 

David Strauß' mystischer Respekt vor dem Königtum 163 

Voltaire lebte in jüngeren Jahren gerne an Höfen, war aber nie 

em Höfling 104 



t /II 

— VII — 






Seite 


Friedrich der Große wäre ohne die französischen Philosophen 




ohne Bedeutung für die europäische Kultur und nicht mehr 


172 


als ein tüchtiger preußischer Landesvater gewesen .... 




176 


Voltaire's Verhalten Friedrich's Kriegsunternehmungen gegenüber 


181 


Wie Strauß Voltaire's Tadel zurückweist und Friedrich's Raubkriege 


182 


mittelst der 1 heorie vom »deutschen Entwicklungsdrang« 


rectittertigt 


Strauß' Rechtfertigung wird von Friedrich selbst wideriegt . . . 


184 


Uber die Methode, Deutschland für Preußen zu substituieren . . 


186 


Ein kleiner Exkiir*? in die Oeschirhtp PreiiRpn's 


187 


^X^ie Treitschke Strauß noch ühertnimnft 


104 


Und wip f*r Friedrich (lf*n Ornl^pn rhnraktpri^iVrt 


1Q4 


VC^ie der Hisloriker lohAnnp«; Müllpr Fripdrirh rprhtfprtiiri 


1Q7 


V[^iß (^Arlvl^ iihpr dpn Kntxiot von Pri^iiRpn QnnVht 


1Q8 


Uber komintp nolitisrhp A rmirhtpn iinrl Ma Yiiiipn hpi H !<;tnrikpm 


201 


Und nrakti^rfipn Pol iti kpm 


OlP nPutitTpii FnrnnÄPr nls tncrpndhpurhplndp Nnrmatinpn 


202 


über das Kriegs- und Friedensproblem . , 


203 




204 




209 


Menschen mit religiösen Uberzeugimgen sind fast immer Freunde 


III 




Onmdbedingungen der moralischen und polih'schen Qesellschafts- 


21o 




Versöhnende Betrachtung über Friedrich den Großen und sein 


21Q 




Uber das Große sich Aufi^^aben zu selbstlofien Zwecken zu stellen 


224 


1 *Wkn>- 0(1<y^U4A^.".ll..«» 




Friedrich's und Voltaire's unerhörte Beharrlichkeit in Verfolcninc 


229 


selbstgestellter und selbstloser Aufgaben 


Was dem Verfasser bei Voltaire vorübergehend oder bleibend mißfiel 


233 




234 


r\- »er- x* ^ ■ n- t.<^ i jr» 


234 


uas vernaltnis zu Katnanna 11 


251 


Bemerkungen über eine gewisse Schreibweise Voltaire's .... 




Rousseau's Verhalten gegenüber Friedrich dem Großen .... 


203 


Uber einen ethischen Grundfehler in unserem politischen Denken 


263 


Voltaire war weder aristokratisch gesinnt, noch mißachtete er das 


267 




Nach allem ist Voltaire einer der besten und edelsten Menschen 


273 





Uber das Große, das in der Eigenschaft der Güte liegt .... 275 

Uber die Art des Intellekts und der ganzen Persönlich * 

keit Voltaire's . . . . . . 281 



— v/n — 

Seite 

Über die Rolle der großen Männer und der großen Massen in 

■ der Kulturgeschichte 282 

Uber Verstandesgenie's und Qenie's der Phantasie und des Gemüts 285 

Einige her\'orragende Beispiele 286 

Rousseau's Einfluß 289 

Auch in der neueren Musik bemerkbar. Beethoven 291 

Rousseau und Voltaire als Politiker 292 

Über Vernunfts- und Qefühlspatriotismus 296 

Auch das schönste oder erhabenste Gefühl darf nicht zum Anlaß 
genommen werden, die physische Integrität irgend eines 

Menschen in der Welt zu verletzen . . . . . . . . T 297 

Sowohl Verstandes- als Qemütsgenies sind für den Fortschritt der 

Menschheit notwendig 7 300 

Großer Verstand ist mit Gute wohl vereinbar. Julius Cäsar . . 301 

Uber die forcierte Phantastik während des europäischen Mittelalters 303 

Entwicklung des Aberglaubens zur Religion und endlich zur Kirche 304 

Eine Hauptursache des erschöpften Nervensystems der Europäer 306 

Die geistige Bekämpfung des Mittelalters von mehreren Seiten aus 309 

Die Geister mit teilweiser Furchtlosigkeit 309 

Voltaire hatte vor gar nichts Furcht 310 

Voltaire's Reinheit bezüglich religiöser Gefühle 314 

Voltaire wird als philosophischer Denker unterschätzt 318 

Seine Behandlung des Problems der Willensfreiheit 319 

Wie dieses Problem vollständig zu erledigen ist 3^ 

Voltaire's Einsicht in die Wertlosigkeit aller Metaphysik . . . . 322 

Grund der Antipathien gegen Voltaire: Josef de Maistre, Napoleon 324 

Voltaire ein höherer Siegfried 327 

Seine Naivetat 327 

Voltaire: ein naives Welt-Kind 328 

Das leicht weinte 331 

Das auch gut war 334 

Was von yoltaire's angeblichem Geiz und seiner finanziellen Ge- 

^ schicklichkcit zu halten ist . 335 

Er war tapfer im Kampfe und doch gutmütig 340 

»Dem Übel nicht wehren« — ist eine schädliche Maxime . . . 343 

Kurze Geschichte der Beziehungen Voltaire's zu J. J. Rousseau . 351 

Voltaire's Milde und Nachsicht Rousseau gegenüber 367 

Sein lebhafter Sinn für Freundschaft 369 

Kurz gefaßte Charakteristik Voltaire's nach der Art seines Intellekts 

und nach seiner ganzen Individualität 377 

Anhang. 

Zwei Gedichte Voltaire's 378 

Über ein musikästhetisches Problem 382 



[Empört über die beharrliche und fast allgemein herrschende 
'-^ Ungerechtigkeit in Beurteilung des Charakters eines 
großen und guten Mannes und über die Undankbarkeit in 
der Wertschätzung seiner Verdienste um die Menschheit 
verfaßte ich diese Schrift über Voltaire. 

Eine andere Schrift, die ebenfalls Voltaire behandelt und 
im Jahre 1878 zu seinem hundertsten Todestage als Ein- 
leitung zu meinem Buche: ^Das Recht zu leben und 
die Pflicht zu sterben«*) publiziert wurde, hatte in der 
Hauptsache den Zweck, die geistigen Eigentümlichkeiten 
Voltaire's hervorzuheben und den Charakter seiner Denk- 
und Schreibart in das richtige Licht zu setzen. Die jetzige 
Darstellung geht mehr auf seinen moralischen Charakter 
und auf die Art seiner Beziehungen zu seiner Umgebung, 
und verfolgt das Ziel, das Naturell jener merkwürdigen, so 
wenig verstandenen Persönlichkeit bis zur Anschaulichkeit 
deutlich zu machen. 

Es also hier eine Aufgabe der praktischen Psycho- 
logie im Falle einer welthistorischen Figur vor; und es sei 
jetzt schon gesagt: 

Durch die Lösung dieser Aufgabe^ welche mit aller nur 
möglichen Objektivität durchgeführt wurd^ eigab sich die 
volle Berechtigung, namentlich den moralischen Charakter 
Voltaire^ sowohl in sehiem Privatleben als auch in semen 
kulturhistorischen Beziehungen, in ein weit höheres Niveau 

*) Im jähre IMS fai dritter Auflage bei Ciri Rdttaer erscbteiieiu 

Popptr, Vohairc^ 1 



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zu stellen, als es -- von wenigen Ausnahmen abgesehen — 
den Beurteilern Voltaire's bisher begründet erschien. 

Es ist selbstverständlich, daß man in einer Studie über 
einen Mann wie Voltaire über gar viele Din^e und Personen 
sprechen muß, zu denen er irgend ein Verhältnis hatte; ich 
spreche aber überdies auch über so manches andere, ohne 
daß es unbedingt notwendig gewesen wäre, und dies aus 
dem Grunde, weil ich eben glaubte, wenn auch in loserem 
Zusammenhange mit dem Hauptthema, einiges von Wert 
sagen zu können. 

Namentlich handelte es sich darum, auf die Vn* 
gerechtigkeit im Urteilen bei vielen hochangesehenen 
Schriftstellern hinzuweisen. Denn ich halte Unrichtigkeit 
einer Ansicht nicht für so schädlich oder häßlich, wenn sie 
bei voller Unparteilichkeit entstanden ist, als wenn sie aus 
Voreingenommenheit und aus Mangel an Selbstkritik der 
eigenen Ansicht hervoigehi Unrichtigkeit des Urteils, die 
aus intum, Unwissenheit oder Schwäche der Urteilskraft 
Oberhaupt hervoigeht, bringt uns nicht in Entrüstung, sie 
ist ehie Sache des Intellekts. Aber Voreingenommenheit, 
Blindheit aus egoistischen OefOhlen, ist eine Eigenschaft 
des Charakters, und diese kann uns in Aufr^ng bringen. 
Man wird versucht, den fAann ohne Oereditigkeltssinn bei 
den Schultern zu packen, ihn energisch durchzurütteln und 
Ihm fortwährend zuzurufen: »Warum siehst du nicht auch 
auf die andere Seite hin? Warum tadelst du bei diesem, 
was du bei dem andern ignorierst oder sogar lobst? 
Warum hast du pidtziich ein so schwaches Gedächtnis für 
alles das, was gegen deine Ansicht spricht? Darf ein 
Kritiker, oder gar ein so strenger Sittenrichter partelisch, ja 
korrupt sein?« 

Aber die korrupten und korrumpierenden Beurteilungen 
hören nicht auf, und in der politischen wie in der Uteratur- 
Oeschtcfate entstehen, wie die Erfahrung aller Tage beweist, 
die meisten falschen Ansichten, namentlich über Personen, 



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— 3 — 



nur aus Mangel an jedem Versuche, von seiner (ver- 
schwiegenen) Ansicht sich soweit zu befreien, um auf die 
Oegeninstanzen hinzuhoichen, und nicht die Augen vor 
all dem zu schließen, was dem Getadelten zugute kommt 

Indem ich nun in ziemlich häufigen Fällen mich der 
Aufspürung solcher halb bewußter, halb unbewußter, oder 
mitunter ganz naiver Ungerechtiglcdten im Urteilen widmete^ 
ergab sich mir die Pflicht einer sehr segensreichen Be- 
schäftigung, nämlich: Masken herunterzureißen; einer 
Pflicht, der man gar nicht eifrig genug nachlcommen kamt 

Die Detailfragen, die ich in dieser Monographie be- 
handle, werden ganz anschaulich das zeigen, was ich so- 
eben nur im allgemeinen, daher noch undeutficb^ ausdrfldoen 
konnte. 

Und da es mir höchst nfltzlich erscheint, an Gerechtig- 
keit und Unvordngenommenheit hn Urteile zu gewöhnen, 
so knflpfte ich mitunter an einen bloßen kurzen Satz eines 
Schriftstellers, namentlich wenn dieser in Ansehen steht, 
ziemlich weitUUifige Exkurse an; es geschah aber stets nur 
der Sache und der vielleicht im Urteilen weniger geübten 
Leser wegen. Femer stellte ich mir mitunter die Aufgabe^ 
zu zeigen, daß und namentiich wie wir bei der Auffassung 
oder Lösung einiger allgemeiner Probleme tSber Voltaire hin- 
ausgehen müssen. 

Ich mache daher den Leser darauf aufmeiksant, er 
möge in dieser Schrift nicht dn bloßes Summarium von 
mehr oder weniger hiteressanten Personalien, sondern auch 
eine Anzahl von Betrachtungen Ober höchst wichtige Pro- 
bleme erwarten; und bitte ihn meine Auseinandersetzungen, 
die keine gelegentlichen Einfälle, sondern Resultate jahre- 
langen Nachdenkens und Beobachtens sind, mit dem solchen 
Problemen gegenüber notwendigen Emst zu prüfen. Ich 
hebe besonders die Exkursion über das ästhetische Ur- 
teilen, sowie über die Kriegs- und Friedensfrage hervor. 

Mehr als ein Vierteljahrhundert ist verstrichen, seitdem 



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jener frühere Aufsatz über Voltaire in dem Werke: ' Das Recht 
zu leben« usw. erschien, und im Ablauf dieses langen Zeit- 
raums hat sich die Behiedigung des Verfassers über seine 
Darstellung immer mehr erhöht; denn er sah immer deut- 
ticher, wie notwendig es gewesen war und noch immer ist, 
die gangbaren Ansichten über Voltaire's Individualität zu er- 
gänzen, zu korrigieren oder zu bekämpfen. 

Bornierte Philister und Tugendbokle, fanatische Kirchen- 
gläubige wie geistesschwache Religionsschwärmer, enragierte 
Chauvinisten und Nationalisten, okkultistische Anbeter 
menschlidier Torheiten, die sie des menschlichen Geistes 
»Tiefen« nennen, einseitige produktive Künstler, wie eben- 
solche nichtproduktive Kunstgemfiter, von ihrer eigenen Wich- 
tigkeit Übet alle Gebühr eingenommene Gelehrte, aber auch 
voUkommcne Ignoranten — sie alle, meist ohne Sinn für den 
£msi des Lebens und ohne Gerechtigkeit im Urteilen, sind als 
AnschwäRcr Voltaire's aufgetreten und treten noch heute so aul 

Es wurde daher m jener früheren Darstellung versuch^ 
bei allen diesen Kategorien von JMenschen den Sinn von 
den kindischen Ansichten und von den Vorurteilen der 
Fibel, der Lehrkanzel und des Salons, wenigstens ein^[efl^ 
maßen, auf den furchtbaren Emst des Lebens und zur Ge- 
rechtigkeit im Urteilen hinzulenken. 

Mit Recht hat nuui von jener meiner Darstellung ge- 
si^ sie sei sehr enthutotisch gehalten. Sie muBte es 
auch sein; denn VoKah^'s Leistungen und E^enachaflen shid 
«euer Obeneugung nach vollkommen geeignet, Entbu* 
siasmus zu mtgen. Mit Unrecht sagte man aber: die Be- 
handhing sei fibermäSig enthusiastisch; und zwar darum 
mit Unrecht weil alles» was ich sagte, auf nOchtemster Er- 
wigung der Tatsachen basiert wurde; Die Nflchtemhelt 
ghig also vonm und der Enthusiasmus lolgle ihr und zwar 
notwendigerweise aus den Dmgen selbst heraus.^ Und in 



*) Nur hie und da gibt es cfncn formal etwas überhitzten Sitl^ 
der aber niemals eine sachliche Unrichtigkeit nach sich zieht 



— 5 — 

der Tat konnte bisher selbst seitens der heftigsten Gegner 
nicht eine einzige Stelle oder Behauptung meiner Schrift als 
unrichtig dargelegt werden; man war oder ist nur imstande, 
mir Behauptung gegen Behauptung — mitunter sogar nur 
tine abwehrende Orimasse — entgegenzustellen. 



Voltaire's Schriften werden überhaupt nicht mehr ge- 
lesen, auch die besseren Werke über Voltaire nur sehr 
wenig; aber was das Urteil Ober ihn betrifft, so hat sich 
eine Art von Tradition herausgebildet, die nicht weiter ge- 
prüft wird, und die bei seinen prinzipiellen Qegnem nicht 
selten eine ausgemachte Bösartigkeit der Oesinnung; bei den 
mehr oder weniger lauen Oesinnungsgenossen aber einen 
nicht geringen Orad von Pietfltlosigkeit, ja oft geradezu von 
Frivolität, involviert 

»Ein schlechter Charakter!« ~ Das ist die kurze Aus> 
druckswdse, die selbst solche Personen gebraudien, die 
weder Voltalre*s Werke noch seine Biographie kennen, son- 
dern einfach das nachsprechen, was sie Mter gehört oder 
gelesen haben, und die von Tatsachen aus Voltaire's Leben, 
wenn sie Oberhaupt etwas davon wissen, gewöhnlich nur 
die Episode mit dem Bankier Hirsch und seine Konfiikte 
mit Friedrich dem OroBen kennen. 

Ob aber bei Voltaire nicht auch gute und groBe Charak- 
tereigenschaften zu finden sind; ob andere hochgdobte Be- 
rOhmtheiten solche in eben dem MaBe besaßen, wie er, ja 
ob sie dieselben Oberhaupt besaßen; ob gewisse tatsichfich 
vorhandene tadelnswerte Zflge bei Voitaiie wiridich dazu 
hüireichen, ihn als »schkditen Chaiakler« zu brandmarken, 
ob sie femer nicht gegenfiber seinen Vorzügen verschwinden; 
und ob endlich nicht bei für sehr tugendhaft gehaltenen 
bedeutenden MSnnem sich bei genauerer Prüfung ebenfolls 
und oft noch weit schlimmere Handlungen oder Charakter- 



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— 6 - 



eigenschaften zeigen als bei Voltaire — um das alles kümmert 
man sich nicht. 

Woher gerade bei dem Falle Voltaire's diese Hinneigung 
zu einer ungerechten Gesamtbeurteilung stammt, welche psy- 
chologischen Faktoren hierbei mitwirken, das wird man im 
Laufe der folgenden Betrachtungen wohl deutlich genug er- 
sehen. Man muli es nur mit Bedauern koristatieren, daß sich 
hierbei eine eigentümliche Mischung von Kleinlichkeit, von 
>uneigenntitziger Gemeinheit« und gänzlich unbegründetem 
moralischen Hochmut und Pharisäismus in den Urteilen selbst 
hochgebildeter Menschen zeigt; gerade so, wie wir diese 
Eigenschaften in den lieblosen und ungerechten oder wenig- 
stens rücksichtslos schroffen Beschwatzungen mensclilicher 
Handlungen und Charaktere im philiströsen, privaten Leben 
vorfinden. 

Seit langem schon besorgt sich das große Publikum, 
wenn es sich überhaupt für Voltaire interessiert, seine Kennt- 
nisse über ihn entweder aus populären Werken Ober Fried- 
rich den Großen oder aus dem Konversationslexikon. Das 
vielleicht populärste Werk, das von f-riedrich erzählt, ist 
wohl jenes, das Gustav Freytag unter dem Titel Neue 
Bilder aus dem Leben des deutschen Volkes« publicierte. 
Hier wird im Kapitel »Aus dem Staat Friedrichs des Oroßen« 
an zwei Stellen auch von Voltaire gesprochen. 

Die eine Stelle lautet: »So hat er den schlechten Mann, 
den Voltaire, bald gestreichelt, bald gescholten und gekratzt« 
Die andere: Seit 1750 ward ihm die Freude, den großen 
Voltaire als Mitglied seines Hofhaltes bei sich zu sehen. Es 
war kein Unglück, daß der schlechte Mann nur wenige 
Jahre unter diesen Barbaren aushidt*) 

*} Ich will schon hier darauf aufmerksam machen, dass ich gele- 
gentlicn der Zitate gewisse Worte oder ganze Stellen mit gesperrter 
Schrift gebe, die es im Originale nicht sind. Wenn das nicht von mir 
offen gesagt würde, wäre es eine TnkorreHheit, da ich es jedoch sag^e, 
muß es mir erlaubt sein, es dem Leser zu erleichtern, dasjenige ins 
Aiigt m faiaeii, anf was kh betondcres Gewicht lege. 



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— 7 — 



Auf diese Weise lernen die Deutschen einen Mann be- 
urteilen, der, was man auch immer gewohnt sein mag, an 
ihm auszusetzen, von den bedcutendbtcn Geistern als ein 
Heros der Aufklärung und des allgemein kulturellen Fort- 
schritts angesehen wurde und der ein freigebiger Wohltäter 
seiner Freunde wie der ganzen Bevölkerung seines Wohnsitzes 
Ferney war! Nichts weiter, als daß er ein schlechter Manne 
war! Und da man doch nicht Voltaire's Leben und Werke 
studiert, Freytag auch gar nichts Näheres darüber sagt, worin 
diese Schlechtigkeit besteht, so kann sich der Leser alles 
Mögliche hierunter denken. Ich aber nenne dieses Vor- 
gehen Freytags ^schlecht«; ein noch so starker Chau- 
vinismus, ein noch so lebhaftes deutsches Nationalgefühl 
und die damit verbundene Antipathie gegen auüerdeutsches 
Wesen, entschuldigt nicht so Ungeheuern Mangel an Ge- 
rechtigkeitssinn. Man hat die fehlerhatte Oewohnhtiit, fast 
nur Eigentumsdelikte und Verletzungen der physischen Inte- 
grität, eigentlich aber nur die ersteren als schlecht« zu be- 
zeichnen; die Folge davon ist, daß man fast alle andere 
noch so gemeinen oder lieblosen oder kränkenden Handlungen! 
wenn sie nur nicht mit der Absicht auf Nutzen begangen 
wurden, ruhig hinnimmt Und ich zweifle auch nicht, daß 
es Chauvinisten genug geben wird, die z. B. Stehlen und 
WediaeUälschen für etwas Schlechteres oder wenigstens für 
etwas moralisch Häßlicheres halten, als die Art der Behand- 
lung Voltaires duidi Gustav Fr^tag. 

Ich war nun auch neugierig zu sehen, wie in einem 
sehr veibreiteten Lexilcon zu den Lesern gesprochen wird, 
und fand z. B. in dem Brocldiaus'schen Lexilcon (14. Auflage 
vom Jahre 1805) im Artilcel »Voltaire« folgendes Schluß* 

urteil: » Mehr Talent als Charakter und von Ideinen 

Motiven nicht selten beherrscht, dabei dtd und frivol bis 
zum ObermaB. So mannigfaltige Wandlungen Leichtsinn 
und Eitelkeit ihn durchleben ließen, hat er doch diesen 



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— 8 — 



Kampf (gegen die philosoiAischen und kirchlJchen Aulori- 
tMen) mit Zflhiglceit und grossem ErfcHge durdigefOlirt . . . .« 

»Eitel«, »frivol« und »teiclitsinnig« das sind also 
jene Eigenschaften, sind allein jene Charrider-Eigenschaften, 
die Voltaire zugeschrieben werden, positiv gute und edie 
fand jener Artikelschreiber nicht; und mit solcher Belehrung 
über den Charakter Voltaire's werden hunderttausende Leser 
genährt. 

Über den Cfiarakter eines Mannes, der — von unend- 
lich vielem andern zu schweiften — Jahre mit der Ver- 
teidigung des Calas und Sirven verbrachte; der mitten im 
höchsten Wohlstande und im üenuß der Weltberühmtheit 
während dieser Verteidigerarbeit an einen Freund schrieb; 
-Cette aventure me tient ä coeur, eile m'attriste dans mes 
plaisirs, eile les corronipt,< während doch selbst ein so 
höchst guter und edler Mensch wie Diderot passiv blieb, 
über Voltaires Bemühung^en sich nicht wenig verwunderte 
und meinte: »Calas, qu est-ce qui peut l'interesser pour 
eux? Quelle raison a-t-il de suspendre des travaux qu'il 
aime pour s'occuper de leur defense? 

Und was für eine Meinimor mag wohl der alte Benjamin 
Franklin von Voltaire gehabt haben, als er ihm seinen kleinen 
Enkel brachte, damit er ihn seg^ne? Franklin war ein Mann« 
der auch etwas von Menschen und Dingen verstand — 
vielleicht so viel, wie jener Artikelschreiber des Brockhaus- 
schen Konversationslexikons — sah etwa auch er in Voltaire 
nichts anderes als einen »eitlen«, »frivolen« und »leicht- 
sinnigen« Mann? — 

Nach allem, glaube ich daher: eine gerechte Erinnerung 
an Voltaire sei nicht nur zeitgemäß und nutzlich, sondern 
zugleich ein Akt der Gerechtigkeit und Pietät; denn meines 
Wissens ist überhaupt kein Mensch, der in der Kultur- 
geschichte eine Rolle spielt, mit so viel Ungerechtigkeit und 
namentlich mit so schnödem Undank behandelt worden, wie 
eben Voltaire; Und das auch selbst von selten jener, die 



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in der Hauptsache mit seinen Tendenzen einverstanden sind 
und die ^rüchte seiner Arbeit sehr gerne genießen, aber so, 
wie sie die frische Luft einatmen, nämlich: ohne jemandem 
Dank dafür zu wissen. — 

Von den prinzipiellen Gegnern ist es natürlich nutzlos 
zu sprechen. Ein ehrlicher oder heuchlerischer Anhäng-er 
des Kirchenglaubens, sowie ein Gegner aller modernen 
Humanitätsprinzipien wird selbstverständlich an den Leistun- 
gen Voltaire' s alles schlecht finden, und ihn selbst am aller- 
schlech testen. 

Und wenn Befürworter der wissenschaftlichen Umkehr, 
nämlich zur Religion hin, wie z. B. Bruneti^re, Voltaire auch 
als Talent zu degradieren suchen, indem sie behaupten, er 
sei kein Originalforscher gewesen, er habe nur offene Türen 
eingestoßen« und könne daher nur auf die Bezeichnung eines 
>Vulgarisators« Anspruch machen, so ist die richtige Ant- 
wort darauf: Sei es so! 

Es ist zwar schwer, einzusehen, warum Bruneti^re — 
wie man aus seiner Art, davon zu sprechen, deutlich wahr- 
nimmt — die Tätigkeit eines Vulgarisators für etwas so Un- 
bedeutendes, beinahe Verächtliches, hinstelli Ein Vulgari- 
sator ist ein Berufsgenosse des Pädagogen, und, sowie es 
grandiose Pädagogen gab, so gab es mitunter auch gran- 
diose Vulgarisatoren, und zu diesen gehörte eben, ganz un- 
bestritten, Voltaire. 

»Eine vollständige Philosophie eine zehnbändige Theo- 
logie^ eine abstrakte Wissenschaft, eine Fachbibliothek, ein 
großer Zweig der menschlichen Gelehrsamkeit, Erfahrung 
oder Erfindung veriddnert sich bei ihm zu einem Satz oder 
Vers«; — sagt Taine in seinem Werke: »Die Entstehung 
des modernen Frankreich« von Voltaire — »aus der runze- 
ligen, schlackigen Masse zieht er die Quintessenz, ein Oold- 
oder Kupfefkügelchen, als Muster des Ganzen heraus und 
reicht es uns in der bequemsten, handlichsten Form dar: 
als Veigleich, Metapher, Epigramm oder Sprichwort In 



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dieser Hinsicht kann sich weder ein antiker noch ein 
modemer Autor mit ihm messen; niemand hat das Verein- 
faciien und Popularisieren je so gut verstanden wie er . . . 
gleichsam spielend, bringt er die größten Entdeckungen und 
Hypothesen des menschlichen Geistes, die Religionen des 
Altertums und der Neuzeit, alle bekannten wissenschaftlichen 
Systeme und alle Gesamtbegriffe des 18. Jahrhunderts in 
kleine * tragbare Sätze. . . . Niemand läßt Bücher ungelesen, 
in denen man das c^anze iiieoscliliche Wissen in pikanten 
Worten beisammen findet .... usw. 

Ich möchte nun wissen, wieso man, selbst als prin- 
zipieller Gegner eines solchen Mannes, glauben kann, ihn 
durch die Bezeichnung^ Vulgarisator« degradieren zu können. 
Nichts weiter als einer von solcher Art wie Voltaire zu sein, 
wäre ja scfion ein Verdienst höchsten Ranges! Wie hoch 
stellen wir nicht einen h.rasmus, einen Melancfithon, einen 
Comenius, nur darum, weil sie Lehrer im grotien Stile waren; 
und wenn wir Melanchthon als praeceptor Oermaniae nur 
mit Ehrfurcht nennen, warum sollten wir den Lehrer ganz 
Europas, Voltaire, nicht ebenso, und noch viel mehr, va^ 
ehren? Aber — tun wir Bruneti^re den Gefallen» und be- 
trachten wir den Beruf eines »Vuigarisators« als einen, g^en 
den des selbständigen Schaffens untetgeoidneten; und ich 
wiederhole: 

Sei es sol 

Kann man denn nichts Wohltätiges, nichts Großes für 
die Menschheit leisten, wenn man kein wissenschaftlicher 
Originalforscher oder tiefgrilndiger Gelehrter ist? War Jesus 
von Nazareth dn Originatforscher? oder Franz von Assisi? 
oder Luther? oder Rousseau? 

Es handdt sich ja bei der objektiven Charakteristik einer 
Persdniichkdt nicht darum, sie aus dner Art von Lieb- 
haberei als ausgestattet mit allen möglichen Vorzfigen, auch 
mit solchen, die sie unbedingt nicht besaß, hinzustdien; 
sondern nur um die gerechte Wflrdigung ilirer faktischen 



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Eigenschaften und Leistungen.*) Lassen wir aber jetzt die 
prinzipiellen Oegner Voltaire' s und ihre mannigfaltigen bos- 
haften Angriffe zur Seite, und wenden wir uns zu den 
andern: zu allen jenen, die seinen Haupttendenzen zu- 
stimmen, und dennoch seine Leistungen und insbesondere 
seinen Charakter für minderwertig halten. — 

tln Froschpfuhl all das Volk verbannt, 
Das seinen Meister je verkannt« — 

Diese schönen Worte sprach Ooethei um die Deutschen 
für das Andenken an Hans Sachs zu erwärmen. 

Hier handelte es sich also um einen Dichter und neben- 
bei wackeren Bürger; gemeint ist jedoch im Grunde nur: 
Ehrung der Dichter Oberhaupt, und mit dieser Absicht 
Goethes wird wohl jeder einverstanden sein. 



* Daß Voltaire im Orundc keine wissenschaftliche Größe 
im höchsten Sinne war, — wenn man etwa seine loilturgeschichtlichen 
Arbeiten ausnimmt — war seit jeher auch meine iVleinung, und ich 
sprach sie in schärfster Weise im »Recht zu leben und die Pflicht zu 
sterben* schon im Jabre 1878 mit den Worten ans: \n nichts war 
er der Einzige oder der unbestritten Erste.« Aber in einer Besprechung 
Jenes Buches, die Konrad Schmidt in der Zeitschrift »Die neue Zeit« * 
pubh'zierie, erhebt er den Vorwurf, für mich sei »Voltaire überall der 
Einzige und Erste,« während ich, wie man sieht, genau das Gegen- 
teil sagte! Auch findet dendbe — übrigens als emster und wissen- 
•chaftlicher Mann sehr achtenswerte - Referent einen Mangel resp. eine 
Überschätzung Voltaires darin, daß in meiner Darstetiung von der 
Abhängigkeit Voltaires von der englischen Aufklärungsphnosophie 
»nicht die Rede« sei. Dieser Vorwurf wäre gerechtfertigt, wenn ich 
eine Biographie Voltaire's geschrieben, oder wenn ich ihn als einen 
originellen religionsphilosophisdien Denker Mngettdlt bitte, der alle 
seine Arg-ttmente nur sich selbst 7u danken hatte. Beides ist aber 
nicht der Fall. Ich hatte im »Hecht zu leben . . . .« viel wichtigere 
Dinge zu bespredien, a1« IttenrKetdildifßdie Sondierungen vorzu- 
nehmen; ich wollte die besonderen ihm eigcnfünilichon Vorzüge und 
Leistungen Voltaire's hervorheben, die ich bisher noch nicht hervor- 
gehoben fand. Daß Voltaire sehr von den englischen Deisten beein- 
fluRt wurde, kann schon derjenige leicht erfahren, der sich seine ein- 
zige Belehrung über ihn eben im Konversationslexikon holt; dort wird 
CS ganz ausdrücklich angeführt. 



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Nur muß man mit dnigiem Erstaunen fragen, wie es 
kommt, daß diese Sorgfalt, die Meister nicht verkennen zu 
lassen, so vorwiegend sich nur auf Diditer, oder allgemeiner, 
auf Künstler erstreckt Es gibt ja auch noch andere und 
ungleich wichtigere Leistungen als z. B. Dictiten? 

Trotz aller Achtung und Sympathie für den Nürnberger 
Schuster und Dichter — was ist ein Hans Sachs gegen 
einen Voltaire? 

Und docli sprach Goethe in allen seinen Schriften fast 
gar nicht von Voltaire als dem grandiosen Kuiturmensclien, 
sorgte sich sehr wenig darum, seine Verdienste um den 
geistigen Fortschritt, um Gesittung und Institutionen Europas 
nicht verkennen zu lassen, sondern betrachtete ihn fast nur 
als Dichter und als — antireiigieis-vorurteilsvollen Geologen. 

In den Anmerkungen zu Raincaus Neffe von Diderot 
zählte Goethe alle jene Eigenschaften auf, die ein Schrift- 
steller besitzen müsse, um für vollkommen gelten tu können. 
Er findet deren in heiterer Obersicht« im ganzen wohl- 
gezählte 46, alle diese Eigenschaften spricht er Voltaire zu, 
nur die in der Reihe erste und letzte nicht, nämlich: »Tiefe 
in der Anlage und Vollendung- in der Ausführung.^ 

Ich habe nun oft bemerkt, mit welchem Vergnügen, 
• fast könnte man sagen, mit welcher Wollust sich manche 
Literaten auf diesen Ausspruch Goethes stürzten. Da hatten 
sie nun die ersehnte Degradation eines ihnen antipathischen 
Schriftstellers — antipathisch aus religiösen oder nationalen 
oder anderen Gründen — und obendrein von Seite einer 
für sie autoritativen Persönlichkeit! 

»Und was geschah,« wird man fragen, »mit den noch 
übrigen 46 minus 2, also 44 Eigenschaften, die Ooethe 
Voltaire in der Tat zusprach?« Die verschwanden eben 
jenen Herren vor ihren Augen in nidits, sie hielten sich nur 
an die zwei fehlenden. 

Nun wird so nuncher es nicht zugeben» daß Voitaire's 
Schriften nicht als voltendet hi der Ausführung gelten 



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sollen; er mag sogar — es gibt ja keinen objektiven Prüf- 
stein fär derlei Ansichten — glauben, wie z. 6. ich es 
glaube, daß, im Gegenteil, jene Schriften in ihrer Art ebenso 
vollendet durchgeführt sden, wie die Ooethe'schen in ihrer 
Art; noch mehr: Man kann meinen, daB selir viele Schriften 
resp. Dichtungen Goethes viel salopper und unvollendeter 
durchgeführt seien, als selbst die weniger vollkommenen 
Voltaire's. Aber allgemein zugestanden dflifte doch werden, 
dafi bd Voltaire die Tiefe fehlt 

Sei es 8o! sagen wir wieder, wie oben bei Bninetiäes 
»Vulgsrisator«. Kann man denn nichts Wohltätiges, nichts 
OioBes ffir die Menschheit leisten, und kann man nicht so- 
gar — was allerdings weniger wichtig ist — em großer 
Dichter sein, wenn man auch keine Tiefe hat? 

Es ist seltsam und im Grunde genommen leomisch, in 
weichem Maße die Oetuldeten und besonders Literaten und 
Ästhetiker jemanden mißachten, von welchem es heißt, er 
sei ohne Tiefe. Diese Mißachtung trifft schon den harm- 
losesten Prhntmenschen, um so mehr den Schriftstellen 

Und doch ist cfie Eigenschaft der Tiefe eine der selten- 
sten unter allen, die einen Menschen auszeichnen können; 
ebenso selten, ja seltener noch als die Eigoischaft der 
OeniaHtü Man mflßte also die aliermeisten Menschen ve^ 
schien und jene Tadler audi steh selbst 

Und doch gibt es' FUrigkeiten, die man im Interesse 
der Wohlfahrt und des Fortschritts oder der Vermehrung 
der Luxusfreuden der Menschheit ebenso hoch und sogar 
noch höher schätzen muß als Tiefe. Sehr viele Männer der 
Kulturgeschichte, die wir nur mit dem Gefühl der höchsten 
Verehrung und Dankbarkeit nennen müssen, waren in der 
Tat ohne Tiefe; ich nenne nur den einen; Konfucius. 
Diesem Manne, ohne jede religiöse oder mystische Anlage, 
kann sich in Beziehung auf ungetrübten s^nsreichen Ein- 
fluss und auf den Lfmfang dieses Einflusses gar niemand 
vergleichen j während sein tief angelegter Gegner Lao-tze^ 



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der ein Mystiker ersten Ranges war, ohne großen Einfluß 
blieb. Denn der Taoismus, der ihn als seinen Orflnder ver- 
ehrt, hat mit Lao-tzes Spekulationen in seinem Tao-te-kinw 
fast gar nichts, nicht einmal die Ethik, gemein, und die 
Hauptbedeutung dieses genialen Mannes liegt nur in seinem 
theoretischen £infiuß auf einige mystische Philosophen und 
Dichter. 

Und was die Schriftsteller und Dichter betrifft, worin 
äußert sicli bei ihnen die Tiefe?-' Es wird wohl schwer zu 
präzisieren sein, wen wir für tief halten, wenigstens begrifflich; 
eher ist es möglich, Ikispiele von Autoren anzuführen» 
denen wir dieses Epitheton zu- oder absprechen wollen. 

Bei den Poeten speziell kann sich die Tiefe entweder 
durch das Aufwühlen versteckter Gefühle oder durch ihre 
eindringende Psychologie oder durch überraschende Ver- 
knüpfung von Begebenheiten dokumentieren; aber auch 
durch ihre Weltanschauung im großen und ganzen, sei sie 
religiöser oder philosophischer Natur. Speziell die Tiefe der 
Weltanschauung ist aber auch jene Ar^ in der die nicht- 
poetischen Schriftsteller sich auszeichnen können, und Voltaire 
selbst, der sowohl Dichter als auch eigentlicher Schriftsteller 
war, w9re somit nach allen den eben angeführten Be> 
Ziehungen zu beurteilen. 

Wie ich schon sagte: Wir können wohl behaupten, er 
besitze in keiner dieser Beziehungen das, was wir uns unter 
»Tiefe« vorstellen; das gibt uns aber nicht entfernt das 
Recht, ihn nicht Iflr sehr bedeutend zu eridflren. Wie viele 
unter jenen, die den Größen der Weltliteratur oder wenig- 
stens der nationalen Literatur zugezahlt werden» sind denn 
wirklich tief? Kann man selbst Homer tief nennen? Oder 
Euripides? Oder Aristophanes? Ist Anakreon, Viigil, Ovid 
oder Horaz oder Ptopea tief? Oder Petrarca? Oder 
Milton? Radne? Moli^? Oder Lessing? Oder Widand? 

Und wenn von philosophischer, resp. Tiefe der Welt- 
anschauung die Rede sein soll, dann sind ohne Zweifel 



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z. B. gegen Meister Eckhart gehalten, überhaupt die meisten 
Schriftsteller und Dichter Europas nicht »tief« zu nennen 
und was Ooethe an philosophischer Tiefe aufweist, hat er 
zum großen Teile den Mystikern, sowie auch Oiordano 
Bruno und Spinoza zu danken. 

Dürfen wir aber nur diese eine oder überhaupt nur iigend 
eine einzige Eigenschaft zum Maßstab der Bedeutung aUer 
Schriftsteller oder der großen Männer der Wetthistorie 
wählen? Wir mQssen jede Art von Leistung und Tätigkeit 
für sich betrachten, und dfirfen daher ebenso wenig den 
Meister Eckhart als unbedeutend hinstellen, weil er z. B. 
kdn Kulturhistoriker wie Voltaire oder kein Mathematiker 
wie Newton war, als wir Schillers Bedeutung als Dtehter 
und Ethiker herabsetzen werden, weil er nicht die Tiefe 
Meister Eckharts oder Dschehileddin-Rumis besaß. — 

Nun aber die Hauptsache: Wenn von Voltaire gesprochen 
whd, so hört und liest man fast keine andere Charak- 
teristik seines Intellekts, als eben die auch von Ooethe her- 
vofgehobenc^ er sd nicht tief, er sei ein flacher, wenn auch 
der geistreichste Aufklärer und Schriftsteller. Nun bedenke 
man das geradezu ungeheuerlich Frivole: Voltaire handelte 
es sich sein langes Ld)en hindurch darum, die Menschheit 
von der schrecklichen Macht der Priesterschaft und von der 
Knutldieit des rdigiösen Aberglaubens wie von den Obel- 
ständen im Rechtslet>en zu befreien, sowie auch darum, das 
Interesse für die neu emporgekommene Naturwissenschaft 
fn die weitesten Kreise zu tragen — und da hat man nichts 
anderes von einem solchen Manne zu sagen, als daß er ein 
Schriftsteller und ein Aufklärer ^ohne Tiefe< war! — 

So wie Ooethe, suchte auch Schiller keine Gelegenheit, 
der Pflicht der Dankbarkeit gegenüber Voltaire gerecht zu 
werden. Wir wissen wohl, dass er in einem Epos über 
Friedrich den Großen Voltaire als »freien Denker^^ behandeln 
wollte; allein jenes Epos kam nicht zustande. Wohl aber 
sprach er über Voltaire in seinem Aufsatz: »Über naive und 



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Sentimentalische Dichtung", um ihn speziell als Dichter zu 
charakterisieren und im Wesentlichen als einen Satyriker 
zu beurteilen. 

»Seine wunderbare Mannigfaltigkeit in äußeren Forment, 
heißt es dort, »weit entfernt, für die innere Fülle seines 
Ödstes zu beweisen, iegt vielmehr ein bedenkliches Zeugnis 
dagegen ab; denn ungeachtet aller jener Formen hat er auch 
nicht dne gefunden, worin er dn Herz hAtte abdrücken 
können.« 

Auch hier kann man sogen: Sd es so! 

Er hätte also kein Herz abgedrückt! 

Die Tatsachen spfechen zwar dagegen. Voltaire's Tra- 
gödien, seine M^rope^ seine Zaire u. a. haben lange Zdt 
hindurch den intdligentesten und gefühlvollsten Menschen 
jener Zeit wirklich »das Hen abgedrückt«; vom jungen 
J. J. Rousseau wissen wir sogar, daß er bd dner Auffüh- 
rung von Voltaire's Atzire im Theater zu Oienoble so ge- 
waltig erregt wurd^ daß ihm vor heftigem Henddopfdi der 
Atem veiging. 

Man nimmt heute sozusagen im Vorfaindn an, daß die 
Voltaire'schen Tmgödien kdnen poetischen Wert t>esitzen; 
und der Orund dieses Vorurteils liegt darin, daß man bd 
der jetzt herrschenden Oldchgiltigkdt gegen diese Dramen 
sich gar nicht vorstdien kann, daß sie überhaupt zu iigend 
dner Zdt gewirkt haben konnten. JMan muß daher die da- 
maligen Theateibericht^ namentlich die Äusserungen der be- 
deutendsten Persönlichkdten der vornehmen d. h. gebildden 
RuiserOesdischaft, lesen, um sich dn richtiges Urtdl zu bilden. 

Wohin soll denn dne aprioristische Ästhetik führen? 
Muü nicht dn allgemdnes Hin- und HerrSsonnieren in 
Ewigkdt fortdauenii wenn man sdnen persönlkhen Oe- 
sdimack oder Schulregeln ~ anstatt der tatsachlichen 
ästhetisdien Wirkungen — seiner Beurtdiung der Kunst- 
werke zugrunde legt? Haben wir in der Naturwissenschaft 
schon längst gelernt, Experimente zu kodifizieren, nicht aber 



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logische Spitzßndigkeiten oder (religiöse oder mefaphyslsche) 
Scbulvorschrifteti, so mfissen wir doch auch einmal an- 
fangen, resolut doi ästhetischen Experimenten, d. l den 
tetsichlichen Erprobungen von Kunstwericen bezüglich ihrer 
Whicung, gerecht zu werden und nur auf sie allein ^ 
allerdings bei möglichst allseitiger Beschreibung der be- 
gleitenden UmstiUlde solcher Experimente — unsere Aus- 
sprüche zu basieren. 

Aber eben bei Hervorhebung der begleitenden Um- 
stände oder bei der Analyse der faktischen Wirkungen eines 
Kunstwerks überhaupt zeigt sich fast immer ganz deutitchi 
daß es sich bei ihr viel mehr um Personal- als sach- 
liche Fragen handelt. Kaum wird es je eine ästhetische 
Wirkung gegeben haben, bei der es nicht leicht gewesen 
wäre, durch allerlei mehr oder weniger ehrliche Betrach- 
tungen dem schaffenden Künstler das Verdienst an dem 
Erfolge zu verkleinern; es mag nun diese Degradation wahr 
oder unwahr sein, immer kommt der Streit auf Personalien 
hinaus. Bald heißt es, das Publikum war zu wenig be- 
lesen, um die Quellen zu kennen, aus denen jener Künstler 
geschöpft hat; oder: es war durch irgend weiche Zeit- 
umstände sehr empfänglich für dieses spezielle Werk ge- 
macht worden usw. usw., so daß man sagen kann, die 
Kritik und die Kunst- und Literaturgeschichte bieten eigent- 
lich den Schriftstellern eine Gelegenheit, M^disance (mit 
mehr oder weniger Intelligenz) zu üben; und so ist es auch 
mit den Urteilen im Privatverkehr meistens beschaffen. Es 
herrscht ein eigentämlicher Drang, gewissermaßen Schul- 
'zeugnisse auszuteilen, anstatt sich nur um den Eindrudc 
eines Kunstwerks zu Icflmmem, jedem ohne Kontroverse 
das Recht auf seinen Oeschmadc zu gönnen und die 
Person des Kflnstiers außer Spiel zu lassen. — 

Wie sonderbar nimmt sich der wegwerfende Ton au8> 
in dem Ober Voltaires Trauerspiele gesprochen wird, wenn 

Popper» VoltAu«. 2 



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man auch nur wenige der damaligen TheatervorgSnge, 
nameniUch aus seinen jüngeren Jahren, Icennen lernt! 

Nehmen wir z. B. den Erfolg des TancrMe^ der im 
Jahre 1759 au^^efOhrt wurde, »ich habe inmitten unserer 
Leiden«, schreibt Frau d*£pinay an ein Fräulein Vatori, 
»das Odidmnis gehinden, TancrMe zu sehen und dabei In 
Trbien zu zerfließen . . . das ist eine rflhrende Neuheit, die 
Sie zu Schmerzen und Beifall hinreißt ... Da icommt ein 
gewisses eh bien, mon pte vor! ... Ah! Meine Johanna, 
sagen Sie mir niemals di blen in diesem^ Ton (der Clairon), 
wenn Sie nicht wollen, daB ich sterbe. Übrigens, wenn Sie 
einen Liebhaber besitzen, binnen Sie dch schon morgen 
von ihm, wenn er kein tapferer Ritter ist; denn es gibt 
keine anderen Menschen als solche, um den Frauen Ehre 
zu machen: Wenn Sie tugendhaft sind, so sagen sie es 
dem Universum; sind Sie es nicht, werden sie lieber tausend 
Männer erwürgen, als das zugestehen, und sie werden nicht 
essen und trinken, bis sie bewiesen haben, dalj Sie tugend- 
haft sind . . . kurz, das alles ist so voll von Schönheiten, 

daß man nicht weiß, auf welche man achten soll « 

TancrMe verdrehte alle Köpfe,*) man wurde gerührt, man 
weinte, man schluchzte. Der größte Feind Voltaire's, Freron, 
sagte, nachdem er einige Ausstellungen gemacht hatte: 
»Man findet in dem Stücke Empfindung, Einfachheit, und 
diese schöne Natürlichkeit der Alten, wie sie z. B. besonders 
in der Odyssee vorhanden ist, durchaus keine Schöngeisterei, 
keine Sentenz usw.< Auch Diderot bewunderte Tancr^de 
trotz der Mängel, die er dem Drama vorwarf. 

Bei der Aufführung der M6rope war, wie Condorcet 
berichtet, das Parterre so enthusiasmiert, da0 es verlangte, 
Voltaire, der sich in einem Winket des Hauses verboi^gen hielt, 
möge sich dem Publikum zeigen, was bisher noch nie vor- 

Diese ganze Stelle entnehme ich dem Voltaire-Biographen 



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gekommen war, und sich seither in unseren Theatern ein- 
gebürgert hat Und als sich nun der Autor in der Loge 
der Marschaiiin von Villars zeigte, rief man der jungen 
Herzogin zu, sie solle den Verfasser der M^rope angesichts 
aller umarmen, und sie mußte diesem Ausbruch des Willens 
eines vor Freude berauschten Publikums Police leisten! 

Was will man nun solchen Tatsachen entgegenstellen? 
Und andererseits: Darf man sie ignorieren? 

Es ist daher ganz unbegreiflich, wie Schiller am ange- 
führten Orte noch weiter sagen kann: »Wir begegnen immer 
nur seinem Verstände, nicht seinem Gefühl . . . .« 

»Beinahe muß man also fürchten, es war in diesem 
reichen Genius nur die Armut des Herzens, die seinen Be- 
ruf zur Satyre bestimmte. Wäre es anders, so hätte er doch 
irgend auf seinem weiten Weg aus diesem en^^en Geleise 
treten müssen. Aber bei allem noch so groben Wechsel 
des Stoffes und der äußeren Form sehen wir diese innere 
Form in ewigem dürftigen Einerlei wiederkehren . . .■■ 

Hätte aber Schiller nur ein einziges Mal in der Comedie 
Franqaise, z. B. bei der Aufführung der Zaire oder der 
M6rope oder des Tancr^e zu Voltaire's Zeit anwesend sein 
können» ja vielleicht noch zu Schillers eigener Zeit, so hätte 
er an der entzückten Zuhörerschaft ganz andere Wahr- 
nehmungen gemacht» als seine Voraussetzung von der 
»Armut des Herzens« und dem »Verstände anstatt des Oe* 
föhls erklärlich machen könnte. 

Die Tatsache selbst, daß die gebildetste Pariser Oe- 
sellschaft bei manchen Trauerspielen Voltaire's Tränen ver- 
goß, mußte doch Schiller bdcannt sein? Wenn ja, so Ist 
sein absprechendes Urteil kern geringes Zeugnis dalfir, zu 
welchem unbegründeten Hochmut die theoretische Ästhetik 
selbst eine so edle Natur wie jene Schillers bringen kann. Wenn 
aber nichts wenn Schiller sich Ober die Wirkungen eines 
berflhmten, und von ihm getadelten Schriftstellers nicht zu 
informieren gesucht hat, so tritt an die Stelle von Hochmut 

2* 



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eine nichi geringe Voieingenommenheit Und endlich: Wie 
konnte Schiller in dem noch so großen Wechsel des Stoffes 
und der äußeren Form nur imma* diese »innere Forme, 
d. i. die Satyre, entdecken? In so vielen Gedichten, in 
den Dramen, in der Henriadel Alles das findet Schiller — 
satyrisch 1 

Die Tragödien Voltnre's aber waren auch durchaus 
kehle bloßen Erscheinungen des Tages; von ungefähr 1730 
bis 1820, also nahezu ein Jahrhundert kmg, wurden sie ^ 
wie der VoltaireOegner Faguet in seinen »Etudes littMres« 
schreibt — »selbst von sehten Feinden als sein Schönstes 
angesehen«, und seither hat sich nur eben der Geschmack 
des Publikums geändert Im Jahre 1004 wurde eine Stati- 
stik der Klassikeraufffihningen in der Com6die Fnin^ise 
publiziert. Hiemach wurde seit dem Jahre 1680 Racine 
6337 mal, Corneille 4757 und Voltaire 3956 mal aufgeführt. 
Da nun Voltaire viel später als Corneille und Racine schrieb, 
so ist seine Ziffer eine relativ sehr bedeutende zu nennen *) 
— Es ist sogar die Frage, ob einige dieser Dramen, z. B. 
Zaire, nicht noch tieute, und selbst auf Nicht-Franzosen, 
auch auf die Deutschen, einen starken poetischen Eindruck 
machen würden, wenn diese die Objektivität in nationaler 
und ästhetischer Beziehung hätten, sie zu lesen oder zu 
hören, ohne an den »Franzmann , an die »Germanen' und 
viele andere politische und soziale Dinge und namentlich 
an Lessings dramaturgische Strafgesetzgebung zu denken. 
Wie die Sachen stehen, wird aber ganz gewiß fast jeder 
deutsche Gymnasiast, der die Dramaturgie gelesen hat, die 
Nase rümpfen, wenn man ihm zumuten wollte^ ein Stück 
von »Herrn von Voltaire« zu lesen. 



*) Ich mochte mir hier die persönliche Bemerkung erlauben, daß 
ich den Voltaire'schen Trauerspielen, Zaire ausgenommen, gar keinen 
Oeschmack abgewinnen kann; dasselbe gilt für mich von der Henriade. 
Andererseits ist mir die Lektüre von Dramen überhaupt an sich eine 
unangenehme Sadie, ich könnte daher nicht mit Orund behaupten, 
daß mir genwie nur Voltaires Tbeatenticke kein Vergnflgen madwii. 



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— 21 — 



Man kann jedoch nicht wissen: Vielleicht weichen ein- 
mal die Vorurteile, oder sagen wir, die suggerierten Anti- 
pathien gegen die klassisclic französische Tra{,a)die, und bei 
einer so gewonnenen, keuschen ästhetischen Emptänglichkeit 
kann es vielleicht geschehen, daii Voltaire wiederum und 
auch außerhalb Frankreichs das -Herz abdrückt«. 

^Ziiwciiens meint jedoch auch Schiller, rührt Voltaire 
uns allerdings poetisch, wie z. B. im Ingenu, im Candide, 
aber seinem Spott h'egt überall zu wenig Ernst zugrunde, 
und dieses macht seinen Dichterberuf mit Recht verdächtig!« 

Über Voltaire' s Spott ist im »Recht zu leben . .« schon 
einiges gesagt worden und soll auch in diesem Aufsatze 
noch gesprochen werden; was aber den beinahe landiäufig^en 
Vorwurf: zu wenig Ernst* betrifft, so liegt ihm ein 
vollständiges Mißkennen des Voltaire'schen Naturells zu- 
grunde. 

Schiller und tausend andere mit ihm lassen sich hiar 
* durch einen äußeren Schein täuschen; man verwechselt hier 
die Miene, mit der etwas gesagt oder abgeschlossen wird, 
mit der inneren Oesinnung. Sprechen wir also ein Wort 
von dem zu »wenig ernsten« Voltaire. 

* 

Wer Voltaires Leben und Schriften (nebst Briefen) kennt» 
und sich nicht durch Oewohnheitsurtdle Idten läßt, muß 
zur Ül>erzeugung gelangen, daß nie ein Dichter oder 
Schriftsteller größeren Ernst besaß, als er; auch der 
Oberaus edle und grosse Schiller nicht Nur der höchste 
Emst konnte ja einen so lusserllch glücklich situierten, be- 
rühmten, reichen Mann wie Voltaire dazu bringen, fiberhaupt 
über so vieles zu spotten; sieht man denn nichV wie nahe 
ihm alles Unheil in der menschlichen Oesellschaft ging? 
Wie unaufhöriich er bestrebt war, es zu verbaten und zu- 
gleich jede Lebensauffassung zu bekämpfen, dHe darauf 



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— 22 — 



ausgeht, unser Dasein uns zum Ekel zu machen«? Seine 
Prosa-Sdiiifteil, seine Gedichte, seine Briefe werden immer 
mehr — namentlich seit dem Lissaboner Erdbeben — 
Jahtz^te hindurch, in jeder Form, die diesem großen 
Ptosimisten zu Gebote stand, erfOllt vom Wehidagen Ober 
die MiBstinde des Lebens; und wenn er mitunter am 
Ende SpäBe macht, scheinbar frivol wird, so sollte doch 
jeder Menschenkenner es verstehen, wie das aufzufassen ist 
Ich erinnere hier an eine Stelle im Tagebuche Beethovens: 
»Von nun an wirst du die Menschen verachten!« Glaubt 
man wfridich, dafi Beethoven »von nun an« die Menschen 
verachtete? DaB er die Menschheit weniger liebte als frfiher? 
Gerade das Gegenteil beweisen solche Äußerungen von dem, 
was eine oberfllchliche Beurteilung in ihnen findet 

So wird auch Heine mißverstanden und man sieht nicht, 
— viele wollen es allerdings nicht sehen — daß sein oft 
frivol erscheinender Witz am Schlüsse der ernstesten Ge- 
dichte nichts anderes ist, als eine Art Deckung im Rück- 
zugsgefecht gegen zu stark eindrinj^^ende Gefühle. 

Und vielleicht am deutlichsten wird das, was ich hier 
sagen will, durch die Worte, die ein besonders als Mensch 
bedeutender Maier sprach. Der russische Maler Werescht- 
schagin hatte einen Cyklus von Bildern Napoleons auf seinem 
russischen Feldzug ausgestellt. >Er lud mich damals ein«, 
berichtet Frau Bertha v. Suttner,*) seine Galerie anzusehen 
und führte mich von Bild zu Bild, dabei in fesselndster Weise^ 
halb pathetisch, halb humorvoll Stoff und Tendenz seiner 
Kunstwerke erklärend. Wenn er über gar grauenhafte Szenen 
einen zwar bittem, aber dennoch einen Scherz machte^ »Wie 
können Sie da lachen?« sagte ich vorwurfsvoll »Das 
ist bei manchen Dingen das einzige Mittel, um nicht 
zu weinen,« antwortete er. 

Und in diesem Sinne kenne ich nichts Erschütternderes, 

*) In der >N. Fr. Presse« v. 16i Fcbnuur 1904» 



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— 23 — 



als die Ode Voltaire's Zum Jahrestage der Bartholomäus- 
nacht^, aus dem Jahre 1772, ein Poem, das nach meiner 
Meinung dem bedeutendsten mindestens gleichsteht, was 
wir von Horaz, ja von Pindar besitzen. Hat Schiller diese 
Ode gelesen? Haben überhaupt alle jene, die Voltaire einen 
Ilachen Schriftsteller und Nicht-Dichter nennen, diese Ode 
gelesen? Ich zweifle. 

Hier ist sie, sie ist wert, im vollen Wortlaut und in der 
Ursprache angeführt zu werden: 

»Tu reviens apr^s deux cents ans, 
Jour affreux, }our fatal au monde. 
Que Tabyrne eternel du temps, 
Te couvre de sa iiuit profonde! 
Tombe ä jamais enseveli 
Dans le gnuid fleuve de Toubli, 
S^jour de notre antique histoirel 
Mörtels, ä souffrir condamn^s, 
Ce n'est que des jours fortunes 
Qu MI faut conserver la memoire. 

C'est apres le triomvirat 
Que Rome devint florissante, 
Un poltron, tyran de l'Etat, 
L'embellit sa main sanglante. 
Cest aprH les proscriptions 
Que les enfants des Scipions 
Se croyaient heureux sous Octave 
Tranquille et sournis a la loi, 
On Vit danser le peuple roi, 
En portant des chalnes d'esclave. 

Virgile^ Horace, Poiüon, 
Couronn^s de myrte et de lierre» 
Sur la cendre de Cic^ron 
Chantaient les baisers de Olycere. 
Iis chantaient dans les m^mes lieux 
Od tomb^rent cent demklieux 
Sous des assassins mercenaires 
Et les familles des proscrits 
Rassemhlaient les jeux et les ris 
Entre les tombeaux de ieurs p^res. 



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— 24 — 



Beilone a d^vas(^ nos dtamps 
Par tou8 les fKaux de la guerre. 

Cer^s par ses dons renaissants 
A bientöt console !a terre. 
L'enfer enp^loutit daiis ses flancs 
Les depiurables habitants 
De Usbonne aux flammes livr^e, 
Abandonna-tK>n son s^jour? . . . 
On y revint, on fit Tamour; 
Et ia perte hit r6par6e. 

Tout mortel a verse des pleurs, 
Chaque si^e a connu les crimes; 
Ce monde est un amas d'horreurs, 

De coupables et de victimes. 
De maux passes le souvenir, 
Et les terreurs de l'avenir 
Seraient un poids insupporlable^ 
Dieu prit piti^ du genre humain: 
II le öfyL frivole et valn, 
Pöur le rendre molns mistable.« 

Man beachte doch die Bitterkeit, die sich in den beiden 
Schlußzeileii ausspricht; oder wird es am Ende vielleicht 
verblendete oder böswilligfe Menschen geben, die sie falsch 
deuten und glauben machen wollen, VaUaire sei selbst 
frivol gewesen und habe auch geradezu zur Frivolität auf- 
gefordert? 

Wenn Männer wie Voltaire oder Heine dem ^^rtHUen 
Ernst einen Scherz, einen Witz, eine satyrische Bemerkung 
folgen lassen, so geschieht das in dem Betreben, sich da- 
durch den Dingen überlegen zu zeigen. Aber so wenig 
derjenige, der im Finstern singt oder pfeift, damit irgendwie 
beweist, daß er sich nicht fürchtet, so wenig beweist bei 
Voltaire die Unterbrechung seines sonstigen Ernstes durch 
Scherze den Mangel an wirklich ernstem Oefühl. 

Man will Voltaire Ernst absprechen, weil er bestrebt 
ist, dem Leben so viel Outes abzugewinnen, als es eben 
möglich is^ weil er sich und anderen stets vorhält, nicht 



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— 25 — 



zu resignieren und sich In trüber Stimmung der Verzweiflung 
hinzugeben, sondern heiteren Oemfits zu bleiben, zu Uchen 

anstatt zu wetnen, und so über das Leben mit allen seinen 
Leiden so gut es geht hinwegzuicommen. Und, was die 

Hauptsache ist, er arbeitet nahezu sechzig Jahre hindurch 
mit Aufgebot aller seiner Kräfte und unter großen persön- 
lichen Gefahren daran, durch Kritik und durch positive 
Vorschläge, ja sogar auch durch praktische Bemühungen, 
wie T. B. in der Kolonie von Ferney, die Zustände zu ver- 
bessern. 

Was fefilt einem solchen Manne noch zum Enisti? 

Haben etwa jene mehr Ernst, die ihm einen solchen 
Mangel gern vorwerfen? Sie vergessen, sie alle vergessen 
den himmelweiten Unterschied zwischen dem, was sie 
für die Reformen der menschlichen Gesellschaft geleistet 
haben und was Voltaire geleistet hat. Man sehe sich doch 
einmal alle die Herren nn, die ihm vorwerfen, ^nichts ernst 
genommen zu haben ; z. B. jenen Geschichtsprofessor 
Schlosser oder die hunderte andere Historiker, Ästhetiker, 
Philosophen, Moralisten — von Theologen gar nicht zu 
sprechen. Wie viel haben sie der Welt genfitzt im Ver- 
gleich zu Voltaire? 

Man lese nur das oben mitgeteilte Gedicht und denke 
dann daran, daß man den Verfasser dieser weltschmerzlichen 
Enunziatron > frivol« nennen konnte! 

Nicht einen Augenblick hörte es in diesem Vulkan von 
Menschenliebe auf, zu gähren, ganz unbeirrt durch seine 
hundert und tausend anderen Beschäftigungen, persönlichen 
Sheitigkdten, Geldgeschäfte^ SplBe, ja »Kindereienc, deren 
er nach Stendhal's Bemertcung »gar zu viele im Kopfe 
hatte«; ein (Iberkiflftlger Trieb erfflllte ihn immer, seine 
großen allgemeinen Ziele anzustreben, sie nach Möglichkeit 
zu verwiridichen, wie auch von Zdf zu Zeit darüber zu 
reflektieren, wie weit sie schon erreicht sdn mögen und 
wann Aussicht auf ihre volle Verwirklichung sei Diese 



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— 26 — 



Oedanken wflizte er unatrfhöriich in seinem Kopfe lienim; 
zuweiten erffltHe ihn Befriedigung mit seiner Tltiglceit, 
zuweilen erwartete er die vollen Früchte erst von der 
Zukunft 

Im Jahre 1769 schrieb Voltaire: Ich werde nicht mehr 
von den Früchten des Baumes der Toleranz essen, den 
ich gepflanzt habe; aber Ihr werdet eines Tages von ihm 
essen, deß seid gewiß.« 

Im Jahre 1771 sagt er mit befriedigtem Selbstbewußtsein 
in der Epistel an den Autor des Buches von den drei Be- 
trügern«*): 

»J'ai fait plus en mon temps que Luther et 

Calvin. 

On les vit opposer, par une erreur fatale, 
Les abus aux abus, le scandale au scandale; 
Parmi les factions ardents k se jeter, 
Iis condamnaient te pape et vouialeni IMmiter. 
L'Europe par cux tous fut longtemps d^sol^ 
Iis ont troubie la terre, et je Tai consol^e. 
J'ai dit aux disputants Tun sur Tautre acham^; 
Cessez, impertinents, cessez, infortun^s; 

Tr^s-sots enbnts de Dieu, ch^rissez-vous en fr^res, 
Et ne vous mordez plus pour d'absnrdes chim^res. 
Les gens de bien m'ont cru: les fripons ^crasäs 
En ont pouss^ des cris du sage meprises; 
Et dans TEurope enfin 1 heureux lolerantisme 
De tout esprit bien fait devient le cattehisme. 

Wenige Monate vor seinem Tode, also ungefähr ein 
Jahrzehnt vor der groben Revolufion, schrieb er wiederum: 
Wir langen an im gelohten Lande, aber ich werde es nicht 
mehr sehen, ich zähle nun vierundachtzig Jahre, nieder- 
drückende vierundachtzig Lastjahre, die einen armen Oreis 
belasten, vierundachtzig Krankheitsjahre, die mich er- 
schöpfen. Erfreut euch, meine Freunde, des Schauspiels, 

*) Eine Übersetzung von Voltaire's Versen wäre ein Vandalismus, 
außer man betifie die gr66t« Behefnchmig der dcnttdieo Verdomst 



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— 27 — 

das ich während sechzig Jahren vorbereitet habe und dem 
ich nicht mit Euch zuschauen kann. Meine Lebensflamme 

verlischt, aber sterbend kann ich sagen wie der alte Lusignan: 
»Mein Gott, sectizig Jahre habe ich zu Deinem Ruhme ge- 
kämpft.« 

Und noch näher seinem Tode, diktierte er seinem 
Sekretär Wagniere jene Worte, die diesem zur Bemhigung 
dienen sollten, in Anbetracht der kurz vorher vom Abbe 
Oaultier herausgepreßten und nur aus Abscheu vor dem 
Schindantrer abgegebenen Erklärung^: daß er Gott und die 
Kirche um Verzeihung bitte für das Ärgernis, das er dieser 
bereitete. Ich meine jenes Glaubensbekenntnis, das die 
Nationalbibliothek in Paris aufbewahrt. -^Ich sterbe in 
Anbetun^r Gottes, in Liebe zu meinen Freunden, 
ohne Haß gegen meine Feinde und in Verwün- 
schung des Aberglaubens. 

Und man denke an jene unsterbliche Scene, die sich 
nur wenige Tage vor dem Tode des vierundachtzigjährigen 
Voltaire ereignete. Er war die letzte Zeit hindurch schon 
so schwach, daß er nur noch kurze Billets hatte diktieren 
können, lag nun in todesähniichem Schlummer — be- 
sonders i in folge einer großen Dosis Opium, die er auf seine 
eigene Ordination hin zur Stillung seiner Schmerzen ge- 
nommen hatte — da rief man ihm zu, daß General Lally, 
fQr dessen Unschuld er sich so hmge eingesetzt und so 
viel Arbeit aufgewendet hatte, soeben endlich rehabilitiert 
worden sei. Bei dieser Nachricht wurde Voltaire wach, und 
sofort diktierte er fQr den Sohn des unglücklichen Oenerals 
die Worte: »Der Sterbende wird vom Tode erweckt, da er 
diese große Nachricht empfängt; er umarmt zärtlich Herrn 
von Lally, er sieht, daß der König ein Schützer der Ge- 
rechtigkeit ist; er stirbt zufrieden.« 

So sieht der flache Aufklärer, der frivole Spötter, der 
»gar keinen Ernst hat«, ausl Und hier hat man eines 
der praktischen psychologischen Experimente vor sich, von 



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— 28 — 



denen wir später auch bei Besprechung des Verhältnisses 
von Voltaire zu Rousseau noch dns anführen wollen» aus 
denen num die wahre Beschaffenheit des Wesens Voltaires, 
seines unglaublich wannen Oemfits und seiner hohen Seele 
mit Sicherheit erschließen Icann. Von einem solchen Manne 
wagt es der Historiker Schlosser zu sagen: »Voltaire war 
nur auf Ruhm und Auszeichnung bedacht .... war durch 
keine höhere Triebfeder als Eitelkeit bewehrt .... und hatte 
Begeisterung für das Einfaclie und Oute nie gekannt.« 

Wie soll man eine solche Ungerechtigkeit und Ver- 
bissenheit bei dem sonst achtungswerten und noch dazu 
stets polternd moralisierenden Schlosser erkiären? Ist es 
die Entgegengesetztheit der Naturen? Der nationalen An- 
schauungen? Ist es das Resultat spezieller religiösen und 
philiströsen Erziehung Schlosser s? Es ist schwer zu er- 
klären, wie ein Historiker so blind für eine ganze Reihe von 
Tatsachen sein kann, die seinem Urteil über Voltaire so 
offenbar entgegenstehen. Noch schlimmer ist es aber, daß 
Schlosser mit seiner Ungerechtigkeit nicht allein steht, denn 
wir werden im Verlaufe dieser Darstellung noch mehr der- 
gleichen Kritiker Voltaire's begegnen! 

Mögen doch aiie jene Männer, die Voltaire niciit genug 
ernst finden, vortreten und sagen, ob sie sich selbst für 
genügend ernst halten, um sich in einer solchen Situation 
eines zerrütteten, dem Tode nahen Organismus ebenso zu 
benehmen! Welche Erfülltheit von philanthropischer Ge- 
sinnung, welche Kraft des moralischen Sinnes dazu gehört, 
ist gar nicht auszudenken; glaubt man nun, daß ein Schlosser 
oder ein Treitschke oder ein Carlyle, ja, daß selbst Schiller 
eine solche Eneigie der Mensdienliebe in sich besaßen, 
die fähig gewesen wäre^ sozusagen selbst den Tod zu über- 
winden? — 

Ein Pessimist darf nicht das Leben genießen wollen, 
darf niemals heiter, nicht geistreich, Oberhaupt nicht glück- 
Hcfa sein; in jedem Augenblicke seines Daseins soll man an 



- 20 — 



seiner mürrischen Miene und trfiben Stimmung ericennen, 
daß er Pessimist sei — sonst glaubt man ihm nicht! Ein 
einziger guter Scherz macht ihn schon verdächtig und löscht 
alle Worte» Schriften und Taten aus, die seinen tiefsten 
Weltschmerz beweisen! Das ist der urphiliströse Kanon, 
nach welchem Voltaire beurteilt wird. 

Er hätte ^^n Appetit zum Leben verlieren sollen, dann 
wäre man mit ihm zufrieden gewesen; unterdessen be- 
trachtet Voltaire das Dasein als einen schlechten Kuchen, 
sucht sich aus ihm die Rosinen heraus und rät auch 
allen andern Menschen, die Rosinen herauszuklauben! »Man 
muß das Leben bis zum letzten Moment genießen schreibt 
er im Jahre 1761 an Frau du Deffand, an dieselbe im Jahre 
1760: Ich iache über alles* und an Palissot im Jahre 1760: 
»Ich will in Heiterkeit mein Leben beschließen. Ich will 
lachen; ich bin alt und krank, und ich halte die Heiterkeit 
für ein sichereres Heilmitte!, als die Anordnungen meines 
teueren und schätzenswerten Tronchin. Ich werde mich, 
so lange als ich kann, mokieren über jene Menschen, die 
sich über mich mokierten; das vcrgnvigt mich und schadet 
niemandem. Erfreuen Sie sich nur, es gibt außer diesem 
nichts Gutes. 

Und 1761 dem Abb^ von Bemis: »Wenn ich nicht 
leid^ lache ich viel, und ich glaube, man soll lachen, so- 
lange man kann. Lachen Sie also, denn, am Ende der 
Rechnung, werden Sie immer etwas haben, worüber Sie 
lachen können.« Im Jahre 1764 an Frau von Champbonin: 
»Leben Sie wohl, meine dicke Katze, leben wir solange wie 
wir icdnnen; aber das Leben ist nichts als Langeweile oder 
geschlagene Sahne (Schaum).« Und 1766 an D'Alembert: 
»ich icann nichts mdir leisten; ich werde sterben, und wenn 
ich kann, lachend« An Fnu von Saint Julien im Jahre 
1765: »Betrachten Sie mich als einen bereits bq^rabenen 
Mann und meinen Brief als ein de profundis. Es ist wohl 
wahr, daß meine de profundis mitunter sehr heiter sind und 



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— 30 — 



daB ich sie oft mit dnem Halleluja vertausche; Ich liebe 
eS| um mein Grab hemm zu tanzen» aber ich tanze allein, 
wie der Ud>haber meiner Kindermuhme Babichon, der 
allein in seiner Scheune tanzt . . . Kommt man zur Welt» 
so weint man und erfreut die anderen; wenn man 
stirbt, soll man lachen und die anderen weinen 
machen.« 

Wanam doch mißgönnt man diesem großen Pessimbten 
seine Weishdt? Wild man in dem Bestreben, ihn zu ver- 
dächtigen und zu erniedrigen, nicht ehimal durch seine un- 
vergleichliche Liebenswürdigkeit, die so herrlich mit dem 
grandiosesten Emst abwechselt, versöhnt? 

Und kann man nicht wirklich Voltaire in seinen letzten 
fünfundzwanzig Jahren, wie Puschkin es von Gogol sagte, 
einen »fröhlichen Melancholikers nennen? — 

Beim Pessimismus kann man nach den Erscheinungen, 
in denen er in seinen größten Repräsentanten zutage trat, 
drei verschiedene Arten unterscheiden. 

Die Richtung, die Buddha vertrat, predigt Mitleid mit 
allen Menschen und sogar mit Tieren, bleibt aber negativ 
und passiv, selbst seine moralischen Vorschriften sind zum 
f^eringcn Teil positiver Natur und das Verhältnis zur Lebens- 
gestaltung schließt jede Aktion, jedes Streben nach Be- 
hebung der Leiden, der Verbesserunj^ der bestehenden 
Zustände aus. Und das ist ganz selbstverständlich, denn 
der Buddhismus rät ja zur Flucht aus aller Existenz, zum 
Aufgeben des Haftens am Leben . 

Eine zweite Art des Pessimismus kommt im »Prediger« 
zum Ausdruck. Hier wird das Leid des Löbens wohl an- 
erkannt, aber vom Mitleid mit den andern, oder gar mit 
allem Lebenden, ist keine Rede; und ebenso wenig wird an 
eine Aktivität zur Vertiesserung der Let)ensgestaltung ge- 
dacht. Jeder möge nur an sich denken, essen und trinken, 
heißt es dort, und das Leben, so gut es geht, genießen; 
-es bleibt also bei einem tatenlosen, passiven Egoismus. 



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— 31 — 



Die dritte Art des Pessimismus vertritt Voltaire Er ist 
erfiUIt von Mitgefühl nicht nur mit Menschen, sondern auch 
mit Tieren; jawohl, ganz ohne Sentimentalität in den Worten 
und Oeberden, ohne Hingegossenheit in metaphysische oder 
mystische Spdculationen hat Voltaire^ dieser helie^ glödcltche, 
witzig!^ lebenslustige Mann, sein Oeffihl für die Tiere aus- 
gesprochen, und er war zugleich der erste in Europa, der 
dieses OelÜhi vertrat, er, der »flache AufldSrerc im »ratio- 
nalistischen, bloB verständigen und gemOtlosen« achtzehnten 
Jahrhundert Wie er auch der erste war, der namentlich in 
seinen Eizählungen systematisch auf all das Elend, alle 
Oiäuel und alle Dummheiten hinwies, welche die Mensch- 
heit t>edrflc]cen. Aber er blieb nicht beim Mitleid stehen, 
sondern regte unaufhöriich zu Reformen an, die die Leiden 
des Lebens verringern oder die Freuden desselben vermehren 
sollen, und er ist bis heute noch der gewaltigste Re- 
präsentant kultureller Activität, der je gelebt hat. 

Von diesen drei Arten des Pessimismus hat der euro- 
päisch-amerikanische Teil der Menschheit die Voltaire'sche 
allein acceptiert; und wenn man es genauer besieht, so ist 
es eben die Aufforderung zur kulturellen Aktivität, die diesem 
Pessimismus den Anschein des Optimismus verleiht; ja, 
noch mehr, es ist eben diese Aufforderung, die philiströs 
angelegte üeister dazu verleitet, das zu Orunde liegende 
große Gemüt zu übersehen und von bloßer Verständigkeit 
dieser glänzen Richtung zu sprechen. Ein gewisser winselnd 
melancholischer, griesgrämiger Orundton, so wünschen es 
jene, sollte immerwährend zu huren sein, und den vermissen 
sie bei Voltaire und seinen Nachfolgern! Aber man muß 
nur genauer hinhorchen; die große Traurigkeit eines durch 
das Leid des Lebens erschütterten Gemüts ist da, nur 
winselt sie nicht und vermag nicht, Voltaire' s Mut zu er- 
schüttern. Solche Dinge, wie wir sie in der oben mit- 
geteilten Ode zu hören bekamen, kommen gar oft wieder 
zum Ausdruck. Weder in Buddhas Reden, noch im Prediger, 



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- 32 — 



noch bei Byron oder Leopard! begegnen wir tiefer er- 
scliflttemden Worten, als bd VoHalre. 

In den »Po^sies diverses. Les d^sagr^ments de ta 

vieillesse« ruft er aus: 

»Vous serez comme nioi cjuand vous aurez mon äge^ 
Archeveques, abb^s, empourpres cardinaux, 

PrinceSi rois, fermiers g^ndraux; 
Cliacun avec le temp devient tristement sage. 

Tous nos plaisirs n'ont qu'un moment. 
H^s! quel est le cours et le but de ia vie? 

Des fadaises, et Ic n^nt. 
O Jupiter, tu fis, en noiis cr^ant, 

Une froide plaisanterie.« 

Und wieder wie in der Ode auf die Bartholomäusnacht 
sagt er im philosophischen Wörterbuch mit gleicher Bitter- 
keit: »Was mich am meisten vom Dasein einer Vorsehung 
fiberzeugt, .... das is^ daß die Natur, um uns Aber die 
ungezählten Leiden zu trösten, uns frivol geschaffen hat.« 

Solche ernste und tiefe Töne fand ich nur noch bei 
Leopaidi und mit besonders vavrandter iOangfaibe bei dem 
großen chinesischen pessimistischen Lyriker Lt-tai-pe; sa'n 
Pessimismus klingt aber allerdings ganz anders als bei 
Voltaire aus; denn er fordert auf, sich zu — betrinken, und er 
selbst befolgte diese Aufforderung g^ar zu genau. 

Wenn ich nun solche Dinge bei Voltaire finde, wie in 
den hier mitgeteilten zwei Gedichten, so frage ich mich: 
War dieser Mensch wirklich ohne Tiefe? 

* 

Lassen wir aber alle Besorgtheit um die Klassifikation 
eines Mannes, der hoch über jeder Art von literarischer 
oder ästhetischer Klassifikation steht, und halten wk die 
merkwürdige und betrübende Tatsache fest, daß es ein 
Schiller war, der in Voltaire's Romanen, im Candide^ im 



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— 33 ~ 



Ing^nu» zu wenig Emst fand. »Das macht,« meint Schiller, 
> seinen Dichterberuf mit Recht verdachtig*. 

Ich möchte hier die Worte abermais anführen, die ich 
im »Recht zu leben . . .« schon zitierte, die Worte Mahomeds 
nämlich, als man ihm Fehler gegen das Metrum vorhielt: 
»Ich bin kein Dichter und brauche keiner zu sein.« 
Voltaire bleibt Voltaire, auch wenn er kein Dichter wäre. 

Es erscheint mir daher durchaus nicht als besonders 
wichtig, seinen Dichterruf retten zu helfen, sowie überhaupt 
nicht notwendig, auch seine anderen Fähigkeiten gegenfiber 
den mannigfaltigen Ableugnungen und Degradationsversuchen 
hervorzuheben und festzustellen; ich spreche aber fiber diese 
Dinge zu dem eigentlich nicht Voltaire's Person betreffenden 
Zwecke um derartige Beurteilungen in ihrem wahren Werte 
aufzuzeigen und solche Urteile selbst zu beurteilen. 

Fflr Schiller ist also Voltaire nur als Verfasser der 
satyrischen Romane dichterisch von einigem Belang, und im 
Grunde genommen ist ihm sein ganzer Dichtert>eruf »mit 
Recht verdächtig*. 

Man sieht sofort, daß Schiller den Begriff »Dichtung«, 
ohne dies ausdrücklich hervorzuheben und in einem — 
wenigstens momentanen — Zustande mangelnder Über- 
sicht, auf ein bestimmtes, ziemlich enges üebiet einschränkt, 
nämlich auf die Kunst: das Gefühl zu bewegen, zu er- 
schüttern oder zu rühren; wie Schiller es nennt; das Herz 
abzudrücken. 

Nun wird es wohl Icaum jemand leugnen, dafi in den 
Voitaire'schen Romaneri, ganz abgesehen vom ernsten und 
wichtigen Inhalt, Geist und Witz, Menschenkenntnis, ein 
glänzender, lebender, kräftiger Stil und, was hier sehr maß- 
gebend ist, eine reiche Phantasie zu finden sind; letzteres 
gilt ganz besonders vom Candide und l'Ing^nu. Kann man 
aber eine schriftstellerische Leistung mit solchen Eigen- 

Popper, VoltAtrc 3 



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— 34 — 



Schäften nicht mit allem Recht »Dichtung« nennen?*) Es 
kann wohl jeder nach Belieben sich seine Einteilungen 
nutchen und seine Bezeichnungen wählen; wer aber solche 
Schriften nicht als dichterisch anerkennen will, der muß 
folgerichtig eine große Anzahl von Werken aus dem Ge- 
biete der Dichtung hinausweisen, die alle Welt als hinein- 
gehörig betrachtet, die zu den Zierden der Weltliteratur 
gezählt werden und denen wahrscheinlich Schiller selbst 
nicht die Bezeichnung als Dichterwerke vorenthalten hätte. 
Denn weder von Schillers philosophischen Gedichten, noch 
von allen Lustspielen der Welt, noch von Don Quixote 
oder voni rasenden Roland, noch von den unzähligen klei- 
neren und größeren satyrischen Schritten der alten wie der 
neuen Zeit usw. usw. kann man auch nur im c^eringsten 
sa^en. daß sie das -Herz abdrücken . Aucti die Oden 
des Horaz, die Bukolika und Georgika des Virg^il, die 
meisten Sachen von Ovid, Properz usw. usw. vermögen das 
nicht. Und nach dem von Schiller aufgestellten Kriterium 
wären also alle Verfasser der erwähnten Arten von Schriften, 
darunter Aristophanes, Horaz, Ovid, Ariosto, Cervantes, 
Moli^re, ohne * Dichterberuf & ! 

Da das aber zu behaupten nicht wohl angehen wird, 
und da femer ziemlich unbestritten Voltaire mit seinen 
Novellen dem modernsten französischen Roman die Wege 
gewiesen — nur Diderot könnte ihm darin die Palme streitig 
machen — also sogar auch bahnbrechend gewirkt hat, so 
mag man ihn ohne jedes Bedenken schon allein w^gen 
sdner Erzählungen einen Dichter nennen. 

Nun hat er aber auch eine gro6e Zahl von kleineren 
Werken In gebundener Sprache verfaßt: Oden, vermischte 



*y Für mich ist l'fngenu eine der erschütterndsten Tragödien, die 
jemals geschrieben wurden, und dadurch merkwürdig, daß sie zugleidi 
eine sozial poh'tisc he Tendenz, eine anschauliche Darstellung der gesdl- 
schaftüchen Verhältnisse und eine plastische Herausarbeitung der 
Charaktere besitzt Der Hurone ist ein Naturbursche, der mir weit 
mehr Interetie und Sympathie erweck^ als PaizHal oder «b Si^fUed. 



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— 35 — 



Dichtungen, Stanzen, namentlich an verschiedene Personen 
gerichtete Gelegen heitsverse und dergl. Von allen diesen 

Dingen spricht Schiller nicht; Goethe äullerte sich aber zu 
Eckermarin ganz entzückt von ihnen. Als dieser ihm er- 
zählte, daß er wenig so Schönes i<enne, wie Voltaire's kleine, 
an Personen gerichtete Gedichte, so erwiderte Goethe: 
Eigentlich ist alles gut, was ein so großes Talent wie 
Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten 
gelten lassen möchte. Aber Sie haben nicht Unreclit, wenn 
Sie so lange hei meinen kleinen Gedichten an Personen ver- 
weilen; sie L^ehören ohne Zweifel zu den liebenswürdigsten 
Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die 
nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmut wäre.« 

Was aber eben die vielen kleinen, besser gesagt: kurzen, 
Dichtungen Voltaires betrifft, so finde ich") unter ihnen so 
viel Schönes, so viel Geist, oft solche Wärme und zum 
mindesten eine so wohltuende Liebenswürdigkeit, daß ich 
es fQr ein nfltztiches Werk halten wQrde, eine Auswahl dieser 
Dichtungen (mit den mitunter notwendigen historischen Er- 
läuterungen, wie wir deren ]a auch bei der griechischen 
Anthologie, Horaz, Properz u. a. nicht entbehren können) 
herauszugeben. Auch mehrere seiner didaktischen oder 
philosophischen Dichtungen könnten mit aufgenommen 
werden, denn es gibt einige darunter, die den Vergleich 
mit Lucrez durchaus nicht zu scheuen brauchen, ja, sie an 
Lebendigkeit bd weitem übertreffen. Die wenigsten, selbst 
Itterarisch Gebildeten, kennen diese Sachen, es fällt niemanden 
dn, sie anzusehen, und doch errdchen oder Qbertreffen sie, 
nach mdnem Geschmack wenigstens, so vieles andere in 



*) Bei Urteilen über Kunstwerke ist die einzig berechtigte und 
mgleich bescheidene Art, sich auszudrücken, in der ersten Person und 
Einzahl zu sprechen, also zu sagen: Ich finde das so und so; nicht 
aber, wie es üblich ist, in der ronn der Allgemeinheit: Wir finden 
oder man findet. Denn letzteres setrt voraus, daß jeder »Sach- 
verständige« notwendig dieselbe Ansicht haben werde oder solle, wie 
der Kiitiker, wdl nur sie — nach seiner Am Idit die objektiv ricbtlge Iii. 

3» 



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— 36 — 



diesem Oenre; objektiver gesprochen: ich glaube^ daß sie 
den Lesern, die sie jetzt nicht kennen oder nicht kennen 
lernen wollen, weil Vorurteile sie verblenden, ebenso viel 
oder noch mehr VeignOgen machen würden, wie analoge 
weltberühmte Dichtungen, die wir namentlich von den 
Griechen und Römern besitzen/) 

Selbst ein so prinzipieller Voltaire-Verklelnerer wie Emil 
Faguet sagt, daß, wenn Voltaire nur seine kleinen Verse 
gemacht hätte, er in der französischen Literatur einen obersten 
Platz einnähme und die berühmtesten Schriftsteller neidisch 
machen könnte; und ein anderer Voltaire-Verldeinerer, näm- 
lich der Historiker Schlosser, meint, i,die sogenannten Fugltives 
allein würden Voltaire's Unsterblichkeit sichern.'* Hat Schiller 
diese Dichtungen nicht gekannt? Oder auch in ihnen keinen 
DichteriMruf erkannt? 

Von den Tragödien Voltaire's sprachen wir schon und 
wollen noch hinzufügen, daß sie noch in der napoleonischen 
Zeit allgemein bewundert wurden. Nehmen wir weiter 
hinzu, daß seine Henriade nicht nur in Prankreich, sondern 
in ganz Europa mit Entzücken aufgenommen wurde, so 
müssen wir wohl oder übel nicht nur den Tadel Schiller' s, 
sondern überhaupt jeden Tadel, und nicht nur Voltaire's, 
sondern jedes Dichters und jedes Kunstwerics, für sehr 
»verdächtig« haHen. 

In der Tat, solche Widereprüche zwischen den Wir* 
kungen schriftstellerischer Leistungen und den Beurteilungen 



*) Wie bei allen Anthologieen lyrischer Dichtungen müsste auch 
bei den Voltaire' sehen nur eine relativ kleine Anzahl ausgewählt wer- 
den. Selbst unter des OroBmelstm der L^k, nämHcli Ooethes, Ge- 
dichten dürfte wohl nur wenfger als cm Dritteil mit Vergnügen 
wiederholt gelesen werden, um so strenger müsste bei allen anderen 
Lyrikern die Auswahl geiroffen werden, wenn man nicht ihre Wirining 
durdi Verdünnung: mit unwirksamen Produkten ihrer Muse schwächen 
will. Am wenigsten Spreu adieint sich bei Heine zu finden. 



— 37 — 



derselben belehren uns unwiderspredilich darüber, dafi 
niemand» auch ebi so emster Ästhetiker wie Schiller nicht, 
die Berechtigung und Fihigiceit besitzt, Ober Kunstwerke 
em abschließendes und allgemein giltiges Urteil abzugeben; 
und zwar aus dem Grunde, weil es eben im GebiLte des 
Schönen, (im allgemeinen Sinne genommen) d. h. bei ästhe- 
tischen Werturteilen keinen absoluten Malistab gibt. Und 
ein absprechendes Urteil ist nicht nur nicht allgemein- 
giltig, sondern ganz ohne Sinn, im Falle auch nur einzelne 
gegenteilio^e Erfahrungen vorliegen, ja, wenn auch nur eine 
einzige solche Erfahrung vorliegt. 

Diese Ansicht, daß ein einziger Fall einer ästhetischen 
Wirkung ein darauf hin konzipiertes Werk trotz etwaiger 
unzähliger Fälle von MiI5fallen an demselben es dennoch 
als ein Kunstwerk dokumentiere, wird gewiß nicht wenig 
paradox erscheinen; und doch ist sie» allerdings unbewußt» 
etwas ganz Alltägliches. 

Denn: Wen immer ein Werk ästhetisch berührt, der 
wird dieses sein Gefallen daran nicht wegleugnen, nicht 
vor sich selbst degradieren, wenn auch noch so viele 
private und öffentliche Mißfallens -Urteile ausgesprochen 
würden ; nur ganz ausnahmsweise finden sich solche schüch- 
terne Naturen, die ihre eigene Empfindung als wertlos gegen- 
über allen andern ansehen; besser gesagt: sie halten ihren 
Eindruck, ihr unmittelbares inneres Urteil als Tatsache zwar 
aufrecht, getrauen sich aber nur nicht» es vor den anderen 
auszusprechen. 

Und was die produzierenden Künstler betrifft — diese 
rechnen jedes menschliche Individuum, dem ihre Sache ge- 
^It, es sei wie immer beschaffen, für voll, und ihr ehr- 
liches, sachliches Bedürfnis, — wenn es wirididi ein solches 
ist — andere JMenschen ästhetisch zu erregen, wird schon 
dann, wenn auch noch nicht In gewünschtem vollem 
MaBe^ befriedigt, wenn auch nur Ein Mensch von ihrem 
Werte isthetisch getroffen wird; es sei das ein Gelehrter 



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- 38 — 



oder ein Ungelehiier, ein Mann oder eine Fiati, eventudi 
ein Bauer, ein Kellner oder eine Köcliin. 

Und ein solcher Künstler, dem es, wie ich hier voraus- 
setze^ nicht um den Lärm und Ruf seiner Person in der 
Öffentlichkeit, sondern um Hervorrufung rdn künstlerischer 
Empfindung zu tun ist, hat Recht daran, sich — wenn auch 
nicht in seinem Ehigeiz, so doch in seinem ästhetischen 
Triebe — in solchen Fällen befriedigt zu ffihlen; denn es 
ist ein Mensch, der Ihn, d. i. seine OefQhle^ verstanden 
hat, und das will nicht wenig besagen 1 Der unwillkflriichen 
Anericennung des Wertes einer ästhetischen Zustimmung 
auch nur eines einzigen Menschen, er sei sozial oder in- 
tellektuell noch so tief stehend, liegt aber ein tiefes ethisches 
Moment zugrunde; nämlich die ganz unbewuBte und un- 
willkflriiche Anerkennung der Bedeutung eines jeden mensch- 
lichen Indhrfduums im Gebiete der Empfindung, -r- 

Der Leser möge diese Digression seiner ernsten Be- 
trachtung unterwerfen und sie an seinen Erfahrungen prüfen, 
er wird deren Richtigkeit und deren ethische Bedeutung 
wohl imiTKT mehr erkennen; nunmehr aber wollen wir zu 
dem speziellen Falle Voltaire's weiter Stellung nehmen. 

Die unumstößliche Tatsache, auf der wir fußen müssen, 
ist doch die, daß VoHaire zu seiner und auch noch zu einer 
viel späteren Zeit, ungefähr bis zum Be^'nn der Restau- 
ration, von der intelligentesten und höchstkultivierten Oesell- 
schaft Europas als bedeutender Dichter — er galt als der 
größte Poet Europas und das war wahr , sagt Eaguet — 
anerkannt und gefeiert worden ist. Unter anderm auch von 
Friedrich dem Großen; den man vergebens davon aus- 
schließen will, hier mitzusprechen; eigentlich bloß darum 
ausschließen will, weil er an Shakespeare, an Cjoethe's Götz 
von Berlichingen und der ganzen damaligen deutschen 
Dichtkunst keinen Gefallen fand. Aber Eriedrich hat das 
Recht auf seinen Geschmack ebenso gut, wie jeder andere, 
also auch wie irgend ein, etwa sehr angesehener, Literar- 



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— 30 - 



historiker, Ästhetiker oder Student an einem germanischen 
Seminar; und wenn jener große Mann die Schriften Voltaire^ 
so sonderbar das auch heute anmutet, Ober die Meister- 
werke der Alten, z. B. die Henriade Ober die iiias und 
Aneide, stellt, sie, wie er ihm einmal schreibt, wiederholt 
liest, so ist dies doch das Höchste an Anerkennung und 
faktischer ästhetischer Wiikung, was man von einem Dichter- 
werke überhaupt erwarten kann. Und ahnlich wie Friedrich 
urteilten die glänzendsten Ödster der Zeit, darunter ein 
D Alembert, eine Frau von Epinay, Du Deffand u. a. 

Ich möchte hier noch speziell die Ansicht eines der 
feinsten und edtlsien Geister des 18. Jahrhunderts über 
Voltaire's Leistungen als Dichter anführen, nämlich jene von 
Vauvenargues. Als Vauvenargues seine »Reflexions« im 
Jahre 1747 — seinem Todesjahr — veröffentlichte, war 
Voltaire erst in der Mitte seiner Laufbahn, hatte also noch 
viele seiner größten Leistungen nicht vollbracht. 

Vauvenargues sagt nun in dem Aufsatze »Sur quelques 
ouvrages de Voltaire«: .... 

Es steht mir nicht zu, eine Kritik aller seiner Schriften 
zu geben, da sie doch meine Kenntnisse und Einsichten 
weitaus übertreffen. Also will ich auch nicht von der 
* Henriade sprechen, die trotz der Fehler, die man ihr vor- 
wirft und jener, die wirklich darin vorkommen, dennoch 
unbestritten für das größte Werk dieses Jahrhunderts gilt 
und für das einzige Werk dieses Genres bei unserer Nation. 
Ich werde auch wenig von seinen Tragödien sprechen: 
Da es nicht eine derselben gibt, die nicht wenigstens ein- 
mal in jedem Jahre gespielt wird, so können auch alle, die 
nur einen Funken von gutem Geschmack (besitzen, in ihnen 
die Originalität ihres Autors bemerken, die großen Oe- 
danken, die gUnzenden poetischen Stflcke, Tetle^ die sie 
verschönem, öät starke Bdiandlung der Leklenschaften und 
die ktlhnen und erhabenen ZQge^ von denen sie voll sind .... 
Wenn es Leute gibt, die denken, daß Voltaire im allgemeinen 



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— 40 — 



nicht glücklich ist in der Erfindung oder in dem Oewebe 
seiner Handlungen, so . . . begnüge ich mich damit, zu er- 
widern» da6 derselbe Fehler» den man VoUaire vorwirft, mit 
vollem Recht auch mehreren ausgezeichneten Weiken vor- 
gehalten wurde, ohne ihnen Unrecht zu tun. Die Lösungen 
des Knotens bei Molite sind ebenfalls wenig geschätzt, 
und der »Misanthrop«, das Hauptweik der Komödie^ ist 
ohne alle Handlung. Aber es ist das Privilegium solcher 
Männer wie Molite und Vollaire, liewunderungswardlg zu 
sein, trotz ihrer Fehler und zuweilen sogar In ihren Fehlem 
selbst« — 

Wie wollen die Tadler der Voltahie*schen Dichtung 
nun gegen diese Tatsachen ankämpfen? Vermögen sie diese 
Urteile aus der Welt zu schaffen? Wollen sie jene Ödster 
herabsetzen? Sie verächtlich machen? Alle Schriften mit 

Lobeserhebungen, alle för Voltaire begeisterten Abhand- 
lungen und Briefe in einem Mörser zerstampfen? Oder 

verbrennen? Und i^^laubt wirklich jeder in unseren Tagen 
geborene Jüngling, dtr dc^r alt-klassischcn oder der neu- 
teutonischen Richtung oder welcher Richtung immer huldigt, 
den GröÜen des 18. Jahrhunderts gegenüber im ästhetischen 
Oeschmacksurteil die höhere Instanz abgeben zu können? 
Vergebliche Muhe! 

Es ist unmöglich, jemandem vorzuschreiben, was ihm 
gefallen soll, auch unmöglich, vorher zu wissen, was ihm 
gefallen wird, und unberechtigt wäre es, irgend jemand 
wegen seiner individuellen Geschmacksrichtung zu tadeln 
oder zu loben. 

Es ist ferner aber auch ganz und gar kein Grund 
vorhanden, ästhetisches Gefallen oder Missfallen 
an iroend einem Kunstwerk für eine so wichtige 
Sache anzusehen, dass man sie zu Kampf- oder 
Streitobjekten ausersieht; während hingegen die all- 
tägliche Erfahrung lehrt, dass die Streitigkeiten über ästhe- 
tisches Gefallen oder Missfallen im persönlichen Vericehr» 



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— 41 — 



wie in den öffentlichen Kundgebungen der Kritiker gar nicht 
aufhören. Die Intoleranz der menschlichen Natur zeigt sich 
im Oebiet der Kunstbeurteilung ganz so, wenn auch ohne 
entfernt so furchtbare Konsequenzen, wie im religiösen Oe- 
biet. Und wenn es sich um einen Meinungsaustausch über 
ein Kunstwerk handelt, so muss man fast immer darauf ge- 
faßt sein, von der Person, die eine andere Auffassung hat, 
beleidigt zu werden. Denn gewöhnlich hält jeder seine 
eigene Beurteilung irgend eines Kunstwerks für einen Aus- 
fluss, also auch schon darum für einen Beweis, seiner fei- 
neren, tieferen Natur, besseren Urteilskraft oder mindestens 
seiner grösseren Bildung. 

Indessen bleibt doch nichts anderes vom Standpunkt 
der Gerechtigkeit aus übrig, als jedem seine üeschmacks- 
berechtigung zuzuerkennen, die positiven Tatsachen, d. h. 
die Fälle des ästhetischen Gefallens, zu registrieren und auf 
Grund dieser Tatsachen zu sagen: Diese Tatsache beweist 
die ästhetische Eigenschaft dieser oder jener Dichtung, und 
zwar nur für die bekannten positiven, günstigen Fälle; aus 
dem sehr einfachen Grunde, weil eine ästhetische Eigen- 
schaft und Beschaffenheit eines Werkes ja in gar nichts 
anderem besteht, als eben in einer solchen Tatsache. Ne- 
gative Fälle, d. iL solche, in denen ein Werk nicht gefällt, 
auch in noch so grosser Anzahl, beweisen also nichts gegen 
den Wert desselben, sobald es irgendwann wirklich gefallen 
hat, denn eine positive Tatsache kann nicht durch noch so 
viel entgegenstehende ausgelöscht werden; In ähnlicher 
Weis^ wie wir eine Fiau nicht unfruditbar nennen können, 
wenn sie noch so oft Früh- oder Fehlgeburten, endlich aber 
doch eine Nonnalgeburt zur Welt gebracht hätte; 

Man kann also, nach allen hier angegebenen Dedudionen 
objektive Werhirteile in der Kunst weder auf einer theore- 
tischen Basis, d h. auf Kunstgesetzen, noch auf der prak- 
tischen Grundlage ästhetischer Erlahrungszahlen aufbauen. 
Es gibt keine aristokratische und keine demokratische Asthe> 



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— 42 — 



tik, sondern nur ein uneingeschränktes Recht jedes einzelnen 
Individuums auf sein OefaUen oder Mi$$falien. Der Ver- 
such, eine Ästhetik, »von unten«, statt »von oben« zu be* 
gründen — wie das Fechner versuchte — ist daher ganz 
aussichtslos ; hier entscheidet keine Statistik, keine Mehrheit 
oder Minderhdt, sondern nur jeder Einzelne. 

Also jene ffir die Ästhetische Ericenntnistheorie allein 
maßgebende Tatsache Ist in unserni Falle die: daß Voltaire 
als Dichter seineizelt vielen und sogar geradezu den söge* 
nannten Besten seiner Zeit — obwohl das hier irrelevant 
ist — genug getan hatten und damit ist bewiesen, daß er 
bereits ästhetisch gewirkt hatte; das genfigt aber, trotz Schiller 
und aller anderen, um zu behaupten: Er war ein Dichter. 

Eine solche positive Tatsache nimmt allen absprechen- 
den Urteilen jede Bedeutung und jede Berechtigung, und 
wenn sie von noch so vielen, noch so gebildeten oder be- 
deutenden Menschen, und während noch so langer Zeit- 
räume, gefällt werden. Und es ist auch unmOglkh, über 
das Talent eines Könstlers mehr auszusagen, als: eine 
ästhetische Wirkung zu gewisser Zeit und bei gewissen 
Menschen hervorgebracht zu haben. Ob diese Wirkung 
nun länger oder kürzer dauL-ri, oder gedauert hat, — bei 
Voltaire dauerte sie übrigens nahezu an hundert Jahre, was 
außerordentlich viel ist — bei vielen oder wenigen Menschen 
vorhanden war, ist iiiir ein äuBerlicher Umstand. Daß aber 
Dauer oder Umfang einer künstlerischen Wirkung garnichts 
für den absoluten ästhetischen Wert eines Kunstwerks be- 
weist, lehrt die Literatur- und Kunstgeschichte in unzweifel- 
hafter Weise. Es gab immer gegnerische Stimmen, die sich 
weder durch Dauer, noch durch Umfang der ästhetischen 
Anerkennung imponieren liessen, und auch nicht durch 
das Lob der Höchst^^ebildeten oder der Künstler selbst. 
Man kann ja niemals wissen, wann der Geschmack, sei es 
bei den einzelnen Lesern, sei es in ganzen Gesellschafts- 
schichten, sich wieder ändert, vielleicht auch wieder zu seinen 



— 43 — 



froheren Sympathien zurOckkehrt Und so kann es wirklich 
geschehen — und die Liteiahiigeschichte zeigt das öfter und 
gerade bei Schüler selbst ganz deutlich — daß der oder jener, 
früher dnnud als groß anerkannte Dichter im Laufe der Zd^ 
also wahrend irgendwelcher nahen oder fernen Zukunft, oder 
auch mehrerer Zukfinfte^ mehrmals auf- und dann wieder 
untertaucht Und jede solche Epoche hat in der günstigen 
oder ungünstigen Art ihrer Beurteilung ihrer Weike gteich 
und vollkommen recht; denn, wer hat die Befugnis, zu sagen: 
»Dieses oder jenes frühere Urteil gilt nicht? Nur das 
heutige, oder: nur meines — gilt?« 

Kurz: Über eine solche nur relative BcdLulung, über die 
blosse Sackgasse tatsächlich \ orhanden gewesenerästhetischer 
Wirkungen kommt kein KünsUer je iiinaus/) 

* 

Auch die kritischen Urteile Voltaire's über die 
Werke der schönen Literatur wurden benfitzt, um ihn zu 
verideinem. 

Aus den obigen Ausführungen folgt wohl unzweifdhaft, 
schon im Vorhinein, daß, erkenntniskritisch genommen, 
weder Voltaire's Urtdie noch die sdner Cegner von iigend 
dnem objekHven Wert sdn können. Aber sdbst vom 
Standpunkte der bisherigen, sich für unfehltNu- haltenden 
ästhetischen Kritik aus ist es Iddit, zu erkennen, mh wdcher 
ganz unberechtigten Süffisance oft Voltaire's Ansichten als 
falsch, ja als absurd, hingestdh werden* Außerästhetische 
Antipathien, sowie auch direkt künstlerische Oeschmacks* 
verschiedenhdten und, natüriich nicht zuletzt, die kindische- 

*) Ober alle diese ästhetischen Grundansichten möge man die 
betreffenden Stellen ansehen in meinen Werken : • Das Recht zu leben . . .< 
(S. 10 der l.und S 16 und 17 der 3 Auflage); »Die technischen Fort- 
schritte . . • (S. 23 und 24); >Phantasien eines Realisten« (Die Erzählung : 
Traurige Schicksale eine«; Dichter? im 2. Teil dieses Buches). Analoge 
Ansichten entwickelte auch der verstorbene Schriftsteller und Dichter 
Eduard Kalke in versdiiedenen Monographien. 



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— 44 — 



sieit Anschauungen bezQgUch des objektiven Wertes aller 
derartiger, noch so schön herausaigumentierter, Ansichten 
ermöglichen es den Asthetiicem, im Schulmeisterton die von 
den ihrigen abweichenden Ansichten Voltaire's verSchtlich 
beisdte zu werfen, ja mitunter wie etwas unbegreiflich 
Dummes zu stigmatisieren. 

»Voltaire,« meint Faguet, »liebte die Literatur, ohne sie 
gut zu verstehen.c Er hStte dso wohl die Voriesungen 
Faguet's hören müssen, um Literatur zu verstehen? 

»Er stellte« — heißt es weiter und man vernehme 
doch das Furchtbare! — »Tasso und Ariost über Homer ; 
und — womit die ästhetischen Verbrechen Voltaire's den 
Gipfelpunkt erreichen — *Pindar existiert nicht für ihn — 
. . . vom lateinischen Ahertum bleibt ihm nur Horaz und 
Virgil, i 

Vergebens sucht man bei Fag^et eine Begründung da- 
für, Homer über Tasso und Ariost steilen zu müssen; 
und hätte eine solche überhaupt irL^^end weichen Wert? Aber, 
aus ganz unbegreiflichen Gründen bestreitet Faguet Voltaire 
das Recht, seinen eigenen Geschmack zu haben, einen 
anderen Geschmack nämlich, als er, der Literar-Historiker 
Faguet. Und mit welchem Schaudern berichtet uns dieser, 
daß Pin dar nicht für ihn existierte ! Was lie^ denn aber 
daran, frage ich, wenn für jemanden Pindar nicht existiert?* 
Sieht denn ein solcher Ästhetiker c^arnicfit ein, wie sozusagen 
gewahtätig, aggressiv und hochmütig er vorgeht, wenn er 
durch bloße gedruckte Grimassen Ansichten Anderer ver- 
ächtlich machen will? Und das erlaubt sich ein Faguet 
einem Voltaire g^nüber! Nicht einmal die Oleichberechti- 
gung des Geschmacks Voltaire's erkennt er an. Gibt es 
größere Charlatane als die landläufigen Ästhetiker und Kri- 
tiker mit »positiven c ailgemeinen Ansichten? 

*) Nebenbei sei bemerkt, dass Schüler (im Jatire 1794) an Kömer 
sdirieb: „Pindar hat mir nie behagen wollen", und dass Körner dieselbe 
Empfindung hatte. 



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— 45 — 



Das wird auch in nicht wenig erhdtemder Weise etn- 
leuchfen, wenn man liest, da6 Voltaire Homer denselben 
Vorwurf macht, den Schiller — Voltaire wegen seines 
»Nicht-Herzabdrilckens« macht Im Artikel »Epopöe« in 
seinem philosophischen Wörterbuch heißt es, Homer habe 
große Fehler, schon Horaz gestehe das zu und auch sonst 
alle Männer von Geschmack; nur dn Kommentator könne 
blind genug sein, um das nicht zu sehen. »Homer hal 
nie Tränen hervorgelockt. Der wahre Poet scheint mir 
jener, der die Seele bewegt und rührt; die andern sind 
bloße Schönredner.« Merkwürdig ist allerdingfs die sozu- 
sagen erkenntniskritische Vorsicht, mit der Voltaire dann, 
weit entfernt von dem apodiktischen Ton Scfiiller's, diesem 
Urteil den Satz hinzufügt: ich bin weit entfernt, diese 
Meinung als Regel vorzuschlagen.* i-lch gebe meine An- 
sicht, sagt Montaigne, »nicht als gute, sondern als die 
meine. ^ — 

Am bekanntesten, man könnte beinahe sagen: am po- 
pulärsten unter den Vorwürfen, die Voltaire als ästhetischem 
Kritiker gemacht werden, ist der, er habe Shakespeare 
verunglimpft und überdies auch nicht verstanden. 
Nicht gering ist die Verachtung, welche namentlich die 
Deutschen bis auf den heutigen Tag deshalb — demjenigen 
entgegenbringen, der als der Erste Shakespeare üt)erhaupt 
auf unserem Kontinent propagierte; der niemals, auch in 
seiner heftigsten Polemik, aufhörte^ sein Genie zu bewundem, 
und nur gegen das bei Shakespeare zu Felde zog, was er 
als Rohheiten und Geschmacklosigkeiten ansah. 

Bei dieser Gelegenheit, dem Falle Voltaire-Shakespeare, 
aber ist es vielleicht deutlicher, als irgendwo im Gebiete der 
literarisch-ästhetischen Kritik zu sehen, welcher Mangel an 
Oeiechtigkeitssinn bei deren Vertretern zu finden ist; ich 
meine hiermit nicht Voltaire^ sondern seine Gegner in dieser 
Sache* 

Schon die noch immer herrschende Meinung, man könne 



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— 46 — 



Oberhaupt in dem Gebiete des Oeschmacks etwas Entschei- 
dendes sagen — als etwas, das über die bloße ästhetische 
Beichte des einzelnen Individuums hinausgeht — beweist, 
dass man nicht den Oerechtigiceitssinn besitzt, nach ent- 
gegenstehenden Ansichten genügend heramzuhorchen, und 
selbst wenn man das getan hat, ihnen gleiches Recht mit 
seiner eigenen einzuräumen. 

Aber abgesehen von dem Fehlen dieser allgemeinen Er- 
kenntnis zeigt sich auch in den einzelnen ästhetischen Streit- 
fragen fast niemals das Bedürfnis, entgegenstehende Instanzen 
aufzusuchen und sie, wenn selbst erkannt, zu berück- 
sichtigen. 

Schon oben bei Besprechung von Faguets Bemängelung 
der Voitaire'schen ästlietischen Ansichten konnten wir das 
beobachten; er, wie alle andern, vindizieren sich ein Privi- 
legium und eine höchste Instanz des Oeschmacks, ohne sich 
durch irgend etwas irre machen zu lassen. 

Bei der Sache Voltaire-Shakespeare aber kann man, wie 
sofort ersichtlich sein wird, von vollstandi^rer, ich möchte 
sagen allseitiger Blindheit oder Selbstverbiendung sprechen. 

Vorerst, als allgemeinster Punkt: Man darf niemandem 
einen Vorwurf daraus machen, wenn er gewisse Eigen- 
tümlichkeiten eines Dichters nicht vertragen kann; man kann 
ihm nur eventuell den Vorwurf machen, seinen persönlichen 
Widerwillen als allgemeingiltig hinzusteilen, aber nicht den, 
er verstehe jenen Dichter und die Schönheit gerade dieser 
Eigenschaften nicht; und noch weniger darf man dies in 
einer Form und in einem Tone tun, als ob damit eine In- 
feriorität seiner ganzen Individualität dargetan wäre^ wie das 
bekanntlich üblich ist. 

Des ferneren darf man hierbei nie den Charakter jenes 
Kritikers verdächtigen, und ohne Beweis behaupten, er tadle 
aus Neid, wie das so oft Voltaire gegenüber behauptet 
wurde; und bei ihm um so weniger, zumal er stets die 
grOsste Bewunderung für Shakespeare zeigt /Man sehe z. B. 



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— 47 — 



im philosophischen Wörterbuch den Aufsatz Vom Ver- 
dienste Shakespeare s im Artikel Art dramatique«: 

»Die Italiener, die Franzosen, die Schriftsteller alier an- 
deren Lander«, heisst es dort, »welche nur kurze Zeit in 
England verweilt haben, halten ihn (Shakespeare) nur für 
einen Markt -Hanswurst, für einen Spaßvogel, noch weit 
unter Harlekin, für den verachtens würdigsten Possenreisser, 
der je das Volk unterhalten hat. Und doch findet man in 
demselben Manne Stücke, die die Einbildungskraft erheben 
und das Herz durchdringen. Hier ist Wahrlieit, hier ist es 
die Natur selbst, die ihre eigene Sprache spricht, ohne alle 
Beimischuno^ von Kunst, hier ist Erhabenheit und doch hat 
sie der Autor nicht gesucht. 

Und im Aufsatz über die englische Tragödie sagt Vol- 
taire: »Er hatte ein Genie voll Kraft und Fruchtbarkeit, ein 
erhabenes Naturell« — und nun kommen seine Einwen- 
dungen — »ohne geringsten Funken von Oeschmack und 
ohne Kenntnis der Regeln.« 

Und wie wenig neidisch Voltaire flberhaupt war und 
wie intensiv er Schriftsteller und Dichter bewundem und 
4tffentlich preisen konnte^ zeigen am besten seine Urteile 
über Radne und Moli^ die er Qb^ alle anderen Drama* 
tiker der Weltliteiatur stellt 

Was aber, zum dritten, diese Scheu vor den behaup- 
teten Geschmacklosigkeiten Shakespeare's betrifft, so existiert 
sie in höherem oder minderem Grade auch selbst bei seinen 
Bewunderern. Schon Wieiaiid in den Noten zu seiner Über- 
setzung sprach sich in ähnlicher Weise wie Voltaire aus, ) 
und bis auf den heutii^^en Tag werden Shakespeare's Dramen 
für unsere Bühne bearbeitet und mannigfaltig zugestutzt, 
obwohl sie doch von dem Theaterdirektor Shakespeare 
schon als Bühnenstücke verfallt wurden. Voltaire zitiert in 
semer Lettre ä l'Academie die Mitteilung Marmontel's, der- 

*) Dieses Datum entnehme ich Mahrenholtz' Voltiiiebfographie. 



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— 48 — 



zufolge man Shakespeare in Englands Theatern immer mehr 
kürzt, und der berühmte Garrick habe in letzter Zeit auf 
seiner Bühne die Totengräberszene im Hamlet, sowie fast 
den ganzen fünften Akt unterdrückt; das Stück sei aber 
mehr als je applaudiert worden. 

Auch werden wenige unter uns die vielen Silben- 
stechereien, Wortwitzeleien und deigl. schön oder künstle- 
risch finden, und wenn Voltaire gewisse sehr naturalistische 
Reden oder Szenen tadelt, so ist zu bedenken, dafi dem 
Widerwillen gegen Nahiralismus in der Kunst überhaupt 
keine Grenze gezogen werden kann; schon darum nicht, 
weil, abgesehen von der Verschiedenheit der Oeschmacks- 
richtung, der Naturalismus selbst keine festen Grenzen be- 
sitzt Und selbst innerhalb desselben Volkes und inner- 
halb derselben BiMungsschichte der Oesellschaft finden sich 
stets viele^ die z. B, den modernen Naturafisten gegenüber 
genau so empfinden, wie Voltaire Shakespeare gegenüber. 

Es handdt sich hier immer nur darum, wie weit der 
Geschmack jedes einzelnen duldsam sein will; daß man 
überhaupt vor dem oder jenem Widerwillen empfindet, ist 
niL-mandem zu verargen und jeder ohne Ausnahme hat da 
seine Oeschmacksgrenze, über die hinaus er (zu L^ewisser 
Zeit) nicht mehr Toleranz üben will; allerdings können 
diese Grenzsteine sich mitunter durch Alter, größere Bildung, 
Suggestion usw. sehr verrücken. Ganz plastisch, aber nicht 
minder naturalistisch als etwa Shakespeare selbst dem Ge- 
schmack VoUaire's erschien, drückte dieser seine ästhetische 
Opposition in einer Gesellschaft aus, die ihn in Ferney be- 
suchte. Ein Engländer, namens Moore, verteidige seinen 
Landsmann Shakespeare gegen VoUaire's Tadel und meinte, 
diese von ihm so verpönten Naturalismen seien doch »in 
der Natur«. 

^Oanz wohl, erwiderte Voltaire in seiner impulsiven 
Weise, die ihn mitunter den gesellschaftlichen feinen Ton 
vergessen ließ, mit Erlaubnis, mein Hinterer ist auch in der 
Natur, aber ich tra^e dennoch Hosen!« 



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— 40 — 

Selbst in Deutschland wird und wurde Shalcespeare 
nicht so unbedingt akzeptiert und in den Himmel aller 
poetischen Vollkommenheiten gehoben, wie es die hitzigen 
liierarischen Gegner Voltaire's gewQnscht hattea Schon 
Merck, der Freund Goethes, rief den Stflrmem zu: »Shakespeare 
hat euch ganz verdorl>en!« 

Auch in der neuesten Zeit finden manche den Mut, 
an Shakespeare ziemlich wesentliche Mängel zu prokla- 
mieren.*) In einem alierneuesten Werke, das Shakespeare 
behandelt, wird — nach einem Referate, das Werk selbst 
kenne ich nicht ~ der so oft ins Auge Springende Mangel 
einer einheitlichen dramatischen Komposition .... einer 
respektvollen, aber eingehenden und sagen wir es offen, 
notwendig gewordenen Kritik unterzogen. Welche 
Mängel aber auch die Architektur seiner Form auf- 
weisen mag . . . usw.- 

Und ein anderer Schriftsteller unserer Zeit, der davon 
spricht, daß im Shakespeare'schen Drama :»das Tragische 
sich aus dem Charakter entwickelt^ bemerkt dazu: »Es 
wurde schon von anderen bemerkt, daß Shakespeare's 
Tragik ihre starken Bedenken hat« 

Die oben angeführte Stelle Ober die »Mängel einer ein- 
heitlichen dramatischen Komposition«, steht ja den Vollatre'- 
schen Ausstellungen an Shakespeare's Dramen ganz nahe^ 
und die Geschichte des französischen Theaters zeigt Über- 
dies tatsächlich, wie sehr Voltaire im Sinne des Geschmacks 
der Franzosen urteilte. 

Bezeichnend hierfür ist die Tatsache, daB noch im jähre 
1829 das dazumal hochangesehene »Journal des D6bats< von 
Kean's Darstellung des »Lear« schrieb: »Er hat dnige 

•) Ich spreche hier von solchen tadelnden ÄuReriirij^ren durchaus 
nicht als objektiv giltigen oder als von mir ebenfalls akzeptierten An* 
skhten : ich relFeriere nur Tatsächliches behufs Beleuchtung des in Rede 
tteiieiulen Oegenttandes* 

Popper» Vohair»» 4 



— 50 - 



Perlen in dem enormen Misthaufen zu finden gewußt, den 
das Stück darstellt.«*) 

Vor kurzem berichtete der Dichter und Schriftsteller 
Alfred Klaar (in der Vossischen Zeitung*^ vom 30. Juli 1904) 
in dem Auf satze: * Pariser Theatereindrücke« Ober »Hamlet in 
Paris*, Hier wird mitgeteilt, wie Voltaire's Hamlet -Urteil 
für lange Zeit in Frankreich den Ton angab; daß bei den 
Fnuizosen die rasche Aktion das stärkste Lebenselement im 
Drama sei und daher die heutige bedingte Geltung Shake* 
speare's in Frankrdch dadurch ermöglicht wurde, daß man 
»Stellen ausschaltet, die für uns spiichwörtiich geworden 
sind — vieles Gedankliche fallen läßt, aber den Körper der 
Handlung mit größter Deutlichkeit und SinnfSlIigkeit aus- 
arbeitet«. Und allen diesen Bemericungen über das StQck 
und Qber die Aufnahme desselben beim Pariser Publikum 
folgt ein prächtiger, ästhetisch wertvoller und ethisch hoch- 
zuschätzender Satz, wie man einem ähnlichen in der litera- 
rischen Kritik nur selten begegnet »Die Nationen,« heißt 
es dort, »bilden verschiedene Seiten der Betrachtung in sich 
aus; aber jede fortschreitende dringt an den Kern des Mensch- 
lichen; langsam oder rascher, je nachdem ihrer Art; das 
Leben zu nehmen, das Problem näher oder ferner liegt . . .« 

Dieser Äußerung wahrer Gesittung möchte ich aber 
auch eine Bemerkung Voltaire's selbst anfügen, die ihr sehr 
nahe verwandt ist. In dem Autsatz »Du theätre Anglais par 
J4rome Carre« (aus dem Jahre 1761) sat^^t Voltaire: Zwei 
kleine englische Bücher belehren uns, dass diese durch so 
viele gute Werke und g^roße Unternehmungen berühmte 
Nation auch noch zwei ausgozcichnete tragische Poeten be- 
sitzt; der eine ist Shakespeare, von dem man versichert, 
er lasse Corneille weit hinter sich; und der andere der sanfte 
Otway, weit erhaben über den sanften Racine. Da dieser 

*) Mitteilung von j. J. Renaud m der »Grande Revue« vom 15. Okt. 
1904 (nach <L »Iii EdK»). 



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51 — 



Streit nur eine Sache des Geschmacks betrifft» so scheint es, 
daß man den Engländern hierauf nichts zu erwidern hat 
Wer kann eine ganze Nation verhindern, einen 
Dichter ihres Landes mehr zu lieben als den eines 
anderen? Man kann doch einem ganzen Vollce nicht 
beweisen, daß sein VergnQgen ein unberechtigtes 
sei? . . .« 

Er will aber, daB die anderen Nationen zwischen dem 
Theater von Paris und jenem Londons entscheiden sollen; 
woraus ich schliesse, daB man Voltaire's Kritik Shakespeare's 
weniger als die eines aprioristischen Ästhetikers ansehen 
soll, sondern mehr als die eines Theaterdramaturgen oder 
Direktors, der Dramen sozusagen abschätzt, d. h. auf die 
Wirkung hin beurteilt, die sie in diesem oder in jenem Orte 
und bei diesem oder jenem Publikum zu versprechen schei- 
nen. Ein Standpunkt, der, als ein empirischer, den von oben 
her sprechenden theoretischen, auf scheinbaren Kunst^esetzen 
l)asierenden, jedenfalls an Solidität bedeutend übertrifft. 

Und es ist überaus wohltuend, trotz partieller G eigner- 
Schaft gegen Shakespeare doch keine Spur von Vorein- 
genommen [leit, Parteilichkeit, sondern im Oegenteii den 
höchsten Gerechtigkeitssinn bei Voltaire zu finden. 

In dem eben erwähnten Aufsatz über das englische 
Theater spricht er über den berühmten Monolog im Hamlet 
lind den Geist der englischen Sprache. »Sie weist weder 
die niedrigsten noch die gigantischsten Ideen von sich ; sie 
besitzt eine Cneigie, die andere Nationen fOr Härte halten; 
Kflhnheiten, welche solche Geister, die an fremdartige Wen- 
dungen wenig gewöhnt sind, leicht fOr Oalimathias halten. 
Aber unter diesen Schleiern wird man Wahrheit, Tiefe und 
noch ein gewisses anderes entdecken, das anzieht und uns 
stirker t>ewegt als das jede Eleganz imstande wSre; es gibt 
auch keine Person in England, die diesen Monolog nicht 
auswendig kann. Das ist ein roher Diamant, der 

4* 



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— 52 — 

seine Makel hat; wollte man ihn schleifen, würde 
er von seinem Gewicht verlieren. 

Und da man selbst in gebildeten Kreisen immer nur 
von Voltaire als dem wütenden Gegner Shakespeare's spricht, 
jedoch seine Aufsätze selbst über dieses Thema niemals 
liest, so führe ich aus dieser Abhandlung über >das eng- 
lische Theater« noch eine herrliche Stelle an, die unter 
anderem zeigt, wie überlegen Voltaire selbst auf das von 
ihm befolgte Gesetz der drei Einheiten im Drama herabsieht. 

»Es gibt vielleicht kein größeres Beispiel der Verschie- 
denheit des Geschmacks unter den Nationen. iMan möge 
nach diesem (der Begeisterung der Engländer für Hamlet) 
kommen und uns sprechen von den Regeln des Aristoteles 
und den drei Einheiten und von der Wohlanständigkett» und 
von der Notwendigkeit, die Szene niemals leer zu lassen, 
und daß man niemals eine Person ohne deutlichen Grund 
tkt- oder austreten lassen solle; daß man eine Intrigue mit 
Kunst knüpfen und auf natfirliche Weise auflösen mOsse, 
daß man nur in nobeln und einfachen Ausdrücken und die 
Forsten mit ihrer gewöhnlichen Wohbmständigkeit sprechen 
lassen soll ; daß man sich von den Regeln der Sprache nie* 
mals entfernen dOrfe. Es ist klar, daß man eine ganze 
Nation entzücken kann, ohne sich so viel Mflhe zu 
geben.« 

Wenn man die im obigen zitierten Aussprüche Vol- 
taire's einmal kennen gelernt hat, so muß sich jdoch wohl 
jeder ruhig Denkende fragen: Was will man von ihm? Kann 
man gerechter und vernünftiger sprechen? — 

Besonders ungerecht ist zum vierten die Art, Voltaire's 
Einwendungen gegen gewisse Seiten der Shakespeare'schen 
Dichtung durch nationale Gegnerschaft oder Eifersucht, 
oder durch nationale Beschränktheit erklären zu wollen. Der 
beste Gegenbeweis ist der Umstand, auf den zu meiner 
Verwunderung und wenigstens meines Wissens noch nie- 
mand — sogar Voltaire selbt nicht in seiner Zurückweisung 



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— 53 — 



dieses Verdachtes in der aus dem Jahre 1778 stammenden 
Vorrede zu Irene — aufmerksam gemacht hat, dass Voltaire 
gegen seinen Landsmann Rabelais genau so gewettert hat, 
wie gegen Shakespeare. 

In einer Note zu dem Gedicht »Le Marsdllois et le lk>n« 
sagt er: »Rabelais verschwendete in unwürdiger Weise den 
niedrigsten Unflat . . . RabeUus ist darum nicht weniger 
ein grober Possenreißer, ein Unverschämter in drei Vierteln 
seines Buches, obwohl er der größte Gelehrte seiner Zeit 
war, beredt, lustig und mit wahrem Genie b^;ibt«; und 
noch kraftiger heißt es in dem Artikel, der speziell Rabelais 
gewidmet ist: »Sein Buch ist in Wahrheit eine Anhäufung 
des frechsten und rohesten Unflats, den nur ein betrunkener 
Mönch von sich geben kann . . Hier sind wir also sehr 
nahe bei dem betrunkenen Wilden- , als den einmal Voltaire 
Shakespeare bezeichnete*) 

Nebenbei möchten wir noch bemerken, dali viele Fran- 
zosen, darunter die Höchstgebildeten, z. B. Victor Hugo, 
Rabelais zu den grandiosesten Geistern zählen und an seinem 
>Unflat nicht den |i:eringsten Anstoß nehmen ; während in 
Deutschland ziemlich aligemein ein gerade so großer oder 
noch größerer Widerwillen ^egen Rabelais herrscfit, als bei 
Voltaire gegen die Naturalismen Shakespeare s und wiederum 
bei den Deutschen gegen die — Pucelle ! 

Ein weiterer Beweis dafür, daß Voltaire jede nationale 
Voreingenommenheit fehlte, ist auch dies, dass er Calderon 
über Corneille stellte, was umso mehr ins Gewicht fällt, als 
sich schwerlich ein größerer Kontrast der ganzen Weltan- 
schauung finden läßt, als der zwischen jener des frommen 
katholischen Inquisitors Calderon und der Voltaire s. 

Der hochgesittete Kosmopolit Voltaire besaß eben keinen 
Funken jenes chauvinistischen Oefühls, öas überall, wo es 

*) Es ändert nichts an dem Wert meiner Argumentation, daß 
Volfadie spiter einmal in einem Briefe an Frau du iMfand tcni Be> 
danem darQber iuSeite» R[d>elais to viel Bdees luchgesi^ lu haben. 



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— 54 — 

sich geltend machen kann, nur Ungerechtigkeit oder Bru- 
iaitttt im Gefolge hat »Warum aus einem Gegenstand der 
Literatur eine nationale Streitfrage machen?« fragt er *m dem 
Auszuge aus Lethe de M. de Voltaire k l'Acad^mie Fran- 
^aise (1778) in der Vorrede zu Irene: »Haben die Engländer 
nicht genug Uneinigkeiten? Und haben wir selbst nicht 
genug Händel? Oder vielmehr, hat nicht die eine wie die 
andere Nation genug gro6e Männer in allen Gebieten, um 
nicht nötig zu haben, einander zu beneiden? . . . . Icli war 
der erstem der ein wenig Gold aus dem Schkunme hervoi^ 
holte^ in den das Genie Shakespeare's in seinem Jahrhundert 
versunicen war . . . .« 

Nur an einer einzigen Stelle reißt der Eifer Voltaire hin, an 
das patriotische GefOhl zu appellieren, nämlich in jener hef- 
tigen Lettre ä VAcadMe Fian^aise, worin er sich über 
die Vorrede der Shakespeare-Obersetzung Letoumeur's so sehr 
ereiferte^ für welche dieser in den höchsten Kreisen ener- 
gische l^opaganda machte. »Der Übersetzer,^ schreibt 
Voltaire, ^ strengt sich an, Frankreich England zu opfern, 
in einem Werke, das er dem König von Frankreich widmet 
und für das er Subskriptionen von unserer Königin und 
unseren Prinzessinnen erhielt. Keiner unserer Autoren . . . . 
ist in der Vorrede zitiert. Der Name des großen Corneille 
findet sich darin nicht ein einziges Mal. Man wird diese 
Schwäche eines Augenblicks der heftigsten Erregung — die 
auch eine persönliche Ursaciie hatte und wegen dieser in 
der Tat erklärlich und sogar gerechtfertigt war — und in 
Anbetracht der sonst gleichbleibenden nationalen Vorurteils- 
losigkeit Voltaire's gern verzeihen. 

Und endlich fünftens: seien alle jene — es sind zumeist 
die Deutschen, — die so sehr über Voltaire's Shakespeare- 
Kritik entrüstet sind und ihn ihretwegen nicht genug 
schmähen können, darauf aufmerksam gemacht, daß ein 
prinzipiell ganz gleicher Fall in der Kritik Schiller's an 
Bürger's Gedichten vorliegt Auch hier handelt es sich 



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— 55 — 



um die Antipathie eines Idassisch dirigierten flsthetisctien 
Oeschmacks, d. h. einer Oesamtanscliauung, die aus Vor- 
bildern unumstöBlich geltende Regeln abstrahieren will — 
gegen eine Art dichterischer Produktion, die einem impul- 
siven Naturell entspringt, das über solche Regeln nicht 
reflektiert und sich um sie gar nicht kDmmeri 

Dem AbStande zwischen den Temperamenten Voltaire' s 
und Schiller's entsprechend, sind des letzteren Einwendungen 
nicht so radikal dem Inhalt und der Ausdrucksweise nach. 
Allein hier wie dort wird von dem schlechten, sozusai^en 
pöbelhafien Geschmack gesprochen. Voltaire zitiert als Bei- 
spiele Stellen aus Othello, Julius Cäsar und im Aufsatz über 
die englische Tragödie, namentlich die Friedhofsszene im 
Hamlet, wo -die Totengräber trinken, während sie ein Grab 
graben, Vaudeville singend, und dabei über die Totenköpfe 
Scherze machen, wie sie eben zu il^rem Metier passen.« 
In Art dramatique meint Voltaire, so wie Shakespeare mitunter 
Desdemona, die Tochter eines Senators, sprechen läßt, sprach 
man eben zu Shakespeare'« Zeit; Voltaire meint damit offen- 
bar; eine rohe Zeit. Womit er übrigens ganz recht hat. 

Schiller wieder meint in dem Aufsatze Über Bürger's 
Gedichte im Hinblick auf Bürger, dem er ebenfalls, wie 
Voltaire Shakespeare, e^roßes Genie zuspricht: Es ist nicht 
genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man 
muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist 
nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten 
Oeistes« . . . »Herr Bürger vermischt sich nicht selten mit 
dem Volk, zu dem er sich nur herablassen sollte . . . .c 
Schiller beklagt den Mangel eines reinen Genusses an B's. 
Gedichten, t>ald wegen der »beleidigten Würde des In- 
halts . . .« oder durch ein »unedles, die Schönheit des 
Gedankens entstellendes Bild, einen ins Platte fallenden 
Ausdruck . . dann wundert er sich, wie andere Kunst- 
richter, die Bälger lobten, so viele »VersOndigungen gegen 
den guten Geschmack veigeben« konnten. 



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— 56 - 



Schiller wie Voltaire poleiiiisierten also in gleicherweise 
vom Standpunkte einer gewissen äsilietischen Vornehmheit 
aus, gewisscrmalien als Aristokraten des Geschmacks, letzterer 
überdies im Sinne einer fein gebildeten und gepfen An- 
stößigkeiten sehr empfindsamen (Pariser) üeseilschaftsklasse. 

Es macht sogar einen beinahe komischen Eindruck, in 
der Lettre ä rAcad^mie Fian^aise den förmlichen Schrecken 
VoltaiFe's wahrzunehmen» wenn er »gemeine«^ oder »rohe« 
Stellen aus Shakespeare anführt und dann ausruft: »Ja, mein 
Herr, ein Soldat des Oardekorps kann so antworten,« näm- 
lich wie die Schildwache im Hamlet: »Ich habe keine Maus 
rascheln gehört«^ — aber nicht im Theater vor den ersten 
Persönlichlceiten einer Nation, die sich nobel ausdrücken 
und vor denen man sich auch noi>el ausdrücken muB . . .« 
Ahnlich sagt Schiller betreffs Bürger: »Ist der Popularität 
nichts von der höheren Schönheit aufgeopfert worden? 
Haben sie, was sie für die Volksmasse im Interesse ge- 
wonnen, nicht für den Kenner verloren?« 

Man darf also Voltaire wegen seiner Shakespeare-Kritik 
ebenso wenig schmähen, wie man Schiller wegen seiner 
Kritik BüTger's schmäht Nur so ist es gerecht Aber alles 
in allem genommen kann jeder, der meine oben g^bene 
Theorie aller ästhetischen Kritik akzeptiert, diese Streitig- 
keiten und besonders die Vehemenz, mit der sie geführt 
werden, nur für gegenstandslos und unfruchtliar, ja er muß 
sie auch für geradezu kindisch halten. Sowohl Voltaire's 
als auch Schiller's Aburteilungen, insofern sie allgemeine 
Gültigkeit beanspruchen, sind wertlos. Des ersteren Be- 
merkungen, die sich mehr auf das Unpassende gewisser 
Sitakespeare'scher Derbheiten für die vornehme Pariser Oe- 
sellschaft beziehen, sind jedoch, praktisch genommen, rich- 
tig, und sie sind es, wie ja die Erfahrungen mit Shake- 
speare's Dramen in l^aris lehren, sogar noch heute. 

• * 



Diqitizod by GoOgle 



— 57 — 



Aber welche geringe Wichtigkeit hat doch das alles 
gegenober den großen kulhirdlen Bestrebungen Voltaire's! 
Mag er ein großer oder kleiner, ein echter oder unechter 
Dichter oder gar kein Dichter gewesen sein, auch Icdne 
Ahnung von literarischer Kritik gehabt und leider versäumt 
haben, sich aus den Koni]>endien der Literatuigeschichte Be- 
lehrung Ober das wahre Maß der Schätzung dichterischer 
Produkte zu verschaffen! — wen er als Poet oder als 
Kritiker nicht behiedigt, der kann sich ja leicht helfen, er 
möge sich nur eiligst zu anderen Schriftstdlem wenden, die 
fQr seinen Geschmack wirkliche Poeten oder Kritiker sind. 
Es gibt deren ja so viele! 

Aber verachtet, ihr »sehnsuchtsvollen Hungeriekler« nach 
echter Poesie, nur nicht jenen armen Mann gar so sehr! 

Wie möchte es euch allen wohl schmecken, wenn ihr 
bei einer gerichtlichen Untersuchung — und Mn Mensch 
ist ja vor solchen Zufällen gesichert — der Tortur unter- 
worfen würdet, wie es ohne Voltaire's BemQhungen noch 
heute geschähe? Ihr möget während der Folter mit aller 
Innigkeit an irgend einen eurer bewunderten echten und 
wahren Dichter denken, wird euch das vor Schmerz be- 
wahren? Oder, wenn heute noch der, der üott lästert«, 
oder gegen die Kirche schreibt, die grausamen Straten, ja 
den Tod nach furchtbaren Foltern ~ wie jener von Voltaire 
verteidigte Labarre zu erleiden hätte, könnte er etwa in der 
Kunst, in der Dichtung Trost finden? Welches Übergewicht 
wird doch in der Beurteiluno^ von Kulturmenschen auf Luxus- 
gefühle pelegl, gegenüber den schweren, gewaltigen Be- 
mühungen im Bereiche der fundamentalen Lebens Vorgänge! 

Und in seltsamer Leichtfertig^keit föhlt man sich heute 
so sicher, und vergKit nicht nur, was es gebraucht hat, um 
so weh zu kommen, wie wir jetzt es sind; man achtet gar- 
nicht darauf, daß wir heute wieder dieselben Mächte an der 
Arbeit sehen, die hauptsächlich durch Voltaire's Kämpfe be- 
reits so ziemlich, wenn auch nicht g^zlich, unschMich ge- 



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— 58 — 



macht wurden. Es wird wieder ^egen religiöse Toleranz 
agitiert, so als ob ein Bayle, Locke, Voltaire, ein Friedrich 
der Grosse nie geschrieben und gewirkt hätten. 

Ganz offen betriebene Unterdrückung anderer Religionen 
kommt jetzt beinahe täglich vor. So agitieren jetzt die ka- 
tholischen Priester in Tirol gegen den Bau einer protestan- 
tischen Kirche in Bozen. Die spanischen Bischöfe richteten 
vor kurzer Zeit eine Petition an den König, keine protes- 
tantischen Schulen mehr zu autorisieren, die schon bestehen- 
den zu schließen und die Zirkulation aller nicht katholischen 
Bücher, Broschüren, Gesänge usw. zu verbieten. In der 
Bretagne, wo die Bevölkerung ganz von den Geistlichen be- 
herrscht und daher aufs äußerste verhebet wird, Überwachen 
fromme Jünglinge die m den Seebädern badenden Männer 
und Frauen, die nicht In die Messe gehen, verfolgen 
sie längs des Strandes und brüllen mit schreckhafter Be- 
tonung ihnen nach: »Protestant! Protestant!«; womit sie den 
Gipfel menschlicher Abscheulichkeit zu bezeichnen beab- 
sichtigen. 

Man scheut sich auch nicht mehr, »auf Geheifi der 
Kirche« Ketzerverordnungen von Seite des Staates zu fördern. 
Hat doch Im Jahre 1849 der Erzbischof Pteci von Perugia, 
der spätere Papst Leo Xlll., den Papst Pius IX. in Memo- 
randen wiederholt aufgefordert, die Inquisition In der allen 
Form wieder einzuführen. Ein Professor des Kirchenrechts 
an der unter dem direkten Protektorat des Papstes stehenden 
Gregorianischen Universität in Rom, nämlich der Jesuit P. 
de Luca, verlangt in seinem »Lehrbuch des öffentlichen 
Kirchenrechts«, das im Jahre 1901 erschien, ganz offen, Ketzer 
mit dem Tode zu bestrafen, »damit niclu die Bösen den 
Guten schaden , und weil »die Todesstrafe mitunter für 
die Verbrecher (nämlich die Ketzer) selbst eine Wohltat 
sei, da sie, wenn sie noch länger lebten, bei ihrer unbeug- 
samen Halsstarrigkeit noch schlimmer würden und daher 
nur noch heftigere Qualen in der Hölle zu erdulden hätten . .< 



— 59 - 



»Infolge dessen muß die politische Behörde auf Befehl 
und Anordnung der Kirche den Ketzer mit dem Tode 
bestrafen, und zwar unterliegen dieser Strafe nicht etwa 
bloB diejenigen, welche erst als Erwachsene vom Glauben 
abgefadlen sind, sondern auch diejenigen, welche im Irr- 
glauben geboren und getauft worden sind . . . endlich 
Ist die Strafe da, wo sie Eii^iang gefunden, auch auf alle 
Rflcicfftlligen anzuwenden, mögen sie sich gleich 
neuerdings bekehren wollea« 

Und dieses Buch hat die Ürdcriszcrisur überstanden * 
und erhielt vom rVovinzial der römischen Ordensprovinz, 
P. H. Carini auf ürund der ^utachtliciien ÄuRerung^ mehrerer 
Theologen derselben Gesellsefiaft die Druckerlaubnis*) 

In den spanischen Schulen wird nach emem Katechismus 
unterrichtet, der vom Bisehof von Madrid revidiert und in 
200 000 Exemplaren verbreitet wurde.**) Dort heißt es im 
Anhang: Als die Bösen noch nicht wie heutzutage die Frei- 
heit besaßen, genügte es, die fünf Kirchengebote zu kennen. 
Jetzt aber müßt ihr die weiteren Kirchengebote kennen: ». . . 
Du darfst Deine Kinder nicht in konfessionslose Schulen 
schicken ... Du darfst weder einen judischen noch prote- 
stantischen Arat zu Rate ziehen, noch einem Juden dienen.« 
Und femer: »Sagt mir» Kinder, sind Freiheit, Gleichheit und 
Brüderlichkeit entgegen den christlichen Tugenden?« Ant- 
wort: »Ja gewiß sind sie es, besonders in dem verkehrten 
Sinne^ der diesen Begriffen von den Feinden der Kirche ge- 
gel>en wird.« 

Frage: »Wessen Betspiei fo^n diejenigen, die Vivat- 
nife auf die Freiheit ausstoßen?« Antwort: »Dem Beispiel 
Ludfer's, des ersten, der die Fahne der Freiheit erhob . . .« 

Frage: ^Worauf begründet sich die Brüderlichkeit der 

*) Nach einem Bericht der M. Allg. Z. v. 31. Jinner im. 

**) Siehe »Das freie Wort« Nr. 12 <!. J. 1904; nach MitteUungen 
m Ungero-Steroberg. 



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— ÖO — 



Oottlosen?« Antwort: »Auf die Uebe zu den Menschen, 
weshalb sie Phitanthropie heißt.« 

Frage: »Wer ist der Vater der Philanthropie?« 
Antwort: »Der Teufel.« 

Und dieses Bekenntnis ist nicht nur in Schulen und 
Kirchen vorgiebracht worden, sondern auch der Akademie 
der Wissenschaften in Madrid von dnem ihrer hervor- 
ragendsten Mitglieder, dem Exminister Alexandro Pidal, in 
giflhenden Worten gepredigt worden. Der berühmte spanische 
Gelehrte Menendez Pelayo ließ sich sogar bei einer Ähn- 
lichen Gelegenheit zu dem t>egeisterten Rufe: »Es let>e die 
Inquisition!« verieiten. 

Und sogar der König von Spanien selbst scheut sich 
nicht, vor aller Welt fOr das Prinzip der Intoleranz offen 
einzutreten. Als nämlich vor kurzem in Barcelona dne 
protestantische Kapelle eröffnet werden sollte, wandte sich 
der dortige Kardinal-Erzbischof an den König mit der Bitte, 
dieses ..Unlieil" abzuwenden. Worauf Alphons XIII. (im 
Mai 1Q05) antwortete: „Als katholischer König und als er- 
gebener und gläubiger Sohn der allcinseii^fnachcnden Kirche 
bin ich tief bekümmert durch diesen neuen Anschlag gegen 
den Glauben unserer Väter und die Religion des Staates, 
dessen Geschicke die Vorsehung mir zu vertrauen für gut 
hielt." Gleichzeitig mit all dem aber agitieren die Katho- 
liken in Deutschland für ihren sogenannten Toleranz- 
Antrag, in welchem sie freieste Entwicklung ihrer kirchlichen 
Organisation verlangen; durch welchen Mut der Inkonse- 
quenz — in Deutschland das für sich als ein Recht zu 
fordern, was sie Andersgläubigen dort, wo sie die Macht 
haben, vorenthalten — offenbar die katholische Kirche be- 
weist, wie stark sie sich wieder fülih und wie lebhaft der 
Trieb in ihr ist, fernerhin noch viel Schlimmeres rücksichts- 
los zu unternehmen. 

Im ganzen kontinentalen Europa sind alle Wallfahrts- 
orte überfüllt, ja die Zahl der Wallfahrer nimmt von Jahr 



V Google 



zu Jahr zu. In und nahe der Mauptstadt Österreichs wurde 
sogar ein Ziihau zu einem Hotel und eine neue Weinstube 
vor der Übergabe an das Publikum von Priestern eingeweiht. 
In Rußland bekommen jetzt oft die Toten merkwürdige 
Briefe in die Hand, die mit ihnen begraben werden; ein 
solcher Brief, von einem höheren Geistlichen unterschrieben, 
tautet: 

»Wir durch Gottes Gnade Metropolit (oder Bischof) 
N. N. an unsern Herrn und Freund St. Petrus, 
Schlüsselbewacher der Pforten des allmächtigen 
Gottes. 

Wir lassen Dich wissen, daß, nachdem auf diese Zeit 
gestorben ist dn aufrichtiger Diener Gottes, N. N. und daß 
derselbe von uns von allen Sflnden absolviert ist und die 
Benedeiung darauf empfangen hat, so ist unser sehr ernst- 
liches Begehren, daß Du denselben ohne Verhinderung in 
das Reich Gottes einlässest; nimm ihn an und laß daran 
nichts mangeln. Denn zu diesem ausdrOcklichen Ende haben 
wir Ihm diesen Brief der Absolution mitgegeben. Getan in 
N. N. und unterzeichnet H. H.« 

Vor wenigen Jahren erst äußerte sich Kardinal Farrisi,, 
wie Idd es ihm tue^ daß »die IQrche gegen ihre Gegner nur 
mit Gebet und Ermahnungen vorgehen könne und keine 
anderen Mittel besitze.« Und im Jahre 189Q hielt der 
sdir einflußrdche amerikanische Erzbischof Ireland eine 
Rede in Paris, in der er ankflndigte: »In der nächsten Zu- 
kunft sind die Völker zu einem neuen Kreuzzug gerufen, 
der mit dem Triumph der Kirche endigen muß.« 

Schon haben in vielen Staaten des Kontinents die Ver- 
treter der Gewissensfreiheit und der Gleichberechtigung aller 
Menschen bei den maßgebendsten staatlichen Machtfaktoren 
viel weniger bjnfluss als die allerdümmsten Gänse, wenn 
diese nur dem bigotten hohen und höchsten Adel ange- 
hören, und infolge dessen können wir, in der Ferne und 
auch in der nächsten Nähe, aus den sogenannten tieferen 



— 62 — 



Volksschichten und ihren Vertretern bereits das Heulen räu- 
diger Bestien in Menschengestalt deutlich vernehmen. 

Und schon ist die Folter wieder zu neuem Leben er- 
weckt worden! In dem fr5mmsteii Lande Europas, in Spa- 
nien, gewöhnen die Klerilcalen die Menschen allmählich an 
die immer häufiger angewandte Tortur, vorderhand nur in 
weltlichen PkPozessen; so war es im Jahre 1895 in den Oe- 
flbignissen von Mont-Juich, und jetzt, im Jahre 19H in Al- 
cala dd Valle der Fal^ wo man den Gefangenen durch die 
schrecklichsten FoHem Oestflndnisse zu entreißen suchte 
In Rußbmdi dessen Regierung und Verwaltung et^enfalls in 
streng-kirchlichem Ödste geführt wird, ist Orausamkdt, 
gerade wie in Spanien, die natürliche Folge; sie ist dort so- 
gar sdtens der Beamten etwas ganz Alltägliches, es gdit 
ins OroBe^ während die spanische Regierung sich bisher 
noch mit kidnen PorthMien begnügt.*) 

*) Auffallenderweise schwieeen fast alle größeren Zeitungen über 
die neuesten spanischen Orausamketten. Es ist aber wichtig, zu wissen, 
was alles in einem bigotten Staate selbst in unserer Zeit möglich ist, 
die sich doch auf ihr hohes Kultumiveau so viel zugute tut und noch 
immer auf die nicht-christlichen Völker mit so viel moralischem Selbst- 
bewußtsein verächtlich herabblickt, ich will dalier einige Details aus 
dem Gerichtswesen in jenem frommen Lande mitteilen. 

Als im Jahre 1893 ein Anarchist zwei Dyn:imithomben in das 
Lyceums>Theater in Barcelona geworfen hatte und der Schuldige ent- 
kommeo war, HeB Oeneril Weyler jeden halbwegs Verdächtigen ein- 
sperren und hunderte von jungen Leuten der Tortur unterwerfen; 
luert>ei wurden genau die Martern der ehemaligen Inquisition ange- 
wendet. Fiincr der Beschuldigten erzählte hierüber dem republikanischen 
Journal Iii I'ais , daß, nls er trotz Todrsnndrohung nicht alles bestä- 
tigen wollte, was der Lieutnant wünschte, man ihm die Hosen herunter- 
ließ, seine Oeschlecfitstelie verdrelite .... ffinf Tage nndiedts 
Nächte wurde er durch OciRcln gezwungen, immcrfnrt herumzugelicnf 
ohne sich niederzusetzen, seine einzige Nahrung bestand in Brot und 
^rodcenem Stoddlscli, ohne einen Tropfen Wasser. Dann hingt« man 
ihn an dem Türpfosten seines Kerkers auf, lieH ihn stundenlang in 
dieser Lage und wiederholte mehrmals die Verdrehungs-Prozedur an 
seinen Oäddechtsteflen. 

Im Jahre 18% wurde eine Bombe in eine Prozession in Barcelona 
gewoffcn, inul infolgedessen wurden die Gefangenen in Mont-Juich in 
ähnlicher Weise behandelt; hierbei wurde aber auch die Metfiode der 
Inquisition genau in Anwendung gebracht, die Beschuldigten mit glü- 
henden Zangen zu zwiclcen und ihr Fleisch bis auf die Knochen 
zu verbrennen. 



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— 63 — 

Das alles sollte doch die Aufmerksamkeit erregen; sollte 
die in den Tag hinein lebenden Banausen und die gewissen- 
tosen Ästheten unserer Tage aus ihrem Schmachten auf- 
rütteln, und bei ihnen wenigstens das eine bewirken, daß 
sie in der Beurteilung von Voltaire's Taten und seiner Ver- 
dienste um die Menschheit alle kleinitche Splitterrichterd 
bdsdte setzen und wo es nur immer angeht» diesem »Rufer 
im Streit« und wahren Standard -Menschen im Kulturkampf 
(in seinem allgemeinsten und höchsten Sinne genommen) 
nur Dank» Pietät und umsomehr Gerechtigkeit in der Be- 
urteilung entgegenbringen. Sich Voltaire*s erinnern, ihn 
rOhmen, ist schon halbes Ihm-Nachetfem, und eine solche 
Nacheiferung tut dringend not 

Wir werden aber sehen, wie es um diesen Dank, diese 
PietSt und Gerechtigkeit selbst bd nicht unbedeutenden 
Ödstem bestdit istl 

« 

In den mdsten Schriften fiber Vollaire wird sdne dgent- 
iiche wdthistorische Tätigkeit nur ndjenbei, sehr kflhl und 
mitainter sogar in ins Schlechte gedeuteter Weise behanddt, 
und die größte Wlchtigkdt der Hervorhebung sdner Mängel 
als Dichter bdgdegt 

Den Ldchtsinn, wie auch die Impietät, die In allem 
dem liegt, finde ich empörend. Jeden Menschenfreund 
muß dn solches Vorgehen aufs äußerste verletzen, und ganz 
besonders bei den großen Männern der Vergangenheit, die 
den traurigen Zuständen in den Gebieten der Religion (Kirche), 
des Gerictitsverfahrens, der Verwaltung noch nahe genuj^ 
standen, um den Wert der Voliaire'schen Bemühungen sehr 
gut würdigen zu können. 

Bei Lessing, bei Goethe, bei Schiller, wie bei unzähligen 
anderen bis auf den heutigen Tag, uberwiegft — um Scliopen- 
hauer's Wort von der Weiberveneration hier variiert anzu- 



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— 64 — 



wenden — die Dichtungs- und Kunst-Veneration, und Aber 
diesen doch eigentUcli nur selcundären, verhflltnismSsstg nied- 
rigen, bloß ästhetischen Standpunkt kamen die beiden 
letzteren selten hinaus. 

Wie oft begegnet man in den Werken dieser unserer 
ersten Schriftsteller der Erwähnung Voltaire's als Kutturheklen? 

Lessing rfihmte wohl in einer RezenskHi des Essai 
sur les moeurs . . von VoHair^ dieser habe darin in der 
Geschichtsschreibung einen ganz neuen Weg eingeschlagen, 
sonst aber spricht er nicht von ihm; bis er endlich in der 
»Hamburgischen Dramaturgie c in den Rezensionen der Dramen 
Voltaire's jenen so beklagenswerten, in ernsten Diskussionen 
so unpassenden Ton gegen ihn anschliiL^, der am meisten 
dazu beitru^r, speziell die Deutschen gegen die Bedeutung 
Voltaire "s überhaupt blind zu machen. Denn sie sagten 
sich: ICann ein Mann, der als Dichter so schwach, ja so 
verächtlich erscheint, sonstwie irgend eine Bedeutung be- 
anspruchen? Lessing ist es auch, der, nebenbei bemerkt, 
vielleicht am meisten Schuld daran trägt, in die deutsche 
literarische Kritik den hämischen und persönlichen Ton 
hineingebracht zu haben, den wir im allgemeinen bis heute 
noch nicht los geworden sind. — 

Noch mehr trug Schiller zur nahezu allgemeinen Miß- 
achtung Voltaire's bei; und zwar durch sein bekanntes, so 
populär gewordenes Gedicht »Das Mädchen von Orleans , 
wobei er auf die Pucelle anspielte. Hier trägt Schiller die 
Farben so grell auf, daß niemand, der nicht Voltaire als 
Verfasser der Pucelle, aber sein gesamtes sonstiges Wesen 
und edles Wirken kennt, darauf verfallen würde, daß die 
Anklage Schiller's gegen ihn gerichtet sei. 

»Dem Herzen will er seine Schätze rauben, 
Den Wahn bekriegt er und verletzt den Glauben. 
Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen 
Und das Erhabne in den Staub zu ziehen. 
Den lauten Markt mag Momus unterhalten; 
Ein edler Smn liebt edlere Gestalten.« 



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— 65 — 

Nun war aber niemand je geneigter und in impulsivster 
Weise fähiger, das, was ihm wirldich als erhaben und 
»strahlend« erschien, anzuerkennen und zu bewundem, als 
eben Voltaire. Ihm, der als vierundachtzigjähriger Ords 
wihrend seiner letzten Anwesenheit in Faris Turgot's Rechte 
ergriff, mit Tranen bedeckte, sie trotz Turgot*s Abwehr 
kfißte und unter Schluchzen ausrief: »Laßt mich diese Hand 
kflssen, die Gesetze für das Wohl des Volkes gesdiriebenl«; 
ihm, der nicht aufhörte^ Newton zu bewundem und fOr den 
ersten aller Menschen hielt; der so leicht und gern lobte, 
und sogar vieles lobte, was durchaus nicht so hoch stand, 
um für erhaben oder strahlend gelten zu können; der in 
seinen Tragödien so oft die edelsten Gefühle, ja sogar 
ethische Schwärmerei, zum Ausdruck brachte — einem 
solchen Manne den Vorwuii zu machen, das Strahlende 
zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen«, 
ist gar niemand auf der Welt berufen. Auch Schiller 
nicht. 

»Ich werde niemals auf meine Bewunderung^ Ihrer Werke 
verzichten,-- schrieb J.J.Rousseau an Voltaire im Jahre 1750, 
■Sie haben die Freundschaft und alle Tugenden im Menschen 
dargestellt, die er kennt und lieht. Ich habe den Neid 
murren i^^ehört, ich habe die Schreier verachtet und sagte 
mir, ohne Furcht zu irren: Diese Schriften, die meine Seele 
erheben und meinen Mut entzünden, sind durchaus nicht 
Produktionen eines Mannes, der gleich^HÜtig gegen die 
Tugend ist. Diese Ansicht Rousseau's macht W(3hl jene 
Schiller 's, die nur auf dem Eindruck der »Pucelle« basiert, 
mehr als wett. 

Auch handelte es sich Voltaire durchaus nicht darum, 
den »lauten Marld« zu unterhalten, denn er hatte die Puceile 
— was Schiller wohl nicht wuBte — gar nicht für die 
Öffentlichkeit bestimmt. Schon aus Furcht vor Verfolgung 
hütete sich Voltaire, dieses Werk drucken zu lassen, und 
wir wissen aus den Memoiren seines Sekretärs Longchamp» 

Popper» Voltsire. 5 



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— 66 — 



daß die Marquise du Chätelet das Gedicht im Oeheimen 
in ihrem Schlosse drucken und dann Vohaire mit dem 
fertigen Drucke überraschen wollte, dieser aber davon 
erfuhr und sie mit dem größten Aufwand seiner Über- 
redungskunst dahinbrachte, davon abzustehen. Vielmehr 
wissen wir aus Voltaire's Briefen, daß er die Pucelle zu- 
nächst zu seiner eigenen Erheiterung und zu der Erheite- 
rung der Marquise du Chatelet wie auch eines kleinen 
Kreises von Freunden verfaßte. 

Wenn Voltaire unwohl oder durch irgend welche Vor- 
kommnisse verstimmt war, so nahm er zu Ariosto*s Rasen- 
dem Roland oder zur Pucelle seine Zuflucht .»Lesen Sie 
mir aus meiner Johanna vor,** pflegte er zu Wagnite zu 
sagen» lag dabei, nach seiner Lieblingsgewohnheiti im Bett 
und eigötzte sidi an seinem eigenen Weric 

Den Plan zu diesem in Arlosto's Manier gehaltenen humo- 
ristischen Epos entwarf er im Jahre 1730; das Manuskript 
bewahrte er, aus Furcht vor der Geistlichkeit» mit aller 
Sorgfalt, aber trotzdem wurde ihm zuerst eine Kopie von 
einer Kammerfrau der eben verstorbenen Madame du Chätelet 
entwendet.*) tin zweites Mal stahl ihm sein eigener Sekretär 
auf Bitten des Prinzen Heinrich von Preul)cn eine Abschrift 
der Pucelle, und die Herzogin von Württemberg, ganz be- 
geistert von der phantasievollen und unglaublich geist- 
reichen und satyrischen Dichtung^, ließ das Epos heimlich 
abschreiben und verbreiten. Veröffentlicht wurde es aber 
ganz ohne Wissen und e^egen den Willen Voltaire s im Jaiire 
1755 durch einen seiner Gegner, der ihm Verlee^enheiten be- 
reiten wollte, nämlich durch den Kapuziner Maubert, und 
dann durch La Beaumelle. Erst im Jahre 1762 brachte 
Voltaire die erste authentische Ausgabe in die Öffentlich- 
keit, und zwar unter dem Autornamen: »Dom Apuiejus 
Risonius, Benediktiner ; beabsichtigt hatte er eine solche 

*) Ich benutze hier die Angaben von Nourisson und Mahrenhoitz. 



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— 67 ~ 



. frOher nicht, und schrieb im Jahre 1734 ausdrQcklich an 
Tourmont, daß dieses »so frivole Weric nicht bestimmt 
dazu sei, an das Tageslicht zu treten, er schSme sich dessen« 
und — in Fortsetzung seines sich selbst persiflierenden • 
heiteren und liebenswürdigen Tones setzte er hinzu — 
»aber, nach allem, man kann seine Zeit noch schlechter an- 
wenden.« 

Wie man z. B. die Lustspide des Aristophanes und so 
viele andere, viel schwächere Produkte der genialen Laune 
und Satyre bewundem und zur Weltliteratur zählen kann, 
aber Voltaire' s Pucelle davon ausschliessen, ja In ästhetischer 
wie moralischer Beziehung verdammen kann, ist mir nicht 
begreiflich. 

Die Tatsache, von der wir wiederum, korrekter Weise, 
ausgehen wollen, ist die, dass im IS. jalKhundert kaum ein 
Buch heiteren Inhalts so viel gelesen wurde, wie dieses Epos, 
die ^anze Gebildete und vornehme Gesellschaft Europas war 
entzückt davon. 

Friedrich der Grosse schrieb voll Ungeduld, Voltaire 
möge ihm doch endlich die Pucelle senden, la Pucelle! 
!a Pucelle! dräiiirt er ihn in einem seiner Briefe. Und in 
seinen letzten Pariser Tagen wurde der steinalte Voltaire am 
meisten als Verteidiger des Calas und dann als Verfasser 
der Pucelle gefeiert. 

Es ist wirklich ganz grundlos und sehr überflussig, sich 
über die Pucelle irgendwie zu entrüsten, wie das besonders 
bei den deutschen Schriftstellern fast die Regel ist! Schlosser 
spricht mit förmlicher Empörung von dem Schmutz und 
Frevel«, von »frechem Witz und dem boshaftesten Mutwillen 
gegen Religion und Sitte!« 

Aber alles das, was in der Pucelle steht, hat nichts mit 
Schmutz, und schon gar nichts mit Frevel zu tun; ebenso- 
wenig richtet sich der Mutwille gegen Religion, denn es 
wird nur Aberglaube und was damit zusammenhängt, ver- 
spottet Und was die »Sitte« betrifft, so wfirde der Oe* 



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— 68 — 



brauch dieses Wortes vermuten lassen, daß Voltaire sich 
über irgend welche moralische Vorschriften lustig macht; 
aber es handelt sich nur um ganz harmlose geschlechtliche 
• Ausgelassenheiten, die gar keine Beziehung zu Out oder 
Böse haben. 

Möge nur jeder, ohne sich im geringsten zu fürchten, 
verdorben zu werden, und ohne sich zu genieren, die Pucelle 
lesen; und um darüber noch mehr zu beruhigen, will ich 
erwähnen, daß, wie Taine mitteilt, dem ernsten und wür- 
digen« Malesherbes, dem gelehrten Minister, der, wie be- 
kannt, Ludwig XVI. verteidigte und dafür guillotiniert wurde, 
die Pucelle so wohl gefiel, daß er sie auswendig wußte. 
Es braucht aber niemand zartffihlender oder prüder zu sein, 
als ein Malesherbes. 

Und ich glaube^ dass die Pucelle auch noch heute viel 
Vefgnfigen bereiten kann; man versuche es doch, sie zu 
lesen. Es ist nur natürlich, dass religiöse oder gar kirchliche^ 
vielleicht auch bloß empfindsame Gemüter von der derben 
Satyre und den Zoten so abgestossen werden, dass sie das 
Poem widerwärtig finden; wie ja auch, umgekehrt, mitunter 
sehr ernste Freigeister religiöse Dichtungen oder Kunst- 
werke sehr widerwärtig finden; das ist aller keine Frage 
des ästhetischen Eindrucks, sondern betrifft nur die Tendenz. 
Uebrigens finden viele auch die Zoten des Aristophanes ab* 
stossend; auch jene in Macchiavellt's cMandragora» und in 
Boccaccto's >E>ecamerone.« Wer aber derartige Anti- 
pathien nicht besitzt, der mache sich an die Lektüre der 
F*ucelle, vielleicht erfreut sie ihn, bei mir war das in hohem 
Malk der Fall, obwohl tin deutscher Kritiker sie schon darum 
für wertlos und schlecht hingestellt hat, weil sie weder ein 
Epos noch ein Drama, noch ein lyrisches Werk, es also 
■ unbestimmt sei, »in welche Rubrik man es einreihen solle **) 

Als ganzer, sich immer gleicher, überzeugungstreuer 

*) Eine fonnvotlendde Übertragung ins Deutsche dflriie wohl viele 
danUnre Leser finden. 



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eo — 



Mann, der in jeder Situation und bei jeder Beschäftigung 
von seinen großen Zielen erfüllt war, gab Voltaire auch in 
der Pucdle^ also selbst in einem Manuskript, das nur fQr 
eine Intime IddneOesellscIiaft bestimmt war, seinen Tendenzen 
ebenso kräftigen Ausdnidc, als ob er zu ganz Europa hätte 
sprechen wollen. Auch hier war er der grosse Kämpfer; er 
verhöhnte den Glauben an die göttliche Sendung Johanna's, 
also den Wunderglauben Oberhaupt, und er degradierte zu- 
gleich das Königtum von Oottes Gnaden — er, den man 
^schlich für einen eingefleischten Monarchisten hält, während 
er die Monarchie nur fflr große Staaten und nur dann fflr 
wohltätig hält, »wenn dn Marc Aurel Monarch ist« 

Schiller konnte ja seine Jungfrau von Orleans so ideal 
auffassen, als ihm gut dünkte, und es steckt gewiss etwas 
Schönes in seinem Bestreben, der idealisierenden Tendenz 
des menschlichen Gemüts einen Stoff darzubieten. Aber er 
hätte nicht nötig gehabt, eine Art Schutz- und Trutz^edicht 
als Kommentar zu seiner Dichtimj^ zu verfassen und darin eine 
andre Auffassung zu degradieren, die überdies jedenfalls viel 
nützlicher wirkt, als die seine; und die vom rein künstlerischen 
Standpunkt aus ebenso berechtigt ist, da sie, mit Geist, 
Witz und Phantasie dargeboten, in ihrer Art ebenfalls ästhetisch 
wirkt, wie andererseits Schülers Art durch Schwärmerei und 
Gefühl. Zudem ist es von niemandem je bewiesen worden 
und kann es nie werden, daß die eine ästhetische Art der 
Wirioing berechtigter oder höher stehend sei als die andere^ 
obwohl, wie ich sehr gut weiß, es vielen ganz selbstver- 
ständlich erscheint, in ästhetischer Beziehung Oetühl weit 
tlt>er Oeist oder Phantasie zu stellen.*) 



Es mng nebenbei bemerkt werden, daR nach -tller Erfahrung 
der WelUiteraturgeschichte die Werke der zweiten Art, also z. B. Lust- 
spiele, viel seltener lu großer Wirkung gelangt sind, also wohl sdiwieriffer 
zu machen sein dürften, als die Werke der ersten, z. B. als Trauerspiele. 
Die nahe Beröhrtuig mit dem furchtbaren Emst des Lebens ist es nur, 
die den Scbein erweckt, als ob der tragisdie Dldtler mehr innere Or56e 
und Talent besitzen mfisse, als der gelstieidhe und Phantasfediditer. 



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— 70 - 



Daß man heute noch die Voltaire'sche Darstellung der 
Schiller'schcn nicht nur nebenstellen, sondern so^ßv vorziehen 
könne, möge man auch au9, den Worten eines sehr feinfüh- 
ligen und gescheiten Schriftstellers entnehmen, die ich zur 
Belehrung der Einseitigen — man erlaube mir diese Wort- 
bildung — hier vorführen will; sie rühren von Laurent 
Tailhade her, der anläßlich der Seligsprechung der Jungfrau 
von Orleans m der Piuiser Zeitschrift l'Action (vom 14. 
April 1Q04) einen längeren Artikel über dieses Thema ve^ 
öffentlichte. 

»Voltaire allein,« heißt es am Schlüsse des ArtilceiSt 
»hat gesehen, daß die Jungfrau von Dom R€my eine Possen- 
reißerfigur und nur unseres Spottes würdig sei. 

Kurze Zeit vor der Tragödie — oh! wie lächerlich! — 
von Schiller, in der man Johanna in Xantrailles (oder viel- 
leicht in Dunois) verliebt, die Waffen in der Hand und an- 
gesichts Orleans steiben sieht, schrieb er, (Voltaire) diese 
Pucelle^ welche stets ein Meisterwerk und die Ehre des 
menschlichen Ödstes bleiben wird. 

Der Kampf zwischen dem heiligen Oeoig und dem 
heiligen £)ionys — dem OIQcklichen, der seinen Kopf ver- 
loren hatte — ist nicht unwürdig, den Schkichten an die 
Seite gestellt zu werden, die sich im Oulliver die Kleinen 
und die Riesen liefern. Es ist Schade daß dieses befreiende 
Schriftstück nicht mehr verbreitet ist Man sollte es ver- 
vielfältigen . . « usw.« 

Zum Schluß aber noch folgende Frage: Schiller ist über 
Voltaire's Behandlung der Jungfrau von Orleans so überaus 
entrüstet, daß er wegen der Pucdle allehi den ganzen Charakter 
VoHaire's anschwärzt; warum schweigt jedoch Schiller über 
die Art, wie Shakespeare dieses sein Ideal behandelt? 

Das menschliche Qemüt ist viel leichter zu rühren, als zu erheitern; 
ich halte dnher die Ansicht Plato's, ein Dichter müsse Lustspiele ebenso- 
ffut machen künnen, wie Trauerspiele, nicht für richtig. Es hat viele 
bewunderte Tragiker, aber sehr wenige bewunderte Lustspieldichter ge- 
geben, und nur einer wird in Beidem gleidi bewundert — Shakespeire, 



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71 — 



In der »Pucelle wird das Mädchen von Dom R^my 
durchaus nicht als schlecht, nicht als p^emein, sondern mit 
efner gewissen liebenswürdij^^fjn Schelmerei behandelt, und 
alle die kleinen Bosheiten und aiieSat> re im Gedicht Voltaire's 
zielen weit melir auf andere Personen, auf Zustände oder 
auf Ideen, die er durch LächerU'chmachung angreiten will. 
Der ganze Spaß, der Johanna selbst angeht, dreht sich immer 
um die Frage ihrer Jungfrauschaft, und diese wird vom An- 
fanjT bis zum Ende in allen 21 üesängen als wohlerhalten 
hingestellt. Im zweiten Gesang wird nämlich der plötzlich 
auftauchenden derben Stallmagd aus dem Wirtshnuse zu 
Dom Remy nach »sehr gewissenhafter Untersuchung ein 
-auf Pergament geschriebenes Patent ausgefolgt, in welchem 
ihr die Jungirauschaft »bescheinigt wird, und der Schluß, 
nämlich die letzte Zeile des 21. Gesanges, kündigt das — 
nach so vielen schlimmen Gelegenheiten des Lagerlebens — 
abermals an, denn sie lautet, wie triumphierend: »Engländer, 
sie ist eine Jungfrau!« 

Wer nun über diesen Scherz nicht lachen kann oder 
wer sich gar darüber, in Tugendnebel eingehüllt, entrüstet, 
der verdient nicht, in seinem ganzen Leben überhaupt über 
etwas lachen zu können. Die arme Johanna veriiert hier 
gar nichts an ihrer historischen Reputation, und mit welcher 
Wärme^ mit welchem Mitleid Voltaire sich des Mädchens 
an ernstem Orte anninunt, ersieht man mit Freude aus dem 
Artikel »Pucelte« in seinem philosophischen Wörterbuch. 
Shakespeare aber stellt in Heinrich VI. die Pucelle dar als 
eine Hexe^ die sich mit den bösen Oeistem verbinde^ auch 
von Talbot und den Cngiändem als Zauberin, und durch- 
aus nicht als eine heldenhafte, begeisterte und begdstemde 
Prophetin angesehen wird, ihre Leistungen im Kricige stellt 
Shakespeare nicht als solche des Mutes, sondern als solche 
der Schlauheit und des Befavges hin. Und was endlich ihre 
Jungfrauschaft behifft, ihren ganzen Charakter als Frau, als 
Mädchen — es ist ein Oraus! aber es ist so so ent- 



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— 72 — 



puppt sie sich in dem englischen Drama zum Schlüsse als 
ganz gewöhnliche Regimentshure. Und nach wie viel LQgen 
sie selbst diese Enthüllung macht! 

Zuerst weist sie, als Gefangene der Engländer, ihren 
Vater als »elenden Bettler und abgelebten Knecht« von sich, 
denn sie ist »aus dem Königsgeschlecht entsprossen, heilig 
und tugendsam«; »wißt«, spricht sie dann die Engländer 
an, »da6 Jeanne d*Arc seit ihrer zarten Kindheit Jungfrau 
bliebe selbst in Oedanken keusch und unbefieckic Als sie 
aber den Tod vor sich sieht, s^ sic^ um sich zu retten, 
sofort: »ich bin schwanger.« York darauf: »Verhflt es 
Oottl Die heOige Jungfrau schwanger?« Und nun gibt 
Johanna ihre Liebhaber der Reihe nach bekannt »Alencon 
war's, nicht Karl, der meine Lieb* genoB,« dann aber: »Nicht 
doch, Renier war's, der mich gewonnen«; worauf York: 
»Ei, das ist mir ein Mädchen, das nicht weiß, so viele 
waren's, wen sie soU verklagen,« und Warwick sagt: »Ein 
Zeichen, dafi sie allen willig war«; zum Schluß York: »Und 
doch wahrhaftig eine reine Jungfrau!« 

Kaum eine einzige Figur in den Shakespeare*schen Dra- 
men macht einen so widerwärtigen Eindruck wie jenes 
JMIdchen von Orleans; warum also wendete Schiller sich 
nur gegen Voltaire und gar nicht gegen Shakespeare? Wenn 
Schiller's Reflexionen Aber Voltaire's Charakter in jenem 
Gedichte ^Das Mädchen von Orleans richtig wären, so liebt 
es also Shakespeare, und sogar iioch mehr als der Verfasser 
der Pucelle , dem Herzen »seine Schätze zu rauben, das 
Strahlende zu sciiwärzen« und das Lrliabene in den Staub 
zu ziehen.« 

Ist's denn wirklich so? Hat Schiiier das von Shakespeare 
auch geglaubt? 

* « 
* 



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— 73 — 



Von unseren Klassikem war es wohl nur Wteland» der 
in der Oeffentlichkeii, und nicht etwa nur hi Privatgesprichen, 
Voltaire ais KulhiigrSsse richtig einschätzte^ und ihn nicht 
btoss vom ästhetischen Schulmdsterstandpunkte aus be- 
urteilte; 

Im 19. Jahrhundert, namenflich in der ersten Hälfte des- 
selben, war in Deutschland nur selten von Voltaire die Rede^ 
und wenn es geschah, war es zumeist nur Hass und Be- 
schimpfung. 

Moralisten von der borniertesten Observanz, fanatische 
Christen oder Rationalisten, und wie immer in solchen Fällen, 
als Schweif der letztgenannten beiden Kategorien: die Ro- 
mantiker und die idealistischen, bissigen Ästhetiker konnten 
Voltaire nicht klein und nicht schlecht genug machen. 

Jedenfalls einer der schlimmsten dieser Gci^ner Voitaire's 
ist aber ein Engländer, Carlyle nämlich, über den ich noch 
eingehender sprechen werde, und der in seinem Essay 
»Voltaires der im Jahre 182Q erschienen war, Lob und 
Tadel, Verdächtigung und Beschimpfung, Nörgelei und Ver- 
drehung zum Zwecke der Degradation Voitaire's in so ge- 
schickter Weise in Anwendung brachte, daß man beinahe 
vermuten könnte, der Aufsatz sei von einem Jesuiten ge- 
schrieben. Mit seinem Pathos, mit seinen religiös, nament- 
lich christlich, gefärbten Exklamationen, weiß er seine Dolch- 
stiche so ZI! vergiften, daß, wenn je auf jemanden, so hier 
auf den so innig christlich gesinnten C^arlyie, jenes Wort 
paßt, das ich in der Erzählung >Nach der Predigt (in den 
»Phantasien eines Realisten«^) bildete, nämlich das Wort: 
von der »Perfidie des frommen Tierchens 

Im Jahre ld56 publizierte Jürgen Bona Mayer eine gute 
Studie »Voltaire und Rousseau in ihrer sozialen Bedeutung«. 

Im Jahre 1860 erschien Hermann Hettner's »Geschichte 
der französischen Literatur im 18. Jahrhunderts in welchem 
Werk Voltaire mit Achtung und meistens mit Gerechtigkeit 
beurteilt wird. 



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— 74 — 



Im Jahre 1872 kam dann David Strauß mit sanem 
Buche: »Voltaire; sechs Vorträge von Prinzessin Alice von 
PreuBen.« Auch Strauß wird Voltaires Verdiensten, Be- 
deutung und selbst seinem Charakter ziemlich gerecht, wenn- 
gleich es nicht zu verkennen ist, daß sein Deutschtum und 
die Anwesenheit der Prinzessin ihn, wohl unbewußt zu 
einer gewissen Kflhle bestimmte^ die sogar mitunter eine 
komische und zugleich irritierende Wirkung auf manchen 
Leser hervortmngt; nämlich dann, wenn Strauß im Tone 
des tiberiegenen, aber in gnädiger Herablassung dennoch 
wohlwollend uifeilenden Schulmeisters lobt Sein Tadel 
wirkt viel weniger irritierend als diese Art von Lob. 

StniuB ist, bei allen wirklich enormen Verdiensten um Auf- 
kllning und Bildung, doch wohl kein eigentlich feuriger Geist 
zu nennen,*) und man kann bei seinem Naturell gewiß keine 
lodernde Begeisterung für irgend jemanden erwarten; den- 
noch vermochte es das Nationalitätsgeffihl, ihn zu einer 
rdathr warmen Biographie Hutten's zu bringen, zu einer viel 
wärmeren als jene Voltaire's. Was ist sber fQr die europäische 
Kultur ein Ulrich v. Hutten — gesetzt auch, er wäre aK 
geworden — im Vergleich mit Voltaire! 

Im Jahre 1874 brachte der neue Plutarch« eine schöne 
biographische Studie: Voltaire« von Karl Rosenkranz, die 
einen sehr wohltuenden Eindruck macht, wie ihn eben nur 
ein edler und philosophischer Geist hervorzubringen vermag. 

Im Jahre 1878 erschien mein hier schon mehrfach 
erwähntes Buch Das Recht zu leben und die Pflicht zu 
sterben* mit einem ziemlich umfangreichen Einleitungsicapitel 
über Voltaire. 

' Sehr ungerecht und g&nz deplaziert erscheint mir jedoch der An- 
griff Nietzsche'^ auf Strauß in seinen Unzeitgcniäßen Betrachtungen«; 
ungerecht und undankbar gegen dessen Leiälungen und pietätlos gegen 
einen solchen lebenslang im edlen Kampfe gegen Pfaffen und Pfäffcrei 
vielerlei Art eifrigen Schriftsteller der zugleich auch als Stilist, z. B. in 
seinem Ulrich v. Hutten, zu den Zierden der Literatur gehört Nietzsche 
ist ein originalerer Geist als Strauß, aber Strauß ein unveigleidilich 
scsensreicheier und weniger sdiädlicber Schriftsteller als Nietzsche. 



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— 75 ~ 

Eine durch Oediingtheit und Klarheit, wie auch durch 
Objektivittf ausgezeichnete Leistung ist das im Jahre 1885 
erschienene zweibändige Werk: » Voltaire's Leben und Weike« 
von Richard Mahren holtz, der schon im Jähre 1882 »Vol- 
taire-Studien« veröffentlicht hatte. 

Sehr gut zur Einführung in das Verständnis Voltaire's 
und namentlich der französischen Oesellschaft des 18. Jahr- 
hunderts ist das im Jahre 1808 erschienene Buch »Voltaire« 
von Dr. Käthe Schir machen 

Außer diesen deutschen Werken wären noch die vielen 
in neuerer Zeit in Frankreich publizierten Schriften über 
Voltaire zu erwähnen, sowohl Bücher als größere Aufsätze, 
von denen die meisten, wie z. B. jene von Nicülardüt, 
Nourrisson, Brunt tiere, Faguet usw. gegnerisch, mitunter 
sogar im höchsten Orade feindselig sind; Mau gras, der über 
Voltaire und auch über sein Verhältnis zu Rousseau schrieb, 
gehört nicht unter seine Gegner. Ein schon älteres, höchst 
belehrendes und mit Gerechtigkeitssinn geschriebenes Werk 
ist das in den Jahren 1867 bis 1 876 erschienene -»Voltaire et 
la societ^ fran(;aise au XVIil siecle von Desnoiresterres. 

Es ist ganz und gar überflüssig^ hier über alle einzelnen 
Leistungen und praktischen Täti^^keiten Voltaire's zusprechen; 
wenn man sie noch niciit kennt, so kann man sich aus 
den oben angeführten Werken, namentlich jenen von Strauß 
und Mahrenhoitz, leicht die notwendige Belehrung ver- 
schaffen. In diesem Aufsatze handelt es sich mir 
vielmehr hauptsächlich darum, die Persönlichkeit Vol- 
taire's von dem so massenhaft angeworfenen Kot 
zu befreien. Das erscheint mir aber nicht nur darum not- 
wendig, weil es eine Forderung der Gerechtigkeit ist, sondern 
auch deswegen, weil die wegwerfende oder verkleinernde 
Beurteilung eines solchen Kämpfers auf die Wertschätzung 
seiner Tendenzen zurOdcwirft, und es für das OlQck der 
Menschen sehr wichtig ist, eben diese Tendenzen vor jeder 
Oeringschätzung zu l>ewahren. 



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— 76 - 



Vorerst stellen wir eine ganz kurze Charakteristik Vol* 
taire's aus bloßen Zitaten von Schriftstellern zusammen, von 
denen die meisten für ihn durchaus nicht allzu begeistert, 
einige seine ausgesprochenen Gegner sind; und zwar voran 
die relativ günstigsten Aussprüche Über Voltaire's Wirk- 
samkeit und Charakter im Allgemeinen: 

Carlyle, dn schon zufolge des Unterschieds der innersten 
Naturanlage prinzipielier Oegner, sagt*): 

»Wenn man Voltaire und seine Tätigkeit aus dem 
18. Jahrhundert hinw^ehmen wollte» so würde dies einen 
größeren Unterschied in der vorhandenen Gestalt der Dinge 
hervorbringen, als die Abwesenheit irgend eines anderen 
Individuums bis auf den heutigen Tag hätte hervorbringen 
können. Ja, mit dee einajgen Ausnahme Lulher's hat viel- 
leicht in diesen letzten Jahrhunderten kein Mensch von bloß 
intellektueller Tätigkeit gelebt, dessen Einfluß und Ruf so 
durch und durch curoj3äisch geworden wäre, wie dies mit 
Voltaire der Fall gewesen ist 

Orillparzer (Aus Paris 1836, Besucli in der Bibliothek); 

»Oleich beim Eingang Voltaire s Bildsäule von Erz, 
dieses Napoleon's der geistigen Welt, oder Robespierre's 
vielmehr, dieser Guillotine verjährter Ansprüche und Über- 
lieferungen. Man hat ihn mit Recht in einen Imperatoren- 
sessel gesetzt, denn er hat die Weit beherrscht und gemacht, 
der einflußreichste Mensch aller Zeiten. Er ist jetzt in 
Frankreich vergessen, man kauft seine Werke um zehn Sous 
den Band, aber er war der Pflug, der die Erde aufriß, in 
die die Zeil ihren Satnen le^te.' 

Wieiand — als Literat» namentlich Shakespeare's wegen, 
ein Gegner Voltaire's: 

Nie hat ein Mensch in der Welt so wohltätig gewirkt, 
ohne ihr zugleich Böses zuzufügen.**) 

Ooethe: »Voltaire wird immer l)etiachtet werden als 

*) In seinem Essay 'Voltaire^. 
**) Nach dem Oedichtais zitiert. 



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— 77 — 



der größte Mann der Literatur der neueren Zeit und vielleicht 
aller Jahrhunderte; wie die erstaunenswerteste Schöpfung 
der Natur .... Eben dieser Voltaire, das Wunder seiner 
Zelt*) .... Byron wußte zu gut, wo etwas zu holen war, ' 
und er war zu gescheit, als daß er aus dieser allgemeinen 
Quelle des Lichts nicht auch hätte schöpfen sollen.«**) 

Emil Faguet***): >Fur eine Menge von Fragen, die als 
Deiailfragen erschehien, die aber von größter Wichtigkeit 
sind in der Administration eines Volkes, gab er aus- 
gezeichnete Ratschläge. Er plaidierte fOr die Hygiene . . . 
gegen die Protestantenverfolgungen, gegen die Strenge der 
Zauberei gegenüber ... er verfolgte Punkt für Punkt eine 
ganze Reform der Magistratur und der Kriminaljustiz; be- 
kämpfte die Käuflichkeit der Beamtensteilen — griff die Tortur 
an . . . plaidierte für Milderung in der Behandlung der De- 
serteure . . . eiferte gegen die Tüüess träte (ßeccaria war sein 
Schüler.) — 

Nochmals Carlyleit) 

»Gleichzeitig werden, wie uns scheint, selbst Voltaire's 
bitterste Feinde nicht leugnen, daß er einen angeborenen 
feinfühlenden Sinn für Rechtlichkeit, sowie überhaupt für 
jede Tugend besaß. Seine rasciie Empfänglichkeit für jede 
Form der Schönheit ist nicht bloß inteilektuell, sondern 
auch moralisch. 

sSein praktisches Leben lehrt uns dies durch viele 
unzweifelhafte und ihm zur hohen Ehre g-ereichende Be- 
weise. Den Hilfsbedürftigen war er stets ein bereitwilliger 
Wohltäter, und zahlreich waren die hungrigen Abenteurer, 
welche seine Freigebigkeit benützten und dann die Hand 
zerfleischten, die sie gefüttert hatte.« 

»Wenn wir seine edelmütigen Taten, von der An- 

*) in »Wahrheit und Dichtung«. 

•*i Z« Eekermann, als dieser bemerkte, Byron scheine Voltaire 

studiert und benO'.zt zu haben. 

••*) In seinem Werke ^ Voltaire . 
t; In seinem Essay >Voltaire<^. 



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— 78 — 



gel^genheit des Abb^ Desfontaine bis zu der der Witwe 
Calas und der Frdhner von Saint-Cioude, aufzählen, so 
weiden wir finden, daß wenige dem Privatleben angehörige 
Menschen dnen so umfassenden Kreis der Wohltätigkeit 
gehabt, und denselben so gut überwacht haben.« . . . . 
»Sollte man meinen, daß Ehrgeiz einen großen Anteil an 
dieser Handlungsweise gehabt halie, so mfissen wir be- 
merken, daß Voltaire nach Ruhm eben nicht erst zu geizen 
brauchte und daß die Liebe zu solchem Ruhme schon an 
und fOr sich die Wirkung einer geselligen, menschen- 
freundlichen Oesinnung ist, und wQnschai, als einen un- 
ermeßlichen Fortschritt, daß alle Menschen davon beseelt 
wären.« 

Voltahe machte Inbezug auf menschliche Sdilechtigkeit 
manche betrübende Erfahrung, aber trotzdem behielt er 
immer noch Mitgefühl für menschliche Leiden und fand sein 

Vergnügen darin, sie zu lindern, selbst wenn er sich dadurch 
nur einen ehrenvollen Luxusgenuli bereitete .... 

»Seine freundschaftlichen Verhältnisse scheinen auffallend 

beständig und dauernd gegen seinesgleichen scheint 

er, so viel wir bemerken können, nicht neidisch gewesen 
zu sein-' . . ^Voltaire besaß wahre Herzensgüte, alle seine 
Diener und Untergebenen liebten ihn und blieben lange bei 
ihm.« 

»Wir wissen nicht, daß er jemals in einem einzigen Falle 
einer vorsätzlichen Verleugnung seines Glaubens überwiesen 
worden wäre, oder daß er bei all seinen Controversen eine 
einzige vorsätzliche Unwahrheit ausgesprochen hätte.« . . . 

»Gleichzeitig bewahrt Voltaire immer eine gewisse un- 
zerstörbare Humanität, eine Seele, die für den Schrei des 
Jammers niemals taub und für das Licht der Wahrheit, 
Schönheit, Güte niemals gänzlich blind ist« — 

David Fr. Strauß*): 

*) In seinen Vortiigen über Voltaire. 



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— 70 - 



»In seinen eigentlichen philosophischen Schriften . , . 
darf man nur hOien, welchen Ton er anschlägt, wenn er 
von diesen Dingen spricht, um sich zu überzeugen, daß es 
ihm damit redlicher Emst war. In das Scherzen und Spotten 
veffflit er in der Reget nur dann, wenn er es mit mensch- 
lichem DQnkd zu tun hat, der sich einbildet, diese endlosen 
Probleme gelöst zu haben« . . . 

»Wenn es ihm auch jedesmal zunächst um den einzelnen 
Fall zu tun war, der seine menschliche Tdlnahme erweckt 
hatten so hatte er doch immer zugleich das Allgemeine^ die 
Vetbesserung der Rechtspflege fiberhaupt im Auge . . . . 
doch auch Ober das Gebiet der Rechtsgesetzgebung und 
Rechtspflege hinaus, auf das der Verwaltung und Staatsein- 
richtung überiiaupt erstreckten sich Voltaire's reformatorische 
Bestrebungen« . . . 

»Das Verfahren gegen die Jünglinge von Abbevflle*) 
kam Voltaire so besonders abscheulich vor, weil hier zum 
todeswürdigen Verbrechen gestempelt wurde, was höchstens 
ein polizeilich zu rügendes Vergehen war. — 

»Ich begreife nicht, schrieb damals Voltaire aus 
Ferney an D'Alembert, der ilini die Saclie zu gleichmütig 
aufzunehmen schien, »wie denkende Wesen in einem Lande 
von Affen bleiben mögen, die so oft zu Tigern werden. 
Was mich betrifft, so schäme ich mich, auch nur an der 
Grenze zu wohnen. Nein, jetzt ist keine Zeit mehr, zu 
scherzen; Witzworte passen nicht zu Schlächtereien, wie? 
In Abbeville verurteilt Busiris**) im Richtergewande Kinder 
von sechzehn Jahren und sein Spruch wird bestätigt, und 
die Nation läßt es sicfi [^refallenl' — Auf diesen tief 
revolutionären Oedanken möchte ich die Aufmerksamkeit des 

•) Die das Cruzifix beschädigt (oder beschmutzt), vor einer Pro- 
lesdon den Hut nicht abgenommen und religiös anstößige Lieder ge- 
sungen hatten Dehbarre, der eine von ihnen, wurde erst gefoltert, 
um ihm GeäUndnissc abzudrängen, diuin enthauptei, dann verbrannt. 

**) Ein grausamer Sgyptlsdier Kön^» der alle Fremden am Altare 
des Zeus scnlachtete. 



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— 80 ~ 



Lesers ganz besonders hinlenken. — »Kaum spricht man 
einen Augenbliclc davon, und geht dann in die leomische 
Oper. Es ist wohl eine Schande^ daß ich in meinem AlteO 
noch so lebhaft empfinde. Ich beweine die jungen Leuten 
denen man die Zunge ausreißt» während Si^ mein Freund, 
sich der Ihrigen bedienen, um höchst anmutige Dinge zu 
sagen. Sie verdauen also gut, mein lieber Philosoph, und 
ich verdaue nicht Sie sind noch jung, und ich bin ein 
alter, kranlcer Mann; entschuldigen Sie meine Trauriglceit!« 

Wie viele, wirklich sehr schlechte Dichttingen mflßte 
man einem Manne nachsehen, der so fühlt? Und wie viele 
von den größten Dichtern der Welt besaßen eine solche 
Glut und einen solchen Zorn über Gewalttaten? Namentlich 
über Gewalttaten, die sie selbst in keiner Weise trafen und 
die sich zu ihrer Zeit ereigneten, also für eine »poetische 
Bearbeitung^'^ noch nicht brauchbar genug waren. — 

Hermann Hettner sagt: 

»Er war ungemessen empfindlich und ehrgeizig, aber 
er war frei von jener neidischen Eifersucht, welche den 
Ruhm für sich ganz allein will und neben sich keine andere 
Größe duldet. Wenn er gegen die Crebillon, Montesquieu, 
Buffon, J. J. Rousseau zu Felde zieht, so ist er nicht der 
Angreifende, sondern der Angegriffene. Gegen Diderot und 
D'Alembert hegte Voltaire jederzeit die wärmste Freund- 
schaft und Anerkennung; ja gegen jüngere Schriftsteller, 
selbst von abweichender Richtung, wie gegen den edlen 
Vauvenargues, war er von überraschender Hingebung« . . . 

»Im J. 1731 (wo er 37 Jahre alt war) sehnte er sich in- 
folge der Oehissigkeit seiner Gegner uud der Eifersüch- 
teleien der von ihm fiberstrahlten Schriftsteller nach stiller 
Zurfid^ezogenheit. »Mein Ootti« schrieb er an seinen Freund 
Qdevillei »was müßte es für ein veignQgliches Leben sein, 
mit drei oder vier gleichgesinnten Menschen zusammen zu 

*) Von 72 Jahren. 



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— 81 — 



leben, die Ansichten auszutauschen ohne gegenseitige Eifer- 
sucht, sich herzh'ch zu liehen, die Kunst zu pflegen und von 
ihr zu sprechen, sich aneinander zu bilden und aufzuklären; 
ich träume, ich werde noch eines Tages in einem solchen 
Paradies leben. 

^Kein anderer als Voltaire ist in Frankreich der Urheber 
und Verküiider des in der französischen Revolution SO 
wichtig gewordenen Wahlspruchs: Liberte et Egalit^ . . . 
Im innersten Herzen grollt Voltaire den Standesunterscbieden 
und blosse Geburtsrechte will er unter keiner Bedingung 
gelten lassen. 

*Man pflegt Voltaire meist der alleroberfiäch liebsten 
aristokratischen Engherzigkeit anzuklagen. (Siehe Louis Blanc 
in seiner Geschichte der französischen Revolution.) Diese 
Anklage ist unbegründet. Dies bezeugt nicht nur seine 
menschenfreundliche Wirksamkeit in Femey, das bezeugen 
auch viele seiner Briefe und Gedichte . . . Wie fest und 
glühend ist sein Hass gegen alle aristokratischen Zusammen- 
kettungen . . . Wie bitter kl^ er in einem vertrauten Briefe 
daß man an die armen Leute gewöhnlich nur denken wenn 
sie und ihre Herden von Seuchen heimgesucht werden . . .« 

>Es blieb trotz allem wahr, was O>ndorcet (in seiner 
Lebensbeschreibung Voltaire's) sagt, daB Voltaire auch in 
seinen geheimsten Briefen und Mitteilungen an die Fürsten, 
(Friedrich» Katharina, Gustav III., Christian Vli.) nie seine 
politische Überzeugung und Bestrebungen verieugnete.« — 

Richard Mahrenholtz:*) »Man hat den Dichter Vol- 
taire nur als Aggegrat des tendenzphilosophischen und sa- 
tyrischen Kritikers gelten lassen. Und doch beweisen mehr 
als eine vertrauliche und darum aufrichtige Äulierung, wie 
sehr Voltaire durch unmittelbaren Antrieb zum Dichten hin- 
gezogen wurde; wie es ihm immer Selbstzweck, nicht bloß 
Mittel seiner politischen und religiösen Tendenz war.« 

*) In den •Voltaire-Studien« dieses Literaturhistorikers. 

Popper, Voluirr. 6 



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— 82 — 



»Voltaire soll ausschlieljlich Verstandesmensch pfewesen 
sein, ohne Herz und Gemüt, . . . und daß er das Gute, wo 
er es ^e\^r\. nur aus Verstandesreflexion getan hätte. Eine 
Beurteilung, für die man sich auf Äußerungen Schiller's und 
Ooethe's berufen könnte, die aber durch Voltafre's ver- 
trauliche Korrespondenz hinreichend widerie;gt wird.« — 

Karl Rosenkranz: *) 

^Was Voltaire auch leichtfertig oder in leidenschaft- 
lichem Zorn gesündigt haben ma^ der Genius der Mensch- 
heit muß es ihm vergeben, wenn man den Oreis mit solcher 
Gewissenhaftigkeit und Emsigkeit sich des unterdrückten 
Rechtes der Unschuld annehmen sieht. Ferney wurde die 
Zuflucht der Bedrängten; hier fanden sie Herberge, Rat, 
Unterstatzung, hier erblickte nuin das Tribunal der Mensch- 
heit" — 

Nunmehr dnige Tatsachen:**) 

Schon Voltaire's Lehrer hatte bemerkt, daß der Knabe 
ein ungemein lebhaftes MitgefOhl besaß und jeder Art von 
Leid und Unglück gegenüber den dringenden Wunsch zu 
helfen zeigte. 

»Mehrere Male In sehiem Ldwn mußte VoHalre um seiner 
Schriften willen die Flucht ergreifen.« 

Obwohl ein Bewunderer oder wenigstens Vertrauens- 
mann Friedrichs des Großen, war er doch so wenig 
Schmeichler oder Höfling, daß er, in seiner innersten Seele 
von den Kriegstaten Friedrichs wenig erbaut, zugleich mit 
seinen Glückwünschen seine humanen Gefühle nicht unter- 
drückte, und stets die Bitte an ihn richtete, Frieden zu 
machen und die Menschenschlächterei einzustellen.« 

»In der Übernahme der Verteidigung des Calas war 
das Erstaunliche und Große das in den Annalen Frankreichs 
(und anderer Länder) noch nicht dagewesene, daß ein 

•) Im Essay ^Voltaire» Neuer Plutarch (Bd. I). 
.**) Zumeist nach Schirmacher's »Voltaire« zitiert 



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- 83 — 



Schriftsteller, eine Privatperson den Rechtsstreit ihm ganz 
fremder Leute gegen ein ganzes Heer gewappneter Tra- 
dttionen, g^en einen obersten französischen Gerichtshof 

aufnahm« »Keiner von den anderen MAnnem, wie 

Rousseau, Diderot, d'Alembert usw. hat gleich Voltaire . . . 
die Rehabilitierung unschuldig verurteilter Personen oder die 
Verteidigung barbarisch bestrafter Freidenker unternommen.*) 
Das darf t>esonders bei dem Protestanten Jean Jacques 
Rousseau Wunder nehmen. Um so mehr, als bereits 1761 
Rousseau von Montauban aus darum angegangen worden, 
sich des verfolgten protestantischen Pastors Rochette an- 
zunehmen, der 1762 in Toulouse hingerichtet wurde. 
Rousseau blieb gegen diese Bitten taub. Und im Jahre 1764, 
als die Untersuchungen zur Rehabilitierung des Calas bereits 
in vollem Gange waren, erklärte er, sein Äußerstes ffir die 
verfolgten Protestanten getan zu haben, faidem er einen 
Brief an Christophe de Beaumont, den Erzbischof von Paris, 
geschrieben. Voltaire hatte eine andere Auffassung von 
dem, was ein Aufklärer von sich und was die Welt von 
ihren Aufklärern verlangen dürfte.« 

-Inmitten einer grenzenlos frivolen Zeit verstand er, 
treue Neigung des Herzens zu bewahren. Zu dieser Treue 
gegen Menschen gesellte sich die gleiche Treue gegen 
Ideen! Der Greis wiederholt noch das nämliche Credo der 
Auficlärung, welches einst das Kind vom Paten Chateauneuf 
gelernt.« — 

Und das UngUublichste an Konsequenz und Chaiakter- 
stSrk^ in der Treue gqpen seine Oberzeugungen bewies er 
auf seinem Sterbebette;, am 30. Mai 1778; als Abh€ Mignot 
mit dem Pfarrer von St. Sulpice erschien, dieser den mit 
dem Tode ringenden vierundachtzigjShrigen Mann zu quälen 
begann und dem sterbenden Voltaire die Frage in die 

* Uber welchen PtinVt ;c!ioil obcti bCEfigUch DidCfOt ttod 
d'Alembert einiges mitgeteilt wurde. 

6* 



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— 84 — 



Ohren schrie, ob er die Göttlichkeit Jesu aniTkcnne! Un- 
willig wendete sich der Sterbende von diesem Anfange eines 
theologischen Examens ab, stieß mit seiner Rechten an das 
ICftppchen des Pfarrers, schob ihn zur Seite und rief, während 
er sich auf die andere Seite herumwarf: »Mein Gott! Sprecht 
mir doch nicht von diesem Menschen und laßt mich ruhig 
Sterinen!«*) Den Tag darauf starb er, sanft und ruhig, wie 
er es wünschte; im dunkeln Alkoven, von Allen (auch von 
seiner Nichte) verlassen» nur sein Kammerdiener sa6 vor 
seinem Bette. »Adieu, mon eher Morand, je me moeurs,« 
sagte er zu Moiand, drQckte ihm die Hand und verschied. 

• 

»Was fOr ein außerordentlicher, herrlicher, gütiger 
Mensch mufi das gewesen sein,« wird gewiß jeder denken, 
der die eben angefOhrten Urteile über Voltaire gelesen; 
wobei ich noch hervorhebe, daß ich die Urteile der fQr ihn 
durchaus begeisterten MSnner gar nicht mitgeteilt hatte. 

Erfährt man nun zum ersten Maie, weiciie Ansiciiten 
über Voltaire aber faktisch die allgemein geltenden sind, so 
muß man sich wohl sagen: Wenn ein solcher Mann ge- 
tadelt, beschimpft, mißachtet wird, so könnte es gferechter- 
weise doch nur dann L;esctiehen, wenn irgend welche 
schreckliche Schandtaten in dem Leben dieses Mannes, viel- 
leicht irgend welche furchtbare Geheimnisse, die man erst 
durch pfenauere biographische Forschun<Ten entdeckt hatte, 
vorhanden waren, Fehler oder gar Verbrechen, die man neben 
allen Vorzügen und Tugenden nicht ignorieren könne? 

Was mag nun dieser Voltaire wohl angestellt haben? 
Welche dunkle Punkte finden sich in seiner Lebensführung? 

*) Aus den verschiedenen Berichten über Voltaire's Ende tls die 
wahrscheinlich richtige Darstellung entnommen. 



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— 85 - 



Gewiß, es gibt unter den vielen bedeutenden Männern 
der Menschheitsgeschichte derer genug, bei deren Beurteilung 
Lob und Tadel oder sogar Lob und Verwünschung gleich- 
zeitig auftreten müssen, weil sich eben ihr Outes und ihr 
Böses gänzlich oder nahezu das Gleichgewicht halten. 

Wie steht es damit bei Voltaire? 

Wir wollen, damit man das erfahre^ in objektiver Weise 
die wtcliiigsten voigebrachten Vorwürfe gerade so wie oben 
die Lobesworte, in Folgendem vorfOhren, sie aber auch 
einer grfindlichen Beurteilung unterwerfen. — 

Wenn man die gegnerischen Bemerkungen in den be- 
treffenden Werken studiert, so zeigt es sich, daß sie alle in 
folgender Weise charakterisiert werden können: 

Man tadelt aus prinzipieller Gegnerschaft 

Man tadelt aus Vorurteil. 

Man tadelt aus speziellem Mi (V erständnis. 

Man verdächtigt oder verleumdet liberhaupt sehr gerne. 

Man degradiert Leistunj^en oder Handlungen durch Ver- 
olefchun^f mit Leistungen oder Handlungen Anderer, wobei 
man aber alles das verschweigt, worin wiederum diese 
Anderen keinen Vergleich mit Voltaire aushalten. 

Man sucht, ihn herabzusetzen, indem man Andere un- 
berechtigt oder willkürlicher Weise emporhebt; oder, indem 
man dieselben Taten oder Eigenschalten, die man an Vol- 
taire tadelt, bei ihnen beschönigt, oder in besonders 
schonender Weise und in milden Worten erwähnt, oder auch 
in erkflnstelter Weise und ungerechtfertigter Art rechtfertigt, 
oder , indem man solche Fehler, wie auch sonstige Fehler 
überhaupt, gänzlich verschweigt 

Auch variiert der Ton in den gegen Voltaire erhobenen 
Vorwürfen in mannigfaltiger^Weise; bald herrscht ein trockener 
Ton, bald der pathetische und entrüstete, bald der scheinbar 
ruhige aber desto mehr verkniffene Ton. — 



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I 

- 86 - 



»Nach unserer Ansichtc, meint Carlyle in dem früher 
zitierten Essay, tist, wir gestehen es, bei Betrachtung von 
Voltaire's Ldien, die Haupteigenschaft, welche sich darin 

zeigt, jene, für welche >Gewandtheit< der passendste Name 

zu sein scheint. 

Nun ist es ja gar nicht zweifelhaft, daI5, zum Segen für 
Voltaire s Person wie für seine großen aligemeinen Be- 
strebungen, seine Gewandtheit eine ganz aulierordentüche 
war; war das aber wirklich seine Haupteigenschaft«? Wie viele 
Männer, die man aber neben Voltaire gar nicht nennen darf, 
bewiesen nicht ebenfalls eine enorme Gewandtheit! Während 
der Renaissance wimmelte Italien von solchen Männern, und 
im Frankreich des 18. Jahrhunderts beinahe in gleichem 
Grade, wir wollen nur: Beaumarchais, ja wir Icönnten auch 
Cagliostro und ähnliche Individuen nennen, die es an Ge- 
wandtheit mit Voltaire ganz gut aufnehmen konnten. Und 
da man in der Tat bei Nennung dieser Eigenschaften an 
solche MSnner denid, so ist die Absicht Cariyle's, Voltaire 
zu degradieren, ganz offenbar. Voltaire als Hauptdgenschalt 
nur Gewandtheit zuschreiben, ist dasselbe, wie von Na- 
poleon sagen: Seine Hauptdgenschaft war ein starkes Ge- 
dächtnis, oder sein robuster Körper! 

Auch soll Voltaire, nach Carlyte, nur »viele unter- 
geordnete Tugenden« gezeigt haben; zufolge welcher 
Bezeichnung man also: Unerschütterliche Güie im Privat- 
leben, und allgemeine humane Bestrebungen, die erst mit 
dem letzten Atemzuge aufhörten, »untergeordnete« Tugenden 
nennen müßte! Welche höhere Tugenden, muß man da 
wohl fragen, zeigten denn jene anderen großen Männer, 
die die Menschheit und Carlyle f;elbst so sehr verehrt? 

Auf dieser seltsamen Schätzungsart basierend, und mit 
dem weiteren Zugeständnis, Voltaire habe auch »eine an- 
gemessene Würdigung der höchsten Tugenden« — welche 
Tugenden die »höchsten« sind, darüber Idärt uns Carlyle 



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— 87 — 



nicht auf -— »und weniger Fehler besessen, als in seiner 
Lage zu erwarten und vielleicht zu verzeihen gewesen 
wären«, nennt Carlyle Voltaire einen sehr erfahrenen 
und hochgeachteten Geschäftsmann «(!) auf welche ge- 
nerelle Bezeichnung — die übrigens auch der Reaktionär 
Faguet auf Voltaire anwendet — wohl nicht so bald Jemand 
verfallen dürfte, der nur im Geringsten Achtung vor aktivster 
Menschenfreundlichkeit überhaupt besitzt, geschweige Jener, 
der Voltaire s ganzes Leben unvoreingenommen betrachtet. 

Aus den bisherigen Wendungen Carlyie's ist wohl 
schon zur OenOge zu erkennen, welche hämische Gehässig- 
keit In seiner Auffassung und In seinen Ausdrücken versteckt 
liegt Obwohl nun im Grunde nicht gar viel daran 11^ 
wenn er in seiner gewohnten weibisch-spitzen Weise an 
Voltan« Medisance abt, wie er sie an so vielen edlen 
Männern — sogar auch an Diderot in noch empörenderer 
Weise ~~ fibte^ so führte ich dennoch diese Stellen an, 
damit der noch nicht genug erfahrene Leser sehe^ wohin 
religiöse Erziehung oder Anlage einen sonst bedeutenden 
Geist führen kann. 

Ich gebe aus demselben Grunde noch ein anderes 
analoges Detail, das wohl auch nur von geringer sachlicher, 
aber von großer symptomatischer Bedeutung ist. In seinem 
Buclie Über Helden und Heldenverehrung^^ nennt Carlyle 
gele<:fentlich der Erwähnung der Ovationen, die Voltaire im 
Jahre 1778 in Paris dargebracht wurden, diesen den: »Ein- 
geschrumpften Oberpriester des Encyclopädismus.« 

So wegwerfend, mit verächtlicher Hervorhebung des 
alten und kranken Körpers eines Großmeisters der Kultur 
und Literatur zu sprechen, ist eine Art, die man sonst nur 
in bissigen Aufsätzen polemisierender Zeitschriften von der 
unvomehmsten Gattung anzutreffen gewohnt ist. Selbst der 
heftigste Gegner des Piapsttaims wird es für unwürdig und 
unpassend finden, z. B. den jüngst verstorbenen Papst 



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- 88 - 

Leo XIII. den >eingeschrurnpftLn Überpriester des Katholl- 
zismus< zu nennen, obwohl Leo ebenso oder noch mehr 
»eingeschrumpft« und noch älter war als Voltaire. 

Man sieht also hier, in diesem an sich unbedeutenden 
Detail wiederum, wie die Religiösen, die immer von den 
erhatienstoi Transzendenzen und von den unaussprechlichen 
Tiefen des Gemüts schwärmen, nicht einmal den ersten 
Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen, indem sie gerade 
das, was sie für roh oder frivol an Anderen verdammen, 
Anderen gegenüber selbst betätigen. 

Nun aber wollen wir von dem allgemeinsten Tadels- 
worte sprechen, das von Carlyle gegen Voltaire angewendet 
wurde: 

»Voltaire war ein ^eborner Spötter. Der Spott ist die 
kleinste von allen Fähigkeiten, welche andere Menschen sich 
Muhe geben,*) mit einem {gewissen Grade von Achtung zu 
vergelten. Der Spott ist seiner Natur nach egoistisch 

für ihn (Voltaire) ist in allen Dingen die erste Frage 

nicht: Was ist wahr? Sondern: Was ist falsch? .... Er 

ist bloß ein großer Persifleur kein Dichter und 

Philosoph, sondern ein volkstümlicher unterhaltender 

Sänger und Redner ein leichtfertiger, sorgloser, 

artiger Weltmann «♦♦) 

Nach allem, was der Leser bisher über Voltaire erfahren, 
ist wohl jede Kritik dieser Cariyle'schen Ansichten ganz 
und gar fiberilQssig, man kann sie Oberdies mit allem Grunde 
gewiB sehr merkwfirdig nennen. — 

Wir finden aber einen allmählichen Obeigang von 
diesen Ansichten zu jener von David Strauß, der Voltaire 
als Menschen jedes Oemüt abspricht; eine Ansicht, über die 

*\ Diese Übersetzung rührt von Krämer her und der ganze Cstty 
> Voltaire« ist in der funfbändigen Übersetzung von Cariyle's Essays 
erhalten. 

**) Die Unterstreichungen rühren von mir her. 



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- a9 - 



man bei Kenntnis seiner Handlungen und Briefe ebenfalls 
nicht wenig erstaunen muß. Sie steht ja auch mit jenen 
Aussprüchen Cariyle's in Widerspruch, die wir zu Anfang 
dieses Abschnittes zitiert hatten. 

H ettner nennt, ähnlich wie Carlyle, den Ton in Voltaire's 
Schriften, besonders den Streitschriften» „leichtfertig^; offen- 
bar nur darum, weil in ihnen ein enorm beweglicher, schlag- 
fertiger, ganz und gar nicht schwerfälliger, langweiliger oder 
mürrischer Geist hervorteuchtet Diese unrichtige Auffassung 
in solchen Fällen findet man übrigens ziemlich oft; sie ist 
zumeist eine unbewußte, instinktartige Finte, um eigene 
Schwerfälligkeit in der Darstellung als notwendige Bedin- 
gung für Gründlichkeit hinzustellen und so den Mangel als 
Tugend zu deklarieren. 

Auch soll, nach Hettner, Voltaire^ der doch der beste 
JMensch von der Welt, und voll der besten Absichten war, 
wie auch voll des grössten Fleißes und des heftigsten Dranges, 
Bildung zu verbreiten — eine „mephistophelische^ Natur 
besessen haben! 

Und femer soll — wiederui» nach Carlyle — Voltaire s 
herrschender Beweggrund nur ein „gemeiner Ehrgeiz" und 
der „Wunsch, über andere Menschen zu herrschen" Seewesen 
sein. Welche Beschuldigung geradezu unverständlich ist 
und ebenfalls mit den oben angeführten Lobesworten 
Carlyle's in Widerspruch steht: aber von mir miterwähnt 
wird, um zu zeigen, zu welchem Widersinn prinzipielle 
Gegnerschaft ein lebhaftes Temperament ohne Gerechtig- 
keitssinn führen kann. 

Aber es soll nicht unausgesprochen bleiben, wa«; ich 
mir hierbei außerdem noch denke: Die Beschuldigung eines 
„gemeinen Ehrgeizes" als herrschender Beweggrund bei einem 
Voltaire, erscheint mir schlimmer als unrichtig oder unsinnig, 
nämlich: als ruchlos. Und als beinahe nicht besser er- 
scheint mir die Unterstellung Hettner's, der da sagt: Voltaire 
ist ein gewaltiger Agitator, welcher in die großen Bewe- 



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- 90 — 



gungen der Geschichte eingreift, weil es ihm Ruhm bringt 
und weil der gereizte Ingrimm seiner Seele ihn dazu zwingt.« 

Das heißt doch, jemandem mit aller Gewalt schlecht 
machen und seine edelsten Bestrebungen unlauteren Motiven 
zuschreiben! Man erinnere sich an die unbestrittene, oben 
erzählte Tatsache, wie der beinahe sterbende Voltaire sich 
bei der Nachricht von der Begnadigung Laiiy's benahm. 

Nur aus Ruhmsucht hat sich Voltaire so vielen Gefahren 
ausgesetzt, so oft fluchten müssen oder sich in seiner Ruhe 
stören lassen? Oar nicht aus MenschenKebe? Hat der erste 
Ptesimist Europa's gar keine philanthropischen OefQhle be- 
sessen? 

Und was will denn Hettner mit dem gereizten Ingrimm« 
hl Voltafav's Seele Schlechtes beweisen? Ingrimm, Zorn bei 
Anblick von Unrecht oder Gewalttat, die an anderen ver- 
übt werden, beweist doch eben das Vorhandensein jener 
edlen, menschenfreundlichen Triebe, oline die ein Reformer 
oder Revolutionär (im guten Sinne) gar nicht denkbar ist! — 

Die Antipathie Carlyle s, des mürrischen Puritaners aber, 
dem die sonni^^e Heiterkeit und das von jeder Mystik freie 
Wesen Voliaire s in tiefster Seele zuwider sind, geht so weit, 
zu behaupten: „Das höhere Lob, ein rechtes oder edles Ziel 
gehabt zu haben, . . . kann ihm aus sehr plausiblen Gründen 
ganz und gar verweigert werden." Da hiernach Carlyle das 
unausgesetzte Bestreben nach Verbesserungen der mensch* 
liehen Zustände in materieller und geistiger Beziehung noch 
immer nk:ht als ein „rechtes oder edles" Ziel gelten lassen 
will, so müßte man erst bei ihm erforschen, was er denn 
eigentlich als „recht und edel** ansieht Wir andern alle 
nennen dieses Bestreben Voltaires recht und edel, und 
shid jedem dankbar» bei dem wir ein solches zu entdecken 
vermögen. 

Aber man kann fOr höchst wahrscheinlich annehmen, 
daß Carlyle's ,^htes Ziel" irgend dne transcendente 



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— 91 — 



Schaum sc h 1 ä [^erei zur Voraussetzug hat, und das ent- 
nehme ich folgenden Stellen in seinem Essay: 

»Die göttliche Idee, das was auf dem untersten Grunde 
des Scheines liegt, war niemals einem Menschen unsicht- 
barer .... Er liest die Geschichte nicht mit den Augeti 
emes frommen Sehers .... Er singt kein Miserere über 
das menschliche Leben .... Er hänp^t sich nicht auf und 
ersäuft sich nicht, denn er weiß recht wohl, daß der Tod 
ihn von selbst sehr bald dieser Mühe überheben wird . . . 
Das Leiden trägt allerdings für ihn kein kostbares Juwel 
im Hauptep sondern ist im O^enteil ein ununterbrochenes 
Ärgernis .... wenn er daraus nicht Demut und die er- 
habene Lehre der Resignation lernt usw.« 

Hiemach sielit man, was Carlyle als rechtes und edles 
Ziel vorschwebt; er, Gariyle, sieht, »was auf dem untersten 
Grande des Scheines liegt«, dieser Olücklichste aller Sterfo- 
lichenl Waram teilt er doch das auf dem »untersten Grande 
des Scheins« Erschaute der Welt nicht mit? Es wäre doch 
gar so interessant, es kennen zu lernen 1 Und es erscheint 
ihm das sogar als eine so leichte Sache, daß er diese Gabe 
auch von manchem anderen fordern zu können glaubt, 
wenigstens ist man, ohne die »göttliche Idee« gesehen zu 
haben, bei ihm unmöglich ein großer JMann. Wie Carlyle 
es ja ausdrücklich sagt: »Er Ist kein großer Mann, sondern 
bloß ein großer Persifleur . . . .« 

Was das Miserere — Singen über das menschliche 
Leben betrifft, so muß man Carlyle direkt widersprechen; 
denn Voltaire hörte in Schriften und Briefen gar nicht auf, 
es zu singeiiv; man hat oben Proben davon j^esefien — 
in dem angeführten Gedicht auf die BariholomäusiiaciU sieht 
man ja, wie sehr der Menschheit« ganzer Jammer Voltaire 
anfaßte, als er es niederschrieb, und ebenso in dem Artikel 
»Frivolit^« in seinem philosophischen Wörterbuch — und 
sein Miserere-Gesang nach dem Erdbeben von Lissabon hat 
bekanntlich kein geringes Aufsehen gemacht, seinem Pessi- 



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— 92 — 



misnuii trat ja damals Rousseau mit seinem Optiinisfruis 
entgegen. Aber darin hat Carlyle recht: Voltaire hat sich 
weder erhängt noch ersäuft; soviel wir wissen, haben das 
aber auch alle anderen Miserere-Sänger ebenso wenig getan, 
und auch Carlyle selbst nicht. 

Das Juwel im Haupte des Leidens zu sehen, ist eine 
Geschmacksache; wir hören es mit Interesse an. wenn 
Meister Eckhart sich nach Bitternissen sehnt und nehmen 
es hin, wenn auch moderne, mehr oder weniger mystisch 
angelegte oder so kokettierende Menschen solche Juwelen 
in den Leiden finden; es ist das ja immerhin eine ästhe- 
tisch simulierende Art von Psychopathie. Gewiß ist es aber, 
daß von allen Denen, die Carlyle in seinem Buche Über 
Helden und Heldenverehrung als große Männer bewundert, 
kaum ein einziger sich damit beschäftigte, Juwelen in den 
menschlichen Leiden zu suchen, oder sich darauf etwas zu- 
gute getan hätte, sie darin zu sehen (etwa durch ein über- 
sinnliches GeffihI«); sondern sie trachteten danach, ohne 
sich um irgend welche Juwelen zu bekfimmem, diese Leiden 
nach Möglichkeit zu vermindern, wie es eben Voltaire tat, 
oder Irgend etwas überiiaupt zu tun; wobei diese Armen 
gar nicht an das Miserere-Singen dachten, oder wenigstens 
während Ihrer Taten zu singen ganz und gar vergessen 
hatten! wie z. B. CromweÜ oder Napoleon. 

Wenn man sich die von Carlyle in »Helden und Helden- 
verehrung« als Helden, d. i. als groBe Männer, hingestellten 
Persönlkrhkeiten ansieht, nämlich: Odin, Mohammed, Dante^ 
Shakespeare, Luther, Knox, Johnson, Rousseau, Bums, 
Cromwell und Napoleon, — so wird man mir wohl recht 
geben: Die meisten von ihnen haben [uwelen im Leiden 
weder gesucht noch gefunden, und vielleicht nur Einer hat 
das von Carlyle gewünschte Miserere darüber gesungen. — 

Ich möchte auf den Vorwurf Carlyle's und Anderer: 
Voltaire sei nur ein Spötter gewesen, zurückkommen. Er 
befindet sich mit seinem Spotten zwar in der Gesellschaft 



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— 03 — 



jedenfalls bedeutender Geister, die Jeder als solche anerkennt, 
wie Aristophanes, Lucian, Rabelais und Swift, aber es muß 
doch auch auf das Wort von Rosenkranz*) hingewiesen 
werden, der mit Recht von der Gedankenlosigkeit spricht, 
Voltaire als einen Spötter zu schildern, der alles, auch das 
Heiligste^ mit seinem Sarkasmus persifliere. 

»Man fiberträgt«, meint Rosenkranz, »eine Seite Voltaires, 
die er im Kampf mit dem Aberglauben und mit der In- 
toleranz entwickelte^ auf den ganzen Schriftsteller. Man ver- 
gißt zwei Drittel seiner Arbeiten, die nicht den geringsten 
satyrischen Beigeschmack haben. Zu diesen gehören be- 
sonders außer seinen historischen Schriften sdne drar 
matischen.« JVIan kann aber noch hinzufügen: Seine philo- 
sophischen und naturwi8senschaftlk:hen; denn ich möchte 
wissen, was z. B. Voltadre's »Elemente der Philosophie 
Newtons mit seiner Spottlust zu tun haben. — 

Alles, was wir über die Wahrheitsliebe Voltaire's wissen, 
und von der auch oben manches mit Carlyle's eigenen 
Worten, den Tatsachen gemäß, berichtet wurde, reicht noch 
immer nicht hin utid vcrliitidert nicht, ihin eins am Zeuge 
zu rücken und mit der bohrenden Bosheit eines Inquisitors 
und in salbungsvollem Predigertone Klagen auszustoßen. 
»Seine Liebe zur Walirheit, sagt Carlyle, Asi nicht jene 
tiefe, unendliche Liebe, welcfie einem Philosophen geziemt . .. 
und wir haben kein Beispiel, daß er für eine vollständig 
entthronte und verbannte Wahrheit gekämpft habe.« 

Man sieht, daß auch hier das Sieghafte in Voltaire's 
Natur, sein Mangel an tragischen Situationsgefühlen, die 
Abwesenheit alles Winselnden und — man verzeihe den 
derben, aber l>ezeichnenden Ausdruck — alles Raunzenden, 
die Antipathie Carlyle's erregt Wir haben da die Dissonanz 
zweier grundverschiedener Naturen vor uns, und keinem 
halbwegs Urteilsfähigen wird diese Antipathie Carlyle's als 

*} In leiaem oben genannten Voltaire-AulMtz. 



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— 94 — 



Beweis gelten, daß Voltaire darum Vorwürfe verdient, weil 
er für keine entthronte Wahrheit« geicämpft hat. Denn 
was hätte der Vielverlästerte, arme, große Streiter eigentlich 
tun mfissen, um es Carlyle recht zu tun? Hätte er sich 
mit ausgesprochener Absicht, oder Anderen zum Trotz oder 
sich selbst zum Trotz, solcher entthronter Wahrheiten an* 
nehmen sollen, auch wenn er sie für keine Wahrheiten 
hielt, bloß darum, um ein bißchen Märtyrer zu spielen? 

»Voltaire liebte hauptsächlich die Wahrhelten trium- 
phierender Art,« wirft ihm Cariyle vor. Nicht also! Sondern 
er verfocht eben Ansichten, die er fflr Wahrheiten hielt und 
denen er zum Triumphe verhelfen wollte^ und auch wiric- 
lieh verhalf; daß diese Wahrheiten Cariyle nicht sympathisch 
sind, ist eine ganz andere Sache. Aber noch mehr: Man 
könnte nach Carls le's Worten vielleicht glauben, es sei doch 
etwas Wahres in ihnen und ihr Sinn sei der, daß VoUaire, 
populär ausgedrückt, stets mit dem Strome der öffentlichen 
Meinung und aus kluger Berechnung nie gegen ihn 
schwamm. 

Genau das Ge^^enteil läßt sich aber in vielen und 
sehr wichtigen Dingen nachweisen. Als Voltaire Newton's 
Lehre auf den Kontinent brachte und bei jeder Gelegenheit 
seine Anschauungen gegen jene des Descartes verteidigte, 
stand er ganz allein. Die herrschende Schulmeinung 
und der Chauvinismus waren seine heftigsten Gegner, und 
dies in dem Maße, daß der damalige Kanzler D'Aguesseau 
ihm nicht einmal die Erlaubnis geben wollte, seine »Elemente 
der Newton'schen Phiiosophiec zu drucken. Die Cartesi*- 
sche Philosophie^ welche von Voltaire angegriffen wurden 
war also die »triumphierende« und die Newton'sche^ die er 
ihr entgegenstellte, die »verbannte« Wahrheit 

Beinahe ebenso ging es mit Voltaire's Bestoeben, Shake- 
speare den Franzosen anzurflhmen. In der Streitschrift 
gegen Shakespeare, eigentlich gegen die übertriebene Shake- 



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— 95 — 



spearo-Manie, die er als Lettre de M. de Voltaire ä l'Aca- 
d^mie Fran<;aise« im Jahre 1776 vorlesen ließ, erwähnt er, 
»mit welcher Erbitterung er verfolgt wurde, well er gewagt 
hatte, »den Franzosen voizuschlagen, ihre Einsichten durch 
jene einer Nation zu vermehren, von der sie bis dahin nichts 

als den Namen des Herzogs von Marlborough kannten « 

Man betrachtete diese Unternehmung als Hochverrat, als 
Impietat 

Und noch einer weiteren, durchaus nicht triumphieren- 
den Wahrheit wollte Voltaire erst zum Triumphe ver* 
halfen, das war die Philosophie Locke*s. »Man kann es 
gar nicht b^gr^en,« berichtet Voltaire selbst in seinen 
M^molres, »mit welcher Erbitterung und mit welcher Un- 
erschrockenheit der Ignoranz man wegen dieses Artikels 
(Ober Locke) gegen mich tobte. Die Ansicht Locke's hatte 
vorher in Frankreich gar keinen Lärm gemacht, weil die Oe^ 
lehrten Thomas von Aquino lasen und die große Masse 
nur Romane. Als ich nun Locke gelobt hatte, schrie man 
gegen ilin und gegen mich. - 

Hier haben wir also nicht weniger als gleicli drei -ver- 
bannte Wahrheiten* auf einmal, für die Voltaire kämpfte, 
und dabei hatte er stets nicht nur die sachliche Opposition, 
sondern auch den Chauvinismus gegen sich. Oder sind 
etwa die Arbeiten Newton's, Shakespeare 's und Locke's für 
Carlyle nicht als Wahrheiten anzusehen? Es ist schade, 
daß Carlyle nicht nätier angegeben hat, was für eine Art 
von verbannten Wahrheiten er meinte; aber das ist sicher, 
wenn er an gewisse Walirheiten dachte, denen fromme 
Puritaner große Wichtigkeit beilegten oder nocli heute bei- 
legen, wenn er etwa die Wahrheiten des ICatechismus im 
Sinne hatte, so war Voltaire allerdings für ihre Verteidigung 
durchaus nicht zu haben. Wenn nun die eben angeführten 
Tatsachen so deutlich sprechen, und es doch gewiß ist» 
daß sie Carlyle nicht unbekannt waren, was soll man von 
seinen Vorwürfen gegen Voltaire denken? — 



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— 96 — 



Auch das ist Carlyle — und vielen Anderen — durch- 
aus nicht recht, dali Voltaire sicfi nicht einsperren und noch 
weniger für seine Ideen töten lassen wollte. 

>Voltaire will kein Zeugnis mit seinem Blute besiegeln. 
Seine anstössigen Lehren \cT()ff entlieht er unter tausend 
Masken. . . . Richtet man direkte hragen an ihn, so scheut 
er sich nicht, zu lügen. Er ist ein Löwenfuchs, der sich 
nicht fangen läßt. Die Spürhunde der Monarchie und Hie- 
rarchie, die sprichwörtlich eine so feine Witterung und so 
scharfe Zähne haben, werden gegen ihn ausgesendet» aber 

er ist ein Löwenfuchs " 

Und ich wiederum sage: Wie herrlich, wie klug, wie 
zweckmäßig, wie über alle Massen nützlich war es doch, 
daß Voltaire das alles tat! Es ist wirklich wahr — und 
der Leser, der es noch nicht wdB, soll es hier erfahren — 
ja es ist ganz unghiublich, wie vollendet Voltaire seine Rolle 
als »Löwenfuchs« sein langes Leben hindurch durchzuführen 
verstand. Ein gewisser Qu^rard zählte zusammen, wie viel 
Pseudonyme bei Heiausgabe seiner Werke er in Verwendung 
brachte^ und er fand deren nicht weniger als 137, sage 
einhundertsiebenunddreißig Pseudonyme! *) 

Und um seine ganze infernalische Schlechtigkeit noch 
deutlicher zu zeigen, erwähne ich auch noch seine 
Äußerungen über derartige Manöver; sie sind auch an 
sich sehr interessant und amüsant. 

Im Jahre 1760 schreibt er an d'Alemberf: Luc (das 
ist bei ihm der Spottname für Friedrich den Oroßen) spielt 
die Rolle des Tauchers, er desavouiert seine Werke und 
läßt sie verstümmelt drucken; das ist wirklich sehr ab- 
geschmackt, wenn man an der Spitze von hunderttausend 
Mann steht« 



*) Dies und die folgenden diesbezüglichen Daten entnehme ich 
Nourrisson't »Volüdre«. An einem andeien Orte fand ich, wenn ich 
m[eh recht erinnere, nur 37; auf die genaue Zahl kommt es wohl 

nicht an ? 



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— 97 — 



Im Jahre 1734 drückt er in einem Briefe an Cideville 
die Befürchtung aus, seine Schriften würden ihm Lettres 
de cachet, Denunziationen im Parlament, Bittschriften (Ein- 
gaben) der Pfarrer und Furcht vor strengen Verurteilungen 
zuziehen. 

»Voltaire«, sagt Nourrissoni »beschrankt sich nicht 
darauf, seine Werke einfach zu verleugnen. Sei es, daß er 
einen Mißerfolg beffirchtel, oder eine Unterdrfickung, immer 
legt er die Autorschaft mit äußerster Unverschämtheit er- 
fundenen Autoren bei, oder seinen Oegnem, oder seinen 
Freunden, sogar seinen bereits verstorbenen Freunden.« 

Die ^cossaise, behauptete Voltaire, sd nicht von Umi, 
sie sei von »Herrn Hume, dem Bruder des Oeschichts- 
schreibers und Philosophen David Hume.« Man wendete 
aber ein, David Hume habe gar keinen Bruder! Voltaire 
kommt niclu in Verlegenheit: es ist wohl nicht sein Bruder, 
aber doch ein Verwandter von ihm. »Ich j^cstehe«, sagte 
Voltaire, -zu meiner Schande, daß ich ihn für Hume's Bruder 
hielt; aber, ob Bruder oder Vetter, jedentails ist sicher er 
der Autor der ^cossaise.« 

Im Jahre 1736 schreibt er an Herrn Berger: . . . Wenn 
unglücklicherweise das Geheimnis des l'Enfant prodigue 
aufkommen sollte, schwören Sie immer zu, daß ich nicht 
der Autor bin. Für seinen Freund lügen ist die erste Pflicht 
der Freundschaff 

Und im gleichen Jahr an seinen Freund Thieriot: 
; Die Lüge ist nur. dann ein Laster, wenn sie Schaden 
bringt, sie ist eine große Tugend, wenn sie gute Folgen 
hat. Seien Sie also tugendhafter als je. Man muß lügen 
wie der Teufel, nicht etwa schüchtern, nicht nur für eine 
Zeit, sondern kühn und immerfort. Lüget, meine Freund^ 
lüget; bei Gelegenheit werde ich es Euch zurückerstatten.« 

An Madame du Deffand schreibt Voltaire bezüglich des 
Dictionnaire philosophique portatif, welches Buch ihm mehr 
Aufregungen zuzog als irgend ein anderes und im Jahre 

Popper. Voltaire. ^ 



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— gs — 



1765 vom Pariser Parlament verbrannt und von der römischen 
Indexkongregation proscribiert wurde, schon ein Jahr vorher 
in Vorahnung dieser Verfolgungen: 

»Ich müßte wünschen, nicht geboren worden zu sein, 
wenn man mich beschuldigen wfirde^ das philosophische 
Wdrteibuch verfaßt zu haben; denn obwohl mir dieses 
Weric ebenso wahr wie kfihn zu sein scheint, obschon es 
die reinste Moral atmet, so sind doch die Menschen so 
töricht, so böse, die Frömmler sind so fanatisch, daß ich 
gewiß verfolgt würde. Dieses Weik, welches Ich für sehr 
nützlich halte, wird niemals von mir herrühren.« — 

Da sehen wir nun deutlich, was Voltaire im Lögen 
leisten konnte,*) aber auch, wie notwendig und nützlicli das 
Lütgen war. Hätte er sonst seine Aufgaben durchführen 
können? Hätte ein Mann mit so heftigem Drange nach 
Aufklärung der Menschen und nach Verbesserung der In- 
stitutionen wirklich sich den weltlichen und geistlichen 
Bestien direkt ausliefern sollen, wobei das ganze Resultat 
nur das gewesen wäre, den vielen tragischen Opfern aus 
den Reihen der edelsten Kuiturkämpfer noch ein weiteres 
hinzuzufügen ? 

Denn man darf sich durchaus nicht der Täuschung 
hingeben, die von der hohlen Rhetorik romantischer Kultur- 
philosophen aufrecht erhalten wird, der Täuschung nämlich: 
daß die Leiden und besonders der Tod der Kulturhelden 
zur zukünftigen Realisierung ihrer Ideen mehr beitragen als 
unbehelligtes Fortleben. Wie viele große Minner wurden 

*) Von seinen Verheblu^gen oder Ableugnungen der Autorschaft 
aus Furcht vor Mißerfolgen sprechen wir hier nicht, da das efaie rein 

literirifiche, also ^janz unwichtige und harnilosc Angelegenheit ist. 
Derlei war damals sehr üblich und kommt in der Form einer vorlau- 
Ilgen Pseudonymität audi heute noch vor. Selbst der ernste Prisident 
des Parlaments von Bordeaux, nämlich Montesquieu, zog sich zurück, 
als er den Mißerfolg seines Tempel von Onidos bemerkte, und 
leugnete die Autorschaft dieses Werkes ebenso ab, wie die ersten Aus- 
gaben seiner Persischen Briefe. (Mitteilung Schlosser*! in »einer Oe- 
tchidite des 18. Jahrhunderts.) 



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— 90 — 

m 

nicht von den christilchen Priestern ins Gefängnis geworfen, 
gefoltert und ermordet; ist aber das, was jene Unglficlc- 
Kchen angestrd>t liatten» darum sclinelier erreicht worden? 
Wire das der Fali, wäre der Tod der »Ketzer« den 
Ketzereien von Nutzen, so hätten die geistlichen Fanatiker 
gewiß im Morden eingehalten; sie lachen aber über den 
sonderbaren Trost, den man aus den Qualen Verfolgter 
deduzieren will, und foltern, morden oder verfolgen weiter, 
so weit als es die gesellschaftlichen Zustände eben zu- 
lassen. Buddha, der (dem Brahmanismus gegenüber) ein 
Ketzer war, wie in ihrer Art Mohammed, Luther, Calvin, 
Zwingli u. a. haben Enormes für Verwirklichung; ihrer Ziele 
geleistet und sind unbehelligt geblieben. Luther maskierte 
sich als Junker Jörg, versteckte sich auf der Wartburg und 
sandte von dort aus seine Flugschriften in die Welt, ohne 
daß er sich und seinen Aufenthaltsort nannte. Das ist 
auch eine Art Lü^e, ein Mangel an jenem theatralischen 
Heroismus, den rnan von Voltaire verlangt, während man 
bei Luther darüber schweigt, Oder hätte man, um Carlyle's 
Wunsch zu erfüllen: sein Zeugnis mit seinem Blute zu be- 
siegeln, etwa Luther auf der Reise nach und dann in Worms 
ohne soldatischen Schutz lassen sollen? Gewiß hätte 
Luther selbst sein Leben für seine Ideen geopfert, er war 
auch in physischer Beziehung einer der größten Helden — 
und Voltaire ist in dieser Beziehung mit ihm gar nicht zu 
vergleichen — aber hätte er mehr als toter Luther ffir die 
Reformation geleistet als der lebendige Luther? 

Es ist wohl schön» sehr schön, sich zum Opffer hinzugeben, 
aber es ist weder immer nützlich, noch hat es immer Oberhaupt 
einen Sinn. Der Fall des Jesu von Nazareth allein scheint 
für die groBe Wiricung des Sichopfems zu sprechen; aber 
nach allem scheint der Tod kehl freiwilliger gewesen zu 
sein, schon darum, well weder von Besiegung seiner Gegner 
noch an das Gelingen einer Flucht zu denken war — und 
überdies wäre er ohne die weiteren legendären Zutaten und 

7* 



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— 100 — 



die dogmatischen transzendenten Deutungen dieses Todes 
höchst wahrscheinlich resultatlos geblieben; denn noch 
lange Zeit nach dem Tode Jesu drang seine Lehre nicht 
durch, und er war nur tan Messias, wie so viele andere, 
die bei den Juden aufgetaucht waren. 

Kehren wir also zu Voltaire zurfick und sagen wir, 
wie es wahr ist: Genug der Opfer des Fanatismus! Wer 
noch mehr dergleichen tragischen Kitzel durch Märtyrer- 
geschichten verlangt, begnüge sich damit, Trauerspiele an- 
zusehen oder, wenn er noch * derbere Kost benötigt, 
Schlachten beizuwohnen. Und auch unsere Gymnasiasten 
und gebildeten Mfldchen sind in unseren Qeschichtswerken 
mit interessanten Mord- und Qualgeschichten bereits hin- 
länglich versehen. Und nur wer gewissenlos gegen die 
großen Kämpfer ist und den ästhetischen Kitzel bei Be- 
trachtung ihrer Qualen der fortgesetzten Tätigkeit der- 
selben vorzieht, nur der kann den »Löwenfuchs« Voltaire 
tadein. 

Zudem wäre es interessant, eine Antwort nuf die Fra^e 
zu erhalten: Würden Carlyie und alle die anderen sehn- 
suchtsvollen Märtyrersucher CS beklagen, wenn Hui), Servet, 
Bruno, Vanini usw. durch Flucht, Kampf oder Listen irgend- 
weicher Art sich hätten retten können? 

Sie werden sich wohl hüten, mit Ja zu antworten. 

Den Fanatikern und Despoten aller üattungen wäre es 
allerdings sehr willkommen, wenn alle Reformer sich nach 
Carlyle's Wünschen richten wollten; wie schön könnten sie 
dann herumwirtschaften! 

Wenn man die wichtigsten, aber von den bösartigen 
Mächten verpönten Dinge zu sagen hat, und bei Publi- 
kation derselben sofort auch den Denunzianten mit Nen- 
nung seines Namens zu Hilfe kommen wollte, bloB 
darum, weil die Geschichte nur so edd und heroisch 
aussähe und weil man sich daran erinnert, daß es nach 
der Meinung der pathetischen Historiker sich »so schickt«. 



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— 101 — 



oder: weil die fiberfiitzte und aus jeder praktischen 

Lebensauffassung entgleiste (auch z. B. von Kant vertretene) 

Maxime, unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen, es 
so vorschreibt — so würden bei gewissen gesellschaft- 
lichen Zuständen alle Reformen schon im Keime erstickt 
werden. 

So selbstverständlich das ist, so wenig wird es von 
den ^^eschichtschreiberulen Tugendpredigem berücksichtigt. 

Auch Hettner kla^^t: Wie betrübend, daß gleichwohl 
auch in dieser und glänzendsten Zeit (in Femey) Voltaire's 
die Flecken nicht fehlen! 

Welche Flecken? wird man fragen. 
Nach wie vor — verleugnet er seine Bücher,« ant- 
wortet Hettner. 

Schrecklich! Dreimal schrecklich! 

Es ist mir aber wirklich im Grunde genommen ganz 
unb^reiflich, warum Hettner, oder irgend wer, sich so sehr 
dafflr interessiert, ob Voltaire seine Kampfschriften unter 
seinem oder unter einem anderen Namen publizierte; genug, 
daß er sie überhaupt publizierte und durch die Pseudonymität 
Niemandem Schaden zufügte. Warum dieser heftige Wunsch, 
den Pfaffen und weltlichen Strafgericliten ihre Arbeit gar 
so erleichtert zu sehen? Mit vollstem Recht schrieb Vol« 
taire (im Jahre 1768) an Damilaville Ober die Frage der 
Pseudonymität: »Es ist nicht wichtig, zu wissen, aus 
welcher Hand die Wahrheit kommt, wenn sie nur flberiiaupt 
kommt« 

Hettner, als gründlicher Kenner der Zustände im 1 S.Jahr- 
hundert, muB doch gewußt halben, daß auch Montesquieu 
sich gar sehr hütete, sich als Autor seiner »Persischen 

Briefe« zu nennen. Er ließ sie in Amsterdam drucken, ohne 

Namen des Verfassers und mit falscher Bezeichnung des 
Druckürts; wie ja vor der Revolution — nach der Be- 
merkung von Oncken — das so ziemlich bei allem geschah, 
was die französische Literatur Bedeutendes hervorbrachte, 



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— 102 — 



SO lange »die dreifache Zensur der königlichen Pölizd, 
des Parlaments und des Klerus herrschte.« Und doch hat 
Niemand Montesquieu oder allen anderen Schriftstellem jener 
Zeit wegen ihrer Finten und Listen einen Vorwurf gemacht 

Nicht minder war es Hettner wohl bekannt, wie oft 

Voltaire sich wegen seiner Schriften vor drohenden Ge- 
fahren flüchten mußte, nach Holland, Belgien, Deutschland, 
nach der Schweiz; daß er schon als junger Mann wegen einer 
Satyre auf den sittenlosen Regenten elf Monate in der 
Bastille saß, — ist das alles noch nicht genug? 

Nein ! Vielen genügt das noch immer nicht! Wie man 
sieht, hindert das altes die Geschichtsschreiber vom Schlage 
der Carlyle-Hettner nicht, die Weltvoigänge vom Standpunkte 
der Kinderfibel aus zu beurteilen, gewissenlos und un* 
dankbar gegenüber großen Männern und in dieser Beziehung 
ieichtfert^ allen Kulturfortschritten gegenüber zu sein. — 

Sehr meifcwQrdtg ist aber auch die Ar^ wie Carlyle 
seine ot>en angefflhrten VorwOrfe begründet Seine mit edler 
Entrüstung voigebrachte Argumentation ist so bezdchnend, 
und zugleich so gefähriich, daß ich deren Hauptgedanken 
wörtlich zitieren und dann genauer beleuchten will Nachdem 
also Carlyle sich darfiber sehr ungehalten gezeigt, daß 
Voltaire »kehl Zeugnis mit seinem Bhite besiegeln will« und 
sich sogar »wenn man direkte Fragen an ihn richte, nicht 
scheut zu lügen«, kommt uns der fromme Puritaner mit 
folgender Betrachtung: 

>Wenn das Rechttun davon abhängt, daß man auch 
immer an uns recht handelt, wenn unsere Mitmenschen in 
dieser Weif nicht Personen, sondern bloße Dinge sind, . . . , 
so ist es bloß in der Ordnung, wenn wir ihnen Lügen auf- 
heften. Wenn aber dagegen unser Mitmensch keine Dampf- 
maschine, sondern ein Mensch ist, mit uns und mit allen 
Menschen und mit dem Schöpfer aller Menschen in heiligen» 
geheimnisvollen, unauflöslichen Banden vereint in emer all- 



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— 103 - 



umfassenden Liebe, welche den Seraph ebenso umschlingt 
wie den Glühwurm . . . usw. usw.< 
Welche widerwärtige Predigt! 

Trotz der »allumfassenden Liebe- wollten die Raffen 
Voltaire einsperren lassen, und weder der Seraph , noch 
der 3 Glüh wurm halten sich, wenn es gelungen wäre, auch 
nur im Geringsten darüber bekümmert. 

Tiefsinnio;er, weltumfassender, mystisch - moralischer 
Carlyle! Warum predi^^st du das nicht auch dann, wenn 
von den Lügen und Listen des von dir so verehrten und 
geliebten, allerdings sehr frommen, Cromwell die Rede ist? 
Von den Usten, mit denen er den bösen Anschlägen Carls l 
gegen ihn auswich und seine Pläne und Feldzüge durch- 
führte?*) Oder warum machst du in deinen Schriften 
niemals allen den Feldherren und Königen (z. B. deinem 
Helden Friedrich dem Großen) einen Vorwurf darausi dafi 
sie hn Kriege oder in der Politilc Spione und Lügen und 
Listen aller Art zu Hilfe nehmen? 

Nach Carlyle's Maxime mOBte ein Fddherr seinen 
Truppen vor der Schlacht zurufen: Suchet ja niemals ein 
sicheres Versteck auf, oder einen Hinterhalt, von dem aus 
ihr dem Gegner schaden könntet! Und wenn er euch suchte 
so tretet aus euren Schlupfwinkeln, aus Gebüsch oder 
Schatzengraben als ehriiche, offene Männer und Helden 
hervor, sagt: »Mein Herr Feind, hier sind wir!« Und bietet 
in edler Haltung eure Brust den feindlichen Waffen dar. 
Denn ihr dürft nie vergessen, daß unsere Mitmenschen 
keine Dampfmaschinen sind, sondern daß diese Feinde mit 
uns und mit allen Mitmenschen und mit dem Schöpfer . . . . 
in geheimnisvollen Banden . . . und in einer allumtassenden 

*) «Auf allen Sdteit hatte Cromwdl seine Schlingen ausgestellt: 
Er taucht in seines Königs Blut den frevelhaften Arm . . . sagt 
Friedrich der Große in temer an seine Schwester Amalia gerichteten 
Epistel Bber das »Ungefllhr«. Ich Mite hier sehr viele andere zitteren 

können, die Cromwell ebenso beurteilen, allein Friedrich paßt hier bei 
einer Betrachtung über Carlyle'« Ansichten am besten herein. 



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— 104 — 



Uebe vereint sind, und auch mit dem Seraph und mit dem 
Olflhwurm .... usw. usw. 

In seinen Schriften Ober Helden und Heidenverehrung, 
Über Friedrich den Orofien und andere steht Cariyle durch- 
aus nicht auf demselt>en Standpunkt, den er Voltaire gegen- 
übet etnntmmt; im Gegenteil lobt er alle jene Menschen, 
die irgend etwas mit voller Energie durchfuhren, mit weichen 
Mitteln immer. Nur Taten und kein Geschwätze! Das ist 
Carlyle's Grundgefühl bei seinen Urteilen über Menschen 
und Zustände. 

Warum wird er nun bei Voltaire so sentimental? Cariyle 
weiß cioch ganz gut, dal) es hei Kulturkämpfen gerade so 
gut Feinde, Schlachten und alle Dämonen menschlicher 
Leidenschaften gibt, wie in politischen oder militärischen 
Kämpfen? 

Aus zwei Gründen! Vor allem <^nlt der Tadel Voltaire 
als dem energischen Feind des Christentums; und sodann 
gefällt es Cariyle und den meisten anderen Gegnern Voltaire's 
nicht, daH er den Mut und die Selbständigkeit besaß, den 
heilgebrachten Ansichten über das, was »sich schickt« und 
was allein »edel und eines großen Mannes würdig« ist, 
nicht nur zu trotzen, sondern sie so sehr zu ignorieren, 
daß er es nicht einmal der Mühe wert hält, sich zu ent- 
schuldigen und im Vorhinein seine Oegengrfinde bekannt 
zu geben. Man äiigert sich — ohne es zu wissen — über 
diese geistige Suveränifät, und dies umsomehr, als man 
sieh^ mit welcher Oeschicklichiceit und mK welchem guten 
Erfolg Voltaire seine »Praktiken« durchführte. — 

Nur so ist es zu verstehen, warum man nkrht dieselben 
Vorwürfe, die man g^en Voltaire's VorsichtsmaBr^n, 
Pseudonymität und deigl. erhebt, nicht auch gegen andere 
richtet; wir erwähnten ja schon oben Montesquieu. Aber 
am bezeichnendsten ist es, daß (meines Wissens) niemandem 
einfiel, Rousseau darüber Vorwürfe zu machen, daB er, 
als er verfolgt wurde, d)enfa]ls Vorsichtsmaßregeln und 



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— 105 — 



Methoden anwandte, die durchaus nicht den strengen 
Orundsätzen entspiechen» die Cariyle, Hettner u. a. Voltaire 
entgegenhalten. 

Es ist einerseits der arme Teufel, dem gegenüber man 
nicht den Sittenrichter spielen will, weil man sich an ihm 
nicht so ärgert, wie an dem glucklichen Voltaire, und 
andererseits der Tu^^endbold, der so viel von edlen Grund- 
sätzen spricht und alle Welt zensuriert, daß man gar nicht 
merkt, wie viel er selbst zu wünschen übrig läßt. 

Wie in so vielen anderen Fragen, so unterließ Rousseau 
auch in der Frage nach der moralischen Zulässigiceit der 
Pseudonymität nicht, die strengsten Fordeningen zu stellen. 

Wer Rousseau's Charakter nur ehtigermaßen versteht, 
wird in seinen Schriften leicht herausfinden, wann er unter 
der Maske einer Schwärmerei für Tugend eigentlich nur 
einen boshaften Angriff gegen Personen zu richten beat}- 
sichtigt, und wobei er, ohne den Namen derselben zu 
nennen, doch sicher sein kann, daß die Leser die ange* 
griffene Person leicht erraten werden. So sagt er in dem 
Vorgespräch zur neuen Hek>ise mit einem gewissen hinter- 
listigen (und mir sofort verdflchtig erschienenen) Pathos: 
»Hält sich wohl ein £hrenmann vert>orgen, wenn er zu dem 
Publikum redet? Darf er durch den Druck veröffentlichen, 
wozu er sich nicht zu bekennen wagt? Ich bin der Her- 
ausgeber dieses Buches und werde mich als Herausgeber 
nennen.' 

Und in der Vorrede: »Jeder ehrliche Mann mul^ sich 
zu den Büchern, die er herausgibt, bekennen. Deshalb nenne 
ich mich an der Spitze dieser Briefsammlung, nicht etwa, 
um sie dadurch als mein ausschließliches Eigentum zu be- 
zeichnen, sondern um für sie einzusteh'n.*' 

In dieser Tugendproklamation spielt Rousseau offent>ar 
auf Voltaire's Verleugnung seiner gefähriichen Schriften an, 
und will daher den Eindruck einer so viel höheren moralischen 



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— 106 — 



Natur hervorbringen. Wir wollen daher diesen Tugendhelden 
in diesen Beziehungen etwas genauer in's Auge fassen. 

Als der Genfer Rat beschlossen hatte, den Emile und 
den Contract social zu verbrennen und deren Verfasser, der 
sich in die Nähe Oenfs geflüchtet hatte und in seine Vater- 
stadt zurückkehren wollte, zu verhaften, wollte Rousseau 
durch eine Aussöhnung mit der Genfer Geistlichkeit seine 
Rückkehr anbahnen. 

Er richtete daher an Vernet, einen sehr einfkilireichen 
Prediger Genfs, im August 1762 ein versöhnendes Schreiben 
und leu ^^nete« — wie sich der Rousseau-Biograph Mahren- 
hohz ausdrückt — das Glauben s h eken n t ni s des Vikars 
(in seinem Emile) in einem Briefe an Marcet de Maziere halb 
und halb ab.<^ 'Ist die im Glaubensbekenntnis des 
savoyischen Vikars enthaltene Lehre,« schrieb ihm Rousseau 
»der in Genf herrschenden Religion so offenbar zuwider, 

daß gar keine Frage darüber entstehen konnte? — « 

Es ist aber wirklich schwer verständlich, wie Rousseau in 
dieser Sache noch etwas Fragliches erblicken konnte. 

Unterdessen half ihm dieses Schreiben ebenso wenig, 
wie der unterwfirftge Brief, den er (am 24. August) an 
Montmollin, den Geistlichen von Motiers-Tiavers, schrieb, 
oder wie die Teilnahme an der Kommunion in seinem 
neuen Wohnorte. 

»Bevor ich dem Tische des Herrn nahe,« schrieb 
der Verfasser des Emile an Montmollin, »eridäre ich Ihnen 
achtungsvoll, da6 ich .... in redlicher Oberzeugung dieser 
wahrhaften und heiligen Religion anhänge und das tun 
werde bis zu meinem letzten Atemzuge. Ich wünsdie auch 
äußerlich stets mit der Kirche vereinigt zu sein, wie ich 
es im Grunde meines Herzens bin und wie trostreich es 
für mich sein wird, an der Kommunion der Gläubigen teil- 
zunehmen.* 

Und in der Tat nahte er sich dem „Tisch des Herrn" 
und verbraclite den ganzen Tag fastend in der Kirche von 



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— 107 — 



Motiers! Welcher erbSimliche Anblick! ErbSrmlicher als 
jener Heinrichs IV. in Canossa; denn dieser muBte sich aus 
politischen Gründen unterwerfen, aber Rousseau kam aus 

persönlichen Gründen auf dieses Niveau herab. Und das 

ist doch derselbe Rousseau, der im Contract social nur eine 
»bürgerliche* Religion verlangt und den savoyischen Vikar 
sagen läßt: 

^ Nähere ich mich dem Augenblick der Wandlung, so 
sammle ich mich .... bestrebe mich, meine Vernunft vor 
der Allvernunft zu demütigen , . . Ich spreche die Ein- 
setzungsworte mit Ehrfurcht aus, ich messe, so viel von 
mir abhängt, ihrer Wirkung allen Glauben bei. Magfauch 
an diesem Geheimnisse noch so viel ünbeßreifliches sein 
usw. . Nun spricht doch aus diesen Worten, namentlich 
aus dem Satze so viel von mir abhängt schon ein ganz 
bedeutender Skeptizismus heraus, umsomehr, wenn ein 
Vikar sie im Munde führt, der kurz vorher auch die Worte 
gebraucht: ^Bei allen diesen aber ist das Evangelium auch 
voll von unglaublichen Dingen; von Dingen, die der Vernunft 
widerstreben, welche ein denkender Mensch weder be- 
greifen noch annehmen kann. 

Der Laie Rousseau aber, den wir überdies aus seinen 
Briefen vom Beige nach seinem Unglauben bezüglich der 
Wunder genau genug kennen, hat wohl über den Wert und 
die Wirkung der Einsetzungsworte noch viel skeptischer 
gedacht als der Vikar, und der Ausdruck: »Tisch des 
Herme im Munde Rousseaus genügt allein schon, um auf 
jeden Wahrheitsfreund einen tien>etrflbenden Emdruck zu 
machen. Und das war in der Tat schon damals in so 
hohem Grade der Fall, daß eine der besten Freundinnen 
Rousseaus, die Orftfin Bouffiers, (ihm am 22. Oktober 1762 
und wiederholt) darüber schrieb, wie sehr sie und andere 
jenen Brief an Montmollin mißbilligen. Rousseau recht- 
fertigte sich zuerst damit, daß der savoyische Vikar die 
Kommunion »in Einfalt des Gewissens austeilte, umsomehr 



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— 108 - 



>J. J. Rousseau kommunizieren könne in einem Kult, der 
seine Vernunft in Nichts verletzte;« also ganz 
im Widerspruch mit den ol>en angeführten Worten im 
»Emil«, daß »ein denkender Mensch diese Dinge weder 
begreifen noch annehmen könne.« Und da Frau von 
Bouffiers von dieser Rechtfertigung durchaus nicht befriedigt 
wurde und von neuem Rousseau von dem schlechten Ein- 
druck seines devoten Brkfes an Montmollin berichtet, ant- 
wortet jener: »Sie sagen, daß mein Brief einen schlechten 
Eindruck machte; aber auf wen? Wenn auf d'Alembert und 
Vültaire, so beglückwünsche ich micfi dazu. Ich huUe, nie 
unglücklich genug zu sein, um deren Biüigung zu erhalten.« 

Man sieht deutlich, wie aus Rousseau nur noch der 
Eigensinn und die Feindschaft gegen die aufgeklarten 
Enzyklopädisten spricht, die ihn verhinderte, sein Veriiaiten 
objektiv zu beurteilen. 

Zu dem allen hetzte er, in seinem Haß gegen Voltaire, 
in seinen Lettres ecrites de la montagne- die Genfer L;egen 
ihn auf, indem er diesen die .s^ee^en Voltaire geübte I oieranz 
vorwarf, und hierbei denselben als Autor der Sermons des 
cinquante« denunzierte; wodurch er den siebzigjährigen Alten 
von Ferney bewußt einer noch größeren Gefahr aussetzte, 
als es jene war, in der er selbst sich befand ! 

Und da muß man nun fragen: Was bedeuten alle 
Künste der Pseudonymitäten, selbst wenn man sie als Makd 
am Charakter Voltaire's ansehen wollte^ gegen diesen ge- 
wissenlosen Denunziantenstreich Rousseau's? 

Rousseau zeigt in sdnen Confessions so große Ge- 
wissensbisse darflber, daß er hi seiner Jugend ein Dienst- 
mädchen durch die falsche Beschuldigung eines Diebstahles, 
den er selbst begangen hatt^ ins Unglück brachte. Noch 
viel, viel mehr Ursache hätte er gehabt, seinen Denunzianten- 
sh«ich gegen Voltaire zu bereuen, den er doch als alter, 
verfolgter Mann ausgeführt hatte, nachdem er überdies seine 
ganze reifere Lebenszeit hindurch nicht aufgehört hatte, von 



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— 109 — 



Tugend zu sprechen und von Jedermann die reinste Tugend 
zu verlangen. 

Der Streich Rousseau's traf den um 18 Jahre alteren 
Voltaire ähnlich wie der hinterrücks geführte Stich Hagen's 

Siegfried traf. 

^Ah! Jean Jacques,< schrieb Voltaire ganz konsterniert 
(am 10. Januar 1765) an d'Argental: Das ist nicht die Art 
eines Philosophen .... es ist infam, ein Angeber zu sein, 
es ist abscheulich, seinen Mitbruder zu denunzieren, und 
ebenso ungerecht, ihn zu verleumden. Ähnlich an die 
Marschallin von Luxembourg: Es gibt ohne allen Zweifel 
gar keine Entschuldigung für eine so stratliche und feige 
Handluncr 

Aber alle diese ethisch so tief abwärts führenden Schritte 
hätten gewili unterbleiben können, wenn Rousseau den 
Emile, wie es eben Voltaire zu machen pflegte, pseudonym 
publiziert hätte! Damit meine irh aber nur dies und will 
nur darauf aufmerksam machen, daß man oft vielen 
sehr verwerflichen Handlungen ausweichen kann» 
wenn man nicht gar zu sehr darauf erpicht ist, 
exzessiv tugendhaft oder edel zu sein oder zu er- 
scheinen. 

Und femer ersieht man wohl aus der ganzen obigen 
Betrachtung, daß, wenn das Naturell eines Autors, hier also 
Rousseau's oder Cariyle's u, a., ihm Pseudonymität anti- 
pathisch macht, dies ckintm doch noch nicht im geringsten 
beweist, daß sie wirklich etwas Tadelnswertes involviere. 

Man mufi ja gewiß großes Mitleid mit dem wegen 
seiner Schriften verfolgten Jean Jacques empfinden, und weder 
seine Flucht noch seine halben Ableugnungen, ja selbst 
seine Kommunion wird ein einsichtiger Mensch ihm vor- 
werfen; aber Carlyle und Genossen und der Verfasser der 
Vorrede zur neuen Heloise selbst mögen nur mit gleichem 
Maße messen und nicht Voltaire wegen seiner Pseudony- 
mität und sonstigen Vorsichtsmaßregeln und Kniffe ver- 



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— 110 - 



dämmen. Hier fehlt es gänzlich an Oerechtigkeitssinny und, 
sachlich genommen, an praktischem Urteil — 

Ich will hier nicht unterlassen, die Leser von einem 
sonderbaren Umstände zu unterrichten: 

Rousseau sagte, er habe bei der soeben erwähnten 
Kommunion — geweint! 

Vielen wird das als Komödie erscheinen und einen 
aiierwider\värtit:fsten Eindruck machen. Rousseau war be- 
kanntlich ursprünglich Protestant, wurde dann in Turin i<atho- 
lisch, kehrte später zum Calvinismus zurück und sprach in 
seinem Glaubensbekenntnis des Vikars und in anderen 
Schriften den Dogmen und allem Kultus jeden Wert ab. 
Wie konnte er also bei der Kommunion weinen? 

Meine Erklärung Ist die: Daß Rousseau ein Geächteter 
war, der sich darnach sehnen muBte^ in ligend eine mensch- 
liche Gemeinschaft, sei sie auch nur eine kirchliche, wie ein 
Gleichgesinnter und Bruder friedlich aufgenommen zu werden. 
Und im Bewußtsein seiner Unschuld mußte ja in dieser 
Situation dem Gekränkten, von Natur weichen Manne^ an- 
gesichts der Verfolgungen und etwaiger religiöser Jugend- 
erinnerungen, das Weinen sehr nahe sein.*) Überdies muß 
bei einem Mannen der, wie Rousseau, ein so reiches Re- 
gister an GefOhlen und zugleich so viel Bereitwilligkeit be- 
sitzt, diese Register zu ziehen und sich an ihren Tönen zu 
berauschen, eine schon geringe Dosis von Heuchelei so- 
zusagen: nur eine leise innere Anregung zur Schauspielerei 
— hinreichen, um Szenen zu produzieren, die wie von 
Heuchelei gesättigt ersclieinen. Das Weinen Rousseau's 
bei der Kommunton verliert durch diese psychologische 
Analyse des Vorganges gewiß viel von dem ersten üblen 

*) Ntch dem Nfedertcbreiben dieser Stelle ffnde ich in Kousseao't 

Bekenntnissen dieselbe Erklärung. Er fügt noch die Worte hinzu: 
»Die Tränen der Rührung waren vielleicht die Gott wohlgefälligste 
Vorbereitung,^ aus weldien Worten allerdings die religiöse Rück- 
ftimdlgkdt wussetu's schon deutf Idi ai eafaielimen ist 



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- III — 



Eindruck; unmännlich, unwahrhaftig, widerwärtig bleibt die 
Sache aber. doch. — 

Alle diese Schritte Rousseau's werden nur eben so hin- 
genommen; man klagt ihn deretw^n nicht an, sein Charakter 
gilt nach wie vor als der eines Tugendhelden. Ahnlkhe 
oder gleiche Dinge bei Voltaire aber geben den Anlaß zu 
dem heftigsten Tadel. 

Ich meine hier vornehmlich Voltaire's sogenannte »sakri* 
legische Praktiken«. In der Tat leistete er hierin nichts Oe- 
ringes; unbeirrt durch die Angriffe von Seite der Geistlich- 
keit, die ihm nicht traute, und seitens der Pariser Philo- 
sophen und frdgeistigen Gesellschaft, die ihn des Verrats an 
seinen aufgeklärten Ansichten anklagte, stellte sich Voltaire 
durc}j alltTlei äulkrliclie Mittel auf guten Fuü imi Papst, 
Bischöfen, I^larrern, kommunizierte, beichtete, und schickte 
während dessen fortwährend seine furchtbarsten Streit- 
schriften, wie sich von selbst versteht: pseudonym, in die 
Well hinaus. 

Leider waren alle diese Kommunionen, Beichten usw. 
notwendige Vorsichtsmaßregeln, die er zur wenit^stens momen- 
tanen Beschwichtigung seiner priesterlichen Gegner anwenden 
mußte. Sclion der erste Fall dieser Art, die österliche Kom- 
munion in Kolmar im Jahre 1753, wurde ihm durch den 
Klerus aufgenötigt und durch die Nachrichten, die ihm aus 
Paris über den lauernden Groll des Hofes zugekommen 
waren. Der Klerus von Kolmar beklagte sich über sein 
»gottloses Treiben , die Jesuiten drohten mit dem Staats- 
prokurator, selbst der Bischof von Basel hatte, wie der 
Jesuit Kreiten in seiner Voltaire-Biographie sich ausdrückt, 
»ein wachsames Auge auf Voltaire und wollte für den Fall, 
daß dieser seiner Österiichen Pflicht nicht genügte, den 
Kirchenliann Ober ihn verhängen 1« Und noch größere Ge- 
fahren drohten Voltaire in Fem^ vom Bischof von Annecy. 
Die Veranbtösungen zu den auffallenden kirchlichen Schritten 
Voltaire*s waren daher stets sehr dringende und es wäre 



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— 112 — 



ihm nicht eingefallen, sie aus purem Mutwillen zu unter* 
nehmen. 

Wie rein und munter und wie prächtig ist aber der 
Eindruck der Art» wie Voltaire hier mit den Wölfen heulte^ 
— da das Mitheulen doch schon notwendig war — 
gegenüber der niederdrückenden Weise Rousseau's, der, 
ohne Funken von Humor, immer trübselig, den Geistlichen 
nachgab und seine doch erzwungene Nachgiebigkeit als 
freiwillige, ernst gemeinte Tat ausgeben wollte. Er »weintec 
bei der Kommunion! Vottaire hingegen lachte nicht nur 
innerlich, sondern stattete auch mitunter schon einmal Im 
Jahre 1754 seine »Praktiken« mit einem so grandiosen Humor 
aus, daß es einem bei dem Berichte seines Sekretärs Collini 
Über deriel Possen — die zugleich beweisen, welchen furcht- 
baren Emst und welche tiefe Wut er diesen Dingen gegen- 
über empfand — ganz wohl ums Herz wird. Und das um- 
somehr, als uns zugleich berichtet wird, daß Voltaire den 
geistlichen Personen selbst gegenüber niemals verletzend, 
sondern stets rücksichtsvoll und liebenswürdig war.*) 

Man spricht davon,^ schreibt ihm Frau du Deffand im 
Jahre 1768, Sie hätten gebeichtet und kommuniziert . . . . 
wenn es wahr ist — welche Verwirrung richten Sie in allen 
Köpfen an und welcher Triumph andererseits! Welche In- 
dignation, weicher Skandal und für alle ohne Ausnahme: 
welches Erstaunen! Man vergleiche nun Voltaire's voll- 
kommene Ehrlichkeit, Offenheit und Klugheit in seinen Ant- 
worten auf solche Vorwürfe mit der oben angeführten 

*) Vielen, die prinzipiell mit Voltaire übereinstimmen, wird gewiß 
Voltaire's Humor und Possenreißerei gegenüber religiösem Kultus antf- 
pathisch sein; und gewiß sind solche Spaße nicht jedermanns Sache. 
Möpe aber nur niemand glauben, der da mit Voltaire nicht mitgeht, er 
sei darum irgendwie gesitteter oder vornehmer als jener. Denn derlei 
Possen sind eben nur Sache des Temperaments, der Einwirkung der 
Sitten der Umgebung seit früher Jugend u. dergl , nichts anderes. Wer 
aber Voltaire darum tadeln wollte, zeigt eben dadurch eine noch sehr 
rückständige Auffassung der Dinge, nimlich dne ganz ungereclitfertigte 
Elirfurcht vor religifitem Kultus. 



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- 113 — 



Rechtfertigungsmethode Rousseau's! »Noch bin ich kein 
Karthäuser, schreibt Voltaire an Choiseul, ^denn dazu bin 
ich viel zu viel Schwätzer; aber ich mache regelmäßig 
meine Ostern und lege zu Füßen des Kruzifixes alle 
Fr^ron sehen Verleumdungen und Pompignan' sehen Ver- 
folgungen nieder« und an d'Alembert in voller 

Offenheit und im Bewußtsein, keinerlei Tadel zu verdienen: 
»Das, was ich dieses Jahr 1768 getan hab^ habe ich schon 
mehrere Male getan und werde ich, wenn es Oott gefällt, 
wieder tun. Was können die Weisen machen, wenn sie 
von unsinnigen Barbaren umringt sind? Es gibt Zeiten, 
wo man ihre Verrenkungen nachahmen und ihre Sprache 
sprechen muB. Es gibt Menschen, die fürchten, Spinnen 
zu essen, es gibt andere^ cfie sie versdilingen.« 

Oegenütier den unaufhöriichen Vorwürfen der Freigeister 
schreibt er an denselben Jahre 1761): >Sie fragen mich, 
warum ich einen Jesuiten bei mir halie;*) ich wollte deren 
zwei haben, und wenn man mich Sigert, werde ich zweimal 
des Tages Icommuntzieren. Meine liel>en Engel! Wenn 
ich 100000 Mann zu meiner Verfflgung hätte, so 
wüßte ich, was ich t&te; da ich sie aber nicht habe, 
werde ich zu Ostern kommunizieren, und Sie m(Sgen mich 
dann Heuchler nennen so vid Sie wollen. Ja, bei Oott • . . . 
wenn Sie mich Sigem, so bringe ich auch noch das Tantum 
ergo in gekreuzte Reime« — 

Wie wohltuend wirkt das klarem offene Vorgehen, die 
Abwesenheit alles Versteckten, aller Bemühungen, sich selbst 
zu täuschen! 



*) Dm war nämlich der Phre Adam, mit dem er Schach spielte 
und der so harmlos und beschränkt war, daß Voltaire ihn mit den 
Worten vorzustellen pflegte: ^ Vater Adam, aber nicht der erste der 
Menschen!« Mitunter soll €• VoHaire verdrossen haben, von Phrt 
Adam im Schach besiegt zu werden und da soll er ihm im Arger alle 
Schachfiguren an den Kopf, eigentlich in seine Perücke, geworfen 
habeat Adam fMcMcte, to tduMll er Iconnte, Voltaire lief inm nach, 
rief: Adam, wobist du'?'- Adam kehrte /urfsck, sie setzten sich wieder 
zum Schach und spielten ruhig und friedlich eine neue Partie miteinander. 

Popper. Voluirr. 8 



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— 114 — 



sehen da einfach Kriegslisten eines Kriegers vor 
uns, die weder gut noch böse, sondern nichts anderes als 
eben zweckmäßig sind. Die eben zitierten Worte Voltaire's 
zeigen das in voller Deutlichkeit, und ich will auch noch 
jene Bemerkung (aus dem Jahre 1769) an Frau Dudeftand 
hinzufügen, die wohl jeden noch so enggeistig Urteilenden 
aufklären kann: »Ja wohl, ich habe erklärt, daß ich nach 
der Manier meines Landes gefrühstückt (er meint hier; 
kommuniziert) habe; man sagte mir: Wenn Sie also Türke 
wären, würden Sie in der Manier der Türken frühstücken? 
Ja, meine Herren . . Am Ufer des Ganges würde ich nach 
Landes Sitte beim Sterben einen Kuhschwanz in der Hand 
halten.« 

Während Schiller bloß von dem Mangel an Ernst in 
den Dichtungen Voltaire's spricht, behaupten viele andere, 
wie z. B. Carlyle, daß er auch in seinen wissenschaft- 
lichen Bestrebungen »keinen Ernst gezeigte habe. 

Man braucht al>er nur daran zu denicen, was es heißt, 
wenn ein Schriftsteller und Dichter, der den exalden Wissen- 
schaften ferne stand, sich dem mflhsamen Studium der 
Mathematik und Physik unterzieht, um Newton verstehen zu 
können und die »Elemente der Newton'schen Philosophie« 
bloß zu dem Zwecke auszuarbeiten, um der neuen Natur* 
Wissenschaft gegenflber der Kartesischen auf dem Kontinent 
zum Si^ zu verhelfen — dann wird sofort der Wklersinn 
des obigen Tadels zu Tage treten. 

Sprechen wir bloß von Voltaire's Studien in den exakten 
Wissenschaften, so ist vor allem zu bemeiken, daß er wohl 
der erste war, der Newtons Astronon^e und Optik eiklflrte 
und dem allgemeinen VerstSndnIs zugänglich machte*) Er 



*) Der erste fachwiMeosdiaftlldie AnlubiffeT Newton*! in Fiank* 
reich war Maupertuis. 



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— 115 — 



verstand nicht nur Mathematik, sondern war auch Beobachter 
und Experimentator. Im Schloß Cirey der Marquise du 
Chätelet gab es ein mit Instrumenten aller Art reich aus* 
gestattetes Kabinet, in dem er mit dieser gelehrten Frau 
astronomische, physikalische und chemische Studien trieb» 
und Longchamp erzählt ausfQhriich, wie er als Laborant dem 
unermfidlichen Voltaire beistand. Dieser experimentierte 
über die Oewichts-Anderung der Metalle in warmem oder 
gifihendem Zustand^ — einer Fragen mit der sich seinerzeit 
audi Boerhave beschäftigt hatte — dber Uchtreflexion, at>er 
auch Ober das Nachwachsen abgeschnittener Körperteile bei 
Tieren, wobei er sich nicht der Mflhe verdrieBÖi lieB, an 
vielen Schnecken und Mollusken seine Beobachhingen zu 
machen. Er schrieb für die Pariser Akademie der Wissen- 
schaften Abhandlungen Ober die Adessung der lebendigen 
Kräfte^ über das Feuer u. a. Volt^ie schtoss aus der Ge- 
wichtszunahme glühenden Eisens auf Absorption eines 
Körpers aus der Luft, die er, als ebier der ersten, für tin 
zusammengesetztes Gas hielt; er war daher ganz nahe der 
fünfzig Jahre späteren Entdeckung Lavoisier's, dass der 
Sauerstoff dieser Körper sei. 

Trotz diesem allen hat er für Carlyle keinen wissen- 
schaftlichen Ernst, und Schlosser meint; -Er war ein Feind 
von jedem Emst . . .* und ^Ernst, Fleiß und Ausdauer... 
war Voltaire lächerlich.« Da muß man denn doch fragen: 
Was versteht Carlyle oder Schlosser unter »Ernst«, wenn 
ihnen das alles bei Voltaire nicht genügt? 

Gewiß war Voltaire kein selbständiger Forscher in diesem 
Gebiete; er hatte zu viel andere Dinge zu tun und anderer- 
seits sagte er selbst von sich: Ich habe niemals bean- 
sprucht, einen so organisierten Kopf zu besitzen wie ein 
Newton, wie ein Rameau. Ich wurde niemals die Integral- 
rechnung oder den Generalbaß erfunden haben , und in 
einem Schreiben an den Kronprmzen von PreuBen (im 

Jahre 1736); »Ich habe in meinem kleinen Gebiet nur 

8* 



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- 116 — 



von ferne die Grenzen jeder Wissenschaft b^^rüßen 

können.- 

Mag das genau wahr sein oder nicht, so ist doch auch 
mit solchen »Begrüßungen ein sehr großer Ernst ver- 
einbar; man muß nicht wirklich selbständige Arbeiten pro- 
duzieren, um für wissenschaftlich ernst genommen zu werden. 
Ja es gibt auBerordentlich viele produktive Gelehrte, die 
eigentlich sehr wenig wissenschaftlichen Ernst besitzen, und 
bloß wie eine Art von Maschinen höherer Art, nach den 
gangbaren Methoden, nahezu wie im Schlafe, weiter arbeiten. 
Aba* einem so eifrigen Dilettanten, wie Voltaire, der mit 
seinen Studien so große aufklärende Zwecke verfolgte, darf 
man nicht wissenschaftlichen Emst absprechen. Dabei habe 
Ich noch gar nicht angeführt, wie sehr manche physikalische 
Abhandlung Voltaire's selbst von so kritischen Naturforschern 
wie z. B. Dubois-Reymond geschätzt wird. *) Und die meisten 
von jenen, die Voltaire den wissenschaftlichen Emst absprechen, 
sehen sehr danach aus, daß sie noch heute Kartesianer wären, 
wenn Voltaire nicht Newton auf den Kontinent gebracht 
und Descartes' Philosophie so vehement und unaufhAriich 
bekämpft hätte. - 

Auch mit der Voltaire'schen Geschichtsschreibung 
Ist man an vielen Orten sehr unzufrieden. Carlyle meint: 

» VoHaire's Oeschichtswerke gehören h-otz ihrer brillanten 
Lebendigkeit und ihres schlauen (!) Anscheins von philo- 
sophischem Einblick zu den seichtesten, die es gibt Sie 
sind weiter nichts, als Register von äulk-rcn Vorfällen, 
Schlachten und anderen g;anz oberflächlichen Vorgängen.* 

Diese Kritik, die eher eine Nörgelei genannt werden 
könnte, steht mit gar vielen anderen Urteilen sehr in Wider- 
spruch. 

Schon Lessing, der doch ein Oegrier Voltaire's war, 
verkündigte in einer Anzeige in der damaligen »Berliner 

*) Man sehe dessen Vortrag: »Voltaire alt Naturtorscher«. 



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— 117 — 



Zeitung- , daß dieser einen ganz neuen Weg der Geschieht- 
Schreibung eingeschlagen habe. Femer steht es fest und 
ist vielseitig, wenn nicht allseitig, anericannt, daß die englische 
historische Schule: Ferguson, Gibbon, Hume und Robertson 
Voltaire ihre Methode zu danken hatte — Gibbon und Hume 
rechneten es sich sogar zur Ehre an, Voltaire's Schüler zu 
sein — *), und Villemain, Schlosser und Buckle fi^ihren sogar 
die gesamte neuere Geschichtschreibung auf Voltaire's 
»Essai sur Ics moeurs zurück, der hier zum ersten Male 
statt nackter historischer Daten den Plan einer Kultur- 
geschichte entwarf. Herder schreibt Voltaire das Verdienst 
zu, bei ihm werde »die Philosophie von der Geschichte ge- 
führt und die Geschichte durch Philosophie belebt«**) 

Lord Brougham meinl^ gelegentlich der Besprechung 
des Essai sur les moeurs, Voltaire habe die zwei Haupt- 
eigenschaften eines Historikers in hervorragendem Masse 
besessen: den Geist der geduldigsten Forschung und eine 
absolute Un|Nu1eilichkeit***). Und hierzu sei noch die 
äusserste Vorsicht gekommen» die er g^nflber allen un- 
wahrschehilichen Berichten anzuwenden verstand. 

Letztere Eigenschaft hat bdouintiich auch Buckle an 
Voltaire gerfihmt 

»Voltaire war in der Geschichte und für ihr Studium 
ungemein bedeutend« ^ sagt Schlosser in seiner Geschichte 

*] Diese Daten entnehme ich Cnndorcct's Voltaire-Biographie, wie 
attdi Hettnen »Geschichte der französischen Literatur im IS, Jahrnundert.« 

**) Min sehe .hierüber das Werk: »Rousseau und die deutsche 
Oeschichtsphilosophle« von Richard Fester. 

**♦) Als Beispiel der Unparteilichkeit führt Broucham Voltaire's 
Beschreibung Ues Tridentiner Koiizili, an, sowie seine Beurteilunjg des 
Papstes Leo X. Ich möchte noch einen hierher gehörigen Fall an- 
führen, der zugleich zeigt, wie gerecht und wie fret von Schriftstelier- 
eitelkeit Voltaire war. In dem Artikel Juifs im Dictionnaire philosophique 
hatte er sich heftig gegen das Volk der joden ausgesprochen; ein portu- 
giesischer Jude, Pinto, bekämpfte diese »ungerechten Vorurteile« in 
einer Broschüre sehr ausführiich und sandte sie an Voltaire. Dieser 
antwortete ihm sehr hofUdi, gab Pfaito recht entschuldigte sich und 
versprach ihm, m der neuen Ausgabe seines Weilcs seine Aufienuigen 
zu korrigieren, und hielt auch sein Wort 



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— 118 — 

des 18. Jahrhunderts und des 19. — Man wird seine Bücher 
mit grossem Nutzen lesen, wird in seiner Geschichte eine 
praktische Anleitung finden, seine Art zu denken und zu 
urteilen, auf alle Zeiten, Menschen und Begebenheiten anzu- 
wenden ... Er lehrt, wie man die Tatsachen behandeln 
soll, damit das Leben der Gegenwart durch Kunde der 
Vorzeit wirklich beleuchtet werde und damit wenigstens 
die Geschichte durch Wahrheit und Kühnheit den Armen 
und Oedruckten gegen die Reichen und Übermächtigen bei- 
stehe.« Den Essai sur les moeurs rechnet Schlosser zu den 
bedeutendsten Erscheinungen der historischen Literatur des 
1& Jahrhunderts. — Der anerkannt hochbedeutende und 
von sich selbst nicht wenig eingenommene Universalhistoriker 
Schlözer anerkannte, wie sehr er von Voltaire erieuchtet 
wurde Und der vielldchi grösste historische Kritiker der 
neueren Zeit, Th. Talne, äussert sich in seinem Werlce: »Die 
Entstehung des modernen Frankreich« in folgender Art: 

»Was die Geschichte betrifft» so werden Grundlagen, 
auf denen wir heute bauen, gd^ Man veiigleiche 
Bossuet's »Rede Aber allgemeine Geschichte« mit Voltaire's 
»Essai Aber die Sitten«, und man wird sofort sehen, wie 
neu und fest diese Grundlagen sind. Auf einen Schlajg hat 
die Kritik ihr Prinzip gefunden; in anbetracht der Allgemehi- 
heit und Unveribideriichkdt der Naturgesetze nimmt sie 
an, dass in der moralischen wie in der physischen Wdt 
nidits den Naturgesetzen Abbruch tut und dass kdne will- 
kfiriiche fremde Intervention den regelmässigen Lauf der 
Dinge stört; das ergibt ein sicheres Mittel, zwischen Mythe 
und Wahrheit zu unterscheiden. Aus dieser Maxime 
entsteht die Erläuterung der Bibel, nicht bloß die Voltaire- 
sche, sondern auch die, die man später machen wird. Mittler- 
weile durchläuft er (Voltaire) als Skeptiker die Annalen aller 
Völker, bringt da und dort einen leichten Strich an, wohl 
manchmal zu rasch und übertrieben, besonders wo es sich 
um die Alten handelt — denn seine historische Expedition 



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— 119 - 



ist nur eine Rekognoszierungsreise — aber mit so rich- 
tigem Bück, daß wir von seiner übersichtlichen 
Karte die Hauptumrisse beibehalten könneiL« 

Hier sehen wir also überall das genaue Oegentei] von 
Carlyie's Ansicht. 

Es ist aber bezeichnend, daß das Streben, Voltaire's 
Leistungen zu verkleinem, sich selbst bei denen zeigt, die 
ihm sein großes Verdienst um Begründung einer Kultur- 
geschichte ohne weiteres zuerkennen. So äußerte sich i» 
jOngster Zeit ein angesehener und achtungswerter Gelehrter, 
Ferdinand Tönnies, gelegientlich seiner Vortrige »Ober 
sozialphilosophische Ansichten der Geschichte«*) Aber diese 
große Tat Voltaire's folgendermaßen: 

»Dieser Begriff der Kultuigeschichte geht eigentlich auf 
Voltaire zurück, er will eben das Innere des Volkslebens 
sehen. Seine Begründung dafür ist oberfiftchlich 
genug; . . . .« und dann kommt wieder der allgemeine 
Vorwurf der Gar-Gründlichen: 

«Es ist ja eine große Schattenseite dieses Zeitalters ein 
gewisser Mangel an Emst, der sidi auch bei Voltaire ze^ 
und der ihn auch hier scheitern Iflßtc 

Woran etkennt Tönnies, wird man fragen, den »Mangel 
an Emst« bd Voltaire? Antwort: Weil er den »Versuch 
über die Sitten« »für eine Dame« verfaßte! 

Tönnies setzt also voraus, man könne niemals Ernst 
besitzen, wenn man etwas für eine Dame auseinander setzt. 

Ich sehe keinen Orund dazu. Wohl aber weiß ich, 
daß Descartes der Königin Christine von Schweden, und 
Leibniz der preußischen Königin Sophie Charlotte wissen- 
schaftliche, ja sehr subtile metaphysische Themen mit ganz 
genügendem Emst auseinandersetzte, sowie auch Euler seine 
»Briefe an eine deutsche Prinzessin« über verschiedene 



*) In den Hodisdnil-FcriaUninai in Sabbuis Im Hobil 1903^ 
vetdffentlicht in der Wiener Zeilsdirift »Dil Wlstco fiir iUec (RedaUloii 
von l^f. Dr. Anton Lampa). 



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— 120 — 



»Gegenstände der Physik und Philosophie« gänzlich ohne 
»Mangel an Emst« verfaßte. 

Es wird wohl auch angenommen werden können, daß 
David Strauß seine der Prinzessin Alice von Hessen gehal- 
tenen Vorträge über Voltaire, welche Vorträge dann als Buch 
erschienen und allgemein sehr gerühmt werden, ebenfalls 
nicht ohne hinreichenden Lrnst gehalten, resp. verfaßt haben 
dürfte. 

Es müssen übrigens, wie jeder zugeben wird, nicht 
immer Königinnen oder Prinzessinnen sein. Wer war z. B. 
jene Dame, für die Voltaire den Versuch über die Sitten« 
verfaßt hatte? — Es war die Marquise du Chätelet. 

Eine der gelehrtesten und emstesten Persönlichlceiten 
ihrer Zeit, die bekanntlich über die Philosophie des Leibniz 
schrieb, Newton gründlich studierte und zu diesem Behufe 
bei den großen Mathematikern Ciaicaut und Bemoulli nutthe» 
mah'schen Unterricht nahm. 

Überdies ist es bekannt, daß die Quellenstudien Voltaire's 
für den Essai und fflr das Si^le — wie ich glaube nach 
Villemains Bemerkung — bei weitem gründlicher und um- 
fangreicher waren, als man frOher, namentlich aus dem 
Orund^ vorausgmetzt hatten weil er allen Anschein von 
Oelehrsamkdt vermied und seine Bflcher (um so mehr für 
dne Dame) stets angenehm lesbar machen wollte; 

Was aber die Hauptsache ist: Hat man je gesehen, daß 
eine ganz neue Methode, eine neue Art der Auffassung schon 
bei ihrer ersten Aufstellung so grQndlich durchgefflhrt wurde, 
wie das später die Nachahmer und Fortsetzer leicht ver- 
wirklichen können? 

Es ist doch kein Meines Verdienst, überhaupt eine neue^ 
fhichtliare Auffassung hi die Welt zu bringen, warum will 
man dieses Verdienst verkleinem? Und das ist ]a t)ei 
Voltalre*s Oeschichtsdarstellung um so weniger am Platz, 
da man ja — und auch Tönnies selbst — sehr gut weiß, 
welcher Schweiß von den Gelehrten unserer Zeit in zwar 



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— 121 — 



sehr dicken Büchern, aber vergeblich, aufgewendet wird, um 
nur irgend eine neue sozialphilosophische oder geschichts- 
philosophische Idee oder Methode — seitMarx's »materialis- 
tischer Geschichtsauffassung , die mehr eine Lücke ausgefüllt, 
als eine neue richtige Gesamtauffassung gebracht hat in die 
Welt zu setzen; oder, wenn sie in die Welt gesetzt wird, 
sie vor Anfechtungen zu behaupten. Und dasselbe gilt sogar 
von den mühsamen Versuchen, in dem doch kleineren Gebiet 
der Wirtschaftsgeschichte irgendwelche Entwicklungsgesetze 
aufzustellen; sie alle haben nur ein sehr kurzes Leben, so 
daß fast jedes neue Werk dieser Art an den Vogel Strauß 
in der Fabel erinnert, der da immer sagt: >Jetzt werde ich 
fliegen« und doch kaum mit den Flugein zu flattern vermag. 

Und welcher verächtliche Ton! Wie sich doch jeder, 
der neben Voltaire in der Geschichte der Menschheit gar- 
nicht existiert, herausnimmt, ihn von oben herab zu schul- 
meistern! 

»Oberflächlich genug«. Dieses »genug« 1 So spricht 
ein Schulmeister zu dem Knaben, der ein schlechtes Pen- 
sum bringt; spricht man so von dem Verfasser des Jahr- 
hunderts Ludwig XIV., des Versuchs Ober die Sitten, der 
Elemente der Newton'schen Philosophie usw.? Und spricht 
man» selbst wenn der Tadel verdient wire, in solchem Tone 
von einem — vielleicht dem wirkungsvollsten — geistigen 
Behreier Europas? 

Es geschieht aber Voltaire eigentlich ganz recht Warum 
hat er es versäumt, Universitätsprofessor zu werden? Dann 
hätte der Universitätsprofessor Tönnies gewiß mit dem ge- 
hörigen Respekt von ihm gesprochen; aber gegen einen 
Mann, der keinen offiziellen Titel besitzt, nicht in fester 
Stellung lebt, kann man sich schon manches erlauben! 

Vielleicht erklärt sich überdies die respektlose Sprache 
in jenem Satze, wenigstens teilweise, auch durch den Um- 
stand, daß Voltaire ein Franzose, oder eit^entlich, daß er kein 
Deutscher war. Denn man darf nicht vergessen, daii es 



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— 122 — 

seit langtm und auch noch heute bei den meisten deutschen 
Gelehrten gebräuchlich ist, Werke von Gelehrten anderer 
Nationen im vorhinein als oberflächlich anzusehen, und 
bei Werken von Deutschen fast regelmäßig von der »echt« 
oder »wahrhaft deutschen Gründh'chkeit« zu sprechen. Be- 
sonders die Franzosen, und seien es die Größten, werden 
noch immer von vielen Deutschen unter dem Gesichtswinkel 
des Lessing'schen Riccaut de la Marlinite angesehen. — 

Kommen wir doch aber zu der Frage der Beurteilung 
von Oeschichtswerken Oberhaupt zurfick. Damit hat es eben 
eine eigene Bewandtnis. 

Selten, vielleicht nie^ wird ein Geschichtsschreiber es 
allen recht machen, ob er nun objektiv oder subjektW dar* 
stellt, ob er nun Gesetze oder Ideen in dem Laufe der ge- 
schichtlichen Begebenheiten nachzuweisen sucht, oder ob 
er solche verpönt; ob er die alterprofundeste Gelehrsamkeit 
aufwendet oder nicht — er kann immer auf Tadel ge- 
faßt sein. 

Bei vielen, ja den meisten, gilt eine tendenzlose Ge- 

schictitsschreibung für die alleinberechtigte; ferner gilt 
Thucydidcs seit jeher für einen der ^ößten Historiker, 
ebenso Macaulay als KuUur- und Oescliichlsdarsteller. Und 
doch wurde vor kurzem an gelehrter Stelle der Satz wie 
selbstverständlich ausgesprochen: Gleich allen großen 
Historikern von Thucydides bis Macaulay schreibt M. . . . 
Geschichte vom Parteistandpunkte.« 

Nun ist aber wiederum in den Augen vieler - aucli 
Montesquieu's — das ein großer Fehler bei Voltaire, daß 
er eben Geschichte vom Parteistandpunkte des Aufklärers, 
des Kulturphilosophen, aus konzipierte, und es dürfte wohl 
Herder der erste gewesen sein, der (im Jahre 1774) die 
durch Voltaire vertretene Geschichtsschreibung speziell wegen 
ihier Verachhing des Mittelalters tadelte.*) 

*) entnommen aus Koser' s »König Friedrich der Große«. 



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— 123 — 

Selbst wenn man Voltaires Unfähigkeit: Tatsachen 
und Gestalten der Geschichte aus den angegebenen Be- 
dingungen ihres Werdens und Lebens zu begreifen«*) zugibt 
— wobei es allerdings sehr fraglich ist, ob das schon irgend 
Jemandem gelungen ist — so kann man doch wenigstens nicht 
behaupten, daß er die Geschichte mit Bewußtsein fälscht» 
und daß er die Erzählung der Begebenheiien zum Zwecke 
des Chauvinismus korrumpiert. Aber gerade das werfen 
unzählige^ nicht unberühmte^ Historiker des einen Staates 
den unzähligen, ebenfalls nicht unberühmten Historikern der 
anderen Staaten vor, und man muß sagen: Mit Recht! 

Und andererseits: Was die Ffille der Defailstudien be- 
trifft, deren Mangel den historischen Werken Voltaire's vor* 
geworfen wird, so möge man doch bemerken, daß er noch 
viele andere und darunter sehr wichtige, ja viel wichtigere 
Dinge zu tun hatte. Mögen die OrOndlicheren ihm das 
also zu Oute halten und mögen sie, die nicht anderweitig 
so viel beschäftigt sind, wie es Voltaire war, ihre Quellen- 
studien im ausgedehntesten Maße betreiben, man wird ihnen 
auch dafür dankbar sein, auch wenn sie, wie es höchst 
wahrscheinlich ist, keine v Versuche über Sitten zu Stande 
bringen. 

Voltaire aber hatte alle Hände voll zu tun, während er 
Geschichtswerke verfaßte. Denn er stand gleichzeitig In 
der vordersten Reihe der Kämpfer, um Vorurteile und Miß- 
bräuche aller Art zu bekämpfen, hatte sich um die Aut- 
hebung der Folter und um die Verbesserung der Kriminal- 
rechtspflege zu kümmern und außerdem sich noch manch 
andere, sehr ehrenhafte Aufgaben gestellt, die sich mit der 
Bedeutung »gründlicher Quellenstudien« wirklich ganz wohl 
vergleichen lassen, wie z. B, die Unterdrückung feudaler 
Servitute, die Verteidigung der Calas, Sirven usw. — Das 
sind lauter Dinge^ mit denen sich bisher keiner der selbst 

*) Worte Ondcen's in seinem ^Zeitalter Friedrich des Großen«. 



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— 124 — 



allergrundlichsten Historiker belastete — er konnte also nicht 
so eingehend wie der Fachhistoriker ruhig in den Bibliotheken 
oder Archiven studieren; obwohl er sogar aucii dies bei 
Abfassung der »Annales de TEmpire« (deutsche Relchs- 
annalen) während seines Besuches am Oothaer Hofe tat und 
damit bewies, daß er auch diese Kunst verstand. 

Hingegen wird ganz übersehen, daß der persönliche 
oder schriftliche Verkehr Voltaire s mit Königen, Prinzen, 
Staatsmännern und Feldherren ihm ein Verständnis für 
Menschen und Ereignisse, denen er tief hinter die Kuhssen 
blickte, eine Weite des Blicks und eine Souverainetät des 
Urteils ermöglichte, die kein noch so gründliches Quellen- 
studium so nötig es auch unbedingt ist — verschaffen 
kann. Daher kommt es auch, daß die Lektüre der Vol- 
taire'schen Geschichtswerke dem Leser ein gewisses Oefühl 
der Freiheit und Überlegenheit über die Menschen oder Vor- 
gänge erweckt; während bei den meisten Werken anderer 
Historiker der aus niedrigerer sozialer Position sich gleichsam 
in die > große Welt^ eindrängende devote Philister hervor- 
guckt Und man wird auch schwerlich einen Historiker 
nennen können, der eine solche Menschenkenntnis beweist, 
wie Voltaire in seinen Oeschichtswerken; er macht mir in 
dieser Beziehung einen ähnlichen Eindruck wie Shakespeare. 

Selbst den Oesdiichtsphitosophen, die doch einen 
höheren Standpunkt als der reine Historiker einnehmen, 
merkt man die sozusagen weltfremde Unbeholfenheit an; 
und zwar daran, daß sie Voigffi^ die dem Etnzdgenie^ 
oder dem Zufall — welche beiden Voltaire als bewegende 
historische Faktoren ansah — oder, was am häufigsten zu- 
h-lfft: der Schlechtigkeit einzelner oder vieler zuzuschreiben 
sind, großen Oesetzen in dte Schuhe schieben wollen und 
dabei den Dingen die größte Gewalt antun.*) 

•) Sehr belehrend über die Unrichtigkeit der Ansicht, daß die In 
dividuen keinen EinfliiR auf den Otir\^ der Geschichte haben, sondern 
nur die »Massen«, oder die wirtschafüiche Entwicklung <^ usw. ist 



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— 125 — 



Möge jeder Spezialforscher, also auch der Quellen- 
Historiker, sich seiner Leistungen freuen, es wird kein Ver- 
nünftiger ihm sein Verdienst schmälern wollen; »sehe jeder, 
wie er's treibe;« aber warum andere^ die sich andere Auf- 
gaben stdlen» degradieren wollen? 

Und möge der noch so gelehrte und gründliche Historiker 
auch noch weiter bedenken, daB auch er der bösen Nach- 
rede nicht en^hen wird. 

Was kann .man noch mehr an FflUe des Wissens und 
der Detailstudien veriangen, als z. B. in Mommsens Rö- 
mischer Geschichte zu finden ist? 

Und doch gibt es aus dem, wegen seiner Oberflächlich- 
keit so verschrieenen 18. Jahrhundert ein ganz kleines Buch 
Ober denselben Gegenstand, nämlich Montesquieu's »Be- 
trachtungen über die Ursachen der Größe der Römer und 
ihres Niederganges,« — welchem Werke sogar Voltaire die 
Mangelhaftigkeit der Quellenangaben oder Studien, selbst 
falsche historische Zitate vorwarf — von dem der neueste 
Herausgeber, der bedeutende Jurist und Rechtshistoriker 
Eduard Laboulaye, sagt: »Niemals wird man dieses un- 
sterbliche Meisterwerk verdunkeln; es wird mehr als eines 
der Bücher überleben, die man heute bewundert. Was ist 
denn noch übrig von Niebuhr und seinen geistreichen 
Hypothesen, die durch andere Hypothesen abgelöst worden 
sind, die nicht weniger geistreich und nicht weni^^er haltlos 
sind? Was ist denn geworden aus dem hochlrabenden 
Roman, welchen Herr Mommsen, ein immerhin ge- 
schickter Altertumsforscher, auf den Namen -Römische 
Geschichte- getauft hat? Alle diese Wunder von Gelehr- 
samkeit veralten in zehn Jahren, während die »Betrach« 

namentlici) der Umsturz der politischen Verhältnisse in Eneland nach 
Cromwells Tode. »Richard Crom well zeigte', sagt mit Recht Voltaire 
in seinem Siide, daß das Schicksal der Staaten oft vom Charakter eines 
einzigen Menschen abhangt« Auch die Polgen des Todes Gustav Adolphs 
und der Besieeuns Napoleons bewteien die Bedeutung begabter Indi- 
viduell in der Oetoiiciite. 



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— 126 — 



tungen« in jedem Menschenalter neue Leser und neue Be- 
wunderer finden.«*) 

Zum Überfluß finden sich aber sogar Schriftsteiler, die 
zu den verbissensten Gegnern Voltaire's zählen, die seine 
Oeschichtswerke überaus hoch stellen und gerade das Ent- 
gegengesetzte wie Carlyle sagen. So meint Emil Faguet, 
Voltaire sei ein guter Historiker gewesen, »weil er das Genie 
der Neugierde besaß;**) seine Oeschichtswerke machen ihm 
große Ehre; was sie am meisten so empfehlenswert macht, 
ist, daß er jedes zehnmal fiberarbeitete. Neue Tat- 
sachen und Einsichten, ohne Unterlaß gesammelt und 
mit größter Oeduld registriert .... Wenn der »Essai 
sur les moeurs« etwas zu sehr Pamphlet ist, so sind das 
»SiMes »Karl VII« und »Peter der Oroßec Werice voll Oe- 
wissenhaftigkeit, Genauigkeit und großen Talents.«***) 

Und schon Condorcet berichtet, daß Voltaire bei seiner 
Geschichte Karis XII. nur Originalmemoiren von Augen- 
zeugen der Vorgänge benutzte und daß König Stanislaus, 

der Freund, Genosse und das Opfer Karls XII.«-, Voltaire 
die Geiiauigkeit seiner Darstellung beslätigte. 

Carlyle aber sagt speziell von der Geschichte Karls Xll. : 
»Das bestgeschriebene Buch Voltaire's, aber ganz ohne 
Wahrhaftigkeit« 

• 

Bei der Kritik der Voltaire'schen Oeschiditsschreibung 
sahen wir, wie die Tadler seine positiven Leistungen igno- 
rieren und seine mehr oder weniger vorhandene Schwäche 

*) Aus W. Ondceti: »Dts Zeitalter Friedrich des OroBoLc (S. 466 

des I. Bandes.) 

**) Bekanntlich gab auch Ranke auf die frage, was ihn zu seinen 
gescMchtlicheti Studien getrieben habe? die Antwort: Die Neugierde, 

zu wissen, wie es eigentlich gewesen. 

***) Siehe Fa^uet's »Dix-huiti^me Stades »Etudes Utttoaires«! (6. Auf- 
lage, 1901, S. 2Ö&). 



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127 — 



in diesem Fache mit aller Schärfe hervorheben; das heißt 
wirklich: mit Lieblosigkeit urteilen. 

Wenn es sich aber um Geist oder Witz bei Voltaire 
handelt) so würde man meinen, es sei jede Nörp^elei aus- 
geschlossen; denn Geist und Witz besaß er wie doch kaum 
je ein Mensch. Aber man weiß sich zu helfen: Man de^^ra- 
diert diese Eigenschaft, indem man sie einer andern an- 
geblichen höheren gegenüberstellt, nämlich: dem Humor. 

Sein Witz ist, meint Carlyle, »weiter nichts als ein 
logischer Scherz, eine Heiterkeit des Kopfes, nicht des 
Herzens«. 

Und wenn dem so wäre? Ist das ein Verbrechen? 
Ein Fehler? Und ist es überhaupt so sicher, daß beide 
Arten von Heiterkeit, ästhetisch genommen, nicht gleich- 
artig sind? Und, wenn ethisch genommen, brauchen wir 
bei Voltaire erst lange zu suchen, um sein »Herz< zu 
finden, selbst wenn er auch noch nebenbei in seinen 
Schriften auch nur eine Heiterkeit »des Kopfes« hat? 

Man wird doch auch nicht einem Rabelais etwa des- 
wegen kritische Vorwürfe machen, weil er keinen eigentlichen 
Humor, sondern mehr Witz und Satyre besitzt; und gewiß^ 
ohne äußerste Frivolität, es nicht wagen, diesen Mann, einen 
der bedeutendsten Geister und edelsten Menschenfreunde 
Europas, degradieren zu wollen! 

Es ist auch ganz und gar Ansichtssache, resp. Tempera- 
ments* oder Rasseaniage, ob man an Oeist und Witz oder 
an Humor bei dem also das OemQt mitspielt eine 
größere Freude hat. Ja, an Wichtigkeit ffir die äußere 
Weit, an dynamischer Wirkung auf die Oesinnung der 
Menschen hat der Humor — der einen mehr statischen 
Charakter und eine mehr beschauliche Stimmung zur Voraus- 
setzung und aucii zum Resultate hat — jedenfalls bei weitem 
nicht die Bedeutung wie ihn Witz, Geist, besonders aber 
Satyre großer Schriftsteiler besitzen; vorausgesetzt, dalJ Witz 
oder Satyre sich auf allgemein wichtige Vorgänge oder 



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— 128 — 



Persönlichkeiten beziehen. Ich fand eine Äußerung Goethes 
über diesen Punkt, die mit meiner eben ausgesprochenen 
Ansicht sehr übereinstimmt. »Nur wer kein üewissen oder 
keine Verantwortung hat,- sagte der alte Goethe zum Kanzler 
Müller, rkann humoristisch sein . . . freilich, humoristisclie 
Augenblicke hat wohl jeder, aber es koiTimt darauf an, ob 
der Humor eine beharrliche Stimmung ist, die durch's ganze 
Leben geht , . . Wem es bitterer Ernst ist mit dem 
Leben, der kann kein Humorist sein.« 

Und zu dem Satze Carlyle's vom Witz Voltaire' s als 
einer > Heiterkeit des Kopfes, nicht des Herzens« sei als 
eine interessante Zufälligkeit mitgeteilt, daß im Laufe jenes 
Gespräches zwischen Goethe und Mfliler dieser anführte^ 
irgend ein Schriftsteller habe gesagt, der Humor sei nichts 
anderes, als der Witz des Herzens« Goethe eigrimmte 
aufs heftigste üb&r diese Redensart »Witz des Herzens«» 
welcher Unsinn! Ich wdB nicht, was Herz ist und 
will ihm Witz beilegen! Deigldchen Phrasen streifen an 
meinem Ohr vorfiber wie zerplatzte Luftblasen.« Carlyle^ 
der Goethe in allem so sehr bewunderte^ kannte wohl diese 
AuBerungen Goethe's nicht; vielleicht hätte er sonst seine 
Bemerkungen Ober Voltaire's Witz unterdrückt Ob man 
nun aber Goethe's Ansicht oder jene Carlyle*s akzeptiert, so 
wird es trotzdem keinem gesitteten Beurteiler der Dinge 
einfallen» einen Humoristen deshalb verkleinem zu wollen, 
weil er zu viel »Heiterkeit des Herzens und zu wenig des 
Kopfes« besitzt 

>Er hat keinen Schimmer von Humor,, heißt es bei 
Carlyle weiter, > . . . . vergebens suchen wir in allen seinen 
Werken auch nur einen einzigen Zug eines Don Quixote 
oder eines Tristram Shandy. Auch Faguet in seinen >Etudes 
Htt^raires« zieht den Don Quixote zur Vergleichung heran 
und zwar — man sollte es kaum glauben mit Voltaire's 
»Pucdlel« »Diese hat nicht jenen notwendigen Fond eines 



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— 129 — 



komischen Romans,* heißt es dort, »lauter kleine, groteske 
Tatsachen . . . .« 

Oanz abgesehen davon, daß jeder Dichter sich seine 
eigene Manier auswählen kann, und man daher jeden Tadel, 
der aus der Vergleichung mit anderen Dichtungen herge- 
leitet wird, mit Berufung auf das für alle gleiche Recht zu 
schreiben, wie es eben jedem beliebt, vollständige über den 
Haufen werfen kann*) — wollen wir den Mangel an Humor 
im Cervantes "sehen Sinne bei Voltaire gern zu^^eben; aber 
ich stelle eine Get^enfrage: Finden wir im ganzen Cer\antes 
oder im ganzen Sterne solche Oedanken wie im Philoso- 
phischen Wörterbuch? Oder: Empfindungen wie im Auf- 
satz über Toleranz-Ideen?«, wie im »Versuch über die 
Sitten?^ 

Hat femer Cervantes sich der Unterdrückten ange- 
nommen, Toleranz gepredigt, wie Voltaire? Hat nicht Cer- 
vantes in seinem Don Quixote die Vertreibung der Mauren 
und Juden aus Spanien gutgeheißen? usw. Wo kämen wir 
aber hin, wenn wir in solcher Weise bei jedem groBen 
Mann an seine Mängel, kurz und allgemein: an das, was er 
nicht hat, erinnern wollten?! 

Lassen wir also alle derartigen Vergleiche. 

Hätte etwa Voltaire alle Vorzüge und Talente sämt- 
licher anderer Genies aller Zeiten in sich vereinigen sollen, 
bloß damit man ihm nicht einen Vorwurf daraus machen 
könne, er habe das oder jenes nicht gekonnt? Aber so 
etwa sieht die Sache wirklich aus; denn wenn er z. B. 
Humor ä la Cervantes besessen hatte, so könnte man ihm 
ja vorhalten, er habe keine Satyre gehabt, und so ins 
Endlose. — 

Diese ganze Art, jemanden zu tadeln, weil er irgend 

*) Dafür kann auch ieder tadetn wie tt ihm belieht, er darf aber 

seinen Tadel nicht als aflgeiiicin gültigeiL tOndcm nur als Ausdruck 
des persönlichen Geschmacks hinstellen, wie man sieht, tut das aber 
weder Carlyle noch Faguet 

Popp<n VoliMfe. 9 



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— 130 — 



etwas nicht gekonnt» anstatt dasjenige anzuerlcenneni was er in 
der Tat Iconnte^ oder darum, weil er Oberhaupt anders war als 
irgend jemand, ist eine lieblose Unart der meisten Icritischen 
Schriften, namentlich aber jener, die im vorhinein gegen 
jemanden eine gegnerische Stellung einnehmen wollen. So 
heißt es z. B. bei Straufi: »Voltaire war kein ruhiges 
Licht, sondern ein flackerndes Feuer.c Also da hfitten 
wir wieder einen neuen Mangel bei Voltaire entdecktl Es 
ist in der Tat keine Kleinigkeit, ein »flackerndes Feuer« an- 
statt eines »ruhigen Lichts« zu sein! 

Strauß wollte offenbar dem Leser suggerieren, daß die 
großen Genies der Deutschen und besonders das größte: 
Goethe, doch g'anz andere und zwar höhere Naturen seien, 
als jene der Franzosen, also auch als des gröljlen unter 
ihnen, -^Voltaire s nämlich. Denn man ist ja seit jeher j^e- 
wohnt, sich Goethe nur als Greis in steifer Haltung und in 
-olympischer Ruhe vorzustellen, was alles der Voltaire'schen 
Beweglichkeit möglichst ento^c^Ljengesetzt ist. 

Woraus folgt denn aber, daß ein flackerndes Feuer — 
die Richtigkeit dieses Bildes für den Augenblick zugegeben 
— weniger wertvoll ist als ein ruhiges Licht? Wenn man 
als flackerndes Feuer all das in der Welt bewirken kann, 
was Voltaire bewirkte, so ist es nicht nur, sozusag^, voll- 
auf in seiner Existenz gerechtfertigt, sondern jedem noch so 
ruhigen Licht gegenüber mindestens als gleichberechtigt er- 
wiesen; zumal das ruhige Licht Goethes bei aller Grösse sich als 
Kulturfaktor lange nicht mit dem Feuer Voltaire's messen 
kann — was wohl jeder, der die Einwirkung Voltaires auf 
den gesellschaftlichen Zustand Europas und andeimeits jene 
Goethes kennt, einsehen wird, und was in Carlyles Satz, den 
ich oben zitierte: »Wenn man Voltaire und seine Tit^;keit 
aus dem 18. Jahrhundert hinwegnehmen wollte usw.t*) 
ebenfalls und noch in ällgemeinerer Sinnendeutlichkeit aus- 
gesprochen wird. 

*) Seite 76b 



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— 131 — 



Es wird wohl die längst veraltete Winckdmann'sche 
Kunsttheorie von der Ol)eriegenheit der antiken »Ruhec 
gegenüber der leidenschaftitclien »Bewegung« StrauB im 
Sinn gelegen sein, als er diesen Satz aussprach, der über- 
haupt und nicht nur im Gebiet der Kunst, eine ganz willkürliche 
Behauptung involviert. Gewissen Naturen und gewissen 
Nationen oder Rassen erscheint Leidenschaft, rasche Ab- 
wechslung, Temperament, Unruhe an sich viel vorzüglicher 
und auch ästhetisch höherstehend, als Ruhe, Bedächtigkeit, 
langsames Tempo. 

Hiezu konimt noch der Umstand, daß dem einen als 
Ruhe und als ruhiges Licht erscheint, was dem andern 
den Eindruck eines flackernden Feuers macht. Die Franzosen 
bemerken wohl an Voltaire durchaus kein Flackern, und selbst 
während seiner heftigsten Kämpfe nicht; vielleicht, ja wahr- 
scheinlich, empfand Voltaire selbst während der Abfassung 
seiner Kampfschriften weniger Unruhe, als Strauss oder 
mancher andere Deutsche bei der bloßen Lektüre derselben. 
So war auch Napoleon während der heftigsten Schiachten 
und gefähriichsten Situationen ganz ruhig, sein Herz machte 
nicht einen Schlag mehr als sonst, wohingegen dem Leser 
seiner Biographie so oft, z, B. gelegentlich der Rflckkehr 
von Elba, vor Auffing das Herz Idoplt 

Lassen wir also Voltaire ohne Bedenken >flackem!< 

* 

Einen unbedingt traurigen Anblick bieten jene Oegner 
Voltaire's dar, die ihm alles Oute und Orofie, das er an- 
gestrebt oder ausgeführt ha^ gewissermaflen unter der 
Hand verdrehen und hier immer nur niedrige Aitotive suchen 
oder alles ins Geringfügige herabziehen. Das ist eine Spe- 
zialität jener französischen Literaten, die den kierikat-royali- 
stischen Standpunkt vertreten. 

9» 



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— 132 — 



Als einer der verkniff ensfen ist da der Uteraturhisiorilcer 
Emil Faguet zu nennen» und diese ganze Methode zu be- 
kämpfen, zu verurteilen, zu verkidnem und verächtlich zu 
machen, soll durch einige Stellen aus seinen »Etudes litt^ 
raires« illustriert werden. 

Vor allem beklagt Faguet, daß das 18. Jahrhundert 
weder christlich noch franzdsisch war, wobei unter »fran- 
zösisch« die konservativ^ aristokratisdie und monarchische 
Oesinnung verstanden wird. Nun ist das ein Standpunkt, 
den man wohl mißbilligen und bekämpfen kann, gegen 
dessen Vertreter sich aber sonst im vorhinein nichts 
Schlimmes sagen läßt. Aber die Kampfvveise dieses frommen 
Tierchens«-! ^ Voltaire ist ein französischer bourgeois gentil- 
homme aus der Zeit der Regentschaft .... sehr reich ge- 
worden, ein wenig kühn, sehr frech, der alle Mängel seiner 
Abstammung und Erziehung bewahrte.« Hier spricht der 
Anhänger der Adelsinstitution und der Verächter bürgerlicher 
Sitte; dazu paßt auch der Satz: »Auch ist er wenig militärisch;« 
welcher Tadel wohl der Lebensanschauung eines adeligen 
Raufboldes, nicht aber der eines gesitteten Schnftsteilers 
entspricht 

Und nun mögen jene Behauptungen Faguet's folgen, 
die, wie so oft bei Polemiken Klerikaler, gleichsam als ihre 
kühnen Reiterstückchen anzusehen sind, indem sie den Mut 
haben, allbekannte Tatsachen zu ignorieren, ja ihnen direld 
zu widersprechen: 

»Niemals anerkannte er Denkfreiheit sich selbst gegen- 
über« — während es doch bekannt ist, daß er gegensätzliche 
Ansichten nicht nur tolerierte, sondern auch deren Vertreter 
mitunter sehr freundschaftlich behandelte und unterstützte 
(wie schon oben l>emerkt wurde). 

»Nichts war ihm lieber als die Teilung Polen's, weil es 
eine schöne Manifestation der Kraft war.« Tatsächlich ader 
war Voltaire ein prinzipieller Gegner solcher Manifestationen, 
wie schon seine Anskditen g^entttier dem kri^[ftihrenden 



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— 133 — 



Friedrich dem Großen beweisen; und fiberdies spmch Voltaire 
in Briefen an Friedricli ausdrücklich davon, daß er die 
Teilung Polen*s wegen der dort herrschenden Intoleranz der 
lOdholiicen und w^en der Unterdrflckung der Volksbildung 
und der Wissenschaft Oberhaupt durch den Adel wflnsche^ 
und in der sichern Hoffnung, diese Verhältnisse unter Friedrich 
und Katharina gebessert zu sehen. 

»Er ignorierte die Unterscheidung von Out und Böse« 
— welche Behauptung geradezu erstaunlich ist, abgesehen 
von tausend Einzeltatsachen, einem Manne gegenüber, der 
von sich selbst sagte: »Ich habe einiges Oute getan und 
das ist das beste meiner Werke. Das trockenste Herz,' 
meint ferner Faguet, >das man je sah — das gehört zum 
vorigen und braucht keine spezielle Kritik. 

Nun zu den Verdrehungen und Verdächtigungen bei 
faguet: 

»Aus Ruhmsucht täuschte er allerlei KQhnheiten vor, 
die seinem intimen Geschmack eigentiich entgegen waren.« 
Das dfirfte wirklich schwer zu beweisen sein! 

»Dieser Epikuräer erkennt, dal5 das Glück der andern 
zu seinem eigenen notwendig Ist, wenigstens, daß die Leiden 
der andern ein unangenetimes Konzert unter seinen Fenstern 
gäben « — Faguet merkt also gar nicht, dali eben darin die 
Eigenschaft der Oöte besteht, das Glück der anderen zum 

eigenen Glück für notwendig zu halten. — > für 

einen Menschen, der gewohnt ist, seine Stimme wenigstens 
bis an die Grenzen seines Landes zu erstrecken, wird dieses 
Gefühl zu einer lebhatten Ungeduld, ein unerträglicher 
Schmerz, zu wissen, daß es Unglückliche im Lande gebe 
und daß es leicht zu bewirken wäre, daß es deren keine 

mehr gebe Ich will von Calas, Sirven und de la 

Baire sprechen. Man hat ohne Zweifel zu viel Lärm damit 
gemacht • . . Voltaire war ja sein g^anzes Leben lang in 
Pkozesse verwickelt, nach der Traditk>n seiner Familie.c 



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— 134 — 



»Er schreibt für zwei oder drei unschuldig Verurteilte, was 
seine Popularitäl wiederherstellt und seine Rancune gegen 
die Magistratur befriedigt, und das wird ihm dann von der 
Nachwelt so angerechnet, als ob er sein ganzes Leben hin- 
durch nichts anderes getan hätten und was übrigens sehr 
gut ist« 

Hier sieht man ehi Unglaubliches gelanl lAtai sieht 
hier das Bestreben, edle Handhingen durch den bloßen 
Ton der Berichterstattung und durch eine Summe an- 
einander gereihter Ideiner Verdichtigungen und Bosheiten 
um ihren Ehidruck auf die Menschen zu bringen; und 
zugleich hat man ein vorzuglich klares Beispiel dessen vor 
sich, was dn Frommer zu sagen imstande ist, wenn er seinen 
Gegner um jeden Ptels schlecht machen und selbst seine 
verdienstvollsten^ nicht wegzuleugnenden Handlungen degra- 
dieren will. Allerdings ist die Sophisterei so erzwungen, 
die Darstellung so sichtlich gekünstelt, daß Faguet wohl bei 
wenigen, nicht kirchlich gesinnten Lesern seinen Zweck 
erreichen dürfte. Und um Voltaire vollends um alle Ach- 
tung zu bringen, vergleicht ilm Faguet mit — Aretin! 
Mit einem Menschen, der gar nichts anderes als der, 
der Zeit und Gewandtheit nach, erste Revolverjournalist 
Europas war; der sich nie um Fortschritt oder Reformen 
kümmerte, weder in Künsten noch in Wissenschaft etwas 
leistete und sich nie eines Bedrückten annahm! Und in der 
wohlbekannten pfäffischen Art bringt Faguet diesen Ver- 
gleich auf einem Umweg vor, indem er sich so ausdrückt: 

»Die Könige und Prinzen schrieben ihm freundschaft- 
lich. Ich will bemerken, daß dasselbe Aretin geschah, aus 
densell>en Motiven» und zwischen beiden gibt es Ana- 
logien.« 

Da nun Faguet gewIB nicht unter diesen Analogien: 
Essen» Trinken und Schlafen versteht, so kann er nur die 
Charakteranlagen nn Sinne haboii also die Ähnlichkeit von 



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— 135 — 



Vottaire's Charakter mit jenem dnes der veriottertsten und 
egoistischesten Individuen der Renaissance!*) 

Was at>er die Verteidigung von Calas betrifft, welche 
Faguet als eine Art Prozeß-Sport VoHaire's htnstelll^ so 
seien einige Bemerkungen hierQber gestattet. 

Obwohl alle Welt von der ^Verteidigung des Calas« 
gehört hat, so haben doch nur wenige eine Ahnung davon, 
was für ein Stück Arbeit da von Voltaire geleistet werden 
mußte und wie sein ganzes Wesen Jahre hindurch von 
Mitgefühl für jene unglückliche Familie erregt und ange- 
trieben wurde, sich den Mühen dieses Prozesses zu unter- 
ziehen, Im allgemeinen wird wohl jeder, besonders nach 
Lektüre der oben mitgeteilten Faguetschen Darstellung, 
glauben, Voltaire habe in diesem Falle, wie sonst ein Anwalt 
zu tun pflegt, bloß Aktenstücke gelesen und dann eine 
Satzschrift verfaßt 1 

Zur Aufklarung und damit man Faguet's unglaubliche 
Entstellung des Sachverhalts in ihrer ganzen Oröfie be- 
urteilen könn^ gebe ich m folgendem eine kuize Darstellung 
der Tätigkeit und des Oemfitszustandes Voltaire's in der 
Caks-Affaire:**) 

Im Jahre 1762 geriet der damals achtundsechzigjährige 
Voltaire in nicht geringe Erregung, als ihm die Nachricht 
zukam, man wolle in Toulouse eine grosse Büßerprozession 
zum Gedächtnis eines Mabsacres im Jahre 1562 abhalten, 

*) Wenn maii lUese verkniffene Bosheit^ diesen Versuch, große 
und edle Bemühungen zu degradieren, und dabei auch die GeistTosig- 
keit der Argumentation betraditet, so erstaunt man darüber, daß ein 
solcher Herostrat moraliadier Momiiiicirte ein Fnmzose, Professor und 
Mitglied der Academie fran^alse «^ein Icann Wenn noch mehrere solcher 
MÄnner, solcher Charaktere die französische Jugend in Geschichte der 
Uteratur antenfchten irad «He »Zierden des framAtlschen Oelstes« In 
ihrer Eigenschaft a!s Akademiker repräsentieren sollten, dann wäre es 
um Frankreich sehr schlimm besteilt. Sehr traurig, daß ein solcher 
Ocitt einen Lehrstuhl bekommen oder behalten konnte! 

**) Wobei Idi nddi der Dttstelinng Nocft in seinem Budie 
»Voltttie et Rousseau« anscfaKcsse. 



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— 136 — 



bei dem 4000 Hugenotten ermordet wurden*). Voltaire 
war im Begriffe, Toulouse vor der Welt nach Gebühr zu 
züchtigen Unterdessen gedieh die fanatische Stimmung 
immer weiter und als Vorbereitung zu dem gottesdienstiichen 
Feste der Prozession verurteilte das Parlament von Toulouse 
den protestantischen Kaufmann Calas unter der Anklage^ 
seinen eigenen Sohn ennordet zu haben, um ihm den Über- 
tritt zum Katholizismus unmöglich zu machen, zum Tode. 
Der edle und an dem Tode seines Sohnes ganz unschul- 
dige Calas wurde gerSdert und seine ganze Familie ver- 
folgt**) 

Als aber endlich die Unschuld des Calas unwiderleglich 
an den Tag kam, hatte Voltaire keine Ruhe mehr; von 
nun an gab es IQr ihn keine philosophischen^ keine litera- 
rischen Ait>eiten, nur das Eine schien ihm jetzt notwendig: 
das Andenken des Ermordeten zu rehabilitieren, das Urtdl 
kassieren zu lassen, die Ehre von Calas' Witwe, dessen 
Söhnen und Töchtern wiederherzustellen und sie wieder in 
ihre Güter einzusetzen. Vohaire iiclJ die Familie, die ohne 
Asyl, oline Hilfe, ja ohne Brot war, nach Ferney kommen. 
In ihreni Namen und auf seine Kosten appelliert er an den 
Staatsrat um Revision des Prozesses; er schreibt und läßt 
für die Ungiücklichen agitieren, bei dem König, bei den 
Ministem, bei Frau von PorTipadour. Er schreibt in jener 
Namen und substituiert sich nach Herz und Seele und 
Aktivität der verfolgten Familie, und trlii zugleich als Rächer 
der verfolgten Unschuld auf In diesem Gemütszustände 
verdoppeln sich seine Kräfte und seine Unerschrockenheit 

*) Welche Prozession in unserer Zeit, nämlich im J. 1862. 
wiedcftiolC wuide. 

**) Ich möchte hier auf ein Drama der neuesten Zeit aufmerksam 
machen, das die Affäre Calas bebandelt, und das, für meine Empfindung 
wenigstens, den Gegenstand in höchst eraster und kriftiger Weise durch- 
fuhrt, sehr spannend wirkt und zugleich ein anschauliches Bild des 
damaligen Kulturzustandes in Frankreich bietet. Dcr Verfasser dieses 
Stückes ist der Wiener Dramatiker Victor Stern. 



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— 137 — 



Keine andere Beschäftigung gab es während dreier 
jähre für ihn, als die Familie Calas zu retten; in dieser Zeit 
rechnet er sich — wie er an einen Freund schrieb — jedes 
Lächeln, jede Heiterkeit zum Verbrechen an. Und er unter- 
lässt absichtlich alle Polemik, jedes harte Wort und jeden 
Spott g^gen die Richter, niemals war sein Stil so einfach, 
wie jetzt in seinen Schifften in der Calas-Affibe; im Interesse 
der Sache» um nicht zu irritieren, wendet er alle Vorsicht 
an, irgend jemanden, der hier beteiligt war, zu verletzen, »er 
spricht nur halblaut«, wie sich Noel ausdrOdd, und wShrend 
er sonst vor Zorn zittert, hält er sich zurQcl^ verbiiigt sein 
Genie — er will nichts anderes, als »die bestfirzte Familie 
ivtten«. 

Mit der Geduld einer Mutter, die ihre Kinder verteidigt, 
sucht er zu erklären, wieso die acht Richter, die das Todes- 
urteil über Calas aussprachen, sich irren konnten; selbst in 
seiner Korrespondenz mit seinen Freunden, wie z. B. in 
seinem Briefe an d'Argental vom 24. Juni, hütet er sich, sie 
zu beschuldigen, er unterdrückt seine eig^ene Meinung, er 
könnte das Parlament niederwerfen — er unterläßt es; denn 
es handelt sich ihm nicht um rednerischen oder schrift- 
stellerischen Erfolg, sondern um die Ehre des Calas. 

Die Anwesenheit der Witwe Calas in Femey, die 
in ihrem übergroßen Unglück fast dem Tode nahe war, 
erregte in Voltah« den denkbar höchsten Grad von Mitleid; 
wenn man seine Korrespondenz aus jener Zeit liest, findet 
man immer wieder das grofie Herz, das eine heilige Sache 
verteidigt 

Am 29. März schreibt Voltaiie an sanen Freund 
d'Aigental: »Sie fragen mich vielleicht^ warum ich mich so 
sehr für den geräderten Calas interessiere: es geschieht, 
weil ich ein Mensch bin, weil ich alle Welt ausserhalb 

Frankreich empört sehe Können Sie nicht den Herzog 

von Choiseui dazu bewegen, sich über diese schreckliche 



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- 138 — 

Angelegenheit zu untenichteiii die die menschliche Natur 
entehrt? . . .« 

Und am 4. April an Damilaville: »Niemals, seit der 
Bartholomftus-Nacht, hat etwas so sehr die menschliche 
Natur geschindet« Am selben Tage schreibt er an d'Aigental: 
»Lacht man noch in Paris?« 

Einige Tage nachher hat er vor Auffing das Fieber 
und muß Im Bette bleiben.*) 

Am 11. Juni schreibt er von neuem an d'Aigental: 

»Ich werfe mich Ihnen und dem Grafen Choiseul zu FflBen. 
Die Witwe Calas ist in Paris, um Recht zu erlangen. . . . 
Im Namen der Menschheit, unterstützen Sie sie, Graf 
Choiseul möge sie anhören! . . .« 

Am Q. Juli an einen Kaufmann in Marseille: >Teilen 
Sie mir mit, mein Herr, ich beschwöre Sie, ob die Witwe 
Calas in Not ist . . . und er fügt bei: Das hiefje, auf 
alle Menschlichkeit verzichten, wenn man eine solche An- 
gelegenheit mit Gleichmut behandeln wollte.« 

Am 26. Juli wieder an Damilaville: »Die Abscheulich- 
keit von Toulouse beschäftigt mich mehr als die Unver- 
schämtheit von St. Sulpice. Ich bitte Sie inständigst, die 
Originalakten des Prozesses drucken zu lassen, Herr Diderot 
kann tdcht einen Buchhändler zu diesem guten Werke 
finden . . . JMÖge Ihr gutes Herz der unglQckIkhen Familie 
diesen Dienst leisten! Hierin liegt wahre Philosophle.€ 
Am 31. Juli an denselben: »Ist es möglich, daß man in 
Paris nicht die Memoiren des Calas drucken wllll Out, da 
sind andere: lesen und zittern Sie« 

Am 7. Au|,^ust an D'Argental: »Man muß dem Kanzler 
die Ohren davon gellen machen, man darf ihm keine Ruhe, 
keinen Frieden gestatten; man muß ihm immeriort zurufen: 
Calas! Calas!« 

*) Wagni^re eiiäliH, d«0 ViMn in jedem Jahrestige der 
Bartbolomiiu-Nacfat vor Zorn dit Heber bekam. 



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— 130 - 



Am 21. September schreibt Volteire an Chauvdin: 
»Diese AfÜre wird immer wichtiger, sie interessiert die 
Vaiker und die Rdtgionen — Am 9. Januar 1703 

schreibt er anläßlich des NeujahrsgniBes an seinen alten 
Freund Qdeviile^ spricht wieder von der Calas-Affäre und 
der Revision des Prozesses: »Ich seufze nach dem revi- 
dierten Urteile^ als ob ich dn Verwandter des Toten wfire.« 

Und so geht es weiter; die Dinge gehen ihm zu lang- 
sam vorwärts. Das Blut kocht mir wegen der Calas. 
Wann wird die Revision angeordnet werden?« 

Endlich, am 7. März, kam die Affäre an den Staatsrat, 
man sprach die Revision des Urteils von Toulouse aus, und 
bei dieser Nachricht ruft Voltaire (in einem Briefe an Dami- 
laville vom 15. März) aus: t-s gibt also noch Gerechtigkeit 
auf Erden, es gibt noch Menschlichkeit! und an den 
Referenten Crosne schreibt er: »Mein Herr, Sie haben sich 
mit Ruhm bedeckt . . . die Philosophen müssen Sie hoch* 
schätzen, und die intoleranten selbst müssen Sie achten . . .« 

Und mit diesem allen vergleiche man die Darstellung 
Faguet*s: ». . . . Man hat ohne Zweifel zu viel Lärm damit 
gemacht . . . Voltaire war ja sein ganzes Leben lang in 
Prozesse verwickelt» nach der Tradition seiner Familie« (1) 

* 

Eine ganz aparte Art, Voltaire zu verkleinem, haben sich 
mehrere, zumeist aber deutsche Schriftsteller zurechtgelegt, 
indem sie die letzte der von mir zu Anfang angeführten 
Methoden in Anwendung bringen: die relative Erhöhung 
seiner Gegner. 

Mit welcfier Gerechtigkeit hierbei vorgegangen wird» 
werden wir sogleich sehen. 

Da ist vor allem die beicannte Gegnerschaft Leasings 
gegen Voltaire 



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— 140 



Um Mißverständnissen vorzubeugen, schicke ich voraus, 
daB mir Lessing nicht nur eine der edelsten und bedeutend- 
sten, sondern auch eine der sympathischesten Persönlich- 
keiten Deutschlands is^ und daß es mir nicht im entferntesten 
elnMt, iiigend einen bedeutenden JMann, also auch Lesshig 
nicht, wegen sekundärer Fehler oder einzelner Handlungen 
herabsetzen zu wollen; es kann sich höchstens darum 
handeln, das Vorhandensein derselben zu konstatieren, wenn 
die Bildung eines Urteils Ober Beziehungen zu andern — 
aus Gerechtigkeit gegen diese andern — in Frage steht 

Wer nun die Affäre zwischen Voltaire und Lessing 
in Berlin kennt» wird wissen, daß jener allen Orund hatten 
Aber diesen ungehalten zu sein, und da6 Voltaire's Unwillen 
bei seinem impulshren Temperament menschh'ch ganz und 
gar gerechtfertigt war; es ist sogar fraglich, ob nicht jeder 
in seiner L^ge ebenso losgefahren wäre. 

Ich gebe den Fall, der, wie ich aus Erfahrung weiß, 
im allgemeinen wenig bekannt ist, während die Angriffe 
Lessing's auf Voltaire jedem Knaben in Deutschland in der 
Schule aufgedräng^t werden, nach der Darstellung eines ge- 
wiß verläßlichen Mannes, nämlich des Philosophen Karl 
Rosenkranz, in folgendem wieder: 

Voltaire hatte eben das »Si^cle de Louis XIV.« drucken 
lassen, Lessing war damals als Übersetzer für ihn tätig, und 
Richier, ein französischer Sprachlehrer, der die Korrekturen 
für Voltaire besorgte, damit beschäftigt, 24 der besten Exem- 
plare des Si^cle auszusuchen, welche den Mitgliedern 
der königlichen Familie übergeben werden soUteOt bevor 
das Buch irgend einem in die Hände käme. 

»Lessing, höchst neugierig darauf, beweg Richier, ihm 
den ersten Band eines von Aushängebogen gebildeten 
Exemplars zu leihen, natürlich unter dem Versprechen, es 
niemandem mitzuteilen. Er hielt dies aber nicht, sondern 
borgte den Band weiter an einen Freund, der wiederum 
nichts eiligeres zu tun hatten als ihn an die OrSfin Bentindc 



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— 141 — 



zu verleihen, die ebenfalls nicht rasten konnte, anderen von 
dem neuesten Werke des von ihr hochverehrten Autors zu 

erzählen, wodurch die Sache Voltaire selber zu Ohren kam. 
Er war außer sicli und lürthtett; Mißbrauch, vielleicht 
Nachdruck seines Buches, wie es ihm schon oft vorge- 
kommen war. 

In seiner Aufregung schrieb er einen heftigen Brief an 
Lessing. In der Antwort, in deren zweiten Hälfte, lenkt 
Lessing ein und gibt eine etwas geschraubte Erklärung» 
denn die Schuld einer Leichtfertigkeit in Behandlung der 
Sache konnte Lessing doch nicht ableugnen. 

Aus dieser unangenehmen Berflhrung mit Voltaire liat 
sich aber bd Lessing eine Animosität g^gen denselben fest- 
gesetzt, welche später in seiner scharfen, satyrisch bitteren 
Kritilc der Dramen Vollaire's in der Hambuig'schen Drama-* 
tuigie zum Ausdrudce kam und durch ihre pikante Säuer- 
lichkeit mehr als alles andere dazu beigetragen ha^ Voltaire's 
poetisches Talent einseitig herabzusetzen.« 

In derselben Weise schildert David Strauß diesen Vor- 
gang. Anstatt aber die ungerechte, persönlich zugespitzte, 
boshafte Lessing'sche Kritik Voltaires irgendwie zu tadeln, 
drückt er sich so darüber aus: 

Voltaire half durch seinen zornigen Brief an Lessing 
auch für die Zukunft eine Waffe schärfen, die ihn noch 
schwer verwunden sollte.« 

Also Voltaire »half«! So drückt Strauß seine Ansicht 
fiber eine persönlich gehässige Kritik aus, wenn es sich um 
den deutschen Lessing gegen den Franzosen Voltaire handelt 

Ich selbst möchte wohl Lessings respektlosen Ton 
gegen Voltahe noch psychologisch wdter daraus herldten 
und menschlich milder beurteilen, indem ich mir vorstelle» 
jener habe infolge der schmutzigen Geldaffaire zwischen 
Voltaire und dem Banquier Hirsch — auf die ich noch zu- 
rückkomme — Voltaire als Menschen mißachtet, und da sei 



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— 142 — 

es ihm leichter angeieoinmen, ihn auch als Dichter mit 
ziemlich deutlicher Mißachtung zu l>ehandeln. 

Unparteiisch war es aber von Lessing nicht; und man 
muB ihn unt>edingt eben wegen dieser Unsadiiichiceit in 
der Form der Kritilc und auch deswegen tadehi, wdl er 

ganz den Respekt und die Pflicht der Danl(t>ar1ceit vergaß, 
die man einem Manne mit so großen Bestrebungen und 
Leistungen, die Lessin^^ ja docli besser als irgend jeniaud 
zu würdigen verstand, sehuldig ist. 

Strauß aber geht darüber hinweg und spricht nur von 
»Waffen« und -Verwundungen« in merkwürdit!; kühler 
Weise. Handelt es sich denn bei ästhetischen Urteilen um 
einen Raufhandel? — 

Entsprechend dieser liebevollen Schonung Lessing's 
geht Strauß sogar so weit, nur wie in einem Anfluge von 
gnädigem Wohlwollen Voltaire neben Lessing gelten zu 
lassen. Es wirkt nicht wenig erheiternd, aber auch des 
sichtbaren Vorurteils wegen betreibend, von einem David 
Strauß folgende Worte zu hören: »Lessing im Elysium wird 
sich nicht weigern dürfen, ihn (Voltaire) als seinen franzö- 
sischen MtUirbeiter anzueilcennen.« 

Also: Es ist zu hoffen, meint Strauß, daß, wenn Vol- 
taire schön darum bittet, Lnsing ihn neben sich sitzen läßt 
Welche Ofitel Weiche Nachsicht I 

Lessing, der nur für Deutschland eine Bedeutung be- 
sitzt, und dessen Grundgedanken und Haupttendenzen von 
den Franzosen Diderot und Voltaire teils entnommen, teils 
angeregt wurden,*) soll Voltaire, dieser Feuersäule, die dem 

*) Ich las irgendwo» dafi LcMin^ auf orientalische poetische Stoffe 
und auch auf Shakespeare durch — Voltaire aufmerksam pemacht 
worden sei. Sein Laokoon basiert sehr auf Diderots Lettres sur les 
Boards et maets, Lessing nennt aber Diderot gar nichtund in einer Zeit- 
schrift wurde diese Tatsnclie so ausgedrückt: Es war das wieder eine 
merkwürdige Begegnung Lessiagfs mit dem französischen Geiste. 
»Begegnungen c sedier Ai^ die verschwiegen weiden, bCEdchnet man 
sonst ganz anders. 



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— 143 — 



ganzen Jahrhundert und dem ganzen europäischen Kontinent 
vonmschrit^ aus bloßer Outmfltigiceit ein Plätzchen ndsen 
sich gönnen! 

Alles, was ich hier in Polemik gegen Strauß sage, 
wußte dieser gewiß mindestens ebenso gut, ja genauer als 
ich; woher also seine sonderbaren Ansichten? Er ist eben 
blind gegen sein eigenes Wissen, er ist blind aus natio- 
nalem Chauvinismus, es fehlt also wieder der lebendige 
Sinn für Gerechtigkeit im Urteilen, wie wir das ja im Laufe 
aller dieser Betrachtungen über die Beurteiler Voltaire's so 
oft wiederfinden. 

Denken wir einmal an folgende Daten: 

Lessing wurde im Jahre 1729 geboren, aber schon im 
Jahre 1715 übergab Voltaire den Oedipus» ein ganz und gar 
freigeistiges, ja revolutionäres» gegen die Priesterschaft ge- 
richtetes Drama, dem Thdatre fian^s zur Aufführung. 
Als Lesstng zwei Jahre alt war, erschienen die philoso- 
phischen Briefe Ober England; als er vier Jahre alt war, er- 
sdHen die »Hemlade«^, die voll von Angriffen g^en das 
Priestcrtum, gegen Intoleranz und gegen die HerrschergelOste 
des Adels gerichtet war. Lessing war dreizehn Jahre alt, 
als der Mahomet, ein als antikirchliches Stück hochbedeu- 
tendes Werk, erschien, das belcanntlich Goethe übersetzte 
und auf die Bühne brachte. 

Überdies wäre Lessings wohl bedeutendstes und noch 
heute hochgeschätztes Drama, sein Nathan , ohne Voltaire's 
»Zaires garnicht denkbar, es ist in der Wahl des Milieu 
diesem nacht^ebildet, und die Figur Saladins und die in ihr 
ausgedrückte Tendenz, nämlich der Erhebung dieses Un- 
gläubigen des Orients über die frommen Christen, entnahm 
Lessing ganz direkt den Voltaire'schen Betrachtungen über 
die Kreuzzüge. Überdies ist Lessings Stück, dessen ethische 
Bedeutung allerdings nicht hoch genug geschätzt werden 
kann — wie ich wenigstens empfinde — nicht entfernt so 



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— 144 — 



voll Wärme und schöner poetischer Empfindung wie Zaire, 
dieses gerade von Lessing kritisch so sehr zerzauste Drama. 

Und nach all dem soll Voltaire warten und sich 
glucklich schätzen, bis Lessing ihn als >Mitart)eiter« gütigst 
anerkennen magl 



Eine andere bedeutende Persönlichkeit^ mit der Voltaire 
in Konflikt kam, und die von deutschen Schriftsteilem 
ihm gegenflber ganz gegen alle Gerechtigkeit in Schutz ge- 
nommen und mit Vorliebe fiber ihn moralisch erhoben wird, 
ist Friedrich der OroBe 

Hier zeigt sich der nationale Chauvinismus ganz un- 
verhüllt, dabei aber auch kein geringer Grad — sagen wir: 
iinhewuliten — Knechtsinns vor dem mächtigen Monarchen 
und vor dem Monarchen überhaupt.') 

Strauß charakterisiert das Verhältnis dieser beiden Männer 
dahin, daß »der Prinz dem Schriftsteller wenig, umso- 
mehr der Schriftsteller dem Prinzen und König an 
Charakter nachsteht.- Es ist jedenfalls ein sonderbarer, 
sehr vereinzelt dastehender, wenn auch wie jeder andere 
berechtigter Geschmack von Straub, die Schriften Friedrich 
des Groben nur wenig« jenen Voltaires, des nach Ooethe's 
Ausspruch »vielleicht größten Mannes der Literatur aller 
Jahrhunderte,« nachzustellen. Friedrichs Oden, didaktische 
Gedichte, Briefe, dürften wohl allgemein als sehr unt>edeutend 
und die historischen Werke als nicht sehr hervorragend an- 
gesehen werden**); indessen, es ist ja kein Unglück und von 
keiner WichtigkeiV wie jemand seine Lokationen arrangiert; 

*) Man könnte hier das wunderbar treffende Wort Oogols an- 
wenden: »Die uneigennützige Gemeinheit« 

**) Über die noch am meisten gesdiitzte hlstoritdie Schrift Fried- 

richs schreibt Körner im Jahre 1788 an Schiller: Die Histoirc de mon 
temps« hat viel Schülerhaftes in der Art zu erzählen und in den einge- 
streuten (oft sehr platten) Bemainiiigcii.« 



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— 145 — 



sei es also! Strauß mag von Friedrichs Schriften ganz nach 
seinem Geschmack erbaut worden sein! 

Ungleich wichtiger ist aber die Frage nach dem 
Charakter beider Männer. 

Was man Voltaire bei seinem Verhalten in ßerlin und 
speziell Friedrich gegenüber zum Vorwurf macht, ist vorerst 
sein Vorgehen gegen Maupertuis, den damaligen Msi* 
denten der Beriiner Akademie der Wissenschaften. »Sie 
schlugen^, schrieb lange nach dieser Affaire Friedrich an 
Voltaire in Femey, »mit Ihrer furchteriichen Herkuleskeule 
eine Mücke toi Ich für mein Teil wollte den Frieden im 
Hause erhalten und tat alles, was ich konnte^ um Sie an 
einem Ausbruch zu hindern. Ungeachtet alles dessen, was 
ich Ihnen sagte^ störten Sie die Ruhe^ schrieben ein Libdl 
unter meinen Augen, und bedienten sich einer Eriaubnts, 
die ich Ihnen für ein anderes Werk gegel)en hatte^ um jenes 
Libeli drucken zu lassen.« 

Condorcet behauptet wohl, Voltaire habe eine »allgemein 
gehaltene Erlaubnis von früher her« benfitz^ um den Doktor 
Akaklazu drucken. Friedrich mußte das jedoch besser wissen 
als Condorcet; oder es kann da auch liegend eine verschiedene- 
Auffassung jener Erlaubnis bei Voltaire und bei Friedrich 
vorhanden gewesen sein? Wir können das nicht entscheiden 
und wollen sogar annehmen, der letztere sei mit semen 
Vorwürfen im Recht. 

Dann war es unbedingt eine nicht korrekte Art des 
Vorgehens und auch eine nicht würdevolle Polemik, die 
Voltaire in seinem Doktor Akakia-^ gegen Maupertuis 
richtete. Aber einerseits waren derlei heftige literarische 
Streitigkeiten an der Tagesordnung^ ; andererseits war, wie 
bekannt, der eitle und hochmütige .Modemiepräsident der 
provozierende Teil, und Voltaire wußte sich nicht anders 
gegen ihn zu wehren. Es war Voltaire selbst, der seiner 
Zeit Maupertuis dem König^ für die Stelle eines Akademie- 
präsidenten voigeschlagen hatte^ er war diesem also gewiß 

Popper, Voluire« 10 



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— 146 — 



frflher nicht flbetgesinnf gewesen. Aber Maupertuis intrigu- 
ierte gegen Voltaire, denunzferte ihn bei Friedrich und wollte, 
wie Condorcet erzählt, ihn »entehren und verderben . Er 
war nach dem Ausdrucke Carlyle's »ein neidischer Menscli, 
voll von verborgenem milzsüchtigen Ärger und stiller Wut«, 
hatte, wie Koser (im König Friedrich dtr Grolk) ihn schil- 
dert, ein rechthaberisches Wesen, eine gewisse brutale 
Offenheit und verlangte immerwährend nach Weihrauch«» 
Er verletzte im stolzen Bewußtsein des Mathematikers« 
gegenüber den »Schöngeistern* an Friedrichs Hofe alle 
anderen so sehr, daß der Marquis d'Argens sogar nach 
Maupertuis Tode noch eine polemische Schrift gegen ihn 
veröffentlichte. 

Keinesfalls kann, nach der Sachlage^ Voltaire's heftige 
Kampfwetse als ein Chaiakterdeffelct von irgendwelcher Be- 
deutung angesehen werden» zumal die Aggression nicht 
von ihm ausging, und Qberdies — wie Collini berichtet — 
Voltaire, mit vielen anderen, über ein höchst ungerechtes 
Voigehen Maupertuis' gegen den Mathematiker König em- 
pört war. Haben doch Ooethe und Schilleri die doch viel 
• »idealeret und weniger kampfbereite Naturen als Voltaire 
waren, in ihren Xenien ihre literarischen Gegner auch nicht 
gar glimpflich behandelt Ooethe sprach von ihnen als von 
»Lumpenhunden und weder er noch Schiller haben dadurch 
an unsenn Respeld vor ihrem Charakter ehigebfiBi 

Man kann sogar mit Sicherheit behaupten, daß, wenn 
Ooethe und Schiller ein so enorm impulsives Talent wie 
Voltaire besessen hätten, ihre Polemik einen ebenso scharfen, 
aber wahrscheinlich bei weitem weniger heiteren — man 
kann sagen: liebenswürdigen — Charakter gehabt hätte, wie 
jene Voltaire s.*) — 



*) Und bei dieser Gel^enheit sei der Leser eingeladen, Voltiire's 
»Doirtor Akakia«, sowie die ipitere (in Leipzig veröffenUichte) Schrift 
g«gcn Maupertuis zu letcn; es stnhtt alles dtrin von Geist und Wttz^ 



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— 147 — 



Eine andere Sache ist die mit Bankier Hirsch und 
dem Handei mit sächsischen Steuerscheinen. Dieser Handel 
war von Friedrich verboten, und Voltaire machte, wie man 
sagt, von seiner Stellung am preußischen Hofe einen in- 
korrekten Gebrauch. Aber schon dies ist nicht gewiß, denn 
Mahrenholtz in seiner Biographie Voitaire's meint, es sei 
»fniglich«, ob ihm der betreffende Erlaß Friedrichs bekannt 
war. Wenn es aber doch so gewesen wäre^ so tat Voltaire 
hier das, was zu seiner Zeit von den Aristokraten und den 
Männern in hoher Stellung fast allgemein geschah; sie setzten 
sich, als Ausnahmen, leichten Heizens fiber fislaüische Ve^ 
Ordnungen, ja sogar fiber Gesetze, hinw^ weil sie sich 
durch ihre I^osltion von diesen eximiert glaubten. Geschah 
es doch noch in unseren Tagen, daß z. B. Gesandte an 
fremden Höfen ihre Stellung dazu benutzten, um Schmuggel 
zu treil>en, da sie wußten, daß an sie adressierte Sendungen 
an der Grenze nicht visitiert weitlen.*) 

Derartige Verletzungen öffentlichen Rechts seitens ein- 
flußreicher oder hochgestellter Persönlichkeiten hielt man 
für selbstverständlich, und weit entfernt, das eventuelle Vor- 
gehen Voitaire's in dieser Angelegenheit für anständig zu 
halten und rechtfertigen zu wollen, möchte ich nur mit 
diesen Bemerkungen darauf hindeuten, daß derlei Dinge in 
der Auffassung der Zeit und jener Gesellschaftskreise durch- 
aus nichts so Tadeinswertes besaßen, wie in unserer, ge- 
nauer gesprochen: wie in der heutigen Auffassung der Per- 
sonen aus anderen Gesellschaftskreisen. 

In der Affare Hirsch wird von manchen Voltaire auch 
das vorgeworfen, in einem Dokumente Worte nachtraglich 
geändert und eine »Zeile« hinzugefügt zu hal>en. Hiemi 
meint Mahrenholtz,**) man kdnne »denuDge Schmierkflnstes 



•j Derartiges geschah, n.ich einer Mitteilung Bismarck's, tcHeOt 
eines französischen Gesandten am Hofe von St Petersburg. 

Im zweiten Band von »Voitaire's Leben und Werke« (S. 6). 



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- 148 — 



die selbst dnem Schuljungen zu unschlau erscheinen wurden, 
einem Voltaire nicht zutrauen, zumal auch die Form der Ur- 
kunde eine endgültige Entscheidung nicht gestatte; und in 
gleicher Weise sei es willkürliche Annahme, daB der Handel 
mit Steuerschdnen erst nachtrilglk^h in einen »Pelz- und 
Juwelenhanddc verwanddt worden sd . . . . 

Das ganze OesdUtftsgebahren VoHaires gegenOber Hirsdi 
bewies vor allem sdne Pfiffigkdt und Oesdiiddidikdt in 
Oddsachen» was an und für sich nidits mondisch Taddns* 
wertes an sicli hätte, wenn man auch gewohnt ist, sich derid 
mit einem Odehrten, Künstler oder Aristokraten unverdnl)ar 
zu denken. In der Zeit der Renaissance begegnen wir so 
manchem berühmten italienischen Künstler, wie z. B. Titian, 
der in Geldangelegenheiten nicht nur ebenso praktisch, 
sondern noch viel skrupelloser war als Voltaire. Man kann 
also die Hirsch-Affäre, wenn auch nicht schön und nobel, 
aber auch nicht verwerflich nennen; ausgenommen, es 
könnte Voltaire faktisch ein Betrug nachgewiesen werden. 
Letzteres ist aber umso weniger wahrscheinlich, als Voltaire 
selbst den Fall den Gerichten zur Entscheidung übergab 
und von diesen freigesprochen wurde. 

Nun ist aber in jüngster Zeit in die ganze Angelegenheit 
vid mehr Klarheit als bisher gebracht worden durch die 
Monographie: ^Voltaires Rechtsstreit mit dem Königlichen 
Schutzjuden Hirschd 1751« von Dr. Wilhdm Mangold» in 
welcher Schrift zum ersten male das ganze noch voihandene 
Aktenmaterial veröffentlicht wurde; Das Resultat, zu dem 
Mangold gelangt, Ist folgendes: » . . . . Hirschd ist mit 
vollem Recht wegen der Ableugnung sdner Unterschrift zu 
dner Oddstnfe verurtdit worden, mit vollem Recht auch 
zur Herausgabe des vorenthaltenen Wechsds. Inbczug auf 
die Juwelen ist er völlig zu sdnem Recht gdcommen, ja er 
hat schließlich bd dem Vergleiche noch 1000 Rtb*. gewonnen. 
Es bidbt sicher, daß er die Rflckgabe des Wechsds unge- 



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— 149 — 



böhrlich verzögert hat, daß er Voltaire übcrvorteilie, und daß 
er seine Handschrift ableugnete. Wahrscheinlich ist, daß er 

Voltaire mala fide der Fälschung bezichtigte. 

Voltaire ist sicher von jedem Verdacht freizusprechen 
inbetreff der angeblichen Vertauschung der Juwelen durch 
minderwertige. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er sich 
keiner Fälschung der beiden Scheine schuldig gemacht 
Dagegen hat er wahrscheinlich fälschlich die runde Summe 
3000 Rtlr. statt 2940 Rtlr. als Schuld angegeben und wahr* 
scheinlich fälschlich diese Summe auf eine Barzahlung zu- 
rQckgeführt Auch hat er, aller Wahrscheinlichkeit nach, in 
seinem Eide den Inhalt der Konvention falsch ang^reben. 
Mit Recht sagt er in seinem Essai sur les probabilit^ en 
falt de justice: »Quand il s'agit d'öter la vie et l'honneur k 
un citoyen, la plus grande probabilit^ ne suffit pas.« So 
wollen wir ihn auch deshalb nicht verdammen. Aber wir 
müssen und können verdammen, daß er wochenlang hart- 
näckig eine Konvention leugnete^ deren Existenz er schließlich 
zugab. Das ist das sicherste der hier festgelegten 
neuen Ergebni8se.c 

Aus diesen wenigen Zeilen wird der mit den Details 
der Affaire und mit den mannigfachen Vorwürfen, die man 
bisher Voltaire machte, wenig oder garnicht vertraute Leser 
so ziemlich alles wichtigere derselben leicht herauslesen. 
Am stärksten entrüstet über Voltaire war damals Friedrich 
der Große: >Es ist der Prozess eines Schurken, der einen 
Spitzbuben betrü|^en will,« schrieb er an seine Schwester 
Wilhelmine in Bayreuth; Lessing hatte ziemlich dieselbe An- 
sicht von dem Handel, und im Laufe der Zeit verdichteten 
sich die Vonvürfe bis zu der Beschuldit^ung, wie sie z. B. 
Danzel in seiner Lessingbiographie erhob, daß der be- 
rühmte Kämpfer für Licht und Wahrheit nicht mehr und 
nicht weniger als zwei Fälschungen und einen, jedoch nur 
schriftlichen Meineid sich hat zu Schulden kommen lassen.« 



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— 150 — 



Aus dem zitierten Resume Mangold's ersieht man, daß 
zwar Danzel u. a. mit ihren Vorwürfen viel zu weit gegangen 
waren, daß aber jedenfalls zufolge der neuerlichen Forschungen 
ein Rest zurückgeblieben ist, der unbedingt einen moralischen 
Makel Voltaire's in dieser Affaire bedeutet. 

Wie dachte Voltaire selbst darüber? »Ich bin, Oott sei 
Danke, schneb er an Darget, »nun meinen Handel mit 
dem Alten Testament los, und ich bin untröstlich, daß ich 
ihn überhaupt hatte; aber man ist Mensch, die Dinge 
schieben sich, ich weiß nicht wie. Ich habe eine 
Narrheit begangen, aber ich bin kein Narr . . . .c Und an 
Friedrich: »Altes reiflich fiberl^ habe ich einen schweren 
Fehler begangen, mit »nem Juden zu prozessieren ... Ich 
war gereizt, ich hatte die Manie, beweisen zu wollen, da6 
ich betrogen war. Ich habe es bewiesen . . .c 

Wie ich selbst diese Angd^^heit ans^e und welchen 
Einflufi auf die Beurteilung Voltaire's ich ihr zuschrdben 
und gestatten möchte^ soll später bei der allgemeinen Be- 
trachtung über Voltaire's Charalder und namentlich der un- 
schonen Seiten desselben gezeigt werden. — 

Vergleichen wir aber, wie es unser eigentlicher Zweck 
ist, in Fragen der Korrektheit Friedrich den Großen mit 
Voltaire, so kommt jener, ganz entgegen der Ansicht von 
Strauß, noch viel schlechter weg als dieser. Friedrich 
kam es auf Inkorrektheiten im Völkerrecht, sei es zu 
staatlichen Zwecken, sei es in seinen eigenen Privat- 
angelegenheiten gar nicht an. 

Was letztere betrifft, so ist es bekannt, daß er die 
Souveränetät der kleinen deutschen Staaten oder Städte gar 
nicht achtete und dort tat, was ihm beliebte; so z. B. der 
freien Reichsstadt Frankfurt a. M. g^enüber, wo er seinem 
Gesandten Auftrag gab, seine Manuskripte aus Voltaire's 
Oepädc an sich zu nehmen, und wenn dieser sie nicht 
herausgeben wollen ihn ins Gefängnis zu setzen. Das war 



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— 151 — 



doch offenbar eine rein private Angelefrenheit und hatte mit 
sogenannten höheren Staatszweck^ sehr wenig zu tun. 
Wollte man jedoch denken, es wäre aus politischen Gründen 
geschehen, da Friedrich befürchten mußte, durch manche 
Manuskripte — es waren aber auch andere dabei, die mit 
Politik gar nichts zu tun hatten - kompromittiert werden 
zu können» so gilt das doch nicht im Falle der italienischen 
Tlnzerin Baiberina. 

Friedrich wünschte diese damals im Theater zu Venedig 
gefeierte Künstlerin fOr seine Oper, und sein Agent bei der 
Republik hatte von ihr bereits die Zusage erhalten, nach 
Beriin zu gehen. Da aber ein veriiebter Engländer sie zu 
entführen drohte, so Heß der König durch den Agenten sie 
nebst ihrer Mutter einfach in einen Wagen packen und, 
völkerrechtswidrig, beide unter Bedeckung nach Berlin ab- 
führen. Diese plötzliche Abreise soll auch durchaus nicht 
mit dem Willen der Tänzerin unternommen worden sein.*) 

Und was die eben erwähnte Affäre in Frankfurt betrifft, 
so gibt sie Anlaß, gegen Friedrich den Vorwurf einer ganz 
nutzlosen, wohlüberlegten und ausdauernden Lieblosigkeit, 
ja von Härte, Voltaire gegenüber zu erheben. Es ist zwar 
festgestellt, dafi die unglaublichen Brutalitäten des preußischen 
Residenten in Frankfurt gegen Voltaire^ sowie gegen seine 
Nichte^ Madame Denis, und seinen Sekretär Collhti — die 
man in des letzteren Bericht in seinem Buche »JVIon s^jour 
aupr^ de Voltaire« nachlesen mag ohne Vorwissen des 
Königs geschahen; aber Friedrich war nie dahin zu bringen, 
ein Wort der Entschuldigung oder mindestens der einfachen 
Desavouiening seiner rohen Beamten vorzubringea Er 
wußte sehr wohl, daß dn solches Wort von ihm Voltaire^ 



*) Dieselbe Barberina heiratete in Berlin keinen Geringeren, als den 
berühmten Juristen Cocceii, den Sohn des Kanzlers, unazwar — wie 

die Mutter der Tänzerin Collini mitteilte — mit stillschweigender Zu- 
stimmung^ des Königs. Friedrich soll in sie verliebt gewesen sein. 



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— 152 — 



der wegen der vorgefallenen Beschimpfungen und Gewaltakte 
ganz außer sich war, gewiß besänftigt hätte; aber trotz 
der später noch jahrelang fortgeführten Korrespondenz war 
dieses beruhigende Wort aus Friedrich nicfit herauszubringen. 
Voltaire koilnte diese Kränkung bis an sein Lebensende 
nicht verwinden. — 

Es ist also auch in diesem Fall nicht wahr, daß, wie Strauß 
sagt, der Charakter Voltaire'? jenem Friedrichs nachsteht. Aber 
Friedrich war unbedingt hier der weit Schlimmere; nicht nur, 
weil er ein ungleich härteres Naturell besaß als Voltaire, 
sondern auch darum, weil er sich mit * 100 000 Schnurr- 
bftiten« (wie Voltaire zu sagen pflegte) gehen lassen konnte» 
wie er wollte; daher er auch zugleich Zynilcer war, was 
man von Voltaire absolut nicht sagen kann. 

Der König tat sich durchaus keinen Zwang an, seine 
Widerrechtlictikeiten oder Oewaltschritte zu beschönigen.*) 
Wo er in seiner >Oeschtchte meiner Zeit« von seinem völker- 
rechtswklrigen Einbruch in Schlesien spricht, der ja ohne 
vorherige Kri^eridflrung erfolgte^ erzählt er ohne j^e Be- 
schönigung, sozusagen ganz naiv, wie er seine militirischen 
Vortierdtungen zu verheimlichen suchte^ wie er seinen Ge- 
sandten, den Grafen Gotter, pro forma nach Wien sandte» 
um von Österreich Zugeständnisse zu verlangen, die ihn 
vom Krieg abhalten wflrden; daß aber »die Armee zwei 
Tage vor des Grafen Gotter Ankunft in Wien in Schlesien 
einmarschierte«. Und Friedrich spricht ganz ruhig von diesem 
Einbruch als von einem »kflhnen Rittersh«ich«, der von 
einigen als Unbesonnenheit angesehen werden während der 
englische Minister sich daraufhin geäußert habe, man möge 
Friedrich »in den politischen Bann tun«; das alles erzählt 
Friedrich so, als ob es ihn gar nichts anginge. — 

*) Einen Unterschied zwischen privater Moral und Moral in Staats- 
angelegenheiten erkenne ich nicht an» umsoweniger, als auch bei den 
Handlungiien der Stasttminiier net>eii den aUgemeinen politischen 
Zwecken meistens mu! in nicht geriqgein OmdepenöoUdie THcl)^ wie 
Chigeiz, Haß und deigl., mitspieleo. 



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— 153 — 

In dem Verhältnisse zwischen Friedrich und Voltaire 
wird dem letzteren auch das sehr übel genommen, daß er 
seine Stellunc^ an des König;s Hofe zu politiscficn Zwecken 
im Interesse P rankreichs auszunützen suchte; zum mindesten 
meint man, sei derlei eines Philosophen, oder eines Dichters, 
besonders aber eines »Freundes des Königs und Gönners« 
unwürdig. 

Hier begegnen wir wieder einmal einer sehr deplazierten 
Anwendung des Begriffes von Würde! Ich sehe nicht ein, 
wieso Voltaire in dieser Beziehung Vorwürfe verdient Er 
war ja kein armer Teufel von Pod, der froh sein musste 
— wie seinerzeit Ariosto, Tasso und viele andere in alter 
und neuer Zeit — an iiigend einem Fflrstenhofe Unterlcunft zu 
finden, und dafOr sicli moralisch verpflichtet hielt, in eine Art 
Untertänigtceitsverhtttnis zu treten; er war auch weder dn 
sentimentaler Dichter, der einen königlichen Hof etwa wie 
ein Gralsritter den Montsalvatsch ansieht, noch ein ab- 
strakter Philosoph, der nicht aus seiner Gedankenwelt heraus- 
tritt und keinen Sinn fflr weltliche aktuelle Angelegenheiten, 
noch weniger für politische Intriguen hat 

Bei Voltaire's politischen, fibrigens wie es heifit, ziem- 
lich erfolglosen Versuchen war durchaus 1^ Verrat gegen 
Friedrich, keine boshafte Absicht g^en ihn oder seinen 
Staat, sondern einfach die normale Tätigkeit der Diplomaten 
im Spiel. Voltaire wollte seinem heimischen Minister ge- 
fällig sein und überdies seinem eigenen Ehrgeiz, auch als 
praktischer Politiker zu glänzen, vielleicht aucfi am Pariser 
Hofe Carriere zu machen, BefriediLjuiig verschaffen. Die 
letzten zwei Gründe möchte ich aber so scharf als möglich 
hervorheben, um keinen Zweifel darüber zu lassen, daß wir 
bei aller Dankbarkeit und Bewunderung für Voltaire niemals 
es für eine Eiirensache ansehen müssen, ihm allen Egoismus 
abzusprechen. Er war ein praktischer realistischer Mann, 
der wohl immer an die ganze Menschheit dachte und für 
sie arbeitete, aber auch niemals sein eigenes Wohl und seine 



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eigenen Ziele vergaß. Daran tnuli sich selbst der größte 
Enthusiast für Voltaire gewöhnen; aber auch sich abge- 
wöhnen, eine solche Doppeleigenschaft für entehrend anzu- 
sehen; nur einem sehr jungen Menschen von verfälscht- 
idealistischer Erziehung könnte eine solche Ansicht verziehen 
werden. Geht man übrigens den Meiischen auf den Grund, 
so wird man selbst bei den scheinbar weltfremdesten 
Geistern, mit höchst seltenen Ausnahmen, stets die gleiche 
Doppeleigenschaft finden; nur äuf3ert sich der egoistische 
Teil schüchterner und mit unendlich geringerer Geschick- 
lichkeit, als bei dem Weltmenschen Voltaire. 

Was aber die diplomatische Tätigkeit an Friedrichs 
Hofe speziell betrifft, so dürften die — vornehmlich deut- 
schoi oder preußischen — Tadler Voltaire's vielleicht sofort 
ihre Ansicht Indem, wenn sie sich vorstellen, es hätte ein 
Deutscher (oder Preuße), der am Pariser Hofe gut aufge- 
nommen wurde, dasselbe getan. Wie würden jene von ihm 
sprechen? . . . »Er veigaß über allem Olanz seiner Stellung 
keinen Augenblick sein geliebtes Vaterland« würde es dann 
wohl heißen, »er war nicht nur (z. B.) Dichter und Phik>soph, 
er war und blieb auch Patriot, und als echter Deutscher 
(oder Preuße) trachtete er daher zugleich stets danach, nicht 
nur für sich selbst persönliche Ehren, sondern auch seinem 

Vaterlande politische Dienste zu leisten Sein Souverain 

belohnte ihn auch bei seiner Rückkunft nach der Heimat 
durch Verleihung eines Ordens, und jeder gutgesinnte 
Deutsche (oder Preuße) muß ihm diese hohe Auszeichnung 
von Herzen gönnen . . .t usw. 

Zufällig existiert ein ziemlich ähnlicher Fall, wie der 
von mir hypostasierte, wirklich. Denn Leibniz, der als 
großes Genie von Ludwig XIV. glänzend aufgenommen 
wurde, benützte diese Gelegenheit, um den König von seinen 
Absichten gegen Deutschland durch das Projekt einer Ex- 
pedition nach Ägypten abzubringen. Ldbniz wird deshalb 



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— 155 — 

nie getadelt und es ist auch gar kein Orund zum Tadel 
vorhanden. 

Das Verhältnis zwischen Voltaire und Friedrich war 
aber nicht nur kein Vasallen- oder Höfiingsverhältnis, wie 
sonst zwischen Dichter unö Sou verain, sondern auch nicht 
entfernt ein Verhältnis von warmer Freundschaft oder das 
eines Bewunderers zu einem bewunderten Souverain. 
Ober das letztere braucht man ja kein Wort zu verlieren; 
der Bewunderer war viel mehr Friedrich, als der Schriftsteller 
Voltaire, dem, als einem in die höchsten Wolken reichenden 
Weltkopf der König in keiner Weise — weder durch Oenie 
noch durch Charakter — Imponierte. 

Die Verbindung zwischen diesen beiden Mannern war 
vielmehr, wie auch Hettner mit Recht bemerkt, auf beiden 
Seiten »nicht ohne Selbstsucht«; und man muß hinzufügen 
ohne daß sie einander in dieser Beziehung täuschen wollten 
oder wenigstens wirklich täuschten. 

Wie deib egoistisch Friedrich die Berufung Voltaire's 
an seinen Hof von vornherein auffaßte^ — ungleich ego- 
istischer und derber noch als Voltaire — zeigen deutlich 
die Worte, die er gleich zu Anfang, wo zwischen beiden 
doch noch volle Harmonie herrschte, an Jordan schrieb: 

»Dein Odzhais Voltaire soll noch 1300 Taler bekommen; 
von den sechs Tagen, welche er sich hier gezeigt, kostet 
mich jeder Tag 550 Taler. Das nenne ich einen Lustig- 
macher teuer bezahlen. Wohl niemals hat der Hofnarr 
bei irgend einem grossen Herrn eine solche Bezahlung 
gehabt?. 

Hierzu sei vorerst bemerkt, daß die Geldaffairen zwischen 
Voltaire und Friedrich ein köstlich erheiterndes Schauspid 
bieten; indem Friedrich selbst als der ^^^rösste Geizhals — 
man kann auch sagen: »Sparmeister für seinen Staat- — 
bekannt war/) der sogar früher als Kronprinz eingegangene 

*) Voltaire erzählt in seinen Memoiren, der iUlienische Hofpoet, 
der Fiicdriclu Opempline aitaarbeitete, bekam nicht mehr als 1200 



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Schulden als König nicht mehr anerkannte und es überhaupt 
mit seinen pekuniären Versprechungen — als Absolutist 
von reinstem Wasser — nicht sehr p^enau nahm. Voltaire 
aber kannte alle diese Eigentünilichkeiten des Königs sehr 
genau, traute ihm in Geldsachen keinen Schritt weit und 
suchte, wo nur immer es anging, am liebsten sofort oder 
im Vorhinein so viel als möglich aus ihm herauszukriegen. 

Nun aber beachte man den Ton in jenem Schreiben 
an Jordan. So sprach derjenige^ der fflr seine Bewunderung 
Voltaire's in seinen Briefen an ihn kaum Worte finden 
konnte. »Apollo«, »der schönste Geist Frankreichs«, »der, 
welcher Homer übertraf« usw. sind die geviröhnlichen Aus- 
drücke. Und im Jahre 1749 schrieb dieser Bewunderer 
Voltaire's an Algaroki: »Voltaire verdient wegen seiner 
Streiche gebnmdmarkt zu werden, doch werde ich mir nichts 
merken lassen, denn ich habe seiner zum Studium der 
französischen Sprache nötig«. 

Und endlich das allbekannte Wort, das Friedrich zu 
Lamettrie über sein Verhältnis zu Voltaire gesprochen haben 
soll. »Ich habe ihn noch nöt^, um meine Werke durchzu* 
sehen. Man presst die Orange aus und wirft sie dann 
fort*; ein Wort, das Voltaire zu Ohren kam. Dieser ge- 
wahrte überdies noch so manches, was ihm — merkwürdiger- 
weise ganz entgegen der Strauifschcn Aiisicht über den 
weit voranstehenden Charakter des Königs — Friedrichs 
Wesen in sehr üblem Lichte erscheinen ließ, so daß die 
Miikchtung bei beiden eine gegenseitige war. Während es 
aber bei Voltaire melir üaminerieen waren, die er sich zu 
Schulden kommen ließ, sieht man beim preußischen König 

Lfvres Jahresgehalt. Er machte sich daher selbst und zwar eigfenhiiidig 

bezahlt, indem er in der königl. Hauskapelle die goldenen Tressen 
ablöste und einsteckte. Friedrich war darüber gar nicht erzürnt. »Der 
König, der niemals die Kapelle besuchte, sagte bloß, dat5 er nichts 
dabei verliere Ich finde dieses Detail atlfierofdentlich erheiternd und 
sop:ar wohltnend anzuhören. für ein Dcrvautaikes Völkchen war 
doch das, eine Art höherer Boheme! 



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dne ganz unglaubliche Oematshärte. David Strauß oder 
seine Oesinnungsgenossen mögen entscheiden, welche dieser 
beiden Charaktereigenschaften der anderen nachsteht 

Im Jahre 1750 beldagte sich Voltaire über Friedrichs 
- Charalcter in einem Schreiben an seine Nichte^ Madame 
Denis: »Ich sah einen rOhrenden pathetischen und sogar 
sehr christlichen Brief des Königs an Herrn Darget*) 
gelegentlich des Todes seiner Frau. Ich erfuhr, daß Seine 
Majestät am selben Tage ein Epigramm gegen die Ver- 
storbene gemacht hatte. Das gibt zu denken.« 

Und was bedeuten alle Verdrießlichkeiten, die Voltaire 
in Potsdam dem Könic; bereitete, was seine politischen In- 
triguen zu Gunsten Frankreichs, gegenüber jenen Streichen, 
die Friedrich gegen Voltaire ausführte! Streiche, die 
durchaus nicht harmlos waren, sondern für diesen grolie 
Gefahren heraufbeschwören konnten und in durchaus hinter- 
listiger Weise**) in bester Laune und voll Selbstbefriedigung 
unternommen wurden. 

Im Jahre 1743 hatte nämlich der König, als Voltaire 
sich weigerte, nach Beriin zu kommen, seinem Vertreter, dem 
Grafen Rothenbuig in Paris, den Auftrag gegeben, höhnische 
Auslassungen, die sich Voltaire in Briefen an den König 
über Boyer, den Bischof von Mirepoix, erlaubt hatten diesem 
sehr einflußreichen Manne selbst in die Hände zu 
spielen, um, wie Friedrich ganz offen bekannte, Voltaire 
>ln Frankreich so zu brouillieren, daß ihm nichts flbrig 
bleibe^ als nach Berlin zu kommen.« 

Und später machte es Friedrich wiederum so mit Briefen 
Voltaire s an ihn, in welchen dieser ihn nach seinen Siegen 
über Österreich (zugleich mit Ermahnungen, das blutige 

♦) Seinen Vorleser. 



**) Aber nicht in eigentlich böser Absicht, wie sie z. B. bei J. J. 
Rousseau 's Denunziatioii Voltairc's bd dem Oenfer M«gittnt vor- 
handen war. 



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— 158 — 



Kriegshandwerk aufzugeben und Frieden zu schließen) be- 
glückwünschte. Nun muß man bedenken, daß Frankreich 
mit Österreich damals alliiert war und gerade das benutzte 
Friedrich, um durcli eine Intrigue, nämlich einen 
Verrat an jenen freundschaftlichen Privatbriefen, • 
Voltaire in Frankreich unmöglich zu machen und auf diese 
Weise in Berlin festzuhalten. Ais dieser im Jahre 1 742 nach 
Paris kam, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß der Hof 
gegen ihn in hohem Mafie verstimmt war, und man kann 
sich seine Empfindung vorstellen, als er entdedde» daß man 
ihm eben jene Olückwflnsche an Friedrich so flbd ge- 
nommen hatte 

Und wiederum im Jahre 1760 sandte Friedrich vertmu- 
fiche Briefe Vollaire's nach England, um Fianicreich mit 
seinen Alliierten zu brouiUieren. »Lauter Ferfidien,« bemcrirt 
VoHaire hierzu, die einem großen König, namentlich in 
ICriegszeiten, erlaubt sind.« 

Strauß hat natüriich diese Tatsachen gekannt. Wie 
konnte nun Strauß behaupten, Friedrichs Charakter sei der 
höhere gegenüber jenem Voltaire's? 

Ich gab schon oben die Erklärung für diese auffallende 
Ungerechtigkeit des Urteils : Chauvinismus und Respekt vor 
dem Königtum. 

Wenn aber andere^ denen diese bdden Schwachen fremd 
änd, dennoch Friedrichs Charakter Aber denjenigen Vol* 
taire's stellen, so rflhrt das von einer andern, sehr veriirei- 
teten Art von Devotion her. Es ist nämlich eine alte Er* 
fihrung: Wem die größere physische^ d h. äußere^ Macht 
zu Gebote steht, der erscheint den Menschen in seinem 
Verhiltnis zu semer Umgebung, sei diese noch so bedeutend, 
immer als der kräftigere^ ruhigere, in sich »abgeschlosseneret 
Charakter. 

Nun war Friedrich II. selbst einem Voltaire gegenfil>er 
doch immer ein si^reicher, mächtiger Monarch, der Ehren 



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— 159 — 



und Reichtümer zu erteilen imstande war, aber auch, was 
noch viel ausschlaggebender ist, als Herrseher Wacht- 
stiihcngewalt über alle, also auch über seine 'Oenie's«, be- 
saß; und als Hohenzoller wäre er, ja war er, faktisch nicht 
schüchtern gewesen, sie gegen die Personen seiner Umgebung 
in Anwendung zu bringen. 

Hatte doch Friedrich gdcgentiich der Maupertuis-Affaire 
Voltaire Hausarrest gegeben und dnen Grenadier als Wache 
vor seine Zimmertfir gestellt; dann, um jenen zu höhnen, 
vor seinem Fenster das Buch (»Dr. Akalda«) vom Henlcer 
verbrennen lassen, während er säbsi sich neben Voltaire 
ans Fenster stellte, um dem Akte zuzusehen. 

Friedrich hatte, ganz kurz gesas^, den Sähe! an 
seiner Seite. Er konnte sich daher alles erlauben; selbst 
den grausamen Scherz, die Philosophen an seinem Hofe 
untereinander zu brouilUeren und sie, wie Voltaire an Madame 
Denis schrieb, durch eine Art Koketterie untereinander eifer- 
süchtig zu machen.*) Im ganzen Leben Voliaire's findet 
sich kein Zug von solcher Freude an derartigen Bosheiten. 

»Es belustigte ihn«, erzählt ein Bewunderer des 
preußischen Königs, nämlich Carlyle in seiner ^Geschichte 
Friedrichs des Großen«, »seine Gesellschaft mit der Peitsche 
aufzustacheln und sogar die Peitsche auf wunde Stellen 
fallen zu lassen.« 

Während Friedrich Voltaire immerwährend in tlber- 
schwäiiglicher Weise lobte^ forderte er den soeben bei ihm 
eingetroffenen jungen Dtchteriing d'Amaud, der Voltaire's 
Schfltzling war, zum Wetteifer auf mit »Frankreichs Apollo«, 
dessen »Tag schon neigt«, und begrtlßte ihn als »aufgehende 
Sonne«. Er wußte wohl, daß d'Amaut diese Begrüßung 
nicht verschweigen werde und selbstverständlich hatte 



*) Auch Oraff IV Argenthal schrieb an Voltaire: »Der Köniff ist 

eine Kokette, die, um mehrere Liebhaber fcstnihaltcn, keinen glficnicb 
macht« (Koser in »König Friedrich der Große«) (S. 520). 



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— 160 — 



Friedrich auch das Verständnis dafür, daß derlei Doppel- 
züngigkeit jeden halbwegs empfindlichen Schritt teller nicht 
wenig kränken müsse. 

Mit Recht verwahrte sich daher Voltaire, dem diese 
Herausforderung sehr bald zur Kenntnis kam, sehr lebhaft 
bei Friedrich dagegen, ^mit der einen Hand gestreichelt und 
mit der andern gekratzt zu werden.« — 

Wie wir sehen, kam beim preußischen König zu dem 
>SAbel« auch noch eine seltene Hlrte^ ja Liebkisigkeit hinzu. 
Von dieser Härte» Lieblosigkeii, ja moralischen Grausamkeit 
hat man heute Im allgemeinen keine Vorstellung; denn man 
interessiert sich fflr solche Details nicht mehr, da sie von 
keiner historischen Tragweite waren, und fibeidies die Per- 
sönlichkeit Friedrichs durch die Erscheinung Napoleons so 
ziemlich ausgelöscht wurde. Während über Napoleon noch 
immer neue Werice oder Aufsätze erscheinen, die sich mit 
seinem Privatleben beschäftigen, ist die Literatur Aber die 
Details in Friedrichs Leben verstummt Und Diejenigen, 
die sich heute noch mit solcher Literatur beschäftigen, 
nämlich die preußischen Historiker, die zumeist Hofhistoriker 
sind, verschweigen die häßlichen Einzelheiten. 

Hier jedoch, wo es sich um eine unrichtige Darstellung 
und unpferechte Parteinalune seitens Strauß (und anderer 
nicht ausdrücidich üenannter) handelt, mutite über hriedrichs 
Cliarakter immerhin einiges gesagt werden, um den Leser 
aufzuklären. 

Also sei vorerst bemerkt, daß unter jener Härte Friedrichs 
weniger jene gemeint ist, die sich auf sein strammes Re- 
giment als Absolutist bezieht, obwohl auch da manches zu 
sagen wäre; hat sich doch schon Irsing in dieser Be- 
ziehung bddagt 

Es gibt ja eine unzählige Menge kleinerer und größerer 
Maßregeln und Vofgänge, die Friedrich immer mehr bei 
seinen eigenen Untertanen gefürchtet und veriiaßt machten, 



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— 161 — 



und wie bekannt, atmete man freudig aut, als es hieß, er 
sei gestorben. Aber es herrscht bei fast allen deutsch- oder 
preußisch -patriotischen Schriftstellern die irrtümliche Mei- 
nung — und sie vertreten sie mit viel Pathos und Wärme 
— daß diese Härten sehr nutzlich, ja notwendig gewesen 
wären; man verdanke ihnen die moralische Erziehung der 
Preußen und f^mz besonders ihre militärische Tüchtiskeit. 

Dennocfi gah es sehr viele Nationen, bei denen die Härten 
in der Zivil-Administration und in der militärischen Erziehung 
im Verhältnis zum Preußen des 18. Jahrhunderts ganz gering- 
fügige waren, und es ging doch! Das Rom der Republik 
wie des Kaiserreichs hatte eine unübertroffene Administration, 
ein unübertroffenes Heer, das Frankreich's unter Napoleon 
desgleichen; von allen Brutalitäten, die unter Friedrich 
Wilhelm L und Friedrich dem Großen an der Tagesordnung 
waren, war aber in jenen Staaten und auch in vielen anderen 
wohleingerichteten Staaten des Altertums wie der Neuzeit 
keine Spur vorhanden. AAan gestehe es nur ein, und es ist 
sehr nQtzlich, es einzugestehen: Alle jene Roheiten waren 
ganz fiberflflssig, und man verwechsle auch nicht TQchtig- 
kdt mit Roheit; es ist das Eine vom Andern ganz un* 
abhai^lg. 

Wir wollen aber nunmehr von jenen Härten sprechen, 
die sich besonders im I^vatverkehr Friedrichs manif^tierten. 
Friedrichs Verhalten im Privatveikehr! Selbst Männern 
gegenüber, die er hoch achtete und denen er vertraut^ z. B. 
dem kiänklichen und zartfühlenden Marquis d'Afgens, hörte 
er nicht au^ zu äigem und zu sticheln, d' Aigens hält es 
nicht länger aus und erbittert, forderte er seine Entlassung. »Als 
der Marquis«, berichtet Gustav Freytag in dem oben zitierten 
Werke, in dem letzten Brief, den er vor seinem Tod dem 
König schrieb, noch einmal nicht ohne Bitterkeif vorhält, 
wie höhnend und schlecht er einen uneigennützigen Ver- 
ehrer behandelt, da las der König schweigend den Brief. 
Aber an die Witwe des Toten schrieb er betrübt von seiner 

Popper, Voiuiie. 11 



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Freundschaft für den Gatten und ließ ihm In fremdem Land 
ein kostbares Denkmal errichten. 

So wenig auch dieser Brief an die Witwe und dieses 
kostbare Denkmal alles frühere ungeschehen machen konnte^ 
so sieht man doch, welch ein böser Dämon es war, der 
Friedrichs bessere Natur verdarb: der Absolutist aus 
nordischem Stamme. Bei keinem Tyrannen der Renaissance 
in Italien begegnen wir überflüssigen, nutzlosen Brutalitäten. 

So auch — und dieses Detail gibt ein ausgezeichnetes 
Bild eines malitidsen Naturells — wenn Friedrich seinen 
Kammeiherm, den Baron Pöllnitz» der eine schlimme Ver- 
gangenheit hinter sich und u. a. bereits dreimal die Re- 
ligion gewechselt hatten oft in der Weise anzapfte, dafi er 
ihn frug, ob er nicht gern seine Religion zum vierten 
JMale wechsein wolle? »Eh! Mein Ootts sprach erPdIInitz 
ein anderes Mal an, »ich habe ganz vei^gessen, wie heißt 
doch der Mann im Haag, den Sie l>estohlen haben? Dem 
Sie falsches Geld für gutes verkauft haben? Ich bitte Sie, 
helfen Sie doch meinem Oedächtnisse etwas nach!< *) Einen 
solchen Mann hielt er in seinen Diensten, quälte ihn aber 
unaufhörlich. 

Nun ist man stets sehr geneigt, einen herben, gelegent- 
lich boshaften oder rücksichtslosen Charakter, gegenüber 
einem gutmütigen Naturell als den »männlichem , ernsteren 
zu betrachten; und vermöge einer eigentümlichen Schwäche 
der Urteilskraft, die einen beinahe masochistischen Charakter 
besitzt, empfindet man vor dem harten Menschen mehr 
Respekt, als vor dem sanfteren^ beweglicheren und heiteren. 

Nicht nur der halb unzurechnungsfähige Tasso gegen- 
über Antonio, auch ein Racine und die anderen großen 
Geister am Hofe Ludwig XIV. erscheinen neben diesem 
ais die kleineren Charaktere; wfihrend sie doch nur in ihrer 



*) So berichtet es Voltaire in seinen Memoiies; es ist schwer n 
glauben, er habe das erfunden. 



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- 163 — 



besonderen Position einem König gegenüber naturgemäß 
unendlich abhängiger von diesem sind, als der König von 
ihnen, und daher auch nicht jene Ruhe des Geistes be- 
sitzen können wie er, der in voilständifj gedeckter Stellung 
^viereckig auf der Basis« ruht; jene Ruhe nämlicii, die irrtümh'ch 
wie Würde des Charakters angesehen wird, die jedoch nichts 
als eine äusserliche Grandezza des Machtgefühls ist und 
nichts anderes besagl als: Wir können jedem geben oder 
wegnehmen was uns beliebt, aber niemand anderer kann 
uns irgend etwas geben oder nehmen. — 

Voltaire sah das alles mit voller Klarheit ein, daher er 
mit Recht in einem Schreiben an seine Nichte ausrief: 
»ich kann doch nicht, wie er, 150000 siegreiche Soldaten 
aufmarschieren lassen!« Wie er ja auch den Charakter 
Friedrich's überhaupt besser durchschaute, als irgend jemand, 
und frühzeitig schon von ihm sagten er habe den »Anh- 
macchiavelli« bk>6 dazu geschrieben, um den anderen in 
die Suppe zu spucken. 

Und in unveigieichlich treffender, gdstretcher und am 
Schlüsse humorvoller und allem überlegener Weise schildert 
er den Charakter des preußischen Königs in den Versen, 
die ich hier folgen lasse und die er an — des Königs 
Schwester, die Maiicgrafhi von Bayreuth, sandte: 

»Assemblage ^clatant de qualitds contraires 
tcrasant m mortels, et les nommant ses hires, 
Misanthrope et farouche avec un air humidn, 
Souvent imp^tueux, et quelquefots trop fin, 
Modeste avec orgueil, col^re avec fait^esse^ 
Petri de passions, et cherchant la sagesse^ 
Üangereux politique et dangereux auteur, 
Mon patron, nion disdple et mon persecuteur.« 

Alles das nun, was ich bisher Aber Friedrich mit- 
geteilt war natflriich wiederum SfmuB sehr genau bekannt; 
jedoch in seinem beinahe mystischen Respekt vor dem 
Königtum — welchen Respekt er ausdrOckttch in seinem 

11» 



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— 164 — 



Werke der »Alte und neue Glaube bekannte — ließ er 
sich von der Souverainetät Friedrichs blenden und konnte 
daiier dessen wahres Verhältnis zu Voltaire nicht unbefangen 
beurteiien. 

B^ibt man sich einmal in ein solches Abhängigkeits- 
verhältnis, so geraten die Dinge fast immer so wie bei 
Voltaire am Potsdamer Hofe. Besser wäre es daher, man 
ginge ein solches Verhältnis gar nicht ein, wie es z. B. 
J. J. Rousseau tat. Voltaire verhielt sich hier anders. » Mein 
Schicksal ist es, von König zu König zu laufen,« sagt er 
selbst, »obwohl ich die Freiheit abgöttisch liebe.« 

Nach dieser Bemerkung Voltaire*s und dem äußeren 
Anschein nach konnte man leicht zu der irrtümlichen 
Ansicht kommen, Voltaire sei ein Höfling gewesen; und 
wenn das wirklich so wäre, würde allerdings in uns eine 
berechtigte Antipathie g^gen diese Seite seines Wesens 
entstehen. 

Aber nichts ist unrichtiger, als sich Voltaire 
als servil vorzustellen. Damals war eine gebildete, für 
äußere Schicklichkeit wohlerzx^;ene und einflußreiche Ge- 
sellschaft nur an den Hdfen, in der Aristokratie^ bei all 
den Marquisen, Prinzen und Prinzessinnen zu finden, die uns 
heute allerdings so wesenlos, so veraltet vorkommt, weil die 
französische Revolution sowie die ganzen neueren und neuesten 
sozialen Bewingen wie auch die Literatur der neueren 
Zeit sie so sehr in den Hintergrund gedrängt, und zugleich 
Bildung^ Oesithing und auch Einfluss in unendlich breitere 
Volksschichten getragen haben. Voltaire, der eine Fdn- 
schmeckematur und zugleich vom Drang zu wiricen erfüllt 
war, suchte also jene Oesdlschaftssdiichten sehr gerne aui 

Daß er in der Tat ohne diesen Verkehr seine großen 



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— 165 — 

— nicht nur seine persönlichen — Zide nicht erreicht hätten 
wird wohl niemand leugnen. 

Aber weder seine äußere Haltung, noch seine Oesinnung 
zeigten eine Spur von Servilismus oder Unterwürfigkeit. 

Eckermann bemerkte (im Jahre 1828) zu Goethe, man 
sehe in Voltaire's kleinen Gedichten, die an Personen ge- 
richtet sind, seine -Verhältnisse zu allen Großen und 
Mächtigen der Erde und bemerkt mit Freuden, weiche 
vornehme Figur Voltaire selber dabei spielt, indem er sich 
den Höchsten gleichzuempfinden scheint, und man ihm nie 
anmerkt, daß irgend eine Majestät seinen freien Oeist nur 
einen Augenblick hat genieren können.c 

»Ja«, sagte Qöethe darauf, »vomelim war er. Und bei 
all seiner Freiheit und Verwegenheit hat er sich immer in 
den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt^ wetehes 
fast noch mehr sagen will.« 

»Er ist achtungsvoll, sagt auch Taine in dieser Be- 
ziehung von Voltaire, ohne sich zu erniedrigen, er schmeichelt, 
ohne fade zu werden.« Und Wagniere, der vierundzwanzig 
Jahre bei ihm war und dem nicht das kleinste Detail seiner 
Handlungen und seines Benehmens entgehen konnte, ver- 
sichert ausdrücklich, Voltaire habe niemals in niedriger Weise 
liegend jemandem den Hof gemaciU. 

Mitunter liest man, Voltaire habe es sehr gekränkt, daß 
Kaiser Joseph II. ihn nicht besuchte, als er durch das Terri- 
torium von Femey gereist war. Aber die Wahrheit ist, daß, 
als Friedrich der Große Voltaire ankündigte, Joseph werde 
ihn demnächst besuchen, Voltaire ihm erwiderte, er sei dessen 
sicher, daß der Kaiser nicht kommen werde; ebenso schrieb 
er seinen Pariser Freunden, die ihm schon im Vorhinein zu 
der Ehre eines solchen Besuches gratulierten, der Kaiser 
werde niemals zu ihm kommen. Und als endlich Joseph 
wiridich an Femey vorbeifuhr, ohne Voltaire zu besuchen, 
sagte dieser lachend zu den Leuten, die sich versammelt 



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— 166 — 

hatten» um die Zusanmienkuirft des Kaisers mit Voltaire mit 
anzuseilen; »Habe ich es euch nicht vorhergesagt?«*) 

El)enso unrichtig ist die so oft wiederholte AngabCi 
Voltaire sei untröstlich darüber gewesen, wlhrend seines 
letzten Pariser Aufenthaltes Im Jahre 1778 nicht vom Könige 
empfangen wofden zu sein. Es wSre wohl nicht zu ver- 
wundem und durchaus kein AnUiß, darin auch nur den 
geringsten Servilismus zu sehen, wenn ein so gefeierter, 
alter Schriftsteller, der sich der humansten Bestrebungen zeit 
seines Lebens rühmen konnte, sich darüber kränkt, sich von 
der angesehensten Person im Staate zurückgesetzt zu sehen. 

Aber Wagnicre berichtet, daß Voltaire auch über diese 
Mißachtung durchaus nicht bestürzt war; man urteilt 
immer über ihn,« sagte er, »als ob er ein junger Höf- 
ling gewesen wäre, und als ob seine Existenz, sein Ver- 
mögen und das ganze GKick seines Lebens nur von dem 
Blick des Mrjnarchen ab^Jehanc^en hätte.«**) 

Man wird vielleicht an seine endlosen Schmeicheleien 
in seinen Briefen an Potentaten mit Unwillen denken? Nun, 
diese Schmeicheleien waren fast immer von einer solchen 
Beschaffenheit, sie hatten im Ganzen eine solche Tonart, 
daß diejenigen, an die sie gerichtet waren, sie durchaus 
nicht als Ausfluß von Untertänigkeit oder Servilismus, nicht 
einmal von Loyalität, ansehen konnten; ja mitunter wurden 
Voltaire's Schmeicheleien mit mehr Schmerz und Widerwillen 
empfangen, als es Stillschweigen oder selbst Grobheiten 
eines rauhen« Demokraten oder Republikaners hätten be- 
wirken können. 



*) Als Wabere im Jahre 1779 mit Friedrich über diese Sache 
vjpndtj belufUffte tfeh der König nldit wenig über sie und sagte, ohne 
sich näher ru erklären, mit einer hunioristisctien Betonung: >l'empeureux! 
rempeureuxl« Und es stehtietzt fest, daß es die fromme Maria-Theresia 
war, die ihrem Sohne den Biesuch Voltaire's untersagte 

** Worüber jedoch Voltaire wirldfch beunruhig war, das waren 
die damaligen wütenden Agitationen der Geistlichen und besonders die 
Predigten des Ex-Jesuiten de Beaure^^ard vor dem ICönige in der Kapelle 
zu Versailles gtgen den »Zentörer der Religkm und der Sitten.« 



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— 167 — 

Bei Ludwig XV. fiel Voltaire geradezu in Ungnade 
wegen der doch so schmeichettiaft aussehenden Anrede^ 
die nach einer ErsfauffOhning bei Hofe Voltaire als Autor 
des FeststOckes an den König richtete^ als dieser in Be- 
gleitung seines Hofes durch den Korridor des königlichen 
Schkisses einher schritt »Ist Trajan zufrieden?« sprach 
Voltaire den König direkt, sozusagen ins Gesicht, an, und 
dieser — trotz des sehr schmeichelhaften Vergleichs — 
fOhHe den vollen Mangel an höfischem Respekt ganz gut 
heraus, antwortete nicht und wandte steh indigniert ab. 

Auch Friedrich der Große wußte aus hundert Erfah- 
rungen, daß die unzahligen »Salomon des Nordens« u. dergl. 
alles, nur nicht die respektvollen Gesinnungen eines Höf- 
lings verrieten. Wohl nicht anders Katharina II., die in 
Voltaire's Briefen immer als *Semiraniis des Nordens« an- 
gesprochen wurde. 

Das ganze Verhalten Voltaires speziell Friedrich gegen- 
über zeigt in voller Deutlichkeit, wie frei jener von Respekt 
vor der Stellung eines Königs als solchen gewesen, und 
daß das Leben an einem Hofe für ihn absolut ohne den 
mystischen Schein und ohne jene erniedrigende Anziehungs- 
kraft war, denen die meisten und selbst bedeutendsten Geister 
bis auf den heutigen Tag unterworfen erscliienen. Anfangs 
folgte ja Voltaire gar nicht der Einladung nach Potsdam 
und schrieb Friedrich, er *ziehe die Freundschaft {zu der 
Marquise du Chätelet) dem Ehrgeiz vor.« Erst nach dem 
Tode der Marquise, seiner Geliebten, entschloß er sich, 
Friedrichs mederholter Einladung zu folgen. Man wird 
wohl unter unsern Schriftstellern kaum einen finden, 
der sich so lange bitten läßt, noch dazu unter so 
glänzenden Bedingungen, der Einladung eines Königs Folge 
2U leisten. Was Voltaire l)ewog, dies zu tun, schildert er 
präzise in seinen Memoires: »Ich gtoubte^ daß ich ihn Hebte 
. . . Ich fühlte mich ihm anhänglich, denn er hatte Oeist und 
Grazie; und was mehr ist, er war Könige was immer sehr 



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168 — 



verführt, in Anbetracht der menschlichen Schwach- 
heit,« wie Voltaire mit Selbstironie hinzufügt »Gewöhnlich 
sind es wir Schriftsteller, die den Königen schmdcheln, 
dieser da lobte mich von den Fttfien bis zum Kopfe.« Und 
wie trat Voltaire seine Reise nach Potsdam an? Mit den 
Worten: »Ich werde ihn (Friedrich) lehren, sich auf die Leute 
zu verstehen,« da er gehört hatte, Friedrich beabsichtige^ 
ihn mit einem Konkurrenten, nämlich dem jungen Dichter 
d'Amaud, zu necken. Sieht — nach alledem — ein Höfling 
so aus? 

Und an Friedrichs Hofe selbst benahm sich Voltaire 
so frei und ungezwungen, wie nur möglich. Ich hatle 
keinen Hof zu machen,« berichtet er selbst, ^keinen Besuch 
zu erwidern, keine Pflicht zu erfüllen, ich hatte ein freies 
Lehen und arbeitete nur zwei Stunden täglich mit dem 
König. Und als er Potsdam verließ, und sich endlich auf 
sein eigenes Heim als reicher Mann an den Genfer See zu- 
rückzog, hatte er sein Ziel erreicht: »Nachdem ich bisher 
bei Königen gelebt habe, machte ich mich zum König bei 
mir selbst ' Wie wenig aber nachher Voltaire als Höfling 
dachte, wie wenig Sehnsucht nach dem Hofleben er hatte, 
sieht man leicht, wenn man seine Biographie nur etwas 
genauer kennen lernt, und der Ton, in dem er von Priedrich 
spricht, zeic^ sogar das Gefühl seiner Superion tät Ich 
spreche Ihnen selten von Luc,«*) schreibt er im Jahre 1762 
an d'Alembert, »weil ich nicht an ihn denke. Dennoch, 
wenn er fähig wäre, ruhig und als Philosoph zu leben und 
zu dem Zwecke ä ^laser Tintäme auch nur den hundertsten 
Teil von dem daran zu setzen, was es Ihn gekostet hatten 



hieB eigentlich der große Affe, den Voltaire in Delices hatte, und der 
mHutiter seinen Herrn oder dessen Oftite zu beißen liebte. Voltaire 
nannte nun den König von PreuRen in setner Konversation oder in 
seinen Briefen »Lucs wie er sagte, »weil Friedrich es so macht wie 
mein Affe, der beißt, obwohl man Ihn liebkost« 




pflegte. Luc 



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um die Menschen zu erwflisen, so könnte ich — ich fflhie 
es — ihm doch noch verzeihen.« 

Man wild nach dem hier Angeführten nun wohl er- 
kennen, daß alle Schmeichdeien Voltaires nur fagon de parier 
eines feinen Mannes in vornehmer Oesellschaft und so 
wenig ernst- zu nehmen waren und auch genommen wurden, 
wie die alltäglichen Höflichkeitsphiasen in den bQigerlichen 
Kreisen. Und gerade das Leere^ der Mangel an Innigkeit 
in seinen Komplimenten schtttzt das Bild, das wir uns von 
Voltaire machen wollen, vor allem Verdacht des Kleinlichen 
und Emiedrigendefl. Sehr t)ezek:hnend nannte man daher 
die Art seines Verkehrs mit den AUchtigen seiner Zeit: 
»tödliche Familiaritäten.« 

Ein wirklicher Höfling aber war Goethe. Dieser 
Riese hätte es durchaus nicht nötig gehabt, sich von einem 
Fürsten abhängig zu machen und er tat es dennoch; und 
seine ganze HaUung am Weimarer Hofe, wie seine vielen 
Festgedielite, Briefe und sein Verkehr mit den hochgestellten 
Kreisen, zeigen, daß er wirkiiciien ungegründeten Respekt, 
Devotion, ja Ehrfurcht vor Kaisern, Königen, deren Frauen, 
Prinzen, sogar vor mächtigen Ministern besaß. Es ist 
nahezu unglaublicfi, welchen mystischen Respekt er vor 
der Wurde eines Monarchen hatte, er war wie geblendet, 
wenn er einem König g^egenüber trat. Ein so relativ un- 
bedeutender Mensch z B Köniü: Ludwig I. von Bayern 
war, Goethe verlor doch ihm gegenüber naliezu sein geistiges 
Oleichgewicht. Kurze Zeit nach seiner Begegnung mit 
Ludwig (im Jahre 1827) sagt er zum Kanzler Müller, es 
sei »nichts Kleines, einen so großen Eindruck, wie die Er- 
scheinung des Königs, zu verarbeiten. Es koste Mühe, 
dabei aufrecht zu bleiben, den Eindrudc innerlich auszu- 
gleichen und nicht zu schwindeln.« 

Coethe partizipiert hier allerdings an der allgemeinen 
Eigenschaft der Deutschen, servil zu sein, und diese Stamm« 
gemeinschaft könnte dem Individuum Ooethe einig^maBen 



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— 170 — 

zugute gehalten werden; allein was war das für ein Indi- 
viduum! Er, der in so vielem hocii über allen stand, und 
skh liier so schwach zeigtet Oerade die Ehrlichkeit 
seiner devoten Äußerungen muB uns, die wir der- 
gleichen perhorreszieren, verletzen, und tiUbt auch sein Bild fQr 
die Nachwelt; während uns die unter buter Hof phrasen deutlich 
durchscheinende »Frechheit« VoHaire's, das Ändieseitestdlen 
neben die sogenannten Orofien, weder frivol noch devot er- 
scheint, sondern auf vernünftige Menschen den erfrischendsten 
und erhehemdsten Eindruck macht 

Und was kommt bei der Vasallenanhänglichkeit, l>ei der 
treuen Devotion heraus? Man weiß, wie sehr mitunter Ooethe 
von Kari August gekränkt wurde, und welch unermeßlicher 
Abstand war doch zwischen dem Großherzog von Weimar 
und einem Goethe! 

»Er hat mich nie verstanden!« zu diesem wehmütigen 
Ausruf wurde ein geistiger Koloß ^ebraelit, der Hofliift ein- 
atmen wollte; und hier sieht man, wie mitunter, ja gar nicht 
selten, >deutsche Treue« sehr hart an Knechtssinn grenzen 
kann. Fühlt man sich bei Betrachtutig dieser gekränkten 
Stimmung Ooethe's nicht förmlich wie gerächt und auf- 
gerichtet, wenn man an Voltaire's Behandlung des preußischen 
Königs, ja selbst an seine losen Streiche in Potsdam denkt? 

Ooethe muliie seinem verwundeten Herzen mit den 
Worten Luft machen: Er hat mich nie verstanden. Voltaire aber 
behandelt sein Verhältnis zum preußischen König in etwas 
weniger sentimentaler Weise. Der Kronprinz »verwendete 
seine Muße , berichtet Voltaire in seinen Memoiren, ^um an 
französische Schriftsteller zu schreiben, die in der Welt 
einigermaßen bekannt waren. Die Hauptlast fiel auf mich. 
Es waren Briefe in Versen, Traktate über Metaphysik, Ge- 
schichte, Politik. Er behandelte mich wie einen göttlichen 
Menschen: ich behandelte ihn als einen »Salomon«. Die 
Epitheta kosteten nichts. Man hat einige dieser Fadaisen 
in die Sammlung meiner Werlce aufgenommen und giOddicher* 



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171 



weise hat man nicht den dreißigsten Tdl von ihnen ab- 
gedruckt« 

Es ist unbedingt viel erfreulicher anzusehen, wie sich 
diese bMen Großen miteinander herumgebalgt haben, als 
das mit aller Wfirde gehandhabte Verhiltnis Ooethe's zum 
Oroßherzog und zu andern FOrstKchkeiten zu betiachten. 
Voltaire und Friedrich waren doch in jedem Momente 
zwei Individuen, jeder fest auf seine FtlBe gestellt, und 
niemals war zu bemerken, daß der König den Schriftsteller 
als ein Wesen unter sich ansah; und wiederum fiel es 
Voltaire nidmalt; ein, sich als ein sozial untergeordneles 
Wesen dem König gegenüber zu betrachten. 

Man braucht übrigens nur in der »Pucelle« die Stellen 
zu lesen, in denen von Karl VII. die Rede ist, so wird man 
ebenfalls sofort einsehen, daß Voltaire mehr für die Zer- 
störung des Nimbus von Königen, seien es solche mit oder 
ohne Gottes Gnaden, geleistet hat, als der cholerischeste 
Republikaner. 

Denn solche katonische Republikaner, z, B. von der Sorte 
Rousseau's, hassen die Monarchen, bewähren aber nicht 
jene Oeringschätzung wie ein Mann, der wie Voltaire die 
Fürsten (als bloße Fürsten) gar nicht genug ernst nahm, um 
sie zu hassen und nicht einen Augenblick ein > Pathos der 
Distanz anerkannte. 

Wir begreifen nun auch, wie es Vielen ein Labsal sein 
kann, auch in dieser Beziehung ein Naturell wie das Vol- 
taire's zu beobachten. »Frech«, »verwegen« wird es genannt, 
ist es aber im Grunde nicht; es verhütet aber Frechheit, 
nämlich jene der sogenannten »Großen . Diese Voltaire'sche 
»Frechheit- ist daher ein Glück und eine Schutzwehr; von 
jener Sentimentalität des treuen Dieners, der von seinem 
»Herrn« gekrSnkt wird, und doch »wie Goethe seinem 
gnädigen Herrn immer aufwartete» wie und wo er konnte«, 
ist nicht die geringste Spur vorhanden. Und mit einem un- 
beschreiblichen Vergntigen betrachte ich daher an der Bflste 



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— 172 — 

Vol1alre*$ die vom Orafen Josef de Maistie so verabscheute 
»unverschämtec Stime^ die mir Trost gewährt für die un- 
endlich vielen gesenkten und devoten Stirnen, die unsere 
menschliche Würde so oft verrieten und — namentlich ba 
den Deutschen — noch heute verraten. 

• 

Je besser man Friedrichs Wesen kennen lernt, 

desto mehr kommt man zu der Oberzeugung, daß 
ohne Voltaire und die französischen Literaten 
Friedrich der Groß e überliavipt in der europäischen 
Kulturgeschichte ohne Bedeutung geblieben wäre. 

Mit all seinem Talent und seinem energischen und 
pflichtgetreuen Charakter wäre er nie etwas anderes als ein 
ausgezeichneter preußischer Landesfürst geworden, wie es 
so mancher andere Hohenzoller in größerem oder geringerem 
Grade auch; und die europäische Kulturwelt hätte sich um 
Friedrich nicht mehr o;ekümmert als z. B. um seinen eben- 
falls genialen und energischen Vorfahren, den grolien Kur- 
fürsten. Daß er als der einzige dieser Dynastie in der 
Geistes- und Sittengeschichte Europa's eine Rolle spielte, 
verdankt er eben Voltaire, d'Alembert und den andern außer- 
deutschen Geistern, die seinem natürlichen und anerzogenen 
engen und harten Charaicter höhere Ziele und Gesittungen 
zeigten und einimpften; ganz geeignet, ihn, bei seinen an- 
geborenen Fähigkeiten und seiner Position als König, zu 
einem mächtigen Werkzeug des Fortschritts zu machen. — 

Damit ein pralctischer Staatsmann zugleich eine Kultur- 
bedeutung erlangt, genügt es eben bei der heutigen Mannig- 
faltigkeit zivilisierter Staaten — im Gegensatz zu den alten 
Griechen oder Römern, die im Ocddent ohne wesentlich 
konkurrierende andere Staaten allein die Zivilisation ver- 
traten — durchaus nicht, nur seinem eigenen Lande nfitzlich 
zu sein, es wäre denn, er stände in Ffihlung mit Ideen und 



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— 173 — 



Bestrebungen, die sich nicht nur auf dieses Land beziehen, 
sondern in theoretischer Form, als Diskussionsthema, die 
Menschheit überliaupt bewegen. 

Ein praktischer Staatsmann hat seine Bedeutung als 
Kult Lirgröße auch in dem Falle verwirkt, — er möge diesen 
Ausspruch verlachen oder mit welchen Augen immer betrachten 
— wenn er in seinem Staate nur solche Reformen ein- 
führt, die ihm durch augenblickliche sehr machtige politische 
Faktoren: Parteien, Koterieen, Kasten und dergl. aufgedrängt 
werden. Wer einem solchen von auIJen kommenden Ge- 
dränge nicht um ein Beträchtliches in der Zeit voraus ist, 
bedeutet nicht im Mindesten mehr, als ein Werkzeug, als 
ein exekutierendes Organ politischer Atächte. Wir sehen 
daher, daß alle jene Manner, die wir als Kultiargröfien 
ansehen, selbst wenn sie auch zunächst und etwa auch aus- 
schließlich für ihr eigenes Land wirkten, dennoch in ge- 
wissem Sinne Kosmopoliten waren; d h. sie kflmmerten 
sich nicht nur aus patriotischen Motiven, sondern auch aus 
allgemeinein» gewissermaßen theoretischen, Interesse um die 
fluBeren, aber ebenso intensiv um die inneren geistigen 
Vorgänge in den anderen Staaten. 

Und so sonderbar das auch klingen mag — weil die 
praktische Tätigkeit des Staatsmannes und gar des Soldaten, 
mit ihrer massenhaften physischen Wucht, so sehr den Ein- 
druck des einzig Realen gegenfiber den WMcungen der 
Ideen hervorruft — so ist es doch wahr, daß ein ganz un- 
scheinbares Buch, ja ein kurzes Pamphlet, um so mehr eine 
politische, soziale, religiöse Literatur, von nachhaltigerer 
Wirkung als manche große Staatsaktion und als gewaltige 
Kriege sein kann. Es erinnert das an die seinerzeit so über- 
raschende Behauptung Faradays, daß in der stillen Zer- 
setzung eines Kubikzentimeters Wasser durch ehien ganz 
unsichtbaren und unhörbaren galvanischen Strom mehr 
elektrische Arbeit geleistet werde, als durch die Blitzentladung 
einer Gewitterwolke. 



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— 174 — 



Diese Behauptung ist wohl nicht neu, allein im Zu- 
sammenhange der Digression über Staatsmann und Kultur- 
größe mußte sie wiederum vorgebracht werden. 

Friedrich der Große war ein Riese an Talent und 
Energie, Voltaire desgleichen; aber Voltaire's oder Rousseau's 
»rederclien-^ *) leistete unvergleichlich mehr und machte viel 
größeren und bleibenderen Eindruck als der Säbel des K<)nigs 
von Preußen. Mit Recht spricht man von einem Jahrhundert 
Voltaire s, aber Niemandem fällt es ein, von einem Jahrhundert 
Friedrich des ürolJen zu sprechen; denn dieser hatte gar 
keine Ideen selbständig zu Tage gebracht, sie nicht mit Kraft 
geisti^^ propagiert, sondern nur solche Ideen von anderen, 
den Philosophen, entlehnt und zum Teile — darin ]ie*j^ 
eben seine Kulturbedeutung -- als praktischer Staatsmann 
in seinem Lande durchgeführt. Aber Friedrich beherrschte 
oder beherrscht nicht das Denken eines einzigen Kopfes; 
Voltaire tat oder tut das noch heute bei unzähligen Köpfen. 

Allerdings gab es auch einige praldische Staatsmänner, 
die zugleich KultuigrOßen waren und noch fiberdies die 
Ideen aus sich selbst nahmen. So ist Alexander der Oro6e 
ein Kulturmensch allerhöchsten Ranges, da er, sogar ent- 
gegen den bedeutendsten griechischen Philosophen, den 
Orient mit dem Ocddent polltisch und kulturell zu ver- 
mählen suchte. Diese Idee stammte von ihm, und er selbst 
war es, der sie auch durchführte; in der zweifachen Größe 
dieses Unternehmens ist er bislier unerreicht Man wird 
auch Julius Cäsar eine politische KulhirgröBe nennen, des- 
gleichen den mongolischen Kaiser Chinas: Kublai-Chan, 
ebenso Kanghi, den chinesischen Kaiser aus der Mandschu- 
dynastie im 18. Jahrhundert, desgleichen Karl den Großen, 
Peter den Großen, Friedrich den Grolien, Josef II., Turgot, 
in gewissem Maße Napoleon, den Freiherrn von Stein; in 
unseren Tagen: Cavour, den g^enwärtigen Mikado Mutsu- 

*) Ein Ueblingsausdruck des Cervantes. 



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- 175 — 

hito, und Marquis Ito, seinen ehemaligen Minister» den Re- 
formator Japans. 

Was Friedrich den Großen betrifft, so braucht man, 

um den Unterschied zwischen einem Kulturmenschen und 
einem gewöhnlichen, wenn auch tüchtigen Landesvater« 
oder bloß patriotischen Staatsmann drastisch zu erlcennen, 
nur jenen mit seinem Vater, Friedrich Wilhelm I., zu ver- 
gleichen, welch letzterer ein gar nicht unbedeutender Re- 
gent war, ja als Verwaitungstalent für höherstehend als sein 
Sohn gilt. 

Aber Friedrich II., der einen französischen Hofmeister 
hatte und sich schon früfizeitig mit den philosophischen 
und humanen Ideen der englischen und französischen Frei- 
denker erfüllte, wurde hierdurch von Anfang an weit Ober 
das preußische Niveau erhoben; in ein ungleich liöheres, 
als sein unwissender und brutaler Vater oder irgend ein 
anderer Regent Europas einnahm. 

Schon mit Reformideen und großen politischen Emp- 
findungen, sowie Interesse für Kunst und Wissenschaft 
erfüllt, loun er auf den Thron; und sofort nach der Thron- 
besteigung ging er auch schon an die Abschaffung der 
Folter in peinlichen Prozessen. 

Dies sowohl, als die Promulgierung vollständiger 
religiöser Toleranz, die Gründung der Berliner Akademie der 
Wissenschaften, die Milderung der Leibeigenschaft und 
anderes, was er entweder durchfOhrte oder wegen des Wider- 
standes der Junker bloß anstreben konnte^ geschah durchaus 
nicht darum, weil etwa das preußische Volk oder auch nur 
eine Partei oder Kaste es begehrt^ oder weil Obelstände 
im Staatsleben auf EinfOhruiig solcher Refönnen hinlenkten. 
Nein, es waren rein positive Fortschritte^ aus Ideen heraus- 
geboren, Frflchte seiner frOhen geistigen BeschifHguiig und 
seines Umgangs mit den Phitosophen Englands und 
namentlich Frankreichs. Und in dieser Beziehung das Aller- 
merkwQrdigste Ist wohl das, daß — wie ich in Kosers 



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— 176 — 



Werk finde — Friedrich einen pädagogischen Katechis- 
mus: Dia!og;ue de morale ä Tusage de la jeunesse noblesse* 
ausarbeitete, in welchem eine Anweisung zu einem religions- 
freien Moralunterricht gegeben wird, und die Kinder 
gelehrt wurden, daß, um glücklich zu werden, die Tugend 
notwendig sei. Wie weit voraus war aiso Friedrich allen 
seinen Nachfolgern! 

Man kann es nicht wegleugnen, daß Preußen, und durch 
Preußen Deutschland, einer dreifachen französischen Invasion 
zu höchstem Danke verpflichtet ist. Der schläfrige und in 
vieler, namentlich politischer Beziehung rückständige Geist 
wurde durch sie erweckt, der Intellekt aufgeschlossen, das po- 
litische Gefühl ethisiert. Die erste Invasion war die der nach 
Aufhebung des Edikts von Nantes eingewanderten Huge- 
notten; die zweite war die rein intellektuelle durch die fran- 
zösischen Philosophen, die von Friedrich dem Großen berufen 
wurden, die dritte jene während der französischen Revolution 
und der Napoleonischen Kriege. Jede Invasion wiikte in 
ihrer Art s^ensreich. 

Was aber Friedrich betrifft, so ist es nur dem Geiste 
der Aufklärung^ dem er so sehr zuneigte, zu danken, daß er 
— wie Sainte-Beuve sich ausdrückte »im Nofden Deutsch* 
lands einen Herd der Zivilisation, dn Zentrum der Kultur 
und der Toleranz« schaffen konnte. Es hätten sonst noch 
hundert tüchtige preuBisdie Landesväter wie Friedrich 
Wilhelm L regieren können, und es wäre aus dem rdn 
preufiischen Ödste nichts hervorgegangen, was dnem »Herd 
der Zhrilisation« oder einem »Zentrum der Kultur« ähnlich 
gesehen hätte. — 

Wie sdir das hier Aber die Bedeutung des Staatsmannes 
als Kultuffaktor Gesagte richtig ist, sah man auch in unsem 
Tagen an der echt preußischen Gestalt Bismarck's be- 
stätigt. Bismarck steht in Begabung, Eneigie und Pflicht- 
treue durchaus nicht hinter Friedrich dem Großen, er über- 
traf diesen bei weitem an Gemüt, an Privatgüte, und sdn 



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— 177 — 



Charakter gewinnt noch immer an Sympathie und Hoch- 
achtung, je mehr De(aiis von ihm bekannt werden. 

Trotz alledem war Bismarck doch nicht mehr als ein 
höchst bedeutender preußischer und deutscher Staatsmann, 
in der Kulturgeschichte ist er keine Größe; und wäh- 
rend man seine Begabung an sich wie seine Tugenden kaum 
hoch genug stellen kann, wird von der öffentlichen Meinung 
in Deutschland seine Bedeutung für die Kultur enorm über- 
schätzt. Im Gegensätze zu Friedrich, welcher von seinem 
Vater so viel zu leiden hatte, daß er Trost in der franzö- 
sischen Kulturbewegung suchte, hatte Bismarck hierzu oder zu 
ähnlichem nicht nur keinerlei Veranlassung, sondern empfand, 
gerade umgekehrt, eine tiefe Antipathie gegen fast alles 
Nichtpreußische, in späteren Jahren gegen alles Nichtdeutsche, 
besonders aber gegen alles Französische und die ihm nach- 
eifernden Deutschen. Schwung, Enthusiasmus für die 
Menschheit im allgemeinen und nicht nur für einen einzelnen 
Staat, erschien ihm wie eine Art von Windbeutelei. Und 
keine einzige seiner praktischen Maßregeln entsprang aus 
Prinzipien der Humanität im großen, sondern nur aus po- 
litischen Klugheitsrucksichten. 

Das allgemeine Stimmrecht war nur ein taktischer Streich 
gegen die ihm zu freisinn^e Bourgeoisie, der er auf diese 
Weise einen starken Gegner, die Arbeiterpartei, auf den Hals 
zu hetzen suchte Die soziale Gesetzgebung, nämlich die 
Versicherungsinstitutk>nen, war nur die Folge des gefährlichen 
Druckes der Sozialdemokraten, und war ebenso wenig frei- 
willig geget)en, wie etwa der Beffreiungsfeldzug Napoleons III. 
fiir Italien nach dem Attentate Orsinis. 

Wenn es sich um Verbesserungsvorschlige^ z. B. in der 
Strafgesetzgebung, um- Abschaffung der Todesstrafe han- 
delte, so stand Bismarck immer auf Seite der härteren 
JMaßregeln, und er ging sogar so weit, die Todesstrafe mit 
dem Hinweis auf die — Unsterblichkeit der Seele begründen 
zu wollen! Seht man der Sache auf den Orund, so findet 

Popper, VolMirfc 12 



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— 178 - 



man aUerdings diese Härte in der religiösen Erziehung und 
Neigung Bismarcks begründet, und es ist außerordentlich 
lehrreich — und ich möchte die Religionspsychologen sehr 
darauf aufmerksam machen — daß der von Natur harte, 
irreligiöse Friedrich der Große seinerzeit für Milderung in 
der Kriminalgesetzgebung (Aufhebung der Folter) war, der 
von Natur gemOtvoUei aber religiöse Bismarck jedoch stets für 
die strengere Richtung eintrat Genau dasselbe sehen wir 
schon nahezu 2000 Jahre frQher in Rom gelegentlich der 
Beratungen im Senat über die Behandlung der Mitglieder 
der Catilinaiischen Verachwörung. Der freigeistige Julius 
Cisar war für das mildere Verfahren, der religiös geahmte 
Cato für das strengste: die Todesstrafe. 

Im Kultuficampfe gegen die katholische Geistlichkeit 
behalf sich Bismarck nur mit Polizei und Gendarmerie; nie 
fiel es Ihm, auch nur In Erinnerung an Luther, ein, einen 
geistigen Kampf zu fQhien; so daß die Bezeichnung dieser 
ganzen Affäre als »Kulturkampf« eigentlich als eine ganz 
unverdiente, viel zu hohe, erscheint 

Wenn man nun bedenkt, daß Bismarck ungefähr ein 
Jahrhundert nach Friedrich dem Grossen wirkte, so sieht 
man deutlich, daß Genie allein zu den großen politisch- 
ethischen Taten nicht hinreicht, und erkennt zugleich, welche 
Wichtigkeit die französische Aufklärungsphilosophie für die 
Weit besaß, welche hohe Schule sie für die politische Ethik 
bildete, obwohl man sie gewiß in vielen Beziehungen als ober- 
flachlich bezeichnen muß. 

Genies der Tat, wie Alexander, Cäsar und selbst 
Napoleon waren neben ihren speziellen staatlichen oder selbst 
egoistischen Unternehmungen auch von überstaatlichen 

Tendenzen erfüllt. 

Von überstaatlichen Tendenzen oder wenigstens Hin- 
neigungen finden wir aber bei Bismarck kaum eine Spur. Zu 
keiner Zeit seines Lebens in der Praxis hiieressierte und 
noch weniger erwärmte er sich für ailgemdne Kuitundde» 



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. — 179 — 



für ethisch-politische Ideen, die nicht bloß für PreuBen- 
Deutschland, sondern für die Menschheit im allgemeinen 
oder wenigstens für die europäische Bildung von Bedeutung 
waren. Nicht einmal in den unzähligen allmählich bekannt 
gewordenen^Privatgesprächen, die doch zu nichts verpflich- 
teten, findet man derlei Themen behandeft, ganz entgegen- 
gesetzt zu dem Verhalten Friedrichs des OroBen. 

Und nicht nur aus politischer Klugheit, sondern auch 
aus Mangel an (sozusagen) außeramtlicher, auBerpieufiischer 
oder auBerdeutscher Empfindung berührten ihn auch die 
schrecklichsten oder noch so wichtigen Ereignisse in 
anderen Staaten nkht, wenn sie eben nicht mit Deutsch- 
land's Politik oder Wohlfahrt zusammenhingen, und sein 
Naturell und der Mangel an a'ner so einflussreichen prak- 
tisch-philosophischen Bewegung wie zur Zeit Friedrichs, 
unterstfitzten in dieser Beziehung sdne politische Nüchtern- 
heit, oder, wie man es nannte, seine Realpolitik^^. Daß 
aber nüchternste Realpolitik mit überstaatlichen Gesinnungen 
vereinigt sein kann, bewies ja am besten Friedrich der 
Große selbst. 

Diese Bemerkungen, die dem Anscheine nach sich bloß 
auf die Psychologie eines bestimmten Staatsmannes be- 
ziehen, erstrecken sich aber auch ins Aiigemeine. Und da 
muß es denn }j:esagt werden, daß die junkerlich-preußische 
Natur Bismarcks, die sich in jener Gieichgiltigkeit für die 
allgemeine Kultur offenbarte, und die er sogar mit Osten- 
tation als die allein richtige bezeichnete, daß dieses Beispiel 
eines genialen Mannes sehr viel dazu beitrug, die Oesittuno^ 
der Deutschen, selbst in deren gebildetsten Schichten, auf 
ein weit tieferes Niveau herabzudrücken, als sie durch den 
Einfluss der französischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts 
bereits erreicht hatten. 

AAit Recht sagt Sybel, der preußische Historiker^ in 
seiner »Geschichte der Revolutionszeitc von diesen 
Schriftstdiem und von deren Jahrhundert selbst: 

12* 



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— 180 - 



»Man hat eine Zeit lang die Aufklärung des 18. Jahr- 
hunderts zum Teil in ihren wertlosesten Ausläufern Ober- 
schätzt; man ist jetzt nur zu geneigt, ihr weltgeschichtliches 
Verdienst zu übersehen, weil es das Gemeingut aller und 
der Boden unseres Zustandes geworden ist . . . . Weder 
das klassische noch das christliche Altertum, weder das 
Mittelalter noch die Reformation nahm einen Anstoß an den 
flfgsten Greueln der Kri^führung, an den Qualen einer 
grausamen Kriminaljusti^ an einer Vernichtung der politi* 
sehen O^iner, gegen welche die Schrecken unserer Revo- 
lutionen Kinderspiel sind. Der Gedankt daB das Leben 
des einzelnen Menschen fOr die Anderen etwas bedeute^ 
Ist erst durch das vorige Jahrhundert eine tätige Kraft ge- 
worden.« *) 

Aber gerade die französischen Philosophen des 18. Jahr- 
hunderts, namentlich insofern sie politische und staatsrecht- 
liche Fragen behandelten, mußten einem stets konkret und 
aktuell vorgehenden Manne wie Bismarck als seichte 
Schwätzer vorkommen; dabei übersah er jedoch infolge ihrer 
abstrakten und dilettantenhaften Art, die F*robleme zu be- 
handeln, deren hohen sittlichen Kern. Und Bismarck selbst 
ist es, wie auch vielen anderen praktisch genialen Staats- 
männern, mit diesen sittlichen Tendenzen gerade so er- 
gangen, wie — nach H eine's schöner Bemerkung — Sancho 
Pansa mit dem scheinbar närrischen Idealisten Don Quixoie, 
er half zuletzt doch das mit ausführen, was jener im Kopfe 
hatte. — 

Hat Friedrich der Große es Voltaire und dessen Geistes- 
genossen zu danken, daß er überhaupt eine Rolle in der 
europaischen Zivilisationsgeschichte spielt, so verdankt er 
speziell Voltaire auch Anregungen und Untersttitzung bei 
so manchen wichtigen Reformen in der preufiischen Ver- 
waltung und Gerichtsverfassung, wie auch bei Abfassung 

•) ZiUt nach Hettner. 



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— 181 — 



des Entwurfs zu den fortgeschrittensten Partieen des preußi- 
schen Landrechts. Voltaire war es, der dem König Mate- 
rialien betreffs der französischen Administration verschaffte.*) 

Wie der König selbst über Voltaire's sogenannten »un- 
heilvollen Einfluss« dachte, zeigt u. a. folgende Stelle aus 
seinem Briefe vom 18. November 1777: *lch erwarte Ihr 
belehrendes Werk über die Mißbräuche der GesetztT^ebung 
und zwar mit Ungeduld, denn ich bin überzeugt, darin 
Nützliches und Angenehmes zu finden. Es scheint, daß 
Europa gegenwärtig im Zuge ist, sich Ober alle Gegenstände 
aufzuklären, die am meisten auf das Wohl der Menschheit 
Einfluß nehmen, und man wird Ihnen das Zeugnis geben, 
daß Sie mehr als irgend einer Ihrer Zeitgenossen beigetragen 
haben, die Menschen mit der Fackel der Philosophie auf- 
zuklären 

Und docfi geht die Undankbarkeit sogenannter patrio- 
tischer preußischer Schriftsteller und Historiker so weit, 
immer wieder von Voitaire's Frivolität, seinem Mangel an 
Emst und von seinem unheilvoUen Einfluss am preußischen 
Königshofe zu sprechen. 

Eine andere Seite des VerhSltnisses zwischen Voitaire 
und Friedrich betraf die Kriegsunternehmungen des 
Königs. 

Bei Besprechung dieses Veriiäitnisses zeigt StrauB aber- 
nuds jene eigentOmliche Deutungsmethode und Ausdrucks^ 
wdse^ durdi die, wie bei Besprechung der Beziehungen 
Voitaire's zu Lessing, auf jeden Fall der Deutsche als 

der höhere Mensch erscheint 

*) Ich glaiilK'. dieses Faktum der -Oeschichte Brnndenbunn« VOO 
PreuB, resp. einer BesfU'echung dieses Werices in der M. AJlg. Ztg. 
etitnommen zu haben. 



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— 182 — 



Die große Frage der Humanitfit, die bei Beurteilung 
des Krieges flbeiiuiupt emportaucH erledigt der Verfasser 
des Lebens Jesu in rein chauvinistischer Weise 

»Voltaire war,« heißt es bei Strauß, »fflr den Frieden 
um jeden Preis .... in diesen Friedensdemonstrationen ist 
Volttfre der reine Schulmeister und durchaus platt Gewiß 
ist der Krieg ein großes Obel und zu VoHalre's Gunsten 
darf man nicht veigessen, daß er in der itilchsten Ver- 
gangenheit meist nur mutwillige, aus Herrschsucht und 
Übermut der Fürsten, namentlich Ludwigs XIV., hervor- 
gegangene Kriege vor sich hatte. Aber Friedrichs Einfall in 
Schlesien, wovon der siebenjährige Krieg nur die unver- 
meidliche Folge war, gehörte in eine ganz andere Klasse. 
Friedrich war dabei von dem Entwicklungsdrange des 
jungen Staates p^etrieben, an dessen Spitze er soeben ge- 
stellt worden war; tiefer gefaßt, von dem Entwicklungs- 
drange der deutschen Nation, die für sich einen anderen 
Schwerpunkt suchte, als das undeutsch gewordene und 
geistig unfrei gebliebene Österreich war. 

Diese Ansicht ist wirklich geeignet, einen wahrlieits- 
liebenden Menschen aus seiner Ruhe zu bringen; denn 
es ist nicht zu ermessen, wie viel Unheil schon in der 
Welt aus dieser Denkweise hervorgegangen ist und noch 
immer hervorgeht Und hier haben wir wiederum, wie 
schon Öfter in dieser Monographie^ einen Fall vor uns, 
der Voltaire's wegen nur sehr wenig wichtig ist, aber 
mit unwiderstehlicher Gewalt Entrüstung, Aufklärung und 
Widerspruch provoziert. Es ist auch nicht Strauß aHein, 
der hier gesprochen hat; noch sehr viele andere, z. B. 
Tieitschk^ sprachen so und sprechen noch heute so, 
und beweisen dadurch, wie alles Talent und Wissen 
und alle etwaigen sonstigen Charaktervoizfige nicht davor 
bewahren, entgegen aller Gerechtigkeit zu urteilen, wenn 
man sich von Überhitzten Oefflhlen allein leiten läßt, und 
wenn es auch selbst die schönsten und edelsten wiren. 



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— 183 — 



Man wird aber sofort 'sehen, daß durch eben diese zur Un* 
gereditii^t fahrenden OeHIhle die intelligentesten Ödster 
auch zu Verstößen gegen die einfachste Logik und gegen 
das primitivste gesunde Denken gebracht werden. 

Das sehen wir augenblicklich bei der StrauB*schen 
Rechtfertigung von Friedrichs Kriegen mit einem sogenannten 
»Entwicklungsdrang« des * jungen Staates . Erdachte 
also gar nicht daran, daß man mit einem v Entwicklungs- 
drang jede aggressive kriegerische Unternehmung be- 
gründen und morah'sch rechtfertigen könnte, daß also die 
Situation Friedrichs von keiner andern Raubkriegssituation 
prinzipiell verschieden war. 

Ein kleiner Staat, wie damals Preußen einer war, kann 
ja immer sa^en — anstatt: »Ich will mein Gebiet durch 
fremde Provinzen mittelst eines Raubkriegs vergrößern — 
»Ich besitze den Drang, mich zu entwickeln«; und ein 
bereits großer Staat, z. B. das Frankreich Ludwigs XIV. oder 
das heutige Rußland, kann wiederum sagen: Ich bin zwar 
schon groß, aber mein Diang geht dahin, mich noch weiter 
zu entwickeln.« 

Alle kriegslustigen Feldherm oder Fürsten der Welt- 
geschichte wollen einen solchen Entwicklungsdrang ihres 
Landes bemerkt haben, oder genauer gesprochen: sie hatten 
einen soldatischen oder politischen Entwicklungsdrang, den 
sie^ in ehriicher oder unehriicher Weise^ als Entwicklungs- 
drang ihres Staates oder Volkes auszugeben wußten. 

Und überdies: Wer hatte denn eigentlich diesen Ent- 
wicMungsdrang^ den Strau6 dem »jungen Staate« zuschreibt? 
^ Jung nennt ihn Strauß nur offenbar darum, wdl er noch 
nicht so grofi war wie heute — An wem also bemerkte 
StrauB diesen Drang? Lag dieser Drang in der Luft? 
Oder hat sich etwa damals das preußische Volk oder ein 
großer Teil desselben fflr die VeigröBentng Preußens be- 
geistert? Oder gar Kriege gewflnscht, um der »deutschen 
Nation« zur weiteren Entwicklung zu verhelfen? Von alledem 



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- 184 — 



war doch in der von Armut, harter Arbeit und absolutistischem 
Druck niedergehaltenen Bevölkerung keine Spur vorhanden. 

Seien wir ehrlich! Ein Entwicklungsdrang kann doch 
nicht einem Begriffe, sei es Staat, sei es Nation, sondern 
nur lebendigen Menschen zugesprochen werden — ausge- 
nommen: man acceptiert die foppende metaphysisch-logische 
Hegel*sche Methode, Oedanken über die Dinge den Dingen 
selbst zu 8Ut>stituieren und abstmkten Begriffen Leben zu- 
zuschreiben. 

Nur eine einzige Person war da, an der jener »Cnt* 
Wicklungsdrang« bemerkt werden konnte^ und das war: 
Friedrich II. König von Preußen! Und eben diese eine 
Person gestand, interessanter Weise ganz offen, — was 

Strauß und seine Gesinnungsgenossen nicht eingestehen 
wollen — daii der Einfall in Schlesien, also implicite der 
ganze Krieg mit seinen Folgekriegen, aus Ehrgeiz unter- 
nommen wurde. Und da doch Friedrich das Motiv seiner 
Kriege besser kennen mußte, als Strauß und alle anderen 
preußisch-deutschen Patrioten, so müssen wir wohl dem 
König von Preußen viel mehr glauben, als jedem anderen. 

In der Epistel über das Ungefähr. An meine Schwester« 
sagt er: »Entflammt, voll Dünkel, brannt' ich da — noch 
denk ich es — den Helden nachzustreben, die mein Herz 
verehrt« 

Und in der »Geschichte meiner Zeit« spricht Friedrich 
an sehr vielen Stellen immer von neuem davon, wie sehr 
ihn die Ruhmbegierde zum Einfall in Schlesien getrieben 
hatte.*) Auch in einem Briefe an seinen Freund Jordan, 
geschrieben im Feldlager in Schlesien, sagt er: »Meine 
Jugend, das Feuer der Leidenschaften, das Ver- 
langen nach Ruhm, ja, um Dir nichts zu verbeigen, selbst 

*) ich ließ tnich's die Mühe nicht verdrießen, diese Stellen in 
den Humilassenen Werken Friedrichs Ii., Königs von Prenßen (Berlin, 
Voß & Sohn. 17S8\ aufzusudien ; sie stehen snf den Seiten 99, 102, 
105, 106, 107, 110 des 1. Bandes. 



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— 185 — 



die Neugierde^ mit einem Worte, ein geheimer Instinkt, hat 
mich der Sfissigkeit der Ruhe, welche ich kostete, entrissen 
und die Genugtuung, meinen Namen in den 
Zeitungen und dereinst In der Geschichte zu 
lesen, hat mich verffihrt« 

Hat Strauß alle diese Gcstäiidnisse Fricdrich's nicht 
gekannt? Wenn nicht, so wäre das kein geringer Mangel 
bei einem Historiker, der über Friedrich 's Kriege und deren 
Motive schreibt. Hat er sie aber gekannt, so ist der ge- 
schichtsphilosophische Bombast von dem >Entwickiungs- 
drang des jungen Staates^ zugleich eine nicht zu recht- 
fertigende Unehrlichkeit. 

Strauß ignoriert mit seiner Darstellung des Kriegsmotivs 
ebensowohl, was für Unglück ein jeder Krieg an und für 
sich ist, als auch die Völkerrechtsfrage beim Einbruch in 
Schlesien, indem er an Stelle des Völkerrechts einen >Cnt* 
wicktungsdrang« in die Sache hindneslounotiert 

Al>er selbst die allerechtesten preußischen Patrioten 
bezweifeln — zum mindesten — da6 damals das Recht auf 
Seite Friedrichs war. Hat doch sogar Bismarck einmal 
gelegentlich der Denkmalsfrage für Hdne sich in diesem 
Sinne deutlich genug geäußert »Man klagt den Dichter 
an, daß er von HohenzoHems Aar gesagt, es möchten ihm 
die Nägel beschnitten werden, da er so viel zusammenge* 
rafft hatte«, sagte Rottenburg, der Chef der Reichskanzlei, 
zum Kanzler. Darauf meinte Bismarck: »Hat denn Heine 
so unrecht gehabt? Können wir leugnen, daß der Rechtstitel 
Friedrichs des CjroBen auf Schlesien nicht einwandfrei war?«*) 

Das Material, das Strauß zu Gebote stand, um die 
wahren Motive zu Friedrichs schlesischem Krieg kennen zu 
lernen, war so reich, daß man nicht genug darüber erstaunen 
kann, daß er es so ganz unberücksichtigt ließ. Friedrich 

*) Nach Mitteilungen über Oespräche mit Rottenburg in der N. 
Fr. Prent vom 4. September 1904. 



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— 180 — 

selbst sagte: »Die Reclitsfrage ist Saclie der Minister» 
die Befehle an die Truppen sind gegeben.« Das 
heißt doch deutlich genug sagen: Ich appelliere an die Ge- 
walt, die Rechtsfrage kOmmert mich nicht 

Bei der Nachricht von dem Tode des letzten minnKchen 
Habsbuigers sagte er zu seinem sofort zusaitimenberufenen 
Rate: »Ich gebe Euch ein Problem zu lösen; wenn man im 
Vorteil ist, soll man sich dessen zu Nutzen machen 
oder nicht?« 

Von einem Drang des jungen Staates war also keine 
Rede, sondern nur vom Ehrgeiz eines jungen Königs. 
Und da hatte der philosophische und immer human gesinnte 
Voltaire, der zudem seinen königlichen Freund und Schüler 
vollständig durchschaute, also doch ganz recht, ihm seine 
»Menschenschlächterei« abzuraten. Wenn man aber, wie 
StraulJ, solche Ratschläge platte Schulmeisterei nennt, so 
fällt dieselbe Bezeichnung auf alle Vorkämpfer für das Aut- 
hören der Kriege überhaupt, Immanuel Kant inbeprriffen. — 

Bei der Gefährlichkeit, die in den oben zitierten wenigen 
Worten von David StrauB liegt, eine Gefährlichkeit, die man 
bei Betrachtung der politischen und nationalen Fanatismen 
der ganzen neueren Zeit tief genug empfindet, ist es mir 
nicht möglich, meine Kritik dieser Worte hier schon zu 
schliefen Ich muf^ sie unbedingt weiter fortsetzen. 

Ist schon die Substitution des preußischen Staates an 
Steile des preußischen Königs Friedrich II. eine sonderbare 
Entgleisung eines denkenden Mannes, wie David Strauß, 
zu nennen, so ist die Fortführung dieser Substitutions- 
methode bis zur Heranziehung der »deutschen Nation 
als ein Taschenspidertoinststadc ersten Ranges zu be- 
zeichnen. 

Die Vorträge über Voltaire hielt Strauß, wie ich glaube^ 
während des letzten deutsch-französischen Krieges, jeden- 
falls aber vor einer deutschen Prinzessin. Es ist daher 
kaum zu zweifeln, dad die patriotische oder besser natio- 



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— 187 — 



nalistische Stimmung ihn, wie viele andere Publizisten, zu 
der ganz und gar anti historischen unwahren Auffassung 
verleitete, alle Taten Preußens, resp. seiner Souveraine, als 
aus dem Gesichtspunkt der deutschen Nation unternomment 
anzusehen und darzustellen. 

Die Freude darüber, daß sich die Dinge so entwickelt 
haben, daß also das stark gewordene Preußen die deutsche 
Einheit herstellen half, ja sie erst ermöglichte, wird man ja 
Niemandem vorwerfen oder verdenken wollen.*) Aber hier 
handelt es sich um eine fälschliche Rückdatierung, um die 
Ehrlichkeit der historischen Berichterstattung und was damit 
zusammenhängt; und, was fiberdies noch viel wichtiger ist, 
um die Korruption des politischen Denkens, die durch jene 
Strau6'sche^ fibrigens sehr verbreitete Auffassung; hervor- 
gerufen wird. 

Darum sei es allen Jenen, die die historischen Vorig^Uige 
nicht im Detail verfolgen, gesagt, daß es den Tatsachen 
vollkommen widerspricht, die politischen Unternehmungen 
der preußischen Souveräne (wie auch der maßgebenden 
preußischen Junkerpartei) als, der Absicht nach, deutsche 
Unternehmungen hinzustellen; wenn sich auch im Laufe der 
Zeit die Dinge in diesem Sinne, aber ohne Vorherwissen 
und Vorherwollen der Unternehmer, entwickeHen. Der große 
Kurfürst nahm vom Erbfeinde Deutschlands, nämlich von 
Ludwig XiV., Subsidien und schloß mit ihm eine Defensiv- 
allianz, wie preußische Hofhistoriographen vielleicht mit 
Recht sagen, wegen der treulosen Politik Österreichs.« 
Der jüngste Geschichtsschreiber über den großen Kurfürsten, 
Philippson, der die Schwächen und Irrtümer desselben 
sehr liebevoll und schonend bespricht, sagt aber doch in 
Mißbilligung jenes Bündnisses mit Frankreich: Niemand 
habe sich tiefer vor Frankreich gedemütigt, niemand Deutsch- 

*) Ohne den Sieg, der zur deutschen Einheit führte, hätten wir 
heute auf dem eoropittdicii Kontinent wieder die Inquisitiott tmd aUti, 
was dazu gebort 



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- 188 — 



lands Ehre und Unabhingigkeit mehr preisgegeben als 
damals Kurfürst Friedrich Wilhebn von ßrandenbui^g. Er 
habe dadurch nicht b1o8 alle übrigen Eroberungen Frank- 
reichs auf deutschem Boden gewShrieistet, sondern auch 
Strassbucg ausgelieleri Und das sei auch mit dem Gegen- 
sätze zum Kaiserhofe in Wien, mit der Eifersucht und 
Missgunst der Reichsffirsten, mit der Ohnmacht der Reichs^ 
stflnde nicht zu entschuldigen.» 

Der König Friedrich Wilhelm I., Friedrich des Großen 
Vater, hatte bei allen seinen Maßregeln nie an eine »deutsche 
NatioTiv gedacht, er kannte nur sein Preußen und art)eitete 
dafür; und um ein Stückchen Land (im Bergischen) garantiert 
zu erhalten, ging er ebenfalls einen Vertrag mit Frank- 
reich ein. 

Friedrich der Große — der, in einem Memoire an 
Voltaire, ausdrücklich Frankreich als den Erbfeind Deutschlands 
bezeichnete — schloß sogar zweimal eine Allianz mit Frank- 
reich, nämlich Re^en Österreich und ^e^en England; und 
er hätte, noch mehr als alle seine Vorij;än^er, nur darüber 
gelacht, wenn man ihm zugemutet hätte, irgend etwas 
Deutschlands wegen ohne Nutzen für Preußen zu unter- 
nehmen. 

Auch der preuRisclie Hofhiston'ograph Koser in seinem 
Werke König Friedrich der Große* gesteht, dali überhaupt 
die Reichspolitik, mit der es der König von Preußen wagen 
zu dürfen geglaubt hatte, eingegeben und beraten war durch 
das preußische Interesse- .... »für Fried nch hatte nach 
den Erfahrungen seiner ReichspoUtik von 1743 das wesent- 
lichste Interesse dieFrag^ was nur das liebe heilige römische 

Reich noch zusammenhalte »die ausschließlich 

preußische Richtung der Politik Friedrich^s beginnt mit 
dem Jahre 1744«, also sehr bald nach seinem Regierungs- 
antritt 

Und um der Vollständigkeit wegen von Voigängen 
späterer Zeiten zu sprechen und dadurch zu zeigen, daß 



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— 180 — 



Strauß sich auch durch sie nicht belehren und davon abbringen 
ließ, seine These von preußischen Ambitionen zu Gunsten 
Deutschlands aufrecht zu halten, sei angefahrt, daß die 
grandiose Proldamation von Kaiisch aus dem Jahre 1813^ 
welche das deutsche Volk zur Erhebung gegen Napoleon 
aufrief^ dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. nur 
mit großer Mühe abgerungen werden konnte. Und da wir 
die so einflußreiche preußische Junkerpartei ebenfalls als 
Ausdruck Seht preußischen Ödstes mit erwiUinen können, 
so sei daran erinnert, daß sich jene Junker lieber dem Des- 
potismus Napoleons, als der freihatlichen Oesefacgebung 
Stein>Hardenbeigs unterwerfen wollten, Deutschlands Be- 
freiung war ihnen also ganz und gar ^dchgiltig.*) 

Und schließlich der wohl eMabuiteste Fall, aus dem 
Jahre 1871: Als es sich in Versailles um die Form der 
Einigung des siegreichen Deutschland und den Kaisertitel 
handelte, sagte der preußische König Wilhelm, er »kümmere 
sich kein Haar* um Deutschland, sondern nur um sein 
Preußen, und er befürchtete nur, durch Annahme des Kaiser- 
titeis an Macht und Ansehen in Preulkn einzubüßen. 

Aus allem dem geht wohl zur Evidenz hervor, daß In 
allen Bestrebungen der preußischen Souveräne eben an Preußen 
und nicht an Deutschland gedacht wurde. Das mag ein 
richtiger praktischer Vorgang in Beziehung auf ihren eigenen 
Staat gewesen sein, verdient also keinen Vorwurf, nur müssen 
falsche Deutungen dieses Vorgangs, wie Strauß und andere 
sie geben, vermieden werden. 

Nun betrachten wir aber auch noch, in welchem Ver- 
hältnis die außerbrandenhurgischen. und später außerpreußi- 
schen Deutschen zu Brandenburg- Preußen standen, ob sie 
wirklich dessen Souveräne als Vorkämpfer der Deutschen 
ansahen, wie man das nach Strauß (und Trdtschke) ver- 
muten könnte. 



*) Sie wiesen Stein-Hardenberss Reionnen mit den Worten zurück; 
Stein wollte mit seteen Edikten ans t>iCB0en einen »Jiideailaat« madien. 



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— 190 — 



Zorn und Neid trafen das trotzige Glied (Brandenburg 
unter dem großen Kurfürsten), das sich neben das Reich 
stellte, sagt — Treitschice selbst in seiner Deutschen 
Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts«. Und weiter: 
»Leibnitz, der begeisterte Reichspatriot, erwies in beredter 
Denkschrift, wie der Brandenburger von seinen Mitständen 

gedemütigt werden müsse -Auch die Nation sah 

mit Abscheu und Besorgnis auf den Staat der Hohen- 

zollem« »So oft der unruhige Staat mit einiger Kühnheit 

sich hervorwagte, erklang durchs deutsche Land der Jammer- 
ruf über den immer tiefer ins Reich dringenden brandenburgi- 

sehen Dominat« »jene kleinen Fürsten in Schwaben 

und am Rhein, die in Preußen ihren furchtbaren Gegner 

sahen« »Auch der Bürgersmann wollte sich zu dem 

preußischen Wesen kein Herz fassen« usw. 

Nach diesem scheint überhaupt niemand — auSer einigen 
modernen Historiicem und Publizisten — in dem preußischen 
»Entwicidungsdrang« einen deutschen Drang erblidd zu 
haben. Winckelmann schimpfte auf Preußen, Lessing spricht 

nach Trdtschlce's eigener Ausdracksweise; »von den 
Preußen zuweilen wie von einem halbfremden Volke.« Und 
der urdeutsche alte E. M. Arndt »erhob in den Tagen der 
Fremdherrschalt nach Jena«, — wie Koser mitteilt (»König 
Friedrich der Orofie^ II Seite 060) seine Iddenschaftlichen 
Anklagen« gegen — Friedrich den Großen; gegen jenen ' 
>undeut8chen« König, den »Fianzen-Affen«, den »Feind und 
Zerstörer der deutschen Verfassung, dessen Grösse Deutsch- 
land zum Verderben und dessen Gedächtnis Deutschland 
zum Fluch geworden sei.« 

Viele Historiker und Literaten meinen noch immer, die 
Taten Friedrichs des Großen hätten erst dem nationalen 
Leben Inhalt gegeben, welche Ansicht wohl zuerst Goethe 
in »Wahrheit und Dichtung« aussprach. Allein aucli das 
wird bestritten. Der ausgezeichnete Nationaiökonom und 
Historiker Gothein, obwohl von Geburt ein Altpreuße^ 



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— 191 — 



sagt über die Meinung, diese erhöhte Freude am Dasein 
lube e^entlich unsere (die deutsche) Kultur geboren: »Nun 
freilich, der Knabe Ooethe hat sich für Friedrich am Fami- 
Uentisch begdstert — 20 Jahra frflher wflrde er es für Prinz 
Eugen getan haben — und Lessing hat, weil er mit KOnstler- 
aiigcn Kri^gsgetflmmel und Friedensschluß mit ansah, die 
JMinna geschrieben. — Damit dürfte der Einfluß Preußens 
auf unsere Oeistesheroen erschöpft sein. Denn die Annahme^ 
daß der kategorische Imperativ des Kosmopoliten iCant aus 
seiner preußischen Staatsgesinnung hervorgegangen sei, 
scheint mir zu gewagt. 

Dagegen ist unbestritten» daß die bedeutendsten Dlditer 
und Denker unter den geborenen Preußen sich in schärfste 
Opposition mit der Oesinnung ihres heimischen Staatswesens 
gesetzt haben: Klopstock, Winckelmann, Herder. Dem 
Staate Friedrichs daraus einen Vorwurf zu machen, würde 
freilich ebenso töricht sein, wie ihm das Hauptverdienst an 
der deutschen Kulturentwicklung zuzuschreiben. < *) 

Vergebens suchen wir also Deutschtum, wir finden über- 
all nur Preußentum:**) wie gesagt, ohne Tadel, nur der 
Wahrheit wegen, heben wir das hervor, und weil Unwahrheit 
in diesen Dingen sehr schlimme Folgen haben kann, nämlich 
Menschen und Völker zu täuschen und sie in Kriege hin- 
einzufoppen. 

Niclit unterdrucken möchten wir aber auch eine nicht 
wenig heiter stimmende Bemerkung Treitschke's. Die preußi- 
schen Souveräne» das preußische Volk, die anderen Deut- 

•) Aus der Abhandlung «Die Aufgaben der Kulturgeschichte^. 

♦♦) Die Gerechtigkeit erheischt es zu sagen, dass es auch einen 
ehrlichen Historiker in dieser Frage gibt und noch dazu einen köni^I. 
preußischen Hofhistoriographcn, nämlich Reinhold Knser Er sagt in 
sdnem Werke über FriMiich den Großen: »Nicht ein großes nationales 
ZnkunftsbiM im Auge, nicht als be w nB te r Trigger einer deutschen Mission, 
sondern inimer von brandcnbiir^iscli-prcunischen Gesichtspunkten aus- 
gehend, hatten gleichwohl die Hohenzollem mit jeder ihrer Erwerbungen 
nicht bloß dem eigenen Vorteile, sondern auch der gemeinen Sache, oem 
Voricae Denlschlands gedient« (II. Bd. S. M2.) 



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192 — 



sehen hatten, wie wir sahen, von einem deutschen Drange 
in den preußischen Kriegen nichts bemerid, nun soll aber 
sogar, nach Treitschlce^ in Friedrichs Soldaten das Deutsch- 
tum gearbeitet haben! 

»Das Heer, das Friedrichs letzte Schlachten schlug, war 
national,« sagt Treitschke in seiner »Deutschen Geschichte«. 
Wieso national? wird man fragen. »Die Wert>ungen im 
Auslande,« antwortet Treitschke^ »veri>oten sich von selber 
in der Not der Zeit«. Es ist aber doch allgemdn bekannt^ 
was das fOr Leute waren, die Friedrichs Weriietrommd 
folgten, sie waren nicht deutsch, nicht einmal preußisch ge* 
shint, denn sie waren fiberhaupt gar nicht »gesinnt«; und 
was hier sonst noch zu sagen wäre, möge aus Mitleid mit 
jenen armen Teufeln verschwiegen werden.*) Und nach 
allem diesem soll man Strauil glauben, die deutsche Nation« 
habe zur Schlacht bei Mollwitz gedrängt? tinen etwa un- 
bewußten Drang der Deutschen, der in dem Ehrgeiz 
Friedrichs sozusagen Fleisch geworden wäre, mögen viel- 
leicht Adepten einer aufs Politische zielenden Philosophie 
des Unbewußten voraussetzen, wir anderen halten uns an 
die Tatsachen, die etwas ganz anderes besagen. — 

Die Unwahrhaftigkeit, die in den systematischen Be- 
schönigungen, Verschönerungen, ja Verdrehungen bei Be- 
urteilung politischer Vorgänge liegt, und noch mehr der 
dabei mitunter auftretende Zynismus, sind ein nicht gering- 
fügiger Faktor in der Heranbildung einer korrupten Art, 
Taten und Meinungen zu beurteilen. Fast immer liegt jener 
Unwahrhaftigkeit und jenem Zynismus ein Servilismus vor 
mächtigen Personen oder gegenüber Massengefühlen zugrunde. 
Es scheint mir sehr nützlich zu sein, auf einige Beispiele 
hinzuweisen, damit man auch für andere Fälle erkenne, 
wessen man sich in dieser Beziehung von b^abten, in 

*) Wer sich einigennafien orientieren will, der lese die betrefien- 
den Partien in Oviliv Freytag's »Neue Bilder aus der deutodien Vci^ 
fsngeolieit«. 



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\ 



— 193 — 

mancher anderen Art achtungswerten Schriftstellern zu ver- 
sehen hat, und damit man ihnen unaufhöriich auf die Pinger, 
die ihre Federn iüiiren, sehe und nach Möglichkeit auch ge- 
hörig auf sie klopfe. 

Mit dem Beispiele von Strauß haben wir oben be- 
gonnen. 

Eine ganze Kategorie solcher Unwahrhaftigkeiten und 
Ungerechtigkeiten finden wir ferner bei sehr vielen deutschen 
Historikern, wenn sie, ihr Urteil in den nationalistischen 
Dienst stellend, von den Zeiten der Völkerwanderung 
sprechen. Der Einbruch der Oermanen in das römische 
Reich wird nicht so wie jeder andere Einbruch anderer 
Völker auff^efaßt — obwohl man docfi weil), daß z. B. die 
arabischen Eroberer geg'eniiber den unterworfenen Völkern 
viel milder waren, als die Germanen gegenüber den er- 
oberten Teilen des römischen Reiches — sondern man 
spricht von dem »Expansionsdrang eines jugendlichen 
Volksstammes , andere sprechen von »der Germanen 
unverbrauchter Kraft«, Treitschke von einem »überschwellen- 
den Tatendrang der deutschen Nationc, Chamberlain von 
ihrer »kraftstrotzenden Hand«. 

DaB dies jeder, jeder Volksstamm, jeder kriegerische 
Staat von sich sagen könnte, daran denken alle jene Publi- 
zisten nicht Nach ihren schönen Worten mfißte man sich 
wohl unter den gemuuiischen Horden eigentlich nur eine 
größere Ansammlung von lauter edlen, liebenswflidigen 
Siegfrieden vorstdien, die von niemandem etwas haben 
wollten, was er nicht freiwillig herschenken wfirde^ und 
schfichtem errötend in das römische Reich eintraten, nur 
um nachzusehen, was es dort neues g9b^ und um zu 
fragen, ob sie sich mit ihren klüftigen Ldbem nicht als 
lahrende Artisten produzieren dürften — während alle anderen 
Wandervölker stets nur als Haufen und Horden von »Bar- 
baren« anzusehen wären. 

Mit schönen Worten läfit sich vieles erreichen! 

Popper, Voltafa«. 13 



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— IQ4 — 



Als die europäischen Mächte im Jahre 1900 China über- 
fielen und, gemäß einer Bezeichnung Turgot's gelegentlich 
der Teilung Polens, als >Co Briganten'^ dort mit ihren 
Armeen hausten, nannte man diese UnttTnehmung »Schutz 
vor der gelben Gefahr- und ^Wahrung der heiligsten 
Oüter.^ Solche Wendunq^en in der Bezeichnung der Dinge 
wird wohl jeder nach obigem Muster in zahlloser Menge 
finden können, wenn er die neuere Geschichtsschreibung — 
auch die des Tages — verfolgt. — 

Ich möchte aber, da wir von Friedrich dem GroMen 
und Preußen zu sprechen hatten, noch einiges Hierher- 
gehörige vorbringen, das den meisten Lesern sonst wohl un- 
bekannt bliebe. Da begegnen wir in erster Linie wiederum 
Treitschke, der sich die Aufgabe gestellt hatte, alles 
Preußische als deutscli und alles Deutsche als das Tugend- 
hafte und Vollkommene hinzustellen. Er beginnt nun die 
Beurteilung Friedrichs des Großen mit den Worten: »Der 
springende Punkt in dieser mächtigen Natur bleibt doch die 

erbarmungslos grausame deutsche Wahrhaftigkeit« 

»Seine Staatskunst, 'wenngleich sie die kleinen Künste und 
Listen des Zeitalters als Mittel zum Zweck nicht verschmäht, 
trägt das Gepräge seines königlichen Freimuts^c 

Nun ist es schwer einzusehen, wie »Kfinste und Listen« 
zu iigend einer Wahrhaftigkeit» also auch zur deutschen, 
passen sollen. Und die Sache wird auch dadurch nicht 
»wahrhaftiger«, daß jene KOnste und Listen nur »Mittel 
zum Zweck« waren, denn das ist ja immer so und nie 
anders; der Listen als solcher wegen ist niemand listig, und 
alle Kflnste in der Pölltik wie in irgend einer bdidrigen 
privaten Unternehmung sind stets nur Mittel zu irgend 
einem Zweck. 

Wie es nun aber mit jener »deutschen Wahrtuftigkeit« 
Friedrichs bestellt war, zdgt am besten der geradezu un- 
Obertroffene schlechte Ruf, in dem er bei den Politikem 
sebier Zeit stand Wir erfahren z. E von Treitschke sdbst: 



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— 195 — 



Sein L.eben lang ward er der treulosen Arglist [geziehen, 
weil kein Vertrag und kein Bündnis ihn je vermochte« — 
nun wird man die Worte erwarten: sie ehrlich zu halten; 
aber ein wahrer Patriot von der Art Treitschke's drückt das 
andersaus: »auf das Recht der freien Selbstbestimmung 
zu verzichten!« 

Nunmehr hat jeder, der sein Versprechen nicht halten 
will, sein MSntelchen gefunden! Treitschice hängt es ihm 
um, und er Icann nunmehr sagen: »Jch mag auf mein Recht 
der freien Selbstt)estimmung nicht veizichten,« und sich auch 
seiner »erbarmungslos« grausamen (eventueil: deutschen, 
wenn er ein Deutscher ist) Wahrhaftigkeit« rflhmen. 

Anders, und als viel weniger edel, als das Treitschke 
tut, faßte man merkwürdigerweise in ganz Europa diese 
Dinge aut. Alle Höfe Europas — bcriciitet Treitsctike selbst 
— »sprachen grollend vom travailler pour le roi de 
Prusse.« — Warum halten sie doch so wenig Zutrauen zu 
Friedrichs Wahrhaftigkeit? Wahrscheinlich, weil sie ihnen 
zu ^erbarmungslos und grausam war? 

Hören wir den Historiker in seiner Wahrhaftigkeit 
weiter an. 

Da Kari VI. starb, ^ sagt Treitschke, »stand ihm fest, 
daß dieser große Augenblick nicht verfliegen dürfte, ohne 
dem preußischen Staate die volle Freiheit der Bewegung 
zu schenken;« wie man aus den letzten Worten ersieht, 
fängt die Geschichte an, sehr bedenidich zu werden, denn 
^ volle Freiheit der Bewegung« erinnert gar sehr an das obige 
»Recht der freien Selbstbestimmung«, — wenn man sein 
Wort nicht hatten will. Und wirklich, unser Bedenken 
war keine Täuschung, denn Treitschke fährt fort: »In über- 
wältigendem Anstürme« — was heißen soll: Plötzlich 
und ohne vorherige Kriegserklärung — »bricht er in Schlesien 

ein und gab die Lehre« — Lehren gab er auch 

noch? wird man fragen; Ja wohl! Er gab also die Lehre: 

13* 



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I 



»daß die Rechte der Staaten nur durch die lebendige Macht 
behauptet werden. » 

Nun, das heiße ich mir einen zwar kostspieligen, aber 
deutlichen und zu Gemüt sprechenden Anschauungsunter- 
richt geben. Es ist zwar wahrscheinlich, daß Österreich 
ein solcher Unterricht sehr unaufgefordert kam, allein offen- 
bar konnte Friedrich in seiner Wahrhaftigkeit sich nicht 
bezähmen, Maria Theresia wiehtige Wahrheiten mitzuteilen, 
und zwar so eindringhch als möglich, und sollte sie auch 
als Lehrgeld dafür die Provinz Schlesien bezahlen. 

Indessen fühlte Treitschke doch, daß die Eroberung 
Schlesiens ein widerrechtlicher Vorgang war, und so suchte 
er sie moralisch und nationalistisch zu rechtfertigen: »Erst 
die friedliche Arbeit der Verwaltung gab der Erobenms^ 
Schlesiens die sittliche Rechtfertigung und führte den Be- 
weis, daß jenes vidgescholtene Wagnis eine deutsche Tat 
gewesen!« 

Wie viel Deutschtum in dieser Tat gewesen, haben 
wir oben zur Genüge gesdien; w8re sie aber noch so rein 
deutsch gewesen, so genügt doch das bloße Deutschtum 
nichts um Unrecht zu Recht zu machen. Und was die 
Rechtfertigung durch die Verwaltung betrifft, so herrscht 
zwischen der Tat und der später erfolgenden »friedlichen 
Verwaltung« ebenfolls kein moralischer Zusammenhangs aus- 
genommen, die Schlesier hätten um diese Verwaltung vor 
dem Kriege sehr dringend gdieten. Weiß tibrigens nicht 
jeder, und besonders der Historiker Treitschke^ daß fast alle 
Eroberungskriege nachg^flckter Besitzergreifung eine »fried- 
liche Aibeit der Verwaltung« im Oefötge hatten? So ge- 
schah es bei den Römern, so auch bei den Engländern und 
allen anderen Völkern, wenn sie eben keine Nomaden 
waren. — 

Die Korruption der politischen Moral bei den Histo- 
rikern und Publizisten hat nicht bei alien den gleichen 
Grund. 



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— 197 — 



Bei Treitschke ist es der forcierte Nationalismus; in ihm 
arbeitete ein eigentümlicher Fanatismus, der ihn blind fOr 
Völkerrecht und Menschenrecht machte. Ist er es doch, 
der das furchtbare Wort aussprach: Eine Statue des PhkUas 
wiege alle Leiden der griechischen Sklaven auf» wofQr schon 
seiner Zdt SchmoUer die richtige Bezeichnung: »herzloser 
Zynismus« gebrauchte; 

Einen anderen Orund für jene Korruptk>n mflssen wir 
bei dem Historiker Johannes Malier voraussetzen. Er sagte 
in seiner (von Ooethe flbersetzten) Rede auf Friedrich den 
OroBen: »Spräche man vielleicht von der Verletzung 
einiger Grundsätze des Völkerrechts; hier zeigt er sich uns 
nur in dem Falles daß er dem Drange der Notwendigkeit 
nachgab und die dnzige Gelegenheit, seine Macht zu grflndcn, 
benutzte.« 

Das ist wohl eine sehr milde Behandlung. Noch merk- 
würdiger aber ist das, was Müller über Friedrichs Unzu- 

verlässigkeit und Vertragsbruch sagt: 

»Machte er aufmerksam, wie wenig Sicherheit ein 
Pergament verleihe, so lehrt er uns zugleich desto besser 
kennen, was einem Staate wahrhaft Gewähr leiste.« 

Also ähnlich Treitschke's Theorie von der > lebendigen 
AAacht« der Staaten. Treitschke wie Muller erkennen also 
überhaupt kein Recht an, sondern nur Gewalt. 

Wie kam aber der Schweizer Johannes Müller zu jener 
Theorie, derzufolge Friedrich der Große beinahe noch An- 
spruch auf unser aller Dankbarkeit hätte, weil er uns ^auf- 
merksam machte*, und durch seinen Einbruch in Schlesien 
— über den Wert eines Pergamentes belehrte? Welche 
Theorie sich auch sehr gut im Privatrecht anwenden ließe, 
so daß jemand, der z. B. eine eiserne Kasse erbricht, sich 
damit rechtfertigen könnte: Er habe uns nur aufmerksam 
machen wollen, wie wenig Sicherheit eine eiserne Kasse 
verleihe! 

Ich glaube^ bei MüUer war es zum Teile die SchwJkJie 



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I 



eines Höflings — obwohl er ein freier Schweizer war — oder, 
wenn man will, eines auf seinen Qehalt angewiesenen Beamten, 
denn er war Historiograph des Hohenzollemschen Hauses; 
und zum anderen Teile wohl auch seine Vorliebe für heroische 
Taten, nach deren rechtlicher Grundlage er vielleicht nur 
wenig fragle. Man sieht das aus seinem ganzen Verhalten 
unter Napoleon, dem, als dem größeren Genie, zuliebe er 
sogar seinen früheren Helden Friedrich den Großen herab- 
setzte. 

Die Art der Fieurteilung Friedrichs ist aber so charak- 
teristisch für den moralisch-politischen Charakter des Be- 
urteilers, daß wir nicht umhin können, noch einen Mann 
anzuhören, der von Religion und von moralischem Rigorismus 
förmlich triefte, wie wir das oben bei seiner Kritik Voltaire's 
sahen; ich mdne nämlich den schnaubenden Tatenenthusiasten 
Carlyle 

In seiner »Geschichte Friedrich II. von Preußen, genannt 
Friedrich der Oiofie«, bespricht er, wie natüriich, das Ver- 
halten Friedrichs nach dem Tode Karls VI. »Kein Billig- 
denkender kann es dem jugendlichen Manne verargen, daß 
er die flammende Gelegenheit dergestalt ergriff und dem 
neuen Wahrzeichen folgte: Eine solche Gelegenheit zu er- 
greifen und gewagt zu bestreiten, war die Rolle eines jugend- 
lichen hochherzigen Königs, der weniger empßbiglich für 
die Gefahren und zugänglicher fflr andere Erwägungen 
war, als ein älterer gewesen sein wtlrd&c Wie man sieht, 
genügt es Cariyle, einen Heklen agieren zu sehen, alles 
andere, die Rechtsfragen dabei, sind ihm gänzlich gleichgiltig; 
wenn nur etwas getan wird. 

Und da Friedlich in sehier »Geschichte meiner Zeit« 
davon spricht, er hätte »das Veriangen gehabt, sich einen 
Namen zu machen«, welches Veriangen von so manchem 
das Völkerrecht achtenden Manne sehr Obel genommen 
wurde, so trat Carlyle für dieses Wort Friedrichs mit Be- 
geisterung ein. 



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— t9Q — 



»„Wie gräßlich?*" rufen verschiedene Geschichtsschreiber 
aus. »Welch aufrichtiges Eingestehen, daß ein solches Ver- 
langen in Ulm r^e gewesen sein mochte: Wie ehrlichl 

Das rufen sie nicht aus Was die Berechtigung 

seiner schlesischen Ansprüche oder nur seinen eigenen Glauben 
an deren Berechtigung angdif, so gewährt uns Friedlich 
nicht das geringste Licht, das den Lesern neu sein Ic6nnte. 
Er spricht, wenn das Geschäft es mit sich bringt von 
jenen seinen belcannten Anrechten'» und zwar mit der Miene 
eines Mannes» der erwarte^ daß man ihm auf sein Wort 
glaube; aber es geschieht fifichtig und nur im Oeschäftswege, 
und er läßt sich nicht auf das mindeste Piadieren ein: — 
Ein Mann, möchte man sagen, dem es ziemlich gldchgiitig 
ist, was wir davon tuüten, dessen Augenmerk bloß auf das 
Praktische gerichtet ist« 

Also mit der »Jugendlichkeit« und dem »bloß auf das 
Praktische« — d. h. den eigenen Vorteil — gerichteten 
»Augenmerk« erledigt Carlyle eine Völkerrechtsfrage; und 
Friedrichs ehrliches Eingeständnis des »Verlangens, sich 
einen Namen zu machen^ versöhnt ihn nicht nur mit allem 
anderen, sondern bringt ihn sogar zur Rührung über den 
gar so ^ehrlichen« Mann. Bei Carlyle ist überhaupt - und 
nicht nur in Friedrichs Fall — jede noch so brutale Tat 
gerechtfertigt, sie muß nur mit Tüchtigkeit, mit Saclikenntnis 
ausgeführt werden, und wenn ein Räuberhauptmann seine 
Mordtaten noch dazu aufrichtig eingesteht, d. h. sich der- 
selben nicht schämt, so wollte ihn Carlyle auch sehr gern 
umarmen. 

Die Ermordung aller Einwohner des eroberten Saragossa, 
die sich nicht zum Chrisfentume bekehren wollten, durch 
Kari den Groben findet er ganz in der Ordnung^. Die 
Sklaverei in den nordamerikanischen Südstaaten verteidigte 
er, den russischen Despotismus nicht minder, über die fran- 
zösische Revolution und die Menschenrechte machte er sich 
lustig» dalflr aber tadelte er Voltaire, weil er — nicht die 



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- 200 — 



Heiüe^keit des Schmerzes verstand, kein Miserere über 
das menschliche Leben gesungen und seine Kampfschriften 
verleugnet hatte! in der Tat ist es ein höchst betrübender 
Anblick, bei unseren begabtesten, oft in gewissem Sinne 
warm empfindenden Schriftstellem einen so großen Mangel 
an RechtsgefflhI und an Menschenachtung zu finden. 

In dem sehr populären Werice: »Neue Bilder« . . . von 
Freytag wird in ziemlich gleicher Art wie von Strauß und 
Treitschice über die Rechts- und Friedensfrage in der Politilc 
rücksichtslos hinweggeschritten. »Wenig kümmerte ihn im 
Grunde das Recht, welches er auf schleslsche Herzogtfimer 
etwa noch hatte und durch seine Federn vor Europa zu er- 
weisen suchte. Die Politiker der despotischen Staaten des 
17. und 18. Jahrhunderts soigten darum ülieriiaupt nicht, c 
In dieser Weise schreitet Freytag filier einen Raubkrieg 
hlnw^, ohne den Leser auch nur im geringsten auf das 
Unrecht dieser gewalttätigen Politik aufmetksam zu machen» 
und nun muß hierbei bedenken, daß die Leser solcher 
populären Bficher wie des Freytag* sehen doch zumeist ohne 
selbständiges Urteil sind. Noch a^nlscher aber spricht 
Freytag Ober die VeigrOBerung Preußens durch Westpreußen. 
Er nennt das einen »neuen Erwerb«. Und die Rechtsfrage 
eriedigt er in folgender Art: »Waren schon die Ansprüche 
des Königs auf Sctilcsien zweifelhaft gewesen, so be- 
durfte es jetzt den ganzen Scharfsinn seiner Beamten, 
einige mühsame Rechte auf Teile des neuen Erwerbs aus- 
zuschni ücken< — anstatt zu sagen: Da kein Recht vor- 
handen war, strengte man sich an, durch advokatische 
Künste den Schein eines solchen vorzuspiegeln. Und nun 
verwendet Freytajnr wieder die bekannte Räuberphiiosophie 
von den historischen Missionen« und politischen Auf- 
gaben <, der wir ja noch heutigen Tages immerfort begegnen. 
»Hundert Jahre, nachdem sein großer Ahnherr die Rhein- 
festungen gegen Ludwig XIV. vergebens verteidigt hatte, 
gab er den Deutschen wieder die ausdrückliche Mahnung, 



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— 201 — 

daß sie die Aufgabe haben, Gesetze, Bildung, Freiheit, 
Kultur und Industrie in den Osten Europas hinein- 
zutragen« usw. 

Und solche Männer, wie Müller, Carlyle, Strauß, 
Treitschke, Freytag, sind die Lehrer der Erwachsenen, und 
besonders der Jugend, und Bildner ihrer Lebensauffassung! 
Die ganze schlesische Angelegenheit Friedrichs des Großen 
ist uns zwar heute eine gänzlich veraltete^ aber die Art der 
Beurteilung derselben durch die Publizisten Ist es durchaus 
nicht Mfliler's darauf bezügliche Schriften sind jetzt un- 
gefiüir hundert Jahre alt, seither schrieb hierflber Cariyle im 
Jahre 1899, Freytag in den GOer Jahren, Strauß Im Jahre 
1672, Treitschke im Jahre 1879; und was sahen wir? 

Bei allen das Fehlen jeder Spur von politischer 
Moral, nichts als korrupte und korrumpierende Maxi- 
men der Politik. Wie soll UnparteSichkeit, Rechtsgefühl, 
Friedensliebe in die Oesinnungen der Menschen kommen, da 
doch aus der Jugend, die solche Werice studiert, die Beamten, 
Professoren, Publizisten und Staatsmänner hervorgehen? 

Mit dem »nationalen Entwicklungsdrange« und mit 
willkürlicher Zuerteilung historischer Missionen* arbeiten, 
um Eroberungskriege zu rechtfertigen; gar nicht daran 
denken, daß jede Nation und jeder Staat genau dieselben 
Vorwände benutzen kann und daß auf diese Weise — statt 
des ewigen Friedens — ein ewiger Krieg unausbleiblich ist 
— beweist seitens solcher Schriftsteller einen solchen Man^^el 
an Gesittung und an Verantwortlichkeitsgefühl, eine solche 
Barbarei des politischen Denkens, daß man sich nicht genug 
darüber wundern kann, warum gesittete Menschen diesen 
Autoren nicht die deutlichsten Beweise ihrer Verachtung 
zuteil werden lassen. 

Allerdinors, dieser Gesitteten gibt es nur wenige! Und 
das charakterisiert eben unsere Zustände. Alle Nationen des 
europäischen Kontinents haben ihre brandstiftenden Natio- 
nalitats-Philosophen und ihre Missions-Verleiher, die ihrem 



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— 202 - 



Volke immer prophetisch jene Mission von der XX'^eHge- 
schichte oder der Religion oder von der Kultur zuteilen 
lassen, die ihnen — genügende Vorteile bringt. 

Was bedeutet das Unheil, das die Verfasser unzüchtiger 
Werke, Schriften oder Bilder unter den Menschen anstiften, 
gegenüber jenem, das durch das Einpfropfen der brutalen 
Oewaltsgesinnungen mittelst schönklingender Emkleidungen 
und scheinbarer Rechtfertigung in den Volksmassen bewirkt 
wird? Wie kann man sich dann darüber wundem, wenn in 
gewissen Phasen der Politik die schlummernde, sophistisch 
versch(ynte Barbarei in so grossen Massen der Bevölkerung 
plötzlkh hervoibricht, daß ehigeizige und chauvinistische 
Politiker sich mit einem Anschein von Walulieit darauf be- 
rufen IfGnnen, dieser oder jener Krieg sei populär! 

Der Autor des obszönsten Buches ist, gegen solche 
Verderber der friedlichen Neigungen in der menschlichen 
Natur gehalten, ganz und gar fOr harmlos zu eridflren. 

Wenn es sich um Voltaire handelt, können diese Herren: 
Carlyle, Strauß u. a. nicht genug ängstUch Mficken seihen; 
in der Politik aber, die ihnen paßt, verschlucken sie Kamele, 
ist es zu verwundem, daß die Europier ffir die anderen 
Kontinente heute genau dasselbe sind wie sdnetzeit die 
Normannen für Europa? Allerdings mit dem Unterschiede, 
daß die Normannen ihre Raubzüge ohne Tugendschwindel 
ausführten, und unseren heutigen tugendheuchclndcn Nor- 
mannen auch ihrer würdige Literaten zu Gebote stehen, die 
mit idealistisch aussehenden Empfindungen, wie Religion, 
Patriotismus oder Nationalität, ihre Raubzüge populär machen, 
bevor sie ausgeführt werden, und rechtfertigen, nachdem sie 
gelungen sind/) 

*) Ein sehr belehrendes Detail aus dem Gebiete der parteHtdien 

Gtschichfsdarstellung möchte ich hier noch dem Leser mittenen, der 
keine Oelegenheit hat, es auf anderem Wege kennen zu lernen. M&n 
wird daraus erkennen, mit welchem Zangefühl Dynasten behandelt 
werden, wenn sie einem zu Gesichte stehen, und mit weldier tagend- 
haften Entrüstung, wenn das Gegenteil der Fall ist: 



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— 203 — 



Wenn man die Kricgsuntemehmungen der Europier 
gegen atiBereuropSische Vdlker betrachtet, nicht nur jene 
in früheren Jahrhunderten, sondern auch die heute noch 
stattfindenden, und andererseits daran denld, wie manche 
Potentaten, Priester, Minister, Abgeordneten und Journalisten 
— mit wenigen Ausnahmen — von Religion, Zivilisation, 
Kultur-Missionen und dergleichen triefen, so pafit auf diese 
ganze Sippschaft nichts besser als der variierte Ausruf 
Hamlet's: »Schreibtafel her! Ich mu6 mir's niederschreiben, 
da6 einer fromm sein kann und edelmütig scheinen, und 
immer fromm sein kann und edelmütig schdnen, und doch 
ein Schurke und ein Mörder sein!« 

# 

Wir knüpften diese (gewiß langatmigen) Auseinander- 
setzungen an die Ratschläge, die Voltaire Friedrich immer 
wieder gab, endlich den Menschenschlächtereten Einhalt zu 
tun. Und in der Tat, wenn man so oft die Massenmorde 
durch Napoleons Kriege hervorhebt, so ist nicht weniger 
Anlaß, dasselbe bei Friedrich dem Großen zu tun. Der 
Unterschied ist nur der, daß Friedrichs Schöpfung aufrecht 
blieb. Wäre Napoleon auf dem Throne geblieben und be- 
stflnde sein Staat heute noch, etwa in der Größe, die er 
zur Zeit seiner weitesten Ausdehnung hatte, so wfirde es 

überall wird von der Freveltat N.ipoleons pe?prochen — und 
jjeder Schulknabe weiss von ihr — den Herzog von Enghien auf fremdem 
Territorium festnehmen und nach Frankreich bringen uncTdort erschießen zu 
lassen. Aber ich möchte wissen, ob es ir^nd iem.indem, der nicht speziell 
preußische Geschichte studiert, bekannt ist, aati ein genau analoses 
Verbrechen dem |;roBen Kurfürsten vorgeworferi werdeo 
kann. Dieser h*eß nämlich den opponierenden Jnnker Christian Ludwig 
Kalckstein, der sidi nach Polen flüchtete und von Warschau aus gegen 
Friedrich Wilhelm mit großem Erfolge heizte, durch seinen dortigen 
Gesandfen abfangen, in eine Decke verpacken, in einen NX'agcn 
stecken^ über die preußische Grenze transportieren und (im November 
1672) in Memel enthaupten. Wie konsequent wird über diese Affäre 
gescBwiegen, wie selten wird de selbst «n gehörigen Platze erwihnti 



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— 204 — 



wohl bei den meisten Histonkern heissen: »Diese Massen- 
morde waren notwendig , von der Geschichte vor^fe- 
schriebens große Reiche können nur durch Blut zusammen* 
gekittet werden , und dergleichen mehr. 

Nun soll aber hier nicht unerwähnt bleiben, daß Voltaire 
in der Kricjgs- und Friedensfrage einmal auch als Für- 
sprecher des Krieges auftrat Und das tat er, als er 
Friedrich aufforderte, die Türken zu bekriegen, um »das 
Vateriand des Sophokles und des Aldbiades« zu befreien. 
Voltaire riet also, wie man es heute ausdrückt, zu einem 
»Kultur- und Befreiungskri^c. 

Dieses große Thema, Aber welches ein Philanthrop wie 
Voltaire seine Meinung aussprach, müssen wir zugleidi mit 
dieser Meinung einer Betrachtung unterziehen. Wie steht 
es also mit der Humanität in Voltaire's Vorschlag 
mit Rücksicht auf seine Zeit? Und wie bezüglich der ethisch- 
politischen Forderung, die wir an die als möglichst nahe 
wünschenswerte — Zukunft stellen sollen? 

In den Questions encyclop^diques liatte Voltaire seiner- 
zeit aus allen Kräften gegen den Kri^ im Allgemeinen ge- 
schrieben, und mit dem Vers: »Ich hasse alle Helden« und 
einigen darauf folgenden auch spezieil auf Friedrich den 
Großen sehr deutlich angespidi 

Niemand vor Voltaire hat — meines Wissens wenigstens 
— solchen Abscheu vor dem Krieg empfunden und in seinen 
Schriften so oft zum Ausdruck gebracht, wie er. Auch in 
dieser Beziehung steht er an der Spitze aller humanen Oe- 
sinnungen und Bestrebungen der neueren Zeit. 

Ganz besonders deutlich erscheint seine Empörung 
Ober Kriegsgreuel und Kriegsrustungen überhaupt in seinen 
gelegentlichen Bemerkunf^en zu den Unternehmungen Ludwig 
XIV. Mitunter spricht Voltaire im Siede in so glänzendem 
Stil von den Eroberungszügen dieses Königs, dass es auf 
den ersten Anblick hin sogar unangenehm auffällt und man 
leicht zu einer falschen Auffassung von Voltaire's Oesinnung 



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- 205 — 



verleitet wird. Aber an sehr vielen Stellen erscheint der 
humane Philosoph doch p^ar zu deutlich, als daß ein solches 
Mißverständnis Platz greifen könnte. 

Nach auiien hin, sagt Voltaire im Si^Ie, war Frank- 
reich nach der Schlacht bei den Dünen durch seinen Waffen- 
nihm und durch den Zustand, in welchem die übrigen 
Staaten sich befanden, mächtig und stark, im Innern aber 
litt es: es war in finanzieller Hinsicht erschöpft Man be- 
durfte des Friedens. 

In den christlichen Monarchien haben die 
Völker beinahe niemals ein Interesse an den Landes- 
herren. Das siegende Volk hat niemals Vorteil von 
der den Besiegten abgenommenen Beute: es be- 
zahlt Alles, es leidet beim Glück seiner Waffen 
wie beim Unglück, und der Friede ist ihm nach dem 
größten Siege beinahe ebenso notwendige wie wenn die 
Feinde seine Orenzplätze eingenommen hätten.« 

Gelegentlich einer glänzenden Attaque des Prinzen 
von Oranien auf die Armee des Marschalls von Luxemburg 
sagt Voltaire: >Wenn das Blut ihrer Nebenmenschen 
in den Augen der Ehrgeizigen irgend einen Wert 
hätte, so würde der Prinz von Otanien dies Gefecht nicht 
geliefert haben. Er wußte mit aller Bestimmtheit, daß der 
Friede geschlossen war, er wußte überdies, daß dieser Friede 
fflr sein Land von Vorteil war, und dennoch setzte er sehi 
und mehrerer Tausend anderer Üben zu Beginn eines 
allgemeinen Friedens aufs Spiel. — — Diese ebenso 
unmenschliche wie grosse Tat, die damals mehr 
bewundert als getadelt wurde, usw.« 

An einer anderen Stelle im Si^e heißt es: »Schon 
seit zwei Jahrhunderten ist es eine der Wirkungen der 
menschlichen Erfindsamkcit und der menschlichen Wut, daß 
die Verheerungen unserer Kriege sich nicht auf Europa 

beschränken Die hidier, die wir durch List und 

Gewalt zur Aufnahme unserer Niederlassungen genötigt^ 



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— 206 — 



und die Rothaut«, deren Kontinent wir mit Blut be- 
fleclct und ausgeplündert liaben, sehen uns fOr 

Feinde der menschlichen Natur an, die aus den ent- 
ferntesten Winkeln der Welt herbeieilen « 

Und bezüglich der Bereitwilligkeit zu Kriegsrustungen 
sagt der Verfasser des Siede, nachdem er die ungeheuren 
Vorbereitungen zur Belagerung von Turin detailliert be- 
schrieben: »Die Kosten dieses Gerätes der Zerstörung 
würden sicherlich zur Gründung und Unterhaltung der 
stärksten Kolonie hinreichen. Jede Belagerung einer 
groi:ien Stadt erfordert diese ungeheuren Kosten, 
und wenn es sich im eigenen Lande um den Wieder- 
aufbau eines zerstörten Dorfes handelt» so wird er 
verabsäumt.« 

Genau so sprechen wir noch heute^ und müssen so 
sprechen, weil diese Bemetkung heute noch d>enso aIctueU 
ist wie zur Zeit Voltaire*s, — 

Zum Zwecice at>er, ein unziviüsiertes Voile wie die Türicen 
aus Europa hhiauszuwerfen, die Griechen, als Eiben oder 
wenigstens Nachkommen einer grossen Vergangenheit, von 
diesen »Barbaren« zu befreien und europäische Kultur 
im Orient einzuführen, erschien Voltaire ein Krieg 
als erlaubt, ja als eine edle Tat. Er spornte daher 
Katharina II. in dieser Beziehung an, — obwohl sie das 
aus ganz anderen Gründen von selbst anstrebte — wünschte 
ihr in seinen Briefen Stambul, ja übersandte ihr (im Jahre 
176Q) sogar das Projekt einer von ihm selbst erfundenen 
Kriegsmaschine, sogenannte > assyrische Sichelwagen von 
denen er sich im Kampfe mit den Türken Großes versprach. 
Zu diesem Projekte fügte er an mehreren Steilen des be- 
treffenden Einbegieituriß-sbriefes immer die Worte bei: Ich 
bin nicht vom Metier der Mörder;- woraus ich schliel5e 
daß er im Grunde seines Herzens doch fühlte, sich eines 
solchen Projektes schämen zu müssen — wohi nicht 



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— 207 — 



vom kriegs technischen, sondern vom Standpunkte der Hu- 
manität aus. 

In seinem Zivilisationseifcr, der ihn schon die Teilung 
Polens mit Freuden begrüssen heß, forderte er Friedrich den 
Großen auf, sich mit der russischen Kaiserin gegen den 
Oroßtürken zu verbinden, und auch Josef II. hätte er gerne 
mittun (Tesehen. In diesem Falle waren also die Soldaten 
Friedrichs nicht mehr »gedungene Räuber-, wie Voltaire 
und die Enzyklopädisten die damaligen Heere nannten, 
sondern Befreier; Voltaire dachte hier ähnlich wie die Fran- 
zosen in den Rcvolutionskrici^en und unter Napoleon III., 
der — lind mit ihm mancher andere — sagte: »Wir sind 
die einzige Nation, die für eine Idee kämpft<'.*) 

Ich halte nun diesen Einfall Voltaires, ein so edles Ziel 
er dabei im Sinne hatte, für die einzige ^Naivetät , die 
mir in seinem ganzen Leben entgegengetreten ist; 
aber unter Naivetat verstehe ich hier jenen auffallenden 
Mangel an praktischer Menschenkenntnis, der bei edlen 
Menschen mitunter in Momenten des Enthusiasmus fOr eine 
große Idee zu Tage tritt, weil solche Menschen in der Fülle 
ihres Gefühls sich gar nicht vorstellen können» daB der 
andere nicht eben so fühlt wie sie. 

Man denke sich doch: Ein König von Preufien, ein 
Friedrich II. — mit all seiner Philosophie — soll als Volks- 
befreier und Kulturicri^ger agieren! 

Nun: Friedrich» als immer nüchteraer Politiker, war auch 
In der Tat nicht entfernt gesonnen, wie er sich ausdrOckte^ 
den »politischen Don Quixote« zu spielen und niemand 
wird ihm daraus einen Vorwurf machen — ; er behandelte 
Voltaire's Aufforderung, nachdem er sie auch direkt mit den 
Worten: »Kommt es mir zu, sie (die Griechen) zu befreien?c 
zurtickgewiesen hatten mit nicht geringer Ironie, und hiezu 
nutzte er eine formale Inkonsequenz Voltaire's aus. 

*) Wobei hier davon abgesehen wird, dafi Napoleon !!I im Jahre 
1859 nicht nur für eine Idee, sondern auch f&r einen tüchtigen Land- 
gewina kimpftc 



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— 208 — 



»Während Sie die Kunst verschreien,« antwortet ihm 
der Künil,^ die Sie in Ihren Werken die höllisclie nennen, 
muntern Sie mich in zwanzij^ Briefen aut, daß ich bei den 
Unruhen im Orient nicht müßig bleiben soll. Reimen Sie, 
wenn Sie können, diese Widersprüche zusammen und seien 
Sie so gütig, mir die Konkordanz zu schicken«. Und an 

anderer Stelle scherzt er: ^ Haben Sie vergessen? Ich 

habe ihren Artikel Kriep^ in denQuestions encydop^diques 
mit Schaudern gelesen usw. 

Wie man aber leicht sieht, warhierkein solcher Widerspruch 
in Voltaire's Forderung gelegen, wie ihn Friedrich darin sah oder 
zu sehen vorgab; denn Voltaire's Kampf gcgtu den Krieg 
galt nur dem aus Ehrgeiz unternommenen, wie er sich ja 
auch in seinen Erzählungen (z. B. Micromegas i oft genug 
äber die Menschen lustig macht, die sich wegen einer Erd- 
scholle herumschlagen. Hier aber wünschte Voltaire den 
Krieg für Erweiterung des Gebietes der Zivilisation. 

Friedrich benOtzte also entweder nur die Odegenhett» 
den Schein eines Widerspruchs auszunutzen, um seine 
gegenteilige politische Ansicht auch im literarischen Gebiete 
zu rechtfertigen; oder er hielt Voltaire's Aufforderung in der 
Tat für eine Inkonsequenz. 

Ganz gewiß ist es aber, daß, wenn dn wesentlicher Vorteil 
von einem Kriege g^gen die TQricen zu erwarten gewesen 
wSr^ Friedrich sich weder von ligend einem Abscheu vor 
fernerer Menschenschlflchterei, noch von iigend wdchen 
Wflnschen oder Deduktionen aller Philosophen der Wdt 
bitte bednfiussen und abhalten lassen, zu marschieren! 

Nur mit sich selbst, d. h. mit sdnen dgenen Schriften 
wollte er nicht gerne in Widerspruch erschdnen, und da schlug 
er in dem betreffenden Falle den dn, nicht sdne Taten 
zu unterlassen, sondern sdne frflheren Ansichten womög- 
lich vergessen oder verschwinden zu machen. Nach dieser 
JMethode setzte er z. B. alles daran, um, kaum König ge- 
worden, den Druck des von ihm als Kronprinzen verbßten »An- 



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— 209 — 



timacchiavelli sofort zu sistieren; was ihm aber, wie bekannt, 
trotz der Intervention Voltaire's, infolg^e einer Geldforderung 
des Verlegers, der das Manuskript besaß, nicht gelungen ist. — 

Durfte aber ein Menschenfreund wie Voltaire 
überhaupt 7U einem Kulturkrieg raten? 

Ich antworte: Bei allgemeinem Nichtvorhanden- 
sein jedes Zwanges, Soldat /u sein und Kriegs- 
dienste zu leisten, hätte er dazu raten dürfen. Heute, 
wo allgemeine Wehrpflicht herrscht, wäre und ist ein jeder 
Krieg, auch einer zu dem alleridealsten Zwecke, eine Barbarei 
höchsten Ranges; nämlich ein Massenmord nicht nur aller 
feindlichen, sondern auch aller jener eigenen Soldaten, die 
nicht freiwillig in diesen Krieg hätten gehen wollen. 

Nun gab es zu Friedrichs Zeit allerdings keine allgemeine 
Wehrpflicht, sondern die Soldaten wurden geworben. 
Aber wie ! Berücksichtigt man die damalige Art der Anwerbung, 
so stellt sie sich weit mehr als dn Abfangen denn als frei- 
willige Stellung dar, und die Brutalitflt, solche Soldaten bloß 
als Kriegsmaschinen zu verwenden, die man sich mit Lisi 
und Gewalt verschafft hat, nähert sich daher wieder der 
heutigen, wo das Wehrgesetz die Gewalt des Staates Ober 
Tod und Leben der Staatsbfiiger formalisiert hat, wie das 
auch namentlich Rousseau in seinem Contrat social 
verlangt.*) 

Da aber Voltaire die Art der Soidatenwerbung nicht 
zum Gegenstande seiner Kritik gemacht hatte, ja, meines 
Wissens, fiberhaupt Niemand im 18. Jahrhundert die Rechte 
des Individuums auf seine physische Integrität im 

*) über die Vorsänge bei den Werbungen im 18. Jahrhundert kann 
man sich sehr ^iit aus u. Freytags -Neue Bilder aus dem Leben des deutschen 
Volkes Belehrung verschaffen und zwar aus dem Kapitel: »Aus der 
Garnison«. Es heißt dort u A.: »Die Obersten und Werbeoffiziere 
raubten und entführten einzige Söhne, welche frei sein sollten, Studenten 
von der Universität In Kriegszeiten wurde eine förmliche Razzia an- 
gestellt Im siel>eniährigen Kriege wurde von den Preufien in 

Schlesien sogar auf die KnalMn der oberen Oymnaiialltlaasen ge- 
fahndet « u. s. w. 

Popper, Vo'.taii«. 14 



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— 210 — 



öffentlichen Recht einer moralisch-politischen Untersuchung 

unterzog, so wurde von Voltaire wie von den anderen 
Philosophen nur an die Verminderung oder Ab- 
schaffung der Kriege selbst gedacht, wie das schon 
früher besonders vom Abb4 St. Pierre geschaii — ; und 
diese Betraclitun^ allein repräsentierte alles dasjenige, was 
in jener Zeit von der Humanität der Souveräne oder der 
Gesetzgebungen Oberhaupt verlangt wurde. Auch in unseren 
Tagen ist man ja iiber diese Wendung der Frage nach dem 
Fundamentalrechte der Staatsbürger noch nicht hinausge- 
kommen.*) 

Abgesehen davon, daß die Reseitif^ung der Krie^^e durch 
Schiedsgerichtein Fällen von Ehren-^ und Lebensfragen 
der Staaten kaum jemals, oder doch nur in fast unendlich 
fernen Zelten zu erwarten ist, ist es auch ganz unrichtig, 
jede Art von Krieg beseiti^ren zu wollen. Wenn allerem ein 
nur freiwilliger Kriegsdienst vorhanden ist, so wären z. B> 
manche Befreiungskriege wohl zu billigende und 
höchst edle Unternehmungen, vorausgesetzt, das unter- 
drückte Volk oder ein großer Teil desselben will sich von 
fremden oder einheimischen UnterdrQckem befreien und ruft 
auswärtige Hilfe herbei. NatOrlich setze ich hier voraus» 
daß ein solcher Befreiungskrieg nicht ein bloßer Vorwand 
zum Nutzen der auswärtigen Hilfsmacht sei, sondern daß 
alles mit ehrlichen Dingen zugeht Fälle von gänzlicher und 
tdlwetser Unehrlichkeit, von mehr oder weniger politischen 
Intriguen werden allerdings ebenfalls vorkommen, derid 
kann aber keine noch so durchdachte Institution verhüten; 
wir müssen das so hinnehmen, wie so viele andere Ver- 
brechen. 



*) Während der Drucklegung finde ich, daß doch Jemand diese 
Frage in dem von mir behandelten Sinne auffaßte, fn seinem Werke 
»Die Entstehung lies modernen Frankreich- (III. Band, 1. Abteilung) 
wendet sich nämlufi H Taine ebenfalls gegen das heutige System 
der allgemeinen Wehrpflicht und vergleicht es io miBbilUgOldeni 
Sinne mit der früheren Methode der Anwerbung. 



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— 211 — 



Aber selbst der friedliebendste Mann — ausgenommen 
einen solchen, der nach der Bergpredigt dem Übel nicht 
widerstreben« will — wird zugeben, daß z. B. der Befreiungs- 
krieg, den die 1000 Freiwilligen unter Garibaldi im Jahre 
1860 in Süditalien führten, gar nicht wegzuwünschen wäre. 
Denn ohne diese Hilfe wäre das arme Volk von Neapel, 
das von einer grausamen absolutistischen Dynastie und 
einer ebensolchen Priesterschaft niedergedrückt war und 
dessen edelste Männer in schrecklichen Kerkern schmachteten, 
noch heute seine Bedrücker nicht los. 

Es ist nun wohl g^anz gut möglich, daß die Menschen 
mitunter durch unehrliche Mittel, durch Vortäuschungen, 
Agitationen aller Art, nicht nur in solche Befreiungskriege, 
sondern überhaupt in Kriege mit nur scheinbar edlen 
Zielen hineingetrieben werden. Gegen solche Tatsachen, 
die die Folge menschlicher Schlechtigkeit sind, läßt sich, 
wie gesagt, nichts machen; und nur das Eine kann hierbei 
zum (relativen) Tröste gereichen, daß jeder Kriegsdienst ein 
freiwilliger sein muß. Wer sich also infolge irgend welcher 
Agitationen und Überredungen zum Eintritt in das kämpfende 
Heer entschließt, hat es eben nur seiner eigenen Urteilskraft 
zuzuschreit>eii und niemand anderer kann und darf ilin so 
bevormunden, daß er seine Cntschließungsfreilieit gewalt- 
samer Weise einengt oder vernichtet 

0^[en Agitationen der einen Art kann man nur wieder 
Agitationen anderer, eventuell entgegengesetzter, Art in An- 
wendung bringen, ohne daß man vorher wissen kann, 
welche von ihnen jeden Einzelnen ausschlaggebend beehi- 
flussen wird. 

Aber ich setze voraus, daß jeder Mensch von Gesittung 
die Abschaffung aller Kriege im allgemeinen wünsche und 
sie nur in äußersten Fallen billigen werde; Wenn es nun 
wohl auch solche Männer gibt, die genau das Gegenteil 
tun und sogar OrOnde anführen, die die Beseitigung der 
Kriege als Unglück erscheinen lassen sollen, so ist hier 

14* 



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— 212 



nicht der Ort, auf ihre Ansichten cinziip^chen. Es gibt auch 
schon hie und da ganz gute Widerl^ngen derselbeni 
wenn auch, wie ich glaube^ sich noch manches andere gegen 
sie sagen lieBe. — *) 

Nur auf einen höchst wichtigen Umstand soll hier auf- 
merksam gemacht werden, nSmlich darauf, dafi es fast 
immer nur religiös veranlagte oder religiös ge- 
sinnte Geister, oder auch sogenannte »Conser- 
vative« sind, die den Krieg nicht beseitigt sehen 
wollen; entsprechend der Oesinnung, auf die wir schon 
oben bei dem frommen und konservativen Cato gelegent- 
lich der Catilinarischen Vcrschwöriiiig hiiigewiesen haben. 

Während der antichristliche, irreligiöse Friedrich der 
Große, ob/war ein Krieger durch und durch, dennoch ein- 
mal zu einem seiner französischen Freunde bei einer Revue 
sa^e: 2 Was täte ich, wenn diese so Vielen nicht mehr den 
Befehlen eines Einzigen folofen wollten? und meinte: 
»Möchten meine Soldaten anfangen zu denken, so bliebe 
keiner von ihnen im Heere!« Während ferner der irreligiöse 
Voltaire^ wenigstens im allgemeinen, nicht aufhörte, gegen 
Menschenschlächtereien zu wüten — schreibt der sehr fromme 
Ulf ramontane Joseph de Malstre: »Wenn die Menschen- 
seele infolge von Verwöhnungen ihre Elastizität verioren hat, 
ungläubig wird, und in l-astem, welche mit einer Ober- 
mäßigen Zivilisation Hand in Hand gehen, fault (!), dann 
Icann sie nur durch Blut erneuert werden.« 

In unseren Tagen sagte der religiösgesinnte und kon- 
servative Moltke: »Der Krieg ist eine heilige göttliche 

Institution, ist eines der hällgsten Gesetze der Wdt 

unterhalt in den Menschen alle großen und edlen OefOhle 
usw.;« von den unedlen OefOhlen und den Qualen der 
Menschen bei Kriegen schweigt Moltke 

*) Man sehe das Kapitd Aber die Wehniflidit in 'Recht zu 
leben « 



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— 213 — 



Der klerikale Marquis de Vogu6 und der uttiamontane 
Brünettere sprechen ebenfalls im Sinne de Malstre's.*) 

So auch alle frommen preußischen Junker, klerikale 
Adelige In Frankreich, alle Frommen in Rußland, ja letztere 
bringen sogar eben jetzt, im russisch-japanischen Kri^e^ die 
armen Bauern, die mit ihren Familien trostlos darüber sind, 
nach Asien geschickt zu werden, zum Gehorsam, indem der 
fromme Zar ihnen vom Pferde herab iigend dn eingerahmtes 
Heiligenbild vorhält und sie damit »segnet«. Wenn man 
daran denkt, so kann man in der Tat ausrufen: »Der 
Menschheit ganzer Jammer faßt mich anl« 

Der brutale Charakter konservativer Pärtden zdgte 
sich, wie in so vielen andern entschddenden Situationen 
der politischen Geschichte, in unseren Tagen auf's neue in 
der Frage der Unabhäiip^igkeit Norwegens von Schweden. 
Es ist doch eine evidente Folge der Achtun vor Menschen- 
würde, daß, wenn eine Nation mit einer andern nicht in 
politischer Verbindung sein will — und noch dazu, wenn 
die ganze Nation es einstimmig verlangt — sie nicht mit 
Gewalt zu einer solchen gezwungen werden darf. Ein Volk 
ist ja kein privates Eigentumsobjekt, kein Grundstück und 
keine Oeldh()rse, die irgend jemandem, z. B. einem andern 
Staat angehört, und es kann sich ebenso gut von einer 
etwa schon bestehenden Verbindung mit mindestens dem- 
selben Recht lossagen, wie es gcfren eine Annexion durch 
Waffengewalt protestieren und sich wehren kann. 

Aber eine solche Achtung vor den Menschen kennen 
Konservative nicht! Die erste Kammer, d. i. die Kammer 
der Konservativen in Schweden erklärte sich nach der Unab- 
hängigkeitserklärung Norwegens sofort für den Krieg gegen 
dieses Land, obwohl der Ministerpräsident selbst sogenannte 
»starke« Maßregeln, wie sie die Konservativen wünschten, 
perhorreszierte» Die allermeisten, weniger frommen, Liberalen 

*) Ich entnehme einige dieser Anführungen den Zitaten, die Tolstoi 
in einer Broschüre gegen den Krieg» des Titels: «Besinnet Euoil« mitteflt 



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I 

— 214 — 



und die irreligiösen Sozialisten Schwedens aber protestierten 
entschieden g^scn jede Anwendung von Gewalt 

Andererseits sind es fast lauter freigeistige 
Schriftsteller, die die Barbarei des Krieges ab- 
schaffen wollen. 

Unter solche Schriftsteller ist auch Leo Tolstoi, 
einer der edelsten Gegner des Kric^ies, zu zählen, obwohl 
er nicht aufhört, seme moralischen Vorschriften und Lehren 
mit den Worten: Religion, Gott, Besthnmung des Menschen, 
Christentum usw. zu vermengen. Er vermengt sogar bei 
seinen Definitionen der Religionen unaufhöriich das »All« 
und die »in Zeit und Raum unendliche und darum uner* 
grfindliche Welt« mit einem persönlichen Gott, dem 
man »dienen« soll» wen es für den Menschen nur ein Mittel 
der Befreiung gibt, »seinen Willen mit dem Willen Gottes 
zu vereinigen« — aber ein »All« oder eine »unendliche Welt« 
kann doch keinen Willen haben, und noch dazu einen so 
gearteten, daß ein menschlicher Wille sich ihm akkunuiiüdieren 
könnte! 

Und woher Tolstoi überhaupt es weiß, daß ein Gott 
existiert, dab er einen Willen besitzt, dal! der Mensch eine 
»Bestimmung hat, die er begreifen soll, waiiii und wo 
ihm diese Bestimmung von ^Gott« mitgeteilt wurde, und 
daß selbst, wenn diese Bestimmung existiert, sie gerade 
einen moralischen Charakter haben muß — das alles er- 
fährt man nicht. Statt einfach die moralische Empfindung im 
Menschen zu wecken, wie das Confucius mit so viel Erfolg 
getan hat, verquickt er seine Ethik mit Transzenden/cn, die 
ihm noch aus seiner Jugendzeit anhängen, und spricht zu 
seinen Lesern, wie man zu Kindern und Bauern oder jungen 
Mädchen vom »lieben Gott< und vom »Himmelvater« 
spricht Für russische Verhältnisse mag diese Art zu 
moralisieren sehr wirksam sein, bei Tolstois Ehrlichkeit ist 
aber gar nicht daran zu zweifeln, daB er nicht aus Berechnung, 
sondern aus wirklicher Überzeugung so schreibt. Daher ist 



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— 215 — 

für den intelligenten Leser die Lektüre seiner Schriften so 
unangenehm und alle seine Betrachtungen, soweit sie nicht 
bezüglich sozialer Übel stände polemischer und kritischer 
Natur sind, erscheinen gegenstandslos, ich erlaube mir sogar 
zu sagen: kindisch; der gebildete Westeuropäer empfängt 
daher von allen seinen positiven Aigumentationen überhaupt 
gar keinen ernsten Eindruck. 

Unter die nichtreligiösen Schriitsteller ist Tolstoi aber 
darum zu zfihlen» weil er mit seinen religiös klingenden 
Worten nur eben moralische» aber keinerlei unmoralische 
und keinerlei ausser-morallsche Vorschriften, namentlich 
kdnerid Absurdität, veitiinde^ d. h.: er ist Ethiker, allerdings 
mit eingesprengten religiösen Oewohnheits-Phrasen. Bei 
einem de Maistre oder selbst einem Moltke steckt das 
Religiöse unendlich tiefer und hat daher auch einen positiven, 
nämlich konfessionellen, speziell christlichen Charakter. 

Nun entsteht die Frage: Wie kommt es, daß religions- 
freie Geister in der Kriegsfrage meist human und religiöse 
zumeist inhuman sind? Es sind doch nicht alle jene Reli- 
giösen von grausamer oder wenigstens harter Natur? 

Der Orund Ist der: daß alle diese von den Begriffen 
»Oott« und ^jenseitiges Leben« den Kopf so voll haben, 
daß sie, wie balzende Auerhähne, nichts anderes mehr 
sehen und hören; und für alles Unglück, das sie durch in- 
humane Maßregeln über die Menschen herautbescliwören, 
besitzen sie in ihrem Gewissen keine Regung. Sie denken 
gar nicht daran, sich darauf zu besinnen, was sie da anstellen, 
und kennen daher weder Reue, noch einen Trieb sich zu 
korrigieren; denn sie sind von der Religion her gewohnt, 
gegenüber einer auch nur moralisch aussehenden Maxime 
menschliches Leid, ja menschliche Existenzen, für bedeu- 
tungslos anzusehen. 

Da der Soldat seine Gesundheit oder sein Leben hin- 
gibt, also ein Opfer bringt und Opfer bringen im aligemeinen 
eine Tugend ist, so genügt jenen Männern diese eine 



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— 216 — 



moralische Seite des Kriegsdienstes, die Menschen mit gutem 
• Gewissen in den Krieg zu zwingen. Wofür das js^eschieht, 
ob man das Recht hat, ein solches Opfer zu verlangen, wer 
dieses Recht etwa hätte, ob Opfer von Menschen und die 
dadurch erreichten Resultate einander wert sind, das alles 
kümmert die Kriegszutreiber nicht. — 

Die Freiwilligkeit des Kriegsdienstes ist nun die 
Basis und Voraussetzung aller Reformen in diesem 
Gebiete.*) Die gesetzlich festgestellte Freiwilligkeit ist aber 
erst die hier notwenige ethisch-politische Institution. 

Deren Verwirklichung vorausgesetzt, erhebt sich über 
diesem mehr politischen Standpunkte des Individualrechts 
jedes Staatsbfiigers die weitere rein moralische Frage: 
Wann können wir den Krieg Oberhaupt vor unserem 
Gewissen für gerechtfertigt halten?; d. h. prädser aus- 
gedrOckt: Wann darf der, welcher freiwillig in einen Krieg 



*) Pchnfs Rcali^icninfT dieser fundamentalen Reform ist es daher 
nur nötig, einen solchen üesetzesvorschlag — sei es anfangs durch noch 
SO wenige Vertreter — in die Parlamente einzubringen, und dann durch 
fortgesetzte Agitation es dahin zu bringen, daß derselbe endlich einmal 
auch durchdringt. Der Vorschlag von Leo Tolstoi und Oustav Herve: 
ieder bei einer JWoMlisierung einberufene Reservist (oder nach Tolstoi: 
jeder Wehrpflichtige) möge den Dienst verweigern, h:it trar keinen prak- 
tischen Wert; denn das würde den Einzelnen nur den größten Strafen 
aussetzen, ohne daB das angestrebte Ziel auch nur entfernt erreicht wird. 

Die anderen Friedensbestrebungen jedoch, sie seien welctie immer, 
können neben meinem Programm der gesetzlichen FeststeUung der Frei- 
willigkeit sehr ^t fortbestehen, sie erleiden durch dieses gar keinen 
Abbruch; das gilt z. B. von der Schiedsgerichtsbewegung, ebenso von 
den Bestrebungen der Sozialdemokratie, intemationnTe Gesinnung zu 
ropagieren und dem Arbciterstande (dem »Volk ) einen größeren Ein- 
uB auf Kriegsbeschlüsse und die auswärt^ Politik zu sichenu 

Allerdings sind diese beiden Arten von Friedensbestrebungen sehr 
wenig geeignet, ihr Ziel mit Sicherheit zu erreichen, und sie werden 
auch in Ewigkeit hierzu nicht geeignet sein. Sei es nun wie immer, so 
steht doch fest, daR, wenn diese Aiiskunftsmittel heute noch oder in 
ferner oder naher Zukuntt versagen, durch das Prinzip der Freiwilligkeit, 
das wie eine Iteserve im Hintergrunde steht, die physische Integrität 
jedes Individuums vor jedem fremden Eingriff mit voller Sicherheit ge- 
wahrt erscheint und darauf kommt es bei dieser ganzen Frage in politischer 
Beziehung alleni an. 

Man sehe übrigens hierüber mein Recht zu leben und die Pflidit 
zu sterben« sowie das »Fundament eines neuen Staatsrechts«. 



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— 217 — 



geht, oder derjenige, der zu einem Krie^ rät oder der ihn 
beschließt, es vor sich moralisch verantworten, Leben und 
Gesundheit von Menschen zu zerstören? 
Antwort: Solche Fälle sind: 

Notwehr, also Verteidigung gegen äußere Angriffe, 
Femer: Befreiung Unterdrückter, die die Befreiung 
wünschen. Sodann: Wirtschafts- resp. Handelskriege 
gegen Staaten oder Völker; bei den heutigen sozial- 
ökonomischen Zuständen aber nur dann, wenn ab- 
solut kein anderer Ausweg zu finden ist, um einer rasch 
zunehmenden Bevölkerung Platz zu verschaffen, oder wenn 
die Ernährung der Bevölkerung^ aus welchem Grunde 
immer, nicht mehr das Lebensminimum erreichen kann. 

Solche Wirtschafts^ oder Handelskriege dürfen also 
nicht so leichten Herzens unternommen werden, wie man 
es bisher gewohnt ist. Nicht um ein Mehr oder Weniger 
an Luxusartikeln darf es sich handeln; es muB ganz unbe- 
streitbar festgestellt sein, daß im Staate Menschen 
hungern mfissen, selbst nachdem die vorhandenen Wohl- 
fahrtseinrichtungen ausgenutzt worden sind, und daB femer 
auch neue Mittel z. B. Heranziehung der Besitzenden, um 
den Ärmeren den Ankauf des Nöt^^en zu ermöglichen, 
nichts halfen. Kurz: Eine ehrliche Untersuchung auf statis- 
tischer Basis muß nachgewiesen haben, daß in der Tat in 
keiner Weise das zum Leben Notwendig:e beschafft werden 
kann; erst dann darf man sich cntscliliclkri, ein anderes 
Volk mit Krieg zu überziehen, also Menschen zu vei gewaltigen, 
zu berauben, ja zu töten; und zwar zu dem Zwecke, in der 
Notwehr lieber andere zu verderben, als selbst zu ver- 
derben. Dabei ist, wie schon oben vorausgeschickt wurde, 
Freiwilligkeit des Kriegsdienstes angenommen. 

Es gibt aber eine solche Gesellschaftsordnung, bei der 
selbst in den angegebenen zwei Fällen ein Wirtschaits- oder 
Handelskrieg (also auch ein Kolonialkrieg) nicht mehr 
moralisch gerechtfertigt ist, weil er überflüssig wäre; nämlich: 



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— 218 — 

wenn eine bedingungslose und ausnahmslose Beteilij^ng aller 
am Existenzminimum - bei Einführung einer allgemeinen 
Nährpflicht - stattfindet, sodaß kein einziger Mensch das 
notwendigste entbehrt, und wenn zugleich im Falle der zu 
rapiden Vermehrung der Bevölkerung oder der Abnahme 
der Lebensmittel jene Methode angewendet wird, die ich 
bei Besprechung des Malthusproblems in dem Buche: »Das 
Recht zu leben und die Pflicht zu sterben«*) mitgeteilt habe. 

Wenn einmal diese unausweichliche, sozialökonomische 
Institution, nach meiner Ansicht wohl die einfachste und 
beste unter allen sozialistischen Einrichtungen, realisiert sein 
wird, so stellt die ganze Bevölkerung dnes Staates bezüg* 
Uch alles zum Leben wirklich Notwendigen eine einzige 
groBe Familie dar; und diese Familie wird sich gewIB erst 
dann entschlieBen wollen, Freiwillige zum Krieg aufzurufen, 
wenn die Not trotz alier allgemeinen Einschränkung im 
Konsum und in der Volksvermehrung — auf's Äußerste 
gediehen wäre. Ein Fall, der nicht so leicht jemals wiridich 
eintreten wird, wenn nkht große Elementarereignisse ihn 
herlieifOhren.**) 



;) Dritte Auflage 1903. 

•*) Schon heute kann man alle Kolonialkriege und •Erwerbungen 
Frankreichs als wirtschaftlich ungeredUfertigt und nur durch nationale 
Eitelkeit und militärische Großmannssucht erklärlich finden. Denn 
Frankreich ernährt sich selbst ohne alle Hilfe seiner Kolonien und seine 
Bevölkerung nimmt vermöge der freiwilligen Vorbeugung oder Enthaltung 
nicht zu. und vreil eben kein reales Bedürfnis vornanden ist, verstehen 
es auch die Franzosen nidi^ zu kolonisieren; das Umgekehrte gilt für 
das hent!<re England. 

Jeder, der eben nfeht ef^nensfnnig an seiner einmal angenommenen 
Theorie (wie z B. Schiedsgenchtsbeweg^ung, Kriegserklänmg bloß durch 
das *Volk« und derj^H. mehr) hängt, sondern nur ans j^Toße Ziel der Ver- 
hinderung von Krttgen im Auge behält, wird zugeben müssen, daß 
dieses Ziel nicht rascher und sicherer erreicht weisen kann, als eben 
durch die geset/lich festgestellte Freiwilligkeit des Kriegsdienstes. 

Denn da kein zu A^ressionen bereiter Staatsmann (oder so gje- 
stiinmtes Parlament oder Volk) im Vorhinein wissen kann, auf wieviel 
Kriegsleute er oder sein eventueller Gegner wird rechnen kötmen, so 
wird er sich liuien, diplomatische oder politisch-nationaie Intnguen zu 
Angriffezwecken zu entwickeln. Heute abersehen wir ein unaufhörliches 
Hin* und Hers|rielen von Plänen, Kniffen und Unterhandlungen, wobei 



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— 219 — 



FaBI man dies alles zusammen, so erscheint das Kriegs- 
und Friedensprobtem im Sinne der politischen, sowie der 
allgemeinen menschlichen Moral vollständig gelöst 

Es war notwendig, hier, zur Steuer der Wahrheit 
und Richtigstellung der Ansichten parteiischer Publizisten, 
manches Herbe oder Ungünstige über Friedrich den Großen 
zu sagen. Nichts davon widerspricht den Tatsachen, und 
es dürfte wohl schwer sein, das von mir Gesagte zu wider- 
legen. 

Eine Erhebung von Friedrichs Charakter Ober jenen 
Voltaire's, wie das Strauß und andere Deutsche verfechten, 
— das sahen wir — ist ganz unmöglich. Viel eher ist das 
Gegenteil begründet. Nunmehr aber wollen wir uns doch 
auf ein höheres Niveau stellen und einen zusammenfassenden 
Blick auf diese beiden außerordentlichen Minner und ihre 
gegenseitigen Beziehungen werfea 

Und da frage ich vor allem: Wozu den einen auf 
Kosten des anderen erheben? Oder den einen dieser 
Großen gegen den anderen ausspielen? 

Im Jahre 1736 traten sich die Beiden näher, indem der 
Kronprinz an den damals schon weltberühmten Schriftsteller 
ein Schreiben voll Bewunderung richtete. Und sie vericehrten 
miteinander, persönlich oder durch ihre Schriften, bis zu 
Voltaires Tode;*) dieser Verkehr dauerte nicht weniger als 

sc^ar rinsch einend friedensförderliche Schiedsgerichtsverträge bloß zur 
l8olitTu:i|^; anderer Staaten mit benutzt werden ; und noch immer ist ein 
krie^s]ii5ti^Lr Monardi oder Minister imstande, Kriege zu entfachen oder 
wenigstens Kriegsbesor£[nisse zu erwecken. Bei meinem Programm wäre 
ein solcher Monarch oder Minister nahezu ohnmächtig, er müßte schon 
in außerordentlichem Grade seiner Siaatsburger sicher sein, wenn er 
Krieg machen wollte, also einen sehr einleuchtenden Kricgsgrund vor- 
legen können, wenn er zu Taten schreiten will. 

*) Der letzte Brief Voitaire's an Friedrich ist aus Paris vom 1. 
April 1778 datiert, am 30 Mal desselben jähret starb Voltaire. Friedrichs 
letztes Schreiben an jenen datiert vom 17. Dewnibcr 1777. (Ich zitiere 
nach der VoIlaire^Ausgabe von 1785.) 



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— 220 — 

42 Jahre. Eine Art geistiger Ehe mit allen Wechseifäiien 
einer Ehe. Oder vielleicht wie zwei — in dieselben Ideen 
und Ziele — Verliebte p:ingen sie miteinander; in den De- 
tails des persönlichen Lebens bald voll Wärme und beinahe 
ZSrdichkeit, bald schmollend, bald zankend, schimpfend, oft 
aufeinander wfitend. 

Sie spielten einander allerlei Streiche; Strdche, die ge- 
mäß den Sitten des IS. Jahrhunderts eigentlich mehr als 
Oaminerieen bezeichnet werden mfi6ten.*) 

Angefangen hatten sie damit, einander die höchsten 
Titel und Epitheta zu geben. Friedrich nannte Voltaire: 
»Catull, Thucydides, mehr als Homer, Apollo auf dem 
französischen PlamaB, der schönste Oeist der Welt« usw. 
Voltaire nannte Friedrich: »Messias des Nordens, Salomon, 
Trajan, Titus, Euere Humanitätc. 

Es dauerte aber nicht gar lange, besonders seitdem sie in 
Potsdam miteinander lebten, da war Friedrich fOr Voltaire: 
»Mohamet, Tartuffe der Große (wegen seines schlesischen 
Einbruchs, nachdem er doch den Antimacchiavell geschrieben 
hatte), Dionys von Syracus.« 

Und im Jahre 1753 schrieb Friedrich an d' Argens; Voltaire 
ist der böseste Narr, den ich in meinem Leben kennen 
lernte, er ist nur gut zum Lesen. Als Voltaire Potsdam 
(in demselben Jahre) verließ, war der gegenseitige Abschied 
eisig kalt; bald darauf schrieb Friedrich an seine Schwester 
in Bayreuth: Man rädert viele, die es weniger verdienen 
als Voltaire. Im Jahre 1761 spricht Friedrich in einem 
Briefe an d' Argens von der Perversität seines Herzens«; 

und an Voltaire selbst im Jahre 1759: Wenn Sie 

keine Fehler hätten, würden Sie das übrige menschliche 
Oeschlecht zu sehr erniedrigen < 

Voltaire wiederum an d'Argental: »Man muß gestehen^ 

*) Psychologisch genommen, müssen auch die Charlatenerieen 
eines Caghostro, Chevaher D^Eon, Grafen von Saint<Oennain und An- 
derer alt systematisch betriebene Oaminerieen angesehen, werden. 



üiyiiizeü by GoOgle 



— 221 — 



es ist schade, daß ein so philosophischer König, so gelehrt, 
ein so guter General, dabei ein so perfider Freund ist, ein 
undankbares Hltz, ein schlechter Verwandter, ein verab- 
scheuungswürdiger Nachbar, ein untreuer Alliierter, ein 
Mensch, der zum Unheil des menschlichen Geschlechts 
geboren ist, der mit einem hinterhaltigen Geist über Moral 
schreibt und mit einem brandigen Herzen handelt« 

Aber sie versöhnten sich in den Hauptsachen doch 
immer wieder, und wenn sie ihre gegen seitie^en Streiche 
auch nicht vergalien, so hatte das auf ihren hohen geistigen 
Verkehr doch nicht den geringsten Einfluß, ja auch nicht 
auf ihre gegenseitige — wenn auch mit Äro-er eemi sehte 
— Sympathie. Selbst jene (herrlich geschriebene) Schmäh- 
schrift gep:en Friedrich: Memoires pour la vie de M. 
Voltaire, ecrits par iui-meme, die VoHaire nach der Frankfurter 
Affaire in seiner ersten Aufwallung niederschrieb, veröffent- 
lichte er nicht, er glaubte sogar sie vernichtet zu haben 
und ersetzte sie dann durch eine weniger heftige Schilderung 
seiner Erfahrungen am Hofe Friedrichs« 

Als Friedrich eine große Summe zu Pigalle's Statue 
Voltaire's zeichnete und sie mit einem warmen Zustimmungs- 
schreiben begleitete, vergaß Voltaire allen OroU; aber nicht 
aus kleinlicher Eitdlcest, sondern — wie man es aus seinen 
Äußerungen mit voller Sicherheit entnehmen kann — aus 
Freude darüber, daß er diesem Akte entnehmen konnte» 
wie wohlgesmnt ihm trotz alles Vorgefollenen Friedrich ge- 
bfieben war. Es war ein rührendes Versöhnen nach einer 
tüchtigen Zänkerei. 

Und an Voltaire selbst schrieb der König: »Was auch 
kommen mag, ich bin Ihr Zeitgenosse gewesen; ich habe 
Voltaire gesehen, und wenn ich ihn nicht mehr sehc^ so 
lese ich ihn» und er schreibt mir. c Voltaire und ich«» schreibt 
er nach den Revuen von 1775^ »haben die ganze Fahrt 
durch Schlesien gemacht und sind zusammen zurückge- 
kommen.« 



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— 222 — 



Und wie benahm sich Friedrich nach Voltaire's Tod! 

Es Ist wohl in der ganzen Weltgeschichte ohne Bei- 
spiel — und nicht ohne die größte Rührung Icann man das 
lesen — daß ein toanlcer, alter Krieger im Feldlager, nämlich 
der preußische König im schneebedeclcten Gebirge von 
Schatzlar, als er den Tod Voltaire's erfuhr, sofort mitten im 
militärischen Getümmel und in der Fülle militärischer und 
politischer Sorgen, die ücistesfreiheit und -Grölie bcsal5 und 
in dieser Situation sich die Muße nahm, einen Nekrolog 
auf einen Schriftsteller zu verfassen! Ich meine jene be- 
rühmte »Lobrede auf Voltaire^, die Friedrich dann am 26. Sep- 
tember 1778 in der Berliner Akademie der Wissenschaften 
voriesen ließ. Das bedeutet ungleich mehr, als wenn z. B. 
Napoleon in Moskau die Statuten des Theätre Fran<;ais ent- 
wirft! Es war das ein Zug menschlicher Größe in Fried- 
richs Wesen, dessen nur ein Alexander der Große oder ein 
Julius Cäsar fähig gewesen wäre. Und heute? . . . 

Ja das muß man sagen, so ging es eben im achtzehnten 
Jahrhundert in den Pariser literarischen Kreisen und deren 
Angehörigen zu! 

Unter Lachen und Spotten, unter Zanken und Versöhnen, 
bald mit den feinsten gesellschaftlichen J^anieren, t>ald mit 
der Ungezogenheit eines Kindes oder der Ausgelassenheit 
liederiicher Studenten und mit Oaminerieen,*) ohne finsteren 
oder manischen Emst und frei von jeder religiösen Emp- 
findung» gingen fast alle auf gro6e Ziele los oder interes- 
sierten sich doch fflr sie auf das Lebhafteste; gesund oder 
krank, ja selbst im Sterben begriffen, vergaßen sie ihre 
Oberzeugungen nicht. 

Als der Atheist und Materialist Lamettrie — bei allem 
Oeist und wissenschattlichen Ernst ein üamin durch und 



•) Ich unterscheide Oaminerie von Pohssonnerie. Jene ist frei 
von böser Absicht« von Haß und von jeder Brutalität; letztere aber, ein 
Charakteristikum unseres Zeitalters, besitzt alle diese Eigenschaften in 
hervomgeiulein Mi6e. 



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— 223 — 



durch — im Sterben lag, drängte sich ein katholischer 
Priester ins Krankenzimmer, um ihn zu bekehren. Lamettrie 
wollte von alle dem nichts hören, was ihm der Priester sagte; 
dieser aber blieb immer sitzen. Endlich rief der Sterbende 
im argen Schmerz die Worte: Jesus Maria«: aus. Schnell 
rief darauf der Priester: »Ah! vous voilä enfin retoiirne a ces 
noms consolateurs! Aber Lamettrie entgegnete ihm: Mon 
pere, ce n'est qu'une fa^n de parier« und einige Minuten 
darauf starb er*) 

Und wie haben die zwei Größten unter jenen allen ihr 
ganzes Leben hindurch gearbeitet! 

Wie waren Friedrich und Voltaire in jedem Augen- 
blidcei man kann wirklich sagen: bei Tag und Nacht, in 
Gesundheit und Krankheit, immer auf dem Posten; jener der 
Pflichten gegen seinen Staat eingedenk, dieser der Bedürf- 

*) Aus Nicolai'» »Anekdoten« nach Cariyles »Oesdiidite Friedrich II.« 
erzählt. 

Lamettrie's Schritlen finden in neuester Zeit immer mehr die ver- 
diente Antrkennung. Die Gegner seiner materialistischen Anschauungen 
suchen ihn seit jeher dadurch zu dei^radieren, daß f;i> wie ril-; Be> 
weis höchster Gottlosigkeit oder Genieinheit -- mit sictnliciieni Behagen 
immer wieder erzählen: Lamettrie starb an einer Indigestion. ^ Als ob 
das für den Werteines Menschen oder einer philosophischen Anschauung 
etwas beweisen würde und als ob noch kein frommer und idealistischer 
Mann sich jemals den Magen verdoihen hStle. Ein Prager Kardinal- 
Erzbischof, der Fürst Schwarzenberg z. B., stnrb (vor ungefähr 20 
Jahren) an einer Indigestion durch Hummer-Mavonnaise, und der war 
doch gewiß weder gottlos noch gemein. Selbst etn so ernster Historiker 
wie Schlosser scheut sich nicht, von dieser IndipTstion Lamettries, die 
er sich bei der Tafel des englischen Gesandten in Berlin zugezogen 
hatte, zu sprechen; bloß um seiner Icrttisdien Demerinmff Ober Lamettrie's 
Philosophie: Lamctdic habe V^oltaire's Witz und Anderer feinen Spott 
in ein förmliches Svstem der Sitteniosigkeit und gottloser Sinnlichkeit 
verwandelt, mehr Gewicht zu verleihen. 

Schlosser hält nämlich, wie wir schon gelegentlich der «Pucelle« 
hervorhoben, Mangel an Prüderie oder Heuchelei in geschlechtlichen 
Dingen für — gottlos! Und die philosophischen Arbeiten Lamettrie 's 
hat Schlosser onenbar nicht gekannt oder nicht zu würdigen verstanden; 
sonst hätte er wissen müssen, daf^ sie weder mit Witz noch mit Spott 
irgend etwas zu tun haben, sondern wie z. B. Thomrae machine, höchst 
ernste Gegenstinde mit höchstem Emst behandeln. Das muß auch 
dcrienif.re ziio;c<^tchen, der kein Materialist ist, aber entg^enstehende 
Ansichten dennoch objektiv zu beurteilen versteht 



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— 224 — 



nisse seiner Freunde, Nachbarn und seiner Bauern in Femey; 
beide aber stets eingedenk ihrer sich selbst ge- 
setzten Aufgaben gegenüber der ganzen Menschheit 

An dies allein muB man sich halten, wenn man diese 
Zwei nach ihrer moralischen Bedeutung beurteilen will. Sie 
waren, wie damals alle, mit Ausnahme Rousseaus, ohne 
Schwärmerei und ohne Sinn für jede Art von Transcendenz, 
aber sie besaßen Enthusiasmus für große all^eme ine Ideen 
und Ziele und eine Kraft und Wärme bei Bewältigung iiirer 
Aufgaben, die niemals übertroften, nur selten, z. B. von einem 
Luther, erreicht wurde. 

»Sich eine Aufgabe stellen , dieses schöne Wort 
von Paul de Lagarde, das sieht man bei jenen Zweien im 
höchsten Maße erfüllt. 

Und ich habe auch das üefühl, daß bei jedem der 
höhere Mensch überhaupt erst dann anfängt, wenn er sich 
irgend eine Aufgabe zu nichtpersöniichen Zwecken stellt, 
sei diese auch noch so unscheinbar. Eine solche Auf- 
gabe mit Beharrlichkeit verfolgen, ist das Realste und zu- 
gleich Idealste, das sich denken läßt; es erfüllt einen mit 
Kraft gegen fast alles Untieil, - mit Ausnahme höchst 
schmerzlicher Krankheiten — und sogar gegen den Oe- 
danken, daß man sterben muß. So etwas meinte auch 
Luther, wenn er sagte, ein Knecht oder eine Dienstmagd, 
die ihren Dienst redlich versehen, seien verdienstvoller als 
ein Mönch oder Heiliger. — 

Es ist durchaus nicht eine Folge des Verstandes, seinen 
Aufgaben mit solcher unverminderter Kraft, ohne Schonung 
der eigenen Person, obzuliegen, wie wir das bei Friedrich 
sehen; es gehört zu derlei ein ganz eigenes scheinbar trockenes, 
aber in Wirklichkeit unverSnderHch warmes Oemtit, das ab- 
solut nichts mit Sentimentalität zu tun ha^ sondern das gerade 
Gegenteil davon repräsentiert. 

Vielleicht wird es jedem, der die Geschichte Friedrichs 
des Großen mit Emst näher studiert, so eigehen, wie es 



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— 225 — 



seit jeher mir erging: Ich finde bei keinem Manne der Ge- 
schichte eine solche stärkende und wohltuende Empfindung, 
wie bei ihm. An ihm wird man gewahr, was Beharrlich- 
keit, Mut und Hartnäckigkeit bei Verfolgung einer Auf- 
gabe imstande sind; wie es bei Goethe heißt: »Allen Ge- 
walten zum Trutz sich erhalten. 

Gewiß hat es glanzendurc und großartigere Gestalten 
in der Weltgeschichte gegeben; auch war der Schauplatz 
ihrer Taten ein weiterer und ihre Ziele umfassender, aber 
kaum bei einem finden sich so viele Schwierigkeiten, Gegen- 
kräfte, Feinde, Bedrängnisse von so langer Dauer wie in 
Friedrichs Laufbahn. Dieses sein negatives — aber dennoch 
höchst aktives — Heldentum basiert mehr auf Charakter- 
stärke und speziell ethischer Kraft, als die positiven, aggres- 
siven Heldentaten, die sogenannten Eroberungen, welche 
mehr der geistigen Begabung zu verdanken sind; und das 
ist eben der Orund, warum das Beispiel Friedrichs mehr 
geeignet ist, moralisch zu erheben, als die Taten irgend eines 
anderen grofien politischen Mannes. 

Und die^ welthistorisch genommen, relative Oering- 
fOgigkeit des von ihm beherrschten Territoriums beweis^ 
daß es bei solchen Beispielen für ihre stärkende und er- 
zieherische Eigenschaft ganz irrelevant is^ wie groß die 
Aufgabe ist, die man sich setzt, wenn man sich Oberhaupt 
nur eine setzt und sich ihrer beharrlichen Durchfahrung 
unterzieht. 

Möge jeder darnach trachten, sich in sehiem Gebiete 
irgend eine, nicht zu seinem persönlichen Vorteil dienende, 
Aufgabe zu stellen und sie so unerl>ittlich und beharriich 

als ihm möglich, zu verfolgen; er wird bald bemerken, daß 
ihm eigentlich garnichts fehlt, er mag noch SO sehr 
welcher Vorzüge immer entbehren. 

Und die Befriedigung und Ruhe, die man auf diesem 
Wege sich erobert, übertrifft bei weitem jene, die Ruhm 
und erfülltes persönliches Streben überhaupt gewähren kann. 

Popper. VoitaU«. 



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— 226 — 



Denn jene Befriedigung tritt nicht nur in den einzelnen 
Momenten ein, die einem das Gelingen ehrgeiziger Bestre* 
bungen durch äußerliche Anericennung beweisen, sondern 
ist in jedem Augenbüclc vorhanden und umhüllt einen wie 
mit einer behaglichen, warmen Atmosphäre. Auch tritt nie, 
wie in dem andern Falle, eine Art Blasiertheit ein, die die 
eigentliche Nichtigkeit alles Ruhmes und alles äußeren 
Glanzes vor das Empfinden bringt. Wie ein anderer Mann 
mit ebenfalls !:jrolkn Aufgaben, nämlich Bismarck, von dem 
ehrgeizigen von Arnim, der gegen ihn wühlte, so schön 
sagte: Er will nur Reichskanzler werden, und wenn er's 
wäre, würde er einsehen und sagen: Das ist auch nichts! 

— Dieses ^auch I Was sagt das alles! 

Um sich eine Aufgabe zu selbstlosen Zwecken zu 
stellen, ist es durchaus nicht notwendig daH das Thema 
einer solchen Aufp^abe ein selbsts^ewalihes sei; es kann auch 
ein vom Leben aufj^edrängtcs sein und die Art der Hinge- 
bung, nämlich das Bestreben, ihm voll gerecht zu werden, 
verwandelt gewissermaßen ein solches aufgezwungenes 
Thema, ethisch betrachtet, in ein selbstf^e\s'ähltes. 

Was man also aueh treibe, ob es sich um ein Thema 
der Wissenschaft oder Kunst, oder um eine politische Tätig- 
keit u. s. w. handelt, zu der man eben Lust hat, oder um 
Ausfüllung irgend einer von andern abhängigen Stellung 

— die mit Bewußtsein und steter Absicht geübte, möglichst 
* strenge Pflichterfüllung genügt, um jenes Gefühl der 

Selbstbefriedigung hmorzurufen, von dem hier die Rede ist 
Es wird kaum genug gewürdigt und verstanden, wie 
viel Großes in dieser Aufgabe steckt, schelnl>ar so prosaisch 
und doch von so tiefer Bedeutung. Denn in der strengen, 
sogar g^gen «ch selbst unerbittlichen Pflichterfüllung 
im Grunde die Anerkennung der anderen Menschen als mit 
uns selbst gleichartigen Existenzen, denen wir ja eben durch 
die ErfOllung unserer Pflichten wohltun wollen, so gut 
wie uns selbst Und indem dieses Oefflhl nicht von der 



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— 227 - 



Sympathie für diese andern Menschen abhänirt, rcsp. nicht 
abhängen dart, während es bei der Liebe zu einzelnen sich 
nur um solche Sympathie handelt, steht es eben zufolge seiner 
Abstraktheit hoch über der Liebe zu irgend welchen 
Menschen. Scheinbar gefühllos, ist also Pflichterfüllung in 
seinem Wesen ein bedeutendes und starkes Oeföhl — 
denn nicht aus Gründen des Verstandes erfüllt man seine 
Pflicht. 

Vielmehr liegt dem Pflichtgerühi dieselbe Empfindung 
zugrunde, die uns bei den Soldaten desselben Heeres in 
den Bedräni^nissen des Krieges entgegentritt: das Gefühl 
der Kamera derie, die sich in strenger Unterordnung, Dis- 
ziplin und steter Hilfsbereitschaft kund gibt, auch wenn 
man die einzelnen Individuen gar nicht kennt. Es 
schwebt eben in beiden Fällen die Unmasse von Uebeln und 
Gefahren vor, denen alle ausgesetzt sind, und das gilt genau 
so wie bei den Soldaten im Kriege^ auch bei dem Menschen 
im gewöhnlichen Leben, gegenüber dem Unheil, mit dem 
die Menschheit von ihr selbst und von der Natur bedrolit 
und heimgesucht wird. 

Die aus nicht egoistischen Orfinden vorhanden^ be- 
wußte und beabsichtigte PfKchterfOUung dokumentiert daher 
durch Ihre wohltltigen Wirkungen die Anericennung aller 
Menschen als Einheiten einer Oesamthetti zu der wir sdbst 
gehören, und diese Art der Anerkennung erstreckt sich — 
schon darum, weil es in der Praxis des Wirkens gar nicht 
anders geht — auch auf die weiteren Kreise der zu- 
nächst Lebenden, mit denen wir gar nicht in direkter Be- 
ziehung stehen, und vermöge der Fortwirkung alles Outen 
(wie alles Oeschdiens Oberhaupt) auch auf alle zukünftigen 
Oeschlediter, ohne daB es nötig ist, da6 man sich diese 
Erweiterung der Folgen und Früchte seiner Tätigkeit immer 
zum Bewußtsein bringt. 

Und nunmehr sehen wir deutlich, daß der Ersatz des 
Glaubens an persönliche Unstefblichkeit durch die Vor- 

15* 



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— 228 — 



Stellung der Fortdauer der Menschheit als Gattung eine reelle 
Empfindungsbasis besitzt» nicht nur fQr jene Individuen, 
die mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit oder nur in ihrer 
Einbildung als besonders begabte Individuen auf Nachruhm 
rechnen» sondern auch fOr jenc^ selbst ganz Unbegabte^ die 
nichts weiter tun, als daß sie ihre Pflicht so strenge als 
möglich zu erfflüen trachten. 

Jeder Tag, der mit irgend einer selbst philiströs aus- 
sehenden Aufgabe ausgefüllt wird, ist eine Art metaphysischer 
Betätigung; metaphysisch* insofern genannt, als sie eine 
unbeweisbare Grundlage hat; aber nicht im schlechten Sinne 
»metaphysisch , da es sich hier um kein sinnreiches Spiel 
mit sowohl unbeweisbaren, als auch empfindungsleeren Be- 
griffsarchitekturen handelt. 

Die Sättigung mit dieser Empfindung für die ganze 
Menschheit kann also jeder, der Befrabteste wie der Unbe- 
begabteste, auf dem einfachen Wege der bewußten und be- 
absichtigten Pflichterfülkmg gewinnen; und auf ein Mehr 
oder Weniger der Bedeutung der Leistungen selbst, auf 
grössere oder geringere Regabimg, Gelehrsamkeit und der- 
gleichen kommt es hierbei t^ar nicht an. 

Vergessen wir hier übrigens nicht, an den grolien 
Nachdruck zu erinnern, mit dem Kant (in seiner Kritik der 
praktischen Vernunft) das Erhabene des Pflichtbegriffes hin- 
stellte. 

Und ermangeln wir, der Vollständigkeit der Einsicht 
wegen, auch nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß wir 
in der »F^ichterfüllung« und in der »Stellung von selbstge- 
wählten Autjgaben zu nichtpersönlichem Vorteil« wohl ein 
Surrogat fQr die persönliche Fortdauer besitzen; daß aber 
damit nicht entfernt ein Trost geboten wird fQr den Tod 
anderer geliebter menschlicher Individuen. Darüber, daß 
wir selbst sterben müssen, können wir uns, wie eben 
auseinandeigesetzt wurde, so ziemlich trösten, und fQr die 
Unsterblichkeit eine Art von Äquivalent gewinnen; aber für 



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— 229 — 



den Veriust geliebter Individuen durch deren Tod gibt es, 
bisher wenigstens und nach meinem Wissen wenn man 
sich nicht mit WilllcQriichlceiten oder Absurditäten abspeisen 
lassen will kdneriei Ersatz und kdneiiei Trost — 

Wenn bei dem Oedanken an Friedrich den Großen eine 
solche Zuversicht in die Kraft des Menschen, ein solches 
OefQhl der Befriedigung entsteht^ so liegt das also m'cht an 
seinem Oenie^ sondern eben an seinem unerhörten Unter- 
werfen unter seine Aufgabe. Mit ebensoviel Bewunderung 
wie für seine genialsten Feldzüge und fflr sehien Oeist lese 
ich solche Dinge bei ihm, die ich Charakterkraft-Oeschichten 
nennen möchte. 

So wenn er im jähre 1781 von den furchtbarsten Giclit- 
schmerzen geplagt wurde und der Arzt iinn die Kaiirt zu den 
Manövern in Westpreußen verbieten wollte, der beinahe 
70jährige Friedrich aber darauf bestand und ihm sagte: Doktor, 
er betreibt sein Geschäft, ich das ineinige, ich will bis zu 
meinem letzten Moment meine Pflicht als König tun.« 

Im Jahre 1785, d. i. in seinem 73. Jahre, litt er infolge von 
Podagra ganz besonders g-roße Beschwerden.*) je kürzer 
aber die ihm zugemessene Frist wurde, um so rastloser 
spannte er seine Tätigkeit an. Sonst waren die Kabinets- 
beamten früh um 6 oder 7 Uhr angetreten, jetzt bestellte er 
sie bereits zu der vierten Morgenstunde. Mein Zustand , er- 
öffnete er ihnen, zwingt mich, Ihnen diese Mühe zu machen, 
die für Sie nicht lange dauern wird. Mein Leben ist auf der 
Neige, die Zeit, die ich noch habe, muß ich benutzen, sie 
gehört nicht mir, sondern dem Staate.« 

Als nun im letzten Jahre seines Lebens, im Jahre 1786^ 
der berühmte Arzt und Schriftsteller Dr. Zimmermann aus 
Hannover sich von Friedricti, der ihn konsultiert hatte, he- 
urlaubte^ sagte ihm dieser» daB er ihn in Potsdam nicht 
weiter aufhalten dflrfe, um die Kranken in Hannover nicht 

*) Diese Oeschichten entnehme ich wörtlich Koser's Werk über 
Fricdridi. 



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- 230 



linger Siztlicher Hilfe zu berauben; dann zog der Konig 
seinen großen, weichen, abgetragenen Hut mit der vergilbten 
Feder und neigte mit unbeschreiblicher Würde, Huld und 
Freundlichkeit sein Haupt zum Scheidegruß: ^Ve^gessen 
Sie den guten alten Mann nicht, den Sie hierge* 
sehen haben.« 

In dieser Situation möge man sich Friedrich den Großen 
stets vor Augen haiten und diese Worte stets zu hören glau- 
ben» denn sie sind» trotz allem und allem, wahr; er war wirk- 
lich dn guter alter Mann. Dieser g^gen andere, aber noch 
mehr gegen sich selbst uneibittlich harte Menschj wenn es 
die öffentlichen Pflichten galt, weinte bei dem Tode seiner 
Mutter und sagte von sich selbst in klagendem Tone^ er 
habe zu viel Oeföhl, mehr als alle anderen. — 

Wie viel mensdiliches Gefühl, wie viel Liebe er hatte, 
ersieht man am besten aus dem Sdireiboi an D'Alembert, 
in welchem er ihn Ober den Vertust des Fräuleins deTEspinasse 
zu trösten suchte. Dieser große Gelehrte und Schriftsteller, 
obwohl von kühlem Temperament, war doch nicht nur einer 
der edelsten Charaktere, sondern auch ungemein weichniütig, 
man künnte beinahe sagen wehleidig, sowohl in physischer 
als in psychischer Beziehung. 

Für Fräulein de TEspinasse empfand bekanntlich D'Alem- 
bert die höchste Sympathie, vielleicht Liebe; im Jahre 1776 
starb ihm diese unersetzliche Freundin und er konnte sich 
kaum fassen. Da schrieb ihm Friedrich (am 7. September 
desselben Jahres): 

»Ihr Briet, mein lieber D'Alembert, wurde mir über- 
geben, als ich von Schlesien zurückkehrte. Wie ich sehe, ist 
ihr zartes Herz immer noch tief bekümmert, aber ich tadle 
Sie darum nicht. Die Kräfte unserer Seele haben ihre Grenzen, 

man darf nichts verlangen, was darüber hinausgeht 

Die Natur wollte es, daß wir empfindsam seien und die 
Philosophie wird uns niemals zur Unempfindlichkeit erziehen 
können; und wenn sie es Icönnte^ wäre es der Oesellschalt 



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— 231 — 



nur schädlich, denn man hätte dann kein Mitgefühl für das 
Unglflck der anderen und das menschliche Geschlecht wflrde 
hart und erbarmungslos werden. Unsere Vernunft soll uns 
vor allen Uebertrdbungen bewahren, aber nicht die Mensch- 
lichkeit im Menschen zerstören. Bedauern Sie also Ihren 
Verlust, mein Teuerer, ich fflge sogar hinzu, da0 der der 
Freundschaft unersetzlich ist; und wer fähig ist, die Dinge 
zu schätzen, muß Sie wahrer Freunde für würdig halten, 
denn Sie wissen selbst, ein Freund zu sein. 

Da es den Menschen, und selbst den Oöttem unmög- 
lich ist, das Vergangene zu ändern, so mfissen Sie daran 
denken, sich den Freunden, die Ihnen geblieben sind, zu 
erhalten, um ihnen nteht jenen tödlichen Kummer zu bereiten, 
wie Sie selbst ihn soeben empfinden. 

Ich hatte Freunde und Freundinnen; ich verlor 
davon fünf oder sechs und glaubte vor Schiiicrz 
vergehen zu müssen. Der Zufall wollte es, daß ich diese 
Verluste während der verschiedenen Kriege erlitt, die mich 
zu unaufhorücher Tätigkeit zwangen, und diese sowie die 
anderen unvermeidlichen Zerstreuungen bewahrten mich 
davor, dem Schmerze zu unterliegen .... Ich freute mich 
früher meinetwegen, Sie bei mir zu sehen, jetzt freue ich mich 
darauf auch für Sie, denn Sie werden andere üegenslände 
und andere Personen zu sehen bekommen. Ich werde alles 
mögliche tun, alle trüben Erinnerunp^en von Ihnen zu ver- 
scheuchen, und ich werde mich ebenso sehr freuen, Sie zu 
beruhigen, als wenn ich eine Schlacht ^^ewcmnen hatte 

Alles das, was Friedrich hier sagt, muii man auf s Wort 
glauben, denn wenn je ein Mensch ohne Heuchelei, ja ohne 
Pose war, so war er es; in der Politik voll von Ränken und 
Gewalttaten, war er im Umgang mit Freunden und in allen 
seinen Aeufierungen ihnen gegenüber von höchster Wahr- 
haftigkeit 

Und war seine Güte auch nicht so leicht erkennbar und 
gewissermaßen von der Härte unbeugsamen und nie nach- 



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— 232 — 



lassenden Pflichtgefühls, sowie von der Schroffheit seiner 
(auf Erfahrung beruhenden) Menschen Verachtung überdeckt 
wenn man tiefer blickt, so muß man doch sagen: Es 
war ein guter alter Mann, der seinen abgetragenen Hut vor 
seinem Arzte zog, sich vor jhm würdevoll neigte und Ab- 
schied von ihm nahm. — 

Und nun sein Oesinnungsgenosse! 

Welche vulkanische Tätigkeit sein ganzes, so langes 
Leben hindurch, und ganz besonders während der letzten 
zwanzig Jahre seines Daseins! Hatte Friedrich seinen sieben- 
jährigen» so hatte Voltaire seinen zwanzigjährigen, ja, genau 
genommen, sdnen sechzigjährigen Kri^;^ Indem er unaus- 
gesetzte Eneigie und unerschöpflichen Oeist bewies, um 
IQrche und Parlamente anzugrdfen; achtzehn bis zwanzig 
Stunden trotz immerwährender Kribiklichkeit täglich aibeitete, 
oR dem Tode nahe; häufig des Nachts durch eine Idee er- 
weckt, mit dem Stocke auf den Fußboden schlagend, um 
sdnen Sekretär Wagni^ der unten schlief, heraufzunifen 
und Ihm sofort emen Essay zu diktieren; der Prozesse fGr 
von f^affen und Rkhtem Verfolgte führte^ die ihm so viel 
Zeit, Mühe und Oetd kosteten und durch die fortwähren- 
den Aufregungen seine Gesundheit untergruben. 

Voltaire wie Friedrich, sie machten einen so unofeheuren 
Lärm in der Welt! Waren mit Unzähligen in immerwährendem 
Krieg, und auch Beide gegeneinander sehr oft in nicht sehr 
friedlicher Stimmunj^^. Dennoch schieden sie als Kameraden 
auf dem großen geistigen Schlaclitfelde, versöhnt und einig; 
und nun ruhen sie beide, der eine von seinen vielen kleineren 
Kriegen und seinem großen siebenjähric^en, der andere von 
seinem sechzigjährigen Kriege aus ; still sind sie geworden, aber 
Ihr Kriegsgeschrei hallt noch heute nach, und nur von ihren 

*) Man kann mit gutem Oninde sagen: sechzigiahrig, denn schon 
im lahK 1722, noch bevor er sehte Reise nach EngUmd antrat, publi* 
zierte er seine nntichristliche »Epistel an Uiania«, und zwar unter dem 
Titel: »Le Pour et Contre«. 



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— 233 — 



Leibern können wir sagen: > Der große Cäsar, tot und Lehm 
geworden, verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.€ 

• * 

Die Gerechtigkeit bei Beurteilung; eines Charak- 
ters verlangt es bei aller Anerkennung seiner Vor- 
züge, mit Sorgfalt und Objektivität auch das her- 
vorzuheben, was uns an ihm als Fehler, als tadelns- 
wert erscheint Der Zweck hierbei kann natürlich nicht 
der sein, der Natur, die diesen Menschen so und nicht 
anders hervorgebracht hat, zu kritisieren und ihr gewisser- 
maßen Vorwürfe darüber zu machen, daß sie jenes 
Individuum nicht genau nach unserem Oeschmad» — der 
noch dazu von Mensch zu Mensch ein anderer ist — ge- 
schaffen hat Sondern nur darum Icann es sich handeln, 
ein bedeutendes Individuum genau und möglichst vollständig 
kennen zu lernen, was gewöhnlich eine sehr aufklärende 
Wirkung hat, uns nicht nur Menschenkenntnis verschafft, 
sondern auch lehrt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und 
unberechtigte Wünsche zu hegen, also uns daran gewöhnt, 
den Tatsachen ohne Vordngenommenheit ins Auge zu 
sdien. 

in der bisherigen Darstellung hatte ich versucht, das 
Unberechtigte vieler Tadelsworte in Beziehung auf Voltaire 
naclizuweisen. Nunmehr will ich alles das zusammen- 
stellen, was mir selbst an ihm nicht gefiel, als ich 
seine Taten und Äußerungen genauer kennen lernte. Manches, 
das muß ich aber im V^orfiinein sagen, mißfiel mir nur im 
ersten Moment, und bei näherer Überlegung verlor sich dieses 
Mißfallen; solche Fälle werde ich in Folgendem eben- 
falls genau so, wie mein Gedankengang sich hierbei ent- 
wickelte, zu beliebiger Annahme oder Zurückweisung dem 
Leser vorlegen. — 



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— 234 — 



Da ist zuerst der Fall Maupertuis. Was die Heftig- 
keit des Kampfes Voltaire's gegen Maupertuis betriff^ so 
habe ich schon bei Besprechung dieser Angelegenheit dar- 
gelegt, daß sie ganz und gar berechtigt war, jener verdient 
also in dieser Beziehung keinen Vorwurf. Zur weiteren 
Bekräftigung fflhre ich Carlyle's Bemeikungen hierfiber (in 
seiner »Geschichte Friedrich II.«) an: »Voltaire hatte von 
[eher diesem Könige der Wissenschaften ehrfurchtsvolle 
Huldigung geleistet und mit einer Art Angst und mit un- 
glaublicher Geduld sich sehr viel von ihm gefallen lassen. 
Aber alle Dinge haben ihr Ende. Es war vom Schicksal 
beschieden, daß der anmaßende Maupertuis tagtäglich und 
jetzt mehr als je, dem reizbaren Voltaire zum steigenden 
Ärgernis wurden — Us der reizbare Voltaire es nicht länger 
aushalten konnte.« 

Es wäre wohl unbedingt edler gewesen, zu verzeihen, 
wie das ja so oft von denen gepredigt wird, die nichts zu 
verzeihen haben; allein Voltaire's Heftigkeit war begründet 
und sein Kamj3f durchaus kein moralischer Makel. Wie die 
tägliche Erfahrung lehrt, macht es fast niemand anders. 

Aber wenn wirklich Voltaire bei der Drucklegung des 
Dr. Akakia Friedrich den Großen hinterging, indem er die 
einem anderen Werk geltende Druckerlaubnis für diese Streit- 
schrift mißbrauchte — so ist das jedenfalls eine Inkorrekt- 
heit, die selbst durch die Abwehr g^en Maupertuis' An- 
griffe nicht entschuldigt wird. — 

Unangenehm war es mir, zu sehen, daß Voltaire im 
Kampfe mit manchen Gegnern nach der Bastille rief. Es 
versöhnte mich auch nicht, daß die Perfidie seiner Feinde 
ins Unglaubliche ging, wie allerdings jeder zugestehen muß, 
der die damalige Politik — es waren viele Abb^'s, Jesuiten 
und Exjesuiten dabei beteiligt — nur einigermaßen kennen 
lernt*) Aber bei näherer Betrachtung fand ich, daß Voltaire 

*; Wer sich iber die damaligen Zustände in der Schriftstellerwelt 
wenigstens einigcrmaBen orientieren will, lese Voltaire's Aufsätze: 



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— 235 — 



fast nur gegen Verleumder seiner Ehre nach den Gerichten 
rief, und nur gegen jene unversöhnlich war» die ihn nicht 
nur persönlich angriffen, sondern auch als Denunzianten 
auftraten, um — nach Condorcet's Ausdrucksweise — die 
Fanatiker zu Verfolgungen gegen ihn aufeustachdn, wie das 
bei j. B. Rousseau, den beiden P^mpignan, Larcher und 
Jean Jacques Rousseau der Fall war. 

Der abscheulichste unter allen Feinden Voltaire's war 
wohl der Cx-Jesuit Abh6 Desfontaines, und es ist lehrreich, 
aus diesem einen Falle zu erfahren, was alles Voltaire aus- 
zuhalten hatte.*) Voltaire hatte, um den unaufhörlichen An- 
griffen seiner Neider auszuweichen, sich nach Cirey (zur 
Marquise von Chatelct) zurückgezogen. Da wurde seine 
Ruhe durch ein Libell gestört, in welchem sein ganzes bis- 
heriges Leben verleumdet wurde, und der Autor dieses 
Libells war der Abb^ Desfontaines, der Voltaire seine 
Freiheit, vielleicht sein Leben zu verdanken hatte. 

Desfontaines war nämlich wegen einer geschlechtlichen 
Perversität angekla^, was damals im höchsten Maße kri- 
minell behandelt, ja mitunter mit Verbrennen bestraft wurde. 

Voltaire, davon unterrichtet, nahm sich des ihm persön- 
lich gänzlich unbekannten Desfontaines, dem er sich nur als 
Schriftsteller nätier fühlte, energisch an und erwirkte seine 
Freilassung, noch mehr, er verschaffte ihm, da er aus Paris 
verbannt wurde, ein Asyl bei einem seiner Freunde auf 
dem Lande. 

Derselbe Desfontaines verfaßte nun jenes Libell gegen 
seuien Retter und veranlaßte überdies einen Priester des 
Seminars, das Gedicht le Mondain« von Voltaire zu 
denunzieren, welche Denunziation diesen der Gefahr einer 
neueriichen Verbannung aus Frankreich aussetzte. 

In allen rein literarischen Fehden half sich Voltaire 

>Le preservatif«, >Les lionnetet^s Htteraires«, »Examen d'un Ubdie 
calonuiieux«, aus denen mm ericennt, wie spedell Voltaireseltens seiner 
Neider. Oegrier und Revolverlitteraten initge=^pie1t wurde 
*) Ich erzähle nach Condorcet's Voltaire- Biographie. 



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— 236 — 



selber, und man weiß, wie gut er sich zu verteidigen ver- 
stand. 

Wenn er also nur in den früher erwähnten Fällen per- 
sönlicher Gefährdung durch seine Widersacher nach den 
Gerichten rief, so kann man ihm desw^en keine Vorwürfe 
machen. Denn was geschieht in unseren Tagen, und ganz 
altgemein, wenn man in seiner Ehre verletzt und verieumdet 
wird? Selbst der friediiet>endste Bflfger, der auch gar keinen 
öffentlichen Ruf, sondern nur seme private Reputation zu 
wahren wünscht, klagt auf Ehrenbeleidigung und wünscht 
die Bestrafung des Beleidigers. Dasselbe tat eben Voltaire. 
Zudem war der Ruf nach der Bastille mehr ein sich Luft- 
machen, als ein emster Wunsch; einmal darum, well damals 
wohl Angriffe gegen die Regierung, die Geistlichkeit und 
den Adel mit Haft bestraft wurden, der Bürgerliche aber 
keinen Scliutz seiner Ehre zu er\s'arteri hatte. Ferner darf 
man bei Voltaire's im Grunde gutmütigem Naturell anneiimen, 
daß, wenn er z. B. für Fr^ron die Galeere empfahl, das gar 
nicht so buchstäblich genommen werden darf; es war mehr 
ciamit gemeint: Er verdiene die Galeere; und derlei 
Wünsche Voltaire's, jemanden auf der Galeere zu sehen, 
wurden auch damals in PAns> nicht so ernst genommen, wie 
sie in ihrer heftit^en Ausdrucksweise aussahen. 

Bei Voltaire s Güte und Versöhnlichkeit, die er ja, so oft 
es nur anging, genügend bewies, wäre er i^ewiß der Erste 
gewesen, nach einer etwai^^^en Verurteilung Freron's zur 
Galeere ein herrliches Gnadengesuch an den König zu über- 
reichen und Fr^ron nach erfolgter Begnadigung unter Tränen 
zu umarmen. Was ich hier als Hypothese aussprach, er- 
eignete sich, wie ich eben lese, sogar in Wirklichkeit in 
einem Falle, der mir erst nachträglich durch eine aufmerksame 
Lektüre der Voltaire-Biographie von Condorcet zur Kenntnis 
kam, und der mir einen Beweis dafür lieferte^ daß ich den 
Charakter Voltaire's richtig auffasse. 

Condorcet erzählt nämlich, daß ein gewisser Travenol, 



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— 237 — 



Violinspieler an der Oper, sich mit dem Advokaten Rigoley 
de Juvigiiy verband, um Libelle gegen Voltaire zu kolpor- 
tieren. Auf des Letzteren Betreiben wurde Traveno! ver- 
haftet. Der Vater desselben, ein Greis von achtzig Jahren, 
ging zu Voltaire und bat um Gnade für seinen Sohn. Im 
Augenblick wich Voltaire's Zorn dem ersten Sciirei der 
Humanität.* Er weinte mit dem Aiten, umarmte ihn, tröstete 
ihn, und lief sofort mit ihm zur geeigneten Stelle, um die 
Freilassung seines Sohnes zu erlangen. 

Nach diesem allen stört mich sein ^Ruf nach 
der Bastille« nicht mehr. — 

Der Prozeß und die Atfiire mit dem Bankier Hirsch 
in Berlin mißfällt mir, und obwohl ich schon oben alles, 
was sich zur Zurückweisung der schlimmsten Beschuldi- 
gungen Voltaire's, wie z. B. der Dokumentenfälschung, 
sagen läßt, angeführt habe, so erscheint mir doch diese 
ganze geschäftliche Manipulation mit Hirsch als 
eine sehr unschöne, schmutzige Geschichte. 

Ein direkt kriminelles Vergehen, wie Betrug oder falscher 
Eid, kann, wie man oben zufolge der Prozeßakten ersah, 
wohl nicht behauptet werden, der verbotene Handel mit 
Steuerscheinen und Ableugnung einer Konvention, deren 
Existenz er später zugab, sind aber so viel wie sicher- 
gestellt 

Von den so starken Beschuldigungen, die bezflglich der 
Hirsch-Af^ gegen Voltaire erhoben wurden, blieb also 
nur sehr wenig fibrig; und selbst der Handel mit verbotenen 
Steuerscheinen veriiert sehr viel von seinem schlimmen 
Anschein, wenn man bedenkt, daß seit jeher eine Inkorrektheit 
gegen eine Allgemeinheit, hier also: den Staat, nicht nur 
ffir viel weniger häßlich und unmoralisch angesehen wird, 
als eine solche gegen Privatpersonen, sondern daß deriei 
Vergehen in unzähligen Fällen selbst von sonst höchst 
korrekten und in jeder Bczieliunt^ t^esitteten Menschen 
begangen werden. Man denke nur an die fast durciigehends 



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- 238 - 



laischen Sleuerfassionen, oder daran, daß Reisende so oft 
und so gerne zollpfychtige Obfekte verheimlichen, und seien 
es auch nur untMdeutende Dinge^ deren Cinschmuggeiung 
man ja so gerne mit heiterer Miene in allen ihren Details 
wiedererzählt.*) 

Es bleibt also von der ganzen Geschichte nur die Ab- 
leugnun^ des Steuerschein-Handels seitens Voltaire's übrig. 

Denken wir nun aber daran, welche grollen Autgaben 
sich Voltaire gestellt hatte und daß er zudem ein Moralist 
und ein Dichter war, so beriUut uns selbst die so reduzierte 
Hirsch-Affäre dennoch immer, als Kontrast zu dem Bilde, 
das wir uns von einem Mann mit solchen Bestrebungen 
gerne machen, sehr unangenehm. 

Und es ist nicht nur ein ideales Fantasiebild, das wir 
hier dem Voltaire der Hirsch^Affflre entg^enhalten können, 
es sind Männer, die wirldich gelebt haben, und die 
uns als Ideale jenem Voltaire g^nenfiber erscheinen. Ein 
Diderot, ein Rousseau wäre zu einem solchen Handel und 
zu einem solchen Verhalten ganz und gar unfähig gewesen; 
ebensowenig ein Ooeth^ ein Schiller oder ein Richard 
Wagner. 

Und dennoch halte ich es fQr unbegrflndet und m* 
gerecht, wegen der Hirsch-Affäre Voltaire einen schlechten 



•) Ein lioch ingesehencr österreichischer Aristokrat unJ einstiger 
Minister, Altgraf H., der vor ungefähr 25 Jahren starb, bestimmte in 
seinem Testamente, dem Staate sei eine so und so große Summe aus 
seinem Nachlaß zu vergüten für den Entgang an Zöllen, um die ihn der 
Verstorbene bei der Rückkehr von seinen näufiKen Reiten durch Ver- 
heimlichungen verkürzt hatte. 

Wieso es aber bomm^ daß Inkorrektheiten gegen den Staat viel 
gelinder beurteilt — wenn auch viel schwerer bestraft — werden, als 
jene gegen Privatpersonen, erkläre ich mir so: Man denkt, der ent- 
standene Schaden verteile sidi luf viele Millionen von Menschen, es 
treffe also den Einzelnen ganz tinmerklich; ferner weiß man, dali der 
Staat stets Macht genug hat, um soiche Schäden in anderer Weise gut 
zu machen, und endlich ist ein Staat eine Abstraktion, er liat keine 
individuelle Physiognomie, und wir Ilaben daher ebenso wenig Mitgefühl 
mit ihm, wie mit einem Insekt, das ffir uns ebenfalls keine Physiognomie 
besitzt 



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— 239 - 



oder gemeinen Charaicter zu nennen und ihn desw^n als 
ganzen Menschen moralisch unter die oben genannten 
Orößen zu steilen. »Man ist Mensch: die Dinge schieben 
sich, ich weiß nicht wie« schrieb Voltaire damals an Darget. 
Und wer diesen Satz versteht und kein Tugendfanatiker ist, 
wird einsehen, daß, so sehr wir die Sache bedauern und 
sozusagen aus dem Leben jenes Mannes hinwegwönschen, 
ein solcher Fehltritt, und auch mehrere solcher Fehltritte, 
nicht imstande sind, die fast unvergleichliche Summe von 
Güte und von edler Oesinnung in privaten und öffentlichen 
Angelegenheiten vergessen zu lassen und sie in unserem 
Gedächtnisse auszulöschen. iMan wird einerseits sehr selten 
einen im praktischen Leben stehenden Mann finden, der nicht 
hie und da Inkorrektheiten begeht, und wäre er sonst noch 
so hoch t-estellt; und anderseits können die obengenannten 
Männer, trotzdem sie nicht entfernt solcher sogenannter ge- 
meiner Vergehen bezichtigt werden können, durchaus keinen 
größeren Anspruch auf. unsere Liebe und Verehrung machen 
als Voltaire: 

Denn (Iber allem anderen steht Oute; und darin 
kann sich nicht einmal Diderot mit Voltaire vergleichen, denn 
jener besaß nicht entfernt die Aktivität der Oüte wie dieser. 
Schiller, der wohl der reinste und idealste Charakter von 
allen gewesen, besitzt Schwung, Erhabenheit, ethischen und 
ästhetischen Trieb, kurz alles, was in die Höhe weist, man 
kann ihn wohl einen weltlichen Heiiigen nennen; und in- 
folge seiner Armut, Kränklichkeit und seines so frühen 
Todes scheint er uns umsomehr in ätherischen HOhen zu 
schweben; allein, ob er das permanente Feuer der Ofite be* 
saB, ist mir nicht bekannt; wie man wei0, wurde es von 
manchen Zeitgenossen bezweifelt, wenn nicht Ihm geradezu 
abgesprochen. 

Das reiche Leben Voltatre's lag offen vor aller Welt, 
eine Unzahl von meist neidischen Schriftsteilem machte 
es sich zur Aufgabe, an allen Details seiner Lebens^ 



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- 240 — 



fOhrung herumzunöigeln, sogar solche Fehler zu erfinden, 
als ob Voltaire einer der größten Übeltäter gewesen wäre. 
Dennoch sahen wir und werden es noch weiterhin sehen, 
wie ungerecht und unbegründet fast alle Vorwürfe sind. 

Wollte man aber auch bei anderen Männern von großem 
Rufe sich mit ihrer intimeren Lebensführung^ so beschäftigen, 
wie es mit jener VoUaire's geschah, so kämen ohne Zweifel 
fast alle weit schlimmer davon als der unparteiisch beurteilte 
Voltaire. 

Was für ein Bild bekommt man z. B. von den großen 
deutschen Schriftstellern und Dichtern, die zu üoethe's und 
Scliillers Zeit in Weimar lebten! Abgesehen von den so- 
genannten Klatsch{Teschichten, die ja durchaus tatsächlich 
richtig sind,*) braucht man ja nur die Briefe Schillers an 
Kömer zu lesen. 

^Von den hiesigen großen Geistern,« schreibt er am 
29. August 1787, »Icomnien einem immer närrischere Dinge 
zu Ohren«, und nun werden z. B. von Herder die häßlich- 
sten Charaidereigenschaften erzähit; selbst der heute als 
liebenswürdiger und weiser Mann verehrte Wieland Icommt 
schlecht weg; von Ooethe schreibt Schiller, er habe auch 
gegen seine nächsten Freunde kein Moment der ErgieBung, 
er sei an nichts zu fassen, er sei wohl ein Egoist in un* 
gewöhnlichem Grade usw^ und in einem späteren Briefe an 
Kömer (vom Jahre 1790) sagt Schiller von Ooethe: >Es 
fehlt ihm ganz an der herzlichen Art, sich zu iigend etwas 
zu bekennen.« 

Von allen den Fehlem, die den deutschen Klassikem 
jener Zeit in den eben angeführten Schriften voigeworfen 
werden, ist Voltaire ganz frei gewesen, und jene Fehler be- 
rühren uns, als Kontraste zu dem Bilde, das wir uns von 
Männern mit so hohen Bestrebungen machen, vielldcfat 
noch unangenehmer als die Hirsch-Angelegenheit bei Voltaire. 

*) Wie ich gitiibe, wurden sie von einem gewissen Böttcher 
puMiztert. 



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- 241 — 



Und Schiller selbst? Können wir nichts Tadelnswertes 
an ihm finden, wenn wir uns die unangenehme Aufgabe 
stellen wollen, den intimeren Menschen in ihm ganz zu er- 
kennen? — Ganz gewiß. 

Das Mindeste davon ist z. B. die Tatsache, daß der 
fünfundzwanzigjährige Schiller im Prospekt zur Rheinischen 
Thalia ankündigte, er schreibe »als Weltbürger, der keinem 
Fürsten dient«; das Publikum ist mir jetzt alles, mein 
Studium, mein Souverän, mein Vertrauter. Ihm gehör' ich 
jetzt an. Vor diesem und keincfn anderen Tribunal v/erde 
ich mich stellen. Dieses nur fürchte ich und verehre ich. 
Etwas Großes wandelt mich an bei der Vorstellung, keine 
andere Fessel zu tragen, als den Ausspruch der Welt — 
an keinen anderen Thron mehr zu appellieren als an die 
menschliche Seele.« Aber im ersten Heft der genannten 
Zeitschrift widmete Schiller den ersten Akt des Don Carlos 
— dem Herzog von Weimar, und zwar mit folgenden 
Worten: »Wie teuer ist mir der jetzige Augenblick, wo ich 
es laut und öffentlich sagen darf, daß Karl August, der 
edelste von Deutschlands Fürsten und der gefühlvolle Freund 
der Musen, jetzt auch der mdnige sein will, daß Er mir er- 
laubt hat. Ihm anzugehören, daß ich denjenigen, den ich 
lange schon als den edelsten Menschen schätzt^ als meinen 
Fürsten jetzt auch lieben darf.« 

Ob nun Schiller den Herzog von Weimar wirklich so 
sehr verehrte und liebte — woran man nach Allem wohl 
zweifeln kann — oder ob das nur Redensarten waren, die 
ihm seine pekuniäre Lage und Abhängigkeit als notwendig, 
erscheinen ließ, in beiden Fällen macht die Dedikation 
einen sehr schlechten Eindruck, zumal sie mit dem Aufruf 
an das Publikum, seinem »Studium«, seinem »Souverain«, 
seinem »Vertrauten« so sehr in Wkterspruch steht Auf 
keinen Fall war das »Männerstolz vor Königsthronen.« 
Hätte Voltaire sich einen solchen Widerspruch und einen 
so gemütsinnigen Servilismus jemals zu Schulden kommen 

Popper, Volt»ira. 16 



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— 242 — 



lassen, so wSren fasi alte Biographien Voltaire's voll davon 
gewesen, und die so rigorosen Tugendwäditer und Splitter- 
richter hätten ihn nicht nur einen Höfling, einen Fürsten- 
knecht, sondern auch einen Abtrünnigen gescholten, der das 

»Publikum^ gegen einen Herzoge fallen läßt und dergl. mehr. 

Auch in g:eschäftlichen Angelegenheiten gibt es bei 
Schiller Dinj^'e, die mit dem Bilde, das wir uns von diesem 
unübertrotfencn Idealisten machen, durchaus nichtharmonieren. 
Mit Vorwissen Schillers ließ Cotta in die Jenaer Literatur- 
zeitung Rezensionen der Hören einrücken, die er selbst 
bezahlte; und Schiller, der zeiin Jahre früher in der An- 
kündigung seiner Thalia das Publikum seinen Souverain 
nannte, meinte jetzt (bei der Herausgabe der Hören): »dem 
Publikum mu6 man doch alles vonnaGhen.c*) 

Und in der englischen Biographie des Verlagsbuch- 
händlers Ooschen, die von seinem Enkd herausgegeben 
wurden wird von einem geschäftlichen Plane erzählt, den 
Schiller diesem Verleger vorschlug» der durch Inkorrektheit 
in höchstem iVla6e fiberrascht; Voltaires Steuerschdn-Affäre 
ist diesem Kniff gegenflber geradezu harmlos zu nennen.**) 

Alles Bisherige jedoch erscheint mir noch immer nicht 
als gar so schlimm, da ich Schillers trostlose pekuniäre Lage 
als genügende Entschuldigung dafür betrachte; man sieht eben 
hier wieder, wie notwendig jedem IMenschen, und um so 
mehr jedem höheren Menschen, Ökonomische Unabhängig- 
keit ist 

Aber was mir wirklich an Schiller als ein Flecken er- 
scheint, ist seine Oesinnung in Beziehung auf das Verhältnis 

zwischen Goethe und Christiane Vulpius, welche zu 
Schillers Lebzeiten noch nicht miteinander vermählt waren. In 

*) 2atirt aus dem SdiiUer-Biidie von Fnuiz Mehring. 

**) Ich kann diesen Plan Schillers hier nicht wiedererzählen, weil 
mir Ooschens Werk jetzt nicht 7u Gebote steht; der Eindruck bei der 
seinerzeitigen Lektüre der betretenden Steile (in einer Rezension) war 
ffir mlcb ein tief bestfiireoder. 



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— 243 — 

dem Standesvonirtdl oder, vielleicht piiziser gesagt^ in der Uel»- 
losen Auflassung dieses VerliäHnisses, wie sie Schiller in 
seinem ganzen Verhaiien»in Wort und Schrift, dokumentierte, 
finde ich einen weit größeren mondischen Defekt, als in 
allem, was man Voltaire etwa mit Recht vorwerfen kann. 
Die Ableugnung des Steuerscheinhandels und die Maupertuis- 
Affäre verschwinden vollständig dagegen. Denn bei Voltaire 
haben wir es nur mit schwachen Augenblicken zu tun» die 
für die Beurteflung seines ganzen Wesens ganz und gar 
bedeutungslos sind; bei Schiller aber in diesem Falle mit 
einer höchst unschönen, geradezu prinzipiellen Gesinnungs- 
äußerung. Wahrscheinlich spielte Goethe eben auf diesen 
Punkt an, als er zu Jemandem (Eckermann?) sagte: »Schiller 
ist viel mehr Aristokrat als ich.« 

Schiller zeigte sich hier nicht nur philiströs in seiner 
Auffassung, sondern eben auch, wie jede Art von Aristokratie, 
lieblos, rücksichtslos gegen jenes Mädchen, von dem Goethe 
in dem beschränkten Weimar den edlen Mut hatte, zu sagen: 
»Sie war immer meine Frau.« 

Daß Goethe ein Mädchen, das ein Kind von ihm hat, 
heiraten sollte, erscheint Schiller als Torheit! Er wird, 
wie ich fürchte, eine Torheit begehen und das gewöhnliche 
Schicksal eines alten Hagestolzen haben,« schreibt er am 
1. November 1790 an Kömer, »sein Mädchen ist eine Mamsell 
Vulpius, die ein Kind von ihm hat und sich nun in seinem 
Hause fast so gut als etabliert hat. Es ist sehr wahrscheinlich, 
daß er sie in wenigen Jahren heiratet. Sein Kind soll er 
sehr lieb haben, und er wird sich bereden, daß wenn er 
das Mädchen heiratet, es dem Kinde zu liebe geschehe und 
daß dieses wenigstens das Lächerliche (!) dabei vermindern 
könnte. Es könnte mich doch verdrießen, wenn er 
mit einem solchen Geniestreich aufhörte; denn man würde 
nicht ermangeln, es daffir anzusehen.c 

Dem Verfasser der Räuber und von Kabale und Liebe 
wäre es wohl besser angestanden, vielmehr Goethe zur 

1«* 



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- 244 — 

Heirat der Vulpius zu bewegen, anstatt über dieses Ver- 
hältnis die Nase zu rümpfen, dem allgemeinen Weimarer 
Frauenklatsch zuzustimmen, und es für dne Torheit anzu- 
sehen, wenn Ooettie ein Mädchen, das von ihm ein Kind 
hatte und das er so liebte, daß er »es nicht leiden mag, 
wenn sie gering geschätzt wird« — wie sich Kömer aus- 
drQckt — , nicht sitzen lassen würde. Und was das Sitzen- 
bleHien mit einem Kinde für ein Mädchen in der damaligen 
Oesellschaft*) bedeutete^ wuBte der Dichter der Kindes- 
mOrderin sehr genaa 

SchKeBen wir aber diese unangenehme Analyse des 
Schiller'schen Charakters. Ich sage trotz dem allen: Er war 
ein weltlicher Heiliger, und er Jai&bi ffir alle Zeiten der 
höchsten Verehrung würdig; allein ich verlange dieselbe 
milde und tolerante Auffassung — wie für jeden anderen — 
auch für Voltaire. 

Was Ooethe betrifft, so war er schon vermöge der 
Universalität seines Geistes ein Individuum von höchster 
Gesittung; und er hatte auch sonstige hohe, allerdings mehr 
negative Charaktervorzüge. Aber von der Ooethe sehen Art 
höchster Gesittung und Vornehmheit, die sich doch nie 
aktiv bewährt, ist es noch weit bis zur Eigenschaft der 
Güte, 

So viel ich weiß, galt Goethe bei seiner Umgebung zu 
keiner Zeit seines Lebens für warm und noch viel weniger 
für gut; sein ganzes Wesen war nicht auf Güte angelegt, 
Sinn für Freundschaft besaß er ebenfalls nicht; Schiller war 
der einzige Mensch, zu dem er in einem allerdings unvergleich- 
lich edlen Verhältnis stand, das aber nur den vornehmen Cha- 
rakter eines künstlerischen Gemeinschaftsgefühls hatte, die 
rein menschliche Wärme, wie wir sie so oft bei Voltaire^s 
Freundschaften finden, fehlte dabei. Zorn und Enhüstung 
angesichts von Ungerechtigkeiten, sei es im privaten, sd es 

*) Übrigens auch noch in der heutigen. 



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— 245 — 



im öffentlichen Leben, gab es bei Ooethe niemals, ja er 
sagte von sich selbst, er ziehe Ungerechtigiceit der Unord- 
nung vor. Nimmt man nun noch alles das hinzu, was über 
seine Rücksichtslosigkeiten bei seinen vielen Liebschaften 
bekannt ist, so sieht man wohl, da6 Ooethe's privater Cha- 
rakter mit jenem VoHaire's nicht entfernt einen Vergleich 
aushalten kann. 

Richard Wapfn er war zeitlebens ein wahrer Repräsentant 
von Ungute, ja so^^ar von Undankbarkeit, und sein Idealis- 
mus und alle schönen Gefühle sind bei ihm nur in abstracto, 
nämh'ch in seiner Lebensführung als Künstler und in seinen 
Musikdramen zu finden. 

Und wenn man von Rousseau nichts weiter wüßte, als 
daß er fast gar nie aufhörte zu verdächtigen, ja selbst seine 
edelsten Freunde zu verleumden, so würde das allein schon 
genügen, um ihn tief unter Voltaire zu stellen; alle Hirsch- 
Affären und noch soviel derartige Streiche VoUaire's 
verschwinden gegen die Charaktereigenschaft, 
Menschen leichten Herzens zu verdächtigen.*) Es 
Ist wohl wahr, daß Verdächtigen und Kränken keinen Platz 
im Kriminalkodex besitzen, während auf inkorrekte Geld- 
geschäfte und was mit ihnen etwa noch zusammenhängt, 
Strafen gesetzt sind. Ich wfirde auch keinen Grund finden, 
warum selbst das größte Genie, das sich in dieser Weise 
gegen das Shafgesetz vergeht, nkht gerade so gut bestraft 
werden sollte^ wie irgend jemand anderer. Allein trotz- 
dem stelle ich sogar einen so verurteilten Voltaire noch 
immer hoch über einen unbestraften Rousseau, da bei 
jenem der ganze Mensch trotz einzelner solcher Entglei- 
sungen gut und edel dasteht (fieser aber in seiner ganzen 

*) Ich möchte auch hinzufügen, daß St Beuve von Rousseau sagt, 
er geniere sich durchaus nicht, zu hit^en, wenn seine krankhafte Eigen- 
liebe uiid seine Eiteilveit ins Spiel kamen, und bezüglich Rousseau's 
Anklagen gegen Orimm war St Beuve geradezu ai der Überzeugung 
gelangt, daB jener gelogen habe. 



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— 246 



Naturanlage — man mag sie kfankhalt nemien oder nicht 
— als ein hSBIiches Charakteigebtlde uns zur Empörung 
bringt Man ist seltsamerweise gewohnt, jene^ die sich 
gegen einen Straflcodex veigehen, oder die^ ohne g^en ihn 
zu verstoßen, in Eigentumsfragen gemein oder inicorreld 
voigehen, ungleich mehr zu mißachten als jene, die das 
zwar nicht tun, aber noch so viele Recken des Charakters 
hl den sogenannten höheren und feineren Gebieten des Ver- 
kehrs aufweisen. Ein gesetzlich korrekter Mensch, z. B. Künstler 
oder Schriftsteller oder Philosoph, mag eifersflchtig, miß- 
günstig, verleumderisch, klatschsuchtig, boshaft, sachlich un- 
ehriich und dergl. sein, so wird man ihn darum doch nicht aus 
dem gesellschaftlichen Umg^ang ausstoßen, }a wird sich gar 
nichts tnerken lassen, ihn gerne in die ernstesten Ges|:)räche 
ziehen und ihm niemals irgend welche Mißachtung be- 
zeigen. 

Und desgleichen mag jemand noch so viel Un^üte, 
Härte, ja Roheit, sei es überhaupt, sei es gegen seine nähere 
Umgebung, beweisen, er mag mit der Brutalität seiner Ge- 
sinnung noch so viel Unglück anrichten. Verwandte darben 
lassen, seine Frau schlagen, mißgünstig und schadenfroh sein 
usw., er gilt doch immer für eine Respektsperson, wenn er nur 
nicht den Strafkodex verletzt und wenn man ihm nichts 
Anti-Konventionelles nachsagen kann. Aber wenn der edelste 
Mann etwa in seiner Not einen Paletot stiehlt oder, um 
seine Familie momentan vor Hunger zu schützen, sich gegen 
das Wechseirecht vergeht, oder auch nur den kleinsten 
Bankerott macht, kurz: sich in Geldsachen inkorrekt be- 
nimmt, so wird sofort über den ganzen Menschen der Stab 
gebrochen. 

Eben darin besteht die niedrigste Art des Mam* 
monismus in unserer Gesellschaft 

Wie ist nun diese Oesinnung zu erkären? 

Sie hat einen sozialen, eigentlich wirtschaftlichen Unter- 
grund. Es ist eine Folge unserer Gesellschaftsordnung^ 



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— 247 — 



daß fast alle strafbaren Eigentumsdelikte im allgemeinen 
doch nur von den armen Teufeln der ungebildeten, un- 
feinen Volksschichten begangen werden; es verbindet 
sich daher die Verachtung g^en diese, aber auch zugleich 
die Besoigthdt des »Satten« um die Sidierhett seines Eigen- 
tums, mit dem Urteil Aber solche Handlungen; und es ist 
daher weniger eine moralische Antipathie als eine sozial- 
ästhetische und ökonomisch*egoistische, mit der wir es hier 
zu tun hat>en. 

Sieht man nun bei einem Satten, wie es doch Voltaire 
war, der ja kleine Oeschäftskünste gar nicht nötig hatten 
derlei Inkorrektheiten, so rangiert man ihn sofort in die als 
so niedrig angesehene ImmonJitäts-Kat^rie der niedrigen 
Volksschichten. — 

Alle die geschäftlkhen Händel Voltalre's, die man als 
Beweise seines Geizes oder seiner Schmutzerei ansieht 
— wie u. a. auch sein Streit mit de Brosses, bei dem 
es sich um einen Betrag von nur 280 Livres für Brennholz 
handelte ~ sind jedoch nicht anders anzusehen denn a)s 
Äußerungen eines enorm impulsiven rechtsgewandten Natu- 
rells, das sich in die Meinung, Recht zu haben, im Laufe des 
Streites immer mehr einspinnt. Denn es ist doch ganz 
undenkbar, daß ein steinreicher Mann, der so grosse Summen 
nicht nur für seine Haushaltung und seine zahlreichen Gäste, 
sondern aucii für Unterstützungsbedürftige ausgibt, sich 
wegen 280 Livres, oder ein andermal wegen Bezahlung der 
Miete einer Postkutsche so hartnäckig herumschlagen wird. 
Man muli nicht, um Fehler finden zu können, die größten 
Inkonsequenzen in einem menschlichen Charakter voraus- 
setzen! — 

Wenn wir aber den Mangel an Wahrhaftigkeit in 
manchen Privataffären Voltaire's, wie z. B. eben in dem 
Falle Hirsch, zugeben, so können wir doch behaupten: 
Solche Streiche sind gewiß zu tadeln, aber sie beirren uns 
nicht Man nennt sie gewöhnlich »niedrige« Charakter- 



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— 248 — 



fehler, ich nenne sie gegenüber uneigennützi j^en Fehlem 
wie jenen Rousseau 's, oder gegenüber der üngüte eines 
Wagner — ganz unbedeutende Flecken. 

Wie glücklich wäre die Menschheit, wenn bei ihren 
hervorragendsten Individuen keine anderen Gebrechen als 
diesesogenannten »niedrigen« vorhanden wären! Und nicht nur 
die Menschheit als Gattung, sondern auch die Menschen als 
Privatpersonen — ein wie viel behaglicheres Dasein wäre ihnen 
gegönnt, wenn nur Hirsch-Affären zu vetzdchnen wären! 
Wie die Menschen jedoch beschaffen sind, so sieht und hört 
man alle Tage, daß ngend jemand, der weder im Privatleben 
noch in seinem öffentlichen Leben, oder auch nur in seinen 
Gedanken fiber die Schicksale der Menschheit Sympathie, 
ernstes Interesse oder gar Gflte l>esitzt, von seinem Nichts 
aus auf Voltaire als Richter mit moralischer Verachtung her- 
absieht Hier verbinden sich in der Tat Phärisäismus, Un- 
verstand und Undankbaricdt zu einer widerwärtigen An- 
maßung. — 

Dann gibt es eine Affäre Grass et, die im allgemeinen 

nahezu unbekannt ist und die ich erwähnen muß. 

Sie betrifft eine beinahe unglaubliche liittigue Voltaire's 
gef^en den Biiclihändler und Kolporteur Grasset, der in Genf 
mit einem Manuskript der -Pucelle hausierte und nach der 
einen Darstellung dasselbe dem Autor zum Kauf anbot, 
nach einer anderen Version das Manuskript für die Pompa- 
dour hätte ankauten sollen. Voltaire habe nun dasselbe 
Grasset abgelistet und überdies seine Verhaftung veranlaßt, 
um die Weiterverbreitung der für ihn so gefähriichen 
Schrift zu verhindern. Man muß diese Geschichte am 
betreffenden Orte*) selbst nachlesen, — hier würde sie zu 
viel Raum l>eanspruchen — die in ihrer verschlungenen und 
beinahe operettenhaften Prechheit und Rücksichtslosigkeit 
ihres Gleichen sucht Ich war über dieses Vorgehen 

*) Siehe Perey et Mangras ^Vie intime de Voltaire« (1885). 



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— 249 — 



Voltaire's erstaunt, obwohl dem zum Opfer ausersehenen 
Orasset trotz der — kurzen — Haft nichts Unangenehmes 
passierte^ jedoch wohl hätte passieren können. 

Aber auch dieser Fall verliert viel, wenn nicht alles» von 
sdnem schlimmen Aussehen, wenn man bedenkt, daß da- 
mals Voltaire In so großer und sehr begründeter Furcht 
vor Verfolgung lebte, und daB dieses ganze Vorgehen 
gegien Orasset als Notwehr gegen furchtbare Ge- 
walten, und unmittelbar gegen einen rficksichtslosen Er- 
presser, der ihm den Revolver vor die Brust hielt, verflbt 
wurde. Orasset war eben dn Mensch, der ohne Rücksicht 
auf die Autoren mit verbotenen Büchern und Manuskripten 
Geschäfte betrieb, und es ist gewiß, daß der schon stein- 
alte Voltaire wegen der »Pucelle«, auf die man in Paris 
bereits anfing, in gefaiirdrohender Weise aufmerksam zu 
werden, Gefahr lief, auf wer weil) wie lange eingesperrt, 
ja vielleicht an Leib und Leben bestraft zu werden. Lr 
mußte also alles daransetzen, sich zu retten. 

Wer diesem Greise seine Stimmung nur im Ge- 
ringsten nachfühlen Icann, muß seine Handlungs- 
weise zwar tadein, aber zugleich — entschuldigen; 
ja man kann sie nicht einmal tadeln, so wenig wie 
man das Niederwerfen des Vordermannes bei einem Theater- 
brand als eine schlechte Tat tadelt, da ja der sonst bravste 
Mann nicht zögern wird, vorl<ommenden Falles eine solche 
Handlung zu begehen. Ein begründeter Tadel kann nur 
die Intoleranz der damaligen Regierungen und Geistlichen 
treffen, die die Preßfreiheit so sehr t}eschränlcten. — 

Ein anderer, ebenfalls weniger belcannter, bedenklicher 
Fall ist der Fall Saurin. Auch dieser muß seiner Weit- 
läufigkeit wegen z. B. bei Maugms nachgelesen werden. 
Der Kern der Sache besteht in folgendem: Voltaire hatte in 
seinem Si^e de Louis XIV. im Kapitel über die damaligen 
Schriftstdier dem Geometer Josef Saurin — nicht ohne 



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— 250 — 



Onind — schlimme Dinge nachgesagt Dessen Sohn bat 
ihn, in einer nächsten Auflage des Werkes seinen Vater zu 
rehabilitieren. Voltaire wollte dem Sohn gefällig sein und 
wurde in Verfolgung dieser Absicht dahin gebracht, aus 
einem Protokoll, das für Saurin ungünstig war, das be- 
treffende Blatt herauszureißen, als er bei dem Besitzer des 
Protokolls» Herrn Polier, in dessen Abwesenheit zu Be- 
such war. 

Das war also wieder unbedingt ein starkes StQck von 
Inkorrektheit Voltaire selbst rechtfertigte sein Vorgehen 
Polier gegenüber damit: der Streich sd sehr entschuldbar 
gewesen, durch das Motiv, das ihn hierbei leitete^ nämlich 
dem Sohne eine Oefailigkeit zu erweisen. Das mildert 
wohl die Sache, bleibt aber doch eine bedeutende 
Inkorrektheit Allerdings wird man schon aus allem Vor- 
gehenden entnommen haben, daß es im 18. Jahrhundert 
überhaupt mit der Korrektheit im öffentikhen wie im pri- 
vaten Leben nicht allzu genau genommen wurde. Ich will 
diese Eigenschaft jener Epoche aber noch durch ein Bei- 
spiel illustrieren, das die Fälschung Voltaire's im Falle 
Saurin in milderem Uchte erscheinen läßt, insofern bei 
diesem keinerlei selbstsüchtige Zwecke vorhanden waren. 
Und zwar handelt es sich um einen ernsten, strengen Ge- 
schichtsschreiber und Parlamentsrat, also einen Rechts- 
gelehrten, um keinen geringeren nämlich als um Montesquieu. 

Dieser wollte Mitglied der Akademie werden, aber — 
wie Voltaire in der kurzen Biographie Montesquieu's in 
seinem Si^cle erzählt — die Freimütigkeit, mit der er in den 
3'Persischen Briefen« über die Regierung und von den MiH- 
bräuchen der Religion sprach, veranlaßte den Kardinal 
Fleury, ihn von der Wahl zum Akademiker auszuschließen. 
Montesquieu bediente sich nun »eines sehr geschickten 
Kunstgriffs % um den Minister auf seine Seite zu bringen. 
Er ließ in wenigen Tagen eine neue Ausgabe seines Buches 
herstellen, in der alles, was einem Kardinal und Minister 



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verdammlich erscheinen konnte, weggelassen oder gemildert 
wurde. Diese neue Ausgabe legte Herr von Montesquieu 
persönlich dem Kardinal vor, der nur selten las, aber einen 
Teil des Werkes durchblätterte. Dies sichere Auftreten in 
Verbindung mit dem Drängen einiger dnfluBrekher Per- 
sonen» brachte den Kardinal auf andere Oedanken, und 
Montesquieu trat in die Akademie ein. Trotz allem dem 
muß man sagen: Auch eine nichtegoistische Inkorrektheit 
verletzt selbst dann, wenn sie niemandem schadet, wie in 
dem Falle Sauiin, unsem Sinn für Wahrheit und ist daher 
eine nur feinere Art von Unmoialitäi 

Wohlwollen steht allerdings höher als eine noch so 

korrekte Art der Geschichtsschreibung, aber innerhalb ihres 
Gebietes ist doch eine unerbittliche Wahrheitsliebe die 
hüiiere Tugend. — 

Ein Weiteres, das mir bei Voltaire unangenehm auffiel, 
betrifft einige Äußerungen, die sich auf die Ermordung des 
Zaren Peter III. beziehen. Peter war ohne Zweifel ein 
Scheusal und bedrohte auch seine Gemahlin mit Verban- 
nung, so daß diese ihm zuvorkommen mußte, wenn sie 
sich retten wollte. Sie erreichte auch ihren Zweck, indem 
sie die Garde imd den Klerus gewann, sich zur Zarin aus- 
rufen, Peter aber auf das Schloß Ropscha bringen ließ. 
Dort wurde er jedoch von den Verschworenen ermordet, 
und diese Tat war um so weniger geeignet, über sie zu 
scherzen, als Katharina selbst dieser Mordtat mitbeschuldigt 
wurde. 

Voltaire schrieb aber In einem Briefe (vom Jahre 1762)*) 
an den Grafen Schuwalow darüber: »Man spricht von einer 
heftigen Kolik, die Peter Ulrich von der kleinen Un- 
annehmlichkeit befreite^ ein Reich von zweitausend Meilen 
verloren zu haben .... Ich gestehe^ daß ich glaube^ ein so 



*) Die wichtigsten Daten bei diesem Gegenstände entnehme ich 
dem Buche von Desnoirestenes. 



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— 252 — 



verderbtes Herz zu haben, um von dieser Begebenheit nicht 
so sehr skandalisiert zu sein, wie es ein guter Christ sein 
sollte. Es kann viel Gutes aus diesem Übel hervoigehen. 
Die Vorsehung ist wie ehemals die Jesuiten waren: sie 
benutzt alles.« 

Als dann nach kurzer Zeit Iwan, der Sohn Katharina's, 
der ihr gefährlich zu werden drohte, ebenfalls ermordet 
wurden war ganz Europa, das die Ermordung Peters III. fast 
billigte^ nkht wenig entrüstet Auch Voltaire, der schon seit 
längerer Zeit mit der Zarin in Korrespondenz stand, war in* 
digniert und schrieb (Im Jahre 1764) darfiber an d*Alembert: 
»Ich ertialte Ihren Brief, in welchem Sie das Vorgehen der 
Pliilosophin des Nordens sehr wenig phik>sophisch fmden; 
und gleichzeitig verlangt einer Ihrer Mitbrflder (wahrschein- 
lich Grimm) ein Exemplar meines Philosophischen Wörter- 
buchs fflr sie: aber ich werde es ihr ganz gewiß nicht 
schicken, ohne ein Kapitel gegen solche Grausamkeiten hin* 
eingesetzt zu hat>en.« Nun ist es — nach Desnoiresterres 
— nkht bekannl^ ob Voltaire jenes Kapitel wirklich hinein- 
gesetzt hat Hingegen ist es gewiß, daß er später an 
Madame du Deffand (im Jahre 1767, d. i. drei Jahre nach 
der Ermordung Iwans) schrieb: »Ich bin ihr (Katharinas) 
Chevalier allen gegenüber. Ich weiß wohl, daß man 
ihr irgend eine Kleinigkeit in Angeleii en heit ihres 
Gemahls vorwirft; aber das sind Familienan.i^e- 
legcnlieiten, in die ich iTiich nicht hineinmenge, und 
übrigens ist es nicht schlecht, wenn man einen Fehler gut 
zu machen hat; das verpflichtet zu großen Anstrengungen, 
um die Öffentlichkeit zur Achtunir und Bewunderung zu 
nötigen, und gewili hätte ihr iiälilicher Gatte kein einziges 
der großen Dinge vollbracht, das meine Katharina alle Tage 
vollbringt. 

Über diese Art, von dem Gattenmord Katharina's zu 
sprechen, man kann beinahe sagen — wenigstens dem An- 
scheine nach — zu sclierzen, waren Voltaire's Freunde und 



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— 253 — 



Freundinnen in Paris nicht wenig entrüstet: Horace Walpolc^ 

die du Deffand, die Herzogin von Clioiseul u. a. 

»Voltaire erschreckt micli mit seiner Katharina,« schrieb 

Walpolc an die du Deffand, »ein schöner Gegenstand zu 

scherzen: Die Ermordung des Gatten und Usurpation seines 
Thrones! Es ist nicht schlecht, saj^t er, wenn man einen 
Fehler zu bereuen iiat. Eh! Wie macht man einen Mord 
wieder gut?« 

Der Eindruck jener Worte wird wolil auf jeden ein 
höchst verletzender sein, und da mir der Zynismus, der uns 
aus ihnen entgegentritt, mit dem menschlichen Wesen 
VoHaire's in Widerspruch zu stehen schien, betrachtete ich 
es als eine Art von Pflicht der Gerechtigkeit, diesen ganzen 
Fall näher zu analysieren. — 

Vor allem können wir doch nicht annehmen, daß aus 
jenen Worten folge, Voltaire hätte Katharina's Tat gebilligt 
oder wirklich für eine gerinj^üg^iCTe Sache angesehen; das 
folgt schon aus seiner Entrüstung über sie in dem oben 
zitierten Briefe an d'Alembert, wie aus seinem ganzen Cha- 
rakter. Wie war er doch im FaUe Calas, la Barre usw. 
hoch entrüstet! Wie empört war er über die Ermordung 
Monaldeschi's durch die Königin Christina von Schweden! 
>Sie war in diesem Falle nicht eine Königin, die einen 
Untertanen bestrafte,« heißt es darüber im Si^le, »sondern 
eine Frau, die einen Liebeshandel mit einem Morde ab- 
schloß . . . Nur auf dem W^e des Gesetzes darf jemand 
gerichtet werden. Diejenigen, welche diese Tat zu recht- 
fertigen versucht haben, verdienten, die Diener ähnlicher 
Herren zu sein. Dieser Fkcken und diese Grausamkeit ver- 
unzierten Christinens Philosophie^ die sie zum Verlassen 
des Thrones bewogen hatte. In England und allen Ländern, 
wo die Gesetze herrschen, wfirde sie bestraft worden sein, 
in Frankreich drückte man gegenüber diesem Angriff auf 
die königliche Autorität, das Völkerrecht und die Menschlich- 
keit die Augen zu.« 



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— 254 — 



Man kann doch wohl nicht mehr an Menschh'chkdts- 
und Rechtsgefuhl verlangen, als sie hier zu Tage treten. 

Aber Voltaire hatte überhaupt die Manier, in allen seinen 
historischen Schriften wie in seinen Erzählungen, da wo er 
von Veriirechen und Schuricerden sprich^ sie meistens in 
einem kurzen, scharfen Tone und in solchen stilistischen 
Wendungen zu berichten, als ob er seine »Freude daran 
hätte«. Daraus entsprang der Eindruck auf viele Biographen 
Voltaire's, er sd eine »mephistophdische« Natur gewesen. 
Diese Auffassung zeugt aber nur von einem gänzlichen 
Mangd an Menschenkenntnis. 

Wie oft erzählt man von Schurkerden im privaten oder 
dffentiidien Leben in dnem hdteren, sogar von Lachen 
untert>rochenen f^usse^ an dessen Ende sogar auch der Zu- 
hörer in das Lachen mit dnstimmt! Dieses Lachen be* 
deutet aber nicht im mindesten wirkliche Heiterkeit oder 
Freude über diese oder jene Schurkerei; auch nicht Befrie- 
di^aing Lil)er das Gelingen eines besonderen Scharfsinnes 
bei ihrer Ausführung, denn die Niederträchtigkeit kann auch 
ohne jeden Witz oder ohne alle Klugheit begangen worden 
sein; nur eine nahezu unerwartete Bösartigkeit muß dabei 
gewesen sein, und je unerwarteter und je größer die 
Schlechtigkeit war, desto mehr scheinbare Heiterkeit und 
Lachen ist bei ihrer Wieder;^^qbe vorhanden. 

Was bedeutet also dieser scheinbare Zynismus? Gewiß 
keine Biiliguni^ der Tat, auch keinen Mange) an Entrüstung, 
denn es sind oft sehr moralische Naturen, die diesen An- 
schein von Frivolität erwecken. Der wahre Sinn der Sache 
ist einfach der, als ob man sap^en wollte: Man möchte i;ar 
nicht denken, daß es derlei Bösartigkeit gibt, und hält sich 
doch für einen Menschenkenner. Nun sieht man, wie es 
wirklich zugeht, und ich erzähle diese Geschichte und muß 
dabei lachen, weil ich sehe, mit welcher Naivetät 
man das Leben ansieht und wie wir uns damit 
blamieren.« In diesem Geiste wirft Voltaire meistens seine 



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— 255 — 



Berichte über Verbrechen und Gemeinheiten hin, ohne eine 
Miene der Entrüstung zu zeigen; aber stets mit der Wir- 
kung, dem Leser durch die kurze, nicht von moralischen Re- 
flexionen unterbrochene Darstellungswcisc eine Art von 
Überraschung zu bereiten. Und der Mangel jeder Rüge 
des Schlechten bringt den Leser beinahe dazu, sich selbst 
seine Naivetät vorzuhalten und nach der Lektüre zwisclien 
Entrüstung über die rkgebenheiten und Beschämung über 
seine noch immer nicht genügend große Menschenkenntnis 
zu schweben. Man beachte z. B. Voltaire's Candide<; 
oder seine anderen Erzählungen; in welchem raschen, wie 
munteren Tempo eine Schurkerei nach der anderen da be- 
richtet wird; es sieht beinahe immer so aus, als ob das 
Ganze nur zur Unterhaltung dienen sollte. Und ich bin 
uberzeugt, daß nur aus diesem Grunde Schiller und viele 
andere den Eindruck gewannen, als ob fibeiall hierbei »icein 
Emst zu Grunde« läge. 

Ich will einige solche Stellen als Beispiele anführeni 
und zwar zuerst aus dem »Candide«. 

Eine Schlacht ist im Gange »Nichts in der Welt war 
so schön, so zieriich, so gUbizend, so wohlgeordnet, wie 
die beiden Heere. Der Zusammenklang der Trommeln 
und Pfeifen, Trompeten, Mörser und lUnonen bildete ehie 
Harmonie, wie man sie in der Hölle nicht besser wünschen 
kann. Das schwere Geschütz raffte gleich im Anfange der 
Schlacht etwa 6000 Mann auf jeder Seite hinweg; sodann 
beseitigte das Kleingewehrfeuer noch ungefähr 9 bis 10000 
Schurken aus der besten Welt, deren Oberfläche sie ver- 
gifteten, c 

Da Rangloss an einer Geschlechtskrankheit leidet, »er- 
kundigte sich Candide nach der Ursache und der Wirkung 
und dem zureichenden Grunde^ wodurch Pang^oss in einen 
so kU^lichen Zustand versetzt sei. Ach! sprach dieser, 

es ist die Liebe; die Liebe, die Trösterin des Menschen- 
geschlechts, die Erhalterin des Weltalis, die Seele aller 
empfindenden Wesen, die zarte Liebe. 



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— 256 — 



Eine »AKec erzählt u. a.: » . . . Die Gefangenen, 
meine Gefährten, die, welche sie gefangen genommen hatten, 
Soldaten, Matrosen, Schwarze^ Braune, Mulatten, mein Kapitän 
endlich, alles wuide niedeigehauen, und ich blieb halbtot 
auf einem Haufen von Toten Hegen. Solche Auftritte er- 
eigneten sich l>ekanntlich auf einer Strecke von mehr als 
zweihundert Meilen, ohne daß man jemals eines der 
ffinf Gebete versäumt hätte, die Muhammed für 
jeden Tag befohlen.« 

Oder folgende Stelle: »Infolge der Arzneien und Ader- 
lasse wurde indessen Candids Krankheit in der Tat be- 
denklich. Der Pfarrgchilie des Viertels stellte sich ein und 
wollte Candid mit großer Sanftmut nötigen, einen auf Rück- 
zahlung in jener Welt ausgestellten Einlaßzettel für dieselbe 
zu kaufen. Candid wollte sich auf nichts einlassen; die 
Betschwestern versicherten, es sei die neueste Mode; Candid 
erklärte dagegen, er sei kein Mann nach der Mode. Martin 
wollte den Pfaffen zum Fenster hinauswerfen. Dieser 
schwur, man werde Candid nicht begraben; Martin schwur, 
er werde ihn, den Geistlichen, begraben, wenn er sie noch 
langer belästige usw.« 

Und aus der Novelle: »Die beiden Getrösteten^: 
Aber, sprach Cttophil weiter, denken Sie doch nur an 
Maria Stuart. Sie Hebte in allen Etiren einen tüchtigen 
Musiker, der einen herrlichen Bariton sang. Ihr Oatte 
massacrierte ihren Sanger und Musikus vor ihren Augen, 
und in der Folge ließ gar ihre gute Freundin und 
liebe Base, die Königin Elisabeth, die sich ffir eine 
Jungfer ausgab, ihr auf einem schwarz verhangenen 
Schaffot den Kopf abhacken, nachdem sie vorher 18 
Jahre hatte im Gefängnis sitzen mflssen.« 

In »Scarmentados Reisen«: »Hierauf kam ein Heer 
von Mönchen, die je zwei und zwei aufmarschierten, 
Mönche von sdlen Arten . . . Auf die Mönche folgte der 
Henker, und den Beschluß machten, von einer Mei^ Al- 
guazils umgdien, etwa 40 Leute In groben talarartigen Oe> 



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— 257 



wandern, die mit Teufeln und Flammen bemalt waren. Es 
waren Juden, die dem mosaischen Gesetze nicht ganz und 
gar hatten entsagen wollen; es waren Christen, die ihre 
Gevatterinnen geheiratet, oder unsere liebe Frau von Atocha 
nicht angebetet, oder sich geweipfert hatten, ihr Geld der 
heiligen Bruderschaft der Hieronyniiten abzutreten. Man 
stimmte mit großer Salbung schöne Hymnen und 
Bußpsaimen an und verbrannte hierauf sämtliche 
Verbrecher bei langsamem Feuer, ein Schauspiel, 
das besonders die königliche Familie höchlich zu 
erbauen schien.«: im Siede sagt Voltaire (im 17. Kapitel): 
^Der Herzog ViWor Amadeus von Savoyen war unter allen 
Fürsten derjenige, der am frühesten zu einem tntschlusse 
kam, als es ^a!t, seine Verbindlichkeiten zugunsten 
seiner Interessen zu brechen.« 

Ebenso edahren wir in dem Essai sur les moeurs 
alle Verbrechen in der politischen und Kirchengeschichte in 
der gewohnten, hastigen und abschnappenden Art; nicht 
anders spricht Voltaire auch in den Biographien der Männer 
aus der Zeit Ludwigs XIV. Besonders bezeichnend ist in 
dieser Beziehung eine Stelle in der Novelle Zadig oder das 
Geschick. 

Hier erzählt Voltaire^ wie sich ein Frauenzimmer benimmt^ 
während zwei Männer sich ihretwegen schkigen» von denen 
der eine sie vor dem anderen nur beschatzen, also als ihr 
Ritter kämpfen will. 

»Steh* mir bei,« rief sie 2[adig schluchzend zu, »erlöse 
mich aus den Händen des unbarmherzigsten aller Menschen! 
Rette mein Leben!« . . Der Kampf b^nnt . . Die Dame, 
die mittlerweile auf dem Rasen Ratz genommen hatte^ 
bringt ihren Kopfputz in Ordnung und sieht 
ihnen zu.« 

Nach viellachen analogen Erfahrungen bin ich davon 
fiberzeugt, daß die allermeisten Leser diese kurze Stelle ent- 
weder gar nicht t)eachteten oder andernfalls ihre Furchtbar* 

Popper, Veftainb 17 



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— 258 — 



kdt gar nicht verstanden haben. Und doch hätte der große 
Menschenkenner Voltaire dieses Detail gewiß nicht erfunden, 
wenn er nicht die Absicht gehabt hätte, dem Leser im Bilde 
zu sagen: Mich berührt das nicht mehr, denn ich kenne 
die Welt» du aber, sieh her und gib Acht darauf; deigldchen 
mußt du bei dner Frau für möglich halten! Es liegt immer 
in Vollatre's Manier, solche Dinge zu erzählen, etwas Ana* 
loges, wie dne verächtliche Handbewegung^ mit der er 
sagen zu wollen schdnt: Machen wir's kurz, wir sollten 
die Menschen doch schon genügend kennen, mir wenigstens 
kann diese dnzdne Schurkerd nichts neues mehr sagen. 

Und etwas von diesem impulsiven Tempo 11^ über- 
haupt in allen Prosaschriften Voltaire's. Ob er nun dem 
Leser iigend dne Aufklärung im Gebiet der Wlssensdiaft 
oder PoÜük bieten, oder ob er auf die Besdiaffenhdt der 
menschlichen Charaktere, namentlich der schlechten, den 
Blick hinlenken will, immer beleuchtet er den Gegenstand 
plötzlich und wie mit einem Scheinwerfer. Und in raschem 
Wechsel richtet er dann diesen Scheinwerfer bald auf diesen, 
bald auf jenen Punkt. 

Als ein Beispiel im wissenschaftlichen, nämlich im 
philosophischen Gebiet möchte ich den von ihm schein- 
bar leicht hingeworfenen Salz anführen: »Wir sind ebenso 
vvenii; Herr unserer Träume, wie unserer Oedanken.« In 
welcher überraschenden und drastischen Weise wird da dem 
Leser eine hochwichtige philosophische Einsicht vermittelt! 
Man kann sehr viele gründliche metaphysische Abhandlungen 
lesen und doch nicht so viel aus ihnen lernen, wie aus 
diesem kurzen Satze. — 

Vielleicht f^eniig-t diese bisherige Auseinandersetzung, 
um die Leser Voltaire'scher Schriften vor Unverständnis 
und Mißdeutungen zu bewahren. 

Es ist übrigens nicht allein Schiller und fast jeder 
Deutsche, sondern merkwürdigerweise auch so mancher 
bedeutende französische Schriftstdier der Mdnung^ daß die 



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Voltaire sehe Schreibweise etwas »Mephistophelisches« an 
sich habe. 

Alle die, welche in VoHaire's Dtnken oder in seiner 
Schreibwelse etwas Mephistophelisches« finden wollen, ver- 
gessen die Haupteigenschaft Mephisto's, nämlich, »seine 
Freude daran zu haben«. Kann das aber jemand im Ernste 
bei Voltaire voraussetzen? 

Frau von Stafil sagt in ihrem Buch Über »Deutschland« : 
»Er veriaBte Candide, dieses Weile von einer höllischen 
Heitericdt; denn es scheint von einem Wesen, von einer 
ganz anderen Natur als wir» geschrieben zu sein, gleichgiltig 
gegen unsere Leiden und wie ein Dämon oder wie ein Affe 
über die Miseren dieser menschlichen Gattung lachend, mit 
der er nichts gemein hat« Und Stendhal schreibt: »Die 
fremden Kritiicer haben bemeikt, daß in den heitersten 
Schmen in Candide und Zadig immer dn Unteigrund 
von Bosheit vorhanden ist ... . Der böse Mensch dringt 
fiberall hervor.« 

Da nun so vorzügliche Geister eine von der meinen so 
grundverschiedene Auffassung der Voltaire sehen Schreib- 
weise und Gesinnung^ an den Ta^ legen, so hege ich aller- 
dings keine ^rolk^ Hoffnung, daß obige philosophische Analyse 
ihren Zweck erreichen wird; ich fühle aber trotzdem, daß 
meine Auffassung die richtige ist; denn sie geht nicht bloß 
aus der Betrachtung der Schreibweise, sondern der ganzen 
Persönlichkeit Voltaire's hervor. Und vielleicht liegt es nur 
eben an der allgemeinen — nach meiner Meinung un- 
richtigen Auffassung des Voltaire'schen Naturells, daß so 
zahlreiche Fälle von Mißverständnis seiner Absichten und 
Oesinnungen vorhanden sind. — 

Ich kann es aber bei dem Bisherigen noch nicht be- 
wenden lassen, wenn der hier behandelte Fall vollständig 
analysiert werden soll. Voltaire hatte nicht nur die Weit- 
geschichte mit großem Verstände studiert und nicht nur in 

17* 



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— 260 — 



sdneifi Privatleben die Schlechtigkeit der Menschen kennen 
gelernt» sondern auch im persönlichen Umgange mit den nam- 
haften Politikem seiner Zeit einen tiefen Blick in die intimen 
TrieM edem ihrer Handlungen wie auch auf Ihre offenli^en- 
den Schuikereien geworfen. Und nach diesen Erfahrungen 
konnte ihm Katharina*$ Oattenmord nichts so Oberraschendes 
mehr sein. Während er alle Mfihe aufbot, die Gesetz- 
gebungen und überhaupt alles das zu verbessern und zu 
humanisieren, was sich auf dem Wege der allgemeinen Re- 
formen eben verbessern lässt, war er wohl der Überzeugung, 
daß die private Moral, namentlich der sogenannten Großen 
in der Oesellschaft, schwer zu heben sei. Mit was für 
Schurken, sogar zynischen Verbrechern, hatte Voltaire in der 
höchsten Oesellschaft zu verkehren! Sollte er sie alle immer- 
während moralisieren? Was hätte er tun sollen? Genutzt 
hätte sein Tadel doch nichts, und er wäre höchstens, oder 
bestenfalls, nur ausgelacht worden. Auch die Menschen- 
schlächtereien Friedrichs, die doch, wenitTstens im Anfang 
seiner Laufbahn, aus Ehrj^eiz unternommen wurden, waren 
keine KleinijG^keit, hatte Voltaire deshalb seinen Verkehr mit 
dem preußischen König aufgeben sollen? Bei Katharina lag 
aber der Pall ganz gleich. 

Aus Devotion setzte Voltaire seine Korrespondenz 
mit Friedrich und mit Katharina gewiß nicht fort, obwohl 
er so manches Häßliche an l)eid6n gefunden hatte; auch die 
Schmeicheleien oder die zugesendeten »kostbaren Pelze der 
russischen Kaiserin konnten ihn nicht ködern; denn derlei 
war er nicht nur schon gewöhnt, sondern er brachte 
Komplimenten und Geschenken sehr wenig Respekt und 
Achtung entgegen. Aber einerseits seine Absicht, auf diese 
mächtigen Persönlichkeiten so lange als möglich im Interesse 
des Fortschritts und der Zivilisation dnzuwirken, und anderer- 
seits die Erfahrung, daß in diesen Kreisen Veitrecheh etwas 
Alltlgliches und sozusagen Normales seien, ließen Voltaire 
derlei Handlungen ignorieren und bewogen ihn, sich nicht 



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— 261 — 



von ihnen zurückzuziehen und hierdurch seinen Wirkungs- 
kreis einzuengen. 

Dieselbe Denkungsart, die Voltaire g^enüber Friedrich 
und Katharina hatte, besaß er übrigens auch in allen anderen 
FäUen, wenn es sich um Beurteilung großer historischer 
Persönlichkeiten handelte. So z. B. spricht er von Cromwell 
(im SiMe) in folgenden Wortoi: ». . . . Jener Cromwell, 
der es (England) mit der Bibel in der einen, mit dem 
Schwerte bt der anderen Hand und mit der Maskt der 
Religion vor dem Gesicht unterjochte, der aber auch 
während seiner Regierung alle Verbrechen eines 
Usurpators mit den Eigenschaften eines großen 
Fürsten verhüllte.« 

Es ist eben Tatsache, daß es seit jeher und bis auf den 
heutigen Tag Gebrauch war, Menschen trotz aller ihrer Ver- 
brechen nicht zu verachten oder aus der Oesellschaft aus- 
zuschließen oder sich von ihnen zurückzuziehen; ausgenom- 
men, sie wären von den Kriminalgerichten bereits verurteilt und 
erst hierdurcli offiziell gebrandmarkt worden. Und das gilt 
sowohl im Privatleben als in der öffentlichen, politischen Welt. 
Was das erstere betrifft, so ma^ nur jeder an seine eigenen 
Erfahrungen in dieser Beziehung denken; es wird gevvili eine 
beträchtliche Anzahl von Individuen geben, mit denen er 
Umgang pflegt und denen er nicht einmal Vorwürfe macht, 
obwohl er entweder von großen Gemeinheiten oder selbst 
Verbrechen derselben weiß, welch letztere jedoeh nur in 
privaten, aber noch nicht in Gerichtskreisen bekannt sind. 

Und was politische Persönlichkeiten betrifft, so wird 
weder die Etikette noch selbst die Herzlichkeit gegen Indi- 
viduen von vornehmer oder höchster Stellung im geringsten 
beeinträchtigt mögen sie was hnnter vert>rochen haben, sei 
es in ihrem Privatleben (z. B. gegen Familienmi^ieder), sei 
es in ihrer öffentlichen Wirksamkdi Beispiele gibt es un- 
zählige» heute wie seit jeher. Um nur einen Fall zu er- 



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— 262 — 

wähnen, so sei darauf hingewiesen, wie Napoleon III. nach 
dem Staatsstreich, also trotz dieses Aktes von Massenmord, 
von aller Welt geehrt und besonders von den Höfen und 
Potentaten mit aller Auszeichnung behandelt wurde; nicht 
nur äußerlich, weil er die Macht des französischen Staates 
vertrat, sondern auch aus innerem tintgegenkommen. Noch 
mehr gilt das von der förmlichen Ehrfurcht, die man der 
verwitweten Kaiserin Eugenie entgegenbringt, in den Jour- 
nalen sowohl, als auch seitens der Höfe und der höchsten 
Staatsbeamten; obwohl man doch weiß, daß diese Frau bloß 
zum Vorteil ihrer Familie, ihres Sohnes namentlich, den 
schrecklichen deutsch-französischen Krieg veianlaOte und so 
Krankheit und Tod von hunderttausend Menschen mit Be- 
wußtsein und Absicht verschuldete. Sie wird trotzdem immer 
als die ehrwürdige Dulderin, als »kaiserliche Witwe« mit 
ailer möglichen Aufmerksamkeit zartem Mitgefühl, ja mit 
Devotion empfangen und so auch in den Zeitschriften be- 
handelt 

Hiernach muß man im Falte Voltaire-Katharina immer 
nur fragen: Was hätte Voltaire da tun sollen? Daß 
diese ganze vornehme und vornehmste Gesellschaft moralisch 
faul war, wußte er UUigst, ändern konnte er da nichts. Es 
wäre also entweder nur flbrig geblieben, sich zurflckzuziehen, 
was mit seinen höheren und allgemeineren Absichten nicht 
. vereinbar war, oder, wenn er die Korrespondenz fortsetzt^ 
der Kaiserin einen »Verweis« zu geben, wie er es d'Alerobert 
ankündigte, und wie er es ja Friedrich dem Großen gegen- 
über w^en seiner »Menschenschlächterei« wirMfeh getan 
hatte. 

Ob Voltaire Katharina Vorwurfe gemacht habe, steht 
wie gesagt, dahin; wenn ja, so iiättc die russische Kaiserin 
ihm höchst wahrscheinlich die Notwendigi<eit der Mordtat 
auseinander gesetzt und bei der wilden und gefährlichen 
Natur Peter's lü., das Verbrechen als einen Akt der Not- 
wehr geschildert. Und in der Tat: obwohl die Pariser 



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— 263 ~ 



Freunde über die oben zitierten Worte Voltaire's lebhaft 
entrüstet waren, billigte man doch fast in ganz Europa die 
Tat Katharina's in anbetracht der Cliaraldereigensciuften 
ihres Gatten. Nur der eine Satz Voltaire's ist unl>edingt 
nicht zu billigen, den auch Walpole so empört zurfidc- 
wiest*) »Obrigens ist es nicht sclilecht, wenn man einen 
Fehler gut zu machen hat; das verpflichtet zu großen Al^ 
strengungen usw.« Diese Ansicht stdit ganz außerhalb der 
Sachen ist an sich unrichtig, gäbe aber nur dann gerechten 
Anlaß zur wirtdichen Entrüstung, wenn durch ihn eine 
Billigung von Verbrechen ausgesprochen werden sollte. 
Davon ist aber bd Voltaire kdne Rede^ und ich habe die 
Mdnung, daß dieser Satz von ihm nur. so hingeworfen 
wurde, um der ganzen Sache, die nun dnmal geschehen 
war, wenigstens auch dne gute Seite abzugeiK^nnen oder 
absehen zu können. Schöner wäre es aber allerdings ge- 
wesen, wenn Voltaire ihn nicht geschrieben hätte. — In 
dnem solchen Falle wie dem hier besprochenen ist es aber 
interessant und belehrend, daran zu denken: Wie hätte sich 
Rousseau dabei benommen? 

Ich glaube, er würde, wenn er mit Katharina korrespon- 
diert hätte, ihr eine lange Strafpredigt gehalten, aber, gerade 
so wie Voltaire, den Verkehr mit ihr nicht abgebrochen 
haben, ebenfalls aus dem Grunde, um seine politischen oder 
pädagogischen Maximen durch sie ins Werk gesetzt zu 
sehen. Und daß Rousseau sich von Katharina nicht zurück- 
gezogen hätte, schließe ich nach der Analogie aus seinem 
Verhalten Friedrich dem Großen gegenüber. Er empfand 
es, genau wie Voltaire, mit Abscheu, daß Friedrich aus Ehr- 
geiz so viel Menschenleben opferte, und er wirft ihm, eben- 
falls wie Voltaire, die Menschenschlächtereien vor. »Ent- 
ziehen Sie mdnen Blicken diesen Degen, der mich blendet 

*) Siehe Desnoiresterres' Voltairebioffraphie (Band: Voltaire et 
j. J. Rousseau S. 380). 



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— 264 — 



und verwundet; er hat seine Pflicfit nur zu sehr getan, und 
das Zepter ist verlassen,» schreibt er an Friedrich im Ok- 
tober des Jahres 1762; und früher einmal: Ich habe viel 
Übles von Ihnen gesagt; ich werde vielleicht noch mehr 
sagen - Aber in demselben Schreiben ersucht er den preußi- 
schen König um ein Asyl in dessen Staaten, da er überall 
verfolgt werde, und in jenem ersteren vom Oktober nennt 
er ihn: Friedrich den Gerechten und Gefürchieten.<' 

Ich möchte zur noch besseren Verdeutlichung des Ge- 
sagten auch fülg;ende Stellen aus Rousseau's Confcssions; 
hierher setzen, die sich auf diese Zeit beziehen, als er sich 
unter den Schutz Friedrich 's des Großen stellen wollte: 

»Die angeborene Oerechtigkeitsliebe, die mein Herz be- 
ständig verzehrte, im Verein mit meiner geheimen Neigung 
für Frankreich, hatte mich mit Widerwillen gegen den König 
von Preußen erfüllt, der mir durch seine Grundsätze 
und Handlungsweise alle Achtung vor dem natur- 
lichen Oesetz und allen menschlichen Pflichten mit 
Füßen zu treten schien.« »Unter den eingerahmten 
Kupferstichen in Rousseau's Wohnung befand sich ein Por- 
trait dieses Fürsten, unter dem ein Distichon stand, das mit 
den Worten endete: Er denkt als Philosoph und zeiget sich 
als König. .... Der dem vorangehende Vers lautete: Der 
Ruhm, der Eigennutz, das ist sein Oott, sein Recht« Etwas 
weiter schreibt Rousseau (am selben Orte): ». . . . Deshalb 
war ich völlig fil>erzeug^ mit roter Tinte in die Listen des 
Königs von Preußen eingetragen zu sein.« 

». . . . Oleichwohl wagte ich, mich in seine Oewalt zu 
begeben, und war überzeugt, wenig Oefahr zu laufen.« 
Und da sich, wie bekannt, Friedrich g^gen Rousseau sehr 
entgegenkommend zeigte, Ihn sogar auch pekuniär unter- 
stützen und ihm ein Häuschen nach seinem Oeschmacke 
bauen lassen wollte schrieb dieser (in den Bekenntnissen): 
»Obgleich ich keines von heAdtn annahm, betrachtete ich 
Friedrich als meinen Wohltäter und Beschützer und war 



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— 265 — 



ihm so aufrichtig zugetan, daß ich mich von da an 
eben so sehr für seinen Ruhm interessierte, als ich 
bisher in seinen Erfolgen Ungerechtigkeit erblickt 
hatte. 

Rousseau hat sich also von Friedrich nicht zurückge- 
zogen, nicht seine Hilfe verschmäht und ihn auch sogar 
noch gepriesen. 

Es scheint also, wenn selbst ein solcher Rigorist wie 
Rousseau, der doch immer jene Haltung einzunehmen suchte, 
die dem Maximum der strengen Tugend zu entsprechen 
schien, so vorgeht, daß man auch Voltaire keine Vorwürfe 
machen kann, und daB es überhaupt, bei der Zusammen- 
gesetztheit der menschlichen Charaktere aus Bösem und 
Gutem, gar nicht angeht, Jemanden, der sonst Outes 
anstrebt,*) wegen einzelner schlimmer Handlungen 
ganz zu verdammen, und ihn aus der menschlichen Oe- 
sellschaft veii)annt zu wünschen — von dem etwaigen 
Schutz derselben abgesdien, wenn ein solcher Oberhaupt 
durchfOhrbar ist — 

Viel wichtiger aber als alles Bisherige^ wo es sich doch 
nur um einige Worte und kelnerid unwürdige Handlung 
Voltaire's handelte^ ist es zu fiberiegen, wieso er zu den 
Ansichten kam, die seinen Aussprüchen von der »Zweck- 
mäßigkeit eines zu reparierenden Fehlers,c von dem »großen 
Nutzen des kleinen Obels« und von den »großen Dingen,« 
die Katharina im Gegensatz zu Peter III. ausführen werden 
zugrunde liegen. 

Man fühlt ganz deutlich, daß man diese Aigumentationsart 
durchaus nicht gutheißen kann; worin 11^ das? Es 
liegt an einem Grundfehler im politisch-ethischen 
Denken, der darin besteht, daß wir — noch heute 
— die physische Integrität menschlicher Individuen 
in Vergleich setzen und sogar hintansetzen gegen- 
über irgend welchen Fortschritten, untergeordneten 

*) Ich meine iüer: Katharina. 



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— 266 — 



Vorteilen oder schönen allgemeinen Ideen und 
Gefühlen. 

Man glaubt, ein Gutes, das zwar nicht absolut für die 
Existenz der Menschen notwendig ist, aber doch höchst 
wünschenswert erscheint und sich über eine große Zahl 
von Menschen erstrecken kann, dürfe und solle der Existenz 
eines einzigen oder auch mehrerer, ja vieler Indivi- 
duen, vorgezogen werden. Wenn es sich also um »Ehre 
des Staates« oder um Crmöglichung von sozialen Reformen oder 
um Handelsvorteile und deigl. handelt, so könne man ohne alle 
Bedenken Menschen zu solchen Zwecken opfern; also sie 
zum Kriegsdienst zwingen oder sie einer religiösen Tendenz 
zu Uebe verfolgen, wie zur Zeit der Dtagonnaden und der 
Inquisition, oder, wie im Falle Katharina-Peter, einen Menschen, 
der irgend welchen Fortschritten im Wege stdit, ermorden 
und deigleichen mehr. 

Diese so unheilbringende Ansicht ist die Grundlage 
unseres barbarischen Denkens in ethischer und politischer Be- 
ziehung: und erst, wenn — außer im Falle der Notwehr 
— die Achtung vor der physischen Integrität jedes 
einzelnen Menschen so hoch gestiegen sein wird, 
daß alles andere dagegen ffir nichts gerechnet wird, 
kann man von einer erreichten ethischen Kultur 
sprechen. 

Und daran fehlte es eben, wie bisher bei allen Re- 
formern ohne Ausnahme, auch bei Voltaire, der vor allem 
die Fortschritte der Zivilisation im Auge hatte, ohne die 
fundamentalen Erfordernisse, welche menschliche Exi- 
stenzen betreffen, von allen anderen, die nur sekundäre 
genannt werden können, zu unterscheiden. 

Worin hier Voltaire nur in einem einzelnen Fall und 
nur in hingeworfenen Worten gefehlt hat, darin fehlen in 
systematischer Weise alle Staatsphilosophen und Politiker, 
die dem Staat das Recht über Leben und Tod seiner Bürger 
zuschreiben, wie das heute noch beim erzwungenen Kriegs- 



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— 267 — 

dienst und, noch allgemeiner, in Rousscau's Contrat social 
verlangt wird, wo das Leben des Bürgers überhaupt in 
erster Linie dem Staate gehört. Im fünften Kapitel des 
zweiten Buches des Oesellschaft svertrages meint nämlich 
Rousseau: »Wenn der Fürst (Souverän, Staatsoberhaupt) 
ihm (dem Staatsbürger) gesagt hat: Dein Tod ist für den 
Staat erforderlich, so muß er sterben.« Genau dies Argu- 
ment hätte Katharina anführen können, indem sie sich als 
zwar nicht rechtliche, aber doch als freiwillige, moralische 
und faktische Vertreterin des Staates Peter lU. sc^enOber 
hätte aufspielen können. Und etwas von diesem Argumente^ 
dieser Denkart, steckt eben auch in Voltaire's Satz von 
dem vielen Outen, das aus dem kleinen Übel hervoiigehen 
könne.*) — 

Noch eine Seite im Charakter Voltaire's, die bis auf 
den heutigen Tag» namentlich von den radikalen Demokratoi 
und den Sozialisten, mit vieler Entrilstung hervoiigehoben 
wird, betrifft seine sogenannte aristokratische Oesinnung. 
Diese entnimmt man sdnen zahlreichen Äußerungen Aber 
den »ungd>i!deten Pöbel«, Aber die »Kanaille« und der- 
gleichen. 

Nun ist es zwar richtig, daß Voltaire nicht entfernt in 
dem Alaße als Reprisenlant des sogenannten niederen Volks 
angesdien werdoi kann, wie Rousseau; das hat aber nicht 
dasOerIngste mit einer Mißachtung und nichts mit 
einem Fehlen an Mitgefflhl zu tun. Der wesenfliche 
Unterschied zwischen diesen beiden Reformern liegt im tief- 
sten Oninde darin, daß Voltaire voraussetzte, alleVerbesse» 
rungen der Oesellschaft sollten von humanen und aufge- 
klärten Staatsmännern dem Volke gegeben werden; Rousseau 
aber von dem Gedanken erfüUi war, daß sich das Volk die 



*) Auf die Wertlosigkeit hinzuweisen, die in Rousseau's Be- 
grfindnng: des oben ringeführten Satzes Hegt, ist hier nicht der Platz. 
Es wäre gut, das Kapitel über die Wehrpflicht ijn »Recht zu leben« . . 
mit Rousseau's V. Kapitel im Contrat social zu verglddien. 



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Gesetze und Retormen selber ^eben soll. Politisch ge- 
nommen, ist offenbar zwischen beiden Anschauungen eine 
grobe Differenz vorhanden — und ich halle die Rousseau'- 
sehe für einen i^roßen Fortschritt — aber, was das Huma 
nitätsgefühi selbst betrifft, so sind beide o^anz gleichwertig. 

Wie sehr Voltaire die bäuerliche Bevöliceruiig achtete^ 
dafflr zeugt nicht nur seine Korrespondenz, sondern er be* 
wies es, mehr als jeder andere und auch als Rousseau, 
durch die Tat. Man erinnere sich nur danui, daß er, kaum 
in Femey zur Ruhe gekommen, schon die Requftte ä touts 
les magistrats du ro^ume zugunsten der Bauern von Saint- 
Oaude verfaßte, die mit den Worten b^nnt: »Der 
nfitzllchste Teil des Menschengeschlechts, jener, 
der uns ernährt, schreit aus dem Schöße des Elends...« 

Und wie er, der sich selbst einen Landwirt nannte — 

und es auch in großem Stile war*) — der Bevölkerung in 
Ferney hilfreich zur Seite stand, ist ebenfalls bekannt. Über- 
dies kämj^fte er zeitlebens für Gleichheit aller vor dem Ge- 
setze und gegen alle Kastenprivilegien. 

Nur in einem Punkt machte er einen Unterschied, und 
der betrifft den religiösen Aberglauben. Irrtümhcherweise 
nimmt man ziemlich allgemein an, Voltaire habe die ar- 
beitende Bevölkerung verachtet, während er doch nur 
ihren Aberglauben verachtete und dagegen prote- 
stierte, dali die GeisUichkeit und Re^^ierung die Gebildeten 
zwingen wollen, sich der Superstition der großen Masse zu 
accommodieren. Und nichts wünschte er sehnlicher als die 
Möglichkeit, diese große Masse aufzuklären, obwohl er 
allerdings an dieser Möc^lichkeit beinahe verzweifelte. 

»Aufgabe der Philosophie ist es , schrieb er an Hel- 
vetius, den Volksglauben lächerlich zu machen und den 
Kanzler wie den Schuhmacher aufzuklären.^ Aber 
er hatte wenig Hoffnung. In diesem Sinne schreibt er (im 

*) Sein Zuchtvieh war das prächtigste auf dem Kontinente. 



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— 269 — 



J. 1766) an Damilavüle : »Ich glaube, daß wir einander nicht 
verstehen betreffs des Pöbels, welchen Sie für würdig halten, 
unterrichtet zu werden. Ich verstehe unter Pöbel die Be- 
völkerung, die nur von ihrer Händearbeit lebt. Ich zweifle, 
daß diese Klasse von Bürgern jemals die Zeit und die 
Fähigkeit haben kann, sich zu unterrichten; sie würden vor 
Hungfer sterben, ehe sie Philosophen wären. . . . Nicht der 
Handarbeiter ist es, der unterrichtet werden muß, es ist der 
gute Bürger, der Stadtbewohner; diese Unternehmung ist 
stark lind grol^ genug. 

Wie hätte auch damals Voltaire an die Möglichkeit der 
Aufklärung des niederen^ Volkes glauben können, wo selbst 
die höheren Schichten noch der Aufklärunjr bedurften, und 
zudem eine solche ökonomische Befreiung der großen 
Massen auch nicht entfernt in Aussicht stand, zufolge der 
sie Zeit zu höherer Bildung gewonnen hätten! Und wie 
ist es denn heute in dieser Beziehung bestellt? Die ganze 
bäuerliche Bevölkerung und der kleine Mittelstand selbst in 
den Städten — wenigstens in vielen katholischen und ortho- 
dox-gläubigen Ländern, wie Spanien, Bayern, Belgien, Neapel, 
Österreichs Alpenländern und Wien, ferner in Polen und Ruß- 
land — steht noch fast auf derselben Stufe wie zur Zeit Vol- 
talre's; sie haben noch heute keine Zeit, sich zu unterrichten 
und es wird ihnen auch von den reaktionären Mächten soviel 
als m^^ich die Gelegenheit dazu benommen. Und was wdter 
traurige Wahrheit ist: Eine sozialökonomische Reform in 
jenem großen Stile^ der die breiten Massen von ihrer harten 
Arbeit entlasten würde und ihnen Zeit zur höheren Ausbildung 
ließe, liegt in noch weiter Fetne. Daher könnte Voltaire 
noch heute wie damals zu d'Argental sagen: »Die Wahrheit 
ist nicht gemacht für die unteren Klassen» die in die Messe 
und Predigt gehen können, selbst zum großen Vorteile ihrer 
Herren.« Und bei dem heutigen Stande der Dinge ist 
sogar noch zu unserer Zelt die Bemerkung Voltaire's (tn 
demselben Schreiben an d'Aigental) nicht ohne Akhialität: 



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— 270 — 



»Es ist der größte Dienst» den man dem menschliclien Oe- 
schlechte erweisen kann» den törichten Pöbei f&r immer von 
den gebildeten Menschen zu unterscheiden, es scheint mir» 
daß die Sache auch schon weit gediehen ist Man sollte 
die absurde Unverschimthdt jener nicht dulden, die Euch 
sagen: Ich will, daß Ihr so denkt wie Euer Schneider und 
Eure Wischerin.c 

Will man aber das letztere nicht heute noch? Ist nicht 
die ganze religiöse Gesetzgebung in vielen Staaten noch 
heute von dieser »absurden Unverschämtheit«? 

Wenn also Voltaire auch einmal das Wort Kanaille« 
gebraucht, so lag in diesem Ausdrucke weder der Wunsch, 
das Volk möge Kanaille bleiben, noch irgend eine Ver- 
achtung dieser gedrückten Menschenklasse, sondern der 
Zorn über ihren geistigen Tiefstand. Alle jene, die Voltaire 
als einen Volksverachter hinstellen, wie z. B. Louis Blanc^ 
tun ihm also vollständig Unrecht 

Wir haben heute den immeriiin bedeutenden Fortschritt 
gegenQber der Zeit Voltaire's gemacht, daß, nebst dem kleinen 
Bevölkerungsteile der sogenannten intellektuellen, eine nicht 
geringe Zahl der Industriearbeiter in religiöser Beziehung 
hei ist; sie gehen in- keine Messen in keine Predigt und 
gewinnen sich mit größter Energie etwas Zelt ab, um sich 
zu bilden. Voltaire konnte damals so etwas gar nicht ahnen, 
und man erkennt eben daran, was fQr herrliche Früchte seine 
und anderer Bemfihungen denn doch getragen hat>en. 

Ja, man kann in einer Äußerung Voltaire's sogar schon 
eine Ahnung von solcher Möglichkeit erkennen, und diese 

Äußerung ist wohl imstande, den verbissensten Gegner 
dieses vermeintlichen Aristokraten^ und Volks Verächters« 
mit ihm vollkommen zu versöhnen. Es handelt sich näm- 
lich um eine Korrespondenz Voltaire's mit dem bekannten 
Advokaten und Rechtsgelehrten Linguet. 

Dieser schrieb an Voltaire^ er glaube, es sei alles ver- 



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— 271 — 



loren, wenn man das Volk in die Lage tiringe, zu bemerken» 
daß es auch einen Oeist habe. 

Voltaire antwortete ihm (am 15. März 1767). Nach 
einigen Bemerkungen über Oroiius, Puffendorf und Montes- 
quieu kommt er auf die von Linguet anpferegie Fra^e: 
»Unterscheiden wir in dem, was Sie Volk nennen, die 
Berufe, welche eine gebildete Erziehung erfordern, und jene, 
welche nur die Kraft der Arme und eine tägliche Arbeitslast 
verlangen. Die letztere Klasse ist die zahlreichste. Diese 
wird zum Zwecl<e der Erholung und zu ihrem Vergnügen 
nirgendwo anders hingehen als in die ^rolk- Messe und 
ins Wirtshaus, weil man dort singt und weil sie dort selbst 
mitsingt; was aber die höherstehenden Handwerker betrifft, 
die schon durch ihre Profession selbst gezwungen sind, 
nachzudenken, ihren Geschmack zu vervollkommnen, ihre 
Einsichten zu erweitem, diese beginnen in ganz Europa 
zu lesen. Sie in Paris kennen die Schweizer nur als Tür- 
steher der großen Herren, oder als jene^ die Molito in 
einigen Possen eine unverstandliche Bauernspiache sprechen 
ISfit; aber die Pariser würden erstaunt sein, wenn sie in 
mehreren Städten der Schweiz, besonders aber in Oenf, 
sehen wGrden, wie fast alle Manufakturarbeiter die frde Zeit 
zum Lesen benQtzen. 

Nein, mein Herr, es ist durchaus nicht alles verloren, 
wenn man das Volk in den Stand setzt, gewahr zu werden, 
daß es eine Seele besitzt Im Gegenteil: Alles ist ver- 
loren, wenn man es wie eine Herde Stiere be- 
handelt; denn frflher oder später stoßen sie Euch 
mit ihren Hörnern. Glauben Sie, daß das Volk gelesen 
und überiegt hat in den Kriegen der weißen und roten 
Rose in England, oder in dem Kriege, der Karl I. aufs 
Schaffet brachte, oder während der Schrecken der Armagnacs 
und Burgunder, oder selbst in denen der Ligue? Das Volk, 
unwissend und wild, wurde von einigen fanatischen Dok- 



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^ 212 — 



toren geführt, wdche schrien: »Töiet alles, im Namen 
Gottes! . . .« 

Ober diese herriichen Worte sind wir heute noch nicht 
hinaus. Und wem Voltaire noch immer nicht genug »Volks- 
freund« zu sein scheint, der sd damuf aufmerksam gemacht, 
daß Voltaire in Volksfreundschaft, trotz seiner glänzenden 
Lebensstellung, Niemandem nachsteht; auch Rousseau nicht 
Der Unterschied zwischen beiden, der eben den falschen 
Schein zu Ungunstoi Voltahe's hervorruft, ist nur der, daß 
dieser sich immer an die intelligenten, mächtigen und ein- 
flußreichen Kreise wendet, — »an die fünfhundert Weisesten 
der Nation,« sagte er selbst einmal — um die sozialen und 
politischen Reformen, also ohne Benützung der W^ucfu der 
Massen, durchzuführen; während Rousseau sich fast immer 
abseits von den Intelligenten und Mächtigen hält, sie zu 
nichts Gutem, aber stets zu allem Bösen geneigt stellt, bei 
den Volksmassen nichts als Tugenden voraussetzt, und 
ähnlich wie das Evangelium, einen Keil von Haß, Groll und 
Neid zwischen Reich und Arm, Vornehm und Niedrig ein- 
treibt; durch welche Methode der Sciiein erweckt wird, als 
ob er der ^röliere Voiksfreund wäre, allerdinp^s aber auch der 
Nutzen entsteht, durch den anpfehMuften Groll der Volks- 
massen ihr Selbstbewußtsein namentlich in Beziehungr auf 
ihre Macht zu heben, und diese neue Kraft für raschere 
Realisierung von Reformen benutzbar zu machen. 

Eij^rentliche Revolutionen mit Hilfe der grolieri 
Volksmassen zu machen, wäre aber Rousseau 
ebenso wenig geneigt gewesen, wie Voltaire; er hat 
sich darüber in diesem Sinne direkt ausgesprochen. 

In einem Briefe aus dem Jahre 1766 an einen »Welt- 
bfliiger«, der ihm mitteilte, daß er Weib und ICinder ver- 
hissen woile^ um sich fur's Vaterland zu opfern, schreibt 
ihm Rousseau: 

»Was mich betrifft, so bekenne ich, daß ich um Nichts 
in der Welt auch nicht an der legitimsten Verschwörung 



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— 273 — 



Teil haben möchte, denn alle solche Untemelimuiif^en können 
doch nit^ ohne Aufruhr, Unordnungen, üewaiitätigkeiten, 
selbst Blutvergießen ausgeführt werden, und weil nach 
meiner Meinung das Blut eines einzigen Mcnsclien von 
höherem Werte ist als die Freiheit des ganzen Menschen- 
geschlechts. Wer aufrichtig die Freiheil lieht, braucht sie 
nicht mit so vielen Mitteln aufzusuchen und ohne Revolution 
oder Ruhestörungen zu verursachen, wer frei sein will, der 
ist es in der Tat.^ 

Rousseau stellt also, wohl zu nicht p^eringer Über- 
raschung der Meisten, die ihn zu kennen glaubten, den 
Satz auf: »Das Leben eines einzigen Menschen ist 
mehr werf als die Freiheit des ganzen Menschen- 
geschlechts.« Eine grandiose Maxime, die mit seinen 
Ansichten und seiner Stimmung im Contrat social in vollem 
Widerspruche steht; eine Maxime, welcher der Ethiker bei- 
stimmen muß, und die der Realist durch den Satz ergänzen 
muß: >— wenn man nicht aus eigenem Antriebe sein Leben 
der Freiheit opfern will.« 



Wenn wir alles überschauen, was uns an Voltaire miß- 
fallen kann, so — glaube ich — mflssen wir nicht wenig 
darüber erstaunen, wie wenige Fehler wir an seinem Charakter 
entdecken konnten. Er erscheint uns» mit Diderot, als 
einer der besten und relativ fehterfreiesten aller namhaften 
Männer seiner Zdt und Umgebung. Ja, es ist flberdies 
geradezu überraschend, in einer, privat moralisch ge- 
nommen, so liederlichen Oesellschaft nicht nur einen so guten, 
sondern auch einen so lasterfreien Mann zu finden. 

Wie geringl'ügig sind alle Fehler, die wir oben — mit 
voller Objektivität, ohne uns von irgend einer Vorein- 

Popper. Volutüc 18 



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— 274 — 



genommenheit beirren zu lassen — förmlich mit allem Fleiß 
Zusammengesuch t fi a b c n ! 

Wie viele, unt,Heich schlimmere Sachen ha! es doch bei 
den meisten GroÜen der Kulturgeschichte oder der Litteratur- 
geschichte gegeben; die man zudem immer — mit Recht 
— rühmt, ohne jene dunklen Punkte aus ihrem Leben gejii'en 
ihre Verdienste auszuspielen, wie man dies bei Voltaire aus 
einer Art von Idiosynkrasie zu tun gewohnt ist. Bei allen 
anderen großen Individuen schweigt man, oder spricht nur 
nebenbei und in schonendster Form von ihren Fehlem und 
läßt es sich, wie es auch sein soll, nicht einfallen, diese 
Großen, als ganze Persönlichkeiten, degradieren zu wollen. 
Was aber die Güte des ganzen Wesens betrifft, so wird 
man in allen Jahrhunderten nur sehr wenige finden» die an 
Voltaire hinanreichen. Als Privatmann und zugleich als 
Mann des öffentlichen Wiricens so viel Wohlwollen zu be^ 
sitzen, war nur sehr wenigen Menschen gegeben; möge 
nur Jeder In Oedanken die von ihm gdlebtesten oder be- 
wundertsten JS^ner Revue passieren lassen — er wird mir 
ohne Zweifel Recht geben. 

Wenn aber im Veriaufe mdner Diskussionen Über den 
Privatcharakter berühmter Männer und der Menschen über- 
haupt mancher Leser den Kopf dazu schütteln sollte, daß 
bei der Behandlung eines so eimluikeichen Mannes wie 
Voltaire solchen Betrachtungen so viel Raum gegeben wird, 
so erinnere ich nur daran, daß es sich hier ja darum handelt, 
auf jene endlosen Diskussionen zu reagieren, die sich eben 
auf den Privatcharakter Voltaire's beziehen. 

Und wenn ich so oft auf die Eigenschaft der Oüte 
zurückkomme und auf sie ein so großes Gewicht bei Be- 
urteilung eines Menschen lege^ so geschieht dies nicht nur 
im Hinblick auf die Verteidigung Voltaire's, der von seinen 
Gegnern und von Unwissenden oder Unverständigen als 
mephistophelisch, als geizig, ungut usw. hingestellt wird, 



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— 275 — 



sondern ich spreche so viel über Güte auch zu dem Zwecke, 
um auf das Große aufmerksam zu machen, das in dieser 
Eigenschaft und die unrichtige allgemeine Auffassung 
zu korrigieren, welche Güte als etwas Untergeordnetes an- 
sieht» das gegen Oenie, Energie, Gelehrsamkeit und der- 
gleichen nur von geringer Bedeutung sei.*) 

Es ist nicht nur der Nutzen, den man direlct oder in- 
direkt von einem guten Menschen zu erwarten ha^ der 
Ofite so schätzenswert macht, sondern es ist schon die 
blo6e Tatsache^ daß gute Menschen existieren, eine Trost- 
ersdieinung inmitten aller der feindlichen JMiclite der Natur 
und inneriialb der Menschheit selbst Weder natfirliche 
Intelligenz oder Genie, noch Bildung, noch Schönheit oder 
bloße flufieilldte Liebenswürdigkeit, auch nicht vornehme 
Oesinnung, selbst nicht Schwung und Idealtsmus, vermögen 
sich mit Güte an gewissermaßen tröstendem, beruhigendem 
Wert zu vergleichen. 

Wenn irgendwann in einer Oesellschaft — die doch 
wohl zumeist aus boshaften oder mindestens kalten und bloß 
eigennützigen Individuen zusammengesetzt ist - ein wahr- 
haft guter Mensch erscheint, dem man in der Regel ja diese 
Eigenschaft schon am Gesicht ablesen kann, so ist es, wie 
wenn inmitten der dunkeln Nacht die Sonne aufgeht. Und 
wenn nun zur OOte und zum hilfreichen Wohlwollen 
auch noch die äußere Liebenswürdigkeit, und beides in 
so hohem Grade, hinzukommt, wie das bd Voltaire und 
fast nur bei Voltaire der Fall war, so fühlt man ein höchstes 
Wohlt>ehagen bei dem Gedanken, daß überhaupt irgend ein« 
mal ein solcher Mensch gelebt hat Ich halte eine solche 
Erscheinung und ihr Andenken für weit höher stehend, ais 
die Erinnerung an eine Erscheinung grOBter Schönheit» die 
zu preisen Künstler nie müde wurden. 

*1 Vielleicht der einzige Schopcnhiuer macht hier eine rühinli€lie 
Ausnahme, hie und da maait auch Kaiit ähnliche Bemerkuugen. 

18* 



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— 276 ^ 

Indem ich das sage, bitte ich zugleich den und jenen 
Leser, nur nicht sofort seinen vielleicht »nüchternen« oder 
»kühlen« Kopf zu schüttein. Da6 man sich infolge aller 
meiner Darlegungen von der ganz unbegründeten, ja ab- 
surden Ansicht befreit haben werde, Voltaire sei boshafter, 
mephistophelischer, geiziger Natur gewesen und dergL mehr, 
setze ich allerdings hier voraus, obwohl, wie ich schon oben 
sagtev ich dieser Wirkung meiner Auseinandersetzungen mich 
nicht ganz sicher fühle 

Demnach wende ich mich nur an jene^ die sich von 
mir fiberzeugen ließen und sage ihnen: Schüttelt eure KÖple 
nicht aUzusehr, wenn ich den Wunsch ausspreche^ man 
möge das Andenken an eine solche Indivklualität, die Ofite 
und Liebenswürdigkeit in so ungewöhnlichem Ma8e ver> 
bunden besaB, wie eben Voltaire^ für höher stehend halten, 
als die Erinnerung an die außerordentlichen Schönheiten, die 
durch die Kunst- oder real durch die Kulturgeschichte 
schreiten. 

Man tut ja übrigens schon dei^eichen! 

Mit Recht geben sich Tausende gesitteter Menschen 
mit höchster Freude und mit einzigartigem Wohlbehagen 

dem blolkii Gedanken an die außerordentliche Individualität 
iiin, die mit Goethe in die Welt gekommen war. Auch 
diese Individualität ist, von der enormen Begabung ganz 
abgesehen, eine eigene Art von Schönheit, die der bloß 
sinnlich-äußeren Schönheit aller Helenen mehr als ebenbürtig 
ist. Und wenn wir den Dingen auf den Grund gehen, so 
werden wir finden, daß der rätselhaft starke Einfluß so 
mancher Persönlichkeit der Kultur- und namentlich der Re- 
ligionsgcschichte nur durch den im p^randioscn Stile ästhe- 
tischen Eindruck zu erklären ist, den die eigentümliche In- 
dividualität dieser Persönlichkeiten hervorbringt ich nenne 
hier nur: Jesus von Nazareth. 

Und ich nenne noch weiter: Franz von Assisi. Dieser 
»liebenswürdigste aller Christen« wird in der neuesten Zdt 



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— 277 — 



immer mehr beachtet und geliebt; man forscht immer mehr 
und schreibt immer mehr über diesen Mann» der ebenMs 
Oflte und Liebenswardiglceit in ungewöhnlichem Maße ver- 
eint besafi. Auch die vollstflndig reiigionsfreien, aber ge- 
sitteten Menschen smd in diesen wirklich edlen » Heiligen < 
wie verliebt, und »Verliebtheit« dürfte auch in der Tat der 
richtige Ausdruck fflr jenes Oeffihl sein, das wir solchen 
Individualitäten entgegenbringen. Veriiebt ist man aber 
Immer nur in Schönheit irgend einer Art; wir können daher 
mit vollem Recht die hingebende Sympathie fflr Individuali- 
täten als eine ästhetische Stimmung bezeichnen, die mit der 
für die berühmten Schönheiten einer Helena, einer Venus 
von Milo, eines Antinous usw. als wesensverwandt, aber 
ethisch viel höher stehend gelten muß. 

Der gleichzeitige ethische Kern in solchen Erschei- 
nungen, wie in Franz von Assisi, unterscheidet sie eben 
wesentlich von jenen bloß forma! hervorragenden glänzen- 
den Persönlichkeiten, an denen es ja auch durchaus nicht 
fehlt. Es ist höchst interessant, eine Gestalt wie z. B. 
Ignatius von Loyola näher zu betrachten, die man zwar nie 
lieben, aber kaum mit genug Staunen studieren kann. Loyola 
war in seinen persönlichem Umgang einer der liebens- 
würdigsten Menschen, die je e^elebt hatten, und diese Eigen- 
schaft — in Verbindung mit seinem an Napoleon erinnern- 
den Organisationstalent und mit seiner Ausdauer in der 
Ausführung seiner Pläne — half ihm in hohem Maße bei 
seinen schwierigen Unterhandlungen mit den schlauesten 
Persönlichkeiten seiner Zeit.*) 

Er verdankte die seltene Eleganz seiner Umgangsformen 
vielerlei Umständen. Er stammte aus einer adeligen Familie^ 
diente als Edelknabe am Hofe Ferdinands des Katholischen 
und besaß eben von Natur aus Noblesse des Charakters^ 

*) Ich entnehme die hier angeführten Details dem hochbedeuten- 
den weil» Eberhard Oothdos: »igiuititis von Loyola und die Oegen- 
refoimation.« 



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— 278 — 

lebhafte» stets aufs OroBe gerichtete Phantasie und eine 
ritteriiche Bildung. Aber keine Spur von Oflte! Obwohl er 
in seiner Art eben so fromm war wie Franz von Assisi in 
der seinigen. 

Aber selbst dieser liebenswürdige Ideine Heilige — wie 
Renan ihn nennt — besaß jene Ofite eigentlich weniger von 
Natur aus; vor seiner Bekehrung war er bei weitem nicht 
der, der er nachher war. Die Liebenswürdigkeit und Heiter- 
keit des Wesens war da, aber auch Ehigelz, »Begierde^ allen 
Olanz und Wert der Welt zu erkennen und an sich zu 
reißen , sowie »Prassen, Hochmut und Vergeuden«. Gegen 
alles das ist nichts einzuwenden, aber damit wird man nicht 
jener Franziskus, den alle guten Menschen heute noch so 
lieben, als ob er ihr Kind wäre. 

Es war eben sein unglaublich demutsvoller Aberglaube, 
dem er seine im Grunde phantastische Güte zu verdanken 
hatte, aber auch unsere Liebe verdankt er zum großen Teile 
unserer Rührung über seine einzigartige religiöse Naivetät 

Wenn man diesen Umstand sich zum klaren Bewußt- 
sein bringt, so sieht man erst, was es heißen will, wenn 
ein Mann als Typus der Liebenswürdigkeit und Güte galt 
und immer gelten wird — falls man ihn nur näher kennen 
lernt — , der nichts von Demut an sich hat, die uns zur 
bemitleidenden Rührung bringen könnte; der einen enormen 
Verstand, also eine Eigenschaft besaß, die zufolge unseres 
irrigen Vorurteils im Vorhinein uns an seiner Güte zweifeln 
läßt; der niemals an sein eigenes Glück zu arbeiten vergaß, 
und der, wenn es galt, auch tapfer dreinzuschlagen verstand. 
Und doch bewunderte man seine Liebenswürdigkeit! Der 
Dichter Thomas sagte in seiner Ode auf den Tod Voltaire*s: 
»Der größte Mann des Jahrhunderts war acugleich der liebens- 
würdigste.« 

Obwohl nicht adelig geboren, wurde Voltaire doch der 
Hauptsache nach in adeligen Kreisen erzogen; in diesen 
lernte er Eleganz der Manieren und noch mehr als das. 



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279 — 



Denn in der ganzen Geschichte des Adels im Laufe der 

Jahrtausende gab es nie dne solche hochstehende Aristokratie, 

wie zu Voltaire s Zeit. Allerdings lag der Grund, aus welchem 
dem damaligen französischen Adel die gewohnten schlechten 

Eigenschaften der Aristokratien fehlten, darin, dal5 er keine 

politische Rolle, sondern nur eine solche als HoHingspartei 
am Hofe des Königs spielte. Er konnte daher als eine 
Gesellschaftsklasse, die sich in gedeckter, ökonomisch- 
sorgenloser Stellung befand» beim Volke in unwilikürlicliem 
Respekt stand und schließlich gewissermafkn biologisches 
Resultat einer hochkultivierten, begabten und von Natur 
liebenswürdigen Nation war, sich der vollsten Entwicklung 
schöner Sitte und Bildung hingeben. 

Mit Recht sagt Taine in dieser Beziehung: »Hand in 
Hand mit der Vervollkommnung der Höflichkeit, des guten 
Tones und der Lebensart ging in der feinen Welt diejenige 
der Sitten und Manieren; diese haben weder vorher noch 
seither, weder in Frankreich noch anderswo« eine solche 
Vollkommenheit erreicht wie im achtzehnten Jahihundert am 
französischen Hof. Von allen Kflnsten, durch die die 
Menschen sich von ihrer ursprünglichen Roheit befreit haben, 
ist die der Rflcksichtnahme aufeinander vielleicht die köst- 
lichste«, und Lacretelle meint, daß die damaligen Reichen 
nichts so sehr fürchteten, wie daß sie fflr gefühllos gehalten 
werden könnten.*) 

In diesen Kreisen nun bewegten sich Männer wie 
d'Alembert, Diderot und vor allem Voltaire, Dieser war 
wirklich die Blüte einer Elite der Nation. Jeder, der von 
den unzähligen Geschichtdien, die von der Güte und 
Liebenswürdigkeit Voltaire's erzählen, auch nur einen kleinen 
Teil kennt, oder vielleicht auch nur das beherzigt, was in 
diesem Buche über ihn berichtet und gesagt wird, wird zu 



*) Ich zitiere das nach Taine's »Das revolutionäre Frankreich« 
(II. Bttid, 3. Abtdlmig). 



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— 280 — 



der Überzeugung kommen, daß eine solche herrliche Indi- 
vidualität in der Kiilturg^eschichte nahezu einzig dasteht. 

Möge man nur den Mut der Selbstüberwindung haben 
und nach Berichtigung seiner überkommenen unrichtigen 
Auffassung dieser Individualität das Herz fassen, ihr seine 
voile und wohlverdiente Sympathie zuzuwenden. 

»Ein Vollblut-Adeliger % meint John Ruskin, »mehr noch 
eine fideldame, ist eine grotie Schöpfung , . . .« Wir be- 
danken uns für solche Schöpfungen und verzichten gerne 
auf sie. Und was ist die schönste Edeldame gegenüber 
einem im höchsten Maße guten und zugleich liebens- 
würdigen Menschen wie Voltaire? 



* « 



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Bei genügender Kenntnis der Tatsachen und vorur- 
teilsloser Auffassung derselben ist es nicht schwer, Vol- 
taire sowohl nach der Art seines Intellelcts, als auch 
nach seiner ganzen Persönlichkeit in wenigen Worten 
ziemlich erschöpfend zu charakterisieren. 

Für die Beurteilung seines Intellekts ist es aber zweck- 
mäßig, einen Blick auf die Eigentümlichkeit der hervor- 
ragenden Oenien der Menschheit Oberhaupt zu werfen. 

Die Fragen ob es die großen Mftnner oder ob es die 
groBen Massen sind, auf die bei der geschichtlichen Ent- 
wicklung alles ankommt, oder ob es beide sind, wird wohl 
jeder unvoreingenommene Beobachter der Dii^ im letzteren 
Sinnen nimKch: dafi es beide sind, beantworten.*) Den 
Anteil zu bestimmen, der diesen beiden Faktoren hiefbd 
zugesprochen werden soll, erscheint mir fedoch unmöglich. 
Und für unsere jetzige Betrachtung genügt es, zu konstar 
tieren, daß große Persönlichkeiten aus der Kulhiigeschichte 
nicht weggedacht werden können, wenn man den Oang der 
Dinge möglichst verständlich und einfach beschreiben, d. i. 
(im Sinne von C Mach) erklären will 

Man mag auf Rechnung jener groSen oder wenigstens 
berühmten Individuen noch so wenig setzen, man mag sie 
mehr für geschoben als schiebend ansehen, immer wird man 
mit voller Berechtigung sagen und behaupten können: sie 

*) Dieselbe Ansicht sprach Lind n er in seiner Oeschichtsphslo- 
sopbie und analog auch Petzoldt in seiner Abhandlung: >Sonder- 
scnulen fOr hervorragend Befähigte« aus. 



— 282 — 



regen große Ereignisse an, oder: sie lösen groüe Kräite aus; 
und darin liegt sclion Bedeutung genug. 

Wir brauchen also mit dem in der Gesamtwelt — 
wenigstens bisher — geltend gefundenen Energiegesetze 
selbst in diesem geistigen Gebiete nicht in Widerspruch 
zu geraten, wonach alle Wirkungen den Ursachen stets 
äquivalent sein müssen; denn wir haben es hier bloß mit 
Auslösungen und nicht mit Produktion von Kräften zu tun, 
gewissermaßen mit katalytischen Vorgängen, bei denen die 
Gegenwart allein, ohne Abnützung des eigentümlichen mit- 
wirkenden Gegenstandes*) genfigt, um ganz bedeutende 
Prozesse verwirklichen zu lassen. 

Will man daher äußerste Vorsicht in Auffassung der 
Rolle beobachten» welche große Indhriduen in der Kultur- 
geschichte spielen, so mfiBte man sagen: sie sind die 
notwendigen Bedingungen für eine relative Rasch- 
heit des Ablaufs wichtiger Ereignisse 

Wollte man aber selbst diese Auffassung für zu weit- 
gehend ansehen und bedeutende Persönlichkeiten als hloße 
Produkte des aligemeinen Ganges der Entwicklung und 
diese als von ihnen im letzten Grunde unabhängig schätzen, 
so mache man einmal die Probe, sich vorzustellen: die alt- 
und neutestamentlichen Schriften, die platonischen und aristo- 
telischen Werke, die Pamphlete Luther's und die Voltaire*- 
schen und Rousseau'schen Schriften wären nicht geschrieben 
worden; man nehme ferner an: Themistokles, Alexander, 
Cäsar, Kari der Grolle, Cromwell und Napoleon hätten 
nicht existiert — kann irgend jemand glauben, die Ereig- 
nisse und die Zustande in der Geschichte der Menschheit 
hätten dasselbe oder auch nur ein ähnliches Bild dargeboten, 
wie wir es eben kennen? Gewiß nicht 

Schriften wie Taten sind produktiv, wie sie auch, ohne 



•/ Der Chemiker sapi: Ohne Abnöf7iing' in irgend einem Stöcfaio- 
metrischen Verhältnis zu den rtaj^i^iereuden Körpern. 



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Zweifel, wiederum Produkte des WdiUuifs sind; und wenn 
das schon bei jeder, auch unbedeutenden Persönliclikeit, im 
privaten wie im öffentlichen Leben wahr ist, so ist es um 
so wafircr bei jenen Individuen, auf die wir einen großen 
Reichtum an Wirkungen, das ist an Vorgängen, zurückführen 
müssen, weil sie auf jene immer wieder hinweisen; auf jene 
Männer nämlich, die wir eben und einzig allein aus diesem 
Grunde — also nicht kraft irgend welchen ethischen oder 
wissenschaftlichen Maßstabes — die großen Männer der 
Kulturgeschichte nennen. Dabei so!! das Wort »groß« 
also weder Lob noch Tade! involvieren, sondern bloß eine 
Tatsache ausdrücken und dem Ausdrucke: :>Spezifisches 
Gewicht« der Physik entsprechen, also nur dazu verhelfen, 
das Verhältnis der Dichte kulturgeschichtlicher Einflüsse je 
nach den verschiedenen lndi\ iduen kurz zu charakterisieren. 

Natürlich kommt es hier nur auf das Persönliche in 
diesen Individuen an, das, unabhängig von ihrer zufälligen 
Stellung, Umgebung u. s. w. in ihnen von Natur aus 
liegt. Denn bei Vorhandensein besonders gunstiger Um- 
stände, wie z. B. Geburt auf einem mächtigen Throne, ist 
eine g^oße Einwirkung auf die menschlichen Verhältnisse 
möglich, ohne daß im geringsten Größe der Persönlichkeit 
vorhanden sein muß. Mit Rücksicht auf die Umstände muß 
daher zwischen bloß einflußreichen und großen, also 
genialen Individuen unterschieden werden, welche Unter- 
scheidung durch eine Veigldchung solcher Personen unter- 
einander leicht vorzunehmen ist 

Auf dem heutigen Standpunkte wissenschaftlicher Ein- 
sicht kann man natOrlich nicht mehr, wie einst, daran denken, 
in solchen großen Individuen »Werkzeuge« einer Vorsehung^ 
oder Realisation eines »absoluten Geistes« in seiner »weit- 
geschichtlkhen Entwicklung« oder dergleichen mehr, zu er- 
blicken. Wir müssen vielmehr in der Natur dieser iVlInner 
einen gewissen Fond von Eigentümlichkeiten oder Fähig- 
keiten als vorhanden voraussetzen, durch welchen Fond 



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— 284 — 



ihre Bedeutung unter Jenen Vefliiltnissen zu erklären ist, 
unter welchen sie leben. 

Wafir ist es, daß die Schätzung: dieses Fonds und 
dieser Bedeutung eine nur subjektive ist und bleibt, daß die 
Meinungen in dieser Beziehung sehr oft weit auseinander- 
gehen, gerade so wie hei der Bewertung des Schönen, und 
daß selbst in jenen Fällen, wo wir eine individuelle GröHe 
zugeben, uns eine erschöpfende Analyse derselben, eben- 
falls wie bei Beurteilung des Schönen, versagt bleibt. 

So gut ich das auch weiß, so drängt es mich doch, 
meine Auffassung der Bedeutung einer Anzahl persönlicher 
Kulturfaictoren wenigstens in kurzer und mehr andeutender 
Weise, so wie sie sich mir beim Nachdenken Aber eine 
ChaFakteristik Voltaire*s entwickelte^ hier darzulegen. Ich 
stelle es dem Leser anhdm, mir zuzustimmen oder nicht 

Es handelt sich also um nähere Betrachtung der Persdn- 
Hchkdten, die einen bedeutendeien oder bedeutendsten Ein- 
fluß auf den Gang der Ereignisse in der Kulturgeschichte 
ausübten, wobei wir unter ^Ereignissen« nicht bloß physische, 
greifbare Vorgänge, sondern auch die Entstehung von 
weitverbreiteten Denkarten oder -Richtungen, sowie 
von ü cf ühlsweisen oder Massenempfindungen verstehen. 
Von faciiiichen, an sich noch so bedeutenden Leistungen 
in Wissenschaft, Kunst, Technik und Politik sehen wir hier 
ab, weil wir eben nur solche persönliche Einwirkungen auf 
Denken oder Empfinden als Ereignisse in der all- 
gemeinen Kulturgeschichte ansehen, die über jedes 
Fach oder engere Gebiet hinaus, also auf große Teile der 
menschlichen Gesellschaft sich erstrecken, jene großen 
fachlichen Leistungen sind zwar leile partieller Kulturkate- 
gorien, wirken aber nicht direkt au t Denken oder Empfinden 
der großen, außerfachlichen Menschenmassen ein. 

Es werden daher selbst so große Forscher wie Newton 
oder Faraday, so große Dichter wie Sophokles, Dante 



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oder Shakespeare» oder Techniker wie James Watt und 
Politiker wie Cromwell nicht hierher gehören. Homer 
könnte nur dann mitgezählt werden, wenn er die Mythen, 
die er als Dichter behandelte^ selbst erfunden hfitte. Anderer- 
seits unter den Gesetzgebern Moses, wenn man von ihm 
noch die einstmalige^ jetzt endgültig wideriegte Auffassung 
hätten der zufolge er der Verfasser der »Gesetzgebung 
Moses'« war. Fsuhis setze ich jedoch als reale Person 
und die sogenannten Paulinischen Briefe in der Hauptsache 
als von ihm herrührend voraus, obwohl man in der aller- 
neuesten Zeit die Echtheit aller dieser Briefe und sogar die 
Existenz des Paulus selbst bezweifelt, denn diese Ansichten 
sind bisher noch zu wenig anerkannt Bekanntlich wird auch 
die Existenz Jesu als historische Person von mancher Seite 
angezweifelt, ich betrachte aber hier den Namen »Jesus« als 
Zusammenfassung gewisser charakteristischer Aussprüche 
und Situationen und spreche übrigens über diesen Punkt 
an einem anderen Orte. — 

Da scheint es mir nun, daß man zwei wesentlich ver- 
schiedene Kategorien der einflußreichen Individuen unter- 
scheiden kann: Solche, bei denen sich vornehmlich oder 
ausschiietilich ein durchdringender Vers tand geltend macht, 
und andererseits solche, bei denen der Einfluß auf die 
Kultur- oder Geschichtsentwicklung auf origineller und 
starker Phantasie oder auf ebenso beschaffener Empfin- 
dung beruht. 

Große Energ^ie kann bei beiden Kategnrien vorkommen. 
Ein außerordentlich impulsives Temperament gehört zur 
zweiten, denn dies ist ja nichts anderes als eine das ^anze 
Individuum erfüllende Empfindungsfähigkeit, die nicht ein- 
mal eine einseitige zu sein braucht, sondern in allem, was 
jenes Individuum unternimmt, von selbst in vehementer 
Weise, und andere mitreißend, zutage tritt. 

Zu der ersten Kategorie, den Verstandesgenies, kann 
man rechnen M den Griechen: Demokrit, Cpikur, Themt- 



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stokles, Aristoteles; bei den Römern: Cäsar; bei den neueren 
Italienern: Machiavelli, Galilei, Napoleon, Cavour. Lionardo 
war unter anderem auch ein Verstandesgenie, hatte aber 
keinen Einfluß auf den üang der Kultur, b\o\i aus dem 
Grunde, weil er seine Studien nicht publizierte; bei den 
Engländern: Shakespeare, Hobbes, David Hume, Darwin; 
bei den Franzosen: Montaigne und Voltaire; bei den 
Deutschen: Friedrich der Große, Bismarck, Karl Marx. 

Zur anderen Klasse der großen Genies kann man 
zählen: Buddha, Plate, Jesus, Paulus, Mohammed, Plotin 
und Meister Eckart» Luther» Oiordano Bruno und Spinoza, 
endlich Rousseau. 

Einige wenige Männer gehören in beide Kategorien zu- 
gleich, so: Confucius, Kant» Ooethe 

Es kommt nun durchaus nicht darauf an, daß man die 
hier angeführte Liste anders ausgefüllt oder vollständiger 
wünscht; es werden wohl kaum zwei I\"rsonen in solchen 
Aufstellungen genau übereinstimmen, und tiieniaud ist in 
solchen Dingen oberste Autorität Möge sich jeder nach 
Belieben diese Liste umformen, aber obige Aufzahlung im 
ganzen und orolkn wenigstens insoweit akze[it:eren, um 
die nachiüigenden Betrachtungen auf sich wirken lassen zu 
können. — 

Die Verstandesgenies machen den Eindruck der Hel- 
ligkeit, des Lichtes, eines sonnigen Tages, die Phantasie- 
und Gefühlsgenies den Eindruck einer mondfieUen Nacht; 
keine Klarheit, keine Bestimmtheit» aber voll Erregung un* 
ausschöpflicher OefQhle. 

Wir haben also auch hier» wenn wir die OroBen der 
Menschheit in Oedanken an uns vorQberziehen Uissen, etwas 
Analoges wie den Unterschied zwischen Khissikem und 
Romantikem in dem engeren Gebiete der Kunst 

Ästhetisch betrachtet sind die Verstandesgenies als In- 
dividuen weniger iiitereösant, als die anderen; besonders 



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darum, weil ihnen das ins Unbestimmte sich verlierende 
Dunkel fehlt, und Unbestimmtheit bei den meisten Menschen 
den fälschlichen Schein des Unendlichen erweckt; hingegen 
bringen jene auch nicht den mitunter schwülen und nieder- 
drückenden Eindruck hervor, der von den Romantikern« 
der Kulturgeschichte ausgeht und der daraus zu erklären ist, 
daß alles, was sie uns sagen oder bieten, gewissermaßen 
nur wie eine zum Trost erfundene Hypothese, ohne sicheren 
Grund und ohne bestimmtes Ziel auftreten kann. 

Aber trotzdem, wdch tiefgehende, seien es stille, seien 
es aufwühlende Wirkungen! Verweilen wir ein wenig bei 
ihnen; es ist interessant und angenehm, gerade ihnen ins 
Auge zu sehen. 

Da haben wir Plato: Cr flbemimmt und erfindet 
grundlegende metaphysische Ideen und ist so der N5hr- 
vater der ganzen späteren europäischen Meiaphysilc; er ward 
hierdurch und besonders durch seine Unsteiblichiceits* 
und Seelenlehre von größerem Einfluß auf das dogma- 
tische Christentum als Jesus oder iigend wer anderer; 
und erhob die Oeschlechtsliebe in wohl verhältnismäßig 
kühle, aber doch ideale Regionen. Durch all dies beherrschte 
er die Philosophie, Theologie und Poesie des Abendlandes 
in einer von niemandem übertroffenen Weise. 

Von Plotin stammt jenes halb metaphysische, halb 
theologische Weltgeföhl, das wir das mystische nennen. 

Um von dem Einfluß Jesus' von Nazareth zu 
sprechen, kann man dem Kunstphilosophen Vischer sehr 
wohl zustimmen, der sagte: es sei mit der Erscheinung Jesu 
der Menschheit (in Europa und Amerika) eine »neue Seele« 
gegeben worden. 

Man kann dasselbe von Buddha bezüglich Asiens 
sagen; Buddha wie Jesus haben in ethischer und religiöser 
— jener mehr in metq>hysischer — Beziehung dn neues 
großes Gefühl in die Welt gebracht 



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Paulus verdanken wir einerseits die scharfe theologische 
Formulierung der einflußreichsten christlichen Dogmen, an 
denen dann noch viele andere Männer, (wie Augustinus 
und Luther und Calvin) weiter arbeiteten, und die (zumeist 
in sehr trauriger Weise) bis in das intimste Privatleben, 
aber auch in große Massenl>ewegungen hineinspielten; 
andererseits aber auch den grandiosen Oedanicen einer 
universellefl Religion, also eines Intemattonaiismus von 
höchster Bedeutung^ indem er das zuerst von den Stoikern 
in die Welt gebrachte OefOhl des Kosmopolitismus und der 
Humanitftt zur Durchbrechung der jfidischen Re%ion an- 
wandte, und so jenes Oeffihl in einer der wichtigsten Be- 
ziehungen vorbereitete und realisieren half. Man darf Paulus 
dieses enorme Verdienst nicht schmälern wollen, selbst 
wenn er seine groBe Rolle nur aus Ehigeiz und Eiferaucht 
auf die Apostel der Judenchristen fibemommen hätte. Denn 
er übernahm nicht nur die stoische Idee der Menschen- 
bruderschaft für den allerdings noch immer beschränkten 
Kreis der »Christen' , sondern machte sich auch unter be- 
ständigen Gefahren zum reisenden Agenten dieser Idee. Er 
flbertraf durch sie Jesus selbst, der nur eine religiöse (etwa 
auch soziale) Reform innerhalb des Judentums angestrebt 
hatte, und der Beweis dafür liegt nicht nur in einigen der 
Aussprüche Jesu, sondern namentlich darin, daß seine sämt- 
lichen Jünger fanatische Judenchristen waren, und die Apos- 
tel, die mit ihm so intim verkehrt hatten, mußten doch seine 
Idee und Ziele gewiß sehr genau kennen. 

Luther brachte in die religiöse Empfindung der Christen 
einerseits ein gewisses trotziges, andererseits ein solides, 
bürgerliches Element hinein. Jener Trotz, vermöge dessen 
Luther sogar den Einfall haben konnte, >Oott die Schlüssel 
hinzuwerfen,« wenn er sein Oebet um Genesung des 
tanken Melanchthon nicht erhOren wflrde, grollte noch 
lange Zeit in der Protestantenwelt, und am deutlichsten bei 
den Puritanern, in mannigfaltigen Formen nach und hat 



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dort gar nicht Unbedeutendes zuwege gebracht Wenn 
aber Carlyle Cromwell den grOBten Protestanten nennt, so 
kann ich ihm nicht beistimmen; fflr mich ist und bleibt 

doch immer Luther der größte »Protestant«. Freilich hat 
er, wenn man sein ganzes Wirken vom intellektuellen 
Standpunkte aus beurteilt, seine Verdienste um die Kräftigung 
der Gemüter wiederum durch die Stärkung des christlich- 
religiösen Gefühls mehr als kompensiert, und er hat mehr 
als jeder andere dazu b ei j^a- tragen, den Humanismus zu 
bremsen. Er war nun eben so! 

Von Oiordano Bruno und Spinoza datiert in Europa 
das sogenannte pantheistische Weltgefühl, dem sich die 
höchsten Intelligenzen, darunter ein Lichtenberg, ein Goethe 
hingaben, und für das sogar ein so unmystisch angelegter 
Oeist wie Voltaire eine so große SympAthie besaßt daß er den 
Spinozismus» nach seinem eigenen Ausdrudc^ »eigentlich 
immerwahrend hinter dem Köpfet gegenwärtig hatte.*) 
Und — wer wfirde das vermuten? — er nannte Spinoza 
den »religiösesten aller Menschen«, genau wie Schidermacher 
in seinen »Reden« von ihm sagte, und wie auch in unseren 
Tagen der religiös viel weicher geknetete Renan M der 
DenkmalsenthfUlung im Haag es aussprach: Spinoza habe 
unter allen Menschen Oott am nächsten geschaut. 

Rousseau verdanken wir unser heule so allgemeines 
Naturgefühl, ferner eine ganz neuartige, edle Glut in den 
Sexualempfindungen, sowie auch, infolge seiner mit Herz- 
blut und mit noch mehr üalle geschriebenen Bücher, unsere 
die Gesellschaft so tief aufwühlende, cholerische politische 
Emptindunp^. Durch diese dreifache Richtung seines Ein- 
flusses auf Europa — in jüngster Zeit erregt sein Contrat 
social sogar die politischen Leidenschaften der Japaner — ist 
Rousseau ein Phänomen seltenster Art, und man könnte 
tieinahe sagen, noch lange nicht genug bewundert Cr ist 



*) Welches Detail ich Nourrisson's »Voltaire« enUiehme. 

Pop u er, Voluir«. 19 



— 290 — 



wohl seit Jesus von Nazareth das originellste und ffir Europa 
einflussreichste OemOtsgenie und auch von Rousseau kann 
nun sagen, er habe uns eine »neue Seele« gegeben. 

Wenn man die Tätigkeit Rousseau s mit jener aller 
anderen französischen Philosophen und Schriftsteller seiner 
Zeit — Voltaire inbegriffen — vergleielit, so könnte man sagen: 
daß sie alle die vorhandene dumpfe politische Atmosphäre, 
um sie erträglicher zu machen, immer mehr und mehr 
parfümierten, Rousseau aber Fenster und Türen weit 
aufriß und einen Strom frischer Luft hereinlieli, um die 
schlechte auszutreiben. Auszunehmen von diL^sem Vergleich 
wäre also Rousseau s gegnerisches Verhalten in Beziehung 
auf Kultur und Aufklärung. 

Was das moderne Natuigeffihl betrifft, so sind — ich 
sage hiermit nichts neues — OoethCp Byron, Chateaubriand 
und unzlhlige andere geringere Dichter, Maler, ja beinahe 
die ganze Bevölkerung Europa*s, soweit sie nicht dem Land- 
volk angehört, seine Schüler. Was »Liebej: betrifft, so ist 
Ooethes Werther, Schiller wahrschäniich in vielen seiner Ge- 
dichte sicheriich aber In seinen Crstlings-Dramen, ist sogar 
Beethoven und Richard Wagner, dessen »Tristan und Isolde« 
eine in dfisterer Olut noch fibertrumpfte »Neue Hdoise« 
genannt werden kann, ohne eben diese Neue Heloise 
Rousseau's nicht zu denken*) 

Es wäre wohl sehr interessant, in einer einsehenderen Weise 
die vier originellen weiblichen Individualitäten und ihre Bedeutung 
in der europäischen Oefühtsgeschichte zu vergleichen, die uns von 
Plato in der Diotiina, von den Evangelien in der Maria Magdalena, von 
Dante in der Beitrice und von Rousseau in der Julie der Npuen Heloisc 
hingestellt wuideo. Diese vier merkwürdigsten aller Frauenzimmer 
hahen nicht nur in der Kunst, sondern durch suggerierende Kraft in 
ihrer Darstellung selbst im alltäglichsten Leben, ohne daß man es ahnt 
oder glauben wurde, einen enormen Einfluß ausgeübt. Ich überlasse 
Kerne die Durchführung Jicscr psychologischen Studie jenen, die mehr 
Kenntnisse und Fähigkeiten auf diesem Gebiete besitzen als ich. Ich 
begnüge inich mit der Freude, an diese Gegenüberstellung halb ernst, 
halb spielend zu denken, und mit der i^rwartung, durch diesen ganzen 
Ocdinken vielieiclit cudi mandien Leser angenenm anzuregen. 



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— 2gi — 



Bei den meisten tief schmachtenden Adagios von 
Beethoven glaube ich — und Nietzsche spricht irgendwo 
einen ähnlichen Oedanken aus — stets den heiBen Atem jenes 
Uebesromanes zu verspfiien; ja in manchen Beethoven'schen 
Stfidcen auch etwas von dem politischen Trotz und dem 
Frdheits- und Oleichheitszom Rousseau's. Denn in 
Beethoven's Musilc finde ich nicht nur die Schwärmerei der 
Neuen Heloise» sondern ich höre darin auch die Sturmgefflhle 
der französischen Revolution, also wiederum Rousseau, ru- 
moren, wie auch philosophische Stimmungen und Betrach- 
tungen Aber das Elend der Welt, die Kämpfe, die Tröstungen 
und Hoffnungen der Menschen — was alles mitunter beim An- 
hören Beethoven*scher Musik durch das Oemut des Hörers 
ziehen kann; und nimmt man dazu noch seine reh'giöse 
Musik, so erklärt sich bei Beethoven der Eindruck einer 
fast alle Seiten der Meiischengdühle iiinfassenden künst- 
lerischen Pcrsönliciikeit, wie sie speziell aut dem Gebiete der 
Musik kein zweitesmal mehr vorkommt Allerdings gilt das 
Gesagte nur für jene, die, wie ich, es in jener Mubik finden 
oder zu finden glauben; womit ein Problem berührt erscheint, 
dem ich in der speziellen Betrachtung 'Ȇber ein musik- 
ästhctisches Problem« (am Schluß dieses Buches) einige 
Worte widmen will. 

In der Politik steht Rousseau's Einfluß nicht nur auf die 
Volksmassen, sondern auch auf die Gelehrten und großen 
Geister, wie z. B. Kant, Schiller (in seinen politischen 
Dramen), Fichte und viele Andere fest, und gerade in diesem 
Gebiete zeigt sich am deutlichsten die Originalität seines 
Charakters. Denn mit ihm erscheint nicht nur, wie Brune- 
ti^re richtig sagt, zum ierstenmale der Plebejer in der Ge- 
schichte der Literatur, sondern — wenn man vielleicht von 
Thomas Münzer absieht - auch der erste und zugleich am 
gewaltigsten grollende Plebejer auf der politischen Bühne. 

Im Gebiete der Pädagogik bildet Rousseau's »Emile , 
diese schwungvolle und liebreich in den Oegenstind dn- 

19* 



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— 292 — 

gehende Veiarbeituiig der Qrundgedanken von Monteigne 
und Comenius, wie auch Locke's, die Basis unserer heutigen 
Erziehungs- und Unterrichtsmethoden. 

Olficklicherweise blieben andere Seiten der Rousseau*- 
schen Individuatitat ohne nachhaltigen schädlichen Einfluß; 
nimlich: seine reaktionäre Tendenz im Gebiete der Wissen- 
Schaft, Kunst und allgemeinen Kultur« die Ober den 
Naturzustand hinaus strebt; femer jene im Gebiete der 
Religion; und endfich seine politische Ansicht über die 
Staatsomnipotenz. 

Alle seine unvergleichliche rhetorische Kraft blieb in 
üitisen Gebieten wirkungslos, denn ein anderer Riese, Vol- 
taire, hatte ihm hier aut die Finger geklopft. 

Und so seltsam es auch klingen mag, so steht es doch 
fest, daß Rousseau auch als Politiker zu den Reak- 
tionären TU zählen ist. Was er auch mit seinem Oleich- 
heits- und Freiheitsgroll Großes für Europa geleistet hat, 
kompensierte er zum grotSen Teile wieder durch seinen auf 
die Römer, und zwar auf die römische Republik (und auf 
die Spartaner) zurückweisenden Staatsbegriff. Über die 
sogenannte Bürgertugend, über einen fanatischen Patriotismus 
kam er nicht hinaus; bis zum frei im Universum auf sich 
selbst gestellten, mindestens in den Orundempfindungen mit 
allen Menschen kosmopolitisch fühlenden Individuum, das 
nur im Falle der Notwehr seinen eigenen Staat oder seine 
eigene Nationalität ausschließlich und fiber alles, sonst 
aber nur in sekundären Beziehungen zur Geltung zu bringen 
sucht — erhob sich Rousseau nicht Bis zum reinen 
Menschentum ist er politisch nicht voigedrungen. 

Und er wufite das selbst sehr gut Denn im ersten 
Brief seiner »lettres foites de la montagne« sagt er aus^ 
drOcklich: »Humanität und l'atriotismus sind unvereinbar.« 
Beide sind aber ganz wohl vereinbar. Man mu0 nur funda- 
mentale BedQrfhisse oder Forderungen der Menschen von 
den sekundären zu trennen suchen; also die physische 



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— 293 — 



Integrität von Individuen anderer Staaten oder Nationen, oder 
anderer Individuen überhaupt (daher auch des eigenen 
Staates) nicht irjS^endwelchen Luxusgefühlen opfern wollen, 
wie z. B. dem Ruhm oder der Ehre des eigenen Staates^ 
oder der Ausbreitung seiner eigenen Religion oder Nationali- 
tät und der<(l. mehr. 

Wenn ich aber den Ausdruck »Luxusgefühle gebrauche, 
so soll damit durchaus nicht gesagt sein, dali Patriotismus, 
Nationalitätsgefuhl, Anhänglichkeit an irgend eine Religion» 
untergeordnete oder gar verächtliche Gefühle seien. Sie 
können höchst edle, sehr warme Gefühle sein und sogar 
ihre Anhänger so weit fuhren, daß sie ihnen selbst ihr Leben 
opfern. Was aber jeder mit sich selbst machen will, das ist 
seine Sache; anderen Menschenleben oder physischen Integri- 
ttten gegenfiber sind jedoch alle Jene Empfindungen nur 
sekundär oder nur wie Liebhabereien anzusehen, denen zu 
Liebe man also nicht zum Mörder werden chirf; ja der 
Mörder aus Not» der zugleich Räuber ist» steht ethisch nicht 
entfernt so tief und ist auch lange nicht so gefähilich, wie 
der Mörder aus jenen sogenannten idealen Beweggründen; 
dieses schon darum nicht, weil die letztere Art viel 
schwerer zu sättigen ist 

Der fanatische Patriotismus Rousseau's, den er aus der 
römischen Geschichte der früheren Zeit herholte und Iii 
seinem Gesellschaftsvertrag« (namentlich im 4. und 5. Ka- 
pitel) und auch im »Emile« zum Ausdruck brachte, obwohl 
doch die gröliten Ethiker des Altertums, wie Sokratcs, die 
Philosophen der Stoa, die großen römischen Kaiser, ja sogar 
schon der g^roße Alexander, über einen solcfien Patriotismus 
hinaus waren^ wurde durch Voltaire's Internationalismus 
korrigiert*) 

♦) AI« ein Zeichen des Zurücktretens höherer ctiiitcher Qesichts- 
punkte hinter die Ideale forcierter Züchtung streng nationalistischer 
Kulturen in unserer Zeit kann es dienen, daß einer der geachtetsten 
Altertiunsforscher unserer Tage, Eduard Meyer, Alexander dem 
OroSen den Vorwurf macht, durch aera Bettieben der VerachmelzunK 



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— 204 — 

Zur Zeit Voltaire's und Rousseau's, eigientHch am Ende 
des 17. und bis ungeßhr um die Mitte des 18. Jahrhunderts, 
gab es in Europa einen ailerdii^ höchst sonderbaren Inter- 
nationalismus, genauer gesprochen: eine Indifferenz gegen 
jeden vaterlandischen Begriff, und zwar aus egoistischen 
OrQnden, indem die Adeligen, die ja meistens auch Sol- 
daten waren, jedem beliebigen Staate ihre miKtärischen 
Dienste anboten, wenn sie nur hoffen konnten, Karriere zu 
machen.*) Es war das also eigentlich ein Geschäft mit der 
Geschicklichkeit im Mordhandwerk. Diese Art von Inter- 
nationalismus der Aristokratie, der sich, etwas abgcscliwächt, 
noch heute in der Form der Mitgliedschaft fremdstaatlicher 



der griechischen mit der orientalischen Kultur jene, die fadleiiisdie, ver- 
fliehtet zu haben. Alexander und die Diadochen hätten ~ meint Meyer 
in dem Aufsatz: ^Die Kulturfeindlichkeit des Weltbürgertums« (Beilage 
2ur M. A. Z. No. 31 des J. 1902) ~ dem hellenischen Mutterboden aie 
besten Kräfte entzogen und entfremdet. Dabei t^cht Meyer von der 
unrichtigen Voraussetzung aus, der Kosmopolitismus sei die »angemaßte 
Herrschaft einer besonderen Kultur fiber ihr natflrlicherweise nicht zu- 
gehörige Völker und Gegenden , während doch im Oerrcnteil eine 
solche Herrschatts-Anmaßung gerade nur Sache der Vertreter natio- 
nalistischer oder Rasse>Kulturen ist Der wahre Kosmopolitisnus ist 
gesittet, IriRt jede kulturelle Eigenart g-elten. trachtet aber ludi An- 
näherung oder Vermischung vermiedener Kulturkreise, und awar ohne 
Oewalfsamlieit, also nvr in jenen Bestandfellen der Kulhiren, die eine 
solche Annäherung oder Vermischung^ vertragen. AttCh sclieitit diese 
Voraussetzung oder Definition des KosmopoUtismus Alexander's Be- 
strebungen in Asien, die ja viel mehr auf Verschmelzung als auf ein 
Aufdrängen griechischer Kultur gerichtet waren, zu widersprechen — ich 
sage dies mit der einem bedeutenden Forscher gegenüber gebührenden 
Bescheidenheit — was er ja selbst durch die bekannte Anordnung von 
Heiraten zwischen Griechen und Persem symbolisch andeuten wollte. 
Das Ideal nationalistischer Kultur ist nichts anderes als eine ästheti- 
sierendc biologische Geschichtsauffassung, die es auf die Pikanterie ab- 
gesehen hat, abgegrenzte Oruppenanlagen ins MaBlose entwickelt zu 
sefrcn : ungefähr so wie es manche Viehzüchter machen, die nichts 
höheres kennen, als JMonstra von Rassetieren aufzuzüchten» und den 
Wert von Kreuzungen versdiiedener Rassen, aus UeUiaberei von Son- 
derbarkeiten, nicht anerkennen wollen. Eine ins Endlose fnrtq^esetzte 
Rasse-Kultur in Form kultureller Inzucht muß zu ebensolchen Mon- 
strofiflten führen, wie es die gewissen maßlos dicken Schweine lind 
Odtten sind. 

*) Das war auch bei dem großen Prinzen Eu^:^en von Savoyen 
der Fall, der, ein geborener Pariser und seiner kleinen Gestalt wegen 
von Ludwig XIV. zurückgewiesen, in dsterreicfaische Dienste trat 



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politischer Veiiretungskdrper manifestiert, steht ethisch ohne 
Zweifel unter allen anderen: dem schwarzen, wie dem gol- 
denen, am tiefsten. Der sogenannte rote Internationalismus 
ist fifaierhaupt nicht tadelswert, sondern neben dem edelsten 
und echtesten Patriotismus mindestens gleichberechtigt 

Es ist daher ein sehr wichtiges Datum, daß Voltaire 
Friedrich dem Großen zum Siege ha Roßbach über die 
— Franzosen Olfick wtinschte;*) wie Mahrenholtz in seinem 
Werke Ober Voltaire mit Recht sagt: aus Haß gegen das 
Jesuitenregiment in Frankreich. Mit diesem Qlflckwunsch 
beginnt fflr die Neuzeit die ethische SlaatsaufCassung, die 
sich eben seit Voltaire Bahn gebrochen hatte: ihr huldigten 
die großen Deutschen, ein Kant, Lessing, Herder, Goethe, 
Scliiller; und es sei hier auch Hegel nicht vergessen, der 
den Ausgang der Schlacht bei Jena ruhig, d. h. ganz 
objektiv, als den Sieg einer höheren Zivilisation über eine 
niedrigere betrachtete, und ganz wie Goethe über diese 
Dinge dachte, der zu Eckermann sagte: ^Und unter uns, 
ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, 
als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur 
und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation 
hassen können, die zu den kultiviertesten der trde gehört 
und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung 
verdankte! Überhaupt ist es mit dem Nationaihaß ein eigenes 
Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie 
ihn immer am stärksten und am heftigsten finden. Es gibt 
aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man 
gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein 
Olfick oder Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre 
es dem eigenen beg^et Diese Kulturstufe war meiner 
Natur gemäß . . . .« 

Diese Oesinnungen des herrlichen Mannes waren eben 
genau jene^ die Voltaire als der Erste in unsere Oedanken- 

*) Wobei er gleichzeitig Geld für die gefiDgenen uod verwundeten 
französischen Offiziere nach Berlin sandte. 



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weit brachte; und mit allem Grunde konnte Goethe es gegen 
Cckermann aussprechen: »Sie haben keinen Begriff von der 
Bedeutung, die Voltaire und seine grossen Zeitgenossen in 
meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt 
beherrschten. Es geht aus meiner Biographie nicht deutlich 
hervor, was diese Männer für einen £infiuss auf mdne Jugend 
gehabt . . . .c 

Diese ethische politische Oesinnung ist, trotz mancher 
zeitweiligen nationalistischen Rflddälle, nicht mehr aus der 
Welt zu schaffen; besonders, seitdem die große sozialistische 
internationale Strömung der ArbeiterUasse in ihr (von Marx) 
erzogen, von anderen darin bestärkt und nunmehr grofi- 
gewachsen ist ~ 

Wie man aber sieht, ist es hier durchaus nicht darauf 
abgesehen, -grosse Odühle« zu rauben oder sie zu de- 
gradieren. 

Die Ansicht, dal] das Vaterland dort sei, wo man sich 
wohlbefindet, welche Ansicht »von Euripides bis Voltaire« 
vertreten wurde, ist ebenso berechtigt, wie jene, derzufoige 
der Patriotismus nichts mit der Nützlichkeit zu tun hat, 
sondern eine eigene Art von selbstlosem Gefühl reprä- 
sentiert. 

Wenn man auch selbst dieses Gefühl nicht teilt, so kann 
man es doch, ähnlich wie das bei religiösem Gefühl der 
Fall ist. sehr gut und soc^ar sehr leicht verstehen. 

»Vaterlandsliebe ist eine Zusammensetzung von fcigen- 
liebe und von Vorurteilen, wobei das Streben nach dem Wohl 
der Oesellschaft den größten Teil der Tugenden ausmacht,« 
meint Voltaire. Die andere Auffassiinj^ des Patriotismus aber, 
nämlich als Oemütssache» wird sehr gut durch die Worte 
eines Voltaire-Oegners, nämlich Nourrissons, bezeichnet: 
»Vateriand ist mehr als Liebe zum Boden: Der Respekt vor 
der Tradition, der Kultus der Erinnerungen, die Neigungen 
der Familie erstrecken sich auf eine ganze Oesellschaft; und 
mit dem Oedanken an dne gemehisame Zukunft, mit der 



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Socge um gemeinschaftliche Orö6e^ oder im Angesicht einer 
g^gmwdrtigen Gefahr werden gemeinsame Anstrengungen 
und hingebende Teihiahme erweckt, die bis zur Aufopferung 

des Lebens gehen.« 

Am einfachsten k5nnte man wohl jene Art von Patriotismus, 
die nichts mit verstandesmäBiger Auffassung zu tun hat und 
nur eine besondere Beschaffenheit des Oemfltes ist, als ein 
ins Große getriebenes Pietäts-OefOhl definieren.*) 

So schön, ja mitunter erhaben, ein solches Pietäts- 
gefuhl auch sein m^^, so darf man jedoch darüber das 
höhere Gebot der Menschlichkeit nicht vergessen. Man darf 
also von niemandem ein solches patriotisches Gefühl ver- 
langen, wenn er es nicht selbst besitzt, noch weniger darf 
man Opfer von ihm erzwingen wollen, die an seine funda- 
mentale Individualität, d. i. an seine physische Integrität, 
röhren. Und ebensowenig darf irgend ein Gefühl, 
wie es u. a. die Vaterlandsliebe ist, zum Anlaß 
genommen werden, die physische Integrität irgend 
eines Menschen in der Welt zu verletzen. 

Die Achtung vor der Existenz menschlicher Individuen 
muB also als oberste ethische Maxime jede andere beherr* 
sehen, und eben diese Achtung muß das gemeinsame Band 
sdn, das alle Menschen der Erde umschlingt, und das nie, 
seilet durch die wärmste Vaterlandsliebe nicht, zerrissen 
werden darf. Und jene Achtung aller Existenzen 
muß auch die Basis alles Völkerrechts bilden. 

Der so aufgefalite Inlernationalisnius ist daher, auf den 
Patriotismus bezogen, ein Gefühl erster Ordnung, dieser 
selbst ein Gefühl zweiter Ordnung, und nur wenn er sich 
jenem unterwirft, also vor menschlichen Existenzen — inner- 
halb oder auiierhalb des Vaterlandes - Halt macht, ist der 
Patriotismus ein gesitteter; wenn aber nicht — Barbarei. Das 

*) Wenn ich nicht irre, j^ebrauchte auch Bismarck einmal in einem 
Privatgesprache diese Defimtion. 



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ist unter den oben angewendeten Ausdrücken: »funda- 
mentale« und t sekundäre« Forderungen zu verstehen. 
Und es ist leicht einzusehen, daß dieser hier aulgestellte 
Grundsatz die Basis des Völkerrechts werden mufi, wenn 
wir überhaupt in Kriegs- und Friedensfragen aus dem heu- 
tigen Stadium der Wildheit herauskommen wollen. Nicht 
minder klar isl es, daß nicht nur das äußere Staatsrecht 
(Völkerrecht), sondern auch das innere Slaatsrcchl auf genau 
demselben Grundsatz basieren muii; doch ist uns an dieser 
Stelle die Hauptaufgabe die gewesen, dem fanatischen Pa- 
triotismus den gesitteten gegenüber zu stellen und das 
Verhältnis zwischen dem letzteren und dem berechtigten 
Kosmopolitismus zu präzisieren.*) 

*) Man wird wohl leicht den Zusammenhang bemerken, der 

/wischen diesen Oedanken und jenen besteht, die früher gelegentlich 
des Kri^- und Friedensproblenis entwickelt wurden, in präziser und 
ztuaminenhänffender Form wurden sie von mir hn Jahre IflBO in einem 

Aufsatz dargelegt, welchen ich unter dem Titel Über die not\vendi^:;e 
Verbesserung der Gesetzgebung« als Einleitung zu einer Schrift über 
die Lösung Oer sogenannten sozialen Frage verfwt littte. Damals schrfeb 
nämlich Isak Pereire einen Preis aus für die besten Schriften zur Be- 
seitigung des Pauperismus, und ich beteiligte mich an dieser Preis- 
ausschreibung, obwohl ich eine Grundbedin^ng Pereire's — er wollte 
nämlich von Sozialismus* nichts hören — nicht erfüllte, also keine Aus- 
sicht auf einen Preis hatte. Jener Einleitung nun, welche die OrundzQge 
eines neuen, ethisch fundicrien Staatsrechts enlhali, gab ich das Motto: 
»Für sekundäre Bedürfnisse das Majoritätsprinzip, für 
fundamentale das Prinzip der garantierten Individualität^ 
und daß dieses Prinzip geeignet ist, die wichtigsten sozialen und staats- 
rechtlichen Probleme zu lösen, wird man leicht einsehen, wenn man die 
Methode studiert, nach der in meinem Buche Das Recht 711 leben 
und die Pflicht zu sterben« und in meinem 'Fundament eines 
neuen Staatsreclits« (erschienen im Jalire 1^) die soziale Frage 
und das Kricgsproblcm behandelt wurden. Seit der Konzciition jener 
st.iatsrechtlichen Abhandlung ist nunmehr ein Vierteljahrhundert ver- 
gangen, und die genaue Beobachtung aller Vorgänge in unserem öffent- 
lichen praktischen Leben und in der wissenschaftlichen Welt, u. a. auch 
der 7unehmenden UhelstSnde des Pnrlamentarismiis — zeigte mir immer 
deutlicher, daii die t urrtpaische Ocscliscliaft nicht wird umhin können, 
sich in der von mir angegebenen Richtung zu refbnniereiu 

Allerdinfi;s wird das erst dann emsth'ch begonnen werden, bis man 
endlich einsehen wird — wovon ich mich bereits seit mein als dreißig 
fahren uberzeuet habe — wie unfruchtbar alle die zehntausend Streitig- 
keiten verschiedener Interessenkreise, die unzähligen kleinen Mittelchen 
und Flickarbeiten, die immerwährenden Anhäufungen von Reden, Ab- 



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So weit auch Voltaire's politische Geistesrichiung von 
der heutigen sozialistischen Bew^ng entfernt ist, findet 
doch in diesem höchst wichtigen Punkte eine Oemeinsam- 
kdt, ja fand» ohne Zweifel, ein segensreicher Einfluß Vol- 
taire's auf die geistigen ffihrer der Internationale und hier- 
durch auf diese selbst statt 

Ob es sich um Frankreich oder um Preußen, um Polen 
oder um Rußland handelte, immer war Voltaire nur darum 
bemuht, die Regenten für den Fortschritt in jeder Beziehung 
anzufeuern, und wie seine Briefe an rriednch den Großen, 
an Kaiharina Ii. und andere zeigen, waren für ihn der heute 
noch maßg^ebende Länderhunger und das dynastische Gefühl 
ganz einfluljlüse, vve>enlose politische Paktoren. Wenn schon 
FVovinzen erobert werden soiUen, wünschte er das nur in- 
sofern, als sie in die Hände besserer Regierungen und 
höherer Zivilisation fallen konnten. 

Mit Recht sagte daher Condorcet von Voltaire, daß er 
der erste war, der die Interessen der Menschen in allen 
Landern und allen Zeiten umfaßte. 

Kein größerer Kontrast aber ist wohl denkl>ar, als diese 
Oesinnungen Voltalre's und die Staaisauffassung Rousseau's. 
Die letztere fflhrt unbedingt früher oder später zu dem, was 
sie gerade verhüten will, nämlich: zum Vaterlandsverrat; 
unter Vaterland» natürlich, nicht verstanden: die Landkarte^ 
oder die Dynastie^ oder irgend ein Formales» wie z. B. ein 
zum Staatsfetisch erhobener Ehr* und Wflrdebegriff, sondern: 
die Menschen eines bestimmten Staates; und unter »Ver* 
rate : jenen an ihrem Wohlergehen. Und jene Oesinnungen 
Voltaire's ziehen sich mehr oder weniger deutlich durch alle 
seine Schriften und Worte, während man bei Rousseau's 
Staatsanschauungen die schwüle Atmosphäre eines Begriffs- 
fanatikers verspürt; so daii er in politischer Beziehung Ver- 
handlungen und Büchern über sozialwissenschahliche, geschichtsphiloso- 
phische und anthropologische Theorien und die endlosen Kontroversen 
über nationaiukonomische Schulbegriffe sind und bleiben. 



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dirb^ WM er in anderen Oefflhlssebieten und in seinem 
Enddiungssystem fOr Eriidiiung der Individtialilftt Orofies 
getan. — 

Es wäre sinntos, nicht nur die enorme Bedeutung, son- 
dern aucli die nach vielen Richtungen segensreiche Ein- 
wirkung Rousseau 's auf die Entwiclclung des modernen 
Europa zu negieren; er ist ganz wohl als eine Ergänzung 
zur Voltaire'schen Gt;isksnchtiing zu schätzen, und es ist 
eben dem gleichzeitigen Erscheinen dieser beiden großen 
Ingenien zu danken, daB wir in vielen Beziehungen schon 
ziemhch weit gekommen sind und wohl hoffen können, 
auch noch weiter zu kommen. 

Ausschließlich Voltaire scher üeist — es wurde den 
meisten Menschen doch am Ende etwas kühl zu Mute; aus- 
schließlich Rousseau 'sehe Gefühle — es könnte uns viel- 
ieicht zu schwül werden! — 

Und dieser Gedanke läßt sich auch verallgemeinern: 
Man muß es nämlich zugestehen» daß sowohl die Verstandes- 
als die Oemütsgenies für den menschlichen Fortschritt not- 
wendig sind; oder objektiver ausgedrückt: daß die Mensch- 
heit Iceine von diesen beiden Ordßen-iCategorien auf die 
Dauer entbehren wilL 

Um das einzusehen, braucht man nur daran zu denken, 
wie der gesellschaftliche Zustand beschaffen wäre, wenn 
bloß eine dieser l>eiden Richtungen vorhanden %^h^ Es 
wftre daher auch ungerechtfertigt, die eine auf Kosten der 
anderen prinzipiell zu erheben, wenn es auch oft unaus- 
weichlich wild, die eine oder die andere in ihrer speziellen 
Oesfaltung; mit Hinblick auf zweckmäßig erscheinende Ten- 
denzen, zu bekämpfen. 

Der Wahrheit, d. i. der Erfahrung gemäß, muß es aber 
gesagt werden, daß die wirklich schädlichen Ausschreitungen, 
welchen der objektiv urteilende Staatsmann oder Sozial- 
phiiosoph mitunter entgegenarbeiten muß, auf Seite des Ge- 
fühls- oder Phantasiegebietes iiegen. Allzu extreme Ver- 



— 301 — 



Standesperioden in der Kultuigeschichte bringen kaum posi- 
tive Obelstände, höchstens eine gewisse Langeweile oder 
Blasiertheit, in der betreffenden Epoche hervor. 

Wohltätige wie — im Sinne des eben Gesagten — 
schädliche Wirkungen können also bei beiden Kategorien 
eintreten. Und was den persönlichen Charakter ihrer 
gruüen Repräsentanten betrifft, so kann Oüte — auf die 
bei Beurteilung von Menschen jeder Art alles ankommt — 
bei Verstandes- wie hei Gemiitsgenies vorkommen, während 
man gewöhnlich geneigt ist, eine Unvereinbarkeit von Güte 
und großem Verstand vorauszusetzen, ebenso wie man Ge- 
mütsmenschen sicli schwer als böse vorzustellen gewillt ist; 
während doch die Lrfahrung immer wieder zeigt, daß beides 
gleich unwahr ist 

In welch hohem Maße sich hervorragender Verstand 
mit Güte, Milde und ethischer Größe überhaupt vereinigen 
kann, zeigt am t»esten eine Erscheinung wie die des Julius 
Cäsar. Von niemandem in der Welt bis auf den heutigen 
Tag an Verstand fibertroffen, vielleicht nicht einmal erreicht 

— Ooethe meinte allerdings, mit Napoleon sei der gr56te 
Verstand auf Erden erschienen — besaß er, um es kurz 
auszudrücken, weniger Calle, als irgend ein Mensch, der 
je gelebt hatte; während dagegen das enorme Oemütsgenie 
Rousseau davon mehr besaß, als vielleicht irgend dn an- 
derer. Und dabei war Rousseau nur ein Mann der Feder, 
Casar aber dn Mann der Tat, der größten Öffentlichkeit, 
dn Politiker in dem damaligen Rom, und überdies Soldatl 

Man könnte, als mit dieser Eigenschaft begabt, nSmlidi: 
ohne Oalle zu sein — womit unendlich viel Gutes gesagt ist 

— vielleicht noch einzelne Anachoreten anführen; aber selbst 
von diesen kann, wenn man die Quelle ihrer Milde, den 
religiösen Wahn nämlich, berücksichtigt, mit größter Wahr- 
scheinlichkeit angenommen werden, daß ihnen ihre Einsamkeit 
hierbei sehr zu statten kam; ein Franz von Assisi, in einem 
späteren Zeitalter und m ötientlichem Leben, würde wahr- 



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schdttlidi ein Torquemada sein; und audi Torquemada 
konnte bekanntlich als Knabe niclit dem Schlachten dnes 
Huhnes zusehen, ohne in Tränen auszubrechen. 

Cäsars Rede im Senat bei Odegenheit der Debatte fiber 
die Verschwörung des Catilina ist an politisch «ethischer 
Or06e von nichts übertreffen und steht herrlich da, sdbst 
neben den edelsten und zartesten SteHen in den Evangelien; 
zugleich voll Klughdt und, was In Ant)etracJit ihrer milden Oe- 
sinnung geradezu wunderbar erscheint, mitten in dem Toben 
heftigster politischer Leidenschaften gehalten. 

So viel ich weiß, werden unserer Jugend weit mehr die 
politischen Unternehmnngen, Kriegszüge, Brückenbauten 
Cäsars erläutert, als seine humanen Gesinnungen in Reden 
und Taten. Und doch gäbe es kaum eine wirksamere 
moralische Erziehungsmethode, als auf solche Beispiele ein- 
dringlich hinzuweisen, und speziell auf die praktische Ethik 
des auikrordentlichsten, gesittetsten alier Soldaten: auf 
Julius Cäsar. 

Die Verstandesgenies (der Tat oder der Schrift) könnte 
man vielleicht mit voller Berechtigung die »Weltlichen«, die 
Gemüts- und Phantasiegenies die »Geistlichen«, »Priester* 
liehen« nennen. Jene kommen aus dem Leben und bldben 
im wirklichen Leben. Diese kommen wie aus einer unbe> 
kannten, fremden Welt; jene wachen mit uns, diese träumen 
mit uns» vielldcht besser: wir träumen mit ihnen.— 

Es gibt aber nicht nur unangenehme und schreckliche 
Träume^ sondern auch Träume im Schbf — und Träume im 
wachen Zustand. Gerade die letztere Art nun spidt im 
Völkerieben die gr56te Rolle und zugldch die furchtbarste; 
kdn Träumen im Schlaf zerrQttet bekanntlich d^ Organis- 
mus, und zumeist die Psyche^ so sehr, wie jenes tialb 
absichtliche, halb unabsichtliche Traum - Phantasieren im 
Wachsdn. 

Die forcierte Phantast ik bei sonstigem Wachsein 
und das Sträuben gegen die Erweckung aus diesem partiellen 



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Traumzustande bezeichnet einen ungeheuren Zeitraum im 
Zustande Europas: das Mittelalter. Es dauerte ungefähr 
vom dritten Jahrhundert nach Ermordung Julius Cäsars 
angefangen bis zum Tode Voltaire*s, in schwächerem Maße 
dauert es eigentlich noch bis zum heutigen Tage. 

Theoretisch beginnt es schon viel früher» nämlich 
mit der unvergleichlich interessimten, fruchttiaren, aber ebenso 
kühnen, ja frechen und Oberaus schädlichen metaphysischen 
Erfindung Plato's: die Ideen seien allein das wahrhaft 
Seiende, und die von uns allen erlebte Welt nur ein unvoll- 
kommenes Abbild desselben. 

Seit dem Auftauchen dieser Erfindung beginnt ein viel- 
verzweigtes, unaufhörlich gärendes Bestreben der Geister, 
Wirkliches für Nicht wirkliches, Erfundenes für Wirklichkeit» 
das Unwahrscheinliche für wahrscheinlich, ja das Unmög- 
liehe für gewiß tu halten, und mit allen Mitteln der Über- 
rLdniigSpitzfindjukeit, des Enthusiasmus und selbst physischer 
Gewalt der Menschheit aufzudrängen. 

Ganz wie bei Plate wird die direkt erlebte Welt als 
Schein, als minderwertig betrachtet, hingegen eine phanta- 
stisch ausgeschmückte erfundene Welt als das allein Reale 
hingestellt. Das taten aber nicht nur die Theologen allein, 
sondern in ihrer Weise auch Philosophen; und diese, sowie 
Ästhetiker und Schriftsteller überhaupt, haben mitunter sogar 
noch heute den Drang, das, was ist, gering zu achten, und 
das, was nicht ist, als das eigentliche Wahre oder Tiefe zu 
proklamieren. Noch in unserer Zeit bezeichnet ein einfluß- 
reicher Schriftstelier, Carlyle nämlicht in seinem Buche »Ober 
Helden und Heldenverehrungc das Christentum in dem ol>en 
angegebenen Sinne. Er sagt dort: »Das Christentum, das 
heißt, der Glaube an Unslchtbaies, nicht nur als an etwas 
Wirkliches, sondern als an das allein Wirkliche«; und Carlyle 
ist in diesem Sinne selbst ein Christ 

Nichts ist merkwürdiger, atier auch trostloser, ja tra- 
gischer, als anzusehoi, wie viele Jahrhunderte^ man kann 



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sagen mehr als anderthalb Jahrtausende hindurch die be- 
gabtesten Ödster sich alle mögliche Mühe gaben, alles das- 
jenige, was so schwer zu gfaüben war, durch schweißvoll 
herausgepreBte Aiigumentationen wie in einer Art von Rausch 
oder Wut sich selbst und dann den tausenden Anderen 
aufzudrängen. Und wer nicht wenigstens die Hauptschriften 
der rrrüfk-ren Kirchenväter und Scholastiker angesehen hat, 
der kennt den menschlichen Geist in einem seiner bedauerns- 
wertesten Zustände nicht; der hält noch immer Vernunft 
für das Charakteristikon der menschlichen Psyche, der weiü 
noch nichts von der mächtigen Fähigkeit der Menschheit — 
nicht bloß zur Weisheit, sondern auch — zur Dummheit; 
der ahnt noch nicht, daß nicht nur die Vernunft Systeme 
errichten kann, sondern, daß die Absurdität das ebenso p^t 
trifft Kurz: der weiß nicht, daß man selbst eine Anhäufung 
von vielen Millionen Menschen wie Inwohner eines unge- 
heuren Hauses von Irren ganz besonderer Art betrachten 
muß; als hrr^ die in hundert anderen Richtungen des Lebens 
sich ganz normal benehmen, in religiöser Beziehung aber 
voll von fixen Ideen und immerwährend damit beschäftigt 
sind, neue fixe Ideen aus sich heraus zu projizieren. 

Je ein einfaches altes Wort drückt diesen psychischen 
Zustand in seinen verschiedenartigen Entwicklungen aus: 
Aberglauben als ungeordneten; Religion als theoretisch 
geordneten, systemisierten; Kirche als äuBeriich oiganisierten 
und hierdurch einer staatlichen Anerkennung fthigen, derartigen 
Zustand.*) 

Je niedriger das wissenschaftliche Nh^eau der Vöflcer 
steht, desto weniger schädlich ist der Abei|^ube ihrer 
geistigen und auch ihrer nervösen Konstitution. Denn es 
herrscht kein oder wenigstens kein bedeutender Widerspruch 
zwischen ihren Meinungen und ihren sonstigen Obeizeugungen, 
die sie zumeist den alltaglichen Erfahrungen entnehmen. 

*) Ich findf, daß Mobbes ebenfalls ReligMMi als staatlich saolcüo* 

nierten Aberglauben definierte. 



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Eingehendere Prüfungen der natürlichen und geschichtlichen 
Ereignisse finden noch nicht statt, eine V^ergleichung zwischen 
diesen und den vom Aberglauben für wahr gehaltenen gibt es 
für sie nicht, sie leben also mit diesem allen in einer gewissen 
Naivetät, ohne von einem wissenschaftlichen Gewissen ge- 
stört zu weiden, in ihrem Wahn weiter. Es gibt daher noch 
nichts, was unserer Theologie und Scholastik entspricht. 

Theologie und Scholastik, diese greift>aren Beweise 
eines schlechten intellektuellen Gewissens, gab es im alten 
Griechenland und auch in Rom nicht Dogmen und sonstige 
IdtdiKche Lehirndnungen fehlten und man hatte daher nicht 
nötig; sie ai^gumentetiv plausibel zu machen; die Wunden 
berlchtederMythologie wurden vom Volke naiv hingenommen, 
ohne allzugroBe Innigkeit, und ohne mit einer damals noch 
fehlenden vernfinftigen wissenschaftlichen Erkenntnis der 
Welt in Wklerspruch zu geraten. Aber im späteren, im mittel- 
alterlichen Europa entwickelte sich die religiöse Phantastik 
In immer heifierem Tempo, die Unvereinbarkeit derselben 
schon mit dem gewöhnlichen Menschenverstände wuchs 
Immer mehr, der Widerspruch mit der fortschreitenden Kultur 
wurde immer größer, und damit auch die Korruption der 
Psyche, die Erschöpfung der geistigen und auch der mo- 
ralischen Konstitution der ganzen Gesellschaft. 

In der neueren und neuesten Zeit, in der trotz aller 
Bemühungen freier Geister noch immer abergläubische Vor- 
stellungen von selbst hochg^ebildeten Männern aufrechter- 
halten wurden und noch werden, ist der Gegensatz zur 
hochentwiciceiten wissenschaftlichen Erkenntnis umso 
krasser, obwohl dieser ganze korrupte Zustand infolge der 
kulturellen und politischen Fortschritte kein so allgemeiner 
mehr ist, wie er es im Mittelalter war. 

Man wird wohl schon bemerkt haben, daß es sich hier 
nicht um Betrachtung der schlimmen Folgen in m oral i seh er 
und politischer Beziehung handelt, die mit der Religion, 
je reicher und weiter sie entwidcelt ist, desto mehr und 

Popper, Voltaü«. 20 



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unausweichlich verbunden sind» man kennt sie ja schon zur 
Genüge ^ sondern Ich möchte hier auf einen Punkt auf- 
merksam machen» der bisher gamicht ins Auge gefaßt wurde, 
d. I. wie sdion oben angedeutet wurde, auf die Zerrüttung 
der Psyche und des Nervensystems» sogar rein physiologisch 
betrachtet. 

Dem einfachen, gesunden Verstände widersprechende 
Behauptungen für wahr halten, entgegen der fortschreitenden 
Kenntnis der Natur und der Geschichte absolut unbewiesenen, 
unbegreiflichen Vorstellungen sich unterwerfen und mit 
möglichster Innigiceit hingfeben; und das alles Jahrhunderte 
lang so forisetzen — woher soll den Europäern ein 
gesundes Nervensystem kommen? Wie kann man sich 
noch darüber wundern, daß die klassischen Völker und daß 
die Chinesen und Japaner eine so ung-leich g^esündere ,G^eistigfe 
Konstitution, so viel weniger Anlage zum Irrsinn, so viel 
stärkere Nerven besaßen, resp. besitzen, als die Europäer 
seit vielen Jahrhunderten? 

Daß diese Schwächung der nervösen Natur bei den 
Ariern nicht in ihrer Rassenanlage begründet ist, sieht man 
daraus, daß in ihren heidnischen Zeiten von einem solchen 
Nervenzu Stande keine Spur zu finden ist. Auch die zuneh- 
mende Komplikation aller Verhältnisse und die Erschwerung 
der ökonomischen Existenz Icann höchstens eine teilweise 
Erldärung bieten, denn auch die Japaner und Chinesen 
mfissen schwer arbeiten, leben vid Icäiglicher als die Arier 
und haben dennoch, wie jeder weiß, das gesündeste Nerven- 
system, at)er Iceine Kirche, ja nicht einmal eine Religion« 
sondern nur nichtsystemisierten, wenn auch (bei den Chi- 
nesen) sehr staricen Aberglauben; sie sind ohne alle Innigkeit 
fOr Transzendenzen und frei von unsem aufreibenden Wider- 
sprochen mit wissenschaftlichen Ueberzeugungen. Und weil 
ihr Aberglauben nicht zur Religion und zur Kirche entartete^ 
so blieb er ein unschuldiger, naiver, unschädlicher Aber- 
glaube 



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In einem Werke über Hysterie spricht der Autor*) von 
einem dumpfen Hinbrüten mit Lenkung der Aufmerksamkeit 

auf Phantasiespiele Die Aufmerksamkeit auf äußere 

Sinnesreize ist abgeschwächt, aber immer noch so weit er- 
halten, daß das zufließende Empfindungsmaterial mit dem 
Komplex der Ich -Vorstellung in normale Beziehung tritt 
Das Selbstbewußtsein ist also niemals gestört«; femer: 

»Das wissenschaftliche Kriterium der pathologischen 
Lflge besteht bekanntlich darin, daß dem Patienten die 
Unterscheidung zwischen wirklichen eriebten Voiglbigen 
und Phantasievorstellungen nicht mehr möglich ist;« und 
>es wird auch von FSUen berichtet, in welchen hysterische 
Patientinnen sich selbst wegen schwerer Verbrechen, die sie 
gar nicht begangen, denunziert hatten.« 

Man vergleiche diese Beschreibungen mit dem »dumpfen 
Hinbraten« in Andacht vor religiösen Wahngebilden, mit dem 
Glauben an die Berichte über Wundervorgänge, mit den krank- 
haften Zerimirschungen und den sich förmlich entpreßten 
Selbstanklagen, sei es vor sich selbst oder in der Beichte; 
mit der Furcht vor der Hölle, vor dem Verworfensdn vor 
Oott und dergl.; man wird die Analogie ganz genau vor- 
handen finden. 

Der von keinem Zweifel, von keinem Widerspruch be- 
rührte Aberglaube, wie er noch in unwissenschaftlichen 
Stadien der Menschheit oder bei ungebildeten Volksschichten 
in selbst schon vorgeschrittenen Zeiten herrscht, ist also 
unbedingt als eine eigene Art von Massen-Hysterie an- 
zusehen. So war die europäische Bevölkerung im ersten 
Mittelalter, so ist ein Teil derselben in einzelnen Ländern 
noch heute beschaffen; man denke an das heutige Spanien, 
große Teile von Österreich, an die russische und polnische 
Landbevölkerung, an Belgien, einzelne Departements von 
Prankreich, an Westfalen usw. 



*) Professor Binswanger. 

20* 



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— 308 — 



Seit dem späteren Mittelalter jedoch bis heute, als die 

wissenschaftlichen Einsichten immer mehr zunahmen, wurde 
der Zwiespalt mit dem abergläubischen Instinkte immer 
heftiger, und, da dieser dennoch — durch Suggestion seitens 
einzelner ehrlicher Schwärmer, zumeist aber durch egoistische 
Agitationen privater Streber oder ganzer Oesellscliafts- 
schichten in Scimle und öffentlichem Leben — immer neue 
Nahrung fand, entstand an Stelle der reinen Hysterie ein 
anderer pathologischer Zustand der Psyche, welcher Zu- 
stand zwar einigermaßen an die sogenannte Simulation der 
Hysterie erinnert, jedoch, wohl viel richtiger, als eine 
religiös geartete Seibstbeileckung angesehen wer- 
den muß. 

Wir werden hier unwillkürtich an die Ersclieinung der 
Selbstbefleckung im sexuellen Gebiete erinnert. Auch da 
zwingen sich so viele, Bilder, die sie in sich selbst erzeugen, 
mit forciertestem Aufwand an Phantasie für etwas Reales 
anzusehen, sie strengen ihre Psyche dabei aufs Äußerste 
an, um sich Ober den Widerspruch mit der Wirldichlceit 
hinwegzutäuschen, und zerrfitten hieidurch ihr Nervensystem 
und ihre ganze Persöniichkdi Auch diese Menschen sagen, 
sie hätten von ihrer Phantastilc mehr Vergnügen, als von 
allem dem, was ihnen die reale äussere Wdt in dieser 
Hinsicht bieten könne; genau so, wie diejenigen, die da 
behaupten, die religiösen Vorstellungen und Phanlaslespide 
beseligen sie mehr, als alles andere, als alle Wlrklk^hkeit 

Man kann das zugeben — allein, muB man fragen, mit 
wdchen Folgen? Auf wessen Kosten? Antwort: Auf Kos« 
ten der moralischen und intellektuellen Gesund- 
heit aller Generationen durch Jahrhunderte hin- 
durch ! 

Daß es in der neueren Zeit besser geworden ist, daß 
die religiöse Selbstbefleckung im grofJen und ganzen abge- 
nommen, wenn auch nicht aufgeliört hat, ist zweifellos. In 
dieser Gesundung liegt eben die Charaktenstilc dessen, was 



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man Neuzeit im Gegensatz zum 'MiUelalter< nennt; Eu- 
ropa beginnt, sich von dem trschöpfungszustande nach 
seinen Phantasieausschweifungen allmählich zu erholen. — 

Wiederum sind es große Männer, denen wir dies ver- 
danken; Männer, die die Europäer an den Schultern packten 
und aus ihrem »dumpfen Hinbrüten« aufzurütteln suchten; 
jeder von ihnen in seiner Art. 

Und hierzu war nötig, daß jeder dieser großen Er- 
wecker vor allem gegenüber geistigen und moralischen 
Mächten dnen außerordentlichen Mut besaß: Er durfte, 
wenn schon nicht ganz und gar, so doch wenigstens vor 
irgend etwas, keine Furcht haben. 

Mit Furcht- und Respektlosigkeit, mit einer besonderen 
Kraft und Initiative des Charakters weit mehr noch als mit 
wissenschaftlichen Fähigkeiten, mußten diese Männer begabt 
sein, die, einer nach dem andern, das Mittelalier nledei^ 
zwangen; und selbst von diesen Starken blieb mancher auf 
halbem Wege stehen. 

Den Anfang machte, wie mir scheint, Macchiavelii. 
Er zuerst hat konsequent eine rein weltliche Politik darge- 
stellt und eine gründliche Scheidung derselben von aller 
Theologie vorgenommen und zum Bewußtsein gebracht. 
Und er hat damit p^iit qcmacht, was uns vor ihm durch 
Dantes schwüles, niederdrückendes, den Atem beengendes 
»dumpfes Hinbrüten« mit gröJ^tem Aufwand an dekorativer 
Phantasie in seiner »Göttlichen Komödie« aus Italien ge- 
kommen ist. 

Copcrnikus katte keine Furcht vor der Bibel, er tiätte 
sonst nicht die Astronomie reformieren können. 

Luther fürchtete nicht den Papst, nicht die Mönche 
und die ganze katholische Kirche. Vieles andere, z. B. die 
Bibel und sogar den Teufel, respektierte er allerdings noch. 

Galilei fürchtete weder die Bibel noch den Aristoteles, 
sonst hätten alle seine Talente nicht hingereicht, die moderne 
Naturwissenschaft zu begründen. Man wird das sofort ein- 



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sehen, wtnn man sich den vielleicht größten phvsikalischen 
Experimentator der Welt, Faraday, an seine Stelle denkt: 
Paraday hätte nichts angenommen und nichts zu erforschen 
gesucht, was der religiösen Autorität widersprochen halte. 
Das können wir nach seinem uns bekanntgewordenen ganzen 
Charakter sehr wohl behaupten. 

Descartes respektierte die ganze bisherige Philosophie^ 
Aristoteles wie die Scholastiker, nicht, als er es unternahm, 
die autonome, individuelle Philosophie zu begründen. Aller- 
dings blieb er auf halbem Wege stehen. 

Oiordano Bruno und Spinoza hatten weder vor 
der Bibel noch vor iigend einer positiven Religion über- 
haupt Furcht 

Mit Achtung muB man femer Thomasius und nament- 
lich Bayle nennen. 

Und man kann in gewissem Sinne auch Ariosto und 
besonders Cervantes mit hieiiier rechnen, denn sie töteten 
den Respekt vor dem Rittertum.**) 

Zu dieser Zeit schrid) Shakespeare seine Dnunen, 
ein Dk:hter, der wie keiner vor ihm — vielleicht Euripides 
ausgenommen — frei war; der der Bibel wie allem Aber- 
glauben furchtlos, und dem Menschenleben objektiv, wie 
Galilei der Natur, gegenüberstand. 

Und endlich kam VOLTAIRE, der vor gar nichts 
in der Welt Furcht hatte, und der nie auf halbem 
Wege stehen blieb! 

Eben weil er so gar nichts fürchtete, erscheint er noch 
heute, nahezu anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tode, 
so gewaltig — nicht als fachlicher Forscher, sondern als 
Kämpfer, Erwecker und als Aufrüttler; als der treffh'chste 
aller Minierer^, als derjenigfe, der gar keinen talsclien Schein 
duldete, alie Masken herunterriß; dessen Schriften (nament- 
lich in seinen letzten zwanzig Jahren) so gar keine bloßen 

*) Betrefli Cervantes stammt diese Bemeriransf, aber In tadelndem 

Sinne, von einem sohr tapferen Soldaten, dem der Don Quixote« 
durchaus nicht recht war, nämlich dem nissischen General Skobeleff. 



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üteraturproduktioiien, sondern Schlachten, und zwar lauter 
gewonnene Schlachten sind; der alle Bastionen des Mittel- 
alters, wenn schon nicht erstürmte, so doch mOrbe schoß, 
und der mehr als irgend ein anderer Mensch durch die 
Oesundheit seines Naturells der Feind alles »dumpfen Hin- 
brfltens« in geistzerrfittendem Phantasiespiel war. Daher 
kommt es, dafi, wie ein iderilcaler Gegner, Nourisson, richtig 
sag^ schon der bloße Name Voltalre's zu einem Kriegs- 
geschrd geworden, und einer Standarte gleicht, um -die sich 
kampflustige Parteien zu gruppieren pflegen. 

Was Verneinung für den Fortschritt, für das OlOck 
der Menschheit bedeuten kann, sieht man eben am besten bei 
einer objektiven Würdi^^ung Voltaire's; weit besser noch als 
bei den sogenannten negativen Leistungen Kant s. 

Und was Voltaire seinen Intentionen nach fiir die 
Reinig^ung der geistigen Atmosphäre der Europäer bedeutet, 
erkennt man sofort, wenn man ihn mit den meisten seiner, 
selbst bedeutendsten, Zeitgenossen vergleicht, die ebenfalls 
große Schritte nach vorwärts machten; und wenn man an 
viele, selbst große oder nicht unbedeutende Männer denkt, 
die nach ihm kamen. Und dabei handelt es sich, wenig- 
stens in der Hauptsache^ immer um den Aberglauben. 

* 

Es ist nicht zu leugnen, daß die eigentliche, gründliche 
Reinigung der geistigen Atmosphäre, namentlich der städti- 
schen Bevölkerung, Europa's in religiöser Beziehung nur auf 
Rechnung von Voltaire's Witz und Spott zu setzen ist 
Denn man braucht sich bloß vorzustellen, daß die Schriften 
der englischen Ddsten, denen allerdings Voltaire so viele 
ernste Aigumente entnahm, und sämtliche Schriften der 
Nachfolger Voltaire's bis zum heutigen Tage^ Feuerbach und 
Strauß mitinbegriffen, allein vorhanden wären, aber nkht 
Voltaire's Schriften, so wird man wohl sofort fühlen, dafi 



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nur ein ganz kleiner, höchstj^ebüdeter Teil der europäischen 
Menschheit vom Aberglauben so befreit wäre, wie es heute 
nahezu die Majorität derselben ist 

Man darf aber nicht meinen, zu einer solchen befreien- 
den agitatorischen Wirkung sei eben bloß Witz und Spott- 
sucht notwendig; etwas unendlich größeres muß man be- 
sitzen: jene Reinheit, man könnte sagen Keuschheit, gegenüber 
aller Halbheit, Unwahrhaftigkeit, Verstiegenheit und kritik- 
losen Schwärmerei in Fragen der Religion und Metaphysik, 
wie sie eben Voltaire besaß. 

Ober die Bedeutung und die Wirkung von Spott» Witz 
und Satyie gjBgmfÜxt positiven Religionen herrschen sdir 
umichtige Vorstellungen. Man hSlt eine solche Kampfes- 
weise fQr eine unteigeordnete und verschliefit sich sogar 
der Tatsache^ daB der »Vollairianismus« eine gast^ SM^ 
mung Europa's bedeutet, über die sich die Anhänger und 
Vertreter sogenannter geoffenbarter Religionen bis auf den 
heutigen Tag nicht genug entrüsten können. 

Es ist zwar richtig, daß die ernsten Aigumentationen in 
Voltaire's antireligiösen Pamphleten» seine Entrflstung und 
sdn Zorn in seinen Aufsätzen und Bflchem, ebenfalls sehr 
viel zur Erschütterung des religiösen Wahns beigetragen 
haben, aber der hohe Wert seines Spottes darf darum doch 
nicht unterschätzt werden. Worin besteht aber dieser Wert? 

Man wird ihn sofort durchschauen, wenn man sich an 
das bei seinen Gegnern so beliebte Schlagwort erinnert, daß 
Voitaire's Witze oder, wie man gerne verächtlich sagt, seine 
-Witzeleien^ gegen religiöse Dinge, frivol seien. Dieser 
Ausdruck frivoi< zeigt ganz deutlich, was da vorgeht. 

Ich möchte an die bekannte Anekdote erinnern, wonach 
einer Anzahl von üelehrten die Frage vorgelegt wurde, wie 
es komme, daß das Gesamtgewicht von einer Tonne Wasser 
und einem außerhalb der Tonne befindlichen Fisch größer 
sei als das Gesamtgewicht beider, wenn der Fisch im 
Wasser der Tonne herumschwimmt Alle Gelehrten bis auf 



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* 



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einen zerbrachen sich die Köpfe, dieses Rätsel zu lösen, nur 
dieser eine gab dem Frager die Frage zurück: Ob diese 
Behauptung denn überhaupt wahr sd, er möge doch den 
praktischen Beweis dafür liefern. 

Die merkwürdige Tatsache, daß so viele Gelehrte die 
Behauptung akzeptierten, obwohl sie allen ihren bisherigen 
physiloüischen Erfahrungen widersprach, wäre schwer zu 
erklären, wenn nicht noch dn charakteristisches Detail hl 
joier Erzählung mit enthalten wäre. Diese Vexierfrage wurde 
nämlich nicht von dem ersten besten, sondern von einem 
König den Gelehrten voigdegt; Uchtenbeig, bd dem idi 
diese Erzählung zuerst fand, berichtet nämlich, es sd das 
König Oeorg III. von Engbmd gewesen. Und gerade dieser 
sdidnbar nebensächliche Umstand erschdnt mir als das 
Wichtigste bd der ganzen Geschichte. — Denn nur der 
Respekt vor dnem König war es, der die Gdehrten um 
ihren gesunden Verstand und um den Mut des Zweifds 
oder der gänzlichen Abweisung eines Widersinnes ge- 
bracht hatte. 

Wie die Furcht vor Gespenstern die Kraft raubt, sie 
auf ihre Realität hin zu prülen, so wirkt die Ehrfurcht vor 
Himgespinnsten auf die Vernunft lähmend ein, hindert uns, 
sie zu analysieren, und treibt uns an, ihnen Wert und Be- 
deutung zu verleihen. 

Und das zei\^t sich bis auf den heutigen Tag, wo noch 
immer religiöse Lehren nur darum ernst genommen und, ob- 
wohl sie mit Vernunft und Wissenschaft im Widerstreit 
stehen, nicht im Vorhinein verworfen werden, weil man 
Sklave des anerzogenen Respekts vor jenen Lehren ist. 
Witz und Satyre geben uns wenigstens den Mut, zu zwei- 
fdn, wenn schon nicht den, zu verwerfen, und mehr braucht 
es nicht, um uns frei zu machen. Alle Untersuchungen 
historischer und philologischer Natur, insoweit sie zur Be- 
kämpfung positiver Rdigion und nicht zur objektiven wissen- 
schaftlichen Vermehrung unserer Kenntnisse dienen soilefli 



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haben immer die Schwache eines apriorischen Respekts vor 
den religiösen Behauptungen zur Voraussetzung. Das wird 
schon dadurch bewiesen, daß Icein Christ, er sei noch so 
gelehrt, vom Glauben, z. B. an den Islam, nur deshalb frei 
ist, weil er dessen Lehren und Behauptungen, das Leben 
Mohameds und die ihn betreffenden Legenden, einer grund- 
lichen Untersuchung unterzogen, und erst dadurch gefun- 
den hat, es sei nichts damit 

Diesen Mangel an unbegründetem Respekt bei Voltaire 
und bei allen jenen, die ihm darin gleich sind, nennen nun 
die Verteidiger der positiven Religion: »frivol«, um pfiffiger- 
weise in dieser so wichtigen Beschaffenheit der Gesinnung 
etwas Un-Ethisches vermuten zu lassen. 

Weit entfernt, daß der Spott und Witz Voltaire's Ober 
religiöse Gegenstände als ein Zdchen von Oberflächlichkeit 
gelten darf, muB man im Gegenteil alle jene oberflächlich 
nennen, die, ohne Witz, mit großem Emst sich jenen Dingen 
soweit gefangen geben, um ihnen durch allerid Deutungen 
und Wendungen einen Sinn unterzulegen; denn nichts kann 
oberflächlicher sein, als ohne Prüfung sofort anzunehmen, 
eine Tonne Wasser und der Fisch würden an Gewicht ver- 
lieren, wenn man den Fisch in die Tonne steckt, und zwar 
bloü darum anzunehmen, weil es — ein König sagt. 

Was Religion betrifft, so ist an Voltaire in der Tat 
keine einzige schwache Seite zu finden; und trotzdem er 
im Laufe eines langen Lebens auch manche Widersprüche 
mit früher ausq;esprochenen Ansichten aufweist, so ist doch 
auch in Beziehung auf Metaphysik, namentlich insoweit 
sie sich mit religiösen Fragen beschäftigt, eine gewisse kon- 
stante Orundauffassung bei Voltaire zu konstatieren, über 
die die klarsten Denker noch heute nicht hinaus sind. 

Daß das ganz besonders für die Negationen gilt, ist 
jrewiß; allein in positiver Beziehung sind wir heute auch 
nicht weiter, als zu Voltaire's Zeit, trotz allen Aufwandes 
von weitläufigen Untersuchungen, trotz aller wissenschaft- 



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liehen Fortschritte und ungeachtet der Erweiterung unserer 
Kenntnisse der außereuropäischen Leistungen im Gebiet der 
Metaphysik und Religion. 

Es ist erfreulich, ja wahrhaft eifrischend zu sehen, daß 
Voltaire bezüglich des vielleicht am wenigsten kindischen 
religiös-metaphysischen B^ffs, nämlich des Oottesbegriffs, 
frei, besser gesagt, leer ist Seine ganze Überzeugung vom 
Dasein eines Oottes pflegte er nur mit der Frage zu be- 
gründen: »Wer hat das alles gemacht?« eine Fragen die auch 
Napoleon in Egypten an die OeiehrCen der Expedition — 
gelegentlich eines Gespräches in sternklarer Nacht — richtete 
und, num muB es sagen, eine Frage, die auch den unge- 
bildeten Menschen zum scheinbaren Beweise des Daseins 
eines Oottes dient. DaB man dann weiter fragen kann: 
»Und wer hat nun diesen Gott gemacht? Und wenn er gar 
nicht gemacht ist, könnte nictil auch die Welt, ohne jeden 
üott, ebenfalls gar nicht gemacht sein?« — welche Ein- 
wendun^^^ ja nicht neu ist — , daran denkt man sonder- 
barerweise nicht, weder der ganz Ungebildete, noch ein 
Napoleon, der sogar noch Laplace den Vorwurf machte, 
in seiner Darstellung des Weltsystems sei Oott gar nicht 
zu finden. 

Aber Voltaire war im Innersten seines Wesens wirklich 
frei, und jenes Argument *Wer hat das alles gemacht?« 
scheint für ihn doch durchaus kraftlos gewesen zu sein; 
denn wie wir schon sagten, er hatte eine gewisse Sympathie 
für, oder doch einen gewissen Respekt vor Spinozas Pan- 
theismus, und, wie wenig ernst er die Idee eines Oottes- 
Daseins nahm, geht am besten aus jener Stelle in dem Ge- 
dichte: Les syst^es hervor, wo Voltaire Spinoza an den 
Thron Oottes herantreten IflBt: 

»Da näherte sich dem groBen Wesen, veitoigen unter 
dem Mantel seines Meisters Descartes, ein kleiner Judc^ mit 
langer Nase^ blassem Teint; arm, aber zufrieden, ein einsamer 
Denker, von subtilem und tiefem Odst, weniger gelesen als 



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gefeiert »Verzeiht mir,« sprach er p^anz leise zu Gott, 
»aber — unter uns — ich denke, dal] Hir gar nicht existiert! 
Ich glaube, es mathematisch bewiesen zu haben. — « 

Kann man einen Mann, der so spricht, noch einen wirk- 
lichen, ernsten Deisten nennen, als den man Voltaire zu be- 
zeichnen gewohnt ist? Gewiß nicht; ein Deist kann solche 
Scherze nicht machen. Und ebensowenig kann der einen 
Glauben an das Dasein eines persönlichen Gottes besitzen, 
der den Satz aussprach: »Wenn Oott nicht existierte^ so 
mußte man ihn erfinden.« 

An einer anderen Stelle sagt Voltaire: »Das Wort Natur 
bedeutet nur die Gesamtheit der Ding^ nicht ein absolutes 
Wesen;« Ober welchen Oedanken wir heute noch nicht 
hinaus sind, wenn wir nicht willkQtlidie Einfölle zur Grund- 
lage einer Metaphysilc machen wdlen, und fiber den der 
Mensch auch niemals wird hinaus kOnnen. Zeigen uns 
schon solche Äußerungen, wie reinlich Vollaire's Denken 
und Fühlen in Beziehung auf religiöse Dinge war, so 
gewinnen wir diesen Eindruck auf andere Weise auch noch 
dadurch, daß wir seine mehr als sechzig Jahre fortgefflhrte 
schriftstellerische Tätigkeit in dieser Hinsicht verfolgen und 
sehen, wie da keine einzige schwache Stelle zu finden ist, 
die uns an setner wurzelhaften Geistesfreiheit zweifeln hissen 
kftnnte. Wie wohl ist uns daher bei ihm zu Mut! 

Vergleichen wir aber z. B. einen viel späteren genialen, 
höchst trotzigen und vielfach o[)i3ositionellen Geist wie Lord 
Byron mit Voltaire. Byron kämpft mit Gott; in seinen 
sogenannten Mysterien schlägt er sich mit Gott, Engeln 
und Teufeln, und sogar mit ihrer biblischen Auffassung 
herum, und befestigt gerade dadurch die Voraussetzung 
ihrer Existenz, anstatt sie zu n^ieren;*) und auf mich 

*> Es ist zu bedauern, daß diese Methode, jene veralteten Super- 

stitionen philosophischen Otchtunpen zugrunde zu legen, noch heute 
angewendet wird. Im Jahre 1903 erschien z. B. etwas derartiges unter 
dem Titel »Mythen und Mysterienc von Paul Heyse ; darin begegnen 
wir wieder den aUen Bekannten: Kain, Ulifh und Oenoisen, 



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wenigstens machen alle seine anscheinend kühnen Ausfülle 
den Eindruck von Rodomontaden eines eben flügge ge- 
wordenen Studenten, der orthodox erzogen wurde, in einem 
gewissen Augenblick etwas von Freigdsterd in sich auf- 
nahm, und nunmehr zu trotzen und zu poltern beginnt, aber 
gar nicht weiß, daß er sich mit lauter Himgespinnsten 
herumschlagt Also ein noch unfreierer Verstand, als ihn 
Don Quixote besaß, da dieser Windmfihlen fflr Riesen hielt; 
denn hier war doch wenigstens etwas da, die Windmühlen 
nämlich. Ja, diesem Byron saß das alte Testament noch so 
tief in seinem Denken, daß er in »Harolds Pilgerfohrt« die 
Erbsünde in vollem Emst in poetische Verwendung nahml 
»Unser Leben ist dn Fehler der Natur«, heißt es dor^ »nidit 
in Harmonie mit all den Dingen, dne schwere Last, ein 
nicht zu entwurzelndes Mal der Sflnde« Voltaire 
wäre der Oedanke^ die Ldden des Lebens von der Erbsflnde 
oder der Sflnde Oberhaupt herzuleiten, weder im Wachen 
noch im Traume, weder in gesundem noch In krankem Zu- 
stande eingefallen; meines Wissens berührte er diesen Ge- 
danken nur in der Weise, daß er die Frage aufwarf: Und 
was haben die armen Tiere getan ? ... Sie haben nicht von 
der verbotenen Frucht gegessen und gebären dennoch unter 
Schmerzen?! 

Dieselbe Reinheit des Geistes wie gegenüber allem 
Religiösen zeigte Voltaire in seinem Verhalten zur Meta- 
physik, dieser etwas vornehmeren Schwester der Religion. 
Obwohl ohne spezielle Befähigung oder Mube zu ein- 
dringenden erkenntniskritischen Untersuchungen, durch- 
schaute er dennoch, kraft seines groben Verstandes und 
seiner unerschütterlichen Herzhaftigkeit gegenüber allen 
Schwächlichkdten die Haltlosigkeit aller Metaphysik; und 
die Erfahrung mit allen metaphysischen Systemen vor und 
nach Voltaire zeigt — bei aller Hochachtung vor der gei- 
stigen Enei)gie ihrer Erfinder — wie richtig seine Ansichten 
hierin waren. 



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Voltaire wird übrigens als philosophischer Kopf — 
meiner A\einung nach — sehr unterschätzt. Wenn man 
aus seinen zahlreichen Aufsätzen eine Anzahl ihm eigen- 
tümlicher Argumentations- und Betrachtungsweisen, sowie 
positive Ideen oder Apercjus, die er allerdings nicht weit 
genug verfolgt, zusammenstellen wurde, so wäre damit ein 
noch heute anregendes und namentlich als Einleitung in 
philosophisches Denken sehr nützliches Werk getan Man 
sieht das schon aus der schönen, wenn auch kurzen Dar- 
stellung von Voltaire als Philosoph in dem Buche von 
David Strauß. Ich möchte übrigens bei dieser Gelegenheit 
durch ein Zitat aus Schopenhauers »Die Welt als Wille und 
Vorstellung« (II. Bd. S. 66Q) zeigen, was dieser strenge 
Zensor aller Philosophen von Voltaire als Philosophen hielt. 

» ... Im neuen Testamente ist die Welt daiigestellt 
als ein Jammertal, das Leben als ein LäuterungsprozeB, und 
ein Marterinstrument ist das Symbol des Christentums. 
Daher beruhte, als Leibnitz, Shaftesbury, Bolingbroke 
und Pope mit dem Optimismus hervortraten, der Anstoß, 
den man allgemein daran nahm, hauptsächlich darauf, dafi 
der Optimismus mit dem Christentum unvereinbar sei; wie 
dies Voltaire, in der Vorrede zu seinem vortrefflichen Ge- 
dichte »Le d^sastre de Lisbonne«, welches ebenhdts aus- 
draddich g^;en den Optimismus gerichtet ist, berichtet und 
eriäuteri Was diesen großen Mann, den ich, den Schmäh- 
ungen feiler deutscher Tintenldexer gegenüber, so gern lobe^ 
entschi^en höher als Rousseau stellt, indem es die größere 
Tiefe seines Denkens bezeugt, sind die Einsichten, zu denen 
er gelangt war: 1) die von der überwiegenden Oröße des 
Übels und vom Jammer des Daseins, davon er tief durch- 
drungen ist; 2) die von der strengen Nezessitation der 
Willensakte; 3) die von der Wahrheit des Locke'schen 
Satzes, daii möglicherweise das Denkende auch materiell 
sein könne; während Rousseau alles dieses durch Dekla- 
mationen bestreitet, in seiner Profession de foi du vicaire 



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Savoyard, einer flachen protestantischen Pastorenphilosophie; 
wie er denn auch, in eben diesem Geiste, gegen das soeben 
erwähnte, schöne Gedicht Voltaires, mit einem schiefen, 
seichten und lojj^isch falschen Räsonnenient zu Gunsten des 
Optimismus polemisiert, in seinem bioli diesem Zweck ge- 
widmeten, langen Briefe an Voltaire, vom 18. August 1756. 
Ja, der Orundzu«^ und das -(hütov (pvido^ der ganzen Philo- 
sophie Rousseaus ist dieses, daß er an die Stelle der 
christlichen Lehre von der Erbsünde und der ursprünglichen 
Verderbtheit des Menschengeschlechts eine ursprüngliche 
Güte und unbegrenzte Perfektibilität desselben setzt, welche 
bloß durch die Zivilisafion und deren Folgen auf Abwege 
geiaten wäre, und nun darauf seinen Optimismus und 
Humanismus gründet.« 

Und in der Abhandlung »Ober die Freiheit des mensch- 
liehen Willens« kommt Schopenhauer ebenfalls mit grofier 
Hochachtung auf Voltaire zu sprechen. 

Mir scheint die zweite der von Schopenhauer an Voltaire 
gerühmten Einsichten, nSmlich die von der Unfreiheit des 
menschlichen Willens, diejenige^ die am meisten Voltalre's 
philosophisches Naturell beweisl^ und es gilt das weniger 
fOr diese Orundansicht selbst, die sich bd ihm bekanntlich 
erst später (nach vielen Kontroversen mit Friedrich dem 
Großen) festsetzte^ als fUr die Argumentation, mit der Voltaire 
die Nezessitation des Willens stfltzte 

Seine hierhergehörigen Bemerkungen sind nicht nur 
schlagend, sondern auch sehr weittragend, und in folgenden 
Sätzen enthalten: »Der Mensch ist frei, insoferne er das 
kann, was er will, aber er ist nicht frei, zu wollen; 

es ist unmöglich, etwas ohne Ursache zu wollen;« 

»Wir sind ebensowenig Herren unserer Träume wie unserer 
Gedanken, und in dem bedeutenden Apercu: *Wir können 
nie vorher bestimmen, welchen Gedanken wir in der nächsten 
Minute haben werden.^. 

Zu dem Problem der Wiilensuntreiheit möchte ich mir 



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einige Aufidlrungen zu geben erlauben, deren mir dasselbe 
noch heute zu bedürfen scheint So sehr ich nämlich die 
Argumentation VoItaire*s und namentlich Schopenhauers als 
beweiskräftig ansehe, so glaube ich docli, es sei zur Herbei- 
führung einer vollen Überzeug^ung und Einsicht in diesen 
schwierigen Gegenstand notwendig, auch darzulegen, woher 
— trotz aller Gegenbeweise — doch der Schein der 
Willensfreiheit entstehe und wie man diesen Schein analysieren 
müsse. Dieser Punkt ist nicht nur fijr die theoretische 
Philosophie von größter Wichtigkeit, sondern auch für die 
Anwendung auf die Geschichtsphilosophie, namentlicli die so- 
gfenannte materialistische , wo die Unterscheidung zwischen 
den sich spontan entwickelnden »Oeschichtsgesetzen« (oder 
dergl.) und den aus unserem freien Willen unternommenen 
Änderungen des historischen oder sozialen Verlaufes der 
B^benheiten eine so grosse Rolle spielt 

Ich möchte also darauf aufmerksam machen, daß die 
Analyse der Tatsache, dem Scheine nach frei zu 
sein von mir im Jahre 1878 in dner» allerdings sehr 
kunen, Stelle des Werkes »Das Recht zu leben und 
die Pflicht zu sterben« gegeben, und offenbar dieser Kürze 
wegen vollstSndlg unbeachtet gelassen wurde, Diese Stelle 
lautet in der dritten Auflage identisch mit der in der ersten 
(und zwar auf S 60 und 61 der ersteren) folgendermaßen: 

»Wenn wir gewisse Bemflhungen und Richtungen der 
Vergangenheit tadeln, und wenn wir sagen, es hätte auch 
anders sein können, so halte man uns nicht das Naturgesetz, 
die Notwendigkeit daß es so und nicht anders geschehen 
mußte, entgegen. Gewiß, was geschehen ist, kann nicht 
ungeschehen gemacht werden. 

Wir meinen, wenn von Vergangenheit in Form eines 
»Soiiens« gesprochen wird, stets nur dasjenige, was wir für 
die Zukunft zu tun hätten, und hierin hindert uns keinerlei 
Bedenken; wer, von der Notwendijrkeit alles Geschehens 
ernstlich überzeugt, die Hände in den Schoß fallen ließe und 



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glauben sollte daß alles Bemühen nutzlos und der Mensch 
in seinen Bestrebungen doch nicht frei sei» der würde einem 
Mißverständnis dessen» was Freiheit der menschlichen Tätig- 
keit in Beziehung zum Natuiganzen behiff^ zum Opfer fidlen. 

Menschliche Tätigkeit erscheint uns frei vor 
ihrem Eintritt, notwendig nach ihrem Eintritt in 
das Weltgetriebe. 

Es ist daher nur eine Zeitfrage^ wie unser Od»hren 
charakterisiert wird. 

So lange unsere Handlungen nicht als eingetreten oder 
abgeschlossen von uns angesehen werden, halten wir uns 
in ihrer WaJil für frei, und wir wählen in der Tat; je mehr 
Zeit aber nach ihrem Verlauf verflossen ist, desto mehr er- 
kennen wir ihren Zusammenhang mit dem Ganzen. Es sind 
eben unsere Ideen, unsere Triebe, unsere Argumente nicht 
wen lerer Beslimmungsgründe des Verlaufs der Natur, als 
alles Andere, nur wissen wir nichl, in welchetn Maße sie 
ein von uns ang^estrebtes Resultat herbeiführen werden. 
Nachher erst seiicn wir, welche Triebkräfte den höheren 
Treffer e^emacht haben, . . 

Man erkennt also, daß der Anschein von Freiheit bloß 
darin seinen Grund hat, daß wir in dem Moment unserer 
Entschließungen dem Komplex hier bestimmender Umstände 
zu nahe stehen und in die richtige Sehweite erst dann ge- 
langen, wenn der Zeitabstand ein genügender geworden ist 
Eine hinreichende zeitliche Entfernung von den konkur* 
rierenden Faktoren ermöglicht es uns sodann» eine so er- 
schöpfende Analyse vorzunehmen, dafi wir unsere Abhängig- 
keiten durchschauen können, wenn wir nur ehrlich und 
unerschrocken genug dazu sind. Auf diese Weise ist De* 
termination mit dem Schebi von Freiheit sehr gut zu ver- 
einigen, und der Dualismus von unmittelbarer Gegenwart und 
einer selbst noch so nahen Veigangenhelt genfigt, diesen 
scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Während iOmt zum 
Behufe dieser Sdiwierigfceit den Dualismus des empirischen 

Poppet, Voltaict. 21 



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— 322 



und des inteUigibetn Ichs erfand, welchen Dualismus wir, 
a]s eine ganz willkürliche metaphysische Erfindung, von 
uns weisen mQssen, ist es daher bloß nötig, an seiner Stelle 
jenen anderen Unterschied von gegenwärtigem und ver« 
gangenem Zustande unseres Ichs ins Auge zu fassen, 
über dessen Zulässigkeit und Realität kein Zweifel obwalten 
kann.*) 

Was nun die Metaphysik betriff^ so ist sie für Vol* 
taire bloß »das Feld der Zweifel und der Roman der Seele«, 
welcher Oedanke in unserer Zeit oft in der Form von »Be- 
griffsdichtung« zum Ausdruck gebracht wurde. »Sie hat 
das Oute,« sagt Voltaire ein anderes JMal,**) »daß sie keine 
beschwerlkhen Vorstudien braucht; hier kann man alles 
wissen, ohne jemals etwas gelernt zu hallen« . . . und 
»wenn man nur einen etwas subtiien und falschen Oeist 
hat, so kann man sicher sein, weit zu kommen.«***) im 
Jahre 173Q schreibt er: *Die Metaphysik ist nur ein Spiel 
des Geistes ..... die ganze Thcodicee von Leibnitz ist 
nicht so viel wert wie ein Experiment von Nolle! f) und 
ganz kurz zu sprechen, war ihm außer Mathematik und 
Experimentalwissenschaft überhaupt eine jede Behauptung 
zweifelhaft. 



*) Diese hier dargelegte Auffassunc des Freiheitsprobicms weist 
fibrigeni auf eine eingehendere Behaiufluiig des Ich - Problems hin, 

das mit jenem in tiefwurzelnder Weise zusammenhängt, und die ich an 
anderem Orte nodi zu publizieren hoffe. Auch möchte ich noch hinzu- 
fügen, dtB mir seit dem ersten Durcitdenken otriger Losung des Pro- 
blem? der Wülcnsnc/essitation stet? dunkel vorschwebt, daß ich sie bei 
irgend einem älteren Philosophen gelesen oder, als von ihm herrührend, 
zitiert irgendwo gefunden hatte, speziell sdiefnt mir Baoon von Verulam 
der Urheber derselben zu sein; ich krcmte aber trotz eifrigen Suchens 
nirgendwo eine Bestätigung meiner Vennutnnp: finden. 

••) Im Artikel Trinit^ des Philosophischen Wörterbuchs 

•••) Ganz ähulicli äulkrte sich Goethe zum Kanzler Müller (im 
Jahre 1825) über den Hang der neuen Zeit zum Mystizismus »daß 
man dabei weniger gründlioi zu lernen pfl^;e. Sonst habe man viel 
sein müssen, um etwas zu scheinen. ^ 

t> Dem Physiker, der sich namentlich als Elektrflcer einen Namen 
madite. 



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Mit einer solchen Auffassungsart aller Dinge wäre aber 
vielleicht die neue Zeit gegenQber dem Mittelalter, wenigstens 
in intellektueller Beziehung^ am präzisesten definiert 

* • 

Man wird mit der Beschreibung von Voltah«'s Eigenart 

nicht so bald fertig, und es scheint mir, man könne von 
ihm mit Recht sagen: Diesem Menschen imponierte 
gar nichts in der Weltj was noch mehr besagt als der 
Satz: Er hatte vor nichts Furcht. 

Alle die hundert Arten von Furcht wie von grundloser 
Ehrfurcht, die fast alle anderen Menschen niederbeugten, 
kennt er nicht. Das zeigt sich in seinen Schriften, in seinen 
Korrespondenzen mit den mächtigsten Persönlichkeiten 
Europa's und auch in seinem persönlichen Verkehr mit den 
sogenannten Großen. Diese Eigenschaft bewirkt den Haupt- 
reiz bei dem Studium seiner Individualität und erfüllt uns 
in einzigartiger Weise mit solchem Lebensmut und solcher 
den Dingen überlegenen Heiterkeit. 

Ihm imponierte wirklich gar nichts 1 Weder Schulmei- 
nungen noch Dogmen, nicht alte Sagen der Geschichte, 
nicht metaphysische Systeme, weder mächtige Religionen, 
noch Gewohnheitstorhdten iiigendwelcher Art, nicht Minister, 
nicht Könige. 

Und es ist daher nur natürlich» daß alle jene^ die sich 
gerne fürchten, die ein gewisses geheimes Grauen vor 
iigend etwas lieben, die gerne einen trüben Respekt und 
dunkle Ehrfurcht verspüren, daß alle jene von tiefem Wider- 
willen gegen Voltaire erfüllt sind. Denn sie schämen sich 
vor ihm; wie jemand, der im geheimen Winkel auf unan- 
ständigen Handlungen ertappt wird. Sie haben ein schlechtes 
Gewissen In Ihrer Vernunft, die ihnen Vorwürfe macht, 
schon wenn sie die Physiognomie Voltaire's vor sich sehen, 
aber welche doch nicht die Kraft hat, sie von ihrem Fürchten und 

21* 



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— 324 — 



Ehrfürchten zu befreien. Es ist ganz begreiflich, wenn 
ein Graf Joseph de Maistre^ ein Mann, der alles Heil nur 
von der Wiederherstellung des mittelalterlichen Papsttums 
erwarte^ der an Astrologie glaubt, die Planeten von Oeistem 
fahren ISfit und Kriege Mr sehr erwflnscht hilt, um die 
»erschlaffte Menschheit aufzufrischen« — in seinen Soirtes 
de Saint-P6ter&bourg beim Anblicke des Porträts von Voltaire 
ausruft: » . . . . Seht doch diese freche Stim^ die nie vor 
Scham errötet, diese zwei ausgebrannten Krater, in denen 
nur noch Unzudtt und HaB kochen; diesen Mund, der von 
einem Ohr zum andern reicht, und diese von grausamer 
Bosheit zusammengekniffenen Lippen, die wie eine Feder 
stets bereit sind, sich zu entspannen, um Blasphemieen oder 
Sarcasmen heraus zu schleudern. Sprecht mir nicht von 
diesem Menschen, ich kann nicht einmal den Oedanken an 
ihn ertragen. Ahl Wie viel Schlimmes hat der uns an- 
getan!«*) 

Die Kategorien von Menschen, die sich über Voltaire 
äigem, sind beinahe unzählbar; und aus seiner Orund- 
eigenschaft, sich von nichts imponieren zu lassen, erklärt 
sich das so leicht, daß man stets mit voller Sicherheit 
voraussagen kann, wer sich in jedem gegebenen Falle Aber 
Ihn iigem wird Man lese im Buche »Mdnage et finances 
de Voltaire« von Louis Nicolardot**) die Zusammenstellung 
aller feindseligen Ausspreche fiber Voltaire nach, so wird 
man eine sehr interessante Anregung zur Ldsung einer der- 
artigen psychologischen Aufgabe erhalten; und immer gelingt 
es leicht, die Wurzel ider Feindsdlgkelt im Charakter oder 
in der Lebensstellung der Oegner zu entdecken. — Vielleicht 
am interessantesten ist die Oegnerschaft Napoleon's. 

Es ist ja gar keinem Zweifel unterworfen, daß, wenn 
Napoleon und Voltaire gleichzeitig gelebt hätten, jener diesem 



*) Aus Nourrisson's »Voltaire zitiert, 

**) Wohl einem der wütendsten klerikalen Oegner Voltaire's. 



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— 325 — 



nicht im mindesten imponiert iiitte. Und das fttlilte Napoleon 
sehr wohl, das mußte er instinidiv aus dessen ganzem Wesen 

heraus erkennen. Napoleon hatte eine solche Antipathie gegen 
Voltaire, daß er — wie, ich glaube, Arao^o in seinem Essay 
Ober Volta erzählt — aus dem Worte Voltaire«, das über 
der Saaltüre der Akademie der Wissenschaften in grolien 
goldenen Lettern stand, die drei letzten Buchstaben aus 
dem Marmor auskratzen Heß, um an Stelle Voltaire's den 
Namen des großen italienischen Physikers zu setzen. 

Und über Voltaire als Schriftsteller soll er, wie Nicolardot*) 
berichtet, sich geäufiert haben: »Voltaire ist voll von Schwulst 
und Flitter; immer falsch; er kennt weder die Menschen, 
noch die Dinge^ nicht die OrOBe^ nicht die Leidenschaften. 
Es ist zum Erstaunen, wie wenig er es vertragt, gelesen zu 
werden. Wenn der Pömp der Dildion, das Blendweric der 
Szene^ nicht mehr die Analyse und den guten Geschmack 
betragen, verliert er sofort neunhundert von tausend.« 

Napoleon verhinderte auch jeden Wtedeiabdruclc von 

Voltaire's Werken. 

Aus diesem allen merkt man ganz deutlich heraus, dal* 
Bonaparte sogar durch den toten Voltaire so irritiert wurde, 
als ob der lebende vor ihm gestanden und nicht genug 
Ehrfurcht und Bewunderung vor dem alimächtigen Soldaten- 
kaiser gezeigt hätte. 

Und dieses Gefühl Napoleons war auch ein ganz 
richtiges. 

Denn ein Mann, der in seiner Sphäre selbst dn Oenie 
wie Bonaparte war, der den König von Preußen ganz wie 
irgend einen anderen Kameraden seiner Gesellschaft, bald 
liebenswürdig, bM höhnisch behandelte und infolge eines 
ihm bekannt gewordenen malitiOsen Zuges Friedrichs seine 
Reise nach Potsdam mit den Worten antrat: >Ich will ihn 



*) Mi'nan et liiiaiicet de Volttire« par Lotiis Niooludot 
II. Bind, S. 348/ 



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— 32Ö — 

lehren, sich auf die Leute zu verstehen«; der, wie man von 
Ihm sagte, die OröBe bewunderte^ aber die OroBen verach* 
tete — ein solcher Mann hätte selbst vor einem Geiste wie 
Napoleon nicht entfernt jene schflchteme Bewunderung gehegt, 
die die größten Genies diesem gegenüber empfanden, wie z. B. 
ein Goethe oder ein Byron. Und wer seinen »Mahomed dem 
Papste widmet, der wäre auch sehr dazu genciß;t gewesen, von 
Napoleon das Wort tragediante« — mit gebührender Vor- 
sicht — zu gebrauchen, das Pius VII. diesem entgegen- 
schleuderte; und all das Boshafte, das Chateaubriand, die 
Stael und die anderen glänzenden Schöngeister gegen Napo- 
leon unternommen, hätten diesen gewiß nicht entfernt so 
irritiert, wie das beleidigende Ausbleiben der Ehrfurcht oder 
der Furcht, das er schon in Voltaire's Physiognomie und 
selbst in seinen gewiß nicht ausbleibenden Komplimenten 
hätte bemerken müssen. 

Die Deutschen haben eine schöne Sage von dem 
»Knaben, der das Fürchten nicht gekannt«. Richard Wagner 
tut Siegfried als einen solchen Knaben dargestellt, jenen 
jungen Helden, an Leib ein Riese, voll von Mut, leer an 
Wissen und Verstand, der sich an dem Anblick des groBen 
Drachens, den alle anderen fürchteten, bloß belustigte. 

Es ist sonderbar, daß diesen Sagen wie andern ähn- 
lichen stets mehr oder weniger deutlich der Oedanke zu- 
grunde lieg^ daß der Mut, den man doch als eine Tugend 
ansieht, nur mit Mangd an Verstand und mit Unwissenheit 
verbunden sein kann. Von der Sage der Bibel angefangen, 
derzufolge Erkenntnis Sunde sei, trifft man immer auf solche 
klcinmüüge und irrige Anschauungen, in denen geradezu 
eine Scheu vor Verstand und Wissenschaft zutage tritt, eine 
Art asketischer Stimmung, sich — besonders vor einem 
despotisch gedachten Oott — ja nur so klein zu machen 



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— 327 — 



als möglich. Die ganze schiefe Auffassung Rousseau's und 
nach ihm vieler anderer: Kultur, Kunst tmd Wissenschaft 
als eine Art Sflndenfall und nur Unkultur als mit Mond ver- 
einbar anzusdien, gehört ebenfalls in dieses Kapitel. 

Was bedeutet aber der Mut von hundert Sieg- 
frieden gegen den Mut desjenigen, der nicht nur 
einen, sondern gar viele Drachen aus ihren Höhlen 
lockte und sie erlegte oder schwer verwundete! 

Und das war auch überdies kein Riese an Leib, sondern 
ein immerwäiirend kränkelndes Männchen, und nicht darum 
so muti^, weil er gar so dumm und unwissend war: denn 
hier war es einer der genialsten und bildungsrticlisten 
Menschen, die je gelebt haben, der das Fürchten nicht 
kannte. — 

Indessen; Etwas Gemeinsames hatte Voltaire doch mit 
jenem Knaben oder jenem Si^^fried; denn auch er hatte 
das Naturell eines Kindes. 

So seltsam diese Ansicht im ersten Augenblick er- 
scheinen mag, und so gewiß viele es als widerspruchsvoll 
und lächerlich finden werden, sich den geistreichsten Mann 
der Welt sein ganzes Let>en hindurch als eine Art von Kind, 
als naiv, vorzustellen, so ist es darum doch nicht weniger 
wahr. Dieser Mann, gescheit wie der Tag, von beinahe 
universeller Bildung, der immer noch weiter, l>is zum letzten 
Atemzuge^ studiert und schreibt, der sich mit hundert Oeg> 
nem henimbdßt, sich, wenn er iigendwie Gefahr wittert, 
verstellt und versteck^ schlaue finanzielle Unternehmungen 
durctifOhrt und hierdurch ein steinreicher Mann wird — 
wo, wild man fragen, bleibt da das »Kind?« Wo die 
Naivetät? 

Und doch ist es so: ja, einige seiner gescheiteren Zeit- 
genossen wußten das schon. Diderot wie Grimm sprachen 
mitunter von dem bösen unbesonnenen Kinde^, von dem 
»grolien Kinde in Femey-; und nur unter dtm Gesichts- 
punkte, daß Voltaire eine naive, kindliche Natur war, ge- 



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— 328 i- 

winnen alle seine oft seltsamen Handlungsweisen eine dn- 
hdtUdie Charakteristik. Er war und blieb bis zu seinem 
Ende dn Weltkind in jedem Sinn^ den man diesem Aus- 
drudc nur geben kann. — 

Wenn wir unter »Naivetät« die Abwesenhdt aller Sdbst- 
bespiegdung und femer die Eigienschaft verstehen, m allen 
Handlungen und Reden ohne alle vorheiigehende Reflexion 
und Beredinung^ rdn impulsiv seinem Naturdl frden Lauf 
zu lassen — so war Voltaire gewiß naiv, ein naives 
Weltkind. 

Alle sdne Oewandthdt, sdn fdner Takt, den er in jeder 

Umgebung, in den sogenannten höchsten Kreisen und sdbst 
bei Hofe zeigte, stehen mit seiner Eigenschaft, naiv und 

kindlich zu sein, durchaus nicht in Widerspruch. Denn 
man kann naiv sein, ohne dumm und ohne tölpelhaft 
zu sein. 

Er konnte alle Zügel fallen und sich frei gehen lassen, 
auch auf seine gute Naturanlage vertrauen; und wenn er 
Anstoß errege, so g:eschah das fast nie darum, weil er 
einen falscfien Schritt oder ein unriclitiges Vorgehen zu be- 
reuen hatte, sondern seine Umgebung war meistenteils nicht 
fähig, diesen genialen Ine^enu zu verstehen. Das: »Es schickt 
sich nicht,* -das paßt für einen alten Mann nicht,- »es 
ist unter der Würde eines berühmten Schriftstellers u. dgl. 
gab es für den frden Ceist Voltaire's nicht; und infoige 
dessen weist sein ganzes Leben so viele Züge von Natür- 
lichkeit und Unmittdbarkeit auf, die bei einer solchen weit- 
männisdien Oewandthdt, Intelligenz, Gelehrsamkeit, kritischen 
Kraft, solchem Alter, und in dner Oesdlsdiaf^ die voll 
von Noblesse der Manieren war, In Erstaunen setzen. 

Und es ist von ganz dnzigem Reiz, mitunter diese 
Ndvetfit mit den heftigsten Emanationen sdner großen 
Tendenzen und Anschauungen abwedisdn oder geradezu 
verbunden zu sehen. 

Als sdion sehr alter Mann und Sdiioßherr von Femey 



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— 329 — 



führte Voltaire einmal die zu Besuch weilenden Damen — 
lauter Deganzen der Pariser besten Oeseilschaft und prflde 
EnglSnderinnen — in seine Stallungen, um ihnen das Be- 
springen der Stuten durch einen Hengst zu zdgen! Wihiend 
die Damen, wie es sich schickte^ ihr verschämtes Antlitz 
zur Seite wandten, rief Voltaire^ der nichts davon merkte 
und immer nur den animalischen Vorgang beol>achtete^ voll 
Begeisterung aus: »Sehen Sie doch, meine Damen, dieses 
gewaltige Naturschauspiel! Welche Erhabenheit!« — Wenn 
das nicht die wahre Größe eines Philosophen wäre, so 
könnte man es die Unschuld eines Kindes nennen, aber es 
ist beides zugleich. 

Nicht wenig naiv und kindlich war es auch, wenn — 
wie Charles Poiig^ens berichtet — Voltaire sich zuweilen in 
den Morgenstunden mit seiner Haushälterin Barbara, einer 
dicken Schweizerin, in Disputationen einließ. Die Haus- 
hälterin nämlich drückte Voltaire ganz offen die tiefe Ver- 
achtung aus, die sie vor seinem angeblichen Esprit empfand, 
und mit dem ehriichsten Glauben der Welt versicherte sie 
Voltaire, daB sie nicht begreife, wie es Leute geben könne, 
die in ihm nur eine Unze gesunden Verstandes entdecicen.*) 

Niemals jedoch zeigte Voltaire so deutlich seine un- 
glaubliche Naivetät, seine Unbetdlmmertheit um das »Es 
schickt sich nicht fQr mich« und zugleich seine immer- 
währende ErfQiltheit von seinen großen Tendenzen, als in 
jener Szene, da er, in seinem 70.Jahr^ dem Bildhauer Plgalle 
zu seiner Bfiste sitzen sollte. 

Voltaire war gegen die Herstdhtng seiner Statue^ die 
seine Freunde» auf Anregung von Madame Nedcer, ve^ 
langten. »Ich zähle 76 Jahre^« schrieb er an Frau Necker» 
»und, wie man sagt, soll Pigalle mein Gesicht modellieren, 
aber dazu wäre vor allem nötig, daß ich ein Gesicht hätten 
während man doch kaum dessen Stelle eiraten könnte. 



*) Nach Desnoirettenes zitiert. 



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— 330 — 



Mäne Augen sind drd Zoll tief eingesunken usw.« und an 
d'Alembert: »Der alte Affe^ doi Pigalle unter Ihren Auspizien 
In Marmor hauen will, hat alle seine Zähne verloren und 
verliert auch sein Augenlicht Er ist ganz und gar nicht 
sculptable und in einem Zustande» nur Mitleid zu err^n.« 

VoUaire drang aber mit dieser Absicht nicht durch und 
bequemte sich endlich dazu, Pigalle zu sitzen;*) jedoch hielt 
er keinen Augenbh'ck still, hatte immerwährend seinen Sekretär 
Wagni^re neben sich, dem er Briefe diktierte, dazu schnitt 
er Gesichter und amü sierte sich damit, Erbsen durch 
ein Blasrohr zu schleudern, nur um Pigalle die Aus- 
führung seiner Aufgabe zu erschweren oder unmöglich zu 
machen. 

Plötzlich verwandelte sich dieses weltberühmte, stein- 
alte Kind in einen gewaltigen Kämpfer, da ein Zufall an 
seine e^roße Aufgabe, die er keinen Augenblick seines Lebens 
aus dem Auge verlor, gerührt hatte. 

I^igalle hätte unter diesen Umständen näinlich Perney 
sicher unverrichteter Sache verlassen, wäre nicht am letzten 
Tage seines dortigen Aufenthaltes während des Modellsitzens 
die Rede auf die Anbetung des goldenen Kalbes in der 
Wüste gekommen. Voltaire, lebhaft interessiert, ließ sich von 
dem Bildhauer auseinandersetzen, wie viel Zeit wohl dazu ge- 
höre, um ein solches Götzenbild aus Gold henEUSteilen; und als 
der Bildhauer meinte, dazu gehörten etwa sechs Monate — 
während bekanntlich in der Bibel von 24 Stunden gesprochen 
wird — wurde Voltaire durch die Erklärung des technischen 
Details einer solchen Bildnerarbeit und durch seine Freude» 
in der Bibel wieder eine neue Absurdität entdeckt 
zu haben, so gefesselt, daß er stille hielt und Pigalle 
wenigstens einen Entwurf fOr seine Statue mit nach Paris 
nehmen konnte. 

*) Ich henfitzc hier die Darstellung^ in »La vie intime de Voltaire » 
aux D^lices et ä Ferney« von Perey und Maugras (1892); sowie teil« , 
weise jene In Dr. Käthe Sdiinnadiert »Voltalft« (1806). 



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— 331 - 



Eine solche Mischung von Kindlichkeit mit Große, von- 
der man noch viele andere Beispiele in Voltaire^s Leben 
findet, kennzeichnet, wie man schon lange weiß, eine ganz 
besondere Art von Genies. So war es bei Mozart, und 
auch in seinen jungen Jahren bei Goethe. Manche, nament- 
lich Herder, glaubten, wie man weiß, dieses ^ewifre Kind« 
Goethe tadeln zu sollen; indessen hörte Naivetät jeder Art 
in Goethes Alter gänzlich auf, während sie bei Voltaire mit 
den Jahren eher zu- als abnahm. — 

Damit ihm aber nichts zur vollen Kindlichkeit fehle, be- 
saß Voltaire auch in hervorragendem Maße die Eigenschaft, 
leicht zu weinen. 

Daß Tränen bei einem Voltaire nicht aus falscher Sen- 
timentalität geflossen kamen, braucht nicht erst bewiesen zu 
werden; sein ganzes Wesen spricht gegen eine solche Vor- 
aussetzung. 

Übrigens ist es bekannt, daß die meisten großen Pariser 
Schriftsteller des 18. Jahrhunderts leicht zum Weinen zu 
bringen waren. Man braucht nur an Rousseau oder an 
Diderot zu denken. Liebesangelegenheiten, Kunsteindrficke^ 
neue und große philosophische, namentlich ethische Ideen 
oder Tatsachen lockten ihnen Trinen hervor. RQhrung und 
Enthusiasmus waren bei Ihnen etwas Alltägliches; zwei 
Natunnlagen, die man — allerdings neben manchen tadelns- 
werten, jedoch sekundären Eigenschaften — bisher in der 
Kultuigesch^te noch niemals in diesem Maße beisammen 
gesehen hatten und die als ideale Ontndlage in tUdit femer 
Zeit die Franzosen zu all' dem Edlen und zu jenen welt- 
historisch großen Momenten des politischen Lebens be- 
fähigten, die wir als die guten Seiten der französischen 
Revolution betrachten. Wenn man nun bedenkt, dali der 
neben Friedrich dem Großen gewaltigste Kämpfer der da- 
maligen Zeit, Voltaire nämlich, so leicht zu rQhren war und 
so leicht weinte — besonders im Theater zerfloß er oft in 
Tränen — so kann man daraus lernen, was es mit der so- 



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genannten staricen und verschlossenen Minnlichkeit auf sich 
ha^ und daß es gar keinen Sinn hat, die stoische Ruhe und 
UnerschQtterlichkeit im Affekt als eine Tugend und als 
Kennzeichen einer kräftigen Natur anzusehen. Wir sehen 
an Voltaire deutlich, daß sich groBe geistige Kraft mit 
Weichheit des Gemüts vereinigen kann; daß es durchaus 
kein Zeichen von Männh'chkeit sein muß, Schmerz und 
Freude in seinem Innern Verschlüssen zu halten, und daiJ 
man, im Gegensatz zu einem theatralischen Stoizismus, sich 
der Tränen nicht zu schämen braucht, wenn die Natur sich 
in solcher Weise Luft zu machen sucht. 

Finstere, harte oder vorurteilsvolle Geister mögen sich 
darüber lustig maclien, daß Voltaire vom Sterbebette seiner 
Geliebten, der Marquise du Chätelet, — »an dem in selt- 
samer Vereinigung^ neben dem tiefgebeugten Voltaire sein 
bevorzu^er Nebenbuhler und der Gatte, dem sie beide vor- 
gezogen wurden, trauerten , wie sich ein philiströser Bio- 
graph Voltaire's höhnisch ausdrückt — »hinwegtaumelnd, 
ohnmächtig auf der Schloßtreppe zusammenstürzten; süffi- 
sante Ästhetiker mögen mit dem überlegenen Lächeln der 
Unwissenheit es sehr komisch finden, daß man ihn bei den 
Theateraufführungen in Ferney, namentlich l>ei seinen eigenen 
Stücken und als Mitspieler, heiße Tränen vergießen sah. 

Und wer ist der rohe Oeist, den es nicht rühren oder 
der es gar als Schwache auslegen würden wenn er vernimmt, 
wie der vierundachtzigjshrige Oreis in Paris in seinen letzten 
Tagen den Tod befürchtete; wie als er furchtbar litt, und 
Tronchet ihm riet, falls ihm sein Leben lieb sei, sofort 
in seine gewohnte Ruhe nach Femey zurückzukehren» Vol- 
taire ihn bei der Hand nahm, ihm unter immerwihrendem 
Weinen dankte und stets die Worte wiederholte: »Sie sind 
mein Lebensretter, nur Sie!« 

Es gibt Menschen» und Caiiyle z. B. gehOrt zu ihnen, 
die alles, was nicht sie sdbst (»etrifft, nach den Sprüchen 
der Fibel und mit der Beschränktheit eines Schulmeisters 



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— 333 — 



beurteilen, — herrlich spricht über solche Menschen Wie- 
land in der Einleitung zu der Obersetzung von Cicero's 
Briefwechsel — , die sich gern slarice Geister dflnken und 
sagen: Fflr einen Mann, und gar fflr einen Philosophen, 
schickt es sich nicht zu weinen; schickt es sich nicht, sich 
vor dem Tode zu fQrchten, und schickt sich dies und jenes 
nicht Da ist unsereins aus ganz anderem Holz geschnitzt 
Wir? Wir verziehen keine Miene^ wir sind Männer, wir 
sehen allen Schrecken ruhig ins Angesicht, uns wird man 
niemals weder Furdit noch !?flhrung ansehen. 

Überlassen wir diese Helden sich selbst Wer einem 
Manne wie Voltaire Schwäche vorwerfen will, weil er wie 
ein Kind leicht weinen und leicht kichen kann, und nicht 
wie vor dem Spiepfel stets seine Attitüden beobachtet, auf 
den paßt das Wort Goethe s vom »hohlen Darrn — das 
Gott erbarm , und noch besser das derbere Wort von 
Napoleon: *Ein seidener Strumpf mit Dreck gefüllt.« — 

Man vergißt, wenn man bei einzelnen Zügen in Vol- 
taire s Leben morahsierend die Nase rümpft und sich selbst, 
oiine es auszusprechen, für eine höhere, moralisch kräftigere 
Natur als ihn hält — was namentlich bei deutschen Voltaire- 
Biographen häufig vorkommt — man vergißt in solchen 
Momenten, wer man seiiist ist und wer Voltaire 
war. — 

Gewiß war er ein Kind, das wurde ja eben zu zeigen 
versucht; aber was för ein furchtbares Kind konnte er 
auch sein, da, wo tausend Männer gezittert und wenigstens 
innerlich geweint hättenl 

Allen duniden Mächten gegenüber war er das schreclc- 
lichste enfant tenrible der Welt Dieses IQnd Iconnte nicht 
wenig »freche san, und welchen Segen, wdche Befreiung 
brachte nicht diese Frechheit in die Wdtl Vor ihr hatte 
der ganze europäische Kontinent gezittert, und er tut es 
zum großen Teile heute noch. Die Frechheit dieses Kindes 
nahm uns die frühere Schüchternheit, die so sehr mit 



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— 334 — 



Knechtssinn verwandt war; sie gab uns Zutrauen zu uns 
selbst und brachte uns zum Bewußtsein, daß nichts da$ 
Recht hat, zu bestehen, was sich nicht rechtfertigen Icana 

Lassen wir also dieses Kind auch mitunter — weinen. 

Er war ja auch ein unveigleichHch gutes Kindt 

Aus jeder Biographie selbst seiner Gegner, und auch 
aus den wenigen in diesem Buche ml^eilten Daten kann 
und mu6 das jeder entnehmen. Er war gut und auch über- 
aus gutmütig. 

Daß er das war, Icann ilbr^;ens wohl nicht besser be- 
wiesen werden, als durch die Aussagen seiner Sdcretäre^ die 
immer um ihn waren und ihn in allen Details seiner Lebens- 
führung beobachten konnten. Der eine, Collini, war 5 Jahre 
bei ihm, Longchamp sodann 8 Jahre und endlich Wag^niere 
volle 24 Jahre; und nun möge man doch in den Memoiren 
dieser Männer nachlesen, was sie von der Oute und auch 
von anderen moralischen Vorzügen V^oitaire's berichten. 
Dabei war Collini selbst ein gelehrter, intelligenter Mann, der 
sehr gut 7U heobachten verstand, Wag-niere ebenfalls ein 
durchgebildeter Geist und sie beide edle, wahrheitsliebende 
Naturen. Wagniere erzählt, daß alle, die mit Voltaire lebten, 
»seine katholische wie seine protestantische oder lutherische 
Dienerschaft, seine Vasalien wie die Bewohner seiner Pro- 
vinz, in der er die letzten vierundzwanzig Jahre seines Lebens 
verbrachtec, Zeugnis ablegen konnten für die Wahrheit 
seiner Lobpreisungen von Voltaire' s Charakter. Longchamp 
berichtet, daß er bei seinem Eintritt in Voltaire' s Dienste 
mitunter über dessen brüskes Benehmen frappiert war, aber 
bald einsah, daß das »nur Äußerungen sdnes Idihaften 
Temperaments seien, die sich ebenso rasch besänftigten, 
wie sie hervortraten, daß sie eben nur vorfibeigehend und 
sozusagen oberflächlich, während seine Nachsicht und seine 
Ofite solid und dauerhaft waren.« 

Ahnlich sagt Wagni^re, daß wenn Voltaire während eines 
Unwohlseins aufiahrend gegen seine Dienerschaft gewesen 



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— 335 — 



war, er einige Stunden nachher, wenn er sie wieder sah, 
sich vor ihnen entschuldigte: »Ich habe meine Leute aus- 
gezankt, aber mein Gott» man muß mir verzeihen, denn ich 
litt wie ein Unglücklicher.« 

Dies alles bezog sich auf seine Gutmütigkeit Was 
seine Ofite iKtrifft, Qber die ich ja schon oft sprach und 
noch sprechen werde, so ist es liesonders charakteristisch, 
daß er, wie Wagnis berichtet, »Wohltaten erwies und dabei 
die Kunst besaß, die £igenliä)e jener zu schonen, die er 
verpflichtete«, eine Kunst, di^ wie jeder Menschenkenner 
weiß, nur sehr selten geübt wird. 

Wie gut er war, bezeugt selbst ehi so prinzipieller 
Gegner wie Faguet: »Persönlich war er großmfitig, wohl- 
tätig und lieh seine Feder den Verfolgtea Aber nicht genug 
daran, das Gold fk>ß ebenso leicht aus seinen Händen 
in jene der Unglücklichen; Beweis dessen seine Briefe an 
seiiicn Pariser Intendanten, den Abbe Moussinot. Und er 
war immer großmütiger und wohltätiger, je reieher er wurde.« 

Sonderbar ist es daher, daß Voltaire so beharrlich sein 
Geiz vorgeworfen wurde. Das wurde beinahe zum land- 
läufigen Urteil und baute sich auf alleriei erfundenen oder 
falsch gedeuteten kleinen Affären auf, die von seinen Feinden 
ins Unmäßige aufgebauscht wurden. Gewiß ist es, daß 
Voltaire als kluger Finanzniann und Rechtskundiger sich 
niemals übervorteilen oder überhalten lassen wollte und es 
überdies verstand — wie sein Sekretär Collini erzählte — , 
seine Kapitalien geschickt zu verwenden, anzulegen und 
zu vergrößern. Ist schon Geiz an und für sich kein 
Fehler, falls er nicht mit einem harten Herzen gegen 
andere verbunden ist — wenn iigend jemand seine Freude 
daran hat, für sich geizig zu sein, so geht das niemanden 
etwas an — und daher auch eigentlich kein Punkt, der in 
der Bi(^phie und Charakteristik eines Mannes der größten 
Öffentlichkeit hervoigehoben zu werden verdient, so ist noch 
weniger die kluge Finanzkunst eines solchen Mannes zu 



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— 336 — 

tadeln, obwohl man gewohnt ist, zu denken, sie »schicke 
sich« für einen Dichter oder für einen Philanthropen nicht 
Wohl dem Manne, sei er sons^ was er woll^ wenn er es 
versteht, sich pekuniflr gut zu stellen, wohl fQr Ihn und 
wohl fOr seine aligemeinen Zwecke^ falls er welche hat 

Voltaire selbst sprach sich darüber in seinen Memoiren 
sehr gut aus. Nachdem er von den AnnehmHchkeiten des 
von ihm gekauften Landsitzes eizShlt hat, ßhrt er fort: »Es 
gibt da allerdings etwas, worüber meine teueren Mitbrflder 
unter den Schriftsteilem vor Schmerz zerplatzen könnten; 
dennoch bin ich nicht reich geboren; dazu fehlt sehr viel 
Man fragt mich, durch welche Kunst ich dazu gelangt bin, 
wie ein Oeneralpächter zu leben; es ist gut, wenn ich es 
sage, damit mein Beispiel nachgeahmt werde. Ich habe so 
viele Schriftsteller arm und verachtet gesehen, daß ich seit 
langem beschlossen hatte, deren Zahl nicht noch zu ver- 
mehren. . . . Man muß aufmerksam sein auf alle Opera- 
tionen des Ministers. . . . Man muß in der Jugend ökono- 
misch sein . , . u. s. w.« 

Diese teueren »Mitbrüder^, die nicht nur auf seinen 
früheren Wohlstand, sondern auch (und noch mehr) auf 
seinen Ruhm so eifersüchtig waren, ließen schon im Jahre 
1733 Porträts von Voltaire in Paris zirkuhcrcn, in denen 
unter anderem auch sein Oeiz an den Pranger gestellt 
wurde. Erst viel später bekam Voltaire ein solches Porträt 
zu Oesicht. :»Ich habe viel mehr Fehleri« schrieb er da- 
rüber am 4« August 1735 an Berger, »als man mir in diesem 
Werke vorwirft, und ich habe nicht die Talente, die man 
mir darin zuschreibt; aber ich bin dessen ganz sicher, daß 
ich die Vorwürfe der OefQhilosigkeit und des Geizes durch- 
aus nicht verdiene; JMelne Freundschaft für Sie schätzt 
mich vor dem einen, und das Vermögen, das Ich an meine 
Freunde verschwendete, vor dem anderen Vorwurf.« Und 
ich will hier die Tatsache hinzufügen, daß, wie Condorcet 
berichtd, Voltaire schon als junger, also noch durchaus 



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— 337 — 



nicht so reicher Mann, wie er es im Alter war, seiir oh die 
Tantiemen aus den AuHührungen seiner Dramen den Schau- 
' Spielern öberiieß und überdies junge Talente unterstützte. 

In der Tat wulUe Voltaire nicht nur Revenuen zu ge- 
winnen, sondern auch in großem Stiie, wie sich Collini aus- 
drückt, auszugeben, und er zeigte bei vielen Gelegenheiten 
eine Freigd)igkeity die weit über sein Vermögen hinaus- 
ging.'*) Er selbst sagte: »Ich lebe ebenso einfach wie 
Diogenes und Aristipp; es ist nur für die anderen» daß ich 
so viel Aufwand treibe.« 

Und ein anderes AAal gebrauchte er bezflglich seiner 
Sparsamkeit, die dgentlidi nur in einer zweckmäßigen FQh- 
rung seines Haushaltes bestand» die Worte: »Man muß 
ökonomisieren, um freigebig sein zu können.« 

Collini berichtet auch, und der Genfer Buchhändler 
Gramer bestätigte es, daß Voltaire seit seinem Aufenthalt in 
Femey seine Werke den Verlegern ohne jeden Honorar- 
anspruch überließ; und niemals,' fügt Collini hinzu, »war 
er darauf bedacht, sich auf irgend eines jener filzigen Ma- 
növer zu verlegen, deren man ihn beschuldigte . . . Knickerei 
gab es in seinem Hause niemals, und ich habe nie einen 
Menscfien gekannt, der von seiner Dienerschaft so leicht 
zu bestehlen gewesen wäre.« 

Besonders der letztere Umstand beweist wohl zur Ge- 
nüge, dali bei Voltaire von Geiz gar keine Rede sein kann; 
und dem Vorwurfe, geizig gewesen zu sein, liegt, da er 
doch so sehr durch zahllose Tatsachen widerlegt wird, ge- 
wiß ein unbewußter Neid zugrunde, daß hier ein Schrift- 
steller einmal nicht darbte, wie fast alle anderen, sondern 
wie ein »Grand-Seigneur« leben konnte. 

Allein sieht man denn nicht ein, welche Unterstützung 
der Souveränefät aller Welt gegenüber Voltaire auch durch 
seinen Reichtum besaß? Warum mißgönnte man ihm diese 

*) Maugras »La vic intime . . .« (58)« 

Popper« Voltaire^ 22 



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— 338 — 



Unabhängigkeit? Welch' pifoyablen Eindruck macht es doch, 
zu sehen, wie z. B. d'Alembert in seiner Armut von Friedrich 
dem Großen eine Pension und behufs einer Reise nach 
Italien zur Herstellung seiner Gesundheit dne spezielle 
Unterstützung annehmen mußte! Und nicht weniger trübe 
stimmt es, wenn ein Diderot, nur um leben zu können, 
seine Bibliothek der Kaiserin Katharina zum Kaufe anbieten 
mufit^ und als diese ihm, wie bekannt fai großmfl%er 
Weise entgegenkam, an d'Alembert einen Brief voll Jubei 
darüber schrieb, daß dieses Jahr »schlecht für die Feinde 
der Philosophie ausgefallen« sei; denn »hier ist eine Be- 
gebenheit .... usw.« »Ich bin nun glücklich und zwar 
vollkommen glücklich,« setzt er noch hinzu. 

Man denke skdi, Voltaire wdre in einer solchen Lage 
gewesen, wie d'Alembert, Diderot u. a. Es läßt sich dann 
mit Sicherheit annehmen, daß, selbst wenn er z. B. von 
Friedrich und Katharina unterstützt worden, also zwar vor 
Not geschützt gewesen wäre, dennoch sein imponierender 
Einfluü auf diese beiden und auf alle anderen einflußreichen 
Kreise Europas wesentlich geschwächt worden wäre; auch 
in seinen Schriften gewiß jener fast übermütige polemische 
Ton nicht zu finden gewesen wäre, der einem pekuniär Be- 
drückten so schwer zu Gebote steht, und der docti so wesent- 
lich zu dem Eindruck von Voltaire's Werken beigetragen hat. 
Und daß ein armer Voltaire nicht jene grandiose Wohl- 
tätigkeit hätte ausüben können, durch die er so glanzvoll 
sein Dasein verschönerte, ist selbstverständlich. 

Einen Fall, der zeigt, wie der geizige Voltaire zu 
geben pflegte, will ich nach dem Berichte des berühmten 
Schauspielers Lekain kurz anführen. Dieser, der Voltaire in 
einer Vorstellung von d'Amaud's »Le mauvais riebe« sehr 
gefallen hatte, antwortete ihm auf seine Frage» was ffir Zu- 
kunftspläne er habe: er kenne kein größeres Olflck auf 
Erden, als Komödie zu spielen; er wolle daher das Metier 
sdnes Vaters (eines Goldschmieds) veriassen und trachten, 



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— 33Q — 



zu der Truppe der Schauspieler des Königs zugelassen zu 
werden. ^Ah! Mein Freund/ rief V^^ltaire aus »tun Sie 
das niemals; spielen Sic Komödie zu Ihrem Vereriügen, aber 
machen Sie keinen Beruf daraus . . . Eines Tages wird 
Frankreich Ihre Kunst schätzen, aber dann wird es keine 
Baron, keine le Couvreur, keine DangeviUe mehr geben. 
Wenn Sie auf Ihr Projekt verrichten wollen, so leihe ich 
Ihnen zehntausend Francs, um Ihr Geschäft zu beginnen, 
Sie weiden sie mir zurückgeben, wann Sie können • . . .« 

Es hat in Frankreich vide sehr reiche Schriftsteiler ge- 
geben — kh will nur Viktor Hugo nennen — und in 
Deutschland einige wenige, z. B. Goethe, Richard Wagner; 
allein man weiß nichts davon, daß sie je in nur einiger- 
maßen ähnlicher Weise verfahren hätten, auch gegen streb- 
same Schriftsteller oder Künstler nicht. 

Die obige Episode mit Lekain ereignete sicli im Jahre 
1750.*) Dieses System der Wohltätigkeit im großen Maß- 
stabe setzte Voltaire bis an sein Lebensende fort. In dem 
Berichte des Fürsten von Ligne, der im Jahre 1763 in 
Ferney war, wird erzählt: >Er g^ibt Unterstützungen allen 
Unglücklichen, er errichtet Gebäude für arme Familien und 
ist ein Wohltäter in seiner eig^enen Familie, wie in seinem 
Dorfe; ein putcr und großer Mann zugleich; eine Vereinigung, 
ohne die man weder das eine noch das andere vollkommen 
sein kann : denn das Oenie gibt der Oüte eine größere 
Ausdehnung und die Oüte dem Oenie mehr Naturiichkeit«**) 
Lekain berichtet unter anderem von der Undankbarkeit, die 
Voltaire so oft erlebte; von jenen Undankbaren, die über 
empfangene Wohltaten erröteten, und die um ihre Nieder- 
trächtigiceit auf das Aeußerste zu treiben, ihren Wohltäter 
in der unvrflrdl^ten Weise verleumdeten. »Ich habe mehr 

•) Siehe: Note sur M. de Voltaire et faits particuHers conceraant 
ce grand hotnme, im 92. Bande der Ausgabe von Voltaire's Werken 
tut dem Jahre 1789. 

*") Aus DetDoireslenvs' Voltaifebudi. 

22* 



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— 340 — 



als einen dieser Sorte gesehen. Ich war Zeuge von Diel^ 
stählen, die Leute aus allen Ständen an ihm begingen. Er 
bedauerte die Einen, verachtete still die Anderen 
aber niemals nahm er Rache an irgend einem von 
ihnen. Die Buchhändler, die er reich machte . . . haben 
ihn immer öffentlich verrissen, aber niemand wagte es, gc^pen 
ihn gerichtlich vorzugehen, weil sie alle Unrecht hatten.« 

Lekain fögt zur Beleuchtung von Voltaire's gutem Ge- 
müt noch hinzu: *Er blieb immer seinen Freunden treu. 
Sein Charakter ist wohl impulsiv, sein Herz ist gut; seine 
Seele ist mitleidig und gefühlvoll .... Tief und gerecht in 
seinen Urteilen über die Werke anderer, voll von Liebens- 
würdigkeit, Höflichkeit und Grazie im gewöhnlichen Verkehr; 
unbeugsam gegenüber Leuten, die ihn angegriffen hatten — 
das ist sein Charakter, nach der Natur gezeichnet. Man 
wird ihm niemals vorwerfen können, auch den ärgsten 
seiner Feinde zuerst angegriffen zu haben.« 

Und mit dieser Bemerkung Lekain's gelangen wir zu 
der schönen Seite in Voltaire's Charakter, die sich in seinen 
so lange währenden und so zahb«ichen Kämpfen mit 
Oegnem und Feinden dokumentiert Man muß Ober diesen 
Mangel an Oalle^ an Verbitterung geradezu staunen. Aller- 
dings konnte er auch sehr wild werden, wenn er angegriffen 
wurden und diese KraftäuBerung setzt die Gutmütigkeit des 
Naturells hi um so helleres Llch^ als sie eben nie in 
aggressiver Weisen sondern nur in der Notwehr henrorfant. 
»Jedoch nach den ersten an ihm begangenen Feindselig- 
keiten, « erzählt Lekain, »zeigte er sich wie ein Löwe«, »der 
aus seiner Höhle hervorkommt, ermfidet vom Oebelle der 
Hunde, die er schweigen machte durch den bloßen Anblick 
seiner gesträubten Mähne . . .« Ich habe ihn tausendmal 
sagen gehört, daß er in Verzweiflung sei, nicht Crebillon's 
Freund sein zu können . . .« 

Auch Orimm, ein Oegner Voltaire'Si bezeugt in seiner 



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- 341 — 



Korrespondenz» daß er nie der Angreifer war, und das tun 
auch vide andere 

Und da noch immer so vielfach die Meinung herrscht, 
Voltaire sei ein rflcksichtsloser Streiter gewesen, der Lust 
am Sh«ite gehabt habe, so seien einige seiner Aeußerungen 
Ober diesen Gegenstand in vertrauten Briefen hier angefahrt 

»Nichts ist skandalöser und trauriger,« schrieb er im 
Jahre 1774 an Madame du Deffand, »als zu sehen, wie sich 
Leute von Geist gegenseitig zerfleischen; das sind Kinder 
derselben Familie, die die Erbschaft ihres Vaters zerstören. 
Die Kämpfe unter Schriftstellern sind umsümehr deplaciert, 
als man sie für Leute von mehr Vernunft hält ich habe 
niemals begonnen.« 

An d Alembert schrieb er: Wolilan, verteidigen wir 
uns, aber greifen wir niemanden an.< Und an Le Franc: 
ijeder Schriftsteller, der kein Spitzbube ist, ist mein Bruder. 
Ich habe eine Leidenschaft für die schönen Künste, ich bin 
vernarrt in sie. Daher betrübte es mich so sehr, wenn 
Schriftsteller mich verfolgen. Ich bin eben ein Bürger, der 
den Bürgerkrieg verabscheut und der ihn nur zu seiner 
Verteidigung führt.« 

Und bei all' den Angriffen und Kränkungen, ja Nieder- 
trächtigkeiten, die Voltaire sein ganzes Leben hindurch sowohl 
von piinzipidlen Oegnem als von Neidern zu erdulden hatte, 
verlor er seine höhere Heiterkeit — wie wir schon oben einmal 
andeuteten — durchaus nicht; und es ist überaus wohl- 
tuend und tröstend und als Beispiel ermunternd, zu sehen, 
wie fiberiegen sich da ein Mensch allen Stötoi und 
Schlechtigkeiten g^fenüber zeigte; ich meine nicht bi 
ihrer Besi^ng, sondern in der Seelenstärke, sich 
durch sie nicht in seiner Stimmung beeinflussen 
zu lassen. Voltaire hatte wirklich den Teufd im Leiber 
um ali' das so ruhig hinzunehmen und zu verdauen, und 
ich erinnere mich oft, wenn ich diese seine Eigenschaft 
überdenke, an Napoleon, der beim Übergang Über die Bere- 



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— 342 — 



sina zu Marschall Ney, der sich wunderte^ daß er von all' 
dem Unglflck und der furchtbaren KSlte gar nicht berührt 
werde, ihm antwortete: »Ich habe den Teufel im Leibe.« 

Da Kardinal Tencin, Erzbischof von Lyon, vor Gram 
über mißglückte politische Pläne starb, schrieb Voltaire: 
»ich habe niemals begriffen, wie man aus Gram stirbt,« 
und diese Gesinnung bewährte er unzählige Male. Im Jahre 
1766 schrieb er an den Kardinal von Bemis: ^Was mich 
Elenden*) betrifft, so führe ich Krieg bis zum letzten 
Moment; mit Jansenisten, Molinisten, Fr6rons, Pompignans, 
zur Rechten, zur Linken, mit den FVedigern und mit 
J. J. Rousseau. Ich empfange hundert Stöße, ich gebe da- 
von zweihundert zurück, und lache . . . Oott sei Dank, ich 
betrachte diese Welt wie eine Posse» die mitunter 
tragisch wird.« 

Man sieht aus diesem letzten Satz selbst hier wieder, 
wie Voltaire förmlich den Weltschmerz zurflckdringt, um, 
von ihm unbehelligt) weiterlelwn zu können. 

Aber so mancher könnte zu dem allen einwenden: 
IQlmpfen, siegen, dabei die gute Laune behalten — sei sehr 
schön, auch interessant, aber nicht das, was wir erstreben 
und nachahmen sollen. Das Höchste sei: »Dulden, dem 
Übel nicht wehren«, wie wir das in den Evangelien als 
Vorschrift ausgesprochen finden.**) 

Hierauf ist zu erwidern: Diese Vorschrift einzuhalten, 
bietet, wenn man nur den Einzelfall betrachtet, gewiß einen 
ethisch schöneren Anblick; aber man darf dennoch nicht 
dazu raten, denn sie allgemein befolgen, heißt: den un* 
zähligen, nie aussterbenden aggressiven menschlichen ln> 

*) Er nannte sicli weil er behauptete, er sei inunerwibrend 

krank. 

**) Ich mficfate hier anf den Aufsatz: »Tolstoi und Jherfng« 

von dem verstorbenen Dichter und philosophischen Schriftsteller 
Eduard Kulke aufmerksam machen, der dieses Thema in sehr 
schöner, wenn auch anderer Art als ich behandelt 



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— 343 — 



dividuen carte blanche geben und endloses Unheil Aber 
alle Nachgiebigen oder Schwachen heraufbeschwören. 
Denn das Leiden der Angegriffenen oder der 
Schwächeren entwaffnet die Aggressiven und die 

Nimmersatten durchaus nicht. 

Und das sehen wir die ganze Weltgeschichte hindurch; 
denn z. B. alle Leiden der Sklaven, nicht nur in dem »heid- 
nischen* Rom, sondern auch in den frommen christlichen 
Südstaaten der nordamerikanischen Union, haben ihre grau- 
samen Herren nicht gerührt; die Sklavenhalter kannten die 
Evangelien auswendig, ihre Bischöfe doch gewiß nicht 
minder, aber beide kümmerten sich nicht um sie, die Bischöfe 
bewiesen sogar gerade aus der Bibel die Reehtmäßigkeit der 
Sklaverei. Erst ein blutiger Krieg konnte die Sklaven be- 
freien. Und dasselbe war bei allen unterdrückten Oesell- 
schattsklassen der Fall; hätten sie dem Übel nicht gewehrt, 
SO lägen sie alle noch heute am Boden. 

Und dasselbe gilt für die privaten Beziehungen der 
Menschen. Also: Zwar nicht aus Prinzip strafen, aber sich 
wehren, das ist das Richtige. Wenn man aber denken 
wollte, die fortgesetzte moralische Erziehung der Menschen 
zu der Maxime, dem Übel nicht zu wehren, — wie das 
zum Beispiel Tolstoi meint ^ werde mit der Zeit Frieden 
in die Welt bringen, so erwidere ich: 

Keine noch so lange Erziehungszeit wird hierzu aus- 
rdchen; und wenn sie wirklich ausreichen sollte^ so ver- 
gehen Jahrhunderte und Jahrtausende» innerhalb deren 
Millionen menschlicher Individuen Leiden erdulden, die sie 
durch Anwendung von Notwehr verhindert oder doch ab- 
geschwächt h&tten. Diese duldenden Individuen aber dQrfen 
wir nicht als etwas VorQbergehendeSi als »Dünger« fflr eine 
höhere moralische Kultur der fernen Zukunft ansehen; wer 
das tut, dem fehlt die Achtung vor dem einzelnen 
menschlichen Individuum, welches heute und mor- 
gen wirklich lebt und leidet, aus falscher Rück« 



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— 344 — 



sieht vor dem Individuum, das Qbermorgen lebt. Was 
hat aber dieses vor jenem voraus? — 

Wie gfltig und gutmütig Voltaire war, zeigte sich aber 
besonders In seinem Veiiudten gegen seine Feinde; denn 
er war trotz aller Energie in der Abwehr jedes Angriffes 
Oberaus leicht geneigt, und fast immer sofort bereit, sich 
mit dem schlimmsten Feinde zu versöhnen; Rachsucht, 
nachtragenden Groll kannte er nicht 

Sein Sekretär Longchamp berichtet in seinen Memoiren, 
daß Voltaire niemals gegen jemand irgend weichen Groll 
behielt wenn man ihm ehrlich entgegenkam und das ihm 
angetane Unrecht bedauerte; diese Versöhnlichkeit soll Vol- 
taire selbst in den krassesten Fällen von ihm angetanem 
Unrecht bewährt haben. 

Unendlich liebenswürdig zeigte sich Voltaire unter 
anderm nach seinem Streite mit Abb^ Trublet, der 
nach heftigster Fehde den Vorschlag zur Versöhnung machte. 
»Ich bin nicht boshafter geboren als Sie,« heißt es in Voltaire's 
Antwortschreiben, und mit vollem Recht fügt er noch die 
Worte hinzu: »ich bin ein Im Grunde guter A^n.c — 
Voltaire selbst 1^ auf die Oflte fibeiiiaupt so viel Wert, 
daB er von sich selbst sagte: »Ich habe einiges Oute getan, 
das ist das Beste meiner Weike.c 

Es gibt aber einen entscheidenden experimentellen 
psychologischen Beweis daffir, wie der Kern seiner Natur 
gut und voll Menschenliebe und Wohlwollen war. Und 
zwar zeigte sich das in einer SzenCi die sich auf sein Ve^ 
hältnis zu J. J. Rousseau bezog, fiber welches wir uns 
vorher etwas eingehender aussprechen wollen. — 

ist bekaniit, mit welcher Bcharrliclikeit Rousseau 
seinem giftigen Hasse gegen die Encyclopädisten und 
namentlich gegen Voltaire Ausdruck zu geben suchte. 

Seine Lettre sur les spectacles* war von dem Bestreben 
eingegeben, die Genfer gegen Voltaire und sein Theater 
aufzuhetzen; und er tat das mittelst so pharisäischer Argu- 



— 345 — 



mentation und mit so sonderiiareii und gekflnstelten Be- 
weisen für seine These von der Schädlichkeit des Theaters, 
daß man im höchsten Ma6e überrascht wird, den sonst 
immer monüisierenden Wahrhettsschwirmer Jean -Jacques 
hier die Rolle eines vericniffenen Muckers übernehmen zu 
sehen. 

Er, der die neue H^loise geschrieben und in einem 
Briefe an Duclos es selbst ausspricht, daß *die Lektüre 
dieses Romans für Mädchen sehr gefährlich sei«, wirft dem 

Theater vor, daß es ^ das Interesse für die Liebe 

verstärkt* . . . »Die Autoren bemülien sich, dieser gefähr- 
lichen Leidenschaft eine neue Energie und ein neues Kolorit 

zu geben eine natüriiche Wirkung solcher Stücke 

ist die, die Herrschaft des weiblichen Geschlechts er- 
weitern, die Frauen und die Jungen Mädchen zu Erziehern 
des Publikums zu machen und ihnen über die Zuschauer 
dieselbe Macht zu geben, die sie über ihre Liebhaber aus- 
üben.« Und der Erdichter des fascinierenden Liebes- 
verhältnisses zwischen Julie und St Preux klagt das Theater 
an, durch seine »sflfien Emotionen das Bedürhus nach Liebe 
zu erwedcen«! 

So spricht derselbe Mann, der selbst Dramen ge- 
schrieben und bis ans Ende seines Lebens sehr gerne das 
Theater besucht hatte; der im Jahre 1770 in Lyon seinen 
»Pygmalion« auf emer Privatbflhne auffflhren ließ, und als 
er zum letztenmale Paris besuchte, sofort ins Theater ging ! 
Aber sein Haß gegen Voltaire und die von ihm repräsentierte 
Kultur, seine Eifersucht darüber, daß dieser in Genf, 
Rousseau's Vaterstadt, Einfluß und Ansehen besaf), und der 
nach seinen litterarischen Erfolgen, namentlich mit der -Nou- 
velle Heioisej, ins Ungemessene gehende Hochmut führten 
Rousseau dazu, die große Sorge vor Korruption der Sitten 
der Genfer, zu deren Kurator und Protektor er sich auf- 
warf, vorzuschützen, diese sogar auch direkt gegen Voltaire 



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— 346 — 



aufzuwiegeln und eine Art Verschwörung gegen diesen und 
sein Theater anzuzettein. 

Bald sprach er öffentlich die l>eleidtgendsten» ganz un- 
begrOndeten Verdächtigungen gegen Voltaire aus, bald 
schrieb er ihm, g^zlich unprovoziert, die verieAzendsten 
Briefe; und einnul, nämlich im Jahre 1764 in den Letfa«s 
foites de la montagne^ denunzierte er ihn sogar dem Genfer 
Magistrat als Verfasser des Pamphlets >Sermon des cm- 
quante«, das Voltaire anonym herausgegeben hatten als Ur- 
heber des gefährlichsten Angriffs auf die christliche Religion! 

D'Alembert schrieb einmal: »Jean-Jacques ist eine wilde 
Bestie^ man darf sie nur hinter Eisenstiben und mit dnem 
Stocke berflhren.« Und daß Voltaire ebenfalls oft die Ge- 
duld verlieren und bei seinem impulsiven Temperament in 
heftigster Weise reagieren mußte, ist selbstverständlich; es 
gibt keinen Menschen, der solchen unter der Maske der 
Tugend versteckten Perfidien gegenüber ruh\^ bleiben könnte. 
»Ich liebe weder seine Werke«, schrieb Voltaire einmal an 
d'Alenibert, »noch seine Person, und sein Vorgehen ist 
hassen s wert«, und ein anderesmal: »Wie gerne hätten 
wir diesen Narren unterstützt, wenn er sich nur nicht als 
falscher Bruder bewiesen hätte! 

Wenn man das Verhalten Rousseau 's p^egen Voltaire 
von den ersten Äuberungen an bis zum Abbruch ihrer Be- 
ziehungen, der in hellster Feindschaft erfolgte, chronologisch 
und aufmerksam verfolgt, so muß man über beide Männer 
in gleichem Maße erstaunen: über Rousseau 's giftige Natur 
und über Voltaire's bis fast zum Schlüsse unerschütterliche 
Milde in der Beurteilung Rousseau's. Selbst in seinen 
stirlcsten Entrüstungsausdrücken sucht er Rousseau's aggres* 
sives Vorgehen durch eine Krankhaftigiceit seiner Anlagen 
beinahe zu entschuldigen oder doch zu erklären, und immer 
wieder und trotz allem will er ihm wohl, wenn es aufs 
Ausserste ankommt und anerkennt das bei ihm, was ihm 
prinzipiell zusagt, z. B. das Glaubensbekenntnis des Vikars. 



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— 347 — 



Selbst der Vorwurf, den Manche Voltaire machen: auf 
Rousseau's Erfolge eifersüchtig gewesen zu sein, ist gänz- 
lich unbegründet; denn aus seinen Kritiken des »Gontrat social «, 
der »Nouvelle H^oise« und des »Emile« sieht man deutlich, daß 
die Einwendungen und Äusserungen der Antipathie voll- 
ständig dem Vdtaire'schen Naturdl und seiner seit langem 
bekannten Denkart entsprechen. Und er ließ es ja auch an 
Lob nicht fehlen. Nach dem Erscheinen des »Emile« und 
des »Cöntiat social« schrid) er an Beaumont: »Jean Jacques 
ist ein Narr, so viel stdit fest Nichtsdestoweniger rate ich 
Euch, meine Brüder, leset seine Bücher, macht Propaganda 
für die darin enthaltenen gesunden Lehren, die eine neue 
Bergpredigt sind.« Kann man nach solchen Worten noch 
von einer Eifersucht Voltaire's sprechen? 

Auch die mitunter geäußerte Ansicht, dal^ der - geradezu 
furchtbare — »Sermon des cinquante« von Voltaire aus Eifer- 
sucht gegen den Erfolg des Glaubensbekenntnisses des Vikars 
und nur zu dem Zwecke so scharf verfaßt wurde, um 
»Rousseau s Kühnheiten zu übertrumpfen«, läßt sich sehr 
leicht widerlegen. Denn Voltaire hörte in seinen Gesprächen 
und Briefen gar nicht auf, diese Leistung Rousseau 's aufs 
höchste zu rühmen; und andererseits verleugnete er ja — 
in gewohnter Vorsicht — seine Autorschaft des »Sermon.« 
Man pflegt doch aber nicht etwas, auf das man eifersflch- 
tig ist» zu loben, und ebensowenig eine Arbeit, die man aus 
Ehrgeiz unternimmt, zu verleugnen? 

Die Sache ist vielmehr die» daß Voltaire vom »Glaubens* 
bekenntnis« so erfreut wurden daß er als alter» aber noch 
immer frischer und mutiger iObnpfer durch dasselbe ange- 
regt wurd^ auch seinerseits Mieder einmal einen Kaptalhieb 
zu versuchen. Eine prinzipielle sachliche Anrq|ung involviert 
aber keineriei persdnüche Konkurrenzgedanken, das wird 
jeder zugeben, der in irgend einer Sache von einer Leistung 
eines anderen begeistert und dadurch unmittelbar zu selb- 
ständigem Schaffen angeregt wurde. 



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— 348 — 

Bekanntlich war es Rousseau selbst der die Ansicht 
von Voltaire's Eifersucht verbreitete, und in seinem Buche: 
>Rous8eau juge de Jean-Jacques«^ bringt er sie in der giftigen 
Form zum Ausdruck, er bringe VoUaire um den ruhigen Schlaf, 
und dessen grobe Beleidigungen seien nur eine Huldigung 
wider dessen Willen. Wagnüre^ der 24 Jahre Voltaire's 
SekretSr In fmty war» versichert jedoch» dafi alle Personen, 
die Voltaire oft gesehen und genau gelannt haben, es be- 
stätigen kennen, daß »sein Schhtf durch den Lärm, den 
Rousseaus Schriften machten, niemals auch nur im geringsten 
gest5rt wurde«. 

Und wir kennen audi einzelne sehr bezeichnende Vor- 
fiUle und impulshre Äußerungen Voltaire's» die beweisen, 
dafi in seinon Innern kehte Spur von Elfersucht auf Rousseau 
vorhanden war. Unter anderen eine Szene in Femey, da 
man über Necker sprach und gewünscht hatte, Voltaires 
Ansicht über diesen Staats- und Finanzmann zu liören. 
Sofort wandte sich jener zu einem an der Tafel sitzenden 
Genfer und apostrophierte ihn mit den Worten: *Euere 
Republik ist nicht wenig ruhmreich; sie hat Frankreich gleich- 
zeitig einen Philosophen geliefert, um es aufzuklären 
(nämlich Rousseau), einen Ar/t, um es zu heilen (Tronchin) 
und einen Minister, um seine Finanzen in Ordnung zu 
bringen (Necker). ^ 

Überhaupt ist alles das, was von Voltaire's Eifersucht 
auf berühmte Schriftsteller so oft behauptet wurde, durch 
viele Tatsachen, und namentlich durch unt>erechnete Äußerun- 
gen seines impulsiven Temperaments zweifeltos wideriegt 
Man hat u. a. besonders viel von semer Eifersucht auf Cor< 
ndlle, selbst Racine gesprochen. Aber Wagnidre berichtet 
uns, da6| wenn Voltaire das Theater besuchte^ er die 
schönen Stellen der aufgeführten Dramen — er wufite sie 
alle auswendig — , noch bevor die Schauspieler sie aus* 
sprachen, leise vor sich hinflflsterte^ und wurden sie falsch 
deklamiert, murmelte er: »O, diese Ungiadcseligen! Henker, 



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— 349 — 

der du die Schönheiten Gomdlle's umbringst!« Wurden 
aber jene Stellen schön rezitieii, rief er oft und ganz laut 
aus: »Schön! Bewunderungswflrdigf!« und, wie Wagnis 
hinzufügt, tat er das ausnahmlos bei jedem Autor, »obwohl 

man ihn der Eifersucht auf alle beschuldit^tc. - 

Und da Eifersucht und Eitelkeit so oft beisammen sind 
und Voltaire seit jeher beschuldigt wird, eitel p^ewesen zu 
sein, mitunter sogar seine glänze Tätig^keit in diesem Sinne 
gedeutet wurde — wie wir das z. B. von Schlosser an- 
führten — , so seien auch in dieser Beziehung noch einige 
Tatsachen angeführt, aus denen man ersehen wird, wie 
wenig Voltaire*s Charakter verstanden — wenn nicht ab- 
sichtlich mißverstanden wird. 

Schon sein allbekannter Ausspruch bezflgllch seiner ge- 
santmelien Werke: »Mit so großem Oepflck kommt man 
nicht auf die Nachwelt« zeigt Voltaire's ntichteme und von 
Selbsigefälligkeit freie Beurteilung der dgenen Leistungen« 
Bezflglich Emschätzung seiner Bestrebungen In den exakten 
Wissenschaften haben wir bereits oben Voltaire's höchst 
bescheidene Ansicht angeführt. Von seiner doch aner- 
kannt großen Leistung in der Abfassung des Essai sur ics 
moeurs^ sprach er überhaupt nicht, als ob dieses Werk 
keinen anderen Wert gehabt hätte als den, der Marquise 
von Chäteiet das Studium der Geschichte angenehm zu 
machen. Und alle Schmeicheleien, mit denen ihn die Welt 
überhäufte, alle die Komplimente Friedrichs des Orolien, 
Katharinas und der anderen Souveräne, des Adels, der be- 
rühmtesten Staatsmänner und Schriftsteller seiner Zeit 
»brachten ihn nicht dazu, an seinen Ruhm zu glauben ; 
»im Gegenteil,« berichtet Wagni^e, »seine Bescheidenheit 
war eine ganz außerordentliche und aufrichtige.« 

Und auf den Grund seiner Sede wird jeder ernste 
Mensch blicken und darflber erstaunen, wie frei von jeder 
Eitelkeit und Kleinltohkelt Voltaire war, wenn man dessen 



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— 350 — 

Auffassung der unvergleichlichen Huldigungen während 
seines letzten Pariser Aufenthalts erfährt. 

Ais nämlich Wagnite bemerkte, daß alle diese Lob- 
prelsiingen und Huldigungen auf Voltaire nicht jenen tiefen 
und fiberwältigenden Eindruck nuichten, den man hätte er- 
warten müssen, sprach er ihm seine Oberraschung^ ja sein 
Erstaunen darüber aus. »O, mein Freundet erwiderte ihm 
Voltaire, »Sie kennen die Franzosen nicht; sie haben das* 
selbe für den Genfer Jean Jacques getan, viele gaben Last- 
trägem emen Taler, um auf deren Schultern zu steigen und 
Rousseau vorfibergehn zu sehn. Und dennoch hat das 
nicht veihindert, dann einen Verhaftbefehl gegen ihn aus- 
zufertigen, und er wurde genötigt, sich zu flüchten.« 

Ich kenne nun gar keinen Mann in der gesamten Oe- 
schichte der Literatur und Kunst — vielleicht Michel Angelo 
ausgenommen — , der, noch dazu am Vorabend seines Todes 
und im Alter von 84 Jahren, so wenig von den übcr- 
schwänglichsten Huldigungen erweicht worden wäre und 
seine Überlegenheit über die persönlichen Erlebnisse, so 
sehr bewahrt hätte, wie hier Voltaire. 

Wer von allen denen, die ihn immer und immer wieder 
»eitel nannten, hätte die Kraft besessen, inmitten jener 
Szenen von iiberschwängliclister Begeistern iig, wie sie nie 
ein Künstler erlebte, den Kopf so hoch zu halten? Ist ein 
eitles Naturell einer solchen Kraft fähig? 

Und diese Kraft besaß Voltaire nicht darum, weil er der 
Anerkennung gegenüber fühlios war, denn er war ja be- 
kanntlich z. B. im Theater, als seine »Irene« gegeben wurde, 
so tief gerührt, daß er in Tränen zerfloß und ausrief: »Ihr 
wollt mich unter Rosen ersticken Die Nüchternheit, mit 
der er trotzdem den Wert und die Bedeutung solcher Ova- 
tionen richtig beurteilte, stammt eben daher, daß er nicht 
eitel war, denn dem Etteln schwindet in der Betäubung die 
UrteilskFaft und die Obersicht fiber das Getriebe des Lebens. 



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- 351 — 



Um eine bequeme Obersicht Ober das VerhSltnis 
zwischen Voltaire und Rousseau zu verschaffen, 1^ ich 
im Nachfolgenden eine knappe Darstellung der Tatsachen 
und namentlich der schiiftildien Äußerungen beider vor. 

Im Jalire 1755 sandte Rousseau seinen »Discours sur 
i'origine et les fondements de Tinegalit^ parmi les hemmest 
an Voltaire; dieser dankte mit einigen selir bekannten 
heiteren Bemerkunt^en, aber voll Klarheit und Weisheit des 
Urteils*) zugleich wohlwollend und liebenswürdig, und am 
Schlüsse schreibt er: sHerr Chapuis teilt mir mit, dali Ihre 
Gesundheit sehr geschwächt ist; Sie müssen sie in der 
Heimatslutt wiederherstellen, die Freiheit «renief^en, mit mir 
die Milch unserer Kühe trinken und unser Gemüse ver- 
zehren « 

Darauf antwortete Rousseau: »An mir ist es, Ihnen in 

jeder Beziehung zu danicen Die Ehre, die Sie 

meinem Vaterlande erwiesen, mitfühlend, teile ich auch die 
Dankbarkeit meiner Mitbürger, und ich hoffe, daß sie nur 
zunehmen wiid, wenn sie aus den Lehren, die Sie Ihnen 
geben können, Nutzen gezogen haben werden. Ver- 
schönern Sie das Asyl, welches Sie gewählt haben, 
klären Sie ein Volk auf^ welches Ihrer Ratschläge wQrdig 
ist, und Sie^ der Sie die Ti^enden und die Freiheit so gut 
zu schildern wissen, lehren Sie uns, dieselben in unseren 

Mauern zu lieben wie In Ihren Schriften**) < und 

als Erwiderung auf Voltaire's Einladung nach D^tioes 
schreibt Rousseau in seiner gewohnten Emfalts-Affektation 

•} Man l^alln cücse herrliche Zurückweisung der Roiisscau sclien 
Kulturfeindschaft nicht oft genug lesen; sie ist inhaltlich wie formell 
ein Meisterwerk ersten Ranges. Und es ist interessant zu beobachten, 
wie aller Eindruck der benuischenden Rhetorik Rousseaus (die schon 
Kant pferade?« fürchtete) in seinem Discours durch die kurze Behand- 
lung des Gegenstandes durch Voltaire sofort verwischt wird. Vültairc's 
Brief ist vom 30. August 1755 aus IMfioes am Ooder See datiert. 

Ich möchte den Leser dieser Stelle ersuchen, sich daran zu er- 
innern, daß Gustav Fre)'tag von Voltaire nicht anders als von dem 
»schlechten Menschen« spricht. 



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— 352 — 



und Naturliebe-Koketterie: » ich würde es vorziehen, 

das Wasser Ihrer Quelle zu trinken, als die Milch Ihrer 
Kühe ; aus welcher Bemerkung zu erkennen ist, daß es 
Rousseau hier wirklich gelungen ist, selbst die Voltaire'sche 
5 Kuhmilch« — als ihm noch viel zu viel civüisiertes 
Nahrungsmittel — durch Herabsteigen um noch eine Stufe 
tiefer, nämlich bis zum Queilwassers zu stigmatisieren und zu 
übertrumpfen; die liebenswürdige Akkommodation VoUaire's 
an Rousseau's Natur-Einfalt nützte also Voltaire gar nichts, 
und er ist damit in der Tat nur schmählich durchgefallen. 

Wir finden dann einen Brief Voltaire's an d'Alembert 
(vom 15. Dezember 1755), in welchem der gute Mann 
schreibt: »Man hat mich bezüglich des Gesundheitszustandes 
Rousseau*s sehr beunnihigti ich möchte gerne nähere 
Nachrichten haben. . . .« 

Im Jahre 1756 sendet Rousseau ein langes Schreiben 
an Voltaire^ in dem er gegen dessen kurz vorher publiziertes 
Gedieht Aber die »Zerstörung Lissabons« und Aber »das 
Naturgesetz« polemisiert In diesem Briefe ist noch keiner- 
lei persönliche Gegnerschaft zu bemerken; im Gegenteile; 
denn am Schlüsse sagt Rousseau: »Gott verhüte, da6 ich 
denjenigen meiner Zeitgenossen beleidigen möchte^ dessen 
Talente ich am meisten ehre, und dessen Schriften am 
besten zu meinem Herzen sprechen « 

Dieser Rousseau'sche Brief wurde erst im Jahre 175Q 
und zwar durch eine Indiskretion veröffentlicht, Voltaire 
selbst hatte seinerzeit Rousseau nur den Empfang bestätigt. 
Dieser Umstand aber scheint mir sehr die von da an wach- 
sende gereizte Empfindlichkeit Rousseau's zu erklären; und 
diese meine Annahme wird durch eine Stelle in seinen 
»Bekenntnissen^ vollauf bestätigt. Denn dort heißt es: 
»Später hat Voltaire die Antwort, die er mir versprochen, 
aber nicht gesandt hatte, veröffentlicht Sie besteht in nichts 
anderem als in dem Roman sCandide , von dem ich nicht 
reden kann, weil ich ihn nicht gelesen habe.« Wenn 



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— 353 — 



Rousseau eine Schrift von Voltaire nicht las, so kann das 
offenbar nur in grollender Stimmung^, in gekränktem Gefühl 
wegen der seinerzeitigfen Nichtbeantwortung seines Schreibens 
seine Erklärung finden. Und man kann überhaupt die 
gereizte Stimmung und den später hervortretenden Haß 
Rousseau's ge^^en Voltaire vollständig durch den Ärger da- 
rüber erklären, daß seine Schriften, mit Ausnahme des Be- 
kenntnisses des savoyschen Vikars und der Partie über den 
Selbstmord in der »Neuen H^loise«, von Voltaire niemals 
ernst genommen wurden. Wenn dieser Rousseau's Ideen 
oder Schriften einer Besprechung unterzog; so geschah dies 
stets entweder in Form der Satyre oder gutmütiger, aber 
darum doch nicht minder verletzender Scherze oder — in 
Privatbriefen — durch derbe Ausdrudesweise in der Aigu- 
mentation. So hielt es ja Voltaire vom zweiten Discours 
Rousseau's angefangen, bis zu »Emüec, der »Neuen H^loise« 
und dem »Oesellscluiftsvertnig«. 

So ernst und im Grunde sachlich diese permanente 
Opposition eines Naturelis wie jenes Voltaire's gegen die 
AuBerungen eines so en^egengesetzten Naturells, wie jenes 
eines Rousseau, auch war, so ist es doch leicht zu verstehen, 
daß dieser Uber sie tief geloinlct sein mufite^ und der Aus- 
druclc »Hanswurst«, den er in seinen Briden, namentlich 
in den nach Oenf gesandten der GOer Jahre ti^ügüch Vol- 
taire's gebrauchte, zeigt deutlich, welcher Art Rousseaus 
Wut gegen Voltaire eigentlich war. 

Der verietzten Eitelkeit schreibe ich es mit zu, daß 
Rousseau im Jahre 1758 jenen — schon oben erwähnten — 
Briet an d'Alembert über das Theater schrieb, in dem es 
nur auf Voltaire abgesehen war; und dies mit der echt 
Rousseau sehen — leider muß man auch sagen: jesuitischen 
oder auch pfäffischen — Art, den Angeg-riffenen in einem 
unterp^eordneten Punkte zu loben, um ihn scheinbar un- 
parteiisch und sachlich desto mehr tadeln zu können. 
Rousseau nahm nämlich ausdrücklich die beiden Voltaireschen 

Popper, Voluire. 23 



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— 354 - 



Dramen: ^Zalre und Casars Tod von den »verderben- 
bringenden« Theaterstücken aus. Zugleich leitete er in Genf 
eine förmliche Agitation gegen Voltaire's Theater-Bcstre- 
himgen ein; an den Dr. Tronchin schrieb er (am 27. No- 
vember 1758): *Es Wörde ein Unglück sein, wenn Ihre Ein- 
sicht und Ihr Einfluß die Komödie nicht verhinderten, in 
Genf festen huli zu fassen und sich vor unseren Toren zu 
behaupten ; Rousseau wollte also Voltaire die Freude an 
einem Theater — das für diesen zeitlebens eine wahre Leiden- 
schaft und Quelle des höchsten Veiignflgens war — nicht 
einmal in seinem dgoien Hause gönnen. Bei der detail- 
lierten Betrachtung von Rou$seau*s Vofgehen in dieser 
ganzen Angelegenheit erstaunt man über die Vehemenz 
seiner Agitation; man kann sich sie nicht erklären, ja man 
kann ihm kaum Aufrichtigkeit in seiner flbermiBigen Smge 
wegen des »Unheils« dutdi ein Theater in Genf zutrauen. 
Man muß aber bedenken, daß diese Heftigkeit In der Fonn 
und sein lautes Geschrei daher rflhiten, daß er Voltaire weh 
tun wollte; und daß andererseits die theaterfeindliche Oe- 
sinnung sdbst nur ein Teil und ein Ausfluß der Genfer Er- 
ziehung und der ganzen hdmaflichen Atmosphäre war. 
Denn sdt Calvin war es Grondsafz Im Genfer Staat darin 
Frömmigkdt und Tugend zu sehen, wenn man nidit nur 
sich sdbst weltliche Freuden entzieht, sondern womöglich 
und in strengster Weise auch anderen jede solche Freude 
verdirbt. Daher ließ ja auch Calvin sogar Knaben züch- 
tigen, die an einem Sonntag auf der Straße sich unterhalten 
und getanzt hatten! 

Dieser gallige Keim, andern gern die Freude zu ver- 
derben, pflanzte sich in Genf fort und war überdies ganz 
speziell in Rousseau in hohem Orade von Natur aus vor- 
handen. Seine ganze Opposition gegen alle Errungenschaften 
und Annehmlichkeiten der Kultur — für welche Annehmlich- 
keiten er selbst, wenigstens im allgemeinen, keine Hinneigung 
hatte — erklärt sich nach meiner Mdnung am einfachsten auf 



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— 355 — 



diese Weise. Kam nun eine so große Begabung für morati- 
siefendeDistinktion und Argumentation zu diesem überaus gal- 
ligen Temperament, so war damit das Vorhandensein einer ori- 
ginellen — aber eben durch die Opposition sehr nfltzUdaen — 
Persönlichkeit geg^dben, der man zwar durchaus nicht nach- 
ahmt^ der man aber doch erhöhte Aufmericsamkeit auf vor- 
handene Schäden veidankte. Aber — diese Negathre darf 
nun nicht flberschStzen; es wäre, nur etwas bmgsamer, 
auch ohne Rousseau gegangen! Andererseits trifft das 
hier Gesagte nicht die positiven ganz enormen Leistungen 
Rousseau^ von denen oben die Rede war: die »neue 
Seele« seit der »Nouvelle H^loise« und cHe verbesserte Er- 
ziehungsmethode (seit dem »Emile«), die Erhöhung der 
Würde der einzelnen Persönlichkeit (durch seine politischen 
Abhandlungen). 

Rousseau steht auch nicht allein mit der Lust am 
Freudeverderben, welche Lust ihrem Besitzer in der Form 
von Tugend und Frömmigkeit erscheint. Er hat mehrere 
Brüder, die sehr weit in der Zeit auseinanderstehen, näm- 
lich nicht weniger als fast vierhundert Jahre. 

Der Grundkerl von ihnen allen war Savonarola, dann 
kam Calvin, dann Rousseau, dann Robespierre. 

Ohne jeden Funken von Heiterkeit, Humor oder Liebens- 
würdigkeit, absoiut unfähig zu Oefühlen von Freundschaft, 
dabei von höchster Uneigennützigkeit, waren sie bis zum 
CxzeB von dem Trieb erfüllt, den Menschen die Freude zu 
verderben, und nicht weniger von dem Fanatismus» ihre 
religiösen oder politischen Ideen — selk>st bis zum Menschen* 
mord — rfldcsichtslos durclizuföhren. 

Savonarola wurde nur t»ei Zeiten selbst verbrannt, 
sonst hätte er» wenn sdn System sich hätte ungestdrt 
weiter entvirickdn kflnnen» andere veibiannt Calvin ver- 
brannte Servet Rousseau will im Contrat social jeden' 
hinrichten lassen, der die »bfirgerliche Religion« verleugnet, 
und sein SchtUer, Robespterre Ue6, um nur den einen Fall 

23* 



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— 356 — 



hervorzuheben» Anacharsis Qoots w^gen sdnes Atheismus 
guillotinieren. 

Wehe der Menschheit, wenn sie die Männer 
mit sogenannten »strengen Tugenden« zur Macht 
kommen läßt! — 

Doch kehren wir zu Voltaire und Rousseau zurflck. 

wahrend Voltaire die Jahre hindurch Rousseau gegen- 
Ober gänzlich harmlos war, wuchs in diesem der Oroll 
gegen Voltaire immer mehr, und als die »Nouvdle H^loise« 
einen so enormen Lärm in der Oesellschaft machte, kannte 
Rousseau in seiner Aggression keine Rücksicht mehr. Im 
Juni des Jahres 1760 richtete er an Voltaire einen Absage- 
brief, dessen Schlußsatz in seiner Brutalität beinahe uner- 
reicht ist. 

»Ich liebe Sie nicht, mein Herr, schreibt Rousseau an 
Voltaire, der ihm ^ar nichts getan hatte, als im Gluck und 
Ruhm zu leben und in Genf selbst angenehm zu verkehren, 
»Sie haben mir den für mich, Ihren Schüler und Bewunderer, 
empfindlichsten Schmerz ziigefiig-t. Sie haben Genf für das 
Asyl, welches Sie dort fanden, ins Verderben gebracht.*) 
Sie haben mir meine Mitbürger entfremdet, zum Lohne für 
den Betfall, den ich dort an Sie verschwendete. Sie sind 
esi der mir den Aufenthalt in meiner Heimat unerträglich 
macht. Durch Ihre Schuld werde ich auf fremder Erde 
sterben müssen, jedes Trostes beraubt, den man Sterbenden 
gewährt und man wird mich verächtlich in die Orube eines 
Schindangers werfen, v^rend Sie in meinem Lande alle 
Ehren bekleiden werden, die ein Mensch erwarten kann. 
Kurz, ich hasse Sie, da Sie es gewollt haben, aber ich 
hasse Sie als ein Mensch, der viel mehr verdiente, Sie zu 
lieben, wenn Sie es gewollt bitten.« 

Soll Rousseau's Charakter verstanden sein, so müssen 
die Hauptstellen dieses merkwürdigen Schreibens näher be- 

*) NiiDlidi: durch Theatenmtelliuigeii. 



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— 357 — 



leuchtet werden; derjenige, der diese Dinge nicht näher stu- 
dierte, kann sie sonst nicht nach Gebühr würdigen. 

Mit dem Satze: »Sie haben Genf für das Asyl, welches 
Sie dort fanden, ins Verderben gebracht, vergleiche man 
die Stelle in Rousseau's Brief an d'Alembert über das 
Theater , in der das Lob gerügt wird, welches d'Aleinbert 
in dem Artikel ^Genf* der Encyclopädie den Genfer Pastoren 
wegen ihrer aufgeklärten Oesinnungen spendete. Rousseau 
meint: man dürfe nicht jemanden wegen solcher Eigen- 
schaften loben» welche man wohl selbst für rühmenswert 
hält, gegen welche aber der Gelobte, da er durch solche 
»schändliche Lobsprüche« beleidigt wird, protestieren muB. 

Nun: genau das hier Getadelte tut Rousseau» indem er 
Voltaire vorwirft» Genf »verdorben« zu haben; denn dieser 
war durchaus nicht der Meinung, daß das Theater Genf 
verderben werden wenn auch Rousseau das als eine not- 
wendige Konsequenz» <8e jeder im voraus wissen mttsse^ 
ansieht. Der Ausdruck »zum Dank« verschärft die Un- 
gerechtigkeit dieses Rousseau 'sehen Oedankenganges noch 
mehr, indem er Voltaire eine bewußte boshafte Undankbar- 
keit und Rücksichtslosigkeit gegen Genf unterstellt 

Der Satz: »Sie haben mir meine Mitbürger entfremdet« 
enthält eben die fortwährende ganz grundlose Verdächtigung, 
Voltaire intriguiere gegen Rousseau. Wie gewöhnlich sehr 
empfindliche Menschen die am w^enigsteri zartfühlenden sind 
und stets zu den leichtsinnigsten und gewissenlosesten 
Verdächtigungen hinneigen und hierdurch viel tiefer und 
immer wiederholt, wenn sie auch noch so oft durch die Er- 
fahrung von der Unbegründetheit ihres Mißtrauens Aber* 
zeugt werden, gerade die edelsten Menschen in kränkenderer 
Weise verletzen, als es einfach grobe Naturen tun können, 
so benahm sich Rousseau hier gegen Voltaire; wie ja 
auch gegen andere Männer seiner Bekanntschaft 

Mit Recht sagte daher ein neuerer französischer Schrift- 



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sldlcr: Oeflhriich war ts, Voltaire tum Feinde^ aber noch 
gefähificher, Rousseau zum Fieunde zu haben. 

Nichts Tatsächliches lag vor, das die Verdächtigung 
rechtfertigen konnte; dennoch verleumdete Rousseau Voltaire 
in allen seinen Briefen und in seiner Umgebung so be- 
harriich, daß man in Paris schon begann, seinen Ver- 
dächtigungen Glauben zu schenken. D'Alembert wandte 
sich an Voltaire um Auskunft, und dieser antwortet ihm 
(am 15, September 1762): ^Wie kann man denken, daß ich 
Jean-Jacques verfolgt habe? Das ist eine sonderbare Idee, 
eine absurde Idee. Ich habe mich über seinen «Emilec 
lustig gemacht, der gewiß eine platte Personnage ist, sein 
Brief hat mich gelangwetit. Aber es gibt trotzdem darin (im 
»Emile«) fünfzig Seiten, die ich in Marocquin einbinden 
lassen mOchte.*) In Wahrheit: Sehe ich darnach aus, 
jemanden zu verfolgen? Olaubt man, ich habe großen 
Kredit bei den Bemer Priestern? Ich versichere Sie, daß 
die Priesterschaft von Genf» wenn es ihr möglich gewesen 
v/in, die kleine Zflcht^n^ die sie Jean-Jacques zuffigte^ 
gerne mir selbst zugefügt hätte« 

Rousseau lamentiert dann in seinem Schreiben darüber, 
er werde durch Voliaire's Schuld »auf fremder Erde sterben 

müssen, jedes Trostes beraubt, den man Sterbenden ge- 
währt u. s. w.« Hiermit vergleiche man die Stelle seines 
Briefes vom 18. Februar 1758 an Pastor Vernes in Genf, 
der ihn nach Oenf eingeladen hatte: Wozu würde es 
mir dienen, wenn ich mich zu Euch begehe, um zu 
sterben? Ach, ich hätte dort leben sollen! VC^as kommt 
darauf an, wo man seinen Leichnam läßt?« 

Da muß man doch fragen: Wo hat nun Rousseau seine 
wahre Meinung ausgesprochen? Ich beantworte diese 
Frage dahin, er habe je nach den Umständen bald das Eine^ 
t>ald das Entgegengesetzte gesagt 

*) Nämiich: Das Glaubensbekenntnis des Vikars. 



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— 350 — 



Das hieße Komödie spielen? — Gewiß, aber nicht nur 
vor den anderen, sondern auch vor sich selbst. Rousseau 
war eben furchtbar irritiert darüber, daß Voltaire in Genf 
behaglich lebte und in Ansehen stand, er selbst aber nicht 
jene Anerkennungen und Ehrenbezeugungen erhielt, auf die 
er so sehnsüchtig wartete. »Sie, der Sie sagen,« schreibt 
er am 30. Mai 1762 an Moultou, »daß man mir in Genf 
so wohl will, antworten Sie mir über das Faktum, welches 
ich Ihnen jetzt vorlege. Es gibt keine Stadt in Europa, deren 
Buchhändler nicht mit dem größten Eifer Bestellungen auf 
meine Schriften machten. Genf Ist die einzige, wo Rey 
(Rousseau's Verleger) kein Exemplar des Oesellschafts* 
Vertrags absetzen konnte. Nicht ein einziger Buch- 
händler hat sich damit befassen wollen ...... 

Und im April 1702 ebenfalls an JMoultou: »Können Sie 
glauben, daß ich nicht bemerke, wie mein Ruf die Augen 
meiner Mitbürger verletzt? Und daß, wenn Jean -Jacques 
nicht ein Genfer wäre, Voltaire dort weniger gefeiert 
würde? Es gibt nicht eine Stadt in Europa, von der nicht 
Besuche nach Montmorency*) kommen, aber man bemerkt 
niemals die Spuren eines üenters " 

Rousseau hat also immerwährend den Kopf voll von 
eifersüchtigen und haßeriüllten Vergleichen zwischen sich 
und Voltaire, wobei er sich einbildet, nicht nur der tugend- 
haftere, sondern auch überhaupt bedeutendere von beiden 
zu sein. 

Da ihn Ptotor Vernes zu dnem Besuche nach Genf 
einladet, antwortet Ihm Rousseau (am 14. Juni 1759): »Was 
würde ich in Ihrer Mitte sein? In Gegenwart eines Meisters 
in Scherzen, der Sie so gut unterrichtetl Se würden mich 
sehr lacherlich finden, und wir würden uns schwer ver- 
ständigen.« 

Noch deutlicher zeigt sich der heftige Trieb Rousseau's, 

*) Scineni damaUsen Aufenthalte. 



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— 360 — 



sich über Voltaire zu erheben, in seinem Schreiben (vom 
21. März 1763) an MouUou, in dem er sagt: 

OewiB ist es auch das beste, was Voltaire für seinen 
Ruhm tun kann, sich mit mir auszusühnen;c, und am 
31. Mai des Jahres 1766 schreibt Rousseau von Wotton aus 
an dlvernois: »Voltaire hat einen an mich gerichteten 
Brief drucken und durch seine Freunde verbreiten lassen, 
in dem die Arroganz und Brutalität ihre Gipfel erreichen 
und in dem er sich bemüht, mir den Haß der Nation zu- 
zuziehen Der törichte Stolz, den dieser arme Mann 

affddier^ ist dne Licheriichkeit» die von Tag zu Tag zu- 
nimmt .... Er ist so dnfiUtig, daß er itichts anderes tut, 
als aller Welt zu zdgen, wie er sich meinetwegen 
ängstigt« 

Wie man sieht, denkt Rousseau immerwährend an 
Voltaire als an seinen giflddichen Nebenbuhler; und wenn 
man sich an die vielen stoischen Redensarten in seinen 
Schriften erinnert, so erscheint diese kleinliche^ fast schaler- 

mäßige Eifersucht auf Ruhm gewiß sehr sonderbar. Aber 

Rousseau war in der Tat von einer nahezu cholerischen 
Eitelkeit; und er wurde von ihr doppelt gequält, denn er 
dachte immer daran, daß es für einen so strengen Philo- 
sophen und Tugendhelden doch nicht passe, eitel zu sein, 
aber sein Naturell trieb ihn doch immer wieder dazu, be- 
wundert oder mindestens angestaunt zu werden. In letzterer 
Beziehung ist es charakteristiscli, da(i er in Montmorency, 
wo er Oast des Marschalls und der Marschallin Luxemburg 
war, wo also die feinste Pariser Gesellschaft hinkam, 
nicht nur unwissentlich, sondern auch wissentlich Ver- 
stösse gegen das Zeremoniell beging.*) 

Und was den Innern Kampf zwischen seiner Eitelkeit 
und seinem e^;enen Tadd dieser Eitelkeit betrifft» so ist eine 
Eriahrung der Fiau von Oenlis ungemein belehrend. In 

*i Nadi Mabrenholtz: J. J. Rousseau (S. 84). 



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— 361 



seinem Buche: Über Helden und Heldenverehrung« erzählt 
Carlyle: »Frau von Oenlis nahm einmal Rousseau mit ins 
Theater; er hatte sich strengstes Inkognito ausbedungen 
— »er wollte iim alles in der Welt' nicht dort gesehen 
werden.« Zufälligerv^eise wurde der Vorhang dennoch etwas 
gelüftet: Das Parterre erkannte Jean Jacques, beachtete ihn 
aber nicht sonderlich! Er sprach seine größte Entrüstung 
aus, blieb den ganzen Abend über verstimmt, und sprach sehr 
mürrische Worte. Die kluge Gräfin gewann die feste 
Überzeugung, daß er nicht zornig war, weil er gesehen 
wurden sondem, weil man ihm nicht zujauchzte^ als er ge- 
sehen wurde.« 

Nimmt man zu diesen Tatsachen noch die immer- 
währende Sdbstbespiegelung, sowie das von sich in der 
Art Casars sprechen: »Jean Jacques,« anstatt »ich« und 
derlei Details mehr, so ericennt man die ganze eitle Natur 
Rousseau's in voller Deutlichkeit ^ 

In der Art der Beurteilung seines Charakters erging es 
^ und eilgeht es heute noch — Rousseau genau entgegen- 
gesetzt wie Voltaire. Dieser gilt, entgegen allen Tatsachen, 
fOr zu schlecht, jener Iflr zu gut. Man kennt eben das 
zu wenig, was die intimere Umgebung Rousseau's von 
ihm hielt. 

Grimm schrieb (im Jahre 1762): »Bis dahin (nämlich bis 
zum Erfolg seiner ersten Preisschrift für die Akademie von 
Dijon) war er ein Mann der Komplimente, galant, geziert, 
honigsüß im Umgang und durch forcierte Redewendungen 
beinahe ermüdend. Plötzlich aber hüllte er sich in den 
Mantel des Zynikers, und, ohne Naturiichkeit des Charak- 
ters, warf er sicli auf das andere Extrem. Aber, während 
er mit seinen Sarkasmen herumwarf, verstand er es doch, stets 
Ausnahmen zu gunsten derjenigen zu machen, mit denen 
er lebte, wie auch mit seinein brijsken und zynischen Ton 
viel von jenem Raffinement und jener Komplimentier-Kunst 
ZU vereinigen; das tat er besonders im Umgang mit Frauen.« 



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— 362 — 

Da Grimm sich mit Rousseau entzweit hatte, so m iii- 
traute ich dieser Schilderung. Aber sie wird in ihrer Wahr- 
heit vollkommen durch Äußerungen eines absolut zuver- 
lässigen Mannes bestätigt, nämlich des als überaus unpar- 
teiisch, nüchtern und redlich anerkannten d'Alembert. Denn 
in seiner Beurteilung des 'Emile sa^ er: >Man muß 
Rousseau so genau gekannt haben wie ich, um zu sehen, 
in welchem Maße sein Oeist an Schwungkraft gewann 
durch die Kühnheit, attes anzugreifen: ich habe ihn vor 
ungefähr zwanzig Jahren gesehen, da war er bedächtig^ 
furchtsam und beinahe ein Schmeichler . . .« 

Und an anderer Stelle lobt d'Alembert eine gewisse 
Stelle im »Emile«, indem er hervorhebt, sie sei »wahr, ver- 
nflnfüg, ohne Übertreibung und ohne affektierten 
Zynismus.« 

Namentlich in Deutschland wurde Rousseau's Charakter 
unrichtig aufgefaßt, indem man in ihm ein Muster von 
Tugend und Edelmut sah. Diese Täuschung wurde da- 
durch hervoigerufen, dafi Jean-Jacques in so heftiger Weise 
gegen die damalige Pariser Oesellschaft, namentlich ihren 
Luxus» auftrat, und so lebhaft fQr sogenannte Einfachheit 
der Sitten schrieb. Nun befand sich damals die ganze Be- 
völkerung Deutschhmds, selbst das Publikum der größten 
Städte, noch in einem außerordentlich primitiven Zustande 
des häuslichen wie des gesellschaftlichen Lebens, voll von 
der philiströsesten Auttassung des Lebens überhaupt und 
in dieser Enge des Geistes daher gerne und stets geneigt, 
Olanz und Luxus, Oeist und freieres Benehmen im Verkehr 
der Geschlechter für unmoralisch anzusehn; genau so, wie 
mitunter noch heute Dorf- oder Provinzbewohner alles 
städtische Leben, jede gelehrte oder geistreiche Konversation, 
in unbewui^tem Neidgefuhl für sündhaft oder mindestens 
unsittlich an sehn. 

Da kam nun Rousseau den Deutschen als Strafprediger 
gerade recht, und sie faßten ihn als einen Sittenprediger 



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— 363 — 



von reinster Seele auf; noch heute hält man ihn daher für 
einen Brennpunkt von > Tugend , Voltaire aber, genau aus 
demselben Q runde, für frivol. — 

Hier scheint es mir auch am Platze, die Frage zu be- 
handeln, ob Rousseau wirklich alle jene Ansichten oder 
besser: Gefühle besaß, denen er so beredten Ausdruck zu 
geben wußte, oder ob er sie nur vorheuchelt^ also bloß ein 
glänzender Schauspieler war. 

Meine Ansicht ist die: daß beides zugleich der 
Fall war. 

Man begegnet Im Leben mitunter Menschen» und 
namentlich Frauen, denen es an edlen Oefflhlen nicht mangdl, 
sei es gegenQber ihrer näheren Umgebung, sei es gegen- 
Ober Kunstwerken, die aber zugleich den Drang haben, sich 
an ihren e^;enen Oefflhlen zu berauschen, sic^ wie eine 
Katze den Knäuel, hin- und herzuwerfen, und das alles 
weniger zu ihrem e^;enen Veignflgen, als zu dem Zwecke^ 
ihre schönen Oeffihle vor anderen zu zeigen. Komödie ist 
aiso unbedingt dabei, aber Gefühle sind darum nicht minder 
vorhanden. 

Genau so können wir von Rousseau, der Oberhaupt 
eine weibliche Natur war, sagen: Er war ein Schauspieler, 
aber kein Heuchler. Und infolge der Gleichzeitigkeit von 
Oefuhl und Schauspielerei entwickelte sich bei ihm ein sehr 

merkwürdiger psychologischer Prozeß : Das eine erhöhte 
das andere und wieder umgekehrt, und so verstärkten sie 
sich gegenseitig und trieben sich wechselseitig immer mehr 
in die Höhe. 

Man könnte diesen Prozeß wohl am besten mit jenem 
an einer Dynamomaschine vergleichen, bei welcher der 
Magnet den Strom im Anker hervorruft, dieser Strom dann 
den Magnet verstärkt, letzterer den Ankerstrom erhöht, und 
sofort, bis der elektrische Strom sein mögliches Maximum 
erreicht. Eine solche Hintereinanderschaltung von zwei 
Faktoren, die sich gegenseitig in die Höhe treiben, treffen 



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- 364 — 



wir auch in Rousseau*s Charakter, bei dem Geföhl und 
Schauspielerei sich gegenseitig immer mehr verstärken, bis 
sie endlich jenen Strom der Beredtsamkeit in seinen Schriften 
hervorbringen, der vielleicht in der ganzen Weltliteratur 
nicht seines Gleichen hat. Und nunmehr verstehen wir es 
auch, warum diese Beredtsamkeil nur in Rousseau's Schritten 
und nicht auch nur entfernt in seiner mündlichen Unter- 
haltung 7u finden war; er brauchte eben Zeit, um einen 
relativ scluvachen Kern von Gefülilen durch seine 
reflektierende ScliauspielertätiL^^keit zu verstarken, das so er- 
höhte Gefühl erregte wiederum die Schauspielerei u. s. w., 
derlei konnte aber bei Rousseau's schwer beweglichem 
Geiste, da es ein willkürlicher und kein spontaner Prozeß 
Ist, nicht rasch vollzogen werden, es mußte eben gemacht, 
mußte sozusagen fabriziert werden, obwohl der Autor am 
Schlüsse seiner Tätigkeit sich selbst dieselbe Rührung und 
Ergriffenheit suggeriert haben mag, wie der Leser seiner 
Deklamation sie fühlt, und jener dann selbst glaubte, es sei 
das alles — Natur. 

So kommt es, daß gerade jener Mann, der nicht auf- 
hörte von Natur, Ungekflnsteltheit, Einfachheit usw. zu 
schwSrmen, den erktlnsteltsten und berauschendsten Stil be- 
sitzt, was ja so oft hervoigehoben wurde und worüber sich 
schon d'Alembert, Kant, Btanger u. a. aussprachen, ja be- 
klagten; während jener Mann, der nie mit Nahir, Einfach- 
hdt und deigleichen viel Aufhebens machte und den man 
sich gar nicht anders vorstdien will, als im L4ixus, in ver- 
bildeter Oesdlschaft und in Unnatur id>end, den dnhichsten, 
ungezwungensten, ungeziertesten Stn besitzt, dem wh* wenig- 
stens bd europäischen Schriftstdlem begegnen.*) Voltaire 
ist sogar noch einfacher und unmittelbarer als Montaigne, 
der, wenn man genauer hinsieht, mit seiner Offenheit und 
Ungebundenlieit selbst etwas kokettiert. Und man begreift 

*) Nur Julius Cäsar besitzt eine ebenso einfache Schreibweise; lie 
ist noch nackter, aber dafür weniger lebendig als jene Voltaire's. 



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— 365 — 



es auch sehr gut, daß Voltaire, wie Wagniere erzählt, genau 
so gut sprach wie schrieb, und daß man ganz den gleichen 
Eindruck hatte, ob man ihn las oder ob man ihn hörte; 
genau so, wie das bei Goethe der Fall war, der ebenfalls 
stets nur an die Sache und nicht an den Effekt dachte, in 
jedem Augenblicke alles Erlebte und alle darüber angestellten 
stillen Betrachtungen gegenwärtig hatte, oder es im ge- 
gebenen Falle seiner Reflexion so unterwarf, als ob es erst 
sodien in seinen Kreis getreten wäre. Nur das Tempera- 
ment macht zwischen Goethe und Voltaire einen Unter- 
schied. Denn, wie sich Taine ausdrfidd, »Voltaire denkt in 
Explosionen.« 

Wenn aber iigend jemand daran zweifeln wollte, ob in 
Rousseau ehi Fond von Komödiantenium steckte^ so sei nur 
an jene Fälle erinnert, in denen dieses ganz unverhfittt und 
nackt, d h. ohne Oleichzeitigkdt höheren OefQhls, zutage 
trat Man lese z. B. seinen Brief an Friedrich den Großen, 
als dieser dem damals verfolgten Rousseau ein Asyl in 
seinem Staate anbot 

»Sie wollen mir Brot getien,« antwortet Rousseau, 
»gibt es unter ihren Untertanen keinen, dem es 

daran fehlte? « Diese ganz deplacierte Pose 

macht wohl auf jeden Menschen von ehrlichem Naturell 
einen höchst widerwärtigen Eindruck, und derlei theatralische 
Attitüden Rousseau s waren ja dann in der französischen 
Revolution das Vorbild zu vielen ähnlichen pathetischen 
Phrasen und Tiraden! 

Wenn wir also alles zusammenfassen, so erblicken wir 
in Rousseau s Charakter die Gleichzeitigkeit von Eigen- 
schaften, die begrifflich einander ausschließen: Edles, 
ästhetisches und moralisches Gefühl und Schauspielerei, 
Mitgefühl — mit unzivilisierten — und Groll und Mißgunst 
— gegenüber hoch kultivierten Menschen. 

Und auch diese zwei Stimmungen, nämlich das Mitge- 
fühl und der OroU triet>en bei Rousseau ein ähnliches Spiel 



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— 366 — 



miteinander wie seine allgeineine Schwärmerei mit seinem 
Komödiantentum» denn auch sie reagierten gi^gendnander, 
bis sie die mögliche Grenze der (Dberhitzung erreicht 
hatten. 

Aber aus nichts wird nichts; um einen solchen Prozeß 
möglich zu machen, mufi er eben beginnen können, einer 
der beiden Faktoren muß also zu Anfang da sein, so wie 
bei dem Prozeß der Dynamomaschine wenigstens eine Spur 
von JMagnelismus in den Magnetsdtenkehi vorhanden sein 
muß^ und wie auch ein gewisser Fond von Schwärmerei in 
Rousseau*8 Sede jedenfalls gesteckt haben muß, bevor seine 
Schauspielerei zu wiiken binnen konnte So mußte auch 
entweder MitgefQhl mit den niedrig gestellten Volksklassen 
oder Groll gegen die glänzende Puiser Oesellschaft im 
Vofhineui vorhanden sein. Aus allem nun, was ich von 
Rousseau weiß, schließe ich, daß der Groll zuerst vor- 
handen war, namentlich die oben erwähnten Aussprüche 
von d'Alembert und Grimm bestärken mich in dieser An- 
nahme. 

Der morosen Anlage in Rousseau*s Naturell verdanken 
wir also den großen Fortschritt, daß immer mehr selbst 
das niedrigst gestellte Individuum innerhalb der europäischen 
Gesellschaft seine menschliche Würde und seine Menschen- 
rechte zu fühlen b^ann. 

Nun kehren wir abermals zu dem Konflikte zwischen 
Voltaire und Rousseau zurück. 

Wie benahm sich jener den Angriffen Rousseau's ge* 
genat>er? 

Als er jenen oben zitierten beleidigenden Absagebrief 
mit dem Schlußsatz: »Ich liebe Sie nicht, mein Herr . . . .c 
erhielt, schrieb er an Thieriot: »Ich eiiiielt einen langen 
Brief von Jean Jacques Rousseau, er Ist ein kompleter Narr ge- 



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— 367 — 



worden, schadete . . . und im März 1761 an d'Alembert: 
Dieser Erznarr, schreibt ge^en das Theater, nach- 
dem er eine schlechte Komödie gemacht .... verläßt seine 
Freunde; schreibt mir den impertinentesten Brief, den je 
ein Fanatiker p;ckritzelt hat. Er tut mir zu wissen: ,Sie 
haben Genf korrumpiert, für das Asyl, das es Ihnen gei^eben;* 
als ob ich mich je darum bekümiTicrl hätte, die Sitten von 
Genf zu mildern, als ob ich irgend ein Asyl nötig, oder 
irgend eine Verpflichtung gegen diese Stadt hätte. Ich 
antwortete gar nicht auf diesen Brief.« An Damilaville zur 
selben Zeit: ». . . . Er beleidigt mich mit heiterem Herzen, 
mich» der ich ihm nicht bloß ein Asyl offerierte, sondern 
auch mein Haus» wo er wie ein Bruder gelebt hätte«; und 
an denselben am 31. Juli 1761: »Ohl Wie wQrden wir 
diesen AAann wertgehalten haben, wenn er icein falscher 
Bruder gewesen wSre!« Wiederum an Damiiaviüe im Jahre 
1764 : »Ein Aizt mfifite an Jean-Jacques ehie Bluttransfusion 
vornehmen und ihm anderes Blut in die Adern spritzen, 
sein jetziges ist eine Komposition aus Vitriol und Arsenilc 
Ich halte ihn fflr einen der unglücklichsten 
Menschen, weil er einer der bösesten ist« Im Jahre 
1765: »Es ist greulich, dafi es einem solchen Schurken 
gegeben war, das Glaubensbekenntnis des Vikars zu 
schreiben « »dieser Judas der Bruderschaft « 

Und bei aller dieser Entrüstung hatte Voltaire noch 
immer, wie seit jeher, eine gewisse Sympathie für Rousseau. 
»Seien Sie versichert, daß unter allen jenen, die Ihre Schriften 
gelesen haben«, schreibt einmal dieses urgutrnütige Oroß- 
Genie an Rousseau, > niemand Sie mehr schätzt, als ich — 
trotz aller schlccfiten Scherze.« 

Dem entsprechend gal) Voltaire Moultou gegenüber seinen 
Wunsch zu erkennen, daü sie beide sich doch miteinander 
vertragen und aussöhnen sollten. Als aber Moultou Rousseau 
hier\'ün benachrichtit^te und ihm mitteilte, nach der ganzen 
Haltung Voltaire s in ihrer Unterredung, »würde ich (Moultou) 



L-'iyuizuü by VjOOQle 



— 368 — 



schwören, daß er Sie liebt«, meinte Rousseau, Voltaire sei 
immer nur ein Komödiant, der seine Rolle meisterhaft 
spielte der »den Ton zu wechseln weiß, je nach den 
Leuten und ^wenn er aufrichtig zurückkehrt, öffne 

ich ihm meine Arme. Es ist das beste für seinen Ruhm, 
sich mit mir zu versöhnen.« 

Bei einer solchen Beharrtichkdt, Voltaire zu verdächtigen 
und der ebenso unberecht^en als beleidigenden Zumutung^ 
daß dieser »aufrichtig zurfickkehre«, war wohl auf eine 
Versöhnung nicht mehr zu rechnen. 

Trotz alldem war er Rousseau im Innersten seines 
Wesens noch immer wohl gesinnt; und dafOr existiert eben 

jener unbezweifelbare Beweis von Voltaire*s unglaublicher 
Milde, Versöhnlichkeit und Mitleid mit dem Verfolgten, 
welchen wir einem Bericht des Fürsten von Ligne ) über 
seinen Besuch in Ferney entnehmen**) 

>Im Moment, wo er am heftigsten gegen Rousseau 
wütete,« schreibt der Fürst in seinen Mömoires du prince 
de Ligne, ^und im selben Augenblick, wo er ihn ein Mon- 
strum, einen Verbrecher nannte, gegen den es kein genügend 
strenges Gesetz gäbe, sagte jemand zu Voltaire: „Ich glaube^ 
er selbst ist es, der soeben in ihren Hof eintritt." „Wo ist 
er, der Unglückliche?" schrie er, ,,cr möoc nur kommen! Ich 
breite meine Arme aus, um ihn zu empfangen. Vielleicht 
ist er von Neuchatel und Umgebung davongejagt worden! 
Man hole ihn, führt ihn her zu mir, alles, was ich habe, soll 
ihm gehören!"« 

So sah Voltaire's Inneres einem seiner mit Orund ver- 
haßtesten Gegner gegenüber aus; von einer Heuchelei in 

*) Nach Maugras wie auch nach Desnoiresterres. 

Dieser Besuch fand vor der Denunziation in den Lettre« foites 
de la montafne statt, die dann allerdings Voltaire zur höchsten Enf- 
nistun^ brachten, der er aber sofort in den Senttments des citoyens 
Luft machte. Aucii die wildesten Reden Voltaire's in dieser Sdirift 
muß man ihm in Anbetracht der unerhörtoi Rouflseau'schen Provolaitiaii 
und Denunziation nachsehen« 



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— 3» — 



dieser Situation lonii absolut keine Rede sein» und nun 
möge iigend jemand^ namentiidi von jenen, die seinen Cha- 
rakter tadeln, hervortreten und ehrlich zu behaupten wagen, 
er besitze mehr Oflte in seinem Wesen als Voltaire! 

4 

* 

Es gibt aber noch eine ganz besondere Ookiprobe da- 
rauf, ob ein Mensch einen Kern von Oüte besitzt, das ist 
seine Fähigkeit, Freunde zu haben und ein Freund 
zu sein. 

Und da finden wir nun die schöne Tatsache, daß Vol- 
taire von fiüiier Jugend an bis in sein hohes Alter von 
Freundschaftsgefühlen erfüllt war und auch wahre Freunde 
besaß. 

-Niemand sprach je mit so viel Oefühl von dem Reiz 
der Freundscliaft wie Voltaire,^ sagt Lonp^champ, und das, 
was er an so vielen Stellen seiner Werke davon sagte, sei 
es in Vers oder Prosa, würde schon ^enÜL^eri, um uns 
zu überzeugen, wie sehr er selbst von diesem Gefühle durch- 
drungen war.« 

Welch' eine reiche Anzahl von Freunden und Freun- 
dinnen zählte er zu den seinen! Allerdings war diese Hin- 
neigung zur Freundschaft für ihn wie eine Quelle großer 
Freuden, so auch der Anlaß zu vielem Oram. Denn er hatte 
das Ungiack, schon in seiner Jugend mehrere Freunde zu 
vertieren, bmnders de O^nonville^ von dem er lebenslang 
mit größtem Bedauern sprach; der Tod des Präsidenten 
de Maisons und der Marquise du ChAtelet kosteten ihn 
nicht weniger TrSnen, und dann hatte er den Tod Vauve- 
naigues*, de Formont's und anderer zu beklagen. Anderer- 
seits hatte er das Olflck, nicht einige seiner Sltesten Freunde 
zu fiberleben» deren Umgang während nahezu sechzig Jahren 
die früheren Veriuste einigermaßen aufwog, so z. B. d'Aigen- 
tal, den Marschall Richelieu, die Marquise du Deffand« Bis 

Popper, V«ltMt«. 24 



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— 370 — 

zu ihrem Tode genoß er die tangjährige Freundschaft von 
de Cideville, d'Argenson, des Abbö d'Olivet u. a. Und in 
der Mitte seines Lebens gewann er noch neue Freunde^ 
denen er nicht minder anhinglich war, als den alten, wie 
de Saint-Lambert, Marmontd und d'Alembert 

Voltaire war unglaublich nachsichtig und flbersah mit 
grdßter Leichtigkeit Fehler an seinen Freunden. So machte 
er es auch mit Frau du Defiand» die nicht wenig boshaft 
(dabei auch ungut) war und während sie in ihren Briefen 
an Voltaire von Freundschaft und Bewunderung flberfloß, 
in den Pariser Gesellschaften sich ungerecht und rfldcsichts- 
los fll>er ihn Äußerte; aber, obwohl Voltaire von diesem 
allen wußte» bHd> er ihr immer gleich anhänglich. Es soll 
— wie Longchamp, dem ich diese Daten entnehme, mit- 
teilt — ziemlich viele Fälle gegeben haben, in denen sich 
die seltene Leiclitigkcit und Nachsicht kundgab, mit der 
Voltaire selbst über Unrecht und Undankbarkeit junger 
Leute, die er mit Wohltaten überhäuft und frijber für seine 
wahren Freunde gehalten hatte, hinwegsah und sich sogar 
hierüber unwissend stellte; wie er das besonders mit dem 
seiner unwürdigen Thieriot machte, von dem er sich nur 
darum nicht trennen wollte, weil ihre Verbindung schon von 
der Zeit her datierte, da sie beide aus dem Koll^ium aus- 
getreten waren. 

Man könnte hierin vielleicht einen Beweis von Schwäche 
erblicken, aber das wahre Motiv seiner Nachsicht war ein 
ganz anderes und ist ganz besonders geeignet, Voltaire's 
Charakter, seine Wärme und seinen Fond von Pietät ins 
Licht zu stellen. Wenn nämlich seine wahren Freunde Ihm 
Vorwürfe darüber machten, seine Verbindungen mit Per- 
sonen aufrecht zu halten, die sich durch ihre Undankbarkeit 
derselben unwürdig zeigten, so pflegte Voltaire bloß zu 
antworten: »Es ist etwas Heiliges in einer lange 
währenden Anhänglichkeit« Dieses OefQhl genflgte * 
bei ihm, um alles zu verzeihen. 



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— 371 — 



Und danach veiigleiche man Voltaire mii seinem Be* 
dflrfhis und seiner Fähigkeit fflr Freundschaft mit li)gend 
welchen anderen Mflnnem der Uteratur und Kunst. 

Wie kühl zeigen sich uns Schiller und Goethe dagegen, 
wenn wirnach der Wärme ihrer freundschaftlichen Beziehungen 
fragen. Es ist zwar riclitig, daß ihr gegenseitiges Verhältnis 
ein selten reines war, aber es war mehr ein objektiv kühles, 
vornehmes, und von ihren andern Freundschaftsverhältnissen 
konnten wir sehr wenig anführen, was sich auch nur ent- 
fernt mit der Fülle von Güte, Wärme, Offenheit, mit der 
ganzen Hingabe des Naturells vergleichen ließe, die wir 
bei Voltaire finden. 

Er brachte nicht bloß Wärme und Zartgefühl, er brachte 
sogar einen wahren Ungestüm*) In seine freundschaftlichen 
Oefflhle — seine Natur empfand es geradezu als ein Be- 
dCIrfhiSy sich zu attachieren und fOr andere zu interessieren;^ 
stets war er diensttiereit, und nie ließ er eine Gelegenheit 
vorübeigehen, ohne einen Freund aus Verlegenhelten zu 
reißen. Noch ganz jung, liebte er die Jugend und wünschte 
nichts sehnlicher, als in ihrer Mitte zu leben. Bemeikte er irgend 
ein aufkeimendes Talent, so waren sofort seine Ratschläge, 
seine Sympathie und seine Börse zur Stelle. Seine naive 
Natur sympathisierte oft mit ganz unfähigen, aber einfachen 
und geradsinnigen Menschen, bei denen er sich wohl fühlte. 

So hielt er es mit einem gewissen Linant, dem Sohne 
tiiner Gastwirtin, bei der er einst gewohnt hatte, einem ganz 
unbedeutenden Jüngling, den er unterstützte und zu dessen 
offenem und derbem Urteil er Vertrauen hatte. Als Voltaire 
sich anschickte, seine eben vollendete Zaire- den Schau- 
spielern vorzulesen, mußte Linant mitkommen. Ich wollte 
wissen, c schrieb Voltaire darüber an Cideville, *was so ein 
naives Herz und ein so geradsinniger Oeist darüber denkte 

*) Wie sich Desnoiresterres, dem ich das Material zu dieser Be- 
trachtung entnihiD, ausdrückt 

24* 



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372 — 



Wer wurde das bei Voltaire voraussetzen, der immer 
als der Über-Zivilisierte, als ein Geist hingestellt wird, der 
von aller Natürlichkeit entfernt, sich nur in den Salons ge- 
lehrter Frauen und der Pariser Schöngeister wohl fühlen 
konnte und nur das Urteil dieser Kreise als das einzig be- 
rechtigte ansah? 

Ein seltener Zug von Zartgefühl in seinen Freundschafts- 
gefühlen war unter anderen der folgende. Der oben erwähnte 
Thieriot, einer der jungen Freunde des noch sehr jungen Vol- 
taire hätte ihm dne betiächtliche Geldsumme fibeigeben 
sollen, behielt sie aber für steh und gebrauchte die Ausrede^ sie 
sei ihm während des Besuches der Messe gestohlen worden. 
Voltaire der nicht zu täuschen war, tat gar nichts weiter 
in dieser Sache, als daß er ihm schrid): »Dieses Abenteuer, 
mdn Freund, kann Ihnen wohl alle Lxist lienehmen, wieder 
In die Messe zu gehen, aber es soll ndch nicht daran 
hindern, Sie immer zu lieben und Ihnen für alle Ihre Be- 
mühungen zu danken.« Und an Destouches schrieb Voltaire 

über diese Sache: » ich wäre wohl unwürdig, 

Schriftsteller zu sein, wenn ich es nicht vorziehen würde, 
hundert Louisd'or zu verlieren, als meinen Freund in Ver- 
l^enhcit zu briiigen.« 

Nach diesem allen denke man nun daran, wie oft 
Voltaire als ein trockenes Herz, als gemütlos und als (be- 
sonders in seiner Jugend) geizig hingestellt wird; und man 
wird wohl einsehen, wie richtig meine Bemerkung zu An- 
fang dieser Monographie sei, daß kaum ein Mann so ver- 
leumdet, so falsch beurteilt wurde wie Voltaire. 

Und, was eddste Freundschaft betrifft, nun erst sein 
Verhältnis zu dem jung verstorbenen Otoonvilie! Eines 
der zartesten Freundschaftsverhältnisse^ von denen wir über- 
haupt Kenntnis haben. 

Dieser O^nonville, wie er sich nach seiner Mutter 
nannte war der Sohn dnes Parlamentspräsidenten in der 
Bretagne. Uebenswflrdig^ id)haft und obwohl er sich dem 



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— 373 — 

Richterstande widmen sollte, voll von Liederiichkeiten und 
Torheiten seines Alters. Diesem Jüngling wandte sich der 
junge Arouet (so hieß damals Voltaire noch) mit ganzem 
Herzen zu, und er ging darin so weit, ihn zum Vertrauten 
seiner Liebe, ja zum Dritten bei seinen Zusammenkünften 
mit seiner Geliebten, der schönen Schauspielerin Susanne 
de Livry, zu machen. Voltaire dachte gar nicht an die Oe- 
fahren eines solchen Vertrauens. Nicht lange, und Fräulein 
de Livry konnte den stürmischen Bewerbungen des liebens- 
würdigen und unbesonnenen Freundes ihres bisherigen 
Geliebten nicht widerstehen. Sie vergaß die herrlichen 
Plaudereien Arouet "s, den prächtigen Unterricht, den er 
' ihr in der Deklamation gegeben hatte, und verriet ganz 
einfach ihren Geliebten, wie Genonviüe seinerseits ihn 
verriet 

Aber hier erfolgte etwas, was von einer Gemütsart Vol- 
taire's zeugte^ die ohne Gleichen dasteht. Er wurde nicht 
eifersüchtig, geriet nicht in Wut, nahm sein Unglück mit 
Heiterkeit auf, und da er seine Geliebte verioren hatte, war 
das ein Orund mehr für ihn, nicht zugleich seinen Freund 
zu veriieren, den er mit so aufrichtiger Freundschaft liebte 
Er verzieh vollständig, und der sechsundzwanzigjflhrige 
Voltaire schrieb sich die Sache mit folgenden Versen vom 
Halse: 

>Je sais que par ddloyaut^ 
Le fripon nagu^re k tät6 

De !a maitresse tant jolie 
Dont j'^tais si fort entete. 
II rit de cette perfidie, 
Et j'aurais pu m'en courroucer; 
Mais je sais quil laut se passer 
Des bagatelles dans la vie.« 

So beliebt Genonviüe in allen Gesellschaftskreisen auch 
war, so hatte ihn doch niemand so gern wie Arouet »Der 
kleme O^onvUie schrieb mir einen wunderschönen Brief in 
Versen, ich antwortete ihm, aber nicht so schönte lautet ein 



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— 374 — 



Billei Arouet's an Frau von Minteure, »nuinchmal wQnsche 
Ich, daß Sie ihn nie kennen lernen, denn Sie 1c6nnien mich 
dann nicht mehr ausstehen.« 

Dieser so herrliche und begabte junge Mann starb aber 
sehr früh, und man muß nun sehen, wie nahe Voltaire 
dieser Tod ging und wie er gar nie daran vergessen konnte. 
Noch zehn Jahre naeh dem Tode Oenonville's (im Jahre 
1729) drückte er seinen Schmerz über diesen Verlust in einer 
Epistel Aux mänes de Qenonvillec aus, die vielleicht auch 
in dem Leser eine solche Rührung hervorbringen wird wie 
in mir, und die ich im Anhang wiedergebe. — 

Aber nach der Betrachtung dieser so edlen Freundschaft 
möchte ich nicht unterlassen, auf das Verhalten Voltaire's 
nach der sogenannten Treulosigkeit seiner Qeiiebten und 
seines Freundes nälier einzuf^elien. 

Daß ein betrogener Liebhaber die Sache gar nicht tragisch 
nimmt und dem glücklichen Nebenbuhler sogar in wärmster 
Freundschaft zugetan bleibt, dürfte höchst wahrscheinlich 
den meisten Lesern nicht nur als etwas Abnormes, sondern 
auch als etwas nahezu Lächerliches erscheinen. Man 
wird geneigt sein, ein Naturell, das zu derlei fähig ist, 
als dn Icaites, trockenes und daher gegenüber dem vor- 
herrschenden »impulsivenc als ein inferiores anzusehen; 
man wird sich schmeicheln, ein lebhafteres, wärmeres Oemü^ 
eine höhere schwäimerische Natur zu besitzen und sich 
eine Art tieferen Ffihlens zuzuschreiben, das sich eben nur 
in den Explosionen der Eifersucht, in der Rache an den 
Verrätern, seilest in deren Ermordung bewähren und genug 
tun kann, und jede solche Brutalität zu rechtfertigen vermag. 

Ich muB nun sagen, daß, als ich zum erstenmale (d. i. 
vor mehreren Dezennien) das Verhalten Voltaire's in dieser 
Liebesaffäre kennen lernte, ich über eine solche Höhe eines 
Naturells, über eine so glückliche ethische Anlage — und 
was nicht zu vergessen ist, bei einem sonst so impul- 
siven Temperament — nicht wenig erstaunie. 



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— 375 — 



Man denke nicht, dafi die körperliche Schwäche Voltaire's 
seine geringe Erhitzung für erotische Eriebnisse eridäre und 
daß »jeder gesunde kräftige« Mann alles, selbst sein eigenes 
Leben oder das Leben anderer, In soldien l^len, bei 

solchen Erlebnissen wie mit G^nonville und der de Liviy, 
einsetzen müsse. Denn einerseits sehen wir, daß auch die 
körperlich schwächlichsten Männer sich in aufbrausender 
Brutalität bei Liebes- 'und Eifersuchtsangelegenheiten mit 
den allerkräftigsten und allergesündesten messen können; 
und andererseits: denken wir doch an die alttin üriechen 
in ihrer Blütezeit; sie waren ein überaus kräftiger und 
schöner Menschenschlag und dennoch spielte Brutalität aus 
Liebe und Uifersucht bei ihnen fast ^ar keine Rolle. 

Wie viel Unglück und wie viel Absurditäten wurden 
aber verhütet werden, dachte ich mir und denke ich heute 
noch, wenn alle Menschen solche Anschauungen über diese 
Dino^e besäßen, die ihnen eine derartige Handkino-sweise, 
wie jene Voltaire' s, möglich machen könnte! Wenn man solche 
Angelegenheiten, ebenfalls von solcher Höhe herab be- 
trachten und sie nur als von ganz sekundärer Bedeutung 
ansehen würde! 

Man überdenke den Fall Voltaire-Uvry-O^nonviile ohne 
unsere gewohnten Vorurteile und man wird einsehen, daß 
wir in Sachen der Liebe, wie in so manchem anderen Ge- 
biete schöner Oefühi^ immer mit latentem, uns unbewußtem 
Egoismus umherschwärmen; daß wir andere menschliche 
Individuen, die wir geschlechtlich lieben, wie eine Sache 
unseres Eigentums, statt als selbständige Persönlichkeiten 
ansehen; und daß wir stets sofort bereit sind, mit einem 
einzigen Sprunge uns aus sentimentalen und hinschmelzen- 
den Oefflhis -Wesen in wutentbrannte Barbaren zu ver- 
wandeln. 

Voltaire hatte fQr Freundschaft weit mehr Wärme in 
seiner Empfindung^ als fOr OeschlechtsHebe^ und auch 
foi dieser Beziehung steht seine Individualität in seltenem 



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— 376 — 



Olanze dar. Man denke nur an Jean Jacques Rousseau, der 
nicht imstande war» einen einzigen Freund festzuhalten, und 
auch in der Tat bis an sdn Lebensende ohne Freunde 
blieb, hingegen fflr Liebe zum anderen Oeschledit in seinem 
Naturell eine Olut ohne Gleichen besaß. Er ist in dieser 
Beziehung der Repräsentant der Europäer überhaupt, nament- 
lich der modernen, bei denen Freund schafl weder im Leben, 
noch in der Religion, noch in der Literatur eine Rolle 
spielt; während Leben, Literatur und Kunst von geschlecht- • 
lieber Liebe strotzen. 

Aber das muß durchaus nicht so sein; es ist das 
keine den Menschen angeborene notwendige Eigenschaft! 
Denn bei Chinesen und Japanern finden wir Freundschaft 
unvergleichlich hoch über geschlechtliche Liebe gestellt, sie 
findet sich dort im Leben ungleich häufiger als bei uns, 
spielt in der Literatur eine hervorragende Rolle und wird in 
den iMoralunterweisungen des Konfuzius als eine der Orund- 
tugenden hervorgehoben. Die höhere Stufe der Gesit- 
tung bei den ostasiatischen Völicem g^nfiber jener bei den 
Eurof^tem zeigt sich also auch hierin; und wir sind jenen 
Völicem gegenfiber» trotz aller religiösen Schwibmereien und 
temperamentvollen, vielleicht tieferen, KunstbetStigungy noch 
immer auf einer niedrigen, animalischen Stufe der Ent- 
wicklung zurQckgeblieben. Es ist in der Lieb^ wie in der 
Religion und wie In der Politik: Kratzt man den Europäer, 
so kommt sogleich das wilde Tier zum Vorschein. 

Was aber Voltaire's Verhalten im Falle Livry-Oenon- 
ville betrifft, so stimmt es sehr gut mit anderen Eigentüm- 
lichkeiten seines Charakters, die ebenso selten anzutreffen 
sind und ebenso auf den edlen ethischen Kern seiner Natur 
hinweisen, wie seine überlegene Ruhe nach dem Verrat an 
seiner Liebe. 

Nur ein so gearteter Mensch konnte inmitten der hef- 
tigsten Kämpfe und Anfeindungen stets zur Versöhnung 



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berdi, unbeirrt in seiner Oflte und Menschenliebe^ frei von 
Verdrossenheit und mflnischen Stimmungen und immer 
lidienswQrdig bleiben. 

* 

Nein, es ist vefigebtidie Mflhe^ diesen Menschen vor 
der Welt ansdiwinen zu wollen! Man braucht ja nur irgend 
. ein Porhilt, irgend eine gute BOste Voltaire's, sei es aus 
seiner Jugend, sei es aus seinen alten Tagen anzusehen, 
und jeder Unvoreingenommene wird sich gewiß sagen: 

Bei diesem liebenswürdigen, häßlichen Schelm würde 
ich mich wohler fühlen, als bei irgend jemand anderem; 
und wenn ich eine Gefälligkeit brauchen sollte, so weiß ich 
es gewiß, er würde sie mir mit größter Bereitwiiligl<eit und 
Schnelligkeit und mit den anmutigsten Scherzen auf den 
Uppen erweisen! 

* « 

Und fassen wir alles zusammen, so können wir sagen: 

Nach der Art seines Intellekts war Voltaire ein 
Oeist, der vor nichts in der Welt Furcht hatte 
und dem nichts imponierte; 
und nach seiner ganzen Individualität 

das naivste, beste, mitunter recht unartige, 
gescheiteste, gelehrteste und gewaltigste Welt* 
kindy das jemals existierte. 

So war Voltaire. 



Anhang. 



0 

Epitre. 

Attx mAnes de M* de O^nonville.'^) 

Toi que le ciel jaloux ravit dans son printemps. 
Toi, de qui je conserve un souvenir fidele 

Vainqueur de la mort et du temps; 

Toi dont la pertc, apres dix ans, 

M'esf encore affreuse et nouvelle; 
Si tout n'est pas detruit, si sur les sombres bords 
Ce Souffle si cache, cette faible ^tincelle, 
Cet esprit, le moteur et Tesclave du corps, 
Ce je ne sais quel sens qu'on nomme äme immorteU^ 
Reste inconnu de nous» est vivant chez les morts; 
S'il est vrai, que tu sois, et si tu peux m'entendre^ 
O mon eher O^nonvillel avec plaisir re<;ois 
Ces vers et ces soupirs que je donne ^ ta cendre^ 
Monument d'un amour immortel comme toi. 
n te souvient du temps ofi Taimable Eg^rie**) 

Dans les beaux jours de notre vie^ 
Ecoutait nos chansons, partageait nos ardeurs, 
Nous nous aimons tous trois! La raison, la folie^ 
Uamour, Tenchantement des plus tendres erreurs, 

Toui r6unissait nos trois coeurs. 

*) Die Orthographie ist genau die üi meiner Voltaire-Ausgabe 

von 1785. 

**) Das Friiileni de Uviy, Voltaires OeUebte. 



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Que nous ^tions heureux! m^me cette indigencc^ 

Triste compagne de beaux jours, 
Ne put de notre joie empoisonner le cours. 
Jeunes, gais, satisfaits, sans soins, sans pr^voyance, 
Aux douceurs du present bomant tous nos d^sirs, 
Quei besuiii avioiis-iious d une vaine abondance? 
Nous poss^ions bten mieux, nous avions les plaisirs! 
Ces phssirs» ces beaux jours coul£s dans la moltesse^ 

Ces ris, enfans de Tall^gresse, 
Sont passes avec toi dans la nuit du trepas. 
Le ciely en recompense, accorde ä ta maitresse, 

Des grandeurs et de la richesse, 
Appuis de l äge niür, eclatant embarras, 
Faible soulagement, quand on perd sa jeunesse. 
La fortune est chez eile oü fut jadis Tamour. 

Les plaisirs ont leur temps, la sagesse a son tour. 
L'amour s'est envol^ sur l'aile du bei äge; 
Mais jamais l'amiti^ ne iuit du coeur du sage. 

Nous chantons quelquefois et tes vers et les miens; 
De ton aimable esprit nous c^l^rons les charmes; 
Ton nom se m^le encore k tous nos entretiens; 
Nous lisons tes ^rits, nous les baignons de larmes, 

Loin de nous ^ jamais ces morfels endurcis, 

Indignes du beau nom, du nom sacre d'amis, 

Ou toujours remplis d'eux, ou toujours hors d'eux-mSme, 

Au monde ä rinconstance ardens ä se livrer, 

Malheureux, dont le coeur ne sait pas comme on aime^ 

Et qui n*ont point connu la douceur de pleurerl 

Um die feine Seele Voltaire' s zu zeigen und vielleicht 
manchem Leser einen ästhetischen Genuß, wie ich ihn habe, 
zu bereiten, reproduziere ich hier noch ein anderes Oedichtp 
das unter dem Titel: Les Vous et les Tu berühmt ist 

Es bezieht sich auf seine einstige Geliebte^ dieselbe 
de Livry, von der in der vorhergehenden Epistel die Rede 
war. f lüulein de Uviy hatte nämlich sehr bald alle Liebes- 
verhältnisse abgebrochen und den reichen Marquis de Oou- 
vernet geheiratet. Als Voltaire sie einmal besuchen wollte, 



— 360 — 

verwdirie ihm der Schweizer des Höfels der Marquise den 
Einlafi. Voltaire^ der an dnen ganz anderen Empfang seitens 
der schönen Susanne de Livry gewöhnt gewesen war, sandte 

ihr hierauf die nachfolgende Epistel 

Les Vous et Ie8 Tu. 

Phllis, qu'est devenu ce temps 
Oü dans un fiacre promen6e^ 
Sans laquiüs, sans ajustemens, 

De tes gräces seules orn^e, 
Contente d'un mauvais soupe 
Que tu changeais en ambrosie^ 
Tu te livrais dans ta tolie 
A Tamant heureux et tromp^ 
Qui t'avait consacrfi sa vie? 
Le del ne te donnait alors 
Pour tout rang et pour tous tr^sors, 
Que les agremens de ton äge; 
Un coeur tendre, un esprit volage, 
Un sein d'albätre et de beaux yeux. 
Avec tant d'attraits precieux^ 
Hdas! qui n'eQt €i6 fHponn«? 
Tu le fus, objet gradeux! 
Et que ramour me le pardonne! 
Tu sais que je t'en aimais mieux. 

Ah Madame i que votre vie, 
D'honneur aujourd hui si remplie, 
Diff^re de ces doux instans! 
Ce laige suisse i cheveux Uancs 
Qui ment sans cesse ä votie porte^ 
Phiiis, est l'image du temps: 
On dirait qii'il chasse rescorte 
Des tendrts Amours et des Ris; 
Sous vos magnifiques lambris 
Ces enians tremblent de paraitre. 
H6las! je les ai vus jadis 
Entrer chez toi par la fenfttre, 
£t se jouer dans ton taudis. 



biyUizeu by LaOO^^lC 



— 381 — 



Non Madame, <ous ces tapis 
Qu' a tissus la Savonnerie, 
Ceux que les Persans ont ourdis. 
Et toute votre orfdvrerie 
Et ces plats si chers que Oermain 
A graves de sa main divine; 
Et ces cabinets oü Martin 
A surpass^ l'art de la Chine; 
Vos vases japonais et blancs, 
Toutes ces fragiles merveilles; 
Ces deux lustres de diamans 
Qui pendent ä vos deux oreilles; 
Ces riches carcans, ces coUters» 
Et cette pompe enchanteresse 
Ne valent pas un des baisers — 
Que tu donnai dans ta jeunesse; 

Noch einmal traf Voltaire mit seiner Jugendgeliebten 
zusammen: das war im Jahre 1778 während seiner letzten 
Tage in Paris. Er besuchte die damals über achtzigjährige 
Madame de Oouvemet, die Witwe war und ihn daher nun- 
mehr empfangen konnte. Ais er von der Visite nach Hause 
kam, sagte er zu seiner Umgebung: ,»Ah, mes amis, je viens 
de passer d'un bord du Cocyte ä l'autre«. Und Madame 
de Oouvemet sandte am nächsten Tage der Nichte Voltaire'Sy 
der Madame Denis, ein Portrait Voltalre's, das er ihr während 
ihrer Liaison gegeben und das sie trotz des Bruches mit 
ihm und hotz ihrer Frömmiglcdt treu aufbewahrt hatte. — 
Sehr, sehr gern hätte ich das Oespräch der beiden AHen 
mit angehdrti 



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über ein musikästhetisches Problem. 

Bd der großen Rolle^ die in der neueren Zdt die 
Musik in unserem OefGhlsleben spidt, ist es wohl ange- 
zeigt, hier noch dn musildlsthetisches Problem zu berühren, 
auf das mdne Bemerkungen auf 5, 291 hinwdsen. 

Es ist gewiß» daß die sogenannte absolute Musik nidit im- 
stande sdn kann, so scharf umrissene, begrifflich präzisierfoare 
Gefühle, wie z. B. -Freiheits- und Gle}chheitszom< , Sturm- 
gefühle der französischen Revolution u, der^l. auszudrücken. 
Wenn gesagt wurde, ich oder andere können sie darin 
»finden*, so will das nichts anderes besagen, als daß diese 
oder jene Musik solche bestimmte Gefühle, oft sogar Oe- 
danken, in dem Hörer anzuregen vermat^. Und diese 
Möglichkeit hängt offenbar sowoiil von dem Hörer, be- 
sonders seiner Assoziationsfähigkeit und Bildung, als auch 
von dem Kompositeur selbst ab. 

Wieso ein physikalischer, nämlich ein akustischer Vor- 
gang, wie es Musik ist — die auch nichts weiter ist 
als ein soldier Vorgang — bestimmbare, definieriMre Ge- 
fühle, ja sogar Gedanken im Hörer anzuregen vermag, ist 
ein Problem für sich; und durchaus kdn anderes als das Pro- 
blem, das in dem glddien Effekt liegt, wenn wir Haschischt 
Opium, Ltts^s, Champagner usw. genießen. Niemandem 
wird es dnfdieit, zu sagen: Der Oenuß dieser Substanzen 
»drücke irgend etwas aus«, sondern er wird nur dnfach die 
Tatsache konstatieren, daß sie tidsinnige, mystische, hdtere 
OefQhle und Oedanken anregen, indem sie den menschlichen 
Olganismus in dne Stimmung versetzen. In der er rdativ 
produktiver an solchen OefOhien wbd. Wäie die Herstellung 



i^'iLjuiz-uü by 



— 383 — 



solcher Droguen niir eine besondere Fähigkeit Einzelner, 
so würden diese gerade so gut unter die Kunstler gezählt 
werden müssen, wie heute die Musiker oder Dichter; denn 
bei diesen allen wäre das Gemeinschaftliche dies, daß sie 
vermöge ihrer natflrlichen Begabung Schwieriglceiten flber- 
wältigen und Leistungen zustande bringen, wie es Verhältnis- 
mäBig wenigen Menschen gc^^en ist 

Damit ist die Sache aber noch nicht abgetan. 

Wer die besondere Begabung für Herstellung von 
Droguen besäße deren OenuB bei den Oenießenden so 
bedeutende Empfindungen ins Leben zu rufen vermag, 
hätte an diesen Empfhidungen selbst doch gar kdnen An- 
teil; er besaß sie nicht, als er jene Substanzen komponierte 
und herstellte; er ist daher dgentlich nur ein Techniker, 
oder ein »technischer Künstler«. Solche technische Künstler 
gibt es ja auch in den bereits anerkannten Kunstgebieten, 
d. h. sie bringen ästhetische Stimmungen hervor, ohne 
selbst etwas zu fühlen; sie betätigen eben nur ihr Talent 
in Handhabung von Kunstmitteln. Das ist z. B. bei Farben- 
künstlern in der Malerei und auch bei vielen musikalischen 
Kompositionen sowie bei Reproduktionen und Nach- 
ahmungen überhaupt der Fall; woher es auch kommt, daß 
man oft erstaunt, was für leere unbedeutende Individuen 
solche Männer sein können, die in dem Gebiete der Kunst 
doch einen sehr guten, ja berühmten Namen haben. Erst 
wenn man Grund hat zu p^laiihen, daß der Künstler die in 
uns entstandenen hohen üefühie (vielleicht auch die Oe- 
danken) oder doch ihnen einigermaßen analoge selbst be- 
saß, als er sein Werk produzierte, so daß wir als Recep- 
tive durch das physikalische Medium seiner speziellen 
Kunst imstande sind, ihm wenigstens einigermaßen nachzU" 
fühlen — erst dann steht die begabte und zugleich höhere 
Persönlichkeit vor uns. 

Aus diesem Gründe wird niemals ein Beethoven mit 
einem noch so begabten Kunsttechniker oder Artisten in 



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dne Reihe gestellt werden. Es ist auch, objektiv genommeiip 
niclit zu zweifeln, daß die Kenntnis der Lebensumstände Beet- 
hovöi's» seiner großen Natur, seines holten Idealismus, ja 
sogar seiner persönlichen Erscheinung, sehr viel dazu bd- 
trägt, in seiner Musik vides Oroße^ das man ohne diese 
Kenntnis nicht in ihr finden wflrdev zu entdecken^ d. h. 
anzunehmen, er habe das alles, und wahrschdniich noch 
viel mehr als wir, bdm Komponieren selbst empfunden. 

In der Instrumentalmusik, die weder mit bestimmten 
sichtbaren Formen und Begriffen arbeitet, noch wie das 
MusikdraiTia von Wort und Szenerie unterstützt wird, ist 
die Kenntnis der Persönlichkeit mit ein wichtiger Teil des 
Eindrucks, und macht aus dem rein akustischen Vorgang 
eines Musikstückes eine besondere Art von Programm- 
Musik. 

Auf diese Art wifd es ermöglicht, daß durch den Oe- 
danken an die P^önllchkdt des Künstlers gerade so gut 
dem bk>ßen musikalischen Tongemalde — unabhängig von 
sdner sinnlichen Wohlge^ligkdt — auch dn gewisser 
Inhalt, dne Bedeutung assoziiert wird, wie durch dne Über- 
schrift, oder durch dne Angabe dessen, was daigestdlt 
werden soll. Wir sehen hier, wie der an sich unbestimmte 
physiologische Eindruck bloßer Luftschwingungen auf den 
menschlichen Organismus durch solche Associationen sich 
in psychische Formen, Gefühle und Vorstellungen, umwandelt 

Und unter allen Arten der Kunst ist die Instrumental- 
musik der interessanteste Fall für die Beobachtung des 
Weges, der von der innern Tätigkeit des Künstlers bis zur 
inneren Tätigkeit des Aufnehmenden führt. Es ist dies ein 
ganz analoger Vorgang, wie z. B. bei dem Prozeß der 
Tdegraphie; das Endresultat hängt vom Aufgeber-Apparat, 
dem Vermittlungs-Apparat (z. B. dem Leitungsdraht) und 
endlich dem Empfangs-Apparat ab. In der Telegraphen- 
technik kann Empfangs- und Aufgabeapparat identisch sdn, 



— 385 — 

in der Kunst niemals; wie groß aber die Verwandtschaft 
zwischen Anfangs- und Endstation dieses tcflnstlerischen 
Prozesses, d. h. die Ahnlichlceit der Empfindungen zwischen 
dem Kunstler und dem Hörer ausfällt, hängt eben sehr von 

der Beschaffenheit der Vermittlung, d. I. des objektiven 
Kunstwerks — das nur ein rein }3hysikalisches Objekt ist 
— und der Art und Beschatfenheit des aufnehmenden 
Kunstfreundes ab. 

Wenn aber der Eindruck der absoluten Musik durch 
die bloße Assoziation mit Inhaltsangaben oder mit Gedanken 
an die Persönlichkeit des schaffenden Künstlers erhöht wird, 
ja sogar eine außermusikalische Bedeutung erhalten Icann, 
so könnte man vielldcht sagen: 

Dann liegt das Oro6e gar nicht in der Komposition» 
es ist nur eine äußerliche Zutat? — Oewiß: Die Größe 
der Persönlichkeit erhöht oder bereichert nicht nur 
die kanstlerische B^^abung für die Benutzung der Kunst- 
mittel, sondern sie bestimmt und erhöht auch die Wert* 
Schätzung des rein physikalischen (akustischen) Kunstwerks. 
Und wenn irgend ein Kfinstler sich ü\xf eine solche Ansicht 
beklagen und darin etwa eine Herabsetzung seiner ganz 
besonderen technischen Könstlerschaft sehen wollte, so 
sagen wir ihm bloi^ dies: Sei auch Du eine große Persön- 
lichkeit, so wird man dir in gleicher Weise entgegenkommen, 
wie z. B. einem Beetlioven! 

In der Kunstwelt handeU es sich ja nicht um eine 
schulmcislcrliche Klassifizierung der Talente, sondern um die 
großen Wirkungen allein, die von den Künstlern als ganzen 
Persönlichkeiten ausgehen.*) 

Und im Sinne dessen, was hier über das musikästhetische 
Problem gesagt wurde, kann man eben auch von Beet- 

*) Diese Ansicht ergab sich mir schon vor mehreren Dezennien; 
nach Vollendung dieses Meinen Aufeatzes fand ich einige sehr entfernte 

Ähnlichkeit mit dieser meiner Hervorhebung der totalen künstlerischen 
Persönlichkeit in einigen Aufsätzen von Hausegger. 

Popper, Voltaire 25 



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— 386 — 



hoven sagen, er habe in die absolute Musilc eine 
neue Seele gebracht, wie es otien von Rousseau t»etreffs 

unserer Geföhlsweise fiberhaupt gesagt wurde. Wie wir 
seit KuUbSL-au den unmittelbaren Natureindrücken noch eine 
innere Bedeutung unterlegen, so tun wir wenn auch nicht 
alle — es mit der Beethoven'schen Instrumentalmusik. 

in diesem Falle lie^t aber etwas Wirkliches, etwas Reales 
insoweit zu Grunde, als in Beethoven — wie wir es anders 
woher, nämlich aus seiner Biographie, wissen -- in der 
Tat eine snlclie Seele vorhanden war und sich in seinen 
Kompositionen Luft machte. Bei dem Rousseau'schcn sym- 
bolistischen Naturgefühl ist das aber nicht der Fall, 
denn in der Natur liegt nichts dergleichen, sie ist keine 
Künstlerin, wir supponieren ihr nur fälschlich unsere Oe- 
danken oder Gefühle, und wir haben hier den Fall vor uns, 
daß der »Aufgabe- Apparat« mit dem ^ Empfanges Apparat« 
gar keine psychische Verwandtschaft besitzt Diese Un- 
wahrheit, die in dem Ganzen liegt, nenne ich: Kranlc- 
liaftiglceit Über dieses spezielle Thema will ich aber an 
einem anderen Orte ausffihrlicher sprechen. — 



Der von Seite 281 bis inIcL 311 reichoide lailturphilo* 
sophische Abschnitt ist nahezu identisch mit meinem Aufeatze^ 
der unter dem Titel »Voltaire« im Sommer des Jahres 1904 
in der Wiener Wochenschrift »Die Wage« erschienen war. 



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Verbesserungen. 



Es soll heißen auf 

S. 14, Z Qu 10 V. o.: „Es wird wohl schwer zu präcisieren sein, 
wenigstens begrifflich, wen wir für tief halten." 

S. 20, Z. 20 u. 21 V. o.: „ . . . nicht noch heute, auch auf Nicht-Fran- 
zosen, ja selbst auf die Deutschen, einen staricen poetisdien Ein* 
druck . . . '* 

S. 2^ Z. 2 V. u.: „ , . . beschweren, vierundachtzig Krankheitsjahre . . . " 
S. 38, Z. 10 v.o.: „Die Freude des Künstlers über die ästhetische Zu^ 

Stimmung auch nur ..." 
S. 40, Z. 7 v.u.: „Es ist aber für die ADlh niciuiieit, also vom Künstler 

selbst abgesehen, ganz und gar kein Grund . . . ** 
S. 43, Z. 8 V. o.: „ . . . oder ungünstigen Art, wie sie ihre Leistungen 

beurteilt, gleich und vollkommen recht ..." 
S. 48, Z. 6 V. o.: M . . . wenige unter uns bei Shakespeare die vielen 

Silbenstecherden, Wortwitze u. dergl. ..." 
S. 66, Z. 5 n. 6. V n r „ . . davott abzustehen. Wir wissen auch aus 

Voltaire 's Briefen ..." 
S. 74, Z. 1 u. 2 V. o.: „Im Jahre 1870 kam dann David Strauf^ mit 

seinem Buche; „Voltaire. Sechs Vortrage," weiche Vorträge er 

vor der Prinzessin Alice von Hessen gehalten hatte.** 
S. 84, Z. 13 V. u.: „ . . . gar nicht mitgeteilt habe . . . ** 
S. 90, Z. 21 V. o.: M ... in tiefeter Seele zti wider waren . . . ** 
S. 96b Z. 17 V. o.: „ . . . als Löwenfudis während seines langen Lebens 

durchzuführen verstand " 
S. 99, Z. 3 v. Ii : „ . . . wtd- r an Besiegung seiner Gegner ..." 
S. 101, Z. 10 V. o.: „. . . . glänzendsten Zeit Voltaire's, nämlich in 

Femey ..." 

S. fOl, Z. 13 V. u.: so leicht zu machen . . . ** 

S. 101, Z. 5 V. u.: Briefe** zu bekennen . . . ** 

S 104, Z 7 V. o.: „, . . Energie durchzuführen, sei es mit welchen . . ,** 
S. 106t 2. Ivo:,,... könne J. J. Rousseau in einem Kultus kom- 
munizieren, der . . . " 

25* 



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— 388 — 



S. 112, Z. 11 V. O.: „ . . . sondern stattete auch schon einmal ..." 

S. 114, Z 7 V u : „ . . . Wissensduft, gegenflber der Kaitesischeii, auf 
dem Kontinent ..." 

S. 122, Z. 11 V o.: „ . . . ein eigenes Bewandtnis ..." 

S. 127, Z. 14 u. 15 V. o.: „ . . . nicht gleichberechtigt sind? ..." 

S. 141| Z. 7 V. u.: „ . . . den Deutschen Lessing gegenüber dem Fran- 
zosen VoHaire handelt . . . 

S. 146, Z. 6 V. o.: „ . . . (im „Käiii|r Friedrich der OroBe«) . . . *' 

S. 156, Z 14 V. O.: „ . . . an Algarotti ..." 

S 170, Z. 7 V. o.: „. . . das Sichandieseitestellen " 

S. 201, Z. 7 V. u.: „. . . wundern kann, daß gesittete Menschen . . ." 

S. 273, Z 6 V. u.: „ . . . Männer seiner Zeit und Umgebung, ja als 
einer der besten aller Zeiten. Und es Ist . . . " 

S. 278, Z. 9 V. u.: „ . . . der niemals an scbiem eigenen Olflfik m 
arbeiten veigaB . . .** 

S. 279, Z. 5 V. u.: „ . . . Eigenschaften der Aristokratie — nimlidi rfick- 
sichtsloser Standesegoismus und Kastenhochmut — fehlen . . . 

S. 279, Z ^ V. u: M > • * • <)ic Blüte der Elite einer hochlniltivierten 
Nation." 

&290, Z. 11 u 12 V. o.: „Auszunehmen von diesem Vergleich wäre 
Rousseau 's . . . ** 

Sw31], Z. 22 V. o.: „. . . immer um den Aberglauben; nicht nur 
um den religiösen, sondern auch den historischen und um so 
manch' anderen Abeiglauben.** 

S. 342, Z. 12 u. 13 V. o.: „Ich empfange hundert StdBe, ich gebe dafür 
zweihundert zurüdc, ..." 



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Von demselben Verfasser erschien: 

Selbständige Schriften: 

Daa Recht zu leben und die Pflicht zu sterben. 

Sozialphilosophische Betrachtungen, anknflfifend an die 
Bedeuhing Voltaire's fOr die neuere Zeit (I.Auf 1.1 878, 
2. Aufl. 1879, bei E. Koschny, Leipzig. 3. Aufl. 1903 
bei C. Reißner, Dresden). 

Physikalische Grundsätze der elektrischen Kraft' 
fibertrl^ng (1884, bei A. Hartleben, Wien)*) 

Ffirst Bismarck und der Antisemitismus (Idöö, bei 
H. Engel, Wien). 

Die technischen Fortschritte nach Ihrer ästhetischen 
und kttlturellen Bedentnng (1886, bei C Reißner, 
Dresden). 

Flugtechnik, 1. Heft (188Q, bei H. W. Kühl, Berlin). 

Phantasieen eines Realisten (unter dem Pseudonym 
Lynkeus). 1899, bei C Reißner, Dresden. 2. Aufl. 
(2. bis 10. Tausend) im Jahre 1901. 

Fundament eines neuen Staatsrechts (1905, bei 
C Reißner, Dresden). 

Voltaire. Eine Charakteranalyse, in Verbindung mit Studien 
zur Ästhetik, Moral und Politik (1Q05, bei C Reißner, 
Dresden). 



*) Eine energetische Abhandlung. 



- 390 — 



Einzelne Abhandlungen und kuree Noten: 

Maüittiiiatik. 

„Ober die AiifHndung der Schwerpunkte mittelst Zirkel uod Lineal** 

(Zehschr. d Österr. Ing - u. Arch.-Vereins 1860) 
„Beiträge zti Weddle's Methode der Auflösung numerischer OleictilUlgea" 

(Sitzungsber. der K. Böhm. Akad d. Wiss. 1861). 
»Theorie der Convergcnz wnendh'cher Reihen und bestimmter Integrale, 
die keine periodischen Funktionen enthalten" (Sitzungsber. der 
Kate. Akad. d. Wiss. 186S). 

Physik. 

„Über die Benutzung der Nntnrkräfte" ^enthalt den ersten Vorschlag 
der elektr Kraftn In [tragung), der Kais. Akad. d Wiss. am 
b. Nov. 1S62 versiegelt eingereicht und in den Sitzungsber. 1882 
publiziert 

„Ober die Quelle und den Betrag der durch Luftballons gdeisteten 

Arbeit" (Sitzungsber. d. Kais. Akad. d. Wiss. 1875). 
„Über J. R. Mayer's Mechanik der Wärme" (auch erfcenntnistbeoretischeD 

Inhalts; im „Ausland" 1876). 
„Über die Vorausbtrcehnung der Verbrennungs- oder Bildungswärme 
für Knallgas und andere Oasgemenge" (Sitzungsber. d. Kais. 
Akad. d. Wiss. 1889). 

Elektrotechnik. 

„Uber eine neue Konstruktion eines I )aniell-Normalelements und die Her- 
stellung von Spannungsetaions" ^.Zeitschr. f. Elektrotechnik 18S7). 

„Über einen Wechselstromappamt an Stelle der Induktoilen für Meß- 
zwecke** (Zeitschr. I. Hektrotecfanik 1888). 

„Über die Messung nicht-induktionsfreier Widerstände mittelst des 
Telephons'* (Zeitschr. f. Elektrotechnik 1888). 

„Über einen Kompensator mit Flüssigkeits-Rheostaten und TelephCNl 
für Volts-Messung** (Zeitschr. f. Elektrotechnik . 

„Über eine Anwendung gewisser Konstruktionen von galvanischen 
Elementen bei Meßinstrumenten" (Zeitschr. f. Dektrotechnik 18S9> 

„Über Edison's pyromagnetische Masdiine** (Zeitschr. f. Elektrotechnik 
1889). 

„Elektrizitätserzeugung durch Wasserkräfte auf direktem W^e, d. h. 
ohne Anwendung hydraulischer Motoren** (Zeitschr. f. Elektro- 
technik 1898). 

Flugtechnik. 

„Flugtechnische Studien: I. Über einige flugtechnische Grundfragen" 
(Zeitschr. für Luftschiffahrt 1896). 



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— 3Q1 - 



„FlugtedtnisdM Studioi: II. Ober Sinhvenninderaiig^ (Zeitschr. d. Österr. 

Ing.- u. Arch.-Vereins 1899). 
„Zur Beurteilung der v. Lößrschen Sinkformd** (Zeitschr. d. Öfterr. Ing.- 

u. Arch -Vereins 1899). 
^Lenkbare Ballons" (ein Referat in der Österr. Wochenschrift für den 
öffentlich. Baudienst. Heft 26, Jahrg 1904). 

Mu€hln€fit€chiiik. 

näheren Kenntnis der Kessel^Etnlagen" (Dingl. Polyi Joiini.Jaliig. 

1878). 

„Über Kondensatoren und Kiililapparate mittelst t)cwegter Luft" (Zeitschr. 

d. Österr. Itig - uiiJ Arch-Vereins 1S87). 
„Uber Vcrsuchsresuitate und Bcttaditungen betreffs Dampfkondensation 

mittelst bewegter Luftf' (Wocbenschr. d. Österr. Ing.- u. Arck- 

Vereins 1888). 

„Bericht fiber den Popper'schen Luftkondensator in dem Ctabüssement 
der HH. Siemens & Halske in Wien" (Wocbenschr. d. Österr. 
tnp - n Arch -Vereins 1890) 

„Über einea Luftkondensator im allgemeinen imd insbcsonci- re den bei 
der SOOpferdigen Fördermaschine auf dem Prokopschacht in Przi- 
bnun aufgestellten Luftkondensator" (Österr. Zeitschr. f. Berg- u. 
Hüttenwesen 1891). 

„Das aelbttventOierende Oradierwetk" (Zeitschr. d. Österr. Ing.- u. Arch.- 
Vereins 18Q2). 

„Formel für den Einfluß verschieden guter Luftleeren auf den Dampf- 
verbrauch" (Zeitschr. d. Österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1893). 

NichtwiMcntchaftliclie Gebiete. 

„Cbaries Bradlaugb" („Neue Freie Presse" vom 3., 7. u. 8. Oktober 1880). 

„China" („N. Fr. Presse" vom 26. August 1881). 
„Einige Gedanken über Kant, Ooetfae und Richard WagneT" („N. Fr. Pr.", 

Juli bis Oktober 1903). 
„Voltaire" (,,Die Wage" vom Juli 1Q*W). 

„Fundameiu eines neuen Staatsrechts" („Die Wage" im Jänner und 
Febmar 1905). 



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