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Geschichte der öffentUchen
Sittlichkeit in Russland
Bernhard Stern
Sf^v 77a. /05
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HARVARD
COLLEGE LIBRARY
THE GIFT OF
Dr. John Rathhone Oliver
CLASS OP 1894
OF BALTIMORE, MARYLAND
AUGUST 4« I941
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GESCHICHTE «««««»«««»>«
D£R appapggnnnnnnnnnnnnnnnnnpptianap
ÖFFENTLICHEN 0°™=»
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IN annnnnnnrinrinnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn
RUSSI
Von BERNH. STERN annnnnnu
U NN i ^ A T\TT!j nannnnnn
MIT 29 ILLUSTRATIONEN.
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Im Verlage von Hermann Barsdorf in Berlin W. 30 erschien:
LIEBE UiND EHE IM ALTEN UND
MODERNEN INDIEN, o ;;äÄSls'S-^Ni^;^
Von RICHARD SCHMIDT.
Lexilcon-Oktav. 671 Seiten. Broschiert Mk. 10.— . Originalband Mk. 11.50.
INHALT:
I. PSYCHOLOGIE DES SEXUELLEN IN INDIEN. II. DIE LIEBE IN
INDIEN. III. PHYSIOLOGIE DES SEXUALLEBENS IN INDIEN. IV. EHE
UND HOCHZEIT IM ALTEN UND MODERNEN INDIEN. V. EMBRYO-
LOGIE, SCHWANGERSCHAFT UND GEBURT VL DIE PROSTITUTION.
DAS
KÄMASUTRAM DES VATSYÄYANA
DIE INDISCHE LIEBESKUNST
NEBST DEM VOLLSTÄNDIGEN KOMMENTARE DES YASODHARA.
Aus dem Sanskrit übersetzt und eingeleitet von
RICHARD SCHMIDT.
Dritte verbesserte Aufl. 500 Seiten. Brosch. Mk. 12. — , geb. Mk. 14. — .
Dasselbe: Liebhaberausgabe in Quart, nur in 25 numerierten
Exemplaren gedruckt, brosch. M. 20. — , in Pergt. geb. M. 30. — .
INHALT:
I. ALLGEMEINER TEIL. II. ÜBER DEN LIEBESGENUSS. nnn
III. ÜBER DEN VERKEHR MIT MÄDCHEN. IV. ÜBER DIE VER-
HEIRATETEN FRAUEN. V. ÜBER DIE FREMDEN FRAUEN.
VI. ÜBER DIE HETÄREN. VII. DIE UPANISAD (GEHEIMLEHRE).
Das Kämasötram ist das interessanteste Werk aus der ganzen großen
Sanskritlitcratur und es dürfte kein Erzeugnis der Weltliteratur geben, das
so vrie das K&masütram den engen Rahmen der Indologie sprengt und zu
allen Völkern, auch den der Rasse nach fremdesten, seine allen verständliche
Sprache redet. Es führt uns den Inder in aller Intimität der Häuslichkeit vor ;
denn der Inder war von jeher gewöhnt, auch das Alleumen schliche als etwas
ganz natürliches anzusehen, dessen man sich nicht zu schämen braucht.
Einbanddecken zu Stern, Rußland sind ä Mk. 1. —
erhältlich. Jede Buchhandl. vermittelt den Bezug.
Der Eingel-Preis für diesen (*) Bd. beträgt brosch. Mk. 7. — , geb. Mk. 9.
Der Preis für beide (**) Bands — zusammen auf einmal
bezogen — beträgt brosch. Mk. 15. — , geb. Mk. 18. — .
GESCHICHTE
DER
OFFENTUCHEN SITTLICHKEIT
IN
RÜSSLAND
KULTUR, ABERGLAUBE, SITTEN UND GEBRÄUCHE
EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMEUE BERICHTE
VON
BERNHARD STERN
(VERFASSER VON JAEDIZIH, ABERGLAUBE
UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER TORKEI**)
ZWEI BÄNDE
MIT 60 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN
L
KULTUR, ABERGLAUBE, KIRCHE. KLERUS,
SEKTEN, LASTER, VERGNÜGUNGEN, LEIDEN
BERLIN W. 90 • VERLAG VON HERMANN BARSDORF • 1907
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I
GESCHICHTE
DER
ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT
IN
RUSSLAND
#
KULTUR, AßFRGLAUBE. KIRCHE, KLERUS,
SEKTEN, LASTER, VERGNÜGUNGEN, LEIDEN
EIGENE ERMITTEUJNGEN UND GESAMMELTE BERICHTE
VON
BERNHARD STERN
(VERFASSER VON , MEDIZIN. ABERGLAUBE
UND GESCHLECHTSLEBEN IM DER TÜRKEI**)
MIT 29 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN
BERI^ W. 30 . VERLAG VON HERMANN BARSDORF • 1907
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HARVASQ COLLEGE LIBRAIW
ciFT or
AU.E RCOm: VOitBEHALTCK
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Inhalt.
Sdte
Eratei Teil: Kulhu- und Aberglaube i — io8
1. Die russische Kultur 3
2. Der Barbier ab Eraeher 13
3. Dekorative Bildung 31
4. Aberglaube und Verbrechen 53
5. Geister, Zauberer und Hexen 76
6. Heidentum und Orthodoxie 91
Zweiter Teil: Kirche, Kierus und Sekten 109 — 256
7. ReliKioD und Popentum i ro
8. Unsitten im Mönchstum 130
9. Heüigenkult und My'StizLsmus 153
10. Sekten wesen 168
1 1. Erotische Sekten und Flagellanten » . . . 193
12. Selbstvcrstümmler und Skopxen 228
Dritter Teil: Rusaische Laster 257 — 332
13. Ehrbcgrifl, Duell und Verbrechen .... 259
14. Lügensucht 267
15. Diebstahl 271
16. Korruption 285
17. Trunksucht 294
i3. Bettdwesen 324
Vierter Teil: Russische Vergnügungen 333 — 438
19. Jagd nnd Hazardspiel 33;
20. Kirchenfeste und Volksfeste 350
21. Hofnarran und Maskeraden 366
22. Tanz und Bälle 380
23. Musik lind Theater 397
24. Rauchen und Tabakbuden 42 t
25. Bäder 426
Fun fter Teil: Russische Leiden . 439—502
26. Schicksalsglaube und Selbstmord . . . . 441
2-. Feuer, Hunger und Pestüent 449
28. Meditin und Aberglaube 464
29. Räuberwesen und Revolationea 497
ERSTER TEIL:
Kultur und Aberglaube
T. Die russische Kultur. 2. D^r Barbier
als Erzieher. 3. Dekorative Bildung.
4. Aberglaube und Verbrechen. — 5. Geis-
ter, Zauberer und Hexen. — 6. Heidentum
und Orthodoxie.
1. Die russische Kultur.
SdtwtariMnntnis im Sprichwort — Der Weg der Slawen — Slawen und Ger-
manen — Russi -rhc Selbstüberhebung — Europäische Urteile über Moskau
und die Moskowiter — Strenge Abgeschlossenheit des Zarenreiches — Aus-
landsreisen Hochverrat — Des aufgeklärten Alexej Angst vor Kuropas Kultur
— Moralisches Pbrtrftt de* Kxenl — Kontraste der Klassen — Gldchfiymüg-
keit der Menschen — Die Stnie der heutigen rassischen Kultur — EniopÜsche
Anrieht — Rmstache Urteile.
„Wir sind ein \'oIk, das noch im Finstern wandelt ; nicht
wissen wir, was Sünde, und nicht wo die Erlösung zu fin-
den ist."
So charakterisieren sich die Russen in einem der ori-
gmeiisten und tiefsinnigsten ihrer Sprichwörter; so zeichnen
sie ^elb'-i iriii (Irm breiten Pinsel der eij^entümlichen Melan-
cholie ihrer Krde ihr ganzes uns so schwer verständhches
Wesen, ihr Dahindämniern und fast lautloses Gleiten durch
fl.i- Lehen, die rätselhafte Form ihres Staatswesens, die Un-
<icli( rheit ihrer Regierung, die Schwerfälligkeit ihrer Ent-
Wickelung und die Resultatlosigkeit aller Revolutianen und
Reformen.
Anders als die anderen Völker der europäischen Welt sind
die Russen geworden. Kultur und Zivilisation sind ihnen wohl
nicht ganz im Äußerlichen, aber in ihrem wahren Begriffe
fremd geblieben trotz reger Berührung mit der uberfeinen
Bildung des Westens. Einer der ehrlichsten Erforscher des
eigenartigen nissischen Wesens sieht, und ich glaube mit
Recht, einen Hauptgrund für die russische Zurückgeblieben-
beit darin, daß die Russen im Anfange jahr}mndertelang keinen
Zusammenhang mit der abendlandischen Zivilisation hatten
und einen Weg zurücklegen mußten, der verschieden war
von allen jenen Wegen, die die übrigen Völker Europas
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gingen 1): Die gennanischen Völker, meint er, haben vor den
Slawen zur Gewimiung der Bildung gro0e Vorteile und leich-
teren Weg vorausgehabt; sie fanden in der weströmischen
Welt, wo sie sich niederließen und mit den Ureinwohnern
zu neuen Volksbildungen amalgamierten, überall eine hohe
und alte Kultur, deren Sprache, die lateinische, nicht bloß
in allen diesen Ländern verbreitet war, sondern auch als
Kircfaensprache mit dem Christentum in den eigentlichen ger-
manischen und skandinavischen Ländern Eingang gewann.
Dabei war durch den germanischen Ursprung, die germanische
Sprache, die germanischen Sitten ein innerer Zusammenhang
unter allen diesen Völkern begründet. Diese Völker fanden
einen natürlichen, durch die Kirche begründeten Mittelpunkt
in Rom. l'-inigkeit und Disziplin hatten die orientalische Kirche
sich ebenfalls erhalten, aber es war mehr der Staat, das orien-
talische Kaisertum, wodurch diese Einigkeit .lufrecht erhalten
wurde, während im Okzident nicht bloß Einigkeit, sondern
auch Einheit e,\istierte. Die Kreuzzüge \ erbreiteten im staat-
lichen Leben der Völker Europas im IVlittelalter das Ritter-
tum und Bürgertum. Die Kultur wurde im Okzident nicht
das Eig(. ntuin eines bevorzugten Volkes, sondern aller X'olker.
Der slawische Stamm aber, der sich un jetzigen Rußland
niederließ, fand keni Kulturvolk vor, dem er sich hätte an-
passen, von dem er cuie alte Kultur und Bildung halle über-
nehmen können. Was er antraf, waren vielmehr nur spär-
hche Reste tschudischer Völker, die in .\nlagen und Kultur
noch tief unter ihm standen. Dann erbieten die Russen das
Christentum von der orientalischen Kirche zu einer Zeit, als
sich diese Kirche bereits mit der okzidentalischen in eine feind-
selige Spannung hineingelebt hatte. Das griechische Kaiser-
tum hatte bei aller Femhaltung vom Westen doch aus poli-
tischen Rücksichten den lateinischen Okzident zu sehr nötig,
um mit ihm völlig brechen zu können. Rußland aber schloß
sich gänzlich vor Europa ab und nahm selbst dem griechischen
Kaisertum gegenüber, obwohl es von dort seine ReUgion be-
1) Aagnst Fmümit von Haxthausen, Stadien flbar die inneren ZostSode
RuBlasda. Erater Baad, S. 40»
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zogen hatte, eine mehr feindliche als freundliche Stellung ein.
Die Religion knüpfte Rußland nicht allzufest an Konstanti-
nopel, es war kein inniges Hand, nur die Person des jeweiligen
Fatiiarchen hielt die Verbindung aufrecht, und diese war
sicherlich lockerer als die der Volker des Westens mii Koni.
Denn wichtig ist es zu bemerken, daß Rußland iuit der grie-
chischen Religion nicht den griechischen, sondern einen sla-
wonischen Kultus akzeptierte; mit der griechischen Religion
nicht die griechische Sprache übernahm und also fremd blieb
der altgriechischen und byzantinischen Kultur. War auch die
altslawische Sprache schön und reich, so hat sie dodi nicht
die Fähigkeit gezeigt, eine Literatur zu schaffen, konnte also
keine Grundlage für eine Kultivierung sein, nicht Rußland
instand setzen, mit der Bildung in Europa Schritt zu halten.
Ihre Leistungen erschöpfen sich in einigen Heldenliedern in
der Zeit vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert und
in den Annalen des Kijewer Höhlenldostermönches Nestor.
Dabei blieb die russische Kultur stehen, und dieses Wenige
wurde von den Polowzern und Mongolen, die Rußland in
den nächsten Jahrhunderten bedrängten und unterjochten, ver-
weht wie Staub in der Steppe.
Und als sich Rußland wieder erhob zu selbständigem
Leben, zu einem unabhängigen Staatswesen, knüpfte man
nicht an die einstigen Versuche zur Kultivierung an, sondern
hielt sich schon für vollkommen, weil man Kraft g^ug be-
wiesen hatte, das Mongolenjoch abzuschütteln. Als unter dem
vierten Iwan einige fremde Kaufleutc in Archangelsk er-
schienen, um von den Russen Getreide, Holz und Kaviar zu
erhandeln, glaubte man in Moskau schon: Rußland sei der
Stapelplatz und Speicher von Europa, und der ganze Westen
müßte ohne russi'^rhes Holz vor Kälte umkommen, ohne russi-
schen Kaviar verhungern. Das glaubten dieselben Russen,
die noch keim anderes Geld kannten als Stücke von Fellen^),
JHmm Tsnachinittel nuaOm man Kunan Dl« «iiiaeliiMi SortMi be>
BtudAn MW giftBcnB odnr ktotowwt, feiocreii odor grtbcm FaDcii, mm Obmi
iron Ifardern. Haben von Zobeln, Füßen von Füchsen und ans Dtisschweifsil.
Fine nni Ufer der Oka gelegene Vorstadt von Nischny-Nowi^rod heißt noch
heute Kanawino voo den vielen Kunen, die hier als ZoU entrichtet wurden.
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— 6 —
und nicht imstaiide waren sti tählen, wenn sie nicht die auf
einer Schnur aufgezogenen Kugeln, also die primitivste aller
Rechenmaschinen, zur Hand hatten. Noch mehr, die Russen
hielten sich in ihrer Ignoranz, die dem Größenwahn häufig
verwandt ist, sogar für das höchstgebildete Volk der Welt,
obwohl sie nach den Geständnissen ihrer eigenen Historiker
im ganzen Reiche nur drei Priester hatten, die Griechisch ver-
standen; obwohl sie die Astronomie, Anatomie und die meisten
anderen Wissenschaften für Künste des Teufels erklärten.
Es kann nicht wundernehmen, daß die Europaer, die
damals mit Rußland in Beriihrung zu kommen Gelegenheit
hatten, nicht tiefer in das Reich eindrangen und sich nicht
bemühten, ehrlich zu erforschen, wie das Volk wirklich be-
schaffen war. Nach den Erlebnissen an der Peripherie des
heiligen Rußland meinte man schon das Günstigste gesagt
zu haben, wenn man ein Urteil wie dieses fällte^): „Le Mos-
covite est pr^cisement rhomme de Piaton, animal sans plumes,
auquel rien ne manque pour 6tre homme, si non la proprete
et le bon sens."
In einem in meinem Besitze befindlichen außerordentlich
selten gewordenen Hüchlein-) heißt es noch im Anfang der
Regierung Peters des Großen von den Russen : ..Das gemeine
Volck in Russen ist in Wahrheit überaus dumm und abgöt-
tisch. Diejenigen, welche gegen Norden bey Archangel und
Cola wohnen / erkennen keinen andern Gott als den St. Nico-
las, den sie vor den Regierer der gantzen Welt halten. Sie
behaupten, daß er von Italien bis an einen Häven / der seinen
Namen führet / und nahe bey Archangel lieget / auf einem
An d«r Überfahr maßten die Kauileute oft lange warten, bis sie ihre Waren
verzollen konnten: es wurden Hütten und Häuser gebaut, und ao entstand
das Dorf Kimawino. Vf^l. Herrih ird Stern, An der Wolga. S.
1) Aus dem Berichte Johann Gotthilf \'ockerodts bei Herrmana, Zeit-
genössische Berichte zur (ieschichte KuÜlaiidä. S. 2.
•) Reise nndi Noiden/Worinnen die Sitten/Lslieu-Art und Aberglauben
denr Norwegen/1 itpplinder/Kikqtpen, Bomndier, Sybeiier, HoDoowiter/Samo-
jeden. Zemblaner und lOländer accurat beschrieben werden. (Mit Kupfern.)
Zum andemmadil gedruckt und mit clen annehmlichsten Nordischen Curiosi-
täten vermehret. Leipzig, Bey Gottfried Leschen. 1700. 13O. 511 Seiten.
Vgl. S. 214. 215—816.
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— 7 -
Muhlsleine geschwummen k(Mnmen / und wann ein Russe
einigen Zweiffei in diese Historie stellet / so setzet ot sein
Leben gantz gewili in (iclaiir . . . Die meisten Russen seyn
ungeschickte / lulpische und uiarljare Leute ausgenommen
etliche die durch die Handlung so sie mit denen Frem-
den gehabt liabeii / civil worden sind / und den Polni-
schen Hoff durchwandert haben. Die Polen sind nicht so
barbarisch als sie: £s giebt derer / die ihnen den Verstand
durch das Studieren / und die Wissenschafften / die aus
Russen gantz verbannet seynd / zuwege bringen / und sie
haben die Freyhdt zu reisen / die denen Rtissen benommen
ist."
Eines der wertvollsten Zeugnisse aus der Zeit am Ende
des sechzehnten Jahrhunderts hat der Engländer Fletcher^) ge-
liefert: „Die Zaren," sagte er, „die im Handel ein Mittel
zur Bereicherung ihres Schatzes sehen und sich wenig um den
Wohlstand ihrer Kaufmannschaft bekümmern, begünstigen
auch die Volksbildung nicht. Sie lieben nichts Neues, ver-
anlassen keine Ausländer nach Rußland zu kommen, ausge-
nommen Solche, die sie zu ihren Diensten brauchen, und er-
lauben ihren Unterthanen nicht außer Landes zu gehen aus
Furcht vor der Aufklärung, deren die Russen bedeutend fähig
sind, da sie viel natürlichen Verstand haben, den man sogar
bei den Kindern bemerkt. Nur Gesandte und Landläufer sieht
man von den Russen dann und wann in Europa/' Der be*
rühmte russische Historiker Karamsin, der eingestehen mußte,
daß Fletcher viel Wahres über den damaligen Zustand Ruß-
lands gesagt, konnte die von mir ausgewählten Bemerkungen
des Engländers nicht verwinden und kommentierte-) sie
1) Of tiie RiMM ComiDon-Wealth. or maimer oi gov«niemeiit by th»
Russe Emperour; coniraonly called the Etnperour of Moscovia, with the man-
ners and fa'ihion^ of the people of that countrey. At London printed by
T. D. ior Thomas Charde, 1591. — Die Gesellschaft der Londoner Kaufleute,
die nit RoBtaad Haadet triabea und dm Zorn des Zaren fiitditeten, bat
den Umiater CecU, Fletchco Bndi zu verbieten.
Karamsin, Geschichte des Russischen Reiches. Nadi der zweiten
Originalausgat» üb^^rxptzt. Neunter Band, Leipzig 1837. 5. 293. (In der
fraajEösischen Cberäetzung Bd. X. 340.)
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folgendermaßen: .AVir reisten noch nicht, da es uns noch
an der einem gebildeten Geiste eigentümlichen Wißbegierde
mangelte; den Kaufleuten war es nicht verboten, außer Landes
Handel zu treiben, und der eigeinnachtige Johann schickte
junge Leute nach Linoj i auf Universitäten. Auslaadci nalimen
wir in der That nur mit Auswahl und wohl überdacht bei uns
auf. Gelehrte wiesen wir nicht ab, sondern luden sie vielmehr
zu uns ein." Karamsins Polemik ist eine unglückliche, und
das Beispiel, das er für die Einladungen gibt, spricht klarer
noch als Fletcher. Wen beri^ der Zar? Den berühmten
Mathematiker Dee; aber nicht setner mathematischen Gelehr-
samkeit wegen, sondern weil sein Ruf als Sterndeuter und
Alchemist in Moskau phantastische Hoffnungen erweckte. Dee
war übrigens klug genug, die Berufung abzulehnen.
Das Reisen ins Ausland war den Russen faktisch streng
untersagt. Man weiß, daß im Jahre 1075 der Großfürst Isäs-
law von Kijew in Mainz den Kaiser Heinrich den Vierten
besuchte; aber das Rußland des sechzehnten Jahrhunderts
war fanatischer und abgeschlossener als das des elften, und
seit Iwan dem Schrecklichen galt schon der bloße Wunsch
ins Ausland zu reisen ak Hochverrat. Unter dem ersten Ro-
manowschen Zaren Michael Feodorowitsch war der Fürst
Chworostinin Gegenstand einer strengen Verfolgung, weil er
seinen Freunden gesagt hatte: „Ich möchte einmal eine Reise
nach Polen und Rom machen, um jemanden zu finden, mit
dem man sprechen könnte." Kurz darauf wagte es der Sohn
des meistgehörten Ratgebers des Zaren Alexej, Ordin-Natscho-
kin, heimlich die Grenze zu überschreiten, und es war davon
die Rede, den Hochverräter im Auslande töten zu lassen.')
Und Zar Alexej Michajlowitsrh galt bereits als aufgeklärt.
Er ließ seine Kinder in der Mathematik und Astronomie unter-
richten, sft daß die Geistlichen wemten und jammerten ob der
Sünden des Herrschers^), der „Philosophen bei sich hielt, die
^) K. Waliscewski. Piene le Grand. L'Mucation. rhomme. l'oeuvre.
D'apirte des documents noaveaox. steae Mition, Paria 1897. S. 81 (Nach
SaoJowjew B(! TX 461 und X 93).
*) Bernluad Stern, Zwischen der Osfci" und dem Stillen Ozean. Zu-
stände und Strömungen im alten und modernen Rußland. Breslau 1897. S. 10.
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die -Erscheinungen des Himmels und der Erde zu erklären
sich erkühnen und die Länge der Sternschweife mit einer
Elle messen.** Selbst dieser Zar hielt ein Überschreiien der
Grenze für todeswürdig. Damit fürchtete er eine Einschränkung
seiner Selbstherrlichkeit beginnen zu sehen. Wer über die
westliche Grenze ging, stellte sich außerhalb der zarischen
Macht, außerhalb des Srhrerkens, dieses oinzii;t'n Prinzips der
moskowitischen Regierung; der war ein flüchtiger Sklave, ein
Widerspenstiger; noch mehr: aus der heiligen Rußj ins heid-
nische Ausland gehen war eine .vahre Sünde; hieß; sich aus-
setzen einer Infektion durch die feindlichen Religionen, von
denen die russische Erde verderbendrohend umlauert war;
biachte die Gefahr einer unseUgen Vermischung mit jenen
Ungläubigen, deren bloße fierühning einem Moskowiter damals
schon als eine Bescfamutzung erschien.^) Ich sage damit nicht
übertreibende Meinungen von Rußlandfeinden oder zeitge-
nössischen Nichtswissem nach, sondern stelle eine hbtorisch
beglaubigte Tatsache aktenxnäßig fest.
Der götzengleiche Souverän auf dem moskowitischen
Throne betrachtete den Kreml als Mittelpunkt der Erde, sich
selbst als den geheiligten Gebieter der Völker Asiens nicht
bloß, sondern auch Europas. Als Zar Feodor eine Gesandt-
schaft nach Paris schickte, weigerte sich dort der Gesandte
Patjomkin, vor dem König die Mütze abzunehmen; verlangte
jedoch, daß der französische Souverän sich bei jeder Nen-
nung des Zaren vom Throne erhebe und das Haupt ent-
blöße, i) Um den Kreml drehte sich das ganze russische
Leben.') L'nd was war des Wunderbaren in diesem dreifach
ummauerten Palästegewirr zu finden? Da standen heilige und
profane Gebäude regellos durcheinander, Klöster und Käthe*
1) Histoire de Ruasi« et de Piene-Ie-Gnuid. Far M. le fioiral Comte
de S*gur. Paris i^2Q. 210.
S) Bcrnhafd Stern, Von der Ostsee z\im Stüleu Ozeao. Rusaisch-fran-
a4»uche Bündnisse und Händel. S. 74, 77 — 78.
*) Man vergleiche fOr die Kenntnis des b&uslichen Lebens der Zaren
ood der Zarinnen die beiden ■chiflnen Werke von Sabelin: Hsasn» dafib^inBfc,
••Maiiiiiuil 6mv pyceiam» qapft m XVI ■ XVII ct. 3« ii.namo MtK'RMa 1S95;
und ;ioHAiiTKMft 6un> pvoemca. nupnin». 8< mn. M<vKBa
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— 10 -
dralen erstickten unter der Nachbarschaft der schwerfälligen
Amtsbauten und der unbehaglichen Wohnhäuser der Hofleute.
Eine schwere Ltift wie in Gefängnissen drückte die Stim-
mung danieder; fast immer herrschte tiefe Stille, die nur
unterbrochen wurde durch das eintönige Gebimmel der russi-
schen Kirchenglocken, die näselnden Gesänge der Priester und
Mönche, seltener durch ein schwermütiges Lied aus den fest-
verschlossenen Terems, den Harems der moskowitischen
Großen, am häufigsten durch das Stöhnen der gefolterten
Gefangenen. Wer eins der Tore des Kremls durchschritten
hat, ist nicht mehr derselbe Mensch, der er früher gewesen.
Er verlernt hn Augenblick das Reden, und seine Sprache
wandelt sich in ein demütiges Flüstern, sein Gang wird un-
sicher und schleppend und die Hand tastet bei hellichtem
Tage, ab gebe es tausend Gefahren abzuwenden; ängst-
lich beobachtet man sich und forschend wird man beobachtet
von unzähligen Augen, obwohl man weit und breit oft keinen
Menschen sieht. In dem Innern der Paläste und Häuser gab
es einen unbeschreiblichen Luxus, eine Überfülle in Teppichen
und Juwelen. Aber die Pracht erlosch tmter dem Staub und
Schmutz, die mit ihr kontrastierten. Diese furchtbaren
Kontraste waren nur ein Reflex der Gegensätze auf allen
Gebieten des administrativen und politischen, wirtschaft-
lichen und sozialen Lebens. Es existierte zwar ein Staats-
grundsatz, der hießi): ,.Der Zar hat's befohlen, <\\r Bo-
jaren haben 's geraten!" Aber dieses Gesetz war nur eine
Formel, denn der Zar liel^ sich niemals raten. Wie das Klima
physisch nur überaus starke oder überaus schwache Naturen
in Rußland duldet, so kannte auch die Regierung nur einen
Herrn und Sklaven, aber keine Ratgeber, ( ustine-) hat von
Rußland gesagt : ,,C'est la patrie des passions effren^es ou
des caract^rcs debiles, des revoUcs <3U des automaies. des
couspirateurs ou des machines. Ici point d intermediaire entre
le tyran et l'esclave, entre le fou et l'animal; le juste milieu y
est inconnu."
') J. H. Schnitzler. Gehtitne Geschichte Rußlands unter den Kaiaem
Alexander und Nikolaus. Grimma 1S4-. (Zwei Bände) I 10— 11.
La Ku&sie en liijy. Ii cd. Pans 1843 (4 Bande) II iw^
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— 11 —
In dem Einen al)er j^leii hen sich Hoch und Niecirig. Arm
und Reich. Tyrann und Sklave: sie alle bauen auf den Zufall,
nicht aul ihre Willenskraft. Sie werden zwar oreboren wie
andere Mensrhen, das allein haben sie gemein mit den Kultur-
völkern; aber sie leben und sterben, ohne den Zweck ihrer
Existenz verstanden, ja man kann sagen: ohne ihre Existenz
seibat bemerkt zu haben. „VVeder Gutes noch Böses ist bei
ihnen wirklich.*' Sie können lachen, aber nicht glücklich, und
können weinen, aber nicht unglücklich sein. Schon Leroy-
Beaulieu^) hat die merkwürdige Gleichförmigkeit hervorge-
hoben, die alles Russische auszeichnet. Die Städte haben über-
all dieselbe Physiognomie» die Bauern dasselbe Aussehen, die-
selben Sitten, dieselbe Lebensweise. In keinem anderen Lande
gleichen sich die Menschen mehr, in keinem gibt es so wenig
von der prinzipiellen Eigenart, so wenig von den Gegensätzen
im Typus und Charakter. Die Nation hat sich in Ruß-
land nach dem Vorbilde der Natur gebildet, sie zeigt dieselbe
Einlicitlichkeit, ja fast dieselbe Monotonie, wie die Ebenen,
die sie bewohnt.
Deshalb ist auch die russische Religion seit tausend Jahren
ein unfruchtbarer Formalismus, in dem jeder Aberglaube Platz
hat» und die russische Geistlichkeit ungebildet heute wie früher.
Peter hat das Reich reformiert, aber diese Eleganz ist ohne
Geschmack, eine Nachahmung ohne Gefühl, und statt eines
zivilisierten Volkes gebar das neue Rußland ein Volk von
Parvenüs in allen Klassen. Äußerlicher Glanz, dekorative Bil-
dung, durch Zufall erworben, durch das Gesetz der Trägheit
erhalten. So dauert dort eigentlich das Mittelalter noch fort,
trotz Reformen und Revolutionen, trotz Buchdruckerkunst und
Elektrizität. Wie die Wasser des Don und des Dnjepr, der
Wolga und des Ural träge fließen im breiten Bette, so wälzt
sich auch die große russische Masse nur langsam, im Laufe
von Jahrhunderten kaum merkbar weiter. ,,Das russische Volk,"
ruft einer seiner besten Freunde-) in Europa aus, ,,ist im
fünfzehnten Jahrhundert stehen geblieben, um nicht zu sagen
1) Daa Reich der Zaren und die Ruann. Dt«eh. v. Piesold. 2. Aufl.
Smidershausen 1887. (3. Bände.) I «i.
*) Lerov-Beaulieu, a. a. O. III 9 — iv.
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— 12 —
im dreizehnten." Das ist die Ansicht eines prätentiösen I ran-
Züsen ! Jene Russen selbst, die ein klares Urteil haben, denken
bescheidener. Em [)anslawistis(her Patriot, Salkowski, er-
klärte: .Jn bezui^ aut Hildun;^. I-><iiehuiig. kurz alles das. was
den Begriff der /i\ ilisatioii begründet, steht das russische Volk
noch auf der Stufe des zwölften Jalirhunderts !" Die Stufe
des zwölften Jahrhunderts — was bedeutet dies? Raub ist
kein Vergehen, Meineid eine feste Institution, Kindermord eine
mora]isdke Notwendigkeit, sexuelle unnatürliche VerbreclMn
sind verzeihliche Schwächen; Aberglaube ist Religion, Gewalt*
tätigkeit heißt Regierung, Grausamkeit gegen Andersgläubige :
Gottgefälligkeit und Staatsklugheit. Dann hat der Engländer
Lanin^) recht, wenn er in seinem harten Buche über Rußland
sagt: „Es gibt in den russischen zehn Geboten keine Sünde,
die nicht gesühnt werden könnte. Es gibt keine soziale Holle.
Wie tief auch ein Mann oder eine Frau gefallen sei, sie werden
nicht für unerlösbar verloren gehalten.**
In der russischen Literatur der Gegenwart spiegelt sich
das russische Elend. Der PhUosoph und Patriot Wladimir
Ssolowjew klagt: „Selbst die Poesie zeigt im zeitgenössischen
Rußland eine unerhörte Tendenz zur Verherrlichung roher
Gewalt und wollüstiger Grausamkeit." Und Graf Alexej Tolstoi
fügt diesem Schmerzensrufe die Erklärung hinzu: ..Rußland
w ird vollkommen ruiniert durch Trunksucht und Scham-
losigkeit."
Rußland steht auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts —
vergebens hat seit zwei Jahrhunderten der Barbier als Er-
zieher gewirkt, umsonst ward ein Patjomkinscher Bildungs-
bau auf dem mssischen Steppenboden errichtet.
I) Russische Zustände. Aus dem Englischen von Dielits. Leipcig 189a
nod 1S93 (3 Bände). I 41, I 98.
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— 13 -
2. Der Barbier als Erzieher.
Atiftrcti-n Ptters des Großen — Moral und Ehrgefiihl der Großen — Mora-
lisches Portrat Peters — Kleiderreform — Parallele Anmerkung über Peter III.
und I^qI — Der Kampf gegen den Langbart — Baitgetett dm MonontRch
— Der Bart Gottes, des Vaters wie des Sohnes — Der Bart der Rossen —
Anmerlrang über den B«t der Karaiten — Der Bart als WftnnespcDder —
Anmerkung über Haare — Frühere Bartfeinde in Moskau — Peters Ukas —
i3arbansche Zi\nlisationsmethodc — Der Barbier als Erzieher — Barttaxe —
Bartrevolution in Astrachan — Peitschenstrafe für Bartfrennde — Reaktion
und Langbärte — Religiöse Bedentang des Bartes — Parallele Anmerknng
über «ödere Liadar und Völker — Die Geistlichkeit nnd tbre Scbmähachnftea
— Bartschneiden Ketzerei — Der Bart des Patriarchen — Rückkehr zum
Langbart — Die Barte der Geistlichen — Lomonossows Gedicht über den
bcplOten Pof>enbart — i'ctcr III. — Pugatschews Bartrevolution — Alexan-
ders I. Kampf gegen den Bart — Die Bftrte Alexanders II. und III.
Die Refoimen Peteis des Großen erweckten in Europa
große Hoffnungen. In einem zeitgenössischen großen Reise-
werke, wo die Manieren des damaligen Russenvolkes als noch
ganz barbarische geschildert werden, heißt es in einer An-
merkung i), daß sich bald alles ändern werde: ^.Surtout les
gens de condition commencent ä prendre un air de politesse
qu'Us n'avoient pas sous les Pr^decesseurs de ce Monarque.
Aya bien d*esp^rer que les Ecoles publiques, et les Aca-
demies. qu'il commence ä ötablir, ach^veront bicn-t6t de bannir
la barbarie et l'ignorance, et changeront entiercment la face
de ce vaste Empire." Die höchste Gesellschaft war noch
zu Zeiten Peters nicht besser als das verkommenste Raubge-
sindel. Als Beispiele hierfür werden folgende angeführt: Ein
Fürst Feodor Chotewowskij erhält wegen gemeinen Betruges
auf öffentlichem Platze in Moskau die Knute; der Edelmann
Subow wird weg:en Diebstahls bestraft ; der Wojwodc Iwan
Bartcnjcw entführt Fraut-ii und Mädchen und legt sich eim ii
Harem an; der Fürst Iwan Schedjakow wird wegen Brigan-
dage und gemeinen Mordes verurteilt; zwei Richter^ die sich
1) voyages de Comdlk» Le Bkuyn par la Bfloecovie. «n Faiae, et aux
litdcs Orientale*. A I» Haye 1732 (5 vol.) Bd. III, S. iis— 114.
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— 14 —
durch Schnaps und zwanzig Rubel bestechen ließen, werden
öffentlich gepeitscht.
Bei Hoch und ^ßedrig fehlt jedes moralische Ideal, der
Respekt für Ehre und Pflicht. Die freien Manner, sagt Korb
in seinem lateinischen Werke über das damalige Rußland,
achten ihre Freiheit für nichts und sind jederzeit bereit, sich
selbst als Sklaven zu verhandeln. Das Denunziantentum be-
herrscht alle Klassen, es ist das einzig blühende Geschäft.
Die Heerführer kennen auch nichts Höheres als ihre Bequem-
lichkeit. Als Pürst Scheremetjew im Jahre 1705 nach Astra-
chan geschickt wird, um dort eine gefährliche Bartrevolte
zu unterdrücken, bleibt er plötzlich in Kasan stehen und hat
keinen anderen Gedanken als den: nach Moskau zurückzu-
kehren, um dort die Osterf eiertage angenehm zuzubrins/cnJ 1
Ehre, Pflicht, Ambition. Mut — lauter neue Dinge, die l'eter
erst unter seinen Soldaten nicht bloß, sondern auch unter seinen
Offizieren einbürgern muß ; denn bisher j^alt allem zuvor die
Lehre des nationalen Sprüchwortes: ..Flielien ist gesund." Und
wie reformiert Peter: hn Jahre 1703 läßt er unter den Mauern
von Notebur^ eine ganze Kompagnie von Flüchtlingen und
Feiglingen aufhängen.
Mit Schrecken und in summarischer W eise bekämpft der
Zar-Reformator den Fanatismus und die Verstocktheit seiner
Russen. Peter ist nicht, wie man versöhnend behauptet hat,
ein Mann voller WHk i ,>pruche, zusammengesetzt .lus Fxtre-
men von Gut und Böse ; nein, er ist in allen seinen I lantilungen
ausnahmslos der nackte Barbar. Er schwärmt angeblich für
Leibnitz ; aber als ihm der große Philosoph vorschlägt, in
Rußland magnetische Observatorien einzurichten, verliert er
die gute Meinung, die er von dem Manne bisher hatte.^)
Der Zar, der sein Volk bilden und kultiideren will, ist nicht
fähig, seine eigenen Roheiten zu meistern. Am Hofe Peters
befand sich ein Baron von Bülau. der mit dem Zaren einen
Kontrakt gemacht hatte, daß er auf eine Distanz von tausend
1) Waliszewski. Pierre le Grand. S. 454 — 455.
'} Baer. Peters Verdienste um die Erweiterung der geographischen
Kenntniwe. St. PetereburK 1S68. S. 56.
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— lö —
Schritten ein Schiff anzünden und eine Kugel mit einer Kanone
über eine Werst hinausschießen wolle. Der Zar versprach
ihm für das Gelingen großmütig achtzigtausend Dukaten ; aber
als sich Bülau erlaubte, Peter in dieser Sache anzusprechen
„da spie ihm der Zar statt aller Antwort einfach ins Gesicht
und ging von ihm fort". In Holland stieg der Zar in einem
Hotel ab. Er fand da einen seiner Bedienten auf einem Bären-
fell in einem Winkel liegend. £r jagte ihn mit Fußtritten
auf und sagte einfach: „Geh, ich will deinen Platz I" Bei
einem Feste, das dem Zaren in Berlin gegeben wird, macht
man ihn aufmerksam, daß er Handschuhe anziehen müsse;
aber in seinem Gepäck sind keine Handschuhe zu finden.
Beim Tanzen greifen der Zar und seine Begleiter den Tänzer-
innen an die Mieder; sie nehmen die Mieder für natürliche
Attribute und klagen laut über die steinerne Härte der Brüste
deutscher Frauen. Peter will sich für die ihm zuTcil gewordene
Gastfreundschaft revanchieren und die Hofgesellschaft auch
seinerseits unterhalten. £r läßt einen seiner Hofnarren rufen;
da aber dessen Produktinnen auf die Europäer abstoßend
wirken, so gibt der Zar dem Zwerge mit einem Fußtritt den
Laufpaß. Des Zaren unverhüllteste Roheit tritt bei Tische
zutage. Admiral Ciolowin, einer der Ciünstlinge des Zaren,
lehnt ali; Gast am Zarentisrlie einen Salat ab. weil der F^ssig
ihm schädlich; da ergreift Peter selbst zornig die Schüssel
und stopfi dem Admiral den ganzen .Salat gewaltsam in den
Hals, bh. der l^nglückliche I'^stickungsanfälle erleidet. 2) Berg-
holz erzählt aus dem Jahre ij2i^): ..('her der Mahlzeit diver-
tierie sich der Zar mit der Zarin Ku< henmeister. der das Essen
anordnete, und die Tische besorgte, nenilu h, da er vor dem
Zaren eine Schüssel mit Kssen niedersetzen wollte, so kriegte
er ihn bey dem Kopf, und machte ihm Hurner über dem
Kopf, weil er vormals eine Frau gehabt, die sehr liederlich
gewesen, welches er sich aber nicht sonderlich anfechten
lassen, daher er dann noch bis auf diese Stunde über seinem
>) Tagebuch voa Fftodricb Wilhelm von Bergholz. In Büschings Magazin
fQr die neue Historie und Geographie. Hamburg. 1767. XIX S. 55.
«) Waliszewski. Pierre le (irand. . S. 92. 98. 135. 451.
«) a. a. O. S. 87.
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- 16 -
Thorwege ein Hirschgeweihe sitzen hat, wdches ihn der Zar hat
dahin nageln lassen. So oft ihn der Zar za sehen bekommt, so
macht er ihm mit zwey Fingern Homer zu, und wenn er ihn zu
fassen kriegt, kann er ihn wohl eine Viertelstunde halten, und
ihn immer damiit scheeren; er aberschlägt bisweilen dem Zaren
dermaßen auf die Handi), daß er es wohl fühlet, denn eher be-
kommt er keinen Frieden. Da aber diesesmal der Iwan Michailo-
witsch*) ihn mit zu fassen kriegte, und die Dentschiken
ihn von hinten hielten, so hatte er eine Zeitlang seine Noth,
indessen fasscte er den Zaren so stark bey den Fingern, daß
ich alle Augenblick meynete, er würde sie ihm abbrechen."
Alle diese Züge aus Peters Leben uareii seinen Zeitgenossen
wohlbekannt^), und es zeigt, wessen man sich \'on ihm ver-
sah, wenn der Minister Polens in Berlin, Manteuftei, den Zaren
also drastisch lobt: „Er hat sich selbst ubertroffen. Er hat
bei lische nicht aufgestoßen^), nicht gefurzt, sich nicht die
Zähne ge:»tüchcrt, wenigstens habe ich nichts gesehen und
nichts gehört;" und um der Königin die Hand reichen zu
# — -
2) Der Herausgeber des Berfbolxschen Tagebaehes, Bfisching, bemerkt
hierzu: ,,In Dänemark wurde des Grafens Brand Vertheidigung gegen König
Christian Vll. in einem ähnlichen Falk-, als ein VcffbcecheD, dufcfa welches
er die Hinnchtting verdienet habe, angegeben."
'•^) iwan &iichailowit»ch iät der russische Bacchus.
Zeriache Holbedlente, besonden Kammerdiener.
Die EnUdnogen in den Memoiren der llirkgiftfia von Bayreuth «eise
ich als so verbreitet voraus, daß ich sie nicht weiter erwähne, wie ich es ja
als meine Aufgabe betrachte, bei Erinnerungen an die Vergangenheit alles
Bekannte zu vermeiden und nur das Wichtigste und wenig oder gar nicht
Sekannte bervorrakduren«
*) „Wenn vor diesem ein Russe schluckte oder aufstieß, nahm er seine
Mütze elirfurchtsvoU ab, und kreutzete sich dreimal, denn er glaubte, das
Schhicken wäre ein sehnsuchtsvoller Wunsch der Seele mit Gott zti reden.
Hieraus ist leicht abzunehmen, wie oft durch Unmäßigkeit dergleichen Uuter-
haltungen mit der Gottheit veranlasset werden maßten. Das gemeine Volk,
welches allesett hartn&ekig den einmal gefaflten Vorurteilen nachhänget, hat
noch diesen frommen Glauben, wie auch die alte Gewohnheit, die Mütze ab-
zunehmen und sich dreimal zu kreutzen." Sammlung merkwürdigir Anek
doten. das lR\is5?ische Reich. di(< Owolmheiten nnd Gebräuche wie auch (]^.f
Naturgeschichte betreffend, vüu einem Keiseuden, welcher sich 13 Jakrc lu
diesem Reiche angehalten. Aus dem Fcaniftriwchen. Erster Theil. Greils-
wald 1793* (Bin eehr seltenes Buch.) Vgl S. 33—34«
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können, „hat er sich sogar Handschuhe angezogen", allerdings:
„il s'est gant^, d'un gant assez sale." Wie es sonst am Tische
Peters zuging, erzählte der Staatsrat und Domherr zu Lüttich,
de Launage'), der vom Zaren in Spaa zu einem Diner ein-
geladen wurde: ,,Der Zar saß oben :in, in der Nachtmütze
und ohne Halsbinde. Zwei Soldaten trugen jeder eine große
Schüssel auf. Nun kam ein Kerl, der sechs Bouteillen Wein auf
die Tafel — nicht stellte, sondern gleich einer Handvoll Würfel
hinkollcrtc. Der Zar nahm eine davon und schenkte jedem
Gast ein Glas davon ein. Auf dem Tische sah es schön ausl
Fast aus allen Näpfen war Brühe auf das Tischtuch verschüttet;
so auch der Wein, weil die Bouteillen nicht ordentlich zu-
gepfropft wurden. Als man von der Tafel aufstand, war das
Tischtuch über und über mit Fett und Wein getränkt. Nun
kam das zweite Essen. Dies zweite Gericht bestand aus zwei
Kälberkeulen und vier jungen Hühnern. Se. Majestät nahm
das größte da\un mit der bloßen Hand aus der Schüssel, rieb
es sich prüfend unter die Nase, und nachdem er mir durch
einen Wink zu verstehen gegeben, daß er es köstlich finde,
war er so gnädig, es mir auf meinen Teller zu werfen. Nach
dem Dessert ging der Zar an ein Fenster. Hier fand er ein
Paar Lichtscheren, mit denen er, so voll Talg und angerostet
sie auch waren, sich die Nägel putzte.*'
Dieser Zar reformierte nun Rußland nach seiner Art. Er,
der keine Handschuhe hatte, als er an einem europäischen
Hofe erschien, und mit der Nachtmütze zu Tische ging, er
sah die Herrlichkeit der Zivilisation in dem europaischen
Kostüm und dem rasierten Kinn, Die französische Tracht,
die er für Rußland wählte, sollte nicht bloß von den Vor-
nehmen, sondern von aller Welt angenommen werden. Sein
Kleider-Ukas ist vom 29. August 1699 datiert'}; in den
Straßen von Moskau wurden damals die neuesten, franzö-
>) Gottschalck und Hoffmann, Anhaltisches Magazin 1827. Vgl. S. Sagen-
heim. Rußlands Einfluß auf und Beziehungen zu Deutschland vom Beginne
der AUeinregierung Feters I. bis zum Tode Nikolaus I. (1689 — 1855) nebst
«ban eänkiteiideD ROckblicke anf die frühere Zeit. Frankfurt a. M. 1856.
(Zwd Bande.) I S. 188—189.
*) Waliswivski, Pierre le Grand. S. 456.
Sliro, CcMUchte der effentL Sitilichkat ia Ruilmad. 2
— 18 —
hcn Mcdrbildcr affirhicrt. Die Reichen inulMen die neuen
Kleider sofort aiibcliaften; die Armen erhielten eine bcstmimte
I ribt zu^^ebilligt. Aber vom Jahre 1705 ab mubte alles bei
sonstiger schwerer Strafe die neue Tracht tragen. Die ge-
waltsame Weise der neuen Reform mußte namentlich in den
unteren Klassen eine berechtigte Opposition finden. Die Bo-
jaren waren geleliriger und willfähriger; sie hatten schon zur
Zeit des falschen Dniitry polnische Tracht angenommen ge-
habt, die französische mißfiel ihnen durcliaus nicht, und schon
im März 1705 bemerkte Withworth unter den Vornehmen
keine einzige rerson mehr in alter russischer Nationaltracht.
Für die Männer des Volkes bedeutete die Kleiderrcform jedoch
eine ökonomische Kalamität. Das Klima zwang sie zu langen
schweren wannen Kleidern, die man trug, bis sie zerfielen;
nun galt es diese bequeme und warme Tracht zu vertauschen
gegen kurze und teuere* Kleider der Fremden. Heftiger noch
war der Trotz des Volkes, als Peter sdnen schwersten Schlag
gegen Altrußland führte» als er seine zariache Riesenschere
ergriff^ um dem Volke den Bart abzuschneiden.
In den Gesetzen des Großfürsten Wladimir WßewolodO"
witsch Monomach heißt es Kap. VII, § i : „Wer einem Anderen
den Bart so daß ein kahler Fleck entsteht ausgerauft, und
1) Bekanntlich reformierten auch Peter III. und Paul I. auf ähnliche
Art, Zar Paul verbot, runde Hüte 211 tragen, llr gab Befehl allen, die dem
Verbote zuwiderhandelten, die runden Hüte vom K()[)ff zu schlagen. \\ er
sich dies nicht stumm gefallen ließ, wurde von den roli^cisoldatcn geprägeit.
So «Hing es einem Engländer, aber der englische Gesandte machte Skandal;
dfecattf wurde das PrOgeln der Träger mndcr Hüte aül der StraOe veiboten.
man mußte die Übeltäter zur Polizei bringen. Stellte sich hier heraus, daß
es AuslancUr waren, f^o ließ man sie wieder frei; ausgenommen waren Fran-
zosen, die der Zar dann als Jakobmer erklärte und verurteilte, Waren die
Verhafteten aber Russen, so steckte man sie unter die Soldaten. Der sardi-
nisdie Gesandte spottete tiber diese Paulsche. Reform und sagte: „Solche
Kleinigkeiten haben in Italien oft Empörungen verursacht." Der Zar üeO
ihm seine Pässe zustellen, und er nuiOtc in vierund zwar zig Stunden Peters-
burg verlassen. Vgl. Mdmoires secrets sur la Russie et particuliereraent sur
la fin da Rägne de Catherine II et Ic conimcncemcnt de celui de Paul I*^'.
Fonnant un tablean des moenss. Paris oder Amsterdam 1800 (3 Binde).
I 267. (Die deutsche Übersetzung dieses Massonschen Buches, in 4 Binden«
ist seltener als das Original. .Vgl. in der deutschen Ausgabe I 207).
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zwar in Gegenwart einiger Personen, die es bezeugen können,
der bezahlt zwölf Griwnen Strafe.*) Kann der Kläger keine
Zeugen führen, so soll seiner Aussage kein Glaube geschenkt
und dem Beklagten keine Strafe auferlegt werden." Die Strafe
wird illustriert, wenn ich hinzufüge, daß für die Ermordung
eitles Knechtes oder einer Magd, die ein Handwerk erlernt,
in denselben Gesetzen ebenfalls 12 Griwnen Strafe, für die
Ermordung eines einfachen Bauers oder einer einfachen Magd
nur 5 und 6 Griwnen Strafe festgesetzt wurden !
In der ,, Reise nach Norden" heißt es-): ,,Dic russischen
Päbste^) schneiden ihre Haare ^) nie, noch putzen sie sich
^) Die Gesetze des Großfürsten Wladinür Wßewolodowitsch Monomach
sind vollständig übersetzt in einer sehr seltenen Sammlung von Nachrichten
ab«r Rattand und die Türkei: „Comrtantiaopd und SL Petcnbing. Der
Orient und der Nerden. Eine ZeitKhrilt henuugeigeben von H. von Reimen
and F. Murhard. St. Petersburg und Penig. aSojS — t8o6." (Mein Exemplar
enthält acht Bände.) Vgl. i8o6> II. S. 308.
«) a. a. O. S, 121.
^) Per Verfasser versteht darunter ,,deu Pfarr über ein Kirchspiel", also
einfw.h einen Popen.
*\ Das Hajuvcbnetden verdient in einer Sitteng^ediichte RvOUuide ancb
eine kurze Erwähnung. Karamsin (deutsche Übersetzung VII 174. franzö-
sische VII 272) erwähnt die Bemerkung von PauUi'5 Jovius: ,,Die Männer
beschnittea ihre Haare". Der Chronist Nestor spricht mehrmals „von dem
alten Gefacaadie der RtMsen, die FntBteni6hne im Alter von vkr Jaliren wa
bescheren** (Tonsur). VgL La Chronique de Nestor, liaduite en firangals
par Lonis Puis. Aecomp. de notes. Paris 1834. (2 Binde.) Bd. II Anhang
S. 191 a. 192. — Dieser Gebrauch der Maarehescheninp, russisch: Postrigv pe-
nannt, scheint nach Karamsin (deutsch III iij. iranzösisch III 162) der Rest
eines heidaischen Gebrauches gewesen zu sein. Man bezeichnete dadurch den
Eintritt der Kinder in das sosiate ttbm, in den Rang der Ritter. Durch den
Haarschnitt wurde eine geistige Verwandtschaft zwischen zwei Familien her
gestellt die >[iittcr dtssrn, dem man die Haare geschnitten, galt fortan als
Schwester dessen, der die (Operation vor^^enommcn. (Auch in anderen slawischen
Landern war diese Tonsur üblich, so in Polen.) hin Annalist von Susdal er-
sihlt. dafi bei dem Haandmitt der Xhider Marias, Gattin WOewolods» große
FeiVliehktiten stattfanden: nachdem man die Knaben msiert hatte, setate
man sie aufs Pferd in Anwesenheit des Bischofs, der Bojaren und der Bürger.
WOewoIod gab den alliierten Fürsten bei dieser Gelegenheit eine Mahlzeit und
beschenkte alle Gäste. Die russischen Fürsten unterzogen sich ferner der Ton-
sur, wenn sie enurtUch «rlorankten. Dann, entsagten sie Merlich der Weltlich-
issit, nahmen das BiSnchsgewand, lleflen sich das Haupt rasieren und weihten
2*
- 20 -
den Bart/' Vnd bei Perryi): „Die Moskowiter trugen, nach
dem Beispiele der alten Patriarchen, bis zu Peter dem Großen
immer lange Bärte, die ihnen bis zut Brust herabhingen; sie
pflegten sie sehr, gaben acht, kein Härchen zu verlieren; die
Schnurrbarthaarc waren so lan^, daß die Leute nicht trinken
konnten, ohne den Bart naßzumachen, so daß sie ihn fort-
während abwischen mußten. Die Haare aber trugen sie kurz
geschnitten, nur die Geistlichen hatten auch lange Haar« "
Der Bart war den Russen in mancher Beziehung cmc natur-
liche Vervollständigung ihrer Kleidung, als Wärmespender im
kalten Klima ebenso notwendig wie der lange dicke Rock.^)
sich dem Dienste Gottes, siü endeten vR-ie russische Herrscher. Dir I\l(_rus
ermutigte zu solcheu Eutächlüssen, die der Geistlichkeit Geld, Geschenke und
Gnadea einbrachten. — Im Gegenmtsd su diesm nissischen Sitten stdien
ciinge Gebrfliiche in Esthknd. Hier gelt dee HeenbaehDeiden ab eine emp-
findliche Strafe; wenn ein I, eibeigener einen Diebstahl oder ein anderes Ver-
brechen begangen hatte, so ließ sein Herr ihm den Schädel ganz kahl rasieren,
und diese Strafe war mit vieler Schande verbunden. (Vgl. das seltene Werk
von J. Ctar. Petxi Settdaad md die Bethen. 3 Bände. GnOm i8ot. II S. 9.)
In einer Alteren Gceehichte der baltiactaen Provineen hetOt ee: „Die geweit«
s.ime Entführung der ^auen in Esthland führte zum Gebrauch, den Weibern
die Haare abzuscheren. Zum Zeichen. HaO sie schon unter eines Mannes Ge-
walt gewesen, damit sie nicht entiauffen noch Jemand sie als eine gekränckte.
weiter begehren möchte." (Th. Hiäms Ehst-, Lyf- und Lettländische Ge-
echichte, hereneg. von Napiervlcf. Monnmenta Livoniae antiqaae. Bd. I.
Riga, Dorpat und Leipzig 1835. S. 40.)
') Etat present de la Grande-Russic. Contcnant une Relation de plus
rcniar(}uabie. Description des moeurs. Trad. de TAnglois. A la Haye 1717.
S. i«7— 188.
*) Auch andere Vfilker in Rußland haben ihre spetütsche Barttradit.
So erzählt J. G. Kohl in «einem Bnche Aber SüdmOland (II 363) von dem
Barte der Karaiten in der Krym: ,,Es läßt sich besonders bemerken, daO Alle
ihn auf der I.ippe stehen la.s5?en, ihn aber übrigens wegrasieren bis auf einen
ganz merkwurüigeu, äußerst schmalen, langen Backcnbarts-Streifeu. der unten
vom Kinn über die Kinnladen hinweg und beim Ohre vorbei soweit hinauf
geht, als nnr Haare vrachsen. Auf dieser AnOerst dönnen Linie dürfen aber
auch die Haare nicht wachsen, wie sie wollen, sondern werden gleich einer
Gartenhecke =;o stark unter der Schere gehalten, daC sie nur einem gemalten
Streifen gl<'i( hfii. Diese streifige, über die Haut hiuirrende Bartschatticrung
findet sich auf der Wange aller Karaiten ganz auf dieselbe Weise und voll-
kommen in dersdben Richtung. Nicht so bei den Tataren." Koch meint»
der Ursiming dieses sonderbaren, die Karaiten von den Tataien nnterselMiden*
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— 21 —
Schon vor Peter dem Großen hatte der Bart in Rußland
Anfechtungen zu erleiden. Margeret i) bemerkt mit besonderem
Nachdruck, daß der falsche Dmitry bartlos war; dieser Unv
stand hat vielleicht nicht wenig zu seiner Entthrünung und
Ermordung beigetragen, da der Zar schon durch die Ein-
führung der polnischen Tracht das russische Nationalgefühl
verletzt hatte. Auch aus der Zeit des Zaren Alexej berichtet
die russische Geschichte einen interessanten Fall. Der Bojar
Schcrcmetjew, so wird erzählt, weigerte sich seinen Sohn zu
segnen, weil der junge Mann mit rasiertem Kinn vor ihm
erschien. Dieser scheint damals nicht der einzige Verbrecher der
Art gewesen zu sein, denn der Patriarch Joachim bedrohte
mit den Blitzen der Exkommunikation alle die Sünder, die
sich einfallen ließen, den Bart zu rasieren. Eine solc he sum-
mari<>rhe Drohung hatte nur Sinn, wenn die Rasierbewegung
scliun weite Kreise ergriff. Und das war tatsächlich der Fall.
Der alten Kleidung und des Bartes Hauptstützen waren die Geist.
lichkeit und Religion. In der orthodoxen Iconographic sind
Gott Vater und Sohn lang bebartet und lang gekleidet. Ein
l'kas des Zaren .Mexej schuf nun ein merkwürdiges Kompro-
miß, das dann durch einen Ukas seines Sohnes Feodor be-
kräftigt und erneuert wurde; Das Verlangen des Tatriarchen
nach einem Verbot des Bartrasierens wurde für berechtigt er-
klärt imd erfüllt; aber gleichzeitig schrieb man dem männ-
lichen Personal des Hofes und der Amter verkürzte Kleider vor.
An die göttliche Tracht hatte man sich also gewagt, den
göttlichen Bart ließ man unberührt.
Bald aber kam ein mächtigerer als der Patriarch Joachim;
der Sohn des Zaren Alexej, der Antichrist Peter schloß mit
den BarLitreiieDS müsse einen eigenen Grund haben. Ich vermute nun, daß
die Karalten zu dieser Barttracbt als zu einem Unterscheidungszeichen von
den UoaleiBa, mit denen sie aooat dieielbe TVacbt hatten, gezwungen worden
tein mögen. Dieser BarUtieilen ist demnndi bei den laymschen Juden eine
Elinnerung an Zeiten sclimählicher Intoleranz.
1) Estat de l'Kmpire de Russie et du grand Dvch6 de Moscovie. Paris
1607. (Diese Originalausgabe ist eine Karitat ersten Ranges. Ich benütze
die AntßhB Puis iSar» diitte, die nur in 100 Emuplueii gedmckt nnd
daher anch berate rar getironlen ist.) S. 141.
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— 22 —
der Gcisilichkeit keine Kompromisse mehr und schnitt ohne
Furcht vor den BHtzen der Kirche dem russischen Barte den
Lebensfaden ab. Der Reformator hielt mit den von ihm durch-
gesetzten neuen Sitten und Trachten das Beibehaken des ah-
russibchen Bartes für unvereinbar. In seiner nächsten Um-
gebung, bei seinen Mitarbeitern und HünstHngen fand er sofort
volles Verständnis. Bei seiner Rüi kkrhr aus dem Ausland
bemerkte er, wie geneigt seine Ilofleute und Minister waren,
seinen Wünschen entpey^cnzukommen. Nie ht nur Mentschikow
und Gülüwiu |j,Li.iuu ii luii rasiertem Kinn ; sondern alle, die m
der ersten Audienz nach Peters Heimkehr zur Bewillkommnung
erschienen, einige Alte und die Geistlichen ausgenommen,
waren bartlos; „Fetern gefiel dies ihm gebrachte Opfer so
sehr/" enahlt Korb „daß er sie mit außerordentlichen Zeichen
des Wohlwollens umarmte und so durch einen Sonnenblick
der Gunst die Verwüstung^ des Messers vergütete/* Der
Zar überlegte sich, jetzt nicht mehr lange, in seiner grandiosen
Reform fortzufahren. Um sie streng durchzuführen, wurden
Beamte angestellt, welche allen ohne Unterschied auf offener
Straße die Barte abschneiden mußten. Dies erschien den
Russen so fürchterlich, daß viele, die mit zärtlicher Liebe
an ihren Barten hingen, den Mitgliedern dieser hohen Korn«
mission große Summen für ein freundliches Übersehen bot^n..')
Aber die sonst so Bestechlichen waren in diesem Falle un-
bestechlich; auch hätte das wenig genützt; entschlüpfte man
einer Bartscherkommission, so rannte man bald einer anderen
in die bewaffneten Arme. An der Tafel des Zaren gehörte ein
Barbier fortan zu den ständigen Bedienern; wagte noch je-
mand hier mit dem Barte zu erscheinen, so war er sicher
die Zierde seiner Männlichkeit noch während der Essenszeit
zu verlieren. An allen Toren von Moskau waren Wachen auf-
gestellt, die den bebarteten Passanten auflauerten; Wider-
Bei Ilalcm. Leben Peters des Großen. (3 Bände.) Münster und Leipi^
tSoj. I 141. — Über die Bartreform sind auch bei Bsrückacr, Peter der GroOe
(in der Onckenschen Weltfeschichte) einige intereasaote Angaben an finden,
9Q S. 220, 273. 376, 2S0, 287, 303 und 525.
*) Le Bruyn a. a. O. III 151.
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- 23 —
spenstigc mußten niederknien und wurden grausam ge-
schoren. Der Zar machte aus dieser Reform aber auch eine
Einnahmsquelle. Er gestattete das Barttragen gegen eine Taxe,
die von einem Kopeken bis hundert Rubel jährlich betrug;
als Zeugnis für die bezahlte Taxe mußten die Bartleute auf
der Brust eine Medaille tragen, mit einer Inschrift, welche,
besagte: der Bart ist eine unnütze Last. Die Armen, die
die Taxe nicht bezahlen konnten und den Bart verloren, steckten
die abgeschnittenen Haare in ein Säckchen, das sie bis zum
Tode an der Brust trugen und das man ihnen mit in den
Sarg legte, „damit sie anständig vor dem heiligen Xikolaj"
erscheinen konnten.- 1 Den het'tij^sten Widerstand fand die
Bartrelurm in den fernen Trovinzen. Die Diener des Zaren
erlaubten sich hier die ärgsten Gewalttätigkeiten. Der Coii-
verneur von Astrachan licli an den Forc n der Kirchen Soldaten
aufstellen, die allen aus der Kirche kommenden Bebarteten
die Härte ausreilkn mußten. 3) In Astrachan entstand infolge-
dessen ein furchtbarer Aufruhr, der erst nach Aufbietung von
zwan/igtaubcnd Mann und nach hartem Kampfe bewältigt
wurde. Auch Peter selbst ging grausam genug vor. Als er
1704 in Moskau j)lot/'lich sein llufpersonal musterte, entdeckte
er, daß ein gewisser Iwan Naumow noch einen Bart trug,
der Ungehorsame wurde zur Strafe öffentlich gepeitscht.
Der Zar war dem Barte gegenüber unerbittlich. Er be-
trachtete den russischen Bart sozusagen als seinen persönlich-
sten Feind. Der Langbart symbolisierte in seinen Augen alle
jene Ideen, Traditionen und Vorurteile, die er bekämpfte.
In den Klagen, die er gegen seinen dem Tode ausgelieferten
Sohn Alexej erhob, machte er für des Unglücklichen Schick-
sal dieLangbärte^), diese Stützen der Reaktion, verantwortlich.
1) Sammlung merkwdrdiger Anekdoten das Rassische Reich betreffend.
S. 104.
*) Perry, a. a. O. 187.
«) WaliBiMvski, Piem le Grand 456.
*) .\cta des Inquisitions-Processes/So zu St. PetcRburg wider den Czaaro-
uitz, Ilf-rrn Alcxium Pctrouitz 'Im Jahr 1718. an^t-stdlct. N.ich dem zu Ham-
burg gtHlnicktt'ii f"x<'iii]ilar, Anno 17 i S. S. <). — Manile-^t \v<^en der Gericht-
lichen Inquisition über den Ziirewitscii Alcxium l^etrowitsch. Franckfurt und
Leipzig 1719. S. 8.
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_ 24 —
Wahrlich nicht aus ästhetischen und vielleicht nicht ein-
mal aus politischen Gründen konnten sich die gemeinen Russen
von ihren Barten nicht leichten Herzens trennen. Ihre Motive
waren vielmehr hauptsächlich sittlich-religiöse.^) ^^Fast die
Anch in aadereft Landem hat der Bart du« gioBe «afkiiiate nnd
])ottt»die Rone gespielt; aber idigiAse Bedentnng wurde ihm nicht einmal
im Orient beigelegt. Bei den alten Hebräern wurde das Bartabschneiden als
Strafe angeordnet, bei den Osmanen galt ein abgeschnittpn^>r B^irt als Zeichen
der Schmach, als Beraubung eines Teiles der Mänukchkeit, und es wurde olt
im Kriege an den Besiegten eine denitige Entminnliehnng vaüaogea. Eine
Empörnng infolge gewaltsamen BartatNchnddens gab es einmal im osmanisehen
Reiche. (Vgl. Bernhard Stern. Äfedizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in
der Türkei. Band II 129.) ■- In Olmütz wurden kürzlich zwei nach Snloinch
zuständige Mohammedaner Osman Ramadan nnd Dcmir Aga wegen Betruges
zu Kerkerstrafe verurteilt; nach der Hausordnung der dortigen Frohnf^te
mnO Jedem SttUUng. dessen Stnfe die Dauer von dni Monaten tttietschreitet,
der Schnnrrbart abgmommen werden. Dieses Schicksal soUte andi die beiden
Türken treffen. Als ihnen dies mitgeteilt wurde, fingen sie zu jammern an
und erklärten, daß in ihrer Heimat das Abnehmen des Schnurrbartes die
größte Schmach bedeute und daß sie sich lieber hängen, als dieser Zierde
berauben lassen wollten. Sie klagten femer, daß im Islam der Ehefrau das
Recht anstehe, den Mann solort zu verlassen, wenn er seinen Sctmontbart ab-
rasieren lasse (eine Behauptung übrigens, die mir absolut unrichtig erscheint),
und diesem Grunde ließ das Gericht Rücksicht angedeihen, die beiden Türken
durften den Schnurrbart behalten. (Zeitungsnotiz.) — Als Zierde männlicher
Schönheit und der Männlichkeit im allgemeinen güt der Bart fast übenlL
Ab man den Diogenes fragte, wBinm er einen Bart trage, antwortete er: „Da-
mit ich in Anschauung und Betastung desselben mich erinnere, daß ich ein
Mann sei." Professor Hieronymus Rhctus zu Basr 1 rrklärtc: ,,Dcr Bart lehret
mich, daß irli kpine Frau, sondern ein Mann bin, und daß ich mich männ-
licher Tugend mit standiiaütem Gemüthe beileiOigen solle." Im „Leibdiener
der Schönheit" (oder: Nenentdeekfee Gdieimnisse von derSehÖnheit der Flranen-
simmer Leipsig und Bremen 1747. Seite 33) wird geUagt, „dafi mit der jetiigen
Zerstümmelung des lieben Bartes ein groß Theil unserer männlichen Dignität
und Respekt vcrlohrcn gehe." — Bei den Narrinyesen wird {wie Älantegazza
in „Geschlechtsverhältnisse des Menschen" S. 15 nach dem Berichte des Re-
verend Taplin erwBhnt) der Jüngling, wenn ssin Bart sich bis an einem ge*
wissen Grade entwickelt nnd eine bestimmte Länge erreicht hat. unter Idar-
liehen Zeremonien zum Manne erklärt. — Die alten Germanen hielten das
späte Erscheinen fi'-s ll-?rtes als ein günstiges Zeichen, als einr-n Bewois von
Kraft, welche die Isaiur bisher auf wichtigere Funktionen verwendet hätte.
Über das Verhältnis des Bartes zu den Organen der Generation herrschen
vriderspruchsvoUe Ansichten. Alte Schriftstdler «prechen von Kindern, die
bftrtig «arsn; ha den Märchen von 1001 Nacht ist häufig die Rede von drei»
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Aus dem russischen Volksleben.
(Aus ]ukowsky, Sct-ncs populaircN Kusse;«.)
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— 25 —
ganze Nation/' heißt es in einem zeitgenössischen Berichte«
„ist von der vorigen Affection vor ihre Kleidung so vollkom-
men zurück gekommen, daß wofern sie auch dermaleinst das
Heft wieder in die Hände bekommen, und ihre alte Regierungs»
form rctablieren sollten, sie dennoch ihre ehemalige Moden
ganz gewiß nicht wieder erwählen würden. — Der Bart aber
hat viel hartnäckige Defensores gefunden, insonderheit unter
dem gemeinen Mann, welche sich eingebildet, Gottes Eben-
bild werde geschändet, wann ein Mensch dieses Zierrathes
beraubet würde, weswegen dann viele von ihnen lieber ihre
Köpfe unter das Beil legen, als ihren Bart verlieren wollen.
Der Synodus hat /.v ir rine exprcsse Schrift publicircn lassen,
worinne sehr weitläufig deduciret wird, daß ch r Bart zum
Ebenbildc Gottes nicht gehöre. Nichtsdestoweniger finden sich
unter den Bürgern noch sehr viele, die diese Gründe bei sich
zehn- und vierzehnjihrigen bebarteten Knaben, die auch schon heiraten. —
Bei einigen Völkern beginnt den Männern der Bart erst ru wachsen, nach-
dem sie schon längst mannbar geworden sind. Es gibt viele Beispiele von
Ittaaeni. äh kcinoi Bart bekoiniiMni hatten, und doch iahlte ümen Moftt
kein Chankter der MänaHchkeit. (En» oder Wftrtrarbach fiber die Physio-
logie und Ober die Natur- und CuUur-Gcscliichte des Menschen in Hinsicht
auf seine Sexualität. 1823. 2 Bände. Neudruck 1849). — ,,nie Prediger der
Waldenser nannte man Barbets, vermutlich, weil sie ihre Bärte lang wachsen
toMCii" (ConpMiidiMiMa Kirehen« ttad KeCnrkixicon. Schneebcrg 1734 S. 83).
„Dw Capudaer mnBten frdher ihre Bärte wachsen lassen, 1733 wurde ihnen
durch ein Päbstisches Brevet erlaubt, ihre Bärte abzusehnektea** (Kirchen*
tind Ketzerlexicon S. 131). Über die Bärte der Kapuziner gibt es ein ebenso
berühmtes als seltenes Buch: „La Guerre seraphique. ou Histoire des Perils
qu'a couma la Barbe des Capucins Par les videntes Attaques des Corddien.
A b Haye. diei Pien« de Hondt 1740." Idi beaitia vadtt die nidit wenigar
•dtene deutsche Obersetzung davon: ,,Wundecidt8anM Geschichte der Bärte
und der spitzm Kapuzen der Ehrw. P. P. Kapuziner usw. Mit Kupfern. Köln
am Rhein 1780." — über die Rolle des Bartes in verschipdrnpn Landern
Kuropais will ich hier nicht weiter sprechen und verweise nur kurz auf folgende
Quellen: Hdlwald. „Elhnographische RdSMlsprange." S. a6i — 276 (Zur Ver*
Imitnng nad Geachichta dea Bartes; nichts fiber Rußland). — ».Du Buch
der Haara und Bärte. Humoristische Abhandlungen für Jedermann und —
jede Frau." I-eipzig 1844. Seite 6—9 einige historische und ethnographische
Notizen, aber ebenfalls nichts über Rußland. — Endüch notiere ich hier noch:
Dr. Iwan Bloch. Baltfiga aar Ätiologie der PsychopalAia aexnaUs (a Bde.).
Dresden 1903. I 4$».
- 26 -
nicht gelten lassen wollen, und hrbt-v alles erdulden, als ihren
Bart dem Scheermc^scr unterwerfen. " Die Moskowiter hegten
tatsächlich für den Bart einen rclip^iösen Respekt, und die
Priester bestärkten sie in dieser seltsamen Anschauung.-) Man
fand auf den Straßen offene und versiegelte Briefe an Peter,
in denen das Volk und die Geistlichen den Zaren des Bart-
rauhes wegen als Tyrannen und Heiden verfluchten. „Ein
gemeiner Russe, Talitzkoi, der die Buc hdrurkerkunst in Mos-
kau erlernet, hatte auf dem Lande heinilich eine JJrurkerei
angelegt, und eine Brochure an das Licht gestellet, worinne
er beweisen wollen, daß Petrus der Antichrist sey, weil er
durch Absrhneidung der Bärte Gottes Ebenbild schändete,
die Menschen nach ihrem Tode aufschneiden und zergliedern
ließe, die Gesetze der Kirche unter die Füße träte, und was
dergleichen alberne 1 ratzen mehr sein mochten. Talitzkoi
wurde nun bald docouvriret und zu Belohnung seiner Mühe
zu Tode geschmauchet.'* 3j
Schon Iwan der Schreckliche hatte im Jahre 1552 er-
klärt: „Von allen ketzerischen Gewohnbetten ist keine ver-
dammlicher als die sich den Bart zu rasieren. Diese Sünde
konnte nicht durch alles Blut eines Märtyrers hinweggewischt
werden. Seinen Bart rasieren lassen um den Menschen zu
gefallen^ heißt alle Gesetze übertreten und sich für einen Feind
Gottes erklären, der uns nach seinem Ebenbilde geschaffen
hat.** Peter der Große konnte noch im Anfange seiner Re-
gieifung trotz aller Macht, die er aufwendete, bei der Geist«
lichkeit nicht die Ernennung des Metropoliten von Pskow zum
Patriarchen durchsetzen : „Marzell/* sagten die Kleriker, „kaxm
nicht Patriarch werden aus drei Gründen: weil er barbarische
Sprachen spricht^); weil er seinen Kutscher auf seinem Wagen
sitzen läßt^); und weil sein Bart nicht die notwendige Länge
hat."
k) Vockerodt, a. a. O. S. 106.
2) Perry a. a. O. 1S8. — Chantreau, Voyagc philosophique politiqiie et
litteraire, fait en Raa«ie pendant ies anndes 1788 et 1789. (2 Bände.) l'aiis
1794. I 295-
■■») Vockerodt. a. a. O. S. 10.
*>) Latein und Fianzfisiach.
*) Statt auf einem Vorreitpfenle.
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— 27 —
Die Rücksicht, die auf die Geistlichkeit genommen wurde,
hatte zum Resultat, daß der Bart teilweise bestehen blieb und
viele Russen aus dem Volke ihn neuerdings wachsen ließen.
Die große Masse kehrte zu den alten Gebräuchen, Vorurteilen
und Trachten zurück, und hatte glücklich wieder die langen
Bärte.*) Und schon 1747 heißt es in einem Berichte^): ..Hof
leute. Soldaten, Kronbedirntc und einige wenige Kaufieutc
ausgenommen, sonst alle andere Bürger, Biiuern und Priester,
las'>»'i> ihren Bart so schnell als möglich wachsen, wodurch
sie dvnv in der Geschwindigkeit die Hälfte ihres Gesichts
bedecken."
Die Bartreformfrage hat für Rußland niemals zu bestehen
aufgehört, der Bart blieb also auch nach Peter dem (Großen
was er früher gewesen: ein Kultur- und Sittenniesser für Ruß-
land, für die Stellung des russischen Volkes in der Zivili-
sation, für die Bildung und S( hat/ung namentlich der russischen
Geistlichkeit. Die Zarin Ilhsabeth gestaltete in einem beson-
tk-ren Ukase, die Geisilit hen zu Lcibcsstrafen /u M-rurteiien;
man durfte sie gleich gcwöluihchen Sterblichen behandeln,
knuten, peitschen und an allen Körperteilen verletzen, aber
ihr Bart sollte geschont werden^), denn ihr Bart war heilig.
Der große russische Dichter Lomonossow verspottete damals
Biit großem Mute diese besondere Heiligkeit des Geistlichen-
hartes. Die Russen, hieß es in diesem Gedichte» werden im
Himmel keine Barte tragen dürfen, weil diese nicht mit ge>
tauft werden. Ein einziger aber ist ausgenommen, und das
ist der Pope. Der taufte bei der SVasserweihe ein Kind, und
da er es aus dem Wasser zog, hob er es so hoch über sich,
daß ihm das Kind in den Bart pißte. Glücklicher Bart, ruft
der Dichter aus, der du allein getauft und also auch allein
würdig bist, im Himmel zu erscheinen und als ein Stern erster
1) BnCon, RwOlaad oder Sttcn» G«bräiidie und TradUen d«r ufantlichen
Ftovinzen dieses KaiMrÜiuiBf. (6 Sätaidchen.) Pestb 18 16. I 1;.
2) Al>:3chnitte aus Peter von Hävens Nachrichten von dem Ruasiachen
fi^ch. Kopenhagen 1747. In Buschtngs Magazin X 336 — 357.
*} Walmewski, La dernidre des Romanov Elisabeth l'<^ 1741 — 1762.
Pn» 190a. S. 317. (Nach einem Briefe von Breteuü au Choiseal vom i. Sept.
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- Ä8
Größe zu glänzen! — Lomonossow hat sich durch diese Satire
den furchtbarsten Haß des Kierus zugezogen, seine Werke
wurden verpönt, und nur der Zarin Elisabeth persönhchste
Intervention vermochte es durchzusetzen, daß der Dichter vor
den schwersten Strafen der Kirche gerettet wurde.
Peter dem Dritten wurde nachj;csa^t. dali er die Absicht
hatte, den Bart der Geisthchcn zu beseitigen, wie Peter der
Erste den Bart des Edelmannes und des Bürgers, des Kauf-
mannes und des Bauers rasiert hatte. Aber seine kurze Re-
gienmg ließ wie manche andere Reform auch diese nidit
zur Ausführung gelangen.^) Und die Geistlichen behielten
t) In «inem w^H^emBmUtua. BadM «kd Aber 4i« Bfirte der ftjMttf imd
Aber d«B aagoblicliai Flaa Fetan III. abo philoMpbiert; „Wie ist es mögllcli
daß der Kayser hat auf den Einfall gerathen können denen rußischen PbSiM.
in ihren Bärten ein wesentliches Stück ihres äusserlichen Ansehens und ihrer
Verdienste zu rauben? Hätte er nicht wissen sollen, aß. zumahl in der nißi-
schen Religion, wo man mehr als bey irgend einer anderen, auf das Ansser-
liche siebet, so mancher ansehnliche Arehiniandrit, nnr blos sdnes langen nnd
'weissen Bartes halber, ehrwürdig ist and dftB ein dergleichen Priester öfters
eine sehr schlechte Figur machen würde, wenn man ihm dieser Zierde berauben
wollte? Den Priestern die Bärte abzuschneiden! Welch eine kühne Unter-
nehmung! Heißt das nicht das Heüigtbum der geistlichen Khre entweihen,
und mit verwegener Fanst den heiligen Vorhang senetssen, wonunter die Un-
wissenheit so vieler ehrwOrdiger Minner verbocgea istl Ibtte Peter der Dritte
nicht das Beispiel seines Großvaters vor Augen, der soviel er auch durch seine
Klugheit, die er mit der unumschränktt-'^ten Gewalt zu unterstützen wuOtc,
bey seiner wilden Nation ausrichtete, so konnte er es doch in diesen Stücken
nicht einmal so weit bringen, daß alle Layen ihre Bärte ablegten, vielweniger
würde er die Häupter der G«neintt dasn bewogen haben. Obrigens" — fUirt
der Verfasser, der wenigstens im nachfolgenden als Humorist genommen werden
will — ..hat Peter der Dritte niemals den Einfall gehabt der ru'isischen Getst-
hchkeit ihre Bärte zu rauben. Die ganze Historie hiervon kommt vielmehr
von einem rußischen Priester her, der sich schon seit einigen Jaluren in Hani-
boxg befindet nnd den Gottcedienst in dem Hanse des daselbst befindSdieii
niBiscben Residenten verriditet. Dieser Haan, bey dem die teatsche Lnft
bereits die Würkung gethan, daß er sich nicht grämen würde, wenn ihn die
St. Petersburger Geistlichkeit zu ewigem Aufenthalte in Deutschland ver-
dammte, dieser Mann ist bereits so heidnisch geworden, daß er einen Bart
fOr ein sehr «tbshriiches Stftck des Prisstenuntss hilt. . . Dia Kkidniig der
Jfldlsehen Rabbiner hat eine groOe Ähnlichkeit mit der Kleidung der mAischen
Priester, und der Bart machte sogleich, daß man diesen rußischen Geistlidien
mehrentheüs für einen Juden ansähe. Dieses liielt er für einen schrecldichen
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— 29 —
ihre Barte und hatten für sie eine solche Alfenliebe, daß die
Europäer es geradezu widerwärtig fanden: ,,Wenn man mit
dem gemeinen Popen spricht, so streicht er sich fast jeden
Augenblick den Bart, der oft bis auf den Nabel reicht, mit
einem solchen Wohlbehagen« daß es auf seiner Seite meist
eben so viel Stupidität voraussetzt, als es beim Zuschauer
unausstehliche Widrigkeit erweckt. £s verursacht gemeiniglich
die nämliche Empfindung als wenn man mit einem dickwansti-
gen dummen Mensrhen reden muß, der jeden Augenblick
mit innigem Wohlgefühl seinen fetten Schmerbauch streicht."
So schrieb in allerdings etwas komischem Zorn der deutsche
rrofessor Bellcrmann in seinem interessanten, anonym erschie-
nenen Buche!) über das Rußland Katharinas der Zweiten.
Die letztgenannte Fürstin hatte übrigens auch, gleich Peter
dem Großen, ihrem beliebten Vorbilde, einen schweren Bart-
Aufruhr zu bekämpfen. Die Kmpörung Pugatschews wurde
nämlich am kräftigsten gefördert durch die Jaik Kosaken, die
man durcli Abschneiden ihrer Bärte zur Rebellion getrieben
hatte. Diese Kosaken ließ Katharina unter die Husaren ein-
reihen ; die Husaren durften aber keine Bärte tragen, und da sich
die Kosaken dem Raseur gewaltsam widersetzten, ließ Grneral
Traubcnberg die neurckruticrtcn Kosaken auf den Marktplatz
schleppen und öffentlich enthärten. Darauf griffen alle Kosaken
der Gegend zu den Waffen, ermordeten den General Trauln n-
berg und scharten sich um die Fahne Pugatschews^) — Pu-
gatschew war längst tot, aber der Bartkrieg am Ural dauerte
Schimpf, und or schilderte diese Beleidigung dem Synod in Petersburg so leb-
haft daß maa ihm die Srlaatnüß ertiidlte. seinen Bart in eine Schacfatd au
I^en. Der Geistliche sagte dann, ein Ukas Peters III. habe den Geistlichen
befohlen: ilire Bärte zu scheren und tcutsch gekleidet zu gehen." (Rußische
Anecdoten oder Briefe fines tputschen üfficiers an einen I ieCändischcn Edel-
mann, worinnen die vuruclimsteu Lebens-Umstande des Kuliischen Kajrsers
Peter III. nebet dem tmglöcklichen Ende dieses Monarehen enfhaUen idnd.
Waadabeek 1765. Seite 59.)
1) Bemerkungen über Rußland in Rücksicht auf Wissenschaft, Kunst,
Ksilgion nnd andere merkwürdige Verhältniaseu (Zwei Teile.) Erlart 1788.
n t$9.
*) Catharina die Zweite. Danletlungen ans der Geschichte üiter Regie'
nuf. 1797. Seite 107 — 108.
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— 90 —
noch fort. Im Jahrc> 1817 begab sich Araktschajcw nach Oren-
bürg, um im Auftrage des Zaren Alexander») die Bauern
nach Peterschem Rezept zu zivilisieren : durch Uniformen. Am
13. Juni des genannten Jahres schrieb Araktscbajew an den
Zaren: die Uniformierung gehe von statten,. wer sich wider-
setze, werde geknutet und erhalte die Batogi; ,.die Haare
scheren und den Bart abschneiden will ich noch nicht, das
wird später von selbst kommen." Aber* es kam nicht von
selbst, und am 17. Juni wird dem Zaren von Araktscbajew
berichtet: ,,Das Scheren und Bartschneiden hat bej^onnen!"
Die Reform gmg nnt solcher Gewalt vor sich, dali allgemeines
Entsetzen herrschte. Die Hauern, meist Altgläubige, petitio-
nierten an die Obrigkeit, daß man ihnen ..die abgeschnittenen
Bärte wenigstens zur Aufbewahrung zurückgeben sollte, damit
sie bei der Auferstehung nicht fehlten.'* Die Barbiere willig-
ten ein und überlieferten die abgeschnittenen Bai le den Bauern
gegen eine besondere Taxe. Später kam ein obrigkeitlicher
Befehl, dab liie Bärte unentgeltlich ausgefolgt werden sollten;
auch gestattete man den Greisen das Beibehalten des Hartes,
i.iiiige der Altgläubigen trugen auf Anweisung ihier Lehrer,
um Gottes Zorn wegen des geopferten Bartes von sich ab-
zuwenden, eiserne Ketten auf dem bloßen Leibe, also als eine
Art Selbstgeißelung. Bei einer Exekution kam dies zutage,
und das Kettentragen wurde bei Strafe verboten.^)
Wenn der Bart für Rußland wirklich das Symbol der
barbarischen Vergangenheit ist, wie Peter der Große gemeint,
dann hat der Barbier als Erzieher seine Rolle schlecht ge-
spielt, dann ist Rußland heute wieder da, wo es Peter vor-
gefunden hat.
1) Im europäischen Rußland scheinen damals die langen Barti- kaum
mehr in Mode geweseu zu sein. Ich zitiere das Zeugnis des Arztes Wichel-
hAuaen (Züge ta einem Gem&blde von Moskwa 1803}: ..Ketii iM^tw^«« trägt
mehr einen Bart. Auch die meisten angesehenen Kanfleiiie vnd die Bedioiten
der Kaufleute haben in diesem Punkte die Gewissenskrupel überwunden"
Wiclicltiansen machte a.uch die Bt-morkuna, ,AlaO sich der Bart und die Mann«
barkeit in Moskw'a früher entwickele als in Deutschland."
•) Vgl. Theodor Schiemann, Gföchichte Rußlands unter Kaiser Niko-
laus I. Band I: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner LdMUsarbeit.
Berlin 1904. . Seite 459 und ebenda Anmerkung 2,
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— 31 —
Man zeigte 1) einem Raskolnik, der zum Militär eingerückt
war. den Kaiser Alexander den Zweiten: ,,Dics ist kein Zar,"
>.ij:te der Rekrut, ,,er trägt nur einen Schnurrbart! Er liat
eine Uniform, einen Degen wie alle Offiziere; das ist em
General so gut wie jeder andere." Für diese Anh'-tfr der Ver-
gangenheit, diese Anliänger des Zeremoniells im der Zar ein
Mann mit langem Barte, in langem weiten (k wande, wie er
auf den alten Bildern abkonterfeit ist. Für sie war der wahre
Zar Alexander der Dritte, der seinen langen Bart pflegte, bei
Tische in der russischen Bluse und mit dem Gürtel erschien,
und nicht einmal im Schlafe davon träumte, die Bahn des
Furtschritts zu betreten.
3. Dekorative Bildung.
Bochdruckereieo — Reformen des Zaren Borifi — Die ersten weltlichen B&cber
— Empfindlichkeit pe^^cn au'^ländische Urteile — Korrumpierung der Mei-
nung Europas — Akademie und F.Iemcntarschule — Der Elefant als Krank-
heitsgeist — X>ie Zivilisation am Hofe der Zarinnen — Französierung — Zu-
stände nin Hole Katharinaa II. — Verhungernde Hofbedsenstete — Bildung.
Luxus oad Puder — Eräehung RuMands durch Lakaien und Soldaten —
Keine Schulen, aber Universitäten — Aus den Anfängen der Hodisthiilc —
Geistliche Aufsicht Aufsicht cKt KcgiiTnn«^ — T'usiltliclikcit dci Profes«
sorea und Studenten — Schule uml 1-anulie Letzte Statistik der Elementar-
schulen — IntelUgenzprolctariat.
„Alle Mühe, aller Kostenaulwand wird doch vergeblich
sein, iu des Russen Kopf kommt keine Wissenschaft," sagte
ein alter Bojar dem Zaren Peter 2); und wahrlich, diese Pro-
pheieiung ist bis heute noch nicht Lügen gestraft worden.
Die erste Buchdruckerei in Rußland wurde in Moskau
im Jahre 1553^) errichtet, unter der Regierung des Zaren
Iwan Wassiljewitsch und zur Zeit des berühmten Metropoliten
J) Leroy-Bcaulicu, Das Reich der Zaren. III 341.
*) Halem, Leben Peters des Großen, I 154.
>) Oldekop. St. Petersburg. Ztichit. 1 ^15, 220. — Strahl, Das gelehrte
RuOlaad 145. — Vgl S. Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Eteutschland. 1 57.
Hslem I 149 gibt falsch das Jahr 1563 oder 1564 an; der Irrtum mag daher
stammen, daß das erst« russische Druckwerk 1564 enchien.
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— 32 —
Makarij. Die erste Arbeit dieser Druckerei, eine Geschichte
der Apostel, dauerte elf Jahre. Ihr folgten Ausgaben des
neuen Testaments. Bei den Einfällen der Tartaren und Polen
ging die russische Buchdruckerei zugrunde, und sie wurde
selbst von dem frühesten nj'>^knwitischen Reformaior, dem
Zaren Boriß Godunow, nicht wiederhergestellt. Der letzt-
erwähnte Fürst war im Wollen größer als im Können. Wenn
Karamsin^j sagt: „in der Liebe zur Aufklärung übertraf Boriß
alle älteren Herrscher Rußlands," so ist dies ein gar be-
scheidenes Lob, da wir wissen, daß \orher kein einziger Sou-
verän von Moskwa daran gedacht hatte, der Aufklärung eine
Gasse zu bahnen. Boriß hatte als Erster aller Zaren die löb-
liche Absicht, allgemeine Schulen und sogar Uiüversitätcoi zu
stiften, um seine Russen in den europäischen Sprachen \ind
Wissenschaften unterrichten zu lassen. Im Jahre l6oo schickte
er den Deutschen Johann Kramer nach Deutschland mit dem
Auftrage „dort Professoren und Doktoren zu suchen und sie
nach Rußland zu bringen.** Die Nachricht hiervon erweckte
in Europa überschwängliche Erwartungen. Der Rechtslehrer
Tobias Luntzius oder Loncius schrieb an Boriß : „Euere Zarische
Majestät wollen ein wahrer Vater des Vaterlandes werden,
und sich dadurch bei aller Welt unsterblichen Ruhm erwerben.
Sie sind vom Himmel erkoren, ein großes für Rußland neu«ss
Werk auszuführen, nach dem Beispiele Egyptens, Griechen-
lands, Roms und der berühmten europaischen Staaten, die
durch edle 'Künste und Wissenschaften blühen, den Geist auf-
zuklären und dadurch das Gemötb des Volkes zugleich mit der
Macht des SUates zu erhöhen.** Und ein Königsberger Ge-
lehrter verglich den Zaren Boriß mit Numa Pompilius.*) Aber
die Geistlichkeit in Rußland stellte dem Herrscher vor: daß
die heilige Rußj nur durch die Einheit des Glaubens und
der Spra hr die Segnungen des Friedens genieße; daß Ver-
schiedenheit der Sprache der Kirche gefährlich werden müsse
durch Förderung von Meinungsverschiedenheiten und Aus-
Ueferung des Jugendunterrichtes an Katholiken und Protestan-
») Deutsche Ausgabe X 71 (franz. Obers. XI 113).
*) Ber&bard Stem* Von der Ottsee sum StüJen Oiean. S. 9.
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- 33 —
ten. Auch zum Patriarchen Iliob stürmten die Patrioten und
klagten : ,,0 Heiliger Vater, du siehst das Unheil und siehst
ihm ruhig zu! O Heiliger Vater, warum schweigst du?" Der
Zar mußte bald seine kühnen Pläne fallen lassen und sich
damit begnügen, achtzehn junge Bojarensöhne nach London,
Lübeck und Frankreich zu Sprachenstudien abzusenden und
gleichzeitig junge Engländer und Franzosen nach Rußland
zur Erlernung der russischen Sprache einzuladen. Von den
achtzehn jungen Russen, die ins Ausland gegangen waren,
kam nur einer zurück, die anderen zerstreuten sich in Europ a
Boriß berief aus England, Holland und Deutschland Arzle,
Künstler, Handwerker und Beamte; fünfunddreißig von den
Polen aus ihrer Heimat vertriebene livländische Edelleute nahm
er in Moskau gastfreundhch auf und lud sie gleich nach ihrer
Ankunft in seinen Palast ein; als sie sicli ihrer schlechten
Kleidung wegen entschuldigten, sagte der Zar: „Ich will Men-
schen sehen, nicht Kleider T* — Das was hier erzählt, ist aber
auch alles, was Boriß, der so viel leisten wollte, leisten konnte.
Der erste Rojnanowsche Zar Michael Feodorowitsch er-
richtete wieder eine Buchdruckerei, die fleißig geistliche
Werke und nur tön einziges weltlich« — das russische Land-
recht — herausgab. Unter der R^entschaft der Sophia, der
Schwester Peters des Großen, entstanden einige neue Drucke-
reien: in Moskwa, Kijew und Tschemigow, die sich selbst
mit europäischen messen konnten; in allen wurden nur geist-
liehe Bücher hergestellt — für Künste und Wissenschaften
hatte noch niemand Verständnis und selbst . die Jahrbüdier
Nestors und anderer Chronisten schlummerten friedlich und
unberührt in den Klosterbibliotheken fort. Die große Um-
wälzung auf dem Gebiete der Buchdruckerei b^ann erst unter
Peter dm Großen, aber auch er richtete sein Augenmerk
nicht auf das Allgemeine, sondern bevorzugte das, wofür er
persönliche Neigung besaß. Auf seinen Befehl mußte sich der
Russe Elias Kopjewitsch nach Holland begeben, dort eine durch-
aus vollkommene Buchdruckerei anschaffen und sie dann nach
Rußland bringen.^) Die Werke, die jetzt gedruckt wurden,
1) Halem, T.eben Peters des Großen. I 149.
Stcro, Geschichte der öfTcntL Sittlichkeit in Ruftlaad. 3
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— ab-
waren folgende: Brinkens Schiffsbaukunst und eines anony-
men Holländers Erfahrener Steuermann; Peter hatte aus ihnen
seine Kenntnisse geschöpft, sie wurden nun ins Russische über-
setzt; die holländischen Kunstausdrücke behielt man bei und
sie blieben bis jetzt größtenteils in der russischen Marine ge-
bräuchlich. Andere Bücher über Ingenieur- und Wasserbau-
kunst folgten. Historische wurden aus dem Deutschen und
Lateinischen übersetzt. Der Münch Gabriel, dem die Aufgabe
zuteil geworden war, Pufendorfs Staatengesrhirhte zu über-
tragen, der also das erste Geschichtswerk in russischer Sprache
herausgab, war auch gleichzeitig der erste russische Ge-
schichtsfälscher : die für Rußland nicht schmeichelhaften Stellen
ließ er einfach fort. Peter korrigierte die Fälschung, befahl
auch die fortgelassenen Stellen zu drucken und erklärte: ..Nicht
zur Schmach meiner Untertanen, zu ihrer Besserung will ich
dies gedruckt wissen. Meine Russen müssen erfahren, wie
Uüiii im Auslande bisher über sie geurteilt hat. damit sie er-
kennen, was sie waren, was sie durch meine Bemühuüg ge-
worden sind, und wonach sie noch zu streben haben." Peter
ordnete die Gründung von Zeitungen und die Ausgrabung und
Veröffentlichung der Handsduriftai an, die in den. Klöstern
verstaubten und vermoderten. Alles tat er jedoch weniger,
um wirkliche Kultur im Lande zu verbreiten, als um dem Aus-
lande als Zivilisator zu imponieren.
Das Urteil des Auslandes hatte schon früher die russischen
Fürsten gekrankt und beleidigt. In dem Buche des Freiherm
Augustin Afoyerbergi) lesen wir, wie heftig sich der Zar Alexe j
beim König von Polen über einige Bücher beschwerte, die
in Polen gegen Rußland veröffentlicht worden v^ren. Ver-
gebens erklärten die Polen, daß die Autoren als freie Männer
eines freien Staates schreiben konnten, was sie wollten, und
daß man hierfür weder den König von Polen noch den pol-
nischen Senat verantwortlich machen durfte. Putzkin, der Ge-
^) Voyage en Moscovie d'un Ambassadeur, V.nvoy^ par rEmp^reur Leo-
pold au Czar Alexis Mihalowics, Grand Duc de Moscovie, A Leide, chez Fri-
derik Haniag i6S8. Seite la. (Diese firaiuSs. Obenetsung vom Jahre 1688
gdiArt cu den groOen JRarit&ten. Ein Neudruck enchien 1858 in Paris in
swd Bänden. Vgl. dasdbst IS. 11.)
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^ 35 —
sandte des Zaren, war dnrrh fliese Erkläriini'^ nu lit befriedigt
und verlangte als Genugtuung nicht weniger als die Rück-
gabe des von den Polen besetzten Smolensk und 50000 Taler,
ging dann allerdings mit seiner Forderung herunter und bat
mm Schlüsse bloß, daß man aus den beanstandeten Büchern
jene Blätter entfernte, die den Zaren und die Moskowiter be-
leidigten. Dies wurde endlich bewilligt, man riß aus den
Burhcrii die betreffenden Blätter aus und übergab sie dem
!■ euer.
Nicht minder als sein Vater Alexej war Peter der Große
in bezug auf das Urteil des Auslandes empfuidlich. Im Jahre
1705 schickte er den Baron von Huyssen nach Deutschland
mit dem Auftrage*}, „die Leipziger Gelehrten zu überreden,
zum Vortheil Rußlands in der europäischen Fama, imd in
den öffentlichen Zeitungen zu schreiben.*' Dersdbe Huyssen
hatte schon drei Jahre zuvor in Deutschland, Holland und
anderen Ländern') vergebliche Versuche gemacht, die Ge-
lehrten zu veranlassen, ,^uch etwas zu Rußlands Ruhme zu
schreiben, damit hierdurch dem Publico die schlechten Meinun-
gen benommen würden, die es von Rußland hatte.** Auch
in Leipzig hatte der zarische Korruptionsgesandte augenschein-
hch keinen großen Erfolg, denn just in der Europäischen
Fama vom Jahre 1705') erschien folgende Auslassung: „Die
Moscowitischen Avisen haben gemeiniglich die Eigenschafft
an sich, daß man ihnen entweder nicht glauben darff, oder
nicht glauben will, weil sie größtentheils aus solchen Orten
einlauffen, die extr^mement partheyisch sind, und dasjenige »
was sie wünschen, auff eine solche Art erzehlen, als hätten sie
Alles durch ein Vergrösserungs-Glaß angesehen, das übrige
aber, was ihnen nicht recht in den Kram dienet, entweder aus-
lassen oder mit trefflich gekünstelten Expreßionen in Zweiffei
ziehen."
1) L nlerscliictlcnt: Abäclmitte aus t'ctcr von Häven neuen \ erbcsserteii
Nachrichten von dem russischen Reich, welche 1747 zu Kopenhagen gedruckt
winden. In die deutsche Spiadie übenetct. Bfischings Megntin fOr die neae
Hirtarie «md Geographie. Zdinter TfaeU (1776). S. ji8 — ^319.
s) Sugenheim, Rußlands Einfluß tmf Deutschland. I 59.
«) TbeU XXIX S. 333.
3»
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- 36 —
Um Kuropa zu blenden, wollte Peter ciic Akademie der
Wissenschaften gründen, während es noch keine Elementar-
schulen gab und von je zehntausend Russen kaum einer lesen
und schreiben konnte. Das schadete in Peters Augen nichts,
die 'Akademie mußte gegründet werden, und Katharina die
Erste führte den Plan ihres Gemahls aus. Es wuide also wieder
auf dem Wege der paradoxen Kuiuraste fortgeschritten, aul der
Bahn zwischen Luxus undLlend. Peier hatte auch eine Rechen-
schule gestiftet; sie existierte ein paar Jahre und verschwand
dann wegea Mangels an Schülern. Eme Gamisonsschule für
die Söhne aristokratischer Offiziere ging ein, weil der Staat
für sie keine Mittel zur Verfügung hatte, während Hunderte
von Millionen an die Günstlinge verschwendet wurden. Der
Senat hatte eine Sdiule für Zivilbeamte gestiftet, sie stand
leer. 1731 wurde für die Kadetten der Armee und 1750 für
die der Marine eine Schule eröffnet. In beiden Schulen gab es
je 350 Schüler, zusammen 700, aber nicht jährlich, sondern
während einer langen Reibe von Jahren.
Die Frauen, die Peter dem Großen während des ganzen
achtzehnten Jahrhunderts in der Herrschaft über Rußland
folgten, hatten sich um anderes als um die Schule zu kümmern.
Die Zarin Anna Iwanowna, die dem Reiche eine Konstitution
versprochen hatte, aber ihr Versprechen schon am Tage des
Regierungsantrittes zerriß, lebte nur ihrem Günstling Biron-
Bühren und ließ die wilden Sitten und abergläubischen Ge>
brauche sorglos fortbestehen. Im Jahre 1737 entsteht in Mos-
kau eine Fieberepidemie. Das Volk behauptet, ein Elefant
sei die Ursache dieser Epidemie, und unzählbare Leute finden
sich, die gesehen haben wollen, wie der Krankheitsdämon in
Elefantengestalt Nachts in die Stadt sich eingeschlichen.^) Mit
Recht schreibt daher Locatelli in seinen zeitgenössischen Brie-
fen: „Stellen Sie sich die Einwohner dieser großen Stadt
vor wie eine neue Kolonie von Lappen, S.imojedcn und Ost-
jakcn. die als die stupidesten Völker des ganzen Nordens
gelten. Aber glauben Sie nicht, daß dies in jeder Beziehung
M Waliszewski, r/h6ritagc de Pierre le Grand. Rtgne das leaim«. goa*
vememe&tdesiavoria i/as — 1741. Paris 1900. Seite 377.
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— 37 —
eine gerechte Parallele wäre; denn die Moskowiter stehen
vielfach unendlich tief unter diesen Völkern ." Unter den Seig-
netirs bei Hofe sieht man wieder jene Stolniki und Okolnit-
scfaije, die noch aus der Vor-Peterschen Reformzeit übrig-
gd>Ueben sind; die niemals eingewilligt haben, ihren Bart zu
opfern und nach wie vor in alter asiatischer Weise in ihren
Dwori leben, in diesen dumpfen einstöckigen Häusern, die
ebenerdig eine Küche und eine Speisekammer und im ersten
Stocke nichts weiter haben als zwei Zimmer: rechts für den
Sommer, links für den Winter. Die weniger bemittelten Kon-
servativen begnügen sich gar mit einer Küche und einem ein-
zigen Wohnzimmer, das man für den Winter hermetisch vor
der Kälte abschließt, monatelang nicht lüftet und nirht reinigt.
Die jüngere Generation, die dem Zaren Peter gedient, seine
Maskeraden und seine Kriege mitgemacht hat. unterscheidet
sich zwar äußerlich von den Alten: die Jungen tragen fran
zosische Kleidung, haben ein rasiertes Kinn, können zum Teile
schon lesen und schreiben : aber ihr Charakter, ihre Manieren
und Sitten sind noch immer roh und wild.
In allem zeigt es sich, daß die Reformen Peters ihren
Zweck verfehlt und eigentlich nichts als die Krschutiei uiig
des Gleichgewichts erreicht haben. Zwischen einer bloü de-
korativen europäischen Kultur und Bildung und einer immer
neu hervorbrechenden Barbarei schwankt das Rußland des
achtzehnten Jahrhunderts hilflos hin und her. Ein Volk, das
ein halbes Jahrtausend hindurch in tiefster Verkommenheit
zugebracht hatte, ließ sich einfach nicht durch den Barbier
und den Schneider brüsk zu einem kultivierten umgestalten,
und urosoweniger, als der Despotismus oben, die Knechtschaft
unten nicht im mindesten geändert worden, die Gesetze der
barbarischen Zeiten noch dieselben geblieben waren. Im elften
Jahrhundert bestimmte die Russkaja Prawda, da0 ein Schuld-
ner, der seine Schulden nicht bezahlen konnte, der Sklave
seines Gläubigers, daß ein Mensch, der sich nicht selbst zu
ernähren vermochte, der Sklave des erstbesten werden sollte.
Das achtzehnte Jahrhtmdert wagte daran nichts zu ändern,
und die Leibeigenschaft, statt in diesem Säkulum der Auf-
klärung milder zu werden, wurde durch die unerträglichsten
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— 38 -
Neuordnungen verschärft. Für Bildung und Aufklärung ge-
schah auch weiter nichts. Iwan Iwanowitsch Schuwalow, der
Günstling der Zarin Elisabeth, gründete 1755 Universität
Moskau und die mit ihr verbundenen Gymnasien, 1758 das
Gymnasium von Kasan, aber an Elementarschulen wurde nicht
gedacht, und so blieben die Gymnasien ohne Schüler, die
Universität existierte bloß dem Namen nach. Elisabeth glaubte
schon alles getan zu haben, da sie nach Rußland das fran-
zösische Element j^ebracht. Nach dem Staatsstreiche, der diese
Herrscherin auf den Thron ihres Vaters hob, gab es eine
neue Revolution, die der Moden, der Trachten, des Tanzes
und des Schauspiels.'! ..Peter schenkte seinem Reiche die
Wissenschaften, seine Tochter brachte den Geschmack," sagte
ein russischer Dichter der Zeit. D'Eon aber illustriert dieses
Lob stark mildernd, wenn er vom Hofe der Zarin saj^t : ..Nur
sieben oder rrhn Personen können wirklich zivilisiert j^enannt
werden." im Koschelek, einer zeitgeiiüs^sischen russischen Zeit-
schrift, heißt es: „Ohne das Französische wüßten wir nicht
wie man in einen Salon eintreten, wie man grüben, einen Hut
abnehmen, sich parfümieren muß. Wovon unterhielten wir
uns früher, wenn wir in eine Damen^esellschaft kamen ? V on
Hühnern und Küchelchen. Frankreich lieferte uns wirkliche
rnterhaltungssioffe." Aber trotz dieser Französierun^ blieb
alles barbarisch. „A P^tersbourg, ä Moscou, les rii)ailles ig-
nobles. les l)outfonneries grossi^res de Pierre le Grand etaient
encore trop prcs, laissaient dans Tatmosphere un relent trop
vif de d(^'bauche barbare, pour quc la persistance de certains
traits de moeurs locales n*y trouvAt pas un aliment naturel."*)
Das Charakteristikum der russischen Gesellschaft, der
Aristokratie und des Hofes blieb Jahrzehnte hindurch die fran-
zösische Tünche, diese trügerische Kidturschminke, die erst
Elisabeth, dann Katharina die Zweite auf die tartarische Bar-
barei strich. Die in Massen aus Frankreich flüchtenden Emi-
granten und Abenteuerer, die beim Anbruch der großen Re-
volution Europa heimsuchten, wandten sich zum großen Teile
1) WaliBcewsld, La derottn» des Romanov. S. 50—51.
*) WalisiewBka. La domUn des Romaaov. 38.
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— 39 —
nach Rußland und übernahmen hier willig die Aufgabe, in
ihrer Weise die Erziehung der heranwachsenden russischen
Generation zu leiten i), eine Aufgabe, welche ihnen Katha*
lina ohne weiteres übertrug.
Als Katharina nach Rußland reiste, glaubte sie noch in
Berlin, daß das Reich, dem sie ihre Zukunft anvertraute, als
ein Kulturstaat betrachtet werden mußte; und als sie an den
zarischen Hof kam, blendeten Gold und Brokat, Wohlleben und
Luxus ihr unerfahrenes Auge. „Aber bald," sagt der russi-
sche Historiker Bilbassow^), „mußte sie erkennen, daß was
sie für Gold gehalten, eine Vergoldung, und daß das Wohl-
leben Sittenverderbnis war." Was sich ihr aufschloß, war eine
fremdartige barbarische Welt mit unverständlichen Gewohn-
heiten, lockeren Sitten, wilden Gefühlen: sie trat in einen
Kreis von Menschen, die anders dachten, handelten, lebten,
selbst anders aßen als die Menschen in Europa. Vnd tlabei
lernte sie natürlich in erster Linie die Verhältnisse am Ilofe,
das Leben uiul Treiben der Vornehmsten und Reichsten ken-
nen, die wciii^atens im Äußerlichen Europa nachzuahmen
schienen. Die Unordnung und Unkultur, die in allen Zweigen
der Verwaltung herrschten, konnte sie erst nach langen Jahren
begreifen. Und wie der äußeiiich glanzende Hof, der sich
mit dem von Versailles zu vergleichen wagte, in Wahrheit
beschaffen war, erfuhr sie, als sie Selbstherrscherin geworden
war und in ihrer Umgebung eine Entdeckung machte, die
sie zu diesem Brief an ihren Hofmarschall veranlaßte^j : „Ich
erfahre, daß meine Dienstboten vor Hunger sterben und drei
Tage nichts gegessen haben sollen!** Die Kaiserin mußte
einen Hofmarschall daran erinnern, daß auch die Dienstboten
bei Hofe Menschen sind und essen wollen, und mußte durch
besonderen Befehl anordnen, daß den Verhimgemden aus der
Hofküche das Essen geschickt wurdet
In einer Liste, der im Jahre 1764 nach Rußland einge-
führten Waren ^) finde ich, daß bei einem Import im Werte
1) Schiemaon, Alexander der Eiste a. a. O. S. 6.
t) GcMhichta Katharina» der Zweiten. I 293.
*) BilbaMow. a. a. O. IL Bd.. I. Abt. S. 29t.
«) Enthalten in BüichingB Magarin. III 351.
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— 40 —
von vielen ^fillionen nur 8353 Rubel für gedruckte Bücher
aufgezählt sind; an Papier werden 4331 Rieß, an Bleistiften
152460 Stück eingeführt. Handschuhe braucht Rußland nur
3751 Dutzend, Strümpfe 4908 Dutzend und Schnupftücher
1607 Dutzend. Dafür bezieht es Puder im Gewichte von
7187 Pud und an Seidenstoffen für 102 t^i Rubel.
Man sollte glauben, daß ein< H< i rscherin wie Katharina II.,
eine deutsche Fürstin, vor allem die Erziehung des \'olkes
durch die Schule angestrebt hätte. Man lese nun den Bericht,
den Fabiicius aus der Zeit gibt, da Katharinas Regierung
schon zu Ende geht, also ihre größten Errungenschaften hinter
sich liat^) : ,, Unter dem gemeinen Mann, oder unter den anderen
Ständen kann nicht die Rede von Wissenschaft seyn, da Ruß-
land weder in den Städten noch auf dem Lande Schulein-
richlungen liai. Die wenigen, welche wirklich einige Erziehung
und einigen Unterricht wünschen, müssen solchen aus den
Pensionsanstalten, entweder öffentlich oder Privat, erhalten.
Zu den öffentlichen gehören die verschiedenen Kadettenhäuser,
das Frioleinstift und vielleicht noch einige wenige andere.
Zu den Privateinrichtungen im Gegentheil gehören theils die
Klöster, in welchen die Jugend von Mönchen und Geistlichen
erzogen wird, theils onige Anstalten von Franzosen und Deut>
sehen, die deigleichen Einrichtungen zur Erziehung der Jugend
angelegt haben. Alle diese sind nicht für den gemeinen Mann,
da sie zu Irostbar, auch ist wohl der Unterricht in den eigene
liehen Wissenschaften bei diesen Anstalten nicht der vorzüg-
lichste. Er ist dahero auf das elende Mittel in Ansehung des
Unterrichts seiner Kinder eingeschränkt, einem verabschiedeten
Soldaten einige Rubel zu geben, um sie auszulernen, wie sie
es nannt^^ oder ihnen zur Noth lesen und schreiben zu lehren.
Dieß ist auch die Ursache, daß keine christliche Nation so
wenig selbst von den ersten Grundsätzen ihrer Religion weis,
so selten lesea und schreiben kann als die Rußische."
Katharina die Zweite begründete eine Anzahl Schulen;
sie stiftete Internate und akademische Gymnasien, wo die
Kinder bis zu vollendeter Ausbildung bleiben mußten; diese
Sngvobeiiii, RuDlaad« EinflnB auf DeatscUand. I 59.
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— 41 ~
Anstalten, die nur dem Adel offen standen, entsprachen auch
sonst nicht ihrer Aufgabe; die Bildung, die man hier erhielt,
war eine äußerst oberflächliche. Man hat von Katharina gesagt,
sie habe die gebildete Frau in Rußland eingeführt ; mit welchem
Rechte dies behauptet wurde, werden wir jetzt sehen. Einmal
faßte sie den Plan, den allgemeinen Unterricht einzuführen;
eine vierklassige höhere Probeschule für 400 Kinder blieb
aber so unbeachtet, daß man — um den Willen der Kaiserin
einigeimaßen zu befriedigen — Schüler in Ketten in die Schule
schleppte und sie so an die Bildung fesselte. Im Jahre 1787
gab es 169 Schulen, aber auch nicht viel mehr Schüler, und
Katharina entsrigte der Sache leichten Herzens. Denn ob die
Schulen wirkhch ihren Zweck erfüllten, war der Zarin gleich-
gültig. In erster Linie sollten sie dazu dienen, die fran-
zösischen Philosophen zufriedenzustellen, von denen gelobt zu
werden Katharinas höchster l'^.hrgeiz war. Der Gouverneur
von Moskau schrieb der Kaiserin, daß niemand seine Kinder
in die Schule schicken wollte, und Katharina antwortete dar-
auf ij: ,,x\Icin Heber Fürst, beklagen Sie sich nicht deswegen,
daß die Russen nicht den Wunsch haben sich zu bilden.
Wenn ich Schulen errichte, so geschieht es nicht für uns,
sonderii lur Europa, wo wir unseren Rang in der öffentlichen
Meinung behalten müssen. An jenem Tage, da unsere Bauern
aiita.ngcii werden nach der Aufklarung /u \erlaagca. werden
weder Sic noch ich auf unseren Plätzen bleiben I" Zynischer
und aufrichtiger konnte an höchster Stelle nicht gesagt werden,
daß alles, was die Herrscher und Herrscherinnen Rußlands
lur die Aufklarung tun wollten, nichts weiter sdn durfte als
eine dekorative Bildung, als eine Blendung der öffentlichen
Mdnung Europas, die man glauben machen wollte, die Sar-
maten zivilisierten sich, während die Barbarei fortdauerte und
nur der Aberglaube und die Unsittlichkeit sich konsolidierten.
Neben den Obelisken und Triumphbogen zu Ehren eines Orlow,
Rumjäntzow, neben den Grabdenkmälern für ihre Lieblings-
*) Custine Ii 115. — Ich wciii nicht, ob dieses Schreiben, trotzdem
Ctistine die Echtheit verbürgte, authentisch genannt werden darL Aber wenn
•I «rfnud«! i>t; daaa ist es gut erfanden und «ntspricbt voUkonunen den
wählen Ansichten der -Zarin Ober die niasiwhe VolkBliildnng.
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— 43 -
hunde, neben dem Monument für Lanskoy, ihren geliebtesten
und schönsten Genossen im Lotterbette, neben diesen unver*
gänglichen Zeugen ihrer ruhmvollen Herrschaft wollte Katha-
rina auch einige Schulen als Erinnerungen an ihre Epoche
hinterlassen. Aber Licht und Schatten mußten streng verteilt
werden: Dort der prächtigste Luxus, hier aller Flitter; dort
der Reichtum, hier das Klend ; dort die Wahrheit, hier die
Lüge; dort die mit Gold und Juwelen geschmückte Wollust
der Großen und die Schamlosigkeit des Hofes in .Seide und
Samt, hier in härenem Gewände die barbarische Verkom-
m«'nhp!t des Volkes. Der kühlste aller Historiker, der Ruß-
lands Vieschichte mit unanfechtbarer Objektivität durchforscht
und ges( hildert hat, Theodor Schiemann, sagt von dem. was
Katharina für die Bildung und Kultivierung Rußlands ge-
leistet'i: „Es hatte zur Folge die steigende Entsittlichung,
die am Hofe verkleidet, im Innern des Reiches in fast un-
■ verhüllter Nacktheit zu Tage iidi. eine Erscheinung wie sie
durch das Zusammenstoßen der überfeinerten und innerlich
faulen französischen Kultur des ancien regime mit der bisher
nur wenig übertünchten Barbarei des altrussischen Wesens
ihre natürliche Erklärung fmdct, die aber die entsetzlichsten
Zustände zeitigte. Es ist dabei nicht zu übersehen, daß jene
Französierung auch den gesamten Kreis der höheren russischen
Verwaltungsbeamten sowie die Spitzen der .Armee umfaßte
und umfassen mußte, solange Hofgunst über die Besetzung
dieser Stellungen entschied. Zwischen dem Volke und diesen
zu fremder Umgangssprache, in fremden Sitten und zu einer
unrussiscfaen Kultur erzogenen Spitzen der Nation konnte ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit sich nur soweit behaupten, als
es durch das Verhältnis der Herren zu ihren Knechten bedingt
wurde. Und ebenso hatte die Regierung keine andere Fühlung
mit dem Volke als die, welche ihr durch die Verwaltungs-
beamten, durch das besondere Volk der Tschinowniki, ver-
mittelt wurde." Die Kaiserin persönlich trifft also die Haupt-
schuld an der steigenden Ent>ittli( hung dw Nation; Katharina
kokettierte mit der hyperfeinen Zivilisation des Westens, sie
1) Theodor Schiemaan, Alexander der £r»te. S. 6—7.
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— 43 —
schwärmte ehrlich oder erheuchelt für die Ideale der fran-
idsischen Aufkläningsliteratur, sie schrieb selbst Erziebungs-
Programme; aber für die Bildung des Volkes interessierte sie
sich nur zum Scheine, aus Gründen der Eitdkett; und für
die Erleichterung der Knechtschaft, der geistigen wie der
materiellen, in deren Ketten die Massen schmachteten, tat sie
nichts. Nach wie vor blieb das Volk moralisch dem Aber-
glauben und der Sittenlosigkeit, physisch der Willkür der Guts-
herren und der Tschinowniki ausgeliefert.
Die Erbschaft, welche Katharina die Aufgeklärte hinter-
ließ, lastete erdrückend auf den nachfolgenden Regierungen.^)
V on den Emigranten und den Aboiteuerern, die während
der Revolution aus Frankreich ausgezogen waren, um Europa
zu verseuchen, hatte Katharina die meistverdorbenen Elemente
in Rußland aufnehmen lassen, und von diesen hat das Zaren-
reich die sogenannte französische Kultur gelernt.- ) Die deutsche
Kultur und Literatur jener Zeit vermochten selbst unter
Alexander dem Ersten keinen Einfluß in Rußland zu ge-
winnen, aber die antiquierten und anderwärts schon über-
wundenen geistigen Strömungen der französischen Zivüisation
konnten in Rußland in breitem Bette durch das Land fluten.
Der Jesuit Abbe Nicole lehrte die Söhne des russischen Adels
reden wie die Franzosen, tanzen wie Ualletmeister, fechten,
deklamieren. I heaterspielen ; aber von Arbeit war keine Rede,
die Bildung blieb oberflächlich, und die Lebensauffassung, wenn
man eine solche in dieser pädagogischen Jesuitenanstalt ge-
winnen konnte, hatte mit Rußland nichts gemein. Die Wenigen,
die wirklich lernen wollten, gingen ins Ausland, diese erreichten
jedoch alles nur für sich und nützten nicht der russischen
Kultur. Rußland mußte sich weiter fortfristen mit kläglich
1) Per kurzen Regierung Pauls kann flüchtig auch gedacht werden.
Dieacm Kaiser war die Bildung so verhaUt, daU er alle Bucbdruckereien in
•dneni Rddie tdiUeBen Ue6; nur drei durften bestebsn Ueibea faar dm Dniek
der UkMe. der rdigifieen Schriften nnd sokher Bucher, die dreimal Miwnriert
worden waren: von der Regierung, einem Mitglied« der Schnlenverwaltung
und einem Vertreter der Kirche. Die Folge war, daß die unbedeutendsten
Bucher zu Raritäten wurden und die höchsten Preise erzielten, wenn sie heim-
lich ausgeboten werden konnten.
•) Schiemanii, a. O. 394— 395> S97-'4oa.
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— 44 —
geleiteten Gymnasien, Kadettenschulen, dem Lyceum zu Zars-
koje Sselo und dem Pagenkorps, wo nichts zu erlernen war
ab eine oberflächlichste formal gesellschaftliche Bildung oder
vielmehr Dressur. „Und diese staatliche Erziehimg, der bei
strengster Disziplin jede wahre Zucht fehlte, war doch noch
weit besser als die häusliche," welche — wie Schiemann auf
Grund unzähliger Zeugnisse nachgewiesen hat — durchwegs
von unwissenden französischen oder deutschen Glücksrittern
niedrigsten Ranges erteilt wurde; von Leuten, die man auf
der Lehrerbörse im Zagrad rhen Gasthofe zu Moskau oder
an der Schmiedebrücke, am Kußnetzkymost, zu Petersburg
auffischte. Ein Leibeigener, der das Vertrauen seines Herrn
genoß, stellte sich zuweilen an der Tür der Kaüiedialkin lie
auf und der erstbeste, der ihm als intelligent erschien, wurde
von ihm als Lrzieher für die Kinder des Gutsherrn gedungen.
So wurden Lakaien, Handwerker, Gärtner, waudernde Kiem-
händler: Lehrer und Erzieher des russisrhen Bürgers und Edel-
inaiins. Im Jalire 1822 bot in einem Inserat der Moskauer
/eiiuiig ,,i'in Piqueur aus Deutschland" seine Diensu an als
,,Piqucur oder Gouverneur". Namentlich um die Fraiuosen
dauerte der Wettbewerb der russischen Familienväter fort.
Graf Schuwalow hatte für das Pagenkorps sieben Lakaien aus
Färis kommen lassen; in Rußland angelangt, fanden es alle
Sieben vorteilhafter, statt Lakaien zu bleiben, als Gouverneure
in adeligen Häusern Dienste zu nehmen. Fürst Peter Andre-
jewitsch Wjäsemski j, Gehilfe des Ministers für Volksaufklärung
unter Alexander dem Zweiten, erzahlt in seinen Jugenderinner-
ungen: „Die Wahl der Erzieher, Gouverneure und Lehrer,
die man mir gab, war höchst unglücklich. Am Gelde lag es
wahrlich nicht. Es waren viele Franzosen, Deutsche und Eng-
länder bei mir, aber keiner von ihnen war imstande, mich zur
Arbeit zu gewöhnen. An russische Erzieher war jedoch über
haupt nicht zu denken. Die gab es nicht, und ich weiß nicht,
ob heute viele zu finden sind; so mußte man denn auf gut
Glück die Fremden einfangen/* Senator Ssacharow Uagte in
ähnlicher Weise: „Die Bildung des Adels besorgten Gouver-
neure und Gouvernanten, Leute ohne jede wissenschaftliche
Büdung. Mit ihnen drangen in die Familien der Gutsbesitzer
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— 46 —
buienlosigkeit, Frechheit. Mißachtung der Eltern, Verachtung
des Glaubens der Vätf-r und schmähliche Freipcisterei." Wenn
die höchsten Adeligen in den beiden Hauptstädten des Reiches
für die Erziehune: ihrer Kinder l^kaien als das möglichst
Erreichbare warben, so kann man sich ein Bild von dem
Material machen, das in den Provin/on für gut genug befunden
wurde. Hier kamen schon die Scliuler jener Lehrer zu Ehren
oder man engagierte ungeschlachte Seminaristen, auf die man
das Wort des deutschen Dichters anwenden darf : ,,Was sie
gestern gelernt, wollen sie heute schon lehren." Und wie arm-
selig war das, was ihr eigenes Wissen ausmachte; wie selt-
sam mögen die Elemente der Bildung gewesen sein, die sie
auf ihre Zöglinge übertrugen! Wir haben uns bisher mit den
höchsten Kreisen befaßt, nur die Vornehmsten in den beiden
Residenzen und die reichsten Häuser in den übrigen Städten
und auf Lande betrachtet. Aber wie erging es erst
dem unbonittelten Adel oder den Beamten! Die Lakaien
wurden von den Großen abgefangen, den Kleinen blieben
also nur die kriegsgefangenen französischen Sotdaten» die sich
auch leicht in ihre neue feine Rolle fanden, sich in Rußland
niederließen und die Jugendbildner der russischen Mittelklasse
wurden. Der berühmte Chirurg Pirogow erzahlt in seinen
Denkwürdigkeiten^) über die Bildung, die ihm zuteil gewor-
den: „Von Jugend auf lernte man die europäischen Sprachen
nur in den höchsten Schichten der Gesellschaft, und zwar nur
für sich, für seinen Kreb, für den Salon und im Interesse der
eigenen Karriere, denn die Kenntnis einer fremden Sprache
war das Aushangeschild der Bildung.** Russische Büdier gab
es nicht, man brauchte sie auch nicht. „Als nun die niederen
Schichten der Gesellschaft nach Bildung zu streben begannen,
gab es für sie nichts zu lesen. Eine wissenschaftliche und
klassische^ Literatur existierte in russischer Sprache nicht, weil
diese nicht standesgemäß war. Und so zerfiel denn der die
Kultur tragende Teil der Gesellschaft in zwei voneinander
geschiedene Schichten: eine obere, welche über alle Mittel
1) In deutscher Übersetzung von Schiemann in dessen Sammlung ms-
«tacbcr Denkwärdigketten ab dritter Band (Stuttgart 1894) herausgegeben.
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_ 46 —
der Bildung verfügte, aber ihrer Geburt, iluer Stellung, ihren
Vorurteilen nach zu einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit
nicht berufen schien, und zweitens eine untere Schicht, die
sich fast ausschließlich aus dem Proletariat rekrutierte."
Die beste Absicht, Volksschulen zu begründen, hatte
Alexander der Erste. Er wünschte, daß wenigstens in jedem
Kirchspiel eine Schule sein sollte. Aber die Regierung gab
dazu kein Geld her, die Gemeinden und Gutsbesitzer wollten
die Lasten nicht auf sich nehmen, und die Resultate entsprachen
diesem komischen Wettbewerbe im Nichtsleisten: 1806 wurden
im Gouvernement Nowgorod hundert Volksschulen errichtet,
nachdem man im Jahre 1804 im Gouvernement Olonez zwan-
zig und sogar im Gouvernement Archangelsk neun eröHnet
hatte. Man beeilte sich der Welt von dieser wunderbaren
Kultivierung Mitteilung zu machen, man erzahlte jedoch nie-
mals, daß in Nowgorod nach zwei Jahren von den hundert
Schulen nur noch eine einzige bestand, und daß es 18 19 weder
im Gouvernement Archangelsk noch im Gouvernement Olonez
auch nur eine gab. Aber die Blendung Europas war wieder
gelungen, und Zar Alexander vervollständigte sein großes Zi-
vilisationswerk durch die Schaffung eines Ministeriums der
Volksaufklärung, durch Neubelebung der Universitäten von
Wilna, Moskau und Dorpat und die Begründung der drei
neuen Universitäten von Charjkow, St. Petersburg und Kasanj.
Rußland hatte nun zwar keine Schulen, aber Universitäten!
und war ein Kulturstaat ersten Ranges.
Verweilen wir einen flüchtigen Augcnblic k bei diesen russi-
schen Universitäten. Der große russische Gelehrte l^■pin
sagte '1: ..Die Anfänge des wissenschaftlichen Lebens in Ruß-
land waren stets von Erscheinungen der Hohlheit und Will-
kür begleitet, weil man die abstrakten und sittlichen Forderun-
gen der Wissenschaften nicht begriff und nur eine Dekoration
der Wissenschaft herzustellen bestrebt war." Das Volk war
noch für die Klementarschule nicht reif, da schuf man eine
Universität nach der anderen. Die Universitäten mußte man
Die geistigen Bewrptmgen in Rußland in der ersten Hälfte des
XIX. Jahrhunderts. Erster Band. Die russische Gesellschaft unter Alexan-
der I. Aus dem Russischen übertraigen von Dr. Boris Minze». Berlin 1894.
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- 47 -
bevölkern ; also befahl man in Charjkow den Seminaristen,
in Kas<inj den Gymnasiasten: Studenten zu werden; und in
Petersburg wußte man sich schon gar nicht anders zu helfen
als damit, daß man den Leibeigenen, die sonst keine Rechte
hatten, das Recht des l niversitätsstudiums verlieh.
Die Dor[)ater Universität wurtle vor fast dreihundert Jahren
von Gustav Adolf gegründet, damit das martialische Livland
zu Tugend und Sittsamkeit gebracht werde". Peter der Große,
der die ausländische Bildung angeblich nach Rußland ver-
pflanzen wollte, vernichtete im Jahre 17 lo die Universität Dor<
pat, und erst Alexander Pawlowitsch erweckte sie wieder zum
Leben. In ihrem ersten Jahre, 1802, zählte sie nur 47 Hörer,
und es dauerte lange, bis sie die Aufgabe erfüllen konnte,
die Zar Alexander ihr gestellt hat: ein Quell der mensch-
lidien Kenntnisse für das ganze Reich zu sein. Und als sie
diesem Zwecke endlich wirklich entsprach, brach das Russi*
fizterungsgewitter über sie herein und zerstörte von Grund aus,
was Generationen der Besten gebaut hatten.^)
Zwei Jahre nach der Neubegründung der Dorpater Uni-
versität entstand die von Kasan], wo es schon seit 1755 ein
Gymnasium gab — allerdings ein Gymnasium sozusagen ohne
Schüler. Das war das kühnste Blendwerk, das Alexander der
Erste der europäischen Welt vorspiegeln ließ. Wie weit mußte
die Kultur in Rußland schon vorgeschritten sein, daß man
es wagen konnte, auf ehemals tatarischem Boden, im äußersten
Osten des europäischen Zartums, fern von den Residenzen
einen Tempel der Wissenschaft aufzurichten. Sehen wir näher
zuf Der erste Rektor dieser Universität, zugleich ihr Haupt-
pra»fessor und aurli Direktor des Gymnasiums war der ehe-
malige Volksschullehrer Ilja Feodorowitsch Jakowkin. Vier
Lehrer des Gymnasiums waren ihm als Professorsadjunk-
ten für verschiedene Wissenschalten beigegeben. Ein
Rechenlehrer war Professor der Mathematik, ein ehe«
1} Bernhard Stern, Aas dem modernen Rnfiland. Berlin 1893: ..Dorpat
ud Jurjew/* Seite 141 — 157. — lotweennnte Mitteflungen war Geechichte
der Dovpftter Universitit enthält das Buch von Professur Georg Friedrich
BipTiemann: Der Dorpater Professor Georg Friedrich Parrot und Kaiser
Alexander I. tum Säkulargedächtnis der alma mater Dorpatensia." Reval 1902.
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— 48 —
maliger Feldscher brillierte als Professor der Medizin.
Jakowkin bevölkerte die Universität mit Studenten, die keine
Prüfungen abzulegen brauchten, sondern sich bloß bei ihrem
Rektor als Pensionäre einzumieten halten, um ihres Studien-
erfolges sicher zu sein. Also kamen viele Jünglinge nach
Kasaaj» um mit leichter Mühe Doktoren alier Wissenschaften
2tt wcatlen. Das imponierte der R^erung, und man ver-
schrieb nun für die blühende Universität wirkliche Gelehrte»
wie den Orientalisten Frehn^) und den Astronomen Littrow,
denen aber Jakowkin ein saueres Leben bereitete; er konnte
die frechen Gebildeten, wie er die Gelehrten nannte, nicht
leiden, und als die Deutschen sich weigerten, an dem Gottes-
dienste in der russischen Kirche teilzunehmen, ließ er sie
wegen Verhöhnung der rechtgläubigen Kirche vor Gericht
stellen.') Auch an der Petersbutger Universität sahen die
Rektoren und Kuratoren ihre wichtigste Aufgabe nicht in der
Förderung, sondern in der Hemmung des Fortschritts und
der Bildung. Sagte doch der Kurator Runitsch einem Pro-
fessor der Philosophie, diese Wissenschaft sei eine Satans-
lehre: „Sic sind ein Heide und lehren heidnische Irrlehren;
philosophische Argumente stellen Sie auf, die einen Christen
tötlich verletzen. Die lascive Philosophie gilt Ihnen mehr als
die jungfräuliche Gottesmutter!" Und der Rektor ließ diesem
Satanslehrer als einon „Anstifter, Aufwiegler, Verräter, Mord-
brenner, Revolutionär und Gotteslästerer" den Prozeß machen.
Das war die Bildung Rußlands unter Alexander dem
Ersten, und auch dies erschien seinem Bruder und Nachfolger
Nikolaj zu viel, der gegen die Universität als gegen seine
Todfeindin wütete wie einst Peter der Große gegen den Lang-
bart. Und doch fand sich — nicht in Rußland, nein, in
Deutschland, im glorreichen Jahre iS4(S — ein Held, der die
russische Schule unter Nikolaj dem Ersten als ein förmliches
Ideal der Bildung und des Fortschritts und der Freiheit 2U
1) Diesem verdankte die Universität die wunderbare Sichtung üiicr einzig
daatdMnden BibUotiiek von cliineriadieiii, mongoliachen mid tibetaniadiea
Mantiskiiptea.
*) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. Breslau 1897.
S. 343 — 346 über die Kasaojer, S. 246 — 349 über die Petersburger Univenitftt.
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— 49 —
loben wagte 1): „So stark/' heißt es in einer in Weimar er-
schienenen Verteidigung der russischen Barbarei, „ist das Vor-
urtheil gegen die wissenschaltltchen Anstalten Rußlands, daß
man es am wenigsten erwarten wird» hier eine Parallele öster-
reichischen und russischen Unterrichtswesens zu lesen, die zu
Gunsten des letzteren ausfällt. In Rußland f^t-ht man bei dem
Jugendunterrichte allerdings auf Unterwerfung des Geistes aus,
aber man tritt seiner Entwickelung nicht so hemmend in den
Weg. Der Gebeugte kann sich erheben, und seine Rechte vin-
didren, wenn er sich bevortheilt glaubt, er kann seine phy-
sische und moralische Kraft nach Willkür gebrauchen, wenn
die Fesseln gelöst sind. Denn die Schule steht nicht
unter der Vormundschaft der Geistlichkeit, sondern unter der
Aufsicht der Regierung, welche — wenn keine andere Wahl
bleibt — gewiß der pfäffischen Leitung vorzuziehen ist."
Audi dieser Vorzug existiert längst nicht mehr. Von
den zehntausenden Schulen, die Alexander der Zweite begrün-
den wollte, sind nur Tausende ins Leben getreten. Die Minister
Alexanders des Dritten, Tolstoj und Pobjedonoßzew, haben
auch die Tausende dezimiert, und schließlich wurde durch
den Ukas vom i6. Mai 1891 fast das gesamte Schulwesen
der Geistlichkeit ausgeliefert, alles was noch übriggeblieben
war aus der Epoche Alexanders des Zweiten unter die Zucht-
rute des Heiligen Synod gestellt, der sich mit der Polizei
in die Aufgabe der Entsittlichung der Jugend teilt. Eine
neue In-Uiution wurde in die russische Schule eingeführt: das
System der Kollegendcnunziation. In jedem Gymnasium wurde
eine Anzahl Schüler ohne Schulgeld aufgenommen, und diese
Knaben im Alter von neun bis achtzehn Jahren haben die
Pflicht als Gegenleistung für die Freischule ihre Kameraden
auszuspionieren. Die offizielle Aufsicht der Regierung aber
macht sich in dieser Weise geltend: der Minister für Volks-
aufUänmg versendet an die Generalgouvemeure und Gou-
verneure ein Rundschreiben mit der Anweisung, die Trunk-
Kaiser Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von
Europa, zur Berichtigung unreifer Urtheile über rassische Diplomatie und
R^icningspolitik. Audiatur et altera panl Weimax 1848 (Druck und Ver-
lag voo Benilianl Friedrich Voigt). Seite 106.
Steril, Gcacbldite der OlcntL SiulicbkcU in RuSIüiut. 4
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— 50 -
sucht und Unsittlichkeit der Studenten nicht zu bestrafen, da
gegen mit eiserner Strenge freie Äußerungen gegen die Re-
gierung zu unterdrücken.^^ Dementsprechend werden das Pro-
fessorenmaterial und das Korps der Pedelle ausgewählt. Unter
Katharina II. und Alexander I. waren, wie wir wissen, Lakaien
und Soldat! 11 die Erzieher der russis( hen Jugend, denn damals
brauchte man wenigstens dekorative Bildung; heute aber ver-
langt man Entsittlichung, nackte Verkommenheit, und so stellt
mau als Lehrer \ürnehmlich liederliche Subjekte und als Uni-
versitätsdiener Kellner aus Schanülokalen, KuppU r und Bordell-
wirtc an. Je schändlicher das Privatleben eines Professors
ist, je mehr Maitressen er sich hält, desto angesehener ist er
bei der Regierung ; und als die besten .ikademischen Bürger
und Bürgerinnen in den .Vagen des Rektors und Kurators
erscheinen jene Studenten und Studentinnen, die schamlos
ein freies Leben führen und die ganze Gesellschaft zu Zeugen
ihrer öffentlichen Liederlichkeit machen. Nicht die Wissea-
sdiaft soll gepflegt werden, sondern die Lasterhaftigkeit, denn
diese und nicht jene gilt in Rußland als Begleiterin der Loyali-
tät und Untertanentreue. Der große russische Chirurg Piro-
gow sagte einmal: in Rußland sei die Hochschule das emp-
findsame Barometer, das den geistigen Zustand der gesamten
russischen Gesdlschaft anzeige. Wenden wir diesen Satz auf
die geschilderten Verhältnisse an, dann erhalten wir ein ent-
setzenerregendes Spiegelbild der russischen Gesellschaft, und
leider ein getreues.
Es hat in Rußland selbst nicht an mutigen Männern ge-
fehlt, welche die Gebrechen der Schule offen daxgelegt haben.
Da liegt vor mir ein merkwürdiges russisches Buch von Maß-
lowskij über die allgemeinbildende Schule.^) Es sind Gedan-
ken dnes Famili«ivaters, der uns schildert, wie die Schule
es ist, die die Jugend entsittlicht, sie der Familie entfremdet;
wie eine förmliche Kluft zwischen der Familie und der Schule
entstanden ist. Unterricht und Erziehung in der Schule sind
bar der lebendigen Hingabe an die Wissenschaft; und dann
Lanin, Rtnsiacbe Zust&ode. I 22, 35. 38.
*) A. HaceioBoidft, Pyccmm o5]iiBo(^«aoi»i«iuuui umoina. MwaH t/am
oewAcTBa. C.-IIeTe|i6ypn>, 1900.
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— öl —
beschuldigt die Schule nicht sich selbst, sondern die Familie
der mangelhaften Resultate, die erzielt werden. Die Schule
untergräbt die Autorität der Familie, diese reagiert durch den
Widersland gegen die Schule, und das Opfer ist die Jugend.
Die Schule hat nur die höheren Schichten der Gesellschaft im
Auge und kümmert sich nicht um die Bedürfnisse der Menge.
Deshalb kann nur ein beschämend kleiner Teil derjenigen,
die in die Mittelschule eintreten, sie bis zum Ende durch-
gehen und zum höheren Studium gelangen. Aber auch jene,
welche das Ziel erreichen, haben geringen Gewinn davon. Die
Kenntnisse sind trocken und oberflächlich, die Bildung unwahr,
(ieist und (iemüt werden nicht entwickelt, sondern entsittlicht.
Das Miljtraiien gegen wahre Bildung ist das Admuiistrations-
pnnzip, und beim Examen entscheiden nicht die Befähigung
und die Kenntnisse, sondern die Protektion und die sogenannte
Loyalität der Kandidaten. Die Si hule regiert durch Furcht,
man wili absolut nicht Männer erziehen, die lähig wären zur
Selbstbestimmung. Statt der Erzieher gibt es nur Reglements,
statt der Wissenschaften: Polizeiverordnungen.
Vor einigen Jahren hat das Ministerium der Volk^auf-
klärungi) ein Werk über den Stand und die Fortschritte der
Klementarschulbildung in Rußland herausgegeben. Sehen wir
dtivon ab, daß ein großer Teil der dort mitgeteilten Daten
auch nur auf Blendung und dekorati\e Wirkung berechnet
ist, nehmen wir diese amtlichen Mitteilungen für vollwertig.
Danach hat Rußland jetzt 79000 Elementarschulen mit vier
Millionen Schülern. Diese Schulen sind neun verschiedenen
Minbterien unterstellt, mehr als die Hälfte aber dem geistlichen
Ressort. Auf die Städte entfallen 7797 Schulen, die übrigen auf
das Land. Da die Stadtbevölkerung den achten Teil der Ge*
Samtbevölkerung ausmacht, so sind die Städte ärmer an Schulen
als die Dorfer; dafür sind die städtischen Schulen stärker
besucht. An den 79000 Elementarschulen sind 150000 Lehr-
bäfte, davon 23566 in den Städten, 127094 in den Dörfern,
90 daß auf eine Stadtschule durchschnittlich drei, auf eine
Dorfschule aber kaum zwei Lehrkräfte entfallen. Im ganzen
1) Im Jahre 1903« unter d«r Redaktion von W. S. Fannakowtkij.
4*
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— 52 —
Uralgebiei gibt es keine einzige Lehrerin an einer Elementar»
schule ; in 63 Gouvernements und Gebteten sind die Lehrerinnen
in der Minderlieit gegenüber den Lehrern: in den Gouverne-
ments Ortl und Ssamara und im Anuirgcbict ist die Zahl der
männlichen Lehrkräfte dieselbe wie die der weibhchen; in 21
Gouvernements gibt es mehr Lehrerinnen als Lehrer, so nament-
lich im Gouvernement Petersburg und im Gouvernement
Wjatkr». Von den Schulkindern sind drei Viertel Knaben, ein
Viertel Mädchen, Eine Elementarschule entfällt auf 243 Qua-
dratwerst oder 1676 Bewohner, und bei dieser Verteilung sind
pnnze Gebiete ohne Schule. Nur in den Gouvernements Est-
land und Olonrz steht die Anzahl der Schulen in dem normalen
Verliiiltnisse zur Kopfzahl der Bevölkerung, hier entfällt eine
Schule auf 650 Bewohner, hn ( loux ernement Petersburg muß
eine Schule für 1405 Seelen, im Gouvernement Kowno für
4427 und in Zentralnsien für 97526 Einwohner genügen. Von
den sr]uil])fli( htigen Kindern Rußlands besuchen nur 35 Pro-
zent die Schulen, 65 Prozent bleiben fern. Für den Unter-
halt der 79000 Elemcntarathulen werden 40 Millionen Rubel
j;ihrli( h \ ( rausgabt, was 32^10 Kopeken per Kopf der Ge-
samtbevolkerung ausmacht.
W ir kritisieren nicht weiter diese Daten, aber fragen bloL» :
wozu diese zwecklose Ausgabe von 40 Millionen? Wozu Cield
fui die lüementar.schulen hinauswerfen, so lange man die Mittel-
schulen knechtet und die Hochschulen haßt als die Herde
des Radikalismus und der Revolution? Wozu Ideale hoffen
lassen, die das Leben nicht erfüUt; weshalb mit Wissenschaft
und Bildung prunken» die man unterdrücken will? Alexander
der Erste glaubte noch die Universität einen Quell mensch-
licher Kenntnisse für das ganze Reich nennen zu müssen.
Heute ist sie ein Quell von Schmutz, eine Flut der Unsitt-
iichkeit geworden, dank dem System der Reaktion, das von
Jahr zu Jahr brutaler vnrd. Unsinnig ist es jährlich viele
Millionen für die Elementarschulen auszuwerfen, und anderer-
seits Lehrfreiheit und Lemfreiheit zu vernichten, weil die Schule
bei der Regierung im Verdachte des Liberalismus steht und
die Studentenschaft trotz Rute und Knute auf dem Märtyrer-
wege zur Freiheit sich drängt. Der Staat hat es verstanden.
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— 53
aus den Studenten Leute zu ninrhen, denen ihr Leben nichts
jjilt : ihm genügt nicht das Elend des VOlkcs, er schuf auch
einen üniversitatspaupcrismu?, wie Leroy Beaulieu die russi-
sche Intelligenz nennt, ein Ahilurientenprolctariat, wie Bis-
marck iii einer berühmten Rei( listag>redc den Nihilismus he-
/eirhnel liat. Man werde konse([uent, sc hließe die Elemciilar-
schule, vernichte die Mittelschule, offiie niemals mehr die Uni-
versitäten und überlasse das X'olk ganz dem Aberglaul)en und
der ünsittlic hkeit, die ohnehin bis heute mächtiger geblieben
sind als Bildung und VV issenschafi.
' 4. Aberglaube und Verbrechen.
Gcaetse betreOend Aberglauben — Sterodeuteret — List und Wollust eines
Biachob — Aberg läubiache Anieichen — Tfäume — Schlange — Taube —
Insekten ab Herdgeister — UnverletzUcltkeit der Läuse — Vogelflug — Böser
Hin k — Kartenaufschlagen — Feuer — Das Jahr und seine Tacf — Der
Tag des heiligen Wlaßj — Fasten — Wochentage — Der Freitag als Gauner
— Mißgebarten — Aberglaube und Vcrbfeehen — Erinnornngen an Bauopfer
— Das Opfer der Müller — Verbrechen und Talisman — Die Zehe als Talis»
man — Der Zahn als Zaubermittel — Leichenteile als Heilmittel — Geschlechts-
teile als Zaubermtttel — Der Tod im AlnTglauben — An^t vor den Toten —
Seelenspci3ung.
Nach den vorhergehenden drei Kapiteln, in denen wir
den Gang der russischen Kultur und ihren gegenwärtigen Zu-
stand kennen gelernt haben, wissen wir, daß Rußland noch
abgrundtief im Aberglauben untersinkt. Unter den kultivier-
testen Völkern unserer Zeit ist der Aberglaube noch nicht ganz
ausgerottet. Aber er ist bei ihnen nirgends mehr allgemein
und nimmt in den seltensten Fällen gefährliche Formen an.
In Rußland jedoch ist der Aberglaube die wahre geistige,
moralische und auch physische Geißel des gesamten Volkes;
er erscheint hier in einer Gestalt, die furchtbar ist ; er be-
herrscht alle Schichten der Gesellschaft und ist begleitet von
Verbrechen, wie sie sonst nur noch bei den wildesten Völkern,
bei Kannibalen, vorzukommen pflegen. Die grausamsten Fol-
terungen, brutale Vergewaltigungen, Meineid, Mord und So-
domie als Folgeerscheinungen des Aberglaubens sind nicht
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— 54 —
die Au nahmen, sondern die Kogel. In keinem Lande der Erde
sind die (iehiete des Aberglauben-- -imd der öffentlichen Sitt-
lichkeit in SC) unauflösbarem Zusammenhange wie in RufMnnd.
Nicht nur die älteren (Gesetzgeber, auch die der neuesten
Zeit haben diesen Umstanden besonders Rechnung tragen
müssen. Ich erwähne hier zunächst die bedeutsamsten Para-
graphen aus dem Strafgesetzbuche vom Jahre 1845 und die
Artikel der Allgemeinen Gesetzessammlung vom Jahre 1890.
In dem Strafgeset/buche vom Jahre 1845 besagen die
Paragraphen 1 1 39 bis 1 164 : Wer aus Eigennutz, falscher Ruhm-
sucht oder irgend eines Vorteils willen Gerüchte von vor-
geblichen Wundern verbreitet oder eine durch ihn selbst ver-
anstaltete Erscheinung leiclu^Liubigen Leuten als ein Wunder
darstellt, wird für diesen auch in religiöser Beziehung straf-
baren Betrug nach Maßgabe seiner Schuld und des dadurch
gestifteten Ärgernisses auf sechs Monate bis zu einem Jahre
Besserungsliaus verurteilt. Im Wiederholungsfälle erfolgt Ver-
lust der Rechte, eine Strafe bis zu zwei Jahren und Kirchenbuße.
Dieselben Strafen treffen denjenigen, der um irgend eines
unrechtlichen Vorteils willen die Leichtgläubigkeit anderer be-
nützt und sich für einen Wahrsager oder Zauberer ausgibt
und bei Ausübung dieser betrügerischen Kunst Gegenstände
mißbraucht, die dem christlichen Kultus geweiht sind. Wer
ohne einen dem christlichen Kultus geweihten Gegenstand
herabzuwürdigen sich für einen Wahrsager oder Zauberer aus*
gibt und angebliche Gesichte sehen läßt, angebliche Zauber-
tränke, Zaubermittel, sogenannte Talismane und andere be-
zauberte Dinge zubereitet, austeilt und verkauft, erhält beim
ersten Male sieben Tage bis drei Monate Arrest, beim zweiten
Male 6 Monate- bis zu einem Jahre Besserungshaus. Wer auf
solche Weise Gegenstände austeilt, die der menschlichen Ge-
sundheit schädlich sind, geht auf ein bis zwei Jahre seiner
Rechte verloren. Stirbt ein Mensch durch den Gebrauch solcher
Gegenstände, so erhält der Schuldige, falls er Christ ist, eine
Kirchenbuße auferlegt. Diesen Strafen sind die bei einigen
heidnischen V'ölkerschaften vorkommenden Zauberer und
Geisterbeschwörer nicht unterworfen, wenn sie ihre Künste
den Gebräuchen dieser Völkerschaften gemäß und bloß für
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— öö —
ihre Glaubensgenossen üben. - Die angeblich besessenen
Weiber, die gei;pn andere Leute aussagen, als hätten diese
ihnen durch Zaui)erkünste geschadet, werden für solchen bos-
haften Betrug auf sechs Monate bis zu einem Jahre ins Bes-
seningshaus eingesperrt. Wer sich tür eine mit übernatür-
hchen Kräften oder besonderer Heiligkeit begabte Person aus
gibt und das so gewonnene Zutrauen der Menge anwendet,
um im Volke l^nruhen oder Verwirrung zu erregen, es zur
Widersetzlichkeit gegen die Regierung anzureizen, verfällt in
die Strafe der \ ( tbannung und der Ansiedelung in Sibirien
und erhall zwanzig bis dreißig Peitschenhiebe.
Im vierzehnten Bande der Allgemeinen Gesetzessammlung
vom Jahre 1890 handeln die Artikel 28 bis 35 vom Aberglauben.
Hier wird wrboten: Der Gebrauch sich zur Weihnachtszeit
in Götsenkkider zu stecken, auf den Straßen zu tanzen und
verführerische Lieder zu singen; in der Osterwoche solche
Leute zu baden oder mit Wasser zu bespritzen, die nicht
bei der Frühmesse gewesen sind. Andere Artikel befassen
sich in ähnlicher Weise wie die Gesetze vom Jahre 1845 mit
lügnerischen Weissagungen und Afterprophezeiungen und mit
den Personen, die sich für Zauberer und Hexen ausgeben.
Am 5. Oktober 1772 fürchtete die Regierung anläßlich der
Piestepidemie eine stärkere Verbreitung des alten Gebrauches,
in Zeiten der Seuchen die Gräber jener zu öffnen, die man
für Kiankhettsgeister und Vampyre halt.^) Damals entstand
DicMr Aberglaabe erhält sich hartniddg. 1871 kam zum Geistlichen
lies FledcDS BogiHwbennis^ im Goownemcot Münk eine Witwe viid bat,
man mfige das Grab ihres verstorbenen Mannes öffiien, der Leiche den Kopf
abschlagen und zu Füßen des Toten legen, damit er nicht mehr aufstehe; er
VeynTTu» aocix allnächtlich in seine Hütte zurück, klagte die Witwe. Wird
ciM mtWB sdfwanger, so mfot sie sieh leicht auf dm toten Mann als Vampyr
ans! — Mangel an Regen schreibt man dem fiinfhnse pifitdich, also nabuB*
fertig Verstorbener zu; sie sind Vampyre, melken die Wolken und stallen
den Tau. Man muß ihre Leichen in Schluchten, Seen cxlor Flüsse werfen.
Das Wasser vertreibt den Zauber. Als »m Jahre 18S9 große Diirrc herrschte,
grob man im Dorfe Säinokriwez im Kreise Chersou die Leiciie eines Greises
ans, dsr im Leben als Vampyr geg<^ten hatte, vide wollten sogar einen Schwans
anf ssinein Rfieken fssehen haben. Man begoB also die Leiche und g^obte
die Bosheiten des Vampyn nicht mehr fflrchten sn mfissen. Ans dem gleichen
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66 -
ein Gesetz, das für solche Verbrechen als Strafe Zwangsarbeit
und Vci Schickung zur Ansiedelung in Sibirien vorschrieb; die
neuere Gesetzgebung setzte für solche Fälle die Strafe auf
Gefängnis und Korrektionsanstalt herab. Weitere mit dem
Aberglau Ijen zusammenhängende Gesetzartikel werde ich später
an verschiedenen Stellen erwähnen.
Braucht man es besonders hervorzuheben, daß alle diese
Gesetze nur illusorischen Wert haben und nicht geeignet sind,
den Aberglauben zu bekämpfen, wenn gleich hier gezeigt werden
wird, daß noch heutzutage die Herren Richter selbst in Ruß>
land dem Aberglauben huldigen? Am i6. März 1896 hatte
das Bauemgericht im Dorfe Ustj-Mulljänka im Permschen
Kreise des Kama* und Wolgagebietes über die Klage eines
Bauern zu entscheiden, der behauptete, im Dorfe wäre eine
Hexe, die seinen Stier bezaubert hätte. Er verlangte, daß
man, um die Hexe herauszufinden, alle Weiber des Dorfes
durch ein Ktmunet kriechen lassen sollte; diejenige, welche
nicht hindurch käme, sei die Hexe. Und das löbliche Dorf-
gericht entschied wirklich im Sinne des Klägers. Im Doife
Peressadowka, Gouvernement Cherson, schrieben die Bauern
die Regenlosigkeit der Zauberei der alten Weiber zu. Die
Gemeindeverw^tung berief drei verdächtige Weiber ins Ge*
richtshaus und befahl ihnen, dafür Sorge zu tragen, daß es
am 17. Juli regnen solle. ^) Dann wurde mit den Frauen die
Probe angestellt, man badete sie im Flusse, wodurch nach
altem, auch in anderen Ländern in früheren Zeiten angewen-
deten Gebrauche herausgefunden werden kann, wer eine Hexe
sei; eine solche geht nämlich dank ihrer Verbindung mit dem
Grunde grub man im Jahre 1868 im Dorf Tichij Chutovj im 'Kreise Tarach-
tadiaa des Kljemchmi Goavemements die Lekbe eines AltgULublgen aus. der
ab Vanpyr n^jolten. Man schlag der Letehe auf den Kopf und rief dabei:
Gib uns Regen. Dann bcgoB man den Toten durch ein Sieb und beerdigte
ihn wieder. Aberglaube und Strafrecht von August Löwenstiinm, Ge-
hilfe des Juhskonsults im Justizministerium zu St. Petersburg. Übersetzung
ans dem RossiBcheii, mit Vorwort voo Dr. J. Köhler. Berlin 1897. S. loi — 103.
^} Gewihehen im Jahr» 18S3. — XapKHOBCKUi vliRoiiocni 18$.
Cfimovb, KeBGRUi minraa 1889, erp. 82. — Vgt LHwenstimm a. a. O. 4>
vod 83.
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57 —
Tciifrl im Wasser nicht unter. M Die Wasscri)rübc nützte nichts
und am 17. Juli gab es auch keinen Regen. Man zitierte
abermals die drei Weiber, diese aber erklärten jetzt in ihrem
Zorn, es werde auch in Zukunft nicht regnen. Tief erschrocken
zogen die Gemeindeniitglieder andere Sailen auf und verlegten
sich aufs Bitten ; und die Frauen ließen sich erweichen, führten
die Gemeindeältesten und die Dorfpolizei in die Hütte der
einen von den Dreien und zeigten ihnen dort in der Ofen-
rohre zwei Feilen und ein verkittetes Schloß als die geheim-
nisvolle Zauberkraft. Der Bericht erzählt ni( ht, ob die drei
Hexen zum Danke für die aufgelöste Verzauberung zu Fhren-
bürgcrinnen des Dorfes Peressadowka ernannt wurden. - - Das
Gemeindegericht von Schetin im roschcchonschen Kreise des.
Gouvernements Jaroslaw verurteilte am 3. Oktober 1884 den
Bauer David Charitonow wegen zauberischer Zufügung eines
Bruchschadens zu zwanzig Rutenschlägen.') — Im Dezember
1887 verurteilte die Gemeindeverwaltung von Alexandcowo im
Kreise Choper einen Bauer zur Ansiedelung in Sibirien weil
er den Satan in die Leute treibt; sobald er jemandem ein Glas
Wasser reicht, beginnt dieser zu schimpfen, seine Kleider zu
zerreißen, und der Teufel gibt ihm keine Ruhe.**
Wenn die Richter an Hexen und Zauberer glauben, können
sie natiirllch auch selbst behext und bezaubert werden: Die
Dorf richter im Kreise Tscherkaßk des Dongebietes verurteilten
im Mai 1880 eine Saldatenwitwe wegen Kuppelei zur Aus-
peitschung. Als der Übeltäterin auch mit der Verbannung
nach Sibirien gedroht wurde, verfiel die erschrockene Frau
auf den Gedanken sich dur A Hexerei die Neigung der Richter
>) Löwenstimm a. a. O. f?i 82 erwähnt dic^e Wasserprobe mehrmals.
Die Wasserprobe dient nicht bloß zur Erkennung der Hexe, sondern auch
sar Behebung der Dfttn. Im I&ukMiifl wurden im Jahre 1870 dreudm alte
Weiber aa» dem Dorfe Nowo Alexandrowgka d« hemcbenden Dfine wegen
ine W««aer geworfen. Es ereignet« sidk ein eolcber Fall auch im Slawjino-
ferbschen Kreise.
*) Mitgeteilt von den }Ip«K\iaiiCK. it6. iH^iom. ifi8o, 67. — ('»Mo
KokJKMO-,"V'JiflHCi{ue, coiimeuie C. P. ;!I,t'pynuBa. — Vgl. Luwenstimm a. a. O.
S. 75.
«) BCtgetefit vom nopaimn» 1881, M s&. — Vgl Lfiweostimm a. a. O.
S.74-
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— Ö8 —
zu gewinnen.^ I Sie versuclue also folgenden Liebeszauber:
sie wusch sich mit Wasser, schüttete dann das Waschwasser
in ein Fäßchen und trug dieses in die Gerichtsstube des Ge-
meindehauses. Die Richter tranken das verhexte W^asser aus,
erfuhren aber am nächsten Tage den Streich, der ihnen ge-
spielt worden. Die Hexe hatte offenbar den Zauber unvoll-
kommen ausgeübt, denn die Richter waren nicht in Liebe
zur Kupplerin entbrannt, sondern vollzogen an ihr eine neuer-
liche Auspeitschung. An dieser Bestrafung natiirjcn luBer den
Richtern auch die angesehensten Bauern, im gaiucii 20 Mann,
als Henker teil. Das Kreisgericht von Nowolscherkaßk unter-
suchte den Fall und stellte die Gemeinderichter und Bauern
von Tscherkaßk wegen ungesetzlicher Auspeitschung einer Frau
vor die Geschworenen. Die letzteren aber sprachen die An-
geklagten frei; denn obwohl das Gesetz befiehlt, daß Frauen
unter keiner Bedingung zu einer Leibesstrafe verurteilt werden
dürfen, meinten die braven Geschworenen im Falle einer Hexe
von den Wohltaten des Gesetzes absehen zu sollen.
Auch in den allerhöchsten Kreisen ist der Aberglaube
eine gewöhnliche Erscheinung, und die bedeutendsten histO'
rischen Ereignisse der russischen Geschichte sind mit ihm
verknüpft. Als natürlich kann man es hinnehmen, wenn der
russische Hof gleich den anderen Höfen früherer Zeiten bei
der Geburt der Fürstenkinder die Gestirne zu Rate zog. Aus
der russischen Hofgeschichte ist ein Fall ganz besonders
bemerkenswert, der mit der Geburt Peters des Großen zu-
sammenhängt. Am Hofe des Vaters Peters, des Zaren Alexej
Afichajlowitscb, lebte der PolozkeC Gelehrte Jaromonach Si-
meon, der seines Zeichens Astrolog war, in hoher Gunst. Es
wird erzählt 2), daß dieser weise Mann sogar die Stunde, da
Peter im Leibe seiner Mutter empfangen wurde, genau er-
kundete ; daß Simeon schon am Morgen nach diesem freudigen
nächtlichen Ereignisse dem Zaren die Nachricht davon brachte
und gleichzeitig damals aus der Erscheinung eines helien Sterns
1) Mitteilung d«9 iloHCKoft nwHxrK, M 78 vom Jahre 1880. — Wiederholt
in TjvcmA ^AMm*"^^ i^8t, 171. — Vgl. Löwenstimm a. a. O. 77— f9.
>) Halem, Leben Peters des Großen. I 277.
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_ 59 —
neben dem Planeten Mars vorhersagte, das in letzter Nacfat
entstandene Kind werde ein großer Held und Eroberer werden
und nach seinem Vater zur Regierung gelangen. Nach einer
andeni Version bezog sich die Prophezeiung nicht auf die
Empfängnis Peters, sondern sie wurde erst bei der Geburt
des Prinzen ausgesprochen. Jedenfalls war die fraglirhe Pro
phezeiung bei der Cieburt Peters allgemein bekannt, und der
niederländische (iesandte Niklas Heinsius hielt es für wichtig
genug, die Ansichten des Sterndeuters nach Utrecht an Grä-
vius mitzuteilen, worauf letzterer folgendermaf5en in einem,
seither in der Petersburger Akademie der Wissenschaften auf-
bewahrten Schreiben antwortete: ,,Ich ])flege. wie Sie auch
zu thun scheinen, derartigen Sachen wenig Glauben beizu-
messen. Möchte nur Peter zu seiner Zeit ein guter Hirte der
Völker sein, damit er dereinst die scythische Baroarei. welche
besonders die nordischen, in Pelze gehüllten Völker bedeckt,
durch heilsame Gesetze übei vuüde."
Gefährlicher war der Aberglaube, wenn er dazu benützt
wurde, gleichzeitig viehischen Gelüsten und staatsumwälzen-
den Plänen zu dienen. Um Peters Reformen zu hindern und
in einem die jungfräuliche Prinzessin Maria zu Fälle zu brin-
gen, erdichtete der hochwürdigste Bischof von Rostow eine
OHenbanmg des heiligen Dmitry.i) Dieser Heilige mußte also
dem Bischof von Rostow erscheinen und ihm auf Befehl Gottes
versichern: daß Peter der Antichrist und Kirchenfeind nicht
mehr als drei Monate zu leben hatte; daß Eudoxia, Peters
erste, im Kloster zu Ssusdal eingesperrte Gemahlin» und Maria,
Pieters Schwester, nach Peters Tode auf den Tiaon kommen
und zugleich mit Alexej, dem Sohne der Eudoxia, regieren
würden. Eudoxia und Maria glaubten dieser Offenbarung, und
die zur Klosterhaft verurteilte Zarin warf die Nonnentradit
ab, ließ sich wieder als Majestät titulieren und behandeln,
in dem Kloster zu Ssusdal in dem Gebete für das Herrscher
haus den Namen Katharinas streichen und durch ihren eigenen
1) Nachrichten von dem Zarewitsch Alexej Petrowitach (nach Voltaire.
■Hk AaaMtkwgtt von Bflaching)u B&achings Magann für die neue Historie
vad Geofiaphie III 338—230.
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— 60 —
ersetzen. In freudiger Hoffnung erwarteten Eudoxia und ihre
Tochter das Ende der drei Monate. Als aber diese ergebnis-
los verstrichen waren, berief liudoxia den Bischof von Rostow
und sagte ihm vorwurfsvoll: „Die Zeit ist um, und der Zar
lebt !" Da entgegnete der Bischof : „Die Sünden meines Vaters
sind schuld daran; er ist im Fegefeuer und Imt mir Natlu^icht
davon gegeben." Worauf lüidoxia rasch lausend Seelenmessen
für den in der Hölle Bratenden lesen ließ. Nach einem Monat
erklärte der Bischof, daß die Messen Wunder gewirkt : „Die
neuesten Nachrichten, die mir aus der Hölle zugekommen
sind, besagen, daß der Kopf meines Vaters schon aus dem
Fegefeuer sei.** Wieder einen Monat später war der Bischofs-
vater nur noch bis zum Gürtel hn Fegefeuer; und dann endlich
stak der Alte nur noch mit den Füßen darin. »»Sind aber
die Füße erst befreit, und dies ist das Allerschwerst e, dann
wird Zar Peter sofort sterben 1** Um das Allerschwerste zu
erreichen, mußte aber ein ganz besonderes Opfer gebracht
werden, und weder Mutter' noch Tochter zögerten, auch dieses
Allerletzte für den Erfolg zu tun: Prinzessin Maria opferte
also ihre Jungfräulichkeit dem Bischof unter der Bedingung»
daß der Vater des Propheten unverzüglich aus dem Fegefeuer
entlassen und der Erfüllung der Prophezeiung von Peters Tode
kein Hindernis mehr bereitet würde. Und das Vertrauen
der beiden Frauen in die Weissagungen des listigen und
wollüstigen Bischofs wurde erst erschüttert, als Zar Peter trotz*
dem nicht nur am Leben blieb, sondern im Zorn über die
Verschwörung seiner Familie aus erster Ehe seinen Sohn Alexej
umbrachte und Eudoxia und Maria derartig einsperren ließ,
daß sie nie mehr dem Kerker entschlüpfen konnten.
Die Regentin Anna von Braunschweig, die nach dem Tode
der Zarin Anna Iwanowna den Thron der Romanows für das
Wickelkind Iwan behütete, ahnte, daß die Großfürstin Elisabeth
Petrowna ihr die Herrschaft entreißen würde, und zwar aus fol-
gendem Umstände 1): „Als Sie zur Zeit ihrer Regentschaft bey
' der Prinzeßin Elisabeth einen Besuch ablegte, fiel sie vor den
Gründlich untersuchte tind entdeckte Ursachen der Regieruogtver«
äiideiTiiigen in. dem Hause Romanow. Büschings Magazia IS. Ji.
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— 61 —
Füssen derselben durch einen Fehltritt zur Erde. Das machte
einen solchen Eindruck auf ihr Gemüth, daß sie zu ihren
Hofdamen sagte, ich werde mich noch vor der Prinzeßin Elisa-
beth demüthigen müssen."
Kaiser Xikolaj der Erste hatte sich dem Aberglauben,
namentlich Prophezeiungen, ganz ausgeliefert. Zu dem Kriege
mit den Westmächten trieb ihn eine Wahrsagung von dem
unausbleiblichen Ende der Türkei. Von dieser Prophezeiung
war schon im Jahre 1848 in einem Buche, auf Grund einer
angeblichen alten Sage die Rede^): „im Jahre 1270 der He
gira, das ist 1853 soll die t'ntschcidende Stunde des türkischen
Reiches eintreten." Und daß der l'nterj^Mng der Türkei nicht
anders enden konnte, als nüt der Eroberung durch Rußland,
das hatte auch eine Prophezeiung schon längst verkündet.
Peter der Grof5e verurteilte den Aberglauben-), aber er
hatte trotzdem die Gewohnheit, seine Träume genau zu be-
achten, sie sorgfältig zu notieren, und aus ihnen Schlüsse
zu ziehen. Der russische Historiker Ssemcwskij hat in einem
seiner Bücher über die Zeit Peters des Großen einen besonderen
Absclnntt den Träumen Peters einräumen können^), und dabei
sind hier nur die Traume aus fünf Jahren aufgezählt. In
seinem Tagebuch verzeichnet Peter fast täglich, was ihm im
Traume erschien: bald berichtet er von einem Schilfe, bald
\un einer Schlangi. , die mit t-uieni Löwen kämpft; oder von der
Sonne, welche die Wolken durchbricht. Diese Träume beun-
ruhigen auch die fremden Diplomaten. Der englische Gesandte
Whitworth findet sie für wichtig genug, um sich mit ihnen
in seinen Depeschen speziell zu beschäftigen. So meldet er
am 25. Man 17 12 seiner Regierung, daß Peter in einem Traume
einem Tiger eine siegreiche Schlacht geliefert und daß dies
den Zaren in seinen kriegerischen Plänen bestärkt habe>]
Nioolans der Ente gegenüber der öffeotUcheo Meinmig von Enropti.
Wehiiar 164t. S. 69.
*) Waliszewski, Pierre Ic Grand 153.
') M. II. CoMOBCKift, U'K'pKH if pa.-wua:»!.! ii.n. iiyccKoft H<-r«>]<iii XVIII b.
Cj» n II ,i+»To! 1700 — 1725. C.-IIeTt'iJÖypn. 1884: llerpTb Bo-thkiö in. ero cunii.
Vh I/14 — 1719 (i\ crp, 271—276.
Aiicb beim Zaren Pank haben die Tr&atne eine große RoUe gespielt;
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^ 62 —
Eine besondere IV-deutuiig im Aborplauben der Russen,
wie der nichtrussischeii \'olker in Rußland, mui5 dem Tier-
orakel und den Orakeltieren zugeschrieben werden*): Wie
bei anderen Völkern stein die Schlange^) in erster Reihe unter
allen Tieren, welche hier in Betracht kommen. In Gestalt einer
Schlange erscheinen ( ieister, besonders Kranklu iisdämonen.
Bekommt ein I'ferd die Darniseuche. so hat es den Teufel
verschluckt, der sich als Sthlaiige im Gras versteckte. Der
Hufschmied besitzt geheime magische Mittel zur Heilung des
vom Dämon geplagten Tieres. Tauben werden vom Volke
nicht gegessen ; sie sind heilig, weil sich der Heilige Ge:;-i m
dieser Gestalt offenbarte.') Einer gewissen Heiligkeit, min-
destens einer besonderen Schonung erfreuen sich in vielen
russischen Häusern jene Insekten, die man dort Prussaki,
Preußen nennt, während sie in Preußen: Russen, anderwärts
auch Schwaben heißen. Diese Tierchen gelten als die guten
Geister des häuslichen Herdes. Werden diese Herdgeister aber
auch dem dickhäutigen Russen lästig, so tötet er sie nicht,
sondern setit sie dem Frost aus, damit die Natur sie um-
bringe. Aus ähnlichen Gründen halten die Kalmücken das
Läusetöten für abscheulich, und sie gehen mit diesen Sechs-
füßlem äußerst zart um; wollen sie sie doch los werden, so
legen sie die von den Tieren bewohnten Kleidungsstücke in
die kalte Luft.
über einen Traum Pauls in der Nacht seiner Thronbesteigung l)erichtct Sanglen
in seineu Memoiren (in der Sammlung russischer Deukwürdigkeiteu, Stutt-
gart) S. 31.
1) Über Tieraberf^nboi im OrUtnt bab« idi hl meweiD Werke ..Ifediin«
Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei" ein großes Kapitel abge-
handelt; dort sind ausführliche Parallelen aus anderen Ländern und von
anderen Völkern herangezogen, so daQ ich hier auf tieferes Eingehen in den
Gegenstand venidtiteii kaim.
*) SadbniBfe, aoNaniButt 6ifn> iinpett, crp. 702. — Ober die Scfalaoge
bei den Südslawen vgl. Dr. Friedrich S. Krauß, Sreca. Wien 1886. S. 21 — 34»
3) Von den Esthen und Letten erzählt Hiärn, Est-, Lyf- und Lettlän-
dischc Geschichte, S. 37: ..Das Werthhalten der Schlangen bey diesen Völckem
ist noch unverloschen, welche Schlangen bey ihnen ofit so zahm sind, daß
auch die Kinder mit ihnen aus einem lfikh>Geichiire Bpeiteo. üm aol aeltan
sehen, daß ein Ebit oder Lette eine Schlange töte."
«) Gdieimniue vom RulUand I 316.
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— 63 —
Aus dem \'ogelfluge, namentlich dem Fluge der
Krähen, schließen die Russen auf Ereignisse der Zukunft. —
Dem bösen Blick, an den auch in zivilisierten Ländern ge-
glaubt wird, schreibt man natürlich in Rußland alles mögliche
Übel zu: Erkrankungen einzelner Menschen, Epidemien, Un-
fälle. Teufelbeschwöningcn und Gebete sind Mittel, die Folgen
des bösen Blickes zu bekämpfen. Wöchnerinnen und Neu-
geborene haben am meisten von ihm zu befürchten. Wenn
die Bauern zu bemerken glauben, daß die Farbe ihrer Tiere
nicht gleichmäßig K uchtet, so ist der böse Blick daran schuld,
die Tiere sind verhext und müssen sofort verkauft werden,
da sie sonst der ganzen Herde rngluck bringen. Den i^rophe-
zciungen der Kartenaufschlägerinncn legen Mäinier wie Frauen
aller Gesellschaftsklassen höclisten Wert bei. Zar Nikolaj I.
ließ sich in kritischen Situationen immer Karten aufschlagen.
Dem Feuer ist im Aberglauben ein hervorragender Platz ein-
geräumt. Man darf kern Licht an einem Wachsstock an-
zünden, sondern muß zuerst ein Stück Holz am Wachsstock
und dann niu dem breimendcii Holze das Licht anzünden. 2)
Das Jahr und seine Tage im ru.ssischcii Aberglauben würde
eine spezielle Studie verdienen. Von Neujahr bis Silvester
ist kein Festtag, an dem nicht etwas Besonderes zu befürchten
oder zu erwaTtm wäie^) : Am Weihnachtsabend können junge
Mädchen auf folgende Weise erfahren, ob sie bald einen Mann
bekommen werden. Sie machen aus Fruchtkömem einen Kreis
und stellen in die Mitte desselben einen Hahn, der seit vier-
undzwamig Stunden gefastet hat. Der Hahn stürzt auf die
Körner zu; das Mädchen, das sich an der Stelle befindet,
zu welcher der Hahn zuerst läuft, die heiratet sicher im kom-
1) Dopre de St. Maure. L'tlermite eo Rustüc, ou observatioiis sur les
«Mwus et nsaces ninw aa comauBnMiiMmt du XIX« «itel«. Paris ( j Hde.)
1 167.
») Sammlung merkw. Anekdoten das Kulii^he Reich betr. 1793. I S. 105.
5) Ich erwähne nur einige wenige charakteristische Momente und ver-
weilte im ubngeu auf die uacUIulgeuUen interessanten Quellenwerke: Pyi-cKift
iiapo,Ti.. Kro oCu'iau, üOpjwu, DpeAani«, cyeuiipifl 11 uoaaia. CoOp. M. !ia6uaM«
mun. MocKM 188a (Gr. 8*. 607 Seiten.) — Fyeaäe mfoa/m» aatoBopu,
me^ii^ cTevftpui b optvipeacTAmi. Mockm 1901. (Gr. 8*. 63 Sdten.)
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— 64 —
mcnden Jahre. Man kann aber noch mehr erfahren. Man
gibt dem Hahn, nachdem er gefressen hat, zu trinken; ver-
rät er auffallend großen Durst, so wird der Mann, der dem
Mädchen bestimmt ist, ein Trunkenbold sein. Die Donkosak^
zünden am Weihnachtsabend mit dem trockenen Dünger, der
dort das Heizmaterial bildet, auf ihren Höfen ein großes Feuer
an; damit verhüten sie, daß die Verstorbenen im Jenseits
unter der Kälte leiden.
Dem i6. Januar legen die Bauern im Gouvernement
Kostroma eine besondere Bedeutung für das Winterfuttcr bei.i)
Der 19 Januar, der Tag des heiligen Makarij, entscheidet über
das zukünftige Wetter; ist dieser Tag klar und sonnig, so
gibt es einen frühen Lenz. Die Bauern im ( iouvernement
Ssaratow sagen : wenn am 20. Januar von früh bis abends
Schneegestöber herrscht, so wird die Butterwoche verschneit
sein; wenn am 20. Januar bloß der halbe Tag verschneit
ist, der andere halbe Tag jedoch klaren Himmel zeigt, so
wird der Lenz früh ins Land kommen. 2) Am 24. Januar be-
trachten die Bauern sorgfältig die Spitzen des Getreides. Sind
diese gerade aufstrebend, so ist man überzeugt, daß die Ernte
mager und das Brot teuer sein werde; neigen sich die Spitzen,
so gibt es eine fette Ernte. Auch sagt man vom 24. Januar:
,,\Vie dieser Tag des Akßinj ist, so wird das Frühjahr sein."*)
Wichtige Tage sind ferner; Der 9. Februar, der IG. Februar
und namentlich der 1 1. Februar, der Tag des heiligen Wlaßj.*)
Am II. Februar soll die Winterkälte gebrochen werden. In
Tambow fürchten sich die Bauern an diesem 1 agc zu arbeiten,
da sie der heilige Wlaßj für die Verletzung seines Namens-
tages mit einer Viehseuche bestrafen würde. In Zeiten der
Viehseuche ruft man den heiligen Wlaßj mit diesen Worten
an : „Heiliger Wlaßj, gib Glück zu fetten Ochsen, dicken Bullen,
daß sie zum Tore hinaus gehen und spielen und auf dem
1) CapaTuBcidfl xucamiKii 1904. % 13.
') Auch bei Italienern und Deutschen wird dem 20. Januar eine ähn-
lidu' Ik'deutiing für das 1- rühjabxswetter beigelegt, besondej:» im Neapolita-
nischen (St. Sebastianstag).
^) CapaTOBCKitt weBmiirb 1904, .V 19.
*) Blastm.
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Russischer Sbitenver- Milchweib.
Laternenputzer. ]<äufer.
- G5 —
Felde springen." Der Glaube an den heiligen Wlaßj ist am
stärksten im schwarzerdigen Rußland. Hier findet man sein
Bild in allen Hütten und liuden. Wenn man am ersten Tag
das Vieh auf die Weide treibt, sowie in Zeiten von Epidemien
versäumt man nicht die Herden mit einem Bilde des Heiligen
zu segnen, um sie vor allen Gefahren zu schützen. ,,Der
Wlaßjtag ist der Kühe Feiertag," sagt ein Sprichwort; und
ein anderes lautet : „Wlaßj betrügt nicht, er behütet vor jeder
Gefahr '* Der heilige Wlaßj ist an die Stelle des alten sla-
wischen Meidengottes Weloß i^etreten, und daher haben alle
mit diesem Heiligen zusammenhängenden Gebräuche einen
stark heidiHschen Ein'^* hla.L^-.
An einem Fastentage soll man keinen Kohl pflanzen, satten
die Donkosaken; bei ihnen darf man auch ani Gründonnerstag
kein Gemüse pflanzen, da son^t ^< hadliche Insekten die Pflan
zen vernichten. In der Buttorwo* he. wahrend des russischen
Faschings, spinnen die K()>ak( nfrauen krine Wolle; sonst er-
krankt das Vieh und Kä^e und Liuttcr werden voller Würmer.
Von den iat^en der Woche sind wenigstens drei von
großen Gefahren umlauert : der Montag, der Donnerstag und
der Freitag. Am Montag unternimmt man nichts Entschei-
dendes, tritt man namentlich keine Reise an. Die Donkosaken
heiligen den Montag in ihrer Weise, da sie an diesem Tage
niemals die Wäsche wechseln; sie behaupten, daß sich Wunden
auf dem Leibe bilden müßten, wenn sie ihren Aberglauben
verletzten. Am Donnerstag salzt man kein Fett, es würde
durch Würmer verdorben werden. Am Freitag darf man be-
stimmte Arbeiten nicht verrichten, namentlich ist den Frauen
das Spinnen verboten. Gauner machten sich diesen Aber-
glauben einmal zunutze^) : In einem Dorfe des Kreises Ssoßniz
im Kijcwschen Gouvernement kümmerten sich mehrere Frauen
nicht um das Spinnverbot am Freitag. Da erschien in der
Abendstunde in Häusern, wo Frauen allein fleißig an der
Arbeit sich befanden, in phantastischem Gewände ein Schauer-
wesen, klagte, daß es der Freitag sei. daß man ihm keine Ruhe
>) Erzählt vom lÜsimUt Rpail. 19. okt. — YfgL Löwenstimm a. a. O.
S. 161.
Stern, Geschieht« der AffenlL Sittlichkeit in Ru&Und. &
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~ 66 -
an seinr-ni Tage gönne, zeigte Hlut auf seiner Brust aus den
Wunden seiner Schmerzen; und während den armen Frauen
vor Schrecken alle Sinne schwanden, }jlündcitc ein Spießgeselle
des heiligen Freitag die Zimmer und Vorratskammern.
Gruße Angst empfindet man vor Mißgeburten. Sie werden
als Anzeichen schweren Unheils betrachtet. Unter den Wun-
dern, die die rushibLiicn Chronisten den Kriegen, Epidemien
und Thronumwälzungen vorausgehen lassen , werden immer
Mißgeburten erwähnt. Als unheilbringende Geschöpfe gehen
1) Karamsin, deutsche Übersetzung II 57 (französ. übcrsetzong II 87):
Die Chronik vom Jahre 1064 erzählt, daß der Himmel die Hrnnc^sale damals
durch schreckliche Wunderdinge vorhergesagt habe. Der Fiuü W oichow floß
fOnf Tage lang aofwftrts; du blutiger Stern (nach Nestor im Jahre 1064; wahr-
sdieiiilach war et der KodMt tpom Jahre 1066^ deeaen di» ComMognphie S. 373
erwähnt) glühte eine ganze Woche hindurch im Westen; die Sonne verlor
ihren Schein und ging ohne Strahlen wie der Mond auf; die Kijewschen Fischer
fingen in ihren Netzen eine tote, in den Dnjcpr geworfene wunderbare Miß-
geburt. — Der Chrcmist Nestor fügte der Aufzählung dieser Wunder eine die
damaligen Zustände Ulustrierende Strafrede hinsu: „Der Himmel ist gerecht
und straft die Russen wegen ihrer Gottloeigkeit. Wir nennen ans Christen,
aber leben wie Heiden. Die Tempel sind leer, aber auf den Erlustigungsplätzea
drängt sich das Volk. In den Tempeln ist es still, aber in den Häusern, da
fehlt es nicht an Trompetern,. GusU und PossenreiOem." — Auch im Jahre
1605 galten Epidemie, Hnngmnot und Verwirrung als himmlische Strafen für
die Ehrlosigkeit der Russen, für ihre Unsitthchkcit, für die Verkommenheit
des Adels und die Liederlichkeit der Geistlichkeit. Gottes Zorn zeigte sich
in Wundem: Nicht selten, erzählen die Chronisten, sah man zwei und drei
Monde, zwei und drei Sonnen zugleich aufgehen. Feuersäulen brannten Nachts
am Firmament, in blitsendem Scheine eine IMegssehlacht vorstellend nnd
blutigen Schebk über die Erde «eriend. Von Stürmen uiul Wirbelwinden
stürzten die Türme der Städte und Kirchen ein. Die Fische in den Flüssen
und das Wildprct in den Wäldern verschwanden. Die Speisen, die nmn genoß,
verloren allen Geschmack. Heißhungrige Hunde und Wölfe liefen herden-
weise herum, Irafien Menschen oder einander. Nie gesehene Tiere nnd V6gd
eiachienen. Adler schwebten über Maelcau. In den Straßen, bei dem Zaren-
palastc selbst fing man schwarze Füchse mit den Händen. Eiii weber Greb,
den Zar Boriß vor Kurzem aus Deutschland berufen hatte, prophezeite dem
Reiche große Gefahr. Die Angst stieg, als im Sommer 1604 am hellen Mittag
ein Komet am Himmel erschien. (Nach Ktr saigte ei^ diiacr Komet 1604
am zweiten Sonntag nach Pfingsten am bellen Tage. Andere sagen: er sei
am 3. Oktober erschicnon. Vgl. Wagners Geschichte des russischen Reiches,
Buch 43. S. 71: und Kacamsin, deutsche Ausgabe Band X, Anmerkung 91.)
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-- 67 —
dem Volke nicht bloß abscheulich verunstaltete krüppelhafte
Wesen, sondern auch Blinde, Stumme, selbst Schwerhörige.
Gegen solche Menschen verbindet sich der Aberglaube häufig
mit barbarischer Grausamkeit zu den schwersten Verbrechen,
und vergebens droht das Strafgesetzbuch i) an: „Wer in dem
Falle, daß von irgend einem Weibe ein Säugling von monströsem
Aussehen oder sogar von nicht menschlicher Gestalt geboren
wird, diese Mißgeburt, statt dn\ on bei der zuständigen Obrig*
keit die Anzeige zu machen, des Lebens beraubt, wird für dieses
aus Unwissenheit oder Aberglauben verübte Attentat auf das
Leben eines Wesens, das ion einem Menschen geboren ist
und folglich auch eine Seele hat, bestraft." Das Volk sieht
die Verunstaltung eines Säuglings als ein Werk des Teufels
und als eine Strafe Gottes an.-) Rostow im Gouvrrnement
Jaroslaw war in früheren Zeiten eine Fabrikstadt für Miß-
geburten. Was die Natur nicht Hefern wollte, machten die
Menschen selbst, indem sie zahllosen Kindern Verstümmelun-
gen beibrachten, um sie zu Scheusalen zu gestalten. Solche
MilSges-taltcn Rostowschcr Arbeit^) wurden nach dem ganzen
Reiche versc hickt, namentlich nach Moskau, wo sie den Hexen
oder Zauberern als Werkzeuge dienten, um die abergläubi-
schen Leute zu narren.^) Die Leute, die das Unglück haben,
durch ihre Mißgestalt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
sind heute nicht minder als in der Vergangenheit den
schwersten Gefahren ausgesetzt, wenn sie vom Volke zufällig
Das größte Entsetzen erregte aber wieder ..eine Menge von Mißgeburten, die
von Wdbera aod Tieren** cur Welt gebracht wuiden. Vgl. Kattiii$i]|. deutsdie
Übenetsttog X 99— too (frans. Vhen. XI 156).
^) y.iuvKeuic o luiKiiaaiiiurb. 1469.
*) .\uch die Jakuten glauben, daß Mißgeburten Werke der unreinen
Kraft, wu-kliche böse Geisiter oder Teufel sind, und man meint dies sowohl
von Menschen als von Tieren.
«) Wie fnllier Roattm genieOt jetrt das Dorf KljutachitM^ im Wanil-
muecben Knise Berüluntheit ab Fabrikstadt von Zauberern nnd Wunder*
leuten. Die Zauberkunst ht hier erblich. Mnn findet da alles, was das Herz
begehrt: Leute, die wahrsagen, Krämpfe hcikn, zaubern, entzaubern, be-
sprechen, verderben und vergiften können. Vgl. Kölnische Zeitung 1900,
Nr. 1016b
daßbunan, Fyocnä mpox^t 399> 14: su Kaoln».
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— 68 —
mit irgend einem beängstigenden Ereignisse in Verbindung
gebracht werden. Im Jahre 1878 herrschte im Kreise üstj
Ssyssolj des Gouvernements Wologda eine Viehseuche, und
im Volke entstand das Gerücht, diese Seuche wäre durch
stumme Menschen mit Hilfe von geheimnisvollen Gewürzen
erzeugt worden.*) Kam da unglückseligcrweise in das Dort
Taratschewskaja ein armer Bettler, ein stummer Greis, mit
einem vSäckchen über der St hulter. Die Bauern fielen sofort
über ihn her und erschlugen ihn mit Stangen unter den Rufen:
„Der Cholera auch einen ( huleralod!"
Im letzterzählten Falle sahen wir, wie di r Aberglaube zum
brutalsten Verbrechen wird und vor keinem i\Iord<^ zurück-
schreckt. Das Furchtbarste und am schwersten Betlrut kendc
aber ist. daß diese Verbrechen nicht vereinzelt vorkommen,
sondern eine gewöhnliche F.rsrheinung bilden, und es ist nicht
übertrieben, wenn 11 im innimtnt. daß keine Woche vergeht,
da nicht in irgend cmem Teile Rußlands ein solches Ver-
brechen aus abergläubischen Moti\cn begangen wird. Man
kann daher tatsächlich von einer Fortdauer der Menschen-
opferung in Rußland sprechen, über die wir aus früheren
Zeiten sahlreiclus ^richte überliefert erhalten haben und von
der auch noch lebendige Traditionen erzählen. Während
meines Aufenthaltes in Nischny-Nowgorod hörte ich dort fol-
gende Sage^): „Als der Erbauer des Nischny-Nowgoroder
Schwcngelturmes^) den Grund zu diesem Bauwerke legen
wollte, ließ man vor allem eine Grube für das Bauopfer graben.
Wer aber sollte das Opfer sein? Die Arbeiter beschlossen:
das erste menschliche Wesen, das sich der Grube nähern
würde. Sie warteten und lauerten. Plötzlich kam ein liebliches
Mädchen daher» ein blutjunges Kind mit Wangen wie Kirschen
und einem Schwanenhals, und blond War ihr Haar und blau
waren ihre Augen. Auf der Schulter aber ruhte am Schwengel
1) BeccHBi, Ctoepititt »fM'ninn» 1892. 9. — VgL Lawenstimm ft«a,0.
S. 53.
*) Diese Sage wird aucii kurz erwähnt m: lI.i.iii)<T})ii]KiitiU{uull cuyTUfiH'i>
00 Boirb, CooTOB. 0. Kmtamipcidttf Kasuok 1S84, crp. 41. — Bernhftrd Stern,
An der Wolga. Berlin 1897. S. 36—37.
*) Kopovuf.ionaii (iaimtii.
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- 69 —
der Wassereimer. Lustig singend wanderte die Kleine zum
Brunnen. Da sah sie die aufgeschütteten Erdhaufen, sah sie
die Balken und Steine für den Tunn, sah sie die Grube.
Ei. ei, was geschieht da? dachte sie in ihrem Sinn. Und die
böse weibHche Neugier trieb sie zu schauen - aber schon er-
griffen si<: fcstr Hände, schon laj? sie tief unten. Wohl bat
sie \m<l flehte um Rettung und (Inade, aber ihre glockenhelle
Summe erstarb bakl itn dumpfen Ck-töse der wuchtigen Erd-
schollen, die auf sie niederfielen. Die Arbeiter nannten den
Turm den .Sehwengelturm zur Erinnerung an das Opfer, das
den Schwengel trug^.*' — Bei den Esthen gab es ebenfalls
Men-'C fienoj)f( rungcMi lic\ 'Iliomas Hiärn ^) lesen wir folgen-
de:> ; ,,\'()n der ühsten alten Religion fmdet man weiter nichts
beschrieben, als daß sie manchcrlrv abscheuliche Abgutterey
grübet und getrieben haben, die Sonne, den Mond, Drachen,
Sr hl.mgen und andere unreine Tiere, ingleichen ijauiiie und
1 lainen angebetet und heilig gehalten haben, denen sie, wie
Adamus Bremensis berichtet, Menschen geopfert haben, welche
sie von den Kauffleuten oder vielmehr See-Räubern dazu ge-
kaufft. Solche Menschen haben kein Mangel oder Gebrechen
an dem ganzen Leibe haben müssen. Der Zauberey und den
Wahrsagungen sind sie sehr zugethan gewesen." — Im Po*
schechonschen Kreise im Gouvernement Jaroslaw hört man
noch heute die Erzählung, daß dort die Müller früherer Zeiten,
um den Wassergeist bei guter Laune zu erhalten, verspätete
Fußwanderer abfingen und im Mühlenteich ersäuften.') Ich
brauche wohl nicht ausführlicher davon zu reden, daß ähn-
liche Gebräuche auch in außerrussischen Ländern zu finden
waren, und erinnere bloß an die Einmauerung eines Säug-
lings in dem Brückenfundament im bayerischen GöUschtal oder
an die rührende Sage vom Thüringer Schlosse Liel^cnstein.')
M Ehst-, Lyf- und Lettlnndische Geschichte. S. 27.
•) I^")wcustimm a. a. O. S. :6.
') Vpl. Anr!rec. l'.thiiographistiu r.ir.iUclen S. iS- J l-i{>pt'rt.
CtimtcQtum, Vüik:sgluube und V'olk»t>raucb. Berlin 1882, 457 — 460. — Lieb-
racht. Zar Volksknnde. HeilbirODii 1879. 3B4 — 296. — Lippert. Aligeraeiae
Ccidiidite des Friesterthmiu. Beriitt iM^. II 585, 589. — Lippert, Die Rd^
giogen der europAtadien Kwlturvöiker. der Litauer, Slaven. Germanen, Griechen
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— 70 — .
Für Rußland aber hat das Thema leider noch immer nicht
die Aktualität verloren, und Mord zur Gewinnung eines Talis-
mans beschäftigt fortdauernd die- russischen Gerichte. Wie
vieles aber kommt gar nicht nn Kenntnis der breiteren Öffent-
lichkeit in diesem ungeheueren, von Unordnung und Sitten-
losigkeit zerrissenen Reiche! — Von Verbrechen, die mit Dieb-
stahlsaberglauben und dem Aberglauben in Zeiten von Epide-
mien zusammenhängen, werde ich in den entsprechenden
Kapiteln noch viele zu verzeichnen haben. Hier will ich nur
noch der verbrecherischen oder schamlosen Mittel Erwähnung
tun, die gebraucht werden, um wirkungsvolle Talismane herbei-
zuschaffen :
Im Dorfe Fokin im Wassiljssurschcn Kreise des Gouver-
nements Nischny -Nowgorod wurde ein Bauer ergriffen, als
er einer schlafenden Frau eine Zehe abschmtt. Die Unter-
suchung brachte zutage, daß dieser Bauer sich durch diese
Zehe Zauberkraft verschaffen wollte, und man erftihTj daß
im ganzen genannten Gouvernement unter den Bauern der
Glaube verbreitet ist: derjenige, der ein Zauberer werden will,
erreicht sein Ziel, wenn es ihm gelingt, von dem rechten Fuße
einer verheirateten Frau eine Zehe abzutrennen, dieser Talis-
man verleiht die gewünschte Zauberkraft. — Im Dorfe Wys-
sokqiiz im Rajewschen Kreise des Gouvernements Warschau
und Römer, in ihrem geschichtlichen Ursprünge Berlin if?8i. S. 13 uiui ^7
— Über ,,da«! Bauopler bei den Südslaven" hat Dr. Friedrich S. KrauO eine
überaus interessante Studie in den Mitt. der AnthropoL Gesellschaft in Wien
Bd. XVII 1887 veröffentlicht. (Als Sktpamtabdrock Wien 1887 Holder.) ^
KnnB, Volkagknbe und fdigiteer Bnittch der Sfidslawen, Münster i. W. 1890.
S. 158
1) Es gibt natürlich auch unschuldigere und harmlosere ^fittel nnd
Methoden, die wir aber füglich übersehen können, weil sie sich kaum von
den in anderen Ländern übUcfaen unterscbeiden. Vennerken «iU idi jedoch
den wilden Möhn, der ein Mittel rar Behexung iat nnd gleichMitig ein Gegen-
mittel sein kann. Er tut besonders in letztcrem Falle seine Schuldigkeit, wenn
es sich um Vampyre handelt. Stirbt ein Mensch, von dem man glaubt, daß
er ein Vampyr war, so legt man ihm unter den Kopf im Sarge ein Bündelcben
mit Mohn und streut beim BegräbnisM anf dem Wege vom SterbdianM bis
zum Grabe Mohnsamen ans, das verhindert sein Anfstdien ans dem Grabe
find seine Rückkehr ins HauS. ~- Schweift ein Verstorbener umher, so streut
man Mohn um das Haus. VfO er gelebt hat. Vgl. Löwenstinun a. a. O. S. 76.
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— 71 —
fand mau einmal^) eine verstümmelte Fraucnleichc mit heraus-
gerissenem Eingeweide. Drei Bauern wurden als die Leichen-
schänder eruiert. Sie gestanden ihre Tat ein und erklärten
>-ie folgendermaßen: Sie brauchten einen Zahn und eine Leber,
L:ni verschiedene Zaubereien verüben zu können. Wenn man
iianilirli eine Menschenleber auf dem Felde vergräbt, so kre-
pieren alle Herden, die über dieses I (11 gehen; das ist also
ein prächtiges Mittel, sich an seinen !■ finden zu rächen. Der
zu Staub zermalmte Zahn eines toten Menschen ist mit Tabak-
pulver vermischt und als Schnupftabak verwendet ein vor-
zügliches Vergiftungsmittel. Doch wirkt nur eines toten
Mannes Zahn bei dem Attentat gegen einen Mann, während
man für die Vergiftung einer Frau den Zahn einer Frau braucht.
— Stücke von Leichen sind nicht bloß Mittel zur Schädi-
gung, sondern auch unfehlbare Heilmittel: iui Dorfe liobin-
skoje des Kreises von Wjätka sah man 2) das frische Grab eines
Kindes aufgewühlt. Man untersuchte das Grab, holte den
Sarg hsrvor und fand die Leiche des Kindes furchtbar ver-
stümmelt. Der Kircheuwächter bekannte sich als Leichen-
schänder und erklärte sein Verbrechen: er zerschnitt den. Kör-
per, um aus der Leber und anderen Stücken das gercmnene
Blut zu stehlen, das er dann mit Wein als ein Mittel gegen eine
Krankheit genoß. — Eine besondere Wirkung wird den Ge-
schlechtsteilen der Menschen, namentlich dem männlichen
Gliede zugeschrieben: Im Gouvernement Radom im Flecken
Janow entdeckte man einmal') eine abscheuliche Leichenschän-
dung. Die Leichen eines Mannes und einer Frau waren aus
ihren Gräbern herausgerissen und verstümmelt worden. Der
Frauenleiche fehlten Kopf, Hände, Füße und innere Teile,
der Mannesleiche aber waren die Hände, die Füße und die
Geschlechtsteile abgeschnitten. Vier Hirten hatten das Ver-
brechen gemeinsam ausgeführt. Die LeichenteUe wurden ge-
kocht und die so gewonnene Brühe diente zur Besprengimg
1) Im Jahn 1S65.
*) Im Aprü lifu
*) Im Jatam 1862. — Die ktitangdöhrten drei Beispide bei Löweoitiinin
a. «. O. S. ioi>— iit.
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— 72 —
der Schafe: damit war deren gutes Gedeihen gesichert und
die Gefahr einer Ansteckung von ihnen verbannt.
Nur für dm Tod ist kein TaHsman zu finden. i) Ihm
kann niemand entgehen. Zieht er. heiUt es in einem Helden-
liede. seine scharfe Sichel hervor und schneidet dem Menschen
die Adern durch, so sinkt der tapferste Held in den Staub.
Er schenkt nicht eine Stunde, nicht eine Sekunde Frist -
Trotz ihrer fatalistischen Auffassung fürchten die Ru^sen da-
Ende; aber sie haben ni( ht bloß Ansäst vor dem Tode, son
dern audi vor den l oten. Sie turclitt n die Wiederkehr der
Veiblorbcnen und deren Bosheiten. Sie tun daher alles, um
die Seelen der Toten zufrieden/.uslellen. Nac h der Bcerdi
gung findet eine Totenmalil/eii ^tatt ; die Knochen, die hier
übrig bleiben, überlaßt man jedoch nicht den Hunden, sondern
man wirft sie ins Wasser des Flusses, damit die !• i>cbe sie
benagen und zum Danke des loten gedenken. Das Brut, das
bei den Totenmahlzeiten \crzehrt wird, darf nicht geschnitten
werden, das täte den Toten wehe. — Manche glauben auch,
daß die Seele des Toten wochenlang nach dem Tode noch
in der Wohnung, wo er gestorben ist, verbleibe.^) Die Trauer
tragenden Anverwandten werden gemieden wie Parias, nament*
lieh auf Hochzeiten und Geburtstagsfestitchkeiten dürfen sie
sich nicht sehen lassen. Ein Mensch, der bei einer Leiche
oder bei einem Begräbnisse war, muß sich erst förmlich von
dem ihm anhaftenden Totengift ausräuchern oder auslüften.
Pie Donkomken vasnchen aber wcnigstuns den Tod m enuhrccken.
An dea W&nden der Viehstalle befestigen sie Schädel von Ochsen. Kühen und
Schafen, sobald eine Viehseuche droht. Auf diese Weise glauben sie den Tod
abzuschrecken, er müsse sich vor den unheimlichen Schädeln förchten und
weitergehen.
•) Bernhard Stern, l"urst Wladimirs Tafelrunde. .Vltrussischc Helden-
sagen. Berlin 1892. S. 70 — 72: Das Lied vom Tode des Helden Dobrynja.
*) SdKm in früheren Zeiten von Reisenden erwähnter Glaube. So lesen
wir in den Memoires pour ser\-ir ä l'Histoire de l'Enipire Russien sous le Regne
de Pierre le Grand. Pr\r nn .Miiii>tre etranper, !72c. l'u^;. 15^: petit
peuple de Russie croit bonnement, que i'.\mc d un mort reste cncore six se-
maines au mtaie liea, oü eile a qmtt6 son Corps: c'cst pour cette laison que
les Farens ont grand soin d'enoenser le lit durant ce temps Uk, et de faire dire
jonmellement la Messe dans cet endrtrit."
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— 73 —
ehe er daran denken darf, bei einem Russen einzutreten. Der
Zar besonders wird stets vor einer solchen Berührung als
\ or etwas Unheiligem und gefährlich Zauberisch ctii Im hütet.
So berichtet man aus der Zeit des Zaren Michael Feodoro-,
witsch 1) : ,,Es ist der Gebrauch, daß keiner, der bey einer
todten L,eiche gewesen, an Ihro Zar Maj. Hand, oder vor'
dcro klare Augen kommen mag, es muß eine längere Zeit
dazwischen kommen, damit die vom Todten Verunreinigten
auswittern möchten."
Der Glaube, daß die Seelen der \''erstorbenen in ihr ehe-
malige^ Wohnhaus und zu ihrer Familie zu i^esuche kommen, ist
\ornc-hnih(h f^'-i den VVeißru«>seii \ erbreilet. luid hier herrscht,
da man aiunmmt, (1hI> die Seelen bei diesen Besuchen auch der
Nahrung bedürfen, der Gebrauch der Seelenspeisunp.-) Selbst
die Großeltern und die Urahnen, glauben die WeUirussen.
kehren noch immer m das Haus zurück. Namentlich ge-
schieht dies am Tage der Totenfeier, am Dmitrow-Sonnabend
ni Ende Oktober. Manche Hausfrauen stellen, nachdem sie
den l isch rrin gede< kl haben, an diesem Tage volle Schüsseln
\on allem hin, was sie für das Mahl bereitet, und man er
wartet erst, andächtig um den Tisch herumstehend, bis die
Geister sich gesättigt haben, ehe man selbst zugreift. Es soll
Auserwähltc geben, die mit ihren eigenen Augen gesehen
haben, wie die Seelen ihrer verstorbenen Verwandten bei einem
solchen Mahle erschienen und sich den Lebenden gleich an
den Speisen ergötzten. Diese Auserwählten können ihren
Wunsch, die Verstorbenen zu sehen, auch selbst durch ge-
wissenhafte Vorbereitungen zur Erfüllung bringen: wenn es
Männer sind, die dieses seltenen Seherglückes teilhaftig werden
wollen, so müssen sie sich ein ganzes Jahr vorher des Lachens
') Nachricht von Woldemar Christiaii GfiklenlAwe Grafen von Schieß wig-
Hobtda, Sohn des dänischeii Königs Christian des Viertot. von der Christina
Mank. Heise nach Rußlaml. cur Vennäiilung mit des Zaren Michael Fedoro-
witsi h I Dchter Irene. In Büschings Magazin für die neue Historie und Geo-
graphie. X S. 233.
*) Am Ur-QueU. Mooatschrilt für Volkkunde. Herausgegebeu von Fried-
rich Ki»ttfi. VI. Band. 1896. S. 2$ — 27: Seelenspetsung bei den Weiß-
russen von Th. Volkow in Paris.
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— 74 —
vollständig enthalten und dürfen während dieser Zeit nur das
Allcrnotwendigste sprechen; von den Frauen wird viel weniger
verlangt: sie dürfen bloß am Totonfciertage von früh an nichts
sprechen und erst dann den Mund ( i fnc^n, wenn sich die Seelen
wieder von der Mahlzeit entfernt haben. Man erzählt, daß
es tatsächlich eine Frau gegeben habe, die imstande mar,
ein solches Gelübde abzulegen, und sie sprach den ganzen
Vormittag nicht und sah ihre Großeltern, die längst verstorben
waren, wie Lebende jur Tür hereinkommen. In diesem Augen-
blick aber schrie sie vor Freude auf, und im Nu verschwanden
die Gäste aus dem Jenseits. — Ein Mann wollte einmal alle
seine Alten erscheinen sehen und sprach ein ganzes Jahr lang
nur das Notwendigste und lachte nicht ein einziges Mal. Am
Allerseelen-Sonnabend ließ er für die erwarteten Geister Schüs-
seln aufstellen, und richtig sah er sie alle durch den Rauchfang
herabsteigen, den Vater, den Großvater und ITrgroßvater, und
am Tische Platz nehmen. Da l)Hcktc der Hausherr auf und sah
im Rauchfang verspätet auch noch den Onkel anrucken, der
aber stecken bHeb, weil er eine Ef;ge mit Mch schleppte.
Die hatte der '^^nkel bei Lebzeiten gestohlen und zur Strafe
dafür, daß er die Sünde nicht dem Beichtvater eingestanden
hatte, in die andere Welt .mitnehmen müssen. Als der gute
Bauer seinen Onkel in so peinlicher Lage im Rauchfanc: stecken
bleiben sab, lachte er auf, und im Nu verschwanden alle
Geister.
Der (iebrauch der Spelcnspeisung kommt auch bei den
Großrussen vor. Bei den Kleinrussen und in der Ukraine feiert
man das Andenken an die Toten am Thomas Sonnabend nach
Ostern, wobei man aber den loten nichts zu essen gibt,
sondeni nur für den eigenen Magen sorgt,
über die Scelenspeisung bei den Littauem berichtete der
Reisende Johann Arnold Brandt i): „Dannenhero etliche unter
ihnen gar heimlich den 4. Jan. St. N. auf aller Seelentag einen
langen tisch mit ihren gewöhnlichen besten speisen versehen,
in einer verschlossenen stube anzurichten pflegen, sagend in
^) Reisen durch die Marek Brandenburg, Preußen, Churland. Wcsel
1703. S. 81. Zitiert nach \ ülkow im Urquell a. a. O.
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— 76 —
ihren sprach : Wir speisen der Vorehern Seelen. Gehen darauf
hinauss, lassen die speise die nacht über stehen. Morgens
wird die thür wiederumb geöffnet, finden sie nun obgemeldete
speisen ohnverzehret, deuten sie es vor ein sonderbahres glück
und Segen ihren früchten, viehs und dergleichen; wo nicht,
befürchten sie sich hefftig eines künftigen Unglücks, das ihr
vieh, äcker und dergleichen übcrf .ll n werde."
Zum Schlüsse erwähne ich den Gebrauch in Estland und
Lettland, der also beschrieben wird*): „Weil sie zuvor die
Unsterblichkeit der Seelen etlicher maßen geglaubct, und dar-
nach die Catholischt n ihnen die Seel-Messe eingebildet haben,
ist dieses noch bey ihnen im Schwange, daß sie auf aller
Seelen-Tage, die Seelen der Verstorbenen speisen. Dieses ge-
schieht noch bey etlichen sowohl in Ehst- als Lettland dieser
gestalt: Sic heitzen eine Stube oder Badstube an, kehren es
rein, und setzen Speise und Trank auf, der Wirth des Hauses
bleibet alsdann allein darinnen, und hält ihnen die l'eigel
oder Höltzer, so sie anstat der Lichte gebrauchen, nöthiget
die verstorbenen Seelen seiner Litern und Vür-Lhcrn. Ver-
wandten und Kinder, welclie er bey Nahmen nennet, und der-
;^estalt zu Gaste hidet, zum Lssen und Trincken. Wenn er
nun nach ethcher Stunden Verlauff meinet, chiß sie gnug
haben, li.iuet er mit einem Heil auf der Tlmr Schwelle die Pergel
entzwey. und gebietet den Seelen, dieweil sie nun gegessen und
getrunt ken hätten, möchten sie ihres Weges auf der Straßen
und aut dem Wege, nicht a1>er über den Roggen-Acker gehen,
damit sie denselben nicht eintreten und verderben, zumahlen
sie sich einbilden, daß die Seelen, wo sie nicht vergnügt davon
scheiden, ihnen auf ihrrn Feldern Schaden zufügen und die
bcicete Äcker verderben, daß ihnen daraus ein Misswachs ent-
stehe : sind auch bey dieser Meinung, daß so fem der Wirth
oder Leuer-ILilter etwas siehet, daß sich die Seelen einstellen
oder erscheinen, so müsse er gewiß desselbigcn Jahres sterben;
ziehet er aber nichts, so hoffet er noch das Jahr zu überleben."
1) Thomae Hiams Ehst-, Lyf- uud Lcttländi^che Geschichte. S. 37.
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— 76 —
5. Geister, Zauberer und Hexen.
Hausgei<?t, nnmnwoj — Der Geist des Ehebettes und der J\)tenz — limüugs-
gebräuchi.' — Hahn und Katze als Herd- und Hausgeister — Geister des Waldes.
Feldes und Wassers — Polnische Dämonologie — Der Teufel in Rußland —
Zauberer und Hexen — Russiaches Bfld einer Hexe — Der Zauberer- und
Hexenacbivanc — Krankbeitsaiuanberung — Lyncbjnstix an Hexen nnd
Zauberern — Mordlistc — Beispiele euro{>äischer Hexenproiesse neuester Zeit
— Zaubererblut als Hetbnittel — Besessenheit.
„Des Russen träge Phantasie/* schrieb der Arzt Wichel-
hausen ^j, ,,wird am meisten noch durch das Übernatürliche
und Fabelhafte erschüttert. Leicht glaubt er deswegen an
das Daseyn unsichtbarer Mächte, deren Einflüsse ihm uralte
Sagen verkünden und die Furcht ihm mit neuen Farben aus-
mahh."
Dieser Glaube an unreine Kräfte, an gute und böse Geister,
an Dämonen, Hexen und Zauberer ist allgemein; auch die
Geistlichkeit huldigt ihm offenkundig.
Es gibt kaum einen Russen, der nicht aufrichtig an den
Domowoj glauben würde.' Der Domowoj ist der Hausgeist,
der Familiengeist, der Geist des Ehebettes.^) Der Domowoj
ist bei den ehelichen Funktionen stets anwesend, er leitet
die Samentropfen, und nur Jene Akte gedeihen, die er mit
seiner Protektion beglückt und fördert. In Moskau kam eine
Kaufmannsfrau zu einem Arzte und bat um ein Mittel zur
Versöhnung des Domowoj, der sie nicht schwanger werden
ließ, trotzdem sie vor jedem Beischlafe dem Hausgeist ihre
Reverenz gemacht und geräuchert hattc.^) — Bei den Vor-
nehmen hat der Domowoj die Oberaufsicht über das ganze
Haus, über Küche und Keller, bei den Bauern über Stall.
Hütte und Herd.
Wenn ein Haus gebaut werden soll, versäumt es der Bau-
meister nicht, in den vier Ecken des Fundaments Geldstücke
einzumauern als Schutzmittel gegen alle möglichen Unglücks-
1) Gcmählde von Moskwa. 1803. S. 303.
2) Bei rleii Polen heißt der Hausgeist: Gospodartscbek.
^) Wichelhausen, a. a. O. S. 304.
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— 77 —
fälle, die das Haus währeüd des Baues oder in der Zukunft
bedrohen könnten.^) Um den Einsturz des Hauses zu ver-
hüten» ist es notwendig, Salz unter die Türschwellen zu legen.^) -
Im Gouvernement Jaroslaw besteht ein uralter Gebrauch, der
beim Umzug aus einem alten Hause in ein neues stattfindet 9) :
Wenn das neue Haus im Baue beendet und im Innern ein-
gerichtet ist, so wird ein besonders mutiger Mann aus der
Verwandtschaft des Herrn oder aus dem Kreise der Knechte
ausgewählt. Dieser hat eine Nacht allein in dem neuen Hause
zuzubringen. Widerfährt ihm nichts Schlimmes und wird er
auch von keinem bösen Traume gequält, so kann das Haus
von dem Besitzer und seinen Leuten ohne Gefahr bezogen
werden. Am Tage, an dem das Hausgerat aus dem alten
Hause in den neuen Bau gebracht wird, trägt der Hausherr
zuerst das Heiligenbild hinein und hängt es in eint Tu ke. Dar-
auf werden ein Hahn und eine Katze gebracht, die letztere
legt man auf den H< rd. Nach dem Volksglauben vertreibt
der Hahn durch seine Wachsamkeit und sein Krähen die
bösen Geister, während die Katze zum Frieden und zum Be-
hagen beiträgt. Den Domowoj führt man aus dem alten Hause
in das ncu( Heim auf folgende Weise hinüber: Das älteste
weibliche Mitglied der Familie nimmt vom Herde des alten
Hauses einige noch glimmende Kohlen, legt sie in einen zu-
vor nie in Gebrauch gewesenen irdenen Topf und trägt diesen
mit den an den Hausgeist gerichteten Worten: „Bitte, V^äter-
chen, folgen Sie uns in das neue Haust*' in die neue Wohnung,
schüttet dort die Kohlen auf den neuen Herd und zerschlägt
darauf den Topf. Nach also gänzhch beendetem Umzug findet
die Ein^eihungsfeier statt, und zwar durch einen christlichen
Gottesdienst, der sich somit unmittelbar an die heidnischen
Gebräuche anschließt. Stellt sich im Laufe der Zeit heraus,
daß im neuen Hause nachträglich noch eine Tür oder ein
1) Gcheimnme von KuÜl.uifl. I ti"
5) Dupre de St. Maure, Petersbourg, Moscou et les Proviucc$. Paria
iSjOi. 1 167. — Auch die lütea Lappen vecehrten Geister, die unter der Schwelle
de* Zeltea ihren Wohnsits hatten. Roskofi. Religionswaeen der Naturvölker.
Leipzig 18Ö0, S. 59.
«) Globus. Bd. 86. Heft 3. S, $1.
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— 78 —
Fenster ausgebrochen werden muß, so hat dies unter beson-
deren Vorsichtsmaßregeln zu geschehen, da eine am unrechten
Orte oder zu unrechter Zeit durchbrochene Tür viel Unheil
über das Haus bringen könnte. In Dörfern, die in der Nähe
von Wäldern liegen, kommt es häufig vor, daß Spechte in
den frischen Balken des neuen Hauses nach Insekten suchen;
hört man im Hause das Hämmern des Spechtes, so ist man
der festen Überzeugung, daß einem Hausbewohner der Tod
bevorstehe oder daß ein Hausbewohner in nächster Zeit das
Haus werde verlassen müssen.
Außer dem Hausgeiste, der vornehmlich gute Eigenschaf-
ten hat, gibt es im russischen Volksglauben zahlreiche böse
Geister und Unholde. Diese boshaften Geister und Dämone
haßt man, aber man fürchtet sie auch. Sie treiben an verschie-
denen Orten ihr Unwesen und führen je nach ihrem Charakter
und ihren Wohnplätzen ihre besonderen Bezeichnungen. In
den Wäldern hausen die Waldgeister, die Gestnize^), die den
Wanderer auf Irrwege führen; auf den Feldern und Fluren
tummeln sich die Russalki^), und in den Gewässern die Wodc-
niki oder Wassergeister. Die Eltern schrecken ihre Kinder mit
dem Nachtgespenst Buka, das in den Höfen hcrumschleicht
und die kleinen Kinder frißt''); dieser DänKjn hat einen großen
Rachen und eine lange sjMtzige Zunge. In den Ammenmär-
chen spielen sowohl Riesen als Zwerge die Rolle der Dämonen :
der Riese I'ulkan ist eine stehende Figur m diesen Märehen,
v/ährend die Zwerggeister Püsrhiki genannt werden. Es gibt
auch ein Riesengeschlecht, das Woloten heißt. Mit diesem
Namen benannten mehrere slawische Völker die alten Körner^
^) Bocowy b«i den Polen,
*) Bei den Polen sind die Russalki nicht blofi NjrmpheD im GdiOls.
sondern auch \\'assernymphen, die mit Mcn->chen Liebcsverhältniase ankoillrfien,
um sie dann mit Zärtlichkeiten 7u ersticken oder zu ersäufen.
>} Bei den Polen Babok und Kurze pluca geheißen. Auch die polnischen
Mamiine, Boginki, Dscbtuvoicme sind kinderfeindMche Dimfiiw. Man nennt
sie audi die krasnie kobjety» die sdiönen Frauen. Sie sdilnchem sich ans
Bett der Wöchnerinnen und vertauschen die neageboienen Kinder mit Miß-
geburten. Um sich vor ihnen zu schüt7:en, erwarten manche Frauen die Nieder-
kunft nicht in der eigenen, sondern in einer fremden Wohnung.
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~ 79 —
die sie sich wegen der großen Taten nicht anders als von un-
gewöhnlicher Größe denken konnten.
Etwas anders geartet sind einige Geister des polnischen
Volkes.^) Die Wilen, die die Häuser bewohnen, sind furcht-
bar haßlich, hohen Wuchses, bebartet; sie erscheinen und
verschwinden ohne Ursache und ohne Anzeichen; wer ihnen
begegnet, erkrankt sofort. Die Wjeschtsche^) sind Dämone
von menschlicher Abkunft. Kinder, die mit Zähnen auf die
Welt kommen, werden nach dem Tode Wjeschtsche, steigen
allnächtlich aus dem Grabe, klettern auf die Kirchtürme, läuten
die Kirchenglocken und rufen die Namen aller jener, denen
sie den Tod wünschen; wer von diesen Verwünschten seinen
Namen rufen hört, muß sterben. Auch die Zwora-Dämonen
sind von menschlicher Abkunft; Kinder, die unregelrecht ge-
tauft und nach dem Tode Blutsauger wurden. Ihnen ver-
wandt sind die Upjur'} oder Vampyre, die aber weit grau-
samer sind, und den Menschen, über den sie herfallen, sofort
töten.
Der Teufel ist für die Russen und Polen nicht bloß ein
Wesen der Hölle, sondern wandelt auch sichtbar auf Erden.
Gauner machten sich diesen Glauben ihren Zwecken dienstbar
in ähnlicher Weise wie wir es im vorigen Kapitel bei der Er-
wähnung des PVeitag gesehen haben. Ich erinnere mich,
daß in meiner Vaterstadt Riga ein als Teufel verkleideter
Räuber wochenlang die ganze Bevölkerung in Angst und
Schrecken versetzte und überall, wo er spät Abends plötzlich
erschien, erhielt was er verlangte. Ein zwölfjähriger Knabe
allein hatte den Mut, ein Gewehr seines Vaters zu ergreifen
und mit einem glücklichen Schusse den Teufel zu Boden zu
strecken; dem jugendlichen Teufelstöter, der nicht bloß einem
Räuber ein verdientes Ende bereitet, sondern auch einem feigen
Aberglauben den Todesstoß versetzt hatte, wurde vom Zaren
eine Tapferkeitsmedaille verliehen.
1) V. Begiel, La d^monologic du pcuple polonais. Revue de l'histoire
dw Reli^iofis. Paris 190a. Tome XLV^2, pag. 158—170. VgL diese Arbeit
auch bttfi^Hch der früher erwähnten polnischen Dämooen-NameD.
*) FDlniKh feechrieben: Wieazczy.
*) PblniKh gecduiebca: Upiör.
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^ 80 —
Am liebsten versteckt sich der Teufel hinter Menschen,
die mit ihm ein Bündnis schließen und als Zauberer oder
Hexen seine Werke verrichten; dafür dient er ihren materiellen
Wünschen. In Krynice im Gouvernement Lublin') hatte ein
Bauer im Jahre 1890 dem Teufel seine Seele \ erschrieben :
zum Danke dafür wohnte der Satan beim Bauer m einem Bienen-
korbe, und ohne daß der Mann sich darum zu kümmern
brauchte, fülhen sich für ihn zahllose Bienenkörbe, so daß e r
7.U großem Reichtum gehmgte. In der Stadt Torshok im (ioii-
vernement Tvver hatte ein gewisser Nikifor Dorofejew vom
Teufel die Fähigkeit erhalten, Menschen durch seinen bloßen
Atem ganz nach seinem Belieben zu behexen oder 7.u heilen.
Daß die Russen schon in den frühesten Zeiten den Zaubv
rem und Hexen unbedingten Glauben schenkten, ist bekaniu.
Großfürst Oleg liieß wegen seiner übernatürlich großen .Siegi'
der Zauberer, und er starb den Tod, den ilmi ein Zauberer
vorhergesagt hatte.-) Nicht bloß in den Märchen, sondern
auch in den Heldensagen wimmelt es vuu Hexen und Zaube-
rern. In den Bylinen, die vom Fürsten Wladimir und seiner
Tafelrunde er/iihlen'^). spielt eine große Rolle die Zauberin
Marin ka, eine junge schöne Witwe, weit he die üble Gewohn
heit hatte, ihre Anbeter in Ochsen zu verwandeln. Auch dem
Helden Dobrynja Nikiiiisrh erging es so. als er ihr Herz
stürmen wollte. Sie trat ihm zürnend entgegen, sprach die
gehcnnnisvollen Worte, und der Held \ c^rwandelte sieh in einen
brüllenden Ochsen. \'om Himmel war es bestimmt, daß die
schöne Zauberin, die den Menschen \ erachtcte, .^it h in den
Ochsen \ erlieben mußte. Aber Satan hatte ihr bloß die Kraft
gegeben, Zauber zu schallen, nicht auch Zauber zu lösen.
Und vcrzweiielt flog die Zauberin als Rabe verwandelt auf
die grünen Kijewbfluren. um sich auf des geliebten Ochsen
Nacken zu setzen. Endlich entsagte sie ilucn Satanskünsten,
verbrannte alle Kräuti r. vernichtete alle Triinkr, und im Augen
blick wurde Dobrynja vom Ochsen wieder zum Menschen.
J) Bi Kitl, L.a d6monoloi,'ie du i)euple polooais. a. a. O.
8) Clironique de Nestor. II l8o.
*) Bernhard Stern. Fürst Wladimirs Tafelrunde. S. 47.
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~ 81 —
die Rückkehr zum Gottesglauben brachte der Marinka den
geliebten Helden. In den Heldenliedern erscheintauch schon
die Jaga Baba, eine Hexe, die in einem Mörser wohnt und
in ihm herumfährt. In Kleinrußland stellt man sich heute
eine Hexe fast immer als eine alte Frau vor; auffallend Lang-
lebige sind verdächtig, weil die Kunst der Verlängerung des
Lebens ein Hauptgeheimnis der Zauberei ist. Im (Gouvernement
Wilna glaubt das Volk, daß eine Frau, welche am Vorabend des
Iwan Kupilo*) bei einem Nachbarn etwas erbitten will, eine
Hexe sein müsse; sicher ist dies der Fall, wenn die Frau
Zündhölzchen oder Feuer ausleihen wili.^) Das meist verbreitete
russische Bild, das man sich von einer Hexe macht, ist dieses :
Eine bejahrte Frau, hoch, mager, knöcherig, mit einem kleinen
Buckel, mit zerzausten unter dem Kopftuche hfrvordrängenden
Haaren, roten Augen, zornigem Blicke, Ijicaem Munde, vor-
springendem Kinn. Nach kleinrussischer Ansicht hat die Hexe
immer einen kleinen Schweif und einen schwarzen Streifen
auf dem Rücken. Im Jahre 1875 wollten die Bauern des kau-
kasischen Dorfes Poljessje ihre Weiber prüfen, um zu erfahren,
welche von ihnen Hexerei treibe. Sie baten den Gutsbesitzer
um die Erlaubnis, die Frauen im Flusse zu baden ; diejenige,
die nicht untersinke, sei eine Hexe. Der Gutsht .sitzer stimmte
jedoch nicht zu. Da riefen die Bauern eine Hebamme, die
alle Weiber untersuchen mußte, ob ihnen nicht ein S( hwanz
vom Rurken herabhing.'' l Weniger zartfühlend als diese Hauern
mit ihren Weibern umgingen, indem sie das Amt der I ntcr-
suchung einer Hebamme anvertrauten, war im Jahre 1900
in einem \'ororte von Kischenew ein Vater gegenüber seiner
Tochter. Die Letztere, em zweiundzwanzigjähriges Mädchen,
hatte das Unglück autfallend häßlich und dazu auch buck-
lig zu sein. Von einer Stiefmutter gequält, von den Nachbarn
') Per russische Johannistag. Bekanntlich versammelu sich auf ilein
Urockenberg die Hexen in der Nacht aui den Johannistag. Der Zusanimen-
konftsort der nuaildia Hanl iit d«r KBhlenberg, Lyssaja Gera bei Kijeir.
*) Cber das Analdhen des Penen und seine Bedeutang im Orient habe
ich in meinem Bache ^Medi^, Aber^anbe und Geschlechtsleben in der Türkei'*
«iai^ mitgeteilt.
•) Lowenstimm, .Aberglaube und Strafrecht, S. 35 und 8.'.
Stern. Getchichte der MTeuti Siitlichkeit in Ruüland. 0
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— 82 —
gemieden und verspottet, zieht sich das Mädchen ängstlich
von den Menschen zurück, versteckt sich tagsüber im Garten
oder Weinberg und kehrt erst Abends heim, \^'enn sie den
Vater schon zu Hause weiß. Und so schleicht sie häufig
erst spät Nachts durch den Ort, wenn alle schon schlafen,
und stiehlt sich hf imli( :h in das Vaterhaus. Sie kommt in den
Ruf einer Hexe, alle Unglücksfälle werden ihrrn tückischen
Zauberkünsten zugeschrieben. Zwar trägt sie ein Kreuz am
Halse und geht noißig in die Kirche, nhcv tlas ist Hexenschlau*
hcit. Man muß der Sache auf den Grund kommen, und der
Vater voi allen will Gewißheit haben. Er beruft eines Tages
alle Einwohner zu einer Untersuchung, man entkleidet das
Mädchen bis auf die Haut, und jedermann hat durch volle
drei Stunden Gelegenheit an der Splitternackten den Hexen-
schwanz zu suchen.^) — Im Juli 1891 erschien in einem Kijewer
Hospital 2) ein Bauer beim Arzte mit der Bitte, durch ein
amtliches ärztliches Zeugnis zu bestätigen, daß der Bittsteller
„keinen Schwanz habe wie ihn die Zauberer zu haben pflegen ;
denn weil man ihn für einen Zauberer halte, zwinge man ihn
oft sich nackt auszuziehen und sich auf einen Zaubererschwanz
untersuchen zu lassen."
Die Bosheiten der Zauberer und Hexen äußern sich an
den Behexten zumeist durch Krämpfe, epileptische Anfälle,
Zuckungen. Als Zar Iwan der Schreckliche einmal erkrankte,
gab man die Schuld daran einer Frau namens Maria ; diese
Frau lebte tugendhaft und war angesehen bei Reich und Arm
in ganz Moskwa. Da entstand plötzlich das (.erücht. Maria
hasse den Zaren luid trachte ihn fiurrh Zauber aus dem Wege
zu räumen. Sie wurde ergriffen und hingerichtet: der Vor-
sicht halber tötete man auch ilire fünf Söhne.'*) Kurz darauf
wütete in Moskau eine förnüiche Zauberer- und Hexemnord-
Kölnische Zeitung' 1900, Nr. 10 16. ,,Die Macht der Finsternis in
Rußland." (Notizen aus russischen Zeitungen.)
H>m1vTh, II KKi. 1891. — Aoeb mitgeteilt von Lanin, Russieche Zu-
■tände. I 33.
*) Uan vergleiche die Mitteilungen üb«* geschwänzte Menschen in meinem
Buche „Medizin, Aberglaube und CtscTilechtsleben in der Türkei".
*) Karamsin, deatsche Übersetzung VIll 16 (iranz. Übeta, IX 21),
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— 83 —
epidemie. Niemand war sicher vor der lürditerlichen An-
schuldigung. Die vornehmsten Leute wurden als Zauberer
und Hexen abgeschlachtet, so der durch seine Kriegstaten
ausgeieichnete Okohiitschy, Daniel Adaschew mit seinem zwölf-
jährigen Sohne, drei Mitgtieder der Familie Satin, ein Schisch*
kin mit Frau und Kindern. Das war vor dreiundeinhalb Jahr-
hunderten. Und heute? Man lese die nachfolgende, äußerst
unvollständige, nur aus zufälligen Notizen zusammengestellte
Liste über Ereignisse der neuesten Zeitl
Im Jahre 1878 entdeckte die Frau Chodschigan Natyrbow,
Gattin des Ältesten in einem kaukasischen Aül des Kreises
Jekaterinodar, daß ihr Mann sie nicht mehr liebe. Sie suchte
Hilfe bei der berühmten Zauberin Chakalo Chagutschew, imd
diese gab der Klientin ein Mittelchen, das unter die dem Manne
bestimmten Speisen getan werden sollte. Die Frau hatte aber
Gewissensbisse und entdeckte ihrem Manne, was sie voigehabt.
Der Älteste war erschrocken und entsetzt, daß in seinem Aül
Hexen und Zauberer existierten und beschloß das Satanswerk
gründlich auszurotten. Berief also die angesehensten Leute
des Aul zu einer Beratung, trug die Angelegenheit vor und
beantragte, die Hexe einem strengen Geridite zu unterwerfen.
Man begab sich in die Hütte der Chakalo Chagutschew und
forderte von der Hexe die Herausgabe ihres Zauberkrautes.
Als sie dem Verlangen nicht nachkommen konnte, zerrte man
sie auf den Hof, fesselte sie mit Ketten an einen Pfahl und
folterte sie durch dn Feuer, welches neben ihr so angezündet
wurde, daß sie Brandwunden erleiden mußte. Das Mittel
nützte nichts, man schleppte daher die Unglückliche in einen
Keller und sperrte sie hier ein. Im Aül begannen dann massen*
hafte Verfolgungen aller jener, die durch irgend eine Tat in den
Verdacht geraten waren, Besitzer unreiner Kräfte zu sein. Diese
Zauberer und Hexen zwang man zur Feuerprobe, sie mußten
durch hoch aufflammende Scheiterhaufen schreiten. Dann
sperrte man sie in Keller und nährte sie bloß mit den Lungen
von Hunden, da man durch solche Speise die Zauberkraft
zu besiegen glaubte. Einem besonders übel Beleumundeten
ging man auch desto schärfer an den Leib. Man hängte ihn
so auf, daß er den Erdboden nur knapp mit den Fußspitzen
6*
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berührte; dann geißelte man ihn mit Dornen, die im Aber-
glauben als zaubertötend gehen; hierauf band man den Ge-
folterten los und zwang ihn zwischen zwei Feuern zu tanzen.
Die Behörden machten erst nach längerer Zeit diesem Hexen-
spuk ein Ende.^) Einer der krassesten Fälle ereignete sich
am 4. Februar 1879 im Uchwinschen Kreise im Kaukasus.
In dem Dorfe Wratschewka lebte die Frau Katharina Ignatjew,
welche ihres hohen Alters und ihrer Kränklichkdt wegen als
Hexe betrachtet wurde. Diese Frau benützte den Schrecken,
den sie verbreitete, um auf fremde Kosten zu leben, und dies
soUte ihr zum Schlüsse übel bekommen. £s ereignete sich,
daß zufällig mehrere Frauen nacheinander Nervenkrämpfe er*
litten. Sofort wurde allgemein der alten Hexe die Schuld
an diesen Erkrankungen gegeben. Die Altesten des Dorfes
zogen mit einer großen Schar der Bewohner vor die Hütte
der Hexe, man vernagelte hfer alle Türen und Fenster mit
Brettern, legte Holz und Stroh um die ganze Behausimg und
zündete das Dach an. An dem erhebenden Schauspiele be-
teiligten sich 17 der Altesten als Gerichtsvollstrecker und
Henker, während knehr als dreihundert Menschen als Zuschauer
assistierten. Unter ihnen befand sich auch der Pope des Ortes,
Alle meinten, daß sie ein wahres Gotteswerk ausgeübt; und
als sie vor Gericht gestellt wurden, erfolgte die vollständige
Freisprechung der meisten, bloß drei wurden, sozusagen aus
formalen Gründen, zu einer gelinden Kirchenbuße verurteilt.^)
Im selben Jahre 1879 wurde auch in der Nähe der Stadt
Nikolajew im Gouvernement Ssamara ein 2^uberer erschlagen.
Der des Mordes Angeklagte erklärte ganz ruhig: „Ja, ich
habe es getan; ich habe ihn ganz gerecht totgeschlagen, denn
er war ein Zauberer." Das Gouvernement Pensa zeichnete
1) Dieser Fall ist auch in der von Heppe neu bearbeitetea Sddanachen
Geschichte der Hexenprocesse (Stattgart 1S80) in Bd. II 358 — ^339 berichtet
worden. Dieses große sweibändige Werk etithält aber über PuQlaads furcht-
bar verbreitetes Hexenwesen nichts weiter als eben diese Erzülilung und einen
kurzen liöclist mangelhaften Hinweis auf das nachfolgende Ereignis in Wra-
tsctiewka.
*) Die russischen Qudlen für dieses Beispiel und fOr die^n&chsten Angaben
von HexentAtungen findet man bei Löwenstimm a. a. O. S. 44 ff.
Üigiiiztiü by <-3ÜOgIe
4
— 86 —
sich damals durch Hcxcngerichtc- ganz besonders aus ; im Zeit-
räume eines einzigen Jahres gibt es dort fünf Ermordungen
von Hexen und Zauberern: 1879 wurde im Kcrciischen Kreise
ein Zauberer erschlagen. 1880 ereignete sich ni emem anderen
Kreise des Pensa-Gouvemements folgender Fall : Bei einem
Hochzeitsmahle schrie die Mutter des Hauswirts plöthch laut
auf ; dies konnte nur die \\'!rkung einer ßezaubcrung sein,
und eine] dt i Gäste, der ini V'erdachte der Zauberei steht,
wird von den anderen ergriffen und zu Tode geprügelt. Kurze
Zeit darauf wurden in verschiedenen Kreisen desselben Gou-
vernements auch drei Hexen ermordet. — 1888 wird im Ssmi-
jewschen Kreise des Charkowschen Gouvernements bei einer
Hochzeitbteier die Braut von einem epileptischen Anfaii iieim-
gesucht ; der Anblick der Erkrankten verursacht auch bei einer
anderen Frau einen Nervenkrampf, k'.iner der Gäste gilt als
der Zauberer, dessen heimliche Verwünschung diese Erkrankun-
gen verursacht hat. Man fällt über ihn her und tötet ihn
auf der Stelle. Diese Fälle sind zahllos und in Ursache und
Wirkung durchaus typisch. 1895 wurden im Dörfchen Wladi-
mirsk im Kubangebiete auf einer Hochzeit zwei Frauen plötz-
lich ohnmächtig. Den anwesenden Gast Kusjma Dolschenkow
beschuldigt jemand dieser Zauberei, die aufgebrachten Leute
fallen über den Hexenmeister her und schlagen ihn tot. Auch
im Zentrum des Reiches, im Mittelpunkte der Resideiuen, sind
seiche Vorkommnisse möglich. Am 25. September 1895 findet
in Moskau vor der Kapelle des Heiligen Panteleiniou vinc
Feier statt. Unter der Menge stehen eine Frau und ein Knabe,
daneben die Bäuerin Natalja Nowikow. welche mit dem Knaben
plaudert und ihm einen Apfel schenkt. Die Frau, die den
Knaben begleitet, erleidet einen hysterischen Anfall; und auch
der Knabe wird just, da er in den Apfel beißen will, von
Epilepsie ergriffen. Natürlich war der .Vj)fel behext, die Menge
fällt über die BauLrin her und prügelt sie iiaibtot.i) Im Jahre
1900 wird im Dorfe Sinizevvu ini douvernement Ssaratow der
Bauer Denissow als der 2^uberer gehalten, der dem Dorfe
alle möglichen l^nfälle, den Bewohnern Krankheiten, naiiient-
^) Löweiistimtn a. a. ü. 57 ff.
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lieh den Frauen und Kindern Krämpfe anzaubert. An einem
Feiertage tmdet dr*r Polizeiwächtcr Suwajew den Denis'-nw be-
trunken auf der Straße liegend Er will den l^etruiikcnen
wegschleppen, erkennt den Zauberer, ergreift ein Brett und
schlägt dem Verfluchten nnt solcher Wucht auf den Kopf,
daß ihm daraus der Teufel zugleich mit dem Leben entflicht.
Bemerkenswert ist ein auch im Jahre 1900 stattgefundener
Vorfall in der Stadt Wolsk, die gleichfalls im gesegneten Gou-
vernement Ssaratow liegt. Der neunjährige Sohn eines ge-
wissen Schuganow leidet an Kram])fen, denen kein Arzt ab-
zuhelfen vermag. Es kann daher die Krankheit nichts anderes
sein als eine Verzauberung. \' ater Schuganow hält die Familie
Bjeloussow für die Urheber der Hexerei, eilt in ihre Wohnung
und droht die ganze Zauberbande zusammenzuscliießen. Vor
Gericht geschleppt erklärt Schuganow in seinem Rechte ge-
wesen zu sein^j, denn ,,die Bjeloussows lassen die Teufel wie
Tauben auseinandersrl w irren, damit sie die Menschen nach
allen Seiten verderben und \ erzaubern." Im ' Jahre 1904 gab
es am 10. Januar vor dem Petersburger Kreisgerichte eine
Verhandlung wegen Ermordung einer Hexe. 2) In einem Vor-
orte der Residenz galt die Bäuerin Ille als PK'sitzerin unreiner
Kräfte, l^iiies Tages traf die Ille einen Bauer namens Lawone
und ersu< hte ihn, indem sie ihm einen Rubel gab, ihr Schnaps
zu kaufen. Der Bauer vollführte den Befehl der Hexe, brachte
ihr die Flasche mit Schnaps, wollte aber den Rest des Rubels
nicht herau.sgeben. Da rief ihm die lUe zornig zu : ,,Du, warte
nur! Ich bin eine Hexei Ich werde dich verhexen!" Lawone
geriet in Entsetzen, ergriff ein Stüek Holz und erschlug die
Hexe mit zwei wuchtigen Sehlagen, um sich vor ihrem Be-
Zauberungswerk zu retten.^)
Kölnische Zcituni; n^'v, Nr. 1016.
^) Nach Mitteilungen l'eter«» burger Blatter und einer Korrespondenz iin
l'apaTuHCRilt ,-ui«HiinRb J& 10, 1904.
*) Daß es attch im Europa des zwanagsten Jabrhnnderts noch FAUa von
Hexenglaubcn gibt, brauche ich wohl nicht zu entdecken. Aber die Vorfälle
erreichen hier nicht die furchtbare Tragik wie in Rußland, sondern (.rhalten
i,\it immer eine mehr kuriose, um nicht zu sagen humoristische Forin. Ich
trwahne drei Beiapiele aas jüngster Zeit; In Suhngen in Preußen wurde vor
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— 87 —
Auch weit harmlosere Anlässe genügen oft, um den im
Rufe der Zauberei Stehenden das Leben zu rauben, in der
Station Jumachanj-Jurta im kaukasischen Terekgebiete betrank
dem Schöffengericht über folgenden Sachverhalt verhandelt. Der Kätner
F. K. in lindern hatte ein krankes Kind. Eines Tages kommt eins ZigaiUMrin
ins HKoau Sie fedet mit der Fnm dies and das. sieht das kranke Kind und
merkt bald. da6 hier ihr Weizra blüht. „Liebe Frau," sagt die Zigeunerin,
„Ihr Kind ist behext, und das hat die Person getan, die nnn zuerst hier ins
Haas kommt, etwas zu leihen. " Nacli einigen Tillen stirbt das Kind. Der
Nachbar. Schlachter L., muß, wie das ja Sitte ist, die „Leiche ansagen" im
Dorfe and bei den Verwandten. Er hat aber einen schlechten Kandstock
und schickt deshalb seine Frau in das Sterbehaus, um einen besseren an
leiben. Kaum hat die Frau L. ihren Wunsch ausgesprochen, da geht der Spek-
taktl los, lind es dauert nicht lange, so weiß das ganze Dorf Lindem, wer das
verstnrl) -ne Kind behext hat. Die Frau L. ist natürlich darüber empört, daÜ
&ie iur eine Hexe angesehen und als solche nun gefürchtet wird. Sie verklagt
<Ue Frau K. wegen Beleidigung. Der PtoceO endete, nachdem der Amtsrichter
«an ernstes Wort gesprochen, mit einem Vergleich. Die Frau K. mn0ta Sffent«
lieh und feierlich vor Gericht erklaren, daß die Frau L. keine Hexe sei. —
In der französischen Stadt Xoissy-le-Sec wurde eine Fr.ui als Hex«» vor Ge-
richt gestellt. Man warf ihr zwar nicht vor, daO sie am Hexen^abbath auf
einem Besen durch die Lüfte fliege, trotzdem aber bczcichuete man sie als
„den Sdireekttk des Landes", als eine Person, welche den „bteen Blick" werüe.
Anf Grand dieser Anschuldigungen hätte sich das Gericht allerdings mit Frau
Jndin — dies ist der Name der ,.2^uberin" — nicht befaßt. Man konnte ihr
jcKloch nachweisen, daß sie in einer Vermögen^anpelccrenheit eine eigentüm-
liche Rolle gespielt. In Noissy-le-Sec lebte eine reiche Witwe Blainchet, zu
welcher ein Tierarzt nähere Beziehungen unterhielt. Der Einfluß des Slannes
genägte jedoch nicht, um Frau Blanehet hinsichtiich ihrer testamentarischen
Verfügungen, um die es Henry sv tun war, an bestimmen. Da führte er die
Zauberin bei ihr ein. Diese gewann bald eine derartige Macht über die etwas
schwachsinnig«' Blanehet, daß letztere bltndlin*;'? alles glaubte und tat, was
Frau judin genehm war. Es Ist erwiesen, daß Frau judin von Zeit zu Zeit
im Hanse der Witwe wahre Hexenszenen aufführte, GebteMrsdtetnnngen
simniierte. So brachte sie <lie aberglänfatsehe Frau Blanehet endlich dahin,
ihr Testament, in welchem sie ihr ganzes Vermögen ihrer Schwester verschrie-
ben, als einen von Dämonen bewohnten Gegenstand ins Feuer zu werfen. Es
hielt dann niclit schwer, sie zum \'erfa-Süen eines neuen Testamentes zu be-
stimmen, durch welches Henry zum Universalerben eingesetzt wurde. .\uf
die Klage der Familie der Frau Blanehet erklärte nun das Gericht das neue
Tcstsment ab erschlichen und daher nngiltig. Did ..Zauberin" kam jedoch
ohne Strale davon. — ~ Ein regelrechter HexenprozeJ fand am 12. Januar
1903 vor dem Pexirksgcricht in Fadd in T'ngarn statt. Die Budapester Zei-
tungen vom 15. Januar berichteten lüerüber in folgendem: Der wohlhabende
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sich die Frau eines Atamans bis zur BewuÜtlosigk^t und konnte
trotz aller Mittel nicht leicht wieder zur Besinnung gebracht
werden. An dieser Hartnäckigkeit der Besoffenheit konnte
Landwirt Andreas Schukkert kränkelte seit zwei Jahren unaufhörlich und an-
geblich liatten ihn berate aimtliehe "PakBtr Ante behndtlt, ohne jedoch im-
stande za sein, eine Beaaerung bei ihm herbeisiif&hfen. Wihrend eeincr lauDgen
Kfsnkbeit hatte sich sowohl bei ihm, alt auch bei seiner Frau der Gedanlce
festgesetzt, daß ihn jemand ,.vprwun«;chen" habe und daß dit-s niemand anderes
sein könne, als sein eigener Schwiegersohn, der Fleischhauermeister Stefan
Szalai. In dieser B«^ängnis heli das Ehepaar den „Teufelsbeschwörer" von
Fadd holen, der auch bald «ndiicQ wid, nachdem er veradUedene geheimaii-
voUe Zeremonien veramtaltet hatte« in einer jeden Zweild anncUiefienden
Weise herausfand. daO Schukkerfc in der Tat „vervi'unschen" worden sei. Das
Krste was das Ehepaar tat, war nun, daß es Sz.ilai aus dem Hause jagte und
(he ro( hter zwanL' ihren (".:!ttf n jw verlassen. .Außerdem aber reichte das
Ehepaar auch eine Kia^e beim ivgi. Bezirksgerichte ein. Natiirlich nahm der
Richter dieae Auseige nicht enitt, allein nun reichte auch Stefan Ssalai eine
Klage wegen Verleumdung gegen seine Schwiegereltern ein, so daß sich das
Gericht mit der kuriosen Affaire beschäftigen mußte nnd der Uaterrichter
Karl Kriväcsv einen Recht^spruch zu ßllen genötigt war. Bei der Verhand-
lung klagte Schukkcrt dem Richter fast unter Iränen, was er leiden müsse
und daß die Ursache all dieser Leiden niemand anderes als Szalai sei, der
ihn durch seine tcufliache Kabala verhext habe, um ihn an verderben nnd
sich dann durch Erbschaft in den Besita seines Vermögens an actsen. — »Wie
kfinnen Sie so dummes Zeug sprechen," sagte der Trichter zu Schukkert.
..wissen Sie denn nicht, daß es weder Hexen noch Zauber gibt?" Das Ehe-
paar Schukkcrt heii sich alter dadurch in seinem Hexenglauben nicht er-
schüttern, sondern begann mit felsenfester Überzeugung die Details der ge»
schdienen ..Verwünschung" au schildein. „Als ich vor einiger Zeit in meinem
Bette lag.*^ endhita der alte Sd>nkkert, „ging plötilich die Tflre von selbst
auf und ein großer schwarzer Hund kam herein. Ich sprang aus dem Bette
und wollte ihm mit dem Re«en einen Streich versetzen, da hatte sich aber der
Hund in Lutt aufgelöst. Ab ich dann in die Küche hinausging, fand ich ihn
dort wieder; ich wollte ihn auch von da vertreiben, da begann aber der Hund
ein sehanerliches Gelichter anssnstoflen. Ich hatte mich auch davon nicht
fiberzengen lassen nnd begann auch bereits an die Sache zu vergessen, als plöta*
lieh die an der Wand hängende l'hr mir in ihrem Tiktak zurief: .,Du bist
verwunschen. Dein Schwiegersohn hat dich verzanbert". Jetzt erst wandte
ich mich an den Teulelsbcschworer, der mir — mein Schwiegersohn befand
sich damals auf dem Markte — sagte, daB er Denjenigen, der mich verhext
hsbe, zitieren werde, und swar wSre das die erste Person, die ins Zimmer
treten werde. Kaum hatte er jedoch erst die Beschwörung begonnen, als
mein Schwie^'crsohn hereintrat mit gesträubtem Haar, als ot) ihn der Teufel
l>ei demselben herbeigeführt hätte." Und nun brachte Stefan Szalai seine
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nur Zauberei schuld sein. Ein Greis, der zufällig dabei war,
wurde bloß wegen seines hohen Alters dieser Zauberei be-
schuldigt und sofort halbtot geprügelt. — Das Volk erwartet von
den Zauberern und Hexen nicht bloß übles, sondern verlangt
von ihnen auch Wunder und Heilmittel in Krankheiten. Wehe,
wenn sie die an ihre Kraft geknüpften Erwartungen nicht
rechtfertigen! Im Jahre 1889 wurde im Mohilewschen Gou-
vernement ein Hexenmann erschlagen, weil er eine Frau von
einer Krankheit nicht zu befreien vermochte. In diesen Fällen
feiert auch ein Aberglaube Triumphe, daß ein behexter Mensch
gesund wird, wenn man den 2^uberer oder die Hexe tötet
und mit dem Blute der Getöteten den Körper des Kranken
beschmiert. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahre 1889
im Rauenburgischen Kreise*): Die kranke Frau eines Dorf-
ältesten beschuldigte ihre alte Tante der Hexerei. Die Hexe
wurde zur Kranken geschleppt und am Lager derselben mit
einem Zaunpfahl durchbohrt; dann schnitt man der gepfähl-
ten Hexe die Finger an und sammelte das Blut sorgfältig
in einem Gefäße, um die Kranke damit zu heilen.
Die russischen Historiker erzählen, daß Rußland nament-
lich im siebzehnten Jahrhundert von dem Übel der Besessen-
heit heimgesucht wurde. In der Stadt Sc huja allein gab es
damals auf einmal siebzig Besessene. In jedem Orte nah und
fern ereigneten sich ununterbrochen Fälle von Besessenheit.
Die Klikuschy, wie die Besessenen russisch genannt werden,
litten an Konvulsionen und epileptischen Anfällen. Frauen
besonders gerieten in Verzweiflung, stürzten zu Boden und
jammerten, manchmal ohne besonderen Anlaß, gewöhnlich
Klage vor. Er sagte. daU man aui Schritt und Tritt diese Geschichte über
ihn vtfbNitet Ittbe, cl«6 di« Leute ihn beschimpften und verfluchten, so, daB
er nicht mehr unter Menschen gehen und auch keine Arbeit bdcommen kOonc.
Nadi Vernehmung der Zeugen verurteilte der Richter Andreas Schukkert und
dessen Frau wegen Ehrenbeleidigung, weil er es durch die Zeugenaussagen
für bewiesen fand, daß <las Ktu'jia ir Schukkert den angeblichen Hexenspuk
mehreriii Personen mitgeteilt und dadurch den Kläger der altgemeinen Ver-
aehtnng preisgegeben habe. Der arme Schnkiiert besalüte die ihm auüerii^te
Gddstrale und betrachtet auch dieses neue MiBgeechick als eine Folge der
Teoielilcünete seines Schwiegersohnes, des Hexenmeisters.
1) Ldwenstimm a. a. O. $8.
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— 90 —
aber, wenn sie in die Nähe eines Ueiligtums kamen, Kirchen-
gesang und Messe hörten. £s ist nachgewiesen, daß die Ur-
sache zu der historisch festgestellten förmlichen Epilepsie- und
Krämpfeepidemie von den abergläubischen Weibern selbst
durch das Zurückhalten der Mt nstruation hervorgerufen wurde.
Wen nun diese hysterischen Weiber als Urheber der Behexung
beschuldigten, der wurde den Folterknechten ausgehefert. Peter
der Große suchte die besessenen Weiber nach seiner Art zu
kurieren. Er ließ alle, deren man habhaft werden konnte,
nach Petersburg bringen und in Anstalten einsperren, wo sie
sich durch harte Arbeiten selbst schnell den Teufel austrieben.
Seit Peter dem Großen sind nun bis zum Jahre 1839 nicht
weniger als sieben Erlässe gegen die Besessenheit erschienen,
imd doch hat das Übel nichts an seiner Verbreitung noch an
seiner Kraft eingebüßt. Außer den aufgezählten einzelnen
Fällen gab es noch in neuerer Zeit wahre Monstreprozesse in
Angelegenheiten von Besessenen vor allen Gerichten des
Reiches; so am 12. April 1861 in Jckaterinoslaw, am 28. Juli
1869 in Jaroslaw, am 31. Juli 1868 und 22. Januar 1870 in
Moskau.^) Wenn Rußland in bezug auf seine Kultur im all-
gemeine!! nach den eigenen Geständnissen der russischen Intelli-
.L':cn:' noch auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts steht, so
darf man behaupten, daß es m Hinsicht auf den furchtbaren
Aberglauben und die damit zusammenhängenden tierischen
Verbrechen noch in seiner heidnischen Urzeit stecken ge-
bUeben ist.
1) Halcm. Lebeu Peters des Großen» III 136.
s) IwOwenstimm a. a. O. 172.
Üigiiizeü by <jüOgIe
" 91 -
6. Heidentum und Orthodoxie.
Einfluß der Natur\'ölker auf zivilisierte Europäer — Einfluß der Heiden auf
die RttaBen Machtlosigkeit der EtiiUc ia RnBland — Gnnnunkeit in der
Familte — KnmcMi|^keit des ChristeBtnms — Venmsdiang der Grsosen
zwischen Orthodoxie und Heidentum — Regierung und Kirche — Aberglaube
der nichtrussischen Völker in Rußland — Kalmücken — Kirgisen — Osseten
— Ainos — Kamtschadalen — Tscheremissen und Tschuwaschen — Letten
und Etthen — Wotjäken — Die tschudischen Zauberer — Orthodoxie und
Heidentam — Heidiiisdie Cbiistenfeste und Unsittlichkeit — Spasiexgftiige
der Jugend hti Rossen und Wotjäken — Fdpen ab FOrderer des Heidentums
und Aberglaubens — Popen bei Tieropferungen — Popen bei Menschenopfe-
rangen — Popen gegen Vampyre • — Nonnen als Hexen — Was ist Religion?
Was ist Sünde?
Die Kulturhistorikcr und Aiithroj)ulogcn haben schon oft
die Bemerkung gemacht, daß selbst Jüiropäer, die auf der
höchsten Stufe der Zivilisation stehen, \on ihrer l'mgebung
abhängen und. sobald sie unter X.iturvcjlkern leben, zu der
Stufe der Kultur dieser Naturvölker herabsinken. Dies gilt
namentlich dort, wo sich Europäer \erenizelt unter Natur-
völkern ansiedeln. 1) Aber was bei den Europäern sich nur
dann ereignet, wenn sie vereinzelt unter eine Masse fremd-
artiger Umgebungen geraten, das geschieht bei den Russen,
auch wenn sie in ganzen Gruppen unter Fremdvölkem wohnen ;
ja sogar dort, wo die Russen die Herrschenden sind und die
ülMatiiacht Iwben, ordnen sie sich bald und leicht der fremden
Kultur unter, die noch tiefer steht als ihre eigene. Der seit
tausend Jahren orthodox christliche Russe fühlt und denkt
noch so durchaus heidnisch, daß er sich in einem Kreise von
Heiden, wo sein abergläubischer Sinn und seine rohe Auf-
fassung der Sittlichkeit die leichteste Anpassung an gestattete
und offen geduldete Gebräuche finden, wieder glücklich als
ganzer Heide vorkommt. Leroy-Beaulieu^) sagte : ,,Wenn derrus<
sische Ackersbauer unter eine götzendienerische Bevölkerung
t) Dr. Heinrich Schürt«, Urgeschichte der Kultur. Ldpsig und Wien
1900. S. 14-
*) Das Reich der Zaren. III 36.
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— 92 —
versetzt wurde, adoptierte er außerordentlich leicht die aber*
gläubische Vorstellung seiner neuen Umgebung und bisweilen
sogar die heidnischen Riten." Wir haben aber bereits er-
fahren und werden es bis zum Schlüsse in diesem ganzen
Buche noch sehen, daß nicht nur der russische Ackerbauer,
sondern alle Schichten des russischen Volkes ohne Ausnahme
demsdben Gesetze des Herabsinkens zu noch tieferen Kulturen,
zu einer noch laxeren Sittlichkeit unterliegen. Wir kennen
die tierische Verkommenheit, die zügellose Barbarei, die nicht
bloß in den Provinzen, sondern auch in den Zentren und
Residenzen des europäischen Rußland herrschen. Wir werden
noch mehr über diese Roheit der Geister, die wahrhafte
Impotenz der Ethik in Rußland erfahren müssen. Ein Jahr-
tausend seit der Einführung des Christentums hat sich ver-
flüchtigt wie der Steppenrauch und nichts ist geblieben als eine
dünne Schicht falscher Zivilisation, welche die überall durch-
brechende unzerstörbare Wildheit nicht zu decken vermaj^.
Es sind durchaus nicht zufällige vereinzelte Krsrheinungen.
mit denen wir uns zu befassen ha!)en. sondern (ilieder t-mvv
erdrückend schweren, einer endlos langen Kette, die m ihrem
Zusammenhange um das ganze Reich sicli schlingt, das ganze
\'olk in ihre Ringe x hheßt. Wenn wir mitteilen, daß ein
Bauer seine Tochter rostet, um sie zu einem (ieständnis in
einer harmlosen Sache zu zwingen, so ist es nicht der eine
zufällig erwähnte Bauer, der unser Entsetzen hervorruft, son-
dern wir sehen einen Typu^ \on Hunderten, von Tau'^cnden
vor uns; einen einzigen Fall von endlos vielen der gleichen
Art. Wenn wir erzählen, wie Söhne ihre Mütter aus Aber-
glauben umbringen, wie (iatten ihre Gattinnen, Töchter ihre
Mütter und Mütter ihre Kinder als Hexen und Zauberer dem
Martertode ausliefern, ^o sind dies wieder nicht schauerliche
iVusgcburten einer finsteren Zeit, sondern ständige Vorkomm-
nisse der Gegenwart, die statistisch festzustellen sind wie Ge-
burten und Todesfälle und häufiger stattfinden als in anderen
Ländern Verbrechen; nein, nicht Verbrechen, sondern bloße
Vergehen. I3ie Lehren und Sittlichkeitsauftassungen des
Christentums sind an den Russen vollständig wirkungslos ab-
geprallt. Daher kommt es, daß die Russen im europäischen
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Rußland zwar noch im Scheine des offiziellen Christentums
wandeln, sklavisch die Vorschriften der Kirche beobachten,
aber sofort ihr innerstes Heidentum hervorkehren, sobald sie
sich, endlich von den Fesseln der staatlichen Kirchenaufsicfat
befreit, in den asiatischen Provinzen niederlassen. In Sibirien
schließen sich die Altgläubigen ganz offen den Religionsübun-
gen der Schamanen an und an den Ufern der Lena besuchen
auch die orthodoxen Russen, nicht vereinzelt sondern gemeinde-
wetse, die buddhistischen Heiligtümer der Burjäten, ihrer Nach-
barn, um dort zu beten und zu opfern, als wären sie in russi«
sehen Tempeln.^) In der Gegend von .Irkutsk, der Haupt-
stadt des ostsibirischen Generalgouvernements, der Residenz
eines orthodoxen Erzbischofs, findet man in den russischen
Isbas burjatische Götzen und in den Hütten der Burjäten die
Bfldnisse des heiligen Nikolaj. Aber wir brauchen nicht so
weit zu reisen. Auch im europäischen Rußland, in den Ge-
bieten der Wolga-Gouvemements, unterliegen die Russen trotz
der Angst vor Kirchenstrafen und vor Verfolgungen der Re-
gierung immerfort dem Einflüsse der polytheistischen Tschu-
waschen und Tscheremissen und deren Fetischlehren. Die
Neigung zu Aberglauben, Zaubermitteln und grausamen wie
schamlosen Verbrechen wird durch die heidnischen Gebräuche
viel eher befriedigt und gerechtfertigt, als durch eine euro-
päische Zivilisation und eine edle Auffassung christlicher
Lehren, für deren Verbreitung in Rußland in tausend Jalven
sowohl der Staat als die Kirche bloß Oberflächliches getan
haben. Die Regierung hat nie ein aufrichtiges Interesse an
der Aufklärung gezeigt; sie verfolgte im Gegenteile stets das
Prinzip der Unterdrückung aller Kultur, der Steigerung aller
Dummheit und Unsittlichkeit, aller I^ter und schiften In-
stinkte. Es gibt eigentlich nur ein einziges Buch, das zensur-
fiei erscheinen darf und daher am stärksten verbreitet ist;
das ist der Ssonnik, das Traumbuch, aber nicht einmal die
Bibel. Denn die selbstherrliche Regierung ließ vorsichtiger*
weise neben sich auch keinen gebildeten Klerus aufkommen,
und aus eigener Kraft hat sich die Geistlichkeit nie dazu
Leroy-BMulieD «. a. O.
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— 94 —
aufraffen wollen, die Religion aus dem Sumpfe der Verkom>
menheit, in den sie immer tiefer versunken ist, emporzuheben
zu reiner Höhe und auf einen Gipfel, von wo sie Glanz und
Erieuchtung zugleich hätte ausströmen können. Es ist wahr-
lich schon des Staimens wert, daß Rußland bei alledem wenig-
stens dem Namen nach noch christlich geblieben ist, da das
Wesen der Religion mit dem Christentum nichts gemein hat
als die Reste, die sich aus dem Heidentum in einzelne christ-
liche Festgebräuche hintibergerettet haben.
Wenn wir nur einen flüchtigen Überblick über die aber-
gläubischen Sitten und Gebräuche der nichtrussischen Völker
in Rußland werfen, müssen wir schon erkennen, daß die christ-
lichen Russen genau denselben Aberglauben, genau dieselben
Gebräuche besitzen wie die Heiden in Rußland; daß in dieser
Hinsiclu nicht einmal ein Unterschied gemacht werden kann
zwischen Russen einerseits und Kalmücken, Kirgisen, Tungusen,
Burjäten, Wotjaken, Kamtschadalen, Osseten oder Tschu-
waschen andererseits. Es liegt nicht in meinem Plane, das
Thema des Aberglaubens in bezug auf alle nichtrussischen
Völker Rußlands zu erschöpfen. Ich will, wie es auch bei
der Schilderung des Aberglaubens der Russen geschehen ist,
tmd hier natürlich in noch mehr reduziertem Maße, nur einige
wenige charakteristische Momente aus dem Aberglauben
einiger weniger nichtrussischer Völker zum Vergleiche mit
dem Aberglauben der Riissrn hervorheben.
„An Aberglauben übertrifft der Kalmück alle bekannte
Völker. Jahrhundertc wären nöthig, um die Macht ihres Vor-
urtheils zu bezähmen" ; also schrieb ein Livländer, der zwei
Jahre unter den Kalmücken gelebt hat, vor hundert Jahren.^)
Vergleichen wir nun die von diesem Schriftsteller angeführten
abergläubischen Gebräuche und Auffassungen der Kalmücken
mit den russischen — der Zeitunterschied von hundert Jahren
braucht nicht in Betracht gezogen zu werden, da sich bei
diesen Völkern in einem Säkulum nichts geändert hat — so
werden wir finden, daß die Kalmücken zwar ihren Aberglauben
*') Benjamin Bergmanns Nomadische Streiiereien unter den Kalmücken
indenjaluren 1802 und 1803. (Vier Teile.) Riga 1804. IL Tl. S. 358 und
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in ein System gebracht haben, aber da5 alle diese Gebräuche
und Sitten großenteils harmloser Natur sind und nur selten
zu solchen wahnsinnigen Kapital* und Sittlichkeitsverbrechen
führen wie bei den Russen. Den bedeutendsten Platz im Aber-
glauben der Kalmücken nimmt wie bei den Russen die Be-
stimmung der glücklichen und unglücklichen Tage ein.^) Eine
eigene Klasse der kalmückischen Priester, die ihre besondere
Bezeichnung Dsurchaitschi führt, beschäftigt sich mit solcher
Bestimmung. Bei feierlichen Gelegenheiten zieht man die
Meinimg dieser Gelehrten zu Rate. Die Liste der schwarzen
und der weißen Tage ist auf Monatstafeln verzeichnet^ und der
Dsurchaitschi entscheidet mit einem Blicke auf seine zwölf
Monatstafeln schnell jede Anfrage. Ohne Bef ragtmg des Dsur-
chaitschi ward keine Reise angetreten, keine Hochzeit voll-
zogen, keine Leiche bestattet. Den Kalmücken liegt sehr viel
daran, ob sie im Hundejahre, im Pferdejahre oder irgend einem
anderen Jahre geboren sind. Wer also in einem Hundejahre
geboren ist, darf nur in einem Hundejahre heiraten. Den
Tod vermag man natürlich nidit nach dem Jahre einzurichten;
aber die Stunde der Beerdigung kann willkürlich festgesetzt
werden und sie muß der Stunde der Geburt entspredien.
Von dem nachteiligen Einflüsse der Mißgeburten, des Vogel-
fluges und der Tierstimmen auf die Schicksale der Menschen
handeln zahlreiche Bücher der kalmückischen Literatur. Die
Dsurchaitschi kennen genau diese Werke. Nicht alle Vögel
des europäischen und russischen Aberglaubens sind Gegen-
stand des kalmückischen, aber dafür sind im letzteren andere
Augurvögel vorhanden. Einer der heiligsten Vögel ist der
Kranich, dessen Erlegung ein schweres Verbrechen wäre; denn
der Kopf des Kranichs stellt den beschorenen Schädel eines
Priesters vor. Verfolgt ist dagegen die weiße Bergeule; man
schießt sie, zerhackt sie in Stücke und hängt die einzelnen
Teile in den Ställen auf, das bringt den Herden Gedeihen.
Wenn man auf einer Reise den weißen Mäusefalken von der
Linken zur Rechten fliegen sieht, so bedeutet dies guten Er*
folg; fliegt der Vogel von rechts nach links, so ist es am
>) Bergmann a. a. O. S. 361 ff.
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klügsten, die Reise aufzugeben. Ein Unglücksvogel ist der
Flamingo. Die Taube hat nicht die Bedeutung wie bei den
Russen; wenn man sie unter dem Dache eines Hauses er-
wischt, tötet man sie dw'ch einen Peitschenhieb. Im allge-
gemeinen gilt es als Unglttckszeichen, wenn sich Vögel auf
das Dach einer Hütte setzen. Die Schlange genießt kein An-
sehen, sie ist ein Unglückstier. Es ist Sünde, sich auf die
Schwelle einer Tür hinzusetzen. Der Herd ist eine heilige
Stätte und das Feuer göttlich; man darf nicht auf den Herd
treten, die Füße nicht nahe ans Feuer geben, eine Feuer-
flamme nicht schwenken. Wagt man im Herbst und Winter
zu pfeifen, so ruft man Stürme und Schnee herbei.^) Im Winter
und Herbst darf man keine Legenden von schrecklichen Göttern
lesen, sonst entsteht stürmisches Wetter. Wer seine Tabaks-
pfeife mit einem Papier anzündet, stirbt in Kurzem. Den Drei-
fuß darf man nicht schlagen. — Diese kalmückischen aber-
gläubischen Meinungen, sagt Benjamin Bergmann bei ihrer
Aufzählung'), sind allgemein verbreitet, Adel, Geistlichkeit hul-
digen ihnen noch mehr als das gemeine Volk. Sie sind gött-
liche Lehrsätze, deren Nichtachtung ein Verbrechen wäre, der
strengsten Ahndung in den künftigen Wanderungen würdig.
Bei den Kirgisen ist die Weissagung aus den Büchern eben-
falls Sache einer besonderen Klasse von Priestern, die Faltscha
heißen.^) Die Jauruntschi dagegen sind Priester oder Zauberer,
die aus dem Schulterblatte eines Schafes prophezeien. Wenn
sie das Schulterblatt auf ein Feuer legen, können sie aus den
Rissen tmd Spalten die Entfernung eines abwesenden Menschen
1) In IJvland sagt man: Pieiit man am Abeud, so ruit mau den Teufel
zur >»acht herbei.
*) a. a. O. S. 26$.
*) Anafnfarlicbcs in d«n R«iBeti von Pallas, von denen ich die seltene
franrösische Ausgabe in fünf Bänden in 4* nebst einem Atlas besitze; ..Voyages
<Ie ^^. P. S. Pallas, t-a differentes provinces dt- l'Empire de Kussic. et dans
l'Aüte septentrionale, traduits de Tallemand par M. Gauthier de la i'eyronie.
Paris 1788. " — Am häufi^tcn ist der deutsche Auszug in einem kleinen Oktav-
bftndchen vom 300 Seiten, tmi den ich daher hier besug nehme: MMericw&rdig-
keiten der Mctdvanen, Kaaaken, KahnQcken, Kirguen. Bascbhiran. Ein Ans-
ang aus Pallas Reisen. Frankfurt und Leipzig 1773." Über kiigisiiichen Aber»
glauben S. 282.
— 97 —
bestimmen.'^) Die Bakscha Zaubrrrr brauchen, um Propheten zu
werden, flic Opferung eines Pferdes, Schafes oder T^orkes,
und führe n dann bei ihren Weissagungen mit Zaubert romrnel
und Klappcrringen einen Zaubertanz auf, werfen die bemalten
Knochen der geopferten Tiere gen Westen und verschütten
nach derselben Himmelsrichtung auch das Blut der Opfer.
Kine vierte Art Zauberer sind die Ramlscha. die Butter oder
Fett ins Feuer schütten und aus der Farbe der Flammen wahr-
sagen. Die Hexen, Dschaadugar, bezaubern die Gefangenen
und Sklaven, um sie an der Flucht zu hindern; die Be-
zauberung geschieht auf folgende Weise : man rauft dem zu
Bezaubernden ein paar Haare aus, forden seinen Namen und
bringt den Mann dann auf den Feuerjjlatz ; seine Fußstapfen
werden von der Hexe angespuckt, seine Zunge aber mit Asche
vom Feuerplatze bestreut.
Im Kaukasus hat jedes der dort lebenden V olker seine
abergläubischen Spezialitäten. Der Unterschied zwischen
Christen, Moslems und Heiden besteht gewöhnlich nur in .Äußf*r-
lichkeiten. Bei den Osseten beispielsweise gelten diejenigen,
wekFie Schweinefleisch essen, als Christen ; jene aber, welche
kein Schweinefleisch essen, sind die Moslems. Sowohl diese
sogenannten Moslems als diese sogenannten Christen opfern
nach alten heidnischen Gebräuchen in Höhlen und heiligen
Hainen, auf uralten Altären und Steinhaufen. Wenn jemand
vom Blitze erschlagen wird, so gilt er als heilig und wird
an der Stelle, wo er gefallen, unter alliii meinem Jubel be-
graben; das Grab wird zu einem Wallfahrtsorte. Man glaubt,
dafi der heilige Elias, der Herr der Felsgebirge, den durch
den Blitz Frschlagenen unmittelbar zu sich genommen habe.
Hunde. Katzen und Esel sind bei den Osseten zauberhafte
Tiere. Wenn man an jemanden eine Forderung hat oder von
jemandem beleidigt worden ist und nicht zu seinem Rechte
I) Wie sich diese Waiirsager durch zweideutige Orakelspröche schlau
m der Aihän n tkbeii Wimm, wird enfthlt in „Des Herrn Kapitains Niko- '
knt Rytidkkoir Tagebodi über seine Reise in die Kirgiskaisskbche Steppe
im Jahre 1771 aus der russischen Ausgabe n! St. Petersburg vom Jahr 1773
übersetzt von Hase." In Büschings Magazin für die neue Historie nnd Geo*
graphie, Bd. VII, 417—474. Vgl. S. 458 — 459.
Stern, Ge»chichte der öflcmtl. SiitUcbkeit in Ru&IaikL 7
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— 98 —
gelangen oder Genugtuung erhalten kann, so wendet man
folgendes Mittel an: man schlachtet auf dem Grabe der Vor-
faliren des Schuldners oder Beleidigers eine Katze, einen Hund
oder Esel. Dadurch geraten die Seelen der Verstorbenen in
Gefahr, zu Katzen, Hunden oder Eseln degradiert zu werden,
wenn nicht der Nachkomme schleunigst seine Schuld begleicht
oder dem Beleidigten Genugtuung gibt. Es kommt niemals
vor, daß dieses Mittel nicht helfen würde.i)
Das Feuer, das im russischen Aberglauben eine große
Rolle spielt, hat aucli bei vielen Völkern im äußersten Nord-
osten eine besondere Bedeutung. Bei den Arnos auf Sachalin*)
ist es verboten, das Feuer des Herdes aus dem Hause zu
tragen. Das Herdfeuer muß Winter wie Sommer fortbrennea,
deim wenn das Feuer verlöscht, ist es der Hausgeist der stirbt.
Wenn man fortgehen oder schlafen muß, dann deckt man
das Feuer sorgfältig mit Asche zu, um bei der Rückkehr
oder beim Erwachen noch einige glunuiende Reste zu finden.
Das Herdfeuer darf man nur mit dem Feuerstahl anzünden,
während man Zündh ölzchen höchstens für das Anbrennen der
Tabakspfeifen verwenden soll. Man hüte sich, ein Zündhölz-
chen, eine brennende Zigarette oder sonst etwas Brennendes
ins Wasser fallen zu lassen; das wäre die schwerste Sünde:
Feuer wird dann durch Wasser, der hohe Feuergott durch
einen niedrigen Wassergeist besiegt. — Bei den Kamtscha-
dale n^) ist es Sünde, sich in heißem Wasser zu waschen,
heißes Wasser zu trinken oder sich \ uikanen zu nähern.
Besonderes Interesse gebührt den Gebräuchen der Tschere-
>) August FMherr von Haatttameii, Tiattthiolnaia. Andontungea
Aber du Familieii- und Gemeinddeben und die flotiakm VerhSltaine einjgir
Völker zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meere. Reieeeriniienuigea
und gesammelte Notizen. Leipzig 1856 (2 Bände) II 17. — Man vgl. femer
über den Aberglauben der kaukasischen Völker die bekannten Werke von
Karl Koch, Roderich von Erckext. Schweiger-Lerchenield, Gustav Radde,
C Hahn, Baron Thielemann« Bodenstedt und die älteren Arbeiten von Hau-
vay, Chardln, fanprotii, Güldensttdt, Reinegge, Eidnvnld. Wagner nnd Neu«
mann.
• *) P. Labbd'. Un bagnc russe. L'ile de Sakhaline, Paris 1903. p lO"?,
') Hiätoire de Kamtschatka, des lies Kurilski et des contr6es voisines.
Publik ea Langue Russienne, traduite par M. A Lyon 1767. II 169.
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— d9 —
missen, Tschuwaschen und Wotjäken. Die Tscheremissen^)
arbeiten wahrend der Kornblüte, etwa drei Wochen lang, gar
nicht. Arbeiten in dieser Zeit ist Sünde. Nur das Unkraut
darf man ausreuten. Nach den drei Wochen begibt man sich
— aucli bei den christlichen Tscheremissen in den Wald
nach den alten Opferplätzen und schlachtet dort Kühe, Schafe
und Hausgeflügel den Göttern zu Ehren. Die Opfertiere wer-
den auf Kosten der ganzen Gemeinde gekauft, beim Handel
darf nicht gedungen werden. Das Fest fällt um die Johannis-
7c\r. Im Waide bezeichnet auf freier Stelle ein einsamer hoher
iiaum den Opfcrplatz. ]h>n versammeln sich die Männer,
die Frauen haben keinen Zutrat. Drei Tage bleibt man vereint ;
während dieser Zeit darf man nicht rauchen, schnupfen, Brannt-
wein oder Hit 1 trinken. Dagegen ist Met zu trmken erlaubt,
er muß aber auf dem Opferplatze selbst bereitet worden sein.
Sieben Feuer werden in einer Linie angezündet von Nordwest
nach Südost und vor jedem Feuer breitet man ein Tuch aus.
Sechs Feuer sind Göttern geweiht, das siebente aber gilt der
Jumon Awa, der Gottesmutter. Die Zeremonie verläuft wie eine
christhche Messe. Und so wie sich Heidentum und Orthodoxie
hier mengen, so nehmen an dem Feste nicht bloß heidnische
und christliche Tscheremissen, sondern auch rechtgläubige
Russen teil. Das Gleiche ist bei den Gottesdiensten der Tschu-
waschen zu beobachten.
Von dem Aberglauben der alten Letten und Esthen lesen
wir bei Lliärn*): ,,Wenn bei den Letten jemand über See
verreist und lange ausgeblieben war, gössen ^ie zerschmoltze-
nen Wachs ins Wasser und nahmen ihre Deutung aus dem
Gestah des Wachses, wie es umb den reisenden stünde." —
,,In Ehsiland haben sie noch diesen abergläubischen Gebrauch,
daß sie alle neue Jahr einen Götzen von Stroh in Gestalt
eines Mannes machen, den sie Metziko nennen, und eignen
ihm ZI! die Krafft. daß er ihr Viehe vor den wilden Thieren
bewahren und ihre Grentze hütten solle. Diesen begleiten
sie alle aus dem Dorff, und setzen ihn an dero Grcntzen
1) Haxthausen, Stadien Aber die inneren ZastSnde RuBIaiids. I 446.
«Ja.«. O., 30—33» 169.
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— 100 —
auf den nechsten Baum.** — ,,Den neuen Mond grüßen noch
die Ehsten mit folgenden Worten : Terre Terre Kun sina wanax
mina norex Kun Kulda pelgex Rauta Rohwat terwex pidagex.
Den eigentlichen Verstand können sie selbst nicht wissen, son-
dern sagen, s'w habens von ihren Vor Eltern also gehöret und
gelemet. Meiner Meinung nacli konnte mans also verteut-
schen: Sey ge grüßet, Mond, daß du alt werdest, und ich
jung bleibe. Dem Monde gedeye das Gold zu seiner Schönheit,
die Menschen aber mögen so gesund bleiben, wie das Eisen
fest und starck ist.** Diese altlettischen und estnischen Ge-
bräuche sind bei den Russen in getreuer Nachahmung an*
zutreffen.
Wir haben nun noch einiges von den Wotjäken zu sagen,
deren Aberglaul)c dem russischen am nächsten steht.
Bei den Wotjäken gibt es eine Unmenge abergläubischer
Anzeichen und .A^nempfehlungcn. Wir erwähnen folgende^):
Wenn der Bär in des Dorfes Nähe seine Höhle gegraben hat,
wird das Jahr wildreich sein. Wenn der Rosse Mähnen sich
verwirren, wohnt die viehhütende Gottheit im Stalle. Wenn der
Hund heult, geschieht irgend ein Unheil. Wenn die Katze ihre
Ohren wäscht, wird schlechtes Wetter. Wenn das Schwein
grunzend Stroh zu seiner Schlafstelle trägt, wird kaltes Wetter.
Wenn du im Frühjahre das Schwein die gefrorene Erde auf-
wühlen siehst; oder wenn du den Schweinigel ausgestreckt
liegend siehst, wirst du im selben Jahre sterben. Wenn das
Eichh<)rnchen für den Winter viele Tannenzapfen sammelt,
wird der Winter kalt sein. Wenn du eine Ratte während einer
Hochzeit fängst und sie in den Bach wirfst, werden die übrigen
Ratten aus deinem Hause auswandern. Ißt du von Mäusen
angefressenes Brot, werden deine Zähne nie schmerzen. Die
Getreideart, welche die Mäuse besonders gefressen haben, wird
in dem Jahre nicht besonders gedeihen. Wenn im Frühjahr
die Vögel zeitig ankommen, wird der kommende Sommer warm
1) Dr. B. Munkdcsi, Votjak n6pkölt6szeti hagyomauyok. Verfasser hat
im Auftrage der ungarischen Akademie der Wiaeenschaiten 1885 eine Stadien-
reise im Lande der Wotjäken und Wogolen unternommen und ab Ergebnis
litiertes Werk in ungarischer Sprache im Verlage der genannten Akademie
berauigegeben. — Auszüge aus diesem Buche in ..Arn Urquell" IV 88 — 91.
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sein. Wenn der Hahn tadittags kräht, wird Krieg werden. Wenn
deine Henne wie ein Hahn kräht; oder wenn deine
Henne ein winziges Ei legt; oder wenn die Henne sich nicht
bis spät abends zum Schlafen setzt, so ist Unheil im Anzug.
Wenn sich eine Krähe aufs Hausdach setzte wird in diesem
Hause bald ein toter Mensch sein. Wenn an deinem Hause
eine Mauerschwalbe oder Taube lebt, so wirst du glücklich
leben ; wenn eine veCä-Schwalbe (hirundo rustica) lebt, so wirst
du verarmen. Wenn der Kuckuck auf deinem Drecke sitzend
seinen Ruf erschallen läßt und du ihn hörst, wirst du im
selben Jahre sterben. Wenn du im Frühling zuerst von allen
Vögeln die Wachtel hörst, werden das ganze Jahr hindurch
deine Pferde fett sein; hörst du aber den Wachtelkönig, werden
deine Pferde mager, ausgehungert sein. Wenn sich die Schaf-
zacke in deinen Nacken einbeißt, wächst hoch dein Hanf.
Schwarze Ameisen im Hause bedeuten Glück, Borkenkäfer da-
gegen Unglück. Im Regen stehend wächst du groß. Beim
ersten Donner im Frühling leg dich auf die Erde. Wenn es
donnert, halte deinen Hund nicht in der Stube, neben ihm
geht Schajtan (Satan) einher. Wenn nach Inniars (des obersten
Gottes) Blitzschlag Feuer entsteht, so lösche es mit Bier oder
Kwaß oder Milch; mit Wasser kannst du es nicht auslöschen.
Das von Inmars Blitz getroffene Holz ist ein Material für
gutklingende Harfen. Wenn du nachts ein Irrlicht siehst,
sprich : Mein Herr I Dieses Irrlicht ist die Seele einer verstor-
benen Hexe, des Menschen Seele zu erhaschen schweift das
Irrlicht umher. Im Frühling darf man nicht Eier essen oder
viel schlafen, man bekommt davon die Gelbsucht. Wenn die
Sonne tmtergeht, schlafe nicht; dein Kopf wird dir schmerzen.
Mittwoch und Freitag beginne nicht zu arbeiten. Bei Neu-
mond beginne nicht das Düngen oder welche Arbeit immer.
Zu Neumond geborenes Kind wird ein schweres Leben haben.
.'\m 2 1 . März lege man die Schlitten beiseite ; an diesem Tage
feiern selbst die Tiere; da bellt weder ein Hund, noch baut
ein Vogel sein Nest. Wenn du im Traume ins Wasser fällst
und untersinkst, wirst du sterben. Wenn du im Traume vom
Hausdach herabfällst, wirst du wachsen. Wenn du im Traume
ein neues Haus siehst, so stirbst du selbst oder es wird in
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— iü2 —
*
deinem Hause ein Toter sein. Wenn du im Traume einen
Pfaurer siehst, wirst du in deinem Hause einen Toten haben.
Damit dein geträumter Traum nicht über dich komme, so
spucke wenn du deine Notdurft verrichtet hast auf deinen
Dreck.
Die Wotjäken ehren außerordentlich ihre Wahrsager, denn
diese erhalten ihre Ausbildung direkt von den Göttern und
Engebi. Der Priester Waslljev^) erzahlt: Die Götter lehren
den Wahrsager über einen Bach gehen und warnen ihn vor
dem Absturz; stürzt er, so schlagen ihn die Götter. Sie lassen
den Wahrsager über die Wipfel und Birken springen oder in
Schlangen schlüpfen, die Feuer atmen. Der Wahrsager legt
sich eine Silbermünze auf den Finger imd sieht und erkennt
aus dieser Münze alles. Wer ein Wahrsager werden wird,
erkennt das Volk daran, daß der von den Göttern Bestimmte
sich oft vom Hause entfernt, um sich durch die Götter unter-
richten zu lassen. Niemand weiß, wohin der Wahrsager geht.
Der Auserwählte zeigt sich gewöhnlich narrisch, er schreit und
schlägt sich. Im Feuer verbrennt er nicht. Viele Wahrsager
machen verblüffende Kunststücke und gewinnen dadurch
Ansehen.
Zauberer, Hexen und Geister gibt es bei den Wotjäken
ohne Ende.*) Am Gründonnerstag verwandeln sie sich in
Schweine, Hunde, Katzen. Sie holen die Kinder noch vor
der Geburt aus dem Mutterleibe und verspeisen sie; statt des
Kindes legen sie der Mutter einen Feuersbrand unters Herz.
Wer ein Hexenmeister werden will, geht um Mittemacht mit
einem großen Brot in die Badstube, während dort kein Feuer
ist, setzt sich auf die Pritsche, tritt mit dem Fuße aufs Brot,
nimmt sein Kreuz vom Halse, legt es unter den anderen Fuß
und spricht: „Ich glaube nicht an Gottl" Dann kommen
die Teufel und lehren ihn wie er die Menschen verderben
soll. Der Zauberer kehrt auch nach seinem Tode in sein
Haus zurück; man erkennt dies daran, daß in seinem Grabe
1) Priester Johann Wasiljev, Ubersicht über die heidnischen Gebräuche,
Aberglauben und Religion der \Yotjaken in den Gouvernements Wjatka und
Kasan. Helsingfors 1902. S. 14.
•) WasUjev a. a. O. 3i.
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eine Offhtmg sich befindet; man stößt dann hier einen Pfahl
aus Espenholz hinein, und der Tote kann nicht mehr umher-
schweifen.
Von dem sogenannten Scharoanentum, dessen Reich sich
von Finnland bis zum äußersten Osten erstreckt und das auf
die Gebräuche und Sitten der Russen einen mächtigen Ein-
fluß ausgeübt hat« werden wir im nächsten Teile, wo von der
Religion, dem Klerus und Kultus der Russen die Rede sein
wirdj zu sprechen Gelegenheit haben.
Alle abergläubischen Gebräuche, die in diesem Abschnitte
erwähnt wurden, sind uralt. Die Russen haben sie ohne Aus-
nahme übernommen, als sie selbst noch Heiden waren; sie
haben, seit sie Christen geworden sind, es niemals verstanden
und auch niemals gewollt, dier heidnischen Völkersitten Unter-
drücker zu werden; sondern vielmehr ihr eigenes Denken
und Fühlen dem heidnischen angepaßt und untergeordnet.
Der gesamte Aberglaube des Nordens, der von der Ostsee
bis zum Stillen Ozean herrscht, stammt aus dem alten Finn-
land. Dieses Land, das Land der Tschuden, war schon in
den ältesten Zeiten berühmt wegen seiner Wahrsager und
Zauberer; man kaim aus dem christlichen Rußland zu den
Tschuden, um deren Zauberer Orakel zu vernehmen oder be-
rief berühmte tschudische Wahrsager nach den russischen
Städten. Die tschudischen Zauberer fühlten sich stärker als
der Russen Christen-Gott und wagten die höchsten kirchlichen
Würdenträger der Russen zu verspotten. Nur einmal hatte
ein Russe den Mut, solchen Spott zu strafen, und die Chronisten
verzeichnen diesen einen Fall mit besonderer Genugtuung als
ein Zeichen höchster christlicher Glaubenskraft. So berichten
sie: Ein tschudischer Zauberer insultierte den Bischof von
Nowgorod, indem er sagte, er könne größere Wunder tun
als der Diener des russischen Gottes; er werde also den Fluß
Wolchow trockenen Fußes durchschreiten. Das Volk drängte
sich herzu, um Zeuge zu sein wie der Heide über den
Bischof triumphieren wollte, und überhäufte schon den
christlichen Hirten mit Hohnreden. Da kam Gljeb Fürst
von Nowgorod herbei und näherte sich dem Zauberer mit der
Frage: „Meister, was denkst du bald zu werden?*' — „Ich
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— 104 —
werde große Wunder tun/' entgegnete der Zauberer. — ,J>u
lügst/' sagte der Fürst und hieb üim den Kopf ab. Das Volk
sah den unverwundbaren Wundermann fallen, aber d^ visr-
euizelte Streich hat dem Aberglauben der Russen nicht den
Garatis machen können. Das tschudische Zauberwesen hat
sich neben dem Christentum und stärker als dieses in Ruß-
land selbst behauptet. Es ist stärker als das Christentum,
starker wenigstens als das Christentum, das sich Orthodoxie
nennt. Denn in seinen Ursprungslande Finnland und in Skan-
dinavien, wo der Protestantismus Wurzel gefaßt hat, ist der
Aberglaube, wenn nicht verdrängt, so doch nicht mehr die
finstere Kraft, welche die Völker widerstandslos macht. Für
seinen Heimatsboden ist das Zauberwesen der Tsthuden histo-
rische Erinnerung geworden, lebt es nur noch fört in einer
Zauberlitexatur, die ihresgleichen nicht hat, in magischen For-
meln und Beschwörungen, die in Epen und Lieder gebannt sind ;
und wirkt überzeugend bloß noch in den niedersten Schichten
der menschlichen Gesellschaft. Im großen Rußland aber hkt
die Orthodoxie dem Aberglauben kein Hindernis entgegenr
gestellt; war sie vielmehr der Boden, der ihn liebend aufnahm
und dankbar festigte; und durch die Unwissenheit und Träg?
heit ihres Priestertums hat sie den tschudischen Abeiglauben
zu einer Religion in ihrer Religion gemacht, zu einem Neben-
buhler des Christentums und meist auch zu einem Beherrscher
der russischen Kirche. In Zeiten der Not und des Jammers,
wenn der Hunger, der in tausend Jahren hundertmal das russi-
sche Volk bedrückt und erschöpft, oder die Pest und die
Cholera ihre Geißel erbarmungslos schwingen, wenden sich die
Verzweifelten nicht zum Gotte der Orthodoxie, sondern zu jenän
Heiligen, die an die Stellen der alten Heidengötter getreten
sind; man vertraut nicht dem Glauben, sondern dem Aber-
glauben, lind weniger dem Priester als dem Magier. In Zeiten
der Ruhe und des normalen Lebens sorgt man für schwere
Tage vor, indem man durch die Zauberer Vorsichtsmaßregeln
treffen läßt. Nicht heimlich, sondern öffentlich; nicht Ein-
zelne, sondern die Gemeinden holen bei Schamanen und
Schwarzkünstlern Rat ein, wie die Menschen vor Krankheiten,
die Tiere vor Seuchen zu behüten sind. lüßt der Bauer seinen
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Acker durch den Priester einsegnen, so ruft er auch den
Hexenmeister zu nachträglicher Weihung die ihm sicherer
scheint als der S^en der Kirche. — Das Fest Semik^ das am
Sonntag nach Christi HimmelfahTt gefeiert wird und die Wieder-
kehr der Fruchtbarkeit symbolisiert, ist die reine Kopie des
heidnischen Festes der Slawen, und wie vor tausend Jahren
schmückt man die Baume mit Bändern und betet sie an.')
In den Festliedem besingt man Tur, Did und Lada, die Götter
des Vergnügens und der Liebe; die Alten berauschen sich
im Branntwein, und die Jugend, durch laszive Tänze erhitzt,
spaziert in die Büsche. Das russische Wort für spazieren, guljat,
bedeutet in ausgebssenem Sinne auch huren, und beim Feste
Semik gewinnt es diese zweite Bedeutung vollkommen, ohne
daß die orthodoxe Moral . sich verletzt fühlen würde. So
machen es auch die heidnischen Wotjäken'): Jünglinge und
Madchen ziehen am Vorabend der Feste von Haus zu Haus
und tanzen obszöne Tänze, singen obszöne Lieder und ver-
schwinden dann hinter Gebalk oder in Gärten, um der Wollust
zu frönen; auth bei ihnen heißt diese freie Sitte der Liebe
jumSan, der Spaziergang. Auch bei den Prostituierten ist dieses
Wort vom Spazierengehen zur eigentümlich präzisen Charakteri-
sierung ihrer Beschäftigung in häufigster Anwendung.*) So
sagt die Prostituierte in Petersburg, wenn sie sich auf den
Kundenfang vom Hause fortbegibt: „ryASK>", ich bummele.
Und sie schildert gleichzeitig den Grad ihrer Abhängigkeit von
ihren Exploitatoren durch folgende Ausdrücke: „lyjxsx) Ha
celSa*' oder „rywuo na xoaattKy", nämlich : ich bummde für mich,
um mir selbst Geld zu erwerben; oder ich bummele für Rech-
nung der Wirtin, um für die Wirtin Geld zu verdienen.
Die Popen finden in den erwähnten Spaziergängen,
nichts Unsittliches und nichts Unchristliches; trinken selbst
*) LefOjT'BMaljMt. Dm Rath der lartn. III 38.
2) Chronique de Nestor TT Anhang 173,
') Mimknc-^i. iu ,,Am Urquell" I\' 91.
*) Vgl. i>ie Prostitution, lüin Beitrag zur öffentlichen Sexualhypiene
uuil tut staatlichen Prophylaxe der Geschlechtskraukheiten. Eine üozial-
mrimniiehe Studie Dr. C Ströhmbcrg, Stadtertt vad Obervst des
Stadthospitale in Jnrjeir (Dorpat). Stuttgart 1899. S. 35.
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— 106 —
mit bei den Festen, beteiligen sich selbst an den Vergnügungen,
welche die alten Liebesgötter beschützen. Machen sie doch
auch die weniger amüsanten Oberlieferungen des Heidentums
willig mit. Der gottesfürchtige Priester der orthodoxen Kirche
halt es mit dem Glauben vereinbar, sich über ein Feld hin-
ziehen zu lassen, um dem Bauer die Gewißheit zu verschaffen,
daß durch diesen magisch-religiösen Akt Gott sich bewegen
lassen werde, die Runkelrüben dicker und größer wachsen
zu lassen. Freudig legt der Pope sein Haupt in des Bauern
Schoß und läßt sich einige Haare ausrupfen, damit durch deren
Verbrennung bei entsprechender Beschwönmgsformd das Ge-
deihen des Flachses gefördert werde.^) Wenn es gilt dem
Wüten der Rinderpest Einhalt zu tun^); so sieht' man selbst
im Mittelpunkte des Reiches, also in den Gouvernements um
Moskau herum, die ländliche Bevölkerung zu den Riten der
heidnischen Ahnen zurückkehren: Dann machen sich die
Weiber auf, um durch das Umpflügen die Seuche zu bannen.
Die Alten gehen halbnackt mit den Heiligenbildern voraus,
die Mädchen aber werden, so wie Gott sie erschaffen hat, vor
^inen Pflug gespannt und ziehen mit ihm dreimal um das
Dorf herum eine Furche, einen Schutzgraben, über den die
Seuche nicht hinüber kann. Nützt das Werk der Weiber
nicht, dann wissen die Manner ein anderes Mittd: Sie machen
eine Strohpuppe als Identifizierung der Seuche, binden die
Puppe mit einer Katze oder einem Hunde zusammen, ziehen
in Prozession zum Flusse unter Voranschreiten des Popen, der
in seiner festlichen Tracht an der Ersäufung der Seuchenfhippe
und der Seuchentiere teilnimmt tmd die heilige Handlung des
Aberglaubens nach kirchlichem Ritus segnet.
Die Kirche der Orthodoxie duldet nicht bloß die Opferung
von Stieren und Böcken bei den Burjäten gelegratlidi des
Festes am Tage des Propheten Elias (am 20. Juli), sondern
sie laßt diese Opferung auch in der Umzäunung der Kirche
vornehmen, und das gekochte Fleisch der Opfertiere wird zur
1) Lanin. Russische Zustände I 85.
s) Lcfoy-BeauUeu a. a. O. III 38. — Löwcnstünin, Abcrglanbe md
Stnfrecht. (Am dem Ri»siscli«ii.) S. 24.
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— 107 —
Hälfte an die Bauern, zur anderen Hälfte aber an die Priester
und Kirchendiener vertat
Von der Opferung eines Tieres bis zur Ofienmg von
Menschen ist in diesem heidnisch-orthodox«! Rußland nur
ein einziger Schritt. Und wir sehen tatsächlich die Kirche
auch bei MenschenopCerungen und Ermordungen von Zaube-
rern assistieren. In alten Zeiten wurden in Rußland Hexen
mit Vögeln, Katzen und Hunden zusammengebunden und
lebend in den Fluß geworfen oder in die Erde verscharrt.
Nicht immer wird heutzutage die Krankheitshexe durch eine
Strohpuppe ersetzt, wie wir es vorher gesehen haben. Allzu-
oft wird noch dieselbe Zeremonie mit lebenden Menschen und
Tieren wiederholt; vielleicht daß man eher mit den Tieren
Mitleid hat als mit den Menschen; und wenn der Pope mit
dem Kreuze erscheint, so geschieht dies nicht, um das Ver-
brechen zu verdammen, sondern die Handlung zu heiligen.
Glaubt das Volk, daß ein Vampyr im Dorfe umherschweife,
so zieht es mit dem Popen an der Spitze zum Grabe des Vam-
pyrs, holt die Leiche hervor und durchstößt sie mit dem
Eschenholzpfahle, nachdem der Pope seine Genehmigung und
seinen Segen dazu erteilt hat.
Und stehen nicht die Popen und Nonnen selbst den heid-
nischen Zauberern und Hexen naher als Priestern einer christ-
lichen Kirche? Vor zweihundert Jahren schrieb ein deutscher
Reisender') : ,,Es werden selten / sonderlich unter vornehmen
Leuten Heyrathen vollzogen / wo nicht einige Zauberey mit
vorgehet / die man unter anderen denen Nonnen schuld
giebet / welche ihr vornehmstes Geschafft darmit treiben."
Das ist heute nicht anders, nicht besser jedenfalls. Das Haupt-
geschäft dei' orthodoxen Priester und Nonnen ist der Handel
mit Aberglauben, Verbrechen und Unsittlichkeit.
Was ist hier Religion? Baron Herberstein erzählt, daß
Großfürst Iwan Danilowitsch deshalb Moskwa zu seiner stän-
digen Residenz machte, weil dort die Gebeine des heiligen
wundertätigen Alexej ruhten. Als Peter der Große seine Resi-
1) Löwenstinim a. a. O. to.
Rdw nadi Nordeo. 1705. S. 130.
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— 108 —
denz an die Newa verlegte, jammerte Rußland« das kömie
nicht Glück bringen, weil in der neuen Hauptstadt keines
Heiligen Grab sich befand. Und Peter der Große, der das
Patriarchat abschaffte, die Zauberei bekämpfte, den Bart
rasierte, ließ eilig die Gebeine des heiligen Alexander Newsky
von Wolodimir nach Petersburg mit feierlichstem Pomp über-
führen, um das Gedeihen der neuen Hauptstadt zu sichern.,
Was ist Sunde? Nicht ehebrechen, huren, rauben, morden^
lügen. Aber Sünde ist es, wenn eine Frau, die ihre Men-
struation hat, ein Hefligenbild berührt; und Sünde ist es, wenn
man in der Kirche freiwillig oder unabsichtlich einem Heiligen-
bilde den Rücken zukehrt.
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ZWEITER TEIL:
Elirche, Klerus und Sekten
7. Religion und Popentum. — 8. Unsitten
im Mönchstum. — 9. Heiligenkult und
Mystizismus. — 20. Sektenwesen. —
II. Erotische Sekten und Flagellanten.
— 12. Selbstverstümmler und Skopzen.
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r
7. Religion und Popentum,
Die GlftuMgkeit des RiUMen — RuMische Bek«iuitiiiaM » Fabch« durbten*
tom — Religiosität im Aberglauben — Der Zar ist Gott — Religion und Auto-
kratie ■ — Religion und Geschlechtsleben — Fasten und Coitus — Coitus und
Kirchenbesuch — Die Frömmigkeit der Prostituierten — Unsittlichkeit des
Tauiens — Predigen ist verpönt — Das Kreuzschlagen — Feste und Fasten — •
Uaracht nod Unordnungen in der Bnttenrodie — Erfolglosigkeit des Fro>
tdTtismns — Bestrafung Abtrünniger — Niedrigkeit des Priestertums —
Prügelnng von Priestern — Die Hauszucht der Bischöfe — Barbarei in den
Popcnschulcn — l'nwisscnhcit des niederen Klerus — Urteil eines Bischofs über
das Popentum — Verkauf der Kirchenstellungcn — Armut, Elend und Sitten-
losigkeit im Popentum — Die Beichte im Dienste der Pohzei — Trunksucht
der Popen » Sdiaeher mit Abergilambe and Rdigkn Der Pope ein un-
reines und zochtlotoe Geadi<}pf — Schuld der Regierung tmd des hohen Klents
an der Verkommenheit des Popentums — Maityxfom d« Pbpen.
Der Franzose Custine^) schrieb einmal diesen Satz nieder:
,,Le peuple russe est de nos jours le plus croyant des peuples
chrdtiens.** £s wäre falsch, wollte man dieses Urteil des
Westens in europäischem Sinne uneingeschränkt bestätigen.
Das russische Volk ist das gläubigste unter allen christlichen
Völkern, aber sein Glaube selbst verdient nicht den Namen
des Christentums und entspricht nicht den Begriffen, welche
die Völker des Westens vom Christentum haben. Russen sind
es, die uns am aufrichtigsten über diesen Punkt aufklären.
Wyrubow schrieb 2): „In Rußland gab es wohl Kirchen, aber
es hat dort niemals eine Religion gegeben, es sei denn die
primitivste Vielgötterei. Die Kirche hat nach und nach das
Heidentum aufgelöst, ohne daß es ihr gelungen wäre, etwas
Anderes an die Stelle zu setzen." Und noch deutlicher ist
1) a. tu o. in 115.
*) Levojr-BennUen, Des Reich der Zsren III 36,
Üigiiizeü by <jüOgIe
— 112 —
der Ausspruch des berühmten Kritikers BjeHnskij in cineni
Briefe an den großen Dichter Gogolj : Betrachten Sie das \'olk.
genau, und Sie werden die Wahrnehmung machen, daß es von
Grund aus gottlos ist. Es hat seinen Aberglauben, aber keine
Religion." Das russische Volk ist das gläubigste Volk, doch
sein Glaube erhebt es nicht über sich selbst zu Reinheit und
Vollkommenheit, sondern zieht es hinab zu den Anschau-
ungen der primitivsten Naturvölker. Der Russe ist fern davon,
die lichte Einheitlichkeit des Weltensrhopfers zu erkennen;
er stolpert noch im dunkeln und klammert sich an die ge-
heimnisvollen Mächte des Heils und des I 'nheils. an die Götter
der Vergangenheit, die man durch Beschwörungen und Opfer
versöhnte und günstig stimmte für die Pläne der Irdischen.
So dürfte man eigentlich nicht einfach sagen: der Russe ist
tiefreligiös, durchaus gläubig, sondern richtiger: er ist religiös
in seinem Aberglauben : er wäre der gläubigste Christ, wenn
seine Religion das Christentum genannt werden könnte. Die
despotischen Herrscher Rußlands haben alles aufgeboten, um
nicht das Christentum wirklich zur Religion werden zu
lassen, denn die Zaren selbst setzten sich im Gbnhen des
Volkes an die Stelle Gottes und wollten sich niemals von
diesem Platze verdrängen lassen. In einer älteren muster-
gültigen und noch heute nicht anfechtbaren Schilderung der
russischen Religion^) heißt es: ..Die Moscowiter hallen als
einen Giaubens-Articul / der W ille ihres Fürsten oder Czars
sey Gottes Wille: so daß sie / wenn sie in etwas zweiffein /
als cm Sprichwort sagen: GOtt und unser Czar weiß es Sie
nennen auch den Czar / den Schlüssel-Träger und KaiiiiiKT-
Diener unseres GOttcs. in Summa / sie glauben dieser Herr
sey derjeniire / so das Wort und den Willen GOttes aus-
richte / und müsse man allem / was er in Glaubens Sachen
billiget / und ihm gut düiicket / als einer gerechten und
billigen Sache folgen." Und anderthalb lalirhunderte später
durfte sich ein Verteidiger des Absolutismus Xikolaj's I. dar-
auf berufen^), daß für die Russen des Zaren Wille Gottes
*) Religion der Mosconiter / Anno 171a. S» 98.
') Kaiser Nikolaus der Ento gegenüber der ÖffentUdMii Meinvng von
EiiTO|ia, Weimar 1848. S. 51«
Üigiiiztiü by CaüOgle
- 113 -
Wille sei ; ,,er mag Gutes oder Böses befehlen, so halten sie
es für den ruchlosesten Frevel sich zu widersetzen, da Gottes
und des» Fürsten Wille einerlei sei, und sie von Gott stets
einen flehen Fürsten erhielten, wie sie ihn verdienten, bald
einen milden, bald einen harten. Die Russen glauben ferner,
daß alle diejenigen, welche auf Befehl des Czars sterben,
sogleich selig werden, wie Märtyrer, die in und für den wahren
Glauben gestorben seien.'* Der Verteidiger des russischen Ab-
solutismus schwingt sich auf Grund der Auffassung von der
Gottgleicfahdt der Zaren zu diesen Schlußfolgerungen auf:
„Mögen auch die Völker des Westens diesen kindlichen Glauben
belächeln und - in ihm nur das brauchbarste Werkzeug des
Absolutismus erkennen; doch sollten sie sich zugleich die Frage
stellen, ob eine solche Politik nicht zweckmäßiger ist, als das
sehr kostspielige Scheinkönigthum der Briten, welches wenn
das Volk ein in die Sinne fallendes Bild der Oberherrschalt
nicht entbehren zu können meint, durch eine kostbar gekleidete
Puppe ebensogut und zugleich weit büliger repräsentiert werden
könnte.** Die Stellung, die der Zar im Glauben der Russen
einnimmt, zeigt „wie schlecht diejenigen über Rußland unter-
richtet sind, welche hoffen, daß eine politische Umwälzung
daselbst aus dem Volke selber hervorgehen könnet Aus diesem
Gesichtspunkte wird man es auch begreiflich finden, warum
Nicolaus seinen Unterthanen das Reisen ins Ausland erschwert,
die Communication mit demselben zu verhindern strebt, vor
Allem aber der seit Peter dem Großen unter dem Adel ein*
gerissenen Nachäffung des Auslands aus allen Kräften ent-
gegenzuwirken trachtet, damit nicht Rußland einst den Tod
der Türkei sterbe, deren letzte Lebenskräfte durch Reform-
Projekte verzehrt werden.**
In dieser unfreiwillig freimütigen Darstellung des Selbst-
herrschertums spiegelt sich nicht bloß das Wesen der Auto-
kratie klar wieder, sondern wir finden darin auch die wahren
Gründe, warum in Rußland keine Religion existieren kann;
solange der Zar Gott auf Erden sein und bleiben will, darf
das Volk nur ein Christentum kennen, das sich in Außer-
lidriceiten, Dogmen und Formeln erschöpft: darf es außer
an dir Allmacht und Herrlichkeit des Zaren an nichts sonst
Sl«ra, GcMhiehte der AScdiI. Sittlichkeit in RidUand. 8
Üigiiizeü by i^üOgle
-~ 114 —
glauben und die unter der Schwelle des BewuBtseins schlum-
mernden religidsen Bedürfnisse, wenn sie emmal erwacfaeo,
nur durch solche Gebräuche befriedigen, die dem Ssamoder-
schezy dem Alleinherrschenden Gott>Zaren, niemals gelahrüdi
werden können.
In richtiger Schätzung der Sinnlichkeit als des bedeu-
tendsten Chaiakterzuges des russischen Volkes hat der Klerus
als gehorsamer Vollstrecker der zarisch-göttlichen Intentionen
die Religiosität der Russen vornehmlich in allen jenen Hand*
lungen sich ausleben lassen, die mit dem Geschlechtlichen
in Zusammenhang sind. Die Fastenzeit ist die schwerste Prü-
fung, welcher der rechtgläubige Russe sich zu untorwerfen
hat; denn man muß während der Fasten nicht bloß der Fleisch-
und Milchnahrung und dem Tabakschnupfen entsagen, sondern
fühlt die ernste Wirkung der Glaubensregel namentlich in dem
Verbote selbst des gesetzlichen Beischlafs. Die Neuvermählten
forderte der Priester früher auf, die ersten zwei Nächte ihres
Zusammenlebens keusch und in Gebeten zu verbringen; die
erste Nacht, um die Dämone, die das Ehebett umlauern, zu
vertreiben ; die zweite zu Ehren der Patriarchen. Ein frommes
russisches Ehepaar gibt sich dem ehelichen Vergnügen nicht
hin, ohne vorher gebetet zu haben; auch nach Vollendung
des Geschlechtsaktes spricht man ein Gebet, aus Angst vor
Behexung. Der russische Gesandte Dmitry- erzählte, als er
um 1 500 in Rom weilte, dem Paulus Jovius : „daß in Rußland
Eheleute nach dem Genüsse gesetzlicher Liebe nicht in das
Innere der Kirche treten dürfen, sondern die Messe in der
Vorhalle stehend hören; und daß junge unbescheidene Leute,
die sie da sehen, die Ursache erratoi, und die Weiber durch
ihre Spöttereien schamrot machen." Ist schon die gesetzliche,
von den Priestern geweihte Liebe solchen religiösen Skrupeln
ausgesetzt, so ist es natürlich, daß die Prostituierten für ihr
Gewerbe noch schlimmere Anfechtungen des Gewissens be-
fürchten; sie umgeben sich daher mit Talismanen und Re-
liquien. Kein Bordeil ist ohne Heiligenbilder, jedes Mädchen
hat in ihrem Zimmer ihren Schutzpatron, an den es sich in-
brünstig vor Ausübung einer jeden Tat wendet, auf daß der
Akt nicht von bösen Folgen begleitet sei. Während der Zeit,
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- 116 —
da nach dem Gebet zum Heiligen der Wollust geopfert wird,
bleibt das Bild des Heiligen cur Wand gedreht oder mit einem
Tuche verhängt. Nach Entfernung des Gastes wird das
Heiligenbild von dem Tuche befreit und empfängt von dem
Mädchen außer Dankesworten auch ein Geschenk in barem
Gelde oder eine neue Kerze.
Bei der Taufe von Proselyten müssen sich Männer wie
Frauen nackt ausiidien tmd vor d«r Versammlung gänzÜdi
in einer Wanne oder in einem Teiche untertauchen lassen.
Dieser Gebxauch, der von der Kirche als etwas Unabänder-
liches gefordert wird, ist gewiß nicht geeignet, das ohnehin
laxe Schamgefühl der Russen und Russinnen zu veredeln.
Allein Dogmen, Formeln und Tradition sind die Fundamente
der russischen Religion, die keine Ethik und keine Ästhetik
kennt, die nur eine mechanische Erfüllung der Gebräuche
und nicht Rücksicht auf die Sittlichkeit fordert.
..Unter zchcn wird kaum einer unter den Moscowitem
gefunden / der das Vater-Unser beten /' und fast keiner /
der das Synibolum der Apostel hersagen könne. Hierüber
sagen sie / ein so heiliges Geheimniß müsse nicht so gemein
gemacht / noch so öffentlich hergesaget werden."*) — Der
russische Gcsanriu: Dniitry erklärte in Rom dem Paulus ]o-
vius^K . daß die Russen in iiircu Kirchen keine l'redigte.n
(iuidrii, um da Gottes Wort allein, ohne Zusatz mensrhlicher.
uiu der Einfachheit dc> Lvan^c liuins nicht übereinstimmender
Spitzfindigkeiten zu hören." Also keine Rildi;]i<^:, kerne Predigt,
jedoch unermüdliches Kreuzschlagca und unaufhörliches An-
beten der Heiligenbilder. Morgens beim Aufstehen und Abends
beim Schlafengehen, beim Speisen, beim Beginn einer Arbeil,
beim Anblick einer Kirche, eines Klosters, einer Kapelle schlägt
man das Kreuz. Aber auch der Dieb, bevor er einen Raub
ausführt, und der Mörder, bevor er die Waffe zum todbringen-
den Schlage erhebt, auch sie bekreuzigen sich und beten zu
ihrem Schutzpatron um Gelingen des Werkes. „Vor einigen
Rdigk» der MoMowiter S. 53.
*) Kaxasum, Deutsche Ausgabe VII 174 (Irans. Übersetzung Vli 273).
Üigiiizeu by <jüOgIe
116 -
Jahren geschah es," erzählte einst Peter von Haven^j, „dab
als ein rußischer Soldat einer Missethat halber angeklagt ward,
dieser ini Gericht aussagte : daß er diese That nicht als sündlich
angesehen, auch selbige niemahls begangen, ehe er nicht sich
mit dem Kreutze bezeichnet, und vor Gott auf die Erde nieder-
geworfen hätte." Mord und Diebstahl, durch ein Kreuzschla-
gen eingeleitet und geweiht, sind im schlimmsten Falle harm-
lose Vergehen im Vergleiche zu dem Verbrechen, das man be-
geht, wenn man in der Fastenzeit seiner Frau beiwohnt, oder
Fleisch, Eier und Mehlspeisen genießt. Man halte nur streng
die Festtage und Fastenzeiten, und man ist der frönmiste und
gläubigste aller Christen. Außer den 52 Sonntagen hat man
ebensoviele Festtage im Jahre ; die larisch-göttliche Katharina II.
hatte außer den kirchlichen Festtagen dt in Kultus ihrer Maje-
stät 25 Tage einräumen lassen: man mußte mit Gottesdienst
und Sabbatruhe nicht bloß alljährlich ihren Geburts-, Namens-,
Thronbesteigungs- und Krönungstag feiern, sondern auch den
Tag, an dem sie zum ersten Male geimpft worden Wjir. Fest-
tage sind jetzt nicht nur die Geburts- und Namenstage des
2^enpaares, sondern auch die des Thronfolgers, die des ver-
storbenen Vaters und Großvaters des Zaren, und der Er-
innerungstag an die Katastrophe bei Borki. Einen noch
größeren Teil des Jahres, von dem schon nach .Abrechnung der
Festtage für das profane Leben nicht viel übrig bleibt, nehmen
die Fasten ein: Das große Fasten, dem katholisclien ent-
sprechend, dauert 40 Tage. E^in zweites Fasten beginnt acht
Tage nach Pfingsten und endet am Peterpaulstage. Das dritte
Fasten vom i. August bis zum Tage Maria Himmelfahrt ge-
schieht zu Ehren der Mutter (iottes. Das vierte Fasten end-
lich begmiu am 12, November und schließt Weihnachten ab.
Außerdem tasten besonders Fromme alle Mittwoch und Freitag;
den Sonnabeixl darf man nicht zum Fastentage machen.
Es wäre nach dem bisherigen kaum notwendig zu sagen,
daß die russische Religioji keine werbende Kraft besitzt und
sich darauf beschränken muß;, Proselyten durch Korruption
1) Abschnitte aus Peter von Häven Nachrichten aus Rußland. Bfl*
schiuRB Magazin X 343.
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— 117 —
zu gewinnen. So lesen wir in einem älteren Buche ,,Der
Gebrauch, den sie sonst hatten / die Fremden zu Annehmung
ihrer Religion zu erkauffen / ist aufgehoben. Wann einer
der Seinigen absaget / es sey ein Catholic oder Reformirter
/ so muß er auch seiner ersten Tauffe renunciren / seinen
Vätern und seine Mutter verschweren / und dreymal über
seine Achsel speyen. Etliche alte Einwohner in Rußland
haben observtret / daß von 200. so wol Engelländer / als
Schott* und Holländer / welche die Russische Religion an-
genommen / fast nicht ein eintziger eines natürlichen Todes
gestorben sey." Die von der Orthodoxie geforderte Ver«
fluchung der Eltern hat sicher manchen Proselyten im letzten
Augenblicke von dem entscheidenden Schritte zurückgehalten,
und dies umsomehr als die bloß auf das Äußerliche zugerich-
teten .Gebräuche der russischen Kirche keine fühlende Sede
zu fesseln vermögen. Erst unter der Zarin Elisabeth Petrowna
begann der offizielle Zwang zum Obertritte Fremdglaubiger
in die russische Kirche und die schwere Bestrafung von Russen,
welche ihren Glauben verließen. Als zur Zeit der Herrschaft
dieser Zarin die Fürstin Irene Dolgorukij zum Katholizismus
übergetreten war, wurde der Gemahl der Abtrünnigen, „weil
er den Glauben seiner Frau nicht genügend bewachte/* straf-
weise in ein Kloster gesperrt ; die französische Gouvernante der
Fürstin, Mademoiselle Beret, die im Verdachte stand, die Gram*
matik mit dem Katechismus vertauscht zu haben, mußte viele
Jahre als Gefangene des HeÜigen Synod schwere Leiden er-
dulden.*) Nikolaj I. und Alexander III. verfolgten nicht Uoß
die Altgläubigen, Sektierer und Abtrünnigen, sondern erneuer-
ten die Ukase alter Zeiten, in denen befohlen wird, jeden als
Rebellen zu behandeln, der sich der Ausbreitung der russischen
Religion widersetzen würde. Aber weder Gewalt noch Kor-
ruption vermochten viel zu erreichen, und dies ist begreiflich,
wenn man bedenkt, daß nicht nur die Religion keine werbende
Kraft besitzt, sondern auch das Priestertum, welches diese
Religion lehrt und vertritt, weder bei den Fremden noch bei
1) Robe nach Norden S. 123.
•) W«]tMewdd. La dernMre des Romanov. p. 47.
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den eigenen Religion$genossen sich die geringste Achtung zu
erwerben verstand. Diese Priester und Mönche der russischen
Kirche halten alle anderen Religionen für verächtlich, sie fühlen
aber nicht den Beruf in sich, Bekehrer zur Rechtgläubigkeit
zu sein, und besitzen nicht die Kraft der Überzeugung, um
durch die Macht ihrer rechtgläubigen Religion die Irrenden
der übrigen Konfessionen auf den rechten Weg zu bringen.
So bleiben, wenn man Proselyten machen will, nur die Mittel
der Bestechung oder der I^ute. Diese Mittel mögen uns
fremdartig und barbarisch erscheinen, in Rußland sind sie die
natürlidisten; werden doch dort auch die Popen der eigenen
Kirche nicht anders erzogen als durch die IQmte. Seit alter
Zeit her bestand ein Gesetz, das die körperliche Züchtigung
der Popen und Diakone durch ihre Vorgesetzten gestattete.
In den Aufzeichnungen Rostislawows, Professors der Peters-
burger geistlichen Akademie^), wird eine stdche Züchtigungs-
szene geschildert: „Was bist du für ein Schelm, Intrigant,
Taugenichts, ri«^ der Bischof, ich will dich lehren l Bringt die
Peitschen') herl — Sofort erschienen die Kutscher oder andere
Diener mit zweischwänzigen Riemen. ~ Entkleide dich und
strecke dich hin! befahl der Bischof. — Der zu Bestrafende
legte seine Oberkleidung ab und mußte sich auf den Boden
strecken. Dann traten zwei Diener des Bischofs mit Peitschen
herzu. Vier Geistliche knieten nieder und hielten dio Füße
und die im Kreuze übereinandergelegten Hände des Delin-
quenten, der so lag, daß für die Zwi ischwänzigen räumlich
genügend entblößter Körper vorhanden war und für den
Bischof, der auf dem Divan saß, ein freier Ausblick blieb
zur Kontrolle, ob die Schläge alle gut trafen. Am häufigsten
prügelte man die Küster, dann die Diakone, aber es gab auch
für die Pfarrer keine Gnade, besonders wenn sie noch jung
waren. Man schlug grausam. So wurde häufig ein Priester,
der noch vor kurzem das unblutige Opfer ^) gebracht hatte.
*) ]{. 11. r<»crHcaauüin., rytrua« cTapuua 1880. — Vgl. Schiemann,
Alexander I. S. 405 und 407 Anmerkung.
•) Peitsche, Pletj.
*) Das Abendmahl.
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— 119 —
selbst bis aufs Blut geschlagen. Mein Großvater, der mehr
als einen am Fuße oder an der Hand gehalten hat. pflegte
zu sagen: Hu! man wurde heiß dabei, und ein Zittern ging
durch den ganzen Körper," — Im Jahre 1802 wurde vom
Zaren Alexander dem Ersten das Gesetz, das die Züchtigung
der Geistlichen gestattete, auf gehoben. Und doch mußte
genau hundert Jahre später, am i. April 1902, in einem offi-
ziellen Erlaß der Regierung die Angelegenheit ganz neu er-
wogen werden. Dieses merkwürdige Dokument, ein Statut
für die Kirchengemeindeschulen. besagt in seinen Paragraphen
7 und 1 1 : daß von den Körperstrafen zu befreien seien erstens :
die Zöglintj^e der Lehrerseminare sowohl während ihrer Schul-
zeit als auch nach Absolvierung des Kursus; und zweitens:
die Lehrer und Kuratoren der Kirchengemeindecrhulen —
Diese Lehrer sind fast durchwegs Geistliche und die Zöglinge
dieser Lehrerseminare werden Popen. Bemerkenswert ist. daß
infolge des Regierungserlasses und auf \''eranlassung des Un-
terrichlsministenunis der Kurator dc^ .Moskauer Lehrbezirkes
sich im Oktober 19022) an die Lehranstalten wandte, um
deren Ansichten darülx-i rinzuholen : ob auch dem Bauern-
stände angehörende Schuler mittlerer und unterer Lehranstal-
ten von der Korperstrafe zu befreien seien. —
Knute und Pletj als Erzieherinnen der Geistlichkeit haben
nicht viel gefruchtet, wohl auch deshalb nicht, weil sie nicht
einmal von einem einigermaßen geeigneten Unterricht unter-
i^tützt wurden. Bis vor einem Jahrhundert lehrte man in den
geistlichf-n Seminaren in lateinisciier .Sprache, seither auch
in rubDibcher. Was man aber in diesen Schulen Philosophie,
Rhetorik und Theologie nannte, hatte mit keiner dieser Wissen-
schaften etwas gemein«*); man verlangte bloß eine unnütze
^) hiemann a. a. O. S. 407.
2) Lodxer Zeitung üx. 248 vom lö.fzg. Oktober 1902.
9) Es iukd «ch mchtsdestoweniger doch «in Verteidiger dieaer Art BQ^
dnag. In der Jen. literaturseitiiiig 1843, S. 11 10, lieO sich Stepihaa SaUnin
■ko vemeimieii: „W» Känder des Klerus werden, solaiige sie in den Dorf-
und Beiirksschulen sind, auf Kosten ilirt-r ICItem erzogen, al'cr in den Semi-
naren ohne .Ausnahme auf Kosten der Krone mit WohnunL; und Unterhalt,
die Armen auch mit Bekleidung versehen. Nach beendetem Kursus fahren
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— 120 —
furchtbare Anstrengung dcb Gedächtnisses, und wem dieses
versagte, der unterlag den härtesten körperlichen Strafen.*)
Und so wurden diese Popenschulen, durchwegs Internate, zu
wahren Martennstituten, denen die Eltern ihre Kinder zu ent-
ziehen suchten, trotzdem es in Rußland Tradition ist, daß
Popensöhne wieder Popen werden müssen. Viele Seminaristen
entflohen, um der geistigen und materiellen Not, die sie in
den Internaten zu erdulden hatten, zu entgehen, und wurden
wieder Angehörige des simplen Bauernstandes, aus dt m ihre
Ahnen hervorgegangen waren. Die Regierung ließ solche
Flüchtlinge einfangen und gewaltsam in die Schulen zurück-
schleppen. Auch war es keine Seltenheit, daß die Polizei
einen Popensohn, der von den Eltern versteckt gehalten und
noch gar nicht dem Seminar ausgeliefert worden war, als
„Rekruten der Seminarbildung", wie man diese jungen Leute
nannte, aus seinem \'ersieck hervorholte und gefesselt in
das Internat schleppte, damit er nolens volens Pope wurde!
So bereitt tf man diese durch Jahrhunderte einzigen Lehrer
des russischen Volkes auf ihren Beruf vor; die Resultate ent-
sprachen und entsprechen noch heute dem Ursprung. Wohl
ist seit einem Sakulum mehrmals versucht worden, die geist-
lichen Schulen auf ein höheres Niveau zu bringen, aber die
Reformen blieben stets in Antangen stecken, und der Dorf-
geistliche*) ist noch immer der f'aria KulM uids. Die Urteile
aus \ erschiedeneu Jahi huiidci tcu, \ uii Ausländern über die
russische Geistlichkeit gefällt, sind immer die gleichen ge-
blieben : noch mehr ; auch heute gelten sie, ohne daß irgend
eine gunstigere Korrektur möglich wäre :
,,Les pretres, seuls instituteurs alors," heißt es bei S^gur
über die Priester zur Zeit Peters des Großen^), „etaient trop
diejenigen, die keine stelle (.jleicli erhalten, in theologischen und philologischen
Studien fort, die Armen bleiben weiter in den Seminarien. Die ruü&isdie
Gcistüchkeit scbreitet in der Kldung hnnwm aber sicher fort,"
. >> Schiemaim a. a. O.' S. 407.
*) Man lese die merkwürdigen Memoiren eines Dorfgeistlichen in <fer
Sehlem annschen Bibliothek nissischer Denkwürdigkeiten, Stuttgart 1894,
3) Histoire de Russie et de Pierre- le-Graud par le gto^ral Comte de S6gur.
Paria 1829, pp. 215. 310, 312.
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grossiers pour inspirer de la moralite. — Les pr^trcs, grecs
de religion, ignoraient le grec, le latin, savaient h peine lire,
et croupissaient dans une ivrognerie continuelle: une correc-
tion typographique faite aux grossi^res ^ditions de leur Bible
Icur paraissait un horriblc sacrilege. — Les pr^tres. superstitieux
par etat, fanatiqucs par ignorancc, par intcrct. j)ar Torgueil
de leur puissance sur l'csprit d'un peupie plus ignorant qu'eux :
ces pr^tres maudissent d'avance toutc Innovation, venant sur
tout des pays oü regne une secte redoutee. Ce sunt eux qui
ont brül(/ la prcmicre imprimerie qu'Alexis avait essaye d'etablir.
Voil^ comme ils repoussent toutes les aiiu-liorations romme
d'ahnminables sacrilegcs, soit fanatisme, soit instinet d'immu-
ta!)ilite. indispensable, en effet, ä l'existenrr de tout pouvoir
ioude sui l'erreur et la superstition." ..Die Unwissenheit
der Clerisci zu Anfang der Regierung Peters," schreibt der
/t itk:« iiosse Vockfrodt^X ..war weit gröber als sie in FAiropa
in ihn finstersten Seculis des Pahstthums gewesen sein kann.
Predigen war bei ihnen ganz und gar nicht Mode. Wer lesen
und schreiben konnte, und die Ceremonien der Kirche zu be-
obachten wußte, (kr hatte alle Requisit(ii, die man nicht nur
zu einem Priester, sondern auch zu < inf rn liischof erforderte.
Konnte er sich dabei in Reputation eines strengen Lebens
setzen, und war von Natur mit einem weitschichtigen Bart be-
gäbet, so passirte er vor einen ausnehmenden Geistlichen.'*
,.Les Ministres de leurs Eglises,*' sagt-) der ebenfalls zeit-
genössische Kapitän Perry über die Priester zu Anfang des acht
zehnten Jahrhunderts, „ne precheiil jamais au Peuplc ; ils n'en
seroient pas capables : il ii' y a qu'un fort petit nombre des Prin-
cipaux. qui pr^chent quelquefois devant le Czar, et dans les
Eglises Cathedrales les jours des plus grandes Fdtes. Le plus
haut ])(tint de Doctrine oü s'eleve le Bas ("Icrge, et ce qu'on
requKfi effectivement de ceux tjui se prescntent aux Ev^ques,
pour etre admis aux Ordres sacrez, est qu'ils sachent chanter
et hr( (listincteiiient TOffice ; qu'ils ne soient pas en mau-
vaise reputation parmi leurs voisins, qu*fls ayent la voix bonne
1) Vockerodt a. a. O. S. 14.
») Jean Perry, Etat present de la Grande-Russic, A la Haye 1717. p. 20$.
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— 122 -
et claire» et qu'ils puissent prononcer aussi ferme qu'il est
possible, douze ou quinzc fnis saiis prendre haleine, Hospidi
Pomolio, Seigneur aye piti6 de nous. Iis ne se mettent pas
tum plus en peine d'oü ils tirent leurs Pr^tres; car j'en ai
coimu qui avoient ^t^ ^levez ä des Metiers M^chaniques."
— „Man zehlet in der Residentz-Stadt Moscau 4000 Popen
ohne die Mönche/* sagt ein ungenannter Autor im Jahre
17 12. „Diese Herren Popen haben keine andere Gelehrsamkeit
/ als daß sie fertig lesen / schreiben und singen können /
und es wird auch nichts mehr von ihnen erfordert."
Aus der Zeit der Regierungen der Zarinnen Elisabeth und
Katharina erwähne ich endlich nachfolgende Urteile von Zeit-
genossen: In einem Briefe des Baron de Breteuil au Choiseul
im Jahre 1760 sagt der französische Diplomat 2): „Rien
n'est plus m^pris6 ni m^prisable que le Clerg^ de Russie."
— „Sie können sich gar nicht vorstellen," schreibt ein
deutscher Offizier um das Jahr 1765, ,,wie groß die Un-
wissenheit der rußischen Geistlichkeit ist. Selbst die noth-
wcndigstcn und ersten Grundsätze der griechischen Religion
sind einer unzahhgen Menge I'faften unbekannt: und man
kan fast behauj)ten, daß unter tausend gemeiner Popen gröste
Gelehrsamkeit nur bloß darinn besteht, daß sie vor den Al-
tären fünf zigmal Gospodi pomilui, IlErr, erbarme dich unser 1
in einem (Jthem hcrsag^en können."-*) - Und em franzosischer
Offizier urteilt einige Jahre später in demselben Sinne wie
der deutsche : ,,Die allcrverächtlichsten und allerverachtetsten
Wesen 111 Rußland sind die Pnester. Viele von ihnen können
nicht lesen : aber noch ärger als ihre Unwissenheit sind ihre
Sitten. P.s giebt Seminarien zum l^nterricht. Aber man braucht
'^ie nicht, um Priester werden zu können. Ein Vater tritt an
b inen Sohn seine Pfarre, seine Kirche und seine Heerde ab;
hiczu wird nichts weiter erfordert, als die l^mwilligung des
Edelmanns, der alsdann die des Bischofs sehr leicht erhält.
1) Religion der Moacowiter S. 42.
S) WalissewBki, La demi4re des Romanov. p. 2t6.
') Russische Anekdoten oder Briefe eines deutschen Offiziers. Wambeck
im Jahr 1765, S. 68. — Gchoime Nachrichten über Rußland (von Major Masson,
deutsche Ausgabe 1800) II 123. Französ. Orig.-Ausgabe II 91.
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— 123 —
Kann dieser Solln ein wenig das Slavonische lesen, kann er
femer die Messe lesen und die Vesper singen, so ist er so weit,
wie sein Vater; er ist Meister in seinem Handwerk, und darf
es nunmehr treiben. Nacli seinen Dienstverrichtungen daif
er sich besaufen und Imit seinen Pfarrkindem sich herumbalgen,
wie er will; wenn diese ihn tüditig durchgeprügelt haben,
so küssen sie ihm nichts desto weniger wieder die Hand und
bitten um seinen Segen. An gewissen Tagen im Jahr gehen
die Popen in ihrer ganzen Pfarrei herum, und fordern von
Hütte zu Hütte Eier, Butter, Flachs, Hühner und dergleichen.
Wenn sie zurückkommen, so liegen sie gewöhnlich mitten unter
den erbettelten Vorrathen besoffen auf einem Karren. Es
ist nichts Seltenes, daß man in den Straßen zu Petersburg
und Moskau betrunkenen Priestern \md Mönchen begegnet,
die taumeln, fluchen, singen, den Vorbeigehenden Grobheiten
zurufen, und Frauenspersonen durch unsittliche Berührungen
beleidigen.*'
Die Zahl solcher Urteile über den russischen Klerus ließe
sich vervielfachen und man müßte für sie einen eigenen Band
bilden, aber alle würden dasselbe erzählen, das gleiche traurige
Lied von der Unwissenheit, Roheit und Unsittlichkeit des russi-
schen Priestertums. Und dabei sind die ausländischen UrteÜe
noch müde im Vergleiche zu dm russischen Selbstbekennt-
nissen in Betreff des Klerus vergangener Zeiten nicht bloß,
sondern auch desjenigen unserer Tage. Man kann mit Recht
behaupten^), daß in der westlichen Literatur nichts geschrieben
worden ist, was dem Anklagematerial an Furchtbarkeit gleich-
käme, das von russischer Seite über die Popen des neunzehn-
ten und zwanzigsten Jahrhunderts in Rußland veröffentlicht
worden ist. Ein russischer Bischof sagte von den Popen*):
,,Sie sind eine von Armut gedrückte, habsüchtige, unvnssende
und trunksüchtige Menschenklasse.*' Nächst Unwissenheit
und Trunksucht sind Habgier und Korruption zwei Laster,^
die sie seit den frühesten Zeiten mit sich schleppen. .Zar
1) Schiemann a. a. O. S. 406. — Man vergleiche die erwähnten Denk-
würdigkeiten eines rosstschen DorigetotUchen, sowie die Jogfoderinnemiigeii
von R^8tisla.wow in t^catax ciapraa" 1880. .
*) Lanin. RnaisKlie Zustände I 21.
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— 124 "
Iwan III. sab sich genötigt, den berühmten Enbischof Gennadij
zu entthronen und in das Tschudowkloster einzusperren, nicht
weil dieser Kirchenfürst die Kirchenstellungen nach einem fixen
Tarif verkaufte'), sondern deshalb, weil er diese allgemein
übliche Korruption in brutalster Weise betrieb. Unter der
Regierung der Zarin Elisabeth Petrowna nahmen Habgier und
Korruption der Geistlichkeit in allen Rängen der Hierarchie die
schrecklichsten Formen an.*) Auf öffentlichen Plätzen verhan-
delten die Priester ihre Dienste. Eine der Ursachen zu diesem
schamlosen Schacher war allerdings die beispiellose Armut
des niederen Klerus. \^om Lande, wo sie sich nicht ernähren
konnten» strömten die Popen bandenweisc nach den Städten,
versammelten sich hier in den Vorhallen der Kirchen und
lauerten frommen Klienten auf. Wurde der Skandal zu arg,
so heßen die Bischöfe die hungrigen Popen zusammentreiben
und auspeitschen. Das Elend der Diener Gottes war aber
s manchmal so groß, daß die Geprügelten nach empfangener
Züchtigung wieder zu ihren Standplätzen zurückeilten, um bei
Gefahr einer neuerlichen Auspeitschung von der Gläubigkeit
der Kirchenbesucher einen Kopeken für einen Bissen Brot
zu erpressen. Die Moralität und das Selbstbewußtsein des
Klerus konnten nicht dadurch gehoben werden, daß die Geist-
lichkeit von der Regierung zu Polizeizwecken ausgebeutet
wurde ; die Beichte blieb kein der Kirche anvertrautes Geheim-
nis, sondern mußte vom Priester sofort aufgezeichnet und
pünktlich der geheimen Kanzlei ausgeliefert werden.
Die Ehrerbietung, die man trotzdem solchen Geschöpfen
einer schamlosen gouvernementalen und ekklesiatischen Or-
ganisation notgedrungen entgegenbringen muß, kann nur eine
ganz oberflächliche und jeden wahren Begriffs entkleidete sein.
Begegnet man dem Popen, so grüßt man ihn, küßt ihm wohl
die Hand. Aber man prügelt den Diener Gottes im Wirtshause
auch ohne weiteres weidlich durch, wobei man ihm allerdings
vorher die Popenmütze vom Kopfe nimmt, die man als Zeichen
>) Kafaaisiii, deutsche Ausgabe VI 266 (frinfleische Übenetnmg
VI 453)
s) Walisaewski, La deraitee des Romanov, p. 213.
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— 125 -
des Standes mehr zu respektieren sich verpflichtet fühlt
als den Träger; denn^} ,»die gantze Würde ihrer Priesterschafft
bestehet nor in diesem Skuffia oder Mütze / und wird der-
jenige / welcher ihnen steche abschläget / oder vom Kopffe
fallen machet / gar streng gestraffet. Unterdessen / weil
der meiste Theil solcher Popen Säuffer und liederliche Ge-
sellen sind / so traget man kein Bedencken sie braf abzu-
prUgein / wofern man ihnen die Mütze auf eine geschickte
Weise vom Kopffe abzunehmen weiß / und sie ihnen auf
gleiche Art / nachdem sie die Schläge bekommen haben /
wieder aufsetzet. Weil man auch nur die Mütze zu respectiren
hat / so werden sie offt in denen Cabbacken / oder Bier-
Meth- und Brandtwein-Häusem / vrelche dem Czar gehören
/ zum Spass und grosser Verwunderung der Frembden mit
Schlägen übel tractiret.** Wie kdnnte der Pope auch mehr
Achtung verhüten? Sittigenden Einfluß hat er niemak aus-
geübt.') Er steht in den Augen des Bauern nicht als ein
besseres oder höheres Wesen da; er ist gleich jedem Trunken-
bold im Wirtshaus und am Spieltisch zu finden; erhebt sich
durch seine Bildung nicht über seine oft viehische Umgebung,
hangt wie der abergläubischeste Dörfler an den alten rohen
Unsitten, kennt wie dieser nur blinde Unterwerfung unter die
weltliche Macht. Der Bauer oder der gemeine Städter verlangt
vom Batjuschka, dem Väterchen, wie man den Popen in ge-
dankenloser Liebenswürdigkeit nennt, auch nichts Höheres und
Besseres; die Pfarrkinder sind zufrieden, wenn Batjuschka die
vorgeschriebenen Zeremonien ableiert und in AiKnahmsfällen
für ein paar Hühner oder ein Dutzend Eier einen besonderen
Dienst leistet, etwa eine Sonnenfinsternis oder eine Mondfinster-
nis beschwört oder durch Hokuspokus mit Totenknochen dem
Himmel einen fruchtbringenden Regen in dürrer Zeit abringt.
Durch seine Würde vermag der Pope die Bauern nicht zu
blenden. Ei ist ebenso arm wie seine Herde, zuweilen noch
ärmer. Der niedere Klerus, die weiße Geistlichkeit genannt
>) Religion der Moscowiter Anno 17 la. S. 42.
•) Da» gilt nicht bloB von den Popen in Rufiland. aondern in allen sU-
wiMhen Landein. Vgl. Hellwald. Die Welt der Slawen. Berlin 1890, S. 347.
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*
— 126 —
im Gegensatz zu den Mönchen, der schwarzen Geistlichkeit^),
ist verheiratet. Der Pope hat also eine Familie zu ernähren
von dem Ertrag eines winzigen Ackers, den er gleich dem
erstbesten Muschik selbst bearbeiten muß. Da sieht man den
Popen armselig und barfuß neben seinem wackligen Karren
und seinem abgemagerten Klepper einherhumpeln oder auf
dem Stückchen Feld, das er bebaut, die Furche mühsam mit
dem primitiven Ackergeräte ziehen. Sein Los kann niemals
besser werden, denn die höheren Stellungen in der Kirche
sind den Ehelosen, den Schwarzen vorbehalten, den Mönchen.
Der Pope bleibt ewig Pope, und diese Armut und dieses
Elend sind vererblich durch alle Generationen : Popensöhne
werden wieder Popen; und kommt es auch vor. daß manche
in den Bauernstand zurückkehren, so ist es äußerst selten,
daß ein Popensohn etwas Besseres wird, sich der Misert- der
väterlichen Scholle entreißt und aufwärts kiimmt auf frenulcm
ßildunqsboden zu glänzenderem Berufe. In väeler Beziehung
ist der Pope noch schlimmer daran als der ärmste Muschik.
Hat der Seminarist nach einer Jugend voller Priiefel und Knt-
behrungen die armselige Bildung des Intmiats erworhrn, so
muß VI sich verheiraten, ehe er Pope werden und diesen
kärglichen Lolm seiner jahrelangen Leiden erhalten kann; aber
die Wahl seiner Lebensgefährtin ist nicht seinem trcien Willen
anheimgesteilt, sondern der Bischof sucht ihm unter den Popen-
töchtern eine Gattin aus. Nach der Heirat erhält der Pope
die Weihen. \h\d die ihm vom Zufall geschenkte Gattin muß
er hegen wie seinen Augapfel, denn die Kirche, die nur dem
verheirateten Popen ein .'\mt gibt, entzieht es dem verwitweten
und zwingt den Witwer, da ein Priester sich nur einmal ver-
ehelichen darf, Laie zu werden oder ms Kloster zu gehen.^';
Die Mönche tragen stets ein langes schwarzes Ge\v.incl, die Popen da-
gegen nie ein schwarzes, sondern ein braunes oder anderes dunkelfarbigem Kleid.
*) Zu Zeiten Alexanders des Eckten erluelt jedoch Sambur^ky, Kapellan
der Grofifflnten Nikolaj und Koostaatin» ausnahmsweise die Erlaubnis nach
dem Tode uma Gftttm seiiie Ptum ra behaltan. Sambnrsky galt übrigens
bei den Geistlichen und strengen Orthodoxen ab Ketzer, weil er sich anläQ-
lich einer Reise nach England den Bart abrasieren ließ und auch nach seiner
Rückkehr bartlos blieb.
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— 127 —
Mit der Frau, die ihm sein Bischof ausgesucht hat, hängt der
Pope also im Leben wie im Tode zusammen. Wie durch
frühzeitiges Sterben kann die Popenfrau auch durch ein un-
sittliches Leben ihrem Gatten seine Stellung verderben. Der
Pope selbst mag ein Trunkenbold, Wüstling, liederlich, un-
sauber sein, so schadet es ihm in seinem Amte wenig; lastet
aber auf der Popin nur der geringste Verdacht eines un-
reinen Lebenswandels, so ist es um seine Stellung geschehen.
Nicht der Pope, sondern die Popenfrau halt durch ihre eheliche
Treue die Würde des Priestertums aufrecht. So verkommen
und sittenlos oft der Pope ist, so selten ist der Fall einer sitten-
losen Popenfrau. Glaubt ein Pope Grund zu Besorgnissen
im Punkte der Treue seiner Gattin zu haben, so zeigt er bloß
auf seinen Bart und gibt durch ein Zeichen gleich einem
Scherenschnitt zu verstehen, daß die Verkürzung des Bartes
drohe ^) als Symbol der priesterlichen Unwürdigkeit, und die
Gattin kehrt sicher nicht mehr ab vom Wege der Tugend.
So schleicht des Popen Leben in einem ewigen Zittern um
den Verlust selbst dieser trostlos armseligen Existenz hin. Hat
der Pope zahlreiche Kinder, so wachsen die Sorgen ins End-
lose. Vergebens plagt sich dieser traurige Diener Gottes ab
mit seinen Händen in den freien Stunden, die der Kirchendienst
und das Wirtshaus ihm lassen, dem Acker der Pfarrei in
erschöpfendem Fronen einige Früchte abzugewinnen; der
Lohn selbst des härtesten Fleißes, reicht nicht aus für die
vielen Hungernden in der kleinen Popenstube, und der Priester
wird von den nach Brot verlangenden Schreien seiner Kinder
getrieben, zu den Mitteln Zuflucht zu nehmen, welche seit
jeher üblich waren : Vergehen und Verbrechen zu absolvieren
für Brot und Schnaps, den Diebstahl im Namen Gottes für
einige £ior, und einen Todschlag für eine Anzahl Hühner
oder eine Kuh zu verzeihen. Gerne bringen die Schuldigen
solche Opfer, um ihr Gewissen zu erleichtern, und der Pope,
der zur Erkenntnis gelangt, wie bequem er leben könnte, wenn
er den Aberglauben und die Dummheit ausbeutet, scheut vor
keiner Gelegenheit zurück, die ihm Linderung seines Elends
>) Dupri de St. Maure. St. Pfitcnbourg, Moscou et le» Pcovinoes. I 107.
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— 128 —
verheißt.' Bald erfindet er dann selbst neue noch nie dage-
wesene Gelegenheiten und schließlich hat er für alle möglichen
Fälle einen Preistarif aufgestellt, dessen Höhe allerdings
Schwankungen unterliegt, je nadi • der lebhafteren oder
schwächeren Nachfrage. Das Priestertum wird 2ur Ökono-
mie, der Glaube zum Schacher, der Aberglaube ein Lebens-
mittel.
Nicht als ob er moralische Bedenken hätte, solchem geist-
lichen Hirten zu folgen, zeigt der Muschik eine offene Ver-
achtung des Popen, dem er zwar die Hand küßt, weil es so
Gebrauch ist, den er aber schlägt, wenn er mit ihm im Wirts-
haus trinkt. Die Ursache dieser Verachtung ist vielmehr darin
zu suchen, daß der Muschik im Popen nur dann, wenn er
ihn für seine dunklen Triebe als Heilarzt, für seine Betrügereien
als Fürbitter bei Gott und den geheimnisvollen Nichten der
abergläubischen Phantasie braucht, ein um ein Geringes höheres
Wesen erkennt als er selbst ist. Sind diese Gründe nicht
vorhanden, so erscheint der Pope dem Muschik nicht mehr
als eine höhere Menschenspezies, nicht einmal als ein dem
Bauern gleichgestelltes, sondern als ein noch tiefer stehendes,
geradezu als ein unreines Wesen. Man könnte fast sagm,
der Muschik sehe in seinem heidnischen Gemüte den Popen
wie einen Zauberer an. dem man auch sich vertrauensvoll
zuwendet, um seine Wunder zu Vorteilen zu genießen, den
man jedoch im übrigen als einem unreinen C^eschöpf aus dem
Wege geht; dem man in einem un))estimmbaren Schauer Ehr-
erbietung erzeigen, aber hinterdrein ein Kreuz zur Erleichterung
nachschlagen muß. Begegnet man im Augenblick, da man
eine Reise antritt, allzuerst einem Popen, so ist dies ein übles
Vorzeichen, man speit aus, um das drohende Unheil abzu-
wenden, und tut am kliif^sten. die Reise aufzugeben. Man
könnte vielleicht sagen, daß auch in anderen Ländern, wo der
Klerus gebildeter ist und Achtung genießt, ein Zusammen-
treffen mit Geistlichen im Kisenbahnzuge oder auf dem Schiffe
dem Aberglauben als gefahrbringend ersrheint und daß es sich
in Rußland um nichts • anderes handeln dürfte, als um ein
Echo dieses allgemeinen Aberglaubens; aber zweifellos hat die
Scheu des Muschiks vor dem Popen einen tieferen und durch-
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4
— 129 —
aus sozialen Grund : dies geht auch daraus hervor, daß eine
Bauemfamihe sich mit einer Popenfamilie nicht verschwägert;
selbst die leibeigenen Iranern in früheren Zeit(Mi verschmähten
eine Khc mit Popentöchtern oder weigerten sich ihre Töchter
Popeiisöhnen zu geben. Die Popenfamilien, aus dem Bauem-
stande hervorgegangen, gelten dem Muschik mithin nicht als
etwas besser, sondern als noch schlechter Gewordenes. In
den geheimen erotischen und obszönen Erzälilungen, Liedern
und Sprichwörtern am Schlüsse meines Buches^) werden wir
sehen, wie das Volk dem Popen die erbärmlichsten Streiche
in die Schuhe schiebt, ihn der größten Dumrnlieiten zeiht
lind ihm die Ausübung der furchtbarsten Unzucht zuschreibt.
Die Religion und die Regierung, und als Handlangerin
der letzteren die obere, die schwarze Geistlichkeit : sie tragen
die Schuld, daß der niedere Klerus, das Popentum, einer solchen
allgemeinen Verachtung des Volkes preisgegeben ist. Der
Mustliik sieht seit tausend Jahren, daß der Pope von seinen
\ orgesetzteu genau so rücksichtslos geknutet und gepeitscht
wird, wie der Bauer von dem Gutsherrn. Die Regierung will
den Popen nicht anders haben als er ist, überwacht das Popen-
luni .uigstlich durch Spione, um jede Regung menschlicher
Getulile zu unterdrücken, um. jedes Vetiangca nach Bildung
und Freiheit im Keime zu ersticken, und seit aus dem Popen-
stande trotz aller Fesselung gar m (^apon ein Revolutions-
luhrer hervorgegangen, ist dieses Svstem der Knechtung noch
maßlos verschal iL worden. Man hai m den letzten Jahren
der Wirren unter den Popen und Popensöhnen strenge Muste-
rung gehalten.
Katharina 11. und Nikolaj I. haben, als sie im Popentum
einen widerspenstigen Geist wahrnahmen, der die Ketten der
Sklaverei zu sprengen drohte, aus den frommen Hirten der
Gemeinde Artillerie-Bataillone gebildet und diese den Feinden
als Kanonenfutter hingeworfen ; Nikolajs des Zweiten fromm-
mystisches Gemüt aber duldet nicht den Gedanken, die Künder
des göttlichen Friedenswortes zu blutigem Kriegshandwerk zu
pressen; und so werden die verdächtigen Popen scharenweise
1) II. Band, 6o. KapiteL
Sttro, Cf Aichta der MkntL Shdidikdt In RiiMaDd. 9
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— 130 -
bloß nach Sibirien geschleppt, um unter Burjäten und Ost-
jaken das Lob des Zaren und die Herrlichkeit des russischen
Christentums zu singen. Die Popen waren niemals Erzieher
ihres Volkes, nun werden sie imfreiwillige Märtyrer für seine
Freiheit.
8. Unsitten im Mönchstum.
W«i0er und schwarmr Klerus — Kontraste — Reichtum der Kirchen und
Klöster — Konfiskation der Klöstergüter — Stellung des hohen Klerus , im
Rußland vergangener Zeit — Die Metropoliten — Berühmte und gelehrte
Bischöfe und Mönche — Patriarch Nikon — Abschaffung des Patriarchat» —
Der Heilige Synod — Die Stellung des Oberprokurators — Unordnungen im
Synod — EinflnfiloHgkeit auch des Htaehstnms und des hohen Klerus anf
BOdttug and Knltur — Die BOdm^ im Ideinruasischea Klems — Bedeutungs-
losigkeit des russischen Mönchstums — Urteile über die schwarze Geistlichkeit —
Die Ehelosigkeit der Klostcrleirte T'n^ncht in Klöstern — Klagen des Zaren
iwan im Stoglaw — Kebsweibcr, halbe Priesterfrauen — Gemeinsames Baden
von Mönchen nnd Nonnen — Sodomie in Klöstern — Peters des Großen Kloster-
refiormen — Ihre Resultetloeiglceit — Ein Kloster als Verfaennungsort — Regehi
der FxauenklAster — Kichteehtvng dieser Regeln — Schlechter Ruf der ruaei-
schen Nonnen — Nonnenklöster als Bordelle — Tingeltangel im Nonnen-
kloster — Klisabeth als Frömmlerin und Messalina — Orpien der Zarin Eli-
sabeth im Troitzkakloster — Sadismus an heiliger Stätte — Erotische Raserei
nnd FlageUatioottdHheit im MönchstoiB — Die lOanertöteiin Darja Saltykcnr
— Folgen der Demoralisation des Kieme — Unsacht and Mord in NauMn-
klöstem des neunsefanten Jahrhunderts — Allgemeinheit der sittUchen Ver-
kommenheit der Klosterleute ~ rurallelc zwischen der Sittenlosigkeit im
russischen Mönchstum und im kalmückischen Priestertum.
Der Pope verhungert; die weiße Geistlichkeit, der ge-
samte niedere Klerus, stirbt in Elend und Verkommenheit;
die Kirche aber ist unermeßlich reich, und der schwarze Klerus,
das Mönchstum, erstickt in seinen Schätzen. Kein größerer
Kontrast ist denkbar als der zwischen dem armseligen Popen-
tum und dem prunkenden Mönchstum ; zwischen dem Priester
auf der niedrigsten Stufe' und dem Bischof oder Erzbiscfaof ;
zwischen der Bettelhaftigkeit des Dorfpfarrers und dem Glänze,
den eine Fülle von Gold, Silber und Juwelen in den Kirchen
ausströmt. Eine betäubende Pracht ist es, welche die schwarze
Geistlichkeit und die Kirche bei den geringsten Anlässen ent-
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— 131 —
falten. Der Altar ist eingetaucht in ein Meer von funkeln-
dem Edelmetall und blitzenden Edelsteinen ; und der die Messe
zelebrierende Bischof, ürzhischof oder Metropolit erscheint in
dem Übermaße des Luxus seiner Kirchentracht, mit seinen
Ketten und Kreuzen aus Diamanten und Perlen, der Mitra,
die unter der Last von Rubinen und Smaragden tief auf die
Stirne sinkt, unti den unschätzbar kostbaren Kirchengefäßen,
die er in Händen hält, der berauschten Menge nicht wie ein
demütiger Knecht Gottes, sondern wie der stolze i rager einer
orientalischen Herrscherkrone. Die große Masse der Geist-
lichen hungert und durstet, seufzt in Elend und Not; die Kirche
und ihre Spitzen jedoch leuchten umso höher m liircm fabel-
haften Reichtum, der nicht von heute oder gestern datiert,
vielmehr fast so alt ist wie die Kirche selbst. Iwan III. der
Fürchterliche*) war der erste Herrscher, der einen schüchternen
Versuch machte, der Geistlichkeit diese toten Güter zu ent-
reißen. Aber die Versammlung der Kirchenoberhäupter warnte
den Zaren durch folgenden Briefe): „Seit dem apostelgleichen
Kaiser Konstantin bis auf die spätesten Zeiten haben die
Bischöfe und die Klöster überall Städte und Dörfer besessen.
Nie haben die Kirchenversammlungen der heiligen Väter dies
verboten. Sogar bei Deinen Vorfahren und bis auf unsere
Zeit hatten die Bischöfe und Klöster Städte und I^ndgüter,.
Flecken und Dörfer, Gerechtigkeitspflege, kirchliche Abgaben
und Steuern. Haben hicht der heilige Wladimir und der große
Jaroslaw gesagt : wer von meinen Kindern oder Nachkommen
es übertritt; wer sich anmaßt das Eigentum der Kirche und
die Zehnten der Bischöfe, der sei verflucht für diese und
jene Ewigkeit 1 ? Sogar die gottlosen Zaren der Horde schonten
aus Furcht vor dem Herrn das Eigentum der Klöster und
Bischöfe. Also wollen wir es nicht wagen und finden es nicht
^) RcBhind bstte swoi Hmtchwr mit dom Bciiuuiioii tSxm FSnIkIm^
lidm oder SchrecUleben; Im Waaaüjemtsch III. war der GroBvater des IV.
gtrichifll NwiMBe und Beinamens. Dem dritten Iwan wurde dieser Beinaffift
aber mehr wcpen seiner Erfolge gegen RuUlands Feinde Regeben (vgl. Petras
Petreji. Muükowitische Chronika S. 165), während der vierte Iwan seiner
grauoabaften Mordgier wegen der Sciireckliche genannt wurde.
t) Karmwin (d«atidie Ausgal>e) VI 285.
9»
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— 132 —
für gut, das kirchliche Eigentum zurückzugeben; denn es ist
Gottes und unantastbar." Der Fürst wagte nicht auf seinem
Plane zu bestehen. Im Jahre 7159*) wurde aber bei Abfassung
eines neuen Gesetzbuches verordnet, daß man seine Güter unter
keinem Verwände an die Klöster oder Geistlichkeit schenken
oder verkaufen dürfe; den Geistlichen wurde verboten, Güter
durch Kauf oder auf eine andere Weise zu erwerben, bei
Androhung, daß ihnen solche Güter gewaltsam wieder ab-
genommen werden würden; im Besonderen «rurde denen, die
ins Kloster gehen wollten, sowohl Männern als Frauen, den
Klöstem Güter zu schenken verboten. Peter der Große wagte
trotz der schroffen Stellung, die er gegenüber der Geistlich-
keit einnahm, auch nicht viel weiter zu gehen als das letzt-
erwähnte Gesetz. Erst Katharina IL hatte den Mut den Plan
Iwans des Fürchterlichen wieder aufzunehmen, die Ländereien
und Dörfer der Kirche mit dem Eigentum des Staates zu ver-
schmelzen und den Geistlichen Geldgehälter anzuweisen. Da-
mals bestand der Kirchen« und Klösterstaat Rußlands aus 479
Mönchsklöstern, 74 Frauenklöstern und 18 3 19 Kirchen 2); von
letzterer Zahl waren in der Eparchie Moskau^) 1850, in dem
Bischof stum Nowgorod 1657, im Gebiete von Rjäsan 1220,
von Kijew 1163, von Belgorod 1089, dagegen in der Eparchie
Petersburg nur 106. Die Zahl der Kirchenbediensteten betrug
insgesamt 67873. In den Mönchsklöstern gab es 7263, in
den Frauenklöstem 5264 Bewohner. Die Erzbischöfe, Bischöfe
und Klöster besaßen zu Ende der Regierung Elisabeths ein
Eigentum von 818575 Bauern; aber in Katharinas Verord-
nung vom Jahre 1764 wird die Zahl der dem Klerus Leib-
eigenen schon mit 9 1 0866 angegeben. Die Gesamtbevölkerung
Rußlands betrug im Jahre 1788 gemäß den Ergebnissen der
1) Nach unserer Zeitrechnung 1649. In Rußland wurden bis zum Ende
dm Siebselmteil Jabrhnnderts die Jaliie seit Endnifang der Wdt gesSUt.
Um 1500 war bätimmt wenden, dinfi des neue Jehr stets am i. Se^ember
beguine.
*) Büschings Magazin I 43 — 106.
3) üleariuä berichtete, daß es zur Zeit seines Besuches in Rußland in
Moskau 1500 Kirchen und Klöster gab; dies dürfte sich aber auf den ganzen
von dem Moskauer BCetnqwliten abhftngtgen Kreis besof^ Jiaben.
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— 133 —
vierten Revision i): 28 Millionen Seelen. Jeder dreißigste
Mensch in Rußland war also der Geistlichkeit leibeigen.
Die Zahl der Klöster und Kirchen ist seither nicht ge
ringcr geworden. Um 1800 gab es in der Stadt Moskau
allein wohlgezählte 943 Kirchen und Kloster, davon 150 inner-
halb des Kremls.2) Haxthausen erzählt 3), daß er bei seinem
Besuche der Stadt Arsamaß, um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts, in diesem Orte 34 Kirchen und 2 Bethäuser,
2 Manns- und 2 Frauenklöster zählte ; Arsamaß hatte damals
im ganzen 4390 männliche und 4602 weibliche Einwohner
in 78 steinernen und 1399 hölzernen Häusern. In den Klöstern
gab es I IG Mönche und 030 Nonnen, an den Kirchen waren
weitere 700 Geistliche beschäftigt. Auf rund 40 Häuser oder
260 Einwohner kam eine Kirche, der sechste Teil der Be-
völkerung gehörte dem geistlichen Stande an.
Die von Katharina II. durchgeführte Konfiskation der
Kirchen^üter verursachte nicht die geringste Aufregung im
\ . und dies kann als Beweis dafür gelten, daß die Mönche
kci;i Aiibchen und keine Liebe genossen. Allerdings hat die
( iuterkonfiskation den Reichtum des Klerus nur um die Güter
vermindert, während die in Metallen, Edelsteinen und Stoffen
in den Kirchen und Klöstern aufgehäuften Schätze von der
Konfi.'-kation verschont blieben. Demnach ist der schwarze
Klerus in Rußland noch immer unermeßlich reich und man
behauptet, daß schon das Troitzkakloster Schätze geimg be-
sitzt, um damit Rußlands sämiiicliL Staatsschulden bezahlen
zu können. Dieses Kloster hatte im fünfzehnten Jahrhundert
bereits hunterttausend leibeigene Bauern; Katharina II. nahm
dem Kloster die Bauern fort, doch blieb ihm noch bis heute
aus seinem Barvermögen ein jährliches Einkommen von min-
•) In Rußland wurden früher als GrundlaRc für die Erhebung der Kupf-
steuer von Zeit zu /fit Abschätzungen, sogenannte Revisionen vorpenoinnien.
Solcher Revisionen gab es zehn, die erste (and 1722, die letzte 1858 statt.
IXe cnte imrkliche Volkss&lilung ia westeurop&ischem Sinne geschah «itt *m
98. Januar 1897 masncben Stib. Brocfcbans' Konvenattonstedkmi.
Nene revidierte Jubiläumsausgabe i<}o}. Band XIV', S. 71.
Knn!;tnntinopel und St. Petersburg. Der Orient und der Norden«
II. Jahrgang (1806). Band III, S. 30.
S) Studien über Rußland I 312.
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— 134 —
destens hutiderilausend Rubeln : von dem toten Kapital, das in
Gold und Juwelen angelegt ist, nicht zu reden. Schätze an
Gold und Juwelen hat auch die geringste Kirche, das kleinste
Kloster. In den großen Kathedralen aber findet man Reich-
tümer, deren Beschreibung orientalischen Märchen entnommen
zu sein scheint. Da gibt es Meßgewänder, die Vermögen ver-
schlungen haben, Heiligenbilder, deren Augen aus Riesen-
brillanten, deren Zähne aus den reinsten Perlen bestehen, Iko-
nostase*) aus purem Golde, Kronleuchter von ungeheuerlichem
Gewichte in purem Silber.
Im Strahlcnglanze dieses Reichtums sonnen sich nur die
Mitglieder des schwarzen Klerus, die Mönche und die aus
der Klostergeisllichkeit hervorgegangenen hohen Würdenträger
der Kirche. Und doch hat der schwarze Klerus für Rußland
nur wenig mehr geleistet, als der weiße. Km Kulturtialluü ist
auch von ihm nicht aubgcgangen - ), obwohl er eher die Mittel
hatte sich zu bilden und Bildner des Volkes zu sein. Aber
die gelehrten und zivilisierten Bischöfe Rußlands im Laufe
von zehn Jaluliunderten lassen sich an den zehn Fingern ab-
zahlen. Bis um die Mitte des vicrzeluitcn Säkulums hatte der
Patriarch von Konstantinopel noch Einfluß auf die Wahl der
hohen Geistlichkeit Rußlands. Die ersten Metropoliten der
Großfürstentümer waren sogar Griechen, ernannt vom griechi-
schen Kaiser und geweiht vom Konstantinopeler Patriarchen,
ohne Vor- und Mit wissen der russischen Großfürsten. Na^
der Eroberung Konstantinopels durch die Türken schwand
naturgemäß das Ansehen des griechischen Patriarchen in Ruß-
land, die russischen Großfürsten wählten selbst ihren Metropo-
liten und die russischen Bischöfe weihten ihn. Der Metro*
polit war die höchste Instanz, er sprach das Anathem über
Städte und Länder wie Großnowgorod, Nischny-Nowgorod
und Pskow aus ; er hatte den Vorsitz in dem von ihm gebildeten
Synod, er entschied über die Klagen der russischen Fürsten
gegen ihre Bischöfe, übte die weltliche Gerichtsbarkeit über
die zu den Metropolstühlen gehörenden Besitzungen aus,
salbte den Herrscher bei der Thronbesteigung und hatte in
>) Heiligensäuleo.
•) Schiemaim, Alemider I. a. a. O. 408, Anaicrkung 2.
Üigiiiztiü by <-3ÜOgIe
— 135 —
der Kirche und bei allen festlichen Gelegenheiten den Ehrensitz
neben dem Großfürsten oder Zaren. Bei Staatsangelegenheiten
wurde sein Rat eingeholt, und alle Befehle des Herrschers be-
gannen mit dem Satze : Nach Einholung des Segens und Rates
unseres Vaters des Metropoliten. Der Jesuit Antonius Posse-
vinus*) sagt, daß der Zar und die übrigen Fürsten dem Metro-
politen bei dessen Einzug in die Residenz stets entgegengingen
nnd ihm die Hand küßten. Als später die zersplitterten russi-
schen Fürstentümer zu einem einzigen Reiche vereinigt wurden,
txat an die Spitze der Geistlichkeit, als Chef der drei Metro-
politen, der Patriarch. In der Mongolenzeit wuchs der Ein-
fluß des Klerus an, weil dieser es war, der den Widerstand
gegen die Ungläubigen nährte. Ein Mönch trug 1380 zur
Befreiung Rußlands von den Tartaren bei. Ein ob seiner
Weisheit und Tugend berühmter Kleriker war um. dieselbe
Zeit Theognoß, Bletropolit von Moskau, ein großer Gelehrter
der Metropolit von Kijew Gregor Samlawk, der bei seinem
Tode int Jahre 14 19 zahlreiche geistliche Werke hinteriieß.
Der Enbischof Gennadij von Nowgorod unternahm gegen Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts eine Korrektur der BibtA, und
auf seine Aufforderung, ihm alle im Reiche vorhandenen Texte
der beiden Testamente einzusenden, lieferte Nowgorod allein
6000 Manuskripte. Ein Zeitgenosse und Mitarbeiter dieses
Enbischof s war Sanin, Prediger in Wolokolamssk; er schrieb
ein Werk unter dem Titel „Der Aufklärer", enthaltend fünf-
zehn Dissertationen gegen die Sekte der Strigolniki, und ^tne
Geschichte dieser Sektierer. Der Grieche M^ixim, vom Zaren
Wassilij 1506 nach Rußkmd berufen, wirkte als Bibliodiekar.
Der im Jahre 1562 gestorbene Metropolit Makarij hatte als
der gelehrteste und arbeitsamste Mensch seiner Zeit gegolten;
zwölf Jahre widmete er der Niederschrift einer Geschichte der
von der russischen Kirche anerkannten und kanonisierten Heili-
gen, die Frucht dieser Arbeit waren zwölf enorme Foliobände^
Der Mönch Paiß Jaroslawow raffte sich zu- einer historischen
Arbeit auf; er schrieb 1536 eine Gescludite der zweiten Ehe
1) Antonii Ponevini Societatis Jesv, Moscovia, et, alia Opera de statv
Inrjvs «eevli« adoenras CathoUcae Ecctesiae hoitM. IS97-
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— 136 —
des Zaren Iwan; Erzählungen aus der Geschichte von Kasanj
Uefefte der Priester Iwan Glassatij; Annalen betreffend die
Invaskm der Polen unter Bathory verfaßte der Pskower Mönch
Serapion; eine Geschichte der Belagerung des Klosters des
heiligen Ssergej hinterließ der Mönch Abtaham Palitzyn, eine
mythisdie Geschichte der Scythen der' Priester Andreas Lys-
low; einen Abriß der Geschichte des Urs{)ruiigs der Slawen
und der R^[ienmg der Ftoten von Kijew schrieb Iimocenz
Gisel, Archinandrit zu Kijew. Der Mönch Jonas verfaßte
sogar ein Reisewerk. 1588 gründeten die Möndie von Kijew
eine Schule, aus der spater die geistliche Akademie hervor-
ging, die jahrhundertelang die einzige Bildungsstätte Rußlands
blieb. Peter Mogila rekonstruierte diese Lehranstalt des Klerus,
führte Kurse der Philosophie und Theologie, Sprachunterricht
im Lateinischen und Polnischen ein und berief Lehrer aus
Deutschland und Italien. Von dieser Schule gingen die so-
genannten „Buisaki** aus, die sich über die ganze Umgebung
verbreiteten imd gegen ein Honorar von Eiern, Schinken oder
Getreide als Lehrer wirkten. Aus der Kijewer Akademie
stanunten die berühmten Simeon Polotzkoj, Theophan Proko-
powitsch, Slowinetz, Schaworskij, Lopatinskij. Einige Jahre
nach der Gründung der Kijewer geistlichen Schule entstand
auch in Moskau, vom Zaren Boriß Godunow angeregt, eine
Akademie, die vom Zaren Feodor Alexejewitsch „slawisch-
gricchisch-lateinische Akademie" benannt wurde; aber sie
leistete nichts. Der Patriarch Job hinteriieß eine Biographie
des Zaren Feodor Iwanowitsch, der Patriarch Hermogen, der
161 2 von den Polen zu Tode gemartert wurde, Menge heili-
ger Schriften. Stefan Jaworskij, Professor der Kijewer Aka-
denüe, verfaßte ein großes Werk gegen die Dissidenten;
Gabriel Buschinskij, Bischof von Rjäsan, war berühmt als Red-
ner, wurde Erzpriester der ersten russischen Flotte, Direktor
aller Kirchenschulen und übersetzte Puffendorffs Geschichte
der europaischen Staaten ins Russische.^) Der Rostower Me-
tropolit Dmitrij schrieb nicht bloß eine Geschichte des Lebens
1) Gttttbtioff, £M«i Sur l'histeire de 1» civilisatloa «n RdmI«. Ftai« iSsS»
I 166. 4». 44S' n si«, 57».
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der Heiligen, ein Werk über die Raskolniki, sondern auch
Mysterien in Versen, die ersten russischen Theaterstücke.
Der berühmteste Kienker Rußlands war der Patriarch Nikon.
Er führte in vier Partien des Kirchendienstes den Gesang ein,
gab dem schwarzen und dem weißen Klerus neue Reglements,
schrieb eine Schilderung des Berges Athos und seiner Klöster,
sowie mehrere Werke geistlichen Inhalts; seine große Tat
aber ist die Korrtkiur der Bibel. Sein Ende war ein trauriges,
und mit ihm ist die Geschichte des Sektenwesens in Ruß-
land verknüpft. 2) Er ist der letzte große Patriarch gewesen
und hat es gewagt, den Zaren Alexej zu exkommunizieren.
Und Alexejs Sohn Peter der Große schaffte das Patriarchat ab.
An die Stelle des Patriarchats trat der Heilige Synod.
Nicht der Kirche," sagte Stephan Sabinin*), „sondern nur den
Mißbrauchen in ihr trat Peter entgegen; nicht als ihr Ober-
haupt, sondern als ihr Schirmherr." Mitglieder des Heiligen
Synod sind die vom Kaiser hierzu ernannten Erzbischöfe und
Bischöfe, der Beichtvater des Kaisers, die Chefgeistlichen der
Armee und der Flotte, femer die Metropoliten von Moskau,
Kijcw und Petersburg Nowgorod ; der letztere ist stets Präsi-
dent des Synod. Unabhängig von der (Geistlichkeit, nur Ver-
trauensmann der Krone, ist der Oberprokurator des Heiligen
Synod, von Peter dem Großen ..des Kaiser:, -\uge" beigenannt.
Der Synod überwacht alle Kloster, Jxirchen, jetzt auch die
meisten Schulen des Rei^llc^. Ii i; das Recht bei Besrtzuiii;c ii von
Kirchenwürden Vorschlage zu niadien, entscheidet in theolo-
gischen Fragen, hat d:e Verwaltung der Rclicjuienschätze, ur-
teilt III I^heangelcgenheiten. namentlich in Fhescheidungen,
zieht die Priester wegen l'nsittlichkeit zur Verantwortung, beauf-
sichtigt den Bau von Kirchen ; kurz, der Synod ist die höchste
Kirche junstanz, aber seine Beschlüsse unterliegen der Zustim-
mung des Zaren, und so ist der Oberprokurator der eigent-
liche Chef dieser kirchlich-juridischen Organisation. Allerdings
hat es einen heftigen Kampf zwischen der Geistlichkeit und
Dgurilbcr wixd noch im Kapitel, das Musik und Theater behanddt,
die Rede sein.
•) Vgl. d.Ts Kapitel, welches das SekteDwesen schildert.
Jen. Literaturzeitung 1843.
— 138 -
4
den Vertretern des Kaisers gegeben, bis dieses Resultat er-
zielt wurde. Peter der Große hatte die Macht des Patriar-
chen vernichtet und den Heiligen iSyiujd au dessen Stelle ge-
setzt. Nach Peters Tode riß der Synod die Macht an sich,
die einst der l atnaich besessen liatte, und der zarische Ober-
prokurator blieb nur eine Schattenfigur. Zur Zeit der Zarin
Elisabeth ^auk die Bedeutung des Oberprokurators auf die
tiefste Stufe. Elisabeth ernannte zu ihrem Vertreter beim. Synod
einen zum Polizisten gewordenen Exsoldaten namens Scha-
chowskoj, der keine Almung \'on seiner Aufgabe hatte. Aber
Schachowskoj wollte sich unterrichten und im AfcImv Be-
lehrung finden. Auf seine Frage nach dem Archiv erhielt
er zur Antwort : Es gibt keins ! Er bittet, dami wenigstens
das Dossier der laufenden Angelegenheiten herbeizuschaffen.
Man versteht nicht einmal, was er damit meint. Die Mitglieder
des Synod pflegten alles nach Gutdünken zu erledigen, brauch*
ten keine Aktenstücke und Protokolle. Die Kircheng^ter wur-
den seit Peter dem Großen vom Synod verwaltet; der Ober-
prokurator fordert die Unterbreitung des Standes der Ein-
nahmen und Ausgaben. £r wartet bis zum Ende seiner Amts-
zeit vergebens auf diese Unterbreitung. Sdiachowskojs Nach-
folger versteht seine Stellung besser. Er kümm^ sich nidht
um solche Dinge und sammek bloß fleißig die Trinkgelder,
mit denen man ihn freigebig überhäuft. Erst Alexander der
Erste vermochte die Macht, die der Heilige Synod und seine
klerikalen Mitglieder sich angemaßt hatten, zu brechen und
dem Oberprokurator die dominierende Stellung zu schaffen^),
die er seither einnimmt. Der Synod erhielt eine bureaukrati-
sche Organisation, die dann auf die ganze kirchüche Hierar-
chie übertragen wurde. Die Stellung des Synods glich jener
des Senats in Verwaltung und Justiz. Die Erzbischöfe ent-
sprachen den Generalgouvemeuren, die Bischöfe den Gou-
verneuren, die Konsistorien in den Eparchien den Gouveme-
mentsregienmgen, die unteren geistlichen Verwaltungen den
Kreisgerichten und den Polizeiverwaltungen, die aus der weißen
Geistlichkeit hervorgegangenen Probste den Kommissaren für
1} Diese lehrreiclie Wandlimg enfthlt Maffilurtteh Schiimmm a. O. 409.
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— 139 —
Stadl und Land. Nikolaj der Erste ging noch weiter. Er
organisierte Synod und Klerus militärisch und setzte in seinem
Flügeladjuianu II. einem Kavallcrieoberslen, den Klerikern
einen soldatischen Oberprokurator auf den Nacken ; und
Custine durfte spotten, daß die russische Geistlichkeit nur eine
Miliz sei, in einer etwas anderen Uniform als sie die weltlichen
Truppen des Kaisers tragen. In den Grenzboten" sagte da
mal» auch ein anderer Beobachter ^) : „Obgleich ein Metro-
polit den Kang eines Generals en chef, ein Erzliischof den
Kaiig eines Generallieutiiants, ein Bischof den ]\.iiig eines
Generalmajors besitzt oder vielmehr eben deshalb erinnert die
Behandlung, die diese Kirchenfürsten vom Kaiser erfahren,
an die Kaserne." Der furchtbarste Oberprokurator, dem sich
der Heilige Synod je beugen mußte, entstand in unserem
Zeitalter : Konstantin Petrowitsch Pobjedonoßzew, der dem
Klerus die letzten Reste seiner einstigen Macht entrang und
ihn hcrabdrückte zu einem völlig willenlosen Werkzeuge der
Staatsgewalt.
Zu bedauern ist diese Bedeutungslosigkeit des Klerus
gegenüber der Regierung deshalb nicht, weil wie die weiße
auch die schwarze Geistlichkeit, von den wenigen erwähnten
Ausnahmen abgesehen, sich niemals durch Bildung auszeich-
nete und niemals emstlich danach strebte, zur Kultivierung
des Volkes ein wenn auch nur besdieidenes Maß beizutragen.
Wold hatten die Schwarzen in Rußland schon von der frühesten
Zeit her, mit Ausschluß nicht bloß des Volkes» sondern selbst
der Amtsbrüder von der weißen Geistlichkdt, die Bildung
monopolisiert imd ganz für sich allein in Anspruch genommen,
allein sie haben in den seltensten Fällen von diesem kultu-
reUen Monopol Gebrauch gemacht. Auch von den wenigen
Ausnahmen, die ich emsig hervorgesucfat habe, um nach jeder
Richtung hin die Parteilosigkeit des Historikers zu dokumen-
tieren, muß man beklagenswerterweise konstatieren, daß ihre
Bildung stets einseitig und äußerst beschränkt war; auch sie
blieben in vollständiger Unkenntnis fast aller Wissenschaften
Vgl. ^'ikolaus der Erste gegenüber der uüentUchen Meinung von
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— 140 —
und kannten von den meisten selbst die Namen nicht, lernten
fast nie fremde Sprachen, haßten fremde Literaturen und waren
unfähig mit fremden Gelehrten in Verkehr zu treten. Dieses
Urteil für die Vergangenheit wie für die Gegenwart. Nur
in cier Klerisei iu der Ukraine fanden sich dank der Nachbar-
schaft Polens hier und da einige, die wenigstens den Schein
der Gelehrsamkeit hatten. Die Polen, die in der Ukraine
eine Zeitlang geherrscht hatten, gründeten in verschiedenen
Klöstern von Kijew und I'srheniigow lateinische Schulen für
Theologie und Philosophie i). übrigens auch keine I'flanzstätten
höherer und wirklicher Bildung, sondern Akademien letzten
Ranges. Dennoch galten schon die kleinrussischen Mönche
als Ideale einer gebildeten Geistlichkeit, und die Zarin Elisa-
beth^) ließ eine Anzahl von ihnen nach Rußland berufen und
zu Bischöfen machen. Die Kleinrussen wurden jedoch von den
Großrussen als Halbfremde mit scheelen Augen angesehen und
förmlich boykottiert ; sich selbst aber zur Bildung zu drangen
hatte der großrussische Klerus auch keine Lust, und so blieb
bis heute die Aufgabe, welche der schwarzen (ieistUchkeit in
Rußland gestellt wui. unerfüllt. Das einzige Lob, das dem
russischen Mönchstum ehrlich nachgesagt werden kann, ist
dieses: daß die Mönche in Rußland nur einen einzigen Orden
bilden und insofern dem Staate weniger schaden, aii, es in
anderen Landern geschieht, wo es viele Ordensregeln gibt
und au> der Vielfältigkeit Herrschsucht. Neid und Eitelkeit
entstehen. -'j Ks gibt kaum drei günstigere Urteile über das
russische Mönchstum. So sagt Haxthausen*): Im Gegensatz
xur Weltgeistlichkeit müsse anerkannt werden, daß das
Leben der Klostergeistlichkeit im ganzen sittlicher, ihr Geist
gebildeter war. Aber Kontemplation und beschauliches Leben,
die Grundlagen dieser Richtung eines Mönchswesens, herrsch-
ten nur ausnahmsweise bei einzelnen Individuen unter ihnen.
— „Ich habe nirgends behaupten hören, daß in Rußland
Mönche und Nonnen in Wohlleben und Üppigkeit versunken
_ __ •
^) Vockerodt a. a. O. 15.
•) WaliszcMTski, La demi^re des Romanov.
*) Bemerkungen ül)er Rußland (von Bellennami) II 144.
♦) Studien I 322.
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— 141 —
seien. Ob dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist, weiß
ich nicht.** — Seit Kailianrici II. die Klostergiiter für den
Staat einzog, seien alle Klosterleute auf eine so kärgliche Sub-
sistenz gestellt, daß jedes Wohlleben dadurch ausgeschlossen
scheine, ja sie könnten kaum existieren, wenn nicht Opfer
und Geschenke den Mönchen, Handarbeiten und Bettelei den
Nonnen den Unterhalt erleichtern würden; auf allen Straßen
linde man bettelnde Nonnen. Man erkennt ans diesem
Urteil das offenbare Bestreben, der Sache nicht auf den Grund
zu geben, und wir werden später sehen, wieviele von den
mühsamen .und verklausierten günstigeren Zugeständnissen be-
stehen bleiben können. Hier wUl ich vorerst noch das Zeug-
nis des Johann Faber ^) anführen, ein Zeugnis aus vergangener
Zeit: ,,Mönche und Nonnen, die alle denselben Regeln unter-
worfen sind, erfüllen so streng ihre religiösen Pflichten, daß
sie Respekt und Bewunderung verdienen. Die Gelübde werden
bei ihnen nicht so gering geachtet wie heutzutage bei uns.
Wer einmal in ein Kloster eingetreten ist, kann es unter keinem
Vorwande mehr verlassen. Das Gelübde wird so hoch ge-
schätzt, daß es von den Erzbischöfen und Bischöfen trotz
deren weitgehender Befugnisse nicht gelöst werden kann. Na-
türlich haben sie auch eine so hohe Idee von der Keusch-
heit, daß sie ihren Mönchen und Nonnen die Ehe verbieten.**
Faber stellt zum Schlüsse den russischen Klerus dem katho«
liscben als Muster vor. Die russische Kirchengeschichte selbst
weiß aber in ihrer Gesamtheit nicht soviel Ausgezeichnetes
vom schwarzen Klerus Rußlands zu sagen, als der Wiener
Prälat Faber, der niemals in Rußland war, sondern von zwei
durchreisenden Russen, noch dazu Laien, in Tübingen flüch-
tige Informationen erhielt und daraus schleunigst dn Büch<
lein machte.
In Wahrheit unterschied sich der schwarze Klerus von dem
weißen im ganzen nur durch den Reichtum, den er gesammelt,
und durch die Ehelosigkeit, die er sich auferlegt hatte. Den
Reichtum wandten die Schwarzen verständnisvoll zu ihrem
eigenen Besten an ; und wie sie es mit der Ehelosigkeit hielten,
1) De Russorum. Moscovitarum et Tartarorum Religione. Spire anno
IS62. pag. 170.
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— 142 —
darüber klären unzählige zaiibchc Verordnungen am besten
auf. Schon OlcanusV* berichtete, daß Rußland überfüllt wäre
mit Mönchen und Nonnen und daß die Mönche trotz der
strengen Ordensregeln in großer Zügellosigkeit lebten. Die
Nonnen unterhielten öffentlich Liebhaber und erzogen ebenso
öffentlich ihre Kinder, die gewöhnHch wieder Nonnen und
Mönche wurden und in die Fußstapfen der Eltern traten.*)
Diese Angaben werden von zarischen Ukasen bestätigt. In
der Kirchenversammlung von 1503 wurde folgende Mahnung*
des Zaren Iwan III. verlesen'): „Die Furcht Gottes aus den
Augen setzend halten sich viele der Priester und Diakone
Kebsweiber, die halbe Priesterfrauen genannt werden.*) Fortan
erlauben wir ihnen nur, wenn sie ein untadeDiaftes Leben
führen, auf dem Chore zu singen und vor dem Altare das.
heilige Abendmahl zu empfangen. Die des Lasters der Wolr
lust überwiesen werden» mögen in der Welt leben und wd^
liehe Kleidung tragen. — Noch bestimmen wir, daß M^sdie
und Nonnen nie zusammen leben, sondern Manns- und Frauen-
kldster stets getrennt sein sollen/* Aber schon fünfzig Jahre
später, am 12. April 1552, mußte Iwan IV. wieder den Un-
sitten des Klerus steuern und ein Laiengericht zur Über-
wachung der Priestermoralität einsetzen. Die aus hundert Ar-
tikeln bestehende Verordnung^) dieses Zaren ist das furcht-
barste Geixialde der Unwissenheit, des Aberglaubens und der
Sittenverderbtheit des Klerus und des Volkes in Rußland
während des sechzehnten Jahrhunderts.^) Da heißt es 7) : „Nicht
1) In seiner moskowitischen Reisebeschreibung.
*) Die Möncherey oder geadüchtliche DantelltiiiK der Kloster*Wdt (von
Weber). Stuttgart 1819. I 119.
>) Karamsin. dentache AnagaU' VI 286 (franacMsche Oberaetzvng VI 453).
*) Dieser Anfang der Mahnuni^ Ijozielit sich auf den weißen Klerus, auf
verwitwete Popen, die mu h dem Gesetze sich nicht wieder verheiraten dürfen,
aber eine wilde Ehe ciugiugeu und dem Kanon zum Hohne durch Korruption
ihre Stdlungen beUdton.
*) üiofsiaBffc.
*) Vgl. Aug. Thflinert De t'Eglise ruthdnienne et de ses rapports avec le
Saint- Si^pe. — Schiemann, Rußland, l.ivland und Polen (i& Onckeos Welt-
geschiciite). Marmier, KnUlaud. hmnland und Polen.
') Im 4. und im n. Artikel des Stoglaw. Der 12. Artikel entwriiit auch
eine Schilderung des allgemeinea AberglaubenSj der allgeaMmea UnwineidMit
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~ 143 —
das Heil seiner Seele sucht man in den Klöstern, sondern
Müssiggang, Vergnügungen und niedrigste Wollust. Die Ar-
diiinandritcn empfangen und bewirten auswärtige Gäste in
ihren Zellen. Die Mönche halten sich Diener und sind so
schamlos, daß sie Frauenzimmer in das Kloster bringen, um
in Saus und Braus die Güter des Klosters zu verprassen und der
gemeinsten Unzucht zu fröhnen. Es soll daher von nun an
in jedem Kloster bloß noch einen einzigen Tisch geben. Es
schien die Mönche ihr junges Gesinde abdanken und keinen
Umgang mit Weib>em pflegen, sie sollen auch weder Wein
noch Meth haben und nicht mehr als Müssiggänger in den
Städten und Dörfern herumlaufen. — Männer und Weiber
gehen miteinander ins Bad, und sogar Möndie erröten nicht,
mit Nonnen dahin zu gehen. — Endlich — und dies ist das
Bejammernswerteste, das was über ein Volk den göttlichen' <
Z(nm, Krieg, Hunger und Pestilenz bringt — man ergibt sich
der Sodomie."
Aber nicht nur die Zaren früherer Zeiten, selbst Peter der
Große kämpfte vergebens gegen die Unordnung im Klerus.
Peter verbot am 31. Dezember 1703, neue Klöster anzulegen
und ließ einige alte sperren.^) £r befahl eine genaue Zählung
aller Mönche und Nonnen. Laien, die man bisher in den
«ad Viaittlidikeit. Der Zar lordcrt darin die Geistüchlceit avf, ..darüber lu
ttmchcn, daß gewisse schimpfliche und des HeideDtums würdige MiObrftuche
ganz verschwinden. Wenn ein gerichtlicher Zweikampf stattfinden soll, geben
die Zauberer vor, m dm Sternen lesen zvi können, aut welcher Seite der Sieg sein
werde. Diese ungläubigen I-eute haben aibeme Aristotelische und astrologische
BOdier in den HSadeii, dcsgleiclien Jierkreue, Almaaache und andere Werlw.
die voll von hejdnwcher Wissenschaft sind. Am Pfingstfest weinen sie, stoSen
mn Geschrei aus. stehen schlucbsend. heulend und. teuflische Lieder singend
in den Kirchengängen. Donnerstag morgen«? verbrennen sie Stroh und rufen
dif Toten mit Namen anf; die Prie^^ter leyi n Salz auf den Altar und snchen
die Kranken damit zu heilen. Falsche Propheten laufen nackt, ohne Schuhe
Qod mit verwirrten Haaren von Dorf an Dorf; sie attem an ihrem ganaen
Leibe» wilsm aieh auf der Erde und erzählen Erscheinungen vom heiligeo
AnnstnittS und anderen. Truppen Besessener, die manchmal bis auf hundert
Personen anwachsen fallen plöt/lich in ein Dorf ein. leben auf Kosten der
Einwohner, l)c-;aufen sich und plimdpm die Rei^^enden. Die Bojarensöhne
hegen stets in der Schenke, wo sie all ihr Vermögen durchs Spiel verschwenden."
*) Halem. Leben Peters des GroOen III 89.
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— 144 —
Klöstern zu verschiedenen Verrichtungen, nicht zum wenigsten
aber als Werkzeuge der Unzucht verwendet hatte, mußten
entfernt werden. Die Mönche lehnten sich gegen diese Ver-
fügungen auf und versuchten in offenen Briefen den Zaren als
Gottesfeind zu brandmarken; darauf ließ Peter den Klöstern
Papier und Dinte entziehen, und die Mönche hatten keine Mög-
lichkeit mehr, auch nur eine Zeile zu schreiben. Weiter be-
fahl der Zar, daß in ein Kloster nicht eintreten durften : Männer
unter dem dreißigsten Lebensjahre ; Militärs ; Leibeigene oder
nicht Freigelassene; des Lebens und Schreibens Unkundige;
£hemänner, deren Frauen noch am Leben; Staatsdiener; in
Schulden Geratene; endlich Solche, die der Justiz entflohen.
Die Zugelassenen mußten einen Erlaubnisschein vom Kaiser
oder vom heiligen Synod vorweisen und ein Noviziat von
drei Jahren absolvieren. Für die Frauenklöster wurden fol-
gende Regeln festgesetzt: Falls ein junges Madchen den
Schleier nehmen will, soll es alle Umstände zuvor genau er-
wägen; beharrt die nadi dem Kloster Verlangende auf ihrem
WiUen, so stelle man sie im Kloster unter die Aufsicht einer
alten Klosterfrau und erteile ihr die Weihen erst nach ihrem
sechzigsten, in Ausnahmsfällen nach dem fünfzigsten Lebens-
jahre. Bis zu diesem Zeitpunkte soll sie immer das Kloster
verlassen und in den Ehestand treten können.
X>er Widerspruch in allen Handlungen Peters kommt auch
hier wieder zum Vorschein. Während der Zar die Zahl der
Klöster im Reiche zu vennindem trachtet, begründet er selbst
ein neues Kloster in seiner neuen Residenz an der Newa.
Während er die schärfsten Maßregeln trifft, um die russischen
Frauen davon abzuhalten, daß sie ihr Leben hinter Kloster-
mauem verbringen, verbannt er, um sich den Weg zu einer
Vermählung mit seiner Maitresse Katharina freizumachen, seine
eigene erste Gattin Jcwdokia in ein Kloster zu ewigem Ge-
fängnis. Diese Inkonsequenz verhindert d^ Kaiser nicht, 1724
seine Verordnung vom Jahre 1703 durch einen neuen Ukas*)
zu erläutern, in dem er gegen Mönche und Nonnen also wettert :
„Das heutige Leben der Mönche ist nur ein Schein und wirkt
1) Bfladun^ Magaiin I 84.
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Russischer Schorn- Doiiischer
Schijitenliäiidler. steinfeger Kosak.
♦
— 146 -
nicht wenig Böses, weil der größte Teil von ihnen nur Fau-
lenzerei treibt. Jedermann aber weiß, was für Aberglauben
und welche Empörungen aus Müssiggang entstanden sind. Da
die Möndic fast alle von gemeinem Stande sind, ist es klar,
daß sie nichts zu verlassen haben; daß sie keinem Luxus ent-
sagen, sich vielmehr äurch das Mönchstum ein gutes und
bequemes Leben zu erwählen trachten. Denn zu Hause sind
sie auf dreifache Weise zinsbar: sie müssen ihre Familie er-
nähren, der Krone Steuern und ihren Erbherren Abgaben
entrichten. Gehen sie aber ins Kloster, so entfallen diese
drei Sorgen : die Mönche finden aUes fertig was sie brauchen.
— Geben sie sich Mühe, die heiligen Schriften zu verstehen
oder Andere zu unterrichten? Keineswegs. — Wem nützen
sie? In Wahrheit weder Gott noch Menschen." Um die
Klöster zu nützlicheren Anstalten zu machen, befahl Peter „ab-
gedankte Soldaten, die nicht arbeiten können und andere wahre
Arme in die Klöster zu verteilen. Zu ihrer Bedienung sollen
Mönche bestellt werden. Ebenso sollen Nonnen die Armen
ihres Geschlechts bedienen."
Für Mönche, die sich einer schlechten Aufführung schuldig
gemacht hatten, wurde später das Kloster Ssolowezk bei Archan-
gdsJc als Strafaufenthaltsort bestimmt. Hier soll es um 1830
mehrere tausend verbannte Mönche gegeben haben.^)
Die Regeln für die russischen Frauenklöster besagen: Es
soll kein Unterschied des Standes und der Herkunft gelten.
Die Novize hat der Oberin ihre Papiere auszuliefern, ihre
Herkunft nachzuweisen, einen Erlaubnisschein ihrer FamÜie und
ein Attest ihrer Gemeinde vorzulegen. Im Kloster erhält sie
einen Klostemamen, und fortan darf sie keine kostbaren, son-
dern nur leinene oder wollene Kleider tragen. Die Probe-
zeit dauert einen Monat, ein Jahr oder noch länger, je nach
dem Kloster, das man wählt. Ein bindendes Gelübde, das
1) Dupr6 de St, Maure, Petersboiirg, Moscou et les provinccs. Paris
1830. I 100. — Diese Angahe scheint übertrieben zu sein, da die Zahl sämt-
Ucher russischer Möacbe wohl nie melir ak zehntausend betragen hat. Da
das Klaster aber auch ata VerbaimnngBort ffir potttiacb» und Mlbst kriminelle
VtriNrediar diemte. iriid «di die genanote Ziffer avf die Geaainfheit der Ver*
QrtaÜtHk beziehen lassen.
Stera, GcMhicte der Offeatl. Sittlichkeit ia RuiUnd. lo
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— 146 —
den Rücktritt in die Welt verhindern würde, wird nicht ge-
geben und darf nicht verlangt werden. Es soll jedoch noch
nie vorgekommen sein, daß eine Jungfrau, die in ein Kloster
getreten, wenn sie ein Jahr darin verweilt, nach der Welt
zurückverlangt hätte. Dagegen geschieht es oft, daß ver-
heiratete Frauen, die ins Kloster eintreten, weil ihre Gatten
verschollen sind, in die Welt zurückkehren, wenn ihre Männer
wieder auftauchen.^) Trotz der schönen Klosterregeln führen
die Nonnen meist ein flottes Leben. Sie verfügen frei über
ihr Vermögen, entbehren wenn sie reich sind keinen Luxus,
und die, welche arbeiten, tun dies nicht des klösterlichen Be-
rufes, sondern des Erwerbes wegen. Man kennt nur wenige
Beispiele' von" unschuldsvollen, sittlichen, tugendhaften und
wahrhaft frommen Nonnen in Rußland. Im allgemeinen gal-
ten vielmehr die russischen Nonnenklöster seit jeher und bis
heute als Stätten der Zügellosigkeit, des Sittenverfalls, als förm-
liche Lasterhöhlen. Augustin Mayerberg'}» der Gesandte des
Kaisers Leopold an den Zaren Alexe] Michailowitsch, berichtete
zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts: „Ce que je puis dire
particulidrement des Rdigieuses, tant il y en avoit un grand
nombre r6pandu dans toutes les rues. II y a en Moscovie
plusieurs Monast^res de Religieuses; dont la moindre partie
est edle des Filles, celte des Veuves est plus grande; niais
Celle des Femmes r^pudi^es par leurs maris, est en tres-grand
nombre; et dans ces Monastdres leurs sanctes Constitutions
sont tres-mal observ^es. Car contre Tordre on y void plusieurs
femmes marines, qui n'y sont pas tant enf ermte, par Tamour
de rhonnßtetö, que par la force des griUes. Pour ce qui
est des Religieuses vierges; elles n*ont rien qui les retienne.
Ce qui fait que le s^xe curieux, qui a toute libert^, regoit
les visites des hommes, et qu'apr^s avoir assist^ le matin
ä l'office, elles se prominent librement dans les villes. £t
comme elles n'ont nul Gardten de leur Pudicit^ qu'elles ap-
pr^hendent, se laissans empörter aux mouvemens d^regles de
leur cupidit^, elles se pr^cipitent dans Tabtsme prof ond de
^) Haxthaasen, Studien I 316.
*) Voyag« en Moseovi« d'nn Ambassadeur. A Leide 1688, p. 103 (franite.
Neudruck I 99).
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rinfamie, au grand scandale des gens de bien, et au deshon-
ncur du Voile Sacr6 qu'elles ont regeu/' Die Frauenklöster
wurden manchmal offen in Bordelle verwandelt. Pseudo-
Dmitry ließ seine Braut, die Polin Marina, ins Kloster bringen,
damit sie hier das Kirchengesetz lernte und fastete, ehe sie
die Taufe empfing. Den ersten Tag fastete sie auch, aber
ntir deshalb, weil ihr die russischen Speisen ein Greuel waren;
dann schickte ihr der Bräutigam die Köche ihres Vaters, imd
es ging gar nicht mehr klösterlich zu. Marina empfing im
Kloster nicht bloß den Besuch ihres leidenschaftlichen Bräuti-
gams, sondern brachte mit ihm allein manche Stunde zu, und
waren sie des Liebens überdrüssig, so vertrieben sie sich die
Zeit mit Gesang, doch nicht mit geistlichem, und mit Tanz
und Musik. Pseudo-Dmitry, ein aus der Kutte gesprungener
Mönch, brachte Possenreißer und Musiker ins Kloster, „gleich-
sam als geschehe dies," klagt der Historiker'), .,um mit der
Heiligkeit des Ortes und der Würde unbefleckter Nonnen
Scherz zu treiben; Moskau hörte davon mit Abscheu." Man
könnte hier entschuldigend bemerken, daß die f'beltäter ein
entlaufener Mönch, der den Zarenthron ii irpiert hatte, und
eine polnisclie Abenteurerin waren. Aber solche Vorfälle waren
nicht vereinzelt, fanden nicht bloß in jener wirren Epoche
statt, sondern sind typisch und wiederholen sich fortwährend.
Am häufigsten unter der Herrschaft der stockrussischen Zarin
Elisabeth, Tochter Peters des Großen, und die Hauptschuldige
ist diesmal die Kaiserin selbst 2), die sich gern als die frömmste
Frau ihrer Zeit aufspielte. Lange Stunden pflegte sie in den
Kirchen zuzubringen, in inbrünstigen Gebeten stehend oder
kniend, bis sie ohnmächtig zusammenbrach und in Starr-
krampf fiel. Als sie auf einer Schiffsfahrt von einem Sturm
überrascht wird, sucht sie ihre Zuflucht und Rettung im Gebete,
bleibt die ganze Nacht kniend und zu den Heiligen flehend,
deren Reliquien sie als unfehlbare Rettungsmittel nicht aus
den Händen läßt.^) Eines Tages findet sie, daß auf einem
1) Kamimrin, deutsche Ausgabe X 224, (fra&zAaiaclie Üben. XI 352).
s) Vgl. Walissewtki: L'hteitage de Pierre le Grand 92; La demilm des
Romaiiov 4$. 312; Le Roman d'une imp6ratrice, Catiierine II, 344.
*) MtmAit» de CathMne IL Londres 1859. p. 180.
lO*
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Heiligenbilde die Engelcin, die den heiligen Sergej umgeben,
zu sehr Amoretten ähneln; ihr keusches Gemüt ist tief be-
leidigt, und sie befiehlt dem Oberprokurator des heiligen Synod
das Ärgernis zu beseitigen und den Engeln ein heiligeres Aus-
sehen anstreichen zu lassen. Die wichtigste Person in Elisabeths
Flofataate ist ihr Beichtvater Dubjanskij, der auch eine politische
Rolle an sich reißt und namentlich die Saporegerkosaken pro
tegiert, weil sie ihm regelmäßig tonnenweise gesalzene Fische
senden. Nun die Kehrseite : der Beichtvater Dubjanskij ist auch
der Gelegenheitsmacher Elisabeths und namentlich der Ver«
traute bei dem Liebesverhältnisse des ehemaligen Kirchen-
sängers Rasimiowsky mit der Zarin, die entsprechend ihrem
frommen Sinpe die Klöster zu ihren Absteig^uartieren wählt
und besonders das Troitzkakloster mit ihren Orgien erfüllt.
Dorthin pilgert sie um zu beten, dort gibt sie ihren bevor-
zugtesten Liebhabern zärtliches Stelldichein; und fühlt sie ob
ihrer Ausschweifung an heiliger Stätte Skrupel, so tut sie gleich
an Ort und Stelle durch gütige Vermittclung des gefälligen
Beichtvaters Buße. Die Regierungsgeschichte EUsabeths ist
eine unaufhörliche Reihenfolge erotischer und pietistischer
Skandalosa, und dem von der frommen Zarin und ihrem Beicht-
vater gegebenen Beispiel folgt in einem Taumel von Ver-
zückung und Zynismus der ganze Klerus. Der Historiker,
der es sich zur Aufgabe macht, diese religiösen und erotischen
Possen, die in toller Abwechselung einander den Schauplatz
überließen, genau zu schildern, erscheint als ein getreuer Ab-
schreiber der Werke eines Sade. Wie in den wahnsinnigsten
Szenen, die dieses teuflische Genie gemalt hat, sehen wir
im Rußland Elisabeths in den Klöstern die furchtbarsten und
blutigsten erotischen Dramen sich abspielen. Zu den Füßen
der Altäre werden Orgien gefeiert; mit den Heiligenbildern
in den Händen opfert man der raffiniertesten Unzucht. Völ-
lerei und Ausschweifung greifen gleich epidemischen Krank-
heiten im ganzen russischen Kirchen- und Klosterstaat um sich.
Ein Archimandrit vergewaltigt ein Mädchen auf offener Straße.
Kr wird in der Ausübung seines Verbrechens von Bauern
überrascht und insultiert. Der Skandal kommt vor Gericht, und
man verurteilt nicht den Priester, der seine Würde geschändet
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hat, sondern die Bauern, weil sie den Archimandrit insultiettenl
Die Priester dürfen die wundertätigen Heiligenbilder aus den
Kirchen und Klostern in Privathauser schleppen, um Sauf'
gelage im Zeichen der Heiligen festlich zu gestalten. Der
höchsten Geistlichen bemächtigt sich eine erotische Raserei, die
sich in den .gräßlichsten Flagellationstollheiten austobt. Der
Bischof von Wjatka, Warlam, peitscht eigenhändig die An-
gestellteu seiner Kirche büs aufs Blut, wenn der siimliche Koller
ihn in Aufruhr bringt; der Bischof von Archangelsk, Warso-
nofij, benützt den Umstand, daß in seiner Verwaltung ein
kleiner Mangel entdeckt wird, um seiner Lust zu Züchtigungen
freien Lauf zu lassen; er beruft den ganzen ihm unterstehenden
Klerus vor die Pforte der Knrche und zwingt die Schuldigen*
mit nackten Füßen eine Stunde lang in tiefem Schnee zu
stehen; Warsonofij, ein Todfeind aller Bildung und Kultur,
schlägt seine Priester bei jedem Anlaß und laßt sie wegen
des geringsten Vergehens an die Kette schmieden. Der Bar-
bar bt aber nicht tmerbittlich grausam: ein Fäßchen Wein
oder Schnaps zähmt seine Wildheit, und die Klugen sichern
sich auf solche Art von vornherein vor der Wut des hochwürdig-
sten Vaters.^] In einer solchen Zeit konnte die schauerliche
Männertöterin Gräfin Darja Saltykow ihr Wesen treiben, die,
was die Legende von einer mythischen Königin erzählt, in
Wahrheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollführte:
die Liebhaber, an denen sie sich gesättigt, ließ sie umbringen;
und sie konnte Jahre hindurch ungestraft bleiben, weil der
Klerus nicht bloß sie schützte, sondern an ihren Mordtaten
und blutigen Orgien teflnahm. Erst mehrere Jahre nach dem
Tode der Zarin Elisabeth, unter Katharinas IL Regierung,
wagte man dieses blutdürstige Ungeheuer vor Gericht zu schlep-
pen und die Schandtaten des vertierten Weibes in breiter
Öffentlichkeit zu verhandeln. Der Prozeß dauerte lange Jahre;
man stellte die Zahl der Opfer mit 130 fest. Von wievielen
Verbrechen mag man nach so vielen Jahren aber nichts mehr
Diese Schandtateo sind nicht von Ausländern, sondern von Russen
tnthtt, von äuuaienkl und SehaclMmBlioj. Man vergldche die Zettsebrift
J^oauM empma 187S", S. 185—190.
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erfahren haben. Unter den Opfern der Wollust und Grausam«
keit der Saltykow waren beide Geschlechter vertreten, und ne-
ben Männern und Frauen figurierten auch zwölfjährige Kinder.
Die Toten konnten nicht mehr gegen ihre Mörderin zeugen, aber
von Opfern, welche die von diesem Weibe erdachten Martern
überstanden hatten, erschienen noch fünfundsiebzig vor Gericht
um die Saltykow anzuklagen. Die meisten Opfer hatte sie
sich aus ihrem Gesinde und aus ihren Leibeigenen geholt.
Und was war die Strafe, die sie jetzt ereilte? Katharina dachte
gar nicht daran, vollständige Justiz zu üben — es war doch
eine Aristokiatin, die die Verbrechen begangen hatte, und
nur Leibeigene waren die Opfer. Die Gräfin Saltykow wurde
also bloß zu ewigem Gefängnis verurteOt; sie zu züchtigen,
wie sie selbst gezüchtigt hatte, dazu konnte sich die Freundin
der französischen Philosophen und Enzyklopädisten nicht auf •
raffen. . Aber die Helfershelfer des Ungeheuers waren nicht
Mitglieder einer bevorzugten Klasse, und ihnen durfte voller
Lohn zuteü werden: die Diener der Gräfin, die selbst unter
der Zuchtrute der Tyrannin stehend zitternd ihre Befehle voll«
führten und die Opfer zu Tode geißelten; und der Pope, der
den Erschlagenen ein kirchliches Begräbnis zukommen ließ
tmd an ihren Gräbern das Märtyrerkreuz aufpflanzte — diese
Übeltäter wurden auf offenem Platze in Moskau geknuteti —
Die Folgen solcher Demoralisation, einer so unglaublichen
Verwirrung aUer sittlichen Begriffe sind noch heute zu spüren.
Man hat in Rußland, wo schon früher kein hohes Verständnis
für Moral und Recht vorhanden war, sich seither auf ein
einigermaßen sittliches Niveau nicht mehr hinaufzufinden ver-
mocht. Namentlich die Klöster, und im besonderen die Frauen-
klöster^), blieben seit dem Elisabethischen Zeitalter die Heim-
stätten wilder Sittenlosigkeit. Alle tiefen Kenner des Ruß-
land im neunzehnten Jahrhundert bestätigen, daß bei der
Klostergeistlichkeit im verflossenen Säkidum die sinnlichen
*) Ist das nicht bloß für Rußland, sondern im allgemeinen gültig für die
Länder der orthodoxen Religion? In den Balkanländern stehen die Frauen*
klfister ebenfalls im schlecbtesten Rufe, und von rumänischeii FrauenkKstem
]$t «■ den Reisendea bekannt, d»0 man dort eine Gastfreundscbaft wie in
Bordellen genießen kann.
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Aussrlnvrifungen an der Tagesordnung waren i), daß dort die
g^räulichste Sittenverwildcnmg herrscht. Der vielangefeindete,
aber als Zeuge in Sittenfragen durchaus nicht un verläßliche
Custinc^) sagte bei Schilderung der russischen Klostersittcn :
..(\'s faits rappellcnt un peu notre littc'rature rt^volutionnaire
^793- vous vous croirez aux V'isitandines de PY'ydcau."
Ich aber muß hier nochmals wiederholen : kein Ausländer hat
sf) furchtbares Material gegen die russische Geistlichkeit zu-
sammentragen können, als in den russischen Selbstanklagcn
enthalten ist, welche wir sowohl in der russischen Kirchen-
geschichte, bei den Chronisten und Historikern von Nestor
bis Karamsin und Ssolowjew, als in den russischen Zeit-
schriften, namentlich in „Russkaja Starina", die sich die Er-
forschung der Vergangenheit zur Aufgabe macht, turmhoch
aufgehäuft finden. Wir meinen schon das C^räßlichste erfahren
zu haben, da wir den Fall der Gräfm Saltyk(nv kennen lern-
ten; und dann wird uns Kenntnis davon, daß um ein Jahr-
hundert später, zu einer Zeit also, wo Rußland sich nicht
nur als europäisch betrachtete, sondern Europa förmlich zu
bedrohen und beherrschen begann, in einem russischen Frauen-
kloster solches sich ereignen kann : Ein junger Mann wird
einen Monat lang von den Nonnen festgehalten und in wilder
Gier durch Liebesdienste zu Tode erschöpft. Er wird zuletzt
so schwach, daß er nicht mehr imstande wäre, sich aus dem
Kloster fortzubewegen. hje( ht er langsam in den Mauern des
gottgeweihten Gebäudes dahin, so kann es zu einem Skandal
kommen. Da beschließen die frommen Schwestern dem Übel
vorzubeugen und vollenden das Werk, das der Tod zu lässig
betreibt. Der Ermordete wird dann in Stücke zerschnitten
und in einen Brunnen versenkt. — Ein Fall, wie ihn die
blutigste Phantasie eines hirnverbrannten Kolportageroman-
schreibers nicht schauerlicher ersinnen könnte, l'nd dieser
Fall ist der Wirklichkeit des russischen Lebens entnommen,
Meaadien tmd Dinge in RnOland* Anscbaamigen und Stadien. Gotlin
1854s. Der nicht genannte Vex&ner ist F. Leiimann, er lebte lange ^ahre im
Zarenrdchp.
«) a. SU O. III 355.
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~ 152 —
und nicht einmal ein vereinzelter, sondern wieder nur einer
für viele. —
Wäre es da seltsam, wenn die heidnischen Völker in Ruß
land nicht gesitteter wären als die herrschende Rasse? Bei
den Kalmücken zum Beispiel ist dem Klerus der Zölibat eben-
falls zur Pflicht gemacht; und auch bei diesem barbarischen
Volke sucht sich die chclose Geistlichkeit durch Ausschweifun-
gen für die gesetzlich ihr aufgezwungene Enthaltsamkeit schad-
los zu halten. Doch wir sehen, daß nur die Mandschi und die
Gätzuln, also die niedersten Priester, der Versuchung zu er-
liegen pflegen, während die Obergeistlichen im allgemeinen
ihrem Stande keine Schande machen.*) Aber selbst für die
Sünder gibt es hier eine Entschuldigung. Denn die kalmücki-
schen Frauen sollen dem Umgang mit den Geistlichen aus
einem gewissen religiösen Grunde geneigt sein, weil sie durch
solchen Geschlechtsverkehr einen Anteil an der Heiligkeit des
geistlichen Standes zu erlangen glauben. Es wird die Un-
sittlichkcit also zu einer Kulthandlung und sie darf nicht mit
dem Maße strenger Moral gemessen werden. Bei der russi-
schen Geistlichkeit fällt der Mantel der Scheinheiligkeit fort,
und die brutalste Sinnlichkeit und Unsittlichkeit stehen in
völliger Nacktheit vor unseren Augen. Die Russen haben
sich die Rolle der Zivilisatoren Asiens angemaßt, wir aber
erkennen, daß dort die Wilden noch immer die besseren
Menschen sind.
1) Bergmann, Nomadisclie Strdiereien unter den Kabnflcken II 388.
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163 —
9. Heiligenkuit und Mystizismus.
RuHBichcs Christeatam und Sdumuiwinitt Gckteri^vbe und HeOigea'*
verehornng — Ffase für den Hlmmd — Schaffnng und Absetzung von Heilig«!
durch Ukas — Die Heiligen — lija — Nikolaj, der TluttwfailgV Gottm —
Die Heiden und der heilige Nikolaj — Andreas — Georg — Alexander Newskij
— Leben und Wunder des h^ligen Ssergej — Ikone — Wallfahrten und
Unzucht — Herrscher und Heiligenbilder — Bilderdienst und Mystiiisnius —
UtMwlien des maaMchen Mystfa^aus — Küm» wid Nfttur — MyeHäamt»
des IfiMchik nad der Städter — Der Mystixismns der HerTscher — Iwan der
Schreckliche — Peter der Große — Nikolaj T. und Alexander III. — Paul I.
and Alexander I. — Alexander II. und Nikolaj II. — Die mystischen Dichter
— ToUtoj — Dobroljubow — Der Ekueilendicbter Brjoitow.
Leroy-Beaulieu stellt in seinem großen Werke über Ruß-
land^) die Fragen: Ist das russische Volk tatsadilich religiös?
Ist es in Wahrheit christlich ? Verdient der unklare rohe Glaube
des Muschiks überhaupt den Namen Religion? Entstammen
seine verwoirenen Lebois- und Weltanschauungen dem christ-
lidien Bekenntnisse?
Auf alle diese Fragen haben wir schon in den bisherigen
Abschnitten trostlos klare verneinende Antwort erhalten. Je
weiter wir fortschreiten in der Geschichte der öffentlichen
Sittlichkeit in Rußland, desto dichter die Finsternis, die uns
auf allen Seiten umgibt ; desto undurdidringlicher die Schatten,
die jedes Gebiet unseres Planes bedecken; desto hoffnungsloser
die Sehnsucht nach einem einzigen Lichtblitz der Aufklärung,
nach einem noch so winzigen Ausblick in ein minder trauriges
Kapitel. Endlos wie die russische Steppe dehnt sich die Ge-
schidite der russischen Leiden und Laster; und die Religion,
sonst die erhebende Trösterin im Jammer des Einzelnen wie
der Völker, ist in diesem unglückseligen Reiche, bei diesem
sittlich verkommenen Volke zugleich Grundlage und Krönung
aller Übel. Das russische Christentum muß nicht bloß als
ein primitives^ sondern geradezu als ein Glaube bezeichnet
werden, der sich von demalten slawischen Heidenglauben gering
unterscheidet; es ist ihm nichts anderes gelungen als den
I) III 36.
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— 1Ö4 —
Namen zu wechseln, das Wesen der Gedanken und die Formen
des Kultus sind fast unverändert geblieben oder nur durch
Zusätze mongolischen Aberglaubens ergänzt worden. Bei den
Ainos im äußersten Osten, die von der Kultur noch kaum
berührt sind, ist ilas Schamancntum beinahe schon verschwun-
den; man kennt heute vielleicht nur drei oder vier Männer*),
welche dort diese uralte Kaste noch im zwanzigsten Jahrhundert
vertreten. Bei den Russen aber spielen die Prie'^ter alle nichts
anderes als Rollen von Schamanen, und die Zeremonien, die
sie üben, sind voller Anklänge und Anlehnungen an die scha-
manistischen Zauberkunststücke. Der Glaube der Schamanen-
völkcr ist ein Geisterglaube. 2) Er beruht in der Meinung,
daß die Seelen der Verstorbenen als Gespenster durch die
Lüfte und über die Schneefclder fliegen. Diese Geister hausen
in dunklen Tannenwäldern, Felsenklüften und Abgründen. Die
heftigen und verderblichen Naturerscheinungen, Mißwachs und
Seuchen, plötzliche Krankheiten, Epilepsie, Raserei einzelner
Individuen werden dem Einflüsse solcher Geister zugeschrieben.
Der russische Heiligenglaube ist kaum etwas anderes als der
Geisterglaube der Schaniancnvölker. Man fürchtet sich vor
der Rache der Heiligen, bemüht sich um ihre Gunst, macht
das Christentum zu einem Fetischdienst; versagt der angerufene
Heilige, so zürnt man ihm, entreißt, um ihn zu strafen, seinem
Bilde die Geschenke und spottet des trügerischen unvcrläü-
lichen Halbgottes mit dem Sprichwort^ : .,Kr taugt nicht dazu,
daß man ihn anbete; er taugt um löpfe damit zuzudecken.**
Der größte Teil des russischen Volkes kennt nicht Gott,
1) Labb6, Un bagne russe, l'ilc de Sakhalinc, Paris 1903, page ii>f>.
*) Stuhr, Die Religionssysteme der heidnischen Völker des Orients,
S. 250. Vgl. Julius Lippert, Allgemeine Geschichte de» Mestertnms (3 Bande).
Berlin 1885. 1 250. — lippert hat in seinem Werke ..Die ReUgionea der euro'
päischen Kulturvölker", S. 91 — 109, auch eine interessante DarsteUimg der
altslawischen Religion. — Kurz uiul lichtvoll sind die .\bhandlungen von Jo-
hannes Schern, C,cschichte der KL-hguni, Leipzig T. Hucli Seite 17, 38,
43, 47 und II 255. — Über den Schamanisnius der Samojeden und Tungiisea
s^ m«n die Stellen bei Le Brayn a. a. O. III 31. 365 u. a. oder bei Pallas
a. a. O.; endlich U. daCuaiiHi», pyccidft Bapo;i:B» Modcsa 1880, 256 — 259.
..Tl.- n),TnTi.rn \W\ M<\iirTj.on, rosnrrM!« mpinictt noitpusaTb*'. Leroy-
BeauUea III 35. Note der Übersetzer.
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— 155 —
sondern bloß die Heiligen; nicht die Religion, sondern die
Reliquien. Heilige und Reliquien sind ohne Zahl, vermehren
sich mit jedem neuen Jahre. Zur Schaffung eines neuen Heili*
gen bedarf die Geistlichkdt allerdings seit jeher der Bewilli>
gung des Herrschers i); aber Fürsten und Großfürsten» Zaren
und Kaiser gaben stets ihre Zustimmung, sobald sie nicht
nur durch bloße Gerüchte und Erzählungen des Volkes, son-
dern „durch glaubwürdige Zeugnisse von der Wahrhaftigkeit
der Wunder überzeugt" worden waren; dann erteilten sie auch
sofort den Befehl, den neuen Heiligen und die von ihm er-
fahrenen Wunder allgemein bekannt zu machen, die Glocken
zu läuten und Dankgebete zu singen; und die Sieben, die bei
den bisherigen Hdligen kdne Rettung gefunden, strömten
hoffnungsvoll von allen Seiten zu den Gebeinen des neuen
Heiligen. So ließ Kaiser Paul durch die Petersburger Zeitung
vom 7. Dezember 1798 seinem Volke folgendes mitteilen'):
„Im Jahre 1796 wurde in der Eparchie von Wologda, in dem
Kloster Ssumorin in der Stadt Trotma, ein Sarg entdeckt,
in dem sich ein Leichnam in Mönchskleidem befand; dieser
Mönch war im Jahre 1568 gestorben und begraben worden,
aber sowol seine Leiche wie seine Kleidtmg sah man völlig
unversehrt. An den Buchstaben, die in die Kleider ein-
gestickt waren, erkannte man in dem Leichnam den Körper
des hochgelobten Feodosius Ssumorin, Stifters und Superiors
des Klosters, der schon bei seinen Lebzeiten durch die Wun-
der, die er verrichtet, für einen Heiligen gehalten worden war.
Der heilige dirigirende Synod stattete über diesen Vorfall
Seiner Kaiserlichen Majestät allerunterthänigsten Bericht ab;
worauf folgender Ukas erlassen wurde: Wir sind durch einen
Spezialbericht des heiUgen Synods benachrichtigt worden, daß
man in dem Kloster Spaßo-Ssumorin die wunderthätigen Ge-
beine des hochgelobten Feodosius Ssumorin entdeckt habe;
diese wunderthätigen Gebeine sind dadurch ausgezeichnet, daß
1) Karanwin, deutsche Ausgabe VII 175.
>) Zuent leprodanert in den „Gt^ Kaclirichten über RuObud" (von
MaiMHi), Fmu 1800, II 143: wiederhcdt in den „Geheimniwen von RufiUuid",
1844. I 3t I Anmcrlning.
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— 166 —
ein jeder Kranke, der sich ihnen mit vollem Vertrauen nähert»
sich der glücklichsten Genesung zu erfreuen hat. Also kdmien
Wir die Entdeckung dieser heiligen Gebeine, für nichts Anderes
halten, denn als sichtbares Zeichen dafür, daß Gott Unsere
Regierung mit gnädigen Blicken ansieht. Dafür steigt Unser
heißes Gebet der Dankbarkeit zu dem höchsten Gnadenspen-
der empor, und Wir tragen Unserem »heiligen Synod auf,
Unserem ganzen Reicihe diese höchst merkwürdige Entdeckung
bekannt zu machen, nach den Gebräuchen, die von der heiligen
Kirche und den heiligen Vätern dafür vorgeschrieben sind.** —
Der Zar kann aber nicht bloß Heilige ernennen» sondern auch
absetzen: Beim öffnen der Gruft eines Metropoliten von Now-
gorod fand man den Leichnam unversehrt. D^ Wunder wurde
WOL heiligen Synod dem Kaiser mitgeteUt, und dieser entschied,
daß der vom Himmel so sichtbar begnadet gewesene Prälat
audi bei den Irdischen den Heiligenschein verdiene.^) Man
packte die Glieder des Heiligen in ein Reliquienkästchen, aber
da zerfielen sie plötzlich in Staub. Darob große Bestürzung,
und der Kaiser befahl eine strenge Nachforschung betreffs
des Lebenswandels des HeUigen. Der neue Bericht stellte
fest, daß der Metropolit Zeit seines Lebens ein bisterhafter
Mensdi gewesen. Der erzürnte Kaiser begnügte sich nidit,
den Heiligen feierlich wieder abzusetzen, sondern verordnete
die Verbannung des Leichnams nach Sibirien I
Die Heiligen sind den Gläubigen so gütig gesinnt, daß
sie ihnen auch Pässe für die andere Welt zurück lassen, die
dann himderttausendfältig kopiert werden und in allen Zeiten
Gültigkeit behalten; die Popen und Bischöfe verkaufen solche
Pässe um ein Geringes. Ein derartiger Paß, dessen Original
vom Metropoliten von Kijew am 30. Juli 1541 geschrieben
wurde, und dessen wundertätige Abschriften sich noch heute
besonderer Nachfrage erfreuen, hat folgenden Wortlaut*} : „Ich
bekenne und bezeuge, daß der Inhaber dieses Briefes immer
>} Marmier. Rußland. Finnland und Idolen. Nacherzählt in „Geheim-
iiisM vcm RnBland", f 31a
*) Znent übcnetst » .»Britiah uid Fofdgn Review". Jnly 1839^ — • \fß.
Marmier II 42 Anmerkung.
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— 167 —
als wahrer Christ unter uns gelebt und die orthodoxe Rdigion
bekannt hat; obwohl er manchmal fehlte, erhiek er, nachdem
er seine Sünden gebeichtet, die Absolution, die Kommunion
und die Vergebung seiner Sünden. Er hat Gott und die
Heiligen verehrt, in den von der Kirche angeordneten Stunden
und Zeiten gefastet und gebetet und sich sehr gut mit mir«
seinem Beichtiger, vertragen, so daß ich keinen Anstand nahm
ihn vcHi seinen Sünden loszusprechen und keinen Grund habe
mich über ihn zu beschweren. Demzufolge wurde dem In*
haber dieses Briefes gegenwärtiges Zeugnis ausgestellt, damit
der heilige Petrus, wenn er ihn sieht, ihm die himmlische
Thür offne/*
Der jüngste russische Heilige ist Seraphim,t.ein- 1833 ge>
storbener Mönch, der im Jahre 1903 vom Zaren Nikdaj II.
zum Heüigenrange erhoben wurde. Der heilige Seraphim, Be>
giünder des Diwejewldosters im jetzigen Wallfahrtsorte Ssa-
row bei Nischny-Nowgorod, hatte durch seine unversehrt
gebliebene Leiche sieben Jahrzehnte nach seinem Tode solche
Wunder zu wirken begonnen, daß Kaiser Nikolaj 1902 eine
Spezialkommission zur Untersuchung der merkwürdigen Vor-
falle einsetzte. Diese Kommission stellte fest, daß der Leich-
nam bereits 94 Wundertaten vollführt hatte, die genügend
bezeugt werden konnten. Am 7. August 1902^ am Geburts-
tage des Mönchs Seraphim, beendete die Kommission ihre
Forschungen. Auf den Bericht der Kommission antwortete der
Kaiser mit dem an den Heihgen Synod gerichteten Wunsch,
daß Seraphim heilig gesprochen werden möge. Am 24. Januar
.1903 überreichte der Synod dem Kaiser die Entscheidung,
daß Seraphim als Mitglied in die Gemeinschaft der Heiligen
aufgenommen wurde. Der Kaiser schrieb an den Rand dieser
Entscheidung: „Mit aufrichtiger Freude und tiefer Bewegung
gelesen**; und im „Regierungsanzeiger'* erschien folgender
Kommentar: „Der Heilige macht die Lahmen gesund und heilt
die Blinden. Fünfzehn Krücken wurden am Ufer des Flüß-
chens Ssarowka von geheilten Gläubigen unter Dankesgebeten
verbrannt. Schwer aber weiß der Heilige die Ungläubigen
zu strafen. In Stepurino, einem Dorfe im Kreise Bogorodskij,
beschlossen die Bauern am Tage des heüigen Seraphim keine
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— 158 —
Feldarbeit zu tun. Ein Raskoinik^) namens Ssitnow erklärte,
er werde seine Arbeit dem heiligen Seraphim zu liebe nicht
vernachlässigen. Kaum hatte der Frevler dies gesprochen,
als er zu schwanken begann und zur Erde stünte. Als man
ihm näher trat, war er schon tot. Selbst die Ungläubigsten,
die Ssitnow bloß für betrunken hielten, wurden eines Besseren
belehrt; denn schon nach drei Stunden ging die Leiche in
Verwesung über. Dieses Ereignis machte auf alle Anwesenden
einen erschütternden Eindruck. Kaiser Nikolaj schenkte einen
kostbaren Reliquienschrein für die Gebeine des Heiligen, die
Zarin Alexandra stickte eigenhändig die Decken dazu und auf
kaiserliche Kosten wurde eine Verherrlichungsfeier in der Ssa-
row-Wüste veranstahet. Als im Kriege mit Japan die Dinge
für Rußland eine schlimme Wendung nahmen, wallfahrtete
die ganze zarische Familie nach Ssarow, um die Hilfe des
HeÜigen anzurufen.*)
Die vornehmsten russischen Heiligen sind Nikolaj, Alexan*
der Newskij, Andreas, Georg, Ssergej, Ilja, Michael, Wlaßj.')
Sie teilen sich alle in die Erbschaft nach den alten Heiden-
göttern. Von Wlaßj als Nachfolger des heidnischen Herden-
gottes Woloß habe Ich schon in dem Kapitel über Aberglauben
gesprochen. — Der alte Perun, der Gott des Blitzes und des
Donners, lebt fort im heiligen Ilja oder Elias ; wenn es donnert,
rollt nach Meinung des Muschik der Wagen des Propheten über
die Wolken; Ilja beherrscht Sturm tmd Hagel, und feiert man
ihn nicht genügend, so vernichtet er die Ernte. — Im Gegen*
satze zu diesem häufig zürnenden Ilja steht der gütige Nikolaj;
das ist der wahre russische Nationalheilige. Er ist stets dienst-,
fertig und hilfreich, behütet die Kinder, beschützt die Matrosen,
die Pilger, alle Notleidenden. Fast jeder Russe trägt das BÜd
Sektierer.
s) ^nduuFd Stern, Die Romanows, 3. Auflage, Berlin 1906, II 381.
3) Vgl. die Werke (in russischer Sprache) von Kostomarow, Gemälde
des häuslichen Lebens und der Sitten des russischen Volkes im sechzehnten und
siebzehnten Jahrhundert; Goltzew, Die Gesetzgebung und die Sitten Ruß-
lands im achtzehnten Jahrhundert; Miljukow. Skizzen zur Geschichte der
russischen Literatur, Petenburg 1899. — Femer: LerayBeaulien a. a. O.
III 33; Gebeimiuase von Rußland I 318; Marmier I 272, II 5.
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— 159 —
Nikolajs bei sich. Der Soldat stellt sich unter den Schutz
dieses Heiligen, der Postknecht treibt nicht die Rosse an,
ehe er sich nicht dem heiligen Nikolaj empfohlen hat. Ist
jemand in seinen Unternehmungen vom Glücke begünstigt,
so verdankt er dies dem heiligen Nikolaj. Dann kommen .
die Nachbarn herbeigelaufen und wollen sich von dem, der so
sichtbar in des Heiligen Gunst steht, das wundertätige Bild
ausleihen, er aber gibt es ungern her. In den Spielhöllen,
Wirtshäusern amd Bordellen fehlt niemals ein Bild Nikolajs.
An den Toren des Kreml sind die Bilder dieses Schutzpatrons
sowie des Erlösers angebracht, imd keiner geht vorüber, ohne
hier seine tiefste Ehrfurcht zu bezeugen; diese Bilder ver-
dienen besonderen Dank: Als im Jahre 177t Moskau von
der Pest verheert wurde, strömte das Volk in Massen zum
Kremltore, um des Erlösers und des Heiligen Nikolaj Gnade
zu erflehen; der Bischof, der in dem Zusammenströmen großer
Mengen in der Zeit der Epidemie eine Gefahr der Ansteckung
erblickte, wollte die Bilder entfernen lassen. Das erzürnte
Volk erschlug den Bischof auf der Stelle. Die Moskowiter
wurden dafür, daß sie die Bilder vor dem gottlosen Bischof
beschützt hatten, belohnt; denn bald nach diesem Vorfall er-
losch die Pest. Das Bild des Erlösers hatte schon früher Mos-
kwa von den Tartaren befreit; als die Barbaren in den Kreml
eindringen wollten, sah das Erlöserbild sie so furchtbar drohend
an, daß sie sofort die Flucht ergriffen und vor Schrecken
nicht einmal zurückzuschauen wagten. Die Franzosen gaben
sich im Jahre 181 2 tmisonst alle Mühe dieses BUd zu zer-
stören. Auch vom Bilde des heiligen Nikolaj, das sich am
Kremltore befindet, wird das Wunder berichtet, daß es bei
der großen Explosion im Jahre 1812 samt seinem Glase un-
versehrt blieb, während das Arsenal in Trümmer sank und
die Wälle des Kremls barsten. Nach dem Volksglauben der
Russen wird Nikolaj dem lieben Gott, wenn dieser alt ge-
worden sein wird, im Regiment folgen. Die Heidenvölker
Sibiriens und die Mongolen sehen schon jetzt im heiligen
Nikolaj den eigentlichen Russengott und bekehren sich nicht
zu Christus, sondern zu Nikolaj, abgekürzt KoUa. Bei den
Sibiriern ist Nikolaj der Gott des Ackerbaues und des Bieres.
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— 160 —
Die finnisch-tartarischeii und türkischen Stamme Rußlands,
die das Christentimi angenommen haben, beten nur zu Nikolaj ;
die Tschuwaschen an der Wolga, welche von den Popen be-
tehrt «rurden, beschranken ihr junges Christentum auf Pilger-
fahrten zu den Heiligentümem, welche Nikolaj geweiht sind.
Aber auch die Heiden, welche fast ganz in ihren alten Ge-
bräuchen verharren, wie die Wotjäken und Ostjaken, verehren
Nikolaj wie einen mächtigen Schutzgott. Die Mongolenstämme
schrieben das Anwachsen Rußlands der Macht des russischen
Spesialgottes zu, und da sie beobachteten, daß die Russen
am meisten den heiligen Nikolaj verehrten, so hielten sie ihn
für den Gott der Russen und führten, um desselben Glückes
wie letztere teilhaftig zu werden, den Nikolajkult ein. Ahn
lieh haben die Lappen^) Bilder der christlichen Dreieinigkeit
unter ihre Zauberzeichen aufgenommen. 2)
Vom heiligen Andreas erzählt die russische Kirchenge-
schichte, daß er sich zur Zeit, als sich die griechische Kirche
von der lateinischen trennte, in Rom auf einem Mühlstein
einschiffte und statt des Ruders ein Schiltrohr benützte, das
im Augenblicke, wo es der Heilige ergriff, zu Stein wurde.
Die Kleider und Kirchengewänder schwammen dem Mühlstein
nach. Diese merkwürdigen Transportstücke sind als Reliquien
in Nowgorod zu sehen. 3) — Der heilige Georg ist neben dem
heiligen Wlaßj Beschützer der Herden; sein Fest am 23. April
ist das Frühlingsfest der Russen. — Alexander Newskij ist
der Heros unter den Heiligen ; er hat als ein furchtbarer Tyrann
in Nowgorod gewütet und gilt namentUch als Schutzherr des
Heeres. — Eine besondere I'rwähnung verdient schließlich
der heilige Ssergej, der Stifter des berühmtesten russischen
Klosters Troitzka bei Moskau. £r lebte im vierzehnten Jahr-
Gnoner, Kavä Leen» Nachrichten von den Lappen, hmpng 1771.
*) Und ganz so, sa^t Lipp^rt {Geschichte des Priestertums I 2>5) hatten
die Tahitier gehandelt als sie sich den stärkeren Gott von Ikjlabola holten.
*) Man verwechselt manchmal die Erzählungen über Andreas und die
Aber Nikolaj und berichtet von letzterem die fahrt auf dem MÜhbtdn. VgL
entm Kapitel {„Thi» mwiKbe Kultur*') S. 6 daa ZHat aus der „RciBe nadb
Notden".
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hundert. Aus einer Rede des Metropoliten Philaret über das
Leben dts heiligen Ssergej ^) erfahren wir, daß dieser Heilige
schon im Mtilkerleibe alle Gebote der Kirche kannte. Während
ihrer Schwangerscliaft ging seine Mutter in die Kirche; als
der Priester* das- Evangelium las» stieß das Kind im Mutter-
leibe einen so lauten Schrei aus, daß es die ganze Gemeinde
höite; dies wiederholte sich nach der Kommunion. Als Säug-
ling Dveigerte sich Ssergej, an Fasttagen an der Brust seiner.
Mutter» ztt^ trinken« Im schulpflichtigen Alter s^dte man den
kleinen Heiligen zur Schule, aber er konnte die weltlichen
WisBenschaftea nicht verstehen; vergebens züchtigten ihn die
Lehrer, er lernte weder lesen noch schreiben. Dann aber
gab ihm ein Mönchgreis ein Stück geweihtes Brot, und sofort
konnte' Ssergej die Psalmen lesen- und sich dem Studium der
beiden Schrift widmen. Später zog er sich als Einsiedler in
einen Urwald zurück und baute zu Ehren der Troitza» der
Dreieinigkeit, eme schlichte Hütte an der Stelle, wo heute
das- stolze Kloster steht. Durch seine Wunderwerke machte
Ssergej' das Kloster früh zu einer Wallfahrtsstätte. Als der
Heilige einniAl Durst hatte, segnete er ein paar Regentropfen,
und daraus entsprang der Bach, der noch jetzt hier fheßt.
Der Heilige konnte nicht bloß Rasende zähmen, sondern auch
Tote erwecken. Und seine Wundertätigkeit dauerte nach
seinem^ vor fünf Jahrhunderten erfolgten Tode fort. Ais man
1421- seine Ldche aus dem Saige nahm, um sie in einem
Reliquienschrein aufzubewahren, war sie völlig unversehrt. Die
Feinde, ob Polen ob Tartaren, vermochten das Kloster nie
zu erstürmen ; Pest und Cholera, machten an den Toren dieses
Heiligtums Halt. Hinter seinen Mauern suchten viele Herr-
scher Schutz oder Ruhe; Peter der Große rettete sein Leb^
vor den Dolchen der Streljzen durch die Flucht, ins Troitzka*
kloster. —
Die Heiligenvevehnmg überschreitet in Rußland alles Maß
und wird zu einem wahren Polytheismus. Noch heidnischer
als die Anbetung der Heiligen selbst ist der Kult, der mit den
Heiligenbildern g,etrieben wird. Der von mir schon früher
1) MoCTfBa 1822. — Vgl. Marmier II 6.
St«rn, G«*daichte der OffcnU. Sittlichkeit in Ruilind. n
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— 162 —
erwähnte Wiener Prälat Johann Faber zwar schrieb im ersten
Viertel des sechzehnten Jahrhunderts von dem russischen
Bilderdienste^): „Die Heiiigenbüder sind bei ihnen nicht so
wenig respektiert oder gar verachtet, wie man dies bei uns
sieht als Kontrast zu aller Pietät, als Folge der Sti citigkeiten
unserer Zeit." Dagegen lesen wir in dem Buche über die
Religion der Moscowiter von Aimo 1712'): „Sie rühmen sich /
daß sie das Bildniß Maria der Mutter Gottes vom heiligen,
Apostel Luca gemahlet haben / und sie sagen / die heilige
Jungfrau habe befohlen / es sehe in der Stadt Moscau
au ff gehoben und verwahret werden. Basilides sagte: So lang'
als dieses Bild in unser Residentz-Stadt wird behalten werden
/ wird die Christenheit nicht verunruhiget weifden. Dieses-
Volck glaubet festiglich / daß alles was man ihnen von diesem
Bilde- öffentlich gesagt / unstreitig wahr sey / so daß man^
/ wenn einer das geringste darwider sagte / demselben die«
Zunge ausreissen / und ihn hernach lebendig verbrennen
würde. Basilides hat die Ordnung der Bilder gestifftet / und
denen Moscowitem die Weise gelehret / sie / nach der;
Stelle / die sie haben sollen / zu setzen. Er setzet in die
erste Stelle das Bildniß imsers HErrn Jesu Christi / in die
andere das Bild der Jungfrau der Mutter GOttes / und her»
nach den himmlischen Hauffen und alle Heiligen / welche
/ nach ihrer Meynung / die Seeligkeit der Menschen zu wege
bringen / und ihnen zu Hülffe kommen. In der Stadt Mos-
cau sind diese Bilder an einem gewissen Orte / der Heiligen*
und Bilder-Marckt genandt / zu vertauschen / denn sie sagen
nicht / zu verkauffen. Die Moscowiter sagen / sie haben
die Verehrung der Bilder vom heiligen Damasceno gelemet;
>} Außer den sdion frAher erwUmten Bildem des Erlfieen und des hei-
ligen Ntkolaj Mod besonden berfthmt: Das Marienbild mit den drei Händen
(der Maler hatte nur zwei Hände gemalt, aber über Nacht war auf dem Bilde
eine dritte Hand aufgemalt worden, der Maler wischte die dritte Hand fort,
sie kam immer wieder, und endlich erschien Maria und sagte: sie wolle mit
drei Händen abgebildet sein, welchem Wunsche der Maler Folge leistete) und
das kasanjsche Marienbild (einem Frommen in Kaaanj «rschien Ifada im
Traume, er erfaßte ihre Zflge so lebhaft, daß er sie am andern Tage malte,
obwohl er bisher nie gemalt hatte).
«) Seite 55.
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— 163 —
und wollen gar nicht gestehen / daß solche Verehrung eine
Abgötterey ßey. Man findet hin und wieder in gamz Mos-
cau viel solcher Art Heiligen; oind weil man sich einbildet /
sie haben die Krallt die Kranckheiten zu curiren / so gehet
alle Jahr ein grosser Hauffe Volcks Processionsweise nach
ihren Klöstern oder Kirchen / welches aber bey solchen an-
dächtigen Verrichtungen viele Ueppigkeiten und grosse Un-
ordnungen begehet / denn bey dergleichen Gelegenheiten
hängen die Moscowiter dem Fressen / Sauffen und Huren
sehr nach ; sie begehen auch Mordtaten und andere dergleichen
Laster." — Peter der Große versuchte dem Unfug, der mit
Heiligenbildern getrieben wurde, zu steuern und namentlich
die Menge der 'Ikone zu vermindern. Als er in Asow ein
Schiff bestieg, bemerkte er, daß alle Kabinen vollgestopft waren
mit Heiligenbildern; jeder Mann hatte seinen Schutzpatron in
zahlreichen Exemplaren mitgenommen. Der Kaiser erklärte:
„Ein einziges Heiligenbild genügt für ein Schiff," und ließ
alle anderen Bilder wieder ans Land schaffen.^) Peters Tochter
Kaiserin Elisabeth gab jedoch dem Bilderdienste neuen An-
stoß. Als Peter III. dem Beispiele Peters des Großen nicht
bloß folgen, sondern es noch übertreffen wollte und Heiligen-
bilder aus den Kirchen entfernen, den Erzbischof von Now-
gorod, der sich der kaiserlichen Verordnung widersetzte, ver-
bannen ließ, bereitete er sich damit selbst sein jähes tragisches
Ende. Katharina die Zweite, die einstige Protestantin, wußte
dem russischen Heiligenkult und Bilderdienste besser zu schmei-
cheln, sie warf sich vor den Ikonen nieder, nahm Staub von
dem geweihten Platze, auf dem die llciligenbüder sich befanden,
und bestrich damit ihre Krondiamanten.
^) Perry a. a. O. 315. — In den Bemerknngen Aber Rufiland, Erfurt 1788,
II 227 wird erzählt: „Im Jahr hatte ein rnssisdier Gebtlkher in FMer»-
liurß ein gewöhnlich Marienbild, das auf einmal Wunder m tun anftnp. Jeder,
der dftn Hdde sein Anliegen klagte, niiiUte natürlich etwas opfern. Peter
schickte zum (jeisthclien und sagte ihm, er möchte doch ein ihm beUebig Wunder
in seiDer Gegenwart vom BOde verrichten lassen. Da gestand der arme Teufel
den Betrug. daB er es des Gevrinnstes halber getan habe. Zar eignen Beloh-
nung nnd zur Warnung anderer wurde er in die Festung gebracht» mit harter
Leibesstraic bel^ nnd seine» Dienstes entsetzt."
II*
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— 164 —
In innigem Zusammenhange mit dem Heiligenglauben und
dem Bilderdienste steht der Mystizismus, der über Rußland liegt
wie Rauch und Nebel; der alle Klassen der Gesellschaft erfaßt;
vom 2^enhofe hemiedersteigt in die Niederungen des Volkes,
zu den Bürgern und Bauern, zu den Denkern und Dichtern,
zu den Kaufleuten und Soldaten. Niemand ist von ihm aus«
genommen, keiner kann sich ihm entwinden. Leroy^Beaulieu^)
bemerkt, daß der Mystizismus in Rußland mehr im Norden
als im Süden zu Hause sei und der Isba des Landmannes vor
dem Herrenschlosse den Vorzug gebe, weil der Muschik in-
timer mit der Natur in Berührung kommt und die Natur
des Nordens g:eheimnisvoller und melancholischer ist als die
des Südens. Mit dem einen Teile dieser Beimerkung, soweit
sie die räumliche Beschränkung aufsteüt, stinmie ich fast
überein. Der Hang der Russen zum Mystischen ist nicht,
wie andere meinten und beweisen wollten, ein einfaches Attri-
but der Rasse, des slawischen Blutes, sondern viel eher ent-
sprungen aus dem eigentümlichen Klima und Boden des Landes,
aus dem scharfen Kontraste, der Jahreszeiten, die denselben
Mangel an Gleichgewicht aufweisen wie die Menschen dort,
imd die.wie diese nicht fähig sind Maß zu halten. Die endlos
langen Wintemächte in den Schneewüsten; die endlos langen
Sommertage auf den geheimnisvollen Steppen, über die man
tagelang ziehen kann, ohne einem maischlichen Wesen zu
begegnen; die Abende im Dezember und Januar, wenn am
schwarzen Himmel die Sterne in einem fast blendenden Glänze
funkeln; und die Abende im Juni, wenn der Äther einen wunder-
bar durchsichtigen, phantastisch weitgedehnten Himmel sehen
läßt — das alles ist wohl geeignet, in der Seele des Schauen-
den und Erschauemden, des einsam ziellos Wandemden
mystische Regungen wachzumfen; und es erklärt gewiß das
geheimnisreiche Hindämmern des Russenvolkes, das willenlose
Verharren in geistiger Untätigkeit imd kulturellem Zwielicht.
Aber dieser Mystizismus beschränkt sich nicht bloß auf die
Muschiks in den Isbas; man kann auch kaum sagen, daß er
bei ihnen häufiger zu finden sei als in den übrigen Klassen
a. a. O. III 23.
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— 166 —
des russischen Volkes. Nur den einen Unterschied dürfte
man zugestehen : daß er bei dem Muschik unbewußt vorhanden
ist, bei dem Städter, im Herrenschlosse, im Zarenpalaste be*
wüßt vorherrscht ; daß der Muschik sich ihm gedankenlos unter«
ordnet, daß ihn die anderen aber, wenn nicht zu bannen,
doch zu verleugnen trachten, sich seiner schämen und ihm
gern einen anderen Namen geben. Und diesen Mystizismus
der Städter, EdelJeute. Hofleute und Herrscher, der Intelli-
genz und der Geistlichkeit, ihn kann man nicht mehr mit dem
fatalistischen Achselzucken abtun, daß er das unabwend-
bare Wi^engeschenk des Klimas und der Natur sei. Nein,
dieser Mystizismus der Nicht Muschiks ist die Folge der un-
ermeßlichen historischen Leiden und Laster Rußlands. Er
ist der schwarze Faden, der uns durch alle Irrgänge des Laby-
rinths führt, welches Geschichte Rußlands, und für uns im
besonderen die Geschichte sein( r öffentlichen Sittlichkeit heißt.
Durch ihn irregeführt erhielten sich die Herrscher Rußlands
auf dem blutigen Throne des Absolutismus; und er ist es,
der die Sklaven die Ketten klaglos tragen hieß. Die einen
wie die wderen glaubten bis heute, daß es so und nicht
anders sein müsse und sein könne. Mit der Alleinherrschaft
steht und fällt der Mystizismus. Darum waren alle russischen
Zaren und Kaiser die ersten Mystiker in ihrem Reiche, und
darum die Dichter und Denker die größten Nihilisten. Bei
den Zsaaen der alten Zeit äußerte sich der Mystizismus, wie
bei Iwan dem Schrecklichen als typischem Beispiel, bald in
erotisch-neronischem Wahnsinn, bald in der Feigheit als Fröm-
migkeit. Als Iwan der Schreckliche zur Eroberung von Kasanj
auszogt wagte er nur Schritt um Schritt vorzudringen, hielt er
in jedem Kloster und in jeder Kirche Rast, nicht um den
Sieg des Heeres, sondern um den göttlichen Schutz für sein
zarisches Haupt zu erflehen. Während er, endlich vor Kasanj
angelangt, die Krieger in den Kampf schickte, blieb er angetan
mit dem Kriegskleide bei seiner geistlichen Garde zurück und
las zitternd Gebete. Ab die Heerführer ihn baten, die ver-
zagenden Truppen zu befeuern, entgegnete er: Kämpfet nur,
meine Helden, ich bete für euch ! Lasset mich nur der Gnade
Christi teilhaftig werden, und ihr müßt siegen 1" — Bei den
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166
Romanows tauchen alle Herrscher, wie immer sie auch be-
gonnen haben m6gen, in einem mystischen Dämmer unter.
Selbst Peter der Große, der Freigeist und Antichrist, endet als
krankhafter Traumdeuter. Nikolaj I. flüchtet sich trotz seines
sadistischen Zäsaren Wahnsinns, trotzdem er sich als Gott fühlt,
in schwierigen Fällen zu Hexen, um ihren Ratschlägen zu
horchen und zu folgen; und verfällt zum Schlüsse religiöser
Verfolgungswut. Der Mystizismus Alexanders III., der sich
anfänglich in einer Sehnsucht nach der Rückkehr zur Natur
äuüert und den Zaren den Wunsch aussprechen läßt : ,,Ich
möchte d( r !')riiiernzar heißen und sein", wird endlich wie
bei Nikolaj I. religiöse \^erfolgungswut. Der erste Romanow,
der fast gänzlich einem religiösen Mystizismus anheimfiel, war
Paul. Im Gatschinaer Schlosse zeigte man die Stellen, wo
der Kaiser in Gebet versunken und in Tränen aufgelöst zu
knien pflegte ; das Parkett war an diesen Stellen abgerieben.
Pauls Liebschaft mit Katharina Nelidow war eine platonisch-
mystische. Ein ähnliches platonisch-mystisch-religiöses Ver-
hältnis bestand zwischen Pauls Sohne Alexander I. und Frau
von Krutl«aier. I^ropheten und Wundermänner gehörten von
allem Anfang .tn zu den X'ertrauten des Kaisers Alexander I.
Er ließ sich immer die Vorsehung künden und glaubte zeit-
weilig göttliche Eingebungen zu empfangen. Der Kirchen-
prediger Philaret wurde schnell Metropolit von Moskau, weil
er durch seine Lehre, das Reich Gottes liege in den Menschen,
in der mystischen Seele Alexanders I. eine mitklingende Saite
berührte.*) Der Kaiser trat zu dem Skopzengott Peter Feodo>
rowitsch in persönliche Beziehungen; die Kriegsjahre und die
Errettung Rußlands aus der napoleonischen Not steigerten
seine Hmneigung zum Mystizismus; die russische Bibelgesell»
Schaft wurde begründet und Geistliche und Laien aller Kon-
fessionen, Mystiker, Freimaurer und Sektierer suchten deren
Mitgliedschaft. Frau von Krüdener übte auf den krankhaften
Herrscher einen solchen Einfluß, daß er nach Zwiege^rachen
i) SauHCiai CkttayvoBa, PyccKift ApxiiBi» 1869. 1877. — lUyiiHropiKifl,
MapUi OeojippoBB», C^nerepCypn 1S99, I 357.
*) Schiemaaa, Alexander I. 413.
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— 167 —
mit ihr zerknirscht zu ihren Füßen sank und erst durch ihre
Versicherung, daß ihm noch Hoffnung auf himmUsche Be-
gnadigung winke, wieder aufgerichtet werden konnte. Diese
Zwiegespräche dauerten häufig bis zwei Uhr Nachts. Dann
sah man den Kaiser mit verweinten Augen aus dem Zimmer
der Apo"=tplin kommen.^) • — Die Reihe der pietistischen Schwär-
mer im Hause Romanow-Holstein-Gottorp setzte sich fort in
dem weinerhchen Heiligenbildanbeter Alexander IT. und endet
vorläufig in dem weichlichen Nikolaj II., der gleich Iwan dem
SchreckHchen es vorzog, statt an der Spitze der Armee durch
persönlichen Mut zu glänzen, durch Heiligenbilder und
mystische Opfer den Sieg vom Himmel zu erflehen; der statt
auf die brausenden Stimmen der Zeit zu hören, nur dem ge-
heimnisvollen Flüstern des v. undertätigen Joan von Kronstadt,
den Ratschlägen von Zauberern und Wahrsagern lauscht.
Zu Zeiten Alexanders 1. ging der Mystizismus vom Zaren
und seiner Umgebung aus und ergriff die ganze Gesellschaft.
Diesmal unter Nikolaj II. war es umgekehrt. Die Dichter des
neueren. Rußland, von Gogol j bis Tolstoj, sie ivaren es, die
vor dem trostlosen Elend des russischen Lebens im Mystizismus
Zufludit suditen und mit ihren Poesien und Traktätchen das
ganze Volk wie mit einem N^ssusgewand umhüllten. Nikolaj II.
bekennt sich selbst als Verehrer und Schüler eines Leo Tolstoj,
der alle seine großen Dichtungen für nichts schätzt im Ver-
gleiche 2tt seinen religiös-mystischen Predigten, in denen er
die Rückkehr zum Urchristentum sucht und zur Obeirzeugung
kommt : Nur dort sei es gut, wo es keine Kultur gebe. An dem
heutigen Christentum übt Tolstoj die schärfste Kritik und sagt :
der Mensch habe die Aufgabe sein Glück in seinem Inneren
zu suchen; das Glück kann nur im einfältigen Gottesglauben
und in der Rückkehr zur Einfachheit des natürlichen Urzu-
standes gefunden werden.^) Ein großer Teil der modernen
russischen Dichter ist mystisch-symbolistisch. Berühmt und
berüchtigt zugleich wurde die Poetengruppe der sogenannten
>) RtiSlaiid tiPM es war and was et ist. Eine bb anl die neueste Zeit
iortgesetite Geschichte Rußlands. Pest 1855, 208.
*) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rufiland, Berlin 1893, 51,
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
— 168 —
Moskauer Symbolisten die einen eigenen Verlag ,, Skorpion"
für ihre Erzeugnisse gründeten. Der Götze dieser Gruppe
ist Alexander Dobroljubow, ein überaus origineller Geist, der
in den Mystizismiis eine scharfgewürzte geschlechtliche Un-
moral mischt. Seine Anschauung, sein Denken und Fühlen
faßt sein Biograph Iwan Konewskoj in folgenden Satz zu-
sammen : „Er hat seine eigene Welt außerhalb der mensch-
lichen Gedanken, außerhalb des Körpers und außerhalb des
Verstandes. Sein Schaffen ist von den gewöhnlichen Sinnes-
wahrnehmungen und von der gewöhnlichen Logik mit ihren
Traditionen losgelöst." Noch mystischer als dieser Meister
ist sein Schüler Walerij lirjußow, der nur ganz kurze Ge-
dichte, am liebsten enizeilige verfaßt wie et^va dieses: „O
umhülle deine bleichen Füße I" Dann ein Gedankenstnch,
und sonst nichts weiter. Lächelnd darf man aber ia Rfrißlaafd
auch an solchen Ezscheiniingen der Lkeralur sieht vorüber-
gehen, denn gewöhnlich werden ^e, weil ^'inenand versteht,
Stifter von erotischen und religiösen Sekten, deren- BUdun^ eine
natürliche Folge des nebelhaften Mystisisnitis 'sem maß.
lo. Sektenwesen.
Geringe Kenntnis vom russischen Sektenwesen — Gründe dafür — Neuer
Ge<?icht<?punkt — Sektenwesen und Erotik — Anzahl der Sektierer — Die
frühesten Ketzereien — Die Lehre des Bischofs Leon — Unmoral der hohen
Geistlichkeit — Die Bogumilea — Wie Sekttto entstehen Dfe^StrigDlnUd —
ErtTfinknngcsiiesKebei« — T)ie jiliUKlieHinm'nmOrftildarttdLilaiB-^-
Des heiligen Joseph Schrift gegen die Ketzerei - Die Beschoeiching in Rn6*
land — Ein Ketzer ^letropolit — Spaniens Autodafe a'.« Muster für Rußland —
Bestrafung von Ketzern — Scheiterhaufen in KuUland — Fortsetzungen
der jadischen Ketierei — Der Jude Band» und Beiii SehOler lebendig ver^
bnont — Die modernen SnbotnOd und ihr Apostel lljin — Rotinchild -der
Satansrabbi — Vertneonung von Ketsem unter Peter dem Großen — Die
Mystiker Kuhlmann und Nordermann lebendig verbrannt — Tanzende
Ketzerinnen gekniitet — Verbrennung von Ketzerleichen — Toleranz-Ukas
Alexanders I. — Ketzergesetze Nikolajs L — Poüjsei nnd Gendarmen als
Wächter der Kirche — Klagen des Synod und der Mission gegen den Staat —
1) Vgl. die von A. Wolynskij geschriebene GeadlfeMe der" tWliUillllii
Poesie der Gegenwart (in russischer Sprache).
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— 169 —
MaUregeln Nücolajs II. — Religion, Gesellschaft und Moral — Eatstebuag
des großen Raßkol — Der Mönch Maxim — Reformen des Patriarchen Nikon ~
Inkonaeqaeaz der Koiudle — Folgen davon — Peter als Antichrbt — Peter»
Stet<m1<w%fcfit, Uisache des großen RkSkol — Der Trats fogoi die lOfteho
yrM nun Hmm gegen den Staat
• Kine Geschichte der öffenthchen Sittlichkeit in Rußland
wäre nicht denkbar ohne eine Geschichte des russischen Sekten-
Wesens. Schon Leroy-Beaulieu sagte ; der RaßkoF) mit seinen
vetschittkaen Sektenbildungen sei vielletcht das chuaktezifiti-
scsheste Merkmal Rußlands, an dem. man den moskowitischen
Orient von dem europäischen Okzident zu ointerscheiden ver-
nähe. Trotzdem ist gerade dieses Gebiet eines der kioch, dunkel-
sten des russischen Lebens geblieben. An Venuchen es auf-
anbellen hat es^nidit gefehlt, aber ip. iiiesem Falle begegnet
4er Forscher oft .unübersteiglichen Hindernissen, weil es sich
inm größten Teile darum handelt^ die furchtbarsten Verbrechen
aolzudecken^ die in tiefster Verborgenheit verübt werden; Ver-
brechen, - bei . denen nach den Geopferten auch die Henker,
mit den blutigen Fanatifcwn auch die Zeugen verschwinden.
Ich habe auf weiten- Reisen durch Rußland, namentlich im Zen*
tnun, in den Ostseeprovinzen, entlang der Wolga, inKaukasien,
an den Küsten des Kaspi und Pontus Euxinus, also fast überall,
wo die Hauptsitze der Sektierer zu finden sind, viele per- •
aöoUche Beobachtungen, gesammelt^) und diese unermüdlich
ergänzt durch Mitteilungen, die mir aus zahlreichen russischen
Quellen zuflössen, sowie 4urch Notizen aus der gesamten vor-
handenen Literatur, sowohl aus den Schriften russischer als
aus jenen europäischer Forscher^); und- so darf ich wohl sagen,
1) a. a. O. III 312.
•) PaCKOjb, eigentlich Riß oder Spalte, bedeutet Sekte, Ketzerei,
ScUmm*. DicM HaaptwOTt ntBOuiit vom Veriiam paonuoa oder paenuniaM^
Mi^Mien, xctspalten oder tnoan.
■) Vgl. Bernhard Stern. Aus dem modernen Rußland, S. 91 ff.
*) Ich xitiere nachstehend die wichtigsten Quellen. Von nissischen:
Marawjew, Geschichte der russischen Kirche, Karlsruhe 1857; Phüaret, I>ie
Kiukm RnfilSDds, Ftaakfnrt a. M. 1873, swei Bftade: Baaartw. Die nwiitrh»
«athodsce Kinhe, Statt^vt 1873; die mir in ntssiadier Sfnadia erachieaanMi
m^ke von Makarij, Schtschai>ow, Liwanow, Jiisow, Golubutskij; die Romane
von Faarali IwanamiUch Meljnikow (untw d«m Pseudonym Andrej PetaciiecBkij).
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— 170 —
daß ich hier zum ersten Male ein möglichst erschöpfendes Bild
dieser eigentümlich russischen Zustände und Sitten liefere;
erschöpfend mindestens nach der einen Richtunp; hin, die für
unseren Zweck am wichtigsten ist : in Hinsicht aut die öffent-
liche Sitthrhkcit. Dieser Hauptzweck veranlaüte mich auch,
das Sektenwesen von einem ganz neuen Gesichtspunkte zu
betrachten. Ich erkenne weder politische, noch reHgiöse, son-
dern nur SillHchkcitsmomente an und glaube durcli die Auf-
zählung der tatsäclilichen Umstände, soweit sie unanfechtbar
nachgewiesen sind, überzeugend feststellen zu können, daß
es sich bei allen diesen Sekten fast durchgehends um sexuelle
Probleme handelt. Mackenzie Wallace teilt die russischen Sek-
ten in vier Gruppen ein : in solche, welche die heilige Schrift
als Basis ihres (ilaubcns annehmen, aber die darin enthaltenen
Lehren durch gelegentliche Inspiration oder innere Erleuchtung
ihrer leitenden Mitglieder auslegen oder vervollständigen ;
zweitens in solche, welche die heilige Schrift Wenig oder gar
nicht beachten und ihre Lehre aus der vermeintltcheA Inspi-
ration ihrer Propheten entnehmen; drittens in Sekten, welche an
die Wiedermenschwerdung Christi glauben; und viertens in
Sekten, welche Religion mit nervöser- Erregung verwtehaeln
und mehr oder weniger erotischer Natur sind. Nach Leroy-
Beaulieu' und Haxthausen zerfallen die russbchen Sekten ein-
fach in priesterliche und priesterlose. Andere haben wieder
andere Einteilungen.
' Alle diese Unterscheidungsmethoden sind verwirrend^ Und
ich finde es am richtigsten, derartige Abgrenzungen gar nicht
vorzunehmen. Tatsächlich zieht sich durch fast alle Sekten
derselbe Charakter roher Sinnlichkeit. Selbst jene Schismati-
Von Ausländem nenne ich den Engländer Mackeuzie Wallace; den baltischca
Piaator Daltaa {Dia rnssiache Kirche, Leipzig 1891); F. Knie, Die rassische
echümatiscbe Kiicbe (Gras 1893): Haxthausen, Studien flher die inneren
Zustände RuBlands, I 337 if.; Friedrich Meyer von Waldeck und Folticineano
in ihren populären Werken über Rußland; Nikolaus von Gcrhel-Embr^rh,
Russische Sektierer. Heübronn 1883, 52. Heft der Zeitfragen des christlichen
Volkslebens; Tsakni, La Russie sectaire, Paris 1888; Brinard, L'EgUse de
laRussie, Paris 1866— 1867; und endlich Leroy-Beaulien a. a. O. III 313 — 538.
wo auch russische Quellen sittert sind. Einige andere bedeutendere Qndlen«
Schriften werden an den -entsprechenden Stellen noch erwähnt werden.
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- 171 —
ker, die noch den Schein einer Religion wahren, ergeben sich
infolge ihres Gesetzes der Ehelosigkeit erotischen Ausschweifun-
gen, die bei den tiefer stehenden Arten den alleinigen wahren
Zweck ihres Daseins ausmachen. Unter mehreren hundert Sek«
ten gibt es kaum drei, die einem einigermaßen verständigen
und verständlichen System folgen. Unter vielen Millionen, die
von der orthodoxen Kirche abgefallen, sind kaum wenige
Hiinclerttausend, die in ihren aparten Zeremonien den Glauben
und die Wahrheit surhcn Wir haben es dabei mit einer
spezifisch russischen Originalität zu tun. Dies geht aus der
Art der Verbreitung der Sekten hervor. Jene Gruppen, die
den brutalen erotischen Charakter oder einen Zug ins Sadi-
stisch-Wahnsinnige aufweisen, gehören fast äusnahni^lu-^ dem
Großrussentum an, entstehen und gedeihen zumeist bei dem
großrussischen Muschik, in dem Zentrum \ün Moskau und
Groß-Nowgorod, am weißen Meere, an den Abhängen des
Ural, in Sibirien. Die Minderheit der Philosophierenden und
religiösen Schismatiker findet niaii dagegen bei den Dauern,
die aus den finnisch-tatarischen Stämmen hervorgegangen sind,
bei den Kolonisten in Südrußland, Kaukasien und den Wolga-
gebieten, bd den Donkosaken und den Russen, die durch
die protestantischen Kolonisten beeinflußt sind.^) Von dieser
großen allgemeinen Regel werden sich nur wenige Ausnahmen
abtrennen lassen. So hat namentlich die wilde Sekte der
Springer, vielleicht auch ihren Ursprung, jedenfalls ihre größte
Verbrettung in Finnland und von dort aus im Umkreise von
Petersburg gefimden.
Vor zwei Jahrhunderten zahlte der Bischof Dmitry von
Rostow in einer Schrift über das Schisma in der orthodoxen
Kirche mehr als zweihundert verschiedene Sekten auf. Viele
>) VgL Leroy-Beaaliea a. a. O. III s62-^s6i. Entsprechend Mdner
Anffassnog von den swin Zweigen des Schismas, dem priesterlichea ttnd dem
pric<ittTlo«iPn, vertrilt er bcirler Gol'ifte folKenderm.ißeti : Die Priesterlichcn
wie die Priest erlösen herrschen auber im Zentrum vonichmlK h in den ab-
Dormen äutiersten Zonen, in den Wäldern des Nordens und in den Steppen
dei Sfidens. Die Pbpowiy oder Ftiesterlicben nehmeii da» Zentnim nnd den
SMotfien ein, die Bespopowsjr oder Friestertoaen aber hauptsiehlich den
Koiden. die KDeten am weiften Meere, das UraJgebtet nnd Sibirien.
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— 172 —
von diesen sind verschwunden, aber an ihre Stelle traten
immer neue, und jetzt ist die Zahl nicht mehr zu übersehen.
Ein Bericht des heiligen Synods im Jahre 1835 schätzte die
Zahl der Sektierer auf 480000. \m Jahre 1870 wurde sie
offiziell mit zwolfmalhunderltausend festgestellt; 997600 im
europäischen und 173400 im a'^iatischen Rußland.') Vor
zwanzig Jahren sprach Pobjedonubzew schon von anderthalb
Millionen. Diese Ziffern miissen heute mindestens verzehnfacht
werden. Ein Raßkolinik antwortete auf die l'rage, wie zahl-
reich die Altgläubigen wohl sein mögen, lakonisch : ..Wir sind
zahlreich, aber wir wissen nicht wie viele wir sind." Der
heilige Synod liiitte jedoch ein ziemlich sicheres Mittel der
Feststellung, wenn er sich nach dem geistlichen Reglement
Peters des Großen richten würde; in diesem Reglement hieß
es: das Fernbleiben vom h^igen Ab^dmahl ist das untnig^
Hchste Zeichen eines Raßkoljnik. Nun ergaben schon die im
Jahre 1860 verfaßten Osterbeicht- und Osterkommunions-
tabellen ein Fehlen von rund zehn Millionen Seelen.
Das Sektenwesen in Rußland ist fast so alt wie die russische
Kirche selbst.') Schon in der zweiten Hälfte des zwölften
Jahrhunderts, zur Zeit des Großfürsten Andrej Jurjewitsch mit
dem Beinamen Bogoljubowskij, der Ciottesfürchtige, erhob sich
der wegen seiner Habsucht und Erpressungen verrufene Bischof
Leon von Rostow^) zu der ketzerischen Behauptung, es sei
>) Bernhard Stern. Aus dem modernen Rußland. S. 107.
*) Leroy^Beaulieu a. a. O. III 359 nach ScbUO'Ferroti, Toterans und
rdigiöses Schisma in Rußland.
>) ,.Ea Russie l'esprit sectairc est en quelque sorte contemporain des
prcmit^rcs prodications ortluxlDXfs, du premier hapteiiiL- administrc ä nos
ancctreä par les missiouaueä grecä." Vgl. Lc Raskol. Essai historique et
critique sur les Scctes rdigieuses en Rnasle. Paris, Beiiin et Loodrcs 1859,
pag. I — 2.
*) Die hohe Geistlichkeit scheint unter dem gottesfürchtigen Großfürsten
auch sonst nicht aus Tugendbolden bestanden zu haben. Der von Andrej
zum Nachfolger Leons erwählte Mönch Theodor verweigerte dem Metropoliten
den Gefaonam. maßte sich, ohne die Weihe des Metropoliten erhalten in haben,
das Bischolsamt an. bedrängte ^nt der Clironist crsählt — die Lente in der
Stadt und in den Dörfern, marterte um zu erpressen, ließ den Mönchen, Priestcm
und Abten das Haar und den Bart scheren, schnitt ihnen auch die Zangen ans,
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— 173 —
Sünde an irgend einem Feiertage, besonders an Weihnachten
und am Dreikönigstagc. wenn diese Feiertage auf einen Mitt-
woch oder Freitag fallen, Fleischspeise zu genießen. Leon
fand für seine Lehre eifrige Anhänger im Bischof Anton von
Tsrhemigow und im Metropoliten selbst. Aber der grie-
chische Kaiser Kmanuel nahm den Ketzer, drr sich zu ihm
geflüchtet hatte, gefangen und wollte ihn ertränken lassen,
worauf Leon augenscheinlich besseren Sinnes wurde, denn
von seiner Lehre wird nicht mehr gesprochen. Bald sollte
CS jedoch zu ernsteren Zwischenfällen in der russischen Kirche
und zu tatsächlichen Ketzereien kommen, die sich nicht auf
einige wenige Geistliche beschränkten, sondern das Volk selbst
in größerem Maße ergriffen. Die frühesten Sekten entstan-
den nach allgemeiner Ansicht durch die Berührung der
Griechen mit den Slawen oder der Albigenser mit den orien-
talischen Mönchsorden, wie den bulgarischen Bogumilen.2) Ruß-
land war damals wie jetzt ein fruchtbares Feld für Mystik,
und die Häresien konnten sich ausbreiten und vervielfältigen,
ohne auf bedeutende Hindernis zu stoßen. Die Regierung
kümmerte sicÜ nicht darum, und von der Kultur oder den
blendete und kreuzigte, um fremdeä Eigentum an sich zu reiben. Der CiroU-
fQjst duld«te diea«ii Hirteu, d«r seine eigene Hevde mordet», bis ein Anlrahr
eststnnd« der Biechof-llbnlbraiuicf geüMigen und vom Metropoliten als Ketnr
gestraft wurde wie er gehandelt hatte : man sdinitt ihm die Zunge ans. blendete
ihn und hieb ihm die rechte Hand ab.
1) Kajarai>ias Geschichte (Deutsche Ausgabe) III 25.
S) Leroy-Beanlien III 315. — Als RuOIand das Clmstentnm annahm,
gab es unter den Sfldslatren, die glctehfalls den griechisdien Glauben hatten,
schon eine Sekte, die Bogumilen, welche gewissermaßen den lx>snischen Staat
gründeten und rliirrh die er auch eu Grunde ging. Vgl. Hellwald, Die Welt
der Slawen, Berlxu 1890, S. 353: „Die Entstehung dieser Bogumilen, die ihre
Religion die bosnisclke nannten und dem Propheten Johann von Leyden,
den AHNgenseni. Waldenscm und Huasiten sehr nahe standen, ttUt adtlid»
mit der Einführung dca Christentums unter den Südslawen cosammen. Die
heidnischen Überlieferungen und npokr\-]ihen Bücher, welche die .lltere heid-
nische Denkweise des X'olkes in sich aufnahmen und widerspiegelten, diese
sogenannten Lo2nija knigi oder Lügenbücher, die sich besonders in Bulgarien
groSer Beliebthrit erfreuten, haben die Anlage xum Bogumiltsmn» hervor«
gemfen; sie sind es aber andi nachgewiesenermaOen , auf deren Grundlage
die aahbeichen Sekten der russischen Kiicbe entstanden.*'
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— 174 —
Sitten jener Zeit war ein Widerstand gegen Irrlehren nicht
zu erwarten. Die geringste Ursache, ja blobc Laune eines
Einzelnen schuf mit leichter Mühe eine unzu-
friedener Geibllichcr oder ein simpler Mann aus dem Volke
brauchte bloß einige unruhige Geister um sich zu versammeln,
ihnen die Dogmen der Kirche nach seiner Art zu erklären, seine
Zuhörer als seine Schüler zu bezeichnen, und eine Sekte war
geschaffen. So wird beispielsweise die Geschichte der Sekte
der Martinowzt^) erzählt, die im dreizehnten Jahrhundert ent-
stand, aber im vierzehnten wieder verschwand; und ähnlich
ist der Ursprung der Sekte der Strigolniki.*) Der Gründer
dieser Sekte, die berühmt geworden ist, wdl sie die erste
größere Kirchenspalttmg in der russischen orthodoxen Kirche
verursachte, war ein Haarscherer'), namens Karp, dem sich
ein Diakon Nikita anschloß. Die Sekte trat namentlidi in
Pskow und Nowgorod auf und richtete sich gegen die Simonie
der Bischte; ihre Anhänger verwarfen alle Hierarchie und
erklärten die Darreichung der Sakramente für unabhängig
von der Priesterweihe, Karp wurde vom Nowgoroder Pöbel
in den Wolchowflulj k< ""^'orfen, seine Lehre aber bestand noch
durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert fort, bis sie im Beginne
des sechzehnten Säkulums durch die Verfolgungen des Metro-
politen Photius ausgerottet wurde.
Im letzten \'iertel des fünfzehnten Jahrhunderts entstand
die sogenannte jüdische Häresie*), die ebenfalls zuerst in Now-
gorod an den Tag trat. Ihr Gründer war ein Jude aus Kijew,
namens Sßcharias, der wahrscheinlich zum Christentum über-
getreten war. Die Lehre verwarf das Dogma von der heiligen
Dreifaltigkeit, die Verehrung der Heiligen und der Heihgen-
bilder und versicherte : das mosaische Gesetz sei das einzig
göttliche, die Erzählung von Christus erfunden, der Erlöser
Le Raskol, p. 2.
«) Leroy-Beaulieu III 405. — Hellwald. Die Welt d« Slawen 353. —
Alexander von Keinhaldt, Geschichte der ntmischea Literatur, Leipzig. S. 165.
*) Russisch Stfigdnik. daher der Name der Sekte.
*) iKiui'HfKun epeci>. — Vgl. Bernhard Stern. Aus dem modernen Rußland.
98. — Karamsins Geschichte, Deutsche Ausgabe VI 153. — Haxthausen,
Studien I 347.
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— 176 —
noch nicht geboren. Die Geschichte dieser Sekte ist vom
heiligen Joseph Ssanin, dem Gründer des Wolokolamschen
Klosters, in drastischer Weise geschrieben worden.^) In dieser
Schilderung heißt es: daß der genannte Jude, der dem Zaren
wohlbekannt war, im Jahre 6979, also 147 1, nach Nowgorod
kam; dieser Schwarzkünstler. Astronom, Astrolog, dieses Ge-
fäß des Satans" veranlagte den Popen Denis zum Judentum
überzutreten. Denis wieder verführte den Popen Alexej. Her-
nach kamen nach Nowgorod noch andere Juden : Joseph
Schmoila, Skarey Moses und Chamusch. Denis und Alexej
wurden bald die Häupter der Ketzerei. Sie aßen nur bei
Juden und unterrichteten auch ihre l arnihen iin mosaischen
Gesetze. Sie wollten sich sogar beschneiden lassen-), aber
*) Eine Übersetzang der Einleitung dieser merkwürdigen n^ünditscliiea
Arbeit findet man in der Zeitschrift ,, Konstantinopel und St. Petersburg, Der
Orient und der Norden", II. Jahrgang. III. Band (1806) S. 147, Die Skizze
führt den Titel: ,, Kampf d«s lüclitB mit d«r FinstenÜB. oder des sündigen
Mönchs Joseph Ersählung von der in Nowgorod im vorletzten Jahrzehend des
1$. Jahrhunderts veranlaOten Ketserei <' n Ii Ii Sektierer und Abtrünnigen,
den Protopop Alexej, Denis. Oßyp und redor Kunzin". Nach der l%inleitung
voll derber Schimpiereten und zorniger Verfluchungen folgen im Original
15 Abhandlungen zur Widerlegung der ketzerischen Lehrpunkte. Josephs
Reden gfigea dio jfidische Ketserei sind unter dem Gesamttitel: RpoeBbtama,
(Der Avfidirer) ein berühmtes Stück altrussischer Literatur. Vgl. S. 135, .
2) Die weite Verbreitung, welche die jüdische Ketzerei fand, mag zu der
in burcipa damals geäußerten Meinung Anlaß pe<jeben haben, daß in Moskowicn
der Gebrauch der Beschneidung Religionsgesetz wäre. Der Dominikanermönch
Johann Faber n&ndicb. der im Jahre 1525 für den Entheriog Ferdinand von
Osterrcldi auf Grund von Mittdlungen zwd,er durch Tübingen reisender russi-
schen Diplomaten ein Memoire über die Religion der Moskowiter veröffentlichte,
fragte seine Gewährsmänner, ob es wahr wäre, tlaü die Mü-,ko\vitcr die lic
schnetüung anwendeten. Worauf die beiden Moskowiter erwiderten: ,,Wir
sind weit davon entfernt. Wir betrachten die Beschnsidung als einen Überrest
des alten Judentums und wir verabscheuen sie so »ehr, daß ein Jude, auch
wenn er mehrere tensend Goldstücke hierfür bieten würde, nicht das Recht
erhalt, -»ich in unserem Lande auflialten zu dürfen". Das Fabersche, von mir
sihon früher (auf Seite 141) erwähnte Buch wurde mchrinah neu^etlruckt un<l
ist auch in verschiedene Sammlungen von Reisewerkea über das alte Moskwa
abergegangen. Eine fransösische Übersetsnng erschien 1S60 in Paris: La
Religion des MoScovites en 1 525. Traduit du Latin de Jean Faber. Blbliotti^ue
ntase, noaveile sirie {im IIL Bande). Vgl. die Stelle betr. die Beschneidung S. 18.
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— 17ft —
untprlirBen dies aus taktischen Cjründen. Alexe] natmte sich
Abraham und seine Frau hieß fortan Sara. Äußerlich beobach-
teten die Nowgorod r Ketzer so vorsichtig den Anstand und alle
Pflichten frommer Orthodoxer, daß der Großfürst die beiden
Haupter der Ketzerei, Alexe] und Denis, als ausge-ieichnet©
und verdienstvolle Priester nac h Moskau nahm, dem Einen
die Stelle eines Protopopen an der Kirche der Hinamelfahrt
Mariä, dem Anderen eine Stelle an der Kirche des heiligen
Erzengels Michael verlieh. Von den Verführern wurden des
Großfürsten Schwiegertochter Jelena, des Großfürsten Lieb-
ling der Djak Fedur Kurizyn und viele andere betört. „Wer
kann ohne Tränen," klagt der heilige Joseph, „das große
und schreckbare Unheil, weiches diese räudigen Htinde in
jener volkreichen Stadt angerichtet haben, erzählen? Da sie
öffentlidi die Maske nicht abzidien durften, so verbargen sie
sieh wie Schlangen in Steinklüften. Vor der Welt erschienen
sie als heilige, ruhige, gerechte und in den Cremen der Mäfii*-
gung sich' haltende- Lehrer. Insgeheim aber saeten sie. dem
Samen' des Unkrauts aus und stürsten vide S^en ins- Veiv-
derben. Manche ließen sich beschneiden wie Iwaschko Tsdier-
noy und.Ignaz Subow. Der Protopop Alexej,und Eedor Kuri-
zyn gelangten durch ihre Frechheit so weit, daOi sie sidi bei.
demi Monarchen in Ansehen setzten, denn sie gaben sich, für
' große Sterndeuter aus, lehrten viele die lügenhafte Astrolbgie;.
Zauberei und schwarze Kunst und erwarben sich dadurch An-
hänger, die alle im Dreck der Abtrünnigkeit stecken blieben.'*
Der heilige Joseph berichtet auch, wie die Abtrünnigen vom*
Himmel gestraft wurden : „Im Jahre 6997 traf den Djak Istoma,
den Gefährten des Teufels, den Höllenhund und Schüler des.
Alexej, die strafende Hand Gottes. Sein unreines Hersj eine
Wohnung von sieben arglistigen Teufeln, und seine Eingeweide
gerieten in Fäulnis. Bald darauf starb auch das verruchte
Gefäß des Teufels, der Hollen F.ber, der Entweiher des Wein«
gartens Christi, der Protopop .Mexej, unter den unsäglichsten
Schmerzen, vom Schwerte Gottes vertilgt. Seine Seele holte
der Teufel. Der Pop Denis endlich verfiel in eine schwere
Krankheit, während welcher er einen ganzen Monat lang wie
wilde und zahme Tiere, Vögel und Ungeziefer schrie;, so. spie
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— 177 —
er seine unreine Seele aus.*' Doch langsamer als die göttliche
Gerechtigkeit war die weltliche. Hing ihr vielleicht der Herr-
scher, beeinflußt durch seine Schwiegertochter, im Geheimen
selbst an : Jedenfalls widerstand er lange allen Auffi^rdi rungen
zur Verfolgung der jüdischen Ketzerei; ja, er machte sogar
den Archimandriten Soßima, das neue Haupt der Häresie,
zum Erzbischof und später zum Metropoliten. ,,Das Kind Satans
sitit auf dem Throne der heiligen Märtyrer Peter und Alexej,
der raubende Wolf trägt das Gewand des friedlichen Hhten,
das größte Gefäß des Übels, der größte Brand des Sodomiti-
schen Feuers, die hundertköpfige Schlange, die Höllenspeise,
der verruchte Soßima ist zur erzbischöfUchen Würde gelangt)**
also jammert der heilige Joseph und er erzahlt: daß Soßima
öffentlich behauptete, Christus hätte sich eigenmächtig einen
Sohn Gottes genannt; daß er femer die heilige Mutter Gottes
lästerte, das heilige Kreuz an unreine Orte setzte, die Heiligen-
bilder, die er Blöcke nannte, verbrannte und folgendes sprach:
„Was ist das himmlische Reich? Was das jüngste Gericht?
Was die Auferstehung der Toten? Alles dies ist Fabelei! Wer
stirbt, der ist tot und hört auf zu seinl** Endlich wagte der Erz-
bischof Gennadij von Nowgorod gegen die Ketzer aufzutreten
und zu verlangen, daß sie verbrannt werden sollten. Er berief
sich dabei auf , .Erzählungen des deutschen Gesandten, daß
auch der spanische König Ferdinand seine Länder durch Auto-
dafe von Ketzern reinige." Gennadij und Joseph bestimmten
den Herrscher, eine Untersuchung anzubefehlen; und der Fürst
betraute just den Metropoliten Soßima mit der Führung dieser
Unter'-urhung. Soßima konnte nicht verhindern, daiS einige
der Angekbijten verurteilt wurden, setzte aber eine gelinde
Bestrafung (iuKh: Vivr der Verurteilten wurden rücklings^)
auf Pferde gesetzt, m Kleidern, die von innen nach außen ge-
kehrt waren, mit spii/igcn birkenen Tcufelshelmen, auf denen
Troddeln aus Stroh befestigt waren und die Inschrift prangte:
„Dies ist das Kriegsheer de'? Teufels." So führte man sie in
der Stadt herum; den ihnen Begegnenden befahl man, sie
1) ,, Damit sie nach Westen in die ihnen bereitete HöUe s(hen sollten",
sagt der heilige Joseph.
Stern, GeecUdrt« der «IcnlL SittUdkcit in Rullaad. t%
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anzuspeien und dabei auszurufen : „Dies sind die Feinde Gottes
und die Lästerer de s Christentums." Nachher verbrannte man
die Mützen. Trotz dieses warnenden Ereignisses wagte Soßima
die Ketzerei weiter zu verbreiten und Schüler um sich zu
vcrL-aiiiiULlü. Mönche und W'eltUchc stritten oft* utlu h auf
den Marktplätzen über die Natur des Erlösers, dw Üicitinig-
keit, die Heiligen und die Heiligenbilder. Sobnua begnügte
sich aber nicht damit, sondern verfolgte nun seinerseits die
Gegner der Sekte, entsetzte eifervolle Priester ihrer Würden,
tat jene, welche die Ketzer schmähten, in den Kirchenbann und
ließ viele ins Gefängnis werfen. Zu der Unduldsamkeit traten
Habsucht und Plünderungen, und diese Handlungen waren es,
die den Sturz des Metropoliten herbeiführten. Der Großfürst
wollte nicht offen zugestehen, daß der höchste Geistliche des
Reiches als Ketzer entlarvt worden, und er verbannte Soßima
unter diesem Vorwande ins Kloster: „weil er den Wein lid)t
und nicht für die Kirche taugt/* Nun hatten die Eiferer
freies Spiel und verlangten abermals Hinrichtung der Ketzer,
„Der G^xtßfürst aber hieß den heiligen Joseph schweigen,**
denn die Todesstrafe sei dem Geiste des Christentums zuwider.
Schließlich jedoch mußte Iwan III. nachgeben, um nicht selbst
in den Verdacht der Ketzerei zu geraten, und vom Dezembor
des Jahres 1503 an begannen endlich zur Freude und Er-
hebung der Frommen die Autodafö auch in Rußland aufzui
flammen. Den bloß Verdächtigen schnitt man die Zunge aus,
die durch die Tortur überführten aber verbrannte man in
Käfigen. Die jüdische Ketzerei galt durch diese Verfolgungen
in den Jahren 1503 und 1504 als vernichtet. Aber die Lust
zu Sondcrbündcleien war nicht erstickt. Noch im sechzehnten
Jahrhundert fanden die Lehren des Matwej Baschkin und Yo-
dossij Kossoj, welche die Kirchendo^men von Jesus Christus
verwarfen, zahlreu he Anhänger. Und um die Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts tauchte gar die alte jüdische Ketzerei
urplötzlich und machtvoll wieder auf. Im Jahre 1738 wurde
nämlich der Kapitän Wüsnilzin, den seine Frau beschuldigte,
daß er vom Juden Baruch zum Judentum bekehrt worden, samt
seinem \'erführer lebendig verbrannt. Nikolaj I. erwähnt in
seinen Ukasen gegen das Sektcntum mehrmals eine judai-
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— 179 —
sterendc Ketzerei, und seit einem halben Jahrhundert kennt
man die weitverbreitete Sdcte der Ssubotniki; man muß an-
nehmen, daß diese eine Fortsetzung der alten jüdischen Ketzerei
sei. Die Ssubotniki od^ Sabbatieute ^) nennen sich auch Jeho-
visten. Im Oktober 1901 wurden hunderte Mitglieder dieser
Sekte von den verschiedensten russischen Gouvemements-
gerichten zur Verantwortung gezogen. Nach den Berichten
russischer Blätter') ergaben die Gerichtsverhandlungen fol*
gende Aufklärungen: Die Sekte wurde vor etwa 45 Jahren
von einem Artillerieoffizier lljin gegründet, der unter seinen
Untergebenen in naiver Weise europäisch-rationalistische Ideen,
gemischt mit heiligen Sprüchen, progagierte. Die dunklen
Predigten gefielen dem unwissenden nnd unterdrückten Volke,
so daß sie den lljin bald mit der Aureole eines Propheten um-
gaben. Ikgcistert von seinen Erfolgen bildete sich der Offizier
in maniakalischer Weise ein, in der Tat ein Bote Gottes zu
sein. In einer seiner viel verbreiteten Hauptschrifien, „Die all-
gemein menschliche Wahrheit" betitelt, erklärt er dement-
sprechend: ,.Sc) verkündete vor mir der unsterblich ewige Jeho-
va siebenhundert Jahre vor seiner Menschwerdung wie folgt:
Den, der aus dem Osten kam, werde ich nach Norden rufen,
und er wird allen Völkern meinen Xamen und die allgemein-
menschliche Wahrheit verkünden." lljin wurde nach dem
Ssolowezkij Kloster am Ural, einem Verbannungsorte für Yer-
brecher gegen die Kirche, auf zwanzig Jahre v^bannt. Hier
lernte er mehrere andere Sektierer kennen, die ihm erzählten,
daß nach einem alten Gerächte von diesem Kloster aus Wunder-
taten verrichtet werden würden: es würde eine Hostie er-
scheinen^ an der sich Theologen aller Religionen, und mit ihnen
dieLügner« Schwätzer und Betrüger aller Art verbluten müßten,
lljin erklärte sofort selbst diese Hostie zu sein und predigte
mit Fanatismus seinen Genossen in der Verbannung seine neue
Religion. Der Behörde erklärte er: „Obwohl man mich mit
hundert Augen bewachte, konnte man doch nicht den Strahl
der Wahrheit während einer Zeit von sieben Jahren verlöschen ;
1) Vom niMitclMn Cytiof«, Sabbat.
t) Vgl. Allgemeine Zeitung« 6^ Okt 1901.
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
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denn Gott hat mit meiner Hand über 700 Bücher geschrieben
und sie durch seine heilige Kraft über die ganze Erde ver-
breitet." Er gab an, manche dieser Schriften auch an Roth-
schild geschickt zu haben mit der Bitte, ihm zu helfen, die
Juden zu Jehova zurückzuleiten; allein der Satansrabbi Roth-
schild wollte davon nichts hören, denn er ist mit Millionen
von Goldketten an den Satan gebunden. Die Lehre Hjins er-
griff die Volksmasscn der IValgcbictc und schuf, wie aus
den Prozessen hervorging, in wenigen Jahren eine geschickt
organisierte geheime Macht. Der Inhalt der Iljinschen Lehre
läßt sich einigermaßen also erklären: Bei der Schöpfung des
Sonnensystems gab es nur zwei Wesen : Jehova und Satan.
Denn n isprechend teilen sich die Menschen in zwei Gruppen:
in die der Jehovisten und die der Salaaislen. Wenn 120 siebzig-
jährige i) Penoden seit der Vertreibung Adams und Evas aus
dem Paradiese verflossen sein werden, wird Jeiiova den Satan
besiegen, ihn in Fesseln schlagen und eine freie glückliche
Welt mit einem einzigen Glauben unter seiner Alleinherrschaft
in Jerusalem oder m der Republik Israels auf tausend Jahre
gründen. Darauf wird Satan wieder frei werden und viele
Religionen verbreiten, aber Jehova wird ihn jetzt völlig ver*
nichten, und eine neue Erde ohne Ozeane und Meere schaffen,
die viel großer sein wird als die jetzige, und wird sich auf ihr
auf 28000 'Jahre niederlassen. Von Zeit zu Zeit wird Jehova
Reparaturen an der Erde vornehmen und sie immer besser
machen, bis sie den Grad der höchsten, von dem menschlichen
Verstände kaum faßbaren Vollkommenheit erreicht haben wird.
Sobald dies eingetreten, werden die Menschen auf Erden ewig
leben. — Die Anhänger Iljins halten ihn für den Propheten
Elias, der vom Himmel auf die Erde gekommen ist. Als er
ins Kloster eingesperrt wurde, beteten sie: ,,Wir erflehen von
dir. Allmachtiger, die Erlösung des Elias aus dem Gefängnisse ;
zerschmettere den steinfesten Felsen, in dem die heilige Nachti-
gall eingekerkert ist !" Nachdem Iljin zwanzig Jahre im Ssolo-
wezkijkloster zugebracht hatte, wurde er freigelassen, und seit-
In dem Berichte über die Gerichtsverhandlmigen »t^t iirt&inlich:
120 siebenjährige Perioden.
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— 181 -
her blieb er in Mitau. Seine Minkerkcrung erklärte er als
das Werk Satans, seine Freiwerciung als einen Sieg über Satan,
und als er das Gefängnis verließ, begrüßte er seine Anhänger
mit diesen Worten: ,.Ich grüße euch, Brüder, Schwestern und
Freunde, in euere Annt; eile ich jetzt; mit uns ist der König
des Ruhmes, Jesus der Gott. Er zerstörte die Fesseln und
ließ mich das Wort der Offenbarung euch verkünden, das
Geheimnis der Schlacht erzählen, die listigen Absichten der
Feinde verraten,** Aus dem Mitgeteiken darf man mit ziem-
lieber Sidierbeit auf einen Zusammenbang mit der alten jüdi-
schen Ketterei schließen, die sich also trotz der Scheiterhaufen
durch vier Jahrhunderte erhalten hat.
Die Scheiterhaufen waren während dieser Jahrhunderte
eine ständige Erscheinimg in dem Kampfe gegen die Sektie-
rerei. Aber es war weniger die Geistlichkeit als die Regierung,
welche die Verfolgungen und Hinrichtungen veranlaßte. Die
Autokratie suchte sich unter dem Vorwande des religiösen
Eifers aller ihrer Gegner zu entledigen, durch die Vernichtung
der Unzufriedenen, durch die Massenmorde im Namen Christi,
der Dreieinigkeit und der Heiligen die unbeschränkte Herr*
Schaft zu sichern. Nur in einem einzigen Falle noch könnte
man behaupten, daß die Religion die Urheberin eines Autodafe
war: Es geschah zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, daß
der Mystiker Kuhlmann auf Befelil des Patriarchen Joachim auf
dem roten Platze in Moskau verbrannt wurde. Dieser Patriarch
war der letzte russische Kirchenfürst, der noch eine Autorität
ausübte. In seinem Testament forderte dieser Eiferer den
Zaren auf, in der Armee keinem Häretiker ein Kommando an-
zuvertrauen und die jirotcstantischen Kirchen in der deutschen
Slobada zu Moskau zu zerstören. Die Verbrennung des Qui-
riniis Kuhlmann fällt schon in die Kej^derun^^^szeit Peters des
Großen, und das Ereignis verfehlte lucht in Iluroj)a Aufsehen
7U machen. In dem zeitt^enossischen Buche über die Religion
der MüskowiterS) wird hierüber berichtet: Kuhlmann aus Schle-
sien hatte sich zuerst nach Holland begeben; er verteidigte
>) Waliszewski, Pierre le Grand 62.
*) Religion der Moskowiter S, 26.
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— 182 —
in Lcyden die Lehre des S husters Böhme und wurde deshalb
ausgewiesen. In England eiginL; es ihm ebenso, wuiauf ihn
sein Schicksal nach Moskau lulirte, wo er bei dem deutschen
Kaufmann Nordermann Aufnahme fand: „Dieser," heißt es
in dem erwähnten Berichte weiter, „hatte den Kopff allbereit
mit denen ungereimtesten Irrthümem angefüUet / und glaubete
unter andern / daß JEsus Christus unser Seeligmacher noch ein-
mahl als ein großer Prophet auff dieErd konunen/ darauf f viel
Wunder thun/ alle Sünder bekehren /und sie hernach mit sich
in sein Himmelreich einführen solte. Je mehr man ihn wamete /
je hartnackiger bestand er auff seinen närrischen Einbildun-
gen / biß er endlich ein kleines Buch / so er in Moscowiti-
scher Sprach geschrieben hatte / einem Buchdrucker brachte
/ er möchte sein Tractätlein drucken* Dieser brachte das
Manuscriptum dem Patriarchen / welcher / da ers gelesen
/ den Nordermann und Kuhlmann beym Kopff nehmen /
und ins Gefängniß setzen ließ. Weil sie mit Halsstarrigkeit
ihre Irrthümer behaupten wolten / wurden sie in einer Stube
/ welche die Moscowiter die schwartie Stube nennen /
lebendig vcrbrandt." Peter der Große zog es im allgemeinen
vor, die Sektierer durch Verhöhnung zu bekämpfen; er zwang
den Altgläubigen, die den Bart nicht opfern wollten, dne
Barttaxe, und jenen, die ihre alte Tracht beibehielten, farbige
Lappen als Abzeichen ihrer Sektiererei auf; aber unter Um-
ständen machte es auch ihm Spaß, einen Ketzer brennen zu
sehen : Ein gewisser Toma betrat eines Tages in Moskau eine
Kirche, um öffentlich gegen die Verehrung der Heiligen zu
predigen. Als man ihn daran hindern wolhe, verließ er die
Kirche, kehrte aber bald darauf mit einer Hacke zurück und
zertrümmerte die Bilder der heiligen Jungfrau und des heiligen
Alexej! Peter diktierte dem Bilderfeinde den Scheiterhaufen.
Toma vernahm sein Urteil mit Ruhe, streckte selbst seine
Hand ins Feuer und ließ sie verkühlen, während sein Mund
gegen die Popen und die Mißbräuche in der Kirche donnerte.
— Die Zarwi Anna Iwanowna wütete miL Kuuic und Schwert
gegen Ketzer und Proselyten. In Moskau entdeckte man im
) Cliantrcau, Voyagc cn Russic, Paris 17^4, pag. 179,
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— 183 —
Jahre 1733 heimliche Versammlungen von Frauen, die einer
Sekte angehörten, welche ihren Kultus durch wilde Drehtänze
feierte. Wenn die Orgien den höchsten Punkt erreicht hatten,
verkündigten die Prophetinnen der Sekte die Ankunft des
heiligen Geistes. Auch andere seUsame Sekten verbreiteten
sich damals im Reiche. Der Minister Ostermann glaubte die
Scktiererei einzudämmen, indem er zwar einige strenge Maß-
regeln vorschlug, die sich aber im p.ahmen der Menschlich-
keit bewegten: die Abtrünnip:en sollten doppelte Taxen zahlen;
die Kinder der Sektierer wurden zwangsweise getauft; den
Proselyten drohten Zwangsarbeiten; und eii Ui h sollte die Auf-
sicht der Kirche auch iiber Sibirien, wohin sich viele Sektierer
gellüchtet hatten, ausgedehnt werden. 2) Aber der Heilige
Synod verlang^tc auf Vorschlag des berühmten Erzbischofs
Feofan Piokopowitsch vom Senate die Anordnung der Todes-
strafe für Ketzer und Proselyten; er rief in ICrinncrung, daß der
ekklesiaslische Kodex die Ketzer und Lilaiibensverräter leben-
dig zu verbrennen befahl. Der Eifer richtete sich auch gegen
Tote. Auf Wunsch desselben Feofan Prokopowitsch veranlaßte
der Senat die Ausgrabung der Leichen zweier Ketzer, Lupkin
und &ußIow, die in einem Moskauer Kloster begraben waren,
und die Vernichtung der vorgefundenen Oberreste dieser Ver-
flachten, über deren Bedeutung für das Sektenwesen in Ruß-
land später an einigen Stellen noch die Rede sein wird. Erst
Alexander I. wagte Milde gegen die Sektierer zu üben. ,^ie
Vernunft und die Erfahrung/* erklärte er in einem Ukas,
„haben längst bewiesen, daß die geistigen Irrtümer eines Volkes
durch Wortstreit und angeordnete Ermahnungen nur nodi
tiefer eingebohrt werden und allein durch Außerachtlassen,
gutes Beispiel und Duldsamkeit beseitigt werden können.'*
Alexanders Bruder und Nachfolger Nikolaj I. verfolgte wieder
die Politik der Grausamkeit. Folgende sind die von Nikolaj
gegebenen Gesetic*) gegen die Sektiererei und Ketzerei: Wer
die ketzerischen und sdiismatischen Lehren derer verbreitet.
C(aoiiirf>in>, UcTopiH FucciA^ XX 307.
s) Walbsewskt, L'hiritage de Pium le Grand 21;.
*} Go((o|Nioe y;iogMeBie.
StnÜgeaetttmch 1845, |} 306—207.
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— 184 —
die von der rechtgläubigen Kirche abgefallen sind, oder eine
neue, der Religion schädliche Sekte stiftet, hat den Verlust
aller Standesrechte und Verbannung auf Ansiedelung zu ge-
wärtigen. Dieselben Strafen treffen den Sektierer, der sich
in fanatischer Verblendung unterfängt, die rechtgläubige Kirche
oder deren Geistlichkeit zu schmähen. — Statt der .A.nsicde
lang kann die Strafe in Militärdienst bestehen; die Bestraften
können, so lange sie nicht zur rechtgläubigen Kirche zurück-
kehren, weder Abschied noch l'^rlaiib erhalten (also Verur-
teilung zu ewigem Militärdienst in Reih und Glied!).- Wenn
ein Anhänger einer für schädlich erklärten Sekte (wie die
Duchoborzen, Ikonoborzen, Mal<ik<iner, Judaisierenden, Ver-
schnittenen) seinen Irrglauben anderen Personen mitteilt : so
hat er den Verlust aller Standesrechte und Verbannung zu
gewartigen; an di ui \ erbannungsort muß er üich, von den
anderen Kolonisten und Emwohnern der Gegend abgesondert
ansiedeln. Wenn Eltern oder Erzieher es zulassen, daß ihre
minderjährigen christlichen Kitoder oder Pflegebefohlenen rdi-
giöse Handlungen nach jüdischem oder ketzerischem Ritual
verrichten oder an solchen Handlungen teilnehmen, so werden
sie ebenso, als hatten sie einen Volljährijgen zum Schisma ver-
leitet, bestraft. Die Minderjährigen, welche solche Gebrauche
verrichten, werden wenn sie dazu tauglich sind, zum Militär-
dienst, falls sie dazu untauglich sind, an die Kronfabriken
abgeliefert. Wenn die Verbreitung einer Ketz^ei und Sekte
von Gewalttätigkeiten und anderen erschwerenden Umständen
begleitet war: so trifft den Schuldigen die Strafe von 12 bis
15 Jahren Arbeit in den Bergwerken und 70 — 80 Peitschen-
hiebe. Der Sektierer, der in fanatischer Verblendung, wenn-
gleich ohne Gewalt anzuwenden, einen anderen verschneidet,
erhält 4 — 6 Jahre Arbeit in Fabriken, 40 — 50 Peitschenhiebe.
Wer sich selbst verschneidet, verliert die Standesrechte und
wird auf Ansiedelung verwiesen. Solche Sektierer, deren
Ketzerei mit einer wütigen, gegen das eigene oder fremde
Leben gerichteten Zerstörungssucht, oder mit unsittlich«!
scheußlichen Gebräuchen verbunden ist, werden, auch wenn sie
keinen Rechtgläubigen verführt haben, verbannt. Wer auf
Antrieb eines solchen Fanatismus einen Menschen tötet, wird
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DIMITRIVANOWICWIELKICARZMOSKIEWSKI
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[i.-OJrul T i^iM ^Ofii TifTnim ifOO.
u(cb4. öimittrt ^vcin^vcid / ii
pdnä pcjtrjnali/ f pr5Tu<iriili. 2\cro'
oiriny XofD pi^Üitg^/ 1605.
4 Ut mdiac 14. 4 pcO'^o-y Utuj lato
Der falsche Dmitrij.
'(ileich/eitigc» jiolnisches Klu;;bliiU in llnl/schnitt. 1
— 185 —
als Mörder bestraft (12 — 15 Jahre Zwangsarbeit, 70 — 80 Peit-
schcnhirl^p ' Tin Ketzer oder Sektierer, der zur rechtgläubigen
Kirche zurückkehrt und demzufolge aus dem Verbannungsortc
entlassen worden ist, wird im Rückfalle zu ewiger Verbannung
in die emtemtesten (jegcnden Sibiriens ^•erwiesen. Wer Ein-
siedeleien für Schismatiker anlegt, erhalt i — 2 Jahre Gefäng-
nis. Wenn ein Jude aus einem Orte, wo die sogenannte jüdische
Ketzerei besteht, ausgewiesen worden ist und dahin eigen
mächtig zurückkehrt, so erhält er 20 bis 40 Rutenstreiche und
wird unter das Militär abgegeben, um als Gemeiner ohne Aus-
sicht auf Befördenrng noch Verabschiedung zu dienen, oder,
falls er dazu ujiiaughch ist, zur Ansiedelung jenseits des Kau-
kasus verwiesen.
Unter Alexander II. siegte abermals die mildere Auf-
fassung; Alexander III. verfuhr wie Nikolaj I., und NUcolaj II.
übertrifft in der Strenge gegenüber den Sekten seinen Vater
und Urgroßvater, entsprechend dem Worte des nationalisti-
scfaen Fanatikers Akßakow: „Polizei und Gendarmen müssen
die Wächter russischer Seelenrettung sein." Synod und Geist-
lichkeit sind allerdings mit Polizei und Gendarmen nicht zu*
frieden» und wir werden gleich sehen aus welchen Gründen:
Vor einigen Jahren fand in Kasanj ein orthodoxer Missions-
kongreß statt j atif Grund der dort gefaßten Beschlüsse stellte
der heilige Synod neue Regdn für die Methode der Bekämpfung
des Raßkol und des Sektentums auf. Die Veranlagung zu
diesen neuen Regeln sah der heilige Synod darin, daß die
Zivilgewalt noch zu milde vorgehe. Die Polizei erhält früher
als die Eparchialobrigkeit Kunde von dem Auftauchen der
Sekten, und ,,diese Praxis bringt mehr Schaden als Nutzen."
Bei der Anstrengung von Prozessen gegen die Sektierer müsse
vorsichtiger zu Werke geschritten werden. „Es ist nämlich
nicht unbekannt," klagte das Organ des heiligen Synod, „daß
die vom geistlichen Ressort in den Gcrichtsinstanzen an-
gestrengten Prozesse gegen Sektierer und Altgläubige von den
T '"ntcrsuchungsrichtern nicder^j^eschlagen und vom Senat kas-
siert werden, oder aber aus irgend einem Grunde mit der
Freisprechung der Anir^klagtcn endigen. Kin solcher uner-
wünschter Ausgang der Sektiererprozesse hängt von verschie-
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— 186 —
denen Gründen ab : von der unbestimmten Fassung der (besetze,
von dem Charakter der Verbrechen, die sich schwer eruieren
und durch Zeugenaussagen selten feststellen lassen, von den
subjektiven Glaubensanschauungen und Cilaubensbeziehungen
der Richter." Weshalb sich ..Missionerskojc Obosrcnije", das
Organ des Synod, zu eiher derartigen Verdächtigung der Rich-
ter \ ersteigt, ist versländlich: „Solch für die Sektierer und Alt-
gläubigen günstiger Ausgang der Prozesse wirkt sehr schlecht,
sehr aufreizend auf die Masse der Sektierer, die die Resultate
als einen Schutz auslegt, den limcii die /ivilgewail, ja das Gesetz
selbst gewährt. Statt der erwarteten L nierdrückung der Irr-
lehren ergeben sich erhöhte Gärung und Erbitterung gegen
die Geistlichkeit. Leider herrscht in dieser Beziehung auch
unter der Ortsgelstlichkdt in hohem Maße die Tendenz, vor
äXltta. durch polueiliche und richterliche Maßregeln auf die
Sektierer und Altgläubigen zu wirken, was dem Geiste unserer
Mission vollkommen widerspricht. Polizeimaßregeln sind nicht
unsere Maßregeln, so lautet der klassische Ausspruch des Metro-
politen Georgij.*'
Diese Furcht vor der Polizei hat ihre gute Ursache. Nicht
die Geistlichkeit, sondern Geridit und Polizei bestimmen, ob
eine Sekte in Rußland gemeingefährlich sei oder nicht. Diese
Bestimmung aber hangt ganz vom Rubel ab, der Willkür ist
freier Spielraum gewährt, und wo WiUkiir herrscht, gedeiht
auch die Bestechlichkeit, das Gesetz wird zum schlaffen Seile:
die Großen können darüber blnwegspringen, die Kleinen unten
durchkriechen, und wen Polizei und Gericht entschlüpfen
lassen, dem läuft der eifernde Klerus vergebens nach. Man
beschränkt die bürgerlichen und religiösen Freiheiten der Sek-
tierer, man gibt ihnen keine Ämter in den Gemeinden und im
Staate, man entzieht ihnen das Recht, bei Gericht gegen Recht-
gläubige auszusagen, man verbietet ihnen das Reisen ins Aus-
land, man duldet keine cor.nncio oder o6mecTBO, keine Ver-
einigung oder Gesellschaft, man schließt jede ckiitI) oder
Ketzer-Einsicdclci. Aber alle diese Maßregeln gelten nur, so
lange der Rubel nicht rollt. Das klingende Gold macht Tschi-
nownik und ürjadnik taub, sie hören nicht mehr den Ruf
nach Härte und Strenge und bekehren sich zum Saue Alexan-
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— 187 —
dcrs I.: Geziemt es einer Regierung die verirnen Kinder
der Kirche durch Heftigkeit und Grausamkeit in den Schoß
der Orthodoxie zurückzii?wingen ?'*
Vergebens sind hunderte Gesetze gegen das Sektenwesen
geschaffen worden. Vergebens hat Nikolaj II. den zahllosen
alten Gesetzen neue eigener ICrfindung hinzugefügt und be-
fohlen: daß die Altgläubigen keinen Gottesdienst abhalten
dürfen; daß ihre Missionäre nicht predigen sollen; daß ihre
Geistlichen sich nirgends öffentlich in ihrer Tracht sehen lassen ;
daß niemand die orthodoxe Kirche ein' r Kniik zu untcizichen
wage. Das Sektenweseu war nicht zerstörbar, so lange die
Autokratie unantastbar auf ihrem Götzenthrone saß; es wird
jetzt noch weniger als je ausgerottet werden können, da es,
ein Geschöpf des Chaos unter dein ersten Romanows^ heute
uoerschöpflidie Nähmog im neura Chaos unter dem vielleicht
letzten herrschenden Romanow findet. Geboren von der Ver-
wirrung, gesäugt und großgezogen von der wildesten Sitten*
losigkeit, die je in einem Reiche geherrscht hat, bleibt es im
Feuerregen der platzenden Bomben, in dem stürzenden Bau
des russischen Sodom allein aufrecht als das furchtbarste Denk-
mal dieser barbarischen Tyrannendynastie, dieses kulturlosen
Reiches, dieses sklavischen Volkes, dies» sittenlosen Kirche.
Wenn wir von den alten Häresien absehen, so erscheint das
ganze russische Sektenwesen seit mehr denn zweihundert Jahren
als die Folge der politisch*religiösen Wirren* imter den ersten
RomanoA^'s; anfänglich nur von religiöser und politischer Be-
deutung, ist der Raßkol in seiner abschüssigen Entwicklung
eine rein soziale und sittliche Erscheinung geworden, ein
Spiegelbild aller bösen moralischen Instinkte des Reiches und
Volkes.
Die Entstehung des großen Raßkol, der Sekte der Alt-
gläubigen, wird im allgemeinen den Meinungsverschiedenheiten
bei der Interpretation der Dogmen, der Revision der liturgi-
schen Bücher durch dvn Patriarchen Nikon zugeschrieben.
Würde dies der einzige Cjrund sein, so hätte der Raßkol schon
viel früher sein Haupt erheben müssen. Denn bereits im Jahre
1470 berichten die russischen Clironisten das Entsetzliche: „daß
in dem Winter dieses Jahres einige Philosophen anfingen zu
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
sagen: ,,0 Herr, erbarme dich unser!" statt: ,.Herr, erbarme
dich unser!" Um dem abscheulichen Greuel ein Ende zu
machen und die richtij^e Leseart des Ausrufs festzustellen,
berief der Zar einen gelehrten Mönch vom Berge Athos, den
Griechen Maxim i), und übertrug ihm die Aufgabe der Reini-
gung des Textes in den Manuskripten.^) Ein Schreiber, der die
korrigierten Texte zu kopieren hatte, notierte in seinen Denk-
würdigkeiten: .,Als mir von dem Griechen der Befehl erteilt
wurde, die falschen Wendungen und Ausdrücke unserer aU-
ehrwürdigen Meß und Gesangbücher zu tilgen, ergriff mich
ein heüiger Scliaucr, eme entsetzliche unerklärliche Furcht!"
Diese Furcht war verständlich. Für das rohe russische Volk,
das im Scheine des Christentums seine alten heidnischen Götter
ehrte, vom Wesen des Christentums nichts erfaßt hatte, war
nur das Äußere von wahrem Werte. In den altehrwürdigen
Wendungen und Ausdrücken der Meß' und Gesangbücher sah
es gleichsam nur die uralten Beschwörungsformeln wieder;
und man weiß, daß der Aberglaube Zauberformeln nur dann
eine Wirkung zuschreibt, wenn sie selbst im Sinnlosesten einen
verborgenen Sinn vermuten lassen, und an den Ausdrücken
und Zeichen nicht im geringsten gerüttelt wird. Eine Korrektur
in der Reihenfolge der Worte, eine Abweichung in irgend
einer der Zeremonien: und der Zauber ist unwirksam. Die
Änderungen Maxims verursachten also natürliche Aufregung,
aber ^u Aufruhr oder Kirchenspaltung kam es damals trotz-
dem nicht. Das Volk begnügte sich damit, daß man ihm
den kühnen Griechen zum Opfer brachte, den Verbesserer
als Verderber der Kirchentexte für Lebenszeit in ein klöster-
liches Gefängnis sperrte. Durch ein Jahrhundert wurden
m^irere neue schüchterne Versuche unternommen; und die,
welche den Reformen gegenüber Widerspenstigkeit bewiesen,
wurden mit dem Kirchenbann belegt und mit der Knute be-
arbeitet. Es fanden sich daher nur wenige, welche offen ihre
Unzufriedenheit zu äußern wagten. Im geheimen gärte in-
1) Kostomanow hat in semen (nur in russischer Simcbe vorhandenen)
»,Bi<%raphieen*' dem MAndi Maadm ein »difintt Denkmal gesetat.
*} Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 102. — Leroy^BeauUen
III jisff. — Le RaskoL — HeUwald a. a. O.
dessen ein furchtbarer Aufruhr der Crmüter, und es bedurfte
nur des zündenden Anlasses zum Aufflammen des Brandes.
Diesen Anlaß gab das energische Auftreten des Patriarchen
Nikon 1). der das Reformwerk unter dem Zaren Alexe] zu
Knde führte. Aber sein Triumph war ein Pyrrhussieg ohne-
gleichen. Seine Verbesserungen wurden vom Kirchenkonzil
angenommen, er selbst aber gestürzt und eingekerkert. Ein
Bild echt russischer Sitte und Morall Während die Reform
triumphiert, verschmachtet der Reformator hinter Gefängnis-
mauern. Mit Nikon ging der hohe Klerus, gegen Nikon standen
der niedere Klerus und das Volk, aber auch die Beamten-
schaft und der Adel. Denn der Patriarch wollte nicht bloß
die Kirche, sondern auch die Verwaltung reinigen von den
Irrtümern und Fehlern, an Stelle der Raubsucht und der Will-
kur die Eliiliclikt it und die Gerechtigkeit setzen. Zwanzig
Jahre lang dauerte dieser Kampf zwischen Patriarchat und
Bojarentum; jede der beiden Parteien nannte sich die für
die Rechtgläubigkeit streitende, und endlich im Jahre 1666
ergab sich das merkwürdige Resultat, das wir sdion erwähnt
haben: Nikons Reformen wurden gutgeheißen, Nikon selbst
aber dem Hasse des Adeb und Volkes zum Opfer gebradit.
Dieses unsinnige und unmoralische System, welches das Recht
bestrafte und die Falschheit belohnte, mußte die Sittlichkeits-
begriffe des Volkes vollkommen verwirren. In dem Siege
der Nikonschen Reformen sah man den Triumph eines
römischen und protestantischen Machwerkes, in der Einkerke-
rung Nikons den Triumph des gerechten Gottes über den schon
1) Nicolas de Gerebtroff. Essai sur l'histoiro de In. Civilisation en Rns«!i>, TT.
— Leroy-B^ulieu a. a. O. III 318. — Aus den zahlreichen russischen Arbeiten
aber Nikoo erwähn« ich da« oehAiift Werk des Metropolitea SfokariJ. die Süsie
vea Alexej Ssnworin in eeinein Bacbe über- bervofragende nuebehe Männer,
die kulturhistorischen Novellen und einen Roman von D. L. Mordowzew, endlich
Schuschcrins ältere Schrift, die 17SS in T?iga auch in deutscher Übersetzung
erschien. — Vgl. Beruhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 103. — Nikon
war rweifellos ein genialer Mauh. und nicht an ihm. sondern an dem unglück-
seligen Chnnkter de» Volkes nnd an den unveränderlidieit d^entftinlichen
Zuständen dieses Reiches lag es. daB er fftr RnBhwd nicht Sdiöpfer von Freiheit.
Fcrtscltfitt und Wohlfahrt wurde.
_ 190 —
siegenden Antichrist.*) Als im Volke auf Grund dieser An-
schauung die konsequente Folgerung zur Geltung gelangte,
daß die Taten des Antichrist nicht befolgt werden dürften ;
als sich in weiterer Folge eine große Kirchenspaltung ergab
— da brachte es die merkwürdige Logik der luhrendpn f icister
dahin, folgenden Beschluß zu verkündigen: die iNikonsche
Reform ist verdanunenswcrt, aber gültig; und verdammt als
Feinde der Rechtgläubigkeit sind jene, welche die Gültigkeit
der neuen Kirchenordnung nicht anerkennen. Bannstrahl und
Verfolgung aber vernichteten nicht das Unkraut Satans", das
winkende Martyrium schuf den Raßkol, der dem \'olkc im
Glänze eines Verteidigers der uralten Formen, Traditionen,
Sitten und Gebräuche erschien. Peters des Großen barbarische
Europäisieningsmethode war neue Nahrung für die Alt-
gläubigen. Zu den religiösen Motiven der Unzufri^edetiheit
traten politisclie, soziale und sittliche Momente. Peter der
Große konnte dem rohen Russen als die wahre Inkarnation
des Antichrist gelten, als der Herr der Hölle, als der Voll-
strecker satanischer Gesetze.*) Sein ganzes Wesen und Leben
war geeignet, dem einfachen Volke als ein Spiegelbild der
Hölle zu erscheinen. Seine und seiner Umgebung Sittenlosig-
keit überschritt alles Maß. Man sah wie Peter brutal die
Moralgesetze verhöhnte, in den gemeinsten Ausschweifungen
1) Kabbalistische Klügelei sieht in der Zahl 666 ein teuflichcs Zeichen,
und Nikon, im Jahre i666 gestürzt, wurde auf mühsamem Umwege also zum
Antichrist gestempelt.
•) Auch bier ergab die Kabbai« durch Kerbekwingnag der Zahl 666 das
antrugliche Satanszeichen. Jeder Buchstabe hat im Slawonlachen, wie auch
in verschiedenen anderen Sprachen, Bedeutung als Zitter. Mit einigen kleinen
Änderungen ergibt Peter der Erste 666. die teuflische Zahl. Aus dem verhaßten
Titel IlMnepaTopT., den Peter statt des H»pi.-Titels annahm, war 666 herausge*
bracht; nun brauchte nur das n fortsnlassen, so erhidt man 666 (n la n 8q,
e 5, p loo. a I, t 30a o 70, p 100); h bedeutet 40, dies hätte einen Strich durch
die Rechnung gemacht und wurde deshalb geopfert, mit der Motivirung : der
Antichrist habe schlauer Weise diesen Btich?;taben hineinj^eschmuggelt, um sich
nicht fangen zu lassen. Die Zahl 666 fanden die Sektierer später bei allen
aektenfehidliehen Henadieni tmd Hemcherisnen heraua: Katiiarina II..
Faul I. und Niholaj I. ergeben nach Sektiererberechnung 666,. wogegen diese
Zahl bei den sektenfreundlichen Alexander I. und II. in kehiem Falle aoll
herangebracht werden können.
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- 191 -
oifeutlich schwelgte, wie er seine Gattin verstieß und allen
Ciesetzen zum Trotze bei ihren Lebzeiten eine gemeine Hure
zur Kaiserin erhob, wie er selbst dieser Dirne zuliebe seinen
leiblichen Sohn Alexcj ermordete. Auch war er vom Satan
gezeichnet, da er trotz seiner riescnliafton Gesundheit stets
krampfliaften Zuckungen erlag, die bei allen Abergläubischen
als Zeichen einer heimlichen Verbindung des Leidenden mit
dem Teufel gelten. Dieses Gefäß der Siinde, dieser grimmige
Werwolf war nicht der weiße Zar, sondern ein Usurpator;
war auch nicht ein Zarenkind, sondern ein Wechselbalg, er-
zeugt aus einem unreinen verbrecherischen Geschlechtsakte
des Antichrist Nikon mit einer Teufelin. Andere wollten wissen,
daß der wahre Zarensohn Peter Alexejewitsch bei einer Meer«
fahrt verunglückte und daß der Teufel an Stelle des Er«
trunkenen einen Juden vom Stamme Dan untergeschoben habe,
der dann im Auftrage Satans die Zarin Jewdokia ins Kloster
verbannte, den Prinzen Alexej tötete, die deutsche Hure Ka-
tharina heiratete und Rußland unter das Joch von Ausländem
zwang. Nur der Hülfe des Teufels konnte es ja Peter ver-
danken, daß ihn die schiwersten Niederlagen nicht zerschmet-
terten,, daß er bei Poltawa den Türken entrann, daß er zum
Schlüsse so unmögliche Siege erfocht. So entwickelte sich der
Widerstand gegen die kirchlichen formalen Neuerungen zu
einer Opposition auf allen Gebieten des russischen Lebens,
und jdle Altgläubigen klammerten sich nicht bloß an die alten
Riten, sondern auch an die alten slawonischen Lettern i), an
*) Sie wurden deshalb die gewissenhaften Hüter der lyrischen und epischen
Schätze . die sor(?samcn Bewahrer der Romanzen und Heldenlieder. Mclj-
nikow-rcUcherskij fand bei ihnen ein Lied zur Feier des Frühliagsfestes. das
denttidwD Asklaug an «Itdaiviacbe Po«iie vcnät, mid Ryboikow und Hilfer-
diag «unmeltstt den größten Teil der von ihnen herausgegebenen Bylincn oder
Hddenlieder bei den Rhapsoden der Raßkoljniki in den Gouvernemehts
Olon^z und Tsclicrnipow. Die Berichte dieser Literaturforscher sind auch für
die äittengescluchte von großem Intereüse. Bei der Bevölkerung, die dort
großenteils aus Altgläubigen besteht, haben sich die alten Trachten, Gebräuche,
Sagen, Li«der und AbcrgUmben gans nnverftndert erhalten. Vgl. Ilicmi
eodpaRmiM n. II. PiitiHUHXBum, i86t — 1867. — Oaewciria dimiBM, aaniicaaHun
*-^iiimMHr''^ Ovonfffoamm Tka^epaimtnih jdcon» 1871 104$. C.'U«iep0ypi»
«»73.
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die alten Trachten, an den lanj^^en BartM. an die unveränder-
lichen Gebräuche im Privatleben, und in Konsequenz alles
dessen verabscheut man alles neue nicht bloß in Religion,
sondern in jeder Beziehung bis hinab zu den Speisen und
Getränken, 2j Indem nicht bloß die Kirche durch ihre Mittel
die Sektierer zur Orthodoxie zurijrk/uführcn trachtete, sondern
auch die Regierung mit ihrem Drakuiusmus gegen die liaim-
lose Aiihaiiglichkcit der Raßkoljniki an den alten Sitten auf-
trat, wurde der trotzige Widerstand gegen die Kirche wie
gegen den Staat hervorgerufen, und der Raßkol zu einem
Feinde der Kirche wie des Staates gewaltsam erzogen. Die
religiösen Fragen und der kleinliche Streit um die Dogmen
wurden vermengt mit politischen, sozialen und sittlichen Wider-
setzlichkeiten; dem Antichrist, der jetzt also seit zweihundert
Jahren Rußland beherrscht, wird in allen Fällen der Gehorsam
verweigert, und der Tod in der Schlacht gegen Satan ist
ein ersehntes Martyrium. Die Orthodoxie wurde zur Religion
der Herrsdienden und der Bedrüdcer, das Schisma die Zu*
flucht der Leibeigenen, der Mühseligen und Beladenen.
>) Der Langbart namentlich ist das ftvSere Zeichen der Zosanunea-
gehörigkeit aller Altrassen, das treu bewahrte und ängstliche Sinnbild der guten
alten Vorväter zeit. Man vf^\. oben mein Kapitel über den Barbier ais Er-
zieher, sowie Leroy-Beaulieu a. a. O. III 337.
*) Daher sind Tabak, Kaffee nnd Tee verptat. Em Spridiwort der Alt-
gläubigen sagt: Wer randit. verscheneht den heiligen Geist; wer Kaffee trinkt^
wird vom Blitz getroffen; wer Tee trinkt, kann nicht selig werden. Vom Tee
heiOt es auch symbolisch: Ein Pfeil kam ans China nach Rußland geftogea
und durchbohrte das Herz des Volkes.
— 193 —
II. Erotische Sekten und Flagellanten,
Al^änbige und Gletchgläubige — Gfitenrartnlung veOungt — Verfolguttg
der AltgULobigen — Kleinliche Ursachen der Ketzerei - Die Malakanen oder
Milchesser — Aliartcn dieser Sekte — Weibcrgcmeinschaft — Ehichoborzen —
Ein Gouverneursbericht — Anstanciigkeit Grund zur Verfolgung — Abarten
der Dndiobonen — Eheliche Ungebundeahett — Strafe für siiditiiOBe Frauen
— Ecmordung achivächlicher Ktoder — Stnndisten — Pobjedomoßcewa Aagpt
vor Sozialpolitik — Katkow gegen die Stundisten — Neu-Stundisten and
FiaRclK'intpn — ■ Das Sektenwesen in den baltischen Provinzen — Wie die
deutschen Orden Livland christianisierten — Salonstundismus oder Paschko-
wismus — Verfolgung ratkwalbtiacher, Dnlduag erotischer Sdcten — Die
Saelesnowzy — Der B&ueraapostel Smtajew und Graf Leo Tdbtoi — Sekte
der Anhänger der ..Kreutzereonate" — Närrische Sekten — Spuckersekte —
Die Vernpinrr — Die Nichtbeter — Seufzende — Stumme — Parallele zwischen
russischen und katholischen Sekten — Hoheit und Wildheit der russischen
Sekten — Peter III. als Sektengott — Napoleon als Erldeer — Anarchie —
Nene Heilande — Panow Christus — Christuasadier — Sdfastgfltter ^ Chlysty
Otter Gottnicnschen — Religiom und Erotik — Gott Zebaoth Daniel Filipowitsch
— Iwan Timofejewitsch Christus — Paiudi? auf die Auferstehung — Christus
auf Erden — Ein Christu-s für jede Gemeincie und jede Generation — Neue
Gottesmutter •— Die heilige Juugfrau Uljana Wassiljew — Der Sektenwall-
fahrtsort Staroje — RoUe der russischen Fran im Sektenwesen — Die vor-
nehme Gesdlichalt unter erotbchcn Sdrtierem und Flagellanten — Tötung
der Sünde durch die Sünde — Unzucht in Scktcnklöstera — Die Sekte im
Michaelspalast — Russische Adamiten — Tänzer — Sprin^^er und Hupfer —
Vortrag biblischer Obszönitäten — Die Sekte der Lichtauslöscher — Die
Skalrany ab KindermArder.
Der Raßkol in Rußland ist, wie wir gesehen haben, aus
ganz genngfügigen formalen Streitigkeiten und Textfragen
hervorgegangen und schien in seinem Beginne eine leicht zu
Überbrückendr Kirchenspaltung. Und doch gibt es in keiner
Religion ein ähnHches Heispiel dafür, dah ein Schisma von
so nichtigem Ursprung solclir Dauer und ini Fortleben solche
wachsende Kraft gezeigt hatte. Den großen Stamm des Raßkol
bilden die Starowerzy^), die mit unausrottbarer Zähigkeit an
') Crqx'irf-.pnt.i. wörtlich die Altgläubigen, auch eTap<to(lpa.liU>i. die Alt-
brauclugen; vgl. die Skizze von H. iritii.iKiurK, C'rajKKiöpmuu iia Bo-irt, C.-IIex.
BfnoNoeiB, wiuap. 1904.
Stcra, GcMliklitc der AlTeiitl. SrtUlcbltcit in Rulhrnd. 13
Digitizcü by Lj«.jv.'ve^
— 194 —
dem Formalisinus und Buchstabenkukus iiangen. Die Alt-
glaubigen sind daher von IVter dem Großen als die Fort-
pflanzer der reaktionaron iraduioncn betrachtet worden, und
sie sind auch heute unter Nikolaj II. Klemmte, die eine Re-
lorm in europäischem Sinne mit alh^r (iewalt verhindern
würden. Sic sind konservativ in ihren Grundprinzipien. Der
ti uli \ erstorbene älteste S(^hn Alexanders IT., Großfürst Ni-
kolaj. Iragtc einmal einen Raßkoljnik 1 1 ; ..Warum verwerft ihr
unsere Kirche?" und erhielt darauf zur Antwort: „Weil dies
unsere Väter und \'orvätcr gelehrt haben". Und einem Richter
entgegnete ein anderer Altgläubiger : ,,Das sind die ehrwürdi-
gen Gebräuche unserer Väter, die wir befolgen. Man verbanne
uns wohin immer imd lasse uns nur den alten Glauben!***)
Da in Rußland aber alles Lebende und Tote ewige Kontraste
aufweist, ist auch der Raßkol, sonst so konservativ und reak-
tionär, gleichzeitig revolutionär, ja anarchisch. Wie die Ortho-
doxie die Religion der Herren, ist der Raßkol der Glaube der
Sklaven. Die Entstehung des großen Schbma fällt fast zu-
sammen mit der Einführung der Leibeigenschaft. In der Ab*
trünnigkeit von der Kirche fanden die Geknechteten einen
Trost für ihre Leiden; den Unterdrückern sahen sie wohl
ihre Leiber ausgeliefert, ihre Seelen aber blieben frei in einem
Glauben, der dem der Herren entgegengesetzt war. Leroy-Beau-
iieu^) sieht im Raßkol nicht einzig und allein ein Kranlcheits-
Symptom, ein Zeichen geistiger Schwäche, sondern auch einen
Beweis, wenn nicht für Verstand, so doch für Gewissenhaftig-
keit. Pflichttreue und Charakterstärke des Russen. Dies kann
nur im Großen und Ganzen und nur für fene gelten, die sich
aus religiösen und moralischen Moti\-en \c)n der orthodoxen
Kirche getrennt, aber in dem S( hoße ihrer Gemeinden auch
den Armen und Bedrückten Zufluchtsstätten geboten haben ;
reaktionär und konservativ in allen Fragen der Religion, des
Staates und der Gesellschaft, nährten diese Altgläubigen doch
>) f>ari;(rii.iinrri, hrißt zw.ir jeder Sektierer; mm beseichnet aber damit
im allgemeinen tl>-n Aitglüubigcn.
*) «I». B. .liinaHOBT>. l'acKixu.»aiai u utTjMjrtHHKJi. I 38.
3) a. a. O. III 356.
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«
— 1Ö5 —
immer die Hoffnung auf ein Rußland, in dem auch der Mu-
schik wird frei leben können ; drängten sie nach Erfüllung der
Forderung, die in einer Verteilung von Grund und Boden unter
die Bauern!) das Prinx^ der allgemeinen ( Gerechtigkeit auf-
stellt. Aber wie gering ist die Zahl der Logiker und Ver-
standcsketzer ; wie schwächlich diese groüe Gruppe der Sta-
rowcrzy gegenüber den zahllosen kleinen Gruppen, die sich
auch religiöse Sektierer nennen und nichts anderes sind als
Nihilisten oder Sittensünder.
Zwischen den Altgläubigen und den orthodoxen Russen
bestehen tatsäclilich nur formale IJUlerenzen in betreff des
Kultus; es konnte deshalb geschehen, dal.'i die Rej^ierung einem
Teil dieser Schismatiker, unter Einräunumg von Konzessionen
von beiden Seiten, staatliche und kirchliche Anerkennung ge-
währte. Man nennt solche Halbbekehrte Jedinower/y^) : sie
dürfen ihren Kultus frei ausüben ; sie haben zwar ihre eigenen
Priester, die jedoch von der orthodoxen Kirche bestätigt wer-
den; sie besitzen ihre eigenen Männer* und Frauenklöster,
deren Regeln sich aber von den Klosterregeln der Orthodoxen
kaum unterscheiden. — Auch die noch im Schisma ver-
bliebenen Staroweny sind bloß theoretische Abtrünnige. Sie
folgen zwar meist ihrem Spruche: „Wer Gott fürchtet, geht
nicht m die Kirche!" aber sonst geben sie keinen Anlaß zu
Verdrießlichkeiten, sind angesehene Handwerker, reiche Kauf-
leute, fleißige Bauern, die ihre Religion in Übung von Wohl-
taten, in Beachtung von Recht, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit,
und das Heil auf Erden in der Arbeit sehen. Die russische
Regierung hat nun gerade diese ruhigen Frommen zu Opfern
ihrer Verfolgungssucht gemacht^), und so durch einen iweck-
Unter Alexauder 11. richtete der Kaükoljmk Adrian Puschkin, ein
Kanftnaiiii »ns Psmi, Briefo an den Zami und dwMiniatier, worin er «tiUtete:
Die Zeit sei d*. «o das Laad, du Eigentum Gottes, unter alle verteilt werden
müsse. Er erhielt dafür fünfzehn Jahre Zwangsaufenthalt in dem Kloster
für kirchhche Verbrecher zu Ssolowezk am Weißen Meere. Puschkins Schüler,
der .Vrzt Korobow, entfloh beizeiten nach der Schweiz und gab in Genf ein
Blatt lieraos» das Organ der .«Kinder Gottes'*, wie sich die bald darauf ent-
standene Putchkänsche Gemeinde von Sektierern nannte.
») FoiraoirliiN'in., der Gleichgläubige.
*) Die Verfidgten flachteten aus den Zentren in die Verborgenheit der
13*
._^ kj 1^ -0 i.y Google
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losen Druck einen Fanatismus erzeugt, der dem Ausgangs*
punkte des Schismas längst nicht mehr entspricht. Das win-
kende Martyrium verlockte Zahllose, sich durch stets gesteigerte
Wahnsinnslehren zu Prophetentum und Erlöserglorie hinauf-
zuschwingen.
Anfänglich kannte man neben den Starowerzy nur solche
Sdcten, die aus dogmatischen Meinungsverschiedenheiten ent-
sprungen waren. So gab es einmal einen Streit über die Frage,
ob man nach dem dreifachen Gloria zwei- oder dreimal Halle-
luja singen müsse. Kin anderes Mal trennten sich viele von der
Kirche, weil sie den Namen des Heilands nicht mehr lissus,
dreisilbig, sondern Issus, zweisilbig, auszusprechen begannen.
Die Fragen, ob man beim Opfcr^ange nach rechts oder links
schreiten, ob beim griechisc hen Kreuz der Hauptstab von zwei
oder drei Stäben durt hs( hnitten sein, ob man sich mit zwei,
tifpi oder mehr Fingern bekreuzigen müsse, alle diese Fragen
iuhrten zu Kirchenspaltungen.
Nur drei von den vielen Huiidrrten Sekten sind es. die von
religiösem Siandpiuiktc au^ cmc ernale Hetrarhtung \ t-rdienen
wurden, weil sie tatsächlich auf Prinzipien liegnnidet sind:
das sind die Sekten der Malakanen, Duchoborzen und Stun-
disten.^j Bei allen dreien erkennt man den Einfluß curo-
lemeii Goavcniemeiits, in die WUder vom Wjatka. Wologda, Kosttoma, in
die Hinfiden Sibiriein oder über die Grenie nach Polen, Rumänien, Oster-
reich. Zahlreiche Altgläubif:e siedelten sich namentlich in den Regionen der
Wolpa an, deren weite Landschaften mit ihrem Hcichtum an Wäldern und
Wassern für ganze Völker überflüssigen Raum boten. Vgl. über diese An-
stedlungen die eingangs zitierte Skisse: SKojaoHb, OiaiiooCpHAUlii. Viele
Sektierer flüchteten anch in die nördlichen Regionen, nach (Mones nnd Ar-
ch. inpclsk; sie sind unter der allpcmtincn Bezeichnung TIosiopiiiii, die am
^toerc Wohnenden, In-kannt. Die ersten Mittelpunkte von Sektierern bildeten
ci. 'KTU oder Einsiedeleien, eine Art Klöster, die in Wäldern errichtet wurden;
rund herum ließen sich immer nene Anbinger nieder. Unter Nitolaj L wurden
■die berflluntesten cKtnu zecstflrt. Vgl. darüber Leroy-Beaulieu a. a. O. III
383. Trotzdem sind noch, im Norden und Osten besonders, solcher Einsiedeleien
zahllose übriggeblieben. Diese i-kutm wurden im Traufe der Zeit Zufluchts-
stätten von Verbrechern und Höhlen der Wollust und Stttenlosigkeit, da sie
den Behörden häufig unbekannt bleiben dank der großen Ausdehnung der
Wälder und der Verschwiegenheit der Sektierer.
1) Diesen drei Sekten habe ich schon in meinem Buche „Au* dem mo-
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— 197 —
päischer, namentlich protestantischer Anschauungen. Als die
älteste von ihin u gilt die der Malakaiicn oder Milchesser ' i,
welche sü genannt werden, weil sie in der Fastenzeit im Gegen-
satze zu den Orthodoxen ^^llch genießen. Die Malakanen
behaupten, daß ihr Schisma schon dem zehnten Jahrhundert
angehörte; es scheint jedoch, daß der Ursprung dieser Sekte
aus dem sechzehnten Jahrhundert datiert und von aus dem
Auslande gekommenen Protestanten hervorgerufen wurde.
Die erste offiiielle Erwähnung der A&üakanen enthält ein Akten*
stuck aus der Zeit der zweiten Katharina.^) Haxthausen fand
1847, daß die Milchesser damals wenig zahlreich waren; jet^
übersteige ihre Menge viele Hunderttausende. Ausgenommen
einige wenige Gemeinden, die in Tambow, dem augenschein-
lichen Ursprungsorte der Sekte, leben dürfen, sind die meisten
nach d^ Krim, dem Kaukasus und Sibirien verbannt worden,
wo sie blühende Kolonien gebildet haben. Mackenzie Wallace
meint, da^ ihre Lehre der presbyterianischen ähnlich sei; sie
beruhe aber nur auf mündlicher Tradition ; ihre Theologie
sei deshalb noch in einem halbflüssigen Zustande, und so
gebe es lokale und individuelle Meinungsverschiedenheiten
unter ihnen. 3) Allgemein gilt bei ihnen folgendes: Die Heilige.
Schrift ist die einzige Richtschnur für Glauben und Wandel des
Menschen; ^ie darf aber nur dem ' geistigen und nicht dem
wönlichcn Smne nach ausgelegt werden. Auf Erden gibt
dcrnon Rußland" vor Jaliren eine ausfülirliche Schilderung gewidmet. Auch
bei Mackenzie Wallac' (über die Malnkanen namentlich), bei Haxthau5en
I 376 — 417 und be« Leroy-Beanlieu III 46'>— 485 iindet man genügend ein-
gehende DarsteUuagen. Der V'oUstündigkeit halber gehe ich hier über diese
dfai Sekten nidit duiaich hinweg, aber ich kann mich ganz knrs igmen und
bnuicbe nur die wichtigsten und neuesten Momente hervonaheben.
1) Sie selbst nennen sich walirhaftipr Christen, iifTittnn.Te xpiitTMif".
•) Oll ilie Duchoborzen oder die Malakanen .ilter si-ieii, i'it eine alte,
noch uaentsclüedene Streitfrage, Uie .Malakanen nennen ihre Sekte die
Untter der DoehobortenMlcte. Haxthausen hSlt ebenfalls die der Malakanen
für die iltere (I TU» Ideen brider Srirten bcrAhtw sich wohl manchmal,
aber eine Verbindung ist kaum herzustellen, und zwischen den einen und den
anderen herrscht jedcnfall'; seit langer Zeit groOe Feindschaft.
So sagte auch schon Haxthausen (a. a. O. 380): „Sie smd selbst unter-
einander nicht völlig einig in ihren Lehren".
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
— 198
es keine Autorität, die über zweifelhafte Punkte entscheiden
könnte, und deshalb darf jeder sie nach seinem eigenen Ur-
teile auflegen. Haxthausen erhielt von Malakanen selbst eine
ausführliche Darstellung ihrer Auffassungen, woraus hervor-
geht, daß in ihre Anschauungen weateuropäiüche spiritua-
listische Ansichten und in ihre Vorschriften selbst ausgeprägte
protestantische Redewendungen eingediaingen sind.
Die Malakanen glauben an die Bibel als an das Wort
Gottes, an die Einheit Gottes in drei Personen. Bei der Aus-
legung der zehn' Gebote bekennen sie, dem Zaren und jeder
Obrigkeit Gehorsam sdiuldig zu sein. Für einen Totschlag
zahlen sie es auch, wenn jemand einen beleidigt, verfolgt und
haßt; nach den Worten Johannis: jeder, der seinen Bruder
hasset, ist ein Mörder. Trunkenheit, Völlerei, böse Gesell-
schaft sind zu meiden j und Unzucht und „geistiger Ehebruch
ist: wenn jemandem diese Welt und ihre geschmnd vorüber-
rauschende Lust zu teuer ist'*. Alle Leidenschaffi müssen
bezähmt und unterdrückt werden; jede Gewalttätigkeit, List,
Betrügerei wird dem Diebstahl gleich geaditet. Nach diesen
Glaubensrcgeln kommen bei Bewerttmg der Sakramente die
spiritualistisch protestantischen ^) Ansichten zur Geltung. Vom
Sakrament der Taufe sagen sie, daß sie darunter die geistige
Reinigung von der Sünde im Glauben und die Tötung des
alten Menschen in uns .verstehen; sie waschen wohl die Neu-
geborenen, aber sie nehmen dies nur als eine leibliche Reini-
gung, nicht als eine Taufe an. Priester, Bischof oder Hohe-
priester sind bloß in der Person Christi zu suchen; die Mala-
kanen kennen daher nur Alte, die aus ihrer Mitte ausgewählt
werden, um Gottes Worte vorzulesen und die geistigen An-
gelegenheiten zu leiten. 2) Das Sakrament der Ehe endlich
Avird durch die gegenseitige Einwilligung der Verlobten imd
durch gemeinsames Gebet der GemeindemitgUeder ersetzt; die
Ancb Len^-Beaalieu metnt, der Kultus der Malakanen sei indirekt
atw der Rsfomiatlon Lntiiats und Calvins harvorgagut^m, ». m. O. III 46S.
•) Leroy-Beaulieu III 467: ,,Wir sind allesamt Priester", sagen die Molo
kaner; der Älteste hat g.ir keine Gewalt über die Gemeinde und zeichnet sich
während des Gottesdienstes vor den übrigen Mitgliedern nicht einmal durch
ein besonderes Gewand aus.
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— 199 —
so geschlossene Ehe ist unauflöslich. Den Begriff der Kirche
sieht man in dem Worte Christi: .,Wo Zwei oder Drei ver-
sammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" ;
und n'aii I raucht keine steinernen oder hölzernen Tempel.
Eine Kirche, sagen die Malakanen, besteht nicht aus Balken,
sondern aus Rippen, des Menschen Brust ist der Tempel
Gottes. Natürlich verwerfen sie auch die Heihgenbilder. Bei
einer Prozession in Isikolajew, Gouvernement Ssaratow, sprang
ein Malakane in die Reihen der Orthodoxen, erfaßte ein Hei-
ligenbild, warf es zu Boden und trat es mit den Füßen. Der
Fanatiker wurde von den Orthodoxen auf der Stelle getötet.
Die Malakaiicn zahlen zwar zu den fricdUchcn Sektierern, doch
fehlt es auch bei ihnen nicht an Verirrungen ins Extreme, und
es gibt einige Malakanengemeinden, denen man nachsagt, daß
sie nicht bloß Asyle für Veiliiedier sdeti, sondern auch sdbst
die Verfertigung falscher Pässe und Falschmünierei als von
der Religion erlaubte Dinge betreiben. Es gibt sogar Mala*
kaoeogruppen, die längst nicht mehr die Lehren der Mutter-
sekte beachten, die die Behörden und die Gesetze verhöhnen,
Eid und Militärpflicht verweigern, sich der Steuenahltuig wider-
setzen, die Gütergemeinschaft predigen (an der Spitze dieser
Gruppe befand sich der berühmte Popow, der von Nikolaj I.
an den Jenissej verbannt wurde) und die Weibergemeinschaft ^)
verlangen (der Prophet dieser Gruppe erstand erst während
der Regierung Alexanders n. in Ssamara).
^) Avdi kathoUadi« und protettaiitisoh« Sekten haben ^ufig die Poly*
gamie und die Weibergemeinschaft als religiöses Gesetz aufgestellt. Die Poly»
^mopbili traten in Schriften und Handlungen für die Vielweiberei (?in. Der
Italiener Ochinus predigte im i6. Jahrhundert in Zürich die i^olygamie und
maßte dedialb nach Polen flächten. Die Sekte der David Georgisteu, eben-
falb im 16. Jahrhundert, hatte die VielweiberiBi statuiert. Berflhmt wurde
die Lehre des Carpocratcs von Alexandrien, der im zweiten Jahrhundert
lebte; er erklärte: Es gebe nichts Böses in der Natur, das Bö?.e bestehe nur
in der Einbildung des Menschen. Der Mensch sei aber in diesem Leben unter
der Gewalt böser Engel, die man am besten durch schändliches Leben ver-
•Ahne. Daher solle man lasterhaft leben und namwitUch die Weiber gemein-
ürhaftUch besitzen, so wie alle gemeinschaftlich das Licht der Sonne genießen
oder gemeinsc haltliches Recht haben auf die zur Nahrung dienenden Mittel.
An die Münsterer und Mormonen brauche ich wohl nicht besonders zu erinnern.
Diniti?ed by Google
— 200 —
Den ursprünglichen Malakanen verwandt sind die ur-
sprünglichen Duchoborzen^) oder Geisteskämpfer, die man die
Quäker Rußlands genannt hat, weil sie an die unmittelbare
Einwirkung des heiligen Geistes glauben.^) Sie besitzen eigen-
tümliche Vorstellungen von Seele, Verstand und Herz. Ihre
Lehren sind ebenfalls bloß in mündlichen Traditionen erhalten.
Im Jahre 1805 wurde dem Kaiser Alexander eine offizielle Dar-
stellung des Duchoborzcntums cri^'icfcrt In d*esem Dokument
heißt es, daß die 1 )uchoborzen um die Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts auftauchten Sir verwarfen alle Gebräuche und
Riten der orthodoxen Kirche, die Taufe und die Kommunion.
Ihren Namen erhielten sie im Jahre 1785, wahrscheinlich vom
Erzbischof von Jekaterinoßhiw. Bis dahin nannte die Regie-
rung sie Ikonoklasty^), wörtlich Heiligenkastrierer, weil sie die
Verehrung der Heiligen verneinten, oder auch Ikonoborzy,
Bilderstürmer; sie selbst heißen sich Christen und nennen
die anderen: Laien, Als ihre Apostel bezeichnen sie drei Knaben
aus ältester Zeit : Hanani, Asaria und Misael, die den Martertod
erlitten, weil sie sich geweigert hatten» Nebukadnezars Bild an-
^) Von lyxi., Geist, und (V>[»rin,. Ringer oder Kämpfer. lyxoGopeuj.
kann Geist- cxler Lichtbekämpfer (so meinen es die Orthodoxen) ebensogut
■wi« GdstM» oder Lkhfkämpfer hdflcii (und den letiteren Sinn meinen die
Sektierer aellwt).
2) Unter den wichtigeren Arbeiten über diese Sekte erwähne ich: Die
Studie (in russischer Sprache) des Kijewer Professors Nowi^^kij (1882); von
deutschen Berichten: Die Mitteilungen von Petzholdt. Karl Koch, Wagner,
Erdcertj Thidem&nn in ihren leankeeieeben Reiaeschfldenmgen nnd eine äbeians
interessante Sldsse von einem angenannten Offiaer im XL Bande der Bol-
tischen Monatsschrift. Haxthausen und Leroy-Beaulieu wurden bereits frdher
zitiert. Die Verfolgungen, denen die Diichoborzen in jüngster Zeit in Ruß-
land ausgesetzt waren und die su ihrer teilweisen Auswanderung nach Kanada
ffihrten, voranlaßten ttlibdehe Attücd in mssiidien Zeitungen und nuneot-
licb Verteidigongsscbxiften des Grafen Leon Tolstoi. Einige der letsteren
wurden in fremde Sprachen übeisetzt, so von J. W. Bienstock in seinem Buche
„Tolstoi et les Doukhobor?!, faits historique«;. reimis et traduits du rtisse",
Paris 1902. Unter der Hedaktion von Bontäch-Brujewitsch planten die Russen
Tschertkow, Birukow und Tregubow die Herausgabe eine» die Duchobonen
betreffenden Aktenmateriab in x6 Riesenbänden.
s) IlKuifb. Heiligenbild; Kiacrt, legen, bauen» hat auch den Sinn von
Wallachen, kastrieren.
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— 301 —
zubeten^); und ebenso müssen sie selbst alle leiden für ihre
Verachtung der Ikone.
Wegen der Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren,
konnten sich die Diichoborzcn anfangs nirgends in kompakten
Massen ansiedeln, sie mußten sich durch das ganze Reich zer-
streuen. Zu Beginn des neunzehnten Jalirhunderts fand m.ui
sie zumeist in Archangelsk, Asow, Georgjewsk, Sta\vroj)ol,
Kola, Irkutsk und Kamtschatka, also an den äußersten Grenzen
im Süden, Norden und Osten. Der früher erwähnte offizielle
Bericht sat't, daß man, wenn von der religiösen Frage ab-
gesehen werde, das soziale und Familienleben der Duchoborzen
als ein musterhaftes bezeichnen müsse. 1792 schrieb der Gou-
verneur von JekuLi rinoßlaw an den ( )herprokurator des Sy-
nods, daß „diese Häretiker die Trunkenheit und den Müßig-
gang hassen und regelmäßig ihre Steuern zahlen". Aber sie
mußten doch verfolgt werden, „weil sie nicht in die Kirche
gehen, nicht die orthodoxen Fasten einhalten, die Heiligen-
bilder nicht ehren, beten ohne das Kreuz zu schlagen und
weder an den Vergnügungen noch an den Ausschweifungen
der Laien teilnehmen.** Solcher Verbrechen wegen wurden
die Sektierer zumeist nach Sibirien verbannt. Der genannte
Gouverneur von Jekaterinoßlaw versicherte: sie verdienten
trotz ihrer von ihm selbst hervorgehobenen Tugenden kein
Mitleid, „denn ihre Häresie wird nur noch gefährlicher durch
ihr anständiges Leben**. Der Gouverneur rief also nach dem
Scheiterhaufen, Katharina gewährte bloß die Deportation. Ale>
xander I. bewies den Duchoborzen, wie allen Sektierern, To-
leranz und überließ ihnen Land im taurischen Gouvernement;
aber die Zeit der Ruhe dauerte nur kurze Zeit. Die heftigstm
Verfolgungen hatten diese Sektierer in unseren Tagen zu er-
leiden. Im Kaukasus überfielen 1895 Kosaken die Ducho-
borzcndörfer, töteten die Männer und notzüchtigten die
Frauen und seither wanderten viele von diesen Sektierern
1) Es ist dies die Geschichte vom feurigen Ofen, die der Prophet Daniel
*) Über diMft Grausamkeiten der Rcgicrungsorgane bei der Verfolgung
der Duchoborzen vcrclrichc man dir r'.t'rirhte bei Bieiutock, beispielsweise
auf Seite 49. 61, 77. 80, 87, 94, loi, 115, 176.
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— 202 —
nach Amerika aus. In Rußland sind allerdings noch Hundert -
tar.srndc zurückgeblieben; deren Häupter, wie der berühmte
VVcngni, wurden jedoch für ewige Zeiten nach Sibirien ver-
bannt.
Die Sittenlehren') der Duchoborzen verdammen die
Leidenschaften, veraichten di« suinlichea Freuden ; selbst die
reinen Freuden der Natur, die Blumen der Erde, der Gesang
der Vögel lenken den Menschen ab vom Geistigen und fesseln
ihn, daß er sich nicht zu erheben vermag. Gesellschaftliche
Unterschiede kennen die Duchuborzen nicht, alle Menschen
sind gleich, weil alle gefallen und alle der Versuchung unter-
worfen sind. Weder Herren noch Knechte gibt es. Als Grund-
lage für die Eingehung der Ehe ist bloß die EinwiUigung der
Verlobten» als Grundlage für die Fortdauer die Liebe, die ihrem
Wesen nach göttlicher Natur ist, erforderlich; hört die Liebe
auf, muß die Ehe getrennt werden, weil sonst das göttliche
Band zu einer fleiscfaUchen Sünde würde.
Wie bei den Malakanen entstanden auch bei den Duclio-
borten Abzweigungen, bei denen namentlich das Wesen der
reinen Sittlichkeit verschwunden ist; und wenn auch nicbt,
wie bei einigen Malakanengemeinden, die Weibergemeinscbaft
eingeführt wurde, so kennt man doch auch bei diesen Ducbo-
borzenabarten kaum mehr den Begriff der Treue im Punkte
der liebe. Solange eine Frau sündigt, ohne öffentliches Ärger*
nis zu erregen, bleibt sie straflos; nur wenn ihre Sittenlosig*
keit alles Maß überschreitet, wird der Mann, falls er selbst
noch immer schweigen wollte, von seinen Glaubensbrüdern
gezwungen, das zuchtlose Weib vor das Gemeindegericht zu
*) Di« ausführliche amtliche Dustdlong des Duchoboneagiaabeos ent-
hält das Bnch vcm Bieutod^ S. 16—36. Man vers^flkihe anch die symboUicha
Schilderung in meinem Buche ,,Aus dem modernen Rußland" S. 127 ff. Die
Lehre der Duchoborzen bildet ein tjanzes S>*stcm. dessen genaue Wiedergabe
viele ICapitel erfordern würde. Aber als rein theologisch-m>'stisch-phüosophische
Ffage iiltt sie aus dem Rahmen unseres Werkes und mufl den Banm frei-
lassen Kur jene mit der Geschichte der Sittlichkeit inniger susammenbingenden
Sekten. Haxthausen gab übrigens schon in seinen Studien über Rußland I
389 ff. Ubersetzungen von Bekenntnissen der Duchoborsen selbst, die vielleicbt
die beste Aufklärung vu::>cliaffen.
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schleppen; die Strafe der für schukÜL' hcfimdenen Frau be-
steht darin, daß man sie nackt durch die Straßen schleift und
mit Kot bewirft. Andere dieser Duchoborzengruppen sollen
den Kindermord als Glaubensartikel betrachten; sie sagen,
daß die Seele als Gottes Ebenbild nur in einem gesunden
Körper wohnen dürfe; und deshalb loten sie alle schwäch-
lichen und mißgestalteten Kinder. Als Nikolaj I. die Ducho-
borzen verfolgte, begriindete er es damit, daß diese Sektierer
von einem Mordtanatismus beseelt wären; angeblich besiand
bei ihnen eine Art Inquisition, die jedes im Verdachte des
Unglaubens stehende Geraeindemitglied unbarmherzig ver-
urteilte und entweder durch das Schwert richtete oder leben«
dig begraben ließ.
Von den drei Sekten» die ursprünglich erhabenen Lehren
folgten, sahen wir also schon zwei im Laufe der Jahre, und
mcht zum wenigsten durch die Verfolgungen der Regierung,
in ihren Ausläufern völlig ausgeartet. Nun werden wir das
gleiche Resultat auch bei der letzten dieser drei rationalistischen
Sekten finden, bei den Stundisten.^) Deren Ursprung erscheint
als ein rein protestantischer. In einer reformierten Kolonisten-
gemeinde bei Odessa wurde von einem Pastor der altwürttem-
bergische Gebrauch des religiösen Stundenhaltens gepfitgt.
Diesen Kolonisten gesellte sich vor etwa vierzig Jahren der
orthodoxe Muschik Michael Ratuschny aus Osanowa zu; die
protestantisch-deutschen Andachtsübungen gefielen ihm so, daß
er nach meiner Ruckkehr in die Heimat Genossen um sich sam-
melte und mit ihnen die Gemeinschaft der Stundisten^) grün-
dete. Als Lehre gab sich die neue Sekte folgendes: Keine
Kirche, keine Heiligenbilder, keine Priester, keine Sakramente.
>) Kiin mögen hier auch die deatachen Chiliasten in lYanskaakasien
rrwähnt werden, dio eine reine Pietistensekte sind Tind auf das nissische Sekten-
vi-esen keinen Einfluß ausgeübt haben. Sie wurden ausführlich von i'rofeasor
Kolenati in seiner Schrift „Die iieretsuug Hocbarmeniens und ElisabethpoU"
geachildert: Morits Buch hat in seinem Buche „Wunderliche Heilige, Rdi-
giÖM «od politiecbe Gdieimbande und Sekten", Leiptig 1879. S. 12t — 139
einen Auszug aus Kolenati.
>) Das deutsche Wort Stunde wurde ins Rusaiaciie übernommen:
llhyuAii, daher IUtjiuiicti..
— 204 -
Branntwein, Tabak, Fluchen und gemeine Reden sind ver-
boten. Strenge Arbeit ist Pflicht, aber Ersparen verboten,
denn Überfluß führt zu Lastern. Alle Menschen sind gleich,
nicht einmal der Zar ist höher zu schätzen als jeder der Men-
schen, ein rechter Christ kennt nur Gott als Oberhaupt ; doch
fügen sich dir Stundisten den Staatsgesetzen, weil das walixe
Gottesreich auf Erden noch nich^ ;Lrpkommen ist Die Ehe
beruht bloB auf freiem übereinkommen und wird vor dem
Ältesten der Gemeinde geschlossen, eme Scheidung ist nicht
zulässig.
In einem aus dem Jahre 1898 stammenden Berichte des
Oberprükuralors des Heiligen Synod^ i u ird das Gespräch eines
russischen Missionars mit Stundisten mitgeteilt; letztere sag-
ten: „Wir wünschen nicht euch nachzueifern, denn wir lieben
nicht eueren Christus; ihr habt niit euerem Christus die Men-
schen zu Hunden gemacht, wir aber wollen mit unserem Christus
freie Menschen bleiben. Haben wir uns vom 'Herrendienste
frei gemacht, werden wir auch den Popendienst los werden."
Der Oberprokurator Pobjedonoßzew bemerkte zu diesem Be-
richte, man müsse dem Stmidismus viel Gewicht beilegen, denn
aus den Gesprächen, welche diese Sektierer führten, ginge
hervor, daß sie sich für Sozialpolitik interessierten! Sdion
früher als Pobjedonoßzew hatte der Panslawist und orthodoxe
Fanatiker Katkaw^) strenge Maßregeln gegai die Stundisten
gefordert, die von ihm als eine gefährliche Sekte geschildert
wurden. Die Gefahr, die von den Stundisten drohte, war aber
dieselbe, die jener Gouverneur von Jekaterinoßlaw genau hun-
dert Jahre zuvor mit den ersten Duchoborzen über Rußland
hereinbrechen sah: man mußte befürchten, daß die Stundisten
durch ihre Rechts* haffenhcit, Mäßigkeit und Arbeitsliebc unter
den Russen ein böses Beispiel der Anständigkeit geben und
die Orthodoxen aus dem gedankenlosen Dahinleben in der
Verkommenheit erwecken würden zu höherem Streben. Das
mußte gründlich verhütet werden, und man bedrückte die
Stundisten ärger noch als die Malakany und Duchoborzy. Der
») \'gl. St. Petersburger Herold. Juli 1896.
*) Mocu. HiviojuoiTiif 23. Vi. 1S92.
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— 205 —
Erfolg war schließlich der gleiche wie bei den zwei letzt-
f^« 'nannten Sekten. Die Quälerc^icn, Marterungen und \'er-
hannungen trugen zwar nur dazu bei, den Stundismus in ra-
pider Weise zu verbreiten, aber gleichzeitig verlor er seinen
hohen geistigen Gehalt und zeitigte unter Rute, Knute und
Pletj den Neu-Stundismus. der nicht mehr die guten Ortho-
doxen zu edlerem Leben erziehen, sondern bloiJ zu wiilkom-
mener Sittenlusigkeit hinabzerren kann.
Die Neu-Stundisten nähern sich in ihren entsetzlichen Ge-
bräuchen den ärgsten der wilden Sekten, sehen nur mehr im
Flagellantismus das Ziel des. Daseins, und geißeln sich zu
Tode, um den Himmel mit den Schandtaten der Menschen
zu versöhnen, die erbarmungslos Gottes wahre Anbeter ver-
folgen. Ihre Stunden sind nicht mehr feierliche Andachts-
übungen wie früher, sondern wilde Orgien, bei denen die Fana-
tiker nach furchtbaren Tänzen zusammenbrechen, um im
Krämpfe der Verzückung phantastische Gesichte zu haben.
Da sie ohnehin vor den Verfolgern nichts mehr retten können,
arbeiten die Neu-Stundisten nicht; sie denken nicht mehr an
die entsetzliche Sozialpolitik und leben nur ihrem fanatbchen
Eifer, sich zu kasteien und zu züchtigen durch die Auflösung
aller verwandtschaftlichen und Verachtung aller ehelichen
Bande.
Hatten sich die ersten Stimdisten hauptsächlich im Süden
verbreitet, so fanden die als Flagellanten auftretenden Neu-
Stundisten ihrr Anhänger hauptsächlich in den baltischen Pro-
vinzen. ,,Die Gottesdienste dieser Sektierer, " berichtete ein
russischer Geistlicher 1901 in einem Briefe^), ,,bringen der
Bevölkerung großen Schaden; sie bestehen in einer starken
nervösen Erregung, die sich bis zur Ekstase, bis zu Hallu-
zinationen steigert. Die \'ersamtnkmgrn dauern häufig die
ganze Na( lit und linden in dunij-)fen Hütten statt. Die Teil-
nehmer gleichen gestorten Leuten. Besonders die Frauen sind
der religiösen Ekstase zugänglicli. Die Zus( hauer werden von
der ner\'ösen Erregung angesteckt und unwillkürlich zu Teil-
*) In den UepsoamM vlaoNOcra. Dieser Brief bezog sich besooders
auf Verhaltnisse in Esttuid. denn der Sehrdber beadehnete skh ab Priester
A. w ans RevaL
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nehmem an den sektiererischen Gottesdiensten; aus diesen
resultieren nervöse Krankheiten. H\sterie, Melancholie und so-
gar Wahnsinn. Daher mehrt sich in der letzten Zeit die Zahl
der Geisteskranken. Die sektiererische Bewegung hat viele
Familien zerrüttet und viele Wirtschaften ruiniert. Frauen
haben ihre Häuser im Stich gelassen und sind seelisch und
physisch verkommen. Männer verkauften ihr Eigentum und
verwenden das Geld zum Unterhahe der Wanderprediger. An-
fangs leistete die weltliche Gewalt dieser Bewegung, welche die
lutherischen Pastoren unter ihren Schutz genommen hatten,
keinen Widerstand. Die Sektiererei begann sich aber in Stö-
rungen der öffentlichen Ordnung zu äußern, und die weltliche
Gewalt traf daher einschränkende Maßregeln in bezug auf
die nächtlichen Versammlungen und das Vagabundieren der
Propheten. Nim sind die Sektierer zum Teil in die vom Ge-
setze gestattete Baptistengemeinde oder in den Bestand der
lutherischen Kircbspide eingetreten und setzen ihre Hand-
lungen fort unter dem Schutze der lutherischen Pastoren, die
diese Bewegung für em Werk des heiligen Geistes erklärten
und sie unter ihre Leitung nahmen. Auf dies^ Weise ver-
hindeni die Sektierer die Einmischung der Polizei, die nicht
das Recht hat, sich in die hauslichen Angelegenheiten der
lutherischen Gemeinden zu mengen, und alle schädlichen
Folgen der Sektiererei bleiboi in ihrer ganzen Kraft bestehen.*'
Die russische Geistlidikmt war mit diesen schädlichen
Folgen unzufrieden; die Polizei und die Regienmg aber wollen
nichts anderes, denn je zerrütteter und verwilderter das Volk
ist, desto besser für die Autokratie. Regierung und Polizei
lassen sich also selbst durch die Verdächtigimg der luthe-
rischen Pastoren^) als der Störenfriede in der orthodoxen Herde
1-) Der rosaische Anadmck» der hier gebiattcht w»d: yvnMDHipooo-
Ki^:uniRH heifit wörtlich Lehrer- Prediger, doch gibt der Ausdruck Waikder»
prediger dem deutschen Leser deu richtigeren Sinn wieder.
') Diei»e Verdächtigung war ^telbstverstandiicb ungerechtfertigt. Es
geht dies schon daraus hervor, daß der wilden Sekte der Neu-Stundisten nicht
bloO orCbodoaw Runen, sondeni nicht minder lutiterische Esten und Letten
sich anschlössen; diese Völker stehen ja auf nicht vid höherer Kulturstufe
als die Russen. Wcdtr Katholizismiis noch Protestantismus haben iinter
den Unterdrückten in den baltischen Provinzen tieier Wurzel schlagen können,
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— 207 -
nicht zu einer energischen Verfolgung sittenloser und wahn-
sinniger Sekten treiben; solche mögen gedeihen, sagt die ms-
als die griechische Religion in Rußland. Den heidnischen Letten und Esten
w-urde das Chiisteutum durchaiis nicht als Religion der Liebe beigebracht.
Bei Hiäm a. a. O. 34—36 lesen wir: „£a hat IQnhom angemercket: Die
TeirtKlien Ordem-Leate haben sich, was (der Esten und Letten) ReUgioci
betrittt, wenig bekümmert, und nicht groß danach gefraget, wie sie vor ihrer
Heidni=5chen Abgötterev und falschem Gottesdieni^t, zur Krkäntnis dp-^ wahren
Gottes gerathen und kommen möchten. Das hat man Alles ixiclits geachtet,
aondem die Pabetischen Rtiester sind im Lande hemmbgezogen. tind hie
und wieder MesM gehaltMi. im Chrisflichen Glauben aber sie gar wenig unter»
richtet, auch zu unterrichten nicht vermocht, indem sie die Sprache nicht
gckunt, dieselbe auch zu lernen keine Mittel oder Gelegenheit gehabt, weil
iast Niemand gewesen, der sich der Religion und des Gottesdienstes ange-
nommea, oder danunb bekümmert, sondern die Herrschaft nur daniacb
getrachtet, wie sie die armen Leute zu ihren Diensten gebcanehen, und in
allerhanrl Ü]>pigkeit und Wollust leben möchten. Wie denn solch ein un«
christliches, hof fertiges und üppiges Wesen, so im Lande getrieben, auch aas
ländischer Nation bekandt, welche mit Verwunderung davon zu sagen ge-
wust. Sonderlich wird dasselbe auch in dem Liede. so su der Zeit gemachet, da
die Mnfieawbeha Tyranney and Grausamkeit im Lande graasiret; herzüch be-
Idaget mit diesen Worten:
Diß Land den 'lentsrhen gegeben ist,
Schier (ür Vierhundert Jahren. ,
Daü sie dein Nahmen Herr Jesu Christ,
Die Heyden solten lahren.
Sie aber haben gesucht vidmehr
Ilir eigen Nutz und Lust und Ehr,
T'^nd Deiner wenig geachtet.
Sic haben die armen Heydnischen und Barbarischen N'blcker nicht mit Christ-
licher Bescheidenheit und Saafitmnth gelehret und ontenichtet, sondern mit
Gewalt, Ungeatftm trad Tynuanisdier Weise, ja mit Wdir nnd Waffen, sum
Glauben zwingen wollen. Anderer zu geschweigen, ist ein Bischoff hier im
Lande gewesen, einer von der Linden, derselb*« wird gerühmet, daß er großen
Fleiß angewandt die Letten von ihrer heydnischen Abgötterey zum rechten
Gottesdieaat au bringen, hats aber afao mit ihnen gehalten, daß der Stlfifts-
Vogt und die Lands Knechte sie vcrhfiren mOssen, ob sie auch betoi kAnten,
welcher nnn etwas gekont, den hat er tractiret und ihn etwas zu essen gegeben;
welche aber nichts Relernet, die hat < r mit Ruthen j.Tmmerlich «streichen
lassen". Km so jämmerlich eingebläutes Christentum konnte uatürUch keine
herzlichen Anhänger finden, und es blieben tatsicUich sowohl Letten als
Esten noch bis hevte halbe Heiden, in ihren Gebräuchen herrscht die alte
Sittenlosigkeit ihrer heidnischen Feste, der ungenierte Geschlechtsverkehr als
Kulthandlung.
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— 208 —
sische Regierungsmoral, der liekämpiung wert sind bloß 1^-
tionalismus und Sozialismus, alle jene Vereinigungen, welche
Sittsamkeil und Fortschritt. Freiheit und Gerechnglceu zu er-
reichen streben. Dies traf einigermaßen bei dem sogenannten
Salonstundismus zu, der zu Knde der Regierung Alexander^ II.
in der vornehmen ( ^eselli^^hnft von Petersburg Verbreitung fand.
Der Laien])rediger I.orti Kadstock — vom lürsten Mesch-
t'>cher>ki] in seinem satirischen Ruman ,,Der Lürd-Aposlel"
gegeißelt — erschien eines Tages in der russischen Hauptstadt
und predigte den Vornehmen Buße und Einkehr; Wassili] Ale-
xandrowitsch Paschkow, ein reicher Gutsbesitzer« ward von
diesen Reden so begeistert, daß er laut die Sünden seiner
Jugend boreute und die Sekte der Salonstundisten begrün-
dete, deren Mitglieder aus den vornehmsten Kreisen stamm-
ten und die helurste Menschenliebe lehrtm; die Sekte fiel der
Nihilistenfurcht zum Opfer und wurde schon nach wenigen
Monaten ausgerottet.
Ähnlich erging es einigen Sekten, die mit d^ mystischen
Lehren des Dichters Leon Tolstoi in Zusammenhang gebracht
werden müssen, so den Sselesnowzy und Ssutajewzy. Die erste-
ren, Bauern des Gouvernements Ssmolensk, namentlich aus
den Dörfern Tschalsk und Ssemjonowsk, vereinigten sich 1893
zur Zeit der großen Hungersnot als Wohltätigkeitsgesellschaft,
da ihr Hauptzweck die l^nterstützung der Leidenden mit Brot
und Geld war ; erst als die Regierung sie verfolgte, sagten sie
sich von der Kirche los, verjagten sie ihre Popen und schufen
sich eine bessere Religion als jene, die im Wohltun ein kirchen-
und regierungsfeindliches Verbrechen sieht. Sie verwerfen da-s
Priestertum, verehren weder die Heiligenbilder noch die Hei-
ligen, da ^ie die Sichtbarkeit in religiiisen Dingen nicht zu-
geben, sut hcn den Fortschritt im sozialen und wirtschaftlichen
Leben und lehren und lernen horribile dictu lesen und schrei-
ben : die von Tolstoi herausgegebenen Volksschriften unter
dem gcniLin^amen Titel Der Vermittler"-) zeigen ihnen den
Weg zur Aufklärung: die Vorgeschrittenen lesen aber selbst
Buckle, Spencer und Mill in russischer Übersetzung, und die
1} no(|H'.;Hiiin..
._^ kj 0^ -0 i.y Google
— 209 —
Landw irte unter ihnen haben die primitiven Ackergeräte durch
englische Pflüge ersetzt.
Der Gründer der Ssutajewszy war ein Bauer, Basil Ssu-
tajew, der 18(89 im Gouvernement Twcr auftrat und die prak-
tische Nächstenliebe lehrte, die Ausübung der Gerechtigkeit
als die wahre Rehgion erklärte. Liebe und Gerechtigkeit,
diese göttlichen Elemente, müssen vor allen Üingen auch im
Leben von Mann und Frau zur Geltung gelangen ; nicht die
lügnerische Ehe hat Raum lür sie. sondern nur die freie ge-
schlechtliche Verbnidung ; und da in dieser die Liebe allein
walten soll, sind Zank und Prügeln als schwerste Sünden aus
ihr verbannt. Diese Lehren des Ssutajew klingen vne Tol-
stoische Säue, man weiß aber nicht, ob der Muschik den
Dichter beeinflußt hat oder ob Ssutajew schon ein Schüler
Tolstois ist. Es ist seltsamerweise das Wahrsdieinlidiere, daß
der Bauemapostel Ssutajew der Lehrer, und der größte Poet
Rußlands sein Jünger war. Tolstoi hat seine Lehre bekannt-
lich in zahlreichen Schriften und Traktatchen selbst nieder-
gelegt: die Nächstenliebe ist ihre Gnmdlage, tmd sie predigt
unermüdlich die Rückkehr zur Natur und zum Urchristentum,
das Glück des Menschen kann nur im einfältigen Gottesglaubcn
bestehen. Die Wirkung der Tolstoischen Lehren war eine ge-
waltige; nicht bloß seine Volksschriften und religiösen Trak-
tate, sondern selbst seine Romane wurden Ursachen zu Sek-
tenbUdungen^) : nach den Grundsätzen der „Kreutzersonate"
1) Di« Regierung Alexanders III. beabsiditigte infolgedessen iwdmal»
1886 und 1892, den Grafen Tolstoi in ein Kloster zu sperren, führte aber den Plan
nicht aus, Klöster, namentlich das von Ssolowezk am Weißen Meere, waren
IQ Kuüland seit jeher beliebte Verbannungsorte, in denen die Regierung nicht
bloO rdipöie, Modem auch vornehm» politiache Unzoiciedene. denen sie
mm LdMn ta gehen nicht den Mot hatte, wenigiteot fOr die Außenwelt anf
Lebenszeit abschloß. A. S. Prugawin hat in einem Buche ,,Die russischen
KlostcrßpfänfjnLsse" betitelt, das von Professor Renßner in Berlin auch ins
Deutsche übersetzt wurde, diese Verbannungsorte ergreitend schön geschildert.
DeneU>e mamcbe Schriltstener vevöffentiiehte 1906 in Petenbnrg im Vertag
de* „Poeixednik" eine neue Auflage seines Buches, betitelt „Die Klmler-
geiängniss« im Kampfe Regen das Sektenwesen", worin der geplant gewesenen
KinJcerkcrung Leo Tolstuis im Klostertrefänpnis«je von Snsdalj » in be<;onderer
Abschnitt gewidmet ist. Hierüber ist unter den Uterarischen Anzeigen der
Sttrtt, C«*cUclitc: der «Ocntl. Sittlidik«it in RuMud. 14
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— 210 —
entstand die Gemeinschaft der Perchowzyi), deren Mitglieder
hauptsächlich gebildete und vornehme Leute wurden ; die Pcr-
chowzy tragen Bauemklcidunj^ wie Tolstoi, arbeilen wie Bauern
auf ihren Gütern, verdingen sich auch als Arbeiter; sie ver-
abscheuen die Ehe, denn es ist am besten, meinen sie, wenn
diese sündenreiche Mcn>chheit aussterbe.*)
Vom Tragischen zum Lächerlichen ist im russischen
Sektenwesen der Weg so kurz wie nirgends sonst. Da i^ibi
es eine Reihe von Gemeinschaften, die sich von der Kirche
losgesagt haben, aber das Popentum und die meisten äußer-
lichett Gebräuche behalten und nur m Absonderlichkeiten den
Unterschied zwischen ihrem Glauben und dem der Orthodoxen
kenntlich zu machen suchen. Zu ihnen geboren die Anhänger
des Mönchs Hiob, der 1667 unter den Donkosaken predigte,
und die Sektierer von Tschemobol; diese glauben, das Ende
der Welt sei nahe, man dürfe deshalb weder Eide ablegen
noch Pässe von den Behörden annehmen; sie verehren keine
Hdligenbilder, aber statt deren das Kreuz mit dem Gekreu-
zigten wie die Katholiken. Im Troitzaldoster befindet sich ein
Bild des Erlösers, wie er vom Schmerze verklart zum Himmel
emporfährt. Dieses Bild wurde zum Mittelpunkt des Kultus
einer Sekte, die alle anderen Bilder verbannt und zu ihm
wallfahrtet man als dem einzigen verehrungswürdigen Symbol
des Christentums. ImGouvemement Ssaratow entstand 1866 die
Sekte der Zähler^), so genannt, weil sie andere Feiertagsrech-
nung einführten, sie zählen die Feiertage nicht wie die Russen;
sondern so. daß Ostern auf einen Mittwoch und jeder Sonntag
auf einen Mittv.nrh fällt. Im übrigen suchen sie das Seelen-
heil durch die Sünde. Bei meinem Aufenthalte in Astrachan
„Neuen Freien Freie" vi n ;;o. Dezember 1906 (wohl von N. Golant) cm aos-
iührliches interessantes Referat erschienen, aal das ich verweise.
*) llopxouiu.1 = die sich Räuspernden.
') Ähnlich war die Lehre der katlioUschen Seilte der l^atorcoi im drei-
zdinten Jahrhmidert. Diese erkUrten auch« sie seien in die Wdt gdcommen,
um die Bedrängten zu trösten und ilmen wa heUeo; atNiiso vereinten sie damit
die Ansicht, daß clor Ehestand ein Ehebruch sei, also verworfen werden müsse;
Ifticifer habe alle sichtbaren Dinge gesctaaüen, auch die Ehe sei Teaielswerk.
') 'IncauTtui. = der Zähler.
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— 211 —
hörte ich von einer dort existierenden Spuckersekte, bei deren
Andachtsübungen vor jeden Frommen eme Tasse Tee gestellt
wird: Der Prophet der Sekte geht von Tasse zu Tasse, spuckt
hinein, und der Trank ist geheiligt^); die Frauen der Sek-
tierer müssen zu diesen Versammlungen weißgekleidet er
sdieinen.
Auf noch seltsamere Dinge verfallen jene Sekten, die über-
haupt keine Geistlichen dulden. So behaupten die Anhänger
der Sekte der VerncinerS), <iaß von Peter dem Großen mit dem
Patriarchat zugleich alles Heilige von der Erde vertrieben
wurde; es sei in den Himmel emporgestiegen. Diese Sektierer
verneinen deshalb die Kirche und den Kultus, die Heiligen
und Heiligenbilder, die Sakramente und das Priestertum und
\crkehren nur direkt mit dem Erlöser. Kinen Schritt weiter
gehen die Xichtbetenden '\), indem sie aurh das Kreuz ver-
werfen. Ihr Apostel Zimin, ein Donkosak, lehrte, daß es vier
WeUjaiireszeiten gebe : den Weltfrühling oder die vorgottväter-
liche Zeit von der Schöpfung bis Moses; den Weltsommer, die
Zeit des Vaters Gott, von Moses bis Christus : den Wcltherbst,
die Epoche des Sohnes Gott, von Christus bis 1666, dem lün-
tritt des Schismas ; und den Weltwinter, das Zeitalter des hei-
ligen Geistes, von dem Begimi des Schismas bis ans Ende
der Welt>) In dem Zeitalter des heiligen Geistes aber sollen
«
1) Zu Zeiten des Kaisers Heuicklis V., um 1124, war in Antwerpen
ein Apostel Tantlcmus, auch Tachelinus genannt, erschienen, der vielt^ Tausend«?
Anhänger fand. Das Wasser, worin er sich gebadet oder mit di-m er sich ge-
waschen hatte, wurde von seinen Verehrern, wie die Chronisten berichten,
gierig getrunlmi. Die Frage bleibe offen« ob die Astrachaner oder die Ant
werpener Sekte das Appetitiichere wfthlto.
•) OrpmiamTitaMe.
*) Diese Jahreszeiten- Verteilung ist zweifellos keine russische Erfindung.
Schon die Valentioianer im a. Jahrhmidert kannten vier Zeitalter» nnd anch
bei ihnen entwickcltett sich infolge ihrer Leinen grafie Greuel und Laater.
Sie hielten es nicht für nötig, Gutes zu tun. sondern lebten nach ihrem Wohl-
f^efallen, mißbrauchten skrupello'* nicht bloß de;; anderen Weib, sondern
lebten auch mit ihren leiblichen Schwestern und hielten sich selbst für voll-
kommene Meuchen, aber jene fOr einfältig, die nicht taten wie sie. EKe Schfiier
der Valentinlaner, die Ptolemaei, fügten an den vier Weltaltem vier andere
hinza, und lehrten, Gott habe zwei Weiber gehabt, den Verstand und den
14*
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— 212 —
sich Gebuit, Ehe und Begräbnis ohne Zeremonien vollziehen.
Die Nichtbetenden taufen also nicht, vereinigen sich zii ge-
schlechtlichem Leben auf Grund bloßer Übereinstimmung, und
übergeben die Toten der Erde nicht auf geweihten Friedhöf en,
sondern wo immer es ihnen paßt. Nach Leroy-Beaulieu^) leug-
nen sie auch die Unstaii>fichkeit ; nach dem Tode, sagen sie,
habe alles ein Ende. Ein Zweig der Nichtbetenden sind die
Seufzenden 2); sie haben die Weltaltereinteilung wie jene, ihr
Apostel, der Schuster Tichanow aus Kaluga, der zuerst 187 1
auftrat, gestattet jedoch, das Gebet durch Seufzer zu markieren;
die Seufzer des Herzms, sagte er, sind das wahre Gebet der
Christen.3) Eine andere Sekte verzichtet auch auf das Gebet,
Willen, und mit diMen ander« G5tter gezeugt. — Simon der Zaulwnr, der
Grflnder der Simonieneraeltte, statuierte acht Zeitalter, gab «eine Maitresse
fflr den menschgewordenen heiligen Geist aus und erklärte den Gläubigen:
,,wer sich auf sie verläßt, den mache ich selig, im übrigen aber lebe jeder wie
er wolle". — Ums Jahr 1304 lehrte Almaricus zu Parts: Wenn Adam nicht
gesflodigt bitte, gäbe es keine natürliche Fortpflantung und keinen Unter»
schied der Geschlechter. Gottes des Vaters Macht habe nur bis cur Ankunft
Christi gewährt: Christi Lehre aber hörte nach Ausgießung des heiligen Geistes
auf, daher seien Taufe und Abendmahl nicht mehr nötig. Almaricus leugnete
die Auferstehung der Toten, Paradies und Hölle, und sagte: Die Liebe bringe
es zuwege, daß S&nde keine Sünde wtL — Im 14. Jalurhundert lehrte Duldnus
in Italien: Gott der Vater habe von Aniang der Wdt bis zur Ankunft Christi
regiert, Christus bloß bis zum Jahre 1300, jetzt werde Dolcinus das Reich
des heiligen Geistes aufrichten. Im Heiche des heiligen Geistes aber ist T'n-
zucht keine Sünde, und so sammelte sich um Dnlcinns binnen kurzem ein
Heer von 6000 Anhängern. Männern und Frauen. Auf Befehl des Papstes
Clemens IV. worden aber der Apoatel vnd sein Weib in Stacke zeirissen und
verbrannt. — Auch in England predigte die Fanatikerin Attawey die Variation
der uralten gnostischen Lehre: TJnter dem Gesetze regiere der Vater und
unter dem Evangelio der Sohn. Vater und Sohn aber übergehen das Keich
dem heiligen Geist in der. besten Zeit, da alle Gottlosigkeit vertrieben und
die wahre HeiligkeLt und Gerechtigkeit, die vor dem FUl bestanden, her-
gestellt werden wlliden. ' Von sich selbst sagte die Attawey: sie wflrde nimmer
sterben, sondern zu Jerusalem lauter Jesuskinder zur Welt bringen, sich mit
Christo sichtbarlich vereinigen und in Ewigkeit mit ihm regieren.
1) a. a. O. III 427.
BuAUzaHUU.
*) AhnUch lehrte im 16. Jahrhundert Paulus von Krakau: Gott mfiase
nicht mit dem Mnnde. sondern mit dem Herzen angemfen weiden« Dieser
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— 213 —
aber nicht auf das AbeiKiuiahi , zu letzterem mimiit .^le indessen
nur Rüäincn, die von reinen Jungfrauen an die Gläubigen ver-
teilt werden müssen.^) Die Sekte der Gähnenden kennt einen
noch einfacheren Gebrauch des Abendmahls; sie schreibt ihren
Anhängern vor, am Gründonnerstag den Mtmd offen zu halten
solange bis Engel ihnen zu trinken gegeben haben. Kon«
sequraterweise gibt es auch ganz schweigende oder stunune*)
Sektierer, die angeblich den Glauben an Gott, Religion und
Schöpfung gänzlich leugnen. Positives ist von ihnen, trotz-
dem sie zu den ältesten Sekten gehören, nicht bekannt, da
sie ihrem Namen entsprechend über ihr Leben und Treiben
tiefates Geheimnis verbreitet haben. Schon im achtzehnten
Jahrhundert fand man Mitglieder dieser seltsamen Gesellschalt
in Bessarabien, an der unteren Wolga, und in Sibirien. Zur
Zeit Katharinas II. wollte der sibirische Generalgouverneur
Pestel die Schweigenden zum Reden bringen; er ließ sie fol-
tern, unter den Fußsohlen kitzeln, tröpfelte ihnen brennendes
Siegellack auf den nackten Leib, aber er vermochte diesen
stummen Fanatikern nicht einmal einen Schmerzensseufzer zu
entreißen. 3) Im Jahre 1855 entdeckte man an der Wolga
einen Zweig der Schweigenden. Diese Gruppe sah nicht bloß in
der Schweigsamkeit die erste Bedingung zur Seligkeit, son-
dern ihre Mitglieder glaubten auch unermiidlich über die Felder
und durch die Wälder rennen zu müssen, um das Heil ihrer
Seele zu suchen, das sich ihrer Ansicht nach immer auf der
Flucht vor ihnen befindet. Ahnlich treibt es die Sekte der
Wanderer oder Irrenden, von der später die Rede sein wird.
Es ist möglich, daß gleich den Wanderern auch die Stummen
in ihren Ruen furchtbare Greueltaten begehen. Wie unter Katha-
Apo<trl meinte auch, es sei nicht Ehebruch, wenn man bei eines anderen
Weib hege.
1) Das ist jedenfalls nicht so schlimm wie bei jener abeudiaudischen
Sekte der Cathaxieteii. die unter das Mahl snm Abendnahbbrote mSnnfiehen
Samen mischten nnd an! diese Erfindung so stola waren, daß sie sich selbst
Ptarificati cwlcr Purgntores nannten.
») Man mnnt sie bald Mo.i'iaiiiiKJi, Schweigende, bald Bc;icwB«:Hwe,
Sprachlose oder Uloiuc, Stumme.
•} Haxthansen I ^6. — Leroy^Beanlieu III 496,
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— 2U —
rina II. wurde unter Alexander II. im Jahre 1873 der Ver-
such gemacht, aus diesen geheimnisvollen Sektierern eine Er-
klärung ihres Verhaltens herauszubringen. Die vor die Ge-
richte gesdileppten Schweigenden gaben aber auf kdne Frage
eine Antwort und ließen sich kaltblütig zur Deportation nach
Sibirien verurteilen.
Und alle diese bbher erwähnten Sekten muß man als
harmlose Erscheinungen bezeichnen im Vergleiche zu jenen
Schöpfungen, welche religiöser und erotischer Wahnsinn, die
beide nirgends so innig Hand in Hand gehen wie hier, in
Rußland hervorgerufen haben. Russische und europäische For-
scher haben nach Erklärungen für diese entsetzliche Fruchtbar-
keit von Roheit, Mordlust, Wollust und Selbstgetßelungsgier
vergebens gesucht und sich zumeist mit der Vermutung ab-
gefunden, daß sich hier und da bei den russischen Sekten un-
verkennbare Spuren von gnostischen Beschauungen nach-
weisen lassen könnten, sei es, daß diese unmittelbar vom Orient
und bereits im Mittelalter, sei es, daß sie vom Okzident und
erst seit dem Knde des siebzehnten Jahrhunderts eingedrungen
waren. Sicher unterliegt es auch kaum einem Zweifel, daß
zwischen einigen russischen und einigen abendländischen oder
morgenländischen Ketzereien Parallelen herzustellen wären.
Einmal kann man die alten Gnostiker, ein andermal die Quäker
zu Vergleichen heranziehen. Bei einigen wenigen Sekten darf
man fast von einer Nachahmung sprechen, so daß der russische -
Klerus in seinen Berichten die Sektierer je nach ihrer Lehre
mit den ahen Namen katholischer Sektierer bezeiclmct. Ich
habe mich bemuht, wo sich solche Ähnlichkeiten aufdrängen
oder solche Einflüsse tatsächhch nachweisen lassen, dies stets
in Anmerkungen zu notieren. Im allgemeinen aber erscheint
mir, wie ich wiederholt betont habe, das Sektenwesen in Ruß-
t) Mein Leitfaden »t fOr die älteren nichtrusaiadien Sekten das merk*
würdige, )etst aehan überana uitta gewonlene Bndi: ..Compendieasea IGichett-
und Ketzer- Lexicon. in welchem alle Ketzereyen, Ketzer. Secten. Scctircr,
geist!'rh.- Orden und viele tmt Kirclim-Historic dic-iunde Termini auffs Deut-
lichste erkläret, und insonderheit die Urheber und Stiflter jeder Secte ange-
zeiget werden. Denen angehenden Studiosis Tbeologiae zur Erleichterung
der Theologiae Polemlcae, wie auch Ungelehrten su einiger Beatärkung in
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— 216 —
land als ein spezifisch russisches Gewächs. Zunächst ist es
origiiuller schon durch die Vermischung mit Heidnischem;
dann ist hervorzuheben, daß anderswo kaum jemals Ausbrüche
so roh sinnlic hen Charakters und solche Massenmorde in ero-
ti'-ch-rcli^ioi^em Wahnsinn stattgefunden haben. Aber das be-
sunders Merkwürdige ist, daß sich diese Sekten immer stärker
erneuern, daß sich jede von ihnen zerteilt in zahlreiche Aste
und Zweige; kaum \ erschwindet eine von ihnen und schon
wachsen Dutzende anderer nach.
Dem Betrug und der Lüge, dem Müßiggang, der auf
Kosten der Leichtgläubigkeit fett wird, der Gesetzlosigkeit und
der Raubsucht stehen da natürlich alle 'lore offen. Neben
den Fanatikern ist Raum für die SpitzbutK u ' i, und wo Hei-
lande und Gottesmütter alljährlich massenhaft wie die Pilze
aus dem Boden schießen, da kann es auch der falschen Zaren
die Menge geben. Über die Persönlichkeiten der Dmitr),
Peter III.^), Konstantin haben sich Legenden gebildet, und die
Legenden schufen Sekten. Man erklärt den regierenden Herr-
der Erkändtniß der Wahrheit zur Gottseeligkeit herausgegeben von J* G.
H. .\ndere und verhes'^erte .\uflagc, Schneeberp. hey FuMen, ij^i "
1) Lehrreich i.st in dios._r Ik-ziehung eine intertssantt- Schrift: ;6 mo«
cuüHCKiiXT» jace-opopoi^»in., .t>n. -K»|»u.tHMi.i.\i, dyjn. u ^yjMiKoifb, uj,ianieH. iSupKOBa,
Hocna, nnorpai^ CeMeBa, 1865, worin dne Reihe moikauer Trngprophetem.
Schelm« snd Narren geschildert ist. Diese swd Dntaaul sind im Lanie gans
koner Zeit an^tanchtr
') 1770 trat in Orcl, Tanibow und Tula ein pewisser Kondrati Seiiwanow
Gottmcnsrh iind Prtpr III. auf. ah Zar und Chri.'Jtns in einer Person. Katha-
rina verschickte ihn nach Sibirien. Paul rief ihn zurück. Aber als der Schwärmer
noch immer nicht *i» der RoUe üd und Fanl «tls Sohn titnlierte^ lieB der Zar
ungnädig den Gott und Vater ins Irrenhans spenren. Alexander I. gab dem
Kondrati abermah die Freiheit, doch neuerdings spielte der Konsequente
«^Hne Rolle, nun als Großvater, weiter. Jetzt sperrte man ihn in ein Kloster,
wo er erst 1833, 112 Jahre alt. starb. — Auch in Napoleon sah ©ine Sekte einen
Gottmeoschen, den wiedergekehrten Oirbtns, der das Rddi Satans vcr-
niditate, die Leibeigensciialt aufhob, und viele ^tauben, Napoleon lebe noch
heute als Qmstns am Baikalsee und werde nochmals nach Kußland kommen,
nm es rti befreien von der satanischen Bedrückung. — Es fehlt nun noch,
liaii cme Sekte entstehe, die im japanischen Marschau Oyama. einen Gott-
memchen erkenne.
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— 216 —
scher als Usurpator odrr Antichrist, und hat den frommsten
Vorwand zur \'cr\vcigcrim^ aller gesetzlichen Pflichten, kann
seinen Glauben nicht mehr \-ereinigen mit dem Gehorsam
gegen die Behörden, man iiezahlt also keine Steuern, entzieht
sich dem MiHtärdienst, halt Diebstahl, Raub und selbst Mord,
vor allem aber die furchtbarste Unzucht, sogar Sodomie, teils
fiir erlaubte, teils für lobenswerte Dinge. Satan Beelzebubo-
witsch sitzt auf dem Throne, sagen diese Weisen, und Unter-
werfung unter seine Befehle ist Vergehen gegen Gott. Andere
wieder meinen, daß Christus leibhaftig und sichtbarlich auf
Erden regiere, aber dann braucht man gewiß nidit Menschen
zu gehorchen. In dem einen wie dem anderen Falle halt man
sich befreit von seinen Bürgerpflichten und trotzt den Staat«
liehen, gesellschaftlichen und Moralgesetzen.^) Die Emanzi-
pation der Leibeigenen hat in diesen Ideen keine merkliche
Veränderung hervorgerufen. Man muß vielmehr sagen« daß
die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen gewachsen
statt gefallen sei; der befreite Muscfaik begehrt auch Grund
und Boden. Während so einerseits das Verlangen nach einer
Verteilung der Güter immer stärker wurde und in den jahre-
langen Wirren der letzten Zeit stets neue Nahrung fand,
konnte der Glaube an die Wiederkehr Christi imd an die
Entstehung einer neuen freien Weltordnung Sekte vaok Sekte
ins Leben rufen.
Der gnostische Gedanke von der .'\ufrichtung eines
tausendjährip^en Reiches bleibt für Rußland ein unvergängf-
licher^) und nimmt hier eine originelle materielle Form an;
^) So machte es auch die S«kte der Begbardi ia Deutschland zu Ende
des 13. Jahrhnnderts, die namcntiBA ia KBla anfbnt. Sie Idbrtft: der Uenaeli
könne es in diesem Let>en so weit bringen. daB alles, ^n» er tue, keine Sfinde
mehr sei. Er brauche dann nicht mehr zu fasten \ind nicht mehr derObl%->
keit zu gehorchen, auch keine Tugenden mehr auszni'ilicn und könne huren
nach Herzenslust, deuu die Natur inkliniere zu fleischlicher Vermischung;
dagegen virsucd das Küsisen, als eine nicht von der Natur vorgesehene Leiden^
Schaft, als Todsünde verboten. — I>ie miwischen Sektierer veceinigen ^«tch-
falls ihre Sozialrevolutionären uncl agrarsozlaltstischen Tendensen mit ge>
SChlechtlicher Freiheit und Unmbundenheit.
*) Die Chiüasten behaupteten bekanntlich, diü nach <kr allgemeinen
Auferstehung ein sichtbares Reich Christi auf Erden sein und tausend Jahre
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— 212 —
die Russen warten nicht erst auf den jüngsten Tag. sondern
lassen sich das tausendjährige Reich von zahllosen Propheten
bchon jetzt zimmern. Ks gibt fast kein Gouvernement im
Zarenreiche mehr, das nicht einen neuen Christus hätte er-
scheinen sehen, namentlich die Wolgaländer erweisen sich als
überaus fniditbare Heilanderieuger ; auch das Gouvernement
Tambow, diese förmliche Sektenfabriksstätte, erfreut sich in
dieser Beziehung besonderer Bevorzugung. Im Jahre 1868 trat
hier ein gewisser Panow als Christus auf und lehrte, daß nur
jene rein seien, die ihm folgen; alle anderen aber unrein und
der Hölle verfallen. HäuBg erfährt man, daß in irgend einem
Dorfe auf Veranlassung irgend eines Propheten die Muschiks
sich zusammentun und betend die Nächte durdiwachen, um
auf das Erscheinen Christi und den Posaunenschall des jüng-
sten Gerichts zu hoffen. Läßt aber Christus zu lange auf sich
warten, so begibt man sich auf die Suche nach ihm; man
meint, er müsse schon auf £rden weilen, halte sich jedoch
irgendwo versteckt, und es sei nun die Aufgabe der Gläu-
bigen, ihn ausfindig zu machen. Zur Zeit des ersten JE^olaj
gab es in Sibirien eine Sekte mit diesem Programm ; jeder, der
sich ihr anschloß, nannte sich einen Christussucherl) und eilte
ruhelos durch Wälder und Täler, durch Wüsten und über die
Berg-c, um den Erlöser aufzustöberr! Am klügsten stellten es
die .Sektierer an, die im Jahre 1880 sich zu einer Gemeinde
vereinigten und erklärten : jeder von ihnen sei ein Selbst -
gott- ;, ein Christus; sie verehren nur einer den anderen. Emen
ähnlichen .Namen führen viele Sekten, die mit dem gemein-
samen Namen Chlysty^) vom Volke bezeichnet werden, weil
tvftlmn wdrde. Es gibt aber dreierlei Meinnitgen: nach einer soll dns taiiMnd»
jähfife Reich noch vor dem jfingiiten Tage geschaffen ^\-erden. nach der anderen
werde es mir ein geistliches, nach der dritten Ansicht aber ein fleischliches
Reich sein, worinnen alle Wollüste die Glücklichen umfangen. Die ilrittc
Gattung fand im Abendlande die meisten Anhänger, und sie ist auch in Kuß-
land die ersehnteste.
^} IleitaTei.11* XinKflft.
'} X.tt.i<Ti.i, die Ceißler, von \A''(Tmi, oder x.iuci.rrii. peitschen. Die
wichügste tlagellantensekte nennt sich auch Gottmenschen, Jwjui BoüdA,
Oder Gemeinde äm Heilaiub. xpucioBiunHa, darans machte das Volk xiiueto-
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— 218 —
bei ihnen die Geißelung obligatorisch ist. Doch bestehen
zwischen diesen Sekten vielfach große l ntcrschiede.
Die berühmteste Flagellanten- oder Chlystysekte ist die
der Gottmenschen ; sie soll angeblich schon zugleich mit der
Ortbodoxte aus Bulgarien oder aus dem Orient nach Ruß*
land gekommen sein. Andere Ansicliten halten sie für ein
Produkt des siebzehnten Jahrhunderts und bringen sie mit
dem deutschen Schwärmer Kuhlmann in Verbindung, von dem
ich schon im vcrigen Kapitel erzahlt habe. Die Gottmensdien
selbst behaupten folgendes in bezug auf ihren Ursprung: zur
Zeit Peters des Großen erschien Gott- Vater in einer feurigen
Wolke auf dem Gorodinberge im Gouvernement Wladimir,
nahm menschliche Gestalt an und nannte sich Prophet Da-
niel Filipowitsch. Er brachte zwölf Gebote mit; deren erstes
lautet : ,,Ich bin der von den Propheten geweissagte Gott und
zum Heile der Menschheit zum zweiten Male auf die Erde
herabgestiegen; es gibt keinen Gott außer mir." Einer der
ersten Befehle dieses Gottes war: seine Lehre nie aufzu-
schreiben, es sollte alles seiner und seiner Nachfolger Inspi-
ration überlassen bleiben; er warf selbst alle seine Schriften
in die Wolga. Bald nach seiner Menschwerdung vermählte
sich Daniel Filipowitsch Gott Zebaoth — dies sein voller Titel
— mit einer hundertjährigen Frau und zeugte mit die>er Sarah
des achtzehnten Jahrhunderts einen Sohn, genannt Iwan Ti-
niofejewitsch Sußlow, der als Leibeigener der berühmten Adels-
familie Nar\'schkin angehörte. Bevor Daniel Filipowitsch
wieder in seinen Himmel zurückfuhr, ernannte er Iwan Ti-
mofejcwitsch zum Heiland und bestimmte, daß beim Tode
Huuua. MancluiMl beteidmet sich diese Sekte als GeseUschmft d«r Brikler
und Schwestern, das ^'olk nennt sie dann im Anklanc: an Francma^ons: ifi.np-
Ma.ioHUM (Die Freirnaurrrei hat im eigentlichen Kuüland wenig Anhänger
gefunden, sondern ist bloß zu Zeiten Katharinas II. und Alexanders I. banpt-
«BcMich in den Ostseegouvemements vfrbKÜet worden. Nikolaj I. verfolgte
die FreimauFer fiberall, wo er wddie vermutete.) Der Ktems beseichnet in
seinen Berichten die Chlysty am häufigsten als russische Quäker. .\ußer
der l^isher zitierten Literatur sind speziell fiir die Cnttnun-^chen nachstehende
Werke von Interesse; TeKUKÜl, .lni,i,a J>ühuä ii ciwimia. ^lucunui 187^; ,1'j<^P"T-
Bopcidll, .lK>ait Bontift; A. Ilcnepcidtt (=3 Meaunionb), Bh foptxu
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— 21» —
eines Heilands stets ein neuer bestellt werde, auf daß Christus
in Menschengestalt immerdar auf Erden wandele. Iwan Ti-
mofejewitsch, der erste Christus der Chlysty, wählte sich zwölf
Apostel und predigte an den Ufern der Oka die zwölf Gebote
seines Vaters Zebaoth Daniel Filipowitsch. Die das E\an-
gelium parodierende Legende erzählt weiter, daß Iwan ge-
fangen, gegeißelt, gefoltert und vor der Kremlpforte hinge-
richtet wurde. Am Freitag begrub man. ihn, aber in der
Nacht von Sonnabend auf Sonntag ist er auferstanden. Man
nahm ihn abermals gefangen und kremigte ihn zum zweiten
Male; um sein neues Auferstehen unmöglich zu machen, wurde
er geschunden. Ein Weib, das des Weges kam, warf ein
Leichentuch auf den geschundenen Leib und das Tuch ward
zu einer neuen Haut, und so konnte Iwan abermals auferstehen.
Er blieb dann lehrend unter seinen Anhängern, bis er in den
Himmel emporstieg; vorher hatte auch er einen Nachfolger
gezeugt. Denn obwohl die Gottmensdien die Ehe verdammen
als etwas Unreines, so ist es doch Pflicht des jeweiligen Christus,
sich zu vermählen, damit das Blut des Daniel Filipowitsch nicht
versiege und sein Same sich fortpflanze in alle Ewigkeit. Die
Erbschaft Daniels kann auch durch Adoption verpflanzt oder
auch auf eine weibliche Linie übertragen werden. Ks hat
so jedes Mitglied der Sekte, ob Mann oder Frau, die Aus-
sicht auf die Heilandschaft, und deshalb betrachten sich die
Gottmenschen alle zugleich als Heilande in spe und zollen
sich gegenseitig \'erehrung, wie die früher erwähnten Selbst-
götter. Wenn die Erbschaft Daniels einer Frau zufällt, so
wird letztere die Gollgebärerin genannt, Muttergottes, oder
auch Göttin.^) Mit Vorliebe erhebt man hysterische Weiber
zu diesem Ehrenposten. Im Flecken Slarojc bei Kostroma
lebte zu Ende der Regierung des ersten Nikolaj ein Mädchen
l'ljana Wassiljew-}, die von den Gott nienschen als letztes Glied
der i arnilie Daniels betrachtet und als heilige lungfrau ver-
gutllicht wurde. Der Kaiser lieü die Göttin in ein Kloster
einsperren, doch übertrugen die Gottmenschen nunmehr ihre
Ik'rujKOltua oder i>onuui.
S) Leroy-BeftoUen ft. a. O. III 435.
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— 220 —
Verehrung auf das Dorf Staroje selbst und wallfahrten seit-
her dorthin, ebenso wie nach dem historischen Hause in Mos-
kau, in dem einst Daniel selbst gewohnt hat; in Staroje be-
findet sich ein Brunnen, aus dem zur Winterszeit nach allen
Richtungen das zu Eis gewordene Wasser verfrachtet wird,
das den Gottmenschen zur Bereitung des Abendmahlbrotes
zu dienen hat.
Die Rolle der russischen Frau im Sektentum ist eine be-
merkenswerte. Das Weib» im allgemeinen das Lasttier des
Aluschik, die Sklavin des Sklaven, die man beim geringsten
Anlaß halb tot prügelt, tritt bei den Sekten als frei und
gleichberechtigt auf, als gewänne sie mit der von diesen Sekten
zumeist proklamierten Geschlechtsfreiheit auch die soziale Un*
abhängigkeit. Bei vielen priesterlosen Sekten können Frauen
die Stellungen der Ältesten erhalten, und dort, wo Taufe und
Beichte noch bestehen, taufen und die Beichte abnehmen.
Frauen sind auch Sektenstifterinnen. wie die Prophetin Marfa
Possadniza, die zur Zeit des Zaren Alexej im Gouvernement
Nowgorod eine Gemeinde von Flagellanten um sich versam-
melte, oder Xenia Iwanowna, die um 1880 unter den Don-
kosaken eine asketische Sekte gründete, deren Mitglieder b'u h
die Enthaltsamkeit vom Fleischgenusse und von fleischlichen
Genüssen gelobten. Ähnliche Prophetinnen gab es eine
Menge.^) Hervorzuheben wäre auch, daß die meisten ero-
1) Auch im katholischen Sektenwesen haben viele Frauen Prophetinnen-
rollen inne gehabt. Ich erwähnte ^chon früher, daß Simon der Zauberer seine
Konkubine Selene als den heüigeu Gt^ist ausgab. Agap«, „ein eriahren aber
varffihnf&ch Weib" ans Spanien, gründet« im 4. Jfthidmndiert di« liebw»
sekte^ deren Ifitglliedar nnr Fnoen waren und sieb Bet» oder Liebeeachwestern
nannten. Der Ketzer Apelles, wdcher lehrte, daß dem höchsten Gott noch
rin feuriger Gott unterworfen sei und d.iß dieser t'ntcrpott es war, der dem
Moses im Busche erschien und den Israeliten das Gesetz gab, ließ seine Lehre
durch die Hure Philomena verbreiten, die er «ur Ptopbetitt erUirt hatte.
Ein Zweig der Montanisten nannte sich Pepusiani nach dem Orte Pepusa in
Phrygien, wo Montanus mit seinen beiden llaitressen und Prophetinnen
Quintilla und IVi-^cilla üich oft aufgehalten; Pepura hieß bei den Montanist»-'n
das himmlische Jerusalem, weil hier Christus m Frauengestalt den beiden
Prophetinnen erschienen war. Nach der Priscilla hiefi eine montanistiscbe
Sekte die Rtiscällianer und eine andere nannte sich nach der Quintilla die
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— 221 —
tischen und Geißlersdcten Rußlands im aditz^mten Jahr>
hundert entstanden, in jenem Sakulum, wo fast nur Frauen
herrschten.
Wahrend sich den rationalistischen und idealistischen Sek-
ten zumeist Bauern und Kaufleute anschlössen, rekrutieren sich
die Mitglieder der erotischen Geißlersekten auch aus den höhe-
ren Klassen. Historische Dokumente zahlen unter den bei Verf
gungen der Regierungen aufgefangenen Geißlem Namen von
Bojaren, Fürsten, hohen Militärs, Staatsmännern und auffallend
• vielm vornehmen Damen auf ; auch die Geistlichkeit der ortho-
doxen Kirche verließ in Massen heimlich ihre Klöster, um sich an
den religiös-sinnlichen Ausschweifungen der Geißlerbrüder und
Geißlerschwestem zu beteiligen. In Moskau war früher das
sogenannte Jungfcmkonvikt (a'^bu^üM o6HTenb) berüchtigt
als ein Zentrum des Flagellantenwahnsinns. Im Jahre 1744
wohnte die Fürstin Darja Feodorowna Chowanskaja der \'^er-
sammlung einer Fbgellantensekte in der Nähe von Moskau
an^): Männer und Frauen befanden ^^ich hier in buntem Durch-
einander. Plöt/lich erhob sich aus ihrer Mitte ein Kaufmann,
der unter Zru hcn lebhafter Frregung sich um sich selbst zu
drehen anfnig und dabei bchne : „Höret mich, der heilige
Geist spricht durch meinen Mund ! Betet die Nacht hindurch.
Begehet keinen Ehebruch, geht weder zur iauie, noch zur
Horhzeit, trinkt nicht Wein noch Bier!" Dann hielt er still,
verlangte Brot uikI \\ asser, segnete es mit dem Zeichen des
Kreuzes und verteilte es an die Gemeindemitglieder. Endlich
begannen alle nach seinem Beispiel einen Drehtanz, fingen an
zu springen, sich mit Stöcken zu schlagen und selbst mit
Messern zu siechen. — Die Zarin Anna Iwanowna hatte, um
dem Unfug zu steuern, die Leichen einiger Flagellantenhei-
Ilgen, an deren Gräbern die exaltierten Pilger entsetzliche Or-
Qnintülian»; dte leUteren «dnünistrierteii das heilige Abendmahl mit- Brot
und Käam und machtMi der Prophetin QnintUIa to Ehren ihre Weiber zu
Priestern unii BischMen. Auch der französirsche Jesuit Lrxbadii-, der Stifter
der I.ahaiiistcnscktc, führte Huren al« Prophetiuncu mit sich. Bekannt ist,
welche große HoUe eine Bourgignuii, Muritzin, Butler und Krüdencr im Sekten-
«cwn nnd Myttidsmns des Abendlandes spielten.
Walistewski. La deniiire des Romanov, 210.
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
— 222 —
gien feierten, aus den Särgen reißen und durch den Henker
verbrennen lassen. Aber der Fanatismus der Flagellanten
virurde dadurch nur noch mehr angefacht; namentlich unter
der Geistlichkeit wuchs die Zahl der pbantastiscfaen Schwär-
mer: in den sieben Jahren von 1745 bis 1752 wurden nicht
weniger als 75 Priester, Diakonen, Mönche und Nonnen als
Flagellanten verfolgt.
Die Zahl dieser Art Sektierer ist heute ins Unüberseh-
bare gewachsen. Die Lehre der Geißler besteht darin, daß
man die Sünde durch die Sünde tote, und diesem Prinzipe haben
sich immerdar die Mensclieu wiilfäbrisr gezeigt. Derartig-e
Ausschweifungen wurden besonders jenen Flagellantengrui)pen
nachgesagt, die sich aus den höheren Kreisen ihre Mitglieder
zusammengesu( ht hatten. So waren das früher erwähnte Jung-
fcrnkloster in Moskau, ferner das Iwanowskv kloster bekannt
als Stätten, wo die CT;i]iimi,i und die B-fenimu, sowohl die
Alten, die Prophetinnen, die Nonnen, als die Weißen, die
Novizen, in wunderbarer Weise Rehgion und Krotik. Mystik
und Wollust zu verejuigen wußten; und deshalb wurden diese
Gcißlerklüster besonders häufig von mystisch-erotischen
Schwärmern aufgesucht. Im Jahre 18 17 entdeckte man, daß
im kaiserlichen Michaelspalaste m Petersburg, in der Woh-
Die GnostäEcr und Manieb&er Murten dto Krauigiuig des Fleisches.
der bösen Lüste durch die Sünde. Pelagim md tein Schüler Cölestus sagten,
daß Adam «schon vor dem Falle sterblich gewesen und daO also nicht die Sünde
Ursache seines Todes war. Die Nicolaiten, femer die Anhänger der Epiphanias,
Augustinus. Aeneus Alexandrinns und Eusebius erUÄrten: fieiwlificl» LUftttt
and Humei aeieii nicht Sflnden. Dw Aatitacti hidteii die Erbettnde fOr nach-
ahmungs- und belohnungswürdig „und wälzten sich, indem sie sich nu£ dieSM
fdlschf Prinzipium gründeten, in allen T,a«stprn sonderlich der Hurercy".
Die Borboritae, eine gnostische Sekte ini zweiten Jahrhundert, deren An-
hänger sich mit Kot besichniierttu, um zu zeigen, daß der Mensch ein Greuel
ihr Gott eei, tilhrten daa echfindlichftte Leben. Die Pateninaisektienr nsnnte
man wegen ihrer tmerhörten AusschveifnnfBn anch Venustiani. Aetins Athens
lehrte im 4. Jahrhundert, die gröbsten Laster seien entschuldbare Natur-
wirkun^^cn; Hurerei und fleischliche Werke, sagte er, sind keine Sünde. Marga-
retha Porreta, die anno 1210 verbrannt wurde, hatte ein Buch gesclu^ieltcu
de» Inhalts, daB ein Uenadi, der sieh der liebe de* Schöpfers ganz ergeben
bitte, alle* tun dfirfte« wonach sdn Her« gelflatete, ohne ffirchten sa messen,
daO Gott dadurch beleidigt werden könnte.
._^ kj Google
— 223 —
nung der Hauptmannswitwe Tartaiinow, sich regelmäßig hohe
Offiziere und Beamte, Leute dienenden Standes, Frauen und
Mädchen aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen versam-
melten und Bußübungen mit Geißelungen abhielten. Unter
den Teilnehmern an den Tarnen und Flagellationen befand
sich auch der Minister für Kultus und Volksaufklärung, Fürst
Galitzyn. Die Gedanken, die hier verbreitet wurden^), ent-
sprachen den mystischen Lehren der Madame Guyon und Jung-
Stillings, und die vorgetragenen Gesänge waren Nachbildungen
Derschawinschcr Gedichte. Aber diese Schwärmereien blieben
nicht platonisch, sondern arteten in Orgien aus. Die Gesell-
schaft wurde aufgehoben und verboten; doch zwranzig Jahre
später überrumpelte man in einer Vorstadt von Petersburg
dieselbe Sekte mit fast denselben Mitgliedern. Sie bestand
auch noch 1849 und hatte damals den populären Namen Ada
miten-;. der die \'orgänge bei den Versammlungen und Gottes-
diensten genügend bezeichnet. 1840 hatte man eine ähnliche
Gesellschaft auch am Wassertorc in Moskau ausgehoben.
L«roy«Beaiiliea III 443.
*) Der Begründer der Adamitenscktc in der katholischen Kirche war
Prodicus, Schüler drs Cirpocrates; er lehrte, daß sich hckle Geschlechter öffent-
lich vermischen dürfen und forderte Weibergemeinschaft. Seine Anhänger,
denn Zahl schon bei der Begrftndung der Sekte im a. Jahrhnodert eine große
war. hieScn Prodicianer oder Adandten, letzteres deshalb, iraü sn ihren Ver-
sammlungen Männer wie Fraaen nackt erschienen. Dadurch sollten alle
l)ösen Lüste ertötet werden. Es geschah natürlich das Gegenteil. Trotz aller
Verfolgungen blieb diese Sekte bestehen. Im 12. Jahrhundert entdeckte
man sie in Antwerpen, im 16. in Amsterdam, im 14. und 15. in Frankreich.
Rabdais erwähnt in seinem Roman „Gargantua and Bantagrad** (aus dem
Französischen von Gottlob Regis, Privatdruck München 1906, I. 7. Anmerkg» 3)
die Tlrolupins, eine Sekte, deren Anhänger nackt im Lande umherzopen und
alles offen trieben was sonst der .\n3tan(i verbirgt. Gregor XI. belegte mc
mit dem Kirchenbamn. Das Wort Tirelupm gewaim später die Bedeutung
eines Poisenreiflers and wird von Rabelais aneh in solchem Sinne angewendet.
Der Kirchenbann vertrieb diese Adamiten nicht ans Frankreich, denn im
i'. J.ihrhnndert erschienen sie wieder /ahlreich unter dem Namen Piccardicr,
nach ihfT'i Oberhaupt Piccard au>5 'Irr I'i f ardie; Piccard gab sich für Gottes
Sohn Adaui aus, der auf die Erde gesaiuit worden war, um daß Naturgesetz
ciatDfflhren. Piccard hldt sich bei H«B in Bdhmen auf; liier wurde er wegen
Plfindemnfen und Mordtaten mit seinen AnhiUigem tum Tode verurteilt.
bigiiizca by Google
— 224 ^
Es gibt wohl einige Geißlersekten, die wirklich nur aus
frommem Walmsinn sich kasteien und streng das Giesete der
Keuschheit beobacliten. So berichtet man von Männern und
Frauen, die sich bei ihren Versammlungen bis zum Gürtel ent
kleiden und, barfuß auf scharfen Kieseln stehend, solange auf
ihren Rücken losschlagen, bis sie kraftlos zusammenbrechen. ')
Andere Chlystv tragen zur Abtötung des Fleisches alte Panzer-
hemden aut dem })loßcn Leibe oder Hemden aus Pferdchaaren.
Haxthausen sah einen Geißler, der auf der Brust ein kleinem
metallenes Kreuz und auf dem Rücken ein Bild trug; beide
Stücke hingen an einem ledernen Riemen um den Hals imd
Dw Mhnuschen %fider bat man mit Uimdit mit dan Pkckidiom auf eine
Stufe gestellt. Eine berOhmte Adamiteasdcfee existierte auch in Wien ; sie bidt
ihre Versammlungen in den Katakomben su St. Stefsu« Von russischen Sekten
licfolpcn nii0er f^er frwfihntrn PrtfrsbTirper Gr'ipp** noch zahlrocbe andere
neben ihren separaten Verrücktheiten die Lehre des Prodicus.
Dia Sarabaitae im 4. Jahrhundert, die als Einsiedler in Felaenhfihlen
Ägyptens lebten. pHegten Abnlidi mit nackten FOBen auf spitien Steinen
stehend und unter (iciOelungen ihren Gottesdienst su verrichten. Heüige,
die nackten FuBes durch die Welt wanck rn, galten immer als wirkliche Fromme.
Von einem solchen Heiligen y>erichtet Hi;im, nach Rn<?sow. in üeiner mehr-
fach zitierten Geschichte, der baltischen Provinzen S. 209: ,,Im Winter Anno
1557 ist ein sdtaamer Mensch, namens Jorgen* anS Hocb^Tentschland in
Lyffland koaunen. Ist gsnts nackend, bsrfns gangen. Es hat dieses alle Leute
wunder genommen, daß ein IIoch-Teutschcr, der der großen Lyfländischen
Kälte ungewohnt, so eine schwere Kälte gantz nackend vertragen könte.
Und wie wohl er keine StnUnpfe und Schuhe angehabt, sind ihm doch seine
Fflfie so beiß gewesen, daB der Schnee unter seinen Fnflsoblen. da er gestanden»
aefsclunottsen ist. Hat kein Gesehenk angesehen und keine ^teise nehmen
wollen. Er hätte sie denn erstlich mit Arbeit verdient. Hat allerhand Kncch-
tischtr Arbeit verrichtet, nnd rwar an einem Tage so viel, als ihm sonstcn
kein ander in viel Tagen nachthun können Als er geiragt wurde, worumb
er in Lyfland gekommen wäre? gab er sur Antwort: Gott hätte ihn gesandt*
der LyflSnder Geits. HoCtert und Mflasiggaag sn straffen; welche Laster er
auch allenthalben gestrafft t liat. Ging daneben fleißig rur Kirche, hörete.
was gepredigt wurde: und als ihn die Priester umb etwas tra)?ten. schalt
er sie vor Heuchler. Ethche hielten ihn vor einen Unsinnigen: EtUche vor
einen Plnmtaaten: Etliche aber sprachen: Er wäre ein Wunder-Zeklien Gottes.
AlO er von Reval nach Narva rdsete, hat er sich vertohren. Daher man sagen
wil : Er sey von den Russen umbgcbracbt worden." — In russischen Chroniken
und Geschichtsb&cbern ist von diesem nackten Heiligen keine Erwähnung
gethan.
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— 285 -
wurden glddueitig durch zwei kleine Ketten verbunden, die
unter den Armen durch die Haut' gezogen waren. Die Zahl
wirklicher Asketen ist aber auffallend gering, während die
der erotischen Flagellanten Hunderttausende beträgt.
Das russische Volk ist entsprechend seinen Gefühlen und
seinem ganzen Charakter wie geschaffen für jenen Mystizis-
mus, der Religion mit Wollust verknüpft. Das Heidenchristen-
tum des Muschik sieht in der vollen geschlechtlichen Frei-
heit einen Lohn und Ersatz für tauserirl;ähriges Leiden, und
für die Blasierten der oberen Zehntausend, die nicht mehr nach
Herzenslust die Sklaven peitschen können, ist die Sclbstg<"iRr-
lung Mittel ni neuen Reizungen der Sinne. Aus diesen rohen
Gründen gibt es auch bei den Geißlersekten wernger Lehren
und mehr Zeremonien. Sie plagen sich nicht ab mit mysti-
schen Motivierungen und präsentieren gleich frank imd frei
die grausamen und sexuellen Genüsse, die sie zu bieten haben.
Mit Tänzen und Gesängen wie in einem gucgeleiteten luigel-
tangel unci liordell beginnen die reizvollen Übungen. Zumeist
bestehen die Tänze in Drehungen wie sie die tanzenden Der-
wische im Morgeniande ausführen : Die Tänzerinnen und Tänzer
bleiben auf den nätien« blicken hypnotisiert nach dem Bilde
einer weißen Taubem das an die Decke des Versammlungs
saales gemalt ist, und drehen sich mit ausgebreiteten Annen
unennüdlich um sich selbst herum, anfangs langsam, dann
immer schneller, zum Schlüsse in rasendem Tempo, so daß
die weißen Röcke, die alle bei der Zeremonie anhaben, rad-
maßig mitfliegen. Im Augenblicke der höchsten Ekstase be-
ginnt ein Schreien und Rufen; jener betet zum Gotte Daniel
Filipowitsch ; dieser fleht Iwan Umofejewitsch Christus an; eine
Frau bricht verzückt zusammen und stößt Laute hervor, die
ihr Gott eingibt. Einer nach dem anderen und eine nach der
anderen fallen aus den Reihen, bis Erschöpfimg, Ohnmacht
und Starrkrampf für eine Weile die ganze Versammlung um-
fangen. Aber die Wüdheit ist nur für kurze Zeit erloschen
und wird wieder aufgestachelt durch Geißelungen mit Ruten
oder durch Berührungen nackter Körperteile mit den Flanunen
der Kerzen. Und von neuem beginnt das erregte Tanzen um
einen mit Wasser gefüllten Bottich, dem die Auserwählten
Sftero, G«MMcbl« d«r OffcaU. SittUcbkcft in RuMwid. 15
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— bBo —
in ihren Halluzinationen Christus leibhaftig entsteigen sehen.
Nadi vollendeter Zeremonie bleiben Männer und Frauen bis
sum Anbruch des Tages in winem Durcheinander liegen.^)
Die unter dem allgemeinen Namen Chlysty oder Gdßler
zusammengefaßten Sekten bestehen eigentlich, wie schon früher
angedeutet wurde, aus vielen Gruppen von Sekten, die nur
das eine Prinzip der Verknüpfung von Religion und Wollust
gemeinsam besitzen ; im übrigen aber hat jede Gemeinde, die
sich als RopaGnb, Schiff, bezeichnet, ihre separaten Zere-
monien, ihre eigenen Oberhäupter, ihren eigenen Christus und
ihre eigene Gottesmutter. Von den Lehren der Flagellanten
ist, wie bemerkt, nicht viel zu sagen, denn sif haben offenbar
keine, soridrrn beschränken sich auf die Wirkung ihrer sinn-
lichen Zeremonien und finden dafür genug Teilnehmer. Die
brutalsten Abarten der Chlysty sind die alb Skakuny und Pry
guny-» bekannten Sektierer. Sie unterscheiden sich von den
Tanzenden dadurch, daß sie springen oder hüpfen, wenn sie
sich in Erregung versetzen wollen: während ferner die ( hlysty
einzeln tanzen, springen und hüpfen die Skakuny und I'ry-
guny immer paarweise, je ein Mann mit einem Weibe. Bei
ihnen ist alle Mystik, alle idealistische Bemiintclung der Sinn-
lichkeit völlig entschwtmden, der tierische Schrei nach rohe-
ster Geschlechtlichkeit hat das Gebet ersetzt, und die Sehn-
sucht nach dem Abendmahl ist verwandelt in heißen Genuß
leidenschaftlicher Liebe. Jene, die selbst bei den Chlysty noch
wohlwollend nach einer sympathischen Eiklärung der ToQheiten
suchen, und nur widerstrebend an die Ausschweifungen glauben
wollen, von denen man ihnen berichtet hat, sie müssen bei
den Skakuny und Pryguny alle Rechtfertigungsabsicht von
vornherein fallen lassen. Nicht einmal von einem theoretischen
Asketismus kann die Rede mehr sein, sondern die nackte Un-
zucht ist acur Gottheit erhoben, die Sünde an sich Gesetz und
*) Man imifi hiorbei ui die Sekte denken, die in Deatechlnnd um des
Jahr 1333 «adstierte ond denn Mtglieder sieh Condannientea. die BeSsammen-
sdilalendeii, nannten. JnagsneUen und Jungfiranen wurden abends zu-
•ammen in ein Zimmer eingesperrt und erst in der Morgenfrdhe wieder befreit
•) CiCBKjBb, der Springende, der Springer; I^nbirvBi», der HUpfer.
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~ 227 —
Zweck. Statt der wenigstens anscheinend andachtigen Ge-
sänge gibt es nur noch obssone Lieder, die unverhiillt zu fleisch-
licher Vermischung auffordern, oder Vorträge solcher Bibel-
stellen, die sich auf die Geschichte Loths und seiner Töchter,
auf das Harem Salomos und andere Schlüpfrigkeiten be-
ziehen.*^) In einer Skakunygemeinde zu Rjäsan forderte die
Muttergottes mit folgendem Liede die jungen Mädchen auf,
sich an der Liebe des Heilands zu ergötzen: „Nahet euch, ihr
Bräute, sehet, der Bräutigam kommt, euch liebend zu um-
fangen. Lasset euch nicht vom Schlafe übermannen, wachet,
ihr Tochter, und lasset euere Lampen brennen !" Ihre Haupt-
versammlungen halten diese Sektierer gewöhnlich zu Ostern
in der Nacht \ on zwölf Uhr angefangen. Charakteristisch ist,
daß bei allen Schiffen oder Gemeinden der Chlysty, Skakuny
oder Pryguny ein Wassergefäß in der Mitte des Saales auf-
gestellt wird. Ob dies eine besondere Bedeutung hat, oder
nur zur Erfrischung der i an/.endea, Hüpfenden und Spruigen
den di<'nen soll, bleibt eine offene Frage. Nach dem Tanzen,
Hüpfen und Springen werden bei einigen Gruppen dieser Sek-
ten die Lichter verlöscht 2) und es begiimt das Sündigen im
1) „Sie verachten den Körper, dea sie in ihrer manichäischen DenkmigB'
art oft geradtts als Schöpfung des Tenfds batnehteii, so wthr, daß sie sich
als plumpe Myatiker leicht ftbenedeB, die von Gott aadi «einem Ebenbilde
geschaffene Seele könne fiberbaiipt durch keine noch so nnreine Handlang
dos Körpers befleckt werden." I.eroy-Beaulieu TTI 444.
8) Jonas Hanway gibt nach Olearius und Otter in der „Beschreibung
seiner Reisen von London durch RuBland und Persien". Hamburg und Leipzig
1754. I a83 folgende SduMening einer fthnlichen mcribammedanischeB Seirte,
welche Moum Seundurain oder Auslöscher der Lichter genannt wurden: ,, Diese
sind das Gegenteil von den römischen Matronen, die den fjehcimen Gottes-
dienst der Bona Dea verwalteten, wclchuu es für die größte I nheiligkeit an-
gesehen wurde, Maonsperäonen in ilue Gegenwart zuzulass^u. Zu deu Ge-
hrinclien der Mionm Senndnxain sind beyde Geschlechter nothwendig. Diese
venammlen sich, essen nnd trinken tapfer, löschen unter tiefem StiUa^iweigen
und mit großer Feyerlichkcit ihre Lichter aus. verwechseln ihre Stellen durch
einander, und werfen alle \ür2ügc vernünftiger Creaturen bey Seite. Ob-
gleich die mohammedanische Religion vor allen anderen Religionen in der
Welt ihren Bekenncrn den Vennsdienst naduieiht: so ist doch diese Stete
mehr als einmal verfolget worden, und wird von den Mohammedanern gar
sehr vemhaeheoet'*
i$*
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— 228 —
Gedränge^): jeder Mann sucht eine Frau zu ergreifen, um sich
mit ihr zusammenzuwälzen, wie sie sagen. Nach ihrer Mei-
nung ist auch die Blutschande keine Sünde. Man findet die
Springer und die Hüpfer hauptsächlich in der Umgebung von
Petersburg und ist deshalb vielfach der Ansicht, daß ihre Ur-
heimat in Finnland sei. Eine positive Berechtigung zu sol-
cher Annahme ist von niemandem erwiesen worden. Die Ska-
kuny wurden zuerst unter Alexander 1. erwähnt, der sie aufs
strengste verbot. Aber '.ie tauchten bald wieder massenhaft
auf. Im Jahre 1867 lieb ihnen Al^-xander II. neuerdings den
ProzeLS machen, weil man entdeckt hatte, daß sie nicht bloß
Unzucht trieben, sondern auch Knider mordeten. Durch diese
Handliini;en grenzen die Skakuny an jene furchtbaren Sekten,
die im nächsten Kapitel vorgeführt werden.
12. SelbstVerstümmler und Skopzen.
Die Religion der Ehelosfn — Das Weib vom Teufel geschaffen — Verwerfung
der Zeugung — Ausschweüungen gott|[eiäUig — Die Sekte Seraphims —
Hurerei Religionsgeeels — Ftoie UUbt — Die Sehaloputy oder ateieehwi
Kftnxe — Frau und Mann im Geiste — Bauer und Arbeiter in ihrer Steilnag'
nähme zur Ehe — Lehre det ]^ioii]Mleil Korilin. daß Sodomie gottgefällig —
Los der unehelichen Kinder — Kindermord — Die Skopzy oder Verschnittenrn
— Ohgines — Die Valerianer — Die Gebern — Iniibulation des Zeugungs-
gUedea — L^enden der Skopzy — Des Propheten Saeliwanow wahre Lebots-
geechichte — Die Gottesmutter Aknliita Iwaaowna — Die Lehren der Skopsy —
Kastration Religionsgesetz — Versammlungen der Skopzy — Arten Oicvi
Tanzes — Sadistische Orgien — Feuertaufe und lieschrmiclungstaufe — Grade
der Reinheit • .\rtcn der Operation — Ersatz tles Zeugungsgliedes — Ver-
stümmiungen der Brüste und der Geschlechtsteile der Frauen — Die Rekruten
der Skopceneekte — Die Zahl ihrer Anhänger — Vermehrung durch Propa-
ganda — Verheiratete Skopzen — Proetitution der Skopzenfrauen gertattet —
Gekaufte Kandidaten der Kastration — Kindermord als Kulthandlurp — Da»
blutige Abendmahl — Neue Märtyrer — Opferung der Muttergottesbrust —
Die Kmdcrmörder — Die Feodosianer — Waisenhäuser für die Kinder der
Fepdoaianer — Die Totschlftger — Die Würger — Die Lebendveratorbeoen —
Die unter dem Boden Lebenden — MArderaekten — Die Kitzler — Selbtt>
laArdendEteD — Filipon — Sdbetverbremier — Domitian — Srhapnichnikow
1) Man hat hieriür den ipeaeUen Ausdruck: csaabKUit rpbn.
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— Murelschtschiki — juscbkow Vater und Sohn — Der himmlische Tod
durch das Beil — Der selige Hungertod — Malewan und seine Anhänger —
Die wilde Sekte der Wanderer.
Wir sind auf der tiefsten Stufe des russischen Sektenwesens
angelangt : und stehen an dem unermeßlichen Abgrund
menschlicher Barbarei, vor den grausamsten Rätseln, die Wahn-
sinn und ünsittlichkeit in innigem Bunde jemals gezeugt haben.
Fast möchte man an Methode im Wahnsinn, an Konsequenz
in den sexuellen Verbrechen glauben. Denn folgerichtig ent-
wickelt sich eines aus dem anderen, an die Verachtung aller
moralischen und bürgerlichen Gesetze, an die Beseitigung der
Kirchenzeremonien, der Kirchen und des Priestertums reihen
sidi die Absduiffung der Ehe, die Proklamiemng der zügel-
losen geschlechtlichen Freiheit; zum Schlüsse gelangt man
zur Verneinung des geschlechdichen Verkehrs überhaupt, zur
Verstümmelung der Geschlechtsteile, zur Vernichtung der Zeu-
gungsfähigkeit, zu Kindeimord, Mord und Selbstmord. Und
allen diesen Prinzipien gemeinsam ist das Erotisch-Sadistische.
Es gibt Sekten, die jeden Verkehr zwischen Mann und Weib
verdammen, die weder von einer ehelichen, noch von einer
außerehelichen Liebe etwas wissen wollen; ihnen ist nicht bloß
die Ehe ein Greuel, sondern das Weib an sich ein unreines,
vom Teufel geschaffenes Wesen mit dem man keine wie
immer geartete Berührung haben soll. Aber auch diese as-
ketisch angehauchten Sektierer erliegen der fleischlichen Ver-
suchung, sobald sie an sie herantritt, und trösten sich dann
1) Ein altt-r Gedanke der Gnostiker und Manichäer. Schon die Ketzer-
propheten Andromcus und Severus im zweiten Jahrhundert verwariea den
Eheetand vntar dem Vorgeben, an einein Weibe td nnr der oben TeQ
ran Nabel von Gott, der untere Teil aber vom Teufel geechaifen worden.
Die Faterniani oder Venostiani des fünften Jahrhunderts spannen den Ge-
danken weiter und erklärten: Die unteren Teile sowohl der Weihor wie d«r
Männer sind vom Teufel geschaffen; diese Sektierer folgerten daraus, daß
Geilbot nnd Ausschweifung nidtl Sflnde mkia, und lablaa eo vtts&chtig, dafi ■
man ibnen den Bdaamen gab: Ethioproskoptae, Sitten verhMiner. Am wei-
teren ging der spanische Scktengründer PriscÜlianus, der die ganze Welt als
vom Teufel (^e^rhriffen ansah, daher den Ehestand verwarf und die ITnTiicht
zum Gesietzc erhob. Er wurde wegen furchtbarer sexueller Verbrechen, die er
als Gebote seiner ReUgion er klarte, hingerichtet.
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leicht mu dem Gedanken, daß sie in solchem t alle das kleinere
von 7\vei Übeln gewählt hnhen die ^röh'^te Ausschweifung,
sagen sie, ist noch immer verzeihliciier als die reinste und beste
Ehe; wer eine Ehe eingeht, ist unauflöslich an die Sünde ge-
fesselt, wer aber einer vorübergehenden noch so schlimmen
Ausschweifung sich ergibt, dem bleibt die Möglichkeit offen,
durch Kinkchr und Buße die momeniane V ciiiiang wieder
gut zu machen. Diese so seltsame Askese, diese strenge Lehre
der Verwertung der Ehe bedeutet also nicht gleichzeitig ein
Gebot der Enthaltsamkeit, ein unbeugsames Gesetz ernstei
Zucht und Sittsamkat. ..
Aus dem Schisma entwickelt sich als letzte Wirkung der
religiösen EntartuAg der Kultus rohester Sinnlichkeit; das
Dogma der orthodoxen Kirche wird ersetzt durch ein System
von wilden Ausschweifungen, worin kein Platz mehr ist für
fromme Zeremonioi, sondern Platz nur für die Riten der Ob-
szönität. Wenn die Orthodoxen ihre Seligkeit im Nebel des
Weihrauchs zu sehen vermeinen, so finden die Sektierer, die
wir jetzt kennen lernen werden, ihr Glück im Dunste, den
der WoUustfanatismus erzeugt. Der Mystizismus beherrscht
die Kirche wie den Raßkol; in der Kirche verwirrt er aber
bloß die Seele oder die Phantasie; im Sektenwesen verwirrt
er das Herz, erzeugt er die Verderbnis des Fleisches. Mit der-
selben Innigkeit, Verzückung, Rauschigkeit, mit welcher der
Orthodoxe vor dem Bilde der Muttergottes kniet, betet der
Sektierer zu der in Fleisch und Blut vor ihm stehenden hei-
ligen Jungfrau, die er sich selbst erkoren hat, und berauscht
sich an den Genüssen dieser Welt, mdem er sich in seinem
systematischen Wahn dadurch die Seligkeit der anderen Welt
zu gewinnen glaubt. Man verwirft brutal die Ehe^) und bei-
*) Die (jiicstiker und Manichäer betrachteten (««'t rl irchweg die Ver-
werfung des Khestande«! als das Hauptpriniip ihrer Lehren. So dachten die
iatiaui oder Encratitae uad die siogenanDten Abätiaenten, spanische und
fraasöeiache Ketzer des dritten Jahrhunderts. INe Aginnenser im siebentes
Jahrhafidert leogaeten, dafi der Ehestand jemals vom Gott eingesetzt wovden.
Die Engclsbrüder, eine Abart dfcr Böhmisten, erklärten: ihrer Enpelsnatnr sei
d^r Ehestand zuwider. Basilides lehrte rur Zeit des Kaisers Hadrian, daß
nian der Ehe jede unordentliche Vermischung vorsiehen solle. Die Eusta-
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ligt den unrcineii Koitus, mau predigt die Ehelosigkeit und
erhebt 'ii' Weiberpfemeinschaft zum Gemeindegesetz.
Völkern, die sich noch im .Stadium dt-; primitiven Kultur
befinden, erscheint die Zeugung häufig als eine gewissermaßen
religiöse Handlung, als ein von der Natur festgestellter, von
dem Ifimmel geheiligter Akt, der die Fortpflaniung der Men-
schen sidiert. Aber' ein solcher Satz könnte nidit auch auf
die russischen Sektierer, von denen wir jetzt sprechen, ange-
wendet werden. Denn diese Fanatiker der Wollust verwerfen
nicht bloß die Ehe, sondern verabscheuen auch die Zeug^g.
Sie wollen durch Verbredken und Kindermord die Fortpflan«
zung der Menschheit verhindern. Der Geschlechtsakt ist ihnen
nur ungezügelter Genuß, keinesw^s Kulthandlung. Im
Jahre 1872 wurde in Pskow von dem aus einem Kloster ent-
sprungenen angeblichen Mönch Seraphim^) eine Sekte mit
folgendem Programm gegründet: Im Sündigen allein ist das
wahre Seelenheil zu finden, denn je mehr man sündigt, desto
ruhmvoller wird das Verdienst des Erlösers. Hier versucht
man nicht einmal mehr die Schamlosigkeit zu verhüllen. Das
Sektenwesen solcher Art hat mit der Religion nichts mehr zu
schaffen. Das sind keine Schismatiker, die sich von der Kirche
aus theologischen Gründen getrennt haben, sondern Nihilisten,
thiani im vierteu jaiuriiundert wollten in Häusern, wo Eheleute wohnten,
nicht beten und sprachen niemals mit Verheirateten.
1) Leroy-Beavliett III 4S7 berichtet von Sempliim, dnfi er eich mit
Vorliebe an junge Mädchen hetanmachte und ihnen die Haare atNcfanttt«
angeblich um sie zu verkaufen; « dürfte «^ich aber \vahr<;cheinlich um einen
Fall von FetUiChtsmus gehandelt liaben. \>rmutlich von deinse!t>pn Sera-
phuu lät auch bei BapKom» die Kede (in dem schon erwähnten Buche;
a6 MocKOBonB» latMipopoMm usw. usw. Mockm 1865, cq». 150 — 154: Omp»
GepiifBMb). Hier wird ernhlt. daß der Bauer Jermil Setdorow aus dem
Dorfe VVesnowatka im Gouvernement Woronesch 1859 seine Frau und sein
Haus im Stich heD und im Mönchsge\van(i unter dem Namen Vater Seraphim
als Lügenprophet von Ort xu Ort zu wundem begann. Er zeigte adle mög-
Hehea ZanberkmutstOdtt, konnte fleh verwuidela, beeeichnete «idi vaver*
woadbarmidfuidvid^tobigeGeinflter.dieilmalsHeOigeQaii^^ Nament«
lieh von den Frauen wurde er stets gastfreundlich aufgenommen. W^n ver-
s hif dener Schwindeleien mußte er aus dem Gouvernement Woronesch flächten;
er scheint die Zeit bis 1872 in einem Kloster xugebracht zu haben. Söne
Keniere bt typuch Iftr die der meielMi nMniecheii Sektengrfliider.
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die keine Bande der Moral, keine Gesetze der Gesellschaft an-
erkennen. Diese Sektierer haben nicht bloß mit allen Dog-
men der Orthodoxie restlos aufgeräumt, nicht bloß die ivuchen,
die Priester und die Sakramente abgeschafft, sondern ver-
achten alles, was Menschen ^cbciiaffen und begründet haben,
Sie kennen kein Vaterland und kein Fanülienheim ; sie keimen
weder Elternpflichten noch Kindesliebe; was gesetilich iit»
gilt ihnen als Verbredien; die Sünde allein als das Eistrebens-
werte, als das Glück in dieser, als die Pforte zu der Herrlichkeit
der anderen Welt.^)
Alles ist zu Ende; es gibt keine Religion mehr, kdne
Regierung, keine Obrigkeit, keine Steuern, keine Kirchen, keine
Beichte, keine Pdester und keine Ehe, keine Familie. Aber
wo wäre etwas Russisches, das nicht Kontraste aufwiese? So
sehen wir auch bei einigen Sekten der Ehelosen ein plötzliches
Zurückweichen vor den letzten Konsequenzen, eine Milderung
der AUesverneinung durch einen seltsamen Kompromiß. Man
verwirft die Ehe, aber entschließt sich zu einer freien Ge-
meinschaft; Mann und Weib sind namentlich bei den Bauern
einander unentbehrlich, nicht bloß aus geschlechtlichen Grün-
den, sondern als ergänzende Teile bei der Haus- und Fdd-
arbeit. Man verzichtet also auf das feste, aber nicht auf ein
loses Band. Man kümmert sich nicht um den kirchlichen
Segen, begnügt sich mit dem Segen der Eltern, der Ver-
wandten oder einiger Gemeindemitglieder. Die Übereinstim-
mung zwischen Mann und Frau ist das Maßgebende, und das
Znsammenleben dauert so lange wie diese ( 'bereinstinimung.
Die i:-he ist Menschenwerk, die l.iebe aber von t^öttlicher
Natur; und nur die Liebe wird als die Grundlage einer wirk-
lichen Vereinigung von Mann und Frau angenommen ; hört
die Liebe auf, so gilt auch die Vereinigung als von selbst
^) Die Sekte, die anno 1433 in Schwaben aultauchte, veiiolgte iüe»elb«fi
Prianpien: ..Es ist «rlaubt n l&gen; maa bnndtt kabm C^bn m iMltaa,
kfline Venprachtingea «linwilflawi; auu darf morden, auch Uniduüdige and
Bflllivt seine Bttem töten." Die Mit^iedcr der schwäbischen Sekte hielten aksh
für 90 vollkommen, daß sie erklärten, es könnte ihnen nichts als Sünde ange-
rechnet werden. Vor allem aber sahen sie in der Unzucht da* h^htti» Glück»
die Hurerei öffnete ihnen die Pforte zum Paradiese.
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rechtlich gelost. Diesen Gemäßigten unter den Besbratschniki
ist nur das von der orthodoxen Kirche aufgesteUte Dogma
von der Unlösbarkeit einer kirchlichen Khe ein Greuel; sie
aacrkemicn jedoch einen Bund aus freier Liebe. Der Despo
tismus, den Kirche und Staat in Beziehung auf die Ehe aus-
üben, wird beseitigt durch die natürliche Folgerung, daß zwei
Menscben im Augenblicke, wo de mcbt mehr miteinander
haimonieren, nicht nur auseinandergehen können, sondern
müssen. Und wie die Vereinigung vor Zeugen geschlossen
wurde, so erfolgt auch die Scheidung in Gegenwart der Eltern,
Verwandten oder Gemeindemitglieder. Zu diesen Arten der
Ehelosen gehören die vom Volke so betitelten Schaloputy*)
oder närrischen Käuze, die sich selbst Genossenschaft wahr-
haft geistiger Christen oder Bruderschaft des geistigen Lebens
nennen. Ihr Gründer war um 1820 der Bauer Awakum Kopy-
low» der Vernunft und Gewissen als die Grundlagen der Re-
ligion erklärte, die Autorität der Bibel verwarf, Christus zwar
als einen geniale Menschen ehrte, aber ihn nicht als gött-
liche Wesen anerkannte, imd die Wunder, die Jesus getan,
als Legenden bezeichnete. Der wahre Christus der Schalo-
puty ist niemals gestorben, sondern lebt als Mensch von Fleisch
und Blut ; in den Versammlungen werden Christi Photographien
gezeigt, er ist ein alter Mann mit grauem Bart und mit Ketten
an den Händen. Während er in der Verbannung seine Zeit
abwartet, vertreten ihn bei seinen Getreuen die Propheten und
Gottesmütter. Vom heiligen Geiste sagen die Schaloputy, daß
er in jedem Menschen sei; dir Gottestempel sollen nicht aus
Balken, sondern in den Herzen der Gläubigen errichtet sein.
Man schildert diese Sektierer als bescheiden und fleißig. Es
herrscht bei ihnen bis zu einem gewissen Grade Gütergemein-
schaft, denn sie bearbeiten gemeinsam die Felder und teilen
den gesamten Ertrag unter allen Gemeindemitgliedern auf.
Im J riuzip verwerfen sie das eheliche Bündnis und kennen nur
den freien Liebesbund. Da sie aber von den Gutsherren
häufig zu kirchlichen Ehen gezwungen werden, so haben sie
^) 6e36pa<uiuA, da Eheloee.
*) maxb s dmam, d,bflni.
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eine merkwürdige Methode erfunden, um einerseits dem Zwange
keinen Widerstand entgegensetzen zu müssen und andererseits
ihren Prinzipien Geltung; zu verschaffen : Sie führen mit den
ihnen kirchHch angetrauteti Frauen gemeinsamen Haushnh,
leben aber mit ihnen nicht geschlerhthch sondern schheßen
neben der legitimen Ehe mit anderen Frauen einen Bund
der Liebe. Im Gegensatz^ tu der wirklichen Frau, die niemals
Gattin wird, heißt die Kunkubine die Frau im Geiste, Du-
chowniza. Die \ ernachlässigte Frau geht nicht leer aus, sie
wählt sich einen Mann im Geiste, dem sie körperlich näher
steht als dem ihr angetrauten Manne. Die im rkwurdigen vier-
eckigen Flhen dauern zumeist lange und ungetrübt, weil jede
Partei völlige Freiheit in allen Handlungen des Geschlechts-
lebens behält.
Ähnlicher komilianter Gemeinschaften unter dea ehelosen
Sdcten gibt es indessen nur wenige. Im allgemeinen entzi^en
sich die Mitglieder dieser Sektierergruppen, wie sie nur können,
den Fesseln selbst einer platonischen Zwangsehe. In den
Städten ist dies natürlich noch leichter als auf dem Lande;
der Bauer und die Bauerin im Dorfe sind gegenseitig auf ihre
Arb«t und Hilfe angewiesen, der Muschik braucht eine Gehilfin
in der Isba und auf dem Felde; der Arbeiter in der Stadt
oder in der Fabrik aber ist in dieser Beziehung ein freier
Mann, und das Gesetz der Ehelosigkeit, das ihm in erster
Linie als ein religiöses gelten soll, wird für ihn auch zu einer
Existmznotwendigkeit: hat er keine Frau, keine Familie, so
braucht er sich nur um das Stückchen Brot für sich selbst
zu sorgen. Da wird der freie Geschlechtsverkehr zu einer
Institution der Leichtfertigkeit ohne Gleichen, die freie Liebe
führt zu Eintagsverbindungen, ein festes Band gibt es nicht
1) Man findet hierfür eine gewisse Parallele in der Sekte der Abelianer.
die in den frühesten Zeiten des Christentums in der afrikanischen Diözese
Hippon entstand. Die Abelianer ijehaupteten, daß Abel zwar im Ehestande
gelebt, aber keine Gemeioschait mit seinem Weibe gehabt habe, weil keine
Mdduinr seiner Kinder geschieht. Deshalb nahmen die AbeUttner gleich Abd
twar \\'eiber, aber sie gebrauchten sie nicht znm Kinderzeugen und verdammten
aus Fun ht vor der Krhsunde den ehehchen Beischlaf ih teuflisches Werk;
um ihre Sekte zu erhalten, adoptierten sie fremde Kinder.
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mehr, alle Moralbegriffc entschwinden odelr verwirren sich,
heute lebt man mit diesem, morgen mit jenem Weibe, und
von solchen Verhältnissen zur Weibergemeinschaft ist der
Weg wahrlich nicht weit ; und noch einige Schritte tiefer auf
der abschüssigen Bahn gelangt man zu der Ansicht, daß Onanie,
Päderastie und Sodomie die naturlichsten, dem Himmel wohl-
gefälligsten Akte seien. 1) So lehrt der Sektenprophet Kori-
lin: „Es ist besser, mehrere Weiber heimlich zu besuchen,
als mit einer einzigen Frau öffentlich zu leben; besser als
mit dem hübschesten Mädchen zu schlafen ist es, geschlecht-
lichen Umgang selbst mit einem Tiere zu haben.** Wenn«
die Welt vom Teufel geschaffen ist ; wenn der Antichrist auf
Erden herradit; wenn man jeden Augenblick aufhorcht» um
den Posaunenschall des jüngsten Gerichtes zu vernehmen: so
ist es widersinnig, nach veralteter menschlicher Auffassung
ein Weib zur Gattin zu nehmen oder mit einer einzigen Frau
im Konkubinat zu leben, Kinder zu zeugen und die Mensch«
hdt fortzupflanzen.
Was geschieht aber mit den Kindern, Früchten der freien
Liebe? Deren Los ist wahrlich kein fröhliches. Am besten
ist es noch, wenn man sie als erwünschten Arbeitemachwuchs
ansieht; es gibt Sekten auf dem Lande, bei denen die Väter
ihre Töchter zu schamlosen Ausschweifungen ermutigen, ihnen
alle5; erlauben, ausgenommen die Ehe, und wo die illegitimen
Kinder dann als Vermehrung des Arbeitspersonals der I amilie
willkommen geheißen werden.^) Bei anderen Sekten leben
die Männer nur so lange irüt ihren Frauen oder Geliebten,
als dem Bunde Töchter entsprießen; die Geburt eines Sohnes
macht der Vereinigung sofort ein Ende, weil diese Sektierer
nicht Rekruten für das Heer Satans zeugen wollen.^) Dies
') Die gnostisch-manichäischc Sekte der Origeniani im vierten J.ihr-
hundtTt zog ebenfalls nicht blnU Konkubinat und Hurerei dem Ehestand vor,
«uudem erklärte auch KiaüerzeugeQ als Sünde und begnügte sich daher zur
gmchlechtUchen Belnedigung mit der Ausfibong der Onanie.
*) Aiidi die SMnnüfttü im zweiten Jehrliundert meinten, Kindcnteugnng
sei «in Wcxk Sateas und verwaiian deshalb den Ehestand.
•) Leroy-Beaulieu III 417.
*) Hellwald, Die Welt der Slawen, 357,
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alles ist noch harmlos; es gibt jedoch Sekten, bei denen
man die Kinder einfach aus der Welt schafft und auf diese
Weise die Frage radikal zur Lösung bringt. Am beruhiuir'sten
und vielleicht am meisten verbreitet von allen diesen radikalen
Sekten ist die der Verschnittenen oder Skopzy^l. welchen
zuerst der russische Schriftsteller Aleljnikow-Petscherskij nach-
wies, daß bei ihnen in bestimmten Fällen, von denen noch
die Rede sein wird, der Kindermord zu den religiösen Zere-
monien gehört.
Die Entmannung, die im allgemeinen als eine Schand-
strafe gilt')» hat sowohl in der Religion des AbeiwUaiides wie des
Morgenlandes Anhänger unter fanatischen Asketen gefunden,
die es als das sicherste Mittel gegen die Unkeuscfaheit betrach'
ten, das Glied der Zeugung und der Sünde einfach wegsu-
rasieren. Als Origines, ^er berühmte Kirchenlehrer des dritten
Jahrhunderts» sich kastrierte, berief er sich auf die Worte
Matthai XIX, 12 : ,,Denn es sind etliche verschnitten, die sind
aus Mutterleibe also geboren; und sind etliche verschnitten,
die von Menschen verschnitten sind; und sind ediche ver-
schnitten um des Himmelreiches willen. Wer es fassen mag,
der fasse esV* Auch andere Stellen des Neuen Testaments
und der B^gpredigt sind zur Rechtfertigung der Kastration
herangezogen worden; so die folgenden. Matth. XVm, $
und 9: „So deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue
ihn ab, und wirf ihn von dir. Und so dich dein Auge ärgert,
reiß es aus, und wirf es von dir." Matth. X, 28: „Und
fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die
1) CKoitiiTi., vcrscbneiden, kastrieren; oitoii«m>, der Verscbnittene: cfcoom«,
die Verschoittene.
•) In RafllMid sell»t ist di« bdapidiwdie bd dca haHnvildeD Kt[^m
d&r FaU. In ,,dM Heim Kapitain» Rytadiko« Tafabneh,*' a, a. O. 8. 431
heißt f"^,: „Einen Mann untüchtig zn machen oder zu entmannen, wird bey
itiuca iur einen tmlben Totschlag gerechnet, uad es muß daher dem verstüm-
melten die Büssung eines völligen Morda gezahlt werden." Es ereignete sich
einmal, daO ein Kirgise das Harem des Chans entweibts und von den Chans-
dienern mr Strafe daiflr entmannt wnrda. Auch in iiinanm FaBe, wo nach
orientalischer Auffassung der Entmannte nw den Lohn seine Übeltat er-
halten haben sollte, moßte der Chan eeltiet die nach dem Rechte bestisunta
Buße t>ezahlen.
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Seele nicht mögen töten." Evang. Lucä XXIII, 29: ,,Deiiii
siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird :
Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht ge-
boren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben." Ko-
losser III, 5 : ,,So tötet nun euere Glieder, die auf Erden sind,
Hiu-erei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust." Auch
die Sekte der Valerianer, die den Fhestnnd und das Kinder-
zeugen verdammte, lehrte die Kastnerung als das einzig
sichere Mittel zur Bewahrung der Keuschheit. Die Valerianer
entmannten nicht nur sich selbst, sondern verschnitten auch
Jene, die das Unglück hatten, in ihre Gewalt zu fallen. Von
den griechischen Mönchen ist bekannt, daß sie die Iiitiljulation
zur Bewahrung der Keuschheit anwendeten. 1) Je schwerer
der Ring am (iliede. desto größer der Stolz des Büßenden.
Manche trugen einen Ring von sechs Zoll im Umfang und einem
Viertelpfund an Gewicht.*)
Die rassischen Skopzy beziehen sidi auf keine Bibelstdlen
zur Begründung der Kastratioii; sie betrachten die ganze Bibel,
wie wir sie besitzen, als eine Fälschung^. Das wahre Evan<
gelium, „das Buch der Taube**, befand sich nach Ansicht
der Skopzy einst in ihren Händen, bis Peter der Dritte, ihr
Oberhaupt und Christus, die göttliche Schrift in der Kuppel
der Andreaskirche auf Wassilij-Ostrow zu St. Petersburg ein-
mauerte. Das Datum der Entstehung der Skopzensekte läBt
sich ziemlich genau feststellen.^) Im Jahre 17 15 wurden im
Kreise Uglitsch im Gouvernement Jaroßlaw m^ere Ketzer
1) Die G«ber in dem Kloster zu Ateschdjah bei Baku kotafan
indem sie schwere ELsenstücke an das Glied hüngen, das sie am m<»!';ten ?iir
Sünde gereizt hat. Durch derartige jahrelange Marter wird der Büßer in einen
Zostaod versetzt, der sich von jenem des Eunuchen nur dadurch nnterscheidet,
däß eine Opentioo als nicht mehr notwendig vermiedea wird. Benüurd
Stern, Zwischen Kaspi und Pontus 145 ; Rtimggt, Betchteibqng d«* Kaotatwis
1796. I 157; Eichwald. Rei-r in den Caucasiis, 1834. I 178.
*) Man vergleiche über infibulatfnn Ii«" intere-^sante Abhandlung m
„Zeichen und Werth der verletzten und unverletzten Jungfrausch&ft nach
physiologisch«« moraliaehen und Natioiialbegriffen". (Von C 6. FUtfaMr.)
Zweite AiHgabe. Bcriia 1795, bei (Muniglw dem Jtügßn* S. 968^78.
*) Die russische Kirchengeschichte kennt zwar schon aus dem elften
Jahrhundert zwei berühmte Kastraten unter den hohen Geistlichen, die Metro-
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entdeckt, die die Entmannung an sich vollzogen hatten. Im
Jahre 17 17 wurden in Moskau ein gewisser Prokop Lupkin
und ein paar Dutzend Männer und Frauen verhaftet, die eine
Sekte von Eunuchen und verstümmelten Frauen bildeten; 173S
wurde auf Befehl der Zarin Anna Iwanuwna die Leiche Lup
kins, dessen Grabstätte zu einem Wallfahrtsorte für diese
Sekten geworden war, ausgegraben und verbrannt. Trotz-
dem oder richtiger : seit damals erst — vermehrte sich
die Zahl der Anhänger der Skopzcnsekte.^) Im Jahre 1771
wurde der Regierung bekannt» daß ein Bauer namens Andrej
Iwanow im Gpiivememeiit Oilow dretielin Bauern zur Kastra*
tion überredet liatte. Andrej Iwanow, der eigentlich Kon-
dratij Sseliwanow hieß, nannte sich auch Ssemen, Iwan, Foma.
Er gab sich gleichzeitig als Zar Peter III. aus; femer als
,,Christus, der wahre Gott, geboren von der unbefleckten Jung-
frau, die als Kaiserin den Namen Elisabeth Petrovma führt."
Diese Kaiserin^Gottesmutter starb nicht, wie die Geschichte
erzählt, im Jahre 1760, sondern zog sich unter dem Namen
Akulina Iwanowna zuerst zu den Skopzen des Gouvernements
Orel, später nach Kursk zurück, wo man sie noch im Jahre
1865 hinter einem goldenen Gitter anbeten konnte. Peter III.*
Christus') war mittlerweile aufgewachsen; als er von Katha*
politen Twan und Jefrem von Kijew, die aus GricchealaiH nf h Rußland ge-
kommen waren ; aber diese beiden Prälaten gehörten keiner Sekte an. sondern
waren Eunuchen von Gebort.
1) VgL S. 183.
•) Vgl. Pt.likan, Gerichtlich medizinische Untersuchungen über das
ßkopzentum iu Rußland nebst historischen Notizen,* übersetzt von Dr. Nikolaus
I\vnnoff, Gießen 1876. — von Stein. Die Skopzcnsekte in Kußland in ihrer
Eutätehung, Organisation und Lehre nach den zuverlässigsten Quellen dar-
gwteUt. in der Zeitschrilt iOr Ethmdogie» Berits iSjS« — Paoiadtt» ünnK
Bconft B cBoiimu. Leroy-Beaolleii a. a. O. III 451 — 465. — Haicth&iiaaa»
Stildien, 1 340. — Schiemann, Alexander T., 413. Hier sind auch mehrere
russische Quellen erwähnt, — Mantei^azz^i, Die Geschlechtsverhältnisse des
Menschen. Jena. 3. Auflage. S. 145. — Dr. Richard Wrede, Die Körperstrafen
bd allen Völkeni. Dreedea 1S98. S. 358 — 373. — Laurent und Nafoor, Okknl»
tiamva und Liebe, Studien tax GeBCbichte der eemcilein Verimtngatt, Beriin.
Barsdorf, 1903, S. 79 — 80. — Caufevnon. L'Eunuchisme, Historie ghnfsnin de
la Castration. Paria, 77 — 81. — Busch, Wunderliche Heilige, 140.
•) Vgl. S. ai5.
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«
— 289 —
rina einen Nachfolger erhalten hatte, entmannte er sich tmd
kastrierte auch alle seine Anhänger. Seine Gemahlin Katha-
rina wollte ihn ermorden lassen, er aber entkam den Nach-
steiluncrrn der Meuchelmörder, hielt ?irh eine Zeitlang ver-
borgen und tauchte dann als Musrhik Kondratij Sseliwanow
auf, verrichtete Wunder und verbreiiete die Lehre der Kastra-
tion. In Tula wurde er verhaftet, mit Knutenhieben bestraft und
hierauf nach Irkutsk verschickt. Paul ließ ihn zurückrufen,
uüiite sich aber zum Glauben seines Vaters nicht bekehren
und sperrte ihn in ein Irrenhaus. Alexander ließ den Groß-
vater frei, und Sseliwanow lebte in einem Hause des reichen
Skopez Ssladownikow unbehelligt als Cliristus so lange, bis
ihn die zarischen Knechte wieder verfolgten und ins Kloster
von Ssusdal schleppten, wo er noch heute lebt in Stille und
Verborgenheit ; und eines Tages wird er wieder liervortreten,
und dann werden sich alle Kaiser und Fürsten der Erde in-
brünstig vor ihm neigen. Dieser Legende der Skopzen^) liegen
tatsächliche Momente zugnmde: Sseliwanow wurde 177$ in
Moskau ergriffen, am 15. September dieses Jahies geknutet
und nach Irkutsk verschickt; er entfloh, wurde 1797 neuerdings
in Moskau verhaftet und auf Befehl des Zaren Paul ins Irren-
haus gebracht, da er die Frechheit gehabt hatte, sich dem
Kaiser als Peter III. vorzustellen. Im Jahre 1802 wurde Sse«
liwanow auf Intervention einiger reichen Skopzen aus dem
Irrenhaus entlassen, zuerst in eine der Armenanstaltcn des
Smolnaklosters überführt und dann durch Vermittlung des
Staatsrates Alexej Michajlow Jelinsky, der selbst der Sekte an-
1) Nach einer Version wurde Peter schon in Holstein Skopie. — Das
geheime Erkennungszeichen der Skopzen untereinander ist gewöhnlich ein
Portf&t Peters III., auf den der Kaiter dargestellt ist, wie er «in rotes Tneh
auf dein rechten Knie hilt «od mit der rediten Hand das rote Tach berührt.
Bei ihren Znsammenkanften oder wenn sie sich in unauffälUger Weise dnander
als *5''kt'»nV>rüder ru erkennen t^eb<"n wollen, legen die Skopzy auf Ihr reehtes
Knie ein rotes Tuch und schlagen mit der rechten Hand darauf.
*) Die Legende macht konseqnenlei' weise anch den Fürsten Daschlu>w.
der ein Gfiastiing Peters III. war, wilirend die Ffltstin Daachkow an Kathaiiaa
hielt; SU einem Skopzen. Der Bauer Iwan SuOlow gab sich als Fürst Dasdikow,
alias Johannes, Lieblin^^sjün^'or des Jesu-Sseliwanow aus. Er wurde snt in
Dünaburg, dann in Schlüsselburg eingesperrt und starb 1799.
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gehörte, in dem Hause des Kaufmannes Nenastjew, eines
Skopzcn, fürstlich installiert. Er lebte nun lange Jahre als
angesehener Prophet und Erlöser, und im Jahre 1805 pilgerte
sogar der mystisch veranlagte Zar Alexander I. vor dem Auf-
bruch ins Hauptquartier zum Skopzengott.^) Drei Tage nachher
begab sich Lubjänowski später Senator, ebenfalls zu Sseli-
uaiiow; Lubjänowski erzählt in seinen Memoiren: Der Pro-
phet richtete sich in seinem Bette auf und segnete den Gast;
dann fragte er : „Ist Aleksasrhka abgereist ?** Als die Frage
bejaht wurde, sagte er bedauernd: ,,Was soll man da machen?
Vorgestern habe ich ilm angefleht, nicht zu talirrn und keinen
Krieg mit dem verfluchten Fraiuuscii aiuufangen. Gott be-
hüte ihn, ich sehe nichts Gutes konmien. Du wirst es ja sehen."
— Alexander I. ließ widerstandslos die Ausbreitung der Ssdi-
wanowschen Sekte zu; ihren Gottesdiensten durften die Be-
hlSrden niclits in den Weg legen. Erst im Jahre 1820 erkannte
man das Übel, das man gefördert hatte, und brachte Sseli*
wanow ins Kloster zu Ssusdal. Das geschah unter großen
Ehrenbezeigungen. Dem Propheten wurde auf kaiserlichen
Befehl vom Fürsten Galitzyn*] eine Staatsequipage zur Ver-
fügung gestellt. Im Kloster Ssusdal ist Sseliwanow gestorben,
nach einigen 1823, nach anderen 1832, doch scheint die letz-
tere Jahreszahl die richtigere zu sein. Auch die legendäre
Akulina Iwanowna gehört der Wirldichkeit an, doch fehlen
über sie genaue Nachrichten. Im Jahre 1844 wurde zu Mor-
schansk im Gouvernement Tambow eine hundertjährige Frau
von den Skopzen als heilige Jungfrau und Gottesgebär^in ver-
ehrt. Man nimmt an, daß sie die Akulina Iwanowna ge-
wesen sein dürfte, die mithin den Propheten um wenigstens
ein Jahrzehnt überlebt haben würde.
Die Lehre der Skopzy, die sich selbst weiße Tauben, die
*) Schiemann, Alexander T., S. 414.
') Fürst Galitzya, der erste Kultusminister Rußlands, gehörte einer
Geifilenekte an, die im Mtebaabpakla in der Wohnung der Offlrieiswitwc
Ttttatinow ihn Oi^m feierte; nacii einem Beridite des AirJiininndiHett
Pbottj SOlleB die Anhänger der Tartarinowschen Gruppe groBenteils Skopsen
gewpsfn sfin: ,,auch Frauen un(l Mädchen sollen hier verecluiitten «etden.**
lögt der hohe geistliche Referent hinzu. VgL S. 223.
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Reinen, die Gerechten, wahre Kinder Gottes nennen, besteht
ungefähr in folgendem : Als Gott den Menschen erschuf, ge-
schah dir: für ein geschlechtsloses Leben. Aber Adam und
Eva sündigten. Die Erbsünde, das ist der Geschlechtsakt ;
sie kann nur gesühnt werden durch Vertilgung der Fortpflan-
zungsfähigkeit. also durch Vernichtung der Geschlechtsteile
des Mannes und durch Zerstörung der Brüste und der Ge-
schlechtsteile der Frau. Aus der ersten Menschensünde wurden
immer neue geboren, und die Verderbnis der Weh wuchs ins
Chaotische. Da sandte Gott seinen Sohn Jesus auf die Erde
herab. Ihn erkennen die Skopzy mithin als Gottes Sohn an,
indessen nur als Vorläufer des zweiten und größeren Gottes-
sohnes Sseliwanow ; glicht das Martyrium am Kreuze, sondern
das Martyrium, das man dem Zeugungsgliede auferlegt, kann
die Menschheit von dem Übel der Erbsünde erlösen. Übrigens
hat auch Jesus Christus die Skopienlehre verbreiten wollen.
Beweise dsifür sind die früher erwlÜmten Bibelstellen; seine Ab-
sicht wurde nicht verstanden, und infolgedessen mußte Gott
seinen tweiten Sohn Sseliwanow auf die Erde senden, um
das große Sühnewerk der Kastration zu vollführen. Sseli-
wanow ging mit dem besten Beispiel voran, indem er sich der
Feuertaufe unterzog, das heißt: der Vernichtung des Zeugungs-
gliedes durch ein glühendes Eisen. Doch gestattete der Pro-
phet als Konzession an die menschliche Schwachheit die Vor-
nahme der Operation mit einem Rasiermesser oder Stemm-
eisen. Die Kastmtion ist das unerläßliche Opfer, das allein
von der Hölle retten kann. Im Augenblicke, da das sündige
Zeugungsglied des Mannes oder die Saugwarze der Frauen-
brust unter dem Messer fällt, öffnet sich den Seligen und
Frommen die Pforte des Paradieses. Wir sollen nicht mehr
sündigen, wie unsere Eltern gesündigt haben : deshalb i*;t es
rflicht der l'roselyten vor ihrer Aufnahme in den heiligen
Skopzenbund das Andenken von Vater und Mutter ebenso zu
s 'hm (hcn, wie den sundigen Staat und die Heiligen iler Or
tliodoxie. Die russische Kirche ist das Reich des Antichrist,
die Popen und Bischöfe die Diener Satan«;. Die .Sl<(»|)zy kennen
keine Sonntagsfeier, sie glauben nicht an die .'\uferstehung der
Leiber Un verschnittener, sie verachten die Sakramente. Wenn
Si«rn, Gcschicfato der «ffcntl. Sitttldikcit In RuAlaiid. 145
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sie trotzdem die russibchL-n Kirchen besuchen, so tun sie es
unter dem Zwange der Behörden, um sich und die Ihrigen
nicht zu verraten, und weil sie meinen, damit etwas Gleich-
gültigem 7.U besorgen, das ihrem Seelcniieil nicht schacirn kann.
über die V'eri>aiiiinluiigen der Skopzen ist bisher folgen-
des in Erfahrung gebracht worden : Die Mitglieder der Sekte,
die zusammen eine Gruppe oder ein Schiff (Kojiao.ib) bilden
wie die Chlysty, erscheinen alle in weißen Hemden. Die Zere-
monien beginnen um zebn Uhr abends und dauern die Nacht
durch. Da den Skopsen tiefste Verschwiegenheit über ihre
Gebräuche und Handlungen auferlegt ist, gibt es keine ge-
schriebenen Liturgien oder Vorträge; die Lieder, die sie singen,
pflanzen sich durch mündliche Überlieferung fort, oder ent-
stehen in der Inspiration des Augenblickes. Haxthausen, der
einer Skopzenversammiung beiwohnte, hat ein Lied aufgezeich-
net: „Haltet zusammen, ihr Schiffsleute, lasset das Schiff im-
Sturme nicht untergehen. Der heilige Geist ist bei uns, unser
Vater und Christus ist bei uns, seine Matter Akulina Iwa-
nowna ist bei uns. Er wird kommen, er wird erscheinen; er
wird die große Glocke Uspenskij läuten ; er wird alles gläubige
Schiffs Volk zusammenrufen; er -wird Masten setzen, die nicht
fallen, Segel spannen, die nicht reißen und ein Steuerruder
bauen, das sicher leitet I" Der Gesang wird von den Männern
allein, die auf Stühlen oder Bänken sitzen und die Melodie
durch Aufschlagen der flachen Hände auf die Schenkel be-
gleiten, begonnen. Die P'rauen sind zunächst bloße Zuhöre-
riniuMi nach einer Weile hören die Männer auf und die Frauen
t iniaen ein Lied an. Die Gesänge enden mit Tanz wie bei
den Chlysty ; und wie bei den (ieilMern heißt auch bei den
Skopzen dieser Tanz: Radenije, Glut, Inbrunst, das .Vrbeiten
in Gott. Man kennt vier Anen des Radenije: Das Schiffchen,
das Wändrhon, das Kreuzchen und Mann für Mann. Wird
ein Schiff( heil gemacht, so bildet niati cmcii Kreis und springt
herum, i ui W'ändrhen entsteht, nukni man, ebenfalls im
Kreise, Schulter an Schulter preßt , das Kreuz macht man,
indem man beim Tanzen und Hüpfen Reihen in Kreuzesform
SU entwickeln sucht; das Tanzen Mann für Mann gleicht dem
Drehen der Derwische, da man auf dem Flecke bleibt und sich
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um sich selbst dreht. Die Wirkung der Tänze ist bei den
Verschnittenen die gleiche wie bei den un verschnittenen Sek-
tierern: di^ Versamnilting fällt in Verzückung, gerät in einen
Taumel sinnlicher Errc^ng. die natürlich nur durch heiliget
Küsse, wie Sseliwanow es befohlen hat, befriedigt werden
könnte. Diese Befriedigung ist ungenügend, und so ist die
Folge eine sadistische Orgie, die Vornahme von Operationen
an den Gliedern männlicher iVoselytcn und nn Fraiicnhnisten.
Die Verstümmelungen vK-erden seltener an Kmdern, ge-
wöhnlich an schon Erwachsenen vollzogen. Ks gibt verschie-
dene Arten der Operation und mehrere Grade der Reinheit,
die durch sie erreicht werden können. Durch zahlreiche Pro-
zesse vor den russischen Gerichten wurde erwiesen, daß die
Feuertaufe oder Beschneidungstaute^) in zwei Klassen zerfällt:
in die des kaiserlichen, des großen Siegels, der zweiten Rein-
heit ; und in die des kleinen Siegels.^) Die niedrigere Klasse
erfordert nur die Entfernung: der Hoden, die höhere die Ab-
schneidiing des Gliedes. Die Operation wird von Spezialisten
vorgenommen, die in ihrer Kunst solche Meister sind, daß
Katastrophen selten eintreten, trotsdem die Operationsinstru-
mente die denkbar primitivsten: ein Rasiermesser, oft auch
ein gewöhnliches Messer, eine Blechschere, und eine Serviette
genügen dem Operateur. Zum Blutstillen wendet man ein
glühendes Eisen an. Bei einigen Gemeinden vollführe alte
Weiber die Operation. Es kommt vor, daß Fanatiker mit
einem Stück Glas, einem Messer oder einer Axt auch selbst
die Operation an sich vornehmen.') In einer Statistik über
5444 Skopzen, die man 1866 entdeckt hat, wurde konstatiert,
daß sich von dieser Zahl 863 — darunter 160 Frauen —
selbst kastriert hatten. Nach einigen Berichten wird das kaiser-
In nttncben Skopzengemdndcm Kill «s andi eiiie Wawertaiife g«b«n.
Busch, Wunderliche Heilige, S. i6l, schildert eine solche Wassertaufe.
*) Andere Bezeichnungen sind: das erste Siegel, das erste Weißen, die
erste Reinheit, das Bestdgen des scheckigen Pferdes; und für die höhere Klasse :
volle Taufe, «weites Wdfien, Beiljeifan des weiBea Ptedes.
•) Soldies petklMtrtn auch Unfig die Chinesaii. die eiiie gttnsende
Stellung als Eunuchen erringen wollen. Man lese darüber bei Dr. 1. 1. MatignoD,
Supentition, crime «t misdre en Chine, 4. 6d. Paiia et Lyon 1902, p. 250.
16»
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liehe Siegel oicht immer auf dmnal, sondern manchmal in
zwei Sitzungen gemacht. Im ersten Falle werden Hodensack
und Glied zusammengebunden und mit einem einzigen Schnitt
oder Hieb abgetrennt; im anderen Falle wird zuerst der Hoden
sack und später das Glied abgeschnitten. Die Verstümmelten
erhalten, teils um den Abfluß des Urins lu erli i hiern, teils
um die Vervvarhsuiig der Wimde zu veriiindeni, eme kleine
Röhre aus Zum oder Blei als Ersatz des Gliedes. i")
Den Frauen ist angeblich die Verstümmelung nicht Ge-
setz, es gibt aber kaum eine unverstümmelte Skopzin. .-Xuch
bei den Frauen gibt es zwei Grade der Weihe : die erste und
die zweite Reinheit. Man zerstört durch Eisen oder Feuer
eine Warze oder lu-ide; man schneidet eine Brust oder beide
ganz ab : oder man verunstaltet die Geschlechtsteile. Die Ope-
ration der Geschlechtsteile erfolgt durch Messer oder Schere.
Sie ist keineswegs immer so vollkommen, daß dadurch die
Wollust oder nur die Zeugungsfähigkeit der Frauen verhindert
werden konnte ; es gibt unter den Skopienweibem sogar viele,
die sich dem Prostitutionsgeweibe zuwenden.
Das Skopzentum rekrutiert sich nicht bloß aus dem Bauem-
stande, sondern bat Mitglieder aus allen Beruf skreisen: man
findet unter ihnen EdeUeute, Olfixiere, Beamte, Geistliche,
Feldscherer, Büfger, KauÜeute, Gewerbetreibende, Grund-
besitzer, Vagabunden, Arrestanten, Soldaten, Kolonisten und
selbst Angehörige der Intelligenz. Auffallend groß ist die
Zahl bejahrter Leute unter den Skopzen. Es gibt nicht bloß
viele Siebzigjährige und Achtzigjährige, sondern auch Männer
und Frauen, die ein Alter von iio bis 130 Jahren erreicht
haben. Zur Statistik der Verbreitimg der Skopzen sind einige
interessante Zahlen festgestellt worden. Von 1805 bis 1839
zählte man offiziell 1665 männliche und 357 weibliche Mit-
glieder der Sekte; von 1840 bis 1859: 1559 männliche und
^) Pelikan gab folgende Statistik von 1481 Fällen, die ihm bekannt
untren: 5S8 voHkümmatte VeraduMidiiagan« 833 EntfefBiiiigaii dar Hbdm»
18 Eattennngen bloB eines Hodens, 16 Entfernungen bloß des Gliedes, 6 Ent-
fernungen de^ Gliedes und eine» Hoden, 2» VewchaeidangMi besondafor AA
(VgL Wrede, 263.)
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825 weibliche; von i8t)0 bis 187 1: 764 Männer und 283
Frauen. Im Jährt- 1843 verzeichnete ein Regipriin,i[r-hprirht
1701 Skopzy und Skopizy. Die offiziellen Berichte bleiben
aber hinter der Wahrheit weit zurück. Schon Haxthausen
glaubte, daß man die Zahl der bkopzen mit wenigstens zwan-
/igtausend annelimen müsse ; und seither hat sich die Menge
dieser Sektierer gewaltig vermehrt. Am meisten findet man
sie in den Gouvernements Orel und Petersburg, dann in Ko-
.stroma, Rjäsan, Kaluga. Kursk, Taurien, Perm, Moskau, Ssa-
mara, Ssaratow, Bessarabien, Tambow, Tula. In geringerer
Anzahl treten sie in etwa zwanzig anderen Gouvernements
auf. Die russische Regierung hat die Skopzen vielfach blutig
verfolgt, und es gab besonders in den letzten Jahrzehnten
vor den Gerichten mehrere Monstreproiesse gegen die Ver*
sdinittenen, wobei Hunderte Angeklagte erschienen. Infolge
der Urteilssprüche wurden viele Tausende dieser Sektierer nach
Sibirien verbannt ; andere f lüditeten nach Galizien und nament-
lich nach Rumänien, wo ihre drei Hauptgemeinden in Bu-
karesty Galatz und Jassy mindestens zwanzigtausend Köpfe
zählen. Die Verfolgungen haben also nicht im geringsten ge-
nützt, und es werden die Skopzen, wenn sie sich in nächster
Zeit in gleichem Maße vermehren, bald am Ziele ihres Strebens
stehen: denn das tausendjährige Reich, sagen sie, muß an-
brechen, wenn die Z^ihl der Skopzen und Skopizen auf 144 ODO
gebracht sein wird. Wie bei allen m ischen Sekten gibt es
auch unter den Skopzen verschiedene Abarten. So existiert
eine Gruppe, genannt die Percwertyschy, welche die Kastric-
rung schon bei den Kindern durch einen Schnitt und die
Drehung des Samenstranges vornehmen. Eine andere Gruppe,
die Prokolyschy, zerdrückt den Hodensack mit einem Bande
und durchbohrt den Samenstrang mit Nadeln, in den letzten
Jahren erst ist im Distrikt von Belew eine neue Skopzcnart
entstanden, deren Anhänger sich nach ihrem Propheten, einem
Unteroffizier namens Tombow, die Tombowisten nennen.
Da die Skopzen infolge der Zerstörung der Geschlechts-
teile ihre Sekte nicht direkt fortptlajizen können, haben sie
folgende Mittel zur Vermehrung ihrer Anhänger gciundcü:
Sie lassen sich gewöhnlich erst dann verschneiden, wenn sie
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mit ihren Frauen Kinder in die Welt gesetzt haben. Man ent-
. faltet terner ein( IVopaganda, die durch den großen Reich-
tum der Skopzen mächtig unterstützt wird. Die Skopzen sind
gewöhnlich überaus wohlhabende Kaufleute, Juweliere oder
Geldwechsler; die meisten verwenden ihre ganzen Reichtümer
für die Gcwinnuiig neuer Sektenmitgliedcr. Wer sich ihnen
anschließt, der kann sich dem Messer ihrer Operateure nicht
eotzichen. Ihre Organisation ist so gefürchtet, daß es nur
wenige Deserteure und Verräter unter ihnen gegeben hat.
Und wer ihnen auch entflieht, wird früher oder später, wo
immer im Inlande oder Auslande er sich aufhalten mag, von
ihrer Rache ereik. Auch wer unfreiwillig in die Hände der
Fanatiker fällt, oder wer sich aus Neugier ihren Versamm-
lungen beizuwohnen verleiten läßt, kann seiner Mannheit Ltbt-
wohl sagen; er wird ergriffen, auf ein Kreuz gebunden, ge-
knebelt und gewaltsam zum Eunuchen gemacht Man kennt
viele Hunderte gewaltsamer Verschneidungen. Im Jahre 1866
allein wurden 470 Fälle bekannt. Der Skopze, dem es ge-
lungen ist, der Sekte zwölf Mitglieder zuzuführen, erhält die
Würde eines Apostels. Manche Skopzen schUeßen noch im
späten Alter Ehcn'^ und gestatten ihren Frauen loyal den ge-
schlechtlichen Verkehr mit fremden Männern ; aber die Kinder,
welche solche Frauen dann zur Welt bringen, gehören von
vornherein der Sekte. Man besoldet schließlich eine ganze
Armee von Agenten, die durch die Lande ziehen, um unter
den Armen und Soldaten für ( Jeld I*roseIytcn zu werben und
Kinder für die heilige Kastration aufzukaufen.
Schon friihrr ist bemerkt worden, daß die an den Ge-
schlechtsteilen der i'rauen vorgenommenen Verstümmelungen
nicht immer die Zeugungsfähigkeit vernichten: tritt nun der
Fall ein, daß eine Skopiza, welche die Rolle der heiligen Jung-
frau spielen soll, einen Knaben gebärt, so gilt, dieser als ein
Sohn Gottes und muß für die Sünden der Menschheit wie
Christus den Martertod erleiden. Am achten Tage nach seiner
Geburt durchsticht niau dem heiligen Kinde die linke Seite
und durchbohrt ihm dai» Herz, das warme Blut dient der Kom-
1) Dies hat auch den Zweck, die Behörden zu täitschen.
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munion. Der Körper wird getrocknet, zu Pulver zerrieben und
m T^iÖtchen verarbeitet, die man am ersten Ostertage den
Gläubigen nebst einem Schluck Wasser als Abendmahl dar-
reicht. Dieses blutige Abendmahl hat eine gräßliche V'er
breitung gefunden. Die Symbolik des Abendmahls entspricht
dem heidnisch gebliebenen Volke nicht vollkommen, es will
wirkliches Blut und wirklichen Leib Christi haben, wie dies
nur bei Völkern auf der primitivsten Kulturstufe denkbar wäre,
bei denen das Blut das heiligste Reinigungsmittel bedeutet,
ein lebendes Opfer allein die finsteren Mächte verscihnen kann.
Fälle von Abschlarhtuiig neugeborener Kinder sind nicht nur
bei den Skopzy und Chlysty. sondern noch bei vielen anderen
Sekten zu findenA) Gewöhnlich wird bei diesen Barbaren die
Jtmgfrau, die man als Bogorodiza odar Gottesmutter erklärt,
schon bei ihrer Installation mit diesen Worten begrüßt : „Ge-
benedeit seiest du unter den Weibern, du wirst einen Heiland
gebären 1" Dann entkleidet man sie, legt sie auf einen Altar
und treibt einen schändlichen Kultus mit ihrem nackten Leibe ;
die Fanatiker drangen sich hemi, um ihn an allen Stellen ab-
zuküssen. Man betet, der heilige Geist möge der hdligen
Jimgfrau ein Christuslein machen, auf daß es den Frommen
öbers Jahr vergönnt wäre, von diesem heiligen Leibe zu kom-
munizieren. Wird die Bogorodiza während der nun folgenden
Oig:ie geschwängert, so wird übers Jahr mit dem Neugeborenen
wie erzahlt verfahren. Bei anderen Sektengruppen ist die Bo-
gorodiza selbst das Opfer. Unter wilden Tänzen und Ge*
') Die Gnostiker wurden der gleichen Verbrechen l>«schuldigt. Sie sollen
die in ihren nächtlichen Zusammenkünften getengten Kinder >;leich nach der
Geburt zu Brei zerstampft, den Brei mit wohlriechendem Gewiirz vermischt
«od d«n Gttnbigen mm Abendmahl vacgeMtMt haben. Das gleiche wird nach-
gesagt den Sekten der Barbdiotae, Borbodani, Coddiani, Naaeini, Soeratitae,
Stratiotici. 7affhaiiii Die lombardischen Fratricelli des dreizehnten Jahrhunderts,
welche die Weibergemeinschaft eingeführt hatten " -xrfen die aus ihrer Hurerei
erteogten Kinder bei ihren Versammlungen so lange von einer Hand in die
andere im Kirdae herum, bis die amen Wörmer starben. Derjenige, in dessen
Hand etat soldMa IQnd gende ▼erendete, «mde asm Hohepriester erfeUrt.
Daa gleiche irie ▼on den PSratncelli wird aach von den ^^m^Wf** berichtet.
Es waren aber beide Sdrten vielleicht nvr eine einxige unter venebiedenen
Namen.
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sangen scliiRidtt man ihr die linke Brust ab und verteilt
Stücke davon an die Gläubigen.
Es ist die richtige Entwickelung, daß sich an die Selbst-
verstümmelung die Opferung anschließt, daß auf die Kastra-
tion der Kindesmord. Frauenmord und Mannerniord. der Selbst-
mord des einzelnen und der Massenselbstmord folgen. Im
Jahre 1879 iuitte das Gericht in Odessa auf einmal vier Fälle
dieser Art zu verhandeln: eine Selbstgeißelung, eine gewalt-
same Kastrierung, einen Fall von Selbstverbrennung und einen
Fall von Kreuzigung. Eine Sekte heißt geradezu: Kinder-
mörder; sie betrachtet es als heiligste Pflicht, die Neugebore-
nen in den Hinunel zu senden, um ihnen die Leiden des ir-
dischen, vom Teufel regierten Reiches zu ersparen. Bei der
Sekte der Feodosianer, welche lehren : ,,Der Jüngling soll sich
kein Mädchen nahe kommen lassen, der Ehemann setner Gattm
nicht beiwohnen, die Jungfrau soll keinen Mann erhören, die
Ehefrau keine IQnder zeugen," bei diesen Fanatikern werden
Eheleute, die Kinder bekotnmen, aus der Gemeinde ausge-
stoßen, falls sie es nicht vorziehen, die Neugeborenen sofort
umziibringen oder zur Sühne für ihre Sünden lebendig zu
begraben. Die menschliche Seele, sagen die Feodosianer,
kommt bei dem Zeugungsakt nicht von Gott, sondern vom
Teufel. In neuester Zeit hat eine Gruppe dieser Sektierer
in Moskau und Riga Waisenhäuser errichtet, wohin sie ihre
Kinder abgeben, die dann erzogen werden, ohne jemals zu
erfahren, wer ihr Vater und ihre Mutter sind. Von den Feo-
dosiancni haben sich noch andere Dissidenten abgezweigt:
solche, welche die Ehe wieder eingeführt haben ; andere, welche
ein Konkubinat gestatten imd die Kinder, die sie zeugen, weder
töten noch in die Waisenhäuser verbannen. Die radikalen
*) Nach Haxthausens Bericht ist die heilige Junpfrnr. meist ein hi!hf^
Kind, fünfzehn bis sechzehn Jahre alt. Man setzt sie nackt in eine mit
nwmem Wasser gefüllte Wanne. Die Operation wird von alten Weitnum vor-
genommen. Um dem MMchen den Schmera so lindem, hilt man ihm ein
mdnli des heiligen Geistes vor Augen. Nach voUzofaner Operatioa hebt
man das nackte Mädchen auf einen Thron, and alle Anwesenden tanzen her-
um und singen: „Tanxen wir, springen wir den Zion^berg hinan." Plötzlich
verlöschen die Lichter, und eü beginnt im Dunkel euic wilde Orgie.
i
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»
Feodosianer wollen von allen diesen Abtrünnigen nichts wisbcn;
sie verharren starr bei der Ehelosigkeit und beim Kindermord.
Andere Sekten nehmen, um die Prüfungszeit auf dieser
hölhschen Erde zu beenden und beschleunigt ins Paradies
zu gelangen, Zuflucht zu dem einfachsten Mittel des Totschlags.
,,Auf dieser Welt," heißt es in dem Gesang einer solchen Sekte,
„ist kein Heil zu finden. Nur die Heuchelei bcheiisciu diese
Welt. Der Tod allein kann uns erretten. Gott hat die Welt "
verlassen, lasset uns zu ihm zurückkehren/* Es gibt zweierlei
Arten von TotscUagfanatikem : Mörder und Selbstmörder. Da
sind zunächst jene, die im Volksmunde einfach die Totschläger
heißen; sie behaupten, das Hunmelreich verschließe sich nur
jenen, die eines gewaltsamen Todes sterben. Die Würger
sind des gleichen Glaubens. Die Lebendverstorbenen betrach-
ten das Leben auf Erden als eine Strafe und die Geburt eines
Kindes als ein Unglück. Im Jahre 1894 entstand eine neue
Sekte, deren Anhänger sidi „Die unter dem Boden Leben-
den" nannten.^) Sie sind vorzüglich organisiert, werden von
Ältesten geldtet und haben zahllose unterirdische Schlupf-
winkel, in denen sie ihre Versammlungen abhalten und Vaga-
bunden und entlaufenen Rekruten Zuflucht gewähren. Haupt«
sachlich aber nehmen sie Schwerkranke auf. Diese werden
getauft, erhalten einen neuen Vornamen und den Beinamen:
Knecht Gottes, werden dann in die Höhlen gesperrt und dem
Hungertode preisgegeben. Ebenfalls jüngsten Datums ist die
Sekte der Kitzler, bei deren Versammlungen die Männer die
Frauen so lange kitzeln, bis diese ohnmächtig werden ; man
^^nrdeckte die Sekte in Charjkow, als ein junges Mädchen in-
folge des Lachkrampfes verschied
Zu den ähesten Sekten geh(jrt n jene, \velch(» den Selbst-
mord predigen.^; Diese Sektierer fand man hauptsächlich
*) II(>>in<i.ii>HMiai. — Die abendländische Sekte der Lothardi, die im vier-
«efanteo Jahrhandert bekannt war, darf wohl als eine dieser russischen Sekte
verwandte bezeichnet werden. Die Lothardi erkl&rten. Gott bekümmere sich
nidit darum, was drei Ellen tief unter der Eide geschehe; sie hielten deshalb
an unterirdischen Stellen ihr»» VorsammKingcn und verübten hk-r die furcht-
barsten Schandtaten, (jeiüclungen, Ausschweitungen, Mord und Selbstmord.
>) Der Ketzer Montanus, der sich um i;o fOr den von Christus ver-
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unter den Pomorzyi), jenen Raßkoljniki, die sich vor den Ver-
folgungen der Behörden an die nördlichen Meeresküsten ge
flüchte t hatten. Zur Zeit der Zarin Elisabeth Petrowna machte
sich besonders die Sekte der FiHponen, gen<imu nach ihrem
Stifter Filipon, durch ihre Ausschreitungen berüchtigt. Fili
pon lehrte, es gebe keinen anderen Zaren als den Zaren des
Himmels und keine andere Hierarchie als die der Engel. Die
' Regierung ergriff gegen diese Sektierer zunächst Maßregeln
nach Peters Art; man legte ihnen doppelte Steuern auf» und
der Staatsschatz stand sich gut dabei, man konnte durch Ver-
dächtigung unfreiwillige Sektierer schaffen und die Staats-
einnahmen nach Belieben in die Höhe schrauben. Die Vier*
folgten und Bedrohten verließen massenhaft ihre Heimstatten
und flüchteten in die Wälder, in verlassene Gegendeni-xumeist
an die Ufer des Eismeeres. Aber die zarische Gewalt reichte
auch dorthin, man h^te die Flüchtlinge wie wilde Here; so
wurde der religiöse Wahnsinn erzeugt, man sah nur im Selbst-
mord die Rettung, und fühlte, daß Filipon recht hatte, wenn
er predigte: ,.Das Ende der Welt ist nahe, der Antichrist
herrscht auf Erden, betet nicht mehr in den Kirchen ge-
horchet nicht der Zarin. Die uns verfolgen, sind die Vorläufer
und Diener des Antichrist, wir aber die Diener Gottes." Und
man gehorchte ihm freudig, als er erklärte : „Nur die Selbst-
en tleibung ist der Weg zur Seligkeit. Nur das Feuer kann
die Seelen von den Flecken dieser dem Antichrist verfallenen
Welt reinigen." Ein Vater schloß sieh, von Filipons Worten
begeistert, mit seiner Frau und seinen Kindern in <*iner Holz-
hütte ein, und der Prophet selbst legte Strt)h und Reisig rund-
um und zündete es an. Bald darauf brach eine wahre Selbst-
verbrenn un;4;sepidemie aus, in unzähligen Orten triumphierten
die Selbstverbrenner über ihre Verfolger. Nahten sich die
sprochencn heiligen Geist ausgab, endete durch Selbstmord: rwci seiner Mai-
tressen und Prophetinnen, Friscilla unri vinxiniilla, folgten seinem Beispiel.
Die Lehre der Patriciani im vierten Jahrhundert hieß: Nicht Gott, sondern
Satan habe die Wdt und das menschliche Fleisch goaehaffen; es sei daher
woU gestattefc, sidi aAbtt umsnbriiigm, um sich von solchem Fleisch cv bafteten.
') lloMopie, Gegend an der Kfiste.
^) (jaMOHcnramif,, Sclbstvprbrenner. nnnnte man jeden Ka0k(4jiuk. der
sich auf di^ Weise vor den Schergen der Zarin rettete.
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Soldaten dt r Zarin irgend einer Zufluchtsstätte der Sektierer,
so schlössen sich diese schnell in ihren Mäusern ein, die sie
zuvor reichlich mit brennbaren Stoffen angefüllt Ii. tuen, und
legten Feuer an. Vom Weißen Meere bis zum Ural und in
die Schneewilsten Sibiriens hinein flammten die riesigen
Scheiterhaufen auf. hi der Umgebung von Kargopol ver-
braimton sich auf einmal 240, an einem anderen Orte 400,
in der Umgebung von Nischny-Nowgorod 600, im Distrikt
von Olonez gar 3000 Sektierer. Zuletzt vereinigte Filipon selbst
einige Dutiend seiner Intimsten, schloß sich mit ihnen in einer
Hüne am Ufer eines Flusses ein und fand gleich seinen An-
hängern den seligen Feuertod.
Ein Nachfolger Filipons war Domitian, der sich mit seiner
ganzen Gemeinde vob 1700 Personen verbrannte. Dem Do-
mitian folgte Schaposchnikow, der sich mit seinen Anhängern
in der Nähe von Tobolsk durch den Feuertod das Paradies
erschloß. Selbstverbrenner sind auch die Morelschtschiki, über
deren Lehren man nichts weiß, da man von ihnen nur durch
ihre Katastrofdien hört. Seit hundert Jahren ereignet es sich
fast alljährlich, daß bald im Norden, bald in Sibirien oder an
der Wolga eine Gruppe dieser Sekte sich in einer unterirdischen
Höhle einschließt, alle Zugänge durch Holz, Stroh und Reisig
verstopft, das Bremimaterial entzündet und unter wilden Ge-
sängen den Flammentod erwartet. Schon die Reisenden Pallas,
Gmelin und Georgi haben davon zu Ende des achtzehnten
Jahrhunderts erzählt, und seither gehören derartige Berichte
aus jeder neueren Epoche der russischen Sittengeschichte zu
den ständigen, im Wesen immer unveränderten, nur mit an-
deren Namen und Ziffern versehenen Wiederholungen. Selten
sind die Fälle, daß unter der^ Seüistverbrennern Reue ent-
steht. Eines Abends versammelten sich achtzig Sclbstmord-
kandidaten in einem unterirdischen Räume, um die Seligkeit
im Feuertode zu finden. Da wTjrde eine Frau wankelmütig und
entfloh. Si( verständigte die Behörde. Abt^r als die Morelsch-
tschiki die Folizei kommen sahen, setzten sie besclileunigt den
Holzstoß in Flammen und riefen: ,,Der .Antichrist kommt, laßt
uns sterben, damit wir nicht lebend in die Gewalt des Feindes
fallen!"
._^ kj 1^ -0 Google
— 252 —
n
Andere Selbstmordsckten halten den Tod durch den
Hunger oder das Beil für seliger als den Feuertod. Im
Jahre 1802 lehrte ein gewisser Alexej Juschkin. wie einst Fi-
lipon, den Tod durch Selbstverbrennunu Li a urdc von der
Behörde unschädlich gemacht. Fünfundzwanzig Jahre später
erhob sich sein Sohn als Prophet, der das Heil im Selbstmord
durch das Beil lehrte. Für einen bestimmten Tag wurde das
Blutfest angesetzt. Zuerst brachten die Männer ihre Weiber
und Kinder um. Dann begaben sie sich einer nach dem anderen
zu dem Propheten Juschkin, legten einer nach dem anderen
das Haupt auf einen Block und empfingen jubelnd den Todes-
streich.!) Haxthausen enählte, daß um 1840 auf dem Gute
des Edelmannes Cur jew am linken Wolgaufer die Bauern eines
Tages einander aus religiösem Wahnsinn abschlachteten. Nur
eine junge Frau entfloh und rief Hilfe herbei. Als diese kam,
war es zu spat. 47 Leichen lagen da, bloß zwei Menschen
lebten noch. Diese zwei wurden mit der Knute bestraft, aber
bei jedem Schlage frohlockten und dankten sie, denn sie hatten
jetzt das Martyrium erlangt.
Den Hungertod als gottgefällig lehrte der Prophet Schod- >
kin unter der Regierung Alexanders II. im Gouvernement
Perm. Schodkin predigte, daß der Weltuntergang bevorstehe
und der Antichrist auf Erden herrsche. Es gebe nur eine
Rettung: sich in einer Höhle in einem Walde zu vergraben
und den Hungertod zu erwarten. In Sterhekleidern zogen der
Prophet und seine Anhänger mit ihren Familien in eine Höhle,
hier schw oren sie den Satan ab, bestreuten ihr Haupt mit Erde
und verschlossen den Eingang, Plötzlich bemerkte man, daß
zwei Weiber entflohen waren. Da beschloß der Prophet aus
Furcht vor Verrat das ILnde der Frommen gewaltsam zu be-
schleunigen, ehe die Schergen des Antichrist das Werk Gottes
stören würden. ..Die Stunde des Todes ist gekommen," rief
er, ,.seid ihr bereit?" ..Wir sind bereit," lautete die .'\nt-
wort. Da ergriff man zunächst die Rinder und ersclilug sie.
Dann tötete man die Weiber, hierauf begann man die Männer 1
>) Löwenstimm, Der Fanatismus als yuelle des Verbrechens, Berlin 1899.
— Hans Rm, Die Vcfitmtigeii in der Rdigion, Leipzig, S. 419.
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— 2B3 —
abmschlachten. In diesem Augenblick kam die Polizei; sie
konnte nur mehr den Propheten selbst und drei junge Manner
retten.
Vor einigen Jahren begründete der Bauer Malewan im
Städtchen Taraschtschi des Kijewschen Gouvernements eine
Sekte. Malewan 1) lehrte: „Das Weltende ist nahe und es
wird eine andere Welt entstehen, in der Gleichheit und Brüder-
lichkeit Wahrheit und Gerechtigkeit, eine Seligkeit ohne Tod
und ohne Verwesung herrschen werden. Ks wird keine Sunden,
keine Gerichte, keine Behörden, keine .Arbeit und keine Sorgen
mehr gelji n " In dieser Erwartung des Weltenwechsels halten
es die Maiewanzy für unnötig, sich jetzt noch weiter zu plagen.
Sie verachten jeden festen Besitz, verkaufen, was sie haben und
ziehen ruhelos von Ort zu Ort, um das Heil der Zukunft /u
suchen. Diese neue Sekte ist zweifellos eine Abart dei alten
Wanderer -i, deren i'rophet zu Ende des achtzehnten |ahr-
hunderts der Soldat Jefim war, welcher desertierte und in curi
Einsiedelei der Feodosianer Zuflucht fand. Er lehrte gleich
vielen seiner Konkurrenten, daß nicht das Reich Gottes, sondern
das Reich Satans auf Erden sei. Deshalb soll man der Obrig-
keit und dem Zaren allen Gehorsam verweigern. Die Wan*
derer befindoi sich ewig auf der Flucht vor dem Antichrist
und seinen Schergen, leben in Höhlen oder Wäldern, haben
weder Haus noch Familie. Heimatlos sein ist ihnen heiligstes
GesetXj darin liegt ihre Seligkeit. Sie vernichten alle ihre Iden-
titätsnachweise, w<dlen nichts von Pässen wissen, denn nur
der, vpn dem man nicht sagen kann, wer und woher er sei,
ist ein wahrer Christ. Als im Jahre 1897 in Rußland eine
allgemeine Volkszählung stattfand, brachten sich im Kreise
Teraspol des Chersonschen Gouvernements mehrere Dutzend
Wanderer lieber um, ehe sie sich in die Volkszählungslisten •
hätten aufnehmen lassen, auf denen das Siegel des Antichrist
prangte. Sie gruben sich Gräber, stiegen ergeben hinab, legten
sich nieder und ließen sich bei lebendigem Leibe verschütten.
Er wude kim daisnf von der Regierung iu IcnmhMis von Kasanj
gesperrt und befindet sich gegen wirtig noch dort.
«) CTpaimmai, Wanderer, Pilger, FfemdUage. Ukn nennt sie auch
Fiachtlinfe oder L&oiUnge, &bryau»
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— 264 —
Die Wanderer gehören xn den grauenvollsten unter den.
russischen Sektierern. Sie xdgen wie in einein Kaleidoskop
die schlechtesten Charaktereigenschaften des russischen Volkes :
den Zug des Nomaden, welcher sich nirgends heimisch fühlt ;
die Wildheit in den Neigungen zum weiblichen Geschlecht ;
die Verachtung aller Begriffe von Ehrlichkeit. Sie verwerfen
die I'^he, aber führen auf ihren rastlosen Wanderzugen förm-
liche Harems mit sich. Sie halten den Diebstahl für gestattet,
weil die- Welt ohnehin dem Teufel verfallen sei Sie kennen
wohl die laufe aber sie gebrauchen nur Wasser, das vom
Himmel kommt, also Regen wasser; denn die Flüsse und 1 lache,
hat der Antichrist verunreinigt. Sie haben auch Heiligen-
bilder, hängen diese aber nur an Bäumen in abgelegenen
Hainen auf. Das sind Beweise, wie tief das Heidentum im
russischen Volke noch wurzelt, es ist der unveränderte Baum-
kultus. Die Organisation der Stranniki oder Wanderer ist eine
gUliiieiide. Sie besitzen in allen Städten des Reiches sogenannte
Gastfreunde, die um die Behörden zu täuschen als brave Bür-
ger leben, ihre Geschälte betreiben, ihre Steuern pünktlich
zahlen und selbst die Kirchen besuchen. Diese Helfershelfer
sind unentbehrlich, um den Wanderern im Notfalle einen Zu-
fluchtsort und bei ihren Zügen durch die Städte eine Herberge
zu sichern, da die Pilger bei Profanen weder wohnen noch
essen dürfen. Erkrankt ein Wanderer, so wird er in Sterbe-
gewänder gehüllt und auf ein Bett gelegt. Ein anderes Mit-
glied der Gemeinde erscheint, mit einem roten Hemde angetan,
legt dem Patienten ein Kissen in rotem Überzug auf das
Gesicht, setzt sich darauf und bleibt so lange, bis der Kranke
erstickt ist. Im Volksmunde nennt man dies den roten Tod.
Es sei daran erinnert, daß auch bei den Skopzy ein rotes Tuch
.eine Rolle als Erkennungszeichen spielt.
Die Sekte der Wanderer rekrutiert sich namenthch in
Zeiten der Wirren aus Deserteuren und entlaufenen Sträf-
lingen. Unter Nikolaj 1., wo der Militärdienst gewöhnlich
fünfundzwanzig Jahre dauerte und den bürgerlichen Tod be-
deutete, flüchteten sich Tausende zu den Stranniki, die in
ihren Schlupfwinkeln in den Wäldern von Jaroßlaw, l\rm
und namentlich in den nordöstlichen Gouvernements den Deser-
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teuren unauffindbare Verstecke boten. Unter Alexander II.
war ein Deserteur namens Nikonow das Oberhaupt der Sekte.
Man verhaftete ihn mehrmals, er entfloh immer wieder. Die
Kevolutionsepoche unter Nikolaj II. hat besonders der Sekte
der Stranniki unzählbare Tausende Anhänger zugeführt, ganze
Scharen von Räuberbanden haben sich unter dem Deckmantel
des religiösen Fanatismus ausgebreitot. hausen in den Wäldern,
sammeln sich in unzugänglichen Verstecken und brechen dann
über die Dnrfer herein, morden, rauben, vergewaltigen Frauen
und schänden Kinder. Jede Untat, die man begeht, ist ein
heiliges Werk zu größerer F^hre Gottes, denn man bekämptt
und schädigt das Reich des -Antichrist, die Macht des Teufels.
In der beispiellosen Verwirrung, welche die Regierungen Jahr-
hunderte hindurch systematisch vorbereitet liaben, feiert nun
der groteske Wahnsinn der russischen Sektierer seine größten
Triumphe. In Strömen fließt das Blut, das dem tierischen
Wollüstling prickelnden Reiz verschafft, und aus der rauchen
dm Erde steigen immerfort neue phantastische Gebilde her-
vor, \m\ das Chaos zu vervollständigen. Was die Sekten in
ihrem Irrwahn erstrebten, das hat die zarische Regierung selbst
vollbracht: alle Bande der Ordnung sind gelöst, es gibt keine
Gesetze, keine Autorität, keine Pflichten und keine Rechte
mehr.
DRITTER TEIL:
Russische Laster
13. Ehrbegriff, Duell und Vefbrechen. —
X4. Lügensucht — 15. Diebstahl. —
j6. Korruption. — 17. Trunksucht. —
z8. BettelweMn.
13- Ehrbegriff, Duell und Verbrechen.
Das russische Wort ffir Ehre — Tcadittoaette Untugendeii der Russen — All-
gemeinheit 4<s Diebstahls — Der Großfürst als MülaoaMidieb — Komiptka
in der Armee — Duldung von Ehrenbeleidigungen — Einschätzung der
Bürgerehre — Satisfaktion für Beleidigung \'ornehnier T ^^ibesstrafen und
Geldstrafen für Schläge und Beschimpfungen — Die Genugtuung iur Männer
und ffir Fmum — Amnerlrang fiber kalmficididie Ehrbegriffe und Strafea
für BeleldigDiigai ~ EhrankodAx lUfhuinas II. — Ein Ptuncbale f&r Be>
schimpfnngcn — Das Geschäft mit der Ehre — Zehn Moralgebote — Duell-
wesen — Duell auf Peitschen — Moderne Standesehre — Puschkins Duell
— Verbrechen in Rußland — Seltsame Statistüc — Lügenhaftigkeit der
Rcfiening — Uiaadwa da Vertnechen.
Der Ehrbegriff ist dem Russen etwas durchaus Fremdes.
Bis sum achtzehnten Jahrhundert hatte die russische Sprache
nicht einmal ein Wort für Ehre.^) Seither findet man im
Wörterbuch das Wort necTb als Notbehelf. Peter der Große
mußte selbst seinen Feldherren den soldatischen Ehrb^riff
erst klarmachen.*) Bei Hoch und Niedrig fehlte jedes Ver-
ständnis für die Schändlichkeit der Lüge, des Stehlens, des
Raubens und sogar des Mordens. Noch jetzt kann man be-
haupten, daß von zehn Russen wenigstens fünf zwischen Mein
und Dein keinen Unterschied machen und den Falscheid als
kein Verbrechen ansehen. Wie einst ist auch heute derjenige
am meisten geachtet, der am geschicktesten zu betrügen weiß.
Die Minister imd Ministergehilfen stehlen und betrügen ebenso
schamlos und öffentlich wie der letzte Tschinownik; der Groß-
fürst Nikoiaj Nikülajeuitsch der Altere ließ im letzten Türken-
kriege ungezählte MUlionen, die der Verpflegung der Armee
..Iis out si peu de connoissance de THoniieur pris dans aon v6ritabl«
sens. qu'il n'y a dans leur langne aucun mot qui le pnisse exprimer." Capi-
taiae Jean Perry, Etat present de la Grande-Russte, 1717. S. 308.
■) \ gl. Seite 14.
17»
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dienen sollten^ in seinen Tasdien verschwinden; und ebenso
machten es im letzten Kriege mit Japan die meisten Feld-
herren imd Admirale. ,,]^in ehrlicher Mann," heißt es im
Sprichwort, „ein dummer Mann". Kin bestrafter Mann gilt
nicht als entehrt. General^ Priester, Hofmann oder Kaufmann,
für sie alle ist das Gefängnis eine Station, an der zu halten
sie alltäglich bereit sind. Nach verbüßter Strafe kehrt man
auf seinen Posten oder in seine Ehrcnstcllungen zurück, und
in der Schätzung seiner Mitbürger hat man nichts verloren.
Früher wurden selbst die höchsten Persönlichkeiten, wenn sie
sich die l'ngnade des Herrschers zugezogen, mit dem Knut
oder der Peitsche gezüchtigt. Diese Züchtigung entehrte sie
keineswegs; sie verschmerzten die Tracht Prügel und bheben
auch nach der Bestrafung dieselben hohen und angesehenen
Herrschaften, die sie vorher gewesen.
Das, was wir Ehrenbeleidjgung neimen, liiBt den richtigen
Moskowiter kalt. Wenn man von jemandem beleidigt wird,
steckt man die Beleidigung ein ohne daraus eine Affäre zu
machen. Wurde man in früheren Zeiten von jemandem ge-
schlagen, so durfte man nicht zurückschlagen, sondern muBte,
wenn man auf Genugtuung Anspruch machte, die Sache vor
Gericht bringen. Die Reparierung einer Bürgerdire erfolgte
gewöhnlich durch eine Geldstrafe, die höchstens zwei Rubel
betrug. In einem von mir schon häufig erwähnten Buche,
das die Religion der Moskowiter behandelt, aber auch vor-
trefflich die Sitten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhun-
derts schildert, heißt es: „Die Scheit- und Schmach*Worte
lassen sie ungestrafft / dergestalt / daß nichts gemeiners
ist / als zu sehen / wie sie sich mit dem Maul herum
beissen. Das gemeine Volck thut es hierinnen den alten Weibern
nach / und kommt also selten zu den Schlägen.*' Den
Vornehmen bot die Justiz allerdings eine größere Genugtuung
und zwar nach einem bestimmten Tarif in barem Gelde oder
in einer körperlichen Züchtigung des Beleidigers; die Wahl
hatte der Beleidigte.') Die Körperstrafe bestand in Stock-
*) Religion der Moscowitcr, 17 12. Seite 96,
S) Capitaine Margeret« Eetatde l'Empire de Rvasie« 1669= tSai, S. itS.
— 261 —
schlagen^) auf den nackten Rücken und den nackten Hintern.
Die Exekution vollzog der Henker in Gegenwart des Richters,
des beleidigten und aller jener, die bei der Beleidigung an-
wesend waren. Die Zahl der Schläge bestimmte der Richter;
erst wenn dieser: genug! rief, hörte der Henker j.ul. Die
Geldstratc war folgendermaßen festgesetzt; Der Beleidiger
mußte dem Beleidigten so viel zahlen, als dieser jährlichen Gehalt
vom Zaren hatte. War der Beleidigte verheiratet, so mußte
der Beteidiger das Doppelte entrichten. Wenn die Beleidigung
euie besonders schwere war, so mußte der Beleidiger sowohl
die Batogen- als die Geldstrafe erdulden. In einigen Fällen
wurde der Verurteilte sogar durch die Stadt gepeitscht und
dann verbannt.
Einen sinnigen Strafkodex für Ehrenbeleidigungen schuf
die große Katharina; sie befahl Derjenige, der einen Bürger
mündlich oder schriftlich beleidigt, muß die Summe bezahlen,
die der Beleidigte alljährlich an die Stadt und den Staats-
schatz als Steuern entrichtet. Derjenige, der einen Bürger
mit der bloßen Hand, ohne Waffen, schlägt : zahlt als Strafe
das Doppelte von dem, was der Beleidigte an jährlichen Steuern
leistet. Derjenige, der die Frau eines Bürgers beleidigt, muß
ihr das Doppelte von dem zahlen, was ihr Mann jährlich
an Steuern abliefert. Wenn die beleidigte Frau auch selbst
Steuern entrichtet, muß ihr der Beleidiger das Doppelte von
dem geben, was sie und ihr Mann jährlich dem Staate und
der Stadt zahlen. Derjenige, der die Tochter eines Bürgers
beleidigt, muß viermal soviel zahlen, als die jährlichen Steuern
des Vaters und der Mutter betragen. Derjenige, der die er-
wachsenen Kinder eines Bürgers beleidigt, muß die Hälfte
der jährlichen Steuern, welche die lUicrn der Kuider entrichten,
als Strafe zahlen. Derjenige, der den erwachNcnen Sohn eines
Bürgers beleidigt, bezahlt die Summe, die den jährlichen
Steuern des Vaters des Beleidigten entspricht. — Am schlimm-
sten war mau also daran, ssLim man die Tochter eines Bur-
gers beleidigte. Die Kaiserin begnügte sich aber nicht mit
1) Das war die berüchtigte Straie der Batogeo, von 6aTun>, Stockschlag.
I) Gtbairnttttse ^nm RiiOland. KegemburK 1^44. I 234.
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— 282 —
diesem Tarif, sondern suchte aus den Ehrenbeleidigungen auch
C'inon Profit für ihre Lieblingsanstalt, das Findelhaus. heraus-
zuschlagen. Sic crHeß demnach eine Verordnung, daß ein
Bürger, der dem Findelhaus eine Summe von 25 — lOOO Rubel
zuwende, das Recht erhalte, für jede Beleidigung dieselbe
Summe, di(^ er dem I'indelhaus geschenkt, für jeden Schlag
aber das Doppelte dieser Summe von dem Beleidiger zu for-
dern. Durch diese Verordnung wurde eine merkwürdige Moral
gezüchtet. Man versicherte sich mit irgend einer Summe beim
Findelhaus und trachtete dann, soviel als möglich beleidigt
zu werden. Je hoher die Taxe, die man dem Findelhaus ent-
richtete, desto glänzender das Geschäft, das man mit dem Be-
leidigtwerden machen konnte.^) Richtiger vennag man den
traurigen Zustand der nissischen Sitte und Sittlichkeit nicht
zu illustrieren als durch diesen Tarif Katharinas, durch diesen
seltsamen Ehrenkodex der Kaiserin, die sich anmaßte, die
Freundin der aufgeklartesten Geister des achtzehnten Jahr-
hunderts genannt zu werden. Dieselbe Katharina inspirierte
die satirische Zeitschrift „Buntes Allerlei", in der die Mingel
und Laster der Gesellschaft verspottet und der russischen Ver-
waltung die folgenden neuen zehn Moralgebote gepredigt wur-
den: Du sollst nicht Handsalben nehmen; du sollst eine An-
gelegenheit, die von dir abhängt, nicht verschlqipen; du sollst
keine Ränke schmieden; du sollst mit den Leuten nicht grob
^) Selbst die halbwilden Kilmacken haben müu EbxgefOhl als die
Runen. Bei ümen iat lar Sehläge. je nach dem Range der beleidigten Per-
sonen und der Heftigkeit der verübten Gewalttätigkeiten, die Strafe so ge-
nau l>estimnit, daß man sogar festgesetzt hat. wieviel für einen Zahn, ein
Ohr und einen jeden Finger an der Unken oder rechten Hand gutgetan
werden soll. Eltern oder Schwieger, die ihre Kinder ohne Ursache schlagen,
sind ebenlalb straffällig. Ferner gibt es Strafen für folgende Beschimpfungen :
wenn man einen Mann am Haare oder Barte zerrt, ihm die Qaatta von der
Mütze reißt, ihm Sand oder Speichel im Gesicht wirft; oder wenn man eine
Frau an den Zöpfen zerrt, oder nach ihren Brüsten greift; im letzteren
Falle rind die Strafen geringer, je älter die Frau bt. Die Elm ist bei den
Kalmflcken sogar hAher eingeechätzt als das Leben. Die Bestrafungen ffir
Beleidigungen sind empfindlicher als die Strafen f ür To<lschlag ; selbst Eltetn-
mord zieht weder Leben<;- noch Leibesstrafen nach sich. Vgl. Merkvirürdigo
keilen aus Pallas Reisen. 1773. Seite 205.
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_ 26S —
sein; vertröste die Bittsteller nicht auf morgen; mache aus
den Akten und Gesetzen keine unl>erechtie:ten Auszüge; gib
dich nicht mit Ohrenbläserei ab; betrinke dich nicht; du sollst
dich jeden Tag kämmen und rein halten; wirf die Feigheit
den einen und die Frechheit den anderen gegenüber ab. Ka
tharina erkannte und verspottete also seihst die alten traditio
nellen Untugenden des russischen Volkes. Aber sie tat nichts,
um sie zu bekämpfen. Ihr ausgesprochenes Prinzip war: Leben
und leben lassen! und eine andere satirische Zeitschrift von
damals, „Trutenj"^), warf der Kaiserin berechtigterweise mit
kähner Offenheit moralischen Indifferentismus vor*); denn es
herrschte tatsächtich unter der Regierung der aufgeldärten
Katharina eine grenzenlose VerwiiVung aller Sitten und Ehr-
begriffe.
Die französierende Kultur jener Zeit hatte noch nicht ein
einziges Übel der alten Zeiten, die sich unter der schützenden
Decke der trägen Tradition fortgefressen hatten, ausgerottet
oder selbst anzutasten gewagt; und trotzdem ließ Katharina
in das Volk und die Gesellschaft die Schlagworte der vor-
geschrittensten Zivilisation werfen, die natürlich niemand ver-
stand. Der Russe wußte noch immer nicht, was Ehre sei
oder was er mit der Ehre, die man ihm aufdrängte, anfangen
sollte: und da predigte man ihm eindringlich die Lehre von
der höheren Standesehre, sagte man dem Edebnanne, der
Büiger könne sich die Beleidigung seiner Ehre mit Geld be-
zahlen lassen, der Aristokrat aber müsse Blut fordern, müsse
sich duellieren. Die alten Russen kannten den Zweikampf
auf dem Schlachtfelde, aber das Duell als Mittel zur Rej)a-
rierung einer beleidigten Khrr war ihnen etwas Unbegreif-
liches geblieben. Wollte man cininal an eniem Beleidiger schär-
fere Rache nehmen, als sie die erwähnten Gesetze gewährten,
so räumte man den Gegner durch \'errat oder Meuchelmord
einfach aus dem Wege. Die Vornehmsten kannten zwar
eme Art Duell als Selbstjustiz, jedoch nicht ein Duell auf
1) Tp\Trni., die Drohne.
') Geschichte- der russischen Literatur von Alexander von ReinlioUit,
Leipzig (1886). S. 419 — 420,
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— 364 —
Säbel oder Pistolen, sondern auf Pritschen. „Die Knesen
und andere große Herren schlagen sich offt zu Pferde mit
Peitschen / und zerfetzen sich apff eine grausame Weise f
alsdcnn kommen sie bcy dem Czar, wenn ers erfährt / in Un-
gnaden."i) Bei Margeret-) heißt es: ,,I1 taui noter qu'il n'y
a nuls duels eniie-eux, ils ne portent nulles armes sinon ä la
guerre ou en quelque voyage." Nur zwischen Ausländem
fanden zuweilen I>uelle statt ; wurde einer von den Duellanten
verwnndetj so bestrafte man sowohl den Herausforderer als
den Geforderten so, als wenn sie einen Mord begangen hatten,
und da gab es keine Entschuldigung. Den Einheimischen
aber fiel es gar nicht ein, sich um der Ehre willen solchen
Gefahren auszusetzen. Noch aus der Zeit Peters des Großen
erzählt der preußische Legattonssekretär Johann Gotthilf
Vockerodt^): „Überhaupt konunt denen Russen unter allen
ausländischen Erfindungen nichts lächerlicher vor, als wenn
man ihnen vom point d'honneur spricht, und sie dadurch
bewegen wiU, etwas zu tim oder zu lassen. Daher hat auch
Petrus I. bei keinem seiner Befehle von seinen Russen willigeren
Gehorsam gefunden, als da er die Duelle verboten hat, und
noch bis auf den heutigen Tag wird kein russischer Offizier,
wenn er von seines gleichen geschimpfet wird, sich in den
Sinn kommen lassen, Satisfaction zu fordern, sondern sich
stricte nach der Vorschrift des Duellmandats achten, weiches
verordnet, daß S(ilchcnfalls der beleidigte Thcil klagen, und dar-
auf der Inquiraiii ihm öffentliche Abbitte und Reparation d'hon-
neur Tui) sollf , darf auch nicht besorgen, daß ihm desfalls
von emem seiner I-andsleute ein Vorwurf geschehe." Erst
die kulturelle Epoche Katharinas II., da man krampfhaft Eu-
ropa gleichzukommen sich bemühte, aber nur die Untugenden
Europas anzimehmen verstand brachte das Duellwesen nach
Rußland. Das berühmtest und traurigste Duell in Rußland
wurde ein halbes Jahrhundert später jenes vom 27. Januar
1837, in dem Alexander Puschkin, der größte Dichter Ruß-
S) Rdigion der Moacowitttr, 17». S. S7.
•) a. a. O. S. 118,
*) In Ernst Hemaaans Zeitgeoöss. Berichten sur Geschichte Rußlands
(RuBlMid unter Fvlar dem Graflan). Leipzig 1873. S. 112,
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Schornsteinfeger im Restaurant.
(Aus Jukiiwsky. Scciies popul.iires Kusses.i
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- 265 —
lands, von der Kugel des französischen Barons Dantes Hceckcrcn
fiel. Die Ursache zu diesem tragischen Duell lag in der Ver-
koniiüenhcit der höchsten Gesellschaft, in welcher Ehebruch
und Ausschweifung gleichsaiü zum guten Ton gehörten. So-
wohl Puschkin als sein Gegner gehörten zu den berüch-
tigtsten Frauenverfülirern der vornehmen Kreise; oft genug
gingen sie Arm in Arm auf Eroberungen aus. Nun mußte
es der Dichter erleben^ daß man seine eigene Frau im Ver-
dacht hatte» seinem Lastergenossen sum Opfer gefallen zu
sein. In früheren Zeiten setzte man sich über solchen Vep
dacht leichtmütiff hinweg; jetzt war es indessen schon Gesell-
schaftsgesetz geworden, die beleidigte Familienehre durch ein
Duell zu rehabilitieren. Und wie gewöhnlich wurde der un-
glückliche Ehemann selbst die Sühne für die Verletzung der
Ehie.
Der blutige Ehrenkodex existiert aber nur für die Ari>
stokratie. Der Bürger und gemeine Mann kümmert sicli da-
gegen auch heute nicht um seine sogenannte Ehre. Ihn kann
nichts beleidigen, denn Denunziantentum und Verleumdung
sind keine schändUchen Gewerbe; und Diebstahl oder Raub,
selbst Mord, ist ein Geschäft wie jedes andere, das einen Ver-
dienst gibt, wenn man geschickt ist, und Verdrießlichkeiten
einbringt, wenn man Pech hat. Kaiser Nikolaj I. seihst sah
namentlich den Diebstahl fiir ein solches Vergehen an, das
die Moral nicht benihrte ; und er bestrafte die Diebe einfach
in der Weise, daß er sie unter die Soldaten stecken ließ. Man
kann sich eine Vorstellung davon machen, welche Moral in
seiner Armee herrschen mußte.
Eine Statistik der Verbrechen in Rußland geiiurt vorläufig
zu den unlösbaren Aufgaben. Die offiziellen Angaben sind
vom Anfang bis zum Ende erlogen. Die Regierung gibt bei-
spielsweise einmal bek.inni. daß im Laufe eines Jahres im
ganzen Reiche etwa 2000 Verbrechen gegen das Eigentum
und 3000 gegen das Leben vorgekommen sind und daß die nie-
drigeren Vergehen die Zahl 7000 erreicht haben. Vergleicht
man diese offizielle Regierungsangabe mit den ebenfalls offi-
ziellen Mitteilungen der einzelnen Gouvemementsverwaltungen
aus demselben Jahre, so erfährt man ungefähr folgendes: in
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- 266 —
den Gefängnissen der Ostseeprovinzen befanden sich 17000
Personen, von denen mindestens die Hälfte zu schweren Kri-
minalstrafen verurteilt woirdcn. Berichte aus einigen anderen
Gouvernements ergeben weitere 300000 Verbrechen, die mit
Verbannung und Zwangsarbeit bestraft wurden. Von den leich-
teren \'ergehen nehmen wir nicht Notiz. Und dabei haben wir
etwa dreißig Gouvernements, aus denen uns keine Berichte
vorhegen, und die zwei größten Verbrecherbezirke Moskau und
Petersburg gar nicht berücksichtigt. In einem anderen Jahre
erzahlt die Übersicht der Regierung^ daß sich in sämtlichen
Staatsgefängnissen des Reiches etwa 40000 Personen be-
fanden; und dann erfährt man aus den Gouvemen^tszei-
tungen ganz zufällig, daß sich in jenem Jahre in den Gdfäng-
nissen von Moskau allein 20000, in jenen von Petersburg^
35000, in jenen von vierzig anderen Gouvernements rund
300000 Individuen befanden. Für diesen kleinen statistischen
Scherz sind nicht einmal die letzten Jahre gewählt worden, wo
infolge der allgemeinen Anarchie das Verbrechen schranken-
los regiert, sondern zwei der friedlichsten Jahre des neueren
Rußland. Die Lüge, die alles Russische verhüllt, verhindert
auch einen klaren Einblick in das Kapitel der Verbrechen in
Rußland. Es ist daher begreiflich, wenn selbst die schärfsten
Kritiker der russischen Zustände im Tone auf richtiger Wahrheit
und voller Überzeugung die Behauptung aufstellen, daß in
Rußland grobe und blutige Verbrechen selten vorkommen;
daß man im allgemeinen von Mord, Straßenraub und Ein-
bruch nicht häufig höre. Dies ist in der Natur jener Publi-
zität begründet, welche die russische Regierung gestattet. Die
Berichte der Regierung sind Lügen ; die Berichte der Gou-
vernements aber, aus denen man sich durch Vertrleirhe und
Addierungen ein einigermaßen richtiges Bild maclien kömite,
sind nicht jedem leicht zugänglich. In den populären Zei
tungen endlich findet man nur hier und da die krassesten Fälle
verzeichnet. Diese schwersten Verbrechen erwecken ein be-
sonderes Interesse, weil sie gleichzeitig ein blutiges Streiflicht
aui das, kulturelle und sittliche Niveau des \'olkes werfen.
Der träge Russe rafft sich zu einer Mordtat gewöhnlich nur
dann auf, wenn ihn der Rausch mutig macht oder der Zorn ver-
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— 267 —
wirrt, wenn ihn der Teufel seines Aberglaubens jagt oder der in
ihm schlummernde sadistische Trieb erwacht und senie Wol-
lust wild aufpeitscht. Typische Morde aus Aberglauben und
Wollust sind in den früheren Kapiteln schon geschildert wor-
den; wir werden den Verbrechen aus solchen Motiven noch
öfter in den späteren Kapiteln begegnen. Wenn man in Ruß-
land \ou alledem trotz des häufigen V'orkonuiiciis nicht viel
hört, so liegt dies auch daran, daß man dort überhaupt nicht
laut von etwas spricht, das irgendwie in Zusammenhang mit
der Staatsverwaltung gebracht werden könnte. Man entschließt
sich schwer dazu, was man erfahren hat, weiter zu berichten oder
zu veröffentlichen; man will nidit mit der Polizei zu tun be*
kommen, die zur Beruhigung der oberen Behörden wenigstens
die unschuldigen Anzeiger ins Gefängnis wirft, wenn es ihr
nicht gelingt, der mrklichen Täter habhaft zu werden.
14. Lügensucht.
Die Lügen der Regtereaden — Pobjedonofinws I^himethoden — Baron
Mayerberg fiher die Liigensiicht der Russen Allgemeinheit der Lügen-
haftigkeit — MeiUfid alltäglich — • Meinfid und Aberglaube - Das Geschäft
mit dem ialschen Eid — Bureau lur ia.lM;he Zeugen — Tanl für Mem-
eide — Religion und Lüge — Die Taufe des IMchten Bogrow — Die Lüge
in der Ehe — Die Sittengeechiclite Kotoiicliichinii — Graf Leon Tolatoj —
Gogol]' — Außeningen Schtschedrins und Nikitenkos — Sprichwörter über
Läge and Wahrheit — Ausländische Urteile über die russische Lügeosucht.
Alles ist auf Lüge aufgebaut und auf Täuschung berech-
net. Der Zar täuscht das Volk, und die Minister und Be-
hörden betriit^en einander und den Herrscher. Der Kaiser
schenkt dem Reiche eine V^erfassung und ein Parlament, und
denkt nur daran, wie er die Verfassung vernichten und die
Volksvertreter verderben konnte. Konstantin Pobjedonoßzew
schrieb ein Buch über russisches Zivilrecht und unterschlug
darin alle Rechtsreformen .Alexanders II., weil sie semcn An-
sichten widersprachen ; und in seinem Lehrbuch des Zivil-
rechtes für Studenten behandelte derselbe Pobjedonoßzew noch
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die Leibeigenschaft, die vor vierzig Jahren abgeschafft worden
ist, wie eine fortbestehende Institution.
„Die Moskowiter,** schrieb vor mehr als zweihundert Jahren
der Diplomat Mayerberg ,,sind von der Wiege an doppel-
züngig; in ihren Worten findet man niemals Aufrichtigkeit.
Lügen haken sie durch neue Lügen mit solcher Unverschämt-
heit aufrecht, daß man ihnen gegenüber an der eigenen Wahr-
haftigkeit zu zweifeln beginnen muß. Überführt man sie der
Lüge, so erröten sie nicht, sondern lächeln bloß."
Die Lüge ist das Gewöhnliche; das Überraschende nur,
wenn jemand einmal die Wahrheit sagt oder gar die Lüge zu
tadeln wagt. Die Zahl solcher Helden ist verschwindend, nie-
mand hat Lust, sich mit der Allgemeinheit in Widerspruch
zu setzen. Die Lüge herrscht nicht stärker in dieser oder jener
Pnrrinz, in dimr oder jener Gesellschaftsklasse, sondern über-
all gleich; sie ist nicht exklusiv, sie ist die wahre National-
untugend, die nivellierende Erbsünde. Man lugt nicht um
eines Vorteils willen, sondern um zu lügen. Man verspricht
nur, um das Versprechen nicht zu halten; man sagt: ja, und
denkt sofort: nein.
Der Meineid ist kein Verbrechen. „Sie glauben nicht /
daß es eine Sünde sey / einen falschen Eyd zum Nachtheil
ihres Feindes / und absonderlich eines Römisch-Catholbchen /
zu thun."^) Das angeborene Laster wird vom Aberglauben
tmterstützt : muß man vor Geridit einen Eid ablegen, so steckt
man ein Haar zwischen die Finger, das macht den Eid un-
gültig. Der Meineid ist eine Institution, das Handeln mit fal-
schen Zeugnissen und falschen Zeugen ein Geschäft wie jedes
andere. In einer chauvinistisch-russischen Zeitschrift') wurde
berichtet, daß sich in Lodz eine öffentliche Anstalt für falsche
Zeugnisse befinde; ein fester Tarif regelt die Ware: jede
Angelegenheit hat ihren Preis, das billigste Zeugnis kostet
drei, da^^ teuerste fünfzig Rubel. Aber nicht Lodz allein, jede
Stadt hat ihre eigene Institution für Meineid. Ist man in
Voyage en Moscovic, 16R8. Seite 134 und 161.
>) Religion der Moscowiter. S. 64.
») C'Btn., s. (jx'up. 1889.
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Verlegenheit, so kann man offen darüber mit sein^ Advo>
katen reden, und will dieser nichts davon wissen, so verhilft
die Polizei selbst zu einem zuverlässigen falschen Zeugen: ..Für
ein v/rnig Wodka kann man soviel Zeugrn hnbcn als man
braucht," sagt Fürst Meschtsrherski ,,man rufe sie, wohin
man wolle, und sie kommen; man sage ihnen, was sie be-
schwören sollen, und sie beschwören es."
Ist nicht die Orthodoxie selbst eine große Lüge? Viele
Millionen, welche die Kirchen besuchen, sind dem rechten
Glauben längst untreu geworden und zurückgekehrt in den
Schoß des Heidentums oder Anhänger barbarischer Sekten ge-
worden. Alljährlich treten Zehntausende Juden, Katholiken,
Protestanten zur Orthodoxie über; unter ihnen ist kein ein-
ziger Proselyt aus Überzeugung, jeder von den Bekehrten hat
nkhts anderes im Sinne als sich mit Hilfe dieser großen reli-
giösen Lüge vor Verfolgungen zu retten oder Karriere zu
machen. Der Dichter Bogrow trat vom Judenttmi zur Ortho-
doxie über, tun das Recht des Aufenthaltes in Petersburg zu
erwerben, das ihm Pobjedonoßzew um diesen Preis zugesagt
hatte; am Tage nach der Taufe aber wurde Bogrow aus der
Hauptstadt ausgewiesen, weil die Orthodoxie ihm eine fünf-
jährige Probezeit vorschrieb, während der er seine aufrichtige
Rechtgläubigkeit erweisen sollte.
Der Lüge in der Religion ist die Lüge in der Ehe würdig.
Kotoschichin hat die sexuelle Lüge des siebzehnten Jahrhun-
derts in seiner eigenartigen Schrift ,,Über Rußland unter der
Regierung des Zaren Alexej Michailowitsch" in naiver ein-
facher Weise beschrieben; ein Sohn des alten Rußland, hat
er die innere Fäulnis im russischen Leben und Staat der vor-
peterschen Epoche, die furchtbare Gewalt der Lüge, die da-
mals alle Stände verwüstete und alle Lebenslagen umlauerte,
geschildert^'); imd zweihundert jähre später hat der große
Leon Toistoj dasselbe Thema angeschlagen und gezeigt, daß
Rußland sich nicht ändert. Und wie haben Gogol j in seinem
„Revisor" oder in den „Toten Seelen * und der moderne Sa-
^) Im rpajTaaimin., \$. nnp. 1880.
2) Alexander von Reinhoidt, Geschichte der rnssischeh Literatur. S. 227.
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tiriker Saltykow-Schtschedrin in seinen Gouvernements Skiz-
zen"^), in seinen , .Zeichen der Zeit und Briefen aus der Pro-
vinz" die russische Lügensucht gegeißelt; keine Literatur der
W elt kennt eine solche Lügengestalt wie den Schtschedrinschen
Porfirij Petrowitsch, und kein Schriftsteller der alten oder neuen
Zeit, der alten oder neuen Welt hat in bezug auf die eigene
Nation das furchtbare Geständnis gemacht wie derselbe
Schtschedrin : „Seit undenklichen Zeiten," schrieb er, ,,hat man
beolnditet, daß der echte Russe stets zu einer Lüge bereit
ist. Es ist historisch erwiesen, daß schon in alten Zeiten
die von einem Rtissen gemachten Angaben niemals ernst ge-
nommen wurden.*' Ähnlich klagte Professor Nikitenko') : ,,Die
Lüge ist der Götze unserer Gesellschaft; die russische Gesell«
Schaft lügt in jeder Mnute ihres Daseins, in Wort und Tat,
bewußt und imbewußt."
Und die russischen Sprichwörter endlich sagen : Das Lügen
begann mit der Welt und wird erst mit der Welt sterben. Die
Wahrheit ist heilig, aber wir sind sündig. Die heilige Wahr-
heit ist gut, aber nicht für sterbliche Menschen. Die Wahr-
heit taugt nicht für die Praxis, man soll sie in einen gläsernen
Heiligenschrein stellen und anbeten. Trauere nicht um die
Wahrheit, sondern suche dich gut zu stellen mit der Falsch-
heit. Von der Falschheit lebt der Mensch. Die Falschheit ist
nicht das Kraut, woran man stirbt. Lügen ist nicht wie Teig
kauen, man erstickt nicht daran. Eine schmackhafte Lüge ist
besser als eine bittere Wahrheit. Der Roggen schmückt das
Feld, die Lüge die Sprache.
Nicht anders als die Russen sell>st d'-nken die Auslän i* i
„In der Handlung," sagte ein Reisender vor zwcihuu<lt it
Jahren^), ,, machen sich die Moscowiter kein Gewissen grau-
same Schwüre zu thun , jemehr sie aber schwören / je
weniger glauben ihnen die Teutschen." Der Engländer Perry *)
klagte ununterbrochen über die Pcrfidie der Russen. Als
Peler der Große Europa von der Kultivierung Rußlands über-
>) Deutidi unter dem Titel „Ans dem Vollnlebeii Rußlands".
*) „PyocKafl crapiiHa'*, 1890.
3} Religion der Moscowiter, anno 17 12. S. 65.
*) Etat present de la Grande-Russie. 17 17.
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zeugen wollte, erklärte .Die europäische Fama", daß man
„den moscowiti^rlif II Avisen nicht glauben darff."*) C'ustine
schrieb*): „Les Kusses sont encore persuades de l'efficacit^
du mcnsonge." Und der Engländer Lanin endlich fällte das
folgende Urteil -^j; „Der Wahrheitsliebe sind die Russen hoff-
nungslos bar. Sie thun es, man kann das ohne Übertreibung
sagen, den alten Kretensem in dieser Beziehung zuvor und
beschämen die heutigen Perser/*
15. Diebstahl.
\'crglcich zwischen Lügensucht und Stehlsucht — Die Freiheit des Wortes —
Der Diebstahl im Sprichwort — Ein Ausspruch Alexanders II. über die Stehl-
sucht der Russen — Mentscbikows Gaunereien und Ansichten — Katharinas
Gftmtling Soritsch als Bankaotenfälscher — Kausler Bestoschew als WechssU
fiUscber — Hoch« und hödutgeborene IMebe — Der Grundsatz der Polisei —
AUgmieuihcit d^ Stehlens — Vergleich tler Russen mit den Spartanern —
Stehlsucht und Treue des pemeinen Russen — Gesetze gegen den Diebstahl —
Todesstrafen — Leibesstrafen — Peters ABC der zehn Get)ote — Die Getxtte
des Chlystygottcft Dankl Ftlipowitoch — Das lOrdieD vom R«cht und Unrecht
— Der Diebatalil bei den Tacherkeeaen nnd Osseten — Bei den Kähnüchsa und
Kamtechadalen — Was die Russen am hebsten stehlen — Angst vor Versiegel-
tem — Diebstahl und Aberglaube — Den Dieben günstige Nächte — Diebstahl,
Aberglaube und Verbrechen — Die Totenband als Diebstalismaa — Menschen-
lett für Diebslichter — Mordtaten zur Gewinnung von Menschenfett — Ent-
deckung der Diebe durch Hexerei.
Wenn man von den Russen gesagt hat^): sie seien sich
beim Lügen keines Unrechts bewußt, denn sie leiden an völ-
liger Anästhesie in bezug liuf jenes sittliche Gefühl, das andere
Völker so empfindlich gegen die Lüge macht — so kann man
diesen Anspruch nicht auch auf ihren Hang zum Stehlen
anwenden. Die Lügensucht ist bei ihnen Naturanlage, die
durch Erziehung und das Beispiel der Regierenden verstärkt
«) Vgl. Seite 35.
«) a. a. O. II 320.
3) Russische Zustände I 48.
^) Lanin, a. a. O. I 54.
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wurde. Das Wort ist das Einzige, worüber der Russe frei ver-
fügen darf ; es ist sein persönliches Eigentum, er kann damit
den Gebrauch machen, der ilim behebt ; der Sklave, der für
jede seiner Handlungen nicht nach Recht und Gerechtigkeit,
sondern nacli Laune und Willkur des Herrn verantwortHch ist,
hat die Freiheit zu lügen, und für Lüge keine Strafe zu befürch-
ten. Das Stehlen aber ist strafbar. Jedermann weiß, daß er
durch Diebstahl mit den ßehiirdea in Konflikt geraten kann;
diese Naturanlage wird vom Staate nicht geduldet, unzählige
Gesetze beweisen es. Dies gilt jedoch nur in der Theorie, in
der Praxis herrscht auch in hezug auf das Stehlen die laxe
Moral; wo alles lügt, muß alles stehlen.
Ein russisches Sprichwort sagt : „L^nser Christus selbst
würde stehlen, wenn er nicht durchstochene Hände hätte/*
Und Kaiser Alexander der Erste meinte^): ,,Wenn meine Rus*
sen nur wüßten, wo sie sie verstecken sollten, sie würden
meine Linienschiffe stehlen'); könnten sie mir meine Zähne
im Schlafe ausziehen ohne mich zu wecken, sie würden es thun.'*
Mentschikow, der vom Bäckerjimgen zum Fürstenrange gelangt
war, verwendete seine genialen Anlagen vor allem zu seiner
eigenen Bereicherung durch schamlosen Diebstahl. Im Jahre
17 14 trieb er es so arg, daß Peter der Große den Anklagen:
gegen ihn Gehör schenken mußte. Mentschikow aber zog sich
aus der Schlinge, indem er nachwies, daß der Staat ihm mehr
schulde, als er je gestohlen; und er verlangte mit kühlster
Unverfrorenheit, daß man ihm nunmehr die Differenz bezahle.
Vier Jahre später häuften sich die Anklagen g^^en den Günst-
1) J. H. Sclmitxler. Geh. G«»ch. RnOlaads unter Alexander und Nikolaus,
Grimma 1847, I 376.
«) Auch dies bringen sie schon fertig. Man braucht nur an die Diebstähle
im türki«i-hen und japanischen Kriege zu denken. — Aster, Die Kriepsereignisse
zwischen i'eterswalde nnd Pirna im August 1S13 (Dresden 1845, Seite 212) er-
zählt, daO die Russen nach der Schlaciit bei Kulm die durch den Siegesrausch
hervorgerufene Veiwiimng daau baifitsten, nm preoßieche Kanonen so stehlen
und sie dann für erbeutete fransösische auscngeben; „die itusiscben Kürassiere
plünderten die verwundeten österreichischen und preußischen Offiziere mit
Gewalt aus, zu Hunderten drängten sie sich zu di»em Zwecke in die Häuser",
beißt es in demselben Buche.
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ling abermals so sehr, daß Peter seinem Zorne freien Lauf
ließ. Mentschikow stellte seine Diebstähle gar nicht in Abrede,
sondern entgegnete dem zürnenden Zaren : , Jawol, ich habe
die hunderttausend Rubel gestohlen, von denen Njeganowsky
spricht ; ich habe noch mehr gestohlen, ich wüßte selbst nicht
zu sagen; wieviel. Nach der Schlacht von Poltawa fand ich
im schwedischen Lager große Sumnieii ; ich legte davon einige
zwanzigtausend Thaler bei Seite. Ich nahm aus Ihrer Kasse
f&r mich zu verschiedenen Malen größere oder kleinere Siim*
men : in Lübeck fünftausend Dukaten, in Hamburg zehntausend,
in Mecklenburg zwölftausend Thaler, in Dantzig zwanzigtau-
send. Die Anderen in Ihrer Umgebung nehmen im Kleinen;
ich nahm für mich größere Rechte in Anspruch Dank der
absoluten Autorität, die Sie mir eingeräumt haben. Wenn ich
unrecht that, so hätte man es mir früher sagen sollen." Der
2ar mußte schweigen und bekennen, daß er selbst den Diebstahl
an seinem Hofe legalisiert, weil er ihn solange geduldet hatte.
Aber nicht so leicht kam Mentschikow ein anderes Mal davon,
als er einige tausend Rubel unterschlug, die für den Ankauf von
Kriegsmaterial bestimmt gewesen waren ; man stellte den Günst*
ling vor ein Kriegsgericht und verurteilte ihn zum Verlust
aller Ämter und Würden. Und wenige. Tage später war
Mentschikow wieder oben auf, die Verurteilung entehrte ihn
nicht, er spielte die alte Rolle weiter. Häufig drohte Peter
ihm, ihn wegen seiner unverbesserlichen Stehlsucht in das
Nichts zurückzusrhieudern. aus dem er gekommen, oder ihn
köpfen zu lassen; aber mit einem guten Witz entwaffnete der
geniale Dieb stets den Zorn des Zaren. Als Mentschikow unter
Peter dem Zweiten gestürzt wurde, fand man allein in seinem
Petersburger Hause für 2onoon Rubel Tafelsilber, für 3 Mil-
lionen Edelsteine und Kostbarkeiten, 8 Millionen Dukaten in
Gold und 30 Millionen Rubel in Silber; in einem geheimen
Versteck entdeckte man siebzig Pud Silber; in Amsterdamer
und Londoner Banken hatte er neun Millionen Rubel deponiert;
der Wert senier unbeweglichen Güter und seiner Leibeigenen
konnte gar nicht abgeschätzt werden. Wie Mentschikow unter
Peter stahl Patjomkin unter Katharina; ein anderer Gönstling
Katharinas, Soritsch, beschäftigte sich, als er aus dem Liebes-
Stern, GMcUdite der affratl. SttiUehikait 1» Raifauid. 18
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dienste bei Hofe entlassen war. in seinem Schlosse Schkluw mit
der Fabrikation falscher Banknoten, Der Reichskanzler der
Zaiia ]'21isabeth, Hestuschew, wurde vom französischen Ge-
sandten Marquis de la Chetardie eines ähnlichen X'erbrechens.
der Wechselfälschung beschuldigt. Alexander III. machte mit
seinen intimsten Freunden, denen er die höchsten Staatsstel-
lungen anvertraute: General Krischanowsky und Walujew, ge-
nau dieselben Erfahrungen, wie Alexander II. mit dem Grafen
Adlerberg, der nach Mentschikowschem Prinzip die Kasse des
Zaren stets als seine eigene betrachtete. Alexander IL mußte
seinen eigenen Bruder Nikolaj Nikolajewitsch und dessen Sohn
Nikolaj Nikolajewitsch, der jetzt als Diktator Rußland regiert,
wegen unerhörter Diebstähle aus Rußland verjagen, einen an-
deren Großfürsten, Nikolaj Konstantinowitsch, als unverbesser-
lichen Kleptomanen ins Irrenbaus sperren. Niemals jedoch ist in
Rußland so viel gestohlen worden wie jetzt, seit die politischen
Wirren und die permanente Hungersnot unzahlige Millionen
ins Rollen bringen, aber auch eine strengere Kontrolle darüber,
in wessen Taschen sie gerollt sind, unmöglich machen.
Wie die Großen so die Kleinen. Die Polizei huldigt dem
Satze : Jeder will leben ; und wcain es die Diebe nicht gar zu
geräuschvoll treiben, so läßt man sie nach Herzenslust arbeiten.
Ein Revolutionär ist wichtiger als tausend Diebe. Auch den
Bestohlenen fällt es nicht ein, bei der Polizei Hilfe zu verlangen;
dies würde Geld, Zeit und wieder Geld kosten, und das Ge-
stohlene käme doch nicht zustande. Man muß schon eine ganz
bedeutende Persönlichkeit sein, auf daü die Polizei sich in
Bewegung setze, aus purem Pflichtgefühl und ohne Spesen
Vorschuß. So ist Rußland das wahre Dorado für Diebe. Im
Hotel werden einem die Kleider und Stiefel gestohlen; läßt man
in einer Poststation seinen eigenen Wagen stehen, so kann
man sicher sein, am nächsten Morgen nichts zu iuiden als das
nackte Gestell.
Der Russe setzt seinen Stolz darein, geschickt zu stehlen. ^)
*) Es wäre ungerecht nicht daran zu erinnern, daß auch die alten Äp:ypter
große Dieljc vor dem Herrn waren. — ,,Die I ace<1ämonipr," sagt ferner Michael
Montaigne (Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, ins Deutsche
öbeciatzt, Berlin 1794. IV 62 und i i3). „hatten über nichts mehr Schiapf und
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Bei den Hofbällen stiehlt man wie auf dem Jahrmarkt. Der
Minister muß sich vor seinem Gehilfen, der General vor seinem
Adjutanten hüten; aber auch umgekehrt. Vom Höchsten bis
zum Niedrigsten huldigt jeder diesem Laster. Wird man er-
tappt, so hat dies keine Entehrung im Gefolge: „Ich habe
gefehlt, Herr," sagt man; und die Sache ist abgetan. Diebe
sind keine Gauner, keine schlechten Kerle. Sie haben das
heiterste Wesen und das freundlichste Gesicht. Namentlich
die Leute aus dem Volke sind trotz ihres Hanges zum Stehlen
gleichzeitig^ Modelle piner sogenannten ehrlichen Haut. Man
hat einen Diener, der mit größter Gemütsruhe allc~s stiehlt,
was man in der Vergeßlichkeit liegen läßt ; und derselbe Mensch
legt sirh abends vor die Tür, um mit seinem Leben das Haus
des Herrn vor Einbrechern zu schützen. ,,Ks ist die Ehrlichkeit
des Hundes, vermischt mit der Stehllust des Raben," sagte
einmal ein deutscher Forscher, i )
Gegen die Stehlsucht der Russen haben die Gesetze seit
tausend Jahren umsonst gekämpft. Als die Byzantiner mit
Oleg von Kijew einen Handelsvertrag abschlössen, mußte vor
allem ein DiebsiahlsjKiragraph verfaßt werden. Wenn ein
Russe einen Griechen bestiehlt, hieß es darin, oder ein
Grieche einen Russen, und der Dieb in flagranti ertappt
wird, aber Widerstand leistet, hat der Eigentümer des gestoh-
lenen Gegenstandes das Recht den Dieb zu töten und das
Schande zu besorgen, als wenn sie sich über einem Diebstahl ertappten ließen.
Das Stdilstt -war crianbt, OMii dufte nar nicht «wischt werden. Lykurgus zog
beim Stehlen di« Lebhaftigkeit. Behendigkeit, Dreistigkeit und GescbicUichkttit,
<He erfordert werden, seinem Nächsten etv.as za entwenden, sowie den Nntien
111 Erwägung, der dem gemeinen Monsclu-n daraus entwachsen müsse, wenn
jedermann sorgfältig auf die Erhaltung dessen bedacht seyn müßte, was sein
gehört; and hielt dafür, diese doppelte Vorschrift des Angriffs und da* Ver-
teidigung wfirde der militärischen DistipUn s» groflem Nntsen genidien,
welcher wichtiger wäre als die Unordnnag nnd die Ungerechtigkeit, die darinn
liegt, sich des Kigenthums eine^ nnderen zu bemächtigen." Die Rtissen haben
allerdings solche Gründe wie diejenigen des I-yknrgus niemals für sich ange-
führt. Bei ihnen ist der Diebstahl einfach Sitte; „le vui y a poBne dams les
moenn/' sagte Cnstiae (a. n. O. IV 31).
1) Avrelio Byddens. St. Petersburg im knnken Leben. Stuttgart, 1^46,
n 147.
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Gestohlene selbst an sich zu ndimen>) Zar Alexej Michajlo-
witsch setzte folgende Strafen fest'): Wenn ein Dieb zum
ersten Male ertaj^t wurde, so sollte man ihn foltern, um zu
erfahren, ob er nicht auch andere Verbrechen begangen. Ge*
stand er nichts, so wurde er mit der Knute gestraft, man
schnitt ihm das linke Ohr ab und sperrte ihn für zwei Jahre
ins Gefängnis, wo er, stets gefesselt, Arbeiten für den Zaren
verrichten mußte; nach der Elntlassung aus dem Gefängnisse
wurde er nach der Ukraine verschickt. Wurde jemand zum
zweiten Male des Diebstahls überführt, so folterte und knutete
man ihn wie das erste Mal, schnitt ihm auch das rechte Ohr
ab und diktierte ihm vier Jahre Gefängnis. Wenn einer zum
dritten Male als Dieb ergriffen wurde, so wurde er am Leben
«gestraft. Kirchendiebe wurden schon bei der ersten Tat zum
Tode verurteilt. Diese strengen Strafen wurdcit von Alexejs
Söhnen gemildert. So erzählt der Verfasser der Religion der
.Moskowiter'^): ,,Die Diebe werden in Moscau nicht gehencket
sie mögen so viel gestohlen haben / als sie wollen. Wenn
es ein kleiner Diebstahl ist / als zum Kxempcl / zwey Thaler
Werth / so wird der V'erlirecher zu einer Straffe / welche sie
Batokki nennen / verdanunt. Wenn er nun offtmahls einen
solchen kleinen Diebstahl begangen hat / so giebt man ihm
die Batokki mit solcher llefftigkeit / daß er im Bette liegen
muß / ohne sich bewegen zu können. Weiui der Diebstahl
groß ist / und der Dieb zum ersten Mahl ertappet wird / und
nicht erstatten kan / was er gestohlen hat / so straffet man
ihn mit der Knut-Peitsche auH eine erschreckliche Weise;
der Scharf frichter schneidet ihm das rechte Ohr ab; man setzet
ihn darnach ins Gefängniß / worinnen er zwey Jahre mit Was«
fitndM histoiiqaes nr to MgUatioo ruae aadeaa« «t moderne per
Spyridion G. Z6mmm, Fwie 1862. p. 1$.
s) Allgemeines Russisches Laad^Recht Wie «olcliee Auf Befdd Ibr.
Czaar. Majest. Alexci Michailowicz zu^ammengetrag'Ti v-orclt-n damit allen
Ständen des Moscowi tischen Reichs vom Höchsten bis zum Niedrigsten gleich-
mäßiges Recht nnd Gerechtigkeit in allen Dingen wiederfahren möge. Aus
dem Rnfliedien ins Tentacbe übciMttt nebet «ioer Vonede Barcud Gotthdtf
Stnaveu. Dwitng 1723, Seite 305 iL
*) Anno 1713, S. 105.
._^ kj 1^ -0 Google
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ser und Brodt unterhalten / und am lüide desselben wieder
losgelassen wird." Die späteren Herrscher hahcn in ihren
Gesetzbüchern endlose Kapitel mit Paragraphen, welche den
Diebstahl mit allen möglichen Strafen bedrohen, angefüllt,
aber mit den (besetzen ist man dem Laster nicht beigekommen.
Peter der Grolie versuchte in populärer Weise sein Volk auf-
zuklären, indem er in einer besonderen Schrift die zehn Ge-
bote erklären ließ.Vi Klarer, kürzer und wirksanur als alle
diese offiziellen /Vndrohungen ist eines der zwölf Gebote des
Chlysty Gottes Daniel Filipowitsch, die vom Gottessohne und
Propheten hmn Sußlow verkündet wurden; dieses Gebot lautet:
„Ihr sollt nicht stehlen. Wer nur einen einzigen Kopeken ent-
wendet hat, dem wird man beim jüngsten Gericht diesen Ko-
peken auf den Kopf legen, und seine Sände wird ihm erst
vergeben werden» wenn dieser Kopek im Feuer zerschmolzen
sein wird." Stockschläge« Peitsche, Knut, das alles rührt den
Russen nicht, das schreckt ihn nicht, daran ist er gewöhnt;
aber das Bild dessen, der am Tage des jüngsten Gerichts
mit dem brennenden Kopeken auf dem Scheitel seine Sünde
büßen muß, ergreift ihn bis ins Innerste. Leider kennen nicht
alle Russen die Gebote des Gottes Daniel Filipowitsch, und so
wird weiter gestohlen im heiligen Rußland bis zum jüngsten
Gericht.
Der Unterschied zwischen Gut und Roge, Recht und Un-
recht ist dem russischen Volke noch nicht klar geworden,
obwohl eines der schönsten russischen Märchen sich gerade
dieses Thema gewählt hat*): Zwei Bauern, erzählt dieses Mär
chen. stritten einmal darüber, wer besser durch die Welt
komme, jener, der Recht, oder jener, der Unrecht tue. Beide
begeben sich auf die Reise, aber wo immer sie fragen, wer
1) \'rr] 1: 4r rntrrwrisuiig ilfr Jtiprrnl. Knthaltonil t_-in ABC-Büchlfin,
wie auch eine kurue Erklärung der zebea Gebote etc. Auf Befehl Petri des
Krüten. Bei Struve. Russ. Landrecht. als Anhang. Seite — 2& : über Diebstahl.
*) Cmsm 0 niMuab n ttpminfc. Das Härchen ittt alt, aber vieltech nm-
gearbeitet; die Idee hat ein cluistliches Kolorit und im sechzehnten oder
siel>zchnten Jahrhundert ihre letzte UmgestnUunp; erhalten, indem die Sitten
jener Zeit mit hiiioin^'ezeichnet wurden. Vgl. Reinholdts Geschichte der russi-
schen Literatur S. 41.
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von ihnen die Wahrheit behauptet habe, stets triumphiert der
IJauer, der Unrecht tut. „Was willst du mit dem Recht?"
heißt es überall, ,,mit dem Recht kommt man nach Sibirien."
Während der Schwindler sich bei jedem einschmeichelt und
immer satt ist, kommt der ehrliche Bauer fast vor Hunger um.
Er muß endlich den Gefährten um einen Bissen Brot bitten,
bekommt ihn aber nur um den Preis eines Auges. Sie wan-
dern weiter, und stets dasselbe Schicksal: Glück dem Unge-
rechten, dem Falschen, dem Diebe, Unglück dem Gerechten,
Ehrlichen. Diesem kostet ein zweites Stück Brot das zweite
Auge, und er bleibt hilflos am Wege liegen, während der
andere heiter weiterzidit. Jetzt endlich wendet sich das Blatt.
Ein heißes Gebet des Erblindeten verschafft ihm ein Lebens-
wasser, er erhalt die Sehkraft wieder, belauscht die Geheim-
nisse der bösen Geister, heilt eine Prinzessin und führt sie
als Braut heim. Als der andere erfährt, auf welche Weise
sein Gefährte ein solches Glück gemacht, eilt er auch schnell
dorthin, wo jener die bösen Geister belauschte, aber er wird
von den Teufeln bemerkt und zerrissen. Dieses Märchen ist
weitverbreitet, doch niemand kümmert sich um die schöne
Moral, jeder hält sich nur an den einen Satz daraus : mit dem
Recht kommt man nach Sibirien oder man verhungert, das
Unrecht macht satt.
Wie die Russen denken auch einige der nichtrussischen
Völker in Rußland Bei den Tscherkessen beispielsweise gilt
das Stehlen nicht als schimpflich, sondern als ein Zeichen von
(lewandtheit, so daü eine Braut ihren Bräutigam am härtesten
mit dem Vorwurf kränkt, er habe noch keine Kuh gestohlen.*)
Es g\ht zwar auch gesetzliche Strafen für Diebstahl: schon
wer ^uni ersten Male erwischt wird, soll den siebenfachen Wert
des Gestohlenen, überdies neun Stück Rindvieh als Sühne
für die beleidigte Ehre des Besitzers zahlen. Aber diese Strafe
ist illusorisch, weil sich selten ein Tscherkesse erwischen laßt.
Blutsbande, Gastfreundschaft und Verbrüderung schützen vor
Diebstahl, und man beraubt nur seine Feinde, geht also mit
Vorsicht zu Werke. Bei den Osseten in Kaukasien muß ein
Neumann, RaObuid und die Tscherkessen. S. loa.
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Dieb das Fünffache des Entwendeten bezahlen, wenn er es
in heimlicher listiger Weise gestohlen hat; das gewaltsam Ge*
raubte braucht er aber nur einfach zu ersetzen i); Schwäche
wird verachtet, der Gewalt kann man sich erwehren, vor List
aber nicht hüten.
Bei den Kalmücken dagegen wurde der Diebstahl überaus
streng bestraft. Der Dieb mußte das Gestohlene nicht nur
zurückerstatten und eine Bußezahlung leisten; sondern in jedem
einzelnen Falle, auch wenn es sich um Kleinigkeiten handelte,
wurde drm Verbrecher ein Finger abgehauen, falls er sich nicht
mit tuiif Stück Vieh loskaufen konnte. Selbst auf die Entwen-
dung ^'on Nadeln und Nähgarn waren schwere Strafen gesetzt.
Aufseher über hundert Zelter hafteten für die Diebstähle ihrer
Untergebenen; wenn sie aus Furcht vor Strafe die Diebslahle
ihrer Untergebenen verheimlichten, wurden sie zum Verluste
einer Hand verurteilt. 2) Pferdediebe mußten da.^ < Gestohlene er-
setzen und ihr Vergehen durch Geißelhicbe auf den nackten
Rücken büßen; nach vollzogener Strafe wurden sie vom Jar-
gatschi, dem Gerichtsdiener, mit einem glühenden Stahl auf
der Wange gezeichnet. 3) Auch in Kamtschatka prägte man
den Dieben Brandmerkmale auf>)
Man ersieht aus diesen Beispielen, um wieviel höher die
Moral der halbwilden unterjochten Völker Rußlands steht als
jene der großrussischen Herren. Der Russe sieht im Diebstahl
ein Unrecht nur im Stile des schönen Märchens, aber nicht
in der Praxis des Lebens. Wenn sonst das Laster zum Ver-
brechen entartet, so ist hier das Verbrechen des Diebstahls
nichts als ein Laster, eine Nationaluntugend. Das Stehlen na-
mentlich kleiner, scheinbar wertloser Gegenstände ist so all-
gemein, daß man sich gar nicht wundert, wenn man in der
besten Gesellschaft solche Dinge verschwinden sieht. Wert-
volle voluminöse StUcke nimmt nur der Dieb von Profession
mit, der nicht bloß stiehlt aus Lust am Stehlen^ sondern um
1) J. G. K<^, Rdscn in Südnißland, I 309.
*) HerfcwfirdiglMiten aus Pallas Reisen, 206,
') Bergmanns nomadische Streifereien, II ir.
*) Histoire de Kamtschatka, trad. da rasse, A Lyon 1767, II lU*.
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des Ctnvinncs willen. Auf dem Lande raubt man häufig Pferde,
die man bei der Einsamkeit der Gegenden schnell unbemerkt
und mühelfjs fortschaffen kann. Im allgemeinen heißt es im
Volke: Alles was unverschlossen ist, kann nehmen wer will.
Man hütet sich jcdorh Versiegeltes zu stehlen, der inhaltreicli>if
Geldbrief bleibt unversehrt ; dies geschieht nicht aus Respekt
vor dem kaiserlichen Siegel, das die Post den Wertsendungen
aufdrückt, sondern aus Aberglauben.
Dci Aberglaulx' hat jedoch nur in diesem einen Falle emc
gute Wirkung. \'iel hauliger ist er die Ursache zur Förderung
des Diebstahls 1) : Allgemein ist in Rußland der Aberglaube,
daß Geld, von den Reliquien geraubt, Segen bringt und die
Wirtschaft aufbessert. Ebenso verbreitet ist die Meinung, daß
ein Dieb in der Nacht auf Maria Verkündigung irgend etwas
stehlen solle; gelingt ein noch so geringfügiger Diebstahl, so
hat man das ganze Jahr Glück im Stehlen j im Gouvernement
Pensa sichern sich die Bauern auf diese Weise für ein ganzes
Jahr vor Strafe wegen der Holzdiebstahle. Fast jedes Gou-
vernement hat seinen speziellen Diebsaberglauben. Im Wjäsem-
sdien Kreise im Gouvernement Ssmolensk ist den Dieben nicht
bloß die Nacht auf Mariä Verkündigung günstig, sondern
auch die Nacht des Heiligen Boriß und jene des Heiligen
Gljeb; in den letzterwähnten zwei Nächten sollen namentUch
die Pferdediebe ihr Glück auf die Probe stellen. Alles Ge-
stohlene bringt Gedeihen. Im Kreise Onega des Archangels
kischen Gouvernements sagt man : ein Pferd wird schöner und
gesünder, wenn es mit gestohlenem Hafer gefüttert wird; die
Onegaer gehen auch auf den Dorschfang am liebsten mit
gestohlenen Angelliaken aus. .Ähnliche Oünde veranlassen die
Bewohner des Kreises Rostow im Gouvernement Jaroßlaw zum
Diebstahl von Blumen.
Auch zu Verbrechen führt der Dubsaberglaube. zu Lei
rhenschändung und Mord. Ein Sj)richwort sagt : „Die Leute
schliefen, als wäre eine Totenhand um sie gefahren." Dieses
Sprichwort ist aus der düsteren Realistik des Diebstreibens
I.öwenstimni, .■\berglaube und Strafrecht, 1140., 149 ff. Hier fiadet
mnn S. I2i ti. auch Parallelen aus Deutschland und anderen Ländern.
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entstanden. Man öffnet die Gräber, um eine Totenhand zu
entwenden; wird die Totenhand in ein I'enster des Hauses
gelegt, wo man einbricht, so schlafen die I^estohlenen •^o fest,
daß der Dieb ruhig arbeiten kann. Dieser Aberglaulie, der
hauptsächlich bei Pferdediebstählen 7ur Geltung kommt, ist
besonders im Gouvernement Kijew verlireitet. Im Jahre 1872
wurde im Kreise Kancw des Kijewschen Gouvernements aus
solchem Grunde das (jrab eines Mädchens geschändet; im
Jahre 1900 fand man im Dorfe Paschkowskoje im ivijewschen
Kreise auf dem Friedhofe das Grab der Bäuerin Germanowa
ganz aufgewühlt und entdeckte, daß der Leiche eine Hand ab-
gehackt warJ) Ein Diebstahl, der bald darauf im Dorfe statt»
fand, gab der Obrigkeit Anlaß bei einem verdachtigen Bauern
eine Untersuchung vorzunehmen; man fand ein Stück von
dem Ärmel des Leichenhemdes der Germanowa. Der Bauer
bekannte sowohl den Diebstahl als auch die Leichenschändung;
er hatt« die Totenhand nötig, um den Diebstahl erfolgreich
auszuführen. Er erzählte selbst, wie er das Verbrechoi voll*
führte: er trank ein Gläschen Schnaps, um Mut und Kxaft zur
Arbeit zu haben; dann ging er auf den Friedhof, grub das
Grab auf, hieb mit dem Beil eine Öffnung in den Sargdeckel,
sprach ein Entsühnungsgebet und hackte der Leiche die Hand
ab. Zu Hause schnitt er von der Hand das Fleisch ab und
warf dieses den Hunden vor, den Knochen aber bewahrte er
scffgfältig als Talisman auf. Gleiche Vorfälle ereigneten sich
im genannten Jahre auch im Gouvernement Woronesch und
im Orte Faleschtuj im Gouvernement Bessarabien.
Nächst einer Totenhand ist den Dieben ein Zauberlicht
von großer Wichtigkeit. Man stehle aus den (iräbern die
Wachskreuze, die den Leichen in den Sarg mitgegeben wer-
den, und mache daraus Kerzen; bei deren Licht kann man
gefahrlos stehlen. Noch besser ist cm Licht aus Mf-nschen
fett, der Schein dieses Lichtes versetzt die zu Bestelllenden
in tiefsten Schlaf. In der Nacht auf den 27. Februar 1873
raubten auf dem Kirchhofe tU-s Dorfes Scheljcsnjaki im Kreise
Grodno Soldaten der Leiche eines Kollegen die Eingeweide, um
Kölnische Zeitung igim, Nummer 1016.
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aus dem Fette ein Diebslicht zu fabrizieren. Im Jahre T884
überraschte man auf dem Friedhofe der Stadt Perejaslawl im
Gouvernement Poltawa drei Burschen bei der Zerstückelung
(incr dicken Männerleiche; sie brauchten Menschenfett für
ein Diebslicht.
Mat man nicht den Mut zur Grabschändung, so zögert man
nicht, einen Mord zu begehen. Am 19. April 1869 fand man
im Wuikowitschwaldc des Kreises Wladimir Wolynsk die gräß-
lich verstümmelte Leiche eines Bauemknaben ; die Haut am
Bauche war rund aufgeschnitten und abgezogen worden. Der
Bauer Kyrill Dschuß hatte den Knaben in den Wald gelockt
und ermordet, um aus dem Fette des Getöteten ein DiebsHcht
zu machen, mit dem man ungestraft stehlen könnte. Am 24.
April 1881 verhandelte das Kreisgericht in Pensa einen Mord-
proaeß gegen zwei junge Burschen, die im Tschembarschen
Kreise einen Mann ermordet hatten, um aus seinem Bauche die
Netzhaut mit den Eingeweiden als Material ffir ein Diebslicht
herauszureißen. Am 15. November 1896 hatte das Kreisgericht
von Korotojak im Gouvernement Woronesch genau den glei-
chen Fall zu Verhandeln. Zwei Bauern hatten einen zwölf-
jährigen Knaben erdrosselt, der Leiche dann den Bauch nach
drei Richtungen aufgeschnitten und die Netzhaut mit den Ein*
geweiden herausgenommen, um aus dem Fett ein Diebslkht
herzustellen. Der berühmteste Fall dieser Art in den letzten
zwei Dezennien ist abor die am 3. Oktober 1887 stattgehabte Er-
mordung eines Mädchens im Dorfe Nikitskoje des Kreises Bjel*
gorod im Kurskschen Gouvernement. Das Charakteristische an
diesem Falle war die Hartnäckigkeit, mit der die Mörder ihr
Ziel verfolgten, um unbedingt in den Besitz von Menschenfett
für ein Diebslicht zu gelangen. Die Bauern Tolmatschew und
zwei Brüder Semljänin wollten zuerst eine Leiche schänden,
beschlossen aber, sich das Fett lieber von einem frischen Toten
zu verschaffen, und machten sich gemeinsam zur Ermordung
eines Menschen auf. Sic lauerten zuerst einem Knaben in
einem Walde auf, das Opfer entkam ihnen aber durch euicii
Zufall. Dann begegneten sie einem ihrer Nachbarn, sie ver
loren jedoch den Mut, weil sie seine riesige Stärke kannten.
Hierauf machten sie sich an einen feisten Geistlichen heran
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und führten ihn unter irgend einem V'orwande in den Wald;
den Popen aber quälte eine beängstigende Vorahnung, und
er rief zu seinem ulucke einen Arbeiter herbei, daß er ihn
begleite. Endlich gelang den finsteren Gesellen doch ihr Plan,
tui Mädchen kam daher, das ein entlaufenes Pferd suchte. Die
drei Männer lockten die Suchende in den Wald, erwürgten
sie, schnitten der Leiche das Fleisch ab und schmolzen das
Fett aus. Es reichte für ein ganz großes Licht, und die Mörder
gingen mit diesem TaUsman auf Diebstähle aus. Der Zauber
wirkte vortrefflich, ein halbes Jahr lang gelangen alle Unter*
nehmungen nicht bloß, sondern der Mord selbst wurde auch
nicht entdeckt. Erst bei einem zufälligen Besuche der Polizei
im Hause des Semljänin fand man ein Bündel mit gekochtem
Fleisch, und da man in dem Tuche das Eigentum der ver«
schwundenen Magd erkannte, kam das Verbrechen zutage.
Die merkwürdigen Begleitumstande dieser Tat machten d«n
Prozeß zu einem sensationellen, und alle Ethnographen und
Juristen Rußlands begannen nach dem Ursprung des fürchter-
lichen Aberglaubens zu forschen. In einer interessanten Ab-
handlung in einer Zeitung^) sprach ein ungenannter Autor die
Meinung aus, daß der Diebslichtaberglaube ein Überbleibsel
des Kannibalismus sei, dessen Spuren man noch in folgendem
russischen Volkslied« erkenne: ,4ch backe ein Gebäck aus
den Händen, aus den Füssen; aus dem tollen Kopfe schmiede
ich ein Trinkgefäß ; aus seinen Augen gieße ich Trinkgläser ;
aus seinem Blute braue ich berauschendes Bier; und aus seinem
Fette gieße ich Licht."
Wie der Dieb sich durch einen Talisman vor Entdeckung
sichert, so ist der Aberglaube auch dem Bestohlenen zur Er-
forschung des Diebes durch zaulKiliafte Mittel behilflich.
Wenn in einem Hause ein Diebstahl bemerkt wird, aber der
Schuldige nicht entdeckt werden kann, man auch nicht genau
weiß, wen man anklagen soll, so beruft man einen Hexenmeister
oder eine Wahrsagerin, und diese ..beobachten den Leib der
Verdächtigen." Sabyhn, der diesen Brauch erwähnt, weiß aber
selbst nicht, wie diese Beobachtung erfolgte, und bemerkte nur,
») PyocKin Btvioiiocra iW8, 359.
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daß von diesem Gebrauche das Sprichwort herstamme: IDioxo
neacHTb — 6pK)xo6ojiHn>; wer schlecht liegt, dem tut der Leib
weh.') Tereschtschenko kennt noch ein anderes russisches Mit-
tel-}: Die Wahrsagerin nimmt einen Psalter, schlägt mit einem
Messer auf die Mitte einer Seite und sagt: .,Da ist er. und da
ist noch ein anderer. Kr ist hier und hat sich versleckt!"
Wen sie dann nennt, der ist der Dieb, (gesteht er das Ver-
brechen nicht ein, so mub er seine Unschuld vor dem Bilde
des HeiHgen Twan des Kriegers beeidigen. Wenn ein Haus-
diebstahl stattgefunden hat, so ruft die Hausfrau das ganze
Gesinde zusammen; und eine Babuschka, die Wahrsagerin,
deren Hilfe in Anspruch genommen wird, macht so viele Brot
kügelchen als Leute da sind, stellt ein Gefäß mit Wasser vor
sich hin, wirft eine Kugel nach der anderen hinein und sagt
stets einen der Namen der Verdächtigen nebst der Beschwö-
rung . „Bist du schuldig, so fälh diese Kugel auf den Grund
wie deine Seele in die Hölle/* Die Kugeln der Unschuldigen
aber, behauptet sie, bleiben oben schwimmen.^) Vor dieser
Methode haben die gemeinen Russen eine furchtbare Angst, imd
der Schuldige bekennt, so wie die Sache ernst wird, freiwiUig
den Diebstahl, um nicht seine Seele der Hölle anheimfallen
zu lassen.
Auch die nichtnissischen Völker in Rußland versuchen es
mit der Zauberei, um die Diebe zu entdecken.
Wenn dem Osseten etwas gestohlen worden ist, so ruft
er einen Kurismezok oder Zauberer. Dieser geht, mit einer
Katze unter dem Arm, in Begleitung des Bestohlenen zu den
Häusern jener, die im Verdachte des Diebstahls stehen, und
ruft überall laut aus: ,,Wenn du es genommen hast und dem
Eigentümer nicht wiedergiebst, so möge diese Katze die Seelen
deiner Vorfahren peinigen." Man kann überzeugt sein, daß
der Schuldige sofort das Gestohlene zurückerstattet, da nichts
mehr gefürchtet wird als die angedrohte Strafe.^) Die Kam-
') M. 3aOijun>n>, I'ycciäil uapo^Xb, Mocioui 1880, crp. 406, .V 29: Otu-
vstsaüe BopoBn».
2) TcpciupuKo, Burk pycciuu-o aapoiAa. Vgli Ldwenstimm a. a. O. 8S.
3) Tluxthaiisi ii, Studien I 312.
**) Haxthausen, Tramkaukasta. II 20.
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tschadaleti^) glauben einen Dieb ausfindig zu machen, indem
sie unter großen Zeremonien die Sehnen eines wilden Bockes
verbrennen; wie sich die Sehnen im Feuer zusammenziehen,
so verliert der heimliche Dieb den Gebrauch seiner Glieder,
und wenn man in der Gemeinde also einen Gelähmten ent-
deckt, so ist dies der Verbrecher.
i6. Korruption.
Zariaches Sysiem «Iter Zeiten — Die VerwAltnng — Eine Anekdote des Jeban
Sanvage aus Dieppe — Strafen für Bestechlichkeit — Eingehe Methode Iwans
des Schrecklichen — Der Richterstand — Die Gericht«5diencr — Das Trinkpcld
im Osterei — Das Heiligenbild als Verniittier — Stratßoricht Peters I. — Hin-
richtungen — Cato Nesterow und sem Ende — Die Ansichten des Cato i atisch-
tschew — Erlaubte und unerlaubte Korruptioo — AuHpruch des Günstling
Jagoachinskij — Die Geechenke för den Zaren — Katharina II. gegen daa
I.ichoTinstwo oder Geschenkfressen — Korruption unter Nikolaj II. — Die
Zollbeamten — Medizinalinspektoren und Rekruten — Prügelgesellen in den
Schulen — Richter und Hecht im Sprichwort — Das Kecht&märchen Kaulbars
Bortiff — Daa Urteü des Schemjaka — Satiren Saumarokowa und Gogoljs —
Unansiottbarkeit der Kocmptian.
Wollte ein Zar im alten Rußland einen Bojaren für be-
sondere Dienste belohnen oder einem Günstling große Gnade
erweisen, so schenkte er ihm eine Provinzverwaltung mit fol-
genden Worten: Ziehe hin, lebe daselbst und iß dich satt!"
Und jeder tat nach den Worten des Zaren. War die Provinz
dem Begnadigten zu fem, so hatte er das Recht, das Gouverne-
ment einem anderen zu verkaufen, und dieser mußte nun dop-
pelt fleißig stehlen und plündern, um den riesigen Kaufpreis
hereinzubringen und sich nebenbei selbst sattzuessen.
J-lin solches von dem Zaren statuiertes System mußte natur-
gemäß die Korruption in der ganzen \'ervvaltung einbürgern.
Plündern und Rauben wurden die (Grundgesetze der Admini-
stration; es gal) gar keine Möglichkeit, auf normale ehrliche
Weise das Fortkommen zu finden. Der Gouverneur mußte
1) Histoire de Kamtschatka, II 107.
— 286 -
stehlen, um sich sattiuessen, die höheren und die niederen
Beamten suchten durch Diebstahl und Trinkgelder ihr Leben
zu fristen.
Das erste, was der Fremde sieht, der nach Rußland kommt,
ist die offene Hand des 2U>llbeamten ; und bei jedem weiteren
Schritte muß man, um unangefochten zu bleiben, nach rechts
und nach links dem Moloch der Korruption opfern. Das
früheste französische Memoire über Rußland, von dem Ma-
trosen Jehan Sauvage aus Dieppc verfaßt, erzählt wie der
Kommandant des Hafens von Archangelsk die Franzosen nicht
landen lassen wollte, ,,weil er noch niemals zuvor iVaiuosen
gesehen hatte." Da half aber ein Mittel; ,,environ 230 dalles,**
und die Franzosen wurden sofort willkommen geheißen.^)
Zuweilen rafften sich die /aren zu emer Bestrafung der
korrupten Hcaniten auf, aber sie griffen nicht das System an,
sondern begnügten sich mit der Praktizierung einzelner Hei-
spiele. Iwan der Schreckliche erfuhr einmal, daß einer semer
Wojwoden sich durch eine mit Dukaten gefüllte (ians hatte
bestechen lassen. Er verheimlichte seinen Zorn, aber als er
bald darauf nnt diesem W'oiuoden über den Platz ging, wo die
Exekutionen stattzuhaben pflegten, ließ er den Beschuldigten
plötzlich vom Henker ergreifen und ihm die Arme und Beine
abhacken-); und bei jedem Hiebe fragte der Zar spöttisch:
„Na, Batuschka, wie schmeckt das Gansfleisch?"
Sporadische Züchtigungen dieser Art konnten das Übd
nicht hemmen. Man fand leicht Mittel und Wege, das Gesetz
zu umgehen. Am traurigsten und verkommensten blieb der
Richterstand. Schon der Gerichtsdiener stellte den Parteien
Klagen und Vorladungen nicht zu, wenn er nicht dafür extra
bezahlt wurde; Zar Alexej mußte in seinem Gesetzbuche einen
besonderen Paragraphen den Gerichtsdienern widmen und
ihnen androhen, daß sie beim ersten Male der Pflichtverletzung
mit den Batogy, beim zweiten Male mit der Knute gestraft
>) Das intercHante Manuskript des Jehan Saitvage wuide voo Louis
Parts entdeckt und der fransösischen Überaetsnng der Nestonclien Chtonik
angefügt.
>) Reise nach Norden, anno 1706. S. 167.
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werden würden. Aber ts nützte nichts; und konnte auch
nicht helfen, da die Richter selbst nicht nach Recht und Ge-
rechtigkeit, sondern nacli der Bezahhing von sehen der splen-
dideren Partei urteilten. Das Gesetz zwar bestnnmte. daß ein
bestechlicher Richter zum Bettler gemacht und verbannt wer-
den sollte; vorher aber wurde er mii Ruien durch die Stadt
gepeitscht und während der Kxckution mußte er am Halse
einen Sack tragen, worin das Bestechungsmittel sich befand;
ganz gleich ob dieses Gold, Pelzwerk, gesalzene Fische, Schnaps
oder etwas anderes gewesen war. Doch wer konnte leichter
das Gesetz ausspielen als der Richter? Er nahm also ein Ge-
schenk nur an, wenn es ihm mit einem Osterei am Oster-
sonntag, wenn in Rußland sich alles küßt und umarmt, in
die Hand gedrückt wurde; noch harmloser war es, wenn der
Verführer im Hause des Richters erschien, sich wie üblich
zuerst zum Heiligen wandte, um zu beten, und dann in from-
mer Andacht sein Geschenk vor dem Hausaltare nieder-
legte.*)
Peter der Große kämpfte bb zu seinem Lebensende
gegen die Korruption. £r verminderte die Zahl der Gou-
vernements, gab den Gouverneuren und Beamten fixe Ge
hälter, forderte aber dafür die Abschaffung der Trink-
gelder. £r verfügte: wer in ein«: Sache, sie sei gerecht
oder ungerecht, Geschenke annehme imd gebe, es sei vor oder
nach der Entscheidung, der erleide dafür die Strafe am Galgen.
Der Generaifiskal Xesterow überreichte dem Kaiser ein Memo-
randum, worin zahlreiche Malversationen von .Senatoren und
Würdenträgern aufgedeckt wurden. Es erfolgt ein furchtbares
Strafgericht: Zwei meineidigen Senatoren zieht der Henker ein
glühendes Eisen über die Zunge, dann werden die also grau-
sam Ciestraften noch gepeitscht und schließlich nach Sibirien
verbannt. Den \'izegüuverneur von Petersburg klopft der Hen-
ker mit dem Knut öffentlich : einen Admiralitätsherrn und den
Intendanten der Gebäude züchtigt man bloß mit dem Kam-
merknut, nämlich in einem geschlossenen Räume. Der Günst-
> ) Russisches Landrecht des Ciareu Alexei, von Struve. S. 61, Nummer 145.
Margeret, A3 mid 67.
- 288 —
ling Sch.ifinnv, rir r Vizekanzler drs Koichcs. wird zur Ent-
hauptung vcruricili und erst auf dein Schafott begnadigt. Am
Galgen baumeln der (iouvcrneur von Sibirien. Kniäs (iagarin,
und der Kommandant von Bachmut, Knjäs Ma?>olskoj. Zum
Finale entpuppt sich der Cato. der Cicneralfiskal Xcsterow
selbst, als korrupt: ein Geschenk von zweitausend Rubeln liat
den Ankläger verführt und /um Angeklagten degradiert; er
wird bei lebendigem Leibe gerädert.')
Noch ein anderer Cato lebt am Hofe Peters: der Staats-
rat Wassilij Xikitithch Tatischtschew. Er hinterließ eine Reihe
von Satiren und ein Testament an seinen Sohn,") worin er
geistreich über das Sporteinehmen spottet und die Korruption
der Verwaltung geißelt. Auch dieser Cato wird eines Tages
wegen Bestechlichkeit vor Gericht gestellt und halt hier dem
Zaren folgenden Vortrag : „Es gibt zweierlei Arten des Sportel-
nehmens, eine unstatthafte und eine statthafte. Falk ein Rich-
ter bei Führung einer gerechten Sache über die offiziellen
Stunden hinaus arbeitet; falls dem Prozeßführenden ein Vor-
teil daraus erwächst, wenn der Richter seine ganze Muße
der Angelegenheit widmet: dann ist, und zwar nach Erledigung
der Sache, eine Belohnung statthaft, wohlverdient und nicht
entehrend." Peter entgegnete darauf: „Dich selbst halte ich
zwar für gewissenhaft. Aber es gibt auch gewissenlose Richter,
und in jedem Falle ist ein Beispiel, das durch die Annahme
von Geschenken gegeben wird, zu mißbilligen. Tue stets das
aus Antrieb der Pfhcht, wozu dich die Belohnung ermuntert.**
Tatischtschew erreichte so viel, daß er straflos ausging.
Die Folge war, daß die Korruption noch ärger wurde als
sie zuvor gewesen. Man sah, daß der Zar Unterschiede zu
machen wußte und nur jene dem Henker überlieferte, auf die
er schon aus anderen Gründen erzürnt war; daß er nur die
kleinen Diebe köpfte, die großen aber, wie Mentschikow imd
Apraxin, ruhig weiterwirtschaften ließ. Erst im letzten Jahre .
>) Handschriftliche T^ - T te des preaßiacbea Legatiomsekretän Vocke-
rodt. bti llcrrmann a. a. O. >vav 31,
Gedruckt wurden seine Schritten erst zur Zeit Katharinas II. Vgl
über Tatischtschew: Retnholdt, Geschichte der rtiss. Litt. 3S7.
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I
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seines Lebens raffte sich Peter hoch einmal zu voller Strenge
auf.^) Er setzte eine Untersuchungskonunission aus unerbitt-
lich grausamen Männern ein, und der neue Generalfiskal Mä-
kinin mußte neben dem Schlafzimmer des Zaren amtieren,
damit zu jeder Stunde, bei Tag und bei Nacht, ein Urteil
gefällt werden kormte. Auf die Frage Mäkinins: ,,Soll ich
nur die Zweige abkappen oder die Axt an die Wurzel legen?"
entgegnete Peter lakonisch: „Alles mit Stumpf und Stiel aus-
rotten !*' Selbst auf die geringste Bestechlichkeit wurde die
Todesstrafe gesetzt. Der Günstling Jaguschinskij erklärte
darauf: „Wir alle stehlen, die Einen mehr oder plumper, die
Anderen weniger und gewandter. Wollen Ew. Majestät allein
im Reiche übrig bleiben?" Und zum Schlüsse mußte Peter
rius dem Munde des Generalleutnants I3uturlin folgende An-
klage vernehmen: ,,L'msonst gibst du V'erordnungcn gegen
Jene, die Geschenke nehmen , umsonst verfolgst du die Über-
treter deiner Gesetze mit Strafen; denn du selbst erzwingst
Geschenke, und dein eigenes Beispiel ist wirksamer als Ge* •
sets tmd Ahndung. Als ich durch Twer reiste, speiste ich bei
einer Kaufmannsfrau; da kam ein Abgeordneter des Magistrats
und forderte hundert Rubel als Beisteuer zu dem Geschenk,
das die Stadt dir geben mußte, und als die Frau wegen Mangel
an barem Gelde nur um einen kurzen Aufschub bat, da drohte
man ihr mit dem Gefängnis, so daß ich schnell das Geld für
sie erlegte. So freiwillig sind die Geschenke, die man dir
gibt/* Da legte Peter entmutigt die Axt aus der Hand, gab
den Kampf mit der unausrottbaren Korruption auf und erwar>
tete resigniert das Ende seiner Herrschaft.
„Das Lichoimstwo, das Geschenkfressen*}, die Beste
chungen und Erpressungen sind die Grundübel des Reiches,'*
klagte Katharina die Zweite vierzig Jahre später in ihrem
berühmten Ukas vom i8. Juli 1762. „Man findet kaum einen
Richter, der bei Ausübung der Gerechtigkeit nicht von dieser
Seuche angesteckt Wcäre. Sucht jemand eine Stellung, so. muß
er zahlen; will sich jemand vor Verleumdungen schützen, muß
1) Halem, III 122.
2) .liixonvicTiui, wörtlich: der Wucher.
Stern, Gcachlchtc der OffenO. Sittlichkeit in Rufiland. 19
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er dies mit Geld erkaufen; will jemand einen andren ver-
leumden, so unterstützt er seine Ränke durch Bestechungen.
Die Richter verwandeln den heiligen Ort, wo sie Recht spre-
chen sollen, in einen Marktplat:». Das Amt des Richters ist
eine Rente, nicht ein Dienst £ür Gott, Herrscher und Vater
land. Bloße Verlcuindungen verwandeln die Richter gegen
Lohn in < hte Angebungen. Soklie Richter dienen nur
ihren Bäiu iien, indem sie ihre Habsucht mit Geschenken sät-
tigen. Wie in den vornelunsten Gerichten der großen Städte,
so plagen in den entferntesten Orten die kleinsten Richter und
Beamten das Volk mit Erpressungen und Schikanen unter
dem Scheine des Gesetzes."
Dasselbe Lied kann noch heute gesungen werden, und es ist
nur verwunderlich, daß eine so kleinliche Affäre Skandal
macht, wie die des Minister-SteUvertreters Gurko, der um Geld
und Frauengunst einem mittellosen Getreidehändler Milltonen-
auf träge zuschanzt, im sicheren Bewußtsein, daßderB^uftragte
. nur die Millionen erhalten, aber nichts liefern werde. Dieser
Gurko, der auf einem Ministerposten nicht anders denken kann,
als der erstbeste Richter auf dem Stuhle, auf dem er Gerechtig-
keit sprechen soll; dieser Gouverneur Baron Fredericks, der
die Kasse des Staates als seine eigene betrachtet, wie es alle
Gouverneure vor ihm getan haben; dieser Alexandrowskij, der
als Leiter des Roten Kreuzes Unsunomen verschwinden ließ
und zur Strafe dafür mit dem Gouvernement Pensa belehnt
wiffde, damit er sich endlich ganz satt esse, und der hier
in der Zeit der allgemeinen Hungersnot wirklich die schönste
Gelegenheil zum Rauben findet, bis ihn endlich im Februar 1907
die rächenden Kugeln der Revolutionäre treffen : — sie alle sind
ja keine charakteristischen Typen, die zu besonderer Betrach-
tung anregen würden, sondern bloß ein Abklatsch uralter
Schablonen. Es verdient auch kein besonderes Erstaunen,
wenn vor dem Petrikauer Bezirksgericht eines Tages hundert
hohrrr lüsenbahnbeamte erscheinen, um sich wegen systema-
tischer Fälschung von Eisen])ahnfrachtscheinen zu verant-
worten*); oder wenn bei der Verhandlung vor einem Peters-
Xxxlzer Zdtuag» 14/27. März 1906 (Monstre-Prozeß).
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burger Gericht, das über die Bestechungsaffäre des Friedens-
richters Patalajew urteilt, ein Zeuge dem Richter über den
Richter ins Gesicht sagt, daß er vor dem Beginn der Verhand-
lung den Versuch gemacht hätte, den Zeugen zu bestechen \);
oder wenn in Pernau-1 der Volksschulinspektor Prosehl jakow
die Stellen an der Schule nach einem fixen Tarife verschachert
und schließlich von den unzählbaren Opfern seiner Erpressung
vor Gericht geschleppt wird.
Das sind nicht vereinzelte Fälle, nicht Ausnahmen, >on-
dern sie bilden die Regel ; die Immoralität ist allgemein, die
Korruption eine selbstverständliche Ergänzung der Ehrlosigkeit,
Lügensucht und Stehlsucht. Wir sehen, wie die Erpresser
bestraft werden, indem man sie mit Gouvernements belehnt.
Für die Bestechlichkeit sind förmlich IVämien ausgesetzt, die
Wege des Lasters von der Regierung selbst mit Gold gepflastert.
An der Grenze sind die Zollbeamten durch regelrechte Ge<
schäftsvorträge mit den Schmugglern verbunden; Gogol j fand
für seinen Sittenroman „Tote Seelen** keinen passenderen Hel-
den, um Rußlands Entsittlichung zu zeichnen, als jenen Tschi-
tschikow, der ehemals Chef der Douane und gleichzeitig Hehler
einer großartigen Schmugglerbande war. Die Gutsherren muß-
ten früher eine gewisse Anzahl ihrer Leibeigenen an die Armee
abliefern; es war nun die Haupteinnahmsquelle der Medizinal-
inspektoren, daß sie bei der Aushebung der Rekruten den Guts-
herren durch ein ärztliches Gutachten nur die kranken und
schlechten Leibeigenen als für das Heer tauglich abnahmen, die
gesunden aber übersahen. Früher gab es in den Gymnasien
eigens angestellte Prügelgesellen, die den schlechten Schülern
die Liebe zum Fleiß einbläuen mußten ; diese Prügler bezogen
von den Eltern der Schüler ein jährliches Pauschalsümmchen,
wofür sie vorkommenden Falles die Rutenstreiche bloß mar-
kierten. Die Medizinalinspektoren sind um ihr Brot gekommen,
seit es keine Leibeigenen mehr gibt ; die Schuldiener aber haben
glücklicherweise noch immer ihre Einnahme: sie sind Spione
der Polizei und beziehen deshalb von den Schülern Schweige-
*) HoixM' BpeMJT, 24. II. 1906.
«) „Pärwalehi". 20. III, 1906.
19*
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gelder. In einii^cn Zweigen der Verwaltung hat also wenigstens
die Form der Korruption gewechselt.
Äußerlich wie innerlich unverändert blieb die Korruption
des Richtertums. Da gehen noch immer die uralten Sprich-
wörier des Volkes: Ein Richter ist wie ein Zimmennaim: was
er will, das haut er heraus. Fürchte nicht das Gericht, fürchte
nur den Richter. Was gehen mich die Gesetze an? Ich bin
gut Freund mit dem Richter.
Die Verkommenheit des Richterstandt h wurde in der Lut
ratur des Volkes und in der Kunstdichtung oft als Thema
dankbarer Satiren gewählt. So erzählt das Tiermärchen von
Kaulbars Bonig, das in der Nachahmung der offizielen Rechts-
Sprache und des Kandeistils des sechzehnten Jahrhunderts an
Rabelais erinnert^ mit bitterem Humor von der Bestechlich-
keit der russischen Richter; ,,ihr Herren Richter/* ruft Kaul-
bars am Schlüsse der Geschichte aus, „ihr habt nicht nach
euerer Überzeugung geurteilt, ihr seid bestochen.** Spie den
Richtern in die Augen, und huil sprang er ins Strauchwerk
auf Nimmerwiedersehen. — Das klassische und berühmteste
russische Märchoi, das die Bestechlichkeit des Richteis geißdt,
ist die Erzählung vom Urteil des Schemjaka: Ein armer Kerl
leiht von seinem Bruder ein Pferd; da passiert ihm das Malheur,
daß er dem Tier aus Versehen den Schweif abreißt. Er wird
von seinem hartherzigen Bruder zum Gericht geschleppt. Auf
dem Wege in die Stadt müssen sie nachts in einer Herberge
übernachten. Da fällt der Pechvogel von der Pritsche und
erdrückt ein Kind, das in der Wiege liegt ; der Vater des Kindes
geht mit zu Gericht. Als man eine Brücke passiert, beschließt
der Pechvogel, sich in den Fluü zu werfen, um alle seine
Leiden los zu werden. Aber er fällt nicht ins Wasser, sondern
auf ein Boot und tötet einen Greis, der im Boote sitzt. Der
Sohn des Greises schließt sich den zwei Klägern an. Als
die drei Kläger und der Übeltäter vor dem Richter Schemjaka
erscheinen, wickelt der Angeklagte einen Stein in sein Taschen-
tuch und winkt dem Richter, das Paket zu betrachten. Schem-
jaka hat seine eigenen Gedanken darüber und fällt ein gün-
stiges Urteil; damit al>er die Absichtlichkeit nicht gemerkt
werde, gibt er dem l'rieile den Schein salomonischer Gerecb-
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tigkeit. Er ordnet also an : Der Geklagte ist schuldig. Der
Bruder soll ihm daher das Pferd lassen, bis diesem ein neuer
Schweif p^ewachsen ist ; der Mann, dessen Kind getötet wurde,
soll senie i'rau dem Mord* r geben, damit er ihr ein neues
Kind mache; der Sohn des Greises endlich soll sich von der-
selben Brücke in derselben Weise in das Boot stürzten, wie
es der Angeklagte getan hat, während sich dieser darin in
derselben Lage befinden muß, wie der Greis vor seiner Tötung.
Die Kläger halten es für klüger, sich nnt dem Angeklagten
auszugleichen und geben ihm Geschenke, damit er von der
Ausführung der richterlichen Befehle abstehe. So kommt der
Pechvogel schnell zu großem Wohlstand. Da erscheint der
Richter und fordert die versprochene Handsalbe, seinen Lohn.
Er erhält aber zur Antwort: „Der Stein bedeutete nicht eine
Handsalbe, sondern: daß ich dich totgeschlagen hätte, wenn
dein Urteil für mich ungünstig ausgefallen wäre." Und der
betrogene Richter muß seufzen: „Dem Himmel sei gedankt,
daß ich das Urteil zu seinen Gunsten gefällt habe.*'
Einer der frühesten und bedeutendsten Kunstdichter Ruß«
lands, Ssumarokow, schrieb zur Zeit der Kaiserin Katharina IL
mit dem Pathos ehrlicher sittlicher Entrüstung zahlreiche Sa-
tiren gegen die Bestechlichkeit. Seine Enählung „Von den
schlechten Richtern", seine , .Epistel über eine gewisse anstek-
kende Krankheit" und seine „Klage der bedrückten Wahrheit
vor Jupiter", zeichnen sich durch eine seltene Kühnheit und
Rijcksichtslosigkeit aus. In der letztgenannten Satire bittet die
Wahrheit Jupiter, er möge das widerliche Nesselgezücht der
sportclnehmcndcn Beamten ausrotten; Jupiter schleudert seine
Blitze, die Beamten fallen um, und das Volk jubelt. Aber o
wehe! nur die kleinen Gauner sind getroffen worden, die
großen Spitzbuhen unversehrt geblieben. Die Wahrheit stellt
Jupiter zur Rede, und dieser entschuldigt sich beschämt: ,,Ich
hielt die Unversehrten für die Blüte der Aristokratie und wagte
gar nicht daran zu denken — ".
Im Jahre 1S36 gab Kaiser Nikolaj die l.rlaubnis zur Auf-
führung eines Lustspiels: „Der Revisor" von Gogolj. Der Zar
selbst wohnlc der Premiere bei und lachte aus vollem Halse. Er
begriff gar nicht, daß dieses Lustspiel just das nikolaitische
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korrupte Regierungssystem mit ungeheuerer Frechheit und
tötendem Witz verspotletc ; und ahnte nicht, daß es der Aus-
gangspunkt aller modernen russischen Revolutionen, der .An-
fang de.s Kampfes, nicht der Regierung, sondern des Volkes,
gegen den Drachen der Korruption werden sollte. Konsequenter
als iwan der Schreckliche, Peter I. und Katharina IL, führt das
Volk diesen Kampf, aber das Resultat ist nach sieben blutigen
Jahrzehnten das gleiche wie früher: das Lichoimstwo ist un-
besiegt, dauert und ißt sich satt.
17. Trunksucht
Aberglaube und Trunksucht — Trunkenbolde werden Vampire — Satan vnd
die Trunksucht — Russische Weinlegenden — Der Weinstork al-; Baum der
Erkenntnis — Das Märchen vom Elend — Das Lied von Iwan dem Kauf-
mannssohn — Die Heldensagen v<n WaanU) dem Savfbold und dem Hdklen-
trinker n|a von Mnrom — Aualfiadische Urteile ikber die ruaaiadie Tninksacht
• Benehmen eines russischen Gesandten am Hofe des Schah Abbas — Alter
der Trunksucht in Rußkuid Orgien Iwans des Schrecklichen Wie Iwan
Klatschweiber zu bestrafen pflegte — Iwans Strafen für Trunkenbolde —
Einführimg des zarischen Branntweinmonopols — Gelöbnis der Schenkwirte —
Tottrinken su Ehren des Zaren — Heimlicher Privathandel mit Branntwein —
Boriß Godunows Maßregeln g^cn die Trunksueht ■ — Ein Vorfall an der
Tafel des Zaren Michael — Gesetze des Zaren Alexej zum Schutze des zarischen
Monopols — Die Namen des Bacchus bei den Ru<5sen — IVtcrs Lehrer Lefort
als Trinkmeister — Orgien im Hause Leforts — Exzesse Peters des Grol3ea
in der Trunkenheit — Tmnksucht und Giausamkett — Das Saufen am Hofe
Peters — Sanfwut der Popen und Geiatiichen — Saulswang an der Zaren*
tafcl — Scherze Peters des Großen — Der Bär als Kellner — Teihiahme der
Frauen an den Saufgelagen — Trunksucht der Zarin Kithnrma I. und ihrer
Töchter — Triukireüieit am Thronbesteigungstage Kathormas II. — Sta«
tiatiadu» ^ Verbrdtung der Trunksucht nach VotkMtftmmen — Das Treiben
in den Schenken Saufwut des Volkes und der InteUigens — Förderung
der Trunksucht Regierungsprinzip — Die Komödie vom Temperenz-Komitee
— Trunksucht und Hurerei — Die Sitte de's Impotent-Trinkens in <ler Hoch-
zeitsnacbt — Eines jungen Ehemanns Glanzleistung — Eines anderen jungen
Ehemanns Todestrunk — Geschichte des Weines in RuQbuad — Einfühlung
des Champagners — Orgien am Hofe der Zarin Anna — Odeare als Schnäpse.
Im Januar 1907 starb im Dorfe Jegorowka im Gouverne-
ment Tula ein junger Mensch, ein Trunkenbold. Man begrub
ihn, aber in der Nacht horten Bauern, die an dem frischen
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(irabt- vorübergingen, ein dumpfes Geschrei aus der Erde her-
\ ordringen. Statt das Natürliche anzunehmen : daß hier ein
Sclicmiotcr begraben worden und der Hilfe bedürfe, er-
griffen die Bauern einen Pfahl aus Eichenholz und stießen ihn
in das Grab bis durch den Sarg, um den unruhigen Toten
anzunageln. Die Polizei, die davon erfuhr, beeilte sich den
Sarg auszugraben. Man fand die Leiche in einem entsetzlichen
Zustand. Der Scheintote hatte unter der Erde einen furcht-
baren Kampf gekämpft, um sich von der erstickenden Last
zu befreien; seine Hände waren ihn dabei zerbrochen und
seine Haare ergraut. Sein Kampf war vergeblich gewesen, er
wurde das Opfer des Vampirglaubens.
Im russischen Volke ist man allgemein der Ansicht, daß
ein Trunkenbold nach seinem Tode ein Vampir werde, aus
seinem Grabe steige und Unheil, namentlich Regenlosigkeit
oder Seuchen verursache. Im Jahre 1860 gruben die Bauern
des Dorfes Tschuwaschkij Kalmajur im Kreise Stawropol des
Gouvernements Ssamara die Leiche eines Muschik aus, der an
Trunkenheit zugrunde gegangen war, und nun als Vampir
als Urheber der herrschenden Dürre galt. Man durchbohrte
die Leiche mit einem Eichenpfahl, um den Vampir unschädlich
zu machen. 1889 zerrten die Bauern des Dorfes Jelischenki
im Ssaratowschen Kreise die Leiche eines an der Trunksucht
gestorbenen Mannes aus, durchbohrten sie und warfen sie
in den Fluß.*)
Die Vorstellung von der Verwandlung der Seele eines
Trunkenboldes in eine Teufelsseele kennen auch die alten
russischen Legenden und Märchen. Eine „Geschichte vom
l.'rsprung des Weintranks oder das Märchen vom hochweisen
Hopfen" schildert 2), gleich der taimudischen Iradition, den
Weinstock als den verhängnisvollen Baum der I.rkenntni-^ im
Paradiese. Da die Rebe eine Teufelspflan/e ist, verfallen die
Trunkenbolde ewigen Qualen ; so lan^c sie auf Erden wan-
deln, sind sie den bösen Streichen Satans willenlos ausgeliefert,
') Löwenstimm. Aberplaiibe und Strafrecht, loi.
*) ^i>^' ..Altslavische Kreuz- und Hebensagen", Kussische Revue XIII;
and Alewider von Reinholdt. Geschichte der nissischen Literatur, 340.
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I
werden sie von ihm auf Abwege geführt und in Sümpfe ge-
lockt; nach dem Tode aber kommen sie in die Hölle und
müssen den Teufeln als Lasttiere dienen. In emem geist-
lichen Liede von Wassilij und der heiligen Jungfrau wird
die Trunksucht als Haupt- und Todsünde verdammt.
Eines der bedeutendsten poetischen Erzeugnisse des sieb'
zehnten Jahrhunderts, das „Märchen vom Elend» das einen
braven Jüngling unter die Mönchskutte gebracht**, ist ebenfalls
gc^n die Trunksucht gerichtet. Hier heißt es zu Beginn der
Erzählung: „Im Eden gab Gott sein heilig Gebot: Sie sollten
nicht kosten von der Rebenfrucht.** Aber das Gebot ward
übertreten und alle Trübsal ist Folge davon. Traurig ergeht
es daher dem braven Jüngling, Vater und Mutter belehren
ihn, wie er ehrsam U-lx-n solle, warnen ihn vor Gastmählern,
Trinkgelage und Spiel. Aber den unvernünftigen Jüngling ver-
drießen diese Lehren, er lebt nach seinem Gefallen. Bald hat
er fünfzig Rubel beisammen und wankt in Gesellschaft eines
Verführers von Schenke zu Schenke. „Trinke," sagt ihm der
Freund, trinke dir zur Freude, zur Lust, zur Gesundheit.
Und wenn du, Bruder, dich betrinkst, lege dich schlafen da wo
du stehst, verlaß dich auf mich." So ergeht es ihm auch, er
betrinkt sich bis zur Bewußtlosigkeit; und als er am anderen
Morgen erwacht, findet er sich voni Freunde verlassen und
beraubt. Er schämt sich nach Hause zurückzukehren und wan
dert in die Well hinaus. Die harte Lehre hat ihn kuriert,
er lebt verständig, kommt vorwärts und gewinnt eine reiche
Braut. Da tritt ihm in den Weg das Elend, das von sicli sagt:
„Mich wird man auch mit Stockschlagen nicht los; mein Nest
und mein Erbgut die Schlemmer sind." Das Elend warnt den
Jüngling vor der Heirat. Die Frau würde ihn vergiften. Er
soll lieber in die Schenke gehen und alles vertrinken: ,,B^
njeidenswert ist nur das Leben der Nackten und Barfüßigen,
niemand quält sie, niemand tut ihnen ein Leid an.** Der Jüng
ling folgt dem Rat, verläßt die Braut, vertrinkt sein Geld und
wandert wieder als Bettler und Säufer durch die Welt. Er
kommt an einen Fluß und hat kein Geld, den Fährmann zu
bezahlen. Vor Verzweiflung will er sich in den Fluß stürzen,
da springt das Elend hervor und sagt ihm: unterwirf dich
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mir gänzlich, so setze ich dich hinüber. I> stimmt ein Lied
an, gedenkt der glücklichen Jugend, und endet dann mit der
Klage: ..Kein Scharlach wird ohne den Meister y^emacht, kein
Kind getröstet ohne die Mutterlieb, kein Trunicenbold wird
jemals reich und in gutem Leumund kein Würfler .steht." Die
Klage rührt den Fährmann und er setzt den Jüngling über den
Fluß. Nun will der Reuige heimkehren ins Elternliaus zu
ehrhchcr Arbeit, aber er kdun sich vom ]i,lend nicht losmachen
und flüchtet in ein Kloster, auf den sichersten Weg des Heils :
„vor dem heiligen Tor hält das Elend still."
Trauriger noch ist das Schicksal des Trunkenboldes Iwan
des Kaufmannssohnes^): Ein verständiger Vater und eine ver-
ständige Mutter hatten ein unverständiges Kind, mit Namen
Iwan der Kaufmannssohn. Der Vater starb und die Mutter
Af imja Alexandrowna schickt ihren Sohn mit Waren übers Meer
und spricht warnend zu ihm: ,,Gehe nicht, o mein geliebtes
Kind, in die Schenken des Zaren und trinke nicht den grünen
Wein und suche keine Gemeinschaft mit Saufbolden imd hange
dich nicht an die feilen Weiber)** Iwan vergißt die mütterlichen
Lehren. In die Schenken des Zaren geht er, übermäßig trinkt er
den grünen Wein, schließt Fretmdschaft mit Saufbolden und
mit feilen Weibern. Da ist bald sein väterliches Erbteil, da
sind bald die Waren der Mutter verschleudert; selbst seine
Schiffe muß Iwan schließlich versetzen. Die Mutter erhält die
böse Kunde, eilt über das Meer in die fremde Stadt, geht in
den Straßen umher und klagt: „Habt ihr nicht mein Kind
gesehen ?** Aber kein anständiger Mensch weiß von ihrem
Sohne. Da geht sie unter den Saufbolden in den Schenken um-
her i:n(l findet auf einem Ofen den berauschten zerlumpten
Iwan. Sie schlej^pt ihn an den Haaren zu den babylonischen
Kaufleuten und bittet: ..Kauft mir den da ab um fünfhundert
Rubel." Fragen die babylonischen Kaufieute: „Aber sage, ehr-
bare W itwe Afimja Alexandrowna, verkaufst du uns da keinen
Dieb oder Wegelagerer?" Sagt Afimja: „Nicht einen Dieb
oder Wegelagerer, sondern meinen eigenen einzigen Sohn Iwan,
mein großes Herzeleid, verkaufe ich euch." Spricht Iwan: „Ach
1) Vgl. Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde.
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ihr lieben habyloiiischcii Kaufleute, bin ich wirklRli nur tual
iiundcrt Rubrl wert? Zahlet doch tausend Rubel für mich!*'
Und weinend fährt er fort : „Und du lebewohl, lebewohl, du
meine leibliche Mutter, du ehrwürdige Witwe Afimja Aiexan«
drownaf Dem Gesetze nach warst du meine leibltdie Mutter,
deinem Handeln nach aber eine grimmige Schiangel** Nun
nimmt die Mutter Abschied: „O ihr rechtgläubigen Leute
wundert euch nicht, daß ich mein eigenes liebes Kind verkaufe.
Denn kein Erhalter war er der leiblichen Mutter, sondern dn
Verschwender, ein liederlicher Trunkenbold 1"
Unter den russischen Heldensagen, den Bylinen, gibt es
aber auch mehrere Lieder zur Verherrlichung der Trinker,
so das Lied von Wassilij dem Saufbold: Der Tartarendian
Batyga belagert die Kijewstadt und fordert den Fürsten Wladi-
mir auf, einen Helden zum Zweikampf zu schicken. Tief be-
trübt ist der leutselige Fürst Wladimir, denn kein Held ist
in Kijew, Da tritt ein Schenkwirt zum Fürsten : „Unser Heil
und unsere Hoffnung, rote Sonne, Fürst Wladimir! In der
Kijewstadt treibt sich seit zwölf Jahren ein Degen herum, ^
der all seine Habe \ersoffen hat. Nichts gibt es, womit er
sich nüchtern trinken kann, von dem Sichnüchterntrinken tut
der Koi)t ihm weh. inid von den Wehen des Trunkes ist das
Herz ihm beklommen. Aber er ist ein wackerer Held und
kann mit Ratyg:a sich messen. " Der Fürst geht in den Sehen
ken umher und sucht den Saufbold. Endlich findet er den
Wassilij Iwanowitsch schwer besoffen auf einem Ofen, ohne
Hosen, weil er sie vertrunken hat, und im dünnen Hemde. Als
der Saufbold den Fürsten bemerkt, kriecht er vom Ofen herun-
ter, verneigt sich tief und sf)richt: ,.Du unsere Sonne. Fürst
Wladimir' Du kennet nicht meine ^^roße Trübsal. J)u lia=.i
große Bekünuiiernis. aber mein Leid und memc Trauer sind
noch größer. V'or Schmerz birst mir das Flaupt, es zittern
mir die Sehnen der Knie, denn ich habe nichts zu trinken»
die verfluchten Wirte pumpen mir keinen Tropfen mdur.
Stärke mich, o edler Fürst, mit einer starkenden Schale, dann
werde ich stark und kann mit Batyga mich messen." Der Fürst
laßt dem Saufbold ein Faß Meth bringen und ein Faß Bier
und ein Faß Wein ; ein jedes Faß wiegt anderthalb Pud. Was-
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silij aber hebt alle drei Fä'^scr mit einer Hand auf und trinkt
eins nach dem anderen in einem Zuge aii^ Darauf spannt
er dreimal den Bogen, schießt drei Pfeile ab und tötet Batygas
Sohn, Schwiegersohn und Pfaffen. Batyga fordert wutentbrannt
den Mörder. Wladimir zittert, aber Wassilij sat^t : ,,0 unsere
rote Sonne, Wladimir! Nicht kann ich jet^t zu. batyga gehen.
Nach dem Trünke schmerzt mein Haupt. Gib mir eine be-
;aj!=chende Sthaic voll grünen Weines, eine zweite voll be-
täubenden Bieres, eine dritte voll süßen Methes; dann kann
ich mit Batyga mich messen." Der Fürst wiederholt sein
früheres Geschenk. Nun ist Waßjka wieder in Ordnung und
jubelt: ,,Dank dir, du Zar Batyga, daß du zu unserer Stadt
gezogen kamst." Dann nimmt er ein Roß und reitet zu
Batyga, beklagt sich dort, daß der undankbare Wladimir ihn
aufknüpfen lassen wollte, und schwört dem Fürsten Rache.
Batyga läßt sich überlisten» gibt dem Saufbold tu trinken und
vertraut ihm das Heer an, um es heimlich nach Kijerar zu
führen. In einem Walde aber reißt Wassilij, durch einen kräf-
tigen Trunk gestärkt, einen Baum aus der Erde und erschlagt
das ganze Heer Batygas. Jubelnd empfangen die Kijewer den
Helden und wollen ihn mit Ehren und Schätzen überhäufen.
Er dagegen erbittet dieses: daß jedes Haus in Kijew ihm ein
Faß Wein, ein Faß Bier und ein Faß Meth spende; vom Für-
sten aber verlangt er einen G^eitsbrief mit Siegel und eigen-
händiger Unterschrift für alle zarischen Schenken : daß Was-
silij der Saufbold überall auf des Fürsten Rechnung trinken
dürfe bis an sein seliges Ende.
Auch der Hauptheld des Kijewschen Sagenkreises, Ilja
Muromez, ist ein gewaltiger Trinker. In einem Liede wird er-
zählt, wie Ilja in armseligem Pilgergewande in dm Straßen
von Kijew uinhcrwandert. Den Helden plagt eui turclubarer
Durst, und m der Tasche hat er nicht einen Kopek. Da denkt
er: Mache kurzen Prozeß; gehe in einen Zarewkabak^ i, in eine
Kronsschenkc . da müssen sie dir schon einen Heldentrunk
pumpen, hast lange Jahre selbstlos dem Fürsten gedient 1 Ilja
>) Kabak. KarKiKT». ist du> Krons-Schnapeschenke, während Xraktir»
T]i«KTU|rb, das Wirtshaus überhaupt bezeichnet.
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kommt in die Schenke und schreit: ,,Heda. Brüderchen Wirt,
pumpe mir für zweitausend Rubel grünen Wein!" Der Wirt
schaut sich den armschgcn Pilger an und sagt : .,Ei, du törichter
Trunkenbold, mach daß du fortkoiniiist." llja appelHert an
das gute Herz der zweimal vicr/ig Kellner; dieselbe Antwort.
Da wcckL Jlja die Zechbrüder Vi, die auf den Bänken und
Öfen herumliegen, und schreit ; ,,Ach Brüder Trunkenbolde,
ich vers<^machte schier vor Durst, schenkt mir einen Tropfen
grünen Weines," Und die armen Trunkenbolde legen ihr letztes
Geld zusammen und kaufen dem lija anderthalb Eimer grünen
Weines. Zum Dank verspricht ihnen llja, sie am nächsten Tage
zu bewirten. Am anderen Morgen erscheint llja nicht als Pilger,
sondern als Held. Mit einem Fußstoße sprengt er das Tor
des Zarewkabak, drei riesige Fässer schleppt er heraus und
bewirtet die Spender von gestern. Brüderchen Wirt und Brü-
der Kellner platzen vor Wut, aber llja kümmert sich nicht
um sie, legt sich nach der Orgie auf den Ofen und schläft
drei Tage und drei Nächte seinen gewaltigen Rausch aus.
Der russische Trinkemihm erfüllte schon früh die Welt.
Die europäischen Reisenden, die aus Rußland zurückkehrten,
berichteten in Worten starren Staunens über die moskowitische
Trunksucht. Contarini schreibt*) um 1 500. daß sich die Mosko-
witer vom Morgen bis zum Mittag auf den Märkten und Plätzoi
herumtreiben und den Tag in Trinkhäusem beschließen." —
Mayerberg erzählt 3): Branntwein beginne und ende die Mahl-
zeiten. Der Rausch allein setze der russischen Art des Trin-
kens ein Ziel. Man trinke nicht tropfenweise, sondern schütte
die Schale^) aut einen Zug iu die Kehle aus. Einen Festsaal
verlasse der Moskowiter nicht freiwillig, man müsse ihn hinaus-
schleppen. Wiihrend der Mahlzeit höre man die besten Herr-
schaften fortwährend aufstoßen, lulpscn und andere Laute
von sich geben; sie seien deswegen nicht ängstlich, und auch
1) TossA VaßvuAj wörtlich: der arme Zecher.
>} Karatnaui, d«at8che Aniq^be VII 168, franifiwsche VII 365.
3) Voyage en Mcwcovie, 1688. 61 — 63, 78, 87. 138, 14t, und noch «n
vielen Stellen.
*) Die alten Russen tranken den Bratmtweia aus Schalen. VgL darüber
auch Margeret a. a. O. 100.
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peinliche Gerüche verursachen keUDen Verdruß. Vor der Mahl-
zeit erscheine die Hausfrau mit einer Schale Branntwein; sie
nippe daran, reiche dem vornehmsten Gaste den Ehrentrunk
und ziehr sich dann wieder zurück. — Le Bruyn berichtet
aus dem Jahre 1703: An den Festtagen saufen die Russen so
wütig, daß man sie in Massen berauscht auf den Straßen liegen
sehr, namentlich vor den Schenken. In die Lokale selbst
dürfen sie nicht hineingehen ; an der Tür der Kabaken befinde
sich eine Bank, auf die sie das Geld legen müssen, dann
folge man ihnen die bezahlte Quantität aus. In jedem Zarew-
kabak seien zwei Bediente: einer nehme das Geld in Empfang,
der andere schöpfe mit einem groücii liulzlöffcl den Schnaps
. aus einem mächtigen Kessel. Die Frauen drängen sich wie
die Mäimer zum Saufen. — Endlich erwähne ich hier die
Mitteilungen des dänischen Reisenden Peter von Häven ^) : „Die
i'omebmste Neigung des gansen Volkes bestehet darinn, Essen
und Trinken in Überfluß zu genießen und sich vornehmlich
allerley Arten vom starken Getränk ohne Ordnung und Maaß
zu bedienen. Ungeachtet sie nun öfters Schiffbruch am Ver-
stände leiden, so scheinet es doch, als wenn es ihren Körpern
keinen grossen Schaden thate. Es ist soweit entfernt, daß der
gemeine Mann sich seiner Trunkenheit schämen sollte, daß
er sich vielmehr derselben rühmet, seine Lieder in den Schen-
ken herschreyet, imd taumelnd auf der Strasse gehet; zu-
weilen begegnet man wohl auch Bauern von beyderley Ge*
schlecht, die öffentlich herumgehen, sich einander unter die
Arme gefaßt halten, und die in ihrer Trunkenheit singen und
schreyen."
Die wenigen Russen, die als Diplomaten ins Ausland ge-
schickt wurden, schleppten ihr Laster niit sich. Von Chardin*)
erfahren wir, daß die russischen Gesandten, vom Schach Abbas
zu einem Feste geladen, sich an der Tafel des persischen Königs
derart mit Schiraswein betranken, ,,daß sie allzu deutliche
Beweise von Unfläthigkeit von sich gaben; so daß der König
1) Voyages, III 250.
') Büschinß:s Magazin X 351.
') Chardin, Reise iu Persicn.
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I
die Tafel aufhob mit dem Bemerken : Die Russen seien wie
die Usbeken, welche das schmutzigste tatarische Volk."
Obwohl die früher angeführten Nationallicder die Meinung
erwecken, daß das Nationallaster mit der Begründung des
Reiches begonnen habe, kann doch bchriu[)tet worden, daß
dif furchtbare Ausartung der Trunksucht in Rußland erst
au-> dem sechzehnten Jahrhundert datiert. Soweit historisch
tcblgcstellt ist, war der weiberliebende schreckliche Iwan der
erste Zar, der den Sapoji) am russischen Hofe einbürgerte.
Zur Aufpeitscbung seiner durch ein Hurenleben erschlafften
Sinne braucht der Tyrann die erhitzendoi Kräfte des Weines.
Im Zarenpalaste gfibt es endlose Scfamausereien und Trink-
gelage, bei denen man einander mit Hymnen auf den Wein,
der des Menschen Herz erfreue» zu Ausschweifungen anfeuert,
während der alte Gebrauch der Mäßigkbit verhöhnt und das
Fasten als Heuchelei erklärt wird.') Der Palast ist bald zu
eng für die rauschenden Festversammlungen; man überführt
die jungen Prinzen in besondere Häuser, um Platz zu schaffen
für die Zecher. Täglich werden neue Vergnügungen ersonnen,
bei denen Nüchternheit und Wohlanständigkeit als unschick-
lich verpönt sind. Mancher Bojar kann der guten alten Zdt
der Mäßigung nicht vergessen, sitzt an der unter der Weinlast
seufzenden zarischen Tafel mit trübem Blicke und stummem
Munde ; man verlacht oder verachtet ihn, gießt ihm Wein auf
das nachdenklich gesenkte Haupt, setzt ihm ein nacktes Dim-
lein auf die vor Angst schlotternden Knie. Mcmche erscheinen
unter den Zechern, um durch nachsichtige Lehren das schüch-
terne Gewissen des Zaren gänzlich zum Schweigen zu bringen
und durch ihre (iegenwart und eigene Anteilnahme die Zügei-
losigkcit vor dem nuirrenden Volke zu heiligen. Der Archi-
mandrit von Tschudow selbst erweist sich als der ärgste
Schlemmer, und Hof und Klerus taumeln Arm in Arm von
einer Orgie zur anderen. In einem älteren deutschen Rcisc-
weike ,1 wird erzählt, auf welche Weise Iwan der ScluccklKlie
seinen Säufer-„Himeur" zu beweisen pflegte : „Nachdem fremde
1) Banott. Saufwut, eigentlich: anhaJtendes Trinken.
Karamsin, detitsche Ausgabe VIII 15, französische IX 18.
Reise nach Norden / anno 1706, S. 168.
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Eng- und Schotüändische Weiber sich über ihn lustig gemacht
hatten / ließ er sie holen / voUtruncken machen / dann selbige
f^antz nackct ausziehen / und in diesen Zustande einf nach
der anderen 5. oder 6. Scheffel Erbsen / die er in sein /immer
hatte streuen lassen / wieder auflesen i) und schickte sie darauff
wieder fort mit der Warnung / sich über ihn ein andermal
nicht zu kützeln."
Dieser Tyrann, der sich und seinen Giinstlingen kein be-
schränk tndrs Maß vorschreiben lieb, verfolgte grausam die
Trunkenbolde unter dem Volke. Die gemeinen Sterblichen durf-
ten bloß an Feiertagen trinken, an Werktagen war es ihnen ver
boten. Nur die auslandischen Krieger, die dem Zaren für
Geld dienten, konnten sich nadi ihrem Belieben berauschen');
deswegen hieß auch die Vorstadt jenseits des Moskwaflnsses,
wo sie wohnten : Naleika. .Von dem russischen Worte Hann-
Bafi, schenk voll einl Die russischen Trunkenbolde aber,
die dem zarischen Befehle zuwiderhandelten, brachte man beim
ersten Male in den Säuferturm, wo sie bd Brot und Wasser
dngesperrt bliebooiy bis sie Besserung bekundeten; beim zwei-
ten Male wurde ihnen das Gesetz der Nüchternheit mit Knuten*
hieben eingeblaut.
Während der Zar im Widerspruch zu seinem eigenen
schamlosen Treiben Mäßigkeitsgesetze gab, schuf er gar einen
Widerspruch mit dem Widerspruch, indem er das zarische
Schnapsmonopol ins Leben rief, die zarische Kabalcwirtschaft
begründete, die Trunksucht als Staatsnotwendigkeit statuierte.
Nach dem Muster der Chans-Schenken, die er in dem von
ihm eroberten Kasan i krnnen gelernt hatte, organisierte lw9n
die Zarew-Kabaki. Der Branntwein wurde eine Hauptein-
nahmsqucllc des zarischen Schatzes. Der Zar allein durfte
fortan mit Branntwein handeln. Im ganzen Reiche wurden
im Namen des Zarf-n l^ranntweinbrenncreien errichtet. Zu-
gleich mit dem Beiehle an die Statthalter, die Trunksucht zu
bekämpfen, ging der andere Befehl: überall Kronsschenken zu
>) Ich «rinnera an den ähnlichen Vorfall, den sidi Dorat and Grteoiirt
zu poetischer Beerheitang erwfthlt heben, nnd en die dentKfae Bearbcitang
der ..Kirschen" von Hdn»e.
') Jovius und Herberstein, Die Moscouitische Chronica. 1576. j
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Öffnen. Die Vertreter des Zarenschatze^', denen die Verwaltung
der Schnapsfiüalen anvertraut wurde, mußten beim Kreuze
schwören, eine hinreichende Menge auszuschenken; wenn sie
nach einer bestimmten Zeit das vorgeschriebene Quantum
nicht verkauft hatten, machte man sie für das Defizit ver-
antwortlich. Wie glänzend sie ihre Aufgabe lösten, beweist
ein Gesuch des Schenkwirtes Andrej übrasow, der zur Unter-
stützung beiner Bitte anführte : er hätte das Interesse des Zaren
stets so sehr gewählt, daü sith m seiner Schenke sogar viele
Leute zu Tode getrunken. Anfangs waren die Priester Gegner
des Branntweins, später fanden sie an ihm ebenso Geschmack
wie das Volk. Der Zar bereicherte sich durch das Laster des
Volkes, und gleichzeitig triumphierte die zarische Politik, welche
die Aufrechterhaltung der Autokratie nie anders zu sichern
wußte als durch systematische Verdummung und Entsittlichung
der N^sen.
Die Trunksucht breitete sich aus gleich der Pest. Zur
Zeit des Zaren Fedor Iwanowitsch gab es schon in allen Städten
Kronstrinkhauser. Trotz des zarischen Monopols handelten
auch viele Privatleute heimlich mit Schnaps.^} Boriß Godunow
ergriff gegen diesen Privathandel strenge Maßregeln; ein ern-
ster Fretmd der Mäßigkeit') verurteilte er die Schenkwirtschaft
auch im allgemeinen tmd erklärte: er würde eher einen Dieb
oder Räuber als einen Schenkwirt begnadigen; er forderte
die Schnapshändler auf, sich ehrlicher Arbeit zu widmen, und
versprach ihnen in diesem Falle Ländereien. Dieses Lockmittel
half nicht; half umso weniger, als der Zar nicht den Mut
hatte, mit der Aufhebung der iCronsschenken den Anfang
zu machen.
1) Karamsin, deutsch X 71, französisch XI Ii 3.
2) Als Boriß Godtjnnw livländischt' Flüchtlinge m einem Mahle bei sirh
empfing, wollten die Bojaren die Gäste betrunken machen. Diese waren
auf ihrer Hut, weil sie wußten, daß der Zar ein Freund der Nüchternheit
war. Der Zar bemeriete ihre Enthaltsamkeit und fragte: „Warum trinkt
ihr nicht, wie es bei euch der Gebrauch ist?" Sie antworteten, in G^enwart
des enthaltsamen Zaren wollten sie auch nicht unmäßig sein. Da saptf Boriß;
,,Ich nötige eucii als Wirt zum Trinken, macht euch getrost lustig, trinkt
in die Runde auf meine Gesundheit. " Vgl. Bär, Muscowitiache Chronik.
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305 -
So wurde die Trunksucht bereits unausrottbar, und gras-
sierte weiter, nicht bloß im Volke, sondern auch am flofe.
Als Graf Woldemar Christian Güldenlöwe von Schleswig Hol-
stein an der Tafel des Zaren Michael Romanow als Gast er-
schien, wagte der Bojar Boriß Iwanuwitsch Morosow in trun-
kener Laune den Protestanten aufzufordern, er möge zur Ortho-
doxie übertreten ; um der peinlichen Szene ein Ende zu machen,
befahl der Zar dem Morosow, sich sofort zu entfernen; dieser
aber verweigerte sich aus Trunkculicit dessen," so daß der
Thronfolger Alexej den Besoffenen an der Brust packen und
höchsteigenhändig an die Luft setzen mußte, Auf Alexej
hatte dieser Vorfall emen tiefen Eindruck gemacht^ und als
er bald darauf Zar geworden war xind ein Gesetzbuch zusammen-
stellen ließ, befahl er, ein eigenes Kapitel den Bestrafungen
der Schenkwirte und Tnmkenbolde zu widmen. Das Kapitel
kam auch zustande; es enthält ein Dutzend Straf Paragraphen:
Da wird Schenkwirten und Trunkenbolden gedroht mit harten
Geldbußen, Gefängnishaft bis zu vielen Monaten, Verbannung
nach Sibirien, fturchtbaren Züchtigungen, Knuten, Batogy und
Folterungen.*) Aber alle diese Beängstigungen sind nur den
Schlimmen bestimmt, die privat mit Schnaps handeln oder
nichtzarischen Schnaps trinken, wogegen der Vertierung des
Volkes durch zarischen Schnaps keine Grenze gesetzt wird;
die strengen Maßregehi sollen um Gottes willen nicht etwa
dazu dienen, die Trunksucht auszurotten, sondern dafür Sorge
tragen, daß man sich bloß am zarischen Schnaps berausche,
bloß den zarischen Scluitz bereichere.
Alles ist prächtig präpariert, um den Kinzug des Bacchus
am Hofe Peters des Großen glänzend zu gestalten und dem
Gottc des Weines und des Branntweins seine schönsten
Triumphe zu bereiten. Peter gibt dem russischen Weingott erst
die russischen Namen. Im allgemeinen und in der großen
Öffentlichkeit tituliert er ihn feierlich; Chinjehiizkij. Das war
der Name jenes Kosakenhetmanns, der einige Jahre zuvor dem
1) Nachricht von Woldemar Christian Gäldeiüöwe Grafen von Schleswig«
Holstein Reise Dach Rußland zur Vermählung mit des Czam FeodOfO-
witsch lOchter Irene In Büschings Magazin X 234.
') Russische Land-Recht S. 238, Kap. XXV i — 11.
Sit», GcMiudMe 4er öfloid. SittOeUcit in Ruiluid. ao
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— 306 —
Zaren Alexej beigestanden hatte, die Polen zu bekämpfen, und
der deshalb bei den Russen Popularität erwarb ; in den Liedern
wird er als großer Säufer gefeiert gleich dem altrussischen
Helden Ilja von Murom, und die Bilder, die von ihm erhalten
sind, seigen tins auch das Antlitz eines unverkennbar kräftigen
Trinkers.^) Für Peter entscheidend ist die sprachliche Be-
deutung dieses Namens; denn ZM-kn» heißt: Hopfen, zirbn^
HEEä: berauscht. In intim^mi Kreise nennt Peter den Gott
der Trinker: Iwan Michajlowitsch oder kurzweg Iwaschka;
mit demselben Namen bezeichnet er seine Lieblingsschöpfung,
die Flotte.
Peter der Große hat eine vortreffliche Trinkerschule durch-
gemacht. Sein Lehrer und Meister, der Genfer Lefort, ist auch
der Organisator seiner Veigni^ungen, der guten wie der
schlechten. Er lehrt ihn nicht bloß Schiffe bauen, Schlachten
schlagen, Reiche regieren, sondern auch trinken und huren.
In allen Arten Ausschweifungen ist Lefort ein unverwüstlicher
Heros. 2) Auf der Reise durch Europa, auf der er den jugendlichen
Herrscher begleitet, setzt er durch seine klassische Trinkerkraft
selbst die trinkfesten Deutschen und Holländer in Erstaunen.
Und wie er gelebt, so stirbt er. Im Jahre 1699 gibt er ein
großes Gelage. ist Februar und furchtbar kalt. Da schlägt
Lefort vor. dif irgie im Freien fortzusetzen. Es bekommt
ihm schlecht, er erkrankt auf den Tod. Der Pastor wird ge-
rufen, um ihm die letzte Tröstung zu s[)enden, Lefort aber
schickt den geibllichen Herrn lachend fort, verlangt nach Wein,
Weibern und Musik, und trinkend und singend haucht er sei-
nen Atem aus. Das war ein flottes llaus gewesen, das Haus
Leforts in der Sloboda^) zu Moskau. Da gab es bei Tag und
bei Nacht heitere Gesellschatt. Da war man frei von der
russischen Melancholie, wenn der Becher in die Runde ging.
Auch durch den Wechsel der Sitten mußten alle berauscht
>) Ein Bortrftt ChmlelnixldyB findet man in Spunm iUvstrierter Wdt-
getchtchte 1894, VI. S. 654.
Lefort trinkt wie ein Heros, sagte Leibnitz. Vgl. Gucrricr, Leibnitz in
seinen Beziehungen zu Rußland, S. 1 2 ; und K. Waliszewski, Pu-rrc le ('rand, ]>. 60.
') CiuCuA^, Vorstadt; man verstand damals darunter da-s Quartier der
AttsUader, speziell der Dentachien, in Ifbskan.
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— 307 —
werden: bisher gewohnt, die Frauen nur hinter den Gittern
der Terems^) oder gehüllt in der Fatas^), die keinen Zug des
Gesichts erkennen ließen, zu sehen, tritt man plötzlich in einen
Kreis, wo die schönsten Schottländerinnen, Holländerinnen und
Deutschen ungezwungen von Mann zu Mann hüpfen, fröhlich
lachen, plaudern, küssen, tanzen.
Als Trinker übertraf Peter schnell seinen Meister. Kr sauft
ununterbrochen. Im Jahre 1707 ist heim Beginne des Krieges
mit Karl XII. die Verteidigung Rußlands vernachlässigt, weil
der Zar sich ganz dem Saufen hingegeben hat. Vergebens
sendet Mentschikow einen Boten um den andern nach Moskau,
um den Zaren aufzurütteln: der junge Herrscher will von nichts
anderem wissen als von seinen Amüsements mit Wein und
Weibern, Man rühmt Peter dem Großen nach, daß er viel ver-
tragen konnte ; doch wissen wir auch, daß er hautig genug im
Kausche die gräßlichsten Exzesse beging. Friedrich der Große
erzählte Voltaire, daß Peter vom preußischen Gesandten Baron
von Printzen dabei angetroffen wurde, wie er bei seiner Mahl-
zeit im Zorne des Rausches zwanzig Strel jzen enthaupten ließ ;
wahrend die Exekutionen vor seinen Augen vollzogen wur-
den» aß der Zar nicht bloß ruhig weiter, sondern machte sich
den Spaß, bei jedem Streiche des Henkers, wenn ein Kopf zur
Erde rollte, ein Glaschen auf die Gesundheit des Hingerichteten
zu leeren; er lud den preußischen Gesandten lachend ein, an
seinem Vergnügen teilzunehmen. Auf seiner Reise in Europa
trank Peter als wäre er daheim. In Königsberg wollte er
in der Trunkenheit Lefort erstechen. In Dresden gesellte er sich
zu Lakaien im Hofe eines Hauses und trank mit ihnen. In
Berlin hielt er die Hoftafel vier Stunden lang hin, da er fort
und fort Gesundheiten ausbringen wollte, um maßlos trinken
zu können. ,,Es vergeht kein Tag. wo er sich nicht volltrinkt,"
sagt Baron PöUnitz.^) Die Kurfürstin Sophie von Hannover
aber war enttäuscht, nachdem sie so viel von des Zaren Saufe-
1) Tepcin». wörtlich Dachkammer, Bezeichnuag für das Frauengemach,
<Uw bei den alten Runb von der Wohnimg der Hänser so streng getdbledeii
war, wie der Harem der MoeIegM>
') «taia, Seidenschleicr.
s) Mimoires, II 66.
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— 308 -
reicn gehört hatte ; ,,er bat vor uns gar nicht gesoffen," schrieb
sie in ihren Erinnerungen^); ,^ber seine Leute abscheulich.
Sie wußten nichts von sich selbst, so voll waren sie."
Nach der Rückkehr Peters aus Europa und nach der Be-
gründung von Petersburg beginnt am Zarenhofe die Hochflut
des Saufens. Die Gelage dauern ununterbrochen an, oft tage-
lang, ja wochenlang Tag und Nacht hindurch. Wann immer
man bei Hofe erscheint, stets gibt es dort ein Brnschnitschanjc.-)
Die Altrusscn tadeln die Sauferei als eine nichtrussische Sitte');
sie behaupten, der Zar habe sie aus der bösen Fremde mit-
gebracht, aus den deutschen Schenken und Tmgeltangels nach
der heihgen Rußj verpflanzt. Dies gerade ist es, was Peter
veranlaßt, die skandalöse Sitte noch forcierter einzuführen.
Er gründet am Hofe den Rat der Alltrinker^), als Gegenstück
zum Ku i lienrat, zum größten Ärger des Klerus und der .Nation,
die iii dieser Verhöhnung allen Anstandes eine Tat des wirk-
lichen Antichrist sehen.
Ks ist ein lurchtbarer Spelunkengestank, der einem beim
Betreten des Zarenpalastes entgegenschlägt, atembeklemmend
und betäubend wie der Dunst aus der niedrigsten Schenke. Die
Zeitgenossen enähkm schier unglaubliche IKnge: Wenn man
in den zartecb^ Schloßgarten kam, begegnete man zunächst
Grenadieren, die eine große Kufe voU allergemeinsten Kom-
branntweins trugen. Wer sie sah, schlich sich fort, als wäre
er den Teufel gewahr worden. Aber Spione waren überall
aufgestellt, um die Flüchtlinge einzufangen. Dem Diplomaten
Bergholz^) passierte es, daß er einem solchen Spion in die
Arme lief; er weigerte sich, den Schnaps anzunehmen, und
erklärte, er habe sdion getrunken. Da verlangte der Spion,
1) VgL Pek, Peter der Gcofie, isS.
*) HpiUKUHMaiii.''. Saufgclag.
") Vgl. Comtc Fedor Golovkine, La Cour et le rdgne de Paul I, Pari»
1905. p. 9: Erinnerungen des Enkels des GroQkaozlers Golowkm, der am Hofe
Peters eine große Rolle spielte.
*) BcenbHBtihmfi co6opnE>. Cotfopfc bedeutet iminwitiUth die Kitcbenvor-
sammiiiDg. Der Zar verhöhnte damit ^flichaeitig den Kleroe. CemMtil»
Oiepitii. II. C.i<'H" if in|>, 282.
*) Vgl. sein Tagebuch bei Büsching XIX 4$.
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Bergholz solle den Mtmd aufmachen und seinen Atem riechen
lassen. Es half weder Bitten noch Flehen, man mußte trinken.
Den Grenadieren, welche den Branntwein trugen, folgten Offi
ziere, die die Aufgabe hatten, Gewalt anzuwenden, wenn man
sich nicht gutwillig ergeben wollte. An Festlagen gab es
Freischnaps für die Truppen , der Zar selbst ging dann die
Reihen entlang und iiberreichte den Soldaten den Trunk in
einer Schale, in die das Maß eines großen Bierglases hinein-
ging. Vor dem ZarenscMosse kcmnte man an Feierts^n die
Betnmk^en haufenweise henmiliegen sehen. Es war ein lieb-
liches Durcheinander von Würdenträgem, Volk und Geist-
lichen. „Ein Pope stand noch aufrecht," erzählt Bergfaolz, ^«aber
er war so voll, daß er hatte platzen mögen, ein anderer gab
Lunge und Leber von sich, andere rülpsten."
Am schärfsten ging es an des Zaren eigener Tafel her.
Der Herzog von Hobtein, vom Zaren eingeladen, brachte
sich vorsichtigerweise seine Weine mit, „rotes und weißes
Brotwasser," und vertauschte sie heimlich mit den zarischen
Getränken. Peter bemerkte dies, nahm dem Herzog das Glas
weg und sagte: „De Win dogt nit, de Win is mehr schädlich
als min Win," und gab ihm ein Glas bitteren Ungarwein.
Des Herzogs Begleiter, Geheimer Rat Bassewitz, kam zu spat
zur Tafel; Peter sagte ihm: ,^traft Straft" und zwang ihn,
vier mächtige Gläser Wein auf einmal auszutrinken. Der Zar
erfuhr, daß die Minister an ihrem Tische enthaltsam waren ;
or diktierte ihnen sofort riesige Strafgläscr Branntwein. Man
stelle sich solch ein HIcl vor: Alle sind betrankt n. und doch
verlangen sie immer mehr. Der Großadmiral Apraxin ist
so voll, daß er weint wie ein Kind. Fürst Mentschikow stürzt
besinnungslos zur Erde; man muü seine Familie holen, damit
sie ihn nach Hause schleppe und ins Leben zurück rute. Der
Fürst der \\ alarhei gerät mit dem Oberpolizeimeister in Streit,
während nebenan zwei Todfeinde Bruderschaft trinken und
einander ewige Treue geloben. Einige, die noch nüchtern sind,
stellen sich trunken, um nicht mehr trinken zu müssen.^) Die
Türen werden geschlossen, niemand hat die Erlaubnis fortzu-
i) Bergholz bei Bfiaching XIX 94.
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— 310 —
gehen, bevor der Zar das Zeichen dazu gibt. Bei den Sauf-
gelagen durften alle den Zaren du^eii. Wer aber in der Ver-
traulichkeit auch frech wurde, erhielt zur Strafe eine Riesen-
portion gemeinsten Fusels, die den Sünder sofort unter den
Tisch beförderte und ihn also von der Teilnahme an den
weiteren Vergnügungen ausschloß. Zu den beliebten Gästen
gehörten die Geistlichen. Peter machte sich gern den Scherz,
die obszönsten Reden durch fromme Sprüche und theologische
Abhandlungen würzen zu lassen.
Einmal gab Peter einem deutschen Gesandtm zu Ehren ein
Gastmahl im Schlosse Peterhof. Den Gästen wurde mit Tokajer-
wein so scharf zugesetzt, daß endUcb keiner mehr auf den
Füßen stehen konnte; und dennoch mußte jeder noch ein
Quartier Branntwein von der Hand der Zarin annehmen, wo-
durch alle den Rest bekamen. In diesem Zustand ließ der Zar
seine Gäste in den Garten, in den Wald und in verschiedene
Zimmer tragen, damit sie ihren Rausch ausschliefen. Um vier
Uhr nachmittags schleppte man die katmi Ernüchterten in einen
jungen Wald und befahl ihnen, Bäume umzuhauen; der Zar
selbst ging mit dem Beispiel voran. Zur Belohnung für die
schwere Arbeit gab es beim Abendessen wieder eine solche La-
dung, daß man ohne X'rrnunft zu Bett kam Soc^leich wurden
die Erschöpften erbarmungslos aus den Federn gerissen und
zu neuen Orgien geschle]jpt ; um acht Uhr morgens rief man
sie zum Kaffee, dieser aber bestand in einer Schale Brannt-
wein. Hierauf mußte man auf ungesattclten Kleppern einen
Berg hinanreiten. Mittlerweile war wieder Mittag geworden;
man mußte sich neuerdingi» vulltrinkeu und endlich bei sturm-
bewegter See nach Kronschlott fahren.
Der Zar liebte es zuweilen, während alle seine Gäste stark
trinken mußten, selbst gar nichts zu nehmen. £r blieb aber
nicht etwa enthaltsam aus plötdich erwachter Neigung zur
Mäßigkeit, sondern aus Berechnung, um s^e Leute auszu-
spionieren. Was der Nüchterne im Herzen verbii^, das hat
der Betrunkoie auf der Zunge, sagt ein russisches Sprich-
wort.*)
Hto y m4iHan> Ha fl3wd>, xu y Tix^anar«» iia jut. Vgl. CtMiewKitt,
0<j<'pKu II, CaoBo u ji^o, C-Üerepö. 1884, ct]>. 5.
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— 311 —
Ein deutscher Diplomat behauptete: „Peter trinkt viel,
aber ich habe ihn nie der Vernunft beraubt gesehen. Ob-
wohl er selbst viel vertragen kann, ist er doch ein erklärter
Antagonist aller Trunkenbolde." Dieses Urteil kann nur in
bezug auf die letzten Lebensjahre des Zaren Geltung haben.
Auf Verlangen 'einer .\rzte entsagt Peter zeitweilig dem
Weine; ci tnnki nur Kißlijeschtschi, Säuerliches, Kwali.-)
Diese Zeit der Mäßigkeit verschafft ihm die flüchtige Repu-
tation der Nüchternheit, ' Die Periode seiner Enthaltsamkeit
ist aber nur eine ganz kurze; der Zar kehrt in den letzten Mo-
naten seines Lebens zu den früheren .Ausschweifungen zurück,
und der franzosisclie Diplomat Cami)redon muß dasselbe er-
zählen, uas. wir schon von dem Deutsrhen Bergholz gehört
haben. „L'on but beaucoup," damit schließt jeder Bericht des
Franzosen über ein Fest am Zarenhofe 2); die Kufe mit Schnaps,
von Grenadieren getragen, erscheint wieder; man muß sich
wie früher auf Befehl berauschen und um dem Zaren zu ge-
fallen sich den Tod in den Hals trinken. Oer sachsische Ge-
sandte sucht am 22. August 1724 um eine Audienz nach;
aber er erhält zur Antwort, daß der Zar seit sechs Tagen in<
folge der Orgien, die anläßlich der Einweihung einer Kirche
stattfanden — man vertrank 3000 Flaschen Wein — das Bett
hüten müsse. 1725 werden die Verhandltmgen wegen des
Abschlusses der ersten französisch-russischen Allianz geführt;
plötzlich tritt eine Stockung auf russischer Seite ein. Camp-
redon ist beunruhigt und urgiert die Entscheidung; nach
langem Zögern gesteht endlich Ostermann: Der Zar amüsiert
sich ; begleitet von zweihundert Personen wandert er von Haus
1) Vgl. die Zeit.Hchritt „ Konstantinupel und St. Petersburg". II. Jahr-
gang. II. Band. i«o6. S. 36.
*) KMun>, «m leicht gegorenes Roggenwaaser; bekanntlich ein raasiaches
Nationalgetränk vrie Mi'jfb, Meth, oder 'lutt , Tee. Diese Nationalgetr&nke
haben ;il)or ktinc Beziehung zur Sittlichki-it. wie der Branntwein. \'oiti Tee
meinen die Russen, er paralj^ierc die Trunkenheit durch Sclin;i]is; man nimmt
ihn vor dem Saufen als Vorbeugungsmittel, oder nachher, um die Dünste
dee Rawches sv zerteilen. Vgl. J. Ph. Kilborgeia Unterricht von dem mssa«
sehen Mandel, in Büschings Magazin III 271.
') Louis XV et Elisabeth de Kussie, etude sur les relaiions de 1a France
et de la Rassie, par Aibert Vandal. 3^« 6d. i'aris 1896. p. 47.
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— 312 —
zu Haus; r? gibt Musik und Gesang, iCsscn und Trinken; aber
für Kegierungsarbcit hat der Zar keine Zeit, Die Diplomaten
müssen mithalten und beklagen sich deswegen, denn es geht
ans Leben. Der englische Gesandte Withworth hat den Mut,
die Teilnahme an den Saufgelagen abzulehnen, und seither
vvnU aui die Gesellschaft der ausländischen Regierungsvertreter
nicht mehr reflektiert.
Der Zar vergißt auch seine lieben Matrosen nicht. Wenn
ein Schiff abgeht, erhält es von Peter tausend Rubel für
Weine. Das Bebpiel des Zaren müssen die Großen befolgen;
Romadanowskij läßt die bei ihm als Gäste Erscbeinenden am
Eingang des Hauses mit einer Riesenschale Branntwein will«
kommen beißen» die ein gezähmter Bär grinsend präsentiert.
Das Sittenbild, das hier gezeichnet ist, übt noch eine be-
sondere Wirkung durch das starke Hervortreten des weib-
lichen Elementes bei den Trinkgelagen. Es ist schon früher
angedeutet worden, daß sich zu den zarischen Kronsschenken
die Weiber aus dem Volke nicht weniger drangen als die
Männer. Aber die Trunksudit der Frauen findet man auch
in den vornehmsten Kreisen der GeseUschaft. Als Woldemar
Christian Güldenlöwe Graf von Schleswig-Holstein, der nach
Moskau gekommen ist, um vom Zaren Michael die Hand der
Prinzessin Irene zu erbitten, auffallend lange zögert, Ernst zu
machen, fragt ihn eines Tages ein Würdenträger des Zaren:
„Ist Ihro Gräfl. Gnaden vielleicht zu Ohren gekommen, daß
die Prinzessin nicht schön wäre ? Zudem möchten Ihro Gräfl.
Gnaden sich auch nicht die Gedanken machen, daß die Prin-
zessin sich nach moskowitischer Art den anderen Weibern
gleich ofte voll und tnincken söffe, gar nicht : Sie lebt mäßig
und ist üire Lebenstage nicht mehr denn nur einmal truncken
gewesen."*)
Am Hofe Peters des Großen, des ICnkels des Zaren Michael,
ist man nicht mehr so ängstlich um den guten Ruf der rus-
sischen Frau besorgt. Beim Zwangsaufen gelegentlich der Feste
im Zarenschlosse werden, wie Bergholz berichtet 2), „nicht ein-
1) Nachricht von des Grafen voQ Schleswig-Holstein Reise nach Ruß-
land, in Büschings Magazin X 225.
t) Bei Basching XIX 45-
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— 31S -
mal die allerzartesten Damen dispensiret, weil die Zarin es bis-
weilen selbst mit thut." An Galatagen trinken die Frauen
in separaten Gemächern, zu denen kein Mann, der Zar aus-
genommen, Zutritt hat. Bei intimen Gelagen aber g\hi es
keine Trennung der Geschlechter ; da müssen sich die Frauen
mit den Männern an dieselbe Tafel setzen und durfen im
Trinken nicht hinter dem starken Geschlecht zurückbleiben.
Die Tochter des \' izekan/.lers Schafirow wagt eine Tscharka^)
Branniueia auszuschlagen; der Zar schreit sie an: ,,Du ver-
dammte hebräische Kreatur^), ich werde dich gchurchen
lehren!" und versetzte ihr zwei Ohrieigen. Und sie muß
trinken, bis sie umfällt.
Da liegen oft dreißig oder vierzig der vornehmsten Da-
men berauscht und erbrechend unier den besoffenen Männern,
bt das hehre Ziel glücklich erreicht, so packt man die Weiber
in Wagen und schickt sie ihren Familien zuröck. Die Frau,
die eine Einladung zu dnem zaiiscfaen Trinkfeste eriiält, darf
sie unter keinem Vorwande ablehnen. Die Frau des Mar-
schalls Olfusjew läßt sich entschuldigen; sie könne nicht kom-
men, weil sie einem freudigen Ereignis entgegensehe. Der
Zar schickt nochmals um sie; die Entschuldigung ist ihm
nicht genügend. Verzweifelt wendet sich die Frau an die
Zarin und bittet sie unter Tranen, vom Trinken wegbleibeo zu
dürfen; die Zarin geht zum Kaiser, umsonst: Die Unglück-
liche muß kommen ; ihr Fembleiben, meint Peter, könnte böses
Blut machen, weil sie als eine geborene Ausländerin vor rus-
sischen Frauen einen Vorzug für sich in Anspruch nehmen
w<^e. Nach der Rückkehr von diesem Feste erleidet Frau
Olfusjew eine Fehlgeburt; sie legt das Embryo in Spiritus
und schickt das Glas dem Zaren. 3)
Jede Gelegenheit wird benutzt, um Damen zum Trinken
einzuladen; namentlich am Geburtstag und Namenstag der
Zarin fließt in den Frauengemächem der Branntwein in Strö-
1) Hiipa, napKii oder Hapo*iKa, Scliale oder Schälchen.
*) Schafirow, ein getaafter Jude, gdiArte su den bedeutendttm Gunst-
linken Peters.
*) Bcrgholz bei Büscbing XIX 157.
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men, gewöhnlich ein ganz ordinärer Kornbranntwein. Am
8. Dezember 172 1 berichtet ( aniprcdon ^) : ,,Das letzte Fest zum
Namenstag der Zarin war großartig nach Landessitte: die
Damen tranken viel." Katharina I. selbst ist eine Trinkcrin
erster Klasse, wie Bassewitz konstatiert; und sie dankt diesem
Talent nicht zum wenigsten die Ausdauer in der Gunst des
sonst so flatterhaften Gemahls. Einmal sitzt sie an fröhlicher
Tafel und beginnt plötzlich zu weinen ; ein Töchterchen ist
ihr vor einigen Tagen früh verstorben, und die Erinnerung
an das geliebte Wesen bedrückt ihr Hen. Die Rührseligkeit der
Zarin droht die Stimmung zu verderben. Da reicht Graf
Sapieha der Kaiserin ein Glas Wein und ruft ihr einen Trink*
Spruch zu; top, sagt sie, wischt die Tränen fort und leert
das Glas auf einen Zug.
Selbst Zarin geworden, setzt Katharina die Tradition und
Sitten Peters fort. Campredon meldet am 14. Oktober 1725:
,,Die Herrscherin überlaßt sich den V^gnügungen bis zur
Zostörung ihrer Gesundheit/' und am 22. Dezember desselben
Jahres: „Die Zarin ist krank infolge einer Orgie am Andreas-
tage.'*') Und das geht so fort die ganzen zwei Jahre ihrer
Alleinherrschaft. Der dänische Gesandte Westphal berechnete»
daß der zarische Hof während dieser zwei Jahre für Ungar-
weine und Danziger Schnäpse eine Million Rubel verausgabte ;
die gesamten Revenuen des Staates betrugen damals zehn Mil-
lionen Rubel jährlich.*) Auch Elisabeth die jüngere Tochter
Peters und Katharinas, die später Zarin wurde, soll als Prin-
zessin Unsummen für Spirituosen verbraucht haben. Nach Eini-
gen ist sie auch als Zarin eine starke Trinkerin gewesen. Sie hat
sich, so behauptet man, durch ihre maßlose Jrunksucht die
Krankheiten zugc/ogrn, an denen sie srhIielMirh in abscheu-
licher Weise zugrunde ging. ' \ I .inige andere Zeitgenossen loben
indessen gerade ihre Nüchternheit. So sagte Mardefeld 1742:
„Gleich ihrer Mutter Katharina versagt sie sich nichts, den
Waliszewski, Pierre le Grand, .j^r.
*) Waliszewski, L'hferitagf de Pit-rre le Clraiid, 15.
3) Korsakow, Thronbesteigung der Zarin Anna, 16S0. Anhang S. 75«
*) Sugcnheitn, Rußlands Beziehungen zu Dcutschlam), I 279.
Digitizcd by GoügliS
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Bacchus ausgenommen;" und Marquis de l'Höpital schrieb
1758: „Elle mange peu. eile boit ü snii ordinaire de la petite
hibre et du vin de Hon^i^rie. ICn tout eile est sobre."
Der Verkommenheit des Hofes entsprac hen die Sitten der
Gesellschaft und des Volkes. Katharina II. traf das rich-
tigste, als sie den 1 rupj)cn zu saufen gab. um sie für sich
zu gewinnen.^) Am Tage ihrer Thronbesteigung standen alle
Schenken, Weinkeller und Wirtshäuser den Soldaten offen.
Die Soldaten und Soldatenfrauen trugen eimerweise Wein,
Branntwein, Bier, Meth und Champagner nach Hause und
gössen alles durcheinander in Zuber und Fässer, die sich ge-
rade vorfanden. Die Bauern standen den Soldaten nicht nach.
Die Trinkgelage waren allgemein und die Straßen bedeckt mit
Betrunkenen, die sich nicht mehr begnügten, die Getränke
aus den Kronsniederlagen zu holen, sondern auch die Privat-
scfaenken und Herbergen stürmten und plünderten; die Händ-
ler wagten nicht Widerstand zu leisten und gaben alle ihre
Vorräte freiwillig her. Die Soldaten soffen zur Selbstbelohnung
der Dienste, die sie dem Vaterlande durch die Entthronung
Peters III. geleistet zu haben glaubten, das Volk trank auf
das Wohl der neuen Kaiserin, die so freigebig war. Die Polizei
selbst wurde von der Sauferei mitgerissen, kümmerte sich
nicht mehr um die Ordnung in der Stadt; ihre Organe lagen
berauscht neben den Popen, Soldaten, Bauern und Weibern
in den Straßenrinnen. Der Festtag wurde zu einem Tage
beispiellosen Unfugs. Am späten Abend jagten betrunkene
Husaren durch Petersburg nach der Ismailowschen Sloboda
und rirff-Ti das Ismailowsche Regiment, welches am meisten
soft, zur Rettung der Zarin auf. „Die verfluchten Preußen,"
schnell sie. ..wollen uns unsere Mutter entfuhren." Die be-
trunkenen Isniaiknvzen verlangten die Kaiserin zu sehen und
drohten mit Krawallen, wenn sie sich nicht zeige. Vergebeii>
stellte man ihnen vor, die Kaiserin schlafe längst. „Kapitän
Pa---i ' k; cr/ahlt Katharina selbst, ..trat um Mitternacht in
mein Schlafzimmer und weckte mu h, erzählend, dali das Ismai-
') B. von Biiba-ssoÜ, Geschirlitc Katharina II. Deutsch \ on P. v. R,
lies rusüiüchcn Originals Band Ii, erste Abteilung. Berlin i^iyj. S. 105.
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lowsche Regiment, schwer betrunken, nach mir verlange. Ich
mußte aufstehen und zu den Soldaten fahren. Aber als ich
mich ihnen gezeigt und gesagt hatte: „Nun gut, ich danke euch,
jetzt geht schlafen/' gingen sie ruhig wie die Lämmer aus-
einander."
Katharina II. selbst war keine Saufheldin. Desto trauriger
war es um ihre Umgebung bestellt. Patjomkin beging die
furchtbarsten Exzesse. Als Orlow von der Zarin seiner Stel-
lung als Liebhaber enthoben wurde, rächte er sich dadurch,
daß er sich in allen Schenken mit Huren der niedrigsten Sorte
herumwälzte und das Vermögen, das er von Katharina erwor-
ben hatte, versoff. Friedrichs Gesandter, Solms, schrieb über
den Kanzler Bestuschew-) : „Der alte Schwätzer ertrankt den
letzten Rest seines Verstandes in starkem Liqueur." Der Dich-
ter Lomonossow untergrub seine Schaffenskraft und seine Ge-
sundheit durch seine Leidenschaft für geistige Getränke. 3)
Die historische F.ntwirkelung der Trunksucht und ihre
systematische Züchtung durch die Regierung lassen es be-
greiflich erscheinen, daß sich dieses Laster im russi'^chen Volke
so verbreiten konnte. Wenn man der Statistik glauben will,
so ist es in Rußlai,*.! alkidiug.-. wi niger schrunni .il-, in anderen
Ländern. So verbraucht Deutschland j-tlnlich rund drei Mil-
liarden Mark für geistige Getränke. Auf den Kopf kommen in
Deutschland 125 Liter Bier, 673 Liter Wein und 4V2 Liter
Spirituosen. In England kommt auf den Kopf ein Konstmi von
142 Liter Bier, 2 Liter Wein und 5 Liter Spirituosen. Frank-
reicli hat einen geringeren Bierkonsum, braucht dagegen ii^t
Liter Wein und fast 5 Liter Spirituosen per Kopf. In der
Schweiz rechnet man auf den Kopf 67 Liter Wein, 70 Liter
Bier und mehr als 6 Liter Spirituosen. Belgien hat einen ge«
ringen Weinkonsum, aber einen Bedarf von 219 Liter Bier und
9>/8 Liter Spirituosen. In Italien verbraucht man 88 Liter
Wein, fast gar kein Bier und nur i Liter Schnaps. In öster-
») Wnliszf^wski, Autour d'un trone 91,
2) Ebenda, 3;.
3) Remholdt, Geschichte der russischen Literatur, 308.
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— 317 —
reich Ungarn kommen auf den Kopf 15 Liter Wein, 46 Liter
Bier und 11 Liter Spirituosen. In Schweden, Norwegen, Däne-
mark braucht man wenig Wein und Bier, aber viel Spirituosen,
so in Dänemark 16 Liter für jeden Einwohner. Für Rußland
hat man nur 4 Liter Bier und bloß 2Y2 Liter Spirituosen per
Kopf festgestellt. Niemals hat aber die Statistik getauscht
wie in diesem Falle. Petersburg allein verkauft jährlich für
300 Millionen Rubel geistiger Getränke. Mehr als 200000 Be-
trunkene werden in dieser Sta k in einem Jahre polizeilich ein-
gezogen; davon sind ein i uiiltel Frauen. Es gibt Tage, an
denen mehrere tausend Personen wegen Volltninkenheit arre-
tiert werden müssen. In den Petersburger Krankenhäusern
sind jährlich 2500 Alkoholiker untergebracht. Man zählt fer-
ner im Reiche jährlich wenigstens zweitausend plötzliche
Todesfälle infolge allzu nachdrücklichen Trinkens. Die Ein-
nahmen des Staates aus der Branntweinsteuer betragen jähr-
lich zweihundert Millionen Rubel, sie decken ein Fünftel des
gesamten Budgets. Fast die gleiche Summe verdienen die.
Zwischenhändler, so daß das russische Volk jährlich eine halbe
Milliarde für Schnaps aufbringen muß.
Die früher angeführte Statistik entspricht ziffermäßig mög-
licherweise der Wahrheit, aber dann bedarf sie nachfolgender
Erklärung: in Rußland wird nicht zu allen Zeiten gleichmäßig
getrunken. Der Muschik enthält sich wochenlang des Trin-
kens, spart jeden Kopek und wartet einen Feiertag ab, an
diesem aber trinkt er bis zur Bewußtlosigkeit. Für Ostern
besonders rüstet sich alles schon lange vorher; dann wandert
man mit Weib und Kindern zur Schenke und macht sich einen
guten Tag. Auch wird nicht in allen Gegenden des Reiches
gleich stark getrunken. So heißt es von den Bewohnern der
Ukrame^): ,,Die Ukraine ist das Land der Fressereien. Die
Einwohner heben Essen, Trinken, Wollust. Sie sind fleißig,
studieren, strengen sich sehr an, und werden am Ende gemeinig-
lich stumpf im Hirne, oder überlassen sich dem Trünke.'* Die
Kleinrussen trinken beständig, aber mäßig. Als die ärgsten
1) Tnnrische Reifie der Kaiserin von Rußland Kattaaiina II. Aua dem
Englischen übersetzt. Koblenz 1799. S. 49.
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— 318 -
Säufer gi-lten die Weißrussen; sie sind ganz entnervt M ; sie
trinken am meisten und immerfort, an Feiertagen, gewöhn-
lichen Sonntagen, und an Werktagen. Der Großrusse endlich
trinkt nicht beständig, nicht tägliLh. Beginnt er aber, so hört
er nicht bald auf, trinkt tagelang, selbst wochenlang fort, bis
er das Letzte versoffen hat und buchstäblich nackt aus der
Schenke hinausbefördert und aul die Straße geworfen wird.
Es ist zwar den Schenkwirten verboten, Pfänder anzunehmen,
aber niemand kümmert sich um das Verbot. Und damit ist
der größten Verderbnis die Bahn freigegeben. Der Schenkwirt
nimmt statt Geld was man . ihm bringt : Naturalien, Korn,
Talg, Brot, Flachs, Pelz, Kleidungsstücke, sdbst die Mützen
oder Stiefel; ist die Ware noch so schlecht, ein Glas Schnaps
kann sie doch bezahlt machen. Der Preis muß stets im Vor-
hinein erlegt werden. Da sieht man, wie ein fiesoffener herein«
wankt, sein letztes Kleidungsstück auf den Schanktisch wirft
und das Maß Schnaps dafür eintauscht.
Der Reisende kann nur mit Schaudern an einem Kabak
vorübergehen, wenn er einmal in seinem Leben einen Blick
in eine solche Lasterhöhle geworfen hat. In den Dörfern ist
der Kabak gewöhnlich das letzte und elendeste Haus, der Wirt
der gemeinste Kerl der ganzen Gegend. In den letzten Jahren
sind in den Schenken ganz neue sonderbare Typen aufgetaucht.
Da erscheinen langhaarige Studenten, die dem besoffenen
X'olke gegen Bezahlung von einem Kopeken per Zuhörer, die
neuesten Nachrichten aus den Zeitungen, Strafgesetze, Ge-
schichten und Märchen vorlesen : zuweilen wagt sich auch ein
Revolutionär hinein, um die trägen Massen aufzurütteln.
So traurig die Szene sein mag, so sehr dieses Laster maß-
loser Trunksucln auch die Ursache zu Verbrechen und Unsitt-
lichkeit ist. so muß doch anerkannt werden, daß es im Kabak
selbst niemals zu Schlägereien kommt. Wenn der Russe be-
soffen ist, wird er zärtlich, umarmt seinen schlimmsten Tod-
feind. Er sucht im Rausche die Glückseligkeit, die ihm das
Leben verbagi, und imdet sie. ,. Unser Volk," sagt Koschelew,
..trank stets und trinkt jetzt unter dem Drange, im Branntwein
1) Haxthanaeo, Studien II
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" 319 —
Vergessen seiner wirklichen Lage zu finden. "i) Der Bauer trinkt,
um zu vergessen, daß Frau und Kinder hungern ; der Hand-
werker und Fabriksarbeiter tragen den kargen Arbeitslohn,
der nicht ausreicht für die schmälste Kost einer Woche, am
Sonnabend Abend in die Schenke, um wenitxstens eine einzige
glückliche Nacht zu haben; es ist ihnen dann gleichgulu^.
daß sie in der kommenden Woche noch mehr hungern müssen.
Man schleppt die Kinder, namentlich wenn sie in den Fabriken
arbeiten, in die Kabaki mit; uuao6ho noAKp-biuiATbCfl, man
muß sich frühzeitig stärken, sagt man. Beide Geschlechter
huldigen dieser Stärkungsmethode. Wie die Bauern und Hand-
werker denken auch die Polizisten .und Soldaten, die Beamten,
die Offiziere, bis zu den Höchsten hinauf. Auf dem Kriegs-
marsch bleibt man plötzlich stehen und muß einen unfrei-
willigen* Halteplatz wählen, weil die Hälfte der Soldaten vor
Trunkenheit umfällt. Admiral Roschdestwenskij sieht in seiner
Trunkenheit im englischen Kanal harmlose Fischerboote für
japanische Torpedoboote an und provoziert einen gefährlichen
Zwischenfall; Admiral Nebogatow erwacht bei Tschusima aus
seinem Rausch erst, als alles schon vorüber ist. Bei Gericht
erscheint ein Pnli/ist um eine wichtige Zeugenschaft abzu-
legen,' und sinkt dem Richter taumelnd in die Arme; auf
der Bühne stürzt ein berühmter Schauspieler im unrichtigen
Moment zur Erde, weil er in dem Zwischenakt statt eines Glases
Wasser ein Glas Schnaps geleert hat. ..Der Muschik kann
nicht zu Gott beten, bevor er sieh hetriniken hat." sagt der
Russe Leskow, Aber so will es ja die Regierung halben : Kin
Student, der nicht trinkt, ist verdächtig als Nihilist. Eine Dorf-
gemeinde, in welcher Nüchternheit hcrrsc:lit, ist eine auf-
rührerische Gesellschaft und muB unter Helauerungszustand
gesteht werden. Kine Seku-, welche die Trunkenheit verab-
scheut, verdient die Ausrottung mit Feuer und Schwert.
Das russische \ oik hat sich dem Regicrungsprinzip nur
zu wiUig angepaßt. Das schlimmste bei alledem ist, daß man
1) Dasselbe, wie dieser Russe, schrieb schon der Franzose Custine vor
vielen Jahrzehnten: „Le plus grand des plaisirs de ce peuple, c'est l'ivresse,
mtrenMat dit l'oatdL" Cofttine III 309.
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— 320 —
den Trinkern seit ntucaicr Zeit, um sie desto schneller zu
ruinieren, den allerschlechtesten Stoff verabreicht. Man nimmt
keinen Komspiritus als Urstoff, sondern zieht den Branntwein
aus Kartoffeln. Und diesen Schnaps verfälschen die Wieder»
Verkäufe noch mehr dur^ sdharfotoffige und ätaende ftfit'
tel, wie Schwefelsaure.^]
Alexander III. berief bekanntlich ein Maßigkeitspariament,
um der Trunksucht entgegenzuarbeiten. Unter Nikolaj II. hat
dann Witte im Jahre 1900 ein ständiges Temperenzkomitee
begründet. Jede russische Stadt erhielt eine Filiale dieses
Komitees. Witte stellte als Grundsatz auf, daß in Rußland
Mangel an guter Nahrung und vernünftigen Vergnügungen die
Ursachen des Übels seien. In Moskau und Petersburg zunächst
schuf man deshalb Volkshäuser, wo die Arbeiter für 25 Kopeken
Wohnung und ganze Kost für einen Tag, für 5 Kopeken ein
Nachtlogis erhielten. Kin Volkshaus in Moskau war zugleich
Restaurant, Arbeiterldub und Bibliothek. Im Petersburger
Volkshaus gab es sogar einen Konzertsaal und ein Theater
für 2000 Personen. Konzert und Theater sollten gratis sein.
Im ersten Jahre spendete Witte vier Millionen Rubel für das
gute Werk, und er sagte für die Zukunft mehr zu, aber nur
entsprechend den Erträgnissen des Branntweinmonopols ! Eine
wahrhaft russische Methode: enie Prämie auf die Steigerung
des Schnapskonsums zu gunsten der Mäßigkeitsvereine. Es
war übrigens alles nur eine Komödie, von der kaum eine Er-
innerung mehr vorhanden ist. Die paar Millionen sind irgendwo
kleben geblieben, und das Prinzip der Regierung ist mehr als
je zuvor : die Trunksucht allein rettet die Autokratie vor dem
Untergang; ein entsittlichtes Volk macht keine Revolution.
Das Volk soll trinken und huren. So unzuverla^big und
unsicher sonst die russische Statistik sein mag, in dieser Be-
ziehung wird sie lehrreich. Sie zeigt uns, daß in den Monaten,
wo die Trunksucht am stärksten grassiert, also in den Monaten
Dezember, Januar, April und Mai, in denen die Mächtigsten
russischen Feiertage vorkommen« die Polizei die meisten Scheine
für Prostituierte auszufolgen hat ; in diesen Monaten gibt es audk
1) BuddeuB, St. Pitenburg im krwÜMi L^ben, I 56.
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— 321 —
die meisten venerischen Erkrankungen; und schließlich sind
die meisten außerehelichen Geburten ebenfalls auf die Epoche
der stärksten Saufwut zurückzuführen.
Seit jeher hat man in Rußland den Geschlechtsakt mit
der Sauf wut zu verbinden sich bemüht. In den Hochzeitsnächteil
gab es Orgien ohnegleichen. Es war eine alte löbliche Sitte,
den Bräutigam so volltrunken zu machen, daß ihm die Kraft
fehlte, in der ersten Nacht seine junge Gattenpflidit zu er<
füllen* Peter der Große veranstaltete solche Trinkgelage mit
besonderer Vorliebe. Als der Sohn seines Günstlings Schafirow
sich vennahlte, ließ er dem Bräutigam so heftig zusetzen, daß
man ihn schon dem Tode verfallen glaubte. Nachdem man
ihn mit Mühe und Not wieder zum Leben zurückgerufen hatte,
legte man ihn zur Braut und entfernte sich mit dem freudigen
Bewußtsein, ,,daß die junge Frau für die erste Nacht wohl
wenig Gutes von ihm zu erwarten hätte. Am folgenden Mor-
gen," erzählt Bergholz in seinem Tagebuch i), „sagten ihm
seine Freunde, alle hätten die Braut sehr beklagt, weil sie
ebensosehr würde von ihm aufgestanden sein, wie sie sich
bei ihm niedergelegt." Der junge Schafirow aber erwiderte:
..Ey, ey, ihr Narren, ich habe sie elfmal geküsset und umge-
wendet." Man erzählte dies dem Zaren, der es nicht glauben
wollte, und er ging, wie unf^er Gewährsmann berichtet. ,,die,
junge Frau selbst auszuholen; glaubte es endlich, als diese die
Versicherung des jungen Ehemannes bestätigte."
Nicht so gut wie dvm jungen Schafirow erging es um
dieselbe Zeit dem Herzog von Kurland, der sich mit Peters
Nichte, der späteren Zarin Anna Iwanowna vermählte; er trank
in der Hochzeitsnacht so viel, daß man der Braut eine Leiche
ins Hochzeitsbett legen mußte. Die Erinnerung an dieses Ereig-
nis wirkte so nachhaltig auf die Witwe, die niemals Gattin
gewesen, daß sie als Kaiserin an ihrem Hofe keinen Brannt-
wein duldete. Bei ihren Festen lie6 sie nur framäaische Weine
aufstellen. So wurde jener tragisdie Vorfall gewissermaßen
Anlaß zitr Verfeinerung wenigstens des höfischen Trinker-
geschmackes.
1) Bd BQaehiiig XIX 66.
Stern, GcMUdito der «SiRBd. SiMIddidt in Ruthad. 31
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— 322 —
Im alten Rußland war die Auswahl der Weine gering ge^
wesen. Aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts gibt es
eine authentisdie Liste der in Rußland gebrauditen Wein-
sorten. Im Jahre i $97 schickte nämlich der Zar aus dem Hof*
keller ein Geschenk für den neu angekommenen osterreichi»
sehen Gesandten, bestehend in: Romanze, Rheinwein, Muska-
teller, weißem Franzwein, Baster, Alikante, Malvasier, Meth,
Kirschmeth, Johannisbeerwein, Wacfaolderwein, Schlehenwein,
Himbeerwein, Bojarenwein und Fürstaiwein>) Roman^ war
Burgunderwein, von deutschen Kaulleuten eingeführt; Baster,
deutsch Bastardwein genannt, ein Kanarienwein. Peter der
Große bewirtete seine Gäste bloß mit Prostaja wodka, ordi-
närem Branntwein, Kornbranntwein 2) und Ungarweinen, na-
mentlich Tokajer; französische und Rheinweine liebte er nicht.')
Als die Ärzte ihm die starken Spirituosen verboten, bequemte
er sich indessen dazu, in den Kombranntwein etwas Medoc
und Cahors zu mischen.*) Auch an den Tafeln der russischen
Großen brachte man früher die Toaste nur mit l.'ngarwcin
aus. Erst unter .\nna Iwanowiia änderte sich dies. Franzö-
sische Weine wurden obligat, Burgunder und Champagner
kamen in Massen nach Rußland. Den Champagner hat der
französische Gesandte Marquis de la Chetardie in eigener Per-
son importiert ; er brachte in seiner diplomatischen Bagage nicht
weniger als 16800 Flaschen mit.^)
Es zeigt sich glücklicherweise, daß man auch mit fran-
zösischen Weinen Orgien feiern kann. Bei einem Feste, das
am Jahrestage der Thronbcäleigung Amias un Moskauer Zaren-
palaste gegeben wird, geht es zu wie in den guten alten Zeiten
der Herrschaft des Branntweins am Hofe Peters : die höchsten
Würd^itciger, Militärs, Geistlichen und die vornehmsten
Damen betrinken sich bis zur Bewußtlongkeit; „es wäre hen*'
lieh gewesen/* berichtet Ssaltykow ab Teilnehmer, „wenn nicht
ein General sich geweigert hätte mitzutrinken;" dieser bringt
J) Karamsin, deutsch IX 309. französisch X 365.
*) Waliszewski, L'hferitage de Pierre le Grand. 273.
'} Bergholx b«i Büscbing XIX 94.
*) Waliraemld, Ffem le Gfand, 209.
•) Waliascwakl, Antonr d'qn tröo», 34.
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— 883 —
eine Störung in das hannonische Bild, der Gouverneur ver-
sucht vergebens ihn zu überreden durch den Hinweis, daß es
Pflicht eines patriotischen Russen sei, auf die Gesundheit der
Zarin zu trinken ; es bleibt nichts übrig, als den einzigen Nüch«
temen aus der Gesellschaft hinauszuwerfen.
Die russischen Frauen jener Epoche, welche den Brannt-
wein zeitweilig wenigstens von den Tafeln der Vornehmen
verbannen mußten, gaben ihm ein Asyl in ihren Toiletten.
Sic wuschen sich zur Verschönerung des Teints mit einer
Lösung von Kampcschcholz in Bnmntwein und tranken heim-
lich, was nach der Operation übrig blieb.*) Von den vornehmen
Frauen nahmen die Weiber des Volkes den Modus an, Koket-
terie und Trunksucht zu vereniigen; und es war nichts Seltenes,
daß man auf den Straßen von Mädchen und Frauen um „ein
paar Kopt ken für Schönheitswasser ' angebettelt wurde. Odeure
und andere mit Spiritus bereitete duftende Essenzen treten
auch heute, besonders im ostasiatischen Rußland, wenn dort
die Getränkevorräte zur Neige gehen, an die Stelle von Schnäp-
sen. In Ochotsk war im Winter 1902 der Schnaps ausgegangen;
da stellten die Wirte in den Restaurants englische Odeure, das
Fläschchen zu vier Rubel, auf dieSpeisdcarte, Und so tief und
unbezähmbar nistet die Trunksucht im Russen, daß eine der
Intelligens angeborige Person selbst von diesem Surrogat zwei-
undzwanzig Flacons austrank, infolgedessen erkrankte und
starb. >)
Vgl. die HittdlmigeD d«* «Unwcliiin RdModM I*«ter voa HaveiSt
bei Büsching X 28t.
*) ^..'trcTi.jr. idi» riiHKn.", 1902. — Vgl. Lodzer 2^taug vom 29. XI. aa u,
XII. 1903, Korrespondenx aus Ochotsk.
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— 324 —
i8. Das Bettelwesen;
Bettler im alten Rußland — Maßregeln Peters des Großen gegen Bettler und
Almosenspender — Wobltätlgkeitsakte der Zarin Katharina I. — Gläubiger
und Schnkhier Die Sklaverei der Insolventen — Regierungsmethode billiger
Emähmng der Gefangenen — Charakter der ruaauchen Bettler — Ihre Be-
scheidenheit - — Ihr Sprüchlein — Moderne Bettlerorganisation — Sammler
von frommen Spenden — ■ Die Kubraki von Msti-lnw — Die Txxlyry oder
Labor^' — Entstehunx von liettlerzünften — Die Al)brandler — Schuwaliki
und Sachodnizi — Gubljaki — ivrüppel — Krüppeliabriluorte — Rostow nnd
Sndogda Hatiptuele der Bettler — Bettelwesen und UnsitÜichkdt —
Schamloeigkeit in den Asylen — Lasterhöhlen in Charjkow nnd Rig» — Sta-
tistisches — Fceiwillige nnd nnireiwillige Bettler.
Eine selbstverständliche Folge der Ehrlosigkeit. T ii<?^en-
sucht, Stehlsucht, des Sportelnehmcns, der Korruption uml (Irr
Trunksucht ist das Bettel wesen. Betteln ist keine Sciiande,
sagt man in Rußland. Es ist dabei keine Rede von denen,
die aus Not betteln, sondern von jenen Organisierten, die den
MülAiggang zu einer lobenswerten Tugend erheben, auf die
Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen spekulieren und aus der
Mildtätigkeit der anderen Kapital für sich schlagen. Als Bett-
ler ziehen sie durch die Lande; als Reiche kehren sie heim,
um zu verprassen, was sie erobert haben. Das Bettelwesen,
das hier geschildert wird, ist nicht aus dem Elend entsprungen,
nicht eine Begleiterscheintmg der ewigen Hungersnot, welche
Rußland seit der Begründung des Reiches fast alljährlich,
bald in diesem, bald in jenem Gouvernement heimsucht ; son*
dem ein Laster» das auf diesem Boden der Lüge und Fäuln»
noch besser in den Jahren der Fülle und des Reichtums ge-
deiht, als in den mageren Zeiten.
Der Englander Fletcher berichtete, daß schon im sech-
zehnten Jahrhundert die Bettler in Rußland eine wahre Land-
plage waren. 1) In Moskau wurde man auf Schritt und Tritt
von Landstreichern um Almosen angefleht. Die des Tages
bettelten, gingen nachts auf Raub und Diebstahl aus. Zu Zeiten
I) Fletcher, Ol the Russe Common- Wealth, London xS9i. « Kamm«
sin. deutsch IX 315, franxöeisch X 375.
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— 386 —
Peters des Großen wimmelte es in Moskau ebenfalls von sol-
chem Gesindel. Der Zar verbot nicht bloü das (iffentliche
Betteln, sondern bestrafte auch jeden, der einem Hettler auf
der Straße ( in Almosen verabreichte: wer nur einen Kopeken
gab und von der Polizei dabei ergriffen wurde, mußte fünf
Rubel Strafe zahlen. Da dieses Mittel wohl die Wohltätigkeit
einschränkte, die Zudringlichkeit der Bettler jedoch nicht im
geringsten mäßigte, befahl Peter: alle Bettler, die man auf
den Straßen .lul^nlf. in die Spitäler zu schleppen. Diese
Bettlerasyle miissen eiiicii gar üblen Ruf gehabt haben, denn
es wird erzählt, daß viele Faulenzer sich schleunigst eine ehr-
liche Arbeit suchten aus Furcht, in die Spitäler gesteckt zu
werden. 1) Die Strenge Petefs des Großen gegen die Betder
wurde gemildert durch das Wohlwollen, welches seine Ge-
mahlin Katharina allen Almoseujagem entgegenbrachte. Das
Vorzimmer im Appartement der Kaiserin war stets von so
vielen Bettlern erfiUlt, daß man gewohnlich Mühe hatte, sich
durch sie hindurchzuwinden.') In dem Ausgabenbuch der 2äuin,
das in dem Staatsarchiv aufbewahrt ist, findet man namentlich
aus der ersten Zeit ihrer Alleinherrschaft zahlreiche Wohl-
tatigkeitsakte verzeichnet: bald gibt sie einen Dukaten einem
Madchen, das pldtxlich seine Eltern verlor; zwei Dukaten einem
Muschik, der seine Kopfsteuer nicht bezahlen kann; einen
Dukaten einem angeblichen Abbrändler. Diese Humanitäts-
anwindlungm erscheinen in einem wesentlich schwächeren
Lichte, wenn man in dem Ausgabenbüchlein der Kaiserin
gleichzeitig folgende famose Posten entdeckt: zehn Dukaten
einem Bauer, der eine Stange herauf kletterte ; einmal zehn,
einmal fünfzehn, einmal gar zwanzig Dukaten der Fürstin
Anastasia Galitzyna, weil sie zwei Cilas Bier oder zwei Glas
Wein oder eine mächtige Portion Branntwein auf einmal aus-
trank.
Wie alle anderen I^aster des russischen Volkes hat die Re-
gierung auch die Bettelei gern gefördert. Bis zu den Zeiten der
Zarin Anna Iwanowna gestattete das Gesetz dem Gläubiger,
Lc Hnivn Voyages, III 152.
*) Wali!>zcw!>ki. L'h6ntage de Pierre lc Grand, 13.
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— 326 —
seinen zahlungsuufatiigen Schuldner als Sklaven zu verkaufen ;
diese Sklaven Sperrte man ni ein Depot, aber man kuiiantrtc
sich nichi darum, ob sie dort auch zu essen bekamen, so daß
viele unter Lebensgefahr entflohen und als Bettler und Land-
streicher die Gegend unsicher machten. Die Regierung selbst
gab den SUavenhiltem das adtsamste Beispiel. Um die
Kost für die Gefangenen m ersparen» wurden die letzteren»
an Händen und Füßen gefesselt, von ihren Wächtern in den
Straßen umheigeführt, damit sie sich ihr Brot erbettelten^);
wen ihre hohlen Wangen nicht rührten, der wurde durch
den Anblick der blutigen Peitschen- und Knutenfurchen auf den
Rücken der Unglücklichen» die halb nackt in der bittersten
Kalte umherzogen» gewiß zur Mildtätigkeit angespornt; und
die Regierung brauchte sich um die Verproviantierung der
Gefängnisse nicht mehr zu sorgen.
Das Charakteristische an den russischen Bettlern ist die
Bescheidenheit ihrer Ansprüche. Sie sind mit der geringsten
Gabe zufrieden, im Falle der Verweigerung nur betrübt, aber
nicht grob.*) Der russische Bettler, er mag noch so hungrig,
noch so zudringlich sein, wird selbst dort» wo er durch Schrek*
ken wirken könnte, nie zu einer Drohung Zuflucht nehmen;
er wagt niemals den Ausruf : ,,Dein Geld oder dein Leben,*'
sondern entsprechend der passiven Natur des Volkes ist sein
letztes Wort seit jeher^): .Gib mir etwas oder schlag' mich tot!*'
Obgleich das Laster der Bettelei ein Jahrhunderte altes und
traditionelles ist, so muß man doch feststellen, daß es in
früheren Zeiten kein so organisiertes gewaltiges Bettlcrheer
gegeben hat wie im modernen Rußland Ganze Dörfer, Städte,
Bezirke sind nur von Leuten bewohnt, die das Betteln als
Beruf betreiben und zu bestimmten Zeiten aus ihrer Heimat
nach den verschiedensten Richtungen ausschwärmen.*) In allen
diesen Bettelstammbczirken erbt sich das Bettler band werk von
einer Generation auf die andere fort. Ein Handwerk ist es,
i) W«liuewikl L'bfaitase, tgB.
■) J. G. Kohl, Südrußland, II 28, erzählt ein Beispiel davoo.
*) Schon Giles Flctcher zitierte dieses Wcurt. Vgl. Karamsin a. a. O.
*) Roakoachny, Das arme Rußland. Leipzig S. 176— is)0. hat eine
so ausfahriidie niid interesnate Beachrdbaiig hierflber gelkfart. dafi ffiglidi
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— 327 —
da es große Übung erfordert; aber es ist aucb eine Kunst,
welche die feinsten Kniffe aufweist; ein Studium, das immer
ergänzt werden muß durch die Erfahrungen und Bedürfnbse
der Epoche.
Da ist der Ort Mstislaw in Weißrußland, die Heimat der
sogenannten Kubiaki, die im Frühjahr ausziehen, um Spoi-
den zur Stärkung der Orthodoxie und zum Baue von russisdien
Kirchen in den katholischen Provinzen zu sammeln. Ein Ku-
brak braucht ein Betriebskapital, ein paar hundert Rubel: für
den Paß, ein Pferd, eine Telega^), sowie für eine Anzahlung
an die Gehilfen auf ihr künftiges Honorar. Der Kubrak selbst
ist bloß der Chef, der die oberste Aufsicht führt, während die
Bettelsummen durch die Gehilfen eingebracht werden müssen.
Der Kubrak und seine Leute suchen zumeist die beiden Haupt-
städte des Reiches heim, Moskau und St. Petersburg. Das
Geschäft ist ein j^länzt ndes ; der Kubrak kehrt heim in elegan-
tem Wagen, hat jetzt stritt des einen armseligen Gaules ein
feuriges Zweigespann ndrr gar Dreigespann und einen wohl-
gefüllten Geldsack; einen Teil des Erbettelten liefert er groß-
mütig wirklich dem Konsistorium ab, den Hauptanteil aber
behält er für sich. Er verlebt einige Monate in Saus und
Braus, in der Schenke und im Bordell, und tritt dann einen
neuen Raubzug an. War er in den Ferien vorsichtig, so hat
er so viel übrig behalten, um die Reise jetzt statt in der un-
bequemen Telega im Eisenbahnwaggon zurücklegen zu können.
Wie die Kubraki sind auch die sogenannten Labory oder
Lodyry Sammler von frmnmen Spenden; pilgern aber die
Bettler von Mstislaw nach der Newa und der Moskwa, so
plündern die Lodyry, die im Dorfe Motol und im Städtchen
Janow im Kreise Kobrinsk des Grodnoschen Gouvernements zu
Hause sind, nur die Landbevölkerung. Die Kubraki ziehen
im Frühjahr aus, um in den Feiertagswochen ihre Ernte zu
halten, und bleiben auch über den Sommer fort; die Lodyry
können im Sommer nichts machen, denn da arbeitet der
nur das Hervorheben des Wichtigsten, besonders jener Momente, die mit dem
Sittlichen in näherer Beziehung stehen, nötig ist und im übrigen aui Ros
kosdmy Mtbst verwiesen werden kum.
^) ÜBxln, der laadeiflblidie, MbwerfUlige Wagen.
uiyiii^Cü Ly Google
" 388 —
Muschik auf dem Felde und bat selber nichts Übeiflässiges;
erst wenn die Erntezeit vorüber ist, da können die Lodyry
ihren Schnitt madien, und sie stürzen sich dann haufenweise
auf die Landbevölkerung. Diese Bettler spekulieren auch auf
den Aberglauben und treten, wenn es nötig ist, als Hexen-
meister und Medizinmänner auf. Was etwa die Wohltätigkeit
ihnen vorenthalten sollte, wird ihnen reichlich ersetzt durch
den Erfolg ihrer schamanistischen Kunststücke.
Eine ganz andere Art von Bettlern sind die berüchtigten
Jammergestalten, v.clche die Städte Witebsk, Twrr imd Pskow
alljährlich im Frühjahr ausspeien und nach den beiden Haupt-
städten werfen Dir Witebsker, Pskower und Twerer ziehen
nicht in einzelnen kleinen Gruppen, sondern massenweise, alle
mit ihren Familien, nach Moskau und Petersburg ; in den Resi-
denzen haben sie ihre speziellen Absteigequartiere, Asyle er-
bännlichster Art. Die Herbergen genügen aber vollkouinien
den Ansprüchen dieser Bettler, die für sich und ihre Familie
höchstens ein tu Rubel monatlich zahlen. Sittlichkeitsmomente
kommen nichi in Betracht; man sclüafi la gemeinsamen Räu-
men. Oft liegen Mann und Frau und ein erwachsenes Kind
auf einer einzigen Pritsche; und wenn die Lust sie anwandelt,
tun sich die Eltern selbst in ihren intimsten Verrichtimgen
keinen Zwang an.
Das Dorf Kiepen im Kreise Sytschowka im Moskauer
Gouvernement ist ein Beispiel für die Art der Entstehung ms*
sischer Bettlerzünfte : bis vor hundert Jahren kannte man hier
keine Bettler; in der Zeit der napoleonischen Drangsal muß-
ten sich die Klepener aus ihrem Dorfe flüchten und in der
Umgegend durch Betteleien erhalten; daran fanden sie Ge-
fallen, und die Kinder setzten das Metier der Eltern fort, so
daß jetzt Kiepen ein Dorf von Bettlern ist. Ähnlich ist die
Geschichte des Bettlerdorfes Spaß-Djominski im Goyvemement
Kaluga.
Zu den meistberüchtigten Bettlern gehören die Schuwaliki
aus dem gleichnamigen Dorfe im Norden des Gouvernements
Kaluga; man fürchtet sie als Säufer und Diebe. In Moskau
sind sie schon so bekannt, daß sie seit Jahren nur noch nach
Süden ausschwärmen. Sie sind immer in größeren Truppen
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— 329 —
anzutreffen, als sogenannte Abbrändler; sie fahren in Wagen»
die alle Zeichen des Feuerschadens aufweisen, und schleppen
das angeblich gerettete Hausgerät mit sich. Da ihre Fahrten
weitgedehnt sind und lange dauern, haben sie unterwegs in
p:rÖßeren Städten, wie Tula, ihre ständigen Herbergen und
Hehlereien. Gleichfalls \prrufene Abbrändler sind die Sacho-
dnizi aus Bogorodok. wahrend die sogenannten Gusljaki aus
demselben Orte als nüchterne Altgläubige umherwandern, die
nicht betteln, sondern bloß gelungen gefälschte alte Heiligen-
bilder unter den Raßkoljniki verteilen und dafür großmütig
Geschenke in Naturalien oder Leinwand und, wenn man es
ihnen absolut aufdrangen will, in Geld annehmen. I)io W aren
werden auf dem erstbesten Markte verkauft, und mau zieht
dann wieder als armer Kerl weiter.
Natürlich fehlt es auch nicht an Krüppeln, echten und
falschen. In früheren Zeitoi war die Stadt Rostow im Gou*
vemement Jaro01aw als Fabriksstadt für Mißgestalten be-
kannt; man verschickte von dort verstümmelte Kinder nach
dem ganzen Reiche, namendich atif dem Fußgängerwege von
Moskau nach dem Kloster des heiligen Ssergej begegnete man
bei jedem Schritte Blinden und Krüppeln Rostowscher Arbeit.
Die Fabrikanten von Rostow hatten ihren fixen Tarif für das
Ausstechen von Augen, das Abhacken von Füßen und Händen
oder andere widerwärtige Verstümmelungen, durch die man
auf die Tränendrüsen der Fassanten unfehlbar wirken muß.i)
Heute genießt einen ähnlichen Ruf, wie Rostow ihn einst hatte,
der Kreis Sudogda. Die Bewohner von Sudogda gehen nur
mit Krüppeln auf Bettelei aus. Sie sind zwar Meister in der
Ausstaffierung falscher Krüppel, ziehen jedoch wirkliche Miß*
gestalten vor, um vor jeder Entlarvung gesichert zu sein.
Das Dorf Marinin ist außerordentlich reich an echten Krüp-
peln : diese wandern alle nach Sudogda und werden hier an-
geworben. Reicht die Zahl der Rekruten für das I'fntlcrhecr
von Sudogda nicht aus, so mietet oder kauft man Kmder und
venmstaltet sie gewaltsam. Nach Moskau dürfen sich die Bett-
') M 3a6u.Tiiin>. pytvfdfl nnp^»-n.. M«« ' m i 1880, rrp 399, .V 14, n irjnmt-
'lame. — Vgl. aoch in meinem Kapitel ..Aberglaube and Verbrechen", ä. 67.
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— 330 —
Icrmeistcr von Sudogda mit ihrem Gefolge nicht mehr wagen,
denn man erkennt sie dort trotz ihrer gelungenen Entstellungen
sofort an ihrer eigentümlichen Aussprache; sie ziehen deshalb
nach Süden, nach Norden oder ostwärts nach Nischny Now-
gorod. Ihr Zug ist nur in den Feiertagswochen lohnend. Nach
den großen Fasten kehrt man immer rcichbeladen heim ; die
Krüppel, besonders die Kinder, aber läßt man, nachdem sie
ihre Schuldigkeit getan haben, erbarmungslos auf dem Wege
liegen. Der groLic luiiolg, der den Bettlern von Sudogda blüht,
hat zu vieler Nachahmung gereizt und eine maßlose Konkur-
renz gezeitigt. Aus dem Kreise Makarjew im Gouvernement
Kostroma und aus dem Kreise Ssaransk im Gouvernement
Fensa ziehen die sogenannten Kaluni oder Sammler ebenfalls mit
Krüppeln auf Bettelei aus ; die Ssaransker haben ihre Vorbilder,
dieSudogdaer, schon übertroffen und können es als die einzigen
unter allen Bettlern wagen» sogar dreimal jährlich auszuziehen.
Neben den großen Städten und besonders beliebten Flek-
ken in den verschiedenen Gouvernements sind die Wallfahrts»
orte die Hauptziele der Bettler. Das Troitzkaklostsr und das
Höhlenkloster in Kijew sind ständig von Bettlern aus fast allen
bisher erwähnten Bettelei-Ursprungsorten umlagert. Andere
Scharen gehen bis zum Ural und selbst nach Sibirien; letz-
teres aber in seltenen Fällen, denn in diesen Gegenden wim-
melt es ohnehin von Bettlern, die wirklich aus Not die Mild«
tätigkeit anrufen müssen, wie die zwangsweise Angesiedelten
oder flüchtige Verbannte. Die bettelnden Mönchs- und Nonr
nenscharen sind bei aUedem ganz außer acht gelassen worden.
Den verderblichen Einfluß des Bettelwesens auf die Mo-
ralität des Volkes brauche ich wohl nicht erst nachzuweisen. Ks
ist schon gesagt worden, wie die Bettler in ihren temporaren
Quartieren in schamloser Weise zusammen wohnen. Das Ge-
fühl für Anstand imd Sitte ist ihnen vollständig verloren
gegangen, und es hat niemand daran etwas auszusetzen, daß
Geschlechtsakte unter Zeugenscliaft von Fremden vor sich
gehen. Da ist es denn nicht einer speziellen Verwunderung
wert, daß es neben den Heeren von Bettlern auch Heere von
Bettlerinnen gibt. Im Kreise Wessjcgonsk im Gouvernement
Twer verlassen zu bestimmten Zeiten nur die Frauen und
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— 381 —
Mädchen ihre Dörfer und ziehen, beladen mit armseliger Habe
und gefolgt von zerlumpten Kindern, in kleineren und größe-
ren Gruppen als Abbrändlerin nrn. Witwen und Waisen in
die Fremde. Bekannt im ganzen Reiche sind auch die soge-
nannten Kasan] sehen Waisen, Sie bettein und huren sich
durch alle Provinzen und bringen dann den reichen Schand-
lohn ihren Vätern und Gatten. In ( liarjkower Vorstädten
befinden sich zahlreiche Erdhöhlen, lu dejien nachts die scham-
loseste Prostitution Orgien feiert. Hier sind auf der Durch-
reise befindliche BetUerinnen stets wiUkommen. Ähnliche
Lasterhöhlen gibt es in Riga, in der Modeauer Vorstadt. Wan-
demde Bettlerinnen schlagen in Gruben am sogenannten Apf el-
roarkt ihr Lager auf und ,ygewähren", wie der Ausdruck lautet,
jedem Fassanten um den Preis von fünf bis zehn Kopeken oder
für irgend ein Entgelt in Naturalien und Waren, oder wenn
es nicht anders sein kann: für einen Schluck Schnaps, den
ein betrunkener Nachtwandler aus seiner Flasche anbietet.
Der Tiefstand der durch das Bettelwesen herabgedrückten
russischen Sittlichkeit wird klar, wenn man erfährt, daß sich
die Zahl der freiwilligen russischen Bettler und Bettleriimen
auf mindestens eine Million veranschlagen läßt. In den Dör-
fern der Kreise Jusur und Ssaransk verlassen von 3500 Ein-
wohnem nicht weniger als 3000 Männer als Kaluni ztu: Bettler-
zeit die Heimat, um im Namen Christi die Mildtätigkeit der
Mitmenschen zu täuschen. In Akschenaß, einem Dorfe von
120 Höfen, bleiben, wenn der Bettelzug begonnen hat, nur
vier Familien als Hüter des Ortes zurück. Im Kirchdorfe Golizyn
sind von dreihundert Hofbesitzern zweihundert Wanderbottier.
In solchen Orten sind die Ältesten natürlich auch Bettler, und
so wird es erklärt, daJi diese Landstreicher in dem paß-
strengen Rußland stets reichlich mit den nötigen Dokumenten
ausgestattet sind, um in ihrer Freiiiigigkeit keine jBehinderung
fürchten zu müssen.
Zu den freiwilligen Bettlern kommen nun noch die Ilun-
derttausende Unfreiwilliger. Alexander III., der ein Mäßig-
>} KcKikoschny a. a. O. Er zählt noch zwölf Dorier auf, in denen alle
Einwohner ohne Ausnahme in der bestimmten Zeit auf Bettelei ausgehen.
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— 332 —
keitsparlament zur Bekämpfung der Trunksucht einberief, er
nannte auch eine ..Regierungskommission aus Vertretern sämt-
licher Ministeiicii zui Lösung der Frage von der V'ersorgung
von Bettlern in Dorf- und Stadtgemeinden". Die Kommission
mit dem langen Titel erzielte ebensowenig praktische jEtesul-
täte wie jenes Temperenzkomitee, von dem ich im vorigen
Kapitel enahlt habe. Man kümmerte sich nämlich nur nebenbei
um das Grundübel« um die organisierte Bettelei, und beobach-
tete bloß die wirklichoi Bettler, die nicht in die Fremde ziehen,
um Wohltätigkeits^enden zu erschwinddln, vidmehr an der
Sdiolle kleben und den Heimatgemeinden zur Last fallen.
Man vermag sich einen Begriff von der unbesdireiblichen
Entsittlichung und Verannung des Volkes zu machen, wenn
der offizielle Bericht damals folgende Ziffern feststellte i): für
die Stadt Moskau 26000 Bettler, für das Gouvernement Mos-
kau 15000, Livland 16000, Kurland 15000, Warschau 14000,
Nischny-Nowgorod und Wjatka je loooo; zusammen zählte man
293445, davon lebten etwa 200000 vom Bettel allein, die
. übrigen erhielten auch ständige Unterstützungen; adlige Bett-
ler gab es 3235, Bettler geistlichen Standes 3491, Kaufleute
20, Kleinbürger 43434, Bauern 181 932, Reservisten und ehe-
malige Soldaten 11345, aus vcrvrhiedenen Ständen ^5039.
Wie müßten diese Ziffern, wenn sie der Wahrheit von
heute entsprechen sollten, vervielfacht werden ! Welch furcht-
bare Quelle des Elends, der Verkomnif nheit, der l Jnsittlichkeit
wird aus diesem Zahlenmeer unerschöpflich gespeist!
1) VgL die vom Fürsten Meschtschersky berausgegebeue Zeitschhit
„I^pMQWaKBffc** 4»Rni6|Nb 1889. Di« angefahiten ZUfera beileilea sich nur aiif
zoasmmen 71 Beobachtungsfelder: 54 Gouvernements, neun Gebiete und acbt
Städte. Alle Ziflern sind gewiß eher zu niedrig als zu hoch angesetzt. Es er-
scheint beispielsweise unmöpJirh daß. wie dort angegeben wurde, die Stadt
Ssebastopol keinen einzigea ücttitir habe; auch die Behörden dos Gouver-
nements EtthlaiMl gaben an, daß in ihrer ganzen Frovins kein einaiger Bettler
koMtaticrt wnid«. Kenn Gowameinenti vnd fünl Gebiete erteilten keine
Auskunft. Einige andere Gouvernements worden ale ZU adir enflKifen in die
Beobachtung überhaupt nicht eiabexc^a.
VIERTER TEIL:
Russische Vergnügungen
19* J«g4 und Hmrdqiid. — ao. K»ch«n-
tate und VoÜBifeste. — ai. HofDuren und
Mttflkendcn. 32. Tut und Bllle. --^
33. Musik und Theater. — 24. Raudicn
und Tabakbuden. — 35. Bidcr,
19- Jagd und Hazardspiel.
Die ersten russischen Jäger — Hetzjagd mit Hunden — Jagden des GroQ-
füräten Wassilij — Belustigungen Iwans des Schrecklichen — Kampfe mit
Bären — Zar Alexej, Verfasser von Jagdregeln — Peter der Große ein Feind
d«r Jsgd — Ein aritcber Sehen — Peter II. als Jäger — Eltnbetii Pe-
tiowiia ^ Jagd und SittenlcMigkeit — Moderne Jagden — Blnajagd ^
Der Bär im Heidenglauben — Südnissische Windbande — Die Jagden de*
Herrn Skarzinski — Wolfsjagden in den Steppen — Kosakenmethode —
Jagd und Kartenspiel — Zur Geschichte der Spielkarten in Rußland —
Kartenstener — Peter der Große gegen du Kartenqiid — Kartenpartiett
Katharinas II. — Die Partner der Zarin — Der gute Ton am Hofe Katha*
rioas — Brillanten als Spielmarken — Berüchtigte Spieler — Aus den
Memoiren des Baron Löwen^item Frauen beim Spiel Verspielte Seelen
— Petersburger Klubs — Ein Vorfall im Petrowskij Jachtklub — Frauen
ia Khiba — Privatspielhöllen — Spiel und Ehebruch — GeiährUclie Famflien»
abend« — Die Spiebakns der Balletenaen — Turf — Länsespiel — Merk-
wflidige Fnliaeiordnung.
Den Zusammt-nhang von Jagd und Hazardspiel mit Grau-
samkeit und Wollust braucht man nicht erst zu entdecken.
Fließendes Blut und gespannte Nerven sind unfehlbare Aphro-
disiaka. Die angeborene Roheit und barbarische Sinnlichkeit
des Russen mußten an beiden Mitteln Geschnuu k finden.
Schon die ersten russischen Fürsten, wie Wßcwolod und iMono-
mach, waren leidenschaftliche Jäger, Die Hetzjagd mit Hun-
den wurde erst im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts vom
Großfürsten Wassilij von Moskau eingeführt; früher war der
Hund als ein so unreines Tier verabscheut, daß man jeder
Berührung mit ihm auswich. WassUij vermehrte auch die
Würden seines Hofes durch die Ernennung eines Jägermei-
sters.*) Parforce- und Falkenjagden waren die Vergnügungen
>) M. 3a6faUBHi, PycGKÜt Bapotxi>» crp. 567: aBipnaa s ambu 0x01» n
FOodu.
*) Kwmrin. dmrtach VII 145, fcnniiaieph VII 337.
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— 336 —
der großen wie der kletnen Hmen.^) Der Zar lud tu seinen
Unterhaltungen auch die fremden Diplomaten ein. Herber*
stein erzahlt, daß der Herrscher in der Umgebung von Mos-
kau ein großes Jagdgebiet hatte, dessen Betreten den Unter-
tanen streng verboten war. Wenn der Großfürst den Wunsch
zu jagen kundgegeben hatte, so brachte man alle Hasen, deren
man habhaft werden konnte, nach diesem Jagdgebiet. In der
Regel pflegte Wassili j Iwanowitsch sich nur bis zur Mittagstafel
mit Staatsgeschäften zu plagen, gldch nach Tische aber mit
großem Gefolge auf die Hetzjagd nach Moschaisk und Woloko-
lamßk aufzubrechen. Die eingeladenen fremden Gesandten
wurden von einem Bojaren abgeholt und nach dem Jagdplatz
geleitet. Sie mußten in einer gewissen Entfernung vom Zaren
aus den Satteln springen und sich dem Göttlichen zu Fuße
nähern. Der Zar trug stets ein kostbares Jagdgewand; seine
hohe Mütze war mit Edelsteinen besetzt, und goldene Federn
zeigten dru Jägersmann vun weitem an. An der Hüft^r' hingen
ein Dolcii und zwei Messer, rückwärts unter dem Gürtel eine
Schleuder. Ständige l^egleiter des russisc hen Herrschers waren
der getaufte Zar von Kasan j, welcher Pfeil und Rogen führte,
und zwei jugendliche Fürsten, die mit Axt und Keule liantierten.
Der Sohn des Wassilij, Zar Iwan der Schreckliche, liebte
vor allem die Jagd auf Vögel. Er hatte dreihundert Falkoniere
zu seiner \'erfügung; aus Sibirien ließ er die besten Geier-
falken kommen, mit denen er auf wilde Enten jagte.-) Ein
besonderes Vergnügen bereitete es seiner grausamen Natur,
blutige Bärenkämpfe veranstalten zu lassen, bei denen bloß
andere sich' den Gefahren aussetzten, während er sdbst in
sicherer Entfernung Zuschauer blieb. Man sperrte wilde Bären
in Käfige und Keß sie an bestimmten Tagen in eine Arena
bringen, wo ein Jäger des Zaren mit einem Jagdspieße seinen
Gegner erwartete. Gelang es dem Gladiator nicht, mit einem
einzigen Stoß den Bären zu Boden zu rennen, so war er
verloren. Hatte er aber gesiegt, so belohnte ihn der Zar
1) GereVitzofi, Essai I 374.
>) Reiae nach NordeD, 179.
•) Der engfiache Rebende Fleteher beacliri«b dnen solchen BäienkuDpf
ab Angenseuge. VgL Kanmain, denficfa IX 313. feanaödach X 373. —
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Tierhetze in Moskau im hölzernen Amphitheater
vor dem Twerschen Tore.
— 337 —
oft damit, daß er ihn mit einem zweiten Bären das Stück
vviederliuien ließ. Das WAk cl.igegen führte den Bärentötcr
nach dem Ende des Schauspiels in die Schenke und bewirtete
ihn nach 1 arulessitte freigebig mit Branntwein. Von seinem
Vater Iwan halte auch der jugendliche Zar Theodor die grau-
same Lu^l an solchen Schauspielen ererbt.
Unter den Romanows gab es fast gar keine großen Jäger :
Zar Alexej Michajlowitsch, Peter II. und i hbabctli i'etrowna
sind die Ausnahmen. Alexej war ein Freund von Falken-
jagden; er schrieb eigenhändig ein Jagdreglement mk dem
Motto: »Möge die Zeit der Arbeit gewklmet sein; aber eine
Stunde bleibe für das Vergnügen/* — Peter der Große war
niemals Jäger, Schon im Jahre 1690 war daher das Jagd*
Schlößchen Sokolniki, der Rendezvousplatz seiner Vorfahren
bei ihren Jagden^ in Trümmer zerfallen. Als Peter bei seinem
Besuche bei der Markgräfin von Brandenburg gefragt yrurde,
ob er die Jagd liebe, zeigte er seine schwieligen Arbeiterhände
und sagte: „Ich habe keine Zeit zum Jagen/* Einmal gelang
es jedoch seiner Umgebung» oen Zaren zu einer Hasenjagd zu
verlocken. Peter rächte sich dafür. Er machte die Jagd nur
unter der Bedingung mit, daß man die Rüdenknechte und die
Hundetreiber zurückließ. Der Streich gelang. Die Hunde,
von ihren Führern verlassen, warfen sich zwischen die Beine
der Pferde, machten die Tiere wild, und in wenigen Minuten
war die Strecke besät mit abgeworfenen Reitern. Eine allge-
meine Verwirrung entstand, und man" mußte die Jagd auf-
geben. Am anderen Tage machte sich Peter den Spaß, nun
seinerseits eine Einladung zur Jagd ergehen zu lassen, aber
man hütete sich, Folj_^c zu leisten, die meisten der reünehmrr
vom vorigen Tage lagen mit zerbrochenen Gliedern zu ijctti
Peters Günstlinge waren dagegen zumeist eifrige Jagd
liebhaher. Fürst Romadanowskij, den Peter spaßeshalber zum
\ izekaiser ernannt hatte, zog auf die Jagd mit dem Luxus
Kostomarow schildert in seinem Roman ..Kudejar" (deutsch von Kupt<5chc)
im vierten Kapitel, wie Iwan der Schrcckhche die Tapferkeit eines Heldea
durch einen Zweikampf mit Bären auf die Probe stellt.
1) Halem UI 119. — Walinmnkt Fim Gnuid. au, 223.
Stera, Gt»MdUm dw MTcML Silllichkrit ia RuUaad. S3
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— 338 —
eines v/ahren asiatischen Monardeen und einem Gefolge von
fünfhundert Personen. Auch Peters Tochter Elisabeth und
sein Enkel Peter II. huldigten dem Jagdsport mit großer Lust;
Zur Zeit der Herrschaft Peters II. ritten Tante und Neffe stets
mitsammen aus. Der jug^endlichc Zar war in sexueller Pc
Ziehung überaus früh entvsirkelt. Als er die Regierung antrat,
stand er noch im Knabenalter. Sein ganzes Sinnen und Trach-
ten aber galt schon der Befriedigung des Geschlechtstriebes.
Ilm lockte in Wahrheit nicht das Wild im Walde, sondern das
einsame Rendezvous mit der üppigen sirmlichen rothaarigen
Tante. Ihr war der Knabe gleichgültig, sie streifte lieber mit
einem robusten Soldaten durch die Gebüsche und überließ
den schwärmerischen Neffen seinen Seufsem und seinen Ver*
sen. Doch fand der jugendliche Zar gute Freunde, die ihn
aufklärten und ihm Hilfe schafften. Sobald Peter durch die
Nähe der Tante und die Hitze der Jagd exaltiert heimgekehrt
war, führte ihn sein Kamerad Iwan Dolgoruckij im Dunkel
der Nacht in ein Bordell, wo der junge Kaiser l^cht die Genüsse
fand, die ihm sein Roman verweigerte. An diesem Leben
fand der zarische Knabe bald solches Gefallen, daß seine ganze
Regierungszeit zwischen Jagd und Bordell verfloß; zum
Schlüsse hielt er sich fast gänzlich von der Hauptstadt fern
und lebte nur im Jagdzelte mit seiner Braut Katharina Dol-
goruckij, die ihrem zukünftigen Gatten das nicht zu versagen
wagte, was sie auch Femstehenden nicht vorenthielt.
Das Jagdleben übte auf die gesamte Hofgesellschaft einen
demoralisierenden Einfluß aus. Da man sich auf lange Zeit
von dem heimatlichen Herde entfernt hielt, traf man stets
Vorsorge, sich mit allem zu versehen, was das Leben verlangt.
Im Gefo1f::r des jungen Zaren zogen Scharen von liederlichen
Frauenzirrmiem mit, und auf die Tage der Jagd folgten nächt-
liche Orgien, die kaum ihresgleichen haben. Wenn der Zar
einen Jagdzug antrat, mußten ihn die ganze Generalität imd
die Mitglieder des höchsten Rates begleiten. Den fünfhundert
Ilerrschaftscquipagen folgten unzählige Wagen mit Dienern,
Weibern und Proviant, und zum Schlüsse kam eine Armee
von Handelsleuten, die an jedem Halteplatz förmliche Basare
errichteten, alles nur Erdenkliche feilboten, den liebesbungrigen
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— 339 —
Bojaren Schmuck lür ihre Mattressen und im Notfalle auch
bares Geld gegen gute Zinsen zur Verfügung stellten.
Man jagt den Wolf, den Fuchs und den Hasen mit eng>
lischen Hunden, die wilden Enten mit Falken und abgerichteten
Sperbern. Man hetzt zuweilen den Baren, aber dem Beispiel
der früheren Zaren folgend hält sich in solchem Falle auch
Peter II. abseits von der Gefahr. Ist die Tagesarbeit getan,
so schlägt man ein Lager auf, veranstaltet ein Trinkgelage nach
altmoskowitischem Geschmack, zur großen Freude der Fa-
milie Dolgoruckij, die dem Zaren zuredet, Moskau wieder zur
alleinigen Residenz des Reiches zu erheben. Die Orgien dul-
den keine Unterbrechung: Des Zaren Schwester Anna Pe-
trowna stirbt; Peter befiehlt, die Leiche nach Petersbuig zu
schaffen, denkt aber nicht daran, sie selbst zu geleiten, sondern
läßt unbekümmert den für den Tag schon angesetzten Ball
ablialten. Schweden und die Türkei verbünden sich und be-
drohen Kleinrußland, die Gesandten von Österreich und Spanien
dränjren in den Kanzler Ostermann, daß er den Zaren nach
Petersburg berufe; Peter indessen verläßt um keinen Preis
sein Nomadenzelt im Walde von Gorenki. Ostermann ver-
sucht den Zaren durch ein Manöver bei Moskau für das Kriegs-
spiel zu interessieren; Peter jedoch ergreift die Flucht und
zieht nach Rostow, um dort zu jagen und Orgien zu feiern.
— Moiiaielang gibt es gar keine Regierung mehr, der Zar und
alle seine Räte weilen fern vom Mittelpunkte der Verwaltung,
kümmern sich nicht um die Politik, nicht um das Wohl und
Wehe des Reiches, schwelgen und schmausen, jagen und huren.
Eine einzige Jagdperiode dauert einmal achtMonate.^) Der Trubel
nimmt erst ein Ende, da der Zar der schönen Katharina Dol-
goruckij überdrüssig wird. Nach einem aufregenden Jagdtage
gibt es abends ein Pfänderspiel; aber als Peter gewinnt und
zum Lohne wieder nichts anderes erhalt als die &laubnis,
die Prinzessin Katharina küssen zu dürfen, da erhebt er sich
brüsk, verläßt die Gesellschaft, und mit einem jähen Ruck
steht alles stilL Der Jubel ist zu Ende, katzenjämmerlich kehrt
man heim nach Moskau; hier erkrankt der junge^ von Aus-
i) WaliflMwski. L'Miitige d» Ftoise te Gnad. ?$. 91«
22*
._^ kj 1^ -0 i.y Google
~ 840 -
Schweifungen erschöpfte Zar an den schwanen Blattern und
stirbt nach wenigen Tagen.
Die Jagd war damals ein Privilegium; des Hofes und der
vornehmsten Günstlinge gewesen. Gewöhnliche Sterbliche
mußten sich speziellen Regeln unterwerfen. Ein Gesetz be*
stimmte sogar, wieviel Jagdhunde ein jeder Edelmann seinem
Range entsprechend besitzen durfte, Gegenwärtig ist die
Jagd allen freigestellt. Beliebt ist die Bärenjagd, namentlich in
Großrußland. Man muß bei der Bärenjagd, um seines Er-
folges sicher zu sein, sorgfältige Maßnahmen treffen. So ist
vor allem das Rauchen untersagt. Die Jäger tragen dicke
Stoffüberzüge über den Schuhen, um heim (iehen jeden Lärm
zu vermeiden. Der Bar wird umrmgt und aiifgfh* t/i. Er er-
schrickt aber nicht, sieht sich kaltblütig um, wie er der Gefahr
' entrinnen könnte, und wähU eine Stelle, wo nach seiner Be-
rechnunc: zwei der Jäger von einander entfernter stehen als
an den übrigen Stellen. Hier versucht er klug durchzubrechen,
aber schnell springt ilini ein Jäger, der zum Schutze vor den
Tatzen des Bären nur eine Lederhaube un<i I anzerhandschuhc
trägt und als Waffe blob einen Dolch gebraucht, in den Weg.
Der Bär stürzt sich verzweifelt auf den Verfolger, aber der Kampf
ist in einem Nu zu Ende ; denn die geübten Bärentöter kennen
so genau die Stelle, die sie treffen müssen, daB das Tter beim
ersten Stoße zusammenbricht. Der besiegte Feind wird mit
einem Eichenzweig gcbchmückt.
Das russische Wort für Bar bedeutet: Honigkenner.') Des
Bären Liebe für den Honig benützen die sibirischen Völker, um
Meister Petz zu überlisten. Sie füllen eine Kugel mit Honig,
bedecken sie mit Eisenstacheln und legen das Lockmittel an
den Rand einer Grube. Wenn der Bär zugegriffen hat, gerat
er in die Falle. Auf eine besondere Art wird der Bär in der
Provinz Jenissdde überrumpelt. An einem Baume wird ein
Brett so hoch befestigt, daß Petz sich auf die Hintertatzen
stellen muß, um hinaufzureichen. Auf dem Brette winkt ein
Stück prächtigen Fleisches; verborgen aber sind die tückischen
1) Le BniTtt, Voyagoi III 113.
t) MtWBliKfc» auch im^iwogb, von mnth» Hoolg, und i^imPn Keimar.
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— 341 —
Eisempitzen. Petz sieht nvu den fetten Bissen, nicht doi listigen
Todbringer. Er bebt heiter eine Vordertatse empor, um das
Fleisch 2U holen, und haut sie auf eine Eisenspitze. Er hebt
die andere Vordertatze um sich zu befreien, und hängt nun
sicher angenagek, den Verfolgern preisgegeben. Bei einigen
Völkern Asiens ist der Bär ein heiliges Tier; so verehren die
Wogulen eine Bärentatze als Hausgott und gebrauchen eine
Bäienschoauze als Zaubennittel.^)
Eine südrussische Eigentümlichkeit sind die Windbunde,
mit denen dort gejagt wird. Diese Hunde vermögen das Wild
nicht aufzuspüren, sondern jagen nur die Tiere, die sich ihren
Blicken zeigen. Ihr Geruch ist nicht fein, aber ihr Auge desto
schärfer und ihre Schnelligkeit größer. Fi r die Steppe sind
ihre Eigenschaften die besten. Wenn sie das \\ Id erfaßt haben,
beißen sie es zu Tode, und halten bei dem Getöteten Wache.
Die Jäger folgen der Meute zu Pferde und müssen genau auf
den Weg achten, den die Hunde nehmen ; denn diese würden
sirh zu ihren Herren nicht allein zurückfinden. Ein berühmter
südrussischer Steppenjäger war um die Milte des neunzehnten
Jahrhunderts der Cutsbesitzer Skarzinskij ; er v eranstaltete all-
jährlich von scmem Schlosse Trikrati bei WosneÜensk aus mit
seinen Casten großartige Jagden auf Wölfe. Hasen. Füchse und
Trappen; 25 Kamele mußten die Zelte, Küchcngerätschaft(?ii
und \'iktualien mitführen; das Gefolge der Jäger bestand aus
Hunderten von Dienern. Man wanderte wochenlang von Do-
mäne zu Domäne, tötete tagsüber, was von Tieren in den Weg
kam, uutl praßte die Nächte hmdurch mit Weibern und beim
Kartenspiel , Champagner floß in Strömen ; eine Kapelle von
dreißig Musikern, die dem Zug überallhin folgte, sorgte für die
Begleitung bei Tanz und Gesang.-) In den russischen Step-
>) Vgl. W. Mannhart. Zauberglaube und Gehcmiwjssen, 3. Auflage (Ver-
lag H. Bandocf) S. 19. — Der Abviglaube der Jäger iat in RvfllMid nicht
aadata tlä in andMwn Undem. ChanJctmstiich sind nur die ZanberBprüeh«
und weitläufigen Beschwörungen, durch die man sich einen glücklichen Er-
folg sichern und vor Gefaliren schützen will. Bei 3afif,r.iitin., INcrfcifl iiHpo.ii.,
sind ein Dutzend solcher Beschwörungen und Gebete wörtlich angeführt (Crp.
334 ~ 341' OiofinuMäe aaroBopu ■ Hoaimii).
*) J, G, Kobl, SadnfilMKl. I aa— 33.
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^ 342 —
pcn jagt mau hauptsächlich auf Wölfe. Man geht dabei brutal
SU Werke. Ein Gebüsch, in dem Wölfe vermutet werden, um-
stellt man mit Netzen, vor diesen lauem die Jäger mit Flinten,
während hinter den Jägern Bauern mit Spießen und hölzernen
Gabeln stehen. Die Treiber jagen mit wildem Geschrei die
Wölfe den Netzen zu; entkommen die Tiere den Flinten der
Jäger, so bleiben sie in den Netzen hängen; dann stürzen
die fisiuern über sie her, heften sie mit den Gabeln über dem
Nacken an den Boden fest und machen ihnen mit Spießen ge-
mächlich den Garaus. Ein echter Steppenkosak verschmäht
diese rohe Herrenmethode der Wolfsjagd; der Kosak braucht
weder Flinte noch Gabel, sondern reitet an die Wölfe heran, und
wenn sie fliehen, so zieht er dem Wirbelwinde gleich neben
ihnen her und haut mit seiner Nagaika einen nach dem anderen
zu Boden.
Für den russischen Landbewohner gibt es kein größeres
Vergnügen als die Jagd. Der reiche Gutsbesitzer lädt seine
minder begüterten Nachbarn ein, auf seinem Gebiete zu jagen,
und sorgt freigebig für die Gäste, ihre Diener, Pferde und
Hunde während der grin/(n Zeit der Feste. Man läßt aus den
Städten Sängerinnen ianzerinnen \md Spaßmacher kommen
und iubelt woclu r l mg fihne Unterbrechung. Die Jagd be-
reitei dem Steppenbewohner und Landedelmana das aufregende
Vergnügen, das der russische Städter im Kartenspiel findet.
Das Datum der Einfühnmg des Kartenspiels in Rußland ist
unbekannt. Nach einer russisc hen Handschrift aus dem Jahre
1623 1) kann man nur so viel feststellen, daß man damals für
die Erlaubnis, ein Spielhaus halten zu dürfen, eine Steuer von
2 Rubel 3 Altyn und 2 Denjgi erlegen mußte. Ein Befehl des
Zaren Alexej Michajlowitsch an die Stadt Turinsk, der die Aus-
rottung der Spielkarten und des Würfelspiels vorschrieb, nannte
als Städte, in denen Spielhäuser existierten: Tobolsk, Wercbo-
turjka und Ssurguta. Alexej ordnete sogar an, daß die Ein-
nahme aus der Steuer der Spielhäuser ein für alle Mal aus
dem Budget gestrichen werde.*) Aber die Maßregeln kamen
') ^HttHcicuft .iliToiiiill'uu B'i. XVI 11 TXfjft. itpeRHeft i'occiQcKOfi BBK.iio<*.
*) II. Cjl'tuun», llapciuuuauie I^pH A:ieucrbH MHiaitaoBMa, CaBTDorep6ypn>,
1831. HacTb mopafi, crp, 17: ITcrpB&KBie sepBonurb Jtumn b iniprfc>
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— 343 -
nicht zur Geltung, weil Krieg herrschte und die Abgaben der
Spielhäuser an den Staatsschatz so bedeutend waren, daO man
sie in solclien Zeiten nicht entbehren konnte.
Peter der Große, ein Mann, dem die Natur großmütig
die höchste geschlechtliche Potenz gewährt hatte, entbehrte
leicht aller künstlichen Rri/ungen. Er mußte kein Freund der
Jagd sein und konnte auch auf die Erregungen des Hazard-
spiels verzichten. Entweder,'* pflegte er zu sagen i), „haben
die Spieler keinen Geschmack an nutzlicher Unterhaltung, oder
es ist Eigennutz, der iluieu die Karten in die Hand druckt;
beides ist verächtlich." Ein zarischer Ukas vom 28. Juni 17 18
verbot das Kartenspiel bei Knutenstrafe. 2) Ein solides Spiel-
chen -dttifte allerdings gewagt werden; in der Armee und
der Marine beispielsweise war es gestattet, einen Rubel an
einem Abend zu verlieren ^) ; nur was darüber ging, wurde als
Hazardspiel bestraft. In den Ass^bleen bei Hofe war ein
eigenes Zimmer für Schachspieler reserviert; aber Karten-
spieler wurden nicht geduldet, schon der bloße Wunsch nach
einem Hazardspiel galt als Verbrechen.
Ganz anders dagegen ging es am Hofe und zur Zeit
Katharinas II. zu. Da gab es im Kabinett der Zarin regel-
mäßig am Abend eine Kartenpartie. Die Kaiserin war eine
eifrige Spielerin. Sie spielte zumeist Whist» Rocambole, Pikett
oder Boston. Ihre gewöhnlichen Partner waren Graf Rasu-
mowskij, Feldmarschall Graf Tscfaemischow, FeldmarsrhaU
Fürst Galitzyn, Graf Bruce, Graf Stroganow, Fürst Orlow, Fürst
Wjäsemskij,^) Auch fremde Diplomaten wurden der Ehre
teilhaftig, mit der Kaiserin Karten spielen zu dürfen. Am
liebsten spielte Katharina mit Rasumowskij und Tschemischow,
weil sie vorsichtig waren und niemals den Vcrsnrh machten, die
Souveränin aus bloßer Galanterie gewinnen zu lassen. Sie
selbst nahm durchaus keine persönlichen Rücksichten. Der
Kammerherr Tsrhertkow, den sic manchmal zum Mitspielen
einlud, geriet immer in Zorn, wenn er stark verlor, warf der
1} Halem, LAtn PMm dm QnOm, III 119.
t) Waliszcwski, Pierre le Gfand, 460.
') Ebenda 212
Waliszewski. Le Roman d'une imp^rathce, 503.
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— 844 —
Kaiserm ihr schonungsloses Spiel vor, schleuderte ihr die Iner-
ten vor die Nase. Aber sie zeigte sich nicht beleidigt, ver-
teidigte sich so gut sie konnte, und rief zu ihrer Rechtfertic^ong
die Zuschauer an. Einmal forderte sie zwei anwesende fran-
zösische Emigi aiitcn auf ^wisrhen Tschcrtkow und ihr zu ent-
scheiden. ,,Sclione Schiedsrichter," schrie Tsrhertkow wütend,
,,sie haben ihr^n eigenen König betrogen." Das war doch zu
stark, Tschcrtkow wurde aus dem kaiserlichen Spiel^irkcl aus-
geschlossen, Katharina hatte genug zu tun, um an ihrem
Hofe den guten Ton festzuhalten. Das Kartenspiel trug gewIB
nicht dazu bei, diese Aufgabe zu erleichtem, Moral und An-
stand zu heben. Graf Stroganow verlor einmal eine große
Summe an die Kaiserin. Da geriet er aus der Fassung, ver-
gaß, daß er seiner Souveränin gegenüberstand, warf wütend
die Karten auf den Tisch und schrie davoneilend: „AU mein
Geld wird da noch verschwinden. Ihnen macht es nichts,
aber mirl" Ein Mitspieler wollte Stroganow beruhigen^ doch
Katharina sagte: »^Lassen sie das. So ist er schon seit fünfzig
Jahren. - Sie werden nichts daran ändern, noch weniger ich."
Gewöhnlich wurde um wenig Geld gespielt, und um zehn Uhr
abends pflegte sich die Kaiserin zurückzuziehen. Aber manch-
mal ging es auch lebhafter zu. Zuweilen kam es sogar vor,
daß man am grünen Tisch der Kaiserin um Brillanten spielte.
Diese kostbaren Spielmarken lagen in kldnen goldenen Käst-
chen und wurden mit goldenen Löffelchen ausgeteilt.^) Solche
Abendpartien kosteten der Kaiserin Unsummen, denn die Mit-
spielenden durften die Spielmarken nach dem Ende des Spieles
mitnehmen. Auch beim großen Günstling der Zarin Katha-
rina, bei dem Fürsten Patjomkin, spielte man häufig statt um
Geld: um Edelsteine. Hier dauerten die Kartenpartien, die sich
an die feenhaften Bälle anschlössen, die ganze Nacht hindurch ;
1) Sagenheim, Kußlands Einfluß auf Deutschland II ii. — Die Frei-
gebigkeit der Zarin wird aber in ein merkwürdiges Licht gestellt, wenn man
ans der „Minerva" von Arcbenholtc, 1798, III 3 — 6 erffthrt. daO im Jfthre
1791 bei einem Hofballe in Peterhof auf der Haupttreppe der Ersparnis
halber kein Licht brennen durfte; oder daß die 71 Pagen der Herrscherin
erst 1792. im dreißigsten Jahre der Regierung Katharinas, neue Livreen
erhielten.
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Der I. Mai im Falkenwalde bei Moskau.
— 846 —
während des Spu!^ durfte nichts gesprochen werden, es
herrschte oft stundenlang Lautlose Stille, i)
Einer der verrufensten Kartenbpieler jener Epoche war
der Kanzler Bestuschew. ,.Er trinkt die Tage und spielt die
Nächte hindurch," klagte seine Frau. In einer Woche verlor
er zehntausend Rubel, in anderen uiigluckhchen Nächten Ver-
mögen um X'crmögcn. Um Geld für das Kartenspiel herbeizu-
schaffen, bestahl er den Staat, machte er falsche Wechsel,
nahm er schließlich Bestechungsgelder von fremden Staaten,
besonders engUaches (jold. Einst war er den ausländischen
Diplomaten als ein arroganter und ewig drohender Staatsmann
entgegengetreten und hatte ihnen Respekt einzuflößen ver-
standen. Seine Leidenschaft für Spiel, Schnaps und Weiber
aber hatte ihn schnell heruntergebracht; um Geld zur Befrie-
digung seiner Laster war er schließlich für alles zu haben;
seine Geldnot war so furchtbar, daß er oft in verzweifelte
Situationen geriet ; um der Zarin nach Moskau folgen zu können,
mußte der Kanzler schleunigst den Schmuck und selbst die
Kleider seiner Frau versetzen.*)
Dieses Porträt der Verkommenheit der Großen wieder-
holt sich hundertfach. Von Besborodko heißt es: er ist ein
zügelloser Spieler^); von Panin: er liebt nur die Tafel, die
Weiber uiid das Spiel. ^) Interessant sind die Bekenntni«H! des
Generalmajors Löwenstern der erzählt, wie er als junger
Offizier in wenigen Tagen sein immenses Vermögen verspielte.
I-jnnial spielte er mit dem (irafen Bobrinskij, einem natürlichen
Sühne Katharinas II und. Urlows, und der Gräfin Iiulgarin eine
Partie Jii)-!()ii /u klenien Einsätzen; und gewann doch mehrere
tausend Rui)ei. Am anderen Morgen erschien Bobrinskij bei
Lowenstem und verlangte Rcvanchi; ; H(ibrinskij verlor wieder
und immer wieder, schlieblich 70000 Rubel, und dies bei
1) Potcmkin. Ein tnteressaoter Beitrag zar Kegierungsgeschichte Katha-
riatM d«r Zweltnu Halte «ad Leipzin 1^04.
*) Walluemki, La dami^ de» Romanov, 115.
s) WaliHBwski, Autoar d'un tröne, aa.
*) Laveaux, M^moires.
') M^moires du g6n6ral-major russc Baron de Löwenstern 1776 — 1858.
pablite par M.-H. Weil, Pam 1903. I 156 — 164.
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— 346 —
niedrigem Spiel. Löwenstern erkrankte, mußte vierzehn Tage
das Bett hüten; das Spiel wurde am Krankenbette fortgesetzt,
ununterbrochen wochenlang. PlötzUch drehte sich das Blatt,
Bobrinskijs Beharrlichkeit wurde belohnt, er gewann sein Geld
zurück wid dazu noch 4000cx> Rubel ; dann ließ er sich nidit
mehr blicken. Der junge Baron Löwenstem war ruiniert, aber
er tröstet sich in seinem Tagebucfae damit, daß durch seinen
riesigen Verlust sein Ruf rehabilitiert worden sei; ,;früher;
konnte man behaupten/' schreibt er, „daß ich das Glück korri-
gierte, weil ich fortwährend gewann; jetzt sieht man, daß es
Zufall war.** Ein anderes Mal erzahlt Löwenstem: „Ich war bei
Alexis Orlow eingeladen. Alle waghalsigen Spieler waren dort
versammelt. Mach' dem exquisiten Diner b^ann sofort das
Spiel. Ich gewann von Herrn Dickow, einem Spieler von
Profession, dreißigtausend Rubel.*' Am anderen Tag lud Dickow
den jungen Löwenstem zum Tee, nahm ihm in einem kleinen
Spielchen nicht nur die dreißigtausend Rubel wieder ab, son-
dern raubte den Gast vollständig aus.
Kein Kartenspiel ohne Damen. Die vornehmsten Frauen
geben sich dazu her. ihren Gatten oder Freunden als Schlep-
perinncn zu dienen, um immer neue Opfer ins Netz zu locken.
Die früher erwähnte Gräfin Bulgarin gehörte zur höchsten
Gesellschaft; sie machte aber ganz ungeniert ein KompAnie-
geschäft mit dem Grafen Bobrinskij, und niemand nahm daran
Anstoß, nicht einmal die Gattin Bobrinskijs oder der Gatte der
Bulgarin. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt: der Vater
machte sich nichts daraus, seine Töchter zu verspielen. Jefim-
jew, ein dramatischer Dichter aus der Zeit Katharinas, geißelte
diese familienschänderische Spielleidcnsckilt in seinem Stücke
„Der Verbrecher aus Kartenspiel oder die vom Bruder verkaufte
Schwester." Der Mensch ist in Rußland nichts als Ware. Wie
oft kam es vor, daß Spieler, die all ihr Bargeld und ihre Wert-
sachen verloren hatten, nun um Seelen zu spielen begannen;
Graf Schuwalow verspielte in einer einzigen Nacht fünfhundert
Leibeigene, und er schickte sie am nächsten Tage dem glück*
liehen Gewinner zu, wie man einem ein paar hundert Säcke
übermittelt. Mancher kommt in prunkender Troika als Gast
in einen fürstlichen Hof gefahren und muß am anderen Mor-
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4
— 347 —
gen. da er Geld, Schmuck, Wagen, Pferde und Kutsclior \^er-
spielt hat, zu Fuß heimwärts taumeln. Zu den leidenschaftlich-
sten Spielern gehören die Geistlichen; ein Pope verlor bei
seinem Gutsherrn den letzten Rubel, der Patron war aber
großmütig genug, dem Väterchen einen Wagen zur Verfügung
zu stellen, damit der geistliche Herr noch rechtzeitig zur
Messe ins Dorf zurückkehren konnte.
In den großen Städten wird in allen Klubs rasend gespidt.
Im Gegensatze zu den vornehmen Kasinos in Europa ist man
in Petersburg und Moskau bei der Aufnahme von Mitgliedern
nicht allzu streng, und so findet man imter diesen oft notorische
Professionsspieler und Schwindler. Im Winter 1906 verur-
sachte ein Vorfall hn Petrowskij Jachtklub einen großen Skan-
dal \xn Petersburger Highlife. An dem Spieltisch des soge-
nannten besten Kreises ging es eines Abends hoch her. Gold
imd Banknoten häuften sich pyramidal. Aber binnen kurzem
floß alles in den Hafen des glücklichen Bankhalters. Alle
Spieler verloren, nur der Bankier gewann. Plötzlich trat einer
der Kibitze an den Spieltisch heran und bat einen der Mit-
spieler, sich an dtm Einsatz beteiligen zu dürfen. Nun machte
der neue Gast von seinem Rechte als Mitspieler Gebrauch und
verlangte, daß der Bankhalter ein frisches Kartenspiel erhal-
ten sollte. Großes Erstaunen, man forderte eine Erklärung,
und sie wurde sofort erteilt. Der Skeptiker nahm dem Bankier
die Karten aus der Hand und zeigte, dali alle Neuner an der
Längsseite, alle Bilder an der Breitseite mit Feit gezeichnet
waren. Der entlarvte Falschspieler wurde sofort entfernt. Und
nun kommt das Russische an der Geschichte. Einer der Herren
des Klultk rjiniiees führte den Entlarver in eine Ecke. Die Aus-
sprache war ebenso kurz als originell: es wurde dem Stören-
fried bedeutet, daß diirrli solche Szenen die ivL]jutation des
Klubs geschädigt würde , er möchte daher die Güte haben, die
Räume der Gesellschaft sofort auf Ninmierwiederkehr zu ver-
lassen. Am nächsten Tage ging allen vornehmen Klubs von
Petersburg ein Rundschreiben des Petrowskij Jachtklub zu,
welches die Ausschließung — nicht des Schwindlers, sondern
des Entlarvers — offiziell bekanntgab.
Früher hatten auch die Frauen in allen Klubs Zutritt zum
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grünen Tisch. Die russischen Frauen spielen noch leidenschaft-
licher als die Männer, und. werfen, wenn Geld und Schnnick
verloren sind, ihre Ehre lekhtmütig als Einsati hin. So wur-
den die Säle der Klubs in Bordelle verwandelt, während sich
im Erdgeschosse der Paläste maskierte Versatxämter etablier--
ten. Ein angeblicher Goldschmied mietete einen Laden im
Klubhause, und der fleißige Mann saß die ganze Nacht hin*
durch an seinem Werktischlein. Wenn die Damen oben ihren
letzten Rubel verloren hatten, eilten sie zum gefälligen Gold-
schmied hinunter, der ihnen um einen Spottpreis ihre Bril-
lanten abnahm. Das Aigemis, das der Ruin der besten Fami-
lien durch Spiel und Sittenlosigkeit selbst in der lasciven Pe*
tersburger Gesellschaft hervorrief, führte endlich zum Ver-
bot der Teilnahme von Frauen an den Hazardspielen in den
Klubs.
Wäre das Spiel nur auf die Klubs beschränkt, so hätte es
als Wertmesser für die russische Sittlichkeit keine Bedeutung.
Das Charakteristische des Hazardspiels in Rußland ist jedoch
seine allgemeine Verbreitung. Jedermann spielt, vom Groß-
fürsten bis herab zum letzten Muschik, vom (ieneral bis zum
Soldaten, vom (iroßkautmann bis /.um ärmsten Schuster und
Schneider. In den Familien gibt es keinen Ball, der nicht mit
einem Spiele enden wurde. Die jungen s( honen Frauen thegcn
aus den Armen der Tänzer an den Spieltisch, aus einer Er-
regung in die andere, und imtergraben ihre Gesundheit durch
die furchtbarsten Leidenschaften. Am Kartentisch spielen die
traurigsten Romane, wird am meisten die Ehe gebrochen.
Deshalb \erblüht die russische Frau so schnell, deshalb niui
die Rusbiii früher als die t rau aller anderen Nationeti Zufluchi
nehmen zu Perücken, Schminken und Schönheitsmitteln, um
die Spuren zu verwischen, welche zahllose durchwachte Nächte
an ilür zurückgelassen. Bis zum dämmernden Morgen fiebert
man am grünen Tisch, und dann muß man nach einigen
wenigen Stunden der Ruhe zum Rendezvous mit dem Manne
eilen, an den man das Gdd verloren hat, um für den Preis
eines Ehebruchs das Verspielte wieder zurückzuerobern.
In den besten und anscheinend solidesten Familien wird
hazardiert. Man erhält eine harmlose Einladung zum Tee
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— 349 -
oder Souper, aber kaum ist man angelangt, so setzt man
siGh schon zu einem Spidchen nieder. Musik und Tam^ Essen
und Trinken werden nebensachlich, man hat nur noch Interesse
für Gewinn und Verlust. Da gibt es große vornehme Häuser,
die einen unbeschreiblichen Luxus entfalten, wo an jedem
Abend der Champagner in Strömen fließt, wo die Frau und
die Töchter in den kostbarsten Roben erscheinen. Alles das
müßte im Nu verschwinden, wenn nicht die Hausfreunde all-
abendlich neue Opfer herbeischleppen würden, die man in
graziöser Weise auszuplündern versteht. Ein junger Millionär
wird in einem hücharistokratischen Hause eingeführt und rech-
net es sich zur Ehre an, mit der Fürstin und den Töchtern
ein kleine' Spielchen zu spiele n : vverm er endlich aufsteht, ist er
um hunderttausend Rubel ärmer.
Eine Spezialität smd die Spielsalun.s der Balletteusen der
kaiserlichen Hofoper. Nach Theaterschluß erscheinen hier
Hroßfürsten, hohe Würdenträger, Kaufleute und Professoren,
uiid m bunter Reihe setzt man sich an den Spieltisch. In der
vierten oder fünften Morgenstunde schleichen blasse müde
unglückliche Menschen heim ; diese Spielhöllen sind alle der
Polizei gut bekannt, aber sie erfreuen sich solcher Protektion,
daß man noch niemals an ein Einschreiten der Behörden auch
nur zu denken gewagt hat.
Nur gegen das Spiel am Turf hat man Maßregeln ergrif-
fen, wenigstens solche, welche die ärmere Bevölkerung vor dem
Spielteufd schützen sollen. Man ordnete nämlich an, daß der
geringste Einsatz zehn Rubel sein mö^e. Aber es machen
eben zehn arme Leute gemeinsame Sache, und so verspiek man
trotz der behördlichen Vorsorge seinen kargen Verdienst rubd-
weise. An der Spitze des Rennklubs von Zarskoje Sselo steht
der Großfürst Dmitrij Konstantinowitsch; vor zwei Jahren
war dieser Großfürst in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt eines
Skandals : man erfuhr, daß das Publikum von dem hohen Herrn
einfach betrogen wurde, daß nur die Pferde ans Ziel kamen,
welche der Großfürst ans 2Uel kommen lassen wollte. Aber
der Skandal ist vorübergegangen, der Großfürst blieb Klub-
präsident, imd Arm und Reich verspielt nach wie vor hoff-
nungslos das Geld auf dem Turfplatz.
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— 350 —
Die Lust am Spiel ist so groß, daß man mit allem und um
alles spielt. Berühmt ist das russische Läusespiel. Zwei Rus-
sen setzen sich 'zusammen, zeichnen auf einen lisch oder eine
Bank einm Kreis und legen in den Mittelpunkt des Kreises —
ländlich sittlich — jeder eine Laus. Wessen Tierchen zuerst
die Kreislinie erreicht, der hat gewonnen.
Obwohl sich in bezug auf das Spiel kein Mensch um die
Polizeiordiuing beküimncrt, ist es doch Pflicht, der Vollständig-
keit halber ihrer zu gedenken. Sie besagt : Alle Klagen und
Forderungen in betreff der Spielschulden sind von vornlierein
nichtig. Die Polizei hat von Fall zu t all zu entscheiden, welches
Spiel erlaubt ist und welches nicht. Im allgemeinen sind nur
solche Spiele gestattet, die sich auf erlaubten Zufall und auf
Geschicklichkeit, oder auf Starke und Gewandtheit gründen. —
Diese Polizeiordnung scheint in Wahrheit gar nicht für die
Russen, sondern nur für die Kalmücken gemacht zu sein; denn
im ganzen russischen Reiche gibt es bloß bei den Kalmücken
regelmäßige Ringerspiele.
20. Kirchenfeste und Volksfeste.
Hddnifche RaninisMiueQ — Weihiucliteii und Koljada — Erotischttr
Cbanlcter der Festgebr&nche ~- Rothügdleat — Ctutowody odor Reigen-
tänze — Der Georgstag - Der Koitus auf dem Ackcrfclde — Sudslawische
Parallele -- Gebrauch der ukrainisclu-n Jugend auf dem Saatacker S^^emik
• — Kussaiki uud i'üagsten — Das russische Johannisfest — Iwan Kupalo
md J[«rilo — Das Spriii|gen durch» Feuer — Das Aufdnaoderwäken —
AbergUtiiibe in der Johannfanwrht — Erotische Jotatmisfestgelnftadie ia
Estland — in Livland — Das Bcilager der Mooner — Altestnische Ge-
bräuche ~ Die russischen Petrowkigebräuche • Wirtschaftliche RecJeatung
des Peterpaulstages — Geschlechtliche Freiheit der Frauen am Petrowkifest —
Der Teufel und die Schankd — Begleiten des FrQUings in Ssaratoir — Nftchtp
liebe Spasiergtege sum QaeU des Kupalo — Die weiblichen HeOigea Bfitt*
WOch und Freitag — Geschlechtliche Freiheit der Frauen am Charfreitag
— Parallelen aus südslawischen Ländern Heidnisches Frühltngsfest und
russische Butterwoche ~ Die Orgien der Maßijäniza — Verloren gegangene
FeMiehkeiten: Versuchung des Biscbofo; Einzug Christi in Jerusalem —
Die groBen Fasten und das Osterfest im alten Moskau.
Die griechische Kirche vermochte, das wissen wir bereits,
den heidnischen Aberglauben aus dem russischen Volkstum nicht
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— 861 —
zu verdrängen. Im Kampfe zwischen Heidentum und Ortho-
doxie unterlag schließlich die letztere ; und sie gab den Versuch
auf, die vorgefundenen Riten und Sitten nach ihren soge-
nannten christlichen Prinzipien umzuwandeln, sondern begnügte
sich damit, ihre neuen nphräuche möglichst den alten anzu-
passen, da sie sonst der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, das
Feld räumen und das mühsam eroberte Reich im Stich lassen
zu müssen. Die orthodoxen Kirchenfeste fallen demnach mit
ihrem Datum und teilweise auch nnt ihren Gebräuchen mit
den alten iicidnischen Festen zusammen. Nur hat sich, und auch
niciit nnmcr, der Name geändert, das Wesen ist dasselbe ge-
blieben. An Stelle der Heidengötter ruft man Gott, Christus
und die Heiligen an; aber in Wahrheit verehrt man noch
Daschbog, Woloß und Penm; feiert man die Feste Koljada,
Russalki und Kupalo, wenn man Weilmaditen, Pfingsten oder
das Johannisfest begeht. Die Lieder, die das Volk an den
christlichen Festen singt, beziehen sich auf die heidnischen
Zeremonien und erwähnen die unvertilgbaien Namen der alten
Götter.^} Diese Feste sind reich an merkwurdigm Gebräuchen^
Rätseln, Weissagungen und Spielen. Fast jedes Gouvernement
hat seine speziellen Zeremonien. In vielen Gegenden nennt
man den heiligen Abend Koljada; in anderen Bezirken, be-
sonders im südlichen und weltlichen Rußland, kennt man zwei
Abende dieses Namens iBaciUEbQBCicaHROJiflAa oder den Silvester-
abend, und Kpen^encKaH Ko.iaAa oder den Vorabend der Wasser-
weihe. Die erste Koljada bezeichnet man auch als die reiche,
6oraTa8, die andere als die arme oder strenge, 6'fe;;Haa oder
nooTBaa. Das Volk begeht diese Feste mit Liedern, Umzügen,
Maskenspielen. In Weiß- und Klcinrußland zieht die ganze
Dorfjugend in Verkleidungen von Haus zu Haus und bringt
den Bewohnern Ständchen. In der Umgebung von Moskau
fährt man mit den Madchen im Schlitten weit hinaus in die
Wälder.»)
Durch alle Gebräuche geht ein stark erotischer Zug. In
V0, dieliadcr nytliiKlian Unpmnp, dl« ildk anf die >ltmi dawtacih»
nwriichcn Feite beriehen, bei Reiiiluddt, Geechichte der rawkchen Liteiatnr,
Seite 19.
') 'daütumbt Pyccxift uapo;^», CBsnca: crrp. j — 34.
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der Thomaswoche nach Ostern feiert das Volk das soge-
nannte Rothügclfcst, Kpaciiaa ropKa; dann beginnen die Choro-
wodyi), diese charakteristischen Gesangstänzc der Slawen die
unstreitig heidnisch mythischen Ursprungs und ein Symbol
der Sonnenbewegung sind. Auf den mythischen Ursprung der
Lieder, welche diese Tänze begleiten, deutet der im Refram
\orkommende Name der Gottheit Did-Lado, Urvater-Licht, hin:
wahrscheinHch war darunter der Lichtgott Daschbog verstan-
den.^; Bei den lanzen kommt es zu Obszönitäten und ge-
sclilechtlichen Ausschweifungen. Ks ist aber daran zu enniiem,
daß nicht nur bei allen slawischen, sondern auch bei vielen
anderen Völkern ähnliche Sitten und Bräuche herrschen. Wäh-
rend hidessen bei den Südslawen und den anderen Völkern
hauptsächlich die Perioden Frühjahr und Herbst, die Zeit des
Erwachens der Natur und die Zeit des Schwelgens im Über-
flusse, Veranlassung zu sexuellen Ausschweifungen geben, sind
bei den Russen alle Feste im ganzen Jahre Ursachen zu
tiscfaer Ausgelassenheit.
Am Georgstage, dem 23. April, wird das Vieh nach dem
Winter zum ersten Male aufs Feld getrieben, und zugleich
trifft man- die Vorbereitungen zu den Feldarbeifen; an Stelle
der früheren Opfer ist die kirchliche Einsegnung getreten,
aber die heidnischen Geschlechtsbräuche sind dieselben ge-
blieben: Der Muschik muß auf dem Felde, das vom Winter
befreit ist, vor allem sein Weih besrhlafen; tut er es nicht,
so kann ihm auf diesem Felde kein Segen erblühen und das
Futter dem Vieh nicht Gedeihen bringen.^) In der Ukraine
') Xopono,n., Reigen.
<) Reuboldt, 24.
*) Abnlicb bei den Sfldalawen. Vgl. Dr. Friedlich S. Knofl: Aathropo-
plijrtdB. JaJirlyftclier für foUdoKistkdie Erhebungoi und Focschuiigen cur
Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral (Privatdruck nur für Ge-
lehrte nnd nicht lür den Buchhandel bestimmt), Leipzig :<yr^y, III. Band,
Seite 30, Xli: „Am Georgstage, wenn der Landmann KuKuruz auf dem
Acker awe&t, da umfriedet er die Stelle, an der da» Pferd snm eieten lüüe
mit dem Fu6e eeharrt, indem er Kalrami kfiraer am den BferdeKhatlen hin-
wirft. Dann beeteigt er das Pferd auf dieser Stelle. Auf dieser selben Stelle
besteigt er auch sein Weib. Nachdem er das Weib koitirt hat, zündet er auf
dieser Stelle ein großes Feuer an und in dieses Feuer legt er sieben Kukorus-
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Lustbarkeit bei den Tschuktschen im nördlichen
Sibirien.
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— 36S —
/.'u-ht am Georgstage nach beendigtem Gottesdienste der Geist-
liche in vollem Omat mit seinen Kirchendienern und der gan-
zen Gemeinde auf die ausgesäten und bereits grünenden Felder
des Dorfes, um sie nach griechischem Ritus einzusegnen. Den
ganzen folgenden Nachmittag bis in die sinkende Nacht bringt
darauf der Bauer auf den Feldern zu. Man geht von einem
i'^eid zum anderen, begrüßt die Nachbarn und genießt beson-
ders für diesen Tag zubereitete kalte Speisen unter dem ge
hörigen Zusatz von Branntwein. Die alten Leute mit den Kin
dern bleiben in der Nähe der Feldwege; die jungen Leute
aber entfernen sich über die Felder, bis sie den Alten in cmer
Vertiefung aus dem Gesichte verschwinden. Hier stecken sie
eine Stange mit einem angeimiuienen Tuche oder einer Flagge
*iuf, angeblich um den Platz zu bezeichnen, auf dem sie sich
vergnügen, und zum Zeichen, daß hier die Alten nichts zu
suchen haben. Alle legen sich auf die Felder, und wer eine
Frau hat, walzt sich einigemal mit ihr auf dem Saatacker um.
Man sagt, darnach werde Getreidesegen zum Vorschein
Jcommen.')
Vom Ssemik*), dem Feste am sidienten Donnerstag nach
Ostern, ist schon kurz im ersten Teile dieses Buches die Rede
gewesen. 3) Ssemik ist ein Fest der Kränze, und speziell ein Fest
zu Ehren der Verstorbenen, der RussaUd. Die Alten pflegen
die Gräber der Angehörigen zu besuchen und dort Pfann-
' kuchen oder andere Speisen für die Toten niederzulegen. Die
Jugend aber belustigt sich, indem sie Kränze windet, die Bäume
mit Bändern schmückt, Kränze und Zweige in den Fluß wirft
und das Schicksal um die Zukunft befragt: schwimmt das
Hineingeworfene fort, so bedeutet es Gutes; sinkt es unter,
dann hat man Schlimmes su erwarten. Hierauf tanzt und singt
ItOnicr zum Verbrennen, die er sieben Heiligen zugedacht, und nachdem dies
aÜM verlirannt ist iitid sich in Asclie verwandelt hat, alsdann klaubt er diese
Asche aui und zerstreut sie über den ganzen Acker. So tnaciien es manche Leute
Äul jedem Ackerfeld." (Zu bezieben durch H. Barsdorf Verlag, Berlin W. jo.)
KrauD, AnÜffopophyteia, III, Seit« 26—27. Dasdbtt intanssante
Pirallelen.
•) CcMiim.. von ccMi.. sieben.
Vg! Seite 105 (dort heiüt es urtümlich Sonntag statt Donneistag).
Stern, Geschichte der Offcntl. Sittlichkeit in Rufilatid. 33
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man, und schließlidi, wenn , die Alten dem Branntwein hul-
digen, frönen die Jungen der Wollust. Auf diese W'- i o feiern
die Russen Pfingsten, das Fest der Wiederkehr der Frucht-
barkeit.
Die Erotik ist femer der Mittelpunkt jener Feste, bei denen
der Gebrauch herrscht, daß die jungen Leute durch das Feuer
springen. Das ist in einigen Gegenden auch am ersten Oster-
tage, allgemein aber am Vorabend des Festes Johannis des
Täufers, am Abend des 23. Juni, der Fall. Das johannisfest
fällt zusammen mit dem heidnisch-slawischen Feste des Ku-
palo^), dem miulgedessen auch der Vornainr Iwan beigegeben
wurde. In Weißrußland wird eine Strohpuppe auf einen
Scheiterhaufen gelegt und verbrannt. In Kleinrußland baden
die jungen Leute beiderlei Geschlechts am Nac hmittag vor
Kupalo gemeinsam im Flusse; bei Sonnenuntergang zündet
man aui den Weiden, den Feldern, in den Gärtcü und in den
Hofen ein Feuer an, und die jungen Leute hüpfen, paarweise
je ein Mädchen mit einem Burschen, durch das Feuer.*} So-
bald das Feuer verlöscht^ schlägt man sich in die Büsche, um
sich aufeinanderzuwälzen, wie der Ausdruck lautet. Ähnliche
Gebräuche herrschen in Wolhynien und Podolien. In den Gou-
vernements Jaroßlaw, Twer und Nischnij^Nowgorod heißt das
Johannisf est : Jarilo. Bis zum sechzehnten Jahrhundert fanden
hier zu Ehren des Jarilo Feste statt, bei denen volle geschlecht«
liehe Freiheit herrschte. Regierung und Kirche versuchten den
Festen diesen Charakter zu nehmen, allein die alten Gebräuche
erneuern sich immer wieder. Im Aberglauben ist die Jarilo-
oder Kupalonacht eine Art Walpurgbnacht. Man nimmt an,
daß sich um diese Zeit die russischen Hexen auf dem Kahlen-
berg') versammeln. Ferner heißt es : in der Kupalonacht blüht
ein Famkraut*), das wie Feuer leuchtet; bei dem Glänze dieses
1) Vgl. 5. 81 (dasdtMt lieiBt es fahch: KqinIo). — Knimlo ymr der Gott
der Feldfrüchte.
*) 3u6uji]Hi>, l'yccidA uaiK>;rb, crp. 66 — 80: HB»ab Kyna.io n .^rpaflKSHa
KyaaJii.iuuui (Kupalo i«t *m 34., AgrafBU Kupaljnixa am 33. Juni).
*) JhicM ropa. Vgl SaSunwi» 77.
*) HuiopOTt. oder nanopariiHK'b, Huaio Ka'io;iuxcHiiKb. 3a6u.iii}n>, 78 (Hl»>
Bom» uirbn.). Die Hexenmeister Sttcheii ia dieser Macht auch nach „pa^iun
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— 3Ö5 —
Krautes kann man \(.rborgene Schätze entdecken. Über die
Bedeutung und /Xbstanunung des Wortes Kupalo können sich
die russischen Gelehrten nicht einigen; manche von ihnen
haben sich zu den merkwürdigsten Vermutungen verstiegen.
Die einen behaupten, Kvnajio stamme von der Wurzel Kynaib,
baden, weil man von diesem Tage an in offenem Wa5;ser zu
baden beginnt ; andere leiten Kynano vom lateinischen copula
oder dem deutschen Worte Kuppelei her. Kyua, auch, Kynu,
bedeutet lexikalisch einen Haufen, kann also bezogen werden
auf das Zusammenweileii des Reisigs für das Feuer.
In Esthland war es noch zu E^de des achtzehnten Jahr-
hunderts Brauch, sich am Abend vor dem Johannistag um eine
alte Kurchenruine zu scharen und Feuer anzuzünden; sterile
Frauen tanzten nackt herum, um fruchtbar zu werden, junge
Madchen aber eilten mit den Burschen in den Wald, um nach
Lust miteinander zu verkehren. In meiner Knabenzeit sah idx
im livländischen Badeorte Dubbeln alljährlich, wie die Bauers-
leute auf den Höfen um die Johannisfeuer sprangen, aber
nicht mehr nackt, sondern bloß barfüßig, und dann in
Gärten oder in Heuschobern sich aufeinanderwälzten ; kein
Vorübergehender nahm an solcher Sitte an diesem Abend An»
stoß.^) Bei den Esthcn auf der Insel Moon ist das BeUager
der Johannispaarc ein alter Brauch. Am 23. Juni, oder auch
am I. Juli, dem Voriüjend des Heu Marientages, zündet man
dort große Feuer an. An diesem heiligen Abend, sagt man,
muß der Mooner eine Beischläferin haben. Während die Wei-
ber und ^Tädchen den Rundtanz um das Ledotulli, das Fest-
feuer ausfuhren, gehen die jungen Männer um den Kreis
herum, beobachten die Mädchen und entfernen sich dann in
den Wald. Bald gibt dieser und jener einem Trupp kleinerer
Jungen den Auftrag, die Auserkorene zu holen. Ein Junge ruft
die Bezeichnete unter irgend emeni V'urwand aus dem Ring
der Tänzerinnen heraus. Die übrigen Knaben, etwa zelui an
der Zahl, umringen das Mädchen und schleppen es mit Gewalt,
TpMRf der Springwnnel der Dentachen, welche die Eigenadiaft hat, die
festesten Schlc'sscr zu öffnen.
1) J'iiraUelen aus dt-m Orient: Mein Buch übtr M'.dizin, .\h<-rmhiube und
G»cbleclit;slcben in der '1 urkei. II 176. (Verlag H. Barsdori, Berlin W. 30.)
«3*
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ziehend und stoßend, über Stock und Stein, über Zäune und
Gräben, bis der Zug nach mehrmaligem Fallen und wiederholtem
Ringen bei dem Harrenden angelangt ist. Der Bursche wirft
das Mädchen nieder, legt sich neben seine Auserkorene und
schlägt ein Bein über sie; diese Zeremonie muß er durchaus
beobachten, wenn sie ihn nicht für einen Stümper halten soll.
Ohne sie weiter zu berühren, liegt er bis zum Morgen neben
ihr> Die Mädchen, denen solches wideirfährt, freuen sich dessen
nicht wenig, selbst wenn man ihnen auf dem Transporte das
Hemd zerrissen hat; die Moonschen Weiber und Mädchen
tragen nämlich bloß ein Hemd am Leibe, nur wenn sie zur
Taufe oder Hochzeit gehen, ziehen sie darüber einen Rock. Die
Mädchen, die nicht gewählt werden, können ihren Neid und
Mißmut nicht bezwmgen, die Mütter der Bevorzugten aber
erzählen mit Wonne den Ruhm ihrer Töchter.*)
Ein russisches Sommerfest sind die sogenannter IXerpOBiar,
J ) \'erhandlungcn der Esthnischen Gesellschaft, liand XII, 2. Dorpat 1872.
S. 64 — 65. Zitiert bei Maimhardt, ^^tike Wald- und Feldkulte aus nordeuro-
pftisdiBr Dbatiefwnng, Beriin 187/. S. 284!!. und in Anthropophyteia III:
BdschUlaausübung als Kulthandlung, 5. 25. — Nach den Verbandlniigen der
Esthnischen Gesellschaft zu Doq>at. 1850. Tlniid II, 3. Seite 46 ff. erwähuen
^lannhardt uml KratiD noch folgenden Brauch der alten Esthon: Zur Zeit
des Frühlingsfestes zu Ehren des E>onnergottes Ukko Paudel. mußten sich
unfruchtbare Weiber beim Ukkowak einsperren lassen und sich daselbst einer
geheunen Zeremonie nnterzieheii. Nachdem der Haushenr frühmorgens nfichtem
die Grenzen seines Ackers umwandelt, begann ein Bacchanal, bi i drm nament^
lieh die Weiber viel trinken mußten. — In Hiäms Ehst-, Lyf- und Lxjttlaen-
discher Geschichte, S. 28 findet man folgende auf den Gott Ukko bezügliche
finnische \'erse des Sigfridi Aronis:
Ja quin Kelwe Kylwo Kylwätin
siilon Uckom Mallia jotin
Sieben hantin t'ckon wacka
nin jopuj Pica ette acka
Syte palio Häpic siclc techtin
quin sdice cuttltin ette nechtin
quin Rannj Uckon Naini hänky
jalosti Ukoj pohiasti p&nky.
Aus diesen \'ersen geht her\'or, ,,dnß Uckn und sein Weib Rauni über das
Wetter zu gebieten hatten ; wenn ilie I- ruhlingssaat sollte gesät werden, so
trank man dem Gottc zu Ehreu, und Weiber und Mädchen soffen sich voll
und vedlbten schändliche Dinge."
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Volksbelustigungen der Russen.
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die am Vorabend des 29. Juni, des Peterpaultages, als ein
wirkliches Volksfest gefeiert werden. Mit den Petrowki beginnt
das Düngen der Felder, der Schnitt des Getreides, die Zeit
der Hitze, iieTjKmeKiji m-apu. In vielen Stiidten Rußlands ist
an diesem Tage großer Jahrmarkt, hi ahen Zeilen war der
Peterstag der wichtigste Gerichtstag, die Zolle wurden dann
eingehoben, es war der lermin lür die Abgaben und Steuern.
Bei den Bauern ist der Peterstag noch lieute der Zahltag der
Steuern. Am Petrowkivorabeiid gab man sich allen möglichen
liclustigungen hin. Die Frauen, die sonst so streng abgeschlos-
sen waren, durften am Petrowkifcste ihre Kerker verlassen und
frei umherstreifen, auf den Jahrmärkten sich unterhalten, die
Reigentänze initmachen und sich auf den öffentlichen Schaukeln
wiegen lassen. Im Stoglaw, dem Buche der hundert Kapitel von
den nissischen Lastern, die Zar Iwan zusammenstellen ließ,
heißt es: daß ganz Moskau am Montag des Petrowkifastens
auf Völlerei ausgehe. Man nennt dies ryaflHbe na Hajtmiirax'b,
spazieren auf die Sauferei. Ein älterer russischer Schriftsteller
klagt: ,,Am Feiertage der Apostel Pjotr und Pawel legt der
Teufel seine Schlingen und Netze über die Katscheli^) imd
schaukelt die Bösen in Tod und Verderben." Der gute .Mte
hat umsonst gepredigt und gewarnt. Die Petrowki, der Vor-
abend wie der Peterpaulstag selbst, gehören noch immer zu
den aiMgelassensten Festen der Russen. Im Ssa rat ow sehen
(iouvernement ergötzt man sich am Vorabend des 29. Juni in
folgender W^eisf, den Frühling zu bcgleitcn^^, wenn er von
dann (Ii zieht. Mimiur und I'rauen fahren in ihren Telegen im
Gänsemarsch von einem Eiule des Dortes bis i£uni anderen,
treiben freche Späbe und beschließen die Xarht mit Reigen-
tänzen und Aufeinanderwälzen. Irn t jouvernement Iwtr be-
ginnen am ersten Sonntagn.ichmittag nach dem Petrr[)aulstage
die sogenannten niichtlichen Spaziergänge.^) In Kas( hina spa-
ziert man zum Klobukowkloster, wo eine wunderwirkende
I) Ka^itMb. die Sdiaukel, bildet auf den Volksfesten sdt jeher das Hanpt-
vcrgnfigen der niederen VdlkskkMsed, aameiitiich der Fmwn.
') Hü'uiiJH ry.uuiKU. Über die Düp£K'U)edeutung von ryounf.'*, Spazier-
gang und Hurerei, bt bereits S. 105 g^sprocbcn worden.
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Quelle fließt. Der Tr irlir on zufolge stand einst an dieser
Quelle die Bildsäule des Kupalo. An der vom heidnischen
Gefühl geheiligten Stelle finden die ausgelassensten Maskeraden
statt, bei denen die Rursrhen ihr Gesicht mit Tüchern ver-
hüllen, um nicht von den Mädchen, mit denen sie der Wollust
frönen, erkannt zu werden. Ks spielen sich in voller Öffentlich-
keit die seltsamsten Szenen ab, man stolpert fortwährend über
auf einanderge wälzte Liebespaare, und es kommt zu Skandalen,
Etfersuditsszenen, Handgemenge und Totschlag.^)
Eigentümlich erotische Gebräuche sind auch jene, dt^
sich an die Feier des Mittwochs und Freitags der Karwoche
anlehnen. Mittwoch und Freitag» Ssereda und Pjatniza, sind
in der anthropomori^chen Vorstellung des Volkes die Personi-
fikationen der weiblichen Heiligen Ssereda und Praßkowja.
Ursprünglich sollte dieser Kultus die Marterwoche Christi ehren ;
die Roheit und die Sinnlichkeit des Volkes fanden aber keine
Befriedigung in einem rein religiösen Kultus, und Aberglaube
und Unzucht verdrängten die Zeremonien der Kirche. Der
Unfug wurde so furchtbar, daß die orthodoxe Geistlichkeit im
sechzehnten Jahrhundert die Ssereda- und Pjatnizafeier unter '
Androhung der schwersten Strafen gänzlich untersagen mußte.')
Die Sseredafeste sind si ither auch verschwunden, dagegen ist
der Freitagskult bis auf den heutigen Tag in ganz Rußland un-
beeinträchtigt aufrecht geblieben. 3) Man müßte das Andenken
der heiligen Großmärtyrerin Praßkowja am 28. Oktober feiern,
dem eigentlichen I'raßkowia Freitag obwohl der Namenstag
der Heiligen natürlich nicht immer auf einen Freitag fallt.
Die Ru^s( n haben aber diese Heilige so sehr mit dem Freitag
identifiziert, daß in vielen Gegenden die Frauen an keinem'
Freitag arbeiten dürfen, um diesen heiligen Tag nicht zu ent-
weihen. Praßkowja ist die Spezialheilige der Weiber, die zu
ihr in allen schlimmen Lagen des Lebens beten. Der Freitag
der Karwoche besonders wurde den Frauen ein Tag der Frei-
*) SaCwaoh, crp. 83—88: IIeT[K>KKH. I
*) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur. S. 121.
s) Vgl. über den Freitag bei den Russen auch Seite 65.
*) UpacKOHwi-IIaTiiHua.
*) datiujnmb, pyo«iufl uapo;^ 100— loi.
I
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— 359 —
beit, an denen sie sich in früheren Zeiten der Fesseln des
Hauses nnd des strengen Gatten entledigen und zu ihrer Be-
schützerin flüchten durften. Unter den Fittigen der Heiligen
rächten sie sich für die langen Leiden und die schlechte Be*
handlung durch Ausgelassenheit und Unzucht. Die Verehrung
der Praßfcowja wurde eine Art Venuskultus ; es hat auch schon
der russische Volksforscher Afanaßjew die Verehrung der Praß-
kowja-Pjatniza mit dem Kultus der Freya und der Venus in
Zusammenhang zu bringen versucht.^}
Wir sehen also, wie Kirchenfeste zu Volksfesten geworden
sind, bei denen das erotische Element das Charakteristische
ist. Natürlich muß es noch viel bunter und gänzlich zügellos
bei jenen Gelegenheiten zugdien, die mit der Kirche und
1) Es i*t sellistventäiMDidi, daB die Herbstfeste densdbeD erotischen
Chsxmkter aufweisen, den die Frühlings« nnd Sommerfeste zeigen. Die Zeit
der Einheim'sting der Feldfriichtc ist ebenso eine Epoche der Liebe und der
geschlechtlichen Ausschweifung wie die Periode des Frühlings, wenn die Natur
erwacht wnd die Feldarbeit begioBt. Der Engländer Havdock EMis (Cwir hlnchts»
trieb und Schamg^fllü, Wiinburg 1901). hat alles msammengastdlt. um zn
beweisen, daß es Wechad im menschlichen Organismus gibt, die sich jahres-
zeitlich regeln und besonders mit den Geschlechtsfunktioneti in Verbindung
stehen, und daß Frühjahr und Herbst in der ganzen Welt Perioden erotischer
Pest« sind. Die interessantesten Fsralldien n den mssiachen Bcftnchen sind
natttrlich die ans den sfldslawischen Undein: In Gomja Tnda In Bosnien
wälzen sich beim Erntefest die Schnitter mit den Schnitterinnen über eine
schiefe Ebene hinab. In Serbien fallen die eigentlichen geschlechtlichen Aus-
schreitungen hauptsächlich in die erste Herbstzeit. Dann geberden sich die
jungen Lente irie UebeatoD. Fest iolgt auf Fest. Man stampft ganae Nächte
hindoxcb den Reigen bis rar EndiApfaag tind singt bis ram Hsiserwerten
die obsaÖnsten Lieder. Die sinnlich anfregende Macht dieser Kolotänze ist
verwirrend und der An«?tnnn des Geschlechtstriebes entwurzelt nllfn An-
stand. — Die südslawischen Gebräuche zuerst gesammelt zu haben, wird ein
«nvergängUches Verdienst des unermfldlichen Meistera der folkloristischen
Wissensdiaft, Dr. Friedrich S. KravB, bleiben. Man sehe die fibemUtlgemle
Fülle seiner Arbeit nnd den Reichtum seiner Erfolge in seinem grundl^enden
Werke , .Volksglaube und rehRiöser Brauch der Südslawen", in den hunderten
Liedern. Sprüchen, Erzählungen, die er im Originaltext und mit Ubersetzungen
im V., VI. und VII. Band der Ptivatdmcke der Kryptadia. sowie in den bis-
herigen drei Binden seiner Anthropophyteia veröffentlicht hat. SeldieLebtnng
steht auf dem Gebiete der folkloristischen Wissenschaft ohne Bei8|ml da nnd
'Wird kaum jemals übertroffen werden können.
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— 360 —
dem Glauben gar nichts oder wenig zu tun haben. Die heid-
nischen Slawen feierten ein Frtihlingsfest, das nach Einführung
des Christentums nicht wie die übrigen heidnischen Feste einen
Flau unter den neuen Riten und Zeremonien erhielt, sondern
in selbständiger Form bestehen blieb, jedoch verschoben
wurde; das slawische Frühlingsfest wurde zur Butterwoche»
zur Maßljänitza^), liegt zwischen Weihnachten und dem Großen
Fasten und ist der russische Karneval; ein Teil der alten
Frühlingsfestgebräuche wurde auch an den Ostersonntag abge
geben. Der russische Karneval ist zweifellos origineller und
lebhafter geblieben als der westeuropäische.
Die Fasten sind ein stn ng beobachteter Bestandteil der
ReUgion, und um sich für die auferlegte Enthaltsamkeit im
Vorhinein zu entschädigen, hat man in der den großen Fasten
vorausgehenden Butterwoche reichlich Gelegenheit. Man heißt
diese Woche Butterwoche, weil das I'leischessen schon aufhört,
die Butterspeisen aber noch erlaubt sind. In der Butterwoche
' feiern die Wollust und die Völlerei ihre schlimmsten Orgien.
So wie gegenwärtig noch, war auch früher diese Zeit eine Reihe
von schrecklichen Tagen. In dem Buche über die Religion
der Moskowiter- lesen wir: ,,ln dieser Zeit / welche billig
zur Busse / und zu einer Vorbereitung zum Fasten solte ange-
wandt werden / scheinet es / als wenn die elenden Leute ihnen
vorgesetzt hätten / dem Teuffei ihre Seelen zum Opffer zu
bringen / so gar sehr begeben sie sich in allerhand Liederlich-
keiten : Sie bringen Tag und Nacht in der greulichsten Schwel-
gerey zu / wobey sie auch mit Weibsbildern ein sehr unzüch-
tiges Leben führen; Sie erwürgen sich einer den ändern / und
verüben sblche grausame und entsetzliche Boßhdten / daß man
sie ohne Schrecken nicht kan erzehlen hören. Sie haben die
Gewohnheit / daß sie eine Menge Pasteten / Gebackenes und
Kuchen mit Butter und Eyer backen / womit sie einander be-
wirthen / und trincken eine unbeschreibliche Menge Honig-
*i Mar.iiiuMiu»; cupum iu'x\a». 3a6u.iiiin>, l*y«'Kiä iiapo.t'b. «rrp. 34 — 48.
In neuerer Zeit schreibt man auch MuCiieuHua. Der Ausdruck uapticHaxb
ilt ebenlUb in die iimiBelie Sprache übergegangea. SchUefilich übersetzt maii
einlach das Wort Fastnacht: HaaeHepie wsuncaro nocro.
«) S. 126.
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Russisches Vergnügen in der Osterwoche.
I. Hand, 20. K.ipitel. Kirchenfeste. Volksfeste.
Miic^iflHHua. MocKita IS.')] i Butterwoche.
iRussii>che Lithof^raphie.)
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— 361 —
Wein / Bier und Brandtwein darauff / daher sie sich / w.um
ihnen diese Getränke zu Kopffe steigen ^ schreckHcher Weise
herumschlagen / und als die un\ crnuulitige Thiere einander
umbringen : Man höret auch alsdann von nichts anders reden /
als von Leuten / so umgebtacht / oder ins Wasser geworffen
worden. Zu der Zeit / als ich in Moscau war / zehlete man
einige hundert Menschen / so in diesen 8 Tagen des Masla-
nize umkommen waren / welche acht Tage man wol die Teuf-
fels-Woche nennen kan / wegen der ungesäumten Freyheit und
Unordnung / darin die Moscowiter alsdann leben. Weil die
Stadt Moscau sehr groß / so ist ein eigener Platz dazu be*
stimmt / daß man die Cörper derjenigen / so auff den Gassen
todt gefunden worden / dahin lege: man bringet sie des Mor*
gens dahin / und wer Jemand von seinen Angehörigen ver-
lohren hat / muß ihn an solchem Orte suchen. Diejenigen
Cörper / welche nicht erkannt noch wiedergefodert werden /
wirfft man in eine mit ungelöschten Kalck angefüllete Grube /
darin sie gar bald verzehret werden. Die Warben ver«iehen
zur Zeit des Maslanize ihren Dienst nicht / sondern s.uiffen
sich voll / und leben unordentlich / eben wie die andern. *
An dieser alten Schilderung ist kaum etwas iw ändern. Die
Butterworhe ist auch heute noch der Gipfel aller ni^isischen
Vcrgnu^nini4en und I Unterhaltungen, an denen sich Reich und
Ann Wnnchm und Gering. Alt und Jung in ausgelassenster und
ausschweifendster Weise beteiligen.
Die Lust zu Verkleidungen und .Maskeraden ist den Russen
angci)()ren. Wir werden im nächsten Kapitel einige Iieisj)iele
aus der Ilotgeschichte und d<^r vornehmen Welt erhalten. Jiier
erwähne ich nur einige, seit Jahrhunderten gänzlich verloren
gegangene Volksgebräuche. So erzählte der Verfasser der
„Nachricht von Güldenlöwe Reise nach Rußland" i) von einer
seltsamen Art der Versuchung, welcher die Bischöfe vor ihrer
Weihe vom Volke ausgesetzt wurden: „Der Bischof ward auf
einen Schlitten gesetzet, von zwey Pferden in der Stadt Moscau
herumgeschleppet, und von vielen Pfalfenknechten, deren
etliche in leichtfertiger Teufelskleidung verkleidet waren, also
1) In Bä4ching» Magaiiii für die neue Historie. X 240.
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- 362 —
begleitet, daß sie um ihn her« auch bald auf, bald vom Schlitten
gesprungen, und nach bestem Vermögen ihre hohen Künste
versucht, ob sie den Vater durch ihre leichtfertige Worte und
Geberden 2u etwa einem Lachen bewegoi, und also sträflidi
und der bischöflidien Ehre verlustig machen könnten^ oder ob
er dergestalt untadelhaft und geschickt mußte befunden wer-
den." Von einem ebenfalls jetzt nicht mehr bekannten mosko-
witischen Gebrauch am Palmsonntag berichteten ältere aus-
ländische Beobachter ^) : Am Palmsonntag versammelte sich
das Volk von Moskau vor der Messe im Kreml. Aus der
Kathedrale zur Himmelfahrt Maria ward ein großer, mit aller-
hand Früchten, Rosinen und Äpfeln behängter Baum heraus-
getragen. Man machte ihn auf zwei Schlitten fest, die von
sechs Pferden langsam gczoj^rn wurden. Unter den Zweigen
des Baumes standen fünf Knaben in wciücr Klciduiig und
sangen laut das „Hosianna dem Sohne Davids, gesegnet der da
kommt im Namen des Herrn." Hinter den Schlitten kam zahl-
reiche Jugend, mit Wachskerzen und einer ungeheuren Laterne;
darauf folgten Männer, die zwei Kirchenfahnen, sechs Rauch-
fässer und sechs Heiligenbilder trugen, ferner mehr als hundert
Priester in Prunkgewändern, die Scharen der Bojaren und vor-
nehmen Staatsbeamten in Gala, endlich der Patriarch und der
Zar. Der Patriarch ritt quer nach Damenart auf einem mit
weißem Zeuge bekleideten £sd oder auf einem Pferde, dem
man dann lange Ohren aus Leinwand aufgesetzt hatte, um
ihn einem Esel ähnlich zu machen. Mit der Linken hielt der
Patriarch das mit Gold beschlagene Evangelium auf seinem
Schöße fest, mit der Rechten teijte er dem Volke den Segen
aus. Den Esel führte ein Bojar, der Zar aber, der nebenher
1} Hakluyt bei Karämsin, deutsch IX 85, französisch IX 594. erwähnte
iho zuerst; er lernte ihn im Moskan Iwans des Schrecklichen kennen. Später be-
richtete daasdbe Bfargeret, Estat d« rSinpire de Rvasie. 39: „Le lonr de Bu»
qnea fieurirs Ton monte le Patriarche sur un asne. leqael s'aasi«^ en femme.
et au d^faut d'un asne l'on pr»*nH iin chevr^l que Ton cowvre d'un Vm^e blanc.
teUement quc l'on n'cn vuit rien que les yeux. L'on luy fait de grandes oreüles
et rEmpereor le ooaduit par la bnde jusques dan* nne Eglise hon du Chastcan.
n 7 a gel» ocdonnes ce jonr-U, qui dipoftlUaiis lean robbee les estendent sur
le chcmin anhrans en la Piroceastoin Ice Prestres et autns Eccietiaetiqiiee de la
ViUe."
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— 363 —
ging, berührte mit einer Hand einen Zügel, um zu tun, als ob
er den Patriarchen führte, während er mit der anderen Hand
eine OsteipalntMs schwankte. Dieser Aufinig sollte den Einzug
Christi in Jerusalem symbolisieren.
Was von den alten Kirchengebräuchen existiert, das kann
man hauptsächlich in Moskau beobachten. Matuschka Mos-
kwa^) ist nach wie vor der Mittelpunkt der Orthodoxie und
der Kirchlichfceit, obwohl seit der Verlegung des zarischen
Hofes an die Newa auch hier nichts mehr im alten Gkuue
leuchtet. Der Zar hatte einst durch seine Teilnahme nament-
lich den Großen Fasten und dem Osterfeste in Moskau eine
besondere Feierlichkeit verliehen. 2) Wenn sich die Großen
Fasten näherten, trug der Zar persönlich dafür Sorge, daß die
Ruhe in den heiligen Wochen nicht durch kirchenwidrige Er-
scheinungen gestört wurde. Am letzten Tage der Butterwoche
erteilte er einem Dumnij Djak oder Ratssekretär den Befehl,
in der ersten und der letzten Woche der Fasten sämthche
Schenken zu schließen und die auf den Straßen aufgei^riffencn
Betrunkenen der strengsten Strafe zuzuführen. Am letzten l äge
der Butterwoche erging auch der zarische Befehl, für die Zeit
der Großen Fasten den Lebensniittelhandel auf Kalatsch-^),
Kwaß und vegetabilische Nahrungsmittel zu beschränken. Wer
Fische verkaufte, verfiel strenger Strafe. Manche Zaren führten
selbst die Fasten mit größter Genauigkeit durch. Vom Zareji
Alexej erzählen die ausländischen Reisenden, daß er während
der Großen Fasten nur drdmal in der Woche, am Donnerstag,
Sonnabend und Sonntag zu Mittag speiste, an den übrigen
Tagen aber sich mit einem Stücke Schwanbrot, einer Salzgurke
und einem Glase Halbbier begnügte. Fisch nahm er nur
zweimal während der ganzen Fastenzeit zu sich. Die zarische
Familie und der Hofstaat befolgten des Herrschers Beispiel; die
Kinder jedoch durften eine Ausnahme machen. Vom Patriar-
MmyiifKa IkbiCKHi, Mflttetdien Moskau nennt der Russe die alte Zann-
residenz, wie er auch vom WolgafluO al«! von ^fniviTTKa Btura spricht.
«) Vgl. rpiiro|iirt rt'oprbeiicKirt, Bo.inui'fi ii rn. ii itacxa m. MocKnt», PyccKin
BbcTHiiifi. 1900. — 3a6u.iiiHb, Pjcann naiN-Ai., 48 — 49; B<puuaJi Ui:;Ai^;
49— si: BonudJi «wraepTL; si — $4: Haaa.
V Kaaavb, «ioe Art Semmeln.
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chen bis zum Lastträger fastete alles im alten Moskau. Wer
das Speiseverbot brach, verlor sein Amt. Alcxej nahm an
allen Gottesdiensten teil, und die Kirche bot ihm zu Ehren den
grolMrv Prunk auf. Am Sonntag vor der Butterwoche sagte
man tcicrlich dem Fleiscli \'alet, Carnc vale. An diesem Tag
pflegte Zar Alexej frühmorgens um drei Uhr heimlich den
Kreml zu \crlassen, um die Gefängnisse und Armenhäuser
aufzusuchen. Geld zu verteilen und Gefangenen persönlich die
Freiheit zu schenken. Nach der Frühmesse fand unter Voraii-
tritt des ralriarchen eine Kirchenprozession nach dem Iwan-
platze statt, wo ein allgemeines Gebet vor den Bflde des jüng-
sten Gerichts veranstaltet wurde. Nach dem Hochamt gab es
im zarischen Dwor Freitisch für die Bettler der Stadt; der Zar
speiste mit ihnen und bewirtete sie als seine teueren Gäste;
und zur selben Zeit wurden in den Gefängnissen auch die Ge-
fangenen auf Kosten des Zaren gespeist. An einem der Abende
der Butterwoche hielt man in der Uspenskijkathedrate die feier-
liche Zeremonie der Versöhnung ab. Dann begannen die
Fasten. Am Sonntag in der ersten Fastenwoche erschien bei
der Feier der Orthodoxie der Zar. um mitzubeten für das
ewige Gedäc htnis der für die Orthodoxie gefallenen Männer.
Besondere Feierlichkeiten gab es in der Fastenzeit noch in
der vierten Woche, sowie am Donnerstag und Sonnabend der
fünften Woche. Alle Feierlichkeiten und alle Tage haben ihre
speziellen Namen. 2) Die Fasten schlössen mit mehreren Gottes
diensten der stillen Woche \j ab. Am feierlichsten war der
Gottesdienst am Mittwoch diest r Woche, welcher Tag auch
der große Mittwoch ') heißt. Der Zar kam mit seinen Bojaren
ohne jegliches G'-pränge in die Kathedrale, und Zar, Beamte,
Patriarch und \'uik baten einander um Vergebung. Am Don-
nerstag, der ebenfalls der grolV^ ' i genannt wird, verließ der
Zar um die erste Morgenstunde die inneren Gemächer, um
iu den Siechenhäusern und Gefängnissen abermals Almosen
TopsKecTBO npaMociamjt.
^) K(M>croooK.ioiiHiui iHMtwin; Aiupi'viK» eiufiiile; und nuXBiUH BoropQnpiA
') rtpaiTnan iKvih.ijr.
*) H4MiiKaH c»'piMa.
zu verteilen. I ntcr den Osterbräuchen war die bomerkens-
wprtestc die am frühen Ostersonntag^^morgen stattgefundene
Kniebeugung im Angesicht des 2^ren.i) Alle höheren Beamten
wurden zugelassen, um vor dem Zaren einen Fußfall zu tun
und ihm in die klaren Augen zu schauen.*} Das galt als
besondere Belohnung für treuen Dienst. Niedere Beamte wur-
den nur nach Auswahl dieser hohen Gnade teilhaftig. Nach
dieser Zeremonie begab sich der Zar in einem von Edelsteinen
schweren Gewände, in Begleitung seines ganzen Hofstaates, zur
Frühmesse in die Uspenskijkathedrale. Hier hatten nur die
Beamten vom goldenen Kaftan^) Zutritt. Nach der Frühmesse
folgte der Osterkuß. Der Patriarch küßte zuerst den Zaren
auf den Mund, darauf küßte der Zar die Heiligenbilder und die
Erzbischöfe; mit den übrigen Geistlichen und den Bojaren
tauschte der Herrscher bloß einen Händedruck aus. Streng
nach der durch den Tschin bestimmten Reihenfolge traten alle
vor den Fürsten, der jedem, Je nach seiner Dienststellung,
ein, zwei oder drei prächtig gemalte Eier überreichte. Von
der I '^spciiskij-Katliedrale zog der Zar nach den wiclitigsten
Kirchen und Klöstern, und uberall wiederholte er dieselbe
Zeremonie. Zum Schlüsse besuchte er die Gefängnisse und
begrüßte die Verbrecher gnädig mit den Worten: „Christus
ist auch für euch erstanden !" -
Von dieser Tyrannengemütlichkeit ist nichts übrig geblie-
ben. Sic ist ebenso verloren gegangen wie fast alles, was an
rein kirchUchen Zeremonien luul eingebildeter Gläubigkeit im
alten Moskau früher vorhanden gewesen sein mag. Nur jene
Gebrauche vermochten sich dauernd zu erhalten, welche die
Kirche den heidnischen Empfindungen des Volkes angepaßt
hat, oder in denen erotische Elemente die Sinne zur Teilnahme
anregen.
*) IlapcKoe ;iHKe3ptiiie, wArtlich der zarischc Anblick, Diese Zeremonie
ist mrpifello<; 3!;i;itischen Ursprungs, denn sie gleicht iast genau der Zeremonie
am Bairamsfeste im Sultanspalast.
*) yji^pim. <iejoin> Uapio B Hiutiii Fucy^apa npi>ciri>Tai>ui ouu.
*) Eine ebeofalls asiatische Raagabatniiiag. Der Verglöch mit den
«hineeischen Bfandarinen drängt sich von selbst auf.
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21. Hofnarren und Maskeraden.
Vergnügungen der vornohmen Gesellschaft im alten Rußland — Die Frauen
im Terexn — Die Männer unter sich — Saufwut — Leibeigeue als Leibnarren
der Axistokntea — Die Amtoknkteik ata Leibnaineii der Zaren — Lohn and
Strafe der Narren — Adehing einee Neiren — Ermordnog de» Kerzen Ffliet
Gwosdew durch den Zaren Iwan den Schrecklichen - ■ Die Narrenwelt am Hofe
Peters des Großen — Uschakow erhalt die NarrcnkapjK- statt des Galgen-
stricks — Der portugiesische Jude Dacosta — Der König der Saniojeden —
Die Eekadron der Zwerge — Der Nair Turgenjew ata Kombattant — Neujähra-
epid — Feuerwerk — Assenbleen — Der Narrenorden — Verspottung des
Klerus durch Maskeraden — Der Papstnarr — Heirat de«? Papstes — Öffent-
liches Beilager — Narren und Würdenträger — Zwerge Am Hofe Annas
Der Narr Fürst Wolkonskij — Apraxin — Fürst Gahtzyn als Henne — BaU-
kirew — Pedrillo — Die Wöchnerin Ziege — Heirat Galitayns mit einer
KalmQckia im Eispatast — FnßsolilMikitslerinnen — Tediulkow. Oberanf-
scher der FuOsohlenkitzlerinncn — Die Kitzlerinnen Elisabeth Schuwalnw
und Fraii Woronzow — Frau Schepelew — Das Kiapäweib (ioknvin — Der
letzte offizielle Holnarr Aksakow und sein Hude — Spaßmacher Katharinas II.
— Narywhktn — Die Plaudertaacbe Matrona Danüowna — • Beginn der euro-
päischen Veipifigungen, TSnze und Bälle.
Die Unterhaltungen der Vornehmen im alten Rußland
waren ganz eigener Art. Die Frauen der Aristokraten ver*
ließen nur selten die vergitterten Tore des Terem, lebten
abgeschlossen von der Außenwelt und vertrieben sich die
Langeweile durch Amüsements mit ihren Sklavinnen, die
obszöne Geschichten erzählen, Tänze aufführen oder den Her-
rinnen, um ihre Wollust zu reizen, die Sohlen kitzeln mußten.
Gemischte Gesellschaften, an denen die Frauen mit den Män-
nern hätten teilnehmen dürfen, gab es nicht. Wenn der Haus-
herr ein Fest veranstaltete, so gebciiah dies nur für männliche
Gäste. Die Hausfrau erschien zwar für einen AugenbHck, um
dem vornehmsten der Gäste den Khrentrunk zu bringen, aber
dann verschwand sie sofort wieder. Da^ Ilaupivcrgnügen bei
solchen Festlichkeiten der Männer unter sich war das Saufen.
Der Wirt setzte seinen Stolz darein, seine Gaste volltrunken
zu machen; und jede Einladung zu einer Gesellsdiaft schloß
mit dem Refrain: „Gib mir die Ehre, dich bei mir zu be-
trinken.** So sdirieb zu An^g des achtzehnten Jahrhunderts
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— 367 ~
noch Mentschikow in einer Einladung, die er an Peter den
Großen richtete. Für den Humor der Gäste sorgten Erzähler
von Legenden und Märchen, Guitarrenspieler, Jongleure und
namentlich Narren mit ihren obszönen Spaßen und Sprüngen
und mit frechen Reden, in denen dem Wirt und den Gästen
unverblümt die Wahrheit gesagt werden durfte, da man der
Meinune: war, ein Narrenwort, vom Augenblick geboren und
vertilgt, könne nicht den Respekt des Sklaven vor dem Herrn
schädigen.
Denselben Wert, den der Leibeigene in den Augen des
Bojaren hatte, besaß der Vornehmste in der Schätzung des
Zaren; und so geschah es, daß jener, der sich in seinem Hause
an den Qualen seiner Narren ergötzte, am Zarenhofe häufig
selber die Rolle des Hofnarren spielen mußte. Dieses Amt
war so gut und so schlecht wie jedes andere; Verdienste in der
Pflichterfüllung wurden belohnt, Nachlässigkeiten bestraft Zar
Fedor Alexejewitsch war mit seinem Hofioarren, dem simplen
Bürgersmann Andrejew Jirowoj-Zaßjekin so zufrieden, daß er
dem braven Spaßmacher für seine Bemühungen um die Er*
heitening des zariscben Gemüts den erblichen Adelstand ver^-
lieh.^) Iwan der Schreckliche liebte wahnwitzige und rasende
Narren, tmd um solche zu erhalten, ließ er die von ihm für
würdig befundenen Hofbeamten oder Edelleute, besonders ganz
alte Mäimer, mit Hunden, Katzen, Eidedisen und Menschen«
fleisch bewirten, damit sie vor Ekel verrückt würden. Iwans
Lieblingsnarr war Fürst Gwosdew, der mit dem Herrscher an
derselben Tafel speisen durfte, lünes Tages gefielen dem Zaren
des Narren Späße nicht mehr ; da bestrafte er ihn auf folgende
Weise: Der Fürst mußte niederknien und der Zar goß eigen-
händig dem Knienden heiße Brühe zwischen Hemd und Haut.
Als der Narr darob, statt lustig zu werden, jämmerlich schrie
und ( jnade bat, stieß Iwan ihm ein Messer in die Kehle
und sagte: „Laßt dvn Hund hinfahren, weil er selber nicht
hat leben wollen."^; ür fand an den Marterqualen des Stcr-
') Rovinskijs I^xikon der gravierten Porträt«; (russisch), 1889, IV 510;
\ und Waliszevvski. I/h6ritr»^e de Pierre le Graivd, 20ü.
*) Webers verändertes RuÜlaud, zweytcr Theü, S. 37.
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— 368 —
bciidcn das Vergnügen, das der Lebende ihm vurcnthalten,
Jiatte. Dieser Tyrann war zweifellos selbst auch ein Narr, ein
wahrer CaMOAy])b, ein exzentrischer Teufel. Die wichtigsten
Männer Rußlands, von Iwan und Peter dem Großen bis hinab
XU Faul und Alexander I., Nikolaj I. und Alexander III., dann
die Mentschikow, Patjomkin, Ssuworow, endlich die Gugulj,
Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj — sie alle sind Ssamoduri,
exzentrisch in schlechtem oder gutem Sinne gewesen.
Peter der Große pflegte den Adligen, die sein Mißfallen
erregt hatten, einfach zu befehlen, daß sie fortan Narren sein
sollten. Von diesem Augenblick an muß der Unglückliche,
den die Verwandlung von des Zaren Gnaden betroffen hat,
allen Hofleuten zum Spotte dienen. Er mag noch so klug
und edel denken und handeln : er hat aufgehört Mensch zu sein
und ist und bleibt nichts als ein Gegenstand der Verhöhnung.
£r hat zwar damit das Recht erlangt, jedem die Wahrheit frei
heraus zu sagen, aber es braucht niemand seine Frechheit ernst-
nehmen, und es ist jedem anheimgestellt, den Narren zu schla-
gen und zu peitschen: dieser darf sich dagegen mcht auf-
lehnen^), darf sich nicht verteidigen, denn er ist kein Mensch;
er muß \ielniehr zu allen Srhlägen. die ihm zuteil werden,
Scherie machen, lustig sein, lachen, und die anderen zum Lachen
bringen, denn er ist ein Narr.
Bei seinem Aufenthalt in Amsterdam sieht Peter den be-
riihmtcn Spaßmacher Testje-Roen auf offener Straße vor dem
jubelnden Volke seinen Ulk treiben; der Zar will sofort diesen
Meister aller Narren als Hofnarren nach Rußland mitnehmen;
aber der Narr hat Verstand genug, um den verlockenden
Antrag glattweg abzulehnen. Peter braucht deshalb nicht un-
tröstlich zu sein, denn er hat der Hofnarren gerade genug.
Sie sind so viele, wenigstens hundert an Zahl, daß sie einen
Hofstaat für sich bilden und in Klassen abgeteilt werden
können.'} Da sind erstens jene, denen die Vernunft von der
Memoiren der Fürstin Dischkoff, zur Geschichtf cKr Kaiserin Katha-
rina II. Nebüt Einleitung von Alexander Herzen. Hamburg 1857. I 125.
2) Vgl. avstühzUchiniM b«i Weber a. O. — Jakob von StahUn, Origüial-
anekdoten von Peter dem GcoOea. »70 und 320. — Bexghols' Tagebudi bei
Büsdunj; XIX 123 und 131. — WaUszewsld, Pierre le Grand. 167 und 460. <—
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— 369 —
Natur versagt wurde. Peter läßt sie auf seine Kosten verptiegen
und bei Gelegenheit seinen Russen vorführen, um diesen den
l'nterschied zwischen Vernünftigen und Unvernünftigen klar-
züUiachen. Die zweite Klasse besieht aus J.euten, die sich
durch eine Dummheit im Dienste unsterblich blamiert Iiaben ;
sie müssen eine >iarrenjacke, einen Narrenkolben und Schellen
tragen, ob sie auch die Vornehmsten im Reiche sein mögen;
ihr Los soll die anderen lehren, von der Vernunft den richtigen
Gebrauch zu machen. Die dritte Klasse besteht aus freiwilligen
Narren, nämlich aus Männern, denen eine Strafe drohte und
die sich närrisch stellten, um dem Unheil zu entgehen. Die
letzte Klasse bilden die jungen Leute, die Peter zu ihrer Aus-
bildung nach Europa geschickt hatte, die aber nichts lernen
wollten und so dumm blieben als zuvor; zur Strafe wurden
sie Hofnarren.
Die berühmtesten Hofnarren Peters des Großen sind : Tur-
genjew, Schanskoj, Lenin, Schachowskoj, Kirsant je witsch, Da
Costa, Uschakow, Tarakanow, Sotow, Witaschij, Romadanows-
kij, Strechnjew, Golowin, Buturlin.
Uschakow war früher Offizier. Er erhielt einmal den Be-
fehl, Briefschaften des Generals von Smolensk an den kom-
mandierenden General von Kijcw zu überbringen. Er ritt
in rasendem Galopp Tag und Nacht und kam endlich nachts
an sein Ziel. Die Wache zögerte, ihn einzulassen ; da kehrte
er beleidigt um und ritt nach Smolensk zurück, um sich bei
seinem (jcneral über den Kijewer Waclitpostcn zu beschweren.
Das Kriegsgericht verurteilte Uschakow zum Tode. Aber Peter
fand seine Handlungsweise so dumm, daß er ihn zum Wirk-
lichen Hofnarren begnadigte.
Da Costa war ein getaufter portugiesischer Jude. Peter
gefielen seine Kommentare zur Bibel, er ernannte ihn daher ztmi
theologischen Hofnarren und verlieh ihm als Zeichen dieser
Floegds Gcachicbto dct (kotedc KomisclMii, bearbeitet voa EbeUag. 5. Auflage,
T.eipzig 1888 (Barsdorf). S. 299. — Heirmann bei Vockerodt, 18. — Halcui
I 518; II 15;. 269. 334; III R6. — Sadler, geistige Hinterlassenschaft Peters, iii.
Neetesnraooi, M^moires sur Catherine. 61. — Custine II 342; III 339. — Manstein,
MAmoires 338. ^ Vandal, Lonia XV et EUsabeth de Rmsie. ;6. — Breton,
KoBkiid. IV 38. Bemhaxd Stern, Die Romanow» I. eistea KapiteL
Slera, GcMlifebt» der efhntL SltiBdikeft In RttSUad. 04
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V
— 370 —
Wurde den Titel eines Hcriu von Samoroe, einer unbewohnten
Sandinsel im Finnischen Meerbusen, die eigens für Da Costa
2u einer Grafschaft erhoben wurde. Da Costa hatte bei Tafel
darauf zu achten« daß fleißig auf die Gesundheit dea Iwan
Michajlowitsch, das heißt: der russischen Flotte, getrunken
wurde. Für jede Vernachlässigung seiner Pflicht drohte ihm
eine Tausendrubelstrafe.
Ein anderer Hofnarr führte dentTitel König der Samojeden»
und XU semer Krönung wurden 24 Renntiere und 24 Samojeden
nach Petersburg gebracht. Zuweilen spielen die Hofnarren
auch ernste Rollen. Ein Sdiers ist es noch, wenn 1692 bei den
Manövern unter der Kavallerie eine Eskadron von Zwergen
dahergeritten kommt; aber 1694 erscheint auf dem Schlacht-
felde während des Kampfes eine Kompagnie von Kirchen-
Sängern unter dem Konmiando des Hofnarren Turgenjew als
Hilfstruppe. Peter der Große liebt eine derartige Verquickung
von Emst und Narreteien. Das neue Jahr hatte in Rußland
früher mit dem i . September begonnen, Peter führte die
europäische Rechnung ein. Darob Entsetzen im Volke. Am
I. Januar, sagten die einen, gab es ja keine Äpfel, mit denen
Eva den Adam hätte verführen können ; und wie sollte der
1. Januar der erste Tag des Jahres gewesen sein, da vor Er-
schaffung des Menschen alles zur Ernte reif gewesen sein
mußte. Die Frommen, die in Peter den Antichrist sehen, halten
diese Zeiianderung für ein nchugcs Teufelswerk. Aber der Zar
läßt sich nicht einschüchtern imd veranstaltet justament am
I. Januar 1700 im ganzen Reiche mythologische Festspiele zur
Feier der Jahrhundertwende, um das Volk mit einem Schlage
in die neue Ordnung hmeinzubruigen. Eine ähnliche Methode
verfolgt Peter, um seine Russen an den Gwucli des Pulvers
imd den Lärm der Kanonen zu gewöhnen : er läßt jeden Augen-
blick dn k<dossales Feuerwerk abbrennen, und wenn dabei
hier und da Menschen verunglücken, so macht dies nichts
aus, denn im wiiklichen Krieg kommen auch nicht alle aus
dem Getümmel mit geraden Gliedern davon,
Die RoMfla babn sich trotadem mit dem Effekt eines Penenrerks
laufe aiditbslrattiMkttköoiMa. Bei einsm Fetten da« die Auin Amw I^ronowui
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- 371 -
Mit aller Gewalt reformiert Peter sein Volk. Durch eiji
Cxesetz ist man gezwungen, ein Gesellschaftsmensch zu werden.
Ks ist gewiß einzig in der Weltgeschichte, daß man durcli
kaiserlichen Befehl zu einer bestimmten Stunde in ein bestimm-
tes Haus zu Gaste geladen wird und dort erscheinen muß,
wenn man sich nicht einer Strafe au:>scizen will. Eine Strafe
trifft auch den Hausherrn, der seinen Gästen entgegengeht;
denn dch Zaren Lehre vom gulea Ton hat ein für alle Mal
festgesetzt, daß jeder Gastgeber seine Gäste an der Tür des
Salons empfangen müsse. Persönliche Einladungen werden
nicht ausgeschickt Bie Etikette setst fest, welche Rangklasaen
an diesen oder j^ien Ass^bleen teilzunehmen haben, und
Tag und Ort dieser oder jener Reunion werden in Petersbtirg
vom Poliaeimeister, in &(os|cau vom MUitärkommandanten durch
Aflichen an den Straßenecken bekanntgegeben.
Der Zar führt einen harten Kampf 'mit dem Klerus und
hat den Mut, nicht bloß das Patriarchat einfach absuschaffen,
sondern die Geistlichkeit obendrein zu verhöhnen. Er ernennt
den Hofnarren Sotow zum Phantasie-Erzbischof von Preßburg^},
zum Patriarchen, schließlich zum Papst; er betitelt ihn: Heiliger
Vater, laßt ihn feierlich krönen und setzt ihm eine Mitra,
auf der ein obszöner Bacchus als Schmuck prangt, auf das
greise Haupt. Eine Truppe Bacchanten führt den Zug an,
mit dem der gekrönte Papst das Konklave, eine Gesellschaft
von Trunkenbolden, die bei der Papstwahl als Kardinäle figu-
rierten, verläßt. Kurz zuvor ist zum Schrecken der Frommen
das Tabakrauchen gestattet worden. Um die zürnenden Ortho-
doxen zu verhöhnen, tragen einige Narren bei einer Maskerade
auf ihren Hüten Pakete rauchenden Tabaks; und aus dem
im Februar 1740 vcrnnstalteto. ^ah es infolge eines Feuerwerks eine furcht-
bare Panik unttT dein zuscliaueudeu Volke. Die offiziöse Pctersburt^er Zeitung
brachte über diesen Vurfall folgenden gemtitvollen Bericht: „tin blinder
Sehreck«n «rgriff iSa Menge, als das Feoenrerk lospnsMÜte. Man sah d« in
Vcmreiflniig mch allea RichtwigiBn flSchten, yna die Pmda und das Amflaa»
ment der hohen Persönlichkeiten des Hofes Ihrer Majestät, die als Zeugen dieses
Schauspiels auf dem Balkon des Palastes standen, außerordentlich erhöhte."
1) So hieO die kleine Festung, die Peter als Knabe in der Umgebung
Medcana ffir adne Kriegsspiclerrieo batte eczichten tassan.
24*
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— 372 -
feierlichen Anlaß der Hinrichtung von 150 Streljzen erscheint
der Ps^eudopapst Sotow unter einer Festversammlung bei Hofe
und segnet die Anwesenden mit der Tabakspfeife wie mit einem
Kreuze.
Die von dem Augenblick und der Laune geschaffenen
Narrenwürden bleiben dauernde Einrichtungen. Die Maske-
raden wiederholen sich alljährhch. In der Butterwoche des
Jahres 1724 spielt sich auf offener Straße eine besonders furcht«
bare Orgie ab. Der Zar erscheint mit einem Cort^ge der ärg-
sten Trunkenbolde, welche die von ihm ernannte Narr- und
Saufbrüderschaft ^) bilden, und mit einer Schar trunkener
Frauen. Der Narr Golowin, ein achtzigjähriger Greis aus vor-
nehmer Familie, erhält vom Zaren den Befehl, im Zuge als
Teufel EU figurieren. Der Alte will nicht ; da bemächtigt man
sidi seiner, zieht ihn vollständig aus und stülpt dem Nackten
bloß eine Teufelsmütze auf den Kopf. Im Adamskostüm muß
der Alte eine Stunde lang auf dem Newaeise stehen; er bricht
endlich zusammen und stirbt.
Eines Tags wird der Papst Sotow verheiratet und seine
Hochzeit mit großem Gepränge gefeiert; es erscheinen zum
Feste nicht bloß Dutzende Pseudo Geistliche, sondern auch
Pseudo-Äbtissinnen und l'scudo-Nonncn. Nach dem Tode So-
tows wird der Narr Buturlin zum neuen Papste gewählt ; er
muß sich aber gleichzeitig mit des alten Papstes Witwe ver-
mählen. Er und sie befinden sich schon längst im Greisenalter ;
um so lustiger. Im Inneren der Pyramide, die sich vor dem
Senatspalast erhebt, wird das Brautbett aufgestellt. Bei der
Hochzeitsfeier wird aus Gläsern getrunken, deren Formen ge-
treu den Penis und die Vulva wiedergeben. Zum Schluß legt
man die beiden betnmkenen Alten entkleidet in das Bett,
und durch ein Fenster an der Pyramide ist es der Menge er-
laubt, dem köstlichen Augenblick beizuwohnen, wo der Papst
seine ihm soeben angetraute Gattin beschläft.*)
') „CyMacßpooiitttiiiitt, »ciüiiyrtitmitt 11 Bcernjintirtiuift coöopfi." : der allerver-
räckte'ite, aüerdfimmste und aUenrenofienste Rat VgL GeneBCfcifl, Onefm II*
280 H npi«i.
•) Der PftpstnAiT ist keine imnielie Erfindung. In Aaieitt gab «• im
eechxebnten Jahrhnndet emea von den dortigen Geistlichen gew&hlten Papst
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— 37S ~
Diese Phantasiekönige, Fürsien, Päpste, diese Narren und
Komiker haben neben ihren Faschingsämiern zuweilen ganz
wichtige staatliche Stellungen inne: Der Narr Golowin ist Chef
der Admualuät. Von Turgenjew haben wir schon früher ver-
nommen, daß er im Kriege seinen M.tiui stellen muß. Der
Papst-Narr Sotow ist Großsiegelbewahrer. I' ürbt Romadanows-
kij, Vkekaiser und König von Preßburg aus dem Stegreif,
dessen Titel und Faschingswürden sich ordnungsmäßig auf
seinen Sohn vererben, hat die Aufgabe, wenn der Zar ab>
wesend ist, aUe auszuspionieren und dem Herrscher allergeheim*
sten und allergetreulichsten Bericht zu erstatten.
Eine Unterabteilung der Hofharren sind die Zwerge, die
seit jeher und noch heute den Gegenstand der Amüsements
der russischen Großen bilden. Mentschikow gibt 1710
aus Anlaß der Vermählung der Prinzessin Anna Iwanowna,
Nichte Peters des Großen, mit dem Herzog von Kurland ein
Festmahl, bei dem zwei riesige Pasteten aufgetragen werden.
Aus den Pasteten steigen zwei Zwnge hervor, und sie tanzen
in der Mitte der Tafel ein Menuett. Im selben Jahre &idet
in Petersburg, ebenfalls zu Ehren der Prinzessin Anna, eine
Zwergenhochzeit statt, an der sechsuncldrr ißig Zwergcnpaarc
teilnehmen. Drei Jahre später veranstaltet Prinzessin Nathalie,
Peters Schwester, die Iloch/eitsfeier zweier ihrer Lieblings-
zwerge; 93 Zwerge aus allen Teilen des Reiches werden zu
dem Feste als Gäste herbeigeschafft. Im Januar 17 15 stirbt
ein Zwerg, den Peter besonders geliebt liat. Man veranstaltet
ein feierliches Begräbnis. Vier Popen und dreißig Kirchen-
^ger gehen vor dem Sarge her, der auf einem von sechs
der Narren; 154« wurde der Spaß vcrbotiTi In Chartres wurden bis zum An-
iang des sechzehnten Jahrhunderts in den ersten Tagen eines jeden Jahres
von den Kuttanu dnj^pi-fol, ein Papst dar Namii, und Kardinäle gleicher
Art gewShIt. Die Idfinche von Loon ernannten einen ans ihrer Mitte tum
Patriarchen der Narren. Man sehe weitere Parallelen bei Dinaux und Brunet,
Les soci6t6s badines, bacliiqnc?;, Ittt6raires et chantantes, leur histoire et leun
travaux, Pari<t i«'^?, T 334. — Floegel, 1. c. 55. 290 ff.
Diese seltsamen Feste sind schon so oit geschildert worden, daß ich sie
Uer nicht ausführlicher zn «rxählen brauche. Man vgl, Bemhaid Stern, Die
Romaaows I, erste* Kapitel: «od FUgd. Geschichte der Hofnarren. 534—529.
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1
winzigen Rappen gezogenen W'urstschlitten ruht. Hinter dem
Schlitten kommen alle Zwerge, die man hat auftreiben können,
in schwarzen Kleidern; zum Schlüsse der Zar mit seinen Mi-
nistem und Offizieren. 1)
Die Zarin Anna Iwanowna, bei deren Hochzeitsfeier die
Zwerge en masse aufmarschieren mulMen. ist eine besondere
Freundin von Narren, Zwergen und Mißgeburten aller Art.
An ihrem Hofe wimmelt es von Krüppeln ; die Bcsnogije und
Gorbuschy-j sind die wichtigsten Persönlichkeiten. Wenn eui
Gouverneur sich die Gunst der Zarin sichern will, schenkt er
ihr einen ekelhaften Neger, eine bucklige Tscheremissin oder
einen häßlichen Kalmücken. Besonderen Spaß macht der
Kaiserin folgendes oft wiederkehrendes Spiel: Ein Tdl der
Narren muß sich mit dem Gesichte zur Wand aufstellen, dann
tritt eine andere Gruppe heran und schlägt im Takt mit den
Fußsohlen auf die Hinterbacken der Vordermänner. In Nach-
ahmung des Trinker- und Narrenkonseils Peters des Großen
will auch Zarin Anna einen Narrenorden vom heiligen Benno
als Karikatur des Alexander-Newskijordens gründen. Sie hat
aber doch nicht den Mut des Oheims und läßt den Plan aus
Angst vor dem Zorn der Kirche fallen.
Die Narren und Närrinnen genießen Redefreiheit gegen-
über den höchsten Personen, nur der Kaiserin dürfen sie nicht
nahetreten. Wir finden am Hofe Aimas manchen alten Bekann-
ten wieder : Vor allen Da Costa, den portugiesischen Juden, den
der russische Resident in Hamburg einst Peter dem Großen
mitgebracht hat ; imd noch andere. Neben den alten aber viele
neue originelle Käuze. Wie Iwan der Schreckliche und Peter
der Große liebt auch Anna Mitglieder der höchsten Aristokratie
zu Hofnarren zu machen. Die vornehmsten Famihcn des
Reiches, die Apraxin, Wolkonskij und Galitz- n n-.ii^sen der
Spaßwul der Kaiserin einen Tribut, eine wahre Blutsteucr ent-
richten: Fürst Nikita Fedorowitsch Wolkonskij steht im Rufe,
daß er auf seinem Landgute wie ein Sonderling lebe; die Zarin
Memoire^ pour servir k rhistoire de l'empire nusiea sous Pierre le
Grand par un Mimistre etranger, 1725, p. 114.
") BesHoriit, ein Mentch obn« FBfie; ropSym», «ne Bucklige,
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- 376 -
befiehlt ihm, bei Hofe zu erscheinen, und macht ihn zum Hof-
narren. Ähnlich ergeht es dem Crafen Alexe] Petrowitsch
Apraxin, der mit einer Prinzessin Galitzyn verheiratet ist. Auf
eine merkwürdige Weiso gelangt auch der Schwiegervater
Apraxins zu der Würde eines Hofnarren: Fürst Galitzyn reist
nach dem Tode seiner Frau nach Italien, tritt dort zum Kathoh-
zismus über und heiratet ein einfaches Mädchen aus dem
Volke. Dann kehrt er nach Moskau zurück und lebt hier in
aller Stille, sowohl seine zweite Frau aus Ijfersucht, als seine
Konversion aus Furcht vor Strafe geheimhakend. Aber das
Geheimnis wird enthüllt und die Kaiserin erfährt davon; sie
befiehlt, den Fürsten und seine Frau vorzuführen. Beim An-
blick des zitternden Paares bricht sie in ein schallendes Ge-
lächter aus und jubelt: diesem Manne gebühre der Vorrang
vor allen Narren der Welt. Dem Grafen Ssaltykow» dem sie
die Bekanntschaft mit Galitzyn verdankt, schreibt sie: ,,Der
hat mit seiner Dummheit alle geschlagen; wenn Sie noch
seinesgleidien finden, will ich sofort davon verständigt sein."
Die Zarin erklärt Galitzyns zweite Ehe und seine Konversion
für ungültig; seine Italienerin wird einfach dem Elend ausge-
liefert, so daß sie eines Tages, weil sie nicht drei Rubel für
ihr Logis bezahlen kann, auf die Straße hinausfliegt und unter-
geht; der Fürst selbst aber wird zum Hofnarren und Knjäs-
Kwaßnik, zum Obermundscbenk für den Kwaß, ernannt. Die
Kaiserin ist mit ihrer Erwerbung außerordentlich zufrieden,
und zum Zeichen dessen befiehlt sie dem Fürsten, fortan kein
Mensch, sondern eine Henne zu sein! Von diesem Augen-
blicke an muß Fürst Galitzyn im Gemache der Zarin stets
in einem mit Eiern gefüllten Korbe wie eine Henne sitzen
und gackern ; bei Todesstrafe ist es ihm verboten, menschliche
Laute auszustoßen, Wenn die Kai'-erin zur Kirche fährt,
muß Galiuyn sich rückwärts auf den Wagen hocken und auf
dem ganzen Wege zum Gaudium der Zarin und des Volkes wie
eine Henne gackern.
Seltsam ist auch die Karriere des Hofnarren Balakirew.
Er war zur Zeit Peters des Großen Schreiber in einem Kloster,
^) McmciieD der Fütntiii Daschkow I i ^5.
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— 376 —
später Studiosus der Ingeuieurwisscnschaft und schließlich im
Hofstaate der Kaiserin Katharina angestellt gewesen. In seiner
letzten i,igens( liaft verwickelte ersieh in die Affäre der Kaiserin
mit ihrem Liebhaber Möns, und als diesen des Kaisers Rache
traf, wurde auch Balakirew der Inquisition ausgeliefert, ge-
peitscht und zu lebenslänglichem Bagno verurteilt. Katharina I.
aber vergaß ihn dort nicht ; kaum war sie zur Selbstherrschaft
gelangt, als sie Balakirew die Freiheit gab. Anna übernahm
ihn in ihren Hofstaat und machte ihn zum Hofnarren.
Ein anderer Hofnarr, Pedrillo, ein Neapolitaner, der eigent-
lich PietrO'Mira hieß, war als Sänger-Bouffon und erster Violi-
nist an die italienische Oper in Petersburg engagiert worden.
Eines Tages zerschlug er sich mit dem Orcbesterchef, und es
blieb ihm nichts anderes übrig, als unter die Hofnarren zu
gehen. Er mußte gewöhnlich beim Kartenspiel für die Kaiserin
Bank halten, und das Sprichwort wurde wahr: der Narr hatte
Glück und gewann ein Vermögen. Seine Frau war von außer-
ordentlicher Häßlichkeit ; als Anna ihn fragte : ,,Hast du wirklich
eine Ziege geheiratet?" entgegnete er: Tatsächlich; und sie
wird nächstens gebären. Ich hoffe, daß Ew. Majestät sie be-
suchen und nicht die üblichen Gesrlienke vergessen werden."
Die Zarin ging auch richtig mit dem ganzen ilofstaat hin, und
man fand Pedrillo im Bette, an seiner Seite eine große, niil
Bändern unrl Spitzen geschmückte Ziege als Wöchnerin. Die-
ser Narr verstand das Geschäft. Die Kaiserin schickte ihn
mehrmals ins Ausland, um Sänger und Sängcrirmen zu enga-
gieren, Schmuck und Möbel einzukaufen, und er wußte dabei
seinen Vorteil wahrzunehmen. Die Schwatzfreiheit, die ihm
als dnem Narren am Zarenhofe gestattet war, glaubte er aus
dem sicheren Hinterhalte an der Newa heraus auch gegenüber
fremden Fürstlichkeiten mißbraudien zu dürfen. Als 1735
Spanier Toscana besetzten, schrieb Pedrillo an Gaston de Medt-
cis einen Brief, worin er ihm im Namen der Zarin 15000 Ko*
saken Hilfstruppen versprach „für eine konvenable Quantität
Danziger Schnaps von jener Sorte, an der Ew. Hoheit sich
in Böhmen zu betrinken pflegten."^)
1) Waliasewsld, L'h^tag» de Pierre le'GraiMl. 367.
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Neben den offiziellen Narren gibt es freiwillige, die sich
durch ihre sogenannten Späße in die zarische C,unst einschmei-
cheln wollen : zu ihnen zählt der alte Generalleutnant Ssalty-
kow, der durch seine unübertrefflichen Gliederverrenkungeu
der Kaiserin stets ein unstillbares Lachen verursacht.
Die Spezialität des Hofes der Kaiserin Anna sind die När-
rinnen. Aus Kurland hat sich die Kaiserin als ihre Haupt-
favoritin die Frau Anna Iwanowna Juschkow mitgebracht, deren
wichtiges Geschäft es ist, der Zarin die Fußnägel su schneiden.
Anna ißt leidenschafttich Schweinebraten mit Essig imd Zwie-
bel; eine Kalmückin von abscheulicher Häßlichkeit versteht
diese Leibspeise der Herrscherin am besten zuzubereiten, und
da die Köchin beim Präsentieren des Bratens die entsetzlichsten
Grimassen schneidet, erhöht sie der Herrin den Genuß und
erwirbt sich den Rang einer Hofnärrin. Diese Närrin, Anna
Iwanowna geheißen wie die Zarin selbst, wird nun auf Befehl
der Kaiserin mit dem Narren Galitzyn vermählt, und ihre
Heirat gibt im Winter 1740 Veranlassung zu dem berühmtesten
russischen Narrenstück, m der Errichtung des Palastes aus
Eis'), der nach allen Regeln der Architektur aus mächtigen Eis-
quadem hergestellt wurde und wie aus einem einzigen Stücke
gemacht schien. Vor dem Gebäude standen sechs Kanonen
aus Eis auf Lafetten von Eis: es wurde aus diesen Kanonen
mehrmals mit eisernen Kugeln geschossen. Am Eingang des
Eispalastes befanden sich zwei Delphine aus Eis, aus deren
Rachen des Abends brennende Naplita floß. Im Hause selbst
gab es Treppen, zahlreiche /;in[ner. Galerien aus Eis. Die
Fenster waren aus dünngeschabicm Eise gemacht. Bei Nacht
wurde das Haus illuminiert. Auf den Tischen aus Eis standen
Uhren, Spielkarten, Spielmarken, Geschirre — alles aus Eis.
In diesem Eispalaste feierte Galitzyn seine Hochzeit mit der
Kalmückin, und in der Hochzeitsnacht mußte er mit seiner
jungen Gemahlin in einem Bette aus Eis schlafen.
1) Wahrhaffte und UmstJLndUche Beschreibung und Abbildung des im
Monath Januarius 1740. in St. Petersburg aufgerichteten mcrckwürdigen
Hauses von HiO. mit dem in demselben beiindlich gewesenen Haußgerätbe;
d«n liebhabera der Katttr-G4Mcliicbte mitgetimlt von Georg Wolffgang Krafft
»74». 4*.
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Eine bemerkensw trte Trupjw am Hofe der russischen
Zarinnen des achtzehnten J.ilii liuiideris bilden die zahli* i< hcn
offiziellen Fußsohlenkit/lerinnen. Die russi.sc hen Frauen hatten
seit jeher in ihrem lerem Sklavinnen, deren einzige Pflicht es
war, der Herrin die Fußsohlen zu kitzeln, um ihr Wollust zu
bereiten. Anna Iwanowna erhob dieses Amt zuerst zu einer
offiziellen Hofwürde. Die Regentin Anna Leopoldowna, die
Braunschweigerin, die nach dem Tode der Zarin Anna Iwa-
nowna für das Widcdkind Iwan die Herrschaft führte, hatte
in ihrem Alkoven nicht weniger als sechs offizielle Fußsohlen-
kitzlerinnen, die der Fürstin um die Wette Vergnügen zu be-
reiten trachteten. Während diese Frauen die Sohlen kitzelten,
erzähhen sie auch schlüpfrige Geschichten und sangen obszöne
Lieder. Bei der Zarin Elisabeth bilden die Kitzlerinnen ein
großes Korps, das unter Aufsicht eines besonderen Beamten,
des ehemaligen Ofenheizers und späteren Generalleutnants Was-
silij Iwanowitsch Tschulkow steht; Tschulkow hat am Hofe
Elisabeths die Stellung eines Kammerherm; seine spezielle
Pflicht ist es, allabendlich seine Matratze vor dem Bette Elisa-
beths auszubreiten und /.u ihren Füßen zu schlafen, ganz gleich,
ob die Zarin in ihrem Bette allein liegt nd^r Gesellschaft hat.
Die Kitzlerinnen besitzen nicht geringeren Emlluß als die Günst-
hnge, ja ott muü eui Liebhaber, um sich dauernd in der Gunst
der kaiserlichen Maitresse zu erhalten, die Hilfe einer Kitzlerin
in Anspruch nehmen. Der Günstling S( huwalow liringt seine
eigene Schwester Elisabeth Iwanowna aul einen dieser wich-
tigen Pusten, damji er in ihren Schwätzereien jederzeit eine
Stütze finde, lülisabeth Iwanowna weiß ihre Stellung so vor-
trefflich auszunützen, daß ein Zeitgenosse sie den eigentlichen
Minister des Äußeren nennt. Später erhält sie eine scharfe
Konkurrentin in der Person der Frau Wonmzow, der leibhaft
tigen Gemahlin des durchlauchtigsten Großkanzlers. Diese
kitzelt der wollüstigen Zarin die Sohlen und erfreut sie noch in
manch anderer Weise, um dann von der in Verzückung schwel-
genden Frau nicht bloß Gnaden für den Gatten zu erbitten,
sondern auch Vorteile für den englischen Gesandten zu er-
haschen, der durch seine Freigebigkeit den mit ihm kon-
kurrierenden französischen Gesandten Marquis de THÖpital leicht
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— 379
besiegt. Auch die übrigen Kitzlorinnen entstammen größten-
teils der vornehmsten Gesellsclmit : so Mawra Jegorowiia
Srhepekjew und Maria Bogdanowna Golowin, die Witwe des
Admirals Peters des Großen. Die Golowin führt auch den
besonderen Titel : X Kiapsweib, weil sie hauptsäch-
lich die durch Ausschweifungen erschöpfte Zarin durch Klap-
sen auf den kaiserlichen Hintern m erfrischen hat.^)
Der IrtTite russische Hofnarr, der diesen Titel offiziell
führte, war Aksakow ; er nalun ein böses Ende. Er erlaubte
sich einmal mit der Kaiscrui Elisabeth einen Scherz zu machen,
indem er aus seinem Hute ein Stachelschweinchen herausfallen
ließ. Die Kaiserin hielt das Tier für eine Maus und flüchtete
schreiend; Aksakow wtirde der Geheimen Kanzlei überliefert
und zur Strafe der Tortur verurteilt, „weil er Ihre Majestät er-
schreckte/'Katharina IL schaffte die Institution der Hof-
narren ab; aber sie hatte doch^ wenn auch mehr keine offi-
ziellen Titulare dieser Würde, einen Lustigmacher in der
Person des Leo Naryschkin, der ihr in seinen Taschen stets
aUetlet Kleinigkeiten, Süßigkeiten, Spielereien mitbringen
mußte ; und eine alte Plaudotasche, Matrona Danilowna, die
das Recht hatte, den Höflingen die größten Frechheiten ins
Gesicht zu sagen. Nicht-offizielle Hofnarren und Hofnärrinnen
finden wir am Zarenhofe noch bis in die jüngste Zeit.^) Aber
sie spielen nicht mehr die wichtige Rolle, wie namentlich im
> ) Dm Vcrgleicbes halber lese man folgende Stelle aus Flögels Geschichte
dpr Hofnarren, Liecrnitz und Leipzig 1789, S. 120 (Von den Lustigmachern
bei den Griechen und Körnern): „Es haben nicht allein Männer ihre Schmarotzer.
Mndeni auch Franen Um PteMitinnm ^liabt, als die KiSnigiimen in Sytien
und Cypern, welche Leitern geoannt woiden, weil sie ihren Ftenen den Rflckea
darbothen, daß sie sich dcßclben als einer Leiter oder Stiege bedienten, wenn
sie auf den Wagen stt igen wollten. In Maced^nien wurden sie tu schändlichen
Verrichtungen gebraucht {iffiflade;). Andere Frauenzimmer bedienten sich,
in Ermangelung menachüchcr Spafimacher, gewiaiiei' Tfaiere. womit tie rieh die
Zeit vertrieben."
«) Catherine II. M^moires. Londres 1859. 115.
• ) Per r.roßfiirst Konstantin Pawlowitsch, der Diktator Polens, hatte
einen Affen als Spaßmacher. Einmal ergriff der Affe eme Flinte uuü schoß
auf den Großfünten, der nur durch eine schnelle Bewegung der Kugel entging.
VgL HaiTing. Memoiren Aber Polen, Deutschland 1831. S. 61.
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Laufe dos achtzehnten Jalirhunderts. Die Französierung Ruß-
lands machte unter Ehsabeth schon, dann aber unter Katha-
rina II. solche Fortschritte, daß die Gesellschaft sich der allen
moskowitischen Narrensitten und Maskeraden zu schämen und
europäisch zugeschnittene Unterhaltung«! und TSmx, elegante
Balle und vornehme, wenn auch langweilige Komödien zu be*
suchen begann.
22. Tanz und Bälle.
Tanzen Ketzerei — Ein geplanter BbII als Zarcnstürzer - Peters Reformwerk —
Poli/inten müssen Tänzerinnen bringen ~ Peter cUt (iroUe als Tanzmeister —
Zercraonialtänzf — Am Hole der Zarin Anna — Rasumo^^-skijs Tanzstunden —
ToUettenlttXttS der Kaiserin EUsabeih — Ana den Erinnerungen der Kaisnin
Katharina — Maskenbälle -» Am Hofe Katharina» — Stobc der Adelifea —
Geschichte des russischen Klubweseo* — Paul verbietet Tanzen und Klnba —
Neues Leben unter Alexander I. — Ball und Politik — Der Herzog zu Vicenzia
und Frau Wladek — Kaiser Alexander und Naryschkin — Sittenlosigkeit
auf den BftUen der Vomehmen — Nikolajs I. Sittenstrenge Etikette —
Der Bart des Orchesterdirektors — Tanswut der Kaiserin Alexandra — Ibtha«
rina Dolgoruckij auf den Hofbällen — Volkstänze — V()lkss]iiL'le — Der Tauben«
tanz — Sexueller Charakter der Nationaltänze — Scluimki oder Tanzhrauser
der Koeaken — Obszöne und erotische Tanzlieder aus der Ukraine — Der
Text der Kamarinskaja — Der Krenichtana — Der Chaliahdratanz — Pnl>
ttischer NationaUanc — Tänse der WotjSken und KaUnftcken — Tartariscbe
und tscbwkessiscfae Tänte.
Der Tanz im alten Rußland konnte infolge der strengen
Trennung der Geschlechter nur eine Unterhaltung der niede-
ren Volksklasscn sein. Der Kirche und den (~)rthodoxen war
Wissenschaft Ket/erei, Kunst ein Verl)rechen. Musik und Tanz
eint Entheiligung des Glaubins. Die Polin Marina, die Ge-
mahlin des Pseudo-Dmitrij, l>eschleunigte selbst den Sturz und
die Ermordung des falschen Zaren dadurch, d ib sie im ehr-
würdigen Kremlpalaste einen polnischen Bail veranstalten
wollte.^} Erst Peter der Große sah auch in der F.inführung der
ßälle nach europäischer Art ein kulturelles Reformwerk. ¥.r
zerriß mit rauher Hand die Traditionen und zwang die Ehe-
1) Karamsin. deutsche Aasgabe X 238.
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— 381 —
männcr, ihre I'"rauon aus dem Tercm zu befreien, in die
Gesellschaft zu schicken und in den Armen fremder Männer
herumdrehen zu labsen. Die Frauen folgten zumeist wiUig
und freudig dem zarischen Befehle. Aber es gab auch manche,
die aus Furcht vor dem eifersüclitigen Gatten, aus Angst vor
der Strafe des Himmels oder aus bloßer Trägheit mit den
alten Gewohnheiten der Abgeschlossenheil hinter vier Mauern
und der Scheu vor fremden Männern nicht brechen wollte.
Diese Ängstlichen und Zögernden wurden von der Polizei ab-
geholt und gewaltsam in den Tanasaal geschleppt.
Lefort, der Lehrer und maitre de plaisir des jungen Zaren,
hatte in seinem Palaste in der Sloboda zu Moskau einen Ball-
saal einrichten lassen, der 1500 Personen fassen konnte. Die
ersten Bälle müssen gar kurios gewesen sein.' Die Bojaren und
ihre Frauen hatten sich von ihren Leibeigenen und Sklavinnen
zwar oft etwas vortanzen lassen, aber selbst nicht getanzt, Zur
Not könnten sie nun wohl einen Nationaltanz nach dem Muster
ihres Gesindes nachhopsen, aber Peter verlangt von ihnen
gleich europäische Zeremonialtänze nach allen Regeln der
Kunst. Da bleibt schließlich dem Zaren nichts anderes übrig, als
selbst den Tanzmeister zu machen und seine Russen tanzen zu
lehren. Noch lange nach der Gründung von Petersburg sieht man
Peter den Großen als Tanzmeister Bälle eröffnen, der Gesellschaft
vortnnzcTi. und alles macht im Takte die Bewegungen und Ver-
renkungen des hohen Herrn nach. Während man aber beim
Tanzen selbst die Regeln streng beobachten muß, darf man
die Etikettefragen ganz außer acht lassen. Der Kaiser ergreift
die erstbeste Frau, die ihm gefällt, und dreht sich mit ihr, bis
pr genug hat; so steht es auch jedem der Gäste frei, die
Kaiserin ohne weiteres zu einem Tänzchen aut/.uf ordern.^') Nur
für die Hochzeitsfeste der Vornehmen hat der Zar genau fest-
gestellt, in welcher Reihenfolge und was für Tänze man tanzen
müsse : Sobald die Tafel aufgehoben ist, so befahl die kaiser-
*) Reise nach Norden /anno 1706. S. 155: ,,Die Russen können nicht
tantzcn / und lialteii dafür / ilcr Tantz komme ihrer Gravität nicht zu /doch
gcschiehet es zu weücn / daß sie mitten in einer Debauche ihre Tartarische
und Polnische Sclaven tantzen lassen".
•} Becghols bei Bfiaching XIX 135. 154 und 170.
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liehe Instruktion, tanzt zuerst dir Horhxeitsmarschall mit d<'r
Braut, während die zwei ältesten Schaffer die Brautmutter und
Brautschwester engagieren. Diese drei Paare tanzen pohiisch.
nachdem sie vorlier einige Touren mit langsamen Sehritten
gemacht und im \'orbeitändehi der Gesellschaft ihre Reverenz
erwiesen haben. Dann tanzt der Marschall, der seinen Mar-
schallstab in der Linken hält, noch einmal mit der Braut,
während die Brautmutter und Brautschwester von zwei anderen
Schaffen! engagiert werden. Hierauf tatizt der Br&utigam mit
der Braut^ der Brautigamsvater mit der Brautmutter, der Braut-
bruder mit der Bräutigamsschwester. Dann tanzen wieder
Bräutigam und Braut, femer die Bräutigamsmutter mit dem
Brautvater, und die Brautschwester mit dem .Bräutigamsbruder.
Schließlich tanzt der Vorschneider mit jeder Brautjungfer. Bei
allen diesen Tänzen muß der Marschall mit dem Marschall-
Stabe allein voraushüpfen. Nachdem die'Zeremonialtänze be-
endet sind, herrscht Tanzfreiheit.
Trotz des Eifers, den Peter persönlich auf diesem Zivili-
sationsgebiete entfaltet hat, können sich die Russen nur schwer
an die Bälle nach europäischer Art gewöhnen. Am Hofe der
Kaiserin Anna Iwanowna herrscht bei Bällen die größte Ver-
wirrung. Die Zarin hat zwar den französischen Ballettmeister
Landet eigens dafiir engagiert, daß er die Hofbällc arrangiere i),
aber der gute Mann kann nicht verhindern, daß mitten im
zierlichsten Menuett ein Unteroffizier der Garde mit seiner
Gattin, einem Kosaken u eibchen aus der Ukraine, einen feurigen
Schurawlj, einen schmachtenden Golubez oder einen phalli-
schen Zigeunertaiiz aufführt. Selbst die Kaiserin Elisabeth
Petrowna, der es gelungen ist, ihren Tartareiihof mit einer
brutal dicken französischen Schminke zu übermalen, muß
ihren heimlichen Gemahl, den ehemaligen Kirchensänger Ra-
sumowskij, in den Schäferstunden im Tannn unterrichten wid
ihm schließlich, da ihre Mühe umsonst ist, einen Franzosen,
der für den Zarenhof Ballette komponiert, als ständigen Lehrer
der Tanzkunst beigesellen.*) Im übrigen geht es bei Elisabeths
*) ISmob 3attjmBi>, (tciopii'iocide sooffi, II 447.
*) WaUaaemId, La demttre dea Roaumav, 51. 65; 40—43.
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~ 383 -
Hoffesten schon priiiik\oll genug lu. Die Zarin treibt einen
unerhörten Toilettcnkixus. Als Großfürstin war sie knapp ge-
halten gewesen, nun huli sie alles fieboiiiati. iiastig nach. Sie
braucht viel, dcjui sie ist sehr dick, schwitzt furchtbar und
muß während eines Balles wenigstens dreimal die Wische und
die Kleider wechseln. Ferner zieht sie dasselbe Kleid nicht
gern viele Male an. So häufen sich in ihren Garderobeschrän-
ken ganze Magazine auf. Im Jahre 1753 veibrennen beim
Ausbruch eines Feuers in ihrem Moskauer Falais viertausend
Roben. In ihrem Petersburger Palais findet man nach ihrem
Tode 15000 Kleider, zwei Koffer vollgepropft mit Seiden-
strümpfen, tausende Taschentücher und hundert Stück noch
nicht angeschnittener Stoffe. Eigens dazu angestellte Hof-
beamte müssen auf die im Hafen ankommenden Schiffe auf*
passen und im Namen Elisabeths Hand auf die Nouveaut^s
legen, ehe andere Frauen sie zu Gesicht bekommen. Der rus-
sische Gesandte, der 1760 in Paris weilt, um die Beziehungen
beider Länder, die unterbrochen waren, wieder anzuknüpfen,
ver>Ä'endet seine meiste Zeit dazu, um Seidenstoffe mit den
neuesten Mustern aufzutreiben. Der englische Gesandte in
Petersburg, Lord Ilyndford, beschäftigt sich tagelang mit Mode-
blättern, um für die Zarin Stoffe aus England bestellen zu
können. Eine Merkwürdigkeit in der Garderobe Elisabeths
sind die zahllosen Männerkleider. Zweimal wöchentlich gibt die
Kaiserin in der Ballsaison Maskeraden ; sie hat von ihrem Vater
den Geschmack an Verkleidungen ererbt und liebt es, bei Hofe
in Mäjinertracht zu erscheinen, einmal alb liaiuösischer Mus-
ketier, ein andermal als holländischer Matrose, ein drittesmal
als Kosakenataman. Sie hat schöne Beine, und in Hosen
kann sie ihre Pracht zur Geltung bringen. Sie ist der Meinung,
daß die Mannertracht nur sie allein gut kleide, ihre Rivalinnen
aber nicht begünstige. Sie befiehlt deshalb, daß bei den Maske-
raden die Frauen alle in französischer Herrentracht, die Man-
ner in Frauenkleidem ersdieinen.^) Auch sieht sie sehr streng
darauf, daß die Modelle jener Kleider und Koiffüren, die sie
adoptiert hat, vollständig für sie reserviert bleiben, solange sie
>) Ittmoiret de Callieriiie II, 148.
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— 384 —
ihr gefallen: erst dann d.ui man sie nachmachen, wenn die
Kaiserin sie aufgegeben hat. Wehe der Unglückseligen, die
es wagt, mit Elisabeth zu konkurrieren, ihr den Preis der
ersten Schönheit im Reiche oder den Rang der geschmack*
vollsten Frau am Hofe streitig zu machen; die arme Frau
Lopuchin zieht sich aus solchem Anlaß den Zorn der Zarin zu
und wird dem Henker überliefert« der mit der Knute ihre
Schönheit in Fetzen reißt.
Eine glänzende Ballsaison ist der Winter 1745/46. Ruß>
land führt Krieg, aber am Hofe Elisabeths amüsiert man sidi.
Die Vornehmen sind gehalten abwechsdnd bald in diesem,
bald in jenem Palaste Maskenhalle zu veranstalten. Es vergeht
kein Abend ohne Fest. Tagsüber gibt es mn wildes Treiben
von Schneiderinnen« Modistinnen und Friseurinnen, und der
Tanzmeister fliegt von Palast zu Palast, um die Schönen die
neuesten Pas zu lehren. Abends um sechs beginnt die Reunion
mit einem Tanz für die Jugend und einem Kartenspielchen für
die Älteren. Um zehn Uhr geht man zum Büfett. An einem Tische
speisen nur die Kaiserin, ihr Neffe Peter, dessen Gemahlin
Katharina und einige Privilegierte ; die übrigen Gäste nehmen
das Souper stehend ein Nach dem lassen wird wieder ge-
tanzt bis zum frühen Morgen, i'.uie höfische Etikette wird
bei diesen Bällen nicht beobachtet. Die Hausherren und
Hausfrauen brauchen niemandem beim Eintritt entgegenzu-
gehen, niemanden beim Forlgehen hinauszubegleiten, selbst die
Kaiserin macht keine Ausnahme. Ja, es ist geradezu untersagt,
sich VOM den I'latzen zu erheben, wenn die Kaiserin plötzlich
in einen Ballsaal kommt, was häufig geschieht ; Elisabeth pflegt
sich bald bei einem Aristokraten, bald bei einem fremden Ge-
sandten selbst zum Ball oder Souper einzuladen.
Auch um die Weihnachtszeit 1750 geht es lustig her;
Katharina U. erzählt in ihren Memoiren^), daß bei Hofe Bälle
und Maskeraden miteinander abwechselten und des Tanzens
kein Ende war: „Um jene Zeit tanzte ich gem. Auf großen
Bällen mußte ich mich dreimal umkleiden. Mein Anzug war
immer sehr gewählt. Wenn auf einem Maskenball mein Kostüm
Seite 155.
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— 386 —
allgemein gefallen hatte, so zog ich es natürlich nie mehr an;
denn was einmal Effekt hervorgebracht, darf ztim zweiten
Male nicht mehr auf Wirkung rechnen. Auf Maskenbällen, wo
die Damen in Hcrrenkleidern und die Herren in Fraueiikleidem
{ rschienen, ti Li<; ich prachtvolle, auf allen Nähten gestickte
Kostüme, und die Kaiserin machte mir keine Vorwürfe darüber.
Ich muß bekennen. dal3 die Koketterie damals bei Hofe ganz
gebräuchlich war, und jede die andere durch Eleganz zu über-
treffen suchte. Ich erinnere mich, daß zu einem Maskenballe
sich alle Leute neue schone Kleider machen ließen, und ich
verzweifelte daran, sie übertreffen zu können."
i\ls Kaiserin ist Kailiarma durchaus nicht mehr so tanz-
lustig. Und iiajnentlich, seit sie älter geworden ist, zieht sie
den Kartentisch dem Ballsaal vor und veranstaltet in ihrem
Palaste lieber Gesellschaftsspiele als Tanxunterhaltmigeii. In
der Intimität ihrer Ermitage macht man lustige Verse, spielt
man Theater tmd treibt allerlei Ulk. Wer beim Pfänderspiel
verliert, muß zur Strafe ein Glas Wasser auf einen Zug hin-
untertrinken oder gar horribile dictu eine Passage aus TVed-
jakowskijs Telemach deklamieren ohne zu gähnen. Es gibt
selbskrerstandlich auch große Bälle, Galafeste, denn man ist
ja ein europäischer Hof geworden; aber da herrscht die kühle
Zeremonie; die Zeit der Tanzwut bei Hofe ist vorbei. Wie
der Hol ist audi die Gesellschaft fein liniiert und genau ge-
messen geworden. Die Adelig r in Moskau haben an jedem
Donneistag einen Ball des Adels, bei dem ein Bürgerlicher
nicht erscheinen darf; sein Eindringen wäre eine förmUche
Revolution, müßte einen Kampf auf Leben und Tod herv'or-
rulen. Diese Adeligen verachten das Bürgertum, das Volk,
mithin auch all« Nationale, tanzen nur Quadrille, Polonaise,
Anglaise und Menuett.
So bleibt das Bürgertum darauf angewiesen, sich selbst zu
sammeln 1770 entsteht in Petersburg der erste Klub, der
englische genannt, weil er zumeist von englischen und aus-
ländischen Kaufieuten der Hauptstadt begründet wurde. ^) 1772
*) Koostantinopel und St, Petersburg, eine Zeitschrift. Jahrgang iSos»
4. KMt, 8. 53S. ,
St«ra, Geaehtehte der «flima SltUtdikdC ia RaHand. 3«
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folgt die Eröffnung des ersten musikaUschea Klubs, 1776 die
B^^rfindung des Bärgerldul>s ; 1 783 konstituiert sich der Klob
der vereinigten Gesellschaft, gewöhnlich der amerikanische ge-
nannt; endlich kommen dazu 1785 der ältere Tafuldub und
1790 die neue bürgerliche Tanzgesellschaft. Außerdem gibt es
eine Menge englische und deutsche Ballgesellschaften. 1781
wird auch ein geldtrter Klub eröffnet, aber den paar Gründom
gesdlt sich kein einziges Kfitglied, -und die Pforten dieses Khibs
bleiben ewig geschlossen. Der verrückte Paul haßt alles, was
anderen gefällt. Vor allem wird der W'alzertanz als Staats-
gefährlich verboten, dann fällt man über die Klubs her, schon
das Wort Klub hat in den Ohren des wahnsinnigen Monarchen
einen aufrührerischen Klang; kein Klub darf fortan bestehen,
es gibt nur noch simple musikalische Gesellschaften mit be-
hördlich konzessionierten Programmen und vorsichtig zensu-
rierten Musikstücken. Erst Zar Alexander Pawlowitsch ge-
stattet neuerdings die Eröffnung von Klubs, läßt sich sogar in
diesem und jenem als Mitglied einschreiben und erscheint bei
den Bällen der Bürger mit der Kaiserin und den Großfürsten
zu Gaste.
In der Gesellschall und bci Hofe gibt es wieder Festlich-
keiten, aber es ist nicht mehr die ungetrübte und zügellose
Fröhlichkeit von einst, die Politik singt oft ihr garstig Lied
zur Begleitung: 181 1 veranstaltet der französische Botschafter
Herzog zu Vicenzia einen Maskenball. Den Gästen ist vorge*
schrieben im Kostüm venezianischer Edelleute zu erscheinen.
Das diplomatische Korps und die Auslander befolgen die An-
ordnung; die russischen Gäste aber kommen alle unmaskiert
auf den Maskenball und in möglichst dnfacfaieii Kleidern, oder
gar in russischen Nationaltrachten; das ist eine Demonstration
gegen Napoleon, ein Ärgern ganz eigener Art. Auch die Gegen-
partei demonstriert. Die Vertreter jener Staaten» die Napoleon
miten^-orfen hat oder die mit ihm verbündet sind, erscheinen
in Prachtkostümen. Der Herzog wütet gegen die Russen, muß
aber schweigen, kann doch die Einheimischen nicht einfach
hinausweisen. Frau Wladek, die Gattin eines Kammerherm
des Zaren, ist die einzige Russin, die in einem glänzenden
venezianischen Kostüm auftritt. Der Botschafter bemächtigt
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sich sofort dieser einzigen Venezianerin unter den Russen umi
Russinnen, uiiicrhält sich den ganzen Abend nur mit ilir und.
vernachlässigt die übrigen russischen Damen demonstrativ.
Aber dahinter stecken nicht bloß pohtische Gründe; Fiau
Wladek ist die Maitiesse des Botsdiafters, und nidit aus Ver-
achtung der nationalen Motive, sondern aus Liebe bat sie das
venesianiscfae Kostüm angezogen. Darum verurteilt auch nie-
mand die unpatriotische Handlungsweise der Dame. Der Liebe
wird alles verziehen. Daß diese Liebe ein Ehebruch ist, das
tut nichts. Diese ganse Gesellschaft denkt exsessiv liberal In
solcher Hinsicht; der Kaiser sdbst gibt das Beispiel, lebt öffent-
lich mit der Frau seines intimsten Jtigendf reundes, der schonen
Mana Antonowna Naryschldn, und ernennt in einem humor-
vollen AugenbHck den betrog^en Gatten zum Oberstjäger-
meister mit den Worten: ,,Dcm ich Horner aufgesetzt habe,
der soll auch in Harmonie mit den Hirschen leben." Die Bälle
sind die beliebtesten Rendezvousplätze, wo sich alle Liebhaber
mit ihren Geliebten treffen ; und jener, der noch keine Mai-
tresse hat, kann sicher sein, auf den Bällen der Vornehmen
sofort eine zu finden. „Ich erinnere mich," schreibt der General
Löwenstern in seinen Memoiren i), „daß ich beim Verlassen
eines Balles eme Frau von vomehmstcni Range mit mir führte,
die bei mir über Nacht blieb." Kaiser Nikolaj I. räumt mit
solchen Sitten auf. Sich selbst erlaubt er zwar alles, dem ge-
wöhnlichen Sterblichen gegenüber aber läßt er unerbittliche
Strenge walten. Junge Mädchen dialtu nur bei ausgesproche-
nen Familienstücken im Theater erscheinen. Ehebruch wird
unnacbsichtUch bestraft, der Ehebrecher verliert seine Stellung.
Liebesabenteuer bei Hofe sind Kapitalverbrechen. Im Anitsch-
kowpalais, in Gatschina, im Winterpalais sind die Bälle kalte
Spiegelbilder des absoluten Willens des Alleinherrschers. Jede
Rangklasse hat ihre genau vorgeschriebenen Kostüme zu tra-
gen, niemand darf sich auch nur durch ein Bandchen oder
ein Knöpfchen eleganter machen, ab seiner vom Zaren fest-
gesetzten StelluQg entspricht. Man mu6 den Anstand wahren
bis sur Selbstverleugnung; und für den, der die Etikette ver-
1) a.a.O. I i68 — 17a
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letzt, ist Sibirien eine gelinde Strafe. Zur Zeit der Manöver in
Wosnetschensk gibt der Handelsstajid der Stadt Odessa der
Icaiserlichen Familie zu Ehren einen Ball. Aber die das Fest
arrangieren und bezahlen^ d&fen nicht dabei erseheinen. Der
Hof, die Minister tind Offizierei werden doch nicht mit den
Handelsleuten tanzen. Es ist aiso wirklich nichts vom Plebs
zu sehen. Da erblickt plötzlich die Kaiserin als Direktor des
Orchesters einen Mann mit langem Barte. Nur Ldbeigene und
Bauern tragen solche lange Barte. Die Kaiserin ruft entsetzt
den Zeremonienmeister und befiehlt ihm, sie von dem Ärgernis
zu befreien. Der Zeremonienmeister ruft den Orchestermeister
ein wenig zur Seite, schneidet ihm einfach den Bart ab, und der
Zwischenfall ist beseitigt^), der Zeremonienmeister hat durch
seine Geistesgegenwart seine Stellimg gerettet. Und just diese
Kaiserin Alexandra, die Tochter der Königin Luise von
Preußen, kennt nur ein einziges Vergnügen : das Tanzen. Sie
walzt, wie ein Zeitgenosse schreibt, mit Wut und Tollheit;
sie tanzt mit Leidenschaft und endlos; es ist das einzige Ge-
schäft ihres Lfbons. Sic gibt maiicbmal Morgenbälle, die bis
in den nächsten 1 ag währen und bei denen sie nicht vom Platze
weicht. Auf ihrem verwüsteten (icsicht kann man die Zahl der
durchtanzten Nächte ablesen aber die hohe Frau versteht der
Terpsichorc die strenge l.ukt tu- anzuhängen und ihre Leiden-
schaft nur in den Armen der Vornehmsten des Reiches auszu-
leben.
Seit jener Zeit ist das Tanzen bei Hofe nicht wieder gemüt-
lich geworden. Selbst als Alexander II. seine Geliebte Katha^
rina Dolgoruckij sich schon hat morganatisch antrauen lassen,
also eine unebenbürtige Zaren^Gattin den Winteipalast be-
herrscht, kann das Zeremoniell bei den Hof bällen nicht durch-
brochen werden. 'Keine Hoffestlichkeit vergeht, ohne daß die
schöne Dolgoruckij einen Strom von Tränen ob der ihr zuge-
fügten Zurücksetzung vergießen würde. Aber eines Tages end-
lich ist der Augenblick der Genugtuung gekommen. Auf einem
Hofball postiert sich ein junger Offizier mit einer Dame von
nicht tadellosem Rufe bei der Quadrille keck in die Reihe der
1} Bernhard Stern, Die Romanows, II 50.
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— 389- —
(Jioßfurstcn und Großfürstinnen. Eine Prinzessin beklagt -^ich
beim Kaiser. Alexander II. ruft den jungen Offizier und sagt
ihm: Wähle deine Tänzerin nacli Belieben, aber nicht mit
jeder darfst du in die Reihe der Grobfürstinnen treten." Der
junge Offizier verbeugt sich, engagiert die Fürstin Dolgoruckij
und begiebt sich abermals in die Reihe der Giüüfuistmnen.
Diese sind wütend, wagen aber jetzt mchts zu reden, und der
Kaiser lacht über den vortrefflichen Witz.
Bei Hofe und in der Gesellschaft werden nur fremde Tanze ge-
tanzt, die nationalen kennt bloß das Volk. FürJSall hat die rus-
sische Sprache das f nuisosische Wort übernehmen müssen : fSam».
Für Tanz aber hat sie neben dem Fremdwort Taaez^ noch das
alte russische nasLoica. Das Volk liebt den Tanz und gibt sich
ihm bei jeder Gelegenheit im Hause, in der Isba, auf dem Dorf -
platz, auf dem Jahrmarkt und bei den Volksfesten mit Leiden-
schaft hin. Man unterhält sich auch mit verschiedenen Spielen.
Am beliebtesten von diesen sind die folgenden: Das Ringen,
6opoTb, wo die halbentblößten Athleten einander zu Boden zu
werfen suchen. Der Faustkampf, xynaHHuä 6oä. ähnlich dem
englischen Boxen; die Kämpler txagen dabei dicke Hand-
schuhe. CBaÜKa oder caae^ica ist ein eiserner Bolzen mit einem
Knopfe, den man geschickt in einen am Boden befestigten Ring
hineinzuwerfen trachtet ; wer einen Fehlwurf tut, muß so lange
beim Ziele stehen und das Instrument aufheben, bis einem an-
deren ein Fehlwurf passiert. MiiTb oder MHMnirf, ist ein schwe-
rer Lederball, mit dem die russische Jugend schon seit Jahrhun-
derten Football spielt. Eine echt russische Unterhaltung ist das
Stockschlagen, ropü;i,ivM: m einem Kreise, den man nut Kreide
zieht, stellt man vier Kegel nebeneinander und einen fünften
übenaul ; LUnn zieiL man aus einer bestimniteii Entfernimg mit
einem langen Stock, wer alle fünf Kegel auf einen Hieb umwirft
\md am weitesten binwegschleudert, der hat gewonnen. Diese
Spiele haben die Nichtrussen von den Russen gelernt. Ein
wotjäkisches Lied sagt : ,,Auf euerem Hofe ist grüner Rasen,
so wollen wir spielen, Ringe werfen.*' Ebenso verbreitet ist
bei den Wotjäken das Stockspiel. Doch spielen die wotjäkischen
IOud>en audi ein bei den Russen nicht bekanntes Ballspiel,
welches die fiadstube heißt: auf der Erde zeichnet man einen
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— 390 —
Krei>. in diesen tritt einer der Spieler, und die anderen zielen
mit einem Ball nach ihm ; er muß so lange aushalten, schwitzen
— daher der Njime des Spiels — bis er einmal durch gewandtes
Springen einem Wurf entgeht, dann ist er befreit, und jener,
dessen Ball ihn nicht getroffen hat. muß statt seiner schwitzen.^)
Das Hauptvergnügen der Fraiier und Mädchen bei allen Völ-
kern Rußlands ist das Schaukeln. Aber ob man sich zu
diesem oder jenem Spiele begiebt, immer ist die Sehnsucht
nach dem anderen G^chlecht das Leitmotiv. So heißt es in
einem wotjäkischen Liede: „Wenn ein femer Regen geht,
so ordnet die Taube ihre Federn; wenn die Mädchen zum Spiele
gehen» so kämmen sie die Haare und salben sie mit Ol.** Wem
anders zuliebe tun sie es, als um dem Manne zu gefallen?
Des Ringois und des Spielm oder des Schaukeins wird
man endlich überdrüssig ; dann beginnt das Singen und Tanzen,
und davon hat man nie genug. }äan tanzt nicht bloß im
Sommer, sondern auch im Winter auf offener Straße ganze
Nächte hindurch bis zur Erschöpfung. Der alte Nationaltanz
der Russen bestand darin, „die Muskeln zu pressen, die Aime
zu rühren, nut den Händen zu föcheln; man drdite sich immer
auf demselben Platz herum, hodcte sich nieder, stampfte mit
den Füßen.** Mit Tänzen feierten die Slawen die geheiligten
Zeremonien zu Ehren ihrer Götter, die Wahl und die Hochzeit
des Fürsten, die Geburt eines Kindes. ^) Der russische National-
tanz weist die Züge des uralten slawischen Charakters auf.
Er hat seine Originalität bis heute' behalten, und dieses Ori-
ginel1'> ist das starkf^ Her\'orschlagen der sexuellen Leiden-
schaft m den sanlton wie in den wilden Takten. Es gibt kein
Volk, da.= durch die Pantomimen beim Tanze so wie die Russen
die verschiedenen Gefühle der Sinnlichkeit ausdrücken könnte.
Die Liebeserklärung eröffnet den Tanz, die Gewährung oder
Versagung schließt ihn.^) Immer tanzen zwei Personen mit-
1) Max Buch, Die Wotjäken, Hrkin^fors 1882, S. 76.
2) Chronique de Nestor, II. Anhang S. 69. — Karamsin. deutsch I 57,
französisch I 86.
*} Bellermann, B^erkungen über Rnßlaiid, I 359. — VfkiuSbamuk,
GmMHa» von Urnkv». S. 301 : .»Der nniBClM Katioiulteii«. bedeuteoder ab
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— 391 -
einander. Das Hauptpas besteht aus zwei Schritten und einem
Sprung; es ist ähnlich dem Masurisrhen oder Uanakischen,
aber ungleich mannigfaltiger und veränderlicher. Die Stel-
lung der Füße ist überaus künstlich; steht der eine auf dem
Absatz, so ruht der andere auf den Zehen ; Kopf, Augen, Schul-
tern, Arme, Leib, alles ist mit beschäftigt. Zwei Personen treten
ganz nahe aneinander heran. Der Mann macht seiner Dame
eine stumme Liebeserklärung, sie vciiialt sich passiv, hebt und
senkt bloß die Schultern, wie eine Puppe, und neigt er sich
lechts zu ihr, so beugt sie sich links von ihm. Das wechselt
einige Male. Da wird er eindringlicher, und sie entflieht scheu,
aber zögernd. Er folgt ihr, und- sie flieht wieder. Da iiritd er
traurig, nun kommt sie ihm tröstend entgegen, schKeßlich ver-
ständigen sie sich und drehen sich jubelnd im Kreise. Dieser
Tanz ist der berühmte Golubez, Tonjöoinh, der Taubentanz der
Großrussen.
Noch deutlicher als der großrussische Tanz sind die Tänze
der Kosaken, des Volkes in der Ukraine. Die Großrussen haben
keine eigenen Tanzlieder, der Golubez mit seinen gemäßigten
geistvollen Bewegungen kann auf jedes Lied hin getanzt wer-
den, am liebsten zum Lied vom roten Saiafan. Die Kosaken
aber haben zu ihren wildbewegten Tänzen ihre eigenen
Schumki^), die Schäumer, Tanzbrauser. Brauselicder, voll hei-
ßer Glut und vernichtender, alles hinwegreißender Leiden-
schaft ^) ;
Ente fliegt auf starkem Fittich,
Rauschet mit dem schweren.
Hast mir gute Nacht gewünschet,
Mögst sie auch gewähren.
Im Sturm des Tanzes zersplittert die dieliche Treue, lösen
sich alle Bande:
die mentMi Tftnse anderer Nationen, drfickt nnveckennbar den Cmag der
ttenedtlidien Letdenschalt eus."
') Von IIIyMtTi., brausen
2) Wilhelm von WnldbnVhl. Slawische Balalaika. Leipzig 1843, S. 329—339,
gibt 25 solcher Tanzlieder in wortgetreuer überseUuog, wovoa zwei hier als
ITOMB.
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- 3ä2 —
Hai das rauscht und das bfaust.
Regen läßt sich spüren!
Sag, wer wird wohl mich, die Junge,
Heut nach Hause führen?
Dfj Kosak recht und zecht,
Seine Augen flinunern.
Ich fuhr dich, o Schwa r/bebraute.
Lasse dichs nicht kümmern !
Führ mich nicht, trautes Herz,
Führ mich nicht, ich bitte l
Sonst wird mich mein Mann zerprügeln,
Ungeschlacht an Sitte.
Teufel auch! laß ihn nur!
Burschen, weicht hinüber!
Wenn dein Mann mich nur erschauet,
Rüttelt ihn das Fieber.
Wie im W'md Halme sich
Regen, mags ihn rütteln.
Aber icli will mich, ich Junge,
Noch im Tanze schütteln.
Ha! das rauscht, ha! das braust.
Geig und Baß sich rühren I
Alle Wissens : der Kosake
Wird nach Haus sie führen.
Das sind noch ganz solide Aussprachen, die man auch
in der besten Gesellschaft anhören kann. Aber häufiger als
an solchen lyrische Produkten begeistern sich die Tanzwütigen
und Liebestollen an Liedern, die von Unflatigkeiten strotzen.
Da ist beispielsweise gleich der primitive Originaltext der be<
rühmten Kamarinskaja ein Sammelsurium gereimter und un-
gereimter Gemeinheiten^):
*) Kgv3tru6ta, Recneil de documents pour servir k t'6tttde des tiadi-
tioiu poptdaires (tirii 175 exemplaix«»). Paris. Welter. VII. Chansons nisses.
Pag. 67.
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Marie Antonowna Naryschk
Geliebte Alexanders I.
•
— 393 —
Axb! TM, CVKAiHI. f'WHT». KaMapUHCKiÜ MViKaK'fcl
iihaHi.iii 6e3T, iriTaiioHTj iio v-iim-fe
oivu G'iüKu ri., n'}> I H i j.. liüiiL'pj.UBaeiTb,
a My;i.HMU oiih iiu;i,eprHBaeTi>.
,,0 du, Himdesohn. Kamarinscher Bauer,
besoffen, ohne Hosen, läuft er durch die Gasse,
läuft, läuft, furzt immerfort,
und wackelt mit dem Hodensack.'*
Ein anderes Tanzliedchen singt: „Oh, wie der Pope die
Stute besteigt IO X>ie Popin hält die Mähne, der Diakon hält
von der Seite» dirigiert in den After."-) — Mit der Sodomie
bringen die obszönen Volkslieder fast immer den Popen in
Verbindung.
Humorvoll ist die Moral, welche die Mutter der Tochter
in einem Liedchen ^) predigt: ,,Die Tochter stand am Thor und
bohrte sich die Faust in die Pisda. Die Mutter bemerkte sie
und begann sie auszuzanken: Ei du Hure, ei du Hure!*) ich
coitire durch und durch deine Mutter I"^! Verkante deinen Zopf,
kaufe einen Penis, mit der Faust aber liohre nicht in der Pisda
herum. D( r Zopf dient dir nicht ewig, aber der Penis ist ein
guter Kerl."
Der Kosak befeuert sich selbst mit dem jubelnden Keim:
PyccRÜ MTUieb H pyccidft xyii —
ABa pOAuue 6paTa:
OHK Hd'b 6tAH BWBOfffiTb
pyccKaro oojxAaTa.
„Das^) russische Bajonett und der russische Penis — zwei
1) Im Original das ordinäre russische Wart: 0! vtich Dum eOen in6u.iyt
*' it;inpaiiTnf<Ti. (den Peni^ des Popen) npHMO Vb MOny.
^} Beginnend: V uupon» Jii^m cro>ua,
Das Qrigiaal bmncht swei venehiedone Auadrflcke: Kypw und (taau-
Kurwa ist das ofdiQ&re Wort, Bljadj bedaotet anch Hemmstreicliarin. Strich-
mensch.
Dieses Sclumpiwort (|>iiciip(>LÖi> tbuiu uhxu) ist so allgemein gebiäucli*
lieh, daß dl« Spncheoda «idi ungeniert selbst beileckt.
*) Im Rniaischen ist das Bajonett m&iinlichett Gesehlechts.
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394 —
leibliche Brüder: aus der Not führen sie den russischen i>o\-
daten."
Und der Soldatenpenis hat den Ruhm besonderer Größe:
He noMoacerB irpmcb tboä 6JiiiACidäf
KOFAa BcraEerb xyfi cojzAaTCXÜl
6ojibmoit.
„Nicht hilft dein Hurenschreien dir, erhebt sich das Sol'
datenglied das große."
An solchen Texten nimmt niemand Anstoß; ja bei beson-
deren Gelegenheiten bemühoi sich die jungen Burschen, einan»
•der durch Improvisationen derartiger Strophen zu übertreffen,
und wem es am besten^elingt, der ist ein Mo.io,-];en,'L, ein wackerer
Junge. 1) Selbst Frauen und Mädchen schrecken nicht davor
zurück, einem klingenden Reim zuliebe einen gewagten Witz
zu machen.
Bei den Hochzeitsfosti u in der T kraine sind die Tanzlieder
durchwegs obszön, und die Tänze haben einen vollständig phal-
li^chen Charakter. Nach dem Schmause beginnt die sogenannte
Pereswa. Ilt pciiiu bedeutet soviel wie Hoch/citsgesellschaft, im
übertragenen Sinne ist es der Abschied vom Hochzeitsfeste,
das Ende der zeremoniellen Feierlichkeiten und der AiiicUig
der brausenden Unterhaltung, der obszönen Reden und Ge-
sänge, der Tanzschäiune. Diese Tänze sind nichts anderes als
öffentliche Onanie; mit eindeutigen erotischen Gesten bewegt
man sich so, als wollte man sich an den Geschlechtsteilen zu
tun machen. Man nennt diesen Tanz Kranicbtanz: ^ypasob.
Auf ihn folgt zumeist noch der Zigeunertanz Chaliandra'):
Die Tanzenden halten sich mit einer Hand am Ohre und l^en
*) Wie bei den Sfldslawen ; vgl. die angeführten .\rbeiten von Dr. Friedrich
> Krausz. — Ferner bei Karl Rhamm. Der Verkelir der Geschlechter unter
den Slaven in seinen gegensätzlichen Erscheinungen. Globus, Band 82, Nr. 7,
Seite 105. Spalte UnkB: „In Slavonieii gibt es kdoe «nderen Ges&nge «b Tttu-
]ied«r cur Begleitaiig des Reigens (Kalo). Bei den gxOBtea FesfUddceLten md
nationalen Manifestationen wetteifern aotnsagen die Kinder, denen die Müch
noch aus den 2Lähnen seiht, in diesen Zoten. Je mehr ein a<dchM GeachApf
mit Säuereien um sich wirft, um so braver (öestitij) ist es".
*) Vielleicht vom Worte xKTb oder x»(i.io, das einen freelwn MMudien
bedeutet; xa.i.in, ein freches Weib.
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die andere auf die Gesrhlechtstcile. Man springt wütend auf
und nieder und schlägt mit den Fubsohlcn an die Arschbacken.
Im Distrikt von Berditschcw tanren die Franr n pinen Rnndtanz,
b''i dem sie zwischen den Beinen einen Kucheiilolte] iiaiien oder
sonst ein hinges Ding, worauf sie während des Tanzens einen
1 rinkbecher stecken. Die Lieder, die man bei solchen Tänzen
singt, entsprechen den Gesten :
Oft, rpaÜTo. M\ nihil.
B MeHfi nuiU'i.u BeJinKnf
R Mene uitni.hii TpacyiL'-ü
'S Meiie x.i'»iini cviiioTheH.i i
,,Ü, spiflet, Musikanten, innnc '/M/.m-) sind grub, meine
Zitzen schüttehi sich, die Burschen lachen über mich,"
Dabei genießen die Kleinrussen unter allen Volksstiimmen
des Zarenreiches in sittlicher Beziehung den besten Ruf. So
seltsam ist die \'crschiedcnheit der Auffassung von dem, was
ländlich sittlich ist.
Von den Tanten der nichtrussischen Völker in Rußland
sind zunächst die polnischen Nationaltäme zu erwähnen, die
teilweise ebenfalls eine Versinnbildlichung der Wollust dar-
stdlen* Die heidnischen oder bis vor kurzem noch heidnischen
Völker haben die russischen Tänze adoptiert. Bei den Wotjäken
in den Gouvernements Wjatka und Kasanj gibt es aber zwei
Originaltänze, die gewöhnlich öffentlich nur von den Frauen
getanzt werden, Bei dem einen Tanz stellen sich drei Mädchen
oder Frauen nebeneinander auf und beginnm sich bei den
Klängen des zitherähnlichen Kröd2 im Takt umeinander zu
drehen, trippelnd, nicht hüpfend. Die erste Tänzerin dreht sich
mit der zweiten herum und tauscht mit ihr den Platz; dasselbe
Spiel zwischen der ersten und der dritten Tänzerin, bis alle in
umgekehrter Reihenfolge stehen; dann wieder in die alte Ord-
nimg zurück. Der andere Tanz wird von vier Frauenzimmern
ausgeführt und ist lebhafter. Die vier stellen sich gleichfalls
I) Am dem Distrikt Uschitzja, Gonvernement Podolien. VgL H)r6ra«
'Kir-, Tj.yii.i ^Krti^Tiiiüii. C.-W't. 1877. IV. }6 1571. — Kttwnddta V. Folklore
de rUkraine, p. 91. Nr. 66,
Im Russischen das gleichlautende Wort: lumi.Kii.
*) Buch. Die WotJAken, S. 8a.
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zunächst nebeneinander auf. Die zwei mittleren lanzerinnen
fassen sich an den Händen und gehen in raschem Takt einige
. ciiiitte vorwärts, drehen sich umeinander, wechbLlii die Plätze,
und beginnen dasselbe Spiel von neuem. Währenddem be-
schreiben die beiden seitlich befindlichen Tänzerinnen Achter-
touren um das mittlere Paar und winden sich zwischendurch.
Und so viel Temperament entwickelt man auch blofi dann, wenn
man ein paar Gläschen kumyschka oder Branntwein im Leibe
bat. Der russische Nationaltanz, einfach pycoBaa miBcica, russi-
scher Tanz genannt, wird ebenfalls von den Wotjäkinnen ge<
tanzt, aber nicht mit soldiem Feuer wie von den russischen
Frauen und Madchen. Man hat Tänze bei den Wotjäken
bisher nur von Weibern tanzen gesehra; es ist wahrschein-
lich, daß auch die lii^ner tanzen, aber vermutlich tanzt jedes
Geschlecht für sich allein. Ein wotjakisches Sprichwort zwar
sagt: „Der Henne Gackern ist nichts wert, wenn nicht der
Hahn zugleich mit kollert." Doch scheint es trotzdem nicht zu
großen Intimitäten zwischen beiden Geschlechtem, wenigstens
nicht in der Öffentlichkeit zu kommen.
Die Kalmücken sind besondere Liebhaber von athletischen
Spielen und die berühmtesten Ringer in Rußland. Bei ihrem
Uerrüßfesl gibt es ein großes Schauringen. Getanzt wird haupt-
sächlich im Monat des Zogaanfestes und an den Winterabenden.
r>; im kalinuckisclicn Nationaltanz rubren su h die Tänzer odur
laiizcrinuen nicht von ihrem Standpunkt fort, sondern drehen
sich bei dem Takte des eintönigen Doinburr bloß um ihre
eigene Achse; beide Arme werden immer zugleich bewegt,
bald it: gleichen Winkeln \ oni Kopfr i-ntfernt. bald in gleichen
Kruiiiuiungen ijber die Brust gebogen. Die Tanze sind immer
sehr kurz und sehr ernsthaft, die Musik langsam und feierlich.
Jedes Geschlecht tanzt für sich, die kalmückische Wohlanstän-
digkeit gestattet nicht das gemeinsame Tanzen von Männern
mit Frauen. Gewöhnlich tanzen sogar die Kalmücken einzeln,
immer ein Mann oder eine Frau. Wenn aber zwei Männer oder
zwei Frauen zugleich tanzen, dann ist es lebhafter, wird es zu-
weilen sogar wild.^)
Bergmann, Nomadische Sttetlecden, II 198.
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Bei den mosk niischen Tartaren geht es natürlich flicht viel
stürmischer zu als bei den Kalmücken. Ähnlich wie bei diesen
drehen sich die Männer mit ausgebreiteten Armen einzeln um
sich selbst herum. Das Tanzen der Mädchen ist nichts als ein
sdlüclitariies Hin- und Hergehen und nach einigen Sduitten
tu Ende.»)
Am leidenschaftlichsten unter allen nicbtrussischen Völ-
kern Rußlands tanzt man bei den Tscherkessen; namentlich
die Weiber sind hier so tanzwütig, daß man schon vor Jahr«
hunderten von ihnen sagte'}: ,^ie saufen sich voll und tragen
eine so gewaltige Begierde zum Tantzen, daß sie keine Manns-
Person nicht achten, wenn er nicht eine Geige bei sich hat.*'
23. Musik und Theater
G«sang — Anmerkung über die Nationalimtrumt'ntt: — Weltliche Musik ver-
pöDt — Musikalische Ketzer — Peter der GroOe und die Musik — Franzö-
•iseh« ttdid itaUAnlsche Musik — Patjomldn mid Moaart — Gwchicht« der
nttaischra Jagdmnsik — Kunstmnslk — Komponisten — Uisprung des
Theaters in Rußland — Europäisches Theater in russischer Schilderung —
Aufführungen von ^!ystpricn ■- T%'pen der russischen TTrbühne — Das erste
Theater in Moskau — Der deutsche Pastor Gregorij erster russischer Theater-
dinktor — Die erste AvflfihAng eines Dnaifts sm Zarenbofe — Der Fslsst
der ErffitsUchketten — Sold der Schauspieler — Das erste Ballet — Dauer
der Vorstellungen — Erstes Drama in russischer Sprache — Bischof Simeon
von Polozk als Dramatiker - - Männer spielen die Frauenrollen — Amateur-
von>teUungea der Aristokraten — Prinaessin Sofia Akxejewna als Dramen-
dichtarin nnd Sehanspielsriii Biaeliol Dmitry RnstOfwakii — Feofsa Proko-
powitach Fkiaasaaui Nathalie Romanow ^ Der daotadbe Dirdetor Kunst
*— Eralea öficntlichcs Theater in Moskau — Aprilscherz Koitsts — Direktor
Für^t — Obszinitäten auf der Bühne — Übersiedlung des Theaters nach
Petersburg — Direktor Mann — Italienische Truppe am Hofe der Zarin
Anna — CavoKna Nenber in Vttmkmtg — « FnnxOsiache Trinmpha — Kndiftten
als Balletteasen — EUaabeth und die Kadetten — Daa NatkNialtkeatar —
VoWaachauapiele — Die heiltge Jungte« aul der Bfthne — BegrAadung dea
1) Der I'anz l>ei den A<!trachaner Tartaren i3t ausführlicher geschildert
worden von Samuel GottUeb Gmelin, Reise durch Rußland zur Untersuchung
der dray NntuT'Reidie, St. Petosburg 1774. II s. 138.
*) Reise nach Norden / anno 1706. S. 156.
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Katioiialtheaten durch Wolkow Katharina II. — Ein V<dkith«atar von
der PoUset dirigiert — Bedentung des nmiMfaen Tbeaten filr die Geachichte
der Sittlicbkeit.
„Wo rine Slawin ist," sagt Schaffarik, der Verfasi>cr
der ersten Geschichte der slawischen Literatur i\ ,,da ist
auch Gcsaiig. Die Slawin erfüllt Haus und Hot, Berg
und Thal, Wiesen und Felder, Gärten und Weingärten mit
dem Schall ihrer Lieder." Dies gilt bei den Russen für die
Frauen ebenso wie für die Männer. Der Russe singt fast immer,
bei der Arbeit und in der Pause, auf dem Felde und im Kabak.
Der Muschik singt, wenn er mit dem Pfluge die Furchen durch
den Acker zieht; der Soldat auf dem Marsche, oder auf dem
Schlachtfelde, wenn er der tödlichen Kugel entgegenschreitet;
der ]Mb.trQse auf dem schwankenden Schiffe, wenn der brau-
sende Sturm ihn umdroht; der Arbeiter an der Düna^ wenn
er seine schwere Last über den Kai schleppt ; der Burlak*) an
der Wolga, wenn er mit wuchtiger Kraft sein Floß zimmert;
der Iswoschtschik^) singt, wenn er mit seinem Gaste einen
weiten Weg durch einsame Gegenden fährt ; und der Postillon
stimmt, sobald er sich bekreuzigt hat und die Pferde antreibt,
sein Liedchen an. Die Melodie ist zumeist einförmig und
schwermütig, der Inhalt : die Liebe, die Steppe, die Wolga,
der Don. Dieselben VolksHedcr singt man im ganzen Reiche,
von der Ostsee bis zum Stillen (jzcan und von dem Weißen
his zum Schwarzen Meer. Wie die üroßrussen sind auch die
Kieinrussen und die Kosaken sangesfreudig, ihre Lieder jedoch
heiterer und lebhafter. Im Süden liebt man nicht bloß das
Volkslied, sondern man läßt ihm auch künstlerische Pflege
angedeihen, verbreitet es in den Familien und den Schulen,
und die Studenten veranstalten öffentliche V'olksli^erkonzerte.
Ein deutscher Arzt und Forscher^), der als das Charakteristische
s) Ceechichte der slawiachen Sptadie nnd Liteiratnr nach allen Moiid*
arten von Paul Joseph SdMfiarik. Ofen 1826.'
2) FiVp.iaKi. heißen speziell die .Arbeiter, die anf den B.xrken der Wolga
beschäitigt sind. Es siaU durchwegs rohe ungeachlachte Kerle. Daher nennt
mau m ganz Rußland einen brutalen Menschen; Burlak.
*) HaaoniBni der Fuhnnann.
*} Wichelhamen, Gem&blde von Moakwa. 399.
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— 399 —
am Mu^chik dessen roheste Siunüchkeit kuiialaticii. sieht 1:1
dem unverkennbaren Hang der Russen zu Gesang und Musik
den Beweis, dal5 dieses Volk von der Natur auch zu feineren
sinnlichen Vorgängen aufgelegt sei.
Schon von den Bewohnern des ältesten Rußland wird be-
richtet, daß Musik die vorzüglichste Erheiterung ihres Lebens
war, und daß sie auf den Kriegszügen ihre Lieblingsmusikinstru-
mente mitfährten; singend tuid spielend zogen sie in den
Kampf. 1) Es zeugt für die tiefe Empfänglichkeit der- Russen
für Harmonie und Melodie, daß noch jetzt unter ihnen die
uralten Lieder leben, in denen die heidnischen Gottheiten und
die Donau, an deren Ufern die Vorfahren der Russen vor
zwölf Jahrhunderten gekämpft haben, besungen werden.^
Als Rußland moskowitisch geworden war, begannen
die Regierung, die die Trunksucht und die Korruption zu
1) Karamsio, deutsch I franzöbiich I 85. \'t;l. ferner: von Arnold,
Die Tonkunst in Riißland bim «ur Einführung des [abendländischen Koten-
systems. Leipzig 1867. )
*) Die nlten oationalcu Musikinstrumente, fast durchwegs noch heute
in Gebrauch, ciad folgende: Dudka (jtyxiai). eine einfache Hirtenpfeile. die
man besonders in Kkinrußland findet, wo sie den speziellen Naasen SeopeUca
(codlwiKa) führt. Hoscliok (p<i:?c"iri.), tltenfalls ein Hirteninstrument, aber in
Form eines Horns, also ein Kuhhorn. Sckilejka oder äsipowka (Hviui<ilK;i
aiu awoiJiCiv), eine Schalmei. Sswirelj (i-uiipt.ib). eines der ältesten musika-
Uacben Instniinente der Russen, eine Rohrpfeile. die jetit meist M den
Hirten in Kleinrußland anzutreffen ist und noch viel bei den Reigentänzen
«ur Geltung j^elangt. Auch der Dudels.ick, Wolynka (uo.iblHiüi). gehört zu den
ältesten Stucken ; unter den slawischen Altertümern fand man die Abbildung
eines Kriegsgottes, der den Dudelsack spielt. Bei allen großen Festen und
muf den Jahrmarktsnaterhaltnogen kommt der alte Dudeback au hohen Ehren.
Gudok (ly iiiin.) ist eine Violine mit drei Saiten, von denen nur die oberste
gegriffen wird ; ein kurzer Bogen bestreicht alle drei Saiten. Der Spieler
des Gudok heißt Gudilo (ry.iiuo, auch ry;uvibuiHiiin> und rTAouiuuu'i.;. Diese
russischen Bauemgeiger findet man nicht häufig. Oft und überall dagegen
trifft man die Balalajschtidiiki, die Spider der Balalaika (BaauattKa), einer
Harfe mit zwei, s^tener drei Saiten. Dieses Instrument ist änOeist einiadi
und so leicht r.n spiVlr-n, daß Jedermann imstande ist, wenigstens ein Volks-
lied oder die Begleitung zu einem Tanze zu khmpern. Die Balalajka ist
das Lieblingsinstrument der n(^jschen Tartaren. Die Balalajki, die man
.m den Reigen wid den HocliMitrtinaeii mltbrliigt, lelcluiSB siA von doi
fnrtlmlidien dadwch ans, da0 sie mit frivolen and selbst eindeutig obsataen
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— 400 -
lu Ildamen teil der Selbstherrsrhaft. und der Klerus, der die
Dummhoit und die Verlogenheit zu Stützen der Orthodoxie
genaacht. in der Musik ein der schärfsten Verfolgung würdiges
t^bel zu sehen. In der ersten liaifte des siebzehnten JaJir-
iiunderis belegt der Patriarch die Ausübung der Instrumental-
musik mit schweren Strafen. Aber im Zarenhause selbst erbebt
sich der erste Ketzer und Verächter des heiligen Verbots: der
Bojar Nikita Iwanowitsch Romanow, der Oheim des Zaren
Michael; Er ist der erste, der ausländische Kleidung zu tragen
wagt. Der Patriarch verbrennt eigenhändig das heidnudie
Gewand und zwingt den Bojaren, sich durch Weihwasser rei-
nigen zu lassen. Nikita ist dadurch nicht orthodoxer gewor-
den, der Abtrünnige begeht noch schlimmere Sdiandtaten:
er halt in seinem Hause weltliche Musikanten, und diese Musi-
kanten sind Ausländer. Das böse Beispiel scheint verhängnis-
volle Nachahmung zu finden. Der Holländer Konrad von
Figuren grachmückt sind. Loschki (.mvi.-Kii). wörtlich Löffelchcn, sind zwei
Instmmentc aus alter Zeit; ihre Form Entspricht ihrem Namen. Si«» ^ind
mit Schellen und Glöckcben behängt und dienen hauptsächlich als Begleitung
zu aadecea lostninieiiteii. Gnsli (rbcm), Harfen mit drei Saiten, ähnlich
dem Csalterium, werden mit d«n Fingern gerinen. Die Gusli waren früher
namentlich in Kleinrußland stark verbreitet, in neuerer Zeit kommen sie
immer mehr aus der Mode, man findet sie nur noch hier und da bei Soldaten.
Trompeten <Tj»yöu) werden in Rußland schon in einer Chronik des zwölften
Jahrhnnderts gelegentiicb der Belagerung Kijews im Jahre 1151 erwihnt.
Aus dem Jahrs t2t6 wird berichtet, daß die Nowgoioder bei ihren Trappen
60, die Wladimirren 40 Trompeter hatten. Aus jener Zeit besitzt man die
frühesten Angaben über Trommeln, Bnbnv f>\Cinu) oder Nakry (iiaKpui:
Sturmtrommeln. Nabatny (iiauaTiii.it oder Barabany (öapaCaHu); Flöten, Flejty
|«|).ieftTTi); Pauken, Litawr}' i iirraRpu); und die zwei achon frUhor erwihnten
Schalmeien^Arten, SaepeUd (oontnoi) und Ssipowld (cimoBiai). Aucb die Manl-
trommel, Wargan (Rapraiii.). und Zimbeln (unMi/i:i.u.t oder KtiMi»a.nj), kannte
man seit jeher in RnOland. Ein speriHl kleinmssisches Instrument ist die
Bandura (öjiuuiypa), auch Kobsa (Ko{».»a_t genannt, eine Art Harte mit 12, su-
weilen mit 38 metallenen Saiten. Die Bettler nnd Greise tragen sie an einem
Stndk um den Hab gehlngt nnd wandern musizierend von Dorf zn Dorf.
Die Edelleute hielten früher Kapellen von Banduristen. die beim Mittagstisch
tind abends bei den Festlichkeiten den Herren aufspielten, ^'on der TOS«iischen
Hömermusik wird im Texte die Rede sein. 51. 3a6i,i.mrn., pyccKitt napoAX,
$27. Bemerkungen fiber RuBland. 1788 (von Bdlermann) I 36a. Breton,
Rnfiland IV 39.
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Russische Bauern. Der Quass- und Branntweinhändler.
lAus <)])ix, Niitiniialiraclit d r Kusncii.i
Google
— 401 —
Klenck, der nach Rußland kommt, bemerkt, ,,daü man bei
vielen russischen Großen, Liebhabern der Musik, polnische
Musikanten findet, die auf verschiedenen Instrumenten spielen."
Und ein russischer Würdenträger, der seinm Sohn nach Holland
gescluclct hat, sdireiht dem Jungen : ,,Treibe allerlei Kayalier-
klinste^ gehe in den Mußestunden in Gesellschaft^, besuche
das Theater, lerne fechten, schießen und reiten/' Alle diese
Kavalierkünste aber sind vom Domostroj, dem Haus- und Hof-
gesetzbuch der Russen, als Todsünden verdammt. Solcher
Ungehorsam einiger Vornehmer ruft neue strenge Maßregefai
des Patriarchats hervor, die wirksamer sind als die früheren,
so daß man bald nur noch den Dudelsack und den Gudok, und
auch nur heimlich zu spielen wagt. Bloß Bettler sind jetzt noch
Musikanten. Und ein Russe, der um diese Zdt wieder nach
Holland als Gesandter kommt, kann sein Erstaunen nicht ver-
bergen, daß man ihm zu Ehren ein Konzert veranstaltet ; „bei
uns zu Hause," sagt er, „verdienen die Bettler auf solche Weise
ihr Almosen."
Peter der Große hört in seiner Jugon l nur die rauheste
Musik \ on Trommeln und Pfeifen, seltener ciif Balalajka und
das Kuhhom; in besonders eleganten Häusern wohl auch die
Bandura. Er ist deshalb ganz begeistert, als bei seiner An-
kunft in Riga und Danzig der Chor der Stadtmusikanten ihm
von den Kirchtürmen herab mit Zinken und Posaunen den
Morgengruß entgegenschmettert ; dies erscheint ihm als der
höchste künstlerische Genuß, und sofort engagiert er in Riga
fünf solcher Meister, die seine Tafelmusik zu besorgen haben
und von den Russen mit Bewunderung und Sta^unen angeh&t
werden. Auf seiner Weiterreise durch Deutschland lernt Peter
die Rogimentsmusik, Hoboisten, Fagottisten und Waldhomisten
kennen; sie gefallen ihm noch besser als die Posaunenbläser.
Spater imponieren ihm mehr die Querpfeifer, Trommler und
Trompeter. Nacheinander wechseln sie in des Zaren Gunst,
der die Trompeter besonders für die Flotte bevorzugt. In
Holland, in Amsterdam hört der Reformator Rußlands vor der
Börse zum ersten Male das Glockenspiel; in Petersburg läßt
>) Reil« nach Nofdea, 154.
Stern, G«dUcble der Offend. Sittlichkeit in RuMaad. 26
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~ 402 —
er daher auf dem Tunii der Festungskathedrale und auf jenem
der Isaakskirche Glockenspiele anbringen. Alles Bisherige wird
schließlicfa verdrängt von der Bockpfeife, deren Bekanntschaft
Peter in Polen gemacht hat. Der Zar erlerat selbst dieses
Instrument und stellt für seine Tafelmusik einen Bockpfeifer-
chor zusammen. 1) Wenn die Musik nicht klappt, so vertauscht
der Kapellmeister den Taktstock mit den ^togy*) und haut
dabei nicht immer jNanissimo drein.
Die französisdue und italienische Musik konnte Peter der
Große nicht leiden. Elisabeth und Katharina II. berufen da-
gegen oft Tonkünstler aus Frankreich und Italien nach Ruß-
land. Der Günstling Katharinas, Patjomkin, betrachtet sein
Privatorchester als seinen Schatz, den er überallhin mit sich
führt. Ins Hauptquartier von Bender nimmt Patjomkin nicht
weniger als zweilmndert Musiker, ein Balleltkorps und eine
Schauspielcrtruppe m;i Als leidenschaftlicher Musikliebhaber
steht er lange Zeit mit dem in Wien befindlichen Graf cn Andrej
Rasumowskij in Unterhandlungen bezüglich des Engagcmcnti»
eines tüchtigen Kapellmeisters. Rasumowskij empfiehlt eifrig
einen exzellenten Klavierspieler und einen der besten Kompo
nisten Deutschlands," einen gewissen Mozart, als Orchester-
chef für die Patjomkinsche Truppe. Mozarts Tod macht den
eingeleiteten Verhandlungen ein jäheä Ende, und i'atjomkin
engagiert den Italiener Sarti.^)
Ein historisches Ereignis auf dem Gebiete der Musik voll-
zieht sich lur Zeit Katharinas durch die vom Oberjägermeister
Naryschkin veranlagte Reform der Jagdmusik.*) Die russi-
sehen Jäger und Rüdenknechte führten seit alten Zeiten Homer.
Da auf Harmonie keine Rücksicht genommen wurde, war diese
Jagdmusik eine entsetzliche. Naryschkin stellte nun ein merk>
würdiges System fest: Fünfzig oder sechzig Musiker haben
1) Stählin, Originatanekdotea von Peter dem Grofien, 39S. — Halem.
Leben Peters des Großen, III 220.
*) Methode schwerer Züchtigung mit Stöckea.
') Waljszewski. Autour d'on trone, 131.
Walisiewski a. a. O. 133. — (BeUennanii} Bemerkungea fiber RnO«
laad I 367. — (MaMon) Gdieime Nachriditen über RnBlaiid, deatMh II 82.
(francAeiscb II 61). — DuprA de St Maare, L'hennite en Rmaie, I 363.
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durchwegs an Größe und in der Stufenreihe verschiedene
Homer. Jedes Horn gibt nur einen Ton von sich und jeder
Musikant hat nur eine Note vor Augen. Durch die Verschieden-
heit der Größe der Instrumente und die Ciesanitheit der Töne
entsteht das Konzert, das als russische Hörnermusik (poroBüH
MyatiKa) eine berühmte Spezialität des Zarenreiches geworden
ist. Die Marine besitzt ein vortreffliches Ensemble, und die
großen Herren halten sich ein Hornistenkorps, das nanuntlich
auf die Jagd mitzieht und bei den Unterhaltungen in den i'au-
sen vielbewunderte Konzerte veranstaltet. Die Möglichkeit der
Durdiföbning dieser Reform der Jagdmusik und die Dauar
dieser Institution bis heute kann man mit Recht als Zeichen
des sklavischen Chaiaktefs des russischen Volkes betrachten*
Nirgends in der Welt sonst, sagte schon Major Masson, der
Zeitgenosse dieser seltsamen Reform, hätte Naryschkin fOnlsig
Menschen für ein solches Werk auftreiben können. Alle diese
Musikanten müssen sich entschließen, ihr ganzes Leben hin-
durch ein und dieselbe Note auf einem und demselben Horn
zu blasen; stundenlang haben sie nichts anderes zu tun, als
die Pausen zu zählen, um den Moment abzuwarten, wo sie
an der Reihe sind. Die Arie, die sie spielen, kennen sie nicht.
Für die Kunst haben sie kein Interesse und kein Gefühl. Sie
sind Automaten, Sklaven, auf die der Stock des Kapellmeisters
niedersaust, wenn sie ihren Augenblick verpassen.
Die Epoche Katharinas II. sah auch den Beginn der russi-
schen Kuustmusik. Die Namen der ersten russischen Kompo-
nisten sind fast vergessen, obwohl an manche von ihnen glän-
zendf* Triumphe sich hefteten. So hatte Fomina am Theater
Katharnias lärmende Erfolge, während gleic hzeitig Bortnjanskij
die vom Patriarchen Nikon in Angriff genommene, aber durch
den Sturz dieses Reformators jäh unterbrochene Verbesserung
der Kirchenmusik fortsetzte und [trächtige Motetten und Psal
men koniporucrie. 1803 machte Titow zuerst den Versuch,
eine nationale Oper zu gründen. Aber erst Michael Glinka
gelang es 1836, mit seiner Oper „Das Leben für den Zaren*'
ein Werk zu schaffen, das einen dauernden Wert behalten hat.
Glinkas Erben waren Serow und Dargomijskij. Der übrigen
Großen sind nicht viele. Man hat nur die berühmten Fünf
a6»
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7u erwähnen: Borodin. Mussorgskij. Balakirew, Cäsar Kuj,
iximskij Korsakow ; ferner den Jünger dieser fünf: Alexander
Glasunow ; die erbitterten Widersacher der fünf : Anton Rubin-
stein und Tschaikowskij : und schließlich etwa noch : Ssolow-
jew, Iwanow, Arcnskij, Ljadow, Skrjabin^ Juferow, Koptjajew
und Kalinnikow. ^)
Interessanter als die Entwickdung der modernen russi*
scben Musik ist für die Sittengeschichte der Ursprung des
Theaters in Rußland. Aus dem fünfxefantea Jahrhundert be-
sitsen wir die erste russische Schilderung eines europäischen
Theaters. Sie stammt aus der Feder des Bischofs Ahraham
yon Susdal, der mit einigen Russen nach Italien ging und dort
der Aufführung von Mysterien beiwohnte. Zwei Jahrhunderte
später sah der Russe Uchatschew am Hofe zu Florenz eine
TheatervorsteliuQg, die er in seinem Gesandtschaftsbericht fol-
gendermaß«! zu beschreiben vcrsurbt-l: „Es war ein Meer,
darin hat es adiwimmende Fische gegeben, auf diesen ritten
Menschen. Eboiso sind oben am Himmel Menschen gesessen.
Die Menschen, die auf den Fischen waren, sind auch gen
Himmel gefahren. Dann erschienen: ein alter Mann in einem
Wagen und ein Fräulein in einem anderen Wagen, die Pferde
an beiden Wagen waren wirkliche Pferde und zappelten mit
den Beinen: und der Großherzog hat gesagt und erklärt: der
Mann und das Fräulein wären Sonne und Mond. In anderen
Szenen kamen vor: ein Feld mit menschlichen Gebeinen, die
von Raubvögeln benagt wurden ; ein Meer, bedeckt mit Schif-
fen; eine Monge Ritter, die miteiiiaii'ier kämpften, so daß
einige derselben scheinbar getötet wurden. Dann tanzte man
auf der Bühne. Dann kam ein hungriger Mann und bat um
Speise; und man gab ihm viele Weißbrote, ohne ihn sättigen
zu können.'*
Der Russe verstand augenscheinlich nichts von den Vor-
gängen. Das Schauspiel war ihm völlig neu. Nur an zwei
Orten Rußlands gab es damals sogenannte Mysterien^Auffiih'
— —
') Vgl. über die moderne russische Musik den nennten Band der voa
Kichard Strauß herausgegebenen Sammlung „Die Musik" (Essay voa Alited
BnuMra, flbertragen vm Uu Gm!)« Berlin 1904.
•) VgL BrtckBor, Kidtoiluitorisdi« Studtai,
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rungen. In Nowgorod im Norden, und in Kijew im Süden
existierte seit dem zehnten Jahrhundert der Gebrauch, zu Weih-
nachten, in der tollen Woche, der Butterwochc, sowie am Tage
des Iwan Kupalo öffentlirhe Vorstellungen zu veranstalten,
in deneii die heidiusche Vergangenheit mit ihren Göttern und
Sitten wieder auflebte. ^) Durch die Wiederholuiigeii bildeten
sich Typen : der Gevatter-Lustigmacher. die Gevatterin, der
Zar Rote-ISonne, der Hexenmeister, die Bal)a-Jaga. der Haus-
geist Dumowoj, der W aldteufel ; .rhiiiett). der W asserfreist iBo-
^eHoü/. Zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts begannen die
Kijewer Studenten, die unter dem Einfluß der polnischen Kultur
standen, auf den öffentlichen Plätzen heilige Szenen daiäi-'
stellen. Statt der heidnischen Götter und Geister wurden jetzt
die Apostel, die Propheten, die heilige Jungfrau und Jesus Christus
selbst als Puppen vorgeführt. Das Repertoire dieser tragbaren
Bühne, die man Wertep (BepTeirb)oder Höhle nannte, bestand
in einem einzigen Stück: Schilderung der Leiden Christi. Wah*
rend einer der Studenten für die Puppen sprach, ein anderer
replizierte» sangen die übrigen im Chore fromme Lieder.
') Die Quellen zur Geschiclite des russischen Theaters sind folgende:
RqMiicihes Tbcator, ^oÜBttod^ f^mmlnitg alkr «uMischMi Thektorstücke.
43 BSade, St. Petecsbnrg 1786 (rnssiach). Kanbanow. Die Anfinge des
russischen Theaters, 1849 (russisch). — ■ P, Anpow, Chronik des russischen
Theaters, St. Petersburg i86i. Tiblen & Comp. — Pekarskij, im Februarheft
des „Zeitgenossen" 1858 (i.'uHpeMotiHnK'b). — Derselbe, Wissenschaft und Lite-
ratur anter Peter dem Großen, Band I (russisch). — Tichoorawow, Ursprang
des ntssjsdien Theateis. Annalen der roasiadien Xitentur und Altertflmer,
Bd. III, 1861 (russisch). — Alexcj Wesselowskij. Das alte Theater in Europa,
Moskwa 1870 (russisch). — Derselbe, Deutsche Einflüsse auf das alte russische
Theater, Prag 1876 (deutsch). — il. H. iM»tceptiiioun>, UJuncrpHponaHuafl ucropiu
pyticuattj Teorpa XIX. nim, C. IIcTe|>Oypri., 1903. — Von der DkdctkMida' keiser-
Kcben Tlieater wurde mir duicb VenmtUung des deutschen Theaterdirdctors
Paul Bock vor einigen Jahren f i:i : ir ab Privatdruck in wenigen nume-
rierten Exemplaren gedruckter FolidSand (von über 1500 Seiten) übersendet,
worin sämtliche amtliche Aktenstücke zur Cicschichte des russischen Theaters
vcrOffintlicht wurden: Apnm. 4npeKuiii iutucpuTupcKun» i^aipoirfc. BiiUiycin> I
1746—1801. C. UevppOyprb 189». — Femer vgL man: Le TliiAtre de In
Möscovie par le R. P. nou.ssingault (Biblioth. rasse et pol. vol. V). — Pierre
de Corvin (Pierre Newsky). Le Th6atre en Russie, depuis scs origines jusqu'4
DOS jouTS. i^arss 1890. — Reinholdt. Cieschichte der russischen Literatur. —
Bernhard Stern. Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean.
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In iMoskau fehlten bib zum siebzehnten Jahrhundert auch
diese primitiven Anklänge ans Theatralische. Es gab bloß
in den Zeremonien der Kirchenfeste manches, was einem dra
matischen Symbolismus gleichkam. Von zweien dieser Ge-
bräuche, die den Einzug Christi ni Jerusalem und eine Allegorie
des jüngsten Gerichts darstellten, ist schon in einem früheren
Kapitel die Rede gewesen.^) Eine dritte Szene beobachtete
der Englander Fletcher') : ,,£in Engel stieg von einem Kirchen-
dach in einen Ofen herab zu drei Jünglingen ; im Ofen loderten
Flammen, welche die Chaldäer, wie man die Akteure nannte,
mit Hilfe von Pulver anfachten. Diese Akteure waren bekleidet
mit weiten farbigen Überröcken, und auf den Köpfen trugen sie
spitzige, vergoldete Häte."
Das erste wirkliche Theater lernten die Russen in Ruß-
land erst zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts kennen. Im
Hause des Bojaren Artamon Ssergejewitsch Matwejew fanden
sich zur Zeit der Regierung des Zaren Alexej Michajlowitsch die
wenigen Russen zusammen, die europäischen Sitten huldigten.
Hier verkehrte der Zar selbst, und hier ward ihm die Anregung
zur Gründung des ersten russischen Theaters. Am 15. Mai
1672 befahl Alexe] dem Oberst Nikolaus von Staden, der nach
Kurland reiste, um Bergleute anzuwerben, ,,auch Trompeter
und Komödianten, die Komödien darzustellen verstehen," mit-
zubringen. Auf Stadens verlockende Anträge wollte aber fast
niemand eingehen, imd der Bote brachte bloß einen Trompeter
und vier Mu?.ikcr nach Moskau. Als Staden mit ihnen in
der Krtmlsiadi anlangte, fand er hier zu seiner Überraschung
schon ein Theater vor. Der Zar hatte nauihch erfahren. .,dali
der Magister Jogan (Johamij Gregory, Pastor an der iuiiieri-
schen Kirche in der deutschen Sloboda, Komödien darzustellen
verstdie/* Alexej holte die Zustimmung smnes Beichtvaters
eui und wagte dann den kühnen Wurf. Er befahl am 4. Juni
1672 dem Fastor Gregory, eine Komödie zu veranstalten, den
Stoff dazu aus dem Buche Esther zu nefamoi und im Dorfe
Preobraschensk ein Komödienlokal einzurichten, „mit allein
M Vgl. s. 361 if.
*) Corvin iMwidmet (p»g. 14) FMber ifrtindidi als DMilsciMn.
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Schmuck und Putz, das für ein solches Lokal voimöten ist.**
Gregory griff sofort zur Feder und dichtete in wenigen Wochen
ein biblisches Stück: Die Tragikomödie von Esther oder die
Artaxerxe';'';rhe Handlung. Gregory, sein Freund Doktor Lau-
rentius Rinhubcr und der russische Lehrer Juri] Michajlowitsch
richteten 04 Schüler der deutschen Schule als Komödianten ab,
während ein gewisser Peter Inglis, ,,der perspektivischen Zfich-
nung Meister," die Kulissen malte. Die Hauptrolle des Stückes
wurde dem Sohne des Doktor Blumentrost, des zarischen Leib-
arztes, übertragen. Line Scluvicrigkeit machte die Frage der
musikalischen Begleitung, nicht der Musiker wegen, sondem
weil der Zar, der das Schauspiel begründete, gegen die Ein-
füliniqg der weltlichen Musik als gegen eine gottlose Tat Be-
denken hatte. Erst als Gregory vorstellte, daß der Chor ohne
Musik ebensowenig singen könnte, wie die Tämer ohne Füße
zu tarnen vermöchten, gab Alexej nach iind beauftragte Mat-
wejew, eine Kapelle aus Geigern und 1F4ötisten zu schaffen.
Und Matwejew ließ eine Anzahl seiner 'L^beig»ien in wenigen
Monaten zu Musikern ausbilden. Am 17. Oktober 1672 fand
die erste Vorstellung statt. >) Aus dem ganzen Reiche waren
Gäste „zu dieser bisher nie gekannten Unterhaltung" einge>
laden word«i. Der Zar war mit seinem ganzen Hofe anwesend.
Für die Frauen und die Kinder hatte man eine g^oße vergitterte
Loge hinter dem Sitze des Zaren eingerichtet. Die Sprache
der Schauspieler war natürlich die deutsche. Neben dem Zaren
stand daher ein Dolmetsch, der Satz um Satz übersetzte und
gleichzeitig den Gang der Handlung erklärte. Die Aufführung
dauerte nicht weniger als zehn Stunden ohne Ihiterbrechung.
Der Herrscher war entzückt und gewährte dem Pastor Gregory
die Erlaubnis, eine Gnade zu erl>it[( u; Dieser bat um die
Tolerierung der protestantischen Kirche in Moskau und um
den Bau einer Kapelle; und der Zar entgegnete: „Ein Mann,
1) So Bruckner am saveriätsigsteD, nach den maßgeboiden Fonchmigeii
ynm Tkbaa»wo«r «md IfonMOw. Corvia gla«l»t« da0 Cngory eist im Herbst
1672 nach Moskau kam, und bezeiclmvt den 2, November 1675 '^^^
historische Datnm. rorvin Seite 17 und 10 - L T^inhnb^^r, Kelatitm
du voyage en KuHsie, Fubiide d'apr<b les manuücrits urigtaaux, Berlin tSSj
(nur in 350 Exemplaren gedmckt).
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der so tugendhafte Stücke zu spielen weiß, kann gewiß nur
Gutes Ichren," und bewilligte die Bitte. Das Stück Gregorys
machte zweifellos auch tiefe Wirkung durch die unabsichtliche
Aktualitcät, du- es in bezug auf die Zustände am Hofe besaß.
In der Königin Esther sahen die Zuschauer die Zarin Natalia
Naryschkui, die als Waise im Hause Matwejews erzogen worden
war und durch ihre Schönheit und Klugheit ihr Glück ge-
macht hatte; Haman aber war niemand anderer als der ehe-
malige Günstling Hitrowo, der gleich dem biblischen Böse-
wicht zur Strafe für seine Intrigen gehängt worden war.
Das Theatw blieb eine dauernde Einrichtung. Der Tragi»
komödie Esther folgte die Tragödie v<hi Holofemes und Judith,
worin in einer Szen^, da die Heroine dem Scheusal den Kopf
abschneiden will, eine andere Aktrice ausrief : „O armer Kerl.
Beim Erwadien wird er erstaunt sein, daß ihm der K<^f fehlt.**
Für die theatialisdhen Unterhaltungen wurde ein sperieUes
Haus im Kreml adaptiert, das den Namen führte: IIoTimRutt
ABopeip», Palast der Ergötzlichkeiten ; dieser Palast existiert noch
und dient jetzt als Amtswohnung des Platzkommandanten.
Der Bojar Afotwejew wurde zum Direktor der Vergnügungen
des Zaren ernannt, Johann Gregory erhielt den Titel eines
Regisseurs. Der Zar befahl femer, die Manuskripte Gregorys
in Saffian zu binden und in der zarischen Bibliothek zu hinter«
legen; endlich sollte man aus dem Ressort der auswärtigen
Angelegenheiten 40 Zobelfelle im Werte von 100 Rubel und
ein Paar im Werte von 8 Rubel nehmen und diese 42 Zobel-
felle dem Magister Gregor)- als Geschenk des Zriren über-
reichen. Dagegen vergaß Alexej ganz daran, den armen Komö-
dianten, die Gregon,' nunmehr aus russischen jungen Leuten
auswählen muß. die Mittel zum Leben anzuweisen, so daß
diese den Zaren selbst an ihr Elend erinnern : „O mitleidiger, o
barmhfrziger Herr, o Vater deines Volkes!" schreiben sie in'
ihrem Bittgesuche, ,,man hat uns. deine Sklaven, zum Meister
Jogan Gottfried Gregory gesandt, damit wir die Kunst der
Komödie erlernen sollen; aber man hat "nicht für unsere Nab*
rang gesorgt. Da wir alle Tage zum Meister wandern, rui«
nierra wir unsere Kleider und unsere Schuhe und wir haben,
nichts zu essen und sterben vor Hunger. O barmherziger Henri)
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— 40Ö —
Miebly daß man uns täglich zu essen gebe, damit wir nicht
Hunger leiden, wenn wir Komödie spielen lernen," Und der
barmherzige Zar befiehlt sofort, für jeden Eleven einen Gro-
sehen per Tag für das Essen anzuwdsen; die Ausfolgung
dieses Gehalts aber darf jedesmal erst dann erfolgen, wenn
der Meister die Fortschritte und den unermüdlichen Fleiß
der Aspiranten durch ein Attest bekräftigt hat !
Im Jahre 1675 erschien auf der zarischen Bühne das erste
Ballett, betitelt , .Orpheus". Da man lange Vorstellungen liebte,
gab man nach einer Tragödie gewöhnlich noch ein Ballett.
Solch ein TTieaterabend begann, wie das Dokument über eine
Vorstellung vom 21. Februar 1675 beweist, um fünf Uhr nach-
mittags und dauerte bis drei Uhr morgens.
IJa.s erste Stück in russischer Sprache verfaßte der Bischof
Simeon von Polozk. Es hieü : Alcxej, der Gotlesmensch. Die
russischen Schüler Gregorys führten es auf. Simeon verfaßte
noch mehrere andere Dramen. -In einem seiner Stücke, be*
tttel ^,Der verlorene <Sohn", wird Moral gepredigt^ indem
die landesüblichen Laster — Trunksudit und Wollust — in
ihren bösen Folgen dargestdlt werden; den ganzen zweiten
und dritte» Akt hindurch tut der Titelheld nichts anderes als
saufen. Die Dramen Simeons hätten zumeist bloß sechs Akte;
um den Theaterabend nicht zu kurz zu halten, füllte der Autor
die Pausen mit kleineren Stücken aus, die mit dem Drama selbst
in gar keinem Zusammenhang standen, aber den Zweck- er-
reichten, die Unterhaltung bis über Nacht auszudehnen. Zu
bemerken ist noch, daß die weibhchen Rollen von Männern
gespielt werden mußten.
Nach dem Tode des Zaren Alexej tr^t ein jäher Rück-
schlag ein. Die Reaktionären setzten es beim jugendlichen
und kränklichen Fednr .Mexejewitsrh durch, daß Gregory ver-
trieben, Matwejew verhatinf mticI der l'alasl der Vergnügungen
geschlossen wurde. Die Kunst, vom Hofe vertrieben, fand
indessen Zuflucht in den Hiiusem einiger !• ortschrittsfreunde,
bei den Dolgorukij, Scheremetjew, Galitzyn, Diese Bojaren
waren gleichzeitig die Dichter und die Schauspieler. Aber
(las Wunderbarste war, daß sich diesen Mäimern auch eine
Frau aus dem Zarenhause zugesellte, Prinzessin Sofia, die Toch-
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— 410 —
ter Alexejs. Sie trat kühn aus dem Terem hinaus, geradewegs
auf die Bühne des Scheins und auf die Bühne des Seins.
Einige Jahre später spiehe sie als Redentin eine weltg^cschicht-
liche Rolle; vorher aber erschien sie auf einer Piivatbühne
in ihrem eigenen I'alaste als dramatische Dichterin und Schau-
spielerin. Das russische Drama ,,Die heilige Katharina" tragt
unter seinem Titel als Autornamcn : Sofia Alcxcjcwna Ru-
manow. Und während vor wenigen Jahren der Vorstand der
Apothekerbehörde Golosow und der junge Bojar Ordin Na-
tschokin den Orthodoxen als des ewigen Höllenfeuers würdige
Ketzer erschienen waren, weil sie lateinisch sprachen; während
noch zu Zeiten Alexejs die Frauen nicht offen/ sondern nur
hinter Gittern den theatralischen Vorstellungen im Zarenpalaste
anwohnen durften : übersetzte jetzt die Prinzessin Sofia Moli^es
„Le MMecin malgr^ lui*' aus dem Französischen ins Russische,
führte das Stück auf und spielte selbst darin eine RoUe; ihre
Partner waren die Fürsten Dolgorukij, Galitzyn, Odjewsky,
Tscherkassow, Koslowsky, Scherbatow, Oberst Gribojedow, die
Prinzessinnen Howanska und Bariatinskij und die Gräfin Sche-
remetjew.
Dies ereignete sich in Moskau. Mittlerweile begann auch
im Süden das theatralische Leben zu pulsieren. Dmitry Tuptaio,
Bischof von Rostow, dichtete sechs biblische Dramen und
führte sie in einem Betzimmer seiner Amtswohnung mit Hilfe
von Seminaristen der Kijewer geistlichen Akademie auf Noch
am Hofe der /irin Elisabeth, sechzig Jahre später, spielte man
Dmitrys Dramen.
Unter Peter dem (iroßen war es ebenfalls ein Geistlicher,
der berühmte Fcofan Prokopowitsch, der Dramen, sogar die
ersten wehlichen in russischer Sprache schrieb. Neben den
Dramen von Feofan tuhrte man auch Stücke der Prinzessin
Natalia Alexejewna, einer Schwester der Sofia und Feters, aui.
Die Stoffe für ihre Stücke entnahm Natalia wie Fcofan ebenfalls
zum Teil schon weltlichen Chroniken. Ein Zeitgenosse er-
zählt ^) : ,,Des Czars Vergnügen sind besonders Musiccomödien.
Die Slawonische, Mosco¥ntische, auch Lateinisdie und Teutsche
1) Des großen Hcrrns Czar Peter Alexowicz Leben und Thaten von
J. H. von L. Franckfurt 1710, S. 97.
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— 411 —
Comödie werden den Winter durch und sonsten öffter auf
öffentlichen Tlieatris mit Vocal- und Instrumental Music nach
der auswärtigen Art ziemlich gut gespielet, damit dadurch
die Aktores sowohl als die Zuschauer sich in Reden und Ma-
nieren üben, absonderlich den I^istern durch lächerliche und
absurde Vorstellung ihrer Scheußlichkeit möge abgeholffen
werden." 1701 beauftragte Peter den Kapitän Johann Splawskij,
einen Ungarn von Geburt, der ein ehemaliger Schauspieler
gewesen sein soll, sich nach dem Ausland zu begeben und
eme Komödiantentruppe zu rekrutieren. Splawskij engagierte
in Danzig einen gewissen Johann Kunst als Direktor der Hof-
komödianten der Zarischen Majestät. Am 25. Dezember 1702
wurde das erste ^entliehe Theater in Moskau auf dem Roten
Platze (KpacHaannoni^Ab) init einem Stücke von Kunst eröffnet.
Die meisten Stücke, die hier gegeben wurden, waren dem
Geschmacke Peters mitsprechend frivol und zynisch. Der Zar
wies dem Direktor 3000 Rubel jährlich für die Schauspieler,
für jeden der zwölf Musiker des Orchesters extra 150 Rubel
an. Schauspieler und Musiker waren durchw^ Russen, Söhne
von Edelleuten, Offizieren und Würdenträgern. Der Direktor
hatte aber mit ihnen seine Plage. Sie betrankt sich alle
Tage bis zur Bewußtlosigkeit, wollten nicht zu den Proben
kommen, machten Skandale und wurden dann mit der Peitsche
gestraft. Kunst klagte über ihre Unreinlichkeit und weigerte
sich, ihnen seine Theaterkostüme zu leihen. Schließlich nahm
die Herrlichkeit des Direktors Kunst ein jähes Ende. Er kün-
digte für den i. April 1705 eine Ga!a A'orstcllung an, und
ganz Moskau, mit dem Zaren an der Sintze. strömte herbei.
Aber als nach der Ouvertüre der V^orhang in die Höhe ging,
sahen die Zuschauer nichts als eine Tafel mit der Aufschrift :
,JHeute isl der erste April !" Weder der Zar noch seine Russen
verstanden den Witz und warteten geduldig; Kunst erschien
endlich und erklärte, daß er sich einen .Aprilscherz erlaubt
liatte. Der Zar sagte zornig : „Das ii>t eine wirkliche Komödian-
tenfrechheit I" und Kunst hatte für immer ausgespielt; er ver-
schwand aus Moslcau, und an seine Stelle trat ein anderer
deutscher Direktor, Otto Füist^ der mit einer deutschen Truppe
nach Moskau gekommen war.
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— 412 —
Das Repertoire hatte sich unterdessen stark verwehlicht,
aber dif FrauenroUen wurden noch immer von Männern ge-
spielt, und die kürzesten Stücke hatten auch noch wie früher
wenigstens sechs Ins acht Akte. Die Vorstellungen boten ein
Bild der sittlichen Anschauungen und Empfuidungen der Zeit
und der Zuschauer. In den Stücken konnte man die ver-
borgensten Laster der Menschen kemieii lernen, und was in
dci iiandiung st Ibst von dem Schamgefühl noch unterdrückt
wurde, das sagten die Harlekins und Spaßmacher, die in den
Zwischenakten das Publikum zu amüsieren beflissen waren, frei
heraus, wobei sie ihre Zoten durch obsiöne Gesten unzweideutig
illustrierten. Zuweilen gerieten die Hanswurste aus dem Spaß
in ernsten Streit miteinander; es gab Schlagereien, die Schau-
spieler kamen ebenfalls herausgestiitfzt, und über solche Skan-
dale amüsierten sich die Zuschauer am meisten; ja oft steiger-
ten sie die Verwirrung, indem sie selbst an den Ftügeleien
teihiahmen.
Im Jahre 1709 übersiedelte die Truppe des Direktors Fürst
nach der neuen Zarenresidenz an der Newa; Fürsts Nach-
folger war hier gegen £nde der Regierung Peters der Direktor
Mann. In Petersburg erstand neben dem deutschen Theater
jetzt auch ein russisches, an dem besonders das T^denz-
drama ,,Die Streljzy" von Natalia Alexe jewna Romanow auf-
geführt wurde; die zarische Dichterin hatte sich mit nicht
weniger als zwölf Akten begnügen wollen, um mit grauenvollem
Reahsmus die blutigen l'.reignisse vorzuführen.
Katharina I. lebte nur ihren Liebhabern und kümmerte sich
nicht um die Pflege des I heaters ; l'eter II. fand, wenn er
nicht auf der Jagd war, nur Geschmack an Hanswurstiaden und
rohen zynischen Spaßen. Erst mit dem Kronungsfeste nach
der Thronbesteigung der Zarin Anna Iwanowna begitnit dab
Theater m Rußland wieder fortzuschreiten. Zur Krönung Annas
werden vom König August von Sachsen „Signor Cosimo imd
seine Frau nach Moskau hergeliehen, damit sie italienische-
Intermezzi vorstellen." Ihnen folgt 1735 ^i"^ ganze italienische
Truppe unter Araja, der zum kaiserlichen Kapellmeister des
Petersburgers Hoftheaters ernannt wird. Das Hoftheater ist*
im Sommer ein Holzhaus im kaiserlichen Garten, im Wiiiter
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ein Saal in einem Flügel des Winterpalastes. Einmal in der
Woche gibt es Ballette. Die Rilletteusen sind: Kadetten. Man-
cher von diesen männlichen Balletteusen, wie Tschoglokow,
tanzt sich ni das Herz und ms Bett der Zarin hinein und
avanciert zum Kammerherrn. Vom Jahre 1737 ab wird all-
jährlich eine neue Oper aufgeführt ; die .Werke sind durchwegs
Kompositionen Arajas. Als BallMneiater fungiert der Italien
ner Rinaldo Fossana, der drei Tämerinneii und mehrere Tänzer,
unter ihnen den Franzosen Landet, der bald Fossanas Erb-
schaft fibernehmen wird, mitgebracht hat. V<m den Ausländem
werden dnige Russen und endlich auch drei Russinnen aus-
gebildet. Anna Iwanowna versteht aber nicht italienisch und
ist auch keine Musikfreundin. Die Oper langweilt sie. Sie ist
deshalb glücklich, aU Graf Linar, der Gesandte Sachsens an
ihrem Hofe, das Engagement einer deutschen Truppe ver-
mittelt, imd nun unterhält sie sich vortrefflich bei deutschen
Possen. 1739 entschließt sich die berühmte Caroline Neuber,
die damals daa Ruine nahe war, mit ihrer Truppe nach Peters-
burg zu ziehen. Sie kommt im März 1740 an und bleibt bis
Oktober.^) Aber nach dem Tode Annas wird sie. einer Bettlerin
gleich, davongejagt, denn das neue Regiment ist deutsch-
feindlich; die Französierung Rußlands hat begonnen.
Das französische Element triumphiert auf der ganzen Linie
der sogenannten russischen Kultur; das deutsche Theater und
die deutsche Zivilisation werden hmwtggetanzt und hinweg-
gespielt von franzosischen Tänzern und Komödianten. 1748
spielt zwar noch die ileutsche Ackermannsche Gcsellschafi in
einem eigenen „Stadttheater" in Petersburg, und 1749 gibt
der Senat dem Wiener Hilferding die Erlaubnis, in Petersburg,
Moskau, Narwa, Reval, Riga und Wyborg deutsche Komödien
und Opern aufzuführen; aber der Erfolg lohnt nicht die Mühe
und Kosten. Den Franzosen dagegen geht es vortrefflich.
Monsieur de Serigny erhält 25000 Rubel Subvention, ein Haus
für seine Komödien, und auf Kosten des Hofes Beleuchtung,
Dekorationen und Musik. Die Kostüme muß er selbst liefem,
i) Cvoline N«uber and ihre ZeitgenoflMn, von Friir. von Reden-Esb«ck»
Leiptig tSSt. S. m».
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— 414 —
aber er braucht sich deswegen keine großen Sorg-en zu machen,
denn ,,die Vornehmen des Hofes beschenken die Schauspieler
mit manch schönem und kaum einmal getragenem Kleide."
Auch der Italiener Locatelli verdient ein Vermögen mit leich-
ter Mühe, namentlich da er die Kimst durdi das Handwerk
unterstützt und in die Opemvorstellungen Feuerwerk einführt.
Elisabeth liebt Musik und Theater. Noch als Prinzessin, da
ihre Mittel äußerst beschränkte waren, hatte sie in ihrem Hof-
Staate neun Musiker und zwölf Sänger^), unter letzteren Ra*
sumowskij, der sich zum heimlich angetrauten Gatten Elisabeths
hinaufsang. Als Zarin laßt Elisabeth die weiblichen Rollen zu-
nächst noch immer durch Kadetten darstellen. Ihrer perversen '
Natur, die sie treibt, sich bei Maskeraden hi Mannerkleider
zu werfen, um ihre schönen Beine zu zeigen, gefallen Männer
in Frauenklcidem; den hübschen Kadetten Sswistunow kleidet
sie am liebsten selbst an, imd an dem Kadetten Beketow ent-
deckt sie, als sie ihn ebenfalls auskleidet, um ihn umzukleiden,
solche Vorzüge, daß sie ihn von seiner Theatergaderobe hin-
weg direkt in ihr Schlafzimmer führt.
Das Interesse für das russische Nationaltheater ist unter-
dessen fast ganz verloren gegangen. Das russische Volk ergötzt
sich in der Butterwochc wie früher bloB an den rohen Vor-
stellungen geistlicher Dramen oder an Hanswurstiaden. Für
diese Komödien hat man nirgends <_in bestimmtes Gebäude. Die
Schauspieler wandern von Platz zu Platz, schlagen für einen
lag hier, für einen andern dort ihr Heim auf. legen ein*- .Matte
auf den Boden, dekorieren die Wände mit buntem i'aj>ier, und
Bühne und Zuschauerraum sind fertig. Zuweilen mietet die
Gesellschaft einen Stall ; dann hangt man abends dne Laterne
vor die Tür, und der Ton eines Waldhorns verkündet, daß
hier ein Schauspiel (Brpuu;(v stattfinden soll. Der vornehmste
Platz kostet vier Kopeken. Der Inhalt der Stücke ist einfach
blöd. Man führt die alten Mysterien auf, aber die Zensur
ist eine strenge geworden. Früher kam es vor, daß in dem
Stücke, welches die Verkündigung Maria feierte, die heilige
Jungfrau dem Engel, der ihr die Geburt Christi prophezeite^
WaJiaicwski, L« derniire d«s Ronumow. 39,
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— 416 —
ziomig zurief : ..Hältst du mich für eine Hure, da du mir vom
Schvvangerwerden vorplauderst ? Parke dich fort oder ich werde
dich wegfegen!" Elisabeth, die fromme und keusche, verbot
d'.raitigt 1 rolanierungen der Gottesmutter und befahl, daß
man die Personifikation der heiligen Jungfrau durch ein Hei-
ligenbild ersetzte ; jedesmal, wenn an Maria die Reihe kommt,
zu erscheinen, bringt man ein Ikon auf die Bühne.^)
Und doch dichteten damals schon die großen russischen
Dramatiker Lomonossow und Ssumarokow. In Petersburg ver-
einigten sich die drei Kadetten Melessino, Sswistunow und
Osterwald sogar sur Darstellung eines Dramas von Ssumaro-
kow. Die Zarin erfuhr davon und räumte deh drei Jimglingen
einen Saal ein, worin sie Stücke der beiden genannten russi-
schen Dichter vor geladen^ Publikum aufführten. Zur selben
Zeit, 1750, wurde in Jaroßlawl das erste öffentliche russische
Nationaltheater von dem ersten russischen Schauspieler Fedor
Wolkow begründet.*) Wolkow war im Hause seines reichen
Stiefvaters Poluschkin europäisch erzogen und von einem deut-
schen Pastor, dem Prediger des nach Jaroßlawl verbannten
Herzogs Biron von Kurland, mit Liebe zur Schauspielkunst
erfüllt worden. Er studierte in Mockau und Petersburg, be-
suchte hier eifrig Theatervorstellungen, befreundete sich mit
deutschen und italienischen Künstlern xmd machte sich mit
dem theatralischen Mechanismus bekannt; dann kehrte er nach
Jaroßlawl zurück, organisierte hier aus Freunden eine Truppe,
*) F. W. Barthold, Ausgang des Joanschen Zweiges der Romanow nnd
seiner Freunde. Kaumers hist. Taschenbuch VIII, S. 70.
*) GdAgeaflieh der 150. Jahmwend« dieses Efdgoisses ieiideD an aBeo
Theatern Rvfilaads groBe Feierlichkeiten statt, und dem Andenken Wolkom
wurden Bücher, Festschriften und Festartikel nicht bloß in Rußland, sondern
auch im Ausland gewidmet; unter Ictzercn erwähne ich das schöne Feuilleton
von N. Golant {„Der Begründer des russischen Theaters") im Literaturblatt
der Neuen Freien Presse vom is. Juli tgoo. Seither hat man die Verdienste
Wolkow» anf Gmnd neuerer Fofschangen vielfach herabgesetst. So widere
legte namentlich P. Morosow im EjKcnvuniiri. itMii«'paT"pn{HX'T. TearpoiTL 1899/1900
manche der Legrnfir-n. die sich um die Erscheinung dt-s ersten russischen
Schauspielers gebildet haben. Es ist aber das Eine jedenfalls nicht anzu-
fechtm, daB Wolkow der Bahnbrecher nnd Pfadfinder der nationalruttiselien
SehwMpielkonst war. Wolkow starb im Alter von nor 34 Jahren.
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— 416 —
erbaute auf eigene Kosten ein Theater und eröffnete es am
12. Juli 1750 mit dem Dnuna '^^ther** und der Schaferidylle
„Emwon und Versa", zu der er selbst die Musik komponiert
batte. .Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Man sprach in
ganz Rußland von dem Ereignis» und Elisabeth befahl, „die
Truppe Wolkows mit aller Eile nach Petersburg zu bringen."
Die Zarin war von der ersten Vorstellung, welche die Wol-
kowsche Truppe an ihrem Hofe gab, entzückt und ordnete die '
Gründung eines öffentlichen russischen Theaters an.i) Wolkow
wurde zum ersten Hofschauspieler, der Dichter Ssumarokow ^
mm Direktor mit einem Gehalt von 1000 Rubel ernannt: für
die Schauspielergagen waren 3000 Rubel jährlich angewiesen
worden.-
Katharina 11. erklärte: „Das Theater ist die Schule der
Nation ; sie muß absolut unter meiner Aufhiclit stehen, ich bin
der erste Lehrer dieser Schule, denn ineine erhabenste Pflicht
ist vor Gott für die Sitten meines Volkes verantwortlich zu sein."
Diese Veraüuvortlichkeit hat die große Zarin wirklich in merk
würdiger Weise crtuiit, der liebe Gott hat wenig i rcude an ihr
erlebt. Als erster Lehrer der theatralischen Nationalschule |
verlieh Katharina zunächst dem Meister Wolkow den Andreas-
orden und den Add; gleichzeitig trug sie ihm, nicht mehr
und nicht weniger, einen Ministerposten ant Wolkow wollte
aber nichts als Schauspieler sein, und bekümmerte sich bloß
um die Vorbereitung der FestvorsteUungen an den bevor-
stehenden Krönungsfeierlichkeiten. Mitten in dieser Tätigkeit
erdlte ihn der frühe Tod. Seine Lebensarbeit war aber trotz
ihrer kurzen Dauer keine verlorene gewesen« das russische
Theater war erschaffen und blieb bestehen. Katharina selbst
schrieb ^ zumeist mit der Feder ihres Sekretärs Dmchawin —
eine ganze Reihe von Theaterstücken^), die sowohl auf der
^) Das historische Dokument ist abgedruckt im Äpxini'b luinepaTopcimrb
narpoRru, uT;itwTi. II: .jl^ivri-iffirTTJ. crp. 54, .^i? 55 (Ofa, prpr;rai;nin Prc'Trnro irarpa).
31) Die verschiedenen Ausgaben der Theaterstücke Kattiarinas hndet man
vendchnet bei B. von Bflbaiioff, lUfbarina II. im Urtdie der Wdtlitentnr,
antatisierte Üben, ans dem Rnasiscfaiea, mit einem Vorwort von Dr. Theodor
Schiemann. BerUn 1897 (2 Bände). — Man veK||^. femer Thi&tre de I'Her-
mitage de Catherine II, imptottrice de Rusaie. oompos6 par cette princeeM!,
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- 417 -
öffentlichen Bühne als auf der kaiserlichen Privatbühne, dem
Th^tre de rU^rmitage, wie die Kaiserin ihr intimes Bühnen-
haus nannte, zur Aufführung kamen. Im Ermitage-Theater
spielten gewöhnlich Dilettanten, intime Freunde der Kaiserin,
ihre Gelegenheitsmacher, Günstlinge und Freundinnen. Unter
letzteren war die Gräfin Bruce besonders beliebt : aber eines
Tages entdeckte Katharina, daß ihr Liebliaber Korsakow seine
Gunst heimlich der schönen Gräfin zugewendet hatte, und
die Bruce mußte sofort aus Petersburg verschwinden. Auch
sonst spielten sich bei diesen intimen Vorstellungen pik uitc
Szenen im allerhöchsten Zuschauerräume ab. Baron de ßrc
teuil erzählte, wie er einst an der Seite der Zarin der Auf-
führung einer Tragödie beiwohnte, in welcher Gregor Urlow.
der Günsihiig Kailiarinas auftrat. Er spielt seine Rolle linkisch,
aber Katharina schreit immerfort Bravo I und fragt ununter-
brochen rechts und links um die Ansichten der Zuschauer. Sie
selbst findet ihn entzückend, lobt seine Noblesse, preist seine
Schönheit. 1) Sobald aber ihre Person aus dem Spiele kommt,
hat diese große Sittenlehrerin kein Interesse mehr für ihre
Schule, das Theater. Um Europa zu blenden, wirft sie MiUionoA
hinaus für das Engagement von Stemel ; sie beruft Madame
Toldi, bewilligt jede Summe, welche die Künstlerin verlangt,
aber muß sich nachher erst darüber informieren lassen, wer
die Toldi eigentlich sei, und was sie leiste. Musik liebt die
Kaiserin nicht, die Komödie langweUt sie, die Tragödie miß-
fällt ihr — und so zieht sie sich endlich, nachdem sie genug
getan hat, um Europas Staunen ob ihres Kunstverständnisses
zu erwecken, mit den alten Herren an den Kartentisch oder
mit den jungen Günstlingen in ihren Alkoven zurück.
Dem gemeinen Volke waren die Hoftheater nicht zugäng-
lich. Auf Befehl der Regierung wurde auf einem Platze an
der Mojka eine offene Bühne für den Petersburger Plebs er-
par plusieurs peraonnages de sa soahUi mtuiic et par quelques mioistres
Mnngers (pabL par F. Casttea). 3 vob. Fuis 1799* Enthält die Stfidce, die
1787 nsd 1788 auf KatiiatiiiM intimer Bühne von fnniösiadMin SehAuapiekm
•nfgefährt wurden.
1} Waltszcwski. Autour d'un tröa«, pa^ 8a — DendtMi» Le Roman
d'nne impcratrice, 227, 441.
Stern, Gcvchicble der öffenü. SitUichkeit ia RufiUad.
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I
— 418 —
richtet, wo eine von der Polizei dirigierte und besoldete Truppe
die Moral durch die Kunst lehrte! Die Schauspieler erhielten
für jede \'orstellung sofort ihr Honorar — fünfzig Kopeken
per Per-^oii \ um Vertreter des Folizeichefs ausbezahlt.
Dies waren die Anfange des russisrh'-n Hieaters. das be-
rufen gewesen wäre, in der Geschichte der Sittlichkeit einer der
-vvichtigsten i aivtoren zu sein, das aber seine hohe moralische
Aufgabe nicht erfüllt hat, Wievit^l Gutes hätte es gerade für
die Veredlung der Sitten in Rulildn l leisten können! Trotz der
allgemeinen Knecliiuiig des Gedaiikt-ns und des Wortes hat
die Bühne sich einer merkwürdigen Freiheit erfreut. Auf jedem
anderen Gebiete der Literatur war die Wahrheit Verbrechen,
aber auf der Bühne durfte sie sich frei und kühn aussprechen.
Der Publizist Radischtschew wird von Katharina vor Gericht
geschleppt und nach Sibirien verbannt, weil er in seiner ,,Reise
von Petersburg nach Moskau** eine zi^Iidi harmlose Kritik
der sozialen Zustände zu veröffentlichen gewagt hat; aber die-
selbe Zarin überschüttet den Lustspieldichter Von-Wisin, der
in seinen Stücken erbarmungslos den Hof und die Gesellschaft
geißelt, mit einer Überfülle von Ehren; und Patjomkm, selbst
durch die Satire schwer vmvundet, drückt dem Dichter die
Hand und sagt ihm: „Jetzt stirb, oder dichte nicht mehr!"
Ssumarokow, der erste ernste russische- Dr.imatiker. darf mit
Stolz den Beinamen eines Beschützers der Wahrheit und Geiß-
lers der Laster führen. Über Lomonossow wird die Knuten
strafe wegen Beleidigung hoher Beamten verhängt, aber des
Dichters \'erdienste als Dramatiker erwirken ihm Begnadigung.
Knjäschniii und Ssndowtschikow dürfen in Dramen das Sportcl
nehmen und die Unehrlichkeit des Beamtentums verspotten,
Kaiser Alexander 1. sperrt den Menschenfreund Karasin, den
Begründer der Universität von Charjkow, in das furchtbare Ver-
ließ der Schlüsselhurger Festung, weil dieser Mann es gewagt
hat, dem Zaicn in euiein Biu he das Elend den Reiches zu
zeigen ; doch der Dichter Gribujedinv , der : Wehe dem Ge
scheiten ! schrieb und in diesem Lustspiel die vornehmste rus-
sische Gesellschaft so furchtbar an den Pranger stellt, daß es
anfänglich nur im Geheimen gegeben werden konnte, wird
\on demselben Zaren ausgezeicboiet, als das Stück endlich
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— 419 —
in die Öffentlichkeit dringt und die Verurteilung der knech-
tischen und faulen Bureaukratie jubelnden Beifall findet. Niko-
iaj L läßt den Satiriker Ssaltykow-Schtschedrin nach Wjätka
verbannen, weil er das verrottete System des Tschin ange-
griffen : aber wir wissen auch, daß derselbe Nikolaj dem Dich-
ter Gogolj nicht bloß die Aufführung des Lustspiels „Der
Revisor" ermöglicht, sondern der Premiere dieses Stückes, das
die Willkür und Korruption der Tschinowniki bloßstellt, mit
seiner Gegenwart einen besonderen Glanz verleiht. Auch unter
Alexander II. darf Ostrowski] in seinem Lustspiel „Eine ein-
trägliche Stelle" ungestraft die heilige liureaukratie .angreifen.
Die rus:->ibchen Dramatiker haben aber nicht immer der
Freiheit und der Gerechtigkeit gedient, sondern häufig gciiug
auch den schlechten Instinkten geschmeichelt und namentlich
der Wollust und der Grausamkeit weiten Spielraum auf der
Bühne verschafft. Im Herbst 1889 wurde im Abramowtheater
zu Moskau &n Stüde aufgeführt, worin eine dar handelndoi
Personen bestimmte weibliche Mitglieder des Zirkus Sala-
monskij bexeichnete, die ihre Gunst willig verschenkten. Woh-
nung und Tarif der Damen wurden genau angegeben. Außer-
dem empfahl man in diesem Stücke Hurenhotels und Ver-
gnügungslokale niedrigster Sorte. ^) Pissemskij zeigte in seiner
Volkstragödie „Bitteres Los", wie der Bauer Ananij das von
seinem Weibe aus einem Liebesverhältnis mit dem Gutsherrn
geborene Kind in einem Anfall eifersüchtiger Raserei an einer
Tiscbecke zerschmettert. Leon Tolstoj hat in der Macht der
Finsternis" die schauerlichsten Tiefen aufgewühlt, wie Maxim
Gorkij in seinen Szenen „Das Nachtasyl". Am weitesten in
der Brutalität aber gehen jene modernsten Dramatiker, die,
von der Regierung in den Dienst der Reaktion gestellt, in
ihren Stücken zeigen müssen, wie man Juden und Fortschritts-
männer erschlägt; dies geschieht beispielsweise in dem Stück
,,Die .Sohne Israels", das seit 1901 aufgeführt wird und von
allein Antang an zu fanatischen Demonstrationen der Liberalen
wie der Reaktionären \ eranlassung gab.
Was bedeutet das i'heater in Kubiand für die Geschichte
*) IIoiKiv BpfMH, 30- «'i^'i- 1889.
27*
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— 420 —
der öffentlichen Sittlichkeit? Die Herrscher und Herrscherinnen
des Zarenreiches haben es nur als ein Mittel ihres egoistischen
Vergnügens betrachtet. Die Zarixwen des achtzehnten Jahr-
hunderts unterstützten es, weil sie im Schauspielerpersonal eine
neue Gattung von Liebhabern fanden, gleichwie im neunzehnten
Jahrhundert der sittenstrenge Nikolaj I. sich seine Maitressen
vom General Ciideonow, dem Chef der kaiserlichen Theater,
aus dem Ballettkorps auswählen ließ. Nikolaj II., der ein glück-
liches Familienleben führt, stellt an das Theater keine derartigen
Ansprüche : aber da es nun besteht, so werde es eine Stätte
der Propaganda für die zarische Autokratie, predige es die
Ausrottung der Feinde des Selbstherrschers durch Mord und
Feuer.
Ein Nationalvergnügen im guten Sinn des Wortes konnte
das Theater schon deshalb nicht werden, weil man das Volk
von ihm fast immer ferngehalten hat. Im Hoftheater Nikolajs I.
gab es weder Balkone, noch Logen, sondern nur ein Parterre,
einen einzigen Raum für die Allervomehmsten» für die Uni-
formierten ; Zivilisten durften nicht erscheinen. Die sogenannten
V<^kstheater, die im Laufe der zwei Jahrhunderte gegründet
wurden, hatten keinen Bestand, weil man aus ihnen Schulen
machte, in denen nach autokratischer Lehre mit der Peitsche
des Polizisten unterrichtet wurde. Die Zuschauer schiefste
man durch Kosaken in diese Theater. So zog es der ge-
meine Russe vor, bei seinem Hanswurst der Butterwoche zu
beharren, der mit seinen obszönen Gesten und zynischen
Reden die Sprache spricht, die das Volk versteht, die dem
Volke gefällt und die das Volk nirht verlernen wird, so lange
die Selbstherrschaft dauert und das i^rinzip der Entsittlichung
der Massen regiert. Nikolaj II. eröffnete vor einigen Jahren
im Alexanderpark zu Petersburg wieder einmal ein Volks-
theater und ließ stolz verkünden: ,,Dies soll eine Stätte sein
für die Entwickelung der Kultur, ein Gcscliciik Rußlands an
das zwanzigste Jahrhundert." Die (jeschichte aber läßt sich
nicht durch Worte verblüffen und urteilt unbeugsam nur nach
den Ergebnissen.
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— 421 —
24. Rauchen und Tabakbuden.
Tabak «in HiSUeiikfant — Legende vom Tabak — Btbdworte gegen das Raneheo
—Todesstrafe, F(dter und Verstümmelung für Raucher — Über die Raucher-
leiden in der Türkei — Peter der Große Urheber der Rauchfreiheit — - Monopole
des Marquis Caermarthen und des Grafen Schuwalow — Rauchen auf den
StiaBen — Vkaa Nikolttta L raganaten einea Sancfae» — RaOkoljnlki und Geist*
lichkeit gegen das Bauchen Randun ein Nationalvcrgnügen — - Nogaier —
Soldaten — Tabaksalons — Tsbakbnde und Bordell.
Das Rauchen ist dem Russen gleicherweise Vergnügen wie
Lebensbedürfnis. Merkwürdig aber, daß just in Rußland und
in der Türkei, also in jenen Staaten, die gegenwärtig- als die
eigentlichen RaucherUmder gelten, der Tabak ^) im Anfang
verpcmt war als das Kraut der Hölle. Die russische Literatur
des siebzehnten Jahrhunderts besitzt sogar eine Legende vom
Ursprung des Tabaks"-), worin alle Schrecken ausgemalt sind,
die dem Seelenheil des Tabakfreundes drohen. Besonders die
Mönche verabscheuten den Tabak. Ein Abt aus einem Kloster
in der LTcraine sagte dem preußischen Legat ionssekrctär Vocke-
rodt^): „Gott habe daa Tabakrauchen ausdrücklich verboten;
es heißt in der Bibel : Was zum Munde hineingeht, vemnreimgc
dfiB Menschen nidit; aber was tum Munde herausgeht, ver-
unreinigt den Menschen. Deshalb sei eher Bier oder Brannt-
wein erlaubt als Tabakrauchen.** Zar Michael Feodorowitsch,
der erste Romanow, verbot in einem Gesetze „sowohl den
Russen als den Ausländem, Tabak bei sich zu haben, Tabak
SU trinken oder damit su handeln/* Käufer und Verkaufer
sollten festgenommen und sogleidi mit dem Tode gestraft
>) Dr. Gustav Klemm (Das Feuer, die Nahning, Getränke, Narkotica.
Leipzig 1855. S. 366) meint, daß die Russen^den Tabak durch die Engländer
kennen lernten. Nach En^and aber kam Tabak «rsfc nm 1583. nihrend nach
OlaarinB, Orient. Reise S. is6. schon im Jahre 1543 der Tabak in Rnflhnd
«erboten wurde. Es wird daher angenommen, daß die Russen wie den Tee
auch den Tabak au^ China erhielten. Vgl. Niootiana, oder: Taachenbncik für
Tabakliebhaber, Berlin 1801. S. 35 und 44.
*) Vgl. A. V. Rsinlialdt, CsacMchte der russischen literator, S. 340^
*) Bei Herrmann. ZeitgenOss. Berichte. S. 15. Abeehnitt 32.
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— 422 —
werden; ihre Häuser und Guter verfielen der Konfiskation,
das einfließende Geld erhielt die zarische Kasse. Zar Alexe]
lüchajlowhsch der Aufgeklärte bestätigte nicht bloß das Ge
setz des Vaters, sondern verschärfte es noch durch die An-
ordnung, daß der Todesstrafe die Folterung vorausgehen sollte.
Wenn jemand beteuerte, daß er den Tabak nicht gekauft, son-
dern zufälHg auf der Straße gefunden, so wurde er auf die
Folter gespannt; bestand er in der Folter bei seinen Angaben,
so nahm man diese als wahr an. War der Beschuldigte ein
Bojar, so ließ man ihn jetzt frei; „ein Streljze, ein Ausländer,
ein Herrenknecht, ein Bauer oder ein Spazierganger** aber
wurden, bevor man sie freiließ, „über dem Bock mit der
Knute" geschlagen. Wenn ein Streljze zum zweiten Male im
Besitze von Tabak gefunden wurde, so folterte man ihn —
falls er angab, den Tabak wieder nur gefunden zu haben —
diesmal wiederholt, um die Wahrheit zu erfahren. Bestand er
auf seinen Angaben, so ließ man ihm das Leben, verbamite
ihn jedoch in ferne Provinzen oder nach Sibirien und gab ihm
einen Denkzettel, indem man ihm die Nase abschnitt oder
wenigstens die Nasenlöcher aufschlitzte -V
Peter der Große, der seine Russen rasierte und nach t nro-
päischer Art kleidete, steckte ihnen auch die Tabakspfeife m
den Mund. Schon vor seiner Reise ins Ausland, im Jahre
1697. hob er das Verbot des I'abakrauchens auf. In England
schloß er mit dem Marquis von Caerinarthen einen Vertrag
betreff,? eines Tabakshand<-hnonopols lur RulAland. Er selbst
raucht und schnupft; bei den Assembleen müssen aui allen
Tischen Tabaksäckchen und Pfeifen aufliegen';, und die
Russen, in neuen eleganten französischen Kleidern herum
spazierend« dampfen auf zarischen Befehl aus den plumpen
1) Vgl. die §§ 10—21 d«s Kap. XXV in Stravus Allg. Russ. Land- Recht.
Dantzig 1793, S. 241 ff.
2) In der Türkei waren die gleichen Strafen in Gebrauch. Dem Raucher
wurde die Na<iO durchbohrt und der also bestrafte Rauchlüstling als nbsrhrr ken- I
des Bdapiel zur Schau herumgeführt. Murad IV'. ließ 1638, zur selben Z^t
ynt Zar Ifiehad, die ItaiichiBr in seinem Heere köpfen, hängen, vierteilen und
die Lflidun solcher Verbreefaer vor die Zdte werfen.
*) Waliaiewsld, Piene le Grand, pp. 60. 212, 458.
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— 423 —
•
hcdJändisdieii MiBtiosenpfeilen. Die Anhänger der alten Ge-
bräuche sahen in der Erlaubnis des Tabakrauchens eine Ent-
heiligung des Glaubens; um diese Fanatiker zu ärgern, ver-
anstaltete Peter, wie bereits in einem früheren Kapitel erzählt
wurdet), eine Maskerade, bei der die Teilnehmer Päckchen
brennenden Tabaks auf den Hüten trugen, während der After
papst Sotow das Volk mit einer Tabakspfeife wie mit einem
Kreuze s^nete.
Die Russen gewöhnten sich schnell an das Höllenkraut,
und bald wurde im ganzen Lande so stark geraucht, daß der
Marquis von ("aermarthen ein glänzendes Geschäft machte;
er allein hatte das Recht des Tabakhandels in ganz Rußland,
die Ukraine und Livland ausgenommen, und wer sein Monopol
verletzte, verfiel der Knutenstrafe^,. Zarin f'lisaboth iiberlicli
ihrem Ciiinstling r.cneralfeldmarschall Graten Schuwalow und
drssen lirben im jähre 1759 du- labakpacht für zwanzig Jahre
gegrii eine Summe von 70000 Rubel. Ein Ukas Katharina^ II.
hob 1762 diesen Vertrag aut und gab den Tabakhandel im
ganzen Reiche frei^). Nur das alte Verbot dc^ Rau( ht-ns auf
den Straßen blieb unverändert bestehen. Noch unter Nikolajl.
wurden Personen, die auf der StratSe mit brennenden Zigarren
angetroffen wurden, von den Polizisten arretiert und auf der
Polizeiwachstube mit 25 Stockschlägen bestraft. Ausländische
Matrosen, die sidi mit Unkenntnis der Geseke entschuldigen
konnten, zahlten beim ersten Male bloß 5 Rubel Strafe. Eine
Ausnahme ließ Kaiser Nikolaj nur für den Chefarzt des Ge-
neralstabs der Marine gelten; dieser war ein so leidensdiaft-
lieber Raucher, daß er seine Zigarre fast niemals aus dem
Munde nahm. Der Zar gestattete ihm durch einen speziellen
Ukas das Rauchen auf der Straße^).
>) Vgl. Seite 372,
*) Menoires poor s«rvir i l'bbtoire de TEinpire Riwsiea par an Ministre
etranger, ä la Haye 17^$. p. f02.
•) BüscUings Magazin für die neue Historie und Ccog^raphie. III 284 — ■
Man vgl. auch den I k.u» Katharinas vom 11. Februar 170 ; ul)* t lUf Tabaks,
plantageo in KieinruOland, bei Haigold, Neuverandertes Rußland, II. Bd..
S. IV und 141 — 152.
Vgl. FjMor Wemifot. RuBknl im Lkht und RuBlaad im Schatten.
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— 484 —
Die Ra0koljniki oder Altgläubigen sind unerbittliche
Gegner des Tabaks^). Das im Eingang dieses Kapitels er-
wähnte Bibelwort dient ihnen als Beweis dalür, daß das Rauchen
ein Höllenwerk sei'}. Wenn ein Fremder, der bei einem Alt-
gläubigen zu Besuche ist, in Unkenntnis des Absehens der
Raßkoljnild vor dem Tabak ahnungslos seine Zigarette raucht,
so sagt ihm der Wirt kein Wort. Abtx kaum ist der Gast
fort, so beginnt die Reparierung des Verbrechens. Alle Fenster
werden geötfnet, Türen und Tische gewaschen und gescheuert,
das ganze Haus gereinigt und vor allem die Plätze, auf denen
der Fremde gesessen, einer gründlichen Säub«ung unter«
zogen 3).
Gleich den Russen sind auch dio nichtnissischen Völker
in Rußland, namentlich die im Süden lebenden, leidenschaft-
liche Raucher: der Nogaier beispielsweise könnte alles cnt-
beiiren, nur den Tabak nichl^). Für die Soldaten ist die Zi-
garette der Inbegriff des Süßesten und Kostbarsten Ich er
innere mich, daß wir als Knaben den in dm turk licn Krieg
ziehenden Soldaten alle möglichen Gesflunke, Eljuaren und
Wertsachen brachten; sie wiesen alles iiurück und baten nur
um Tabak und Papiroß*). Die Tabakbudr. TaGaniiaa ;iaiiKü,
ist für den echten Russen ein Ort der Untcrhaliung, eine Art
Kaffeehaus, wo er, namentlich in den großen, fast durchwegs
von krymschen Juden, den Karaiten, gehaltenen Geschäften,
1) Ähnlich sind auch die Wahabiten, die man die Altgläubigen unter den
modemiaciwii SdrtcB nennen kwan, Gegner des TabnloAndieni*
*) Einst sagte ein Pfsner in Basel: „Wenn ich lUnner sehe» die Tabak
rauchen, so ist mir als sähe ich lauter Kamine dw HSUe". Der Glaubenspredigtf
Scriver schnell in seinem ..Scelenschatzp" (17. Jahrhundert): , .Damit man
immer melir saufen könne, macht man den Hals zur Feuermauer und zündet
dem Teufel ein Rauchwerk an". Kanzler Jäger (in der enten Hälfte dM
18. Jahrhunderts) rief von der Kanad herab: „Sie sanlen, fressen, huren, bnbeo,
ja sie rauchen sogar Tabak". Der Klerus ist uberall derselbe. Bei den Indianen
al er ist das Rauchen eine religiöse Handlung. VgL V. Strebel, Die Rauchhexe;
Stuttgart 1857, S. 40. 71.
*) Sammlung merkwürdiger Anekdoten das Russische Reich betreffend,
Greifiwald 1793. S. 33.
I) Haxthausen, Studien fiber die inneren Zustände Rufliands, II 371.
*) Ilannpori». das russische Wort für Zigarette.
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Prostituierte in einem Bad in Batum.
(Nach einer rhntographie.)
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— 426 —
jeden nur erdenklichen Luxus antrifft. Da gibt es prächtige
Hallen mit Diwanen; Zeitungen liegen auf: und ist man stän-
dige Kundschaft, so erliak niriii auch sein Glas Tschaj, Man
kann an Ort und Stelle die besten Rauchsorten erproben, er-
zählt währenddem Geschichten, hört auch einem von Tabak-
bude zu Tabakbade wandernden Sskwemoßlowi) zu. Diese
Tabatscfanije Lawki sind außerordentlich sauber gehalten
und die Waren appetitlich aufgestapelt, wie in einem Delika-
tessengeschäft'). ^ Süden Rußlands, beispielsweise Odessa,
sind die kleineren Tabakbuden aber auch Stätten der Prosti-
tution. Hier steht am Verkaufstische statt eines Mannes stets
eine Frau, die dem Käufer durch einige Worte zu verstehen
gibt, sie müsse selbst bedienen, weil sie frische Mädchen be-
kommen habe, die das Geschäft noch nicht verstehen. „Frische
Mädchen, hübsche Mädchen," fügt sie hinzu, und öffnet die
Tür eines Nebenzimmers, worin man zwei oder drei halbnackte
oder auch völlig nackte Frauenzimmer erblickt. Der Tarif
beträgt für Fremde einen Rubel, für Einheimische oder Be-
kannte die Hälfte. In manchen Straßen Odessas reiht sich
eine derartige Tabakbude an die andere, und der Fremde, der
den eigentlichen Zweck der Geschäfte nicht kennt, staunt nicht
wenig üb der scheinbar unvernünftigen Häufigkeit und un-
sinnigen Konkurrenz; er erhält aber einen geradezu imponie-
renden Eindruck von der russischen Rauchwul, beobachtet
er dann gar die lebhafte Frequenz dieser Tabakbuden, die
trotz des großen Wetteifers glänzend nebeneinander bestehen.
^ CKiMi|Mteieauirb, Zotenceißer.
*) Vgl. J. C. Kohl, SQdrußland. II 85.
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- 42a —
25. Bäder.
Vorgänger des russischen SchwitzUades Das Bad der Skv'then - Da.^ finni/>i.li
iMmpfbad — Russisches Schwitzbad — Flagellation im Bade — Das Badblatt
im Sprichwort — Arten des Badens — Nacktheit — Bad als Heilmittel —
Der heilige Andreas über die Bftder von Nowgorad — Gemeiiiranies Baden voa
Männern und Weibern — Klagen des Stoglav — Bericht Fletchers — Olearius
iilxr dir Schamlosigkeit drr Russinnen — \l)hö Chappe d'Auteroche un<l
I^thariua II. — Katbarina verbietet das gemeinsame Baden ^ Maler und
Arste haben freien Zutritt zum Frauenbad — Weitere Berichte — Major Ma«son
— Erlebnisse eines deutschen Offiziers — Ersählung des Grafen de la Garde
— Trennung der Geschlechter in den städtischen Bädern — Unzucht in Etade-
aastaltcn — Frottourinnen im Wamu nliad Pfulcrastic in den Bädern von
Tillis — Anmerkung über Unzucht m abendländischen Bädern — Bad uotl
ReioUchkeit — Der Geruch der Russen — Bad und Aberglaube — Der Samstag
und das Baden — Cottus und Bader.
Das berühmte Schwitzbad der Russen hat berühmte \ or
ganger. Herodot erzählt, daß man bei den Sk\ then ein Dampf-
bad bereitete, indem man Hanfsamen auf glühende Steine
warf. Den Hauptreiz dieses Bades sucht man wohl nicht mit
Unrecht in seiner narkotischen Wirkung''. I'nter den iiord-
europäischen Völkern bc^^itzcn die Finnen die ältesten Dampf-
bäder. Den Fimien ist dns liadehaii^ nicht bloß unentbehrlich,
sondeni ein wahres Heiligtum, lecier. selbst der .Xm^-te. liat
sein eigenes, wenn auch noch s<> kleines Haddiaus. Mierher
flüchtet er sich, um Heilung zu finden, wenn eine Krankheit
ihn befällt ; dann läßt er sich massieren und ^rhu ii^t tüchtig.
Die Schwangere begibt sich, wenn sie ihre schwere Stunde
kommen luhit, ins ßadcliaub, um hier ihre Niederkunft abzu-
warten. Das filmische Badehaus ist ein aus Balken errichteter
kleiner viereckiger Bau mit einem aus Feldsteinen zusammen-
gefügten, gr<^eii Ofen. An den Wänden entlang läuft oben
eine hängende Galerie, die Schwitzbank. Nur zwei oder drei
Luken sind dazu bestimmt, dem Rauch und Dampf Abzug zu
1) Vgl. Die Gescluchte des Badeweseus von Dr. Eduard Bäumer. Breslau
1903, S. 58 — 60: Das Bftdewesea der Finnen. — Bider und Badewesen in
VcfTS^ngenheit und Gegenwart. Eine kulturhistoriache Studie von Ehr. med.
Jnlian Marcnse, Stuttgart 1903. S. 86 — 89.
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— 427 —
lassen; sonst hat der Raum keine Offnungen. Der Dampf
wird dadurch erzeugt, daß man Wasser eimerweise auf die
heißen Üfensteine sehiittet ; die Temperatur erreicht die Hohe
von 70 bis 7> Grad Celsius. Man badet im Sommer zur
l.nuezeit geuolinlich jeden .\bend, sonst zwei- oder dreimal
wöchentlich. Mäimer, Frauen und Kinder sind im Baderaume
in buntem Durcheinander und tummeln sich ungeniert nackt
herum, peitschen sich selbst oder einander mit Birkenreisern
und übergießen sich mit kaltem Wasser. Oft läuft man, selbst
im Winter, aus dem Badehaus ins Freie und stürzt sich in
einen Fluß oder wälzt sich nackt im Schnee.
Die Russen haben zweifellos das Dampfbad von den Finnen
übernommen. In den russischen Dörfern wird das Schwitz-
r
bad noch heute so bereitet, wie es bei den Finnen Brauch ist,
indem man auf den glühenden Ofen kaltes Wasser schüttet.
In den Städten sind die Bäder eleganter und räumlicher und
bestehen aus wenigstens drei Stuben : einem Auskleide und
Ankleidezimmer, einer Kammer, in der man sich auf Bänke
legt, um sich von dem Banschtschik (oanrnHirb) einseifen xu
lassen, und aus dem eigentlichen Schwitzraum, wo in der
Mitte sich ein eingemauerter Kessel voll siedenden Wassers
befindet, während in einer Ecke Haufen von Birkenruten liegen.
Man nimmt euuMi starken Besen. läl.U mc :h tüchtig tiagellieren
und .steigt dann die I reppe zur Schwitzbank hinauf, auf der
man ausgestreckt so lange bleibt als man es aushalten k;mn.
Ehe man das Schwitzbad verläl.U. überschüttet man sich tüchtig
mit kaltem Wa.sser. 1 )ies gebchieht nicht bloß der Abkühlung
wegen, sondern auch um die Birkenblätter, welche sich überall
am Körper festsetzen, wieder wegzuspülen, was keine leichte
Arbeit ist. Daher stammt das russische Sprichwort zur Be-
zeichnung eines zudringlichen Menschen: ,,£r ist anhänglich
wie ein Badblatt am After" (IIpHcrain» Kam 6aHHifft nncn»
KT> vsoiA), Ein anderes Sprichwort warnt daher: „Badest
du viel, so sproßt dir die Weide im After** (ByAemb mhofo
i^naTbcfl — Bep6a vi» vkotA Bupocrerb). Von einem ängst-
lichen Menschen heißt es : >,Er schrumpfte zusammen, wie die
Vorhaut nach dem Bade" (CMopnm.icfl, vaxb aajiyna noci-b
6aHn.)
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— 426 —
Vor zwei Jahrhunderten beschrieb ein Diplomat folgende
vier Arten des Badens, die damals in Petersburg üblich waren*) :
Man setzt sich nackt in ein Boot und rudert rührig, bis
man in Schweiß gerät, dann springt man in den Fluß und
scbwimmt umher, hierauf klettert man in das Boot zurück und
trocknet sich mit dem Hemd ab oder läßt sich von der
Sonne trocknen, Oder man badet im Flusse und begibt sich
dann zu einem am Ufer angemachten großen Feuer, bestreicht
den Körper mit Ol oder Fett und geht, als wollte man sich
röst^ lassen, so lange nackt um das Feuer herum, bis die
Haut die Fettigkeit ganz eingesogen hat.
Eine dritte Art des Badens war die in dem finnischen
Vorort gebräuchliche. Hier waren in einem großen Holzbau
am Ufer eines Flüßchens nebeneinander dreißig Bäder errichtet.
Beide Geschlechter badeten zwar getrennt, aber man entkleidete
sich ungeniert draußen und lief nackt hinein, und wenn man
drinnen genug geschwitzt hatte, kühlte man sich durch kaltes
Wasser ab, lief zurück ins Freie und trocknete sich an der
Sonne. Oft kamen vierzig oder fünfzig Männer und Frauen
nackt aus ihren Abteilungen heraus, liefen ungeniert hin und
her und lachten die Passanten aus. Diese Bäder in der fin-
nischen Slohexla gehörten dem Zaren: für die Henut/ung zahlte
jede Person einen Kojieken. Das vierte Bad, das unser Ge-
währsmann schildert, ist das eigentliche russische Schwitzbad.
„Nach dem Bad." heißt es zum Schlüsse. , .werfen ^ie sich in
kaltes Wasser oder im Winter in den Schnee und vergraben
sich in ihm so tief, daß nur Nase und Augen frei bleiben ; und
so liegen sie oft zwei Stunden lang. Das betrachten sie als
ein Universalmittel in den verschiedensten Krankheiten".
Vom heiUgcn Andreas wird berichtet, daü er bei seiner
Ankunft in Nowgorod dort das Schwitzbad in derselben Art
kenn«! lernte, in der es noch jetzt gebräudilidi ist'). Nach
Rom zurückgekehrt, soll der Heilige seinen staunenden Zu-
hörern das Schwitzbad als eine der Merkwürdigkeiten des rus-
1} Memojres pour servir k Thistoire de rEmpire nusien por uii minütre
etrang«r. & la Haye 1725, p. 39.
*) Chfonique d« Nestor I 7.
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429 —
sischen Landes geschildert haben ,,Ich besuchte die Bad-
stuben. Sie sind aus Holz gebaut. Die Slawen heizen soviel
als möglich, dann werfen sie ihre Kleider ab und tauchen sich
in Seifenwasser ein. Sie hiben Ruten und flagellieren sich
stumm bis sie schwitzen. Darauf tauchen sie in kaltem Wasser
unter. Diesen (Gebrauch üben sie mehrmals täglich. Geschützt
vor der Tyrannei-), quälen die Slawen auf diese Wcisi* sich
selbst und machen- aus dem Bad statt eines Vergnügens eine
wahre Strafe.**
Ob nun wirklich der heilige Andreas selbst eilest- Worte
gesprochen hat oder niclu, v,.ihr ist diL'.>i: Schilderung jeden-
falls, und sie paüt noch für heute ganz gut. Nur eines ist
in dem alten Berichte nicht ausdrücklich erwähnt: Das ge-
meinsame Baden beider GescUechter. £s ist möglich, daß
diese Sitte erst später entstanden ist, denn im ,,Stoglaw** Iwans
des Schrecklichen wird es als trauriges Charaktenstikum ge-
rade jener Zeit hingestellt, daß Männer und Frauen, sogar
Mönche und Nonnen miteinander baden'). Der Englander
Giles Fletcher*), der damals Moskau besuchte, wundert sich
über die Leidenschaft der Russen für die Schwitzbäder und
über ihre Unempfindlichkeit g^en Hitze und Kälte, erwähnt
aber nur nebenbei, daß sie ganz nackt aus der Badstube ins
Freie laufen und sich ungeniert herumtummeln. Deutlicher
ist der Reisende Olearius: „Die Frauenspersonen smd sehr
unverschämt und ausgelassen. £s ist in Rußland nichts Sei- .
tenes, daß junge Weiber, wenn sie baden wollen, sich unter
freiem Himmel ausziehen und aus dem Bade wieder nackt
herauslaufen. Vierzig, fünfzig und mehr Frauen und Mäd-
chen tanzen und springen ohne Scham und Ehrbarkeit, so
wie Gott sie erschaffen hat. herum und scheuen sich auch nicht
vor den Fremden, die vorübergehen." I>aron Mayerberg be-
tont, daß die Bäder zwar getrennte Abteilungen für Manner
>) Ebenda. II. AnllMlg 76.
Nowgorod war eine Republik. Die nmische Antokntie b^jinnt ent
mit d» H^eoMMiie von Moelna und erreicht ihre dge&tUciie Gewalt mit der
Romanowschen cajfoie|NRaiM!rao oder AlleinheiTBcliaft
*) Vgl. S. 143-
*) Karamsm, deutsche Ausgabe IX 314. französische X 374.
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I
- 430 -
und für Frauen besitzen, aber er fügt hinzu, dali die Frauen
ganz nackt aus ihrer Abteilung herauskommen und /ur Tür
der Männerabteilung gehen „und sclütinlos mit iliren niänn-
hchen Bekannten sprechen : wenn ihr Blut durch die Flagel-
lation erhitzt worden, werfen sie sich vor den Augen der
Männer oder zusammen mit ihnen in kahes Wasser" i).
Trotz der Verdammung durch den Stoglaw Iwans des
Schre( kill hen bheb diese Sitte durch die [ahrhuiuh rte fort-
bestehen. Alle Werke des achtzehnten Jalirluuiderts. die Ruß-
l.md schildern, tun des gemeinsamen Hadeiis nicht hlolS, bun-
dern auch der schamlosen Nacktheit der Rubscn und Rus
sinnen außerhalb der Badeanstalt Erwähnung. Berühmt wurden
die Mitteilungen des Franzosen Chappe d'Auteroche') dadurch,
daß Kathaiina II. sich veranlaßt sah^ sie anzufechten. Der
Franzose erzählt fast wörtlich dasselbe, was Baron Mayerberg
um ein Jahrhundert früher berichtet hatte: ,,Die Abteilung
der Männer ist von jener der Frauen durch einen Holzverschlag
getrennt, aber Männer und Frauen kommen aus ihren Ab-
teilungen nackt heraus und unterhalten sicfa> werfen sich auch
mitsammen in den Schnee. In den Volksbadern ist selbst
• das Bad gemeinsam für beide Geschlechter. In den Salzwerken
von Solikamskaja sah ich nackte Männer an die Tür des
Frauenbades kommen und mit den Weibern sprechen." Katha
rina IL suchte mit großem Eifer und noch größerer ermüdender
Ausführlichkeit die Schilderung des Franzosen als freche Lüge
hinzustellen-^). Aber man darf nicht einmal von Übertreibung
sprechen. Oder man müßte die anderen hier erwähnten älteren
^) Mayerbeig. Voyage i68S, 150 (Neudruck I 141).
*) \'(,ynp;c en Sibcrie fait en 1761, contenant les mocurs et les usagcs des
Kusses et l ütai actucl de cette puissance, Paris 1768, I 16. Unsern S( höne
Illustxation ,.Les Bains publics de Russie" von Le Prince haben wu di^em
seltenen Buche entnommen.
<) In ihrer satyriach sein Ballenden Schrift: L' Antidote, ou Ejoinen du
mauvais livrc supcrbement imprimi. intitul^ V^oynge i n Si^<''^u' p,ir M. TabW
Chappe d'Auteroche, 1770. Das zweibändige Bin Ii *U-r Kaiserin ist nbrmns
selten. Eine englische Übersetzung mit langem Titel (The Antidote etc.)
erschien London 1772. Ein unvollständiger und veränderter Abdruck des fran-
zösischen Originals ist Lausanne 1799 datiert.
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431 —
Berichte, die russischen inbegriffen, allesamt als unglaubwürdig
verwerfen und die Erzählungen der neueren Reisendeti als
bloße Plagiate an den früheren Behau|i!u!i^fn hinstcllf-n. Es
gibt kaum ein Werk über Rußland, da^ nicht als charakte*
ristisch das gemeinsame Baden beider Geschlechter hervor*
heben würde. Ich führe noch einige Beispiele an.
Chantreau erzählt i): ..Das ordinäre Dampfbad besieht aus
einer einzigen Stube mit hermetisch verschlossenen Fenstern.
Darin waltet eine alte Frau, die Wasser auf hrilk- Steine
schüttet, um Dampf zu «T/f iifrcn ; auch seift sie die Leute
ewi. frottiert sie und schlägt öie mit Ruten. Rt u he Leute haben
ihre eigenen Bäder, Aus dem Bade tritt man nackt ins Freie,
stürzt sich in den Vluli oder in den Schnee; auch die Frauen
und Mädchen tun dies, ohne deswegen ängstlich zu sein, daß
man sie in naturalibus erblicke."
Major Massen -j sah im Juni einen Hauten W eibcr nackt an
den Ufern eines Flusses herumlaufen, ehe sie sich zum Baden
entschlossen. Überrascht von dieser seltsamen l'ngeniertlieit.
blieb er stehen, aber seine Aufmerksamkeit führte keine Unter-
brechung des Spiels herbei. Eine Alte schwamm mit einem
jungen Manne um die Wette und gewann. Als sie aus dem
Wasser gekommen waren, ergriff die Frau den Besiegten am
Barte und am P^s und warf ihn ztir Strafe für seine Nieder-
lage unter allgemeinem Hohngelächter wieder ins Wasser.
Katharina II. befahl durch einen Ukas den Besitzern der
öffentlichen Badeanstalten in den Städten, für beide Ge-
schlechter getrennte Badar anzulegen; »^besonders sollen in
jene, welche für die Frauen bestimmt sind, keine anderen
Manner hineingelassen werden als die zum Dienste durchaus
erforderlich sind, und außerdem noch Maler und Arzte, die
ihre Kunst darin studieren wollen". Es geschah daraufhin, daß
sich viele den Titel eines Arztes oder Malers willkürlich bei-
legten, um die Frauenbäder besuchen zu dürfen. In Peters-
Voyage philosopTii.pl' politiqiic et litteraire fait en Rossie 1788 et
1789. Trad. <lu I Iollandai.s. Hambourg 1794, I 296.
^) (.tehrinie Nachrichten iilter RaßUuKl« II 174 and 199, französische OrigH
ualaiuigaLM; II iji und 149.
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- 432 -
biirg gibt es seitdem nur Bäder, in driien die Abteilungen fut
Frauen und Männer streng voneinander geschieden sind. Auf
dem Lande ist aber das gemeinsame Baden beider Geschlechter
noch heute üblich.
Major Masson bemerkte, daß das gemeinsame Baden in
Rußland nicht von Ausschweifungen begleitet sei, weil nuin
von Kindheit im alles sehe und kennen lerne. Zu anderer An-
sicht aber gelangt ein deutscher Offizier in seiner Srhilderungii :
„Als ich zum ersten Male diese öffentlichen Bäder gesehen,
glaubte ich in Amerika unter den Wilden zu seyn. Ich sähe
eine Menge Männer und Weiber, Mädchen und Jünglinge,
Kinder xaid Greise nackend und ohne aUe Scham für meinen
Augen herumlaufen; einige wuschen sich im Flusse;, andere
schwammen; noch andere saßen an der Anhöhe des Flusses
und wärmten sich in der Sonne. Es hatte das Ansehen, als
wenn alle diese Leute noch im Stande der Unschuld lebten, und
durch den Anblick verborgener Schönheiten zu keinen un-
ordentlichen und ausschweifenden Begierden gereizt würden.
Am mehresten wunderte ich midi darüber, daß Alte und Junge
von beyden Geschlechtem, ohne die geringsten Zeichen der
Scham, imtereinander vermischt waren, und daß die Mutter
sich den unverschämten Blicken des Sohnes und der Vater
den neugierigen Augen seiner Tochter darstelleten. Der An-
blick war neu für mich, und mein Freund, mit dem ich einen
Spaziergang gcthan. und der meine Furchtsamkeit, mich diesem
Orte zu nähern, merkte, führte mich bis an die ßadstuben selbst :
Ich glaubte hier unseren Erzvater Adam mit seiner ersten
Familie zu sehen. Ich habe gefunden," schließt der Bericht,
„daß diese unverschämte Entblösung vor den Augen der ganzen
^^ ( • die Ursache ist. daß sie schon von fugend auf eine
Gev ( hnheit erhalten, sich ihren viehischen Begierden unein-
geschränkt zu überlassen."
Der Verfasser der „Geheimnisse von Rui^land' sagt ge-
radezu, daß in den Bädern auf dem Lande die gemeinsam Ba-
denden Handlungen der Wollust begehen. Man läßt sich die
>) Rnßiache Anecdotea oder Briefe dnes teatMhea Ofiidera an euen
Liefländiachea Fxtrtmawn. Waasbeek 176$« S. 95.
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— 433 —
Haut mit den Fingernägeln kratzen, um die Sinnlichkeit noch
mehr zü reizen^).
Endlich finden wir im Tagebuche des Grafen de la Garde-)
folgende Mitteilung über ein Erlebnis in Wassilkow, auf dem
Wege von Kijew nach Berditschew : „Junge Burschen und
Mädchen baden sich gemeinschaftlich in einem großen See,
nahe bei der Stadt; sie schwimmen um die Wette, tauchen
nnter und jagen sich einander, ohne eine andere Hülle, als
die der durchsichtigen Wogen. Das mag hie und da l'olgen
hab« II welche eins oder da.s andere dieser schonen Knuh-r
verhnuicrn könnten, als Kosenmadchen von Salency gekrönt
zu werden ; oder welche sie des roihen, wollenen Bandes br-
ranb( II. das die Jungfrauen hier zu Lande bis zum Hut h/eits
tage im Haare tragen; allein die Gewohnheit macht Alles,
und der Mißbrauch ist hier wahrscheinlich selten."
( it genwartig ist man strenger in Keu:?chheitsfragen und
m der Auflassung des Schamgefühls. Das gemeinsame Baden
beider Geschlechter ist in keiner russischen Stadt mehr ge-
stattet. Im Seebad Dubbeln am rigaschen Meerbusen existierte
eine Zdtlang die Erlaubnis für ein gemeinsames Baden in Ko-
stümen; aber diese Einführung fand keinen Anklang. Der
Tag blieb daher in bestimmte Stunden für das Baden der
Männer und Frauen eingeteilt. Polizisten wachen auf den
Sandbügeln am Strande darüber, daß sich Männer imd Frauen
nicht einmal in Sehweite in jenen Stunden nahem, die dem
anderen Geschlecht eingeräumt sind. In den städtischen Dampf-
bädern existiert zwischen den Abteilungen des Männerbades
imd des Frauenbades keine Kommunikation mehr, wie sie in
alten Zeiten bestanden hat und auf dem Lande zumeist noch
besteht. Dagegen ist es erlaubt, daß Mann und Frau gemein-
sam ein Kabinett mit Wannenbad mieten, wo sie unter sich
bleiben können, ohne das Schamgefühl anderer zu verletzen.
In Polen, Südrußland, Odessa und Kaukasien ist es Sitte, daß
der Badewirt einem männlichen Gaste unaufgefordert ins Bade-
1) <;eheimnis.se von Rußland. I 35a — Clarke, Travds ia Rassia. Tartery
and Turkcy. Hartford !SJ7, I tR?.
•) Reise von Moskau nach Wien, Heidelberg 1825, 16. Brief, S. 35.
Stcra, Gcidiidite der «ffcntl. SiitHdikfllt io RuiUml. 28
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— 434 —
kabinett mehrere Mädchen bringt, von denen man sich eine
als Frotteiirin auswählen kann. Hierfür ist ein besonderer Preis
zu rntrirliK n, der ausgehandelt werden muß. [e nach dem
Aussehen des Gastes verlangt der Wirt fünfzig Kopeken bis
fünfzehn Rubel. Betreffs des iiade^ sell)>t kann man ebenfalls
handeln. Werden drei Rubel gefordert, so ist es wahrscheui-
lich, daß m^m bei einiger Energie nur 40 Kopeken zu zahlen
haben wird. In den ßadern von Datum und Tiflis werden
den ßesueliern auch Knaben als Werkzeuge der Päderastie
angeboten.^)
Das Bad ist dem Russen nicht Reinigungsbedürfnis in
erster Linie, sondern Vergnügen. Wäre es anders, so hätte der
Franzose Veuillot nicht vor etwa fünfzig Jahren den Satz
aufstellen dürfen, daß die Moskowiter Aussicht haben die
Weltherrschaft zu erringen, weil die Herrschaft über die Welt
den schmutzigen Völkern gehöre : „Gott hat die menschlichen
Körper aus Schmutz gebildet, und sie befinden sich am wohl-
sten in inniger Berührung mit ihren Urstoff«i; die Reinlich-
1) Der sittenverderbcnJe Einfluß des Badelcbcns war auch im .Vbcndlaude
nicht stilteo zu verspüren. Es bedurite, wie Marcus« (a. a. O. 64) sagt, nicht erst
de» tuBeren Umstende», dafi die Kmafahnr, nachdem rie im Orieot die
Üppigkeit der inwgenlindiachea Bider kenneD gdent hatten, dicee Anmdraei-
fungen in die Heimat übertrugen; schon in dem Charakter der abendländischen
Badtstub<.n, in der totalen Mischung der Geschlechter lag genügend T'nter-
grund für Sittenlosigkeit. In Frankreich waren die Bäder lange Zeit Kendex-
vousidätBe der Galaaterie und An»diw«ifung. Der König St. Louis mnfite
dagegen Mafiregdn ergreiien, obgleich der fAysiecbe GeschlechlagennB daniab
nicht so geheim gehalten wurde. ,, Meine Damen", fragte der Prediger MaiUani
seine Zuhörerinnen einmal, ..gehen Sic denn nicht in die Badstuben nur um
dort das zu tun — Sie wissen schon, was ich meine?" Von den Germanen
erzählt CSaar: ,,Und doch macht man aus der Gcachlechtsvenchiedenlieit kein
GeheimniB, denn beide Geschlechter baden sich gemeinschafllich in FIfiasen."
Im ganzen Mittelalter herrschte in Deutschland die Sitte des gemeinsamen
Badens von M.'mnem «nd Frauen. F.inc Synode im Jnhre 745 ordnete an,
daß die Männer nicht mit den l-'rauen vereint baden sollten, der Kirche galt
dies als eine Sünde. Aber trotzdem blieb die Sitte bis in dia Neuaeit bestehen.
In Basd badete man gemeinschaftlich bis 143 1. Die Bedienung im Badehause
besorgten bis zum 16. Jahrhundert in beiden Abteilungea Fiancn. Die An-
gehörigen der nnteren Vi ilksklasscn entkleideten sich rw Hause fast völlig und
verfügten sich dann utxT ilie Ga.sse nach der Badestube. Guahnonius klagt
zu Beginn des 17. Jahrhunderts, daß nicht bloß „Mannes- nnd Weibspezaonen
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— 436 —
kcit aber erschlafft und tötet. Die Moskowiter schmeicheln
sich, die Wehheirschaft zu erringen, und ich wäre keineswegs
erstaunt, wenn es ihnen gelange Ihr Triumpii hängt nicht
von ihren Fortschritten in der Zivilisation ab. sondern von der
Kraft und Dauer ihrer Vorliebe für clca Kerzentalg. Die
Männer, die Bart und iiaupthaar mit ünschlitt und ranzigem
Öl salben, das sind die großen Überwinder der Welt.'* Alle
älteren Reisenden erzählen von der beängstigenden Unrdnlic^-
keit der Russen, und von dem dadurch entstandenen spezifisch
russischen Geruch. Auch moderne Schriftsteller haben viel-
fach diesem russischen Geruch Bemericungen gewidmet. Der
Franzose Custine entsetzte sich bei dem Gedanleen, daß er am
Neujahrsfeste in Peterhof mehrere Tausend Russoi auf dai<
mal antreffen sollte. Die Russen, sagte er>), tragen im allge-
meinen einen unangenehmen Geruch mit sich, den man schon
von fem spurt: „Les gens du monde sentent le musc, et les
gens du peuple le chou aigre, mSl^ d'une exhalaison d'oignons
et de vieux cuirs gras parfumds.** Der Deutsche Kohl^) teilt
in offenen Bädern ganz unverschambt baden", sondern auch, daß sie ,, nackend
Aber die dffentiichen Gassen bis cum Badehaus geben". VgL Johannes Schert.
Geschichte der deutschen Fraaenwdt, IL Anflage, Leipsig 1865* I 376; Max
Bauer, das Geschlechtsleben in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1903,
2x6 ; Wilhelm Rudeck, Geschichte der AtfentlicheD Sittlichkeit in Deutschland*
Berlin (Barsdori) 1902, S. 5.
1) Louis Veoillot, M£langes röUgieax, historiques, poUtiques et littfinires,
Puis 1857.
«) T^i Russie en 1839, Paris i«4j;, TT 103.
' ' 3) Reisen im Inneren von Rußland und Teilen. Man verfjleichc mit diesen
Bemerkungen den Artikel von A. Bastian, Allerlei aus Volks- und Menschen-
kunde, Berlin (2 Bände) I 384 iL: „Über gute und schlechte Gerüche"; und
die wertvolle Arbeit von Dr. Albert Hagen, Die eexndle On^hresiologie. Die
Besiehnngen des Geruchssinnes zur menschlichen Geschlechtstätigkeit, Berlin
(Barsdorf) T906. Besonder.-; beachtenswert der Abschritt: !"thnologie der
sexuellen Gerüche, S. 166 — 190, wo auch Kolüs Mitteilungen über Rußland
zitiert sind. — Wenig bekannt und erst jüngst durch ein Buch von Louis
Batifiol (La vie intime d'nne reine de France an XVIie dMe, Paris 1906^
p. 82) ausfflhrUeher dargdegtist, daß die Vorliebe der Königin Maria von Medids
für Parfüms keinen T.nxus. sondern eine Notwendipkeit befriedigte, weil Hein*
nrh I \ . einen üblen Geruch um sich verbreitete. I>es Königs gcliebteste Maitre^se,
Henriette ü'Entraigues. erklärt offen, Heinrich stinke wie ein Aas. In einem
adtenen Bncbe von Theodore Agrij^ d'AnbIgnA (Lee avanturee du Banm
a8»
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- 43ü —
sogar jedem Volke in Rußland seinen besonderen Geruch lu:
herrscht in diesem Gerüche oft eine Sache vor, mit der
die Nation vielfach in Berührung kommt; so bei den Litthauera
der Hering, bei den P(den der Branntwein, bei den Großnissoi
das Juchtenleder, bei den Kleinrussen der Knoblauch, bei
den Juden ihr eigentümlich spezifischer Hautgeruch/*
Die Unreinlichkeit der Russen hat übrigens ihre guten
Gründe. Das Volk ist durch das rauhe Klima gezwungen,
den größten Teil des Jahres dicke Kleidung zu tragen, und
viele haben sich daran so gewöhnt, daß sie sich auch im
Sommer ihres Pelzes nicht entledigen. Der Bauer schläft sogar
in seinem Tulup.^) Nach dem Bade zieht man wieder die
schmutzigen, vnu\ Ungeziefer nie gesäuberten Kleider an;
Wäsche wechselt man selten, sofern man solch zweckloses
Zeug überhaupt tragt.
Also nicht aus {)urer RemlichkeitsHebe geht man iiib liad.
sondern weil dieses teils ein NatiotialvcrgiuigLn ist, teils gk ic h-
sam zu den religiösen Vorschritten gehört. Nachdem Gott
die Welt erschaffen hatte, ging er am sechsten Tage ins Had. "
lehrt ein Sprichwort 2) die Russen. Ein anderes Sprichwort
kcmil sogar drei wichtige Sonnabendpflichten : .,Den Sonn-
abend feiert man dredat ii: man iiiuL'i die Dimy') backen, das
Bad besuchen und das Weibchen begatten."
Schließlich ist auch der Zusammenhang des Aberglaubens
mit dem Baden zu erwähnen. In offenem Wasser soll man
lücht vor Iwan Kupalo, dem 24 Juni, und nicht nadi dem
Eliastage, dem 20. August, baden. Wer Letzteres trotzdem
tut, den warnt man mit den Worten: „Elias hat ins Wasser
geschissen" (Usiba. srb BOAy nacpaarb).
Die Neugeborenen, namentlich aber die Erstgeborenen,
de Foeneste, 1739, A Cdogne che» Ics HeritierB de Fierre Martean (fingierter
Verlag I) faad ich die merkwürdige Bemerkung, daB man aur Zdt Heinrieba
die Edellcutc am Ccruch erkannte. Der Kdnig als erster Gentühonime sdnea
Keicbes stank am ar^^sten.
1) Ty.iyin», Schlalpelz.
*) Bon», axsxKBam nipii, na iiiecroA jum» oomän vb Caan.
*) Bb eyCfioTjr ipa opKUmnn: &111BH neKyrb, n (Saud luyn h Cafe efiyrbt
4) Rum» Art Pfaonenkuchen.
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- 437 -
trägt man sobald als möglich ins Schwitzbad und brüht sie
mit heißem Wasser ab, um sie von ailetn zu reinigen, was
etwa vom Teufel an ihnen sein könnte.
Beim Geschlechtsakt hat Satan inuner beine Hand im
Spiel. Vor der Hochzeit geht die Braut ins Bad. um sich
von dem l'nreinen, l iiheiligen zu befreien, und nach der
Brautnachi badet aie nochmals, um des Teufels List zu ent-
gehen.Dieser Gebrauch war seit jeher im Hause des Zaren
wie des Bojaren und ebenso in der Isba des Muschik einge-
führt und ist noch heute allgemein.^) Auch späterhin mui5
die Frau jedesmal ein Bad nehmen, wenn sie mit ihrem Manne
den Geschlechtsakt ausgeübt hat.') Tut sie das nicht, dann
kann der Teufel Gewalt über sie gewinnen und als Frucht des
Gesdilechtsverkehrs leicht ein Wechselbalg entstehen. Rein-
lichkeitsliebe q>ielt bei diesen Badem gewiß keine Rolle. Denn
wie die Russen über die Reinlichkeit beim Geschlechtsakt und
über die Sauberkeit der Geschlechtsteile denken*), erfährt man
deutlich genug aus ihrem Sprichwort'»): „Für einen guten
Hurer existiert keine dreckige Pisda."
') Ober die l'nroinigkf it lies GcschU'^cht.s;ikt<'> nach ihr A iiff/i^-*ung des
Onents und über die Notwendigkeit des» Badeni^ nach dem Coitus vgl. Bernhard
Stern, Medizin. Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei, II 193; über
BAder mid Wuchnngeii nach dem BoKliIaf im Gebcauclie der alten VüSUnr:
J. Roseotwum, Gcsdüchte der Lnstaenche, 7. Aufl., BerÜD, Bazsdorf (II. Ab»
•Chnitt).
*) •i<ir*lKiiiifL^ pycvuiA uapu^, 119: Bafui, uitxa, n nvurnn «'*|»ii«tHoft uo<ni:
$2$: Baaii.
•) Sammloitg merkwflidiger Anekdoten, das Russische Reich betreffend.
Ans dem Französischen, Greilswald 1793. I 105.
*) Ahnliches sagt Krauß, Anthropophytcia I 247. Anmerkung, vnn dt*n
Südslawen: Die Bäuerinnen ptlcgen sich absichtlich ihre Geschlechtsteile nicht
zu waschen, weil sie glauben, die angesammelte Unreinlichkeit erhöbe den
liebesgennfi. Ancb der Mann bewahrt sorgsam den käaii^ Schmats, der sich
hinter seiner Zumptfaaut ansammelt.
iUn xoiM»uian* «6iui nbrh aaopaiiKvft nnsAU.
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FÜNFTER TEIL;
Russische Lreiden
26, Srhirksalsglftobe und Selbstmord.
— 27. Feuer, Hunger und PestUens.
— 28. Median und Aberglaube. —
39. Riuberwesen und ReTolutionen.
26. Schicksalsglaube und Selbstmord.
Fatalismus des russjacben Volkes — Sprichw&ier — Totenklagen — Die Vor-
stellung vom Jenseits — SdfastmOirder ab Dämone — Folnischer Aberglaube
in betreff der Selbstmörder — Aberglaube der Jakuten und ^Ii^ l ' n — Der
Selbstmord bei den Tschuktschen — SellistaiifopferiinR als Mittel gegen Sf'tirhcn
— Riuisiäche Gesetze gegen den Selbstmord — Begräbnis der Selbstmörder au
einem dirlosen Orte — Der Selbstmord im rassischen Aberglauben — Selbst-
mörder werden Vampyre und Krankheitq^ter — Lcicbenschändungen.
Widerspruchslose und widerstandslose Ergebung in die
traurigen, für unabänderlich gehaltenen Verhältnisse ist eine
charakteristische Eigentümlichkeit der slawischen Völker, so-
wohl der südlichen als jener im Norden. V) Im russischen Natio*
nalcharakter ist der Schicksalsglaube einer der prägnantesten
Züge. Er ist nicht bloß allgemein bei den Bauern anzutreffen,
sondern dringt häufig genug in die höheren und intelligen-
testen Klassen der Gesellschaft ein. Er ist mit der russischen
Denkweise verwachsen. Man findet bei dem Russen Spuren
von Fatalismus ebenso in den Momenten todesverarht ender
'lapferkeit wie in Stunden völliger Resignation, bei der Auf-
lelimiiig wie bei Her T 'nterwcrfunu, in der I ollkühiiheit
nicht weniger als in der Entmutigung, in den .\nwandlungen
fieberhafter Tätigkeit glei( herinaben wie hei dc-r größten Ab-
spannung, im V erneinen wir im (ilauben, in allen Neigungen
und Vergnügungen.-) Man kann so weit gehen, diesen ("harak
terzug über alle anderen Züge de-> russischen Charakters zu
steilen. Der Glaube an Vorsehung und Schicksal ist im russi-
1 } V gl. Dr. Friedrich S. Krausz. Sr6ca. GIflck und Schicksal im Voiksglaaben
der Südslaven. Separatabdruck ans den Mitteilungen der Antiiropologischen
Gesellschaft in Wien. 1886.
*) Leroy-Beaulieu. Das Reich der Zaren und die Russen. III 23.
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sehen Volke so tief eingewurzelt, daii er manchem in der Tat
als der einzige wirkliche Glaube erscheint, der die Seele
dieses Volkes durchdringt ; er hat jenen eigentümlichen Geistes
zustand ausgebildet, der die außerordentliche Wankelmütig-
keit des russischen Volkes verbiandlic h macht und die Laxlu tt
in der Moral als eine unvermeidliche Notwendigkeit erschei
nen läßtJ)
Das unabwendbare Katum, vom Christentum in das Gericht
Gottes verwandelt, wird durch zahlreiche Sprichwörter gelehrt :
Was einmal bestmunt ist, kann nicht vermieden werden. Jedem
Menschen geschieht, was ihm bei der Geburt bestimmt worden
ist. Was geschehen soll, wird geschehen. Dem Schicksal wirst
du nicht entrinnen, auch nicht zu Pferde. Sünde und Sorge
überholen alle Menschen gleichmäßig. Wenn ein Hund ge-
schlagen werden soll, fehlt es nicht an Stöcken. Ein Narr
schießt, aber Gott lenkt die Kugel. Der Wolf packt die Schafe,
die ihm bestimmt sind. Magst dich fürchten oder nicht, dem
Geschick entgehst du nicht. — Im Igorlied und bei Daniel
dem Verbannten, einem Dichter des zwölften Jahrhunderts,
Midlich heißt es : Weder die Schlauen noch die Kühnen werden
Gottes Gericht entrinnen.
In den Totenklagen') wird erzählt, wie der Mensch ver-
geblich dem Tode auszuweichen sucht. Weder Gewalt noch
List können das Leben verlängern; umsonst bemühen sich
auch die Verwandten, den Tod durch Geschenke zu besänf-
tigen, um ihm eine kurze Frist al)zugewinnen; der Tod bleibt
unerbittlich, er duldet keinen Aufschub, wenn er kommt und
das Leben fordert, muß man unvrrv. ilt den langen unbe-
kannten Weg antreten. Diese Volkslieder sind vom kirch-
lichen Einfluß freigeblieben, man findet in ihnen keine Er
wähnung dos Paradieses oder der Hölle. Das Jenseits wird
mannigfach, meist unbestimmt, aber immer phantastisch und
mit einer Menge heidnischer Bilder geschildert. Entweder
nimmt den Toten die feuchte Mutter Erde auf, oder er fliegt
empor zu den Planeten, wohin weder Winde noch lebendige
Lanin, Russischt Zu«.tSndi', I oj;
*) Reioholdt, Geschichte der russ. Literatur, 30.
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Wesen dringen, oder endlich: er kommt auf die mythische
Insel Bujan. die in ewiger Blüte prangt: dort wohnen die
Verstorbenen in ihren Häusern. Ebenso ist die Schicksals-
idee zu einer halb märchenhaften, halb allcgorisrhen Gestalt
verkörpert werden, welche in den Toteiiklagen, in den Volks-
märcheti und den volkstümlichen Erzählungen in heidnischem
Gewände auftritt: und man wird beispielsweise in einer Er-
zählung vom Ursprung des bösen Geschickes in der Welt
lebhaft an den Mythus der Pandora und im Einzelnen an
Thors Fischfang erinnert, i)
xMIes. was sich ereignet, und alles, was nicht eintritt, ist
also Fatum. Es ist töricht, etwas zu unternehmen, um sich
selbst zu helfen. Man vegetiert dahin, ohne sich zu rühren.
Man ]iegt tatlos auf dem Ofen und sieht zu, wie das Fatum
sich gestaltet. Bei dieser fatalntisdhen Auffassung vom Guten
und Bösen, das einem während des Lebens auf £rdm beigegnet,
muß der Selbstmord in Rußland eine Seltenheit sein. Die
trostlosen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhalt-
nisse haben zwar einige Sekten erzeugt^), die nicht mehr träge
das Schicksal an sich heranschleichen lassen, sondern dem
unabänderlichen Tod zuvorkommen und durch freiwillige Ver-
nichtung ihres Lebens den Qualen ein vorzeitiges Ende be-
reiten. Das Volk im großen und ganzen aber begreift den
Selbstmord eines Menschen nicht, und sieht im Selbstmörder
ein unreines Wesen. Dieses Volk ist so sehr an das Dulden
gewöhnt, erträgt alle Leiden so gleichmütig, daß es sich nicht
vorstellen kann, wie ein Mensch es wagt, sich der Peitsche
seines Herrn, dem Kummer, den das Schicksal ihm auferlegt
hat. trotzig zu entziehen.
Nicht bloß bei den Russen selbst^), auch bei fast allen
») Reinholdt a. O, 32.
VrI. S. 243 — 2 — ,
^) Jch will naht L-nnan^tln. hier fini>»e seltene Sclmiten zu notieren, die
mir liet der Aufsuchung der Quellen zur Geschichte des Selbstmordes uater-
gdioinin«n sind. Namentlich nur G«acbtcht« des Selbstmordes aus Fanatismus
entiialtien diese Werke interessante Angaben: Chiistliche Vermahnung vnd
Tröstung / Aus Heiliger Schrillt / \«nder die schwere anfechtung der Entleihung
seiner selbst / so offt aus versweif ieluog geschieht / Durch Egidiom Mecheler
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— 444 —
Iii Rußland klx iidt. n V ölkerti. ja selbst bei vielen heidnischen,
betrachtet iiiaii den Selbstmörder als einen vorn Icufcl Be-
sessenen, der nach seinem Tode keine Ruhe findet und in der
Welt umherschweift, um den Menschen zu schaden : Die pol-
nische Dämonologie sieht in jedem» der sich erhäi^ oder er-
tränkt hat, einen bösen Geist, einen unversöhnlichen Feind
der Menschheit. Wehe dem, der nachts in die Nähe der Leiche
eines Sdbstmörders gerät. Die Leiche erwacht und stürzt sich
über den ahnimgslosen Passanten und erwürgt ihn. Es hilft
nichts, wenn man einen Selbstmörder begräbt. Die Leiche
steigt um Mitternacht aus dem Grabe, wandert Schrecken
säend umher, und kehrt erst beim dritten Hahnenschrei in
die Erde zurück. In Polen begräbt man die Selbstmörder
am Rande eines Waldes. Die Hirten hüten sich* mit ihren
Herd^ nachts ihr Lager in der Nähe eines Waldes aufzu-
schlagen. Tun sie dies doch, so steigt um Mittemacht einer
der am Waldrand begrabenen Selbstmörder hervor und ver-
jagt die Hirten ; wer nicht sofort flieht, der kann sich nicht
retten, der Dämon reißt ihm den Kopf ab. Dann setzt sich
der Geist selbst ans Feuer, um sich zu wärmen, und erst beim
dritten Hahnenschrei kehrt er in sein Grab zurück. Auch am
t^fer eines Flusses soll man sich nachts nicht aufhalten. Die
Geister jener, die sich im Flusse ertränkt haben, steigen her-
vor und ziehen den unvorsichtigen Wanderer ins Wellengrab
hinunter. Die Selbstmörder werden nach dem Tode auch V'am
pyre; während aber die gewöhnlichen Vampyre die Menschen
einem guten freunde zugeschriclKn / .\nuo 1541. Sampt etlichen HhefKii
D. Lathen wieder solchen Fall nutzlich zu lesen / mit einer Vorrede. M. Georgij
Sttbeiscli]«gB / Pfarrere der Christlichen Gemein« sum Predigern in Erlfiird /
Jetzt aufb newe auffgelegt vnd gedruckt / Durch Joachim Mechdcr / Im
Jahr ;''3o9. — Trait6 du suicide ou de meurtre volontaire de soi-nieinc. Par
Kau 1 himas. A \instcrd;un. chez T'*. J. Changuion. 177^ — Meine T.ieblings-
stundcn in Briefen den besten Men^clten bestimmt \ on dem Verfasiier der
Gallerie der Teufel. Berlin i/i>i. bey Christian Ludcwig Stahlbaum. EfSter
Band, 76-^102: Von der Epidemie des Selbstmordes. — Der Sdbstmord.
psychologisch erklärt und mofalisch gewiirdigt, ein Beitrag zur Warnung vor
Trübsinn und Verzweiflung und zur Empfehlung der ächten Ltl>cii-ktinf;t;
teiLs nach dem Französischen, teils eigentümlich bearbeitet von August v. I5lum-
rikler. Weintar ii<37. Zwei Teile.
nach und nach entkräften und töten, sind die aus Selbstmör-
dern rekrutierten SO furchtbar, daß sie schon bei ihrem ersten
Besuche dem Menschen alles Blut aussaugen und ihn auf der
Stelle umbringen.*)
Bei den Jakuten werden die Selbstmörder Yours, eben-
falls den Menschen feindliche Dämone. Die Mongolen glau-
ben, daß die Seelen der Selbstmörder als Boks umherirren,
als Geister, die namentlich jenen ( blcs zufügen, die ihnen im
Leben nahegestanden. Die Kamtschadalcn hetrnchten den
.Selbsimord als eine ziemli< h gleicligültige .Sache. Wenn sich
lem.md in rinrn \ \u\j stürzt, um sich zu ertränken, leistet ihm
ein Kamtsthadale niemals Hilfe: denn in Kamtschatka sagt
man: Es sei .Sünde, einen, der sie Ii ertränken wolle, zu retten;
wer das trotzdem miternehme, werde sich zur Strafe dafür
früher oder später selbst ertranken. 2)
i'>v\ drn 1 -( luiktsi heil dagegen herrscht der Selb.stniurtl ai*-
ein Ciebraut h. erzeugt aus religiösem Fanatismus, aus dem i Hau-
ben an das jenseitige Leben und dem Wunsche, die ver-
storbenen V erwandten schneller wieder/ws( hen. Die Sei len
der V erstorbenen werden von den t berlehcnden als Beschütz« r
der Familie angesehen. Gibt es Unglücksfälle oder Krank-
heiten in der Familie, so sind daran nicht bloß die bösen
Geister, sondern auch die Seelen der Verstorbenen schuld,
denen man Ursache zur Unzufriedenheit gegeben hat; um die
Erzürnten zu versöhnen, opfert ein Familienmitglied sein eige-
nes Lebeft. Der Selbstmord vollzieht sich in aller Öffentlich-
keit >): Der Selbstmörder in spe macht allen Nachbarn Mit-
teilung von seinem Entschluß. Man versucht pro forma, ihn
von dem Vorhaben abzubringen, oder ihn wenigstens zu einem
Aufschub der Ausführung zu bereden. Er bleibt jedoch fest,
bezieht sich auf die Toten, die ihn quälen, auf Teufel und
*) V. Begiel, La d6mcMUilogie du peuple polonais. Revue de I'histoire
des KeÜgions. I'ari.s 1902. Tonu- XLV No. *, p. 158 — 170.
^) Histoire de Kamtschatka II ifxj.
') Vgl. die ScIuldcruQg die&cr Zeremonie von dem Missionar .■\doU Skrzyiicki
aas St. Louis in der Zeitschrift ..Am UrqueD". V 267 — 268. Skrzyncki bemerkt,
daß dieser von alten her erhaltene Brauch noch heute mit derselben Genauig-
keit befolgt wird, wie er dort vor der Einführung des Ciiristentnms geschah.
verstorbi'iu Verwandte, die ihm fortwähn-nd im 1 räume er-
scheinen und ihn zu sich rufen. Man beginnt also die \'or-
bcrfitungen zum Selbstmord nach dem üblichen Ritual. Der
zukunftige Selbstmörder erhält eine neue Kleidung aus weißen
Keimtierfellen, dann stellt man cuieii neuen Schütten her und
kauft neue Gesc hirre für die Renntiere, mit denen das frei
willige Opfer die Reise ins Jenseits antreten wird. In zehn
bis fünfzehn lagen sind die Vorbi r( itungcn beendet. Am
feierlichen Tage versammeln sich die X'erw.indten und Nach
barii. In ihrer Gegenwart zieht sich der Fanatiker die neue
Kleidung an und setzt sich in die Ecke der Jurte. Sein näch-
ster Verwandter hält das Werkzeug des Todes, entweder einen
Speer, ein Messer oder einen Riemen. Der Toderiustige kann
zwischen diesen drei Dingen wählen. Will er mit dem Messer
seinem Leben ein Ende machen, so halten zwei Verwandte
ihn an den Händen fest, während ein dritter ihm von der
Gurgel bis zum Herzen einen tiefen Schnitt macht und die
Spitze des Messers zum Schluß in sein Herz stößt. Will er
mit dem Speer erstochen werden, so steckt man diesen durch
eine Öffnung in der Wand hindurch. Der Fanatiker stdlt
sich so, daß die Spitze direkt sein Herz treffen muß und ruft
dann laut, daß man zustoße. Die Erdrosselung vollführt man,
indem zwei Verwandte den Riemen um den Hals des Mannes
drehen und dann die Enden so lange nach entgegengesetz-
ten Richtungen ziehen, bis der Zweck erreicht ist. Die Leiche
trägt man in den neuen Schlitten und setzt sie hier halb auf.
Dann fährt man hinaus an den Ort der Toten. Hier werden
die Renntiere, die den Geopferten hergebracht, erstochen. Dem
Toten zieht man die Kleidung aus und zerschneidet sie in
kleine Stücke, die man wegwirft. Die Teilnehmer der Zere-
monie beschmieren ihre Hände und ihr Antlitz mit dem Blute
des Opfers, bitten den Toten, ihrer nicht zu vergessen, und
verbrennen die Leiche auf einem Scheiterhaufen.
Das russische Gesetz hat namentlich unter Nikolaj 1. merk-
\^ürdige Bestimmungen lieziiglirh clcr Selbstmörder festge-
legt'): „Wer sich selbst vorsätzlich (nicht etwa im Wahn-
>) Vgl. Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgiert im Jahr 1845;
deutsche Ausgabe, Carlsruhe uod Baden 1S47, S. 367, |§ 1943 — 1947.
DiCj: ; ^
447 —
sinn oder bei v <)rü!)ergehcndcr Ceistesstörung i tötet, wird als
eine Person betrac litct. die nicht befugt war, Verfügungen für
den Todesfall 7u treffen. Demnach bleibt das Testament des
Seibstmorderä, i' rnchtig, ohne Vollziehung; ebenso jede
andere, von ihm lur den Fall seines Ablebens gemachte An-
ordnung, sie betreffe seine Kinder, Pflegebefohlenen, Diener,
sein Vermögen oder sonst irgend einen Gegenstand. Dem
Selbstmörder ist die christliehe Bestattung versagt. Wer bei
gesundem Verstände einen Selbstmord versucht, und daran
nur durch äuLSere Umstände verhindert wird, niul3 sich, falls
er den christlichen Glauben bekennt, einer Kirchenbuße unter-
ziehen. Diese Bestimmungen finden keine Anwendung auf
den, der steh aus Vaterlandsliebe oder Pflichttreue einer Lebens-
gefahr aussetzt oder dem Tode opfert; ebensowenig gegen
die weibliche Person, die sich tötet oder zu töten versucht,
um ihre Keuschheit und Ehre gegen einen nicht anders ab-
zuwehrenden Angriff zu schützen. Wer einen andern zum Selbst-
morde beredet, ihm dazu Mittel verschafft oder dazu sonst
auf irgend eine Weise mitwirkt, wird als Begünstiger eines
mit Vorbedacht verübten Mordes bestraft. Eltern, Vormün-
der und andere Vorgesetzte, welche durch grausamen Miß-
brauch ihrer Gewalt eine ihnen untergebene Person zum Selbst-
morde verleiten, werden mit Entziehung der Ehren- und Stan-
desrechte auf ein bis zwei Jahre Besserungshaus verurteilt
und müssen sich, falls sie den christlichen Glauben bekennen,
einer Kirchenbuße unterziehen." Bis in die neueste Zeil be-
stand der Artikel, der dem Selbstmörder das christliche Be-
gräbnis versagte; dieser Artikel wurde in den Entwurf des
neuen Strafgesetzbuches, das sich in Vorbereitung befindet,
nicht aufgenommen, aber in der Verordnung für die Ärzte
aus dem Jahre ist stehen geblieben: daß der Körper
eines vorsätzlichen Selbstmörders vom Schinder an einen dir-
losen Ort zu schleppen und dort zu verscharren sei.
Solche Besinnmungen. oh sie nun befolgt werden oder
nicht, lassen dem \'olke den Selbstmord nicht nur als etwas
S< h^nidliches und T.hrloses erscheinen, sondern haben auch
den Aberglauben bestärkt, der seit jeher und last liber.dl mit
dem Selbstmord im Zusammenhang steht. Die an einem ehr-
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
448 —
losen Orte verscharrten Leichen können nach russischem Glau-
ben keine Ruhe finden, schweifen als Geister und Vampyre
umher, sind schuld an Dürre, Hungersnot und Seuche*): Im
Jahre 1887 erhängle sich im Dorfe Iwanowka im Alexandrij
sehen Kreise des Gouvernements Cherson ein Bauer. Kurz
darauf entstand anhaltende Trockenheit. Natürlich war der
Selbstmörder schuld. Die Bauern pilgerten zu .seinem Cirabt .
gruben die Leiche aus, besprengten sie mit Wasser und
sprachen: ,,Ich besprenge, ich besprengt^; Gott gebe einen
Platzregen; führ' ein Regenchen herbei und befreie uns vom
Unglück." Als dies Mittel nicht geholfen hatte, wurde die
Leiche abermals ausgegraben und möglichst weit weg vom
Dorfe entfernt, damit der Verstorbene den Weg nicht zurück-
finde. 1872 wurde aus ähnlichen Gründen im Kamenezschen
Kreise des Gouvernements Podolien die Leiche eines Mannes,
der sich erhängt hatte, ausgegraben und in den Teich ge-.
werfen; 1883 im Dorfe Begitowskij, im Gouvernement Stawro-
pol, die Leiche eines Mannes, der im Wahnsinn einen Selbst-
mord begangen hatte, aus dem Grabe gerissen und verbraiuit.
Das Merkwürdigste ereignete sich 1892 im Dorfe Ssomenitschki
des Kreises Ponewjesch im Gouvernement Kowno: Eine
Bauerin hatte sich im Walde erhängt. Sie war Katholikin.
Der katholische Gebtliche weigerte sich, die Selbstmörderin
beerdigen zu lassen, und lehnte es ab, Geld für ein Trauer-
geläute anzunehmen: ;,ihre Seele ist dem Teufel verfallen,"
sagte er. Das Entsetzen der Sohne der Selbstmörderin war
groß ; und ihre Furcht davor, daß die teuflische Mutter keine
Ruhe im Grabe finden und daher umherwandern würde, um
der Familie und dem Dorfe Schaden zu bringen, steigerte sich
schließlich derartig, daß sie es für das beste hielten, der Leiche
der Mutter den Kopf abzuhacken; die zerstiickeiie Leiche
scharrten sie dann so ein, daß der Kopf bei den Füßen lag.
Jetzt waren sie sicher, daß die Selbstmörderin aus dem Grabe
nicht mehr hervorkommen könnte.
1) Löweostiiuu), Aberglaube und Strafrecht, S. 105.
bigiiized by GoogU:
— 449 —
27. Feuer, Hunger und Pestilenz.
Feuersbrunst und Zauberei — Brandplage — Hinrichtung Glinskijs wegen
zauberischer Brandstiftung — Gründung em&> Schornstemiegcrkorp» — Feuer-
wächter — Strafen für Brandstifter — Geschichte der Hungersnöte — Hunger
und Hexerei — Weiberleiber als Getreidespeicher — 'Kungertragddien in altea
Zeiten — Ein Ausspruch des Zaren BoriS — Wohltat ein X)bel — Verheini-
lichung des Elends vor Fremden — Nikolaj I. haßt das Wort Huncrr — Kanni-
balismus in Hun^jerieitcn — Beispiele aus Rußland und don Ostsee pro vinicn
— Iwau der bclireckliche liebt Verhungernde zu sehen — Gnade im Meoschea-
fresser. Strafe für KalbfleiachMser — Di» Hongecsiiot der Gegenwart — Ver*
brechen der Regierung — Der Aberglaube als RegierungastQtte — Geschichte
der Epidemien — Glaube an Pestdämone — Hexenmorde — Wasserweihe —
Die Pest in Moskau 1654 und 1771 — Die jängstenl^Epidemien.
Nur der fatalistische Glaube urid der träge Charakter des
Russen können es erklären, daß in diesem Reiche der Selbst-
mord nicht eine V'olkskrankheit geworden ist. Denn die Leiden
Rußlands seit seinem Bestände sind so namenlos und so un-
unterbrochen, daß dort tlas Leben kaum melir lebenswert ei-
scheint. Schon die Elemente der Natur li.iben alles aulgcboten.
ura den Riesenstaat zu einer Stätte evvigt i Not zu machen.
Feuer, Hunger und Pest gehören zu den ständigen Inslitulionen.
In früheren Zeiten hat man es nicht einmal der Mühe wert
gehalten, diese natürlichen Plagen zu bekämpfen oder ihnen
vorzubeugen. Das Schicksal führte sie herbei oder die Zau-
berei verursachte sie — Menschenmacht konnte sie also nicht
verhindern, noch weniger beendigen; man wartete ergeben,
bis der Kelch vorüberging.
Unter Wladimir Monomach zerstörte eine große Feu<9rs-
brunst Kijew; gleichzeitig trat eine vollständige Sonnenfinster-
nis ein, man sah in der Mittagsstunde Sterne am Himmel, und
schließlich vernichteten Erdbeben und Orkane ganze Land-
striche, Menschenmassen und Viehherden wurden von den
(rmpörten Elementen in die Flüsse geschleudert. 1185 und
1190 wurde die Stadt Wladimir durch ein Feuer voUständig
verödet; Schatze an Edelmetallen, die in den Kirchen auf'
gespeichert waren, die kostbarsten Meßgewänder und seltene
Stera, Gctdudito der Oflcnd. Stttlichkeit in RuGluid. m
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I
— 460 —
Bücher fielen den Flammen zum Opfer. In denselben Jahren
verwüsteten Brände die Städte Rostow, Ladoga, Russa und
Nowgorod; in letzterer Stadt brannten an einem Tage 4300
Hauser, darunter viele steinerne, nieder. Von 1420 bis 1450
wüteten, TTamentlich in Moskau und Nowgorod, furchtbare
Feuersbrünste. Auf dem flachen Lande herrschte Trocken-
heit. „Die Erde entzündete sich vor Hitze," schreiben die
Annalisten, ,,sodaß die Menschen in den dicken Rauchwolken
einander nicht sehen konnten; nach dieser Zeit sind, wie einst
nach der Sündflut, die Lebensalter kürzer und die Menschen
hinfälliger und ^clnvuchcr geworden." Für die Feuersbrünstc,
die 1507 in Nowgorod allein 5314 Menschenleben forderten
und im selben Jahre Moskau und Pskow verheerten, machten
die Chronisten die Einführung der teuflischen Pulvermühlen
verantwortlich, in denen m^i geheime Zaubui kräfte vermutete.
Als im Jahre 1547 in Moskau ein Riesenbrand die halbe Stadt
^erzehrte, erhob sich niemand, um dem Feuer Einhalt zu
tun, sondern alles forschte nur nach den Urhebern der Zau-
berei, die den Bsaad hervOTgertifen haben mußte. Die Familie
Glinslrij, die für den jugendlichen Zaren Iwan die R^entsdiaft
führte, wurde endlich der Zauberei verdächtigt, und das Haupt
dieser Familie fiel als Opfer des Abei^^laubens, dessen sich,
wie so oft in Rußland, die Politik bedient hatte.
Bis xur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gab es nicht
einmal «ine Feuerwehr. 1736 verheerte ein neuer großer Brand
Moskau; 2527 größere und 9145 kleinere Bauten, mehr als
hundert Kirchen und ein Dutzend Klöster wurden dn Raub
der Flammen. Nun zum ersten Male raffte man sich auf,
den Feuersgefahren systematisch zu begegnen. 1737 befahl
die Zarin Anna die Gründung eines Schomstdnf^gerkorps.
Patrouillen mußten Tag und Nacht die Straßen der Haupt-
stadt durchadien, um das Brandlegra zu verhüten oder aus-
gebrochenes Feuer im Keime zu ersticken. Man begnügte sich
nicht mehr mit der Lynchjustiz des Aberglaubens, sondern
sdiuf strenge Gesetze, um die Brandstifter abzuschrecken. Wer
einen Brand legt, befahl die Kaisehn, soll für das Feuer im
Feuer büßen, lebendig verbrannt werden. Aber wieder echt
rus^ch ist es, daß man nicht bloß die Verbrecher bestraft.
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— 4Ö1 —
sondern auch jene, die von dem Verbrechen bloß sprechen;
daß also schon für die Erwähnung eines stattgehabten Brandes
die Knutcnstrafe droht!
Nächbt (Inn Feuer ist es der Hunger, der ununterbrochen
Rußland heimsucht. Die erste große Hungersnot einstand
neun Jahre nach dem Tode des vielbesungenen Fürsten Wladi-
mir, des ersten christlichen Herrschers. Die Zauberer erklärten
das Unheil aJs Folge des Verrats an den alten Göttern und
hetzten das Volk, dun h Opferung von Christen den Himmel
zu versöhnen. Wie bei den furchtbaren Br uidcn, so feiert auch
in Zeiten der Hungersnot der Aberglaube seine liiumphe.
Der älteste slawische Chronist, Nestor, berichtet über die Hun-
gersnot des Jahres 1070, daß damals Zauberer die Wolga ent-
lang zogen und in den Döifern erklarten: die Weiber hätten
die Hungersnot Verursacht und alles Getreide in ihren Leibern
aufgespeichert. Man tehleppte die Frauen und Tochter zu den
Hexenmebtezn, welche die Weiber massakrierten, und richtig
kam mit dem Blute der Opfer Getreide xum Vorschein, das
die Zauberer geschickt im Momente der Opferimg verschüttet
hatten. Das hungrige Volk stürzte sich auf die Frauen, um
sich zu sattigen. Der Vater zerfleischte die Tochter, der Sohn
die Mutter, und die Mörder tranken gierig das Blut der Waber,
in dem sie Getreide, Honig und Fische zu genießen wähnten.
Jahr um Jahr herrscht partielle Hungersnot, bald in diesem,
bald in jenem Landstrich. Eine allgemeine Hungersnot wütet
im Durchschnitt in jedem Jahrzehnt mindestens einmal. Am
stärksten geplagt erscheint das Gebiet von Nowgorod; 1215
trat hier eine Mißernte ein zur Zeit, da die Stadt vom Feinde
belagert wurde. Die Teuerung war so erbarmungslos, daß die
Bewohner ihre Kinder, um sie nicht ernähren zu müssen, an
die Gosty oder Kaufleute verschenkten. Die Ldchen der Ver>
hungerten lagen in den Straßen und wurden von den Hunden
verzehrt. Das Elend dauerte fünfzehn Jahre und zog auch
die benachbarten Provinzen in Mitleidenschaft. Im Jahre 1230
erreichte es seinen Höhepunkt. Erdbeben und totale Sonnen-
{in?temis stf^igerten das I-'.ntsetzen. ,,Man erwartete das Ende
der Welt, man umarmte sich und nahm Abschied voneinander,"
erzählen die Chronisten. 6330 ,,Hungergräber" wurden mit
39 •
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- 462 —
den Opfern der Not gcfüilt ; dann gab man das Begraben auf.
die Leichen blieben uniK'sta.ttet auf den StraLU-ii. Mndlich fand
sich ein Mann. Namens Stanil, der die Toten auf den 1 riedhot
zu führen sich bereit erklärte. Von früh morgens bis spät
abends, Tag um lag und Woche um Woche führte Stanil
Leichen aus Nowgorod hinaus, und er allein bestattete 3000
Menschen. „Nowgorod ist im Verscheiden," klagen die Chro-
nisten der Zeit; ,,der Vater liebt nicht mehr den Sohn, die
Mutter nicht mehr die Tochter; der Nachbar will dem Nadibar
nicht mehr ein Stückchen Brod abbrechen. An allen Ecken
und Enden sieht man von den verzweifelten Eltern ausgesetzte
Kinder, die den Hunden zum Fraß fallen/' Rettung brachten
endlich deutsche Kaufleute, die zur See Getreide herbeiführten
und der Hungersnot Einhalt taten. — 14 19 herrschte eine
Hungersnot in ganz Rußland; sie währte bis 1422, und nur
PsIeow blieb frei vom Elend. Am 3. Januar 1446 aber gab
es dafür nach den Aussagen der Chronisten von Nowgorod
auch ein freudiges Wunder: „Aus schwarzen Wolken fielen
lichte Rog^eogarb^, endlose Massen Gerste und Weizen zur
Erde, bis der ganze Raum zwischen den Flüssen Msta und
Wolchowez, auf fünfzehn Werst im Umkreis, mit Getreide
bedeckt war." Das Wunder half indessen nicht viel, denn
144S herrschte wieder Hungersnot, und sie dauerte diesmal
mit kurzen Unterbrechungen zwanzig Jahre lang.
Furchtbare Hungerjahre gab es zur Zeit der Regierung
Iwans des Schrecklichen. „Hunger und Seuche," sagt der
russische Historiker Karamsin, „halfen dem Tyrannen bei seiner
Verwüstung Rußlands. Es schien, als wenn die Krde ihre
Fruchtbarkeit verloren hätte : man saete Getreide, aber man
erntete nichts; sowohl Kälte als Dürre verdarben die J">nte."
Der sog(!nannte LIsurpator Boriß Godunow aber spraf^h hei
seiner Krönung ^um Volke: „Gott isl mein Zeuge, daß es, so-
viel von mir abhängt, keinen Bettler und kerne Waise in
meinem Reiche geben soll ; mein letztes Hemd will ich den
Darbenden opfern." Lnd als wiederum eine entsetzliche Hun-
gersnot über Rußland hereinbrach, da errichtete Boriß Speise-
hallen für die Armen, öffnete die Fruchtkaminern der Krone,
kaufte selbst zu höchsten Preisen alles Getreide auf und ver-
— 4Ö3 —
schenkte es an das hungernde \'ülk. Unter der Maske dar-
bender Leute drängten sich jedoch Wucherer herzu, die sich
der Kronsvorräte listig bemächtigten und dann das angesam*
melte Getreide teuer verkauften ; des Zaren Wohltat wurde
zum Übel, und das Elend wuchs gewaltiger als je zuvor.
Hunderttausende, Millionen Menschen starben den Hungertod.
(Mierall lagen Leichen umher, baten Sterbende um Hilfe. In
Moskau beförderten die \om Zaren angestellten Ijeamtcn im
Laufe des Jahres 1604 nicht weniger als 127000 Leichen von
Menschen, die auf den Straßen verhungert waren, aus der
Stadt hinaus. Aber als damals der Freiherr von der Logau
als kaiserlich römischer Gesandter nach dem Kremlj kam, ver
anstaltete man trotzdem glänzende Feste. ..In der Tractation
des Herrn (gesandten," berichlet liussow, „wurd an allerley
Sachen viel zugeführet. und gingen die Leute der Stadt so
prächtig, daß keine Theuerung auf denen Gassen zu sehen
\\\ir, sondern nur im Mause und im Herzen. Ks durfte auch
wegen des Herrn Gesandten Leute niemand bey Leibes Strafe
klagen, daß Theuerung im Lande gewesen."
Von 169s bis 1698 herrschte eine schreckliche Hungers-
not in Estland. Viele Eltern setzten ihre Kinder aus, um sie
nicht vor den eigenen Augen des kläglichsten Todes sterben
zu sehen. Auf allen Straßen lagen die Leichen haufenweise.
Man warf die Toten in Massengräber; gewöhnlich wurden 25,
manchmal 75 in eine Grube gelegt i).
Im achtzehnten Jahrhundert gab es wahrend des Regiments
der fünf Frauen auf dem Zarentbrone 33 Hungerjahre. Katha-
rina IL glaubte die Hungersnot durch Witze bekämpfen zu
können. Einen Komwucherer beschenkte sie mit einem
eisernen Orden von einem Pud Gewicht, den der Elende bei
seinem Erscheinen in der Öffentlichkeit stets tragen mußte;
aber sie selbst vergeudete Hunderte Millionen an ihre Günst-
linge und bestrafte den Publizisten Nikolaj Nowikow, der sich
zum Advokaten des gepeinigten verhungernden Volkes machte.
Die Regierung Alexander^ I. brachte eine Ruhepause, aber
seither hat das Elend Jahr um Jahr das Reich heimgesucht.
^) VgL Petri, Esthlaod und die Esthen. Gotha 1802. I 157.
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I
— 464 —
1832 verwüstete eine Mißernte Südwestrußland. 1840 das ganze
Reich. Unter Nikolaj I. durfte das Wort Hung^cr nicht er
wähnt werden. Der Kaiser besuchte i) ein Spitai, trat zu dem
Bett eines Typhuskranken und fragte den Arzt, wodurch die
Krankheit entstanden sein könnte. .,Woh! durch Hunger."
entgegnete der Arzt. Der Kaiser sah den Mann grimmig an
und ging weiter. Beim Abschied aber trat er nochmals auf
den Unglücksmenschen zu und sagte: ..Du, hahe die Zunge
besser hinter den Zähnen." Und am nächsten Tage wurde der
Arzt seines Postens enthoben. 2)
Von besonderem Interesse ist die Konstatierung, daß die
Hungersüüi iimner nicht bloß Gelegenheit zu Aberglauben und
Ausschreitungen gab, sondern die Sittlichkeit des Volkes unter-
grub und die Brutalität seiner Gefühle enthüllte. Die Historiker
von tausend Jahren berichten beispielsweise dieses Schauer-
liche aus allen Epochen des Elends : daß die Hungernden ihre
Mitmenschen schlachteten und vensefarten, um ihr eigenes Leben
für eine kurze Weile foitzufiisten. Wir haben bereits er-
fahren, daß bei der Weiten historischen Hungersnot in Ruß-
land um 1070 die Männer die Weiber schlachteten. 1230
nährten sich die Notleidenden in Nowgorod von Moos» Weiden-
und Ulmenblattem, Hunden, Katzen, „und selbst von Menschen-
leicfaen, und es wurden Menschen ^erschlagen, um ihre Leiber
zu grauenvoller Speise zu bereiten**. Zwar wurden derartige
Verbrechen mit dem Tode bestraft, aber man konnte sie in-
folge des großen Elends nicht verhüten. Um 131 5 ereignete
sich Ähnliches in Estland und Livland anläßlich einer großen
Hungermot'): ,J>ie Leute haben nicht allein ungewöhnliche
und wiederige Thiere gefressen, sondern es trieb sie auch der
Hunger zu anderen abscheulichen Thaten, daß die Eltern ihre
eigenen Kinder zum Theil aus Mitleiden und der Qvaal ein
Ende zu machen, umbbrachten, theils ihren Hunger damit zu
stillen, geschlachtet und aufgefressen haben. Es wurden auch
^) Diese Anekdote erzählt Viktor Hehn in seinem nachgelassenen Bache
„Da Boritm» RutlMaonun", herausgegeben von Th. SdbieiBaan.
*) Atiafübzlidie Sdhüdcmog der nunscbeii Hvmgtnoüto v^, bei Ben-
hard Stern. Zwischen der Ostsee und dem Stillen Oseaa, S. 159—196.
*) Hiäms Geschichte. 147.
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— 466 —
von den armen Leuten des Nachts die Diebe und die Ge-
richteten von den Galgen und Kadern abgestoiileu und ver-
zehret. Es hat sich in der Zeil in einem in Jerwen gelegenen
Dorff, Pugget genennet, zugetragen, daß ein Knecht seinen
leiblichen Vater ermordet und auffressen wollen, ist aber
darüber ergriffen und wegen soldier Uebelthat nut schwerer
Pfein SU Tode gemartert worden.**' Aus dem Jahre 1419 wird
berichtet, daß sich das Volk in Rußland während der all-
gemeinen Hungersnot nicht bloß vom Fleisch der Pferde,
Hunde, Katsen und Mäuse, sondern auch von Maulwürfen
imd BAenschenleichen nährte. Iwan der Schreckliche hatte das
wahnsinnige Verlangen» das Schauspiel einer verhungernden
Menschenmasse zu genießen; gleichzeitig machte er sich das
seltsame Vergnügen, seine Untertanen zum Menschenfleisch-
essen zu zwingen. Petrus Petrejus^} erzahlt nach Berichten
seiner Zeitgenossen : „Als Iwan das Hauß Arol erbawete vnd
emewerte mit Pasteyen vnd Pankering, ließ er die Arbeiter vnd
Bawlewte von Hunger also verschmachten, daß sie Hungers
halber gezwungen worden, einen vnter sich, der am febtesten
war, zu schlachten, vnd erwehreten sich also des Hungers.
Die anderen, die Menschen Fleisch nicht essm mochten, zwang
der Hunger, daß sie ein Kalb abschlachteten. Welches, da
CS der Großfürst erfuhr, ließ «r diejenigen, die Kalb Fleisch
gefressen, lebendig verbrennen vnd die Asche in's Wasser
werffcn. Die anderen, die Menschen Fleisch gefressen hatten,
wurden perdonirct \'nd von der Straffe erlediget. Denn bei
den Mußkowitem ist es absehe wlich vnd haltens vor größere
Sünde, Kalb Fleisch essen als Menschen." Die Geschichte jeder
russischen Hungersnot ist reich an Fällen von Kannibalismus.
Indem Schreiben eine^ königlich polnischen Staatsbeamten, das
sich im Mecklenburg-Schwerinschen Archiv befindet, heißt es:
„Moskaw, 24. Juni 1570. Der Hunger ist allhier in der Mos-
kaw so grob, als nie gehöret oder gesehen worden, daß auch
ein Mensch den anderen auffrießt, wo einer den anderen über-
weldigen kan; ja eß hauet ein Mensch den anderen m Tonnen
^) Htstociea vnd Bericht von dem GroOfürsteathumb Mafikow. IMptig
163a
— 4Ö6 —
vnd saltzet ihn ein, vnd frießet, daß ein Grauen zu hören." ^)
Aus der Zeit der grofifen Teuerung, die im Jahre 1601 begann,
berichtet Bussow: ,,Mit Gott und der Wahrheit zu bezeugen,
habe ich*s hiit meinen eigenen Augen gesehen, daß Menschen
auf der Gasse gelegen, im Sommer Gras und im Winter Heu
wie das Vieh gefressen, etlidie sind todt gewesen und in deren
Acutem Heu imd Koth gestecket, theils auch bona venia
Menschenkoth und Heu verschlucket. Unzählich viel Kinder
sind von ihren Eltern und die Eltern von ihren Kindern, auch
der Gast vom Wirthe und der Wirth wiederum vom Gaste
ertödtet, geschlachtet, gekochet, das Menschenfleisch klein ge-
hacket, in Pirogen, das sind Pasteten, verbacken, auf dem
Marckt für ander Thierfleisch verkauffet und aufg^ressen,
daß ein Wandersmann sich zur selbigen Zeit wohl hatte vor-
zusehen, bei wem er zur Herberge einkehrete." Dasselbe er-
zählt aus dem Hungerjahr 1570 der früher erwähnte Petrus
Petrejus, diesmal als Augenzeuge: ,,Da starben etliche viel
tausend Mensch^ni von Hunger, lagen in den Städten auff den
Gassen vnd im Felde auff den Wegen, hatten Häw vnd Stroh
in den Mäniem ; jhrer viele aßen Pferde-Fleisch, Hunde, Katzen
vnd Rnt/en. Menschenkoth vnd dergleichen vnbequemlichc Ma-
terien. Etliche lagen auff der Krden vnd saugetcn in sich das
Blut, das von dem geschlachteten Viche, Schweinen vnd Schaf-
fen aubgelauffen war, etliche aßen sich vnter einander selber:
In den Häusern, da viel Volcks war. schlachteten sie die fet-
testen vnd flpisrh\ ollsten, viel Eltern aßen jhre Kinder, die
Kinder jhre Eltern, die Kitern verkaufften die Kinder, vnd
etliche sich seihst vmb ein gering Old. Ich sähe in der Stadt
Mußkow, daß ein armseliges verschmachtet VVeib kam auff
der Gassen gegangen, vnd hatte ihr leibliches Kind auff dem
Arme, vnd indem sie gieng, fasscte sie das Kind mit den
Eausten, vnd vor großen Hunger bieß sie crgrimmlich zwey
stück von des Kindes Arm, aß also sitzend auff der Gassen.**
1) Vgl. auch: Tradcscant der Aeltere i6i8 in Rußland, von Dr. J. Ilamd,
St. )'"tf»rsbiirg ^^47, Scitf 140. Anmerkung 1, den Bericht des Engländers
Jeiikinson vom 8. August 1571: ,,Vex Hunger zwang die Leute, ihre Zoflucht
in der V«rsweiflttiig tn Menvclieiifleiieh tu n^imen".
Google:
— 467 -
Im Buche des Frahzoscn Margert-t lesen wiri;: ..Mesmes j'ai
vu quatre femine'; voisincs delaissees par leurs maris les quelles
ayant complottc eiisemble que l'une iroit au marche pour
achepter une voilurc de bois; cela fait. eile proniettant le paye-
ment au paysant en son logis, mais apres tl('ch:irg^e Ic bois
eiitra daiis ie poisle pour reccvoii snu })ayement, il fut estrangle
par ces fenimes, et mis en Heu oü par le gelde il se pouvoii
garder, attciidant que .son cheval fut premieremcnt par dies
mangd ; cela d^couvert confesserent le fait, et que le corps
dudit paysant estoit le troisi^me." Damals hecrschte auch m
Livland und Lettland große Hungersnot, und selbst in diesen,
der Zivilisation näherstehenden Provinzen nährte sich das Volk
häufig von Menschenfleisch ^) : ,,Man stillte den Hunger mit toten
Pferden, Hunden, Katzen und Ratzen, und dergleichen unnatür-
lichen Dingen. Da sie einen Hund angetroffen, so an einem todten
Menschen-Cörper genaget, haben sie selbigen wiederum ge-
schlachtet und aufgefressen, und daß die Uebelthäter, sobald
sie gerichtet, von den Galgen oder Räder herabgerissen wor-
den, mit deren Fleisch die elenden Leüte ihren Hunger zu
stillen gesuchet. Man hat des Winters allenthalben todte Men-
schen gefunden, die, an roh Fleisch der Aeser nagend, ge-
storben waren, und solch Fleisch noch im Munde behalten.
Aber das allerabscheülichste ist, daß ein Mensch den andern,
ja die EUtern die Kinder gefressen, welches dermahlen unter
den Bauern nicht ungemein gewesen. Unter andern hat im
Bersonschen ein Bauemmagdt ihre drey Brüder und vier
Schwestern, so alle jünger, als sie gewesen, abgethan. und das
Fleisch in Tonnen verwahret, damit ihr Leben auf längere Zeit
zu erhalten; wie es aber offenbar und die Magdt ergriffen wor-
den, hat sie der Hauptmann zu Berson gefraget : wie sie sich
unterstehen können, iMenschenfleisch zu fressen? Darauf sie
zur Antwort gef^cbcn : daß, wo es ihr hinturo zugelassen würde,
woltc sie sich kein --ubcrcs Flfi-.« 1\ als (icr Mrn^rhen, w ünscht-n."
Die Herrschaft der Romanows begann mit einer furcht-
baren Hungersnot. Als 1615, zwei Jahre nach dem Rcgierungs-
J ) l-Mat <\e y Empire de Rv^sie et dv grand Dvch6 de Moscovie, Paris 160;.
») Hiäms Geschichte, 384.
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
- 468 -
antritt Michaels, der holländische Gesandte Antonius Goeteeris^)
in Rußland war, mußte er schauervolle Bilder des Elends mit
ansehen. Abermals litt Nowgorod am meisten. Im Winter des
genannten Jahres starben hier 18000 Menschen den Hungertotl.
Wir müssen auf diese Berichte aus alten Zeiten Nachdruck
legen, weil sich heute tagtäglich dasselbe wiederholt. Die
russische Regierung hat seit Witte und Kokowzew von euro-
päischen Geldmännem nicht weniger als zwanzig Milliarden
Francs erhalten, aber nichts ist davon verwendet wordt a, um
die vierzig Millionen Menschen, die seit Jahren hungern, aus
dem Elend zu befreien. Hunderte Millionen Rubel werden
aus dem Staatsschatze zwar für die Bekämpfung der Not an-
gewiesen, aber keine einzige dieser MiUioMn ndrd ihrem Ziele
zugeführt; das Stehlen der Hilfsgelder beginnt schon beim
Minister, und was hier übrig gelassen wird, bleibt bei den Diebs-
kreaturen niedrigeren Ranges hängen. Ein klassisches Beispiel
hierfür ist die Affäre des Vizeministers Gurke, der durch Ver-
mitdung der Korsettenverkäuferin Esther mit dem Liferanten
Lidwall ^nen Vertrag abschließt, um wieviel Millionen Rubel
Getreide für die Hungergebiete nicht geliefert, sondern unter-
schlagen werden soll.
Wie zur Zeit des Zaren BoriB oder des Kaisers Ntkolaj I.
ist es auch heute verboten, das Bestehen einer Hungersnot zu-
zugeben. Dem französischen Forscher Aleicander Ular, der
die russischen Hungergebiete bereisen wollte, erklärte der Fi-
nanzminister Kokowzew^) : „Die Hungersnot ist ein Mythus."
Aber in einer Denkschrift von Witte heißt es wörtlich: „Bei
normaler Ernte bleibt das Ernahrungsquantum des Bauern
duchschnittlich um 30 Prozent unter dem zur Aufrechterhal-
tung der Kräfte eines erwachsenen Landarbeiters physiolo-
gisdi notwendigen Minimum." Das letzte Jahr blieb hinter der
normalen Ernte noch um hundert Millionen Meterzentner Ge-
treide zurück, und trotzdem wurden um hundert Millionen mehr
ausgeführt. Die einfachste Rechnung ergibt die Notwendigkeit
1) Vgl. dessen ..Journal der Legatie. Jn's Graven-Hage, 1619".
*) Vgl. den Bericht, den Alexander Ular über seine Erleboisae io Rnfiland
gab, ia Nr. 1547 der „Z^t" (Wien. 13. Januar 1907).
Diqitizcd by Googl(
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— 459 —
des Verhungcrns von 40 Millionen Untertanen des Zaren. „Das
Landvolk an der Wolga und in Zentralrußland stirbt aus,"
klagte Fürst Lwow im Winter 1906/07, ,,das Volk ^ cgetirt
von einem Tag zum anderen, ohne Hoffnung, den i ruhling
211 erleben. Riesige Landstriche sind ohne alle Leb« ii=;mittel
für Menschen und Vieh. Vieh verkauft man zu Fellpreisen, in
manchen Gegenden nährt sich die Bevölkerung von Gras und
Wurzeln oder sammelt Eichenlaub und Eicheln als Nahiuiigs-
mittel. Nicht bloß die Bauern, auch die mittleren Gutsbesitzer
haben mehr kein lebendes Inventar. In 14 Dörfern von 35
im Gouvernement Ssamara fand ich, daß beim Brodbacken den
gemahlenen Eicheln nicht einmal Roggenmehl zugefugt wurde.
Eicheln bildcu die Hauptnahrung für Mülionen von Bauern seit
September 1906. Ist es da em Wunder, daß die Menschen,
zernagt von Skorbut, wie Fliegen dahinsterben?"
Und wem bürdet die Regierung die Verschuldung dieses
Zustandes auf. Dem \'olke ! Ein offizieller Bericht aus dctti
Gouvernement Jaroßlaw schildert folgendermaßen die alles
Übel verursachende „Indolem der Bauern*' i): „Die Bevölke-
rung verhungert auf dem besten Weizenboden, weil ihr der
WiUe lu ausdauernder und umsichtiger Arbeit und zur Aus-
nützung der landwirtschaftlich-technischen Fortschritte fehlt.
So Ida^n die Bauern im Bezirke Romanow-Borissoglewsk nicht
über zu wenig Land, sondern über die geringen Erträge, die
sie dem Boden abzugewinnen vermögen. Daß aber nicht etwa*
die Beschaffenheit dieses Bodens, sondern die Bauern selbst
daran schuld sind, geht daraus hervor, daß ein aus einem an-
deren Gouvernement zugezogener Landwirt 9000 Pud Heu auf
einem Ftehtgute erntete, auf dem der frfihere Besitzer nicht
mehr als 2000 Pud gewann. Wie röckständig die Bauern im
Gouvernement Jaroßlaw smd, erhellt auch daraus, daß auf
ihren Dörfern Gemüsegärten unbekannte Dinge sind. Auf be-
stimmten Ackerflächen zieht man so gut es geht verschiedene
Getreidearten, und darin erschöpft sich die ganze bäuerliche
Wissenschaft. Gemüse, die man für den Hauslialt nötig hat,
selbst den unentbehrlichen Kohl kauft man von den Markt-
^) HoBve BpeMH. 11/24 ^ ^906.
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I
— 460 -
gärtnern der kleinen Städte. Kein Wunder, dali die Not
<(^brrrklieh i-^t. wenn diese ßaucru einmal mit dem (ietreide.
da.s sie anbauen, eine schlechte Ernte liahen. Statt sich nac h
den guten Vorbildern und Lehrmeistern zu richten, welche
die russische Landbevölkerung besoudcih an den deutschen
Grundbesitzern und Pachtern hat, verharrt sie im allgemeinen
in einer Indolm/.. die jeder Verbesserung fcindlicli gcgeniibcr-
steht/* Aber wer anders fördert die.se Jndulenz aL die Regie-
rung? Diese Regierung, die den Aberglauben zu Hilfe ruft,
um das Volk in seinem Elend zu erhalten! Vor kurzem*)
reisten zwei russische Damen auf ihre Güter im Gouverne-
ment Tambow ab, um dort in den von der Hungersnot heim-
gesuchten Ortschaften teils aus eigenen, teils aus Mitteln, die
%'on der ökonomischen Gesellschaft beigesteuert wurden,
Speisehallen zu errichten. Vor ihnen jedoch kam beim Gou-
verneur folgende Depesche an : ,,Zwei Subjekte von jüdischem
Typus (beide Damen sind blonde, blauäugige Vollblutrussin-
nen) reisen zu widergesetzlichen Zwecken unter dem Vorwand
der Errichtung von Speisehallen ins Gouvernement; diese Pro-
paganda ist zu unterdrücken/* Man wagte nicht, die Damen
arretieren zu lassen; da half sich der Gouverneur, indem er
an das abergläubische Gewissen der Bauern appellierte. Als
die wohltätigen Frauen die Namen der Notleidenden aulzu-
schreiben begannen, schrien die Bauern, wie der Pope im
Auftrag des Gouverneurs sie gelehrt hatte: „Ihr seid der Anti-
christ 1 Ihr seid vom Teufel geschickt, um uns zu notieren,
damit wir in die Hölle kommen. Zehnmal besser ist es, vor
Hunger zu sterben und in den Himmel zu gelangen."
Wie bei der Hungersnot ist der Aberglaube auch bei den
Epidemien in Rußland eine ständige Begleiterscheinung. Der
mönchisch( Chronist Nestor bezeichnet im elften Jahrhundert
über den Ursprung einer Epidemie: eine ungeheure Schlange
fiel vom Himmel herab, und böse, den Sterblichen unsichtbare
Geister ritten Tag und Nacht in Polozk umher und töteten
die Einwohner htnterriirk^ Der schwarze- Tod hat allerdings
in westlichen Ländern ebenfalls genug Anlaß zu abergläubi-
1) I lar a. a. O.
d by Google^
s( hcn Phantastereien gegeben. In Rußland wütete die Pest
lurchtbarer als irgendwo sonst. In Smolensk blieben nach
einer Epidemie im Jahre r ;?87 nach den Berichten der zeit
gen(?s«ischen ( "hroin-^trn ,,nur drei Menschen übrig, welche
die mit Leichen angeluütr Heimat schaudernd verlieLien und
die Tore der ausgestorbenen Stadt verschlossen," ICs ist be-
greiflich, daß Riif51and im Mittelalter nicht aufgeklärter sein
kormte, als Europas Länder. Im fünfzehnten Jahrhundert
folgte ein Pestjahr dem anderen ; 1410 he^^rhlossen diePskower
endlich, um die Seuche zu bannen, zwölf Hexen zu schlach-
ten. Aber das Mittel half nicht. Es erschienen vielmehr neue
drohende Zeichen; der Himmel flammte in seltsamen Farben,
das Wasser wandelte sich in Blut, die Heiligenbilder weinten,
wilde Tiere änderten ihre Gestalt. Der Aberglaube ^ah uuch
entsetzUcherc Zeiten, als bisher gewesen, kommen, und die
Tatsachen bestätigten die Prophezeiungen der Wahrsager und
Priester: Von 1462 bis 1465 starben in Pskow und Nowgorod
allein 250052 Menschen. Inuner und immer wieder ist es
Nowgorod, das vom Unglück heimgesucht wird. 1506 herrschte
dort j^eine ansteckende Krankheit mit Drüsengeschwülsten",
wahrscheinlich die Drüsenpest; in wenigen Wochen wurden
15000 Menschen von dieser Seuche hingerafft. 1522 wütete
in Pskow die Pest. Bei dem regen Handelsverkehr zwischen
Pskow und Nowgorod war das Eindringen der Epidemie nach
Nowgorod unvermeidlich; und in wenigen Wochen starben
in letzterer Stadt und der Umgegend fast alle Menschen aus,
beinahe 500000. Die Krankheit wich „dank einer Wasser-
weihe des Metropoliten Simeon Tschornij/' in Wahrheit, weil
sie keine Opfer mehr fand. Ebenfalls 500000 Menschen star-
ben in Nowgorod und Pskow 1561 an einer unbekannten Krank-
heit. Ein gräßliches Seuchen jähr war 1654.^) Die Zarenresi-
*) In den Berichten der eufOpäischen ZeitKenossen ist von diesem Fest-
jähre nur weni^ Htilo gpwe«ten. Erst Proft^sor Brückner hat vor einijjen
Jaliren in der 2^b>chrift tür allgemeine Geschichte diese eutseUUche Epideuue-
periode anfgeUirt. Oltuivs gedachte in leiiier ..ReySbesehnitnuig" aar otier*
fIftcWich „einer in Rnfiland herfecliendea Krankheit", um tofl^eich hinsn-
sufügen: „aber sonst ist in Rußland von pestilenxischen Krankheiten oder
gfoSen Sterben nidit viel su hArea". Ebenso lobte der Venestaner Alberto
— 462 —
dem wurde vollständig entvölkert. Fürst Pronskij, der nach
der Flucht der Zarenfamilie und des Patrinrchen Nikon in der
sterbenden Residenz als Wächter ^uriic kl ilieb, sandte im Sep-
tember [654 ein Schreiben an den Herrscher, das wie ein I
erschütterndes Klagelied klingt mit seinem furchtbaren Ref raui :
„Alle gestorben" : ,,0 Herr, die Pest ist von Tag zu l ag stärker
geworden. Nur wenige von dei\ rechtglauijiL: • n Christen sind
noch vorliaaden, und in sechs Regimentern bind alle Soldaten
gestorben. In den übrigen Regimentern liegen viele krank dar-
nieder^ die anderen sind gestorben. Der Chef der Streljzy ist
gestorben. Die meisten Hundertmanner sind gestorben.
Kathedralen und Kirchen stehen leer, die Priester sind
fast alle gestorben. Nur in der großen Kathedrale sind
noch drei Priester am Leben geblieben, die anderen sind ge-
stoiben. Es ist kaum jemand da, der die Toten beerdigen
könnte; die Fuhrleute sind alle gestorben. Alle Amter sind
geschlossen, die Beamten und Schreiber sind alle gestorben.
Und auch uns, deinen Sklaven, droht ein schrecklicher Tod."
Wenige Stunden nach Abfertigung seines Briefes 'war Fürst
Pronskij eine Leiche; sein Nachfolger Fürst Chilkow starb am
nächsten Tage. Im Winter hatte die Seuche ein Ende, «eil
sie keine Opfer mehr fand; Patriarch Nikon kehrte xuezst
zurück; er ließ alle Hunde totschlagen und die Stadt säubern;
dann hielt der Zar wieder seinen Einzug in die Residenz, ge-
folgt von den übrigen Flüchtlingen. Von den 200000 Men-
schen» die beim Ausbruch der Seuche in Moskau zurückge-
blieben waren, hatte kaum einer von hundert die Zeit der
Not überlebt. Von Moskau hatte sich trotz der strengen Ab*
sperrungsmaBiegeln die Epidenue durch das ganze Reich ver-
Vimina, der 1655 in RnBlaad war, das gesunde Klima des Landes: „Die RoMn
sind stark« erreichen dn hohes Alter, und von Pestkranldieiten unter ihnen
hört man nicht vfel". Damals war übrigens ganz Europa von Epidemien furcht-
bar heimgesucht (vgL Haescrs Geschichte der epidemischen Krankheiten). Aber
vf&s war das gegen die Verheerungen der Seuche in RuUlandt Für je 1000.
die in Europa von der Pest hingerafft wurden, fielen ihr in Moskovriam adui-
taasend znm Opfer. Der engliscbe Leibarzt des Zaren, Samuel CoOins (vgL
dessen „State of Russia". London 1667. 45) war der einzige, der die Wahrheit
kannte; er schätzte die Zahl der 1654 in RuBland von der Seuche Gemordeten
aui 4800000.
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breitet und jahrelang fortgewütet. Wie Boriß Godunow 1604
dafür Sorge trug, daß Europa nichts von der damaligen
Hungersnot in Rußland erfahren sollte, so befahl jetzt Zar
Alexej, vor dem venezianischen Gesandten Vimina die Ver-
heerungen der Pest zu verheimlichen; und Vimina bemerkte
wirklich nichts mehr; ,,uon si sente il saggio di morbo pesti-
lenziale," schrieb er.^)
Und hundertundzwanzig Jahre später wiederholt sich das*
selbe entsetzliche Schauspiel, als 1771 die Pest Moskau aber-
mals verheert -) Die Seuche brach im Süden aus und kam
1770 nach Kijew durch eine Katze. Die Regierung, statt die
Krankheit zu bekämpfen, befahl sie zu verschweigen : die Pest
mußte Fieckfieber heißen. Die Ärzte rapportierten gehorsam
über ein hitzi|?es, faulendes Fleckfir^l^er mit Geschwüren. Gegen
dieses Fieber traf man keine Maßregeln, es grassierte weiter.
Einige Tage später starben bereits Tausende in wenigen Stun-
den, und für Rettung war es zu spät. Auch in Moskau wurde
die Pest zuerst als Fieber deklariert.
Die Regierung Alexanders T war wie von Hungersnot
auch von Seuchen fast ganz verschont. Unter der Regierung
Nikolajs I erschien die Cholera, um fortan in Rußland ihren
Lieblings au fenthalt zu nehmen, dort mit kurzen Unter-
brechungen bis auf den heutigen Tag fortzudauern, und von
Zeit zu Zeit dieselben Verheerungen in einzelnen Gegenden
anzurichten wie in früheren Zeiten die Pest. Letztere trat
zum letzten Male in furchtbarer Weise 1S78 in Astrachan
auf. Man gab sie nach alter Methode für eine Typhusepidemie
aus, sperrte die Stadt einfach ab, als das Übel sich verschlim-
merte, und üeß die Bevölkerung hilflos aussterben. Die letzte
1) Vgl. di« totste Amnarkung.
*) Diete Bpidieiiiie konate vor Europa nicht mcbr verheiinlicht wcndaa.
und Katharina II. war daher weise genug, aaftdon Unglück wenigstens Reklame
für sich und ihren Günstling Orlow zu -schlagen, dem sie, weil er die Pest be-
siegte, als diese sich schon gesättigt hatte, Triumpbpforten errichtete und Me-
daillen prugte. Die Zeitgenossen haben dem Pestjahr 177 1 ausführliche
Beriditegfnridiiiet. V(^diAsiisammeBlMMiid«SchildcvmigvoonoLBraictam
RumImIm Itoviie. Bd. XXII. Ober di« 1771er Pest in Kijew: BQadiiiig» Ut^uin
VII. 916-^331 („Reiae von Petersburg nach der Maddau")*
grobe Cholera-Epidemie herrschte 1892; sie forderte mehr als
400000 Menschenopfer.
Die Geschichte des Hungers und der Pest m Rußland
ist eine krasse Illustration des Satzes, dab Rußland sich nicht
andere. Durch tausend Jahre zeigt sich immer dasselbe Bild
des Elends, dieselbe Niedertracht der Tschinowniki. die an
fangs verheimlichen, um ihre Fehler nicht eingestehen zu
müssen, und dann stehlen, was zur Linderung der Not tlienen
soll. 189J koiistaticrte Ssuworin, der Herausgeber der im
Dienste der Regierung stehenden Nowoje Wremjä, daß die
\'ei.-paiung der .\iaLWialHncii eine allgemeine Erscheinung war:
..Diese V'erspatung hat die Folgen des Notstandes für Men
sehen und Tiere verschaill. Niemals noch hatte Rußland ui
folgedcssen einen solchen Verlust an l^ferden zu verzeichnen
wie in diesem unglücklichen Jahre. Ein Jäger hat mir erzählt,
daß er jetzt als Fraß für seine Hunde Pferde um fünfzig Ko-
peken das Stück kauft. Ja, wenn man rechtzeitig Maßregeln
ergriffen hatte I" Trotz des fruchtbaren Bodens bleibt das
Huiigcrelend unausrottbar; und unausrottbar trotz der Fort-
schritte der ärztlichen Wissenschaft sind in Rußland die Epi-
demien. Denn mächtiger als alle Wissenschaft ist der Aber-
glaube.
28. Medizin und Aberglaube.
AVisseiMchalt als gottlc» verpöut — Die ersten Ärzte in Ruülaud — Ertuorüuug
der Arsto «lurch Fanatiker — Die Hof&rcte Iwans des SdirecUichea — Das
erdte masischie Medisiiibadi — Begründung von Apotheken Die Ante des
Zaren Boriß — Seltsame Prüfung eines Arztes — Stellung der Hofärzte —
Der Arzt und die Zarin — Verdächtigung der Arzte — Ermordung der Arzte
unter der Regentin Sotia — 1-hc Arzte dürten nur dem Zaren dienen — Apo-
theken gehfiren dem Zacen — Verhalten des Volkes gegen die Arste — Petan
Beaetehnnng fflr Ante — Wie Peter die Trene sdiies Leibarttes erprobt —
Peter der Große als Chirurg — Züchtung von Zwergen und Riesen — Das
Knnstkabinett — Sammlung von Mißgeburten und Geschlt-c-htsttilen — Peter
benützt nur abergläubische Heilmittel — Heiliges Wasser — Der Wundertäter
Alexej ab Ai^enant — HeiligenbUder als HeUmittel — Ermordung des £rs-
bischofs Ambrosij — Menschenopfer — Ermordungen von Midchen, Kkanken
und Grcist-n Parallelen aus Sibirien und Albanien — Aus der germanisch-
slawiachea ürxeit — Massenbaf tigkdt der Menschenopfer in Rufllaad — Assbtcnx
— 465 —
s
der Darfverwiltniiig«n und Dorfpolizei — Leichenschändungm'— Der Gebrauch
des Umpilügens — Volksmedizin, Grausamkeit und Aberglaube — Am der
V^olksmedizin der nichtmssiscbeo Völker ia Rußland.
Nicht Historiker, sondern Schmeichler waren es, welche
die Behauptung aüfstelUen, daß die Mediiin als Wissenschaft
in Rußland schon in frühester Zeit Emgang gefunden hätte.
Die russischen Chronbten selbst berichten nur darüber, daß
die Russen in Krankheitsföllen die Hülfe von 2^uberem in
Anspruch nahmen oder sich der Heilkunst erfahrener Weiber
anvertrauten. In Kijew gab es zwar zur Zeit des Wladimir
Monomach einige berühmte armenische Arzte „einer von
ihnen war so geschickt, daß er schon beim ersten Anblick
eines Kranken sagte, ob die Heilung möglich sei; oder, falls
Letzteres nicht der Fall war, prophezeite er genau den Tag
des Todes.** Aber außer diesen armenischen Ärzten hatte die
Medizin in Rußland keine Vertreter. Die Russen selbst lern-
ten nichts, Bildung erschien ihnen als Gottlosigkeit. Ausländer
galten als Heiden oder Ketzer. Während der Mong<^enherr-
schaft war keine Rede von Ärzten oder Medizin.*) Der mosko-
witiscbe Großfürst Iwan III. berief gegen Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts mehrere ausländische Ärzte nach Moskau, die
nach russischer Sitte in den Chroniken nur mit ihren Vor-
i\amen erwähnt werden. Unter ihnen befanden sich Anton
der Deutsche und der Jude Leon, den ein russischer Gesandter,
der nach Rom geschickt war, von dort mitgebracht hatte.
Beide Ärzte fielen dem Fanatismus des russischen Volkes zum
Opfer ; die gottlosen Männer, die sich vermaßen, Menschen
kuriere n zu wollen, starben eines gewaltsamen Todes.') Als
Nachfolger dieser ermordeten Hofärzte werden von zeitgenös-
sischen Chroniken genaimi : Theophil, der Grieche Mark, Niko-
laj Lujew*) oder Nikoiaj Buhle ^j, beigenannt der Deutsche
i) Chroniqne de Nettor, II Anhang 173.
9} Richten Geschichte der tfedisui in Rttfltauid. ^ Eine mUMnOi^
Zusammenstellung der Zeugnisse aus russischen Chroniken findet OttU bei'
»I. t*. 3Mt^nT>, Bfj.Tf»f» BpaT»'<'>noft Piwiu, C.-IIPTep6ypn> 1890.
*) Reintioldt, Geschichte der russ. Literatur. 311.
«) So heiet er bei Gerebtiolf. Eani I 42$.
I) Reinboldt a. a. O. 173.
Stcra. Gcadliclitie der eflcntl. SttlicUieit Ruthiid. 30
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— 4fi6 —
(Nikolaj Njemtschin) ; endlich auch zwei Russen, die Brüder
Roleff. Iwan IV. hatte als Hofärzte: Arnolf Lensey, Elisej
Bomelij, Standich 1), Johann, Richard Elms und den Engländer
Jacoby, der 1581 mit besonderen Empfehlungen der Köni
gin Elisabeth nach Mo'^kau gekommen war. Auch dem Sohne
Iwans, dem Zaren Theodor, schickte Elisabeth ihren Leib-
arzt Marc Ridley, der fünf Jahre in Moskau blieb. Neben
dem früheren Hofarzt Jacoby und dem Engländer Ridley trnt
besonders der Milanese Paolo hervor. Als der Letztgenannte
in semc Heimat zurückkehren wollte, erhielt er hierzu nicht
die Erlaubnis, und König Heinrich IV. von Frankreich mußte
zu seinen Gunsten beim Zaren Theodor intervenieren, mdem
er sich erbot, als Ersatz für Paolo „einen Mann derselben
Profession, dessen Lehren und Treue den Zarin /uineden-
stellen würden" zu senden. Unter Theodor Iwanowitsch er-
schien das erste russische Medizinbuch (als Handschrift) im
Jahre 1588, und vier Jahre später gab es zum ersten Male
in Rußland eine Quarantäne in Rjew als Maßregel gegen eine
Epidemie. Aucli der Begründer der russischen Apotheken,
der Engländer Frenchham, wurde damab von Elisabeth emp
fohlen und arbeitete in Moskau gieidueitig mit dem Holländer
Klausen.*) Nach der Thronbesteigung des "Zaren Boriß Godu-
now kehrte, der Engländer Ridley nach London zurück; EBsa«
beth schickte statt seiner sofort den Doktor Willis nach Moskau.
Doktor Willis wurde von dem Djak (Hofisekretär) Wassilij
SchtscheDcalow einer seltsamen Prüfung unterzogen: „Hast du
Bücher und Ameimittel mitgebracht f Welche Grundsätze be-
folgst du? Besiehst du dich bei dein^ Beurteilung der Krank-
heiten auf den Puls oder auf die Beschaffenheit der Säfte im
Korper ?** WUÜs entgegnete : , Jch habe meine Bücher in Lübeck
gdassen und bin als Kaufmann weitergereist, wdl man in
Deutschland und anderen Ländern den Ärzten, die nach Ruß-
land gehen, nicht günstig gesinnt ist. Mein bestes Buch habe
ich im Kopfe. Arzneimittel werden vom Apotheker, nicht vom
1) Mehrere dieser Namen sind offenbar verstümmelt.
•) DicMT noch vorhandene Brief des Kflnlgi Heinrich ist das Utastie
Dokument der offiziellen franzfisisch-mssischen Besiehnngen.
•) Karamsin, IX 374, Anmerkung igi.
— 467 —
Ante heigestellt. Für einen erfa]irenen Beobachter sM der
Pub wid die Besdnffenheit der Safle von gleicher Wichtig-
keit/' Der Djak Schtschelkalow erklärte daraufhin den Leib-
arzt der Königin Elisabeth für einen Ignoranten ; und nach dem
Bericht seines Vertrauensmannes schickte Zar Boriß den Dol^or
Willis wieder fort. Nunmehr erhielt der zarische Ubersetzer
Reinhold Beckmann den Auftrag, nach Deutschland zu reisen
und deutsche Ärzte für den Zarenhof anzuwerben. Beckmann
brachte mit sich: Christoph Ritlengher oder Reitlinger (an-
geblich aus Ungarn), David Vasmer, Kaspar Fiedler, Johann
Hilke aus Livland und Heinrich Schrocder aus Lübeck. Jeder
dieser Hofarzte erhielt 200 Rubel jährlich, ein Lehngut, Be-
dienung, Kost und Pferde. Zar Boriß verlieh den Hofärzten
auch zum ersten Male das Patent der russisrhen Doktorwürde.
Die Hofärzte hatten keine beneidenswerte Stellung. Zu
einem hohen Patienten gerufen, mußten sie sich streng nach
dem Zeremoniell verhalten, und ihre Meinung durften sie nicht
frei heraussagen. Noch peinlicher war die Situation, wenn
gar die Zarin des ärztüchen Rates bedurfte. Selbst die Ge-
mahlin des aufgeklärten Alexej duldete anfangs nicht, daß
der Arzt in ihrem Zimmci erschien; endlich gab sie nach,
aber die Fenster wurden so verhängt, daß der Arzt die Patien-
tin nicht sehen konnte. Die Zarin streckte bloß ihren Arm
hervor, damit der Arzt den Puls fühlte, aber vorsichtigerweise
war der Ann mit einem Tuche innhüllt, um die Bolihnmg
eines nackten Körperteiles der heiligen Zarin durch den Ant
zu verhüten.!) Die Hofänte standen unter strenger Bewachung:
Als Baron Mayerberg, der Gesandte des Kaisers Leopold, in
Moskau erkrankte, bat er den italienischen Leibarzt des Zaren
*) MavL'rherii^. Wjy.iRe iGRS. 304 (Netidrurk II IJ7). Wie in Rußland die
alten Gebrauche ioridauern, geht aus nachfolgende m hervor: Kaiserin Alexandra«
GemliUii NikoUja II., arkfankte an Bronchitis. Der Leibarzt Botkin wollte die
Zwia Auknltierea; die PiRtientin aber weigerte sich, ihre Ornat an enHiftllea,
weil eine Zarin sich einem fremden Manne nicht entblöBt zeigen durfte; Botkin
begab sich dar.iuf zum Zaren und erfuhr hier. ilaD bisher alle Arzte die Zarin
auskultiert hätten, walirend sie vollst.ui<U>^ angekleidet gel>liel>en. Dem ener-
gischen Widerspruch des Leibärzte» ({ab aber der Zar nach, und die seltsame
Tradition worde gebrochen. VgL La Chronique mMicale and Le Petit Ttaipa,
Nr. 1605. 99 janvier tpoj.
30»
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4
— 468 —
tu sich. Erst nach zwei Tagen erhielt er die Verständigung,
daB der Zar die Erlaubnis erteilt hätte; statt des italienischen
Leibarztes kam jedoch der englbche. Mayerberg wollte sich
diesem nicht anvertrauen und ließ ihn fortschicken. Kurz darauf
kam ein Abgesandter des Zaren und fragte den Gesandten,
ob der Italiener schon gekommen wäre. Mayerberg erklärte,
daß der Engländer dagewesen ; der Russe redete ihm nun zu,
den Engländer zu akzeptieren, der Italiener sei verreist. Erst
später erfuhr Mayerberg den Grund dieses Komödienspiels:
Unter den Kriegsgefangenen in Moskau befand sich ein litthau-
ischer Würdenträger; der Gefangene erkrankte, und man
schickte ihm den italienischen Arzt. Der Doktor empfahl dem
Kranken Creme de Tartre. Ein Spion hörte die W'ortr und
berichtete dem Zaren, daß der Arzt und der Gefangene ein
Komplott mit den Krymtartarcn. mit denen Alexej Krieg führte,
verabredet hätten. Der Arzt wurde verhaftet und der Incjui-
sition ausgeliefert ; er klärte zwar das Mißverständnis aut. blieb
aber verdächtig ; und einen solchen verdächtigen Menschen
konnte man doch nicht mit dem Gesandten des Kaisers Leo-
pold stundenlang allein lassen I
Als Zar Fcdor. dci Sohn Alexejs, eines frühm Todes
starb, beschuldigte rriiizrssin Sophie, die nach der Regent-
schaft strebte, den holländischen Arzt Daniel Vongad (von
Gaden), daß er Fedor im Interesse der Familie Naryschkin
und des Prinzen Peter vergiftet hätte. Die Streljzen drangen
in das Haus des Arztes» fanden aber nur seinen Sohn; als
dieser den Vater nicht verraten wollte, wurde er erwürgt. EMe
Mörder trafen dann einen anderen Arzt, einen Deutschen. Sie
hielten ihn an und sagten ihm: ,,Du hast zwar unseren Herrn
picht vergiftet, aber du bist ein Arzt, und so hast du doch andere
vergiftet.'* Und sie brachten ihn um. Endlich fanden sie auch
den Holländer. Sie schleppten ihn in den zarischen Palast. Die
Schwestern des verstorbenen Zaren bezeugten vergebens, daß
von Gaden den Herrscher bis zum Tode aufopfernd gepflegt
hätte. Die Streljzen erklärten : „Er ist ein Hexenmeister, wir
sahen bei ihm eine große Kröte und eine Schlangenhaut.*'
Und sie vollzogen an dem Unglücklichen die von den Chine*
sen übernommene barbarische Strafe der zehntausend Stücke;
Digitizcd by Lit.jv.'vi'^
Kopf, Füße und Hände des Zerstückelten wurden auf eisernen
Spitzeil zur Schau gestellt.
Die ersten Ärzte in Rußland wurden nur für den Zaren-
dienst berufen; die Großen nahmen gleichfalls die fremden
DoktiQtm in' Anspruch, weil dies Mode xu werden .begann,,
das Volk aber blieb na«:h wie vor ohne Hilfe in seinen Krank-
bdten. Vom Jahre 1616 ab wurde auf Befehl des Zareh Michael
den militSrischen Kommandanten eine fixe Summe für medi-
zinische Ausgaben angewiesen. Auf Veranlassung des Zaren,
Alexej errichteten die Bojaren J. D. Miloslawskij und A. S.
Matwejew in Moskau zwei Apotheken; die eine war nur für
den Zarenhof bestimmt und befand sich im Kremlj/ihr Vor-
steher war ein Deutscher, namens Guthbier. Die andere, ge-
leitet von Christian Eichler, war in dem von Alexej begrün-
deten Kaufmannshause*) und dem ganzen Volke zugänglich.*)
Auch die Volksapotheke gehörte dem Zaren; die Medikamente
waren so teuer, daß sie einen Gewinn von 27 28000 Rbl.
jährlich abwarfen. Der Zar schickte, da das Gesdiäft ein loh-
nendes zu werden versprach, gleich jenem, das der Schatz
mit den Schenken machte, den Apotheker Peter Pontan auch
nach anderen Städten, um dort Apotheken einzurichten; so
nach Wologda. Die Lobredner Alexejs rühmen seine Barm-
herzigkeit und Menschenliebe als die hervorstechendsten Eigen-
schaften seiner zarischen Seele" und führen als Bewei-^ dafür
an, daß er in Kriegszeiten bei den Regimentern Apotheken
errichten und jeder einen Spezialarzt beiordnen ließ.*) Aber
als 1654 in Moskau die Pest ausbrach, erhielten alle Ärzte
den Auftrag, sich nur um die Gesundheit der zarischen Fa-
milie zu kümmern. Der Zar blieb bei der Armee vor Smo-
lensk, die Zarin zog ins Kloster Koljasm. In der Residenz
traf man wohl einige MaLSregcln gegen die Epidemie, aber
diese bezweckten auch nur den Schutz des zarischen Eigen-
tums: um die verpestete Luft vom Palast fernzuhalten, wur-
1) Voltaire, lüitorie d« TEmpife de Rueie mos Piene le Gnuid, frtni.
und deutsche Ausgabe. Wien 1810, I 175.
') rocniHofl ,i{R<(ri>. Packhof. ähnlich dem orientalischen Karawaofleni.
*) di'HiTin.. IUp<^KOHauie qapa AjieKcba MaxaftjioBBia, U 14.
*) CjieaHHrb &. a. O. la
den die Fenster und Türen des letzteren vermauert. Nadi-
dem dies große Werk vollbmcht war» überließ man die Be-
vdlkeruiig, die von einem Kordon abgesperrt wurde, der Seuche.
Wenn In einem Hause die I^ute endlich ausgestorben waren,
sündete man das Haus an und ließ die Leichen mitvezbrennen.
Briefe, die dem Zaren aus einem verseuchten Orte zukamen,
durften dem Herrscher nicht im Original vorgelegt werden;
man schrieb die Briefe ab, räucherte die Abschriften, und
händigte sie dann dem Zaren ein.
Die ärsdiche Wissenschalt würde wahrscheinUdi nicht viel
ausgeriditet habm, auch wenn man alle vorhandenen Ärzte
zum Wohle des Volkes aufgeboten hätte. Denn nicht bloß
ist die- Zahl der Ärzte gering i), sondern das Volk will von
gelehrten Heilkünstlern nichts wissen, und auch die erleuchteten
Geister stehen ihnen fremd gegenüber. Selbst für Peter den
Großen sind die Arzte, wie er in einem Briefe aus einem euro*
päischen Kurorte an Katbarina schreibt, nichts anderes als
„Verbotsmenschen".*) Sein Vertrauen zu den Ärzten ist kein
großes, und sein geringer Glaube an ihre Treue wird durch
den Ausfall eines Scherzes gänzlich erschüttert : Auf dem Kriegs-
marsclu- läßt der Zar eine Anzahl Soldaten als Schweden
verkleiden, und sich von den falschen Feinden während er
mit dem Beichtvater und seinem griechischen Leibarzt tafelt,
überraschen. Der falsche Schwedcn-Antuhrer s:rhreit; ,,Wer
von euch ist der Zar? Heraus mit der Sprache, oder ich töte
euch alle!" Der Beichtvater sagt; „Der Zar ist nicht unter
uns" : der Arzt aber ruft vor Schrecken: „Der ist's, der lange
Mann," und zeigt auf Peter. 3)
So wenig Peter von der ärztlichen Kunst halten mochte,
>) Pie Hofärzte des Zaren Alcxej waren: Rosenbcig V«t«r und Soba;
Gramann; Blumentrrtst ; Dmi l Jf^flöwitz (, .dieser wird hfy Hofe am mei<?ten
gebrauchet, ist ein Jude von Geburt, wurde hcmaeh Papistisch, alsdann Evan-
gelisch, und itzo ist er griechischer Religion"}. Als Chirurg diente der ächlesaer
Sigmmid Sommw. VgL Külnirgen Untenicht von dem nuiiaeh«a Handii
IB BBsdiiiigs Magatin III 337. In diesem Bericht, do^ ans dem Jahre 1674
stammt, ist der Engländer Samuel CoUiae, der 1654 die Ptttepidenie mit-
eriebte. nicht mehr erwähnt.
*) Sadler, Geistige Hinterlassenschaft Peters des Großen, 127.
*) Webers VeriUidertes Riifil«iid II t3i: und Halcm-III 139*
— 471 —
so gern äpiuite er den Arzt, namentlich den Chiiuigxn. Des
Zaren Gegner behaupteten, er wäre gar nicht der Sohn Alexej.s,
sondern eines deutschen Chirurgen Kind gewesen; die Zarin
Natbalic hätte ein Mäddien geboren, und dieses heimlich gegen
das Gururgenklnd vertauschen kusen; von seinem Vater Chi-
roig sollte Peter die Liebe pi chirurgischen Operationen er*
erbt haben. ^) In Wahrheit hatte der Zar die Chirurgie von
seinem GQnstUng, dem Wundarzt Tirmont, erlernt. In Amster-
dam erweiterte er nach Möglichkeit seine Kenntnisse. Er trug
stets ein Besteck mit chirurgischen Insrumenten bei sich. Wenn
in einem Hospital «ine Operation oder eine Sezierung "vor-
genommen werden sollte, mußte man ihm dies anmelden, und
er legte selbst mit Hand an.') Zahnoperationen machte er mit
Vorliebe; ein Hofbeamter, der wegen eines Vergehens be-
straft werden sollte, fiel vor dem Zaren auf die Knie und
jammerte plötzlich über Zahnschmerzen; der Kaiser vergaß
seinen Zorn, zog die Zange aus der Tasche und riß dem
Manne zwei Zähne aus. Eines Tages berichtete man, daß die
Frau eines holländischen Kaufmanns an der Wassersucht dahin-
siechte, sich aber der Abzapfung, dem einzigen Rettunps-
mittel^ widersetzte. Peter ging sofort hin, beredete die Frau
zur Operation und vollführte diese selbst auf der Stelle.^)
Große Summen opferte Peter für die Begründung seines so-
genannten Kunstkabinetts. ^) in Amsterdam kaufte er um
Vo^erodt bei H«mnaim. io8.
•) Bergholz bei Büsching, XXI 186. 339. — Stählbi. Anekdoten, 14; ao6,
Anmerkung 61. - TIalcm III 146.
>) St;lhlin 207; Halem III 229, No. 61.
Eme ausführliche Beschreibung desselben, von O. BJelajew, mit Kupfer*
BÜehM, aaehiea in Petenburg iteo. 4'. Dm exBte AbteUnng (215 Seiten)
beschreibt die Wachsfigur Peters und aller in der Kunatkammer aufbewahrten
Gegenstände, die dem Zaren persönlich gehört haben; die dritte AbteUung
bringt Beschreibnngf*n <!'t alt«*n russischen und ausländischeu Münzen und
24edailleu, goldener und sUberncr Antiquitäten, der Minerahen, Gesträudie
und Olfemilde; die swdte Abteünng (287 Seiten) ist die intarsMMtirte : sie
enthalt anBer der bistoiisehen Beschiiabniig der natftrUchen und kflnsüichea
Stücke der KnnstiKammer viele kuriose Anekdoten zur Gcsctüchte disstt Gegen*
55t<in(i** • — Fine ansführlicli«: dciit'^chp Bescliri'il>iing des Naturalienkabinett»
und der Kunstkammer hatten !»chon iruher die ..Bemerkungen über Rußland"
(von Prof. BeUermanu). lirfurt i^tiS, 1 94—155. verüifcntUtht.
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— 472 —
50000 Gulden die Sammlung des Anatomen Friedricli Ruysch,
1718 befahl er, jede Mißgeburt von Menschen oder Tieren
dem Kabinett geigen einen fixen Tarif, abzuliefern: für ein
lebendes menschliches Moostrum zahlte man hundert, für ein
totes fünfzehn Rubel. Eine Hermißgeburt wurde mit .3, 7
oder 10 Rubel gekauft, je nachdem, ob sie tot, lebend oder
selten war. Der Zar hatte auch die Idee gefaßt, d^ Natur
nachzuhelfen und seltsamem, Menschen auf Kommando zeugen
zu lassen. Er verheiratete verkrüppelte Zwerge mitdnandrr,
lun für das Kunstkabinett ein Zwergengeschlecht zu erhalten.
In Calais nahm er einen ungeheueren Riesen in seinen Dienst ;
diesen Mann verheiratete er in Petersburg mit einer Fmnin,
der gprößten Frau, die man im Reiche hatte auftreiben können,
um ein Geschlecht von Riesen zu begründen^ 1 ; die Hoch-
zeit wurde aber erst gefeiert, nachdr^m der Riese und die
Riesin miteinander mehrmals geschlafen hatten und das Frauen-
zimmer schwanger geworden war, also den Beweis geliefert
hatte, daß sie nicht unfruchtbar bleiben würde. Zum großen
Verdrösse Peters starb der Riese. Der Zar ließ nun wenig-
stens die schönsten Stücke der Leiche für das Kabinett prä-
parieren. Des Riesen ungeheuerer Magen wurde ausgestopft;
seine getrockneten Gedärme hing man iin den Wänden auf,
und auch sein imponierender Penis kam unter die Raritäten.
Besonders reich w^urde das Kabinett an Embryonen; iio un-
geborene Kinder schmückten die Etageren der Kunstkammer.
Die Sammlung begann mit dem Keim im Augenblick der Emp-
fängnis, und schloß ab mit dem Kinde, das zur Geburt reif
gewesen. Das erste Stück wurde dem Leibe einer Frau ent*
nommen, die in der Ausübung eines Ehebruches von ihrem
Manne überrascht und erstochen worden war. In t8 Schränken
wurden Präparate, zumeist von Geschlechtsteilen, angesam«
melt.^) Das ganze Kunstkabinett ist für Peter schließlich nur
>) Halein II 376, Anmerkung 61 ; 378. — Berghok bei Bfisdung XIX 40^
•) Vgl. Bellermann I ko: Hastarum et viilvarum magna adost coll«?ctio.
l'teni«? protrudcns infantem. Vulva qnae quoad magnitudisem iam Petro I.
mira videttatnr. Ausonius ex Virgüio de ea est vatkinatus. — Penis ialsi
numonim aignatoris. cb crimeo interfecti, supetaais onmes alios, fortaa»» et
Vulcaiii, aeqnat lere eqoi iagaen. Vir qnidun praawna iocose ß^Skkbat:
d by GüOgIe|
— 473 —
eine Spielerei mit Dingen, welche seinen Grausamkeitstrirb
oder seine Wollust befriedigen. Für die Medizin als Wissen
Schaft fehlt ihm jedes Verständnis. Er leidet seit seiner Kind
heit an Gesichtszucknngen und Nervenkriimpfeu ; um das Übel
zu kurieren, wendet er sich nicht an gelehrte Arzte, sondern
er gebraucht immer nur das Mittel, das ihm ein altes Weib
angeraten hat; ein aus dem Magen und den Flügeln >einer
Elster hergestelltes Pulver !*)
Soll das Volk, dai bedrückte, in der I' insternib \vandelnde,
klüger sein als der aufgeklärte Zar ? Bei der Wasserweihe
drängt es sich herzu, um mit dem geweihten Wasser die
Kranken zu besprengen. Rettung aus der Not der Epidemien
oder in unhdibaren Krankheiten erwartet es nur vmi den
Wundertätern. Der Großfürst Dmitr Joaünowitsch schikt um
1360 den heiligen Alexej, den Wundertäter, ins Land der
Agarjäner (wahrscheinlich nach der Krym oder der Türkei),
um durch seine überirdische Macht die blindgewordene Zarin
der Agarjäner sehend zu machen. Ais im Jahre 1654 in Moskau
die Pest ausbricht, flüchtet die Zarin Maria Ujinitschna und
nimmt alle Aizte und Armeünittel mit sich; der Bevölkerung
aber schickt sie als Heilmittel das Bild der heUigen Mutter
von Kasan) aus dem Troizkijldoster und versichert, es werde
den Zoni Gottes stUlen und die Pest zum Weichen bringen:
Während der Pestepidemie, die 177 1 Moskau verheert, er-
zahlt ein gelähmter Kaufmann dem Volke, das Marienbild
der Warwarapforte sei ihm erschienen und habe verkündet,
es werde an ihm ein Wunder tun und auch die Pest dämpfen.
In Prozessionen strömt das Volk zur Warwarapforte des Kremlj,
um das Wunder zu erwarten. I>er Archimandrit Ambrosij
„Stolidus numorum adulterinonun signator, si tua hcne uosses« inajora majori
rum voluptate liicrari potni^tses; vix enim crcdidcrini, tempora in Ras-^ia
inutasse et tanquam mutata iril Talia naturae dona animi dotibus pme^xv
nmitar." — Membrana virile arefactum. et sicut pertica berbae nicotiaaa«,
qua» appeUator Canaster. oonseetnm. quo omne» c<illw1a» conspiciiintiir. —
Malta alia aaturalia. Haec et quaedam hisce similia, pnofanis ocolis obacoena.
in scrinio. cuius iatuta vitrea vdo cerioo viridi inteme lecta est, oonsarvantur,
nee onicuique nionstrantur.
*) Stählins Anekdoten; Waliszewski. Pierre le Grand. 114.
Digitizcü by ^(j^j-j.l'^
— 474 —
erkennt die verinindertCacbte GeCahr der Anstedning durcli
das Zusammenströmen der Menschenmassen und will das Ma-
rienbild entfernen, aber das Volk in seinem Wabn reißt den
Priester in Stücke und wirft die Leichenteile den Hunden
vor; der Pöbel stürmt die Spitäler und mordet die Arzte, die
in seine Hände fallen. Der unglückliche Erxbischof Ambrosij
und die Arzte gelten den Abergläubischen als böse Zauberer»
deren unreine Kräfte die Wunderwirkung der heiligen l^der
verhüten. 1831 und 1892 dieselben Szenen; während der
Choleraepidemie in Petersburg im Jahre 1831 demollert das
Volk das Oioleraspital; ein Mann, der dabei als ruhiger Zu-
schauer stehen bleibt, sich am Vemichtungswerk nicht be>
teüigt, wird von jemandem als Werwolf bezeichnet, man reißt
ihn zu Boden und kleidet ihn nackt aus, um seinen Zauberer-
schweif zu suchen; 1892 werden in Astrachan mdirere Arzte
und Apotheker, die das Volk für Zauberer hält, ermordet und
verbrannt; und in Chawalynsjc im Gouvernement Ssaratow
behaupten Leute, daß der Ortsarzt Moltschanow der Cholera
einen Passierschein ausgestellt habe, damit sie in die Stadt
eindringen könne: der Alliierte der Cholera wird gesteinigt.
Nächst dem Glauben an die Wirkung von Heiligenbildern
in Krankheiten und Epidemien ist die Meinung weitverbreitet,
daß man die Seuche durch ein Opfer, am sichersten durch
ein Menschenopfer zu beschwören vermag.') £s existiert eine
Überlieferung, daß in alten Zeiten in den großrussischen und
kleinrussischen Niederlassungen zur Beseitigung der Viehseuche
cm Weib, das böser Anschläge verdächtig war, dem Tode ge-
weiht wurde. Solche Weiber wurden in großrussischen Dör-
fern mit einer Katze und cnitm Hahne in einen Sack gebund( n
und Irl endig in die Erde verscharrt. Im Gouvernement Ar-
changelsk wurden noch vor wenigen Jahnrehnten demWasser-
geistc Mcnschenoj)fer dargebracht, 18S1 herrschte auf No-
woje Senil jä Skorbut infolge von Hungersnot. Der Samojede
Jefrem Pyrerka, dessen Kinder der ivrankheit erlegen waren,
*) Xoaepa m» IlexepÖypii. \rh iipejKuio roAu. licrupinecKaa oapaiuca. ;i,oK-
Tupa Meatmanu F. II. Apx<iHreju>cKaro. C.-II6r. 1892.
•) Lftwemtimni, Abwi^nbe and Stnfrecbt, S ff., 35.
Digitized by Google
erdrosselte das bei ihm bedienstete Mädchen Ssawaaei, um
— wie er später vor dem Archangelskcr Gerichtshof erklärte
— aus Angst vor dem Hunger dem Teufel ein Opfer zu
bringen ; nach diesem Opfer war er sicher, daij ihui der Teufel
Nahrung verschaffen wurde, und in der Tat kam schon in der
ersten Nacht nach dem Morde ein junger Bär vor das Zelt
Jefrcms, der das Tier erlegte; kurz darauf erbeutete Jefrem
noch aecfas Reimtiere. Der Samojede machte dem Götzen,
der sein Opfer so reidi belohnte, aus Holz ein Götsenbild, und
um sich des Götsen Gnade noch weiter zu erhalten, beschloß
er nunmehr, seinen Zeitgenossen Andrej Tabarej ebenfalls zu
opfern. Tabarej aber entkam dem Ansdilag, zeigte den Jefrem
an, und dieser gestand sein Verbrechen ohne weiteres. Im
Nowogruder Kreise des Minsker Gouvernements bringt man
beim Ausbnidi einer Seuche zunächst Tiere — einen schwar-
zen Kater, einen schwarzen Hahn oder einen jungen Hund —
zum Opfer: einem Bauer aus dem Dorfe Kamenka starb iSyz
ein Sohn an der Cholera; um den Cholerageist zu versöhnen,
begrub man 'mit der Leiche des Bauernsohnes acht lebendige
Kater. Verbreitet sich die Seuche trotz der Tieropfer stärker,
so muß man Menschen opfern. 1861 beschloß im Turuchan-
sehen Gebiete ein Bauer, um sich und seine Familie vor der
Epidemie zu retten, ein Mädchen als lebendes Opfer dem Krank-
heitsdämon darzubringen. Häufiger aber opfert man alte und
kranke Leute; dies geschah während der Choleraepidemie des
Jahres 1831. Im Jahre 1855 lockten die Bauern des Dorfes
Okopowitschi im Nowogruder Kreise auf den Rat des Feld-
schers Kosakowitsch die Greisin Lucia Manjkow auf den Frie<i-
hof, stießen -^ie in ein offenes Grab, in das man die Leichname
der an der Seuche Verstorbenen gelegt h.itte. und schaufelten
das Grab schnell zu. Im August 187 1 ereigneten sich irn Dorte
lorkatschi. ebenfalls mi Kreise Nowogrud, mehrere solcher
Fälle ; unter anderen wurde ein junges Mädchen, das krank
\md seinem Ende nahe war, lebendig begraben. Der Umstand,
daß m erster Linie kranke oder alte Leute, deren J age ohnehin
gezählt sind, geopfert werden, gibt zu denken, in Kußland
werden auffallend viele Leute sehr alt. In früheren Zeiten
führten die vornehmen Russen ein üppiges Leben. Die Tafel
— 476 —
war reichhaliig, und Mach dem Mittagsessen war ein langer
Schlaf ebenso obligat, als jede Bewegung verpönt war. Die
vornehmen und reichen Leute waren durchwegs dick. Ein
wohlbeleibter Mensch sein, hieß: Anspruch auf Hochachtung
tnaclieR^). Trotzdem wurden sehr viele hundert Jahre alt und
mehr*). Auch jetzt findet man nicht bloß in größeren Städten
oder Dörfern, sondern in jedem, selbst dem Ideinsten Orte
vide Hundertjalirige. Aber man betrachtet die Alten mehr
mit Scheu als mit Ehrfurcht. Bei einigen sibirischen Völkern
ist I^glebigkeit geradesu todeswurdig. In einem älteren Buche
wird erzählt') : »Wer in Sibirien 70 Jahre alt ist, wird von seinen
nächsten Verwandten in einen Wald gebracht, wo sie ihm eine
Hütte bauen, ihm für drei Tage Nahrung geben, und dann
Abschied nehmen. Hat der Greis die Nahrung verzehrt, so
sthtfot er Hungers." Die neueren Reisenden bestätigen es, und
George Kennan*) beispiekweise, der über den Gebrauch der
Korjäken, die Alten und Kranken zu ermorden, berichtet, meint
den Grund dieses Gebrauches im Wanderleben zu finden :
Das Umherziehen lasse Krankheit und Altersschwäche sowohl
für den davon Betroffenen als für seine Umgebung außer-
ordentlich lästig erscheinen, so daß der Mord eine von der
Klugheit und dem Mitleid diktierte Maßregel werde. Man
findet Ähnliches in Albanien; in Elbassan nennt man Männer
und Frauen, die über hundert Jahre alt sind, Schtrighea oder
Schtnku: Wesen, welche böse Zauberkünste treiben; man
glaubt, daß diese Alten imstande sind, durch ihren Hauch
Menschen zu töten; in Zeiten der Epidemien gab man ihnen
die Schuld am Unheil und verurteüte sie zum Feuertode 'K
Die germanisch slawische Urzeit kannte schon den Gebrauch
1) Karamsin, deutsche Ausgabe IX 309, französische X 367.
•) Margeret, Estat de 1' Empire de Rvssie, 53, hebt die Langlebigkeit der
Riiavaa ab besomdon bemvkmBwt hervw.
*) Sammlung merkwfirdigier Anekdoten, das Ruaaiseh« Rdch. betreffend»
« 791. S. 5,
*) Zeltlcben in Sibirien und Abenteuer unter den Korjaken und anderen
Stammen in Kamtschatka, deutsch von E. Kirchner, Berlin t^oi, S.
*) Bernhard Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der
Türkei, I 277.
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der Tötung von Greisen und Kranken.^) Aber der Greis gelbst
mußte den Tod wünschen. In Zeiten der Nahrungsnot wurden
Volksbeschltisse inbetreff der Tötung der Greise und Kinder
gefaßt. Zu Saxo Grammaticus kam die Sage eines solchen
Beschlusses der Dänen. Die Olafs Tryggvasonar saga be-
richtet, daß auf Island ebenfalls eine Öffentliche V61ksversani|n-
lung zur Zeit strenger Kalte und Hungersnot beschlossen habe,
alle Greise, Lahmen und Siedien verhungern zu lassen. Der-
selbe Zug wiederholt sich aus dem gleichen Anlasse in der
Viga Skutus saga. Procopius berichtet als tatsächlich, daß
die Heruler ihre Greise und Kranken töteten. In der von
Saxo erzählten Sage von Gauti erscheint es als gemeine Sitte,
daß die Kinder ihre alten Eltern auf die Stammklippe begleiten
und die Eltern sich von da herabstürzen, um froh und heiter
den Tod zu finden. Von den Nordslawen erzählt Zeiller: „£s
ist ein ehrlicher Brauch im Wagrerlande gleichwie in anderen
Wendlanden gewesen, daß die Kinder ihre altbctagten Eltern,
Blutfrcundc und andere Verwandten, auch die so nicht mehr
zum Kriege oder Arbeit dienlich, ertödtetcn, danach gekocht
und gegessen, oder lebendig begraben; daher sie ihre Freunde
ni( ht haben alt werden lassen, auch die Alten selbst lieber
sterben wollen, als daß sie in schwerem, betruijtem Alter langer
leben sollten. Dieser Brauch ist lange Zeit bei etlichen Wenden
geblieben. inMundcrhoit im I.üncburger Lande." Ganz das
gleiche bekundet Aolker von dem Slawenvolkc der Wilzen
oder Liuticen an der Ostsee, und Praetorius von den Alt-
prcußcn. Cranz erzählt aus dem Jahre 1309 eine Geschichte
von einem wendischen Greise, den sein Sohn unbedenklich
lebendig vergraben wollte, und Kreyßler weiß einen ähnlichen
Fall aus der Mark vom Jahre 1220.2) Von dem Selbstmord
bei den Tschuktschen in Zeiten von Krankheiten ist in einem
früheren Kapitel die Rede gewesen. 3) Die angeführten Pa-
rallelen, welche beweisen, daß auch bei anderen Völkan Un-
menschlichkeiten stattgefunden haben, sprechen aber gleich«
1) Julius Lippert. Die ReUgioaen der europäischen Culturvölker, Berlin
iSöi, S. 38.
•) Lippert a. a. O. 39 — 40.
•) Vgl. s. 445.
uiyiii^Cü Ly Google
zeitig eine furchtbare Sprache gegen die russische Kultur und
Sittlichkeit, Was anderwärts Selbstmord war, ist in Rußland
Verbrechen ; und was anderwärts in den finstersten, längstver
gangenen Jahrhunderten und in vereinzelten Fällen f^eschehen
ist, das ereignet sich in Rußland unter dem Himnir] des zwan-
zigsten Jahrhunderts und tritt nicht als Einzelerscheinung, son-
dern massenhaft auf. In dem Berichte einer russischen Wochen-
^( hriftij über diese Barbareien des russischen Volksaberglau-
bens ist festgestellt worden, daß für die Beerdigungen solcher
Menschenopfer sogar Ausweispapiere von der Gemeindevei
waltung^ ausgegeben wurtlen; der Dorfälteste und die ganze
Dorfobiigkeit teilten die Überzeugung, daß die Cholera durth
die Opferung eines lebenden Menschen versöhnt werden müsse.
Die unter solchem Patronat vollzogenen Verbrechen können
vor der großen Öffentlichkeit in einem Lande wie Rußland,
wo ganze Provinzen ohne Zeitungen sind und die wenigen
Blätter in übrigen Gouvernements vaAeae d&c Zuchtrute
der Zensur stehen« leicht verheimlicht werden. Die Gerichte
erhalten Anzeigen liur von der Polizei; da die Dorfpolizei selbst
im Banne des Aberglaubens steht, ist niemand vorhanden, der
die Macht der Finsternis auch nur anzutasten wagt.
Im Vergleich zu diesen Menschenopferungen sind andere
Verbrechen aus medizinischem Aberglauben zwar an sich
schrecklich genug, doch harmlos, weil es sich bloß um Leichen-
schändungen handelt. Als im Jahre .1851 im Dorfe Possadjr
des Kreises Berditschew im Gouvernement Kijew die Cholera
ausbrach, verbreitete sich das Gerücht: der frühere Kirchen-
diener und seine Frau seien Vampire gewesen und schuld an
der Epidemie. Man grub ihre Leichen aus, hackte ihnen die
Köpfe ab und verbrannte diese; die Leiber wurden ins Grab
zurückgelegt, aber vorsichtigerweise mit Eschenpfählen durch
stochen und an die Erde geheftet. Als am 30. Juli 1893 im
Dorfe Taschtamakowa im Sterlitamakschen Kreise des Gou
vemements Pensa eine epidemische Krankheit ausbrach, be
schloß eine Dorfversammlung das Grab einer Bäuerin, die
bei Lebzeiten als Hexe gegolten hatte, zu öffnen und die Leiche
^) lI<;At.ifl 1873, Na 3.
— 47« —
mit einem Eschenpfahl an die Erde zu nagdn; Anlafi zu
diesem Besdüusse gab die Erklärung einiger Dorfbewohner,
die beseligten; sie hätten gesehen, wie aus deni Grabe der
Hexe eine feurige Kugel aufgeflogen und in Feueizungen zer
platzend die Krankheit in alle Hütten geschleudert. Zuweilen
ist es der mit dem Aberglauben verbundene Hang zu Grau-
samkeit und Wollust, der abscheuliche Vorgänge verursacht.
Auch bei den Südslawen geht der Vampirglaube zum T«il
auf Nekrophilie zurück. Man fand öfter die Leichen jung
verschiedener Frauen und Mädchen ausgescharrt vor. Der
Leichenschänder hatte seine Lust an ihnen befriedigt, zum
Überfluß aber ihnen die Brüste verstümmelt und die Einge-
wtnde herausgerissen 1"). Auch im nachfolgenden russischen
Falle bandelt es sich offenb ir um eine sadistische Leichen
Schändung. Im August 184(8 gruben die Bauern von Welikr«
Schuchowiz im Nowogriidcr Kreise des Minsker Gouvernc
ments die Leiche eines Bauernmädchens aus, das als erstes
Opfer der Cholera anhoimgefall en war. Der V cld.schcr des
Ortes hatte behauptet, daß diese Bäuerin eine liederliche Person
gewesen ; und weil sie als Liederliche in schwangerem Zu-
stande gestorben, hätte sie die Cholera hervorgerufen. Auf
d' n Rat des Feldschers beschloß man, das Grab zu öffnen und
au der Leiche die Operation des Kaiserschnitts m machen,
um die Lage des Kindes zu erforschen. Man fand im Leibe
der Leiche zwar kein Kind, sondern das Kind lag als Leiche
neben der Mutter; aber der Feldscher kam nicht in Verlegen-
heit und aeigte den Anwesenden, daß die Leiche der Mutter
den Mund offen hatte, was em Zeichen des Hezentums. Darauf-
hin waren alle überzeugt, daß der Feldscher recht gehabt, und
man nagelte die Hexe und Cholerabringerin mit einem Eschen-
pfahl an die Erde.^)
Ein weitverbreitetes Mittel zur Bekämpfung der Epide-
mien ist das Umpflügen des verseuchten Dorfes» das soge-
nannte Opacfaiwanije'), auch Korowaja Ssmertj, Kuhtod, ge-
*) Vgl. Krauß, .\nthropophyteia II 390.
1) Löwenstiiiim. 97 ff.
*) OnuauasD«, <Ke UmtitUliiiii;. das PflOgen rnnd beram. — LOmn-
•tiniin« 19 iL
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— 480 —
heißen. Bei dem Umpflügen oder L'mackern müssen die han-
delnden Personen nackt oder höchstens im Hemde erscheinen.
Man kemit den Gebrauch auch in den slawischen lialkanl rindern
und in Daimatien: Es müssen zwölf splitternackte Junglin^^'c
und Jungfrauen von tadellosem Lebenswandel am Vorabend des
Sonntags nach Neumond um Mitternacht einen Pflug nehmen,
sich in das Joch sp innen und still, ohne zu sprechen, ohne
einander lüstern anzusehen oder zu berühren, siebenmal in
derselben Furche das Dorf umackern. Bricht in einem bul
garischen Dorfe eine Seuche aus, so löscht man auf allen
Feueratatten das i euer aus, uiid ganz nackte junge Leute
erzeugen stillschweigend ein neues Feuer durch Holzquirlung.
Mit HUfe dieses Feuers zündet man in jeder Heimstatt ein
neues Feuer auf dem Herde an. Durch Entblößung der Scbam^
teile oder des -Hinteni drückt der Sädslawe jemandem seine
Veraditung aus. Um die Krankheitsgeister zu vertreiben, legt
man die Kleider ab. Wenn man nachts einem Gespenste be-
gegnet, fasse man sich am Penis an und rufe: U Kuracl In
den Penis hinein f Frauen^ die sich vor Geistern fürchten,
ziehen, wenn sie nachts übers Feld gdben, Hemd oder Kittel
über den Kopf, so daß sie den Geistern den nackten Hintern
zeigen,^) Wenn der christliche Wotjäke vor Gericht gerufen
wird, um zu schwören, so entblößt er zwischen der Vorführung
und dem Eide heunlidi sein Glied, berührt das entblößte Glied
mit der rechten Hand und ist überzeugt, daß sein £td un-
gültig.^) Aus dem Jahre 1738 hat sich in dem Berichte über
die damalige Pestepidemie im podolischen Dorfe Gummenez
die Etzählung über eine Prozession erhalten, die von den
nackten Dorfweibern zu nächtlicher Stunde rund um das Dorf
und durch die Felder veranstaltet wurde, um die Pest abzu-
wehren. Der Edelmann Michael Matkowsky, der mit einem
Zaum in der Hand ein verlorenes Pferd auf den Feldern suchte,
wurde von den Teilnehmern der Prozession als die leibhaftige
Pest angesehen, gefangen genommen und unter den schreck-
KrauO AnthroiK>i>hytcia Ii. — Krauß, SüdalamKiM PestMgeo,
Wien 1883, 26. — Stern. Medinn, Aberglaube «ad Geschlechtsleben in der
TürDei I 269.
>) Löwenstimm, Aberglaube und Strafredit, 133.
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— 481 —
liebsten Martern lebendig verbrannt. 187 1 fanden in Ruß-
land wahrend der Cholera häufig Umackerungen statt. In
der jüngsten Zeit wurde das Umpflügen bei Epidemien und
Viehseuchen in den Gouvernements Orel, Tambow, Jaroßlaw
und W ologda beobachtet. Aus dem Gouvernement Jaroßlaw
Litrichtctc der Geistliche Orlow, daß man im Rüina.aü ßorißü
gljebschen Kreise nach Vollendung der Prozession eine schwarze
Katze, einen jungen Hund oder einen Hahn verscharrte; in
einigen Dörfern des Grjäsowezschen Kreises begrub man eineii
lebenden Hund imd eine lebende Katze. Im Gouvernement
Wologda nehmen die Bauern zunächst unter Assistenz der
Geistlichkeit eine Prozession bei Tage vor, wobei man uatet das
Heiligenbild eine Eintagsleinewand legt, nämlich ein Stück neuer
ungebleichter Leinewand, das am Vorabend des Plrozessions^
tages gesponnen und gewebt worden, ist. In der Nacht, zwischen
Mittemacht und Frühmesse, umpflügen die Weiber das Dorf :
Um Mittemacht tritt die alte Dorfwahrsagerin in die Um-
friedung des Dorfes hinaus und schlagt auf eine Pfanne. .Nun
kommen die Weiber mit Bratpfannen, Feuerhaken, Ofen-
gabeln, Sensen und Knütteln gelaufen. Das VUtk wird ein-
gesperrt, und die Männer dürfen die Häuser nicht verlassen;
Die Prozession beginnt, indem die Wahrsagerin sich ihres
Rockes entledigt und den Tod verflucht. Die Weiber ziehen
einen Pflug herbei und spannen an denselben nackte, unbe-
fl<*ckte Jungfrauen oder eine mißgewachsene Frau. Dann um-
pflügt man das Dorf dreimal, man zieht dreimal eine ge-
schlossene Linie rund herum ; und rwar also : Voran trägt man
das Bild des heiligen Wlaßj, des Beschützers der Herden,
falls eine Rinderpest herrscht, oder die Bilder der heiligen
Flor und Lawr, falls eine Pferdeseuche ausgebrochen ist.
Hinter den Heiligenbildern reitet die Wahrsagerin auf einem
P^sen ; sie ist nur mit dem Hemde bekleidet, und ihre Haare
snid aufgelöst. Dann kommen die nackten Mädchen mit dem
Pflug, und hinterdrein beweg-t sich die Menge der lärmenden
Weiber. Die Zeremonie ist als gelungen zu betrachten, wenn
die Prozession dem dreimrilij^cn Umpflüg^en niemandem
begegnet. ,,Gotl behüte Jeden davor, dieser Prozession in
den Weg zu geraten,'* . sagt der Geistliche Orlow. Ein Tier
Stern, Gnchicbte der OlTentL Sittlichkeii in Ku6l«nd. Jt
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wird sofort lotgeschlagen, ein Mensch geprügelt, bis er be-
wußtlos bleibt oder tot zur Erde sinkt. Das ist unerläßlich.
Denn wer der Prozession begegnet, ist sicher der Tod» der in
Gestalt eines Werwolfs erscfaeint» um durch die Durchkreuzung
der Umpflügungslinien den heilsamai Kreis des Pfluges zu
sentören. Der gleiche Gebrauch besteht, mit einigen IdeineQ
Abweichungen, in verschiedenen Kreisen der Gouveraements
Nischny>Noiirgorod, Woronesch und Tula. Am stärksten ver>
breitet ist er allem Ansehen nach in Mittelrußland. £s ist
außer allem Zweifel, daß man es mit einer alten heidnischen
Sitte zu tun hat, die von der Orthodoxie nicht nur geduldet,
sondern unterstützt wird, denn das Umpflügen wird durch
die vorhergehende kirchliche Prosession geweiht; und man
tötet die Menschen, die den heiligen Kreis stören, unter dem
Zeichen des i&euzes und mit Gutheißung der GeistUchk^t.
Zu erwähnen ist noch, daß beim Umpflügen auch Fälle von
Selbstopfenmg vorkommm ; man wirft das Los, und wen es
trifft, der wird mit einem Hahne oder dner schwarzen Katze
lebendig begraben.
Der entsetzliche blutige Abei^laube herrscht aber nicht
bloß in Zeiten der Epidemien, wo man durch solche Taten
sowohl sich als die ganze Gemeinde zu retten glaubt, sondern
auch in ganz gewöhnlichen Krankheitsfällen.
Die Zahl der abergläubischen Heilmittel für gewöhnliche
Krankheiten ist endlos. Besonders beliebt sind Beschvvö
rungen^V Die Heilmethoden sind zumeist g^raiisam und brutal
und führen häufig den Tod des Kranken herbei. Mord, Not
zucht und Sodomie werden vom Wunderdoktor oder der Wahr-
sagerin ohne viel Bedenken empfohlen, selbst wenn es sich
darum handelt, ein ganz gerinfügiges Übel zu kurieren. Epi-
lepsie heilt der 3Tia.\apb, der weise Mann, durch warmes Men-
schenblut. Im Gouvernement Kasanj ist dieses Mittel all-
gemein bekannt. Im selben Gouvernement existiert noch ein
anderer furchtbarer Aberglaube, worauf ein Vorfall vom 3. Juli
1) Sn» Rdbe Mlelier B^hwörungen und Besprechungen tdlt 3a6u3an,
Pv<i i-i!> iiapo;n> rrp. 259 — 282, 353 — ^386. 417 — 426 (napa-nran MP,'nTiiHHn'>.
— Vgl. feiner: CyjuioBT., Kyai.TypHUH ncpcsKHBauin ; CöopHHifB xaphK. Hcrop.
^luojior. oCiiKKmia III — V; Wisla 189t. No. III.
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— 488 -
1891 Iimweist: im Dorfe Stary-Ssalman des Spaßschen Kreises
wurde einem sechsjährigen Illeben die Kehle durchschnitten
und Brust und Ibfogenhöhle geöffnet; dann nahm man das
Hers heraus und gab dieses als Heilmittel einem Manne zu
essen, der nach einem Schlaganfall einen zitternden Kopf be-
halten hatte Aber die Heilmethoden sind auch für die
Patienten selbst mit großer Gefahr verbunden und führen in
den meisten Fällen den Tod herbei. Trotzdem sucht nicht blo&
das gemeine Volk die Wunderdoktoren auf, sondern auch
die Mitglieder der höheren Gesellschaftskreise und der intelli-
genten Klassen strömen massenhaft zum Snacharj oder zur
Wahrsagerin, und i* des Gouvernement, jed<^ t^rößere Stadt
hat einen berulunteii Kui {)fuscher, mit dessen Bcliebtlieit sich
kern gelehrter Arzt messen kami. In den 1880 er Jahren war
im Busulukschen Kreise des Gouvernements Ssamara der
Snacharj Kusmitsch vielgesucht; täglich kamen 150 Patienten
aus der ganzen Wolgagegend herbei, um seinen Rat einzu-
holen.^) Diese Wunderdoktoren wenden selbst in den harm-
losesten Krankheiten geradezu lebensgefährliche Methoden an.
Am schlinmisten ergeht es da der Wöchnerin und dem Säug-
ling. Allgemein ist es in der russischen V^olksmedizin Gebrauch,
die Gebärende auf eine Ilolzschaufel zu legen und sie von
einigen Anwesenden in die Höhe werfen zu lassen, während
andere sie an den Haaren halten und herunterziehen; dabei
ruft man: ^^Schaufelchoi» wirf es heraus, me du dasApod her-
auswirfst.'* Das Spiel endet nicht selten mit dem Tode der
Gebärenden. Hat der Säugling einen Bruch, so bindet man
ihm im Lukojanowkreise des Gouvernements Nischny Now-
gorod eine Maus mit einem Faden an den Fuß an und legt
dann das Tier auf den Bauch des Säuglings: zernagt die
Maus den Nabel des Kindes, so wird dieses gesund werden;
sonst muß es sterben. Leidet das Kind an Abzehrung» so
wird es nach einer Heilmethode, die ebenfalls im Lukojanow-
kreise üblich ist und auch in Wilna beobachtet wurde, in
Lappen gewickelt und mit ungesäuertem Teig aus Roggenmehl,
t) LAwenstimiii 114.
•) Löweostimni 13S ff.
St*
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- 484 -
das vorher ni der Länge des Kindes aufgerollt wurde, unihüllt;
dann bindet maii das Paket an eine Küchenschaufel fest und
schiebt es dreimal in den Backofen, während ein Weib drei-
mal vom Ofen bis zur Türschweile läuft und schreit: „Backe
das Hunde Alter, backe tüchtig." Diese Krankheit bezeichnet
man nämlich als liundcaltcr. Es geschieht, daß das Kind
während das Backens stirbt, dann war das arme Wesen un-
heilbar, die Methode aber ist nicht diskreditiert. Für dieselbe
Krankheit* gibt es in anderen Gegenden auch folgendes. Mittel:
Man tragt das Kind in den Wald und legt es auf ein paar
1 age in einen gespaltenen Baum. Dann nimmt man' es heraus
und trägt es dreimal neun Male rund um den Baum. Hierauf
bringe man es nach Hause und badet es in Wasser, das aus
sieben Flüssen oder Brunnen geschöpft ist, überschüttet es
mit Asche aus sieben Ofen und legt es auf den Ofen. Schlaft
es «tili ein, so wird es geheilt werden; schreit es aber, so muß
es sterben. Leidet ein Kind oder ein Erwachsener an Leib-,
schneiden mit Erbrechen, so verlangt der Doktor eine Suppen-
schüssel mit Wasser, Hanf und einen Krug. Die Schüssel
wird' dem Kranken auf den Bauch gestellt, der Hanf ange-
zündet und ganz nahe um den Kranken geschwenkt; hierauf
der Rest des Hanfes in den Krug gelegt und dieser in die
Schüssel gestellt. Während der Arzt seine Beschwörungen
hersagt, gibt man dem Kranken das Wasser aus der Schüssel
zu trinken. Schreit der Patient, so heißt es, daß die Krank-
heit gerade entweicht. Hat der Kranke früher vom brennen-
den Hanf Brandwimden erlitten, so sind das die deichen der
entflohenen Krankheit. Selbstverständlich kann der Wunder-
doktor nicht bloß Krankheiten bannen, sondern er steht Leuten,
die sich rächen wollen, auch zur Verfügung, wenn sie ihren
Feinden eine Krankheit anwünschen. So zaubert der Doktor
wem immer Rheumatismus an, indem er Erde aus einem
frischen Grabe nimmt, die Erde mit Asche aus sieben Ofen
und- Salz aus sieben Hütten vermischt. Das Päckchen muß
man in die Strümpfe oder Fußlappen des Verwünschten hinein-
praktizieren, und wenn dessen Fußschweiß dazukommt, hat
dt r Mann gleich seinen Rheumatismus. Leute, die sich dem
Militär entziehen wollen, halten es für das sicherste Mittel,
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sich vom Snacharj eine passende Krankheit anzaubern zu
lassen^).
Will jemand nicht einmal die Hilfe des Zauberers oder
eines alten erfahrenen Weibes in Anspruch nehmen, so bedient
er sich des russischen Allheilmittels, da^> srhon im alten Ruß-
land gebraucht wurde*): er nimmt Branntwem mit Schieß-
pulver, Zwiebeln oder Knoblauch und darauf ein Schwitzbad.
Vor Pillen und noch mehr vor Klistieren hat der Russe eine
abergläubische I \iicht; die schlimmste Gefalir ist nicht im-
stande, die Scheu vor dem KlibLicr zu uberwinden. Die Ko-
saken trinken, wenn sie vom Fieber gepackt sind, eine Riesen-
schale Branntwein mit einer tüchtigen Portion Kanonenpulver,
l^en sicli darauf nieder und stehen am anderen Morgen frisch
und muntei' auf.*)
Die Regierung kümmert sich um die hygienischen Zu-
stünde wenig. Game Landstriche, größer aJs Königreiche,
haben nicht einmal eine einzige Apotheke. Katharina IL be-
fahl in einer geheimen Instruktion, daß es in einem Gouverne-
ment wenigstens zwei Arzte geben soUe>) Jetzt hat jeder Kreis
in seiner Hauptstadt wenigstens einen Arzt, aber nicht überall'
eine Apotheke. Zumeist muß die Hausapotheke des Kreis-
arztes genügen. Die gesetzgebende Versammlung, die auf
Grund der von Katharina IL gegebenen Wahlordnung 1767
und 1768 in Moskau und Petersburg zusammentrat, beschloß
die obligatorische Schutzpockenimpfung, und die Kaiserin ließ
sich und den Großfürsten-Thronfolger Faul zuerst impfen, um
dem Volke mit gutem Beispiel voranzugehen. Anderthalb Jahr-
*) über Syphilis ist im II. Bande ein besonderer Abschnitt. Hier be-
lüge ich mich ^mit den angeführten Beispielen zur lUastriemng des Kultur-
«ad SIttfielikeitsgradM'der ruaaiachen Valksmedian. Man v^. ferner R. Krebd,
ValknnAdisin und Volksmittd vvncliledener VSIkenttmme RvOUadt, Loipaig
1858; und Aurelio Buddeus. St. Petersburg im kranken Leben, Band I, worin
die GestTndheitsverhMtiiiaBe und Heüanrtaltett qp«Ei«U dnr Rodden« einfrtiiwid
beachncben sind.
«
*) Karamsin, deutsche Ausgabe. IX 311.
DeiatiptiQii de ruidnunie, per le Chevalier de Beanplan. aonveOe
Mitioo per le pdskce Galitdn. ^Pfexia 1861, p. 135.
*) Blum, Ein nMaitcHer Staatamano, J. J. Sievera. Leipag nnd Heidel-
berg 1857. I 181.
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- 486 ~
hunderte sind verflossen, luid das russische Volk hat seinen
Widerstand gegen die Blatternimpfung noch nicht autgegeben.
Die Pocken wüten deshalb in Rußland noch mit ungebrochener
Kraft. Namentlich in den fernen Provinien und unter den
Nomadenvölkem ist diese Krankheit eine fast unausrottbare.
Wenn bei den Kiighisen jemand an den Pocken, die Tschit^
sdiak genannt werden, erkrankt, so wird er sofort von aUen,
selbst von sdnen nächsten Verwandten verlassen. Man sperrt
ihn in tm Zelt ein und setzt ihm von fem Lebensmittel und
Getränke aus. Gewöhnlich brechen die anderen Kirghisen
ihre Zelte ab und ziehen weiter, den Erkrankten seinem Schick-
sal überlassend. Nähert sich ein Pockenkranker den Woh-
nungen der Kirghisen, so wird er unbaimherng nieder-
geschossen i). Auch die Kalmücken empfinden vor den Pocken
eine abergläubische Angst, doch sind sie gegen die Erkrankten
menschlicher als die Kirghisen. Zwar ziehen sie ebenfalls,
sobald einer von ihnen von den Pocken ergriffen wird, sop:Icich
fort und lassen den Patienten in einer Hütte zurück ; aber der
Kranke bleibt nidit hilflos, sondern unter dem Schutze eines
Stammesgenossen, der die Krankheit schon durchgemacht hat,
also immun ist.
Bei den Kalmücken ist es besonders bemerkenswert, daß
hier das gemeine Volk die europäischen Ärzte ebenso gern
zurate zieht wie die kalmückischen Heilkünstler, während die
Vornehmen nur tu den einheimischen Meistern Zutrauen haben.
Die Kalmücken halten, im Gegensatze zu den alten Russen,
dencT: die Heilkunde als etwas Gottloses erschien, die Medizin
für eine göttliche Wissenschaft; sie besitzen einen Spczuilgott
der Medizin, den Ototschi Burchan, der auch im Bilde dar-
gestellt Wird. Eine Klasse der Ärzte heißt Ototschi, diese heilen
aber nur Knochenbrüche und Tierkrankheiten ; die angesehen-
sten Ärzte, Doctores medicinae universalis, sind die Aemtschi,
welches Wort auch Arznei heißt. Die Aemtschi gehören dem
Priesterstande an und schöpfen ihre Kennt insbe aus Büchern.
Der kalmückische Arzt legt den größten Wert auf die Diät.
Dem Kranken erlaubt er eine lange Zeit nur eine magere
1) Pallas Merkwürdigkeiten 295.
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487 —
Heischbrühe, einen dünnen Mehlbrei, Tee ohne Milch. Ao-*
dere Kranke dürfen nur wenig Milch, wieder andere müssen
viel Milch zu sich nehmen. Hämorrhoiden heilt man, indem
man dem Kranken mehrere Tage hindurch nichts anderes gibt
als eine Schale frischer Kamelmilch morgens und eine Schale
abends. Natürlich fehlt es auch nicht an den beliebten orien-
tahschen Medikamenten, wie Rhabarber und Magnesia, und
noch weniger an den Heilmitteln des Aberglaubens : so wird
nicht bloß der Galle von Tieren, sondern auch der Cialle von
Menschen eine große Heüwirkung zu,L;^eschrieben. Die wich-
tigsten aller Mittel aber sind Amulette, Beschwörungszere-
monien und als letztes und teuerstes: feierliche Gebete. Der
kalmückische Arzt ist immer geschäftig, fühlt bald den Puls
der linken, bald jenen der rechten Hand, dann beider Hände
Pulse auf einmal, läßt sich den Unn des Kranken geben, klopft
den Urin mit dem Stab, imd wenn die Kranklieit gefährlich oder
der Patient vornehm i^i, macht sich der Doktor k.ililjiütig
daran, den Urin zu kosten. Kommt der gemeine Kalmücke
zu einem europäischen Arzte, so bietet er die merkwürdigsten
Honorare an, und es ist nicht selten, daß er seine Tochter als
Pfand für <Ue BeasaUung, die er gewöhnlich nicht vor voll-
endeter Kur leisten will, offeriert.^)
29. Räuberwesen und Revolutionen.
Raabwirtschaft ala Folge von Hunger nnd Pest — Organisaüon der Räuber
Die Sjetaeh der Koaakaa — Die Räuber und der Zar ^ Stenjka. Rasin —
Räuberliedcr — Grausamkeit Ra&ins — Ennordung der Adeligen nnd Fdester
— Ausschweifungen — Rasiiis Nachfolger — Brigandagc unter Peter dem
Großen - Raubci und Kcvolulicmäre • } iinriL litung der Strjfljzen — Der
Kichtplatz »n Moskau — i>>e Pugatschewsche Kebclhuu — Ihre Folgeu —
Die inmaOeische Revointion nnd Rußland — Radiscbtscbew der FMgeist —
Die Frnmaurer In Rußland — Nibilismus — Das Erwacben des Muscbiln —
Bankerott der Autokratie.
"Tausend Jahre lang hat das russische Volk die Tyrannei
der Herrschenden, die \\ illkür des Tschin, die Knuten der
Polizei geduldig und fast widerspruchslos ertragen ; aber gegen
1) Bsrgniann, Nomadische Streifereten II 336. — Pallas a. a. O. 395.
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— 488 —
die Leiden des Hungers und der Pest hat es sich aufgelehnt.
Öie von Menschen vorhängten Plagen verursachten nur selten-
Empörungen; doch gegen die Plagen, die die Natur erzeugte,
murrte das Volk. Hungersnot und Pest hatten in ihrem Ge-
folge stets Unordnungen, und wo das Elend herrschte, bildeten
sich sofort Räuberbanden. In den alten Chroniken und An-
nalen wird oft über die Leiden geklagt, die im heiligen Ruit
land durch die unvertilgbare Raubwirtschaft entstehen. Als
1230 Nowgorod von furchtbarer Hungersnot heimgesucht wird,
durchziehen jene, die nicht apathisch den Untergang erwarten
wollen, raubend und sengend die Stadt und plündern die Kost-
baikciten in den Häusern der Reichen. 1299 zerstört eine
Feuersbrunst Nowgorod, und die dadurch hervorgerufene Ver-
wirrung benützen wilde Banden /ui Ausraubung der Paläste
und Kirchen. 1314 werden in Pskow 50 Hauptanführer von
Räuberbanden, die die Stadt während einer Hungersnot be-
unruhigen, aufgehängt. Seit dem viemfanten Jahibundert, mit
dem Beginne der . Tartarenherrschaf t, nimmt das russische
Räuberwesen kolossale Dimensionen an. Aber nachdem die
fremden Bedrücker von den moskowitischen Zaren endlich ver-
trieben worden, wird es durchaus nicht besser. Das Volk, so-
w^ es überhaupt fähig ist, unter dem Elend noch das Gefühl
des Leidens zu empfinden, verfällt der Trunksucht oder flüchtet
sich in die Wälder, um vom Raube zu leben.
Die Epoche Iwans des Schrecklichen schafft ganze Ar-
meen von Verzweifelten; und als unter Boriß Godunow um
1600 die entsetzlichste aller russischen Hungerzeiten anbricht,
ergibt sich alles, was dem Hunger entrinnen kann, dem Straßen-
raub. Aus der Ukraine brechen Scharen nach Inner-Rußland
ein, um zu morden und zu plündern. In abgelegenen Gegenden
errichten die Räuber förmliche Standquartim, wo man die
Streifzüge berät imd von wo aus man bis unter die Tore von
Moskau zieht. Einer der verwegensten Räuberhauptleute der
Zeit ist Chlopko, mit dem Beinamen Koßolap, der Krumm-
pfotige; der Zar muß ihm ein ganzes Heer entgegenschicken,
aber erst nach hartem Kampfe wird Chlopko gefangen und
unter 'gräßlichen Marterungen getötet : auch alle seine Unter-
anführer werden auf die Folter gespannt und hingerichtet, ob-
Bestrafung von Räubern an der Wolga.
fXach L-iiRT Al>l<il<luii^ iu I. Il.iiiw.iv's Keisc-hc-sctireiliuiiK. '754.)
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wohl Zar Borib bei seinem Regierungsantritt gt lobt hat. keinen
Menschen mit dem Tode zu bestrafen.') Aber dieses Gericht
schreckt niemanden ab, und i6og wagt es der Räuberhaupt-
mann Salkow, rin chatunskischer Bauer, Moskau zu umzmgrhi
und alle Octr* iclciransporte aufzuhalten, so daß in der Haupt-
stadt Hungersnot herrscht. 2)
Die Räuberbanden ziehen zuweilen gleich mächtigen
Heeren durch die Provinzen und beliandehi das Vaterland w ie
eroberte Reiche; sie lagern nicht bloLi auf den Landstraßen
und in den Wäldern, um von den Wanderern und den Kaut-
leuien Abgaben und Steuern zu erheben, bondern brandschatzen
auch Städte und nehmen Festungen in Besitz. Die Ofe^b
(Sjetsch^), die Niederlassung der Saporcger Kosaken, ist das
Zentrum aller Räuberbanden. Flüchtige Leibeigene, Diebe und
Mörder, die dem Henker entkamen, Abenteurer aller Art, un-
schuldig Verfolgte, mit einem Worte alle, die unter einem
Regime der Ordnung oder unter der Herrschaft der Willkür
nichts Gutes zu erhoffen haben, suchen das Asyl in der Sjetsch
auf. Gogolj hat von diesen Glücksrittern und Verfehmten in
seinem Roman TaraB Buljba ein krasses Bild entworfen. Aus
der Sjetsch strömen von Zeit zu Zeit und Jahrhunderte hin-
durch die Scharen der Freibeuter, die namentlich die Bo-
jaren und den niederen Add drangsaliere und fast überall
auf die Sympathien, wenn nicht gar Anteilnahme des be-
drückten Muschik und des geknechteten Volkes rechnen kön-
nen. Wenn die Räuber die Bojaren und Gutsherren ausplün-
dern und ennorden, so erscheinen sie nicht als Diebe und
Mörder, sondern als Rächer des namenlos leidenden Volkes,
als Geißel für die Herren und Befr^er der Leibeigenen.
Die Macht des Räubertums vermag diese kolossalen Dimen-
sionen anzunehmen, weil sich die Bewegung niemals gegen den
Zaren richtet. Wie dem einfachsten Muschik, bleibt auch dem
zügellosen Räuber der Zar noch immer der Inbegriff alles
Heiligen auf Erden. Ja, der Räuber ist geradezu ein Mann
I) Kwadulii, dentsehe Ausgabe X 97, temArisebe XI is|.
Ebenda, denteebe Auagabe XI 145.
•) Dieses Wort ist altrussisch, c:leichwie ctwin.. der Krieger, und c'^Bm,
die Axt In der modernen Sprache heißt dna oder otib: da« Blutbad.
— 490 —
des Zaren Der Zar isi gut und edel , aber der Bojar, der Adt-l,
der Ischin. die Beamten, sie stehen zwischen dem Zaren und
seinem Volke; sie sind es, die den Zaren ebenso verraten, wie
sie das Volk bedrücken. Das ist die Meinung, die sich das
Volk bildet und der es in seinen Liedern hundertfältigen Auf-
druck gibt. In diesen Liedern^) erscheinen die Räuberbanden
als wahrhafte Stuuen des Zaren; Mord oder Raub, an dem
Adel und dem Beamtentum verübt, wird im Volksliede als
kühne Tat gefeiert, als das Werk von Befreiern aus Not und
Elend ; die Räuber, die tapferen Helden, ziehen heran, um die
gemeinsamen Feinde des Zaren und des Volkes zu stfafen.
Dies erzählt am besten die Geschichte der beiden bedeutendsten
russischen Rauber: des Stenjka Rasin und des Pugatscbew,
von denen der erstere, der nichts gegen den göttlichen Zaren
zu unternehmen wagt» vom Volke verherrlicht wird, während
der andere, der sich fälsdüich für Peter III. ausgibt und den
Thron anstrebt, beim Volke nur durch Schrecken Zustimmung
erzwingt, m den Liedern aber verflucht wird. Stenjka Rasin,
da* als dsr Retter der Leibeigenen und der Vergewaltigten auf-,
zutreten liebt, ohne sich direkt gegen den Zaren zu wenden,
nimmt in den Liedern des Volkes die Stellung eines Helden
ein, gleidi jener, die die alten Bylinen oder Heldenlieder dem
Ilja von Murom einräumen. Diese Räuberlieder malen ihren
Helden in den schönsten Farben, schmücken ihn mit den vor-,
nehmsten Tugenden, schreiben ihm die wunderbarsten Dinge
zu. In einem Liede wird erzählt, wie der besiegte Rasin in
seinem Kerker auf die Wand ein Boot malt, das sich durch
Zauberkraft in ein wirkliches Schifflqin verwandelt und den
Gefangenen in die Freiheit entführt. Die Gefährten Rasins
werden also charakterisiert:
Wir sind keine Räuber ohne Ehr,
Wir sind .nur des Rasin Arbeiter,
Des Unterhetmanns Gehilfen hehr.
Nur ein Ruderschlag und ein Schiff liegt brach;
Mit dem Riem ein Schlag — Karawane wach!
Mit der Hand ein Schlag — uns laufen die Mädchen nach.
>) Heinholdt, Geschichte der russischen Literatur. 69 — 92.
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In einem Licde, das von Rasin selbst herrühren soll, schil-
dert der Hauptmann den Abschied von seinen Gefährten. ,, Be-
grabet mich," bittet er, „am Scheidewege, wo sich die drei
Straßen kreuzen: nach Moskau, nach Astrachan, nach Kijew" :
Mir zu Häupten legt ein wundertätig' Kreuz,
Mir zu Füßen legt einen Säbel scharf,
Wer vorübergeht, der soll bleiben stehn;
Sei es» daß er bete zu dem wundertätigen Kreuz,
Sei es, daß ihn ängstige mein Säbel scharf:
Mag er wissen, daß hier Hegt der Räuber bÖse —
Stenjka Rasin, Sohn des Timofej.
Dieser bose Räuber Stenjka Rasin ist einer der grausam-
sten und woUüstigsten Menschen aller Zeiten und Zonen. Aber
seine Grausamkeit richtet sich nur gegen den Adel, die Kirche
und die Beamten, imd deshalb ist er dem Andenken des Volkes
ein teuerer Held. Rasin beginnt seine Räubereien um 1667
in seiner Heimat am Don^) und zieht dann, als er schnell
gFofie Scharoi von Mordlustigen um sich gesammelt hat, zur
Wolga. Die Behörden schicken den Ssotnik der Moskauer
Strjeljzen Nikita Siwzow .zum Räuberhauptmann, um einen
Friedensvorschlag zu machen. Aber Rasin läßt den Boten der
verhaßten Behörden totschlagen und die Leiche ins Wasser
werfen. Andere Gesandte erleiden dasselbe Schicksal. In kür-
zester Frist fäUt Astrachan in die Hände des Räubers. Der
Befehlshaber von Astrachan, Fürst Prossorowskoj, wird vf)n
der Bastei hinabgeworfen; alle Beamten, die nicht sofort dem
Sieger Gehorsam geloben und leisten, werden zu Tode ge-
martert, und ihre Leichen wirft man ins Wasser. Einen furclu-
baren Haß hegt Rasin gegen den Klerus. Der Räuberhauj)t-
mann verbietet da^ kirchHche Begräbnis; die Priester dürfen
nicht mehi amiieren; die Mönche und Nonnen werden aus
den Klöstern geschleppt, entkleidet und dem Volke auf offenem
*) Nachricht von dem Aulruhr und den Freveltateu des donischca
Konitm Stenkft Ruin, «vs einem ruaaiacheD ChronikeiiBchreibar damaliger
Zeit getogea und übenettt von M. Cinistian Heinrich Hase. Büschings Maga-
zin IX 79 IL — Memoires du R^ne de Fierre le Grand per Nesteraranoi.
Amsterdam ij2&, l 391 — 435.
— 499 -
Platze zur Verhöhnung ausgeliefert. Alles, was zu den Vor-
nehmen gehört, ist dem Tode geweiht. Die Kinder des er-
mordeten Fürsten Prossorowskoj werden aus ihren Verstecken
hervorgeholt und an den Füßen über der Stadtmauer auf-
gehängt. Die Beamten, welche das Volk bedrückt haben, läßt
Stenjka Rasin aii den Ivippen aufiiaiigen und dem l ode durch
Verschmachten aussetzen^); die Weiber und Töchter der er-
mordeten Edelleute und Strjeljzen, Schreiber und Kaufleute,
überliefert «r der Arn»» xur Schändung. Er zwingt die Priester,
die vomelmisten Frauen und Töchter mit den wilden Gesellen
zu trauen. Da aber die Rauber die Orthodoxie verspotten und
das Sakrament der Ehe verachten, so dürfen die Priester bei
Todesstrafe keine kirchliche Zeremonie votnehmen, sondern
müssen sich an Stelle des himmlischen Segens mit dem Sieget
Rastns begnügen. Wenn ein Priester sich weigert, dem Be-
fehle des Räuberhauptmanns Folge zu Idsten, wird er ohne
weiteres ins Wasser geworfen.
Mit dem Räuberwesen vereinigt sich immer die zügellose
Unzucht. Rasins Befehl: Erschlaget die vornehmen Männer
und schändet die Frauen und Mädchen! findet bei dem Volke,
das nicht bloß von der Knute der Männer, sondern auch von
der Peitsche der Weiber gezüchtigt wird, volles Verständnis
und jubelnden Beifall. Diesen Befehl schickt Rasin nach der
Eroberung Astrachans durch Boten die Wolga aufwärts. Seine
Briefe verkünden, daß er für die Vertreibung der Bojaren und
der Gouverneure kämpfe und dem bedrückten Volke die Frei-
heit geben werde; er verspricht: überall, wo er nur erschdnen
1) Es ist dies dieselbe Todesstrafe, welche die Behörden über die RSnber
an der Wolga verhaagtea und die wir auch im Büde zeigen. VgL J. Hanways
Daichrwbiing aeioer Reiae, i 7$: „Es wird eine Art FloOKhüC erbant, ämtm
Gr5ße nach AnzaU der Verbrecher eii^[eficlitat wird. A«f daaaelbe aetoet Buut
einen Galgen, der eine zureichende Anzahl eiserner Haken hat, an welchen sie
lebendig bey den Hipjien gehenket werden. Das Flößholz wird in den Strom
hinein gelassen, nachdem man zuvor ein Stück Pergament über ihre Köpfe
lest geuueht hat, vmimua ihre Verbrecbaii angezeiget werden. Hierauf wird
allen Städten and D5rlern an dem Ufer dea Fluasee bey Lebeaaatrafle vcfboUien.
keinen von diesen Bösewichtem Hülfe wiederfahren zu lassen» acndem daa
Floßholz abznstoOcn, wenn es bei ihnen sich dem Lnnde nähern sfillte. Diese
Uebdtäter leben bisweilen drey, vier, Ja wohl gar fünf Tage an solchen Haken.**
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könne, die Bojaren, Staats- und Kansleib^diente, .KdeUeute»
Strjeljzen und Soldaten zu erschlagen und ihre Frauen und
Töchter dem Volke als Beute zu überlassen. „V/ii ziehen am/*
heißt es wörtlich in einem Aufruf von Rasin an die Bauern,
„und wollen die Bojaren totschlagen, euch aber gute Zeit
und viele gute Jahre verschaffen." Vergebens suchen die Be-
drohten Rettung in den Wäldern, das Volk spürt die Flücht-
lini'^c auf und schleppt sie Hunderte von Werst weit dem
K.tubcrhaiiptmann entgegen, um sie von diesem richten zu
lassen. Alle Landschaften an der Wolga geraten in Aufruhr,
die Bauern erheben sich in Massen. Und so wie Rasin es
verlangt und vti kündet hat, geschieht es: wo er erscheint,
werden Reihen von Galgen errichtet und die verfchmtrn Vor-
nehmen bis herab zu den Schreibern und Soldaten aufgeknüpft.
Erst nach vier Jahren gelingt ts dank einem Wunder des
von den Rebellen mit Vorliebe geschmähten wundertätigen
S^ergej und durch Aufgebot einer mächtigen Armee die Räuber-
bande Rasins zu besiegen. Nun erfolgt blutige Rache. Man
errichtet zahllose Galgen und hängt die Räutier zu 30 bis 50
an einem B^ken auf^ doch so« daß sie eines langsamen Todes
und unter furchtbaren Martern sterben. In kurzer Zeit werden
auf diese Weise laooo Räuber hingerichtet. Stenjka Rasin
wird bei lebendigem Leibe gevierteiit, sein Bruder Frolko ent-
hauptet. Unter den Gefangenen, welche die Truppen in Arsa-
maß machen, entpuppt sich ein Hauptmann« der 7000 Rebellen
kommandiert hat, als eine verkleidete Nonne; das Hochgeri9ht
verurteilt die Nonne zur Verbrennung bei lebendigem Leibe.
Aber die dezimierten Räuber sammeln sich unter einem
neuen Hauptmann, namens Baska Us, und dessen erste Tat
ist eine Revanche für die Hinrichtung Rasins: Baska Us be-
setzt abermals Astradian, mart^ den Kommandanten Fürsten
Semen Lwow, röstet ihn bei lebendigem Leibe und läßt ihn
schließlich köpfen; dem Erzbischof Joseph, Metropoliten von
Astrachan, werden die Kleider vom Leibe gerissen, Haare und
Bart versengt; dann martert man den Priester zu Tode, und,
die Leiche wirft man von der Bastei hinunter, den Hunden
zum Fräße. Baska Us bleibt unbesiegbar; erst ein \Vunder
muß Rußland von diesem Räuber befreien: „Endlich ergriff
^ kj, i^cd by Google
— 494 —
ihn Gottes Gericht," erzählt der Chronist. ..B^^ska Us wurde
lebendigen Leibes von Würmern /('rfrcssrn und stieß seine
Steele aus." An die Stelle des üs tritt sofort ein neuer Haupt-
mann, Fedko Scholdjak; auch ihn zu vernichten bedarf es
eines Wunders; und das Wunder erscheint: „Am neunten
des Monats September des Jahres 7179 (1671) gab der Mond
in der Stunde der Nacht ein Zeichen ; er verfinsterte sich von
der Morgenseite her und verwandelte sich in Dunkelheit, fing
aber in der sechsten Stunde wieder zu leuchten an."
Zar Alexej verfügt die strengsten Maßnahmen gegen das
Räuberwesen ; doch die furchtbarsten Marterungen und grau
wamsten Todesstiaien sind umsonst. Selbst Peter der GroBr
vermag die Brigandage nicht zu unterdrücken. 1710 muß
die Armee ausrücken, um die Hauptstadt vor Räuberbanden
zu schützen; 17 19 führen Briganten in den Bezirken von Mo-
schajsk und Nowgorod einen förmlichen Guerillakrieg mit den
Regierungstruppen; imd 1723 berichtet der sächsische Resi-
dent Lefortj daß in Petersburg eine Bande von 9000 Dieben
und Räubern die Admiralität verbrennen und die Fremden
massakrieren wolle. Diese Räuberbande^ 9000 Mann stark,
inmitten der neuen Hauptstadt, macht ganz den Eindruck
einer revolutionären Truppe, einer Armee von nationalen Fa-
natikern, die mit Raub und Plünderung, Morden und Brennen
gegen die Neuerungen demonstrieren.
Zwischen Räubertum imd Revolution ist in Rußland seit
jeher nur schwer eine Unterscheidung zu machen. Als Pseudo-
Dmitrij den Zarenthron usurpierte, ward das Land eine Beute
von Räuberbanden, die aber nicht bloß mordeten und plün-
derten aus Lust zum Handwerk, sondern damit eme patrio-
tische Tat vollführen, den Haß gegen den. Usurpator, den
Widerstand gegen seine Regierung bezeigen wollten. Ein ein-
ziges Mal in früheren Zeiten wagten die Moskowiter sich zu
erheben und Revolution zu machen: Das war im Jahre 1648,
als die Willkür des Zarengünstlings Morosow selbst den Gleich-
mut des russischen Volkes erschütterte. Aber auch damals
i)*Alexejs Gesetze gegen StraOenrittber bei Strnve, Rmsiacfaea Land-
Recht, XXI Cap. S. 305 iU
d by GüOgl
verwandelten sich die Empörer aus Revolutionären schnell
in Räuber und diskreditierten ihr eigenes Unternehmen. da<
in anderem Falle Rußland vielleicht noch um zwei Jahr
hunderte früher als die Länder Europas vom Absolutismus be-
freit hätte.
Die Grausamkeit, mit der die Räuber und Re\olutionäre
eurerseits und die Behörden andererseits gegeneinander vor-
zugehen pflegten, spottet aller Beschreibung. Man Rann sich
aber einen Begriff von dieser Grausanikcii machen, wenn man
die authentischen Berichte über die Vernichtung der Strjeljzen
durch Peter den Großen vernimmt, (ianz Moskau wird in
einen Henkerplatz verwandelt. Aus allen Schießscluirtcn der
drei Mauern, welche die Stadt umgeben, werden Balken her-
ausgesteckt, an denen man je drei bis vier Strjeljzen auf-
hängt. Auf dem großen Marktplatz legt man Verurteilte reihen-
weise hin, um ihnen die Köpfe absusdilagen. Der Zar selbst
fungiert als Henker und wird nicht müde, diese Blutorgxe zu
feiern. Er fordert aucdi seine Bojaren auf, am Morden teilzu-
nehmen; Mentsdukow und Romadanowskij bleiben hinter dem
' Herrn nicht zurück; Galitzyn aber ist ungeschickt und muß
stets mehrmals das Beil erheben, bis er sein Opfer zu Tode
trifft. Jovial lädt der Zar selbst die Fremden, die an seinem
Hofe weilen, zu der EigÖtzItchkeit ein, aber Lefort und Blom*
berg lehnen dankend ab, die Henker zu spielen, und auch
der preußische Diplomat Printzen, der den Zaren bei der Arbeit
des Kopfabscfalagens antrifft, hat keine Lust, es Peter gleich-
-zutun. Das furchtbare Schauspiel wird nicht in wenigen Tagen
beendet, sondern dauert wochenlang» ja monatelang. Am
IX. Oktober 1698 beginnen die Exekutionen auf dem Roten
Platze: 144 Mann werden hingerichtet; am ta. Oktober: 205,
am 13. bloß 141, am 17. nur 109, am 18. gar nur 65, am 19.
wieder 106. Im Januar 1 699 reinigt voau die Plätze und schleppt
die verfaulten Leichen fort, um neuen Opfern Raum zu geben,
deren abgeschlagene Köpfe auf Pfählen aufgepflanzt werden
und bis zum Jahre 1727, also durch mehr als ein Vierteljahr-
himdert, zur Schau und Warnung ausgestellt bleiben. Ein
furchtbarer Platz, ka\im irgendwo in der Welt gibt es seines-
gleichen. Richtplatz. JioCiHoe wkcTO heißt er im Russischen.
— 496 —
Iwan der Schreckliche beichtet auf diesem Lobnoje Mjesto
seine Verbrechen vor dem Volke; auf dem Richtplatze richtet
IT sich selbst moralisch und erfleht für seine Sünden des
Volkes Verzeihung. Auf dem L^)bnoje Mjesto publiziert Pseudo-
Dmitrij sein Thronbesteig ungsl csi , und hier vviid wenige Mo-
nate bpatcr bciu von den Mördern zerfleischter Leiclinam zur
Schau gestellt, nachdem man das Antlitz mit einer Maske be-
deckt unfl an die rechte Hand einen Dudelsack befestigt hat.^)
Seit den Strjeljzenhinrichtungen aber bat der Richtplatz nur
noch eine Rolle im kirchlichen Leben gespielt. Denn Lobnoje
Mjesto, dieser Ort des Blutes, ist auch ein heiliger Platz. Die
Legende erzählt^ daß hier Adams Haupt begraben sei. Auf
diesem Platze werden zuerst die nach Moskau gebrachten Re-
liquien und Heiligenbilder niedergelegt. Hier erteilte der Pa-
triarch öffentlich den Segen der Kirche, hier werden noch
heute die wichtigen Ukase verlesen, und auf dieser Stelle
macht ein öffentlicher Ausrufer d^ Volke von Moskau Mit-
teilung von einem Regierungswechsel.
Die Grausamkeit Peters des Großen gegen Räuber und
Empörer hat Rußland weder von der Räuberplage gerettet
noch von Revolutionen freigehalten. Aber diese Revolutionen
sind nicht im üblichen Sinne zu nehmen. Als Pugatschew
gegen Katharina IL eine Revolution hervorrief, konnte er nur
dadurch Gefolgschaft gewiimen, daß er sich für Peter III.
ausgab. Pugatschews Kampf gegen den Adel und den Tsdiin
findet nur Anklang, weil gleich Stenjka Rasin auch Pugatschew
seine Anhänger damit an sich fesselt, daß er ihnen alle Zügel-
losigkeiten gestattet und die Grausamkeit und Wollust der
Russen und Kosaken für seine Zwecke ausbeutet.') Wt einer
furchtbaren Greueltat beginnt Pugatschew seine Laufbahn. Bei
1) VValiszewski, Pierr«? le Grand 439. — CuauBwrri., Ucropia XJV^ 2&6.
— Vockerodt M Hormann 39. Brückner. P«ter^der Große.
*) Znverlftssige Nadiricht von dem Aufrfihrcr Jcmdjan Pogatachew 4ind
der voo demadbea uigeMilteteii EtnpAmng. In Büschingp li»ga«in XVIII. —
Cathariöa die Zweite. Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung und
Aiv^kdoten von ihr und einigen Person<*n. die um fdc waren. 1797- (Seltene
Schriit, wahrschqinJich aus dem Verlag von Hammrich in Altima).
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— 497 —
der Eroberung von Nischnaja Osemaja fällt der Befehlshaber
der Festung, Major Scharlow, verwundet in die Hände Pu-
gatschews. Dir junge Frau des Majors bittet verzweifelt um
das Leben ihres Gatten. „Er soll vor deinen Augen geliängt
werden,** ist Pugatschews Antwort, und der Befehl wird auf
der Stelle vollführt. Währenddem wird die unglückliche Frau
\on den Kosaken festgehalten und von Pugatschew vergewal-
iigi. Zwei Monate schleppt Pugatschew die Witwe Scharlows
als seine Konkubine mit sich herum , dann ist er ihrer über-
drüssig und gibt sie seinen Kosaken preis, welche einer nach
dem anderen die Frau notzüchtigen, und die förmlich Zer-
fleischte schließlich auf die Landstraße werfen. Bei der Er-
uberuiig von Orenljum feiern die trunkenen Scharen entsetz-
liche Orgien. Alle gelangenen Offiziere und alle alten Wei-
ber werden in die Brunnen geworfen, die jungen Frauen und
MädcheD aber öffentlich geschändet. Den Empörern mangelt
es an Pflaster für die Verwundeten; da befiehlt Pugatschew, die
fettesten unter den Gefangenen zu schinden, ihr Fett zu sam-
meln und als Pflaster zu verwenden. Nach der Eroberung
von Kasanj laßt der Pseudokaiser seine Rotten gegen die
wehriose Bevölkerung los. Ein grauenhaftes Morden, Rau-
ben, Brennen, Schwelgen, b^nnt. Die Kosaken schonen weder
die Kirchen, noch die Armenhäuser oder Krankenhauser, schän-
den die Frauen vor den Augen ihrer Manner und toten die
Kinder in den Armen ihrer Mütter. Schließlich xünilen sie
die Stadt an allen Ecken an und ergötzen sich an dem Schau-
spiel des Verbrennens von lausenden lebenden Menschen. Wie
Stenjka Rasin wütet auch Pugatschew vor allem gegen dea
Adel und gegen die Kirche. Er und seine Leute gehen be-
waffnet und bedeckten Hauptes in die Kirchen, zerschlagen
die Kirchengefäße, durchstechen die Heiligenbilder und zer-
reißen die Meßgewänder. Die Leibeigenen erheben sich, wo
Pugatschew erscheint, und schleppen ihre Herren und ihre
Priester jubelnd auf die Schlachtbank als Huldigungsopfer für
den Pseudokaiser. In Alatyr bei Kasanj gelingt es den Ade
ligen, sich in die Wälder zu verkriechen. Sie werden auf-
gejagt, vor Pugatschew geschleppt und zu Tode gemartert.
In Ssaransk bringen die eigenen Diener des Generals Ssip-
St«rn, Geschichte der OffenU. Sittlichkeit io Railaad. 32
jägin ihren Herrn vor Pugatschew, der den Befehl gibt, dem
General eine Stange durch den Hais zu schlagen. Der
Schrecken, der schon im K lange seines Namens liegt (nyraTi.-
schrccken), läßt große Feßlungen widerstandslos in die Haade
des Rebellen fallen, der in einem Jahre mit seinem Korps
achttausend Werst erobernd zurücklegt und sich siegreich
Moskau nähert, nachdem er seinen Weg mit hunderttausend
Leichen besät liat. Aber knapp vor seinem Ziele ereilt ihn
das Srbickgali und nicht als tritimphier^Mler Kaiser, sondern
in einem eisernen Käfig, aus dem man den ständigen Be*
wohner, einen Tiger, entfernt hat, um Pugatschew Plats zu
schaffen, hält er seinen Einzug in den Kremlj. Das Urteil
über seine Verbrechen fordert seine Vierteilung bei lebendigem
Leibe : es sollen ihm erst die rechte Hand und der linke Fuß,
dann die linke Hand tmd der rechte Fuß, und zum Schlüsse
der Kopf abgeschlagen werden. Durch ein Versehen beginnt
der Henker sem Werk mit dem Kopfe.
Die Pugatschewsche Rebellion war ebenso wie die Rasin*
sehe nur eine Räuberd, keine dgentlicfae Revolution. Aber
ihre Wirkung ist doch eine tief ergehende; sie enthüllt die
Ohnmacht des Zarismus gegenüber einem entschlossenen Geg-
ner und aeigt zum ersten Male dem Volke, daß es sich befreien
könne vom Druck der Tyrannei, wenn es sich befreien wolle.
Unmittelbar auf die Pugatschewsche Rebellion in Rußland
folgt die große Revolution in Frankreich. Die Vorbedingungen
für eine große Revolution sind in Rußland ebenso vorhan-
den wie in Frankreich; aber im Zarenreich verhindern geo-
graphische imd ethnographische Verschiedenheiten und der
unpolitische passive Charakter des russischen \''olkes den jähen
Ausbruch. Eine Revolution findet endlich auch in Rußland
statt, jedoch nur auf dem Papier, und die Volksmassen bleiben
unbeteiligt. Die aus Frankreich kommenden hh cn dringen
in die Salons ein. werden eine Modesache. Aber sie erschüt-
tern nur das Trommelfell, nicht die Seelen. Die vornehmen
Männer und Frauen, welche Beifall klatschen, wenn sie eine
Hymne von Knjaschnin oder \%)n-\Vi.^in auf Freiheit, Gleich-
heit uiicl Jirüderlichkcit vernommen haben, entschädigen sich
fiir die Rührung, von der sie sich übermannen ließen, durch
um so größere Strenge gegen ihre Sklaven. In den Salons
Ijeteii sie die reiheit und Gerechtigkeit an, auf ihren Gütern
peitschen sie eigenhändig die Leibeigenen zu Tode; in den
Salons verspotten sie als zügeliose Freigeister die Kirche, die
Religion, verneinen sie kühn selbst die Existenz Gottes; aber
im Volke erhalten sie nach wie vor den krassen Aberglauben,
und sie geraten in Wut: und Ernpüfung, wenn auch nur die
Ivede von der Förderung allgemeiner Bildung ist. Ein Einzi-
ger ujiter allen, der die Wahrheit sucht, findet und verkün-
det: Radischtschew. In seiner ,,Reise von Petersburg nach
Moskau" ruft er der Gesellschaft zu : „Besinnet euch, ihr Ver-
irrten, lasset euch erwdchen, ihr Hartherzigen, zerschlaget die
Festebi euerer Mitbrüder, äffnet den Kerker der Sklaverei 1**
Und Katharina IL, die mit den französischen Freigeistern
kokettiert, kritisiert dieses Buch Radischtschews folgender-
maßen: „Zerstörende Absichten, Sympathien Itir die Revo*
lution, freche Sprache gegen die oberste Staatsgewalt/* Der
kaisertichen Kritik folgt das Urteil des Geridits auf dem Fuße :
ein Todesurteil, das knapp vor der Vollstreckung umgewan-
delt wild in Deportation nach Sibirien. Alexander I. ruft den
Veibannten surück und beauftragt ihn, ein Justisrefotmprojekt
ausxuarbeiten; aber als Radischtschew für sein Projekt das
Schwurgericht als Basb aufstellt, erklart der Präsident der
legislativen Kommission: „Radischtschew ist durch Sibirien
nicht gebessert worden**. Da verzweifelt Radischtschew und
vergiftet sich.
Zur selben Zeit wie die Freigeisterei Radischtschews blüht
auch das kurze Freimaurertum Nowikows. Der erste russi-
sche Freimaurer soll Peter der Große selbst gewesen sein.
Historisch festgestellt ist, daß 1731 die Freimauerei von Eng-
land eingeführt wurde. Mitglieder der russischen Logen waren
zunächst nur Ausländer Unter Katharina II. wurde der Russe
Jelagin Frovinzial-Grobnieister des Ordens in Rußland Die
Kaiserin lieB den Urden eine Zeitlang gewähren, aber als
die Freimaurer unter Nowikows Wirksamkeit Bildung" ru ver-
breiten, Wohltat i^'keii zu viben begannen, da machten sie sich
der Zarin vertlat htig, und als man einen Brief auffing, aus
dem hervorging, daß der Großfürst- JLhront olger Paul dem
3a*
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— 600 —
Orden geneigt war, wurde kurzer Prozeß hrfohli u. Man ver
haftete Nowikow, begrub ihn in dem V erlieb zu Schlüssei-
burg und verfolgte unbarmherzig die Freimaurer, die es ge-
wagt hatten, Schulen für Arme und Waisen zu stiften.
Hart ist der Weg. den das russische \'olk zurückzulegen
liat, um sich dem Ziele zu nähern^ wo Freilieit und Menschen-
rechte es erwarten. Unter Alexander II. begana abermals
die enthüllende Literatur die Geister aulzuiuttein, aber als die
Tendenzromane, welche Gewissensfreiheit, Gleichberechtigung
der Geschlechter, empirische Wissenschaft, Sozialismus in der
Agrartheorie verkündeten, mit den Agrarunruhen und der Be-
wegimg an den Universitäten zusammenfielen, da erschrak
die Gesellschaft vor dem Gespenst des Nihilismus und ließ die
Nihilisten den Kampf mit der Autokratie allein ausfechten.
A^de Jahrxefante hat es gebraucht, bis endlich das Volk selbst
erwacht ist und mitgerissen wird in die grausamste und lang-
wierigste aller Revolutionen, die je auf dem Erdball ein Reich
ersdiüttert haben. Träge wie die ganze Entwicklung des rus-
sischen Reiches ist auch noch diese Revolution, die wir mit-
erleben. Aber der systemlose Nihilismus des neunzehnten Jahr*
hunderts, der sich auf dem Grunde der Intelligenz erhob,
hat einer Propaganda der Tat Platz gemacht, die systematisch
alle Häupter der Autokratie zu zerschmettern sucht ; und gleich-
Kltig ist die schwere Masse der Muschiks in Bewegung ge*
raten. Es ist nicht mehr der Geist der simplen \'erneinung
des Bestehenden, nicht mehr der Geist eines naiven Radikalis-
mus, der im Zarenreich un^ht; es gart nicht mehr in ein
zdnen Klassen, sondern die großen Massen stehen auf. Nicht
einzelne Fanatiker opfern zwecklos Gut und Blut für eine pa-
pierene Revolution, sondern das Volk ist es, das die i reiheit
begehrt. Was der Nihilismus lange Jahrzehnte hindurch vor-
gearbeitet hat, soll nicht unterschätzt werden. Er hat zuerst
an traditionellen Ideen gerüttelt, religiöse Dogmen imd pnliti
sehe Vorurteile angegriffen; zuerst die russische Seele erfüllt
mit dem Gedanken, daß der Zustand, in dem das russische
I\< i<h dahindämmerte seit tausend Jahren, nicht ein ewiger
und unabänderlicher sein müsse. Aber alles, was er tat, ge-
.schah mit naiven Mitteln. Selbst als er mit Verschwörung
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— 601 —
und Mord agierte, war er mehr auf den theatralischen Effekt
als auf nacMialtige - praktische Wirkung bedacht, galt ihm das
Krasse und Schreckhafte seiner Handlung mehr ak Zweck
und Erfolg. Die Welt sah Menschen mit verschrobenen Ideen,
mit abstoßenden Äußerlichkeiten, die sich Nihilisten nannten
und Barbaren blieben. Jetzt endlich hat die russische Intdli-
genz, die nach Freiheit ringt, auch den Weg zum Volke ge-
funden. Die Revolution, die seit Jahren tobt, bald in Kijew,
bald in Kasanj die Geister ergreift, bald in Petersburg oder
Moskau die Volksmassen in Raserei versetzt, sie ist nicht mehr
eine literarische. Die papierenen Helden der krankhaften Phan-
tasie eines Gogolj oder Dostojewski], eines Tolstoj oder Gorkij
sind nicht mehr die Ideale der heutigen F'reiheitskämpfer. Man
predigt dem Volke nicht mehr bloß blinden IlaB gegen das
Bestehende sondern zeigt ihm auch die Wege, auf denen man
zu einer neuen gesunden Minrichtung des Staates gelangen
kann. Und damit hat man das Volk aus seiner Lethargie auf-
gerüttelt. Früher wurden nur die Straßen der Städte getränki
mit dem Blute von Märtyrern und Idealisten, die aus den
Kreisen der Intelligenz stammten; jetzt trägt auch das Bauern-
volk in den Steppen der sarmatischen Eigene sein Teil bei
zu dem kostbaren Kitt, mit dem das neue Rußland befestigt
werden soll.
Ehe dieses Werk vollendet wird, erheben sich noch ein-
mal die Mächte der Reaktion, des Aberglaubens und der Grau-
samkeit, um alle Schrecken auszuspeien, mit denen sie Ruß-
land durch tausend Jahre heimgesudit haben. Kein mongo-
lischer oder taitarisdier Eroberer bat in Rußland so furcht-
bar gewütet, wie jetit Autokratie und Volk gegeneinander.
Wie m den düstersten Jahrhunderten ist das Reich eine Beute
von Räuberbanden, und wie ein Bericht aus den Zeiten Iwans
des Scbrecklicfaen klingt es» wenn im offiziellen Regierungs-
blatt der Gouverneur Muratow von Tambow einen Plan zur
Dezunierung ^s Volkes veröf £entlidit, der vorsdüagt : die Auto-
krade soll dem Volke Geißeln entnehmen/ und für jeden von
den Revolutionären ermordeten Soldaten oder Polizisten zwei,
für einen Polizei>Offizier dra, für einen Generalgouvemeur
fünfzehn, für einen Minister zwanzig Mann aus dem Volke,
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die das Los zu bestimmen hatte, hinrichten lassen. Nichts
anderes wissen die Retter des Zarismus der Revoluntju ent-
gegenzustellen als den brutalsten Mord. In diesem Programm,
das die Sittlichkeit der noch herrschenden Männer in Ruß-
Icuid auf dem tiefsten Niveau erscheinen läßt, liegt das un-
umwundene Bekenntnis des iiankerotts der Autokratie.
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DER HEXENHAMMER.
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Kmnkhf itsmystik usw.). — Kapitel 25— ."iT: GESCHLtCHTSLEHF.N (Liebe und I.iebeszaiibcr,
Klie ini Lslam, Frauen Mohammeds, l'nichteo uud Rechte der mosleni.Lheleutc, Kheschcidunjr,
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GESCHICHTE DER ÖFEENl^LICI lEN
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INHALT: DIEÖFFICN J LICHE srrrUCHKLrr im gewöhnlichen verkehr (Bade-^
Wesen, Probtitution, Kleidung, Vtr^'un^'ungeii und -Spirte, Stam:nbücher, ICrziehung der Jugend,
Sprichwörter. Volkslieder). DIE OFFENTLICI IE SlTl LICnKEl l' BEI FESTEN (die'grofien
Feste des Jahres, die Hochzeit). DIE ÖFFENTLICHE SITTLICHKEIT IM RECHT, IN DER
KIRCHE, IN KUNST UND LITERATUR (Theater, FluRsdJiiftcn, Literatur usw.). O o o o
Rudeck.s interessantes Werk, das erste, welches eine »usam menh.lnpende Pars t ellumr der
Geschichte der Olfcntlicht n Sittlichkeit in Deutschland brachte, fnnd gleich in der ersten Attflage
großen Heifall und hat sich jetzt in .sfiner erweiterten tie.stalt in der Gunst all derer befgsti;-' ••••
aich für Knitur- und Sittengeschichte interessieren. E» i<t ein aufklarendes Werk, doppelt ;
in einer Zeit, die denuniie rende Sittlichkeitsvereine und .Sittliclikeitskonferenzcn lüchtet ii
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