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Full text of "Aus fremden Zungen"

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HARVARD COLLEGE 
LIBRARY 





FROM THE FUND SUBSCRIBED 

FOR THE PURCHASE OF BOOKS 

AND OTHER MATERIAL FOR 

PURPOSES OF INSTRUCTION 
IN GERMAN 





















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Hiuttgart und Seipzia 
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Eine Halbmonatsſchrift. 


Hiebenter Jahrgang. 


weiter Band, 


Stuttgart und Leipzig. 
Deutſche DVerlags-Anfalft. 


1897. 


7 


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HARVARD 
UNIVERSITY 
LIBRARY 
JUN 23 1941 


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Inhalts-Verzeichnis. 


1897. Band II. (Beft 13-24.) 


(Die mit * bezeichneten Arbeiten find in der Rubrif „Coſe Blätter” erfchienen.) 
Aus dem Amsrikanifcden: 
Gleichheil. Bon Edward Bellamy. Ueberſetzt von M. Jacobi 769, 817. 865. 913, 961. 1009, 1057. 1105. 


Aus ben Arabiſchen: 


*Sinnfprüde. Sprihmwörtern nachgebildet von Marimilian Bern 720. 767. 

*Orientafifde Lebensweisheit. Arabiſchen Schriftquellen entnommen und überjegt von Egmont Aladin 1150. 
Aus dem SBaskifchen: 

*Sinnfprüde. Sprihwörtern nachgebildbet von Marimilian Bern 767.' 
Aus dem Böhmifchen: 

Weihnachtslied für meine Tohter. Bon Jaroslav Vrchlicki. Ueberſetzt von Victor Graf Boos-Waldeck 1144. 
Aus dem Dänifcdıen: 

Die Geſchichte eines jungen Mädchens. Noman von Erna Juel-Hanjen. Ueberjegt von Ernft Brauje- 

wetter (Fortſetzung) 597. 647. 704. 

*Hüßneriana. Ein Gleihnis von Guſtav Wied, Ueberſetzt von G. Denwiß 818. 
Aus dem GSunaliſchen: 

„Srauenlieb““. Bon Rudyard Kipling. MUeberjegt von Leopold Lindau 610. 

*Sinnfprüde. Sprichwörtern nachgebildet von Marimilian Bern 720. 

Das gemielete Kind. Von Marie Eorelli. Ueberiegt von M. Schulg 851. 

Sir Williams Fran, Von W. E. Norris. Ueberſetzt von Marie v. Schmid 1044. 

*Mein erfier fitterarifher Erfolg. Von Julie Elojjon Kenley. Ueberſetzt von Guntram Frank 1102. 


Aus dem &fimifcen, 
Berforgi. Bon Eduard Wilde. Ueberſetzt von Paul Dange 792. 


Aus dem Zinnifchen: 
Das nahte Modell. Skizze von Jubani Abo. Ueberſetzt von Mathilde Mann 996. 


Aus dem Franröfifchen: 
Damuniho. Von Pierre Loti. Ueberjegt von E, Philiparie (Fortſetzung) 577. 625. 673. 
*Sinnfprüde. Sprihwörtern nacgebildet von Marimilian Bern 720. 
Ein trüder Tag. Gedicht von Alice de Chambrier. Ueberſetzt von Dtto Hauer 760. 
"Die Tanzordunung. Don Emile Hola. Ueberjegt von Irene H. Gjerbalmi 908. 
Grabfäuferinnen. (Les Tombales.) Bon Guy de Maupaſſant. Ueberſetzt von F. Miller 936. 
Wie geheiratet wird. Von Emile Zola. Ueberjegt von B. €, 1032, 
Das Fe der Däder. Ein Weibnachtamärden von Alpbonje Daudet. UWeberjegt von Guntram Frank 1145. 


Aus den: Griechifchen : 
Der Tod des Pallikaren. Erzählung aus dem Vollsleben von Koſtis Balamäs, Ueberjet von Karl Dieterich 841. 
Ein Anglühszeihen, Von Andreas Karkawitzas. Ueberjegt von Karl Dieterih 1137. 


Aus dem Holländifchen: 


Sonnenuntergang. Gedicht von E. B. Koſter. Ueberjegt von T. Pluim 640, 
Berbaftel. Bon W. G. van Noubuys. Ueberſetzt von Anna Herbit 714. 
Aus dem Dtalienifcyen: 
*Sinnfprüde. Sprichwörtern nadgebildet von Marimilian Bern 670. 
*36r Suftem. Don N. Eorazzini. Ueberſetzt von J. P. 717. 
Ein Bunfh. Gedicht von Giujeppina Milli. Ueberjegt von Otto Hauſer 887. 
Die Bölfin. Skizze von Giovanni Verga. Ueberſetzt von E. v. Hopffgarten 888. 
»Berlorene Liebe. Gedicht von Giojue Carducci. Weberiekt von Joachim v. Dürow 939. 
Die Weinfefe. Gedicht von Gabriel d'Annunzio. Ueberſetzt von Valerie Matthes 999. 


Aus bem Horwegifcıen: 
Sonnenwolken. Erzäblung von Kriſtian Elfter. Ueberiekt von Cora Ihams 72. 798, 
»Brantfahrf. Bon Ostar Nagaard. Ueberfegt von Marlott 1101, 
Aus dem Perfifchen: 
*Der Maler als Freiwerder. Aus dem Tüti Kiamil. Ueberjegt von Egmont Aladin 766. 
Aus dem Polnifcyen: 
*Sinnfprüde. Sprichwörtern nadgebildet von Marimilian Bern 720. 
Das Leidroß. Gedicht von Stefan Witwidi. Weberjeht von Nobert Braune 765. 
Seimmweh. Von Henryk Sienfiemwicz. Ueberſetzt von Leonhard Briren 989. 
Die Wolke. Gedicht von Seweryn Goszezynski. Weberjegt von Nobert Braune 1099. 


IV Inhalts-Verzeichnis. 


Aus bem Portugiefifcdren: 
*Zwei Nachbarn. Gebicht von Antbero de Quental. Ueberſeht von Luiſe En 797. 
Fofk-fore. Weberiegt von Luiſe Ey 910, 

Aus dem Numänifchen : 
Gedichte von ©. Eosbuc. Weberjegt von W. Rudow. 1. In der frühe. 2. fFresto-Ritornelle 609. 
"Drei Bani. Bon. Blabuga. Ueberſetzt von Mar Schroff 668. 
Erinnerung. Von A. Vlahutza. Ueberjet von W. Rudow 891. 
Gedichte von U. C. Cuza. Ueberjekt von W. Rudow 1067. 


Aus dem Nufifchem: 
Diener. Pier Porträts von J. A.Gontſcharow. Ueberjegt von A. Olſchwang und H. Siryzanomäti. II. Anton 591. 
III. Stjepan mit der Familie 641. IV. Matwei 691. 
*Sinnfprüde. Spridwörtern nadhaebildet von Marimilian Bern 669. 720. 
Das neue Leben. Don Marim Bjelinski. Ueberſetzt von Aleris Martom 893. 940. 
Der Beitungsihreiber und der Keſer. Don Schtihedrin (M. Saltufow), Leberjegt von Nina Hoffmann 1054. 
Miſchlla. Von Glieb Uſpensky. Weberjegt von U. Olſchwang und 9. Slmzanowati 1182, 
Aus bem Schwediſchen: 
Modernes Suftem. Gedicht von Auguſt Strindberg. Ueberſetzt von Otto Hauſer 690. 
Ein Courtiſeur. Bon Tor Hedberg. Weberiegt von Otto A. Wied 761. 
Life, Von Jane Gernandt-Claine. Weberjegt von Francis Maro 952, 
*Die Legende vom Bogelnefie. Erzählt von ©. Lagerlöf. Ueberiegt von Reinhold Hahn 1005. 
Reubau. Novelle von Auguſt Strindberg. Ueberſetzt von Guftan Lichtenftein 1068. 


Aus bem SHerbifchen: 
*Sinuſprũche. Spribwörtern nacdhgebildet von Marimilian Bern 767, 


Aus bem Spanifdıen: 
*Hofk-lore aus Andalufien. Ueberſetzt von Luiſe En 910. 1150, 
"Fran Foriuna und Kerr Mammon. Gin Märchen. Ueberſetzt von Yuile Eu 957. 
Ein Enkel des Eid. Don Emilia Pardo-Bazän. Ueberſetzt von A. Rubolpb 1096. 
*Das große £os. Don Emilia Bardo-Bazdän. Weberjegt von A. Rudolph 1148, 


Aus bem Angariſchen: 
*Bater geht auf die Jagd. Don KH. Murai. Ueberſetzt von W. Rudow 621. 
Herrn Walters Lil. Von E. Sas. Ueberſetzt von W. Rudow 665. 
Das Zauberſtraut von Kohina. Erzählung aus dem Dorfleben. Non Koloman Mikszäth. Ueberſetzt von 
Irene H. Cſerhalmi 741. 
Bom armen Sadistans Zeöthy. Von Thöt Kälmän. Ueberſeht von A. Dirr 861. 
Maädchen — Liedhen. Gedicht von Mihael Tompa. Ueberſetzt von Andor v. Sponer 890, 
Eine Kußgeſchichte. Von Bartholomaus Szalöczy. Ueberſetzt von Andor v. Sponer 1000. 
Meine Kiebe. Gedicht von Minka Czöbel. Ueberſetzt von Andor v. Sponer 1053. 


Fitterarifhe Artikel, Notizen und Mitteilungen. 
(In der Rubrif „Lofe Blätter*.) 


Frankreich und bie Litteratur des Auslandes 622. I Die befabente Richtung der beutigen franzöſiſchen Litte⸗ 
Ein Brief Ouidas 624. ratur. Von A. Brunnemann 959, 


Zur Entwidlung des modernen Romans 670. Ein neues Wert von Tolftoj 1008. 

Kleine Mitteilungen 672. 816, Mart Twain 1008. 

Die Nerven in der Kunſt und der Litteratur 767. Turgenjeff und feine Freunde in Frankreich 1008. 
Urteile eines Franzoſen über die Deutichen 768. Zolas „Paris“ 1055. 

Die deutiche Litteratur und das Ausland 816. Das Ende Maupaflants 1108. 

Koſtis Palamäs 863, Das höchſte Schriftitellerbonorar 1104. 

Der litterariiche Internationalismus 863. Wie ein moderner engliiher Schriftiteller arbeitet 1104. 
Die Akademie Goncourt 864. Geniehen Büchertitel den Schuß des geiltigen Eigen- 
Schreibt Ibſen norwegiſch? 864. tums? 1104. 

Schriftitellerbonorare vor 60 Jahren 864. Andreas Narfawigas 1150. 

Edward Bellamy 910. Eine Namensänderung in Zolas „Paris“ 1151. 

Die Wiedererwedung der langue d’oc 910, Zur Charafteriftif Tolitoj3 1151. 

Guftave Flaubert und die „Bovary“ 911. x Ein moderner Magier 1152. 

Wie Romane gemacht werden 912, Der Geheimpolizift im engliſchen und franzöfiichen Ro» 
Desinfigieren der Bücher 912, man 1152. 


re — 


MHamuntcho. 


Vierre Loti. 


Aus dem Iranzöfifchen überfeßt von E. Vhiliparie. 


(Fortichung.) 


VII. 


Blei grauer, falter Morgendämmerung erwachte 
Namuntcho in feiner Wirtsftube mit dem fortdauern- 
den Gefühl des geftrigen Glückes — nicht mehr ber 
wirren Angjt, die ihn jo häufig beim allmählichen Er» 
wachen erfahte. 

Draußen hörte er das Scellengeflingel de& zur 
Weide geführten Viehes; die Kühe brüllten dem an- 
brechenden Tage entgegen, die Gloden läuteten, und 
an der Mauer des großen Plaßes prallte ſchon der 
basfijhe Ball au: das ganze Geräuſch des beginnen- 
den Tages im pyrenäifchen Dorfe. Für Ramumtcho 
waren «8 Feſtllänge. 

Frühmorgens fliegen die beiden Freunde wieder 
in ihren Heinen Wagen, und die Barette, wegen des 
Windes beim Fahren, tief über bie Stirne ziehend, 
fauften fie im Galopp über die leichtbereiften Wege 
dahin. 

Als jie gegen zwölf Uhr in Etcheͤzar ankamen, 
hätte man glauben lönnen, e& jei Sommer geworden, 
jo herrlich ſchien die Sonne. 

Im Gärten vor ihrem Haufe ſaß Graziella 
auf der fteinemen Banf. 

„Ih habe mit Arrochtoa geſprochen,“ jagte Ra- 
muntdho mit einem glüdlichen Lächeln, ſobald er 
allein mit ihr war, „und er iſt ganz auf unjrer 
Seite — du weißt?“ 


„O,“ entgegnete die Heine Braut mit traurig | 


finnender Miene, „o, natürlid) .. . mein Bruder, ich 
wußte e8! Das war fiher! Ein Ballipieler wie 
du, mußt du denken! — das gefällt ihm! Wenn 
man ihn hört, giebt e& nichts Höheres!“ 

„Aber auch deine Mama, Gacchutcha, begegnet 
mir feit einigen Tagen viel freundlicher, finde id)... 
So zum Beijpiel am Sonntag, als ich dich zum 
Zanz aufforderte.“ 

„D, verlaß did) darauf nicht, mein Ramuntdo, 
Meinft du vorgeitern, nad) der Kirche? Sie hatte 
gerade mit der Schweiter Oberin geredet, haft du's 


Aus fremden Burgen, 1897, IT. 1%, 








aufgebradyt, ich jollte nicht mehr mit die auf dem 
Plabe tanzen - - und nur um fie zu ärgern — bu 
verftehjt! Aber, wie gejagt, verlaß Dich nicht 
darauf...“ 

„O,“ antwortete Ramuntcho, deſſen Glück ſchon 
wieder zu ſinken drohte, „'s iſt wahr, ſie ſtehen nicht 
gut zufammen ...“ 

„Richt gut? Mama und die Schweiter Oberin ? 
Wie Hund und Rabe, ja!... Seitdem die Rebe 
von meinem Eintritt ins Kloſter war — erinnerft du 
dich nicht der Gejchichte ?* 

Er erinnerte ji im Gegenteil jehr gut, und 
noch fühlte er den Schreden. Die lächelnden, ge— 
heimnisvollen Schwarzen Nonnen hatten es einmal 
verfucht, den feinen, eigenwilligen Blondkopf mit 
jeinem maßloſen Bedürfnis nad Liche in ihr fried— 
liches Kloſter zu locken. 

„Gatchutcha, du biſt ſtets mit den Schweitern 
zufammen! Warum? Erlläre es mir! Gefallen 
fie dir jo gut?“ 

„Die Schweftern? Nein, Namuntdho, befonders 
nicht die jehigen, die neuen, die ich faum kenne, — 
denn man ſchickt jo oft andre her, du weißt es ja... 
Die Schweftern!.. .. nein!... Id muß dir fogar 
geftehen, daß ich, gerade wie Mama, die Schweiter 
Oberin nicht leiden Tann...“ 

„Weshalb alſo?“ 

„Run, weißt du, mic gefallen ihre Lieder, ihre 
Kapellen, ihr Mofter, alles!... Ich kann es dir 
nicht auseinanderjeßen. Und überhaupt... Jungen, 
die verſtehen das nicht... „“ 

Das leiſe Lächeln, mit dem fie es fagte, war 
bald wieder verſchwunden und machte einem ſinnen⸗ 
den oder vielmehr abweijenden Ausdrud Platz, den 
Ramunichd oft an ihr wahrnahm. 

Aufmerkſam ſchien fie vor ſich Hinzufchauen, und 


doch war vor ihr nichts zu jehen als die einſame 


Straße, die entblätterten Bäume, die erdrückende 
braune Maſſe der Gizume; allein eswar,al8ob Graziella 


durch jenfeits erblidte Dinge, welche Ramuntchos 
nicht gemerft? Nun, die gute Schweiter jagte jehr | 


Augen nicht unterſcheiden konnten, in wehmütige 
73 


578 


Ekſtaſe geraten fei. Während beide ſchwiegen, fing 
die Betglode zu läuten an und erhöhte noch die 
friedlihe Stimmung in dem ftillen Dorfe, auf das 
die Mittagfonne ihre wärmenden Strahlen warf. 


* Pierre Yoti. 


deſſen Lichter von weitem, durch den Regen gelrübt, 
herüberſchimmern. 

Das Unwetter iſt furchtbar ; ſchon find die Hemden 
der Männer ganz durchnäßt, und unter dem tief her— 


Den Kopf niederbeugend, machten beide gleichzeitig | untergezogenen Barett peitjcht der Wind um Die 


andächtig das Zeichen des Kreuzes. 

Nachden bie Glodentöne, die in den baskiſchen 
Dörfern gleich dem Gefang der Muezzins im Orient 
jedes menjchliche Treiben unterbrechen, verflungen 
waren, nahm ſich Ramuntcho ein Herz und fagte: 

„sh bin änafllih, Gatchutcha, did immer in 
ihrer Gefelljhaft zu wiſſen. Ich kann nicht umhin, 
mic zu fragen, was bu im Grund deines Herzens 
dabei denkſt.“ 

Ihn mit ihren dunfeln Augen feit anjchend, ent« 
gegnete fie janft jcheltend: 

„Wo denkſt du hin? Kanuft du jo mit mir ſprechen, 
nad) dem, was wir ums Sonntag abend gejagt 
haben? Aa, wenn ich dich verlieren ſollle! ... Ja, 
dann vielleiht!. .. . Gewiß fogar! Aber bis dahin, 
o nein!... o, ſei unbejorgt, mein Ramuntcho!“ 


Lange ſah er in ihre Augen, die ihm allmählich | 
Geräuſch zu verurfaden, fommen fie langſam, fang« 


wieder entzücdendes Vertrauen einflößten, und ſchlieſ⸗ 
lich Lüchelte er wie ein Kind: 

Verzeih mir!“ bat er. 
heiten, weißt du! ...“ 

„Ia, das muß ich jagen — in der That!” und 
beide brachen in ein herzliches Lachen aus, 

Ramuntcho rüdte num nach gewohnter Art feine 
Jade auf die andre Schulter, zog jein Barett auf 
die Seite, und ohne andre Lebewohl als ein jreund- 
liches Zuniden trennten fie fi, weil bort drunten 
an der Straßenede Dolores ſich bliden lieh. 


„Ich jage oit Dumme 


VIII. 


Mitternadt. Eine Mitternacht ſchwarz wie bie 
Hölle, mit ſtarlem Winde, peitihenden Regen. Am 
Ufer der Bidaſſoa, mitten auf unficherem Grunde, 
auf dem tüdijchen Boden, der Gedanken an cin 
Chaos wachruft, im Sumpfe, in den ihre Füße cin« 
finfen, tragen Männer große Kiſten auf den Schul» 
tern. Bis zu den Anieen im Waſſer watend, werfen 
fie ihre Loft in ein langes Ding, dunkler nod als 
die Nadıt, das ein Boot fein muß; ein verdädhtiges, 
am Ufer mit einem Tau befejtigtes Boot ohne 
Laterne. 

«3 ijt abermals Ilchouas Bande, welche die!- 
nal ihren Weg durch den Fluß nehmen will. Einige 
Augenblide haben fie angekleidet in einer Schmuggler« 
herberge nächſt dem Waſſer gefchlafen, und zur be— 
jtimmten Stunde hat der ftet$ nur mit einem Auge 
ichlafende Itchoua feine Leute aufgerüttelt. Alsdann 
find fie wie die Füchfe unter Faltem, dem Schmuggel 
günftigem Regen in die Finfternis hinausgejchlichen. 

Jetzt geht e& vorwärts auf das ſpaniſche Ufer zu, 


ſich gegen eines der großen, leeren Schiffe. 


Ohren, Dank ihren fräftigen Armen jedoch kommen 
fie gut und raſch vorwärts, 

Plötzlich gleitet in der Dunfelheit etwas wie ein 
Ungeheuer auf fie zu. Ein ſchlimmes Ding! Es ift 
das Schiff, das allnächtlich mit ſpaniſchen Zoll« 
beamten die Runde macht. Eilig müſſen fie jeht 
eine andre Richtung einfchlagen, ſchlau dem Feinde 
ausweichen und foftbare Zeit verlieren, obwohl «8 
ohnehin ſchon jpät ift, 

Endlich find fie jedod ohne Störung an das 
fpanifche Ufer gelangt, zwiichen die Fiſcherboote, die 
bei ſtürmiſcher Nacht hier angefettet vor der „Marine“ 
von Fontarabia liegen. Jept fommt der wichtige 
Augenblid. Zum Glüd bleibt ihnen der Negen treu 
und fällt firömend herab, Niedergedudt im Boote, 
um nicht geſehen zu werben, nichts redend und mit 
den Rudern bis auf den Grund ftohend, um weniger 


fam, und jedesmal ftillftchend,, jobald etwas fich zu 
beivegen jcheint, durch wirres Dunkel und formfofe 
Schatten heran. 

Jetzt, dem feiten Lande ganz nahe, drüden fie 
Hier ift 
die verabredete Stelle; hier ſollen fi) die Kameraden 
vom andern Lande einfinden, um fie zu empfangen 
und ihre Kiſten bis zum Schmugglerhaufe zu tragen. 
Niemand ift da... Wo find fie? Die erſten Mo» 
mente vergehen in aufregender Erwartung und einem 
Lanern, welches die Sehfraft verdoppelt und das 
Gehör verſchärft. Mit weit offenen Augen und 
Ohren lauern fie unter dem eintönig niederraufchen- 
den Regen. Wo bleiben fie, die jpaniichen Ka— 
meraden? Wahrſcheinlich it die Stunde ſchon vor- 
über, infolge des langen, durch dieje verwünjchte 
Zollrunde verurfachten Aufenthalts, der das ganze 
Unternehmen aus dem Geleiſe brachte; fie werden es 
für gejcheitert gehalten haben und wieder abgezogen 
fein, 

Abermals vergehen Minuten in derſelben Stille 
und Unbeweglichfeit. Ringsum liegen große, lebloſe 
Boote glei ſchwimmenden Tierleihnamen, und über 
den Waſſern eine unbeflimmte dunffe Mafle, dunkler 
als der Himmel; es find die Häuſer, die Berge am 
Ufer... Sie warten, ohne fich zu rühren, ohne zu 
Ipredden — wie gejpenftiihe Schiffer am Landung®- 
plaße einer untergegangenen Stadt! ... 

Almählih erfchlaffen die geipannten Sinne, 
Müdigkeit und Schlaf übermannen fie, und fie wiür« 
den jogar bier unter dem falten Regen ſchlafen, wäre 
ihre Yage nicht jo gefährlich. 


Ramuntdo. 579 


Itchoua Hält endlich ganz Ieife in baskifcher 
Sprade mit den Nelteften Rat, und fie bejchließen 
ein lühnes Wagnis. 

Da bie andern nicht kommen, müſſen fie ver— 
ſuchen, die Kiften bis zum Schmugglerhaus dort 
drunten zu tragen. 8 ift ſchrecklich gewagt, allein 
fie haben es fich in den Kopf gejeßt, und nichts fann 
fie mehr davon abbringen. 

„Du,“ jagt Itchona zu Ramuntcho, mit feiner 
eignen Art, die feine Widerrede erlaubt, „du, mein 
Junge, hüteſt das Boot, da du niemals den Weg 
gegangen bift, den wir einjchlagen müſſen. Binde es 
an, aber nur ganz loje, damit wir raſch und ohne 
Lärm entfliehen können, falls ein Grenzjäger in 
Sicht käme.“ 

Ale andern machen ſich alfo auf den Weg, bie 
Schultern von der ſchweren Lat niebergedrüdt; das 
faum hörbare Geräuſch ihrer Schritte verliert ſich 
alsbald auf dem menſchenleeren und dbunteln Geflade, 
in dem noch immer raufchend herabſtrömenden Regen. 

Ramuntcho ift nun allein; er kauert ſich, um nicht 
bemerft zu werden, auf den Boden des Bootes und 
bleibt unbeweglich im ftrömenden Regen liegen. 

Die Kameraden bleiben lang aus, und nad) und 
nach verfällt er in dieſer ftillen Unthätigfeit in ſchwere 
Erſchlaffung, faſt in Schlaf. 

Jetzt naht ſich eine Tanggeformte Male, noch 
dunkler als die übrige Umgebung, zieht an ihm vor— 
über, raſch, ſehr raſch — und ſtets mit unheimlicher 
Stille, die eine Eigentümlichfeit diejes nächtlichen 
Unternehmens geworben ; es ift ein großes ſpaniſches 
Boot!... Aber, denft er jeht, da alle Schiffe vor 
Anker liegen, und dieſes weder Segel noch Ruderer 
bat — wie? — aljo ift es mein eignes Schiff, das fi) 
bewegt! Endlich hat er begrifien. Sein Boot war 
zu leicht befeitigt, und die flarfe Strömung hat es 
fortgerijfen . . . Und er ift ſchon weit, er treibt ber 
Mündung der Bidafjoa, der Brandung, dem Meere 
zu. Große Angft, ja Schreden erfaßt ihn. Was 
beginnen? Die Page ift noch dadurch verichlimmert, 
daß er ohne Hilferuf, ohne das geringſte Geräuſch 
handeln muß, denn längs dieſer Ufer, ivo nur Nacht 
und Finſternis zu herrſchen fcheinen, Tauern die 
Grenzjäger, in endlofer Linie aufgeftellt, Spanien 
wie ein verbotenes Land bewachend. Er verjucht mit 
einem der langen Ruder bis auf den Grund zu 
flogen, um das Boot aufzuhalten. Allein er findet 
feinen Grund mehr, ohne Widerftaud taucht das 
Ruder Hinab in die dunkle Strömung —: er ijt im 
tiefen Fahrwaſſer... Jetzt heißt es um jeden Preis 
rubdern, lomme, wa3 da wolle... 

Mit großer Anftrengung und jchweißtriefender 
Stirn bringt er das ſchwere Boot gegen den Strom 
zurüd, bei jedem Auderichlag befürdhtend, das leije 
Knarren könnte dort drunten von irgend einem 


laufchenden Ohr vernommen werben. Wegen des 
jtets zunehmenden Regens kann er nichts mehr unter- 
ſcheiden; alles iſt ſchwarz — ſchwarz wie die Ein« 
geweide der Erbe, wo der Teufel hauft, Er erfennt 
nicht mehr den Ausgangspunkt, wo ihn die andern 
finden jollen, und vielleicht verjchuldet er dadurch ihr 
Unglüd; er zögert, hält mit geipannt horchendem 
Ohr und Flopfendem Herzen ftill und umflammert, 
um jic eine Weile zu befinnen, eines der großen 
jpanischen Boote. Jetzt nähert ji) etwas, mit un— 
endlicher Vorfiht auf dem kaum bewegten Waller 
dahingleitend. Ein menſchlicher Schatten, jo ſcheint 
es, eine aufrechtftehende Geftalt, gewiß ein Schinugafer, 
da er jo geräufchlos ift! Beide veritehen fi und — 
Gott ſei Dank! — es ift Arrochloa, Arrochloa, 
ber einen leichten ſpaniſchen Kahn flott gemacht bat, 
um ihn zu ſuchen ... Nun haben fie ſich gefunden, 
und wahrſcheinlich ſind alle wieder einmal gerettet. 

Allein Arrochloa ftößt wütend, als er näher an 
ihn herankommt, mit erſtickter Stimme durch die zu— 
fammengepreiten Zähne Schmähungen gegen ihn 
aus, die eine unmiltelbare Antwort erheiſchen und 
wie eine Aufforderung zum Kampfe lauten. Es tommt 
jo unerwartet, daß die Beſtürzung Ramuntcho einen 
Moment lähınt und das Aufwallen des Blutes zum 
Kopfe Hin aufhält. War es wirklich das, was fein 
Freund foeben fagte, und zwar mit einem ſolchen 
unleugbar beihimpfenden Tone? 

„Du ſagteſt? ...“ 

„Nun ja!“ führt Arrochkoa etwas beſänftigter 
und vorſichtiger fort, denn troß der Finſternis merkt 
er Ramuntchos Erregung. „Freilich — beinahe 
wären wir durch deine Schuld alle erwiſcht worden, 
ungeſchickter Menſch!“ 

Indeſſen tauchen aus dem nebenanſtehenden Boote 
Geſtalten auf. 

„Da find fie!“ fährt er fort, „ſpute dich und 
juche in ihre Nähe zu kommen!“ 

Ramuntcho feht Fich auf feine Ruderbank, jeine 
Schläfen find heiß vor Zorn und feine Hände zittern 
... Nein!... e8 ift Graziellad Bruder: alles wäre 
verloren, wenn er mit ihm handgemein würde! Um 
ihretwillen neigt er den Kopf und antwortet nichts, 

Jetzt entfernt ſich das Boot mit Fräfligen Nuder- 
ſchlägen und führt fie alle weiter — der Streich ijt 
gelungen! Es war die höchfte Zeit, zwei ſpaniſche 
Stimmen jhallen vom Schwarzen Ufer herüber. Zwei 
Grenzjäger, die, in ihre Mäntel gehüllt, ſchlummerten 
und vom Geräufch gewedt worden find!... Sie bes 
ginnen das fliehende Boot, das feine Laterne führt 
und nicht zu jehen, ſondern nur zu vermuten üjt, 
anzurufen; doch es ift ſchnell in der allgemeinen 
nächtlichen Verwirrung verſchwunden. 

„Su ſpät, meine Herren!“ hohnlacht der mit 
aller Kraft rudernde Itchoua. „Ruft nur an, jo 


580 


lange ihr wollt — ber Teufel mag euch ant- 
worten!“ 

Die Strömung ift ihnen günftig, fie entfernen 
ſich im dichter Nacht mit der Gefchwindigkeit eines 
Fiſches. 

Heiſa! jeht find fie in franzöſiſchem Gewäſſer, 
— in Sicherheit unfern des ſumpfigen Uſers. 

„Halten wir einen Moment an, um Atem zu 
ſchöpfen!“ ſchlägt Itchoua vor. 

Keuchend und von Schweiß und Regen durch— 
näßt, bleiben fie unbeweglich im falten Regen, ben 
fie nicht zu fühlen feinen. In der großen Stille 


hört man deutlicd das allmählich ruhiger geworbene 


Atemholen und die Heine Mufit der riefelnden 
Waſſertropfen. 

Plötzlich jedoch dringt aus dem ſtillen Boole, das 
vorher kaum noch die Bedeutung eines Schattens 
hatte, ein entjehlich ſchriller Schrei in die dunkle 
Nacht hinaus; er erfüllt die weite Leere und jchallt 
ohrzerreißend in bie ferne... Ein hoher Ton, wie 
ihn gewöhnlich nur Frauen hervorbringen, aber die 
Stimme ift rauh und fräftig und kann nur von 
einem Manne ausgehen — helltönend und jcharf 
wie das Gebell des Echafald, und doch liegt etwas 
Menſchliches darin, was um jo mehr entjegt, Mit 
Bangen wartet man auf das Ende; der langanhal- 
tende Schrei wirft beängftigend. Gleich dem Klagen 
eines verendenden Wilbes hat er begonuen, und 
nun endigt er mit wilden Lachen, das feltjam und 
gräßlid, wie das eines Wahnſinnigen klingt. 

Jedoch feiner von den Gefährten ſcheint über den 
aljo jchreienden, vorn im Boote fienden Mann er- 
ftaunt, und nad) wenigen Sehunden des Stillf yweigens 


Pierre Loti. 


Luft, fie jhreien aus dem phyſiſchen Bebürfnis, ſich 
für das bis jeht eben beobachtete Schweigen zu ent⸗ 
ſchädigen. 

Nur Ramuntcho bleibt ſtumm und verzieht keine 
Miene, Dieſer plöhliche wilde Freudenausbruch macht 
ihn erſtarren, obwohl er ihm läng't bekannt iſt; er 
verjenft ihn in eine unruhige, verworrene Träumerei, 

Dazu bat er an diefem Abend von neuem er- 
fahren, wie unguderläjfig und wandelbar jeine einzige 
Stüße in der Welt ift, Arrochkoa, auf ben er fi 
doch müßte verlaſſen fönnen wie auf einen Bruder; mit 
feinem Heldenmut und feinen Erfolgen im Balljpiel 
wird er Arrochloa zwar ohne Zweifel wieber für fid 


| gewinnen, aber ein Mißerfolg, irgend eine Rleinig: 
; feit fann in jedem Augenblid dazu führen, daß er 


antwortet ein andrer im Boote vom Hed her mit ! 


demjelben Schrei, in denfelben eigentümlichen Phajen, 
die eine alte Ucberlieferung find. 

Es ift ganz einfach der „Irrintzina“, der große 
basliſche Schrei, der ſich bis heute feit den älteften 
Zeiten treu überliefert hat. Eine Eigentümlichkeit 
diefer Rafle, deren Urſprung ſich in der Nacht der 
Zeiten verliert. 

Er gleicht dem Signalfchrei gewiſſer Indianer» 
ſtämme in den amerifanijhen Wäldern; wenn man 
ihn in der Nacht hört, hat man das jhaurige Gefühl, 
als fliege die Urzeit wieder herauf, die Zeit, da mitten 
in der Wildnis der alten Welt die Menſchen ein 
Geheul wie das der Affen ertönen ließen. 

Man ftöht diefen Schrei bei Feſten aus oder um 
ſich abends in den Bergen ein Zeichen zu geben, und 
beſonders um irgend ein freudiges Geſchehnis, irgend 
ein ımerwartes Glüd, eine erfolgreiche Jagd oder 
einen ergiebigen Fiſchzug zu feiern, 

So vergnügen ſich jet auch die Schmuggler mit 
diejem Freudengeſchrei der Vorfahren; der Jubel 
über ihr geglüctes Unternehmen macht ji darin 








ihn wieder verliert, Dann aber hat — das fühlt 
er — bie Hofinung feines Lebens einen fejten Boden 
mehr, — alles ſchwindet dahin wie ein weſenloſes 
Trugbild, 

IX. 

Es war Sylvefterabend. 

Ten ganzen Tag hindurch blieb der Himmel, 
wie jo häufig im baskiichen Lande, in büfteres Grau 
gehüllt, das übrigens zu den herben Bergen, zum 
wildſchäumenden, braufenden Meer dort drunten 
trefilich paßt. 

Zur Dämmerftunde dieſes legten Tages im Jahr, 
zur Stunde, wo die Iujtige Reifigflamme die Männer 
am Herde zurüdhält, — zur Stunde, wo das Heim 
behaglich und köſtlich iſt, wollten ſich Ramuntdho 
und jeine Mutter zum Abendefjen jehen, als fie ein 
beicheidenes Klopfen an der Thür hörten, 

Beim erſten Anbiid jchien ihnen der ſpäte Be- 
fuch unbelannt ; al® er jedodh feinen Namen nannte: 
Joſé Bidegarray aus Hasparig, erinnerten fie ſich 
bes Matiofen, der vor Jahren nah Amerika gereift 
war. 

„Sch ſoll,“ fagte er, nachdem er fi auf den an- 
gebotenen Stuhl geſeht, „ich foll Ihnen Grüße 
bringen. AS ich in Rofario in Uruguay war und 
mit andern audgewanderten Basen eine Tags am 
Landungsplak zufammentraf, gejellte fih ein Mann 
von ungefähr fünfzig Jahren zu uns, da er mid) 
von Etchezar |prechen hörte. 

„Sind Sie aus Elchézar?“ fragte er mid. 

„Mein, aber aus dem Dorje Hasparik, das nicht 
weit davon entjernt liegt.‘ 

Nachher fragte er mid) über eure ganze Familie 
aus; ich jagte: ‚Die Alten find tot, der ältefte Bru- 
der ift beim Schmuggel umgelommen, der zweite iſt 
nad Amerila geflohen. Es bleibt nur noch Franchita 
und ihr Sohn Ramuntcho, ein hübſcher, junger 
Burſche, der jeht achtzehn Jahre alt jein kann.‘ 

„Als er mid) jo reden hörte, wurde er ganz nad)- 
denllich. 


nn be A en 


Ramuntdo. 581 


„Nun,“ fagte er endlich, ‚da Sie dorthin zurüd- 
fehren, jo jagen Sie ihnen, Ignacio laſſe fie grüßen.‘ 

„Er bot mir nod) einen’ Trunf an und entfernte 
fig.“ 

Franchita erhob ſich zitternd und jah noch blaſſer 
als gewöhnlich aus, Ignacio, der feit zehn Jahren 
verſchwundene Bruder, ber niemals von fi) hatte 
hören laſſen! ... 

„Wie war er? Wie ſah er aus? Wie war er 
geffeidet? Schien er wenigftens glücklich oder machte 
er den Eindrud eines Armen?“ 

„O,“ antwortete der Matroje, „er ſah noch gut 
aus troß der grauen Haare, und was feinen Anzug 
betrifft, jo hatte es den Anichein, als ob es ihm recht 
gut gehe, auch trug er eine ſchwere goldene Sette 
am Gürtel,“ 

Dies war jedoch alles, was er außer dem ein« 
fachen, furzen Gruß berichten konnte; weiter wußte 
er durchaus nichts über den Verbannten, und viels 
leicht jollte Franchita bis zu feinem Tode nichts mehr 
von dieſem Bruber hören, ber für fie faft wejenlos 
war wie ein Gejpenft. 

Nachdem er ein Glas Apfelwein geleert, machte 
fi) der ſeltſame Bote wieder auf den Weg, um in 
jein hochgelegenes Dorf zurüdzufehren. 

Mutter und Sohn feßten ſich, ohne zu reden, an 
den Tiſch. Sie, die ftille Frandita, war zerfireut, 
und Thränen glänzten in ihren Augen; er gleich— 
falls, jedoch auf andre Weije, bewegt durch din Ge— 
danken an diefen Ontel, der weit von bier ein aben» 
teuerliches Leben führte. 

As Ramuntcho, den Kinderſchuhen entwachjen, 
fi dem Schulbeſuch zu entziehen begann, um den 
Schmugglern ins Gebirg zu folgen, ſagte oftmals 
Franchita fopfichüttelnd : 

„Du bift wie dein Onfel Ignacio; du wirft es 
niemals zu etwas bringen.“ 

In der That hatte er das von jeinem Onfel, 
daß ihn alles Gefährliche, Unbelannte und Ferne 


anzog. 


Wenn ſie alſo an dieſem Abend mit dem Sohn 
nicht über die ſoeben gebrachte Botſchaft ſprach, fo 
geihah das, weil fie fi den Sinn feiner Träume» 
reien über Amerita wohl zu deuten wuhte und ihr 
vor jeiner Antwort bangte. Ueberdies fpielen jich 
bei ben Landleuten oder im Volle die Heinen häus— 
lihen Dramen ohne Worte, mit Mißverſtändniſſen, 
die nie aufgellärt werden, mit bloßem Erraten der 
Gedanten und beharrlichem Schweigen ab, 

Am Schluſſe des Mahls jedoch hörten fie einen 


Ehor Iuftiger junger Stimmen, der ſich unter Trommel» | 
jchlag bem Haufe näherte. Es waren die Burjchen | 
aus Etchözar, die Ramuntcho zu einem Umzug durds | 


Dorf mit Mufit abHolten, wie es am Sylvefterabend 
Brauch ift. Sie treten in jedes Haus ein, trinfen 





ein Glas Apfelwein und bringen, Inftig ihre alten 
Weiſen fingend, vor jeder Ihür ein Ständdhen. 
Ramuntcho vergaß den alten, balbverjchollenen 
Onkel in Uruguay und ward wieder ein Kind in 
feiner Freude, mit ihnen zu ziehen, mit ihnen längs 
der dunfeln Wege zu fingen, und beſonders entzückt 
von dem Gedanken, in das Haus der Deitcharrys 
einzutreten und Graziella einen Moment zu jehen. 


X 


März, der Veränderlihe, war gelommen und 
mit ihm beraufchende Frühlingsſtimmung, befeligend 
für die Jungen, wehmütig für die Alten. 

Graziella jaß wieder in der Dämmerftunde auf 
der alten fleinernen Bank vor ihrem Haufe. 

O, dieje alten fleinernen Bänke vor den Häufern, 
die ſchon in früherer Zeit zur Träumerei am milden 
Abend und zum ewig gleichen Geflüfter der Lieben- 
den einluden! 

Graziellag Haus war jehr alt, wie die meiften 
Häufer des basfifchen Landes, wo die Jahre nicht 
wie anderwärts bie Dinge verändern. Es hatte zwei 
Stodwerte, ein großes vorftiehendes Dad, Mauern 
wie eine Feitung, die jeden Sommer forgfältig weiß 
übertüncht wurden, und jehr Meine Fenſter mit Ein- 
fafjungen von behauenem Granit umd mit grünen 
Läden, 

Die Oberjchwelle an der Eingangsthüre war von 
Granit und trug eine Neliefinjchrift, lange, verwidelte 
Worte, die für die Augen Fremder an nichts Bes 
fanntes crinnerten. Sie bejagten: „Unſre heilige 
Jungfrau fegne dieſes Haus, gebaut im Jahre 1630 
von Pierre Detcharry, Kirchendiener, und feiner frau, 
Damaja Jrribarne, aus dem Dorfe Jitarik.“ 

Ein zwei Meter breites Gärtchen mit niedriger 
Mauer, über die man auf die Straße blicken fonnte, 
lag vor dem Haufe, Ein prächtiger Dleanderbaum 
breitete feine ſüdländiſchen Blätter über die Banf; 
auch fanden dort Yuccas, eine Palme und gewaltige 
Hortenfienbüfche, welch letztere in dem fchattigen 
Lande mit dem milden Klima zu riefenhafter Größe 
anwachſen. Hinter dem Haufe lag ein fchlecht ge— 
ſchloſſener Baumgarten, der fi bis zu einem ein- 
ſamen Pfad hinunterzog, ein günfliger Plak zum 
Stelldichein für Liebende, da man leiht aus- und 
einfteigen fonnte, 

Wie lichtftrahlend glänzte der Morgen in dieſem 
Frühling, wie Hill und rofenfarben der Abend! 

Nach einer Vollmondswoche, in welcher zur Nachtzeit 
das ganze Land bis zum Morgen mit blauen Licht- 
ſtrahlen überflutet war und die Leute Itchouas nicht 
arbeiteten, — fo hell war der Schauplaß ihrer Streife- 
reien, jo Lichterfüllt die großen, dunſtigen Tiefen der 
Pyrenäen und Spaniens — nahm das Schmuggler- 
treiben wieder feinen Fortgang, feit nur mehr früh: 


582 


morgens die ſchmale, fanft glänzende Mondfichel am 
Himmel erfchien. Bei diejer ihönen Jahreszeit waren 
die nächtlichen Wanderungen eitel freude. Ein 
Leben der Einſamkeit und Träumerei, wo die Seele 
biejer naiven, im Grunde nicht jchlechten Menſchen 
beim Anblid des Himmels mit den unzähligen 
Sternen unbewuht größer wird, ebenjo wie die Seele 
des Seemanns, der nachts auf dem dahinfahrenden 
Schiffe Wade hält, und wie ehemals die Seelen der 
chaldäiſchen Hirten... 

Auch Für die Liebenden waren die milden Früh— 
lingsnächte nad) der VBollmondszeit günjtig und ein— 
ladend; denn überall herrſchte Dunkelheit um die 
Häufer, auf allen baumüberwölbten Wegen und bes 
jonders hinter dem Baumgarten des Haufes Det- 
harry, auf dem verlaffenen Pfade, wo nie jemand 
zu treffen war, 

Graziella war immer häufiger auf der fteinernen 
Bank vor ihrer Thür zu jehen. 

Dort ſaß fie, um wie in jedem Jahr die Faſchings- 
tänzer zu empfangen und tanzen zu jehen, jene 
Gruppen junger Männer und Mädchen aus Spanien 
oder Frankreich, die fid) jedes Frühjahr für einige 
Tage zuſammenſcharen und gleihmähig gekleidet, 
entweder weiß oder rofa, dur die Dörfer ziehen 
und vor den Käufern Fandango mit Eaftagnetten- 
begleitung tanzen, 

Immer länger blieb Graziella abends auf diejer 
Bank unter dem aufblühenden Dleander fihen ; 
manchmal jogar flieg die Heine Dudmäujerin, nad)» 
bem fich die Mutter ſchon gelegt hatte, geräuſchlos 
aus dem Fenſter, um bier noch länger frifche Luſt 
zu ſchöpfen. 

Ramuntcho wußle es, und jeden Abend ftörte der 
Gedanke an diefe Bank feinen Schlaf. 

XI. 

An einem Haren Aprilmorgen gingen Graziella 
und Ramuntcho der Kirche zu. Sie, halb ernſt, 
halb fpötltiich, mit ganz bejonders jchelmifcher Miene, 
führte ihn dorthin, damit er cine von ihr auferlegte 
Buße thue. 

Im Friedhofe blühten die Beete auf den Grä- 
bern, die Roſen an der Mauer. 

Wieder einmal war das Pilanzenleben über der 
Auheftätte der Toten erwacht. 

Eie traten zufammen durch das untere Thor in 
bie menjchenleere Kirche, in der fi nur eine alte 
Frau in Schwarzer Mantille befand, mit dem Nein» 
machen der Altäre beichäftigt. 

Nachdem Graziella ihrem Freunde das Meih- 
waſſer gereicht und beide das Zeichen des Kreuzes 
gemacht, führte jie ihn durch das alte, hallende 
Schiff bis zu einer dunleln Ede unter der Empor« 
bühne der Männer, wo ein jeltjam Bild an der 


— — —— —— — — — — —— — — — — 


Pierre Loti. 


Mauer hing. Es war ein dem alten Myſticismus 
enilehntes Gemälde: das Geficht Jeſu mit gefchlof- 
jenen Augen, bfutiger Stirn und ſterbendem, weh: 
Hagendem Ausdruck. Der Kopf ſchien vom Numpfe 
getrennt und ruhle auf einem grauen Tuche. Unter 
dem Bilde flanden die langen „Litaneien bed hei- 
ligen Antliges“, die, wie jedermann weiß, beftimmt 
find, von renigen Gottetläfterern zur Buße hergeſagt 
zu werden. 

Tags vorher hatte Ramuntho im Zorn jehr 
häßliche Flüche ausgeſtoßen, eine undenfbare Reihen- 
folge von Wörtern, worin die Saframente und die 
heiligften Dinge mit Teufelshörnern und andern, 
noch abjcheulicheren Gottlofigfeiten vermengt waren. 
Deshalb fand Graziella, daß Buße not that, 

„Geh nur, mein Ramunicho,“ befahl fie ihm, 
„und laß von all dem, was zu jagen ijt, nichts aus.” 

Sie ließ ihn dem Heiligen Geficht gegenüber 
allein, wo er mit leijer Stimme feine Litaneien be« 
gann, und gejellte ſich zuder Alten, um ihr vor dem 
Altar der Mutter Gottes behilflich zu fein. 


* 


Als aber der träumeriſche Abend wieder kam 
und Graziella im Dunleln finnend auf ihrer Bant 
jaß, tauchte plöglich eine junge Menjchengeftalt vor 
ihr auf; jemand, der ebenfo geräufchlos wie bie 
jeidenweiche Eule in der Luft, wahrſcheinlich vom 
Hintergrumd des Gartens, herbeigeſchlichen kam und 
fi) aufreht mit der über die Schulter geworfenen 
Jade vor fie hinftellte: ex, an den fie mit ihrer 
ganzen Innigkeit date... er, die Verkörperung 
des fühen Traumes ihres Herzens, ihrer Sinne... 

„Ramuntcho,“ jagte fie, „o, wie bang haft du 
mir gemacht! Woher fommft du zu dieſer Stunde? 
Was willft du? Weshalb bift du gekommen?“ 

„Weshalb ich gelommen bin? Um bir meiner 
jeit3 eine Buße aufzuerlegen,“ erwiderte er lachend. 

„Nein, jage mir die Wahrheit, was ijt los? 
Mas willft du?” 

„Einfach bei dir will ich fein! Sonft nichts! 
Leider jehen wir uns niemals! Deine Mutter fucht 
mich mehr und mehr zu entfernen, Ich fan jo nicht 
weiter leben! Es ift ja nichts Böjes, da wir uns 
heiraten wollen, ſag felbft! Und weißt bu, ih 
fönnte jeden Abend fommen, wenn e3 dir redht ift 
und ohne daß es jemand merft.“ 

„D nein! Thue es nicht — niemals! — bitte, 
bitte ...“ 

Sie plauderten eine Weile, doch ſo leiſe, als ob 
ſie befürchtelen, die Vögel in ihren Neſtern zu wecken. 
Sie erkannten nicht mehr den Ton ihrer Stimmen, 
jo ganz anders klangen fie, jo ſehr bebten fie, als wäre 
es irgend ein entzüdendes und ftrafbares Verbrechen, 
daß fie jo bei einander landen in der großen, 


’ 





Ramuntcho. 


geheimnisvollen Aprilnacht, die um fie herum fo viele 


Pilanzenfeime und Liebesgefühle auffprießen ließ... 

Er wagte nicht einmal, ſich neben fie zu jehen, 
und blieb ftchen, bereit, beim geringften Geräuſch 
durch die Büſche zu entflichen. 

Als er jedoch fortgehen wollte, war fie es, bie 
ihn zögernd und verwirrt, faſt unverftändlich fragte: 
„Und morgen? Kommſt du wieder? Sag!” 

Er mußte über diefen raſchen Ideenwandel lachen 
und entgegnete: 

„Freilich! Morgen und alle Abende! Jeden 
Abend komme ich, wenn wir feine Arbeit für Spa» 
nien haben ...“ 

X. 

Ramuntdhos Stube im Haufe feiner Mutter be 
fand fich über dem Stalle; fie war weiß getüncht 
und ſehr reinlih. Dort jtand fein Bett, ſtels weiß 
und fauber, allein der Schmuggel ließ ihm jeht wenig 
Zeit zum Schlafen. Bücher mit Reiſe- oder Erb» 
beichreibungen, die ihm der Pfarrer lieh, lagen auf 
feinem Tische, — eine jeltfame Erſcheinung in Diejer 
Behaufung. Berjchiedene Heiligenbilder zierten die 
Band, und etliche Weidenhandichube für Ballipieler, 
foft Jagd- oder fFifchergeräten gleihend, hingen an 
den Ballen der Dede, 

Franchita hatte bei ihrer Rüdkehr in die Heimat 
dad Haus ihrer verjtorbenen Eltern mit dem Gelbe, 
das ihr der Fremde bei der Geburt des Sohnes ge= 
geben, wieder angefauft. Den Reſt der Barichaft 
hatte fie angelegt. Dabei nähte fie Kleider ober 
bügelte Wäſche für die Leute in Etchézar, aud) ver- 
mielete fie an die Pächter nahgelegener Aeder zwei 
Zimmer zu ebener Erde mit der Stallung für ihre 

- Kühe und Schafe, 

Berjchiedene vertraute Klänge wiegten Ramuntcho 
in Schlaf: das fortwährende Raufchen des nahen 
Baches, der Gefang der Nachtigall oder die Morgen- 
ſtäudchen andrer Vögel, und befonders in dieſem 
Frühjahr regten ſich die ganze Nacht hindurch, unter 
ftetem Schellengeläute, feine Nachbarinnen drunten, 
die Kühe, die offenbar den Duft des friſchen Graje! 
twilterten. 

Oftmals nad langen nächtlichen Märjchen ſuchte 
er tes Nachmittags, auf irgend einem moosbewach- 
jenen Plähchen im Schalten außgeftredt, den ver 
lorenen Schlaf wieder einzubringen. 


En nn — — — — 


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583 


Sonne des neuen Tages anzuſchauen. Was er in 
der nächſten Umgebung des Hauſes jah, war grün, 
berrlid grün, wie jedes Fleckchen Erde des ſchattigen, 
oft vom Regen befeuchteten Landes im Frühling. 
Das Farnlraut, das im Herbft jo intenfiv rotgelb 
wird, bededte mit feinem friſchen Grün den Berg: 
abhang wie mit einem riefigen Teppich von dichter, 
gefräufelter Wolle, rot gefledt von Digitalisblüten, 
Unten in einer Schlucht raujchte der Bad zwiſchen 
mächtigen Bäumen; oben jtanden Gruppen von 
Eichen und Buchen an die Berge gelehnt, und zwi« 
ſchendrin Tagen faftiggrüne Matten, 

Ueber diejem ftillen Eden ragte die große Gizune 
mit ihrem lahlen Gipfel als unumjchränfte Herrin 
der Wolfenregion in den Himmel, Eiwaß weiter 
zurück ſah Ramuntcho die Kirche, die Häufer — das 
abgeſchiedene, hochgelegene Dorf, entfernt von allem, 
weit von den Verbindungslinien, die das flache Land 
drunten am Meere umgejtaltet und verdorben haben; 
behütet vor fremder Neugier und Entweihung und 
noch der alten Silte getreu. 

In diefen Morgenjtunden fühlte ih Ramunicho 
an feinem Fenſter von Frieden und Glüd durch— 
drungen. Das Erwachen des jungen Bräutigams 
war eitel Luft und Wonne, feitdem er wußte, daß 
er Graziella des Abends am verabredeten Pläbchen 
trejfen werde, 

Die traurige Ungewißheit, die ihn jonft jeden 
Morgen beihlichen Hatte, war verſchwunden, und bie 
Erinnerung an die Zufammenkünfte und die frobe 
Erwartung verjheuchten fie wollend!, Sein Leben 
war cin andres geworben; fobald er die Augen öff- 
nete, bejeligte ihn das Gefühl eines herrlichen Ge— 
heimnifjes und einer entzüdenden, hohen Freude. 
Dieje wohlthätige Ruhe, die er jeden Morgen wieder 
fand, jchien ihm jedesmal elwas Neues, jo ganz ver⸗ 
ſchieden von dem, was er in früheren Jahren em— 
pfunden hatte, — unendlid) ſüß jeinem Herzen, voller 
Wonne für feine Sinne und voll unergründticher, 
beglüdender Hoffnungen, 


XII. 
Dfterabend. Die Dorfgloden find verftummt, 
verfiungen die vielen frommen Klänge in Frankreich 


und Spanien... 
Am Ufer der Bidaſſoa ſitzen Ramuntcho und 


Für gewöhnlich war er gleich den andern Schmugg⸗ Florentino und lauern auf die Ankunft eines Bootes. 
lern kein Frühaufſteher, und häufig erwachte er erſt | Ringsum herrſcht Stille, Die Glocken ruhen; länger 


nad) Tagesanbruch, wenn ſchon zwiſchen den Riten 


des Fußbodens helle Lichtfirahlen vom Stalle drunten 
heraufdrangen, da deſſen Thür weit offen blieb, 


wenn das Vich zur Weide gegangen war, Aladann 
trat er an jein Fenſter, ftieß den Heinen hölzernen, 
olivengrün angeſtrichenen Fenſterladen auf und ftüßte 
fih auf das. breite Geſims, um die Wolken oder die 


er 
[25 . 
Jaute.. 


als zuvor währt die milde Dämmerung. Schon 
beim Einatmen der Luft fühlt man den Sommer 
nahen, 

Sobald «8 Naht geworden ift, ſoll der mit 
Phosphor beladene Schmugglertahn an der jpanifchen 
Küfte erjcheinen. Für Phosphor bejteht ein jehr 
ſtrenges Einfuhrverbot. Das Schiff ſoll nicht bis 


584 Pierre Poti, 


ans Ufer fahren, fie müſſen bis zu ihm durch den 
Strom waten und die Ware holen, große, zugeipihte 
Stöde in den Händen haltend, um ſich den Anfchein 
zu geben, ala fifchten fie in aller Unſchuld, für den 
Tall, da fie dabei überrajcht werden, 

Heute nacht ift das Waſſer der Bidaſſoa ein un— 
getrübter Spiegel, noch lenchtender ala der Himmel; 
alle Sternbilder und der gegenüberliegende Berg mit 
feiner dunfeln Spige fpiegeln fi darin ab. 

Der Sommer, der Sommer — mehr und mehr 
fühlt man ihn herannahen, jo Kar und mild iſt die Nacht. 

Doch Namuntho findet in diefem Augenblid 
das Watt zwifchen ben beiden Yändern noch trauriger 
als jonft, noch enger eingeſchloſſen in den ſchwarzen 
Bergen, an deren Fuß faum zwei bis Drei trübe 
Lichter ſchimmern — und es fleigt wieder im ihm 
der Wunſch auf, zu willen, was jenfeitS der Berge 
und jenfeits dieſes Jenfeits if, O, welches Glüd 
müßte es fein, in die Ferne zu gehen... für eine 
Zeitlang wenigflens aus dem eingeengten und doch 
fo geliebten Pande zu fliehen... vor dem Tode 
noch diefem bedrüdenden, ausfichtslofen Dajein zu 
entgehen .. . andres zu verſuchen ... fort von hier 
zu wandern, zu reilen, fich in der Welt umzuſehen! 

Während er fortgefeht die Stelle, an welcher das 
Schiff ſich zeigen joll, überwacht, erhebt er von Zeit 
zu Zeit die Augen zum Himmel, zum Unendlicden. 
... Er betrachtet den neuen Mond, deſſen Eichel 
untergeht und verſchwindet; er betrachtet Die Sterne, 
deren regelmähige, langjame Bahnen er oft verfolgt 
bat, und fühlt ſich beängftigt durch die Größen- 
verhältnifje und die unbegreiflichen Entfernungen im 
Weltraum... 

Der alte Pfarrer im Dorfe, der ihm früher 
Neligiontunterricht erteilte und an dem begabten, 
gewedten Jungen Gefallen fand, lieh ihm Bücher, 
plauderte manchmal mit ihm über verſchiedene Gegen: 
ftände, gab ihm Beſcheid über den Lauf der Sterne, 
ihre Entfernung und über die Unermeßlichfeit bes 
Naumes und der Zeit. In feiner Seele erhoben ſich 
alsdann die in ihr ſchlummernden angeborenen Ge— 
fühle, Zweifel, Schreden, Trofllofigteit, kurz, das 
ganze traurige Erbteil des Vaters, in düfterer Geflalt, 
Unter dem großen Sternenhimmel fing der Glaube 
des jungen Baslen an zu wanfen. Seine Seele 
war nicht mehr arglos genug, um die Firchlichen 
Dogmen und Sabungen blindlings anzuerkennen, 
und da ſich alles unzufammenhängend und ungeorbnet 
in dem fo jeltjam vorbereiteten und niemals ge— 
feiteten Kopfe bewegte, jo fonnte er nicht willen, daß 
es höchſte Weisheit jei, ſich troß allem mit Vertrauen 
den altehrwürdigen,, geheiligten Formeln zu unter« 
werfen, hinter denen ſich vielleicht alles, was wir 
von den unerforjchlichen Wahrheiten ahnen, verbirgt. 

Die Oftergloden, die ihn noch im vorigen Jahre 


mit Andacht erfüllten, hört er diesmal wie irgend 
eine beliebige Mufif an und findet fie eher traitrig, 
faft unnötig. Und jekt, da fie verftummt find, ver: 
nimmt er mit unerflärlicher Wehmut das mächtige, 
dumpfe Getöfe der Brandung dort drunten, das, 
feitbem die Klippen dee Bisfayifchen Meeres ent 
ftanden find, beinahe unaufhörlich fortdauert und 
in ftillen Nächten weit hinten in ben Bergen gehört wird. 

Doch jeht wendet ſich Ramuntdos flatternde 
Phantafie wieder andern Dingen zu... Das Watt 
ſcheint ſich jetzt zu verfinftern, man fieht nicht mehr 
die Menfhenwohnungen, und alles ift dort anders 
geworben; ja, plöglich erſcheint es ihm — jeltjam! — 
als ob irgend etwas Geheimmisvolles vorgehe; er 
ficht nur noch die großen, rauben, ewig unveränder: 
fihen Linien und wundert fih, daß er vertvorren 
an die graue Vorzeit denken muß ... Der Geift der 
alten Zeiten, der manchmal während ftiller Nacht, zur 
Stunde, da die alles umilürzende Menfchheit der 
Jetztzeit fchläft, aus der Erde fteigt, diefer Geift un- 
zweifelhaft ift es, der ihn jet zu umſchweben be» 
ginnt, Er fann fi davon feine Rechenſchaft geben, 
denn jein Scharflinn und feine Künfllernatur haben 
ſich bei feiner mangelhaften Bildung nicht entwideln 
tönnen; er hat nur eine unflare, beunrubigende Vor: 
ftellung davon. In feinem Kopfe dreht ſich ein 
Chaos von Gedanfen, die ſich fortwährend zu ent- 
wirren ſuchen, aber ohne daß es gelingt. 

Nachdem der Mond langſam hinter dem ſchwarzen 
Berg verſchwunden, fieht alles eine Heine Weile wild 
und urweltlih aus. Plöhlid taucht eine ſchwache 
Borftellung von den unveltlichen Zeiten deutlicher in 
feinem Geifte auf und läßt ihn bis ins Innerfte er- 
ſchauern. Unwillfürlich denkt er jeht an jene Wald: 
menſchen, die in umberechenbaren, dijleren Zeiten 
bier lebten, — denn plötzlich fallt von einem ent 
fernten Punlt des Uſers ein langer baskiſcher Schrei, 
mit ſchauerlicher Fiftelftimme ausgefloßen, in die 
Nacht hinaus, der „Irrinkina“, die einzige Figentüm- 
lichkeit feiner Heimat, mit der er ſich niemals be» 
freunden konnte... In der ferne erhebt ſich jeht 
ein andres mißtönendes Geräufh: Eijengellirr — 
Pfeifen! ... Es ift der Zug von Paris nach Madrid, 
ber dort drunten, Binter ihm, im Dunkel des fran« 
zöſiſchen Ufers vorüberdampft... Und der Geift 
der alten Zeiten faltet jeine Schattenflügel zufammen 
und berichwindet, 

Nachdem das ſeelenloſe, eilige Ding vorüber 
gebrauft ift, lehrt allmählich die Stille wieder, aber 
der entflohene Geift kommt nicht zurück ... Endlich 
zeigt fi) dort drunten das von Ramuntcho und Flo⸗ 
rentino erwartete Boot, andern Augen als den ihrigen 
faum ſichtbar — eine Meine graue Maffe, winzige 
Wellen auf dem nadhthimmelfarbenen Spiegel Hinter 
ſich laſſend. Die Stunde ift übrigens gut gewählt, 


Ramuntdo. 585 


ed ijt die Stunde, zu der die Grenzjäger nicht jo 
wachſam find, die Stunde, zu der die Dunkelheit am 
tiefften jcheint, da die lehten Sonnenfirahlen und die 
des Mondes erloſchen und die Uugen der Menjchen 
nod nicht an die Finfternig gewöhnt find. 

Und nun nehmen fie ihre langen Stöde zur Hand, 
um die verbotene Ware zu holen, und treten beide 
Ihmweigend ins Waſſer. 

XIV. 

Für nächften Sonntag ift großes Balljpiel in 
Erribiague, einem entfernten Dorſe im Hochgebirye, 
angeſagt. Ramunicho, Arrochkoa und Florentino 
ſollen gegen drei berühmte Spanier ſpielen, und heute 
abend wollen ſie ſich einüben und auf dem Plahe 
die Arme gelenfig machen. Graziella und etliche 
andre junge Mädchen find gekommen, um zuzufchauen, 
und jeen ich auf die Granitjtufen — lauter hübſche, 
elegante Erſcheinungen in hellen, nach der neueften 
Mode geichnittenen Kleidern. 

Forlwãhrend lachen und kichern die jungen Mädchen, 
nur weil jie einmal angefangen haben zu laden, und 
ohne zu wiſſen warum. Gin Nichts, ein halbes 
Wort in ihrer alten, basliſchen Sprache, ohne den 
geringfien Anlaß von einer unter ihnen ausgeſprochen, 
— md fie können fich nicht mehr halten vor Lachen, 

In diefem Erdenwintel kliugt das Lachen der 
Mädchen jo Löfllich wie fonjt nirgends; kryſtallllar 
tönt es voller Jugendluft aus den frischen Kehlen. 

Arrochkoa war ſchon eine Zeitlang mit dem an— 
geihnallten MWeidenhandihuh da und ſchlug allein 
den Ball, den ihm herumftehende Kinder aufhoben. 
Ramuntho und Fplorentino aber, an was mochten 
fie denfen? Wie lang blieben fie aus! ... Endlich 
famen fie ſchwerfällig und ungeſchickt daher, die 
Stimmen voller Schweiß, und als die jungen, lachen— 
den Gejchöpfe fie mit dem jpöttifchen Ton anrebeten, 
ben die Mädchen, wenn ihrer mehrere beiſammen 
find, leicht dem Manne gegenüber anſchlagen, lächelten 
fe und jchlugen fi auf die Bruft, aus der es me— 
tallen Hang... Sie famen zu Fuß über die Pfade 
der Gizune aus Spanien, mit Rupfermünzen bes 
laden und behängt, auf welchen das Bildnis des 
Heinen Königs Alfonjo XII. geprägt war. Es war eine 
neue Schmugglerlif. Für Jtchoua Hatten fie dort 
drunten eine große Summe Silbergeld gegen Kupfer: 
geld mit Vorteil ausgewechielt, und diejes follte dann 
ju feinem richtigen Wert auf den nächſten Märkten 
in verjchiedenen Dörfern der Landes,“ wo ſpaniſche 
Rupfermünze Kurs hat, umgejeßt werben. 

Beide brachten in ihren Taſchen, ihren Hemden, 
auf der Haut je vierzig Kilo Kupfer. Ieht ließen 
fie alles wie einen Regen auf die alten Granitbänfe 


) Les Landes, der fandige Küftenftrich am Bislayiſchen 
Meerbufen zwiihen Gironde und Pyrenden, 
Aus fremden Zungen. 1897, II. 13, 


und baten diefe, die Münze zu behüten und zu 
zählen; nachdem fie jid) die Stirn getrocknet und 
etwas Atem gejhöpft, fingen fie an zu fpielen und 
zu jpringen und bewegten fich leicht und gewandt, 
da fie von der erbrücenden Laſt befreit waren, 

Außer drei oder vier Schulfindern, die gleich 
jungen Raben nad den gefallenen Bällen hüpften, 
waren nur die jungen Mädchen da, in Gruppen 
beifammen ſitzend auf den unteren Reihen der leeren 
Stufen, deren alte, rötliche Steine mit Frühlings— 
blumen und Gräfern überwucert waren. 

Mit ihren hellen Kattunfleidern, weißen oder 
rojafarbenen Taillen waren fie die ganze Augenweide 
des feierlich ernften Ortes. Neben Graziella ſaß 
Panichila Dargaignarag, eine andre fünfzehnjährige 
Blondine, die mit Graziellad Bruder, Arrochkoa, ver- 
lobt war und ihn ſchon bald heiraten jollte; denn 
als Sohn einer Witwe brauchte er nicht zu dienen. 

Die Balljpieler kritifierend und die ſchweren ſtupfer⸗ 
münzen aufftapelnd, Tachten und tufchelten fie in ihrem 
fingenden Tonfall, mit den fteten Endungen in rra 
und rrik, wobei fie in ſolch Iuftiger Weile jedes r 
roflten, daß es jeden Augenblid in ihrem Munde wie 
das Geräuſch flatternder Spahenflügel ertönt. 

Auch die jungen Leute waren froher Laune; bie 
und da famen fie heran und fehten fich unter dem 
Vorwand, auszuruhen, zu den Mädchen, 

Diefe ſchüchterten fie beim Spielen dreimal mehr 
ein als das Publikum der großen Tage, jo jpöttijch 
waren fie alle... 

Namuntho erfuhr hier von feiner Heinen Braut 
etwas recht Erfreuliches, das er nie zu hoffen gewagt. 
Sie hatte nämlih von ihrer Mutter die Erlaubnis 
erhalten, aud zu dieſem Feſte nad Erribiague zu 
gehen, dem Balljpiel beizuwohnen und die Gegend, 
die ihr unbelannt war, zu beſuchen. Es war aus—⸗ 
gemacht, daß fie im Wagen mit Pantdhifa und Frau 
Dargaignarak hinfahren und man fid) dort treffen 
follte, ja möglicherweife follten fie die Rückfahrt alle 
zuſammen machen. 

Beinahe zwei Wochen war es jebt her, daß ihre 
abendlichen Zufammenfünfte begonnen hatten, und es 
war das erſte Mal, daß Ramuntdyo wieder Gelegenheit 
hatte, fie bei Tag mit andern zu treffen; ihre Art, 
zuſammen zu verfehren, war nicht mehr diejelbe, fie 
war anjdeinend zeremonieller, mit einem fühen Ge— 
heimnis jedoch in ihrem tiefiten Innern. Schon 
lang aud) hatte er fie nicht jo genau im helfen Lichte 
gejehen, und fie jchien ihm bedeutend ſchöner ge= 
worden; ihre Taille runder und jchlanfer, ihre Hal— 
tung vornehmer. Immer noch hatte fie große 
Aehnlichkeit mit Arrohfoa, diejelben regelmäßigen 
Züge, dasjelbe ovale Gefiht; allein die Verſchieden— 
heit ihrer Augen trat flärfer hervor: die des Bruders 
waren von blaugrüner farbe, ſcheu und ausweichend, 

74 


586 


bie ihrigen dagegen mit ben ſchwarzen Bupillen und 
ſchwarzen Wimpern blidten jedermann feft ind Geſicht 
und vergrößerten fich dabei noch. Niemals hatte Ra— 
muntcho ſolch offene, innige Augen gefehen ; fie entzüdtten 
ihn, wenn fie ihn lang umd fragend anſchauten. Schon 
in ber Kinderzeit hatten ſich diefe Augen feiner Meinen 
Seele mit allen, was gut in ihm war, bemädhtigt... 

Die Ballipieler waren ſehr zeriireut angefichts 
ber Schar ber jungen Mädchen mit ihren weißen 
und roten Taillen, und lachten oft über fich jelbit, 
weil fie jo viel ungeſchidter ala gewöhnlich jpielten. 

lleber den Zuichauerinnen, Die nur einen win— 
jigen Pak im großen Amphitheater einnahmen, er— 
hoben ſich lange Reihen leerer Bänfe, dann die 
Häufer des friedlihen, weltabgejchiedenen Dorfes, 
und endlich die dunfle Maſſe der den ganzen Him- 
mel einnehmenden Gizune, die ſich mit den Dichten, 
an ihrem Abhang ruhenden Wollen vereinigte, une 
beweglichen, Harmlojen Motten, die nicht mit Regen 
drohten, turteltaubenfarbigen Frühlingswolfen, mild 
und rubig gleich der Luft an dieſem Abend. 
Und jebt, da der Tag ſich neigte, fing in einem 
Einihnitt, nicht jo hoch wie der alles beherrichende 
Gipfel, die Mondſcheibe an, ſich zu verfilbern. 

Eie jpielten in der Föftlichen Dämmerung bis zur 
Stunde der Fledermäuſe, bis zur Zeit, wo der Ball 
wirklich nicht mehr zu ſehen war. Vielleicht fühlten 
alle unwilltürlih, daß eine jo ſchöne Stunde nicht 
ſo leicht wiederfehre, und ſuchten fie jo lang als 
möglich hinauszuziehen. 

Schließlich machten fie fi auf, um Jthona die 
ſpaniſchen Kupfermünzen zu bringen. In zwei gleiche 
Teile geteilt, wurden fie in dide rote Servietten ge— 
legt, welche die Burfchen und Mädchen je an einem 
Zipfel trugen, und fo zogen fie friſch und fröhlich 
dahin, das Lied der Spinnerin fingend. 

Wie lang, wie licht, wie entzüdend war dieſe 
Aprildämmerung! Roſen und allerlei andre Blumen 
blühten vor den chrivürdigen weißen Häufern mit 
brannen oder grünen frenfterläden. Jasınin, Geiß- 
blatt und Lindenblüte verbreiteten ihren Duft. 

Für Graziella und Ramuntdho war e3 eine jener 
töftlichen Stunden, die man ſich jpäter im Moment 
des bangen, traurigen Erwachens mit zugleich herz- 
zerreißendem und entzüdendem Weh zurüdruft. 

O, wer e8 jagen fünnte, warum ed auf der Erde 
Frühlingsabende und jo ſchöne Augen giebt! — warum 
das fühe Lächeln der Mädchen! — warum den Gärten 
Blumendüfte entftrömen, wenn es Abend wird! — 
warum der ganze entzüdende Zauber des Lebens uns 
umgaufelt, da ja doch alles höhniſch, mit Trennung, 
Altersſchwäche und Tod endigen muß! ... 

XV. 

Am nähflen Tag, Freitag, treffen fie Anftalten 

zur Reife in das Dorf, in welchem am Sonntag 


Pierre Loti 


barauf das Feſt ftattfinden fol. Es Liegt jehr ent 
fernt in fchattiger Gegend, an der Biegung einer 
tiefen Schluht, am Fuße hoher Berge. Arrochloa 
ift dort zur Welt gefommen und hat die erften Mo— 
nate feines Lebens dort verbracht, die Zeit, da jein 
Vater als Brigadier bei den franzöſiſchen Grenz- 
jägern dort wohnte; Doch ift er noch ala Find von 
dort fortgefommen und hat nicht die geringfte Er 
innerung daran behalten. 

Im Heinen Wagen der Delcharry ſitzen Graziella, 
Panthifa und, mit einer langen Peitſche in der 
Hand, Frau Dargaignarak, ihre Mutter, melde 
futichiert. So fahren fie zufammen zur Dittagszeit ab, 
und über die Bergftraßen direft ans Ziel ihrer Reiſe. 

Ramuntcho, Arrochfoa und Florentino dagegen, 
die in St. Jean de Luz noch einige Schmuggler- 
geichäfte abzuwideln haben, machen einen Umweg 
und werden erjt in der Naht mit der Bahn nad) 
Erribiagne fommen, 

Heute find alle drei glüdtich und ſorglos; nic« 
mals ſaßen basliſche Barette über luſtigeren Gefichtern. 

Die Naht finkt herab, als fie mit dem Zug von 
Burguetta in das ftille innere Pand fahren. Die 
Wagen find voll von vergnügten Leuten, die, wie es 
jcheint, von einem Feſte fommen; die jungen Mäd— 
den mit dem feidenen Tuch auf dem Hinterlopf, bie 
jungen Männer in Wollbaretten; alle fingen, lachen 
und küſſen ſich. Troß der alles einhüllenden Duntel- 
heit find doch die blühenden Meihbornheden und 
die Heinen, ganz weißen Wälder von Nlazienblüten 
zu unterfcheiden. Im die offenen Wagen dringt ber 
ftarfe, würzige Waldduft. Und durch diefen weißen 
Blütenflor des April zieht der vorüberfaufende Zug 
gleihjfam ein Kielwaſſer der Luft Hinter ſich her, den 
Refrain einer alten navarrefiichen Weife, die immer 
wieder von vorn begonnen und von den Mädchen und 
Burſchen aus voller Stehle, mitten unter dem Getdie 
der Räder und des Dampfes, gefungen wird, 

Erribiague! An den Wagenthüren wird der 
Name laut ausgerufen, jo da die drei Freunde auf: 
fahren. Die fingende Schar ift ſchon früher aud- 
geftiegen und hat fie fajt allein in dem ftiller ge 
wordenen Zug gelaffen. Höhere Berge haben bie 
Nacht noch undurdhdringlicher gemacht, und faſt hat 
die jungen Leute der Schlaf übermannt. 

Ganz betäubt fpringen fie heraus; es ift jo dunlel, 
da jogar ihre Schmuggleraugen nichts unterjcheiden 
fönnen. Saum fieht man einige Sterne flimmern, 
fo jehr ift der ganze Himmel von den überhängenden 
Bergen eingenommen. 

„Wo liegt das Dori?* fragen fie einen Mann, 
der allein dafteht, um die Reiſenden zu empfangen. 
„Eine Viertelftunde von bier, dort rechts.“ 

In der That wird jeht das graue Band einer 
Straße fihtbar, das ſich aber alsbald wieder im 


Ramuntdo. 


Dunkel verliert. Und bei diefer großen Stille, in 
der friſchen Feuchtigleit diefer im Finſtern liegenden 
Ttäfer, begeben fie ſich lautlos auf den Weg. 

Ihre Fröhlichleit ift durch die düſtere Majeftät 
der die Grenze behütenden Höhen gedämpft. 

Sept überjchreiten fie auf einer alten Bogenbrücke 
einen Bad; und dann fleht das eingeſchloſſene Dorf, 
das fich durch fein Geräufch mehr.verrät, vor ihnen, 
Das Wirtshaus, in dem nod) eine Lampe flimmert, 
ift nicht weit entfernt und liegt an den Berg gelehnt 
neben dem rauſchenden Bad). 

Man führt fie dort gleich in ihre Heinen Zim— 
mer, die ehrbar und jäuberlich ausfehen, trotzdem 
fie uralt, niedrig und durch die ungeheuren Ballen 
gebrüdt find; an den weißgetündhten Wänden hängen 
Chriſtus⸗ Madonnen- und Heiligenbilder. 

Zum Abendeflen fteigen jie wieder in den am 
Eingang gelegenen Saal herab, wo zwei oder drei 
altfräntijh gelleidete Alte fen, mit breiten Gürteln 
und in ſchwarzen, jehr kurzen Kitten mit taujend 
Falten, Arrochloa, der fih auf jeine Familie etwas 
einbifdet, kann die Frage nicht unterlaffen, ob fie 
einen gewiſſen Detharry gefannt, der früher als 
Grenzjäger, vor eiwa achtzehn Jahren, hier war, 

Einer der Alten, den Kopf vorbeugend und Die 
Hand über die Augen haltend, ſieht ihn ſcharf an: 

„O, ih wette, Sie find fein Sohn, Sie jehen 
ihm auffallend ähnlich... Detharry! und ob id) 
ihn fannte, und mich feiner erinnere! Er nahm mir 
jur Zeit mehr als zweigundert Ballen Ware ab; 
doch das ift ſchon lang her — hier, reihen Sie mir 
Ihre Hand, obgleich Sie fein Sohn find.“ 

Und der alte Echmuggler, der jeinerzeit Anführer 
einer Bande geweſen iſt, drüdt ohne Groll, mit 
Wärme beide Hände Arrochloas. 

Detcharry ift nämlich in Erribiague noch immer 
berühmt wegen der Verjchlagenheit und Schlaubeit, 
womit er jo ojt den Schmugglern ihre Waren ab» 
nahm, Mit diejen erwarb er ſich jpäter ein Meines 
Vermögen, das jeht Dolores und ihren Kindern zu 
gute fommt. 

Arrochloa wirft fihd in die Bruft, indes Ra— 
muntcho den Kopf ſinken läßt, denn jchmerzlich fühlt 
er feine Herkunft, er, der feinen Bater hat... 

„Sind Sie vielleiht auch beim Zoll, wie Jhr 
feliger Vater?” fragt der Alte ſchalkhaft. 

„D nein, das gerade nicht, im Gegenteil jogar... .* 

„Ah jo!... Verftanden!... da reichen Sie 
mir nochmals Ihre Hand! Sehen Sie, das rächt 
mid an diefem Detcharry, daß fein Sohn gleich) 
uns ein Schmuggler geworden iſt.“ 

Sie beftellen nun Apfelwein und trinfen zuſam— 
men, indeſſen die Alten ihre Abenteuer und Schliche 
aus ehemaliger Zeit, Nachte und Gebirgsgefhichten, 
erzählen. Ihr Dialekt ift nicht der gleiche wie in 





587 
Etchézar, wo ſich die Sprache deutlicher, ſchärfer aus— 
geprägt, vielleicht reiner erhalten hat. Ramuntcho 
und Arrochkoa verwundern ſich über dieſe Ausſprache 
des Hochgebirgs, die weicher und ſingender iſt. Die 
weißhaarigen Männer lommen ihnen wie Fremde vor; 
ihr Geplauder klingt wie eine Reihenfolge eintöniger, 
jtets wiederholter Strophen, ähnlich den alten Klage— 
liedern. 

So oft fie zu reden aufhören, dringt aus dem 
friedlichen, Fühlen Dunkel draußen das leiſe Ge» 
murmel der Nacht. Grillen zirpen, am Fuß der 
Berge rauſcht der Bad, und von den riefigen, mit 
dichtem Blätterwerl überwachlenen, quellenreichen 
Höhen hört man die Waſſer herabträufeln. 

Das Heine, eng eingeichloffene und abgeſchie— 
dene Dorf in der tief ausgehöhlten Schlucht ſchläft, 
und man hat das Gefühl, als fei hier die Nacht 
dunkler und geheimnisvoller als anderwärts, 

„Mein Gott!” jagt endlich der alte Schmuggler, 
„Zolldienſt und Schmuggel haben im Grunde viel 
Hehnlichteit miteinander. Beiderſeits gilt's, die 
andern zu überliften und der Kühnſte zu fein — 


nicht wahr? Ich finde fogar, daß ein entſchloſſener 


und ſchlauer Grenzjäger, wie Ihr Vater zum Bei— 
jpiel einer war, ebenjoviel gilt wie der nächſtbeſte 
ber Unſrigen.“ 

Es erſcheint jeht die Wirtin und bedeutet fie, daß 
es Zeit jei, das Licht auszulöfchen — das letzte noch 
fladernde Licht im Dorfe. Die alten Schmuggler 
gehen fort. Ramuntcho und Arrochloa fteigen in 
ihr Zimmer hinauf, legen fi und jhlafen unter 
fortdauerndem Grillengezirpe und dem Rauſchen des 
fließenden oder herabriejelnden Waſſers ein; Ra— 
muntho glaubt, wie in feinem Haufe in Etchézar, 
während jeines Schlafes ein undeutlihes Schellen- 
gebimmel am Halje der Kühe, die fi) unter ihm im 
Stulle bewegen, zu vernehmen. 

XVI. 

Jeht öffnen ſie am ſchönen Aprilmorgen die 
Läden der ſchmalen Fenſter, die wie Stückpforten in 
die dicken, uralten Mauern gebrochen find. 

Ihre Augen find plößli von ganzen Fluten 
Lichts geblendet. Draufen glänzt und leuchtet der 
Frühling. Niemals haben fie jo hohe Berge in 
nächſter Nähe gejehen, wie fie jeht dort über ihren 
Häuptern ſich erheben, Längs der bufchhededten Ab- 
hänge, längs der braun bewachienen Höhen gleitet 
die Sonne herab und ftrahlt in diefem tiefen Thal« 
grunde über das weiße Dorf, über die alten Häuſer 
mit den grünen Fenſterläden. 

Beide erwachen mit Jugendluſt und Freude, 
Sie haben nämlich für diefen Morgen geplant, dort 
drunten im einjfamen Haufe der Vettern der Frau 
Dargaignarak die zwei Mädchen, die geflern im 
Wagen ankamen, zu beſuchen. 


588 


Nachdem fie einen Blid auf den Spielplaf, wo 
jie ſich des Nachmittags einüben wollen, geworfen, 
begeben fie fih auf den Weg über prächtig grüne 
Pfade, die ſich im tiefften Grunde des Thales, längs 
friiher Bäche verſtecken. Ueberall ſchießen Digitalis- 
blüten gleich Tangen , rofafarbenen Raketen aus der 
unabjehbaren Menge der Farnen hervor. 

Das Haus der Vettern Olhagarray ſcheint weit 
entfernt zu liegen, und von Zeit zu Zeit bleiben lie 
ftehen, um vorübergehende Hirten nad) dem Weg zu 
fragen, oder jie Hopfen an die Thür irgend einer 
der einſamen Behaufungen, die hie und da unter 
den Bäumen ſtehen. Niemals haben fie ſolch alte 
Bastenhäufer gejehen, wie dieje hier im Schatten der 
großen Saftanien. 

Sie fommen dur ſellſam eingeengte Schluchten. 
Noch höher als die überwölbenden Eichen- umd 
Buchenwälder jind büftere, unbewachſene Gipfel fiht- 


bar, eine rauhe, lahle Region von dunfelbramer | 


Färbung, die in den tiefblauen Himmel ragt. 


Hier unten jedoch ift eine gejchüßte, mooſige | 


Melt, tiefes Grün, das die Sonne nie verdorrt, und in 
dem der April jeinen frijchen, reihen Schmud veritedt. 

Aud) die zwei, die auf diefen von Digitalis und 
Farnen umſäumten Pfaden dahinwandern, nehmen 
ihren Anteil an der Yenzespradht. In ihrer Freude, 
hier zu fein, und unter dem Einfluß dieſer von der 
Zeit nicht berührten Gegend erwachen nad) und nad) 
tief in ihrer Seele Jagd» und Zerftörungsgelüfte, 
Arrochloa beſonders hüpft erregt von rechts nad 
liuls, entwurzelt Gräſer und Blumen oder bricht fie 
ab, ſucht nah allem, was ſich umter dem grünen 
Blättern regt, nach den Eidechien, den Vögeln und 
den Schönen, im hellen Waffer ſchwimmenden Forellen. 
Er hüpft und Läuft, wünscht fich Fiſchergeräte, Stöcke 
oder eine Flinte, Die MWildHeit des richtigen Naturs 
tindes tritt in ihm zu Tage, die Triebfraft feiner 
blühenden achtzehn Jahre. Ramuntho dagegen wird 
bald wieder ruhig. Er bricht nur ein paar Zweige 
ab, reißt eine Handvoll Blumen aus, und ſchon 
fängt er wieder an, ji) zu ſammeln, wird nachdenk- 
ih und träumeriſch .. . 


Jetzt bleiben fie an einem Kreuzweg im Thale | 
fiehen, — es ift eine jlille, einfame Stelle, wo feine | 


menschliche Wohnung zu emideden if. Ringsum 
dunlle Schluchten, in welchen ſich mächtige Eichen 
übereinandertürmen, und über ihnen ſchwere Berg: 
mailen von rotbrauner, jonnenverbrannter Färbung. 
Nirgends ein Zeichen der Neuzeit, völlige Stille, ur- 
weltlicher Friede. 

Sie erheben die Köpfe zu den braunen Höhen 
und entdeden in weiter Ferne dort droben Menſchen, 
die auf unfihtbaren Wegen dahinwandeln, Feine 
Schmugglerejel treibend. Die ftillen Wanderer am 
Abhang des riefigen Berges, winzig, gleich Injelten, 








Pierre 2oti. 


in diefer Entfernung, find Baslen; von bier aus 
betrachtet find fie faft einä mit der roten Erde, aus 
der jie hervorgegangen find, und in Die fie wieder 
zurüdfehren, nachdem fie wie die Vorfahren gelebt, 
ohne von dem Leben unfrer Zeit, von andermärtigen 
Dingen etwas zu ahnen... 

Arrocdhfoa und Ramuntcho ziehen ihre Baretie 
ab, um ji die Stirn zu trocknen; es ift jo heiß in 
der tiefen Schlucht, und fie jind jo gelaufen und 
berumgehüpft, daß ihnen der Schweiß am ganzen 
Körper niederperlt. Obgleich ihr Weg kurzweilig if, 
jo möchten fie doch bald bei den zwei blonden Mäd— 
chen fein, die jie erwarten. Wen aber nad dem 
Weg fragen, da niemand bier zu ſehen ift?... 

„Ave Maria!” ſchreit neben ihnen im Dichten Buſch⸗ 
werf eine alte, heifere Stimme; und fie fährt fort, 
eine ganze Reihenfolge von Wörtern, die immer 
leifer werden, raſch, raſch herzuplappern: ein bas- 
tiſches Gebet. 

Aus den Farnen tritt jet ein alter Bettler, erd⸗ 
fahl, ftruppig, grau, auf feinen Stod gebeugt, wie 
ein Waldmenſch ausfehend. 

„Ja!“ jagt Arrochloa, die Hand in die Taſche 
ſteckend; „allein um unfer Almofen zu verdienen, 
mußt du uns bis zum Haufe Olhagarray führen.“ 

„Das Haus Olhagarray?” entgegnet ber Alte. 
„Ei, da komme ich gerade her — und, meine lieben 
Jungen, ihr ſteht gerade davor.“ 

Fürwahr, wie ift es möglich, daß fie den laum 
hundert Schritte entfernten ſchwarzen Giebel zwiſchen 
den Kaſtanienzweigen nicht geiehen ? 

An einer Stelle, two es um die Schleufen ſchäumt und 
brauft, fteht das alte, große Haus zwiſchen hundert: 
jährigen Bäumen, mit dem Fuße im raujchenden Bade. 

Ningsum ift die rote Erbe fahl und vom Ge- 
birgswaſſer unterwühlt. Ungeheure Wurzeln winden 
ſich gleich rieſigen grauen Schlangen drüber hin, 
und der ganze von den pyrengiſchen Höhen «in 
geſchloſſene Plaß ift unfreundfic und finiter. 

Allein dort ſitzen zwei junge Mädchen im Schatten, 
mit blondem Haar und rofafarbenen Blujen ; wunder: 


‘ bare, jehr moderne feine Feen mitten in der alten, 


wilden Landſchaft . . . Sie erheben fich mit jreudigem 
Ruf und laufen den Anlömmlingen entgegen. 

Freilihh wäre es pallender geweien, vor allen 
Dingen ins Haus zu treten und die Alten zu be 
grüßen, Die jungen Leute jagen ſich jedoch, daß 
man fie wahrfcheinlich nicht gefehen, und beide 
fangen lieber damit an, ſich an den Rand des Baches 
auf die großen Wurzeln zu jehen, jeder neben feine 
blonde Braut. Zufällig richten es Die Paare jo ein, 
daß jie fich gegenjeitig nicht flören, und bleiben eines 
vor dem andern hinter Felſen und Zweigen veritedt. 

Nun fangen jie ganz leife an zu flüftern, Arrod)- 
foa mit Pantchila, Ramuntcho mit Graziella. 





—— — 


Ramuntdo. 589 


Was haben fie ſich nur alles zu jagen, daß fie ' 


io viel, jo eilig reden müjlen ? 

Obgleich ihr Dialet nicht jo fingend wie der des 
Hochgebirges ift, worüber fie jich geitern verwunderten, 
jollte man dennod glauben, rhythmiſch jfandierte 
Strophen zu hören — eine unendlid ſüße Mufik, 
bei welcher die Stimmen der jungen Leute janft wie 
eine Kinderſtimme werden. 

Was haben fie ſich nur alles zu jagen, daß fie 
jo viel, jo eilig am Rand des Bades, im wilden 
Hohlweg, umter der heißen Mittagsjonne plaudern ? 
Mein Gott, es ift faum viel Sinn darin, «8 ift 
nichts als ein dem Liebenden eignes Geflüfter, ehva 
wie das Teile Gezwiticher der Schwalben, wenn fie 
ihre Nefter bauen. Es iſt kindiſch, unzufammen- 
hängend und mit Wiederholungen durchwebt. Nein, 
es bat faum viel Sinn, — wofern es nicht das 
Höchſte auf der Welt ift, das Tieffte und Wahrite, 
was ſich mit menjchlichen Worten ausſprechen läht... 
63 bedeutet nichts, — wofern es nicht die ewige, 
wunderbare Hymne iſt, für die allein die Sprache 
der Menfchen und Tiere gejchaffen wurde, und neben 
der alles andre hohl, erbärmlich und eitel iſt ... 

Es iſt drüdend Heiß in der von allen Seiten 
eingeſchloſſenen Schlucht. Trotz des Schattens ber 
Kaftanien brennen dennoch; die von den Blättern 
gedämpften Strahlen, und der fahle, rotjteinfarbige 
Boden, daS altertümliche, unfern ftehende Haus, die 
alten Bäume machen das Bild der ganzen Um— 
gebung etwas rauh und unfreundlich. 

Niemals hat Ramuntcho ſeine Heine Freundin 
ſo roſig geſehen; auf ihren feinen, durchſichtigen 
Wangen liegt die friſche Röte des geſunden Blutes 
— ſie iſt roſig wie die Blüte der Digitalis. 

Mücken und Fliegen ſummen um ihre Ohren, 
und jeht hat ſogar eines dieſer Tiere Graziella ge— 
ſtochen, — faſt auf den Mund, oberhalb des Kinns, 
und ſie verſucht, mit ihrer lleinen Zunge dort hin— 
zulommen, mit den oberen Zähnen die jchmerzhafte 
Stelle zu fragen. 

Ramuntdo, der dies jo nahe ficht, allzu nahe, 
fühlt ſich plöglich erichlafft, und um fich aufzumun— 
tern, redt und dehnt er ungeflüm die Arme, wie 
einer, der eben erwacht. 

Das junge Mädchen beginnt von neuem, ba ihre 
Lippe fie fortwährend judt, — und Ramuntcho redt 
wieder die Arme, indem er den Rumpf zurüdiehnt. 

„Bas haft du, Ramuntcho, dab du dich dehnft 
und ftredft wie eine Katze? ...“ 

Als aber Graziella zum dritten Male jih an 
berjelben Stelle beißt und noch einmal die Heine 
Spike ihrer Zunge hervorftredt, beugt ſich Ramuntcho 
nieder, von einem unwiderſtehlichen Verlangen er» 
griffen — aud er pickt mit den Zähnen an die 
Stelle, wo die Müde fie geflohen, und zieht die 


frische Lippe Teicht in jeinen Mund, wie eine hübjche 
rote Frucht, die man genießt, doch ängſtlich bejorgt, 
fie nicht zu zerbrüden ... 

Eine Weile bleiben fie ftumm, es durchſchauert 
fie Schreden und Wonne ... Graziella zittert am 
ganzen Körper, fie hat bei diejem Kuß Ramuntchos 
ſchwarzes Schnurrbärtchen an ihrer Lippe gejpürt. 

„Bift du mir böfe — ſag?“ 

„Nein, Ramuntcho, o nein, ich bin nicht böſe ...“ 

Und er, von hefliger Liebe erfaßt, beginnt von 
neuem; und in der warmen, drüdenden Luft geben 
fie fich zum erſtenmal in ihrem Leben lange Liebesküſſe. 

’ XVII. 

Am nächſten Morgen, Sonntag, waren ſie alle 
andächtig zur Frühmeſſe gegangen, und an demt- 
ſelben Tag gleich nad dem Ballfpiel follten fie ab» 
reifen, um Etchézar noch vor der Nacht zu erreichen. 
Nun war e3 diefe Rücklehr bejonders, mehr noch als 
das Spiel, welche Ramuntcho und Graziella beichäf- 
tigte, denn wie jie gehofft, blieben Pantchila und 
ihre Mutter in Erribiague, und jie follten in dem 
fleinen Magen, ganz nahe beifammen jikend und 
unter der nachfichtigen und oberflädlichen Beaufs 
ſichtigung Arrochkoas, heimfahren. Fünf bis ſechs 
Stimden Fahrt, alle drei allein, über Frühlingäwege, 
unier neuem Grün und mit fröhlicher Naft in un« 
befannten Dörfern. 

Schon um elf Uhr des Morgens füllten ſich die 
Zugänge des Platzes mit Gebirgsieuten, die von 
allen Seiten, von den Höhen, von allen wilden 
Dörfern ringsum Herbeigelaufen famen. Es war 
eine internationale Partie, drei franzöſiſche Ball- 
jpieler gegen drei jpanifche, und in der VBerjammlung 
ſah man befonbers ſpaniſche Basken, — ja, jogar 
Männer mit breiten Sombrerog, mit Jaden und 
Gamaſchen aus vergangener Zeit. 

Die durch das Los beftimmten Richter beider 
Nationen begrüßten jich mit altfränlifcher Höflichkeit, 
und die Partie begann unter großer, fliller Er— 
wurtung, unter drüdender Sonne, welche die Spieler, 
trogdem fie die Barette wie ein Schild über die 
Augen drüdten, belüftigte, 

Bald jauchzte die Menge Ramuntcho und nad 
ihm Arrochkoa zu; fie waren die Sieger des Tages, 
Von allen Seiten ſchaute man die zwei Meinen, jo 
aufmerkjam zufehenden fremden Mädchen an, die jo 
hübſch in ihren rofafarbenen Taillen ausjahen; — 
man raunte ſich zu: „ES find die Bränte der beiden 
guten Spieler.“ Graziella, die alles hörte, war flolz 
auf ihren jungen Bräutigam, 

Zwölf Uhr. Sie fpielten ſchon fait eine Stunde, 
Die alte Mauer mit dem abgerundeten Gicbel und 
dem gelben Anſtrich war riſſig vor Trodenheit und 
Hitze. Die großen Gebirgsmaſſen, hier noch näher, 
noch erdrüdender und höher als in Elchzar, ragten 


590 


ringsum über die Heinen, menschlichen Gruppen em— 
por, die fich in ciner tiefen Falte ihrer Abhänge 
bewegten. Die Sonne fiel ſenkrecht auf die ſchweren 
Barctte der Männer, auf die unbebedten Köpfe ber 
Frauen, dad Gehirn erhigend und die Begeifterung 
verflärfend. Die leidenſchaftliche Menge ſchrie, und 
die Bälle flogen bin und her, als die Betglode leiſe 
anfing zu erklingen. Ein alter, narbiger, jonne« 
verbrannter Dann, der dies Signal erwartete, fehle 
feine Trompete an den Mund — jeine alte afrika— 
nijche Zuaventrompete — und blies zum Gebet. 
Alle ſitzenden frauen erhoben fi, alle Häupter der 
Männer eniblößten ſich, das gejamte Volk machte 
das Zeichen des Kreuzes, indefien die Balljpieler 
mit fchweißtriefender Bruft und Stirn im heißeften 
Moment der Partie unbeweglich ftehen blieben und 
andächtig den Kopf zur Erde neigten. 

Schlag zwei Uhr war das Spiel glorreich für 
die Franzoſen beendigt. Arrochkoa und Ramuntcho 
ftiegen in ihren Meinen Wagen, und die jäntliche 
Jugend aus Erribiague begleitete fie und jauchzte 
ihnen zu. Graziella nahm zwiſchen beiden Plahz, 
und fort ging's auf die lange, ſchöne Fahrt, die 
Taſchen voll von dem gewonnenen Golde, von ber 
Freude, dem Lärm und der Sonne beraujdt. 

Ramuntcho, dem die Erinnerung der geftrigen 
Küffe geblieben war, hatte große Luft, vor der Ab» 
fahrt den Leuten zugurufen: „Die Seine, die ihr hier 
jo ſchön vor euch ſeht, gehört mir. Ihre Lippen 
find mein. Geftern preßte ich die meinigen auf die 
ihrigen, und heute abend werde ich e3 wieder ihun... .“ 

Sie fuhren ab und befanden fid) bald wieder in 
ftiller, ruhiger Umgebung in den jchattigen Thälern, 
jwijchen den mit Digitalis und Farnen bewachjenen 
Bergwänden ... 

Stundenlang auf den ſchmalen pyrenäiſchen 
Wegen zu fahren, fajl täglich) anderswo zu jein, das 
baskiſche Land nad allen Seiten zu durchkreuzen, 
von einem Dorf zum andern zu wandern, heute 
wegen eines Feſtes, morgen wegen eines Grenz— 
abenteuers — darin beftand jetzt Ramuntchos Leben, 
Ein wanderndes Dafein, bei Tag durch Balljpiel, 
bei Nacht durch Schmuggel ausgefüllt. — 

Bald ging's bergauf, bald bergab, mitten in der 
grünen Pracht. Fajt unberührt ſchienen hier die 
Eichen: und Buchenwälber, wie fie ehemals in fliller 
Vorzeit waren, 

Wenn fie an irgend einer altertünlichen, in dieſer 
Baumeinöde verirrten Behaufung vorüberfamen, 
fuhren fie langjamer, denn es machte ihmen DBer« 
gnügen, über den Thüren die traditionellen, in ben 
Granit eingehauenen Juſchriſten zu leſen: 

„Ave Maria! Im Jahre 1600, oder im Jahre 1500, 
hat der und der, ausdem und dem Dorfe,diejed Haus ge⸗ 
baut, um dort mit der und der, jeiner Ehefrau, zu leben.“ 


Pierre Loti. — Ramuntdo. 


Weit von jeder menfhlichen Wohnung, an der 
Biegung eines Hohlwegs, begegneten jie einem 
Händler mit Heiligenbilbern, ber fi) die Stimm ab» 
troduete. Er hatte jeinen Korb auf die Erde geieht. 
Diejer war mit wertlojen Heiligenbildern in Gold— 
rahmen angefült, weldhe die Basen gern zur Aus— 
Ihmüdung ihrer weißgelündgten Wände faufen. Der 
Mann ftand erfhöpft von Hihe und Müdigkeit in 
den Farnen. Graziella wollte abfteigen und ihm 
ein Muttergottesbild ablaufen, 

„Es ift für fpäter,” fagte fie zu Ramuntdo, „für 
unjer Heim, als Erinnerung.” 

Und das buntfarbige Bid in goldnem Rahmen 
fuhr mit ihnen weiter unter den langen, grünen 
Baumgängen ... 

Sie jhlugen nun einen Umweg ein, denn fie 
wollten durd) ein gewiſſes Kirfchenthal fahren, nicht 
daß fie hofften, jebt Schon, im April, reife Kirſchen 
dort zu finden, jondern nur, um dieſe im ganzen 
Lande bewunderte Gegend Graziella zu zeigen. 

Es war jchon beinahe fünf Uhr und die Sonne 
dem Untergang nahe, als jie dorthin famen. ine 
ſchattige, flille Landſchaft, wo in dieſer Zeit die 
Dämmerftunde einſchmeichelnd über die Pracht der 
Blüten und des jungen Grüns berabftieg, Die 
Luft war friih und angenehm, Afazienblüten und 
friſches Gras dufteten lieblich. Ringsum ſchloſſen 
die Berge, die beſonders gegen Nerden hoch hinauf- 
ragten und das Klima jo mild geflalteten, das Thal 
ein und warfen über das Ganze die geheimnisvolle 
Melandolie eines verborgenen Ebene, 

Als die Kirſchbäume in Sicht kamen, waren alle 
drei nicht wenig überrafcht, ſie ſchon jet, am zwan- 
jigften April, ganz rot zu finden, 

Niemand war auf diefen Megen zu fehen, über 
welche die großen Bäume ihre forallenroten Zweige 
auß&breiteten, 

Hie und da nur ftanden einige noch unbewohnte 
Sommerhäuschen, etliche vernadläjiigte Gärten, 
von hohem Gras und wilden Rojen überwuchert. 

Das Pferd mußte nun im Schritt gehen; fie 
ließen ihm die Zügel und ftellten ich, eins nad) dem 
andern, in den Wagen ; e8 beluftigte jie, Kirſchen im 
Vorüberfahren vom Baume zu eſſen. Nachher jtedten 
fie ganze Büſchel in die Knopflöcher und befeftigten 
am Kopf des Pferdes, am Sattelzeug, an der Las 
terne große Zweige; — 18 war, als ob der Wagen 
zu irgend einem frendigen Jugendfefle geſchmückt wäre. 

„Seht aber eilig vorwärts!” bat Graziella, „dus 
mit wir noch vor der Naht anlommen und die Leute 
in Eichezar unfer ſchön verziertes Fuhrwerl ſehen.“ 

Namuntdho aber dachte bejonders bei dieſer her- 
einbrechenden Dämmerung an die Zufammentunft 
am Abend, an die Küſſe, die er ihr, wie geitern, 
geben wollte, (Bortichung folgt.) 





Yiener. 


Vier Porlräts 


bon 


3. A. Gontfcharom. 
Aus dem Ruffifchen überlegt von A. Olfchwang und K. Kryzanowski. 





II. 


Anton. 


Der Diener, der an Stelle Valentins proviſoriſch 
bei mir eingetreten war, erklärte mir nad) drei Tagen, 
nicht länger bleiben zu lönnen, da fein Here vom 
Sande zurüdfehre und er jeinen Dienft wiederum 
aufnehmen müſſe. Er veriprad mir einen andern 
Diener zu ſchicken, einen Freigelaſſenen, der kürzlich 
vom Dorfe hereingelommen ſei. 

„Wer ift er? Kein Menſch kennt ihn hier. Kann 
ih ihn fo ohne Empfehlung nehmen?” fragte ic) 
zweifelnd, 

„Er bat im Freihaus feine eigne Ede gehabt, 
bevor er in Stellung ging. Dort empfiehlt man 
ihn. Er ſoll ein ruhiger, unverborbener Burſch fein, 
jo ein rechter aus dem Dorf. Er ift fräftig gebaut. 
Heißt Anton.“ 

„Run gut!“ 

Des andern Tags jchidte er mir einen Menſchen 
von folofjaler Größe, etwa fünfundvierzig Jahre alt, 
brünett, mit dichtem, bufchigem Haar, langen, ftarfen, 
musfulöjen Armen und ebenjoldden Beinen, Er ftedte 
in einem langen, weiten, unförmlichen Kittel, der 
offenbar nicht für ihn geichmeidert worden war, und 
blieb wie feftgemauert an der Thür ftehen. So jchaute 
er demütig, faft ängftlich vor fi) hin mit einem 
übrigens jlumpfen, apathiſchen Blid, aus dem fein 
Strahl, ja nicht einmal ein Funke von innerem Licht 
feuchtete. 

„Du heißt Anton? Bift aus dem Dorfe?“ 
fragte ih, während id) feinen Pak durchſah. 

„Zu dienen!“ antwortete er demütig, mit leijer 
Stimme. „Habe bei der Herrſchaft gedient uud bin 
jeßt freigelafien auf Zins.* 

„Als was haft du gedient?“ 

„Bei Tiſch. Bin auch mit den Herrichaften zu 
Beſuch gefahren — aud beim Jagdweſen —“ 

„Du bift aljo ein guter Schühe ?* 

„Das mieder nicht. Wild geſchoſſen haben 
bei ung andre — jelbe haben beim Hunde» 


wejen gedient — aber ich mehr, was die Wölfe an- 
betrifft —” 

„Wölfe? Giebl's ihrer denn viel bei euch?” 

„O, ſchwer viel in unſerm Bezirk, Alles voll 
Wald, und da haben fie ſich vermehrt — viel Vieh 
zerriffen. Da hat der Herr unſer drei geichidt — 
handfeſte Leut' miteinander” — er fireifte mit einem 
kurzen Blid feine Fäuſte und jhüttelte fie ein wenig — 
„und mit uns fünf Bauern, eher. noch handſeſter — 
zu den Wölfen —* 

„Man hat euch doch aber mit Flinten geſchickt, 
nicht mit bloßen Händen ?* 

„Beileibe niht! Mit Knüppeln —* 

„Wie? Auf Wölfe mit — ?* 

„Zu dienen! Wie man hört, daß Wölfe zus 
gelaufen find, jidt man uns mit Neken, Wir brei 
Mann jtellen die Nee auf und warten. Jetzt fängt 
man brüben auf der andern Seite an und jchrect 
fie mit Klappern und Pfeifen — fie rennen, ala ob 
ihnen der Balg brennen thät', wirren ſich in Die Nebe, 
und wir mit unjern Snüppeln empfangen fie — jo —“ 

Er redte jeine Fäuite und ſchwang fie wie zwei 
BDlöde, der echte Ilja Muroweß:*) „wo der hin— 
ichlägt, geht ein Glied weg.” 

Nun, dachte ich bei mir, wenn er nicht mich felbft 
mit dem Knüppel empfängt, wirb er mir eine zu— 
verläfjige Haus und Leibwache abgeben. Einer wie 
der wird mit einer ganzen Diebsbande fertig. 

„Wie war dad mit den Wölfen?" fragte ic) 
weiter. „Habt ihr fie gleich getötet?“ 

„Jawohl! Man muß nur auf den Kopf zielen, 
jonft, wenn man auf einen andern Fleck — jo wird 
er nicht gleich hin rennt herum — und dann, paß 
auf, wird er durchs Neb gleid) einen zerreißen.” 

„Sind auf deinen Teil viel Wölfe gekommen?“ 

„D, viel! Ich Hab’ ihrer vielleicht ein halbes 


) Sprihwörtlih. Ilja Muroweh eine Art von ruſſiſchem 
Herkules. 





592 J. A. Gontfharom. 


Hundert totgeſchlagen. So weit hab' ich gezählt, 
dann hab' ich die Rechnung verloren.“ 

„Nun, ſchön! Bleib bei mir, und wenn Wölfe 
fommen, fo jollit du fie tüdhtig ---” 

„Was denn für Wölfe — bier?“ verjehte er naiv 
und wollte lächeln, brachte es aber wicht zuwege. 

„Bon einer andern Gattung!” fagte ih. „Die 
hiefigen Wölfe ſchleichen ih in die Speicher und 
dringen in Kommoden, Schränfe und Tiſche.“ 

Ich behielt ihn alfo bei mir, und er begann me— 
chaniſch feinen Dienft zu verrichten, der übrigens 
feine großen Anſprüche an ihn ftellte. Dabei hatte 
er troß aller Schwerfälligfeit etwas Leiſes, Weidhes, 
Behutſames in feinen Bewegungen und ſchlich auf 
feinen breiten Sohlen umher wie eine Katze ober 
vielleicht auch wie ein Wolf. Unhörbar räumte er, 
während id) fchlief, in den Zimmern auf, brachte Holz 
herein, e3 jorglih an die Bruft drüdend, ala 06 die 
Scheite feine leiblichen Kinder wären, und fchichtete 


dann Stüd um Stüd beim Ofen auf mit der Acht | 


jamfeit einer Mutter, die ihr Kleines in die Wiege 
beitet. Er legte fie hin wie Flaumfederchen; niemals 
verurſachte eins der Scheite ein Geräuſch, niemals 
erlaubte er fich, mich anzureben, und antwortete mir 
nur leife und ſchüchtern. 

„Hinter dein ſteckt etwas, aber was?” fragte id) 
mid), nicht ohne eine gewiſſe Bejorgnis, indem ic) 
ihm mit den Augen folgte, wenn er leije wie ein 
Schatten durch die Zimmer glitt, 

„Trinkſt du nicht, Anton ?” fragte ich ihn einch 
Tages in aller Freundſchaft. 

Er ſchwieg ein Weilden. 

„Heutzulag trintt auch ein Huhn,“ antwortete 
er dann ausweichend, . 

„Nun, wenn's nicht mehr ift, hat's feine Ge— 
fahr — * 

IH kam nicht dazu, meinen Sa zu vollenden, 
da Anton in feine Kammer entjchlüpfte, um, wie er 
fagte, eine Bürfte zu holen. 

Moden und Monate vergingen. Ich entdedte 
nichts „Hinter ihm“ und war innerlich froh, einen 
jo ruhigen, accuraten Diener zu haben, 

Allerdings bemerkte ich dann und wann fleine 
Ungebörigfeiten, und zwar von jener gewiſſen Art, 
wie man fie namentlich an Gutsleibeignen beobachten 
fann, Ich fpeifte damals nicht zu Haufe, aber id) 
frühftücdte mandmal da, das heißt ich nahm Thee 
mit irgend etwas Kaltem: Käje, Kaviar und ders 
gleichen. 

Eines Tages erſuche ich Anton, mir den Thee 
zu bringen und dazu den Käſe oder Kaviar, dei von 
geftern übriggeblieben war. 

„Gleich!“ jagt er und geht an? Büffet. Nach 
einer Weile fommt er zurüd, „Rein Käſe da!” jact 
er leiſe. 





„Mo it er denn? Geſtern ift doch nod ein 
großes Stüd übrig geblieben !* 

„Ih — habe — ihn verwendet,” jagt er, ber 
Ihämt die Augen niederſchlagend. 

Ebenjo ging es an andern Tagen mit dem Kaviar, 
mit dem falten Fleiſch und den Sardellen, Fragte 
man ihn danad), jo ging er zunächſt, als wolle er 
nachſehen. Dann ſagte er leije: „Verwendet!“ 

Ich genierte mich, ihm ehwas darüber zu fagen, 


daß diefe Verwendung nicht am Plabe jet. Vielleicht 


vervolftändigte er jeine ärmlichen Mahlzeiten, die er 
in irgend einem Heinen Laden oder bei einem Speije- 
wirt in der Nahbarichaft einnahın, durch dieje Ueber 
bleibfel meines Frühſtücks. So dachte ich und ſchwieg 
deshalb. Ich war gern bereit, dieje Kleinigleiten mit 
ihm zu teilen. 

Aber einmal war vom Tag vorher eine Menge 
Eingemadtes, Obſt und Badwer! übriggeblieben, 
Ich erinnerte mich daran und wollte e8 mir zum Thee 
bringen laflen. Wie gewöhnlich ging Anton ans Büffett, 
flirrte da mit dem Geſchirr herum und brachte mir 
dann zwei Stüdden Badwerf und den Topf mit 
Eingemachtem, das heiht den Topf. Von dem Ein 
gemachten war faum mehr ein Theelöffelchen voll 
vorhanden, 

„Ich habe den Topf doch erſt geftern geöfjnel, 
und von Backwerk war ein ganzes Brett voll da,“ 
bemerkte ih. „Wo ift denn das alles?* 

Er trat von einem Fuß auf den andern und 
ſchwieg verlegen. Endlich flüfterte er faum hörbar; 
„Berwendet!* 

Auch Heute gemierte ich mich, ihm eine Bemerkung 
zu machen. Ic) zog ein andres Mittel vor. Von 
num an pflegte ich nämlich, jo oft ich mir etwas vom 
Frühftüd auf ein andermal aufheben wollte, zu 
jagen: „Hebe das auf, verivende es nicht!” 

Auf diejen Befehl antiwortete.er mit feiner Silbe, 
„derwendete* aber auch nicht. 

Fand ich e8 dagegen nicht nötig, eiwas aufju- 
zubeben, jo ſagte ich: 

„Das verwende, wenn bu willſt.“ 

„Zu Befehl!“ anwortete er dann und „vere 
wendete“. 

So wurde eine Ordnung eingeführt auch in dem, 
was das „Frühſtückweſen“ betraf. 

Abermals verfloſſen einige Monate, und alles 
ging gut. In meiner Wohnung herrſchte ungetrübte 
Rube, Anton ging jelten aus, einmal in zivei 
Wochen, Untertags jah ich ihn wenig. Abends half 
er mir beim Ausfleiden, begab ſich dann in feinen 
Verſchlag, und ich ſah ihn nicht mehr bis zum 
Morgen, wußte aud) nicht, was er treibe: ob er ſich 
da ohne mid) langweile oder nicht, ob jemand ihn 
bejuche — ich wußte es nicht und war jehr zufrieden. 

Aber „niemand hoffe auf ein dauernd Glück!“ 


Diener. 


fingt und als unerbittliche Wahrheit das befannte 
Lid, Einmal im Winter — ih glaube, es war 
Dezember — Fam ich um fieben Uhr abends heim, 
jepte mich zu einer dringenden Arbeit und trug Anton 
auf, mir um zehn Uhr den Thee zu bringen. 

Lange ſaß ich und arbeitete. Es war ein Viertel 
über zehn, und noch fam weder Anton noch Thee. 
Doch drang ab und zu ein befanntes Geräuſch aus dem 
Borzimmer, der dumpfe Schall leiſer Tritte. Offen- 
bar war er aljo noch wach und auf ben Beinen. 
Ich läutete. Keine Antwort. Nad fünf Minuten 
ſchellte ich abermals und wieder und wieder und 
wieder. 

Endlich öffnete fich leiſe die Thür, und herein trat 
oder ſchob fich vielmehr ein mir ganz unbelannter 
Menſch, das heißt deſſen Kopf und Schultern. 

„Was fteht zu Dienften?“ fragte er ehrerbietig. 

„Wie — was? Natürlich Thee! Wo ift Anton? 
Barum fommt er nicht?” 

„Gleich !” war die Antwort, und der Kopf mit 
den Schultern verſchwand. 

Ih glaubte, Anton fei irgendiwohin gegangen, 
vielleicht nach der Küche oder ins Treppenhaus, und 
der Menſch ſei ein Bekannter von ihm und bei ihm 
zu Saft. Ich vertiefte mid wieder in meine Arbeit, 
Es verging etwa eine halbe Stunde, Niemand fam. 
Ih wurde wütend und jchellte aus aller Kraft. Nach 
einer Heinen Weile öffnete fich die Thür zur Hälfte, 
und wiederum erfchien ein großer Kopf mit Schuls 
tern, aber nicht ded vorigen, jondern eined andern 
Menſchen, und diejer Kopf fragte ebenjo: 

„Was fteht zu Dienjten ?” 

„Was iſt's mit dem Thee? Wo ift Anton?“ 
rief ich ungebuldig. 

„Blei!“ jagte der Kopf und verſchwand. 

Aber als nad zehn Minuten weder Thee noch 
Anton erjchien, ging id) raſchen Schritts nad) dem 
Vorzimmer. Ich wollte jehen, was dort, bei Anton, 
vorgehe, öffnete die Thür und war — Starr. Der 
Heine Raum war vollgejtopft von Leuten: nicht 
weniger als fieben Maun waren da verfammelt. Sie 
jagen auf zwei Stühlen, einem Schemel, einer Banf, 
einer war auf ben Tiſchrand gellettert und zwei 
drängten fi) von vorn auf dem Bett Antons. Es 
waren die beiden, die zu mir hereingejehen hatten. 
Auf dem Tiiche ftanden Flaſchen, Glaskrüge, Teller 
mit Pirogen, Schinfen, Wurft, Gurlen und andern 
Speifen. Es gab auch Nepfel und Weinbeeren, 

Anton jelbft Sag in feiner ganzen riefigen Größe 
auf dem Bett, die Füße auf den Boden hängend, 
ben Kopf nad hinten über, mit offenem Mund und 
offenen Augen, befinnungslod. Man ſah von ben 
Augen nur das Weihe, die Pupillen waren unter 
die Stirn gerollt. 

„Nun, da haft du aber tüchtig verwendet!” entfuhr 

Aus fremden Zungen. 1897. II. 14. 


I. Anton, 593 


es mir unwillkürlich. „Ah du Dudmäufer, du 
Dudmäufer! — Iſt Hier vielleicht eine Schente?“ 
fragte ich jtreng die ganze Geſellſchaft. „Wer jeid 
ihr, und was wollt ihr in joldem Haufen?“ 

„Heut ift der Namenstag Anton Tychonptichs,“ 
antwortete einer mit betrunfener jühliher Stimme. 
„Wir find hier verfammelt, um zu gratulieren.” 

„Birogen, Pirogen haben wir gebracht,“ wollte 
ein andrer mir energifch bedeuten, aber es gelang 
ihm nicht. 

Ein dritter zeigte auf die Süßigfeiten, auf die 
Hepfel und Rofinen, und wies dann mit dem Finger 
ftillfchweigend auf feine Bruft, als wollte er jagen: 

„Das habe ich gebracht.” 

„wort, fort!” Ich zeigte nad) der Thür, 

„Ber—zei—hung! Ber—zei—hung!” wollte einer 
bemerlen; „wir find nicht um —“ 

Sch winkte mit der Hand, 

Ale griffen nad den Mühen und drängten in 
einem Haufen, einer den andern ftoßend und drüdend, 
nad der Thür. Auf der Treppe gab e8 ein Gejtampf, 
als hätten fie fteinerne Stiefel an. Jeder wollte 
der erjte drunten fein. 

„Schicke mir jofort den Dwornif!* rief ich einem 
der Letzten zu. 

Der Divornif fam. Ich zeigte ihm Anton, der 
nad wie vor mit offenen weißen Augen und aufe 
gejperrtem Mund befinnungslos dalag. 

„Bitte, fieh zu, wie du ihn wieder zu fid 
bringjt!” 

„Er it Halt das Namenstagslind!“ ſagte der 
Dwornil, „und da hat er ein bißchen über die Schnur 
gehauen. Neulih Hat er au mir und Akim an» 
geboten. Morgens ift er zur Frühmeſſe gegangen —“ 

„Leg ihn, wie's nötig iſt,“ jagte ih. „Morgen 
belfommft bu von mir ein Trinkgeld.“ 

„Wie fann id) das, Herr? Ein Menſch allein 
bringt das nicht fertig. Sehen Sie nur dieſe Größe! 
Es fehlt nicht viel zu einem Saſchen. Ich werde 
Alim holen,“ 

Er bradte feinen Kameraden herbei, und beide 
gingen mit vereinten Kräften daran, das Namens 
tagsfind ins Leben zurüdzurufen. Sie goffen ihm 
Waſſer über den Kopf, benegten ihm Schläfen und 
Scheitel mit Ejfig, fleideten ihn aus und legten ihn 
dann nieder. 

Ich ging indeffen im Zimmer auf und ab, nieder« 
gejhlagen, ja betrübt über das alles. „Ach bu!” 
ſeufzte ih, „du grüner Wein!*) Du Jod, du här- 
teftes Jod) der Leibeigenſchaft! Wer wird did) dere 
tilgen, und wann wird das gefchehen? Wer wird 
di, Mütterhen Rußland, von ihm befreien? Fürft 
Wladimir, der Große,“) jagte dereinft: ‚Die Freude 
) Branntwein. 

*") Zu Anfang des zwölften Jahrhunderts. 
75 


594 


Rußlands ift das Trinken,‘ und diefes Wort ift zu 
einem ſchweren, ewigen Gebot für das ruffifche Volt 
geworden. Warum bat er nicht gejagt: ‚Trinken, 
aber nicht Betrinfen‘ ?* 

Am nähften Morgen fam Anton mit feinem 





Molfstritt zu mir herein, den Kopf gefenft, die | 
matten Augen niedergeichlagen. Ich jah ihn ſcharf | waren. Da wolle er fi alles anfehen und dann 


an. Er wollte ſich entfernen. 

„Halt,“ ſagte ih. „Was war dad geftern 
mit dir?“ 

Vorerſt wußte er nicht, was antworten. 

„War Namenstagslind,“ fagte er endlich leiſe. 

„Schön! Aber warum Haft du mir nichts mit 
geteilt, mir nicht vorher gejagt, daß du Gäſte ein- 
laden wollteft, daß eine Kneiperei ftattfinden würde? 
Ich wäre dann weggegangen, irgendwohin, um dieſe 
Wüftheit nicht zu ſehen.“ 

„sch wuhte nicht, dab fie fommen. Sie haben 
mir Wein, Ehwaren, Pirogen gebradht, und ich...“ 
„Habe dies alles verwendet,“ ergänzte ih. 

„Eigentlich haben fie jelbft alles verwendet,“ 
ſagte er Teile, 

„Ich wußte nicht, daß du eine fo zahlreiche Be— 
fanntichaft Haft. Was find das für Leute?“ 

„Sie haben mit mir gewohnt, in derjelben Woh- 
nung, ehe ih in Stellung gelommen bin. Jebt 
haben fie alle miteinander Stellen.“ 

„Berwendeit du oft jo ?* 

„Beileibe nicht! Selten! Es war halt Namend« 
tag, und da hat es fi jo gemadt. Wär’ nicht 
Namenstag geweien, jo gab’3 das nicht.“ 

In Erwägung des Umftandes, dak in jedem Jahr 
nur einmal Namenstag fei, beichloß id, der Sache 
feine Folge zu geben und Anton bis zum nächſten 
Namenstag in Ruhe zu lafien. 

„Das joll mir aber das letzte Mal ſein,“ ſagte 
ih. „Ich mühte dich jonft entlaſſen. Es fünnte ja 
ein Unglüd geben, Geh!" 

Alles ging wie früher, nur daß ich ihm, dieſem 
ftilen Waſſer, nicht mehr jo viel Vertrauen ſchenkte 
wie ehedem. 

Der Winter z0g vorbei. Es begann zu tauen. 
In der Luft roch ed nach Frühling, das heißt nad 
Ranal und Straßenſchmutz. Damals war es noch 
nicht üblid), beizeiten das Eis zu bredien und weg— 
zuihaffen, und in den Straßen gab es daher ganze 
Meere von Kot und eine Unzahl von Hügeln und 
Löchern, jo dak der unglückliche Pafjant, gleichviel 
ob zu Fuß oder zu Pferd, faum durchlonnte. Im 
April war es in den Straßen bereit$ warm, aber auf 
Fluß und Kanälen hielt das Eis noch feſt. 

Sp war es damald auch in der ganzen heiligen 
Mode (Diterwode). Am Donnerstag gab ich dem 
Anton frei, Ich gedachte erjt jpät abends heimzu. 
fommen und riet ihm, ſich die Zeit bis dahin zu 


J. A. Gontſcharow. 


nutze zu machen. Am Freitag hatte ich wieder zu 
Haufe zu ihun, Briefe, Palete, Zeitungen und Bes 
fuche in Empfang zu nehmen und jo weiter. 
Anton nahm mein Anerbieten nicht an, Biel 
leicht, jo jagte er, werde er zu den Buben gehen, 
die damald auf dem Admiralitätsplaße aufgeitellt 


wieder heimlommen. 

„Wie du willſt,“ ſagte ich und gab ihm Gel, 
um die Buden zu beſuchen. 

Als ih um Mitternacht heimlam, ſagte mir der 
Divornif, der am Thore jaß, in feiner Hammer liege 
ein Kronspaket unter meinem Namen. „Ich bringe 
es gleich.“ 

„Barum liegt es da? Warum nicht in meiner 
Wohnung?* fragte ich. 

„Wahrſcheinlich war Ihr Burfche nicht zu Haus, 
und da hat es der Bote mir gegeben,” 

Ich nahm das Paket und ftieg die Treppe hinauf. 
Ich wohnte damals in demjelben Haufe, wo ih no 
jegt wohne, und hatte meinen befonderen Eingang 
von der Straße aus, der weder von einem Schweizer, 
noch fonft wen gehütet und niemals verſchloſſen war. 
Unter mir, an derſelben Treppe, wohnte eine alte 
Hofdame — wahrſcheinlich noch aus der Zeit Katha— 
rinas I. — jonft niemand, 

Sorglos ftieg ich hinauf und klingelte. Niemand 
rührte ſich. Die Thür öffnete ſich nicht. Ich Hingelte 
ein zweites Mal. Wiederum nichts. Ich drüdte 
die Klinke nieder, die Thür ging auf, und ich trat ein. 
Im Borzimmer feine Seele. Aus der Kammer 
Antons jchimmerte Licht. Ich öffnete feine Thür 
und flieh unmwillfürlih einen Schrei aus, 

Auf dem Tiſch ſchwalchte ein zerflichender Kerzen⸗ 
ftumpf, hart darüber hingen auf einem aufgelpann- 
ten Stride Tücher und Lumpen. Anton jelber lag 
jchrägüber auf dem Boden, ausgefleidet, wieder mit 
offenem Munde und weißen, verbrehten Augen, be= 
ſinnungslos. 

„Verwendet! Er hat ſich nicht enthalten können,“ 
fagte ich mit Aummer und Verdruß, indem ich ihn 
an der Schulter fahte und feinen Kopf aufzuheben 
verſuchte. 

Vergebliche Mühe! Er rührte ſich nicht, gab 
feinen Laut von fi) und ſchlug die Augen nicht auf. 

„Das nennt man Feiertag! Heilige Woche! Hei« 
lige — daß bedeutet 8. Tragt die Heiligen hinaus!“ *) 
jagte ih ärgerlih. Ich glaube jogar, die Zähne 
fnirfchten mir. Aber die Ueberrafhungen waren 
hiermit noch nicht zu Ende. 

Ah nahm die Kerze vom Tiſch, ging ind Bor« 
zimmer und mußte zum zweitenmal aufichreien. Ih 
ging in den Salon, ins Kabinett, ins Schlafzimmer — 


*) Rufiihes Sprichwort. 


Diener 


überall basjelbe: das war ja die reinfte Verheerung. 
Ale meine Koffer, Schachteln, Körbe, Säde waren 
in den Salon geſchleppt und angefüllt mit Kleidern, 
Wäſche und andern meiner Sahen. Aus den Körben 
mit Wäſche ragten Leuchter, Lampen und allerlei 
Geſchirt. Auf dem Fußboden lagen Spiegel und 
Nippſachen. Im Kabinett war mein Schreibtiſch 
erbrochen, begleichen der Bücherfchranft und ber 
Schrant mit ben Mappen, und alles das war von 
der Stelle gerüdt und ftand mitten im Zimmer, Auf 
dem Boden waren Briefe, Palete, Papiere umber- 
geftreut, darunter etwa breißig große Hefte bes 
„Sblomoff*,*) der bereits zum Drud fertig war. 

Kurz, die vollftändigfte Zerſtörung! Es waren die 
Wölfe, von denen ich Anton gejagt hatte, und er lag da 
wie ein Toter! Der Knüppel hatte ihm nicht genüßt. 

Das Herz z0g fi mir zufammen. Ich fühlte, 
mein Hauswejen war von den guten Geijtern ber 
Ordnung und Zuverläjfigkeit verlaffen. Jh war 
auf mich felbft angewieſen, allem preiägegeben, ohne 
Schutz und Stüge. Wäre id) jünger gewejen, id) 
würde vielleicht geweint haben, 

„Das ift Ihre Strafe dafür, dab Sie nicht ge- 
heiratet haben. Da haben Sie die Reize des Jung- 
gejellenlebens: Freiheit, Unabhängigkeit!" So jagte 
mir nachher eine gute Bekannte, Anna Petrowna, 
die es jehr liebte, Ehen zu ftiften, „Hätten Sie eine 
Frau, jo wären feine Wölfe gelonmen, Heiraten 
Sie! Die Zeit ift noch nicht vorbei. Ich würde Ihnen 
eine gute Braut ausſuchen.“ 

„Dielleiht würden dann andre Wölfe lommen, 
und möglicherweife ſchlimmere als dieſe,“ antwortete 
ih melancholiſch. 

„R—u—n!” protejlierte fie, das Wort dehnend 
und unficher, wobei fie mit einem geheimnisvollen 
Lächeln und einem ebenjolden Blid an mir vorüber 
in den leeren Raum jah. 

Ich Habe dieſen Blid bei allen Frauen bemerkt, 
bei Mugen und unflugen, durdhtriebenen und unſchul⸗ 
digen, von den vielerfahrenen Matronen bis zu dem 
zarten Geſchlecht der ſchamhaften Cherubim. Er 
zeigt ſich in verſchiedenen Momenten ihres Lebens: 
zum Beiſpiel wenn fie einen Gedanlen, ein Gefühl, 
einen ſtillen Wunſch oder eine Abficht verbergen 
wollen, oder wenn bon dem Fehler einer andern 
Perjon die Rede ift, den fie in ſich jelber fühlen, 
oder wenn fie irgendwen ihre Mitleid ausſprechen, 
ohne es zu empfinden und fo weiter. Dann wird 
dad Auge durchſichtig, gleichjam glafig, das Fluidum, 
das die Seelenvorgänge wiederjpiegelt , verſchwindet, 
und der Blid wird, wie gejagt, rätjelhaft, geheimnis« 
voll oder, wenn man will, diplomatiſch. Falſch 
möchte ich ihm nicht nennen — aus Höflichkeit. 


*, Belannter Roman Gontſchatows. 


U. Anton. 


595 


Ein folder Blid war es, der den Ausruf Anna 
Petrownas: „N—u—n!” begleitete. Ich erlaubte 
mir, aus biefem biplomatifchen Blid eine geheime 
Antwort zu erraten: „Ia, freilich, dad fommt vor. 
Das heißt, es fommen Wölfe vor, die den Ehefrieden 
zerfiören, und das lann auch Ihnen paffieren. Aber 
was liegt daran, wenn Sie nur heiraten?“ 

Ich bitte dieſer Abſchweifung halber um Ente 
ſchuldigung und wende mich wieder zu meiner Ge— 
ſchichte. 

Ich rührte von meiner zerſtreuten Habe nichts 
an, ſammelte nur die Hefte mit dem „Oblomoff“, über⸗ 
zeugte mich, daß fie vollzählig und unverfehrt waren, 
und berubigte mid. Die Diebe hatten alles durch⸗ 
wühlt. Sie hatten augenicheinlich nad Geld gejucht, 
aber feines gefunden. Und doch war welches da; 
in einem Stoß Mappen mit verjchiedenen alten 
Handſchriften befanden fi, zwijchen die Blätter ein 
gelegt, einige große Banknoten, die den Dieben ent- 
gangen waren. Dieſe waren jedenfalls überrajcht 
worden und hatten Reißaus genommen. 

Wie ich fpäter erfuhr, Hatte derfelbe Bote, ber 
das Paket brachte, aud die Diebe verfheudt. Er 
hatte an der Thür gejchellt und, da feine Antwort 
erfolgte, da3 Palet dem Diwornif übergeben. Die 
Diebe aber nahmen das Hlingeln für ein Zeichen 
der Heimkunft des Hausheren, ließen ihre Beute im 
Stih und verſchwanden duch die Hinterthür in 
den Hof. 

Ich ſchlief ſchlecht und erwachte vor Anton. Als 
ich hörte, daß er aufftand, begab ich mich zu ihm. 
Er war wieder nüchtern, beneßte fi ben Kopf und 
zog ih an. Als er mich ſah, ftand er vom Bette 
auf, juchte aber meinen Blick zu vermeiden. 

„Wo warft du gejtern, Anton?“ fragte ich. 

„Bei den Buden, wie Sie befahlen,“ flüfterte erleife. 

„Und wo noch?“ 

Er ſchwieg. 

„Wer war bei dir zu Beſuch?“ 

„Bei mir? Niemand,* antwortete er ziemlich) 
lebhait. 

„War’s nicht diejelbe Gejellichaft, die im Winter 
an deinem Namenstag bei dir war ?* 

„Beileibe nicht! Die hab’ ich jeither nicht wieder« 
gejehen,* antwortete er beflimmt. 

„Alfo find Wölfe gelommen — was?" 

„Was für Wölfe? Es war niemand hier.“ 

Er blidte ratlos auf mid. Man ſah ihm in der 
That an, daß er meine Frage nicht verjtanden hatte. 

„Komm ber! Du fannft dich freuen. Was ift 
denn dad?" 

Ih führte ihn ins Vorzimmer, in den Salon, 
zeigte ihm die Bündel und Koffer mit meinen Hab- 
feligfeiten, und was auf der Diele umberlag — die 
Möbel — 


596 


„Herr des Himmels, Gott, Allmächtiger!* rief 
er. Er drehte fich um fich feibit, mit tieren Augen, 
und breitete die Arme aus. Dann plöglih begann 
er zu weinen und warf fih auf die Siniee. 

„Ehriftus ift mein Zeuge — ih habe Teine 
Ahnung, gnädiger Herr! Nur das ift meine Schuld, 
daß ich mid) betrank.“ 

„Steh auf und erzähle mir, was geftern gejchehen 
ift. Ich werde es auffchreiben umd der Polizei mit- 
teilen.“ 

Er erzählte, er ſei geitern in eine der Buben ge= 
treten. Da hätten drei ihm unbefannte Leute, viels 
leicht Händler, vielleicht auch Bediente, neben ihm 
geſeſſen. Zunächſt hätten fie zufammen eine Affiche 
gelefen, dann hätten fie geplaudert, dann wären fie 
zu den Schaufeln jpaziert und endlich in eine Thee- 
ſchenke. Sie hätten ihn da eingeladen und Thee 
mit ihm getrunfen, ihn gefragt, wer er jei, mo er 
wohne, wo er diene, wie es ihm in feiner Stelle 
gehe, ob der Herr zu Haufe jei, ob er reich ſei. Alles 
das hätte er ihnen gejagt. Dabei hätten fie ihn 
bewirtet und auch felber getrunfen. Dann ſei der 
eine weggegangen und zwei andre gekommen. Die 
hätten auch angefangen zu trinfen und ihn zu be= 
wirten, bi®... 

„Bis abends war ich ganz betrunfen,“ ſchloß 
Anton, „und — und — meiß nicht mehr, 
was geſchehen ift, und wie ih nad Haufe ge» 
fommen bin,” 

Bon neuem jah er ſich beftürzt um und wollte 
fi auf die Kniee werfen. Ich hielt ihn auf und 
befahl ihm, die Wäfche, die Kleider und alles übrige 
aufzunehmen und in Ordnung zu bringen. 

Es ergab ſich, daß zwei Dutzend Tiichlöffel, eine 
billige hölzerne Standuhr und endlich ein vorzüglicher 


J. A. Gontſcharow. — Diener. 


I. Anton. 


Tulup*) aus chineſiſcher Seide, mit Eichhörnchenfell 
gefüttert, den ich aus Sibirien mitgebracht, nicht 
mehr vorhanden waren. 

Ich konnte das Geftohlene entbehren. Die Löffel, 
Familienftüde von alter Faſſon, die ich für alle Fälle 
aus dem Elternhaufe mitgenommen, lagen, da id 
nicht daheim aß, ungebraudht in meinem Tiſch. Die 
Standuhr ging unrichtig und diente mir wenig. Den 
vorzüglichen Tulup aus Eichhörnchen legte ich nie 
mals an, um nicht ben Körper an überflüjfige Wärme 
zu gewöhnen, Gleichwohl that es mir leid um ihn, 
weil es ein ſchönes Stüd war. 

Wenn aljo auch der Verluft kein jehr empfind- 
licher war, fo machte ich doch bei der Polizei An— 
zeige, aber mehr ber Abichredung wegen, damit man 
wenigftens auf dem Hofe wifle, daß Leute im Hauſe ſeien. 

Natürlich kam, wie gewöhnlich, bei der ganzen 
Sache nichts heraus. Es erſchien ein Wierteld- 
injpeftor, nahm ein Protofoll auf und Anton ins 
Verhör. Dann rief man auch mich zur Polizei und 
zeigte mir da eine ſchwarz angeftrichene Stanbuhr, 
mit der Frage, ob es die meine ſei. Ich antwortete, 
die meine fei aus Palmenholz und gelb. Ebenio 
zeigte man mir einen Ehlöffel, ob es nicht der meine 
wäre. Da id) aber meine Löffel zehn Jahre nicht 
aus der Tiſchlade genommen, hatte ich vergefjen, wie 
fie ausſahen, fonnte alfo auf die Frage weder ja 
noch nein jagen. 

So endete die ganze Geſchichte. Von Anton 
trennte ich mich in der vollen Ueberzeugung, daf er 
fein Dieb fei, daß Spigbuben ihn begeht hatten, um 
die Wohnung auszuplündern. Ich war frob, jo 
leichten Kaufs losgelommen zu fein, 





*) Pelgmantel mit großem Kragen, 





die Hefdichte eines jungen Mädchens. 


Roman von 


Erna Auel-Hanfen, 


Aus dem Dänifchen überfeßt von Ernſt Braufewetter. 
(Fortichung.) 


IX. 


Im Laufe des Winters begann Margarete Botanit 
zu lernen. Mama hatte einen Lehrer nad ihrem 
Kopf ausfindig gemacht. E& mar ein jüngerer 
Mann, der in den Mädchenſchulen auf diefem Gebiet 
jehr beliebt war. 

Ganz im geheimen jtellte die Etatärätin die ein- 
gehendften und gründlichen Nachforſchungen an, 
bevor fie wagte, ihm den Unterricht ihrer Tochter 
anzubertrauen, Und erft als er durch und durch als 
ein Pradhteremplar ber feltenen Art „Tugendmurfter“ 
befunden wurde, ließ fie Margarete in einen der 
privateften der privaten Zirkel hinein. Er beftand 
bisher nur aus zwei Schülerinnen, Margarete war 
die dritte. 

Sie hatte Papas Mitteilung, daß fie nın „etwas 
lernen” follte, als eine der unbehaglichften Ueber» 
tafhungen aufgenommen, an denen diefes langweilige 
Leben jo reich ift, hatte jo lebhaften Widerſtand ge= 
leiftet, als fie fonnte, verfucht, fich davon loszuquälen 
und zu bitten, und ba dies, unerwarteterweife, nichts 
balf, war fie zwei, drei ganze Tage maulend umher⸗ 
gegangen. Sie hatte ihm, wenn er nad) Hauſe fam, 
nicht jeine Morgenfchuhe gebracht, war nicht mit 
ihren Küſſen und ihrer Hilfe dagewejen, wenn er 
feinen Ueberzieher anzog, um auszugeben. 

Papa jollte ſchon merfen, dab fie ſteinhart, 
granitfeft fein könnte, bis er nachgab. Denn es war 
doch allzu unerträglich, nun, da man endlich ein er» 
wacjenes Mädchen geworden war, auf der Schul- 
bank figen und wieder lernen zu jollen — ihr wurde 
ganz übel, wenn fie nur daran dachte, 

Aber Papa war taub und blind, und als ber 
Tag fam, mußte fie zu dem Kurſus. Und dann 
war es noch obendrein jo früh morgens! Daß jie 
mitten im Winter um neun Uhr aufftehen jollte 
und in Schmuß und Nälfe bis ans andre Ende der 
Stadt gehen, damit fie um zehm Uhr an Ort und 
Stelle fein fünnte, das war einfad) empörend, Das 


Stubenmäbchen, das ein halbes Dukendmal an ihrem 
Bett gewejen war, bis Margarete ſich herbeitich, 
aufzuftehen, lernte jie von der liebenswürdigen Seite 
fennen, Das ganze Haus erbebte, ald Margarete 
an dieſem Morgen die Entreethüre hinter fich zuwarf. 

Aber als fie dann um die Frühſtückszeit wieder 
fam, meld eine Veränderung! Sie trippelte im 
Entree auf und ab, um auf Papa zu warten, und 
als er fam, empfing fie ihn ungemein vergnügt und 
gab ihm einen wohlgemeinten Kuß, der gleichjam 
um Berzeihung bat für all die fauern Mienen, Und 
die Morgenſchuhe waren warm und der Hausrod 
ebenfall®, und ihre Meinen Aufmerkfamleiten beim 
Frühſtückstiſch, bei dem fie allein waren, wollten gar 
fein Ende nehmen, Mama war früh morgens zu 
Olivia geholt worden. Der Kleine litt an den 
Zähnen. 

Als Papa jie mit leicht ſpöttiſchem Lächeln und 
jenem Blid aus den Augenwinkeln, der allerhand 
ausbrüden konnte, fragte: „Na, wie war es denn, 
in die Schule zu gehen, Fräuleinchen?“ war ihr 
Geficht ein einziges ftrahlendes Sonnenſcheinlächeln. 

Ad, es wäre jo interefjant geweſen, fie fönnte 
fi gar nichts Amüfanteres denken. Sie hätten von 
Zellen und Blattgrün gehört, und das alles im 
Milroſlop gejehen — und dann wären die beiden, 
mit denen fie zujammen die Stunden nahm, ſolch 
reizende Mädchen! 

Ellen Bramfen war gewiß furdtbar tüchtig und 
begabt — aber im übrigen ein Meiner Bandit, hätte 
die andre, Ludovika von Arndt, gejagt — ach Gott, 
was das für ein Mädchen war! Papa jollte fie 
nur jehen, ganz reijend — jo hübſch und fo welt« 
Hug! Sie hatten ſogleich beſchloſſen, Freundinnen 
zu werben, 

„Na, das ift ja nett!” meinte Papa, „und der 
Schulmeifter?* 

„Ach — der...” So ungern Margarete e8 wollte, 
wurde fie doch rot, beeilte ſich aber, nach der Salat- 
ſchüſſel zu greifen und ſich eine große Portion auf 


598 


ihren Teller aufzulegen, „ia, denke, Papa, er ift jung, 
das heißt, nicht jo ganz jung — und dann ift er 
hübſch, du — ich glaube nicht, daß ich ſchon jemand 
geiehen habe, der fo ausſieht ... und jo ernſt, aber 
ungeheuer intereffant. Das heißt, er jpricht ja nur 
von Botanik und lächelt niemals, wenn es auch etwas 
noch jo Komiſches giebt... aber, höre, Papa, du 
mußt mir bei meinen Leltionen helfen und mid) 
überhören. Denn ich darf niemals dort hinaus» 
fommen, ohne meine Aufgaben zu lönnen, bei Gott, 
ſolche Augen macht er einem, wenn man eine dumme 
Antwort giebt! Aber ich freue mich trokdem uns 
geheuer auf die nächſte Stunde — o, ih wünſchte, 
es wäre morgen!“ 

„Hm!“ Der Etatörat machte ein ſehr vieljagen- 
des Geſicht, „ſteh — ſieh!“ 

Aber Margarete ftedte den Arm unter den ſei— 
nigen, legte den Kopf an feine Schulter, blinzelte 
mit den Augen und ſagte zärtlich bittend: 

„Lieber Papa — nicht neden! Es war dumm 
von mir, aber ich konnte ja nicht willen...” fo, 
nun hätte fie fich beinahe wieder verplappert, denn 
was fie um alles in der Welt nicht geftehen wollte, 
worüber fie aber jpäter nachdachte, als fie in ihrem 
Zimmer auf dem Sofa lag, und was fie jo vergnügt 
gemadt, und ihre ganze Anfhauung von „diefer 
Schulbanf und alle dem“ ganz verändert hatte, das 
war gerade, daß er, jlatt eines alten, bebrillten, 
langweiligen Prachtexemplars von einem “lehrer, 
auf das fie gefaßt geweien war, da Mama ihn ja aus« 
findig gemacht hatte — ein junger Mann war. Und 
er war obendrein hübſch, und jo groß und flarf mit 
breiten Schultern, eine großartige Figur und ge= 
Heidet — Gott, wie alles bei ihm ſaß! — geradezu 
imponierend, als er dajtand und ich vor ihnen etwas 
fteif verbeugte, und — fürdterlih ernſt — aber, 
fo gejeßt wie heute war er doch gewiß nicht 
immer. Er mußte doch aufgetaut werden fünnen, 
dazu fühlte fie ih wohl im ftande — und fie knipfte 
mit ben Fingern, wenn fie nur daran dachte. Wie 
amüfant fie es während des ganzen Winters zweimal 
in jeder Woche haben würden! Sie brei follten ganz 
allein mit einem jungen Mann bajiben — babei 
war etwas, was an die Bälle erinnerte, jo zwifchen 
den Tänzen, wenn man jo zu zweien oder dreien in 
einem Kabinett gemütlih plauderte, eine förmlich 
pifante Situation. 

Und dann die fyreundinnen. Gott, wie reizend 
war Ludovika! Und was fie alles wußte! Sie hatten 
bereit3 auf dem Heimwege von allem möglichen vertrau⸗ 
lich geſprochen, da jie merkte, was Margarete nod) für 
ein Kind war — und dann hatte fie verſprochen, 
ihr bei Gelegenheit alles zu erzählen — alles — ad), 
wie fie ſich auf dieſes und all das andre freute! 

Aber die Freude wurde doch feine unvermijchte, 


Erna YJuel-Hanjen. 


benn es war ganz offenbar, daß er in jedem Fall 
ſehr ſchwer „aufzutauen* war, obſchon Margarete 
ihr möglichſtes that. AU die Meinen Pfiffe, die 
fie ih auf den Bällen einftudiert hatte, erwiejen ſich 
als wirkungslos und prallten ſämtlich an feinem un 
veränberlichen Lehrerernſt ab. 

Dann verfuchte fie eine neue Taktif. Sie lernte 
ihre Leltionen bis aufs Tüpfelchen, konnte noch mehr, 
als im Bud) fand, dank der Hilfe und Ueberhörung 
durh Papa, ihre Augen Bingen an jeinen Lippen, 
als wäre es das Höchſte für fie, jedes Wort von ihm 
aufzufangen,. das er von all dieſen Pflanzen fagte, 
von den Gejchlechtern, Arten und Individuen, obſchon 
fie e8 nicht ein bißchen amüfanter fanb als das meifte 
andre auf dieſer langweiligen Welt. Und dann be 
gann fie wirklich gleihfam Taumetter in ber Luft zu 
jpüren. 

Aber übrigens fand fie e8 doch auch nicht jo un- 
interefiant, al& fie zu ber Lehre vom Gefchlecht und 
der Vermehrung der Pflanzen kamen. Daß ei 
männliche und weibliche Blüten gab, dab einige, 
jedes Geſchlecht für fi, auf demfelben Baum wohnten, 
andre ganz getrennt, und daß fie doch einander 
fanden, wenn die Zeit kam, gerade wie die Menfchen 
— fo zum Beifpiel die ſchöne Geſchichte von Vallis 
neria spiralis — das waren ganze Romane. 

Und dann, dab man davon fo ganz ungeniert 
reben fonnte, wie er es that, wenn er die Fyrudt- 
Inoten öffnete, ihnen ben Befruchtungsporgang 
erflärte, von den Fortpflanzungsorganen der männ« 
lihen und weiblichen Blüten ſprach und allem 
dem, ohne aud nur mit den Augen zu blinken, 
ohne rot zu werden, ald wäre es bie natürlichfte 
Sade von der Welt, Das war es ja freilid; aud, 
dad fühlte fie bis in die Tiefe ihres Herzens. Wenn 
man nur frei heraus von diefen Dingen ſprach, ernit 
und vernünftig, wie er es that, dann war gar nichts 
Peinlies dabei — warum hatte das nur bisher 
noch feiner gethan? 

Aber ob Mama eigentlich das alles wußte? Nein, 
aber fie jollte natürlich aud; feinen Mud davon zu 
hören befommen, 

In befonders fritiichen Momenten Mniff Lubopifa, 
die vor unterbrüdtem Kichern ganz rot im Geſicht 
war, fie in den Arm, jo daß fie blaue Flecken davon 
befam, aber Margarete that, als wenn fie es nicht 
merkte, deun das war peinlih, und es ftörte fie in 
dem Genuß, den fie über das empfand, was er er 
zählte. Sie meinte, es wäre förmlich poetifch, wenn 
er childerte, wie in der Pflanzenwelt das ganze 
große Fortpflanzungswerk jo fiill und behutfam vor 
ſich geht, ohne Leidenjchaften, ohne Triebe; wie aus 
dem geöffneten Staubbeutel der befruchtende Staub 
über die Furche im Blütenlelch herniederrieſelt, mit 
dem Winde oder dem Waſſer oder den Flügeln der Jn- 








Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 599 


fetten von Blume zu Blume geführt wird. Und er 
wurde ganz beredt über das Thema, es kam Leben 
in jeine Augen, und von hinter den Ohren her bis 
über die Schläfen wurde er ganz rot — er konnte 
aljo warm werden. Dann erglühten ihre Wangen, 
und fie fuchte jeinem Blick zu begegnen, ihm ihr 
BVerftändnis zu erfennen zu geben — und es war 
auch nicht ganz vergeben? — das merkte fie wohl, 
Unmillfürlich richtete er die Rede häufiger an fie ala 
an bie andern, an bieje blaugrauen Augen, die feine 
Worte mit jo umverlennbar verfländnisvoller Bes 
wunderung zu verfchlingen fuchten, daß fie ihn 
aufmerffam machten und ihn anlodten, während er 
in Ludovikas kokettem Kichern und Ellen Bramſens 
praltiſchem und geſundem Wiſſen einen Widerſtand 
fand, der ihn irritierte. 

Ludovila hatte Wort gehalten und ihr volle NAuf- 
tlärung über alles gegeben, was fie nicht wußte, und 
an dem Tage Hatte fie in der Einfamfeit ihres 
blauen Zimmers geweint, faft wie fie in jener Nacht bei 
Olivia weinte. Es war ihr fo jchredlich vorgelommen, 
jo häßlich und abftoßend, daß fie ſich abermals ſchwor, 
ſich niemals zu verheiraten. Und doch brannte das 
neue Willen ſich in ihre Seele ein wie eine flam« 
mende Glut, die ihre Unruhe und ihr fieberhaftes 
Barten und ihre Sehnſucht erhöhte, die fie wie ein 
Alpdrud befallen Tonnte, 

Ihre Phantafie umtfreifte unaufhörlich diejes neue 
Mofterium, ihre Träume wurden unruhig, fie war 
herzenskrank, und doch fehlte ihr nichts. Sie wurde 
ſeltſam und unberehenbar und alle Augenblide andrer 
Stimmung. 

Das Leben war eine Plage, und die Liebe — fie 
Ichauderte bei dem Gedanken an das, was fie bringen 
fonnte, und wünjchte ſich an die Stelle der Blumen 
und Pflanzen — und dann war das doch zu falt 
und entſprach zu wenig alle dem, wovon ihr eignes 
Blut flüfterte und was es verlangte. Herrgott, was 
war die Welt doch für ein Durcheinander! — das 
war das einzige beftimmte Rejultat, zu dem fie durch 
ihre Erfahrungen gelangte. 

Eines Abends auf einem Familienball befam fie 
einer der erwachſenen Bettern, ein guter freund 
Chriſtians, bei einem Tanz in einer Ede allein zu 
ſprechen und bat fie, „die ja ein vernünftiges Mäd— 
hen wäre und immer bei Kaffe”, mit ihm und einigen 
andern freunden und Kameraden Chriſtians „für 
das arme Mädchen und das Sind” etwas zufammen 
zu fchießen, denn es ftände ganz troftlos mit den 
Armen. Es wäre wohl etwas bei ber Verfteigerung 
feiner Bilder eingefommen, aber er hätte auch einige 
Schulden gehabt, und nun ftändedas Elend vor der Thür. 

Margarete verjtand ihn nicht. Chriftian hatte 
in lezter Zeit begonnen, aus ihrem Gedächtnis zu 

entihwinden. 


„Was für ein Mädchen? Weſſen Find?“ 

„Na, zum Teufel, fein’s... ich glaubte, du 
wüßteft ...“ 

Sie war warm und vom Tanz erregt, hatte ſich 
brillant amüfiert, war bei vorzüglider Stimmung, 
und nun plötzlich ... hu! fie bebte wie Ejpenlaub 
vor Froſt und fühlte, daß fie bleich wurde, und 
blidte mit einem jeltiam Hilflojen Blid zu ihm auf 
... faßte fi dann aber und ſagte ſchnell, indem fie 
nad Luft ſchnappte: 

„sa — ja — natürlich, alles, was ich habe, das 
ift ja nicht viel, aber... ja, es ift wahr, ich habe 
ja zweihundert Kronen, ich befam fie von Papa zu 
einem neuen jeidenen Seide. Willſt du fie haben ? 
Dart einmal — ja — fomm morgen zu mir — 
ober joll ich es bir ſchicken? ...“ 

„Donnerwetter! Zweihundert Kronen! Du bift 
wirklich ein gutes Mädchen — aber geht es auch an? 
Dein Vater... .” 

„Unfinn!* fagte fie ſcharf. 
machen, was ih will!“ 

„Die nächjten vier Paare! Austanzen, aus— 
tanzen!” rief der anführende Herr und zupfte den 
Vetter am Aermel. 

„Wir kommen an die Neihe,“ Jagte er und legte 
den Arm um ihre Taille. Das fam ihr wohl un- 
erwartet, dachte er, während fie tanzten, aber — zum 
Teufel! — er glaubte eben, alle wüßten es! 

In diefer Naht mußte der Wagen ftundenlang 
auf Margarete warten, obſchon fie Mamas ftrengiten 
Befehl Hatte, jpäteftens um zwei Uhr nad) Haufe zu 
fommen, wenn fie allein aus war, 

Aber fie war nicht fortzubelommen. Ausgelaffener 
als jemals, brachte fie Leben in die ganze Gejellihait. 
Nod niemals hatte fie ſolches Furore gemacht. Aber 
mitten in dem Gewimmel der Pollas und Galop= 
paden, und während man ihr beim Tanz ind Ohr 
flüfterte und fie lachte und ihnen mit brennendem 
Glanz im Blick in die Augen jah und feine Se- 
funde vergaß, durch Antworten und Widerſprüche fie 
anzufeuern, umfreijten die Gebanfen in ihrem 
Kopfe nur dieſes eine, das ihr feinen Augenblick 
aus dem Bewußtſein fam — bisweilen meinte fie, 
das wäre alles nur Füge, nicht ein Wort wahr von 
dieiem Mädchen und dieſem Kinde, welches das 
feinige fein ſollte — alles nur Geſchwätz und Lüge 
— dann aber ſchien es ihr wieder wahr — und es 
bedeutete für fie das tiefite Weh und trofiloje Ver- 
jweiflung, gerade als wenn etwas in ihr wühlte und 
bohrte wie mit jcharfen Krallen und Nägeln — und 
es war, als wenn er fie erft geftern gefüßt hätte, 
und fie noch auf ihn wartete, und er nicht käme — 
und das war „ihre“ Schuld, der andern... „fie“ 
hatte er auch gefüßt.... und das Kind, das Kind! Sie 
weinte beinahe, fie jhrie dabei auf, und jah fi um... 


„Ih kann damit 


600 


„Wollen Sie Polfa tanzen, Fräulein? Das ift 
Rheinländer,“ und fie wurde fortgeführt, fo fejt an ein 
fteifes Chemifett gebrüdt, daß fie Die ftarfen Herzichläge 
bes atemlofen Mannes hörte: „Ja — die Arme in die 
Seite — hören Sie... und dann trampeln wir...” 
rief fie fed. Tramp, Tramp! Und fie lachte, 


daß es wieberhallte, und flog in feine Arme wie in 


eine Umarmung. 

„Abtanzen, abtanzen!” Der Ehampagnergalopp 
fnallte und gludfle. Sie tanzten die Treppen hin- 
unter, in den Wagen hinein. 

Als fie aber nah Haufe lam, war fie allzu müde 
und betäubt, um etwas andres thun zu können, als 
jich ins Bett zu legen und zu ſchlafen. Und dann 
war e8 merfwürdig, wie ſchnell der Eindrud verblaßte. 
Schon am Tage darauf mußte fie ſich faft zwingen 
zu weinen, und doch meinte fie, fie müßte weinen! 
Was zurüdblieb, war ein zurüdicdheuender Widerwille, 
eine Art phyſiſchen Elels bei der Erinnerung an den 
toten Better, jeine Küſſe und ihre Berliebtheit, und 


fie verabjcheute es wie einen böjen Traum, ein gif- 


tiges, friechenbes Tier, das man tottreten konnte... 
und dann ſchlichen ihre Gedanken und Träume öfter 
und Öfter zu der männlichen Ericheinung Doktor 
Henning Möllers hin. 

Und nun widerfprad fie Ludovilas fländigen 
Ausfällen gegen ihn um feiner Tugend und Kalt« 
finnigfeit willen mit großem Eifer. 

Er wäre nur reiner, beffer, edler als alle andern, 
erflärte fie mit erfahrener Richtermiene und war 
frob, daß fie Ludovifa niemals etwas von Ehriftian 
erzählt hatte, 

Uebrigens vergingen die Tage wie gewöhnlih — 
nicht das geringfte Neue, nichts, was einem Erlebnis 
ähnlich jah! Immer diefelbe unaufhörlich wieder» 
holte Frage, wenn fie aufftand: wie folte fie den 
Tag herumbringen — und den nächſten und den über« 
nächſten? Hie und da ein Ball oder eine Geſell— 
ihaft und vor allem die botaniihen Stunden 
brachten wohl ein bißchen Abwechslung; aber das 
war nur fehr wenig, und dann waren diefe Tage mit 
der Unbequemlichkeit verbunden, daß fie früh aufſtehen 
mußte, auch war der Tag auf diefe Art nod) länger 
— und dann die Leltionen! Sie meinte, fie würde 
von all der Arbeit ganz angegriffen. 

Es war gegen Ausgang de3 Winters, und die 
langweilige Zeit war gefommen, wo es nad 
ihrem jpäten Mittagefjen weder bunfel genug war, 
Licht anzuzünden, noch hell genug, um es zu unter 
laſſen. 

Olivia kränlelte wieder, und daher ging Mama 
zu ihr, ſobald fie den Ichten Schlud Kaffee auß« 
getrunken hatte. Papa zündete jogleih Licht an und 
jepte fih an den Schreibtiih. Er hatte eine neue 
Schrift in Arbeit gegen das Proviforium — uff! — 








Erna Juel-Hanjen. 


dieje widerliche Politif nahm ihn immer mehr und 
mehr in Anſpruch. Und Margarete ging in ihre 
Stube unter dem Vorwande, daß fie ein biß— 
en jchlummern wollte, entweder weil fie am Abend 
vorher lang auf geblieben oder an demjelben Morgen 
„0 jehr früh" aufgeftanden wäre — eigentlic aber 
weil die Stunden doch noch am erträglicdhiten ver« 
gingen, wenn fie zwifchen Schlaf und Wachen auf 
ihrem Sofa die Zeit verträumte, bi! Mama nad 
Haufe fam und es Theezeit war — was jollte fie 
außerdem mit fold einem dummen Abend anders an 
fangen, wenn man nicht ausgeben jollte? 

Papa liebte gutes Mittagefjen mit fräftigen Ge» 
richten und reihlichem Wein dazu, und Margarete 
artete ihm in dieſer Beziehung nad. Zu träge, um 
zu träumen, konnte fie fi) gedanfenleer nur in das 
einzige Gefühl von der Yangweiligkeit des Dajeins hin⸗ 
eingleiten laſſen, das fie wie in Nebel einhüllte, und 
aus dem fie nur mit einem Nud erwachte, wenn fie 
feft eingejchlafen war und träumte, fie fiele zu Boden. 
Dann legte fie ſich wieder ärgerlich zwiſchen den 
Kiffen zureht und bdujelte weiter, Oder fie 
folgte mit einem trägen Blick den Goldſchnörleln 
auf der imitierten Seidentapete, die fie im Dunkel 
gerade nod) unterjheiden konnte — wenn fie die mur 
nicht immer vor ſich gejehen hätte! — fie mußte die 
Augen fliegen — uff, eigentlich mochte fie bier 
nicht liegen — aber aufftehen mochte jie auch nicht 
— alles war langweilig, langweilig, langweilig ... 
ad, wenn nur etwas gejchehen wollte — ad, wenn 
nur etwas geſchehen wollte! 


Bweites Bud. 
I. 


Und dann geſchah endlich etwas. 

68 war eines Abends auf einem Ball bes Stu 
dentenvereind. Ein „Fuchs“, ein Vetter Marga 
retens, hatte fie unter dem Schutze der Mutter mit- 
belommen, 

Bor dem Ball wurde eine Stubentenfomödie ge- 
jpielt, und im ihr hatte Herr Henning Möller eine 
Rolle, Er war Gladiator, eine der Hauptperfonen 
des Stüdes, welches eine jentimentale griechiſche 
Heldenfomöbdie traveftierte, die im Augenblid in dem 
Königlichen Theater Furore machte. 

Erft wurde ihr ganz flau zu Mut, als fie ihn 
erblidte. Er war nur in Tricot, mit einem Heinen 
Mantel darüber, jo gut wie nadt — und al fie 
Mama ihrer Nachbarin zuflüftern hörte, das wäre 
ſchon beinahe anftößig, wern man in Betracht zöge, 
dab junge Mädchen anweſend wären und fo weiter 
— meinte fie beinahe, Mama hätte recht, umb ver« 
mied es, ihn anzufehen. 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


Aber dann hörte fie ein Flüſtern hinter ſich: 
„Gott, Karoline, wie jchön er gewachſen ift! Diele 
Bruft und diefe Arme!“ Und rund um fie ertönten 
halblaute Nufe der Bewunderung: ein Herfules! ein 
Achilles! und dann gingen ihr nah und nad) die 
Augen für die Schönheit diefes fräftigen, faft über: 
trieben entwidelten männlichen Körpers auf. 

Ja, das war jchön, mwunberlich ergreifend jchön, 
ihr wurde gleihjam ganz angft und bange, wenn fie 
das anfah — und doch jah und jah fie und hörte nicht 
auf das Geſchwätz der andern Darfteller. Die Wie 
verftand fie nicht, da ihr das Drama, das fie paro= 
dierten, unbekannt war, und das Gelädter im Saal 
verlegte fie, namentlich wenn es ihm galt. 

Die Bühne war für fie leer, wenn er nicht da 
war ; war er aber zugegen, dann ſaß fie atemlos da 
und verfolgte jede Bewegung feines Körpers, das 
Spiel jeiner Musteln unter dem dünnen, jiramms 
fifenden Stoff, ber breiten Bruft, die fidh bei den 
Atemzügen bob und jenkte, jo taftfeft und regelmäßig, 
als wäre Müdigkeit und Anftrengung etwas Un- 
mögliches für ihn. Und die ganz nadten Arme, wie 
ſahen fie ſtark aus, ald wenn man im ihrer Um— 
armung zerdrüdt werben müßte! Es wurde ihr dabei 
ganz beffommen zu Mut — und doch — Gott, wie 
ihön er war! Wie fahen die andern neben ihm 
dünn und unbeholfen aus... ja, er war ein Mann, 
wie fein, fein andrer! 

Wenn er fid) nur rührte, ging oder lief, welche 
Sejchmeidigkeit, welche Kraft in jedem Gliede... o, 
es war eine wahre Augenmweide jondergleichen, — wenn 
es nur niemals aufhören wollte! 

Als er endlih nad) dem fingierten Kampf zum 
Schluß in grandioſer Attitude das kurze Schwert in 
die Bruft des Schurfen bohrte und den Fuß auf 
feinen Naden ſetzte, brach Beifall und Gelächter im 
Saal 108, und es war deutlich erſichtlich, daß noch 
andre als fie anmejend waren, die auch gejehen 
und bewundert hatten. Da wehten Spigentajchen- 
tücher und Matichten behandſchuhte Damenhändden, 
und die Huldigung galt offenbar ihm. Wieder und 
wieder mußte der Vorhang in bengaliicher Beleuch- 
tung ſich heben. 

Aber Margarete fand es allzu brutal, zu Hatichen, 
fie beivegte ihre Hände mur ganz ſachte im Schoß 
gegeneinander — wie bezaubert, ergriffen, gleichjam 
lieblojend. Und als der Vorhang zum letztenmal 
fiel, ſchloß fie die Augen, um die Geflalt feitzuhalten 
— ein Mann, das war ein Mann! 

Sie war ganz verwirrt, als fie fich erhob, ihr 
war ganz jonderbar zu Mut, in ihrem Augenwinkel 
perlte jogar eine Thräne hervor . ... jo was Dummes! 
Wenn das jemand bemerft hätte! Niemals hatte fie 
aber auch etwas gejehen, was jo — fo... Gott, 
wie jhön er war! 

Aus fremden Zungen, 1897. IL 18 


601 


Der Saal follte zum Tanz geräumt werben, 
Mama zog fih mit ihr in ein Seitenzimmer zurüd, 
und während fie dajtand, gegen ihre Gewohnheit 
ganz ftumm und ftill, hinter einer Schar Herren und 
Damen, die mitten im Courfchneiden und beim Aus« 
füllen der Tanzfarten waren, lam Lubovifa zu ihr 
hin, gab ihr einen Heinen Klaps mit dem Fächer 
und fagte: 

„Was ftehft du da und Hältft Maulaffen fe? 
Auf diefe Weiſe befommft du niemals all beine 
Tänze belegt — bier find zu viel Damen, man muß 
fih umthun!“ 

„Ad was,” verjekte Margarete gleichgültig, als 
wenn fie gerade erwachte, und fügte, faft gegen ihren 
Willen, hinzu: „du — mar er nicht ſchön?“ — das 
mußte heraus, 

Zudovifa lachte laut auf: „Ad — Möller? Ja, 
Körper hat er genug, hübſch ift er auch, aber das, 
was all dem Fleiſch erft Leben verleihen follte — 
pah! Nein, danke ſchön, lieber den häßlichſten Heinen 
Knirps mit — aber höre —“ brach fie ab, als fie 
Margaretend aufgebradhte Miene ſah, „du denfjt 
doch nicht gar daran, did) im ihn zu verlieben, in 
dieje Holzpuppe — bei Gott, bu bijt doch auch wie 
ein neugeborenes Kind —* 

Margarete wollte etwas antworten, aber im felben 
Augenblid verneigte ſich vor ihr eine hohe Geftalt. 

„Haben Sie nod) einen Tanz übrig, Fräulein?“ 

Er war es. 

Margarete holte jchnell ihre Tanzfarte vor, und 
während fich ihre Köpfe juchend über diefelbe neigten, 
ſah Lubovifa die Nöte und den ftrahlenden Ausdrud 
ihres Gefichtes. Sie zudte mit ärgerlich verächtlicher 
Gebärde, die faft etwas wie Mitleid ausdrüdte, Die 
Achſeln. 

So ein Gänschen! dachte fie, wandte dem Paar 
den Rüden und raufchte davon. 

Sie tanzten einen Tanz zuſammen und dann die 
Tiſchtour, und mit ſüßem, beflemmendem Gefühl bes 
merfte Margarete, daß er feine andre zu einem 
ganzen Tanze engagierte als fie. Im übrigen jah 
er zu oder tanzte hie und da eine Ertratour mit der 
einen oder andern Dame, die er kannte, 

Einmal auch mit Ludovika. Und biefe benußte 
dann einen günftigen Augenblid, um Margarete ins 
Ohr zu flüftern: „Das muß man ihm laffen, tanzen 
lann er — er führt geradezu göttlich, aber zu was 
anderm taugt er auch wirklich nicht!“ Und ala 
Margarete nichts antwortete, fuhr fie fort: „Serr- 
gott! Falle dich doc, Kind! Die Leute beobachten 
dich ſchon und lachen über did. Ich habe den Naje- 
weifeften was aufgebunden und gejagt, das täme 
daher, weil du deinen Draden mithaft. Aber du 
mußt dich ermannen, hörft du — na, ihr feid ein 
Paar jeltjame Tröpfe . . . wann foll es denn 

76 


602 Erna JuelsHanjen. 


befannt gemacht werden ?* und dann lachte fie necliſch; 
und fort war fie. 

Aber Margarete befümmerte ſich nicht um ihr 
Geſchwätz, ebenfowenig wie um die Sticheleien und 
feinen anzüglichen Ausfälle ihrer Kavaliere, die ſich 
vergebens bemühten, fie zu erheitern. Mama war 
mit, und wenn Mama mit war, konnte fie fich nicht 
amüfieren — aber fie machte fid) auch nichts darauß, 
fich zu amüfieren — ihr lag nur an einem, und das war, 
in dieje ruhigen, hellen Augen hineinzuſchauen, die 
jo Mug und ftreng blidten, daß fie die ganze Zeit, 
während fie zufammen ſprachen, voll Angft daſaß, 
ob fie auch jelbft Aug genug antwortete, und es war 
nicht leicht darauf aufzupaſſen. 

Denn beftändig eilten ihre Gebanfen von dem 
fort, was er fagte, weil fie troß feiner ſchwarzen, 
eleganten Kleidung es nicht unterlaffen konnte, ihn 
ſich vorzuftellen, wie fie ihn vorher in der Gladia- 
torentracht geſehen hatte, und ihr war jo bange, er 
fönnte es bemerfen, daß fie gewaltige Herzklopfen 
befam, wenn das Geſpräch flodte oder er nur ein 
wenig weiter rüdte, 

Und doch hätte fie wer weiß was barum geben 
mögen, ihm jagen zu fönnen, wie hübſch fie ihn fand. 
Aber das war unmöglich. Die Worte blieben ihr 
im Halfe fteden, und ihr fiel nichts andres ein, als 
eine langweilige Phrafe, daß das Stüd fehr amüfant 
geweſen und jehr gut geipielt wäre, „bejonders von 
Ihnen,” fügte fie Hinzu — aber er that das Ganze 
mit der höhnijchen Bemerkung ab, e8 wäre der reine 
Blödſinn. 

Meiſt ſaßen ſie ſtill. Er liebte das Tanzen nicht, 
erzählte er ihr ſogleich, dieſes thörichte Herumhüpfen 
wäre ihm zuwider — nicht einmal als Leibesübung 
hätte der moderne Tanz einen Wert, er ſchwächte, 
anſtatt zu kräftigen. Ob ſie nicht derſelben Meinung 
wäre? 

„Ja—a.“ Sie wurde rot, als jie das fagte, 
benn fie tanzte jehr gern, die Bälle waren ja bie 
einzigen Erlebniffe ihres Lebens — und dann mit 
ihm zu tanzen! Es war ein Genuß ohnegleichen. 
Selbft in dem jagenditen Galopp war jo ein be— 
herrichter Rhythmus in feinen Bewegungen, daß man 
faum atemlo8 wurde. Das fagte fie ihm — „und 
Sie tanzen doc jo ausgezeichnet, wie kein andrer,” 
und ihre Augen leuchteten den jeinen entgegen; er 
aber machte nur eine leichte Verbeugung gegen fie 
und fagte troden: „O ja — id) bin gut trainiert.” 

- Und dann begann er zu erzählen, was für Leibes— 
übungen und Sport er betrieben hätte. Ws Junge 
hätte er abjolut Trapezkünftler werden wollen, Er 
wäre aus einer Provinzialftabt und hätte ſeine 
meijte freie Zeit ala Kind unter den umberreifenden 
Kunftreitern, welche feine Vaterſtadt bisweilen be— 
juchten, zugebracht. Als er vierzehn oder fünfzehn 


Jahre alt war, fonnte er ihnen bereitö die meiften 
gymnaſtiſchen Runftftüde nachmachen, und dieſe 
Paſſion hatte ihn noch verfolgt, als er ſchon ſein 
Studium gewählt hatte. Es verging noch jeht fait 
fein Tag, an dem er ſich nicht Zeit nahm, wenigftens 
ein paar Stunden feine Fertigkeit am Trapez zu 
üben — und ohne ein paar Meilen gegangen zu 
fein, Tegte er fich niemals zu Bett, Von frübefter 
Jugend an hätten ihn Bergtouren intereifiert. Es 
wäre daher ganz natürlich, wenn er zum Botanifieren 
Ausflüge machte. Und er erzählte von gefahrvollen 
Erpeditionen nad ben höchſten Punkten, die noch 
fein Touriſt erreidht hatte, den einen Sommer im 
Norden, ben andern in den Alpen. Und Margarete 
lauſchte geipannt und voll Angft, wenn die Gefahr 
beſonders groß zu fein jchien, und fie mußte ſich 
damit beruhigen, ihn lebendig und wohlerhalten 
neben fi figen zu jehen — er war aljo lebend 
davongekommen. 

Er ſprach mit einer gewiſſen dozierenden Lang« 
famfeit in breiten, langen Süßen, die das Rejultat 
unendlich in die Länge zogen. Aber für Margarete 
hatte alles, was er fagte, das höchſte Interefje, war 
neu und felfelnd, und daß er ſprach und fortfuhr 
zu fprechen, beftändig von ſich ſelbſt, erſchien ihr als 
die jchmeihelhaftefte Vertraulichkeit. Sie fand nur 
wenig Veranlafjung, etwas zu jagen; bie und ba 
eine Frage, ein Ausruf, daß war alle, was er 
brauchte, um im Zuge erhalten zu werden. 

Bon ben Tanzenden rund um fie herum waren 
fie allmählich auf ihrem Plage dicht zufammengedrängt, 
und einmal, bei einem unerwarteten Stoß von einem 
Paar, das beinahe gefallen wäre, wurden feine Schulter 
und jein Arm feſt gegen die ihrigen gebrüdt. Er 
erhob ſich ſchnell und fagte übertrieben förmlich: „Ic 
bitte jehr um Verzeihung, Fräulein!“ mit jo uns 
motiviert heftigem Zornesausdrud im Geſicht, daß 
förmlich die hübſchen Züge entftellt wurden, und mit 
bdjem Blid in den Augen. ‚Und er verjeßte dem 
armen Zölpel einen higigen Stoß. 

Aber das ſah Margarete nicht, denn im dem 
furzen Augenblid, da fein Körper den ihren berührt 
hatte, hatte fie gleihjam eine ſüße, verwirrende Angit 
überlommen, ihre. war. zugleid „warm und Halt, 
und nun, al® es vorbei war, mußte fie ſich an- 
ftrengen, um Mar zuhören und dem folgen zu fönnen, 
was er fagte. Nach der Tiſchtour ging er ſogleich 
fort. Er hätte heute noch feine zwei Meilen zu laufen, 
jagte er. ; 

AL fie dann an diefem Abend nad Haufe Fam, 
war fie fid) ganz Mar darüber, daß fie verliebt ſei — 
und es hämmerte und pochte mit Jubel und Ent» 
züden in jedem Schlag ihres Herzens — denn fie 
glaubte, aud) er wäre e$ ein Meines bißchen — warum 
hätte er ſonſt diefes gejagt und jenes getfan? Und 


Die Gefhihte eines jungen Mädchens, 


obihon e8 nur eine Meine Hoffnung war, an die fie 
fi halten konnte, tröftete fie fi) doch damit; denn, 
jagte man nicht, Liebe erzeugt Liebe? — und dieſes 
Mal war es die wahre, echte Liebe, was fie empfand, 
und feine bloße Einbildung, die ebenjo ſchnell ver- 
ging, wie fie gelommen war — nein, ihn — ihn 
in alle Ewigfeit — war es nicht, als wenn fie vor 
Glück vergehen jollte, wenn fie ſich in die faſt be= 
ängftigende Kraft diejer Arme gepreßt dachte — ja, 
ihn wollte fie haben — ihm und feinen andern — 
und jo mußte fie ihn auch befommen... nie war 
fie mit rofigeren Träumen eingeichlafen, als dieſe 
Nacht. 
II. 

Und was für eine Spannung das hervorrief, — es 
gab dem ganzen Daſein Inhalt. Gar keine Rede 
mehr von Langweile jetzt! 

Sie Hatte vorigen Winter von Papa Schach 
jpielen gelernt und ſchnell darin eine große Gewandt« 
beit erlangt; num war fie Papa ſchon beinahe über» 
legen, und fie war noch eifriger dabei, abends eine 
Partie zu ftande zu belommen, als er. Das Spiel 
war ihr faft zur Peidenjchaft geworden, und wenn 
fie die Schadhfiguren von Feld zu Feld zog, 
den Angriffen des Vaters entgegen, oder dieje mit 
den jhlaueften Manövern abwehrte, dann erjchien 
ihr das wie ihr eignes Leben, es galt die Eroberung 
de3 Königs, und der König war Herr Henning 
Möller — und was war er nicht außerdem alles? 

Ihre Phantafie ftattete feinen ſchönen Körper, 
der fie zuerft entzüdt hatte, mit allen den Eigen- 
Ihaften aus, die fie bei ihm zur Anfenerung ihrer 
Verliebtheit finden mußte. 

Sie wußte beflimmt, welche warme Seele ſich in 
diejer fühlen Hülle barg. Hatte das nicht in den 
zwei bis drei Dußend engliſchen Romanen gejtanden, 
die Mama ihr in den legten paar Jahren um ber 
Sprache willen geftattet hatte, zu Iefen? Er paßte 
genau zu den Beihreibungen der engliichen Lords 
in denjelben — und was hatten die nicht für glühende 
Herzen in ihren forreften evening dresses, welche 
Fülle von Zärllichleit barg ſich nicht Hinter ihren 
Reifen Berbeugungen und ihrem hochmütigen Weſen! 
Wenn die glückliche Gouvernante endlich am die Bruft 
bei Lords ſank, was für feurige Liebesworte flüfterte 
er ihr dann nit ind Ohr! Die Worte jelbit ſtan— 
den dort freilih nicht — aber vor Margaretens 
Ohren klangen fie wie ferne, wirre Muſik, ihr Blut 
brannte, und ihre Wangen glühten, wenn fie daran 
dachte, daß fie all das erleben follte, wenn der rechte 
Augenblid fam, und fie — fie jelbit fih an dem 
männlichen Herzen ihres Lords, bes Herrn Henning 
Möller, wiederfand, 

Und diefen Augenblid malte fie fi) wieder und 
wieder and. War er eines Tages älter ala ge- 


603 


wöhnlich geweſen, jo tröjtete fie ſich damit, ſich die 
Löjung um fo viel wärmer vorzuftellen, und hatte 
eine Berbeugung, ein Lächeln oder ein vorübergehen- 
ber Schimmer von diefem „Etwas“, daß fie beftändig 
in jeinen Augen fuchte, ihre taujend Heinen Sunft- 
griffe, es hervorzurufen, belohnt, dann nahm die 
leidenſchaftliche Erregtgeit des Augenblids gar fein 
Ende. 

In ber erften Zeit nach dem Balle war er, wenn 
möglich, noch zugefnöpfter und froftiger als jonft. 
Aber dann veränderte fie die Taktik, ftellte ſich gleich 
gültig, war träge und unaufmerlfam in den Stun» 
den, gähnte und erlaubte ſich jogar, eine Stunde zu 
ſchwänzen. Da wurde er aufmerffam. Er vermißte 
ihren Eifer, die unverfennbare Bewunderung ihrer 
hübſchen, warmen Augen. Es ärgerte ihn, dort zu 
langweilen, wo er früher Intereffe erwedt hatte. Er 
kroch urplößlih aus jeiner Schale heraus, wurde 
lebhaft, wich von feinem Lehrftoff ab, zog Schubladen 
aus, nahm feine Herbarien von den Regalen herab, 
erzählte die Geſchichte beſonders jeltener Exemplare, 
ganze Meine Romane. Sie genoß ihren Triumph, 
war aber flug genug, ſich lange loden zu laſſen, 
ehe jie nachgab, und dann zeigte ſich, daß fie 
nichts verſäumt hatte, daß fie weiter war, als die 
andern. 

Uber du Fieber Gott, was ihr das zu Haufe auch 
für Kopfzerbrechen koftete! Papa war überaus ver 
wundert über all das Studieren, freute ſich aber über 
ihren Fleiß, obſchon die Buchhändlerrechnung diejes 
Mal zu Neujahr unverhältnismäßig hoch war infolge 
al der botanischen Werke, die auf dem Conto des 
Fräuleins aufgeführt waren. 

Herr Henning Möller war mit Etatsrats auf 
den Vifitenfuß gefommen. Margarete hatte bei 
Papa jo gejchidt mandvriert, daß er einmal den 
Wunſch ausſprach, den Pehrer feiner Tochter bei einer 
Mittagsgeſellſchaſt bei fi zu jehen. Mama hatte 
diejen Vorſchlag überaus eifrig gebilligt, Herr Hen- 
ning Möller hatte. eine Einladung befommen, war 
eriienen, hatte Mama zu Tiſch geführt, und fie er= 
Härte ihn für einen überaus decenten jungen Mann 
und für jehr interejlant. . 

Papa hatte ihm im Rauchzimmer auf den Zahn 
gefühlt und meinte bei ſich im ftillen, er wäre ein 
Stodfijh, aber davon fagte er fein Wort, da er bei 
Mamas Lob Margareten: Wangen erröten und ihre 
Nugen aufleuchten ſah. Na, es konnte ja jein, daß 
er dem jungen Mann unrecht that — aber er be» 
ſchloß doc) bei Gelegenheit feiner wohl ein wenig zu 
leicht feuerfangenden Tochter einen Meinen Dämpfer 
aufzujeßen. Er entjann fi nod) des Maskenballes 
und Chriftians — da war fie ja noch gut davon« 
gefommen, und dies hatte wohl nicht viel mehr zu 
bedeuten. 


604 


Und damit fchrieb es Papa ins Bud des Ver- 


geſſens — das gehörte eigentlich zu Mamas Gebiet, 
Er hatte eine neue Arbeit umter der Feder, die ihn 
völlig in Anſpruch nahm, 

As es Frühjahr wurde, erforderte es Marga- 
retens Gejundheit plößlich, daß fie nad den An- 
firengungen des Winters, wie fie jagte, Morgen« 
Ipaziergänge machte. Und fie, die früher erft ſpät 
am Tage aus dem Bett herauszubringen war, war 
num ſchon um fieben Uhr auf den Beinen und fort, 
ehe ein andrerim Haufe fid) recht zu rühren begonnen 
hatte. Und da Mama jogleich erklärte, daß fie un« 
möglid) dad Ausrennen vertragen fünnte, befam 
Margarete Erlaubnis, allein auszugehen. Sie war 
ja nun aud) fo alt, daß fie auf fich ſelbſt mußte 
aufpafjen können — und dann blieb Mama im Bett. 

Es war freilich ein merfwürbiger Einfluß, den 
biefe Frübfpaziergänge auf Margaretens Gejundpeits- 
zuftand Hatten. All das PVertanzte, Abgebleichte 
verſchwand wie im Fluge, und wenn fie um neun 
Uhr beim Morgenkaffee erſchien, gratulierte Papa 
fih im ftillen zu feinem hübſchen Töchterchen. Und 
was für ein Leben in das Mädchen gelommen war! 
Mama vergaß die Köchin, bie auf den Speifezettel 
wartete, und Papa feine Schreiberei über all diefer 
zwitjchernden Munterfeit, die fie mit ſich nah Haufe 
brachte. „Bei Gott, e8 wäre ja gerade, als wenn 
man dem Frühjahr zuniefte, wenn man fie nur an« 
fähe,* ſagte Papa nnd kniff ihr in die frifchen 
Wangen, 

Herr Henning Möller wohnte in einer der Quer⸗ 
ſtraßen der Defterjö-Promenade. Er war in feinen 
Gewohnheiten jo pünktlich wie ein Uhrwerk und 
machte regelmäßig vor und nad feinen Stunden 
Spaziergänge — jehr häufig denjelben Weg um einen 
beftimmten Glodckenſchlag. 

Das hatte Margarete zufällig in Erfahrung ge 
bradt und bemußte bie Gelegenheit. Die botanischen 
Stunden und die wenigen Male, daß fie fi in 
ihrem Heim jahen, waren ihr ein zu Feines Opera- 
tionsfeld — und dann hatte fie einen unlöſchbaren 
Durft danach), ihm zu jehen. Es brannte und pei 
nigte fie wie eine Wunde von einem Mal zum 
andern. ber jobald ihre Augen nur feine Geitalt 
gewahr wurden — ad, was für eine Erquidung 
und für ein Genuß das war! 

Da erdadhte fie die Frühſpaziergänge. Und aus 
diefen flüchtigen Begegnungen — im Anfang wagte 
fie fi niemals in jeine Nähe, hie und da folgte fie 
ihm ungefehen — fog fie eine Freude und ein Glüd, 
das Papa wohl recht an den Lenz erinnern konnte. 

Als fie ſich die erften Male trafen, ftußte er ein 
‘wenig und ging mit einem Gruß vorüber. Aber 
‚eines Tages — er hatte ihnen in den vorhergehen- 
‚den botanischen Stunden von einer jeltenen Pflanze 


Erna Juel-Hanien. 


erzählt, die gerade im Treibhauſe des Bolaniichen 
Gartens in Blüte ſtand — blieb er vor ihr flehen und 
fragte, ob fie Luft hätte, fie zu ſehen. Sie befänden 
fi dort ganz in ber Nähe. Natürlich hatte fie große 
Luft dazu. Und dann erhielt jie dort drinnen eine 
ganze botanische Stunde. 

Dasjelbe ereignete fich mehrmals. Sie wäre eine 
jo angenehme und weit vorgejchrittene Schülerin, 
jagte er, daß er mit Freude jede Gelegenheit ergriffe, 
ihre Kenntniſſe zu erweitern, auch außerhalb ihrer 
Stunden, und Margarete war darüber ganz ftolz und 
ſehr glücklich. 

Es herrſchte eine ſolche laue, feuchte Wärme in 
dieſem Treibhaus, es war ſo ſtill darin und ſo ge— 
würzt vom Duft naſſer Erde und der vielen Blu— 
men, und fie waren allein dort, ganz allein — ad, 
fie hätte dort bis in alle Ewigkeit mit ihm weilen 
mögen, meinte fie, und fie dachte oft, wenn fie zu 
Haufe abermals die Ereigniffe durchlebte, num müßte 
gewiß der „Augenblid” kommen. 

Jedesmal, wenn fie fich jept trafen, wechjelten fie 
ein paar Worte über Wind und Wetter, über eine 
Pflanze, die er gefunden hatte, und mehr dergleichen 
— und in der allerlegten Zeit kehrte er jogar mit 
ihr um, oder fie ließ fih von ihm einholen, und fe 
gingen zufammen die Promenade entlang am den 
Seen hinauf nad; Defterbro oder auch am Weitrande, 
je nachdem es ſich traf, 

Dann plauberten fie, meift übrigens von Botanil. 
Sie hatte jo vieles gelernt, da fie ſich auch auf 
wifjenichafiliche Details einlafjen konnte. Er war 
im Augenblid eifrig intereffiert für das Thema einer 
Preisabhandlung, die er ausarbeiten wollte: „Der 
Einfluß des arltiihen Klimas auf das Verhältnis 
zwijchen Blumen und Injelten*, und fie vertieften 
fih Häufig in das Thema von entomophilen und 
anemophilen Pflanzen, 

Er hoffte im nächſten Frühjahr mit der Staat 
erpedition nad Grönland gejandt zu werden, um 
dort in diefer Richtung Studien zu machen. or 
diefer Reife graufte ihr. Es war, als wenn eine 
kalte Hand fie ums Herz padte, wenn er davon 
ſprach .. . aber bis dahin war es, Gott jei Danl, 
nod) lange, noch jo lange! 

Er bot meift recht magere Koſt, aber Margare- 
tens verliebtes Herz ſog fie wie den lieblichſten Honig« 
feim in ih. Schon allein die tägliche Spannung 
und Erwarlung von dem Augenblid an, da fie zur 
Hausthüre hinaustrat: würde fie ihm zu jehen ber 
tommen? Und dann, wenn fie bereits von weilher 
feine hohe, fräftige Geftalt jah, in der fie fid 
niemals irrte, weil feine andre ihr ähnelte! Der 
Augenblid war e8 faft wert, dafür zu fterben. 

Ihre Kniee zitterten, und ihre Augen wurden 
förmlich) naß dabei, und dod wußte fie, daß ihr 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


Gefiht vor Freude ftrahlte, obſchon fie ſich große 
Mühe gab, recht ernſt auszuſehen und gleichgültig 
zu hun. Sie hätte die größte Luft gehabt, jobald 
fie ihn nur erblidte, ſich in Lauf zu jeßen, jo ſchnell 
ihre Füße fie tragen mochten, und e& Foftete jie 
jedesmal große Ueberwindung, nicht wenigftens ihren 
Schritt zu beſchleunigen, um in Eite die Entfernung 
zwiſchen ihnen abzufürzen. Dann zählte fie bie 
Bäume am Wegrande. Sie meinte, das hülfe für 
die Ungeduld. Nun war er nur nod zehn Bäume 
entfernt, nun adt, nun ſieben ... nun vier, num: 
„Guten Morgen, Fräulein Holm!“ 

Ihr „Guten Morgen, Herr Möller,“ verſchwand 
in einem Luftſchnappen, jo jeltiam troden war ihr 
im Halje geworden! Er Tüftete den Hut, jo daß 
fie um die Stirm den roten Rand von bemfelben 
und das glatte, blonde Haar erblidte, an dem ber 
Wind zaufte, während er zeremoniell, faft fteif grüßte. 
Und dann trat für einen Augenblid atemlofe Angſt 
ein; würde er gehen... oder?... Er ſchloß ji 
ifr an! 

Aber die erften hundert Schritte gingen fie in ver« 
legenem Schweigen nebeneinander her. Es überlam 
fie ein Tächerlich flaueß, leeres Gefühl der Ent— 
täufhung — aber dann begann er zu reden, ihr 
Gemüt beruhigte ſich, und fie fonnte genießen — ja, 
mit jedem Atemzug das Glüd genießen, neben ihm 
zu gehen, allein ſchon der Verjud, mit ihm Schritt 
zu halten, barg ein freubiges Vergnügen in 
fih! Und dann, als er es merlie und jeinen 
Gang dem ihrigen anpaflen wollte, es aber nicht 
fonnte, wie laut fie da beide lachten! Es war das 
erfte Mal, dab fie ihn lachen hörte. Sie meinte 
auch, er bereute ed hernach, denn er verabjchiebete 
fih an diefem Tage ungewöhnlich ſchnell und machte 
den Verſuch niemals wieder. So mußten fie in Zus 
funft in verſchiedenem Tritt gehen. 

Machte er ſich etwas aus ihr? Sie glaubte «8 
wohl... mern auch nicht gerade in der Weiſe, wie 
fie es wünjchte. Aber das fam ſchon noch — das 
mußte tommen! 

An dem Tage halte er ihr die Hand gegeben, 
oder richtiger, Tie hatte ihm ganz ummillfürlich bie 
ihrige gereicht, als fie jich trennten; denn er hatte 
gegen jeine Gewohnheit von feinen perfönlihen Ver⸗ 
hältniſſen geſprochen, ihr von feiner Kindheit erzählt, 
die ungewöhnlich ftreng und hart gewejen wäre, und 
das hatte fie gerührt — ad), jo unbejchreiblih — und 
dann hatte fie ihm ihre Hand Hingeftredt, und er 
hatte fie genommen — zwar in ſeltſam Falter, ehr- 
erbietiger Art, aber dann hatte jie gewiß betrübt 
ausgejehen, und die dummen Thränen! — und er 
hatte fie angefehen, und es hatte Wärme in feinen 
Bliden gelegen, als er ſagle: „Danke, Fräulein, für 
dieſes Zeichen Ihrer freundlichen Gefinnung für 


nn LT —— —— — — — ——— — — — — — — — 


605 


mich,“ und ſeitdem hatten fie einander die Hand ges 
reicht, wen fie ſich trafen, und aud) beim Abjchied. 

Er hatte auch einmal gejagt, daß fie der einzige 
Menih wäre, dem gegenüber er ſich jemals aus— 
geſprochen Hätte, wie er es nun jo häufig thäte, von 
alle dem, was ihn perjönlid) anbetraf, von feinen 
Zutunftsausfichten als Gelehrter und Forſcher, von 
Werken, die er ſchreiben wollte, und jo weiter, Und 
entjhieden war in der lehten Zeit in feinem Be— 
nehmen ihr gegenüber eine Veränderung zu jpüren, 
die bedeuten lonnte . . . guter Gott! Sie hielt die 
Hände vor die Augen, Thränen flürzten über ihre 
Wangen herab, und es war, ald wenn jid) alles in 
ihr in Glüd und Erwartung auflöjen wollte, wenn 
fie daran dachte, was es möglicherweiſe zu bedeuten 
haben fünnte, 

Er ſprach nicht mehr jo viel wie früher — fie 
fonnten jeßt bie und da geradezu die ganze Prome- 
nade von Dejterbro bis Nörrebro entlang gehen, 
ohne auch nur zehn Worte miteinander zu reden, 
aber in dem Schweigen lag etwas — etwas, das fie 
hundertmal mehr bewegte und verwirrte als zehn- 
taujend Worte, 

Sie hatte gewagt, ihren Blid vorſichtig unter dem 
Sonnenfhirm von jeiner Schulter bis zu feinem Geficht 
binaufgleiten zu laffen, und dann war es mehr als 
einmal geſchehen, daß ihre Augen den feinigen begeg- 
neten, und objchon fie fich beeilt hatte, die ihrigen abzu⸗ 
wenden, ſah fie do, daß er rot wurde. Er lieh 
jetzt auch nicht ihre Hand ſogleich los, und fein Gruß 
— ja, er war freilich fajt noch zeremonieller ala 
früher, aber in jeiner Ehrerbietung lag etwas, was 
ihr Herz rührte. Sie Hatte gefühlt, daß fie das 
legte Mal, als fie voneinander Abjchied nahmen, 
ganz bleich geworben war. 

Aber warum fagte er nichts, wenn er doch —? 
Er mußte ja wiſſen — o, er wußte, daß fie... Ja, 
warum, warum fagte er nichts? 


II. 


Es hatte begonnen, Sommer zu werden. In den 
Allen fanden die Kaftanien in voller Blüte, und 
von den Gärten jandten die Fliederbüſche Wogen von 
Wohlgeruch über die Spaziergänger hin. 

Ungefähr eine Woche lang hatte Henning Möller 
jeine Frühſpaziergänge allein gemadt. Die erften 
Tage, ohne der Sache bejondere Aufmerkjamfeit 
zu ſchenken, aber jpäter mit fortwährend wachſender 
Ungebuld, 

Er hatte, wie er fi) mit einer gewiſſen Gereizt- 
heit geftehen mußte, begonnen, mehr an fie zu denfen, 
als e8 für feine Studien gut war. 

Beſonders jet, da fie fortblieb, 

Bisher waren ihm dieſe Begegnungen mit ihr 
nur eine Zerfireuung geweien — eine Zerftreuung, 


606 


bie er juchle und die ihm mit jebem Tage mehr zur 
Gewohnheit wurde — faft ein Bedürfnis, und nun 
merkte er mit Verwunderung, eine wie große Deere 
es in ihm zurüdließ, daß er fie nicht mehr jah. Ein 
jehr unbehaglices und peinliches Gefühl der Ent- 
täufchung, der verlehten Eigenliebe Märte ihn darüber 
auf, daß jein Verhältnis zu ihr mehr Bedeutung für 
ihn erlangt hatte, ala er jelbft wußte, 

Und dann begann er über die Sache nachzudenken, 
ernft, praftiich, wie über ein wifjenjchaftliches Problem. 

Die Löſung war nicht ſchwer zu finden. 

Dann traf er fie endlich ganz unvermutet um 
die Mittagszeit, als er von feinen Stunden heim- 
fehrte, 

Er jah fie jchon von weitem. Sie ging in ber» 
jelben Richtung wie er, langſam, ſehr langſam, 
als wenn fie auf jemand wartete. Auf ihn, natürlich... 
und er fühlte, wie aus feinem Herzen das Blut in 
ungewöhnlich eiliger, warmer Weiſe in bie Adern 
binausftrömte. Er jchritt umvilltürlid weit aus und 
war bald an ihrer Seite. 

Sie fuhr zufammen, als fie feinen Echritt er» 
fannte, und doch wandte fie ihm nicht jogleich das 
Gefiht zu. Indem er aber grüßte, ſah er e& um 
ihre Lippen zittern, und der Blid, der dem feinigen 
aus den feuchten Augen begegnete, war jo feltfam 
verzweifelt in all feiner Verzagtheit, daß feine Stimme 
ein wenig unficher wurde, als er fragte: „Sind Sie 
— frank gewefen, Fräulein?“ 

Es Mang, als wäre fie heifer, und die Worte be» 
famen faſt feinen Ton, als fie antwortete: „Ad nein 
— durchaus nicht — aber — aber —“ fie drüdte 
ihre behandſchuhten Fingerfpigen gegen die Augen, 
und er jah eine Mare Perle an der lichten Haut hin« 
abgleiten. 

Es war fajt peinlich, mit einem weinenden jungen 
Mädchen jo auf einer belebten Straße zu gehen, 
was fehlte ihr heute nur? 

Er Hätte am liebften mit einer Entſchuldigung 
den Hut abgenommen und — es auf ein andres 
Mal verſchoben. 

Aber es war, als hätte fie erraten, was er Dachte, 
benn fie blidte auf, zwang ſich zu lachen, es wurde 
aber nur ein Gluckſen zwijchen Weinen und Lachen, 
und jagte leiſe und bittend: „Warten Sie ein wenig, 
achten Sie nicht auf mich — es ift dumm, aber — 
aber — id) bin bier jo lange gegangen. Reden Sie 
nicht mit mir! Laſſen Sie mich nur einen Yugen- 
blid jo ganz ftill dahingehen. Ich habe Ihnen 
etwas zu jagen, was — mas —* 

Nein, e8 war jeßt unmöglich, das konnte er der 
Stimme anhören, die überjchlug. 

Er jelbit war ganz ruhig, Er wollte e8 jein, 
Wozu diente all diefe unnüße Aufregung um einer 
jo einfachen Sache willen? Es ſchoß in ihm das 


Erna Juel-Hanjen. 


triumpbierende Gefühl empor, daß er der Herr ihres 
Schickſals wäre, bie Thränen im dieſen hübjchen 
Augen trodnen könnte, ihr Geficht in jedem beliebigen 
Augenblid dazu bringen, vor Glück zu ſtrahlen. 
Diefe Gewißheit bereitete ihm einen Genuß — den 
er noch eine Weile verlängern wollte. Und außer 
dem mußte bie Zeit wahrgenommen werden. Es war 
zwiſchen zwei und drei Uhr an einem jehr warmen 
Tage. Es waren nur wenige Spaziergänger auf 
der Straße, aber er wußte aus Erfahrung, daß & 
binnen kurzem belebter fein würde, und danı — 
aber nun begann fie zu reden, 

Sie hatte nun die Selbſtbeherrſchung wieder: 
gewonnen, aber in der Stimme lag unterdrüdte Er- 
regung, und bie und dba mußte fie tief hinunter 
ſchlucken, um für die nächſten Worte den Ton 
hervorzubringen. Sie ſtrich nervös mit der Zungen 
jpige über die Lippen, die immer wieder troden 
wurden und nicht gehorchen wollten. Sie blidte zu 
Boden, aber hie und da glitt ihr Blick mit ängfi- 
lihem Spähen zur Seite, wenn jemand vorbeilam. 

„sa — ich habe Ihnen etwas zu jagen, und — 
ich weiß nicht recht, wie ich es jagen joll. Es ift jo 
dumm und jo — jo — aber ich muß,” fie holte tief 
Atem; „wir — wir — können nicht — das heißt, 
id) lann morgens nicht länger bier fpazieren geben! 
Papa hat es mir verboten, er verbietet mir jonft 
niemald etwas, Mein Onf... Es iſt jemand — 
man hat uns bier zufammen gefehen, und man bat 
dem eine — eine peinliche, finnloje Auslegung ge- 
geben — und — und — ad, Sie willen nicht,” 
lam es mit plöglihem Ausruf, „wie ſchredlich es ift, 
ein junges Mädchen zu fein — daß ift das Schred- 
lichfte von allem in der Welt; es ift gerade, als wenn 
man ftändig in der Zwangsjade ftedte — nichts darf 
man, alles ift unpafjend oder unanft . . . Und dann 
— dann jehen wir und niemald mehr, nun, da die 
botaniſchen Stunden ein Ende haben, und dad —* 
fie wurde jehr rot und zitterte, jo daß er den Son» 
nenjchirm in ihrer Hand erbeben jah, fe jeufzte tief 
und fagte tonloß, aber ſeſt: „Ja — Eie follen es 
wiſſen. Das find die beften Stunden, die id) noch 
verlebt habe, hier zufammen mit Ihnen — das ein- 
zige, was...” dann brad ihre Stimme um, und 
fie ſchwieg. 

Sie waren nad) Defterbro binaufgelangt. Eiwas 
weiterhin famen einige Spaziergänger ihnen entgegen. 

„Kehren wir um!” jagte er furz. 

Sie fehrten um, gingen raſch vorwärts und waren 
bald den andern aus dem Geſichtskreis. Sie prefte bie 
Augenlider jet zu über die Thränen, die fie nicht 
fallen laſſen wollte, und fam fich wie eine Gefangene 
vor, die ihr Urteil erwartet. 

Aber es war gleich, heute mußte es zur Entfchei- 
bung fommen. Sie hielt es nicht länger aus, Nun 





Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


war fie jeden Tag in diefer Woche‘ hier auf und ab 
gegangen und hatte gewartet. Zange durfte fie nicht 
fortbleiben, zu Haufe wurde auf fie aufgepaßt, jeit 
Papa Skandal gemadt hatte, und über Möllers 
Rahmittagefpaziergänge wußte fie nicht genau Bes 
ſcheid. Sie war jo müde und vergrämt vom Warten, 
num hieß es biegen oder brechen. 

„Sagen Sie mir, Fräulein — Margarete,“ er 
zögerte ein wenig vor dem Vornamen. Er hatte fie 
noch niemals mit demjelben angeiprochen, fie fuhr 
daher zufammen und mußte nad Luft fchnappen. 
Sie ſah auf. Er fing den Blid auf und wurde rot, 
Er ſuchte nach Worten in ben erften paar Säßen, aber 
dann befam jeine Rede ihre gewöhnliche vortrags- 
mäbige Sicherheit. 

„Haben Sie niemals darüber nachgedacht, wozu 
unfre — wozu diefe Begegnungen führen könnten 
— ja führen müßten?“ 

Sie beugte den Kopf tief herab und fagte leiſe 
und zögernd: „Nein,“ aber fie wurde glühend rot. 
Cie lonnte doc unmöglich „ja!” fagen. Aber in 
ihr jubelte e8: ja! — es ſchrie faft in wilder freude: 
Endlih! Endlich! 

„So—0? Na, dann ift es ja gut, dak ich für 
uns beide gedacht habe. Ihr Vater hat volllommen 
tet. Ein junger Dann und eine junge Dame 
lönnen ſich nicht im {Freien treffen und zujammen 
ſpazieren gehen, wie wir es in der lehten Zeit gethan 
haben, ohne für ein jo vertrauliches Verhältnis, wie 
es dadurch angedeutet wird, einen legitimen Hinter 
grund zu haben. Sie erraten wohl, dab id) eine 
Verlobung meine?" Er jchwieg, ald erwartete er 
eine Antwort. 

Aber fie fagte nichts. 

Sie war jehr bleich geworben und jdhritt wie 
iaumelnd dahin. Der Weg jchien ihr plöglid in 
einem großen Bogen nad) rechts in den See hinaus- 
jubiegen. Das Blut fummte vor ihren Ohren, feine 
Stimme erflang zu ihr wie durd Baumwolle, und 
obſchon fie jedes Wort hörte und wie mit allen 
Nerven lauſchte, konnte fie es nicht unterlaffen, bie 
Baumflämme am WWegrande zu zählen: eins, zwei, 
drei, vier, fünf — bis fie vor ihren Augen in der 
Ferne in einen Strich zufammenliefen. 

Er fuhr fort: „Ich bin immer allein gewejen, 
Ih Hatte bis auf diefen Augenblid oder vielleicht 
richtiger biß vor ganz furzem mein Leben darauf 
eingerichtet, e8 auch fernerhin zu bleiben. Das paßte 
am beiten für meine Natur, meinte ih. Ich habe 
wiemal3 Freunde gehabt. Ich habe keine Zeit ge= 
habt, mich der Kultivierung von Freundſchaften zu 
widmen, Meine Studien und meine Thätigfeit als 
Lehrer haben mic biäher ganz und gar in Anspruch 
genommen, Und außerdem — e8 ift nicht viel Ver— 
gnügen dabei zu finden. In den meiften Menjchen 


607 


ftedt jo verteufelt wenig drin! Man it jelbft 
mit ben beften Eremplaren der Raſſe in vierzehn 
Tagen fertig. Mit einer merhvürbigen Indistretion 
plappern fie ihr bißchen Inhalt bereits in den erjten 
Geſprächen aus, und dann driſcht man leeres Stroh 
auf den alten Geſchichten. Daß ich eine traurige 
Kindheit gehabt habe, habe ich Ihnen wohl ſchon 
erzählt. Mein Vater verbitterte und das Leben 
buch eine brutale Tyrannei, die ihresgleichen 
ſuchte. Ich babe ihn gehaßt, ich glaube, vom 
erfien Augenblid an, ba ich denfen konnte. Glüd- 
licherweife ift er ſchon vor vielen Jahren ge= 
ftorben, nachdem er erſt meine brave Mutter zu 
Tode gequält hatte. Ich habe eine verheiratete 
Schweſter — aber ich ehe fie niemald. hr Dann 
ift ein Lumpenferl, den ich nicht ausftehen ann. 
Sie enlſchuldigen, daß ich Hier all diefe perfönlichen 
Verhältniffe berühre, aber ich hielt e8 für notwendig, 
Ihnen einige Nufflärungen über mich zu geben, ehe 
— ehe ich zu dem eigentlichen Thema unſers Ge- 
ſpräches übergehe.” Er räufperte ſich und ſchwieg 
einige Augenblide, 

Ad, warum dauerte das jo lange? Sie mußte 
ja zum Mittag zu Haufe jein und durfte nicht 
weiter ala bis zum Ende des Weges gehen — warum 
fagte er es denn nicht gleich? AN diefes konnte ja 
jpäter an die Reihe fommen. Und doch rührte es 
fie in einer eigentümlichen Weife. Es war, als würde 
das Herz ihr jo weit in der Bruft. Ad, wie fie 
ihn Tieb haben wollte, wenn fie nur durfte! 

Dann ſprach er wieder weiter, Wber bereits die 
erfien Worte jagten ihr das Blut in heigen Strömen 
zum Kopf und in die Wangen hinauf. 

„Ich bin niemals verliebt geweſen, und ich fage 
es mit einem gewifjen Stolz: es giebt fein Weib auf 
der Welt, das irgend welche Nechte auf mich hat, 
nicht eined, das auch nur den flüchtigften Eindrud 
auf mich gemacht Hat. Ich Habe keine Dummheiten 
begangen — das phyfifche und pſychiſche Ich eines 
jungen Mädchens fann in der Beziehung nicht reiner 
und unberührter fein ala das meinige — und das ift 
mehr, glaube id) wohl, als die allermeifien Männer 
in meinem Alter von fi rühmen fünnen —“ 

AH Gott, wie fie ſich ſchämte! Sie entjann ſich, 
als wäre es gejtern geweſen, des bärtigen Mannes, 
ben fie damals gelüßt hatte, und der Verliebheit — 
o, wenn fie es hätte ungeichehen machen können... 
und dann die Bälle — die Händedrücke — die Worte, 
bie ihr zugeflüftert waren und die fie beantwortet 
hatte — alles, alles zufammen tauchte wieder vor 
ihr auf und ängftigte fie. Sie fuchte mit Gewalt 
die Röte zu unterbrüden und neigte den Kopf jo tief, 
daß der Schatten des Strohhutes ihr Geficht verbarg. 
Denn er e8 ihr nur nicht anjehen oder anmerken 
fonnte! Wenn er fie jept bat — durfte fie dann 


608 


ja jagen? Ach, aber fie fonnte, fonnte micht nein 
fagen! 

„IH darf nicht mit Beftimmtheit jagen, dab ich 
in Sie verliebt bin —“ 

Sie wurde ganz kalt, und ihr Herz ſchlug jo 
langiam, als wenn es ftillftehen wollte, nur mit 
Mühe vermochte fie die Füße von der Stelle zu 
bringen. 

Er jah den Schatten des Schmerzes, den er ihr 
bereitete, über ihr Geficht hinziehen und fuhr fort: 
„Ih gebe im ganzen genommen nicht viel für den 
Rauſch, den man PVerliebtheit nennt —* 

Nein, das war nicht auszuhalten! Nun mußte 
fie, wo er hinaus wollte. Zubovifa hatte fie gewarnt 
— ah, daß fie jo Dumm gemejen war, ſich zum 
Narren halten zu laſſen! Sie hob den Kopf empor, 
ſah ihn an und fragte — es fam wie in einem Schnap- 
pen nad Luft, aber recht ſcharf und ficher: 

„Wollen Sie etwa mit mir experimentieren ?” 

Er ſtutzte, runzelte die Stirn und jagte verlegt: 
„Wie fommen Sie zu der Frage, Fräulein? Was 
berechtigt Sie zu glauben —“ 

„Ad, man beihuldigt Sie, mit jungen Mädchen 
zu experimentieren — fie in Sie verliebt zu machen 
und — und fie dahin zu bringen, daß fie ihre Ge— 
fühle ausplappern ... und dann — dann ſich ber= 
nad) über fie luftig zu machen.“ 

„So, deſſen beſchuldigt man mich wirflih? Ei, 
ei!" Er ſtrich ih das Kinn und um den Mund, 
um das Lächeln gefihelter Eitelkeit zu verbergen, das 
er nicht unterdrüden fonnte. „Und nun meinen 
Sie,“ fuhr er fort, „daß alle unfre Gejpräche, die 
Befriedigung, die wir empfunden haben, wenn wir 
ung trafen, von meiner Seite nur ein Experiment 
geweien jein jollten, um Ihnen Ihren feelifchen In— 
halt auszupreffen, wie man eine Zitrone auspreit — 
hm! Das veripricht nichts Gutes für den Ausfall 
diefer Unterredung,” er beugte fich über fie und ſah 
fie mit einem Blid an, dem er einen zweifelnden 
Ausdrud geben wollte; aber fie wandte den Kopf 
von ihm ab, 

Schmerz, Scham und Verlegenheit rangen in ihr. 
Es war, als hätte fie Die größte Luft, ſich von diejem 
Menſchen loszuringen. Er war in diefem Augenblid 
ein fremder Dann für fie — ah, wie dumm fie 
gewejen war, und wie weh das that! 

Er beobadhtete den Ausdrud auf ihrem Gefidt. 
Es war nicht ganz das, was er erwartet hatte. Sollte 
er ſich möglicherweiie geirrt haben? War fie nur 
tofett — oder... Der Zweifel regte ihn an, und 
es lag mehr Gefühl in feiner Stimme, als er fortfuhr: 

„Ich will Ihnen gegenüber ehrlich fein. Dabei 
ftehen wir uns beide am beften. Ich habe mich biß« 
weilen mit — mit jungen Damen in meiner Weiſe 
amüfiert. Aber, glauben Sie mir, es ijt weniger 


Erna Juel-Hanjen. 


meine Schuld als die der jungen Damen geweſen, 
und id; habe Ihnen ja gejagt, daß ich mir michte, 
abfolut nichts vorzumwerfen babe. ber Fräulein 
Margarete, mit Ihnen ift das anderd geweſen. Ih 
babe geglaubt, bei Ihnen ein wärmeres, tieferes 
Interefje für mich zu jpüren, als ein andre Mäbd- 
hen es mir erwieſen hat, und ich ſelbſt — Sie find 
nicht ganz fo wie andre, es ift etwas im Ihrer 
Natur, etwas Neues, das —“ 

„So—0?* unterbrady fie ihn furz, und es lag 
Bitterleit in ihrem Ton, „mit mir find Sie aljo 
noch nicht fertig geworden — obſchon es mehr ala 
vierzehn Tage ber it —“ 

„Warum wappnen Sie fi plölich mit jo viel 
Mißtrauen gegen mih? Sie wiſſen ja gut, daß 
meine Morte von vorhin nicht Ihnen galten. Unſer 
Verhältnis ift feine Tagesfreundfchaft — nicht wahr?“ 

Er ſah fi eilig um, um fid) zu vergewiſſern, 
daß niemand in der Nähe wäre, trat ihr ein wenig 
näher und ergriff ihre Hand, die ſchlaff an der Seite 
herabhing. „Liebes Fräulein Margarete — ich meinte 
ja gerade, daß diefe Unterredung dazu führen follte, 
daß von heute ab zwiſchen ums eine geiftige, unauf- 
lösliche Kameradſchaft beftehen follte, ein Dajein en 
deux, ibeeller und bauernder, als die gewöhnlichen 
Verbindungen zwiſchen den Geſchlechtern. Was wir 
zu erreichen wünſchen, ift ja eine Legitimierung bed 
Verhältniſſes, das ſchon in diefem Augenblid zwi— 
ſchen und befteht, und das vermutlich auf ber fym- 
pathifchen Anziehungsfrajt beruht, die überall in der 
Natur zwifhen dem männlichen und meibliden 
Element entſteht. Mein Leben ift bisher leer und 
nüchtern geweſen, wenn Sie wollen, aber in dieſen 
Tagen, da ih Sie nicht fah, wurde es mir Kar, 
dad — daß — es — wenn Sie wollten, einen 
reicheren und gehaltvolleren Inhalt bekommen Fönnte. 
Ih Habe in diefer Richtung ficher manderlei zu 
lernen — wollen Sie diejenige fein, die es mid 
lehrt — wollen Sie, Margarete ?* 

Endlih, endlih! Das mußte Liebe jein, das 
war fie — natürlih! Sie atmete tief auf, als fiele 
eine fchwere Laſt von ihrer Bruft herab, indem fie 
halb flüjternd, halb lachend einige verwirrte Worte 
ſprach, deren Bedeutung fie ſelbſt nicht kannte. Ihre 
Augen ihwammen in Thränen, das Sonnenliät 
gligerte vor ihnen, jo daß alles zujammenlief, 
indem fie ſich unwillfürlich fefter an ihn drüdte. Als 
er ihr fragend ins Geſicht blidte, lag über ihren 
Zügen ein Ausdrud, der ihn fo ſtark ergriff und be= 
wegte, dab er, faft gegen feinen Willen, die Haud, 
die er noch in ber feinigen hielt, an feine Lippen 
binaufführte — aber er ließ fie augenblicklich wieder 
los. Und obſchon die Berührung jo flüchtig war, 
daß fie eigentlich fie nicht bemerkte, durchfuhr doch 
ein Beben des Glüdes ihren Körper. 





"Die Gefhihte eines jungen Mädchens. 


Es waren nur noch wenige Schritte, bis fie 
Nörrebro erreicht hatten, wo jte ſich trennen mußten, 
und das fiel ihr mit einem ſchmerzlichen Stich durchs 
Herz ein. 

Ein paarmal blidte fie nad jeinem Arm bin — 
dann jchob fie jhüchtern ihre Hand darunter. Er 
zögerte einen Wugenblid wie in Ueberraſchung, 
bog dann aber den Ellbogen. Im jelben Augenblid 
preßte fie ihr Gefiht umd ihre Lippen in einer 
plötzlichen, unwiderſtehlichen Lieblofung in feinen 
Rodärmel hinein, dicht unter der Schulter, und fühlte 
den feften, harten Musfel, — und dann waren fie 
am Ende der Promenade. 

„Run müfjen wir jcheiden,* jagte er, „ich möchte 
Sie gern weiter begleiten, aber — es hat ja feinen 
Zwed, das Vollsgerede herauszufordern, bevor Sie 
— bevor ich bei Ihrem Herrn Vater gewefen bin.“ 

Er ließ den Arm finfen. Sie wurde rot und 
zog den ihrigen an fid. 


609 


„Sie werden Yhren Vater ja wohl darauf vor= 
bereiten — ich werde ſuchen, mir Zeit zu verſchaffen, 
und fomme jchon heute abend —“ 

Sie blidte ihn mit feuchten, warmen Augen an, 

„sa — ad) ja, danke! Kommen Sie heut abend!” 

Dann lachte fie, weich, gludjend, Halblaut. Sich 
zu denken, daß fie jagen fonnte: „Adieu — auf heut 
abend!” 

Er Tüftete den Hut, und fie ging. Aber nicht 
ohne ſich umzudrehen und feiner verſchwindenden 
Geſtalt einen Blick nachzuwerfen. Wie groß, ſtark 
und ſtolz er dahinſchritt und den Kopf hoch über 
allen andern trug. Es war, als wenn ihr Herz vor 
Zärtlichleit und vor Glück überſtrömte, während ſie 
daſtand und ihm nachblickte . .. und dann lief fie 
davon, nad) Haufe, jo ſchnell fie konnte, um nicht zu 
jpät zum Mittagefjen zu fommen. 


Fortſehung folgt.) 


Gedichte von G. Gosbue. 


Aus dem Rumänifchen überfeht von W. Rudow. 


J. 
Inder Sriübe. 


Mit Peitichentnall, fo 309 er heut 

Schon früh vorbei an unferm Baus; 

Und an der Peitjche kannt' ich ihn 
Und eilt hinaus, 


Ich weiß; es jelbft nicht, wie es fam: 

Um Mebjtuhl Tief ich alles ſtehn — 

Sprang auf umd ftürzjte zu der Chür, 
Um ibn zu fehn. 


Den Faden hab’ ich ganz verwirrt, 

Zerbrochen gar ein Fenſterlein: 

So eilig hatt’ ich's, ihn zu fehn, 
Bei ihm zu fein. 


Mei nicht mehr, wo der Kopf mir fteht — 

Was wollt‘ ih nur fo unbedacht ? 

©, nidyts! Nur fragen, ob er fanft 
Geruht die Nacht. 


So ift er nun! Er fafte mich 

Zuerſt nur bei der Hand — und fieh! 

Auf einmal hielt er mich im Arm, 
Weiß felbft nicht wie! 


Ich aber hab' mich losgemacht, 

Gab harte Wort' ihm zum Geleit, 

Doch war es mir nicht ernſt — und jetzt, 
Jetzt thut's mir leid. 


Nicht, weil ich an der Schwelle mir 

Den Fuß geſtoßen und verrenkt — 

Nein, weil ich unrecht ihm gethan 
Und ihn gekränkt. 


So aut wie er ift feiner mehr; 
Wenn ich ein böfes Wort ihm ſag', 
So hat er feine Freude mehr 

Den ganzen Tag. 


I. 
Sresto-Ritoruelle. 


Ich finde, daß es feinen Kingen giebt, 
Der durch die Kiebe nidyt ein Narr geworden; 
Jedoch auch feinen Klugen, der nicht liebt. 


“ 
Diel Liebchen hab’ ich drin und draußen auf der Gaſſe, 
Dod; feine will, daß ich fie küſſe noch ihr folge; 
och wen’ger aber, daf ich ungeküßt fie laffe. 


“ 
Die Rofe rühmte fich, fie fe fo weiß wie du; 
Der Wind vernahm's und gab ihr einen Badenftreich, 
Da ward die Rofe rot vor Scham und ſchwieg dazı. 
* 


Du bift verdreht! Ich hab’ dich bei der Hand genommen: 

Umfaſſen wollt’ id; dich — das hat dich jo erzürnt: 

Acht Tage bift du drauf nicht mehr zu uns gekommen. 
* 


„Leicht fteiaft du auf, vermagft du MWiderftand zu zwingen." 
„Die £eute ſchmähen mich!" — „Es wiflen ja die Kinder: 
Wennmanam Drachen zieht, wird er fich höher ſchwingen.“ 


= 
„Wir zankten geftern. Schlimm, daß ich fo ſchnell vergeffe, 
Erft eben, da du mich gefüßt, fällt mir es ein, 
Es follte geftern ja zum lettenmal fein!" 


“ 
Gelb ift die Sonn’ im Nebel, gelb das Komm, 
Durch das du Gelbgezopfte wandelft hin, 
Weißt du, woher auch idy fo gelb geworden bin? 





Aus fremden Zungen, 1897. IL 13, 


77 


„Srauenlieb“. 


Von 
Rudyard Ztipling. 


Aus dem Englifchen überfeßt von Leopold Lindau, 


Der Schreden, die Verwirrung, die Verhaftung 
des Mörders, alles war vorbei, als ich fam. Auf 
dem Stajernenhof fonnte man nur noch das Blut 
des Ermordeten jehen, da3 zum Himmel um Rache 
ſchrie. Die heiße Sonne hatte es ſchnell getrodnet, 
es fah jetzt aus wie ein dünnes Blättchen dunkler 
Goldſchlägerhaut, und die Hibe hatte es in Heine, 
rautenförmige Täfelchen geteilt, die, vom Winde nad 
oben gehoben, wie eine ftumme Zunge den Himmel 
zum Zeugen anriefen. Dann kam ein heftiger Wind« 
ftoß und blies alles fort, in feinen, bunfeln Staub» 
förnden. Die übermädtige Hike lieh fein Ber 
weilen auf dem Hofe zu. Die Mannjchaften waren 
in ihren Stuben und unterhielten fi über das 
Ereignis des Morgend. Eine Gruppe von Soldaten- 
‚frauen ſtand am Eingange der Abteilung für ver- 
heiratete Leute, von wo aus bie jhrille Stimme eines 
jeternden Meibes zu hören war, die böfe und ſchmutzige 
Worte jprad), 

Ein Sergeant, ein ruhiger, anftändiger Mann, 
der fid) eines tadellofen Rufes erfreute, hatte joeben 
im hellen Tageslicht einen feiner eignen Korporale 
totgeſchoſſen, war dann ruhig in jeine Stube ge» 
gangen, hatte fich auf fein Bett gefeßt und ganz un« 
befangen und ohne die geringfte Aufregung zu zeigen, 
gewartet, bis die Wache fam, um ihn zu arretieren. 

Nah dem gewöhnliden Gang der Dinge wird 
er einem Gerichtshof überwiejen werden. Tyerner — 
aber daran hat er wahrfcheinlich in jeiner Aufregung 
nicht gedadjt — wird er mir eine Maſſe unangenehmer 
Arbeit aufbürden; ich werde über ben Prozeß zu 
berichten haben, ohne jedwede Hilfe; und was ber 
Prozeß bringen wird, dad weiß ich aus eigner, 
trauriger Erfahrung: die übliche Unterfuchung jeines 
Gewehrs, das Verhör eines halben Dubends feiner 
Kameraden, die erftidende Hitze im Gerichtsjaal, bis 
der Bleiftift aus ben jchweißtriefenden Fingern auf 
das Papier fällt; das einförmige Geräuſch des 
Punkah,“ das Geſchwätz der Zeugen auf ber 
Veranda u. ſ. w. Der Oberſt jeines Regiments 


Groher indiſcher Facher. 


wird über die moraliſche Führung bes Angellagten 
Zeugnis ablegen ; die Geſchwornen ſchwitzen und ftöhnen, 
und die Sommeruniformen der Zeugen riechen nad) 
Schweiß und billiger Seife; ber unjelige Sajernen- 
feger, der als Zeuge geladen ift, wird ſich in dem 
Kreuzverhör verwirren, das der ehrgeizige, junge 
Advolat mit ihm anftellt, der ſtets die Verteidigung 
ber gemeinen Soldaten übernimmt, bloß wegen dee 
Ruhmes, den fie ihm nie einbringt, und der fiets 
auf mich wütend ift, weil ich jeine bemofihenilchen 
Leiftungen nicht forreft berichte. Schließlich werde 
ih den Angeklagten wieder treifen als Schreiber 
im Gefängnig — denn er wird ganz gewiß nicht 
gehängt werden — und ihn mit der Hoffnung tröiten, 
daß er in einigen Jahren Gefängniswärter auf den 
Andamanen *) werden wird. 

Das indiihe Strafgejeßbuh und die Richter ber 
traten den Mord unter allen Umftänden und bei 
jedweder Provokation als keinen Spa. Sergeant 
Raines, der jeinen Kameraden totgeſchoſſen hatte, 
konnte ſich glüclich ſchätzen, wenn er mit fieben Jahren 
Strafarbeit davonlam. Er hatte die vorhergehende 
Nacht über das Unrecht, das ihm gejchehen war, ge 
brütet und jein Opfer am nächften Morgen erſchoſſen, 
ehe er mit irgend jemand darüber hätte reden können. 
Davon war ich überzeugt: fieben Jahre würden das 
Geringfte fein, das Raines erwarten durite. 

Kein Tag ift fo lang wie der eines Mordes. Am 
Abend diejes Tages traf ich Ortheris**) mit ben 
Hunden. 

„IA werde einer von den Zeugen fein,” jagte 
er, ohne daß ich ihn aufgefordert hatte, über bie 
Sache zu ſprechen. „Ich war auf der Veranda, alt 
Madie aus Frau Raines' Stube fam. Quigleh, 
Parſons und Trot waren auf der inneren Veranda, 
wo fie nichts hören und jehen konnten. Sergeant 
Naines war auf der Veranda und unterhielt fih mit 
mir, und ald Madie über den Hof kam und Raines 


*) Infelgruppe im Meerbuſen von Vengalen. 
**) Ein Soldat in der anglo-indiihen Armee, der in ſtip⸗ 
lings Novellen eine hervorragende Rolle jpielt. 


„Frauenlieb“. 


ſah, ſagte er zu ihm: Na, Sergeant, haben ſie 
Ihnen ſchon Ihren Helm abgeſtoßen?“ Darüber 
wird Rained wütend, er holt tief Atem und jagt: 
‚Mein Gott, das ift zu viel, das kann ich nicht er— 
tragen" Mit den Worten reift er mir mein Gewehr 
aus der Hand und ſchießt Madie nieder. Com- 
prenez-vous?* 

„Aber was thaten Sie denn mit Ihrem Gemehr 
auf ber äußeren Veranda, eine Stunde nad) der 
Barade ?* 

„Was ich mit meinem Gewehr that? — ja, ih 
machte es rein — natürlich,“ ſagte Ortheris mit 
dem trotzigen, unverjchämten Blid, der gewöhnlich 
feine frechſten Lügen begleitet. 

Er hätte mir ebenfogut jagen fünnen, daß er 
eine Polfa mit feinem Gewehr getanzt hätte, denn 
zwanzig Minuten nad der Parade konnte er abfolut 
nicht mit feinem Gewehr zu thun haben. Der 
Gerichtshof jedoch Tonnte das nicht willen. „Und 
wollen Sie bei dieſer Ausſage bleiben? — auf Ihren 
Eid?" jagte id. 

„sa, da können Sie ſich verdammt drauf vers 
lafien.* 

„Gut, das ift Ihre Sache, ich will weiter nichts 
wiffen. Aber vergefien Sie nicht, daß Quigley und 
Parſons und Trot etwas gehört haben müflen, wo 
fie waren; und Sie können fi darauf verlafien, 
dab irgend ein Kajernenfeger oder jonft ein Arbeiter 
auf dem Hof geweſen jein muß; die Kerle find faſt 
immer da.“ 

„Es war nicht der fyeger, es war der ‚Beaftie‘,*) 
und auf den kann man fich verlaffen, der ſchwatzt 
nicht.“ 

Daraus konnte ich Schon merken, daß beim Prozeß 
recht gefunde Ausjagen gemacht werben würden, und 
der Staat3anwalt, ber die Auflage vertrat, that mir 
wirklich leid. 

Als der Prozeß anfing, that er mir noch mehr 
leid. Er war ein Mann, der ſehr leicht heftig und 
gereizt wurde und jebe verlorene Sache ala jeine 
eigne betrachtete. 

Raines’ junger Advolat hatte Diesmal feine Paflion 
für Alibis und Unzurechnungsfähigfeit vergeſſen, ließ 
alle gumnaftiichen und pyrotechnifchen Runftftüde aus 
dem Spiele und arbeitete ruhig und gemefjen für 
feinen Klienten. Es war glüdlicherweije erit der 
Anfang des heißen Wetters, und bis jet war noch 
kein Morbanfall in der Kaſerne zur Kenntnis ber 
Behörde gefommen; die Jury war eine gute, ſo— 
gar für indiſche Verhältniſſe. Ortheris ftand feft 
und ließ fich durch nichts in feiner Ausjage er- 
ſchüttern . . . Der eine ſchwache Punkt in jeinem 
Zeugnis war der limftand, daß er fein Gewehr auf 


) Korruptes anglosindijches Wort für Bheeſty = Wafferträger. 


611 


der äußeren Veranda hatte, und dies wurde von dem 
Anwalt nicht beachtet; — es war eine Sache, welche 
die Weisheit des Ziviliſten überſtieg, obgleich einige 
der Zeugen nicht umhin konnten, über dieſe Be— 
ſchränktheit zu lächeln. 

Der Vertreter der Negierung beantragte Todes- 
firafe und befand darauf, dab es ein Fall 
bon vorjäßlihem Mord je. Er beftritt durchaus, 
daß das Unrecht, weldes dem Mörder wider- 
fahren fei, ein Milderungsgrund für eine ſolche 
That fei. In Anbetracht dieſes Unrechts jedoch, das 
niemand in Wbrede ftellen konnte, fowie des vor« 
trefflihen Zeugniſſes, das ihm jein Regimentsfom« 
mandeur ausftellte, erhielt der Gefangene nur zwei 
Jahre Gefängnis, Der Vertreter der Regierung war 
entrüftet über dies allzu milde Urteil und verließ ben 
Saal in großer Wut. Der Gefangene wurde ab« 
geführt und den Zeugen, bie zum Regiment gehörten, 
anbefohlen, bis zur Abendlühle zu warten und dann 
nad) ihren Rantonnements zurüdzumarjchieren. Sie 
fammelten fi) auf der breiten Veranda und unters 
hielten fidh über den Prozeß, das Gefängnis und 
andre das Zagedereignis betreffende Fragen. Man 
gratulierte Ortheris, der die Hauptrolle in diejem 
Drama geipielt hatte und die ihm erwiejenen Ehren» 
bezeigungen mit geziemender Beſcheidenheit im 
Empfang nah. 

„Das ift ein efelhafter Heiner Kahltopf,“ ſagte 
Ortheris, als er den Regierungsanwalt, der zu jeinem 
Frühſtück fuhr, bemerkte „Ih kann ihn wahr« 
haftig nicht ausftehen, aber er hat einen hübjchen, 
Heinen Hund, den ich jehr gut leiden mag.” 

Ortheris war im ganzen Kantonnement als großer 
Hundeliebhaber und als jehr geſchickter Hundedieb 
befannt. 

„Nächte Woche muß ich nach Murree,*) — der 
Hund ift immerhin feine fünfzehn Rupien wert.” 

„Sieb fie nur für Meſſen für bein Seelenheil 
aus,“ jagte Terenz Mulvaney, **) der drei Stunden 
lang Wache geftanden hatte, 

„Na, ganz gewiß nicht," ſagte Ortheris über 
mütig. „Du fiehft müde aus, Terenz.“ 

„Das bin ich auch, bei Gott! Das Wacheſtehen 
greift die Fußjohlen an, aber hier it das Sifen 
beinahe ebenjo unbequem.“ 

„Warten Sie einen Augenblid, Terenz, ich werde 
Ihnen einige Siffen aus meinem Gig holen,” 
jagte id). 

„Bei Gott,“ fagte Ortheris, als ſich Mulbaney 
auf die Kiffen warf, „wir werden jehr fein! Ich 
wünjche dir, Terenz, daß du ſtets einen jo weichen 

*) Berühmte: Sanatorium im nordweſtlichen Punjab. 


*) Iriſcher Soldat in der anglosindiihen Armee, cine in 
Kiplings Novellen häufig vortommende Figut. 


612 


Platz finden mögeft, wie du ihn jet haft, und ihn 
mit einem Freunde teilen fannft.“ 

„Hier ift ein Kiffen für di, Stanley, — fo, 
num gieb mir meine Pfeife; ja, ja, bier ift wieder 
ein guter Kerl zum Teufel gegangen, und nur wegen 
eines Frauenzimmers. Ich muß wenigſtens vierzig 
bis fünfzig Mal bei Gefangenen Wache geflanden 
baben, und ich haſſe e8 jedesmal mehr und mehr.” 

„Ich erinnere mic) an vier oder fünf Fälle, Terenz; 
bei Loſſon, bei Lancey Dugard und bei Stebbin, 
wenn ich nicht irre,” jagte ich. 

„Ach! und lange vor der Zeit,“ ſagte der alte 
Soldat mit einem müden Lächeln, „’s iſt wahr« 
baftig beifer, mit ihnen zu flerben, als fie alle zu 
überleben. Wenn Raines aus dem Gefängnis fommt, 
wird er ein ganz andrer Menſch geworden jein, 
Er hätte zuerft das Frauenzimmer und dann fid 
ſelbſt totſchießen follen. Jeht hat er feine Frau allein 
zurüdgelaffen, die noch vorigen Sonntag mit Dina 
Thee getrunfen hat. Madie ijt am beiten daran.” 

„Der wird es auch ziemlich heiß haben, wo er 
bingegangen iſt,“ bemerkte id, denn mir war etwas 
von dem Lebenswandel des Ermorbeten befannt. 

„Sa, da haben Sie allerdings recht," ſagte 
Terenz, indem er über das Geländer der Veranda 
jpudte. „Aber was er da friegt, ift doch nichts 
im DVergleih zu dem, was er bier gefrient haben 
würde, wenn er gelebt hätte.“ 

„Ad, dummes Zeug! Er würde ruhig jo weiter 
gelebt und alles vergeifen haben!“ 

„Haben Sie Madie gut gelannt?“ jagte Terenz. 

„sa, ih habe ihn mal einen Tag zur Jagd bei 
mir gehabt, er war ein recht amüfanter Kerl.“ 

„Die Amufements werben fie ihm jeht wohl ein 
bischen hoch hängen; ich Habe Madie recht gut ger 
fannt und ich habe zu viel jeinesgleichen geſehen, 
um mid in ihm zu irren. Er würde, wie Sie 
fagen, die ganze Geſchichte vergeflen haben, das heißt 
nur anſcheinend. Er war ein Mann von guter Er« 
jiehung und madte in feinen Affairen mit den 
Frauenzimmern einen glüdlihen Gebraud) davon, 
Aber manchmal gelang es ihm doch nicht jo recht, 
und e3 fam vor, daß eine, die ſich das ihr gejchehene 
Unrecht nicht gefallen laffen wollte, ſich wie eine 
Furie auf ihn ſtürzte und ihm drobte, ihn zu zer= 
fleiſchen. Ich kann e8 Ihnen nicht jo recht be= 
ſchreiben, wie es mir jo in den Kopf gefommen ift, 
aber Madie war die lebende Kopie eined Mannes, 
den ich gekannt habe und der ungefähr dasjelbe Leben 
führte, und es ift jammerfchade, daß er nicht dasfelbe 
Ende genommen hat wie Madie. Wie hieß er doch 
glei... ad) ja: Larry, Larry Tighe, das war fein 
verfluchter Name. Einer der Refruten, der mit ihm 
eingezogen war, jagte, Larry wäre von guter Familie 
und beabjichtige, Offizier zu werden — und Larry 


Rudyard Pipling. 


bat ihn dafür Halb totgefchlagen. Er war ein 
ichöner, großer Mann, und bei manchen Frauen« 
zimmern macht das einen großen Eindrud, — viel» 
leicht nicht bei allen; aber bei Larry war e& wirklich 
immer ber fall. Er verſtand allen zu jchmeicheln, 
und fein Mädchen, — und, wenn man die Wahre 
heit fagt, feine Frau, die auf Gottes Erde lebt — 
fonnte ihm widerftehen. Und er wußte es, er wußte 
es geradefo, wie Madie e8 wußte, der jet wo anders 
gebraten wird. Und er hat nie verfucht, eine zu 
überreden, wenn er nicht die jhlechteften Abfichten 
dabei Hatte. Es ziemt mir wahrhaftig nicht, darüber 
zu reden, der liebe Gott weiß es, aber ich muß jagen, 
die meilten meiner Affairen — wie foll ih fie 
nennen — ‚Mesalliancen‘ — famen vom reinen 
Uebermute, und recht herzlich leid hat e& mir immer 
gethan, wenn irgendwie etwas Schlimmes daraus 
entftand. Und wie oft, wenn ich es dem Mädchen 
an den Augen anjehen konnte, daß id; mehr Unheil 
anrichtete als ich glaubte, habe ich die ganze Ge- 
ſchichte abgebrochen, beſonders wenn ich an meine 
gute, alte Mutter dachte, die num tot ift! Aber 
Larry, wie e8 mir ſchien, — ber mußte mit ber 
Milch einer Teufelin gejäugt fein, der hat nie eine 
gehen laſſen, bis er fie an Leib und Seele zu Grunde 
gerichtet Hatte. Und er nahm das alles jo leicht 
und ruhig hin, ala wenn er feinen gewöhnlichen 
Kafernendienft thäte. Und, bei Gott, er war ein 
ſchneidiger Soldat. Da mar zum Beijpiel die 
Gouvernante des Oberften, die niemand je in ber 
Kaferne gejehen hatte, und er war doch nur ein ges 
meiner Soldat; und eine von des Majors Dienft- 
mädchen, die fih ſchon einem andern verfprodhen 
hatte — und Gott weiß, wie viele noch, von denen 
wir nichts wußten.... und wie's fam, daß er fie alle 
in feiner Macht hatte, daß wußte niemand, Es 
war eben in feiner Natur, es war ihm angeboren, 
fie alle zu überreden. Und nicht immer die Güb- 
ſcheſten — Gott bewahre! — fondern joldhe, von denen 
Sie bei allen Heiligen geihworen haben würden, daß 
fie nie etwas Unrechte8 oder Unbeſonnenes thun 
fünnten. Und fo fam es au, daß er niemals ab» 
gefaßt wurde. Ein paarmal war er allerdings dicht 
daran, aber jo recht haben fie ihm doch nie etwas 
anthun fönnen. Und, willen Sie, das hat ihm 
zuleßt mehr Schaden als alles geihan. Er hat ſich 
oft und gern mit mir unterhalten; er jagte oft, wenn 
ich eine ebenjo gute Erzichung gehabt hätte wie er, 
würde ich eim ebenjo großer Lump geworben jein. 
Iſt es denn wahrjcheinlich,‘ fagte er, ald wenn er 
jehr ftolz darauf wäre — ‚ift e8 denn wahrfcheinlich, 
dab ich abgefaßt werde? Und am Ende aller Enden, 
was bin ih denn? Ein verlumpter, verlommener ge 
meiner Soldat. Glaubt du denn, Terenz, daß bie, 
die mich wirklich fennen, mit einem gemeinen 


„Frauenlieb“. 


Soldaten etwas zu thun haben würden? Für die bin 
ih nur Nummer 10407* Ih konnte an feiner 
Sprache merken, wenn er ſich nicht verftellte, daß 
er ein Gentleman war, Ich weiß nicht, was du 
meinft,‘ fagte ich, ‚aber eines weiß ich: dab dir der 
Teufel aus den Augen gudt, und ich will nichts mit 
dir gemein haben; ein bißchen Spaß von Zeit zu 
Zeit ift alles recht jchön und gut, das kann niemand 
ſchaden, aber ich müßte mich jehr irren, Larry, wenn 
dir Died wirflih Spaß mad.‘ — ‚Du irrft dich jehr!* 
fagte er, ‚und id) rate dir, diejenigen, bie befier find 
als du, nicht zu Fritifieren.‘ — ‚Befler find als ich? 
Ad, du lieber Gott, Larry, in diefer ganzen Ge« 
ſchichte ift nichts befjer, es iſt alles gleich niedrig und 
ſchlecht, und das wird dir eined Tages Mar gemacht 
werden!" — ‚Entſchuldige mich,‘ fagte er, indem er 
feinen Kopf ſtolz zurüdwarf — ‚du bift nicht im 
geringften wie ih!" — ‚Gott und alle Heiligen feien 
gelobt, daß ich nicht wie du bin! Was ich Un— 
rechtes gethan, habe ich von ganzem Kerzen bereut,‘ 
jagte ih, ‚und bu wirft eines Tages daran denten.‘ 
— ‚Und wenn die Zeit fommt, ehrwürdiger Vater 
Terenz, werde ich zu Ihnen um Nat und Hilfe 
fommen.‘ — Und mit den Worten ging er fort, 
voller böjer Gedanken. Er war ein jchlecdhter Kerl; 
ſchlecht und durch und durch verdorben, wie die Hölle 
jelbſt. Es liegt nicht in meiner Natur, vor irgend 
etwas Bange zu haben, aber — bei Gott! — mir 
war in diefem Augenblid bange vor Larry. Er kam 
in die Kaferne mit feiner Mühze auf einem Ohr und 
warf fi auf fein Bett und flarrte nad) der Dede 
hinauf. Bon Zeit zu Zeit hörte man ihn lachen, 
ein Meines, höhniſches Lachen, das Hang, ala käme 
e8 aus dem Abgrund der Hölle herauf, und ich wußte, 
daß er über neue Niederträchtigkeiten nachdachte, und 
dann war mir bange vor Larry. Das ijt Tange, 
lange her, und es hat mir wirklich gut gethan — 
auf einige Zeit wenigftens. 

Ich glaube, ich habe Ihnen gejagt, dab man mid; 
höflichſt und freundlichſt erfuchte, aus den ‚Tyronern‘*) 
auszutreten, wegen einer Heinen Unannehmlichkeit, 
die ich dort Hatte.“ 

„Ja, hatte es nicht etwas zu thun mit einem 
Manne, dem Sie den Kopf aufgejpalten hatten?“ 
Zerenz hatte mir ſchon einmal die Details der Ge- 
ſchichte erzäßlt. 

„sa, und wahrhaftig — jedesmal, wenn id) 
Bade bei einem Gefangenen habe, wundere ich mic 
immer, daß ich nicht der Gefangene bin, Aber es 
war alles im ehrlichen, offenen Zweitampf, und der 
Mann, dem ich den Kopf zerichlug, war vernünftig 
genug, nicht zu fterben. Denten Sie nur, was aus 
der Armee geworden wäre, wenn ich ihn totgejchoffen 





*) Name eines anglosindiihen Regiments, 


613 


hätte! Und fo hat man mid) erfucht, befonder® mein 
Oberft, aus dem Regiment zu treten, Ich ging 
auch, um nicht unhöflich zu fein; Larry ſagte mir, 
daß es ihm jehr leid thäte, von mir zu ſcheiden. Ich 
babe feine Ahnung davon, warum es ihm leid thun 
jollte, und jo lam ich denn wieder zu dem alten 
Regiment und ließ Larry) dort, um auf feinem eignen 
Wege zum Teufel zu gehen. — Wer ift denn das, 
der da eben aus dem Gehege geht?" Terenz' geübtes 
Auge hatte einen Dann in weißer Uniform bemerft, 
ber verfuchte, unbemerft um die Ede zu ſchleichen. 

„Der Sergeant macht jeine Runde,” jagte einer 
von den Umſtehenden. 

„Dann habe ich das Kommando,“ ſagte Terenz, 
„und ich verbitte mir, daß einer von euch den 
KRafernenhof ohne Erlaubnis verläßt. Ich habe feine 
Luft, heute um Mitternacht eine Patrouille nad) dem 
Bazar hinunter zu ſchicken. Nelfon, ich weiß, Sie 
find es, fommen Sie fofort hier auf die Veranda 
zurück!“ 

Nelſon, der ſich ertappt ſah, kam räſonnierend 
auf die Veranda zurück, und Terenz fuhr ſort: 
„Nach dem habe ich lange Zeit nichts von Larry ge» 
jehen. Wenn man feinen Abfchied nimmt, ift es 
ebenjo, als wenn man geftorben wäre. Man ver— 
gißt alle und wird von allen vergeffen. Und dann 
heiratete ich meine Dinah — und fo fam es, daß id) 
gar nicht mehr an die alten Zeiten dachte. Kurz 
darauf wurde das Regiment an die Front kom— 
mandiert, und es brad) mir beinahe das Herz, daß 
ich meine junge Frau im Depot in Pindi laſſen mußte. 

„Sie erinnern fih, Herr, was ich Ihnen von 
dem Gemehel bei Silver’! Theatre erzählt habe. 
Mein Regiment und die Tyroner waren zufammen, 
und nad) dem Kampf wurde ich fommandiert, mid) 
um die Toten zu befümmern. Ich jah mi um, 
ob ich nicht jemand von den Tyronern fände, der 
fi meiner erinnerte, Der zweite Mann, den ih 
traf, war Larry, und ich wunderte mich, wie es fam, 
daß ich ihn nicht im Gefecht bemerkt Hatte. Er war 
noch immer ein ſchöner Dann, nur ein bißchen älter 
geworden. ‚Larry‘, ſagte ih, ‚wie geht es dir!" — 
‚Sie irren fi,‘ jagte er mit feinem vornehmen 
Lächeln, ‚Larry ift jchon jeit drei Jahren tot. Es ift 
„Frauenlieb“, mit dem Sie reden.‘ — Daran fonnte 
ich merfen, dab er den alten Teufel noch in ſich 
hatte; aber das Ende einer Schlacht ift gerade nicht 
die befte Gelegenheit, ſich gegenfeitig Offenheiten zu 
jagen, und fo fegten wir uns hin und ſchwatzten ein 
bißchen. 

„Ich habe gehört, du haft dich verheiratet,‘ fing 
er an, ‚bift bu glüdlich mit deiner Tyrau ? 

„Sch werde es fein, wenn ich nach dem Depot 
zurüdtomme,' ſagte ih; ‚dies iſt eine Art Re— 
connaifjfance-Honigmond.‘ 


614 


„Ich bin aud) verheiratet,‘ fagte er, indem er 
langſam und nachdenklich feine Pfeife paffte. 

„Ich gratuliere dir von ganzem Herzen! Das 
ift wirklich eine gute Nachricht, die beſte, die ich jeit 
langer Zeit gehört habe.‘ 

„Meinſt du wirklich?‘ fagte er, und bann fing 
er an, von der Campagne zu ſprechen. Das Blut 
und der Schweiß von dem Kampfe bei Silver’s 
Theatre waren noch nicht troden, und er fing ſchon 
an, um neue Arbeit zu beten. Ich märe froh genug 
gewejen, till zu liegen und dem Singen des Thee- 
keſſels und dem Klappern der Rüchentöpfe zuzuhören. 

„Als er aufftand, bemerkte ich, daß er beim Gehen 
hin und her ſchwankte und fein Körper ganz ver- 
dreht zu fein jchien. 

„Du haſt mehr weg gefriegt als du glaubit, 
Larry,‘ fagteich ; Iaß dich mal ordentlich unterfuchen. 
Es fommt mir vor, als ob es ſchlimmer mit dir 
ftände, als es jcheint,‘ 

„Er drehte fich herum und ftand gerade und ftramm, 
wie ein Ladeſtock, vor mir und nannte mic) einen im» 
pertinenten irländiſchen Affen, der fich lieber um ſich 
ſelbſt befümmern follte. Wenn dies in der Kaſerne 
ober irgendwo anders geweſen wäre, jo würde ich ihn 
für feine Frechheit gehörig verhauen haben; aber vor 
dem fyeinde und nad) einer ſolchen Affaire, wie das 
Gefecht bei Silver’s Theatre, konnte man niemand 
wegen jeiner ſchlechten Laune zur Rechenſchaft ziehen 
— und id war jpäter jehr froh, daß ich nicht$ weiter 
fagte. Während wir noch da ſaßen und ſchwahten, 
fam unfer Kapitän — Groof hieß er — auf uns 
zu. Er hatte fih mit dem Heinen Offizier von den 
Zyronern unterhalten. ‚Wir find alle in Stüde 
gehauen, und die Tyroner haben faft gar feine Unter« 
offiziere mehr. Gehen Sie 'rüber, Mulvaney, -und 
jehen Sie zu, was Sie dort thun fünnen.‘ 

„I that, wie mir befohlen war, und ich fand, daß 
bom ganzen Negiment ein einziger Sergeant bienft= 
fähig war, und dem wollten fie nicht gehorchen. Der 
ganze Dienft fiel alfo auf meine Schultern, und es 
war die höchfte Zeit, daß ih fam. Aber vor dem 
Abend hatte ich ſchon Disciplin in die Kerle gebracht, 
und es dauerte nicht lange, fo war ich es eigentlich, der 
das Regiment kommandierte. Und das war Crools 
Abficht geweien, und der feine Offizier wußte e8, 
und ich auch, aber die Leute in der Gompagnie 
wußten es nicht und — jehen Sie — das ijt gerade, 
was ein alter Soldat wert ift und was fein Geld 
in der Welt bezahlen fann: daß er den Dienft des 
Dffizier kennt und ihn thut, ohne daß die Leute es 
merlen. 

„Bald darauf wurden die Tyroner und das alte 
Regiment auf Rekognoscierungsdieuſt über die Grenz» 
hügel geihidt, Wiffen Sie, es ift meine unmaß- 
geblihe Meinung, dab es jehr häufig vorfommt, daß 


Rudyard Kipling. 


ein General in vielen Fällen nicht weiß, was er mit 
feinen Leuten anfangen jol. Dann fhidt er fie 
lints und rechts herum auf alle möglichen Exkurſionen. 
Ich weiß aber, daß bei diefen Geſchichten mehr Leute 
umlfonmen al& bei einer großen Schladt. Und was 
hatten wir von dieſen verfluchten Scharmügeln? 
Einer nad) dem andern unfrer beflen Leute murde 
uns des Nachts von hinten weggeſchoſſen. Wir 
waren alle der Sache berzlih müde, — bloß nicht 
Frauenlieb‘. Für den war es das größte Per 
gnügen! Ich Habe die Tyroner wohl zwanzigmal 
zum Rüdzjug geführt, aber ‚Frauenlieb‘ konnte 
ich nie fortfriegen. Der blieb zurüd, bis er beinahe 
allein war; dann fland er auf, jo groß, wie er ge» 
wachſen war, im jchlimmften euer. Oder des 
Nachts feuerte er auf feine eigne Fauft, denn er hat 
nie auch nur eine halbe Stunde gefchlafen. Mein 
fommanbdierender Offizier — Gott fegne den lichen, 
Heinen Kerl ! — konnte auch nicht das Geniale meiner 
Taltik verftehen, und wenn wir mit dem alten Re 
giment zufammenfamen, lief er herüber zu Groof 
und beſchwerte fich über mich. Ich hörte ihn einmal 
von meinem Zelte aus und mußte herzlich laden. 
‚Er läuft fort wie ein Safe,‘ fagte der Steine. ‚Er 
demoralifiert meine ganze Mannjchaft.‘ 

„Sie dummer Heiner Kerl!‘ fagte Eroof ladhend, 
‚im Gegenteil, er lehrt Sie, was Sie zu thun 
haben! Haben Sie ſchon mal einen nächtlichen 
Ueberfall erlebt * 

„Nein,‘ fagte der Kleine ganz traurig; ‚id 
möchte, wir hätten einen erlebt.‘ 

„Haben Sie Verwundete gehabt?‘ fagte Crool. 

„Mein, antwortete das Find, ‚das war gar nicht 
möglich, die Kerle laufen zu jchnell hinter Mulvaney 
ber!‘ 

„Na, was wollen Sie denn mehr? Terenz weiß, 
was Sie noch nicht wiſſen: daß es eine Zeit für 
alles giebt; Sie können fih auf ihm verlaflen, er 
wird Sie nit irre führen. Aber ich gäbe einen 
Monat meines Gehalte, wenn id) wüßte, was er 
von Ihnen hält.‘ 

„Das beruhigte den Kleinen auf einen Monat. 
Aber ‚Frauenlieb‘ hielt fich über alles auf, was ih 
that, bejonder8 über meine Taltik. 

„Herr Mulvaney,‘ fagte er eines Abends in jehr 
verächtlicher Weiſe, ‚Sie find verdammt flint auf 
den Beinen. Unter Gentlemen benennt man das 
mit einem jehr häßlichen Namen.‘ 

„Unter Gemeinen nennt man es anders,‘ fagte 
ich fehr ruhig und ernft. ‚Gehen Sie jegt in Ihr 
Zelt — ich bin der Kommanbdierende hier Er 
merfte wohl am Ton in meiner Stimme, dab id 
feine Worte gerade nicht jehr freundlich aufnahm. 
Als er von mir fortging, bemerkte ich wieder den 
eigentümlichen Gang, der mir ſchon mehrere Dale 


„Frauenlieb“. 


aufgefallen war. Er ſchob langſam dahin, als ob 
ihn jemand von hinten getreten hätte. 

In derſelben Nacht machten die Afghanen eine Meine 
Pandpartie. Das erfte, was ich davon bemerfte, 
waren die Kugeln, die in meinem Zelte wie Hagel» 
fürner berumflogen. ‚Bleibt ruhig Tiegen,‘ foms» 
mandierte ich; ‚rührt euch nicht, Takt fie nur ihre 
Munition verplempern!‘ — Ich hörte ganz deutlich, 
wie einer meiner Leute aufgeflanden war, und fonnte 
ebenjo beitimmt den Knall eines ‚Zini‘*) erkennen, 
Ich hatte gemütlich und warm im Zelt gelegen und an 
meine Dinah gedacht; ich kroch aber jetzt vorfichtig 
heraus, um mid doch ein bißchen umzufehen, im 
falle fie einen Sturm auf das Lager machten, 
Ih lonnte das Feuer des ‚Tini‘ am äußerſten Ende 
des Lagers erfennen. Beim Sternenlicht jah ich 
‚Hrauenlieb‘. Er ſaß auf einem feinen Felſenblock 
und hatte feinen Helm und Gürtel abgenommen. 
Don Zeit zu Zeit ftieß er ohne jede DVeranlaflung 
einen lauten Schrei aus. ‚Sie hätten die Diftanz 
längft ausfinden müſſen,‘ hörte ich ihm zu ſich jelbft 
jagen. ‚Vielleicht werden fie fie an meinem Feuer 
erfennen.‘ Dann feuerte er mehrere Schüffe ab, 
deren jeder wiederum eine Salve vom Feinde zurüd« 
brachte, und ich hörte, wie ihre Kugeln gegen bie 
Helfen rajlelten wie die Baumfröſche in einer heißen 
Nat. ‚AH, das iſt beſſer,“ jagte ‚Frauenlieb‘, 
‚D Herr! O Herr! Wie lange! Wie lange! Dann 
zündete er ein Streichholz an und hielt e8 über feinen 
Kopf. Verrückt!‘ dachte ih — ‚ganz und gar ver= 
rüdt!® — Ih ging einen Schritt vorwärts; in dem» 
jelben Augenblid fühlte ih, wie alle Knochen in 
meinen Beinen prickelten. &8 war eine Kugel, Die 
mich — Gott jei Dank! — nicht einmal berührte, 
fondern an dem Felsblod, gegen den ich mich lehnte, 
abprallte. Ich aber padte Frauenlieb beim Kragen 
und ſchmiß ihn unter den großen Stein. ‚Du kannſt 
bier deine ſchlechten Witze machen, ich aber habe feine 
Luft, mich zu deinem Vergnügen totjchießen zu 
laffen.‘ — ‚Du bift zu früh gelommen,‘ fagte er, 
‚einen Augenblid zu früh. Noc eine Minute, und 
fie fönnten mid) nicht verfehlt haben. Heilige 
Mutter Gottes! Nun muß ich noch einmal von 
vorne anfangen. Warum haft du mid nicht ge 
währen fafjen? Er verbarg fein Gefiht in feinen 
Händen. — ‚Sp, fagte ich und ſchüttelte ihn tüchtig, 
‚und deshalb willft du nicht Ordre parieren® — 
Terenz, jagte er, ‚ich habe nicht den Mut, mich jelbft 
zu töten, ich lann es nicht mit eigner Hand thun, 
und jchon jeit einem Monat Habe ich alles verjucht, 
aber feine Kugel will mid, berühren, es ift gerade, 
als wenn ich gefeit wäre, Es ift mein Schidjal, 





+, Martinigewehr, in der englifhen Infanterie im Ge— 
brauch. 


‘ fünfzig Fuß von uns entfernt. 


615 


langfam und qualvoll zu fterben. O, ſchrie er wie 
ein Frauenzimmer, ‚ich leide jet jchon die Dual eines 
Verdammten!‘ — ‚Gott beichüke dich, Larry,‘ fagte 
ich, als ich jein erbärmliches Geficht jah. ‚MWillft du 
mir nicht jagen, was mit dir los ift? Wenn es 
fein Mord ift, fann man dir am Ende noch helfen,‘ 
— ‚Mord jagte er mit einem jchredlichen Lachen, 
‚Mord? Entfinnft du dich nicht, was ich die einmal 
in der Sajerne jagte, daß ich zu dir fommen würde, 
wenn ich deines Rates bebürfte? Die Zeit ift jet 
gekommen, die Zeit ift da; jeit Monaten und Monaten 
habe ich mic, dagegen gefträubt, aber es geht nicht 
mehr. Terenz, der Schnaps hat feine Wirkung 
mehr, ich kann mich nicht mehr bejaufen.‘ Da wußte 
ih, daß er die Wahrheit gejprochen Hatte und daß 
er wirklich Höllenqualen litt, denn wenn der Schnaps 
nicht mehr wirkt, jo ift das ein Beweis, daß ein 
Mann durch und durch vernichtet if. Aber, was 
lonnte fo einer, wie ich bin, ihm jagen? — ‚Dia- 
manten und Perlen,‘ fing er wieder an, ‚Diamanten 
und Perlen Habe ih fortgefhmiffen, mit vollen 
Händen fortgeihmiffen, und was ift mir nod in 
dieſer Welt geblieben?‘ — Er lehnte feinen Kopf an 
meine Schulter, und ic fonnte merfen, wie er am 
ganzen Körper zitterte und bebte. Und ich hörte, 
wie die blauen Bohnen fo recht Iuftig über uns hin« 
pfiffen, und ich wunderte mid), daß mein Heiner 
Offizier vernünftig genug war, feine Leute bei all 
diefem Feuer ruhig zu halten. — ‚Solange ih 
nicht anfing, über mein Leben nachzudenken,‘ fuhr 
Frauenlieb‘ fort, ‚jolange ich nichts ſah, nichts fehen 
wollte, war es erträglich; aber jetzt kann ich jehen, 
was ich verloren habe. Jeht kann ich verfichen, was 
ich jagte, daß es mir gefiel, allein meinen Weg zur 
Hölle zu gehen. Aber fogar dann,‘ jagte er umd 
zitterte mehr alß je — ‚jogar dann würde ih nicht 
glüdlich gewejen fein. Wie fonnte ic) ihrem Schwure 
glauben? ch, der ich meinen Eid fo ojt gebrochen 
hatte, bloß um das Vergnügen zu haben, fie weinen 
zu ſehen! Und damn find noch all die andern! 
O, was ſoll id anfangen — was joll ich thun?...* 
Er wiegte fi Hin und her, und ich glaube, er weinte 
wie eines von den Frauenzimmern, von denen er 
ſprach. Das meifte von dem, was er ſprach, war 
mir unverſtändlich, aber ich konnte mir doc jo un« 
gefähr flar machen, was ihn quälte: es war das 
Gericht Gottes, das über ihn gefommen war, wie 
ich ihm in der Tyroner Kaſerne gejagt hatte. Die 
Kugeln kamen immer dichter, und ich fagte zu 
ihm: ‚U, dente jet nicht an dieje Geichichten ; wir 
lönnen jeden Augenblid einen Sturm auf das Lager 
erwarten!" Ich hatte dies faum gejagt, als ich einen 
Afghanen bemerkte, der auf uns zufroch mit jeinem 
Meſſer zwilhen den Zähnen. Er war höchſtens 
Frauenlieb‘ fprang 


616 Rudyardb Fipling. 


auf und ftieß einen lauten Schrei aus, und ber 
Feind ſah ihn und ftürzte auf ihn los mit dem 
Meffer. „Frauenlieb‘ blieb vollftändig gleichgültig, 
aber der Afghane ftolperte und fiel lang bin, und ich 
hörte das Klirren feines Meſſers auf den Steinen, 
— Ich fagte dir ja,‘ ſagte, Frauenlieb‘, ich bin wie 
Kain; was nüßt e8, den Kerl tot zu fchlagen? Er 
ift am Ende ein beſſerer Menſch als ih.‘ — Ich 
batte feine Luft, gerade in diefem Augenblid mit ihm 
über die Moral der Afghanen zu flreiten, ih riß 
Frauenliebs‘ Gewehr aus feinen Händen und zer— 
ſchmelterte mit dem Kolben den Kopf des Afghanen. 
‚Schnell, ſchuell! ind Lager zurüd!" rief ich ihm zu, 
‚das ift wahrjcheinlich der Anfang eines Sturms!‘ 
— Bir blieben noch Tange Zeit unter Waffen, aber 
es fam fein Sturm. Der Afghane muß allein ger 
fommen fein, aus eigner, perjönlicher Niederträchtig- 
feit. Bald darauf ging aud ‚Frauenlieb* in fein 
Zelt, mit dem verfluchten ſchiefen Gang, den ich nie 
verfiehen fonnte. Wahrbaftiger Gott, er that mir 
leid; ich Fonnte auch nicht ſchlafen. 

„Sie lönnen fid) wohl denken, daß wir nad) diejer 
Nacht oft und viel miteinander ſprachen, und nach und 
nad) fam es denn aud) alles heraus, wie ich vermutete, 
Alle jeine Frauenzimmetgeſchichten, alles, was er ge= 
fagt und gethan hatte — und er allein wußte, was es 
war — waren ihm wieder durch ben Kopf gegangen, 
und er konnte feinen Augenblit Ruhe finden. Es 
war eine Art Säuferwahnfinn, an dem er litt, ohne 
Schnaps getrunfen zu haben — ad Gott, was 
jag’ ich denn? — er würde froh geweien jein, wenn es 
bloß Delirium gewejen wäre. Aber e8 war ſchlimmer, 
zehnmal jhlimmer als das, Al die Frauenzimmer, 
mit denen er zu ihun gehabt hatte — und Gott 
weiß, wie viel dad waren — famen ihm wieder ins 
Gedächtnis, und er bereute fein Unrecht, wie ich es 
noch nie von jemand gejehen hatte. Unter den 
Dutzenden von Frauenzimmern, an bie er badhte, 
war ganz beſonders eine, die jeine Seele mehr quälte 
als alle andern. Und wie oft hat er mir gejagt, er 
hätte jo glüdlich mit ihr jein können, er, der an fein 
irdijches Glüd glaubte... ‚Diamanten und Perlen‘ 
nannte er fie und fagte, er hätte Hände voll davon 
weggeſchmiſſen. Und dann fing er wieder von vorne 
an; und jo ging e& herum und immer wieder herum, 
wie ein blindes Pferd in einer Delmühle. Und je 
mehr er über alles nachdachte, je elender fühlte er 
fi und je mehr meinte er, — e3 war wirklich zum 
Herzbrechen! Wie oft habe ich geſehen, dab er ohne 
befonderen Grund fich tief büdte, und al& ich ihn 
fragte, was das bedeuten ſolle, jagte er: alles Unrecht, 
was er im Leben gethan hätte, alles Gute, was er 
verloren hätte, fände vor ihm und quälte ihn wie 
mit glühenden Zangen, Was er den andern gethan 
hätte, bereute er aud), aber das Unrecht, das er diefer 


einen Frau zugefügt habe, das fönnte er ſich nie 
vergeben. Nie in meinem Leben habe ich einen 
Mann gejehen, der ſich jo gequält hat wie diefer, 
Ih Habe viel durchgemacht im Leben und viel ge» 
litten, aber das ift ja alles Kinderſpiel im Vergleih 
zu dem, was dieſer arme Kerl zu ertragen hatte. 
Und was fonnte ich für ihn tun? Für ihn beten 
vielleicht, aber ich fürdhte, das würde nicht genüht 
haben, — 

„Die Campagne ging nun zu Ende, die Re 
gimenter wurden zufammen gerufen und wieder 
nad ihren verſchiedenen Kantonnements gejandt. 
„Frauenlieb‘ war in Verzweiflung, denn es gab nichts 
mehr zu thun, und defto mehr Zeit hatte er zum 
Nachdenken. Ich Habe den Mann beobachtet, wie er 
fi) mit feinem Gewehr und feinem Säbel unter 
halten bat, bloß um nicht zu denlen. Und mit 
feinem Gang wurde e8 immer ſchlimmer und ſchlim ⸗ 
mer; feine Beine baumelten vom Rüdgrat herunter 
wie die eines Hampelmannes. Aber ich konnte ihn 
nie bewegen, zum Doltor zu gehen, und wenn id 
ihm dazu riet, wurde er bitterbös umd ſchimpfte und 
fluchte wie ein Verrüdter. Aber ich wuhte jehr wohl, 
daß man ihn nicht mehr wie einen vernünftigen 
Menſchen behandeln konnte, So lieh ich ihn räfon« 
nieren, ſoviel er wollte. Eines Tages famen wir 
beide von einem Spaziergange um das Lager zurüd, 
als er plößlich ſtehen blieb und mit feinem rechten 
Fuße drei oder viermal den Erbboden zu berühren 
ſuchte. ‚Was ift denn 108% fragte ih. — Iſt das 
der Erdboden? jagte er. Ich glaubte, er wäre 
geradezu verrüdt geworben. In dem Augenblid fam 
ber Doktor auf uns zu. ‚yranenlieb‘, der jet immer 
tödlich blaß ausjah, wurde mit einem Male feuerrot, 
und feine Beine baumelten mehr wie je hin und her, 
‚Halt da!‘ fagte ber Doktor, ‚till geſtanden!“ 
jagte er zu ‚Frauenlieb‘, ‚Machen Sie die Augen 
zu und halten Sie fi) nicht an Ihrem Kameraden 
feſt!‘ — ‚8 ift alles vorbei mit mir,‘ jagte , Frauen⸗ 
lieb‘ mit einem herzbrechenden Lächeln, ‚ich werde 
fallen, wenn ich meinen Kameraden loslafie; das 
willen Sie am beiten, Herr Doktor.‘ — ‚Was? 
fallen, wenn du die Augen zujchlieheft,‘ ſagte ic; 
‚was meinft du denn?" — ‚Der Herr Doltor weiß, 
was ich meine,‘ jagte er. Ich habe mich ſtramm 
gehalten jolang es ging, aber bei Gott im Himmel, 
es geht nicht mehr! Und ich bin froh, dab alles 
vorbei ift. Ich werde fterben, langjam, langjam 
fterben.‘ — Ich fonnte dem Doftor anjehen, dab 
ihm der Mann jehr leid that; er fommandierte ihn 
fofort ins Lazarett. Ich brachte ihn dorthin und war 
im höchſten Grade erjtaunt. ‚iFrauenlieb‘ ftolperte 
und ftrauchelte bei jedem Schritt. Er ruhte mit einer 
Hand uuf meiner Schulter, und fein rechtes Bein 
baumelte willenlos bin und ber, wie das eines lahmen 


„Brauenlieb“. 


Kamel. Ich konnte es nicht fallen, was denn 
eigentlich mit ihm los war. Es war gerade, als 
wenn des Doltors Worte das ganze Unheil ange 
richtet hätten, al$ ob, Frauenlieb‘ bloß auf dieſe Worte 
gewartet hätte, um ganz und gar zuſam menzufallen. 

„Als wir ind Lazarett famen, jagte er etwas zum 
Doltor , was ich nicht verftehen konnte. — ‚Heiliger 
Antonio !* jagte der Doktor, ‚wer find Sie denn und 
was fällt Ihnen ein! Ihre Krankheit beim Namen 
zu nennen, das iſt gegen alles Reglement!‘ — ‚Ich 
werde nicht ange mehr Soldat fein, Herr Doktor,‘ 
jagte Frauenlieb‘ in feiner vornehmen Manier. Der 
Doltor flugte. ‚Behandeln Sie mich des Studiums 
wegen, Herr Doktor — und — lebe wohl, Terenz! 
63 ift ein toter Mann, der zu die fpricht, und bu 
mußt von Zeit zu Zeit fommen und ein bißchen bei 
mir ſitzen um meines Seelenjriedens willen,‘ 

„Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, den Haupt« 
mann zu bitten, mic) zu dem alten Regiment zurüd» 
zuididen, denn es gefiel mir hier bei den Tyronern ganz 
und gar nicht; aber jet entfchloß ich mich, noch zu 
bleiben, und beſuchte, Frauenlieb‘ im Lazaret, jo oft 
ich lonnte. Wie ich Ihnen ſchon jagte, der Mann 
brach mit einem Male ganz und gar zujammen. Ich 
weih nicht, wie lange er dieſe fürchterlichen Anjtrengune 
gen gemacht hatte, jeinen eigentlichen Zuftand jo zu 
verheimlichen, aber wie er faum zwei Tage im Lazarett 
war, war er faft nicht mehr zu erfennen, Mit jeinen 
Armen und Händen ging es jeht ebenjo, wie mit 
feinen Beinen, fie wadelten hin und ber, als wenn 
er nicht die geringfte Gewalt über fie hätte. Er 
fonnte ſchon jeinen Rod nicht mehr zuknöpfen. — 
‚Es wird noch fange genug dauern,‘ jagte er, ‚ebe 
ih fterbe, denn der Lohn der Sünde ift wie die 
Zinien bei der Regimentsfparkaffe: ſicher! Aber 
es dauert verflucht lange, ehe fie bezahlt werden.‘ — 

„Eines Tages jagte der Doktor zu mir im geheimen : 
‚Hat denn Ihr Freund Tighe irgend etwas auf dem 
Herzen? Es ſcheint mir, als ob er von irgend etwas 
im Innern gequält würde.‘ — ‚Nicht dab ich wüßte, 
Herr Doktor,“ fagte ich ganz unjchuldig. — ‚Sie 
nennen ihn „Frauenlieb“ bei den Tyronern, nicht 
wahr? Es war fehr dumm von mir, zu fragen, 
Bleiben Sie bei dem armen Kerl, jo viel wie Sie 
fönnen! Sie thun ihm wirklich Gutes.‘ — ‚Aber 
was fehlt ihm denn eigentlich, Herr Doftor?* fragte 
id. — ‚Man nennt es Locomotiv attaxus*,*) 
jagte er, ‚weil es uns wie eine Lolomotive attadiert,‘ 
jagte er. ‚Und es fommt davon,‘ jagte er und gudte 
mid mit jeinem jeltiamen Lächeln an — ‚wenn man 
„Frauenlieb* genannt wird. — ‚Ad, Sie jpaßen, 
Herr Doktor — ‚Kein Spaß !' jagte er, ‚und wenn 


) Mulvaney meint „Locomotor ataxy“, eine form von 
Varalyſis der Rüdenmarkönerven. 
Aus fremden Zungen. 1897, IL 1% 


617 


Sie jemals ein Gefühl in Ihren Füßen haben, als 
ob Sie eine Filziohle in Ihren Stiefeln hätten, anftatt 
vorjhriftsmäßiger Strümpfe, dann fommen Sie fo bald 
wie möglih zu mir und ich will Ihnen zeigen, ob 
es ein Spaß ift.‘ — Sie werden mir faum glauben, 
Herr, aber ala ih den Doktor jo jprechen hörte 
und ſah, mie dieſe Krankheit jo plößlic über 
Frauenlieb‘ fam, habe ich meine Zehen den ganzen 
Tag gegen einen Stein oder einen Baumſtamm ge— 
ftoßen, bloß um zu fühlen, daß es noch weh that. 

„Frauenlieb‘ hätte fängft mit den Verwundeten 
zurüdgehen können, aber er bat jo rührend und io 
dringend, man möchte ihn doc hier mit mir zurüdlafjen, 
daß man dem Wunſche des fterbenden Mannes nach- 
fam, Und jo lag er denn in feinem Bett Tag und Nacht, 
und Gott allein weiß, was in feinem Herzen vor 
ging. Er jchrumpfte zufammen wie unjre Fleiſch— 
rationen in der heißen Sonne, und feine Hände und 
Beine waren in fortwährender Bewegung. Er fonnte 
fie eben nicht mehr ſtill halten. 

„Die gejagt, die Campagne war jeht zu Ende, und 
die Regimenter jollten jo jchnell wie möglich in ihre 
Kantonnements zurüdgehen. Aber es war grade 
wie ed immer ift, als ob nod nie ein Regiment 
vorher in Bewegung geieft worden wäre, Wir haben 
hier ungefähr neun Monate im Jahre Krieg, jeit 
Gott weiß wie vielen Jahren, Aber bier war wieder 
diejelbe Konfufion, als wenn alles zum erjtenmal 
pajfierte. ‚Heilige Mutter Gottes!‘ jagte das Kom— 
miffariat und die Eifenbahndireftion und die Inten— 
dantur, — ‚was follen wir jet anfangen: — Wir 
— id meine die Tyroner und das alte Regiment — 
hatten den Befehl erhalten, zu marjchieren. Und 
weiter hörten wir nichts. Wir gingen allo aufs 
Geratewohl durch den Kyber Paß. Wir hatten unjre 
Kranken mit uns, und id) glaube heute noch, daß 
viele von ihnen in den Dhoolys*) auf dem Mariche 
zu Tode gejchüttelt wurden. Aber daraus machten 
fie ſich nichts, wenn fie nur nah Peſchawur famen, 
tot oder lebendig. Ich marjchierte den ganzen Tag 
neben ‚Frauenliebs‘ Seffel. ‚Ah, wenn ich nur da 
oben geftorben wäre!‘ jeufzte er die ganze Zeit, und 
dann verbarg er feinen Kopf wieder Binter dem Vor— 
bang des Seſſels, als wenn ihm vor etwas bange 
wäre, 

„Dinahb war im Depot in Pindi, ih war 
aber jehr vorfihtig, denn ih wußte aus Erfahrung, 
daß das Schlimmfte in der Regel unerwartet fommt, 
wenn man ſchon am Ende zu fein glaubt. Ich habe 
geiehen, wie ein Artillerijt, der gemütlich auf feinem 
Pferde ſaß und ſich ein Lied aus der Heimat fang, 
mitten in feinem Liebe von feinem Pferde umter die 


*) Indische Tragfefjel mit Vorhängen zum Schub gegen die 
Sonne, 


18 


618 


Kanonenräder geworfen wurde und, breitgequeticht, 
wie ein Pfannfuchen wieder herausgejogen wurde. 
Darum jah ic) mich vor — ich wollte mid) nicht über- 
eilen, obgleid; mein Herz, Golt weiß es, in Pindi 
war. ‚Zerenz‘, ſagte, Frauenlieb‘ eines Tages, ‚mad) 
doch, daß du vorwärts fommit, ich weiß, wer in 
Pindi auf dich wartet.‘ — ‚Ih habe Zeit genug,‘ 
jagte ih; ‚was auf mid wartet, läuft mir nicht 
davon.‘ — Sie kennen doch die jcharfe Biegung, 
die der Paß bei Peihawur macht? Die ganze 
Stadt war und entgegengelommen. Sie hatten ſchon 
mehrere Tage und Nächte im Freien zugebradt. 
Jeder erwartete irgend einen, ben er liebte, Freunde, 
Brüder, Söhne, Männer, Liebhaber. Und die 
Mufitcorps Hatten fie auch mitgebradjt. Es war 
frümorgens, als wir aus dem Paß herausfamen 
und geradewegs in die Mitte der Wartenden hinein» 
marſchierten. Heilige Mutter Gottes! Werde ich 
je diefe Scene vergeffen? Es war noch nicht ganz 
Tageslicht, und das erfte, was wir hörten, war ein 
englijches Volkslied. Sie glaubten, wir wären bie 
vier Gompagnien des Lincolnjhire-Regiments, Wir 
mußten ihnen jufchreien, wer wir waren, und dann 
jpielten fie das gute alte, iriſche Vollslied: ‚The 
wearing of the Green‘, Ich zitterte am ganzen 
Leibe, als ich das Med hörte. Und hinter ung fam, 
was von den ſchottiſchen Regimentern übrig geblieben 
war, mit vier Sadpfeifern, — die letzten, die noch 
am Leben geblieben waren — und die bliefen, was 
fie fonnten, und bewegten ihre Körper hin und her 
wie Kaninchen. Und ein Regiment Eingeborener, 
das feine Muſik hatte, ſchrie aus voller Kehle da— 
zwiichen. Ich habe nie jo etwas gehört; und bie 
Männer weinten wie finder und, bei Gott, ih kann 
mich nicht darüber wundern. Was mid) aber am 
meiften padte, war die Stapelle der Ulanen, die den 
Feldzug nicht mitgemacht hatte und in glängender, neuer 
Parade-Uniform mit den filbernen Keilelpaufen auf 
ihre Kameraden wartete. Sie jpielten den Regiments-⸗ 
marſch, und, bei Gott, dieje armen Klepper, die ji 
kaum auf den Beinen halten konnten, und die Leute, 
die in den Sätteln hin und ber wadelten wie Ge— 
ipenfter, verfuchten Takt zu halten — es war ein 
graufiger Anblid. Wir thaten unſer Beſtes, ihnen 
‚Hurra!‘ zujurufen, als fie vorbeigingen, aber es 
wollte nicht recht gehen; es Hang wie ein heilerer, 
melancholiſcher Huften, und id) weiß, es waren viele 
unter uns, die es ebenjo fühlten wie id. Die 
‚Nadhtihwärmer‘*) warteten auf ihre zweite Com— 
pagnie, Als fie näher famen, jahen wir, daß das 
Pierd des Oberſten an der Spibe des Bataillons 
geführt wurde, aber mit Ieerem Sattel. Das mar 
einer von den Offizieren, die von ihren Leuten ber— 








*) Name eines berühmten Ravallerieregiments, 


Nudyard Kipling. 


göttert wurden. Er war bei Mi Musjid auf dem 
Heimmege geftorben. Sie warteten, bis die übrigen 
Mannihaften des Bataillons herauffamen, und 
dann, ganz und gar gegen allen Befehl — den 
wer wollte ſolche Muſik an diefem Tage haben? — 
marjchierten fie nad) Peſchawur zurüd mit der Mufil 
eines Trauermarſches. Sie marjchierten im lang: 
famen Tempo in ihren ſchwarzen, traurigen Uni— 
formen bei uns vorbei, als wollten fie uns das Her 
aus dem Leibe reißen; wie Geipenfter fchlichen fie 
dahin. Die anderen Mufifcorps jchrieen ihnen zu, 
jie jollten was andres fpielen, aber fie achteten nidt 
darauf, fie hatten die Leiche ihres alten Komman- 
deurs mit fich, und die würden fie jo begleitet haben, 
wenn fie zu einer Krönung marſchiert wären. Unjre 
Drdre war, nad) Peſchawur zu marſchieren, und wir 
überholten die ‚Nachtfchwärmer‘ — aber wir jagten 
ihnen nicht, fie jollten andre Muſik jpielen. — Der 
Trauermarich klang mir noch in den Obren, und id 
fühlte es in mir, daß Dinah nicht weit von mir war. Und 
auf einmal hörte ich einen lauten Schrei, und dann jah 
ich ein Pferd und einen Pony mit Weibern darauf 
wie bie wilde Jagd den Hügel herabjtürmen. Ich 
wußte jofort, wer ed war, es war bie Frau dei 
Oberſten des Tyroner Regiments, des alten Beder 
Frau. Ihre grauen Haare waren aufgelöft und 
flogen um ihr dides, rotes Geſicht, — und Dinah, 
die ic) in Pindi glaubte, war au da. Die Ftau 
bes Oberſten jtürmte auf unfre Kolonne los, wie 
auf einen Feitungswall, und rannte den alten Beder 
beinahe vom Pferde herunter und umklammerte ihn 
mit ihren Armen und meinte und meinte. ‚Dein 
Junge! Mein geliebter, alter Junge“ — Und 
Dinah ftürmte auf mich los, und id) jließ einen 
Schrei aus vor Freude, den ich jeit Monaten in 
mir hatte, Werbe ich es je in meinem eben ver 
geſſen? — Sie war von Pindi gelommen, und die 
Frau Oberft hatte ihr den Pony geliehen ; fie hatten 
die ganze Nacht Arm in Arm gelegen und gemeint, 
Und ich marſchierte weiter an ihrer Seite, Hand in 
Hand mit ihr, und fragte fünfzig Sachen auf einmal, 
und fie beſchwor mich bei der heiligen Jungfrau, ihr 
die Wahrheit zu jagen: ob ich nicht irgendwo, viel« 
leicht ohne es zu willen, eine Kugel im Leibe habe? 
— Da fiel mir mit einmal ‚Frauenlieb* ein. Er 
beobachtete uns, und fein Geſicht jah aus, wie das 
eines Teufels, der zu lange am hölliſchen Feuer ge» 
braten ift. Ich wollte nicht, daß Dinah ihn ſehen 
jollte, denn wenn das Herz einer Frau von Glüds 
jeligkeit überftrömt, macht alles, beſonders etwas 
Unangenehmes, einen tiefen Eindrud auf fie, den 
fie vielleicht ihr ganzes Leben lang nicht vergißt. Ich 
zog aljo die Gardine zu, und ‚rauenlieb‘ warf ſich 
ins Bett zurüd und ftöhnte. Als wir in die Stadt 
marfchierten, lief Dinah voraus nad der Kajerne. 





„nrauenlieb“, 619 


wo fie auf mich warten wollte. Ich fühlte mich fo 
glücklich und fo froh an diefem Tage, daß ich mir 
vornahm, ‚Frauenlieb‘ jelbft ins Lazarett zu bringen. 
Es war am Ende das wenigfte, was id) für ihn 
thun konnte. Ich konnte ihm wenigftens ben Staub 
und die Hibe der Chauffee erjparen. Ich führte die 
Träger auf eine ruhige Seitenitrafe, und wir gingen 
friedfih dahin und unterhielten ung, jo gut es ging, 
dur die Gardine Auf einmal rief er: ‚Halt! 
Warte mal! Laß mich mal fehen! Um Himmels 
willen, laß mich mal jehen"" ch Hatte den Kopf 
ſo voll mit dem Gedanken, ihn aus dem Staub zu 
bringen, und an mein Miederfehen mit Dinah, daß 
ich gar nicht bemerkte, wa um mich herum vorging. 
Ich jah jet erft eine Frau, die Hinter und herritt, 
und nach dem, was id) von Dinah hören konnte, ala 
wir abend& darüber ſprachen, muß dieje Frau einen 
weiten Weg geritten fein. Dinah jagte mir, fie 
hätte wie ein Raubvogel auf der linten Flanke ber 
Kolonne gelauert. ch hielt die Träger an und zog 
die Gardinen zulammen. Sie ritt bei uns vorbei 
in langjamem Schritt, und ‚rrauenlieb‘ folgte ihr mit 
den Augen, ald wenn er fie mit jeinen Bliden aus 
dem Sattel reisen wollte. — ‚Folge ihr! folge ihr!‘ 
war alles, was er jagte; aber ich habe nie einen 
Mann mit folder Stimme fprechen hören, nie in 
meinem ganzen Leben, vorher oder ſpäter — und 
nach dem, was ich hörte, und nad) dem Ausdrud in 
feinen Augen, war ich ganz ficher, daß diefe Frau 
‚Diamanten und Perlen‘ war. — Wir folgten ihr, 
bis fie in ein Meines Haus, das didt am Edwards- 
thor lag, eintrat. Auf der Veranda waren zwei 
Frauenzimmer, bie in das Haus hineinliefen, als 
fie uns fahen. Ich verfihere Sie, man brauchte 
keine jehr jcharfen Augen, um zu erfennen, was für 
ein Haus es war, Als wir an der Veranda an- 
gelommen waren, bat uns ‚Trauenlieb‘ ‚zu halten, 
und mit einer großen Anftrengung, als wenn ihm 
dad Herz im Leibe brechen wollte, ſchwang er ji 
aus dem Dhooly heraus. Der Schweiß lief in 
Strömen über jein Geficht, aber er ftand ſtramm 
und jchneidig da, ald wenn er auf der Parade wäre, 
Bei Gott! Wenn ich jeht Madie hereinfommen 
jäh’, würbe ich mich weniger wundern. Wo er bie 
Kraft herfriegte, das weiß Gott allein — oder ber 
Teufel! Aber er war eher ein toter Mann mit dem 
Gefiht und dem Atem eines Toten, der nur von 
feinem eijernen Willen aufrecht gehalten wurde, dem 
die Arme und Beine einer Leiche gehordhten. Die 
Frau, der wir gefolgt waren, blieb auf der Veranda 
ſtehen; jie muß eine Schönheit geweſen jein, obgleich 
jeßt ihre großen, dunkeln Augen tief eingefunfen 
waren. Sie blidte ‚Frauenlieb‘ von oben bis unten 
mit einem fchredlihen Ausdrud an. Dann jagte 
fie, indem fie die Schleppe ihres Neitfleides mit 


ihrem Fuße beifeite fließ: ‚Was wollen Sie benn 
bier, Sie, ein verbeirateter Mann?" „Frauenlieb‘ 
ſchwieg; ein bißchen rötliher Schaum trat auf feine 
Lippen, den er mit feiner Hand abwiſchte. Fein 
Wort fagte er; aber er blidte fie an mit einem uns 
ausfprechlicd; traurigen Ausdrud, den ich nie ver 
geilen werde. — ‚Und doch,‘ jagte fie mit einem 
wilden Lachen, — haben Sie Raines’ Frau laden 
hören, als Madie ftarb? — zund doch, ſagte fie, 
‚wer hat mehr Recht, bier zu jein, ald Sie? Sie, 
der mir den Weg hierher gezeigt hat! Na‘, fagte 
fie, ‚Sie allein haben mir den Weg gezeigt, erinnern 
Sie fih noh? Cie waren es, der mir jagte: eine 
Frau, die falfch zu einem Manne ift, fann e8 auch 
zu mehreren fein, Das ift es, was ich gethan habe, 
Sie haben mir oft gefagt, dab ich eine gelehrige 
Schülerin fei, Ellis, — erinnerft du dich wohl, dab 
ih mich im Angefiht Gottes bein Weib nennen 
dürfte?‘ und fie lachte wieder. — ‚ Frauenlieb‘ ſtand 
ftill in der Sonne, als wenn er veriteinert wäre; er 
ächzte und ftöhnte, als wenn er den Geift aufgeben 
wollte, und er verwandte feine Augen feinen Augen- 
blid von ihrem Geſicht. — ‚Was willit du hier, der 
mir meine Glüdfeligkeit geftohlen bat, ber meinen 
Leib getötet und meine Seele zur Verdammnis ge- 
bracht Hat — bloß aus Spaß, bloß um zu jehen, 
wie es gemacht wird? Halt bu in deinem Leben 
ein andres Meib gefunden, das mehr für dich geihan 
hätte als ih? Würde ich nicht mit Freuden mein 
Leben gegeben haben für dich, Ellis? Das weißt 
du, Ellis — wenn je bein ſchlechtes Herz im Leben die 
Wahrheit erfannt hat, dann weißt bu es.˖ — ‚Frauen⸗ 
lieb* ftand aufrecht und ftramm da, wie in Reih’ und 
Glied; er hob feinen Kopf nit hoch und ſagte nur 
faum veritändlih: ‚Ja, das weiß id.‘ Er ftand 
immer noch jtill, wie fejtgenagelt, aber der Schweiß 
ſtrömte ihm übers Geſicht unter jeinem Helm hervor. 
Es machte ihm die größte Mühe, zu reden, feine 
Lippen bewegten ſich krampfhaft hin und her, ohne 
dab er einen Laut hervorbringen konnte. — ‚Was 
willſt du hier? rief fie mun in einem lauteren Tone, 
‚Es gab eine Zeit, wo bu mir viel fahneller ant« 
worten fonnteftl, wo du viel geläufiger mit deinen 
Worten warft. Du, der du mich mit deinen Worten 
zur Hölle hinabgeredet haft, bift bu jetzt ſtumm? — 
‚Darfic) hereinfommen?* war alles, was, Frauenlieb⸗ 
jagen konnte. — ‚Das Haus ift Tag und Nacht 
offen,‘ jagte fie wieder mit ihrem häßlichen Lachen ; 
er büdte ſich, als wenn er fürdhtete, einen Schlag zu 
friegen — und — bei meiner Seele! — er ging bie 
Stufen hinauf. Er, der ſchon einen ganzen Monat 
lang wie eine lebende Leiche im Lazarett gelegen hatte, 
— ‚Und nun? fagte fie und ftarrte ihn an — und 
die rote Schminfe trat auf ihrem blafien Geſicht 
hervor, wie das Zentrum auf einer Scheibe Er 


— 


4 . 
— — — — 


EEE er ec — ER 


620 


bob feine Augen langſam, laugjam empor und blidte 
fie lange, lange an; dann brachte er mit großer 
Mühe die folgenden Worte heraus: Ich fterbe, ach, 
ich fierbe!‘ Er war jeit langer Zeit ſchon immer 
feichenblai gewefen, jet wurde fein Geficht aſchgrau. 
Seine Augen bewegten fih nicht, fondern waren 
ftarr auf fie gerichtet, Ohne ein Wort zu reden, 
dffnete fie ihre Arme weit und preßte ihre Hand auf 
ihren Bufen und fagte — o, was für ein himm- 
liſcher Ausdrud war in ihrer Stimme! —: ‚Bier, 
bier! jtirb bier, das iſt der befte Plag für dich! 
Frauenlieb‘ fiel vorwärts in die Arme des großen, 
ftarfen Weibes; fie mußte ihn aufhalten, fonjt wäre 
er lang hingefallen. — Ich wußte, da er in dieſem 
Augenblid geftorben war — es war, ald wenn feine 
Seele im Todesröcheln ans feinem Körper jchied. 
Sie legte ihn auf den langen Stuhl und fagte zu 
mir: ‚Herr Soldat, wollen Sie nicht einen Augenblid 
warten? Geben Sie hinein und unterhalten Sie 
fi einen Augenblid mit den Mädchen, die Sonne 
ift hier zu heiß für ihn.‘ Ich wußte jehr wohl, daß 
ihm feine Sonne mehr was anthun fonnte, aber idy 
fonnte nicht jprechen, und id) ging fort, um ben 
Doktor aufzufuhen. Der hatte während der ganzen 
Zeit beim Frühftüd geſeſſen und war bejoffen mie 
eine Sanone. ‚Sie haben fi verdammt jchnell be— 
foffen,‘ fagte er zu mir. ‚Der Dann war fon eine 
Leiche, als er auß dem Lazarett fam. Ich habe große 
Luft, Sie ins Loch fteden zu laſſen.“ — ‚Herr Doktor,‘ 
fagte ich feierlich, ‚hier ift genug zu trinken, es fragt 
fi) nur, wer zu viel genommen bat, Aber wollen 
Sie nicht mit mir fommen und bie Leiche jehen "* 
— ,‚&3 ift eine Schande,‘ fagte er, ‚dab man von 
mir erwartet, dab ih in ein foldes Haus gehe. 
Sagen Sie mal, Mulvaney, ift es ein bübiches 
Frauenzimmer?* und mit diefen Worten marſchierte 
er im Schnellichritt fort. Als ich näher fam, fonnte 
ih jehen, daß die beiden noch auf ber Veranda 
waren, wo ich fie gelafien, und das Krächzen der 
Raben, die um fie berumflogen, jagte mir, was bor- 
gefallen war. Ihr Kopf war auf feine Schulter ges 
fallen, und ihr langes ſchwarzes Haar fiel über feinen 
Nod. Dies ift das erfte- und daß legtemalin meinem 
Leben, daß ich gejehen habe, daß eine Frau Gebraud) 
von der Piftole gemacht hat. In der Regel ift ihnen 





Rudyard Kipling — „Frauenlieb“. 


vor dem Schub bange. Aber ‚Diamanten und 
Perlen‘ war nicht bange, nein, nicht bange, Der 
Doltor berührte ihre Hand, und das ſchien ihn 
nüchtern zu machen. Er jtand lange vor ihr mit 
beiden Händen in den Taſchen; endlich fagte er: 
‚Dies iſt ein doppelter Todesfall aus natürlichen 
Urſachen, — verjtehen Sie wohl, Mulvaney? Und 
wie die Sachen jet ftehen, wird das Regiment ganz 
zufrieden fein, ein Grab weniger graben zu müfjen. 
Verftehen Sie mid, Mulvaney? Dieje beiden jollen 
auf meine often auf dem Kixcchhof begraben werden ; 
und möge der Allmäcdhtige dafür forgen, daß mir 
ein Gleiches gefchehe, wenn meine Zeit fommt. 
Gehen Sie nah Haus zu Ihrer Frau, gehen Sie 
und amüfieren Sie ſich, ich werde für alles bier 
jorgen.‘ — Er war noch tief in Gedanken verloren, 
ala ich fortging. 

„Die beiden wurden auf dem Kirchhof nad) dem 
engliihen Ritus begraben. Der Doltor, ja, der 
Doltor, der brannte in bemfelben Sommer mit 
Major Dan Dyces Frau durch, aber er hat 
alles, was das Begräbnis anbetraf, beitens bejorgt. 
Was eigentlih mit ‚Diamanten und Perlen‘ los 
gewefen ift, das habe ich nie erfahren, und fein 
andrer hier weiß mehr davon als ich. Ich habe es 
Ihnen jo erzählt, wie es mir eingefallen ift. Und 
deshalb jage ih, daß Madie, der tot ift und in der 
Hölle ſchwitzt, am beiten daran ift. Es fommt vor, 
mein Herr, da es bejier ift für einen Mann, zu 
fterben, als zu leben, und folglich millionenmal befjer 
für eine Frau.“ ö 

„Kommt, Kinder,“ fagte Ortheris, „wir müflen 
uns fort machen.“ 

Die Zeugen und bie Wache ftellten fich in Reih' 
und Glied in dem diden, weißen Staub des bren- 
nenden Zwwielichtes und marſchierten ab. 

Unten bei der Kirche fonnte ich Ortheris noch 
bören, mit der ſchwarzen Bibellüge auf feinen Lippen, 
wie er mit wunderbar feinem Geſchmack jang: 

„Hd, bitter bereut, wer der Weiten Rat ſcheut 
Und vom Alter ſich nicht läßt beraten, 

Ad, zu hoch nicht hinaus, es gebt übel aus! 
So ſprach die Dirn’ zum Soldaten, 
Soldaten, Soldaten! 

So ſprach die Dirn’ zum Soldaten!“ 


— Lofe Bläfter 8*— 


Bater geht auf die Jagd. 
Bon 
Kt. Murai. 
Aus dem Ungarifhen überfeßt von W. Rudow. 


Bater wurde immer dider, und das Atmen wurde 
ihm immer ſchwerer. Er jchnob fo ſehr, daß die 
Mutter nach dem Arzte jhidte; und der kam auch 
alsbald. Man nötigte ihn, in dem bequemen Arm- 
fuhle Plaß zu nehmen, und bot ihm eine Zigarre 
an. AS er fie angezündet und den Sofabezug mit 
funftverftändigen Fingern unterfucht hatte, erzählte 
er allerlei Gejchichtchen über die Belannten, zur 
großen Freude der Mutter, welche für die Angelegen- 
beiten andrer Leute das lebhafteſte Intereſſe heat. 
Faſt hatte er feinen Glimmftengel ſchon zu Ende 
geraucht und wollte eben aufbrechen, da fiel ihm ein, 
dag man ihm gerufen und daß aljo jemand im 
Haufe frank jein könne. Er legte daher feinen Hut 
wieder auf den Tiſch und fragte: „Wer ift denn 
frant?* 

Darauf berichtete ihm die Mutter, dem Vater 
werde das Atmen ſchwer, und das made ihr Sorgen. 
Bater trat in dem Augenblid ein und ſchnaufte wie 
gemöhnlih. Als er den Arzt erblidte, fam er ſo— 
gleich) auf fein Uebel zu ſprechen und erflärte genau 
alle Begleitericheinungen. Wir glaubten, der Ontel 
Doltor würde feine Zunge unterfuchen, ihm den 
Puls fühlen und in der Herzgegend horchen, wie der 
andre Onlel Doktor früher gethan, der noch nicht 
Univerfitätsprofefjior war und feinen jo jchönen 
goldgelben Bart hatte. Aber wir täufchten und. Der 
Onkel Doktor mit dem goldgelben Barte riß Wite, 
belachte fie behaglich und anerfennend, und bemerkte 
erft beim Fortgehen nebenbei, der Vater würde jehr 
gut thun, wenn er auf die Jagd ginge. Bejonders 
da, wo das Land nicht allzu eben ift, und wo man 
auch etwas jteigen fann. 

Der hingeworjene Nat des Onkel Doltors — 
der mich feineswegs befriedigte — gewann im übrigen 
jedermanns Beifall. Die Mutter erflärte kurz und 
bündig, Vater werde auf die Jagd gehen, worauf 
auch Vater beftätigte: Gewiß, er werde auf die Jagd 
gehen. Dieje Ausſprüche erregten allgemeines Ent« 
züden. Mutter freute fi im voraus darauf, daß 
Bater einen Bären ſchießen und fie defjen Fell auf 
das Sofa breiten werde. Ich freute mich auf die 
Fajanfedern, und mein Meines Brüderchen war ganz 
weg vor Glück in dem Gedanken, daß Vater ihm 
aud ein Eihhorn und eine Eljter bringen würde. 
Das Gefinde freute ſich ebenfalld, und der Diener 
bemerkte vergnügt, Vater werde fünftig oft ab» 
wejend jein. 

Da aber das Haus uns gehörte, und der Haus- 


———— — — — — — — — — — — — — — — — — 
—— — — — — — — — — 


meiſter ebenfalls erfuhr, Vater gehe auf die Jagd, 
wußte nunmehr das ganze Haus, Vater gehe auf 
die Jagd. 

Aber das ging nicht fo leicht. Zunächſt mußte 
er ich nad; einem Jagdgrunde umſehen. Er be= 
auftragte mehrere Leute damit und ſetzte es auch in 
die Zeitungen. Nach langem Hin und Her gelang 
es dem Vater endlih, einen jolden Grund zu 
pachten, und er war damit jehr zufrieden, denn es 
gab dort aud Berge; außerdem führte die Bahn 
dahin. Der Verpächter behauptete, es gebe dort viel 
Wild, auch gehe das der Nachbargebiete dorthin zu 
Beſuch, befonderd Sonntag nachmittags, wenn die 
Herren aus der Hauptjtadt zu jagen pflegen. 

ALS Vater feinen Jagdgrund hatte, jah er fi 
nad) den übrigen Erforderniffen um, Vom Schneider 
ließ er fich drei Jagdanzüge machen und faufte apfel« 
finengelbe Gamaſchen mit dreifohligen, auf engliſche 
Art gefütterten Schnürftiefeln. Und ald er den 
Jagdanzug zur Probe anlegte und ſich uns zeigte, 
waren wir ganz weg. Hinten auf feinem Lodenhute 
ſchwankten allerlei federn, die dem Hute ein fo 
friegerijches Ausſehen gaben, daß alles Wild bei 
feinem Anblide die Geiftesgegenwart verlieren mußte. 
Der graue Rod war kurz und mit teuerm Pelze ge- 
füttert. Ueber den Hüften hielt ihn ein Gurt zu— 
jammen, und in dem Gurte ftafen Dolche, Hirich- 
fänger und Bärenmefjer, infolgedefjen mein Brüderchen 
erklärte, Vater jehe aus wie ein Räuber. Die Tud)- 
hoſen reichten faft nur zum nie, von da begann 
der dide Strumpf, und dann famen die apfelfinen« 
farbenen Gamaſchen. 

Bater machte in diefem Anzuge einen fehr friege- 
riihen Eindrud und zog das Geſicht dazu in finftere 
Halten. Das rechte Bein firaff, das linfe nad) 
vorn ausjchreitend, fo ſtand Vater da, während er 
den Griff des Nidfängers umklammerte. In diefer 
Stellung ließ er fi nod) vor den Jagden auf- 
nehmen. Auf dem Bilde freilich hat er in der an« 
dern Hand fchon die Waffe, zu feinen Füßen liegt 
ein ausgeſtopfter Steinadler, auf den Vater fieges« 
freudig niederblidt. 

Nah dem Anzuge kaufte er Waffen ein. Der 
Händler, ein Belannter von ihm, gab ihm die teuer« 
ften amerifanijchen Hinterlader und Drebgemwehre, 
mit der Bemerkung, daß ähnliche Waffen nur der 
Prinz von Wales beſihe. Auch Faufte er eine Un— 
menge Sciebedarf, eine geftidte Jagdtaſche und 
einen Sibflod. Er ſchaffte ſich Jagdflaſche, Jagd« 
peitihe, Jagdmeſſer, eifenbejchlagenen Bergſtoch, 
Jagdhandſchuhe für den Winter, Unterzeug von Jäger 
und hunderterlei andre Sachen an, deren ein heuti« 
ger Weidmann nad europäijcher Mode bedarf. 

Der Diener, der ihn auf der Jagdreije begleitete, 


622 


erhielt ebenfall3 einen eignen Jagdanzug und bes 
fondere Bezahlung, denn e& war doch nicht zu ver 
langen, daß er das zu erlegende Wild umfonft jam- 
meln und ſich umſonſt anftrengen folle. 

Als Vater zum erftenmal auf die Jagd ging, 
gab es ein Feft im Haufe. Die Bewohner kamen 
vom erften bis zum legten und ließen ihn hochleben. 
Vater war aber auch wirklich eine Geftalt zum 
Malen. Nur daß er gewaltig ſchnaufte und fich 
ſchon daheim die Stirn wiſchte. Nachdem jeder ihn 
angeftaunt, jeder ihm begrüßt und jeder ihm Glüd 
gewünjcht, fuhr die Drofchle vor. Als er dann zum 
Bahnhof fuhr, war fein Menſch auf der Straße, 
der ihm nicht nachgeblidt hätte. Im Zuge — er— 
zählte er — ſchaute ihn alles mit bewunderungsvoller 
Furcht an, und die Mitreifenden wagten fi nur 
flüfternd zu unterhalten. 

Ich habe: vergeffen, zu bemerfen, dab, al& bie 
Hausbewohner auf dem Hofe Vater in feinem vollen 
Jagdanzuge bewunderten, aus feiner Thür der lahme 
Schuſter heraushumpelte, der nebft Frau und Kin— 
dern im Erdgeihoh ein enges Loch bewohnte. Er 
trug ärmliches, abgetragenes Zeug und hatte einen 
einläufigen, altmodiſchen, rofibededten Vorderlader 
auf der Schulter hängen, an der Seite einen alten 
Futterſack. Vater jchüttete fi aus vor Laden, ala 
er den lahmen Schuſter mit feinem einläufigen 
Vorderlader ebenfalls auf die Jagd gehen ſah, ebenjo 
alle andern, um was fi) jedoch der auf die Jagd 
gehende lahme Schufter nicht ſonderlich kümmerte. 
Er ging jeinen eignen Weg, allein und zu Fuß, im 
Gegenjak zu Vater, den der Diener begleitete, und 
auf den der Wagen wartete, 

Der arme Papa hatte fein Glüd. Er jagte, 
alles habe fich gegen ihn verjhmworen. Kam das 
Wild ihm nahe, jo verjagte das Gewehr; ging es 
aber los, jo ging das Wild eben aud) los. Hätte 
es nicht Vater jelbft gejagt, ich würde nie geglaubt 
haben, wie gewißigt das Wild in der Umgebung der 
Hauptftadt ijt. Aber joviel ift gewiß, und das be— 
merkte aud) die Mutter, daß Vater ſich tüchtig aus— 
lief, und das war jeiner Gejundheit förderlih. Ich 
glaubte e3 zwar nicht, demn wenn Vater von ber 
Jagd heimlam, ſchnaufte er noch ftärker als ſonſt. 
Er konnte ji) faum noch fortichleppen, aud) die 
Seite jehmerzte ihn, denn als er einem Hafen nad 
lief, war er über einen Baumftumpf geftolpert und 
hatte ſich arg geſtoßen. 

So viel aber wußte er von der Jagd zu erzählen, 
dab wir faum mußten, wohin vor Entzüden. Er 
berichtete, er habe auf einen Hafen geſchoſſen, und 
dieſer ſei fortgelaufen. Natürlich dachte er, er habe 
ihm micht getroffen, dod hatte er ihn wirklich ge» 
troffen, was er erft gewahrte, al& der Haſe urplößlich 
ih in die Seite fahte. 

Unfre Fröhlichkeit aber nahm ein jähes Ende. 
Die Mutter war die Urſache, denn zum Fenſter 
binausblidend, rief fie auf einmal: „Es giebt feine 
Gerechtigkeit auf Erden!” Sie jah den lahmen 
Schuſter nämlich mit jeinem einkäufigen Vorderlader 


oje Blätter. 


beimhumpeln. Sein Futterfad war voller Hafen und 
Rebhühner. Das Blut tropfie noch von dem armen, 
niedergeichoflenen Wilde. 

„Nein, keine Gerechtigkeit!” wiederholte Mutter, 
fih an mich wendend. „Vater hat neunhundert 
blanfe Gulden ausgegeben, und jeder muß zugefteben, 
daß er ein Jäger zum Malen ifl. Er hat einen 
YJagdgrund, vorzüglihe Waffen und ſchießt nichts, 
obgleih er mit der Droſchle und fogar mit der 
Bahn fährt. Und diefer Iumpige, lahme Menid, 
den nur anzujehen ein Jammer ift, und der mit 
feinem Trödlergewehr zu Fuß hinausgeht, bringt die 
Beute futterfadweije heim!” * 

Vater gab der Mutter recht, und auch wir ftellten 
und auf ihren Standpunft. Es giebt wahrhaftig 
feine Gerechtigfeit mehr auf Erden, und die Un— 
geredhtigkeiten find nicht mehr zu ertragen! Und 
wer daran zweifelt, der fomme Sonntag nachmittag 
zu uns und jehe Vater jowie ben lahmen Schuiter. 
Er wird jehen, dab Vater recht gut auf die Löwen- 
jagd geben könnte, der Schufter dagegen fich faum 
für ein Schneiderlein ausgeben lann. Und trof 
alledem jchieht der Water nie etwas, während der 
Scufter feine Beute faum beimfchleppen kann, 

Mutter wollte dem Schufter ſchon fündigen, weil 
er nad) ihrer Anficht Vater lächerlich made, Aber 
Vater erlaubt e8 nit. O, Vater erlaubt das nicht, 
denn er hat ein wahres Goldherz. Er verzeiht alles 
und könnte aud feinem Todfeinde Gutes thun. 
Nicht genug, daß er ihm nicht fündigt, er fauft ihm 
auch die Hafen und Hühner ab. Und nicht nur, 
daß er fie kauft, jondern er verjpeijt fie auch mit 
Wohlgefallen, 

Dann erzählt er uns feine Jagderlebnifje, die 
wir mit offenem Munde anhören. Dann jchweigt 
er plößlid und ftarrt in Gedanken auf das große 
Lichtbild, das ihn im Jagdanzuge vorftellt, zu feinen 
Füßen der erlegte Steinabler. Und auch wir bliden 
auf das Bild. Und wenn wir darauf bliden und 
uns daran erfreuen, wandelt uns ein gewiſſes Be— 
dauern für den armen, lahmen Schufter an, der 
ewig in jeinem abgeichabten Zeuge bleiben und nie= 
mals ein jo malerijcher, ein jo jchmuder Jägers- 
mann jein wird wie Vater, der übrigens ſchon leichter 
atmet und nur dann noch jchnauft, wenn er von der 
Jagd heimfehrt. 


Frankreich und die Litteratur des Auslandes. 
Ueber die Wertihäßung, welche man in neuerer Zeit 
in frankreich der Geijteskultur des Auslandes ent« 
gegenbringt, jhreibt der befannte franzöfiiche Roman 
cier Marcel Prevoft im „Journal“: 

„Eine italienische Künftlerin *) giebt im ‚Theatre 
de la Renaissance‘ Vorftellungen in ihrer Mutter 
ſprache, und ganz Paris gerät in Aufregung ; die 
ganze Aufmerkjamteit des Publifums und der Blätter 
fonzentriert ji im Augenblid auf dieſes Ereignis. 
Bor kurzem ſprach alles von Spanien; zwei Bühnen 
projeftierten die Aufführung moderner fpanifcher 
* Eleonora Tufe, 











2 
R- 
2 





















Loſe Blätter. 623 


Stüde, und Camille Vergniol gab ihnen den Nat, 
das Majjiihe ſpaniſche Drama nicht zu vergejien. 
In der Akademie wird Herr Hörelle für eine Ueber 
fegung von D’Annunzios ‚Vergini delle Rocce‘ mit 
dem Preife gekrönt; Subermann und Hauptmann 
find in Frankreich ebenjo berühmt wie in Deutſch- 
land. Die ruſſiſche Litteratur, die una bis 1885 
als Stern erfter Größe galt, ift bei uns nur des 
wegen in eine leichte Ungnade gefallen, weil fie that« 
fächlich in Rußland ſelbſt an Geltung verloren hat. 
In Franfreih hat Oslar Wilde, kaum aus dem Ge» 
fängnis entlaffen, eine Gemeinde um ſich verfammelt. 
Was die Dänen und Standinavier betrifft, jo find 
fie bei uns die Könige des Tages; und das Jahr« 
hundert wird nicht zu Ende gehen, ohne daß Paris 
fih an ber litterariſchen Blüte Finnlands begeiftert. 

„Diejen fosmopolitifchen litterariſchen Geſchmachk 
brauchen wir nicht zu beffagen. Der Proteltionis- 
mus ift vor allem auf dem Gebiete der Kunſt zu 
verwwerfen, und — nod mehr — er ijt dort läder- 


lich. Die Vorftellung, daß eine einzige Nation, die 


\ eigue, genügen fönne, um dem Bildungsdrang ber 
Welt Nahrung zu geben, ift ein Zeichen von großer 
Kurzfichtigkeit. Vor fünfzig Jahren konnte die fran« 
aöfiiche Nation den andern Völkern voranschreiten, weil 
fie die einheitlichfte und zugleich diegebildetfte war, Heute 
liegt die Sache anders, Durch die gewaltigen Nölfer- 
gruppen, welche und umgeben, find wir an Zahl und 
an Landgebiet ein Meines Volk geworden. Es nützt 
nichts, fich dagegen zu fträuben: es ift jo und es ift 
unabänderlih. Es fteht nicht in unfrer Macht, ebenfo 
zahlreich) zu werden, wie die Anglo-Saronen, die 
Slaven, die Germanen. Es fleht nicht im unfrer 
Macht, zu verhindern, daß die Gedanken ber Anglo« 
Saronen, der Slaven, der Germanen unter uns ein— 
dringen und ihren Einfluß ausüben. Alſo fort mit 
dem Proteftionisnnus auf dem Gebiet der Litteratur 
und der unft!... Freudig begrüßen jollten wir dieſes 
Aufblühen der fremden Geiftesfultur in Frankreich: 
die Pilteraturgeichichte unferd Landes zeigt, daß 
folde Bewegungen fait immer eine Erneuerung 
unſers nationalen Geiftesfebens zur Folge hatten. 
„Dafür follte man aber aud im Auslande end« 
(id die Behauptung fallen laſſen, die feit einem 
Halben Jahrhundert in den europäijchen und ameri« 
laniſchen Blättern ftändig wiederfehrt: day Fyranl« 
reich für die Geiftesfultur des Auslandes fein Ver— 
fändnis habe. Unter unfern Nachbarvöllern ift nad) 
meiner Anficht das deutſche das einzige, das es in 
Bezug auf Intereſſe für die im Auslande entftande» 
nen Geiftesfhöpfungen mit ung aufnehmen könnte, 
Und außerdem hat biejes Intereſſe in Deutſchland 
eine von dem unfrigen ſehr verfchiedene Form. Auf 
dem Gebiete der Litteratur und Kunſt ift Deutſch- 
land, wie auf dem der Wiſſenſchaft, immer das ge« 
Iehrte Deutfchland, Es verfährt mit Vorliebe wijien- 
ſchaftlich. Es ſammelt feine Beobachtungen, handhabt 
die Analyſe und die Syntheſe und arbeitet bewun—⸗ 
dernöwerte Enchflopädien aus, Um welde Gegen« 
Hände ans dem Neid) der Künſte es ſich auch handeln 


mag — es findet ſich ftets über dem Rhein drüben 
ein Burdharbt, um jeinen „Gicerone“ darüber zu 
ſchreiben, einen mit Thatſachen gejpidten Katalog, 
voll fnapper und wie Lehrſätze gefaßter Urteile, aber 
ohne jeden fünftlerijchen Reiz. Ganz anders ift bie 
Art, mit der man in Frankreich der fremden Geiſtes— 
kultur gegenübertritt. Dort findet fie begeifterte 
Freunde oder erbitterte Gegner. Eine gut nationale, 
gut Franzöfiiche Kritik beſchäftigt ſich damit, die flüch« 
tigften Nuancen des Gebanfenganges aufjujpüren, 
fie ift mehr beftrebt, diefe Nuancen zu befinieren, 
als den Leſer unter einer Lawine von Thatſachen 
und Ziteln zu begraben. Eine jolde Färbung 
mildert die Härte der Urteile; mit dem ‚Que 
sais-je?' Montaignes als unfihtbarem Motto ent- 
ſchuldigt man von vornherein materielle Jrrlümer 
und die eine oder andre Unwiſſenheit, während jie der 
deutjche Kritifer hervorhebt, um feine Ueberlegenheit 
darzuthun. Kurz, man kennt in Deutichland einen 
ausländiſchen Schriftfteller, man fennt ihn durch und 
dur, man könnte eine Prüfung über feine Werte 
beftehen, aber mir ſcheint, daß man ihn in Frankreich 
mehr liebt oder habt, ihn tiefer auf die Seele wirken 
läßt; er übt dort, alles in allem, einen tieferen 
Einfluß. 

„Ein andrer Vorwurf, welhem man von Zeit zu 
Zeit jogar in der franzöſiſchen Preſſe begegnet, richtet 
fih gegen das Fehlen oder die ſchlechte Beſchaffen— 
beit der franzöfifchen Weberjegungen ausländiſcher 
Schriftſteller. Nichts jcheint mir unberedhtigter zu 
fein. In Wirklichkeit veröffentlichen wenige Länder 
fo zahlreiche und überdies jo wohlgelungene Ueber— 
jegungen ausländijcher Romane und Novellen, wie 
Frankreich. Große Tagesblälter machen fih das 
zur fpeziellen Aufgabe. Zu behaupten, daß die 
Wahl der übertragenen Werke immer durchaus glüd- 
fi ift, wäre allerdings unverfländig; die Initia— 
tive ift in dieſen Fällen fait immer Sade bes 
Ueberſehers, und dieſer hat manchmal einen etwas 
fonderbaren Geſchmack. Tafür muß man jedoch 
andrerjeits den Beftrebungen der großen Zeitjchriften, 
wie der ‚Revue de Paris‘, Anertennung zollen, die 
in Wahrheit muftergültige Ueberſetzungen, namentlich) 
von Sudermann, Fogazzaro und Gabriel D’Unnunzio, 
veröffentticht haben. Welcher franzöſiſche Roman 
ichriftfteller hätte beim Leſen derfelben nicht gewünſcht, 
dem Auslande in gleid) vorzüglicher Nebertragung vor- 
geführt zu werden! 

„Frankreich ift recht eigentlich das Land der guten 
fitterarifchen Weberfehungen. Es war dies ſchon zur 
Zeit Perrot d'Ablancourts; und diefe Tradition hat 
ſich bis zur Zeit Leconte de Lisles, bis zur unfrigen 
forterhalten. Diefe Spezialität, in künſtleriſchem 
Beifte zu überjegen, müſſen wir uns in der gegen- 
wärtigen Blütezeit der ausländiſchen Geiftesbildung 
zu erhalten ſuchen. Lafjen wir den Nachbarländern 
die eilfertigen Bearbeitungen Titterarifcher Werte, 
die von hungrigen Studenten dutzendweiſe aufs Papier 
gejubelt werden. Und was die Anzahl und die Wahl 
der überfehten Autoren betrifft, jo brauchen wir bloß 


624 


zu erwähnen, daß Balzac bisher nur ins Engliſche 
überjeßt worden ift, um das Ausland in diejer Hin- 
ficht zur Beicheidenheit zu mahnen. 

„Die lehte Behauptung endlich, die es einmal 
definitiv aus der Welt zu ſchaffen gilt, bezieht ſich 
auf die Unkenntnis der fremden Sprachen in Frank⸗ 
reih. Man muß diefe frage bier von einem 
höheren Gefichtöpunfte aus betrachten. Die Beherr- 
ſchung einer fremden Sprache gehört nicht zu den 
Kenntniffen, auf die man Urjadhe Hat, bejonders 
Rolz zu jein. Gouvernanten und Hotellellner thun 
es darin den gelehrteften Doktoren leicht zuvor, und 
nichts befähigt beſſer zur fchnellen Aneignung des 
Wortſchatzes und der Ausſprache eines fremden 
Idioms als eine gewille intelleftuelle Paſſivität. Am 
Ende eines in einem deutjchen Inftitut verbrachten 
Jahres wird jeder franzöfiiche Junge deutſch fprechen. 
Die Aneignung einer fremden Sprache geht aljo ſo— 
zuſagen von jelbft, je nad) Maßgabe des Bedürf- 
niſſes, vor ſich. Bei den Völtern, deren Mutters 
Ipradhe eine Art von Weltvolapüf ift, wird fi 
jelten ein folches Bedürfnis lebhaft fühlbar machen. 
Ein Engländer, ein Franzoſe, der die Welt durch— 
reift, ſchlägt fich faft überall mit den Wörtern und 
der Syntar feiner Mutterſprache durch, während ein 
Slave oder ein Rumäne faum die Grenze feines 
Baterlandes überjchreiten fan, wenn er nicht wenig- 
ſtens die eine der großen internationalen Sprachen 
fennt. Dieje Umſtände haben zur folge, daß ber 
Franzoſe und der Engländer nicht leicht eine andre 
Sprache jpricht ala die eigne. Dank dem bejtän- 
digen Ideenaustauſch zwijchen diejen beiden Völkern 
wird indeſſen, in Paris wenigjtens, jetzt faſt überall 
engliſch geſprochen. Das Deutſche, das weniger 
notwendig iſt, iſt auch weniger bekannt. Das Rufs 
ſiſche beginnt ſich in neuerer Zeit, infolge der enger 
gewordenen Beziehungen zwiſchen Rußland und 
Frankreich, bei und raſch einzubürgern ... Die Ber 
hauptung, daß ein Volk mehr linguiſtiſche Begabung 
beſitzt als ein andres, iſt im Grunde recht albern, 
Die Phyſiologie lehrt, daß die Sprachzentren und 
Sprachorgane keinen Unterſchied bei den verſchiedenen 
Völlern aufweiſen. Ein franzöſiſches Kind, das in 
Rufland erzogen wird, wird in ſprachlicher Beziehung 
Rufe und umgelehrt. Mit Fug und Nedht läßt 
fh nur jagen, daß die Sprachen nur unter dem 
Einfluß einer Notwendigkeit erlernt werden, und dieje 
Notwendigkeit ift eben bei den Völlern je nachdem 
mehr oder weniger dringend. Die Zeit modifiziert 
fie, ebenjo Ereignifie im politijchen und künſtleriſchen 
Leben. Es gab eine Zeit, in der jeder gebildete 
Franzoſe ſpaniſch fonnte, und vor fünfzig Jahren 
ſprachen alle der guten Geſellſchaft angehörigen fran« 
zöſiſchen Damen italienisch. 

„Kurz, weder Anjchauungen und Gemwohn- 
heiten, nod) die Unzulänglichkeit der Ueberſetzungen, 
noch auch Mangel an Begabung zur Erlernung und 
zum Lejen fremder Sprachen hindert die franzöſiſche 


Loſe Blätter, 


Nation, fi mit fremder Geifteskultur, zu befaſſen. 
Oeffnen wir ihr die Thüren und fuchen wir fie ung 
nußbar zu machen. Ein Volt, das jich mit fremden 
Litteraturen vertraut macht, verliert ebenfowenig feine 
geiftige Figenart wie ein Schriftfteller, der die Werte 
feiner Berufsgenofien lieft. Und ein Schriftfteller, 
welcher ſich der internationalen Bewegung auf dem 
Gebiete der Kunft entgegenwerfen wollte, wäre ein 
ebenjoldyer Narr wie jener Mann bei Erdmann: 
Ghatrian, der mit einem Spieß eine Lokomotive auf- 
halten will. Die Zeit ift nahe, in der die veridie- 
denen Staaten Europas in Hinficht auf das Geiftes- 
leben nur mehr Provinzen eines und desielben Landes 
fein werden — bis fie e8 endlich auch politiich find,“ 
R r. 

Ein Brief Ouidas. In einem von der „Review 
of Reviews“ veröffentlichten Briefe äußert ſich die 
befannte engliſche Schriftftellerin Duida (Louiſe 
de la Ramee) in höchſt draftiicher Weife zu der Idee, 
eine Afademie zur Reinhaltung der engliſchen Sprade 
zu begründen. Der Brief lautet: 

„Geehrter Herr! Sie erfuchen mich, einige pral- 
tiiche Vorfchläge zur Reinigung der englijchen Sprade 
von Dialeften, ‚Slang‘ und andern Verunftaltungen 
zu machen. Ich fchlage folgende Maßregeln vor: 
Neun Berlegern von je zehn und neununbmeunzig 
Schriftſtellern von je hundert in Großbritannien wird 
ein gnädiger Tod gegeben. Mittels des Großen und 
des Wllantiihen Ozeans werden die Vereinigten 
Staaten von Norbamerifa unter Wafjer gefeht. Das 
lann feine großen Schwierigkeiten machen; mit der 
Injel Atlantis*) iſt es befanntlich ſchon gejchehen. 
In gleicher Weife wird Auftralien durd den Indi— 
hen Ozean und den jüblichen Teil de3 Großen 
Ozeans bejeitigt. Den vereingelten Amerilanern und 
Auftraliern, die allenfalls dem Verderben entronnen 
find, wird eine dreijährige Quarantäne auferlegt, 
während welcher fie weder Zelegramme noch Zei» 
tungen leſen dürfen, auch nichts Fitterarifches, aus 
genommen die Pjalmen, die Efjayiten**) und bie 
Dramatiter des Glifabethanifchen Zeitalters. Es 
bleiben num nod) jene großen Mifjetgäter übrig, die 
man unter dem Namen ‚die gute Gejellihaft‘ zu 
fammenfaßt. Da es doch ausſichtslos wäre, fie 
bejjern zu wollen, jo fann id) nur raten, ihnen ind« 
geſamt, anjtatt ihren Hunden, Maultörbe anzulegen. 
Sie würden e8 in viel höherem Grade verdienen. 
Wollen Sie dieje Zeilen veröffentlichen, jo thun Sie 
es, bitte. Mit den beften Empfehlungen Ihre Duida.“ 

R.D. 

*) Mythifche Infel im Atlantifhen Ozean, die infolge eines 
Erdbebens verjunten fein joll. 

*) Als „Gfayiften* im befonderen Sinne werden gemifle 
engliihe Scriftitellee des 17. und 18, Jahrhunderts bezeichnet, 
welche vorzugsmeile Eſſays fhhrieben, und denen die Ginführung 
und Ausbildung diefes litrerariihen Genres zu verdanten it. Zu 
den berühmteiten „Eijayiften“ gehören Bacon, Cowley, Eryden, 
Temple, Addifon, Steele, Johnſon. 





Verantwortlicher Redakteur: Karl Bolhoevener in Etuttgart. Drud und Verlag der Deutihen Berlags-Anftalt in Etuttgart. 
Briefe und Sendungen find nur an die Deutſche Verlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perjonenangabe — zu richten. 





Hamuntcho. 


Pierre Loti. 
Rus dem Iranzöfifchen überfeßt von &. Philiparie 


(Fortfekung.) 


XVII. 


Mai! Das Gras wächſt auf allen Seiten wie 
ein prachtvoller Teppich in die Höhe, wie langhaariger 
Sammet, von jelbft aus der Erde aufgeiprokt. 

Um das bastifche Land zu bewällern, das den 
ganzen Sommer über grün und feucht bleibt, — 
gewiffermaken eine wärmere Bretagne — jammeln 
fich die über das Biskayiſche Meer hinziehenden Dünſte 
in diefem Winkel des Golfs, hängen fih an bie 
Gipfel der Pyrenäen und fommen als Regen herab, 
Lange, unangenehme Regengüffe fallen nieder, aber 
nachher duftet bie Erde wieder herrlicher nad) Blumen 
und jungem Gras. 

In den Feldern, längs der Wege, it dad Gras 
frühzeitig dicht, jeder Pfad ift mit prächtigen Blumen 
eingefaßt, überall eine Fülle von großen Maßliebchen, 
Butterblumen auf hohen Stengeln, Pfingitröschen 
und breiten, rojafarbenen Malven, gleid) denen, 
die man in Algerien findet. 

In den langen, linden Dämmerftunden von blaffer 
Irisfarbe Hört man die feſtlichen Glodentöne des 
Marienmonats jeden Abend unter ben dichten, an 
den Bergen hängenden Wollen lange Zeit er- 
llingen. 

Während dieſes Monats Mai begleitete Graziella 
die ſchwarzen, ſchweigſamen, ſtart lächelnden Nonnen 
zu jeder Stunde in die Kirche. Eiligen Schrittes 
gingen fie in dem ſtrömenden Regen über den roſen⸗ 
bebedten Friedhof, zufammen, ftet3 zuſammen: die 
Heine heimlich Berlobte im hellen Anzug neben den 
eingemummten, ſchwarzverſchleierten Schweitern. Am 
Tage brachten fie große Sträuße weißer Blumen, 
Maßliebchen, ganze Garben weiher Lilien; am Abend 
jangen fie in dem noch jtärfer ala bei Tage hallen- 
ben Kirchenschiff ſüßandächtige Lieder zu Ehren der 
Jungfran Maria: 

„Sei gegrüßt, Königin der Engel! 
Meeres, jei gegrüßt!“ 

O, dieſe weißen, ferzenbeleuchteten Lilien! Diele 
weißen Blätter mit dem gelben Blütenftaub! Wie 

Aus fremden Zungen. 1897, IL 14, 


Stern bed 


nn — —— 


herrlich duften ſie am Frühlingsabend im Garten 
oder in der Kirche! 

Wenn Graziella dort am Abend beim verklingen— 
den Glodengeläute aus dem bleichen Halbdunkel des 
Kirhhofs voller Roſen in die im Kerzenlicht ſtrah— 
lende Kirche trat, aus dem würzigen Kräutergerud) 
in den MWeihraud und Lilienduft, aus der milden, 
belebenden Frühlingswärme in die erftarrte, grabes- 
fühle Luft, welche die Jahrhunderte in den alten 
Gotteshäufern erzeugen, dann fam jofort eine eigen- 
tümliche Ruhe über fie, eine Beſchwichtigung aller 
ihrer Wünjche, eine Entjagensfreudigfeit allen irdijchen 
Freuden gegenüber. Dann, wenn fie ſich niedergelniet 
hatte und die erften Lieder unter der hallenden Wöl— 
bung verflungen waren, fam fie nach und nad) in 
eine Elftafe, einen Traumzuitand, in dem berworren 
weiße Erjcheinungen vorüberzogen: alle® mar weiß, 
überall Lilien, Myriaden von Lilien und weiße Flügel, 
weiße, zitternde Engeläflügel! ... 

O, wie ſchön, in dieſer Verzückung zu verharren, 
alles zu vergeſſen, ſich rein, fromm und unbefleckt zu 
fühlen unter dem unfagbar Füßen, zauberhaften, uns 
widerftehlich anziehenden Blid, den die heilige Jung» 
frau, in langen, weihen Gewändern, hod) vom Taber- 
nafel herniederjandte! 

Wenn fie aber dann wieder draußen war, wenn 
Frühlingsluft fie mit ihrer belebenden, linden Wärme 
umgab, verjagte der Gedanfe an das verabredete 
Stelldidein gleih einem Gewitterfiurm alle dieſe 
Traumgebilde. Bei der VBorausficht, Ramuntho nun 
bald neben ſich zu fehen, jeinen ſtuß zu erwidern, 
fühlte fie fich einer Ohnmacht nahe und fürdtete, wie 
eine Verwundete unter den feltiamen Gefährtinnen, 
den friedlichen, geipenftiichen Nonnen, die fie heim— 
begleiteten, hinzufinfen, 

Und wenn die Stunde da war, laujchte fie auf 
jeden Schritt und war voller Bellemmung troß aller 
Borfäge. Ihr Herz Hopfte, wenn ein Zweig fi 
rührte — die geringfte Beripätung des Vielgeliebten 
marterte jie. 

Er fam ſteis mit demſelben geräufchlofen Schritt, 

79 


626 


die Jacke über die Schulter geworfen, und mit ebenfo« 
viel Lift und Vorficht, als gälte es, das gefährlichſte 
Schmugglergefhäft auszuführen. 

In regnerifchen Nächten, die zur Frühlingszeit 
jo häufig im Basfenlande find, blieb fie in ihrem 
Zimmer zu ebener Erde, und er ſetzte fi) auf das 
Gefims des offenen Fenſters, nicht wagend, einzu- 
treten, wozu ihm übrigens die Erlaubnis wäre ver- 
weigert worden. Dort vermeilten fie, er draußen, 
fie innen, jedoh Wang’ an Wang’ lehnend und mit 
den Armen fih umſchlungen haltend. 

Bei ſchönem Wetter ftieg fie zum Fenſter hinaus, 
um ihn draußen zu erwarten, und in langem Bei- 
jammenjein ſaßen fie, faft ohne zu reden, auf ber 
fteinernen Gartenbanf. Sogar das leiſe Liebes- 
geflüfter hatte zwiſchen ihnen aufgehört, fie verharrten 
in Schweigen. Anfangs geihah es aus Furcht, ſich 
zu verraten, daß fie nicht zu reden wagten, denn in 
der Nacht Hört man das leiſeſte Murmeln; dann, 
ſeitdem nichts Neues mehr ihr jo geftaltetes Leben 
bedrohte, hatten fie fait fein Bedürfnis mehr, mite 
einander zu ſprechen. Was hätten fie ſich jagen 
tönnen, das befler gewejen wäre, als Hand in Hand 
nebeneinander zu figen? 

Die Möglichkeit, überrajcht zu werden, bielt fie 
in einer gewilfen Unruhe, und oft laufchten fie mit 
gejpanntem Ohr; doch um jo entzüüdender waren dann 
die Momente, wo fie fih mit ermeutem Vertrauen 
gehen ließen. Bor niemand war ihnen übrigens jo 
bange wie vor Arrochfoa, der fich jelbit jo gut auf 
nächtliche Schleichwege verftand und ſtets wußte, two 
Ramuntho zu finden war. Zroß feiner Nachficht 
für ihre Pläne mußten fie fi) immer wieder fragen, 
wie er fi} verhalten würde, wenn er alles entdeden 
ſollte ... 

O, wie traulich find fie, die alten ſteinernen 
Bänke vor den Hänfern unter den Zweigen, wenn 
der milde Frühlingsabend herniederfinft! Die ihrige 
war das richtige Verfted für Liebende. Dazu fam, 
dab ſie allabendlich das Konzert der unter allen 
Steinen der benadhbarten Mauern fingenden Laub— 
fröjche hörten, der Tierchen des Südens, die, jobald 
die Nacht gefommen, von Minute zu Minute einen 
furzen, leifen, jonderbaren Laut ausſtoßen — er er— 
innert an das Klingen einer Kryſtallglocke oder an 
eine Kinderjtimme, 

Ueberall ringsum gab es ſolche Laubfröſche, die 
in verjchiedenen Tonarten einander antworteten; jogar 
unter der Bank jangen fie von Zeit zu Zeit, indem 
fie, dank der Umberweglichfeit der beiden Liebenden, 
immer wieber neuen Mut faßten. Dieje erfchrafen 
feiht und lächelten, wenn ſich der kleine, helle Laut 
wieder jo plöglich in ihrer nächften Nähe vernehmen 
lie. Die köftliche Dunkelheit ward durch dieſe kleine 
Mufit belebt, die fi in ber Ferne, unter den ge— 


Pierre Roti. 


beimnisvollen Blättern und Steinen, im Innern all 
der ſchwarzen Spalten der Felſen und Mauern fort» 
jebte. Es war wie zartes Glodengeläute oder vielmehr 
wie ein feines, etwas fpöttifch Flingendes Lied — 
nur ganz wenig und ohne jede Bosheit — als ob es 
von ſchallhaften Gnomen gelungen würde, Die Naht 
ward dadurch belebter und mwonniger, 

Nah der Tiebestrunfenen Kühnheit der eriten 
Male wurden fie ängftlidher, und wenn eines bon 
ihnen etwas Befonderes zu jagen hatte, zog es dad 
andre lautlos an der Hand; das bedeutete, es folle 
geben, Teife, Teile folgen, glei) den Haben auf der 
Jagd, bis zum Baumgang hinter dem Garten, wo 
man in aller Ruhe reden fonnte. 

„Wo werden wir wohnen, Graziella?" fragte 
eines Abends Ramuntdo. 

„Bei dir, denke ich.“ 

„Ach ja, auch ich dachte jo... Nur befürchtete 
id, du würdeſt es zu traurig und einfam finden, fo 
weit von der Fire und dem Plaße zu fein,“ 

„Wo denfft du hin! Wie könnte ich es traurig 
finden mit dir?!* 

„Da müßten wir alfo den Leuten unten fün« 
digen, jag! — und das große Zimmer mit der Aus- 
ficht auf die Straße nad) Hafparik für uns nehmen.” 

Daß Graziella in fein Haus ziehen wollte, war 
ihm eine weitere Freude, in dem fichern Gefühl, 
daß fie durch ihre Gegenwart Sonnenjchein in die 
alte, geliebte Wohnung bringen und fie dort ihr 
Neſt fürs ganze Leben bauen würden! ... 

XIX. 

Die lange, blafie Junidämmerung, etwas ber 
ichleiert wie die des Monats Mai, nur noch wärmer, 
fam beran. 

In den Gärten blühten die Oleander in ihrer 
ganzen Pracht und waren nur noch herrliche roja- 
farbene Garben. 

Am Schluffe jedes arbeitsvollen Tages ſetzten ih 
die guten Leute vor ihre Thüren und jahen die Nacht 
herabfinfen — die Nacht, welche die zur wohlthätigen 
Ruhe VBerfammelten bald unter den gewölbten Pla- 
tanen in völliges Dunkel hüllte. Stille Wehmut 
breitete fich mährend dieier Abende über das Dorf. 

für Ramuntcho war «8 die Zeit, im der ber 
Schmuggel leiht war und ihm herrliche Stunden 
bereitete: welche Luft, jo auf die Höhen zu fteigen, 
duch Frühlingswolfen zu ziehen, über Gräben zu 
fpringen, in der Region der Quellen und wilben 
Feigenbäume umberzuirren, auf Teppichen von wür- 
zigen Kräutern oder Nelten bis zu ber imit den Ge 
fährten verabredeten Stunde zu fchlafen!... Der 
Wohlgeruch der Pflanzen durchduftete feine Kleider, 
feine ſtets nur übergehängte Jade, die ihm als Kiffen 
oder Dede diente — und Graziella jagte mandmal 
des Abends: „Ich weiß, wo du in vergangener Nacht 





Ramuntcho. 


in Geſchäften warſt — deine Kleider riechen nach ber 
Würze des Berges oberhalb Mendiazpi;” oder ein 
andres Mal: „Heute riehft du nad dem Wermut 
des Sumpfes Subernoa.” 

Graziella that e8 leid, da der Monat Mai mit 
dem Mariendienjte in ber mit weißen Blumen ge 
Ihmüdten Kirche ſchon vorüber war, Zur Dämmer- 
funde, wenn e8 nicht regnete, fehte fie fi) mit den 
Schweſtern und einigen „Großen“ der Schule unter 
den Kirchenbogen an die niedere Mauer des Fried— 
hofs, wo man einen hübſchen Ausblid auf die unten 
gelegenen Thäler hatte. Sie verbrachten die Zeit 
mit Geplauder oder mit findlichen Spielen, bei wel- 
hen die Nonnen ſtets bereitwillig ſich beteiligten, 
Nachdem fie geplaudert oder gejpielt, jagten fie lange, 
jeltiame Gebete ber; der fich neigende Tag, die Nähe 
der Kirche, der Gräber und Blumen ftimmten zu 
entfagender Ruhe, machten frei von allen Banden der 
Sinne. 

In ihrer erjten myftiichen Mädchenſchwärmerei, 
beionder8 durch den prunfvollen Gottesdienft, die 
Orgeltöne, die weißen Blumen, die taufend Flammen» 
den Kerzen genährt, erichienen ihr nur Bilder, 
freilich jehr ſtrahlende Bilder: Altäre auf Wollen, 
goldene Tabernafel, um welche Mufif raufchte und 
große Engeliharen fich niederliehen. Uber aus diefen 
Traumgebilden waren num Jdeen geworben: fie be 
lam eine Ahnung von dem Frieden und der höchſten 
Entjagung, welche die Gemwißheit eines ewigen himm- 
lijhen Lebens giebt, fie befam einen höheren Begriff 
von der wehmutävollen Freude, alles zu verlaflen, 
alles, um nur noch ein unperjönlicher Teil dieſes 
Ganzen, diejer weißen, ſchwarzen oder blauen Nonnen 
zu fein, welche aus zahliofen Mlöftern der Erde fort- 
während Fürbitten für die Sünden dieſer Welt empor- 
enden... 

Sobald jedoch die Nacht völlig herabgefunten war, 





627 


XX. 

Ramuntcho fam eines Abenbs früher als gewöhn—⸗ 
lih — daher fein zögernder Gang, denn an dleſen 
Juni⸗Abenden fonnte man verjpätete Mädchen längs 
dieſer Wege, ober junge Burſchen, die auf Liebes- 
abenteuer ausgingen, antreffen. 

Zufällig war Graziella ſchon unten und ſah hin« 
aus, jedod ohne ihn ſchon zu erwarten. 

Sofort erkannte fie feine aufgeregte oder freudige 
Stimmung und erriet, daß etwas Beſonderes vor« 
gefallen jein müſſe. Er wagte nicht, zu nahe heran 
zufommen, und machte ihr ein Zeichen, fchnell zum 
Fenſter herauszufteigen und in den dunkeln Baums 
gang zu fommen, wo fie ungeftört reden könnten. 
Als fie dann unter den finfteren Schatten der Bäume 
bei ihm war, umfaßte er ihre Taille und kündigte 
ihr rafch die große Begebenheit an, bie ihn und 
Franchita jchon den ganzen Tag erregt hatte, 

„Dntel Ignacio hat gefchrieben!” 

„Wirklich? Der Onkel Ignacio?“ 

Sie wuhte nämlich, daß diefer abenteuerliche Ontel 
in Amerika ſchon vor vielen Jahren in die Ferne 
gezogen war und bis jet nur daran gedacht hatte, 
ben jeltjamen Gruß duch den Matrofen zu jchiden. 

„Isa — und er fchreibt, er habe Beſitzungen dort 
drüben, die zu bewirtichaften jeien, große Wieſen, 
ganze Herden Pferde; daß er feine Kinder habe, und 
wenn e8 mir recht wäre, jollte ich eine nette Baslin 
im Sande heiraten und mit ihr zu ihm fommen, er 
würde uns beide an Kindes Statt annehmen... O, 
ich glaube, jogar meine Mutter würde mit uns gehen ! 
Alſo wenn du wollteft — fo könnten wir gleich hei« 
raten; du weißt, es ift erlaubt, Brautleute in unferm 
Alter zu trauen... . Nun, da mich der Onfel adop⸗ 
tieren will und ich eine richtige Stellung haben werde, 
wird deine Mutter hoffentlich nichts dagegen einzu- 
wenden haben, — wenn jeßt nur nicht der Militär 


wurde ihr Gedankengang wieder unmiderftehlih auf | dienft wäre!“ 


beraufchende, irdifche Dinge gelenkt. Bon Minute 
zu Minute ward ihre Sehnſucht ungebuldiger und 
fieberhafter. Kaum konnte fie erwarten, daß ihre 
falten, ſchwarzen Gefährtinnen wieder in ihr trau— 
riges Kloſter zurüdkehrten, um allein in ihrem Zim« 
mer, frei endlich im jchlafenden Haufe zu fein, bereit, 


| 


ihr Fenſter zu öffnen, um auf den leichten Schritt 


Ramuntchos zu Taufchen. 


Der ſtuß der Liebenden, ber Kuß auf die Lippen, | 


war jeht ein erworbenes Gut, dem zu entjagen fie 
nit mehr den Mut fanden, — fie verlängerten ihn 
ſehr, denn aus zarter Scheu und keuſcher Zu— 
rüdhaltung wollten beide ſich nicht mehr gewähren. 

Uebrigen® , mochte auch vielleicht ihr Rauſch ein 
wenig finnlich fein, fo waren doch beide von jener 
ſchrankenloſen, einzigen, unendlichen Liebe bejeelt, 
die alles erhebt und verebelt, 


Sie ſetzten ſich auf die moofigen Steine, die hier 
herumlagen; der Kopf ſchwindelte ihnen, jo fehr er- 
regte beide das unverhoffte nahe Glück. Jetzt alfo 
lag es nicht mehr in ungemwiljer ferne, nad feiner 
Dienftzeit, jondern glei, in zwei, höchſtens drei 
Monaten konnte ihre jo heiß erjehnte, geitern noch 
jo fernliegende und bis heute ihnen vermehrte Ver— 
bindung vor fich gehen, ohne Sünde, ehrbar in aller 
Augen, erlaubt und geſegnet ... Ach, niemals hatten 
fie dieſes Glüd in jo naher Zeit ins Auge gefaßt... 
Sie lehnten die von der Heberfülle der Glücksgefühle 
ſchwer gewordenen Stirnen aneinander, und beibe 
waren wie gelähmt im Taumel des Entzückens. 
Ringsum flieg Blumenduft von der Erde auf und 
erfüllte Tieblich die Nacht, und ald ob noch nicht genug 
MWohlgerüche verbreitet wären, ftrömten der Jasmin 
und das Geißblatt dort an den Mauern ihre ftärtften 


628 


Düfte aus. Es war, als ob unfichibare Hände in 
aller Stille Räucherfäffer im Dunteln zu einem ver- 
borgenen Feſte oder zu einer heimlichen, entzüdenden 
freude Hin und ber wiegten. 

Oftmals und überall giebt es ſolch geheimnisvolle, 


hohe Freuden, die auß der Natur felbft hervorgehen, | 


und bie von einem hohen Willen mit unergründlicher 
Abſicht angeordnet find, um uns alle auf unſerm 
Todesweg in Täufchungen zu wiegen. 

„Du antworteft mir nicht, Graziella, du fagft 
nichts? ...“ 

Er fah wohl, daß fie gleich ihm vom Glüd be- 
raucht war, und doch erriet er an ihrem langen 
Schweigen, daß jih ein Schatten über den jchönen, 
fügen Traum geworfen babe. 

„Aber,* fragte fie endlih, „mie ift es mit den 
Papieren, deiner Naturalijierung — baft du fie nicht 
ſchon erhalten ?* 

„Sa, fie find vorige Woche gelommen, du weißt 
doh! Und du ſelbſt bift es doch gewefen, die mid 
bat, diefen Schritt zu thun ...“ 

„Und folglich bift du jet Franzoſe — und wenn 
du deiner Militärpflicht nicht nachlommft, bift du 
fahnenflüchtig!“ 

„Freilich! gewiß ... ja! ... nicht gerade fahnen- 
flüchtig, aber, wie fie, glaube ich, ſagen: ich würde 
mid dem Heeresdienft entziehen — was nicht viel 
beſſer ilt, da man nicht mehr ins Land zurüdfommen 
darf — und ich dachte nicht daran! ...“ 

Wie folterte es jetzt Graziella, daran ſchuld zu 
fein, ihn zu diefem Schritt veranlaßt zu haben, der 
jebt eine jo jchwerdbrohende Gefahr über ihr Glüd 
heraufbeſchwor, faum daß es ſich verwirklichen zu 
wollen ſchien! O Gott! Fahnenflüchtig! Er! Ihr 
Ramuntcho! Das hieß verbannt auf immer aus 
dem geliebten baskiſchen Lande! — und dieſe Reiſe 
nad Amerika ward plößlih zu etwas entſetzlich 
Ernjtem, Feierlihem — eine Art von Tod, da «8 
von ihr feine Rücklehr mehr geben follte!... Was 
nun ihun?... 

Angftvoll, ſtumm blieben fie nebeneinander. Jedes 
mollte fich dem Willen des andern fügen ; mit Bangen 
warteten fie auf einen Entſchluß. Aus der Tiefe ihrer 
jungen Herzen jtieg diejelbe Not und diejelbe Bangig- 
feit. Bergiftet war das Glüd, das ſich ihnen dort 
drüben , in diejem Amerifa bot, wenn fie von dort 
nicht wieder zurüdfehren durſten . . Und aus den 
fleinen, nächtlichen Räucherbühschen des Jasmins, 
des Geißblatis, der Lindenblüte ftrömte fortgejeht 
entzüdender Wohlgeruch, um fie zu beraufchen ; immer 
einschmeichelnder wurde die fie umhüllende Dunkel— 
heit. Mitten in der Stille ertönten von Minute zu 
Minute die Heinen Flötentöne der Laubfröſche wie 
leiſes Biebesloden unter dem moofigen Sammet, und 
durch das ſchwarze Blätterwerk hindurch jahen fie 


Pierre Lotti, 


am Maren Junihimmel, ber ewig unveränberlid 
ſchien, die ungeheure Menge ber Welten Flimmern. 

Die Freierabendglode fing an zu läuten, Der 
Klang diefer Glode, befonders des Nachts, bedeutete 
für fie etwas Einziges auf diefer Erbe. In dieſem 
Moment jchien e8 ihnen jogar, als ob durch ihren 
Laut ihrer Unfchlüffigfeit Tiebevoller Rat gebradt 
würde. Stumm hörten fie, mit wachſender Erregung, 
Kopf an Kopf gelehnt, dem Giodengeläute zu, und 
die raterteilenden Klänge, die lieben, beſchirmenden 
Klänge jagten: „Mein, gehet nicht für immer fort... 
die fernen Länder find mur für die Jugendzeit! Iht 
müßt nach Etchézar zurüdlommen! Hier müht ihr 
alt werden und fterben ; nirgenb& werdet ihr fo janit 
gebeitet jein wie auf dem Friedhof bei ber Kirche! 
— fogar unter der Erde könnt ihr mich nod) läuten 
hören, immer hören! ...“ 

Die beiden Finder, mit ihren naiven, gottes- 
fürdtigen Seelen, waren mehr und mehr geneigt, 
der Glode Gehör zu fchenten. Ramuntcho fühlte 
auf feiner Wange eine Thräne Graziellas fliehen. 

„Nein,“ jagte er endlich, „fahnenflüchtig werden 
— nein! Weißt du, ich glaube, dazu hätte ich nicht 
den Mut,“ 

„Ich dachte dasſelbe, mein Ramuntcho,” erwiderte 
fie. „Nein, das wollen wir nicht thun ... Ich wollte 
nur warten, biß du es jelber ſagteſt ...“ 

Aud) er weinte jeht... 

* 

Der Enlſchluß war gefaßt, fie wollten das Glüd 
vorüberziehen laſſen, das fhöne Glüd, das jo nahe 
an ihnen vorbeiging, faft in ihrer Hand lag. Sie 
wollten alles wieder auf die ungewiſſe, ferne Zufunit 
verſchieben. 

Traurig, doch nad) der großen Entſcheidung etwas 
gejammelter, berieten fie, waß nun zu thun fei. 

„Man könnte deinem Onfel Ignacio,“ fagte fie, 
„mit einem jchönen Brief antworten, ihm jchreiben, 
daß du annimmft, daß du mit großem Wergnügen 
zu ihm kommſt, jobald du deiner Militärpflicht Ge: 
nüge geleiftet haft; du fannft fogar hinzufügen, wenn 
du willit, daß deine fleine Braut herzlich dankt nnd 
ſich bereit Hält, dir zu folgen, — aber fahnenflüchtig 
werden — nein, das ginge nicht!“ 

„Wie wäre ed, Gatchutcha, wenn du jebt ſchon 
mit deiner Mutter redeteft, um zu hören, was fie 
dazu jagt? Denn jept ift es nicht mehr wie früher, 
du verſtehſt! — ich bin nicht mehr der verlaflene 
Junge von ehemals...” 

Da — leichte Schritte hinter ihnen im Weg — 
und über der Mauer erjdhien die Geſtalt eines jungen 
Mannes, der auf feinen Strohſchuhen leiſe heran- 
geihlihen fam, um fie zu belaufen... 

„Fort, Ramuntcho, flieh! Auf Wiederjehen mor⸗ 
gen abend!” 


Ramuntdo. 


In einer halben Sekunde ift niemand mehr da. 
Er im Gebüjch verftedt, fie in ihr Zimmer geflohen. 

Ihre ernfte Unterredung war beendigt. Beendigt 
bis zu welcher Zeit? Nur bis morgen oder für 
immer? Ueber ihrem eiligen oder lang hinaus 
gezogenen, erjchrodenen oder frieblichen Abjchied 
ſchwebte jedesmal, in jeder Nacht, diefelbe Ungewiß⸗ 
heit des MWiederfehens, 

XXI. 

Die Glode von Etchezar, Ddiejelbe geliebte alte 
Glode, die am ruhigen Feierabend, an jeglichem Feſte 
und aud) zur Sterbeftunde läutet, Mang heute luſtig 
hinaus in die ſchöne Junifonne. Das Dorf war 
überall mit weißen Tüchern, weißen Stidereien be» 
hängt, und die Prozejfion des Fronleichnamstages 
zog langſam auf grünbeftreuten Wegen hin. Die 
Berge ſchienen nah und dumtel; düſter braun gefärbt 
ragten fie empor über dieſem Zuge weißgekleideter 
Mädchen, die auf dem grünen Blätterteppich dahin- 
wandelten. Alle alten Fahnen der Kirche waren her⸗ 
vorgeholt und wieder einmal von der Sonne bes 
leuchtet, die fie ſchon jahrhundertelang Fannte, fie 
aber nur ein⸗ bis zweimal im Jahr an jehr hohen 
Feſttagen ſah. 

Die größte, die der heiligen Jungfrau Maria, 
aus weißer, matigolbbejlidter Seide, rückte heran, 
getragen von Graziella. Dieje war ganz weiß ge 
Heidet und jchritt mit traumverlorenen Augen einher. 

Hinter den Mädchen kamen die ſchwarzverſchleier⸗ 
ten frauen, alle Frauen des Dorfes, auch die beiden 
Feindinnen Dolores und Franchita. Männer, in 
ziemlich großer Zahl, beſchloſſen den Zug mit einer 
Kerze in der Hand und entblößten Haupte, meift 
mit grauem Haar, Gejichter mit lebensmüdem, res 
figniertem Ausdrud, Greifentöpfe. 

Graziella, die Fahne der heiligen Jungfrau hoch 
baltend, war in diefer Stunde eine Gottbegeifterte. 
Cie hatte das Gefühl, ald wäre fie geftorben und 
auf dem Wege zu dem ewigen Tabernafel, und wenn 
die Erinnerung an Ramuntchos Küffe ihren Traum 
durhfreugte, jo überlam fie mitten im diefer ganzen 
weißen Umgebung ein brennendes, aber doch ent- 
züdendes Gefühl... Bon Tag zu Tag bveredelten 
fh ihre Gedanten, und immer weniger waren es die 
bei ihr leicht bezwungenen Sinne, die Graziella zu 
ihm hinzogen, aber dafür wachſende, echte, tiefe Liebe, 
jene Liebe, die nicht der Zeit und den Enttäujhungen 
der Sinne erliegt. Und dieje Liebe erhöhte ſich noch 
dadurch, daß Ramuntho weniger begütert war als 
fie und verlaffener im Leben ftand, weil er feinen 
Vater hatte, 

XXIL 

„Run, Gatchutcha, haft du deiner Mama vom 
Ontel Ignacio erzählt ?* 

„No nicht, nein; ich hatte nicht den Mut... 


629 


Wie follte ich ihr erklären, woher ich alle dieſe Dinge 
weiß, da fie mir doch verboten hat, mit dir zu reden? 
Denfe nur, wenn fie Argwohn ſchöpfte! Alles wäre 
verloren, wir könnten una nicht mehr jehen! Ich 
möchte die Mitteilung lieber auf fpäter verfchieben, 
wenn du fort bit, denn dann ift mir alles gleich» 
gültig.” 

„Du haft recht — warte lieber, da ih ja doch 
bald fortgehe.“ 

In der That, er follte bald abreifen, und ihre 
Abende waren gezäßlt. 

Nun, da fie das angebotene Glüd an ſich hatten 
vorbeiziehen laffen, glaubten fie, es jei beſſer, Ra— 
muntchos Eintritt in die Armee zu bejchleunigen, 
damit er um fo früher wieder zurüdfäme. E& ward 
alfo befchlofjen, daß er der Einberufung zuvorfommen 
und bei der Marine-Infanterie eintreten folle, der 
einzigen Truppe, bei der die Dienftzeit nur brei 
Jahre beträgt, und da fie eine beitimmte, lang vorher 
ind Auge gefaßte Zeit brauchten, um fih Mut zu 
jammeln, jo hatten fie Ende September feitgejett, 
die Zeit nah den großen Ballipielen, 

Sie betradteten übrigens dieſe dreijährige Tren- 
nung mit völligem Vertrauen in die Zulunft — jo 
fiher glaubten fie eines des andern, ihrer ſelbſt und 
ihrer unvergänglichen Liebe zu fein. 

Dennoch war das eine lange Wartezeit; ihr Herz 
war fonderbar beflommen, und der Gedanke baran 
ließ ihmen jonft gleichgültige Dinge unfagbar traurig 
eriheinen: die Flüchtigleit der Tage, die geringften 
Anzeichen der fommenden Jahreszeit, das Aufblühen 
gewiſſer Blumen, alles, was den raſchen Verlauf 
ihres letzten Sommers andeutete. 


XXI 


Schon haben Iuftig und rot die Johannisfeuer 
in klarer, blauer Nacht geflammt, und ber ſpaniſche 
Berg dort drüben jchien am Sonnwendabend lichter= 
(ob zu brennen, fo zahllos glänzten die Freudenfeuer 
auf dem Abhange. Sie hat begonnen, die Zeit der 
großen Hitze und der Gewitter, nad) welder Ra— 
muntcho Abſchied nehmen muß. 

Der im Frühjahr jo rajch emporfteigende Pflanzen» 
jaft verliert feine ftrogende Kraft, bie Entwidiung 
bes Grüns hat ihr Ende erreicht, die Blumen haben 
ſich voll entfaltet. 

Die viel heißeren Sonnenftrahlen überhitzen alle 
Köpfe unter den Baretten, erhöhen das Feuer und 
die Leidenſchaft und erweden in allen basfifchen 
Dörfern außerordentlihe Erregung und lärmende 
Fröhlichleit. 

Währenddem in Spanien die großen, blutigen 
Stiergefechte beginnen, ift bier eine Zeit Iuftiger 
Fefte, großer Ballipiele und vieler am Abend ge— 
tanzter Yandangos. 


630 


Bald naht die heiße Julipradıt des Südens. 
Der Bisfayifche Golf ift tiefblau geworden, und bie 
Küfte von Gantabrique hat für eine Zeitlang bie 
rötlichgelbe Farbe Algeriens und Maroklos an— 
genommen, 

Mit fchweren Gewitterregen wechjelt wunderbar 
ſchönes Wetter bei völlig Marer Luft ab. Dann giebt 
es auch Tage, an welchen die entfernt gelegenen 
Dinge wie von ber, Hitze aufgezehrt und mit Sonnen 
ftaub überftreut fcheinen. 

Die über den Wäldern und dem Dorfe Etchézar 
fi erhebende Gizune mit dem jpiken Gipfel wird 
aladann dunftiger und höher, Seine, vergolbete 
weiße Wollchen, mit etwas Perlmuttergrau an den 
dunfeln Stellen, ſchweben am Himmel und heben 
jein tiefes Blau noch mehr hervor. 

Die Quellen unter den dichten Farnen ſprudeln 
leifer und langjamer, und die von halbnadten Mäun— 
nern begleiteten, müdenumjhwärmten' Ochſenwagen 
ziehen bebächtiger auf den Strafen dahin. 

* 

In diefer Jahreszeit führte Ramuntcho bei Tage 
das aufregende Leben des „Pelotari”; fortwährend 
war er mit Arrochfoa unterwegs, von Dorf zu Dorf 
wandernd, um ein Ballfpiel ins Werk zu ſetzen oder 
auszuführen. 

Dod in jeinen Augen hatten nur noch die Abende 
Wert. 

Die Abende... .! Da ſaß er in der duftenden, 
warmen Duntelheit des Gartens Ineben Graziella, 
er hielt fie mit feinen Armen umſchlungen, zog fie 
allmählich immer fefter an feine Bruftl. So hielt 
er fie lange, ohne ein Wort zu reden, das Kinn auf 
ihr Haar gelegt, und atmete den jugendfriichen Duft, 
ber von der Geliebten ausftrömte. 

Ramuntho hatte einen ſchweren Kampf zu be— 
ftehen bei biejen lange währenden',, wonnigen Um— 
armungen, die fie ihm nicht verwehrte, Er fühlte, 
daß Sie jeht Bertrauen und Hingebung genug für 
ihm hatte, um ihm nichts mehr zu verfagen; aber 
jugendlihe Scham, ein Gefühl der Ehrerbietung vor 
feiner Braut und feine unendliche, tiefe Liebe hielten 
alle feine Wünfhe nah den höchſten Freuden der 
Liebe im Zaum. Manchmal fprang er jäh auf, um 
jeine Glieder zu dehnen — „mie eine Rabe, die 
ſich ftredt”, jagte Graziella, wie Damals in Erribiague 
— mern ihn das gefährliche Beben befiel und die 
übermäctige Verſuchung, die Geliebte am ich zu 
reihen um einer Minute höchfter, unausſprechlicher 
Seligfeit willen... 

XXIV, 

Franchita indeſſen beunrubigte fich über das uns 
erflärliche Benehmen ihres Sohnes. Anſcheinend ſah 
er Graziella niemals, und er ſprach nicht mehr von 
ihr. Tiefe Trauer über den nahen Abſchied ſammelt 





Pierre Loti, 


fih in ihr an, und dabei beobachtete fie ihn ſtill und 
geduldig. 

Eines Abends — es war einer jeiner letzten — 
als er geheimmisvoll und eilig, fange vor der nädt« 
lichen Schmugglerfiunde, ausgehen wollte, ftellte fie 
fich vor ihn bin und jah ihn ſcharf an: 

„Wohin gehſt du, mein Sohn?“ 

Und da er rot und verlegen den Kopf abwandie, 
war fie plößlich ihrer Sache gewiß. 

„s iſt gut! Jetzt weiß ich alles! Ah, ich weiß 
alled! ...“ 

Die Entdedung des großen Geheimnifies erreate 
fie; daß es nicht Graziella, jondern eine andre jein 
fünnte, daran dachte fie nicht im entfernteften, dazu 
war fie zu jharffinnig. Und nun erwachten chriftliche 
Strupel in ihr; ihr Gewiſſen erichraf über das 
Unrecht, das fie_vielleiht begangen — zugleich aber 
flieg aus ihrem tiefften Innern ein Gefühl auf, deijen 
fie fich wie eines Verbrechens ſchämte, eine Art wilder 
Freude; denn ſchließlich, wenn ſich die Liebenden 
vergeiien hatten, jo war e& ficher, daß die Zutumit 
des Sohnes fid) jo geftaltete, wie fie immer geträumt... 
Sie kannte überdies ihren Ramuntcho zu gut und 
wußte, daß er treu bleiben und Graziella nie ver» 
lafjen würde. 

Schweigend ftanden fie einander gegenüber. Sie 
verjperrte ihm den Weg. 

„Mas Habt ihr gethan?“ entſchloß fie fich endlich, 
zu fragen. „Sag mir die Wahrheit, Ramuntdo, 
was habt ihr Schlimmes gethan?” 

„Schlimmes? O, nichts, Mutter! Nichts Schlim- 
mes, ich ſchwöre es dir!...“ 

Ohne im geringften gereizt über die Frage zu 
fein, hielt er den Blid der Mutter mit guten, offenen 
Augen aus. Es war ja die Wahrheit, und fie 
glaubte ihm. 

Allein da fie noch immer, mit der Hand auf ber 
Thürflinte, vor ihm ftehen blieb, fuhr er mit dumpfer 
Heftigleit fort: 

„Du wirft mich hoffentlich nicht abhalten wollen, 
zu ihr zu geben, da id) in drei Tagen abreifen muß ?!* 

Angefichts des jungen, fi) auflehnenden Willens 
verſchloß die Mutter den Tumult ber widerſprechen⸗ 
den Gefühle in fich felber, ‚beugte den Kopf, und 


‚ ohne ein Wort zu fpredhen, trat fie beifeite und lieh 


ihn fortgehen. 
XXV. 

Es war der letzte Abend der Liebenden, denn 
vorgeflern hatte Ramuntcho mit zitternder Hand auf 
der Bürgermeifterei von St. Jean-de⸗Luz die Ordre 
unterjchrieben, durch die er für dreijährigen Militäre 
dienft in das in einer nörbliden Hafenjtabt in 
Garnijon ftehende zweite Marine-Infanterieregiment 
eingereiht wurde. 


Es war ihr lehter Abend!... und fie hatten 


a. 


Ramuntdo. 


ausgemacht, länger ala gewöhnlich beifammen zu 
bleiben — bis Mitternadt, hatte Graziella be» 
ſchloſſen. Mitternadt ift im Dorfe eine ungewöhn- 
liche, ſchwarze Stunde, eine Stunde, nad) welcher 
fonderbarerweife der feinen Braut alles erniter und 
itrafwürdiger erfchien, 

Troß des brennenden DVerlangens ihrer Sinne 
war weder ihm noch ihr die Idee gefommen, daß 
fie bei dieſem letzten Beiſammenſein im Schmerz 
über den Abſchied mehr ala ſonſt begehren könnten. 

Ihre Empfindungen waren im Gegenteil in diefem 
andachtsvollen Augenblid des Scheidens noch reiner 
ala jonft, jo wahr und treu liebten fie einander, 

Weniger vorfihtig jedoch, da ie feine Rüdficht 
wegen des kommenden Abends zu nehmen braudhten, 
wagten fie es, auf der fleinernen Banl zu flüftern, 
was fie nie geihan. Sie ſprachen von der Zukunft, 
von der nun fo fernen Zukunft; denn in ihrem Alter 
eriheinen drei Jahre als eine unendlich lange Zeit. 

Wenn Ramuntho in drei Jahren wieder heim— 
fehrte, jo war Graziella gerade zwanzig Jahre alt, 
und follte alsdann ihre Mutter immer noch nicht 
eimmiligen, jo wollte fie nach einem weiteren Jahr 
von ihrem Recht ala großjähriges Mädchen Gebraud) 
mahen, Das war unter ihnen eine abgemadhte und 
verjprochene Sache. 

Auch ihr zukünftiger Briefwechſel beſchäftigte fie. 
Ales ſchien jo verwidelt, voller Hindernifje und 
Heimlichkeiten. Arrochloa, ber allein ihr Vermittler 
fein fonnte, Hatte wohl feinen Beiſtand zugefagt; er 
war jedoch fo wanfelmütig, jo unzuverläffig! Großer 
Gott, wenn er fie im Stiche ließe! Ob er überhaupt 
die Verpflichtung übernehmen würde, die Briefe ver— 
fiegelt hin und ber zu beforgen? Sonjt war ja alle 
Freude bes Briefichreibens dahin! In unfern Tagen, 
bei den vielen, bequemen Verkehrswegen, giebt es 
feine vollftändige Trennung mehr, wie bald die ihrige 
fein ſollte. Es war däher ein jeierlicher Abichied, 
gleih dem der Liebenden aus ehemaliger Zeit, als 
es noch Länder ohne Poſt, jchredenerregende Ent» 
fernungen gab. Das glüdliche Wiederſehen ſchien ihnen 
in ferne, ferne Zeit hinausgerüdt, dod) ihr gegenfeitiges 
Vertrauen ließ fie mit fliller Zuverficht darauf hoffen 
wie die Gläubigen auf das ewige Leben. 

Jede Kleinigkeit wurde für fie an diefem Abend 
von großer Bedeutung; der nahe Abſchied lieh alles 
wichtiger und erheblicher erjcheinen, wie e8 beim 
Nahen des Todes geſchieht. Das nächtliche Geräuſch 
und alles um jie herum fam ihnen jo ganz anders 
vor, und unwillkürlich prägte es ſich in ihr Gedächt- 
nid... Das Gezicpe der Grillen hatte etwas Eigen- 
tümliches, wie fie es früher nie gehört. Das Geheul 
eines Hundes, das in der hallenden Nacht von einem 
entfernten Meierhof bis zu ihnen drang, flöhte ihnen 
ſchauerlichen Schreden ein. Und Ramuntho nahın 


631 


in die Verbannung einen im Garten abgefnidten 
Planzenftengel, mit dem er mechaniſch den ganzen 
Abend gejpielt, mit; er bewahrte ihn ſpäter als tief- 
trauriges Andenken. 

Ein Abichnitt ihres Lebens endigte mit biefem 
Tage; ein Stüd ihres Dafeins lag hinter ihnen — 
e8 war vorbei mit der Sinderzeit... 

Es bedurfte für fie feiner langen Verficherungen, jo 
gewiß war eines des andern, ja, fie hatten fich nicht 
ſoviel wie gewöhnliche Brautlente zu jagen, weil fie 
gegenseitig ihre innerften Gedanken kannten, und nad 
einer Stunde des Plauberns blieben fie Hand in 
Hand, ernft und ftill nebeneinander fiten, indes bie 
unerbittlihen Minuten dahinſchwanden. 

Um Mitternadht, wollte fie, follte er fortgehen, wie 
es im voraus in ihrem verftändigen Kopf feit be- 
ihloffen war. Nachdem fie ſich lang gefüßt, trennten 
fie fi), als ob der Mbichied zu dieſer beftimmten 
Stunde etwas Unvermeidliches und unmöglich zu 
verſchieben jei. 

Indes fie in ihr Zimmer zurüdging und plößlich 
in ein Schluchzen außbrad), das bis zu ihm drang, 
überftieg er die Mauer und befand fi) bald auf der 
einjamen Straße unter den weißen Strahlen bes 
Mondes. Bei diefer erften Trennung litt er weniger 
als fie, weil er es war, der wegzog, und ihm bie 
folgenden Tage Neues und Unbelanntes bringen 
follten. Als er auf dem flaubigen, hellen Wege 
dahinſchritt, war er von dem mächtigen Zauber des 
Reiſens und der Veränderung gleichſam betäubt, und 
ohne beftimmte oder zufammenhängende Gedanfen 
jah er feinen im Mondſchein ſcharf und deutlich ge 
zeichneten Schatten vor fich hergeben. Und die große 
Gizune beherrfchte mit Falter, geipenftijcher Ruhe die 
ganze, mondbeichienene Gegend. 


XXVL 


Der Tag der Abreiſe. Da und dort nimmt 
Ramuntho Abſchied von Freunden; alte, vom 
Regiment heimgefehrte Soldaten geben ihm herzliche 
Glückwünſche mit auf den Weg. Seit dem Morgen 
ift er in fieberhafter Betäubung; vor ihm liegt Die 
unbefaunte Welt! 

Arrochkoa, der ſehr freundlich an diejem legten 
Tag gegen ihn war, hatte ihn inftändig gebeten, ihn 
mit feinem Wagen bis St. Jean⸗de⸗Luz fahren zu 
dürfen, und zugleich ausgemacht, daß fie bei Sonnen» 
untergang abreifen wollten, damit er gerade reiht- 
zeitig zum Nachtzug käme. 

Der Abend war herangelommen; Franchita wollte 
ihren Sohn bis zu dem Plabe begleiten, wo der 
Magen bereit fand, und bier, troßdem fie ſich mit 
aller Gewalt zu beherrfchen juchte, überwältigte fie 
der Schmerz, und ihr Geficht zog fich zuſammen; 
er hielt ſich gewaltſam ftraff, um fi das fühne 


682 


Ausfehen zu geben, das ſich für einen zum Regiment 
abziehenden Refruten jchidt. 

„Machen Sie mir ein wenig Pla, Arrochloa!“ 
jagte fie plöglih, „ich will mich zwifchen euch beide 
jeßen und bis zur Kapelle des heiligen Bitchentcho 
mitfahren. Bon dort fomme ich zu Fuß zurüd.“ 

Sie fuhren ab. Die untergehende Sonne breitete 
über fie wie über alles andre ihre goldne und fupfer- 
rote Pracht. 

Am Eichwald vorüber famen fie zur Kapelle, 
aber die Mutter wollte noch weiter mitfahren; von 
einer Biegung zur andern ſchob fie die jchredliche 
Trennung hinaus und bat, fie den Sohn weiter be— 
gleiten zu laſſen. 

„seht aber, Mutter, oben auf der Anhöhe von 
Marik mußt du ausfteigen,” ſagte Ramutcho mit 
Herzlihleit. „Hörft du, Arrochfoa, dort hältjt du 
an! Ich will nicht, daß meine Mutter nod weiter 
mitfährt.” 

Das Pierd ging mun viel langſamer bergauf. 
Der Mutter und dem Sohne brannten die Augen 
von den zurüdgehaltenen Thränen; Hand in Hand 
jaßen fie da, und langſam, langſam fuhren fie ftill- 
ſchweigend dahin, ala wären fie auf einer Wallfahrt 
begriffen. 

AS fie endlich oben angelangt waren, zog der 
gleichfalls ftumm gewordene Arrochkoa ſacht die Zügel 
an mit einem einfachen: „Ho—la!” Es Mang ftill 
wie ein Trauerfignal, da8 man nur zögernd giebt, 
— und der Wagen bielt an. 

Ramuntcho ſprang ſchweigend ab, half jeiner 
Mutter abfteigen, gab ihr einen langen, langen Ruß 
und ftieg raſch wieder auf. 

„Wahre zu, Arrochfoa! Raſch, weiter!” 

Und in zwei Selunden verlor er auf dem nun 
abwärts führenden Weg die Mutter, deren Geficht 
jet Thränen überfirömten, aus den Augen, 

* 


Immer mehr wuchs die Entfernung zwiſchen 
Frandita und ihrem Sohne. In entgegengejehter 
Rihtung zogen fie auf der Strafe von Etchözar, in 
ber Pracht des Somnenuntergangs, in einer Welt 
von rojafarbenem Heidefraut und gelblichen Farnen, 
weiter. 

Langjam ging Franchita dem Dorfe zu, ſie be- 
gegnete nur einigen Adersleuten und einigen, von 
fleinen basfischen Hirten durch den goldnen Abend 
getriebenen Herden. 

Ramuntcho fuhr indeilen abwärts und fehr raid) 
durch dunfle Thäler dem flachen, von der Eijenbahn 
durchfreuzten Sande zu. 

XXVII. 

Franchita kam zur Dämmerzeit ind Dorf zurüd 
und bemühte fi dort, ihre gewöhnliche ſtolze und 
gleichgültige Haltung anzunehmen. 


Pierre 2oti. 


Bor dem Haufe Detharry begegnete fie Dolores, 
die gerade heimlam; dieſe drehte ſich um, blieb in 
der Thür ftehen und jah die Feindin ſcharf an. Es 
mußte etwas vorgefommen fein, fie mußte irgend 
etwas gehört haben, daß fte fich in ſolch auffallender, 
herausfordernder Weile benahm. 

Franchita blieb gleichfalls ſtehen, und fat un 
willfürlich ftieß fie die zwijchen den Zähnen gemur« 
melten Worte aus: 

„Was hat fie, dieje Frau, daß ſie mich in dieſer 
Weiſe anfieht?” 

„Aha, heute abend wirb er wohl nicht mehr 
fommen, ber feine Liebhaber — nicht wahr?“ rief 
Dolores, 

„So, du weißt es alfo, daß er immer hierher 
fam und mit deiner Tochter zufammentraf?” 

In der That, fie wußte e8 feit dieſem Morgen. 
Graziella Hatte es ihr gejagt ; nad) langem Sträuben 


| Hatte fie fi) dazu entſchloſſen, num fie feine Rüchſicht 


mehr zu nehmen brauchte — allein es war alle 
umſonſt gewejen, was fie von Onfel Jgnacio berichtete, 
was fie von Ramuntchos beſſeren Ausfichten zu jagen 
wußte, alles, was ihre Sache hätte fördern können, 

„So, bu weißt e8 alfo, daß er mit beiner Tochter 
bier zuſammenlam?“ 

Aus alter Gewohnheit jagten fie du zu einander, 
wie zur Zeit, als fie noch zufammen in die Schule 
gingen, die beiden Frauen, die nun ſchon feit zwanzig 
Jahren fein Wort mehr ausgetaufcht hatten. 

Weshalb fie fich jo jehr haften? Fürwahr, fie 
wußten es felber nid;t recht. Oftmals fängt jo etwas 
mit einem Nichts an, mit findifcher Eiferjüchtelei oder 
Nivalität, und jchließlih, nad) täglihem Begegnen 
ohne Ausſprache, nad) vielen böfen Blicken wächſt e& 
bis zum unverjöhnlichen Haß... 

Sie ftanden eine vor der andern, ihre Stimmen 
jitterten vor Groll und böswilliger Erregung. 

„Freilich!“ entgegnete die andre, „du wußteſt es 
vor mir, bas denfe id) mir wohl; bu warft es, die 
ihn zu uns ſchichte! . . . Man begreift übrigens, daß 
du vor feinem Mittel zurüdichredit, nad) dem, was 
du damals geihan haft...” 

Frandita, die von Natur weit mehr Würde und 
Anftand beſaß, blieb ſtumm und entjegt über den 
ungeahnten Streit auf ofjener Straße, während 
Dolores fortfuhr: 

„Nein, das wäre noch ſchöner! Meine Tochter die 
Frau dieſes Baftards mit feinem Heller Vermögen!” 

„Ih meine aber, er wird fie Irokdem heiraten! 
Verfuche es doch, ihr einen Mann nad) deiner Wahl 
vorzuſchlagen, und bu wirft ſchon ſehen!“ 

Damit eilte Frandita weg; es ſchien ihr unter 
ihrer Würde, den Streit weiter fortzujeßen, und jie 
hörte hinter fich die zornige Stimme und die Schmäb- 
worte der andern, 


Ramuntdo, 


Sie zitterte an allen Gliedern, und einer Ohn— 
macht nahe, taumelte jie bei jedem Schritt. 

Welch traurige Heimkehr! Weiche Leere fand fie! 
Diefe dreijährige Trennung erſchien ihr jeht als 
etwas entiehlicd Neues, als ob fie faum darauf vor= 
bereitet gewejen wäre — gerade wie man bei der 
Küdtehr vom Friedhof die Abweſenheit des teuern 
Toten zum erftenmal in ihrer ganzen Schmerzlichteit 
fühlt, 

Dazu Fam jetzt noch diefe Beihimpfung auf 
offener Straße — dieſe Worte, die um fo peinlicdher 
waren, als fie fich im innerſten Herzen ihres Fehl- 
tritt® mit dem Fremden graufam bewußt war. 
Die fonnte fie, ftatt ihres Weges zu ziehen, wie 
fie hätte thun follen, vor dieſer Feindin ftehen 
bleiben und durch die Teife geflüfterten Worte dieſen 
ſchmachvollen Streit heraufbeihwären! Wie konnte 
fie ſich zu etwas derartigem erniedrigen, fich jo jehr 
vergeffen, fie, die jeit fünfzehn Jahren durch ihre 
volftändig würdige Haltung nad und nad) die 
Adtung aller erworben hatte! ... O, warum mußte 
fie fich diefe Beihimpfung von Dolores bieten laſſen, 
deren Vergangenheit tadellos war und die wirklich 
ein Recht hatte, fie zu verachten! 

Bei weiterer Ueberlegung erjchraf fie immer mehr 
über dieje Herausforderung, bejonder8 wegen ber 
Zukunft; wie unflug war es von ihr, fie hinzumwerfen ! 
Es war ihr num, als hätte fie alle teuern Hoffnungen, 
die ihr Sohn hegte, aufs Spiel geſeht, da jie den 
Haß diejer Frau reizte. Ihr Sohn, ihr Ramuntcho, 
den ein Wagen zu diejer Stunde weit weg von hier 
der Gefahr, dem Krieg entgegenführte!.. .. . 

Wahrlich, fie hatte eine große Verantwortung auf 
ih geladen, als fie fein Leben nad) ihren Ideen, 
mit Eigenfinn, Stolz und Egoismus leiten wollte. 
Und jet, an diefem Abend vielleicht, hatte fie das 
Unglüd über ihn heraufbeihworen, während er voller 
Vertrauen in die Zukunft von dannen fuhr. 

Sicherlich war ihr das als ihre härtefte Strafe 
zugedacht. Es war ihr, als hörte fie im leeren 
Haufe, wie ihr mit diefer Buße gedroht ward, und 
fie fühlte ihr langjames, aber ſicheres Nahen. 

Sie fing an, Gebete für Ramuntcho herjufagen, 
mit bitterm, aufrühreriichem Herzen jedoch, weil bie 
Religion, wie fie diejelbe veritand, ihr weder Troft 
noch Erleichterung verihaffte, ihr fein Vertrauen ein» 
flößte und ihr Herz kalt lieh. Ihre Not und ihre 
Verzweiflung waren grenzenlos, ja, jogar die Wohl: 
that der Thränen blieb ihr verjagt. 

” 

Ramuntdho war in diejer Abendfiunde noch immer 
unterwegs; burch dunkle Thäler fuhr er weiter, dem 
Lande zu, welches die Bahnen durchkreuzen, Die 
Menjchen weit wegführend, alles verändernd und 
ummwälzend. 

Aus fremden Sungen, 1897. IL 14. 


633 


Ungefähr eine Stunde lang war er noch auf 
baskiſchem Gebiete — alsdann hatte er die Heimat 
im Rüden, Auf feinem Wege begegnete er noch 
etlichen ſchwerfälligen Ochfengejpannen, bie an das 
beichauliche Dajein in alten Zeiten gemahnten, oder 
undeutlichen menſchlichen Geftalten, die ihm im Vor— 
beigehen den traditionellen Guten Abend boten, das 
altertümliche „Gaou-one*, das er morgen nicht mehr 
hören follte. Und dort drüben links zeichneten ſich 
am Himmel noch die Höhen Spaniens ab, das num 
für lange Zeit feine Nächte nicht mehr beunruhigen 
ſollte ... 

XXVIII. 

Drei Jahre find vergangen, in reißender Schnelle. 

Ein Novembertag geht zur Rüfte. Frandita ift 
allein zu Haufe, franf und betilägerig. 

Es ift der dritte Herbſt ſeit der Abreije des 
Sohnes. Ihre fieberglühenden Hände halten einen 
Brief von ihm — einen Brief, der nur wolfenlofe 
freude hätte bringen müſſen, da er feine Rückkehr 
ankündigt, dennod aber fie ſorgenvoll ſtimmt, denn 
das Glüd des Miederjehens ift durch Leid und Un— 
rube, jchredliche Unruhe, vergiftet. 

O, jie hatte an jenem Abend, als fie ihn zum 
Abſchied begleitet hatte und jo angftvoll nad) Haufe 
fam, eine richtige Ahnung der trüben Zukunft. Ia, 
es ift graufame Wahrheit geworden, damals hat fie 
mit der Herausforderung auf offener Straße bes 
Sohnes Glüd für immer zerſtört ... 

Monate jcheinbarer Ruhe waren auf diejen Streit 
gefolgt, indeſſen Ramuntho, weit von der Heimat 
entjernt, die erften Kämpfe mitmachte. Alsdann 
bewarb fich ein reicher Freier um Graziella, und alle 
Welt wußte, daß fie ihn, troß Zuredens ihrer Mutter, 
beharrlich abwies. 

Eines Tages reiften Mutter und Tochter, unter 
dem Vorwand, nahe Verwandte im Hochgebirge zu 
befuchen, plöglih ab. Die Reife dauerte lange, und 


dieſe Abwejenheit ward immer mehr in großes Dunfel 


gehüllt. Mit einem Male verbreitete fi) die Runde, 
Graziella jei als Novize bei den Schweftern der 
heiligen Maria des Rofentranzes in einem Kloſter 
der Gascogne, wo die frühere Schweiter Oberin nun 
Hebtiffin war. 

Dolores fam allein in ihr Haus zurüd; fie blieb 
ftumm und jchien verdroſſen und unglüdlih. Niemand 
erfuhr, welche Beeinfluffungen auf die Kleine mit 
den golbnen Haaren gewirkt, noch wie ſich die leuchten- 
den Thore dei Pebens vor ihr verſchloſſen hatten, 
— furz, wie fie fid) in diefes Grab fonnte einmauern 
lafien. Allein glei, nachdem die regelrechte Probezeit 
verftrichen war, und ohne ihren Bruder wiedergejehen 
zu haben, legte fie ihr Gelübde ab, während Ra— 
muntcho fern in einer der Kolonien, weit von allen 
Berbindungen mit Frankreich, inmitten der Wälder 

80 


634 


einer Inſel Auſtraliens, den Unteroffiziergrang und 
die Militärmedaille errang. 
* 

Schon fürdtete Franchita fait, daß Ramuntcho 
nie wieder in die Heimat zurüdfehren werde... 
Und jetzt follte er endlih fommen! In ihren ab» 
gemagerten, beißen Händen hielt fie den Brief, ber 
ihr fagte: „Ach reife übermorgen und werde Samstag 
bei Dir fein.” 

Was wird er beginnen, wenn er wieder hier ift? 
Zu was wird er fich für die Folge feines jo traurig 
veränderten Lebens entjchließen? in jeinen Briefen 
bewahrte er tiefes Schweigen über dieſen Punkt. 

Auch ſonſt war ihr alles fehlgeichlagen. Die 
Pächter, welche ihre untere Mohnung inne gebabt, 
hatten Etchözar verlaſſen, und der Stall ftand Ieer, 
dad Haus war einfam und ihr bejcheidenes Gin» 
fommen natürlich jehr gejchmälert. Dazu fam noch, 
daß fie durch unvorfichtige Anlage einen Teil des von 
dem Fremden für den Sohn beftimmten Geldes ein: 
büßte, 

Wahrlich, Hagte fie fih an, fie war eine zu un« 
geichidte Mutter, die in jeder Weiſe das Glüd ihres 
geliebten Ramuntcho aufs Spiel gejeht... oder viel- 
mehr, fie war eine Mutter, auf der die göttliche 
Gerechtigkeit, ihrer vergangenen Schuld wegen, ſchwer 
faftete ! 

Das alles Hatte fie überwältigt, das alles hatte 
ihre Krankheit bejchleunigt und verſchlimmert, und 
es gelang dem zu ſpät gerufenen Arzt nicht mehr, 
ihr Einhalt zu tun. 

So lag fie jet da, in hefligem Fieber auf ihrem 
Bett auägeftredt, um den heimfehrenden Sohn zu 
erwarten. 

XXIX. 

Ramuntcho war nach ſeiner dreijährigen Dienfte 
zeit aus dem Regiment in der nördlichen Garniſon— 
ſtadt entlaſſen. Mit zerriſſenem Herzen, mit einem 
Herzen voller Aufruhr und Weh, kehrte er in die 
Heimat zurüd. 

Sein zweiundzwanzigjähriges Gefiht war durch 
die heißen Sonuenftrahlen gebräunt, fein jehr lang 
getvordener Schnurrbart gab ihm ein ſtolzes, vornchmes 
Aussehen, und den Aufſchlag des Zivilanzugs, den er 
im Moment vor der Abreife gelauft, zierte das ehren- 
volle Band der Berdienftmedaille. Nach einer Nacht» 
fahrt war er in Bordeaur angelangt und beftieg dort 
mit wacjender Erregung den Zug nad) Irun, der 
ihn durch die einförmigen, endlofen Landes direft in 
den Süden führte, Er hatte ſich in die Ede rechts 
gejeßt, um fofort den Bisfayiichen Golf und die Höhen 
Spaniens zu jehen. 

In der Nähe von Bayonne erbebte fein Herz, als 
er die erften baskifchen Barette und an den Halte 
ftellen die erften basfifchen Häufer zwifchen Fichten 


Pierre Loti. 


und Korkeichen wieder ſah. In St. Jean⸗de⸗Luz endlich, 
als er ausſtieg, fühlte er ſich gleichſam berauſcht ... 
Nach dem Nebel und der Kälte, die ſchon im Norden 
Frankreichs herrſchen, befand er ſich hier plötzlich in 
einem wonnigen warmen Klima und hatte das Ge- 
fühl, ald ob er in ein Treibhaus trete. Es war ein 
jonniger Tag; der Südwind, der entzüdende Südwind 
wehte, und die Pyrenäen ragten in herrlichen farben 
ftimmungen in den hoben, freien Himmel. Dazu 
fam noch, daß junge Mädchen vorübergingen, deren 
frößliches Lachen an den Süden oder an Spanien 
erinnerte, und welche die ungezwungene, vornehme Anz 
mut der Baslinnen hatten. Nach den ſchwerfälligen 
Blondinen des Nordens gefielen jie ihm nod mehr 
ala alle dieſe jommerliche Stimmung . . . Raſch jedod 
fiel er in jein tiefes Brüten zurüd; wie mochte er nur 
daran denken, ſich je wieder vom Zauber dieſes Landes 
einnehmen zu laſſen, da die wiedergefundene Heimat 
nun immerdar leer und öde für ihn war? Wie fonnte 
die reizvolle Natürlichfeit diefer Mädchen, die iro- 
niiche Heiterkeit des Himmels, der Menſchen und 
Dinge feine unendliche Verzweiflung ändern? 

Nein! Schnell heim in fein Dorf! Schnell fein 
Mutter umarmen!... 

Wie er vorbergeiehen, war der Eilwagen nad 
Eichezar jhon vor zwei Stunden abgefahren. Chne 
Anstrengung jedoch konnte er diefen langen, vertrauten 
Meg zu Fuß unternehmen, ex fonnte trogdem nodh 
vor Naht ankommen. Er faufte fih Strohſchuhe, 
jeine Fußbekleidung bei den früheren Märſchen, und 
mit jeinem raichen Gebirgägang, mit ben langen, 
fräftigen Schritten war er bald im Herzen des Pandes, 
auf Straßen, die liebe Erinnerungen wedten. 


Der November ging zu Ende Warm ftrahlte 
die Sonne, die bier auf den pyrenäiſchen Abhängen 
immer lange verweilt. Seit vielen Tagen ſchon lag 
derjelbe Mare Himmel über den halbentblätterten 
Wäldern und über den von der intenfiven Farbe der 
Farne geröteten Bergen. Am Rande des Weg? 
wuchſen hohe Gräfer wie im Monat Mai, jowie grobe, 
ihirmartige Blumen, die ſich in der Jahreszeit geirrt 
zu haben jchienen. In den Heden hatten Rainweiden 
und wilde Rojen wieder Blüten getrieben, Bienen 
jummten um fie herum und auch beharrliche Schmet: 
terlinge, denen der Tod noch für einige Wochen Sche- 
nung angebeihen lieb. 

Hie und da jahen baskiſche Häuſer aus den 
Bäumen hervor, ſehr hoch, mit vorfpringendem Dadı, 
grell weiß troß ihres hoben Alters, mit braunen oder 
grünen Fenſterläden, von altem, verblaftem Grün. 
Ueberall trodneten auf den Holzbalkonen goldgelbe 
Kürbiffe und Garben rojafarbener Bohnen ; auf allen 
Mauern hingen, gleich ſchönen Roſenkränzen aus ſto— 
rallen, Guirlanden von hochrotem ſpaniſchem Pieffer: 


Ramuntdo. 


635 


alle die Spenden der fruchtbaren Erde, des nähren» | jchon feine Vorfahren, Aderer und Ochfentreiber wie 


den alten Bodens, die jeit Menjchengedenfen als Bor: | 
räte für die fonnenlojen trüben Monate gefammelt | 
werden. 

Nach dem herbitlichen Nebel des Nordens erwedten 
diefe Mare Luft, diefe füdliche Sonne, jede Heine | 
Eigentümlichkeit der Heimat Gedanken voller — 
in Ramuntchos Seele. 

63 war auch die Zeit gefommen, wo man die 
Farne jchmeidet, mit denen die rotbraunen Hügel ' 
wie mit einen Vließ bebedt find. Große, ochſen⸗ 
beipannte Wagen fuhren damit beladen langiam in | 
der jhönen melandholiihen Sonne, eine Spur des 
würzigen Duftes binter fi) laffend, den einfam ges 
legenen Meierhöfen zu. Schr langſam bewegten ſich 
diefe ungeheuern Laſten von Farnen auf der Berg- 
frake vorwärts, — langjam, mit Schellengeflingel. 
Starte, ſchläfrige Zugtiere, mit dem traditionellen 
braunen Scaffell auf den Köpfen, das ihnen eine 
Uchnfichleit mit Auerochſen oder amerikanischen 
Büffeln giebt, zogen die jchweren Fuhrwerle, deren 





Räder volle Scheiben find, gleich denen der antiken | 


Bagen. 
waffnet, gingen geräujchlos in Strohſchuhen voraus, 
im rojafarbenen, auf der Bruft geöffneten Hemd, die 
Jade über die Schulter geworfen, das wollene Barett 
tief in das bartlofe, magere Geficht gedrüdt, dem die 
große Kinnlade, die breiten Halsmuskeln ein ſeſtes, 
ſtarkes Ausfehen gaben. 

Es famen auch Zwilchenpaufen völliger Einfanı- 
feit, wo man auf diefen Wegen nur noch das Summen 
der Mücken im gelblichen, ſchon ſchwindenden Schatten 
der Bäume hörte, 


Ramuntcho muflerte die jeltenen,, feine Wege 


freugenden Borübergehenden und war erflaunt, noch | 
feinen Bekannten unter ihnen gejehen zu haben. Kein | 
vertrautes Geficht, fein Freund, der in Herzlicher MWeije 


mit ihm gefprochen hätte! Niemand — nur das banale 
„Guten Tag” von Leuten, die ih wohl umdrehten, 
weil fie glaubten, ihn ſchon irgendwo gejehen zu haben, 
aber fi) nicht erinnern lonnten wo, und wieder in 
Nilfer Träumerei durd) Feld und Wald weiterfchritten, 


Die Ochſentreiber, mit langen Stöden be | 
Jahren babe ich mid, verheiratet. 





— und mehr denn je fühlte er die Verfchiedenheit 
wiſchen fich und diejen Feldarbeitern. 

Dort drunten jedoch zeigte ſich jeht ein Wagen 
mit fo hoch aufgetürmter Laft, dab er an den Baum: 
jieigen im Worüberfahren anjireifte. Voraus ging 
der führer, der ruhig und gelafjen dreinichaute, ein 
breitfhulteriger, gemütlich ausfehender Burſche, rot 
wie die Farnkräuter, rot wie der Herbſt, mit rotem, 
fruppigem Pelz auf der nadten Bruft. Gemächlich 
ſchritt er dahin, die Arme über den quer auf der 
Schulter liegenden Zreibftahel gelreuzt. Ebenſo 
gingen ohne Zweifel am Abhang berjelben Berge 


er, ungezählte Jahrhunderte zuvor, 

Als der Burſche Ramuntcho erblidte, berührte er 
feine Ochſen an der Stirn und hielt fie mit einer 
Bewegung und einem furzen, befehlenden Ruf an; 
aledann ging er auf den Wanderer zu und ſtreckte 
ihm bieder die Hände entgegen... 

Florentino! Ein jehr veränderter Florentino! Er 
war breiter geworben und jah männlicher aus; dazu 
fam noch, dab er viel freier und ficherer auftrat. 


Die beiden freunde umarmten ſich und ſahen ſich 


ſchweigend an, eingeſchüchtert vlößlich durch die aus 
dem tiefiten Innern der Seele fteigende Flut der 
Erinnerungen. Seiner von beiden wußte ihr Aus« 
drud zu geben, Ramuntcho ebenjowenig wie Floren— 
tino; war aud) feine Sprade unendlih mehr aus- 
gebildet, fo war auf der andern Seite fein tiefes, 
geheimnisvolles Seelenleben viel unergründlicher. 
Es lag ihnen fchwer auf dem Herzen, daß fie nicht 
im Sande waren, ihre Gefühle auszuiprechen, und 
verlegen blidten fie auf die beiden ftillfiehenden 
Ochſen. 

„Die gehören mir,“ fagte Florentino. „Vor zwei 
. Meine Fran 
hat ihrerjeit$ zu thun .„.. und da wir beide arbeiten, 
geht es uns leidlich gut. — Ah!“ fuhr er mit naivem 
Stolz fort, „ich habe noch ein andres Paar Ochſen, 
wie dieje, zu Haus.“ 

Plötzlich hielt er inne und ward über und über 
rot, denn er beſaß den Takt, der aus dem Herzen 
fommt. Die einfachften Menſchen haben benjelben 
oft von Natur, und die Erziehung kann ihn niemals bei= 
bringen, jogar den feinften Weltmenſchen nicht. Er 
dachte an die traurige Heimfehr Ramuntchos, fein 
jerftörtes Glück, an feine bei den Nonnen begrabene 
Braut, feine fterbende Mutter, und befürchtete jchon 
zu graujam geweſen jein, als er von feinem eignen 
Glüd ſprach. 

Sie ſchwiegen wieder und jahen ſich nod) eine 
Weile gutmütig lächelnd an, aber fie fanden feine 
Worte. Hatte fih doch auch zwiſchen beiden die 
Kluft der Begriffsverfchiedenheit in diejen drei Jahren 
noch vertieft! Florentino berührte wieder feine Ochſen 
an der Stirn, und mit der Zunge fchnalzend, fehte 
er jiein Bewegung, nachdem er die Hand des Freundes 
warm gebrüdt. 

„Mir fehen uns bald wieder, — nicht wahr?“ 

Das Schellengeflingel feines Geſpanns verlor ſich 
in der Stille des ſchattigen Weges, wo allmählich 
die Hitze des Tages abnahm. 

„Sa, der hat Glüd gehabt!” dachte Ramuntcho 
und ging traurig finnend unter den herbjtlichen 
Zweigen weiter, 


* 


Die fortwährend bergauf führende Straße iſt hie 





636 


und da von Quellen unterwühlt, mandmal von 
diden Baummurzeln durchlreuzt. 

Bald wird Etchézar jichtbar fein, und noch ehe 
er es erblidt hat, jteht fein Bild Mar vor ihm; die 
ganze Umgebung ruft es ind Gedächtnis und belebt 
es. Sein Schritt wird eiliger, fein Herz klopft ſtärker. 

Dede ilt es jeht für ihn, das ganze Fand — Gra— 
ziella ift nicht mehr dort! Dede, jchmerzlich zu durch— 
wandern, wie ein geliebte Heim, in dem der große 
Schnitter Einkehr gehalten hat... 

Und dennod wagt Ramuntcho im Innern feiner 
Seele ‚daran zu denken, daß in irgend einem Meinen 
Klojter dort drunten, unter der Nonnentapuze, die 


lieben, ſchwarzen Augen noc leuchten und er fie | 


wenigitens wiederjehen kann — daß ein Kloftergelübde 
im Grund noch nicht der Tod ift, und vielleicht 
das Schidjal das letzte Wort noch nicht geiprochen 
bat... 

Alles wohl erwogen — wie fonnte Graziellas Herz, 


das ihm früher jo ganz zu eigen war, ſich jo plößlich | 


umftimmen laſſen? O, entjeßliche, fremde Beein- 
fluſſung mußte auf fie gedrüdt haben, und wer weil; 





| 


— wenn fie ſich wiederjehen, jih Aug’ in Aug’ bes | 


raten fönnten?... Allein was fonnte er Vernünf— 


| 


tiges, Mögliches hoffen? Sah man je hierzulande | 


eine Nonne ihrem Gelübde untreu werden, um ihrem | 


Bräutigam zu folgen? Wohin überdies konnten fie 
zufammen gehen? Alle Welt würde ihnen aus- 
weichen, fie wie Abtrünnige fliehen! Nah Amerika 
vielleicht! — und da fragte es jih! Schliehlich, wie 
an fie heranfommen und fie wieder aus dem weißen 
Totenhauje holen, in dem die Nonnen leben, ewig über— 
wacht und belauert!... Nein, nein! 
waren unausführbare Hirngejpinfte! 
Ende, bofinungslos! 

Für einen Moment vergiht er jeht die Trauer 
um Graziella — es zieht ihm von ganzem Kerzen 
zu feiner Mutter, die ihm geblieben, die hier ganz 
in der Nähe und ohne Zweifel durch die freudige 
Erregung, ihn jo bald zu jehen, etwas erjchüttert ift. 

Linfs auf der Straße erjcheint jeht halb verftedt 
zwiſchen Buchen und Eichen ein armes Dorf mit 
einer alten Kapelle und mit einer von hohen Bäumen 
umgebenen Mauer zum Balljpiel. Alsbald tritt wie— 
der Wandel in dem Gedanfengang des jungen Kopfes 
ein. Beim Anblid der Heinen, oben abgerundeten 
Mauer erwachen in Ramuntcho ftürmifche Erin- 
nerungen, Leben, Freude und Kraft. Mit findlichem 
Vergnügen jagt er ih, dab er morgen wieder mit 
dem basfiihen Spiele beginnen fann, ſich tummeln 
in rajchen, gewandten Bewegungen. 
großen Spielpartien an den Sonntagen nad) dem 
Gottesdienft, an den Sieg nad) ſchönen Kämpfen mit 
den Spielern Spaniens, lauter Dinge, die er in den 
legten drei Jahren der Verbannung jo jehr vermißt 


Das alles 
Alles war zu | 








Er gedenft der | 


Pierre Loti. 


bat und durch die er jeht ſein Fortlommen finden 
fann. 

Allein es dauert nur eine furje Weile, und 
Schmerz und Verzweiflung fehren wieder in jein 
Herz ein. Seine Triumphe auf dem Plaf!... Gra— 
ziella wird fie nicht mehr mit anjehen!... Wozu 
alſo? Mein Gott!... Ohne fie ift alles auf der 
Welt, jelbft das, farblos, unnötig und eitel, alles das 
hört auf, für ihn vorhanden zu fein... 

* 

Etchezar! An der Biegung dort drunten wird 
es plöglich fihtbar. Es liegt in rotem Scheine, gleich 
einem Zauberbilde, und als ob es abſichtlich, auf 
ganz beiondere Weile, inmitten der jchattigen, abend» 
lihen Umgebung beleuchtet wäre. Die Sonne ift 
im Untergehen. Um das einfame Dorf mit dem 
alten, jchwerfälligen Glodenturm zeichnen die letzten 
Strahlen einen Hof von Gold» und Stupferfarke, 
indes Wollenballen und ein von der Gizune ber: 
fommendes gewaltige Dunkel die Erde oben und 
unten verfinſtern! ... 

O, mit welch wehmütiger Stimmung ſieht er die 
Heimat, wie traurig iſt dieſe Erſcheinung für den 
heimkehrenden Soldaten, der ſeine Braut nicht mehr 
findet! ... 

Drei Jahre find vergangen, ſeitdem er von bier 
fortzog . . Drei Jahre, wenn auch ein flüchtiges 
Nichts im ſpäteren Leben, find in feinem Alter dod 
eine lange Zeit, eine Periode, in der ſich vieles ver- 
ändert, Wie vermindert, wie Fein, wie jehr in die 
Berge eingeengt, wie traurig, wie verlaffen erſcheint 
ihm nad) der langen Verbannung das Dorf, das er 
trotzdem von ganzer Seele liebt! . . Jm Innern des 
großen, noch wenig entwidelten Jungen beginnt, um 
feine Leiden noch zu vermehren, von neuem der Kampf 
der beiden ihm angeborenen Gefühle — bier eine 
faft krankhafte Anhänglichleit anfein Haus, jeine Hei- 
mat — dort ein Erjchreden vor dem Gedanfen, ſich 
hier wieder einichließen zu jollen, nun, da er weih, 
dab die Welt jo groß, jo weit ift. 

Troß des warmen Nachmittags macht ſich ſchon 
der Herbit fühlbar durch den früh abnehmenden Tag, 
durch plötzlich eintretendes fühles Wetter mit einem 
Geruch welfer Blätter und feuchten Moojes. Taujend 
feine Erinnerungen aus früheren Serbitzeiten im 
Basfenlande, aus verflofjenen Novembertagen treten 
flar vor jeinen Geift: die falten, nebligen Abende nad) 
den ſchönen, jonnigen Tagen, die in tintenfarbigen 
Dunſt gehüllten oder auch ftellenweife als ſchwarze 
Silhouetten von dem blaßgoldnen Himmel ſich ab» 
hebenden Pyrenäen; rings um die Häujer die jpäten, 
hier vom Reif lang verihonten Sommerblumen und 
vor jeder Thür die dide Blätterſchicht der Platanen, 
die unter dem Schritt des zum Abendeſſen heim» 
fehrenden Mannes raſchelt . . . O, diejes Wohlgefühl 





Ramuntdo. 


und dieſe jorgenlofe Freude, diejes fröhliche Nach— 
hauſelommen nad langen Märichen in den rauhen 
Bergen! O, wie luſtig fladert zur Winterszeit das erfte 
Feuer im hoben, mit weißen Leinwandzaden ver« 
jierten Kamin! Nein, in der Stadt mit der Un— 
mafle von Käufern, dieſen aufeinander ſitzenden 
Wohnungen hat man nicht das wirfliche Gefühl eines 
Heims wie bier in dem einfamen Dorfe, mitten in 
der freien Natur, mit der großen Finſternis ringsum, 
dem jchwarzen, zitternden Laubwerk, dem großen, 
wechjelnden Dunkel der Höhen und Wolfen. Dod) 
jest haben ihm Entfernung, Reifen und neue Bes 
griffe fein Heim in den Bergen verleidet und ver— 
dorben ; ficherlich wird er es faſt traurig finden, be= 
jonders bei dem Gedanken, daß feine Mutter nicht 
immer und Graziella niemals dort jein wird, 

Sein Schritt wird durd die Ungeduld, feine 
Mutter wiederzuichen, immer eiliger. lm das ab» 
gelegene Haus zu erreichen, ſchlägt er einen Weg 
oberhalb des Plafes ein umd geht um die Kirche und 
das Dorf herum. Schnell vorübereilend fieht er 
alles mit unſäglicher Erregung an. Friede und 
Stille umſchweben die Heine Gemeinde Eichözar, die 
im Herzen des franzöfiihen Bastkenlandes liegt und 
die Heimat aller in der Vergangenheit berühmten 
Pelotaris iſt, die jet ſchwerfällige Großbäter find 
oder jhon längft im Grabe ruhen, 

Die ſtets unveränderte Kirche, in melcher feine 
gläubigen Träume begraben liegen, it noch immer 
von dunfeln Cypreſſen umgeben, wie eine Moſchee. 
Den Ballipielplag beleuchtet, während Ramuntdho 
eilig vorüberſchreitet, ein letzter Sonnenftrahl, der 
auf die von den alten Infchriften bededte Mauer 
fällt — gerade wie an jenem Abend jeines erften 
großen Erfolges. Bier Jahre ift es her, daß Gra— 


jiella im blaßblauen Kleide hier unter der fröhlichen | 
Menge ſaß — fie, die jetzt eine ſchwarze Nonne ges | 
doch mit der unergründlicen Wehmut des langjam 


worden!... 


Auf den leeren Sihreihen, auf den grasbewade | 
jenen Granititufen fißen drei oder vier Greife, melde | 


früher zu den Kühnſten und Gewandteften des Ortes 
gehörten. Ihre Erinnerungen führen fie ſtets wie« 
der hierher, und bei herabfinlender Dämmerung plaus 
dern fie von ehemaliger Zeit... 


O, diefe Meinen Wirtshäufer, dieſe Fleinen, er- | 


bärmfichen Buben mit den altfränfiichen feinen 
Dingen für den Bedarf der Gebirgsleute! Wie fremd 
wandelt ihn dies alles an, als ob es in den Hinter— 


grund längſt vergangener Jahre geihoben wäre! 


Gehörte er wirklich nicht mehr zu den Leuten von 
Etchézar? Mar er nicht mehr der Ramuntcho von 
chedem? 
beihaffen fein, daß er ſich Hier nicht ebenſo wohl fühlte 
wie die andern! Warum? DO, mein Gott! warım 
war ihm allein verjagt, das jtille, geträumte Glüd 


—— —ñe —ñ— —— —— —— —— — —— 


Wie außergewöhnlich mußte ſeine Seele 





637 


zu erreichen, da doch alle ſeine Freunde das ihrige 
erreicht hatten! 

Endlich iſt er bei ſeinem Hauſe! Hier, vor ſeinen 
Augen ſteht es! Es iſt ganz fo, wie er es wiederzu— 
finden dachte. Längs der Mauer erkennt er alle 
die ausdauernden, von ſeiner Mutter gepflegten 
Blumen, dieſelben Arten, die im Norden längſt der 
Reif zerſtört hat: Heliotrope, Geranien, hohe Dahlien 
und Kletterroſen. Und die liebe Blätterſchicht, die 
jedes Jahr von der Wölbung herabfällt, iſt auch da 
und rajchelt traulich unter feinen Füßen. 

Im unteren Saal iſt es bei feinem Eintritt ſchon 
gran und dunkel. Der hohe Kamin, auf den jein 
Blick zuerft jällt — denn inſtinktiv erinnert er ſich der 
Ihönen, hellen Flammen in früheren Tagen — ift 
derjelbe mit feinen weißen Verzierungen, jedod) kalt, 
voller Schatten, als ob er Abmwejenheit oder Tod 
berriete. 

XXX, 

Ramuntho irrte am nächſten Morgen im Dorfe 
und der Umgebung umber unter einer Sonne, welche 
die Molfen durchdrang und wie am Tage vorher 
glänzte, 

Sorgfältig gekleidet, mit Hinaufgeftrichenem 
Schnurrbart, ftolz und vornehm ausjehend, ernft und 
ſchön, ging er dahin, um zu jehen und um gefehen 
zu werden; in feinen Ernft mifchte fich ein wenig 
Kinderart, in feinen Summer ein wenig Wohl« 
behagen. Seine Mutter hatte ihm beim Erwachen 
gejagt: 

„Ich verfichere dich, ich fühle mich beſſer. Heute 
ift Sonntag, gehe jpazieren, ich bitte dich inftändig.“ 

Die Vorübergehenden drehten fi um und fahen 
ihm nad, flüfterten eine Weile und trugen alsdann 
die Neuigfeit im Dorfe herum: „Franchitas Sohn 
ift wieder da ; welch prächtiger Menfc er geworden iſt!“ 

Ueber der ganzen Gegend lag Sommerftimmung, 


nabenden Abſterbens. Troß der Sonnenftraßlen jah 
das pyrenäiſche Fand traurig aus. Alle Planzen, 
alle Gräjer jchienen in eine eigentümliche, lebensmüde 
Ergebung, in Todesahnung verjunfen. 

Jede Biegung det Weges, jedes Haus, der ge- 
ringfte Baum, alles erinnerte Ramuntcho an che 
malige Tage, an die Tage, da Graziella an allem 
teil hatte, Bei jeder Erinnerung, bei jedem Schritt 
prägte und hämmerte fi unter neuer Form der un— 
umftößliche Urteilsſpruch in feinen Geift: Alles ift 
zu Ende! Du bift allein auf immerdar... Oraziella 
ift die genommen und in ein Kofler geiperrt ...! 
Alles auf feinen Wegen erneuerte und vermehrte fein 
Weh, und im tiefften Innern quälte ihn die andre 
bittere Sorge, um jeine Mutter, feine gute Mutter, 
die jo frank jchien, vielleicht lebensgefährlich .. . 

Er begegnete Leuten, die ihn anbielten und 








638 Pierre Loti. 


freundlid) und gut einige Worte in der lieben baski— 
ſchen Sprade an ihn richteten... Alte Barettträger 
mit grauen Häuptern ſprachen über das Ballipiel 
mit dem bewährten Spieler, der zu ihrer fyreube num 
wieder heimfam... Aber fofort nad) den erften Bes 
grüßungen wurden fie troß der hellen Sonne am 
blauen Himmel ernfter, und der Gedanke an Graziella 
im Kloſter, an die fterbende Franchita machte fie ver 
legen, 

Alles Blut flieg ihm plößlich zu Kopf, als er von 
weitem Dolores kommen ſah. Er fand fie jehr ge 
altert und jehr gedrüdt ausjehend. Auch fie erfannte 
ihn fiherlid), denn raſch wandte fie den eigenfinnigen, 
böjen, mit einer Trauermantille bededten Kopf zur 
Seite. As er fie fo elend und unglücklich vorbei= 
gehen jah, kam helles Mitleid über ihn, denn er 
mußte ſich jagen, daß fie zugleich fich ſelbſt geftraft 
hatte und nun in ihrem Alter allein jein würde, 
allein, wenn der Tod heranfommen würde. 

Auf dem Plage traf er Marcos Jragola. Dieler 
teilte ihm mit, daß er gleich Florentino verheiratet jei, 
natürlich mit feiner Meinen Geliebten, die er ſchon 
als Kind gern hatte, 

„I brauchte nicht beim Militär zu dienen,“ 
erklärte er ihm, „weil wir, wie du weißt, Guipuz⸗ 
coaner find; daher fonnte ich früher heiraten,“ 

Er war einundzwanzig, fie achtzehn Jahre alt. 
Beide hatten weder Gut noch Geld. Trotzdem waren 
Marcos und Pilar fröhlich und guter Dinge, gleich 
zwei Spaken, die ihr Neft bauen. 

Und lachend jehte der junge Ehemann hinzu: 

„Was willſt du? Der Vater hatte zu mir ges 
jagt: ‚So lange du, mein Veltefter, nicht heirateft, 
made dic darauf gefaßt, daß du jedes Jahr einen 
Meinen Bruder kriegt.‘ Und das wäre auch fo ge— 
worden, das fannjt du glauben! Wir find jeht glück: 
lic vierzehn, alle gefund und munter! ...“ 

O, diefe einfachen Naturmenfchen, wie find fie 
zu beneiden, dieſe frommen, in ihrer Anipruchslofig- 
teit glüdlihen Menſchen! 

Ramuntcho verließ ihn etwas eilig, denn er fühlte 
fi jetzt womöglich noch unglücklicher. Dennoch 
wünſchte er dem jungen Pärchen, das ſich ſo ſorglos 
ſein Neſt gebaut, von ganzem Herzen Glüd. 

Hie und da ſaßen die Yeute vor ihrer Thür in 
dem Atrium aus Zweigen, das vor allen Häufern 
jteht. Durch die Wölbungen der Platanen, im Som— 
mer undurchdringlich und ſehr durchſichtig in diefer 
Jahreszeit, fielen große Lichtftrahlen. Die Sonne 
brannte zerftörend und traurig auf die gelben, welken⸗ 
den Blätter, 

Schon bei jeinem erften Spaziergang fühlte 
Ramuntcho mehr und mehr, welch eigentümliche, bes 
harrliche Bande ihn an diefen eingeſchloſſenen Erden- 
winfel fmüpften, jelbit wenn er allein und verlaffen 


wäre, ohne Freundin, ohne Gattin und ohne Mutter. 
Jetzt läutete e& zur Meſſe. Die Klänge erregten ihn 
auf jeltfiame Weile, wie er ed nie empfunden hatte. 
Ah, früher war der mohlvertraute Ton ein Auf zu 
Freuden und zu Feſten! — Er blieb fichen, er 
zögerte troß jeines jekigen Unglaubens, troß feines 
Grolls gegen dieje Kirche, die ihm feine Braut ge- 
raubt. Die Glode ſchien ihm heute ganz befonders 
mit einjchmeichelnden, beruhigenden Klängen zuzu— 
rufen: „Komm, fomm! Laß did) einmwiegen, wie deine 
Voreltern! Komm, fomm, armer Betrübter, laß dic 
vom jüßen Wahn einnehmen! Deine Thränen wer: 
den ohne Bitterkeit fließen, und er wird dir in der 
Todesſtunde helfen! ...“ 

Unſchlüſſig und immer noch widerſtrebend, ging 
er ſchließlich der Kirche zu, als Arrochloa auf ihn 
zulam. Arrochloa, deſſen Katzenſchnurrbart ſich an- 
ſehnlich verlängert und deſſen latzenartiger Geſichts— 
ausdruck ſich noch ſchärfer ausgeprägt hatte, eilte 
mit ausgeftredten Händen auf ihn zu, mit einer un: 
erwarteten Herzlichkeit und einer vielleicht aufrichtigen 
Begeifterung für den Erfergeanten, der jo flott auf 
ſah, mit dem Band der Mebaille geſchmückt, und 
deſſen Waffenthaten in die Heimat gedrungen waren, 

„Ah, Ramuntdho, jeit warn bift du hier? ©, 
wenn ich hätte alles verhindern fünnen, mein Lieber! 
Was jagft du zu meiner alten, gefühllofen Mutter 
und all diejen alten Betjchweftern?... O, ich habe 
dir ja noch nicht gejagt, ich Habe einen Sohn, ſeit 
zwei Monaten, ein famojer Heiner Kerl!... So viel 
haben wir ung zu erzählen, jo viel, armer Freund!“ 

Haſtig fteigt er zum Zimmer feiner Mutter hinauf. 

Von ihrem Bette aus hat fie den Schritt des 
Sohnes erfannt und ſich aufrecht geſeht, ganz gerade, 
ganz weiß im Dämmerlichte. 

„Ramuntcho!“ ruft fie mit dumpfer, altersmüder 
Stimme. 

Ste ftredt ihm die Arme entgegen, und jobald 
fie ihn Hält, umichlingt fie ihn und drückt ihn am ſich. 

„Ramuntcho!“ 

Und nachdem ſie den Namen ausgeſprochen, lehnt 
ſie, ohne weiter zu reden, ihren Kopf an ſeine Wange, 
wie ſie früher in den Momenten großer Zärtlichleit 
gethan ... Er fühlt das Geſicht der Mutter brennend 
heiß an dem feinen ruhen. Dur das Hemd hin. 
durch jpürt er die Fieberhige der abgemagerten Arme. 
Unfäglicher Schreden befällt ihn beim Gedanken, das 
fie ſehr frank jein müſſe, — und die Möglichkeit, du 
plögliche Angft, fie werde jierben, entjegen ihn. 

„Ah! du bijt ganz allein, Mutter! Wer pflegt 
dih? Wer wacht bei dir?“ 

„Bei mir wachen ?" antwortet fie etwas jchroff, in 
einer Anwandlung bäuerlicher Sinnesart. „Wie? ich 
follte Geld ausgeben und jemand bei mir wachen Laffen? 
Wozu denn? Die alte Doyamburu fommt bei Tage 


— 


ke. 


Ramuntdo. 


und reicht mir alles, was ich brauche und was ber 
Arzt anordnet ... Obgleich ... weißt du, die Arz« 
neien! . . . Zünde die Lampe an, mein Ramuntcho! 
Ich möchte dich ſehen und fann es nicht!“ 

Als er mit einem geihmuggelten Streihholz Licht 
gemacht, fährt jie mit liebloſender, unendlich janfter 
Stimme fort, wie man mit einem noch ganz kleinen, 
vielgeliebten Finde redet: „Ab, dein Bart! Wie lang 
dein Schnurrbart geworden ift, mein lieber Sohn! 
Ich erfenne ja gar nicht mehr meinen Ramuntdo... 
Bringe die Lampe näher her... daß id) dich befjer 
iehen fann !” 

Er ſieht fie nun auch beffer im Schein der Lampe, 
indeflen fie ihn betrachtet und voll Liebe bewundert. 
Und feine Angft verftärft fi, weil die Wangen ber 
Mutter jo hohl, ihre Haare jo weiß geworden find; 
ja jogar der Ausdruck ihrer Augen ift ein andrer, 
fie find wie erloſchen .. . Auf ihrem Geficht liegt ein 
tiefbetrübendes und unheilbares Weh, von der Zeit, 
der Arbeit und dem Kummer aufgeprägt. Jebt fließen 
jwei ſchwere, raiche Thränen aus Franchitas Augen, 


welche plößlid durch Verzweiflung, Haß und Em- 


pörung größer, lebendiger und jünger werden. 

„D, diefe Frau!” ruft jie aus. „O, wenn bu 
wühteft, diefe Dolores!” 

Ihr unbollendeter Ausruf drüdt den gungen 
dreibigjährigen Groll gegen die Feindin aus, der «8 
endlich gelungen, das Leben ihres Sohnes zu zerftören, 

Beide find ſtumm. Er hat jich gebeugten Hauptes 
an das Bett geſetzt und hält die fieberglühende Hand 
jeiner Mutter in der feinen. Sie atmet tiefer, fie 
fteht, wie es fcheint, eine Zeitlang unter dem Drude 
des Gedankens, den auszuſprechen fie zögert. 

„Sag mir, mein Ramuntcho, ich möchte dich 
fragen — was gedentft du jeht zu thun, mein 
Sohn? Welche Pläne haft du für die Zufunft ger 
macht?” 

„Ich weiß noch nicht, Mutter! Wir werden und 
darüber bereden — es wird fich alles finden. Du 
fragst fo ſchnell danach! Wir haben ja alle Zeit, 
nicht wahr? Nach Amerika, vielleicht . . .* 

„Ah ja!” Führt fie langſam fort, doch mit dem 
ganzen Schreden, der jchon viele Tage in ihr brütet, 
„nad Amerika! ... Ja, ich dachte es wohl! Ach ja! 
das wirft du thun! ... Ich wuhte es! ... Ich wuhte 
ea wohl! ...“ 

Ihre Worte endigen mit einem 
und fie faltet die Hände zum Gebet, 

Die Glode läutete und läutete und erfüllte mehr 
und mehr die Quft mit ihrem fanften, ernften und 
zugleid) gebieterifchen Ruf. 

„Du wirft doch nicht da hinein geben, denfe ich?“ 
fragte Arrochloa, auf die Kirche deutend. 

„Nein, o nein!" antwortete Namuntcho, der jebt 
düfter entihloffen daftand. 


tiefen Seufzer, 


—— — — — — — ————— —— —— — — — — 





639 


„Nun, ſo komm mit mir, wir wollen den neuen 
Apfelwein verſuchen!“ 

Er zog ihn mit ſich ins Schmugglerwirtshaus; 
beide ſetzten ſich ans offene Fenſter, wie ehedem, und 
ſahen hinaus; aud) diefer Ort, die alten Bänke, die 
in geordneten Reihen liegenden Fäſſer, die Bilder 
an der Wand, erinnerten Ramuntcho an die ent- 
züdende frühere Zeit, die nun dahin war, 

Das Wetter war köftlih, der Himmel von jel- 
tener Klarheit — in der Luft ſchwebte der Duft der 
Herbſtzeit; der Geruch der fich entblätternden Wälder, 
ber von der Sonne erhigten welfen Blätter am Boden, 

Nah der vollitändigen Windftille des Morgens 
erhob ſich nun ein leichter Herbfiwind, ein November: 
Ihauer, der Mar und beutlih, Wehmut erregend, 
den Winter anfündigte — wohl ein jüdlicher Winter, 
ein jehr gemäßigter, der faum das Leben im Freien 
unterbricht. Uebrigens waren die Gärten und alle 
alten Mauern noch über und über mit Rojen bededt. 

Zuerft redeten fie von gleihgültigen Dingen, ihren 
Apfelwein trinfend, von Ramuntchos Reifen, von 
dem, was fich unterdeifen im Dorfe zugetragen, von 
den Heiraten, die ſich vollzogen oder ſich wieder ge— 
löft; und zu den beiden die Kirche fliehenden 
MWiderjeglihen drang jedes Geräuſch der Meffe: das 
Klingeln mit der Schelle, die Orgeltöne, die Jahr: 
hunderte alten Gefänge. 

Schließlich berührte Arrochtoa die brennende 
Trage. 

„OD, wäreft du hier gewejen! Niemals hätte es 
dazu fommen fönnen, glaube mir! Und jeßt noch, 
wenn jie dich wiederſähe! ...“ 

Ramuntcho ſah ihn an und erbebte vor dem Ge“ 
danten, den er zu erraten glaubte. 

„Seht noch? ...“ 

„O, mein Lieber, die Frauen! Lernt man ſie 
jemals verſtehen? .. Sie hing zwar ſehr an dir, das 
fann ich dich verſichern, auch daß es ſchwer hielt! 
In unſern Tagen jedoch giebt es fein Geſetz mehr, das 
jemand zurüdhalten fönnte, zum Teufel! ... Ich für 
meinen Teil würde mich nicht darum jcheren, wenn 
fie ihr Kloſter verließe! DO, la la!“ 

Ramuntho wandte den Kopf ab. Er ſah zu 
Boden, antwortete nicht und Mopfte mit dem Fuße 
auf den Boden auf. Während beide ſchwiegen, erjchien 
ihm die gottlofe Eingebung, die er fich kaum ſelbſt 
einzugeftehen gewagt hatte, nicht mehr jo chimäriſch, 
nicht unausführbar, faft leicht... Nein, wahrlich, es 
wäre nicht undenlbar, fie wiederzubeflommen... Im 
Notfall würde ohne Zweifel Arrochkoa, ihr eigner 
Bruder, die Hand dazu bieten. O, welche Verſuchung, 
welch neue Seelenerregung ! 

Er fragte kurz: 

„Wo ift fie? Meit von hier?“ 

„Ziemlich! Dort drunten gegen Navarra ; es 





640 Pierre Poti. 
find fünf bis jehs Stunden Wagenfahrt. Zweimal 
ſchon, jeitdem fie in ihrer Gewalt ift, mußte fie das 
Klofter wechſeln. Jetzt ift fie in Amezqueta, jenjeits 
des großen Eichwalbes von Oyanzabal. Man ge: 
langt über Mendichoco dahin, du weißt, wir haben 
den Weg jchon einmal zufammen in Geihäften mit 
Itchoua gemacht.” 

Der Gottesdienft war zu Ende, 
zogen die Leute vorüber: Frauen, jhöne Mädchen 
mit vornehmer Haltung, unter welchen Graziella nicht 
mehr war; dann die Männer, die Barette über bie 
gebräunten Stirnen gezogen, Jeder wandte ſich um 
und betrachtete die beiden am Fenſter des MWirts- 
hauſes. Der nun heftiger wehende Wind wirbelte 
große, welle Platanenblätter auf, die um ihre Gläfer 
berumtanzten. 

Eine ältere Frau warf ihnen unter der Trauer- 
mantille hervor einen böfen, traurigen Blid zu. 

„Aha!“ ſagte Arrochkoa, „dort geht meine Mutter; 
wie ſeltſam ſchaut fie ung an!... Ja, ja, fie hat 
an jenem Tag jchöne Dinge angerichtet! . . . fie fann 
fih dejien rühmen ... Uebrigens ift fie damit am 
meiften geftraft, denn ſie wird nun ihr Leben in Ein» 
ſamkeit beſchließen . . . Die Katharine, — du weißt, 
die alte Eljagarray — ift ihre Zugängerin; außerdem 
bat fie niemand, mit dem fie die Abende verbringen 
fönnte , 

Plöplid) wurden fie von einer Baßſtimme unter 
brochen, die ein basliſches, bohlffingendes „Guten Tag“ 
ausrief, indeſſen eine jchwere, große Hand ſich auf 


Gruppenweiſe 


— Ramuntdo. 


Ramuntchos Schulter legte, als ob fie Beſitz von ihm 
ergreifen wollte, Es war JItchoua, der joeben mit 
4 jeinem Kirchengelang fertig geworben war. Er war 

ganz unverändert. Immer dasjelbe farbloje Geſicht, 
| diejelbe Phyfiognomie, halb Mönd, halb Strafen: 
‚ täuber, diejelben tiefliegenden Augen mit dem geifte- 
abwejenden Blid. Auch in jeinem Weſen ſchien er 
derjelbe geblieben zu fein — er, der im ſtande war, 
in aller Gelaffenheit zu morden, und zur gleichen Zeit 
‚ aus der Andacht einen Fetiſchdienſt machte, 

„Ah!“ jagte er mit einem Ton, der gutmütig 
fingen ſollte, „da wäreſt bu ja wieder bei uns, Ra 
muntcho. Ich denfe, wir arbeiten jet wieder zufammen! 
Nicht? Im Augenblid blüht das Geſchäſt mit Spa: 
nien, und man braucht Arme an der Grenze. Du ge 
börft dody noch zu uns? MWie?...* 

„Mein Gott, vieleiht!” antwortete Ramuntco. 
„Man kann ja noch darüber reden und id ver 
ftändigen ...” 

Seit einigen Minuten nämlich war im feinem 
Geifte die Abreife nach Amerika wieder hinausgerüdi 
worden ... Nein! lieber im Lande bleiben! Das 
frühere Leben wieder aufnehmen, überlegen, beharr- 
lich warten... Webrigens nun, ba er wußte, wo 
' Graziella war, mußte er viel und mit gefährlichen 

Abfichten an dieſes Amezqueta, dad nur fünf bis 
ſechs Stunden fern von hier gelegene Dorf, benlen, 
‚ und er fahte jetzt allerlei frevelhafte Pläne, an die er 
bis zum heutigen Tag kaum zu denken gewagt. 
N Sqluß folgt.) 








Sonnenuntergang. 


Don 
E. 2, Rolter. 
Ans dem Bolländiichen überfegt T. Pluim. 


Du Sonnenflamm', am Borizonte fintend 

Still in dein aoldnes Grab im blauen Aetber, 
Wie feierlich ift deines Todes Stunde! 

Das jtilfe Waſſer fchläft in deinem Lichte 
And fendet zart fein rofenrotes Lächeln, 
Entzückt von deinem Bild, zu dir empor. 

Das filberhelle Schilf- am Ufer raufchet 

Noch einen zarten Abjchiedsgruß dir zu. 

Der Wipfel, den du rötlich-aolden färbeft, 
Erfchauert leis im fanften Abendiwinde 


Und bebet leicht in feligem Entzüden, 

Inden er dir ins Rofenantlitz fieht. — 

Yun ftirbt allmählich auch der Wind, ımd alles 
Erwartet ehrfurchtsvoll dein letztes Licht. 

Noch eine Weile glüht der Himmel nadı 

Und fpricht von deiner hehren, zarten Prabt. 
Und wenn die fahle Nacht gefomment ift, 

Die Erde deckend mit dem dunkeln Schleier, 
Derfolgft du deine Bahn jtill durch den Kaum. 


—— 


Diener. 


Vier Porträts 


von 


A. A, Gontfcharom, 
Aus dem NRuffifchen überfeht von A. Olfchwang und $. Kryzanowski. 


1118 
Stjepan mit der Familie. 


Wo ſeid ihr, meine Diener, meine Leibwächter? 
Ihr Hüter meines Geldes und meiner Wäſche? — 
„Einige find nicht mehr da, und die andern weit.” 

Aber wenn meine Erinnerung bei dem einen 
oder andern verweilt, erjcheinen vor mir, aus der 
Finfternis auftauchend , gleichſam lebendig die Ge— 
ihter von Michejs, Jegord, Maxims, Pamweld und 
fo weiter. Ich fehe fie vor mir mit Präfentier- 
brettern und Taſſen, Bürften in ben Händen, und 
höre förmlich ihre Gefprähe. Von einigen, die mir 
mur kurze Zeit dienten, ift nicht viel zu jagen. Sie 
bilden eine ziemlich einförmige Geſellſchaft und laſſen 
ſich kurz bezeichnen als die Gruppe der Trinfenden, 
Sie haben mir viel Blut verborben und mein Jung—⸗ 
geiellendafein gründlich vergällt. Ich wähle aus 
diejer Zahl ein paar Silhonetten als Gegenftüde zu 
Anton. 

Da war ein gewiſſer Piotr, ber mich nachts, ſo— 
bald er mit der Bedienung fertig war, in ber 
Wohnung einſchloß und irgendwohin wanderte, um 
Branntwein zu trinfen oder arten zu jpielen. Ich 
erfuhr dies jpäter von einer alten Frau, die bei mir, 
in der Küche, einen Winkel hatte, damit die Mob- 
nung nicht ganz leer jtünde, wenn ich und ber 
Diener nicht da waren, 

Ich ftellte ihn darüber zur Rede. Er Teugnete 
jedoch hartnädig. Ganz bejonders wollte er vom 
Branntwein nichts willen. 

„Nie, nie! Ich bin zweimal weggegangen, aber 
nit, um Branniwein zu trinken. — Nein!” 

„Weshalb denn alfo? Was thateit bu?“ 

„Ich ging nit, um Branntwein zu trinfen,* 
wiederholte er ftarr und fleif. „Ich ging aus andern 
Gründen — aus gejchäftlichen.” 

„Aus was für Gründen ?* 

„Aus andern, nur nicht, um Branntwein zu 
trinken,“ 

Einmal wollte ich fontrollieren, ob die alte Frau 

Aus fremden ungen, 1897. IL 14 


recht habe, und ging fpät in der Nacht, als ich mit 
meiner Arbeit zu Ende war, ind PVorzimmer, um 
durch feine Kammer in die Küche zu fommen, Piotr 
war nicht dba und die Thür — verjchlofjen. 

Kaum war ich zu Bett, ala ich hörte, wie er 
zurüdfam und in ber Finfternis herumbantierte, 
Ih begab mid) mit einer Kerze zu ihm. Er war 
eben babei, fich auszufleiden. 

„Wo warſt du?“ fragte ih ſtreng. „Es ift 
gleich drei Uhr.“ . 

„Das geht Sie gar nicht? an,” antwortete er 
fred. Er war in jehr erregtem Zuftande. 

„Wie? Was? Du wohnft bei mir und ſtreichſt 
nachts herum!“ 

„Wie können Sie ſich unterſtehen, mich einen 
Herumftreiher zu nennen?“ fchrie er aus vollem 
Halfe und mit ſolcher Wut, daß die alte Frau aus 
der Küche hereingelaufen fam. Er hörte nicht auf 
zu jchreien und mich mit Grobheiten zu bewerfen. 

„Nun geh ſchlafen!“ ſagte ich ruhig und entfernte 
mid. 

Ich werde von jelber jchlafen gehen, ich brauche 
Sie nicht dazu!” rief er Hinter mir drein. „Ic 
werde mir dieſes Kujonieren nicht gefallen laſſen. Ich 
bin fein Herumſtreicher. Ich gebe zu anitändigen 
Leuten, aber nicht, um Branntwein zu trinten. Das 
giebt’ nicht, nein!“ 

Früh klingelte ih. Er bradte mir den Thee 
und die Zeitungen, als ob nicht3 vorgefallen wäre. 
Ich gab ihm feinen Paß, feinen Lohn und bemerkte, 
da er jofort gehen jolle. 

Er ftußte einigermaßen und wußte nicht, was er 
antworten jollte, 

„DBerzeihen Sie, warum denn ?“ fragte er endlich) 
mit leiler Stimme. 

Ich erwiderte nichts. 
Gelb und ging. 

„Frlauben Sie nur, daß ih meine Saden für 

81 


Er nahm den Paß, das 





642 


einen ober zwei Tage bier lafje, bis ich eine Stelle 
finde!“ fagte er, ji) in ber Thür ummenbenb, 

„Schön! Sag der Frau, daß fie auf die Sachen 
achtgiebt. Du begreifft, daß du nicht mehr bei mir 
bleiben kannſt.“ j 

„Sehr wohl!” Er ſprach leiſe, den Kopf gefentt. 
„Berzeihen Sie wegen des geſtrigen ...“ fügte er 
hinzu, indem er die Thür öffnete, 

Ih winkte mit der Hand, und er verſchwand. 

Später erzählte mir die alte Frau, er hätte, als 
er erfuhr, was und wie er mit mir geredet, ſich mit 
beiden Händen am Kopfe gefaßt: „It e8 wahr? 
Das hab’ ich alles gejagt?” 

Er war fonft ein ruhiger, anfländiger, dienſt⸗ 
eifriger Menſch, dreißig Jahre alt, blond, hübſch 
gewachien und mit etwas groben, aber regelmäßigen 
Geſichtszügen. WS er nad) zwei Tagen fam, um 
jeine Sachen abzuholen, fragte ich ihn nochmals, wes⸗ 
halb er fich machts entfernt hätte, 

„Was war das für ein Geſchäft, das du nicht 
nennen wollteft?* 

„Branntweintrinfen ,” geſtand er aufrihtig, in« 
bem er die Augen niederfchlug. 

Einen Tag darauf trat ein neuer Diener bei mir 
ein, Marim, ein Feiner, unterfeßter Manu mit 
ftarfen Musleln und vielen Puſteln. Mit ihm dauerte 
es etiwa drei Monate. Einmal, als ich fpät in der 
Nacht Heimfam, fand ich die Thür unverjchlofien. 
Marim ſchlief noch nicht und fchien mir in großer 
Erregung zu fein. Da er jedoch jonft munter auf 
den Beinen war, mir wie gewöhnlich beim Aus« 
Heiden half, Rod und Schuhe abnahm, jo ſchenkte 
id) dem feine Beachtung. — Am andern Morgen 
benadrichtigte er mid, daß mein Ueberrock mit dem 
Biberkragen verſchwunden jei. 

„Wie? Wohin verfhwunden? Warft du daheim 
oder bift du ausgegangen? Iſl jemand bei dir ge» 
wejen ?” 

„Nnein! Wahrfcheinlih bin ih nicht aus- 
gegangen. Ich glaube, ic war zu Haus. Und 
bei mir bürfte niemand gemwejen fein — ich kann 
mid nicht erinnern, Wer könnte denn zu mir 
fommen ?* ſtammelte er wie ein Kind. 

„Warum war die Thür denn nicht zu, als ich 
geftern kam?“ 

„Weiß nit... kann mich nicht erinnern, ob fie 
zu war oder nicht,” rechtfertigte er ſich, zur Seite 
blidend. 

„Sude! Frage, erfundige dih!... Wenn 
jemand bei dir war, fo geb und frage nad. Ich 
werde bei der Polizei Anzeige machen,“ drohte ih. 
„Bis morgen gebe ich dir Zeit.“ 

Er erwiderte nichts darauf. Am nähften Morgen 
war es mein erjtes, ihn nach dem lleberrod zu fragen. 

„Weib nicht das Geringfte. Nirgends aufzus 


J. A. Gontfharom. 


finden. Fragte beim Dwornil, ob niemand gelommen 
wäre — ob man nicht ben Ueberrock meggetragen 
hätte. Er hat niemand geſehen.“ 

„Nun, dann muß ich mich an bie Polizei wen- 
ben. Dort wirft du dich vielleicht erinnern, warum 
die Thür nicht zu war.“ 

„Ganz nad) Wunſch, wie's beliebt,“ antwortete 
er gleichgültig. 

Ich machte jedoch keine Anzeige bei der Polizei, 
ba mir aus zahlreichen Fällen befannt war, wie 
zwecllos eine joldhe fei, jondern gab dem Marim fofort 
feine Entlaflung. 

Ih kam zu dem Entſchluß, daß mit einem ein. 
zelnen Menſchen nicht gut zu haufen ſei — ſelbſt 
für einen Junggefellen. Er wird ſich langweilen 
und auswärts Unterhaltung ſuchen wie Pjotr, oder 
es werden ungebetene Bäfte zu ihm fommen, wie ih 
es bei andern Dienern erlebt hatte. 

Man gab mir den Rat, einen Verheirateten zu 
nehmen, zumal id) ja in der Küche Plab genug für 
eine ganze Familie hatte, und empfahl mir einen 
Mann von fünfundjehzig Jahren, zwar jchon etwas 
verjchrumpft umd rungelig im Geſicht, jonft aber nod 
gefund und friſch. Er war ein Freigelaſſener, hatte 
meift ala Koch gedient, fühlte fi num aber, wie er 
jagte, zu alt für die Hihe und zog eine Beſchäftigung 
vor, bei der es fühler berging. 

Er fand vor mir und blidte mich gutmütig und 
fejt mit jeinen hellen blauen Augen an, ohne zu 
zwinlern — wie ein Hund, ber einen Befehl er— 
wartet. 

„Ich werde alles thun, was Sie mir befeblen,“ 
las ich in feinem Blid und feiner Haltung. „Und 
was Sie nicht befehlen, werde ih um feinen Preis 
thun,“ ergänzte ich die ſtumme Verheißung feiner 
Augen. 

Den folgenden Tag fand er ſich mit feinem 
Weibe Matrjona bei mir ein, einem Frauenzimmer 
von fünfzig Jahren mit einem gefunden Geſicht, 
deſſen Naje, Kinn und Wangen wie aus Guttaperdha 
gemacht waren. Yhre Augen fahen nicht geradeaus, 
ſondern feitwärts. Die Unterlippe war feſt an die 
Oberlippe gebrüdt und nad Aitweiberart in bie 
Höhe gejhoben. Sie verneigte ſich vor mir bis zum 
Gürtel und überreichte mir den Pak ihres Mannes, 
ben fie in Verwahrung hatte. 

Nah ein paar Tagen lernte ich bei einem ge⸗ 
legentlihen Blid in ihr Gelaß auch das bunte 
Allerlei ihrer Einrichtung fennen: das Bett mit dem 
Unterbett und einem Berg von Kiffen, ber bis nah 
an die Dede reichte, eine Menge von verjhiedenem 
Geſchirr, Pfannen, Töpfen und fo weiter. Was 
aber am reihlichften vorhanden war, waren Heiligen 
bilder und Sampen dazu, Oſtereier, vertrodnete 
Ofterzöpfe und Palmzweige um den Heiligenfhrein. 





Diener U. Stjepan mit der Familie. 


Matrjona war eine echte fromme Ruffin und 
verwendete für den Kiot*) und die Heiligtümer nicht 
nur die ganze vordere Ede der Küche, fondern auch 
einen Zeil der Garderobe und des Badezimmers 
Lange Zeit hörte ich das Einhämmern der Näge 
für all die vielen Heiligen und andre Bildniffe der 
Gottesfurht, und jeder Schlag befeftigte ſozuſagen 
auch in mir die beruhigende Ueberzeugung, dab ich 
ed mit einer ordentlichen Familie zu thun habe, — 
Sie hatten auch einen Sohn von fiebzehn Jahren, 
Petruſcha. Er lernte die Schlofferei und bejuchte 
die Eltern nur an hohen Feiertagen. 

Die Einrihtung war beendet, und alles ging 
jeinen alten Gang. Das heißt, nicht fo ganz: mit 
der Ruhe und Stille von früher war es nämlich 





vorbei. Wenn ich jet in meine Garderobe trat, 


hörte ich regelmäßig ein Geſpräch. Nun, wo zwei 
zuſammenwohnen, ift das ganz natürlich, aber was 
mich Dabei befremdete — dieſes Geſpräch war unwandel- 
bar ein zänfijches. Es gab Geſchrei, auch Schimpf- 
wörter, und zwar allemal auf jeiten Matrjonas. 

Stjepan — jo hieß mein neuer Diener. Viel— 
leicht hieß er außerdem Michailo oder Petrow. Ich 
babe daS vergefin. Bei unjern Leibeignen und 
Hofleuten gab es Feine Familiennamen, Dean 
nannte fie nah dem Vater oder mit einem Spih- 
namen. Etjepan, jage ih, bewahrte für gewöhnlich 
ein volllommenes Schweigen. Nur zuweilen fnurrte 
er al Antwort auf die Bosheiten, mit-denen feine 
Frau ihn reiste. 

„Daß dich! Schweig doch einmal, du Satan!” 

„Nichts Schweigen! Du mich einen Satan heißen !” 
berjeßte fie in einem Ton, der förmlich ätzte und 
ſchnitt. „Was fiheft du da und firedft die Beine 
von dir? Haft du nirgends hinzugehen ?” 

Er zog die Beine ein, ftand auf und mollte in 
mein Zimmer gehen. 

„Wohin? Wohin ?* fuhr fie ihn giftig an. „Was 
bringft du fein Holz? Soll ich vielleicht das Holz 
holen? Ich ſoll kochen, was? Und du willft freifen 
und faulenzen? Wie? Na, darauf fannjt du warten! 
Eine ſolche Gans haft du an mir nicht gefunden. Ich 
bin nicht deine Sklavin!" 

„Herrgott, was für eine Hexe ift diefe Alte!“ 
föhnte Stjepan und machte ſich auf, um Holz zu holen. 

„Ich werde bir die ‚Hexe‘ geben, bu...” zifchte 
fie auf ihm los und ſchlug ein Kreüz. „Gott fich 
mir bei, eine ſchöne Laft hab’ ich mir auf den Hals 
geladen mit Dir!” 

Machte jedoch Stjepan den wohlgemeinten Ver— 
u, ihr an bie Hand zu gehen: „Sieb mal bie 
Panne ber! Ich werde die Kartoffeln röſten“ — 
jo ftürzte fie auf ihn los. 


*, Heiligenfhrein. 


Er — R 5 





643 


„Miſch dich nicht in meine Sachen!” herrſchte fie 
ihn an. „Hat dich jemand drum gebeten?“ 

„sc würde fie mit geriebenem Zwiebad be— 
fireuen — diden Rahm darüber gießen — Zwiebel« 
hen bräunen — fie follten ſchmecken, daß man ſich 
bie Finger danach leckt!“ fügte er hinzu. 

„Nimm dich in acht! ch werbe dir mit dem 
Schüreiſen einheizen, wenn du mir etwas anrührft. 
Ih ſchwör's dir bei der heiligen Mutter Gottes, ic) 
werde dir einheigen,* drohte jie. 

„Nun, jo hol dich der Teufel, der Waldteufel 


ſoll dich mitnehmen!“ 


Wenn ich neben der Küche im Bade ſaß, wenn 
ich mich aus- und anzog, hörte ich flet4 nur Zwie— 
geſpräche diefer Art. Sie fraß ihn einfach auf, und 
er lieh fie gleichmütig gewähren, lächelte oder jchüttelte 
den Kopf. Nur dann und warn fnurrte er vor ſich 
hin. Zumweilen, wenn ihm die Kraft fehlte, das 
Geſpräch auszuhalten, ſchlich er fi ins Vorzimmer. 
— Aus feiner großen Ruhe fonnte ich erfchen, daß 
ihm dieje Art zu Teben zur Gewohnheit geworden war. 

Unter anderm bat mid Matrjona eines Tages, 
ben Lohn ihr einzuhändigen und nicht ihrem Mann, 

„Warum?“ fragte ih. „Iſt er vielleicht . ..“ 

„Er verjchwendet,” bemerkte fie, indem fie Die 
Unterlippe hochſchob und aus den Augenwinkeln zu 
Stjepan hinüberſah. Er ſchüttelte ergeben den Kopf 
und lächelte, 

„Er giebt das Geld für Näjchereien aus,” fügte 
fie Hinzu, 

„Ich habe nicht das Recht, den Lohn einem 
andern als ihm zu geben. Wenn er einverjlanden 
A 

„Bitte, ja, ihr den Lohn zu geben. Sie ift 
meine Kaſſierin,“ ſagte er mit demjelben ergebungs« 
vollen Lächeln. 

„Dei mir Hält es ſich beffer,” fügte fie mit 
halber Stimme Hinzu und ſah nad der Seite. 
Damals wußte ich nit, was fie damit jagen 
wollte, 

Ohne befondere Zwiſchenfälle lebten wir fo bis 
in den Winter hinein, das heißt, e8 gab wohl einige 
Unannehmlichleiten: zum Beifpiel kamen einen Mo» 
nat, nachdem die familie ſich bei mir eingerichtet 


. hatte, Schwaben zum Vorſchein. Sie wimmelten 


nicht nur in der Küche, jondern aud) in der Garde» 
robe und dem anliegenden Slorridor, jowie im Vor— 
zimmer, Zu guter Lebt zeigten fie fi aud in 
meinen Zimmern. 

Ih machte das Ehepaar auf dieje Ericheinung 
aufmerkfjam. „Was foll denn bas fein?“ fragte id). 

„Das find Schwaben,” antworteten fie wie aus 
einem Munde, ohne im allermindeften auß der 
Faſſung zu fommen. Zugleich jammelte Stjepan 
mit ber Hand das herumfriechende Ungeziefer und 





644 J. U Gontſcharow. 


warf es zum Teil aus dem Schiebfenſter, zum Teil 
in den Waſchtrog. 

„Das darf nicht mehr ſein,“ ſagte ich. „Man 
muß das ausrotten. Bevor ihr gelommen ſeid, habe 
ich nie ſolche Tiere geſehen.“ 

„Ad, wie iſt denn jo was möglich?“ ſagte 
Matrjona, zu mir herüberſchielend. „Wir haben 
fie doch nicht mitgebracht. Wo giebt’3 denn bie 
nicht? Wo wir gewohnt haben, hat’8 überall Wangen 
und Schwaben gegeben,” 

„Bor euch waren feine da,” wiederholte ich jtreng. 
„Man muß fie ausrotten. Ich werde Infeltenpulver 
laufen.“ 

Aber das Pulver half nicht. Die Schwaben 
bielten bei mir aus, folange Stjepan und Matrjona 
bei mir blieben. Und das dauerte etwa zwei Jahre. 

Da Stjepan ſich rühmte, ein vorzüglicher Koch 
zu fein, ſuchte ich ab und zu von feiner Kunſt Nupen 
zu ziehen. Und in der That, er rühmte fich nicht 
umfonft, fondern machte jeine Sache gut. Auch ein 
paar Belannte, die ih mir einlud, konnten feine 
Zubereitung der Nationalgerichte nicht genug loben. 

Mir jelbft ſagte dies Efjen am eignen Tiſch mehr 
und mehr zu, und ich dachte daran, meinen Stjepan 
wieder feinem alten Berufe zuzuführen, ihn zum 
Koch zu mahen und feinen Lohn zu erhöhen. Ich 
wollte ganz und gar häuslich werden, und Stjepan 
ſchien meinem Vorhaben, ſoweit es ihn betraf, nicht 
abgeneigt. 

„Warum denn nicht? Ich kann es,“ fagte er 
mit einem Tone, der nidht daran zweifeln ließ, daß 
er feiner Sache ficher ſei. „Ich kann alles... 
Suppen, Pürees... wie's beliebt... Saucen zu 
Fiſch ... zu Spargeln... Kuchen, die Möglich. 
feit.. . Waffeln, Schofolabecreme, Vanillecreme... .* 

Er nahm das ganze Kochbuch durch. 

„Ja! Nur heißt e8 dann Ziegel faufen, Pfannen 
und andres Geſchirr,“ fügte er hinzu. 

„Schön! Das wollen wir alles kaufen,” 

„Dann haben wir feinen Keller,“ fiel ihm 
plößlid ein. „Gelee, Eingemachtes... auch wenn 
was bei Tiſch übrig bleibt... Wir haben ja feinen 
fühlen Raum, e8 aufzuheben.” 

„Ich werde aud einen Seller mieten,” fagte ich. 

„Nun, mir iſt's recht. Ihre Wirtſchaft ift ja 
nit Gott weiß wie groß. Sie haben feine Fa— 
milie, felten Gäfte. Ich werbe zurechtlommen.“ 

Auch feine Frau drüdte, wenn auch etwas zögernd, 
mit einigen „Hm, hm!“ ihr Einverftändnis aus, 
Sie hatte ſich's übrigens nicht verjagen können, 
während der ganzen Unterredung höhniſche Seiten« 
blide auf Stjepan zu ſchießen. Warum — das 
follte mir erft jpäter Mar werden, 

Weihnachten fam heran. — Bis jept hatte ich 
nur zuweilen und verſuchshalber zu Haufe gejpeift; 


das Ejjen war ftet3 gut umd ſchmachaft. Jeht faufte 
ih Tiſchwäſche, Geſchirr, Mefjer, Gabeln und fo 
weiter. Dann lub id) eines Tages zwei Freunde ein, 
um ihnen meine Wirtjchaft zu zeigen. Dem Stjepan 
gab ich Geld, beſprach mit ihm, was er einfaufen 
und auf den Tiſch bringen jollte, und ging dann weg. 

Als ich zur Eſſenszeit, um fünf Uhr, heimlam, 
erfuhr ich zu meinem Schred, daß nichts hergerichtet, 
ja nicht einmal der Ofen geheizt und Stjepan jelbft 
jeit Vormittag verjchwunden jei. 

„Er ift einkaufen gegangen und jeither nicht 
wiedergelommen,* jagte Matrjona düfter. E3 war 
nicht zu entjcheiden, was in ihrer Stimmung vor« 
wog: Hummer oder Aerger. 

„Was ſoll ih thun?“ fragte ih. „Die Gäfte 
werden glei da fein. Und das Eſſen — jelbft 
wenn Stjepan jeht heimläme — es könnte doch nicht 
fertig werden. Was foll man thun?“ 

„Der kommt heut nicht. — Bielleicht in der 
Naht!" antwortete Matrjona, ohne mich anzufehen. 

„Was joll das heißen?” fragte ih. „Wo ift 
er bin?” 

„Warum haben Sie ihm auch Geld gegeben?“ 
fuhr fie plöglich ftreng und vorwurfsvoll heraus. „Ic 
hatte Sie doc) gebeten, e8 mir zu geben! Ich wäre 
auf den Markt gegangen, hätte eingefauft, und Sie 
hätten jeßt zu eſſen, und das Geld wäre nidt 
verthan.“ 

„Hat er's denn auch früher jo gemacht?“ 

„Immer! Wie er noch Koch war, da paffierte 
es — wenn er feinen Lohn friegte, zwanzig Rubel 
— daß er in eine Schenke fiel und feine Kopele 
heimbrachte.“ 

„Iſt's möglich? Wie kann er auf einen Sik 
zwanzig Rubel durchbringen? Trinft er denn Cham- 
pagner?“ 

„Ach wo, gnädiger Herr! Bei dem thun’s zwei 
Gläshhen Branntwein — die fteigen ihm im den 
Kopf, und dann fängt er eben an, alles freizuhalten 
— und wenn ihm dabei noch was in der Taſche 
bleibt, jo ziehen ſie's ihm 'raus.“ 

„Wo ift er? Suchen Sie ihn und bringen Sie 
ihn mir!“ fagte ich ratlos, 

„Ah, wo wird er denn viel jein? Im einer 
Schenle oder in einer Speifewirtihaft. Zu finden 
wäre er wohl. Aber wozu? Laſſen Sie ihn lieber 
dort! Gott behüte, er joll bleiben, wo er ift. Ich 
lafje ihn nicht herein. Wenn er getrunfen hat, iſt 
er bös. Meinetwegen foll er auf der Straße über: 
nachten oder auf der Polizei.” 

„So jo! Alfo er trinkt! 
heimnis ?* 

Sie jhielte ſchweigend in die Ede. 

„Wenn er nicht trinken thäte, glauben Sie, man 
hätte ihn jo aus der Stelle gelafien? Man hätte 


Das iſt Ihr Ge 


Diener. 


ihn do mit beiden Händen gehalten... Was für 
Ihöne Stellen hat er nicht gehabt! Bei was für 
hohen Herren! In einem fürftlichen Haus hat er ge 
dient, in jo einem Haus! Einen Monat, zwei Mo— 
nate, dann — unb wenn er bann feine Entlafjung 
hat, dann fällt er wieder mir zur Laft, dieſer Schatz, 
und ich Unglüdsweib muß mid in meinen alten 
Tagen jo mit ihm durchſchlagen.“ 

Sie verſuchte zu weinen, es wollten jedoch feine 
Thränen kommen, und fie wilchte trodene Augen. 

„Wenn er nur bin würde, der Lump, ber ver— 
fluchte!“ ſchloß die zärtliche Gattin, 

Dies war das Ende meines Traums von einem 
eignen Haushalt. 

Der Abend verging, und Stjepan war noch nicht 
zu Haufe. In finfterer Nacht Hopfte er mit Macht an 
bie Thür, fand jedoch keinen Einlaf. Er mußte 
diefe Nacht in der falten Kammer und die folgende 
beim Dwornif im Heuſchuppen zubringen. Wie der 
arıne Alte das aushielt, wie er aus folder Kälte 
mit dem Leben davonfam, ift mir bis heute rätjel- 
haft, unbegreiflid. 

Uebrigend befam id, folange die fyeiertage 
dauerten, feinen Stjepan zu Geficht. Die Bedienung 
wurde bon Matrjona und ihrem Sohn Petruſcha be= 
forgt, der während dieſer Zeit bei feinen Eltern war, 
Petruſcha beftätigte mir, dab „Papachen trinfe, ſo— 
bald er Geld befomme. Dann werde er wülend, 
zaufe mit Mamachen, zerre aud) ihn jelber an ben 
Haaren herum und zerichlage und zerbreche alles, 
was ihm in die Hände falle“. — Mit einem Wort, 
der janjte, ruhige Alte wurde zu einem wilden Tier, 

„Ih und Mamachen jchließen uns vor ihm die 
ganze Naht ein und laſſen ihm nicht herein,“ fügte 
Petruichea Hinzu. „Dann, wenn er das Geld ver— 
trunfen hat oder jeine Saufbrüder es ihm aus ber 
Taſche geftohlen Haben, wenn's mit dem Trinken 
aljo nichts mehr ift, gebt er ein paar Tage herum 
wie ein Irrfinniger und murmelt unverfländliches 
Zeug vor fih Hin, Dann kommt er endlich nad) 
und nad wieder zu ſich und nimmt feine janfte 
Geftalt wieder an mit dem gutmütigen Blick und 
Lächeln.” 

So erſchien er nad den Feiertagen aud) wieder 
vor mir und machte ſich an feine Verrichtungen, als 
wäre nichts vorgefallen. 

Zu Faftnaht dasſelbe. Am letzten Tag betrug 
er ih wie ein Rajender, wollte die Küchenthür zer» 
frümmern und ging, als er troßdem nicht eingelafjen 
wurde, auf den Hof, wo er ein heidenmäßiges 
Lärmen und Schimpfen vollführte, bis ihn endlich 
die Dwornils mit Mühe und Not hinausjhafften. 

Ich war Zeuge von alledem, und als Stjepan, 
bereits in müchternem Zuſtand, fich wieder vor mir 
ſehen Tieß, bedeutete ich ihm, daß ich mir eimen 


II. Stjepan mit der yamilie. 


645 


andern Diener juchen würde, Auch drohte ich ihm 
für den Fall, daß er noch einmal folden Aufruhr 
und Skandal mache, mit Polizei und Arretierung. 

Er warf ſich vor mir auf die Kniee, kreuzte die 
Hände über der Bruft und fagte im Tone innigfter 
Zuverſicht: 

„Nein, eine ſolche Gemeinheit werden Sie gegen 
mich nicht begehen!“ 

Nun, ich beging in der That dieſe Gemeinheit 
nicht, ſeiner Gutmütigkeit zulied. Ich nahm ſogar 
dann und wann wieder ſeine Kochlunſt für Häusliche 
Mahlzeiten in Anfprud. Nur hütete ih mich na= 
türlicherweife, ihm das Einfaufsgeld in die Hand zu 
geben; und dank diefer Vorſicht ging jetzt alles glatt 
und gut. 

Indes neue Verdrießlichkeiten jollten nicht aus— 
bleiben. Jedesmal, wenn zwei oder drei Feiertage 
einftelen, machte ſich Stjepan unfihtbar und überlich 
es feiner Familie, den Dienft bei mir zu verjehen. 
Manchmal, wenn ic) nad) Hauje fam, war niemand 
ba ala Petrufcha, und der vertrieb ſich die Zeit da— 
mit, in einem Winkel des Hofes mit Straßenjungen 
Steinchen zu fpielen, oder er lag im Bett und jchlief, 
daß er durch fein Klingeln zu weden war. 

Einmal jaß er auf der Vortreppe und weinte, 

„Warum weinft du?“ fragte ich ihn. 

„Ad, alle find fort, und ich bin allein und 
fürchte mich . . .* 

„Wo ift denn Water und Mutter ?” 

„Papachen ift im Stabal*), und Mamachen ift 
zur Meſſe und bis jet nicht da.” 

Sie fam erft abends zurüd, und zwar, wie id) 
bemerkte, ebenfall3 in angeheitertem Zuftande. Nach 
ihrem Mann fragte ich gar nicht. 

„Wo warft du, Matrjona? Alles ift weg, das 
Haus fteht leer. Wie kann man denn fo etwas. ..?* 

„Heut ift Iljä-Feiertag. Ich war draußen bei 
den Porochoff ⸗Fabrilen,“ verſetzte fie in beleidigtem 
Ton. „Man muß doch aud) einmal... Menſch ift 
Menſch. Bin ich vielleicht feiner? Ich hab’ eben« 
falls mein Kreuz zu tragen.“ 

Derlei wiederholte fi bon nun an immer 
häufiger. Bald war Geburtsfamstag, bald Drei— 
faltigleitstag, bald Himmelfahrt, bald Allerheiligen, 
bald die, bald das — und bei all diejen Gelegen- 
heiten verjchwand fie nad) dem Smolensk-Kirchhof 
ober jonft wohin. Ganz bejonders häufig waren die 
Ausgänge während der großen Faſten. 

„Wo warft du?“ fragte id). 

Und fie antwortete: 

„Auf der Station der heiligen Maria von 
Aegypten,” oder: „Beim heiligen Kreuz. Es it ja 
die Kreuzwoche.“ 


Echenle. 





646 


Sie ging am Lazar- Samftag, um Palmzweige 
zu holen, fie ging am Sazar-Sonntag; in der heiligen 
Dfternadht wanderte fie dahin mit einer ganzen Tracht 
von Evangelienbüdhern und jo weiter. Und all dieſe 
Teiertage benußte fie, wie ich nicht umhin fonnte, zu 
bemerken, weniger um Gott zu dienen als ihrem 
„Mammon“, denn wenn fie nad Haufe fam, roch 
fie feineswegs nad Heiligkeit. Unterdeſſen ſaßen 
Gatte und Sohn daheim in ihrer laufe und fafteten, 
bis e8 ihnen zuviel ward. Dann verzog ſich aud) der 
Gatte, und ic) ſaß hilflos in der öden Wohnung wie 
ein Waifenfind. 

Die leßten drei Tage vor den großen Feiertagen 
war id; beinah obdachlos. Es war dies die Zeit 
des großen Fegens und Reinmachens, des Möbel- 
rüdens und Abſtäubens, des Ofterbrotbadeng und 
Eierfärbens und enblih, was das MWichtigfte war, 
bes Putzens der SHeiligenbilder. Hatte ich vorher, 
im Herbft oder Winter, auf Spinngewebe in den 
Eden, auf Staub und Schmuß auf den Schränten, 
oder fonftige Unfauberfeit und Unordnung aufmerl« 
jam gemadt, jo befam ich unwandelbar zur Ants 
wort: „Es fommen ja die Feiertage“ — mochte es 
auch bis dahin noch ein Vierteljahr dauern — „dann 
werben wir die Heiligenbilder pußen und Ordnung 
machen, dann werden wir abjtäuben und die Spinn- 
gewebe wegſchaffen.“ 

Ueberhaupt habe ich bemerft, daß fein einziger 
meiner Diener aus freien Stüden und ohne meinen 
ausdrüdlichen, pofitiven Befehl jemals von Möbeln 
und dergleihen den Staub wiſchte. Dan reinigt 
wohl den Fußboden; was aber die fonftige Unfauber- 
feit betrifft, jo muß der ruffiiche Diener fozufagen 
mit der Naſe draufgeftoßen werden, wenn er fie jehen 
und bejeitigen ſoll. 

Mertwürdigerweife hörten mit der Zeit die Zänte- 
reien zwijchen Matrjona und Stjepan auf, und in 
der Küche herrſchte Eintracht und Ruhe. Eines 
Tages traf ich die ganze Familie beim Thee, jah 
bei diefer Gelegenheit aber auch auf dem Tiſch 
Branntweinflafhen und Gläjer. Alle drei, Vater, 
Mutter und Kind, waren fihtlich angeheitert, Mir 
ſchwante denn auch Unheil angefichts diejes Friedens, 
und meine Sorge wurde nurzubald gerechtfertigt. Eines 
Abends, im Winter, jah ich zu ihmen hinein und 
erblidte eine heitere Yamilienjcene, wie nad) einem 


J. A. Gontſcharow. — Diener. 


II. Stjepan mit der Familie. 


Gemälde von Tenierd. Stjepan ſaß da, ganz be 
trunfen, fuchtelte mit den Armen umher und tom: 
mandierte Petrujcha : 

„Zanz, Petjka, tanze, du Hundejohn!” 

„Bin ich, feine Mutter, vielleicht eine Hündin? 
jagte Matrjona. 

„Du, du bift ein alter Köter.” 

„Wart, ich werde dich! — tanz nicht, Petjfa! — 
folg ihm nicht!“ 

„Zange, du gemeiner Kerl!” fommandierte Stje 
pan. „Zanz! Ich befehle es.“ 

„Tanz nicht!” verbot fie. „Da, trink lieber!“ 

Mit zitternder Hand füllte fie ein Glas. 

„Auch ich werde trinfen, gieb auch mir!“ Tall 
ber ganz bezechte Stjepan. 

Sie jhob hurtig den Branniwein beifeite. „Du 
haft genug. Du belommſt nichts. Schau, wie du 
aufgeladen haft! Für eine ganze Woche!” 

„Schenk ein, du SHavin! Was bift du denn? 
Meine Sklavin bift du. Wie fteht in der Schrift? 
‚Das Weib fol dem Manne dienen, und er fol 
dein Herr fein.‘ — Schenk ein, jonft werde id 
dich ...“ 

Er ſtand auf, holte mit dem Schemel aus und 
ging mit ſchwankenden Schritten auf fie los, mobei 
er unterwegs bie Serze vom Tiſch warf. Der 
Junge heulte: „Papachen, Papachen, thu Mamachen 
nichts!“ 

Ich ſah, in der Thür ſtehend, das alles, ſah, 
daß alle drei betrunken waren, und beeilte mich, der 
häßlichen Scene ein Ende zu machen. 

Bald darauf entlieh ich das Paar und hörte erit 
zwei Jahre jpäter von meinen freunden, die Stjepan 
vom Sehen fannten, fie hätten ihn in der Kafan- 
fire betteln gejehen. Wiederum ein oder zivei 
Jahre jpäter fam Matrjona zu mir, um „für arme 
Leute” zu bitten, und nicht lange darauf bat jie um 
einen Beitrag zum Begräbnis des Alten. Sie erzählte 
mir von ihm, wie er immer tranf und tranf, bis er 
endlich ganz ſchwach wurde und nicht mehr aus 
gehen fonnte, wie ihm Arme und Beine zitterten, 
dann fteif wurden, und wie er endlich janft und 
ruhig entjchlief, nachdem er die heiligen Saframente 
empfangen, und wie er, dem Tode nahe, die Worte 
geiprohen: „Verflucht derjenige, der den Brannte 
wein erfunden hat!” 


— ee 


die Hefdichte eines jungen NMädchens. 
Erna as 
Aus dem PDänifchen überfeßt von Ernſt Braufewetter. 


IV, 

Margarete kam im lehten Augenblick nad) Haufe. 
Sie riß in aller Eile den Hut vom Kopf und konnte 
gerade noch ihr Haar ordnen, bis fie zum Mittag 
bineingerufen wurde, Aber erjt füßte fie noch den 
Handihub, den er mit feinen Lippen berührt hatte, 
frih das Leder Tiebfojend zärtlich glatt und küßte 
ihn wieder, Dann ftedte fie ihn in den Bufen und 
ging zu Tiſch. 

Papa war neulich ſehr freng zu ihr geweſen, 
als Onkel Hans geihwaht hatte, aber, Gott jei Lob, 
nit zu Mama — er war dem Etatärat auf der 
Straße begegnet — und dadurch war e8 vermieden. 
Margarete war jehr unglüdlich gewifen, und Papa 
hatte fein allerernfteftes Geſicht gemacht, wie feit 
langer Zeit nicht. 

Aber nun war alles gut — ad, jo gut! 

Es ſah nun auch danach aus, als hätte Papa 
feinen Zorn vergefjen, und als er fie zum Willfomm 
füßte, hätte fie ihm beinahe gleich alles gejagt, jo 
gerührt und bewegt war fie. Der Etatsrat merfte 
dem Rufe an, daß es bei ihr etwas Ungewöhnliches 
gab, aber er jchrieb e8 ihrem Heinen Scharmühel zu, 
firich ihre über das Haar und flüfterte ihr ins Ohr, 
daß fie ein gutes Mädchen wäre, fein liebes, eines 
Gretchen — und dann jehten fie ſich zu Tiſche. 

Während der ganzen Mahlzeit jah fie die jonnen- 
beichienene Allee und die Bäume, die fie gezählt 
batte, und hörte ihn fagen: „Wollen Sie e8 mid) 
lehren, Margarete?" Und dann war es wieder, als 
wenn ihr Herz jo groß würde und jie faum Raum 
für all das Glück hätte, Ach Gott, ob fie wollte? 
Ja und ja, und taufendmal ja! 

In den legten Tagen hatte jie nichts eſſen lönnen, 
alles war ihr zuwider, jeder Laut war ihr unerträg- 
fi} gewejen. Aber heute war fie hungrig, richtig 
Bungrig, lobte das Eſſen und bat zum zweitenmal 
um Suppe. In ihr herrſchte ein jo jchöner Friede 
und ſolch eine Stille und gleihwohl ſolch brodelnde 
Freude, daß fie jajt ganz led wurde. 


Na, da war endlich der Kaffee. Und nun nahm 
Mama den Löffel und ftedte das letzte Bißchen 
Zuder vom Taffenboden in den Mund und jprad 
davon, daß fie am liebften zu Haufe bliebe, da es 
jo warın wäre. Aber da befam Margarete plößlich 
einen Anfall liebevoller Angſt und Fürſorge für 
Dlivie. Sie bangte fi natürlih nah Mama und 
würde unruhig werden, wenn fie nicht zur gewöhn- 
Tihen Zeit käme, und das fünnte Olivia unter den 
jetzigen Umftänden dod unmöglich gut fein. „Ad 
nein, das arme, liebe Kind!” — und dann ging Mama, 

Der Etatsrat ſaß in feinem Zimmer, den Rüden 
der Thür zugewandt, als fie Hineinfam, Sie ging 
raſch zu ihm Hin, umfaßte von Hinten her feinen 
Hals, legte ihre Wange an die feinige und jagte: 
„Papa, nun ift alles in Ordnung.” 

Er blidte erftaunt auf, und fie beeilte fich hinzu» 
zufügen: „Das, bu weißt doch — das, wovon wir 
neulich ſprachen, als du böfe warft — weil — Papa, 
ih babe mid verlobt — mit Doktor Möller — 
darf ih — er —“ Sie wuhte nicht recht, was fie 
jagen follte, ob fie um Erlaubnis bitten — oder — 

Er fuhr zufammen, legte ſchnell fein Bud) beifeite, 
zog fie zu ſich herab und begann zu fragen, und fie 
antwortete, indem fie mit dem Kopf an feiner Bruft 
lag und abwechjelnd lachte und weinte, bis er fie 
endlich feſt an ſich drüdte, küßte und jagte: 

„Na — ja, ja, mein Zipfel! Es war ja gut, 
daß es jo endete! Mögeft du glüdlich werden!” 

Es fam mit einem Seufzer, und feine Augen 
waren feucht. 

„Das bin ih, Papa — ad, jo glüdlich!” 
flüfterte fie, 

Es jah aus, als wenn feine Gedanken weit fort 
wären, als er antwortete: „Ja, damit beginnt es — 
damit beginnt es bei ung allen — und do... 
Na, warın fommt er denn, bein Doktor?“ 

„Heute abend,“ 

„Weiß Mama etwas davon ?” 

„Ach, wo denfft du hin, Papa, nicht daß geringfte! 
Du mußt es ihr jagen.” 





648 


„Ich? — Hm! 
wenn bu ſelbſt ...“ 

„Ach nein, Papa, id) fann das nicht. Ich geniere 
mich jo fchredli vor Mama — du mußt es.“ 

Der Etatsrat jchüttelte den Kopf und verfanf in 
Gedanken. Es war eigentlih ein lomiſches Ver— 
hältnis, daß die Tochter mit ihren Herzensangelegen⸗ 
heiten zu ihm fam und nicht zur Mutter. ber 
beshalb hatte er fie gern, fie war fein Augenftern, 
jein Herzensfind, das ihm fozufagen in feinen alten 
Zagen gejchenft war, jo jpät nah Olivia. Und 
num ſollte er fie abtreten, fie einem Maune über- 
geben! Es erhob ſich etwas wie Zorn in feiner 
Seele gegen diefen fremden Menſchen, der ſich jo 
eindrängte und fie ihm raubte, Er hatte nicht das 
geringste der Art empfunden, als der PBaftor kam 
und Dlivia von ihm verlangte, eher ein gewiſſes 
Erſtaunen darüber, dab fie jemand haben wollte, 
Sie war nicht recht nad) feinem Geſchmack — und 
doch jah fie Mama in ihrer Jugend ähnlich — ja, 
jo fonnte man fi) verändern! Mit Margarete war 
dad etwas andres. Sie war fold) ein fühes, Meines, 
fuftiges Ding und jo — Im. Es war natürlich 
unrecht, einen ſolchen Unterſchied zwiſchen feinen 
Kindern zu machen. Aber was Tonnte er dafür? 
Triebe, Inſtinkte, Antie und Sympathien — pub, 
welche Macht hatte man jchliehlih über all den 
Kram? Man mußte noch froh fein, wenn man 
jeine Handlungen einigermaßen beherrichen fonnte; 
feine Gefühle — das mußte man hübſch bleiben lafjen ! 

„Sp, du willit aljo deinen alten Water ver 
lafien?” 

Er rieb zärtlich jeine Wange gegen die ihrige. 
Dann hielt er fie ein wenig vor fi hin und blidte 
fie an: „Es ift außerordentlich ſchnurrig, ſich zu 
denken, daß fol eine Dirm’ ſich verheiraten will!“ 

Hochzeit — fi verheiraten — richtig im der 
Kirche getraut werden wie Olivia — und dann — 
dann — mit ihm, biefem fremden Manne, Kinder 
befommen! Ein Schauder überlief fie. Es war 
wie eine Sturmflut verwirrter Gedanken, die über 
fie hereinbrach. Ja, damit mußte es ja endigen. 
Wo hatte fie nur ihre Gedanken gehabt — ihn, ihn 
heiraten! Und abermals überfam fie dies fonder« 
bare Gefühl, das fie bereit! früher einmal ergriffen 
hatte, daß er ein fremder Dann wäre — wie war 
das nur möglih? Aber fie liebte ihn ja — und 
dann — dann machte es ſich wohl von ſelbſt, wenn 
die Zeit fam — und — 

Sie fahte plöglich ihren Vater um beide Wangen, 
fühte ihn heftig und fagte: 

„Ah, Papa, ſprich nicht davon, das ift gewiß 
noch lange bin, und außerdem...” 

Der Etatärat lachte: „Ja, ja, mein Zipfel, er- 
freuen wir uns an der Sonne, jolange fie ſcheint. 


63 wäre bod wohl richtiger, 





Erna Juel-Hanfen. 


Je länger ich dich behalte, defto beſſer. Obſchon id 
bir jagen muß, daß lange Verlobungen mir zumider 
find, Na, aber ich ſpreche ja hernach jelbft mit ihm.“ 

Doktor Henning Möller fam im Laufe des Abende, 
Margarete empfing ihn im Entree und wies ihn in 
Papas Stubierzimmer hinein. Und dort blieb er 
mehr als eine Stunde, 

Wovon in aller Welt konnten fie nur fo lange 
zu reden haben? Papa machte doch nicht etwa 
Schwierigkeiten? Ad nein, Papa war jo aut — 
aber jelbjt wenn — ja, dann brad) fie mit Papa, 
denn nun jollte feine Macht der Welt fie trennen, 
Sie wollte ihn jeden Tag jehen, jeben, jeden Tag, 
und wenn ſie noch fo viel ausgejcholten werden 
ſollte — ja, ſelbſt wenn Papa fie aus dem Hauſe 
jagte! Aber dann mußte fie laden: Papa fie aus 
dem Haufe jagen! Nein, das war ja alles dummes 
Zeug, aber wovon fonnten fie denn zu reden haben? 
Und dann legte fie das Chr an die Thür, konnte 
aber nichts weiter hören als eine gleichmäßige Rebe 
zweier ruhiger Stimmen. Sollte fie hineingehen ? 
Aber gefeht, er Hatte noch nichts gefagt oder — nein, 
fie mußte warten, bis fie riefen — ad), waß für eine 


Pein das war! 





Endlich hörte fie die Stühle drinnen rüden, Sie 
erhoben fi. Sie beeilte ſich, fich jo meit wie 
möglih von ber Thür hinzuſetzen. Nein, was für 
ein fomifches Geficht Papa machte, als er fie anfah! 
Er jah halbwegs verlegen aus, und doch lagen um 
feine Augen all die Meinen Runzeln, die dem Geſicht 
einen jo amüfanten, fuchsjchlauen Augdrud vers 
lieben. 

Uber gerade als die Herren in die Mohnflube 
hineintraten, fam Mama zur andern Thür herein, 
Margarete hatte ſich erhoben und warf Papa einen 
flehenden Blid zu. Er nidte, ging zu feiner rau 
bin, fahte fie um die Schultern und jagte: 

„Na, Mutter, ich habe eine große Neuigkeit für 
dich — fannft du raten?” 

„Bolt, Holm, du lommſt immer fo mit allem 
ins Haus gefallen! Haft du — hajt du das Grof- 
freuz befommen?* 

„Ad, den Teufel auch! Du Haft niemals was 
andres ala die Kinkerligchen im Kopf — nein, dann 
barfft du nicht raten. Darf ich dir ein neuverlobtes 
Paar vorftellen: Herr Dr. phil. Henning Möller 
und Fräulein Margarete Holm!“ 

Einen Augenblid war die Etatsrätin mie aus 
den Wolfen gefallen; aber dann that fie, ald wenn 
fie durchaus nicht überrafcht wäre: Ihre mütter: 
lien Augen hätten natürlich ſchon lange — Mar- 
garete wäre ja ein jo offenes Gemüt, dab... Und 
dann umarmte fie die Tochter, gab ihrem zukünftigen 
Schwiegerfohn die Hand und bat Gott, ihren Palt 
zu fegnen, indem fie fich die Augen wiſchte. Und 





Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


dann eilte fie in die Küche hinaus, um bie Neuigfeit 
weitergehen zu lafjen und für einige Heine Aende—⸗ 
rungen ber Abendmahlzeit zu jorgen. 

Als fie fort war, entftand eine Paufe zwiſchen 
den dreien in ber Wohnſtube. Der Etatsrat wußte 
nicht recht, ob er hinausgehen ober bleiben jollte. 
Die beiden wollten wohl am liebften allein fein, aber 
anbrerfeit3 konnte es unhöflich ausjehen... . 

Er blieb, und bald waren er und Möller an einem 
Fenſter im lebhafteſten Geſpräch. 

Margarete kehrte entiäuſcht in ihre Ede zurüd, 
Sie hatte jo beftimmt gehofft, dab Papa gehen 
würde, 

Der Friede und die Ruhe, die über ihr gerubt 
hatten, ſeitdem fie nad) Haufe gelommen waren, nun, ba 
er bier war, völlig fort. Ah, wie fie fi) danach jehnte, 
bier in der Stube mit ihm allein zu jein — denn 
dann würde das ja fommen, wonach fie ſich jo lange 
gejehnt Hatte — er würde fie in feine Arme nehmen, 
und fie fühlte gleichſam, wie fie in feinen großen, 
ftarfen Männerarmen ganz die Befinnung verlor. 
— es nagte und brannte in ihr, jodaß fie vor Un— 
gebuld hätte weinen können, während die beiden bis 
in die Unendlichfeit weiter ſchwatzten und Ihwapten. 

Mie konnte er da fo ruhig ftehen und ſich förm⸗ 
lid für das, wovon fie ſprachen, intereffieren — weiß 
Gott, was es war? Sie mochte nicht einmal zuhören, 
Ad, er wußte nicht, daß, wenn fie fich Bier zu 
Haufe die Augenblide nicht ftahlen, die fi) darboten, 
ihnen feine blieben. Mama würde in der Wohnftube 
aufgepflanzt figen von dem Augenblid an, da er fam, 
bis er ging — ad, Papa, Papa, warum gingft bu 
doch nicht! 

Ales war heute jo anders gewefen, jo ganz an« 
ders, als fie es fich gedacht hatte, und ein Gefühl 
der Leere und Traurigkeit überfchlich fie, während fie 
dort am Fenſter jhwahten und ſchwatzten. Ganz 
gegen ihre Gewohnheit war ihr heute den ganzen 
Tag das Weinen jo nahe geweien; auch nun quollen 
ein paar Tropfen aus den Augenwinfeln hervor — 
ah, wenn Papa nun do ginge und er zu ihr hin« 
läme unb vor ihr ftände, ganz dicht, und fich über 
fie neigte, die Thränen von ihren Augen fortlüßte 
und fie fragte... .! 

„Darf ih bitten — ein Tähchen Thee!“ fagte 
die Etatsrätin und öffnete die Flügelthüren zum 
Eßzimmer. 

Dort drinnen waren Lichter angezündet, alle 
Lichter an der großen Hängekrone. 

Ein wenig feftlih müßten fie e8 dod an diefem 
feierlichen Abend haben, meinte Mama. „Das 
fit in die Augen,” fagte Margarete und hielt die 
Hand vors Gefict. 

Der Etatörat bot Mama den Arm. „Die Vers 
lobten jollen zufammen figen!" Margarete legte ihren 

Aus fremden Zungen. 1897. IL. 14. 


649 


Arm in den ihres Bräutigams, und fie gingen zu 
Tiſch. 

Es wurde eine lebhafte Mahlzeit. Herr Henning 
Möller fühlte ſich offenbar fehr behaglich und ſprach 
jehr viel. Frau Holm war eine äußerſt gaftfreie 
Wirtin und jorgte jpeziell für den Teller ihres neuen 
Schwiegerſohnes. Er wäre fehr einfach in feinen 
Gewohnheiten, jagte er, und nähme täglich ein ganz 
beitimmtes Quantum Fleiſch mit vielem Gemüfe zu 
ſich. Frau Holm gelodte fich jelbt, ihren Speijezettel 
danach einzurichten, denn am Sonntag, jagte fie zu 
ihm, würbe er doch wohl bei ihnen ejlen; er müßte 
ja Margaretens familie lennen lernen. Er wäre 
natürlich auch an jedem beliebigen andern Tage will« 
lommen, aber am Sonntag jollte e8 eine fejle Ver— 
abredung fein. Here Möller verneigte ſich dankend, 
Margarete wurde glühend rot und dachte au das 
Kabinett, in dem Paſtor Schou und Olivia ihre 
Verlobungdtage zugebracht hatten, 

Aus Wein machte er fi nicht viel, merkte ber 
Etatsrat, aber — vielleicht wollte er einen Schnaps 
haben? Ja, er räumte ein, dab er ein gutes 
Schnäpshen gern hätte — und der Schiwiegerpapa 
holte jelbft die Geneverflaihe. Er hat brillanten 
Appetit, date Mama, als fie zum dritten Male 
und nidjt vergebens ihm die Schüffel mit ben Hühn- 
chen reichte — aber, Gott, man wurde ja auch nicht 
bon nichts jo groß! 

Margarete aß faft nichts und mußte deshalb 
verfchiedene Spißtvorte von Papa über ſich ergehen 
laffen. Aber es geſchah eigentlich nicht, weil fie 
feinen Appetit hatte, jondern weil fie fich genierte, 
Es erſchien ihr jo peinlich, da neben ihrem Verlobten 
zu fifen und Efjen in den Mund zu ftopfen. Nichts 
von dem, was heute abend geſchah, entiprad ja 
dem, was fie fi gedacht und erträumt hatte. 
Rapa hätte e& auch gut bleiben lafien können, von 
„Liebe und Quellwaſſer“ und all dergleichen dummen 
Zeug zu reden. 

Und dann, gerade als fie begonnen hatte, ein 
wenig ihre Verlegenheit abzuſchütteln, wurde e8 ganz 
ſchlimm. Ihr Bräutigam hatte fie nad) diefem und 
jenem gefragt, und fie Hatte geantwortet; da legte 
Papa im felben Augenblid den Löffel mit den Erd« 
beeren beifeite, den er gerade zum Munbe führen 
wollte, und rief: 

„Nein, jo etwas habe ich doch noch niemals ges 
bört! Ih glaube gar, die beiden fihen ba und 
fagen nod ‚Sie‘ zu einander — Mutter, her mit 
der Flaſche! — wollt ihr augenblidiih nad allen 
Negeln der Kunft auf, Du‘ miteinander trinken ...“ 

Alle beide wurden rot. Möller lachte geziwungen, 
und die Zeremonie ging von ftatten, aber keineswegs 
zur Zufriedenheit des Etatäratd, „Das Wichtigfte 
fehlte,” fagte er, „aber das wollten fie vielleicht lieber 

82 





er 


ge SEEN 


ren nn nt m EI PL — 


650 Erna Juel-Hanjen. 


allein abmachen!“ fügte er hinzu und nidte Marga- 
rete pfiffig zu. Ihre Hand zitterte infolgedeilen jo 
ſtarl, daß fie Wein auf dem Tuch vergoß. Aber 
von num an mußte jie jedesmal, wenn fie mit ihrem 
Bräutigam reden wollte, den Sak im voraus prä« 
parieren, um das „Du” zu umgehen, das ihr gleichfam 
im Halje fteden blieb. Es war ihr unmöglich, jeht 
gleich — jolange er ihr nod) fo fremd war, und ehe 
fie recht empfunden hatte... 

Ihm fiel es leichter, Nur ein» ober zweimal 
ftolperte er über da3 „Du*, aber dann fam es mit um 
fo größerem Nachdruck. 

Die Etatsrätin ging in ihrer Liebenswürdigkeit 
fo weit, daß fie den Herren geftattete, im Wohn⸗ 
zimmer zu rauchen. Dort führte Herr Möller das 
Wort, erzählte lang und breit von feinen Reifen und 
Studien, fam auf die Frage der gymnaſtiſchen Er- 
ziehung der Jugend, die ihm jehr am Herzen lag, 
und ließ den Etatörat feine Oberarmmusfeln be» 
taſten. 

Punlt zehn Uhr erhob er ſich und verabſchiedete 
fh. Sieben Stunden Schlaf wären ihm Bedürfnis, 
er wäre ein Frühauffteher, „ob Fräul... ob Mar- 
garete morgen ihren Frühjpaziergang machte?“ 

Margarete ſah halb erjchredt nad) Papa hin, bes 


fann ſich aber im jelben Augenblid, dab nun — 


und Papa lachte und drohte ihr mit dem Finger. 
„sa, fie bächte wohl...“ Und währenddeſſen durch- 
zudte es jie, ob fie ihn hinausbegleiten dürfte — fie 
allein! Sie war ſchon an der Thür, 

Aber Mama fagte troden: „Ah, Margarete, 
Hingle nad Anna, daß fie Herrn Doltor Möller die 
Hausthür aufſchließt!“ 

Er gab der Etatsrätin und Margarete die Hand 
— und fort war er. 

An diefem Abend weinte Margarete fi in 
Schlaf. Es war dumm und thöridht, zu weinen, 
aber fie konnte nicht anders, obihon alles, was 
fie gewünſcht Hatte, in Erfüllung gegangen war. 
Sie hatte ihn, fie waren verlobt — Mama und 
Papa waren zufrieden — fie waren jo gut geweſen, 
jo gut — fie durfte ihn jeden Tag jehen — jeden 
einzigen Tag — ſchon morgen — und dann — 
dann... Aber trotzdem meinte fie, vielleicht weil 
fie jo glüdlich war oder — e8 werden würde! 

Mama und Papa ſprachen noch Tange zufammen 
im Schlafzimmer, welches vor Sauberfeit glänzte. 
Die Etatsrätin forderte Auskunft und Rechenſchaft 
darüber, was zwifchen ihm und Doltor Möller vor 
fi gegangen wäre, bevor fie nad) Haufe kam, welche 
Ausfihten er hätte, warın er fich verheiraten könnte 
und fo weiter, 

Der Etatärat ſaß in Unterbeinfleidern auf der 
Bettkante und zog jenſeits des Vorhangs, durch den 
Mama, jeitdem die Töchter heranwuchſen, ihr gemein⸗ 


Ihaftliches Schlafzimmer getrennt hatte, feine Soden 
aus, Er ſtrich fi mit nachdenkllicher Miene das 
bichte, Fraufe, graue Haar über dem einen Auge 
empor, jo daß es wie ein ſchiefer Hahnenkamm in 
die Höhe ftand, und antwortete ein bischen verlegen: 

„Sa — du, eigentlich ſagte er gar nichts.” 

„Was joll das heihen?* fragte die Etatärätin 
und zog den Vorhang fort, daß die Ringe rafielten, 
„er muß doc, weiß Gott, um deine Zuftimmung 
gebeten und dir über feine Ausfichten Nechenjhaft 
abgelegt haben.” 

„Ja — a, das hat er eben nicht. Siehſt du, 
Margarete hatte mir im voraus einige Worte davon 
ing Ohr geflüftert — und dann jagte er, als er 
lam, meine Tochter hätte mich vermutlich auf feinen 
Beſuch vorbereitet. Na, das hatte fie ja — und 
dann — ja — dann fagte er etwas davon, daß 
wir die Sache wohl ald abgemacht betrachten Lönnten, 
und da weiß ich zum Xeufel nicht, wie es zuging, 
dab wir anfingen, von Politif zu reden. Das iſt 
heutzutage ja nicht anderd möglid. Und kannſt bu 
dir denken, er ift in allen wichtigſten Fragen in- 
different — ober thut in jedem Fall jo. Er ift fid 
nicht einmal im allgemeinen über feinen Standpunft 
zum Proviforium Har. Das ift doch zu toll für 
einen jungen, begabten Kerl — und Hug ift er. 
Aber ich habe ihn ordentlich gefaßt, das kannſt du 
dir wohl denlen.“ 

„Bott, Peter — daß du fo Teichtfinnig jein 
fannft! Die Rolitik richtet uns ſchließlich noch alle 
zu Grunde. Erſt kürzlich hat jie dir bein Amt ger 
koſtet ...“ 

„Na, das war nun ziemlich gleichgültig, es war 
eine ſchiefe Stellung und auf die Dauer unerträglich. 
Jeßzt Habe ich freie Hand, und du ſollſt nur ſehen, 
was fie zu hören befommen werden. Ich habe einen 
Artikel gefchrieben, der Hand und Fuß hat...“ 

„Ad, verjhone mid damit, Peter! Du weißt, 
ich teile durchaus nicht beine Anfhauungen!“ Die 
Etatsrätin hatte die Nachtjacke gerade über dem Kopf 
und zerrte fo an den Knöpfen, daß einer von ihnen 
losriß. „Na, dem mag num fein, wie ihm wolle, das 
ift deine Sache, aber daß du die Wohlfahrt deiner 
Tochter über der abfcheulichen Politik vergefien fannit, 
das geht mid an — dann weißt du wohl nicht ein- 
mal, warn er ſich verbeiraten kann?“ 

„D, das maächt fih jhon. Margarete fann gut 
nod warten. Und fo viel erfuhr ich doch vom ihm, 
daß er ‚summa cum laude‘ bei allen Egamina 
hatte — er iſt ein Pfiffikus — er will fi mit der 
Regierung gut ftellen, um vorwärts zu fommen, und 
fümmert fih den Teufel darum, wer regiert oder 
wie regiert wird —“ damit flieg ber Etatsrat ins 
Bett, 

Mama z0g den Vorhang wieder vor und jeufzte 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


erleichtert auf. Das war doch immer ein Troft. | 
Sp müßten alle Männer denfen, die Familie hätten 


ober fie begründen wollten. Aber dann fing fie an 
zu erzählen, was fie von ihrem zufünftigen Schwieger« 
ſohn mußte: daß er einiges Vermögen befäße, gute 
Verbindungen hätte, brillant bezahlte Stunden und 
fo weiter. Und al& der Etatsrat erftaunt fragte, wo 
fie al die Kenntniſſe her hätte, antwortete fie un« 
willig, daß fie fid) natürlich gründliche Auskunft über 
den Lehrer ihrer Tochter verſchafft hätte — man 
fönnte ja niemals wifien, was geſchehen könnte, und 
eigentlich verdanfe Margarete ihr Glüd ihr. 

Zu all dem ſchwieg der Etatärat. Aber gerade 
ad Mama im Begriff war einzufchlafen, wurde 
fie dadurch aufgeichredt, daß ihre Ehehälfte fo 
ladhte, daß fie fühlte, wie das Bett unter ihm er- 
zitterte. 

„Aber, du lieber Gott, Peter, was lacht du denn 
fo um dieſe Nachtzeit?* 

„Ach, du — ba, ha, ha! Mir fielen gerade — 
ba, ba, ba! — die Hanteln ein...” 

„Ich glaube, bei Gott, du ſprichſt im Schlaf, 
Peter. Hanteln? Was meinft du damit?” 

Der EtatSrat late no immer. „Ja — ſiehſt 
du — das ift etwas, was du vielleicht nicht weißt — 
er erzählte — unſer neuer Schwiegerfohn — na ja, 
— er ift feufch wie eine Jungfrau, mußt du willen 
— und daß, fagte er, hätte er jeinen Hanteln zu 
verdanfen — verftehft du, wenn die Verſuchung über 
ihn fommt, nimmt er eine Uebung mit ihnen vor — 
and dann — ha, ha, ha!” 

„Nein, Peter, weißt du was — daß bu darüber 
laden fannft! Der brave junge Mann! Er ift 
ein Schwiegerfohn nad) meinem Herzen, denn es ift, 
weiß Gott, jelten, daß ein Mann das von fid) fagen 
lann ...“ 

Verdammt ſelten — leider!“ ſagte der Etatsrat 
mit Nachdruck, „aber ih kann es wahrlich nicht 
unterlaflen, zu lachen, wenn ich daran denfe, daß fo 
ein Riefenkerl — Hm! Ein Dann ift num einmal 
ein Mann — und...” 

„Hu, Peter, wie abſcheulich du biſt! Du weißt, 
ih mag auf das Thema nicht eingehen — beine 
phyſiologiſchen Auseinanderfehungen fannft du für 
dich behalten — ich kenne fie. Nein, Margarete ift 
ein glüdliches Mädchen! Wenn ih daran benfe, 
daß die arme Dfivia nun wieder — fie ift, Gott 
belie uns, bereit wieder über die halbe Zeit hinaus, 
Dos muß ich jagen, das hätte ich niemals von einer 
meiner Töchter gedacht — zwei Kinder in neungehn 
Monaten und das dritte zu erwarten, das ift, bei 
Gott, geradezu unanftändig, das mußt du doch ein« 
räumen...” 

Aber num ſchlief Peter — oder war in jedem 
Fall taub auf beiden Ohren. 


— 


651 


V. 

Die am nächſten Sonntag der ganzen Familie 
feierlich bekannt gegebene Verlobung brachte Marga- 
rete nicht das Glück, das fie erhofft, von dem fie ge= 
träumt, nad bem fie getradhtet hatte, ja es trat 
eigentlich feine Aenderung in ihrem Verhältnis ein. 

Er kam freilich mehrmals in ber Woche zu ihnen 
ins Haus, aber das hätte er ebenjo gut unterlaffen 
fünnen, meinte fie. Denn fie waren niemals allein. 
Immer zu breien mit Mama in der Mohnftube — 
und es war erftaunli, wie gut Mama und er zu» 
fammenpaßten — fie waren in fo vielen Dingen einig. 
Nur über zweierlei gerieten fie beinahe in Streit, 
nämlich über die Verlobungsringe und über die 
Beſuche. Möller wollte fich auf beides nicht einlaffen. 
Die Ringe gehörten zur Trauung, erflärte er, und 
die Befuche wären verlorene Zeit. Mama mochte 
reden, was fie wollte — fie brachte ihn nicht Davon ab. 

Dft hatte Margarete die größte Luft, ihnen zu 
widerſprechen, ihre Meinung vorzubringen, wenn fie 
gar zu einig waren, Aber fie wagte es nicht recht. 
Er konnte feinen Widerſpruch vertragen; das hatte 
fie fon jene wenigen Male bemerkt, da fie es ver⸗ 
jucht Hatte. Er wurde fo leicht beleidigt und redete 
dann fo rückſichtslos, daß fie ebenfalls verleht den 
Kopf hängen ließ und ſchwieg. Und dann war er 
jo ftarr in feiner „formalen Logik”, von der fie, wie 
er behauptete, Feine Ahnung hätte, und ihr „mir fcheint 
aber doch!“ wurde mit einer jehr langen und jehr 
ſchlagenden Bemweisführung zurüdgemiejen. Aber 
nichtsbeftoweniger wußte fie jehr häufig bei fih im 
ftillen, daß fie recht hatte, ja, fie hatte doch recht! 

Drinnen bei Papa, während fie ihre Zigarren 
tauchten, war es aud) nicht viel beffer, denn da gab 
es endloſe politifche Diskufftionen, jo daß ihr die 
Ohren fauften. 

Und das Kabinett — ad), dad Kabinett ſchien ihn 
durchaus nicht zu verlocken. Keiner ihrer liftigen Heinen 
Winle und ihrer darauf bezüglichen Hindentungen 
wurde von ihm verftanden. An einem Sonntag« 
nachmittag, als er da war, hatte fie ſich allein bort 
hineingejeßt und gehofft und gewartet und gewünjcht 
aber es half nichts, bi Mama jie vom Wohnzimmer 
her rief und fie fragte, ob fie jchliefe. Sie — Ichlafen? 
O nein — fie weinte, bittere Thränen der Sehnſucht 
und Ungeduld: das follte die Brautzeit fein! 

Täglih einmal trafen fie fih und gingen zu— 
fammen fpazieren. Aber — das wurde aud nicht 
fo, wie fie e8 erwartet hatte, Sie war freilich von 
derjelben unruhigen Freude und Erwartung wie früher 
erfüllt, und im Anfang jchien e8 au, daß er an 
diefen Zufammenkünften Gefallen fand. Aber bald 
merkte fie, daß fie für ihn etwas Alltägliches wurden: 
fie fonnte es jeinen unveränderlichen Mienen an— 
ſehen, in feinen Augen leſen — während e8 in ihr 





652 Erna Juel-Hanjen. 


wie zum Feſt aufjubelte, jobald fie ihn nur in der 
ferne gewahrte. 

Und dann war e3 oft ſchwierig, Stoff zur Unter- 
haltung zu finden, und das Schweigen, das ihr vor 
der Verlobung jo inhaltreich erſchienen war, fagte 
ihr num nichts mehr. Dann griff fie nad) dem erjten 
beften, um nur das Gefpräd wieder in Gang zu 
bringen, am liebften etwas aus dem Gebiet jeiner 
MWiflenichaft, denn über dies Thema fonnte er uner» 
müblich ſprechen. Aber fie wollte davon eigentlich 
nicht reden. 

Die Frühfpaziergänge hatte fie aufgegeben. 
Jetzt, da der Winter fam, war es ihr allzu unbequem, 
fo früh auf zu fein, umd wenn fie nicht genau zur 
verabredeten Zeit da war, war er fort. Als fie das 
erite Mal vergebens lam, hatte es ihr eine bittere 
Enttäufhung bereitet. Sie fam nur einige Minuten 
zu jpät, aber er war ſchon fort — und an dem Tage 
fah fie ihn nicht mehr. Ihre zärtlich vorwurfsvolle 
Frage am Tage darauf hatte er mit einem verdrieß- 
lihen: „Meine Zeit ift foftbar, ich fann nicht auf 
dich warten,” abgethan. 

Da ſetzte fie die Zeit für ihre Zufammenkünfte 
auf jpäter am Tage feft und war dann immer die 
erfte am Plahe. 

Denn fie mußte ihn fehen. Wenn fie ihn er- 
blidte, jeinen Schritt hörte oder fein Klingeln er» 
kannte, überfam es fie momentweife wie ein milder 
Troft. Es war, ald wenn das Dajein plößlich reich, 
fiht und ftrahlend würde, ein Vorgeſchmack des 
Glückes. Aber dann, im nächften Augenblid, wenn 
er da war, litt und jehnte fie ſich in feiner Nähe 
nad dem, was niemals fa. 

Ob er wie fie litt? Ob er wußte, daf fie Titt? 
Sie glaubte es nit. Denn in feiner fiheren Ruhe, 
in feiner leidenſchaftsloſen Hingebung lag ein folder 
Gegenfaß zu dem nerböfen, unruhvollen Gemüts- 
zuftand, in dem fie fich befand, wenn fie ihn nur 
im nächſten Zimmer wußte, daß es unmöglich etwas 
andres zu bedeuten haben fonnte, als daß er zu— 
frieden war und nichts vermißte. 

Und dod wußte fie, daß er fie liebte, fie nicht 
entbehren wollte, fie ganz und gar als fein Eigen- 
tum betrachtete, auf das fein andrer das geringite 
Recht hätte. Und er war eiferfühtig — fogar auf 
ihren Bater, 

Auf Papa! Wie läherlih! Aber er konnte es 
zum Beifpiel nicht Teiden, daß fie Papa in feiner 
Gegenwart liebtofte oder fie fi auf feinen Schoß jehte 
und wie ein Feiner Junge geflopft und geftreichelt 
wurde. 

Er hatte ihr darüber etwas Unfreundliches, 
Scharfes gejagt, was fie fränkte und verlegte, und 
doch hatte ihr Herz dabei geflopft — er war eifer« 
füchtig, alfo liebte er fie. 


Und wenn fie mit andern zufammen waren, mit 
ihren jungen Bettern oder in Gejellfchaft, und ihr, 
gerade wie vor ihrer Verlobung, der Hof gemadıt 
wurde, oder fie fi) einem von ihnen gegenüber 
irgend eine Feine Freiheit erlaubte, dann ſah fie « 
auf feinem Geficht wie ein Donnerwetter herauj- 
ziehen, feine Augen funfelten, daß ihr ganz bange 
wurde — und dann konnte er hernad) fo eflig fein, 
daf fie darüber weinen mußte und doch einen ftillen 
Jubel in dem Bewußtſein empfand, Macht über ihn 
zu beſihen. 

Aber warum zeigte er ihr feine Liebe nicht fo, 
wie fie e8 wünſchte, in Worten und Lieblojungen? 
Warum hörte fie es nicht feiner Stimme an — fie hatte 
ihr gegenüber denjelben Klang wie allen andern 
gegenüber — oder jah es in feinen Augen? Wie un- 
gern fie aud) daran dachte, mehr als einmal mußte 
fie an den warmen Blid aus ein Paar andern 
Augen denken, der ihr dur Mark und Bein ge 
gangen war, jo daß ihr noch jet das Herz erbebte. 

Was half es ihr, daß fie die Seinige war, wenn 
fie ein ftändiges Vermiſſen empfand und ſich jo 
jehnte, da ihr das Blut aus den Wangen ſchwand 
und fie ganz herzenskrank wurde. 

Sie meinte, fie hätte ihr Leben hingeben lönnen, 
um fid) nur einmal in feine Arme gepreßt zu fühlen 
und feine Küffe auf ihren Lippen zu fpüren — aber 
das geſchah nicht, in jedem Fall nicht jo, wie fie es 
wünſchte. In der Beziehung beftand eim großer 
Unterfchied zwifchen ihnen; das merkte fie am der 
Art und Weife, wie er fie bei der Hand faßte, oder 
wenn fie beifammen ftanden und zum Beifpiel mit 
Papa ſprachen, und ihr Bräutigam recht vertraulich, 
ad) ja — aber als wenn er nicht wüßte, was er 
that — den Arm um ihre Schultern legte oder über 
ihr Haar hinſtrich. 

In ſolchen Augenbliden war e8, als wenn eine 
magnetische Kraft ihren Körper zu dem feinigen hin- 
zog, und es überfam fie eine wilde Sehnſucht da 
nad), fi an ihm zu ſchmiegen, ihn mit Küffen und 
Liebkoſungen zu überjchütten, ihm einige bon jenen 
dummen, jonderbaren Worten zuzuflüftern, die ihr 
auf den Lippen brannten und von denen fie meinte, 
es müßte jo ſüß fein, fie zu jagen — aber fie wagte 
es nicht. Es ftand gleichfam wie eine unüberjhau- 
bare, unüberfteiglihe Mauer zwiſchen ihnen ; das 
rührte von ihm her und hielt fie von ihm fern. 

Die Bewegung in ihrer Seele konnte fo far! 
fein, daß fie ſich ſelbſt der leichten Berührung entjog, 
wenn er feinen Arm um ihre Schulter legte — lieber 
ihm gar nicht nahe fein, ala jo — jo falt und fremd! 
Ein ſchwerer, dumpfer Schmerz ergriff fie dann, und 
während fie ihm oder Papa antworten und lädeln 
oder laden mußte, war es, als weinte fie innerlid, 
fühlte die Thränen in ihrem Herzen brennen. 


— 











Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


Würde er fie jemals lieben wie fie ihn? Und 
wenn nicht — Sie durfte den Gedanken nicht aus— 
denfen, jo unglüdlich und verzweifelt machte er fie. 
Aber hatte er nicht ſelbſt gefagt, fie müßte ihn erit 
lieben Iehren? — ja, wenn fie nur dürfte! Aber 
daran war die Berlobung und die ewige Bewachung 
durch Mama ſchuld. Wenn fie nur einmal fo richtig 
mit ihm allein fein fönnte, dann würde jchon alles 
anders werden. Und fie fuchte fich in das hinein- 
zuträumen, was dann fommen würde, ihn nad) dem 
Bedürfnis ihres warmen Herzens umzuſchaffen — 
aber auch das erhöhte nur die Sehnſucht und machte 
die Enttäufchung, welche die Wirklichkeit ihr bereitete, 
um fo fühlbarer. 

v1. 

Es ging zum Frühjahr, und mit jeder Woche 
rüdte die Zeit näher, da Möllers Reiſe nad) Grön- 
land vor fich gehen follte, dieſe Reife, vor der jie ſich 
immer gefürchtet hatte. 

Mehr als ein halbes Jahr lang follte fie ihn 
nicht jehen! Mie follte fie das Leben ertragen, wenn 
alles fort war, was ihrem Dafein Inhalt verlieh ? 

Und gerade jet, da nur noch einige Tage bis 
zur Trennung waren, hatte er ihr durch ein paar 
Zeilen im Telegraphenftil mitgeteilt, daß er ſich er— 
fältet hätte umd zu Haufe bleiben müßte. Weiter 
ließ er fein Wort von fich hören. 

In den erften Tagen glaubte fie gar nicht an die 
Erkältung. Er pflegte ſonſt niemals Rüdficht auf 
feine Gejundheit zu nehmen. ber er hatte ihr ein- 
mal gejagt, daß fein hypochondriſches Temperament 
es ihm zeitweiſe unerträglich erfcheinen ließ, Menſchen 
zu jehen, und daß er ſich dann einfchloß, feine Stuns 
den verfäumte, ohne Mittageſſen blieb, ja jogar ohne 
friiche Luft, nur um dem Anblid feiner zweibeinigen 
Mitgeihöpfe zu entgehen. 

Das war es natürlich, was jekt vorlag. Er 
mochte fie nicht jehen — nicht einmal fie! 

Sie verfuchte ſich gegen ihn mit Kälte und Bitter- 
feit zu wappnen. Aber e3 glüdte ihr nit, Sie 
ſehnte ſich förmlich die Seele aus dem Leibe. Sie 
ging ihren gewöhnlichen Weg, ſpähend und um ſich 
blidend — und doch jo voll Angit, ihm unvdermutet 
zu begegnen. Jede Männergejtalt, die mit ihm nur 
bie entfernteſte Yehnlichkeit hatte, flößte ihr einen foldden 
Schred ein, daß fie Kehrt machte und, fo ſchnell fie 
fonnte, in entgegengejeßter Richtung davonlief, 

Aber er fam nit — viele Tage hintereinander 
nicht. 

Da bfieb fie zu Haufe, und die Tage vergingen 
in ſtändigem Warten, in fortwährender Enttäufchung, 
biß eine ganze Woche verfloffen war. Ihr erſchien 
fie wie ein Jahr! 

Was hatte das zu bedeuten? Eine ſchredliche 
Angſt ergriff fie. Er mußte aljo wirklich ernftlich 


653 


frant fein. Er lag da vielleicht allein, ohne Hilfe, 
ohne Pflege! 

Sie wußte über feine häuslichen Verhältniſſe 
nichts weiter, als daß eine alte Frau, die in feinem 
Haufe wohnte, jeine Aufwartung beforgte. 

Sie hatte ihn einmal gebeten, ob fie ihn befuchen 
bürfte. Sie wollte feine Zimmer fehen, wiffen, wo 
er faß, wenn er jchrieb oder las, alles kennen, was 
ihn dort umgab, entdeden, was ihm bort an Bequem» 
lichkeiten fehlte, und was fie ihm ſchenken könnte. 

Denn fie empfand den fländigen Drang, ihm 
etwas zu ſchenken, Gebrauchs⸗ oder Luxusgegenſtände, 
am liebſten etwas, was er täglich vor Augen hätte, 
„denn dann mußt du an mich denken, wenn du es 
ſiehſt,“ ſagte ſie zu ihm, mit dem halb unbewußten 
Gefühl, ſich ihm aufdrängen zu müſſen, wenn er ſich 
ihrer Exiſtenz erinnern ſollte. 

Sie überwand ihre Abneigung gegen Handarbeit, 
um bie und da etwas zu feinem perjönlichen Ges 
brauch jelbft anzufertigen, und fie empfand eine be= 
fondere Befriedigung, wenn fie ihn davon Gebraud) 
maden ſah. Es war wie eine Lieblofung, die end« 
lich bis zu ihm gelangte. 

Er hatte ihre Bitte, ihm befuchen zu dürfen, fo 
fur; und mit foldem Erftaunen über ihr unmoti— 
vierte® Verlangen zurüdgewiefen, daß fie ihren 
Wunſch niemals wiederholt hatte. Sie wußte außer- 
dem, daß er wie Mama es als geradezu vernichtend 
für ihren guten Namen und Ruf anjah, wenn fie es 
allein tun würde, Und mit Mama als sauve- 
garde — nein, dann lieber gar nicht! 

Aber nun fragte fie nad) allem dem nicht mehr. 
Ihre Angſt, nachdem fie ſich erft in den Kopf gefeßt 
hatte, daß er ernftlich franf wäre, brach mit jeder 
Bedenkflichkeit und jeder Rüdjiht. Sie mußte hin« 
gehen und ihn ſehen. Unter ſolchen Umſtänden hatte 
fie das Recht dazu, fie war ihm die nächſte — fie 
hatte in jedem Fall feine näheren Angehörigen. 

Und fie ging zu ihm. 

Plötzlich war neues Froſtwetter angebroden; es 
war glatt, und fie fam nur ſchlecht vorwärts gegen 
den ſcharfen Oftwind, der ihr den lofen Schnee von 
den Hausdächern und Gaſſen wie Flugfand ins Ge— 
ficht trieb und ihr den Atem benahm, jo dak fie 
mehrmals umfehren mußte, um nad) Quft zu ſchnappen. 
Das peinigte und reizte fie, als ftritte fie gegen einen 
böjen Willen, der ihren Schritt hemmte. Nun, da 
fie auf dem Wege war, fonnte fie nicht jchnell genug 
vorwärts fommen. Und doc) hatte fie in ihrer Seele 
ein Gefühl, als wäre das, wozu fie hinging, ein 
Verbrechen, etwaß Unrichtige. Und dazu fam die 
Furcht, wie er fie empfangen würde, die noch fait 
größer war, als ihn fehr frank zu finden. 

Willtommen würde fie ihm nicht fein. Darüber 
begte fie feine thörichten Hoffnungen, und fie fürdhtete 





654 


fi vor dem Schmerz, der jie jo oft angeſichts dieſer 
falten Augen überfam, unter deren Blid ihr Gerz ih 
zufammentrümmte und die faft böfe wurden, wenn fie, 
felbft ohne es zu wollen, ihm zumwiderhandelte. 

Als fie aber die Straße erreichte, in ber er 
wohnte, ſank plöglic ihr Mut völlig zu Boden, 
Nein, fie wagte es nicht, zu ihm hinaufzugehen — 
nicht gleih! Sie wollte fi) damit begnügen, feine 
Aufwärterin aufzufuchen und diefelbe erft nach feinem 
Befinden zu fragen. Aber wo follte fie fie ſuchen? 
Sie wußte nicht einmal, wie fie hieß. (Er that jelbit 
mit den geringften Details feines Privatlebens fo 
geheimnisvoll. 

Es war ein großes, Fafernenartiges Haus mit 
ichmalen Treppen und Entreethüren zu drei und vier 
verjhiedenen Wohnungen in jeder Etage. Sie las 
die Namen. Bor jeder Thüre war ein Porzellan- 
ſchild und zwei big drei Vifitenfarten. Hoc oben 
im Haufe fand fie den Namen „Frau Peterſen“. Viel⸗ 
leicht war fie e8? 

Sie klingelte — flingelte wieder. Niemand lam. 
Sie ftieg noch höher hinauf. Da wohnte er. Sein 
Name jtand auf der Thüre. 

Alles Blut ftrömte ihr zum Herzen, und unmwill- 
fürlich fehrte fie um, um zu flüchten. Hatte er jie 
gehört? 

Bon drinnen war fein Laut zu vernehmen. Viel 
leiht war er gar nicht zu Haufe? Und abermals 
durchfuhr fie ein zorniger Schmerz, daß e8 jo wäre, 
wie fie e8 ſich gedacht hatte: er wollte niemand jehen 
— jelbjt fie nicht! 

Aber darüber wollte fie ins Mare fommen! 

Es war feine Glode da. So Hopfte fie. Keine 
Antwort. Er war aljo nicht da, ihm fehlte nichts, 
er war außgegangen! Der Zorn lief gleichfam mit 
ihr davon, es kochte in ihr. Hart, heftig klopfte fie 
nod) einmal, 

„Zum Donnerwetter — herein!” erflang es von 
drinnen fo heiſer und ärgerlich, daß fie darüber zu— 
fammenfuhr. Gott im Himmel, er war da! 

Dann drehte fie den Thürgriff herum, die Thür 
war nicht verſchloſſen, und ging hinein. 

Das Zimmer war groß und hell, mit einem brei= 
fachen enter der Thür gegenüber, Bücherregale 
längs der Wände, ein großer Arbeitstifch mit Neagenz= 
gläjern, Mikroſtop und aufgeichlagenen botanifchen 
Bildwerfen, alles in peinlichfter Ordnung. Er war 
nicht da. Aber die Thür zu einem andern Zimmer, 
jeiner Schlafftube, ftand offen, und dort lag oder 
richtiger ſaß er aufrecht im Bett und rang mit einem 
heftigen Huftenanfall, der durch fein Nufen ent« 
ftanden war. 

Als er fie erblidte, machte er eine ungeduldige, 
abwehrende Bewegung und wollte etwas jagen, aber 
es war ihm infolge des Huſtens unmöglich. 


Erna Juel-Hanſen. 


Sie war verwirrt an der Schlafzimmerthür ſiehen 
geblieben, von unſäglichem, ratloſem Mitleid ergriffen. 
Sie hatte Thränen in den Augen und leiſtete ihm 
in ihrem Herzen die demütigſte Abbitte wegen des 
Verdachtes, den fie gegen ihn gehegt hatte, 

Aber ihr Blick reizte ihn nur. Er war ärgerlich, 
verlegen, ſchämte jich, im Bett angetroffen zu werben, 
und empfand doc eine gewiſſe Rührung darüber, 
daß fie fam. Aber er liebte e8 nicht, frank gejehen 
zu werden, er verbarg ſich am liebjten, wie ein ver- 
wunbetes Tier, bis e& vorüber war. Und num dazu 
noch diefer verdammte Huften! 

Sein Aerger wuchs, und ala er endlich fühlte, 
wie ſich der Schleim löſte, winfte er ihr zornig, fait 
drohend, daß fie gehen follte — gehen! 

Aber das konnte fie nicht, gehen, ohne mit ihm 
gejprochen zu haben oder zu erfahren, was ihm fehlte! 
— das mußte ja ein Bruftleiden fein. Sie ſchlich 
fih von der Thüre fort und in der andern Stube 
zum Fenſter hin, wo er fie nicht fehen konnte. Und 
dort blieb fie, von Angft überwältigt, ftehen. Es 
fam ihr jo viel ſchlimmer vor, als fie geglaubt hatte. 

Bon dort, wo fie ſtand, konnte fie gerade das 
Fußende feines Bettes mit dem Stuhl daneben jehen, 
und auf demjelben eine henkelloſe Theetaffe, die zur 
Hälfte mit Haferfuppe gefüllt war. Um den Hals 
hatte er einen alten, graumwollenen Shawl, aber unten 
ftand das Hemd offen, fo daß die entblößte Bruft 
zu jehen war. Es war falt im Raume, und troß 
ber peinlichen Ordnung ſah es etwas rumpelfammer- 
artig aus, 

Endlich war der Huftenanfall vorbei. Sie ftand 
noch ein Weilhen und bedachte jich, biß feine Atem- 
züge ruhiger geworden waren. Ob er glaubte, daß 
fie gegangen wäre? Sie ging leife zur Thüre hin, 
Dort jtand fie eine Weile am Thürpfoflen und jah 
ihn an, ehe fie ſich näher wagte. 

Er lag ermattet infolge der Anftrengung, mit ges 
ihloffenen Augen, gegen das Kiffen zurüdgelehnt. 
Der Schweik jtand ihm auf der Stirn. Er ſah mit 
feinem unrafierten Gefiht und dem häßlichen grauen 
Halstuch nicht gut aus, Unwillkürlich map fie die 
Länge des Bettes. Seine Geftalt hatte etwas fait 
Riefenhaftes an ſich. 

Aber es rührte fie in beſonders inniger Weile, 
daß diefer große, fräftige Dann jo Hiljlos wie ein 
Kind dalag und der Pilege bedurfte. Unwillkürlich 
trat fie näher zu ihm bin, beugte jich über ihn und 
trodnete mit ihrem Taſchentuche die Schweißtropfen 
von feiner Stirn ab, 

Als fie ihn berührte, ſchlug er die Augen auf. 
Es lag eine jo zärtliche, liebevolle Frage in dem 
Blid, der dem jeinigen begegnete, daß jeine reije 
bare Ungeduld über die Störung entwafnet wurde. 
Aus Furcht, daß durchs Reden der Huften wieder 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


hervorgerufen werben lönnte, bildete er mit ben 
Lippen lautlos die Worte: „Erfältung — nicht reden 
— beſſet —“ 

Sie legte ihre Hand weich und behutſam auf die 
ſeinige und lächelte ihm mit naſſen Augen zu. 

„Ad, Gott ſei Lob — aber laß mich — nein, ſage 
nichts, antworte nur mit den Augen. Lab mid) bei 
dir bleiben — und — und dich pflegen. Hier ift 
niemand — und —* 

Er ſchüttelte unmillig den Kopf mit ſolch ab— 
weiſendem Ausdrud, daß fie es ſogleich beihämt umd 
erſchredt aufgab. 

„Haft du feinen Arzt?“ 

Er ſchlug verädhtlich mit der Hand aus, 

„Darf ich dir unfern ſchicken?“ Es lam mit 
furchtſamer Bitte. 

„Nein!“ erwiderte er verdrießlich. 

Es arbeitete wieder in feiner Bruft. Er entjog 
feine Hand der ihrigen mit heftigem Rud: 

„Sch — geh nun! Der verdammte Huften —“ 

Der Reſt ertrant in einem neuen Anfall. 

Dann war fie fort. Bon der Thür her warf 
fie ihm einen legten, betrübten Blid zu und wan— 
derte mit dem Weinen im Halje dur den tiefen 
Schnee und den eifigen Wind nad Haufe. 

Warum war fie nur jo dumm gewefen, dorthin 
zu gehen? Sie wußte ja — ad, fie wußte — 

Das that fie niemals wieder — nein, niemals! 

vu. 

An diefem Nachmittag wollte das Geſpräch zwiſchen 
ihr und Papa nicht recht in Gang kommen, obſchon 
fie ganz für fih allein waren. Mama war aus: 
gegangen. 

Sie fam ihm in letzter Zeit fo bleih und ver— 
fimmt vor. Er hatte ſchon lange darüber nach— 
gedacht, was mit ihr fein lönnte. Aber wenn er fie 
fragte, errötete fie jogleich und jagte, ihr wäre nichts, 
oder fie hätte Kopfihmerzen. Na, damit gab er ſich 
zufrieden. Er hatte in diefer Zeit jo viel andres im 
Kopf. Und nun, ba fie verlobt war — er mußte 
nicht, woher es fam, aber e8 war ihm gleichwohl ge= 
trade jo, als wenn fie ihn num weniger anginge, da 
fie fi für dieſen Menſchen intereffierte, den er nie= 
mals recht al3 zu ihnen gehörig zu betrachten vermochte. 

Dann fraßte er fi hinterm Ohr und gab ber 
Verlobung die Schuld. Junge Mädchen wurden 
immer bleichnäfig, wenn fie verlobt waren, und das 
war fein Wunder. Das Ganze war eigentlid) eine 
unmorafiiche Einrihtung. Obichen er von Marga- 
retend Verlobung eigentlich nicht jagen fonnte, daß 
fie fie in der Beziehung angreifen könnte. Er hatte 
fi im Gegenteil gewundert, da der junge Mann 
fo wenig... 

Aber heute ſah fie wirklich mijerabel aus und 
hatte offenbar geweint. 


655 


Er blieb vor ihr ftehen, neigte fi über fie und 
hob ihe Geficht mit dem Zeigefinger unter dem Kinn 
empor. a, wirklich, fie weint. Ein paar warme 
Thränen liefen über jeine Finger herab, 

„Was ift dir denn, Gretchen?“ fragte er weid. 

Und dann hing fie im nächſten Augenblid an 
feinem Halje und weinte und ſchluchzte, als wenn ihr 
das Herz brechen jollte, und ihr ganzer Körper zitterte, 

„Na — na — na — Gretchen, was giebt es 
denn? Was giebt es denn?“ 

Aber fie weinte unaufhörlich und drüdte ih nur 
fefter und heftiger an ihn. 

Er zog fie zu ſich in ben Lehnftuhl herab, nahm 
fie auf den Schoß und fragte dann, da das Weinen 
endlich ein wenig nachließ: 

„Handelt es fi um deinen Liebften, Margarete ?* 

Sie biß in einen Zipfel des Tafchentuches und 
nidte, indem fie wieder zu ſchluchzen begann. 

Er gedachte die Sache als Scherz zu behandeln, 
fniff fie in die Wange und fragte mit blinzelnden 
Augen: 

„Habt ihr euch ein bißchen gezankt?“ 

Sie ſchüttelte den Kopf, 

„Ra, was ift denn, Margarete ?* 

„Er — er — ift — frank,” ftammelte fie. 

„Gefährlich?“ fragte er plöhlich ernſt. 

„Nein — das wohl nit, — eine ftarle Er— 
fültung —* 

Er zog fie fcherzend und liebkoſend an einem 
Ohrläppden: „Na, Zipfel, wozu denn die Thränen ? 
Iſt e8 denn jo ſchlimm, ihn einige Tage zu ent« 
behren? Biſt du aber ein verwöhntes Kind!” 

Aber da brad) das Meinen abermals hervor; in 
einem Anfall wilden Schmerzes prefte fie fih an 
ihn und flüfterte ſchluchzend: „Ach, Papa, id) bin fo 
unglücklich — fo unglüdlich !“ j 

Das traf fein Herz, die Thränen traten ihm ins 
Auge, er Mopfte und ftreichelte fie: „Armes Meines 
Mäuschen !* 

Aber was gab's denn nur? Dod nicht efwa gar 
— das Blut ftieg ihm einen Augenblid zu Kopf — 
aber ein Blid auf ihr Geficht beruhigte ihn. Was 
Teufel war ihr denn aber? Sollte fie des Menfchen 
überbrüffig fein? Das würde ihn wirklich nicht in 
Eritaunen verjeßen — ober wollte er... 

„Liebft du ihn nicht mehr?" fragte er. 

„sa — ad) ja, ja!” kam es jo leidenſchaftlich 
innig, daß ein Zweifel nicht wohl entftehen konnte, 

„Dat er benn etwa..." 

„Ih — id weiß es nicht — denn — ad — 
Papa, — er ift jo hart gegen mi — und fo falt. 
Errührt mid) niemald an, und er — ja, er küßt 
mid faft niemals — und id) warte doch immer dar— 
auf. Ich glaube, daß er fi aus mir gar nichts 
macht — obſchon er bisweilen — ad, Papa, du 





656 Erna Juel-Hanjen. 


weißt nicht, wie jchredlich e8 ift, jo unglüclich in 
feinen eignen Liebften verliebt zu jein! Das ift ja 
geradezu lächerlich — wenn es nicht jo — nicht jo 
traurig wäre... .” 

Obſchon fie fih Mühe gab, ein wenig zu lächeln, 
und eigentlich) verlegen war, nachdem fie es gejagt 
hatte, Mangen ihre letzten Worte doch jo qualvoll 
und hoffnungslos. Und obwohl er aud lächeln 
mußte, begriff er fie doch und das, was fie litt, durch 
das Verwandte in ihrer Natur und feine Liebe zu ihr. 

Und indem er fie in feine Arme ſchloß, glühte 
ein faſt unbändiger Zorn in feiner Seele gegen 
diefen Menſchen auf — diejen Holzbod, der, weiß 
der Teufel wie, das Mädchen in ſich verliebt gemacht 
hatte und fie dann unglüdlich machte. Dann be= 
gann er ihr zuzureden, wollte fie zur Vernunft 
bringen und fie veranlaffen, die Verlobung aufzu- 
heben, da der augenblickliche Schmerz nicht jo ſchlimm 
wäre, wie ein ganzes unglüdliches Leben. Er wurbe 
ganz erregt — befam aber auf alle jeine Por 
ftellungen nur hartnädig die eine Antwort: „Papa 
— ih fann nicht — ich kann nicht! Ich fterbe, 
wenn — wenn“ — Wber ob er nicht auch glaubte, 
dab es anderd werden würde, wenn — wenn... .? 
Und fie fönnte ſich nicht von ihm trennen, nein, fie 
fönnte e8 nit. Papa mühte gut und lieb fein und 
nichts zu ihm jagen, und ihn auch nichts merken 
laffen — und ebenjowenig Mama! 

Nein, davor würde er ſich wohl hüten. Na, was 
war da weiter zu thun, al& fie zu tröften, fie zu 
ftreiheln, ihr nad) dem Munde zu reden, zu jagen, 
er glaubte wohl, daß es anders würde, wenn — 
wenn fie ſich verheirateten, Aber er gelobte jich doch, 
bei Gelegenheit mit ihm zu reden. Das Mädchen 
war wirklich in feinem Recht, und fie follte ihm nicht 
zu Grunde gerichtet werden. Sie jah beinahe aus, 
als wollte fie fi die Schwindſucht antrauern. 

„Sag mal, hat er nichts davon gejagt, wann ihr 
euch verheiraten könnt?" fragte er plößlich. 

„sa — fie glaubte, wenn er von Grönland 
zurücklehrte.“ 

„Hm!“ 
vorher zur Vernunft bringen. 
er bald reijen jollte. 

Dann berubigte er fie endlich und plauderte mit 
ihr von andern Dingen. Er rubte nicht eher, als 
bis er fie zum Lachen gebracht hatte, aber das Lachen 
hatte feinen rechten Klang. 

Als fie die Etatsrätin fommen hörten, ſputete ſich 
Margarete, ins Bett zu fommen, damit Mama nicht 
ihre verweinten Augen ſehen follte. Als jie ipm aber 
gute Nacht jagte und die Arme um feinen Hals 
ſchlang, legte fie ihre Wange an die jeinige und 
flüfterte: „Und dann, Papa, ſprechen wir niemals 
mehr — niemals mehr — von — von...“ 


Dann konnte man fie vielleicht noch 
Es war nur gut, daß 


Nun, da es gefchehen war, bereute ſie bitterlich, 
dab fie davon zu Papa geſprochen hatte, und kam 
fi jo ſeltſam entblößt und fremder Kontrolle preis 
gegeben vor. Ach, es war eigentlich jchredlich, verlobt 
zu fein! Hätte fie gewußt! — aber man wußte ja 
nichts — gar nichts. Das Leben war nicht jo, wie 
man glaubte und hoffte. Und wenn jelbit die Liebe 
nicht das Glüd brachte, was fonnte man dann nod 
erwarten?... 

VII. 

Henning Möllers Erkältung hielt lange an. Vier- 
zehn Tage ſpäter erhielt fie ein paar Zeilen von ihm, 
daf es ihm beffer ginge, daß er zum erften Male aus- 
gegangen wäre und fie bäte, mit ihm am nächften 
Tage zu gewöhnlicher Zeit und am befannten Ort zus 
fammenzutreffen. 

Als fie die Adreffe auf dem Couvert jah, flieg 
ihr plöplih das Blut in die Wangen empor, alle 
Pulſe ſchlugen, und eine jeltiame, ganz thörichte 
Freude durdhriefelte fie. 

Ad, wie lange es noch bis zum nächften Tage war! 

Obſchon fie beichlofien hatte, erit jo jpät von 
Haufe fortzugehen, daß fie genau zur beflimmten 
Zeit da war — denn es war jo unerträglich, auf der 
Straße zu warten — war fie doch jchon lange vor 
der Zeit auf dem Platze und ging mit der Uhr in 
der Hand auf und ab. Es war unglaublich, wie viel 
Schritte man in einer Minute gehen konnte. 

Sie durfte ſich nicht weit vom Platze entfernen 
— denn womöglich fam er inzwiichen! Aber übrigene 
wußte fie ja, daß er feine Minute zu früh noch zu 
jpät fam, jondern gerade auf den Glodenichlag. 

Sie war nahe daran, vor Ungeduld außer fich zu 
geraten, und trippelte mit feinen, ſtampfenden 
Schritten das fleine Stüd Wegs hin und her. „Ihn 
— ihn wiederſehen!“ jubelte es in ihr, und doch 
lag ihr ein folder Drud auf dem Herzen: Wie 
würde er heute ausjehen? Wie würde er fie em- 
pfangen? 

Der Frühlingsglanz der Märzionne, die fühle 
Friſche der Luft waren jo feftlich — es war gründlich 
fühl hie und da, wenn ein Sturmwind dabherfegte, 
jo daß fie ein Stüd laufen mußte, ob fie wollte oder 
nicht. Ad, es war ſchön, bier jo zu gehen, ſchön 
zu leben, fich zu jehnen und — ja — da fam er! 

Eie fühlte, wie das Blut fie heiß durchſtrömte 
und eine eigentümliche, bebende Mattigleit fie über- 
fam. Sie flog ihm entgegen, reichte ihm ihre Hand 
hin, blieb mit ſtrahlenden Augen vor ihm ſtehen und 
vermochte im erjten Augenblid vor Herzklopfen und 
Erregung nichts zu jagen. Auch über jein Geſicht 
zog ein vergnügtes Lächeln hin, indem er nidte und 
ihr die Hand reichte; und jein „Guten Tag, Mar- 
garete!” Hang jo warm, dab ihre Wangen babei 
glühend rot wurden. Aber dann fuhr ein Falter 


Die Geſchichte eines jungen Mäbdens, 


Windſtoß ſauſend über fie hin und drängte fie fo 
dit an ihn heran, gleihiam in eine halb unfrei= 
willige Umarmung hinein. Ihre Kleider und ihr 
Mantel widelten fi) um ihn. Sie lachte und blidte 
ihm ganz glüdlic ins Gefiht. Allein dieſes hatte 
plöglih den Ausdrud gewechſelt. 

Verdrießlih und gereizt rief er, indem er ſich 
losmachte und den Rod um den Hals zufammenzog: 
„Ih muß nach Defterbro — aber vielleicht willft du 
in entgegengejeßter Richtung? In dem Fall muß 
ich dir Lebewohl jagen. Ich bin frank gewefen — 
wie du dich vielleicht entfinnft* — dies wurde mit 
Nahdrud gejagt — „in diefem verwünfchten Zug 
fann ich nicht ftehen bleiben, ohne es wieder zu 
werden !“ 

Seine Worte jenkten ſich wie eißfalte Tropfen über 
fie herab — ach, wie weh das that! Ob fie fich dar— 
auf befann, daß er franf gewejen war! 

Sie gingen rajch zu, ganz ftumm. Ohne aufs 
zujehen fam fie halb widerftrebend mit. War es 
nicht beffer, adieu zu jagen und umgufehren? Am 
liebiten ging er gewiß allein. Aber warum hatte er 
dann an fie geichrieben — ja, warum? 

Da bededte eine kalte, graue Wolte die Sonne, 
und feine Hagellörner jprühten herab, die der Wind 
ihnen entgegentrieb. 

„Ein jchauderhaftes Wetter!* brummte er und 
huftete, 

Sie jah ihn in plötzlichem Schred an. Ad, er 
hatte ja recht. Er war nod nicht gejund, er war 
bleich — und das Geſicht magerer. Es rührte fie, 
als fie das jah. 

Es war wirklich unverantwortlich, unbejonnen von 
ihr, da ftehen zu bleiben. Sie wollte es ihm jagen, 
ihn um Verzeihung bitten, ie fam ſich fo demütig 
Ihuldig vor. Aber es war jo ſchwer, das erfte Wort 
zu finden. Sie fam ihm ein wenig näher, jah nicht 
auf, aber ſteckte verftohlen ihre Hand in die feinige 
und drüdte fie leife an fih. Er lieh ihr feine Hand. 

„Die nett es ift, dich wiederzuſehen!“ fagte fie 
baldlaut und blidte mit warmen, feuchten, frohen 
Augen zu ihm auf, Er nidte ihr verjöhnt zu: 

„sa, es ift wirflih angenehm, wieder auf den 
Beinen zu fein.” 

Sie ging fo dicht neben ihm, daß ihre Mange faft 
feinen Arm berührte, wenn fie hie und da den Kopf 
auf die Seite legte. Unwillkürlich jeufzte fie. 

„Wie jchön e8 ift, wieder mit dir zu gehen! — 
ah, das war für mich eine ſchreckliche Zeit, lannſt 
du mir glauben! Es ift mir wirklich ſchmerzlich ges 
weien, ala ich dich jo krank ſah — und ich dir gar 
nicht helfen konnte ...“ 

Abermals fuhr über fein Gefiht ein büfterer 
Schatten bin : 

„Reden wir nicht von meiner Krankheit. 

Mus fremden Zungen. 1891. IL 14, 


Ich 


657 


vertrage fein Bedauern — und, apropos, für ein 
andermal, ich liebe feine unerwarteten Beſuche, na= 
mentlich nicht, wenn ich bettlägerig bin, und aufer« 
dem —- ja, mißverftehe mich nur nicht, wie du es 
jo gern thuft, aber ich halte e3 für richtig, es dir zu 
jagen. Wir haben jchon früher davon geſprochen. 
Eine junge Dame muß in der Beziehung äußerft 
vorfichtig fein — die Leute aus dem Haufe — dein 
Beiuh bei mir — fo lieb er mir natürlich jein 
würde — könnte leicht mißdeutet werden...“ 

Sie ließ plöglich feine Hand los. Sie war 
zornig, verleßt, verwundet, gebraudjte bei fi im 
ftillen harte Worte gegen ihn, jagte, er wäre lieblos, 
böje, abjcheulih. Sie könnte ihn gar nicht mehr 
leiden, fie hätte Luft, jet gleich ihres Weges zu 
gehen und ihn gar nicht mehr wiederzujehen. 

Aber warum that fie es denn nicht? Nein, fie 
fonnte nicht, Und es peinigte und ärgerte fie, daß 
fie ihm gegemüber nicht fonnte, was fie wollte — 
nicht einmal ihrem Zorn und ihrem Schmerz redit 
Luft machen — allen andern gegenüber konnte fie es, 
aber nicht ihm gegenüber, Es war etwas an ihm, 
was ihren Zorn niederzwang, jo daß fie vor einem 
böfen Worte aus jeinem Munde verfiummte — nur 
leiden konnte fie — weil fie glaubte, wußte, daß er 
ſich nicht jo viel auß ihr machte, wie fie aus ihm, und 
weil ſie jih von ihm doc nicht losreiken konnte, 
denn — was dann? Gott im Himmel, was dann ? 

An was er wohl dachte, während er da jo da- 
binichritt und ausjah — ausjah, als hätte er fie ver- 
geſſen, ala wäre fie gar nicht mehr da? 

Sie gudte ihn von der Seite an — und war 
ganz betroffen über das, was fie jah. Es war, als 
ſähe fie ihn plöglich in ganz neuem Lichte. Er war 
ja gar nicht mehr hübſch. Etwas Schweres, Träges, 
faft Schläfriges Tag in ben großen Linien dieſes 
Gefichtes, zu dem fie bisher niemals ohne herzens- 
innige Bewunderung aufgeblidt hatte, Und fie jah 
genauer hin und unterfuchte fritiich und aufmerkſam 
jeden Zug. Seine Naje war an der Wurzel zu did, 
der Mund zu ſchmal — fie jah e8 von unten, troß 
des Bartes — faft ohne Lippen, und dann hing er 
jo mürriid) an den Mundwinkeln herab, 

Sonft war ihr fein Lächeln melancholiſch er- 
ſchienen. Aber nein, das war feine Melancholie, das 
war — und plößlich hatte fie ein Gefühl, ala würde 
fie von ihm fortgerüdt, jähe ihn als Fremden, der 
fie nicht8 anging, und den fie demgemäß beurteilte. 

Unwillkürlich trat fie ein wenig von ihm zurück. 
Indem fie vor einer Pfübe auf dem Wege ausbog, 
tam fie ganz auf die andre Seite des Promenaden- 
weges hinüber. Es fam ihre zum Bewußtiein, daß 
fie ſich langweilte, und fie ertappte fi über dem 
Wunſche, daß fie Defterbro jchon erreicht hätten und 
fie nach Haufe gehen fönnte, 

83 





658 


Da fragte er plößlih — es Hang ihr, al wenn 
es aus weiter Ferne herfäme: 

„Giebt es nichts Neues? Ich habe in der ganzen 
Zeit weder Zeitungen gejehen noch etwas gehört.“ 

„Nichts Befonderes.“ 

Sie erzählte kurz die Meinen Begebenheiten des 
öffentlichen und privaten Lebens, die fih während 
feiner Krankheit ereignet hatten. Er nüpfte hie und 
da eine Bemerkung daran, fo dab es zu einer Art 
Geſpräch wurde, 

Sie erreichten das Ende der Allee. 

Er hatte fie einige Male forjchend angeblidt. Es 
lag etwas ihm fremdes in ihrem Ton — derjelbe 
Hang jo gleichgültig. Er wußte gut, daf er fie vor 
bin verlegt hatte, und fannte die Wirkung, bie es 
auf fie hatte, und daf fie ihrem Zorn nicht Luft zu 
maden wagte. Und dieje feine Macht über fie be= 
reitete ihm ein gewiljes Behagen. Ihr „Maulen”, wie 
er es nannte, pflegte niemals lange anzuhalten und 
ſchlug immer in die eine oder andre demütige, liebe— 
volle Annäherung um, die gleihjam um Verzeihung 
bat. Aber heute — hm! 

Ich muß nod) ein Stüdhen laufen. Ich will auf 
den Strandweg hinaus — du mußt wohl nad) Haufe?” 

Es lag in den Worten eine Art Bitte verborgen, 
das merkte ſie wohl. 

„Ja—a, id; müßte eigentlich," kam es leichthin, 
mit kühler Sicherheit. Da war es wieder. Der 
Ton war ihm neu. 

Ihre Blide begegneten fih. Auch ihre Augen 
ſahen anders aus, Sie pflegten ihn jonft mit ihrem 
jchnell wechſelnden Ausdrud — da fie bisweilen von 
zurüdgehaltenen Thränen verfchleiert, bisweilen mit 
büfterer Glut erfüllt waren, auf die er feine Antwort 
hatte — zu genieren, da immer etwas wie ein ber= 
borgener Vorwurf darin lag. Nun war nichts davon 
da — ruhig und ſtumm blidten fie in die feinigen 
hinein. . Ihre ganze Geftalt erjchien plößlich gleich— 
jam neu in einer gewiffen fühlen, vornehmen Anz 
mut, die ihn beſonders anzog. Zum erjtenmal, jeit 
er fie fannte, merkte er bei ihr einen Widerjtand, 
etwas, das überwunden werden mußte. 
fperte ſich: 

„Du — du jollteft wenigfteng bis Vibenshus mit« 
fommen. Es ift dir auch gut, ein Stüd zu gehen. 
Du fannft ja mit der Pferdebahn nach Haufe fahren.“ 

Am Tiebften hätte fie nein gejagt. Sie hatte 
feine Luft dazu. Sie antwortete nicht, aber fie ging 
jögernd ein paar Schritte nad Oefterbro mit. 

„Willſt — willſt du nicht mich unterfaffen ?* 

Sie jah ihn erftaunt an. Er hatte ihr früher 
lange Vorträge darüber gehalten, wie unbequem und 
unfrei e8 wäre, jo Arm in Arm zu gehen. Sie 
fönnten ja doch nicht Schritt halten. Aber daran 
ſchien er ſich nicht zu erinnern, Er war plößlich 


Er räus | 


Era JuelsHanjen. 


mitteilfam geworden. Er ſprach von jeiner Reife 
nad) Grönland, dad Schiff ginge in drei bis vier 
Wochen ab. Er jhilderte die Natur dort oben, die 
Pflanzen, und dann erzählte er von feinem Aufent- 
halt in London hinterher, wo er die botaniſchen 
Sammlungen befuchen wollte, und daß er mindeftens 
acht bis zehn Wochen darauf verwenden müßte. 
Dann würde er gemäß den gewonnenen Rejultaten 
feine Preisaufgabe fertig machen. Er würde aljo 
faft ein Jahr fortbleiben. Er wunderte ſich, was 
aus ihrem Schmerz geworben war, mit dem fie ihn 
früher von diefer Reife hatte reden hören — umd 
nun wurde die Trennung doch eine jo viel längere, 
als fie vermutet hatte — und wenn er dann heim— 
fehrte — es durdhzudte fie faft wie ein Schred, was 
dann gejchehen jollte, 

Es war nur gut, daß er jo viel ſprach, denn fie 
hatte jo wenig zu antworten, aber er jdhien es nicht 
zu merlen. Denn alß er ihr bei Vibenshus in die 
Pferdebahn half, drüdte er mit ungewöhnlider 
Wärme ihre Hand und ſagte ſichtlich aufgeheitert und 
eifrig: 

„Ich beſuche dich morgen — jeid ihr zu Haufe?“ 

„Ja.“ 

„Dann komme id zum Mittag.“ 

Es war das erfte Mal, daß er fich bei ihmen jo 
ohne weiteres zu Gaft lud. Aber darüber dachte 
fie gar nicht nad), fondern antwortete nur mit er- 
jwungenem Lächeln: „Ja, thue das!“ 

Schlaff und müde fam fie nad Haufe und bünkte 
fi doch wie befreit — von was? Danach fragte 
fie nicht, ihr war nur alles jo zumiber, fo zuwider, 
das ganze Dafein und fie fich jelbft, fie mochte weder 
denken noch träumen, fanf aber auf dem Sofa in 
Papas Zimmer in Schlaf. 

Sie wäre mit Möller jo weit gegangen, ſagte 
fie in entſchuldigendem Tone zu Papa, und er läme 
morgen. 

„Na, dann bift du wohl wieder froh?” fragte er 
und kniff fie in die Wange. 

| „Ja — id bin froh —“ erwiberte fie und hatte 
bereit8 die Augen geſchloſſen. 





Drittes Bud. | 
I. 

Möller war abgereift. Ihr jhien, als wäre es 
bereit3 Tange her. Wie ein ſchwerer, trüber Regentag 
lag die Erinnerung an ihn über ihr und bedrüdte 
ihre Seele. Ihre Gedanken waren nicht oft bei ihm. 

Nun hatte fie andres zu thun. 

Da hatte fie nun den ganzen Winter gefejlen 
und im Winkel gehodt, weil er feine neuen Befannt- 
haften anfnüpfen wollte und fi nur mit Gewalt 
in die intimften Familienkreiſe jchleppen lieh. Auch 


— — 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


659 


nicht zu einem Ball oder einer ordentlichen Gefelle | zu ſchwärmen und verſchwendete an fie eine Be— 


ſchaft mit jungen Leuten wollte er mit. Daher blieb 
aud) fie zu Haufe. 

Aber jet nicht mehr! Es waren nod einige 
Moden der Saifon übrig, und während dieſer eilte 
fie von Ball zu Ball und Geſellſchaft zu Geſellſchaft, 
troß der Protefte Mamas. Diele fand e8 ſchrecklich 
unpaffend, daß ein verlobtes Mädchen nicht zu Haufe 
fähe, wenn der Bräutigam fort wäre. Aber Papa 
lachte nur über dad Geſchwäh: „Lab das Kind ſich 
doch amüfieren, jolange es kann — man ift ja nur 
einmal jung!” 

Und Margarete amüfierte ſich ober erlangte 
wenigftens, was fie ſuchte, daß ihre Seele von Un— 
ruhe erfüllt würde. Es war wieder ein heißes Be— 
dürfnis nach Erregung über fie gelommen, danach, 
dort zu fein, wo es Lärm, Licht und viele Menſchen 
gab. Sie griff nad) allem möglichen, ſelbſt wenn fie 
bisweilen fich ein wenig ermübdet fühlte, wenn fie 
nur nicht in ihrer Wohnftube daheim war. Selbft 
die Plauderftunden mit Papa verlodten fie nicht mehr. 

Wenn fie nur in einen Balljaal oder zu einer 
Mittagsgefellichaft der Jugend hineinfam, war fie 
fogleih wie ein andrer Menſch, oder richtiger, fie 
fand fich ſelbſt, ihr eignes, richtiges Selbft von den 
Bällen und Gefellihaften in den „alten Tagen” 
wieder, wie fie es bereitö nannte, obſchon nur ein 
Jahr dazwifchen lag, Denn diejes Jahr — ad, 
biäweilen glaubte fie, fie wäre ſchon ganz alt und 
häßlich — aber nun erfuhr fie etwas andred. So 
war fie noch niemals gefeiert worden! Es war da%- 
ielbe befebende, erregende Spiel mit Courſchneiden 
und Flirtation — e8 machte nicht das Geringfle, 
daß fie verlobt war, jo viel merkte fie wohl — und 
fie wurde dreiſter, ihrer jelbit mehr ſicher, nachdem 
ihr far geworben war, daß Männer jelten in ihre 
Nähe kamen, ohne fi ein bifchen die Flügel zu 
verbrennen. 

Das bereitete ihr Vergnügen, jolange es dauerte 
— aber hernach, ad) ja, hernach war e8 leer wie 
immer und ebenjo langweilig. 

Aber dann geihah etwas, was für einige Zeit 
ihre Stimmung verbeſſerte. 

Ihre Freundin Ludovbika verheiratete ſich mit 
einem nicht mehr jungen, aber jehr reichen und hohen 
Diplomaten bei einer ausländifchen Gefandtihaft in 
Kopenhagen. 

Sobald das Paar von der Hochzeitsreife zurüd- 
fehrte, noch im Anfang des Frühjahrs, juchte Lubo- 
vila Margarete auf und zog fie fogleih in eine 
wahre Flut des Gejellichaftslebens hinein, Sie 
waren täglih beiſammen. Margarete hatte Ludo— 
vifa niemals fo gern gehabt wie jebt. Sie hatten 
fich feit Margaretens Verlobung nicht mehr ordent- 
lich geiehen. Aber num begann fie förmlich für fie 


wunderung und Anbetung, welche — obſchon fie zum 
großen Teil erlünftelt war — doc ein wenig ihre 
innere Deere ausfüllte. 

Unter der Dede einer gebildeten Sprache und 
abgeichliffener Formen herrjchte in Frau Ludovilas 
Haus ein ziemlich freier Ton. Margarete fühlte 
fih dort in ihrem richtigen Element und machte 
ſtehenden Fußes in dem etwas blafierten Kreiſe der 
jungen Männer der Hautevolde, die fie „verteufelt 
niedlich, aber fofett wie einen Satan“ fanden, Er— 
oberungen, 

Es herrichte dort eine eigne Atmoiphäre. Die 
fpäte Liebe des älteren Mannes für das junge, ko— 
fette Weib, das er jeden Tag, ja fait jeden Augen— 
blid fürchten mußte zu verlieren, das er gleihfam er— 
obern mußte, und das ji jcheinbar erobern lieh, 
erfüllte dad Haus wie mit verborgenem Feuer und 
machte die Atmofphäre gleichſam eleftriih. Selbſt 
bie Satteften unter den Gäften wurden davon erfaßt, 
und mit Ausnahme einiger Freunde aus feiner 
Yunggejellenzeit verfammelten ſich meift junge Leute 
in dem eleganten Haufe, das nad neueftem Parifer 
Geſchmack möbliert war: warın und weich, mit Dra— 
perien an den Wänden und um die Thüren, mit 
einer Weberfülle von Möbeln in matten Farben, 
einer Unmenge Blumen, großen Pflanzen, und mit 
franzöfifchen Kunſtwerken der Plaftif wie der Malerei, 
ſowie einer Unmaffe loftbarer , fremdartiger Nipps 
laden. 

Anfangs Hatte fie nicht begreifen können, daß 
Ludovika fid) mit einem alten Manne verheiraten 
fonnte, Er war freilich fein und ftatilich anzufehen, 
fogar hübſch — oder war es geweſen. Aber er war 
boch ziemlich dünnhaarig, hatte einen allzu großen 
Bart, viele Runzeln und — was das Schlimmite 
war — ihm fehlten Zähne. 

Aber ala jie fie innerhalb ihrer vier Wände bei— 
ſammen ſah, begriff fie e& cher. Denn er war fo 
verliebt in feine Frau, daß es fi lohnte. Ihr 
fonnte ganz heiß; werden, wenn fie ſah, wie er Ludo— 
vifa liebloite. Ja, er war verliebt, 

Und das erzählte Ludovikla auch, wenn fie am 
Vormittag beifammen jaßen und plauberten, während 
der Gatte aus war; und fie gab ihr mit offenherziger 
Vertraulichkeit Beiipiele davon, wie fie geliebt wurde, 
oft fo intimer Natur, daß fie fich biaweilen unter« 
brach, da ihr einfiel, daß Margarete ja nur verlobt 
war — aber ad) was, fie jollte ſich ja bald ver— 
heiraten, und dann erfuhr fie ja doch alles. Und 
Margarete ſaugte diefe Mitteilungen in ſich ein, 
zwar mit geheimer Scheu und leichter Scham, aber 
wie ein fühes Gift, das im Blut blieb und nebelhafte, 
Iodende Geftalten in einem verzauberten Sande ſchuf. 

Tann fonnten die Gedanken, die heiß und durftig 











660 


waren infolge bes nie geflillten Sehnens, zu ibrem 
Bräutigam zurüdtehren. Aber nun träumte fie fich 
nicht mehr in liebesheiße Situationen mit ihm bin- 
ein; fie führte in ihren Gedanken nur ftürmijche 
Scenen auf, in denen all ihr verborgener Schmerz 
und Zorn in ſchwulſtigen Erllärungen zu Worte 
fam, daß er fie für das ganze Leben unglüdlich ge» 
macht hätte, daß er kalt und herjlos wäre und ihre 
Liebe niemals verftanden hätte, Und fie wußte nicht 
oder wollte es nicht willen, daß dieje Liebe tot und 
erlojchen war, als wenn fie niemals erifliert hätte, 
Eie fragte ſich nur wieder und wieder jelbft in qual« 
vollem Serzeleid, ob fie denn niemals das Leben 
genießen jollte.. .? 


Aber dann plößlic wurde alles anders. Auf 
einem Ball bei Ludovila, gerade auf dem, mit wel- 
chem die Saifon ſchließen follte, traf fie Otto ſtrog 
wieder, Chrijtians freund, den „Straßenjänger” vom 
Mastenball vor drei Jahren. Und obſchon fie die 
ganze Zeit einander nicht gejehen hatten, wurben fie 
doch beide wie von einem Rauſch des Entzüdens 
über dies Wiederjehen ergriffen. 

Er hatte in jener Nacht, da er fie zum erftenmal 
fah, ſich im fie mit der plößlichen Leidenſchaft einer 
ftillen, träumerifchen Natur verliebt. Etwas von 
diefer Verliebtheit jah ihm noch im Blut und glühte 
wieder empor, als er fie ſah, wie eine Flamme, bie 
neue Nahrung befommt, Damals, nad) dem Tode 
des Vetter, hatte er fie überall gefucht — aber fie 
war und blieb verſchwunden. Dann hatte er unter 
dem Nachlaß des Freundes die Heine Skizze von ihr, 
„Revelation“, gefunden, fie gefauft und ſich niemals 
recht von dem Zauber losreißen lönnen, den jie 
in ihm erregte, und Hatte ſich in fie Zug für Zug 
vertieft — es lag für ihn etwas beinahe dämoniſch 
Lodendes in dem Bilde, das fo einfach und doch fo 
bezaubernd Iebensvoll gemacht war. 

Und nun fand er alles bei ihr wieder: bieje 
wunderlich ſuchenden, lodenden Augen, halb ver- 
fchleiert von langen Wimpern, Augen, die zugleich 
die bes Meibes und bie des Kindes waren, gleichſam 
taubenegt von ber erſten Ahnung der Liebe, den 
Heinen, gejchweiften, Teichtgeöffneten Mund mit dem 
verlodenden Lächeln, das eine eigne, unbewuht 
finnlihe Anmut hatte. Es war, als fönnte man 
ben Seufzer hören, der ſich in neugierig träumender 
Sehnfucht hervorſchlich. Die ganze Geftalt, die erft 
halb entfaltet war, erſchien lodend durch die Ver 
beißungen deifen, was fie werden wollte und was fie 
geworben war — ja, denn wie hübſch war fie erft 
jebt! Mehr Weib, weniger Rind, verführerifch, be 
zaubernd ſchön! Bis auf die Tracht war fie leib- 
baftig das Bild. Die Seide ſchmiegte ſich fo eng 
und dicht um fie, daß es war, als wenn nur ein 


Erna IJuel-Hanfen. 


fließendes Gewebe von Rofenrot das Auge von all 
diefer frifchen Jugendfülle trennte, es harmonierte in 
Ton und Farbe mit dem feinen Schimmer der Haut 
wie von Apfelblüten über den entblößten Hals, die 
runden Schultern und bie vollen, Shöngeformten Arme, 

Das entzüdte Erflaunen in feinem Blid, als 
Ludovila fie einander vorftellte: „Herr Krog, Fräw 
lein Holm,“ drang ihr warm und verwirrend bis in 
das Herz hinein, 

Ob fie ihn wiedererfenne, fragte er. 

O ja, fie erfannte — feine Augen, hätte fie bei« 
nahe gejagt. 

Es durchfuhr ihn wie ein eleftrifcher Schlag, als 
er das Lächeln, diefes Lächeln um ihre Mundwinlel 
beben ſah. Unwilllürlich drüdte er die Hand, bie 
fie ihm entgegengeftredt hatte, und erhielt einen 
leichten, zögernden Gegendbrud. Ihre Augen trafen 
fih, aber bie ihren wichen der dunkeln Glut in jeinen 
Augen aus, die ihr das Blut in die Wangen trieb. 

Ludovikla jah äußerſt erftaunt von einem zum 
andern, dann lachte fie: „Ab, alte Bekannte!“ fagte 
fie, „davon haft du mir ja niemals etwas erzählt, 
du Galgenftrid — !” 

Dann wollten fie beide gleichzeitig erflären, aber 
es fam mur zu einigen verwirrten Worten von 
einem Mastenball und einer Naht und Chriſtian — 
„mein Vetter, du weißt dod — und —“ und dann 
endigte es mit einem luftigen Lachen, denn Ludovila 
verftand nicht einen Mud; fie hatte niemals von 
einem Better gehört. 

„Das muß dor meiner Zeit gewejen fein,“ jagte 
fie zu Margarete und drohte ihr jchelmijc mit dem 
Finger. 

Margarete wurde glübend rot, und ein eigner, 
fingender Laut fag in dem Lachen. 

„Na, aljo — vergnügte Fortſetzung der Freund» 
ſchaft!“ jagte Ludovika und nidte ihnen zu, indem 
fie fih abwanbte, um andre Gäſte zu empfangen. 

Oho! dachte fie, das wäre wohl ber rechte — 
aber was in aller Welt will fie benn mit dem andern? 
Sie joll mir morgen ordentlidy Rede ftehen! 

Die beiden jeßten ſich in eine Ede und fanden 
ſogleich den Ton von alten Belannten. Sie hatten 
von fo vielem zu reden, fie wurden nicht fertig, aber 
immer famen fie auf die Freude zurüd, daß fie ſich 
wiedergejehen hatten — „und dann, daß e& gerade 
heute abend war!“ jagte er. 

„Warum gerade heute abend — iſt ber Tag be» 
fonders merfwürdig?” fragte fie. 

Ya, mit ihm hätte ein ganz neues Daſein and 
in andrer Beziehung für ihn begonnen. Er wurde 
rot, als er dies fagte; fie jah es, und dann durd- 
fuhr es fie glühend heiß, was in den Morten lag. 
auch in andrer Beziehung. 

„Was denn — ad, erzählen Sie, wollen Sie?* 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


fagte fie flehend und wagte nicht, den Blid zu er— 
heben. Sie fühlte nur durch ihre Augenlider, wie 
er fie anblidte. Gott im Himmel — war e8 denkbar, 
dab — daß —? 

Und dann erzählte er, im Anfang etwas kurz 
und wortfarg, nur weil fie fragte, aber fpäter hin⸗ 
gerifjen von der faft exaltierten Stimmung, in ber 
er ih gerade an diefem Abend befand. 

Bis zu diefem Tage hätte er nur das flagnierende 
Leben eines armen, noch unbeadhteten Künſtlers ge— 
lebt, ohne Ausſichten, unter Entbehrungen — bis- 
weilen in Not — faſt ohne Hoffnung — nicht eine 
gewonnene Schladht in all diefen Jahren — zuleßt 
faft ohne Glauben an fein Talent. 

Und dieſes Leben im Dunkel hatte ihn zu er- 
ftiden gedroht, hatte ihm feinen Mut, feine Bes 
geifterung geraubt; aber dann, ala es am aller- 
ihlimmften ftand, hatte er, er wußte nicht wie oder 
warum, fich zu einem großen Werke gefammelt, alles 
auf eine Karte gejegt, wie ein Wahnfinniger ge 
arbeitet, fich faft alles verjagt — nur gemalt, gemalt 
som Morgengrauen, bis das letzte bischen Licht des 
falten, elenden Himmels hier im Norden erlojchen 
war — gehofft, geglaubt, gezweifelt — meift gezwei⸗ 
felt — und dann war es geglüdt über alle Erwar« 
tung. Das Bild war fertig geworden, ausgeftellt — 
nur einen einzigen Tag — und dann war e& ihm 
ergangen, jagte er ſcherzend, wie Byron, ber eines 
Tages erwachte und ein berühmter Mann war — 
das gefhah geflern; heute früh war das Bild von 
Ludovikas Mann gelauft und hing nun drinnen in 
dem großen Salon — ob fie es ſchon gejehen hätte? 

Sie nidte. „Ja, 0, das ift von Ihnen — das 
ſchöne neue Bild?” 

Ja — es wäre von ihm. Er jelbft hätte den 
Pak ausgewählt und es aufgehängt, und biefem 
Umftande hätte er wohl auch die Einladung für 
heut abend zu verbanten gehabt. Und nun fegnete 
er fein Schidjal, daß er fie angenommen hätte und 
nicht gleich abgereift wäre, wie er am liebften gewollt 
hätte, denn das war e8 ja, wofür er gearbeitet hatte, Er 
mußte von bier fort, um etwas zu werden, ben Heimat» 
faub abfchütteln, hinaus in lichtere Luft, zu reicherem 
Leben, feine Seele mit dem wahrhaft Großen in ber 
Kunft und Natur erfüllen. Bei dem bloßen Ge- 
danfen daran fühlte er in fih neue Kräfte ſprießen, 
den Glauben an ſich und an das, was er erreichen 
lönnte — 

Er hatte wie im Traume vor fi) hingeblidt; 
fein Antlik leuchtete. Das plötzliche Glück, die reiche 
Umgebung, die Mufit, der Wirbel der Tanzenden — 
alles wirkte magisch auf ihn, ala ſtände er mitten 
im Märchen und braudte nur zu wünjhen, bann 
wäre alles da, wovon er geträumt, worauf er ger 
hofft, wonad er ſich gefehnt hatte, gleich ihr, dieſem 


661 


jungen Weibe, das in feiner Phantafie gelebt hatte, 
jeit jenem Mastenball, und das ihn jeßt wieder ge= 
fangen nahm. 

Margarete war ganz flumm und verjagt ge» 
worden. Kerrgott, er jollte fort?! Dann wurde ja 
nichts daraus, wie aus allem andern — es war, als 
fäh’ fie etwas verfinfen, in weiter Ferne verfinfen, 
und es preite ihr jo ſeltſam das Herz zufammen. 

Sie war nahe daran, in Thränen auszubrechen, 
und ſchloß die Augen. „Sie wollen fort?” fragte 
fie, ihre Stimme zitterte ein wenig. 

„Würden Sie — würden Sie — o, das ift ja 
unmöglich! ftammelte er, tief über fie geneigt, und 
verjuchte, ihr in die Augen zu fehen. Sie leuchteten 
auf, fie lächelte ſchwach und wurde ein wenig gerührt: 

„Wollen wir tanzen? — wir find gewiß an der 
Reihe,“ ſagte fie flüfternd und ſchmiegte fich in feinen 
Arm. 

Es war, ald wenn die Luft plößlich um ihn heik 
würde, das Blut jagte ihm in Strömen zum Kopf, 
er drüdte fie feſt an fi, und fie glitten zwiſchen die 
andern hinein. 

Und dann war es allmählich, ala wöbe dag Damals 
und das Jetzt fich ineinander, nur war es nicht Chri- 
ſtian, fondern er, den fie auch damals geliebt hatte. 
Daß fie das jo lange vergejien hatte — 0, e3 war 
ja nicht vergeffen — es lebte, es war in ihr — alles 
— nur taufendmal heißer, füßer — aud in ihm. 
Sie fühlte die Wärme Hinter feinen Worten; die in- 
folge der Erregung ein wenig verſchleierte Stimme 
fieß fie jo tief, jo bedeutungsvoll erfcheinen — oder 
waren es die Augen, von denen e8 herrührte, dieſe 
„Hirihaugen“, die fie nicht losließen und fie gleich 
ſam an ſich faugten, jo daß fie ihnen nicht ent« 
ſchlüpfen fonnte — nein, nicht Tonnte ? 

Der Ball rings um fie her nahm feinen Verlauf, 
ohne daß fie darauf achteten. Sie waren nur für 
einander da. Er that feine Pflicht als tanzender 
Kavalier, aber die Damen, die ihn ſogleich reizend 
gefunden hatten, meinten zu einander, die Augen 
täuſchten — er wäre geradezu langweilig und machte 
dem Fräulein Holm allzu offenbar die Cour. Und 
dann ziſchelten fie über Margarete, wenn fie in den 
Tanzpauſen die Köpfe zufammenftedten. Die Männer 
wären zu dumm, jagten fie; was denn eigentlich an 
ihr zu jehen wäre — mit ber Nafe, und den jchiefen 
Augen, und biejer gejhnürten Taille? Aber die 
Herren fanden fie, wie gewöhnlich, bezaubernd, fie 
hatte Chic, verftand fich zu benehmen, fprudelte von 
Leben, und es rubte heute abend gleihjam eine neue 
verführerifche, Todernde Anmut über ihr — im Kotillon 
ftritten fie ſich förmlich um fie. Sie flog von Arm 
zu Arm, aber hernach hatte fie feine Ahnung, mit 
wen fie getanzt hatte. 

Es waren Meine Tiſche in dem großen, halbrunden 








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Speiſeſaal gedelt. ſtrog hatte Frau Ludovila zu 
Tiſch geführt. Margaretens Herr war ein junger 
Altaché, der ganz vernarrt in fie war — fie ſaßen 
zu vier an einem Tiſch, aber er wußte ſich nicht 
ordentlich auszudrücken, und ihm fiel nichts weiter 
ein, als daß er ihr jeden Augenblid ins Ohr flüfterte, 
fie wäre bezaubernd ſchön und könnte einen Mann 
mit ihren Augen ganz verrüdt machen — und dann 
wäre fie graufam — o, fo graufam! Es war nicht 
möglich, ihn zum Schweigen zu bringen! Sie war 
mutwillig in ihrem überftrömenden Glüd, und jchließ- 
lich band fie ihm die Serviette um ben Mund. Der 
Lärm von all den lachenden Menſchen ſchwirrte 
ringsum im Saal, überall firahlten Augen und 
glühten Wangen, aber nirgends war das Laden 
Iuftiger, die Stimmung lebhafter als an ihrem Tiſch. 

Als der Champagner fam, erhob Lubovifa ihr 
Glas gegen dad Margaretens, blinzelte ihr ſchelmiſch 
zu und rief: 

„Du, vive la libertö!“ 

Margarete begriff, wurde fehr rot, hielt das Glas 
in die Höhe, warf den Kopf trohig zurüd und ant« 
wortete triumphierend: „Ja — vive la liberte!* 
und feßte den Mund ans Glas. 

„Et l’amour!* tönte es in weichem Flüftern von 
der andern Seite in ihr Ohr. 

Sie wandte ſich nad) ihm um, ihre Blicke ruhten 
ineinander, wieder war e8, als jollte fie weinen, faft 
ſchmerzhaft ftark ſchlug ihr Herz: „Et l’amour!* 
wiederholte fie nur mit einer Beivegung der Lippen, bie 
er jah, ohne zu hören —dann ſchloß fie die Augen 
wie im Schwindel und tranf das Glas aus. Ihr 
war e8, als gäbe fie in diefem Augenblide ſich ihm 
hin und wäre fich deſſen bewußt. 

Und ihr war e8, wenn er nur ihre Hand ergriff 
oder den Arm um fie legte, wenn fie tanzten, als 
jollte fie ohnmächtig werden vor Glüd. Er war nur 
ein wenig größer al& fie, jo dab ihr Geficht dem 
feinigen ganz nahe war — und diefe Nähe war ein 
neues Glüd — einmal fühlte fie jeine Lippen ihr 
Haar ftreifen wie einen Kuß — er fühlte fie dabei 
erbeben und preßte fie feſter an ſich. Ad Gott, wie 
fie ſich gejehnt hatte, fich gejehnt nad) dem, was nun 
gefommen war — war es gefommen? Sie blidte 
auf — und las die Autwort in der milden, ftrahlen« 
den Glut unter den halb geſchloſſenen Lidern. 

Und dann hatten fie getanzt, geſprochen, ge= 
ſchwiegen — am meiften geſchwiegen — Nuge in 
Auge, Seel’ in Seele die ganze Nadıt. 

Dann ſaßen fie nebeneinander, drinnen im Salon. 
Die Mufit tönte vom Ballfaal zu ihnen herüber, 
wo die Paare — es waren bald nicht mehr viel 
übrig — im Getümmel des letzten Extratanzes ſich 
herumfchwangen. Hin und wieder fam einer ber 
Herren und forderte fie auf. Aber fie wollte nicht 


Erna Iuel-Hanjen. 


mehr tanzen, fagte fie, fie wollte ſich ausruhen, ſich 
abfühlen, bevor fie heimfuhr. Zwei-, dreimal wurde 
gemeldet, der Wagen warte, und jedesmal bat er: 
„Bleiben Sie noch!“ 

Und fie blieb, 

Sie wollten das flumme Glüd in dieſen Iehten 
Minuten genießen, die zu einer Viertelftunde, einer 
halben Stunde wurden, ohne da fie mußten, wie. 
Sie ſprachen nur wenig. Sie fühlten, etwas war 
nabe, wollte geichehen — und diejes Etwas machte 
die Worte jo weich, zart, daunenleicht, und ſchien 
bie Luft um fie her zu erfüllen mit hellem feuer. 

„Wann reifen Sie?" fragte fie plößlich. 

Sie hatten lange geſchwiegen. 

„Ja — wann —* er blidte fie von der Seile 
an und fonnte die Augen von den Meinen rojencoten 
Ohren, die von jo feiner Zeichnung waren, nicht 
losreißen, nod von ben Linien am Hals hinunter, 
und dem Naden und der Bengung des Hauptet, 
welches fie jept ein wenig zu ihm hinüber auf die 
Seite legte, — wie anmutsvoll weiblich es im ber 
Form war! Nun entjann er ſich: dag war e8, was zuerit 
feinen Blick auf ſie hingezogen hatte, bereits damals 
unter der Masle — nun zog es feine Lippen dort» 
hin — er mußte die Stelle, dort gerade, wo das 
lichte Haar ſich über dem Halje zu kräuſeln begann, 
füffen. Er that es. Sie wandte mur den Kopf 
und fah ihm mit einem Lächeln in die Augen hinein, 

„Kommen Sie, gehen wir!” flüfterte fie. 

Sie gingen hinaus ins Entree, der Diener reichte 
ihnen die Mäntel, fie gingen wie im Traume, fie 
voran, er hinten nah, zum Wagen hinunter. Er 
half ihr hinein und legte dem Pelzmantel um fie. 
Dann reichte fie ihm die Hand zum Lebewohl. Er 
ergriff fie mit feinen beiden Händen, jchob den langen 
Handſchuh bis zum Handgelent hinab und bdrüdte 
in einem Augenblid mit trodenen, heißen Lippen 
Kuß auf Kuß auf den entblößten Arm. 

Dann hatte er die Empfindung, als zöge fie ihn 
fanft an fih. Er blidte auf — begegnete wieder 
ihren Augen und fprang mit einem halb erftidten 
Ausruf zu ihr Hinein und ſchlug die Wagenthüre 
hinter ſich zu. 

Der Kutſcher lächelte in feinen Bart und fuhr 
zum Thorweg hinaus. 

Er ſchlang die Arme um fie, fie glitt im feine 
Umarmung hinein, und dann küßte er fie — wieder 
und wieder reichte fie ihm ihren Mund und ſtam— 
melte halb im Faden, halb im Weinen, gleichjam 
entſchuldigend: „O, id habe mich fo geſehnt — To 
gejehnt —“ x 

„Nah mir?” fragte er, „Jage es — nad) mir?“ 

„Ja — nad dir —“ und fie glaubte, was fie 
ſagte. 

Er hätte fie beinahe mit feinen Liebloſungen 


nn 


Die Gejhihte eineg jungen Mädchens. 663 


erftidt. Ein Regen von Küſſen fenkte ſich über ihr Ge= 
fit, ihren Hals und ihre Arme herab. Es war, als 
follte fie vor Glüd vergehen. Endlich, endlich! 

„Wir müflen uns wiederjehen, Margarete, wir 
mũſſen uns treffen — bu bift jebt ja mein — mein 
— pillft du?“ 

Ja — aber — aber —” 

„Aber was? Du Süße — bu fannft alles jagen, 
börft du, alles!“ 

Nichts — nichts, als —” fie flüfterte es fo 
leiſe, daß er es faum hörte. Die Erinnerung an 
Möller und ihre Zukunft, an unbequeme Onfels und 
viele8 andre ſtrich wie ein falter Hauch über fie Hin. 
Nein, fie wollte e8 haben wie jet — ja, gerade jo 
— und dann durfte es niemand wifjen, nur fie beide 
ganz allein, 

Er jah fie mit einem Blid an, ganz dumm vor 
Entzüden über die naive Hingabe, die er in ihren 
Worten zu finden glaubte, und preßte fie fo feft an 
ſich, dab es fie faſt ſchmerzte. 

„D Margarete — du biſt — bu biſt —“ dann 
legte er ſeine Lippen dicht an ihr Ohr und flüſterte, 
ob fie zu ihm kommen wollte — morgen, ob fie wollte? 

Seine Stimme bebte vor Leidenſchaft, feine Hand, 
weldhe die ihre hielt, brannte; fie begann jelbft zu 
jittern, wurde ganz falt von etwas, was fich ihr faft 
wie ein Schreden um das Herz legte — fie zog ſich 
ein wenig von ihm zurüd, vermochte faum zu atmen, 
ihr Herz ſchlug beinahe nicht — aber das war nur 
einen Augenblid, dann ergoß fi eine glühende 
Bärme durch alle ihre Glieder, das Blut faufte ihr 
vor den Obren, es war wie ein wilder Wirbel, der 
fie zu ihm hinzwang, und fie hatte nur einen Wunſch, 
einen Willen, der dem feinen entgegenlam: 

„Ja — ja — 

Dann ſaßen fie ftumm, ganz ftill lächelnd, Hand 
in Hand, das Iekte Stüd Weges. Plöplich jagte fie: 

„Bo wohnft du?* und dann lachten fie darüber, 
daß fie es nicht wußte — e8 war hohe Zeit, fie war 
gleich daheim. 

„Nun mußt du gehen — das Mädchen ift unten, 
um mic zu empfangen.” 

„Ja —“ er fah ihr tief und ernft in die Augen, 
„Nicht wahr, du fommft, du vergißt dein Verſprechen 
nit?" 

Sie ſchüttelte den Kopf: „Ich komme — glaubit 
du, ih würde —“ und dann in einem plößfichen 
Ausbruch: „Ic kann nicht ander —* verbarg fie das 
Geſicht an feiner Bruft. Noch einen Kuß, dann ließ er 
fie los, der Wagen hielt, und er war verſchwunden. 

Das jchläfrige Stubenmäbchen, das mit einer 

Stearinkerze in der Hand fie an ber 
Thür in Empfang nahm, wurde ganz wach, als es 
fe ſah — ein folder Schimmer neugeborenen, ſtrahlen⸗ 
den Glüdes lag auf dem glühenden Antlif. 


„Na — Fräulein, Sie haben ſich wohl ordentlich 
amüfiert ?* 

„Herrlih — Anna — herrlich!“ 

Es Hang wunderjam wie Gejang in ber Stimme 
und die Augen glänzten, als wäre fie im Begriff, 
in Thränen auszubrechen — fie taumelte faft in den 
Flur hinein. 

Gott erbarme fih! — das Fräulein ſcheint nicht 
ganz nüchtern zu fein, dachte Anna; da muß es luſtig 
jugegangen fein — ja, ja, die Fräuleins! 

Margarete hatte die Empfindung, als hätte ie 
Anna an fi drüden und ihr alles erzählen fünnen 
— alles, e8 war, als wollte das Glüd fie erftiden, 
als hätte fie nicht Raum genug für den Jubel da 
drinnen, fie fonnte faum atmen, jo ſchlug ihr das Herz. 

Sie mußte Luft haben, und fie ergriff Anna, 
drebte fie im Kreife herum, fo daß ihr das Stearin 
an den Fingern herablief, lachte, ohne Luft zum 
Lachen, laut — jo da Anna ganz böje wurde und 
fie zum Schweigen bringen wollte: „Fräulein, Sie 
find ja ganz verrüdt —“ 

„Ah, Anna, du weißt nicht — du weißt nicht —” 
und dann fuhr fie wild die Treppe hinauf, hinein 
in ihr Zimmer, und fertigte Anna an der Thür ab; 
fie wollte ſich jelbft auslleiden, jagte fie. Aber fie 
blieb auf und ging tanzend im Zimmer bin und ber. 
Es war warm und heil darin, ein weiches, träumen 
bes Licht von ber blauen Ampel. Sie ging und 
fummte Meine Stüde eines Liedes vor ji hin, von 
dem fie nicht mehr als eine Zeile fannte. 

„Die Lieb’ ift wie ein Vögelein — Die Lieb’ 
ift —“ fie konnte fich nicht fill verhalten. Sie ging, 
faß, erhob fich wieder, legte die Ellbogen über die 
Lehne eines Stuhles, blidte hinaus in den Raum, 
ohne etwas zu fehen, fühlte feine Küſſe, jeine Lieb» 
fofungen wieder, verbarg ihr glühendes Geſicht in 
den Händen und flüfterte, daß fie liebe — liebe — 
geliebt wäre — der bloße Laut des Wortes blendete, 
beraufchte fie. Das war Leben — und fie wollte 
leben! Dann jenkte fi eine müde Sehnjucht über 
fie. Sie wurde fo jonderbar till und froh, fie ſputete 
fi ins Bett, fie wollte ſchlaſen — denn nun fam 
ein „Morgen“, und mit ihm begann das Leben. 

Aber fie konnte noch nicht ſchlafen, wenigftens 
nicht gleich, fie lag und flarrte mit offenen Augen 
in das graulichte Dunkel der Frühlingsnadht hinein, 
wohl ein wenig beflommen, aber glücklich, o jo glüd=- 
li, und dann — ein ganz Mein wenig neugierig. 

Erft als der Tag richtig graute, ſchlief fie ein. 


II. 

Und fie hatie lange gejchlafen, war aufgeftanden, 
hatte mit Papa geſprochen, vernünftig auf alles 
geantwortet, wonad er fie fragte, das wußte fie, 
denn er hatte fie nicht ein einzigesmal verwundert 


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664 Erna JuelsHanjen — Die Gejhihte eines jungen Mädchens. 


angejehen, und fie hatten gelacht und geſcherzt, wie 
fie es zu thun pflegten. 

Aber wovon fie geiprodhen oder worüber fie ge= 
lacht, wie der Tag jonft vergangen war, ob Mama 


zu Haufe war oder fie allein in der Wohnftube ja 


— davon hatte fie feine Ahnung. 

Die ganze Zeit war ed, als wenn fie träumte, 
Sie war fie jelbft und doc eine andre, und diefe 
andre war «8, bie ſprach, lachte, ſich anzog und fagte, 
fie ginge zu Ludovila und käme zu Mittag nad 
Haufe — oder vielleicht auch nicht. 

Sie errötete nicht einmal, als fie das jagte, bevor 
fie zur Thür hinaus war; dann aber glühten ihre 
Wangen auf, obſchon fie fi damit tröftete, daß fie 
ja wirflid zu Ludovika follte, aber hernach — ja, 
es handelte fi} gerade um dieſes Hernach! 

Auch mußte fie nicht, welchen Weg fie ging, ob 
die Sonne ſchien, ob e8 warm war oder kalt, ob 
Menſchen um fie her waren, ob fie jemand begegnete, 
— einmal bejann fie ſich auf das Geſicht eines Be- 
fannten, lange, lange, nachdem der Betreffende an 
ihr vorbeigegangen war — oder war das geilern? 

Sie hörte nichts, außer daß fie ging, gehen mußte, 
obſchon die Füße jo wunderlich ſchwer waren, daß 
fie fie gleichfam nicht mitjchleppen konnte, aber das 
Herz klopfte und das Atmen fiel ihr ſchwer, fie hatte 
Stiche in der Seite — vor Angſt, glaubte fie, aber 
die Angit war ein Sehnen, das fie durch ein ver— 
wirrtes Gewebe von Fäden vorwärts trieb, welche 
fie zurüdhielten, die ihr Wille aber zerriß, einen nad) 
dem andern — denn fie wollte, fie mußte! 

Dann war fie dort. 

Ein niedriges, villenartiges Haus an der Ede 
einer grünen Allee. Und dort oben ein Altan, hinter 
bemfelben ein großes, über den Dachgiebel hinaus» 
ragendes Fenſter, das von einem grünen Vorhang 
verdedt wurde, der auf der einen Seite ein wenig in 
die Höhe gehoben war. Dort jah fie ihn oder nur 
feine Augen — der Vorhang fiel zu, und im jelben 
Augenblid war es, als wenn ber Iehte Faden bes 
Gewebes riß; die Angſt war fort, fie atmete tief auf, 
fie war frei, jubelnd froh, fie war die Seine — 
wie von einer Welle getragen, war fie oben und 
ftand vor der Thür, die bereits geöffnet war. 

Eine Hand, die feinige, ergriff fie — es rubte 
wie Sonnenfchein über feinem Geſicht, dünkte ihr, 
und dann dieſe halb geichloffenen Augen — wie fie 
lädhelten! Ein Finger wurde, Schweigen gebietend, 
fanft auf ihren Mund gelegt. Er zog fie mit ſich, 


noch eine Thür — und fie war drinnen bei ihm, in 
einem hohen Atelier mit grünen, jchrägen Wänden, 
von einem gedämpften, grünlichen Licht überflutet, 
welches durch den Vorhang hindurchſchimmerte, den 
fie von unten gejehen hatte. Eine Scheibe mußte offen 
jein, denn man hörte die Vögel laut zwitjchern, und die 
Luft war drinnen Find und warm von der Frühjahr 
fonne, die auf dem Scieferdad brannte. Wieder 
war es ihr, als wenn fie träumte — und als wenn 
fie dies alles ſchon früher gejehen hätte — aber wo, 
darauf konnte fie fi nicht befinnen. 

Sie ftand einen Augenblid ſtill und ſah ſich um, 
während er die Thür hinter ihr abſchloß. Dann 
balf er ihr mit linfifchen, bebenden Händen die Ueber⸗ 
Heider ablegen — Mantel, Hut und Schleier, der 
gar nicht aufgehen wollte — er war im Naden ges 
bunden. Auch fie zitterte, jo daß fie ſich nicht helfen 
fonnte — aber endlich glüdte es. 

Dann nahm er fie in feine Arme und brüdie 
einen Kuß auf ihre Lippen. Sie erbebte noch ſtärlet 
dabei und hatte ein wunderliches Gefühl im Halkk, 
als wenn fie nicht ſchlucken könnte. „Mein zitterndes 
Vögelchen,“ fagte er, „mein ſüßes Mädchen — o, 
daß du hier bift, daß du kamſt —“ fie behutjam 
liebkoſend, glättete er ihr Haar und ftreichelte ihre 
Wangen. 

Inm ſeiner Stimme lag ſolch ein eigner, janfter 
Jubel, der ihr zu Herzen ging, dann traten ihr die 
Thränen in die Augen, wunderlich ſelige, freudige 
Thränen, die er fortfüßte, indem er flüfterte: „IS 
Tiebe dich — ich Tiebe dich — mein mutiges, leiden⸗ 
ſchaftliches Mädchen.” Dann ließ er fie auf einem 
Heinen grauen Sofa Plaf nehmen, das in einer Ede 
ftand, und fing an zu erzählen, wie er fie erwartet 
hätte, wie er hier die ganze Nacht in einem beftän- 
digen Fieber der Glüdjeligfeit auf und ab gegangen 
wäre — daß er aud in feinen kühnſten Jugend- 
träumen nicht gewagt hätte zu hoffen, daß das ge 
ſchehen würde, was nun geſchehen war, daß ein liebens- 
wertes, warmberziges Weib fommen würde, wie fie 
beute gelommen, „weil fie nicht anders konnte!" Die 
Worte würde er niemals vergeſſen — das wäre bie 
natürliche Stimme der Liebe, die in ihnen aus ihr 
geſprochen — er hätte ihr zu Füßen fallen Lönnen, 
in Anbetung vor ihr nieen, denn was fie heute ger 
than hätte, dafür wollte er ihr fein ganzes Leben 
lang danfen, jeine wärmfte Liebe ſollte fie belohnen, 
fie hätte ihn zum glücklichſten Menſchen auf Erden 
gemacht ... ¶Schluß folgt.) 


durch einen halbdunkeln Gang ſchleichend — dann 


Herrn Walters Lift. 


’ & Sas. 
Aus dem Ungarifchen überſeht von W. Rudom. 


(den wurde bei Walters der Kaffee auf den Tiſch 
gefeßt, als eine Drahtnachricht anfam. In dem 
Telegramm ftand: 

„Heute vormittag habe ich die Doltorprüfung be— 
fanden. Mit taufend Kiffen Euer Sohn.” 

Vater Walter ſchlug mit der Fauſt jo heftig auf 
den Tiſch, daß die Heinen Majolikataſſen rafjelnd 
auffprangen. Lange blidten die übrigen auf; welch 
ſchlimme Nachricht giebt es? Der Ausdrud unfag- 
barer Glückſeligkeit jedoch, welcher Herrn Walter: 
Antlig überftrömte, die Freudenthränen in feinen 
Augen widerlegten fofort die donnernde Fauſt, und 
er rief: 

„Leit, Left doh! Warum leſt ihr denn nicht? 
Liegt -euch nichts an dem Erfolge unfers Jungen?“ 
Als ob fie nicht eifrig genug danach griffen, obgleich 
fie das Blatt einander faft aus der Hand riffen! 

„Doktor ift er geworben, Doktor!“ rief er aus 
und fuhr fort, wütend auf und ab gehend: „Wie 
ärgerlich ich über ihn bin! Ich wollte ihn befuchen, 
um ihn zu umarmen, jobald er Doltor geworden, 
und ber Nichtsnuß fchreibt, daß die Prüfung erft 
nad) einer Woche fein wird. Er wollte uns über» 
raſchen, der ſchlechte Kerl!” 

O, wie fie alle dem ſchlechten Kerl zürnten! Die 
franfe Mutter, feit Jahren an den Stuhl gefeflelt, 
fühlte ſich auf einmal fo leicht wie die von ber 
Muttergottes geheilten Kranken in Zolas „Lourdes“. 
Als ob die Feſſel der Krankheit von ihren Füßen 
gefallen, als ob fie um zehn Jahre jünger geworben 
wäre! Und fie begann einen hartnädigen Kampf 
mit ihren erwachjenen Töchtern, welche ihr das Blatt 
entreißen wollten, worauf fie doch das größte Recht 
hatte. 

Herrn Walter wurden die vier Zimmer feiner 
BVohnung für feine weltumhalfende Stimmung zu 
eng. Er ging aljo in das Wirtshaus, das er feit 
Jahrzehnten gepachtet Hatte, und jofort erfuhr jeder 
Gaft die große Neuigkeit. Der leidenſchaftlichſte 
Billardipieler legte mitten im Spiel den Stod aus 
der Hand, die Schadhferen, welche fich Durch den Unter» 
gang der Welt nicht hätten flören laffen, erwachten 
aus ihrem Brüten; jelbft die halb nad Gigerln, 

Aus fremden Zungen, 1897. IT. 14. 





halb nad Barbiergejellen ausjehenden jungen Leute 
an der Kaffe vergafen einen Augenblid die glut- 
äugige, verführerifche, duftende, Liqueur ſchenkende 
Büffettdame. Die Nachricht erregte überall die größte 
Freude — und nun gar, als Herr Walter verſprach, zu 
Ehren jeines Sohnes ein fürftliches Mahl geben zu 
wollen, zu dem alle Gäfte geladen feien! Ja, alle, 
felbft die Herren Studenten, die jeit acht Wochen 
ihre Schnäpfe Shuldig waren, dafür aber um jo mehr 
mit dem Kellner zanlten. 

Herrn Walters Freude fühlte ſich bald jelbit im 
geräumigen Wirtshaufe beengt. Er warf feinen Ueber— 
zieher um, und das Heine rote Männchen eilte durch 
die Stadt, bejuchte feine Verwandten und Freunde, 
ja er ſtellte jich jogar fremden Menſchen vor und 
reichte ihnen das Blatt mit der Freudenbotſchaft: 
„Bitte, leſen Sie, mein Sohn iſt Doltor geworden!” 
Das war für das Städtchen ein joldhes Greignis, 
daß andern Tags jogar die Blätter in auszeichnen« 
der Weiſe erwähnten: Der Sohn unjers waderen, 
beliebten Gafthauspächters hat mit hervorragenden 
Erjolge die Doktorprüjung beftanden. Und ſchon 
am Abende jah das Blatt mit der Freudenbotſchaft 
aus wie eine zerfehte Siegesfahne, eines ehrenwerten, 
liebenden, vorwärtäjirebenden Vaters Siegeszeichen. 

. 

„Padt meine Sachen ein, heute abend reife ich 
zu unjerm Jungen!“ befahl Herr Walter. „Ih will 
ihn feierlich einholen. Warum follte ih nit? Er 
ift ja ihon Doltor, ih aber bin nur Gaftwirt.” 

Seine kranfe Frau vergoß ihre bitterften Thränen 

vergeblich, die Freudenbotſchaft vollbradhte fein 
Wunder, und jo fonnte fie ihrer gelähmten Füße 
wegen nicht mitreijen. 

„Sräme dich nicht!” tröftete fie ife Mann, „dein 
Sohn kommt und wird dich ſchon heilen. Du weißt 
doch, wie begabt er ift — haft ja gelefen, wie ihn jeine 
Lehrer rühmen! Wie fannit du aljo jet weinen ?* 

Die franfe Mutter weinte auch nicht länger, 
fondern bat ihren Mann nur ſchluchzend, ihr den 
Sohn jo bald wie möglich heimzubringen — wenn 
er fie auch nicht werde Heilen können, Die jchwarz« 
äugige, flinfe Giſela aber vollbradgte ein Wunder 

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666 


ihrer Kunft — wie war ed nur möglich, in ben 
wenigen Stunden einen folden Berg Kuchen und 
Gebäd zu bereiten! Freilich hat es feinen Zwech, 
das alles mitzunehmen, da ein Menſch es faum in 
einer Woche bewältigen fann, und Herr Walter jo- 
fort heimfehrt. Aber womit joll ſich die große, große 
Liebe beihätigen, wenn nicht im Baden und Braten? 

Herr Walter wurde in den Zug gepadt. Er aber 
froh ſogleich unter feinen zahllofen Gepädftüden 
hervor, die Drahtnahricht in der Hand, und meihte 
den Schaffner in feine freude ein: 

„Hier, mein Freund, ein Gulden. Mein Sohn...“ 

* 

Ein blendend heller Wintertag gob fein faltes 
Gold über die Hauptftadt aus, Schon der bloße 
Anblid dieſer Häufermafen ſtimmte Herm Walters 
Freude herab, denn hier hatte er feinen einzigen Ber 
fannten, dem er die große Neuigfeit mitteilen konnte, 
‚ Diefe auf und ab wogende Menge würde fein Glüd 
nicht würdigen lönnen, er jledte aljo das Blatt in 
feine Rodtafche, ala ob er fein Glüd vor diefer ihm 
feindfeligen Rieſenſtadt verſchließen wolle, damit ihr 
lärmender Strom es ihm nicht raube. 

Mit vor Erregung bebender Stimme rief er dem 
Droſchlenkutſcher die Adreſſe feines Sohnes zu, 
mahnte ihn zur größten Eile und verſprach ihm ein 
fürftliches Trinfgeld. Der Kutſcher alfo jagte, jagte 
... Über trogdem, wie endlos lang waren die Straßen! 
Die Leute, welche fie gebaut hatten, dachten gewiß 
nicht daran, was für Qualen fie einem Vater ver- 
urjachen können, der feinen Doktor gewordenen Sohn 
heimzuholen gefommen ift. 

Endlich hielt der Wagen. Herr Walter fuhr 
plöglich zufammen: Wie, ſchon am Ziele? Im nächſten 
Augenblide wird er feinen Sohn, den neugebadenen 
Doktor, im Arme halten! 

Er mußte fih Gewalt anthun, feine Haltung zu 
bewahren. Es ift nicht gut, wenn das Sind ficht, 
daß der Vater jeinetiwegen bis zu Thränen gerührt ift. 

Er ftieg die Treppen zur Wohnung feines Sohnes 
binauf, bis ins dritte Stodwerf, 

Unangenehm berührt ihn, daß mit ihm zugleich 
büftere, verbächtige Geftalten im die alte, abgenußte 
Mietkajerne hinauffteigen. An ihren Mühen glänzt 
das Abzeichen des Todesheeres: Beerbigungsanftalt. 
Gerade heute ift alſo jemand in diefem Haufe ge- 
ftorben. Auch ein Schutzmann geht mit ihnen ; dieſer 
Jemand ift alſo feines natürlichen Todes geftorben. 
Gewiß gehen fie in das erſte Stockwerl. Nein, in 
das zweite, Aber fieh! aud hier bleiben fie nicht. 
Auch fie fteigen in den dritten Stod. Wo fein Sohn 
wohnt! Großer Gott! 

Sie gehen in die Wohnung feines Sohnes ! 

* 


„Sehen Sie ihn nicht mehr an, Herr Walter!” 


E. Sas. 


ſagte in dem verdunkelten engen Zimmerchen vor 
dem verhängten Bette ein Freund des jungen Arjtes 
zu dem Vater, „Die Kugel bat ſein Geſicht furdt. 
bar entſtellt.“ 

Herr Walter zwang ſich zur Feftigfeit. Wie ır 
fi) eben gejagt hatte: es ift nicht gut, wenn das 
Kind fieht, daß der Vater feinetwegen weint... 

Oder darf er jeht weinen? Jeht ſieht es ja fein 
Kind nicht mehr!... 

Nah der Beerdigung begleitete den Bater ein 
guter freund feines Sohnes zur Bahn. Erſt da fam 
er jo weit zu fi, daf er fragen konnte: „Aber, mein 
Gott, warum denn...” 

„Er war in ein jchönes, vornehmes Mädchen 
verliebt. Die Eltern wollten es ihm nicht geben. 
Ihr Sohn wartete, hoffte und glaubte, wenn er 
Doktor fein würde, werde er die Hand feiner Gr 
liebten befommen. Er wurde Doktor und hielt von 
neuem um fie an...“ 

„Und,...” 

„Belam einen Korb,” 

„Und deshalb?“ 

Der Zeitungsfchreiber blidte ergriffen auf den 
Alten. Defjen Augen aber ſchweiſten in die Ferne, 
ala wolle er ſich die Geftalt vorzaubern, jeine Tod- 
feindin, die fo ſchön, jo wunderſchön fein mußte, daß 
ihretwegen fein Sohn die neuerworbene Doftorwürbe 
jamt den Seinigen verließ. 

Der gute Freund philofophierte gern. Auch jeht 
brach dieje Leidenichaft bei ihm durd, umd er fagte: 

„Das ift das Trauerfpiel der Väter, mein lieber 
Herr! Der Sohn tritt ins Leben hinaus und wird 
von neuen Banden gefeflelt, welche ftärfer find, alt 
die ihn an das Elternhaus knüpfen ... Dieſes Geſeß 
des menfchlichen Herzens, das unerbittliche Schidjal 
der Väter, hat fi) aud) in diefem falle erfüllt.“ 

O, welcher Troft liegt nicht in der Philoſophie! 


* 

Der Zug ſchnob durch die Naht dahin. Der 
Schaffner befam wieder ein Trinfgeld, damit er Herrm 
Walter allein laſſe. 

* 

„Du kommſt allein? Wo iſt unſer Sohn?“ 
rief an der Bahn das ganze Haus dem Heimfehren- 
den entgegen. 

Sogar die alte Mutter hatte fi hinausfahren 
laſſen und in der jhneefalten Nacht auf die Ankunft 
ihres Sohnes, des Doklors, gewartet. 

„Unfer Sohn ?* 

„Aber warum bift du jo bla? Warum fichft 
du jo traurig aus?“ 

„Ja, traurig, laßt mich in Frieden!“ ſchnob 
Herr Walter. „Wie fol ein Menſch richt traurig 
fein, wenn er feinen Sohn im Glanze des Ruhmes 
fieht, um ihn fofort zu verlieren!“ 


N: 




























— Jungen eine Studienreife ins 
id unternimmt und ihn aufgefordert hat, mit= 
‚zugehen. Ein ſolches Glüd konnte er doch nicht von 

ch — Ins Ausland mit dieſem berühmten 


Die — behende Giſela fragte betrübt: 
And fommt er bald zurüd?* 
Zurück? Als berühmter Mann kommt er zurüd 
xt ihr? — als berühmter Mann!“ 

Nur die alte Mutter konnte ſich nicht darein fin« 
‚fie brach in ihrer bitteren Enttäufchung heraus: 
Aber wenn er fortging, fih Ruf und Ruhm zu 
en, hätte er vorher wenigjtens feine arme franfe 
: bejuchen follen! Wer weiß, wann er heim« 
mm! Vielleicht wird der berühmte Mann dann 

nur noch mein Grab finden!“ 

2 . ger Walter wurbe wieder faſt zornig: „Siehft 
bu, wie kibftjütig aud) du bift, Mutter! Er wollte 
on ganz entſchieden ſogar; er jagte: ‚Was 
"Ehre und Name, was die ganze Welt, 
ih nur einmal meine lieben Eltern umarmen 


at er das gejagt? Wirklich ?* 
& iß! Aber ich habe ihm befohlen, ſtreng 
ſohlen — du weißt, wie fireng ich immer zu ihm 
weſe — — Du wirft mit dem Herrn Profeſſor 
land geben, nach Spanien, oder id) weiß 
jin. Das Glüd, den Finger Gottes ab» 
t Dummheit, ja jogar Sünde.‘ — Alſo 
Aber er kehrt wieder! Freilich, ein, 
werben darüber hingehen; eher dürfen 
zurüd Anparien. So lange müſſen wir 


wartete, wartete die alte Mutter ge- 
in dem Städtdien fragten die Leute 
nad) feinem Sohn und nad) dem ver- 
endeſſen. Und der Alte erzählte jedem 
D erzählte, fein Sohn jei auf einer 
von welder er ruhmbededt heimlehren 
ng Damit bei feinen Belannten herum, 


f, und in der Sündflut wichtiger 
bie Zeitungen daS Trauerjpiel 


Herrn Walters Lift. 


| „In drei Tagen ift er hier.” 


667 


waren. Der Mitjhuldige an diefer Fälſchung war 
der gutherzige Freund aus der Hauptftadt. 

„Aber, hat ſich jeine Handſchrift verändert!” jagte 
die Mutter vertvundert. 

„Warum nicht? Jedes Menſchen Handſchrift 
ändert fih, wenn er erwachſen iſt. Er kann doch 
nicht mehr jchreiben wie ein Schuljunge. Alle großen 
Menſchen jchreiben unlejerlih." — 

Schließlich wurde die alte Mutter frank, jehr 
franf, jo daß die Aerzte fie aufgaben. Mit kaum 
börbarer Stimme diftierte fie einen Brief an ihren 
Sohn: 

„Wenn in deinem Herzen nod ein Funle find» 
licher Liebe ift, jo fomme fofort heim zu deiner 
fterbenden Mutter!“ 

„Dies jchidt ihm!” fügte fie Hinzu. 
darauf heimfommen wirb?* 

„Gewiß wird er kommen ,* 


„Ob er 
tröftete ihr Gatte. 


Drei Tage lang fümpfte die arme Fyrau mit 
übermenjhliher Kraft gegen den Tod. Drei Tage 
lang Hatte der gebrochene Leib die Kraft, dem 
Senjenmann fernzuhalten, dab er fie verſchone, bis 
ihr Sohn heimfehre. 

Die drei Tage vergingen, und er fam nicht. O, 
welch undanlbares Kind! Zum drittenmal jchon 
bricht die Nacht herein! 

Herr Walter trat ein, in der Hand einen Brief. 
Heren Walter Geſicht glängte vor Freude. 

„Hier ift der Brief! Der Brief deines Sohnes, 
Mutter! Er jchreibt, daß er lommt, daß er jchon 
unterwegs if. Und binnen furzem wird er ein be= 
rügmter, reicher Mann fein. Hier, lies!“ 

„Wann wird er lommen?“ 

„Morgen früh!“ 

„Morgen früh! 
leben!" — 

Das hatten aud) die Aerzte als gewiß erklärt... 

Herr Walter ſehte fih neben ihr Bett und 
ftreichelte mit feinen großen, roten Händen fanft die 
ſchweißbedeckte Stirn derer, bie vierzig Jahre lang 
feine treue Gefährtin gewejen war. 

„Du wirft es noch erleben, Mutter. Morgen 
übermorgen und noch viele, glüdlihe Tage. Du 
wirft auch das nod; erleben, dab unſer Sohn die 
Gijela heimführt; denn er ſchreibt, daß er fie nicht 
vergeſſen hat und fie heiraten will. Wie glücklich 
werben fie fein! Von dir, von uns werden fie noch 
ihren Enkellindern erzählen!” 

„Ich erlebe es nicht mehr!“ flüfterte feine Frau. 

Und fie erlebte es auch nicht mehr. 

* 

„Sie ift tot!* rief Herr Walter, aufjpringend. 
Und er hob die gefalteten Hände zum Himmel, als 
wolle er Gott für etwas danfen. 


Das werde ich nicht mehr er- 








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668 Loſe Blätter. 


Die Menſchen blidten ihn jehr unzufrieden, miß- | freue, als ob ihm ein großes Unternehmen geglüdt 
billigend an. Sie hatten geglaubt, er babe feine | wäre. Er beihleunigte die Beerdigung fo jehr wie 
Frau ſehr lieb; hatte er fie dod) aus Liebe geheiratet | möglih, als könne er es nicht erwarten, daß die 
und war immer um fie bejorgt gewejen, hatte fie auf | Leiche hinausgeſchafft würde, als fürchte er, die alte 
Händen getragen. Und jeht? Frau möchte aufmachen und jehen, wie er zu Boden 

Herr Walter kümmerte ſich nicht um das Kopf» | ftürzte, um fi) über feine beiden Toten endlich aus 
ſchütteln und das Flüſtern der Leute, jondern ging | zuweinen. 
um den Sarg herum, als ob er ſich über etwas 


— er — 


— Lofe Blätter. 5 


Ä jehen habe. Ihr könnt euch denken, was dieſes gute, 

zarte, träumeriſche Weſen in der Gejellichaft eines 

Mannes, welcher nur an Geld und gutes Eſſen 

glaubte, dulden mußte. Als fie heiratete, war fie 

eine Schönheit, und nad) weniger ala einem Jahre war 

nur nod ein Schatten ihrer jelbjt übrig. Dennoch 

glaubte ich nicht, daß fie fo bald fterben werde. Mit 

dem nächſten Zug reifte ich ab und langte, über 

wältigt von Müdigkeit und Aufregung, an. Das 

Thor war ſchwarz verhängt. Meine arme Schwägerin 

lag auf einem weißen Katafall aufgebahrt im Salon. 

Zu Häupten der Toten brannten zwei Kerzen. Eine 

„IH war Staatsanwalt in Falticeni. Eines | alte Frau ſchühte das Geſicht der Entſeelten vor 
Abends, als ic) mit mehreren Freunden in einem | Fliegen; als fie mich erblidte, fing fie an zu weinen. 
Wirtshaus ipeifte, überfiel mich plößlich inmitten des Und wie glaubt ihr, daß ich meinen Bruder gefun 


Drei Bari. 


Von 
a. Blahutza. 
Aus dem Rumänifchen überfeßt von Wax Schroff. 


Wir waren bei der fünften Taffe Thee angelangt 
und ſprachen von Träumen , Borahnungen und Bor« 
bedeutungen. 

„Da muß ich eud) etwas erzählen, was mir vor 
vier Jahren begegnet ift,” jagte Ghemiſch, zündete ſich 
eine Zigarette an und ſchob jeine Taſſe beifeite. 


Geſprächs eine Unruhe, eine Beängftigung, welche | den habe? Ganz unverändert. Um neun Uhr mor» 
id mir in feiner Weife erflären konnte, Es fcheint, | gens jaß er im Speifefaal und aß — ak mit einem 
da aß ſich auch meine Geſichtsfarbe verändert hatte, | empörenden Appetit. Er erflärte mir ganz ruhig, 
denn einer der freunde fragte mid, ob mir nit | daß er mich gerufen habe, um ihm beizuftehen.... 
gut gut jei. Ich weih nicht mehr, was ich ihm antwortete, | ‚Es kommen bei einem Begräbnifje jo viele Wider: 
die Gabel entfiel meiner Hand, id nahm den Hut | wärtigfeiten vor; alles ift fo gelbgierig und ſucht 
und entfernte mich eilig, al$ wenn mic) jemand ge» | dich zu betrügen, zu beftehlen; denk dir einmal... 
rufen hätte. Zu Haufe angelangt, erfundigte ih | faum ſchloß die arme Zinkutza die Augen, als mir 
mid unwillfürlih, ob jemand nad) mir gefragt habe, | jchon die Leichenbeftatter auf den Hals kamen — 
obgleich ich niemand erwartete. Ohne zu willen, acht find gefommen.... Der erfte verlangte von mir 
warum, fam e8 mir fonderbar vor, dai meine Frage | dreitaufend Lei; ich mies ihm die Thüre... Und 
verneint wurde. Die Unruhe verließ mich aud) zu | auf wie viel glaubft du, daß jchließlich einer herr 
Haufe nicht; mit großen Schritten durchmaß ich | unterging? Auf vierhundert Lei; Begräbnis erfter 
mein Zimmer, und eigentümliche Gedanten fliegen | Mlafje! Das macht die Konkurrenz.‘ 

in mir auf. Eine Halbe Stunde modte jo ver „Wir ftellten miteinander die Lifte der Perfonen 
gangen jein, als ic) eine Depejche erhielt. Fieberhaft | zufammen, welchen man Einladungen zum Begräbnis 
pochte mein Puls, als ich fie entgegennahm. Mit | zujenden mußte. Es waren dreihundert. Ich kaufte 
zitternden Händen öffnete ih fie. Sie fam von ſchwarzumränderte Gouverts, jhrieb den Tag über ganz 
meinem Bruder in Bulareft — „Komme fofort. | allein die dreihundert Adrejjen und Hebte die Marken 
Zintuga iſt geſtorben.“ — Ich war wie verfteinert. | darauf. Abends brachte man mir die Einladungen aus 
Mein Bruder hatte feinen edein Charalter. Er war | der Buchdruderei; ich faltete fie zufammen, fiedte fie 
roh und ein durchaus profaijcher Menſch. Im Alter | in die Couverts, machte drei Palete, nahm fie unter 
von vierzig Jahren heiratete er ein wohlerzogenes, | den Arm und ging fort. Die Hälfte warf id) in 
gebildetes, jechzehnjähriges Mädchen, ein naives und | den Brieffaften an der Ede der Dionyſiusſtraße, und 
poetifch angehauchtes Kind, wie ich jelten eines ge- | da nicht mehr hineinging, begab ich mich mit der 


—* 













































’. 


am Siegedallee und warf fie in 
dem Föniglichen Palafte gelegenen 
Ihr werdet euch wundern, dafı ich all dieje 
erzähle. Das hat jedoch jeinen Grund, 
fpäter jehen werbet. ch kehrte nah Haufe 
1. untei mich mit meinem Bruder noch un« 
eine Stunde lang und begab mich jodann 
zehn Uhr zur Ruhe. Mein Zimmer Tag 
neben dem Salon, in welchem die Tote auf« 
— — bin weder abergläubiſch noch furcht⸗ 
in jener Nacht war es mir unangenehm, 
fein. Ich fühlte in der Atmoſphäre des 
8 etwas Unbeftimmtes, Geheimnigvolleg, was 
Kälte im Rüden verurjadhte, etwas von 
fühl, welches man empfindet, wenn man die 
eines Toten berührt. 
„Der Tiſch, auf welchem ich die Adreſſen geſchrie- 
tte, = neben dem Bett. Auf dem Tiſche be= 
fi ein Leuchter, ein Tintenfaß, eine Wafjer- 
d ein zerfnitterte® Couvert mit einer ber 
rien Adrefſe. Ich zog mir ſchnell die Dede 
über den Kopf und war überzeugt, daß, wenn id) 
dh * geöffnet und in das Dunkel des Zimmers 
gefchaut hätte, ich eiwas Schredliches erblict haben 
würde. Trotz meiner Müdigleit dauerte es lange, 
einſchlief. Ich Hatte einen höchſt ſonderbaren 
m. Und ihre glaubt nicht, wie Mar, wie über⸗ 
id ſich mir alles vorjtellte. Es ſchien mir, als 
die Tote aufgeftanden und zu mir ins Zimmer 
men. Ich lag im Bette. Sie ftand vor mir, 
m Tiſch geftüpt, jah mir in die Augen und 
fe mir, daß fie uns getäufcht habe, daß ihr 
ir Berftellung fei, die wir für Wirflichfeit ge» 
ı hätten, Sie war fo heiter, und auch ich freute 
ber ihr Wiedererwachen. Auf der linken 
ſie einen blutroten Fleck. 
Weiß es mein Bruder?" fragte id) fie, ohne 
em zu hören, fowie ich auch ihre nicht 


er jhläft — 
nt ch nahmen ihre Gefichtäzüge einen Aus» 
mütiger Trauer an. 
Hmerzt mic jebr,‘ jagte fie jeufzend, ‚daß ihr 
en ſchon Einladungen gefendet habt. Was 
e — fagen, wenn fie das ſieht?“ 
er das zerfnitterte Gouvert zu glätten, 
den Bid ſtarr auf die Adreſſe. 
dieſer Traum nur einen Augenblid ge» 
', ob er ji während meines Schlafes 
zuerie — ich weiß es nicht. Ich weiß 
mit dem Bewußtjein aufwachte, die 
eilanden. Doch diefe Täuſchung verflog 
durchs Fenſter — die Sonne ſchien 
be mir der traurigen Wirklichkeit be⸗ 
gentümlich, ich konnte mich nicht mit 
vertraut machen, da ich geträumt 
fe mich, daß mein Bruder mir am 
kt hatte, das Begräbnis werde um 
n, obgleich dasjelbe in den Ein- 


nt 


J 


Loſe Blätter 


669 


Wie viel Uhr mochte es wohl ſein? Ich erhebe mich 
und — entjeht ſtarre ih auf den Tiih... Dort 
lagen die Einladungen, welche ich mit eigner Hand 
in den Brieffaften geworfen hatte! Einen Augenblid 
glaubte ich den Verftand zu verlieren. Ich rieb mir 
die Augen und fuchte mir Rechenſchaft abzulegen 
über das, was ich gethan, geträumt und gejehen hatte. 
Vielleicht find e8 andre Couverts — id) jpringe auf, 
Nein, kein Zweifel, e8 find die von mir gefchriebenen 
Adreſſen, es find die Couverts, welche ich mit meiner 
Hand in den Brieffajten geworfen hatte. Mein Gott, 
was joll das bedeuten? Ich griff mir an die Stirn 
und dachte nad)... . Ya, ich erinnere mich doc), daß 
ich einige Adreffen in dem Augenblide gelejen hatte, 
als ich die Gouverts in den Kaften jhob und da — da 
erkenne ich ja noch eines, bei weldhem id) eine Ede um« 
gebogen hatte, weil es nicht mehr hineingehen wollte. 

„Und nun — finnverwirrt ftürze ich gegen bie 
Salonthür, reiße fie auf. Zu Häupten der Toten 
brannten die Kerzen. Die alte Frau jchlief auf einem 
Stuhl, den Kopf an den Statafalt gelehnt. Sie 
wachte auf und jah mich erjchredt an. 

„War jemand bier... bei mir, heute nacht?‘ 

„Nein, gnädiger Herr, ich habe niemand ge- 
jehen ... 

„Ich glaube, ic; wäre wahnfinnig geworden, wenn 
nicht in diejem Augenblicke die Köchin eingetreten 
wäre. 

„Herr, der Pofibote Hat diefe vielen Briefe ge- 
bracht. Er hat gejagt, dak man Drei-Banimarken 
darauf Meben müſſe .. .* 

„Ich hatte jie, wie Drudjahen, nur mit andert- 
halb Bani franfiert; — mein Bruder wollte auch mit 
den Einfadungen jparen.” 


— —— 


Fremoͤländiſche Sinnfprüde. 
Spridwörtern nadıgebildet von Marimilian Bern, 


Mus ruſſiſchem Voltsmunde. 


Die Welt kann nur das Gute loben, 
Das du ihr fichtbar ſchon befcyert; 
Das Gold auch hat erft einen Wert, 
Wenn aus der Erde es gehoben, 


Oft früher als das Alter 
Sinft Jugend in das Grab; 
Der Hagel ſchlägt mehr frifche 
Als welfe Rofen ab. 
® 
Ticht auf die Senfe allein fommt es an, 
Sondern auch ftets auf den mähenden Mann. 
“ 
Wer auf das Hemd, das er erben foll, harrt, 
Nackt geht, bis man ihn felber verfcharrt. 








670 


Nicht jede Liebe läuft aufs Eheglüd hinaus, 
Nicht jeder grüne Hanf wächſt fi zum Brauthemd aus, 


Dom Krieg der Eulen und der Raben 
Wird ftets der Landwirt Dorteil haben. 
. 


Nie zu Infeln der gelangt, 
Dem vor jedem Waſſer banat. 
“ 


Du kannſt ſchon nach den Netzen 
Den Fiſcher richtig ſchätzen. 


Iſt der Tod nicht mehr entfernt, 
Selbft der Teufel beten lernt. 


Ein jeder glaubt, daß ihm das Schidjal 
Das langerfehnte Glüd verbürgt; 
Die Hoffnung ift ein Kederbiffen, 
An dem man ſich zu Code würgt. 


Aus italieniibem Vollsmunde. 
Die ganze weite Welt 
Aus Treppen nur befteht: 
Binanf der eine fteigt, 
Binab der andre acht. 
Ohne gefät zu werden, 
Keimen ftets Wunder auf Erden, 
Dem Dogel wird fein fchönfter Sang nicht frommen, 
Wenn er in ödem Thal zur Welt gefommen. 


Wenn jeder fegte vor feinem Haus, 
Die ganze Stadt ſähe fauber aus. 
* 


Den fhönften Sang erſchallen läßt 
Der Dogel nur im eignen Neſt. 


—n 


Zur Entwidlung des modernen Romans, Weber 
Emile Zolas Bedeutung für die moderne Litteratur 
ſchreibt Paul Mathier in der „Nouvelle Revue 
Internationale“ ; 

„Wie Balzac mit feinem außerordentlichen Genie 
alle Romanſchriftſteller der erften Hälfte unſers Jahr⸗ 
hunderis überragt, jo hat ſich in der zweiten Hälfte 
Emile Zola unbejtritten ben erften Plab errungen, 
durch jeine gewaltige Begabung wie durch jein un- 
ermüdliches Titterarifches Schaffen. Während der 
Verfafjer der ‚Rougon-Macquart‘ in der lebendigen, 
kraftvollen Darftellung und der Zeichnung von Typen 
wie Goupeau und Nana, die klaſſiſche Figuren bleiben 
werden wie Gaudiffart oder Grandet, feinem Lehrer 
und Vorbild gleihlommt, übertrifft er ihn durch 
ſtiliſtiſche Schärfe und Mlarheit und durd den ein” 
heitlichen Charakter feines ganzen Schaffens. 


Loſe Blätter. 


„Zola hat nicht nur den Ruhm, der Schöpfer 
einer neuen Schule zu fein und bie Legion ber 
‚Naturaliften‘ ins Feld geführt zu haben, die ſich 
auf feine Theorien ftüßen, jondern er hat aud) das 
Verdienit, eine vor ihm nur unentwidelt vorhandene 
Gattung des Romans geichaffen zu haben, indem er 
ihr die eigentliche, volllommene Form gab: den 
fozialen Roman. 

Dieſer ift bei Zola nicht mehr der foziale Theien- 
roman, der dem Verfaljer vor allem als Mittel 
dient, feine Anſchauungen eindrudsvol” vorzuitagen, 
fondern der foziale Roman, der durch ein getreu 
Bild von Zuftänden, durd) eine unparteiiſche Schil- 
derung des Lebens und der Menjchen den Lejer zum 
Nachdenken zwingt, ihn anregt, um ſich zu ſchauen 
und im Geifte an allem menſchlichen Elend Anteil 
zu nehmen. 

„Fugöne Sud hatte in feinen ‚Mystöres de Paris 
Studien über das Volt machen wollen, aber jeine 
Feuilletoniſtenphantaſie verführte ihn unglüdlicer- 
weije, mit trefflichen, wahrheitsgetreuen Schilderungen 
unwahrſcheinliche Abenteuer und rein erfundene Typen, 
wie den Prinzen Rodolphe, zu verquiden. 

„Us Zola feinen ‚Assommoir‘ ſchrieb, hütele er 
ſich forgfältig, in einen derartigen Fehler zu verfallen; 
diefer Roman enthält feine jener Tonventionellen 
Figuren, die beftimmt find, durch ihren Mut und 
ihre Vorzüge fentimentale Leferinnen zu enthufiat 
mieren, und feine wunderbaren Abenteuer, ſondern 
volle, ungejhmintte Wirklichkeit, wogendes, zudendes 
Leben. Die Handlung des Romans ftellt ein furdt- 
bares Drama dar, taufendmal erjchütternder als 
alles, was ih in Suss Werken abjpielt — ein 
berzbewegendes Drama aus dem Alltagsleben, das 
den Lefer ängftigt und beflemmt, weil er weiß, daß 
es wahr ift und alle Tage vorfommt; er weih, dab 
fi) derartiges täglich in den Arbeitervierteln abjpielt, 
dab es vor den Schenktiihen in den Weinftuben 
feinen Anfang nimmt, fid) zu Haufe, in Gegenwart 
der Frau und der Kinder, fortjept und im Hoſpital 
oder vor dem Schmwurgeriht und im Zuchthaus 
endigt — es iſt das Drama des Xrinfers, in 
dem der Allohol fein Opfer in Schmach und Tod 
führt, 

„Aus dem Buch entwidelt fich eine Lehre; der 
Verfaſſer läßt die Thatſachen reden, er ſelbſt tritt 
dabei völlig zurüd; man fieht nur die Perfonen, 
deren Thun und Treiben er belaufcht und die er mit 
folcher Lebenswahrheit in feinen Roman geſchildert 
bat, daß wir fie kennen, ihnen zuhören, fie beobachten, 
ihr Dajein mitleben, ihre Leiden und ihr Elend mit» 
durchmachen. Wir befommen Mitleid für diefen 
Goupeau, der, urjprünglid ein fleißiger Arbeiter, 
durch das Verhängnis in eine unfreiwillige Unthätig- 
feit verjeht und jchließlih dem Müßiggang in die 
Arme geführt wird; die Trägheit führt ihn ins 
Wirtshaus, Hält ihm dort in langem, abftumpfendem 
Stillfigen beim vollen Glaſe feft, das ſchnell geleert, 
dann wieder gefüllt und von meuem geleert wird, 
ftundenlang, während um ihn her in dichtem Oualm 


by. Gage 


Loſe Blätter. 671 


färmende Geſpräche und Wortwechſel geführt werben. 
Man braudt nur in ein Arbeiterviertel zu gehen; 
dort wird man ‚„Bec-Sal&‘ und „Mes bottes‘ geftifu- 
lieren jehen und wiebererfennen, wie fie Zola in 
feinem Buch geſchildert hat. 

„Dann wird man ſich von einem tiefen Mitleid 
mit diefen Unglüdlihen ergriffen fühlen ; denn wenn 
man den Roman ihres harten Dajeins gelejen hat, 
fennt man die Urſachen ihrer fittlihen Berfommen» 
beit, die geheimnisvolle Macht, die fie dem Verderben 
zuführt, Goupeau trinft, um ſich auf andre Gedanten 
zu bringen, um die Zeit totzuichlagen, dann aus 
Gewohnheit und endlich aus Bedürfnis; der Alkohol 
wird ihm ebenfo unentbehrlich wie das Brot, fogar 
in noch höherem Grade — ihm erfeßt das Getränk faſt 
die Nahrung; Gervaife, feine Frau, trinkt, um ſich 
zu tröften, um ihre Sorgen zu ertränfen, um den 
Jammer ihrer traurigen Lage zu vergeilen; das 
Refultat ift das gleiche: bald fann auch fie das töd« 
liche Gift nicht mehr entbehren. 

„Das ift der foziale Roman, der unvergleichlich 
berebter wirft, als alle Tageschronifen in den Zei— 
tungen, alle Refriminationen der Moraliften, alle 
ärztlichen Statiftiten; der ‚Assommoir* ſchildert nicht 
nur das Uebel, fondern er legt auch deijen Urſachen 
bloß, und zwar nicht in einer fühlen Aufzählung von 
Ihatfahen, jondern in einem padenden, nad) dem 
Leben gemalten Büde von der Hand eines Mannes, 
der gejehen und, was er gejehen, getreu gemalt hat... 

„Der ‚Assommoir* hat Zolas Ruf begründet; 
als dieſes Buch erichien, wurde er mit allen denf- 
baren Angriffen, Schmähungen und Beleidigungen 
überjgüttet. Man befchuldigte ihn, er ſuche den 
Skandal, er gefalle fih im Schmuß. Der große 
Säriftfteller hatte ein Meifterwerk gejchaffen, das 
andre hervorrufen mußte; er hatte den Schriftitellern 
der Zufunft den Weg gewieſen. Zola wurde an« 
gegriffen wie alle Neuerer — wie Victor Hugo, als 
er den Klaſſikern den Krieg erklärte, die ihm nicht 
verzeihen konnten, dab er einen neuen Ton in die 
Litteratur gebracht hatte, 

„Zola hatte alle diejenigen gegen ſich, die nur 
einen Roman & la Dumas oder Feuillet verjtchen: 
die alten, ewigen Liebesgeſchichten einesjungen Mannes 
und eines jungen Mädchens, oder die ewigen Ehe- 
brüdhe, oder auch Geſchichten von Abenteurern, Eifen- 
freffern, Mustetieren, Verrätern und ritterfichen 
Helden. 

„Man wollte nicht verftehen, daß der gewaltige 
Einfluß der fozialiftiihen Ideen ſich nicht auf das 
enge Gebiet der Politif beſchränken konnte, daß er 
aud in der Litteratur eine meue Strömung bervor« 
bringen mußte. Auf dem Felde der Politik Hatten die 
neuen Theorien beredte Verteidiger und Erflärer ge— 
funden, und fo war es nur ganz natürlich, da& Romans 
ſchriftſteller die Verhältniſſe unterfuchten, welche die 
neue Lehre erzeugt, die Urfachen, welche zu dem Kampf 
jwüchen dem beftehenden Regime und dem Bolfe 
geführt Hatten. 

„In der gegenwärtigen, unruhigen, fieberhaften 


Zeit offenbart ſich in allen Schichten der Geſellſchaft 
ein Gefühl der Angft, der Bangigfeit vor einer 
ſtürmiſchen Zufunft; aufrührerifch gärt und brobelt 
es in dem Gewühl des Proletariats; ab und zu 
werden Drohungen im Volfe laut; die Volkslava 
ſcheint ſich in verderblichen Strömen über die luxuriöſen 
Stadtteile ergießen zu wollen, in denen die glüdlichen 
Befigenden lachen und lärmende Feſte feiern. Dann 
wird alles wieder ftill und die Ordnung fehrt wieder; 
aber dieſe Ruhe an der Oberfläche ift beängfligender 
als der Lärm, denn man jpürt unter dieſer jchein- 
baren Gelafjenheit den unterdrüdten Groll und bie 
verhaltene Wut... 

„In einem Roman, der vielleicht fein ſchönſtes 
Werk ift, hat Zola die großen Arbeiterzentren ge— 
ichildert; im ‚Assommoir* hatte er den durch bie 
Lajter der großen Städte verborbenen Arbeiter date 
gejtellt ; im ‚Germinal* ſchildert er die Welt der Gruben 
arbeiter, jene Menſchen, die ihr Leben unter der 
Erde, fern von den Freuden der Sonne und der 
freien Luft verbringen, in engen Gängen fi ab— 
quälen, deren Steinlohlenwände fich wieder zuſammen⸗ 
ſchließen zu wollen jcheinen, wo eine erftidende Hitze 
bherricht und die Atmoſphäre durch die aus ben 
Höhlungen auffteigenden Gafe verborben ift. 

„Trotz der gewollten Objeltivität der Darftellung 
geht ein Schauer des Mitleids durch das Bud); 
manche Schilderungen empören, andre rühren; wenn 
man dieſe Kapitel gelefen hat, in denen das qualvolle 
Leben und die harte Arbeit der Minenarbeiter be= 
jchrieben ift, verfteht man erft das Ungeſtüm, mit 
dem gewijle Forderungen vorgebradht werden. Der 
Verfaſſer hat jedoch fein Wort aus feiner Feder 
ſchlüpfen laſſen, das feine Anfichten erraten laſſen 
fönnte; er iſt fühl geblieben wie ein Regiſtrator, der 
die Refultate einer Enquete zufammenftellt; er will 
dem Leſer feine Meinung aufbrängen, er überläßt 
es ihm, aus dem Buche Lehren zu ziehen und Be— 
trachtungen darüber anzuftellen. Dieſes großartige, 
gewaltige Werk durchzieht der Geruch des Boltes‘ ; 
wenn man es gelejen hat, jo fann man ſich den Haß 
und die Wutausbrüche diejes ‚Menichenviehs‘ erlären, 
defjen erziwungene Refignation plößlich in das furdt» 
bare Toben des Aufruhr: umſchlägt. 

„sm ‚Germinal‘ hat der Dichter die Arbeiterwelt 
in allen ihren Manifeftationen gejchildert: Streils, 
Zumulte, Meetings, Wahlen, Kämpfe gegen die 
Armee. Nach diejem Buche würde es Thorheit fein, 
einen andern Roman über denjelben Gegenftand 
jhreiben zu wollen: alles ift hier in fertiger, voll» 
fommener Weije gejagt. 

„Mit dem ‚Germinal‘ hatte Zola, mehr als mit 
feinen andern naturaliftiihen Studien, die junge 
Generation zum Schaffen angeregt; er wies ihnen 
darin den Weg, den er durch eine tiefe Furche be 
zeichnet hatte. Aber was auch daraufhin in diefem 
Genre noch gejhaffen werden mag, — ‚Germinal‘ 
wird immer der Typus und das Meiſterwerl des 
fozialen Romans bleiben. 





672 


„Der Anftoß ift aljo jet gegeben. Die alten 
Formen, in die man bislang den Noman gegofien 
hatte, find erweitert, Mit Dumas hat ber hiftorische 
Roman, den er mit feinem bedeutenden Genie belebt 
hatte, jein Ende gefunden; feine Nahahmer find 
lächerlich und ihre Erzählungen lindiſch. Die heutigen 
Beuilletoniften laſſen fi mit Ponfon du Terrail*) 
nicht im entjerntejten vergleichen; ihre Verbrechen, 
ihre Attentate find ſchon unzählige Male dageweien ; 
ihre Stoffe find abgenügt — mur litterariih un« 
gebildete Leſer können ſich für ihre Geſchichten inter- 
eflieren. Der pſychologiſche Roman wird nicht lange 
leben; jeine Beliebtheit ift künſtlich gemacht, wie die 
Marionetten, die er auftreten lieh, und die Empftn« 
dungen, die er ihnen beilegte. 

„Ganz allein der naturaliftiihe Roman hat uns 
in den lebten dreißig Jahren Meijterwerfe beichert. 
In der gegenwärtigen Zeit der großen jozialen Be- 
wegungen müflen ſich die Leſer mehr als je von den 
banalen Geſchichtchen angemwidert fühlen, die nur 
darauf ausgehen, zu unterhalten; man will, da der 
Autor zum Denken anregt, indem er babei zugleich 
unterhält; und feilelt nicht in der That ‚Germinal‘ 
mehr als das abwechslungsreichte Feuilleton, und 
unterrichtet es nicht beiier über die Bergwerle als 
das ausführlichfte Spezialwert ? 

„Den jozialen Roman ins Leben gerufen zu 
haben, wird immer das Verdienft der naturaliftiichen 
Bewegung in der Litteratur bleiben. Man wird dem 
Naturalismus verzeihen, daß er eine Anzahl von jeichten 
Tröpfen ermutigt hat, auf gewifje Senjationsgelüfte 
zu fpelulieren und gemeine Schmußgefhichten zu 
Ichreiben: alle dieſe unzüchtigen Produlte erſcheinen 
in den Auslagen der Buchhandlungen nur, um bald 
darauf wieder in die Gofje zu fallen, aus welcher 
Individuen ohne Vorurteile fie herausgezogen hatten. 
Uebrigens befommt man in Frankreich dieſe une 
jaubere „Litteratur“ bereits jatt (2) ; heutzutage ift es das 
Ausland, wo derartige Sachen Anklang finden. (?) 

„Aber die Namen diejer Shamlofen Pornographen 
werben längjt vergeljen fein, wenn man noch immer 


die großartigen fozialen Studien der naturaliftiichen ! 


Schriftſteller lieft, die ihre Würde gewahrt und ihren 
Beruf in Ehren gehalten haben. Das fichert der 


*) Ein in Deutfchlarnd nur wenig belannt geworbener franjd- 
ſiſcher Romanſchrifiſteller (1829— 1871), der fi durch große Er ⸗ 
findungsgabe auszeichnete. 


== — —— — 


Unfre verehrlichen Mitarbeiter werden freundlichſt erjucht, den für die Zeitſchrift „Aus fremden Zungen‘ 


beftimmten Ueberjegungen 


Loſe Blätter. 


naturaliftiichen Periode einen ehrenvollen Pla in 
der Geſchichte der Litteratur.“ 


Kleine Mitteilungen. In Victor Hugos Geburis- 
ſtadt Bejancon wird die Errichtung eines Denkmals 
für den Dichter geplant. Der Stadtrat hat die 
Subjfription dafür mit dem Betrage von fünftaujend 
Franlen eröffnet. — Auf der Place Malesherbes in 
Paris joll ein Denkmal Alerandre Dumas des Yün- 
geren errichtet werden. Eine Subjfription für diefen 
Zwed ift bereit® im Gange, und da Dumas in 
Frankreich nod immer fehr populär ift, wird e 
vorausfichtlich weniger Schwierigfeiten machen, das 
nötige Geld zujammenzubringen, als dies in frant- 
reich für derartige Zwede gewöhnlich der Fall if. 
— Der in Not geratene amerifanijche Humoriſt 
Mark Twain hat es abgelehnt, das Ergebnis einer 
von danfbaren Lejern für ihn veranftalteten Samm- 
lung in Empfang zu nehmen. In einem an den 
„Herald“ gerichteten Schreiben jagt er, es ſei no 
Zeit genug, Hilfe anzunehmen, wenn einmal wirllich 
erwieien fei, daß er nicht mehr arbeiten könne. Die 
eingelaufenen Gelder follen an die Geber zurüd- 
erftattet werben. 


— 


Eingefandte Bücher und Schriften. 


Geſchichte der Weltlitteratur nebit einer Ge 
ſchichte des Thenters aller Zeiten um 
Bölter. Herausgegeben von Julius Hart. Het J. 
Verlag von J. Neumann in Reudamm. 

Das a 40 Hefte berechnete, populär * 
und mit inſtruktiven Illuſtrationen 
veripricht nach dem vorliegenden 1. t fir = 
Kreiſe ein erwünſchtes, uchbares Haut und 
Familienbuch zu werden. 


SKrafinsfi, Graf Sigmund. Drei Gedanten des 
Heinrich Ligieza. Poetiiche Erzählungen. Aus dem 
Polniſchen überjegt und mit einer litterar⸗hiſtoriſchen 
Einleitung verſehen von Vincenz Strofa. Arafar. 
Am Verlage des Verfaſſers. 


Schwabenland. Illuſtrierte Halbmonatsjchrift. Heraus 
gegeben von Eugen Palmer. -I. Jabrgang 189. 
Nr. 5 und 6. Verlag von Brügel & Pier in 
Stuttgart, 


1) Angaden über Zahr und Ort des Erfheinens des Originals, jowie 
2) Rurze Biographifde Paten über den Ferſaſſer 


beizulegen. 


Die Redaktion behält fi vor, den Einfender im Falle der Annahme einer Arbeit mit der Erweiterung ber 
biographiſchen Daten zu einem biographijchen Aufſat für die Rubrik „Loje Blätter“ zu beauftragen. 


Stutigart. 


Deutfhe Verlags: Anftalt 
Kitterarifche Abteilung. 





Berantwortlier Aedalieur: Aarl Bolboevener in Stutigart. Drud und Verlag der Deutſchen Berlags-Anftalt in Etutigart. 
Briefe und Eendungen find nur'an bie Deutſche Yerlags- Anhalt in Stuttgart — ohne Perjonenangabe — zu riätm 


Ramuntcho. 


Pierre Loti. 


Aus dem Iranzöfifchen überfeßt von &. Vhiliparie. 


Schluß. 


XXXI. 

Ulm zwölf Uhr kehrte Ramuntcho in fein einſames 
Haus, zu feiner Mutter zurüd, 

Die fieberhafte, künſtliche Befferung des Morgens 
dauerte fort. Die alte Doyambunı pflegte Frandita, 
und dieſe behauptete, fie werde nun genefen. In 
ihrer Sorge, ihn unbejchäftigt und nachſinnend zu 
ſchen, wollte fie durchaus, daß er auf den Wat; gebe, 
um dem Tonntägigen Balljpiel beizuwohnen. Bon 
Süden ber wehte ein warmer Wind; nichts mehr 
war von dem fühlen Schauer des Morgens zu jpüren, 
Im Gegenteil, über den roten Wäldern, den toft« 
gelben Farnen, auf den Wegen, wo der traurige 
Blätterfall fortdauerte, lag eine Sonne und eine 
Atmoiphäre wie im Sommer, Allein der Himmel 
verhüllte fih mit diden Wolken, die plößlich hinter 
den Bergen bervorfamen, als ob ſie dort gelauert 
hätten, um alle auf ein gegebenes Signal zu er- 
ſcheinen. 

Die Ballpartie war noch nicht feſtgeſtellt; einige 
Männergruppen redeten heftig bin und ber, als 
Ramuntcho auf dem Plafe erſchien. Schnell war er 
umringt, alle riefen ihm freudig zu und forderten 
ihn einjtimmig auf, in das Spiel einzutreten und 
die Ehre der Gemeinde zu retten. 

Er getraute fich nicht, da er jchon feit drei Jahren 
nicht gefpielt hatte und fein Arm ungelenfig gewor— 
den war. 

Shliehlih gab er nad) und fing an, ſich jeiner 
Jade zu entledigen ... Allein, wen fie jekt anver⸗ 
tranen? Das Bild Graziellas, wie fie in den erften 
Reihen ſaß und die Arme ausftredte, um feine Jade in 
Empfang zu nehmen, erſchien ihm plößlih! Wem denn 
fie Beute zumerfen? Gewöhnlich vertraute man fie 
jemand Befreundetem an, wie es die Toreadore mit 
ihren golobeftidten jeidenen Mänteln thun . . . Er 
warf fie diefes Dial aufs Geratetvohl, einerlei wohin, 
auf den Granit der alten, mit Herbſiſtabioſen bededten 
Bänle. Die Partie begann. Anfangs wußte er 
ſich nicht zurecht zu finden und verfehlte einige Mal 

us fremden Zungen, 1807, IL 15. 


das Meine, tolle, hüpfende Ding, das in der Luft 
aufgefangen werden joll. Nachher jedoch bot er alles 
auf, und es gelang ihm wieder, gewandt und ficher 
wie früher zu fpielen. Seine Muskeln hatten an 
Kraft gewonnen, was fie vielleicht an Gewandtheit 
eingebüßt. Neuerdings jauchzte die Menge ihm zu, 
und er ichwelgte wieder im phyſiſchen Rauſche, in der 
Freude, ſich zu bewegen, zu hüpfen, zu fühlen, wie 
feine Glieder gleich flarten elaftischen Federn auf: 
jchnellten, und ringsum den begeifterten Applaus zn 
hören... 

Dann fam die Nubepaufe, wie gewöhnlich in 
der Hälfte lang beftrittener Partien ,.., Es war 
der Montent, wo ſich die Pelotaris außer Atem, mit 
wallendem Blute, roten, zitternden Händen hin— 
jeßten und den durch das Spiel unterbrodenen Ge— 
dankengang wieder aufnahmen... 

Wieder überlam ihn das Weh des Alleinfeins... 

Ueber all den Köpfen, über den Wollbaretten, den 
bunten, leichtgeidjlungenen Tüchern zog ſich am 
Himmel ein Unmetter zuſammen, wie meiften® nad) 
langem Südwind. Die Lufi war völlig flar, ala ob 
fie dünner geworden fei, dünn bis zur Leere. Die 
Berge ſchienen aukerordentlich nahe gerüdt, Die Py— 
renden erdrüdten das Dorf; die ſpaniſchen ſowie bie 
franzöfiichen Höhen waren alle gleich nabe, als ob ſie 
aneinandergerüct würen. Ihr ausgebranntes Braun 
ſchien ſchärfer, ebenſo das intenfive Dunkelviolett. 
Dide Wollen, anſcheinend greifbar wie irdiſche Ma— 
terie, entjalteten ſich zu einem großen Fächer, ver— 
jchleierten die Sonne und erzeugten das Dunlel einer 
Sonnenfinfternis. Hie und da durch einen ſcharf 
gezeichneten, ſilberglänzend eingefaßten Riß ſah man 
den tief blaugrünen, faſt afrikaniſchen Himmel... 
Die ganze Gegend, in welcher das unbeſtändige Klima 
oft vom Morgen bis zum Abend ſich plötzlich ver» 
ändert, war auf einige Siumden, was Anblid, Teme 
peratur und Luft betraf, echt ſüdlich. Ramuntcho 
atmete Die belebende, aus dem äußerſten Süden ge= 
fommene trodene, milde Luft ein, Es war bie richlige 
Witterung feiner Heimat, das charalleriſtiſche Metter 


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674 Pierre Loti. 


diejes Landſtrichs am Bislayifchen Meere. Ein Wetter, 
das er immer vorzog und das ihn auch heute mit 
phyſiſchem Mohlbehagen erfüllte, ihn aber auch in 
große Seelenerregung verjegte, denn alles, mas 
fi) dort oben vorbereitete, alles, was ſich dort oben 
fo düster drohend anhäufte, gab ihm das Gefühl, 
ala ob der Himmel taub für der Menjchen Gebet 
jei, ohne Plan und ohne Leitung einfach ein befruchten- 
ber Herd von Gewittern, von blinder Schaffeng= und 
Zerftörungstrast; — und al& ihn während diefer Träu- 
mereien, noch atemlos, die Männer in Baretten, von 
andrem Schlag als er, beglüdwünicdhend umringten, 
antwortete er nichts, hörte er nicht. Er empfand 
nur die vergängliche Ueberfülle feiner Kraft, feiner 
Jugend, feines Willens und fagte ſich, dab er fein 
Leben noch geniehen wolle, alles verjuchen, ohne ſich 
von eitlen Befürchtungen, von eitlen, religiöfen Skru— 
peln zurüdhalten zu lafjen, um Graziella wieder zu 
gewinnen, — fie, der Wunſch feiner Seele und feiner 
Sinne, — feine einzige Braut. 

Nachdem die Partie ſiegreich beendigt war, kehrte 
er allein, traurig, aber feſt entichloflen heim, — ſtolz 
auf jeinen Sieg und die wiedergefundene Gewandt- 
beit, wohl begreifend, dab es ein Erwerbsmittel, 
eine Goldquelle und eine Macht fei, einer der eriten 
Spieler im basfiihen Lande zu fein. Unter dem 
Ihwarzen Himmel überall diejelben ſtarl markierten 
Tinten, diefeiben jcharfen, dunfeln Horizonte, immer 
derjelbe heitige, heiße, trodene Südwind, der Mustfeln 
und Gedanfen anregt. 

Nach und nad) jedoch jenkten fich die Wolfen immer 
tiefer herab, was für die allernädjite Zeit dauern- 
den MWetterumfchlag anzeigte. Er wußte e8 wohl, wie 
alle, die ed gewohnt find, den Himmel zu beobachten. 
Herbitfturm kündigt fi an, der den warmen, linden 
Lüften ein Ende bereiten und heftig an den Wäldern 
rüttelnd fie vollends entblättern wird. Nachher fommt 
die lange, kalte Regenzeit; dichter Nebel läßt die Berge 
wire und entfernt erjcheinen, und die traurige Winters 
zeit beginnt, trodnet den Pilanzenjait ein, erſchlafft 
die kühnen Pläne, löſcht Eifer und Erregung. 

Die erften Negentropfen fielen jchwer und weit 
voneinander auf die dicke Blätterichicht, Seine Mutter 
war allein, wie gejtern, als er zur Dämmerjtunde 
heim fam, 

Leiſe ſich hinaufſchleichend, fand er fie in aufe 
geregtem Schlummer und brennend heiß. 

Im Haufe umberirrend, verjuchte er, damit es 
weniger traurig bier ausiehe, ein großes Reiſigfeuer 
im hohen Stamine anzuzünden, allein es wollte nicht 
brennen und ging rauchend aus, 

Draußen fiel jeht der Regen in Strömen herab. 
Kaum noch erblidte man das Dorf, wie durd ein 
graues Bahrtuch Hinter den Fenſterſcheiben. Wind 
und Regenguß peitjchten die Mauern des einjamen 


Haufes, um welches wieder einmal das tiefe Duntel 
fich gelagert hatte, und dazu noch die große Etile, 
an welche Ramuntcho nicht mehr gewöhnt war. In 
fein Kinderherz ſchlich ſich nach und nad) ein bangez 
Gefühl der Einſamleit, des Verlaſſenſeins; ja er ver 
lor jogar feine Energie, das Bewußtſein feiner Liebe, 
feiner Kraft und Jugend, und vor dem nebeligen 
Abend Ihwanden feine Kampfes und Widerftand:- 
gelüfte. Seine vor einigen Minuten noch freudig 
ins Auge gefaßte Zukunft ſchien ihm nun erbärmlid 
und chimäriſch, — feine Zukunft ala Ballſpielet, alt 
armer Beluftiger der Menge, von dem Zufall einer 
Krankheit oder eines ſchwachen Moments abhängend; 
feine Hoffnungen zerrannen, da fie zweifellos auf 
feinem feften Grunde ftanden und in die Nacht ent: 
flohen waren. 

Da nahm er wie früher, als er nod ein Rind 
war, feine Zuflucht zum Multerherzen; er ftieg leiſe 
hinauf, um fie wenigjtens zu jehen, wenn audı 
ſchlafend, und neben ihr am Bette zu jein. 

Als er in ihrem Zimmer, weit von ihr, eine Meine 
Lampe angezündet, fchien fie ihm Durch das Fiebet 
noch mehr verändert als geftern. Die Möglichkeit, je 
zu verlieren, trat in feinem Geifte in noch viel ſchred⸗ 
licherer Weile auf, fortan allein zu fein, niemals 
mehr auf feiner Wange die Liebfojung ihres an ihn 
gelehnten Hauptes zu fühlen... Zum erftenmal fand 
er fie alt ausjehend, und beim Gedanken an die vielen 
Enttäwihungen, die fie ſeinetwegen erlebt, kam tiefe: 
Mitleid über ihn, — zärtliches, unendliches Mitleid 
angeſichts diefer Falten, die er noch nicht bemerit 
hatte, der ergrauten Haare an ihren Schläfen. 

O, ein tiefbetrübtes, hoffnungsloſes Milleid, mit 
der Ueberzeugung, dab es jeht zu jpät ſei, das Leben 
anders zu geftalten, und tiefer Schmerz, den er u 
möglich bewältigen fonnte, rüttelte an jeiner Bruft 
und verzog fein junges Gefiht. Ringsum wurde 
alles trüb vor jeinen Augen ; mit einem unwilllürlichen 
Bedürfnis zu beten, um Gnade zu bitten, fiel er auf 
die Kniee, legte jein Geficht auf das Bett der Mutter 
und tweinte endlich, heiße, heiße Thränen... 

XXX. 

„Wen haft du im Dorfe gefehen, mein Sohn?* 
fragte Frandita am nächſten Morgen während der 
Beſſerung, die fich ftet3 in der Frühe mad dem 
Fieber einftellte. „Wen haft du im Dorfe geieben, 
mein Sohn?“ 

Sie bemühte ſich, heiter zu ſcheinen, von gleid* 
gültigen Dingen zu reden; es war ihr fichtlih bang, 
die ernften Dinge zu berühren und damit feine 
jchmerzerfüllten Antworten heraufzubeichwören. 

„Ich ſah Arrochfoa, Mutter,” antwortete er in 
einem Tone, der fofort die brennende frage jurüd« 
tief. 

„Arrochloa? Und wie war er mit dir?“ 




































„hate getraute Nie — weiter zu reden, 
und ließ den Kopf ſinlen. 
x * agte er dir, mein Sohn?“ 


sen... dafi vielleicht . 

— wenn fie mic miederäße.. 

m Anftand zu glauben... 

Grregt über dieſe Mitteilung, ſehte ſich Franchita 

im Belle auf. Mit den mageren Händen ſtrich fie 

die ro Haare zurück, und ihre Augen wurden 

u Öplih jung und lebhaft; mit einem faſt böfen Aus- 

diuch Br Schadenfreude und des gerächten Stoljes 
je ei fi: 

„Das hat er dir gejagt?” 

 Bürbeft du mir verzeihen, Mutter, wenn ich 

"eh verfuchte?“ 

Kr R Er ergriff feine Hände, und beide jchwiegen, da 

4 jes wagte, den frevelhaften Gedanten auszujprechen. 

Fromme Strupel bewegten ihr Herz. 

- A ihren Augen erloſch der böje Blid, 

„Dir verzeihen?“ bob r mit leijer Stimme au. 

ja, das weißt du ... Allein the es nicht, 

itte Dich inftändig, mein Sohn; es würde eud) 

n Unglüd bringen, Denfe nit mehr daran, 

— ———— denle niemals daran!“ 

t hörten fie den Schritt des Arztes, der ſeinen 

m Befuc machte. Es war das einzige, lehte 

‚ fie im Leben darüber jprechen follten. 

micho wußle aber von nun an, daf fie ihn 

ich dem Tode weder des Verjuchs noch der Aus- 

3 iegen fludhen würde. Ihre Vergebung 

— und jeßt, da er ſich derſelben bewußt 


daß 
nimmt er 


—— fcant. 
t kräftigen Konititution war bie Krantheit 


m ‚wegen ungenügend gepflegt und hatte 
1 feinen Mitteln gleich anfangs nur Miß⸗ 

{ gebracht. Der jchredliche Gedante, 
müfjen, gewann nad und nad) bei 
Oberhand. Während der langen 
am ihrem Bette ftill und allein ver- 
‚die Wirflichleit diefer Trennung, 
es, des Begräbnifies ins Auge 


Leben, dad Haus, das er 
er die Heimat verliche, nachher 
jelte Verſuch im Kloſter Amez- 


7. 


jie traurige, daraufjolgende Zeit 


675 


queta, und alsdann wahrſcheinlich die Reife, allein 
und mit zerriſſenem Herzen, nah Amerifa... 

Auch der Gedanle an das große Geheimnis, das 
fie für immer mit fi) nehmen würde, das Geheimnis 
feiner Geburt, beſchäftigte ihm mit fteigender Qual, 

Endlich ſich über fie beugend und zitternd, als 
ob er einen Kirchenfrevel beginge, getraute er ſich zu 
jagen: 

„Mutter, ſage mir doch, wer mein Vater war!” 

Sie erbebte bei diefer großen frage, denn jie 
begriff wohl, daß fie verloren fein müſſe, da er es 
wagte, fie darnach zu fragen. Zögernd jchwieg fie eine 
Weile; in ihrem fieberglühenden Kopfe kämpfte fie 
einen harten Kampf. Sie war nicht mehr im ftande, 
ihre Pilicht zu erkennen, zu unterſcheiden; ihr lang⸗ 
jähriger Starrjinn kam angejichts des Todes beinahe 
ins Wanlen. 

Allein endlich entjhloffen, amtwortete fie im 
barſchen Ton der böjen Tage: 

„Dein Vater? Und wozu denn, mein Sohn? 
Was willſt du mit deinem Vater, der num jeit länger 
als zwanzig Jahren nicht an dich gedacht ?* 

Nein, es war entjhieden, zu Ende — jie war ent= 
ſchloſſen, es nicht zu jagen. Ueberdies war es jeht 
zu fpät. Im Augenblid, wo fie verfhwinden, dem 
Tode anheimfallen würde, wie jollte jie e8 da wagen, 
das Leben des Sohnes, das fie nicht mehr zu über 
wachen im ftande war, jo vollitändig zu ändern? Wie 
konnte fie ihn dem Bater überlaflen, der vielleicht einen 
glaubensloien, verdrojienen Menſchen, gleih ihm 
jelbft, aus ihm machen würde! Welche Berantwor« 
tung! Welch entieglicher Gedante! 

Nachdem ihr Entſchluß unwiderruflic gefaßt war, 
dachte fie an fich ſelbſt, denn fie fühlte zum erfien- 
mal, dab das Leben ſich Hinter ihr verjchliehen würde, 
und fie faltete die Hände zum Gebet, — 

Nah diejem Verſuch, der ihm beinahe gottlos 
vorgefommen war, beugte ſich Namuntdo vor dem 
Willen der Mutter und fragte nichts mehr. 

XXXIV. 

Es ging ſehr raſch mit ihr zu Ende; bald hatte 
fie verzehrendes Fieber, das ihr die Wangen rötete, 
bald verfiel fie ſchweißgebadet in einen Schwäche. 
auftand, und ihr Puls war faum fühlbar. Ramuntcho 
hatte nur mehr für feine Mutter Gedanfen. Graziellas 
Bid umſchwebte ihn nicht mehr während diefer ent= 
jeglichen Tage. 

Frandita war dem Tode nahe — ſtumm und 
anſcheinend gleichgültig verlangte fie nichts und Hagte 
niemals .. . Einmal jedoch, bei einer Nachtwache, 
rief fie plöglich den Sohn mit ſchmerzerfüllter Stimme, 
warf die Arme um ihn, zog ihn an jid und Ichnte 
den Kopf an jeine Wange. In diefer Minute jah 
NRamuntho in ihren Augen den großen Schreden 
vorüberzicehen — den Schredten des Fleiſches vor dem 





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676 


nahen Ende, der bei Menjchen wie bei Tieren ent- 
jehlich und der gleiche für alle it... Sie war wohl 
gläubig — oder vielmehr fie beobachtete die lirchlichen 
Gebräuche, wie jo viele andre Frauen um fie herum, — 
äußerft gewiſſenhaft, was Dogmen und Gottesdienft 
betraf, allein ohne Haren Begriff vom Jenfeits, ohne 
lihte Hoffnung ... Der Himmel mit all den 
ichönen, verheißenen Dingen ... ja, vielleicht ... 
Allein das ſchwarze Grab, wo nur Verweſung ift, 
war dort, nahe und ſicher. Gewiß, unerbittlich gewiß 
war au, daß fie nie mehr ihr zerftörtes Geficht 
an Ramunthos Wange lehnen würde, und im Zweifel, 
ob fie eine Seele habe, im Schreden und der Not 
vor der Vernichtung, Staub und Nichts zu werden, 
verlangte fie noch einmal nad) den Küſſen des geliebten 
Sohnes — und fie Mammerte fih an ihn wie der 
Schiffbrüchige, der im dunfeln, tiefen Waſſer untergeht. 

Er verftand recht gut, was ihm die armen, ihrem 
Ende nahen Augen jagten; und das innige Mit« 
leid, das er ſchon gefühlt, als er die Falten und das 
weiße Haar jeiner Mutter geſehen, ergoß ſich gleich 
einer Flut aus feinem noch jo jungen Herzen. Er ant« 
wortete auf ihren Ruf mit allem, was jein vom tiefften 
Weh überfülltes Herz an zärtlichen Piebkofungen geben 
fonnte, 

Aber das war nur von furzer Dauer. Sie gehörte 
niemals zu denen, die lange weich find, oder die es 
jeigen. 

Sie lieh die Arme los, warf ihren Kopf zurüd, 
ſchloß die Augen, bewußtlos jetzt, — oder ſloiſch ... 

Ramuntcho, vor ihr ftehend, getraute fich nicht 
mehr, fie anzurübren und meinte lautlos mit ab» 
gewandtem Kopfe — indes die fyeierabendglode zu 
(äuten anfing, den ftillen Frieden des Dorfes befang 
und die Luft mit milden, beſchützenden Klängen erfüllte, 
als ob fie denen, die noch einen andern Morgen er: 
leben, gute Nacht wünschte. 

In der Frühe, nachdem fie gebeichtet, verſchied fie 
ſtill und ftolz, wie wenn fie fich ihres Leidens, ihres 
Röchelns ſchämte, und die Glode dort drunten Tiek 
langſam, traurig Sterbegeläute erflingen. Am Abend 
war Ramuntcho allein mit dem Leichnam, dem kalten 
ftarren Körper, den man noch einige Stunden bei 
ſich behält und anfieht, dann aber fo eilig der Erde 
übergeben muß. 

XXXV. 

Acht Tage jpäter. 

Ein böjer Sturmwind rüttelte die Zweige der 
Bäume, als Ramuntho eines Abends in fein Haus 
voller Todesgrauen fam. Schon lag ald Vorzeichen 
des Winters ein leichter Reif im baskiſchen Sande, der 
die Blumen zeritörte umd dem fommerlichen Trugbild 
im Dezember ein Ende madte. 

Vor Franditas Thür waren die Dahlien und 
Geranien abgeftorben, und der zum Haufe führende, 


Pierre Loti. 


nicht mehr gepflegte Pfad verichwand unter einer 
Unmafje welter Blätter. 

In diefer erften Trauerwoche mußte ſich Ramuntcho 
mit taufend den Schmerz einwiegenden Stleinigfeiten 
bejhäftigen. Auch er hatte eine gewiſſe Eitelteit 
und wollte, daß alles auf lururiöje Weile und nad 
den alten Gebräuchen des Dorfes vor fich gehe. Der 
Leihnam wurde in einem mit ſchwarzem Sammet 
und filbernen Nägeln verzierten Sarge fortgetragen. 
Alsdann lamen die Totenmeflen, zu welchen bie 
Nachbarn in langen Happmänteln, die Nachbarinnen 
in langen ſchwarzen Gewändern und mit der Trauer 
fapuze erichienen. Sauter Dinge, die ihm bei jeiner 
Armut zu große Ktoften verurfachten, Bon der ehemals 
bei feiner Geburt von dem unbelannten Vater ge 
gebenen Summe war nur wenig übrig, da der größte 
Teil bei einem unredlichen Notar verloren gegangen 
war. Und jet galt es, das Haus zu verlaffen, die lieben 
alten Möbel zu verlaufen — kurz, fo viel Geld ala mög- 
(ic für die Flucht nad Amerika flüffig zu machen. 

Diejesmal fam Ramuntcho bejonders erregt nad 
Haufe, weil er ein Vorhaben ausführen wollte, das 
er von Tag zu Tag verfchoben hatte und worüber fein 
Gewiſſen in Unruhe war. Alles, was von feiner 
Mutter berrübrte, hatte er durchgeſehen und forg« 
fältig geordnet ; allein das Käſtchen mit ihren Papie- 
ten und Briefen war noch unberührt, und am diejem 
Abend wollte er es öffnen. 

Er war ſich nicht Mar, ob der Tod, wie jo viele 
glauben, den Zurüdgebliebenen ein Necht giebt, die 
Briefe zu lefen, die Geheimnifje der Abgejchiedenen 
zu durdwühlen. Verbrennen, ohne zu leſen, ſchien 
ihm ehrfurdhtävoller, erhabener. Jedoch hieße es zu 
gleich alles zeritören, was dem verlafjenen Sohne 
einen Anhalt geben konnte, um feinen Bater aufzu- 
finden. Was nun thun? Und wer hätte ihm raten 
können, da er niemand mehr auf der Welt hatte? 

Im hohen Kamine zündete er ein großes Feuet 
an und holte aus cinem der oberen Zimmer das bes 
unrubhigende Käftchen, ftellte e8 auf einen Tiſch ans 
Feuer und jehte ih, um nochmals zu überlegen. 

Gegenüber diefen faft geheiligten, fajt verbotenen 
Papieren, die er num berühren wollte und die der 
Tod allein im feine Hände gab, wurde er ſich in noch 
jchmerzlicherer Weife der unwiderruflichen Trennung 
von der Mutter bewußt; und er jaß in der großen 
Stille allein und weinte bitterlih ... 

Endlich öffnete er das Käftchen..... 

Seine Schläfen pochten. Es jchien ihm, als ob 
draußen unter den Bäumen, in der dunfeln Einfam« 
feit Geftalten auftauchten , als beivegten fie fih und 
fähen ihn durchs Fenſter an. Er hörte ein ber 
eignen Bruft fremdes Atmen, wie wenn hinter ihm 
jemand feuchte. Schatten verfammelten ſich, als ob 
fie bei feinem Borhaben beteiligt jeien. 





Ramuntcho. 677 


Es waren Briefe von derſelben Hand, die ſchon 
ſeit zwanzig Jahren bier aufbewahrt und mit der 
nahläjfigen, leichten Schrift, welche den Leuten aus 
der Gejellichaft eigen und in den Augen der Un— 
gebilbeten ein Zeichen des großen Standesunterſchiedes 
ift. Ein kurzer, unbeitimmter Traum von Proteltion, 
hoher Stellung und Reichtum gab feinen traurigen 
Gedanken auf einen Augenblid eine andre Wendung... 
Es war zweifellos, von welcher Hand die Briefe her— 
rührten, — dieſe Briefe, die er zitternd in der Rechten 
hielt und ſich nicht getraute zu leſen, ebeniowenig 
den Namen, mit dem fie unterfchrieben waren. 

Ein einziger noch war in einem Convert, und es 
fand darauf: „Frau Frandita Duval*, — ad) ja, 
er entſann ſich, gehört zu haben, daß feine Mutter, 
als fie die Heimat verließ, eine Zeitlang diefen Namen 
angenommen hatte... Es folgte die Bezeichnung der 
Strafe, der Hausnummer, was ihm peinlich zu lejen 
war und ihm, er mußte nicht warum, das Blut ins 
Geſicht trieb; alsdann der Name der großen Stadt, in 
welcher er zur Welt gelommen war... Starr vor ſich 
binjehend, ſaß er da und jah nichts weiter an... 
Plöglih trat vor feinen Geift das entſetzliche Bild 
diejes heimlichen Haushalts: wie in einer Borftabte- 
wohnung jeine Mutter, jung und elegant, als Ge» 
liebte irgend eines reichen Müfiggängers oder viel 
leicht eines Offiziers lebte. Beim Regiment hatte er 
ſolche Haushaltungen fennen gelernt, die wahrjchein- 
lich alle einander gleichen . . . Schwindel erfahte ihn, 
al& er die, welche er jo jehr verehrte, in diejem neuen 
Lichte flüchtig zu ſehen glaubte: die geliebte Ver— 
gangenheit wanfte hinter ihm, als ob fie in einen 
troftiofen Abgrund finfen wollte. Seine Hoffnungs« 
lofigfeit verwandelte ſich plöglih in Abſcheu gegen 
ben, der ihm das Leben geichenft. O, verbrennen, 
fo ſchnell als möglich verbrennen! Alle dieſe unglüd« 
feligen Briefe! ... Und er begann fie nacheinander 

ins Feuer zu werfen, wo fie rajch in Flammen übers 
gingen. 

Eine Photographie fiel jedoch heraus, und er 
fonnte nicht umhin, fie näher an die Lampe zu halten 
und fie zu betradhten. Der Eindrud war ein ſchmerz⸗ 
lid ergreifender, als feine Augen in die des halb» 
verwiichten und vergilbten Bildes blidten!... Es 
jab ihm äbnlih!... Mit tiefem Schreden fand er 
etwas von ſich jelbit in dem Unbekannten. Injtinttiv 
drehte er fh um, fürdhtend, die Gefpenfter in den 
dunfeln Eden jeien näher gelommen, um aud das 
Bild zu betrachten, 

Dieſe ftille, einzige und lebte Begegnung mit 
jeinem Bater war von faum abjhäbgarer Dauer, 
Raſch war fein Entichluß gefaßt: ins Feuer auch mit 
dem Bilde! Und er warf es halb zornig, halb ent» 
jeht in Die Glut der letzten Briefe; von allem war 
bald nur noch ein Häuflein ſchwarzer Aſche übrig. 


Fertig! Das Käſtchen war leer, Er warf fein 
Barett, das ihm Kopfſchmerzen verurfadhte, zu Boden 
und richtete fih auf. Schweiß ſtand auf jeiner 
Stirne, feine Schläfen pochten. 

Fertig! ... Zeritört alle diefe Erinnerungen von 
Schuld und Schande! Und jegt ſchien wieder alles 
ins frühere Gleichgewicht zu fommen, Er fühlte 
wieder die ſüße Ehrfurcht vor feiner Mutter, beren 
Gedächtnis durch den Tlolzen Alt, den er vollzogen, 
in feinen Augen gereinigt und ein wenig gerächt |chien, 

Sein Schidial war alfo an diefem Abend für 
immer entichieden worden. Er wollte der Namumicho 
bon ehedem bleiben, der Sohn Franchitas, Ballipieler 
und Schmuggler, ein unabhängiger Menſch, der nie= 
mand etwas ſchuldete und an niemand ein Wer 
langen ftellte. 

Er fühlte ſich aufgeheitert, frei von Gewiſſens- 
biffen und aud ohne Furcht in dem Sterbehaufe, 
aus welchem die Schatten, beruhigt und verfühnt, 
gewichen waren... 

XXXVI. 

An der Grenze, in einem Gebirgsdorſ. Schwarze 
Naht, gegen ein Uhr des Morgens. Eine Winters 
nacht, von Falten, ftrömendem Regen überſchwemmt. 
An einem übel ausfchenden Haufe, aus dem fein Licht- 
ſchein fällt, ladet Ramuntcho eine ſchwarze Schwmuggler- 
fifte mitten im Grabesdunfel auf jeine Schultern. 
Sthouas Stimme teilt Teife Die Befehle aus, mit 
einem Laut, wie wenn mit dem Bogen die lebten 
Saiten einer Bahgeige berührt würden, Ringsum 
in dieſer vollſtündigen Finſternis befinden ſich andre 
Schmuggler, ebenſo beladen und bereit, zum Abenteuer 


auszuziehen. 
Dieſe Märſche füllen jetzt mehr denn je Ramuntchos 
Leben aus — beſonders in den bewöllten Nächten 


ohne Mondſchein, in denen die Pyrenden nur ein 
ungeheures dunkles Chaos bilden. Da er ſo viel 
Geld als möglich für ſeine Flucht zuſammenſparen 
will, jo beteiligt er ſich bei jedem Schmugglerunters 
nehmen, ebenjowohl an denen, Die einen anftändigen 
Verdienſt abwerfen, al& an ſolchen, bei welchen man für 
fünf Franken das Yeben aufs Spiel ſetzt. Gewöhnlich 
begleitet ihn Arrochloa, nicht daß er es nötig hätte, 
fondern mehr aus Yiebhaberei oder zum Spaß. 

Arrochloa und Ramuntho find übrigens ungers 
trennlih und reden unumtmunden bon ihrem Vor— 
haben, Graziella beireffend, Arrochkoa iſt beſonders 
durch den Gedanken, eine ſchöne Heldenthat auszu— 
führen, angezogen, auch durch das Vergnügen, der 
Kirche eine Nonne zu entreißen und die Pläne feiner 
alten, gefühllofen Mutter zu durchkreujen. Ramuntd)o 
fnüpft, iroß feiner mandmal wiederkehrenden Sfrupel, 
an dieſes gefährliche Unternehmen feine einzige Hoff: 
nung, ja, es ift der Beweggrund jeder feiner Hand— 
lungen geworden. 


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678 Pierre Loti. 


Seit bald einem Monat ift der Plan in der 
Hauptjache feftgeftellt, und bei jeder Zuſammenkunſt 
an den Dezemberabenden, auf den Straßen, wo fie 
ſpazieren gehen, oder auch in den Wirtsfluben des 
Dorfes, wo fie ſich abjeits ſetzen, beſprechen fie die 
Mittel zur Ausführung, als ob von einem gewöhn- 
lichen Grenzabenteuer die Rede jet. 

„Es muß befonders jehr raſch gehandelt werden,” 
jagt immer wieder Arrochkoa. „Während der leber- 
raſchung einer erften Zufammenkunft, die für Graziella 
eine unfägliche Aufregung fein wird, muß man, ohne 
ihr Zeit zur Ueberlegung noch zur Faſſung zu lafien, 
den Verſuch machen, fie zu entführen... 

„Wenn du wüßteft, wie diejes Meine Alofter von 
Amezqueta, wo man jie hingebracht, ausjiebt! Vier 
alte Schweftern ſind in einem einfamen Haufe bei ihr. 
Ic) habe, wie du weißt, ein rajches Pferd, und wenn 
einmal die Nonne mit dir in meinem Wagen fibt, 
wer fönnte fie, ich bitte Dich, wieder einfangen ?...* 

An diejem Abend beſchloſſen fie, Jtchoua ins 
Vertrauen zu ziehen, als einen Mann, der vor bedenf= 
lichen Unternehmungen nicht zurüdjchraf, der braud)- 
bar bei ſolch nächtlichen Handjtreihen war und der 
für Geld alles that. 

Der Ort, von welchem fie heute auf den gemohne« 
ten Schmuggel ausziehen, heißt Landachloa und liegt 
in Frankreich, zehn Minuten von der Grenze entjernt, 
Die einjame Herberge fieht, jobald es dunfelt, wie 
eine Mördergrube aus. In dem Moment, wo die 
Schmuggler durch eine Hinterthür verfchwinden, kehren 
ipanifche Grenzjäger hier ein, die gemütlich über die 
Grenze gefommen find, um ſich bier fingend und 
trinfend zu belufligen. 

Die mit den nächtlichen Heimlichleiten und Um— 
trieben vertraute Wirtin ift joeben vergnügt zu den 
Seuten Jtchouas gefommen und berichtet in basliſcher 
Sprade: 

„Alles geht vortreiflih! Sie find alle betrunten, 
ihr lönnt fortgehen!. . .* 

Aber das ift leichter gejagt ala gethan. Nach 
ben erjten Schritten ſchon find alle durchnäßt, und 
troß ihrer eiſenbeſchlagenen Stöde gleiten fie auf 
den teilen, Mebrigen Pfaden aus. Keiner kann den 
andern jehen, man fieht überhaupt nichts, weder die 
Mauern des Dorfes, längs welcher fie gehen, nod) 
ipäter die Bäume, noch die Felſen. Sie tappen wie 
Blinde herum und flolpern jeden Augenblid unter 
einer wahren Sündflut, und ala zweiter erichwerender 
Umſtand betäubt fie das entjeßliche Naufchen des 
Regens. 

Ramuntcho, der zum erſtenmal dieſen Weg zurüd« 
legt, hat feine Borftellung von den fteilen Gemspfaden, 
auf denen fie gehen; er ftößt hie und da mit feiner 
Laſt an ſchwarze Dinge, — es find Baumzweige — 
und gleitet mit beiden Fühen aus, wanft, jtemmt ſich 


und ſtößt aufs Geratewohl mit der einen freien Hand 
den fpigen Stod in die Erde, 

Arrochloa und Ramuntcho beichließen den Zug 
und folgen der Bande mit Aufbietung ihres ganzen 
Spür= und Gehörſinns; die Borausgehenden maden 
mit ihren Strobpantoffeln faum jo viel Lärm wie ein 
Wolf im Walde, 

Im ganzen find es fünfzehn Schmuggler auf der 
etwa fünfzig Meter langen Strecke, ftaffelförmig im 
ſchwarzen Duntel des Gebirgs unter dem unaufhörlichen 
Negengubaufgeftellt. Sie tragen Kiſten voller Jumelier- 
gegenftände, Uhren, Ketten, Roſenkränze oder in 
Wachstuch eingehüllte Ballen Lyoner Seide. Boran 
gehen zwei Männer als Nelognoscierer, welche mit 
Waren von geringerem Werte beladen find, im Not- 
fall die ſpaniſchen Flintenſchüſſe auf fich lenken und 
alsdann die Flucht ergreifen, nachdem fie alles zu 
Boden geworfen. Selbitverftändlich ſpricht alles nur 
leife, troß des trommelnden Negens, der jeden Laut 
erjtict. 

Ramuntchos Vormann dreht ſich um und ap 
ihm zu, er jolle auf jeiner Hut jein. 

„Bor ung ift ein Bach,“ — der ſchaumende Bad 
verrät fich übrigens durch fein ftarfes, den Regen über: 
tönendes Rauchen — „wir müfjen ihn paſſieren! ...“ 

„So, und wie paffieren? Durchs Waſſer gehen?" 

„Nein, nein, das Waller ift tief. Folge uns! 
Es liegt ein Baumftanım über dem Bad.“ 

Ramuntcho, herumtaftend, findet in der That den 
naſſen, jhlüpfrigen, runden Baumſtamm. Jeßt fteht 
er darauf und geht vorwärts auf diefer Alfenbrüde 
im Walde, immer mit der ſchweren Laft, indeſſen 
unter ihm der unjichtbare Strom ſchäumt und braufl. 
Er fommt, weiß der Himmel wie, mitten in der dun ⸗ 
fein Nacht über das raujchende Waſſer. 

Am andern Ufer müfjen fie mit verdoppelter 
Vorſicht und Stille weitergehen. Die Bergpfade, 
das jteile Abfteigen, das Ausgleiten find zu Ende, 
und fie jind jet in der noch befflemmenderen Nacht 
des Waldes. Jeht kommen fie in eine vom Regen 
durchweichte Ebene, wo die Füße einfinfen. Die 
mit Bändern an die jehnigen Beine gebundenen 
Strohpantoffeln laſſen ein Meines Plätjchern verlaufen, 
ein „Flock! Floch!“ wie gepeitichtes Waſſer. Die 
Augen der Schmuggler, wahre Katzenaugen, die ſich 
in der Dunfelheit erweitern, jehen undeutlich, dab 
fie ringsum freier Raum umgiebt, daß fie nicht mehr 
eingeichloffen unter Bäumen gehen. Gie atmen 
leichter und nehmen eine regelmäßigere Gangart an, 
bei der fie ausruhen. 

Jetzt erſchallt Hundegebell jehr weit dort drunten, 
und plöglich bleiben alle unbeweglich, wie wenn fie 
unter dem Negenguß verfteinert wären. Sie warten 
eine Viertelftunde lang, ohme zu reden, ohne ſich zu 
bewegen. Auf ihrer Bruft perlt der Schweiß und 





Ga in ee 


Ramuntdo. 679 


vermijcht fich mit dem dom Himmel herabjallenden 
Waſſer, das durch die Hemdlragen eindringt und bis 
zum Gürtel fließt. Bei dem fortgefeßten Horchen hören 
fie die eignen Ohren braufen, die eignen Adern Hopfen. 

Diefe Spannung der Sinne gehört übrigens zu 
den Dingen, die ihnen am meiflen bei ihrem aben- 
teuerlihen Leben gefallen. Sie bereitet ihnen eine 
fait tieriſche Freude, verdoppelt die Mustelfraft und 
ruft in ihnen die uriprünglichiten menſchlichen Ein« 
drüde in den Wäldern oder in den Scilfgegenden 
der eriten Zeiten zurüd. Es wird noch Jahrhunderte 
von Zivilijation bedürfen, um diefen Hang zu gefähr— 
lichen Ueberliftungen, welcher manche Kinder zum Ver« 
ftedenfpielen, manche Männer zu hinterliftigen Nach— 
ftellungen,, zu Scharmüßeln, oder zum Schmuggel 
treiben, zu unterdrüden. — Die Hojhunde ſchweigen 
endlich beruhigt oder abgelenkt, weil fie andres wittern. 
Tiefe Stille lehrt wieder zurüd, jedoch nicht beruhigend, 
da dort drumten die Tiere wachen. Auf ein dumpfes 
NKommandowort Itchouas nehmen die Männer eine 
langjamere und zögernde Gangart an; alle gehen ges 
beugt, in ſich gefunten gleich einem wilden Tiere auf 
der Lauer. 

Wie es jheint, fommen fie jet an die Nivelle ; 
man jieht den Fluß nicht, da man gar nichts fieht, 
allein man Hört ihn raufchen, und jet verhindern fie 
lange, biegjame Dinge am Gehen und jtreifen die 
menichlichen Körper; es ift das Schilf am Ufer. Die 
Nivelle bildet hier die Grenze. Sie müfjen durch das 
Waſſer auf einer Neihe jchlüpfriger Felsſtücke von 
einem Stein zum andern hüpfen, troß der Lajt, die 
ihren Gang erſchwert. Allein vorher halten jie am 
Ufer an, um ſich zu fammeln und auszuruhen. Vor 
allen Dingen zählen fie ſich mit leifer Stimme; alle 
find zugegen, Die Kiſten find ind Gras gelegt 
worden und erjcheinen dort ala etwas Helleres, dem 
menjhlichen Auge einigermaßen Erfennbares, indes 
auf dem Hintergrund der Finſternis die flehenden 
Männer lange gerade Streifen, jhwärzer noch als 
der leere Raum der Ebene, bilden. Als Jtchoua an 
Ramuntcho vorüberfommt, flüjtert er ihm ins Ohr: 

„Wann erzäglit du mir von dem Streich, den du 
auszuführen gedenkjt, Meiner?“ 

„Nachher, bei unfrer Rückkehr! . . . O, feien Sie 
ohne Sorgen, Itchoua, ich erzäble Ihnen alles.” 

In diefem Moment, wo jeine Bruſt feucht, 
jede Muskel im Thätigfeit, feine ganze Kampfes- 
fähigfeit verdoppelt und durch die ihm zugemutete 
Veihäftigung gereizt ift, zögert Ramuntcho nicht 
‚mehr. In der gegemwärtigen Anfpannung jeiner 
Kraft und Kampfesluſt erfennt er weder moraliſche 
Feſſeln noch Sfrupel an. Der Borjchlag feines 
Fteundes, Itchoua ind Geheimnis zu ziehen, jtößt 
ihm nicht mehr ab. 

Was liegt daran? Er wird fi an den Nat des 


liftigen, gewaltthätigen Mannes halten, jollte e8 bis 
zur Entführung, zum Einbruch kommen. In diejer 
Nacht ift er der zügelloje Nebelle, dem man die Ge— 
fährtin feines Lebens, die Angebetete, die Unerjekliche, 
geraubt hat, und er will fie haben, fofte es, was es 


wolle. 

Die Undeweglichleit dauert fort, der Atem wird 
ruhiger, und indeljen die Männer die durchnäßten 
Barette abjhütteln, mit der Hand über die Etirn 
fahren, um die augenverjchleiernden Schweih- und 
Regentropfen abzuwijchen, überfommt jie ein frofliges 
Gefühl — feuchte Kälte durchdringt fie; ihre nafjen 
Kleider liegen eisfalt auf ihnen, ihre Kräfte ſchwinden, 
und es bemächtigt fich ihrer nah und nad infolge 
diejer Anftrengung nad) jo vielen andern eine Art 
Betäubung in dieiem ſchwarzen Dunfel, unter dem 
fortdauiernden Regenguß. 

Uebrigens find fie, als verhärtete Landftreicher, die 
zu Stunden und an Orte fommen, wo andre Menſchen 
nie erjcheinen, an Wind und Wetter gewöhnt, jeder 
Furcht in der ſchwarzen Nacht unzugänglich und im 
Itande, ohne Obdach, wo es auch fei, bei Nacht und 
Regen, im gelährlihen Sumpfe oder in einjamer 
Schlucht zu ſchlafen ... 

Vorwärts jetzt, die Reiſe hat lange genug ge— 
dauert! Es kommt num der ernjte, entjcheidende 
Moment der Grenzüberichreitung. Alle Mustleln 
find angeipannt, die Ohren laujchen, die Augen er— 
weitern ſich. 

Zuerſt fommt der Vortrab, alädann einer nad) 
dem andern die Träger der Ballen, der Kiſten, 
jeder vierzig Kilo auf dem Kopf oder der Schulter 
tragend. Hie und da auf den runden Kieſelſteinen 
außgleitend oder im Wafler ftolpernd, erreichen alle 
mit heiler Haut das andre Ufer. Jetzt find fie auf 
ſpaniſchem Boden. Es bleiben nod ungefähr zwei- 
hundert Mieter Marſch, und es heißt num, ohne Flinten⸗ 
ſchuß oder ſchlimme Begegnung bis zum einfamen 
Pächterhaus, dem Hehlermagazin des Anführers der 
ſpaniſchen Schmugglerbande zu gelangen, und wieder 
einmal ift der Streid) gelungen! 

Selbſtverſtändlich ift dieſes Haus nicht beleuchtet; 
es Sicht dunfel und traurig aus. Lautlos und herum 
taftend treten jie einer um den andern ein, und nad) 
dem zulebt Eingetretenen werden die großen Niegel 
der Thüre zugeihoben ... 

Fertig! Verbarrifadiert und gerettet, alle! Der 
Schaf der Königin ward in diefer Nacht wieder um 
taujend Franken betrogen. 

Sie zünden nun ein Feuer im Kamin an, ftellen 
ein Licht auf den Tiſch, jehen fich, erfeunen ſich und 
lachen über den gelungenen Streich. Die Sicherheit, 
die tanzende, erwärmende Flamme, der Apfelwein 
und der Branntwein rufen bei diejen Yeuten lärmende 
Freude nad) dem langen, durch die Umjtände gebotenen 





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680 Pierre Loti. 


Stillſchweigen zurüch. Sie plaudern luſtig, und ber 
alte, weißhaarige fyührer, der fie zu dieſer vorgerüdten 
Stunde alle beherbergt, kündigt ihnen an, daß er 
für fein Dorf einen ſchönen Plak zum Balljpiel 
ftiften will, und dab die Koſten fi) auf ungefähr 
zehntauſend Franken belaufen. 

„Seht erzähle mir dein Anliegen, Kleiner,“ flüſtert 
Itchoua Ramuntho zu. „O, id) fann mir halb und 
halb denken, was du vorhaft! Graziella! Niht?... 
Gelt, das iſt es? ... Ein ſchweres Unternehmen, 
verftehjt du mich? .... . Ueberdies möchte ich der Kirche 
nichts anhaben, du begreifft ... denn ich jehe bei 
diejer Geſchichte meine Stelle ald VBorjänger aufs 
Spiel... Lab einmal jehen — wieviel willjt du 
mir geben, wenn ich alles zu einem guten Ende führe, 
um dic zu befriedigen ?“ 

Ramuntcho hat vorausgeiehen, daß dieje Mit- 
bilfe teuer zu ftehen fommen würde, da Itchoua 
in der That ein Diener der Kirche, deſſen Ge— 
willen vor allen Dingen bezahlt werden muß; 
und jehr verwirrt, mit dem Blut in den Wangen, 
bewilligt er nad) vielem Hin= und Herreden taufend 
Franken, Uebrigens jammelt er jein Geld einzig und 
allein nur zu dem Zwecke, Graziella wiederjugewins 
nen, und wenn ihm nur genug bleibt, um mit 
ihr nach Amerika zu fliehen — was liegt an allem 
andern! 

Jetzt, da Jtchoua um fein Geheimnis weiß, jeht, da 
jein lieber Plan in dem halsftarrigen, liſtigen Kopfe 
Itchouas ausgearbeitet wird, glaubt er, daß ein 
entjcheidender Schritt zur Ausführung gethban und 
plötzlich alles wirklich und nahe bevorjtehend ge— 
worden ift. 

Mitten in dem verwahrloften Raume, unter den 
Männern, zu denen er weniger denn je paßt, jondert 
er ſich mit feiner unendlichen Liebeshoffnung ab. 

* s 


Sie trinfen ein letztes Glas zufammen, nachdem 
fie lärmend angeftoßen, und fort geht's durch die 
dunkle Naht und den unaufhörlichen Negen. 

Diefes Mal jedoch) bleiben fie auf der Landſtraße, 
und zwar laut fingend, Nichts in der Hand, nichts 
in der Taſche, gleich irgend beliebigen Leuten, die 
von einem Spaziergang zurücklommen. 

Ganz zulet, eiwas abjeits von den übrigen, geht 
Ilchoua auf feinen langen Stelzenbeinen und lehnt 
die Hand auf Ramuntchos Schulter. 

Seitdem die Summe bejtimmt it, zeigt er ſich 
mit Eifer und Intereffe auf den Erfolg erpicht und 
flüftert ihm feine gebieteriſchen Natichläge zu. 

Gleich Arrochfoa will er, daf mit niederjchmettern« 
der Gejchwindigfeit und in der Erregung einer erſten 
Zujammenkunft gehandelt wird. Dieje muß am 
Abend und zwar jo jpät, wie es die Kloſterregel zu= 
läßt, ftattfinden ; zur Dämmerftunde, wenn das unter 





































dem jchledhtbehüteten Meinen Klofter gelegene Dorf 
ſchon eingejchläfert iſt. 

„Beſonders aber, lieber Junge,” jagt er, „zeige 
dich nicht, ehe du den Streich unternimmt! Sie darf 
did) vorher nicht gejehen haben, hörſt du? Ja, fie 
darf nicht einmal deine Heimlehr erfahren! ... 
Sonſt verlierft du jeden Vorteil der Ueberrafchung! 

Indes Ramuntho ihn anhört und ſchweigend 
nadhfinnt, fingen die andern am Anfang des Zuges 
immer dasſelbe alte Lied und geben im Talte voran, 
So kehren fie nad) Landachloa, in das franzöfiide 
Dorf, über die Brücke der Nivelle, und den ſpaniſchen 
Grenzjägern breiit ins Geficht jehend, zurüd. 

Uebrigens willen die Grenzjäger auf der Wacht 
recht out, was dieſe durchnäßten Männer in fo dunllet 
Stunde in ihrem Lande getrieben haben... 

XXXVIL 

Nach dem leichten Reif, der die Pflanzen ver- 
nichtete und den trügeriichen Anblid des Feldes 
veränderte, breitete ſich allmählich der Winter über 
das baafijche Land aus, um den kommenden Yen 
vorzubereiten. 

Ramuntcho nahm langjam feine Gewohnheiten 
als Verlaſſener an und beftellte ohne irgend eine 
Bedienung jein allein bewohntes Haus wie in den 
Kolonien oder der Kaſerne, denn er fannte die hun 
dert wirtjchaftlichen Einzelheiten, die ein jorgjamer 
Soldat ſich aneignet. 

Immer noch hielt er etwas auf fein Weuheres, 
Meidete ſich forgfältig, trug ſtets das Band ber 
ZTapferen im Anopfloh und um ben Arm den 
ſchwarzen Kreppftreifen. 

Anfangs ging er jelten ind Wirtshaus, wo die 
Männer in der Falten Jahreszeit ſich des Abends 
verfammeln. Während der lehten drei Jahre, in 
denen er viel gejehen, viel gelejen und oft Gelegenheit 
gehabt hatte, mit dem oder jenem ernſte Geſpräche zu 
führen, waren zu viele neue Ideen im feinen ſchon 
gewedten Geift gedrungen; mehr denn je fühlte er 
fih) den ehemaligen Genoffen entfremdet, und er 
konnte den Hundert Meinen Dingen, die fie beichäf- 
tigten, fein rechtes Intereſſe abgewinnen. 

Nach und nad jedoch, da er ſtets allein war und 
häufig an diefem Wirtslofal vorbeiging, wo er durd) die 
dunftigen Scheiben die Barette ſah, gewöhnte er ſich 
ſchließlich daran, dort einzufehren und ſich unter die 
andern zu miſchen. 

Es war die Zeit, zu der die pyremäijchen Dörfer, 
befreit von den vielen, durch die ſchöne Jahreszeit 
berbeigelodten Touriſten und eingefchloffen von 
Wolken, Dunft oder Schnee, wieder zu dem werden, 
was fie in den alten Zeiten waren, 

In dieſen Apfelweinſtuben — die einzigen, Meinen, 
belebten und beleuchteten Pünktchen in der groben, 
leeren Duntelheit — erwachte an den langen 
























Winterabenden etwas von dem Geift der Vergangen⸗ 
heit. Bor den großen, im Hintergrund aneinander 
 geeißten Fäffern, wo es ganz dumfel ift, wirft die 
von den Balken berabhängende Lampe ihren Schein 
auf die Heiligenbilder an der Wand, auf die Gruppen 
der jchwäßenden, rauchenden Gebirgsleute. 

* Manchmal erhebt ſich einer und ſingt ein Lied 
aus der grauen Vorzeit; das Getrommel auf einem 
Tamburin ruft den alten, vergefienen Rhythmus 
eig traurig gemahnt Guitarrenfpiel an die Zeit 
der Mauren... Ober einer vor den andern ſich 
 ftellend , fangen zwei Burjchen plöglich an, Fandango 
Be langen, und wiegen und drehen fich mit antiker 
bei fortmährendeım Geflapper der Eaftagnetten, 
Es diefen unſchuldigen Zufammenfünften gehen 
ſe beigeiten auseinander — beſonders bei jchlechter, 
tegnerifcher, dem Schmuggel günftiger Nacht. Ieder 
hat irgend etwas Geheimmisvolles dort drunten in 
| ü aniens Nähe zu Yun. 


An dieſen Orten, ſtets in Arrochtoas Gejell- 
haft, beredete Ramuntcho feinen teuren, frevelhaften 
13 mn — aud) gingen fie oftmals zur Zeit de8 Mond- 
5 8, da an der Grenze nichts unternommen werden 
auf ben Straßen hin und ber. 

u Immer noch hielten ihm religiöſe Strupel zurüd, 
ie daß er ſich Rechenſchaft darüber ablegen konnte 
— Strupel, die fich nicht erflären Tießen, da er auf- 
gel t hatte, zu glauben. Sein ganzer Wille jedoch, 
‚kei a Mat und feine Kühnheit, jeder Gedanke ftrebte 
biefem einzigen Ziel entgegen. 

Das Verbot Itchouas, Graziella vor dem großen 
zu jehen, verjtärkte jeine Ungebuld. 

9* inte, launiſch wie immer in diejem Lande, 

* unregelmäßigen Gang fort. Hie und 

errajchte Sonne und Ps —— oder der 


— 


8 war Ramuntho nahe daran, alles zu 
.. Allein im lehten Moment erfahte ihn 
jen, es fönne mißlingen, er werde 
ingewiejen, allein fein für immer und 
ffnung in feinem Leben. 

ölte €8 nicht an vernünftigen Gründen, 
m. Die Gejchäfte mußten 
verfauft jein und er alles 


Ramuntdo. 


681 


warten; Namuntcho hatte ihm feine baldige Ankunft 
angemeldet und rechnete darauf, ein Unterfommen 
bei ihm zu finden. 

So vergingen die Tage, und bald regte ſich 
der frühzeitige Frühling. Schon blühten im letzten 
Sonnenftrahl des Monats Januar im Walde und 
längs der Wege die gelben Primeln und die blauen 
Genzianen.. 

XXXVIL. 

Diejes Mal waren fie im Weinhaus des Dorfes 
Gaftelugain, unfern der Grenze, und warteten auf 
den Moment des Aufbruch mit Kiften voller Ge— 
ſchmeide und Waffen, 

Itchoua jagte: 

„Sollte fie zögern, weißt du — doch fie wird feinen 
Augenblid zögern, ſei unbejorgt!... aber ſchließ⸗ 
lich follte fie e8 tun — nun, dann entführen wir 
fiel... Lab mid nur allein handeln — mein Plan ift 
gemacht! Es muß am Abend fein, verfiehjt du wohl? 

.. Wir führen fie einerlei wohin und fchließen fie mit 
dir ein. Freilich, es lönnte auch alles jchief ausgehen und 
die Notwendigkeit an mich beranfommen, das Land 
zu verlaffen, nachdem ich dir zu Gefallen den Streid) 
ausgeführt... Daher mußt du mir noch mehr Gelb 
geben, du begreifit! Damit ich mwenigitens meinen 
Unterhalt in Spanien juchen kann.” 

„sn Spanien, wie? Was habt Ihr eigentlich 
vor, Itchoua? Ihr wollt dod feine Gewaltthat 
ausüben ?” 

„Obo, fei nur unbeforgt, ich will niemand ums 
bringen,“ 

Ihr redet doch davon, dab Ihr Euch in Sicher- 
bringen müßtet!...“ 

„Na, mein Gott, das fuhr mir nur jo heraus! 
Erftens find hierzulande die Gejchäfte flau — und 
dann mußt du doc den Fall annehmen, deine Ge— 
ſchichte könnte jchlimm ausgehen, wie id) dir ſchon 
fagte, und die Polizei eine Unterſuchung einleiten, 
Dffen geftanden, da gehe ich lieber fort, ganz gewiß! 
.. Wenn die Herren vom Gericht ihre Naſe in unfre 
Angelegenheiten jteden, wollen jie jchließlich alles 
willen, was vor langer, langer Zeit geſchehen ift... 
und alsdann iſt fein Fertigwerden ...“ 

In ſeinen ausdrucksvollen Augen war plößlich 
Verbrechen und Angſt zu leſen, und Ramunicho ſah 
den Mann mit wachſender Beſorgnis an. Er galt 
als wohlhabend im Dorfe, beſaß ein Grundſtück, und 
num faßte er jo leicht den Gedauken, ſich zu flüchten. 
Was für ein Bandit war er denn, da er ſo ſehr die 
Gerichtsbarkeit fürchtete? . . Was für Dinge konnten 
es wohl fein, die ſich „vor langer Zeit” zugetragen? 
Nach etlihen Minuten Schweigens jagte Ramuntcho 
leife und mißtrauifch: 

„Uebrigens, fie einfperren?. 
im Ernft, Itchoun?... 


.. Sagtet Ihr das 
Wo denn, um Gottes willen, 
56 


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682 Pierre Loti. 


ſollte ich fie einſperren? Ich beſihze weder ein Schloß 
noch ein Burgverließ, wo ich fie verborgen halten 
fönnte!...” 

Itchoua entgegnete ihm mit einem Yaunenblid, 
den er noch nie an ihm bemerkt hatte, und auf 
Ramuntchos Schulter Hopfend, rief er: 

„D, fie einjperren!... Für eine Nacht nur, 
Kleiner! Das genügt, du kannt mir's glauben!... 
Sie find alle dieſelben — weißt du! Der erfte Schritt 
nur ift ſchwierig! ... Und fei verfichert, fie wird nicht 
mehr ins Klofter zurüd wollen.“ 

Durch Ramuntchos Arm und Hand zudte wie 
ein eleftrijcher Funke die Luft, das düſtere Geficht 
zu obrfeigen. Er beherrjchte ſich jedod, denn von 
jeher war er gewohnt, dem alten Kirchenſänger eine 
Art Reſpelt entgegenzubringen. Stumm blieb er ftehen, 
das Blut war ihm in die Wangen geftiegen, und 
er wandte ben Kopf um — außer fi, jemand in 
folder Weife von ihr iprechen zu hören, und höchſt 
überrajcht, daß «8 diefer Menſch war, der, wie ihm 
ſchien, von Liebe niemals etwas wiljen wollte, und 
den er vom jeher als den ruhigen Ehemann einer 
alten, häßlihen Frau gefannt. Allein die imper« 
tinenten Worte machten in feiner Phantafie einen 
gefährlichen, unerwarteten Eindrud... Graziella mit 
ihm in einem Zimmer eingeſchloſſen? Dieje Möglich 
feit, der die rauhen, groben Worte jo deutlich Ausdrud 
gaben, verurjachte ihm Schwindel, als ob er beraufcht 
wäre. Er liebte feine Braut zu wahr und innig, 
um fi an brutalen Hoffnungen erfreuen zu können. 
Gewöhnlich ſuchte er dieje Bilder zu verjcheuchen, 
aber jeht hatte fie ihm diefer Mann mit teuflijcher 
Roheit unter die Augen geführt, und er zitterte, als 
ob es draußen jehr falt wäre. 

Ad, ob auf das Wagnis ein gerichtliches Verfahren 
erfolgte oder nicht, was lag ihm daran? Er hatte 
nichts mehr zu verlieren! Gar nichts! Alles war ihm 
einerlei, und von diejem Abend an fühlte er ſich mit 
noch mehr Verwegenheit entſchloſſen, jeder Regel, 
jedem Geje, jedem Hindernis Troß zu bieten. 

Ueberall umher ſchien es Frühling zu werden. 
Die Tage wurden länger und wärmer; an jedem 
Wegrand blühten Veilhen und Immergrün. Seine 
religiöfen Sfrupel allein hielten ihn noch zurüd — un= 
erflärlicherweife blieben fie immer in den geheimften 
Tiefen feiner zerrütteten Seele... Inſtinktiver Abſcheu 
bor jeder Entweihung... der Glaube troß alledem 
an etwas Uebernatürliches, das Kirchen und Klöſter 
umſchwebt, um fie zu befhügen. 

XXXIX. 

Der Winter war zu Ende. 

Namuntdjo, der einige Stunden in einem Heinen 
Zimmer im neuen Haufe feines Freundes Ylorentino 
unruhig nad ſchlimmer Nacht geſchlafen hatte, er— 
wachte bei Tagesanbrud). 


Die vorhergehende Nacht war ſtürmiſch und jhmwarz 
nad Wunſch und dod) unheilvoll für die Schmuggler 
geweien. Nahe beim Kap Figuier, in den Felſen, 
wo fie gerade mit Ballen Seide gelandet waren, 
wurden fie mit Flintenſchüſſen verfolgt und gezwungen, 
ihre Laft zu Boden zu werfen; alles preisgebend, 
flohen die einen ins Gebirge, die andern flüchteten 
ſich ſchwimmend durd; die Brandung ans franzöfide 
Ufer, im Schreden vor dem Gefängnis in Santt 
Sebaftian, 

Gegen zwei Uhr des Morgens hatte Ramuntdo 
durchnäßt und halbtot an der Thür des einjamen 
Haufes angeflopft, um bei dem guten Tylorentino 
Hilfe und Obdach zu juchen. Bei jeinem Erwaden, 
nah dem großen Lärm der Yequinoftialftürme, des 
ſtrömenden Regens, der ächzenden Zweige fiel ihm vor 
allen Dingen die große Stille auf, die ihn jeht um- 
gab. Er horchte aufmerlſam und hörte nicht mehr 
das gewaltige Braufen des Weſtwindes, nicht mehr 
das Getöfe der in der Finſternis gerüttelten Dinge, 
Nein, nichts als das entfernte, regelmäßige und mäd- 
tigen Rauſchen der Waſſer des Golfes, der jeit dem 
Urjprung der Zeiten wild und unruhig ift: ein rhyth⸗ 
mijches Gebraufe, als ob es daB riejenhafte Atmen des 
ſchlaſenden Meeres wäre, Die Luft jedoch, die Bäume 
und alles ringsum war unbeweglich, der Sturm hatte 
ausgetobt, ohne vernünftigen Grund, gerade wie er 
angefangen, und nur das Meer ſetzte jein Klagen fort. 

Um die Landſchaft zu betrachten, dieſe Küfte 
Spaniens, die er vielleicht niemals mehr jehen würde, 
da feine Abreiſe jo nahe bevorftand, öffnete er das 
Fenfter und jah in die noch blaſſe Weite, im den 
jungfräufid frifchen Morgen hinaus. 

Ein grauer Schein fiel aus grauem Himmel; 
überall diefelbe müde und eritarrte Unbeweglichleit, 
alles noch unbeitimmt hervortretend, halb Traum, 
halb Nacht. Ein dunkler Himmel, der greifbar ſchien 
und aus horizontalen, Meinen Schichten beitand. 
Dort drüben die jhmwarzbraunen Berge und der 
düſtere Schattenrig Fontarabias, deſſen vielgundert- 
jähriger Turm noch älter und ſchwärzer ſchien. Zu 
diefer frühen, jo geheimnisvollen Stunde, zu der die 
Augen der meilten Menſchen noc nicht offen find, 
war es, als ob man die Dinge im tiefbetrübten Ge» 
ſpräch über Tod und Erſchöpfung überrafchte und 
fie ji in der Morgendämmerung erzählten, was fie 
beim hellen Tag, um niemand zu ängjtigen, ver» 
ſchwiegen. 

Was hilft's, dem Sturm in dieſer Nacht widerflan- 
den zu haben? fagte der alte Turm müde und traurig. 
Was Hilft’3? Neue Stürme kommen, ewig neue! 
Andre Stürme, andre Gewitter, und ich muß dod 
ſchließlich untergehen ; ich, den die Dienjchen als.eine 
Aufforderung zum Gebet hier auf unſchäßbare Dauer 
zu errichten glaubten?... Schon bin id nur nod 


Ramuntdo, 


ein Geipenft aus amdrer Zeit; ich fahre fort, zum 
Gottesdienft und illuſoriſchen Feſten zu Täuten. Ich 
laffe auch Sterbegeläute erklingen und habe es ſchon 
fo oft für Taufende von Toten gethan, an die nie= 
mand mehr denkt. Doc) ich bleibe Hier, unnüß und 
unter dem faft ewigen Drud diejer vom Meere her- 
braujenden Weſtwinde. 

Am Fuß des Turmes ſchien die dort drunten 
in grauen Tinten gemalte Kirche zu befennen, daß auch 
fie nichtig, unmüß fei, und nur arme Bilder aus Holz 
oder Stein, Mythen ohne Berftändnis, ohne Kraft 
und ohne Erbarmen in ihr wohnten. Und alle bie 
Häufer, die fromm um fie herum fanden, gaben zu, 
dab ihr Schuß ohne Wirkung gegen ben Tod, daß 
he falſch und trüglich wäre. 

Beionders aber die Wolfen, die Wolfen und bie 
Berge gaben dem Geflüfter ber Stadt eine ftumme, 
vielfagende Beftätigung. Sie erfannten in aller 
Stille die traurigen Wahrheiten an: der Himmel 
nichtig wie die Kirchen, eitel Blendwert! Die raſtlos 
eilende Zeit Mieht dahin wie ein Strom, in dem 
Myriaden lebendiger Weien, ebenjo wie nußlofe, 
nicht zu beadhtende Dinge, eines nach dem andern 
mit fortgerifjen werden und unterſinken. 

Sterbegeläute wurde jeht in der Ferne vernehnt- 
bar; langſam und mit gemeljenen Schlägen ließ ſich 
die alte Glode wieder einmal beim Ende eines Lebens 
hören. Im der fahlen Morgenflunde, unter den 
dichten, einengenden Wollen röchelte jemand, jenfeits 
der Grenze wurde dort drumten irgend eine Seele 
ausgehaucht. Und es fam ihm ber Gedanke, dab 
dieſe Seele ganz einfah dem Körper in die Ber- 
weiung bringende Erde jolgen werde. 

Ramuntcho horchte und ſchaute. Am Heinen Fenſter 
des basliſchen Häuschens, das vor ihm nur Geſchlechter 
von Finfältigen und Vertrauensvollen beſchützte, auf 
den breiten Fenſterſims fich Iehnend und den grünen 
Fenſterladen vollftändig öffnend, lieh er die Augen 
über das vor ihm traurig ausgebreitet Fleckchen Erde 


ſchweifen; es war das jeinige, und er follte es 


bald auf immer verlajlen. Sein unausgebildeter 
Geift vernahm zum erftenmal dieje Enthüllungen der 
Dinge, und Schreden befiel ihn dabei. Im feiner 
ſchon durch Vererbung mit Zweifel und Angſt be» 
fafteten Seele arbeitete plößlich neuer Unglaube..., 
Eine ganze Offenbarung von der Nichtigkeit der 
Religionen und der von den Menichen angerufenen 
Gottheiten kam unverſehens und anſcheinend end— 
aültig Über ihn. Wenn es nichts dergleichen gab, 
wie naiv war es dann, vor der weißen Jungfrau, 
ber chimäriſchen Beſchützerin Ddiefer ſtlöſter, zu 
jütern! : .. 

Die arme Sterbeglode, die unermüdlich ihr fin« 
diihes Geläute ertönen ließ, um unnützes Gebet zu 
verlangen, ſchwieg endlich, und unter dem büftern 








683 


Himmel hörte man nur noch in der allgemeinen Stille 
den ftarfen Atem des Meeres, 

Allein die Dinge ſetzten bei diefer grauen Däm- 
merung ihre Geiprädhe ohne Worte fort: Nichts 
überall! Nichts in den alten, jo lang verehrten 
ſtirchen, nichts im Himmel, wo fih Wollen und 
Dunft anfammeln — nur immerdar das Schiwin- 
den ber Zeit und das ewige, erſchöpfende Mieber- 
beginnen der Weſen und bald darauf Alter, Tod, 
Verweſung, Aſche. Das jagten ihm beim fahlen 
Schein des anfangenden Tages die düftern, müden 
Dinge. Und Ramuntcho fand es lächerlich, aus ein» 
gebildeten Berweggründen jo lang gezögert zu haben. 
Mit bitterer Verzweiflung ſchwur er fih nun jelbft, 
dab von diefem Tage an er entjchlofien jei, feinen 
Plan auszuführen, tofte e8, was es wolle, daß nichts 
mehr ihn abhalten würde, 

XL. 

Diele Wochen waren wieder mit Vorbereitungen, 
mit Unentſchloſſenheit über die Urt, zu handeln, mit 
raſchem Wandel in den Plänen und den Ideen 
vergangen. 

In diefer Zeit fam Onkel Ignacios Antwort 
nad Etchoͤzar. 

Hätte fein Neffe früher zugefagt, fchrieb er, jo 
wäre er froh gemweien, ihn aufzunehmen; allein nad) 
feinem langen Zögern habe er ſich, trogdem er nicht 
mehr jung ei, entfchloffen, eine frau zu nehmen, umd 
vor zwei Monaten jei ihn ein Kind geboren worden. 

Alſo keinen Schu mehr von diefer Seite zu er» 
warten... ber Verbannte würde dort bei jeiner An« 
funft nicht einmal ein Obdach finden!... 

Das Haus feiner Mutter ift verkauft; beim Notar 
find alle Gelbangelegenheiten geordnet, alles, was 
Ramuntcho beſeſſen, ift in Goldſtücke umgewandelt... 

Und heute joll der Tag des großen Unternehmens 
fein, der große Tag! Schon find die Bäume 
wieder ſtark belaubt, hohes Gras bededt die Wiejen 
es ijt Mai geworden. 

Im Heinen Wagen, ben das raſche Pferd zieht, 
fahren Urrochloa und Ramuntcho über die ſchattigen 
Gebirgäwege dem Dorfe Amezqueta zu. Sie fahren 
ſchnell und gelangen in eine endlofe Baumregion. Je 
weiter fie fommen, deſto fliller und wilder wird es 
ringaum; die Dörfer find altertümlicher, das bas— 
liſche Land ift einjamer. 

Im Schatten der Bäume, auf den Böſchungen 
der Wege blühen rojafarbene Digitalis und Silenen 
zwiſchen den Farnen, fait dieſelbe Flora, wie in der 
Bretagne. Die beiden Länder haben übrigens eine 
gewiſſe Nehnlichkeit durch den Granit und den ewigen 
Negen; auch durch ihre Unveränderlichleit und die 
Fortdauer derjelben religiöjen Vorfiellungen. 

Ueber den beiden auf Wbentener auszichenden 
jungen Leuten verdichten fich die Wolfen. Die Strafe 


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684 


in dieſen Päſſen zwijchen hohen Bergen ijt ent« 
züdend grün; fie liegt in tiefem Schatten, zwijchen 
farnenbededten Abhängen. 

Unmwandelbarfeit feit vielen Jahrhunderten, Starr« 
heit der Wefen und Dinge macht ſich mehr und mehr 
geltend, je tiefer fie in diefe ftille Waldeinjamteit 
eindringen. 

“ Unter dem dunfeln Himmelsſchleier, in welchem 
fi die Spigen der großen Pyrenäen verlieren, er- 
ſcheinen und fliehen einfame Behaufungen, hundert- 
jährige Pächterhäufer, und immer jeltener werden 
die Dörfer, ftets fahren fie unter derfelben Wölbung 
von Eichen und Raftanien, deren Alter unberechenbar 
ift und deren Wurzeln gleich bemooften Schlangen bis 
zum Rande des Weges ſich winden. Alle dieje durch 
jo viel Wald und Didiht getrennten Dörfer fehen 
einander ähnlich, und ihre Bevöllerung, treu den alten 
Traditionen, fträubt ſich gegen alles, was Unruhe, was 
Veränderung bringt; überall diejelbe beicheidene ſtirche, 
meiftens ohne Turm, nur mit einem einfachen Cams» 
panile an der grauen Hauptfafjade, und derjelbe Platz 
mit der farbigen Mauer zum Balljpiel, wo von Bater 
zu Sohn die Männer ihre Fräftigen Musteln ſtählen. 
Ueberall waltet der ftille Frieden des Landlebens, das 
im Baslenland unmwandelbarer als anderwärts ijt. 

Die wenigen Wollbarette, welchen die zwei Toll« 
fühnen beim raſchen Borbeifahren begeguen, neigen 
fi zum Gruß, erfiens aus allgemeiner Höflichkeit, 
befonders aber, weil fie Arrodhloa und Ramuntdo, 
die beiden berühmten Ballfpieler, erfennen. Viele 
fürwahr hatten Ramuntcho vergefien, Arrochloa je- 
doch kennt jedermann zwijchen Bayonne und Santt 
Sebaftian, ja bis zu den verftedteften Dörfern, an 
feinem frifchen Gefichte und dem hinaufgeſtrichenen 
Katzenſchnurrbart. 

Die Reiſe in zwei Hälften teilend, ſchliefen ſie in 
dieſer Nacht in Mendichoco. Und jeht fahren bie 
zwei jungen Männer raſch weiter, zweifellos ſo ſehr 
in Gedanlen vertieft, daß fie nicht daran denfen, ihr 
fräftiges Tier für die fommende Nacht zu ſchonen. 
Itchoua ift nicht bei ihnen. Im letzten Augenblid 
befam Ramuntcho einen Schreden vor diefem Mann, 
der ihm zu allem fähig ichien, jogar zu töten; in einer 
plöglichen, bangen Anmwandlung wies er feine Hilfe 
ab, und daraufhin Hammerte ſich diefer an die Zügel 
des Pferdes, um die Abfahrt zu verhindern. fyieber- 
haft warf ihm Ramuntcho Gold in die Hände, um ihn 
für feine Ratſchläge zu bezahlen, um feine Freiheit, 
allein handeln zu dürfen, die Gewißheit, ſich wenig« 
ſtens mit feinem Verbrechen zu befleden, zu erfaufen. 
Stüd um Stüd überließ ihm Namuntcho die Hälfte der 
verſprochenen Summe, um ſich von ihm loszubinden. 

Als das Pferd endlich fortgaloppierte und das 
umerbittlihe Geficht hinter den Bäumen verfchwand, 
fühlte er fein Gewiſſen erleichtert. 


Pierre Koti. 


„Du wirſt in diefer Nacht meinen Wagen in 
Aranok bei Burugoity, dem Wirte, der unterrichtet ift, 
ftehen laſſen,“ jagte Arrochloa. „Du begreifit, daß 
ich euch nad) dem ausgeführten Streiche verlafe; ih 
will weiter nichts damit zu thun haben, lebrigens 
erwartet mic) ein Gefchäft mit den Leuten in Buru— 
zabal: es jollen nämlich noch diefen Abend Pierde 
nad) Spanien gebradht werden, nicht weit von Amej« 
queta, und ich habe verjprochen,, vor zehn Uhr dort 
zu fein. 

Wie wollen fie es num anftellen, was eigentlich 
thun? Die beiden freunde willen es nicht recht. 
Es wird davon abhängen, welche Wendung die Dinge 
nehmen. 

Sie haben verjhiedene Pläne, alle find kühn und 
zwedmäßig, je nad) den Ereignifien. 

Zwei Pläße jind bereits auf einem großen Aus 
wandererſchiff beftellt, einer für Ramuntcho, der andre 
für fie. Das Gepäd erwartet fie ſchon auf dem 
Schiff, das morgen abend von Borbeaur mit etwa 
hundert Baslen nad) Amerika abjegeln ſoll. An 
der Meinen Station Aranotz, wohin die beiden Lieben- 
den mit dem Wagen fahren follen, werden fie 
um brei Uhr in der frühe nach Bayonne fahren, und 
in Bayonne alddann mit dem Kurierzug nad) Bordeaug. 
Es wird eine eilige Flucht jein, die der Heinen Fliehen⸗ 
den in ihrer Beftürzung, ihrem Schreden und ohne 
Zweifel aud in ihrem entzüdend überwältigenden 
Rauſche keine Zeit zum Denken, zum Ueberlegen 
laſſen wird. 

Ein Kleid und eine Mantille von Graziella find 
im Wagen für fie bereit, um die Kapuze und bie 
ihwarze Kutte zu erjegen. Lauter Dinge, die fie 
vor ihrem Eintritt ins Kloſter getragen und die ſich 
Arrochloa aus dem Schrank jeiner Mutter zu ver: 
ſchaffen gewußt hat. 

Ramuntcho denkt, daß es vielleicht in Kurzer Zeit 
Wirklichkeit fein und fie hier neben ihm figen wird, 
fehr nahe auf dem engen Siß, mit ihm in biejelbe 
Reijedede gehüllt, mitten in der Nacht fliehend, und ihm 
gehören wird auf immerdar — und je mehr er daran 
denkt, defto gewaltiger ergreift ihm Schwindel und 
Bittern. 

„Ich jage dir, fie wird dir folgen!“ wiederholt 
fein Freund und ſchlägt ihm tüdhtig auf die Schulter, 
fo oft er ihn düfter und träumerifch fieht. „I6 
jage dir, fie wird dir folgen; ich glaube es ſicherlich! 
Sollte fie zögern, laß nur mich machen! Sollte jie 
zögern, alsdann etwas Gewalt, dazu find fie ent 
ſchloſſen! O, ſehr wenig, nur fo viel als unbedingt 
nötig ift; — nur die Hände der alten Nonnen lod 
machen, wenn fie fie fefthalten... Alsdann trägt 
man fie bis zum Wagen, wo unfehlbar die zärtliche 
Liebe ihres frühern Geliebten ihr fehr raſch den Kopf 
zurechtſetzt.“ 


Ramuntdo. 685 


Wie wird Dies alles vorübergehen? Sie willen 
nod nit genau und verlafien ſich viel auf ihre 
Geiſtesgegenwart, ihren entichloffenen Mut, die fie 
ſchon aus fo gefährlichen Schlingen gezogen, Eines 
willen fie jeboch, daß fie nicht Schwach werden! Und 
fo fahren fie weiter, einer ben andern anjpornenb, 
Man follte fie jeht jolidariich bis zum Tode verbunden 
glauben, feſt umd entjchieden wie zwei auf Tod und 
Leben ausziehende Banditen. 

Die baumreiche, von hoben, unfichtbaren Bergen 
eingeſchloſſene Gegend beſteht aus tiefen, unterwühlten 
Schluchten, Abgrundsfalten, wo reißende Ströme 
unter dem grimen Dunkel der dichten Blätter raufchen. 
Eichen, Buchen und Kaftanien, die ſchon feit Iahr- 
hunderten von ſtets treibender, verjüngender Strajt 
leben, ericheinen riefiger, je weiter fie vorwärts dringen. 
Sanftes, üppiges Grün ift über den zerflüfteten Boden 
geworfen, den es mit feinem frischen, ummwandelbaren 
Mantel bededt und lieblich geftaltet. Der nebelige, 
fait dunkle Himmel erhöht noch die über allem 
lagernde andächtige Stimmung. Seltjames Halbduntel 
fenft fi von allen Seiten herab, von den Bäumen, 
bon dem grauen, dichten, über die Zweige gejpannten 
Schleier, von den hinter den Wolfen verborgenen 
Pyrenãen. 

Mitten durch dieſen unendlichen Frieden, durch 
dieſes grüne Dunlel ziehen Arrochloa und Ramuntcho 
wie zwei junge Störenfriede, die im tiefen Walde 
itgend einen Zauber brechen wollen. 

An jeder Biegung des Weges erheben ſich alte 
Kreuze aus Granit, gleich Notſignalen, bie ihnen 
jurujen: Hütet euch! ... Alte Kreuze mit der erhaben 
einfahen Inſchrift, die gleihiam der Wahlſpruch 
eines ganzen Stammes geworden: 

Ö crux, ave, spes unica! 

Der Abend bricht herein. Sie find fchweigiam 
geworben, weil die Stunden fliehen, weil der ent« 
Iheibende Augenblick naht, weil dieſe Kreuze am Weg 
fie faſt einfchüchtern. 

Unter dem traurigen Schleier am Himmel neigt 
fih der Tag. Die Thäler werden wilder, die Gegend 
öder, und an jeder Ede des Weges erhebt ſich immer 
wieder ein Kreuz mit derjelben Inſchrift: 

Ö crux, ave, spes unica! 

* 

Amezqueta, im legten Dämmerſchein. Sie halten 
den Wagen im Dorfe vor der Schenfe an. Arrochfoa 
hat es eilig, zum Haufe der Schweftern zu kommen, 
und ift ärgerlich, daß es jo jpät geworden... Denn 
er befürchtet, man werde ihnen den Einlaß verwehren. 
Ramuntdho läßt ihn ſtillſchweigend walten und über- 
läßt ihm alles. 

Dort droben fteht das Kloſter auf halber Höhe; 
e& ift das einfame, von einem weißen Kreuz über« 
ragte und ſich weiß von der dunkeln Gebirgsmaſſe 


abhebende Haus. Sie ordnen an, daß der Wagen 
an eine Biegung dort drunten gebracht werben ſoll, 
jobald das Pferd einigermaßen ausgerubt bat. Dann 
machen ſich beide auf den Weg und Ienfen in einen 
bis zum Klofter führenden Baumgang ein. Dichtes 
Blätterwerf verbreitet bier ſchon nächtliches Duntel, 

Ohne ein Wort zu reden, fteigen fie geräujchlos 
auf ihren Schnurjohlen leicht und gewandt bergauf. 
Ringsum ſtimmt Wald und Flur zu tiefer Meland)olie. 

Arrochkou Mopft an die Thür des friedlichen Hauſes. 

«sh möchte meine Schwefter befuchen, wenn’s 
erlaubt ift,“ jagt er zu einer alten Nonne, welde 
verwundert die Thür halb öffnet... 

Ehe er nur audgeredet, dringt ein freudiger 
Schrei aus dem dunkeln Gange, und eine, foviel die 
ſchwarze Umbüllung erkennen läßt, junge Nonne ftürzt 
auf ihn zu und ergreift jeine beiden Hände. Sie 
bat ihn an der Stimme erlannt... Hat fie erraten, 
wer der andre ift, ber nebenan ſteht und feine Silbe 
iprit?... Auch die Oberin fommt herbei und bittet 
fie, auf der dunfeln Treppe ins Sprechzimmer des 
feinen, ländlichen Kloſters zu fteigen. Strohſeſſel 
werben berbeigerüdt. Man jet ſich: Arrochfoa neben 
feine Schwefter, Ramuntcho gegenüber — und endlich 
find fie beifammen, die Braut und der Bräutigam — 
und tiefes Schweigen voll dumpfer Herzihläge, voll 
feelijcher Erregung, voll bangen Fiebers fteigt über 
fie herab. 

Fürwahr, an diefem Orte umſchwebt fofort ein 
geheimnisvoller, doc füher, auch etwas grabes- 
ähnlicher Frieden die ſchredliche Zuiammenkunft. In 
tiefer Bruft pocht mit gewaltigen Schlägen das Herz 
— allein die Worte der Liebe oder ber Gewalt, alle 
Worte jterben, che fie über die Lippen fommen... 
Und dieſer Friede macht ſich ſtets geltend... es if, 
als ob ein weißes Bahrtud nad und nad) alles 
bedede, um zu beſchwichtigen, zu dämpfen. 

Und doch ift nichts Befonderes in diejem fo be» 
ſcheldenen Sprechzimmer: Vier völlig nadte, weiß 
getündhte Wände, eine Dede aus roh gezimmertem 
Holz, ein Boden, auf dem man außgleitet, jo jorg« 
fältig ift er gebohnt, und auf einer Konfole eine 
Madonna aus Gips, die unbeftimmt auf dem gleich- 
fals weißen Grunde, wo die Maidämmerung eben 
erlöſchen will, hervortritt. 

Ein Fenſter ohne Vorhänge gewährt einen Ausblid 
auf die großartigen pyrenätfchen Horizonte, über welche 
ſchon die Nacht hereingebrochen ift. Aus diefer gefuchten 
Armut, diejer weißen Einfachheit offenbart ſich end- 
gültige Unperjönlichleit, entjchiedenes Entſagen, und 
Ramuntcho wird fich der Unwiderruftichkeit der That- 
ſache bewußt; troßdem lommt eine Art Beruhigung, 
eine plöpliche und unwilllürliche Ergebung über ihn, 
Die beiden unbeweglic auf ihren Stühlen figenden 


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686 


Schmuggler ericheinen faum ala Schattenrifje mit ihren | 


breiten Schultern auf dem weißen Grund der Mauer, 
und von ihren verwilchten Zügen fieht man faum das 
intenfivere Schwarz der Schnurrbärte und Augen. 
Die zwei Nonnen mit ihren durch die Schleier ver« 
einigten Umriſſen ſihen wie zwei ſchwarze Gefpenfter ba. 

„Warten Sie, Schweiter Marie Angelila,“ jagt 
die Oberin zu dem jungen, umgewandelten Mädchen, 
das früher Graziella war. „Warten Sie, Schweiter, 
ich will eine Lampe anzünden, damit Sie wenigftens 
das Geficht Ihres Bruders jehen können!” 

Sie geht hinaus, fie allein lafjend, und neuer« 
dings erjüllt Schweigen den jeltenen, vielleicht ein- 
jigen und unmöglich wieder zu erhajchenden Augen» 
blid des Alleinſeins ... 

Sie kommt mit einer Meinen Lampe zurüd, bei 
deren Schein die Augen der Schmuggler glänzen, 
und mit munterer Stimme und gutmütigem Blid 
fagt fie, auf Ramuntcho deutend: „Und diefer hier? 
Es iſt wohl ein zweiter Bruder?” 

„D nein!" antwortet Arrochloa in ſeltſamer Weife, 
„o nein, er ift nur mein Freund!" 

In der That, er ift nicht ihr Bruder, dieſer 
Ramuntho, der ſtumm und finfter daſiht ... 
Welch große Angft hätten die Nonnen, wenn fie 
wüßten, was für ein Sturmwind ihn hierhergeführt! 
Dasjelbe Schweigen, tief und beängitigend, fällt über 
diefe Wejen, die eigentlich einfach über die einfachiten 
Dinge miteinander reden jollten. Die alte Oberin 
merft e8, und jchon verwundert fie ih... Doc die 
lebhaften Augen Ramuntchos werden unbeweglid, und 
verjchleiern fich, als ob fie unter bem Zauber irgend eines 
unfihtbaren Bändigers ftänden. 

Unter die fräftige Hülle feiner nad) Atem ringen- 
den Brujt dringt allmählich Ruhe — zweifellos be» 
einfluffen ihn die geheimnisvollen, bier in der Luft 
ſchwebenden weißen Mächte; ererbte Frömmigfeit, 
die in jeinem tiefften Innern ſchlummert, erfüllt ihn 
mit ungeahnter Unterwürfigfeit und Ehrfurcht; die 
altehrwürdigen Symbole beherrſchen ihn: jene Kreuze, 
die er vorhin längs des Weges ſtehen gejehen hat, und 
die blendend ſchneeweiße Madonna auf dem fleden- 
lojen Weiß der Wand... 

„Nun, Kinder, erzählt euch dod) etwas von ber 
Heimat, von Etchézar,“ jagt die Oberin zu Graziella 
und ihrem Bruder; „wißt ihr was, wir wollen euch 
allein laſſen, wenn ihr wollt,“ fügt fie hinzu, dabei 
Ramuntcho ein Zeichen gebend, als ob jie fich mit 
ihm entfernen wolle. 

„OD nein!* verfichert Arrochkoa, „er ſoll nicht hinaus⸗ 
gehen! Nein, nein, er ftört uns nicht im geringjten!. . .” 

Und die junge, nad) mittelalterlicher Weiſe ver« 
mummte Nonne ſenlt den Kopf nod) tiefer herab, um die 
Augen im Schatten der düjteren Kapuze verftedt zu 
halten. 


Pierre Loti. 


Die Thür bleibt offen. Die Fenſter bleiben offen, 
Das Haus und alle Gegenftände bewahren ihr Aus 
jehen völligen Vertrauens, völliger Sicherheit gegen 
Entweihung oder Gewaltthat. Noch zwei andre, ſeht 
alte Schweftern fommen herbei, rüden einen Heinen 
Tiſch in die Mitte, deden für zwei Perſonen und 
bringen für Arrodloa und feinen Freund ein Meines, 
frugales Abendeſſen: Brot, Käſe, Kuchen und reife 
Trauben von ihrer Gartenmauer. Sie richten dies 
mit einer faft jugendlichen Fröhlichtkeit, mit fait find- 
lihem Geplauder her, und alles bildet einen jonder« 
baren Gegenjaß zu dem heikblütigen Ungeſtüm, das 
jedoch ſchweigt und ſich zurüdgedrängt fühlt, — zuräd« 
gedrängt mehr und mehr in die Tiefen der Seele, 
gleihjfam wie durd) die dumpfen Schläge einer mit 
weißem Filz bededten Seule. Wider ihren Wilen, 
den Bitten nachgebend, jehen fich die beiden Freunde ju 
Tiſch, einer dem andern gegenüber, und eilen jer- 
ftreut die einfachen, auf dem blütenweißen Tiihtuh 
ftehenden Speifen. Ihre breiten, an Laſten gemöhnten 
Schultern drüden fi an die Rüdenlehne der Meinen 
Stühle, und das ſchwache Holz kracht. Die Schweſtern 
fommen und gehen ſtets mit demfelben leijen Gr 
plauder und kindlichen Lachen, das etwas gebämpit 
unter der VBermummung bervortönt. 

Nur fie, die Schweiter Marie Angelila, bleibt 
ſtumm und unbeweglid neben dem fihenden Bruder 
ftehen und legt ihre Hand auf feine wuchtige Schulter. 
Schlank und fein fteht fie da, gleich einer Heiligen 
auf einem alten SKirchenbilde. Düfter beobachtet 
Namuntcho die beiden. Er hatte vorher Graziellas 
Geficht nicht genau jehen können, fo jehr umrahmt 
und verjtedt es die Haube. Bruder und Schweſtet 
gleichen fi) immer noch. In den langen, mandel- 
förmigen Augen, die jedoch mehr denn je verſchieden 
im Ausdrud find, bleibt etwas unerflärlich Achnlices, 
leuchtet diefelbe Flamme, welche den einen einem aben- 
teuerlichen Leben und der fteten Hebung der Mustel- 
fraft, die andre myſtiſchen Träumen, der Kaſteiung 
und Abtötung des Fleiſches entgegengeführt. Allein 
fie ift ebenjo zart und ſchmächtig geworden, mie er 
kräftig ift. Ihre runde Geftalt, ihre ftarfen Hüften 
find gejchwunden, das ſchwarze Gewand fällt gerade 
berab, wie eine Umbüllung, die nichts Menſchliches 
mehr zu umgeben jcheint. Zum erftenmal jeht jehen 
die Braut und der Bräutigam, Graziella und Ra 
muntcho, einander ins Geſicht; ihre Augen find ein: 
ander begegnet. Sie jenft nicht mehr den Kopf vor 
ihm, aber es ift, als ob fie ihn aus weiter Fernt 
anfähe, wie hinter einem unüberiteigbaren weihen 
Nebel, wie jenjeit$ eines Abgrundes, jenfeits det 
Todes. Sanft giebt ihr Blick zu verftehen, dab fie 
wie abweſend ift, emtrüct in ftille und unnabbare 
ferne. Und ſchließlich Ichlägt Ramuntcho befiegt die 
feurigen Augen vor dem jungfräulichen Blid nieder- 


Namuntdo. 


Die Schweitern jeken ihr Geplauder fort. Sie 
möchten beide jungen Leute für diefe Nadt in 
Amezqueta zurüdhalten; das Wetter, jagen fie, fei 
jo drobend .. . Der Herr Pfarrer, der ins Gebirg 
gegangen jei, um einem Kranken das heilige Abend» 
mahl zu bringen, wird bald wiederkehren; da er 
Urrodhloa von Etchözar her, wo er als Kaplan war, 
fannte, würbe er fid} freuen, ihm und natürlich feinem 
Freunde ein Zimmer im Pfarrhauſe anzubieten, 

Aber Arrochloa ſchlägt es ab, nachdem er Ra— 
muntcho einen ernten, Fragenden Blick zugemorfen. 
Unmöglich, hier zu ſchlafen. Sie wollen jogar jeht 
aleih nad) einigen Minuten wieder abreifen, benn 
man erwartet fie an der ſpaniſchen Grenze. 

Graziella, die anfangs in ihrer entjeglichen Vers 
wirrung fein Wort heruorbringen konnte, richtet nun, 
bald in basliſcher, bald in franzöfiicher Sprache 
alleriei Fragen an den Bruber und erkundigt ſich 
nad) denen, bie fie auf immer verlaffen: 

„Und die Mutter? Ganz allein jet im Haufe, 
logar des Nachts?“ 

„D nein,” jagt Arrochloa, „die alte Hatharine ift 
jept ftet8 bei ihr, und ich habe angeordnet, daß fie 
im Haufe ſchläft.“ 

„Und bein Kind, Arrochfoa, wie jieht es aus? 
Iſt es ſchon getauft? Wie heit e8? Laurent wahr» 
ſcheinlich, wie fein Großvater ?” 

Etchözar liegt etwa jechzig Kilometer von Amez⸗ 
queta entfernt; dieſe Gegend hat jedoch immer 
noch jo wenig Verbindungen wie in früheren Jahr- 
hunderten. 

„D, obgleich) wir jo weit auseinander find, höre 
ih doc manchmal von euch. So zum Beifpiel im 
vergangenen Monat haben Leute von hier auf dem 
Markte in Hafparren frauen aus Eidyezar ans 
getroffen, und jo erfuhr ich mancherlei . . . An Oftern, 
weißt du, hatte ich gehofft, dich zu ſehen, — ich 
wuhte, daß in Erricalde ein großes Ballfpiel fei und 
dab du hinkämeſt. Ich dachte, du werdeſt vielleicht 
bis zu mir reifen — und während ber zwei Feſttage 
ſchaute ich oftmals auf die Strafe, hier durch dieſes 
Fenſter, ob ich dich nicht kommen fähe.” 

Sie deutet dabei auf das weit offenftehenbe Fenſter, 
durch welches man in die Nacht der wilden Gegend 
fieht. Unendliche Stille Tiegt darüber ausgebreitet, 
bie und da nur hört man leijes Frühlingsrauſchen 
und die Heine, öfter ausſetzende Muſik der Grillen und 
Laubfröjche. 

Als Ramuntcho fie jo ruhig reden hört, bleibt er 
ſchier vernichtet dor dieſer vollftändigen Entfagung, 
und fie erfcheint ihm noch unmwiderruflicher verändert 
und entrüdt... Arme, Heine Nonne, Einjt hieß fie 


Graziella — jebt wird fie Schwefter Marie Angelifa | 


genannt und bat feine Familie mehr... Unperfön« 
lich Tebt fie nun in dem Heinen Haufe hinter den 


687 


weißen Wänden, und ohne irbiihe Hoffnung und 
vielleicht ohne Wünfche, ala ob fie ſchon in das Neid) 
des großen Vergefiens, des Todes verjeht jei. Doch 
jet lächelt fie, fie ſcheint auf einmal heiter zu fein 
und fein Leid zu fühlen... Arrochkoa fieht Ramuntcho 
mit jeinem durchdringenden Blid, gewohnt, die 
Ihwarzen Tiefen zu ergründen, fragend an. Auch 
er ift befiegt durch biefen unerwarteten Frieden und 
begreift wohl, dab fein jonft fühner Kamerad nichts 
mehr wagt, dab feine Pläne wanfen, daß alles un— 
haltbar und leblos vor der unfichtbaren, feine Schweiter 
umſchließenden Mauer zuſammenſinkt. 

Auf Augenblicke wird er ungeduldig und möchte 
auf die eine oder andre Art der Sache ein Ende 
machen, — ben Zauber brechen oder ſich ihm unter—⸗ 
werfen und vor ihm fliehen. Er zieht ſeine Uhr hervor 
und ſagt, daß wegen der Kameraden, die dort drunten 
warten, es höchſte Zeit ſei, weggugehen . .. Die 
Schweſtern erraten wohl, wer dieſe Kameraden ſind 
und weshalb ſie warten; allein es ficht ſie nicht an. 
Selbſt Baslinnen, Töchter und Enlelinnen von 
Basken, haben ſie Schmugglerblut in den Adern und 
betrachten dieſe Art Geichäfte mit Nachſicht. 

Endlich ſpricht Graziella Ramuntchos Namen aus; 
jedoch wagt ſie nicht, ſich direkt an ihn zu wenden, 
ſondern fragt ruhig lächelnd den Bruder: 

„Da iſt Ramuntcho alſo jegt mit dir? Iſt er 
wieber im Dorf anjälfig, und arbeitet ihr zufammen ?” 

Mieder lange Stille. Arrochkoa ſieht Ramuntcho 
an, in der Erwartung, daß er antworte, 

„Rein !* jagt diefer, langiam und büjter; „nein! 
denn ich reife morgen nad) Amerifa! . .* 

Jedes ſcharf betonte Wort dieſer Entgegnung 
flingt wie Aufruhr und Herausforderung mitten in 
bie ſeltſam friedliche Stimmung hinein. 

Die Meine Nonne ſtützt ſich flärfer auf bes Bruders 
| Schulter, und Ramuntcho, wohl fühlend, mit welch 
ihwerem Schlag er getroffen, betrachtet und ver- 
ſchlingt fie mit feinen verführeriihen Angen, bie 
wieber Mut faſſen und anziehend und gefährlid) find 
im legten Anlauf feines liebeerfüllten Herzens, jeines 
ganzen, jungen, feurigen, fir Zärtlihfeit und Lieb— 
kojung geſchaffenen Weſens. Während einer Minute 
Unentjchloffenheit ift es, als ob das Kloſter zittere 
und die weißen Mächte in der Quft weichen und ver— 
dunften gleich unbeftändigem Rauch vor dem jungen 
Bändiger, der bierherfam, um den Zriumphruf 
des Lebens erſchallen zu laſſen. 
Und das nun ſich wieder einſtellende Schweigen 
iſt das tieffte von allen, die ſchon dieſes nur mit 
halben Worten oder faſt ohne Worte gejpielte Drama 
unterbrochen haben. 

Endlich jpricht die Schweiter Marie Angelita zu 
Ramuntcho ſelbſt. Wahrlich, man jollte nicht deuten, 

daß ihr Herz einen lekten Schlag bei der Unfündigung 





688 


Pierre 2oti. 


dieſer Abreiſe erlitt, noch daß ihr ganzer jungfräu« | veriüßtes Lebewohl gejagt. Aber mein! Er bleibt 


licher Körper unter dem Blick des Geliebten erzitterte. 
Mit einer Stimme, die nad und nad) einen fanft- 
mütigen Ausdrud befommt, jpricht fie von ganz ein= 
fachen Dingen wie zu irgend einem beliebigen fyreunde: 

„Ah, ja... der Onkel Jgnacio, nicht wahr? 
Ic) hatte mir immer gedacht, daß Sie ihn dort drüben 
auffuchen würden... Wir alle wollen die heilige 
Jungfrau bitten, Sie auf Ihrer Reife zu begleiten.” 

Und abermals ift e8 der Schmuggler, der das 
Haupt jenft, wohl fühlend, daß alles vorbei, daß die 
Kleine Gefährtin feiner Kindheit verloren it — auf 
immerdar — daß fie unter einem unantaflbaren 
Leichentuch begraben liegt. 

Die Worte der Liebe, der Lodung, die er zu 
fagen gedachte, die Pläne, die ſchon jeit Monaten 
in feinem Kopfe reiften, das alles jchienen ihm jeßt 
tolle, frevelhafte, umausführbare Dinge, Kinder- 
prahlereien. Arrochloa, der ihn aufmerfjam beob⸗ 
achtet, unterliegt übrigens demjelben unwiderſtehlichen 
Zauber ; beide verftehen ſich ohne Worte und geftehen 
fi ein, dab bier nichts zu machen ift, daß fie es 
niemal® wagen würden... 

Doch ein noch menſchlicher Schreden zuckt durch 
die Augen der Schweſter Marie Angelita, als 
Arrochtoa ſich zum Abichied erhebt... Sie bittet 
mit veränderter Stimme um einige Minuten Aufs 
ihub, und Ramuntcho ift plötzlich von heißem Ber- 
langen ergriffen, ſich ihr zu Füßen zu werfen, mit 
dem Kopf den Saum ihres Schleierd zu berühren, 
alle Thränen, die ihm beinahe erftiden, auszuweinen, 
fie um Gnade zu bitten; ebenjo dieje fanfte Oberin, 
— ihnen allen zu jagen, daß dieſe Braut feiner 
Kindheit jeine Hoffnung, fein Leben, jein Mut, fein 
Alles war; daß man Barmherzigkeit ausüben joll, 
fie ihm wiedergeben, weil er außer ihr nichts befipt. 

Alles unendlich Gute, das in feinem Herzen liegt, 
begeiftert ſich jet zu dem einen Wunſch: flehend zu 
bitten, — zu einem Anlauf inftändigen Gebet? und 
auch des Vertrauens in die Güte und das Mitleid 
der andern, 

Und wer weiß, o Gott! Wenn er es gewagt 
hätte, das große Gebet reiner Liebe auszujprechen ? 
Wer weiß, wie viel Gutes, wie viel menſchliche Herz- 
lichleit auch bei den armen Mädchen mit den ſchwarzen 
Schleiern erwedt worden wäre? Bielleicht hätte ihm 
die alte Oberin, die alte, ausgetrodnete Jungfrau 
mit dem kindlichen Lächeln und den biederen, hellen 
Augen die Arme wie einem Sohne geöffnet, alles 
begreifend, alles verzeihend, troß der Klofterregel, trotz 
der Gelübde! Vielleicht wäre es möglich geweien, Gra- 
ziella ohne Entführung, ohne Betrug, von ihren 
lojtergefährtinnen fait entjhuldigt, wieder zu er— 
langen. Oder wenigjtens hätte fie ihm dod ein 
etztes, tröftliches und durd) einen Kuß reiner Liebe 


ſtumm. Sogar dies, jogar dieſes Gebet fann er 
nicht hervorbringen, und der Nugenblid des Abſchiede 
naht. Arrochloa fteht auf, jcheint erregt und madıt 
ihm ein gebieterifches Zeichen mit dem Kopfe. Da 
erhebt auch er feine ftolze Geftalt und ergreift jein 
Barett, um dem freunde zu folgen. 

Sie danten für dad Abendejlen und jagen halb» 
laut und ſchüchtern gute Nacht. 

Im ganzen find fie während der furzen Dauer 
ihres Beſuchs ſehr korreft, jehr ehrfurdhtsvoll, beinahe 
zaghaft geweſen; und als ob nicht alle Hoffnung ſo⸗ 
eben zerronnen wäre, als ob der eine nicht jein Lebens 
glüd hier zurüdgelaffen hätte, fteigen fie ruhig die 
jäuberliche Treppe zwifchen den weißen Wänden hinab, 
und die guten Schweitern leuchten mit der Eleinen 
Sampe. 

„Kommen Sie, Schweiter Marie Angelika,‘ 
ſchlägt die alte Oberin mit ihrer dünnen Kinder: 
flimme munter vor, „wir wollen beide hinunter 
begleiten, bis ans Ende unjer3 Baumganges, Sit 
wifien wohl, bis zur Biegung, die zum Dorfe führt..." 

Iſt fie denn eine alte, ihrer Macht ſichete fr, 
oder jpielt fie nur unbewußt mit dem verzehrenden 
Feuer? 

Es war zu Ende! ... das herzzerreißende pfer 
gebradit! Der Abichied entſchieden, der Kampf erftidt. 
Jetzt gehen die zwei, die ſich anbeteten, nebeneinandr 
draußen in der warmen Frühlingsnacht, in der ein 
ſchmeichelnden, lieblihen Nacht, unter den friſchen 
Blättern, durch das hohe Gras mitten im der über: 
wältigenden Pracht des Lenges, wo überall die Leben! 
fäfte emporquellen. ; 

Langſam, mit Heinen Schritten gehen fie durch 
die entzückende Dunkelheit, als wären fie ſtillſchweigend 
übereingelommen, den Weg länger dauern zu lafjen; 
beide find ſtumm, voll heißen Verlangens und zu⸗ 
gleich großer Furcht vor einem Anftreifen ihrer Meider 
einer Berührung ihrer Hände. Arrochkoa und die 
Oberin folgen ihnen auf dem Fuß; — auch ſie reden 
fein Wort, 

Die Nonnen auf ihren Sandalen, die Schmuggler 
auf den Schnurfohlen gehen geräufchlos wie Geipenfter 
durch die milde Nacht. Still wie bei einem Ber 
gräbnis fommen die jungen Leute mit dem ſeltſamen 
Gefolge langjam an den Wagen heran. Still ift et 
auch ringsum, überall in dem großen Dunkel bit 
tief in Berg und Wald hinein, und an dem ſternen ⸗ 
lojen Himmel ſchlummern die großen, ſchweren Wolfen 
voller befruchtender Waſſer, nad) welden bie Erde 
fi) fehnt und die morgen herabfallen werden, um 
den Wald noch ftärfer zu beleben, das Gras noch 
üppiger, noch höher emporſchießen zu laſſen. Die 
ſchweren Wolfen über ihren Häuptern bededen die 
ganze ſüdliche Frühlingspracht, die fie jo oft in ihrer 


— 








Ramuntcho. 


Kindheit entzückte, bie jedoch Ramuntcho wahrſcheinlich 
niemals wieder ſehen wird und welche Graziella in 
Zukunft nur mit den Augen einer Toten anjehen 
muß, ohne fie in ſich aufzunehmen, ohne fih an ihr 
zu erfreuen, 

Weit und breit ift niemand zu jehen, und weiter 
unten ſcheint das Dorf ſchon eingeichläfer. Die 
Nacht iſt hereingebrochen, geheimnisvoll hat fie ſich 
über alles ergoſſen — über die Fernen des einſamen 
Landes, über die Berge und die wilden Thäler ... 

Wie leicht wäre jeht das Vorhaben der beiden 
jungen Männer in diefer Einiamfeit, mit dem Wagen, 
der ganz nahe von bier fteht, und mit dem rajchen 
Pferde auszuführen! Doch ohne ein Wort geredet, 
ohne ſich berührt zu haben, kommen Die Liebenden 
an diefe Biegung des Weges, wo Abjchied auf ewig 
genommen werden muß. Ber Wagen ift richtig hier, 
ein Heiner Junge hält das Pferd, Die Laternen 
find angezündet, das junge Tier ift ungeduldig. Die 
Oberin bleibt ftehen : 

Sie find jebt, jo ſcheint es, am äußerften Ziele 
des legten im dieſer Welt nebeneinander gemadten 
Ganges, und die alte Nonne fühlt ſich mächtig genug, 
ohne Widerruf darüber zu entjcheiden. 

Mit derjelben feinen Flötenſtimme und beinahe 
fröhlichem Zone fagt fie: 

„Nun, Schwefter, nehmen Sie jeht Abſchied!“ 

Sie ſpricht es mit der Sicherheit einer Parze 
aus, beren Beichlüffe über Leben und Tod unanfedht- 
bar find, 

In der That, niemand verjucht ed, ihrem mit 
io viel Gelafjenheit erteilten Befehl zu widerſtehen. 

Der rebelliihe Ramuntcho ift befiegt, — völlig 
befiegt durch die ftillen, weißen Mächte. Ritternd 
nach dem dumpfen, in feinem Innern vor ſich ger 
gangenen Kampfe fenlt er das Haupt, — willenlos 
jet, beinahe ohne Gedanken, wie wenn er unter 
dem Einfluffe irgend eines einichläjernden Zauber« 
trantes jei. 

„Nun, Scwefter, nehmen Sie Abſchied,“ hatte 
die alte, ruhige Parze gelagt, und da fie fieht, daß 
Graziella Arrochtoa nur die Hand Hinreicht, fügt 
fie Hinzu: 

„Wie? Sie füllen Ihren Bruder nicht?” 

Freilich, der Meinen Schweſter Marie Angelifa 
wäre es lieb gewejen, den Bruder von ganzem Herzen, 
von ganzer Seele zu küſſen, ihn zu umichlingen, ſich 
an jeine jtarfe Bruft zu werfen und dort Schut zu 
ſuchen, jeßt zur Stunde des übermenfchlichen Opfers, 
wo fie den Heißgeliebten ohne ein herzliches, liebe- 
volles Wort jcheiden laſſen muß... Und bennod 
liegt in ihrem Kuß eine jeltfame, erfchrodene Zurüd- 
haltung : ber Kuß einer Nonne ift gleichfam der Kuß 
einer Toten ... Wann wird fie den Bruder, der 
das Baslenland nicht verläßt, wiederjehen? Wann 

Aus fremden Zungen. 1897. IE 15. 





689 


wird fie Nadhriht von der Mutter, vom Haufe, vom 
Dorfe, durch irgend welche Borüberziehenden, die in 
Etchöjar waren, erhalten? 

Sie wagte ed nicht einmal, Namuntcho ihre 
Meine Hand zu reihen, und läßt fie am ſchwarzen 
Rode über die Perlen des Rojenfranzes herunterfallen. 

„Wir werben beten,“ jagt fie nochmals zu ihm, 
„daß die heilige Jungfrau Sie auf der langen Reife 
beſchützen möge.” 

Seht gehen ſie fort ; langſam, gleid) ftillen Schatten, 
huſchen fie zurüd, dem bejcheidenen, vom Kreuze be= 
hüteten Mlofter zu; und die zwei Beſiegten, unbetveg- 
lich ftehen bleibend, fehen im dunfeln Baumgang 
ihre Schleier, die jchwärzer als die Nacht der Bäume 
find, nad) und nad) verſchwinden. Ad, auch fie, die 
bort broben in ber Dunkelheit des fchattigen Aufgangs 
fich entfernt, ift ganz gebroden!... 

Uber nichtsdeftoweniger wird bie weiße, beruhi- 
gende Atmofphäre des Mlofters fie gleihfam unem- 
pfindlich machen, und ihr ganzes Leid wird bald durch 
eine Art Einjhläferung beſchwichtigt ſein. Morgen 
wird fie wieder, und jo weiter bis zu ihrem Tod, den 
jeltfam einfachen Lebenslauf fortjegen: unperſönlich 
einer Reihenfolge täglicher Pflichten nachlommen, die 
ſtets diefelben find, und aufgehen in einer Gemein» 
haft von Wefen, die allem entjagt haben, — und 
jo kann fie erhobenen Hauptes dem fühen, himmlischen 
Zraumbild entgegengeben ... 

O crux, ave, spes unica! 

Ohne Wandel oder Raſt bis zum Ende zwiichen 
den weißen Mauern einer Slofterzelle leben, bald 
hier, bald anderswo, frembem Willen anheim« 
gegeben in irgend einem dieſer bejcheidenen Doris 
föfter, wo ihnen nicht einmal vergönnt ift, Wurzel 
zu faſſen — nichts auf der Erde beſitzen, nichts 
wünſchen, nichts erwarten, nichts hoffen! Die flüchtigen 
Stunden diefer Welt als eitel und vergänglich an« 
ſehen und fi von allem befreit fühlen, ſelbſt von 
der Liebe — als jei der Tod Schon darüber hingegangen. 

Das Geheimnis eines foldyen Lebens ift wohl 
dazu angethan, die noch daftchenden jungen Leute 
ju verwundern — fie, die für den Kampf des Da- 
ſeins ausgerüftet find, — lebensfrifhe Menjchen, 
duch ihren Inſlinkt fowohl als ihre Sraft dazu 
geſchaffen, das Leben zu genießen, es zu lieben und 
es zu erweitern, 

O crux, ave, spes unica!,.. Man ficht fie nicht 
mehr, fie find in ihr friedliches Klofter zurückgekehrt. 
* 

Die beiden tauſchen fein Wort über das auf- 
gegebene Unternehmen und über die ihnen jelbft nicht 
far gewordene Urjache aus, welche zum erjtenmal 
ihren Mut ins Wanken gebradt. Sie jhämen ſich 
ſchier voreinander wegen biejer plößlichen, unüber- 
windliden Zaghaftigfeit. 

87 





690 


Eine Weile noch waren ihre ftolgen Köpfe den 
langiam fliehenden Nonnen zugewandt, jetzt jehen fie 
fi in der Dumfelheit an. Auch fie trennen fich num, 
und wahrſcheinlich für immer. Arrochloa giebt jeinem 
Freunde die Zügel des Heinen Wagens, den er ihm, 
feinem Verfprechen gemäß, leiht. 

„Ceb wohl, mein armer Ramuntcho!“ fagt er 
mit mitleidigem, aber faum berzlihem Ton. Und 
das unausgefprochene Ende des Sahes joll klar und 
deutlich heißen: „Geh, da dein Streich mißlungen, 
und mich, du weißt, die Zeit drängt, die Kameraden 
erwarten mid)...“ 

Namuntho hätte ihn gern von ganzem Kerzen 
bei diefem legten Abjchied gelüßt und in biefer Um— 
armung des Bruders der jo innig geliebten Braut 
feiner Jugend ohne Zweifel heiße Thränen geweint, 
die ihm, für einen Augenblid wenigftens, wohlgethan 
hätten. 

Aber nein! Arrochkoa ift wieder der Arrochloa 
der jchlimmen Tage geworden, der gewandte Ballipieler 
ohne Seele, der nur die Kühnheit bewundert, und 
zeritreut reicht er Ramuntcho die Hand: 

„Wohlan, auf Miederjehen! Viel Glüd zur Reife!“ 

Und geräuſchlos eilt er bei der günftigen Duntel« 
heit zum Stelldichein der Schmuggler, der Grenze zu, 


* 


Namuntho, jetzt allein auf der Welt, treibt 
jein Meines Gebirgspferd mit der Peitiche an, und 
mit leichtem Schellengeraflel eilt es fort. Inſtinktiv 
ipornt ihn etwas an, den durch Aranok kommenden 
Zug, das in Bordeaur abjegelnde Dampfboot nicht 








Pierre Loti. — Namuntdo. 


zu verfehlen. Gleich einer Majchine beeilt er ih, ohne 
nur zu willen warum — wie ein feelenlojer Rörper 
ohne Seele, der fortfahren würde, einem früher ger 
gebenen Antrieb zu gehorchen; und jehr raid) dringt 
er, der doch ohne Ziel, ohne Hoffnung in der Weltift, 
in die wilde Gegend ein, in das Didicht der Wälder, 
in das ganze tiefe Dunkel der Mainacht, welde die 
Nonnen von ihrem hohen Fenfter aus ringsum jehen 
fönnen. 

Für ihn ift alles zu Ende — zu Ende für al 
Zeit! Zu Ende find die entzüdend jühen Träume 
feiner erften Jahre. Er ift jet eine aus dem batti- 
ihen Boden entwurzelte Pflanze, die ein Wind von 
ungefähr anderswohin treibt, In der Gtille dei 
eingejhläferten Waldes Mingen am Halſe des Pferdes 
munter die Glödlein. Der eilig dahinfliegende Schein 
der Laterne zeigt dem traurigen Flüchtling die untern 
Zweige, das friſche Grün der Eichen und am Rand 
des Weges die Blumen der Heimat, hie umd da die 
Mauern eines befannten Dorfes, eine alte Kirde — 
lauter Dinge, die er niemals wiederjehen wird, « 
fei denn im fpäten, ungewiſſen Alter. 

Vor ihm liegt Amerika, die Verbannung, vieleiht 
ohne Rücklehr, das unendlih Neue voller Lieber: 
raſchungen, ein ganzes, langes Leben mit dem Leid 
einer zerriffenen Seele, bei welchem er jeine Kraft 
ausgeben und erjchöpfen wird — Gott weiß wo, in 
ungeabnten Arbeiten und Kämpfen... 

Dort oben in ihrem Meinen Kloſter, in ihrem 
Grab mit den weißen Wänden, jagen die ftillen 
Nonnen ihr Abendgebet ber... 

O crux, ave, spes unical... 





Modernes Syſtem. 


Bon Auguft Strindberg. 
Aus dem Schwediſchen überfegt von Otto Hauſer. 


Es ftand die alte Hänferreih 
Und ranbte alles Kicht den andern, 
Da roh fie Männer einft herbei 
Mit Brechgeräten munter wandern. 


Bald wallte Staub 


Und, längjt —— 
iel von der Wand 
er Mörtel, der 
Nicht widerftand. 
Die Stange ſtieß, 
Es hieb der Karft, 
Bis an ganz 
Die Maner barft. 
if 


Die Zan 
Das 3— 


Das Dach, es fiel, 
Der Scornftein nad. 
Don Haus zu Baus 
Ging's wer fort; 
Was alt und morſch, 
Man brach es dort. 


Da geht vorbei ein alter Mann 

Und * das Treiben tief bekümmert; 
Nun bleibt er es ficht ihn an, 

Daß man die Häuſer hier zertrümmert. 
„Bier werden Dillen wohl erftehn? 

Sagt an, mein freund! Ich will es hoffen.” 
„Kein Baumerf foll man hier mehr jehn! 
Der Platz bleibt unbebaut und offen!“ 


Ihr reift nur nieder, banet nicht, 

Ihr wollt nur brechen, wollt nur töten — —!" 
„Ja, meint Ihr denn, daß £uft und Licht 
Nicht ebenfo uns find vonnöten?!" 


m 


Viener. 


Vier Porträts 


bon 


I. A. Gontſcharow. 
Aus dem Ruſſiſchen überfeßt von A, Ollchwang und G. Kryzanowski. 


IV. 
Matftwei. 


Rt hatte von jeher und unter allen Umjtänden 
einen Widerwillen gegen Trunfenbolde, und gerade 
mir war e& bejchert, fie um mich dulden zu müfjen. 
Id) fam denn auch in dieſer Zeit nicht zur Ruhe, denn 
befanntlich ift die Trunffucht ein intermittierenber 
Bahnfinn, der zuweilen gefährlich wird und in un— 
erwarteten Rataftrophen ausbricht, — wie das bei 
Anton teilweife der Fall war — wenn er nicht nod) 
größeres Unglüd herbeiführt. 

Diejer Zuftand dauerte über zwei Jahre. Ich 
wollte mich um jeden Preis von meinem Hausjoch 
bejreien. Zu dem Zwecke galt e& aber vor allem die 
Frage zu löfen, wo ein nüchterner Diener zu finden 
fi. Beiorgt und traurig begab ich mich zu meiner 
Freundin Anna Petrowna, der Eheftifterin. 

„Barum laſſen Sie fi fo lange nicht jehen?* 
Mit diefen Worten kam fie mir entgegen. „Und 
warum jo unfroh ?” fügte fie hinzu. 

Stillſchweigend ließ ich mich neben fie und ihren 
Arbeitstiih auf den Diwan fallen. 

„Wie fann ich froh fein,” verſetzte ich unmutig, 
„einig in Sorgen, wie ich mir meine Häuslichfeit ein« 
richten joll, um mid) ihrethalb nicht quälen zu müſſen? 
Um nicht beftändig in Angft zu leben, daß bei mir 
Feuer aus» oder ein Dieb einbricht, oder daß mein 
Diener ſich betrintt? Mich beichäftigt nur noch 
eins —* 

„Und was?“ fragte fie, mir forſchend in Die 
Augen blidend, „Sie haben ein Anliegen?“ 

„Allerdings. Ich fuche ein Phänomen —“ 

„Ad!“ fuhr fie plöplih auf. „Da haben Sie's 
aber gerade jekt gut getroffen." Sie legte ihre 
Stiderei weg und rüdte näher zu mir. „Denen 
Sie nur: da habe id} gerade ein wahrhaftiges Phä- 
nomen — Schönheit, Anmut, Erziehung — und 
wos für eine Seele, was für ein Herz!* 

„Und trinkt nicht?” fragte ich zerftreut und lachte 
elber dazu. „Unmoglich!“ 


— — — —— ———— — — — 


„Was meinen Sie? Was für ein Phänomen 
brauchen Sie?“ Ihr Ton war mit einemmal kühl 
geworben, Zugleich rückte ſie etwas weiter weg. 

„IH braude einen nüchternen Diener, der durch— 
aus nicht trinft, Ich bezweifle, dab es einen foldhen 
giebt. Und darin befteht mein Summer, meine Sorge,” 

Sie antwortete nicht jogleih. Dann ftimmte fie 
ihr altes Lied an: „Heiraten Sie! Dann... .* 

„Dann wird die Dienerfchaft nicht trinken, meinen 
Sie?“ 

„Denigftens werden Sie nichts davon merken: 
ift der Lakai fort und beirinft fi, fo tft der Koch 
da oder bie Köchin oder das Stubenmädchen. Das 
Haus wird nie leer ſtehen.“ 

„Alſo ih muß außer der Frau noch eine Köchin 
oder einen Koch ober ein Stubenmädchen heiraten! 
Diel Dienftboten, viel Feinde! Nein, Anna Petrowna! 
Aber Scherz beifeite! Wiſſen Ihre Leute keinen ſolchen 
Diener? Ihr Haushalt ift groß, Ihre Familie zahle 
reich, es giebt eine Menge Leute bei Ihnen, und dieſe 
Leute haben vielleicht Belanntichaften. Wenn ſich ein 
jolches Phänomen findet, ich jehe einen Preis aus,” 

„Gut, ich werde jehen und vorfommenden Falls 
Ihnen Mitteilung mahen. Fragen Sie in drei 
Tagen bei mir an! Außerdem aber kommen Sie 
Mittwoch zu Tiſch! Katerina und Jwan Karlowitſch 
werden ba fein. Wir werden Whift jpielen. Unter 
deſſen werde id) mid) erfundigen.“ 

Ih ging. Aber noch vor Mittwoch fam eines 
Morgens der Büffettdiener Anna Petrownas zu mir, 
ein alter, jolider Domeftif mit grauen Haaren und 
von würdigen Ausjehen. 

„Komme von Anna Petrowna,“ jagte er, „Sie 
lafjen grüßen. Beliebten zu fragen wegen eines 
Dieners, der nicht trinkt?“ 

„sa. Giebt's denn jo einen?” fragte id). 

„Gewiß!“ 

„Das heißt, er trinkt nicht viel?“ 


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692 J. U Gontiharom. 


„Nichts! Nicht einen Tropfen nimmt er in den 
Mund, nur —* 

„Nur Waller? Sagen Sie mir aufrichtig: ift er ein 
Grobian oder ein Faulenzer oder ftiehlt er vielleicht ?“ 

„Nein, nein!“ antwortete lächelnd der Büffett- 
diener. „Nur... wenn Sie ihn anjehen, jo werden 
Sie ihn nicht nehmen. Er ift viel zu komiſch.“ 

Ich wunderte mid. 

„Komiih? Inwiefern komiſch ?“ 

„So! Er ift viel zu komiſch.“ 

„Im Ausjehen? Was?“ fragte id. 

„Auch im Ausjehen, und überhaupt — er jpricht 
lomiſch und macht nichts wie andre Leute.“ 

„Nun, und wie iſt's mit dem Bedienen? Kann 
er Zimmer aufräumen, Thee auftragen, Kleider und 
Stiefel pußen, mit einem Wort, kann er das, was 
ein Diener fönnen muß?“ 

„Das kann er. Und warum nit? Gr ift bei 
feinem Herrn lange Zeit Bedienter gewefen. Er tft 
ein Leibeigener. Bis jept, glaub’ ich, ift er noch 
nicht frei. Nur lomiſch ift er und außerdem jo — 
jo — gierig — * 

„Wie? Aufs Eſſen?“ 

Der Büffettdiener lachte: „Ad wo? Er ift ja 
gar nichts.” 

„Wie, er ißt nichts? Nun, das nenn’ ich mir 
wahrhaftig ein Phänomen.” 

„Geldgierig ift er. Er ſpart.“ 

„Nun, das ift fein Unglüd. ‚Geiz,‘ jagt man, 
‚ift feine Dummheit.‘ Wenn er fein Gelb hütet und 
fein fremdes nimmt —“ 

Der Büffettdiener lachte wieder: „Ah wo? Der 
wird lieber jein eignes geben als fremdes nehmen. 
Nein, er ift ehrlich, durch und durch ehrlich," fügte 
er ernfthaft hinzu. „Nur fomifch ift er. Er hätte 
verfchiedene Stellen haben fünnen, aber wenn die 
Herrſchaften ihm anfehen, nehmen fie ihn nicht. Wir 
haben nad ihm geihidt, und wenn Sie wünjchen, 
werben wir ihn herſchicken. Nur bezweifle ih, daß 
Sie ihn nehmen werden. Er ift viel zu komiſch, 
gnädiger Herr.“ 

„Bitte, jchiden Sie ihn. Ich werde ihn nehmen 
— unter allen Umftänden — wenn er nur fein 
Trinter iſt. Ih bin in diefem Augenblid ohne 
Diener. Eine Frau aus der Nachbarſchaft beforgt 
mir das Notwendigſte.“ 

Der Büffettdiener wollte gehen, bejann ſich aber 
und jagte: „Ja, etwas babe ich vergeſſen. Matwej 
— jo heit der Bewußte — ift fein Ruſſe. Er ift 
aus Polen, und fein Herr lebt gleichfalls in Polen. 
Doc Spricht Matwej nicht polniſch. Beten gebt er 
in feine Kirche auf dem Newsky.“ 

„Nun, das ift mir gleih. Schiden Sie ihn ge— 
fälligft fofort und danken Sie in meinem Namen 
Anna Petrowna,. Ihnen jelbjt werde ich mid) noch 


erfenntlich zeigen. Wenn er nicht trinkt und nicht 
ftiehlt, ift er ein wahrer Schatz.“ 

Des andern Tags in aller Frühe erjchien bei mir 
Matwej. Nach der Beichhreibung des Büffetidienert 
war id) aufgelegt, zu lachen. Als ich jedoch den Ane 
fömmling jah, erftarb mir das Lachen auf den Lippen. 

Er war etwa fünfundvierzig Jahre alt, ziemlid 
lang gewachſen und jpindeldürr, ein Menſch, der eben 
vom Totenbette aufgeftanden jchien, nichts als Haut 
und Knochen. Sein Kopf war Hein, die Augen ein- 
gefunken, der Blid flier und ausdrudslos, der große 
Mund ftand weit offen, als ob er ihn vor Schwächt 
nicht ſchließen könne, die Baden hingen herab, das 
ganze Geficht war von ber Farbe alten vergilbten 
Handiduhleders, die ſpärlichen Haare von der einer 
alten Baftmatte. Gelleidvet war er in einen langen 
grauen, ganz abgetragenen Rod mit einem verſchoſſenen 
Sammetlragen, Um den Hals hatte er einen alten 
gehäfelten Shawl. 

Mir wurde angft und bang bei feinem Anblid, 
Er ſchien ſich faum auf den Beinen halten zu können, 
Er jah mir gerade ins Geſicht, wobei er wie vor 
Erjhöpfung mit den Augen blinzelte und ſchwer 
aufatmete. Die Beine waren von den Knieen an 
gleihjam nicht mehr fein eigen, fie fchienen über- 
haupt feine natürlichen Beine, jondern aus Holz zu 
fein, und die Arme paßten weniger zu einem menic- 
lichen Körper als zu dem eines Orangelltan. 

Komiſch? — Komiſch ift er micht, fondern bee 
mitleidenswert,* dachte ich bei mir, als ich ihn anjah. 

„Bilt du krank?“ fragte ich. 

Er wachte ſozuſagen auf. 

„Durchaus nicht!“ beeilte er fich, zu antworten, 
„Ih bin, Gott jei Dank, gejund.“ 

„Warum bift du fo mager und bleih? Warit 
du immer jo?* 

Er lächelte breit. Seine Lippen zogen ſich aus 
einander und zeigten fein blaſſes Zahnfleiih. Im 
Unterkiefer fehlte ein Zahn. 

„Wie ich nod) Mein war, war ich vielleicht anders,” 
fagte er leije, mit einer wahren Grabesſtimme, und 
zog dann mühjam den Atem ein. „Aber jeit ih 
mich fenne, war ich immer jo wie jet.“ 

„Man jagt mir, daß du nicht trinkſt,“ fuhr ich fort, 

„Nicht das mindefte. Ich habe nie getrunten und 
trinfe aud nit — außer Thee und Waſſer.“ 

„Gut! Aber man jagt mir au, daß du nicht 
ißt, und das ift nicht gut. Deshalb bift du auch 
jo mager.“ 

„Nein, das kommt nicht daher,“ bemerkte er mit 
traurigem Lächeln. „Das fommt von etwas anderm.“ 

„Woher denn?“ 

„I bin ftark geichlagen worden." — Er jah 
mid) mit einem eigentümlich traurigen, fajt kranl- 
haften Blid an. 





Diener IV. Matwei. 


„Geihlagen? Und von wen?” 

Natürlich vom Herrn.” 

„Wer ift denn der Herr?* 

Er nannte einen polnischen Namen, den ich jegt 
vergeffen habe. „Er war Militär, diente bei den 
Hufaren,“ fuhr Matwei for. „Er nahm feinen 
Burſchen, um das Geld zu jparen, ch diente bei 
im ftatt eines Burſchen, und da ſchlug er mid), 
O, er ſchlug mich tüchtig.” 

Und als märe er völlig erjchöpft, atmete er 
wiederum ſchwer auf, aus voller Bruft. 

„Warum denn?“ 

„So! Es fiel ihm ein, und ba ſchlug er. Es ift 
ja befannt: ein Herr darf für alles ſchlagen und 
braucht für nichts Rechenſchaft zu geben. Trifft man 
etwas nicht, jo fängt er an: mit den Fäuſten auf 
den Kopf — auch mit den Füßen — oder au mit 
dem Säbel oder mit dem Stiefel —“ 

Ich hörte mit Schaudern diejer Erzählung zu, 
für deren Wahrheit fein Ausſehen nur zu deutlich 
jeugte, Er ſprach weiter: = 

„Manchmal war es unmöglich, mit ihm auf einem 
unebenen Weg zu fahren. Da ſchmiß er mich vom 
Bagen herunter und befahl mir, bis ans Fiel zu 
Fuß zu laufen. Und fo bin ich mit der Zeit ſchwach 
geworden. Dann nahm er ſich einen Burjchen vom 
Militär, und mid) Tieß er gegen Kaution frei. Fünfzig 
Rubel Hab’ ich Sicherheit geleiftet.* 

AL dies erzählte er ſchwer atmend, mit ber 
Stimme eined Sterbenden, indem er langjam die 
Augen öffnete und ſchloß. 

Ih hörte ihn mit tiefem Mitleid an. — „Mein 
Gott, wie elend!“ dachte ich bei mir. „Und es giebt 
Menſchen, die ihn komisch finden!” 

„Ih habe immer noch vor, mic, freizufaufen,* 
fuhr er fort. „Nur verlangt er viel: fiebenhundert 
Kubel. Ich Habe ihm vierhumdert geboten. Aber er 
nimmt fie nicht.“ 

„Haft du denn fo viel Geld ?* fragte ich. 

„Seht nicht mehr, Ich Habe nicht ganz drei— 
hundert übrig behalten,“ fügte er beinahe flüfternd 
binzu. „Ich war lange Zeit ohne Dienft, mußte für 
eine Schlafftelle bezahlen. Auch mit Ausleihen hab’ ich 
jechzig Rubel verloren. Ich befomme fie nicht mehr.” 

Er ſeufzte. 

Ich werde aber wieder jparen und mich losfaufen,* 
ſchloß er ziemlich lebhaft. Sogar feine Augen leuch— 
teten auf. Man fah: es war fein innigiter Wunſch, 
frei zu werben. 

„Sp! Darum aljo bift du fo gierig nad) Gelb!“ 
dachte ich bei mir. „Du willft dir die Freiheit er- 
faufen. Du Armer, Elender, Unglücklicher!“ 

„Uebereile dic) nicht!” jagte ich laut. „Vielleicht 
wirft du auch umfonft frei. Man jpricht viel davon.“ 

Thatiählih war damals in den höheren Kreiſen 


698 


von der Aufhebung der Leibeigenichaft die Rebe, 
Zwar wurde diefe Frage durch die politiichen Ereig« 


nuiſſe, die fi in Europa abipielten, auf den zweiten 


Platz zurüdgebrängt, aber darum nicht erftidt, und 
die Gerüchte nahmen einen ziemlich beftimmten Cha— 
rafter au, daß fich unter der Hand etwas vorbereite. 

„Gott mit ihm, mit dem Herrn!“ ſchloß Matwej. 


' „sch werde den Betrag erlegen, jobalb ich Gelb genug 








jujammengeipart habe, Vielleicht hat der Herr auch 
feine Rechte. Er ſoll aucd keine Papiere über und 
in Händen haben, und doch läßt er uns nicht los.” 

Er atmete ſchwer auf, der arıne Kerl, 

„Wie fannjt du denn aber eine jo große Summe 
erfparen?” fragte ih, „Vom Lohn kannt du's 
ſchwerlich. Gar nichts efjen — das geht doch nicht.“ 

„Ich werde es verbienen, gnädiger Herr! Ein 
Jahr, zwei — drei Jahre — Siebenhundert Rubel, 
vielleicht noch mehr!“ 

„Auf welche Art?* fragte ich verwundert. 
treibft doc fein Handwerk?“ 

„Durch Zinſen,“ verfehte er leiſe, mit einem 
pfiffigen Lächeln. „Ich gebe Geld auf Pfänder, und 
man zahlt dafür gute Zinfen, Zum Beifpiel, es 
braucht einer fünfzig, fiebzig Rubel — und man 
giebt mir manchmal drei Prozent für den Monat —* 

„D, du elender Wucherer!” mollte ich jagen, 
ſprach es jedod nicht aus. Er war jo beflagenswert. 
Er firebte nad) Freiheit. Man mußte ihn entichuldigen. 

„Wie kannſt du denn aber dienen?“ fragte ich 
zweifelnd. „Bei mir giebt’3 zwar nicht allzuviel 
Arbeit, Immerhin aber heit e8: Holz in den Ofen 
thun, Feuer mahen, Zimmer aufräumen, Kleider 
reinigen und fo weiter. Es kann vorlomnen, daß 
bu Gänge zu machen haft. Und du bift jo hinfällig 
— wie fannit bu das leiften?” 

Zu meiner Verwunderung lebte Matwej bei dieſen 
Morten plöglid) auf, als wäre er mit einem heil 
kräftigen Wunderwaſſer beiprengt worden. Geficht 
und Augen erhellten ſich, die Lippen zogen ſich zu 
einem breiten Lächeln auseinander und ließen das 
Zahnfleiich jehen. Er mujterte das Zimmer, die Möbel, 
die Bücherichränte und bewegte Arme und Beine, 

„Alles das kann id). Alles werde ich Ihun. Ein- 
heizen, aufräumen, ſtleider pußen, den Samowar 
richten, Thee fodhen, in den Laden gehen und Brot 
holen — und wohin Sie mid) ſonſt ſchicken, alles 
mögliche, alles, alles werbe ic) beſorgen.“ Er ſprach 
nicht mehr mit der erloichenen Stimme von früher, 
fondern feft und geläufig. Dabei machten Lippen 
und Nafenflügel bei jedem Wort jeltfame, freisförmige 
Bewegungen, und der ganze Kopf rührte und redie 
fi) mit einem gewiſſen Selbftgefühl. 

„Nun, das freut mid. Da haft du Geld, Geh 
und hole deine Sachen!” jagte id. 

Er trat zurüd, 


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694 


„Nein, gnädiger Herr! Dante ergebenft. Ich habe 
mein eigned, Wie fann man denn... von borm« 
herein... Ich Habe doch noch nichts verdient, und 
für Sie ift es ein Schaden... Nein, nein,” ſagte 
er und nahm zu meiner Verwunderung das Geld 
nit. „In zwei Stunden bringe ich alles auf einer 
Droſchke,“ ſchloß er. 

Ic) zeigte ihm ſeine Kammer und meine Zimmer, 
„Das ift dein, und das mein Gebiet. Halte alles 
ordentlich und rein! Gehſt du oft aus?“ 

„Nur in die Kirche — am Sonntag — und aud) 
nicht an jedem. Sonft nirgendähin.” 

„Haft du Belannte?“ 

„Ih habe einen verheirateten Gevatter. Er 
fommt aber nur jelten zu mir, vielleicht einmal im 
Monat, nicht öfter. Sonft niemand.” 

„Hier ift meine Wäſche — dies der Mleiderfchrant. 
Dort im andern Zimmer ift das Geſchirr und das 
Silberzeug.“ 

„Bitte, ein Jerefter.*) Ich will alles nachſehen 
und übernehmen,“ 

„Ich habe fein Negifter. Ich vertraue dir,“ 

„Nun, jo werde ich jelbjt alles aufjchreiben. 
Ohne Jerefter geht es nicht. Gott behüte! Es kann 
etwas verloren gehen.“ 

Damit entfernte er fi, die Beine jpreizend wie 
Stelzen. Es folgte nun, nachdem Matwej fich felber 
eingerichtet hatte, eine jorgfältige Nevifion meiner 
Habjeligfeiten, die zwei volle Tage in Anſpruch nahm. 
Und alles jchrieb er auf: Wäſche, Kleider, Silber- 
laden, Geſchirr, ohne auch nur ein Tellerchen zu 
vergeſſen. Das Verzeichnis aber verjah er mit jeiner 
Unterſchrift: „Uebernommen an dem und dem Tage 
— Matwej.“ 

Dieſes „Jereſter“ überbrachte er mir. Ich wollte 
es in den Papierkorb werfen, Matwej aber machte 
ein jo flehentliches Geficht und bat mich mit jo Häg- 
lihem Ton, es dod) durchzuſehen und in die Tiſch— 
lade zu verjchließen, dab ich ihm wenigitens mit dem 
legteren feinen Willen that. Zur Durchſicht jedoch 
konnte ich mich nicht entjchließen. 

„Wenn etwas verloren geht oder zerbrochen wird,” 
drang er in mich, „jo belieben Sie, es auf dem 
Derefter anzumerken. Und wenn ich etwas zerbredhe 
oder verliere, jo ziehen Sie e8 mir, bitte, von meinem 
Lohn ab!” 

„Wenn du mid mit jolden Kleinigleiten plagft, 
jo werde id) dein Jerefter in Fetzen reifen, hörft bu? 
— ch) gebe dir volle Freiheit, Gefchirr zu zerbrechen 
und Sachen zu verlieren, und werde dafür nie 
einen Groſchen von dir verlangen. ch bitte dich 
nur eins: trinke nicht!” 

„In diefer Beziehung jeien Sie ruhig, gnädiger 


*) Regifter, 


I. Gontſcharow. 


Herr!“ jagte er, mir mit feinem breiten Lächeln das 
ganze Zahnfleiſch zeigend. 

„In diefer Beziehung? Und in welcher Beziehung 
nicht?" dachte ich bei mir. 

Während der nächften Tage beobachtete ic) ihn 
aufmerfjam und fand, da er eine Art Doppelweien 
war. So, wie er gewöhnlich dafland: mit offenem 
Munde, ſchwer atmend und mühjam rebend, machte 
er den Eindrud eines völlig erichöpften, todmüden 
Menſchen. Bei gewiſſen Anläfien jedoch war es, alt 
ob er aus dem Schlafe erwachte oder Lebenszeichen 
von ſich gäbe. 

Jeden Abend aber legte ich mich mit dem Zweifel 
nieder, ob er den kommenden Tag nod erleben 
werde, Ich gab ihm unter anderm die Weifung, in der 
Wohnung früh morgens aufjuräumen, jolange ih 
noch im Schlafzimmer jei. 

Am nächſten Morgen hörte ih, eben im Begriff 
aufzuftehen, nebenan einen furchtbaren Tumult: ein 
Schleppen, Schieben, Poltern, Stürzen — dann 
ſchlug etwas mit Gellire zu Boden. 

Ih ftede den Kopf durch die Thür, und wei 
fehe ih? Mein Matwej ohne Rod, im der Weite, 
die ungelenfen Beine auseinandergefpreijt und die 
langen Arme ausgeredt, jpringt in meinem Kabinett 
herum, als wollte er draußen auf dem Hofe cin 
Huhn fangen. Im Zimmer ift nichts an feinem 
Pla: die Möbel in der Mitte zufammengeichoben 
und der ganze Inhalt herausgeworfen, die Bücher 
in einem Haufen auf dem Boden, die feinen Sachen 
auf dem fyenfter und jo weiter. 

„Was treibft du denn da?” frage ich. 

„Ich räume auf,“ jagte er, fid) zu mir wenden) 
und mir das Zahnfleifch zeigend. „Da babe ih 
bei den Dwornifs eine Leiter befommen — den Of 
gewafchen, die Schränfe abgeftäubt — jeht werde ih 
gleich die Lampe reinigen — dann bleiben mod) die 
Bücher,” rühmte er id). 

Ich wandte mich ab, um nicht in Lachen ausju- 
brechen, jo komiſch war er. 

Nichts von Müdigkeit, von Erjhöpfung, feine 
Spur des Totengefihts! Einfach komiſch, unaus⸗ 
ſprechlich lomiſch! 

„Womit haft du denn da fo gepoltert und ge: 
irrt?” fragte ich. 

„Da jehen Sie: als ich vorhin die Schränfe ab» 
wiſchte, fielen Die Bücher herunter, und dann fiel auch 
das Glas von der Lampe und zerbradh. Ich werde 
ein andres faufen, gnädiger Herr! Auf meine Koften!’ 

Er fahte mit einer Hand bie Bürjte, mit der 
andern einen Lappen und begann abermals zu jagen 
und zu been: das Huhn zu fangen — warf den 
Aſchbecher vom Tiſch und verjeßte mit der Bürfte 
dem Spiegel einen Dieb, 

„Hör auf! Es ift genug aufgeräumt,” jagte id 





Diener IV. Matwej. 


indem ich mich wiederum abwandte, um nicht auf 
zulachen. Aber er hörte mich nicht, wie es jchien, 
fie ih im feiner Emfigfeit nicht ſtören und flellte 
ales auf jeinen oder vielmehr nicht auf feinen Plaß: 
die ſchweren Folianten auf die ſchwache Etagere, die 
für Fahence und andre leichte Sachen beftimmt war 
und Äh unter der Laft der Bücher bog. Dagegen 
brachte er verichiedene Statuetten, Briefbejchwerer 
und andre Gegenflände geringen Gewichts hinauf 
auf die Schränke. 

„So iſt's beſſer, gnädiger Herr! Dort find fie 
ſicherer,“ fügte er hinzu, ſich ſelbſt befobend, und 
wunderte ſich fehr, als ich ihm befahl, jogleich die 
frügere Ordnung berzuitellen. 

„Da fieh, was du gemadt haft! Beinah die 
Etagere zerbrüdt! Sich, wie jie wadelt!” 

Er betrachtete die verbogene Etagere ganz ver— 
blüht, den Mund anfgejperrt, ſeufzte und ftellte 
unmutig alles jo, wie ich es haben wollte. 

Am Sonntag, morgens vier Uhr, bat er mid) 
um Erlaubnis zum ſtirchgang. j 

„Was für einen Gottesdienft habt ihr denn jeht, 
zu dieſer Zeit?“ fragte id. 

„Heute ift Buße und Supplifation.” 

„Und was giebt's noch außer der Supplifation ?* 

„Den nächſten Sonntag fommt ‚Wiffenichaft‘ 
und dann, über eine Woche, die Predigt.” 

Diefe Kirchgänge ausgenommen, entfernte er ſich 
feinen Schritt vom Haufe. Bon Branntwein feine 
Rede, Leider aber zeigte er ſich auch äußerſt ent« 
haltjam, was das Efjen betraf. Wenigftens jah ic 
bei ihm, außer einigen Reften von Hering, Gurten 
und Kartoffeln, niemals etwas Eßbares. — Ich legte 
es ihm nahe, die Refte meines Frühſtücks zu ver⸗ 
wenden, gab ihm den Rat, ſich Suppen zu kochen, 
bot ihm Gelb am, fi Fleiſch zu kaufen. Ich wollte, 
daß er jozufagen wieder zu Körper fomme, er aber 
lehnte alles ab. 

„Nein, gnädiger Herr, nein! Wozu joll ih Ihnen 
Schaden machen? Mit Gottes Hilfe werde ich ſchon 
durdhlommen.“ 

Und nachdem er einen feiner jchweren Atemzüge 
gethan, fuhr er fort: 

„Wir werden bis zu ben Feiertagen warten. 
Da werde ich etwas baden, Ich werde Dfterbrot 
mit Sahne maden, werde Eier färben, Der Gevatter 
wird lommen, und wir werben eine Anbacht halten.” 

Er wurde ganz heiter bei alledem. Seine Augen 
leuchteten, auf feinem Mund erſchien ein lederes 
Lächeln, feine Wangen röteten ſich beinahe, und es 
fehlte nicht viel, daß er fich die Lippen ledte. Im 
nähften Augenblid aber war alles zu Ende: ein 
ſchwerer Seufzer, und daß alte, fahle, faltige Toten- 
geficht blidte mich wieder an und erzählte mir eine 
fumme Geſchichte von Not und Leiden, von Kummer 


695 


und Drangfal aller Art — eine Geſchichte, bie mit 
unverwijchbaren Zügen auf diefem Antlitz gejchrieben 
ftand und bei der mir jedesmal weh ums Herz wurde. 

„Du haft viel gelitten, Matwej!* fagte ich eines 
Tages zu ihm, als er mir den Thee brachte. „Was 
für ſchredliche Leiden mußt du ausgeftanden haben! 
Du bit ja wahrhaftig ein Märtyrer. Man könnte 
dich in den Kalender unter die Heiligen ſetzen. Sieh, 
wie mager du bift, und dieſe vorzeitigen Runzeln!“ 

„Nein, gnädiger Herr! Was find das für Schmer- 
zen? Das ift ja nichts,” antwortete er leichthin, 
„Wenn's feine andern gäbe! Das find ja Kleinig— 
feiten. Aber die andern, die find arg. Das weiß ich.“ 

„Weihe Schmerzen jollen denn fo arg fein?“ 
fragte ich. 

„Es giebt ihrer drei," fagte er mit Ueberzeugung, 
„drei Märtyrerqualen. Unjer Pfarrer, Bater Jeronym, 
jagte immer: ‚Es giebt,‘ jagte er, ‚nichts Aergeres ala 
dieje Schmerzen: erftens,‘ jagte er, ‚wenn die Zähne 
weh thun, zweitens, wenn ein Weib gebiert, und 
drittens, wenn ein Menjch ftirbt.‘* 

„Und woher weiß er denn das, dein Pfarrer? 
Was die Zahnſchmerzen betrifft, num, davon mag er 
willen, vorausgeſetzt, Daß er welche hatte. Aber was 
das andre anbelangt — er hat doch nie geboren und 
ift auch nicht geitorben —“ 

„Die Pfarrer wiſſen alles,” ſagte Matwej, an- 
dächtig die Augen jchließend, „alles! Sie willen, 
wozu der Menſch in die Melt geboren wird, und 
wenn er flirbt, wiflen fie, was mit feiner Seele am 
jechiten und neunten Tage wird und welche Qualen 
fie durchzumachen bat. — Ja!“ ſchloß er und ſeufzte. 

In dieſem Augenblid fchellte jemand. Mein 
Matwej fuhr plölich in die Höhe. Wohin war die 
Müdigkeit geſchwunden? Er warf beinahe das Prä- 
jentierbrett zu Boden, war mit einem Sa im PVor- 
jimmer und öffnete die Thür. 

„Zu Haufe! Bitte, einzutreten!“ fagte er friſch 
und flinf und zog dem Gaft jo eifrig den Ueberrod 
aus, als wollte er ihn berauben, Diefer jah ihn 
lächelnd von der Seite an. 

„Sie haben einen neuen Diener?” fragte er mid). 

„sa, und einen, der nicht trinft. Sie dürfen 
fih wundern.” 

„Wirklich? Nun, ih gratuliere, Das ift eine 
Seltenheit. Aber wie komiſch er ift!” jchloß er, indem 
er zujah, wie Matwej mit affenartiger Geſchwindigleit 
das Präfentierbreit vom Tiſche nahm und, die Beine 
auseinanderwerfend, nach dem Büffett jprang, wobei 
er mit der Schulter an die Thür rannte. 

Je länger ih Matwej beobachtete, deſto mehr 
Attribute — außer jenem „lomiſch“ und „unglüdlich* 
— mußte ih ihm geben. Er wurde für mich zu einer 
ebenjo fomplizierten wie interefianten Charakterftubie, 
bei der es jedoch ſchwer hielt, einen bervorftechenden 


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696 J. A. Gontſcharow. 


Zug zu finden, der es ermöglicht hätte, Matwej in 
eine bejtimmte Typenkategorie einzureihen. Einſt ⸗ 
weilen bemerkte ich als beionders fennzeichnend für 
ihn feine Angft vor „Schaden“. Diefes Wort fam in 
jeinen Reden am häufigften vor. 

Außerdem war er unendlich accurat und graufam 
ehrlih. Mit der erfteren Eigenſchaft machte er mir 
nicht wenig Verdruß. Ferner war er eigenfinnig 
wie ein Ochs, wodurd er mich zuweilen außer mir 
brachte. Ich begriff, wie jein ehemaliger Herr, der 
junge, heißblütige Yufar, barüberin Wut geraten lonnte. 

„Bier Haft du diefes Buch! Gieb es dem Portier 
und ſag ihm, er joll es gleich da und dahin tragen.“ 
Ich bezeichnete ihm das Haus, 

„Ich werde es lieber jelbft bintragen, wenn ich 
das Geſchirr gewaſchen habe und wenn Sie fort find.“ 

„Nein, es leidet feinen Verzug. Gieb es dem 
Vortier, e8 muß fofort geichehen.“ 

Oder ein andermal ſage ih ihm: 

„Bringe dies Palet und diefe Briefe zur Poſt! 
Sieb alles auf! Dann geh zum Schneider und be= 
zahle ihm diefe Nehnung! Hier haft du Geld, und 
vergiß nicht, eine Quittung zu verlangen!” 

Wie ich abends heimfomme, Finde ich Palet und 
Briefeim Vorzimmer auf dem Tiſch. Ich wundere mich. 

„Warum haft du fie nicht aufgegeben?” frage 
ic) jtreng. 

„Yu jpät gelommen, gnädiger Herr!” entichuldigte 
er fi) mit betrübter Miene. „Der Schneider maß 
gerade einigen Herren Kleider an, und id mußte 
vielleicht eine Stunde lang warten. Dann wurde 
auf der Poſt nichts mehr angenommen.” 

Ich Habe dir doch aufgetragen, zuerft nad) der 
Poft zu gehen.“ 

„Ich meinte eben, ich werde lieber unterwegs 
gleich zum Schneider gehen.“ 

Und jo auf Schritt und Tritt ein Hang zum 
Andersmachen, zum Widerjprud). 

Einmal — etwa einen Monat, nachdem Matwei 
bei mir eingetreten — hatte ich eine dringende Arbeit, 
Ih trug ihm ftrenge auf — bis auf weiteres — 
niemand bei mir vorzulafien. Und er machte jeine 
Sade in der That richtig. Mehr als einmal hörte 
ich draußen ſchellen. Es fam jemand, Matwej brachte 
mir die Karte und — alles, wie es jein jollte. 

Aber mit einemmal höre ih, wie er jemand an— 
gelegentlihft auffordert, einzutreten. „Bitte, bitte! 
Zu Haufe!“ jagt er. ch warte geipannt und ver 
wundert, wer das jein fünne — und es fommt ein 
langweiliger, geſchwätziger Menſch, dem ich aud) an 
unbefchäftigten Tagen auszuweichen pflegte. 

Als er ſich entfernt hatte, fragte ich Matwej, 
warum er troß meines Verbote den Beſuch ein- 
gelafjen hätte, | 

„Er hat doch zwei Sterne auf der Bruft,* ente 


ſchuldigte er ſich. „Wie fann man einen ſolchen 
Herrn fortgehen lafien? Er ift ein Wineral.“ So 
nannte er die Generale, und vor Generalen hatte r 
einen abergläubifchen Reſpelt oder fürchtele fie mie 
große Hunde — Gott weiß es! 

In den nächſten Tagen jchidte er dann wieder 
verſchiedene Leute weg. Ich arbeitete ruhig und un: 
geftört, mit größtem Eifer — da plößlich, wie ih 
gerade in ber heißeften Arbeit bin, höre ic) abermals 
ein ſtarles Schellen und abermals Matwejs angelegent- 
liches: „Bitte, bitte! Zu Haufe!“ Im Nebenzimmer 
wird ein Rauſchen von fFrauenkleidern laut, wie 
wenn der Wind durch den Wald ftreicht, und berein 


zu mir jchwebt eine Dame „Froufrou“ und breitet 





fi auf dem Diwan aus, den fie mit ihren Nöden 
ganz bededt. 

„Was treiben Sie da ?* begann fie mit eriärd: 
licher Zungenfertigfeit. „Bei ſolchem Wetter fh 
Sie da und jchreiben? Laſſen, laſſen Sie das alle! 
Ich bin gefommen, Sie zu entführen. Ich will in 
Villa juhen. Fahren Sie mit! Kommen Sie! Heinz 
Widerſpruch!“ 

Der Vormittag war verloren. Als ich wiedet 
beimlam, war «8 mein erftes, Matwej zu fragen, 
warum er die Dame eingelaflen. 

„Es ift doc eine Barina,“ *) entjchuldigte er fi. 
Ich glaubte, fie würde zornig werden, wenn ic fie 
nicht einliehe.” 

„Aber erſt geftern haft du doch eine Dame niht 
eintreten lajien! Warum haft du die weggeihidt! 
Mer bat es dir erlaubt?“ 

„Die ift zu Fuß gefommen, gnädiger Hert! Wer 
auch nicht befonders gekleidet. Ich dachte, fie werte 
um Almojen bitten wollen, und hatte Angft, fie würd: 
Ihnen Schaden machen. Darum Tief; ich fie micht vor.“ 

„Dein Herr würde did für dieſen Ungehoriam 
tüchtig geichlagen haben. Was meint du?* fragte ih. 

Er jeufzte. 

„Er hätte mir den Kopf zerbrochen,“ antwortet 


‚ er mit feinem traurigen Lächeln. 


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„Warum gehorchſt du nicht? Warum haft du 
die Dame eingelajjen ?* 

„Auf dem Kutſchbod figt bei ihr ein Kutſcher im 
Livree, gnädiger Herr. Spricht nicht ruſſiſch. Wahr: 
ſcheinlich ein Engländer. Da muß ich fie doch vor- 
laſſen, dachte ih.“ 

Almählich gewöhnte ich mich auch daran. Woran 
ich mich jedody nicht gewöhnen konnte, das war feine 
Accurateſſe. Er erhält zum Beifpiel zehn, zwanzig 
Rubel zu allerlei Ausgaben: für Thee, Zuder, Brot, 
Sahne und dergleichen. 

Nachdem er das Geld ausgelegt, lommt er zu 
mir mit einem fledigen Fetzchen grauen Papiers, auf 


*) Vornehme Frau, 





Diener 


dem jeder Poften bis zum allerfleinften geſchrieben 
fteht, und verlangt, dab ich das Ganze nachrechne. 
Dazu bringt er als Reſt des Geldes ein Zwanzig- 
fopefenftüd und etwas Kupfermünze und vergiht nie, 
hervorzuheben, was teurer und was wohlfeiler ge» 
worben jei. 

„Der Zuder koftet zwei Kopelen das Pfund weni— 
ger,” jagt er mit ftrahlenden Augen. Ober umgelehrt 
mit wehmütigem Ton, als ob es ji um einen herz— 
fränfenden Verluft handle: „Das Brot hat um eine 
Ropele aufgeichlagen.“ 

Alles ertrug er: die Mißhandlungen feines Herrn 
und ewigen Hunger, Er verbrauchte jeine Kräfte 
bei der Arbeit und verlor nicht Geduld noch Seelen= 
frieden,. Nur eines jehte ihm zu und plagte ihn: bie 
Angſt vor „Schaden“, 


Ich that jo, als ob ich die Rechnung durchſähe, 
gab ihm wiederum Geld und warf die Rechnung fHll | 


in den Papierkorb, Aber er entdeckte fie da gewöhnlich 
und legte fie unter meine Schriften, bis ich fie 
endlich zerriß. 

Manchmal hielt er mir unverjehens zehn oder 
jwanzig Kopefen unter die Naje: 

„Das haben Sie noch gut,* fagte er. In der 
borigen Rechnung war aus Verjehen ein und Das 
jelbe Brot zweimal aufgefchrieben. Bitte!“ 

Wenn ich einen furzen Blid in dieje Rechnungen 
that, konnte ich nicht umhin, über die Orthograpbie 
derjelben zu lächeln, die in der That eigenartig war. 
Da gab es „Milig” ftatt Mil, „Puder* ftatt 
Butter und jo weiter. Er aber faßte dieſes Lächeln 
als Beifall auf und lächelte mit. 

Nicht immer jedoch lief die Sache fo glimpflich 
ab. Mandmal, wenn ich gerade tief in ber Arbeit 
war und Matwej mit jeinen Reiten und Rechnungen 


herangelrochen fam, da fonnte es geichehen, dab id) | 


ihm furz und bündig den ganzen Plunder vom Tiſch 


ftreifte und ihn mit einem Blid anſah, der dem eines | 
Er entjernte ſich 


gereizten Tieres gleichen mochte. 
dann augenblid3 mit einem tiefen Seufzer. 


Zumweilen fonnte er fid) betragen wie ein Kind. | 
Diefer gebrechliche Organismus, diejer wandelnde | 


Leichnam, in weldem der Lebensfunfe nur noch matt 
zu glimmen jdien, wurde durch gewilje Vorfälle 
gleichſam eleftrifiert und zu einem beweglichen, ſprin⸗ 
genden, zappligen, hopienden Weien. 

Zum Beijpiel: er ift mir eben beim Anfleiden 
behilflich, reiht mir das Handtuch, die Schuhe, den 
Rod, oder er bringt mir das Frühſtüch, furz, er iſt 
mit Ausübung feiner Funktionen beihäftigt — da 
läßt fich plößlih von der Strafe herauf Trommel« 
ihlag hören ober ber Schall einer vorüberziehenden 
Muſik, und mein Matwej wirft alles weg, was er in 
der Hand hält, und — fort ift er. Nur aus der 
Ferne dringt ein Gepolter zu mir, al3 ob Steine 

Aus fremben Bungen, 1897. II 15, 





IV. Matwej. 


697 
über die Treppe follerten, das find jeine eilfertigen 
Füße — und ih file da mit einem Schuh in der 
Hand oder mit eingejeiften Baden und warte, Ihm 
nachzurufen, er ſolle zurüdtommen, das wäre ver« 
gebliche Mühe; wie ein ſcheues Pferd, dad den Zaum 
zwijchen die Zähne genommen, fieht und hört er nichts 
mehr, jondern rennt und rennt. Nach zehn Minuten 
vielleicht ericheint er wieder, befriedigt und ftrahlend, 

„Man beerdigt einen Wineral,* meldet er mir, 
oder „einen Fürften,“ und nun erzählt er, welches 
Regiment die Leiche begleitete, wie viel „Antirerie” 
dabei war, wer zu Pferd, wer zu Fuß, wie viel 
Magen im Zuge waren, und fo weiter, 

Ich mache den Verſuch, böfe zu werden, ihn zu 
ermahnen — umfonft. Den folgenden Tag jpielt die 
Mufit abermals, und Matwej verſchwindet aufs neue. 

Uebrigens waren es nicht nur Trommeln und 
Mufit, welche dieſe Wirkung auf ihn übten, fondern 
jedes ungewöhnliche Geräuſch, jeder Ton, jede Ber 
wegung im Sof oder auf der Straße. Und ihm ent« 
ging nichts. Die Schärfe feines Gehör war er« 
ſtaunlich. 

So entlief er mir einmal, ohne daß ich mir er— 
klären konnte, warum. Als er zurücklehrte, glänzte 
ſein Geſicht wie gewöhnlich vor Genugthuung. Zugleich 
aber zeigte es den Ausdrud einer gewiſſen Betroffenheit. 

„Was bat es denn gegeben?” fragte ih. „Und 
warum läufft du denn wie ein Strakenjunge?“ 

„Dan hat Arreftanten zur Hinrichtung geführt,” 
plate er heraus, übervofl von bem Gefühl diejes 
nod nicht dageweſenen Erlebniſſes. 

Sch jah ihn an, ob er nicht von Sinnen jei. 

„Was hinrichten? Mas für Wrreftanten? Was 
fajelft du ba?“ 

„Gewiß, gnädiger Herr! Es waren Schandaren, 
Koſalen, Polizei mit ihnen — fie fuhren in einem 
grünen Wagen — und hinterdrein gingen maſſen- 
haft Frauenzimmer — und alle wifchten ſich die 
Augen, denn fie weinten: es that ihnen um die 
Männer, um die Söhne leid.“ 

Wie ich jpäter erfuhr, war die Erzählung Matweis 
nur zum Teil richtig. Man Hatte allerdings einen 
Zug von Verurteilten durch bie Litöjnajaftrae geführt, 
aber nicht zur Hinrichtung, jondern lediglich in die 
Verbannung. 

Noch etwas gab e8, das in meinem blafjen Diener 





alfe Lebensgeiſter wachrief. Das war das Einfangen 
von Dieben. — Niemals, weder vorher nod nachher, 
ift mir bei einem Jäger eine jo fieberhafte Leiden« 
ſchaft begegnet, dem Wild nachzubirichen, wie Matwej 
fie entwidelte, wenn es galt, einen Dieb zu heben 
und — das war eigentlich die Hauptſache — ihn zu 
juftifigieren, das heißt zu prügeln. Mehr als einmal 
teilte er mir ſtrahlend und gleichſam aufblühend vor 
Freude mit, dab irgendwo im Haufe oder in der 
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698 3. U. Gontſcharow. 


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Nahbarihaft auf dem Speicher, im Keller, in einer 
Wohnung, in einem Laden ein Dieb erwilcht worden. 

„Nun, hat man ihn zur Polizei gebracht?” fragte 
ich gleichgültig. 

„Nein, gnädiger Herr! Das wäre! Auf ber 
Polizei hätte man ihm morgen wieder freigelafjen. 
Nein, wir haben ihn jelber durchgewallt. Er wird 
ſich's merlen.“ 

„Wir? Warſt auch du dabei?“ 

„BVeriteht ſich, gnädiger Herr!“ jagte er begeiftert, 
mir fein Zahnfleifch zeigend. „Wie ihn die Dwornifs 
gefangen hatten, war ich wohl da, gleich der erfle, 
und half ihn Halten. Na, wir haben ihn ordentlich 
geitrichen! Das ganze Geſicht blutig!” 

„Und du haft mitgeſchlagen?“ fragte id, nicht 
ohne Furcht vor der Antwort. 

„Ein Hein wenig, gnädiger Herr! Ich hab’ ihn 
mehr am Hals gehalten, an der Krawatte, bloß 
damit er nicht wegläuft.” 

„Und ſchämſt du dich nicht? Iſt denn das nicht 
eine Sünde?" ſprach ich ihm zu, 

„And warum nimmt er fremdes Gut, gnäbdiger 
Herr? Was für einen Schaden hat der, den er beſtiehlt! 
Alſo verdient er’8 auch,“ ſchloß er entſchieden. 

Einmal gab's eine ſolche Diebshatz in der Billa 
des Protohiereuß auf der Wyborgfeite, wo ich mit 
einem freunde wohnte, Das Haus ftand inmitten 
eines dichten Gartens. Im Erdgefhoß wohnte der 
Wirt mit feiner Familie, Jh und mein fyreund 
batten die vier Zimmer des Obergeſchoſſes inne, 
Außerdem hatte Matwej daſelbſt feine Kammer. 

Es war in einer dunfeln Naht gegen Ende 
August. Ich ſaß mit dem Freund bei offenem Fenſter 
an einem langen Tiih. In Haus und Garten laut» 
Ioje Stille. Der Wirt war in der Stadt beichäftigt, 
und die fyamilie war bei ihm. Das Haus war 
beinahe leer. 

Mein Freund ſaß über Stantsaften; ich hatte 
ein Buch vor mir und lad. Da bemerfe ih, wie 
mein Freund mit geſpannter Aufmerkſamleit in die 
Finſternis hinausfpäht. Und jchließlih fragt er 
jemand da draußen: 

„Was thuft du hier? Was willft du? Warum 
bift du auf den Baum geffettert?“ 

„Mit wen jprechen Sie?” frage id. 

„Da fiht jemand auf dem Baum.“ 

Ih ſchaute aus dem Fenſter, fonnte jedoch nichts 
iehen. Aber das Geſpräch hatte die Aufmerffam- 
feit Datwejs erwedt. Er witterte etwas Ungewöhn- 
liches. „Diebe, Diebe!” jagte er, und faum bes 
Mleidet, im Hemd, den langen Graurod übergeworfen, 
fegte er wie ein Sturmwind an uns vorbei, polterte 
die Treppe hinunter und verſchwand im Garten. 

Id) nedte meinen Freund, daß er fi an einen 
Dieb mit der Frage gewendet, wozu er nachts auf 


den Baum geflettert jei und was er da juche. Unten 
gab's einigen Lärm, dann, nad) einer guten halben 
Stunde, fam Matwej zurüd, ganz Freude und Jubel, 
und brachte und die Nachricht, es feien wirklich Diebe 
da gewejen. Er hatte den Divornif und die mei 
Gärtner gewedt, und alle waren den Dieben nad. 
Leider waren zwei bereits entwiſcht, ein dritter aber 
war mit dem Rod am Zaun hängen geblieben und 
ergriffen worden, 

„Nun, und was habt ihr mit ihm gethan?* 
fragte id. 

„Geitrichen, und das ordentlich!” brüftete er ſich. 
„Er wird ſich's merken. Als wir ihn losließen, warer 
nicht mehr im ftande, zu laufen. Jeden Augenblid 
bat er: Laßt mih um Jeſu willen! Wir aber ihm 
nad), der eine ſchlägt ihm ins Genid, der andre in 
den Hals —“ 

Er zeigte ung, wie man den Dieb gejchlagen. 

„Und du auch?“ fragte ich mit Abjchen. 

„Nein, gnädiger Herr, ich habe ihn mur am 
Kragen gehalten und geführt, und der Storoſch — 
der hat ihm tüchtig gejchlagen.“ 

„Und jiehjt du das nicht ald Sünde an?“ 

„Sie wollten do unten in der Villa alles aut 
ftehlen, gnädiger Herr! Sogar einen Schublarren 
hatten fie bereitgeftell. Den hatten fie aus dem 
Nacbargarten. Auch Säde hatten fie mit. Wenn 
es ihnen geglüdt wäre, hätte man gegen den Storoſch 
Verdacht gehabt. Er hätte es gekriegt, demm ber 
Pope ift ftreng und geizig. Der Schaden, den er 
davon hätte!“ 

Mein Freund lachte. 

„Wie komisch diefer Matwej ift!* ſagte er. 

Nur mir erjchien er zugleich lomiſch und beflagens- 
wert, bei diejen Diebshetzen jogar etwas wibertwärtig- 

Aber troßdem — er war mein getreuer Hauswart 
und der Hort meines Junggejellenheims. Ic) lebte 
ruhig und behagli dahin, ohne mich um die Ord- 
nung und Sicherheit meines Eigentums zu jorgen, 
und jegnete den Zufall, der mir in meinem Diener 
ſolch einen Freund beichert hatte, in der That einen 
Freund, demn wenn ihm aud, aus der Zeit feiner 
Leibeigenihaft her, jo manche Züge ſtlaviſcher Er- 
gebenheit anhingen, jo zeugten doch auch dieje von 
einer lebendigen Teilnahme an mir und meinen Ins 
terefjen, natürlih meinen materiellen Interejien — 
denn die andern gingen über jeinen Verftand, waren 
ihm unfaßbar. Nie vermochte er zu begreifen, wie 
ich, über einem „Büchlein“ oder irgend einem „Papier* 
figend, fein „Jerefter” und jeine Rechnungen vernad- 
läjfigen, ja wohl gar, ohne vom Buch aufzubliden, 
dieje zerreißen und zwanzig, dreißig Kopelen mit 
der flachen Hand wie Schmutz vom Tijch wifchen fonnte. 

„Scaden!”... 

Außer mit feinem Eigenfinn und feinen Rechnungen 


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Diener IV. Matwej. 


plagte er mih noch mit dem Geſchäfte, das er 
nebenbei betrieb. Ganz umverjehens zum Bei— 
ipiel fommt er mit einer goldnen Uhr und Kette 
und fragt mich, ob man fünfundzwanzig oder dreißig 
Rubel darauf geben könne, ob fie jo viel wert jei. 
Oder er bringt mir eine Broſche mit Steinen, 

„Iſt's wahr, gnädiger Herr, daß die Broſche 
fünfundfiebzig Rubel wert ift? Klara möchte dreißig 
Rubel drauf für drei Monate.“ 

Klara war eine Perfon, die in demjelben Haufe 
wohnte wie ich) und, mie Matwej ſich ausdrüdte, 
‚Ihön wohnte”, Ich felbft befam fie niemals zu jehen. 

Ich habe vergeflen, zu jagen, daß fich bei Matwej 
ein ganzes Lager der verjchiebenartigften Gegenſtände 
befand, Da gab es Pelze, Frauenlleider, Offizierd« 
mäntel, Fuchsmäntel, Sammetmäntel, die meiften 
an den Wänden feiner Kammer und im Sorribor 
aufgehängt und forgfältig mit Xüchern bebedt. 
Andre lagen auf Brettergeftellen und nod andre 
einfach auf dem Boden. Da ragte aus dem Bett 
ein engliicher Sattel, dort hingen an Nägeln 
ein paar Piftolen. Die Gold- und Silberſachen be» 
wahrte er augenfcheinlich in meinen Kleider- und Ge⸗ 
ſchirrſchtänken auf, Er machte ſich's zur verhängnis« 
vollen Regel, mir alles, was man ihm bradite, zur 
Begutachtung vorzulegen. 

„Kann man auf dieien Shawl fünfundzwanzig 
Rubel geben, gmädiger Herr? Er foll hundert ge» 
foftet haben.” 

Ober: 

„Da will man fiebzig Rubel auf biefen Pelz. 
IA er aus Zobel oder vielleicht gefärbt? Kann ich's 
bis zum Winter geben? Im Winter will man ihn 
auslöfen,* 

Und fo weiter, jo daß ich ungefähr wußte, was 
für Gegenftänbe er in Berſatz hatte. 

Auf feine ftereotype Frage nach dem Wert der 
Piänder befam er von mir die ftereotype Antwort: 
‚Mad, daß du fortlommit! Störe mich nicht!” oder: 
„Ich werde das Zeug aus dem Fenfter werfen, wenn 
du mir nicht Ruhe damit läſſeſt.“ 


Alein trot dieſer beinah hundemäßigen Ent» | 
gegnungen begannen nad) zwei bis drei Tagen feine | 


Fragen aufs neue, und damit natürlich auch meine 
Grobheiten. 

„Du handelſt da geſetzwidrig,“ ſagte ich ihm 
mehr als einmal. „Um Geld auf Pfünder geben zu 
dürfen, muß man einen Gewerbſchein haben. Außers 
dem können diejenigen, die bei dir Geld nehmen, 
glauben, daß ich dic) dede oder gar mitthue. Das 
ift abſcheulich.“ 

Er zeigte fich ein wenig betreten, 

„Das weiß doch niemand. Ich gebe doch nur 
an Belannte. Niemand wird fich beſchweren,“ ent« 
chuldigte er ſich und fügte im Flüfterton raſch hinzu: 














699 


„Auch Herridaften thun das, und manchesmal durch 
die Bedienten. In der Gorochowaſtraße beſchäftigt 
fih ein Baron damit. Er ift Wineral und verleiht 
ftellenweile Geld auf Pfänder durd feinen Kammer- 
biener. Er joll jedes Jahr jechstaufend verdienen,” 
Nüfterte er in einer Art freudigen Schreds. „Er hat 
ein heidenmäßiges Gelb —“* 

„Da fiehit du's! Von dem ſpricht man jchon. 
Und id; habe feine Luft, dir zuliebe aud in Ver- 
dacht zu fommen. Schränfe dein Geſchäft lieber ein, 
Matwej, jonft werde ih noch Angft haben müffen, 
dich zu behalten. Es ift doch abicheulich.* 

„Das tft feine Sünde, gnädiger Herr! Auch 
unfer Pfarrer — ich beichte bei ihm — fagte mir: 
‚E83 macht nichts, ſagte er, ‚wenn du nur nicht zu 
viel drüdft. Nur jei auch nicht geizig gegen die Kirche !* 
— Nun, was denn? Ich verlange ja das Aller 


' geringste — zwei Prozent monatlich — und rechne 


nur die Hälfte voraus —* 

„So einer bift du?” 

„Ja, das ift nicht vie. Andre nehmen hundert 
vom Hundert, Ein Kaufmann, er hat einen Faden, 
verleiht Geld auf —“ 

Ich winkte ihm mit der Hand, wegjugehen. 

„sch Habe ſchon wieder vierhundert," ſchloß er 
mit vergnügtem Flüſtern. 

Er war nun ſchon zwei Jahre bei mir, und ich 
hatte mich vollftändig an ihn gewöhnt. Auch meine 
Gäſte lächelten nur mehr, wenn fie ihn ſahen, be— 
ſonders in ſeinem langen grauen Rock. 

Dieſen zu verabſchieden, war er durch nichts zu 
bewegen. Ich ſchenkte ihm alle Kleider von mir; 
niemals aber ſah ich, daß er eins davon trug. Was 
er damit anfing, erfuhr ich nicht und habe es bis 
heute nicht erfahren. Nur das eine erreichte ich nad) 
langem, hartnädigem Kampfe, daß er in Anweſen— 
heit von Gäften das Zimmer nicht ander& betrat als 
in dem fat neuen ſchwarzen Node, den ich ihm nebft 
Beinkleid und Krawatte gegeben hatte. Auch ein 
Paar Servierhandichuhe hatte ich ihm geftiftet. Ich 


| muß aber geftehen: wenn er alles das anlegte, jah 


er noch lomiſcher aus als ſonſt. 

Uber was hatte das zu bedeuten neben den Eigen— 
haften, durch die er mir wert war? Neben feiner 
Aufmerffamkeit auf alles, was mid anging, feiner 


' Sorge um mein Eigentum und meine Rube, feiner 


Beicheidenheit und Orbnungsliebe und endlich jeiner 
unbeſtechlichen Ehrlichkeit. Bei all jeinem Geiz 
würde er mid auch um eine Million nicht verraten 
haben. Ih wußte das und ſchähte ihn danad). 
Wenn ich ihn verlor, jo gab es feinen Erfah. 

Und doch hätte ich ihn um ein Haar verloren und 
zwar wieberum infolge ber Feiertage. 

Die Feiertage find natürlich eine heilige Sache. 
Zugleich aber find fie auch ein großes Unglüd für 





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Rußland. Die heiligen Tage werden durd) jo tiefe 
Schatten verduntelt, durch jo elligen Schmuß ges 
ſchändet, daß fein Gebet, kein Faſten fie davon rein 
machen lann. Das wiſſen alle, und alle tragen 
geduldig das Jod, das fie felber fich auferlegt 
haben. 

Es war zur Ofterzeit. Schon in der Karwoche 
bemerkte id an Matwej eine höchſt lebhafte Geſchäftig- 
feit. Er lief weg, fam wieder, brachte etwas, lief 
neuerdings weg — ich hörte ihn beitändig die Treppe 
auf und ab jpringen. Dabei hielt er die Falttage 
nicht wie ein Katholik, fondern noch ftrenger als ein 
Orthodorer; er aß buchitäblich nichts und trank nur 
den Thee, den ich übrig ließ. 

„Was haft du denn ewig zu beforgen und zu 
laufen?” fragte ich ihn. 

„Ich habe einen Schinken gefauft, gnädiger Kerr. 
Auch Ofterbrot hab’ ich beftellt — drüben auf dem 
andern Hof beim Koch des Winerald. Vielleicht 
werden gnädiger Herr mein Ofterbrot und meinen 
Schinlen verjuden?* 

Ich gab ihm Geld, für mich Eier zu kaufen und 
Dfterzöpfe oder ebenfalls ein Ofterbrot zu beftellen. 
Ich wollte ihn jo vor „Schaden“ bewahren. 

„Dfterzöpfe werde ich beitellen, wenn Sie befehlen, 
gnädiger Herr! Aber was das Oſterbrot betrifft, jo 
müffen Sie das meine verjuchen,” flehte er faſt. „Es 
wird auch Schinken, Wurft und Paſteten geben. 
Auch der Gevatter wird fommen, Sie brauchen gar 
nichts zu beftellen.“ 

„Du mußt aber jegt, vor Oftern, noch efjen. 
Das Faſten ift für Katholiken nicht unbedingt vor 
geihrieben. Du kannſt Eier und Milch geniehen. 
Schau, wie du ausſiehſt!“ 

„Es dauert nicht mehr lang, bloß noch zwei 
Tage,“ antwortete er, das Zahnfleifch zeigend. 

In der That, fein Ofterbrot war gut, das heißt 
es blieb einem nicht, wie das jo oft der Fall ift, im 
Halfe jteden, und aud) der Schinken roch nicht allzu= 
jeher. Matwej war außer ſich vor freude, als ich 
von beiden fojtete, 

Während der Feiertage war id) von früh bis 
abends vom Haufe abwejend, wußte aljo nicht, was 
Matwei that. 

Am vierten Tage geihah folgendes: Als ich 
erwadhte, zog id) die Glockenſchnur neben meinem 
Bett. Höchſt ungewöhnlicherweije erihien fein Matwej. 
Ich wartete eine Weile und jchellte nochmals und 
ſtärler. Niemand — nur aus ber Ferne ſchien 
etwas wie ein dumpfes Stöhnen zu fommen. Ich 
ſchenlte dem aber feine Aufmerfjamfeit und jchellte 
nod) ftärfer. Das Stöhnen wurde lauter und beut= 
liher als ob es in der Wohnung wäre. Zugleich 
rührte fi etwas im Korridor, jemand bewegte ſich 
da langſam umd leiſe. Ich fprang raſch aus dem 


J. A. Gontſcharow. 


Bette, zog den Schlafrod über und wartete. Das Ge- 
räuſch fam näher, die Thür öffnete ſich langſam, und 
aufdem dunfeln Hintergrunde zeigte ſich eine Geftalt. 

Wer it das? Wirklich Matwej? Nein, das it 
Lazarus, dem Grabe entjteigend ... 

„Was ijt mit dir? Was giebt es?“ konnte ih 
vor Schred faum fragen. 

„Ih — eh— we,” ftöhnte er, zitternd und jhman- 
fend, mit beiden Händen ſich an ber Wand haltend, 
Seine Lippen ftanden weit offen. „Ich ſterbe,“ 
wollte er jagen, konnte aber vor Schwäche die Kon— 
fonanten nicht ausſprechen. 

Er wollte wieder zurüd, nad) feiner Kammer, 
war aber dazu nicht mehr im ftande. Ich führte ihn. 
Er fiel ſchwer und fraftlos auf das Bett. Ich Meidete 
mid) eilends an und lief hinauf zu dem Arzte, der 
einen Stod höher wohnte und auch mich gelegentlich 
behandelte. 

Er kam, bejah fih den Kranken und fand den 
Beginn eines hißigen Fiebers, nur fonnte er nid 
beftimmen, was für ein fyieber und wodurch es ent- 
ftanden ſei, ob es von einer Erfältung oder vom 
Faften komme. Die corpora delicti, das heikt 
Schinken, Ofterbrot und Wurft, lagen teilweile zur 
Anſicht vor. Ich berichtete kurz dem Arzt von der 
asltetiſchen Enthaltfamfeit Matwejs und wie er den 
eriten Fleiſchtag gefeiert hatte. 

Der Arzt erflärte, nahmittags wiederlommen zu 
wollen. Für den all, daß es fid) bis dahin mit 
Matwej nicht bejjere, würde man gut thun, ihm nach 
dem Kranlenhauſe zu ſchaffen. Borläufig ſchrieb er 
ihm ein Rezept. 

Unterdefjen hatten wir mit Mühe und Not den 
Kranken zur Befinnung gebracht, Als er mid er 
fannte, brad) er in Thränen aus: 

„Was für Unruhe ic Ihnen mache, gnädiger 
Herr! Gott!” jtöhnte er und faßte fi) am Kopf und 
Unterleib. „Ich ſterbe, ich fterbe. Einen Dwornil 
möchte ich, Jegor —“ 

So flehte er. Ich ging hinunter, ſuchte Jegor 
ſchickte ihn zu dem Kranken und ging ſelbſt nad) der 
Apothele, die Arznei zu beſorgen, kaufte auch efwas 
Pfefferminze, Hoffmannſche Tropfen und was font 
der Arzt angeordnet hatte, 

Der Dwornil ftellte unterdeffen den Samowar 
auf und entfernte jih dann auf Matweis Bitte. Ei 
zeigte fich, dab Matwej jogar während jeiner Agonit 
um mic Sorge getragen hatte. Der Dwornil brachte 
mir nämlich einen jungen, jehr anftändig ausjehenden 
Safai, einen Freund Matwejs, der fid) bereit erflärte, 
einftweilen deſſen Dienjt zu übernehmen. 

Nachmittags beſchloß der Arzt, Matwej nad dem 
Kranfenhaufe überführen zu laſſen. 

„Ich fterbe, ich jterbe,“ ſiöhnte Matwej. Dann 
ließ er mich zu fich rufen, zog unter der Matraft 








Diener IV. Matwei. 


ein Päddhen hervor und fagte, ſchwach die Lippen 
bervegend, laum hörbar: 

„Hier, gnädiger Herr, find vierhundertunddreiund- 
vierzig Rubel. Zählen Sie fie nah! Verſtecken Sie 
das Geld! Und weun ich jlerbe —“ Er zerfloß in 
Thrönen. 

„Hör auf!” fagte ich beinah ftreng. 
denn Sterben? Was für ein Unfinn! Du Haft zu 
viel gegefien — wie kann da von Sterben Die 
Rede fein?“ 

„Nein, gnädiger Herr, ich flerbe — o! — es 
zudt mie im allen Adern.” Er griff fih an Bauch 
und Bruft. 

„Und was thun mit bem Gelde?“ fragte ich, indem 
ih das Pädchen raſch öffnete und den Inhalt zählte, 

„Wenn ich fterbe, gnädiger Herr, jo geben Sie 
die eine Hälfte dem Pfarrer zum Seelengedächtnis, 
die andre dem Gevatter. Er wei; ſchon.“ 

Er fahte meine Hand, wollte fie fülfen und weinte 
wie ein Kind. Abends brachte man ihn ins Marien- 
bejpital nach der Litejnaja. Ich wohnte damals in 
der Nähe. 

Am folgenden Tag bejuchte ich ihn. Er hatte 
eine Schlechte Nacht gehabt, ſich hin und her geworfen 
und phantafiert. Der Arzt fonnte noch nicht be— 
fimmen, was für eine Wendung die Krankheit nehmen 
und wie der geſchwächte Organismus des Patienten 
das Fieber überftchen werde. Auf einer Tafel an 
keinem Bett ftand der Name der Krankheit geichrieben: 
Tysenterie. 

Ich fuchte Matwej zu ermutigen, Er aber weinte, 
wiederholte, daß er fterben werde, und bat, ihm ben 
neuen Diener zu jhiden, dab er ihm jagen könne, 
wo alles Tiege und wie er ſich überhaupt in feinem 
Dienft zu verhalten habe. 

Mir brachte dieje Sorglichfeit in ſolchem Zuftande 
das Meinen nahe. 

„Nein, er ift nicht komiſch,“ Dachte ich, die Thränen 
jurüfdrängend. 

Nah drei Wochen lam er blak und wanlend 
kim und übernahm, tro meiner Abmahnungen, 
wieder den Dienft, um mir „den Schaden zu eriparen, 
überflüffigerweije einen Vertreter zu bezahlen”, Für 
diejen Eifer mußte er mit einem Nüdfall büßen, 
der ihn neuerdings ins Krankenhaus brachte, Erſt 
im Sommer mit Beginn der ſchönen, warmen Tage 
erholte er fich völlig. 

Er war noch lange Zeit bei mir, ſechs Jahre, 
wenn nicht mehr, und rüjtete mich zu einer großen 
Reife um die Erde aus mit einer Sorgfalt, die ſich 
auf die Heinften Kleinigkeiten erjtredte, 

Unjer Schiff ſtach nicht fogleih in See. Eben 
old wir uns reifefertig machten, wurde die Abfahrt 
nd um einige Tage verihoben, und ich fuhr nad 
Petersburg zurüd. Mein Meines Gepäck war da- 


„Warum | 





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01 


mals bereit? auf dem Schiffe, meine Möbel und 
fonftigen Sachen Hatte ich irgendwen zur Auf— 
bewahrung gegeben. Matwej allein war in der Ieeren 
Wohnung zurüdgeblieben. 

Welden Eifer, welche Geſchäftigleit entwidelte 
er, als ich plöblid wieder in meinen Zimmern er» 
ſchien! Er duldete es unter feiner Bedingung, daß 
ich im Hotel übernachte. Gott weiß, wie er mir ein 
Bett, eine Matratze, Kiffen und Deden verjdaffte, 
und gar woher er mir, woran ich mid) noch wohl 
erinnere, eine Frauenkazawejka,“) mit Hermelin 
gefüttert, als Schlafrod brachte! Er machte mir das 
Bett, verjorgte mic morgens und abends mit Thee 
und gab mir mit einer fo betrübfam fummervollen 
Miene feinen Abjchiedsjegen, daß ich nahe daran 
war, zu weinen, wührend er jelbjt unter Thränen 
jagte: „Ich werde für Sie beten, gnädiger Herr, und 
werde ben Vater Jeronym bitten, zu beten, daß Sie 
gefund — glücklich — als Wineral zurückkehren.“ 

Ich war zwei Jahre zu Schiff. Die Rückkehr 
durch Sibirien auf Fluß⸗ und Landwegen beanſpruchte 
etwa ein halbes Jahr, von Auguſt bis Fyebruar. 

Unterwegs — id glaube aus Kaſan — ſchrieb 
ih an meine freunde in Petersburg und bat fie, 
mir eine Wohnung und einen Diener zu fuchen und 
mir das Ergebnis nad) Moslau zu melden. 

Man benachrichtigte mich, dab ſich eine pafjende 
Wohnung auf dem Newäly-Proipelt gefunden, und 
bezeichnete mir zugleich die Hausnummer. 

Nicht ohne Bewegung fuhr ich mit meinem Gepäd 
zu dem bezeichneten Haufe, auch nicht ohne eine ge= 
wiſſe Angjt vor all den Unannehmlichkeiten, die mir 
nun bei der Einrichtung der neuen Wohnung bevor» 
ftanden, ftatt dab ih mid nad jo langer Neije 
ausruhen durfte. Ein Dwornif begleitete mich zu 
meinem neuen Heim. ch zog zaghaft die Klingel. 
Die Thür öffnete fi, und auf der Schwelle erſchien — 
Matwej. 

Ich ſtieß einen Ruf der Freude und Ueber— 
raſchung aus. 

„Gnädiger Herr! Gnädiger Herr!“ ſchrie er aus 
voller Kehle, alt ob er „Feuer! Hilfe!“ riefe. Und 
mir jein Zahnfleifch zeigend, warf er ſich auf mid, 
um mir Schultern und Hände zu küſſen, lachte, ſprang 
bin und her und riß uns die Säde, den Plaid, und 
was wir jonft trugen, aus der Hand. 

„Alles ift bereit, Bitte, gnädiger Herr! Gott 
bat mein Gebet erhört. Vater Jeronym — ich werde 
bei ihm eine Meile beftellen. Das Bett ift ſchon 
jeit fünf Tagen fertig — id) habe bereits Holz und 
Kohlen gelauft — Kerzen — alles ift da — Thee 
zwei Pfund Zuder —“ 

Nachdem er das alles ſchnell hergeiagt, riß er den 





N Kurzer Daniel. 


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702 J. A. Gontſcharow. 


Mund auf, holte Atem und ſprang neuerdings um 
mich herum, mir buchſtäblich mit Gewalt die Kleider 
vom Leibe reißend. 

„Berubige dich, mein Lieber!“ bat ich, aber ver- 
gebens. 

„Wo find die Sachen, der Koffer, die leider, 
die Wäſche?“ 

„Dort im Wagen. Die Dwormnils werden es 
bringen. Warte nur! Beruhige did!” 

„Kommen Sie, fommen Sie, Waſilij!“ — Er 
zog den Dwornif mit fih. Kaum daß ich ihm das 
Geld für den Wagen in die Hand ſchieben fonnte. 

Man brachte alles. Eine Stunde jpäter ſaß ich 
bereits in meinem Armftubl beim Thee, mit einer 
Bigarre, ald wäre ich nie verreift gewejen. Mativej 
padte unterdeffen meine Sachen aus und legte fie 
haufenweis auf Stühle, Tiihe und Diwan. 

„Ein guter, braver, waderer, aber aud) lomiſcher 
Burſch!“ dachte ich, während ic jeiner Beichäftigung 
zuſah, die er mit einem wahrhaft rührenden Eifer 
betrieb. Nicht umſonſt lachten die Lalaien über ihn. 
Wie jollte er auch nicht komiſch fein? Er fügt nicht, 
bütet fremdes Geld ebenio wie das feine, achtet auf 
alles, was man ihm anvertraut, ißt wenig, trinft 
feinen Branntwein, betrügt nicht, erzählt nicht mit 
Zorn von den Schlägen, die ihm jein Herr gegeben, 
und jtrebt bei alledem nad) Freiheit. Wie follte er 
da nicht fomifch fein? Wer ihn anfieht, hält ihm 
dafür, aber das Nichtlomische in ihm merft feiner 
von allen, das Nichtlomiſche, das ihmen ſelbſt abgeht, 
das aber in diefem abgezehrten, erichöpften Leibe brennt 
und leuchtet und unverjehens in Funken nad) außen 
iprüht. — Auch Don Duichote war komiſch. 

Unterdeffen fuhr Matwej fort, meine Mäfche, 
Kleider und fo weiter in häusliche Ordnung zu bringen, 
natürlich nicht in die richtige, denn nad) wie vor 
folgte er nur feinem eignen Kopfe. Ich bat ihn, 
alles das für den nächſten Tag zu lafjen. 

Am folgenden Morgen, faum dab ich aufgeftanden 
war, ftellte fih Matwej ein — mit einem Jereſter, 
das alles enthielt, was ich von der Neife mitgebracht, 
und mit einer Rechnung über Zuder, Thee, Holz, kurz 
über alles, was er zu meiner Ankunft eingefauft hatte, 

Vor meinen Augen flimmerten wieder: Millig, 
Puder und jo weiter. 

„Das Holz ift um fünfundfiebzig KHopefen teurer 
geworden als voriges Jahr,* bemerkte er traurig. 
Dann aber Hellte ſich fein Antlik auf, und er fügte 
binzu: „Dafür find Zuder und Kerzen billiger.” 
Und damit job er mir Rechnung und Jerefter zu. 

Id war nahe daran, verzweifelt die Hände zu— 
jammenzuichlagen, mußte jedod laut aufladhen, und 
auch Matwej zeigte das ganze Zahnfleiſch. 

„Du bieibft immer derſelbe — unverbeſſerlich.“ 

Er ſtand vor mir in dem alten grauen Nod, 


Für dich giebt's feinen Preis, weißt du, Matwejt“ 

„Der Herr ift jetzt mit dem Preis herumtergegangen, 
er ijt jegt mit fünfhundert zufrieden,“ fagte er Ich» 
baft, vor freude gludjend. „Ich habe dem Ant: 
mann jchreiben laſſen und ihm dem Brief geihidt, 
daß id; das Geld erlegen werde. Vierhundert hab’ 
ich ſchon,“ jagte er vertraulich flüfternd. „Im drei 
Jahren, wenn es Gott giebt, werde ich vielleicht das 
übrige erjpart haben.” 

„Wie, vierhundert? So viel hatteft du ja ſchen 
vor meiner Abreife. Jeht müßteft du doch das Dop 
pelte haben. Haft du denn in meiner Abweſenhel 
nichts erjpart oder haft du fo viel verbraucht ?* 

Das Geſicht Matwejs verbüjterte ſich und wurde 
totenartiger als je. 

„Diejes Geld ift überhaupt nicht mehr vorhanden, 
gnädiger Herr!” jagte er tief Atem holend und jet: 
wärts blidend. 

„Wo ift e8 Hingefommen? Hat man e& dir ge 
ftohlen? Sind Diebe gelommen?* 

Er wurde wieder munterer und zeigte jein Zahnfleiit. 

„Diebe? Mein, gnädiger Herr. Wie wären die 
dazu gelommen? ch hätte fie gepadt und jo...“ 
Er bedeutete mir mit beiden Händen, wie er die 
Diebe zerrifjen hätte. „Sie hätten ihre Beine nid! 
davongebracht, viel weniger das Geld.” 

„Wohin ift es dann gelommen?* 

Er jchwieg einen Augenblid. 

„Der Gevatter hat e8 vertrunfen,“ murmelte 
dann mit einem tiefen Seufzer und kniff die Augen ein. 

„Vertrunfen? Weshalb haft du es ihm gegeben? 
Du hätteft es in die Bank legen follen.” 

„In der Bank kann ich es nicht haben. Das 
Geld muß oft verliehen werden. Soll man da jede: 
mal nad) der Bank laufen? Da hab’ ich es dem 
Gevatter zum Aufheben gegeben. Er hat mit feiner 
Frau allein eine Wohnung. Das Zimmer ift nie 
leer. Entweder ijt er zu Haus oder fie. Ich hab 
aud) meine Pfandſachen bei ihm liegen. Es mußt 
auch niemand um das Gelb ala ich und die beiden. 
Für mid) jelber hatte ich einen Winkel gemietet, In 
einen Winkel, willen Sie, gnädiger Herr, fommt aber 
alles mögliche Volt. Und da gab ich mein Geld 
dem Gevatter zum Aufheben,“ ſagte er flüfternd mit 
einem tiefen Seufzer. „Er hatte e8 im Ofenzohr, 
in einem Topf, damit es nicht geftohlen würde. Ja, 
und dann hat er es jelber ausgeführt, erjt im Heinen 
Portionen, und dann nahm er alles aufeinmal, Drei 
Monate lang war er nicht zu ſehen — immer betrunten.“ 

Wiederum ein tiefer Seufzer. Er ſah gam 


äußerlich unbewegt und rubig, aber mit einem Schim- 

mer jtiller Freude in den Augen, freude darüber, 

daß id) wieder daheim und er bei mir war. Er ſchien 
über mich wahrhaftig entzüdt zu jein. 

erjhöpft aus. Armer Teufel! dachte ich bei mir. | 


Diener IV. Matwej. 703 


„Afo bat er dir gar nichts zurüdgegeben ?* 
fragte ich. 

„Wie fonnte er etwas zurüdgeben? Er hatte ja 
jelber nichts, Als ich zu ihm Fam, ſchenkte ich ihm noch 
meine alten Schuhe und eine Hofe, die ich von Ihnen 
belommen hatte. Er hatte nichts anzuziehen, Auch Bars 
geld, einen Rubel,“ endete er und ſchloß bie Augen. 

„Und die vierhundert Rubel, die du jetzt haft — 
woher find bie?“ 

Er lebte wieder auf, feine Augen begannen zu 
glänzen: „Wieder erjpart, gnädiger Herr!” fagte er 
triumpbierend. „Das Geihäft ging flott und gut. 
In dem Haufe, wo id) wohnte, gab's einige junge 
Herren. Die nahmen oft bei mir und zahlten Pro⸗ 
jente, jo viel man verlangte. Manchmal nahmen 
fie aud) ohne Pfand und gaben alles pünktlich zurück, 





Anderthalb Jahre lang hab’ ich alles zurüdbefonmen, | 
ı beide mit Bedauern. Er heiratete wirllich, eröffnete 


| ein „Ctabliffement“, eine Gartüche, und lud aud) 


Jetzt liegen bei mir wieder verjehte Sachen.“ 
* 

Seit meiner Rücklehr war ein Jahr vergangen. 
Jh war mit Matwej jo zufrieden wie je. Um io 
größer war daher meine Verwunderung, ald er eines 
Tags die Abficht äußerte, eine Wohnung zu mieten 
und Zimmerherren aufzunehmen, Eine traurige Zu- 
funft that fich wieder vor mir auf, 

„Wie? Du willft mid) verlaſſen?“ rief ich. 

„Seht nicht, mein!“ beeilte er ſich, zu erwidern. 
„Aber im Herbft," — wir befanden uns damals im 
April — „im Herbft, gnädiger Herr, entlafjen Sie mich! 





Im Herbft wird mir der Amtmann den Freibrief 


ſchiden. Ich werde ihm da das Geld einjenden — 


nicht das ganze, nur die Hälfte — die andre Hälfte | 


fpäter. Ich werde noch fünfhundert übrig behalten,“ 
ſchloß er geheimnisvoll, 

Ich ſeufzte. 

„Was ſoll ich anfangen, wenn du gehſt?“ 


„Ich werde Ihnen einen andern Diener ver- | 


ihaffen — gerade jo einen —* 
„Nein, Datwei, fo einer ift nimmer zu finden.* 
Er jagte nichts darauf, aber er ſah fo aus, ale 
ob er noch etwas auf dem Herzen hätte, und plößlich 





machte er mir eine Eröffnung, die mir in der That | 
ganz umerwartet fam: nämlich, daß er ein Frauen» | 


summer im Auge habe, und daß auch fie nicht ab« 
geneigt jei, ihn zu heiraten. 

Ich war außer ftande, ihn zu Ende zu hören und 
Iprang vor Staunen vom Seſſel auf, 

„Was? Du willft heiraten? Cs ift nit —“ 
Ih konnte nicht weiter. Das Laden übermältigte 
mid. Auch er zeigte das Zahnfleiſch. 

„Gewiß und wahrhaftig, gnädiger Herr!“ jagte 
er ſchnell und einigermaßen beichämt, 


„Du ein Familienvater mit Weib — und Pins | 


ben —“ Ich lachte neuerdings. 
„Öott mit ihnen, mit den Kindern! Was für Finder, 





Oſtern und Neujahr. 


gnädiger Herr? ch werde mich doch nicht mit ſolchen 
Dummheiten abgeben. Das find Kindereien. Pfui!“ 
Er that ein paar Schritte, um in die Ede zu 
Ipuden. Dann fam er wieder zu mir. 
„Sie ift ja ſchon Hoc in Jahren,” fügte er binzu, 
„Und was Haft bu für ein Vergnügen dabei, fie 


' zu heiraten ?* 


„Sie hat Geld,“ fagte er leife. „Die Leute fagen 
— fie foll taufend ober mehr Haben — vielleicht zwei. 
Sie weiß auch, daß ic was habe. Wir werden zu: 
fammen ein Gejchäft treiben — werden eine große 
Wohnung mieten — eine Garküche eröffnen — Mieter 
nehmen — einen Saal für Bälle und Hochzeiten 
halten. Wir werden reich werden, ſchredlich! Ja, 
jehen Sie, gnädiger Herr, obne Frau lann man fo 
etwas nicht machen.” 

Im Herbft nahmen wir Abjchied voneinander, 


mic ein, feinen Tiſch zu verſuchen. Ich kam nicht 
bin, hörte jedoch von Bekannten, daß man bei ihm 
nicht ſchlecht eſſe und daß das Geſchäft gehe. Er mietete 
auch wirklich einen Saal für Hochzeiten und Bälle. 

Drei Jahre lang beſuchte er mich regelmäßig zu 
Er fam in rad und weißer 
ſtrawatte, eine Uhrtette auf der Weſte. Mein Gott, 
wie komiſch er war! 

Als ich nach alter Gewohnheit eine Banknote aus 
der Brieftafhe nahm, um fie ihm „zu einem roten 
Ei* zu ſchenken, ſprang er zurüc wie ein verwundeter 
Wolf und jagte in vorwurfävollem Ton: 

„Nicht deshalb, gnädiger Herr, nicht deshalb! 
Gott bewahre! Ich werde Sie nie vergefien.“ 

Barum? dachte ich bei mir, indem ich ihn be— 
luſtigt und zugleich gerührt betrachtete. 

Zum letztenmal beſuchte er mi, als er börte, 
daß id) im Range befördert worden jei, 

Er kam auf mic, zugeftürzt, jprang vor Freuden 
und jah mich mit leuchtenden Augen an. 

„Ich jagte es Ihnen, gnädiger Herr, id) jagte es 
Ihnen. Ich wußte es — Sie werden noch Wineral 
— ih habe darum gebetet.” 

So beglüdwünfchte er mid, mir die Schulter 
küſſend, und al& er wegging, rief er: „Gott gebe, 
dab Sie ein Graf werden! Ich werde beten,“ 

Ich bedaure fehr, nicht auch dieſen Titel erworben 
zu haben, wäre es auch nur, um die Freude Matwejs 


' zu jehen. Wie würde er fpringen! 


“ 

Später hörte ich, daß Matwej ſich freigefauft, daß 
er das Geld bezahlt und ſeinen Schein empfangen 
habe, und zwar furz vor dem Maniſeſt vom 19, Fe⸗ 
bruar 1861,*) 


Durch welches die Leibeigenf haft aufgehoben wurde 








a 3 ya 


die Heldichte eines jungen Mädchens. 


Roman von 
Erna Inel-Hanfen, 
Aus dem Däniſchen überfebt von Ernſt Braufewetter. 
Schluß.) 


IV. 


Als Margarete nah Haufe ging, lag goldenes 
Nahmittagslicht des Maitages über all dem Sproſſen · 
den und Grünenden in Gärten und Allen. Die Luft 
war ein zitternder Nebel von ſchimmernden lichten 
Farben, wie durdiwebt mit Duft der hervorquellen- 
den Ueppigfeit. Nun ſah fie das alles. 

Das Leben war neu für fie, das Dafein erfüllt 
von einer niemals geahnten, geheimnisvollen, jtrahlen- 
den Herrlichkeit. Und dann war es, als wäre fie 
erit jet erwachſen — ja erſt jet ein ganzer Menſch, 
ein ganzes Weib geworden — das hatte er mit den 
ſüßeſten und wunderbarften Worten gejagt — ganz 
Weib, geihaffen für die Liebe. Dieſe Worte waren 
in fie wie eine Offenbarung niedergefahren, hatten 
ihr gleihjam das Rätſel des Lebens gelöft, denn 
„leben war lieben”, Mit dem eben gewonnenen, 
jiegesficheren Bewußtſein von dem, was fie in fich 
barg, was jie zu geben vermochte, jagte jie fich jelbit 
mit feinen Worten, daß fie zu den Glücklichen, den 
Auserlorenen gehörte, die gejhaffen waren für die 
Siebe. Und jie war jein — o, wie fie e8 niemals ge= 
träumt hatte, daß man eines andern merden könnte! 

Wie glüdlich fie das machte, wie unbeſchreiblich, 
unausſprechlich glüdlich! 

Faſt übermütig lachte fie jet über all ihre mädchen⸗ 
hafte Angit in ihrem grübelnden Sinnen über das 
Geheimnis des Liebesglüdes, das ihr ſoeben ent 
ichleiert war, während fie jedes Wort, jede Liebkojung, 
jede Freude wieder durchlebte. 

Seit diefem Tage gab es feine Leere und feine 
Dede mehr; alle Unruhe des Müfiggangs war fort; 
daß fie feine Arbeit hatte, war ihr jet eine Freude 
mehr, denn es gewährte ihr volle Freiheit, zu träu- 
men, fich zu jehnen — und jet war feiner ihrer 
Träume mehr unfruchtbar — die Sehnſucht hatte 
nicht8 vom Vermiſſen an ji, denn fie fühlte jedes— 
mal, wenn fie fich jahen, aus der Leidenjchaftlichkeit 
feiner Küffe, jeiner Umarmungen, dab er liebte wie 


fie, fich jehnte wie fie. 


Aber mehr als alles andre bezauberte fie feine 
Zärtlichkeit. Sie konnte weinen vor Glüd, wenn fie 
daran dachte, wie gut er gegen fie war, wie liche: 
voll und wie janft. Und dann veritand er fie — 
0, wie fie niemals verjtanden worden war! — jede Be 
wegung ihrer Secle fand gleihjam ein Echo in der 
feinigen. Niemals fam fie vergebens, jondern wurde 
jedesmal von ihm faſt mit größerer Wärme, mit 
innigerer Liebe empfangen, — und fie jchaubderk, 
wenn der Vergleich zwifchen ihm und Möller ſich ihr 
unwillkürlich aufbrängte. 

Sie hatte ihm nichts von ihrer Verlobung geiagt. 
Was bedurfte es defjen? Sobald fie einen Brie 
von Möller befam — und das konnte nicht vor dem 
Herbft geihehen, von London aus, denn jo lange er 
in Grönland war, könnte er nicht ſchreiben, hatte er 
gejagt — wollte fie natürlich die Verlobung aufe 
heben. Und damit war er aus ihrer Seele en 
ihwunden, als wenn er niemals gelebt hätte. 

Sie konnte nur nicht begreifen, daß fie ſich je 
mals eingebildet hatte, in ihm verliebt zu fein, denn 
fie glaubte feft, fie hätte niemals einen andern ge 
liebt und würde niemals einen andern lieben ali 
diefen Mann, an deſſen Herz fie erlebt hatte, mas 
Ghriftian den „jüheften Augenblick“ genannt hatt, 
den das Leben zu bieten vermöchte. 

O, wie fie ihn num verfland, und wie er nö 
gehabt hatte! 

Wie jo viel ſchöner, glücklicher — ja heiliger ı 
ſchien ihr ihre Hochzeit, wie fie es mannte, gerade 
durch das Geheimnis, das fie umgab, und von 
dem fein andrer etwas ahnte, als eine folde, wie 
Dlivia und jelbft Ludovila fie gehabt hatten! 

Es fonnte in ihr eine Freude emporjprubeln, die 
gleihjam den Verftand überwältigte, wenn fie, de 
heim oder aud) mitten unter Fremden, plößlid daran 
dachte, daß fie heimlich geliebt, heimlich vermäblt 
wäre. Dieſe Worte hatten für fie einen wunderbaren 
Zauber an ih — daß niemand das Glüd ahnt, 
das fie genoß, daß es ihr ganz allein gehörte. Und 
dann jah fie, wie in einer fyata Morgana, das vor 





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Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


705 


grünlichem Lichte übergoffene Atelier, hörte die Vögel , ſättigter Seele umd befriedigten Sinnen, und doch 
draußen zwitjchern, wie jenes erſte Mal, jpürte die 


fonnengefättigte Luft dort drinnen, vermiſcht mit dem | 


Geruch des Terpentins der Farben, jah die Skizzen 
an den Wänden, die Staffelei und ihn — ihn an ber 
Thür, um fie zu empfangen. 

Der einzige, dem fie Luft gehabt hätte, von ihrem 
Glück zu erzählen, war ihr Vater; bisweilen war fie 
nahe daran, es zu thun. Aber alles fonnte fie ihm 
ja doch nicht jagen und — er würde ja auch nicht 
verftehen, warum fie und Ktrog es jo mwünjchten, 
fondern würde verlangen, fie jollten fich öffentlich 
verheiraten, wie andre Leute, und das war es ja 





mit einer neugeborenen, ſchwellenden Sehnſucht, die 
ihrem Dafein Fülle verlieh. 

Und ihre Liebe war jo reich, jo erfinderiich in 
ihrer Fähigfeit, ſich felbft zu erneuern, daß er anfangs 
auch nichts vermißte und ſich dem vollen Genuß des 
Glückes hingab, das fie ihm jchentte. 

Er hatte vorläufig feine Reife aufgegeben oder 
bis ins Ungewiſſe hinausgeichoben. 

Er that nichts. Eine raftlofe Unruhe hatte fich 
feiner bemädhtigt, weil er befländig wartete, Er 
machte Entwürfe, zeichnete, begann auch ein Bild, 


| aber e& wurde nichts Rechtes. Er wagte nicht, fich 


gerade, was fie nicht wollten, Nein, das würde nur | 
Trennung bedeuten, Aufhören bes wunderbaren Ge- | 
nicht aus, bevor fie nicht dageweſen oder bevor es jo 


heimniffes, in dem fie lebte — und außerdem, Frog 
dachte wie Vetter Chriftian, daß die Liebe ihr eignes 
Recht hätte, und fie dachte in allem, wie er. Dies 
war ihr eigen, und nur jo war fie völlig glüclich, 
ja, ohne Störung wollte fie den Tranf des Lebens ge= 
niefen, nach dem fie all ihr Lebtag gebürftet Hatte, 

Einen Fehler jedoch hatte die Geheimthuerei: fie 
fonnten nicht viel miteinander reden. 


fi nirgends, aufer bei ihm, da jet in den hellſten 
Sommertagen Rendezvous im Freien unmöglich waren, 
— und fie wollten nicht entbedit werden, nicht um 
alles in der Welt. 

Sie konnte fi nur zu ihm fehlen, und geſchah 
& aud oft, fo doch felten auf längere Zeit, und 
immer mußte fie einen Vorwand ſuchen, der ge 
nügend glaubwürdig war. So lange Ludovika noch 
in der Stadt war, ging ed no an. Papa und 
Mama waren es ja gewöhnt, daß fie jo gut wie 
füglih dorthin ging. Aber Lubovifa und ihr Dann 
teilten zu Anfang des Sommers ins Ausland, und 
dann war es ſchwer, etwas andres ausfindig zu 
machen, ala daf fie jpazieren ging. Uebrigens ahnte 
Ludovifa nichts. Schon am erften Tage hatte Mar« 
garete fie jo gründlich auf den Holzweg geführt, daß 
fie feinen Verdacht hegte. 

Nein, niemand burjte etwas wiſſen, niemand, 
nicht einmal Qubovifa, 

Sein Atelier lag ein gutes Stüd außerhalb der 
Stadt, und ber Weg erforberte Zeit, ſelbſt wenn fie fuhr. 

So wurden ihre Zujammenfünfte jelten etwas 
andres, ald ein Platzregen von Lieblofungen, bie mit 
oft fieberhafter Haft ausgetaufcht wurden. 

Margarete genügte das oder wenigftens beinahe. 
Das Glüd der Liebe beftand für fie darin, Lieb- 
tofungen zu geben und Liebkofungen zu empfangen, 
Co lange feine Arme fie in Leidenſchaft an ſich 
drüdten, feine Lippen Piebesworte ihr ins Ohr flüfter- 
ten, vermißte fie nichts, und fie ging von ihm, wie 
lutz ihr Zufammenfein auch gewefen war, mit ge 

Aus fremden Sungen. 1997, II. 15, 


Sa, jo gut | 
wie niemals, denn fie waren jehr vorfichtig, fie jahen 








ein Modell zu beihaffen, denn er war ja niemals 
fiher, wann Margarete fommen konnte. Er ging 


; jpät geworden war, daß er fie nicht mehr erwarten 


fonnte. 

Als die warme Jahreszeit fam, reifte der Etatsrat, 
wie es feine Gewohnheit war, in einen Bade-Drt; er 
brauchte das jeiner Verdauung wegen, wie er jagte. 

Mama gehörte zu jenen richtigen, eingeborenen 
Kopenhagenerinnen, die am liebften auch während des 
Sommers in der Stadt bleiben. Ihr behagte das 
Sandleben nicht, und dann hatte fie es fo ſchön 
rubig, wenn der Etatörat fort war, denn: „Gott, wie 
wäre das 2eben bequem, wenn man die Männer los 
wäre!" Aber michtsbeitoweniger vermißte fie ihn 
gründlich, ſchrieb jeden Tag an ihn und ging wie 
ein eierfranfes Huhn umber, wenn die tägliche Brief- 
karte fih nur um eine Poſt verjpätete, 

Margarete brachte jonft den Sommer bald bei 
der einen, bald bei der andern befannten Familie 
auf dem Lande zu, aber heuer wollte fie nicht fort. 

Sie hatte plötzlich eime ſolch zärtliche Sorgfalt 
für Mamas Wohlergehen befommen und fagte, fie 
bräcdte es nicht übers Herz, von ihr fortzugehen 
und fie ganz allein in der leeren Wohnung zu laſſen. 
Und außerdem fühlte fie ji jo wohl, fo wohl, daß 
fie förmlich ftroßte vor Gefundheit — feine Spur 
von Bleichſucht. 

Na, da befam fie ihren Willen, und Mama 
war ganz gerührt — fie war nicht gemohnt, daß 
Margarete jo viel Rüdfiht auf fie nahm. Es war 
ja unleugbar ein wenig traurig, in dem großen Haufe 
mit den Dienftboten allein zu jein — man mochte 
faum ordentliches Eſſen kochen. 

Dlivia lag ihr auch ſchwer am Herzen, denn bie 
Arne war, wie immer im Sommer, ſchon wieder in 
andern Umſtänden. 

Diefer Umftand gewährte Margarete bedeutend 
mehr Trreibeit, ald gewöhnlid. Mama war immer 
mehrere Stunden des Tages bei Dlivia; fie jelbft 
machte regelmäßig Heine Ausflüge zu benjenigen 
ihrer Berwandten und Belannten, die am Strandiveg, 

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706 Erna Juel-Hanſen. 


in Taarbäd und jo weiter auf dem Lande wohnten, | 
und fand dabei Gelegenheit, für einige Stunden | 
„aus der Welt zu verſchwinden“, wie fie es nannte 
— und dann war fie bei ihm. Gin ewiges Kom- 
binieren fand in ihrem Gehirn ftatt, und fie be= | 
mußte jede Gelegenheit mit einer Lift und Schlaus | 
beit, die Krog in Erftaunen verjeßte, um plößlic, | 
wenn er es am wenigſten abnte, wie aus den 
Wollen gefallen in feinem Atelier zu ftehen und ihm 
zu erzählen, daß fie jo und jo viel Stunden, Mi- 
nuten und Sekunden zu ihrer Verfügung hätte — | 
fie wußte e$ immer ganz genau, denn es mußte in 
der Kegel mit der Abgangs- und Ankunftszeit eines | 
Eiſenbahnzuges dergleichen übereinftimmen. | 

Wunderlih war es, dab ihm allmählich die ' 
Stunden zu lang eriheinen fonnten. Es fehlte nicht | 
viel, daß er bisweilen, nun, da fie ſich faſt täglich) 
ſahen, begann, die früheren haftigen, jeltenen Zu— 
ſammenkünfte zurüdzumünjchen. Es überfchlic ihn | 
allmählich etwas, was der Enttäufhung ähnelte — 
denn fie war nicht recht das, was er erwartet hatte. 

Ihr Verhältnis zwang ihn, üolierter zu leben, 
als er e8 bisher gethan hatte, Er mußte jeine Thür 
allen andern jo gut wie verſchließen, wenn fie freien 
Zugang haben jollte, und er hatte den übrigens nicht 
zablreihen Freunden und Slollegen, die noch in 
ber Stadt waren, eingebildet, daß er eine Arbeit vor- 
hätte, bei der er nicht geftört werden wollte. An feiner 
Ihür befand fi ftändig der Heine Zettel: „Beſuche 
werden nicht empfangen.” Aber defto mehr fühlte 
er das Bedürfnis, ſich ihr mitzuteilen, bei ihr Ver— 
ſtändnis zu finden, ſich durch geiftiges Zuſammen-— 
leben mit dieſem jungen Weibe, das ſo friſch und 
warmfühlend war und das jo viel enthalten mußte, 
zu bereichern. Nun, wo fie Zeit hatte, mußten fie 
da nicht etwas auseinander herausbringen fünnen ? 
Und er verfuchte es wieder und wieder, aber ohne 
Erfolg. 

Er war ſo ſtarl von der Bewegung der neuen 
Zeit ergriffen, dem damaligem Umſchwung des 
Geiſteslebens in Dänemark. Er liebte alles Neue 
in der Kunſt und Litteratur. Das war es, was ihn 
erfüllt hatte, als er das Bild malte. Und es war 
eines der erſten der neuen Schule, das Aufſehen er— 
regt hatte. Er hatte damit auch für die Sache, der 
er diente, einen Sieg davongetragen, 

Uber von dem allen wußte fie nichts — abjolut 
nichts, und was ſchlimmer war, fie hatte, wie er bald 
entdedte, auch kein jonderliches Intereſſe für das, 
was zum geiftigen Leben gehörte und was für ihn 
ein Lebensbedürfnis war, jo notwendig wie die Luft, 
bie er einatmete. 

Das war ein unglaubliher Mangel. Und er 
begriff es nicht, bis er allmählid aus ihr heraus— 
brachte, wie fie erzogen war. Daß etwas Derartiges 


möglich war in unjrer Zeit! Es war und blieb ihm 
ein ungelöftes Rätſel. 

Dann ſuchte er ihren Sinn und ihr Intereſſe jr 
erweden, er wollte ihr far machen, was Vergangen- 
beit und Neuzeit jchied, und ſprach ſich darüber 
warm. Sie hörte ihm auch zu, ſcheinbar mit Jntereſt 
Er wurde jo hübſch, wenn er jo jpradh. Aber er 
merfte bald, es waren nur ihre äußeren Obren, 
welche folgten. Gemüt und Seele waren für alle 
andre verſchloſſen, als was ihn und fie rein periön« 
lid) anbetraf. Ihre Liebe machte fie freilich jo jein- 
börig, daß fie in der Regel wußte, was er wünjdte, 
daß fie jagen oder antworten jollte, und fie war 
immer berjelben Meinung wie er, lobte, was er dei 
Lobes wert fand, und tadelte furzweg alles andre. 
Aber niemals brachte eine Frage oder ein Zweiſel 
ihm Botſchaft davon, daß das, was er ihr mit 
teilte, Wiederhall in ihr jelbft fand, einem Drang 
nad) Wiffen oder Verftändnis begegnete. Ein paar: 
mal jtellte er fie auf die Probe und widerſprach ih 
jelbft. Ja, dann war fie dod mit ihm einig. 

Eo wurde es völlig zwedios, auf dieje Weit 
mit ihr zu reden. 

Er gab ihr Bücher — die neueften, die beiten, 
die er fannte und die er liebte und bewunderte, troh 
aller Mängel, nur weil in ihnen etwas von der neuen, 
friſchen Meltftrömung vorhanden war, die enblih 
auch hier daheim die Dämme durchbrochen hatte, 
aber fie las fie nicht — oder jo langjam, daß ihm 
die Geduld verging. 

Sie verfuchte es ehrlich. Aber das Buch jant 
in ihren Schoß, fobald fie nur zu lejen begann. 
Itgend eine Einzelheit darin erinnerte fie ſogleich 
an ihn. Sie juchte nur immer die Liebesjcenen auf, 
und dann flogen die Gedanken vom Buche zu der 
Wirklichkeit, in der fie lebte. Sie hatte ja num das 
Leben — was kümmerte fie fih um die Bücher? 

Und nicht beſſer ging es mit feiner Kunſt, für 
die fie jo gerne Verſtändnis haben wollte. Aber 
das fonnte nicht erlernt werden, wie fie jeinerzeit 
Botanik gelernt hatte. Sie hatte fein Auge für 
Linien, Farben und Töne. Sie hörte ihn außerdem 
viel lieber das allergewöhnlichite Liebeswort ſprechen, 
als von den Meijtern der ganzen Welt, ihren Bildern, 
ihrem Leben und ihrem Schaffen erzählen. 

Sie beſaßen einander, Was ging fie die ganze 
übrige Welt an! Sie fonnten von ihrer Liebe reden. 
Was war jo herrlich, wie diefe! 

Niemals wurde fie müde, felbjt zu jagen und 
jagen zu hören, daß fie ihn liebte und er fie, umd 
fie fand jo reiche und ergreifende Worte, daf dit 
Wiederholung aud) ihm lange neu ſchien und er im 
Augenblid jedes Vermiſſen zurüddrängte und die 
Worte von ihren Lippen abfüßte, 

Aber während all dem fam er, wie gejagt, nicht 


| by (soogle 
S C 


Be. „As. 





Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 


dazu, etwas zu thun. Sein fünjtleriiches Gewilien 
plagte ihn deshalb bisweilen ſchlimm. Die Reifes 
ſehnſucht teilte Fich auch ein. Dieſe heigen Auguſt- 
tage waren fait unerträglich unter dem Schieferdach 
feines Ateliers. Im Anfang hatte er ihr gelagt 
umd es auch geglaubt, daß ihre Liebe ihn zu neuen, 
großen Aufgaben in weit reicherem Maße begeijtern 
würde, als die Reife, die er beabfichtigt halte. Nun 
fonnte er fich nicht von dem Gedanken freimachen, 
daß diefer Sommer, den er in Kopenhagen zubrachte, 
ſelbſt mit ihr, nicht gerade ſonderlich geeignet wäre, 
ihn mit Eindrüden zu bereichern oder ihm Impulſe 
zur Wrbeit zu geben. 

Penn er, wie es oft geihah, in der dumpfen 
Luft des Ateliers eingeichlofen, fie einen ganzen Tag 
erwartet hatte, überfam ihn die Empfindung, ala 
wäre er im Gefängnis. Die Luft, hinauszukommen, 
frei zu fein, brüdte ihn wie ein Alp. Bilder von 
Schnee und Alpen, von großen, freien Berghalden 
mit Fühler Gebirgsluft zogen an ihm vorüber, 

Wenn fie noch ein wenig im freien hätten zu— 
fammen fein können! Aber was ihre Zuſammen- 
fünfte fo ſeltſam eintönig machte, war diejes beftändige 
Zuſammenſein auf demfelben led, in demſelben 
Zimmer, in demjelben Farbenſchimmer. Al dies 
Grüne, was fie immer umgab, peinigte fein Auge, 
wie eine Melodie, endlos wiederholt, das Ohr mar- 
ten fan. 

Aber wenn fie fam, verihwand doch alles in dem 
Glüd, das fie — meiſtens — mit ſich brachte. 

In der letzten Zeit blieb jedoch bie und da eine 
Unmutswolfe über feinem Geſicht lagern, bie ihr 
nicht entging und die jie unruhig und bedrüdt machte, 
obſchon es ihr bisher ſtets geglücdt war, fie durch 
das einzige Mittel, das fie gegen alles hatte, zu ver- 
jagen — durch ihre Liebfofungen, ihre Worte, die 
fie boppelt warm, doppelt vieljagend zu machen juchte, 
bis er fi) in eine roja Wolfe eingehüllt fühlte und 
alles in ihren Armen vergaß. 

Aber wenn fie nun fragte: „Liebft du mich ?“, 
antwortete er jelten direft, er gebrauchte eine Um⸗ 
ſchreibung oder er machte die Antwort zu einer Frage: 
‚Närchen,* fonnte er jagen, „was für eine Frage ? 
Füblteft du e8 denn nicht eben an meiner Umarmung, 
meinen Küſſen?“ Oder er antwortete verneinend mit 
leicht durchſchaubarer Uebertreibung: „Nein, nicht im 
geringften, das merfft du doch,“ und preßte fie an ſich. 

Aber fie wurde darauf aufmerffjam, und jie 
grübelte oft darüber, warum er fo antwortete, und 
niemals ein ordentlihes Ja, niemals, wie im An— 
fange, da er die drei Worte vor Entzücken hundert: 
und wieder hundertmal wiederholt hatte. 

Dann einmal — fie war gerade im Begriff, zu 
gehen und. hatte ſchon den Hut aufgeſetzt — fragte 
fie ihn: „Wirft du mich immer Tieben?“ 


707 


Er war offenbar betroffen und zögerte einen Augen» 
blid, als wenn er ſich bedächte; dann fagte er: 

„Immer“ ijtein jo großes Mort — id) will e& mit 
einem andern vertauſchen und antworten: Tange!” 

Sie ſeufzte und jah ihn faft ſchmerzlich an. Da 
fügte er mit ungebuldiger Haft hinzu: 

„Aber warum beftändig nad dem fragen, was 
wir beide wiſſen? Wir beide find jekt in dieſem 
Nugenblid ja von Liebe erfüllt. War es geitern der 
fall, wird es morgen aud fein und das nächte 
Mal, das wir und wiederfehen, und viele, viele 
Male jpäter vermutlich. Warum denn daran denen, 
wie lange e& währen wird? Weißt du es? Weiß 
ih es? O Kind, laß und das Glück genießen, jo 
lange wir es befiken, und quälen wir uns nicht mit 
dem, was darauf folgt! Liebe mid), folange du 
kannt, gieb mir Dich ſelbſt, dein eignes ſüßes Ich, 
wie dur es jetzt thuft, frei und ohne Vorbehalt, laf 
uns die Put und den Jubel der Liebe miteinander: 
teilen und genießen — und ift e& einmal vorbei, 
dann trauere nicht! Lak uns den Mut haben, es 
einander ehrlich, ohne Schen zu jagen! ch werde 
mich nicht beflagen, ſondern alles deſſen gedenlen, 
was du mir geſchenkt haft, als des Schönften, was 
das Leben mir biäher gab. Nur jo kann man glüd« 
lic) jein und es ganz fein —“ 

Sie legte die Hand auf jeinen Mund und jchmiegte 
ſich an ihn, indem fie leidenschaftlich flüfterte: „O — 
jtill — ich werde dich immer lieben — immer — 
glauben, das ift mein Glück —“ 

Gr biß fie dur den Handſchuh in den Finger. 

„Gelobe nichts, aber fomm, du Süße — und 
fomm bald wieder, hörft du? — bald —!“ 

V. 

Es war im September. Sie würde in der 
Dämmerung kommen, hatte fie verſprochen. 

Und nun ſollte es geſchehen. Es ſollte jetzt ein 
Ende haben, bevor es zu jpät wurde. Noch war 
nichts geſchehen, was ſich nicht wieber gut machen 
ließe, hoffte er. 

Aber er durfte nicht auf feine Ruhe, feine Be— 
fonnenheit bauen, wenn fie fih im Zimmer trafen, 
Noch ruhte etwas über ihr, was feine Sinne bezauberte, 
wenn er fie nur in feiner Nähe fühlte, aber auch nur 
dies war übrig. Sonft war er dieſes Verhältnifies 
müde und überdrüffig, das ihn band und einfperrte, 
jo dab er nahe daran war, zu erjtiden. 

Iedesmal, wenn er fie in ber fehten Zeit gejehen, 
hatte er jich vorgenommen, ſie auf den Bruch vor— 
zubereiten, der fommen mußte. Aber er hatte es 
nicht vermocht. 

Sie fahen ſich wieder nur für flüchtige Augen« 
blide, für die fie fich zu ihm au ftehlen vermochte — 
und jo blieb e8 inımer wieder beim alten. Ihre leihen« 
ichaftlichen Liebfojungen, die fühe Anmut ihrer warmen 


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708 Erna Ju 


Dingebung bliefen Lohe in die verglimmenden Kohlen 
feiner Liebe. Aber er wollte den Becher nicht bis 
zur Neige außtrinfen, nicht den bitteren Gejhmad 
ber Hefe mitbelommen — nicht um ihretwillen und 
nicht um feinetwillen. Er wog alle Bebenten da« 
gegen ab, daß er im wahrften Sinne des Wortes 
ein Unrecht beging, wenn er dies Verhältnis fortjeßte. 
Er liebte fie nicht mehr, oder richtiger nicht mehr fo, 
daß er ein Recht auf ihre Liebe hatte. Und doch 
graufte ihm vor dem Schmerz, den er ihr bereiten 
follte, e8 war fogar hart genug für ihn jelbft. Aber 
fie, für die es unvermutet fam, die ihn nod mit 
derielben hingebenden 2eidenihaft, wie am erſten 
Tage, liebte — das fühlte er in jedem Kuß, jedem 
Wort, jedem Blid, diefem Blid, der ſich in den 
feinen ergoß, jo daß es unmöglich war, zu widerjtehen. 

Nein, er konnte fie nicht wieder in der Stube 
treffen, wo alle Erinnerungen mit ihr verknüpft 
waren und ihn über jeine Kräfte verloden mußten. 
Und nun, im nächſten Augenblid, würde fie hier jein 
mit ihrem Lächeln, ihren warmen Augen — nein, fie 
durfte heute nicht hierher fommen, wenn es geichehen 
jollte — und es follte geſchehen! 

Er jah nad) der Uhr. Ja, num war es an der 
Zeit. Im einer Minute oder zwei würde es zu 
fpät fein. 

Er nahm jeinen Hut und ging hinaus, 

Nur wenige Schritte und er begegnete ihr — er 
wäre beinahe an ihr vorbeigegangen. Sie war bicht 
verjchleiert und hatte einen langen, dicht ſchließenden 
Mantel an, den er nicht fannte. Derjelbe machte 
jie größer, und es war faft ſchon dunkel. Sie ergriff 
ihn am Arm und jagte leife lachend, als fürchtete fie, 
gehört zu werden : 

„Was, fennft du mich nicht mehr? Ja, ich bin 
auch beinahe verkleidet. Aber ed war jo kalt, dab 
ich in meine Winterfleider kroch — o, wie falt deine 
Hand ift — fomm, laß fie mid wärmen —*; aber 
er zog feine Hand zurüd: 

„Nein, nimm meinen Arm, wir wollen lieber ein 
Stüdchen gehen.” 

„Nicht nah Haufe zu dir? Aber — warum 
nit?" Es Hang überrajcht, enttäuſcht — und dann 
durchfuhr es fie mit eisfalter Angit, dad etwas nicht 
in Ordnung wäre, daß ihr etwas drohte, etwas, was 
fie ſchon die legten Male gleihjam in der Luft ge» 
ipürt hatte — aber was — mas? 

Er antwortete nicht. Sie legte den Arm in den 
ſeinigen, drüdte ihn an ſich und hielt ihn feit. Er 
fühlte die weiche Rundung der Bruft unter der Seide 
des Mantel® und wie ihr Herz jchlug, und hörte den 
bebenden Seufzer, ber ſich über ihre Lippen hervor- 
drängte. Aber e8 wirkte nicht auf ihm, oder er wollte 
es nicht auf ſich wirten laffen, wie es nur noch vor 
wenigen Wochen der fall geweien war. Nein, und 


el⸗Hanſen. 


tauſendmal nein! Er wollte ſtark fein, ruhig jein. 
Er nahm ummwillfürlih den Hut ab und lieh den 
Herbitwind über die Stirn Hinftreihen. Er mußte 
bejonnen fein, falt, wenn er num zu ihr reden jollte, 
aber ihm war zu Mut, als wäre er ein Mörder 
und fie das Opfer, dem er das Meſſer in die Kehle 
ftoßen jollte. 

Aber es mußte fein — alfo beſſer, ſchnell zuſtoßen! 
und ſo kam es kürzer und härter, als er gewollt hatte, 
ohne jede Einleitung: 

„Margarete — wir müſſen ſcheiden!“ 

Sie jah ihn beftürzt an: „Scheiden — warum? — 
was —?” 

Er ſah durch den Schleier, wie fie bleich wurde 
bis auf die Pippen. Es ſchnitt ihm ins Herz; aber 
nun mußte er fortfahren. 

Und er begann mit Umſchweifen, jo jchonend und 
zart er konnte, zu erflären, warum, Er müßte leben 
für jeine Kunſt, fönnte nicht gebunden fein, mühte 
hinaus, fort von hier, und etwas werden — fie hätte 
gejehen, wie e8 ben ganzen Sommer gegangen iar, 
nichts hatte er thun können — er wäre arm, follte 
leben, hätte nur jeine Kunſt und — 

Sie jeufzte tief auf, wie befreit, etwas Blut zeigte 
fi in ihren Wangen, 

O, war es weiter nichts — er wollte nur reijen! 
Sie legte ihre Wange an feinen Arm und flüfterte: 

„Geliebter, reife — reife — ih will auf did 
warten — und mid jehnen — und —" 

Nein, es wäre nicht nur das, fuhr er fort; fie 
müßten fcheiden für immer. Er wühte, Pflicht, Ehre, 
alles, wa3 einen Mann an eine frau binden lann, 
bände ihn an fie — aber — aber, fie hätten ein. 
ander gelobt — ob fie fid) deſſen nicht entjänne? — 
fich ehrlich zu jagen, wenn es bei einem von ihnen 
nicht weiterginge und — und nun wäre es ihm jo er- 
gangen, er fönnte nicht gebunden jein, ohne zu Grunde 
zu gehen. Wollte fie, fonnte fie das Opfer bringen 
und ihn frei geben? 

Sie verftand ihn nicht. Was fümmerte fie ih 
um Pflicht, Ehre und alles dad — ihre Liebe band 
fie aneinander, nichts weiter — wie oft war fie nicht 
gerade dadurd) jo glüdlich geweſen! 

„Sprid nicht vom Scheiden,” jagte jie, „ich fann 
es nicht. Ich will auf dich warten, ſolange es fein 
muß. Reiſe oder bleibe hier, ich werde nicht fommen 
und did ſtören — nicht nach dir jehen, bevor bu e# 
jelbft willft, aber — aber nicht jcheiden! Ich kann 
nicht leben ohne dich, ich kann nicht!” 

Es lag Ungeduld in feinem Ton, als er antwortete: 

„Das glaubt du jet, aber in kurzem —“ 

„Nein, nein, nein!” tönte es wie ein leijes Jam- 

mern. Gin unerträglider Schmerz ſchnürte ihr die 
Bruft zufammen, fie drüdte ſich feiter an ihn, ſchluch⸗ 
zend, ohne Thränen. 


Die Geſchichte eines jungen Mädchens, 


„Ra -— vielleicht? Dann bift du noch die Glück- 
lichere von uns, ba beine Liebe in dir lebt. Das 
Leben kann reich jein durch eine große Leidenſchaft, 
jelbft wenn —“ und dann kam e3 .mit plößlichem 
Ausbruch: „Aber ih — ih — o Margarete! Ich 
weiß, was ich jeßt thun jollte, wünſche von ganzem 
Herzen, ich Lönnte es thun. Und ich ſchwöre Dir, 
menn ich dich liebte, wie nur noch vor wenigen 
Wochen, dann — dann heirateten wir uns, obſchon 
ih glaube, ja ich weiß es, daß wir beide doch ums 
glüdlih werben würden. Wber jebt — o vergieb 
mir, wenn es hart Mingt, ich muß e8 dir jagen, 
jelbft wenn ich weiß, daß du darunter leibeft — aber 
in mir ift die Liebe erlofchen — oder im Begriff, zu 
erlöichen — und das ift meine Schuld — nur bie 
meine. Ich Habe zu viel verlangt — oder es iſt 
meine unglüdlihe Natur — niemals feft in etwas, 
niemals! Sieht du, ih bin einmal fo, daß, wenn 
du mich jeht zwängeft — und du fannft e8 thun — 
würde ich dic Hafen, während — Margarete, es ift 
wahr, jo niebrig und dumm es dir vorfommen wird 
— vermagſt du in dieſem Augenblid edelmütig und 
farf genug zu fein, mich freizugeben, werde ich dich 
bewundern, dich lieben wie eine Schweiter, eine 
Freundin, dir dankbar jein mein Leben lang für 
deinen Edelfinn — und — und — wenn Jahre ver 
gangen find und wir beibe uns beruhigt haben, 
fönnen wir ung wieberjehen als — ala gute freunde —* 

Es tam feine Antwort, nur dasſelbe leiſe jam— 
mernde Stöhnen. Hilflos, gebrochen ging fie an 
feiner Seite, ohne ein Wort, ohne Thränen, 

Ein inniges Mitleid mit ihr ergriff ihm, während 
ihn gleichzeitig ihr Schweigen reizte. Er fühlte jeht. 
ba alles gejagt war, mehr als jemald, wie weit er 
von ihr entfernt war, und Hatte doch Luſt, fie in 
den Arm zu nehmen, fie zu Fieblofen, zu küſſen, wie 
ein Kind, mit dem Bebürfniffe des Freundes, zu 
tröften. Aber er wagte e8 nicht, er fürdhtete, fie könnte 
ihn mißverjtehen. 

Er ſchwieg noch eine Weile, dann begann er wieder: 

„Margarete, du ſagſt nichts — du mußt mir eine 
Antwort geben.* 

Da ſchoß plöhlich ein jchrediicher Gedanke in ihm 
empor. Er beugte ſich zu ihr nieder und flüfterte 
ihr eine Frage ins Ohr. Sie jhüttelte energiſch 
verneinend ben Kopf, während ihr Geſicht einen ein- 
zigen Augenblid glühend rot wurde, Er jeufjte er- 
leihtert auf. „Margarete,” bat er eindringlich, faft 
zärtlich, „Tei mutig — id weiß ja, du haft Mut. 
Ih lann nicht von dir gehen, bevor du mir gejagt 
haft, daß du mich freigiebft. Du ſollſt es jelbft 
jagen! Bedenle, wie glüdlih wir geweſen find, du 
haft gefagt, ich hätte dich glücllich gemacht, aber wenn 
ih es num nicht länger ſein kann — Margarete, um 
bes Glüdes willen, das geweſen tft, antworte mir —“ 








709 


Mühevoll ftammelnd, als veriagte die Zunge ihr 
den Dienft, fagte fie mit ſeltſam ftarrer Ruhe: 

„Wenn bu mich nicht mehr liebit, dann — dann —“ 
aber dann brach ihre Stimme. Mit heilerem, un» 
ortifuliertem Laut drüdte fie fih an ihn, nahezu wie 
im Wahnfinn. Ein frampfhaftes Schluchzen erichüt« 
terte fie, jo daß fie faum flehen konnte. Er fühlte, 
wie jie wanfte, und wollte fie umfaſſen, aber fie ſtieß 
ihn wild von fi und flürzte davon, indem fie von 
ber einen Seite des Weges nach der andern taumelte. 

Er folgte ihr langſam nad) und behielt fie im 
Auge von Laterne zu Laterne in der öden, menſchen⸗ 
leeren Seitenallee, ſah ihre Geftalt im Licht herbor- 
fommen, mit dem Schatten unter den Bäumen zu— 
jammenfließen, von neuem auftauchen. An der Ede 
draußen an dem Hauptwege hielt eine Drofchke, 
er fah fie dem Kutſcher winken und einfteigen. 

Er fühlte ſich jo ſchuldbewußt, fo unglüdlih — 
wußte, daß dies lange, lange auf ihm laften würde. 
O, daß ber furze Schimmer von Glüd, den man 
fih in dieſem verfluchten Dajein ftahl, immer jo 
teuer bezahlt werden mußte! 

Und doch Hatte er recht gethan, war ehrlich ge= 
weien — ad, ehrlih! Aber wenn es nun feine 
Dauer hatte — umd was konnte er dafür, daß das 
nicht der iFall war! Es wäre ja für fie beide ein 
Unglüf geworden. Wenn fie nur hätte weinen 
lönnen! Dieje ftarre Stille, die über ihr lagerte, 
flößte ihm Angft ein. Sie hatte wie eine Nadht- 
wanblerin au&gejehen — er wuhte faum, ob fie recht 
gehört oder verſtanden hatte, was er ſagte — eines 
hatte jie verftanden, daß er fie nicht mehr liebte. 
Welcher Unmenſch er war, daß er es nicht that! Wenn 
er nur einen Troft für fie wühte, aber es gab ja 
feinen... Er mochte nicht nah Haufe gehen. Er 
ging zur Stadt, fehte fi in ein Cafe, ſchaute in 
die Zeitungen, begann mit einem Belannten zu 
plaudern, ohne zu willen, wovon fie jpradhen... 

In der Nacht padte er feinen Koffer; am Tage 
darauf reifte er nad) Italien, 


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„Das Fräulein ift zu Bett gegangen. Sie fam 
erft nad) Haufe, als es ſchon dumfel war, und hatte 
fol furchtbare Kopfihmerzen. Sie wollte ihre 
Schlafpulver nehmen und bat, nicht geftört zu wer« 
den —” erflärte das Stubenmäddhen auf die Frage 
der Etatärätin, die den ganzen Nachmittag bei Diivia 
zum Beſuch gewejen war. 

„Herr Gott, hat fie ſchon wieder Kopfichmerzen ? 
Sie ift doch jo lange davon frei geweſen! Das ift 
wirklich ein trauriges Erbe, das fie von mir be= 
fommen bat. Aber ihr helfen doch wenigitens bie 
Pulver, mir dagegen hilft nichts mehr — ad) Gott, 
ja! Na, bitten Sie den Herrn Etatsrat zum Thee!* 


nr 22 Dar Eidg en ERADTEe; * 
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710 Erna Juel-Hanjen. 


Aber Margarete war nicht im Bett. Sie lag 
in ihrem Zimmer auf dem Boden, noch mit Hut 
und Mantel, ganz platt am Boden, wie ein an» 
geſchoſſenes Tier, und wand ſich, ohne weinen zu fönnen, 

Sie litt jo unbefchreiblih, daf fie hie und da 
gleichſam abwehrend, wie zu etwas außer ihr bat: 
„Ad, wäre es doc) zu Ende, wäre e8 doch zu Ende!” 

Aber es nahm fein Ende. Stüdmweiie famen 
feine Worte gleihjam von draußen her und ver— 
wundeten fie wie mit giftigen Stacheln. Nun ver« 
ftand fie fie erft redht, und dann war es ihr, ala 
biutete fie aus Hundert Wunden, denn es jchlichen 
ſich Bilder und Erinnerungen aus ihrem Zujammen- 
leben hinein, immer die glüdlichften, und dann hätte 
fie vor Schmerz aufichreien können. Aber fie durfte 
nicht. Imftinktiv erftidte fie jeden Laut, damit nie 
mand fie hören ſollte. Unwillfürlih war fie auf 
ihrer Hut, voll Angſt vor jedem Schritt, der ſich 
näherte, vor jeder Thür, welche zufiel. 

Endlich hörte fie die murmelnden Stimmen der 
Eltern in der Schlafitube, und dann wurde alles 
ftil. Nun war fie vor Ueberrumpelung ficher. 

Dann fenkte ſich die Nacht über fie herab. Es 
wurde dunkler. Der rote Widerfchein der Gas- 
laternen draußen wurde zu grauſchwarzem Duntel. 
Sie richtete fi halb auf — ihr Körper that ihr 
vom Liegen auf dem harten Boden weh —, ſaß 
aufrecht da mit um die Kniee gefalteten Händen, 
und wiegte ſich Hin und ber, als brächte dieſe Be- 
wegung ihr eine gewiſſe Erleichterung. Sie wurbe 
immer ſchlaffer und jchlaffer, faft empfindungslos für 
alles andre, als das eine, was fie unaufhörlich 
wiederholte, daß es vorbei wäre — vorbei — vorbei! 

Dann erfafte fie ein neuer, noch heftigerer Parorys= 
mus, Cie flöhnte laut, rang die Hände und jchlug 
mit geballter Hand gegen die Bruft, als wollte fie 
daburd) den Schmerz da innen dämpfen; ihre Bruft 
war jo müde, jo müde von diefem unaufhörlidhen, 
peinlich jtöhnenden Schluchzen, das fie nicht zu unter- 
drüdfen vermochte. 

Das jhwarzgraue Dunkel draußen wurde grau, 
dann graulihweiß, dann ſchwach leuchtend — noch 
immer ſaß fie da. Mit flarren, thränenlojen Augen, 
die ſchmerzten und brannten, beobachtete fie die Ver— 
änderung draußen. 

Als es Hell zu werden begann und fie die Dinge 
um ſich ber unterſcheiden fonnte — war es, als wenn 
mit dem neuen Tag das volle Bewußtjein von dem, 
was fie verloren hatte, plößlich ihr Inneres mit 
einem Schmerz durdhbohrte, als follte fie Davon fterben. 

Ein halberftidter Schrei entrang ſich ihren Lippen, 
und in dem unwiberjtehlichen Drang nad) einer Stüte, 
nah Hilfe in ihrer Not kroch fie über den Boden 
bin zum Bett, drüdte das Geficht in die falten Kiffen, 
als wäre es eine menſchliche Bruft, und dann be= 


gannen die Thränen unaufhaltiam zu fliehen, bie fie 
infolge des frampfartigen Schmerzes in der Kehle 
und Bruft nicht Tänger konnte. 

Sie erhob fi und fuchte fi zu erinnern, wo 
fie ihre Schlafpulver hatte. Ja, da ftand die Schachtel 
auf dem Nachttiſch. 

Sie rührte das Pulver im Waſſer ein und trant 
die Frlüffigkeit aus, Dann warf fie fi) ins Bett, 

Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Der 
Krampf in der Bruft und Kehle, den das Opiat 
einen Augenblid gedämpft hatte, fam wieder. Nein, 
das wollte fie nicht Tänger ertragen. 

Sie nahm ein zweites Pulver. 

Da überfam jie ein bisher nicht gelanntes Wohl- 
behagen. Der Krampf hörte auf. Das ſeeliſche Leid 
blieb zwar, und fie vergaß nichts, aber es war gleid- 
fam außer ihr. Ein eigentümliches, riejelndes Ge 
fühl der Schwäde, das die Fähigkeit zu leiden be— 
täubte, ergriff fie. Sie ſank und janf gleichſam in 
ein weiches, Iinderndes Dunkel hinein. 

Da durchfuhr es plößlich ihren Sinn, daß fie 
gewiß zu viel Opium genommen hätte und daß dieſes 
der Tod wäre. Aber e& bereitete ihr feine Angjt — 
nur Frieden und Ruhe, denn dann war es ja vorbei 
— alles vorbei... 

Sie ſchlief. 


VII. 


Am nächſten Tage entſtand große Aufregung, 
als das Mädchen, das zivei-, dreimal an ihrem Bett 
gewejen war, nod) ſpät am Vormittag das Fräulein 
ſchlafend fand und fie nicht zu erweden vermochte. 

Sowohl Mama als Papa ftanden an ihrem Bett 
und verfuchten alle möglichen Mittel — aber ver 
gebens. Sie ſchlief noch immer, lag fo jeltfam fil 
da, und fajt falt bis hoch unter die Arme hinauf. 

Der Arzt wurde geholt. Er hob die Augenlider 
empor, die über die glasartigen, ſchlaffen Augen 
berabfielen, fühlte nach dem Puls, der nur ſchwach 
ſchlug, und wuhte nicht recht, was er dazu jagen 
jollte. Aber das Rätſel löſte fich bald. Er fand 
die beiden Papiere von den Pulvern, die fie ae 
nommen hatte. Durch die angeblidden Kopfſchmerzen 
am Tage vorher erflärte ſich alles. Aber die Schadhtel 
mit den Bulvern gab er Mama, um fie zu verwahren. 

Margarete jollten fie nur ſchlafen laſſen, dann 
ginge es ſchon von jelbjt vorüber. 

Den ganzen Tag und die Nacht hindurch Tag fie 
in jchlafartigem AZuftande da. Wenn Mama lam 
und fie etwas fragte oder Papa hineinſchlich, wie er 
es zu thun pflegte, wenn ihr etwas fehlte, und fie 
ftreichelte und ein paar ermunternde, liebloſende Worte 
ſagte, öffnete fie faum die Augen, fondern bat mur 
wimmernd oder in gereiztem Flüſtern, fie in Ruhe 
zu laſſen. 


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ze ee — 


Die Gejhichte eines jungen Mädchens, 


Sie wollte jhlafen. Solange litt jie wenigftens 
nicht — und dann träumte fie die jeligjten Träume, 
Als fie am Tage darauf zum Bewußtjein fam, 


war fie noch jo jchlaff und matt, dab es ihr jhon | 


eine Qual bereitete, wenn fie nur die Hand oder den 
Fuß bewegen mußte. Und dann war e3, al$ wenn ihr 
Herz und ihr Gehirn leer wäre. Sie konnte und wollte 
nicht denken, fie bemühte ſich, die Schlaffheit jo lange 
wie möglich befichen zu laffen, und jchob alles von 
ſich, was fie an das Leid erinnerte, das in ihrem 
Innern gleich einer Kohlenglut brannte. 

Ein paar Tage vergingen. Aber daun meinte 
fie, der Arzt, der ein alter Freund des Haufe war 
und fie von flein auf fannte, ‚begänne fie mit bes 
denkfich forfchenden Hugen zu betrachten, und er ftellte 
fo viele unbehaglich anzügliche Fragen, die fie be— 
unruhigten, Bejonders als jie ein paar Worte auf- 
ihnappte, die er im andern Zimmer zu ihrem 
Vater fagte, da fie glaubten, fie ſchliefe. Was ihr 
fehlte, wäre ein ſeeliſches Leid — ob fie nicht Herzens⸗ 
fummer hätte? 


Da durchzuckte fie eine entjegliche Angft, ihr Ge- | 


heimnis würde entdedt werden, und dies erjchien ihr 
in dieſem Wugenblid als das Fürchterlichſte von 
allem. Dann wollte fie tauſendmal lieber fterben. 

Nein, fie mußte fih zufammennehmen, geſund 
ericheinen. Aber Gott, wie jchwer war das! 

Sie konnte auch Papas betrübte Augen nicht er— 
tragen. Es lag immer eine befümmerte Frage 
in ihnen; aber jie wollte nicht gefragt werben. Denn 
er hatte begonnen, von Möller zu reden, und dab nun 
bald von ihm ein Brief fommen müßte. Während 
fie frant lag, hätten fie ein Telegramm von ihm 
befommen, das feine Ankunft in London meldete, und 
er würde bald von dort aus jchreiben. 

Sie merkte wohl, dab Papa meinte, fie jehme ſich 
nad ihm, und fie ließ ihn in dem Glauben, obſchon 
fie hätte laut auffchreien mögen, wenn fie nur jeinen 
Namen nannten, 

Ja, einet Tages — fie hatte zufällig in einer 
Zeitung gelefen, daß der Maler Otto Krog, deſſen 
talentvolle Bilder im Frühjahr jo großes Auffehen 
erregten, eine Stubienreife nad) Italien unternommen 
hätte — hatte Papa fie in ihrem Zimmer überrafcht, 
two fie zu Boden gejunfen war und krampfhaft 
ſchluchzend, wie in jener erften Nacht, mit dem Kopf 
auf den Seidenliſſen der Chaifelongue lag. Und da 
hatte er fie in die Arme genommen und jie jo liebe— 


voll und zärtlich ausgefragt, daß ihr war, als follte | 


ihr das Herz brechen, und fie kam ſich jo ſchlecht und 
erbärmlich vor, weil fie feine Frage bejaht hatte, ob 
fie fih nah Möller bangte und deshalb meinte, 
Aber fie durfte ja nichts andres jagen, denn begann 
fie erft mit Geſtändniſſen, ad), dann mußten fie ja 
dafinter fommen, dab — 


711 


Jeden Augenblid glaubte fie, nun wäre fie ent« 
ı dedt. Am Tage ging ed noch. Dann war die An« 
ſtrengung, gleihgültig oder lebhaft und vergnügt zu 
ericheinen, jo groß, daß fie alles andre verichlang. 
Am Abend blieb fie jo lange wie möglich fihen, 
und veranlaite Papa und Mama, lange über ihre 
| jonftige Zeit zum Schlafengehen wach zu bleiben. 
| Sie fünnte nicht fo jrüh einſchlafen, fagte fie, und 
es wäre jo langweilig, dort drinnen jo allein zu 
liegen, Mama verzog ji) zuerſt — fie müßte zu 
vernünftiger Zeit ins Bett, da fie ſonſt fiher Kopf« 
ihmerzen befäme, und dann blieb Papa auf und 
leijtete Margarete Gejellfchaft, oder fie jpielten Schadh, 
Bartie um Partie, bis weit in die Nacht hinein, 
Aber die Nächte — o, diefe Nähte! Ruhelos 
ging fie im Zimmer auf und ab oder lag auf ber 
Chaiſelongue mit offenen Augen, weil die Sehnſucht 
und der jeelenzerreißende Schmerz ihr feine Ruhe ließ. 
Hätte fie ihn doch nur Hafen können, ihm alles 
Unglüd wünſchen, ihn wegen feines Wankelmutes 
verachten! — aber jie fonnte nicht — alles ertrant 
in dem verzehrenden Gefühl des Vermifjens umd der 
nagenden Leere. 





VII. 


Drei Wochen vergingen, dann fam ein Brief 
von Möller; er war an ihren Vater adrejfiert. Darin 
lag aud) einer für fie. 

Papas Hände bebten, und er hatte Thränen in 
ben Hugen, als er, nachdem er den Brief gelejen 
hatte, ihn in die Höhe hielt und triumpbhierend ausrief: 

„Hier ift Medizin, die unjern Zipfel furieren ſoll!“ 

Er hatte ganz im geheimen feinem zulünftigen 
Schmwiegerjohn einen, wie er meinte, ungeheuer diplo= 
matiſchen Brief geihidt, in dem er ihn übrigens ziem⸗ 
lich peremtoriſch bat, jein langes Schweigen zu erflären 
und jeine Abfichten gegenüber Margareten Harzuftellen, 

Der Brief hatte augenjheinlih auf den Herrn 
Doltor Eindrud gemadt. Die Abfichten ſchienen im 
jedem Fall ganz gute zu fein. Er entſchuldigte ſich 
wegen feines langen Schweigens, das feinen Grund 
darin gehabt hätte, dab er feine Arbeiten ſchneller 
zum Abſchluß bringen mußte, als er berechnet hatte, 
infolge des Umſtandes, dab ihm eine außerordentlich 
ehrenvolle und gut bejoldete Stellung in Kopenhagen 
angeboten wäre, die feine Zukunft ficherftellte. 

Und dann folgte ein höchſt forrelter Heirats— 
antrag für Margarete an den Papa, jowie die Bitte, 
die Hochzeit auf einen von Margarete näher zu be= 
flimmenden Tag in Kürze feftzufehen. Es wäre für 
in nämlid von Wichtigfeit, feine häuslichen An— 
gelegenheiten geordnet zu haben, bevor er jeine Stel« 
lung anträte. Und endlich fündigte er jeine Rückkehr in 
‚ wenigen Tagen an. Der Brief an Margarete ent 

bielt in etwas weniger umftändlichen Ausdrüden eine 
‚ ähnliche Bitte, 





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712 Erna Juel-Hanſen. 


Mama vergoß die üblichen Thränen und fing 
ſogleich an, von der Ausſteuer zu reden. Papa 
ſchimpfte im ſtillen über dieſen Eſel von Schtwieger« 
ſohn, der nicht einmal einen ordentlichen Liebesbrief 
ſchreiben könnte, wenn er die Braut bat, den Hoch- 
zeitstag zu beftimmen. Margarete wurde ohnmädhtig. 

Aber Papa ſowohl ald Mama glaubten, es ge- 
ichehe vor freude. Das wäre die Ueberraſchung, 
fagte fie, als fie fich wieder erholt hatte. Den ganzen 
Tag war fie jcheinbar froh, obſchon jehr ftill, und 
fie umarmte Papa einmal nad) dem andern und 
fühte Mama, als fie zu Bett ging, fo liebevoll, daß 
Mama wieder zu weinen begann. 

Aber in diefer Naht beſchloß Margarete, zu 
fterben. Sie jah keinen andern Ausweg. Sie fonnte 
nicht nod) mehr leiden, und das, was nun bevorftand 
— nein, jo ſchwer konnte es nicht fein, zu fterben. 
Hätte fie ihre Pulver bei der Hand gehabt, jo hätte 
fie fie glei genommen — vier, fünf auf einmal, 
dann wäre gleich alles vorbei geweien. 

Aber wie ſich den Tod verihaffen, ohne daß es 
allzu weh that? Dann fiel ihr ein, von jemand gehört 
zu haben, es wäre ein leichter Tod, fi zu er- 
tränfen. 

Sie fand eine eigentümliche Ruhe in dem Ge— 
danfen, dab alles jo bald vorbei fein fönnte, Leid, 
Angſt, alles — fie dachte an nichts weiter, nicht 
an die Trauer der Eltern, fie zu verlieren, nicht 
daran, daß fie fie niemals wiederjehen würde, an 
nichts weiter, als daß es leichter wäre, zu fterben 
als zu leben, und dann, da fie dadurd) allem ent» 
ſchlüpfte. Ihre religiöfen Vorftellungen war fie ſämt- 
lich ſchon feit langem los. Der Tod ijt der Tod, 
ſagte fie zu fich ſelbſt. Er giebt Frieden. 

Sie war faft ganz froh in den paar Tagen, die 
fie ſich Frift gewährte. Sie meinte, ohne zu wiflen 
warum, Möller könnte früheftens am Sonnabend 
eintreffen — jo hatte fie noch Donnerstag und Frei⸗ 
tag übrig, um gegen Mama und Papa gut und 
liebevoll zu fein, und fie wich nicht von ihrer Seite. 

Sie follten eine gute Erinnerung an fie zurüd« 
behalten, dachte fie — oder eigentlich, fie dachte es 
nicht; aber es lag in ihr, daß fie jo fein mußte, Es 
ruhte etwas Feierliches über ihr, das fühlten fie. 
Aber fie ſchrieben e8 der Freude über Möllers Heim- 
fehr zu, der jeden Tag erwartet werden konnte. Es 
waren zwei faft glüdliche Tage, dünfte ihr. Sie 
fchlief des Nachts, und aud) am Tage war eine Art 
Frieden über fie gelommen. 

Freitag nahmittag, nachdem fie gegeſſen hatte, 
ſchlich fie fi fort, während Mama bei Olivia und 
Papa auf einer VBerfammlung war. Sie jagte nicht 
adieu; num, da der Augenblid jo nahe war, fonnte 
fie es nicht, fie fühlte ihren Mut ſchwinden. 

Sie ging hinaus zur Lazarettbrüde. 





Es war ein milder, grauer Oftobertag mit leichtem 
Winde, der in ſchwachem Hauch über das Waſſer ſirich 

Sie ging über die Brüde und ſuchte einen pafien- 
den Plaf. Weit draußen war es ganz leer von Men 
ſchen. Sie hatte Angſt; aber e8 wäre nicht jchlimmer, 
meinte fie, al$ wenn fie im Sommer zum erftenmal 
ins Seebad jollte, 

Am Bollwerk lag ein Stapel Tonnen, mit einer 
ſchwarzen Plane zugededt. Dort würde fie gut ver- 
borgen fein. Sie trat hinter denjelben. Es war 
gerade Plaf genug, daß fie dort ftehen konnte, und 
fie lehnte fidh über das Bollwerk hinaus, Graugrün, 
undurhfichtig Hof das Wafler dort unten hinaus mit 
raſchem Strom und mit weichem, gludjendem Laut, 
wie gegen die Seiten eines Bootes. Ein munderlih 
ſchwindeliges Gefühl ergriff fie; es war, als wenn 
etwas von dort unten nad) ihr emporlangte. Sie 
lehnte ſich weiter hinaus und hatte die Empfindung, 
ala würde ihr Kopf jo ſchwer — oder leicht, jie 
wuhte nicht recht, was, und dann überfam fie eine 
Luft, die immer ftärfer wurde, je länger fie ins 
Waſſer hinabblidte, fih im den riefelnden Strom 
binabzulafjen. Wie ſeltſam es dort unten leuchtet — 
wenn fie nur Mut hätte faſſen fönnen! Nur einen 
Sprung, dann war es vorbei! 

Nein, nicht hinunterfpringen — gleiten, gleiten 
— dort war die Stelle — auf den Ballen dort 
längs der Wafjerflähe konnte fie den Fuß jegen — 
aber wie war das? Kam man auch nicht wieder 
empor? Hu, nein, nicht wieder hinauf — dafür 
mußte man jorgen ! 

Sie jah ih um. Ein Stüd von ihr entfernt 
lag ein Meines Branntweinfaß mit einem Stüd 
eiferner Fette daran. Sie hob e8 empor. Es war 
ſchwer. Wenn fie das an ihrem Gürtel befeftigte, 
fam fie nicht wieder hinauf. Dann hinaus über das 
Bollwerk, vorſichtig — die Füße auf den Balken 
dort unten — hodend — und dann ganz bormüber, 
dad Geficht jo nahe dem Wafjer wie möglich, ein 
Saufen vor den Ohren, ein Brodeln und dann — hu! 
Es war, als fühlte fie bereits das kalte Waſſer eifig 
um die Glieder und den jalzigen Gef hmad im Munde. 

Schnell hob fie den Kopf empor, die Brüde, das 
Bollwerk, die Häufer und Schiffe, alles wogte vor 
ihren Augen. Sie bebte am ganzen Körper und 
beeilte fi, dem Waſſer den Rüden zu fehren. 

Nein, nein, nein — fie fonnte nicht, fie wagte 
es nicht. Es war allzu ſchrecklich — nicht das Sterben, 
aber das Wafler und die Angit, bis es vorüber war 
— ad Gott, fie durfte, fie fonnte doch nicht leben! 

Möller fam am nächften Tage nod nicht, umd 
fie ging wieder hinaus, ficher, daf fie es heute wagen 
würde. Das Waſſer zog fie gleichſam, folange fie ei 
nicht jah, aber als fie dort ftand und hinumterbfidte, 
fam es ihr vor, al& wäre das ganze nur Lüge und 


! by (sOHgle 


⸗ 





Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 713 


Spiegelfechterei. Sie hatte fich gewiß gar nicht er= 
tränfen wollen, hatte es nicht im Emft gemeint, 
jo feig und jämmerlich war fie — nicht einmal das 
war wahr, daß fie es gewollt hatte. 

O, wenn fie einer hinuntergeftoßen hätte, fie hin— 
ausgeworfen — denn was jollte fie tun? Wie einen 
Ausweg finden, und wie leben — wenn leben fidh 
verheiraten hieß — und mit Möller — das Tonnte 
nicht gejchehen — oder konnte es doh? Ein Chaos 
von Borftellungen und Gedanfen durchwirbelte für 
einen Augenblid ihren Sinn, fie fonnte fich nicht Mar 
werden darüber, aber alles jammelte fich in einer 
tiefen, alles verichlingenden Verzweiflung, die feine 
Ihränen, feinen andern Ausdruck hatte, jondern es 
war nur, als fühlte fie ji) von einer Hand ergriffen, 
die alles in ihr zerdrüdte und zerfchmetterte — ad 
Gott, wie unglüdlih und elend fie war, und mas 
ſollte aus ihr werben — nirgends ein Nat, nirgends 
ein Trojt ? 

Dann fam «8 erſt wie ein Einfall, den fie von 
fi jagte, daß fie alles ihrem Vater jagen müßte, 
ihn um Vergebung bitten, bis er fie ihr gewährte, 
Und bei diefem Gedanken, vor dem fie früher zurüd» 
geihaudert war, war es ihr, als löfte ſich ber er- 
fidende Drud, obwohl die Angft um das Gefländbnis 
ſelbſt ſie bereits fchüttelte — aber nein, fie fonnte es 
nicht — wie follte fie das fünnen? 

Langſam ging fie nach Haufe, mit fidh jelbft 
tingend — fehrte um, viele Male — und ging wieder. 

Und allmählich wurde der Beſchluß bei ihr immer 
iefter, fie fand ihn immer weniger unvernünftig. Ein 
Gtfühl des Troftes überfam fie. Sie genof gleihjam 
im voraus die Ruhe, die fie haben würde, wenn fie 
es geſagt hatte. Sie lernte auswendig, was fie jagen 
wollte, fie glaubte zu hören, was Papa antworten 
würde, fie fühlte, wie es jchließlich fein würde, wenn 
fie an feinem Halſe hing und er fie fühte — und 
dann — ja, dann würden fie weit fortreiſen — 
Mama würde nicmal3 etwas davon erfahren, und 
Möller würde fie nie mehr wiederiehen — o, es 
würde fie dann ein himmliſcher Friede überlommen — 

Sie ſchritt rafcher zu, das letzte Stüd des Weges 
lief fie beinahe. Sie fam fich ſelbſt erhaben und groß 
vor. Es gärte in ihr von hohen Gedanken und 
weichen Regungen. Ein neuer und beiferer Menſch 
wolte fie werden, immer gut und wahr fein, und 
Mama wollte fie lieben wie niemals früher. Die 
Thränen liefen ihr bei dem Gedanken über die 
Dangen herab, und obſchon fie fo von Angſt erfüllt 
wurde, daß ihre Hände fo falt wie Eis waren und 
ihre Lippen zitterten, war es ihr doch, ala ob der 
Annaplaß gar fein Ende nehmen wollte, — jo eilte 
fie nach Haufe. 

Sie ging gleich direfi in ihr Zimmer, warf Hut 
und Mantel ab, ließ ſich nicht einmal die Zeit, ihre 

Aus fremden Zungen, 1897, IL 16, 








Handſchuhe abzuziehen, fondern Tief ſogleich durch 
die Stuben in Papas Zimmer hinein. 

Es war noch dunfel in demfelben; aber er jtand 
gerabe dicht bei der Thür, als hätte er fie lommen 
gehört und wäre ihr entgegengegangen. Mit halb 
erſticktem Ausruf warf fie ſich an feinen Hals, wäh- 
rend die Thränen ihr aus den Augen flürzten, und 
fie vermochte nichts weiter zu jagen, als ſchluchzend: 

„D Papa — ih — id —“ 

Papa ftrich ihr über die Wange hin, küßte jie 
zärtlich, lachte ein wenig und trug fie faft ein Stüd 
ins Zimmer hinein, wo er fie in ein Paar andrer 
Arme legte. 

Fin bärtiges Gejiht fam dem ihrigen nahe, 
fie fühlte einen Kuß auf ihrer Stirn — fie ſchrie 
laut auf und wollte ſich losreißen. Aber die Arme, 
die fie jefihielten, waren flarf, und eine Stimme, Die 
fie fannte, fagte ruhig und jeit: 

„Du brauchſt nicht zu erjchreden, ich bin es, 
Henning Möller — dein — bein Bräutigam —* 

„Na — war dad midi eine Ueberraſchung?“ 
hörte fie Papa jagen, ein wenig jchnaufend, als wäre 
er gerührt. 

Ja, das war eine Ueberraſchung! 

Sie wußte nicht, was über fie gelommen war; 
aber fie vermochte ſich nicht loszureißen aus dieſem 
Arm, der fie jo feſt hielt, hatte faum den Willen 
dazu. Sprachlos, betäubt blieb fie ftehen — jeder 
Gedanke, etwas zu jagen, war fortgejcheudt von 
Angft, Scham und einem qualvollen Gefühl der 
Mutlofigkeit gegenüber dem, was fie num ihr Schidjal 
nannte. 

Un diefem Abend fagte fie nichts. 

Möller war lebhafter als font. Er erzählte 
langes und breites von feinen Erlebniffen und war 
förmlich galant gegen fie. Einen ganzen Koffer voll 
grönländiicher Raritäten hätte er für fie mitgebracht, 
und fie nahm fowohl diefe als feine Galanterien an. 
Und dann in der raftlofen Geichäftigfeit, die nun 
folgte durch den Einfauf der Ausſteuer und die Hoch— 
zeitsvorbereitungen, wo fie bei allem mit dabei war 
und zu allem ja jagte, wurde ihr Gehim ganz ger 
lähmt, obſchon fie jeden Tag dachte, daß fie es mor⸗ 
gen jagen wollte, um fi von dem ſchlimmſten Un— 
glüd, der Heirat mit Möller, zu befreien. 

Schließlich gab fie den Gedanken, es ſelbſt zu 
thun, auf und wartete, daß von außen her geſchehen 
möchte, was ihr helfen könnte; aber es geſchah 
nichts. 

Und drei Wochen ſpäter war große Hochzeit bei 
Etatsrat Holms. Margarete in weißem Atlasfleid, 
Kranz und Schleier wurde an biefem Tage dem 
Dr. phil. Henning Möller angetraut. Paftor Schou 
hielt die Traurede, und diesmal waren auch alle 
jungen Familienangehörigen mit dabei. 

90 





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Verbaftet. 


WW, G. van Nouhunis. 
Aus dem Holländiſchen überſetzt von Anna Herbfl. 


„Schenten Se mir 'n Gent, liebes Herrchen, 
bitte, bitte!” 

Der Herr ſchaute nicht einmal auf, jondern eilte, 
den Kragen jeines diden Ueberziehers body in die 
Höhe geichlagen, raſch weiter. 

Klagend fuhr der ſcharſe Oftwind zwiſchen den 
fablen Baumäſten durh, dann und warın eine mit 
vereinzelten dürren Blättern vermiſchte Staubwolte 
in die Stadt hineimjagend. 

68 war ſechs Uhr, kalt, ein büfterer FFebruar- 
abend, der Himmel fahlgrau, baldigen Schnee ver« 
fündend. 

Sepp ſah dem Davonfchreitenden nad, gudte 
nod) einmal in der öden Einjamkeit des Parls nad) 
rechts und linfs, ſchaute dann die Parkſtraße hin« 


unter, wo er weit, weit in der fyerne eine Gaslaterne 


unruhig fladern ſah, lief trippelnd ein Weilchen hin 
und ber, zog den Schirm feiner zerrifjenen Mühe 


tiefer in die Stirn, jo daß ein Büſchel wirren Haares | 


ſich durch die Oeffnung emporfträubte, blies ſich in 
die Hände, jtedte fie dann wieder, fie feit an jeine 
mageren Schentel drüdend, in die Hoſentaſchen und 
ſchlenderte langjam der Stadt zu. 

Heute gab's doch nichts mehr. Seit zwei Uhr 
hatte er zähneflappernd dageitanden, uyd was war 
das Refultat? — Bier Cents. 

Faſt hatte er das Streichholzſchächtelchen mit den 
erſtarrten Händen nicht mehr feitzuhalten vermocht. 
Umd je fälter es wurde, deſto ſchlechter gingen die 
Geſchäfte. Es war dem Leuten ſchon zuviel, ftehen 
zu bleiben und in die Tafche zu greifen. Als ob's 
ihn nicht erft recht fror!... Umd der magere Junge, 
dem der Wind eifig durch die abgetragenen Kleider 
fuhr, drüdte die Arme dicht an den Leib. 

Vier Cents — wie durfte er wagen, damit nad) 
Haufe zu fommen?... Das würde was geben — fie 
würde ſchön wütend fein! Roja war nach der andern 
Seite geichict, nach Tivoli — da würde wohl auch fein 
Reichtum zu holen geweſen fein. Jedes von ihnen mußte 
mindeſtens zwei dubbeltjes *) erbetteln — mindeftens 
— denn jonit!... Nod fah er feine Mutter, mit 





*) Doppelftüber, 10 Gents = 17—18 Pfennige. 



























der Fauſt drohend, daftehen. Nun ja — mas macht 
er fi draus? Schlug fie, fo jchlug er wieder... 
feinetwegen konnte fie... Der Vater würde mel 
aus jein, und wenn nicht, jo ja er doch nur ftumpis 
finnig dabei. Wenn der etwa auch anfing, dam 
machte er e& wie Dirf, der voriges Jahr fortgelaufen 
war... Von dem Alten lieh er fich ein für alleme! 
nichts gefallen. 
Das Nergfte aber war, wenn fie ihm nidhts mehr 
zu eſſen gab. Und er hatte jolden Hunger. .. Ihn 
überlief es kalt bei dem Gedanken an das Aümme- 
hen unter dem Dach, wo er unter ein paar alken 
Lumpen, auf einem Stüd fadenſcheinigen Teppiht 
fein Lager hatte; — adj, da war's fo bitter lalt — 
die Dachpfannen ſchloſſen nicht, er fonnte den Hinmd 
durchſchimmern jehen — und wenn er Hunger hatt, 
fonnte er ſchon gar nicht ſchlafen. 
Jeht fteht er, an einen Laternenpfahl gelehnt, nor 
einem großen Haufe, vor dem ein Wagen hält. Du 
Kutſcher mit feinem großen Pelzkragen ſiht auf dem 
Bod, und da ſich eben die Hausthür aufthut, deh 
ı der Diener devot den Kutſchenſchlag offen. Au: 
einer jchön gemalten Vorhalle fällt rofiges Licht anf 
die Straße. Damenftimmen lafjen ſich aus dem 
Korridor vernehmen. 
„Nimm dich in acht, Mama, geh nicht an die 
Thür, es ift kalt!” 
„sit Heinrich warın genug eingehüllt?“ 
„a, gewiß !* 
Eine dicht verfhleierte, in einen großen Mantel 
gehüllte Dame und ein Knabe von etwa acht Jahren, 
in langem Weberzieher, jteigen raſch in die Equipegt 
ein. Der Schlag fällt zu, flin klettert der Diener 
auf feinen Plaf, und fort rafjelt es. 
Gleichgültig [haut Sepp dem Fuhrwerl nad, dann 
läuft er hinter zwei Herren ber, die in lebhaſter Unter: 
haltung vorwärts jchreiten. Der eine hat eine harte, in 
| der ftillen Straße unangenehm wiederhallende Stimmt. 
„Nen Eent, bitte — kaufen Sie mir 'ne Schadtel 
Streichhölzchen ab!* 
Die Herren hören nichts. 
„Ad, bitte, bitte — 's ift fo alt, und id hab’ 
jo großen Hunger.” 





Verhaftet. 


Mit ausgeſtreckter Hand läuft er neben ihnen ber. 

‚Willſt du gleih machen, daß du fortfommit, | 
oder ich laſſ' Dich arretieren!“ jchreit ihn der mit der 
Knarrftimme an, offenbar über bie Unterbrechung 
ihres wichtigen Geipräches geärgert, 

Sepp biegt um die Ede und geht nun zwiſchen 
jehr hohen Gebäuden durch eine breite, vornchme | 
Strafe. Aus den Souterrains, too hinter den Eijen« 
gittern die Fenſter meift offen jtehen, fieigt die warme | 





Küchenluft in die Höhe. Der arme Junge zicht die | 
Speiſegerüche ein, pridelnde, appetiterregende Düfte 
von ihm unbelannten ledern Gerichten. Er zittert | 
vor Hunger, vor Gier und fauert fi vor einem 
Kücenfenfter nieder. Die Wärme ift jo köſtlich, daß 
er fich jo dicht wie möglich an die Eijenftäbe drängt. 
Aber es dauert nicht lange, da wird ihm übel; er 
fängt an zu gähnen, jold ein leeres Gefühl hat er 
im Leibe, — zu gähnen, bis ibm die Hinnbaden wehe 
thun. 

„Hören Sie, Freileinchen, haben Sie nich ’n biß— 
hen Eſſen für mid?” ruft er bittend hinein. 

Eins der Mädchen ſchaut erichredt von dem 
Küchentifch auf, wo fie eben befchäftigt ift, eine Schüfjel 
anzurichten. 

„Abſcheulicher Bengel — wie haft du mich er— 
ichredt !” 

„Ad, bitte, Freileinchen, nur ein bikchen was zu 
eljen !” 

„Nein, das giebt’ nicht. 
fangen wollt’, hätt’ ich viel zu thun. 
du weitertommſt.“ 

„Aber Sie — es koſt' Sie dod) nir.” 

„Hörft du, Dina? So 'n frecher Bengel!.. .* 

Und zu dem Hausknecht, der eben, ein Kleines 
Mindipiel auf dem Arm, in die Küche tritt: 

„Ah, Peter, jagen Sie doc mal den Bettel. 
jungen vom Fenſter weg.“ 

„Gleich, glei," jagt Peter, „ich muß nur erft 
für Beauty jürgen.“ 

Vorſichtig Teht er das Hündchen auf den Boden, 
welches ihn munter umfpringt, umd ſchiebt ihm eine 
Schale mit Efien hin. Schnüflelnd ftedt das Tier- 
hen jein feines Schnäuzchen hinein, dreht fich um 
und frippelt wieder zur Küche hinaus. 

Der Haustnedht ift Dicht an das Fenſtergilter ges 
treten und ficht Sepp an. 

„Willſt wohl auf die Wache, was?” 

„Beben Sie mir was zu eſſen — bitte! Nur das 
da, was der Hund nicht frefien will... .* 

„Nein — hier wird nichts zu effen gegeben. Geh 
aufs Armenamt,.. Marſch, fort — flint!* 

Sepp ſchaut dem Hausknecht in das rote Geficht 
und ſteckt mit der ganzen Ungezogenheit des Strafen 


Wenn id damit an« 
Mach, daß 





jungen die Zunge heraus. 
„Marſch! Fort! jag’ ich dir ...“ 


715 


Der Junge grinft boshaft. 

„Ra, ſolch freien Rader hab’ ich doch mein Leb⸗ 
tag’ wicht geſeh'n! — Wart, ich fomm’ dir hin... .* 

Und vor Wut dunkelrot, eilt der Hausknecht nad) 


| der Küchenthür. 


Doch Sepp wartet ihn nicht ab, ſondern läuft 
ein Endchen weiter, fi) noch einmal nad) dem Diener 


umſchauend, der fluchend vor der Thür fteht und 


ihm mit ber erhobenen Fauſt droht. 

Jept gelangt der Bettelfunge in eine weniger 
vomehme Straße und bleibt vor einem Bäderladen 
ftehen. Hell von den Gasflammen beleuchtet, liegen, 
verführerisch mit der hell- oder dunfelbraunen Krufte 
lodend, einige Reihen Brote im Fenſter. Auf dem 
Ladentiſche ftehen flache, vieredige Körbchen mit 
Brötchen. 

Welche Berlodung! Sepp denkt noch an das viele 
Efien in der föftlich warmen Küche und ſteht zähne- 
flappernd in dem falten Wind, fich in feinen dünnen 
ſtleidern an dem breiten Schaufenjter reibend. 

Wenn er ein paar Brötchen laufte? Dann würde 
er feinen Gent heimbringen und ſicher heilloje Prügel 
friegen; aber brachte er nur vier Gents nad) Haufe, 
jo war's auch nicht recht, und er befam vielleicht 
nichts zu eſſen. Und noch länger konnte er e& vor 
Hunger nicht aushalten. Nun denn, vorwärts! 

Die Thür ift nur angelehnt — die Bode läutet 
nicht, als er ben Laden betritt. 

Er ift allein, ganz allein, und um ihn ber — 
pon dem warmen Brot — eine jchwere, flaue Luſt. 

Kommt denn niemand ? 

Er ſchaut ſich Taufchend um. In dem Raum 
hinter dem Laden ift es ſtill. Ob dort jemand iſt? 

Er klopft mit dem Fuß auf den Boden. Alles 
bleibt ftill. Doch hinten im Haufe, in dem langen 
Gang, hört er Stimmen — eine feifende Frauen» 
flimme und grobe Worte von einem Manne, 

Auf eiher Bant an der Wand regt ſich's — 
— langjam erhebt jich eine dide Habe, macht einen 
Budel, gähnt, ſtredt fi auf allen vieren, ſpringt 
herunter und jchleiht ins Hinterzimmer, wo alles 
ftill bleibt. 

Auf allen Seiten Brot — marmes, duftiges 
Brot, in Stapeln und Reihen. Und dicht vor ihm 


| auf dem Ladentiſch all das fleine Gebäd,.. Aber 


jo ein großes Brot — wenn er das hätte! 

Pıöglich bleiben feine Augen auf einem Weizen. 
brot mit glänzend brauner Kruſte haften — eine 
wilde Gier erwacht in ihm, von Selunde zu Sehunde 
an Heftigfeit zunehmend, 

Er ſchaut Hinaus auf die Straße — alles ift 
ſtillz im Hinterhaus hört man nod immer die ganfen- 
ben Stinmen. 

Seine Hand läßt die Cents in der Tajche los — 
noch einmal ſchaut er ih um — dann ein Griff 





716 W. 6. dan Nouhuys. — Berhaftet. 


nad dem Brot — ein Sprung zur Thür, die num, 
bei dem haftigen Aufreißen, die Glode laut erſchallen 
läßt — dann ſchleicht er, das Brot feft an ſich 
drückend, jchnell längs den Häuſern dahin. 

Noch ift er micht zwei Häufer weiter, da hört er 
jemand hinter fi und fühlt eine Hand im Naden. 

Hübſch geftohlen,“ brummt eine Stimme. 

Sofort läht Sepp das Brot fallen und ſtößt es 
mit dem Fuße Hinter fich. 

„Nein, das hilft dir nichts, heb's nur wieder 
auf,* jagt der Schuhmann, „Ich hab’ alles gejehn 
— did wollen wir jchon kriegen. Und nun marſch 
— vorwärts!” 

„Ad, bitte, laſſen Sie mid los, befter Herr 
Kommifiarius — meine Mutter wird's ehrlich be= 
zahlen!“ jammert der Junge. 

„Mad; keine Geſchichten, vorwärts!“ brummt ber 
Volizift, ihn beim Aermel padend. 

So geben fie ein paar Straßen weit — die 
Vorübergehenden ſehen ihnen neugierig nach — ab 
und zu macht Sepp eine vergeblihe Anftrengung, 
den Mann zu erweichen — bis fie zu einer Polizei⸗ 
wache gelangen. 

Der Junge wird in ein Meines, warmes Zimmer 
geihoben, wo ein andrer Polizift unter einer Gas- 
lampe jeine Zeitung lief. Der Beamte jchaut auf. 

„Was haben Sie da mitgebracht?“ 

„Der Schlingel hat in der Koorftraat ein Brot 
ftibigt.“ ; 

„So! Leg’s bier her, du Taugenichts!“ 

Er wirst Sepp einen firengen Blid zu und fährt 
in feiner Lektüre fort. Die behaglihe Ofenwärme 
giebt dem Heinen Naum etwas Traulidhes, was den 
Jungen angenehm anmutet. Mit größter Gemütsruhe 
betrachtet er alles: die verräucherte Dede, den braun 
geftrichenen Tiſch, das gleichfalls braune Täfelwerf und 
endlich die beiden Beamten, deren Uniformfnöpfe im 
Lichte funkeln. Der am Tiſch fihende Polizift hat 
auf dem fahl werdenden Schädel nur noch wenig 
dünnes ſchwarzes Haar, dafür aber einen flattlichen 
ihwarzen, fait das ganze Geſicht bededenden Bart ; 
der Schumann, der ihn verhaitete, ift fuchſig. Une 
willtürlih muß Sepp auf deſſen Hände bliden, 
tnochige, ſommerſproſſige Hände mit langen Kneif- 
fingern. Er fühlt noch ihren Griff an feinem Hals 
und Arm. 

„Wann fommt Raders?* 

„In einer Stunde, den!’ ih.” 

„So!“ Und zu Sepp: „Seh dich dort auf bie 
Bank!” : 

Doc; der Junge bleibt ftehen, während der rot= 
haarige Schuhmann auf ein Feines Pult in der Ede 
zugeht und gleichgültig fragt: 

„Wie heißt du?“ 

Sepp.“ 


„Weiter?“ 

Zeepers.“ 

„Wo wohnſt du?” 

„Auf dem Roomſteeg.“ 

„Wie alt?“ 

„Bierzehn.“ 

„Bierzehn Jahre? ...“ ruft der Schwarze, ſich 
halb umbdrehend und den Fuchfigen erftaunt anjebend, 
„werben Sie's glauben, daß mein Kleiner mit nem 
kräftiger ift?” 

Der andre tritt zu dem armen Jungen beran 
und blidt ihn an. 

„Sa, ja, das glaub’ ich ſchon — der wird aud) 
wohl ein bißchen beſſer genährt werden. Diejer arme 
Kerl ſieht ja halb verhungert aus.” 

Er vergleicht feine Taſchenuhr mit der Wanduhr 
und geht. 

„Haft du noch Eltern?“ fragt der Schwarze jeht; 
und als der Junge nidt: „Was ift dein Water?“ 

„In guten Zeiten Handlanger — aber jeht...* 

„Hat er gewiß feine Arbeit. Weshalb Haft du 
das Brot geftohlen?” 

„I war in dem Laden, um was zu faufen, aber 
niemand fam — und id) hatt’ fold; argen Hunger.“ 

„Der ift nun doch nicht geftillt worden!“ 

„Nein...“ und Sepp jchaute mit zornigem Aus 
brud auf das Brot. 

Der Polizift betrachtete die elende Kleidung, alles 
alte, abgelegte Sachen, die dem Jungen viel zu groß 
waren: ein Nod, deſſen Schultern ihm bis auf die 
Ellbogen herunterfielen, die Hofe mit einem Strid 
um den Leib geichnürt und mit ungleichen Bein- 
längen, niedergetretene, viel zu große Pantoffeln und 
Strümpfe mit einem Loch neben dem andern, woraus 
ichmußftarrendes Fleiſch hervorgudte, 

Der Beamte jchüttelte den Kopf. 

„Junge — unge, was joll aus dir werden... 
Du mußt doc einjehen, daß du auf dieje Weije ganz 
und gar aus dem Kurs fommjt! Das endigt mit 
dem Zuchthaus.” 

Sepp erwiberte nichts. Diele Worte gingen 
fpurlos an ihm vorüber. Auf jeinem Heinen, gelb- 
lichen Geſicht mit den eingefallenen Wangen und 
den alten Fügen lag ein Ausdrud tieriſcher Apaihie. 

„Haft du noch ſolchen Hunger?” 

„D!...“ Es blitzte plöglich im den großen 
hellblauen Augen, die den Poliziften ſtarr anjchauten, 
begehrlich auf. 

Dieſer ftand auf, nahm von einem Brett ein 
fleine® Päckchen, wickelte e& auf und reichte dem 
Jungen ein Butterbrot. So hajtig griff dieſer mit 
beiden Händen danach, daß der andre erjtaunt feine 
Hand zurüdzog. 

„Gott bewahre mich!* 

Sepp hatte jhon abgebiffen, geſchludt, biß und 








Loſe Blätter, 717 


ihludte wieder mit der Gier eines ausgehungerten | Handgelenf wurden die jkelettartig mageren Arme 

Tieres, das fein Mahl ohne Geihmad hinunter ſichtbar. 

ihlingt. In einigen Sekunden war das Yutterbrot Der Junge jchlief nicht ruhig. Offenbar quälten 
ehrt. ihn wüſte Träume, Auf dem Rüden liegend, hielt 

„Du hätteft wohl fo viel Anftand haben können, | er beide Hände zufammengepreßt, wie wenn er etwas 
‚Danke‘ zu jagen. Seh did) dort auf die Bank am | fefthielte, was er abjolut nicht loslaſſen wollte, Seine 
Dfen. Du mußt noch etwas warten.” Lippen bewegten fi, und ein böjer Ausdruck lag auf 

Der Junge that, wie ihm geheißen ward, und | feinen Zügen. 
firedte jeine Hand nad) dem warmen Ofen aus. Der Der Polizift beugte fich tiefer, um, wenn möglich), 
Polizift nahm wieder die Zeitung auf und las. efwas zu verftehen. 

Das Gas fummte, das Papier raſchelte, im Ofen Zwiſchen dem Spalt der Lippen zifchten Flüche 
fnifterte es anhaltend und leije, und mit kurzem, | hindurch, verworrenes Geftammel von Flüchen. Plöß- 
baftigem Tiden verfündete die Meine Wanduhr die | Lich firedte der Heine Kerl abwehrend die Hände aus: 
enteilende Zeit. „Nicht ſchlagen, verdammtes... nicht ſchlagen ...“ 

Nah einer Weile ſchaute der Lejende auf. Der Polizeibeamte fing an, laut im Dfen zu 

Der Junge war allmählich ſchräg gegen das | fehüren. 

Getäfel gefunten, hatte die Beine auf die Banl ge- Erſchroclen fuhr Sepp empor und jchaute ſich mit 
zogen und lag num ganz ausgeftredt, den Kopf auf | vor Angft weit aufgeriffenen Augen um, aber beim 
feiner Müte, ruhig da. Er jchlief. Anblid de8 warmen Ofens, der Gasflammen und 

Der Polizeibeamte ftand auf, näherte fi) dem | des Poligeimannes verſchwand der Ausdruck der Furcht. 
Dfen und betrachtete einige Augenblide aufmerkjam Ruhig blieb er liegen — die Augen wurden Heiner 
den Heinen Bagabunden. Das jchmale Gefiht, von | — die Lider jchloffen ſich wieder. 
einer Farbe wie vergilbtes Papier, jah jeht noch ein« Kopfſchũttelnd blidte der Beamte auf ihn nieder, 
gefallener aus, der Hals jtarrte von Schmuß. Das | fehrte dann langſam auf feinen Pla zurüd und 
fahlbraune Haar wuchs ihm tief in den Naden, und | brummte leiſe vor fi hin: 
von der Stimm war nichts zu jehen. Die viel zu „Dem träumt gewiß, dab er zu Haufe ift. 
weiten Aermel waren zurüdgejchoben, und über dem | Lumpenpad!” 


— ei — ES 


— Lofe Stätten. tg 


„Was jagen Sie da?... Ih habe nicht bie 
Ghre, Sie zu kennen!“ 

„Nun gut, wenn Sie mid fo fortjchiden, jo 
verſpreche ich Ihnen, jo oft an Ihnen vorübergehen 
zu wollen, bis wieder einer meiner Knöpfe an Ihnen 
hängen bleibt.“ 

„Aber Sie find merlwürdig ... wenn id) wenig« 


Ihr Syſtem. 
Bon 
N. Eorazzini. 
Nah dem Ialienifhen von 9. B. 


„Mein Herr! Halt, mein Herr! Einer Ihrer 
ſenöpfe iſt an einer Maſche meines Shawls hängen | ftens wüßte, wer Sie ſind!“ 
geblieben... „D, das ift höchſt einfah. Ich bin Friedrich 
Gnadig⸗ Frau, ich bitte zu bemerken, daß ganz De Boni, Wechſelbankagent, Befiger eines Haufes in 
im Gegenteil die Maſche Ihres Shawls es ift, die | der Stadt umd zweier Güter, natürlich auf dem Lande, 
id) an meinem Knopf verfangen hat!” beziehe eine Rente von ſechs. bis fiebentaufend Fire 
„So oder jo! Es handelt ſich jept einfach darum, — mein Gott, um mic) ein wenig vergnügen zu 
daß wir voneinander losfommen — reißen Sie nit, | fönnen, bin Witwer, finderlos natürlich — aber das 
um Gottes willen!” wird die Gnädige vielleicht wenig intereſſieren .. 
„Ich reiße ja nicht ... Gott bewahre!“ „In der That.. 
„Danfe, aber Sie werden entihuldigen . . „Nun gut! & will ich's Ihnen denn einmal 
. Gnädige Frau!” jagen, ic bin ein Menſch, der redet, wie ihm der 
„But, mein Herr — meinen Gruß. Schnabel gewachſen ijt... Ich era Sie gejehen 
„Wie, meine Gnädige, ich foll Sie wieder | und ich fühle, dab ich Sie liebe . 
verlieren ?* „So? So plößlicd?” 





na 





718 


„D, ich habe Sie früher ſchon öfters gejehen und 
Sie beobachtet ... Nun, und dann ift ja die Liebe 
auch gerade nichts Merkwürdiges; wenn fie fommt, 
ift fie da, ohne daß man fie erft Quarantäne paffieren 
laſſen muß.* 

„Sie find fehr geiftreich!* 

„Das haben mir jchon viele andre auch gejagt.“ 

„Mein Herr... .* 

„Nur im Scherz, verftehen Sie, nur im Scherz. 
Und nun, meine Gnädige, darf ich hoffen, daß Sie 
mir ein Wiederjehen vergönnen werden... . Sie find 
immer allein, Sie müſſen ſich ja zu Tode lang« 
weilen !” 

„DO, was mic betrifft, jo haben Sie nicht jo 
unrecht... . und ba ich Witwe bin, habe ic) niemand.” 

„Weld, ein Glüch!“ 

„Wiefo ?* 

„Jawohl, welch Glüd muß es fein, Ihnen alle 
übrige Welt erſehen zu dürfen... Werden Sie mir 
aljo die Gnade eines Wiederſehens geftatten ?” 

„br Name fowie Ihre guten Eigenſchaften be- 
ftimmen mid dazu. Wenn Sie mich demnach wieder 
ſehen wollen — Donnerstag nach drei bin ich ſtets 
zu Haufe... .* 

„Mit andern Worten, morgen nad) drei.” 

„D, wie viele unnötige Erflärungen Sie ver— 
langen! Leben Sie wohl!” 

„sa, aber wenn Sie mir nicht jagen, wo Sie 
wohnen, wo joll ih Sie dann ſuchen?“ 

„Montebelloftraße 46, Frau Brambillo. 
Herr ...“ 

„Gnädige Frau...“ 

Dieſes höchſt ſonderbare Geſpräch fand ſtatt zwi⸗ 
ſchen mir und einer Dame, einer angehenden Drei— 
Bigerin, und zwar zu Florenz, Via Tornabuoni, jujt 
gegenüber der Maijon de Eluny — «8 dürfte jechs 
Jahre her jein. 

Und in der That: die Dame, die mich mit ihrem 
Maſchenneß überfallen und eingefangen , verdiente, 
dab man es verfuchte, fie mit ganz andern Neben 
gefangen zu nehmen. 

Blond, von ſchlanker, jedoch nicht zu ſchmaler 
Statur, mit grauen, ausdrudsvollen, lebhaften Augen, 
einem rojigen, fammetweichen Teint — wahrhaftig, 
Frau Brambillo war ein jchönes Meib! 

Wenige Monate vor unſrer ſeltſamen Begegnung 
hatte id) ſie einigemal in der Gejelljchaft eines meiner 
beiten freunde, Giorgio Solera, im Theater gejehen. 
Ic hatte ihm öfters gebeten, mich ihr vorzuftellen, 
aber mein freund that, ala hörte er nicht... Und 
num der Zufall! Gepriejen jei die Voriehung! Wie 
oft fügt fie nicht Dinge zufammen, die der menjch- 
liche Verſtand weder vorauszujehen noch ſich einzu- 
bilden gewagt hätte! 

Tags darauf betrat ih um zwei Uhr fünfund- 
fünfzig Minuten die Via Montebello und begegnete 
juft meinen freunde Solera, der, nad) neuefter 
Mode gefleidet, jedoch mit finftrer Miene, wie ein 
Minifter bei eingetretener Kriſe, am gegemüberliegen- 
den Trottoir vor Hausnummer 46 auf und ab ging, 


Mein 


Loſe Blätter. 


aufmerffam die Fenſter des zweiten Stodwerfes 
mufternd, 

„Sehr gut,” dachte ih mir. „Das ift ein ım- 
erwarteter Triumph! Doch feien wir vorfidhtig und 
benußen wir den Sieg gemach!“ 

„De Boni... .!* 

„DO, Solera! Du Hier? Erwarteft du jemand? 
Du geht, wie ich jehe, hier fpazieren, als erwarteteft 
du jemand, der nicht fommen will, oder al& ſuchteſt 
du jemand, der nicht hier ift.. .“ 

„Jawohl, ich erwarte einen Freund .. . Und du? 
Wohin jo eilig und jo — ſchön?“ 

„Diefes Lob gilt nicht mir, ſondern meinem 
Schneider!... Aber entjchuldige! Du weißt, es 
jchlägt drei, und ich will nicht auf mich warten lafen.* 

Und meinen fluchenden Freund auf dem Trottoir 
ſtehen laſſend, betrat ich ftrahlenden, triumphierenden 
Angeſichts Nro. 46. 

„Ic möchte wetten,“ fagte ich zu mir, al& id 
die Stufen emporjtieg, „daß man vor zehn Minuten 
Solera gejagt hat, die Gnädige ſei nicht zu Haufe 
— für mid) wird fie fiherlich zu Haufe ſein.“ 

„Ist die Gnädige zu Iprechen ?* 

„Ihr Name?* 

„Friedrich De Boni.“ 

„Bitte einzutreten... Die Gnädige wird gleih 
erſcheinen.“ 

Das hatte ich ja gewußt! 

Der kleine Salon, welchen ich betrat, war ein 
wahres Meines Paradies, das jedoch einen etwas ober« 
flächlichen, wechielnden, leichten Geſchmack verriet, 

Da gab «3 feinen Fautenil, der dem andern 
ähnlich geſehen, feinen Stuhl, der diefelbe Bededung 
oder Bauart gehabt hätte wie der andre. Sonſt 
waren die Konſolen und andre Möobelſtücke mit Nippes, 
Vaſen aus Sövres, China und Japan, mit Kafice 
täschen, Photographien, Albums, kurz mit den ele ⸗ 
ganteften und koitbarften Dingen ausgeftattet. 

Im flillen dachte ich mir, daß feien die Federn 
der Galang, die meine „Gnädige“ gerupft habe. Nun, 
wir werden weiter jehen. 

Frau Brambillo erſchien in einer höchſt einfachen 
Toilette aus ſchwarzem Sammet mit weißem Spipen: 
beſatz. Aber wie jie ihr ftand!.. 

„Haben Sie meiner nicht vergeſſen?“ 

„Wie wäre das wohl möglich, gmädige frau? 
Sie wiederzujehen, war der einzige Gedanle, welder 
mir dieſe vierundzwanzig Stunden erträglich ge 
macht bat.“ 

„Adıt Stunden werden Sie aber doch gewiß ge 
ſchlafen haben ?* 

„Elf, gnädige Frau! 
trägt nicht weniger.“ 

„Alſo ift es gewiß, daß Ihnen die Liebe die 
Träume nicht ſtört.“ 

„Im Gegenteil, fie ftört mich auch bei Tage... 
und läßt mir den Schlaf um jo lieber erjdeinen.“ 

„Und warum?" 

„Weil ih im Schlafe von Ihnen träume..." 

„Dbo, das ift eine Galanterie!* 


Meine Konftitution der 





— 


* 


Loſe Blätter. 


„Wenn Sie aufmerken, werben Sie deren noch 
mehrere zu hören bekommen. Ic habe mir daraus 
ein eignes Studium gemacht.“ 

Da die „Bnädige* über meine Dummheiten 
lachte, ward ich fühner und rüdte mit dem albernften 
Zeug, das mir gerade auf die Lippen fam, heraus 
— und es wurde wie lautered Gold aufgenommen, 
jo daß ih nah Verlauf von zehn Minuten voll 
Händig überzeugt war, daß ich ein Dann von Geift 
fei und bei ihr eine Eroberung gemacht habe. 

Sie benahm mir auch nicht im geringften dieſe 
Ueberzeugung, bis unjer Zwiegeſpräch, das ſich 
ſtels wärmer und intimer geftaltete, ein Ende nahm 
und ich nad) zwei Stunden mich erhob, um ihr leb⸗ 
baft die Hand zu drücken ... nicht aber, um mid) 
zu entfernen. Tags darauf kehrte ich gegen Mittag 
in meine Wohnung zurüd; beim Thor traf ich meinen 
Diener in voller Verzweiſtung. Als er mich erblidte, 
ſchlug er ein Kreuz, als jähe er einen Leichnam auf 
fih zufommen. 

„Ah, mein gnädiger Herr,” jagte er, „wo haben 
Sie ih denn nur die vergangene Nacht herum— 
getrieben? Ich habe Sie erwartet, ohme ein Auge 
zu ſchließen.“ 

Ich ließ ihn ausreden und ging hinauf, um mic 
angefleidet, wie ich war, zufrieden und glüdtich auf 
mein Lager zu werfen; Dabei dachte und wiederholte 
ih mir fortwährend: „DO, diefe Yiebe wird ewig 
dauern! Ad, wie wir uns lieben !” 

Id brauche nicht zu jagen, daß auch ich mein 
Kontingent für Giorginas Salon beiftellte... ja 
nicht nur für ihren Salon, auch für ihre Garderobe, 

Sie verlangte jedoch; nie etwas. Es war burd) 
ans feine Gefahr dabei. Wenn wir aber zuſammen 
ins Theater gingen, jo hatte jie gar manches zu be= 
merlen. 

„Sieh mal, wie gut mir dieſes Hütchen ſtehen 
würdet... Glaubii du nicht, daß es für mich wie 
gemacht iſt? Sprich!“ 

„O, freilich glaube ich das!“ — eine andre Ant⸗ 
wort blieb mir nicht übrig. Und am nächſten Tag 
mußte ich ihr das Hütchen kaufen. 

Es ift jedoch wahrſcheinlich, daß ich in Wirklid)- 
feit auf Giorgina feinen ſplendiden Eindrud machte, 
da fie mic; gar oft einen Geizhals nannte — freilich 
nur, um mid) ein wenig zu reizen. 

Sonft waren wir einander von Herzen gut und 
verlebten drei Dionate in vollfommenfter Freundſchaft. 

Eines Abends waren wir im Theater Nicolini, 
wo die Bejellichaft Meynadier die „Schöne Helena” gab. 

Giorginas Hausherr, der alte Teodoro , ftattete 
ihr einen Beſuch ab, während ich inzwiſchen auf 
einen Augenblid ins Parterre hinabitieg, um das 
Theater nad allen Seiten zu injpizieren, 

Einer meiner Belannten, ein Franzoſe, Marquis 
Jervais, welcher beim jhönen Geſchlecht außergewöhn⸗ 
lich viel Glüd hatte, näherte ſich mir mit ausgefuchter 
Freundlichkeit, und nachdem er jeiner Freude dar- 
über Ausdruck gegeben, daß er mich in Geſellſchaft 
der jchönen Dame gejehen, fragte er mic gerade 


— — — — —— ——— — —— — — — 
— — — — — 





719 


heraus, ob es mir meine Beziehungen zu ihr geftat- 
teten, ihn vorzuſtellen. 

Ich fühlte mein Blut zu Eis erſtarren. 

Gerade im Nicolini«-Theater war e8 gewefen, daß 
ih — vor einigen Monaten — dieſelbe Bitte an 
Solera gerichtet hatte, juft, als man die „Schöne 
Helena“ gab. 

Ich antwortete, ich wäre nicht jo befannt, daß 
ih mir eine Worftellung erlauben dürfte... und 
nahm jchließlich in gereizter Stimmung diefelbe Aus» 
flucht zu Hüfe, die ja auch mir gegenüber angewandt 
worden war, 

Ich betrat wieder die Loge, als der Haußherr 
fie verließ. 

„Wer ift denn der jchöne Mann, mit dem bu 
ſprachſt?“ fragte mich Giorgina, ehe ich nod) meinen 
af hatte einnehmen lönnen. 

„Der Marquis Jervais,“ war meine ziemlich 
unhöflihe Erwiderung. „Ein Narr, ein Prahler, 
ein Praſſer, der bald mit feinem Vermögen ab» 
gewirtichaftet haben wird, wenn er feine Lebensweiſe 
nicht ändert... Sieh nur! Ahr haltet diefen Progen 
für einen jhönen Dann, während er mir doch wie 
ein verfleibeter Kater vorlommt!“ 

Das Bild ſchien mir entinutigend genug ge= 
zeichnet zu fein, und jo ſeßte ich mich emblich, mit 
mir jelbft zufrieden. 

Jeder wird begreifen, daß von jenem Abend an 
zwiichen mir und Giorgina Mihtrauen und Argwohn 
herrſchten. 

Sch wurde eiferfüchtig und infolgedeſſen langweilig. 
Ich fühlte jehr wohl, daß es mit mir bergab ging, 
und dab ein neues Minifterium auf meinen Ruinen 
entftehen werde. 

So verging ein zweiter Monat, ald mir eines 
Morgens, da ich mich zur gewohnten Stunde in ihre 
Wohnung begeben wollte, dad Kammermädchen mit 
bedeutungsvoller Miene die Mitteilung machte: 

„Herr Friedrich, die gnädige Frau ift micht zu 
Haufe...“ 

„Nicht zu Haufe? Wie, Marietia, zu dieſer 
Stunde, um zehn Uhr vormittags?” 

„Die guädige Frau ift nicht zu Haufe,” wieder- 
holte fie in demjelben abweijenden Ton. 

Ih nahm eine Zehnlirenote und reichte fie ihr. 
Da Memmte Marietta ihr pfilfiges Näschen zwiſchen 
Thür und Pfoften, bereit, jene ins Schloß zu werfen, 
und jagte: „Sie ift drinnen — aber fie will nicht 
drinnen jein!” und — iperrte ab. 

Dieje Worte bedurften feines Kommentars. 

Ich ging hinab, überjhritt die Straße und ſchlen⸗ 
berte, ihre Fenſter firierend, einigemal ihrem Haufe 
gegenüber auf und ab, Dann dachte id) an meine 
Begegnung mit Solera an bderjelben Stelle und 
machte mic), um nicht einem Rivalen zu begegnen, 
ber mir ebenjo zuvorfommen könnte, wie id) Solera, 
auf den Weg ins Innere der Stadt. Nach ungelähr 
zwei Stunden betrat ic das Lagerhaus der Maifon 
de Cluny, in der Abficht, durch ein zierliches Geſchenl 
das erlojchene Feuer meiner Schönen wieder zu ent« 





720 


fachen, als id; beim Austreten eine ſehr wohlbe- 
fannte Stimme, welde an den Marquis Jervais 
gerichtet war, jagen hörte: 

„Mein Herr... Halt, mein Herr! Einer Ihrer 
Knöpfe iſt an einer Maſche meines Shawls hängen 
— 

O, entſchuldigen Sie, meine Gnädige .. 
ſchuidigen Sie!* 

„Oder, meine Gnädige,* ſagte ih, mic als 
dritter ins Gejpräd mijchend, „jehen Sie vielmehr 
im Gegenteil, ob es nicht etwa die Maſche Ihres 
Shawls war, die fih an dem Knopfe diejes Herrn 
verfangen hat — es ift eine fo geididt eingerichtete 
Maſche ...“ 

„Aber... Friedrich ... ich verſtehe nicht...“ 

„Ah, adieu, Marquis, recht viel Glüch!“ 

Und ich entfernte mich mit mitleidigem Lächeln 
über uns alle drei. Auch eine ehrbare Art, Belannt- 
ſchaften anzuknüpfen! dachte id). 

Mein Gott, ed war eben ihr Syſtem! 


, elti= 


6 


Fremoͤländiſche Sinnſprüche. 


Sprichwörtern nachgebildet von Maximilian Bern. 


Aus ruſſiſchem Vollsmunde. 


Die Katze nie den Vogel frißt, 
Bevor er noch gefangen iſt. 
- 


Wo gar nichts äft, giebt's feinen Raub, 
Im trodnen Holz fucht niemand Kaub. 


Aus polniſchem Vollsmunde. 


Manchen um den Sieg gebracht 
Hat Triumphruf vor der Schlacht. 
[2 
Mit verfprohnen Sceiten man 
Keinen Ofen heizen fan. 

— 


Im 17. Heft beginnen wir mit der Veröffentlichung des neuen Wertes von 


Eöward Bellamp: 


Faſt zehn Jahre nad) dem Erſcheinen des „Rüdblic 
aus dem Jahre 2000, der bei den Bebildeten der ganzen 
Erde einen jo beilpiellojen Erfolg errungen und feinen | 
Berfafler mit einem Sclage zum weltberühmten Manne 
gemacht hat, tritt Edward Bellamy jet mit einem neuen 
größeren Werte hervor. „Gleichheit behandelt denfelben 
Stoff wie der „Nüdblid*; es ift eine unmittelbare 
Fortſetzung desielben und enthält, gewiſſermaßen als 


Loſe Blätter. 







— 44 


—5 
*8 


Der kleinſte Stern am Firmamen 
Die Sonne feine Mutter nennt, 


N ®. 
Wer feinen Feind im £eben erhält, 
Dem bringt die Mutter einen zur Welt, 


Sranzöfifhe Sprüche. 
Wer dem Armen etwas weiht, 
Gott nur feine Spende leiht. 
Eingegoff'ner Wein ift doch 
Kange nicht getrunfen nodı. 
Du follft einen Baum nicht loben noch jcdmähn, 
Bevor du feine Frucht gefehn! 


Aus engliibem Voltsmunde, 


Selbft der Teufel ift ganz aut, 

Wenn man ihm den Willen thut: 
Schlechte Ware ſchwatzt mühfam man anf, k ß 
Gute Ware macht Verkauf. = b 


Nimm nie mit —— Waren fürlieh: 
Ein billiger Kauf ug ein Tafchendieb! 











Dem Tode wir F entgegenſehn 
Wie Kinder ſich — ins Finſtte zu g 


Mratifhe 3 Zprüche. 
Das Leben gleicht dem ‚Feuer, denn mit 2 
Beginnt es, und mit Aſche —— 2 


Die Güter diefer Welt gehören 


Iſt doch das Keben — 
Der Körper ein geborgtes Kleid. 


















Gleichhe 


Kommentar dazu, in 38 Kapiteln 
lierte und vertiefte Schilderung des: 
ſtaates, die in Bezug auf alle 
ſchaftigenden wichtigen ſozialen 9 
Anregungen bietet und, mie der 
Sulturländern auf längere Zeit 
den und fortidrittlich ic, 


wird. 


Berantworillchetr Redalleur: Karl Bolhoebenet in Stuttgart. Drud und Verlag der Deutſchen Gerla 


Briefe und Sendungen find nur an die Deutſche Verlags · Aunalt in Stuttgart — ohne Pe 





Sonnenmwolßen. 


Erzählung 


von 


Briftian Elfter, 


Aus dem Norweaifchen überfeßt von Cora Thams. 


J. 


Haſt bu jemals eines jener verheerenden Un— 
wetter erlebt, welche die an den weſtlichen Fjorden 
gelegenen Ortſchaften im Herbjte heimzuſuchen pflegen ? 

Ueberall draußen ift es jo tief dunkel, dab man 
fich verfucht fühlt, die einftige Wiederkehr des Tages 
zu bezweifeln. Das Wort Regen würde eine jehr 


ungenigende Worftellung von den wilden, einher- | 


treibenden, peitichenden Waſſerſtreifen geben, die 
fturmgejagt vom Meere daherlommen. Die Tropfen 
Hatichen gegen die Scheiben, fie jchreien, winmern, 


old jeien fie Iebende Weſen, die verfolgt werden und | 


bald jammernd und verzweifelnd um Aufnahme 
fehen, bald lärmend gegen Mauern und Fenſier 


anftirmen, ala wollten jie ich jelbit einen Meg | 
Es gieht draußen auf den 
Der Sturmwind | 
ftingt im der fyerne wie ein bedrohliches Saufen; | 


durch diejelben bahnen. 
Feldern, e& fiedet und brobelt. 


wenn er etwas näher fommt, glaubt man das Ge— 


beul biutdürftiger Raubtiere zu vernehmen, und plöße | 


ih, wie von den Felſen herabftürzend, tritt er einen 
wildtaumelnden Tanz über Höhen und Ebenen an, 
bis er durch ben jenjeitigen Ausgang des Thales 
entweicht. 

Häufer und Bäume zittern und ächzen während 
eines ſolchen Sturmes; in den Zimmern wird es 
fill, man rüdt näher zufammen , und der eine oder 
der andre jagt wohl: „Ein jchauerliches Wetter!“, 


ober: „Bott helfe dem, der jebt auf der See iſt!“ l 


Sobald die Hausthür geöffnet wird, fließt ein 
Streifen Waflerd über den Fußboden; man hört im 
ganzen Haufe Thüren auffpringen und mit Geräuſch 
wieder zufallen. Der Zugwind fährt durd alle 
Gänge, alle Treppen hinauf bis zum höchften Speicher. 
Es if schwer, die Thüren gejchloffen zu halten, 
wenn des Sturmes mächtige Hand fie in feine Ge— 
walt befommen; man hat das Gefühl des Belagert- 
eins — als drohe ein Haufe wilden Kriegsvolfes mit 
Einbruch und Verwüftung des trauten Heims. 

Am Tage darauf haben die fyelder ein ganz 

Gira fremden Jungen. 1807. IL 16, 


fables Ausſehen; aber rings um die Häufer liegen 
\ zerbrochene Ziegelfteine verftreut, man fieht einen 
geipaltenen oder gefällten Banm, ein herabgewehtes 
Dad oder ähnliche Erinnerungen an den Sturm. 
Alle Wege find zu Flußbetten geworden, und alle 
: Brüden gefährdet. An den nächften Tagen begegnen 
einem wohl fremde Seeleute auf den Landwegen, 
und ab und zu werden Schiffätrümmer an die Stege 
getrieben. 

An einem jolden Abend wurde an unjre Hause 
thür geflopft, 

Der Vater ging felbjt hinaus; ich folgte ihm — 
e3 jchien mir, als könne aus dem Dunkel und dem 
Unmetter draußen nichts Gutes fommen, und id 
wunderte mich fajt darüber, daß der Water über- 
haupt aufmachen wollte. Er hielt eine Laterne in 
der Hand und leuchtete hinaus, nachdem er die Thü 
geöffnet hatte. 

Das erjle, was ich durch den Sprühregen, der 
mir gerade in die Augen fuhr, erblidte, war der 
durchnäßte Erdboden, in dem der Lichtichein ſich 
| jpiegelte. Gleich darauf tauchten zwei kupferfarbene 
' harte Männergefichter unter tief herabfallenben „Süd: 
weſtern“ im dem Lichtkreife auf. Das Wafjer riefelte 
bon ihren Regenmänteln herab und tropfte aus ihren 
Bärten. Eine Heine dunfle Geftalt bewegte ſich 
binter ihnen. 

„sit jemand da, der mit mir jpredhen will?“ 
fragte der Vater, 

„Jawohl,* eriwiderte eine heifere Stimme, 

„Tretet ein, wir befommen allen Regen ins Haus.” 

Ein Paar ungeheure Seeftiefel kam dur die 
| Thür, dann nod ein Paar und zuleßt die Meinere, 
in Pelze gehüllte Geitalt. Nachdem die Thür wie 
der geihlofjen, wurden die Anlömmlinge in die Küche 
geführt. 

„Biſt du es?“ ſagte der Vater zu dem einen der 
Männer. „Aber, um Gottes willen, was macht ihr 
in ſolchem Wetter draußen ?* 

„sa, zum Vergnügen gefchieht es auch nicht,“ 
antwortete der Mann kurz. 








9 


* 


— 


* 
Zu 


ie = in 


Ei 


Br 





722 Kriftian Eliter. 


Es war der Gehilfe eines Handeldmannes, der 
hart an der See wohnte und ein guter freund 
meines Vaters war. 

„Wir follten diefe da herbringen,“ ſagte ber 
andre und zeigte auf das lebende Pelzbündel, von 
dem das MWafler auf den Fußboden herniederfloß und 
bier einen Heinen See bildete. 

„Wer ift e8 denn?“ fragte der Water, zog das 
fleine Wefen ans Licht und beugte fich zu ihm herab, 
um es zu bejehen. „Elina!” rief er aus, erbleichte 
und jah die Männer fragend an. Beide ftanden 
ichweigend da. Dann hörte ich den einen flüftern: 

„Es ift ein großes Unglüd gejchehen.* 

Ohne zu antworten, zog der Vater das Heine 
Mädchen, das in dem Bündel ftedte, näher an die 
Stubenthür, 

Die Mutter kam in diefem Augenblide dazu und 
jragte erichredt, was es gäbe. 

„Bringe fie in das Zimmer und nimm ihr die 
ſchwere Kleidung ab,” erwiberte der Vater furz. 
„Geh auch du hinein,” fuhr er, zu mir gewendet, fort, 
der ich, erflaunt und peinlich berührt, ftehen geblieben 
war, ohne doch recht zu begreifen, was das alles 
zu bedeuten habe, 

Drinnen in der Stube befreite die Mutter das 
Kind von den jhweren Mänteln. Meine Verwunde⸗ 
rung war groß, als nad Entfernung der vielen 
Reijehüllen ein niedliches Feines Mädchen mit vom 
Negenwetter gerötetem Antlige zum Vorſchein kam, 
das aus feinen großen grauen Augen ruhig und 
verftändig die fremden Menſchen anblidte. Es jchien 
mir plößlich, als habe das draußen tobende Unwetter 
es auf irgend eine geheimnisvolle Weiſe hergeführt, 
und ich mußte e8 unverwandt anjehen. Eine lichte 
Haarlode, aus der noch das Waſſer tropfte, fiel ihm 
in die Stirne. Nachdem die Mutter ihm die Mäntel 
ausgezogen, legte es jelbft die Handſchuhe ab und 
ftrich fi) mehrmals über das naſſe Gefiht. Es trug 
ein rotfarierteß leid, ein Tuch feft um die Bruft 
gebunden und hohe Stiefeldyen. 

„Uber, Tiebes Kind, wer jchidt dich in ſolchem 
Wetter über das Waller?“ fragte die Mutter, indem 
fie die Meinen roten Hände zwiſchen den ihren rieb, 

„Vater und Mutter find fort,“ antwortete das 
Mädchen, „und da meinte Sara, es jei am bejten, 
wenn ich gleich hierher reife.“ 

„Fort?“ Die Mutter hielt in ihrer Beihäftigung 
inne, Es war klar, daß das Mädchen die Ber 
deutung des Wortes nicht faßte. Sie hatte jehr oft 
gehört, daß Leute auf der See „fort“ blieben; nun 
hatte man dasjelbe in Bezug auf ihre Eltern gejagt, 
und fie ſprach es mechaniſch nad). 

„Sieb den Leuten etwas Warmes zu trinken,“ 
ſagte der Vater, welcher jet eintrat. Sein Geſicht 
war aſchbleich, jeine Stimme Hang troden und heifer, 


Das Dienftmädchen ging hinaus, und die Mutter 
war ſtillſchweigend um bie Seine beſchäftigt, aber 
ich bemerkte, daß ihre Hände bebten. 

Sie wechjelte einen Blid mit dem Vater, worauf 
diejer das Zimmer wieder verlieh. 

Eine Weile jpäter ſaß das Heine Mädchen troden 
und warm neben dem Ofen, feinen Thee aus einer 
großen, blaugeblümten Tafje trinfend. 

Die Mutter fragte es Verichiebenes: ob fie ſich 
nicht gefürchtet Habe und dergleichen. Nein, gefürchtet 
babe fie fi nit. „Wenn Hans (der Gehilfe) mit 
ift, hat e8 feine Gefahr,“ jagte fie. „Der Wind kam 
auch nicht ſtoßweiſe,“ jehte fie Mug und mit einem 
ftillen, ernften, beinahe gereiften Ausdrucke im Antlige 
hinzu. Man jah, das Find war troß feiner Jugend 
„bollbefahren“. 

68 verhielt fi den ganzen Abend ruhig, obgleich 
es nicht gerade betrübt zu fein jchien. Aber die 
Mutter erzählte, e8 habe beim Zubettegehen plöklid 
angefangen zu weinen. Es ſchien ihm mit einem 
Male Mar zu werden, was es bedeuten wolle, daß 
die Eltern auf jener Fahrt zur Kirche, von der mur 
ein gelentertes Boot heimwärts gejchtvommen, „fort“ 
geblieben waren. 

Das war meine erfte Begegnung mit Elina Holt, 
und jeitbem erlebe ich lein Unwetter, ohne daß jener 
Abend lebendig vor meiner Erinnerung fteht. 

Ich jehe die beiden braunen Gefichter unter den 
Sübdweftern aus dem Dunkel hervortauchen, und vor 
allem das eine, nafje, blonde Mädchen mit feinen 
blauen Augen und feiner nachdenklichen Redeweiſe. 

Nicht weit von unferm Haufe, näher an der Ser, 
wohnte ein Onkel Elinas. Er betrieb ein Ge 
ſchäft, bei weldhem es fi um Heringe handelte — 
das war alles, was id) zu jener Zeit darüber mußte. 
Künftig jollte Elina bei diefem Onfel wohnen; fie 
blieb jedoch zunächft bei uns, weil der Onkel ım- 
verheiratet war. 

Unjer erftes Beifammenfein währte indeſſen nicht 
lange. Ich kam bald nachher in die Stadt, um bie 
Schule zu beſuchen, und als id die erſten Ferien 
zu Haufe verlebte, war Elina ſchon zu dem Onlel über- 
gejiedelt. Sie war jedoch Häufig bei uns, da fie 
gewiffermaßen unter der Obhut meiner Mutter ſtand. 
Doch reizte mich nichts, den Verkehr mit ihr zu 
juchen, Es fränfte mein Ehrgefühl in hohem Grabe, 
wenn fie Stadtneuigfeiten durch mid) erfahren wollte. 

Uebrigens erinnere ich mic ihrer als eines äußerit 
lebhaften Mädchens, mit geradem, durhdringendem 
Bid; fie pflegte draußen barhäuptig umberzuftreifen 
und den Bauern Beſuche abzuftatten. 

Meiner Mutter jhien ihre Wildheit und Wander- 
luft nicht zu gefallen. Ich bemerkte, daß fie in 
Elinad Gegenwart manderlei über ftilles und fin- 
niges Weſen zu reden pflegte. Gelegentlich rügte fie 





Sonnenmwolfen, 


au die bäueriihen Gewohnheiten des Heinen Mäd⸗ 
chens. Ich gewahrte allerdings nicht? davon; doch 
iehlte mir damals die Schärfe der Beobachtung. 

As ic ſpäter, nad) mehrjähriger Abwejenheit, 
die Heimat wieder aufjuchte, um mid) nad ben erften 
wiffenihaftlihen Anftrengungen einiger Muße bins 
zugeben, verſuchten Elina und ich, einander etwas 
näher zu treten, 

Ih war Student, und ihre Konfirmation hatte 
unlängft ftattgefunden. Unſer erjier Verkehr zeichnete 
ſich dadurch aus, daß wir uns nad beiten Kräften 
aegenfeitig zu beleidigen tradhteten. Später wurbe 
eine Art von unficherem Frieden geichloffen, und wir 
begannen unjre Gedanken auszutaufchen — oder rich— 
tiger geſagt, ich begann ihr die meinigen mitzuteilen. 


In eifrigem Lernen begriffen, lebte id Damals | 


nur für die Wiffenfhaft. Ich empfand mein eigent- 
liches Selbft gleichſam von der jündhaften Materie 
loggelöft und nur erfüllt von dem reinen Gedanlen. 

Die Heinen Intereijen des täglichen Lebens waren 
mir verächtlich, und ich hielt es eigentlich unter meiner 
Würde, mic) über andre als wiſſenſchaſtliche Dinge 
zu unterhalten. Auf diefem Felde fuchte ih denn 
auch Elina zu begegnen. 





Und doch hat die Sonne kaum jemals ein fo 


werig wiſſenſchaftliches Weſen bejchienen wie Elina 
Holt. Alles, was ich fühlte, dachte oder that, geſchah 
nad wiſſenſchaftlichen Grundſätzen; ſie fühlte, dachte 
oder handelte ganz nach Luſt und Laune, und wenn 
es ihr gerade gefiel, erließ fie ſich ſowohl das Fühlen 
wie dad Nachdenlen. Ich hielt mic) zu der Zeit für 
befonbers dazu auserforen, den Urgrund des Dajeins 
zu enideden; aber Elina ging der Sinn für foldhen 
Beruf gänzlich ab. Eines Tages teilte ich ihr gewilje 
bedeutungspolle Rejultate mit, die fih aus den 
neneiten Forſchungen in Bezug auf den Urfchleim 
des Meeresbodens ergeben hätten, und äußerte, hier 


wäre jedenfalls die Entitehung alles organifchen | 
eben zu juchen. Auch machte ich fie auf die frap- 
vante Thatjahe aufmerfjam, daß jhon der Jonier 
Anaximandros — hoffentlich hieß er jo — die Anficht | 
ausgeiprochen habe, alles Leben jei durch die Sonmen= | 


wärme, welche der mit Sumpf und Waſſer bebedten 
Erde zu teil geworben, entftanden; auch ſei der erite 
Menih ein Fiſch geweſen. 

„Das ift häßlich,“ war alles, was fie mir auf 
dieje wichtige Entdedung erwiderte. 

Bei derfeiben Gelegenheit äußerte ih, ber Menſch 
ſtamme natürlich zunächſt vom Affen ab. 


„Ja, fiehſt du, dasſelbe habe ich auch ſchon ge» 


meint,” jagte fie, und id) fing gerade an, fie für ein 
wirklich denfendes Weſen zu halten, als fie hinzu= 
iepte: „nämlich feitdem du wieder nad Haufe ge» 
fommen bift.“ 

Ya, ihr ging der wiffenjchaftliche Ernſt vollfom- 





728 


men ab. Sie habe einmal fein Zutrauen zu Büchern, 
teilte fie mir in naiver Ummilfenheit mit, und hielt 


' mit beifpiellofem Eigenfinn an ihren eignen unver» 


nünftigen Ideen feſt. Einwendungen lieh fie nicht 
gelten. „Ich weiß es aber ganz beſtimmt,“ pflegte 
fie zu jagen. Ich traf fie einmal, als fie gerade 
mit der Wäſche beichäftigt war, und wieder verjehte 
mid) ihr beliebtes: „ich weiß e8 aber beſtimmt“ in die 
äußerte Entrüftung. 

„Es iſt Ihorheit, irgend etwas ganz beftimmt 
wiljen zu wollen,“ verjeßte ich und erzählte ihr von 
einem anbern großen griechiichen Weifen, ber behauptet 
babe, mit Sicherheit könne man überhaupt von feiner 
Sadıe etwas ausfagen. 

„Dann hätte er feinen Mund lieber gar nicht 
aufthun müfjen,“ antwortete fie und fehüttelte das 
nafje Zeug, daß die Tropfen mich beiprikten, 

Id redete über Liebe. Meiner wunderbaren 
Meinung zufolge waren jowohl Männer wie Frauen 
je eine halbe Individualität, deren verwandte Hälften 
durch gegenjeitige Annäherung ein Ganzes bildeten. 

Aber ein jo unpaiiendes, übermütiges Lachen, 
wie fie es als Erwiderung auf dieſe Mitteilung hatte, 
war mir noch niemals vorgefommen, 

„Du biſt bumm,“ äußerte fie. 

Tief gefränft fing ih an: „Aber, liebe Elina!* 

„3a, du bift dumm.” 

„Aber woher glaubft denn du, daß die Liebe 
ftammt? 

„Kennft du das nicht: 

‚Eilig ſchwebt fie daber, 
Ueber Band, üiber& Meer. 
Das ift’s, was ih weiß 
Bon der Liebe, jo heih. 
Wohl von keinem gefandt, 
Het fie alle gebrannt. 
Dos ifl’s, was ich weiß 
Bon der Liebe, fo heik.‘* 
„Gott behüte und! Solche Lieder fingft du?“ 
„Barum nicht? Ih fan übrigens auch andre: 
‚Sie tommt wie Laub zur Lenzedzeit, 
Bringt Thränen mit und Seligleit —*'* 

„Nein, das ift zu dumm,” fagte fie und brad) ab. 

Ich verließ das Gebiet des „reinen Gedankens“ 
und verjuchte, fie für näher liegende praltiſche fragen, 
politifche oder joziale, zu interejfieren, aber mit dem⸗ 
jelben Rejultat. Sie erllärte, dab ſich fein reller 
Menſch mit Politif befaffe. Der einzige ihr befannte, 
welcher ſich mit dergleichen beichäftige, fei der wegen 
Trunfenheit verabichiedete Unteroffizier und Schul- 
meifter Hans Sjurſen Grönveald, dem fein andrer 
Zeitvertreib übrig bliebe. Sowohl die Arbeiterfrage 
wie die Enthaltfamkeitsjadhe feien übrigens nur zu 
dem Zwecke von den feinen Leuten in größeren 
Städten erfunden, um nach abgehaltenen Feſtlichteiten, 


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724 Kriftian Eliter. 


wenn ihre Stimmung recht menſchenfreundlich und 
heiter geworden, Reden über diejelben zu halten. 

Sie war doch ſchauderhaft unwiſſend. 

Uebrigens ahnte mir, wer derjenige war, dem ſie 
alle dieſe Ideen verdankte — nämlich der Ontel. 
Er mochte kaum vierzig Jahre zählen, ſprach wenig 
und, wie mir ſchien, auch nicht ſehr gut, hatte blondes 
Haar und waſſerblaue Augen. Er pflegte mitten in 
ſeiner Rede abzubrechen und den Schluß derſelben 
durch ein deutliches, drohendes „Was?“ zu erſetzen, 
als wolle er jedem die Neigung benehmen, ſich nach 
der Fortſezung zu erlundigen. Ich nahm an, daß 
er einen Gelehrten als einen Thoren und den Po— 
litifer als Spitzbuben anjah, wie mir aud) jein Sinn 
für die Wiſſenſchaft in recht zweifelhaften Lichte 
erſchien, weil er meine Belehrung, die Sonne ſei 
brennende Gas, mit einem homeriſchen Gelächter 
beantwortete. Elina wollte diejes ebeniowenig glau- 
ben. Sie hatte ſich gerade gebüdt, um ihren Schuh 
fefter zu ſchnüren, und ſchüttelte voll Mitleid über 
mid), der ich jo etwas glauben könne, das Haupt. 

„Aber, liebe Elina, die allerneueften Forſchungen 
lehren ung doch ...“ 

„Weißt du, was meine allerneueften Forſchungen 
mich lehren?“ unterbrach fie mich? 

„Deine?“ 

„Sie lehren mi, daß meine Schuhe nächſtens 
feine Sohlen mehr haben werden!” rief fie, tanzte 
auf einem Bein und hielt mir den Maffenden Schuh 
entgegen. 

Und doc flöhte mir dieſer Onfel bei einer ger 
willen Gelegenheit große Hochachtung ein. Ein 
ziemlich harter Ausdrud feiner waſſerblauen Augen 
ichien mich unausgefeßt zu fragen: „Biſt du ſchon 
in einer unabhängigen Stellung? Haft du ſchon 
jewals ein Geſchäft geleitet? Kaunſt bu «8 dir 
herausnehmen, dic in die Unterhaltung erfahrener 
Leute zu miſchen? Du Gudindiewelt!” 

Eben diefe Augen imponierten mir einmal fehr. 
Wir waren an einem fürmijchen Tage auf der See. 
In feiner diden Joppe und im Schuße feines Süd» 
weiters jaß er am Steuer, Ich muß geftehen, daß 
id) niemals etwas jo Männliches, Unerjchrodenes 
wie jeine Art und Weiſe, mit der er das Boot lenlte, 
gejehen. Die waflerblauen Augen blidten jeht ſcharf 
und durhdringend, jo daß ihnen feine der heraneilen⸗ 
den, ſich am Bug brechenden Wellen entging. Es lag 
ein ſo kampfbereiter Wilingerausdruck in ihnen, daß 


ich mir ſagen mußte: Er iſt ein Sproß von dem | 


alten Geſchlecht, welches die Normandie eroberte, 
Island beuölferte und „Winland“ entdedte. Aber 
auf feftem Boden und in kultivierter Umgebung 
machte er den Eindrud eines Spiekbürgert. 
Unerflärlih war mir die Vorliebe diejes nüchter- 
nen Menſchen für einen im jelben Orte wohnenden 


Mann, dem man den Spinamen „Patriot“ gegeben 
hatte, Seines Zeichens Juriſt, deffen eigentlicher 
Name Bang war, hatte er zur Zeit der erften 
Bauernoppofition eine nicht jehr glüdliche Rolle ge— 
jpielt. Seither war es bergab mit ihm gegangen, 
indem er ala Abvofat wenig Praris fand und 
num nebenbei Hleinere Kinder unterrichtete. Außer 
dem arbeitete er zuweilen auf dem Bureau bes 
Vogtes. 

Er war ein glühender „Freiheitsmann“ älteren 
Stils, ſprach fortwährend über „Menſchenrechte“ und 
teilte die Bevölferung Norwegens in „jervile Dano- 
manen“ und „PBatrioten“, 

Stets beſchäftigt mit irgend einer neuen ftaate» 
bürgerlichen Idee, wollte er unabläjfig die vielen 
Deipoten des Menjchengeichlechtes hingerichtet wifien. 

Uebrigens war er einer der gütigften, manier- 
lichſten Männer, die je auf der Erbe gewandelt, und 
nur blutdürſtig in feinen Reden, ftet3 bemüht, die 
Welt zu verbefjern. Obgleih Holt niemand mehr 
verachtete als derartige „Schwärmer“ und „Ideali⸗ 
ſten“, verkehrte er doch täglich mit dem Patrioten. 
Jeden Abend konnte man den ehemaligen Oppo- 
fitionsmann in Holts Zimmer finden, fürdterlid 
aus einer langen Pfeife qualmend und feine po» 
litiſche Beredjamkeit entfaltend. Holt hörte alles 
ſtillſchweigend mit an, nidte ihm zuweilen wohl- 
wollend zu und war ihm bei jeder Gelegenheit ein 
treuer Freund, 

Wie man fid) erzählte, hatten ſich einige junge 
Leute bei Gelegenheit einer Vollsverfammlung ver- 
abredet, dem Patrioten einen Poffen zu jpielen. Sie 
lodten ihn, der fein guter Schwimmer war, während 
des Badens jehr weit in die See hinaus, bis Holt 
ihm zu Hilfe fam und jeden der jungen Herren mit der 
Aeußerung, dab er ihnen ihren Scherz verjalzen 
wolle, zum Schluß jo gründlid unter Waſſer tauchte, 
daß fie ihrem Schöpfer dankten, noch mit dem Leben 
davonzufommen. 

Das Verhältnis zwiſchen Holt und der Tochter 
jeines Bruders war in jüngjter Zeit nicht das befte. 
Ich hörte fie niemals ein übriges Wort miteinander 
reden; ſprachen fie aber zuweilen zujammen, io 
pflegten fie fid) dabei nicht anzubliden. Indeſſen 
war ich völlig davon überzeugt, daß er es war, der 
ihr die Geringſchätzung der Bücher und ihre vielen 
jonjtigen Vorurteile eingeflöht habe. 

Wie naiv fie litterariſchen Erzeugniffen gegen 
über war, das zeigte ſich einft in höchſt lomiſcher 
Weiſe. Sie fland, wie gejagt, gewifjernaßen unter 
der Obhut meiner Mutter und kam in der Regel 
täglich in unfer Haus, um nähen und dergleiden 
zu lernen, 

Eines Morgens fam fie nicht zur gewohnten Stunde, 
und als fie endlich erjhien, jah fie übernädhtig und 


Sonnenmwolten. 


725 


niebergefchlagen aus. Die Mutter fragte fie, ob fie | fie mit Rat und That beiftand. Die Art und Weiſe 


tranl ſei; aber es war etwas andres. 

Sie hatte in irgend einem Winkel des Haufes 
ein dies Buch gefunden, das fie mit fortgenommen, 
„weil es fid) abends jo gut bei Büchern einfchlafen 
ließe.” Dieſes Buch nun trug eben die Schuld an 
ihrem kläglichen Zuſtande. Sie war nämlich durch— 
aus nicht über demjelben eingeichlummert, fondern 
hatte bis zum hellen Tage darin gelejen; als fie es 
beim Wiederfommen mitbrachte, ftellte es fich heraus, 
daß e3 ein Roman von Eugöne Sue war. 

„Unglüdliches Kind,” jagte die Mutter, „das ift 
ein jehr unmoralifches Buch.“ 

„Ja, häßlich war 8. Ich Hätte nie geglaubt, 
dab jo viel Sonderbares in der Welt pafjieren 
fönnte!* 

„Kind, es ift ja nur Dichtung.“ 

„Ditung? Iſt es denn nicht wahr?" fragte 
Nie äußerft erſtaunt. 

„Das ijt ja ein Roman!“ 

„A—-a—h! Das ift nur erdidtet! Ja, dann 
it das ja gar nichts Wirkliches! Und ich habe ge= 
glaubt, jedes Mort ſei wahr, und hätte beinahe dar— 
über geweint! Nein, Gott bewahre, was fünnen 
die Leute nicht alles erfinden! Nichts als Dichtung!” 

Und Damit war ihre Luſt, mehr von diefem Zweige 
der Fitteratur kennen zu lernen, gänzlich verſchwunden. 
Sie begeiff nicht, wie jemand Freude daran finden 
inne, „Sedankengefpinite” zu leſen. War fie aber 
nicht in der Litteratur bewandert, jo wußte fie dafür 
um jo beifer mit einem Boote umzugehen, Und 
wenn ſich ihr Intereſſe für erbichtete Menjchen nicht 
regte, jo hatte jie um jo mehr Herz für die wirklichen. 

Ihre Kenntnis der Bücher war gering, aber über 
die Preife der Heringe wußte fie ſtels Beſcheid. 
Wenn die mit Heringen beladenen Boote zur Winters« 


jeit anfamen, befand fie fich gewöhnlich auf der | 


Landungsbrüde und pflegte zu jagen, dieſer Fiſch— 
vorrat jei der herrlichfte Anblid, den fie kenne. Nun 
werben die armen Leute einen guten Winter haben, 
meinte fie, war heiter und that den Ausſpruch, welcher 
ihre ganze Lebensweisheit enthielt: „Es ift ſchön zu 
leben.” 

Ja, mit den Bauern und ihren Angelegenheiten 
war fie ungemein vertraut; befannt mit allen Men» 


ſchen im Orte, eingeweiht in die Lebensgeſchichte | 


eines jeden von ihnen, wußte fie nicht nur, wer 
bereit „verſprochen“ war, jondern auch, weldhe mit« 
einander „gingen“, ja, welche aneinander „dachten“. 
Sie wußte, wie die Eheleute fich miteinander vertrugen 
und wie die Finder ſich aufführten, 
Kenntnis von den Zahlungsfäumigen und von den 
Prozeffierenden und jo weiter. Auf unjern Spazier- 
gängen redete fie häufig mit den uns Begegnenden 
und führte mich oft in die Hütten der Armen, denen 








Sie hatte | 





ihres Verkehrs mit ihnen, und ihre Fähigleit, ſich 
in ihre Berhältniffe Hineinzuverjegen, überrajchte mich 
nicht minder als die Thatſache, dab fie überhaupt 
Intereſſe für dergleichen hatte, 

Als ih nad Ablauf der Ferien wieder nach der 
Stadt jurüdfehrte, waren meine Gedanken über fie 
ungefähr die folgenden: Du fiehft rofig und geſund 
aus, aber bu erweckſt feine Sympathie. Deine Zunge 
it ſcharf und dein Wille von ganz bejonderer Art — 
ungezähmt, ungeregelt und dabei von einer mer!» 
würdigen fFeitigfeit. Doc läßt fich nicht leugnen, 
daß dir zuteilen — wenn aud) nur äußerit jelten — 
eine gewiſſe Anmut eigen ijt und dab in deinen 
Reden fih Humor zeigt. Eines aber jteht feit, näm«- 
lid daß deine Erziehung ſchauderhaft vernadjläffigt iſt 
und dab du lächerlich unfultivierte Anfichten haft. 

II. 

As ich das nächfte Mal nah Haufe fam, zählte 
Elina zwanzig Jahre, und id war im Begriff, mein 
Doltoreramen zu machen. Ich hielt feine Reden 
mehr über den Urgrund des Daſeins, auch feine 
über unfern Stammvater, den Affen, und wir be— 
leidigten und nicht mehr gegenfeitig. Während meiner 
Abweſenheit hatte fie allerdings nur wenig gelefen, 
aber ihre Verachtung der Bücher ſchien doch geringer 
zu jein als früher, und ihr Weien war ruhiger und 
finniger geworden. 

Den Winter verlebte ich bei den Meinen und 
pflegte ihnen an den langen Abenden vorzulefen. 
Elina war gewöhnlich unter den Zuhörern, und ich 
bemerkte vol Verwunderung, daß fih niemand in 
jo hohem Grade für die Sache intereffierte wie fie. 
Anfangs ſprach fie ſich indeffen niemals darüber aus, 
Wenn fie innerlich erregt war, verhielt fie fich ſchwei⸗ 
gend. Gefühlvolle Stellen liebte fie nicht, fie mochte 
nicht, wenn wir länger bei den pathetiichen Scenen 
verwveilten. Ungeduldig bewegte fie ſich auf ihrem 
Stuhle und bat: „Lies weiter!" Pas ich ihr allein vor, 
jo fonnte fie jogar bei derartigem raſch jagen: „Ueber- 
ichlage «8, überfchlage es!" Ein einziges Mal nur 
hörte ich fie jagen: „Das iſt herrlich!“ Sicher ift, daß 
der Ausdrud, welcher in dieſem Augenblicke in ihrer 
Stimme lag, taufendfadh ſchöner war als dag Ge— 
bicht, dem ihre Bewunderung galt. 

Zuerft glaubte ich, fie fönne die Stellen, welche 
fie überichlagen haben wollte, nicht verftehen. Bald 
fam ich von diefem Irrtum zurüd, Sie las dieielben 
für fi allein, und nachdem wir dahin gelangt waren, 
uns über das Geleſene zu unterhalten, zeigte jie eine 
fehr lebendige Auffafjung alles Schönen, die mich in 
das äußerfte Erftaunen verjehte. Sie las die Bücher 
nicht nur, nein, fie durdhlebte fie geradezu, Für fie 
war die Dichtung Wirklichkeit, wenn aud in andrer 


Art als zu jener Zeit, da fie Eugene Sue las. 





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726 Kriſtian Elſter. 


Es war gerade, als ob alles das, was fie dar⸗ 
geitellt las, fi) in ihrer nächſten Umgebung abgejpielt 
habe, und als ob die in den Didjterwerfen vor« 
tommenden Menjhen in engem Verkehr mit ihr 
ſtänden. Sie beurteilte diejelben ebenſo eingehend 
wie die Perfonen des wirflihen Lebens. Sobald 
dieje erdichteten Menſchen ihr micht gefielen, nahm 
fie mir meine Bewunderung ihrer dichteriſchen Schön» 
heit und Wahrheit außerordentlih übel. Sie griff 
fie voll moralifcher Entrüftung an und mwunderte 
ſich darüber, daß ich diefe Charaktere intereffant finden 
fonnte. Sie erflärte wohl, fie haſſe diefen Mann 
oder jenes Weib, und niemand würde fie zu der 
Ueberzeugung befehren, daß fie etwas Beſſeres ala 
Abſcheu verdienten. 

Sie veradhtete „Hamlet“, fie konnte „Wilhelm 
Meiſter“, in welchem Buche auch „fein einziger reeller 
Menſch“ vorfäme, nicht ausftehen und meinte, Werther 
hätte nur ordentlid) arbeiten jollen, dann würde er 
gar nichts von jeinen Leiden geipürt haben. Stein 
Menſch hätte fie dazu bewegen können, dieſe Werfe 
zum zweiten Male zu lefen, ebenfowenig wie fie ſich 
dazu bequemt hätte, mit jemand, von defjen niedriger 
Dentungsart fie überzeugt war, zu verfehren. Gret« 
den umd Klärchen machten indes einen tiefen Ein- 
drud auf fie. Ad, wenn ich fie mir zurückrufe, dieſe 
ihönen Wintertage an der Weftküfte, mit ihrer feuchten 
Luft, den leicht beeiften Wegen, kahlen Feldern, 
dunfeln Bäumen, mit dem trüben Meer und ben 
phantaftisch geformten Sonnenwolfen am Himmel — 
wenn id) der ftillen Abende gedenfe, die wir bei 
wohlverwahrten Thüren in der von mildem Lampen» 
lichte erhellten, hübſchen und feftlihen Stube gemüt- 
fi) verlebten, wo id), ihres Kommens harrend, auf 
und ab ging; wenn ih mich erinnere, wie fie dann 
endlich eintrat, fein und reizend, blühend und friſch 
von der Winterluft, in ihrem rotem Kleide mit einem 
kleinen weißen Kragen am Halsausjhnitt, wenn ie 
mir wieder in den Sinn fommen, ihre vielen heiteren 
Einfälle, ſehe id) fie vor mir, mit den großen, ruhigen, 
nachdenflichen Augen, heißen Wangen und leicht ge= 
öffneten Lippen, Taufchend, die neuen Bilder in fich auf- 
nehmend, bingerifjen von der erften Kunde einer reichen 
wunderbaren Welt, wenn ich diejer unſäglich ſchönen 
Abende gedente, wo die uns umgebende Luft wie von 
einem heimlichen, feftlichen Dufte durchzogen jchien, wie 
fie, ihrer Schweigfamfeit ungeachtet, Durch die Dichter« 
worte zu Bemerkungen veranlaßt wurde, wie ein Blid, 
ein Erröten, eine Bewegung, der Ton ihrer Stimme 
und einzelne Worte ihr tiefes Schnen nad) Liebe und 
Hingebung verrieten, das fi für gewöhnlich unter 
ihrem etwas kurzen, energifchen Weſen verbarg! — ein 
feiner, jeder Schönheit erfchlofiener Sinn, eine un« 
bejchreibliche Treue und Wahrhaftigkeit ihres Herzens 
offenbarten ih mir in den Stunden — ja, wenn 


ich fie wieder durchlebe und an unſre häufigen Spazier- 
gänge zurüddenfe, bei denen wir mit der größten 
Lebhaftigkeit alles Gelejene beſprachen, als hätten 
wir es eben an uns jelbft erfahren — dann jdeinc 
mir die herrlichſten Schöpfungen der Dichter mır 
ein ſchwacher Abglanz des wirklichen Lebens zu fein, 
und in meinem herzen lebt das Bild eine Weſent 
das mir tauſendfach ſchöner zu fein dünlt als irgend 
eines der von den erhabenjten Geiftern der Welt 
geihifderten, ein Weſen, das gelannt zu haben, ein 
großes, unauslöfchliches Glüd in ſich jehlieft, 

Diejes Beifammenfein währte indes micht lange 

Es war gegen Ende des Winters, an einem Tage, 

wo ſchon ein Hrühlingsahnen die Luft durchzog und 
feine, weiße, leicht gefräufelte Wölfen am Himmel 
ſchwebten, als wir unfern Spaziergang am fer it 
Meeres machten. Wider Gewohnheit verhielten wir 
uns ziemlich ſchweigſam, Elina ſchien nicht geneigt, 
fih an einem Geſpräch zu beteiligen, fie blick 
gedanfenvoll in die Ferne und antwortete zerftreut, 
in faltem, Manglojem Ton. Auch ich fühlte kin 
Bedürfnis zu reden. Ein warmes, ſchönes Gefühl 
von Glüd erfüllte meine Seele, taujend fröhliche, 
närrijche Gedanfen fuhren mir durd den Sin, 
allerlei unbeftimmte Erwartungen tauchten im mie 

| auf und flüfterten mir lauter jüße, unkluge Dinge 
zu, und vor meinem inneren Auge ſchwebten goldene 
Bilder, wie Sonnenwolfen am Himmel. Alles, wa; 
ich fühlte und dachte, ließ fich durch ein paar kurze 
feine Worte ausbrüden, und unverjehens entichlüpiten 
fie aud) meinem Munde. „Es ift ſchön zu leben,“ 
dachte ich laut, indem ich Elinas Wahlſpruch an 
wendete. „Es könnte ſchön fein,“ jagte fie mit der- 
felben tonlofen Stimme wie vorhin und ſchien mit 
ihren Gedanlen weitab zu jchweifen. 

Auf dem Heimmwege fanden wir auf einer An- 
höhe fill, von der aus man den Fjord umd die 
Ortſchaft liegen jah. 

„Wie wunderhübſch liegt der Ort,“ rief ich auf. 
Denn ich glaubte wirklich, nod nie etwas Schöner 
geſehen zu haben als dieje jchneefreien Felder, dieie 
laublojen, dunfeln Bäume, die noch winterliche See 
und hoch über allem den im Weiten golden leuchten 
den Himmel. 

„Mir eriheint e8 Dunkel und ſchwer!“ ermiberte fie. 

Dunkel und ſchwer! Das war mir unfahlid! 
Mir ſchien alles in ftrahlende Glut getaucht zu jein. 

Ich zeigte gegen Weiten: „Sieh, wie wunderbar 

es dort erglänzt und leuchtet!“ 
Isa, außerhalb der Dorfſchaft,“ ſagte fie. 

Ih ſah fie erftaunt an. Daß fie dieje friedliche 
Heine Welt, in welcher fie doch mit allen ihren Ge- 
danken, Intereffen und Hoffnungen weilte, dumtel 
und ſchwer finden konnte, war mir ganz unverfländ- 
| lich. Ihr mußte etwas Unangenehmes begegnet fein. 





\OOgIIE 
2 — | 


— Ari 4 


J 


Sonnenwollken. 


Bar fie doch während des ganzen Weges an der | 

ihren Wahlſpruch: „Es ift ſchön zu leben“, zu eigen 

' gemacht habe, nur mit der Heinen Variation: „Es 

ift Schön, mit dir zu leben.“ 

fanden erft bei dem Eingange zu Holts Garten jtill. | 
„Aber dort draußen ift e8 im Grunde gar nicht | 

jo ſchön,“ fagte ih und dachte daran, wie oft aud) 


einen Seite der Strafe für fi) dDahingegangen, und 
mın fiel mir auch auf, daß fie mißgeſlimmt ausjah. 
Wir Ienkten unfre Schritte den Häufern zu und 


ich mich gefehnt Hatte nach etwas Unbekanntem, 


Herrlihem in der Ferne, etwas Herrlichem, das ſich 


immer weiter von ung entfernt und immer außerhalb | 


der Welt ift, in welcher gerade wir uns befinden. 
„Aber alles das, was wir gelejen haben, iſt das 
wicht ſchön ?* fragte fie; „aber das ift dort draußen,” 
Sie blidte noch einmal gedanlenvoll hinüber nad) 
dem hellen Weiten. Ein jehnfüchtiger Ausdrud, ber 
fie mir ganz fremd erſcheinen ließ, lag auf ihrem 


Antik. So hatte ich fie niemald vorher geſehen; 


fie pflegte auch öfter zu ſagen, daß fie ſich noch nie 
nad) irgend etwas gejehnt hätte, 

Ih zögerte beim Abſchiede; unwillkürlich wartete 
id, ob irgend etwas, dem ich feinen Namen zu geben 
wußte, geſchehen würde. Es jchien mir, als ob fi 
etwas Bejonderes in diefer Stunde entjcheiden müfle, 


und als ob die Entſcheidung von mir abhinge — ald 


ob irgend etwas gejagt werden müſſe; — daß ich eines 
großen Glückes verluftig gehen würde, wenn es gerade 
jet ungefagt bliebe. Eine Wengftlichleit und Be— 
llemmung überfam mid), meine Hände wurden feucht 
und falt, wunderliche Nebel jchienen rings um mich 
aufzufteigen, und der Boden ſchwanlte unter meinen 
Füßen. Endlich wurbe mir doch Far, daß id) ihr 
eiivas von bem, was mich in der Zeit unſers Zu— 
jammenjeins bewegt hatte, geftehen wollte; zugleich 
aber befiel mich eine furdhtbare Angft, es auszu— 
ſprechen. Da erinnerte ic) mich ihrer leßten Worte: 
„Mes das, was wir gelejen haben, ijt das nicht 
ihön? Mber das ift draußen.” Und mit einer 
Rühnheit, die mir abenteuerlich vorlam, fagte ich: 
‚Das alles ift eigentlich gar nicht ſehr ſchön, aber 
du fiehit es jo jchön.“ 

Sie drehte ſich rajch in halber Wendung gegen 
mih um und ſah mid mit einem überrajchten, 
wunderlich nüchternen, abwehrenden Blid an. Es 
war ein Blid, der durch jede Hülle ber Seele bin» 
durchging und fragte: „Was ift es, das du bezwedtit ?” 


nähften Uugenblid ſah fie wieder in die Ferne, aber 


ihr dem Abendhimmel zugewendetes Gejiht war | 
Als ich beim Herannahen des Herbites in die Stadt 


ebenjo gerötet wie dieſer. 
Mehr jah ich nicht, denn mit einem haftigen 
„Bute Nacht“ verſchwand fie durch die Pforte, 
Während meines Nachhauſeweges wurde es mir 
iur Gewißheit, daß ich mir, ungeachtet unſrer Un— 
gleihheit, (denn wir waren in vielen Dingen voll» 
fländige Gegenfäße) und troß meiner Lehre von den 


DER 


in ihrer Nähe weilte. 
Es war wie das rajche Bliken eines Meflers; im | 





127 


einander anziehenden, verwandten Inbividualitäten 


Ja, ich war verliebt, unwiſſenſchaftlich, unver 
nünftig verliebt und unendlich glüdlich in der Unrube, 
ber Sehnjucht, der Furcht und der Hoffnung diefer 
Liebe. 

Von diefem Tage an war unſer Verkehr nicht 
mehr derjelbe wie früher. Wir hatten beiderfeitig 
eine Entdedung gemacht und zwar die, daß wir ein» 
ander fremd waren, Es gab feine Leje-Abende mehr, 
feine Spaziergänge, fein vertrauliches Plaudern über 
ben Ort und defien Bewohner. Ich fand mid une 
gemein verlegen in ihrer Gegenwart, und e8 ums 
gab fie etwas jo Nüchtern-Alltägliches, daß ich mid 
unabläjlig fragen mußte, ob fie dieſelbe ſei, bie 
mir an jenen Abenden gegenüber geſeſſen, in beren 


' Antlik man den Abglanz alles Schönen, das gelejen 


wurde, erſtrahlen ſah, und mit der ich in häufigen 
Unterredungen Gedanfen ausgetaufcht Hatte über 
alles mögliche, über Dichtung und Wirklichkeit, Unter« 
redungen, bei denen fich mir ihre tiefe, heftige, aber 
ehrliche Natur offenbart hatte. Es war, als läge 
jene Zeit unendlich weit zurüd, und fie jelbft erſchien 
mir jo fremd, dab ich mich auch nicht einmal über- 
winden fonnte, auf das Vergangene mit feinem 
vielen Schönen zurüdzufommen. Denn ic) erwartete, 
nur einem verwunderten Nusbrude ihres Auges zu 
begegnen, als könne fie nicht mehr verftehen, worauf 
ich hindeuten wolle. 

Berjhiedene Umftände veranlaßten mich in diefer 
Zeit zu häufiger Abwejenheit, und ich empfand dies 
wie eine Erleichterung; denn da3 Zufammenfein mit 
ihr war mir zur Dual geworden, da wir nicht mehr 
in gewohnter MWeije miteinander verfehren konnten. 
Ich grübelte über das Gejchehene; einmal dadjte ich, 
es habe jich doch eigentlich gar nichts verändert, und 
dann drängte ſich mir die Leberzeugung auf, dab 
die herrlichen Wintertage nur eine Tüuſchung gewefen 
feien, und daß fie nie, nie wieberfehren würden. 
Voll brennender Sehnſucht gedachte ich der ent- 
ſchwundenen Zeit; Sehnſucht nad ihr erfüllte mic, 
wenn jie abweiend war, und nod größere, wenn ich 
Sp vergingen das Frühjahr 
und der Sommer, ohne daß ich viel Davon bemerfte. 
Da ich ſtets mit einem und demielben Gedanten be» 
ſchäftigt war, jo floflen mir die Tage einförmig dahin. 


zurüdfehren wollte, war mir, bei dem unausgejeßten 
Nachdenken über das Rätjel unfrer Beziehungen zu ein⸗ 
ander, jede Luft zur Urbeit abhanden gelommen. Ein 
bitterer Widerwille gegen die Außenwelt mit allem, 
was fie bewegte, erfüllte mich, und nun wäre es mir 
faft lieb geweſen, mic ungeftört in ihrer Nähe dem 


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728 Kriftian Elſter. 


aufreibenden Grübeln, das mir doch ſo unerträglich 
geſchienen, hinzugeben. Ich lechzte nach einem Strahl 
hres lieben Lächelns, einem freundlichen Blick ihrer 
treuen Augen, um Luft zur Arbeit und Mut zum 
Leben zurüdzugewinnen. 

Und es wurde mir. 

Den Anlaß dazu gab eine Duadjalberkur , und 
diefe, meine erfte ärztliche That, hat ſich daher 
meinem Gebächtniffe feſt eingeprägt. Ein balb- 
erwachſener, an einem der benachbarten Fiorde 
wohnender Burjche war jo unglüdlich gefallen, daß 
er in augenjheinlicher Lebensgefahr jchwebte. Es 
wurden Eilboten zum Doltor gejandt, aber alt und 
überdies frank, konnte diejer bei dem jehr ftürmijchen 
Wetter dem Rufe nicht folgen. In jeiner Not fam 
der Bote zu uns, da ich ja „zum Doktor ftudierte*. 
Ih begab mid) zum Arzte, holte jeinen Rat ein 
und machte mid) auf die Reife. 

Zunächſt galt es einen nächtlichen Ritt durch das 
wilde Gebirge, den ich nicht leicht vergefjen werde ; 
Regenihauer und eisfalte Winde beläftigten uns an 
den offenen Stellen. Eine jo tiefe Dunkelheit umgab 
ung, dab ich die Gejtalt meines Führers faum ge— 
wahrte, Daß wir überhaupt vorwärts lamen, ver- 
dankten wir nur unfern tapferen heimatlichen Pferden, 
die jo zuverläffig find, die ihren Pfad da finden, 
wo Menjhen irre an demjelben werben, die unver⸗ 
droffen gegen Wetter und Wind anfämpfen, ohne 
zu ermübden, 

Danach ging es ind Segelboot. Die völlige 
Stille, welche in demjelben herrſchte, die ungewöhn- 
liche Schnelligkeit, mit welcher Befehle gegeben und 
ausgeführt wurden, mußten auch einen Nichtfundigen 
überzeugen, daß mit jedem Windftoße eine Lebens— 
gefahr drohte. Wir erreichten das andre Ufer indeſſen 
wohlbehalten, und ich that mein Beftes in der Ber 
handlung des Patienten. Schon während ich nod) 
um den Knaben beihäftigt war, und nachdrücklicher 
auf dem Heimmwege, fam es mir zum Bewußtjein, 
dab Arbeit doch eine jhöne Sache jei. Sie hatte 
mich wahrhaft heiter geftimmt, und ein ftärfendes 
Gefühl von ermeutem Lebensmut durchzog meine 
Seele. Da der Sturm etwas nachgelaſſen hatte, 
legte ich den ganzen Weg zu Waſſer zurück. Ein 
itrömender Regen durdnäßte mid) völlig, und da 
wir zum Schluſſe dem falten Zugwinde ausgejeht 
waren, ſah ich mit einem angenehmen Gefühl den 
vichterfchein der Häufer auftauchen, wie eine freund« 
liche Verheißung heimifcher Gemütlichkeit. 

Raſch eilte ich den Weg hinauf und betrat den 
Hofplag. Eine ſchwache Helle ftahl ſich durch die 
verhängten Fenſter umd fiel auf bie entlaubten 
Bäume, auf das weiße Gitter und auf die fleinen 
Wafjertümpel zwijchen den Steinen. Nahdem ich 
die naſſe Kleidung gewechſelt, ging ich im die feftlich 


erleuchtete Stube; der Tiſch war mit einem weißen 
Tuche bededt, dampfender Kaffee ftand auf dem 
Kohlenfaß und eine Schüffel bräunlich glänzender 
Kuchen mitten auf der Tafel, um die, außer den 
Hausleuten, Elina, Holt und der Patriot Paf gr 
nommen hatten, 

Augenſcheinlich hatten fie auf mich gewartet; bei 
meinem Eintreten erhoben ſich alle, um mid) mil: 
fommen zu heißen, und erzählten, ein Bauer, der 
über die Berge gefommen, habe ihnen von meinem 
Ausfluge berichtet, und fie hätten die Stunde meine: 
Nüdtehr einigermaßen berechnen fünnen. Da mir 
nun alle wohlbehalten um den Tiſch ſaßen, als ih 
die mir vertrauten lieben Geſichter amblidte und die 
lebhaften Reden beim Geſumſe des Keſſels und dem 
fnifternden Ofenfeuer durcheinander ſchwirrten, ſchien 
mir das Dajein doch noch einigen Reiz zu befisen, 
und ich begann größeres Vertrauen zu der bedeuten: 
den Heilfraft, Arbeit genannt, zu gewinnen. 

Als aber Elina jpäter am Abende auf mid zu 
fam, als ich wiederum den warmen, treuherzigen 
Blick ihrer ehrlichen grauen Augen mir zugewendet 
jab und den alten zutraulihen Ton im ihrer 
Stimme vernahm, mit dem fie, meine Hand er 
greifend, fagte: „Ich danle dir dafür, daß du den 
Weg machteſt,“ da waren alle meine Zweifel ge 
hoben, Die Arbeit, welche meiner wartete, war nicht 
länger nur ein Heilmittel, fie war eine Luft, eime 
Freude, das eben war jchön, und ich wünschte mır, 
fortzugehen, um den Kampf um das Dajein, weldes 
mir jüngft jo unüberwindlich ſchwer erſchien, aufju- 
nehmen. 

’ UI. 

Meine Studienzeit war zu Ende, und nichts hielt 
mid) mehr in der Stadt zurück; furz vor Weihnachten 
ſuhr ich im Schlitten der Heimat zu. Des Anfang: 
diejer Heimreiſe entfinne ich mich jo deutlich, al 
ob es geftern gewejen wäre. Es war eim herrlicher 
Schneetag, ftill, milde und frieblih. Ich fuhr 
in ſchwachem Trabe durch die feierlichen Tannen: 
Ihonungen im Oſten des Landes, vorüber an großen 
Bauernhöfen; der Weg zog ſich zwiſchen hodaui- 
geworfenen Schneehügeln und eingefchneiten Bäumen 
dahin. Nahe zufammenftehende Bäume waren durch 
die Schneemafjen förmlich miteinander verbunden. 
Kleinere vereinzelt jtehende Tannen hatten fih in 
riefige Schneebälle verwandelt; die unterften Zweige 
lagen in Schnee begraben, während die oberen, dicht 
am Stamme, jchwer niedergebeugt hingen; es machte 
den Eindrud, ala babe fi der Schnee nad umd 
nach auf jeden einzelnen Baumzweig gelegt, um fit 
zulegt alle in jeine Umarmung zu zwingen. 

Die jungen Yaubbäume hatten ſich nad) einer 
Seite geneigt; fie alle waren durch Wetter und Wind 
gebeugt, und ihre zarten Gipfel berührten fait die 








Sonnenmwolfen. 


Schneedecle. Aber die größeren, deren fteifen Armen 
der Wind nicht hatte Gewalt anthun fünnen, waren 
über und über mit Schneekryftallen befät und hatten 
das Ausfehen gewaltiger Eisblumen, die man bon 
einer riefengroßen Glasſcheibe abgelöft und in ben 
freien Raum gepflanzt hatte. 

Es war ein wunderſchöner Aublick, den dieſes 
milde Schneereich gewährte. Weihe Felder, weiße 
Berge, weiße Bäume, Häufer und Scheunen und ein 
weißbemwölfter Himmel, der große, weiße Flocken 
langſam hernieberfandte. Die ganze Ortichaft, durch 
melde ich fuhr, war in ein großes, reined und ges 
ihmüdtes MWeihnachtäichlob verwandelt, mit vielen 
tiefen, heimlichen Gängen, weichen Himmelbetten und 
voll hellen Schneeſchimmers. 

An diefem herrlichen Tage fühlte ich mich jo 
durchdrungen von der Freude, frei zu jein, ber 
Heimat entgegenzueilen, heim zu dem Trauten, Lieben, 
daß ich bald da fein würde, wo ſich Elina befand, wo 
ich fie fehen, Hören und mit ihr reden fünne, daß 
fin Gedanke des Zweiſels oder Mißtrauens in 
meinem Herzen Pla fand. 

Und alles um mich her jchien diefelbe ſtille Freu— 
digfeit, dasſelbe Slüdsgefühl innerer Befreiung, dies 
ielbe warme Empfänglichkeit für alles Schöne bes 
Lebens mit mir zu empfinden, 

„Es ift Schön zu leben und fi von dem fanften 
Schnee umfangen zu laſſen,“ jagten die Tannen der 
Schonung. 

„Es ift ſchön zu leben,“ jubelte der Hafe, welcher 


mit Windesfchnelle vorübereifte, beinahe verborgen | 


duch den tiefen Schnee zu beiden Seiten feines 
Ihmalen Pfades. 

„Es iſt ſchön zu leben,* flüfterten die Schnee 
foden, indem fie wohlgefällig in weiten Bogen durch 
die Luft einherjegelten, ehe fie ji) auf ihrem daunen- 
weihen Lager zur Ruhe begaben. In den großen 
Gehöften, an denen ich vorüberfuhr, ftanden Ziegen 
und Schafe, fi an ihrem Futter ergöbend, und 
fanden das Leben wundervoll, ſolange es noch etwas 
zum Snabbern gab. Außerhalb der Scheune hüpften 
unzählige Sperlinge und hielten das Dafein für ein 
ebenjo glüdjeliges, da drinnen gedroſchen wurde 
und überdies Weihnachten mit feiner Spende von 
Arhrenbündeln fo nahe bevorjtand. Alles war fröhlich 
und fang diejelbe Weiſe wie ich, der nun dem Stadt- 
leben Valet gejagt hatte, 

No ein paar Tage, und die Tannenihonungen 
ſowie die großen Bauerngüter des öftlihen Landes 
lagen weit Hinter mir; aud den jchneebebedten 
Gebirgslamm Hatte ich paffiert und fuhr zu Thal, 
der weitlich gelegenen Dorfſchaft entgegen, deren Um- 
gebung von Bergen, Fiorden, reikenden Gebirgs« 
ſtrömen, dunfeln Kiefernwaldungen und Heinen 
Gehöften ich mac längerer Abweſenheit nie ohne 

Aus frenben Zungen. 1897. II, 18. 





129 


einen wahren Jubel meines Herzens wiederiehen 
fonnte. 

Dieſes Mal aber gefellte ſich demjelben eine er- 
wartungsvolle Unruhe hinzu, die fich vermehrte, je 
näher ich meinem Ziele kam. Die frohe Feſtſlimmung 
des eriten Tages war vorüber; tragen, Zweifel und 
Furcht tauchten in mir auf, und hatten meine Ge— 
danfen mich hoffnungsvoll, wie leicht beichtwingte 
Walter, umgaufelt, jo lähmten meine heutigen Bes 
denken ihren freudigen Flug. 

„Es ift ſchön zu leben,” hatte nod vor wenigen 
Zagen alles rings um mid ber geflüftert, „Es 


iſt schön zu leben,“ hatte ich auch der einen ge 








ſchrieben, der meine ganze Seele num zu eigen war. 
Und ich hatte e& ihr mit dem kleinen Morte, das ich 
unlängft im jtillen hinzugejegt, „mit dir, mit bir”, 
gejchrieben. Ach, ich verjentie mich in alles, was 
zwiichen uns geichehen, prüfend bedachte ich jedes 
Wort, jede Miene — und plötzlich fand ich, daf bie 
Fahrt allzuraſch thalwärts ging. Unveränderlich 
behielt das Meine Pferd den ebenen Trab bei, ber 
diejen Tieren eigen zu fein fcheint, und der weite 
ländiſche Bauernfchlitten glitt jo eben dahin, wie es 
allezeit ein ſolcher Schlitten zu thun pflegt. Aber 
e3 ſchien mir doch, dab ſowohl Pferd wie Schlitten 
fih unnötig ſchnell vorwärts bewegten; ich hatte ja 
gar nicht jo große Eile, 

„Nun zünden fie bei den Bornehmen Licht an,“ 
hörte ich plötzlich eine Kinderſtimme jagen. 

Ih jah mih um. Vor einem am Wege gele- 
genen Heinen, grauen, hölzernen Häuschen fanden 
eine Frau und ein Knabe, nad) den Fichtern unten 
im Ort ſpähend. 

Richtig! Es war ja heiliger Abend, und dort 
unten hatte man überall Weihnachtslichter angezündet. 
Ich gedachte der vielen Taujende, die jo außerhalb 
ihrer dunkeln Behaufungen fiehen, um die aus 
warmen, gemütlichen Näumen erftrahlenden Lichter 
zu jehen, und denen um Weihnachten nur Die himm— 
lichen Sterne ihr Licht ſpenden. 

Der Menich iſt ſchwach. Vielleiht lamen mir 
dieje Gedanken, weil ih mich davor fürchtete, ſelbſt 
einmal zu den Armen zu gehören. 

Ich näherte mich unjerm Gehöfte. Ob fie wohl 
heute abend bei uns war? Ob fie zufammen mit den 
andern auf mich wartete? War fie wohl ſchon auf 
ber Haustreppe geweien, um auf den Meg zu 
jehen? 

Einen Moment dachte ich fie mir, in der Haus— 


| thüre ftehend, wie fie ihr blondes Haupt vorneigte, 
daß die Schneefloden auf ihr helles, Todiges Haar 
| fielen, auf ihrer Stirne zerſchmolzen und in ihren 


Mimpern hängen blieben — wer fann jagen, was 
fie in den Augen lajen? 
Jeht Tag das Haus vor mir. Ein Gefühl von 


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730 Kriftian Elfter. 


Kälte beſchlich mich, und ein ftechender Schmerz durch- 
zudte meine Bruft. 

Noch eine Schwenfung, und das Pferd ftand vor 
der Thür til. In dem Flur ſah ich Licht er- 
icheinen und wieder verſchwinden. Mir war ganz 
beengt zu Mute. Am Tiebften hätte ich mid) unbemerkt 
hineingeſchlichen und nad) einigem Zögern meine An. 
wejenheit tundgegeben. 

Die Hausthür öffnete fi; ich jah eine Pelzmütze 
und hörte bes Vaters Stimme fröhlih und ſcherzend 
fragen: 

„Haben wir did) endlich, du Landftreicher?* 

Hinter ihm jtand die Mutter mit der Leuchte. 

Co raſch meine Pelzftiefel es geftatteten, eilte ich 
hinein, um mid) aus meinen winterlichen Hüllen los— 
jujchälen, während die Eltern und ein Zeil des Ge- 
jindes mir den Willlommengruß boten. 

„Ufo jie ift nicht hier,“ dachte ich. 


„Schnell ins Zimmer mit dir!” jagte der Vater, | 


indem er mich jacht vor ſich her jchob. 

Wir durchſchritten den Saal, wo es jo falt war, 
daß fi der Atem verbichtete. Aus dem dahinter 
liegenden Wohnzimmer ftrahlte uns das Licht großer 
und Meiner Yampen feſtlich entgegen. 

Ja, hier war fie gewejen. ch bemerkte das 


an den hübich drapierten Vorhängen, an den Schling- | 


pflanzen, welche fih um den Spiegel legten, ja, an 


der Art und Weife, wie man die Sejjel gerüdt hatte. | 


Aber fie befand ſich nicht im Zimmer. 

Der feftlich gededte Tiich trug außer den alt« 
väteriſch geformten Theetafien die fie weit über— 
vagende, glänzend polierte Theemaſchine, welche, emfig 
brodelnd, ein mildes hausmütterliches Kommando über 
alle aufgetragenen herrlichen Dinge zu führen ſchien. 

Ic ftellte mich an den Dfen, um mid) zu er- 
wärmen; denn ich wünjchte mich möglichft unbefangen 


ju zeigen und lieh mid) allmählich faft braten, während | 
die jüngit empiundene Kälte jet einer unerträglichen | 
‚ bezweifelte, ob ich das Examen auch wirklich ber 
- landen babe, 


Hitze Platz gemacht hatte. In der Unruhe meines 
Herzens redete ic) unausgeſeht über eine Menge der 
verfchiedenartigften Dinge. 

Endlich öffnete fich die zur Küche führende Thür, 


ruhigen Ausdrud, und fie redete und bemegte ſich 
in ihrer gewohnten Art, als fei nichts geichehen, das 
fie in Unruhe verjeßt hätte. Allmählich gewann auch 
ich jo viel Herrfchaft über mich zurüd, um fie ger 
nauer beobachten zu lönnen. 

‚ Niemals, weder vorher noch nachher, habe ih 
etwas jo Schönes gejehen als fie. 

' Ih hatte gar nicht gewußt, daß fie jo wunderbar 
ſchön ausjehen könnte wie heute, da fie neben dem 
Tiſche ftand und das Lampenlicht auf ihr golden 
Haar und ihre rofigen Wangen fiel. Nie hatte id 
ihre Augen jo bezaubernd, jo tief und glänzend ge⸗ 
funden. Dabei aber blidten fie ruhig und verftändig. 
Und obgleich ihre Geftalt weder beſonders feine noch 
weiche Formen zeigte, jondern hauptſächlich den Ein- 

‚ drud einer kräftigen Gejundheit machte, bejah fie 

doch eine reizende Anmut. Mir war unbejchreiblid 

‚ teoftlos zu Mute, denn es fam mir ganz unmöglih 

vor, daß ich jo glüdlich werden fünne, ihr als das 

Liebfte im Leben zu erfcheinen. Wäre dieje Seligfeit 

weniger groß gewejen, hätte ich vielleicht mehr Zur 

‚ verjicht beſeſſen. Aber id; konnte mir feinen Menſchen 


vorſtellen, dem ein jo hohes Glüd beſchieden wäre 


als mir, wenn — o, wäre es dennoch möglich, dann... 

Sobald wir in Bedrängnis geraten, werden wir 
alle wieder zu Katholilen, und ich fürchte, ich habe 
dem Schußheiligen der Liebe an dieſem Abende mehr 
als eine Kerze gelobt. 

Später am Abend erſchien dann aud Holt. 

Dieſer war mir von allen Fremden heute gerade 
der unmilllommenfte. Es lag zwar michts zwiſches 
ung vor. Aber diefer Mann, welcher, wenigiiens in 
Bezug auf irdiſche Dinge, alles, was er nicht mit 


‚ Händen greifen fonnte, bezweifelte, peinigte mic) durch 


‚ feine bloße Anweſenheit, verftimmte mich — und num 


‚ gar am heutigen Abend. 


Während er mir Glüd wünſchte, ſchienen fein 
Blick und feine Mienen zu jagen, daß er durdaus 


Vieleicht war die ganze Geſchichte nur erfunden, 
und er würde jich nicht eher von der Thatfache über» 


und ganz undeutlich gewahrte ich ein blondes Haupt, | zeugt halten, als bis er die Zeugniſſe jelbft geprüft. 
eine blaue Schleife, ein helles Tuch und eine von Mir verging der Abend traurig; die Eltern dar 
einer Manjchette feſt umichlofjene Heine Hand. ; gegen ſchienen glänzender Laune zu jein. Elina wır 
Mahrieinlic bin ich ihr entgegen gegangen, um  beichäftigt mit einen häuslichen Verrichtungen, die 
iie zu begrüßen, obgleich ich von diefer Thatfache nur , jie zumeilen hinausführten, und dazwijchen jcherjk 


eine jehr unflare Erinnerung habe. Ich weiß nur, 


daß fie mir Thee reichte, den ich jchleunigft trant, 
mid) ſtark dadurch brannte, nod) eiliger tranf und 
mir den Mund noch ſchlimmer verbrannte. Da fie 
mir die zweite Taſſe bot, hatte ich erft jo viel Mut 
gewonnen, um fie anzubliden. Es fam mir vor, 
als umijpiele ein feines, faft unmerlliches Lächeln ihre 
Lippen — ſonſt hatte ihr Gefiht einen offenen, 


fie heiter mit der Mutter. Der Onfel und fie wed* 
jelten weder Wort noch Blid. Offenbar war bus 
Verhältnis zwiſchen den beiden jeit meiner lepten 


‚ Anmejenheit um fein Haar beifer geworben. 


Holt und der Vater hatten fich mit ihren Pfeifen 
in einem Heinen Nebenzimmer niedergelafien, me 
fie ſich über die verfchiedenartigen Viehraſſen unter: 
hielten. Vater hatte fich eine jchottijche Kuh fommen 





Sonnenmwollten. 


laſſen, Holt indefjen ſchien fie nit für verwendbar 
zu halten. Dann fam die Rede auf Schmieröl, und 
der Vater, als Freund alles Neuen, hatte gerade 
eine bejondere Art desſelben gefauft. Das ift aus 
ländifcher „Dumbug“, meinte Holt. Hierauf ging 
man zur Beiprehung eines Erbprozeſſes über, und 
Holt fand, daß von feiten beider Parteien „zu did 
aufgetragen würde“. Dieſen feinen Licblingsausdrud 
wandte er auf jede jchriftliche Produftion an, deren 
Stil etwas lebendiger gehalten war als der feiner 
Preiscourante und Kaſſenbücher. 

As ich mich veranlaft fühlte, ein Wort mit« 
jureden, ſah Holt mich eine Weile aufmerffam an, 
um endlich zu fragen: 

„Haft du auch angefangen, dir einen Badenbart 
zuzulegen?” Diejen Schmud trug id) bereits feit fünf 
Jahren. Was mi aber am meiften gegen biejen 
Menſchen aufbrachte, war, daß id; im Grunde meines 
Herzens fühlte, ihm unrecht zu thun, wenn ich ihn 
einen Müßiggänger und Spiekbürger ſchalt. 

Ic überlieh bie beiden Freunde ihren Betrach-⸗ 
tungen und begab mid ins Wohnzimmer zurüd. 
Elina und die Mutter jtanden, gebämpften Tones 
ſprechend, in einer Ede desielben, Ich nahm in ihrer 





Nähe Plaß. Die Mutter flreichelte meine Wange | 


und fragte mid), ob ich mich wohl al& Arzt in meinem 
Heimatsorie niederlaffen möchte. 


731 


ſchon fürdtete, etwas von dem verraten zu haben, 
was ich fühlte und dachte, und mir vornahm, mehr 
auf meiner Hut zu fein. 

Gleich darauf ging fie hinaus, weil es bald 
Effenzzeit war. Die Mutter ließ mich neben fich im 
Sofa ſihen, nahm meine Hände zwiſchen bie ihren, 
ſah mic; mit einer beinahe rätielhaften Zärtlichkeit 
an und begann über die Sorgen und Freuden bes 
Familienlebens zu reden. Sie teilte mir mit, weldjer 
Einnahme ein neuvermähltes Paar bebürfe und wie 
viel Eheleute mit Kindern jährlih verbraudten. 
Schließlich gab fie mir nügliche Winke in Bezug auf 
Kinderzudt. Ich konnte nur annehmen, daß mein 
eben bejtandenes Eramen dieſe Ratſchläge veranlafte, 
und wurde recht einjilbig. 

Beim Abendeſſen ereignete ſich etwas Unertwartetes, 
Mein Vater erhob fich mit einer gewiſſen fyeierlich- 
feit, um eine äußerſt verblümte Rede zu halten. Er 
begann mit der Bemerkung, dab wir am heutigen 
Tage ein mehrfacdhes Feſt zu feiern verfammelt feien. 
63 fei Weihnachten (unbeftreitbart), ich hätte mein 
Eramen beftanden (wurde einitweilen noch von Holt 
bezweifelt), und er hoffe, daß am heutigen Abend 
ein Stern am Himmel leuchte, der für mehr denn 
einen ber Anwejenden zum Glüdsfterne werden möge. 


\ Dabei richtete er das Wort fpeziell an Holt, was 


In Erwägung | 


deſſen, wie leicht es geichehen könne, daß die Heimat | 


der lebte Plaß jet, in dem ich wünfchen möchte zu 
Ieben, ließ ich durchblicken, e8 könne mir aud im 
bohen Norden eine Stätte bereitet fein. 


Lächeln, „ich glaube nicht, dab du nach dem Nord» 
land geht.“ 


Elina fragte: „Möchteft du praltiſcher Arzt fein?“ | 


Dies waren die eriten Worte, melde fie an 
mic richtete, nachdem fie mich willlommen geheiben. 

Sie berühtten mich ganz ſeltſam, und «8 jchien 
mir, als jei es draußen plöglih Sommer geworden; 
ih empfand es wie weiche, warme Luft und Blumen» 
duft um mich ber. 

In ihrer Stimme halte ein eigner, vertraulicher 
Klang gelegen, wie von etwas halb unterbrüdt Zärt⸗ 
lichem und einem flillen Glüdsgefühl; es war, ala 
wollten ihre guten treuen Augen mir jagen: „Ich 
bin dein,” 

Sofort erfüllte mich die allergrößte Luft, Arzt 
zu werden, oder jonft irgend etwas, überhaupt zu 
fümpfen, zu wagen, um zu gewinnen. Der ber 
ſcheldenſte Wirlungskreis ſchien mir in diefem Augen- 


blid groß und verlodend, und ich jah eine leuchtende | 
‚ boten in das Zimmer famen, um uns ein frohes 
„Ich wüßte nichts, das ich Tieber jein möchte,” | 


Zufunft vor mir. 


war meine Antwort. Es fam mir vor, als bejchatte 
ein unzufriebener Ausdrud ihre Züge, jo daß ich 


mich zu dem Glauben veranlaßte, er jpiele auf irgend 
eine zu erwartende glüdliche Geichäftsipefulation an, 


' Dann fing au er an, fi) über häusliches Glüd, 





über die hausväterlihen Pilihten, ſowie über die 
' Aufgabe einer Familienmutter auszuſprechen, Holt 
„Ad nein,” meinte die Mutter mit gütigem | 


mit beinahe 
ſtarrend. 
Ich nahm an, daß Holt mit dem Gedanken um— 
ging, „ſich zu verändern“, und wunderte mich jehr, 
noch nichts von der Angelegenheit gehört zu haben, 
Zuletzt ſtieß er in ftrablendfter Laune, in welche 
ihn feine eigne Rede verjeßt, gerührt mit mir an. 


firengen Bliden unverwandt ans 


' Er war voller Freude, die Mutter ebenfalls, Elina 





jah ganz warm und rot aus, mir war äußerſt fonfus 
zu Sinne, Holt dagegen ſchien ruhig wie gewöhnlich, 
aber außerordentlich bleich. 

Wir erhoben die Gläfer, allen ein „fröhliches 
Weihnachten“ wünjchend; der Bater wünjchte außerdem 
jedem von uns „viel Glück“. Als die Reihe an Holt 
fam, mit Elina anzuftoßen, bemerkte ih, daß er 
plöglich fliehen blieb, ohne fein Glas dem ihren zu 
nähern. Auch fie ftand eine Weile, das Glas in 
ber Hand haltend, und nahm ihren Plah wieder ein, 
ohne mit ihm angefloßen zu haben, Endlich jpielte 
fich der leßte Alt des Abends ab, indem alle Dienit« 


Weihnachtsfeft zu wünfchen, einen Augenblid bei uns 
vermweilten und dann wieder fortgingen. 
Gleich darauf erhob fi Holt, ung gute Nacht 





132 


fagend ; der Vater umd ich begleiteten ihn bis zur 
Hausthür, 

„Ja, wir jehen Sie natürlich morgen,” ſagte der 
Vater. 

Holt dankte ihn, und der Vater verſchwand. Als 
ich die Stube wieder betrat, war auch die Mutter 
binausgegangen. Das Zimmer war leer — nein, 
dort ftand Elina, und — o du reiche, wunderherrliche 
Welt !— fie jah mich wieder mit diefem warmen, eigen« 
tümlihen Blide an, der mich vorhin jo in Ber« 
wirrung gejeht. Ich hätte es in alle Lüfte hinaus- 
jubeln mögen; mit einem Dale wußte ih, dab ich 
— man entfchuldige den gewagten Ausdrud — den 
ganzen Abend mit meinem Glüde zufammen zugebracht. 
Die geheimnifvollen Andeutungen der Mutter, des 
Vaters aſtrologiſche Tifchrede, Elinas Benehmen | 
fowie ihr Hierfein, als erwarte fie etwas, ja, es 
mußte etwas gejchehen und bejprochen fein. Indes 
wirbelten alle meine Gedanfen wild durcheinander, 
und wenn ich überhaupt geredet hälfte, wäre nur 
eine unerhörte Dummheit zu Tage gelommen. Zur 
nächſt ging die große Ueberrafhung und Freude in 
firahlendjte, himmlische Glüdjeligfeit über. Ich weiß 
nicht mehr, wie es geſchah, daß id) auf fie zuging, 
unzujammenhängende Worte ſprach, dann eine höchſt 
rätfelhafte Anrede an fie richtete, bis ich endlich 
wagte, ihre Hand zu ergreifen und fie zu fragen, 
„ob e& wirflid; wahr jei“. 

„Du weißt e8 ja ganz gut,“ jagte fie und lachte, | 
und mit ihrer Meinen, zitternden Hand in der meinen 
fühlte ih mich endlich meines Glüdes gewiß, mid | 
immer noch wundernd, dab es überhaupt möglich 
fein fonnte. Ä 

Im Haufe war alles jtill; ftill brannten die | 
Lampen in den Zimmern, jtill, zufrieden und teil» | 

| 


nehmend, wie es mid) dünfte, und ſtill ſaßen auch 
wir beiſammen. Ich jah nichts als zwei liebe, un« 
ergründliche Augen, fühlte das weiche, lodige Haar 
an meiner Wange und ihre warme Meine Hand in | 
der meinen. Und da wir endlich jpradhen, waren 
wir feineswegs beredt. Es waren einzelne Worte, 
die wie die vom Himmel jchwebenden weißen Floden 
um ihrer jelbft willen hinausgeſandt wurden, liche, 
thörichte, Meine Worte, die gejagt und gehört zu 
haben, das größte Glüd des Lebens ausmacht. 

Indes erfuhr ich doch, dab meine Eltern alles 
wußten. 

„Gegen ihren Willen würde ich es nicht gethan 
haben,” jagte fie. Doch hatten fie veriproden, die | 
Sache fürs erfte geheim zu halten. Es war ihnen aber | 
zu ſchwer geworden, jede Anjpielung zu vermeiden. | 

Dem Onkel hatte man nod nichts mitgeteilt; _ 
„aber heute abend verftand er es,“ fügte fie Hinzu. | 

Und dann erinnerten wir und vergangener Zeiten. 
Wie unglaublich Vieles und Liebes uns da einfiel! - 


Kriftian Elſter. 


Wir gedachten unfrer erften Streitigfeiten, und 
fie geftand mir, ich wäre ihr jchredlich eingebildet 
borgefommen, während id) jagte, daß ich fie für ſeht 
umilienichaftlich gehalten, worauf wir beide laden 
mußten. Dann ſprachen wir von den vielen Leſe— 
abenden und gemeinjamen Spaziergängen. Ich ver: 
traute ihr an, dab mir manches Gedicht, wenn fie 
es Schön gefunden, plößlid in einem viel idealeren 
Licht erjchienen jei als jemals vorher, und daß vieles 
von dem Gelejenen, welches mic, anfänglid, wenig 
interejiert hätte, mir jpäter unendlich lieb gemorden 
wäre, indem es mich an fie erinnerte, an eine Br 
merkung, die ihr darüber entjhlüpft, an einen Blid 
oder eine Bewegung — dab die ganze Orticait 
mir erft jeit jener Zeit heimisch umd lieb geworben, 
als fahten die fie umgebenden hohen Felſen alles 
Herrlichjte der Erde in ihre Mitte, 

Mit verwundertem Kopfichütteln meinte fie, des 


ſei ihe nicht verftändlid. Sie habe ihre Neigung 


zu mir erft an jenem Abende erfannt, al& id den 
Beſuch bei dem verwundeten Knaben machen muhtt. 
Zuerft hatte fie fi geängitigt, als müſſe fie alles 
das verlieren, was das Licht und die {Freude dei 
Lebens ausmacht; dann aber fei ihr ſtolz, froh und 
zuperfichtlich zu Sinne geworden, 

Wie fie erzählte, hatte fie an dem Abende an 
dem Wege, den ich fommen mußte, geflanden, um 
mir Lebewohl zu jagen, ſich aber doch nich 
gezeigt. 

Als fie dann hörte, daß man mid) zurüderwar- 
tete, und fie mich zu ſpäter Stunde ins Zimmer treten 
ſah — da hatte auch fie gewußt, wie e8 um fie fand. 

Und dann jchilderte ich ihr die leßte Zeit meine 
Aufenthaltes in der Stadt, wie unabläjfig ich ibrer 
gedacht, mich nach ihr gejehnt und wie jpielend leicht 
mir die Arbeit geworden jei. Gott weiß, daß ı 
ſich jo verhielt, wenn ich fagte, daß ich niemals ge 
ahnt hatte, welcher Reichtum von wahrem, herrlichem 
Glüde ein Menjchenleben erfüllen kann, ehe ich fe 
lieb gewonnen. Zuletzt ſprach ich ihr aud von 
meiner Heimfahrt mit allen ihren Zweifeln und ihrer 
Furcht, und nod) von der Verwirrung am Abende, 
worauf fie wieder lachte und ſagte: „Wie bift du 
doch närtiſch!“ 

Als ich ſie nach Hauſe begleitete, ſtanden wir 
bei dem Eingange zu Holts Garten ftill, wie an 


ı jenem Tage, an dem mir zuerjt Mar wurde, was ih 


für fie fühlte. 

Damals hatte fie gefunden, daß der Ort ſchwer 
und dunfel jei, und ich erinnerte fie daran. 

„Ih glaube, er erſcheint mir noch jo,“ erwiderte 
fie; nad) einigem Bedenken feßte fie Hinzu: „Du 
gehörjt ja eigentlich zu dem, was dort draußen ift.“ 

Ich blidte fie fragend an. „Ia, damals wuhte 
ich noch nicht, wie's mir ums Herz war, — ic glaube 








Sonuenmwolten. 


aber doch — nein, gewiß weiß ich es nicht. Komm, 
laß uns noch ein wenig auf und ab gehen.” 
Die nächſte Umgebung meines Heimatsortes war 


mir ſchon immer ausnehmend ſchön erjchienen, und 


ich bewahre die Erinnerung an manden Spazier- 


gang in derfelben. 

Aber diefer Abend, mit halb verfchleiertem Monde 
am leicht bewölften Himmel — der Schneefall hatte 
aufgehört — mit jeiner ruhigen, milden, winterlichen 
Luft, mit Schwach leuchtenden Sternen und vereinzeltem 
Fihtihimmer aus verihiedenen Häufern, hat ſich 
meinem Gedächtniſſe treuer eingeprägt als irgend 
eine andre Naturfcenerie. Nachdem wir uns endlich 
gute Nacht gewünjcht und fie in das Haus eingetreten 
war, mochte ich noch nicht an Ausruhen denen. Ein 


Erlebnis wie das heutige ift wie die Offenbarung | 
von Schönheiten in unirer Umgebung, an denen | 


man vorher blind vorüberging. Und man fühlt 
das Verlangen in fih, auch zu dem Glüde andrer 
ehwas beizutragen, 

Ich eilte Die vertrauten Wege entlang und nidte 
Häuſern und fyeldern, Bäumen und Steinen mie 
guten Freunden und Bekannten zu. Jedes Heim 
grüßte ich und erinnerte mich dabei an irgend eitwas 
Gutes, Wahres und Hübſches feiner Bewohner. 

Der ganzen Welt hätte ich ein frohes Weih— 
nachten gewünſcht. 

Ich betrat auch jenes Häuschen, vor dem der 
ſtnabe und ſeine Mutter geſtanden hatte, als ich 
vorüberfuhr. 

Mas ich dort that und redete, jeßte die armen 
Leute fiher im nicht geringes Erftaunen und wäre, 
unter andern Umftänden, auch mir jelbit einiger» 
maßen auffällig vorgeflommen. Aber am heutigen 
Abende fühlte ich mich überall wie zu Haufe. Als 
ih eintrat, befand ji der Mann in nicht ganz 
nüchternem Zuftande, der Knabe fchlief, und die 
Mutter war im Begriff, das Licht zu löſchen. Wahr- 
ſcheinlich hatten fie mich im Verdacht, ihre häuslichen 
Verhältniſſe infpizieren und nachjehen zu wollen, ob 
alles bei ihnen orbentlid zuginge. Und mid er- 
füllte doch nur die Luſt, ihnen ein Schloß zu bauen, 
groß umd herrlich wie das, in welchem ich jeht ſelbſt 
wohnte, und bafür zu forgen, daß fie an feinem 
fommenben Weihnadht3abende wieder auferhalb der 
Hütte ftehen mußten und jagen: „Jeht zünden fie 
bei den Vornehmen Licht an.” 

Auf dem Rückwege bemerkte ich noch Licht bei 
dem „Batrioten”, welcher zur Miete bei einer Witwe 
mohnte, bie in der Nähe von Holts Beſiß ein kleines 
Haus inne Hatte, Nun zog es mich hinauf, um dem 
einfamen Manne ein frohes Feſt zu wünſchen. Ich 


fand ihn, aus feiner langen Pfeife rauchend, im | 
Zimmer auf und ab gehend. Auf dem Tiſche fladerte | 


ein einzelnes Licht, Er jah mich im höchften Grabe 











733 


erftaunt an und dachte offenbar, es ei ein Unglüd 
geichehen. Ich bat ihn um die Erlaubnis, eine Pfeife 
mit ihm rauchen zu dürfen, Die wohlmollende Seele 
fuchte eifrigft die Ueberreſte verjchiedener Pfeifen 
zulammen und legte fie mit einer Handvoll Tabat 
auf den Tiſch. 

„Wie freundlich ift es von Ihnen, beraufzu- 
fommen!” jagte er. 

„Ich dachte, es wäre vielleicht etwas einfam, 
an einem Weihnachtsabende. Sie haben niemand,“ 
fing ich an, einigermaßen verlegen über meinen etwas 
auffallenden Beſuch. 

„Ach,“ antwortete er, indem er wieder begann, 
hin und her zu gehen, „ja, jehen Sie —, die Witwe 
ladet mic) wohl bei jolchen Gelegenheiten ein — fie 
it eine gute Perfon — doch — im ganzen — Eie 
fagten: einfam — jehen Sie, wenn man Ideen hat, 
befindet man ſich im guter Geſellſchaft. Ich dente 
nad. Die Welt wirb Hein um uns ber; was fagt 
noch Wergeland? Nun, ich erinnere mich deſſen nicht 
mehr. Doch, zuzeiten — es giebt ja Anläfje, bei 
denen jelbit ein Mann von Ideen das Bedürfnis 
fühlt — ja, e8 verhält jih, wie Sie jagen — man 
fann ſich wirklich etwas — etwas — nun, um Weihr 
nachten haben ja ſogar die Sperlinge ihr Felt...” 

Er räufperte ſich einigemal ftarf, fam aber dann 
auf mich zu und ergriff meine Hand: „Nehmen Sie 
meinen beiten Danf dafür, dab Sie eines verhältnis- 
mäßig einfamen Menſchen gedachten.” Er ſah plößlich 
viel heiterer aus, ſehte fi in die andre Sofa-Ede 
und äußerte: „Gewöhnlich pflege ich bei Holt zu fein, 
aber, wie Sie willen, am Weihnachtsabend ...“ 

Ja, am Weihnahtsabend war Holt bei und, und 
ich nahm mir vor, daß der Patriot fünftighin nicht 
mehr allein fein ſollte. 

Wir unterhielten uns eine Zeitlang über ver» 
ichiedenes. Der Patriot ſprach ehr eifrig und dampfte 
fürdterlih. Bei meinem Fortgehen dankte er mir 
abermals für meine Freundlichleit, einen verhältnig- 
mäßig einfamen Menjchen zu befuchen, 

Bei unſerm Haufe angelangt, zögerte ich noch 
auf dem Hofe. Es machte mir Spaß, alle die ganz 
dunfeln Wege zwiſchen den Häujern zu verfolgen, 
die Hehrenbündel auf dem Scheunendad und die 
Reifighaufen außerhalb des VBorratshaufes für Brenn 
bolz zu ſehen. 

Zulegt that ich noch einen Blid in den Stall, 
wo ich indeffen nichts gewahren konnte: ich hörte 
nur die Pferde ihren Hafer mit Behagen zermalmen. 

Endlich begab ich mich in mein Zimmer, aus 
deijen Fenſter ich in die winterliche Mondnacht hinaus» 
ichaute. Freundliche Erinnerungen an meine Find» 
heit erachten in mir; viele heimifche, warme und 
liebe Bilder jammelten fih in meiner Seele; alles 
Herrliche, von dem id) je geträumt, verſchönte das 


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734 Kriftian Elſter. 


ſtrahlende Reich, im welches ich jeit heute abend 
meinen Einzug gehalten. 
IV 


Auf die eben geſchilderte Art wurde ich zum | 


reichſten Manne der Erde, und mir ſchien das Dajein 
ruhig verweilenden Sonnenwolfen zu gleichen, Die 
aus einer unauslöjchlihen Lichtquelle von warmen, 
goldenen Strahlen durchglüht werden. 

Darauf aber gejhah manches, wonad) die Sonnen» 
wolfen anfingen, fi zu verziehen und Form und 
Farbe zu verändern. 

Oft hatte ich während meiner früheren {ferien 
über das nicht jehr gute Verhältnis, welches zwiſchen 
Holt und feiner Nichte beftand, reden hören, und 
auch gejehen, wie falt fie miteinander verlehrten. 
Mir war das alles jehr erflärlich vorgefommen. Holt 
gefiel mir durchaus nicht, und das Zujammenleben 
mit ihm dachte ich mir für jeden hödhit unangenehm. 

Ws ic) aber Holt näher kennen lernte, war es 
mir, wie vielen andern, unerflärlich, daß zwijchen den 
beiden jo blutwenig Sympathie herrjchte. 

Schon meine erfte Begegnung mit Holt am Tage 
nad unfrer Verlobung machte den Wunjd in mir 
rege, ihm näher zu treten. Wie mir Elina erzählte, 
hatte er fie jpät am Weihnachtsabend, ihre Rücklehr 
erwartend, gefragt, ob wir einig ſeien. Nachdem fie 
jeine Frage bejaht, jei nicht mehr die Nede von 
diefer Angelegenheit gewejen. Aber Elina fügte 
binzu, fie habe ihm angejehen, dab er böje geworden 
jei. AS ich fie fragte, was er möglicherweife gegen 
ihre Verlobung einwenden fönne, antwortete fie: 


„Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ihm ift niemals | 


etwas recht, was ich thue.“ 

Es war am MWeihnachtstage, als wir im Begriffe 
ftanden, uns zur Kirche zu begeben. Sie ging in 
ige Zimmer, fi für den Ausgang anzulleiden, und 


glei) darauf trat Holt ein. Mit jeinem gewohnten, | 


ruhigen und bedächtigen Schritte fam er auf mid 
zu; aber mit einem gewiſſen fonntäglihen Ausdrud 
im Gefichte reichte er mir die Hand, blidte mid 
offen, faſt Herzlih.an und fagte: „Ich wünſche dir 
viel Glüch.“ Ich dankte ihm, wuhte aber nichts 


weiter hinzuzufügen. Endlid fragte ih: „Haben 


Sie etwas dagegen, Holt?“ 

„Nein, wie jollte ich etwas dagegen haben, wenn 
ihr einig feid,“ gab er zur Antwort, indem er zum 
Fenſter hinausſah. „Ich habe niemals andres über 
did) gehört, als daß du ein braver, tüchtiger Menſch 
bift. Ich wünſche euch alles erdenfbare Gute.” 

Ih fühlte mic außerordentlich überrajcht und 
ergriffen. So wert war mir noch niemals ein Lob 
erſchienen, noch hatte mich je eines jo ſtolz gemacht. 
68 war mir, als jei mir ein Ehrenzeugnis zu teil 
geworden, das jedermann rejpeltieren müſſe. Mir, 
der geglaubt hatte, er bezweifle jowohl meine Ehren- 


baftigfeit wie meine Fähigfeiten! Wieder empfand ic 
Beihämung darüber, ihn in meinem Innern häufig 
einen bequemen Spießbürger gejcholten zu haben. 

Uebrigend machte er es mir durch jein Weſen 
unmöglich, etwas von meinen Gefühlen zu äußern, 
| So wenig es mir früher gelungen war, eine Unter 

haltung mit ihm in Fluß zu bringen, jo wenig 
glückte es mir jet. Durch die Dazwiſchenkunft Elinas, 
' die bereit war, in die Kirche zu gehen, fühlte ih 
mich freier, und id) glaube, bei ihm war dasſelbe 
der Fall. 

Als ich Elina ſpäter mitteilte, was er mir gegenüber 
geäußert, meinte fie: „Nein, gegen dich wird er wohl 
nichts haben.“ 

„Aber was fann denn im Wege fein?“ fragte id. 
„Ja, das weiß ich, wie gejagt, nit. Mir jagt 
er gewiß nicht, was im Wege it.“ 
Ih deutete an, daß er fie vielleicht ungern ent» 
behren würde, 
„Mic, entbehren, Holt?" Sie lachte hart. „Ad, 
ich glaube nicht, daß ihn das jein Leben often wird.“ 
Es lag jowohl Schmerz wie Zorn in ihrem 
bitteren Tone, und es fam mir die Ahnung, daß 
zwiſchen den beiden eine tiefere Spaltung beflände, 
als ich bisher gedacht. Inzwiſchen geſchah zur Zeit 
nichts, wodurd) Die verjtedte Abneigung der beiden 
‚ gegen einander bemerfbarer geworben wäre, Ruhig 
und eben flofien die Tage dahin, während id all 
mählid) auf einen etwas vertraulicheren Fuß mit Holt 
zu ftehen kam. Anfänglich beſchränkte ſich unfer 
Verkehr auf ein freundliches Guten Tag und Adieu. 
Außer zu den Mahlzeiten fam er jelten in das 
Zimmer und verhielt fich dabei in der Regel jehr 
wortfarg. Ungeachtet jeiner fteten Freundlichlei 
gegen mich ſchien es mir, als fofte ihm jedes an mid 
gerichtete Wort eine gewiffe Ueberwindung. 

Nie beiprad) er Dinge, die ihn zunächſt angingen. 
Seine Bemerkungen waren offenbar bie eines auf 
merfjamen Gajtgebers, der jich verpflichtet fühlt, ſich 
mit jeinen Gäften hauptſächlich über die Interefien 
der letzteren zu unterhalten. Er ſchien ſich außerdem 
in feinem eignen Zimmer nicht wohl zu befinden; 
augenjheinlic lag e8 wie ein Drud auf ihm, und 
es war nicht ſchwer, zu jehen, dab er förmlich auf- 
atmete, jobald er ſich davonmaden, feine Pfeiſt 
ſtopfen und fi in das Gomptoir oder auf den Pad- 

boden begeben fonnte, 
Ih jah ein, dab man den Mann am biefen 
| Pläpen aufjuchen mußte, wollte man ihn näher kennen 
lernen, und ich nahm mir vor, ihm auf fein eigenites 
Gebiet zu folgen. 
Eines Tages begab ich mich denn in den Speicher 
und fand ihn in vollſter Thätigfeit zwijchen Tonnen 
ı und Kiften, Mehl- und Kornjäden, Taurollen und 
| Haufen von Häuten, Eiſen, Zimmerholz und Brettern. 








Sonnenmwolfen. 


Ein gemifchter Duft von Heringen, gefalzenem Dorſch, 
Ein Tiih mit Tabal und einer Menge Pfeifen, ein 


Hanf, Teer, Thran, Petroleum und frifhem Holz 
machte fi) bemerkbar, und man mußte in feinen 
Bewegungen vorfichtig jein, um der Berührung aller 
diefer flarfriechenden Gegenstände auszuweichen. Für 
nerbenſchwache Perſonen war der Aufenthalt durchaus 
ungeeignet. Durch eine Menge großer Oeffnungen 
des Fußbodens jah man hinab auf ben von See- 
wafler umfpülten, mufcdelbejäten Strand. Bor ber 
geöffneten Lufe gingen die Stride, melde Waren 
in die verjchiedenen Stodwerte hoben, mit ſtarlem 
Geräufch auf und nieder, und auf dem Boden über 
ich hörte man ab und an gewaltige Laften auf den 
Fußboden aufſtoßen. Alle Arbeiter waren in voller 
Ihätigfeit und nahmen in ihrem Eifer wenig Rüd- 
icht auf andre Peute. Endlich hörte man nod) vom 


Arämerlaben, der einen Zeil des Padhaujes bildete, | 
‚ Gläubiger, jo wie er im Verkehr mit den Bauern 


die lauten Stimmen feilfhender Bauern. 

Holt war aber bier, ebenſo wie auf der See, 
in feinem Elemente. Es fiel mir wieder auf, wie 
vorteilhaft ihm die ſchwere Joppe kleidete, während 


er im Padraum auf und ab ging und das Ganze in | 


jeiner ruhigen, aber feften Art leitete. Er war ent» 
ihieden eine ftattliche Erjcheinung, und in diejer 
Umgebung jah man, daß feine Perfon das Gepräge 
der Bildung trug, was man bei andern Gelegen- 
heiten nicht bemerfie. 

Bei meiner Ankunft blidte er mich etwas fragend 
on, wahrjheinlich in der Meinung, daß mid ein 
beionderes Anliegen herführe. 

Aber diefem fragenden Ausdrud in jeinem Ge— 


ſichte geſellte ſich der bedenlliche des Mißtrauens, 


nachdem ich ihm erklärt, daß ich eigentlich gelommen 
iei, um einen Betrieb wie den jeinigen etwas mehr in 
der Nähe zu jehen. Indeſſen führte er mich doch 
gutmütiger Weife umher und erklärte mir manches, 
während der Ton, in dem er mir auf meine fragen 
Antwort gab, zumeift Verwunderung darüber verriet, 
daß man fich überhaupt nad) Dingen erfundigen 
tönne, Die feiner Idee nach jeder vernünftige Menich 
von felber willen müſſe. Er hatte wohl vergefien, 
daß auch er alle diefe Sachen, die er von Kindheit 
an vor Augen gehabt, einftmals habe fennen lernen 
mũſſen, und ſchien nun anzunehmen, dab biefe 
Kenntnis dem Menfchen angeboren jei. Er hatte 
aber wohl bemerft, dab ich feinen Erläuterungen 
aufmerffam folgte; denn allmählich interefjierte es 
ihn, mir den Gejchäftäbetrieb näher zu erflären, und 
er war augenicheinlich bereit, mit mir in jein Gomptoir 
zu gehen, nachdem id) ihn erſucht, mir zu zeigen, in 
welcher Art er feine Bücher zu führen pflegte. 
Meinem Geihmade nah war das Comptoir ein 
böhft ungemütliches, Heines Gelaß. Ein großes, 
grünes, tintenbefledites, beftaubtes Schreibpult ftand 
wiſchen beiben Fenſtern, vor denen Rechnungen und 


t 








| 


135 
Dampferfahrpläne auf eine Schnur gereiht hingen. 


paar Stühle, ein altes, fteinhartes Sofa, jowie zwei 
hölzerne Spudnäpfe bildeten die Ausflattung. Eine 
große Landkarte bededte die eine Wand, Nebenan 
lag jein Schlafzimmer, und hier befanden fidh zwei 
Borte mit Büchern. 

Neugierig, zu erfahren, welcher Art Holts Leltüre 
eigentlich jei, nahm ich Diejelben näher in Augenſchein 
und fand zunächſt viele Hefte einer Zeitfchrift für 
Landleute, dann verſchiedene populäre, naturwifien- 
ſchaſtliche Schriften und endlich einige englifche und 
franzöſiſche hiſtoriſche Werke in guten Ueberjegungen. 

Als mir, meinem Wunſche zufolge, die Geichäfts- 
bücher vorgelegt wurden, bemerfte ich aus denjelben, 
dat Holt eine Menge ausftehender Voften in der 
Ortſchaft hatte. Er galt auch für einen nachſichtigen 


eine bejondere freundliche, aber beitimmte Art und 
Weiſe beſaß, die ihnen, im Verein mit feiner Tüchtig- 
feit, einen jo großen Reſpekt vor dem Manne ein« 
flößte, daß man ihn überall bemerfte, jobald fein 
Name genannt wurde, 

Nachdem ich Die Bücher in Augenschein genommen 
hatte, blieb mir nichts weiter zu fragen übrig; id) 
nahm daher Abfchied, weil fich feine längere Unter- 
haltung in Fluß bringen ließ. Sünftighin zeigte 


| Holt ſich doch weniger zurüchaltend mir gegenüber. 


Sobald er ſich überzeugt hatte, da mein Wunſch, 


ı Näheres über jeine Gejchäftsthätigfeit zu erfahren, 


feinen Urjprung nicht bloßer Neugierde verdantte, 
fondern daß es mich wirklich intereffierte, etwas Ver— 
ſtändnis für feine Arbeit zu erlangen, wurde er jo 
milteilfam , als feine Eigenart es zulieh, und uns 
fehlte fortan fein Geſprächsthema. 

Ich war jebt häufiger Gaft in feinem Comptoir 
und in den Padräumen; auch wagte ich zuweilen 
meine Anficht über dieſes oder jenes zu äußern, Er 
ſah mich dann wohl etwas argwöhniſch an, als fünne 
hinter meinen Worten noch ein andrer Sinn ver— 
borgen jein, und pflegte auf meine Bemerkungen wenig 
zu erwibern. Schließlich gewöhnte er fi daran, 
auf eine Unterhaltung mit mir einzugehen. War ich 
zum Mittagefien in feinem Haufe, jo pflegte er nad 
Tiſche länger als fonft im Zimmer zu bleiben. Es 
geſchah wohl, daß er einen ganzen Abend bei uns 
verweilte, und bei feinen Beſuchen in unjrer Woh— 
nung hörte er meinte Aeußerungen mit beinahe der- 
jelben Aufmerkſamleit an mie die meines Vaters, 
deſſen praftijches Urteil er doch feit geraumer Zeit 
Ichäßte, 

Hatte Holt anfangs wirklich etwas gegen Die 
Verlobung einzuwenden gehabt, fo ſchien er jekt 
andern Sinnes geworben zu fein. 

Es machte den Eindrud, als fühle er ſich in feiner 


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736 Kriftian Eliter. 


eignen Behaufung heimifdher denn vormals, und 
nicht nur mir, jondern auch meinen Eltern fiel jein 
neuerdings veränderte: Weſen Elina gegenüber auf. 
Wenn er auch immer noch zurüdhaltend, oder richtiger 
gejagt, etwas gezwungen in feinem Verkehr mit ihr 
war, fo lag oftmals, jobald er das Wort an fie richtete, 
ein warmer, janfter Ton in feiner Stimme, und er 
ſah fie zuweilen jo gütig, ja beinahe bittend an, al& 
erflehe er ihre Verzeihung für ein an ihr begangenes 
Unrecht, und als erfuche er fie in feiner ftillen Art, 
dad Vergangene dem Vergeſſen anheimzjugeben, 

Scheinbar bemerkte Elina nichts von alledem, 
und eines Tages konnte ich mid) überzeugen, daß fie 
feineswegs das, was früher zwifchen ihnen vor«- 
gefallen, vergefien habe. Einer meiner Zufunfts- 
pläne war der geweien, mic in meinem Heimatsorte 
als Privatarzt niederzulaffen, und ich hatte mit Elina 
über die Sache geſprochen. Zunächſt war fie freudig 
auf denjelben eingegangen und hatte gemeint: „Dann 
fannit du den Armen, wenn fie frank werden, ärzt« 
liche Hilfe angedeihen laſſen — jeht müſſen fie oft 
auf joldje warten, bis es zu jpät if.” 

Aber nachher ſchien fie ihre Anficht geändert zu 
haben; denn als wir wieder darüber redeten, jagte 
fie: „Das iſt nichts für did." Allerdings waren 
die Ausfihten für einen Arzt feine bejonderen in 
unfrer Gegend; wir ließen die Angelegenheit ruhen, 
und ich faßte vorläufig feine weiteren Pläne. Eines 
Tages jedoch bat mid der Vater, ihm in fein 
Comptoir zu folgen, weil er etwas Wichtiges mit mir 
zu überlegen habe. 

Er jagte mir zunächſt, daß er keineswegs dagegen 
jein würde, wenn ich Luft hätte, mic) einem andern als 
dem ärztlichen Berufe zu widmen, im Falle ſich eine 
günftige Gelegenheit dazu böte. Dann fragte er, ob 
id) Neigung hätte, Kaufmann zu werden. Nachdem 
ic ihm um nähere Erflärungen gebeten, teilte er mir 
mit, dab Holt ihn aufgefucht und mit ihm über die 
ungünftigen Ausfichten eines jungen Mediziner ge 
redet habe; auch Hatte er gemeint, „ſpäte Heiraten 
jeien ein Unding“, und endlich den Vater gebeten, bei 
mir anzufragen, ob ich mic entjchließen könne, in 
jein Gejchäft einzutreten. Ich jei ihm nicht ungeeignet 
für dasjelbe vorgelommen, und er bedürfe einer Hilfe. 

Selbjtveritändlih würde es mir ſowohl Arbeit 
wie Zeit koſten, mich in die neue Stellung hinein- 
zufinden, und ich müßte die Heimat für ein paar Jahre 
verlaffen. Aber jobald dieje Lehrzeit vorüber jei, 
würde ich mic) auch jogleich verheiraten fönnen. Der 
Vater ſchloß mit dem Bemerken, daß diejes gütige 
Unerbieten ihn höchlichſt überrajcht habe. 

„Ic joll aljo fein Stellvertreter oder jo etwas 
Aehnliches werden?” fragte ich. 

„Nein, jein Compagnon,“ erwiberte der Vater 
zu meiner Verwunderung; denn mir war wohl be» 


fannt, dab Holts Geſchäft ein jehr gewinnbringend 
war, und er konnte ſich denken, daß mein Vater mır 
eine unbebeutende Summe zum Betriebstapital für 
mid einzahlen konnte, Mich berührte die Sach 
indes nicht angenehm. An umd für fich hatte ih 
nichts gegen eine Derartige praftifche Thätigleit, aber 
der von mir erforene Beruf war mir wert, und mein 
Unabhängigteitsgefühl lehnte ſich gegen das ganze 
Arrangement auf. Doch erjhien es mir aufer- 
ordentlich hübſch von Holt, etwas Derartiges vorzu: 
ſchlagen, und ich nahm mir vor, die Sache mit Eline 
zu bereben. 

Am jelben Tage noch juchte ich fie in Holt 
Haufe auf und fand fie, mit ihrer Näharbeit beidät- 
tigt, am Fenfter ſitzen. Sie ſchien es eilig zu haben, 
und ohne jich ſtören zu laffen, nickte fie mir lächelnd 
zu und zeigte auf einen Stuhl. Nachdem id Flo; 
genommen, erzählte ich ihr von Holts Anerbieten. 
Während meines ganzen Berichtes nähte fie jo emfn, 
als höre fie gar nicht auf meine Worte. Ab und zu 
warf fie einen Blid aus dem Fenſter, umd mir fiel 
auf, wie bla fie ausjah. Nachdem ich geendet, 
fragte fie: „Hätteft du Luft, diefen Vorſchlag an 
zunehmen ?* 

Ih glaubte, fie meine vielleicht, es würde mir 
jehr ſchwer fallen, mich in eine ganz ungewohnt 
Beihäftigung zu finden, und antwortete daher, di 
es nicht die Arbeit fei, weldhe mich davon abjchreden 
würde. 

„Ja, dann würde ich e8 nicht wollen,” rief fe 
aus, warf das Nähzeug mit einer heftigen Bewegung 
hin und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. 

„Ich weiß nicht, weshalb er” — fie nannte ihn 
nie Onfel — „ih in unfer Verhältnis einmilden 
will. Gr meint wohl, daß ich zu lange im feinem 
Haufe bleibe. Er will fich losfaufen. Aber, daß er 
glauben kann, ich würde — würde... ad, mie 
wohl wird mir fein, wenn dieſes Haus weit, weit 
binter mir liegt!” 

Ih ſah fie erftaunt an. hr Antliß brannte, 
duchglüht von Zorn und Unmillen, 

„Ich finde aber doc), daß es hübſch von deinem —“ 

„Hübſch?“ unterbrach fie mich, ſtand ftill und jah 
mid; mit einem eigentümlichen, zugleich falten und 
empörten Blide an. „Es it möglich, daß es hübſch 
ift. Aber id fann dir jagen, daß ich nichts von 
ihm annehme, jofern ich es irgend vermeiden famn 
— id) habe genug an dem, was ich hinnehmen muß.“ 

Draußen wurden Schritte Taut, und gleich daran) 
trat Holt ein. Elina nahm ihre Arbeit wieder zur 
Hand. 

Nahdem Holt mic begrüßt hatte, trat eine 
Pauſe ein. 

Endlich blidte Elina zu ihm auf, dod ohne ſich 
im Nähen zu unterbrechen: „Ich höre, daß du Henril 


— 





Sounenmwolfen. 


eine Stelle in deinem Gejchäft angeboten,” jagte fie, 
und ihr Geficht war wieder bleich und ihre Augen 
ihienen wunderlich verjchleiert. 

„Ja, ih — habe... .,* begann Holt langjam, 
beinahe verlegen; doch fie ließ ihn nicht fortfahren. 

„Bedeutet dad, dab du es am liebſten ſäheſt, 
wenn ich fogleich von Hier fortginge?* fragte fie falt 
und hart. . 

Dies war der einzige Anlaß, bei dem ih Holt 
ſeine Faſſung verlieren ſah. 

Langſam ergoß ein dunkelroter Strom ſich in 
ſtin Antlitz, und ſeine Augen zeigten einen jo unbe» 
ſchteiblich beichämten und jchmerzlihen Ausdrud, daß 
mir der Mann in biejem Augenblicke wie ein ganz 
fremder erſchien. Er ftand da, die Hände wie ge 
wöhnlid in den Taſchen feiner Joppe, doc; ohne eine 
Spur jeiner jonftigen ficheren Haltung. Er jah jo 
ratlos und verzagt aus, als habe man ihn ſoeben 
bei einer ganz nieberträdtigen Handlung ertappt, 
und dabei lag in feinen Haren, für gewöhnlich etwas 
phlegmatiichen Augen ein umendlich jchmerzliches 
Etwas. Allmählic wid) die Farbe wieder aus feinem 
Gefihte, und es zeigte fih in demjelben der gewohnte 
ruhige, eruſte, wenn auch nod etwas eigentümliche 
Ansdrud, 

Bedächtig that er ein paar Schritte gegen ben 
Ofen zu und lehnte ſich mit dem Rüden an denjelben. 

„sh habe überhaupt nicht gedacht, daß mein 
Anerbieten etwas Bejonderes bedeuten jolle,” verjehte 
er langſam. „Will Henrik nicht auf dasjelbe ein- 
gehen, fteht es ihm ja frei, e8 abzulehnen.“ 

„Dann halte id} e8 für das befte, wenn nicht 
mehr über die Sache geſprochen wird," jagte Elina, 
erhob ſich und verließ das Zimmer. 

Mit gemischten Gefühlen blieb ich zurüd; ver- 
fimmt, verwirrt und ratlos, wie ich war, glaubte id) 
doch, ich müſſe ihm jagen, wie ich über feinen Vor— 
ihlan dachte. 

Er antwortete aber nur: „Ach mein, ich hätte 
bebdenten jollen...“, worauf er feine Pfeife ftopfte, 
dieielbe aber, ohne fie in Brand zu ſetzen, in feine 
Taſche ſchob und hinausging. 

Als Elina zurückkam, bat ich ſie, mir ohne Um— 
ihweife anzuvertrauen, welcher Urſache das zwiſchen 
ihre und dem Onlel beſtehende ſchlechte Einvernehmen 
jujufchreiben ſei. 

„Wie fann ich das wiſſen?“ erwiderte fie nur. 
„Aber es iſt doch nicht immer jo geweſen ?* 
Es war ſchon immer jo, jeitbem ich erwachſen bin. 
Aber lab uns von eiwas anderm reden,” fügte 
hie ungeduldig hinzu, 

„Aber du... .?* 

„Kun, ich bin jo geworden, wie bu fiehft — und 
wie es ihm wohl aud gerade recht fein wird, 
denfe ich.” 

Bus fremden Zungen, 


16897, U. 16, 


737 


Als ic nach Haufe kam, teilte ich dem Water das 
Refultat mit. „Hm,“ meinte er, „zwijchen den beiden 
befteht doch ein jonderbares Verhältnis, Elina ift 
ein braves Mädchen, ein vorzügliches Mädchen, Aug, 
tüchtig und warmberzig; aber ich glaube, fie hat zu 
viel vom Onkel, — was fie einmal wollen, das 
wollen fie.” 

„Aber irgend etwas muß er doch gegen fie haben ?” 

„Ja, wer kann das willen; über foldhe Dinge 
äußert er fich ja nie. Solange jie Hein war, be— 
handelte er fie mit einer gradezu rührenden Sorgfalt. 
Aber ſpäter ...“ 

„Später... .?* 

„sa, Gott mag willen, was dann dazwiſchen 
gekommen ift, daß es allmählich jo wurde, wie du 
es jet ſiehſt. Ich muß übrigens geftehen, daß man 
die Veränderung zuerjt bei ihm gewahrte.” 

Als wir nachher mit der Mutter über denjelben 
Gegenitand redeten, erklärte fie: „Holt ift eigen« 
tümlich; über alles, was er nicht verfteht, gerät er 
in eine ärgerlihe Stimmung, die er dann im fich 
verjchließt, bis gar fein Austommen mehr mit ibm 
möglid if. Die ganze Sadhe wird die jein, daß 
fie fid) nicht entwidelt hat, wie er es ih gedacht. 
Sicher ift, dab Elina feine Schuld trifft und dab 
jein Wejen fie wohl zu dem Glauben veranlafien 
fann, er jähe fie am liebften aus feinem Haufe ſcheiden.“ 

T. 

Bon diefem Tage an geihah e& nicht wieder, 
dab Holt nad) der Mahlzeit im Zimmer verblieb, 
Gegen Elina behielt er aud) ferner denſelben freund« 
lihen Ton bei, der in jüngfter Zeit an die Stelle 
feines früheren kurzen, ja falten Weſens getreten 
war; zugleich aber lag es wie eine flille Trauer über 
ihm, wie hoffnungsloje Verzagtheit, daß «8 ein förm- 
liher Jammer war, ihn zu beobachten. — Eine 
Zeitlang darauf nahın ich meine Beſuche im Speicher 
und Eomptoir wieder auf. Er empfing mich ebenſo 
gütig wie vorher, wenngleid er fi) weniger mit 
teilfam zeigte. Ab und zu unterhielten wir uns eine 
Weile miteinander und dann über ſolche Dinge, die 
bis dahin noch nicht zwilchen und erörtert waren. 

Das er manche Kenntniffe beſaß, wußte ich bereits 
— daß er aber auch verichiedenes gelefen, was auf 
jein eigentliches Fach keinerlei Bezug hatte, erfuhr 
ich jetzt. Naturwiſſenſchaftliche Schriften las er mit 
Vorliebe; doc gewöhnlich ſolche, die, aus etwas 
älterer Zeit ſtammend, diefelben Gefichtspunfte feſt- 
hielten, die während jeiner Schulzeit maßgebend 
geweien. Er las aud) Gejchichte, befonders politiſche 
Gefchichte. Die Verfajler, welche in einem nüchtern» 
alltäglihen Stile jhrieben und in ihrem Urteil einen 
gewiſſen praktiſchen Blid zeigten, waren ihm bie 
liebften. Alles, was an Philoſophie ftreifte, war 
feines Mißfallens ficher. Huch hatte ich bemerkt, daß 

95 


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738 Kriftian Elſter. 


ſeine Sammlung kein einziges der ſchönen Litteratur 
zugehöriges Buch aufweiſen konnte. Freilich wußte 
ich, daß er nie ein derartiges zu leſen pflegte, und 
wie ich vermute, hielt er Dichter und diejenigen, 
welche poetiſche Erzeugniſſe laſen, für lindiſcher 
als es ſich für erwachſene Menſchen gebührt. 

Daß Elina die geſamte Geiſtesbildung ihres 
Onkels für wenig bedeutend anſah, war vielleicht 
durch ſeine Abneigung gegen einzelne Zweige der 
Litteratur hervorgerufen. Sie traute ihm durchaus 
fein Intereſſe an irgend welcher Lektüre zu; denn als 
ich gelegentlich ſagte, er jchiene viel mehr gelejen und 
gelernt zu haben, als man bei oberflächlichen Verkehr 
mit ihm vermute, erwiderte fie nur fur: „So, 
davon habe ich nicht das mindefte bemerlt.“ Und 
ala während eines jpäteren Geſpräches Vangs Name 
erwähnt wurde, verriet fich ihre geringe Meinung von 
des Onkels Bildung noch deutlicher. Den „PBatrioten” 
fonnte fie überhaupt nicht leiden und beurteilte ihn 
ſehr ftrenge. Sie fand es feige oder ſchwach von 
ihm, ji) in einem Winfel, wie unjer Ort es war, 
zu begraben, wenn er wirklich Beruf und Kraft zu 
größerem Wirken in ſich ſpürte. Wenn es ihm 
wahrhaft ernft um die Sache gewejen wäre, jo hätte 
er den Wahlplatz nicht zu verlafien brauchen, meinte 
fie. Und feinen häufigen Beſuchen bei Holt läge 
wohl auch kein ehtliches Motiv zu Grunde. „Er ift 
doch einmal ein ſtudierter Mann,“ jagte fie, „ein 
Mann, der für Holts Beſchäftigung fein Intereſſe 
haben fann. Aus weldem Grunde mag er denn 
Abend für Abend bei Holt figen? Er hat Holt zum 
beiten“ — und hier nahmen ihre Augen einen eigen- 
tümlich falten, drohenden Ausdrud an; „aber ich jage 
dir nur: auf jolde Weije behandelt zu werden, dazu 
ift Holt wirklich zu gut.” 

Dies war das einzige Mal, daß ich fie fi) vor 
teilhaft über den Onfel ausſprechen hörte; es geſchah 
in einer Weife, die mich erfennen ließ, daß fie, alles 
in allem genommen, feinen Wert alt Menſch fehr 
wohl zu jhägen wußte und niemand geftattet haben 
würde, ihm zu beleidigen, wennichon jie jelbft ſich 
nicht zu einer Ausföhnung mit ihm verftehen konnte, 

Vergebens verfuchte id) den Patrioten in Schu 
zu nehmen. Sie glaubte nicht an Holts Geihmad 
für Bücher und nod weniger daran, daß wilien« 
ſchaftlich gebildete Leute im Ernſte Anteil an den 
praftifchen Dingen nehmen könnten, die Holts Zeit 
und Gedanken ausfüllten. 

Wunderlicd genug war es, wie wenig Sinn fie 
jet für die Verhältnifje der Dorfſchaft, ſowie für die 
Angelegenheiten des Onfels, die ihr früher jo jehr 
am Herzen lagen, übrig hatte. Ich entjann mich 
der Zeiten, da jie beim Empfang der Heringsboote 
an der Brüde ftand, da fie des Onfels Speicher und 
jeine Bücher ebenio genau fannte wie ihn jelbit, 


und feine Arbeiter noch beſſer. Ich erinnerte mid, 
wie unbegreiflih ich es fand, daß dergleichen das 
Dajein eines denfenden Menjhen ausfüllen könne. 
Wie ſehr hatte jich alles geändert! Diejes ftille Land: 
leben Hatte ſich in vielen Beziehungen meines Jnterefiet 
bemächtigt. Diejes beicheidene Wirken, die vielen 
„ruhigen Gedichten” hatten allmählich eine Anziehung 
und eine Bedeutung für mid gewonnen, wie id fir 
nod) vor wenig Jahren für unmöglid; gehalten hätte. 

Für Elina aber jchien dieje ganze Heine Welt 
verſchloſſen. Es langweilte fie, wenn ich über die 
nabeliegenden Dinge ſprach. Sie hatte eben feine Luft 
mehr, ji mit Sachen des wirklichen Lebens zu be 
fafien, jondern mochte nur leſen und abermals leien 
oder mich erzählen hören. 

Und wir fingen wieder an zu leſen, wie in 
früheren Tagen, machten unjre Spaziergänge und 
beipradyen das Gelejene. Aber mit einem Male 
ſchienen auch die Bücher ihre Gedanken nicht mehr 
feffeln zu können. Während wir lajen, war fie oft 
wie geiftesabwejend, oder e3 fam ein gejpännter, un» 
rubiger, fpähender und fragender Ausdrud in ihr 
Antlig, als erwarte fie, daß etwas Beſonderes ge⸗ 
ſchehen müſſe. Zuzeiten jah fie auch enttäufcht und 
mißvergnügt aus, Es war, als müſſe fie eine früber 
genährte Hoffnung aufgeben, oder als entdede fir, 
dab etwas, an das fie früher geglaubt, ſich al: 
Illuſion erweiſe. 

Mehrmals wollte ich mit ihr darüber ſprechen 
dann aber war diefer feltfam forjchende Ausdrud wir 
burd) Zauber verfchwunden, und id) mußte mic) fragen, 
ob ich nicht falſch geſehen. War fie doch jonft un: 
verändert, wenn aud ein wenig verjchlofiener und 
gedanfenvoller, al& fie zu jein pflegte. Oefſter ſchien 
es mir, als zeige fich diefer eigne Blid ihrer Augen 
bejonders in des Onkels Gegenwart und als gelte a 
zunächſt ihm. 

Ich mußte daraus fließen, daß aud ihr de 
Ontels verändertes Wejen aufgefallen war und das 
fie bemerkt hatte, wie wehmütig er auszuſehen pflegte, 
lo daß «8 fie vielleicht reute, ihm jo viel ſchatje 
Worte gejagt zu haben. Es war möglich, daß fir 
in Gedanten alles, was zwiſchen ihmen vorgefallen, 
noch einmal durchlebte und ſich dabei entjann, daß and 
auf ihrer Seite zuweilen eine Schuld geweſen; ja, daß 
fie eine Annäherung von ihm erwartete, um ihm ein 
freundliches, verfühnendes Wort jagen zu können. 

Von ganzem Herzen wünjchte id, daß meine Ver: 
mutung richtig gewejen jei; denn von Tag zu Tag 
ſah ich deutlicher, daß auch fie ſchwer unter dielem 
Verhältniſſe litt und fi nach einer Nenderung 
besjelben jehnte, 

Zufälligerweife begegnete mir Bang in diejer Zeit 
einmal auf dem Landwege. Ungeachtet er ſich übler 
Laune befand, war er redfelig wie immer. 


Sonnenwolken. 


„Sie hatten doch ganz recht in dem, was Sie 
mir am Weihnachtsabende jagten,* fing er an; „in 
einem Winfel wie bier fühlt man ſich mijerabel 
allein, Pbitifter, alte, fonfervative Nußlnader, jehen 
Sie, da haben Sie die Bevölferung. Ich pflegte 
Holt font ſeht häufig aufzufuchen, wie Sie willen; 
er iſt ein jo prächtiger Menſch,“ ſetzte er gleichſam 
entſchuldigend hinzu; „aber ſeildem er Miſanthrop 
geworden iſt, hat man ſeine liebe Not mit ihm.“ 

„Miſanthrop?“ 

„Gewiß, haben Sie denn das nicht gemerlt?“ 

„Ih weiß nicht —“ 

„Sehr glaublich, daß Sie nichts davon gewahr« 
ten. Man muß den Dann jeher genau kennen, um 
zu wiſſen, wie e8 um ihn ſteht. Sehen Sie, er ift 
num einmal fein bisfutierendes Mitglied der Menid) 
beit, jonbern ein rauchendes und zuhörendes. Und 
wenn der Mann jeine Pfeife im Stiche läßt und 
außerdem ſtets zerjtreut ift, wird die Sache be— 
denllich.“ 

„sa, ich babe wohl geſehen ...“ 

„Er ift eim merfwürbiger Menſch,“ unterbrach 
mi der Patriot. „Sehen Sie, zum Beifpiel! Ich 
bin überzeugt, dak im Grunde ein Freiheitämann in 
diefem Holt ftedt.“ 

Er mag einen verwunderten Ausdrud meines 
Gefihts wahrgenommen haben, denn er fuhr fort: 

„Ja, das jeht Sie in Erſtaunen? Man merkt 
jo etwas auch nicht ohne weiteres. Er ift, wenn ich 
mid jo ausdrüden darf, nun einmal nicht zum 
Staatsbürger angelegt, — Sie verftehen? Ueber all- 
gemeine Intereſſen redet er höchſt ungern, obgleich 
er ſtets ein offenes Auge und ein warmes, frei 
mütiges Wort für diejelben Hatte. Ja, eigentlich 
follte man ihn gar nicht für einen Patrioten Halten. 
Spreche ich ihm von Politik, jo antwortet er nur 
durh ein gemütliches Lächeln, als bielte er das 
Ganze für höchſt unfinnig, und zumeilen jagt er — 
anſcheinend jarkaftiih, willen Sie: Ja, dich hätte 
man nur um Rat fragen follen!* oder: ‚Kreuz und 
Tod, wenn jie dich mur bei der Regierung hätten !* 
Aber im Grunde, jehen Sie, im Grunde hat er dod) 


viel Beritändnis für das alles; er will nur nichts | 


damit zu thun haben. — Uber jet ift da® vorbei; 
er redet feine Silbe, lächelt nicht einmal und raucht, 
wie gejagt, gar nicht mehr.“ 


139 


Id) bat ihn um nähere Erflärung. 

„Sie geftatten es? Sie ift troß alle und alledem 
fein Augapfel. Unverbeiratet — finderlo8 — viel 
Verdruß — glauben Sie mir’d, Und Elina hat er 
gern gehabt wie eine Tochter. Ich glaube, es wird 
Holt furchtbar ſchwer werben, fie zu entbehren.“ 

Meine Aufmerfiamteit war aufs äußerfte geipannt. 
„Glauben Sie wirkiich?" Ich ftodte, denn mir fiel ein, 
dab Holt jelbjt ihr Scheiben hatte beichleunigen wollen. 

Er fuhr fort: „Ich habe ihn lange gefannt, und 
ich verfichere Sie, da Holt mit dem Eintritt Elinas 
in jein Haus ein andrer Menſch wurde, Diejes Milde, 
Kindliche in feinem Weſen — haben Sie nie bemerkt, wie 
weich er fein fann? Na, das iſt durch fie gekommen.“ 

Um meine deutlich) gezeigte VBerwunderung und 
meinen Zweifel an jeinen Morten zu widerlegen, 
redete ber Patriot weiter: 

„Sie glauben das nicht? Sie denken wie viele 
und wie Elina jelbit, daß er gegen fie eingenommen 
ift? Ich begreife das. Aber jchen Sie, ich weiß, 


daß er fie lieb hat; davon habe ich hundertfache Be— 








Wir ftanden vor unfern Haufe, Ich bat den | 


Patrioten , einzutreten, was er danfend annahm. 
In meinem Zimmer angelommen, wählte mein Gaft 
ſich die größte Pfeife, tweldhe zu finden war, und 
iehte ſich dampſfend in die SofasEde. 

„Wir jpraden von Holt,” fagte er. „a, fehen 
Sie, fein ganzer Mißmut fommt von der Geſchichte 
mit Elina ber — verzeihen Sie — id) vergaß - 
Sie find ja — hm —* 


| der Bucht gejehen? 


weile. Hätten Sie, gleid) mir, gejehen, wie ängjt- 
lich er zu erforſchen tracdhtet, ob fie irgend eine Ver— 
änderung im Käuslichen wünicht, jo würden Sie 
nicht länger zweifeln. Aber fragen würde er fie nie 
danach, und wenn er ihre Wünſche auf Umwegen 
erfahren hat, erfüllt er jie in fo barſcher, herrijcher 
Meife, als führe er einen Einfall aus, gegen den er 
feinen Widerſpruch dulde. Und hinterher ijt er ganz 
unglüdlih, bis er in Erfahrung gebracht, ob er das 
Richtige getroffen, oder ob nod) etwas fehlt. Ad, es 
it ganz ſonderbar, Dielen ehrlichen Menjchen ſich 
abmühen zu jehen, Lift zu gebrauchen und Schleich - 
wege zu gehen, wenn er zum Beilpiel durch mich 
bherausbelommen möchte, wie feine Einrichtungen ihr 
gefallen haben, Im jolhen Dingen ift er ganz 
dumm, aber ich habe mid) wohl in acht genommen, 
ihm zu zeigen, daß id) ihn durchſchaute. Sie müfjen 
wijen, daß er einen ganzen Vorrat von Sachen 
bat, nach deren Befig fie gelegentlich ein Verlangen 
ausgejprochen, und die er dann ſofort angefauft hat, 
ohne doch zu wagen, ihr diejelben zu jchenfen. Da 
ift zum Beijpiel eine ganze Kiſte voll Bücher — aus 
jener Zeit, wo jie zuerſt Gejhmad an der Fitteratur 
zeigte. Haben Sie das Meine Segelboot unten an 
Daran ijt feine Planke feſt- 
gemacht und fein Nagel eingeichlagen, ohne daß er 
die Urbeit überwachte. Es ift das feinfle, reizendite 
Heine Fahrzeug, das man jich denken kann; es ift 
mit jo viel Ueberlegung, mit einer Fürſorge, ja id) 
könnte jagen Liebe, gebaut, die außerordentlich rüh- 
end iſt. Aber da liegt es unbenußt unten am 
Strande — ich glaube, dak Elina es nicht einmal 
gejehen ; feinenfalls hat er ihr je gejagt, daß es für 
fie beftimmt fei. Und damals, als fie jo frank war! 


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740 Kriftian Elſter. — Sonnenmwolten. 


Ja, da trat feine Sorge um fie erft recht zu Tage. 
Ich weiß nicht, wann der Mann zu der Zeit fchlief 
oder Nahrung zu fi nahm Nie traf ih ihn 
ruhend, nie bei Tiſche, nie außerhalb jeines Haujes, 
ausgenommen, wenn er den Arzt aufjuchte. Er jah 
aus, als ob er es jei, den die tödliche Krankheit 
heimgefucht habe, und nicht fie. Und hätten Sie ihn 
an dem Tage geiehen, nachdem das Schwerfte über- 
wunden und man wuhte, dab fie ſich erholen würde! 
Ih ging am VBormittage zu ihm. Aber ih habe 
nie etwas jo — jo — mie joll ich es bezeichnen? — 
etwas jo Unjchuldiges gejehen, wie feine Freude. Er 
ſprach gar nicht von Elina, aber er ſchlug mir vor, 
ein Glas Wein mit ihm zu trinten. Sie willen, 
wie mäßig er ift, und daß er faum eine Weinjorte 
von der andern unterfheiden fann. Sie hätten ihn 
jehen müffen, mit welcher Kennermiene er die Flaſche 
anſah, wie er fich über die Etifette und das Silber- 
papier freute, wie er Farbe und Duft des Meines 
bewunderte. Und jo war es mit allem, worauf fein 
Blick fiel, gerade als ob die ganze Welt neugeboren 
jei. Ihm war mertwürdig, wie heil die Sonne an 
dem Tage leuchtete, merkwürdig, wie blau der Fjord 
ihien, die Luft war merkwürdig leicht, das Gras er- 
ſtaunlich gewachſen, und nachher, auf dem Speicher, 
fand er alles während jeiner Abwejenheit von den 
Commis und Arbeitern Ausgeführte ebenio merl- 
würdig wie alles übrige. ‚Dafür jollen fie einen 
Ertralohn Haben,‘ jagte er. So habe ich ihn nie ge= 
jehen, weder vor« noch nachher. Als aber Elina ihr 
Kranfenzimmer wieder verlieh, war er wie früher. 
Zuzeiten hatte er komiſche Einfälle, wie damals, ala 
er anfing, fi modern zu Heiden. Wahrhaftig, Holt 
hat einmal ganze acht Tage lang den Stußer ge= 
ipielt. Ich kann es gar nicht bejchreiben, in welche 
Verwunderung ic) geriet, als ich ihn eines Tages in 
ganz engen Beinkleidern traf, anjlatt jeiner gewöhn- 
lichen weiten, in einem anichließenden foletten Röd- 
chen, ftatt feiner geliebten Joppe, und mit modernem 
Stehfragen,, ftatt des jonftigen breiten, nieder- 
geflappten. Sobald er bemerkte, daß ich ihn mit 
großen Augen mufterte, wurde er purpurrot. Aber 
ich erinnerte mich jehr gut, kurz vorher die Neufe- 
rung von Elina gehört zu haben, fie finde es durch- 
aus nicht hübſch, wenn ſich die Leute auffallend alt- 
modiſch Heideten, Indes gab Holt diejen Verſuch, 
fi dem Modejournal anzupafien, jehr bald wieder 
auf; er machte einen linkiſchen Eindrud in der uns 
gewohnten Tracht und wird das auch jelbjt em— 
pfunden haben, denn eines jhönen Tages traf man 
ihn, angethan mit feiner Joppe, den weiten Bein- 
fleidern und breitem Klappkragen, und da erjchien 
er und wieder als der wirkliche Holt.“ 

Ih mußte dem „Patrioten“ beiftimmen. Im 
Grunde hatte ih mir immer gedacht, daß fie Holt 


lieb ſei. Aber rätjelhaft blieb ed mir, we&halb er 
jeine Gefühle für fie jo ängftlich zu verſchleiern ſuchte. 

„Ja, das ift das Sonderbare dabei,” ſagte 
Vang, „daß er ihr nicht nur verhehlt, wie er in 
Wahrheit gegen fie gejinnt ift, ſondern fie aud) zu 
dem Glauben veranlaßt, als jei das Beifammenjein 
mit ihr ihm nur läſtig. Verſchiedene Male war er 
nahe daran, fie fortzufenden in die Stadt, ja jogar 
ins Ausland. Das wußte ih. „Und aus melden 
Grunde* Habe ih ihn damals gefragt. ‚Ad, 
meinte er, ‚es wird befjer für fie jein, ala bier in 
meiner Gejellihaft zu verfauern.‘ Womit er wohl 
jagen wollte: ‚Was fönnte ich, der ich ältlich, ewas 
jonderbar und ohne weitere wiſſenſchaftliche Bildung 
bin, einem jungen Mädchen, wie Elina, fein?‘ Und 
er kennt fie. Er weiß, daß fie es für ihre Pflicht 
halten würde, in jeinem Heinen Haufe zu leben und 
zu fterben, jobald fie auch nur ahnte, daß er fie un. 
gern entbehren möchte. Eben, weil er nicht wi, 
daß fie ihm gegenüber ein Gefühl der Abhängigkeit 
empfinden joll, befümmert er ſich jcheinbar jo wenig 
um ihr Thun und Fallen.“ 

Dieje Erflärung fam mir etwas geiucht vor; dad 
auch id) vermochte feine befjere zu finden. Ab 
geſchloſſen und einfam lebende Menſchen mögen je 
eine jo große Scheu davor bekommen, ihre Gefühle 
zu zeigen, dab fie völlig franfhaft werben fan. 
Doch was ich hier von Holt vernommen, ſchien mit 
feinen Urfprung unmögli in Schambaftigfeit und 
einem Unvermögen, ſich mitzuteilen, zu haben. 

Bang fuhr fort: „Ich bin überzeugt, dab ı 
Ihnen, als Verlobtem Elinas, immer nur mit Woll 
wollen begegnet tft.“ 

Letzteres war unleugbar, 

„Ebenjo glaube ich ſicher, daß er alles thun 
würde, was in jeiner Macht ftcht, um euch jo bald 
als mur möglich ein eignes Heim zu bereiten.“ 

Davon hatte er mir allerdings Beweiſe gegeben, 
die ich indejlen für gut fand, meinem Gaſte vorzu: 
enthalten. 

„Und doch verfichere ich Sie, daß er mit Tode* 
angjt dem Tage entgegengejehen hat, an dem Elina 
eine ſolche Verbindung eingehen und ihn infolge: 
defjen verlaffen würde. — Ja, Sie finden das all? 
vielleicht duntel? Ich meinesteils finde es jublim.“ 

Ich Hatte feine Antwort auf feine Rede. Der 
„Batriot“ ſchwieg eine Weile, und das Geipräd 
drehte fih dann um andres. Nach umd nad be 
mächtigten ſich feiner die „ſtaatsbürgerlichen“ Ideen 
wieder gänzlich. Schtweigend überdachte ich meint 
eignen Angelegenheiten, was die Urſache war, dab 
mich der Patriot beim Abjchied wegen meines „eb 
haften Anteils an den Interefien der Menjchheit‘ 
befomplimentierte. 

Schluß jolgt.) 





Das Bauberkrauf von Lohina. 


Erzählung aus dem Dorfleben,. 
Don 


Roloman 


Wlikssdth. 


Aus dem Angarifchen überfeßt von Irene $. Clerbalmi. 


Wie mag das Zauberfräutlein wohl ausjehen, 
welches an der Grenze von Lohina gedeiht? Das 
iſt's, worüber id) mir den Kopf zerbreche! 

Und wo wächſt es wohl? 

In der Schiligegend? Zwiſchen den Feldhütten? 
Oben auf dem Gipfel der fahlen Hrebenta? Auf 
dem hajelnußftraudigen Hügelabhang? Im Haine, 
auf den Wiejen oder auf den Kornfeldern ? 

Warum wohl die ſchlanlen ſlowaliſchen Weiber, 
wenn jie den jungen Kälbern und den milchenden 
Kühen das Gras lorbweiſe nah Haufe tragen, «8 
nicht auffinden; warum fie wohl das gewiſſe Kräut- 
lein nicht noch einmal zu entdeden im ftande find? 

Wie? Haben ſie's denn einmal ſchon entdedt? 

Gewiß! Das iſt's ja eben. Doc) vielleicht ver« 
mag ich's gar nicht recht zu erzählen, 


I. 

Dem Lohinaer Pächter, Herm Michael Szekula, 
wurde eines Nachts von einem unbelannten Thäter, 
von irgend einem Schurken, nad) Zerfplitterung der 
Fenſterſcheiben eın Pasquill ins Haus geichleudert, 
des Inhalts: Da der junge Geifiliche ein jo erbärm« 
licher Menich jei, befehle er, nämlich der Pasquill- 
ſchreiber, die Gemeinde jolle den erwähnten Geiſtlichen 
fofort aus der Pfarrwohnung hinauswerfen und ihn 
famt Weib und Hausrat außerhalb des MWeichbildes 
der Gemeinde befördern, anfonften werde heute in adht 
Tagen der rote Hahn nad) Lohina geflogen kommen, 

Nun ift aber der rote Hahn ein jehr übel bes 
leumundeter Vogel. Der rote Hahn ift nur dann 
wilfommen, wenn er draußen auf dem Feuerherd 
die weiß gerupiten Hühner bräunlich brät. 

Und ber unbefannte Pasquillſchreiber hielt auch, 
was er verſprochen — wer hätte das wohl gedadıt, o, 


du mein Gott, wer hätte das wohl gedacht! Eine | 


Woche darauf brad) im Dorfe richtig Feuer aus, und 
faft ein Drittel der Gemeinde brannte ab. 

In der graufigen Brandnacht aber jand ſich ein 
zweites Pasquill, diesmal in dem Hofe des Küſters 
Andreas Mirava. Genau diefelbe Schrift wie auf 


| dem erften, dasſelbe gerippte, vergilbie Papierſchnitzel 


mit einem ſchmutzigen Faden von unbeftimmbarer 
Farbe zufammengebunden. 

Nun, dem hochwürdigen geiftlichen Herrn wurden 
auch in diefem Pasquill gründlich die Leviten gelejen : 
daß fein Großvater Jude gewejen und er jelber im 
geheimen ein Papiſt fei, daß er fein anjtändiger 
Menſch, dab nichts ihm heilig und daß er Die junge 
Frau Pfarrerin auch nur geheiratet habe, um mit 
ihrer verheirateten Schwefter ſündige Liebelei zu 
treiben. Daran war wenigitens jo viel wahr, daß 
bie ältere Schweiter der Pfarrerin, die ſchöne Frau 
Michael Paſſh, zur Zeit thatfählich auf dem Lohinaer 
Pfarrhof zu Beſuch war. 

Des weiteren waren jeine tollen Streiche aus den 
Kaplanjahren der Reihe nad) aufgezählt. Das war 
freifih auch feine gar erbauliche Lektüre. Und doch 
mochte in dieſem und jenem aud ein Körnchen 
Wahrheit fteden, bejonders in der Beſchuldigung, 
daß der Herr Pfarrer feinen Köchinnen nicht abhold 
gewejen jei. Aber mozu all dies an die große 
Glode hängen? 

Die wadern Lohinaer Bauern ſcherten fi denn 
auch jehr wenig darum, obgleich die Bewohner des 
Nahbardorfes fie nicht wenig gegen ihren geiftlichen 
Heren aufſtachelten. 

„Warum jagt ihr ihn nicht weg?“ fragten fie 
nad dem erften Pasquill. 

„Weil wir nicht daran glauben, daß wirflid 
Brand gelegt wird. Wer droht, ift nicht gefährlich.” 

Nach dem Brande, als ihnen im zweiten Pasquill 
eine zweite Feuersbrunſt in Ausficht geftellt wurde, 

» fpotteten die Durchreifenden Zuropolyer Bauern: 
„Seht werdet ihr euern Geiftlichen aber doch über 
die Grenze befördern ?" 
„Wir wüßten niht, warum wir ihn an Die 
| Grenze jegen jollten. Jetzt glauben wir's ja ſchon, 
dab wirflic Feuer gelegt wird. So fönnen wir 
uns ja helfen.“ 

So geſchah's aud. Die Bauern überfiedelten in 

ihre Kufuruzfelder, in die Weingärten und zum Teil 


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742 Roloman 


zwifchen die „Lazen“.*) Dort jtoppelten fie aus Baum 
zweigen und Sufurugblättern Hütten zujammen, 
bauten Zelte aus ZTeerplahen und jchlugen neben 
den Zelten Pflöde in die Erde. an die fie des Nachts 
ihre Gäule banden. Drinnen im Dorfe ftanden die 
Häujer leer; höchſtens in einigen Ziegelhäuſern regte 
ſich noch etwas Leben. 

Aber ſelbſt die gemütlichen Lohinaer erjchrafen 
nicht wenig, als auch der zweite Termin getreulich 
eingehalten wurde. Der größte Teil der Dörfler 
ſtand im der bezeichneten Nacht Wade, und doch 
ichlugen die Flammen aus der Gemeindejcheune empor. 
Zum Glüd war volllommene Windftille, fein Lüftchen 
wehte, und jo brannte nur die Scheune ab. 

Dod was nüßte das, wenn gleichzeitig das dritte 
Pasquill wieder da war, diesmal in dem Kellerhaus 
des Kantors, Matthias Blozif. Darin ward für die 
nächte Woche ein neuer Brand veriprochen, falls der 
Geiftliche bis dahin nod) im Dorfe weilen jollte. 

Der Fall war jhon ein jo erniter, dab ſich 
das Komitat endlih aud rühren mußte. Das 
Komitat aber rührt ſich gewöhnlich derart, daß es 
fi) auf die andre Seite legt und weiterſchläft. Die 
Unterfuhung wurde denn auch im gewohnten faulen 
Sclendrian anberaumt und mit deren Führung Seine 
Hochwohlgeboren der Oberftuhlrichter Michael Sotony 
von Amts wegen betraut. 

Den Stuhlrichtern gebührt wohl nur der Titel 
Wohlgeboren, aber Michael Sotony gehörte einer 
jener Familien an, die vierjpännig ausfahren. Ein 
bochgeborener Herr, dem es nur jo mebenbei ein- 
gefallen war, nachdem er die Frauen jo ziemlich jatt 
befommen, einen andern Zeitvertreib zu ſuchen und 
Vizegeipan zu werden. Das aber muß man der 
Sitte und dem Anjtand zuliebe mit der Oberftuhl« 
richterwürde beginnen, um fich etwas Praris an- 
zueignen. Obwohl es ja doc gejchrieben ſteht: 
wen Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch den 
Verftand. Und erft, wenn einer auch noch Geld 


hat. Da kann er ſich auch noch Wifjenihaft dafür | 


kaufen. 

Die Gelegenheit dazu ließ nicht lange auf ſich 
warten, Eines ſchönen Tages ftellte ſich der Vize— 
ftuhlrichter Martin Teresfey bei ihm ein, um fid 
von ihm ein Wechielgiro zu erbitten, worauf Sotony 
ſcherzend erwiderte: 

„Ich unterſchreibe deinen Wechſel, aber nur unter 
einer Bedingung.“ 

Ich veripreche blindlings alles, was du ver- 
langit, lieber Freund.“ 

„Wenn du mir deinen Kopf leihſt.“ 

„Mit Vergnügen, wenn du ihn benußen kannſt, 
ohne ihm abzujchneiden. Denn das, weißt du, wäre 


*) Feldhütten. 


Mitszäth. 


mir doch nicht lieb. Und aud) dir wäre e# vieleicht 
unbequem. Weißt du, das Zurüdgeben hätte dann 
feine Schwierigkeiten!“ 

„Ih verlange von dir den fyreundihaftsdienft, 
daß du mit mir nad) Lohina zur Unterjuchung fährſt. 
Du als erfahrener Mann fannjt mir in vielem ber 

hilflich jein. Der Vizegeſpan hat mich, entjende, 
und es wäre mir lieb, wenn wir beide zulammen 
dem Ding auf die Spur kämen.“ 

„Ich ftehe zu Dienften. Wann brechen wir auf?‘ 

Uebermorgen.“ 

„Bis dahin aber möchte ich den Sachvethelt 
fennen lernen.“ 

„Hier ift die Eingabe ſamt den beigelegten drei 
Pasquillen ; lies die Altenftüde zu Haus durch umd 
jpefuliere etwas Gefcheites aus, denn mir ift gar 
fein guter Einfall gefommen. Zum Teufel, wenn 
die Fohinaer jelber nicht herausbefommen können, 
wer dieſe Spottbriefe jchreibt und ihre Häufer in 
Brand jtedt, woher joll ich es denn willen?“ 

„But, lieber freund, ich werde es jchon heraus 
friegen.“ 

Martin Teresfey ftand in dem Rufe, ein aut 
gezeichnete Unterfuchungsgenie zu fein; er hatte 
reiche Erfahrungen, eine außergewöhnliche Beob» 
achtungsgabe und originelle Einfälle. Er wußte mit 
den Leuten in ihrer Weife zu ſprechen, mit ein 
Ichmeichelnder, füher Rede, die den Sprödeſten mürbe 
machte. Er hätte e8 auch weit gebracht — einmal 
war jogar die Rede davon, daß man ihn nad) Buda- 
peſt an die Spike des Polizeiweſens ftellen werde — 
wenn nicht einzelne über ihn kurſierende Anefdoten 
jeinen guten Ruf total zu Grunde gerichtet hätten. 
Man flüfterte nämlih, daß er im Kreuzfragen Her 
vorragendes leifte; das bedeutet aber im Komitat 
ftil: übers Kreuz eins von lints, piff, eins von rechts, 
paff, und daß er „Informationen* nur allzuwillig 
Gehör jchente. Als der Schmied von Kapolt ihm 
einft ein Kalb zum Gejchent brachte, joll er ibn 
wütend angeſchnaubt haben: „Wofür jeht Ihr mid 
an? Soll id) etwa das Kalb jäugen? Konntet Jhr 
nicht gleich die Mutter mit bereinbringen ?* — 
| „Die ganze Lohinaer Affaire ift ein Kinderfpiel,* 
| erflärte er nad) drei Tagen, nachdem er die Pas 
quille durchgelejen hatte. „Ich bin auf ficherer Fährte. 

„Nun, das freut mich,” erwiderte ber junge 
Sotony. „Denn id) will von nun an mein Leben 
ganz den Öffentlichen Angelegenheiten widmen.“ 

„Eine miferable Laufbahn, lieber Freund, ber 
fonders für ſolch einen Lebemann.“ 

„Ich Habe mit all meinen bisherigen Beidäfti- 
gungen gebrochen. Die Karten Tangweilen mid, 
der Landwirtſchaft kann ich feinen Geichmad ab- 
gewinnen, etwas muß ich doch thun.“ 

„Hehre zu den Frauen zurüd!“ 








Main 4 


Das Zaubertraut von Lohina. 


„Rimmermehr!“ rief Sotony mit blajterter Miene. 

„Nun aljo, laß anſpannen, gehen wir, ſuchen wir 
den Sohinaer Brandftifter!” 

Eines Schönen Morgens machten fie ſich denn auf 
den Weg in Begleitung Georg Hamars, des kurz⸗ 
ſichtigen Schreiberö, von dem es befannt war, daß 
er ſtets mit der Wafe vermilchte, was er mit der 
Hand gelchrieben, 

„Wo fangen wir an?” fragte Sotony unterwegs, 

„Dei dem Geiftlihen. Der Rutjcher ſoll zuerft 
dort vorfahren.“ 

Der Pfarrer von Lohina hie Samuel Belinta ; 
heißen ja doch faft alle Iutherifchen Geiſtlichen ent— 
weder Samuel oder Ludwig. Er war ein blau- 
äugiger, ſchlank und hoch gewachſener jhöner Mann. 
Mit einem Worte ein Geiſtlicher von gefälligem 
Aeußern, einer, von denen man zu fagen pflegt: der 
it dur Damenwahl zu einer Pfarre gelommen. 

Sotony verhörte ihn liebenswürdig. 

„Bie alt find Sie?” 

„Dreißig Jahre.“ 

„Seit warn find Sie Seeliorger?* 

„Seit drei Jahren.” 

„Bann haben Sie geheiratet?“ 

„Bor zwei Monaten.“ 

Angenehme Flitterwochen! 

„Haben Sie niemand im Verdadjt ?* 

„Niemand !* 

„Und doch ſcheint es,“ unterbrach ihn Teresleyh, 
daß gegen Euer Ehrwürden bier nur der perſönliche 
Haß thätig iſt.“ 

„Das iſt möglich,“ murmelte Belinla unſicher. 

„Haben Sie nicht irgend einen Feind," jehte 
Zeresfey das Berhör fort, „der Sie einft gehaßt hat, 
der Sie nod) immer haft?“ 

Der Pfarrer begann nachzudenlen. 

„Meines Wiſſens nicht.“ 

„Das ift eigentümlich! Lat mal ſehen.“ Teres- 
fey fraute finnend jeinen ergrauenden roten Bart. 
„In den Pasquillen find viele ſolche Dinge erwähnt, | 
die nur intime, mit den Verhältniſſen jehr vertraute | 
Eingeweihte wifjen fönnen. Wer waren Ihre Dienite | 
leute?“ 

„Ein Knecht für alles, der jetzt noch bei mir ift, 
und zwei Mägde, bie ſchon ausgetreten find.“ 

„Wie heißen die zwei Mägde?“ 

„Die eine heißt Magdalena Riczla, die andre 
Anna Sztrelnyil.“ 

„Wo bienen fie jebt?“ 

„Soviel id weiß, find beide jet zu Haufe bei 
Ihren Eltern.“ 

Georg Hamar nahm alle dieſe Ausjagen zu 
Protofoll, und der Pfarrer unterjchrieb,. 

„Das erite Altenjtücd, weldes während meiner 
Oberftuhlrichterära zu ſtande kam.” | 


| 
| 








L... 


743 


„Na, mager genug iſt's ausgefallen,” bemerkte 
Teresfey mißmutig. „Wiſſen Sie font nichts, Ehr- 
würden ?* 

„Nichts. * 

„Run, da find wir alio dort, wo wir waren, 
nicht wahr?“ fragte der Oberftuhlrichter betrübt, mit 
einer Naivität, die ganz und gar nicht zu feiner 
Miürde paßte. 

„Sei unbejorgt, lieber Freund, Wenn du den 
alten Fuchs ſchon einmal herausgebracht haft, kriecht 
er nicht eher in ſeinen Bau zurück, als bis er etwas 
ausgeſchnuppert hat.“ 

„Haft du alſo Hoffnung?“ 

„Das Ganze iſt eine Kinderei, ſag' ich dir, Du 
wirft iehen, den Schuft faſſen wir noch heute ab. 
Denn dab ein Hiefiger die Pasquille jchreibt, das 
feibet feinen Zweifel, Nun denn, wie viel Leute 


| Können in jo einem jlovalifhen Dorf jchreiben ? 


Wenn's gut gebt, fünfzig! Die müſſen alle vorgeladen 
werden, punktum !” 

„So iſt's! Volllommen richtig! Aber wo ift da 
eigentlich das Dorf?“ 

Ringdum ftarrten rauchgejchwärjte, halbein— 
geäfcherte Mauern in die Luft; hie und da ein Nfchen- 
bügel, große Haufen Halbverfohlter Balfen und 
Sparten; faum die Hälfte der Häufer fand noch 
underfehrt, und auch Die waren Ieer, 

„Wir begeben uns dorthin, wo die Gemeinde ſich 
befindet,“ erwiderte Tereäfey. „Könnten Sie uns 
nicht jemand zur Verfügung ftellen, ehrwürdiger Herr, 
der uns dorthin führt, wo das Volk feine Zelte aufs 
geſchlagen hat?“ 

Samuel Belinfa empfahl ihnen zu dieſem Zweck 
den Kurator, Herrn Milulil. 

"Der wird den Herrſchaften den Weg weijen.“ 

Herr Milulik ſchmauchte eben jein Pfeifchen auf 
der Veranda, Herr Milulik war ein originelles, 
dürres Männchen — nidt umionft hatte er ben 
Spottnamen Hering bekommen — und fein Geſicht 
glih einer Ofner Birne, in melde die Natur zwei 
winzig Meine, ichrotförmige, funtelnde Aeuglein ein» 
gefügt hat? 

Sein Anzug beftand aus einer Hofe von grobem 
Bauerntuch, während ein faffeebrauner Rod, wie ihu 
die Kantoren tragen, feinen Oberlörper bededte, 

Die Herren nahmen ihn zu fi auf den Bod, 


| damit er dem Kutſcher Weifungen erteile, welchen 
' Weg er auf den unwegjamen Aderpfaden einzuſchlagen 


habe. So mußte denn der Heidud dem Wägelchen 
per pedes nadtraben, weil für ihn fein Plah war. 

„Ja, aber ich bitte unterthänigft, meine Herren, 
das Dorf ift jebt auf zwei Pläße verteilt.“ 

„Bo ?” 

„Der eine Teil hauft weit draußen im Gebirg, 
der andre bier zerftreut zwiſchen den Meingärten.* 


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744 KRoloman Mitszäth. 


„Nun ift die frage, wo der Richter und der 
Notar zu finden find.” 

„Die lagern hier in den Weingärten.” 

„So gehen wir dorthin !* 


I, 

Es ift fein Meines Ereignis, wenn die Komitats= 
leiter in jo eine arme Ortſchaft hineingeſchneit fommen. 
Im Verlauf einer Selunde verbreitet ſich die Kunde 
mit Windeseile. Jeder verliert den Kopf. Gut, daß 
nicht Alarm geläutet wird. Eine fieberhafte Thätig« 
feit wird entfaltet, denn es muß doch für alles ge- 
ſorgt werden. Des Dorfes Ehre mu gewahrt bleiben. 
Der Heidud wird ausgefragt, welches die Lieblings- 
jpeifen der hochwohlgeborenen Herren find (wenn ber 
Jaͤnoſch Verftand hat, jagt er bei joldher Gelegenheit 
jeine eignen Leibfpeifen an); dann werden die flinfjten 
Burſchen aufs Pferd gejegt; der eine reitet in die 
Stadt um Fleiſch und Spezereien, der andre um 
Mein, der dritte um ein Päckchen Karten, denn die 
Herren vom Komitat dürfen an nichts Mangel leiden. 

Diesmal rief die Ankunft der Obrigkeit noch 
größere Aufregung hervor als fonft, denn jetzt 
mußte alles erſt beichafft werden. Der Notar im« 
provifierte ein Amtslofal am Rande eines Kleefeldes, 
wo ein paar Ejpen ihre filbernen Blätter gleich 
Tauſenden und Abertaufenden Meiner Fächer ſchim— 
mernd in den Lüften jchaufelten; dort ließ er im 
Schatten drei Tiſche aufftellen. Links davon jchütteten 
die Bauernmädchen aus friſch gemähtem Heu weiche, 
duftige Ruhebetten auf, damit die Herren ein 
Sclummerplägchen hätten, wenn fie nad) dem Speijen 
die Luft anmwandelte, ein Mittagsfhläfhen zu thun. 

Jawohl, nad) dem Mittagsmahl! Aber wo das 
Mittagsmahl fohen? Dazu brauht man Plat. 
Hurtig, ihr Jungen, grabt einen Feuerherd, und dann 
ipannt rajd) einen Karren an und bringt, jo ſchnell die 
Roſſe traben, die Apollonia Mitulit aus dem Dorf 
herbei! Sie ift die beſte Köchin in der Umgebung. 
Selbit der König würde ſich alle Finger ableden, 
wenn er von dem äße, was die Apolfa gekocht hat, 

Indes rennen die Zehenteinheber atemlos feldaus 
feldein, bergauf bergab, um dem: Befehl des Ober- 
ſtuhlrichters gemäß alle Schriftkundigen aufzutreiben; 
denn vor der hohen Obrigkeit wird heute große 
Schriftprobe abgehalten. Wehe dem, der nicht er 
ſcheint! 

Der Feuerherd wird fertiggeſtellt; die Bauern 
fommen angerückt: Greiſe, Burſchen, Frauen, Mäd- 
chen, Kinder. 

„Meine Herren, wir fönnen an die Arbeit gehen,“ 
ordnet der Oberſtuhlrichter an, die Pasquille auf die 
drei Tiſche verteilend, indes er dem Alten lachend 
zuflüftert : 

„Sollen wir auch die Weiber vernehmen ?* 

„Natürlich,“ erwidert Tereäfey, „das find die 


ihlimmften Pharifäer , befonders wenn fie jchreiben 
fönnen. Ich möchte gern wiljen, warum nicht gerade 
eine Frau die Pasquille geichrieben haben ſoll. Ya, 
ich habe jogar einen leifen Verdacht.“ 

„Ab, ah,” Mang es neugierig von allen Seiten, 

„Ahnft du etwas?" flüfterte Sotony. 

„Still! Ich kann noch gar nichts jagen. Aber 
ich wette meinen Kopf darauf, daß bei der Schrift 
probe alles an den Tag kommt. Du wirft jhon 
jehen. Alfo, fangen wir an.* 

Der Reihe nach näherten ſich die Slovalen dem 
Tiſche. Braunhaarige, hagere, hochaufgeſchoſſene 
Burſchen, ein paar alte Männer, die langen, zurüd 
geitrichenen Loden von einem Kamm gehalten. Unter 
den älteren Weibern fand ſich feine, die des Bude 
ftabenmalens fundig war ; die flinfen Jungbäuerinnen 
im grünen Schurjrod — der Rod iſt rüdwärts had 
geihürzt und vom Gürtel baumeln bunte Bänder 
herunter — bieten mit ſchelmiſchem Lächeln ein Are. 
hen als Unterfchrift an. Uebrigens ift eg dem Richter 
famt den Zehenteinnehmern genau belannt, wie weit 
die Wiſſenſchaft eines jeden reicht, und fie üben ge 
naue Kontrolle, damit niemand jein Wiſſen verleugne. 

Teresfey drüdt einem zuſammengebrochenen, 
ſchlotternden Greiſe die Feder in die Hand. 

„Schreibt die zwei Worte nieder: Ludja Bozsi!**) 

Mit diejen Worten beginnt das Pasauill, 

Die Feder zittert in der ſchwieligen Hand, und 
die frummen, unficheren, großbäuchigen,, vorn umd 
hinten ringelgeſchwänzten Buchſtaben neigen fid bald 
rechts, bald linls. 

„So hat man vor der Sündflut gejchrieben,* 
lächelte Teresley. „Ihr Mönnt gehen. Der fol 
gende!“ 

Jeht am die Reihe an einen podennarbigen 
Burjhen. Kaum hatte der einige Buchftaben zu 
Papier gebracht, als Teresleys Augen auch ſchon ge 
witterdbrohend zu funfeln begannen. 

„Heidud, ergreifen Sie den Mann!” 

Aber im nämlichen Augenblid rief der Gerichts⸗ 
ſchreiber erregt auß: 

„Das ift der Branbdftifter!* 

Der Heidud, der auf Teresfey zugeeilt war, blieb 
auf halbem Wege ſtehen, unſchlüſſig, wen er jeft 
eigentlich gefangen nehmen folle; jedoch im jelben 
Moment, als hätten fie ſich verabredet, ſchnellle auch 
der Oberftuhlrichter mit großem Getöfe von feinem 
obrigkeitlichen Sit empor und, den Seſſel beifeite 
ſtoßend, padte er den vor ihm ftehenden ftämmigen 
Bauern, den Lohinaer Kürſchner Martin ſtuſtar beim 
Kragen, der, zu Tode erjhroden, den Gänſeliel, 
welcher jolches Unheil über ihn gebracht, zur Erde 
fallen ließ: 


*) Männer Gottes, 





Das Zauberfraut von Lohina. 


„Hab’ ich dich, Galgenſtrich!“ 

Der Heibud mußte aus langjähriger ſtomitats- 
pragis, dab im ſolchen Fällen immer derjenige der 
Schuldige ift, den der Höchftftehende dafür erflärt; 
o warf er ſich alfo auf den Kürſchner und begann 
ihm das Fell zu gerben. Der unglüdlihe Kuftar 
beteuerte mit leichenfahlem Gefichte laut heulend 
feine Unſchuld. 

Ich bin unfchuldig wie ein neugeborened Lamm.“ 

„Du haft die Pasquille gefchrieben, Schurte!* 

„Ih habe kein Sterbenswörichen geichrieben, ge= 
ſtrenger Herr.“ 

„Du lengneft umfonft, ich jehe es. 
ihn binden.” 

Und das wäre auch geſchehen, denn der Lohinaer 
Mesger, der dem Kürſchner perjönlich feind war, 
war im nächften Moment auch ſchon zur Stelle, um 
dem SHeibuden beigujpringen, und fie hätten ihn 
ipielend überwältigt, wenn ber alte Vizeftuhlrichter 
nicht plötzlich dazwiſchengetreten wäre. 

„Um Gottes willen, mein Sohn, mad) feine Ron» 
fufionen! Ich Habe ja den Pasquillichreiber er- 
wicht... aber ich wollte, er möchte mir indes ent» 
wüchen.” 

„Schweig!“ keuchte der Oberftuhlrichter mit der 
Keidenihaftlichteit eines Jägers, dem man den er— 
legten Hajen ftreitig machen will, „ſchau her, ift das 
nicht aufs Haar die Schrift des Brandftifters?” 

„Wunderbar! Dieje Schrift bier gleicht dieſer da 
aufs Jota.“ 

„Sieb ber!“ rief der Oberſtuhlrichter begierig 
und verglich die Handichriften. „Das ift ein wunderlich 
tolles Ding, Freund Marczi. Schließlich fönnen doch 
nicht zwei dad Pasquill gejchrieben haben.” 

„Drei, Euer Hochwohlgeboren, drei,“ unterbrad) 
fie der eben hinzutretende Schreiber, „denn ich habe 
genau dieſelbe Schrift hier zu Papier befommen.“ 

„Da habt ihr's. Alſo hängt den Fuchs, wenn 
ihr's lönnt!“ wütete Sotony. 

Alle drei gafften einander ganz verblüfft an, nur 
Syelula, der Dorfrichter, lachte die Herren aus. 

„Aber was haben denn die geftrengen Herren 
gemeint! Bitte jehr, es ilt doch Mar wie die Sonne, 
dab die ganze Gemeinde nur nad zweierlei Art 
ihreiben kann. Die Aelteren jchreiben jo wie der 
jelige Schullehrer, die Jüngeren wie der jetzige Schul« 
lehrer.“ 

So war's. Die Schriftzüge der Einwohner hatten 
feinen individuellen Charakter angenommen, Die 
Buchſtabenformen des verftorbenen ſtantors lebten 
auch nach ſeinem Tode fort. So viel wurde jedenfalls 
tonftatiert, daß die Handſchrift der Pasquille der 
Schule des jekigen Schullehrers entftammte. 

Sofort wurde diefer, der ftudierte Herr Matthias 
DBlozif, vor Gericht citiert (was nicht Schwer ging, da 

Aus fremden Zungen. 1897. II. 16. 


Man muß 


745 


er vor dem Weinfeller des Johann Bißkup, im Graie 
auf dem Rüden liegend, fein Pfeifchen raudhte), ob 
er vielleicht die Schrift jeiner Schüler zu unterfheiden 
bermöge. 

„Die haben alle eine ganz gleiche Schrift,” be— 
merkte Blozif, fich ftolz in die Bruft werfend, „Denn 
ih bin ſchon fo ein Menſch, ich habe alle meine 
Schüler gleich lieb, ih unterrichte alle gleih. Es 
fol nicht einer mehr fünnen als der andre.“ 

Der biebere Matthias Blozit fahte die allgemeine 
Gleichheit auf dieje Weiſe auf, 

„Na, mit dem Bizegefpanähut iſt's aus,” feufzte 
Sotony, „wenn id der Lohinaer Affaire nicht auf 
den Grund fomme; damit aber hat es jeßt ſchon jeine 
guten Wege. Aus iſt's.“ 

„'s it noch nit aus! Wohl iſt's wahr, dab 
die Fährte, welche wir bei der Unterſuchung ein» 
geihlagen haben, ſich als falſch erwieſen hat. Aber 
mein Verftand hat mehrere Wege eingefchlagen. Ver» 
zweifle aljo nicht und laß mich handeln. Bor allem 
aber verlegen wir unjer Bureau anderwohin, denn 
der Mind treibt den ganzen Rauch von der improvi» 
fierten Küche uns ins Geficht.“ 

Ein hoher Holzſtoß loderte prafjelnd empor, 
wellige bläuliche Rauchftreifen emporſendend; aber 
darunter fladerte ein Iujtiges Feuer. Ein ftatiliches 
junges Weib tummelte ſich in der Nähe des Herbes, 
ſchnitt die Kartoffeln in Scheiben, zerlleinerte Die 
Zwiebeln, ſchlug das Fleiſch mürbe und ſchob bie 
Zöpfe und Kafjerolen hin und her. Mit dem Rauch 
zugleich zog aud der mwürzige Speiſenduſt und das 
Parfüm der Himbeeren aus dem nahen Gebüſch her— 
über. 

„Das ift die Apollonia Milulik,“ machte der 
Notar die Herren aujmerkjam. „Eine jeltene Schön» 
heit, und locht vorzüglich.“ 

„Ah! So werden wir alfo heute mittag uns an 
einer Mahlzeit von jhöner Frauenhand ergößen.“ 

„Sie ift noh Mädchen,” mifchte ſich der Kantor 
Blozik ins Gefpräh, der in der Nähe der hohen 
Obrigkeit herumſcherwenzelte. 

„Bon meiten ift fie jehr hübſch,“ meinte der alte 
Teresley. „Wollen wir fie nicht in der Nähe ans 
Ihanen?“ 

„Wenn fie ihrem Vater gleicht, jo ift nicht viel 
an ihr,“ erwiderte Sotony gleihmütig. „Ihr Vater 
ift ja doch der Kurator, der uns hierher begleitet hat.“ 

„Ja, der ‚Vierdereparateur‘ !* 

„Was ift das für ein Handwerk?” 

„sein beionders ehrliches Handwerk,“ bemerkte 
achjjelzudend der Notar, „aber jetzt betreibt's der Alte 
ſchon nicht mehr; er iſt ein anjtändiger Menſch ge» 
worden, hat fich ein Meines Vermögen erworben und 
ift gegenwärtig Kurator.“ 

„Und wie hat er denn eigentlich Die Pferde 

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746 Koloman 


repariert ?* fragte der Oberſtuhlrichter fichtlich inter» 
eifiert, indes der alte Teresfen ſich zum Herde hin« 
ſchlich, um dort jein Pfeifchen anzufteden. 

„Er Hat ihnen Sittenzeugnifie ausgeftellt. Er 
begab ſich auf alle Pferdemärkte.* 

„Ab, alſo eine Art Roßlamm!“ 

„Nein, der hat noch nie ein Roß gelauft,“ be= 
gann der Nichter zu erzählen, „aber nad) dem Marlt 
faufte er die Päſſe all jener Pferde zujammen, für 
die fich fein Käufer gefunden. Er ſchlug nämlid in 
irgend einer wandernden Garküche jein Papeinlöfungs- 
inftitut auf, und das Volk ftrömte ihm haufenweiſe 
zu. Er zahlte vier, fünf Kreuzer fürs Stüd. Denn 
nad) dem Markt braucht feiner den Viehpa mehr.” 

„Dummer Kerl! Und wozu braucht er dieje Bälle?“ 

„Die Gegend ift geftedt voll von Roßdieben, 
halten zu Gnaden, welche die jhönften Fohlen ab- 
fangen. Und Herr Mitulif gründete jein Geſchäft 
auf dieje Leidenſchaft; demm ich bitte nur micht zu 
vergeiien, dab ein anjtändiger Menſch fein Pferd 
fauft, welches nicht feinen Pak hat. Und fauft er’s 
ihon, jo wirft er dem Dieb dafür ein Yumpengeld 
bin. Uber wenn er ein gejchriebenes Dofument 
dazu hat, jo iſt der Kredit des Pferdes hergeftellt, 
und es fteigt jechsiach im Preis,” 

„Aha! Ich fange an zu verftchen,* rief Herr 
Sotony, große Augen machend. 

„Die Diebe famen aljo zu unferm guten Mitulit, 
und der bejah jich das Pferd und fuchte aus feiner großen 
Eijentruhe den übereinftimmenden Paß aus, je nad- 
dem es ein Schimmel oder ein Falber war. Unter 
fo vielen Taufenden fand fich für jedes Pferd das 
Nichtige, Der Roßdieb legte feine fünf Gulden 
nieder, und das geftohlene Pferd wurde jofort jein 
rehtmäßiges Eigentum. Für ſolche Dokumente aber, 
die auf bejondere Kennzeichen ftimmten, verlangte er 
aud zehn bis zwanzig Gulden. Aber dann zeigte 
ihn jemand bei Gericht an.” 

„Und jo fam er natürlich ins Kühle!“ 

„Ach was! Keine Spur! Er hieb ſich heraus.“ 

„Wie? Das Gericht hat ihn nicht bejtraft ?” 

„Das hohe Gericht ift damals jelbft auf ge 
ftohlenen Pferden geſeſſen.“ 

„Das ift wirklich interefiant ,* rief Sotony ver- 
blüfft. „Und was ift mit den vielen gefammelten 
Fällen gejchehen ?“ 

„Die hat das Gericht jpäter doch mit Beichlag 
belegt. Aber feitdem hat fih Milulik vollftändig 
gebeilert. Wenigitens hört man jebt nichts über ihn.” 

Indes Sotony jeine nationalöfonomischen Kennt- 
nilfe derart bereicherte, fam der alte Herr vom fyeuer« 
herd zurüdgetrippelt. 

„Nun, Euer Gnaden, wie finden Cie das Mädel? 
Nicht wahr, ein hübſches Kind?” 

„Fin lederes Hühnchen,” erwiderte Teresley jovial 


Mitszäth, 


und ſchnalzte begehrlih mit der Zunge. „Ja, wem 
ich jünger wäre!“ 

„Wie alt bift du denn, Alter?“ forſchle der 
Oberftuhlrichter. 

„Stark in die Vierzig.” 

„Nun, das ift doch noch fein Alter,” fprad der 
Notar, den Alten mit zweifelndem Blide meſſend. 

„Ei, ich mein’ das aber anders. Ich gebe mid 
nämlich ſchon feit jechzehn Jahren für jo alt ans. 
Tempi passati! Mich ftacheln feine leidenſchaſtlichen 
Gelüfte mehr. Ich bin leider nur aus dem Grunde 
am fFeuerherd geitanden, um mit dem Mäddhen eine 
amtliche Unterredung zu haben.“ 

Amtlich?“ lachten die andern. „Schon gut, Die 
amtliche Angelegenheit ift ein guter Dedmantel.“ 

„Scherz beifeite! Aber ich konnte nicht mit ihr 
ſprechen, weil zu viel unberufene Maulaffen dert 


herumlungern.“ 
„Und was wollteſt du eigentlich mit ihr ſptechen ! 
fragte der Stuhlrichter neugierig. 

„Ih wollte fie fragen, ob fie jtriden kann.” 

Daraufhin allgemeines Schmunzeln. Das gr 
bührt fih jo, wenn der Stuhlrichter Wipe madt, 

„Beftriden kann fie ficherlich, wen du das meint,“ 
bemerkte Sotony. 

„Nein, nein, ich brauche in vollem Ernft jemand, 
der mit Stridnadeln umzugehen weiß.” 

„Apolfa kann ftriden,“ ſagte der Notar, ned 
immer zögernd, da er nicht wußte, ob der Stuhl 
richter nicht etwa doch nur ſcherze. 

„Bitte, laſſen Sie fie auf einen Augenblid ber 
rufen.“ 

Der Herr Notar ging felber, um fie zu hol, 
denn, meinte er, jo ein Bauernmädchen fürchtet ſich 
vor jo großen Herren zu erjcheinen ; die braucht Et⸗ 
mutigung. 

„D, das unſchuldige Lämmchen!“ jpottete Sotom. 

Aber alsbald kam fie gegangen, zögernden, uns 
fiheren Schrittes, die großen ſchwarzen Augen, in 
denen dämoniſche Flammen loderten, züchtig geientt; 
unterwegs hatte fie ihre geſtickte weiße Ktüchenſchütze 
abgelegt und läſſig über den vollen, runden Arın ge 
jchlungen, jo wie die vornehmen Damen ihre Shawls 
zu tragen pflegen. 

Sie trug einen langen Rod, feinen bis zum 
Knöchel reihenden, wie ihn die Bauernmädchen 
tragen; auch war das reiche Haar nicht bäurijd zu 
einem herabhängenden Zopf geflochten, jondern nad 
Art der Handwerlertöchter zum Kranz ums Haupt 

| gewunden. Ihre schlanke, jtattliche Geftalt wiegte 

ſich beim Gehen rhythmiſch in den Hüften, und ihr 
ftolzierendes Auftreten Meidete fie, wie den Pfau jeine 
Eitelfeit. 

„Eine echte junge Gemfe!* ging's flüfternd durch 
die Neihen, wo fie vorüberging. 





Das Zauberfraut von Lohina. 


Durd die bräunlide Haut ſchimmerte rofig das 
putpurne Blut, und auf dem Marmor ihrer Stirn, 
gerade über den nachtſchwarzen Brauen, lag eine 
imperatorifche Halte, die dem intereffanten Oval 
ihrer Züge einen männliden Ausdrud verlieh und 
gleichzeitig Zeugnis davon ablegte, daß fie fchon die 
taufend Wochen hinter fi habe. Tauſend Wochen 
braucht's nämlich unter Lohinas kaltem Himmeläftrich, 
big das Mädchen zum Weibe reift. 

Sotony lief feinen müben, blafierten Blick mit 
febhaftem Intereſſe auf ihr ruhen. „Ab! Ziemlich 
bübich!" 

„Ih habe Sie rufen lafjen, mein Kind,” begann 
Teresten janft, „um Ihre Hilfe in etwas zu erbitten. 
Nun, nun, erjchreden Sie nicht vor und; wir find ja 
feine Menſchenfreſſer. Der Herr Notar jagt, daß 
Sie ſchön firiden fünnen,“ 

„0, das lann ich,“ erwiberte fie mit anmutigem 
Knidks. 

„So bringen Sie alſo Ihre Stricknadeln her, mein 
Rind! Haben Sie fie da ?* 

„Nein, zu Haufe.” 

„Der Heibud wird fie holen. Sie haben ja 
mit dem Kochen zu thun.“ 

„Rein, nein,” ſprach Apollonia mit abmwehrender 
Gebärde, „ich laufe jelbft nad Haufe. Ein andrer 
findet fie nicht. Und weit iſt's ja aud nicht. Wir 
wohnen dort am Nande bes Dorfes.“ 

„Seib ihr denn nicht ausgezogen?“ 

„Nein, wir haben ein gemauertes Haus, das wird 
wicht abbrennen. Ein Ziegeldach!“ 

Teresley mwinfte den Heibuden herbei. 

„Sie begleiten die Jungfer!“ Dann flüfterte 
er ihm leije zu: „Und dab mir das Mädchen auf 
dem Wege ja mit niemand von den Stridnadeln 
redet! Das muß ein Geheimnis bleiben.“ 

Ich kann's nicht begreifen,” brummte der Richter. 
„Mir fteht der Verſtand ſtill.“ 

„Bas mag er nur wollen?“ ipintifierte Georg 
Hamar. 

„Sagen Sie es uns doch auch, Euer Gnaden!“ 
drängte der Notar; „mehr Augen ſehen mehr, viel- 
leicht fönnen wir auch ein Wörtchen zur Sache reden.“ 

„Können die Herren warten?“ fragte Teresten 
laͤchelnd. 

„Nein, das können wir nicht,“ platzte Sotony, 
der vor Neugier brannte, ungeduldig heraus. 

„Ich aber kann es, drum warte ich erft bie 
Etridnadeln ab.” 

Und das alles machte er mit jo geheimnigvoll 
wichtigthueriſcher Miene, daß er die allgemeine Neu- 
gierde noch mehr fteigerte. Aber das Geheimnis lieh 
er fh nicht einmal mit eijernen Zangen entloden, 
obgleich fie zu jedem erbenklichen Mittel griffen. 
Sotony verlegte fich zuletzt aufs Spotten. 


747 


„Darum alfo bift du ein jo großes Polizeitalent, 
weil bu die Stridnadeln unter polizeilicher Bebedung 
herbringen läßt. Ich könnte mich totlachen, wenn 
ih mir die Sache überlege. Es ſoll's unterwegs ja 
feiner hören! Ha — ba — ha! Was joll feiner 
hören? Das große Geheimnis, daß die Jungfer 
Mitulik ihre Stridnadeln bringt! Nachmittag laff’ 
id; dir glei eine Schlafmüße ftriden. Gut?* 

„Es wird beffer fein, wenn du feine jchlechten 
Witze macht. Aber ich ſehe jchon, daß ich vor dir 
feine Ruhe haben werde; ich gehe aljo fort und werde 
in dem Feltborf indeſſen einen feinen Spaziergang 
machen.“ 

„Da geh' ich auch mit.“ : 

„Gut! Aber da ſeh' ich ein ſtuhhorn; gieb den 
Befehl, daß man ins Horn ſtoßen ſoll, wenn das 
Mädel zurückkommt.“ 

Aſchenruß bedeckte die ganze Wieſe, Aſchenruß 
ſchwärzte die Gräſer rings umher; wenn der Wind 
die Baumfronen zaufte, ftoben Rußwöllchen empor, 
und die Plachen ber Zelte waren auch rußgeſchwärzt. 
Der rote Hahn hat überall mit leſerlicher Schrift 
eingefchrieben, daß er hier vorübergegogen, und wen 
irgend jemand, jo ift er's, der wirklich mit ſchwarzen 
Leitern jchreibt. 

Bor den Hütten trieben mutwillige jlowakijche 
Bauernjungen ihr Spiel, Ihrer Laune that der 
Umftand feinen Abbruch, daß ber rote Hahn das 
Dorf hierher verjagt hatte. Sie Ineteten Figuren 
aus klumpiger Roterde, höblten fie dann aus und 
fchleuberten fie derb an die Brettermwände, fie mit dem 
Zauberjprüchlein begleitend: „Dröhnet wie die große 
Glode oder lauter, wenn ihr könnt!“ Sie jpießten 
bie grünen Fruchtknötchen der Kartoffelitauden auf 
jpige Stäbe und fangen dazu: „Fliege hurtig, 
Snötchen mein, ſchnell wie ein Bleifügelein!“ Und 
es flog auch fo raſch. Die Schelme verftanden gut 
damit umzugehen. 

In den Zwetichgengärten, wo jih Baum an Baum 
reiht, jchaufeln Heine weiße Nadyen in den Lüften; 
bon weitem ficht es aus, als wären’ große, weiße 
fliegende Günſe. Das ift ein echtes, rechtes Märchen ⸗ 
dorf! Un die flämmigen Zweige zweier großen 
Bäume wird je ein weißes Tiichtuch befeftigt, und 
darein legt man die Säuglinge. Indes bie Mütter 
das Feld bearbeiten, find bie Kleinen dort im Schatten 
aut aufgehoben. Die Laubfronen flüftern ihnen ein 
ſüßes Schlummerlied zu; der Wind aber, der au 
ben Zweigen rüttelt, ift ein gutes Kindermädchen; 
mit den Weiten fchaufelt er gleichzeitig aud) die win— 
zigen weißen Kinderneſtchen. 

Wenn ſich jemand eines ſchönen Tages unverfehens 
bier einſchliche und die Kleinen, die feiner bewacht, 
vertauſchen würde — mein Gott, weld ein Durch— 
einander entſtünde ba! 





748 


Die Hütten ftanden meiftenteils leer; nur je eines 
ber Kinder ftand Wade bei den geringen Habjelig« 
feiten. 

„Wo find die Großen?“ fragte Teresley mit 
gutmütiger Vertraulichkeit einen diefer haushütenden 
Jungen. In der Leutſeligkeit war er Meifter. 

„Die find halt alle weg. Die Mutter bringt 
das Heu der Wieſe ein, die Schwäher läßt in der 
Mühle das Korn mahlen, und der Vater, der ift zu 
Gericht gegangen, wo man den Brandftifter jucht,“ 
antwortete der Knabe veritändig. 

„Na, und was haft du gehört, wird man ihn 
finden?” 

„Keine Spur! Die Leute fagen, daß die Herren 
gar nichts wilfen. Und fie werden aud nichts 
herausbringen, bis fie den alten Hrobat nicht um 
Rat fragen.“ 

„Na, lieber Freund, das ift ein ſchönes Komplie 
ment für und.” 

„Hm! Macht nichts!“ 

„Wart einmal, mein Junge, ſag mir, wer ift 
denn der Hrobaf?“ 

Weiß ich nicht," ſagte der Junge trogig, und 
dem Stedenpferd, auf dem er jaß, zur Aufmunterung 
eins mit der Zunge zuichnalzend, lief er davon. 

Die Herren vom Komitat aber jeßten ihren 
Spaziergang fort, bis ihnen wieder jemand in den 
Wurf fam, mit dem fie ein Geipräd anknüpfen 
fonnten. 

Ein feifter Bauer lag vor jeiner Hütte auf feinem 
Schafvelz. 

„Wo fehlt's, Yandamann ?* 

„Das dreitägige Fieber beutelt mid, gnädiger 
Herr.“ 

„Das ift fein angenehmes Ding. Warum nehmt 
Ihr nicht etwas ein?” 

„Ih bitte unterthänigft, es wär’ ſchon längſt ver 
gangen, wenn wir drin im Dorfe wohnen thäten ; 
benn da giebt's fein fichereres Mittel dagegen, als 
wenn man ich neunmal auf neun Gräbern rund 
berummäljt. Aber in dieſer Hundsvermalebeiten 
Gegend giebt's ja nicht einmal ein Grab.“ 

„Was meint Ihr, wie lang werdet Ihr noch da 
wohnen?“ 

Der kranke Bauer jeufzte, 

„Es möcht’ nur ſchon brennen, wenn's brennen 
fol. Wir haben die Sache ſchon ſatt. Wir können 
es ſchon faum erwarten, daß wir ganz abbrennen. 
So könnten wir uns wenigftens Zeit zum Bauen 
nehmen, folang noch die warmen Zeiten anhalten.” 

So viel ſteht feit, in dem kranken Bauern wohnt 
ein jehr gejundes Gemüt. 

Aber das originellfte der vielen bunten Bilder, 
die ſich vor ihnen ausbreiteten, war ein großer, ver⸗ 
borrter Hirihbaum am umteren Ende des Mein« 


KRoloman Milszaäth. 


gartens, von deſſen Stamm ein dürres Wacholder: 
büfchel an einer Schnur baumelte, indes auf den 
Zweigen aus Hobelfpänen gebundene Schleifen wie 
toll im Winde Mnifterten und rauſchten. 

„Sich da, das ift wahrjdeinlid das Wirte 
haus,“ 

Freilich war's die Schenke. Der erfinderifc 
Morig Kohn hat jein Geſchäſt auch hierher mit: 
gebracht. Freilich bedurfte es dazu feines großen 
Apparates. Ein Fähchen Branntwein und ein Stüd- 
chen Kreide. 

Mori Kohn ftand neben dem Faß, und weil er 
mit jemand, den ein dichter Hajelnußftraud gan; 
verdeckte, in jehr eifriger Verhandlung begriffen war, 
bemerkte er die herannahenden Herren nicht. 

„Geben Sie's für zwei Gulden? Ja oder nein!“ 
ertönte der unverfennbare Jargon des biebern Moris 
Kohn. 

„Unverjhämtheit!" zürnte der andre. „Bi 
fönnen Sie ſich unterftehen, für jo einen Paß zwei 
Gulden zu verſprechen ?“ 

„Wie ich mich unterfteh’?* reichte der Jude. 
„Weil ich mir's hab’ ausgerechnet. Auf acht Gulden 
haltet Ihr ihn; fo is e& doc ficher, daß hr ihn 
für ſechſe hergebt; mu, jo demf’ ich mir, is er doch 
vier Gulden wert, aljo verſprech' ich dafür zweie.” 

„Echt jüdiſche Logik!“ ſchmunzelte Teresley, dem 
Oberftuhlrichter einen zarten Rippenſtoß veriepend. 
„Still! Seien wir ruhig!” 

„Hol's der Teufel,“ begann jetzt der andre, „io 
ſoll's alfo bei jeh® Gulden bleiben, wenn Sie ſchon 
meinen, daß ich ihn für ſechs Gulden hergebe!* 

„Was? Hab’ ich vielleicht tolle Schwammerl ge⸗ 
geilen?“ unterbrach ihn Köhn, „aber wiſſen Sie was, 
ich geb’ Ihnen die vier Gulden, wenn's mir ſchon 
einmal über die Zunge gerutjcht ift, daß der Tai 
fo viel wert ift.” 

„Nicht einen Heller lab ich nah. Billiger kann 
ic) das Pferd nicht reparieren.“ 

Im jelben Moment erklang der Ruf des Aub 
horns. 

„Das gilt ung — gehen wir!“ ſagte Sotony auf 
geregt. 

„Nein, nein, diejes Zwiegeſpräch erwedt meine 
Neugierde. Ich gäb's nicht um vieles, wenn ich der 
Sache auf den Grund kommen fönnte. Kopp, der 
Jude hat uns bemerft. Schau, ſchau, wie angjtvol 
er mit den Händen fuchtelt! Der andre Kumpan 
aber hat fyeriengeld gegeben. Sieh, wie der Galgen- 
ftrid rennt! Ei, ei!“ 

„Laß dich's nicht kümmern, freund Margi, 
ſprach Sotony, hochmütig fpottend. „Du braudit 
nicht alles zu wiſſen. Genug, wenn ich's weiß!“ 

„Was weißt du?“ 

„Ich weiß, wer der Mann ift, der dort Reißaus 








Das Zauberfraut von Lohina. 


genommen hat, und um was es jich da gehandelt 
hat.” 

„Unmöglid, mein Sohn! 

„Johann Mitulit.“ 

„Und der Paß und die Pferbereparatur ?* 

„Damit bin id) auch im reinen,” triumpbierte 
Sotony, „und id) fann dir jagen, da hab’ ich ein 
rohe Ding herauägefriegt.” 

„Spaß nicht, Miſchka,“ antwortete Teresfey, ihn 
mit forihendem Blick meflend, in dem ſich ebenfoviel 
Neid wie Zweifel ausdrüdte. 

„Du wirft es feinerzeit ſchon ſehen.“ 

„Kannft du mir’s jeht nicht jagen?“ 

„Es fteht nicht mit der Brandftifterei in Zus 
lammenhang. Gehen wir!” 

Ich ſeh' ſchon, du willſt dich an mir rächen, 


Alſo, wer war's?” 


weil ih dir meinen Plan nicht enthüllt habe. Alfo 
Zach um Tauſch.“ 
„Danke, ich brauch's micht mehr. Jeht werd’ 


ichs ohnedies gleich ſehen.“ 

„Ih ſag' dir, das ift eine wunderbare Idee, 

So einfach und doch jo pfiffig.” 
III. 

Jungfer Apollonia mit ihren Nadeln war ſchon 
zur Stelle. 

„Schicken Sie die Leute weg!” wies Teresten den 
Oberftublrichter an. „Wir brauchen fie nicht mehr, 
im Gegenteil,* 

„Brauchen wir feinen mehr zu verhören ?“ 

„O ja, aber das wird der Herr Hamar ſchon 
achmittags allein bejorgen. Zu verhören find noch 
alle jene, die bei dem jeweiligen Brand zuerft zur 
Stelle waren ; dann die geweſenen Mägde des Pfarrers, 
deren Namen wir notiert haben, die Magdalene 
Rica umd die Anna Sztrelnyik.“ 

„Die find beide drin im Gebirg, im Dorf des 
Bakula.“ 

„Wenn wir fie brauchen werden, jo werden wir 
fie auffuhen. Und jet gehen wir ans Wert, Ent- 
fernen Sie jeden von den Amtslotalitäten!“ 

Fin einziges Machtwort des Oberftuhlrichters 
rreftrente im Nu die gaffende Menge, und am Tiſche 
blieben mur die drei Komitatsherren, ferner der 
Rihter, der Notar und Matthias Blozik, der Kantor, 
der bier mit der Würde eines Küchen» und Seller 
meifter$ betraut worden war. Das war das jchönfte 
Amt, 

„Kommen Sie doc näher, Apollonia!” jcherzte 
Teresley mit feierlicher Miene. „Warum drüden Sie 
Ach jo ſcheu? Sie find jeht hier die Hauptperion. 

Sehen Sie fich hier an den Tiſch.“ 

Damit geiff er in die innere Rocktaſche. Aller 
Augen hingen erwartungsvoll an ihm, ja die Zus 
Ihauer hielten jogar den Atem an. Er zog bie 
Vazquille hervor und begann behutfam die Fäden 


749 


abzumideln, mit denen bie einzelnen Papierſtückchen 
in Päckchen gebunden waren. 

„Das ift Wolle,” ſprach er mit dumpfer, ver— 
baltener Stimme, „id hab's zu Haufe mit dem 
Mikroſtop unterſucht und bin deffen ſicher, daß es 
Wolle iſt.“ 

Merkliche Enttäuſchung malte ſich auf allen Ge— 
ſichtern. Sie hatten etwas Außergewöhnliches er— 
wartet. 

„Und ich habe begründeten Verdacht,“ fuhr er 
fort, „daß dieſe Fäden von einem Strumpf Ios- 
getrennt find.“ 

„Das kann jehr leicht möglich fein," brummte 
der Notar. 

„Wir werden das fofort ſehen. Nehmen Eie 
dieſe Fäden und ftriden Sie diefelben in Strumpf» 
form zurüd. So werden mir die farbe und das 
Mufter des Strumpfes herausbelommen. Auf das 
bat der Brandftijter nicht gerechnet, ba, ha, ha!” 

„Donnermwetter,” rief der Notar. „It das ein 
Kopf! Iſt das ein Geift!* 

Die ſchöne Apollonia nahm die Fäden in bie 
Hand, und die Stridnabeln flogen Happernd zwijchen 
ihren jchönen weißen Fingern auf und nieder, aber 
fie ließ eine Maſche um die andre fallen. War's 
etwa, weil ihre Hände zitterten ? 

„Nicht Fo ſchuſſelig, Apolla!“ unterwies fie der 
Notar, 

„Die Jungfer ift verliebt,” nedte fie Szefula, 
„denn jo viel Maſchen fie fallen läßt, jo viele Herzen 
nimmt fie gefangen.“ 

Apollonia errötete, und ihre Hände begannen noch 
mehr zu zittern. Jet riß ihr jogar der Faden. 

„Schauen wir nicht hin!“ mijchte fi Sotony 
drein, „Iann fie denn ftriden, wenn man fie jaft mit 
den Bliden verſchlingt ?* 

Dabei aber war er jelbjt nicht im ſtande, die 
Augen von der reizendben Mädchengeitalt abzuwenden. 

Mit großem Weh und Ach war die amtliche 
Striderei endlich zuwegegebracht. Sie war aber 
aud derart, wie amtliche Arbeit gewöhnlich aus— 
zufchauen pflegt. Im ganzen waren’s etwa fieben 
bis acht Reihen, und die waren auch jehr unvoll» 
fommen gearbeitet. inerlei, es genügte! Beim 
eriten Blick ftand das uriprüngliche Ausfehen des 
Fadens vor Augen: es war ein hanbbreites Stüd 
von einem blau und gelb geitreiften Strumpfe. 

„Wir find auf der Spur,” ſchrie der Richter 
gellend auf, „der Strumpf ift mir ſchrecklich be— 
fannt.” 

„Das ift eben dad Malheur, daß er Ihnen gar 
jo befannt ift. In der Stadt verlaufen die Kräme— 
rinnen in jedem Hausthor folde Strümpfe. Meiner 
bejcheibenen Anſicht nach ift das eine ſehr ſchwache 
Spur, aber jedenfalls beſſer ald gar feine, Bejonders 


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750 Koloman Milszaäth. 


in Lohina, wo gewiß ſehr wenige Weiber Strümpfe 
tragen.“ 

Der Richter begann fofort an den fyingern ab» 
auzählen. 

„Die Frau Pfarrerin, das ift eins, die Kürſch- 
nerin zwei, die Müllerin und ihre Tochter vier, bie 
Frau des jüdifchen Arrenbators und ihre Mutter ift 
ſechs, und Jungfer Apollonia trägt auch Strümpfe.“ 

Apollonias Antlip erglühte lichterloh. 

„Apolla, Sie können jet zu Ihren Töpfen zu— 
rüdtehren! Wir danfen Ihnen ſchön für Ihre Mühe. 
Alſo weiter, Herr Richter! Wer trägt bier noch 
Strümpfe?" 

„Sonft niemand, außer meiner frau.” 

„Sie feinen das Dorf gründlich von Kopf bis 
Fuß zu kennen.“ 

„So gehört ſich's für einen Richter.“ 

„Ja, aber die Waden der Frauenzimmer gehören 
doch nicht mehr zu dem richterlihen Wirlungskreis. 
Ic werde mid; danach überdies bei Ihrer Frau 
Richterin erkundigen. Doch genug der Nederei! 
Gehen Sie mit dem Heiduden jept brühheiß in bie 
erwähnten Häufer und ftellen Sie gründliche Haus- 
durchſuchung an!” 

„Und was follen wir thun, wenn wir die Strümpfe 
finden ?* 

„Wenn Sie Strümpfe von diefer Farbe finden, 
fo nehmen Sie fie in Beihlag; find fie aber zum 
Teil zertrennt, jo nehmen Sie die Eigentümer fejt.* 

„Saubere Geſchichte das," brummte der Richter 
im Abgehen. „Ich muß meine eigne Frau unterfuchen.” 

Teresfen jah ihm mit ftolzem Selbſtbewußtſein nach. 

„Seht hab’ ih meinen lehten Pfeil verjendet. 
Jetzt bin ich beruhigt.“ 

Und zum Beweis deſſen, wie ruhig er jei, ſtopfte 
er feine große Meerſchaumpfeife und fuchte Fidibus« 
papier zwiſchen den Schriftftüden, die in der äußeren 
Nodtajche jtedten. 

„Marezi bäcsi, ſchade, jet ein Pfeifen an« 
zufteden! Die ſchöne Apollonia dedt ſchon den Tiich, 
tie ich ſehe. Wir werden gleich eſſen.“ 

„Bruder Milka, die Zeit ift foftbar. Bis dahin 
fann ich noch ein halbes Pfeifchen rauchen.“ 

Aber wie er jo zwiſchen jeinen Papieren juchte, 
welches davon wohl unnüß und gut zum Verbrennen 
fei, wurde er plößlich freidebleich und kreifchte wütend: 

„Ih bin entehrt! Schändlidh! Entſetzlich!“ 

Die Adern im Naden ſchwollen ihm did an; in 
den Schläfen hämmerte es ihm fiedend heiß, und 
jeine Augen waren ganz mit Blut unterlaufen. 

„Um Gottes willen, was ift geichehen ?* 

„Lies!“ feuchte er, einen Papierfegen vorweijend, 
den er mit der Fauft zufammengeballt Hatte. 

Sotony glättete es jorgfältig. Die dämonifchen 
Buchſtaben des Pasquills tanzten winzigen, grinjen- 


ben Teufelhen gleich auf dem meihen Blatt. Und 
Wort für Wort ftand dort folgendes zu leſen: 

„Du rotbärtiger, lüfterner Ziegenbod!* Hm, ein 
recht nettes Titelchen! „Wenn du die Unterfuchung 
nicht fofort im Stich läßt und deine Nafe weiter 
in unfre Angelegenheiten ftedft, jo werden wir dein: 
Gebäude und Sceuern auch niederbrennen. ln 
deine Frau wird erfahren, was für ein fauberer 
Vogel du bift, denn wir fennen deine lofen Streidk, 
alter Sünder; wir willen ganz gut, warum bie 
Zelenoer Weiber jo oft beim Gericht zu thun haben.“ 

„Das ift die höchſte Impertinenz!* meinte Sotom, 
„Wo haft du das gefunden ?* 

„In meiner eignen Taiche!” 

„Unerbört.“ 

„Wie viel Köpfe hat der Schurke,“ wütete Teresten, 
„daß er den feinen jo verwegen unter Henlerbeil 
zu legen wagt?” 

„Man hat dich lächerlich gemacht, Lieber Alter!“ 

„Nicht mich,“ ſchnaubte der Alte pruftend, „ion 
dern das Gejeg, das Komitat, ja jogar Seine Majekit 
den König jelbft.* 

„Daraus erhellt nun Mar, daß der Branbditifte 
oder feine Spiehgejellen in unfrer unmittelbaren Um: 
gebung find. Aber wer iſt's? Das ift die große Frage.‘ 

„Das neunzehnte Jahrhundert hat feinen jolden 
Fall aufzuweiien. Im Pitaval findet fid nid 
Achnliches.” 

„Ih jage dir, lieber Freund, der Teufel jelber 
ftedt diefes Dorf in Brand.* 

„Mit dem aber kann das Komitat nicht fertig 
werben,” ftotterte Hamar. 

„Denn nur der Teufel kann jo geſchickt fein oder...‘ 

„Eine Frau...“ 

„Mit der aber wird nicht nur nicht das Komitat, 
fondern ſelbſt der Teufel nicht fertig.” 

Von weitem ertönte die fchmelzende Stimm: 
Apollonias: 

„Herr Notar, e8 ift aufgetragen!” 

Und der Küchenmeiſter fam träge herangemattli 
und fündigte unter tiefen Büdlingen an: 

„Die Suppe ift ſchon weichgekocht, ich bitte m | 
gebenit.” | 

Es war aud) ſchon die hödhfte Zeit. Der Shin 
war ſchon längit auf feinen Schatten getreten, mat 
in Lohina Mittag bedeutet. Das Mittagsmabl hatte | 
fi) ein wenig veripätet. So ifl’3, wenn man die 
Köchin mit unnügen Dummheiten aufhält. 

„Uebrigens werden die gnädigen Herten dafür 
entjhädigt werden, denn alles ift gelungen; nur &t 
Fiſch ift etwas ftärker papriziert, ala er jein jolle, 
aber das Hammelporköft ift köſtlich. Und erft die 
Schneeballen! Wohl hätte auch in diefen etwas mehr 
Zimmet nicht gejchadet, aber auch fo find fie ver 
trefflich.” 








Das Zauberfraut von Lohina. 751 


An der Tafel nahmen die Herren der Rang» 
orbnung gemäß Pat. Blozik fam ans unterſte Ende 
als erfter von unten auf zu fihen. Gr hatte jchon 
im vorhinein alles gefoftet ; er wußte, in mwelder 
Reihenfolge Die Gerichte aufgetragen werden, und das 
gab ihm ein gewiſſes Gefühl der Heberlegenheit, was 
ihn außerordentlich geſprächig machte. 

Obgleich, er im Grunde feines Herzens vielleicht 
manden Speifefehler tief mitfühlte, jo lobte er dennoch 
alles mit rhetoriſchem Schwung, um daburd den 
Appetit zu ſtacheln. Einmal, zweimal kniff er jogar 
Apollonia in die Wangen: „Vergolden follte man 
diefeß fleine Patſchchen!“ Auf das Hammelporkölt 
improvifierte er einen begeijterten Vers, den er unter 
allgemeiner Seiterfeit zum beiten gab. Bei ben 
Getränfen fchimmerte fein Auge feudht vor Genuß: 
„Placeat, domine spectabilis. Istud vinum habet 
colorem, odorem et saporem.* Obzwar ber Wein 
etwas jänerlih war und ſtarl ans Faß erinnerte, 
Nur bei dem Taprifafiich bemerkte er boshaft, als 
der Paprika ihm faft die Zunge verbrannte: „O, 
dab dich das Donnerwetter! So muß der Fiſch ge 
ihmedt haben, mit dem unfer Herr Jeſus Ehriftus 
die vielen Hungrigen bewirtete.” (So dab nämlich 
die bibliſche Gäftejchar den Fiſch des Paprifas halber 
nicht zu berühren im ſtande geweſen.) 

Das Mittagsmahl jchmedte auch allen, nur 
Teresley blickte mit nervöſer Aufregung auf den 
Ungerweg, ob der Heidud mit dem Richter noch nicht 
fomme. Das war jeine legte Hoffnung. Wenn die 
ibn im Stich ließen, dann wüßte er wahrhaftig nicht, 
wo aus und ein, und müßte mit Schimpf und Spott 
unverrichteter Sache von dannen ziehen, Ber! Wie 
viel ſchlechte Wie dann im Kaſino geriffen würden 
über das Pasauill, welches man ihm in die Taſche 
hineinpraftiziert hatte! Wütend knirſchte er mit den 
Zähnen: „DO, wenn der Nichtswürdige mir in die 
Hände gerät —!* 

Sotony jelber wartete gleichgültig ab, was die 
Zukunft bringen würde, und machte ih um Apollonia 
berum zu jchaffen. 

„Ei, ei, Bruder Mifchla, ſchon wieder!” verwies 
ihm Teresley jein Beginnen, 

DO, wie lang das dauerte! DO, wie fihwer war's 
zu erwarten, bis die zwei endlich jenjeit® des ſtlee— 
jeldes in Sicht famen. Sie kamen nicht raſch ge 
gangen, fondern mäßig im Schritt, Auch ſchon ein 
ſchlimmes Zeichen, 

„Haben Sie etwas gefunden?” fragte er dumpf, 
faft furchtſam, als fie zur Stelle waren. 

„Nichts, gnädiger Herr, der Strumpf hat nichts 
ausgejagt.” 

„Dann Hol’ der eier die ganze Angelegenheit!” 
ſchtie er zornig, die Alten zur Erde jchleudernd, 
Dann wandte er fich zu Sotony: „Jetzt mad) du's, 





wenn du's fannit; 
gegangen.” 

„Mir auch,” erwiderte diefer mit empörendem 
Phlegma. 

Worauf Herrn Blozik der Kamm ſchwoll und er 
e8 wagte, den Vorſchlag zu machen, dab es in Ans 
betracht der Umſtände vielleicht am beiten wäre, das 
„Siebdrehen” zu verſuchen. j 

„Das ift nicht ohne, was der Herr Kantor jagt,” 
jpottete Sotony, „denn jo viel fann das Sieb aud 
wiffen wie wir.” 

Auch der Richter rüdte mit einem Vorjchlag heraus. 

„Es wäre gut, den alten weilen Mann um Rat 
zu fragen.“ 

Teresley machte es wie ein Ertrinfender, der fid) 
an einen Strohhalm klammert. 

„Wer ift der weile Mann?“ 

„su den Uderhütten wohnt ein Greis, ein wahrer 
Prophet. In ſchwierigen Tragen geben bie Dörfler 
immer zu ihm. Er heißt Hrobaf. In meiner Kinder» 
zeit hab’ ich ihm einmal gejehen.“ 

„Hrobat?“ Tereäfey erinnerte ji des Bauern« 
jungen, der auch den Hrobaf erwähnt hatte. Das 
aljo ift der Vollsglaube: Hrobak wird die richtige 
Spur finden, Wer wei? Wenn Vollesſtimme dennod) 
Gottesftimme wäre! Das ijt das Vaterland des 
Aberglaubens. Als ob die hehren Felſen, welde die 
Gegend umringen, fagenerzähblende fteinerne Kirchen 
wären. Der ſchwere, graue Nebel, der darüber lagert, 
ſenlt fi) Kähmend auf den Geiſt. Das Rauſchen 
der Wälder flüſtert mit geheimnisvollen Stimmen, 

„Wie gelangt man dorthin?“ fragte Teresley. 

„Zu Wagen nicht, höchſtens zu Pferd, denn der 
Steig ift jehr teil.” 

„Gehen wir, Here Richter, laſſen Sie jatteln!” 

„Das wird um jo beiler fein, da wir auf dem 
Ridwege aleich jm Dorf des Bakula einfehren können, 
wo Euer Gnaden ohnedies noch zu thun haben,” 

„Barum heit Ihr's das Dorf des Balula?“ 

„Weil derjenige Teil der Einwohner, der ins 
Gebirg, in den Skringathalleſſel gezogen ift, den 
bisherigen Kaſſier Stephan Bakula zum Richter ge— 
wählt hat für die Zeit, die fie dort zubringen müſſen. 
So ift alſo mein Dorf zum Unterichied das Dorf 
des Szefula und feines das des Bafula.“ 

„O, davon habe ich Schon etwas läuten gehört. 
Ihr lebt in Hader miteinander, nicht wahr?“ 

Herr Szekula lächelte, 

„Der gute Bakula ift ein bischen närriſch. Alſo 
haben Euer Guaden auch ſchon von der jehnurrigen 
Geſchichte gehört ?" 

„Was war das?“ forſchte Sotony neugierig. 

„Das war nämlich jo, daß wir beide, da wir 
Ratholiten find, in der Zelenoer Filiallirche die 
Mefie hören. Herrn Balula, ber ein reicher, 


mir ift ſchon der Verſtand au 





752 


hochmütiger Dann ift, uchſte es entjehlich, dab der 
geiftlihe Herr immer meinen Namen während des 
Gottesdienftes ausſpricht, und fo ging er eines ſchönen 
Tages bin und verjprad ihm zehn Mutterjchafe, 
wenn er von jekt an flatt ‚Secula s@culorum‘ 
‚Bacula baculorum‘ fingen wolle.“ 

Eilen wir, eilen wir," mahnte Teresley den 
Richter zum Aufbruch, „denn wir müſſen nod im 
Dorf des Bakula zwei Zeuginnen verhören. Es 
wäre gut, wenn Sie vorausgingen, Herr Richter, 
damit wir die Mädchen nicht in der letzten Minute 
erjt juchen gehen müſſen.“ 

„Wie viel Pferde ſoll ich beitellen ?“ fragte Szelula. 

„Laßt mal jehen. Der Herr Schreiber bleibt 
bier und verhört diejenigen , die zuerft auf dem Schau» 
platz des Brandes erjchienen find, Denn wenn wir 
auch gar nichts herausfriegen, fo follen wir wenigftens 
im Archiv ein Altenftüd darüber haben, daß Die 
Unterfuchung bis aufs Meinfte Tüpfelhen erſchöpft 
ift. Der Herr Notar fommt mit, dann der Herr 
Oberſtuhlrich ter .. .* 

„Ih rühe mich nicht vom led," erflärte Herr 
Sotony. „Ich werde dich hier erwarten.” 

„Und was geſchieht mit mir?” fragte Herr Blozit, 
vortretend. 

„Sie laſſen wir hier zur Kontrolle; wenn etwa 
jemand mit ber jchönen Apollonia loſe Aurzweil 
treiben follte, damit einer zur Stelle ift, der ihn zur 
Ordnung ruft.“ 

„Und wenn id) jelber Luft dazu kriegen jollte?* 

„Sie find ein geiftliher Herr; von Ihnen darf 
man jo was nicht einmal voraußfeßen.* 

„O, bitte ſehr,“ grinſte Matthias Blozik, „can- 
tores amant humores. Auch ih bin nur aus 
Fleiſch und Blut. Ja, als geiſtliche Perſon fühle 
ich mich doppelt ſo ſtark zu den Engeln hingezogen.“ 

„Aber gehen Sie doch!“ widerſprach Apollonia, 
„wer möchte Sie mit Ihrer häßlichen Naſe ?“ 

Die Naſe des Herrn Schulmeiſters war wohl 
etwas rötlich. Aber ſeit wann iſt die rote Farbe 
haßlich? 

Ei, ei! Apollonia, mein Kind,“ ſeufzte der Kantor 
verlegt, „nicht immer warſt du fo ſtreng gegen die 
Kirche.“ 

Apollonia ließ in ihrer Verlegenheit einen Por« 
zellanteller aus der Hand fallen, und ihre dunfeln 
Augen funfelten in zornigem Feuer. Gewiß mußten 
die Worte des gelehrten Blozik eine ſcharfe An— 
ipielung enthalten, 

„Ad was,” begann jet der Richter, „die Haupt« 
ſache ift jeßt, wer den Weg zu Hrobals Klauſe weiß; 
denn ich weiß ihn nicht? Wer noch?“ 

„Ih weiß ihm aud nicht. Nun, das ift eine 
ihöne Geſchichte. Da wären wir beinahe ins Blaue 
bineingegangen.“ 


Koloman Mitszäth. 


„Aber ich weiß ihn,“ rief Apollonia. „Ich bin 
oft genug dort herumgeftreift.” 

„Und möchten Sie den Herrn Stuhlrichter führen?! 
Doc wohl nicht?” 

„Warum nicht? Laſſen Sie mir au) ein Pier 
jatteln, Herr Richter!“ 

„Und getrauen Sie ſich, ſich drauf zu jepen?!" 

„Glaub’& wohl,“ lachte fie hell und girrend au, 
wie eine Turteltaube. 

Ohne Sattel?” 

Natürlich.“ 

Michael Sotony ſprang lebhaft auf. 

„Dann ſattelt mir auch ein Pferd!” 

IV. 

Bald darauf wurden fünf Heine Gebirgspferde 
vorgeführt. Apolta ſchwang ſich federleicht auf det 
ihre, welches ungeſattelt war, und hielt ſich daran 
jo ungezwungen lerzengerad, als wäre fie auf deſſen 
Rüden feſtgewachſen. Sie ſchnitt ſich eine dünn: 
Weidengerte ab und hieb damit auf das Rößlen 
ein: „Hallo, Schöner!” Worauf der „Schöne” in 
raſchem Trab davonftürmte und feine ſchöne Reiterix 
dahintrug, deren herrliche Geitalt von den Schultern 
bis zu den Hüften in graziöfen Wellenfinien ſich hob 
und jenfte. 

Die Herren konnten fie faum einholen. Der 
Szekula ift doc ein ftilles Wäflerhen — da bat ır 
aus purer Zuporfommenheit der Apollonia das beit 
Pferd zulommen laſſen! 

Nun aber gab's hier in dem Gehütte nicht überal 
zum Laufichritt geeignetes Terrain. 

Das Gehütte ift für den oberländifchen Slowalen 
das, was die Tanya für den unterländifchen. Bon 
der gebirgigen und jteinigen Gemarkung fällt jeder 
Gemeinde ein jo großes, auf Meilen hin reichendes 
Grenzgebiet zu, daß es unmöglich ift, dasfelbe von 
einem Punkte aus zu bebauen. Vom Dorfe an 
wäre es eine Tagesftrede, bis der Beſitzer vom Haut 
zu feinen Saaten und wieder zurüc gelangen würde. 
Im Dorf können nur reiche Bauern wohnen, die viel 
Aecker haben, und deren Felder von Arbeitern bebaut 
werben. Wenn man auch davon jtiehlt, bleibt nod 
immer genug übrig. Oder aber der Blutarme, der 
nichts auf den Feldern zu ſuchen hat. Und danr 
noch diejenigen, deren Befigtum nah am Dorfe liegt. 
In den ferne gelegenen Aedern hingegen, auf fahlen 
Hügeln zwiſchen ſchwärzlichgrauen Felſen jchimmert 
hie und da ein weißes Hüttchen hervor. Da: 
ift das Gehütte. Nings um die Hütte ift der magert 
Boden dann zum Gehorfam gezwungen. Es mode 
dad Werk ganzer Generationen geweſen fein, bis man 
die Steine aus einem ziemlich großen Stüd Stein 
aders aufgelejen. 

Aber was unter den Steinen zurüdblieb, die geld 
Thonerde, troßt auch dann noch mit dem armen 








Das Zauberfraut von Lohina. 753 


ſlowatiſchen Bauern und grinſt ihn mit dem ewigen 
Aummen Vorwurf an: „Warum habt ihr mir meine 
Steine weggenommen? Drum bring’ id) euch gar 
nichts hervor!“ Sie verſuchen's mit Roggen, mit 
Wide, mit Mais, aber die Erde will nit, und was 
fie unluſtig zurüdgiebt, ift nur die Parodie der an« 
gebauten ehrlichen Pflanzen. 


Jedoch mit zwei Pflanzen und mit zwei Tieren | 


macht auch diejer Boden eine Ausnahme, Die liebt 
er. Die Kartoffel und der Hafer gedeihen hier größer 
und jchöner als anderswo , und den Biegen umd 


Schejen bringt dieſe ummwirtliche Gegend würzigere | 


ſträuter hervor als die Ebene. Dem Menjchen aber 


ipielt fein Ader bier oft noch ärgeren Schabernad. | 


Er geht ihm durch. Ein Wollenbruch fommt, ein 
Plaßregen praffelt nieder, macht fih an die Arbeit, 
wälcht die obere entjteinte Lehmſchichte ab, macht die 





bild den Rüden kehrten, „ſchade, jammerſchade für 
did, dab du bier zwiſchen den Bären und Mölfen 
verwelten jollft!” 

Aber mit Apolfa war's ſehr ſchwer, ein Geipräd 
anzufnüpfen; denn fie gab nur ſehr laloniſche Ant« 
worten, und ber Tonfall ihrer Stimme war zuweilen 
jo falt, jo farblos und jo Scharf — wie die Schneide 
einer Schere, jo daß fie jofort den Traben des Ge- 
ſpräches abſchnitt. Wohl aber konnte fie, wenn fie 
wollte, auch einjchmeichelnd und freundlich jein. 

„Die Wölfe und Bären find mehr wert als die 
Menden,” antwortete fi. „Die haben mir noch 


‚ nichts zuleide gethan.“ 


„Wenn du gefcheit wäreſt, Apollonia, jo könnteſt 


' du in Sammel und Seide einhergehen, vierjpännig 


mübjelige Arbeit langer Jahre zu nichte, und fiche | 


da, der Boden tft abermals voller Steine wie vorher, 
denn unten find wieder nur Steine, bis hinunter in 
den Grund der Hölle. Der biebere Hornyale kann 
ieht aufs neue daran gehen, eine neue Steinſchicht 
auszuroden. 

Jenſeits des breiten, tiefen Grabens können bie 
Heiter nut langſam im Schritt den ſteilen Fußpfad 
entlang reiten, der wie der Aermel eines Bauern⸗ 
veljes ringsum mit Haſelnuß · und Evonymusiträuchern 
verbrämt iſt. Beſcheidene Weiden und ftolje Buchen 
wechſeln miteinander ab; bie und da ſchimmert ein 
Frauenhaar weihlich empor, als wäre es eine Warze 
auf dem nadten Slörper der Erde. Weiter oben 
viefelt ein Gebirgsbach qurgelnd nieder, Heine farbige 
Siefeliteine mit fich ſchiebend. 

An einzelnen Stellen war der Weg fo eng, daß 
fie nur im Gänſemarſch vorwärts fommen konnten. 
Apollonia ritt hintendrein, indes der Richter voran 
fit; aber bei dem Zelenoer Gnadenbild, wo die 
Rrenjwege auseinandergehen, — dort tummeln ſich am 


ı Holletag um Mitternacht die Heren und rollen mit 


— 


Windeseile rieſige Fäſſer vor ſich her, auf denen 
grinſende Teufelsrangen ſitzen — trennte ſich Szekula 
von der Geſellſchaft und ſchlug den Weg zum Dorf 
dei Balula ein, um Vorbereitungen zum Empfang 
der hohen Herren zu treffen. Infolgedeſſen fam 


Abollonia an die Spihe des Fleinen Trupps und 


übernahm die Führung. Ahr reiches Haar verfing 
üd in einem hervorftehenden Aſt, die Haarnadel fiel 
heraus, und die ſchweren, dichten Flechten fielen in 
den Naden herab und tanzten verführeriſch hin und 
ber, die marmorweihen Schultern jtreifend. 

Sotony fprengte an ihre Seite, und ein Wunder 
wat's, dab jein Schimmel feinen Fehltritt machte 
ud ihn nicht auf eines der abſchüſſigen Felsgerölle 
\hleuderte, 

„Ad, Apolka,” jeufzte er, als fie dem Gnaden- 

Aud fremiden Zungen, 1897. Il. 16. 





ausfahren, und ein livrierter Bedienter würde dir 


Thüren öffnen und jhließen, wo du gehſt und ſtehſt.“ 

Das Mädchen feufzte tief auf und ſagte dann 
barſch: 

„Ih brauch' ſchon gar nichts mehr.“ 

„Ah, willft du vielleicht Nonne werben ?* 

Sie lehnte das Haupt an den Naden des Pferbes 
und blinzelte unter bem Ellbogen hervor Sotony mit 
einem Auge an, Ha, wie ſchön fie war! 

„Vielleicht nod) etwas Aergeres,“ ertwiberte fie 
leife und traurig. 

„Du haft einen verborgenen Summer, Apolta. 
Did) kränkt etwas, id) leſe dir das von der Stirn ab,” 

Sie flarrte träumerifh auf die Bäume und 
Kräuter, die am Weg an ihnen vorüberflogen, aber 
fie antwortete nicht. Sie verlangjamte den Schritt 
ihres Rößleins, jo daß die übrigen fie jofort ein- 
holten. Sotony laute ärgerlid an jeinem Schnurr- 
bart. Das bedeutet ja fajt jo viel wie: „Bier ifl 
nichtö zu holen.“ Er war feine joldhe Behandlung 
bei den Weibern gewohnt. 

So ritten fie lange Zeit bergauf, ſtets auf dem« 
felben Weg. Ringsum herrſchte tiefe Stille; kaum 
daß ein Geiprädh in Fluß fommen konnte, da man 
immer auf die Zügel achten mußte; da$ war daher 
ziemlich langweilig. So waren fie alſo hocherfreut, 
als unerwarteterweile eine melancholiſche ſlowaliſche 
Liederweiſe an ihr Ohr ſchlug: 

„Huf was ift denn gar fo ſtolz mein Liebchen fein? 
Weder Haus noch Bich noch Ställe nennt er ſein. 
Seinen Riemen jhnärt er wohl mit Schnallen feit, 
Aber drin ift nur ein alter Zunderreſt.“ 

„Ih rieche Menſchenfleiſch,“ bemerkte Terestey, 
dem Gejang laufend, 

„Wir find ſchon nahe an Hrobals Hütte,” jagte 
Apolka. „Jetzt müſſen wir nur dem Slang nad) 
gehen.“ 

Einen Augenblid jpäter verftummte der Gelang, 
und ftatt dejien unterbradh jämmerliches Weinen die 
feierliche Stille des Gebirges. Und vom jenfeitigen 

95 


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754 Roloman Milszäth. 


Felſen zählte der Kudud den Lohinaern ihre Lebens» 
jahre auf. Er maß fie ihmen reichlich genug zu. 

Als fie an der Bergwand einbogen, die ber 
Vollsmund „fteinerne Spechſſchwarte“ nennt, ſtand 
plöplih hinter dem Gebirge auf der Lichtung bie 
niedere Hütte des Hrobaf vor ihnen mit ihrem 
einzigen Kleinen fyeniterlein und dem Schilfdach, das 
an taujend Stellen Luftlöcher hatte. Hier hatte es der 
ſtüchenrauch gut. Er konnte hinaus, wo es ihm beliebte. 

Under Seitenwand der Hütte hodte aufeinem Baum- 
ftumpf ein rungeliges altes Weib und ſchluchzte bitterlich. 

„Wir find zur Stelle," ſprach Apollonia und 
glitt Flint vom Rößlein herunter. Der Ritt und bie 
frische Gebirgsluft Hatten ihre Wangen gerötet. Sie 
war ummiberftehlih. Der Stuhlrichter und der 
Notar blinzelten einander verftändnisinnig zu; Sotony 
verſchlang fie förmlich mit den Augen. 

Dann wandte ſich Teresfey an die weinende Alte. 

„Mütterchen, warum weint Ihr jo jehr?” 

„Wie joll id nicht weinen,“ ſtieß fie feuchend 
hervor, „wenn mid) mein Water durchprügelt ?” 

Euch lebt der Vater noch ?” fragte Tereäfen ver- 
wundert. „Unmöglich!” 

„Na, na, Mütterhen,” beſchwichtigte Apolka die 
Alte ſchmeichelnd, „das ſchickt ſich ja doch nicht, 
gleich das Thränenjädlein fliehen zu laffen. Kennt 
du mic) nicht, Mutti?“ 

„Wie ſollt' ich Dich nicht fennen? Du bift die 
Tochter vom Pferdereparator.* 

Indes ſchob ſich aus der Hütte ein ſchneehaariger 
Bauer hervor, den der Lärm draußen hinausgelodt 
hatte. Seine Wangen ftroßten von Kraft und Gejund- 
beit. Er hielt in der Linken einen zerrifjenen Stiefel, 
in der Rechten einen Pfriemen. Allem Anjchein 
nad) war nicht der Pfriemen, jondern der Stiefel 
reparaturbebürftig. 

„Was giebt's?“ brummte er im tiefſten Baß. 
„Was wünſchen die Herren?” 

Tereäfey fiel aus einem Staunen ins andre. 

„Seid Ihr der Vater diefer Frau?“ 

„Ja, leider, ich bin’s, Ach wollte, mein feliges 
Meib hätte mir lieber ein Stüd Stein geboren.“ 

„Sit das wahr, daß Ihr fie geprügelt habt ?* 

„Wreilich habe ich fie geprügelt,“ erwiderte er über die 
Achſeln weg, „wie denn nicht, wenn fie unfolgjam ijt?* 

Dann drohte er ihr wütend mit der Fauſt; fein 
Hemd glitt ihm bei diefer Bewegung von den Achſeln 
herab und emtblößte die Schnen an feinem Arme, 

„Stil, du Balg!“ ſchnauzte er fie an. „Schämſt 
du dich nicht, vor fremden Leuten zu raunzen. Gleich 
friegjt du noch Schläge, wenn du noch nicht genug 
gehabt haft.” 

„Was hat fi die Arme zu jhulden fommen 
lalien?” 

„Was fie fih bat zu ſchulden fommen lafjen?* 





braufte der Alte unwirſch auf. „Sie dubelt den 
ganzen Tag Liebeslieder und jpielt mit den Kahen, 
anjtatt ihren alten Großvater zu hutſchen.“ 

Aber bei diejen Worten entfiel Teresley die Mer: 
Ihaumpfeife zwiichen den Zähnen. 

„Was! hr habt nod einen Water?“ rief m 
ungläubig. 

„Warum ſollt' ich feinen Vater haben? Jeder 
fennt den älteren Hrobat.“ 

„Zreibt feinen Spaß mit mir! Ihr habt wirklich 
einen Vater ?* 

„Na, was ift denn an dem zu verwundern, ten 
jemand einen Vater hat?” 

Dann jehte er brummend hinzu: 

„Wenn’s der Herr nicht glaubt, jo joll er fid daten 
überzeugen. Dort liegt der Alte unterm Schuppen.“ 

„Wie alt kann er fein?” 

Ich zähl’ nicht einmal meine eignen Jahre, aberdie 
beiten Jahre hat mein Alter — ſchon hinter fd.’ 

„Und Ihre Tochter?" 

Wegwerfend erwiberte er: 

„Die Ancſila? Wie alt ift fie nur? Die wir 
heut morgen ſechzig Jahr’ alt. Ya, die Jahre ver 
ftreichen, und aus Rindern werden Leute.” 

„Können wir mit dem Alten ſprechen?“ 

„Warum denn nicht, wenn er nicht jhläft. Aber kei 
einiger Zeit ſchlummert er jehr viel. Zu ſolchen Zeiten 
hält's ſchwer, ihn aufzurütteln. Schauen wir, was ı 
madht.” 

„Kommt du nicht mit, Mijchka ?* fragte Tereiten 
den Oberftublrichter. 

„Nein,* erwiderte diejer kurz angebunden unb jet 
ſich neben Apollonia auf einen Balken nieder. „Ic bir 
ohnedies ſchon draufgefommen, werder Brandftifterift.‘ 

„Wer?“ fragte Apollonia, den Atem anhaltend. 

Der Oberftublrichter rüdte näher zu ihr. 

„Du,“ 

Apolla fuhr zufammen und erblaßte. 

„Du haft mein Herz in Brand geitedt, trofden 
das ſchon jo fühllos war wie ein nafjer Zunder. 
Ich liebe di, Apolla.“ 

Das Mädchen atmete tief auf wie ein gemürgter 
Vogel, der Luft befommt; dann ſchauerte fie zufommen 
und ſenlte das Haupt, das ſchoöngeformte, liebliche Haupt 

„Komm mit mir, ich nehme did) auf mein Schlob,“ 
fuhr Sotony mit brennenden Wangen und feuriger 
Ueberredung fort. „Ich werde einzig nur für die 
leben; die Erde werd' ic) füfien, die dein Fuß betritt 
fo hoch werd’ ich dich halten.” 

„Nein, nein,“ ftieß Apolta zifchend hervor, „Laflen 
Sie mich gehen!“ 

Sie jprang auf und eilte dem Schuppen zu wie 
ein aufgeſcheuchtes Rehweibchen. 

Die Herren hatten indes den allwifjenden Hrobal 
in ein eifriges Geſpräch verwidelt. Sie hatten ihn 


I 


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1 Leit 


BOSSE en 


Das Zauberfraut von Lobina, 755 


gerade wach angetroffen. Er lag in einem großen 


„Das ift wahr, Väterchen. Das Ende des 


Trog auf einer weihen Streu von Hanigefäde zu- | Strumpfes kann man nicht jehen, weil bie Maſchen 
‚ borihin zurüdlaufen, wo fie anfangen.“ 
fein einziges Härchen mehr zu ſehen; die Kopfhaut | 


iammengefauert. Auf dem fahlen Schäbel war 


war zufammengeichrumpft und jah aus wie eine wollene 
Mübe. Die aufgedunfenen, ſchwulſtigen Augenbrauen 
und bie ſchneeweißen Uugenwimpern, mit denen er un⸗ 
aufhörlich blinzelte wie ein Hafe, machten einen gefpen= 
fiichen Eindrud. Sein Geficht war gelb wie Wade. 
Nur die Pfeife, die er zwiſchen den Lippen hielt, und 
an der er jaugte wie ein Find an ben Mutterbrüften, 
zeigte, daß er ein Wejen diejer irbiichen Welt jei. 

„Alſo find die Herren in der Brandangelegenheit 
bergefommen ?* ſprach er mit dünner, beiferer Stimme, 
die aus dem Grabe zu kommen fchien. 

„sa, in diefer Angelegenheit find wir gefommen, 
deinen Rat zu erbitten. Du bift ein erfahrener Menſch, 
haft viel erlebt und viel geſehen.“ 

„Sch habe darum viel gejehen, weil ich die Augen 
immer geſchloſſen und die Ohren immer offen gehalten 
habe. Sag mir alfo, mein Sohn, was ihr bis jeht 
geihan habt.” 

Der allwifjende Hrobaf duzte aud) den Stuhlrichter. 

Teresley erzäßlte, daß fie anfangs von dem Ver— 


gleichen der Schriften ein Rejultat erwartet Hatten. | 


Der Alte gröhlte dem Notar zu: 

„Hutiche mich, mein Sohn, hutſche mich; jo wird 
mir daß Reben leidjter.” 

„Alfo von der Schrift?” gurgelte ex, mit ber dürren, 
ausgemergelten Hand nad) einer Fliege ſchnappend, 
die fummend ben Trog umfreifte. „Dummheit! Wenn 
ihr Hundert unausgebilbete Widelfinder herbringt, wer- 
den fie alle gleich ſein; aber wenn wir warten, bis 
fie heranwachſen, wird jedes anders jein. Die Budh- 
Haben der Bauern find ſolche unentwidelte Säuglinge. 
Bas habt Ihr noch gethan, mein lieber Sohn?” 

Jeht brachte der Unterfuchungsrichter die Strumpf- 
affaire vor. Das war doch ein fo feiner Aniff, dat 
er ben Weifen der Gebirge gewiß überrajchen würde. 
Gr hörte auch mit gejpannter Aufmerffamfeit zu. 


Der Notar that auch das. 


jähriger Greis doch jo heilig fein wie der Papit. 
Während des Krauens der Sohlen ſpiegelte ſich 
im Antlik des Greiſes ein eigentümliches Wohlgefühl; 
feine Lippen zudten, als lächelte er; er hörte auf zu 
blinzeln und bewegte die eine Hand jo rhythmiſch, 
wie ein Lämmchen beim Salzleden die Füße hebt. 
„Ra, das war eine ſchöne Sache — das mit dem 
Strumpf... Aber weißt du, mein Sohn, die Wolle 
hat feinen Mund. Die Nadel hat feine Augen. Der 
Strumpf aber ift ein jehr faljches Ding. Denn der 
Strumpf hat wohl einen Anfang, aber fein Ende.“ 


„Was habt ihr noch geihan, mein Sohn?” 

„Wir haben den Geiftlihen verhört.” 

„Das war flug gethan. Der Pfarrer kann's am 
eheſten wilfen. Der, den man mit Steinen geworfen 
hat, weiß am beiten, von wo der Stein gefallen iſt. 
So ift’s, fo, jo!” 

Das große Polizeigenie, der [harfgeiftige Martin 
Teresley jtand am Kopfende bes Alten und fühlte 
ſich jo Hein, fo zu nichts zuſammengeſchrumpft wie 
ein mildhbärtiger Junge. Er fühlte die unbegründete 
Lähherlichkeit diefer Empfindung, aber er fonnte fie 
nicht loswerden. Ein eigentümliches Bangen über- 
mannte ihn, ala ob er feine Lektion berjagte, als er 
aus dem bervorgeholten Protofoll haarflein ausführte, 
was für Fragen fie an Seine Ehrwürden Samuel Be- 
linka geftellt hatten, und was dieſer ihnen geantwortet. 

„Unerfahrene, thörichte Kinder feid ihr,“ ſchmälte 
der ſlowaliſche Methuſalem, „ihr wißt gar nichts, 
nichts! Ihr habt den Pfarrer gefragt, ob er nie- 
mand weiß, der ihn gehaßt hat, oder der ihn jekt 
noch glühend haft. Hub! Wozu joll das, was?“ 

„Was jollen wir alfo thun, Väterchen,“ fragte 
Teresley bemütig, „um den Verbrecher zu erforſchen?“ 

„Geh nah Haufe, mein Sohn,” jagte der Alte 
mit prophetifcher Stimme, „und ſag dem Komitat...“ 

„Was foll ih dem Komitat fagen?“ fragte 
Teresley andächtig. 

„Man ſoll geſcheitere Leute, als ihr ſeid, herſchicken.“ 

Der hochmütige Teresley verzog feine Miene bei 
dieſer unverhüllten Grobheit. 

„Warum ſagſt du das, Väterchen? Worin haben 
wir gefehlt?” 

Hrobat ſchloß die Augen, dann ſtieß er filben- 
weiſe, zijchend und gurgelnd bie Worte hervor, da 
er feinen einzigen Zahn mehr im Munde hatte und 


die Stimme jhon im Munde fait verhallte. Es war 
Ichwer, ihn zu verſtehen. 
„Krak mir ein bißchen die Sohlen, mein Sohn.” | 


„Worin ihr gefehlt Habt? Grab umgelehrt 


' hättet ihr fragen follen, ob der Pfarrer nicht jemand 
Wenn ein Säugling von zwölf Monaten ein jo | 
großer Herr ift wie der König, jo kann ein hunderte | jeht laßt mich jchlafen .. .* 








bat, der ihn glühend liebt oder geliebt hat? ... Und 


„Gott mit Euch, Väterhen? Ich wünſche Euch 
eine gute Gefundheit.“ 

„Die hab’ ih,” gröhlte der Alte, „aber etwas 
Tabak fönnte mir nicht ſchaden.“ 

Tereöfey warf ihm feinen vollen Tabalbeutel in 
den Schoß und ging mit gefenktem Haupt, tief in 
Gedanlen verjunfen, zum Schuppen hinaus, 

„Der alte Hrobaf hat recht. So ift’s, jo iſt's 
dort ift der Hund begraben... .!" 

Die Anſicht des alten Propheten eröffnete ihm 
eine neue Perſpeltive, einen neuen Gefichtäfreis. 


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756 Koloman 


Er fühlte das Blut thatendurftig in feinen Adern 
rollen. Seine Schaffensfreude, feine Spürluft er» 
wachte in ihm aufs neue, jo daß er, vor bie Hütte 
tretend, lebhaft außrief: 

„Rafch zu Pierd! Gehen wir ins Dorj bes 
Balula, die Mädchen zu verhören!” 

V. 

Das Dorf des Bakula glich dem des Szelula wie 
ein Ei dem andern. Nur war Balula ein größeres 
Adminiftrationstalent ; er wollte während feiner provi⸗ 
forijhen Regierung zeigen, was er fünne und wie 
jehr er für dem richterlichen Weichjelftod geboren fei. 
Kaum hatte er aljo von Herrn Szekula Funde vom 
Herannahen der Komitatäherren erhalten, als er auch 
jofort das ganze Dorf zufammentrommelte, um ein 
Pittgefuch zu unterfertigen, in welchem das unglüd- 
liche Dorf vom Komitat eine Feuerfprige verlangte. 

Szelula war aber infofern doc) daß größere Talent 
von beiden, als er genau mußte, daß fie feine be= 
fommen würben. 

Die tagsüber gefchehenen Dinge, welche Szelula 
föftlic zu erzählen mußte, verbreiteten ſich mit 
Mindeseile im ganzen Dorfe. Jeder lauſchte feinen 
Berichten. Belonders die Strumpfepifode fand all» 
gemeinen Beifall. Die Frauen lächelten darüber. Die 
alte Frau Andreas Kosfar rief: „Ya, über ein Paar 
guter, weicher Strümpfe geht nichts auf der Welt.“ 

Herr Szefula wurde von der neugierigen Menge 
fast zerriffen. Wie die Schriftprobe vor fi gegangen 
jei? Und ob die Herren ſchon irgend einen Verdacht 
haben oder ob fie noch immer dabei halten, wer 
bunte Strümpfe trage? 

Nur Bauer Balula blieb gleihgültig; denn ihn 
wurmte es gar tief, daß all das im Dorfe des Sze- 
fula vor ſich gegangen war. 

Aber was jetzt folgt, das wird fich bier abjpielen. 
Er fühlte, was ihm und um feiner Perjon willen 
auch dem Dorfe gebühre; aber er wußte aud), was 
der Anftand erheiicht. 

Als er die Herren am Hügelabhang erblidte, 
ſchwang er fi) auf das ſchon vorher gejattelte Roß 
und ritt ihnen entgegen, um dann mit ftoljer, maje- 
ftätiiher Haltung an ihrer Seite zurüdzufehren. 

Alles ftand ſchon bereit, der Amtstiſch und der 
Dereich, die Prügelbanf. Ja jogar die Weinflafchen 
fehlten nicht ; in einem großen Kübel Wafjer eingefühlt, 
barrten fie der Durftigen. Der taftvolle Balula wußte, 
was jich jchidt, was das wohledle Komitat verlangt. 
Schade, daf er der Kürze der Zeit halber nicht auch 
den Blod von Lohina hererpedieren laſſen konnte. 

Die Dörfler bildeten zu beiden Seiten Spalier 
und jtredten, auf den Fußſpitzen ftehend, die Hälfe 
weit vor, ala ob ein Monard) mit feinem Gefolge 
Einzug bielte. Einige riefen ſogar Vivat. Närriiches 
Mort — Gott weiß, was es bedeutet! Das iſt noch 


Mitszäth. 


| von der Revolutionszeit in Lohina piden geblieben, 
Iſt das eiwa nicht genug Augenweide für Bauen: 
augen? Ein alter Herr, hoch zu Roß! Und mie 
lerzengerade er ſich Hält! Aber noch viel jchöner firt 
‚ der junge, blonde Herr zu Rob, dem das große 
Schloß mit den dreihundert Fenſtern gehört, wohin 
fie jeden Sommer zur Ernte geben. Die werden 
noch lang von diefem Anblid reden. Lebendige 
Herrihaften am Fuße der Hrebenfa. So was hat 
dieſe grünumjponnene Wieſe auch noch nicht geſehen. 

Aber ſieh da, das dort hinten iſt fein Schreiber und 
auch fein Gejchworener, jondern die Apollonia Miluſil 

Allgemeines Staunen. Mehrere redeten fie and 
jpöttifch an, befonders die Weiber. 

„Ei, ei, haft du auch ſchon eine Anftellung beim 
Komitat befommen, Apolta ?” 

„Schau, jhau, das ift nicht übel, auf was dat 
Mädel fi da plöglic herauswächſt.“ 

„Sie wird wohl Gänjehirtin geworden fein,‘ 
wißelte Gregor Opuza, der ein geriebener Schelm 

' war; „bei den Gänſen, die wir der Frau Stublricterin 
zufragen, wenn wir Prozeß führen.“ 

Die Herren hörten das alles vielleicht gar nicht; 
Apolta aber that wenigftens, als hörte fie nichts. 

„Wir wollen hier zwei Mädchen verhören,“ fagte 
Terestey, ji zu Balula wendend. „Eine gemiit 
Anna Strelnyit und eine gewifje Magdalena Kiczla. 
Wo find die Mädchen?“ 

„Beide find ſchon herberufen, ich bitt’ ergebentt; 
aber die eine ift nod) draußen auf der Wieſe, fie it 
Gras für die Kuh holen gegangen. Ich babe jhen 
um fie gejchidt. Die andre ift da, ich bitte ergebentt 
Anna Strelnyil, fomm ber!” 

Eine hagere, bleiche Dirne näherte fih dem 
Tisch, der mittels dider, an eingerammte Pilöde be⸗ 
feftigter Seile umzäunt war, damit die vordringlide 
Zufhauermenge die Amtshandlung nicht ftöre. 

Anna Streinyif wußte gar nichts und antwortet 
auf alle Fragen mit ſtummem Kopfſchütteln oder 
einem faſt unhörbar gelijpelten Nein. 

„Du bift eine wahre Mamfell ‚Weißnichts‘, mein 
liebes Sind,” kanzelte fie der Richter etwas ärgerlich 
ab, „aber eins werd’ ich doch noch fragen: Könnteil 
du mir nicht jagen, ob der ehrwürdige Herr deine! 
Willens nicht etwa eine Liebichaft gehabt hat?“ 

„Das weiß ich nicht.” 

„Hat er nicht zuweilen mit einer von euch jid 
genedt? Haft du nicht bemerkt, daß er auf eins dr 
Meibsbilder freundlichere Blicke geworfen hat ali 
auf die übrigen ?* 

„Das kann ich nicht jagen, bitt’ ergebenit — 

„Sag’s nur frei heraus, fürdhte nichts! Dei 
Komitat befiehlt, warum alſo follteft du es nich 
jagen können?” 

„Darum,“ jtammelte Anna Sztrelnyil, „weil et 








Das Zauberfraut von 2ohina. 157 


immer eine Brille trägt; jo Hab’ ich feine Blicke nicht 
fehen Können.” 


„Du bift ein Närrchen, mein Kind. Das läßt fi 


ja au an andern Zeichen erlennen. Wenn man ein 
Mäbdel in die Wangen fneift, wenn man einem Mädel 
den Arm um die Hüften legt, und dergleichen.” 
„Nein, das hab’ ich von unſerm geiftlichen Herrn nie 
geſehen, aber geküßt hat er die Magdalena oft genug.” 
„So? Und die Magdalena Hat fi küſſen laſſen?“ 
„Sie hat ihn ja auch mehr als einmal zurüdgeküßt.“ 
Teresfen rieb jich vergnügt die Hände. 
„Genug, mein Kind! Jeht laßt uns die Mag- 
dalena vernehmen!“ 


Und er wandte fi jelbjibewußt zu Sotony. | 


‚Wieder eine Heine Spur,” flüfterte er. Sotony 
nidte ihm Beifall zu, aber feine Augen juchten 
Apolfa, die ſich bleich und zitternd an eine Afazie lehnte. 

„Bas fehlt dir, Apolfa? Iſt dir ſchlecht?“ 

„Nichts, nichts. Nur ein bischen Herzkrampf 
— es geht ſchon vorüber.” 

„Kommt diefe Magdalena Kiczla nod immer 
nicht?“ fragte Tereskey endlich ungeduldig. 

„Da bin id ſchon,“ ertönte nun von weiten eine 
traftuolle, mutige Stimme. 

Ein ftämmiges Mädchen von athletiſchem Körper- 
bau machte ſich Plah durch die Menge. Sie brad) 
fih Bahn bis zu dem Richtertiſch. In der Hand 
hielt fie eine Sichel, und auf den Schultern trug fie 


einen großen Korb voll Gras, der um die Schultern 


und unter den Achſeln mit Hanfjeilen befeftigt war. 
Ihr breites, rotbadiges Geſicht Ichimmerte blühend 
und frijch wie eine Pfingftrofe aus dem vielen ger 
meinen Gras hervor; die Salbei, die Wolfsmilch, 
das Taufendguldenfraut und noch tauſend andre 
Kräuter umfränzten ihr, aus dem ſtorbe herabhängenb, 
dad Haupt. 

„Da bin ih,” rief fie; dann blickte fie mit ihren 
llaren blauen Augen im ſtreiſe umher, und als fie 
Apolfas anfihtig ward, wandte fie hakerfüllt den 
Blid ab. „Da bin ich," wiederholte jie; „hoffentlich 
wird man mich doch nicht aufhängen!” 

„Halte deine oje Zunge, Mädel! Du wirft auf 
das antworten, was man dich fragen wird.“ 

„So?“ rief Magdalena, die Hände fampfbereit 
in die Hüften fiemmend. „Zu Scanden will man 
mich jtellen? Bor den Augen des ganzen Dorfes 
will man mid) verhören? O nein! An mir fuchen 
Euer Gnaden die bunten Strümpfe nit. Ich bin 
feine Brandftifterin. Mein Vater war auch ein ehr- 
licher, braver Mann, Ich kann mid getroft vors 
Gericht ftellen. Weil ich die Geliebte dei Pfarrers 
geweien bin, darum bin id) doc ein anjtändiges 
Mädel.” 

Ihre Stimme wurde immer leidenfchaftlicher, 
immer kreiſchender. 








„Aber wenn Sie's grad willen wollen, wo die 
bunten Strümpfe zu finden find,“ ſchrie fie mit zügel- 
lofer.Heftigfeit, „dort jind fie, dort! Schauen Gie 
nur der Apollonia Mitulit auf die Füße!“ 

Sotony |prang gereijt empor. 

„Wie kannft du es wagen, fo eine Anflage zu 
erheben ?* 

„Weil fie bort find — ich fehe fie!“ Und fie beftete 
ihre verglaften Augen ſtarr auf Apollonia, die regungs- 
108 wie eine Statue an dem Nlazienbaum lehnte. 
Ihre Lippen waren feft aufeinandergepreit, ihre 
Augen funkelten wie die eines Adlers. 

„Du fiehft es durch das Kleid hindurch?“ ſchnaubte 
Sotony fie an. 

„Sa, durch das Kleid durch !* 

Das Volt begann unter lantem Fluchen und 
wüſtem Geſchrei ih an den Seilzaun zu drängen. 

„Im Gras ſteckt die Zauberfraft,“ riefen fie. 
„Wir verlangen Gerechtigkeit,“ Hang es von andrer 
Seite. Der Lärm fchwoll zu orfanartigem Toben 
on. Teresfey und Sotony fonnten die Bauern nicht 
mehr im Zaum halten. Eine Stimme, jchneidender 
als die übrigen, donnerte: „Im Korb ſteckt das 
Kraut der Erfenutnis.” 

Einige fürmten auf Apollonia los, um fie zu 
binden. „Dan muß fie dem Shenfer übergeben,“ 
donnerte ein handfefter, einäugiger Bauer, ber Muſcheln 
um den Hut geſchlungen Hatte. 

Wie ein Tiger, den eine Kugel trifft, taumelte 
Apolfa einen Moment; ein Schwindel überfiel fie, 
daß fie faſt zuſammenbrach, aber im nächſten Augen— 
blick ſprang fie noch elaſtiſcher empor. Wutſchnaubend 
ſtand fie mit einem Sprung vor Magdalena. Jeht 
war fie nicht mehr lilienblaß, ſondern purpurrot. 
Mit ihrer ehernen Rechten ergriff fie den Tragkorb 
und ſchleuderle ihn mit einem Nud zur Erde, Der 
Korb fippte um, follerte zur Erde, und bie ſträuter 
flogen auseinander, 

Die zügelloje Menge ftürzte ji darauf, und 
einander zertretend, zerftampfend und Pülfe aus- 
teilend, rifjen fie einander die halbwelten, zertretenen 
Gräfer aus der Hand, zwiſchen denen fid) das Kräut- 
fein der Erkenntnis befinden mußte. Aber welches 
von den vielen Hunderten mochte es jein? 

„Laßt mic!” ſchnaubie Apolka fie an. Sieben 
Männer aus dem Meg jchiebend, ſchwang fie ſich 
mit einem Sprung, der einem Panther Fhre gemacht 
hätte, auf den Richterliſch. 

„Die Perſon dort hat gelogen,” rief fie mit weit« 
hallender Stimme, die über die Menge hintönte 
wie eine fryftallene Glode „Ihr Lohinger Veute, 
ſeht hierher!“ 

Im Ru wurde es jo fill ringsum, daß man den 
dumpfen Flügelſchlag des Naben hören konnte, der 
hoch in den Lüften über Apolkas Haupt freifte, 







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und 


758 Koloman Mitszaäth. 


„Seht her!“ wiederholte fie; ihr Bufen mogte 


leidenſchaftlich; ihr aufgelöftes nachtſchwarzes Haar 


reichte bis zur Erde, wie ſie ſich niederbeugte und 
ihr blaugetupftes Kattunrödchen bis zu den jchön- 
geformten Beinen — wohl auch nod darüber — 
aufbob. 

Sie jelbit ſchloß die Augen, um wenigſtens nicht 
zu jeben, twie fie angegafft ward; die andern jperrten 
dafür die Augen um jo weiter auf. 

„Das Mädel ift unſchuldig,* riefen fie dann ver= 
ftimmt und warfen die aufgelefenen Kräuter weg. 

Apolfa trug weiße Strümpfe, ſchimmernd und 
weiß wie ber friichgefallene Schnee. 

* 


Das war eine aufregende Scene. Die Männer 
in Lohina werden dieſen finnverwirrenden Anblid 
ebeniowenig vergeiien, wie Balula es nie vergefjen 
wird, dab all dies in feinem Dorf gejchehen mar. 

Apolfa ging triumphierend aus der Probe hervor ; 
aber der verleumderifhen Magdalena folgte die 
Strafe auf dem Fuße. Gevattern, es giebt doch 
einen Gott! Sie fiel in Ohnmacht und wurde krank 
vor Aufregung. Niemand bedauerte fie, außer viel- 
leicht der Stuhlrichter, da man infolgedeflen das Ber- 
bör nicht fortiegen konnte, 

„Und grad die weiß etwas!” brummte Tereskey. 
„Das ift ein brauchbares Material. Auf die werden 
wir noch zurüdfommen.* 

Er hinterließ dem Richter die Weifung, er möge 
ein Auge auf fie haben, bi$ er von ihm neuere Befehle 
belommen würde, und dann machten fie fih auf den 
Weg, denn es dämmerte bereits. Die Sonnenjdeibe 
ſchwankte noch eine Weile am rötlichen Himmel ein- 
ber, dann jenkte fie fi langjam hinter die Hrebenka 
nieder. . 

Der Wind ließ die Baumfronen fröftelnd auf- 
rauschen ; die Fröſche begannen ihre abendliche Kon- 
fereng in den ginfterbewachjenen Sümpfen abzuhalten 
und hüpften Matichend vor den Reitern einher. Das 
MWaldgevögel flatterte mit fieberiſcher Eile umber, 
und die Schar der Neftlinge zirpte unruhig in den 
Neftern. Alles kündigte an, daß die Natur ſich um— 
zukleiden begann und ihr braunes Nachtgewand anlegte. 

Terestey, der Notar und der Richter ritten vor— 
aus; Sotony blieb bei Apollonia zurüd, die noch etwas 
blaß war umd blaue Ränder um die Augen hatte; 
aber felbit dieje blauen Ringe ftanden ihr gut. Ihre 
großen Augen funfelten wie Glühwürmchen. 

„Siehft du, in welder Klemme du warft, armes 
Ding?* 

Sie erwiderte nichts, jondern zudte mit den Achſeln. 

„Du mußt fort von hier. Du kannſt bier nicht 
länger bleiben. Did achtet man hier gar nicht.“ 

„Warum nicht?" zifchte fie zornig. „Was kann 
man mir Schlechtes nahjagen?” 





| „Wegen deines Waters!“ 
„Was weiß man über meinen Vater?“ fragte 
fie hochmütig. 
„Ich weiß alles, Ich weiß, daß er mit falſchen 
Päffen handelt.” 
| Ihre Naienflügel erzitterten krampfhaft. 
| „Das iſt Verleumdung.“ 

„Ih hab's mit eignen Ohren gehört, wie er 
heute mit dem jübifchen Gaftwirt gehandelt hat. 
Alſo entweder fommft du mit mir, Apolta — oder dein 

' Vater.” 

„Gott joll den Juden ftrafen!“ brad es mit 
herzzerreißendem Klagelaut von ihren Lippen. „Er 
bat ihn verraten.” 

Es ward ihr finfter vor den Augen, fie begann 
im Sattel zu jchwanfen, ließ den Zügel los, gif 
fi an die Schläfen und fiel ohnmächtig vom Pferde. 





| „Um Gottes willen, was ift dir?” Sotony ſprang 
‚ erjhroden vom Pferde. 
‚ aber er fümmerte fi nicht darum. 


Das Pferd Tief davon, 


„Apolfa, mein 
Schatz, fomm doch zu dir!” 

Apolfa aber lag regungslos mit bleichen Wangen 
und geichlofjenen Augen im tauigen Grafe wie eine 
abgebrochene Roſe. Am Wegesrand trauerte ein 
verdorrter Heiberöschenftraud mit hervorſtehenden 
jpigen Zweiglein und ſtechenden Dornen. Im diefem 
war ihr der eine Fuß fteden geblieben. Welch ein 
Glück, daß fie nicht fopfüber hineingefallen war! 
Aus dem Füßchen fiderte das rote Blut hervor und 
färbte das Gras und die Zweige des Zwergiträud- 
leins. Wer hätte das gedacht, daß der erbärmlice 
Straud) nad dem Tod noch Rojen tragen werde! 

Sotony rief den Gefährten wie beiefjen nach, aber 
Gott weiß, wo die ſchon waren. Die Unmaſſe von 
quafenden Fröſchen, die Milliarden zirpender Grillen, 
fummender Weſpen und pfeifender Heupferdchen über- 
tönten jein Schreien. 

In feiner Angft und Verlegenheit wußte er nidt, 
was thun. Sollte er um Waſſer zu dem Badı 
eilen und fie bejpriken? Oder jollte er erft ba: 
Leibchen aufnefteln, damit fie zu Atem fomme? 

Das Peibhen kam zuerft an die Reihe O 
welch ein Gefühl! Das Blut fiedete in feinen Adern, 
ein Feuerſtrom jagte durch feinen Körper. 

„Apolfa, meine Wonne! Deffne deine Mugen 
braunen Augen, du lebft ja!” 

Er kniete an ihr nieder und begann zu ſchmeicheln 
und zu bitten. 

„Sieh mid nur noch einmal an! Dein Bujen 
hebt fi ja.“ 

Wie ein Wahnfinniger rannte er fort, um Waſſer 
zu holen. Dort unten zwijchen den Weiden murmelte 
das filberne Waſſer des Bächleins, ja, er überjprang 
es jogar, ohne es zu bemerken; endlich jchöpfte er aus 
der Hanfſchwemme ein bißchen Waſſer in jeinen Hut. 


Das Zauberfraut von Lohina. 759 


Jeht war auch das gut! Er rannte damit zurüd 
wie ein Geizhald mit jeinem Schatz, benekte ihr 
Geficht, ſtrich ſanft mit der naffen Handfläche über 
die helle, marmorglängende Stirn, und fiehe da, ein 
Seufzer rang ſich von den Lippen, ein ſchwacher, 
ftöhnender Seufzer, aber doch das Zeichen erwachenden 
Lebens, 

Das Blut fiderte no immer hervor. Wenn 
das etwa eine große Wunde war? Es war noch etwas 
Waſſer übrig geblieben, welches nicht durch den Filz 
bes Hutes durchgeronnen war; wie, wenn er vielleicht 
die Wunde damit auswaſchen würde? Ein mutwilliger 
Dämon ſtachelte ihn und winfte ihm zu; von rüd» 
wärts führte ihm wohl auch Amor die Hand und 
figelte ihm mit feinen Pfeilen das Rüdgrat. Es iſt 
wohl ein unfhidlih Ding! Aber fein muß es doch. 
Alles eins! — er muß die Wunde anjehen. Und wenn 
er zum Beiſpiel Arzt wäre? O armes, Heines 
Füßchen! Der ganze Strumpf ift voll Blut. Raſch 
herunter damit! 

Er nahm Apollonias Fuß in beide Hände und 
begann den Strumpf abzuziehen. Er jah die herr» 
fihe Rundung des Being, feine Nafenflügel zudten, 
das Blut jagte ihm wild durch die Adern — noch 
ein Ruck — und plößlic blieb er wie gelähmt 
fifen; feine Glieder verfagten ihm den Dienft, und 
ein Ausruf des Entjehens entrang ſich jeinen 

Lippen. 

Unter dem weißen Strumpf jhimmerte das, was 
die Unterſuchung zu finden begehrte: dort an ihrem 
Fuß trug fie den vielgejuchten blaugelben Strumpf. 

Im jelben Augenblid ſchlug das Mädchen die 
Augen auf. 

„Wo bin ich?" jeufzte fie. 

Sotony ſaß neben ihr auf dem Rafen, aber er 
antwortete nicht, fondern flarrte mit abgewandtem 
Gefiht zum Himmel empor, der fi immer däm— 
mernder färbte. Vielleicht fragte er die aufftrahlenden 
Sterne, ob es möglid), daf der ſchöne Engel ein 
ſchrecllicher Teufel ji. O Gott, warum betrügft 
du denn ung arme, einfältige Menſchen mit jolchen 
Zügen? 

Aber die Sterne gaben feine Antwort. 

Apolla blidte um ſich, und fofort hatte fie alles 
begriffen. Sie nahm all ihre Kraft zufammen, rüdte 
näher zu Sotony und fragte traurig: 

„Haben Sie's geſehen?“ 

„Ich hab's gejehen.“ 

Tiefes Stilljhweigen folgte dieſer Frage, das 
feiner von beiden unterbrach, endlich feuchte Sotony: 

„Sit es wahr?* 

Nur das fragte er, ſonſt nichts. 

„Ja.“ 

Auch fie antwortete nur dies eine Mörtchen. 
Eine Weile nachher ſetzte fie Hinzu: 


„Nehmen Sie mid) gefangen; da bin ih! Ich 
verdiene das Senferbeil.” 

Sotony maß jie mit einem langen, langen, träu- 
meriſchen Blid, in welchem umendlihe Wehmut 
zitterte; dann näherte er ſich Apolfas Pierd. 

„Komm, Apolla,“ fagte er ſanft, und feine Stimme 
äitterte leicht ; „wir haben beide Plat auf dieſem Pferd.“ 

Er hob fie empor und nahm fie in den Schoß. 
So ritten fie durch den dunleln Wald, der Ober» 
ſtuhlrichter und die Verbrederin. 

„Sag mir, warum haft du das gethan?“ 

„Weil ich den Pfarrer jehr geliebt habe; ich wollte 
mid an ihm rächen,” flüfterte fie leidenſchaftlich; „er 
hat mich verführt, er hat mich betrogen, er hat mir 
geſchworen, daß er mic) heiratet !” 

Wieder ritten fie ſchweigend weiter. Sotony fühlte 
den fieberifch heißen Atem des Mädchens auf jeinen 
Wangen umd hörte das Pochen ihres Herzens; das 
war ihm Unterhaltung genug. 

Als fie fich der herrſchaftlichen Sägmühle näherten, 
erwachte neuerdings das Bedürfnis in ihm, eine 
Frage an fie zu richten. 

„Sag, Apolfa ! Woher hat jenes Mädchen gewußt, 
dag du den Strumpf anhaft? Denn das ift doch 
wunderbar, unbegreiflih. Hat fie wirklich das 
Kräutlein der Erkenntnis im Korbe gehabt?” 

Unausfprehliher Haß zitterte in Apollonias 
Stimme: 

„Ja, das Kräutlein der Erlenntnis, ha ha ha! 
Auch Magdalena hat den Pfarrer geliebt. Und um 
meinetwillen hat er fie verlaffen! Sie war immer 
eiferfüdtig auf mid und hat mich immer verfolgt. 
Sie glaubt auch jet noch, daß der Piarrer im ger 
beimen zu mir fommt. Sicher hat jie heut auch am 
Fenfter gelauert, wie der Stuhlrichter mic) um die 
Stridnadeln gejhidt hat und ic die Sache jchon ge— 
ahnt habe. Aber ich hab’ nur noch jo viel Zeit gehabt, 
jchnell die weißen Strümpfe über die bunten zu ziehen.“ 

Der Oberftuhlrichter inquirierte nicht weiter; nur 
das eine fragte er noch: 

„Wohin ſoll ic) dich bringen?“ 

„Wohin Sie wollen,” erwiderte das Mädchen, 
verihämt den Kopf jentend. 

„Alſo weißt du, wohin ich dic führe, Apolfa,* 
flüfterte er mit gejteigerter Leidenſchaftlichleit. „Ic 
führ' did im mein Schloß. Dort wirft du glüdlic 
jein, wirft auf Seidenpolftern jchlafen und dic mit 
Roſenwaſſer waſchen. Kommft du mit?“ 

„Ja, ja, ich gehe. Werd’ id) dort auf Seibden- 
polftern jchlafen ?” 

„Warum jagjt du das jo falt?“ 

„Ach, jehen Sie denn nicht? — id) lächle ja ſchon,“ 
erwiderte fie, ihm ihr Geficht zuwenden, 

„Dort werben wir zu zweien leben, denn ich werde 
oft zu dir fommen. Bon diejer häßlichen Geſchichte 


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760 Koloman Mikszäth. — Das Zauberfrautpon fohina. 


wird feiner etwa® erfahren. Du wirft jehen, wie 
gut du's haben wirft. Küffe mich, Apolla!“ 

Sie bededte abwehrend das Geſicht mit beiden 
Händen, 

„Dann! Zu Haufe!” 

Und dasſelbe blafje Lächeln Hufchte wieder um 
ihre Lippen. Sotony ſah es aud im Finjtern. Der 
ganze Wald ſchien davon zu lächeln. 

Jetzt famen fie zu der Zelenoer Bergſchlucht. 

„Beben Sie adht!* machte ihn Apolka aufmerffam 
und jchmiegte fich leiſe liſpelnd an ihn, wie's Verliebte 
zu thun pflegen. „Das tft eine gefährliche Stelle.“ 

Sotony ergriff die Zügel mit beiden Händen und 
blidte forichend den jchmalen Weg entlang, au 
deifen Rand ein tiefer Abgrund gähnte. 

Im nächſten Moment war ihm Apolla, flinf wie 
eine Eidechje, aus dem Arm geglitten — ein Rud 
ihres elaftiichen Körpers, und fie ſchwang ſich in den | 
dunfeln Schlund hinab und flog — flog nieder — | 
zur Tiefe. | 

Als Höge eine Fledermaus jhwirrend zur Hölle | 
hinab. 

Und die Tiefe verſchlang fie lautlos, als hätte fie 
ihrer gehartt... 





Das eine Pferd war unterdeſſen herrenlos im | 


Dorf angelangt. 


War das ein Schreden! Herr des Himmels, was 
war dem Oberftublrichter zugeſtoßen? 

Dann fehrte daS zweite Roß mit feinem traurigen 
Reiter zurüd. Die Sache ward immer verwidelter. 
Wie fam er auf Apolfas ungefatteltes Pferd? Und 
was war mit Apolfa gejchehen? 

Sotony beganu endlich zu erzählen; zweimal er: 
ftidten Thränen feine Stimme, als er berichtete, wie 
Apolla vom Pferd in Ohnmacht gefallen war und 
er unter den weißen Strümpfen dann die bunten 
entdedte, und jo weiter und fo weiter. 

„Der alte Hrobaf hat doch recht gehabt, rief 
Teresley tief erjchüttert. 

Sotony verbarg das Antlik mit beiden Händen. 


Die Nachricht von dem jeltfamen Ereignis ver: 
breitete fich wie ein Lauffeuer in beiden Dörfern, 
und am nächften Tag begannen ſchon alle Bauern 
ins Dorf überzufiedeln. „In Lohina wird’ nid 
mehr brennen.“ 

Obſchon jeither wohl zwanzig Jahre verfteiden, 
fuchen Mädchen und Frauen noch immer das Zauber: 
fräutlein, welches an jenem denfwürdigen Nadmittag 
in Magdalenens Korbe verborgen fein mußte, und 
deſſen glücklicher Finder alles fieht und alles weiß. 

Wenn's die Mädchen fuchen, das laun ic nod 
begreifen, aber wozu wollen es die Frauen? 





Gin früber Tag. 
Von 
Alice de Chambrier. 


Aus dem Franzöſiſchen überfeßt von Dtto Saufer. 


Es ward im Simmer mir jo dunkel; | 
Ih ſprach: „Binaus zum Sonnenfchein, | 
Denn Wärme braucht und Lichtgefunkel 
Du diefer Stund’ die Seele mein.“ 


Doc; düfter hab’ ich angetroffen 
Die Sluren auch; ich ſprach: „Sum Licht!“ 
Den fernen Berg in neuem Koffen 
Erftieg ich, doch ich fand es nicht. 


Den Berg umhüllten tiefe Schatten; 
Ih jprady: „In die Unendlichkeit ! 
Sort von der Erde dunkeln Matten, 
Sum Raum, den Dunkel nie entweiht!“ 


Doch keine Strahlen jah ich glänzen, 
Das Blau verbarg ein nächt’ger Öraus, 
Dergebens eilt’ ich zu den Grenzen 
Des Unermeßlichen hinaus. 


Micht fand ich Licht in fernfter Serne, 
Erlofchen ſchien der Sonnenball, 
Und Nebel barg die vielen Sterne, 
Die jonft durchglüht das Meltenall. 


Dann von der Mlühe ihres Strebens 
Sank meine Seele hräftebar, 
Und fie begriff, es fei vergebens, 
Weil's Nacht in meinem Kerzen mar. 








Ein Gonrfifenr. 


- Cor Hedberg. 
Aus dem Hchwedilchen überfeßt von Otto A. Wied. 




























Aſſeſſor Häger galt für einen ſtattlichen Mann. 
Er war von hohem Wuchs, ſtark, beinahe derb ge— 
baut, bewegte ſich jedoch mit einer geichmeidigen 
Leichtigleit, die feiner ſchweren Gejtalt den Stempel 
einer ungejuchten Eleganz verlieh. Am Wirbel zeigte 
das gejtugte, dumfle Haar einen leijen Anflug von 
Kahlheit und bildete über den Schläfen tiefe Buchten. 
Der Blid war kurzfichtig, etwas blinzelnd, die Naje 
gerade und wohlgeformt, auf jeinem Munde, der 
bon einem ſchwarzen, ebenfalls kurzgeſchnittenen Voll- 
arte verdedt wurde, lag ein etwas fteifes Lächeln. 
1 f den erften Blid erichien fein Geficht nichtsjagend 
oder nur die Sprache der Konvention redend. All 
mählich enidedte man jedoch, daß es einen ziemlich) 
önlichen Charakter trug, aus zwei einander wider- 
Elementen zufammengejeßt: einem Aus« 
drud von Intelligenz und Feinfühligfeit, der über 
ai und den rein und schön gezeichneten Augen» 
bra lagerte — und einem Zug don Müdigkeit, 
f — Leben, der um den lächelnden Mund 
herum lag und in den tiefen Furchen an den Naſen- 
‚winfeln, welche das ganze Geſicht alt machten, wenn 
die Beleuchtung fie nicht milderte. 
Außerdem galt er für einen MWeiberfreund. Im 
Sejellihaftsleben beliebt wegen jeines eleganten 
Aeubern und feiner vornehmen Konverfation, hatte 
er dort nad) und nad) einen befondern Platz als ein 
2 ernifierter, leidenfchaftslojer und ungefährlicher 
n En errungen, ein Don Juan, der nicht mit 
jpielte, jondern mit gemachten Gefühlen, 
. Kämpfe in Florettgefechten beitanden, und 
— Blicke, ein Lächeln oder ein Hände⸗ 
waren. Bei den meijten Frauen, mit denen 
— nie, war er eine Art Mittelding zwifchen 
Berirauter und Anbeter. Er gewann ihr Vertrauen 
feine Gabe, auf ihre Wetje jehen, auffaiien 
nd b urteilen zu lönnen, dur ein jchnelles Ver— 
nis ihrer zufälligen Stimmungen und Grillen, 
£ doc) gleichzeitig männlich genug, um ihre 
it zu weden. Das eine wie das andre 
ur vorübergehend, flüchtig, ohne Forderungen 
lichkeiten. Im Grunde verachteten fie ihn 


ohne ihn jedod) entbehren zu fünnen, und 
Er Sungen, 1807. If. ı6, 
To dei 


Areit ) 


dies konnten nicht einmal die, welche den Verdacht 
begten, daß die Geringſchätzung gegenjeitig jei. 

Dieſes Leben hatte er jegt ein Jahrzehnt hindurch 
geführt, ohne ich während diejer Zeit zu verändern 
oder zu altern. Er war jetzt nahe den Vierzigern. 

Seine Sommerferien verbrachte er teils in Bade— 
orten, teild auf Beſuch bei jeinen Belannten. 

Mehrere Jahre hindurch hatte er veriprodhen, 
einen jeiner bejten Umgangsfreunde, den Hütten- 
befiger Wiborg, zu bejuchen, deſſen Frau einer der 
Sterne der Geſellſchaft gewejen war, ſich aber ſchon 
feit mehreren Jahren wegen Kränflichleit vom ges 
jelligen Berfehr zurüdgezogen hatte. Im leßten 
Winter war fie jedoch von neuem dort erjdhienen, 
um ihre Tochter einzuführen, die eine glänzende 
Nachfolgerin zu werden verjprad. Vielleicht trug 
diefer Umftand mit dazu bei, dab fi Häger jetzt 
jeines alten Verſprechens erinnerte und bereits Mitte 
Auguft von Marjtrand abreifte, um den Reſt des 
Monats in Kulla zu verbringen. 

Er jand das Haus bereits voller Gäſte, vier, 
fünf Herren und ebenjoviel Damen. Einige reijten 
bald nad) feiner Ankunft ab, aber an ihrer Stelle 
famen andre. Das einzige junge Mädchen war bie 
Tochter des Hauſes. 

In den wenigen Monaten, die verflofjen waren, 
jeitdem er fie zum letztenmal in Stodholm auf einem 
Balle gejehen, hatte fie ſich erſtaunlich ſchnell ent» 
widelt, nicht bloß in ihrem Neußern, ſondern auch 
in ihrem Wejen. Dort hatte er fie etwas ſchüchtern 
gefunden, ein wenig naiv; bier zu Haufe trat fie mit 
der Sicherheit einer vollendeten Weltdame auf. Da 
die Mutter den größten Teil des Tages im Lehnſtuhl 
zubrachte, und die Gäfte ihr dort nach der Reihe ihre 
Aufwartung machten, hatte fie einen großen Teil von 
den Pflihten der Wirtin übernommen und erfüllte 
fie mit einem Takte und einem natürlichen Reiz, der 
dadurd; noch einen bejonders pilanten Anftric er» 
hielt, dab findlicher Stolz und Freude über ihre 
eigne Stellung hindurdleuchteten. Man merkte, dab 
fie eine Rolle jpielte, aber diefe machte ihr jelbjt 
jolden Spaß, und fie hatte joldhe angeborene Anlage 
dazu, dab das Spiel der Natur täufchend ähnlich 

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762 


wurde. 


Gleichzeitig brachte fie durch ihre Jugend | immer unrecht.“ 


Tor Hedberg. 


Der Widerfland hatte ihm gereizt, 


und ihre friſche Vergnügungsluſt Leben in den Ver- | und er beſchloß, feine Reiſe aufzufchieben und die 


kehr; Spazierritte, Wagenfahrten und Ruderpartien 
löften einander ab, und manchmal wurde bes Abends 
auch getanzt. 

Häger begriff ſoſort den herrſchenden Ton und 
ſchlug ihn mit jeiner gewohnten Anpafjungsfähigteit 
an, wie er vom ihr angegeben wurde. Schon nad 
ein paar Tagen hatte er es verſtanden, ſich als ihr 
Ratgeber und Mithelfer unentbehrlih zu machen. 
Er ernannte ſich ſelbſt zu ihrem Seremonienmeiiter 
und fpielte dieſe Rolle mit einer guten Laune, 
einer unerſchöpflichen Erfindungsgabe und einem 
Anſtrich komischer Würde, weiche bald die etwas 
fühle Zurüdhaltung befiegten, die fie bei feiner An— 
tunft beobachtet hatte. Sie hatte ſicher ein Vorurteil 
gegen ihn gehegt, aber bald ſchien dies völlig vers 
ihwunden, und es entitand zwifchen ihnen ein faft 
Tameradichaftliches Verhältnis, das zu flören er fid 
wohl hütete, Eine Möglichfeit, dem Verhältniſſe eine 
andre Richtung zu geben, hielt er fich jedoch dadurch 
offen, daß er ihr beftändig mit aufmerffamer, ritter- 
licher Unterthänigfeit begegnete, die fie, jolange fie 
es wünſchte, als zu der Rolle zugehörig betrachten 
tonnte, welche fie im Einverftändnis mit ihm jpielte, 

Er hatte ſogleich bemerkt, daß ihre fcheinbare 


Frühreife nicht jonderlich tiefe Wurzeln hatte, jondern 


ein Maskenkoſtüm war, gewebt aus Erfahrungen von 
zweiter Hand, Romanlektüre und Beobachtungen an 
ihrer Umgebung. ber fie trug dieſes Koſtüm des— 


wegen jo natürlich, weil fie mit ber Luft des Kindes, 
ſich zu verfleiden, die Gabe des Weibes vereinte, | 


völlig im einer beliebigen Stimmung aufzugeben ; 
und um auf dem fürzeften Wege ihr Vertrauen zu 
erreichen, beeilte er ſich, das gleiche Gewand an— 
zuthun, 

Doch das Rejultat entſprach nicht feinen Er— 
wartungen, 


durfte, und es reizte ihn mächtig, gerade dieje Grenze 
zu finden. Sobald ihm dies Mar geworden, jpähte 
er um fi), um zunächſt die äußere Urſache zu ent« 
deden; denn er zweifelte feinen Augenblid daran, daß 
die Urſache eine äußere war. 

Er beobachtete ihr Benehmen gegenüber den 
männlichen Gäften auf dem Gute, aber er ſah bald 
ein, daß, wenn jemand einen Vorzug vor den andern 
genoß, ex jelbft eg war. Er verſuchte dem Geheimnis 
dadurch auf die Spur zu fommen, daß er die Mutter 
ausforjchte, doch ohne Erfolg. Gab es ein Geheimnis, 
io war fie ficherlich nicht Mitwifferin. Daß es ein 
ſolches gab, bezweifelte er nicht und folgerte daher, 


der, welcher ihm im Wege ftehe, müfje ein Abwejender | 


fein. „Nun, dann nur Geduld,“ dachte er, „nur 
Geduld! Die Abwelenden befommen ſchließlich 





Zeit abzuwarten. 

Da plößlih, eine Woche nad) feiner Ankunft, 
erihien der Abwejende. Es war eim junger But 
bejiger, der nächte Nachbar von Kulla, ein Jugend» 
freund von Fräulein Elſa. Er war verreift gemein 


‚ und hatte ſich deswegen bisher nicht gezeigt. Er hie 


Wärn, war nahe an die Dreibig, ſah jedoch bedeutend 
jünger aus, hatte ein friſches, jonnenverbranniet 
Geficht, eine tiefe, fchöne Stimme, die mitunter einen 
faft findlihen Tonfall befam, befonders wenn 1 
ſcherzte. Er lachte leicht, und fein Lachen Manz 
bejonderd wohlthuend, melodiih und anſiedend. 
Durch jein offenes, zugängliches und vertrauensvolle 
Weſen nahın er für fi) ein, machte jedod nicht den 
Eindrud, reich oder originell begabt zu fein. 
Hüger war bei Wärns erjiem Zujammentrefien 
mit Elia zugegen. Sie errötete ftarf, als fie in 
von ferne erblidte, und über ihr Geficht huſchle ein 
Schimmer von freude; aber als er bei ihr mar, 
batte fie ich bereit beherricht und begrüßte ibn mit 
ruhiger, faſt Tühler Freundlichkeit. Im Anfange 
ſchlug er den Ton eines alten Bekannten und Jugend 
geipielen an; doc in feinem Blid Tag etwas Jar 
haftes, und dieſe Zaghaftigkeit wuchs ſchnell und gab 
jeinem ganzen Benehmen ihr gegenüber eine Unfider- 
heit, die nur verſchwand, wenn er lachte. Sie wurde 


; ihm gegenüber immer kühler und berablaflender, jt 


länger fie zujammen waren. 

Häger beobachtete fie mit Intereſſe und zog fein 
Schlüſſe. Der Ausdrud in ihrem Geſicht, ala je 
den Kommenden jah, hatte in ihm einen Augenblid 
lang eine faft peinliche Ueberrafhung hervorgerufen, 
aber diefen Eindrud ſchob er ala etwas, das er ih 
jelbit nicht eingeftehen wollte, wieder zur Seite, nahm 


‚ eine erprobte Ironie zu Hilfe und fam zu einem 
Er fühlte, daß e8 eine Grenze gab, die | 
er nicht ohne Gefahr, alles zu verlieren, überfchreiten | 


beruhigenden Schlußurteil. 
„Die erfte Liebe von ihrer Seite,” dachte er. 


‚ „Aber er ift zu dumm umb begreift nichts. Yuher 


dem Jugendfreund. Er ift ungefährlich.“ 

Ja, als Wärn nad) einem ziemlich kurzen Bernd 
wieder Abſchied nahm, beglüdwünichte er ſich jogat 
dazu, ihn in der Nähe zu haben. 

„Es wäre jonderbar, wenn fie noch nicht jo diel 
Weib wäre, um es mit ber Sofetterie zu verfuden,” 
dachte er, „und dann ift mein Spiel gewonnen.“ 

Den Reft des Tages war Elſa zerftreut und mit 
ihren Gedanken abweſend, dazwiſchen hatte jie dann 
wieder plögliche Ausbrüche forcierter Munterteit. Ein 
paarmal, als fie jehr in Gedanken verfunfen war, 
überrajchte er ein Lächeln auf ihren Lippen. „In 
dem Heinen Köpfchen wird ein Plan ausgebrütet, 
dachte er zufrieden und vermied es abſichtlich, ſich 
mit ihr zu bejchäftigen. 


— — 


vi Bi: — unternahm die ganze 
eine Tärigere Reittour. Elſa war wieder 

‚ja fröhlicher als fonft, aber Häger bemerkte 
tung, daß fie ihm auswich. Er hatte cher 

f erivartet und grübelte vergebens darüber 

aß: Sie ebenen konnte. Er dachte einen 
id, es ſei Kofetterie ihn gegenüber, glaubte 

Abſt nacht recht daran, Es ſchien ihm cher, 
Mens vor ihm ſcheute. Auch eim andrer, 
meichelfafterer Gedante ſchwebte ihm ebenfalls 
gern er auch am ihn geglaubt hätte, 

R igert Ban doch fein Verſtand und bie Er— 
ih er n Bezug auf die Frauen beſaß, 

N ' Seine Schlußfolgerungskunſt 
—* er wurde ſchlechter Laune und dachte 
bald ſeinen Beſuch abzubrechen und 


— —— als die ganze Geſellſchaft im 
on verſammelt war, fand ſich Wärn wieder ein, 
; war diejes Mal faft verletend kurz und 


; An ihre Nähe zu ſehen ging er zu 
ic und begann mit dieſer eine 


e 3 fie geſpaunt. Er ſah, wie ſich 
‚Bug über ihre Augenbrauen legte und 

tlippe ſich etwas verjchob, wie immer, wenn 
inzufrieden war. Sie hatte erft völlig verjtanden, 
ſchon fie war, als fie fah, daß auch dieſe Miene 
and. Dann lieh fie ihre Blicke Yangjam, 
rſchend über die im Zimmer verſammelten 
leiten... ne fonnte ein Lächeln über dieſe 


zurü alte md er ſah mit Befriedigung, daf 
bie te aufparte, Steh gt ih 
m hinüber, er begegnete ihm ruhig, nod) 
& .—. einen Schimmer on 


te er zu ſich ſelbſt, aber gleich⸗ 
der dasfelbe peinliche Gefühl 
fie bei Wärns Ankunft erröten 


ganze 


x Weije die andern Gäfte; 





Ein Eourtijeur. 


bereitete ihm nicht dasjelbe, wenn auch vorübergehende 
Bergnügen wie gewöhnlih. Im Gegenteil, auf dem 
Grunde feiner Gefinnung rührte ſich eine Art Er— 
bitterung gegen fie, die fi in einem drohenden: 


„Hüte dich, dies Spiel Tann dir gefährlich werden!” 


Luft machen wollte. Und dies Gefühl ließ ihn etwas 
von jener ſchmeichelnden Artigkeit und jenem geilt- 
reihen Scherze ablegen, die fonjt feiner Hofmadherei 
ſolchen Reiz verliehen. Er ließ feine Blide eine 
faft brutale Spradje reden, aber fie hielt ihnen ftand, 
ohne zu blinzeln, ohne daß fich die Mare Tiefe in 
ihren dunfeln Augen verdüſterte. Nur einigemal ſah 
fie ein wenig verwundert drein. 

„So, du bift erfahrener, als ich geglaubt,“ dachte 
er, und diefer Gedanfe vermehrte noch feine Er— 
bitterung. 

Wärn betrachtete fie mit einer Verwunderung, 
die fich nach und nach in Unzufriedenheit verwandelte. 
Aber er blieb doch, bis ſich die ganze Geſellſchaft für 
die Nacht trennte, 

Als Häger allein war, ging er mit fich jelbjt zu 
Gericht. Was bedeutete dieje unvernünftige Gereizt⸗ 
beit, die über ihn gefommen? War es Eiferfucht? 
Er lächelte ironiich über die bloße Annahme Er 
war ſich feines andern Wunſches bewußt, als dem 


jungen Mädchen ein wenig den Hof zu maden, ehe 


er abreifte. Schon der Gebanfe an etwas Ernſteres 
erihien ihm unvernünftig. War es verlehter Stolz? 
Sonft war es fein Prinzip, nicht nad) den Gründen 
zu fragen, aus denen ihm eine Frau ihre Gunft er 
wies. Er ſchloß jeine Abrehnung am bemjelben 
Punkte, wo er fie begonnen, mit der drohenden 
Vorherſage, fie jolle «8 bereuen, 

An den nächſten Tagen trieben fie es in gleicher 
Weile. Sobald Wärn kam, — und er fam jebt regel- 
mäßig wenigftens täglich einmal — beichäftigte ſich Elia 
mit Häger, fofettierte mit ihm und nahm feine Cours» 
macherei mit unbefangener Ruhe entgegen, als ob fie 
eine alte, erfahrene Kofette wäre. Aber dazwiſchen 
wich ſie ihm aus, machte alle jeine Verſuche, ungeftört 
mit ihr zu fein, zu nichte, und ihr ganzes Weſen 
erhielt eine gewiſſe Scheu, wenn er fie in der Gefell- 
Ihaft anredete. Seine dumpfe Erbitterung wuchs 
mehr und mehr, und mandmal empfand er eine 
brutale Begierde, fie zu beſchimpfen. 

Eines Abends jollte getanzt werden. Cine der 
älteren Damen hatte ſich bereits an das Piano gejeßt 
und ſchlug die erften Takte eines Walzers an. Häger 


N ' ‚ unterhielt fi) mit Elfa an einem Fenſter — e8 war 
©: = ? * Dann beihäftigte fie ſich 
Katzen Abends mit ihm und ver- 


Mondfhein, fie ſchaute hinaus, er ftand mit dem 
Rüden dem Fenſter zugewandt neben ihr. Da fah 


' er plößlidh, wie fie über ihr ganzes Geſicht errötete ; 


aus einem der inneren Zimmer war Wärn in den 
Saal getreten. Aber er war ſicher, dab fie fi 
weder umgedreht, noch einen Blid Hinter ſich 


Digitiz 


— TTBITE RN EHER 


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764 


geworfen hatte, und Wärn war jo leife geflommen, daß 
fie feine Schritte nicht hatte hören fünnen. Es fiel 
ihm ein, daß fich vieleicht das Zimmer in der Scheibe 
abipiegele, und er wendete fich um, weil er ſich darüber 
Gewißheit verſchaffen wollte. Aber der Mond jchien 
gerade auf das Fenſter, und die Scheiben fpiegelten 
nit. Er betrachtete Elia nachdenklich. „Alt es fo 
ernst?" dachte er. Und einen Augenblid lang war 
jeine Erbitterung verſchwunden, und ein andres Ge— 
fühl hatte ihren Plab eingenommen, ein Gefühl, 
über das er ſich nicht Rechenſchaft geben fonnte, etwas 
MWeiches und Trauriges, 

Wärn hatte fie indeflen in der Fenſterniſche ent⸗ 
bedt und fam nun gerade auf fie zu, indem er ver- 
mied, Häger anzufehen. Er blieb hinter Elſa ftehen 
und fragte mit einer Stimme, die nicht jo Mar war 
wie jonft: 

„Darf ich den erften Walzer mit die tanzen ?“ 

Sie ftieh einen leifen Schrei aus, drehte ſich 
dann um und lachte: 

„D, wie du mich erichredt haft!” 

„Das merke ih,” antwortete Wärn und verjuchte, 
feinen Worten einen ſarkaſtiſchen Klang zu geben. 
„Kann ich den erften Walzer belommen?“ wieder» 
bolte er mit Nachdruck. 

„Unmöglih,“ antwortete fie mit leichten Lachen 
und blidte dabei Häger an. „Sch habe ihn bereits 
vergeben.“ 

Wärns Blid war drohend, er verbeugte ſich furz 
und ging heftig aus dem Zimmer. 

Sie jah ihm nad), halb triumphierend, halb ängft« 
lih. Gleichzeitig legte fie, wie in Gedanken, ganz 
mechaniſch, ihre Hand in Hägers dargebotenen Arm. 

Er hatte fie durchaus nicht aufgefordert und war 
erftaunt über dieſe unverfrorene Unwahrheit ihm 
gerade ind Geficht. Aber im jelben Augenblid 
dämmerte ihm die wirfliche Erflärung für ihr wechſeln⸗ 
bes Benehmen ihm gegenüber auf, bald fühne Kofetterie, 
bald wieder Schen. Sobald Märn zugegen war, 
bedeutete er, Häger, abjolut nichts für fie, nicht mehr 
ala ein lebloſes Ding, deſſen fie fich für ihre Zwecke 
bediente, Nur wenn Wärn nicht anweſend war, 
wurde fie fih einer Gefahr bewußt, und ihre weib⸗ 
lihe Schüchternheit juchte ſich dagegen zu ſchützen. 

Diesmal war von dem Schlage fein Stolz, fein 
Selbftbewuhtfein getroffen. Ohne ein Wort zu jagen, 
legte er jeinen Arm um ihre Taille, drüdte fie feit 
an fi und tanzte mit ihr. Seine gewohnte Kalt 
blütigfeit hatte ihn ganz verlafjen; das einzige Ge- 
fühl, das ihn jetzt beherrjchte, war der Wunſch, ſich 
zu rächen. 

Er tanzte Runde auf Runde, fie wollte mehrmals 
aufhören, aber er hielt fie feſt und tanzte weiter, 
Schließlich fühlte er, wie fie ſchwer, kraftlos in feinen 
Armen ruhte. Er ſah fie an, fie war ganz bleid. 








Tor Hedberg. 


Da erſt lieh er fie los, und fie blieben bei der Thür 
ftehen. 

„Sind Sie warm?“ fagte er. 
hinausgehen und uns abkühlen?“ 

Sie antwortete nichts, aber als er ihren Arm in 
den jeinen legte und das Zimmer verließ, folgte fie 
ihm ohne Widerftand. Er ging ſchnell durd den 
Flur dem Garten zu. 

Es war ein mondjcheinklarer Abend; Bäume und 
Gebäude warfen dunkle, dichte Schatten. Er ging 
mit ihr auf einen Weg zu, der im Dunkel zwiſchen 
hoben Linden verſchwand. Plötzlich fuhr fie zufammen 
und blieb ftehen. 

„Nein, wir wollen wieder hineingehen!” jagte fir 
und verſuchte ihre Hand zu befreien. 

Da ſchlug er jchnell den Arm um ihren Leib, 
preßte fie an fih und fühte fie auf den Hals, 

Sie ſchrie auf, glitt mit einer blikichnellen Be 
wegung aus feinen Armen, ſah ihn mit erichredtem, 
verwirrtem Blid an, machte ein paar Schritte, wie 
um zu fliehen, taumelte jedoch, lehnte ſich am einen 
Baumſtamm und brad plößlih in Schluchzen aus, 
eines Kindes hilfloſes, verzweifeltes Schluchzen. 

Er betrachtete fie verwundert, empfand einen 
Augenblid Gewiſſensbiſſe, dann aber lachte er fur; 
und ging einige Schritte an ihr vorüber. Dod 
plötzlich und unmwiberftehlich rührte ihn ihr Schludhzen, 
feine Erbitterung verſchwand fpurlos, und dasielb: 
weiche, wehmütige Gefühl, das ſich einen Augenblid 
früher jeiner bemächtigt hatte, erfüllte ihn nun ganz. Et 
blieb ftehen, ſchaute auf die jugendliche, konpulfioiih 
weinende Geftalt und ſagte mit völlig veränderter, 
milder und beichügender Stimme: 

„So fo, beruhigen Sie fih nur, es ift nicht io 
geiährlich!* 

Er lächelte selbft über den Ausdrud, dem fein 
Gefühl unmwillfürli gewählt, und gleichzeitig wer 
auch der letzte Reft feiner früheren Gefinnung ver 
ſchwunden. 

Sie weinte noch immer ebenſo unaufhaltſam. 
Leiſe ergriff er ihre Hand, führte ſie zu einer nahen 
Bank, ließ ſie ſich dort ſetzen und blieb wartend neben 
ihr ſtehen. Ihr Schluchzen nahm allmählich an 
Heftigkeit ab. Er fühlte ſich jo alt, während er der! 
ftand, den Lauten findlicher Verzweiflung lauft 
und die jugendlihe, ringende Gejtalt beiraditete, 
jo alt, jo weit von ihr entfernt, daß fein andre 
Band als ein faft väterlicher Wunſch, ihr zu beifen, 
zu raten, ihm jekt mit ihr vereinte. 

Als ihr Weinen ſchließlich ganz aufgehört, 
ſagte er: 

„Laſſen Sie id) das zur Warnung dienen! Aud 
Liebe kann man zu teuer erfaufen.* 

Sie jah nachdenklih und fragend zu ihm aul. 
Da kam das Bewußtſein deſſen, was vorgefalen 


„Wollen wir 


Gin Eourtijeur. 


‚ wieder über fie; fie wurde glühend rot und jenfte 
Er lächelte etwas verdrießlich. 
Nicht wahr, Fräulein,” fuhr er fort, „in der 
Tiefe Ihres Herzens finden Sie, daß ein Menſch 
wie ich Ihnen widerlid, ja jogar etwas verachtens- 
et iſt?“ Sie antwortete nichts, jondern beugte 
mr den Kopf tiefer. 

‚Wiſſen Sie,“ jagte er, „wie ic) jo geworden, 
wie ih bin? — denn ih bin es nicht immer ge= 
weſen. Durch Eiferſucht. Als ich zum erftenmal 
ein Weib liebte, wedte fie meine Liebe dadurch, daß 

meine Eiferfucht erwedte. Das Mittel glüdte: 
es ift ein Mittel, daS beinahe niemals fehlichlägt, 
aber es iſt ein gefährliches Mittel, denn — denten 
je ie Ange mein Fräulein! — wenn Cie eines 
Mannes Eiferſucht erweclen, Iehren Sie ihn auch 
Sie mißachten. Alle Eiſerſucht beruht auf Mip- 
achtung. Und jchlägt dieſe Mißachtung nur einmal 
J, dann kann man werden — wie ich bin. 
Ber Sie das?” 
Ja,“ antwortete fie leife, ohne aufzujehen. 


„Nun, dann laffen Sie dies Spiel bleiben, um 
Ihrer jelbjt willen. Und follten Sie jemals Luft 
empfinden, es wieder zu beginnen, dann können Sie 
ſich ja meiner erinnern.” 

In den legten Worten lag ein leifer lang jeiner 
gewöhnlichen Ironie. Er verbeugte ſich furz und 
ging von ihr fort dem Haufe zu. Kurz vor der 
Treppe, im Schatten des Haujes ftieß er auf eine 
männliche Geftalt. Es war MWärn. 

Diejer hielt ihn mit einem düfteren, entichloffenen 
Ausdrude in feinem Geſichte an und fragte drohend 

„Wo ift Fräulein Elja?* 

Häger jah ihn ruhig an und antwortete, indem 
er nad) dem Wege deutete: 

„Sie ſitzt dort.” 

Die Blide der beiden Männer begegneten ſich. 
Häger empfand einen Augenblid den Drang, dem 
andern auf die Schulter zu Mopfen und einige be= 
ruhigende Worte zu jagen, doch er that es nicht, 
fondern lächelte nur ſelbſtironiſch. 

„Ah nein, genug des Edelmutes!* dachte er, 
drehte ji auf dem Abjahe um und ging hinein. 


—— 


Das Seibroß. 


Stefan Witwicki, 
Aus dem Polnifhen überfeßt von Robert Braune. 


Nun ift’s gut! 


Eile! Alle Kraft vereine! 
Scharre tief, damit nicht ſchwül 
Mid; der Sonne Strahl befcheine, 
Regen näfje meinen Pfühl. 


Schon ergreift mich Todesſchauer — 
Raſch! daß mich mehr Erde deckt, 

Und mich nicht der Brüder Trauer, 
Nicht der Mutter Meinen weckt. 


Der erjte hören 


Möchte ih den Engel gern, 
Welcher einft zu felgen Chören 
Ruft die Schläfer vor den Herrn! 


— 


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— Lofe Blätter. 8» 


der Maler als Freiwerber. 


Don Büti Kiamil. 
Aus dem Perfifhen überfegt von Egmont Aladin. 

D du, der du mein Gefährte bift, ich habe ge- 
hört, dab jemand einmal einen weilen Mann gefragt 
hat: „Was ift Liebe?" Er antwortete: „Liebe ift eine 
Art von Tod mitten im Leben, ein ſchöner Traum 
inmitten de Wachens ...“ 

Einft war ein König von Perfien. An einem 
Frühlingsnachmittage, ald er unter der blühenden 
Rofenlaube ſchlummerte, fam der Großvezier zu ihm, 
um ihn über dringende Angelegenheiten des Staates 
um Rat zu fragen, und wedte ihn. 

Der Herricher rieb ſich erft lange verwundert Die 
Augen, dann jprang er mit wütender Zornesmiene 
vom Lager empor, zog fein Schwert und wollte auf 
ben erſchreckten Großvezier eindringen. Dieſer wandte 
ſich jchleunigft zur Flucht, und e8 gelang ihm noch 
mit vieler Not, Leib und Leben zu retten. 

Der König aber warf darauf jein Schwert weit 
von fich zur Erde, ſchlug verzweifelt die Hände zu— 
fammen und fing zuleßt gar jämmerlich zu weinen an. 

Seine übrigen Beziere famen alle heran, nachdem 
fie von dem merkwürdigen Vorfall vernommen Hatten, 
und fragten erftaunt: „O Herr, was ift Eu Böſes 
zugeftoßen?* Er antwortete ihnen, wie ein Trunfener 
anzuihauen: „Dieſen Augenblid, als mid) der Bezier 
aus dem Schlafe wedte, jah ih eben einen Ort, 
einen ſchönen Garten voll blühender Blumen, und 
eine Jungfrau wandelte darin, die an Schönheit und 
Liebreiz alles Menſchliche übertraf, was ich je gejehen 
babe. Bald füßte fie meine Stirne, bald legte ich 
mein Haupt zu ihren Füßen. Nun wollte fie auch 
ſprechen, ihre Purpurlippen öffneten fich zum Worte, 
und in dem Augenblid des Glüdes wedte der uns 
glüdjelige Vezier mid aus dem Traume.“ 

Ratlos gingen die weijen Kronräte von dannen; 
einer von ihnen aber blieb zurüd und ſprach nad) 
lurzem Belinnen zum König: „Du weißt, Herr, daß 
ich einiges Gejhid als Maler befige; beichreibe mir 
die Jungfrau genau, wie du fie im Traume gejehen, 
und ic will jedes deiner Worte genau und forgfältig 
mit dem Pinfel verzeichnen.“ 

Dem König gefiel diefer Vorſchlag, und fie gingen 
allfogleih ana Werk. 

Als das Bild zur volllommenen Zufriedenheit 
des Königs vollendet war, ließ derjelbe Vezier an 
einer Stelle der großen Heerftraße vor den Thoren 
der Haupftadt einen Meinen Tempel erbauen und 
ftellte das Bildnis hinein, auf daß es jeder jehen 
lönne, der vorüber ging. 

Dann jehte er einen Mann bin, der einem jeden 
MWanderdmann, der aus fremden und fernen Landen 





berbeigegogen fam, dasſelbe zeigen und ihn fragen 
mußte, ob er irgendwo einmal fchon eine frau ge 
ſehen oder von einer jolchen gehört, welcher dieſes 
Bildnis gleichen fünnte, 

Es verging eine geraume Zeit viele Wanderer 
famen und gingen des Weges, aus vieler Hetten 
Ländern, viele zogen vorüber, aber feiner jagte ja. 

Endlich eine® Tages vermeldete ein Keijender aus 
dem Reihe von Rum,*) nachdem er das Bilb gr 
jehen hatte: „Ich lenne diejes Geſicht jehr gut, denn 
es ift das getreue Abbild unfrer Prinzeſſin.“ 

Hierauf war er verſchwenderiſch in ihrem Lob 
und ſagte zuleßt, bei all dieſer Schönheit und Herzen 
güte wolle fie ſich jedoch nie vermählen. 

Der Bezier war jehr begierig, die Urſache deikn 
zu erfahren. 

„Die Urfache, warum fie feinen Gatten nehmen wil, 
ift mir wohlbefannt,* berichtete der fundige Reiſende 
weiter, „und fie ift dieje: Einſtmals ſaß die Prin- 
zejfin im Garten ihres Palaftes in einem Lufthauf, 
in defien Nähe ein Pfauenpaar auf dem Gipfel eine 
Baumes jein Neſt aufgeichlagen und eben Küchlein 
ausgebrütet hatte. 

„Plöglich wurde der Garten von einem Bliß ge 
troffen, und der alte Baum fing am zu brennen. 
ALS die Flammen ſich dem Gipfel näherten, war der 
Pfau nicht im ftande, die Hitze zu ertragen, er flog 
vom Nefte weg und brachte ſich in Sicherheit. Aber 
die Henne blieb aus Liebe zu ihren Jungen im Neite 
und verbrannte zu Aſche. 

„AS die Prinzeifin diefen Mangel an Gefühl 
und Familienliede an dem Männchen gejeben halte. 
rief fie aus: ‚Die Männer find treulos; ich gelobt 
mir und ſchwöre e8, nie von einem Manne mehr jı 
reden und zeitlebens ungefreit zu verharren.‘ 

„&3 find denn auch bereits Jahre vergangen; dir 
Prinzeffin hat ihren Schwur gehalten, alle reizt, 
die inzwifchen famen, abgewiejen und fogar mie aud 
nur den Namen eines Mannes ausgeſprochen.“ 

Sp die Kunde des Fremdlings. 

Der Vezier eilte mit diejer Nachricht zum König, 
welcher ſehr beſtürzt darüber ward, daß mım ale 
feine Hoffnungen, in den jo lang erſehnten Beſiß der 
Prinzeſſin zu gelangen, damit auf einmal ganz um 
gar zu nichte wurden. 

Doch der Vezier, ein ebenjo kluger wie treuer 
Diener feines Herrn, ſprach zum König: „Her, lob 
nod den Mut nicht ſinken, jondern gieb mir Beiell 
Hin nad) Rum zu reifen, und ich will dafür forgen, daß 
die Jungfrau, die dein Herz im Traume geliebt und 
im Wachen bisher nicht vergeſſen hat, endlich dod 
noch dein Weib werde,“ 





*) Byyany. 


Loſe Blätter. 


Der König war damit zufrieden, und der Vezier 
machte ſich unverzüglih auf den Weg nad Rum. 

Als er nad) langer Reife dort angelommen war, 
gab er fich für einen fahrenden Maler aus. Die 
Prinzeffin hörte nad) einiger Zeit von feiner Kunft- 
fertigfeit,, ließ ihm zu fich bejcheiden und gab ihm 
den Auftrag, ihren Palaſt mit einer Reihe von ſchönen 
Bildern zu ſchmücken. 

Er ging alsbald eifrig ans Werk und malte das 
Bildnis jeines Königs, wie er auf einem Balkone in 
ieinem großen Tiergarten jaß, von welch letzterem 
verjhiedene Teile unter dem Gewäfler einer Ueber— 
ihwenmung ftanden. 

Als die Prinzeffin diefe Malerei ſah, ward fie von 
einigem Erftaunen betroffen umd fragte den Maler: 
Weſſen Bild ift das und was ift hiermit vorgeitellt ?* 

Der Bezier antwortete: „Es ift das Bildnis 
meines früheren Herrn, des erhabenen Königs von 
Perfien ; dies ift fein Park und das hier find feine 
Vieblingstiere, Hirfche und Rehe. Als der König 
eines Tages auf dem Balkon ja, der zu dem Luit« 
hauje gehörte, trat plößlich der Fluß infolge eines 


großen Regengufjes in den Gebirgen, von denen er here | 


abftrömt, aus den Ufern und überflutete den Garten. 

„Am Ufer ftanden zwei Rebe mit ihrem Rehkalb. 
Die Rehtuh hatte nicht den Mut, den andringenden 
Wellen zu trogen, und ergriff die Flucht, ihr Junges 
verlafjend. Dies ift das Bild des Meibchens, wie 
es in langen Sätzen davonläuft. Der Rehbock aber, 
den du bier untergehen ſiehſt, o Prinzeijin, blieb 
aus Liebe zu feinem Jungen bei demjelben jtehen 
und ertran? mit ihm in den Fyluten. 

„O Prinzeifin, jeit jenem Tage, als der König 
dieſe Gefühllofigkeit an der Rehluh wahrgenommen, 
bat er feines Frauenzimmers mehr gedacht und ſich 
feierlich gelobt, fie alle hinfort zu meiden,“ 

Als die Prinzeffin dieſe Erzählung gehört, ward 
fie vorerft höchlichſt betroffen, und ſprach nad) längerem 
Befinnen endlich zum Maler: „Die Lage des Königs 
von Perfien ftimmt recht wunderbar mit der meinigen 
überein; ich mied bisher alle Gemeinjchaft mit den 
Männern, weil ich die Unbarmherzigteit eines Pfau- 
hahns gejehen hatte, der jeine Jungen in Feuers— 
gefahr verließ, während dasjelbe an der Rehkuh dem 
Herzen des Königs fo jehr mißfallen hatte. Und ich 
Jaube, wir waren beide lange Zeit hindurch von einem 
Irrtum befangen. 

„Denn eine Verbindung zwiſchen uns geftiftet 
werden könnte, wie erfreulich würde es fein!“ 

„Ihr thut recht mit diefem Wunfche, einem durch 
ein einzelnes Beiſpiel gefaßten Vorurteile zu ent— 
Jagen, o Prinzeffin,* erwiderte erfreut der Vezier; 
„denn Liebe und Treue find feineswegs bejonders 
an ein Geſchlecht gebunden, fie find den Guten 
unter den Kindern dieſer Erde gemeinjam beſchieden, 
m haben gleichen Anteil daran.“ 

& darauf fandte die Prinzeſſin eine Gejandt- 
haft an den FA bon Beten) 2 gab ei Ein« 
willigung zur Hochzeit. 


767 


Fremoͤländiſche Sinnfprüde. 


Spridwörtern nachgebildet von Marimilian Bern. 


Arabifhe Sprüche. 


Wer Hoffnung nur als Koft erwirbt, 
Gefahr läuft, daf er Hungers ftirbt. 
* 

Der Kate Tyrannei 

VNoch immer befjer ift 

Als die Gerechtigkeit 

Der Maus, die alles frißt. 





Bastifhe Sprüche. 


Ein Rückſchlag findet immer ftatt; 
Es giebt gar feine hobe Flut, 
Die nicht auch tiefe Ebbe hat. 
” 
Dein Geheimnis wahrft du nimmer, 
Cockt es wer aus dem Derftecte ; 
Sorg’, daß eigne Aſche immer 
Dir im Haus das Feuer dede. 


Binterm Buſch ift manchmal ein Ohr, 
Hüte dein Geheimnis davor ! 


Geftehe, daß du Schwächen haft — 
Kein Baum ganz ohne dürren Aſt! 


Aus ſerbiſchem Dollsmunde. 


Welch £os der grimme Tod für dich erforen, 
Kein Anzeichen verrät es dir; 
Auf eine Weife werden wir aeboren, 
Auf taufendfade fterben wir. 
* 
Wenn auch die Seele oft ſchon feſſeln kann, 
Das Antlitz bringt das Mädchen an den Mann. 


heb auf — wer weiß, was noch fommen mag? — 
Das weiße Geld für den ſchwarzen Tag ! 


Die Nerven in der Kunſt und der Litteratur, 
Der franzöſiſche Arzt Dr. Touloufe, der vor einiger 
Zeit einen detaillierten Bericht über den Zufammenhang 
zwiſchen der phufiichen Beichaffenheit und der geiftigen 
Veranlagung Emile Zolas veröffentlichte, hat fürzlich 
einen Vortrag über die Beichaffenheit und Thätigfeit 
des Nervenſyſtems bei Künftlern, Schriftftellern und 
Gelehrten gehalten. Es giebt zahlreiche Litteraten, 
Künftler oder Gelehrte, die an nervöſen Störungen 
leiden; aber es ift in den meijten Fällen jehr ſchwer, 
zu unterjcheiden, wie weit geiftige Weberanftrengung 
und wie weit angeborene Veranlagung daran ſchuld 
if. Auch fann die Wirkung neuropathiicher Zuftände 
verſchieden fein: in vielen (wohl den meiften D. R.) 
Fällen hindern und beeinträchtigen fie das geiftige 





768 Loſe Blätter, 


Schaffen, in andern ericheint die Schaffensfraft des | die Kunſt, die Gegenwart günftig auszunußen — 
Neuropathilers geiteigert, die Empfindungen find | allgemeiner ausgebrüdt, die Bereinigung von ma 
lebhafter und intenfiver, die zur fünftlerifchen Thätig- | teriellem und idealem Sinn ſcheint mir der Hauptzug 
feit vorzugsweiſe notwendige Einbildbungsfraft ift | des deutſchen Charakters zu jein. Das Träumen hat 
reger. Bei manden Schriftftellern und Künftlern | bei ihm nicht, wie beijpielsweije beim Italiener, die 
treten infolge der nervöſen Erregbarfeit leicht Hallu- | Sorglofigfeit zur Gefährtin. Er weift ihm eine ganz 
zinationen auf ; aber jelbft jo ausgeſprochen franthafte | beftimmte Stunde an. Wenn der Deutſche für jein 
Erſcheinungen find dem fünftleriichen Schaffen in man» | leibliches Wohl hinreichend geſorgt und die ernften 
chen Fällen fo günftig, daß der neuropathiſche Künftler | Pflichten des Tages redlich erfüllt hat, dann er 
fie oft mehr befördert al& fich davon zu heilen fucht. | gewährt er der papillonne du logis (der Phantafie) 
So mancher Schriftjteller wendet, um ein möglichft | freien Flug. 
leichtes Funktionieren feines intellektuellen Apparates „Eine gute Mahlzeit ift beim Deutſchen die un: 
zu erzielen, alle möglichen der Geſundheit jhädlichen | vermeidliche Begleiterin aller Feſte und Vereinigungen. 
Mittel an, und verichlimmert dadurch feinen neuro- | Keine Mufilaufführung ohne gaſtronomiſche Genüſſe, 
pathifchen Zuftand. So pflegte zum Beifpiel Nouffeau | fein Konzert, das nicht in der Rähe einer Reftauration 
im Sonnenjhein fiend zu jhreiben, Schiller ftelte | abgehalten würde. Der Deutiche liebt es, mit Mufil- 
beim Schreiben die Füße in Eis oder eißfaltes | Begleitung zu eſſen. 
Waſſer; doch die gebräuchlichſten Erregungsmittel „Damals (bei einer Rheinfahrt in lauer Sommer: 
find Altohol, Kaffee, Abſinth, Morphium, Anti» | nacht, während fentimentale Weiſen geipielt wurden) 
pyrin und Ehloral in den verſchiedenſten Formen. | hatte ih das vollfommenfte Bewußtjein deutide: 
Dr. Toulouſe verwirft alle diefe fünftlich ftimulierenden | ‚Gemütlichkeit‘, jenes Gemiſchs von äſthetiſchem Ge 
Mittel unbedingt. Auf die durch fie hervorgebradte | fühl, von Sentimentalität, Schwärmerei und Liebe 
Steigerung ber Nerventhätigfeit folgt ftet3 ein ent» | für alles Edle und Schöne, Empfindungen, die durd 
iprechender Depreffiongzuftand, und die unaufhörlich den vorangegangenen Genuß aller möglichen guten 
aufeinander folgenden Perioden der Erregung und | Sachen nod) erhöht worden waren. 
der Erſchlaffung ihwächen den Organismus jo außer- „Schwer ift es, herauszufinden, was die Deuticen 
ordentlich, daß der, welcher zu jolden Mitteln greift, | von ihrer Regierung denken. ch weiß nicht, ob fir 
unfehlbar allmählich immer mehr von feiner förper- | unter ſich oft darüber ſprechen — ich glaube jedoeh, 
fichen wie geiftigen Geſundheit einbüßt. Schriftjteller | der Reſpelt verbietet e8 ihnen. Ihr Takt läht fe 
und Fünftler follten daher die Neuropathie, weldhe | in Gegenwart von Franzoſen alles vermeiden, mas 
meift eine unzertrennliche Begleiterin ihrer Begabung | deren Nationalbewußtjein fränfen könnte, Troß ihrer 
ift, nicht begünftigen,, indem fie zu künftlihen Er» | Zurüdhaltung ſcheint bei ihmen eine große Dant- 
regungämitteln ihre Zuflucht nehmen, jondern durch barkeit für die Dynaftie vorzuherrichen, die dei 
eine möglichſt gefunde, normale Lebensweiſe ji die | Deutiche Reich wieder geeint hat, ferner eine au 
natürlihe Reaktionsfähigkeit des Nervenſyſtems zu | richtige Bewunderung für das vollendete Wert, 
erhalten ſuchen. Niemand dürfte in Deutichland vom Kaiſer oder von 
. hohen Staatsmännern mit jener Reſpeltloſigleit 
Urteile eines Franzoſen über die Deutjchen. ſprechen, die wir nur zu oft gegen unſre Präfidenten 
Profeſſor J., Direktor einer höheren Lehranftalt zu | und Minifter an den Tag legen. Bis im bie be 
Paris, veröffentlichte nach feinem Beſuche in Deutfch- | jcheidenften Privathäufer trifft man, als Büſte oder 
land im Sommer 1896 ein jehr deutfchfreundliches | Bild, die ewige kaiſerliche Dreieinigfeit, Großvater, 
Schriften, dem wir folgende Urteile entnehmen: | Sohn und Enkel, die in der beiten Stube thronen.’ 
„Die Hohahtung vor der Vergangenheit und A, Br. 


* 


Im nächſten Heft beginnen wir mit der Veröffentlichung des neuen Werkes von 


Köward Bellamy: „Gleichheit“. 


Faſt zehn Yahre nad dem Erſcheinen des „Rükblik | Kommentar dazu, in 38 Kapiteln eine erweiterte, detuil: 
aus dem Bahre 2000, der bei den Gebildeten der ganzen | lierte und vertiefte Schilderung des Bellamyichen Zukunfit- 
Erbe einen fo beifpiellofen Erfolg errungen und feinen | ftante, die in Bezug auf alle die Gegenmart be 
Berfaifer mit einem Schlage zum weltberühmten Manne | jhäftigenden wichtigen fozialen Fragen eine Fülle new: 
gemacht hat, tritt Edward Pellamy jet mit einem neuen | Anregungen bietet und, wie der „Nüddlid’, im ale 
größeren Were hervor. „Gleihheit‘‘ behandelt denjelben | Kulturländern auf längere Zeit das Intereſſe der Denfn: 
Stoff wie der „Rüdblid”; es iſt eime unmittelbare | den und fortſchrittlich Gefinnten in Anſpruch mehmen 
Fortiegung desielben und enthält, gewifiermaken als | wird. 





Verantwortlicher Redakteur: Karl Bolboevener in Stuttgart. Drud und Berlag ber Deutſchen Berlagd-Anftalt in Stuttgart. 
Briefe und Sendungen find nur an bie Dentfhe Berlags-Ankalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu richten 








Sleichbeit 


Edward — 
"Rus dem ‚Amerikanifchen üderfeht von M. Jacobi. 


5 — 
t Bali „Ein Nüdblid“, das von bee 


N, wie ich gervünfdit hätte. Auch it mir 
N —— bat, wasfortbleiben mußte, 
er erſchienen, als was es enthielt, daß 
ſah, ein neues Buch zu ſchreiben. 
i z Handlung if, wie im „NRüdblid*, 
a 2000; ich habe überhaupt die frühere 
4 a — Ausgangapunft für das Werk benußt, 
im Leſer unter dem Titel „Gleichheit“ dar⸗ 
} f biejenigen, welche den „Rückblick“ nicht 
will: ich in einem furzen Abriß hier das 
hite/des Inhalts wiedergeben: 
hre 1887 lebte in Bofton ein reicher junger 
8 Julian Welt. Er ftand im Begriff, 
b- Barileit, einer jungen Dame aus 
Familie, zu verheiraten, und wohnte 
Den in feinem väterlichen Befigtum 
a Diener, welcher Sawyer hie. 
Kofgteit titt, hatte ex fi) unter den 
es Haujes ein Gemach bauen laſſen, 
4 zimmer benußte. Doch ſelbſt in 
bg, ejhloffenen Raume, wohin kein Laut 
drang, floh ihn häufig derSchlummer, 
; sn genötigt, die Hilfe eines 
tifeurs-in Anspruch zu nehmen, der 
* zpnotiſchen Schlaf verſehzte, aus welchem 
F immten Zeit aufwedte. 
dieſer hnheit des jungen Weſt, ſowie 
n des unterirdiſchen Gemachs 
a außer Sawyer und 
"um 30. Mai 1887 lieh Weit 
sufen umd wurde wie gewöhnlich 
Vorher hatteihm der „Doftor“ 
iß er —— Stadt noch am ſelben 
tlafjen gedächte, und ihm die 
eure in Bofton gegeben, 
« In jener Nacht geriet 
d und wurde vom Feuer 
** Leichnam ward 
Ben entdedte man nicht 


die Teifefte Spur. Daß er in den Flammen um— 
getommen jei, galt aber allgemein für ausgemacht. 
Einhundertunddreijchn Jahre jpäter, im September 
des Jahres 2000 n. Ehr., wollte ſich Dr. Leete, 
ein Boftoner Arzt, in feinem Garten ein eignes 
Laboratorium errichten. Beim Ausgraben des Bau— 
grundes fliehen Die Arbeiter auf altes Mauerwerk, 
das mit einer Aſchen- und Kohlenſchicht bededt war. 
Man grub weiter und fand ein Gewölbe, welches im 
Innern ein reich ausgeſtattetes Schlafjimmer im 
Stil des neunzehnten Jahrhunderts enthielt, und auf 
beim Bett Tag die Gejtalt eines jungen Mannes aus— 
geftredt, der ausjah, als hätte er fi) eben zum Schlafe 
hingelegt. Obwohl es völlig ausfihtslos erſchien, 
jo wollte Dr. Leete doch einen Verſuch machen, 
den jungen Mann, deſſen Körper auf jo unerflärliche 
Weije vor Verweſung gejhüßt worden war, wieder 
zum Leben zu erweden. Zu feiner höchften Ver— 
wunderung blieben feine Bemühungen nicht vergeblich. 
Der Scläfer erwachte zum Bewußtſein und gewann 
in kurzer Friſt die volle Kraft der Jugend wieder, 
welche er, nach feinem Ausſehen zu urteilen, bejeffen 
hatte, Er war fo entſetzt, als er erfuhr, was ſich 
mit ihm zugetragen, daß er Gefahr lief, den Verftand 
zu verlieren. Doch bewahrte ihn Dr. Leetes geſchickte 
ärztliche Hilfe, forwie die Pflege und Teilnahme, welche 
ihm die andern yamilienglieder — des Doltors 
Frau und feine jchöne Tochter Edith — entgegen» 
brachten, vor diefem Unglüd. Es dauerte nicht lange, 
jo vergaß der junge Mann fein eigne® wunderbares 
Erlebnis vor dem Erftaunen über die völlige Um— 
wandlung, welche die Welt in jozialer Bezichung durch⸗ 
gemacht hatte, während er im Schlafe lag. Er hatte 
das Leben nie anders gelannt als in der Geftalt eines 
Kampfes um das Dafein, und jept erffärten ihm feine 
Mirte Schritt für Schritt, faft wie einem Finde, die 
einfahen Grundjäße der nationalen Arbeitsgemein- 
ſchaft zum Wohl der Gejamtheit, auf welchen die ganze 
neue Zivilifation beruhte, Er erfuhr, daß e8 niemand 
mehr gebe, der reicher oder ärmer jei und fein 
fünne als jeine Nebenmenichen, jondern daß alle in 
wirtichaftlicher Beziehung einander gleid) feien. Seiner 
arbeitete mehr für den andern, weder zwangsweiſe 
97 


Digitiz 8 


1 
Im J 1’, .. 
ri, A x if 2 


y Coogiä 








770 


noh um Lohn, Sondern alle fanden im Dienfte 
des Ganzen und arbeiteten für den Nationalbefih, 
der allen gemeinfam gehörte; jelbft die perjönliche 
Pflege, welche jemand bedurfte, zum Beiſpiel ärztlicher 
Beiftand, wurde von Staatäwegen geleiftet, wie bor« 
mals durch die Militärärzte. Alle dieſe merlwürdigen 
Einrichtungen, wurde ihm erflärt, feien auf die ein« 
fachfte Weite zu ſtande gelommen, indem man das 
Privatfapital in Volfsfapital verwandelt habe. Die 
Leitung des Staatsweſens ebenfo wie die Probuftion 
und die Güterverteilung feien derart organifiert, daß fie 
dem Wohle aller, nicht bem Intereſſe einzelner dienen. 

Das anfängliche Staunen des jungen Fremdlings 
über die Geſetze und Ordnungen ber neuen Melt 
fteigerte fich bald zu begeifterter Bewunderung, und 
er gab mit Freuden zu, daß bie Menichheit jeht 
zum erftenmal erfannt habe, was wahres Leben jei. 
Doch beflagte er es bitter, daß das Schidial ihn 
jelbft nur in die neue Welt veriegt habe, um ihn ber 
boffnungslojeften Vereinſamung preisjugeben. Alle 
Site, welche ihm die neuen freunde erwieſen, jei 
außer flande, fein Gemüt von biefem bedrücdenden 
Gefühl zu befreien ; denn er lönne ſich nicht verhehlen, 
daß er ihre Teilnahme nur dem Mitleid verbanfe. 
Es ftellt fich jet heraus, daß fein Geſchick noch 
viel merfwürdiger iſt, als er es fich hatte träumen 
laſſen. Edith Leete nämlich ift niemand anders ala 
die Urenfelin jener Edith Bartlett, die einft feine 
Verlobte war und bie fi) nad) langer Trauer um 
den verſchwundenen Geliebten zuletzt hatte tröften laſſen. 
Die Geſchichte ihres tragischen Verluftes, die damals 
einen tiefen Schatten auf ihr junges Leben warf, 
lebte noch als Meberlicferung in der Familie fort, und 
Briefe von Julian Weſt waren als Erbftüde auf 
bewahrt worden, nebft einer Photographie, die ihn ala 
hübſchen jungen Mann darftellte. Edith fonnte es ihrer 
Urgroßmutter jehr unbilligerweije nicht verzeihen, daß 
fie jemals einen andern geheiratet hatte; das Bild 
des jungen Mannes ftand immer auf ihrem Toiletten» 
tiih. So fam «8, daß feine Retter feinen Augenblick 
über die Perfon des Schläfers in dem unterirdifchen 
Gemach im Zweifel geweſen waren ; aber Edith mochte 
wohl ihre Gründe gehabt haben, darauf zu beftehen, 
daß er nicht eher erfahren ſolle, wer fie ſei, biß fie 
jelbft für gut finde, es ihm mitzuteilen. Als fie ſich 
Julian Welt im geeigneten Moment zu erfennen 
gab, konnte von einer Vereinfamung des jungen 
Mannes nicht länger die Rede fein; denn deutlicher 
hätte das Schidjal es nicht verkünden können, daß 
die beiden für einander bejtimmt waren. 

Sein Freudenbecher fchien voll zum Ueberfließen, 
doch da trat ein Ereignis ein, das ihm plöhlich alles 
Glück zu rauben drohte. Als er fi einmal in 
Dr. Leetes Haus zur Ruhe gelegt hatte, befiel ihn 
ein furchtbares Alpdrüden. Ihm war, als öffnete er 


Edward Bellamy. 


die Augen und gewahrte, dab er auf feinem Bette 

in der unterirbifchen Kammer läge, wo der Magnetiieur 

ihn eingefchläfert hatte. Sawyer machte eben neh 

die letzten Handbewegungen, durd die er den hypne 

tischen Schlaf zu verſcheuchen pflegte. Weit Iek 

ſich die Morgenzeitung bringen und las das Datum. 

Es war der 31. Mai 1887. Da wurde ihm Bar, 

daß fein ganzes wunderbares Erlebnis vom Jahr 290 

in der herrlichen Welt der verbrüderten Menichhe: 

famt dem jhönen Mädchen, das er dort kennen yr 

lernt hatte, nichts geweien war als ein Traumgebild 

Noch ganz verwirrt ftand er auf und machte eine 

Gang durch die Stadt. Er jah dort jeft alles mi: 
andern Augen und verglich e8 unwilllürlich mit den 
Bofton des Jahres 2000. Das thörichte, finnlor 
gewerbliche Konkurrenzſyſtem, die graufamen Gegen 
fäße von Luxus und Mangel, von Stolz und Er 
würdigumg, der grenzenloje Schmuß, das Elend, de 
Verkehriheit der ganzen Ordnung der Dinge, meld 
ihm auf Schritt und Tritt in die Augen fieer, 
empörten jeine Vernunft und thaten feinem Her 
weh. Ihm war zu Mute wie einem geiftig gelund” 
Menſchen, der aus Zufall in einem Irrenhauſe cin 
geichloffen wird. Nachdem er fo einen Tag lan 
berumgewanbert war, traf er gegen Abend mit einige 
feiner früheren Gefährten zufammen. Diefen erjäh? 
er jeinen Traum und jchilderte ihnen die gerechten 
eblere und weiſere Gejellichaftsorbnung, welde fr 
biefer Traum gezeigt hatte. Er ſetzte ihnen au— 
einander, wie leicht e8 fein würde, die wirlliche Br 
zu einer ebenſo glüdfichen zu machen, wie es len 
geträumte Welt geweſen. Man brauche fid nur u 
entſchließen, die ſelbſtmörderiſche Thorheit der Konkır- 
renz aufzugeben und eine brüderliche Genofienigait- 
arbeit einzuführen. Zuerft verfpotteten fie ihn; alt’ 
aber fahen, daß es ihm ernft war, gerieten fie in Jen. 
nannten ihn ein gefährliches Subjekt, einen Anardiken, 
einen Feind der menfchlichen Geſellſchaft, und jagn 
ihn hinaus. Ganz aufgelöft vor Jammer erwahn 
er, diesmal aber in Wirklichkeit, nicht fälihlid; — 
lag im Bett in Dr. Leetes Haufe, und die Mergr- 
ſonne des zwanzigſten Jahrhunderts jchien ihm St 
ind Gefiht. Durchs Fenſter ſah er Edith, die — 
Garten Blumen pflüdte, um den yrübhftüdstiie 
ihmüden; raſch machte er ſich fertig, ging hinmt« 
und erzählte ihr feinen Traum. Wir überlafen «+ Um 
nun, den Fortgang der Geſchichte ſelber zu berät. 





I. 
Ein ſcharfes Kreuzverhör. 

Mährend ich Edith meinen Traum erzählte, bar 
fie mir mit- vielem Intereffe und der größten Zei 
nahme zu, doch ſchwieg fte finnend ftill, als id mil 
der Geſchichte zu Ende war. 

„Worüber dentft du nach?“ fragte id. 





































340 ftellte mir vor,“ erwiderte fie, „wie es wohl 
n würde, wenn bein Traum wahr gewejen wäre.“ 
‚Mein Traum wahr? Wie jollte das möglich fein?“ 
Er meine, wenn du wirklich nur im Schlaf 
1 befommen und weder unjern herrlichen 
ſtaa Eh mich je geſehen hättet; wenn das alles 
ir nur im Traum erſchienen wäre und du am Mor« 
en dann umhergegangen wäreft, um ben Leuten die 
eb * it und Schlechtigleit ihrer Lebensweiſe zu 
zu führen und ihnen zu zeigen, was für ein 
und — Daſein fie ſich bereiten könnten. 
stelle dir nur vor, wieviel Gutes du gewirkt hätteſt 
1d melde Hilfe das für die Menſchen in jenen 
fügen gewefen wäre, als fie des Beiftandes fo ſehr 
eburften! Mir jcheint, es müßte dir faſt leid thun, 
15 du zu uns zurüdgelommen bift.” 
Du fiehft beinahe aus, als wäreft du traurig 
ini se,“ fagte ich, denn ihr betrübter Gefichtäaus- 
legte mir dieje Vermutung nahe. 
ae *ervwiderte fie lächelnd. „Ich dachte 
p nur an deine Stelle. Ich jelber habe ja alle 
ade, froh zu fein, daß du zurüdgefehrt biſt.“ 
„Das will id meinen, Haft du wohl überlegt, 
f du gar nicht geboren wäreft, wenn ich nur 
räumt hätte? Nichts würdeſt du fein als das 
geipinft eines Schläfers vor hundert Jahren,“ 
Dieſer Umftand war mir noch gar nicht ein« 
' le ſagte fie halb im Ernſt, halb im Scherz, 
" wenn ih der Menjchheit als Traumgeftalt 
æ geweſen wäre als in Wirflichfeit, jo hätte 
h wohl über eine jolde — Unannehmlichteit 
m müſſen.“ 
auf erwiberte ich voll Eifer, daf id für 
ine Perfon mich nun und nimmermehr mit einem 
m berfühnt haben würde, bei welchem ich fie in einem 
— Bere müſſen, und wenn es dem 
ichengefchlecht im allgemeinen auch noch jo viel 
\ rat fätte Vermutlich entſchuldigte fie die 
enliche Selbftfucht dieſes Belenntniſſes mit der 
jen Erziehung, die ich erhalten halte, und 
ß es deshalb, mir einen beſonderen Vorwurf 


Ueberdies fuhr ich fort, um mid) doch etwas 
eihtfertigen, „wäre auch fein Segen daraus 
Du haft ja eben gehört, daß meine 
a umd jelbft meine beften freunde, denen 
ste Nat im Traum Mar zu machen verjuchte, 
—4 Daſein die Menſchen miteinander 
nt inten, mich als einen Thoren und Zoll» 
= verlacht und verjpottet haben. Genau jo 
in Wirklichkeit gejhehen, wenn ich nur ger 
* und nun als Prediger unter ihnen 
ollte, wie du vorhin meinteſt.“ 
ge Hüte möglichertweije jo gehandelt wie 


' Zraum,* erwiderte fie. „Der Segen 
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Gleichheit. 


771 


einer wirtſchaftlichen Gleichberechtigung aller würde 
ihnen vielleicht nicht ſofort eingeleuchtet haben, weil 
fie fürdteten, auf eine niedrigere Stufe herabzus 
finfen. Daß dadurd) das ganze Menſchengeſchlecht 
in betreff ſeines materiellen Wohlbefindens und 
feiner jittlihen Größe auf eine unendlid höhere 
Stufe gehoben würde und ein glüdficheres Leben 
genießen könnte, als jelbjt den Bevorzugteften je zu 
teil geworden war, vermochten fie nicht zu begreifen. 
Aber jelbft wenn du den Reichen zuerft als ein Feind 
ihrer Klaſſe erichienen wäreft, jo hätten dich doc) die 
Armen, die große Maffe der Bedürftigen — das 
Bolt im eigentlichen Sinne — mit wahrer Begeifterung 
anhören müfjen ; denn für fie wäre ja deine Gejchichte 
eine frohe Botichaft geweſen.“ 

„Es wundert mich nicht, daß du das glaubft,” 
erwiderte ich, „aber wenn id; auch in diejer neuen 
Welt noch faum das Abe gelernt habe, jo kannte 
ic) doch meine Zeitgenofjen und weiß, daß es anders 
gelommen wäre, al& du dir vorftellft. Die Armen 
würden ebenfowenig auf mich gehört haben wie die 
Reihen. Zwar waren beide Klafjen zu meiner Zeit 
über alles und jedes in erbittertem Kampf begriffen, 
doch hielten fie an der Meinung feft, daß es immer 
Reihe und Arme geben müſſe und ein Zuftand 
wirtichaftlicher Gleichheit ein Ding der Unmöglichkeit 
fei. Man nahm allgemein an, und nicht mit Un— 
recht, daß dem MWeltverbefjerer, der den Zuftand des 
Volkes zu heben verjudhte, die Hoffnungslofigfeit der 
Maffen, denen er helfen wollte, ein unüberfteiglicheres 
Hindernis bereitete als der thätige Widerftand der 
wenigen, die fi in ihrer Herrſchaft bedroht jahen. 
Auch muß ih, um meiner eignen Klaſſe gerecht zu 
werben, zugeben, daß die Beſten unter den Reichen 
wie durch bewußten Eigennuß, oft ebenfo jehr durch 
jene nämlidhe Hoffnungslofigfeit zu jogenannten Son= 
jervativen wurden. Du fiehft alio, daß es niemand 
Nupen gebracht hätte, wenn ich als Prediger umher— 
gezogen wäre. Die Armen hätten meine Worte über 
die Möglichkeit einer gleihmäßigen Teilung des Bes 
fißes für ein Märchen gehalten, dem zuzuhören für 
den Arbeiter nichts als Zeitverjhwendung jei. Von 
den Reichen aber hätten die Schlechteren mich verhöhnt, 
die Beſſeren höchſtens geſeufzt; feiner würde mir 
ernfthaft zugehört haben.“ 

„Es iſt vielleicht jehr fed von mir,” fagte Edith 
mit heiterem Lächeln, „wenn ich mich unterfange, dir 
einen befjeren Begriff von dem beizubringen, was 
deine Mitmenjchen gedacht oder gethan;hätten; aber 
fiehft du, die bejonderen Umftände, in denen wir 
uns befinden, verjhaffen mir einen ungerechten Vor— 
teil über did. Deine Kenntnis der damaligen Zeit 
erſtredt ji) naturgemäß nur bis zum Jahr 1887; 
von da ab verjantft du in Bewußtlofigkeit. Ich 
dagegen bin im zwangzigften Jahrhundert zur Schule 


ARTE TLTEHTTER 





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772 Edward Bellamp. 


gegangen und mußte fehr gegen meinen Willen bie 
Geſchichte des meunzehnten Jahrhunderts lernen. 
Daher weiß ich auch, was nad) dem Datum geichehen 
ift, mit welchem deine Kenntnis aufhört. Wie 
wunderlich e& dir auch vorlommen mag, ich weiß, 
daß du faum in jenen langen Schlaf gefallen warft, 
als im amerikanischen Volle das eifrige und weit 
verbreitete Streben erwachte, eine allgemeine Gleich- 
beit herzuftellen, ähnlich der, welche wir jeht genießen. 
Bald darauf entftand auch die politiiche Bewegung, 
aus der fich nach verjchiedenen Wandlungen im Anfang 
des zwangzigften Jahrhunderts der Umſturz des alten 
Syſtems und die Einführung des jetzigen entwidelte,“ 

Dies war allerdings eine höchft intereffante Nach- 
richt für mich; als ich aber Edith näher zu befragen 
anfing, ſchüttelte fie jeufgend den Kopf. 

„Nachdem ich mich mit meiner höheren Weiäheit 
gebrüftet habe, muß ich jet meine Umwiffenheit ein⸗ 
geftehen. Ich kann dir nur jagen, daß die Umſturz- 
bewegung fehr bald eintrat, nachdem du in Schlaf 
gefunfen warft. Alles übrige muß dir mein Vater 
erzählen. Auch will ich nur gleich hinzufügen — denn 
e3 würde dir doch nicht lange verborgen bleiben — 
dab ich von dem Umfturz ſelbſt und aud) von den 
andern Angelegenheiten des neunzehnten Jahrhunderts 
fo gut wie nichts weiß. Du glaubft gar nicht, 
welche Mühe ich mir gegeben habe, mich über ben 
Gegenftand fo zu unterrichten, daß ich verftändig mit Dir 
darüber reden könne, aber ich fürdjte, es ift ganz ums 
fonft. Schon in der Schule konnte ich nichts davon 
begreifen, und auch jett bin ich, Scheint mir, außer 
ftande, die Sache zu verftehen; nad} unfrer heutigen 
Unterhaltung bin ich mehr denn je überzeugt, daß 
fie mir ewig dunkel bleiben wird. Seit du mir 
erzählt haft, wie dir die alte Welt im Traum vor« 
gefommen ift, jcheint mir die damalige Zeit jo nahe 
gerüdt, als Fönnte ich fie mit Augen fehen, und 
troßdem ift fie mir auch nicht im geringften ver 
ftändlicher geworben,“ 

„Unfre Zuftände waren düfter und ſchlimm genug, 
das fteht feſt,“ jagte ih, „aber weshalb fie fo ganz 
unbegreiflich fein jollten, kann ich nicht einjchen, 
Worin befteht denn die Schwierigfeit ?” 

„Hauptjählic darin, daß die Thatfachen, welche 
uns die Gefhichtäbücher berichten, auf feine Meife 
mit den NAusjagen deiner Zeitgenoſſen in betreff 
ihrer gejellfhaftlichen Ordnung übereiuftimmen.“ 

„Wieſo?“ fragte id). 

„Es müßt, glaube ich, nichts, wenn ich verſuche, 
dir meine Zweifel auseinanderzufegen,* jagte Edith, 
„du wirft mich nur für jehr beichränft halten. Wenn 
aber überhaupt jemand im ftande ift, mir die Sache 
klar zu machen, fo jollteft du e8 thım können. Du 
haft foeben von der entjeglichen Ungleichheit der 
Menſchen geiprochen und mir den Gegenjaß zwiſchen 


Not und Ueberfluß, zwifchen der folgen Maät der 
Reichen und ber elenden Dienftbarfeit der Armen 
geſchildert, nebft dem übrigen jchredlichen Zuftand, 
ber damals herrſchte.“ 

„Ganz recht.“ 

„Diejer Gegenjak jcheint faſt jo groß geweſen zu fein, 
wie in irgend einer der früheren Gejchichtäperioden.‘ 

„Ih glaube kaum,“ erwiderte ich, „daß es jemals 
einen größeren Abftand unter den verjchiedenen Maffen 
gegeben hat, als man auf einem nur halbftündiger 
Gang durch die Straßen von Bofton, New Port, 
Chicago oder irgend einer andern großen Etabt 
Amerifas zu Ende des neunzehnten Jahrhundert 
beobachten fonnte.” 

„Und doch,“ warf Edith ein, „ftebt in ben Büchern, 
daß bie Amerikaner ſich damals rühmten, fie länder 
um ihrer Freiheit und Gleichheit willen höher ch 
alle andern Nationen der Gegenwart und Vergangen- 
heit. Man begegnet dieſer Phrafe fortwährend in 
den Schriften jener Zeit. Nun haft du mir aber 
gezeigt, daß jene Leute in der gewöhnlichen Be 
deutung des Wortes weder Freie noch Gleiche waren, 
jondern ſich als Reiche und Arme, als Herren un 
Diener voneinander unterjchieden, wie bai dir 
Menſchen bis dahin ſtets gethan hatten, Bitte, w 
fläre mir doch, wie fie behaupten konnten, daß Fri- 
heit und Gleichheit unter ihnen herrſchten.“ 

„Das follte, denfeich, heiken, daß vor dem Grit 
alle gleich wären.“ 

„Du meint vor Gericht? Aber waren Reiche und 
Arme wirklich dort gleih? Behandelte man fir in 
ganz gleicher Weife ?" 

„Leider muß ich geftchen, daß nirgends ein 
größere Ungleichheit zu Tage trat. Der Form nad 
war das Gejeg für alle gleich, aber thatſächlich ver 
hielt es fi ganz anders. Der Unterfchied zwid 
Reihen und Armen vor dem Gefech war vielaö 
jo groß wie fein andrer. Die Reichen ftanden Ir 
zufagen über dem Gefeg, und deſſen ganzer Drud 
Taftete auf den Armen.” 

„Aber worin beftand denn überhaupt die Gleiſ— 
heit zwiſchen Armen und Reichen?” 

„Man behauptete, daß fie die gleichen Ausſichte 
hätten.“ 

„Die gleihen Ausfihten — worauf?” 

Ihren Zuftand zu verbeffern, reich zu werden und 
andern zudorzulommen im Kampf um den Bei.” 

„Wenn das wahr ift, jo bedeutet es mit, dei 
alle gleich waren, ſondern daß allen diejelbe Mixlii 
feit geboten wurbe, zur Ungleichheit zu gelangen. 
Aber hatten denn alle wirklich die gleiche Gelegen— 
heit, reic) zu werden und in die Höhe zu kommen!” 

„In gewifler Beziehung mag das ber Fall ır 
weſen jein, folange das Land nody neu war, ale 
damals nicht mehr. Das Kapital hatte thatlätiis 


Gleichheit. 773 


alle wirtfchaftlihen Machtmittel an ſich geriffen. Nur 
durch beſonderes Glüd konnte einer ohne großes Ka— 
pital ein gefhäftliches Unternehmen durchführen.“ 

„Aber,“ jagte Edith, „es muß doch wenigftens etwas 
gegeben haben, worin wirkliche Gfeichheit beftand — wie 
hätte man fonft auch mur den äußeren Schein aufrecht 
erhalten und fo viel Wejens davon machen können ?* 

Jawohl, ohne Zweifel. Es herrjchte politiſche 
Gleichheit. Jeder beſaß fein Stimmrecht, und bie 
Mehrheit war der höchſte Gejekgeber.“ 

„So fteht e8 im Geſchichtsbuch, aber dadurch 
wird der wirkliche Zuftand nur noch unerflärlicher.” 

„Weshalb denn?“ 

„Run, wenn jedermann wirflic eine Stimme 
im Staatöwejen hatte — alle die arbeitenden, 
darbenden, frierenden, elenden Maffen der Armen 
— warum haben fie nicht, ohne aud nur einen 
Augenblid zu zögern, der ganzen Ungleichheit, unter 
der fie litten, ein Ende gemacht?“ — Da id nicht 
auf der Stelle eine Antwort gab, fuhr fie fort: 
„Was ich ſage, ift vielleicht ſehr thöricht. Gewiß 
überjehe ich bloß irgend eine wichtige Thatſache — 
aber haft du nicht gelagt, daß jeder einzelne im Volt, 
wenigftens jeder erwachſene Mann, fein Stimmredt 
bei der Wahl des geſetzgebenden Körpers hatte?“ 

„Gewiß; in der lehten Hälfte des neunzehnten 
Jahrhunderts war das allgemeine Stimmrecht in 
ganz Amerika praktiich durchgeführt.” 

„Das foll heißen, dab das Bolf dur die von 
ihm gewählten Vertreter alle Geſetze gab. Nicht wahr, 
das meinft du doch?“ 

„Verſteht fi.“ 

„ber ich erinnere mid, dab die ganze Nation 
und die einzelnen Staaten Berfaffungen bejaßen. 
Bielleicht hinderten dieſe das Volk daran, feinen 
Billen durchzuſetzen ?* 

„Nein. Die PVerfaffungen waren nur die ur 
ſprünglichen Grundgeſehe; die Mehrheit ftellte fie 
feft und veränderte fie nad) Gutdünken. Das Poll 
hatte die einzige und höchſte beichließende Gewalt, 
und fein Wille war unbeſchränkt.“ 

„Alfo, wenn die Mehrheit gegen irgend eine be= 
ftehende PVeranftaltung etwas einzuwenden hatte und 
diefelbe für umporteilhaft hielt, jo fonnte fie eine 
Henderung von Grund aus bewirken?“ 

„Gewiß. Das Volt konnte alles durchſetzen, wofür 
es mit Stimmenmehrheit entſchloſſen eintrat.” 

„Und die Mehrheit, wenn ich recht verftanden 
babe, daS waren nicht die Reichen, fondern bie 
Armen — diejenigen, denen die herrihende Ungleich- 
heit zum Nachteil gereichte ?" 

„Jawohl. Die Reihen waren im Vergleich zu 
ihnen nur eine Handvoll.“ 

„So ftand alfo dem Volk feinerlei Hindernis im 
Wege, jobald e& wollte, dem Leiden ein Ende zu 


machen und ein dem unfrigen ähnliches Syftem ein« 
zuführen, das ihm Wohlſtand und Gleichheit ficherte ?* 

„Nicht das geringfte.” 

„Dann muß ich did) nochmals bitten, mir zu jagen, 
warum in aller Welt bie Leute nicht Verftand genug 
hatten, das auf der Stelle zu thun, ftatt in einem jo 
jammervollen Zuftand zu verharren, daß wir nod) 
jegt nad) hundert Jahren barüber weinen möchten ?" 

„Weil,“ erwiderte ih, „man fie gelehrt hatte und 
fie überzeugt waren, daß die Regelung von Handel 
und Induſtrie und die Produktion und Verteilung 
der Güter Dinge jeien, die ganz außerhalb der Re- 
gierung&befugnis jtehen.” 

„Aber, befter Julian, unfer Erdendafein und 
alles, was es lebenswert macht, von der Befriedigung 
der einfadhften Teiblichen Bedürfniffe an bis zu den Ge— 
nüffen bes verfeinertiten Geſchmacks, alles, was mit 
ber Entwidlung des Geiftes ſowohl wie des Körpers 
zufammenhängt, beruht ja im großen wie im Heinen 
einzig auf ber Art, wie die Erzeugung und Verteilung 
der Güter geregelt wird, Das ift doch ſicherlich in 
deiner Zeit ebenfo wahr geweſen wie heutzutage.” 

„Berfteht ſich.“ 

„Und doch jagft bu mir, das Wolf hätte die 
Hertſchaft der Könige abgejhafft, die Obergewalt in 
bie eigne Hand genommen und dann mit VBorbebadht 
darein gewilligt, ſich der Macht zu entäußern, über 
feine allerwichtigſten Lebenäintereffen — die einzigen, 
welche überhaupt in Betradht zu kommen brauchen 
— jelbft die Enticheidung zu treffen?” 

„Steht das nicht in den Geihichtsbüchern ?“ 

„Jawohl, und gerade das ift der Grund, warum 
ich ihrem Bericht nie glauben fonnte., Mir ſchien 
die Sache jo unbegreiflid), daß ich meinte, es müſſe 
fi) noch irgend eine verborgene Erklärung dafür 
finden. Sage mir nur das eine, Julian: Da die 
Leute fih nicht zutrauten, ihre induftriellen Ein» 
richtungen und bie Güterverteilung felber zu regeln, 
wem überließen fie denn die VBerantwortlichkeit dafür ?* 

„Den Kapitaliften,.“ 

„Wurden die Kapitaliften vom Volle gewählt?“ 

„Kein Menſch wählte fie.“ 

„Wer hat fie denn eingejeßt ?" 

„Niemand.“ 

„Was für ein fonderbares Syſtem! Aber wenn 
fie von feinem gewählt oder ernannt wurden, fo 
müſſen fie doch ficherlich irgend jemand Rechenſchaft 
abgelegt haben über die Art, wie fie ihre Macht 
bandhabten, von welcher das Wohl, ja jelbft ber 
Tortbeftand jedes einzelnen abhing!” 

„Im Gegenteil, fie waren niemand dafür ver 
antwortlich, außer ihrem eignen Gewiſſen.“ 

„Ihrem Gewiffen? Ja jo! Dur meinft, daß fie 
fo wohlwollend, jelbjtlos und für das Allgemeine 
bedadht waren, daß man ihnen aus Dankbarkeit die 





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774 


eigenmächtige Befigergreifung nachſah. Heutzutage 
würde das Volk felbft von Halbgöttern fein unver« 
antwortliches Regiment mehr dulden, aber vermutlich 
war das dazumal nicht jo.” 

„Da id) jelbft ein Exfapitalift bin, würde id) 
froh jein, deine Vermutung beftätigen zu fönnen, 
aber die Thatſachen lagen in Wahrheit ganz anders. 
Jede wohlwollende Fürforge im Erwerbäleben war 
bei den Rapitaliften auf das firengfte verpönt. Ihr 
einziger Zweck war, ſich felbjt den größtmöglichen 
Gewinn zu fihern, ohne dabei die geringfte Rüdficht 
auf das öffentliche Wohl zu nehmen.” 

„Mein Gott, du jehilderft ja die Kapitaliften weit 
ihlimmer als die Könige, denn dieje gaben wenigfteng 
vor, das Befte ihres Volles zu wollen, und die guten 
Könige regierten ihre Unterthanen väterlih, wie man 
unmiündige Kinder leitet. Alſo die Kapitalijten wahrten 
nicht einmal den Schein, daß fie fi) für das Wohl 
ihrer Untergebenen verantwortlich fühlten?” 

„Nicht im mindeſten.“ 

„Und die Herrſchaft der Kapitaliften, ſagſt du, 
ermangelte nicht nur jeder wohlwollenden Abficht 
und folglid; aller moraliihen Berechtigung, jondern 
war aud) in wirtichaftlicer Beziehung ganz verfehlt, 
weil fie den Wohlftand des Volles nicht förderte?“ 

„Was ich Iegte Nacht im Traume ſah,“ verjegte 
ich, „und verfucht habe, dir heute früh zu erzählen, 
giebt nur einen jehr ſchwachen Begriff von dem Elend 
der Welt während der Herrſchaft des Kapitalismus.“ 

Edith dachte eine Weile jhweigend nad), „Deine 
Zeitgenofien,* fagte fie dann, „waren weder Thoren 
noch Wahnfinnige; gewiß haft bu mir noch irgend 
einen Umitand verfchwiegen — es muß ſich doch eine 
Erflärung oder mindeftens eine Entjchuldigung dafür 
finden laffen, weshalb das Volk nicht nur feine wich- 
tigjten Intereffen aus den Händen gegeben, jondern 
hie überdies einer Mlaffe von Menſchen anvertraut 
hatte, die ſich gar nicht um fein Wohl fümmerten und 
es auf feine Weije förderten.“ 

„D ja,” fagte ich, „eine Erflärung gab es wohl, 
und fie Hang noch dazu ſehr ſchön: Um der indivi« 
duellen freiheit, der unbeſchränkten Gewerbthätigleit 
und bes Rechts der Selbftbeftimmung des einzelnen 
willen war die Wirtfchaftspolitif des Landes ben Ka⸗ 
pitaliften ausgeliefert worden.“ 

„io wurde eine Regierungsform, die jo unums 
ichräntt und dejpotiih war wie nur möglich, im 
lamen der fFreiheit verteidigt ?“ 

„Jawohl; man wollte bem einzelnen die freie Selbjt= 
bejtimmung in wirtfchaftliher Beziehung fihern.” 

„Aber du haft mir doch vorhin ſelbſt gefagt, daß 
jedes geichäftlihe Unternehmen zu deiner Zeit that« 
jählih ein Monopol der Kapitaliften war.” 

„Freilich. Wer kein Kapital beſaß, hatte feine 
Ausficht auf Erfolg, und die Verhältniſſe gejtalteten 


Edward Bellamyp. 


fi immer mehr derart, daß nur die größten ſta— 
pitaliften Unternehmer fein konnten.“ 

„Und doch joll der Grund, warum man die In« 
duftrie unter die Herrſchaft des Kapitalismus geftellt 
bat, fein andrer gemejen fein ala die Förderung 
einer unbefchräntten Gewerbthätigfeit und des Rechte 
der Selbftbeftimmung im ganzen Volle?“ 

„Gewiß. Man brachte den Leuten die Anficht bei, 
daß der einzelne größere Unabhängigkeit und Fri. 
heit des Handelns genießen würde, wenn er ſich mit 
feiner Gewerbthätigfeit unter die Herrſchaft der Ra 
pitaliften ftellte, als wenn fich alle zu einer induftrielen 
Genoſſenſchaft mit eignem Gemwinnanteil verbänden. 
Die Kapitaliften, verficherte man ihnen, würden mit 
mehr Weisheit und Güte für ihre Wohlfahrt forgen, 
als fie das ſelbſt zu thun im ftande wären, und mit 
dem Keil ihres Arbeitsprodults, den bie Kapitaliften 
willens jein würden, ihnen zu überlaffen, wären fie 
beſſer geftellt, als wenn fie ihre eignen Arbeitgeber 
wirben und den ganzen Ertrag unter fi} teilten.“ 

„Aber das war doc der reine Hohn. Das hieß 
zu dem Schaden noch Schimpf hinzufügen.” 

„Uns kommt es jeßt jo vor. Aber zu meiner 
Zeit galt das für die gejundefte Rationaldfonomie. 
Wer daran zweifelte, wurde für einen gefährlichen 
Schwärmer gehalten.” 

„Die vom Volt gewählte Negierung muß aber 
doch etwas geleiftet haben. Die Bejorgung diejer oder 
jener Angelegenheit müſſen die Rapitaliften der Staati« 
verwaltung doch noch übrig gelaffen haben.” 

„Natürlich; fie hatte alle Hände voll zu thun, um 
Frieden unter den Leuten zu ftiften. Das war das 
Hauptgeihäft aller Staatöregierungen zu meiner Zeit.” 

„Was ftörte denn den Frieden jo jehr? Weshalb 
erhielt er fi nidht ganz von felbft, wie e& jeßt ber 
Hall it?“ 

"Die Ungleichheit der herrſchenden Lebenäbedin« 
gungen war ſchuld daran. Der Kampf um Geld 
und Gut und die Verzweiflung der Notleidenben 
fachhten fortwährend alle hölliſchen Leidenschaften, 
Habgier, Neid, Wolluft, Furcht, Hab und Rachſucht 
in der Menfchenbruft an. Um dieſe allgemeine 
Zügellofigkeit einigermaßen einzudämmen, damit nicht 
das ganze foziale Syftem in einem großen Blutbad 
zu Grunde ginge, brauchte man ein Heer von Sol 
baten, Polizeibeamten, Richtern und Kertermeiftern 
und war genötigt, fortwährend Geſetze zu erlaflen, 
um die Streitigkeiten zu ſchlichten. Fügt man zu 
diefen Elementen der Zwietracht noch eine Horde 
ausgefioßener, entwürdigter und verzweifelter Menſchen 
hinzu, die durch ihre Leiden zu Feinden der Geſell⸗ 
ichaft geworden waren und fortwährend im Schach 
gehalten werden mußten, jo begreift ſich leicht, ba 
es der Bollsregierung nicht an Arbeit fehlte.“ 

„Soweit ich es verftehen kann,“ jagte Edith, 


Gleichheit. 


„ſcheint mir das Hauptgefhäft der Regierung der 
Kampf mit dem Chaos gewejen zu fein, welches 
daraus entjtand, dak fie es berfäumt hatte, das 
Wirtſchaftsſyſtem jelbft in die Hand zu nehmen und 
es auf einer gerechten Grundlage aufzubauen.” 

„Das ift volllommen richtig. Man könnte den 
Fall nicht klarer darlegen, wenn man ein ganzes 
Buch darüber ſchriebe.“ 

„Hat denn aber die Volfsregierung weiter gar 
nichts gethan, al3 daß fie den Kapitaliämus vor den 
Folgen feines eignen Syſtems jchügte?“ 

„D doch, fie ſetzte Poftmeifter und Zollbeamte 
ein, erhielt das Heer und die Flotte und fing Strei= 
tigfeiten mit fremden Ländern an,” 

„Ich follte denken, daß ein Bürger feinen großen 
Wert auf fein Stimmredt bei der Wahl einer Res 
gierung legen könnte, deren Befugniffe fich auf den 
engen Kreis bejchränften, den bu ſchilderſt.“ 

„SH glaube, der Durchſchnittspreis für eine 
Stimme bei der geheimen Wahl war zu meiner Zeit 
in Amerila etwa zwei Dollars.” 

„Du meine Güte, fo viel!” fagte Edith; „zwar 
weiß id) nicht recht, welchen Wert das Geld in jener 
Zeit Hatte, aber der Preis fommt mir doch über« 
trieben hoch vor.” 

„Ich muß dir recht geben,“ erwiberte ih. „Das 
mals teilte id) zwar die Anficht über die Unbezahls 
barfeit des Stimmrechts und tadelte diejenigen hart, 
welche fich durch den Drud der Armut bewegen ließen, 
ihre Wahlftimme für Geld zu verfaufen. Aber auf 
dem Standpunkt, ben ich nad) unfrer heutigen Unter- 
haltung einnehme, bin ich geneigt zu glauben, daf die 
Leute, die ihre Stimmen verkauften, eine weit befjere 
Einſicht in das Scheinwejen der jogenannten Volts- 
regierung hatten, deren beſchränkte Befugniffe wir be» 
iprochen haben, ala wir andern, und da es nur unrecht 
bon ihnen war, einen zu hohen Preis zu fordern,” 

„Aber wer bezahlte denn die Wahljtimmen ?* 

„Du ftellft ja ein erbarmungsiojes Kreuzverhör 
mit mir an,“ jagte ih. „Die Klaſſen, welche ein 
Intereffe daran hatten, einen Zwang auf die Res 
gierung auszuüben, Fauften die Stimmen; das waren 
die Rapitaliften und die Stellenjäger. Die Kapita« 
liſten ftredten das Geld vor, um die Wahl der 
Stellenjäger durchzuſeten, unter der Vorausjekung, 
dab, wenn lehtere gewählt würden, fie alles thun 
müßten, was bie Rapitaliften wollten. Aber du 
darfft dir nicht etwa vorftellen, daß die Mehrzahl 
der Stimmen geradezu gefauft wurde. Dadurch 
wäre e3 ja offenkundig geworden, daß die Regierung 
nur zum Schein vorhanden war; auch würde es zu 
foftjpielig getvefen fein. Das Geld, welches die Ka— 
pitaliften beifteuerten, um die Wahl der Stellenjäger 
zu ermöglichen, biente meijt dazu, das Volk auf ins 
direfte Weiſe zu beeinfluffen. Ungeheure Summen 


775 


wurben für diefen Zwed in den fogenannten Wahl« 
fonds geſammelt und zu zahllojen, verſchiedenartigen 
Beranftaltungen, wie Feuerwerlen, Anſprachen, Aufe 
zügen, Blechmuſilen, Vollsfeſten und dergleichen ver— 
braucht, um bei den Vollsmaſſen genügendes Intereſſe 
für die Wahlen zu erweden, damit fie fih der Mühe 
unterzögen, ihre Stimmen abzugeben. Wer nicht 
wirflih einmal eine folde amerikanische Wahl des 
neunzehnten Jahrhunderts mitangejehen hat, fann 
ſich unmöglich einen Begriff von der Abgejchmadtheit 
des ganzen Schaufpiel® machen.“ 

„Es ſcheint demnach,“ fagte Edith, „dab die 
Rapitaliften nicht nur das Wirtſchaftsſyſtem als ihre 
beiondere Domäne beherrſchten, fondern auch that- 
ſächlich die Staatsregierung in ihrer Gewalt hatten.” 

„Gewiß; ohne ihren Einfluß in der Politik hätten 
die Rapitaliften gar nicht? ausrichten lönnen. lm 
ihre Pläne durchzuſehzen, brauchten fie den Kongrek, 
die geießgebende Gewalt, den Gemeinderat der Städte 
zu Werkzeugen. Auch konnten fie zum Schuß ihrer 
Perſon und ihres Vermögens vor den gelegentlichen Aus« 
brüchen der Volkswut die Hilfe der Polizei, der erichts- 
höfe und Soldaten nicht entbehren und trachteten daher, 
ſich diefe geneigt zu machen; auch forgten fie dafür, 
da die Präfidenten, Gouverneure und Bürgermeifter 
feis” ihres Winks gewärtig waren.“ 

„Aber ich glaubte, die Gejehgeber, Präfidenten 
und Gouverneure hätten auf der Seite des Volfes 
gejtanden, das fie gewählt hatte.“ 

„Wo denkt du Hin? Weshalb denn? Den 
Rapitaliften und nicht dem Volfe verdanften fie ja 
ihr Amt. Das flimmberehtigte Volt durfte nicht 
ſelbſt beichliegen, wen es wählen wollte. Dieſe Frage 
wurde durch die politiichen Parteien entfchieben, 
welche bei den Kapitaliften um Geldunterftüßung für 
ihre Zwede betteln gingen. Seinem Manne, ber ſich 
ben Intereſſen des Kapitalismus widerfegte, wurde 
geftattet, fich dem Volt als Wahlkandidat vorzuftellen. 
Wollte etwa ein Staatsbeamter das Interefje des 
Volkes gegen bie Uebergriffe der Kapitaliften ver- 
teidigen, jo war e& ficherlich mit feiner Laufbahn zu 
Ende. Willft du verftehen, welchen unbeichränften 
Einfluß die Rapitaliften auf die Regierung aus- 
übten, jo darfſt du nicht vergeffen, daß ein Präfi« 
dent, ein Gouverneur, ein Vürgermeifter, ein NRats« 
herr immer nur eine Zeitlang im Dienft des Volfes 
ftand und von feiner Gunft abhängig war. Er be— 
fleidete feine öffentliche Stellung nur von einer Wahl 
zur andern, und jelten lange. Sein lebenslanger 
Unterhalt aber, der für ihn — wie es bei uns allen 
der Fall ift — die größte Wichtigkeit hatte und bie 
Hauptſache war, King nit vom Beifall der Menge 
ab. Er verdankte ſein Auskommen nur den Kapita— 
liften. Ihre Gewogenheit durfte er nit aufs Spiel 
jegen um einer flüchtigen Aufwallung der Bolfsgunft 


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776 Edward Bellamy. 


willen. Selbft wenn «8 feine Fälle von Beftehung 
gegeben hätte, würben dieſe Umftände es zur Genüge 
erflären, warum unfre Bolitifer und Beamten, mit 
wenigen Ausnahmen, fi zu Bafallen und MWert« 
zeugen der Rapitaliften hergaben, Die Juriſten, 
welche infolge unſers verwidelten Syſtems faft allein 
öffentliche Geihäfte führen fonnten, hingen ganz bes 
ſonders umd direft in betreff ihres Einfommens von 
ber Gunſt der großen Kapitaliften ab.“ 

„Aber warum wählte denn das Voll nicht Ab- 
geordnete und Beamte aus feiner eignen Hlaffe, welche 
für bie Intereflen der Menge eintraten ?* 

„Man hatte feine Bürgichaft dafür, daß fie 
größere Treue beweilen würden. Ihre Armut machte 
fie der Beftehung noch zugänglicher, und die Armen 
waren, wie du weißt, zwar bemitleidenswerter, aber 
in moraliſcher Hinficht durchaus nicht befjer als die 
Reichen. Ueberdies — und das war vielleicht der 
Hauptgrund, warum das arme Volk nicht Leute aus 


jeiner Klaſſe zu Vertretern wählte — gingen Armut und » 


Unwiſſenheit meift Hand in Hand, jo daß die Fähigkeit 
mangelte, jelbft wo die Abficht gut war. Sobald 
der arıne Mann ſich geiftig entwidelte, Tag für ihn 
die Verſuchung nahe, feiner Klaſſe untreu zu werben 
und ſich um die Gunft des Kapitals zu bewerben.” 

Edith ſchwieg eine Weile nachdenklich. 

„sh glaube wirklich," fagte fie endlich, „jeht 
weis id, warum id das Syſtem der jogenannten 
Vollsregierung zu deiner Zeit nicht verftehen konnte. 
Ich habe immer herausfinden wollen, welchen Anteil 
das Bolt eigentlih daran Hatte, und jeßt jche ich, 
daß es überhaupt nicht dabei beteiligt war.” 

„Du madhft wunderbare fFortichritte,” rief ich. 
„Ohne Zweifel dienen die unrichtigen Bezeichnungen, 
die ſich in unjre Politik eingejchlichen haben, dazu, 
die Begriffe anfänglich zu verwirren. Du braudjt 
aber nur als Hauptjache feftzuhalten, da es ſich bei 
unierm Syſtem vorzugsweiie darum handelte, den 
Intereffen des Volles gegenüber bie Herrſchaft der 
Reichen und die Obergewalt bes Kapitalismus auf» 
recht zu erhalten, und daß dagegen jede andre Nüd- 
ſicht in den Hintergrund trat — fo befiheft du den 
Schlüffel zu allem, was dir rätjelhaft erſchienen ift.* 

Il. 
Warum bie Umwälzung nicht früher erfolgte. 


In unjer Geſpräch vertieft, hatten wir Doktor 
Leetes Schritte überhört. Er ftand jetzt neben uns, 

Ich beobachte euch Schon jeit zehn Minuten vom 
Hauſe aus,“ fagte er, „und fonnte endlich dem Ver« 
langen nicht länger wiberjtehen, zu erfahren, worüber 
ihr mit joldem Eifer verhandelt.” 

„Ihre Tochter,“ verjeßte ich, „hat den Beweis 
geliefert, daß fie die jofratifche Methode volllommen 
beherricht. Unter dem Vorwand grober Umwiffenheit 


bat fie eine Reihe jcheinbar leichter Fragen an mih 
geftellt und e8 dahin gebracht, daß ich jet llar erkenne, 
wie viel ſchlimmer das Scheinweſen unfrer angeblichen 
Vollsregierung in Amerila geweſen iſt, als ich je für 
möglich hielt, Da ich zu den Reichen gehörte, wußte 
ih natürlich, daß wir eine große Macht im Staate 
befaßen; aber daß daß Boll jo ganz ohne allen 
Einfluß war, habe ih mir nie vergegenwärtigt.* 

„Aha,“ rief der Doktor voller Freude, „alfe 
meine Tochter flieht am Morgen zeitig auf, mit der 
Abſicht, ihren Vater aus feinem Amt eines Lehrers 
ber Weltgejchichte zu verdrängen?“ 

Edith war von der Gartenbanf, wo wir geſeſſen 
hatten, aufgeflanden, um die Blumen zu ordnen, 
welche fie mit ins Haus nehmen wollte. Sie jchüttelte 
mit ernfter Miene den Kopf. 

„Sei ohne Furt,” fagte fie, „Julian hat mid 
heute früh gründlih von jedem Verlangen geheilt, 
das ich etwa noch hatte, Näheres über den Zuftand 
unfrer Vorfahren zu hören. Das arme Voll, das 
damals lebte, hat mir immer entfeßlich Teid gethan, 
weil e8 in feiner elenden Tage durch die Bebrüdung 
ber Neichen fo viel zu erdulden hatte. Bon jeht an 
aber überlaffe ich es ſeinem Schickſal und jpare mein 
Mitleid für Leute, die es mehr verdienen.“ 

„D weh,” rief der Doltor, „weshalb hat ji 
denn dein Herz jo plößlich gegen fie verhärtet? Was 
hat dir Julian erzählt ?* 

„Eigentlich nichts, was ich nicht Schon ſelbſt hätte 
wiſſen können. Aber, wenn ich bie Gejchichte las, 
ift fie mir immer fo unvernünftig und unglaublid 
vorgefommen, daß ich ihrer Wahrheit nie recht traute. 
Ich meinte immer, es müßte noch Miülderungs 
gründe geben, die in ben Büchern forigelafjen wären.” 

„Aber was hat er dir denn erzählt?” 

„Dinge, aus denen ſich ergiebt,“ ſagte Ebith, 
„daß die armen Maſſen des Volkes die ganze Zeit 
über die höchſte Negierungsgewalt hatten. Sobald 
fie nur einig und entſchloſſen waren, hätten fie aller 
Ungleichheit und Bedrüdung, über die fie Hagten, im 
Augenblid ein Ende machen und ſich einen Zuſtand 
wie den unfrigen ſchaffen können. Sie haben dies 
nit nur unterlafjen, ſondern als Grund ihres Ber: 
harrens in der Sflaverei angegeben, daß fie ih 
Freiheit zu verlieren fürdteten, wenn fie nit um 
verantwortliche Herren hätten, bie ihre Angelegen- 
heiten beiorgten; denn wenn fie dieſe jelbft in bie 
Hand nähmen, würden fie ihre Unabhängigkeit ge 
fährden, Um ber Seiden folder Menſchen willen 
hätte ich feine Thräne vergiehen ſollen. Wer feige 
das Unrecht duldet, das er bie Macht hätte, abju- 
wehren, verdient nicht Mitleid, ſondern Gering 
ſchätzung. Bisher war e8 mir ein etwas umangenehns 
Gefühl, daß Julian zur Maffe der Bebrüder, zu der 
Reichen, gehört hat. Aber num ich die Sache ordentlich 


Gleichheit. 777 


verſtehe, bin ich froh darüber. Ich fürchte, wäre er einer 
von den Armen gewejen, die eigentlich die Herren waren 
und, während fie die höchfte Gewalt beſaßen, fich zu 
Leibeignen machen ließen, jo würde ich ihn verachten.” 

Nachdem Edith auf ſolche Weile meinen Zeit 
genofien förmlich angekündigt hatte, da fie feinerlei 
Teilnahme mehr von ihr erwarten bürjten, ging fie 
in das Haus, Ihre Worte hatten in mir die Ueber- 
jeugung gewedt, daß, fall die Männer des zwanzig- 
ften Jahrhunderts nicht im ftanbe fein follten,, ihre 
Freiheit zu wahren, man dies getroft den frauen 
überlaffen könne, 

„Sie haben alle Urſache, Herr Doltor,“ fagte ich, 
„Ihrer Tochter dankbar zu fein; fie bat Ihnen viel 
Mühe und Zeit erſpart.“ 

„Inwiefern denn?” 

„Weil fie Sie der Notwendigkeit überhoben hat, 
mir noch weiter zu erflären, wie und weshalb man 
dazu gefommen ift, das nationale Induſtrieſyſtem 
und die wirtſchaftliche Gleichheit einzuführen. Wenn 
Sie je in der Wüſte oder auf dem Meer eine Luft 
ipiegelung gejehen haben, jo werben Sie fid) erin- 
nern, daß das Bild jelbft zwar am Himmel Har und 
deutlich ift, aber da, wo es die Erde berührt, jeine 
Beienlofigkeit durch ein nebelhaftes Ausjehen, eine 
gewiſſe Verſchwommenheit verrät. Faſt denjelben 
Eindruch machte mir bisher die neue Geſellſchafts- 
otdnung, in die ich auf ſo merlwürdige Art eingeführt 
worden bin. Das Syſtem an ſich iſt wohlgeordnet 
und ſehr beſtimmt und vernünftig; aber wie es auf 
natürliche Weiſe aus den ſo gänzlich verſchiedenen 
Zuſtänden des neunzehnten Jahrhunderts hervor— 
gegangen ſein ſollte, war mir unfaßlich. Ich Tonnte 
mir nur vorftellen, daß feit meiner Zeit neue Be— 
geiffe und Kräfte entjtanden fein müßten, um eine 
jolde Umwandlung der Welt zu bewirken. Einen 
ganzen Sad voll hierauf bezüglicher Fragen hielt ich 
ſchon für Sie in Bereitjhaft; aber jept können wir 
die Zeit benußen, um von andern Dingen zu reden, 
denn Edith Hat mir innerhalb zehn Minuten gezeigt, 
dab das einzig Wunderbare bei der Organifation 
des Induſtrieſyſtems zum Nutzen der Gejamtheit nicht 
darin befteht, daß fie ausgeführt worden ift, jondern 
darin, daß fo lange Zeit verging, bevor dies geichah. 
Man begreift nicht, wie eine ganze Nation vernunft« 
begabter Weſen zufrieden jein fonnte, unter nicht ver= 
antwortlihen Machthabern in wirtihaftlicher Unmüns 
digkeit zu bleiben, während fie ſchon jeit einem 
Jahrhundert die Macht beſaßen, alle jozialen Ein- 
richtungen, die ihnen Nachteil brachten, nach Belieben 
abzuändern,” 

„Wahrlih ‚” jagte der Doktor, „Edith hat fich, 
wenn aud unbewußt, als eine jehr tüchtige Lehrerin 
erwiejen. Es ift ihr mit einem Schlage gelungen, 
Ihnen die moderne Anihauung von Ihrer Zeitperiode 

Aus fremben Zungen, 1897, IL 17, 


beizubringen. Wir find nämlich überzeugt, daß bie 
alte umnfterbliche Vorrede zur amerilanifchen Unab⸗ 
hängigfeitserflärung aus dem Jahre 1776 im Grunde 
ihon die ganze Auseinanderjefung ber Lehre von 
der allgemeinen wirtſchaftlichen Gleichheit enthielt, 
welche die gejamte Nation jedem einzelnen Mitgliede 
zuſicherte. Sie erinnern ih wohl an bie Worte: 
‚Die folgenden Wahrheiten halten wir für. jelbft- 
verſtändlich: Alle Menſchen find gleich von Geburt 
und befigen gewiſſe unveräußerliche Rechte, zu welchen 
das Leben, die fyreiheit und das Streben nad; Glüd 
gehören. Um dieſe Rechte zu fichern, werden Res 
gierungen unter den Menjchen eingejeht, bie ihre 
rechtmäßige Gewalt aus ber Zuſtimmung der Negierten 
berleiten. Werden dieſe Rechte durch irgend eine 
Form der Regierung gefährdet, jo ift es das Nedht 
des Volfes, diefelbe zu ändern oder abzuſchaffen und 
eine neue Regierung einzuſetzen, deren Gewalt in 
einer Form organifiert ift und deren Grundlage auf 
denjenigen Prinzipien beruht, die am beften geeignet 
Heinen, dem Volle Glüd und Sicherheit zu ver 
ihaffen‘ Kann man fi vorftellen, Julien, daß 
irgend ein weniger unparteiiſches Regierungsſyſtem 
al3 das unfre im flande wäre, das hohe Ideal 
von dem, wa8 eine wahre Volfäregierung fein jollte, 
zu verwirflihen? Der Grundſtein unjers Staates 
ift wirtichaftliche Gleichheit, und nur dieje giebt bie 
notwendige und einzig genügende Bürgfchaft, für die 
Siherung unfrer drei Geburtsrechte, auf Leben, 
Freiheit und Glück. Was ift das Leben ohne eine 
materielle Grundlage, und was ift gleiches Recht 
zu leben anders als das Recht auf eine gleiche ma— 
terielle Grundlage? Mas ift die Freiheit? Mie 
können Menfchen frei fein, die um das Recht, zu 
arbeiten und zu leben, erjt bei ihren Mitinenjchen 
bitten und darauf warten müfjen, daß andre ihnen 
ihr tägliches Brot reihen? Mie fan ein Staat 
den Menſchen die freiheit fihern, außer inbem er 
ihnen eine Arbeit für ihren Unterhalt verfchafft, bei 
ber fie ihre Unabhängigkeit bewahren? Das ift aber 
nur möglich, wenn Die Regierung jelbjt bie Ober- 
leitung des Wirtſchaftsſyſtems hat, nah weldem 
Arbeit und Unterhalt verteilt werden. Und was joll 
es endlich bedeuten, wenn von dem gleichen Necht 
aller auf da8 Streben nah Glüd die Rebe ift? 
Welches Glüd ift nicht an wirtſchaftliche Bedingungen 
gefnüpft, wenn e8 irgendwie auf materiellen Umftänden 
beruht? Wie läßt ſich die gleiche Möglichkeit, nad) 
Glück zu ftreben, für alle herftellen, als dadurch, 
dab man allen wirtjchaftliche Gleichheit zufichert ?* 

„Ja,“ fagte ih, „es war wirflih ſchon alles 
dazu vorhanden, aber warum hat es fo lange ge» 
dauert, bis wir e8 einjahen ?* 

„Bir wollen uns zuſammen behaglich bier auf 
die Bank jegen,” verfehte der Doftor, „und dann 

98 








778 Edward 
will ih Ihnen jagen, was die moderne Ant« 
wort auf die höchſt interefjante Frage ifl, welche Sie 
aufwerfen. Es erſcheint uns auf den erſten Bid 
unbegreifli, weshalb die Welt im allgemeinen und 
beſonders die amerifaniihe Nation jo lange Zeit 
gebraucht hat, um ſich Mar zu machen, daß ein Nolfs- 
ftaat gar nichts andres bedeuten fann, als daß an 
Stelle der Reichen die Vollsregierung felbft die Ver- 
waltung der Produktion und Güterverteilung über» 
nimmt. Das war doch überhaupt von dem Begriff 
einer Volldregierung ungertrennlih und lag außer» 
bem ganz bdireft im Intereſſe der großen Maſſen. 
Ediths Ausſpruch, daß Leute, die unfähig waren, zu 
einer jo einfahen Schlußfolgerung zu gelangen, 
wenig Teilnahme für ihre Leiden verbienten, von 
benen fie ſich jo leicht hätten befreien können, ſcheint 
bei oberflächlicher Betrachtung fehr natürlich). 

„Nach reiflicher Ueberlegung werden wir ung aber 
wohl überzeugen, daß die Zeit, weldhe die Welt im 
allgemeinen und die Amerilaner insbefondere ge» 
braucht haben, um zu erfennen, daß ein Vollsſtaat 
eine ebenio große wirtſchaftliche als politische Aufgabe 
zu erfüllen hat, nicht übermäßig lang geweſen ift, 
wenn man die ungeheure Tragweite diejer Vorftel- 
lung bedenft. Der demokratische Gedanke, daß alle 
menschlichen Wejen, was ihr Recht und ihre Würde 
betrifft, auf einer Stufe ftehen, hat zur Folge, daß 
der einzig berechtigte Zwed einer Regierung nichts 
anders fein darf, als bie Aufrechterhaltung und 
Förderung des allgemeinen Wohls unter gleichen 
Bedingungen. Diefer Gedanke war die größte foziale 
Erfenntnis, zu welcher der menjchliche Geift fich je- 
mals emporgeihwungen hatte. Er enthielt im Keim 
die Verheißung einer volllommenen Umwandlung 
aller damals beftehenden jozialen Ordnungen, welche 
von jeher einzig und allein auf dem Prinzip ber 
Klaſſenvorrechte und Klaſſenherrſchaft gegründet wor- 
den waren und die Unterjochung der Mehrzahl durch 
die Minderheit zu deren jelbftfüchtigen Sweden vor- 
ausſetzten. Einen jo wunderbaren Gebanfen ver- 
mochte der beſchränkte menſchliche Geift jedoch nicht 
auf einmal zu faſſen. Es gehörte unbedingt Zeit 
dazu, um ihn erft wachſen und ſich entwideln zu 
laſſen. Im Samen ift ja auch der ganze Baum ent- 
halten, aber ein wejeniliche& Erfordernis, damit er feine 
volle Größe erreichen fann, ift hier wie dort die Zeit. 

„Wir teilen die Entwidlungsgefchichte des demokrati⸗ 
{chen Gedankens in zwei voneinander grundverjchiedene 
Phaſen. Die erfte nennen wir die Zeit des negativen 
Vollsſtaats. Um das zu verftehen, müffen wir uns 
daran erinnern, wie der demokratiſche Gedanke ent= 
ftanden ift. Ein Gedanke entwidelt ſich aus früheren 
Gedanten, und es dauert lange, bis er die Schranfen 
durchbricht und die Eigenheiten abjtreift, welche von 
den Umftänden unzertrennlih waren, unter denen 


Bellamy. 


er entfland. In Amerila, wie bei allen früheren 
Verſuchen zur Herftellung einer Republik, dachte mar 
ſich unter einer Vollsregierung nur den Proteft gegen 
bie Herrſchaft der Könige und ihre Mißbräude, 
Siherlih dachten die Unterzeichner ber herrlichen 
Unabhängigfeitserflärung nicht daran, daß ein Boll 
ftaat irgend etwas andre& zu bedeuten habe al& eine 
Urt der Regierung, bei der die Fürſten entbehrlich 
waren. Sie glaubten nur die Regierungsform ge 
ändert zu haben; daß auch alle Grundfäge und Zwede 
der Regierung andre geworden waren, wußten fie nid. 

„Eine gewiffe Ahnung hatten fie freilich davon, 
baf das ſouveräne Volt auch einmal auf den Einfal 
fommen fönne, die Oberherrſchaft, die e8 beſaß, jur 
Verbefjerung feiner eignen Lage zu gebrauchen. Sie 
ſcheinen dieſe Möglichkeit ſogar ernftlic ins Auge 
gefaßt zu haben; doch waren fie noch fo wenig im 
ftande, die Logik und Kraft des demokratiſchen Ger 
banfens zu würdigen, daß fie es für möglich hielten, 
durch klug erdachte, ſchwarz auf weiß feftgefehte Mau. 
feln das Voll an ber Selbfthilfe zu hindern, zu der 
es die Macht hatte, jobald es nur wollte, 

„Dieje erfte Phafe der Entwidlung bes Poll- 
ftaats, jolange er nur als ein Erjaß für das Königtum 
galt, umfaßt alle Verſuche zur Errichtung jogenannter 
Republifen bis zum Anfang des zwanzigften Jahr: 
bundert3, unter benen die amerifanifche Republit 
natürlich bie wichtigite war. Während diejes Zeit: 
raums beichränfte ſich der demofratifche Gedanle 
allein auf den Proteft gegen die frühere Regierung! 
form, ohne eigne, neue, beftimmte Lebensgrundjäkt 
aufzuftellen. Obgleic) das Volk den König als Lenker 
der fozialen Kutſche abgejeht und die Zügel ſelbſt in 
bie Hand genommen hatte, dachte e8 body nur daran, 
das Gefährt im alten Geleife zu erhalten, fo daß 
die Injafjen die Veränderung faum gewahr wurden. 

„Die zweite Phafe in der Entwidiung des demo» 
fratiichen Gedanlens begann mit dem Zeitpunft, alt 
dem Bolf die Erkenntnis aufging, daß die Abjekung 
der Könige keineswegs der Hauptzwed bes Volle 
ftaat8 fei, fondern nur die Einleitung für fein eignet 
Programm, das in der Anwendung bes gelamten 
fozialen Mechanismus zur Förderung der Wohlfahrt 
des ganzen Volkes beftand, 

„Es ift eine intereffante Thatſache, daß die Be- 
wohner von Europa früher auf den Gedanken famen, 
ihre politische Macht zur Verbefferung ihrer materiellen 
Sage zu benugen, als die Amerifaner, obwohl dort 
bie demofratifhen Formen weit weniger Aufnahme 
fanden. Dies hatte natürlich feinen Grund in der 
unaufhörlihen wirtichaftlihen Not der Vollsmaſſen 
jener Länder, welche fie trieb, bei jeder Neuerung vor 
allem daran zu denfen, was für ihren Lebensunter- 
halt dabei herauslommen würde. Andrerſeits wird 
e& auch durch den allgemeinen Wohlftand, der bis 





Gleichheit. 779 


zum letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts in 
Amerika herrſchte, und durch die verhältnismäßige 
Leichtigkeit, mit der jeder jein Auslommen fand, er= 
tlärlich, dab die Amerikaner erft zu diejer Zeit an« 
fingen, ernjtlid) daran zu denken, ihre wirtfchaftliche 
Lage durch gemeinfames Handeln zu verbefjern, 
„Während feiner negativen Phaſe unterſchied ſich 
der Vollsſtaat von einer Monardie nur, wie id 
zwei Maſchinen unterjcheiden, welche ben gleichen 
Zweden dienen. Als der demofratiihe Gedanle in 
feine zweite Phaſe — die pofitive — trat, erfannte 
man, daß fi nicht nur die Form ber Regierung 
geändert hatte, als man dem König und dem Abel 
die höchſte Gewalt nahm und fie auf das Volt 
übertrug, fondern daß die ganze PVorfiellung von 
den Motiven, Zweden und Befugniffen einer Re 
gierung von Grund aus anders geworden war. Es 
hatte fi ein Umſturz vollzogen, bei bem daß ganze 
foziale Syftem ſozuſagen auf den Kopf gejtellt wurbe, 
wie wenn ſich plößlich der Kompaß umgelehrt Hätte 
und ber Norben zum Süden, der Often zum Weſten 
geworden wäre. Zugleich brach ſich eine Erkenntnis 
Bahn, die uns jegt fo geläufig it, daß es faum 
begreiflich fcheint, wie man ſich ihr je hat verjchließen 
innen, Man ſah ein, daß das jouveräne Volk fi 
nicht darauf beſchränken dürfe, diejelben Funktionen 
auszuüben, wie die Könige und die herrſchenden ſtlaſſen, 
als dieſe am Ruder waren. Im Gegenteil, da das 
Interefje der Könige und der herrſchenden Klaſſen 
immer im Gegenjag zum Interefje des Volles ge» 
ftanden hatte, jo durfte das Volt, als es zur Herr 
ſchaft fam, gerade alles das nicht thun, was jene 
geihan hatten, fondern was fie unterlaffen hatten, 
das mußte es thun. Der Hauptzweck des Volfsjtaats 
aber, den feine der früheren Regierungen je ins 
Auge gefaht Hatte, war, die Macht der jozialen 
DOrganijation zu gebrauchen, um die materielle und 
fittliche Wohlfahrt der Geſamtheit des ſouveränen Volls 
auf die höchfte Stufe zu heben, auf welcher allen der- 
jelbe Grad des Wohlergehens gefichert werden konnte 
— nämlid) auf ein gleiches Niveau. Der Bolksftaat der 
zweiten oder pofitiven Phafe feierte feinen Triumph in 
feinem großen Umſturz und ift jeitdem die einzige 
Regierungsform geblieben, welche die Welt kennt.” 
„Nad dem, was Sie jagen,“ bemerkte ich, „hat 
es aljo vor dem zwanzigfien Jahrhundert noch nie 
eine wirklich demokratische Regierung gegeben,“ 
„Ganz recht,“ verjegte der Doktor. „Die for 
genannten Republilen der erjten Phaſe bezeichnen 
wir als Pjeudo-Republifen oder negative Vollsſtaaten. 
Sie hatten überhaupt feine eigentliche Volfsregierung, 
weil in ihnen die Gelbariftofratie am Ruber war; 
die Reihen führten die Herrſchaft und zwar ohne jede 
BVerantwortlichleit. Das konnte auch gar nicht anders 
fein. Die Maſſen jind von Beginn der Welt an die 


Unterthanen und Diener der Reichen geweſen, aber 
über den Reichen jtanden die Könige und hielten ihre 
Herrſchſucht im Zaum, Seit dem Sturz der Sönige 
war die Macht der Reichen unumſchränkt; fie beſaßen 
die höchſte Gewalt. Dem Namen nad fand zwar das 
Volk an der Spihe, aber die einzelnen Glieder und 
Klafjen des jouveränen Volls waren in wirtichaftlicher 
Beziehung die Leibeigenen der Neichen und lebten 
bon ihrer Gnade; hinter der jogenannten Vollsregie— 
rung verjtedten ſich die Kapitaliſten. 

„Als notwendige Entwidlungsjtufen der Gejell- 
haft von der reinen Monarchie zum reinen Volks— 
ftaat bezeichnen dieſe Republifen ber negativen Phaſe 
zwar einen Fortſchritt, aber rein für jich betrachtet, 
waren fie im allgemeinen weit weniger erfreuliche 
Erſcheinungen als die anftändigen Monardien. Ber 
ſonders in betreff der Beftechlichkeit und Zugänglich« 
feit für die Einflüffe der Geldariftofratie war die re— 
publifanifche Regierungsform die denkbar ſchlechteſte. 
Zwiſchen der fräftigen abjoluten Monarchie des achte 
zehnten Jahrhunderts und der Errichtung des wahren 
Vollsftaats im zwanzigften Jahrhundert liegt das 
neunzehnte Jahrhundert wie ein trübjeliges Inter 
regnum. Es läßt fi mit ber Seit ber Minder⸗ 
jährigfeit eines Königs vergleichen, in welcher ſchlimme 
Staatsbeamte die fönigliche Macht mißbrauchen. Das 
Volk war zum Herrſcher ausgerufen worden, aber es 
hatte noch nicht das Zepter ergriffen.“ 

„Und doc,” bemerkte ich, „Jagten uns unjre Führer 
und Weiſen im lepten Teil des neunzehnten Jahr- 
hunderts — zu einer Zeit, als es nad) Ihrer Anficht noch 
fein einziges Beiſpiel einer echten Vollsregierung ges 
geben hatte — daß das bemofratiiche Syftem nad allen 
Seiten hin geprüft worden fei und man ji ein 
genaues Urteil über das Ergebnis bilden könne. Sa, 
viele gingen jo weit, zu behaupten, das Syſtem babe 
ſich thatſächlich als verfehlt erwiejen, während man doch 
noch keinen einzigen Berjuch gemacht Hatte, einen Volks» 
ftaat im wahren Sinn des Wortes einzurichten.” 

Der Doltor zudte die Achſeln. 

„Weshalb die Mafjen jo langſam zum Wer- 
ftändnis kamen, welde Bedeutung der bemofratijche 
Gedanke für fie hatte, Täßt ſich leicht erklären,” ſagte 
er. „Uber es ift eine ebenjo jchwierige wie undank— 
bare Aufgabe, auseinanderzufegen, wie es fam, daß 
die damaligen Philoiophen, Geſchichtsſchreiber und 
Staat3männer nicht im ftande waren, die eigentliche 
Bedeutung des Volksftaats richtig zu würdigen und 
feine Entwidlung vorauszuſehen. Die geringfügigen 
praltiſchen Erfolge, zu welchen es die demokratiſche 
Bewegung bisher gebracht hatte, während ſie doch ſo 
große Zwecke verfolgte und ihr jo ungeheure Kräfte 
zur Verfügung ftanden, hätte jene Männer fiherlich 
darüber belehren müſſen, daß die ganze Entwidlung 
no in ihren Anfangsgründen ſtand. Wie konnten 








780 Edward 
Uuge Leute fich der Täufhung bingeben, daß die 
einzige Wirkung des großartigfien ftaattumwälzen« 
den Gebantens aller Zeiten die fein würde, daß 
man ben Titel des Oberhaupt& der Nation veränderte, 
aus dem Könige einen Präfidenten machte und die 
gejehgebenbe Gewalt ftatt Parlament Kongreß nannte? 
Wären Ihre Schulmeifter, Univerfitätsprofefjoren und 
wer jonft noch für Ihre Bildung zu forgen hatte, 
gu irgend etwas nuß geweſen, jo würde unfre jefige 
Geſellſchaftsordnung — die wirtfchaftliche Gleichheit — 
Sie nicht im geringften überrafcht haben; Sie hätten 
fofort jagen müfjen, e8 jei nur eingetroffen, was ſich 
erwarten ließ, denn man habe Sie gelehrt, daß dies 
notwendigerweiſe die nächfte unvermeidliche Entwid- 
fungsftufe des demofratiichen Gedanlens fein müſſe.“ 

Edith war vor bie Thür getreten und winkte ung ; 
wir fanden von unfrer Bank auf, 

„Die revolutionäre Partei,” fagte der Doltor, 
während wir nad) dem Haufe jchlenderten, „hat bei 
dem großen Umſturz das Werk der Agitation und 
Propaganda unter den verſchiedenſten, mehr oder 
weniger zutreffenden Benennungen betrieben, aber 
daß eine Wort ‚Volfsftaat‘ erflärte und rechtfertigte 
ihr Wirken, ihre Urfache und ihren Zwed beſſer, als 
ganze Reihen von Büchern e8 vermocht hätten. Die 
Amerifaner redeten fich ein, fie hätten eine Volls— 
regierung errichtet, als fie fi) von England trennten; 
aber das war eine Täufchung. Als das Volt die po- 
litiſche Macht an fich riß, welche früher in der Hand 
des Königs lag, hatte es nur die äußeren Feitungs« 
werte der Tyrannei zerftört. Die Citadelle ſelbſt 
— das wirtichaftliche Syſtem — das jeden Teil des 
fozialen Gebäudes beherrichte, blieb in den Händen 
unverantwortliher Machthaber. Solange das der 
Zall war, nußte dem Volle die Befigergreifung der 
Außenwerle nichts, e& behielt fie nur, weil die Be- 
fapung ber Eitabelle es geftattete. Als die Leute 
ſahen, daß fie entweder die Eitadelle erobern oder 
die Außenwerfe räumen müßten, fam die Umwälzung. 
Sie ſahen fi genötigt, das Werf zu vollenden, welches 
durch ihre Väter kaum begonnen worden war, und eine 
Bolferegierung einzuführen, wenn fie nicht alles aufs 
geben wollten, wasihre Väterzu ftande gebracht hatten.” 


II. 
Ich werde in das Gemeinweien aufgenommen. 


Als wir zum Frühſtück kamen, teilten uns die 
Damen eine höchſt interefjante Nachricht mit, die fie 
in der Morgenzeitung gefunden hatten. Es war 
nichts Geringeres als die Verkündigung eines Be— 
ſchluſſes, den der Kongreß der Vereinigten Staaten 
über meine Perjon gefaßt hatte. In einer Sitzung 
waren bie Thatjachen, die zu meiner rajchen Wieder- 
belebung geführt hatten, aufgezählt worden, und um 
allen Fragen zu begegnen, die ſich über meinen jetzigen 


Bellamy. 


Rechtsftand erheben könnten, hatte man, augenſcheinlich 
einftimmig, bejchloffen, mich als vollberechtigten ameri- 
fanifchen Bürger anzuerfennen. Ich ſollte Anſpruch 
haben auf alle Rechte und Freiheiten eines Bürgers, 
zugleich aber als Gaft des amerikanischen Volks 
von allen Pflichten und Dienftleiftungen entbunden 
werden, die jonft dem Bürger obliegen, wofern id 
fie nicht freiwillig auf mid; nehmen wollte. 

Da ich mid) bisher von der Außenwelt abgeſchloſſen 
und nur mit der Familie Yeete verfehrt hatte, war 
mir von dem großen und allgemeinen Intereſſe, 
welches mein Fall in der Deffentlichkeit erregte, noch 
nichts zu Ohren gefommen. Ich erfuhr nun von 
meinen Wirten, daß dies Interefje ſich ſchon über 
meine Perjon hinweg auf das ganze neunzehnte 
Jahrhundert erftredte und man bereits anfing, das 
Studium der Litteratur, der Politit und bejonders 
der Gejchichte und Philojophie diejes Zeitalters mit 
neuem Eifer zu betreiben. Hauptiächlich intereifierte 
man ſich für die Uebergangsperiode, im der die alte 
Ordnung der Dinge der neuen Plak gemacht hatte, 

„Meiner Anficht nah,” jagte der Doktor, „hat 
die Nation nur eine Pflicht der Dankbarkeit erfüllt, 
als fie Ihnen das Gaftrecht gewährte. Denn Sie 
haben durch die Förderung des Geſchichtsſtudium— 
ſchon mehr für unſer Unterrichtswejen gethan, als ein 
Regiment Schulmeifter in einer ganzen Lebenzzeit zu 
leiften vermöchte.“ 

Der Doltor fam dann wieder auf den Kongrei- 
beichluß zurüd; er bemerkte, derjelbe wäre jeiner Anſicht 
nad) ganz überflüffig geweien. Zwar hätte ich zweifel— 
108 auf meinen Bürgerrechten außergewöhnlich lange 
geichlafen, aber daraus Tieße ſich doch nicht folgern, 
da id) irgend eins derjelben verjcherzt hätte, 

„Wie dem auch ſei,“ fuhr er fort, „jedenfall 
hat der Beſchluß alle Zweifel über Ihren Rechts- 
ftand bejeitigt, und deshalb möchte ich vorjchlagen, 
daß wir gleich nad) dem Frühftüd auf die National 
banf gehen, um dort Ihr Bürgerfonto zu eröffnen.“ 

„Natürlich bin ich froh,“ ſagte ich, als wir aus dem 
Haufe traten, „daß ich nicht länger genötigt bin, Ihre 
Gaftfreundichaft auf die Probe zu ftellen; aber mid 
ergreift doc) ein unbehagliches Gefühl, wenn id) dieſe 
großmütige Verforgung jo einfach annehmen fol.“ 

„Lieber Julian,“ erwiderte der Doktor, „ed wird 
mir doch mandmal recht jchwer, Ihre Auffafung 
unjrer Gefehe und Einrichtungen ganz zu verfichen.” 

„Ih follte meinen, in diefem Fall wäre e& leicht 
genug. Mir ift zu Mute, als wenn ich ein Gegen 
ftand der Öffentlichen Wohlthätigfeit wäre.“ 

„Ah!“ rief der Doktor, „es fommt Ihnen vor, al 
wollte die Nation Ihnen eine Gunft erweilen, alt 
wären Sie ihr zu Danf verpflichtet. Entfhuldigen Sie 
meine Schwerfälligfeit, aber wir fehen im der That 
bie wirtſchaftliche Verſorgung unfrer Bürger von 


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Gleichheit. 781 


einem ganz andern Geſichtspunkt an, Uns erjcheint 
die Sache fo, daß Sie eine öffentliche Pflicht erfüllen, 
wenn Sie Jhren Unterhalt annehmen. Sie ver- 
pflichten dadurch die Nation — das heit die Mehr- 
zahl Ihrer Mitbürger — in höherem Grabe, als Sie 
jelbft ihnen verpflichtet find.” 

Ich fragte mich, ob der Doktor wohl Scherz mit 
mir treibe, aber er jah ganz ernfthaft aus, 

„Eigentlich follte ich mich nun endlich daran ge— 
wöhnt haben, daß heutzutage alles auf dem Kopfe 
ſteht,“ rief ih. „Aber jagen Sie mir nur: durch 
welche Verdrehung deſſen, was im neunzehnten Jahr« 
hundert für gefunden Menfchenverftand galt, haben 
Sie herauäbelommen, dab id) der Nation einen Ge- 
fallen thue, wenn ich mid) von ihr verforgen laſſe, 
fatt da fie mir einen Dienft Teijtet?* 

„Ich glaube, das fann ich Ihnen leicht erklären,” 
erwiderte der Doktor, „ohne daß fie dabei der Denk» 
weile, an die Ihre Zeitgenoffen gewöhnt waren, Ges 
walt anzuthun brauchen. Soviel ich weiß, haben Sie 
ein Syftem des unentgeltlichen Unterrichts auf Koften 
des Staates gehabt.“ 

Ja.“ 

„Welche Idee lag dieſer Einrichtung zu Grunde?“ 

„Der Gedanke, daß ein ungebildeter Bürger fein 
guter Wähler fein fann.“ 

„Ganz recht. Deshalb hat der Staat mit großem 
Roftenaufwand den unentgeltlihen Unterricht im Volt 
durchgeführt. Für den Bürger war es jehr vorteilhaft, 
diefen Unterricht zu erhalten, ebenjo wie e8 für Sie 
vorteilhaft ift, die Verforgung anzunehmen. Aber 
der Staat hatte ein noch viel größeres Interefle daran. 
Verftehen Sie, was ich meine?” 

„Ih kann wohl einjehen, daß es im Intereſſe 
bes Staates ift, mid) zu erziehen, aber nicht, daß «8 
ihm nußt, wenn ich einen Teil des Nationalvermögens 
berbrauche.” 

„Trotzdem herrſcht dabei derſelbe Grundſaß: es 
iſt für die Geſamtheit der Bürger von höchſter 
Wichtigleit, daß gut regiert wird. Wir halten es für 
Ielhftverftändlich, daß jeder, der das Stimmrecht auß- 
übt, nicht nur gebildet fein muß, jondern aud) ein per» 
Vönliches Interefje am Wohlergehen des Staates haben 
jollte, derart, daß ber Eigennutz mit dem öffentlichen 
Nupen zufammenfällt. Durch das Stimmrecht hat jeder 
Bürger den gleichen Einfluß auf das Ganze, darum 
jollte auch jeder dasſelbe wirtjchaftliche Interefje am 
Ganzen haben, und jo fommen wir auf den Grund, 
weshalb es für die öffentliche Wohlfahrt notwendig 
it, daß Sie ohne weiteres Ihren Anteil am Gefamt- 
vermögen des Landes hinnehmen, ganz abgefehen von 
dem perjönlichen Vorteil, der Ihnen dabei zufällt.“ 

„Willen Sie denn,” fagte ih, „daß Ihre Idee, 
jeder Wähler müfle ein wirtjchaftliches Intereſſe am 
Staate Haben, ſchon von den ärgften Konjervativen 


verfochten worden ift? Sie zogen aber barans einen 
ganz entgegengefehten Schluß. Darüber wären fie 
mit Ihnen völlig einig geweien, dafı politiihe Macht 
und wirtichaftlihes Interefie am Mohlergehen des 
Landes Hand in Hand gehen follten, aber die praf- 
tifche Anwendung, die fie von dem Safe madıten, 
war negativ ftatt pofitiv. Sie behaupten: da mit 
dem Stimmrecht ein wirtſchaftliches Interejie am 
Staat verbunden fein jollte, muß jedem Bürger ein 
wirtſchaftlicher Anteil gefichert werden. Die Sons 
fervativen dagegen wollten jedem das Stimmrecht 
entziehen, der nicht wirtſchaftlich am Wohl des Staates 
beteiligt war. Mehrere meiner Freunde hatten bie 
fefte Weberzeuguug, daß eine ſolche Beſchränkung bes 
Stimmrecht3 notwendig fei, wenn das demokratiſche 
Erperiment nicht fehlichlagen jolle.” 

„Das beit,“ bemerkte der Doftor, „fie haben 
vorgeichlagen, das demofratiiche Experiment dadurch 
zu retten, da5 man es aufgab. Ein jehr geiftreidher 
Gedanke; aber es hat ſich gezeigt, daß die demokrati— 
jche Bewegung fein Experiment war, das man auf: 
geben fonnte, jondern eine Entwicklung, die ſich volle 
ziehen mußte. Wie deutlich erfennt man aus diejen 
Anfihten Ihrer Zeitgenoffen über Beichränfung 
de3 Stimmrechts auf die wirtſchaftlich Starken, daß 
jelbft die intelligenteiten Klaſſen der Gejellichaft 
damald unfähig waren, die volle Bedeutung bes 
demokratiſchen Glaubensbefenntniffes zu erfaſſen, 
dem fie doch anzuhängen meinten, Es iſt der erſte 
Grundſatz der Demokratie, Wert und Würde des 
Individuums anzuerfennen. Dieje Würde, die auf 
Eigenſchaften der menichlihen Natur berubt, ift 
wejentlich in allen Individuen bie gleiche, und daher 
ift Gleichheit der wichtigite Grundfah der Demokratie. 
Dem inneren Wert, der jedem Individuum angeboren 
ift, müffen alle materiellen Verhältnifie dienftbar ge» 
macht werden; etwaige Zufälligfeiten und Unterſchiede 
in ber perfünlidden Sage fommen dabei nicht in Bes 
tracht. Die Erhebung und Förderung des Menjchen- 
geſchlechts ohne Rückſicht der Perfon ift das fortdauernde 
und einzig vernünftige Motiv der bemofratijchen 
Staatsklugheit. Vergleichen Sie einmal diefe Auf 
faffung mit dem föftlichen Einfall Ihrer Zeitgenofien, 
das Stimmrecht zu beſchränken. Sie hatten bie 
Verſchiedenheit in den wirtichaftlichen Berhältniffen 
der Individuen erfannt und ſchlugen nun vor, das 
Recht und die Würde des Individuums diefen mas 
teriellen Verhältniſſen anzupaffen, ftatt umgekehrt bie 
wirtichaftlichen Verhältniſſe mit der Hauptfache, dem 
gleichen Wert aller Menſchen, in Einklang zu bringen.“ 

„Mit einem Wort," fagte ih, „während bei unſerm 
Syftem die Menſchen mit den Dingen in Ueber- 
einflimmung gebracht werden follten, haltet ihr es für 
vernünftiger, die Dinge den Menihen anzupaſſen.“ 

„Das ift in der That der Hauptunterſchied zwiſchen 





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782 Ebward 


ber alien umd der neuen Ordnung,” erwiberte Leete. 
Eine Weile gingen wir ſchweigend nebeneinander 
ber, dann fagte der Doktor: „Mir ift ein Ausdrud 
aufgefallen, den Sie vorhin gebraucht haben; er 
machte mir Har, daß zu Ihrer Zeit ein gewiſſer Sah 
in ganz anderm Sinne verftanden wurde als heut= 
zutage, Ich Hatte unfre Anficht ausgeſprochen, daß 
jeber Wähler ein wirtichaftliches Intereſſe am Staat 
haben fol, und Sie bemerkten darauf, daß ſchon 
zu Ihrer Zeit einige Leute denfelben Gedanken gehabt 
hätten. Aber nad unfrer Anfchauung über ein 
folhes Intereffe am Staat hat nie jemand bei der 
damals herefchenden Wirtſchaftslehre diefen Gedanken 
gehabt oder haben können.” 

„Warum nicht?" fragteich. „Hatten nicht Männer, 
die Eigentum befaßen — Millionäre wieich zum Beijpiel 
— ein Intereffe am Wohlergehen des Landes?" 

„Inſofern, als ihr Beſitz geographiſch in dem be= 
treffenden Lande untergebradjt war, fann man wohl 
jagen, daf fie ein Interefje am Lande hatten, aber 
nit das Intereſſe, das wir meinen, Fin Stüd des 
Grundes und Bodens oder ein Teil des Gtaatd« 
bermögens gehörte ihnen ausichließlich zu eigen, und 
der Befiger war nur für das Gebeihen feines fpeziellen 
Anteils thätig, ofme an das Ganze zu denen. Ein 
folder Beſitz, oder das Streben, ihn zu erlangen, 
machte aber den Befiter oder den danad) Strebenden 
durchaus nicht zu einem Bürger, der mit voller Hingabe 
dem Wohl des Landes diente, ebenjogut konnte er 
dem Staate gefährlich werden, denn ber Eigennuf 
trieb den Befigenden dazu, feinen eignen Anteil auf 
Koften der Mitbürger oder de Staatävermögens zu 
vergrößern. Eure Millionäre — ohne perjönliche Be- 
ziehung auf Sie felbft natürlich — ſcheinen die aller« 
gefährlichiten Leute geweſen zu fein, und das rührte 
naturgemäß gerade davon her, daß jie ein Intereſſe 
am Wohlergehen des Landes im Sinne Ihrer Zeit- 
genofjen, nicht in unferm Sinne, hatten. Reichtum, 
den man fi auf diefe Weife aneignete, konnte nur 
Zwietracht ftiften und einen antifozialen Einfluß haben. 

„Was wir mit einem Intereſſe am Lande meinen, 
fonnte niemand haben, ehe der Privatbeji ber wirt- 
ſchaftlichen Gleichheit Pla gemacht hatte. Jeder, der 
e8 wünſcht, darf natürlich jein eignes Haus, fein 
eignes Örundftüd haben und ſtets eignes Einfommen 
nad) Belieben verwenden; aber biejer Bejitanteil 
ift nur zum Gebraud beftimmt und kann feinen 
Anlaß zu Streitigkeiten geben, da er bei allen Bürgern 
der gleiche it. Das Nationalvermögen, die Quelle 
für den allgemeinen Verbrauch, ift der unteilbare 
Beſitz aller, und ein Streit aus ſelbſtſüchtigen Gründen 
über die Verwaltung dieſes allgemeinen Befiges, von 
dem jeder Privatbefit abhängig ift, bleibt vollftändig 
ausgeſchloſſen, wie auch jonft die Meinungen aus 
einandergehen mögen. Der Anteil des Bürgers an 


Bellamp. 


biejem gemeinſchaftlichen Gut ift eine Art von Intereiie 
am Sande, welches es ihm unmöglich macht, das 
Wohl eines andern zu ſchädigen, ohne zugleich fein 
eignes mit zu treffen, oder das eigne Wohlergehen zu 
fördern, ohne daß e8 dem Wohl der Gejamtheit zu 
gute fommt. Die wirtiaftlichen Folgen, die daraus 
entftehen, machen fozufagen die alte goldene Sitten: 
regel zu einem automatijhen Regierungsgrundfar: 
Was wir wollen, daß uns die Menſchen thun, müſſen 
wir mit Notwendigkeit auch ihnen tun. Che bie 
wirtfchaftliche Gleichheit es möglich machte, den Ge— 
banken, daß jeder Bürger ein Intereffe am Wohl 
des Landes haben mülle, in diefem Sinne durd. 
zuführen, fonnte daß bemofratijche Syſtem niemali 
feinen wahren Gharalter entfalten.” 

„Mir ſcheint,“ ſagte ich, „daß euer Grundprinzip 
ber wirtſchaftlichen Gleichheit, von dem id) glaubte, 
es jei vornehmlich im Intereffe der materiellen Wohl- 
fahrt des Volles aufgeftellt, zugleich ein vortreffliäe: 
Prinzip politifher Weisheit ift, das die Forldauet 
und Orbnung des Staates fiderjtellt.* 

„Ganz gewiß," erwiderte der Doktor. „Unier 
wirtihaftliches Syftem dient ebenſowohl der Staat! 
klugheit als ber Menjchenliebe. Glauben Sie mir, 
die erfte Bedingung für die Wirfiamfeit und Feſtig 
feit jeder Regierung ift ihr unmittelbarer, bauernder 
und unlösliher Zufammenhang mit dem Gemein- 
wohl, daß heißt mit dem Gedeihen bed Ganzen, ehne 
Rückſicht auf einzelne Teile. Darin lag die Stürl 
der Monardhie, daß ber König als Befiker des Landes 
aus felbftfüchtigen Gründen fih den Intereſſen dei 
Volkes anbequemte. Nur aus diefem Grunde bat die 
autofratijhe Regierungsform immer einen gewiſſen 
oberflädlichen Erfolg gehabt. Andrerfeits lag die ver- 
hängnisvolle Schwäche der Demokratie während ihrer 
negativen Phase, vor der großen Ummälgung, darin, ba 
das Volk zwar die Gewalt in Händen hatte, aber mır 
ein indirefte® Gefühlsinterejje an dem Staat al! 
Ganzem in feiner Verwaltung bejaß; jein wahre, 
vornehmftes, unveränderliches, unmittelbares Intereft 
galt dem perfönlichen Glüd und dem SPrivatbeit, 
die vom Gemeinwohl gänzlih unabhängig waren, 
ja ihm oft feindlich entgegenftanden. In begeifterten 
Augenbliden hat ſich wohl das Voll gelegentlich zur 
Unterſtützung des Gemeinweſens vereinigt, aber in 
der Regel hatte das Gemeinmwohl feinen Berfedte, 
jondern war allen Parteiungen und ben Rünfen 
hinterliftiger Menſchen preisgegeben, die darauf aut 
gingen, den Staat zu berauben und den Mechanik 
muß der Regierung für ihre perjönlichen Zwede oder 
den Nupen ihrer Gejellihaftsklaffe in Bewegung ji 
jegen. Diele Schwäche war unheilbar, folange dei 
Nationalvermögen und alle wirtſchaftlichen Inte 
eſſen de8 Staats in Privathänden lagen; mu 
durch gründliche Vernichtung des Privatlapitals und 


Gleichheit. 


Bereinigung des ganzen Nationalvermogens unter ge⸗ 
meinſamer Kontrolle lonnte ihr abgeholfen werden. 
Nachdem dies geſchehen war, wurde dasſelbe wirt- 
ſchaftliche Motiv, — das, ſolange das Kapital in 
Privathänden blieb, einen trennenden Einfluß übte 
und jenen Gemeinſinn zerſtörte, der die Lebensluft 
im Vollsſtaat fein ſollte — zum kräftigſten Binde— 
mittel. Es machte die Vollsherrſchaft nicht nur im 
idealen Sinne zum gerechteſten, ſondern auch praltiſch 
zum wirkſamſten und erfolgreichſten aller politiſchen 
Syſteme. Der Bürger, der bis dahin für einen 
Teil gegen bie andern Teile gelämpft hatte, wurde 
dur dieſe Ummälzung ein Beichüher det Ganzen.“ 


IV. 


Ein Bankbureau im zwanzigften Jahrhundert. 

Auf der Bank waren alle Förmlichkeiten ſchnell 
erledigt. Dr. Leete ftellte mich dem Vorſteher vor, 
und alles andre ergab ſich von ſelbſt; die ganze 
Verhandlung dauerte nicht drei Minuten, Es wurde 
mir mitgeteilt, baß ber Kredit bed erwachſenen Bür« 
gers in diefem Jahr auf 4000 Dollars feftgeftellt ſei, 
und daß der mir zulommende Betrag für den Reft 
des Jahres — es war Ende September — 1075.41 
Dollars betrage. 

Ih bat, mir Scheine im Wert von 300 Dollars 
zu geben, und ließ das übrige im Depot; ganz wie 
id e8 auf einer Bank des neunzehnten Jahrhunderts 
gethan haben würde, wenn ich mir Geld zum augen« 
blidlichen Gebraud holte. Nachdem das gejchehen 
war, forderte mich Herr Ehapin, der Vorfteher, auf, 
in fein Bureau zu fommen, 

„Wie erjheint Ihnen unjer Banlſyſtem im Vergleich 
mit dem des neunzehnten Jahrhunderts?” fragte er. 

„Jedenfalls hat e3 für einen armen Einbringling 
wie mich einen großen Vorzug,” jagte id; „man 
befommt Krebit, ohne ein Depot zu haben. Im übrigen 
weiß ich zu wenig davon, um ein Urteil abzugeben.“ 

„Wenn Sie ımire Art und Weile erft näher 
tennen gelernt haben,” erwiderte ber Vorfteher, „wer⸗ 
den Sie überraſcht fein, wie viel Aehnlichkeit fie mit 
der früheren hat, Natürlich giebt e& bei uns fein 
Geld und nichts dem Aehnliches, aber die Lehre vom 
VWechielgeihäft hat ja von Anfang an der Abichaf- 
fung des Geldes den Meg bereitet. Der einzige 
Unterjchied ift eigentlich, daß bei unjerm Syitem 
jeber das Jahr mit bemielben Saldo zu jeinen 
Gunften anfängt, und daß diefer Kredit nicht über- 
tragbar ift. Darin find wir aber ganzebenjo ftreng, wie 
Ihre Banquierd waren, daß wir ein Depot verlangen, 
ehe wir einen Kredit eröffnen; nur macht bei uns das 
Volt gewieinfam das Depot für alle aufeinmal, Dies 
gemeinfame Depot befteht aus Vorräten von allerlei 
Baren und Anweifungen auf die verſchiedenen öffent« 
lichen Dienftleiftungen, die vorausſichtlich gebraucht 


783 


werben, Dieje Waren und Dienftleiftungen werben 
abgeihäßt, und bie Summe der Preife, bivibiert mit 
der Bevölkerungszahl, ergiebt den Kredit des ein» 
zelnen Bürgers, der in gar nichts anderm befteht, 
als in feinem perjönlichen Anteil an den Waren 
und Dienftleiftungen, die das Jahr über verfügbar 
find, Jedenfalls Hat Ihnen Dr. Leete das alles ſchon 
mitgeteilt.“ 

„Aber ich war doch nicht da, als der Ueberſchlag 
für diejes Jahr gemacht wurde. Hoffentlich kommen 
nicht andre durch meinen Kredit zu kurz.“ 

„Machen Sie fi darüber keine Sorge,“ er 
widerte der Vorſteher. „Es ift zwar merfwürbig, 
wie bei einer großen Bevölferung die verſchiedenen 
Bebürfniffe fi ausgleichen, aber e8 wäre doch un« 
möglich, einen fo großartigen Betrieb wie den unfern 
ohne große Meberjchüffe zu verwalten. Wir haben 
den Grundfaß, dab von Waren, bie dem Verderben 
ausgejept find, und von Waren, in denen der Ge— 
Ihmad oft wechjelt, jo wenige Vorräte wie möglich 
über den Bedarf hinaus produziert werden follen; 
aber von allen wichtigen Stapelwaren haben wir jo 
viel auf Lager, daß zwei Mangeljahre den Preis der 
haltbaren Produkte nicht ſteigern würden; ja, wenn 
die Bevölkerung ſich unerwartet um mehrere Millionen 
vermehrte, Lönnte fie doch jederzeit verforgt werben, 
ohne da eine Störung zu befürdhten wäre.” 

„Dr. Leete hat mir gejagt, daß alles, was der 
Bürger am Ende bes Jahres von feinem Krebit nicht 
verbraucht hat, ausgeftrichen wird, weil e8 für das 
nächte Jahr nicht gilt. Das geichieht wohl, um ein 
Anhäufen und Zurüdlegen zu verhindern, wodurd) bie 
wirtjchaftliche Gleichheit untergraben werden könnte ?* 

„Ganz richtig,“ jagte der Vorfteher, „aber dieje 
Mafregel hat außerdem noch den Zweck, die Buch- 
führung zu vereinfachen, damit feine Unordnung ein« 
reißt. Der jährliche Kredit bezieht ſich auf ganz 
beftimmte Warenvorräte, die während des Taufenden 
Jahres zur Verfügung ftehen. Für das nädhfte 
Jahr wird eine neue Berechnung auf etwas ver 
änderter Grundlage gemadt. Zuvor muß aber in 
den Büchern die Bilanz gezogen und jede Anweijung 
vernichtet werben, bie nicht eingereicht worden ift; 
dann wiſſen wir genau, wie wir ſtehen.“ 

„Und was gejchieht, wenn ich meinen Kredit er— 
ſchöpfe, ehe das Jahr um ift?“ 

Der Borfteher lächelte. „Ich habe davon ge— 
leſen,“ fagte er, „daß zu Ihrer Zeit die Verſchwen⸗ 
dung eim ſehr gefährliches Uebel war. Unjer Syſtem 
bat den Vorzug vor dem damaligen, baß ber un« 
verbefjerlichfte Verſchwender fein Kapital nicht an- 
taften fann, denn es befteht aus feinem unveräußer- 
lien Anteil am Vermögen der ganzen Nation, Im 
ihlimmften Fall fann er nur die jährliche Dividende 
verſchleudern. Sollte das bei Ihnen der Fall jein, 





784 


fo bin ich gewiß, daß Ihre Freunde für Sie forgen 
werden, und wenn fie es nicht thun, thut es das 
Bolt. Wir bringen es nicht mehr jo gut fertig wie 
unfre Vorväter, im Hülle und Fülle zu leben, wo 
andre hungern. Wenn Sie darauf beftehen wollten, 
Mangel zu leiden, müßten Sie fi verfteden.“ 

Welchem Betrag hätte wohl im Jahre 1887 diefer 
Kredit von 4000 Dollars entſprochen?“ fragte id. 

„Ungefähr 6000 oder 7000 Dollars,“ erwiberte 
Herr Ehapin. „Wenn Sie die wirtfdhaftliche Lage 
unfrer Bürger abſchätzen, müfjen Sie bedenken, was 
für eine Menge Dienftleiftungen und Annehmlid- 
feiten jetzt auf öffentliche Koſten geliefert werden, bie 
früher jeder felbft bezahlen mußte, Waffer, Licht, 
Muſik, Zeitungen, Schaufpiel und Oper, aud) jede 
Art von Transport und Verkehrsmitteln, wie Poft 
und Telegraphie, ftehen jedem umſonſt zur Verfügung, 
nebft taufend andern Dingen, bie man nicht alle 
aufzählen kann.” 

„Da jo vieles auf öffentliche Koſten geliefert 
wird, warum nicht alles? Würde das nicht die 
Angelegenheiten jehr vereinfachen ?* 

„Im Gegenteil, wir glauben, dab es die Ver— 
waltung erſchweren und jedenfall® dem Volle weit 
weniger gefallen würde, Wir bejtehen zwar auf Gleich⸗ 
beit, aber wir hajjen die Gleihförmigfeit und geben 
uns Mühe, den verſchiedenſten Geihmadsridhtungen 
freies Spiel zu gewähren.” 

Da Herr Chapin glaubte, es würde mid) inter« 
effieren, hatte er einige Geſchäftsbücher der Bank in 
jein Gomptoir gebracht. Trotzdem ich wenig von ber 
Buchführung des neunzehnten Jahrhunderts verftand, 
fiel mir jofort auf, wie einfach dieſe Rechnungen zu 
fein jchienen, im Vergleich zu dem, was ich gewohnt 
war. Ich machte eine Bemerkung darüber und fügte 
hinzu, dies jei mir um jo auffallender, weil ich bis— 
ber gebadht Hätte, daß bei allen Vorzügen, die das 
nationale Genoſſenſchaftsſyſtem unzweifelhaft befige, 
es doch eine viel umfangreichere Buchführung erfordern 
müffe, als unfre Art der Verwaltung. Der Vorfteher 
und Dr. 2eete jahen einander an und lächelten. 

„Wiffen Sie, Herr Weit,“ jagte der erftere, „uns 
tommt es jehr fonderbar vor, dab Sie die Sadıe fo 
anjehen. Wir meinen umgelehrt, daß bei unjerm 
Syftem ein Rechner genügt, wo zu Ihrer Zeit 
mehrere Dubend gebraucht wurden.“ 

„Aber,“ entgegnete ich, „ieht Führt die Nation 
doch eine bejondere Rechnung für jeden einzelnen — 
Mann, Weib oder Kind — im ganzen Lande.“ 

„Natürlich,“ meinte ber Vorfteher, „aber war 
das nicht früher aud) der Fall! Wie hätten fonft 
die Steuern feftgeflellt und eingezogen werden können? 
Wie hätte man über bie hunderterlei Pflichten der 
Bürger Auffiht führen jollen? Das damalige 
Steuerſyſtem allein, mit feinen Unterfuhungen und 


Edward Bellamp. 


Schäßungen, feinem Mechanismus zur Einziehung 
des Geldes und feinen Strafen, war viel verwidelier 
als die Beredinungen, welche Sie hier vor ſich haben. 
Diefe fangen, wie Sie jehen, damit an, daß jedem 
Bürger beim Beginn des Jahres derſelbe kredit er» 
öffnet wird, und verzeichnen nur bie einzelnen Bezüge, 
ohne Berechnung von Zinſen und andern Neben 
dingen. Ich verfihere Sie, Herr Weit, die Sach 
geht jo glatt und gleihmähig vor ſich, dak die Red 
nungen mittel3 einer mechaniſchen Vorrichtung gr 
macht werben und der Rechner nur auf einer Ma 
viatur zu jpielen braucht.“ 

„Aber, wenn ich recht verftanden habe, verzeichnet 
man aud) die Dienfte eines jeden Bürgers, um einm 
Maßſtab für feine Leiftungen zu erhalten.“ 

„Gewiß, darüber wird fehr genau und forgfältig 
Bud geführt, jo daß Irrtum und Ungeredtigleit 
ausgeichloffen find. Aber dies Regiſter ijt bei weiten 
nicht jo verwidelt, wie die früheren Geld» oder Lohn 
berechnungen; es hat vielmehr eine Aehnlichteit mit 
den einfahen Liften der Auszeihnungen in den Er 
ziehungsanftalten, durch welche man die Grade der 
Schüler und Studenten zu beftimmen pflegte.” 

„Aber fteht nicht der Bürger außerdem nod in 
Verbindung mit den öffentlichen Warenhäufern, aus 
denen er feine Bebürfnifje bezieht?“ 

„Gewiß, er erhält jedoch nichts auf Rechnung. 
Wie Ihre Zeitgenoffen jagen würden, werden alk 
Einfäufe bar bezahlt, das heißt auf der Srebditfart: 
eingetragen.“ 

„Da bleibt immer noch die Berechnung für 
Maren und Dienftleiftungen zwijchen den Sager- 
häufern und ber probuftiven Abteilung und zwiſchen 
den einzelnen Abteilungen.“ 

„Natürlich, aber das Ganze ſteht unter einer 
Oberleitung; alle Abteilungen arbeiten ſich frieblid 
in die Hände, und es giebt feine Verſuchung jur 
Unredlichkeit. Die Sache ift aljo ein Kinderfpiel im 
Vergleich mit ben Schwierigkeiten, die beim Verleht 
zwijchen den ſich gegenjeitig mißtrauenden Privat: 
fapitaliflen entftanden. Zu Ihrer Zeit hatte jeder 
feinen befonberen Gejchäftsbetrieb, und die Leute ſaßen 
oft nächtelang auf, um fi) immer neue Kniffe aus 
zudenfen, wie fie einander betrügen, überliften und 
übervorteilen könnten.” 

„Aber e3 find doch ausführliche ftatiftifhe Er- 
hebungen notwendig, die bei der Regelung der Pro: 
duftion als Grundlage dienen, Dieje können um 
möglich ohne jehr viele Rechnerei gemacht werden?“ 

„Eure Staatöregierungen,* erwiderte Herr Ehapin, 
„veröffentlichten auch alljährlich eine Menge folder 
ftatiftifchen Berechnungen, die troß ihrer zweifelhaften 
Genauigleit viel mehr Mühe gemacht haben müflen, 
weil fie ein fehr unwillkommenes Eindringen in 
Privatverhältniffe bedingten, während die unjrigen 


Gleichheit. 785 


nichts andres find als eine Sammlung der Berichte, 
die aus den Büchern der verjchiedenen Abteilungen 
des einen großen Geſchäfts zuſammengeſtellt werden. 
Auch zu Ihrer Zeit mußte ſich jeder Fabrilant, jeder 
Kaufmann und Labenbefiker von dem vorausſicht- 
lichen Verbrauch vorher einen Ueberſchlag machen, 
und wenn er ſich geiret hatte, war er zu Grunde 
gerichtet. Dabei konnte er den Verbrauch mur un— 
gefähr erraten, denn die Ziffern waren ihm bloß zum 
Zeil belannt. Uns aber ſteht das volljtändige Material 
zu Gebote, und daher find unſre Voranſchläge nicht 
nur viel ficherer, ſondern auch viel einfacher,” 

„Erlaffen Sie mir gütigft alle weiteren Beweiſe 
für die Dummheit meiner Einwände.” 

„Aber, lieber Herr Weft, von Dummheit ift gar 
nicht die Rebe. Eine ganz neue Ordnung ber Dinge 
fommt einem auf den erften Blid immer verwidelt 
vor, wenn man fich auch bei näherer Betrachtung 
überzeugen muß, daß fie die Einfachheit jelber ift. 
Laſſen Sie mid), bitte, außreden, denn bis jebt habe 
ih Sie die Sahe nur von einer Seite betrachten 
laffen. Ich Habe Ihnen gezeigt, wie wenige und 
wie einfache Berechnungen wir zu machen haben im 
Vergleich mit den früheren. Aber die Hauptarbeit 
verurfachten noch die vielen Nechnereien, die damals 
notwendig waren und von denen wir gar nichts 
wiſſen. Soll und Haben fennt man nicht mehr, 
Zinen, Renten, Gewinne und alle Berechnungen, 
die damit zufammenhängen, find aus der Welt ver- 
ſchwunden. Zu Ihrer Zeit hatte jedermann neben 
jeiner Abrechnung mit dem Staat noch ein ganzes 
Retzwerl von Rechnungen mit feinen Nebenmenjchen. 
Selbft der beicheidenfte Lohnarbeiter fland wenigftens 
ein dußendmal in den Büchern der Handelsleute; 
ein wohlhabender Mann fam wohl hundertmal darin 
vor, ganz abgefehen von feinen Beziehungen zu 
Leuten, die nicht dem Kaufmannsſtande angehörten, 
Ein einigermaßen beweglicher Dollar wanderte an 
jo viele Orte, aus einer Hand in die andre, daß 
man wohl jagen kann, er hat in fünf Jahren ſich 
jelber gefoftet an federn, Tinte, Papier und Scheiber« 
lohn — von Mühe und Verger noch gar nicht zu 
reden. Alle dieſe Arten von privater und gejchäft« 
her Buchführung find gänzlich abgeſchafft. Fein 
Menſch ift einem andern mehr etwas ſchuldig oder if 
fein Gläubiger. Dan hat feinen Kontralt mit irgend 
jemand, auch feine Rechnung bei irgend jemand, 
ſondern ſchuldet nur jedem Menjchen die achtungsvolle 
Freundlichleit, die feinen guten Eigenſchaften gebührt.“ 

V. 
Ih babe ein ungewohntes Gefühl. 

„Doltor,* fagte ih, al3 wir aus der Bank her- 
austraten, „ich habe ein ganz jonderbares Gefühl.” 


„Was für ein Gefühl denn?” 
Aus fremden Zungen, 1897, IL 17, 


„Es ijt eine Empfindung, die ich noch nie gehabt 
babe, auf die ich nicht vorbereitet bin. Mir ift zu 
Mute, ald möchte id) arbeiten. Ja, ih, Julien Wet, 
von Beruf Millionär und Müßiggänger, der id) in 
meinem Leben nie etwas Nüpliches gethan oder auch 
nur ein Berlangen danach verfpürt habe, fühle das 
unbezwingliche Bebürfnis, mir die Aermel aufzu— 
ftreifen und eine Arbeit zu verrichten, bie als Entgelt 
für meinen Lebensunterhalt gelten könnte,“ 

„Aber,” jagte der Doltor, „der Kongreh hat Sie 
ja für einen Gaft der Nation erflärt und Sie aus» 
drücklich von allen öffentlichen Dienften freigeſprochen.“ 

„Das ift alles recht jchön und gut gemeint, aber 
ich fange an zu merlen, daß es mir fein Vergnügen 
machen wird, von andrer Leute Arbeit zu leben.“ 

„Wodurch meinen Sie denn, daß diefe neue Ab- 
neigung, auf andrer Leute Koſten zu leben, bei Ihnen 
entſtanden ijt?* fragte der Doktor lächelnd. 

„Ih habe mic, nie viel mit Selbſtbetrachtung ab⸗ 
gegeben,” ſagte ich, „aber in diefem Fall läßt ſich 
die Veränderung leicht erflären. Ich jtehe hier mitten 
in einer Geuoſſenſchaft, deren Mitglieder, foweit fie 
nicht körperlich unfähig dazu find, alle ihr Teil dazu 
beitragen, den Wohlitand zu begründen, deſſen Früchte 
ich mitgeniehe. Man müßte doch gar fein Gefühl 
haben, wenn man unter jolden Umſtänden ſich nicht 
Ihämte, müßig dabei zu ftehen, ftatt mit anzugreifen. 
Warum habe ich im neunzehnten Jahrhundert dieje 
Pfliht der Arbeit nicht ebenjo empfunden? Run, 
einfach deswegen, weil es damals fein Syftem ber 
gemeinjhaftlihen Arbeit gab, ja überhaupt fein 
Syſtem. Bei der Verteilung der Arbeit war feine 
Spur von Gleihmäßigfeit und Gerechtigleit zu finden. 
Der konnte, ging ihr aus dem Wege, und die, welche 
arbeiten mußten, verwünſchten ihre glüclicheren Mit- 
brüder und rächten fih am ihnen durch möglichit 
ſchlechte Arbeit. Sehen Sie den Fall, dab ein 
junger Menſch wie ich den Wunſch gehabt hätte, an 
der allgemeinen Arbeit teilzunehmen. Wie jollte er 
da3 anfangen? Es gab gar feine öffentliche Ein— 
richtung, welche die Arbeit einigermaßen gerecht ver- 
teilte. Ein Zulammenarbeiten war ganz unmöglid). 
Bir Hatten nur die Wahl, ob wir und das herr= 
ſchende wirtihaftliche Syſtem zu nutze machen wollten, 
um von der Arbeit andrer zu leben, oder ob bieje 
andern e3 jih zu nube machen jollten, um von 
unfrer Arbeit zu leben, Wir mußten ihnen auf dem 
Naden fiten, wenn fie uns nicht auf dem Naden 
fiten follten. Entweder mußten wir aus dem uns 
gerechten Syſtem Vorteil ziehen oder ihm zum Opfer 
fallen. Das eine konnte uns moraliſch ebenjowenig 
befriedigen wie das andre, und jo wählten wir na= 
türlich erſteres. In jeltenen Momenten erfannten 
bie anfländigeren Leute, wie unausſprechlich erbärm- 
lich es jei, ſich von den Arbeitenden füttern zu lafien; 

99 


N 





aber unjer Gewiſſen war vollftändig des Teufels 
geworben durch dieſes hoffnungslos verwirrte wirt« 
ſchaftliche Syſtem, bei dem fein Menſch klar jehen 
und noch weniger richtig handeln fonnte. Ich kann 
breift behaupten, daß in meinem Kreiſe, jedenfalls 
unter meinen freunden, fein einziger war, der nicht 
in meiner heutigen Lage, einem jo einfachen und 
gerechten Syftem der Arbeit3verwaltung gegenüber, 
ebenjo wie ich das Bedürfnis haben würde, ſich die 
Aermel aufzuftreifen und mit anzupaden.“ 

„Davon bin ich ganz überzeugt,” jagte ber 
Doltor. „Ihre Erfahrung beftätigt nur aufs jchla- 
gendjte, was uns ein Abjchnitt in der Geſchichte der 
großen Umwälzung erzählt: Raum war die gegen- 
wärtige wirtidaftliche Ordnung eingeführt, da wurde 
auch den unverbefferlichften Müßiggängern und Baga- 
bunden der alten Ordnung die volllommene Gered- 
tigkeit der neuen Einrichtungen Mar, und fie drängten 
fi) mit Begeifterung zum Dienft des Staates. Was 
aber Sie ſelbſt anbetrifft, hat Ihnen denn mein Vor« 
ſchlag nicht gefallen, Sie möchten unferm Volke Vor- 
lefungen über da8 neunzehnte Jahrhundert halten ?“ 

Zuerſt habe ih auch gemeint, das wäre ein 
guter Gedanke, aber unjer Geſpräch Heute früh im 
Garten hat mid) beinahe überzeugt, daß ich und 
meine Zeitgenofjen die allerlegten waren, die ver- 
fiehen tonnten, was das neunzehnte Jahrhundert 
zu bedeuten hatte, und wohin es führte. Wenn id 
ein paar Jahre bei euch geweſen bin, werde ich viel« 
leicht genug gelernt haben, um mit Verftändnis über 
mein eignes Zeitalter zu fprechen.“ 

„Das hat etwas für ſich,“ erwiderte der Doltor. 
„Sehen Sie dort das große Kuppelgebäube jenſeits 
des Platzes? Das ift unſre Induftriebörfe. Da wir 
gerade davon ſprechen, was Sie thun fönnten, um 
ſich nüßlich zu machen, würde e8 Sie vielleicht inter- 
effieren, die Art und Weije näher fennen zu lernen, 
wie unsre jungen Leute ihre Beichäftigungen wählen?“ 

Ich war gleich bereit dazu, und wir gingen quer 
über den Pla nad der Börfe. 

„Bis jet habe ich Ihnen nur einen allgemeinen 
Umriß von unferm Syftem des Induftriedienftes 
aller gegeben. Sie wiſſen, daß jeder Erwachſene 
beider Geſchlechter, wenn er nicht aus irgend einem 
Grunde zeitweije oder bauernd davon beurlaubt wirb, 
im einundzwanzigften Jahr in den öffentlichen Dienft 
eintritt und nach einer dreijährigen Lehrzeit in der 
Kaffe der ungelernten Arbeiter fich feine beſondere 
Beihäftigung auswählen kann, wenn er nicht vor— 
zieht, weiter zu ftubieren und eine der wiſſenſchaft— 
lichen Berufsarten zu ergreifen. Da durchſchnittlich 
jedes Jahr fi) eine Million junger Leute auf diefe 
Weiſe für einen Beruf entjcheidet, jo Fönnen Sie ſich 
denken, daß es feine Feine Aufgabe ift, für jeden 
bie Stelle zu finden, die feiner Neigung entjpricht, 


Edward Bellamyp. 


und dabei zugleich für alle Bebürfnifje des öffent. 
lichen Dienftes zu ſorgen.“ 

Ich verficherte dem Doltor, daß ich thatjädlid 
daran gleich gedacht hatte. 

„Wenige Minuten werben genügen, Sie darüber 
aufzuflären,* fagte er. „Es ift merkwürdig, wie ein 
vernünftiges Syſtem dem Menjchen die Aufgabe er- 
leichtert, feinen richtigen Leben&beruf zu finden, eine 
Aufgabe, die zu Ihrer Zeit jo große Schwierigkeiten 
hatte und fo felten glüdlidh gelöft wurde.“ 

Wir ſuchten ung ein behagliches Plätzchen in der 
Nähe eines Fenſters der Haupthalle, und der Doktor 
brachte eine Menge Probezettel und Formulare herbei, 
deren Zwed er mir erflärte. Zuerſt zeigte er mir 
die jährlichen Voranſchläge der Regierung für ale 
Erforderniffe, die zugleich feftftellten, in welchem Ber- 
bältnis die zur Verfügung ftehenden Arbeitskräfte zwi⸗ 
hen den verjchiedenen Beichäftigungen verteilt werden 
müflen, um den Jubuftriedienft auszuführen. Das 
war bie eine Seite unſers Gegenftandes, biejenige, 
welche fi mit den Bebürfniffen des Gemeinweient 
beichäftigte, die befriedigt werben mußten. Dann 
zeigte er mir die Zettel, auf denen alle Jüngling: 
und Jungfrauen, die in dem betreffenden Jahr aus 
der allgemeinen Lehrzeit in die Dienjtzeit übertraten, 
Erklärungen darüber abgeben, zu welchen von den 
Öffentlichen Dienftleiftungen fie am meiften Neigung 
hätten. Wenn fie den Zettel nicht ausfüllten, nahm 
man an, daß fie zu jedem dem Gemeinwejen nüßlichen 
Dienfte bereit waren. 

„Aber,* jagte ih, „mandmal kommt einem 
ebenfoviel auf den Aufenthaltsort an wie auf die 
Berufsart. Dan möchte fi) zum Beijpiel nicht von 
feinen Eltern trennen, und ganz gewiß ſehr ungern 
von einer Braut, fo angenehm auch die ermwählte 
Beihäftigung in andrer Hinficht jein mag.“ 

„Sehr wahr,” fagte der Doktor. „Wenn unfer 
inbuftrielles Syftem Verlobte und Freunde, Männer 
und Frauen, Eltern und Finder voneinander trennen 
wollte, würde es jedenfalls feinen langen Beſtand 
haben. Sie jehen hier eine Lifte von Ortſchaften. 
Wenn Sie bei Bofton ein Kreuz machen, ijt die 
Verwaltung verpflichtet, Ihnen eine Anftellung in 
diefem Bezirk zu verſchaffen, fonjt könnten ja, mie 
Sie jagen, Bande der Liebe und Freundſchaft ge 
waltjam zerriffen werben. Aber natürlich fann man 
nit alles zugleich haben. Wenn Ihnen daran liegt, 
in Ihrem Heimatsort zu arbeiten, werden Sie 
vielleicht mit einer Beihäftigung fürlieb nehmen 
müſſen, die Ihnen weniger zujagt als eine andre, 
die Ihnen offen fand, wenn Sie bereit waren, die 
Heimat zu verlafjen. Uebrigens kommt es jelten vor, 
daß jemand einen erwählten Beruf den Familien- 
rüdfichten aufopfern müßte. Das ganze Land ift 
in induftrielle Kreife eingeteilt, und jo viel wie möglid 





Gleichheit. 787 


foll jeder dieſer Kreife die ganze Induſtrie ums 
faffen, fo daß alle wejentlihen Künfte und Hand» 
werfe darin vertreten find. So können wir faft immer 
die gewählte Beichäftigung ausüben, ohne uns von 
unfern Freunden zu trennen. Dazu fommt noch, 
daß die heutigen Verkehrsmittel alle Entfernungen 
fo verringert haben, daß ein Mann, der in Bofton 
lebt und feine Arbeitsftelle Hundert Meilen entfernt 
in Springfield hat, ganz ebenjo nahe bei feinem 
Geſchäft ift wie ein gewöhnlicher Arbeiter Ihter Zeit. 
Wer in Bofton lebt und zweihundert Meilen von dort in 
Albany beſchäftigt ift, wäre immer noch beifer daran 
als der Vorjtädter vor hundert Jahren, der in Bofton 
arbeitete. Viele möchten gern in der Heimat bleiben, 
aber es giebt doch auch viele, welche die Abwechslung 
lieben und es vorziehen, ben Schauplaß ihrer Kind- 
beit zu verlaffen. Auch dieje bezeichnen ben Bezirk, 
dem fie am Tiebften zugeteilt fein würden. Sie können 
auch ihren zmweit- und drittliebfien Aufenthalt an« 
geben, jo daß es fich fehr unglüdlich treffen müßte, 
wenn jemand nicht wenigftens in dem Teil des Landes 
untergebracht werben fünnte, den er vorzieht, obgleich 
die Ortsbezeichnungen nur berüdfichtigt werden müfjen, 
wenn ber Betreffende im heimatlihen Bezirk zu 
bleiben wünſcht. Alle übrigen Wünſche in biejer 
Beziehung werben fo weit erfüllt, als nicht andre An« 
ſprüche ihnen entgegenftehen. Wenn num der Bewerber 
feine Pifte ausgefüllt und fie dem zuftändigen Regi— 
firator übergeben hat, wird fie mit einem amtlichen 
Stempel verjehen, der jeine Rangitufe bezeichnet.“ 

„Was hat das zu bedeuten ?* 

„Es ift die Ziffer, welche feinen Pla in ber 
Schule und während der Lehrzeit angiebt. Man 
nimmt an, daß fie am beiten geeignet ift, ala ein 
Anhalt bei der Beurteilung feiner Intelligenz, feiner 
Brauchbarleit und Pflichttreue zu dienen. Wenn fich 
nämlich mehr Bewerber für beftimmte Befchäftigungen 
anmelden, als gebraucht werden, muß, wer die nied⸗ 
rigite Rangſtufe hat, mit jeiner zweit« oder dritt 
liebften Beihäftigung zufrieden fein. Die Vorzugs- 
fiften werben ſchließlich auf der Induſtriebörſe 
eingereiht und im Hauptbureau durchgejehen. Alle, 
bie an ihrem Heimatsort arbeiten möchten, werben 
zuerſt verforgt, je nad) ihrer Rangftufe. Dann werben 
die Liften derjenigen, die anderswo arbeiten wollen, 
nad) dem Nationalbureau gejhidt und dort mit denen 
verglichen, die aus andern Bezirken eingelaufen find, 
jo dab die Wünſche jedes einzelnen jo viel wie 
möglich berüdfichtigt werden können. Wo wiber- 
ftreitende Anſprüche zu Tage treten, entſcheidet die 
NRangitufe. Es ift eine merkwürdige Erfahrung, daß 
die perfünlihen Verſchiedenheiten der Individuen in 
einer großen Körperſchaft immer dahin neigen, ſich 
auszugleichen und zu ergänzen, eine Thatſache, die 
durch unſer Syſtem der Berufs und Ortswahl glänzend 


beftätigt wird. Die Vorzugsliften werben im Juni aus⸗ 
gefüllt, und am erften Auguft weiß jeder genau, mo er 
fih im Dftober zur Dienftleiftung zu melden hat. 
„Wenn aber jemand eine Aufgabe befommen hat, 
bie ihm durchaus nicht gefällt, was die Art der Be- 
ihäftigung oder die Iofalen Verhältniſſe anbetrifft, 
fo ift e8 noch immer nicht zu fpät, ja es ift über« 
haupt nie zu ſpät, fi um eine andre zu bemühen. 
Die Verwaltung hat ihr Beftes gethan, um Befähigung 
und Wünſche des Einzelnen mit ben Bebürfniffen 


des Ganzen in Einflang zu bringen, aber ihre Ein- 


richtungen ftehen ihm auch noch weiter zu Gebote, 
wenn er den Verſuch machen will, fich eine angenehmere 
Beſchäftigung zu verichaffen.“ 

Und num führte mich der Doktor auf das Weber: 
tragungsamt und zeigte mir, wie diejenigen Perjonen, 
welche mit ihrer Anweiſung nicht zufrieden find, fich 
mit allen andern gleichfalls Unzufriedenen im ganzen 
Lande in DVerbindung jeten fönnen, um mit. ihnen 
einen etwaigen, beiderfeitig erwünſchten Stellenaus- 
tauſch zu verabreden, wobei nur wenige Regeln zu 
beobachten find. 

„Wenn einer nicht geradezu einen Abſcheu vor 
jeder Arbeit hat,” fagte er, „und ihm fein Teil 
unſers Landes gefällt, jo wird er früher oder ſpäter 
im ftande fein, fich ziemlich genau die Beichäftigung 
und die Dertlichleit auszuſuchen, die ihm genehm 
ift. Und wenn dennoch jemand jo fchwerfällig jein 
follte, daf; er auf feinen Erfolg in feinem Beruf 
hoffen fann und auch von einem Wechſel feine Per: 
befjerung jeiner Lage erwarten darf, jo it doch 
jede Beſchäftigung, die heutzutage vom Staate ge- 
dulbet wird, jo befhaffen, daß fie dem glücklichſten 
Arbeiter des neunzehnten Jahrhunderts wie eine 
große Wohlthat erfchienen wäre, Es giebt feine 
Arbeit mehr, bei der die Gefahr fir Leben und Ge— 
ſundheit nicht auf das geringjte Maß beichräntt ift, 
und babei find dem Arbeiter feine Rechte und feine 
Menſchenwürde vollfommen gefichert. Die Verwaltung 
ift fortwährend bemüht, die weniger angenehmen 
Beihäftigungen mit jo großen Vorrechten, Annehm— 
lichleiten und dergleichen auszuftaiten, daß fie ebenſo 
häufig gewählt werden wie die andern. Wenn es 
ſchließlich doch eine Arbeit geben follte, die allen wider: 
fteht und zu ber ſich feine fsreiwilligen melden, jo wird 
biefe eben von allen der Reihe nad übernommen.” 

„So etwas, zum Beifpiel, wie das Initand- 
halten und Reinigen der Abzugskanäle,“ fagte id. 

„Wenn dieje Art Arbeit jo widerwärtig twäre 
wie zu Ihrer Zeit, würde fie wahrfcheinfich niemand 
anziehen und von allen der Reihe nad gemacht 
werden müfjen,“ erwiberte ber Doltor, „aber unfre 
Kanäle find ebenfo fauber wie unjre Straßen. Sie 
führen nur Waſſer fort, das durch einen Apparat, 
der fidh in jeder Wohnung befindet, chemiſch gereinigt 





788 Edbwarb 
und geruchlos gemacht worden ifl, che es in die 
Röhren flieht. Durch den nämlichen Apparat werden 
alle feſten Beitandteile mittels Eleftricität verbrannt 
und als Aſche entfernt. Dieje Verbefferung des 
Kanalſyſtems, die fehr fehnell auf den großen Um— 
ſturz folgte, Hätte wohl ohne denjelben noch hundert 
Jahre auf ihre Einführung warten laſſen, trogbem 
die dazu nötigen wiflenfhaftlihen Kenntniſſe und 
Vorrichtungen längft der Melt zur Verfügung fanden. 
Dieſer eine Fall unter taujenden zeigt deutlih, daß 
niemand fi die Mühe gegeben hätte, Erfindungen 
zu madhen, durch welche wiberwärtige oder gefähr- 
liche Arbeit vermieden wurde, folange die Reichen 
an den Armen eine Schar williger Sklaven hatten, 
denen fie alle ihre Laſten aufbürden konnten. Durch 
die Folgen der wirtſchaftlichen Gleichheit wurbe es 
fofort zu einem Intereſſe aller Bürger, dieſe un- 
angenehmen Arbeiten möglichſt entbehrlich zu machen, 
da alle an ihnen teilnehmen mußten. So verbanft 
die Wiſſenſchaft auf chemiſchem, hygieniſchem und 
mechanifhem Gebiet dem Umfturz einen ungeheuern 
Fortſchritt, ganz abgefehen von der moraliſchen Seite 
der Sache.“ 

„Wahrſcheinlich,“ ſagte ich, „giebt es doch auch bei 
Ihnen mandmal excentrifche Leute — ‚Duerlöpfe: 
pflegten wir fie zu nennen — die ſich unter leinen Umſtän⸗ 
den an irgend eine gejeliaftliche Ordnung gewöhnen 
fönnen und nicht zugeitehen wollen, daß fie irgend 
welche Pflichten haben. Wenn ein folder Menſch 
fi nun ftandhaft weigert, dieſen oder jenen nüßlichen 
und notwendigen Dienft zu leiften, was wird mit 
ihm? Jedenfalls ift doc bei Ihrem Syftem aud) die 
Möglichkeit vorhanden, einen Zwang auf foldhe Leute 
auszuüben.” 

„Keineswegs,“ erwiderte der Doltor. „Wenn 
unfer Syſtem ſich nicht als bie befte Einrichtung zur 
Förderung der Wohlfahrt aller bewährt, jo mag es 
fallen. In Betreff des Induſtriedienſtes verorbnet 
unfer Gejch einfah, daß derjenige, welcher nicht an 
der Aufrechthaltung der gejellihaftlihen Ordnung 
mitarbeiten will, auch ihre Vorteile nicht genießen 
darf. Es wäre eine Unbilligfeit gegen die andern, 
wenn er mit ihnen gleichberechtigt wäre. Aber ber 
Gedanke, ihn mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen, 
würde unferm Volke im höchſten Grade wiberjtehen, 
Der Dienft zum Wohle des Ganzen ift vor allem 
ein Ehrendienft, ber in ritterliher Gefinnung ge 
leiftet wird, Wie zu Ihrer Zeit die Soldaten nicht 
mit Feiglingen zufammen dienen wollten, fondern 
fie unter Trommelſchlag aus dem Lager fliehen, jo 
würben unfre Arbeiter fi) gegen die Geſellſchaft 
folder Menſchen auflehnen, die fi) ihren öffentlichen 
Pflichten nicht willig unterziehen.” 

„Aber was fangen Sie mit ſolchen Menſchen an?“ 

„Wenn ein Erwachjener, der weber verrüdt nod) 


Bellamy. 


ein Verbrecher ift, ſich vorjäßlih und hartnädig 
weigert, in irgend einer Weife zu arbeiten umd weder 
eine jelbfigemwählte noch eine ihm zugewieſene Be 
Ihäftigung übernehmen will, dann wird er mit ben 
Sümereien und Werkzeugen ausgerüftet, die er not- 
wendig braudt, und in einen Landesteil gejchidt, der 
allein für ſolche Leute beſtimmt ift, etwa in der Art 
bes Reſervatgebietes, das zu Ihrer Zeit ben Indianern 
angemwiejen wurde, bie fi der Zivilifation nit be» 
quemen wollten. Dort bleibt es ihm überlafjen, eine 
befjere Löſung der fozialen Frage auszuarbeiten, als 
unjre Gemeinſchaft fie ihm bietet, wenn er das Tann, 
Mir glauben, daß unfer Syſtem das befte ift; wenn 
e8 aber ein noch befjeres giebt, möchten wir es lennen 
lernen und annehmen. Jeder neue Gedanke ift uns 
willlommen, wenn er ſich bewährt.” 

„Und giebt es wirklich Fälle, in denen ein Indi 
viduum ſich freiwillig von der Geſellſchaft ausſchließt, 
um ihre Pflichten nicht erfüllen zu müfjen?” 

„Es hat ſolche Fälle gegeben, wenn ich auch jekt 
von feinem mehr weiß. Jedenfalls ift auch hierfür 
Vorſorge getroffen.” 

VI. 
Honni soit qui mal y pense! 

Als wir zu Haufe anfamen, jagte ber Dolter: 
„Heute morgen werde ih Sie Ediths Gejellihaft 
überlaffen müffen. Wie jehr mir meine Pflichten 
ald Mentor auch zufagen, ganz ohne Mühewaltung 
find fie doch nicht. Die Fragen, auf die wir bei 
unfern Gejpräden fioßen, zeigen mir oft, wie not 
wenbig es ift, daß ich meine allgemeine Kenntnis 
von den Gegenfähen zwiſchen Ihrer und unjrer Zeit 
wieder auffrifche und Geſchichtsquellen darüber nad 
ſchlage. Die Unterhaltung von heute früh bat mid 
auf Gedanken gebracht, die zu allerlei Forjchungen 
anregen, mit denen ich ben Reſt des Tages in der 
Bibliothel beichäftigt fein werde,” 

Ich fand Edith im Garten und nahm ihre Glüd« 
wünſche in Empfang, daß ich nun ein vollberedhtigter 
Bürger fei, Es wunderte fie nicht im geringften, 
ala fie von meiner Abficht hörte, mir jo bald wie 
möglich eine Stelle im Induſtriedienſt zu Juden. 

„Daß du wünschen würdeft, gleich in den Dienft 
einzutreten, habe ih mir wohl gedacht,” ſagte fir. 
„Es ift das befte Mittel, um mit den Leuten in 
Berührung zu fommen und fich wirklich als ein Glied 
der Nation zu fühlen. Wir alle jehen von Kindheit 
an dieſem großen Ereignis mit Ungebulb entgegen.‘ 

„Da mir gerade vom Induſtriedienſt reden,” 
jagte ih, „fällt mir ein, daß ich dich ſchon mehr als 
ein dutzendmal nad) etwas fragen wollte. Man bat 
mir gejagt, daß jeder, der fein Krüppel ift, — Frauen 
fowohl als Männer — vom einundzwanzigften bit 
zum fünfundvierzigften Jahr die Pflicht hat, der 
Nation in irgend einem nüplichen Beruf zu dienen. 


Gleichheit. 789 


Nun bift du zwar ein Bild von Kraft und Gefund- 
heit, haft aber, foviel ich bis jetzt gejehen habe, feine 
beftimmte Beihäftigung, fondern lebſt in behaglicher 
Muße, ganz wie die wohlhabenden jungen Damen 
unjrer Tage, die nichts zu thun hatten, als im Be— 
ſuchszimmer zu figen und hübſch auszuſehen. Mir 
ift es natürlich im höchften Grade angenehm, daß 
du jo viel Zeit übrig Haft, nur verjtehe ich nicht, 
wie jih das mit der allgemeinen Arbeitspflicht ver- 
einigen läßt.“ 

Meine Worte ſchienen Edith ſehr zu beluftigen. 

„Du dachteſt wohl, ich wäre ſchulkrank und wollte 
mid drüden?“ rief fie. „If dir denn gar nicht 
eingefallen, daß es auch jo etwas wie ferien ober 
Urlaub im Induftriedienft geben faun? Da wir 
einen jo ungewöhnlichen und interefjanten Gaft im 
Haufe haben, war es wohl fehr natürlich, daß ich 
mid eine Zeitlang frei machte, falls es anging.“ 

„Und darfft du denn Urlaub nehmen, warn es 
dir gefällt ?” 

„Einen Teil unfers Urlaubs können wir jederzeit 
haben, nur darf der Dienft nicht darunter leiden.” 

„Aber was thuft du denn, wenn du bei der Arbeit 
bift — lehrſt du in der Schule, malft du Porzellan, 
bit du Buchführerin, Ladenmädchen, Mafchinen- 
ſchreiberin oder Telegraphiftin ?* 

„Iſt das die ganze Lifte der Beſchäftigungen, 
welche die Frauen zu deiner Zeit betrieben?” 

„D nein; das waren nur ihre leichteren, an« 
genehmeren Berufsarten. Die Frauen mußten auch 
ideuern, waſchen und alle übrige Hausarbeit thun, 
Die efelhafteften und niedrigften Dienfte bürbdete 
man den Frauen ber ärmeren Klaſſen auf; aber 
natürlich wirſt Du doch ſolche Arbeit nicht zu ver- 
richten haben.” 

„Den mir zufommenden Teil von unangenehmen 
Geihäften nehme ich auf mich, fo gut wie jedes 
andre Glied der Nation, das verfteht ſich. Doch 
find alle unfre Einrichtungen Tängft jo getroffen, 
dab e8 nur wenig dergleichen Arbeit giebt. Aber, 
lage einmal, hattet ihr denn feine frauen, die fi 
den Maſchinenbau, die Landwirtſchaft, Ingenieurfunft 
oder Baufunft zum Beruf wählten, feine, die bag 
Tiſchler- oder Maurerhandwerf betrieben oder irgend 
eins der andern bedeutenden Gewerbe?” 

„Diefe Beihäftigungen waren nur Sade ber 
Männer; bie Frauen Hatten nichts damit zu thun.“ 

„Ad ja, das hätte ich wiſſen jollen, ich habe 
davon gelefen. Aber es kommt mir jo fonderbar 
bor, mit einem Manne aus dem neunzehnten Jahr- 
hundert zu reden, der fi von den heutigen Männern 
io wenig unterſcheidet, und mir dabei vorzuftellen, 
daß die frauen damals Gejhöpfe ganz andrer Art 
gewejen jein müfjen.“ 

„So gänzlich können ſich diefe Verhältniffe doch 


faum geändert haben,” jagte ich, „wenn bie Frauen 
nicht jet viel größere Körperfraft befiken. Sie waren 
für die meiften Berufsarten, die du eben genannt 
haft, nicht ftarf genug, und diefe wurden daher aus— 
fhlieglih von Männern gewählt; jo wird es mohl 
auch heute nod) fein.” 

„Es giebt überhaupt gar feinen Beruf und fein 
Gewerbe, in dem die Frauen nicht thätig wären,“ 
entgegnete Edith. Daß wir förperlich jo viel jtärfer 
find als die armen Dinger von damals, ift aber 
nicht der einzige Grund, weshalb wir die Arbeit ver 
richten können, die für fie zu ſchwer war; auch bie 
Bervolllommnung der Maſchinen hat bazu beigetragen. 
Wir haben und gefräftigt, und alle Arbeit ift leichter 
geworden. Schwere Arbeit wird jebt überhaupt 
nit mehr mit Händen gemacht, die Maſchinen thun 
alles, wir brauchen fie nur zu lenlen, und je ge 
ſchidter das geichieht, um jo beſſer arbeiten fie. Du 
fiegft alſo, daß heutzutage Körperkräfte bei der Wahl 
des Beruf? weit weniger in Betracht fommen als 
geiftige Eigenſchaften. Der Geift tritt in immer 
engere Beziehung zn dem Werk, und Vater jagt, 
wir werben vielleicht noch eines Tages jo weit fommen, 
daß wir direlt mittels der Willenskraft arbeiten, 
ohne die Hände zu gebrauchen. Gegenwärtig ſollen 
mehr Frauen als Männer in ben Maſchinenwerlſtätten 
beichäftigt fein. Meine Mutter war Direktorin eines 
großen Eiſenhammers. Manche glauben, daß das 
Gefühl der Macht, welches den Menfchen ergreift, 
während er eine ſolche Riefenmafchine regiert, einem 
Trauengemüt noch befier zum Bewußtſein fommt 
als dem Manne. Uebrigens wäre es unbillig, wollte 
ich dich erraten lajjen, was meine Beihäftigung ift, 
da ich mich noch nicht beftimmt für einen Beruf 
entjchieben habe.” 

„Aber du jagteft doch, du hätteſt jchon eine Arbeit.“ 

„D ja, du weißt wohl, daß, ehe wir unſern 
Lebensberuf wählen, wir drei Jahre lang zu ber 
Kaffe der gewöhnlichen, ungelernten Arbeiter gehören. 
Ich bin im zweiten Jahr meiner Dienftzeit.“ 

„Was haft du denn zu thun?“ 

„Ein wenig von allem und nichts lange. Wir 
follen in dieſem Zeitraum einige praftifche Erfahrung 
auf dem ganzen Arbeitsfelde fammeln, damit wir 
befier im ftande find, uns für einen Beruf zu ent— 
ſcheiden. Bor der Aufnahme in dieje Klaſſe müſſen 
wir die Schulen durchgemacht haben, aber ich glaube, 
ih habe mehr gelernt, jeit ich praltiſch arbeite, ala 
in der doppelten Zeit beim Schulunterriht. Du 
fannft dir gar nicht vorftellen, welchen Köftlichen Ge— 
nuß man auf diejer Arbeitäftufe hat, Mich wundert 
8 gar nicht, daß einige vorziehen, ihr Leben lang in 
diejer Klaſſe zu bleiben, ftatt ſich eine regelcechte 
Beſchäftigung zu wählen. Durch die verſchieden— 
artigen Aufgaben, die man erhält, hat man die 





790 


angenehmfte Abwechslung. Gerade jeht bin ich in dem 
landwirtichaftlichen Betrieb auf der großen Meierei 
bei Lexington beſchäftigt. Es ift herrlih, und id 
bin jo gut wie entſchloſſen, mid; ganz der Land» 
wirtfhaft zu widmen. Das hatte ih im Sinn, als 
ich dir fagte, du möchteft raten, was mein Gewerbe 
ift. Hätteft du e8 wohl je herausbefommen ?” 

„Das glaube ich ſchwerlich, und wenn fich der 
landwirtſchaftliche Betrieb feit meiner Zeit nicht ganz 
verändert hat, jo fann ich faum begreifen, wie du e8 
möglich machſt, die Arbeit in Frauenklleidern zu thun.“ 

Edith jah mic einen Moment höchſt verwundert 
an und machte große Augen. Dann betrachtete fie 
ihren Anzug, und als fie wieder aufblidte, hatten 
ihre Mienen einen halb finnenden, halb beluftigten 
Ausdrud angenommen, der mir ganz unverftänblich 
war. Endlich jagte fie: 

„Haft du denn nicht bemerkt, Tieber Julian, daß 
die Frauen auf der Straße anders gefleidet gehen 
als damals im neunzehnten Jahrhundert ?* 

„Natürlich ift mir aufgefallen, daß fie feine fangen 
Röde tragen, aber ihr jeid ganz ebenfo angezogen, du 
und beine Mutter, wie die Frauen zu meiner Zeit.“ 

„Wundert es dich denn gar nicht, daß unjre 
Kleidung ſich von der ihrigen unterfcheidet? Haft du 
dich nicht gefragt, weshalb wir allein lange Röcke 
tragen ?“ 

„Bielleicht habe ich auch hieran gedacht, bei den 
taufenberlei fragen, die täglich in mir auffteigen, 
um wieder, bevor ich fie ausſprechen fan, von tauſend 
andern Fragen verdrängt zu werden. Ich glaube, 
in dieſem Fall würde ich mich aber eher darüber 
verwundert haben, warum fich die andern Frauen 
nicht Heiden wie ihr. Ich hätte euern Anzug, den 
zu ſehen ich gewohnt bin, für muftergültig gehalten, 
und der andre Stil wäre mir nur als eine Abart 
erjhienen, deren man ſich um irgend eines mir un« 
befannten Zweckes willen bediente, den ich fpäter er= 
fahren würde. Du mußt mic aber nicht für ganz 
einfältig halten. ch geftehe dir, daß jene andern 
Frauen mir bis jet faum den Eindrud gemacht 
haben, als wären fie echte Menſchen. Du warft 
zuerft die einzige Perfon, an deren Wirklichleit ich 
nicht gezweifelt habe. Alle andern ſchienen mir nur 
zu einer phantaftiichen Wunderwelt zu gehören, bie 
jein oder auch nicht fein Fonnte, und die erft jetzt für 
mid Zufammenhang gewinnt und anfängt, mir ver= 
ftändlih zu werden. Mit der Zeit würde es mir 
vieleicht aufgegangen fein, daß es außer bir noch 
andre frauen in der Welt giebt, und id, hätte mid 
um fie befümmert und fie beobachtet.” 

Als ih davon ſprach, wie völlig ih in jenen 
erften Tagen entjehliher Verwirrung, als id an 
meiner eignen Identität zweifeln mußte, in ihr allein 
meinen Halt gejunden hatte, traten meiner Gefährtin 


Edward Bellamy. 


große Thränen in die Augen — und auf kurze Zeit 
waren alle übrigen rauen mehr denn je vergefien, 

Bald darauf jagte fie: „Wovon ſprachen wir doch 
eben? O ja, ich erinnere mic) — von den andern 
Frauen. Ih muß dir ein Belenntnis ablegen: 
Während der ganzen Zeit habe ich mich dir gegen- 
über einer Täuſchung ſchuldig gemacht oder dir 
wenigftens die Wahrheit vorenthalten, und das will 
ih auch nicht einen Augenblid länger thun. Jh 
hoffe von Herzen, bu wirft mir vergeben, um ber 
guten Abficht wegen und nit —“ 

„So ſprich doch weiter!” 

„Nicht zu ſehr erjchreden!” 

„Du machſt mich ordentlich neugierig,” fagte ih; 
„was ift denn das für ein Rätſel? Ich glaube, ih 
werde es ertragen Fünnen, die Löſung zu hören.“ 

„Nun gut, du follft alles wifjen: Im jener merl« 
würdigen Nacht, ala wir dich zuerſt jahen, war natür- 
lich unfer Hauptgedanfe, dir jede Aufregung zu er- 
fparen, wenn du zu vollem Bewußtſein erwachen 
würdef. Du follteft von den erjtaunlichen Ver— 
änderungen, die fid) jeit deiner Zeit zugetragen haben, 
anfänglich nicht mehr zu jehen befommen, als durd» 
aus notwendig war. Wir wußten, daß damals ale 
Frauen in langen Kleiderröden gingen, und glaubten, 
es würde dir natürlich höchſt ſeltſam erjcheinen, 
Mutter und mid) in einem modernen Anzug zu jehen. 
Nun werden zwar ſolche Weiberröde gar nicht meh 
getragen, aber es jind alle möglichen Trachten aus 
alter und neuer Zeit, wie fie bei den verjchicbenften 
Völkern in allen Jahrhunderten und auf allen Ent 
widlungsftufen vorfamen, entweder auf Lager oder 
fönnen in kürzeſter Friſt angefertigt werden. |: 
hatte daher für uns feinerlei Schwierigfeit, leider 
alten Stil zu erhalten, bevor Vater uns zu dir riel. 
Er jagte, die Leute hätten zu deiner Zeit jo jonder- 
bare Anſchauungen über weibliche Sitten und Anftand 
gehabt, daß er dieſe Verkleidung für die befte hielte. 
Kannſt du ung verzeihen, Julian, daß wir ung deine 
Unwiſſenheit jo zu nuße gemadt haben ?” 

„Glaube mir, Edith!“ verfeßte ich, „wir hatten 
im neunzehnten Jahrhundert viele Einrichtungen, die 
nur gebuldet wurden, weil wir nicht wußten, wie 
wir fie 108 werden follten. Im Grunde gefielen fie 
und gerade jo wenig wie jet auch, und dazu gehörte 
auch die Tracht, durch welche fich die Frauen ver- 
unftalteten und an ber Bewegung hinderten.“ 

„D, wie froh bin ih!" rief Edith. „Ich habe 
einen förmlichen Abſcheu vor den greulichen Süden 
und will fie auch feinen Augenblid länger tragen.” 
Sie bat mich, ich möchte dableiben, bis fie wieberläme, 
und lief ins Haus, 

Nachdem ich etwa fünf Minuten in der Laube, 
wo wir beijammen gejefjen, gewartet hatte, hörte ih 
einen leichten Schritt auf dem Raſen. Ich blidie 


—— = E 


Gleichheit. 


auf — vor mir fand Edith in ihrem mobernen 
Anzug und jah mi mit erwartungsvollen Bliden 
lähelnd an. Seitdem habe ich dieſe Tracht in 
hunderterlei Abwechslungen gejehen, und bie enblofe 
Mannigfaltigkeit derjelben ift mir nichts Neues mehr. 
Schwerlid) wäre aber die Einbildungsfraft des größten 
Künftlers im jtande, ein Gebilde an Stoff und Farben 
zu erfinnen, das einen jo entzüdenden und über« 
rajhenden Eindrud auf mich machen könnte, wie 
ihr Anblid in dieſer einfachen, raſch übergeworfenen 
Kleidung. 

Wie lange ih jo in ihre Betradhtung verloren 
dageftanden habe, ohne Worte zu finden, weiß ich 
nicht; aber meine Augen jagten ihr ohne Zweifel in 
beredter Sprache, wie jehr ich fie bewunderte. Ihr 
ſchien jedoch mein Gefihtsausdrud noch etwas andreg 
ju verraten, denn gleich darauf rief fie: 

„Wenn id nur wüßte, was du jeßt in deinem 
innerften Herzen dentft — ich gäbe viel darum! 
Es muß etwas jehr Komijches fein. Weshalb wirft 
du denn jo rot?” 

„Ih erröte über mich jelbft,* erwiderte ich, und 
mehr erfuhr fie nicht von mir, wie jehr fie mich auch 
quälte, Aber jept, nad) jo langer Zeit, will ich bie 
Wahrheit nicht mehr verjchweigen. 

Außer der grenzenlofeften Bewunderung war 
mein erſtes Gefühl eine gelinde Ueberrajchung geweſen 
über die volllommene Ruhe und Unbefangenheit, mit 
der fie meinen Bliden begegnete. Dies Bekenntnis 
mag den Lejern des zwanzigften Jahrhunderts wohl 
unverftändlich fein, und Gott verhüte, daß fie je 
lernen, es in einem Lichte zu betrachten, welches es 
ihnen Marer macht. Eine frau, die nicht von Berufs 
wegen gewöhnt gewejen wäre, ſich biefer Tracht zu 
bedienen, hätte zu meiner Zeit einen jo lange und jo 
feft auf fie gerichteten Blid, wie den meinigen, nicht 
ju ertragen vermocht, ohne in Verlegenheit zu ge- 
taten und ſich unbehaglih zu fühlen — und wäre 
es aud) nur der Blick ihres Vaters oder ihres Bruders 
gewefen. Vermutlich erwartete ich wenigftens ein 
leijes Zeichen der Verwirrung in Ediths Weſen zu 
bemerken und erftaunte unwilllürlich über die völlig 
unbefangene Art, mit welcher fie ihre Freude an meiner 


791 


Bewunderung zu erkennen gab. ch erwähne bieje 
meine augenblidlihe Empfindung nur, weil fie mir 
die Umwandlung aufs grellfte zu beleuchten jcheint, 
welche fich ſeit meinem früheren Leben nicht nur in 
den Sitten, jondern in der ganzen ſeeliſchen Be- 
ziehung der Geſchlechter zu einander vollzogen hat, 
Doch will ih, um mir jelbjt nicht unrecht zu thun, 
gleich hinzufügen, daß mein erftes Staunen ebenfo 
raſch, wie e# gelommen war — zwiſchen zwei Puls- 
ſchlägen — wieder verſchwand. ch gewann aus ihrem 
Haren, heiteren Auge die Auſchauung, die ber moderne 
Mann vom Weibe hat, um fie nie wieder zu ver⸗ 
lieren. Vor Scham über mid) felbft mußte ich er— 
töten, aber feine Macht der Welt hätte mich damals 
bewegen fönnen, den Grund einzugeftehen. Jetzt 
babe ich ihr alles längſt befannt. 

„Mir jcheint, wir haben alle Urſache,“ ſagte ich, 
„der Frau des zwanzigften Jahrhundert? dankbar 
dafür zu fein, daß fie ung bie fünftlerifche Geftaltbar- 
feit ber männlichen Meidung offenbart hat.“ 

„Der männlichen Kleidung?" fragte fie, als 
hätte fie mich nicht recht verflanden. „Sprichft du 
von meinem Anzug?” 

Jawohl; e8 ift doch Männertracht, nicht wahr?“ 

„Weshalb denn nicht ebenjo gut FFrauentradht ?“ 
fragte fie und jah mich groß an. „Ja fo, im Augen- 
blid hatte ich wirllich vergefjen, mit wen ich jprad). 
Natürlich galt dies damals für die männliche Klei— 
dung, als die frauen fi wie die Waflernigen 
anzogen. Du magft mich einfältig jchelten, daß ich 
deinen Gedanken nicht raſcher aufgefaßt habe; doch 
ih ſagte dir ja ſchon, daß mein Verftändnis für 
Geſchichte nur gering if. Seit mehr ala zwei Ge- 
nerationen Heiden fich die Frauen ſowohl ala die 
Männer jept bereit3 in dieſe Tracht, und nur ein 
Profeſſor der Weltgeſchichte fönnte auf den Gedanken 
fommen, daß fie mehr bem männlichen als dem 
weiblihen Geichlecht angehört. Uns ericheint fie 
nur al3 die natürlichjte und bequemjte Löfung der 
Kleiderfrage, die im weſentlichen für Mann und 
Frau die gleiche ijt, da doch beide Geſchlechter die- 
jelben Gliedmaßen haben.” 

Fortſetzung folgt.) 








Berforgt. 


Eduard Wilde, 
Aus dem Efidnifchen überfeht von Paul Dange. 


L 


Eine jener Trauungen, die viel boshafte Neugier 
errveden. Ein Summen in ber Kirche wie im Bienen- 
torbe. Frauen und Jungfrauen, zahnlofe alte und 
blühende junge, heiratäluftige und eheüberdrüffige, 
liebende und ſolche, die geliebt haben oder es noch 
wollen, alle find fie gelommen. Sie find gefommen wie 
die Spaßen, die neugierig freifchend einen vom Habicht 
gepadten Genoſſen umſcharen. Sie find gelommen, um 
zu fritteln, zu bedauern, zu bemeiden, zu beladen. 
Anlaß giebt's nämlich zu allem. Denn man denfe fid: 
er fünfundjechzig, fie faum achtzehn! Er mit einem 
Fuß im Grabe, ihr Großvater könnte er fein — fie 
trägt womöglich noch ihr Konfirmationshemd*).... 
Des lieben Geldes wegen, natürlich! Er ein Mann 
von mindeftens fünzigtaujend, fie eine blutarme 
Waiſe ... Sie ift ja nicht blind und nicht dumm, 
die feine blonde Näherin! Wadelige Gebäude pflegen 
bald einzuftürzen, Und bedt ihn nad) einigen Jähr— 
hen ber grüne Rajen, jo wird ſich ſchon alles finden. 
Reid) bleibt eben reich. Sammet und Seide, Kuticdhen 
und Pferde, ein Leben in nie geahntem Ueberfluß 
find immerhin Saden, um die man einen alten 
Narren in den Kauf nehmen kann. Bejonders wenn 
man eine hungernde Näherin ift... 

Die Orgel beginnt leife zu fpielen. Der Geift- 
liche erjcheint. Bewegung. Aller Augen richten ſich 
nad der Hauptthür, in welcher ber weißſchwarze 
Brautzug jihtbar wird. Voran das Brautpaar, 

Aus der wallenden Schleierwolte über ſchimmern⸗ 
ber Seide ſchaut ein junges, mageres Antlitz hervor, 
beinahe ängſtlich; es ift von gelblicher Bläſſe mit 
einem rührenden Zuge von Bitterfeit um ben Mund, 
Die großen grauen Augen haben einen fajt müden 
Ausdrud, Man merkt nicht viel von Siegesfreude 
an ihr. Man ift etwas enttäufcht. Sie heuchelt 
natürlich . . An ihrer Seite der greife Bräutigam, 
Kaum berühren ihre Fingerjpigen jeinen Arm. Sie 
hat ihn ja ohnehin... Er geht im nagelneuen 
Ihwarzen Frad, der um feinen dürren Körper mit 
der eingebrüdten Bruft und dem gebeugten Naden 


*) Efihnifche Nedewendung. Der Ucherfeker. 


ironifche Falten wirft. Sein hoher, kahler Schädel 
von einem ſchmalen Kranz ergrauter Haare bejüunt, 
glänzt auf wie Elfenbein im gelben Schein ber 
Kronleuchter, und die bläulichrote, dicke Nafe fiedt 
gleich einem dunfeln Faßſpund in dem großen, run: 
zeligen Geſicht. Er jchreitet ein wenig unſicher, mit 
eingebogenen Knieen, indem er feine riefige, gewaltjan 
in ben weißen, geplaßten Handſchuh gezwängte redıi: 
Hand mit gejpreizten Fingern an feinen Leib drüdı. 
Es folgt der heitere Zug der Marjchälle und 
Brautjungfern — rad, Eylinder, lichte Roben — 
darauf eine buntjdhedige Menge von älteren und 
jüngeren Hochzeitsgäſten verſchiedener Gejeljdef- 
Mafjen, in ftäbtijchen Kleidern und in Anzügen von 
hausgewebtem Stoff, rauen in Hüten und Haube 
Der Paſtor thut dem Zuge einige Schritte eni- 
gegen, um den Einzug bed Brautpaares zu fegnen. 
Am Altar drängt fi alles dicht zujammen, dem 
Brautpaar möglihft nahe, während der feierlihe 
Kantus des Kirchenchors mit des Küſters fiegreiden 
Baß den weiten, düfteren Raum durchflutet. Die 
Heinen, jtahlfarbenen Augen des beleibten Pfarrer: 
ſchweifen fühl und ruhig vom Brautpaar zu de 
Hochzeitsgäſten, über diefe hinweg zur Maſſe ber 
ziihelnden Neugierigen. Nach vielen vorbereitender 
Mundbewegungen beginnt er feine Anſprache, bie fd, 
da der Bräutigam reich ift, ſehr im die Länge zieht 
und Herzlichkeiten enthält, welche mit dem falten 
Haud), der von des Paftors jtrenger Phyfiognomie 
aufgeht, im recht jonderbarem Widerſpruch fichen. 
Jetzt, wo bie beiden im vollen Kontraſt ihre 
Erjheinungen, mit ihrer Jugend und ihrem Alter, 
mit ihrer Schönheit und Häßlichkeit, aller Augen 
preiägegeben find, entladen ſich erft die übernolen 
Herzen der lieben Nächſten in ähzenden Stritifen. 
Blide weibiſchen Neides überziehen gleichſam mit 
ftaubigen Spinngeweben das koſtbare Hochzeitslieid 
der Braut; Worte billigen Spotts klatſchen auf bir 
Glatze des Bräutigams nieder; und ein flechende: 
Wifpern von Ohr zu Ohr... 
„Und wäre er ein Kröſus — niemals!...” ziſchelt 
eine bejahrte Jungfrau, mit faltenreichem Munde, 
der an eine zugebundene Sadöffnung erinnert, 


Berjorgt. 793 


„Sid jo wegzuwerfen, fih mit Leib und Seele 
zu verfaufen für Geld — entſetzlich!“ grault eine 
andre, 

Eine dide Kaufmannsfrau, die neben ihnen fteht, 
fihelt — wohl aus Abneigung gegen alte Jungfern — 
etwas bom Fuchs, dem bie Trauben zu hoch gehangen, 
und lobt mit überlegener Miene den praltifhen Sinn 
der Meinen Näherin, die da wille, was Reichtum im 
Leben zu bedeuten habe. 

Zwei Mädchen, beide noch fehr jung, mit lächeln» 
den, erregten Geſichtern, flüftern miteinander: 

„Bird fie den küſſen mögen?” 

„Pfui, ich nicht!” 

„Nein, ih auch nicht!” 

Sie ihern in ihre Tafchentücher hinein. Darauf 
eine der andern tief ins Ohr: 

„Wie wird fie fchlafen bei ihm!” 

Sie plagen beide heraus, die lieben, unſchuldigen 
Badfiihe, denen es zu Haufe verboten ift, Romane 
zu leſen, und nachdem fie ihren Lachkrampf bewältigt, 
heiten fie ihre ſinnlich-dreiſten Augen mit einer Zus 
dringlichkeit an das bleihe, ernſte Gefiht dba am 
Utar, daß es ein Stehen und Juden empfindet, 
und ein großer, faft flehender Blid fucht die Grau- 
lamen abzuwehren. 

Das Ehegelübde mit dem Wechſeln der Ringe. 

Den Näherftehenden entgeht es nicht, wie die 
Ihmale Hand der Braut heftig zittert, wie die 
blauen Aederchen an ihren durchfichtig weißen Schläfen 
dunkler anfchwellen. Das mürtengefrönte blonde 
Haupt wendet fich ein wenig zurüd, und ein Blick 
fiebernder Angſt flüchtet einem jungen Manne zur, 
der als Bruder der Braut und Marſchall ganz in 
ihrer Nähe jteht. Derjelbe ſcheint in die Betrachtung 
irgend eines Mädchengefichts drüben im Publikum 
vertieft zu fein, wobei er mechaniſch an feinem 
Reifgewichften,, ſchönen Schnurrbart dreht; plötzlich 
gewahrt er den ſuchenden Blid der Braut, winft ihr 
brüderfih zu und lächelt vergnügt... Etwas wie 
ein gewaltſam unterdrüdtes, mit den Zähnen zurüd- 
sehaltenes Schluchzen wird vernehmbar. Man glotzt 
die Braut gutmütig an. Bräute weinen ſtets. Aber 
rein, man hat ſich geirrt. Sie weint nicht. Ihre 

Sippen find feft aufeinander gepreßt, ihre Füge ruhig 
— fie weint nit. Sie antwortet dem Geiftlichen 
mit einem vernehmlichen Ja und verſpricht, ihn zu 
lichen, den alten Mann an ihrer Seite, und Freud' 
und Leid, Glück und Unglüd mit ihm zu teilen; fie 
erfennt ihn an als ihren Gebieter, und e3 ſoll fie 
niemand jcheiden, bis daß der Tod fie jcheidet... 
I. 

Das mittlere Stodwert des Tammilſchen Haufes, 
acht Fenſter zur Straße, ift glänzend illuminiert. 
Die breite Hauptthür, den Flur und die Treppe 
ihmüden grüne, mit bunten Fähnlein beſteckte Guir- 

Uns fremden Zungen. 1897. IL 17. 


landen; ein mächtiges Transparent über dem Ein- 
gang läßt weit hinaus ein deutſches „Willtommen ! 
Bivat das junge Paar!” leuchten. Deutſch ift nun 
einmal die feinere Umgangsſprache unſrer efthnifchen 
Bürger... 

Oben jauchzt das Klavier, und die ſchwankenden 
Schatten der Tanzenden huſchen in enblojer Kette 
an den hellbeleuchteten Scheiben vorüber. Unten 
vor dem Haufe fteht eine gaffende Vollsmaſſe, dicht 
und geduldig wie eine Mauer, obgleic fie außer den 
zitternden Silhouetten der Tanzenden und den ge= 
dämpften Tönen der Muſik vom Seite nichts zu 
jehen und zu hören befommt. Es ift aber die Hochzeit 
des alten Tammik, den jeder dritte Menich in der 
Stadt kennt, und dazu eine jo drollige Hochzeit! ... 
Selbſt an der Hinterjeite des neuen breiftödigen 
Haufes, im großen Holzhof, wo Tammiks Dampfe 
ſägemühle ihren rauchgeihwärzten Schlot erhebt, hat 
ſich neugieriges Publikum, zumeift aus jugendlichen 
Arbeitern und Gafjenbuben beftehend, auf den riefigen 
Bretter- und Ballenſchichten feftgeiegt. 

Drinnen in den Feſträumen herrſcht fröhliches 
Treiben, In jedem Gemach, in jeglicher Niiche 
iprubelt der Duell übermütigen Frohſinns. Man 
fühlt ſich wohl in dem reizenden Neft, das ber alte, 
verliebte Täuberich jeinem Meinen Weibchen ber« 
gerichtet hat. Unten aus dem dumpfen Keller hat 
er eö hinaufgetragen in Licht und Glanz und fojige 
Wärme Es muß fie ordentlich blenden, ihr be» 
icheidenes Herz von Dankbarleit überſchwellen Laffen, 
was fie bier jicht und fortan ihr eigen nennen darf! 
Der alte Tammil, als Auferft jparfam, beinahe 
geizig allgemein befannt — er hat plötzlich in feinem 
Bräutigamätaumel den Beutel nad) allen Richtungen 
hin ausgejchüttet, als enthielte derjelbe ftatt Bank— 
noten Sägejpäne, und einen Hang zum Luxus ent 
widelt, der alle in Erſtaunen ſetzte. Ad ja, jpäte 
Liebe jchlägt mitunter gewaltige Flammen! 

Die junge Frau hat viel tanzen müfjen. Eine 
flüchtige Nöte belebt ihre Wangen, Sie jieht nun 
hübjcher, viel hübjcher aus als vorhin in der düftern 
Kirche, in ihrer ängſtlichen Hilflofigkeit. Sie ift 
bejtändig von einem Schwarm junger Kavalicre ums 
ringt, die ihr mit ihren Galanterien ſchon recht 
läftig zu werden beginnen, Sie muß lädeln, ant- 
worten, auf jeden Scherz eingehen, und fie fühlt ſich 
jo abgejpannt. Endlich gelingt es ihr, ihnen zu 
entichlüpfen, und fie gerät unverjehens in jenes reizend 
ausgeftattete Feine Gemach, welches fie ihr ‚Boudoir“ 
bat nennen hören ; „er“, jelbit hat es dazu beftimmt, 
bat es ausihmücden laſſen und es ihr heute zum 
erftenmal triumphierend gezeigt. 

Sie zieht die Thür hinter ſich zu und atmet tief 
auf. Ihre ängftlichen Augen ſchweifen mufternd 
umber in dem Meinen eleganten Raum. Wie ein 

100 





N 
Ir ana Amen 


A . er —— ‘ mr 
Bu mn m — — — — — — — —— — ET 


794 Eduard Wilde. 


bräutliches Schmuckläflchen! Sie ſchaut und ſtaunt. 
Aber troden, glanzlos bleibt ihr Blick, kein Aufzuden 
belebt ihre müden Züge. Keinen Gegenftand wagt 
fie zu berühren. Als wär's fremdes Eigentum! 
Als befürchtete fie, etwas davon umzuwerfen, zu 
zerbrechen . . Jene Thür nebenan führt zum gemein» 
famen Schlafgemadh der Neuvermählten. Sie nähert 
fich derſelben und bleibt auf der Schwelle ſtehen. 
Beängftigend prunkvoll fieht es auch dort aus. Eine 
toitbare rolenfarbene Ampel hängt von der Dede 
herab und verbreitet einen geheimnisvoll füßlichen 
Dänmerjchein. Dort an der Wand thront ein 
prachtvolles Himmelbett mit einem Dad aus hell« 
blauer Seide, mit funftvoll drapierten Vorhängen, 
diden, feidenen Schnüren und Quaſten. Schwellende 
Kiffen, ſchimmernder Atlas Iugen verführeriich hervor, 
und ein Duft von Roſen und Reſeda ſtrömt der 
jungen Frau entgegen. 

As ihre Blid das harrende Ehebett ftxeift, 
zudt fie zufammen, und wie abmwehrend ftredt 
fie die Hand aus... Eine fröftelnde Angjt macht 
ihre Glieder erbeben, jaugt ihr das warme Blut aus 
den Wangen. Es ift ihr, als fühlte fie einen falten, 
knochigen Greifesarm mit widerlihem Koſen um ihren 
Hals ſich ſchlingen — fie prallt zurüd und wirft die 
Thür haftig zu... 

Im Bondoir finkt fie auf eine Couchette nieder, 
Ihr gegenüber blinkt ein großer Spiegel, in welchem 
fie ihr bleiches Antlik erblidt, Mit einem Gefühl 
namenlojen Mitleids beginnt fie ſich zu betrachten. 
Ein junges, liebes Geficht mit großen, Tebensvollen 
Augen, mit Lippen friſch und begehrlich; der Hala 
io weiß und lieblich gerundet, ein Buſen von praller 
Jungfräulichkeit, lauter unberührte Schäße ... Und 
das alles verfauft! Erbärmlicher, verächtlicher Plünde⸗ 
rung preiägegeben!... 

Uns ihren Nugen bricht es wie grenzenlofer 
Janımer; das verzerrte Antlik im Spiegel, es ift 
das einer Verbrederin... 

III. 

Weshalb ſie den Handel eingegangen? 

Als ob es für ein armes Mädchen, das zwölf 
Stunden täglich arbeiten muß, dabei kaum ihren 
färglichen Lebensunterhalt erwirbt, ſich nur not⸗ 
dürftig Heiden kann, im Seller ein feudhtes Zimmer- 
hen bewohnt — als ob e& für fie befonderer Gründe 
bedarf, eine ihr helfend entgegengeftredte Dannes- 
band zu erfaffen, und wäre dieſer Mann auch das 
höhnende Gegenteil von allem Gebadten und Er— 
jehnten! Und fommt da nod einer, der reich ift, 
jehr reich, der Ausfichten auf ein lichtes, forgenfreies 
eben eröffnet, auf eine Zulunft, davon fold ein 
darbendes Menfhenkind nie zu träumen gewagt — 
wäre es da nicht lächerlich, auch nur einen Nugen- 
blick unfchlüffig zu fein? Nein, es bedarf da keiner 


befonderen Gründe, die Wahl ift jo beihämend 
einfach. 

Dennoch — Paula Koppel wäre in der Lay, 
eine „Beeinfluffung* ihrer Wahl, einen gemiflen 
Zwang nachzuweiſen. 

Sie hat einen Bruder. Ein netter junger Man, 
Commis in der Galanteriewarenbrandje. Ex hat feier 
Stellung verloren — eine folge der gebrüdten Gr 
ſchäftslage in der Stadt. Die Herren Chefs verminderten 
entweder die Zahl ihrer Angeftellten, oder fie jekten 
deren Gehälter herab. Man fing am, auf beſſen 
Zeiten zu warten. Die Herren Chefs Tonnen «, 
die entlaffenen Commis zumeift nicht. Arthur Koppel 
zum Beifpiel brachte e8 nur auf drei Wochen mit 
dem Warten, dann war bie lebte Sopefe feines Ichien 
Monatsgehalts aufgezehrt, die ſchlechte Zeit aber blich 
Es änderte ſich auch in drei, vier Monaten, in einen 
halben Jahr nichts daran, und der nette junge Dam 
mußte fi von feiner Schwefter ernähren laſſen, von 
der Schwefter, die fünfzig Kopeken täglich verdient. 
Und nicht nur ernähren — ſogar für feine Kleidung 
hatte fie zu forgen. Denn fold ein Handlungsgeiil: 
von der Galanteriewarenbrande muß überaus fer 
gefleidet gehen, tabellofe Wäjche tragen, in feinen 
Aeußern dem Mobebilde in des Schneiders Shu- 
fenfter möglihft ähneln. Der Prinzipal fieht & 
gern, weil er meint, daß es die Runden gern jeher, 
Bon Nod und Krawatte hängt jomit das Engagement 
ab. Einen ſchäbigen Commis nimmt feiner. Hinter 
der Schäbigfeit wittert man jogleich allerlei In 
tugenden, mindeftens Neigung zur Unorbentliäfei. 

Arthurs gute Garderobe und feine Wäſche bükten 
aber nad und nad) ihre Untadelhaftigfeit ein ki 
jeinen vielen Irrfahrten nah einer Stellung. & 
juchte nicht nur die eigne Stadt wöchentlich einige 
mal ab, er bereijte auch die meiften übrigen in dır 
drei heimatlidhen Provinzen. Zur Beſchaffung de 
nötigen Reijegelder trug Schweſterchen Paulı — 
weil der Gang ben eleganten jungen Mann fo ieh 
genierte — alles Entbehrliche und Unentbehrlicht ju: 
Leihlaſſe. Bon feinen erfolgiofen Touren tehrt 
Arthur immer wieder zum lieben Schweſterchen zuri‘ 
in die Feine niedrige Stube im Tammilſchen Kılı 

Nah acht Monaten ftellenlojen Bummelus jc 
Arthur Koppel nicht mehr aus wie ein feiner Gommi: 
der Salanteriewarenbrande; dem Modebilde in di 
Schneiders Schaufenfter glich er erjt recht nicht. Ir 
feine hellgeftreiften Beinkleider fragen fich hinten as 
den Haden gefranfte Segmente ein, der Kammgar- 
tod nahm einen franfhaften Atlasglanz an, der v0 
mals braune Filzhut begann zu changieren wie di 
modernen jeidenen Blowienftoffe, und im ben ipikigen 
Stiefeln rangen die tyrannifierten Zehen mit Erſolz 
nad) Licht und freiheit... Und da der nette jung 
Mann auch jelber eine leidenichaftliche Vorliebe 


Verjorgt. 795 


elegante Anzüge, neue Hüte und farbige Krawatten 
begte, jo erjchütterte ihm die Tragif feines jehigen 
Habitus jo tief, dab er, wie er jeiner ängftlichen 
Schweſter einmal verriet, über Selbftmorbgebanfen 
brütete. Der unglüdlihe Jüngling — er fonnte 
den Jammeranblid jeines fieberglängenden Rockes, 
feiner angefreffenen Hofen nicht länger ertragen! ... 
Zudem war aud) die Verpflegung bei der Schiwefter 
nicht befonderd, Er magerte ab, der Arme, er verlor 
feine roten Baden, feine ganze Lebensluſt, und nie 
jah man feinen font jo fröhlichen Mund unter dem 
ihneidigen Schnurrbart mehr lachen. 

Dos alles mußte der guten, ihn zärtlich liebenden 
Schwefter zu Herzen gehen. Sie litt womöglich noch 
mehr ala Arthur ſelbſt. Wohl bürftete und nähte 
und flidte fie unermüdlich an ihm, ganze Nächte dafür 
opfernd, ſchwerer Tagesarbeit folgende Nächte, und 
trofdem ihr das Blut aus den zerftochenen Fingern 
tröpfelte und die übermüden Augen fait nichts 
mehr jehen lonnten — es half nicht viel, der Zahn 
der Vernichtung war ftärker. 

Und num noch der Nermften übrige Sorgen! 

sh muß Sie nochmals um Nachſicht bitten, 
Herr Tammik — die Miete für zwei Monate — 
ih lann fie nicht... Mein Bruder — Sie wifjen —“ 

Der Alte pflegt verbiffen dreinzufchauen, wenn 
man ihm flatt Geldes leere Worte bringt, Er ift 
im Begriff, eine fcharfe Bemerkung zu machen — ba 
blidt er die Meine Näherin an und verjchludt das 
Wort. Es wird nur ein Grunzen vernehmbar. Er 
will fi gedulden, 

Nah einem Monat wieder: 

Verzeihen Sie, Herr Tammik — mein Bruder 
— er hat Schon bie beften Ausfichten — es kann fich 
nur um ein paar Wochen handeln — bis dahin — * 

Er wird aud diesmal nicht böfe. Kaum ein 
Stirnrungeln, aber fein Grunzen. Er blidt ruhig, 
beinahe freundfih. Er bietet ihr jogar einen Stuhl 
an und erfundigt ſich teilnehmend nad ihren und 
ihre Bruders Berhältniffen. Dabei ſchaut er fie 
immerfort an, jo jeltfam forjchend und prüfend und 
— noch etwas anders, fo daß die Heine Näherin vor 
Furcht und geheimem Unbehagen abwechſelnd errötet 
und erbleiht... Nein, nein, fie möge fich feine 
Sorgen machen, er fei fein Tyrann, es würde fi 
Ion einmal finden... 

Es thut auch nichts, daß fie noch und noch einmal 
mit derjelben abgedroſchenen Entſchuldigung kommt 
— er bleibt bei ſeinen milden Troſtesworten, der 
leutſelige alte Herr, den man als geizig verleumdet, 
nur daß ſein Anftarren ein wenig dreiſter wird, da 
fe ſich ſchon mehr kennen, und jeine fragen und 
Bemerkungen vertraulicher, wärmer klingen, weil ihre 
Kot ihm Mitleid einflößt. Immer längerer Gejpräche 
würdigt er fie, wenn fie fommt, und wenn er ihr im 


Treppenflur zufällig begegnet, erkundigt er ſich aufs 
gütigite nad) ihrem Ergehen. 

Eines guten Tages — wer fommt da? Es ift 
ber alte Herr Tammil, der in Paulas unterirdijchem 
Stübchen erſcheint. „Die Mietihuld!* zudt es ihr 
durchs Herz. Bewahre! Der gute Alte will nichts 
davon hören. Er komme nur, da e8 Sonntag fei, 
um fi ein wenig zu unterhalten, denn er habe es 
jo einfam und langweilig da oben in den großen, 
ftillen Räumen; er fei ein einfadher Mann, habe 
feinen Verkehr — und fo fort... Herr Koppel 
nicht daheim? Nun, ganz gleih.... Er plaubert 
und plaudert und geht dann wieder... 

Noch ein zweites, ein brittes Mal fieht Paula 
feine Glaße in der ſchmalen Thür aufleuchten, feine 
hagere Gejtalt gebüdt in den niedrigen Raum treten, 
jein welfes Gefiht mit füßlichem Lächeln ſich ihr 
nähern. Und immer fein Wörtlein über die Schuld! 
Was er nur will? Was es nur bedeuten mag? 
Doch nidht etwa — pfui!... 

Und doch! 

Er legt jchließlich ein Bekenntnis ab — ernſt und 
überzeugend. Er giebt Aufſchluß über feine Ver— 
mögendverhältniffe; ihren Altersunterſchied gleicht er 
mit dem Verjprehen aus, nicht lange leben und 
jeine Witwe zur Univerjalerbin einfeßen zu wollen; 
er jpielt auf die Annehmlichkeiten eines unabhängigen, 
aller Sorgen, jeglicher Arbeit entrüdten Lebens ge= 
ihidt an, und dem Schwager in spe ftellt er einen 
Vertrauenspoften in feinem Geſchäft in Ausſicht. 
Er verlangt nicht ihren fofortigen Entſchluß. Sie 
foll Bedenkzeit Haben, fo lang fie will. Und damit 
geht er... 

Arthur, alser vernimmt, was geſchehen — er war 
nicht zugegen gewejen — macht vor freude einen 
Quftjprung. Er ift berauſcht. Im Geift ſieht er 
ſich plöglich wieder daſtehen — neu equipiert vom 
Scheitel biß zur Sohle, jeder Zoll ein Gentleman, 
und mit Geld im Beutel — nah acht Monaten 
wieder Geld im Beutel!... Er überfällt die Schwefter 
mit unbändigen Lieblofungen, er lüßt fie und weint 
vor Seligfeit wie ein großer Junge... Wie ift es 
doch gut, eine Schweiter zu haben, deren Wert jo 
hoch tagiert wird! 

Wie? Bedentzeit? Wozu? Jft fie denn von Sinnen? 
Bebentzeit, werın einem gegen Hunger und Elend ein 
Vermögen angeboten wird? Darauf könne man nur 
eine Antwort haben, und die laute: Ja, ja, ja! 

Sollte ein Menſchenherz denkbar fein, das über 
fi brächte, einem Freudentaumel von jold über» 
wältigenber Intenfivität aus purer Eigenliebe ein 
Ende zu bereiten? Mein! Für ein Schweiterherz 
wie das Paulas — unmöglich! 

Sie jchreibt dem Wohlthäter, der ihren Bruder 
fo namenlos glüdli gemacht: „Ja, ich will.“ 





796 Eduard Wilde, 


IV. 

Die junge Frau fiht in ihrem Pruntgemad und 
wähnt fih im Grabe. Und wie fie in den Spiegel 
Ihaut und um ihre begrabene Jugend trauert, öffnet 
fi plößlic) die Thür — es ift Arthur. Er ſchwitzt 
vom Tanzen, fein Auge leuchtet, auf feinem hübſchen 
Geficht malt fi ein fattes Wohlbehagen. Wenn er 
nicht Rüdficht auf feinen nagelnenen eleganten Frad, 
auf fein ſchönes Vorhemd zu nehmen hätte, er wäre 
fähig, im Boudoir der Schwefler vor freubigem lleber« 
mut ein Rad zu ſchlagen. Er ift jo zufrieden! Er 
befigt nun wieder alles, was ein netter junger Mann 
bejifen muß, der es liebt, auf fein Aeußeres Sorg⸗ 
falt zu verwenden. Er ift nun wieder ein feiner, 
ein fehr feiner Commis. Der honette Schwager, er 
hat auch ihm nicht vergefien in feiner Bräutigams- 
laune, und außerdem ftand ihm Paulas reichgefüllte 
Brautlalfe mit einem „Vorſchuß“ zur Verfügung. 
Zum Dank fchlug er vor ihr ein Rad... Wie glüd- 
lich machte ihn doc dieſe Ehe! ... 

Der junge Mann jheint das Meine Gemad) auf- 
geſucht zu haben, um ungejehen jeine Toilette und 
feine Frilur zu ordnen. 

„Du bier, Paula?” fragt er zerftrent, indem er 
ſich vor den großen Spiegel ſtellt. „Geh doch tanzen, 
mein Kind!“ 

Er muftert fih aufmerffam von allen Seiten, 
fährt ſich Liebevoll durch das künſtlich gefräufelte 
Haar, zupft Schnurrbart zurecht. 

„Du, Paula, fieh mal nad, wie er hinten ſitzt 
— den rad, meine ih. Gut? Bemerfft du nicht 
eine Feine Falte an der Tinten Achlelhöhle? Nicht? 
— fo antworte doch! ... Aber jchau mal her 
— die Beinfleider, die haben jicher einen Heinen 
Fehler — da, mein da... Wenn ich rafch gebe, 
wenn id) mid wende — fieh nur — Über, mein 
Gott, was ift dir denn ?* 

Ein Schluchzen, erfchütternd wie der Angſtſchrei 
eines brechenden Herzens, veranlakt ihn, fich über» 
taſcht umzufhauen. Sie weint. Sie ſitzt da im 
vollen, foftbaren Brautfhmud mitten im berrlichften 
Luxus und weint... Worüber denn? Gott, dieje 
Sentimentalität der jungen Mädchen! Er fragt fie, 
redet ihr freundlich zu und jchüttelt ratlos den Kopf. 

„Soll id dir etwas bringen? Ein Gläschen 
Eelt, nit wahr?” 

Er führt ihr ftreichelnd über das Haar und 
wendet fi zum Geben; dabei wirft er aber noch 
einen Blid in den Spiegel, findet an feiner weißen 
Binde etwas zu ordnen, und indem er von neuem 
ftehen bleibt, vergibt er darüber fein Vorhaben. 

Die Thür öffnet fich leife; es wird ein bärtiges, 
lächelndes Männerantlig fichtbar, 

„Alſo bier finde ich meinen jchönen, treulofen 
Flüchtling! Ad, gnädige Frau, ich habe Sie geſucht 


wie mein Seelenheil... Aber was ift denn gejhehen?* 
Das Lächeln auf feinem Iuftigen Geſicht matt 
plögih einem übertriebenen Erſchreden lat. 
„Ihränen?... Ja, jehen Sie, das kommt davon, 
daß man einfame Winkel aufſucht, um zu grübeln, 
flatt gedankenlos unterzutauchen im feftlichen Trubel! 
Sagte ih Ihnen nicht, daß wir Eintagäfliegen find 
— Sie und id) und die da drinnen aud? Nein, 
das geht nit! Kommen Sie mit mir — id wil 
Ihnen Troft verſchaffen. Zurüd ind Reich der freude, 
mein Heiner Dejerteur!* 

„Ganz recht, Herr Jürgens, zum Tanz mit ihr!“ 
meint Arthur. „Die Weiber bleiben fich alle gleich 
Weinen und Lachen — bei ihnen ſteckt beides in 
einem Rohr,“ 

Herr Provifor Jürgens bietet ber jungen Frau 
galant den Arm, der zögernd angenommen wir 
Ihre Augen teodnenb begiebt fie ſich mit einem 
Lächeln, das einen Anflug von verzweifelter Nadjust 
bat, zurüd ins wogende Tanzgemühl. 

Provifor Jürgens, ein entfernter Verwandter und 
Hausfreund des alten Herrn Tammil, bleibt für der 
ganzen Abend begünftigter Tänzer und Kavalier der 
jungen Frau, eine Rolle, die er feinen nahen Br- 
ziehungen zum Hausherren, wie wohl aud) feiner ftatt: 
lihen Erjcheinung und feiner bejwingenden Lieben; 
würbigfeit verdantt. Herr Tammil, mit andern 
tanzunfähigen alten Knaben vergnügt am Sartentüd 
fitend, hat nichts dagegen, obgleich ihn jein gefähr⸗ 
licher Vertreter durch Meine Nedereien felber zur 
Eiferfucht zu reizen oder — derſelben vorzubeugen 
ſucht. Der Alte madjt ein abwehrendes Zeichen mit 
der Hand und lacht; er erflärt die Eiferfuht für 
eine Knabenkranlheit, die ihn nicht anfechten könne. 


V. 


Morgenlicht dringt durch die herabgelaſſenen 
Vorhänge ins Brautgemach. Es färbt ſich unterm 
Seidenzelt des Himmelbetts zur zartblauen Dän- 
merung. Das junge Paar ruht noch. Es ruft, 
aber nur eines ſchläft; das junge Weib liegt mit 
geſchloſſenen Lidern da, aber es ift wach. 

Ein Schlummer, wollüftigebleiern wie ein Cham 
pagnerraufch, umfängt die alten, kraftloſen Glide 
des glüdlichen Ehemaunes. Sein teuer erworbene 
Kleinod mit der eiferfüchtigen Gier des Geizhalle 
an den morfchen Bufen drüdend, ſchnarcht er einen 
fatten, fröhlichen Hochzeitsſchlaf. 

Er gewahrt nicht, wie fie neben ihm fiebert und 
fröftelt, wie ihre Lippen zuden, wie fie mit den 
Zähnen Inirfcht, Er ſieht nicht das trodene Glühen 
unter ihren langen Wimpern, nicht die giftigen 
Funten, die verftohlen hinaufbligen zur blauen Dede 
über ihnen. Denn fähe er's — er würde nicht jo 
ruhig daliegen in lächelnder Sorglofigfeit. 


Verjorgt. 797 


Es graut ihr. Sie hat ein Gefühl, wie wenn 
fie für ein ſchreckliches Verbrehen an ein Zoten« 
gerippe gefefjelt wäre; der Arm, der ihren weißen 
Hals umſchlingt — es ift der Talte, harte Knochen 
eines würgenden Skeletts. Sie wagt fih nicht zu 
rühren, um ben blut- und fleifchlofen Körper, den 
verhaßten, an ihrem blühenden Leibe nicht zu fühlen ; 
fie getraut fi nicht, die Augen zu öffnen, in der 
Furcht, meben ſich das verwitterte, blöde lächelnde 
Mumiengeficht zu erbliden. Es bangt ihr vor allem 
vor feinem Erwaden. Und jo brütet fie feit einer 
Stunde regungslos in ber jchredlichen Umſchlingung. 
Kein mitleidiger Schlaf betäubt ihre rafenden Sinne, 
diaboliſch langſam nur rüdt der Morgen heran — 
Ril, erbarmungslos ftill bleibt e& nocd) immer im 
Haufe. 

Und da erfaßt fie eine wahnwigige Wut, die 
Wut des brutal unterdrüdten, vergewaltigten Weibes 
in feiner jammervollen Ohnmadt. Sie jchlägt die 
Augen auf. Sie will ihn jehen in feiner ganzen 
Erbärmlichkeit, ihm ins Gefiht fpeien ihren Haß, 
ihre Beradhtung, ihren Elel. Da liegt er und ſchnarcht. 
Sein breiter, lippenlofer Mund ſteht weitgeöffnet, 
ein einzelner pehihmwarzer Zahnftumpf ragt daraus 
hervor; fein kahler Schädel gleicht einem gelben 
Totenkopf in der bläulichen Beleuchtung, keuchend, 
ſchnarrend Hebt und jenkt ſich die eingefallene, längſt 
erfaltete Bruft. 

Ein Ziſchen wie das einer getretenen Natter ent- 
fährt ihren Lippen. Mit einem dumpfen Aufichrei 
richtet fie fich empor. Ihre Hände zudten, die Finger 
frümmen ſich, e& ift ihr, als müßte fie ihm an die 
Rehle jpringen und ihn auf der Stelle erwürgen. 
Denn er ift nicht ihr Mann, nicht ihr Lebens— 


En 


gefährte; er it ein fremder Menſch, ihr Todfeind, 
ihr Ausbeuter. Eie reißt fi los von ihm; über 
feinen Körper hinwegtretend, entflieht jie der ver— 
haften Gruft mit der ſchlafenden Leiche, 


VI. 


Frau Paula fand auf dem Tiſch in ihrem Boudoir 
einen großen Strauß herrlich duftender Roſen; auf 
der Karte, die darin flat, las fie: „Der glüdlidhen 
jungen rau zum Morgengruß ihr ergebener (auf 
der andern Seite) — Heinrich Jürgens, Provijor.” 

Als fie im rofafarbenen Morgenkleide, mit dem 
Bouquet in der Hand, ans Feniter des Gaftzimmers 
tritt und zerſtreut hinunter zur Straße blidt, erſcheint 
in der Thür der gegemüberliegenden Apothele ein 
junger Mann, verbeugt ſich leicht und lächelt zu ihr 
hinauf, 

Sie errötet, und in ihrer Verlegenheit drüdt fie 
das Geficht tief in die Blumen, 

Darauf macht der junge Mann mit dem finger 
ein Fragezeichen in bie Luft. 

Sie veriteht ihn nicht, nicht ganz, aber fie nidt. 

Wie fie ſich ummendet, fteht der alte Tammil vor 
ihr mit eingebogenen Knieen, gebeugtem Naden, aber 
mit einem verliebten Lächeln um den zungeligen 
Mund, 

Mich heimlich verlafien und die Flucht ergreifen 
— ei, ei!” droht er jherzend mit dem langen Feiges 
finger, worauf er fie zärtlich umfaßt und zur Frübftüde- 
tafel führt, 

Nachdem er mit Arthur ins Geſchäft gegangen, 
ertönt einige Minuten darauf die Glode, und das 
ewig lächelnde Geficht des Herrn Frovijor Jürgens 
wird in der Thür jichtbar, 


— 


Zwei Nachbarn. 
Bon Anthero de Quental. 
Aus dem Portugieffhen überfegt von £. Ey. 


Der Kammern zwei umſchließt das Menfchenherz ; 
Drin wohmen, obme fich zu Fennen, 
Freud' in der einen, in der andern Schmerz. 





Wenn früh in ihrer Kammer voller Sonne 
Die Freud' erwacht zu heiterm Scherz und Lachen, 
Entfchläft der Schmerz in feiner, mid’ vom Machen. 


Sei leife, freud’! © zügle deine Wonne! 
© juble nicht! Caß alles frohe Necken! 
Du möchtſt — er ſchläft fo ſacht! — den Schmerz erwecken. 


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— —— — a PR 


ba, 2.07 0:2 Br 1 ren a nn 


Donnenmwolßen. 


Erzählung 


bon 


Kriſtian Elſter. 


Aus dem Norwegiſchen überſetzt von Cora Thams. 
(Säluß.) 


VI. 


&s war einige Zeit danach, während bes Ueber⸗ 
ganges vom Winter zum Frühling, als mich Elina 
bat, einen Spaziergang mit ihr zu machen. Wir 
waren ſeit Wochen nicht miteinander im Freien ger 
weſen. Anhaltendes Tauwetter hatte den Schnee 
aus allen tiefer gelegenen Plägen verſchwinden laſſen. 
Plöglih auftretender Froft ließ die Wege wieder 
gangbar werben, und die bereiten Bäume und 
Sträucher hatten beinahe das Ausſehen von Männern, 
die in weiße Wolle gefleidet waren, Man hörte 
beim Uebergang über Wiefen einen trodenen, fnarren- 
den Ton zu feinen Füßen, und im dichten Ge— 
büjch zerbrachen die fleifgefrorenen Zweige wie Glas 
bei jedem Schritte duch dasjelbe. Kleine, im 
Schatten gelegene Wafjertümpel hatten fih mit 
blantem, grauem Eife bededt, welches runde Binjen- 
halme oder fiejelbefäten Untergrund durchſcheinen 
ließ. Wo die bereiften Triften von der Sonne be» 
leuchtet wurden, war e3, als öffneten ſich auf Gräſern 
und Bäumen Taufende Heiner, heller Augen, bie 
ftrahlend zum Lichte emporjhauten. Es war einer 
jener Tage, die zuweilen gegen Ende des Winters 
eintreten und die uns verleiten, an eine Erneuerung 
ber jtrengen Jahreszeit zu denfen, jtatt Frühling und 
Sommer zu erwarten. 

Schweigſam gingen wir nebeneinander dem Meere 
zu. Plötzlich ſchaute Elina auf und fagte: „Id 
muß bir etwas mitteilen, woran ich lange gedacht 
habe, Ich möchte nicht, daß du Holt jo häufig be= 
juchteft.” 

Das Blut war ihr in die Wangen geftiegen, und 
ihre Augen leuchteten vor innerer Erregung. 

„Und was haft du dagegen?” 

„Das werde ich dir fagen. Ich habe genau dbas- 
jelbe gegen beine Befuche einzuwenden, wie gegen die 
von Bang. Ihr müßt offenbar Holt etwas zum 
bejten haben, ſonſt begreife ih wahrhaftig nicht, 
was ihr bei ihm anfangt.“ 

„Du irrſt di, wenn du meinft, daß wir deinen 


Onfel zum beften halten, und ich verftehe nicht, 
woher bir ſolche Gedanken fommen. Oder glaubft 
du wirflih, daß Holt der Mann wäre, fi der- 
artiges gefallen zu laſſen? Ich kann bir vielmehr 
erzählen, daß Holt zuweilen feinen harmloſen Schery 
mit dem ‚Patrioten‘ treibt, aber niemals findet der 
umgefehrte Fall ftatt.” 

Sie jah eine Zeitlang nachdenkend vor ſich hin. 


„Aber du Tangweilft dich doch entjchieden bei ihm 


und beſuchſt ihn wohl nur, um ihm eine Aufmerl 
ſamkeit zu erweifen?“ 

„In dem Punkte ircft bu dic) ebenfalls; bein 
Ontel ift durchaus feine langweilige Perjönlileit.* 

Sie ftand till und jah mid einigermaßen ver» 
wundert an. „Sage mir, würde es Dir genügen, 
dein ganzes Leben hindurch in Holts Gomptoir zu 
ſihen ober Arzt in einem Heinen Orte, wie diefer, 
zu jein ?“ 

„Gewiß, das lehtere jedenfalls,” erwiderte id 
aufrichtig. 

Sie ſetzte ſich wieder in Bewegung, während ihr 
Geſicht einen grübelnden Ausdruck annahm. 

„Wir leſen von ſo vielem Großen,“ fing ſie 
wieder an, „du müßteſt doch etwas Beſſeres werden 
lönnen,“ — fie brach ab. 

„Was meint bu?* 

„Ich meine, daß ich, wäre ich an deiner Stelle, 
mic dahin jehnen würde, wo — mehr geſchieht als 
bier — wo die Menſchen andrer Art find... .* 

Da war er alfo wieder, der Gedanke an das, 
was außerhalb ihrer Heimat fei, der fie behertſchte. 

„Im großen Ganzen ift das Leben überall das⸗ 
ſelbe,“ antwortete id). 

„Das meinft du doch nicht im Ernſt?“ fagte fit, 
mid groß anblidend. 

„sa, in gewiſſem Sinne ift das ber Fall, — 
nicht im äußern... .* 

„Aber giebt e8 denn niemand dort, der — der 
— fie juchte nad) dem entſprechenden Ausdrude — 
ſich für das Viele intereffiert" — fie machte abermals 


Zus ns 


Sonnenwolten 


eine Paufe, um dann haftig, als jchäme fie fi 
ihrer Worte, zu jagen: „für das Viele, was groß und 
ihön if, und von dem man hört, daß die Menjchen 
in der Melt draußen bafür leben.“ 

„Ah, in den engften BVerhältniffen fann man 
ebenjo groß und jchön Leben; die Begebenheiten der 
großen Welt haben nicht immer fo befonberen Wert, 
Auch find es nicht immer die Begabteften, die am 
ihönften und reichiten leben.“ 

„Das verftehe ich nicht,“ fagte fie nachdenklich ; 
„mir fommt vor, ala müſſe es etwas Beſſeres geben, 
für welches man leben könnte, als das, womit ſich 
die Leute hier befaſſen. Als mühten die Menjchen 
dort draußen größer jein, auch größere Aufgaben 
haben, an denen fie arbeiten. Und ich würbe mich 
niemal3 mit dem SPeineren begnügen, wenn id) die 
Möglichkeit fähe, für etwas Größeres Teben zu 
können, — Weißt du, daß e8 mich eigentlich immer 
gewundert hat, wie bu bazu gelangteſt, mich liebzu— 
gewinnen, bie ih doch genau jo Bin mie bie 
andern bier.” 

Ich lachte; aber fie nahm die Sache durchaus 
ernft, grübelte offenbar gerade fo über diefelbe, als 
gelte e8 einem jchwer lösbaren Rätiel. 

Am Rande der See angelangt, wo der Weg auf- 
hört, kehrten wir um, Die Dorfihaft lag vor ung, 
ſonnenlos, winterlich falt und flarr. Um ſolche Zeit 
beſchleicht uns wohl das Gefühl, als feien die ver- 
einzelt gelegenen Meinen MWohnftätten eingefroren, 
hätten fi der Winterruhe hingegeben und erhafchten 
nur einen flüchtigen Gruß der Sonne von jenfeits 
der Berge, mit dem fie den Schlummernden Bot- 
haft bringe von der Schönheit ihrer eigentlichen 
Heimat, der großen Welt draußen. Mir famen in 
dieſem Augenblide andre Gedanken beim Anblid der 
fillen Ortſchaft mit ihren gemütlichen Heinen Häufern. 
Gerade jetzt erinnerte ich mic) deutlich alle Guten, 
Wahren und Schönen, das ich jemals bort gefunden. 
Ich dachte daran, wie viele mir in diefen Nebenthälern 
begegnet waren, die fid) weder großer Geiftesgaben 
noch beionderer Bildung rühmen konnten, und deren 
Leben doch ein reicheres war ald dasjenige von 
manchen, denen fowohl Talente, Gelehrſamkeit als 
auch wichtige Aufgaben zu teil geworden. Ich ver- 
gegenwärtigte mtir, daß wir und nur zu oft von 
dem, was Aufſehen erregt, blenden laſſen und nicht 
bemerken, daß fi) zumeilen mehr Geift in ärmlicher 
Werkthätigkeit als in weltbelannten Thaten findet. 

Mir trat vor die Seele, wie häufig ich die ftille 
tägliche Beichäftigung am diefen entlegenen Plätzen 
geiehen Hatte, wenn Liebe fie verflärte, die von einer 
Selbftverleugnung, einer Treue und Geduld zeugte, 
welche fie zu etwas Größerem jtempelte als viele 
Ihaten, die durch Bücher und Gefänge verewigt 
werden. Aber das alles vollzieht fich ftille, ohne 


799 


Worte und Gepränge, und wir find fo jehr daran 
gewöhnt, dab es häufig auf ums und bie wenigen, 
welche einen Blid für dergleichen haben, feinen Ein« 
drud mehr macht, dieſes Große, dem feine wmelt- 
erobernden Worte zur Gebote ftehen, um es berühmt 
zu machen. 

Gewiß erinnerte ich mich zugleich an unendlich 
viel Kleinliches, Rohes und Gewöhnliches; zu genau 
war es mir bewußt, daß bie Luft in jolchen Heinen 
Gemeinden unerträglih did und erjlidend werben 
lann. Es ift aber nicht anders möglich, dort, wo 
der größere Bruchteil der Menſchen Zeit und Fähig« 
feiten dem Kampfe um feinen Lebensunterhalt widmen 
muß, und wo neue Ideen und Anſchauungen jeltene 
Säfte find, Aber oft genug findet man da ein 
wunderbar reich entwidelte® Gemütsleben, Ritter 
weile und Ritterthaten, und e8 fehlt auch nicht an 
Zielen, denen man zuftreben fünnte, ſobald das 
Auge dafür offen und der Wille bereit für die— 
jelben ift. 

Während ich alles dies mit Elina, als Erwide- 
rung auf ihre fragen, beſprach, fiel mir ein, daß 
gerade Holt und feine Thätigfeit in vieler Beziehung 
als Beifpiel für daß dienen fünne, was ich ihr zu 
erffären wünjchte, und ich ſchloß damit, feinen Namen 
anzuführen, 

Sie hatte nur eine ungebuldige Bewegung als 
Antwort. Ich fuhr fort: „Du benfft wohl, daß er 
fein geiftreicher Mann ift und weder viel gelefen noch 
gelernt hat. Ich will dir nur geftehen, daß aud) ich 
ihn einmal für einen engherzigen, vorurteilsvollen 
Bauern gehalten habe. Und ich kann nicht leugnen, 
daß fein Urteil über Menſchen und Dinge zumeilen 
ein höchſt unbilliges ift; aber e8 erfordert eine jehr 
große geiftige Ausbildung, ſtets gerecht zu fein. In 
feiner Weife aber ift er doch eine ritterliche Natur. 
Sprich mit jenen, die zur Winterszeit mit ihm auf 
dem Meere fahren, und du wirft hören, daß er ein 
Held jein lann. 

„Frage die, welche für ihn arbeiten, und du 
wirft es bewundern, zu jehen, wie ſehr er fich die 
Sorgen andrer zu eigen macht, und wieviel er allen 
feinen Leuten gewährt hat. Du jelbft weißt es ja 
auch, wie hoch er von ben Armen hier geihägt wird. 
Sprid mit Vang, und du wirft dich davon über— 
zeugen, nicht, daß er ein Freiheitsmann ift, fonbern 
daß er auch den Menſchenwert derjenigen zu würdigen 
vermag, bie ihm felbft im höchſten Grabe ungleich 
an Begabung und Bildung find. Ehemals dachte 
ich auch anders über Holt, aber feit meiner näheren 
Belanntfchaft mit ihm weiß id), welche warme, treıre 
Natur er befißt, daß er tiefer empfindet ala die 
meijten andern, und dab er für die, welche er liebt, 
jedes Opfer bringen fönnte, Sein unfreundlicdhes 
Benehmen dir gegenüber ift mir immer rätjelhaft 





800 


erichiehen ; ich habe wieder und wieder gedacht, daß 
dem ein Mißverſtändnis zu Grumde liegen müfle, 
und fiher hat Vang recht, wenn er jagt...“ 

Ich ſtockte einen Augenblid, überlegend, ob ich 
ihr meine Unterredung mit dem Advokaten mit« 
teilen jolle. 

„Nun, was jagt denn Bang?” fragte jie mid 
mit bejonderer, ſcharfer Betonung. 

Ich erzählte e8 ihr; hätte ich aber vorher gewußt, 
welchen Eindrud mein Bericht auf fie herporbringen 
würde, jo wäre ich zurüdhaltender geweſen. 

Zuerft ſah fie mich mit dem fejten, inquifitori» 
ſchen Blid an, bem ich ſchon einmal begegnet, und 
der mich damals in jo große BVerlegenheit gefeht 
hatte. Es war, als zmeifle fie an meiner Glaub- 
würbdigfeit, und als wolle fie mir ins Gerz fehen, 
um zu erforfchen, zu welchem Zwecke ich diefe ganze 
Geſchichte erfände. Plöklich aber jchlug fie die Augen 
nieder und lieh das Haupt finfen. Ihre heftigen 
Herzſchläge und kurzen Atemzüge verrieten, mit 
weldyer Spannung fie meinen Worten lauſchte. Nach⸗ 
dem ich aufgehört hatte zu fprechen, ließ fie meinen 
Arm fahren und ftand, mich anjehend, fill. Ihr 
Gefiht zeigte einen ganz eigentümlichen Ausdrud, 

Sie blidte auf, groß, verwundert, als jehe fie 
etwas ganz Neues an mir. Ihre mir immer noch 
zugewendeten Augen wurden jtarr und falt, und es 
fam mir vor, al& jähe fie nicht mehr mich, ſondern 
etwas in weiter, unerreichbarer Ferne, oder als er- 
blide fie jelbftvergefien ein Bild im ihrer eignen 
Seele. Es wurde mir ganz jonderbar zu Sinne, 
und fie erſchien mir eher wie eine gänzlid) Fremde, 
als wie meine verlobte Braut. 

AS fie dann meine fragende Miene gewahrte, 
ſenkten fi ihre Augenlider, und fie nahm meinen 
Arm aufs neue. Wir näheren uns Holt Woh- 
nung. Sie wünjchte nod) nicht heimzufehren, fondern 
ichlug mir vor, den Spaziergang zu verlängern, Wir 
fehrten um und gingen ſchweigend wieder der See 
zu. Sie hielt fi dicht an mich) und lehnte zumeilen 
ihren Kopf an meine Schulter. Bald darauf lieh 
fie meinen Arm wieder fallen und eilte jo raſch 
voraus, als gelte es, jemand zu entfliehen. 

Dann wieder ging fie ganz langfam und jah 
ftarr vor fich nieder. Während fie jo einherichritt, 
verbreitete fi) mit einem Male ein tiefroter Blut- 
firom über ihr Antlik, ihr Auge glühte und hatte 
zugleich einen folden Ausdrud der Herzensangft, daf 
ich unwilllürlich ihren Arm faßte und erjchredt fragte : 
„Bift du Frank, Elina?“ Raſch wendete fie das 
Haupt zur Seite, „Nein, aber ich glaube, ich bin 
— müde.” 

Sie ſehte fih auf einige am Mege Tiegende 
Breiter und jah niebergebeugt zur Erbe. 

„Du fiehft jo gedanfenvoll aus, Elina, — hat es 


Kriftian Elfter. 


bich betrübt, daß ich dich an alles das von deinem Onfel 
erinnert habe?“ Sie jchüttelte den Kopf, indem 
fie ihm noch tiefer ſenkte. Ihr Geficht hatte feine 
gewohnte Färbung wieder; vielleicht jah fie um einen 
Schatten blafjer aus als vorher. Plößlich erhob fie 
ih. „Mid friert,” fagte fie, zog ihr Tuch enger 
um die Schultern und nahm meinen Arm. Wieder 
wendeten wir uns ben Häufern zu, doch al& wir 
und demjenigen Holts näherten, wollte fie abermals 
umlehren; es war faft, als bange ihr vor dem Seins 
fehren. Allmählich fhien die Bewegung, melde ſich 
ihrer bemädhtigt hatte, geringer zu werben. Sie 
fing an, fi ganz heiter mit mir zu unterhalten. 
Sie wünſchte alle jene Pläte aufzuſuchen, am die fih 
für ung liebe Erinnerungen fnüpften, fie ſprach von 
den vielen gemeinjam mit mir verlebten Stunden 
und erinnerte fi mit einem Male mancher Iuftigen 
Geſchichten aus der Dorfichaft. 

ALS wir an einem zugefrorenen Teiche vorüber: 
famen, wo die Jugend fi mit Schlittichuhlaufen und 
Glitſchen vergnügte, ftand fie ftill, indem fie fagte: 
„Ad, ſieh doch, wie fie laufen; früher war es das 
Amüfantefte, was ich mir denfen fonnte. Wenn & 
im Herbfte zum erften Male Eis gab und mir alle 
und nachmittags draußen auf dem Teiche verjam- 
melten, wo wir beim Laufen fpielten und lachten, ba 
war mir jo froh zu Sinne, als gäbe «8 feinen 
Kummer in der Welt. Ah, wie lange jcheint mir 
das her zu fein!“ 

Eine Miſchung von Wehmut, Sanftheit und Saum 
lag in ihrem Wefen, wie ich fie bis dahin gar nicht 
an ihr gekannt. Sehr oft hatte ich fie tief betrübt, 
noch häufiger außgelaffen munter gejehen; aber dieſe 
wechjelnde Stimmung, in der launige Einfälle gleid- 
fam unter Thränen hervorſchimmerten, war ihrer ganzen 
Art und Weiſe jo fremd, daß fie bei ihr unerklärlich 
erjhien. Sie war zärtlicher als jemals, hielt ſich 
nahe zu mir, al& ängftige fie etwas, und wiederholte 
mehrmals: „Du bift gut — und mein bift du, nidt 
wahr?” 

Dazwiichen jchienen ihre Gedanken fie mieder 
weit fortzutragen, als fei fie einem Jdeengange ver» 
fallen, der fi) ihrer gänzlich; bemädhtigt hatte, Doch 
gab fie fi dem nicht lange hin, Mit fefter Hand 
ftrich fie fi über die Augen, fah mic) an, nidte mir 
lächelnd zu und fragte ſcherzend: „Haft du mich auch 
lieb, du böfer Menſch?“ 

Unten am Fjord, mo verfchiedene Boote feſt⸗ 
gebunden lagen, machten wir Halt. 

„Wir nehmen ein Boot und rudern damit in die 
weite Welt hinaus,“ jagte ji. „Wir wollen allem 
bier Lebewohl jagen und es nie wiederſehen. Komm, 
jehen wir uns, und dann höre zu. Ich Habe mir es 
genau überlegt. Wir wollen in einem weißgemalten 
Haufe mit grünen Thüren wohnen. Es muß recht 





Sonnenwolten. R01 


hoc liegen, damit wir das Meer jehen können. ſchwach lächelnd zu mir auf — „du mußt mid er 
Draußen müſſen Rojen fein und eine Banf, von der | 


aus wir die Sonne untergehen jehen können, Dann 
wollen wir ein weißes Segelboot haben, denn id) | 
glaube, ic) könnte an feinem Platze leben, von dem 
aus fih nicht jegeln ließe. — Das joll dein und 
mein Schloß fein.” j 

„Und da wollen wir in Serrlichfeit und freude 
leben, wir zwei, wie im Märchen.“ 

„Nein, wir wollen als nüßlihe Menſchen leben; 
du bit Arzt, und ich werde dir helfen, die Armen 
unter deinen Kranken zu pflegen...“ 

Plöglih wurde fie ernft. „Ad, es ift jo traurig, 
alle die Armut,” jagte fie. „Es fann feine Gerechtig⸗ 
feit darin liegen, nein, gewiß nicht, daß es vielen 
jo ſchlecht geht. Denfe nur an die Sleinen, die 


fünnen es doch nicht verjchuldet Haben; ah — ad), ı 
ed wird einem ganz gottlos und jammervoll zu | 
Glücklich, 
Wenn der Paſtor in der 


Sinne beim Anblick des vielen Elends. 
wer allen helfen könnte! 
Kirche den lieben Gott bittet, allen denen beizuftehen, 
die franf und betrübt jind, werde ich immer jo 
traurig; weißt du, wir wollen recht gut gegen alle 
fein, die unglüdlih find — aber wir wollen weit 
von bier fort.” 

Sie brach plößlid in Thränen aus; wenn fie 
weinte, geichah es fajt lautlos, aber jo gewaltiam, 
dab ihr ganzer Körper erbebte. Sie gehörte nicht 
ju denen, die leicht weinen. Ich hatte niemals 
Thränen in ihren Augen gejehen; vielleicht erjchien 
fe nie ruhiger als eben dann, wenn ihr Kummer 
am tiefiten war. Daher werde ich niemals dieſe 
Stunde vergejien, da fie, die eine Gewalt über ſich 
beſaß, wie fie jelbft nur wenigen Männern eigen ift, 
io heftig, aber jtill ſchluchzte, als gälte es, fich für 
ein ganzes Leben auszuweinen. 

Schon den ganzen Abend hindurd Hatte ihre 
wunderlihe Stimmung beängftigend auf mich gewirkt; 
voll banger Erwartung hatte ich fie beobachtet; — 
als aber dieſer Ausbruch kam, fürchtete ich allen 
Ernſtes, die Erregung, in welche mein Bericht ihr 
ganzes Innere verjeßt, möchte zu! ftarf für fie fein. 
Wohl Hatte ich gedacht, daß die Entdedung, welche 
fie machen würde, einen tiefen Eindrud zur Folge 
haben und viele traurige Gedanfen weden würde, 
Aber die Erjhütterung, deren Zeuge ich jeht war, 
Ihien jo gewaltfam, jo übermädhtig, dab fie eine 
andre Urjache haben mußte als die Erkenntnis, ſich 
jo lange in ihrem Onkel geiert zu haben. Ich fragte, 
ja, id} flehte fie mit Worten und Lieblojungen an, 
mir ihr Vertrauen zu jchenfen und mid an ihren 
Sorgen, von denen ich nichts wußte, teilnehmen zu 
lafien. Aber fie jchüttelte nur das Haupt und er 
widerte:- „Ich verftehe mich ſelbſt nicht — ich konnte 
es nicht laſſen — es ijt dumm, aber“ — fie blidte 

Aus fremden Zungen, 1897, II. 17 





— — — —— — — — — —— —— — 





tragen, wie ich bin; ich werde dir keine ſo gute 
Gattin ſein, wie ich müßte,“ 

Ih wollte das Ganze forticherzen, aber fie 
Schüttelte ernjthaft den Kopf, ſah über das Mailer 
hin und fing an; „Nein, ich“ — brach aber wieder 


' ab, erhob ſich und fagte nur: „Jetzt wollen wir nad 


Haufe gehen.“ 

Unterwegs wiederholte jie mehrmals: „Wir wollen 
treu zulammenhalten, e8 möge fommen, was da 
wolle,“ und einmal ſagte jie wie zu fi) jelbit: „Ich 
glaube, wenn man es nur ernſtlich will, fann man 
einander das jein, wa8 man müßte. — Andernfalls 
wäre es ja fürchterlich,” jeßte fie hinzu. Bei dem 
Anweſen Holts angefommen, ftanden wir nochmals 
fill. „Hier war es,“ ſagte fie, „hier verweilten 
wir — vorher hatte ich nie an das gedacht, was bu 
damals fagteft — weißt du, es war mir, als babe 
ich dic) niemals vorher gejehen. Ich war jo ver» 
wundert; übrigens wurde ich zuerft böſe; es fchien 
mir fo dumm von bir, mir dergleichen zu jagen... 
Wie jonderbar es doch zuweilen fommt; hätteſt du 
mir nichts gejagt, ich würde, glaube id), nie in ſolcher 
Meile an dich gedacht haben.“ 

„Sch glaube, daß diejenigen, die zufammen ges 
hören, fi mit der Zeit auch verftehen, jelbft wenn 
fein Wort geredet wird,” 

„Diejenigen, welche zujammen gehören... .? 
Vielleicht!” meinte fie. „Erinnerſt du dich deſſen, 
was du mir einmal über Liebe ſagteſt?“ fragte fie. 

„Und weißt du noch, was du antworteteft? ‚Du 
bift dumm‘, ſagteſt du.” 

Sie lade. 

„Vielleiht war es gar nicht jo dumm. Die 
verwandten... .“ 

„Ih glaube, deine Weile war beſſer ala meine 
Philoſophie, beſonders — erinnerjt du dich? — : 

‚Sie fommt wie Laub zur Lenjeszeit, 
Bringt Thränen mit und Seligleit,‘* 

Sie that einige Schritte dem Haufe entgegen, 
meine Hand immer nod) in der ihren haltend. 

Ich gehe mit hinein,“ jagte ich. 

„Nein, heute abend nicht,“ wehrte jie jchnell ab, 
„Morgen früh fomme ich zeitig zu euch,“ fügte fie 
hinzu und ging rafchen Schrittes über den Hof. 

vol. 

Warum war e8 wohl, daß fie von dieſem Tage 
an fein Buch mehr öffnen wollte? Warum kümmerte 
e3 fie gar nicht, was in der großen Welt „draußen“ 
geihah, welche ihre Gedanken früher jo jehr in An— 
iprucd genommen und lie dahin gebradjt hatte, ſich 
nad ihr zu jehnen und alles in dem Orte dunfel 
und jchwer zu finden...? Sie jei nicht dazu auf- 
gelegt, jagte fie jelbit. Wollte ihre alte Vorliebe 
für die Dorfichaft und deren Leben wieder aufwachen? 

101 


— era — 


802 


Das ſchien auch nicht der Fall zu fein. Sie fing 
indes wieder an, die Armen häufiger zu bejuchen, ala 
es im der letzten Zeit geſchehen, und im Hausweſen 


arbeitete fie mit verboppeltem Fleiß. Nie jahb man | 


fie müßig; fie ſchien feines Ausruhens bedürftig. 
Ein Drang zur Arbeit hatte fich ihrer im ſolchem 
Grade bemädhtigt, da fie ihm nur ſchien Genüge 
feiften zu können, wenn ihre Thätigfeit ſich von 
Tagedgrauen an bis tief in die Nacht hinein erftredte. 

Dem Ontel gegenüber bemerkte man feine Ver: 
änderung in ihrem Weſen, außer daß fie ihn viel- 
leicht noch ängſtlicher auszuweichen fuchte als früher. 
Das Gehörte hatte aljo nur dazu geführt, ihr das 
Zufammenleben mit ihm noch jchwerer ericheinen zu 
lajien als vordem. Ich hatte mir gedacht, daß «8 


Krijtian 





nun zu einer Erklärung zwifchen ihnen gelommen ' 
wäre. Aber died war ein Irrtum — das Verhältnis | 


blieb unverändert; nur, daß dasjenige fie jeit mit 
Sorge und Kummer zu erfüllen ſchien, was fie 
ehemals bitter und zornig gemacht hatte. 
es einmal „ſchön“ gefunden hatte, zu Ichen, war 
jeßt ihr guter Humor untreu geworden, und fie ſchwand 
täglich mehr dahin. 

„Ich fange an, alt zu werden,“ ſagte fie ſcherzend, 
wenn die Rede auf ihr bleiches Ausjehen fam. 

Eines wurde mir bei diejem allem gewiß: mir 
mußten, wie Elina jelbft es geſagt hatte, weit fort 
von dem Ort und den heimijchen Verhältniſſen, 
unter denen fie litt. Einer meiner Univerfitätsfreunde 
hatte mir häufig von feinem Heimatsdorfe erzählt, 
als einem weit nad) Often hin im Inlande gelegenen 
Orte, wo ein Privatarzt ausreichende Beihäftigung 
finden fönne. Dies fam mir jet in den Sinn, und 
id) nahm mir vor, ihm zu jchreiben, wenn ich mit 
Elina Rüdjpradhe genommen haben würde. 

Zum erjten Male jeit dem Tage, an welchem ich 
ihre Bericht über meine mit Vang gehabte Unter- 
haltung abgeftattet, ſah id; wieder einen Schimmer 


Ihr, bie ; 


Elſter. 


wir leerten ein Glas auf einen glücklichen Griolg 
meines Borhabens und plauberten über verichiedene 
Dorjbegebenheiten. Unter diefen war eine, melde 
gerade jeht den einen Kreis lebhaft bejchäftigte, 
Bor Jahren hatte ich öfters Gelegenheit gehabt, 
Elina mit der Tochter des Wogies, Hanna Ström, 
zulammen zu ſehen. Chne daß ich wußte, weshalb, 
war dieſer Verkehr plöglich abgebrochen worden; aber 
in ber letzten Seit beſuchte Hanna das SHoltice 
Haus wieder. Es war ein jchüchternes Heine 
Mädchen mit niedergeichlagenen Augen, deren ip 
henden Blid man aber troßdem auf fich gerichtet 
fühlte. Sie jchien e& immer nur darauf abgeichen 
zu haben, ſich in irgend einem Winkel zu verbergen, 
und gerade dadurch wurde man immer aufmerham 
auf fie. Sie jprad einen harten, und fremden 
Dialeft, und wohl um bes Gegenjages willen fiel 
einem beionders auf, daß etwas Feines, Jungftäu— 
liches fie umgab, was einen unmwillfürlih an den 
Lenz und feine Erſtlingsblumen erinnerte. les, 


woas von ihr gelagt wurde, war gänzlich) anders alt 


des alten, hellen Ausdrudes in ihrem Antlige. Sie 


warf die Handarbeit, mit der fie gerade beichäftigt 
war, fort, jprang auf, ergriff meine Hände und jagte 
ftrahlend, als fei ihr die Verkündigung eines großen, 
unerwarteten Glüdes geworden: „Nein, willft du «8 
wirflih? Tauſend Dank dafür! Du mußt wiſſen, daß 
ich in der letzten Zeit an nichts andres gedacht habe 
als nur daran, von bier fortzulommen! Hier Fönnte 
ich es nicht aushalten!” 





Ich fchrieb jogleih, doch Tief die Antwort erſt 


gegen Anfang des Sommers ein. Sie war indes 
ermutigend, und nod am felbigen Tage entſchloß ich 
mich, nach Erledigung der notwendigften Vorbereis 
tungen binzureifen. 


Zur Mittfommerszeit war id) fertig zum Aufbruch, | 


Am Vorabende meiner Abreife ſaß ich mit Elina, 


meinen Eltern und Holt zufammen in unſerm Garten; | 


der Eindrud, welchen ihre Verfönlichkeit hervorrief. 
Sie jei juft ein eigenwilliges, hartes und rüdfichtlojes 
fleines Mädchen, hieß es, und im Grunde weder fein 
noch ſchüchtern. 

Indeſſen mußten die meiſten geſtehen, daß & 
nicht leicht ſei, Hug aus ihr zu werden. 

Elina ſchien mir in die Sache eingeweiht zu kein, 
doch fie gehörte nicht zu denen, welche Geheimniſſe 
verraten. Dieſes Mädchen hatte ſich mit einem 
Studenten verlobt, einem entfernten Verwandten dei 
Vogtes; er hatte fie feit ihrer Kindheit gekannt, da 
er alle jeine Ferien auf dem Hofe des Vogtes zuju⸗ 
bringen pflegte. Er war ein gejcheiter Mann mi 
ausgeprägt wilienihaftlihem Sinn. Naturkundig, 
wie er war, unternahm er während jeiner Beſuch— 
zeiten viele geologifhe und botaniſche Streifereien 
und Unteriuchungen. Gleich nad) dem Examen erbiei! 
er eine vorteilhafte Stelle an einer Schule, die ıhm 
in den Stand ſetzte, ſich zu verheiraten, und die 
Hochzeit follte im Herbſte ftattfinden. Da erfuhr 
man plöglih, Hanna habe die Verlobung aufgehoben, 


und dieſe Begebenheit wurde, wie bei uns, aud) m 


der ganzen Umgegend befprochen. 

Der Vater verurteilte fie unbedingt, Er behaup- 
tete, fie habe ihr Wort einmal gegeben, und num ie 
es an ihr, dasſelbe zu halten, koſte es, was es wolle. 
Die Mutter empfand Mitleid mit ihr; fie ſah e 
als eine „Verirrung“ an. Ich verteidigte fie, jo gut 
id) fonnte. — „Gelübde? Mas für Gelübde Tann 
man einander geben? Man bat ſich lieb und jagt 
es ſich gegenieitig in dem feſten Glauben, es werde 
ewig dauern. Aber hängt diefes von unferm eignen 
Willen ab? Kann man das geloben? Oder gelobt 
man nur das, feſt zu einander zu halten, jelbft wenn 


Sonnenmwolfen. 803 


die Liebe eritirbt? Wie muß man den nennen, der 
ein fo leichtfertiges Verſprechen giebt, den, der eine 
ſolche Verpflichtung eingeht? Zu verſchweigen, wenn 
ein derartiger Wandel in unjern Gefühlen jtatts 
gefunden hat, ift ein umerlaubter Betrug, und es ift jo 
unfagbar niedrig und ſchlecht, eine Verbindung auf— 
recht erhalten zu wollen, wenn man weiß, daß Die 


Gefühle, welche fie ins Leben riefen, nicht mehr | 


erijtieren, daß ich gar feine Worte dafür habe, Die 


| 





landläufige Auffafiung dieſes Verhältniſſes ift bes | 


dauerlich roh und oberflächlich.“ 
Der Bater ſowohl als die Mutter waren gleich 
empört über diefen „unmoraliſchen“ Gedanfengang. 


Sie fonnten gar nicht einjchen, daß eben in dem 
Sade erläutern ſollte. Sie habe einen älteren Mann 


Zujammenbleiben das Unmoraliſche Liegt, obgleich 
das verfchwunden ift, was dem Verhältniſſe jeine 
Schönheit und Wahrheit verleiht und jein Glüd ver- 
bürgt. 

„Wirklich ein netter Grundſatz, der jedem leichten 
Ratron Erlaubnis giebt, in Süd und Nord Ver— 


bindungen anzufnüpfen, um jie jpäter wieder zu 
vergliche fie ihn ftet3 mit ihrem ehemaligen Ver— 


löjen . 
„Meine Anfichten geben ſolche Erlaubnis feines- 
wegs. Das Leichtiinnige befteht darin, ſolche Verbin- 


dungen einzugehen, ohne jich ernſtlich geprüft zu 


haben, aber nicht darin, dab man fie abbricht, wenn 
dad Unglück einmal geichehen ift. Oder um med 
willen jollte die Verbindung beftehen bleiben? Könnte 
jemand wirklich wünjchen, daß diejes äußerer Gründe 


wegen geihähe? Würde dies nicht beiden Teilen 


zum Unglüd gereichen ?“ 
Der Vater jchüttelte den Kopf. 
dazu, Holt, ift das nicht gräßlich?“ 


„Was jagjt du 


Holt jah auf den Sandboden hinunter, rüdte un= | 


ruhig auf der Bank hin und ber und jchien äußerft 
verlegen, ſich über diefe Angelegenheit ausſprechen 
zu müſſen. 

Endlih blidte er auf, lächelte ein wenig und 
jagte: „Ich glaube wohl, daß Henrik recht hat.“ 
Nachdem er geiprochen, wandte er das Haupt raid) 
zur Seite und wurde rot bis unter die Schläfen. 

„Aber, Gott bewahre — du auch!“ 

„Es iſt wahrlich nicht gejagt, daß derjenige ein 
leihtjinniger Menſch fein muß, der jih einmal in 
feinen Gefühlen irrte. Es kann Leichtſinn fein, doch 
ift Dies durchaus nicht immer der Fall. — Sie oder 
er können jehr wohl eine tiefe, treue Seele jein und 
einen andern glüdlich machen.“ 


Sch richtete dieſe Worte an Holt, al an meinen | 
ſtampfgenoſſen; er jchien aber nicht von der Richtig= | 


feit dieſes Satzes überzeugt. Er zeigte eine zweifel- 
bafte Miene, und mit einem Zweige Figuren in den 





Sand zeichnend, antwortete er zögernd: „Ich wei | 


nit, ob es ratiam — für alle — wäre — ber | 
andre — zu werden...“ 


Darauf warf er den Zweig fort, erhob ſich ſchnell, 
zog jeinen Hut der Sonne wegen tiefer in die Stirn, 
ſteckte Die Hände in die Taſchen feiner Joppe und 
gudte den Vater an, als ob er jagen wollte: „Hier 


| wird es mir reichlih warm; wollen wir nicht ein 
‚ wenig aufs Feld gehen ?” 


„Was meinen Sie?" (Ich hatte es niemals 
über mich gewinnen können, ihn „du“ zu nennen, 
obgleih er mich jeit meiner Kindheit geduzt hatte.) 

Er blidte ins Weite und verjeßte nur: „Ja, ih 
weiß nicht. 

Die Mutter äußerte: „Ich verftehe jehr gut, was 


' Holt meint.“ 


Und dann erzählte fie eine Gejchichte, welche Die 


gefannt, der ji) mit einem Mädchen verheiratet 
hatte, das ſchon vordem einmal mit einem andern 
verlobt gewejen. Er konnte niemals ihre Vergangene 
heit vergejien. In den harmloſeſten Dingen ſah er 
Anzeihen dafür, daß ihre früheren Gefühle wieder 
erwachten. Es verfolgte ihn da3 Mißtrauen, als 


lobten, und daß er dabei den fürzeren ziehen müſſe. 


Er war ein Mann, der einen jugendlichen Sinn 
beſaß; aber bei dem fortgejekten täglichen Grübeln 
über dieje Ideen wurde er alt und verbitterte feinem 
Weibe das Leben in jo hohem Grade, daß fie ſich 
wirklich nach ihrem erjten Jugendtraume jehnte und 
an ihrer Sehnſucht krankte, wie er an feinen Zweifel. 
— „Nein, nicht ein jeder fann ‚der andre‘ werben.” 

Holt nickte. Die Mutter hatte feine Gedanten 
illuftriert, An dieſem Geſpräche hatte Elina nicht 
teilgenommen. Sie ſaß etwas entfernt von ung, 
pflüdte ab und zu Blätter eines halbwelfen Rojens 
bujches, der in der Nähe jtand, und jah auf den 
Nord hinaus. 

Nahdem der Vater mit Holt durch den Garten 
und die Mutter ind Haus gegangen war, wendete 
ſich Elina mir zu und fragte mit allen Zeichen innerer 
Erregung: „Du fannjt doch unmöglich das meinen, 
was du vorhin jagtejt?“ 

Sie war, wie gejagt, im Verlaufe des Winters 
blaß und mager geworden; aber erft in biefem 
Augenblid fiel mir auf, wie groß die Beränderung war. 

Ihre roten Wangen waren eingefallen, die Lippen 
blutleer und ichmal, und die größer gewordenen 
Augen hatten einen gleihlam verwundeten, brennen— 
den Ausdruck. 

Dieje Wahrnehmung übte eine jo überwältigende 
Wirkung auf mic) aus, daß ich vergaß, ihr zu ant— 
worten. Sie fuhr fort: „Du kannſt doch unmöglich) 
meinen, es fünne nicht alles gut werben, wenn man 
es will ?“ 

„sa, da& glaube ich. Hier hilft auch ber feftejte 
Mille nichts,” 


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804 


„Aber,“ wandte fie mit beinahe fieberhaftem Eifer 
ein, „wenn der andre es nun nie erfährt, wenn man 
alles aufbietet ?“ 

Ich ging näher zu ihr hin. „Sage mir, meinft 
du, du fönnteft ein ganzes Leben hindurch mit mir 
leben, ohne zu empfinden, daß du mir nicht mehr 
ſeieſt als jeder andre, für den ih Achtung und 
Freundſchaft nähre?“ Sie blidte mich mit unficherem 
Auge an, ſchlug es nieder und biß fich auf bie Lippen. 

„Und wenn du dann einmal entdeden würdeſt, 
dab ih dich Tag für Tag betrogen, und daß im 
Grunde nichts von alledem, was du für mich gefühlt, 
erwidert worden, ja, daß das, was bein höchſtes 


Glüdwar, für mich unfäglichite Pein geweſen — würdet | 


du mir dann vergeben fünnen, daß ich dich mit be» 
wußter Ueberlegung in ſolches Unglück Hineingezogen ? 

„Nein, lieber ein gejunder Schmerz, wie ſchwer 
er auch fein mag, als jold ein krankes Glüch!“ 

Sie erwiderte nichts, aber die Hand, welche id 
erfaßte, brannte und zitterte, 

„Aber weshalb nimmft du alles jo ſchwer?“ fragte 
ih. „Haft du Hanna Ström gegenüber etwas gejagt 
oder gethan, was du bereuft ?* 

„Hanna Ström?” fragte fie ganz geiftesabwejend, 
indem fie auffah. „Ya, fie fagt dasſelbe wie du. 
Ad, könnte man durd) den Tod befreit werden von 


all dem Elend, das man fi) und andern bereitet!” | 


rief fie haftig aus und erhob ſich. 

„Aber Elina ...“ 

„Ach, wenn du ſehen könnteſt — wüßteſt du” — 
ſie kam nicht weiter; der Vater und Holt zeigten ſich 
am Garteneingang, und fie nahm wieder Platz auf 
der Banl. 

Kurz darauf gingen wir alle ins Haus. Mehr- 
mals fuchte ich ein Alleinfein mit ihr; es fam mir 


indes vor, als ob fie ſelbſt einem joldhen vorzubeugen | 


ſuche, und jo war es uns unmöglich, unfre Inter 
redung fortzufepen. 

Als Holt uns abends gute Nacht wünfchte, fand 
auch Elina auf. Ih geleitete fie nad Haufe. 
Während Elina mir die Hand reichte, ſagte fie: 
„Ih werde morgen früh aufpallen, wenn du zum 
Dampfichiffe gehit.* 

Als ich am folgenden Tage an Holts Haufe vor⸗ 
überging, gemwahrte ich nichts von Elina. Ich trat 
hinein und traf Holt, der mir berichtete, daß fie ſich 
ihon zur Schiffbrüde begeben habe. Ich verabjdhiedete 
mid) von ihm und eilte ihr nah. Das Schiff lag 
ihon an ber Brüde, und es wurde zum erften Male 


entgegen. Sie jah vergrämt, müde und überwacht aus. 
„Du fommft zu fpät,“ jagte fie und zog mid 
mit ſich fort. 
„Ih verliere alle Luft zum Reifen, wenn id 
denke, wie franf du ausfiebft.“ 


Kriftian Eliter, 


„Ich bin nicht krank — ich habe nur nicht ge— 
ſchlafen,“ erwiderte fie haſtig, ihre Schritte ber 
ſchleunigend. 

Ich ſtand ſtille. „Elina, ſeit geſtern abend 
ſchwebt mir eine Frage auf den Lippen, die du mir 
beantworten mußt, bevor ich abreife. it es mır 
das Verhältnis zu deinem Onkel, was dir Schmerz 
verurfacht, oder iſt es auch etwas andres?“* 

Nun gab man auf dem Schiffe das zweite Signal 
zur Abfahrt. 

„Eile dich, eile dich!“ rief ſie und wollte vor 
wärts. Sie jah aſchfahl aus, ihre Lippen waren 


‚ troden, und in ihren Augen lag ein angftvoller, ge⸗ 











fpannter Ausdrud, 

„Ich Ichiebe die Reife auf,” fagte ich. 

„Nein, nein,” unterbrach fie mich unrubig und 
jah mit irren Bliden um ſich, als erwarte fie, daß 
irgend etwas zu ihrem Beiftande herbeilommen lönne. 

„Dann antworte mir...“ 

„Ach, laß mich,“ bat fie. „Frage nit — nid 
jeßt — ich werde, ich fann nicht — id} bin io...’ 

Vom Dampficiffe her pfiff es zum dritten Male, 

Ich blidte fie an. Ihr Auge Flehte wieder fo 
heiß, nicht zu fragen und abzureijen, daß mir feine 
Wahl blieb. Ich nahm meine Reiſeſachen, gab ihr 
die Hand und überjchritt die Landungsbrücke. Die 
Taue wurden gelöft, dider Qualm ftieg aus dem 
Schornſtein empor, die Schraube ſetzte fid in Be 
wegung, und langjam entfernten wir uns vom Ufer... 

Ih hatte den Zeitpunkt meiner Abreiſe mit 
Sehnſucht erwartet. Nach dem, was id) im der legten 
Zeit erlebt, war mir die Luft in der Heimat zu 
ſchwer geworden. Es war mir ungemein ſchmerzlich, 
Elina unter Verhältniſſen leiden zu ſehen, die ih 
nicht zu ändern vermochte. Außerdem fehnte id 
mid) nach Arbeit und wünſchte von ganzem Herzen, 
eine Stätte zu finden, in ber ich mir meine Fünftige 
Heimat bereiten fönne. Aber als ich nun vom Verdei 
aus das Schiff fi vom Lande abwenden ſah, ſchien 
es mir, als ſteuere ich ziel- und heimatlos in die 
Welt hinaus. Die Reife fam mir plößlich zwedios 
vor, die Trennung unendlich, und mir war, ala über: 
lafje ih Elina feindlihen Mächten. 

Solange ich die Brüde ſehen konnte, ftand fie 
nod da. 

Ale andern gingen fort, nur fie blieb zurüd. 

Sie ſchien mir jo unendlich einfam und verlafen, 
wie fie daftand, und vielleicht noch mehr fo, weil die 


Orrſchaft in diefem Augenblide hell und jommerlid 
gepfiffen. Als Elina mid) jah, fam fie mir jchnell | 


I 
’ 


vor mir lag. 
* 

Während der ganzen Reife quälte mid) der Gr 
danfe: Es ift aljo noch etwas andres, etwas, dad fie 
dir nicht anvertraut hat, was fie bedrüdt. Was if 
es, das diefe rofigen Wangen erbleichen, das ſonnigt 


Sonnenmolten, 


Lächeln ihres Mundes erfterben und ihre offenen, | 


Maren Augen ſcheu und brennend werden ließ? Ich 
riet und grübelte, verlor die Luft an meinem ganzen 
Vorhaben und jehnte mich nur danach, zurüdzufehren, 
um zu erfahren, was es war, das jie allen Lebens» 
mutes, aller Freude am Daſein beraubte. 

Als ich mich dem Orte näherte, der in Zufunft 
meine Heimat fein jollte, Taftete diefe Stimmung 
no schwer auf mir, Und der erfte Anblick dieſer 
Gegend war auch nicht danach, mein Herz leichter zu 
machen. Es war ein ganz enger Thaleinſchnitt mit 
unſäglich melancholiſchen Tannenbeftänden zu beiden 
Seiten. Meilenweit ringsumber waren alle einzelnen 
Gehöfte von dieſen dunfeln oder graugrünen Wals 


dungen umgeben, die für immer das Trauergewand | 


angelegt zu haben jdhienen. Sie verjperrten Die 
Ausſicht nach allen Seiten, und nit einmal ein 


ihäumender Waſſerfall oder ein glänzenber See be= | 


lebte die Landſchaft. 

Was die Hauptjadhe anbelangt, jo fand ich bie 
Verhältniſſe über alle Erwartungen günftig. Gier 
war unzweifelhaft ein weites Arbeitsfeld für einen 
thätigen Mann, und was das Befte dabei war — 
ih fonnte gleich beginnen, 

Friſcher Mut wuchs mir bei dieſen Ausfichten. 

Was es aud) immer mit Elina fein mochte — eines 





fiand feft: das einzige Heilmittel für fie war ihr | 
Fottgehen aus der Dorfihaft. Und bier war Platz, | 


bier fonnte unfer Heim jogleich gegründet werden, 
bad wir fern von dem Orte aufichlagen wollten, wo 
das Dafein ihr jeßt zu einem fo ſchweren geworben war. 
Was jchadete e& denn weiter, wenn dad Meer nicht 
unter unfern Fenſtern wogte und wenn am fernen 
Horizont feine Segel jhwebten ? 

Unverzüglich jchrieb ich Elina und meinen Eitern 
über alles dieſes. Ich teilte ihnen mit, daß ſich 
mein Aufenthalt bier, wie die Verhältniffe einmal 
lagen, wohl verlängern und dab ich ſchwerlich vor 
dem Herbſte nach Haufe fommen würde. 
bat ich fie um regelmäßige Nachrichten. So fiedelte 
ich mid denn fürs erſte in dem fremden Orte an. 
Jede Woche ſchrieb ih an Elina, erzählte ihr von 


dem Dorfe und feinen Bewohnern und von all meinen | 





Endlich | 


Zuhunftsplänen. Aber nie fam eine Antwort. Woche 


auf Woche verftrich, doc; weder von Elina nod von 
meinem Heim hörte ich ein Wort. Zuleit wurde es 


mir unerträglich. Jch nahm mir vor, die nicht Heine 


Reife bis zur nächſten Telegraphenflation zu maden 
und dort die Antwort auf ein Telegramm abzuwarten, 
als endlih ein Brief von meinem Vater eintraf. 


805 


Es herbftete ſchon, als dieſer Brief fam. Die 
Dampfſchiffe hatten einen Zeil ihrer Touren ein- 
geftellt, und es war nad) einer langen, ermüdenden 
Reife, als ich endlich in den Fjord bineindampfte. 

Mir bogen um den legten Feljenvorjprung, und 
vor mir lag die Dorfichaft und die Brüde, auf 
welcher ich Elina zuleßt gejehen, wie fie dajtand, dem 
Schiffe nachblickend. 

Niemand von den Meinigen war dort. ch eilte 
die vertrauten Wege entlang und jtand bald vor 
Holt? Haufe. Als ich e& das letzte Mal jah, hatten 
die Bäume nod) ihren friſchen, reichen Laubſchmuch; 
die ich längs des ganzen Hauſes hinziehenden Roſen— 
büjche waren noch bededt geweien mit roten und 
weihen Blüten, deren Duft alle Wege und Stege 
erfüllte, und weiter abwärts im Garten hatten die 
Blumenbeete wie farbenreiche Teppiche inmitten des 
grünen Raſens ausgefehen. Daß das Laub der 
Bäume jeht ſpärlich und vergilbt war, daß die Rofen 
längſt verblüht und die Blumen verwelft waren, 
ſchien mir nicht die natürliche Folge des Herbjte 
eintrittes zu jein, jondern hervorgerufen durch ver= 
zehrende Krankheit und verfümmernden Mißmut ... 
Ich flog die Stufen hinauf und eilte über den Flur. 
ZTotenftille herrſchte im Haufe; ich vernahm nichts 
als meine haftigen Atemzüge und den heftigen Schlag 
meines Herzens, Ich trat in das Wohnzintmer; es 
war leer. Ich bemerkte, dab die Blumen in den 


‘ Zöpfen troden waren und daß ein auf dem Zijche 


im Glaſe ftehender Strauß vermwelft ausjab; er hatte 
augenſcheinlich jeit Wochen fein friſches Waſſer er= 
halten. Das Zimmer machte den Eindrud, ala ob 
jeine Bewohner ausgewandert und ala ob alle Gegen— 
ftände in demjelben in Verfall geraten jeien. 

Ih begab mich über den Vorplak in Holts 
Comptoir. Auch Hier feine Seele. Ich Hopfte an 
die Thür feines Schlafzimmer — da lag er feſt 


ſchlafend auf feinem Lager. Bei dem Geräufche des 


Ihüröffnens fuhr er in die Höhe und rief noch halb 
im Schlafe: „Was giebt’3?* 

Als ic) nicht antwortete, blickte er mich eine Weile 
ganz verwirrt an, erfannte mic endlich, erhob ſich 
und gab mir die Hand. 

„Bift du gekommen?“ ſagte er. 

„Elina?“ fragte id; mir war, ald müſſe id) ver- 
geben, ehe ich die Antwort hörte. 

„Ja, bier gab es Krankheit nad) deiner Abreije,“ 
erwiderte er und ſtrich fich mit der Hand über das 
Antik; „wir alle haben etwas gewacht — ich jpüre 


es noch.“ 


Er unterrichtete mich in kurzem davon, daß Elina | 


längere Zeit frank gewejen jei, und fügte hinzu, er 
bielte e8 für das Befte, wenn ich nach Haufe füme, 
ſobald es mir möglid) ſei. 


* 


„Aber Elina — iſt fie...“ 

Gr ſah mid an: „Nein, du irrſt dich — fie 
hat es überftanden,“ 

Faſt hätte ich den Jubel, der mich nad) der langen, 
fürdjterli_hden Spannung überfam, laut hinausgerufen. 


806 


Kriſtian Eliter. 


Ich jpürte Luft dazu, Holt um den Hals zu fallen, | Zeilen wieder und wieder, ohne dat; ich fie veritehen 
und begriff nicht, wie er mir dieſes mitteilen fönne, | fonnte. Es war mir, als ob das, was id; las, mid 


als ſei es die gewöhnlichite Sache von der Welt. 
Verſtand er nicht, was er felbft fagte: fie lebte, fie 
lebte, fie hatte e& überftanden? Ich meinte, die ganze 
Gegend ringsum müfle ein großes Felt feiern... 
Aber es war ja richtig, für ihm und für dem ganzen 
Ort war dies feine Neuigfeit mehr, und er hatte 
gewacht — ja, er mußte viel gewacht haben, die 
treue Seele, jeinem Ausjehen nad) zu urteilen. 

„Du bift noch nicht zu Haufe geweien ?“ fragte er. 

„Nein,“ 

„Ah,“ jagte er lang gebehnt und blicdte etwas 
verlegen zur Seite, 

„Dit denn jeht jede Gefahr vorüber?” 

„Ja.“ 

„Iſt fie auf?“ 

Er jchwieg eine Weile. „Sie ift abgereift,” ver- 
jehte er darauf, und wieder wendete er den unficheren 
Blid von mir ab. 

„Abgereiſt? ... gereiſt? ... Ich verfiche fein 
Wort.“ 

„Ja, mit einem Male wollte fie fortreiſen und ...“ 

„Fortreiſen? Aber wohin ?“ 

„Nach Bergen.“ 

„gut“ 

„Sie ift bei meiner Schweiter. — Deine Mutter 
wird einen Brief für dich haben,“ beeilte er ſich 
hinzuzufeßen, als wolle er dieſen Fragen, die ihn 
augenjcheinlich verlegen machten, entgehen. 

Er begleitete mid) eine Strede Weges. Indem 
wir Abihied nahmen, ſagte er: „Ach verftehe fie 
nicht — es fam jo plötzlich; es muß ihr etwas Be— 
fonderes geichehen jein — es find noch nicht gar fo 
viele Tage ber, dab wir um ihr Yeben bejorgt waren. 
Aber wahriheinlich fteht e3 in dem Brief, warum 
fie durchaus fort wollte,” fügte er hinzu. 

Ich ſagte ihm adieu und eilte heim. Die Mutter 
ftand auf der Treppe, nad) der Anlegebrüde blidend. 
„Da ift er,“ rief fie, als fie mic) gewahrte. „Kommit 
du endlih! Ad, wie habe ich gewartet .. .* 

Wir traten in das Zimmer, Ich bemerkte, daß 
meine Mutter mich verjtohlen mit einem eignen 
fragenden und traurigen Blide anjah. „Bilt du... 
biit du ſchon bei Holt geweſen?“ fragte fie dann. 

„Sa, ich weiß es. Sie ift fortgereiſt. Haft du 
den Brief?“ 

Sie holte denfelben. Holt hatte recht. Im Brief 
ftand, weshalb fie abgereift war. 

„Es muß vorbei fein zwiſchen und. Ich lann 
dir nicht das fein, was ich müßte. Ich habe nicht 
gewagt, zu warten, bis du kämeſt. Ich ſchäme mid) 
jo vor dir.” 


* 


Da blieb ih im Zimmer und las die wenigen 








gar nichts anginge. Es war ganz ftill um mid) ber; 
ich fühlte ein paar Augen mitleidig auf mir ruhen, 
doc) wagte id nicht aufzubliden. Keines von un 
ſprach. Es wurde uns beiden fo maßlos jÄhwer, dei 
erite Wort zu reben. 

Endlich jagte meine Mutter: „Sie war ehr 
krank.“ Ich bat fie, mehr zu erzählen, An dm 
Tage meiner Abreife war Elina ohne weitere Be 
gleitung als die eines Knaben ausgejegelt. Auf dem 
Ford hatten - fie Regen und Sturm gehabt. Aber 
ohne auf die Vorftellungen des Jungen zu adıten, 
war Elina draußen geblieben, bis er amgefangen 
hatte zu weinen und zu jammern, dab er nimmer 
nah Haufe kommen würde. Da endlich fei fie um- 
gelehrt und habe auf das Ufer zu gehalten, Durch 
näßt und durchkältet war fie heimgefommen, um am 
nächften Tage jehr frank, ja für einige Zeit bein- 
nungslos zu werden, jo daß ihr Leben in Gefahr 
ſchwebte. Zuerſt waren alle jo jehr durch die Pilen 
in Anjpruch genommen, daß fie nicht dazu famen, 
mir zu Schreiben. Als Elina fi dann etwas erholt, 
hatte ſie nicht gewollt, daß ich von ihrem Srankiein 
erfahre, 

Da fie aber fpäter hörte, daß der Pater mid 
doch von demjelben benachrichtigt hatte und daf ih 
erwartet werde, fonnte niemand fie zurüdhalten, Sie 
wollte fort, und als das Dampfſchiff kam, fland fe 
teifefertig an der Brüde, obgleich es nur wenige Tag: 
ber war, daß fie das Bett verlafjen. 

„Schon während meiner Nadtwachen bei ihr 
wurde mir Mar, daß da irgend etwas im Bau 
lei,” endete die Mutter ihren Bericht, „und vor ihren 
Fortgehen vertraute fie mir auch an, was im Brieit 
fteht!* 

Nahdem die Mutter mir alles erzählt, erfahtt 
mich erit die Wirklichkeit des Geſchehenen. Ich hört: 
eine wunderherrliche Mufif, die der Seewind in weite 
Fernen trug — die wonnige Muſik des Lebens. 

VIIL 

Einige Tage jpäter ftand id) vor einem niederen 
weißen Haufe in einer der ftilleren Straßen Bes 
gens. Hier jolte die Schwefter Holts wohnen. 4 
läutete, und furz darauf hörte id) jemand die Treppe 
berabfommen, Es wurde indes nicht aufgefchlofen, 
jondern eine Frauenjtimme fragte: „Wer ift da!" 

„Jemand, der Elina Holt zu ſprechen wünſcht!“ 
Ih höre Schritte treppauf gehen, Schritte treppab, 
bis die Antwort kam: „Sie ift nicht zu Haufe, Mt 
ift ſpazieren gegangen.” Wohin fie gegangen ki! 
Wann fie zurüdtime? Das wuhte man nid. 

Ih ſchlug einen Weg dem Meere entlang ein, 
einen der mindeit belebten, denn ich war ficher, de 
fi Elina zur See hingezogen fühlte und dab fe 


Sonnenmolfen. 


die Hauptftraßen vermied. Lange ftreifte ich umber, | 
beftieg alle nahen Hügel und jpähte nad) ihrer wohl- | 
befannten Geftalt aus. Hier war diejelbe Natur wie | 
zu Haufe, aber für mid trug fie nicht denjelben 
Ausdrud. Diefe grauen, maffigen Felſen jahen mid 
mit denjelben toten, erlojchenen, gleihgültigen Mienen 
an, mit denen fie jeit Jahrtaufenden auf die Not 
und die Verzweiflung dahingegangener Geſchlechter 
geſchaut hatten und mit denen fie wohl nod Jahr— 
tauſende hindurch Zeugen desſelben Dramas jein 
werden, das immer noch geipielt werben wird, folange 
Menſchen da fein werden. Das Meer, welches ſich 
unter einem feuchten Winde leicht fortbewegte, war 
mir in diefem Augenblid nichts als der große, Falte 
Begräbnisort für die vielen lichten Menjchenhoffe 
nungen, die dort alljährlich zu Grunde gehen. 

Und doch war dies diejelbe Natur, die ich kannte 
und liebte, und die verwebt war mit meinen gelieb- 
teiten Träumen und Erinnerungen. 

Ich verfolgte einen Pfad, der ſich zwiichen heide— 
frautbewachſenen Steinblöden durch Heine feuchte, mit 
niederem Bujchwerf umſäumte Thäler binjchlängelte, 





bis ih mich zulegt, müde dom Wandern, auf 
einem borjpringenden Felſenabſatz niederließ. Müde 
des einen Gedankenganges, der mich Tag und 
Nat verfolgte, ließ ich mein Auge über die dunkle 
Ser und bie gelblichen ſenlrechten Bergwände hin— 
gleiten. Schon wollte ih dad Suchen aufgeben und 
in die Stadt zurückkehren, als ich noch weiter hinaus 
am Meeresufer eine weibliche Geftalt erblidte, die | 
id, der weiten Entfernung ungeachtet, ſogleich erlannte. 
Es war Elina. Da jaß fie, wie ich fie wohl taufend» 
mal in der Heimat gejehen, den Kopf gejtüßt und 
auf das Meer hinausichauend. Bei meiner An | 
näherung wendete fie ihr Haupt langjam nad) mir 


um, aber jobald fie mich erkannte, fuhr fie auf wie 





ein gejcheuchter Vogel und machte eine Bewegung, | 
als wolle fie flichen. Doch plötzlich hielt fie inne, | 


fie blieb ftehen, ohne fich zu rühren oder ich umzu— 
sehen. Erſt als ich ihr ganz nahe war und fie mit 


einem „Guten Abend, Elina!* begrüßte, blickte fie | 


auf und wiederholte mechaniſch: „Guten Abend!* 
Wie war fie verändert! Daß die Sranfheit fie ans 
gegriffen haben mußte, fonnte ich willen, und bleich 
und mager hatte fie jchon bei meiner Abreiſe aus— 
geſehen. Aber dieſer matte, fajt erlofchene Ausdrud 
ihres Auges! Es war nicht nur Traurigkeit, die fie 


807 


Sie ließ jih wieder nieder, den Kopf abermals 
mit der Hand ftügend, und blidte übers Meer, ohne 
zu reden. Ich warf mid) ihr zur Seite ins Heide— 
fraut und wartete, Plöplich richtete fie fih auf und 
begann in heftigem, ſchmerzlichem, fich ſelbſt anflagen- 


' dem Tone: 


„Ih hätte nie fommen jollen, wenn du abends 
vorlafeft, denn ich glaube, es war das, was mid) irre 
führte. Ich hatte noch niemals jo etwas gehört; es 
bielt mich während der Nächte jchlaflos, und ich weiß 
nicht, was ich darum gegeben haben würde, dort jein 
zu können, wo alle das, von dem du Tajeft und 
erzählteft, geſchah. Mir ſchienen dieſe Lejeftunden 
die jchönfte Zeit meines ganzen Lebens zu fein. Und 
bei alledem — im Grunde babe ich feinen Sinn 
für dergleichen. Ich bin aud nicht dafür erzogen. 
Ich bin ja fat nur ein Bauernfind — das hätte ich 
nicht vergeiien ſollen. Das Vorlejen übte feinen 
guten Einfluß auf mid) aus. Ich gelangte zu dem 
Glauben, daß dort zu Haufe alles Hein, Häglich und 
dumm jei, und daß fi draußen alles Große und 
Schöne fände Alle die, mit denen ich täglich ver- 
fehrte, wurden mir gleichgültig und langweilig; nur 
du warſt andrer Art, warft wie die, von denen du 
lajeft und erzählte. So fam es, daß ich dich zu 
lieben vermeinte, wie die Gattin ihren Gemahl lieben 
jol. Ic jagte dir damals feine Lüge, nein, ficherlich 
nicht. Seitdem habe ich oft und oft an alles gedacht 
und jo lange darüber gegrübelt, daß ich glaube, jetzt 
alles zu verfichen. Ich fonnte nicht leben wie jo 
viele, ohne irgend etwas oder einen Menſchen lieb 
zu haben. Ich fand, daß es herrlich jei, num jemand 
gefunden zu haben, der mid gern hatte und den ich 
das ganze Leben hindurch lieben könne, Ich glaubte 
ficher zu fein, daß niemand jonft in guten und böfen 
Tagen jo treu zu dir halten werde... 

„Aber ich jollte mich ſelbſt beifer kennen lernen 
und erfahren, wie ſchwach ich bin und einen wie 


' wanfelmütigen Sinn ih babe. Ich jah ein, daß ich 


umgab, jondern etwas Herbſtliches, möchte ic) fajt jagen 
— fie ähnelte den halb entblätterten, verwellten 


Büſchen, die in Heinen Gruppen am Rande der See 
fanden und einem langen, öden Winter entgegenjahen. 

„Biſt du gekommen?“ fagte fie. „Ich wußte, 
dab du mir nachreifen würdeſt, und doc) war es mir 
unmöglich, zu warten. Ich weiß, daß es feige war, 
aber ich glaubte es nicht aufhalten zu fünnen.” 


nicht in der Weiſe deiner dachte, wie ich hätte müfjen, 
und auch, dab mein ganzes Sehnen nad) dem, was 
fich draußen befand, nur eitel Dunſt geweien. Du 


ſelbſt warit es, der mich zur Beſinnung brachte, 


Schon ſeit unjrer Verlobung hatte ich mich darüber 
gewundert, dab du in der Dorfichaft bleiben wollteft, 
Ich dachte, du würdeft eines Tages zu mir fommen, 
mir zu erzählen, daß du hinaus wolleft, um in der 
Welt Schulter an Schulter mit den Beften zu kämpfen 
und dir ein Reich zu gewinnen. Ja, das war dumm, 
findifch von mir, aber ich mußte immer an die alten 
Geihichten denken, die du mir vorgeleien, wie alle, 
die tüchtig waren in früheren Tagen, nicht ruhten 
noch rafteten, bis fie Schiffe und Menſchen beiſammen 
hatten, mit denen fie auszogen, um Land und Ehre 


| zu erftreiten, Das begriff ih. Ich glaubte in mir 


808 


zu fühlen, daß ih, wäre ih ein Mann gemeien, | 


dasjelbe gethan haben würde. Und du jchienft mir 
zu gut dazu, zu Haufe zu bleiben, um zu werden 
wie die andern. Und danı wartete id) unabläffig 
darauf, dich eines Tages ausrufen zu hören: ‚Seht 
halte ich es bier nicht länger aus!“ Uber gerade ba 


jagteft du, es fände fich überall Arbeit, und e& war | 
mir, als fei ich undenklich lange abwejend gewejen 


und jebt heimgefehrt, und ich jah alles mit denjelben 
Augen an wie in früheren Tagen, fannte alle Menfchen 
und hatte fie lieb wie vordem. Denn einjlmals 
hatte ich ja ebenjo gedacht wie du. Ich begriff, wie 
dumm und eitel ich geweien und dab ich unglücklich 
geworden wäre, wenn mir das zu teil geworden, 
wonach id) mich geiehnt. Aber zugleich wußte ich, 
daß id) in etwas anderm geirrt, was uoch jchlimmer 
war al® das erſte. 

„Zuerſt wollte ich nichts davon jagen. Ich meinte, 


Kriftian Elfter. 


gehört, nur daß ich es jetzt eher verjland als das 
mals, Als id) dieſer Unterredung entgegenging, hatie 
id) ja gewußt, dab ſich nichts ändern würde, ba 
alles vorüber jei, und doch fühlte ich im dieſtm 
Augenblide, dab mir nicht voll zum Bewußtjein 
gelommen war, wie fremd wir in Zufunft aneinander 
vorübergehen würden. Aber nun, indem fie davon 
ſprach, begriff ich es nur zu gut. 

Ich kam mir plötzlich vor wie ein Mann, der 


das Leben durd den Schleier eines ſchönen Traumes 





etz könne alles bleiben, wie es gewejen, wenn man | 


es nur ernftlih wolle. Und ich weinte, betete und 
fämpfte, aber nichts, nichts half. Trotzdem hatte ich 
mir vorgenommen, daß du nichts von dem erfahren 
jollteft, wa& mich quälte; ich hielt es für fein Unrecht, 
dasſelbe zu verbergen, Aber dann fagteit du — am 
Vorabend deiner Reife, weißt du — daß man der— 
gleichen nicht jein Leben lang verbergen fünne, daß es 
Betrug jei, Died auch nur verfuchen zu wollen, und 
daß bu es nie würbeft verzeihen fünnen. 

„Das war die ſchwerſte Stunde, die ic) je erlebt. 
Ach, id weiß nit, was ich hätte tragen und er— 
dulden fönnen um den Preis des Schweigens. Ich 
mochte gar nicht glauben, dab es deine wirkliche 
Meinung fei, und date, irgend etwas müſſe ge— 
ſchehen, damit ich des Ausſprechens überhoben werde. 
Dann bat ich dic), abzureijen; es war nicht recht 
von mir, ich weiß es; aber e& war mir, als fünne 
dadurch eine Aenderung herbeigeführt werden. Doc 
im Grunde wuhte ich, dab du recht hatteft und daß 
ich dir nie vergeben haben würde, wenn du mir jo 

‚etwas verſchwiegen hätteſt ... Ich konnte nicht ins 
Haus gehen, als du fort warſt; ich nahm einen Jungen 
mit mir und ſtieg in ein Boot. Ich weiß jelbit nicht, 
was id) wollte; fait glaube ich, daß ich einen Sturm 
berbeiwünjchte, der allem ein Ende gemacht hätte. 
Aber da fing der Anabe an, fich zu fürdten; id) 
hatte ihn gänzlich vergeſſen. Vielleicht dachte ich 
au, daß es unrecht jei, daß es Gott verſuchen hieße 
— ih weiß es nicht. Ich war fo außer mir, daß 
id) meinte, es jei alles glei, was da fäme, nachdem 
ich eine jo große Schande erlebt hatte.“ 

Mehr als einmal mußte fie während diefer Selbſt⸗ 
anflage ihre Thränen befämpfen, um fortfahren zu 
können. Aber bei den letzten Worten war e3 mit 
ihrer Selbftbeherrf—hung vorbei — wieder weinte fie 
jo reuig und jammernd, wie ich es jchon einmal 


geiehen hat, der num zerrifien wird. Alles, was mir 
würdig geichienen, dafür zu leben, alles Grohe und 
Schöne, von dem mir je geahnt, alle Hoffnung und 
Freude, fern oder nah, war wie hinweggeweht. Die 
warme, jchöne, farbenreiche Welt, die wir zu Zeiten 
des Glüdes,jchen — wo war fie geblieben? In 
diejem Falten Nebelmeer gewahrte ich nur ein Wrad, 
das fih an Harte Klippen ftößt, ſich nad dem Ber 
finfen in der Tiefe jehnt und es doch nicht vermag... 


Ach, damals glaubte id) nicht, da fid ein jolde 





Erlebnis ertragen ließe! ... 

Sie weinte nit mehr, jondern ſah gebeugten 
Hauptes, mit müdem, hoffnungsloſem Blid vor ſich 
nieder. Dann erhob fie ſich, aber fie ftand ruhig, al? 
warte fie auf ein Wort von mir. Ich hatte auf 
eine Frage, die mir ſchon auf den Lippen brannte, 
für fie, die Frage: „Haft du einen andern lieb ge 
wonnen, Elina?“ 

Sie erwiderte nichts, und da fie abgemwendet von 
mir daftand, war es mir nicht vergönnt, den Aus— 
drud ihres Gefichtes zu jehen. Endlich antwortete fr 
mit einer befonderen, jcharfen Betonung: „Meinft du, 
daß mir nad diefem Tage jemand glauben könnte, 
und fönnte ic mir jelbjt glauben ?* 

Immer ftand fie noch neben mir mit abgewanbten 
Antlig. Plötzlich Hörte ich weichen, gedämpften, jaſt 
Ihüchternen Zones, der in direktem Gegenſaß zu 
dem vorher jo harten Klang ihrer Rede ftand, die 
Worte: „Kannſt du mir jemals verzeihen, was id 
dir gethan habe?” 

Als id) dieje Stimme vernahm, der ich jekt vide 
leicht zum letzten Male lauſchte, erwachten tauiend 
ſchöne, ftrahlende Erinnerungen in mir, 

„Wie kannſt du jo fragen? Jetzt verftche ih 
nur zu gut, wie wenig ich dir war umd Dir ſein 
fonnte — und außerdem, was fannft du dafür, dei 
— es — dab es — nicht mehr jo ift, wie es war!” 

„sa, id hätte mich ſelbſt beijer kennen müflen. 
Aber wenn ih dir Hummer verurfacht habe, ſo 
weiß ich auch, daß das Gejchehene auch mir nit 
leicht zu tragen fein wird.“ 

„Du braucht mich deifen nicht zu verfihent. 
Weiß ih doch, da diefe Begegnung bir cbemo 
ſchmerzlich ift wie mir,” 


„ber du Haft michts zu bereuen. Eine, die ſo 


Sonnenwolken. 


iſt wie ich, kann feinem ordentlichen Menſchen mehr‘ 


ins Auge ſehen. Und wäre es nicht, weil — ja, 
wäre es nicht —“ 


Sie ſtockte, wendete ſich raſch zu mir, blickte mich 


ofen an und ſagte, meine Hand faſſend: „Wir | 


müſſen jcheiden, und es geichieht am beften gleich 
jet — es bleibt ja nichts mehr zu reden. Aber 
vorher jollft du noch erfahren, daß die Tage, die 
wir beifammen waren, die jchöniten find, welche ich 
gelebt, und befiere als irgendwelche, die mir nad) 
dieler Zeit beichieden jein werden, Lebe wohl!” 

Sie wendete ſich ſchnell ab und ging eiligen 
Schrittes der Stadt zu. 

Wie oft hatte ich dieſer ſchlanken, Heinen und 
doch fräftigen Geftalt nachgeblidt! Wie gut fannte 
ich ihren rajchen, energiichen Gang! Lebhaft jah ich 
fie in diefem Augenblid vor mir, wie fie war, che 
die Sorge und Krankheit der letzten Zeit fie jo ver— 
ändert hatten. Ich ſah ihre Haren grauen Augen 
mit dem plößlichen Wechſel des Uusdruds vom Nüchtern⸗ 
Praftiihen bis zur tiefen, leidenſchaftlichen Glut, 
ſobald fie erregt wurde. Ich jah ihre breite, Fräftig 
bervortretende Stien, umrahmt von weichen, gewelltem 
Haar, und den feinen Mund mit feinem zuweilen 
jo friichen, ftrahlenden Lächeln, während er fi) dann 
wieder hart und kalt jchließen konnte. Ich hörte 
ihe helles, melodijches Lachen, das einen alle Not des 
Lebens vergefjen machen konnte, und fühlte die innige 
Wärme in ihrer Stimme, wenn fie von jemand 
tebete, der ihrem Herzen nahe ftand. Es lag etwas 
Unbegreifliches für mich darin, daß alles dieſes, 
was doch mein geweſen, mir von jet an ewig fremd 
iein müſſe. Vielleicht würde ich fie jehen, fie hören, 
ihre Stimme den alten Zauber auf mich üben, warme 
Liebe zu ihr mein ganzes Sein erfüllen und ich mir 
doch Sagen müſſen, daß mir nichts von alledem mehr 
ju eigen ſei. Es würde mir jein wie einem, der in 
fein Heim zurüdtehrt und es in fremdem Befih findet. 

Ich erinnere mich nicht, wie lange ich dort in 
der Heide verweilte. Zuletzt dachte ich gar nicht 
mehr an das Gefchehene, ich dachte überhaupt nicht, 
Ein Gefühl unendliher Schwäche und Hilflojigfeit 
übermannte mich), das dann von einem jlechenden 
Schmerz in der Bruft abgelöjt wurde. Ich warf 
mid wieder ind Heidelraut, als ob ich meine qual« 
vollen Seufzer in demijelben erjtiden fönne. Ich 
ichloß die Augen, um die Welt, welche gleich einer 
Wüſte vor mir lag, nicht mehr fehen zu müſſen, 
und hatte nur Sehnſucht danach, mic) in die Erde 
verjenlen zu lönnen, um zu jchlummern — nur zu 
ihlummern, 

* 

Wenige Tage naher lag die Heimat wieder vor 
mir. Ja, war dies der liebe alte Ort, der immer, 
ſobald ih fern von ihm war, im Glanze lieber 

Zus fremden Zungen. 1897. IL 17. 


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! 





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erwartend. 


809 


Erinnerungen und lockender Hoffnungen vor meiner 
Seele geſtanden, und den ich nie erblicken konnte, 
ohne daß mein Herz ihm mit taufend warmen, froben 
Gefühlen jubelnd entgegengrüßte? 

Es war ein trüber Tag, der Himmel farblos 
und die Luft ſchwer. Der Herbft fennzeichnete Felder 
und Bäume Alles ſchien mir das unfreundliche 
Gepräge von Alter, Müdigkeit, Leere und Einjam« 
feit zu haben. Alles ſchien gleihfam eingefroren 
und unbeweglich, und es fam mir vor, al& herrſche 
eine Stille wie bei einer Leichenfeier. 

Ih begab mich heimwärts. Es fam mir ganz 
unerträglich vor, befannten Gefichtern zu begegnen 
und jehen zu müſſen, wie das Werftagsgetriebe feinen 
gewohnten Gang ging. Ich fuchte alle die Plätze 
auf, die wir einſtmals die „unſern“ genannt hatten. 
Ich jeßte mid; auf die Steine oder Bänke, wo wir 
geweilt, und betrachtete die Bäume, die Waflerfälle 
und dad Meer. Zuerit empfand ich nichts dabei, 
denn es war fait, als habe mich dad Gedächtnis 
verlaſſen. Dod dann gedachte id an einzelnes, 
und jofort umgaben mic die geſamten Erinnerungen. 
Ih fühlte ihren lieben Arm in dem meinen, ihre 
Wange an die meine gelehnt, ed war mir, als küſſe 
ich fie zum erften Male, und als jagten ihre guten, 
treuen Augen: „Du bijt mein.“ Alle die kurzen, 
ſchönen Worte, welche nur die Liebe erfindet und 
denen fie ſolche Zaubermacht verleiht, umſchwebten mich, 
und alles Herrliche, welches uns nur dann zugeflüftert 
wird, wenn die Seele von ſüßer Sehnfucht erfüllt 
ift, erjhloß fih mir wieder... 

Als ich endlicd) ins Haus trat, dämmerte es bereits. 
Aber bei dem Gedanken an die Gegenwart beichlich 
mich die alte Eifesfälte, umd wieder glaubte ich im 
Gefolge von des Lebens großem, unendlichem Leichen- 
zuge zu wandeln, 

In dem dunkeln Hausflur begegnete mir niemand 
von den Meinigen. Als ic) in mein Zimmer gehen 
wollte, hörte ich ein Geräufch und blieb vor dem— 
jelben ftehen. 

Plötzlich fühlte ic) zwei Arme fih um meinen 
Hals legen, umd eine gebämpfte Stimme fragte: 
„Kann es nie wieder gut werden ?* 

„Rein.“ 

Dann trat id) ein. Der Mond ftieg gerade über 
den Felskamm empor und erleuchtete mit Schwachen, 
bläulihem Schimmer die beinahe jchwarzen Bäume 
und die bräunlichen Felder. Ich fehte mid ans 
Fenſter. Davor ftanden meine beiden Fyreunde, zwei 
Eichenbäume, entblättert und refigniert den Winter 
In diefem matten Mondſchein lagen 
die Häufer wie dunkle, undeutliche Maſſen vor mir; 
weiter draußen erglänzte das Meer wie ein grati 
weißer, jhimmernder Streifen. Von der Scheune 
ber erflang der Schlag der Dreier; er erinnerte 

102 





810 


Kriftian Elfter. 


mid an die Ruhe des Winters mit feinen flillen | plößlich durd eine im Zeitungsftil abgefahte Roti 
Abenden hinter geichloffenen Thüren. Nirgends gab | eines öffentlichen Blattes zu leſen. 


es Unruhe, nirgends ein Zeichen, das auf irgend 
einen Hummer oder auf eine Zerftörung beutete, 

Ich gedachte jenes verhängnisvollen Abends, an 
dem ich wie heute an dieſem Fenſter jaß, mit der 
Vorahnung zukünftigen ſtrahlenden Glüdes in die 
Mondſcheinnacht hinausſchauend, und an dem id) es 
„Ihön fand, zu leben“, Aber vor allen ftand der 
nächte Morgen mit peinlicher Deutlichfeit vor meinem 
inneren Yuge. Ich wußte, daß mid des Dienft« 
mädchens „Guten Morgen!” und ihr „Fröhliche 
Weihnachten!“ gewedt hatte, als fie den Kaffee 
brachte. Der beichneiten Bäume erinnerte ich mich, 
zwiſchen deren Zweigen einzelne Vögel jchwebten, 
und der fernen Bergipiken mit ihren fonnenvergoldeten 
Bipfeln, und der fraufen, leichten Wolfen, die hoch 
oben in der Luft rafteten, Alles rief mir feinen 
Feſtgruß zu. „Fröhliches Feſt!“ rief auch der Vater, 
indem er jeinen Kopf durch die zum Nebenzimmer 
führende Thür hereinftedte. Auch die Mutter erjchien 
mit demſelben Wunſche, jehte fih auf den Rand 
meines Bettes und berichtete über alle während meiner 
Abweſenheit im Haufe vorgenommenen VBeränderun« 
gen. Und ich entfinne mich, daß ich alles, was ich 
ſah und hörte, jo merfwürdig und jo verheißungsvoll 
fand, daß ich glaubte, nie vordem gewußt zu haben, 
wie lieb mir das Haus mit jeinen Bewohnern, die 
ganze Umgebung, und wie jhön und voll märden- 
haften Glüdes das Dafein jei... 

IX. 

Viele, viele Jahre find verfloffen feit jenem 
Abende, und nie habe ich meine Heimat wieder- 
gejehen. Eine Zeitlang jchrieben meine Eltern mir 
häufig, dann feltener, und niemals enthielten die 
Briefe Nahrichten von Elina. Daher wuhte ich 
nicht einmal, ob fie zu ihrem Onkel zurüdgefehrt 
jet, als ich eines Tages in der Zeitung unter ber 
Rubrik „Unglüdsfälle zur See” folgendes las: 

„Während des Iekten, vor ungefähr acht Tagen 
berrfchenden Sturmes fand in unfrer Gegend ein 
Unglüd auf der See ftatt, das nicht verfchlen wird, 
auch in weiteren Kreifen Teilnahme zu erweden. Es 
betrifft den Landhändler Herrn Holt, deſſen Boot 
auf dem Rüdwege vom Tingfted fenterte, wobei er 
mit feiner ihn begleitenden Nichte umlam. Herr 
Advokat Vang und ein Knabe, welche die Tour eben- 
falls mit ihm machten, wurden gerettet, Herr Land« 
händler Holt galt allgemein für einen auferorbents 
lich tüchtigen, rechtichaffenen und humanen Mann, 
und er ſowohl wie feine Nichte werden von den 
vielen, denen fie mit Nat und That beigeftanden, 
ſchwer vermißt werden.“ 

Man muß dergleichen erlebt haben, um begreifen 
zu fönnen, wa& es heißen will, eine ſolche Nachricht 





Unverzüglich jchrieb ic an den „Patrioten®, um 

etwas Näheres zu erfahren, und die Antwort lautete: 
„Geehrteſter! 

„Der traurige Fall, deſſen Sie Erwähnung thun, 
trug fi) während des letzten Herbſtes zu. Ich mar 
mit Holt zufammen dorthin gereift, um verſchiedent 
Geſchäfte zu erledigen. Elina ging mit und, um 
Hanna Ström zu befuchen, die jekt mit dem Herm 
verheiratet ift, der das Ting abhält. Nachdem Holt 
mit allem fertig war, wollte er fi) auf den Heim 
weg begeben; es herrichte aber ein Unwetter und 
es wurde ihm von allen Seiten von der Seetout 
abgeraten. Doch, wie Sie noch wiſſen werden, war 
es nicht leicht, ihm zu etwas zu überreden. Wir 
hatten nur ein jechäruderiges Boot, auf dem Holt, 
id und ein halbwüchſiger Burjche die Bemannung 
bildeten. Holt war von jeher ein verwegener Segler 
und ſchien mit den Jahren nur immer kühner ju 
werden, Der Burjche, ebenfalls ein Wagehals, ſah 
fo wenig wie Holt eine Gefahr in diefer Heberfahtt. 

„Es war ein ſchrecklich unfreumdlicher Tag, an den 
ich ewig denfen werde. Schneeichauer, aufgeweichte 
Wege, die Luft kalt und rauh. Ein foldyes Tingſted 
unter derartigen Verhältniſſen iſt jo recht dazu an 
gethan, dem Menſchen Abneigung gegen das Leben 
an ſich einzuflößen. Alle Thüren ftehen offen, durd- 
näßte Menjchen gehen aus umd ein, um den ober 
jenen zu treffen, und beſchmußtzen noch dazu jeden 
Raum mit ihren naſſen und unjauberen Stiefeln. 
Ueberall riecht es nad Seewafler und Fiſchen. 
Draußen auf den Wegen fieht man eine fompalte 
Mafle von Menjchen, die zum Ting verfammelt 
find, fi von den Booten nach den Käufern hinaui 
und wieder zurüd bewegen. Alle Leute haben « 
eilig, und es iſt weder ein vernünftiges Wort mit 
jemand zu reden, noch; eine friedliche Ede zu finden, 
wohin weder Zugwind noch Näfle und Fiſchgeruch 
dringen. Holt war noch raitlofer als gewöhnlich 
und lief den ganzen Tag bin und her. Endlich war 
er fertig, und der Junge trug ihm fein Reifegeug 
in das Boot. Ich rüjtete mich ebenfalls und traf 
Holt auf dem Wege. 

„Wohin willft du? ſagte er. — Nah Haut 
natürlich!" gab id zur Antwort. — ‚Unfinn, du 
bleibft bis morgen; für dich ſowohl als für Eline 
ift Platz im großen Boote des Bogtes.‘ — ‚Ich laße 
dich in dem Wetter nicht allein fahren,‘ erwiderte ih. 
— ‚Dante vielmals; ich bin jetzt einigermaßen bei 
Jahren und kann die Reife ganz wohl ohne Kinder: 
mädchen machen. Einen Mann zum Rudern habe 
ich befommen.* — ‚Gebjt du heute fort, thue ich es auch 
Ich denke doc noch meinen freien Willen zubefigen.‘ 
— ‚Du wirftmir nur im Wege fein,‘ jagte er barſch. 


Sonnenmwolten. 


„Ehe ih antworten fonnte, fam auch Elina in 
Reifelleidern. Holt machte große Augen. ‚Aber ich 
jagte dir doch, daß ich dir für morgen einen Platz 
im Boote des Vogtes gefihert habe!‘ — ‚Ich jahre 
heute,‘ antwortete fie furz. 

„Holt überlegte einen Augenblid, indem er prüfend 
auf die See jah. ‚Aber — dem Metter ift nicht 
ganz zu trauen,‘ wendete er etwas unficheren Toneß 
ein, — Ich werde nicht genieren,‘ meinte fie und 
ging vorwärts. Holt jchwieg hierauf, doch fandte 
er ihr einen befonderen Blick nad). 

„So fegelten wir denn ab. Elina ſaß möglichft 


geſchützt, Holt führte das Steuer, ich befand mid) | 


in der Mitte det Bootes, und der Junge blieb 
vorne, Die Sade lieh fih ganz gut an, und es 
ihien feine drohende Gefahr vorhanden, des Wetters 
ungeachtet, bejonder8 mit einem Führer, wie Holt 
es war. Doch nahmen wir unjre Aufgabe feine- 
wegs leicht, und jeder von uns bejorgte jchweigend 
die ihm zuerteilte Arbeit. Holt ſaß Elina halb zu« 
gewendet und fing an, leife mit ihr zu reden. Sch 
fing nur einzelne, abgerifjene Säße auf, die mir die 
Vermutung, dab jet Abrechnung zwiſchen ihnen 
gehalten werde, nahe legten, Endlich jchienen fie 
lich gegemfeitig über alles auszuſprechen; was biäher 
jwilchen ihnen gelegen. Jh hörte ihn antworten, 
dab er ältlic) fei und weder habe glauben noch hoffen 
innen! Den Schluß feiner Rede verftand ich nicht. 


Ih hörte fie wiederholen: ‚Du hätteft e8 nie, nie | 


verbergen ſollen.“ 

„Und ich dachte mir, er erzähle, wie lieb fie ihm 
im Grunde gemwejen jei, und daß er es ihr nie gezeigt 
babe. Nachher hörte ich ihn auch etwas über eine 
Verlobung jagen, über etwas, das er nicht gewagt, 
und daß man feiner ſelbſt ficher jein müſſe. 
ih vernahm deutlich ihre Antwort: ‚Nein, num hätteft 
du mir nicht mehr glauben können, und ich mir jelbft 
ebeniowenig.‘ Doc was fie damit andeuten wollte, 


lann ich nicht jagen. Ich bemerkte, daß Holt mehr 
mals die Farbe wedhjelte und daß feine Hand das | 


Steuer nicht ficher führte. Es lag etwas Geiftes- 
abwejendes in jeinem Blick, und er gab nicht genau 
acht auf die Sturzwellen. Plötzlich jah ich eine 
ſolche heranlommen, e8 wurde ganz dunkel in unirer 
Nähe, aber Holt bemerkte es nicht. Ich rufe ihm 
zu, er rafft ſich fchnell auf und giebt die nötigen 
Anweifungen, diesmal noch eben zur rechten Zeit. 
Dasjelbe wiederholt ih nochmals. Ich warne ihn: 
„Seht jegelft du aber unvorſichtig!‘ Er giebt feine Ant» 
wort, ift aber eine Zeitlang aufmerffamer. Das 
Better ſcheint etwas ruhiger zu werden. Holt ſpricht 
wieder leiſe mit Elina, und indem ich meinen Ge: 


danken nachhänge, achte ich nicht viel auf die Segel, | 


Da fchreit der Junge plöglih: ‚Es kommt! ... 
Mehr konnte er nicht jagen; ich höre ein fürdhter- 








Und | 








811 


liches Brauſen, ſehe den Maſt über Bord gehen, 
fühle mich kalt und naß werden, indem ich beinahe 
erftide, und fann weder ſehen noch hören. Wieder 
zur Befinnung gekommen, finde ich mich mit beiden 
Händen angellammert an das gefenterte Boot, und 
id; werde am Kragen in die Höhe gezogen, bis ich 
oben auf demjelben bin. Holt war es, der mir 
dieſe Hilfe leiſtete; er ſaß da, einen Arm um 
Elina gelungen, die bleih und mit gejchlofjenen 
Augen an ihm lehnte. Auch der Junge hatte fich 
dorthin gerettet. ‚Halte dich gut feſt, jagte Holt, 
nachdem er mir binaufgeholfen, indem er mid) [08 
ließ. So ſaßen wir rittlings eine Weile auf dem 
Kiel, nad) Rettung ausjpähend und uns Gott be= 
fehlend. Da kam mir vor, ald ob Holt nicht mehr 
ganz ficher ſäße, und feinem Ausjehen nad mußte 
es ihm zu ſchwierig fallen, jowohl ſich wie Elina feft« 
zubalten. Ich befragte ihn deshalb ; doch er antwortete 
nur: ‚Gieb acht auf den Jungen, wenn du es ver« 
magst.‘ Ich jah ihm nochmals prüfend an — er 
ſaß aufredht wie ein ganzer Mann, und das Mailer 
floß an ihm herab, In demjelben Augenblid befam das 
Boot einen Stoß; eiäfalt umjpülte e$ uns, ich fonnte 
nichts mehr wahrnehmen, hielt mich aber aus allen 
Kräften feit. Als ich meine Augen wieder gebrauchen 
fonnte, war niemand mehr vor mir, Himmelhoch 
ichrie ich über See gegen das Land zu, aber meine 
Stimme Hang wie die eines Kindes in dem Donnern 
von Wogen und Wind, und ringsum ſah man nichts 
als die tobende See. 

„Es ift eine eigne Sache darum, folches erlebt 
zu haben. Großer Gott! Die Erinnerung fann durch 
nichts ansgelöjcht werden. ch jage Ihnen, man 
wird alt von fo etwas und verliert die freude am 
Leben. Wir beiden Heberlebenden wurden in ftilleres 
Fahrwaſſer getrieben, man bemerkte uns vom Lande 
aus, und jo famen wir mit dem Leben davon. 

„Mas joll id; weiter jagen? Sie fünnen ſich 
jelbit denken, wie mir zu Mute war, al ih Ihren 
Eltern die Botſchaft brachte. Ihre Mutter jagte 
ein Wort, an das ich oft denfen muß: Es war 
vielleiht am beften jo,‘ meinte fie. Ich will Ihnen 
befennen, dab ich ſelbſt etwas Wehnliches gedacht 
habe. Zwiichen den beiden wäre es nie gut geworden. 
Vielleicht jollte ich dies nicht weiter erörtern. Allein 


‘ Sie haben mid) dringend um ausführliche Mitteilungen 


über beide gebeten. Ja, es ift fonderbar, daß jte 
ſich nicht verföhnen konnten. Sie war das ware 
fühlendfte, großherzigite Weib, das ich je gelannt, 
und was Holt anbetrifft — ja, er war mein einziger 
Freund im Leben, treu wie wenige, zuverläſſig, wenn 
man in Not geriet. Zu einer Erklärung zwiſchen 
ihnen fam es erft, als es zu jpät war. Das Ver— 
hältnis zwifchen ihnen hatte ih ſchon lange jehr 


gegen frühere Tage gebeilert. Sie verkehrten freundlich 


812 


und viel weniger ſchweigſam miteinander. Aber 
man fühlte doch, daß da etwas war, was nicht geheilt 
werben konnte. In jener furdtbaren Stunde, da 
fie wie leblos in jeinem Arme lag, hörte ich ein 
Wort, das ich niemand anvertraut babe, nicht ein- 
mal Ihren Eliten. Als Holt merkte, dab er fie 
nicht mehr ſicher halten könne, jagte er: ‚Elina, 
nimm dih zufammen, es gilt das Leben.‘ — ‚Lab 
mid) fahren,‘ verſehte fie, ‚mir liegt nichts daran, jeht 
ift es nicht ſchwer, zu fterben.‘ Sie ſprach vielleicht in 
Phantafien, aber ich meine doch auch, daß ſich in 
ihren Worten ein geheimer Wunſch verriete — fie, 
die einmal fagte: ‚Es ift ſchön, zu leben.‘ 

„Don mir ift wenig zu berichten. Ich leide ſehr 
durch die Kälte. Ich fühle Bellemmungen meiner 
Bruft, die mich gewiß nie wieder verlaffen werden. 
Wozu jollte ich auch noch leben? Das Haus dort 
oben jteht leer; ich fanı nicht mehr hineingehen und 
zwei gute Menſchen darin finden. Welchen Wert 
bat das Leben, wenn der Menſch vereinfamt ift? 
Ich will Ihnen ein Gejtändnis machen. Es iſt ein 
gute Ding um allgemeine Ideen und Intereſſen; 
aber es ift eine wunberlich fühle Gejellihaft, wenn 
man alt wird. Gerade heraus! Wenn man nichts 
andre3 mehr im Leben jein nennt, wird man jich jo 
arm und verlafien fühlen, daß man gern jein Blut 
ließe für einen einzigen Menfchen, den man lieben 
darf und bei dem man Gegenliebe findet. 

„Dies ift eine Lebenserfahrung, die ih in mein 
Teſtament jchreiben will.“ 

% 

In jedem Briefe, den du während der letzten 
Jahre an mich abgejandt, kehrt die Frage wieder, 
wie ich e8 aushalte, mein Leben in diefem abgelegenen 
Thale zu verbringen und feine armen Bewohner 
von ihren Gebreften zu furieren. Wo die Aufgabe 
fei, die mich mit diefer Exiſtenz verſöhnen lönne? 
Woher ich überhaupt das nötige Brennmaterial 
nehme, um den alten Ofen warm zu halten? Ob 
ih mich nicht hinausſehne in die große weite Welt 
mit ihren gejhäftigen Menichen und ihren vielen 
geiftigen Intereflen ? 

In dem, was ich bir erzählt, wirft du die Ant« 
wort finden. Ich babe einen Ausſpruch von Elina 
beherzigt: „Dann wollen wir Derer gedenfen, Die 
frant und traurig find.” Siehſt du, jobald man 
fein Auge auf ſolche Dinge richtet und bereit ift, 
ſolche Thätigkeit zu üben, jo findet man das Leben 
überall unendlich reih an großen Aufgaben; denn 
nirgends fehlt die große Familie der Aranfen und 


Kriftian Elfter. — Sonnenwolten. 


Traurigen. Ich bedaure nur, dab mein Wille jo 
ſchwach ift und meine Kraft jo gering. 

Allerdings ift das Brennmaterial nicht jedergeit 
jehr reichlich vorhanden, und zumeilen droht der 
Ofen zu erfalten. Mein Geichid ericheint mir ähnlich 
wie das ber Sonnenwolten — fie entzünden fih am 
Weſthimmel, leuchten eine Weile in herrlicher Glut, 
verlieren dann aber plöklic ihr Sonnenfener und 
ichweben farblos und einjam vorüber. 

Aber doch habe auch ih, der gewann und verlor, 
eines erlebt, habe einen Augenblid gewußt, was das 
Leben in feiner größten Herrlichleit bietet, habe er: 
fahren, daß es die Schmerzen, mit denen wir & 
bezahlen, wert if. Ob ich Sehnſucht empfinde? 
Ya, aber nicht die nad) der großen Welt und ihrem 
bewegten Leben. Oft ſchaue ich gegen Weiten, wo 
das Licht erloſch, und jehne mich dorthin, weih ih 
glei, daß die Sonne untergegangen iſt. Ja, id 
fehne mich nad der fern im Meften gelegenen 
Heimat, ala ob alle Herrlichkeit des Lebens dort ju 
finden jei. Hier jcheint mir noch heute alles fremd 

ı zu fein. Diefe falten, Maren Winter haben nit: 
Anziehendes für mich, und dieſe trockenen, heißen, duft- 
lojen Sommer find nicht wie die, welche ich kenne und 
liebe, Mit heißer Sehnſucht denfe ich am die feucht 
Luft der weſtlichen Gegend, an wildſchäumende 
Gebirgsflüffe, an zartes, friſchgrünes Gras, an dunfie 
Kiefernwaldungen und an die feinen weißen Häuler 
mit Gärten. Ich habe Sehnfucht nach hohen Zelle 
mit jchneegefrönten Gipfeln, nach dem Atem der 
See, nah dem Gepläticher der langen, ſchwath 
twogenden Sommerwellen und nach dem Anbiid von 
ihwimmendem Seegras und jchaufelnden Booten. 

Ja, zuweilen überfällt mich ein brennenbder Durüi 
ein verzehrendes Sehnen, dies allet nur mod din 
einziges Mal zu fehen, zu hören und zu genieben, 
— und doc weiß ich, daß es nur eine Illuſion if. 

Ich ſehne mich nad einem Stüdchen Leben, dei 
begraben ift. Wäre ich dort, fo würde ich mie an 
einem Grabe weilen und meinen, Daß alles, wei 
mir teuer, in die Ferne gezogen iſt. Dann würde ich 
mich befinnen und willen, dak das, wonach id 
Sehnſucht empfinde, in der falten Tiefe begraben 
liegt, welhe man Vergangenheit nennt. Wieder 
würde ich nach Weiten jehen und träumen, dab dick 

| fernen, rötlichen Sonnenwolfen ausgewandert fin) 

| aus jenem Lande, wo der Frühling ewig währt, 
und dab fie mir einen flüchtigen Gruß von dem 
Herrlichen jenden, das ic erjehne und das nid 
erjtirbt. 





LO · — 


Hühneriana. 
Gin Gleichnis von 
GSuflav Wied. 
Aus dem Dänifhen überfeßt von 6. Denwitz. 


Es war einmal ein Hühnerhof, in welchem die 
hähne mit Kamm umd Sporen und andern männ« 
lien Zierden hochmütig einherftolzierten und ihre 
Hennen insgefamt recht lieb hatten, wie Hähne ihun 
iollen. Fanden fie auf ihren Wegen einige Iedere 
Körnden, fo thaten jie natürlich zuerſt fich ſelber gütlich 
daran, denn fie hatten ja vorher die Arbeit und 
Mühe damit gehabt ; blieb dann aber noch etwas übrig, 
jo richteten fie ſich hoch auf, frähten, um ihre Weiber 
und Hinder herbeizurufen, und jagten ihnen: „Seht, 
dies haben wir für euch gefunden!” Da kamen die 
Hennen von allen Seiten herbeigewadelt, jie füllten, 
ihre Kröpfe, danften, jchlugen mit den Flügeln und 
liegen ſich's jchmeden, waren neidiſch, jchritten zum 
Rampfe gegeneinander und pidten aufeinander [08 und 
wurden gejchlagen und jo weiter, wie eben Hühner feit 
Dlims Zeiten gewöhnt find, ſich die Zeit zu ver- 
treiben. Dennoch aber hüteten fie ihre Nefter, legten 
ihre Eier und brüteten ihre Küchlein aus und fühlten 
fi verhältnismäßig glüdlich auf diejer Welt, indem 
fie das alte Naturgejeg anerkannten: „Der Hahn iſt 
dad Oberhaupt der Hennen.“ 

So war es damalä!... 

Muhme Meyer war der Name einer älteren 
perlgrauen Henne von ziemlich cholerischem Tempe» 
rament. 

Seit langer Zeit merkte Muhme Meyer, dab fie 
den andern im Hühnerhofe, ihres zunehmenden Alters 
wegen, jchon recht im Wege war, und darum war 
ihr der Kropf oder vielmehr die Galle ſtark geichwollen, 

Wenn fie num jah, wie ein heißblütiges junges 
Huhn mit Flaum und Federn ſich einem Hahn er 
gab, To jagte fie zwar nicht geradezu, das fei ein 
Verbrechen, denn jie fonnte, bejonders zur Lenzeszeit, 
ſich noch dunkel ihrer eignen Jugend erinnern, aber 
fie gaderte doch halblaut etwas vor ſich hin, daß die 
Kennen ihre Würde befjer zu wahren willen und fich 
teinesfalld jo willig darein finden jollten, von den 
Hähnen nad) eignem Gutdünfen behandelt zu werden, 

„Denn,“ jagte fie, indem fie den Schnabel jenf- 
teht hielt, „wenn man die Sache genau unterjuchen 
wil, jo ift im Grunde nur ein Eleiner, unbebeutender 
Unterſchied zwijchen Henne und Hahn, und diejer 
fledt wejentlih in dem rein äußeren Apparat: im 
Kamm, den Sporen und... und jo weiter!“ 

So ſprach fie, und immer zablreicheres, gleich— 
alteriges Hühnerbein begann ihren Worten zu lauſchen. 

Und fie wurde von Heiliger Wut ergriffen. Erſt 


unternahm fie mit einigen beionders empfänglichen 


Hennen einjame Spaziergänge an dem Brachfeld 
bei der Wagenremije vorüber. Darauf wurden ge= 
heime Sitzungen im Kuhſtall und in der Scheune ge= 
halten, und endlich jehte fie öffentliche Verfammlungen 
unter dem Fliederbuſch oder auf dem Pia mitten 
im Hof an. 

Und jie machte nun nicht länger mehr ein Hehl 
daraus, dab es die Hähne jeien, weldhen fie zu Leibe 
wollte, 

Ganz reizend war es, die Aufmerkſamkeit ihrer Zu- 
hörerinnen bei dieſen Verſammlungen zu beobachten ; 
fie wendeten ihre Kleinen Hühnerköpfchen graziös 
zur Seite und nahmen ſehr nachdenlliche Mienen an. 
Und jedesmal, wenn fie dann etwas recht Gravieren- 
des über das andre Gejchlecht geäußert hatten, klatſchten 
fie begeiftert mit den Flügeln. 

„Was iind denn die Hähne,” ſagte fie, ihren 
Schnabel höhniſch verziehend, „daß fie fich einbilden, 
die Herren der Schöpfung zu jein? Melden Vorzug 
bejigen fie eigentlid vor ung?“ 

„Nun, ich denfe, den, daß jie nicht nötig haben, 
Eier zu legen und zu brüten,” winfelte in weiner- 
lihem Tone eine magere und zerzaufle jchwarze 
Henne, Mutter von fünfzehn Küchlein. 

„Brüten!” rief Muhme Meyer, „brüten” — und 
ihre Federn flräubten ſich wie die Stacheln eines 
gereizten Igels — „brüten! Immer wirft man ung 
dieſes Brüten vor den Schnabel! Aber gerade darüber 
haben doch zu guter Let nur wir allein zu bes 
ſtimmen!“ 

„Ja—a!“ gackerten die Zuhörerinnen, „darüber 
beſtimmen wir allein!“ 

Die meiſten von ihnen waren, wie geſagt, ältere, 
bürre Hennen, welche nur in den wärmften Tagen 
bes Maienmonds Nachlommenjchaftsgelüfte verſpürten 
... Und ber Geift des Aufruhrs verbreitete fi mehr 
und mehr im Hühnerhofe, und Muhme Meyers 
Popularität fteigerte ſich faft biß zur Heiligipredhung, 
als das Gerücht ſich zu befeitigen begann, da fie 
nicht einmal mehr Eier lege, Denn daß man ihr 
nachſagte, Ihon lange nidt mehr Umgang mit 
Hähnen gehabt zu haben, konnte ja ebenfogut dem 
Mangel an Begabung wie einem Uebermaß ihrer 
Willenskraft zugejchrieben werden. Won dem Weih— 
rauch, welchen man ihr ftreute, wurde jie ganz hoch— 
beinig. Und wenn fie auf dem Stafet, weldjes den 
Düngerhaufen umgab, oder auf dem Rande bes 
Schweinetrogs ftand und ihre Brandreden hielt, dann 
lag eine jolde Energie in ihrem Vortrag, ein jo 
fanatifches Feuer blitte aus ihren Augen, daß man 
mitunter verjucht war, zu glauben, es jei in ihrem 
fleinen Hühnergehirn etwas entzwei gegangen. Und 
ferner begab fich überdies, wenn fie manchmal gerade 
jo recht aufgaderte, etwas ganz Eigentümliches mit 


814 


ihr, indem fie plöglich merfwürdig aufgeregt wurde, 
in lächerlicher Weife auf den frühen hin umd ber 
trippelte, die Augen ganz nervös verdrehte, id) ver 
beugte und verſchwand. Sie verlieh ihren Redner— 
ftuhl und ging abjeits; ob in die Scheune oder auf 
den Heuboden oder draußen nad dem Heuſchober, 
das wußte man nicht, denn fie erlaubte nie, daß 
jemand ihr folge. Nach reichlich zehn Minuten kehrte 
fie ruhig und gefaht zurüd, um ihren Vortrag jort- 
zuſetzen. 

Und nun raunten ihre frömmſten Anhängerin- 
nen einander geheimnisvoll und feierlich zu, daß fie 
in ihrem geheimen Gemad) gewejen jei, um ſich durch 
Gebet und Anruf zu ftärten. Und höher und höher 
flieg der Mut der aufrührerijhen Schar. Man 
gründete ein Blatt mit dem Titel: „Was wir Hennen 
wollen“, und ftiftete einen „Fortſchrittsverein der 
Hennen“. Unter ungeheurem Gadern wurde Muhme 
Meyer zum Präfes der „Direltion” (ein Wort, 
welches man jelbft erfand und für eine außerordent- 
liche Verbeflerung der Mutteripradhe anjah), gewählt, 
während man einen alten, rötlichgelben Hahn ohne 
bejonderen Namen, der an Zipperlein und Ber: 
dauungsbeſchwerden litt, überredete, den Posten eines 
Dirigenten und Bizevorftandes zu übernehmen. 

Jetzt fteigerte der Mut fi zum Uebermut. Ja, 
es begab ſich einigemal abends, wenn die jüngeren 
Hähne auf ihre Stänglein geflogen waren, daß, von 
Muhme Meyer und dem mit Verdauungsbeſchwerden 
Behafteten geführt, die übrigen Vorftandsmitglieder 
mit Hohn- und Schimpfworten auf fie eindrangen, jo 
da die Hähne, teils, weil fie ihre Krähwerkzeuge nicht 
gehörig gejchmiert hatten, teils, weil fie ſich vor 
Lachen nur jo jhüttelten, ihre Stangen verlafjen und 
die Naht, in Gemeinjchaft mit den jungen, warın« 
blütigen Hühnchen, im Winfel auf einem Strohlager 
verbringen mußten. 

Nun, dort mochte es ihmen übrigens ganz gut 
gefallen! ... 

So rückte der große Tag heran, dem beide Par« 
teien mit lebhafter Spannung entgegenjahen. 

Der Hennenforticrittsverein hatte unter dem 
Motto: „Auf mit den Schwingen!“ eine Maijen- 
verfammlung einberufen. 

Mitten im Hofe ftand ein leerer Erntewagen, 
deſſen Trittbrett über die Hinterräder gelegt war. 
Diejer follte ala Nednertribüne dienen. Die „Di— 
reftion“ follte im Innern des Wagens, die Redner 
nebft dem Borftande auf dem Wagenbrett unter 
gebracht werden, während der „Dirigent“ jeinen 
Pak auf dem linken Hinterrad erhalten jollte, um 
ein wachſames Auge auf die Menge zu haben. Den 
Zuhörern wurde der Grasfled rund herum ala Ver— 
jammlungsort angewiefen. Die Sifung war für 
drei Uhr nachmittags anberaumt worden. 

Bereit3 um zwei Uhr begann das Publitum her— 
beizuftrömen. Es waren die Vereinsmitglieder und 





Muhme Meyers eifrigfte Anhängerinnen. Sie nahmen | 


im Innern des Kreijes Aufftellung und hatten zur 


Feier des Tages und für den Fall eines Handgemenges | 


oje Blätter. 


ihre Schnäbel frifch geweßt. Darauf kamen die ſchwan— 
fenderen Seelen, Kennen, die nicht aus nod) ein 
wußten. 

Und außen ſtanden die jungen Hähne mit ihren 
heißblütigen Damen, welche ihre Federn puhten, nach 
rechts und links knickſten und halblaut gludſten. 

Um Schlag drei Uhr tauchte der Präſes an der 
Spike der gefamten Direktion auf. 

Die Prozeffion bewegte fi von außen her um 
die Menge herum, auf die Wagendeichjel zu, wo fie 
vom Dirigenten empfangen wurde, der fie, jo gut er 
es fertig brachte, mit einem Krakfuß begrüßte. 

Darauf ftieg man die Deichjel entlang hinauf 
und nahm unter endlojem Gadern der Berfammlung 
feine Pläße ein. Es dauerte ziemlich lange, bis der 
Dirigent auf dem Rade Fuß gefaßt hatte, weil er 
abjolut auf einem Bein ftehen wollte, ohne doch die 
Kraft dazu zu bejigen. Bereits tönte leijes Kichern 
und Zuruf von den äußerften Reihen her, als der 
alte Herr ſchließlich auf eindringliche Vorftellungen 
der Direktion eimwilligte, auf zwei Beinen zu diri- 
gieren. Zuerft erhielt Muhme Meyer das Wort, 
welche jomit in doppelter Eigenſchaft, als Vorſtand 
und Rednerin, fih auf das Wagenbrett ftellte. 

Ein unmähiges Gadern wurde ihr von den Mit- 
gliedern de& Vereins zum Gruße dargebradjt. Ber: 
einzeltes Ziſchen ließ fich zwar vernehmen, wurde jedoch 
bald übertönt. Und nachdem der Dirigent durd 
dreimaliges energifches Krähen Ruhe geboten hatte, 
begann fie: 

„Meine Hennen und Hähne! 

„As ih vor einem Jahre meine Agitation in 
der Hühnerfrage begann, da wurde ich mit Kopi- 
ſchütteln und Hohngadern begrüßt, nicht allein von 
dem jogenannten ‚ftärferen Gejchledht‘, jondern ebenjo 
von der Mehrzahl meines eignen Lagers. Doch ih 
verlor feineöwegs den Mut! 

„Denn Sie erinnern fi) gewiß alle, was Stuart 
Mill in feinem weltberühmten Werte: ‚Die Unter 
johung der Hennen‘ jagt! ‚Sobald nur eine ein 
zige energiiche Henne mit einiger Schneid im Schnabel 
auftritt,‘ jagt er, ‚umd das Panier der freiheit hoch⸗ 
bebt, jo werden bald Tauſende ihr zu Kampf und 
Sieg folgen!‘ Und es geſchah, was diejer berühmte 
Hahn vorausgejagt hatte: Von einem Heinen Häuflein 
Mihvergnügter find wir zu einer Macht in der Ge 
jellichaft, einem Staat im Staate, zu einem Heer ber 
Freiheit herangewachſen, welches fich über alle 
Lande ausbreiten wird!” (Jubelgadern der 
Direktion nebft Anhang.) „Und was ift es, wofür 
wir fämpfen, meine Hühner? Wir fämpfen für die 
Abſchüttelung diefes unerträglihen Joches, welde: 
die übermütigen Hähne jeit Jahrtaufenden auf unjern 
Naden gelegt haben. Aber wir wollen nidt 
länger ihre Suprematie anerkennen.‘ 
(Nein, nein!) „Denn nur kraft einer ziemlich dubita- 
tiven“ — bei diejen beiden Fremdworten verdrebten 
die Vorftandsmitglieder vor Entzüden die Augen — 
„ich Tage, einer ſehr dubitativen Ueberlegenheit an 
phyſiſcher Stärke haben fie ung bisher darniedergedrüdt. 


oje Blätter. 


‚Scufter, bleib bei deinen Leiſten!‘ ift ein Wort, 


das fie mit Vorliebe anwenden, wenn es uns ber | 


trifft, und mit diefem armjeligen Sprichwort haben 
fie ſtets unſer Thun und Laſſen nur auf unire Häus— 


lichleit, auf das Hüten der Nejter, das Eierlegen | 


und das Auffüttern unſrer Küchlein zu bejchränfen | 


geſucht. Daß fie ung geftatten, und zu Schaufpielerin- 
nen, Sängerinnen und Tänzerinnen auszubilden, 
erwähne ich nur als Anklage gegen fie, denn dieje 
Erlaubnis ift nur von ihren Sinnen diftiert, Sie be= 
trachten ung einzig und allein als ein Spielzeug! Aber 
wir wollen dieſe Tyrannei nicht länger 


dulden!” (Nein, nein! Nieder mit den Hähnen!) | 


„Denn welche leiblichen und geiftigen Vorzüge befikt 
eigentlich dieſes eingebildete Vieh vor uns?...” 
(Hier krähte der Dirigent aufs beftigite: er müſſe 
die geehrte Rebnerin erſuchen, fi ein wenig zu 
mäßigen. Er gehöre jelbjt zum andern Geſchlecht 
und Fönne Feinesfalls die Bezeihnung „Vieh“ auf 
fh fihen laſſen; es fei fein parlamentarischer Aus- 
drud! Die Rednerin errötete bit in den Kamm, 
und ihre Stimme bebte, als fie in jpikem Tone fort 
fihr): „ES war ganz und gar nicht meine Abjicht, 


verſtehen! 





denn hochverehrten Dirigenten zu beleidigen, ich bitte | 


ihn daher um Entſchuldigung. Gleichzeitig will ich 
mein Wort mortifizieren und in ‚Federvieh— 
umänbern !* (Raſendes Begeifterungsgluden der Mei- 
nungagenofien: Hurra! Bravo! Die Muhme wird 
wigig! Kiferii—i! Der Dirigent: Ruhe!) „Alſo 
frage ich wieder: Welche leibliche oder geiftige Vor— 
züge zeichnen biejes Federvieh vor ung aus? Es ift 
nur ein geringer Unterſchied,“ (Hurra, der geringe 
Unterihied!) „Kamm und Sporen find nur Geſchlechts⸗ 
merfmale, wie Hörner und andre Stirnzierden“ (Uns 
ruhe unter den Hähnen). „Und das Dogma von der 
Inferiorität der Hennen ift zur Trivialität gewor— 
den! Sie follin einigen fehlenden Hirmmwindungen 
md einem überzähligen Schmwanzwirbel beitehen, 
jowie in der ſchwächeren körperlichen Konftitution, 
die vom Brüten, Eierlegen und fo weiter, was dazu 
gehört, herrührt. Aber, meine Geehrten beiderlei 
Geſchlechts, das mit dem Brüten, Eierlegen und fo 
weiter ift doch eimas, worüber zu guter Yet wir 
alleinbeftimmen! Ich habe ſeit der Gründung 
unfer8 Vereins nit ein einziges Eige 
legt!” (Hurra—a! Muhme Meyer joll leben! Der 
Teufel ſoll's glauben! „Seht jemand Zweifel in meine 
Worte,“ (Ja—a! Ni—in! Ja—a!) „oder glaubt 
er das Gegenteil beweifen zu fönnen, jo trete er 
hervor, wenn's beliebt!” 

Einen Augenblick berrichte tiefes Schweigen in 
der Verſammlung. Ueberall jtedte man leiſe flüfternd 
die Köpfe zufammen. Die Vereinsgenofien jedoch, 
jowie der Vorjtand jahen fi triumphierend um und 
gaderten ſiegesgewiß. Plößlih ertönten Stimmen 
von den Äußeren Reihen: 

„Fräulein Weiß bittet ums Wort! Fräulein 
Web weiß etwas! Laßt Fräulein Weiß hervor» 
treten !” 

Die Reihen öffneten ſich, und eine Meine weiße 


815 


Henne mit Schopf und ftrohgelber Schwungfeber 
trippelte hervor. Sie jah ſchüchtern und beſcheiden 
zu Boden und hielt die Flügel dicht an den Leib ge— 
preßt. 

„Ih wollte nur erzählen,” begann fie und ers 
rötete über und über bis an die oberite Zade ihres 
Kammes, „daß, als ich heut morgen .. .* 

„Auf den Wagen mit ihr! Wir können nichts 
Sie ſoll auf die Rednertribüne!“ ſchrie 
die Menge. 

Der Dirigent frähte: 

„Darf id) das Fräulein erfuchen, ſich heraufzu- 
bemühen!” bat er mit Teutfeligem Flügelſchlag. 

Das feine Fräulein balancierte auf die Wagen- 
deichiel und an dem gejamten Vorftand vorüber, 
ber ſich ſchlimmer brüftete als eine Gans mit einem 
Schwanenhalje und ihr furchtbare Blide zuwarf, 

„Ich wollte nur,“ begann fie wieder, als fie faft 
bis an den Rand des Wagenkaſtens gelangt war, 
„ich wollte nur...” 

„Höher hinauf!“ fchrie die Verfammlung. „Sie 
joll neben Muhme Meyer ſtehen!“ 

Aber der feine Tauſendſaſa von einer Senne 
warf beicheiden den Kopf zur Seite, drüdte bie 
Flügel noch feſter an den Leib und ſagte mit feinem 
Lächeln: 

„So hoch fann ich mic) doch nicht aufichwingen!* 

„Bravo, Bravo!“ ſchrie die Oppofition. 

„Zur Sadıe, zur Sache!“ gaderten die Vereins- 
hennen, und Muhme Meyer warf der jungen Dame 
einen mie in Cyankalium getränften Blid zu. 

„Nun ſeh mal einer an!” rief plöglich ein junger 
Hahn, der im Stimmbrud war. Und alle jungen 
Hennen jahen auf ihn und lächelten und gludten ; 
fie fanden ihn ganz entzüdend, 

Und zum drittenmal begann Fräulein Weiß: 

„I wollte nur erzählen,“ jagte fie, „dab, ala 
ich heut früh mit meinem Bräutigam* (Kichern und 
Gratulation) „im Getreidefelde ipazieren ging, wir 
plöglih Muhme Meyer aus einem der Heuſchober 
berauslommen ſahen. Wir hatien natürlich große 
Angſt, dab fie uns erbliden könnte,“ (natürlich!) 
„und verbargen uns unter den großen Klettenſträu— 
chern am Zaun. Da ftanden wir nun beide und 
ſchauten hinüber, denn wir waren natürlich jehr neu» 
gierig.” (Das tft begreiflich, liebes Fräulein!) „Und 
da jahen wir, daß fie vorjihtig Umſchau hielt, und 
als jie feine Hühner in der Nähe erblidte, machte 
jie mit dem Schnabel ein Zeichen ins Neft hinein, 
und da — und da...” (Nun, immer zu, friſch 
drauf, Mamjellden!) „und da fam ein gelblichroter, 
älterer Hahn lauſchend hervor, der unjerm verehrten 
Direktor täuſchend ähnlich jah.“ (Das iſt gut! Hur« 
ra—a! Pit, laßt weiter hören!) „Und fie beeilten 
Äh, die Oeffnung wieder zuzudeden, dann ging jeder 
feines Weges, in den Hof zurück.“ (Ha—ha—ha!) 
„Ich war natürlich jehr neugierig,” (Natürlich! Das 
haben wir gehört!) „und jcharrte das Stroh von dem 
Loche hinweg, und da fand ich ein Neft mit vierzig 
Eiern!* (Hurra! Kikeriki —i! Vierzig Eier! Es lebe 


816 


Muhme Perlgrau! Unfre fruchtbare und Vielfeitige! 
Das war aber mal reihlih! Hi—hi! Es lebe der 
Dirigent! Nieder mit Madame Meyer!) 


Ein furchtbarer Aufruhr entitand in der Ver- 


fanmlung, man rief und jchrie einander in die ' 


Schnäbel, die Hähne frähten, die Kennen gaderten, 
und der Dirigent, dem es während der Enthüllungen 
des Fräuleins mit vieler Mühe geglüdt war, auf 
einem Beine zu ftehen, um der Gejellichaft zu im 
ponieren, fiel wieder auf beide zurüd. 

Muhme Meyer jelbft hatte einen ihrer Anfälle 


von Aufgeregtheit befommen; fie trippelte mit den | 


Füßen, wippte mit den Flügeln und verdrehte die 
Augen, jo daß fie ihren Getreuen die ernfteften Be— 
ſorgniſſe einflößte, 

Aber plöplich jchritt eine der Bereinähennen gerades 
wegs auf das Heine Fräulein Weiß zu, welches noch 
mit dicht an den Leib gepreßten Flügeln daftand. 

„Sie haben ja feinen Beweis!” rief fie mit 
blikendem Auge und funfelndem Hamm, „Sie haben 
ja feinen Beweis! 
gewejen fein! Sie können falſch gejehen haben!” 

Da erhob das Fräulein wie beichwörend feine 
Flügel gen Himmel, und unter ihnen hervor auf bie 
Verſammlung hernieder riejelte ein Regen von perl- 
grauen und rotgelben Flaumfedern in lieblichem Verein. 

„Diele Haben mein Verlobter und ih im Neſte 
aufgeleien,* ſprach fie janft. „Und die Eier waren 
faft geiprengt, es waren Küchlein drin!“ 

Diefe Mitteilung brachte eine ganz außerordent- 
lihe Wirkung hervor. 

Ein Siegesträhen und ein Hlagegadern brauften 
über den Hof, denn die Federn entſtammten unver« 
fennbar Muhme Perlgrauß und des Zipperleinbehaf- 
teten platonifchen Brüften. 

Schweigend und mit hängendem Schnabel ftanden 
die Vereindmitglieder. Die Oppofition jubelte. Und 
der Dirigent war verſchwunden. 

Die arme alte Muhme Mever aber lag ohn— 
mächtig auf der Rednertribüne. Und als man jie 
bebutjam aufhob, um fie in eine Droſchle zu tragen, 
da fand man, daß fie in ihrer tiefen Seelenqual 
wiederum ein Ei zur Welt gebracht hatte, 

Diesmal jedoch war es nur ein Winbei. 

— — 

Die dentiche Litteratur und das Ausland. Welch 
hohes Anſehen die deutjche Geiftesbildbung in allen 
Ländern des Erdballs genieht, läßt ſich durch nichts 
bejier darthun als dur eine jüngft veröffentlichte 
Statiftil des deutſchen Bücher-Erports und ⸗Imports. 
Danach betrug der Bücher-Export im Jahre 1896 


65 Tann dod) ein andres Huhn den Erport ganz erheblich. Sicherlich ift diefe That 





oje Blätter 


Nieverlande mt . .» 2 2 2 20 2 Boa Go Marl, 
Trrantreih 2000660 
Belgien nn da ihr er 1 200 000 
Schweden . 1200000 , 
Italien ee Eee 300 000 
Zinmart „on 2a 00 090 


Der Import ausländiiher Bücher nach Deutih- 
land belief fih im gleihen Jahre auf 20 Millionen 
Marl, alio auf den dritten Teil de& Giporte 
(1833: 8800 000 Marf. Am Import find die 
hauptſächlich in Betracht kommenden Yänder beteiligt 


wie folgt: 
Defterreichellugarn mit . 7200 000 Marl, 
Ediweiz R 300000 
Frantreich 2 890.000 
Niederlande r + 1600000 , 
Grohbritannien und Irland mit F 1600 000 
Rußland miii— 720 000 


Vereinigte Staaten von Nordamerita mit 650000 
Wie man fieht, ift Frankreich das einzige Sand, 
das mehr litterarifche Erzeugnifie nad Deutihland 
erportiert, al3 von dort importiert werben. In allen 
übrigen Ländern überwiegt der, Abſatz deutſcher Bücher 


ſache zum Teile, namentli für Länder wie bie 


‚ Vereinigten Staaten von Nordamerika, auf die be 


; innerer Wert und Gehalt. 


deutende Anzahl der im Auslande anſäſſigen Deutjhen 
zurüdzuführen ; indefien beweift das Beifpiel einiger 
Länder mit eigner litterarifcher Produktion in deuticer 
Spradje, wie Oeſterreich Ungarns, Rußland! umd 
der Schweiz, dab außer dem genannten Faktor nod 
andre Momente das Anwachſen und Ueberwiegen 
bes Bücherexports aus Deutſchland bedingen, und 
diefe Momente find zweifellos nicht nur die auker 
ordentliche Reichhaltigkeit und DVielfeitigfeit der deut: 
ſchen litterariichen Produktion, jondern aud ihr 


— 1. 
— 


Kleine Mitteilungen. Zum Andenfen an den 
engliihen poöta laureatus Lord Tennyſon wurd 


am 6. Auguft auf der Höhe von Freſhwater, einem 


der Ihönften Punkte der Inſel Wight, wo der Dichter 
einen Landſitz beſaß, ein Leuchtfeuer in Geftalt ein 
cornwallifiichen granitenen Kreuzes eingeweiht. Da: 
Kreuz ift 40 Fuß hoch und trägt die Juſchrift 


| „Zum Andenten an Alfred Lord Tennyſon ift dickes 


Kreuz, ein Leuchtzeichen für Seeleute, errichtet von 
Leuten von fyreihwater und andern Freunden in 
England und Amerifa.“ Das Kreuz ift der Obhut 
des Leuchtamts, des Trinity Houfe, anvertraut. — 
In Pézenas wurde am 8. Auguft ein Denkmal 
Molieres enthüllt, eine Arbeit des Bildhauer 


Injalbert. Das Monument zeigt die Büſte Molieres 


1,7" , des geſamten deutichen Exports und repräs | 


fentierte einen Wert von über 62 Millionen Mart 
(gegen 26’, Millionen Marl im Jahre 1883). 
An diefer Summe find die wichtigſten Staaten des 
Auslands in folgender en beteiligt: 

Oeſterreich ⸗ Ungarn mit . 28000000 Mark. 


Schwe 7600 000 
Bereinigte Staaten don Nordbamerifa mit 720 000 
Ruklan mt . . 2: 2 2 2 2 0. 5 60 000 
Geokbritannien und Irland mit . . 3200 000 





Berantwortlicger Medafteur: Karl Bolhorvener in Stuttgart, Drud und Belag der Deutſchen Berlagt-Knflalt in Etuitgort. 


auf einer Säule, an welche ji ein Satyr und eine 
Soubrette anlehnen. Der Satyr bat viel von fid 
reden gemacht, weil der Schaufpieler Coquelin cadet 
ala Sohn für jeine Propaganda für das Denimal 
verlangte, daß diefe Figur feine Züge trage. Der 
Künftler nahm jedoch Anſtoß an der Barilofigkeit 
des Schaufpielerg, die fich für einen Satyr nicht eignet. 
Für die reizende Figur ber Soubrette nahm Injalbert 
Fräulein Ludwig von der Comedie frangaise zum 
Mech, 





Briefe und Senbungen find nur an die Dentſche Verlans- Anftalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu riätem 


Hleichbeit. 


Edward Bellanı. 


Aus dem Amerikanifchen überfeßt von WM. Jacobi. 
(Fortfehung.) 


vo. 
leberraihungen ohne Ende, 

Edith war in jo wunderbar zarte Farben ge» 
fleidet, daß ich mich zu der Bemerkung veranlaßt 
ſah, die moderne Tracht jcheine es beſonders auf 
belle fyarbeneffefte angelegt zu haben. In meiner Zeit 
fei das weniger der Fall gemejen, 

„Die damit erzielte Wirkung,“ fuhr ich fort, „ift 
böhft angenehm, aber — entihuldige eine etwas 
proſaiſche Aeußerung — wenn die ganze Nation in 
io hellen Kleidern geht, müſſen die Wäſcherechnungen 
jiemlih groß fein. Betrügen fie auch nur annähernd 
jo viel wie ehemals, jo müßten fie das ganze National« 
vermögen mit fortipülen, follte ich meinen.” 

Ih hielt das für einen jehr verftändigen Ein« 
wand, aber Edith lachte mid) aus. 

„Natürlich könnten wir nicht viel andres thun, 
wollten wir unjre Kleider wajchen, ſagte Mi „aber 
das fällt uns auch gar nicht ein.“ 

„Aber weshalb denn nicht?“ 

„Weil wir e8 nicht hübſch finden, Kleider wieder 
zu fragen, die jo beihmußt worden find, daß man 
fie wajchen muß.” 


„Es wäre unnüß, wollte ich jagen, dab mid | 


das überraſcht. Ich bin, glaube ich, jekt aufer 
fande, mich noch über irgend etwas zu verwundern ; 
aber hätteft du vielleicht die Güte, mir zu erflären, 
was aus einem Kleide wird, wenn es ſchmutzig ges 
worden ift?* 

„Bir werfen es fort — das heißt, es fommt 
wieder in die Fabrik zurüd, wird eingeftampft und 
erjteht in andrer form.“ 

„Was du nicht jagt! Einem Menſchen des 
neunzehnten Jahrhunderts muß e8 noch koftipieliger 
eriheinen, die Mleidung nad) dem Gebrauch) fortzu- 
werfen als fie zu waſchen. Es ift doch eine große 
Verſchwendung.“ 

„Ganz und gar nicht. Wieviel glaubſt du zum 
Beifpiel, daß mein Kleid foftet, das ich anhabe?* 


„Wie ſoll ich das willen? Ich habe nie eine | 


dran gehabt, deren Rechnungen bei der Schneiderin 
Aus fremden Zungen. 1897. IL 18. 


ich bezahlen mußte. 
falls koſten.“ 

„Dergleihen Anzüge kauft man bei ung für zehn 
bis zwanzig Cents,” jagte Edith. „Rate einmal, 
was für Stoff das iſt.“ 

Ic befühlte den Saum ihres Umhangs. 

„Seide oder feine Leinwand, wofür ich es ge= 
halten habe, ift e& nicht,” erwiderte ih, „vermutlich 
eine neue, mir unbelannte Pflanzenfaſer.“ 

„Dergleihen haben wir viele entdedt, aber dieſer 
Stoff ift gar fein Tertilgewebe, e8 ift Papier. Dar- 
aus macht man Heutzutage die meiften leider.“ 

„ber was gejchieht denn, wenn diefe Papierkleider 
in den Regen fommen? Werden fie nicht aufweichen 
und bei der erjten Bewegung auseinanderfallen?” 

„Auf Unwetter ift ein Anzug wie diefer freilich 
nicht berechnet; doch würde er jelbit dem jtärfften 
Regen ftandhalten. Bei raubherer Witterung tragen 
wir meiit Kleider aus einem Papier, in das die 
Näſſe auf keine Weiſe eindringen fann. Was aber 
die Haltbarkeit betrifft, jo reißt das Papier nicht 
leichter als gewöhnliched Tuch, wegen der großen 
Dichtigfeit des Faſerſtoffes.“ 

„Aber wenigftens im Winter, wenn man Wärme 
braucht, werdet ihr doch unjre alten freunde, die 
Schafe, um ihre Wolle bitten.” 

„D nein, wollene Kleider find ganz abgeſchaäfft. 
Ein Anzug aus poröjfem Papier ift ebenfo warn 
und weit weniger ſchwer als eure damalige Kleidung. 
Höchſtens Eiderdaunen wären jo warm und jo leicht 
zugleich gewejen wie unjer papierner Winterrock.“ 

„Und Baumwolle, Leinwand ? — Unmöglich tönnt 
ihr doc das alles auch aufgegeben haben wie die 
Wolle.” 

„D nein, wir haben Fabriken, in denen allerlei 
Planzenfajern zu Stoffen verarbeitet werben, die 
faft jo billig find wie Papier; letzteres ift jedoch viel 
leichter und nimmt am beſten die verfchiedenften 
Formen an, jo daß es zur Belleidbung allgemein be— 
vorzugt wird. Stoffe, die nicht nad) dem Gebraud) 
weggeworfen werden fönnen, würden wir aber 

10: 


Aber viel Geld wird «8 jeden. 


818 Edward 
niemals zum Anzug verwenden. Der Gedanke, daß 
wir Gegenftände, die am Körper getragen worden 
find, wachen und reinigen follten, um fie wieder an« 
zuziehen, wäre und unerträglih. Wir wollen zwar 
ihöne leider haben, aber dauerhaft brauchen fie 
nicht zu fein. Eine nod ſchlimmere Sitte als das 
Waſchen der Kleidung, um fie wieder zu gebrauchen, 
war zu beiner Zeit, daß man bie Oberfleider gar 
nicht wuſch und fie doch Tag für Tag, eine Mode 
nad der andern, jahrelang, ja vielleicht während 
einer ganzen Lebenszeit behielt, wenn fie beſonders 
wertvoll waren, um fie Schließlich noch zu verſchenlen. 
Man jagt, Frauen hätten zumeilen ihre Hochzeits- 
fleider aufbewahrt, damit ihre Töchter fie einft bei 
der Trauung tragen könnten, Das würden wir ent- 
jelich finden, aber ſelbſt vornehme Damen thaten 
e8, Und was nun gar die Armen betrifft, jo mußten 
fie damals ihre alten Kleider tragen und behalten, 
bis fie in Lumpen zerfielen — es jchaudert einem, 
wenn man nur daran Denkt.“ 

„Es ift ſehr verwunderlih," jagte id, „daß die 
ichwierige Frage der Reinlichfeit in der Kleidung 
dadurch gelöft worden it, daß man das Waſchfaß 
abſchaffte; doch hätte wohl eine gründliche Löſung 
des Problems auf feine andre Weiſe erfolgen können. 
‚Garantiert waſchecht und haltbar‘ lauteten die An— 
preifungen unſrer Kleiderhändler. Mir jcheint, wer 
jegt Stoffe verfaufen wollte, müßte ſich verbürgen, 
daß jeine Ware weder haltbar noch waſchecht ift.“ 

„Das: wäre unnötig,“ jagte Edith, „denn ehe 


wir willen, ob unſre Kleider lange halten würden, | 


haben wir fie ſchon fortgeworfen. Gerade jo ver= 





hält es fi aud mit dem Bettzeug, den Teppichen 


und Vorhängen, die wir in unfern Häufern brauchen,“ 

„Aber die können doch nit auch aus Papier 
ſein!“ rief ich. 

„Nicht alle, aber jedenfalls ift der Stoff, aus 
dem fie angefertigt werden, jo billig, daß man fie 
nur kurze Zeit im Gebraud behält, Wenn ihr euern 
Teppich gereinigt haben würdet, erjegen wir ihn 
durch einen neuen. Wir jhaifen ung andres Bett- 
zeug an, während ihr e& zu wachen und zu lüften 
pflegtet, und ebenjo verfahren wir aud mit allen 
Borhängen im Haufe, wenn wir dergleichen über« 
haupt benußen. Wir tapezieren mit Luft und Wafler 
jtatt mit federn wie ihr. Es iſt mir völlig un« 
faßlich, dab ihr esin den muffigen, ftaubigen, modes 


rigen Zimmern nur habt aushalten fönnen, wo | 
im Haar und in der Wolle, die zum Polftern der | 


Möbel dienten, die Keime von dem Schmuß und den 
Krankheiten ganzer Generationen aufgeſpeichert waren. 


Wollen wir ein Zimmer puben, jo fprigen wir mit ' 


dem Waiferihlauh auf Dede, Boden und Wände. 
Alles iſt mit Ziegeln belegt oder aus feſtem Stud, 


daher geſchieht kein Schaden. Unfre Hygieniker Jagen, | 


Bellamp. 


daß die veränderten Sitten und Gebräuche in betreit 
der Reinheit unfrer leider und Wohnräume mehr 
ald alle andern Berbefierungen dazu beigetragen 
haben, ſchädliche Keime zu vertilgen und die An 
ftedungen und jonftigen Krankheiten ins Gebiet der 
alten Geſchichte zu verweilen. 

„Da wir einmal vom Papier reden,“ fuhr Edith 
fort und jtredte ihren wohlbeſchuhten Fuß aus, „wie 
gefällt dir unfre moderne Fußbelleidung ?" 

„Die ift dod nicht etwa auch aus Papier ge 
macht ?* rief id). 

„Woraus ſonſt?“ 

„Das Schuhwerk , das mir dein Vater gegeben 
bat, fam mir wunderbar leicht vor, im Verhältnis 
zu allem, was ich bisher getragen hatie. Das it 
wirflih ein großer Gedanke! Cine leichte Fuß— 
befleidung ift ja das erite Erfordernis für unſer 
Wohlbefinden. Zu meiner Zeit verfauften unredlice 
Schuhmacher eine Art Schuhe mit papiernen Sohlen. 
Offenbar waren fie Propheten, ohne es zu willen, 
und wir hätten fie als ſolche verehren jollen, ftatt fie 
des Betrugs anzuflagen. Aber ſage mir doch — 
wie verfertigt man haltbare Schubjohlen aus Papier?” 

„Es giebt zahlreiche Löfungen, durch welche dei 
Papier jo hart wird wie Eijen.* 

„Und dringt im Winter die Näſſe nicht ein?“ 

„Wir haben allerlei Schuhwerk für Die verichtebenft: 
Witterung, natürlich ftet3 ohne Naht. Bei fendhtem 
Wetter trägt man Schuhe, Die einen waſſerdichten 
Lacküberzug haben,“ 

„Alſo Gummiſchuhe findet man jet aud nur 
noch im Muſeum unter den Altertümern ?“ 

„Gummi wird zwar gebraucht, aber nicht zur 
Fußbelleidung. Unſer wafjerdichtes Papier ift viel 
leichter und in jeder Weile vorzuziehen.” 

„DVermutlih fertigt man auch die Hüte und 
Mützen aus Papier ?“ 

„Sum größten Teil,“ fagte Edith; „bei un: 
würde man ſich für die jchwere Kopfbededung höch 
lid) bedanfen, durch welche eure Männer frühzeitig 
fahl wurden. Falls wir überhaupt einen Hut auf 
dem Kopfe tragen, muß er fo leicht wie möglich fein.” 

„Nur weiter!” rief ih. „Wenn du mir zunädhit 
jagt, daß die ebenfo Föftlichen wie geheimnisvollen 
Eßwaren, die durch den Quftdrudapparat vom Speile 
haus hierher gejchafft oder dort verzehrt werden, auf 
Papier gemacht find, jo bin ich bereit, e8 zu glauben.” 

„Sanz jo ſchlimm ift e8 nicht,“ erwiderte meint 
Gefährtin lachend, „wur die Teller, von denen man 
fie ißt, Tind aus Papier. Das Hlappern von Öle: 
und Geſchirr, das zu eurer Zeit eine Art unerläb: 
lichen Zubehörs zum Haushalt geweſen fein muß, 
ift im Lande nicht mehr zu hören. Unjre Schüfleln, 
Pannen zum Ejjen und Kochen werden nad dem 
Gebraud nicht gereinigt, jondern weggeworfen, oder 


Gleichheit. 


vielmehr in die Papiermühle zurückgeſchickt und wie⸗ 
der eingeſtampft, gleich allen andern nicht mehr be— 
nugzten Gegenſtänden.“ 

„Aber Kteſſel aus Papier könnt ihr doch nicht | 
brauhen? Wenn ihr auch alles andre umgeſtoßen 
habt, was früher als Regel galt, jo wird doch das 
Feuer auch heute noch brennen.” 

„Jawohl, das feuer brennt noch, aber zum 
ſtochen wie zu allen andern Zweden bedienen wir 
und der eleftrifchen Wärme. Wir erhiten die Ge— 
fühe nicht mehr von außen, jondern von innen, und 
folglich können wir auf Holzöfen und in papiernem 
Geſchirr kochen, nad der Art der Wilden, welche 
Gefäße aus Birkenrinde und heiße Steine benubßten. 
Denn — jagen die Philoſophen — die Gejchichte wieder⸗ 
holt fi in einer emporſteigenden Schnedentinie.* 

Edith brach in helles Lachen aus, als fie mein ' 
verwundertes Geficht jah und erflärte, e8 würde un— 
fiug fein, wollte fie mich noch ferner durch Berichte 
über alle eingeführten Neuerungen beunrubigen und 
mir zumuten, das alles zu glauben, ohne daß jie 
Beweiſe für ihre Behauptungen lieferte. Sie ſchlug 
mir daher vor, eine der großen modernen Papiers 
fabriten zu beiuchen, um jo den Morgen vollends zu 
verbringen.” 

VII. 
Das gröhte Wunder — die Enttbronung der Mode. 

„Du machſt dir auch nicht die entferntefte Vor- | 
fiellung von dem Wohlbehagen, das über mich fam, | 
ſobald ich die greuliche Maslerade in den Mumien- 
tüchern los wurde,” rief meine Gefährtin, als wir 
das Haus verließen. „Wie jonderbar, daß wir jeht 
zum erflenmal miteinander ausgehen!” 

„Du haft wohl vergefien, daß wir jhon mehrmals | 
jufammen aus waren,” erwiderte id). 

„Ja, wir waren aus — aber gegangen find wir 
richt, wenigftens ih nicht. Was der angemeſſene 
zoologifche Ausdrud für die Art fein fann, wie ich 
mich, innerhalb dieſer Säde, fortbewege, weiß ich 
nit; aber gehen fann man das ſchwerlich nennen. 
Siehft du, zu deiner Zeit waren die frauen bon 
Kindheit auf an dieje jogenannte Gangart gewöhnt 
und hatten fich natürlich eine gewiſſe Gejchidlichleit 
angeeignet; ich aber habe nie im Leben lange Röde 
getragen, ausgenommen bei einer Theatervorftellung. 
Dies hier war der ſchwierigſte Verſuch, den ich je 
gemacht habe, und ob ich dir noch einmal einen ſolchen 
Beweis meines Wohlwollens geben würde, it mir 
ſehr zweifelhaft. Mid wunderte nur, daß du gar | 
nicht zu bemerken jchienft, in welcher jammervollen 
Lage ich mich befand.“ 

Ich war von jeher gewöhnt geweſen, daß das Aus- 
Ihreiten der Damen durd ihre Kleidung behindert 
wurde, und hatte daher bei unjern früheren gemein» 





famen Wegen an Ediths Schritt nichts Auffallendes | 


819 


bemerft. Ws fie aber jekt an meiner Seite ging, 


| offenbarte ih mir in ihrer lebensvollen anmutigen 


Haltung und der elaftiichen Kraft ihres Schrittes die 
Möglichkeit eines kameradſchaftlichen Wetteifers, der 
nicht wenig beraufchend für mid) war. 

Es hieße den Leſern des zwanzigften Jahrhunderts 


‚ eine alte Geſchichte erzählen, wollte ih einzeln be— 
ſchreiben, was ich im Laufe diefeg Tages auf meinem 


Gang durd die Papierbereitungs » Fyabriten geſehen 
habe. Einen viel größeren Eindrud noch ala die 


“wunderbare Mannigfaltigfeit der mechaniſchen Ver: 


anftaltungen machten mir aber die Arbeiter jelbft 
und die Umftände, unter welchen fie arbeiteten. Ich 


‘ brauche euch, ihr modernen Leſer, nicht erft zu jagen, 


was heutzutage die großen Fabriken find — hohe, 


luftige Hallen, die Wände aus Ziegeln und Metall 


in Ihönen Muftern zufammengefekt, palaftartig und 
dabei aufs zwedmäßigfte ausgeftattet. Faſt geräufch- 
los arbeiten die Majchinen; alles, was zur Arbeit 
gehört und die Sinne irgend verleken könnte, wird 
durch Flug erdachte Vorrichtungen möglichft bejeitigt. 
Auch den Arbeiteradel in dieſen Paläften der In— 
duftrie brauche ich euch nicht zu Schildern — Die 
herrlichen, Fraftvollen Männer und frauen mit den 


| feinen Hugen Geſichtern, die in wahrhaft fünftleriicher 


Begeifterung bei ihrer jelbftgewählten Aufgabe das 


' Nubbringende mit dem Schönen zu verbinden tradhten. 


Ihr wißt ja alle, was die heutigen Fabrilen jind; 
wahrſcheinlich findet ihr fie weder zu prächtig nod) 
bejonders bequem, da ihr das alles euer Leben lang 
nicht anders gewohnt jeid; vielleicht tadelt ihr jogar 
dies und das an ihnen, als könnten fie noch beſſer 
jein — jo ift Die menjchliche Natur. Wenn ihr aber 
verfiehen wollt, wie fie mir erjcheinen, fo ſchließt 
einen Moment die Augen und verjucht einmal, euch 
vorzuftellen, was unfre Baummollipinnereien und 


 Bapierfabriten vor hundert Jahren geweien find. 


Stellt euch niedere Räume vor, mit fahlen, wei; 
getündhten Mauern und einer Dede von rohen, ge 
Ihwärzten Balken. Denkt euch die Majchinen darin, 
um der Naumerjparnis willen jo dicht aneinander 
gedrängt, daß den Arbeitern faum Plat bleibt, ſich 
an den jhwingenden Armen und flählernen Zangen 
vorbeizuwinden, dab jede faljche Bewegung Tod 
oder Verjtümmelung bedeutet. Denkt euch den freien 
Raum oben, jtatt mit Luft, mit ftinfendem Oelgeruch 
und den Ausdünſtungen ungewaichener Menſchen und 
durchgeſchwitzter Kleider erfüllt. Stellt euch das 
unausgejegte Klappern und Kreiſchen der Maichinen 
vor, das dem Getöje eines Wirbelfturms gleicht. 

Das find indefjen nur die örtlichen Zuftände und 
Vorgänge. Schließt nochmals die Augen und ſchaut 
im Geift — wie gern würde id) vergefjen, es je ge— 
jehen zu haben — die endloſe Reihe von blaſſen, 
bohlwangigen Weibern in gerfeßter, verblichener und 


820 


ſchmutziger ſtleidung, mit leeren, fhumpfen Gefichtern, 
in denen nichts als Elend zum Ausdrud kommt. 
Aber nicht nur Frauen, nein, Maflen von Eleinen 
Kindern, in Sumpen, mit alten Gefichtern, fauın der | 
Muttermild entwöhnt, noch ohne feſte Knochen. 
Edith ftellte mich in einer Fabrik der Oberauf« 


erflärte mir alles und war auch ihrerſeits jehr be= 
gierig zu willen, was id) von den modernen Fabrilen 
im Gegenfaß zu den früheren dächte. Natürlich ſagte 
ich ihr, daß die Umwandlung in der Lage der Arbeiter 


mir bei weiten mehr Eindrud gemacht habe als alle 


mechaniſchen Neuerungen. 

„Ja freilich,” verjeßte fie, „darin mag wohl ber 
größte Gegenjak liegen. 
wärtige Zuftand ganz jelbftverftändlich ; wir vergeſſen, 
dab es nicht immer jo war. Wenn die Arbeiter jelbft 
zu beftimmen haben, wie die Arbeit geſchehen joll, jo ift 
es nicht wunderbar, daß fie ſich alles aufs angenehmfte 


einrichten. Zu Ihrer Zeit, als die Klaſſe der Private | 


fapitaliften, die nicht mitarbeiteten, ſämtliche An— 
ordnungen traf, ließen fich wirklich barbariſche Zuftände 


in der Induftrie wohl erwarten; bejonders da das 


Konkurrenzſyſtem die, Kapitaliften nötigte, möglich 


viel Arbeit unter den billigften Bedingungen von den | 


Arbeitern zu verlangen.” 


„Regeln denn aber die Arbeiter in jedem Geichäft 


jelbft die Bedingungen ihrer Thätigfeit ?* fragte ich. 
„Nein! Unjre induftrielle Verwaltung muß ihren 


unpraftiih werben würde. 
eines jeden Gewerbes jelbit ihre Bedingungen ftellten, 
würden fie bald in Verjuhung geraten, eigenjüchtig 


und dem allgemeinen nterefie entgegenzuhandeln; 


indem fie gleich den alten Privatfapitaliiten ſich be= 


jtrebten, jo viel zu gewinnen und jo wenig zu leiften | 


wie möglih. Bald würde dann nicht nur jede be= 
ſondere Klaſſe von Arbeitern diefer Verſuchung erliegen, 
fondern auch die Unterabteilungen im gleichen Geichäft, 
bis das ganze induftrielle Syjtem aufgelöft wäre und 
wir bie Rapitaliften wieder aus dem Grabe rufen 
müßten, um und zu retten. Die Gejamtheit der 


Uns erfcheint der gegen- | 


Wenn die Genofien | 


| 
| 


Edward Bellamy. 


Während unſers Aufenthalts in der Fabtil war 
die Mittagsftunde berangefommen, und ic bat die 
Vorjteherin und Edith, mit mir ins Speijehaus zu 
geben. Hauptſächlich wünjchte ich mic) zu überzeugen, 


' ob meine neu erworbene Kreditkarte wirklich gültig 
‚ wäre oder nicht. 

jeherin vor, einer ſchönen freundlichen Frau von | 
ungefähr vierzig Jahren. Sie führte uns umher, 


„Ueber einen Punkt in betreif des modernen 
Anzugs wäre id begierig, Näheres zu erfahren,” 
fagte ih, al wir an unſerm Tiſch in der großen 
Halle jaßen. „Bon wen und wodurd; werden jekt 
die Moden beftimmt?* 

„Der Schöpfer beflimmt die einzige Mode, der 
man jetzt allgemein folgt,” antwortete Edith. 

„Und wie ift dieſe ?* 

„Wie fie die Form unfers Körpers bedingt,“ er» 
widerte fie. 

„Ach, richtig, ſehr gut,“ rief ich, „und auch ieh 
wahr in Bezug auf die jegige Hleidung ; früher traf 
das durchaus nicht zu. Allein meine Frage bleibt 
beftehen. — Ihr mögt wohl eine beftimmte Anſicht 
über die Kleidung im allgemeinen haben, aber « 
giebt doc) taufenderlei Unterfchiede und Abweichungen 
des Stils, der Form, der Farbe, des Stoffs ımd 
bergleihen. Die Anfertigung der Kleider wird vers 


mutlich als öffentliches Gejchäft betrieben unter gemein: 





ſchaftlicher Oberleitung wie alle andern Gewerbe!“ 
„Gewiß. Man kann fich natürlich, wenn man 
es vorzieht, die leider ſelbſt anfertigen, jeder wählt 


' ja feine Beſchäftigung; doch würde es ein großer 
Zeit⸗ und Fraftaufwand fein.“ 
einheitlichen Eharafter wahren, weil fie fonft fofort 


„Ganz recht. Aber die Anzüge, welche die Fabriken 
liefern, werden immer nad gewiffen Muftern gemacht. 


' Zu meiner Zeit wurden dieſe Mufter von einigen 


Tonangebern in der Gejelichaft beftimmt oder durd 
Modejournale, durch Parijer Edikte, und der Himmel 
weiß wie. Yedenjall® wurde die Trage für ums ent 
Ichieden, und wir hatten nur zu gehordyen. Ich will 
nicht jagen, das fei die rechte Art, im Gegenteil, fe 
war abſcheulich; id) möchte nur willen, was ihr flatt 


deſſen eingeführt habt? Modejournale oder Parijer 
Machtworte werden doch jetzt nicht mehr gelten. Wer ent» 





Arbeiter iftes, welche Die Bedingungen der Arbeit regelt, 


das heißt, das ganze Volk, welches ja heutzutage, wie 


Sie willen, aus Arbeitern befteht. Sämtliche Einriche | 


tungen bei den verfdhiedenen Zweigen des induftriellen 
Syitems find vollitändig Sache der Staatsregierung. 
Zugleich aber werden die Arbeitsbedingungen in jedem 
Beruf weientlih, wenn aud mittelbar, 
- Arbeiter ſelbſt geregelt, weil alle die Berechtigung haben, 
ihre Thätigfeit zu wählen und zu wechſeln. Niemand 
würde eine Beihäftigung wählen, deren Bedingungen 
ungünftig find; man muß daher juchen, dieſe auf 
die Dauer möglichſt befriedigend zu geftalten. 


dur die | 


| icheidet denn da die Frage, wie ihr euch kleiden jolt?* 


„Wir ſelbſt,“ jagte die Vorfteberin. 

„Natürlic) gemeinfam, nad) demokratiſcher Methode! 
Wenn ih mih nun in dieſer Speijehalle umſchaue 
und die Mannigfaltigfeit und Schönheit der Anzüar 
jehe, jo jcheint mir das Ergebnis Ihres Syftem! 


| durchaus befriedigend. Aber halten Sie es denn für 





rihtig, dab die Herrſchaft der Mehrheit ſich auch auf 
den Anzug außdehnt? Das geht doc entihieden zu 
weit, jollte id) meinen. Wenn auch das Jod der 
Mode, dem wir uns beugten, jehr läftig war, ie 
fonnte doch jeder es abſchütteln, falls er den Mut 
dazu hatte. Es gab freilich nur wenige, die e& thaten. 
Beitimmt aber die Verwaltung den Stil der Stleider, 








Gleichheöt. 


und wird nur ein gewiſſer Stil von ihr zugelaſſen, 
jo müßt ihr euch entweder dem Geſchmack der Mehr- 
zahl unterwerfen oder im Bette liegen bleiben, Was 
lacht ihr? — Iſt es etwa nicht jo?" 

„Wir laden nur über ein kleines Mikverftändnis 
Ihrerſeits,“ ermwiderte die Vorfteherin. „Bei ung 
wird die Kleiderfrage keineswegs gemeinſchaftlich oder 
durch einen Beſchluß der Mehrheit entjchieden, jondern 
imdivibuell — ein jedes enticheidet darüber für fi.“ 

„Aber wie ift das möglich?” warf ich ein. „Wenn 
die Regierung beftimmt, was für Stoffe fabriziert 
und wie fie zu Sleidungsftiden verarbeitet werden 
tollen, jo folgt ja daraus ganz von jelbft, daß fie 
auch die Entſcheidung über die Moden hat.“ 

„Nein, durchaus nicht,“ rief die Vorſteherin. 
„Unfrer Regierung, Herr Weit, iſt die Beimiſchung 
von Willfür fremd, welche zu Ihrer Zeit herrichte, 
wie wir aus der Geſchichte willen. Die Regierung 
ift jet thatfächlich, was fie damals dem Namen 
nad) in Amerika war — die Dienerin, Vermittlerin, 
dad Werkzeug, durch welches des Volles Wille voll 
zogen wird, während jie jelbjt feinen Millen hat. 
Der Vollswille ſpricht ih auf zweierlei Arten aus, 
die ganz voneinander getrennt find, fo daß jede ihr 
beionderes Bereich hat. Erſtens: durch Mehrheits- 
beihluß, bei allen gemeinjamen, fich gegenfeitig be» 
rührenden Intereſſen, zum Beiſpiel den großen wirt« 
ſchaftlichen und politiichen Fragen ; zweitens: durch 
jedes Individuum für fi, bei allen perjönlichen 
Angelegenheiten. Die Regierung ift zugleich die er« 
babene Stellvertreterin aller in allgemeinen Dingen 
und die Wermittlerin, Botin und redhte Hand eines 
jeden einzelnen bei allen Privatziweden. Nichts ift 
zu hoch oder zu gering, zu groß oder zu Hein, was 
fie nicht für uns thäte. 

„Die Abteilung der Aleiderverfertigung ftellt ihre 
umfangreichen Yager von Stoffen und ihre Majchinen 
einem jeden im Volke zur Verfügung. Man braucht 
nur in eins der Magazine zu gehen und ſich irgend 
ein Koftüm zu bejtellen, von welchem es noch eine 
hiſtoriſche Beſchreibung giebt, von Evas Zeit an bis 
geftern ; man kann aber auch ein jelbiterfundenes Modell 
ju einem nagelneuen Koſtüm bringen, ſich einen bes 
liebigen Stoff dazu wählen — und wird es rafcher 
geliefert erhalten als je von einem Schneider des neun—⸗ 
zehnten Jahrhunderts, der eine Beftellung übernahm. 

„Wenn es Sie intereifiert, möchte ich Ihnen noch 
unire Schneidermajcdhinen in Ihätigleit zeigen. Die 
Papieranzüge find natürlich ohne Naht und aus— 
Ihlieglih mit der Maſchine gemadt. Da ſich die 
Vorrichtung auf jedes Maß itellen läßt, jo fönnen 
Sie einen fertigen Anzug geliefert erhalten, während 
Sie der Maichine zujehen. Von sleidern im ges 
woͤhnlichen Stile und Schnitt, wie fie dem Geſchmack 
der meiften Leute entiprechen, haften die Geichäfte 


821 


einen Vorrat auf Lager. Das geſchieht aber zur 
Bequemlichkeit des Volks, nicht des Geſchäfts, welches 
ſtets bereit iſt, die Wünſche jedes Bürgers zu erfüllen 
und alles Beſtellte in möglichſt kurzer Zeit zu liefern.“ 
„So kann aljo jeder die Mode machen?” 
„Jeder kann etwas Neues zum Borichein bringen, 
aber dab es in die Mode fommt, hängt davon ab, 
ob es wirklich irgend weldhen Vorzug in betreff der 
Zweckmäßigleit oder Schönheit hat. Iſt das nicht 
der Fall, dann wird es ſich jchwerlich verbreiten. 
Findet der Vollsgeihmad aber Gefallen daran, jo 
wird es in Aufnahme fommen, gerade als ob ed eine 
mechanische Erfindung wäre, die fich praftiich bewährt 
bat. Dede gute, neu auftauchende Idee, die den 
Anzug betrifft, wird jchnell aufgefaßt, denn den 
Leuten ift viel daran gelegen, ſich möglichft vorteilhaft 
zu Heiden; aud macht uns der Mangel einer will 
fürlich feftgeitellten Richtſchnur jehr empfänglich für 
Anmut und Neuheit in Form und Farbe. Es jcheint 


wirklich, als ob unſre Tracht ſich hauptſächlich in der 


| perjönlicher Prüfung feine Vorzüge bewährt. 





Mannigfaltigkeit von der Ihrigen unterſcheidet. 

„Zu Ihrer Zeit wurde der Gejhmad beitändig 
durh das Machtwort der Mode umgewandelt, da 
dieſe aber jeweild nur einen Geſchmack duldete, hatte 
man nur ein Nacheinander der Abwechslung und 
nicht wie wir ein Nebeneinander. Ich follte denfen, 
daß diefe Gleichförmigkeit des Geſchmacks, welche ſich, 
wie ich höre, oft ſogar auf Stoff, Form und Farbe 
ausdehnte, Ihren großen Verſammlungen einen furdts 
bar eintönigen Anſtrich gegeben haben muß.“ 

„Das war zu meiner Zeit eine allgemein an— 
erfannte Thatſache,“ erwiderte ih. „Die Künſtler 
waren der Mode jeind und mit ihnen alle vernünftigen 
Leute, aber jeder Widerfiand war vergeblich. Könnte 
ih ins meunzehnte Jahrhundert zurüdfehren und 
meinen Zeitgenofjen von den Umwandlungen erzählen, 
die ich geliehen habe, jo würde wohl nichts einen jo 
tiefen Eindrud auf fie machen als die Nachricht, 
daß ihr das Zepter der Mode gebrochen habt und 
ihre Willkürherrſchaft nicht mehr anerkennt ; dab auch 
fein Stil mehr Eingang findet, wenn er nicht bei 
Wohl 
haben die Mutigeren unter uns geglaubt, daß manches 
Joch, weiches die Menichheit zu tragen hatte, dereinft 
gebrochen werden würde, aber von dem Joche der 
Mode befreit zu werben, erwarteten wir nie, außer 
vielleicht einjt im Himmel.“ 

„Die Herrſchaft der Mode, wie die Geſchichts— 
bücher es nennen, ift mir von der ganzen alten 
Ordnung immer am unbegreiflichiten erſchienen,“ 
jagte Edith. „Man follte meinen, e8 müßte irgend 
eine große Macht dahinter ftehen, um eine jo völlige 
Unterwerfung unter ein tyranniſches Geſetz zu er— 
zwingen; und dennoch jcheint feine Gewalt angewendet 
worden zu jein. Erfläre uns das Geheimnis, Julian!“ 


822 Edward 


„DO, fragt mid) nicht,“ entgegnete id, „Mir 
müſſen das Opfer einer grauſamen Verzanberung 


getvejen jein. Niemand gab aud) nur vor zu willen, | 


warum wir uns unterwarfen. Vielleicht fönnten Sie 
uns aber jagen,“ 
„wie man ſich heutzutage diefen Modewahnfinn er- 
flärt, der und das eben jo zur Laft machte?“ 
Unſre Geſchichtsſchreiber,“ erwiderte die Gefragte, 
„erklären die Herrſchaft der Mode in Ihrem Zeit 
alter für das natürliche Ergebnis der Ungleichheit 
in den wirtichaftlihen Verhältniſſen einer Gemein- 
ichaft, in welcher die ftrengen Unterjchiede der Stände 
nicht mehr galten. Sie entiprang teil aus dem 
Wunſche des großen Haufens, es der höheren Klaſſe 


wendete ich mich an die Vorfteberin, | 


gleihzuthun, teild aus dem Verlangen der höheren 
Klaſſe, fich gegen diefe Nahahmung zu ſchützen und 


den Unterjchied im Aeußeren zu wahren. In Zeiten 
und Sändern, wo jede Klaſſe eine Kaſte war — durd) 
Geſetz und eiferne Sitte feſtbegrenzt — hatte jeder 
Rang feine unterfcheidende Tracht, welche nachzuahmen 
den andern Klaſſen nicht geftattet war, Die Formen 
der Kleidung waren unveränderlich. Mit dem Empor- 
fommen der Demokratie hörte der geſetzliche Schutz 
ber Standesunterſchiede auf, während der thatſächliche 
Unterſchied in den Gejellichaftäflaffen, infolge der 
wirtichaftlihen Ungleichheit , 


beitehen blieb. Jetzt 


fonnte jeder nach Belieben es der höheren Klaſſe | 


gleihthun, und was war da natürlicher und leichter, 
ala ihre Kleidung nachzuahmen. Das gejellihaftliche 
Strebertum eröffnete den Neigen; bald ließen ſich 
die weniger Ehrgeizigen verleiten, feinem Beiipiel zu 
folgen, um nicht ihre untergeordnete Stellung in der 
Geſellſchaft zuzugeben, und jo ging e& fort, bis end» 
lich jogar die Philoſophen es dem Haufen nachmachen 
und fid der Mode fügen mußten, um nicht Durch ihre 
abweichende Erſcheinung aufzufallen.” 

„Ih begreife wohl,“ jagte Edith, „daß die Maſſen 
gejtrebt haben, es den reichen und höheren Klaſſen 
gleichzuthun, und daB auf dieſe Weile die Moden 
entitanden; warum wechjelten fie aber jo oft, da es 
doch jchrediich foftbar und mühevoll geweſen jein 
muß, fie immer wieder umzuändern ?* 

„Die höheren Klaſſen,“ antwortete die Vorfteherin, 
„hatten fein andres Mittel, ihren Nachahmern zu 
entgehen und ihren Vorrang duch die Kleidung zu 
behaupten, als immerwährend neue Moden an— 
zunehmen und fie wieder fallen zu lafjen, jobald fie 
nachgeahmt wurden. Was meinen Sie, Herr Weit, 


ftimmt diefe Erflärung wohl mit den Thatſachen 


überein, die Sie zu Ihrer Zeit beobachten konnten?“ 

„Bolltommen,* erwiderte ih. „Man lönnte nod) 
hinzufügen, daß der Wandel in den Moden durd) 
den Eigennuß der großen Fabriken und Handels— 
geichäfte, weldhe die Kleiderftoffe und andre Dinge | 
zu perfönlihem Gebraud; lieferten, nod bedeutend 








Bellamn. 


verbreitet und unterftüßt wurde. Bei jedem Wechſel 
entitand eine Nachfrage nadı neuem Material, und 
das vorhandene galt für veraltet. Der Kaufmann 
nannte das einen Handelsvorteil, wenn auch mandes 
Geſchäft, das unglüdlicherweife bei einem plötzlichen 
Umſchwung in der Mode noch einen großen Lorrat 
auf Lager hatte, dabei zu Grunde ging. In der 
That brachte jeder Modewechiel dergleichen Verlufte 
mit ich.” 

„Aber wir leſen aud, daß es auch jonft nad 
Moden gab, nicht nur bei den Kleidern.“ 

„Gewiß,“ meinte die Vorfteherin. „Die Kleidung 
war zwar das hauptjächliche Bereich, das Feite Bol: 
wert der Mode, weil man durd den Anzug am 
leichteften eine Wirkung erzielte, aber beinahe alles, 
was zur Lebensgewohnheit gehörte — Eſſen, Trinten, 
Vergnügungen, Häufer, Möbel, Pferde, Wagen und 
Diener, ja die Art des Grußes, der Bewirtung und 
wer weiß was fonft noch — wurde von der Mode 
beherriht. Man mußte ihr folgen, und fie änderte 
fi, jobald man es that. Es war wirflich ein trans 
riger, fonderbarer Wettlauf, und Herrn Weſts Zeit: 
genofien jcheinen ſich deſſen vollftändig bewußt ge 
weien zu fein. Solange die Gefellihaft aus Leuten 
ungleihen Ranges beftand, ftrebten die Geringeren, 
die Höheren nachzuäffen, und die Höheren mubten 
ſich beftreben, dies Nachäffen jo viel wie möglich ju 
hintertreiben, indem fie nad) einer neuen Form fuchten, 
um ihren höheren Standpunkt zu bezeichnen.“ 

„Unfer langweiliges Einerlei in Anzug und Sitten 
ſcheint Ihnen alfo, um es Furz zu jagen, das logüch 
Ergebnis unſers Mangels an Gleichheit der Verhältnift 
geweſen zu jein ?“ 

„Ohne Frage,“ antwortete die Vorfteherin. „Die 
Menſchen waren nicht gleichgeftellt und machten ſich 
häßlich und unglüdlih in dem Beftreben, es zu 
ſcheinen. Die äfthetifche Buße für das moralijär 
Unrecht der Ungleichheit war der künſtleriſche Abſcheu 
vor der Einförmigfeit. Die Gleichheit ſchafft dagegen 
eine Atmofphäre, welche die Nahahmung tötet und 
von Originalität erfüllt ift, denn jeder handelt aus ſich 
heraus, da er bei der Nachahmung andrer nichts ie 
gewinnen hat.” 

IX. 


Etwas, dad nicht verändert war. 


Als wir uns von der Vorfleherin getrennt hatten, 
ſagte ich zu Edith, daß ich jeit heute früh reichlidh 
jo viel neue Eindrüde und neue Weltweisheit in mid 
aufgenommen hätte, wie ich geiftig verarbeiten könnt, 
und daß ich ein dringendes Bedürfnis fühle, mid 
bei der Betrachtung eines Gegenstandes auszuruben, 
der im lebten Jahrhundert nicht anders ‘geworden 
und nicht verbejlert worden jei. 

Nach kurzer Ueberlegung rief Edith aus: 





Gleichheit. 823 


O, jeht habe ich es; frage mich nichts; komm 
nur mit.” 

Als wir nun in der Richtung vorwärts ſchritten, 
welche fie eingejchlagen hatte, berührte fie meinen Arm 
und rief: „Laß und doch ein wenig jchneller gehen!“ 

Ein raiher Schritt war jo recht eigentlich das vor— 


ihriitsmäßige Tempo des neunzehnten Jahrhunderts | 
' Gebäude ftanden; fie marichierten durch den Thor— 


geweien. „Mac ſchnell!“ war damals jo ziemlich 
die abgebrauchte Redendart und hätte viel pallender 
das Motto des amerikanischen Volkes fein follen, 
ald: „E pluribus unum“ ; aber feit ich im zwanzig— 
ſten Jahrhundert lebte, war dies das erſte Mal, daß 
ich zur Eile ermahnt wurde. 
mir zum Bewußtjein fam, blidte id um mich, und 
da — blieb ich plöglich jtehen — 

„Was ift das?“ rief ich auf. 

„Ad wie ärgerlich!“ jagte meine Yührerin, „ich 
mollte dich vorüberbringen, ohne daß du es ſäheſt.“ 

Obgleich ich gefragt hatte, was für ein Gebäude 
das fei, vor dem wir jtanden, wußte doch niemand 
jo qut wie ich, was es war. Nur wie es hierher fam, 
ihien mir ein Rätjel. Inmitten der prächtigen Stadt 


der Gleichberechtigten, wo Armut ein unbelanntes | 


Wort war, jtand ich plötzlich angeſichts einer echten 
Mietslaſerne des neunzehnten Jahrhunderts von 


der allerichlimmften Sorte, von denen das Nordend | 


und andre Stadtteile damals wimmelten. Nur die 
Umgebung diejes abicheulichen Krähenneftes war ganz 
anders, Zu meiner Zeit lag ein ſolches Gebäube 
gewöhnlich von einem Labyrinth ſchmutziger Gaſſen 
und dunkler, feuchter Höfe eingeſchloſſen, aus denen 
fanlige, ftinfende Gerüche aufftiegen, und deren hohe 
Mauern weder Luft noch Licht hereinliehen. Diejes 
Gebäude ftand frei, inmitten eines mit Strauchwerf 
nd Blumen geſchmückten Platzes, als ob es ein 
Schloß oder ein Ausftellungsbau wäre. Aber durch 
diefe feine Faſſung trat Die Erbärmlichkeit des ſchmutzi⸗ 
gen Bauwerk nur ſtärker hervor. Es ſchien eine 
Dunlelheit und Kälte ausjuftrömen, welche aller 
Sonnenjchein des heiteren Septembernachmittags nicht 
zu befiegen vermochte. Wären am hellen Tage Ge— 
Ipenfter an den ſchwarzen Fenſtern erjchienen, es 
hätte mich nicht gewundert. Weber dem Hauptein« 


Als diefer Umftand | 
; andres derjelben Art, während wir die Schulen be= 





gang ſtand eine Inſchrift, und ich trat näher, um fie | 
ju lefen, während Edith mir widerwillig folgte. Die | 
' Hilfe anzuflehen, Es ift jo lange ber, und doch fühlt 


Worte lauteten: 

„Diefe Stätte der Graufamfeit wird für fom« 
mende Gejchlechter erhalten, zur Erinnerung an die 
Hertſchaft der Reichen.” 

„Dies ift eins von den alten Geſpenſterhäuſern,“ 
ſagte Edith, „die man ftehen läßt, das Volt in Angit 


ju jagen, damit die Bürger niemals die Rückkehr 


jur alten Ordnung der Dinge verfuchen und feinem 
aus ihrer Mitte unter irgend welchem Vorwande je 
geftatten, einen wirtichaftlichen Vorteil über einen 


andern davonzutragen. Ich meine, man hätte beiler 
daran gethan, die Häufer niederzureißen. Es iſt 
feine Gefahr mehr, daß die Welt wieder zur alten 
Ordnung greift; eher könnte ſich der Erdball rüd- 
mwärt3 drehen.” 

Ein Trupp Kinder, von einer jungen Dame be= 
gleitet, ging über den Pla, während wir vor dem 


weg und fliegen die engen Treppen empor. Ihre 
Geſichter waren jehr ernſt, und fie iprachen im Flüſter— 
ton miteinander. 

„Das find Schulkinder,” jagte Edith. „Man 
führt ung alle einmal durch dies Gebäude oder ein 


juchen. Die Lehrer erflären dann, was bier alles 
gethan und erbuldet worden if. Ich erinnere mid 


noch ganz gut, wie id) ala Kind durch dies Gebäude 


geführt worden bin. Lange nachher konnte ich mid) 


; erft von dem gräßlichen Eindrud erholen. Ich meine 


wirflih, es it nicht gut, junge Kinder hierher zu 
bringen; aber die Sitte ift in der Zeit nad) der 


' Revolution eingeführt worden, als im Gemüt des 


Volkes das Grauen vor der Knechtſchaft, der es ent- 
ronnen, noch friih war und man die größte Angit 
davor hatte, es fünne aus Mangel an Wachſamleit 
die Herrihaft der Reichen wieder auffommen. 
„Natürlich ,* fuhr fie fort, „Sind dieje Gebäude, 
die zur Warnung ſtehen blieben, als man bie übri« 
gen dem Boden gleich machte, durchweg gereinigt 
und auägebejlert worden, aud in jeder Hinficht ger 
fund und ficher gemacht; aber unjre Werkmeiſter 
haben den alten abjcheulihen Schmutz und bie 
Fäulnis jo fiunreich nachgebilbet, daß alles äußerlich 
wieder jo erjcheint, wie e$. war. In den Zimmern 
hängen Tafeln, auf denen verzeichnet ift, wie vicle 
menichlihe Weſen darin zufammengedrängt waren 
und was für ein entjeßliches Leben fie aushalten 
mußten. Das Schlimmfte dabei ift, daß die That» 
jachen alle aus gejchichtlichen Berichten geſchöpft und 
volllommen wahrheitsgetreu find. In einigen dieſer 
überfüllten Häuſer ſind die Bewohner in Wachs oder 
Gips dargeſtellt, auch alle Einzelheiten ihrer Be— 
fleidung, ihre Möbel und andre Gerätfhaften, die 
man aus jicherer lleberfieferung oder aus Abbildungen 
fennt. Die ſtummen Geftalten jcheinen uns um 


man fi im Gewilfen beunruhigt, daß man nicht 
im jtande ift, etwas für fie zu thun. — 

„Aber fomm fort, Julian. Es war ein häßlicher 
Zufall, daß ich dich hier vorüberführte. Als ich 
übernahm, dir etwas zu zeigen, was ſich nicht ver- 
ändert hätte, Dachte ich nicht daran, did) zu veripotten.“ 

Dant der modernen raſchen Beförderung ftanden 


' wir nad) zehn Minuten am Meeresufer, Die Wellen 


des Ntlantiichen Ozeans brachen fich tofend zu unfern 


824 


Füßen, und fein blauer Spiegel breitete fich glänzend | 


bis zum Horizonte aus. — Ya, hier war etwas, das 
feinen Wechjel fannte. — Ein gewaltiges Leben, für 
welches taujend Jahre waren wie ein Tag und ein 
Tag gleich taufend Jahren. Es gab fein beſſeres 
Beruhigungsmittel für meine Seele als dieſen er— 
babenen Anblid des wandellojen Zeugen aller irdiichen 
Wandlungen. Wie winzig erſchien der Heine Hand« 
ftreich der Zeit, der mir geipielt worden war, als 
ich vor diefem Sinnbild der Ewigfeit ſtand, welches 
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu Worten 
von geringer Bedeutung machte! — 


Edward Bellamp. 


fie feftgehalten durch die Kraft meiner Liebe, während 
die ganze übrige Viſion in nichts zerfloß, ſobald ich 
die Augen öffnete. 

Warum auch nit? Wie manchem jungen Dann 
war jhon in jeinen Träumen ein Mädchenibeal er 
ichienen, herrlicher ald fie auf Erden wandeln, nad 
dem er beim Erwachen gejeufzt und deſſen ſchönes 


ſchon halb entichmwundenes Angeficht ihn noch viele 


Während ih Edith nad) der Bucht gefolgt war, | 


an der wir flanden, hatte ich nicht anf die Richtung | 
Nun ich aber anfing, | 


geachtet, die wir einſchlugen. 
mid) am Ufer umzuſehen, erfannte ih mit ber leb» 
hafteſten Rührung, daß jie mid, ohne es zu willen, 
zu der Stätte meines alten Luſthauſes am Etrande 


bei Nahant geführt hatte. Die Gebäude jelbit waren | 


freilic verschwunden, und die hohen Bäume, die jet 
dort mwuchjen, veränderten die Landſchaft gänzlich, 
aber die Uferlinie war dieſelbe geblieben, und ich er 
fannte fie jogleih. Ich forderte Edith auf, mir zu 
folgen, und führte jie um einen Vorfprung herum zu 
einem feinen Küjtenftreifen zwiichen der See und 
einer Felswand, welche und den Anblid des Landes 


völlig entzog und auch feinen Laut von dorther zu 


uns dringen lieh. In meinem früheren Leben war 
dies mein Lieblingsplaß gewejen, wenn ich den Strand 
befuchte. Hier pflegte id in dem mir jeßt jo fernen 


Dajein, das mir doch noch gegenwärtig war, als fei 


es erft geftern geweien, meinen Träumen nachzuhängen. 
Jede Stelle des lieben Zufluchtsorts war mir ver- 
traut wie meine Schlaffammer, und id fand alles 
unverändert. Bor mir das Meer, der Himmel oben, 
die Inſeln und die blauen Vorgebirge der fernen 
Küfte — kurz alles, was der Blid umfahte, war bis 
in die Heinfte Einzelheit noch dasfelbe. Ich warf 
mid) in den warmen Sand am Meeredufer, wie ich 
e3 zu thun pflegte, und ſchon im nächſten Mugenblid 
hatte mich die Flut gewohnter Gedanken jo voll« 
ftändig in mein altes Dafein zurüdgetragen, daß alle 
Wunder, welche ich inzwiſchen erlebt hatte, mir wie 
ein Traum am hellen Tage erfhienen, wie deren an 
diefer Stelle des Ufer jo mancher über mich gelom— 
men war, Aber was für ein Traum war dieje Viſion 
ber fünftigen Welt, von allen meinen Träumen bier 
am Meere ficherlich der zauberhaftefte! 

Ich hatte von einem Mädchen geträumt — o, wie 
war jie begehrenswert! — Wehe, wenn fie mir ver- 
loren wäre! ber jie war mir nicht verloren, denn 


dies war fie ja — das Mädchen in dem fremdartigen, | 


anmutigen Gewand, das neben mir ftand und auf 





mich herniederlächelte. Welch großes Glüd! Ich 
hatte fie mitgenommen aus dem Traumlande, hatte | 


Tage lang verfolgte? — Ich Glücklicher aber battı 
den neidijchen Wächter am Thore des Schlafs über 
liftet und meine Königin aus dem Traumlande mit 
herübergebracht. 

Als ich begann, Edith dies Spiel meiner Phantaſit 
zur Erklärung ihrer Gegenwart vorzutragen, fand 
fie es höchſt vernünftig, und wir beichäftigten un: 
damit, den Gedanken noch weiter auszuſpinnen. 
AZulegt beruhigten wir uns bei der Vorftellung, jie 
jei die Vorausfpiegelung einer Frau des zwanzigften 
Jahrhunderts und nicht ich das ausgegrabene Dent- 
mal eines Mannes aus dem neunzehnten Jahrhundert. 
Wir fingen nun an, Pläne zu machen, was wir im 
Sommer unternehmen wollten, und beſchloſſen, die 
größten Vergnügungsorte aufzufuchen, wo fie obne 
Zweifel unter den obmwaltenden Umftänden viel Aui: 
merfiamfeit erregen würde, Zugleich könnte fie aber 
dort die Gelegenheit benugen, eine Sorte Menſchen 
zu ſtudieren, welche ihr bei ihren Anſchauungen au: 
dem zwanzigiten Jahrhundert noch viel jeltiamer 
vorfommen müßten als fie ihnen — nämlich Leute, 
welche, umgeben von einer Welt der Not und dei 
Jammers im ftande find, ſich bei ihrem leichtfertigen 
und verſchwenderiſchen Müßiggang ihrerſeits glüdlich 
zu fühlen. Sodann wollten wir nad Europa geben 
und dort alles bejichtigen, was einem Mädchen aut 
dem Jahre 2000 naturgemäß als eine Sehen“ 
würdigfeit erjcheinen mußte, zum Beiſpiel ein Roth» 
ſchild, ein Kaijer und ein paar Eremplare menjchlider 
Weſen, wie fie ſich zurzeit noch in Deutſchlaud, 
DOefterreich und Rußland vorfanden, die ehrlich über: 
zeugt waren, daß der liebe Gott gewiſſen Menicen 
ein göttliches Vorrecht verliehen habe, über ihre Mit 
menſchen zu berrichen. 

X, 
Ein mitternächtliches Bad. 

Es dämmerte bereits, als wir zu Haufe anlangten, 
und mehrere Stunden vergingen, ehe wir mit den 
Bericht unfrer Abenteuer zu Ende waren. Meine 
Wirte wurden nie müde, meinen Eindrüden vom ben 
neuen Dingen zu laujhen. Deine Auffafjung der: 
jelben intereffierte fie offenbar ebenjo ſehr, wie mid 
die Dinge jelbit. 

„Willen Sie," jagte Edith! Mutter, „es iſ 
eigentlich ein Beweis unfrer Eitelfeit. Sie find für 
ung eine Art Spiegel, in welchem wir jehen lünnen, 
wie wir ung vom Standpunft eines andern ausnehmen 


Gleichheit. 


Ohne Sie würden wir niemals inne geworden ſein, was 
für merlwürdige Leute wir find, denn ich verſichere 
Sie, in umferm Kreiſe fommen wir und ganz ge» 
wöhnlich vor.“ 


Ich erwiderte darauf: auch ich hätte beim Gefpräd | 
mit ihnen das Gefühl, in einen Spiegel zu bliden, 


der aber mir umd meinen Zeitgenoffen durchaus nicht 
ſchmeichle. 

Während wir noch ſprachen, wurde die Kugel der 
Farbenuhr weiß; ein Zeichen, daß es Mitternacht 
war. Wir wollten zu Bette gehen, aber der Doktor 
batte einen andern Plan. 

„IH Ihlage vor,” jagte er, „daß wir, um und 
allen eine gute Nachtruhe zu fichern, in die Schwimm⸗ 
ſchule hinübergeben und ein Bad nehmen.” 

„Giebt e8 denn öffentliche Bäder, die man jo 
ipät benuben lann?“ fragte ich, „Bei und war um 
dieie Zeit alles ſchon längſt geichloffen.“ 

Da machte mir der Doktor eine Mitteilung, 
welche für Leſer des zwanzigften Jahrhunderts zwar 
ganz jelbjtverftändlich fein mag, mich aber im höchſten 
Grade überraichte. Er jagte mir nämlid, daß feine 
Öffentliche Anftalt heutzutage das ganze Jahr hindurch 
jemals bei Tag oder Nacht geichloffen wird, ſowie, 
daß fämtlihe Einrichtungen fich zwar, je nach dem 
Bedürfnis, in der Ausdehnung beichränfen, aber ſich 
nie verichlechtern dürfen. 

„Wir meinen,“ fagte der Doktor, „daß unter 
den fleineren Unbequemlichfeiten des Lebens zu Ihrer 
Zeit feine ftörender geweſen jein fann als die regel- 
mäßige Unterbrechung faft aller öffentlichen Dienft- 


leiftungen in jeder Nacht. Die meiften Leute jchlafen | 


dann natürlich; aber einige haben doch Veranlafjung, 
auf den Füßen zu fein; zumeilen bleibt wohl jeder 
von uns einmal wach. Da würden wir nun den 
Vienft der Deffentlichteit ſehr mangelhaft finden, 
wenn nicht für die Nachtarbeiter ebenjogut gejorgt 
würde, wie für die Tagarbeiter. Zu eurer Zeit 
!onntet ihr das natürlich nicht leiften, weil euch eine 
einheitliche, gewerbliche Organijation mangelte ; uns 
aber ift es ein leichtes. Wir haben Tag» und Nadht« 
dienft bei allen öffentlichen Anftalten ; der lehtere ift 
natürlich viel bejchräntter. 

„Wie fteht e8 denn um die allgemeinen Feiertage; 
find die abgejchafft ?* 

„Sp gut wie gänzlih. Bei euch waren Feier— 
tage zwiſchen drin von großem Wert für das 
Bolt, da fie ihm Zeit gönnten, einmal aufzu— 
atmen, was jo dringend notwendig war. Gegen— 
wärtig ift ber Arbeitätag jo furz und das Arbeitäjahr 
fo oft durch Ferienzeiten unterbrochen, daß ber alte 
modiſche fyeiertag aufgehört hat, zweckmäßig zu fein, 
und für eine Störung gelten würde. Wir ziehen «8 
vor, unfre Mußezeit zu wählen, wann es uns paßt.” 

Wir richteten unire Schritte nad) der Seander- 

Aus fremden Zungen. 1897, IE 18, 


' Wolfe dabinzugleiten jchienen, 


325 


Schwimmfchule Die Bewohner Boftons wiljen, dab 
dies eine der alten Bade-Anftalten ift, deren Ein— 
richtungen hinter den neueren weit zurückſtehen. Auf 
mich machten fie aber einen großartigen Eindrud. 
Das hohe Gewölbe im Innern war von Licht durch- 
flutet; das enorme Schwimmbaffin, die vier großen 
Springbrunnen mit ihrem Diamantgeflimmer und 
dem Geräufh der fallenden Wafler, dad Gedränge 
der bunt gefleideten, lachenden Badegäfte, das alles 
bildete ein erheiterndes, prächtiges Schaufpiel und 
gab mir ben erjten hohen Begriff von den athletifchen 
Uebungen im modernen Leben. Am reizendften war 
e3, die ftrahlend helle, weite Wailerfläche zu jehen, 
deren Licht der mit weißen Flieſen gededte Boden 
zurüdwarf, jo dab die Schwimmer, dem ganzen 
Körper nad) ſichtbar, auf einer blafjen, jmaragdgrünen 
Der Anblid diejes 


ı mühelojen Schwebens war erjchredend und bezaubernd 
' zugleid). 


Edith war indeilen jchnell bei der Hand, mir zu 
erzählen, daß dies nichtS fei gegen die Schönheit der 
neueren und größeren Bade-Anftalten, in welchen bie 


Flieſen des Bodens verjchiedenfarbig wären, jo daß 





das Waller alle Schattierungen des Regenbogens 
annehme und dabei ebenfo durchſichtig bliebe. 

Ich hatte den Eindrud, als müßte es Quellwaſſer 
fein, aber die grüne Färbung lie darauf jchließen, 
dab es Meerwajler war. 

„Wir halten nit viel vom Süßwaſſer zum 
Schwimmen, wenn wir Salzwafler haben können,“ 
jagte der Doftor. „Diefes Waller fam mit der 
legten Flut aus dem Atlantifchen Ozean.” 

„Aber wie bringen Sie es denn auf diefe Höhe?” 

„Es kommt von ſelbſt herauf,“ erwiderte er 
lachend, „es wäre doch jchlimm, wenn die Kraft der 
Flut, welche das Waller im ganzen Hafen um gute 
fieben Fuß höher treibt, al& die Meeresfläche, nicht 
die geringe Mafje, welche wir brauchen, noch etwas 
höher heben könnte. Sehen Sie mid nicht jo miß— 
trauiſch an,“ fuhr er fort, „ich weiß, daß zu Ihrer 
Zeit das Waſſer im Boftoner Hafen zum Baden lange 
nicht rein genug war, aber das iſt alles ander& ge» 
worden. Ihr Kanaliſationsſyſtem iſt ein vergeſſener 
Greuel. Nichts, was verumreinigen fann, darf heut« 
zutage die See oder den Fluß erreihen. Deshalb 
fönnen wir dad Seewaſſer nicht allein für alle öffente 
lichen Bäder brauchen, fondern wir verjorgen auch 
unjre Privatbäder damit ſowie alle öffentlichen 
Springbrunnen, melde, jo unerſchöpflich geſpeiſt, 
immer in Thätigfeit bleiben. Aber wir wollen unier 
Bad nehmen,” 

„Meinen Sie wirklich?“ fragte ich fröftelnd. 
„Sind Sie auch fiher, daß es warın genug ift? Wir 
hielten das Seewaller Ende September für etwas zu 
falt. zum Baden.” 

104 


826 Edward 
„Glauben Sie, wir wollten Sie in den Tod 
jagen? Das Waſſer ift doch natürlich bis zu einer 
behaglihen Temperatur erwärmt; dieſe Bäder find 
den ganzen Minter über offen.“ 

„Aber wie in aller Welt erwärmt man foldhe 
ungeheure Waſſermaſſe, die fich fortwährend erneut, 
bejonders im Winter?” 


„DO, wir machen uns durchaus fein Gemilien 


daraus, die Fluten für uns arbeiten zu laſſen,“ er— 
widerte der Doltor. „Wir zwingen fie nicht allein, 
das Wafler bier herauf zu heben, jondern fie müfjen 
es ung auch noch heizen. Sehen Sie, Julian, falt 
oder warın find eigentlich Worte ohne beitimmte 
Bedeutung; es find nur nedifche Saunen, welche ſich 
die Natur erlaubt, um anzubeuten, daß fie ein wenig 
ummorben jein will. Wenn wir fie richtig zu nehmen 


wüßten, würde fie uns ebenfo gern Wärme als Kälte 


geben. Diejelben Schneeftürme, in denen Ihre 
Generation hilflos erfror, hätten Ihnen die ſtohlen⸗ 
gruben erjegen fünnen. Sie jehen mich ungläubig 
an; aber erlauben Sie mir, Ihnen als erften Schritt 
zum Beritändnis der neuen Verhältniſſe jeht aus- 


einanderzufegen, daß wir die Naturfraft, die ums | 


Licht, Wärme und Triebkraft liefert, heutzutage loſten⸗ 
frei in unerichöpflicher Menge im täglichen Yeben 


praftiih anwenden können, jo daß fie beim Ma» 


ichinerbau faum in Betracht kommt. 
„Die Benugung von Strömen, Winden und 
Wafferfällen ift aber im Grunde nur eine jehr robe 


Art, uns die Kraftquellen der Natur dienjtbar zu | 


madyen, im Vergleich zu andern Methoden, durd) 
melde nur aus der natürlichen Ungleichheit der 
Temperatur eine ungeheure Sraft entwidelt wird.“ 

Einige Augenblide jpäter nahm ic das föftlichfte 
Seebad, daS ich bisher je genofjen hatte. Das Ver- 
gnügen, mid) von den Springbrunnen beiprißen und 
begießen zu laffen, war groß und gab mir ein ganz 
neues Lebensgefühl, 

„In Ihnen belommt noch das zwanzigſte Jahr« 
hundert einen Bürger erjter Sorte,“ ſagte der Doktor, 
über mein Ergöben lachend, 
bezeichnendes Merkmal der heutigen Ziviliiation, 
daf wir zum Amphibien- Typus unter uralten Vor» 
fahren zurückkehren. Nugenicheinlih werden Sie 
nichts dagegen haben, mit dem Strom zu Schwimmen.“ 

68 war ein Uhr, ala wir unſer Haus erreichten, 

„Ich denfe mir,” jagte Edith, ala ich ihr gute 
Nacht wünſchte, „du wirft in zehn Minuten mitten 
unter deinen Freunden im neunzebnten Jahrhundert 
fein, wenn du träumft wie die vergangene Nadht. 
Was gäbe id) nicht darum, die Reife mit dir zu unter« 
nehmen und jelbft zu jehen, wie jene Welt ausſah.“ 

„Und ich möchte um feinen Preis die Erfahrung 
no einmal machen,“ ſagte id, „außer in deiner 
Geſellſchaft.“ 


„Man ſagt, es ſei ein 


Bellamy. 


„Fürchteſt du dich wirklich, wieder von den alten 
Zeiten zu träumen?“ 

„So fehr,” verjegte ich, „daß ich nicht übel Puft 
habe, die ganze Nacht aufzubleiben, Damit die Mög- 
lichkeit eines foldhen Alpdrüdens ausgeſchloſſen it.‘ 

„Bewahre, das braucht du nicht zu thun,“ Tante fie. 

| „Wenn du es wünſcheſt, will ich ſchon dafür forgen, 
daß du nicht wieder auf ſolche Weiſe gequält wirft.“ 

„Bift du denn eine Zauberin ?* 

„Wenn ich dir fage, daß du von einer bejtimmten 
Sade nit träumen follft, fo geſchieht es nick,“ 
ı antwortete fie, 
| „Du bift zwar die Herrin meiner wachen Ge 
danken,“ rief ich, „aber fannft du ebenjo leicht meinen 
Ichlafenden Geift regieren?“ 

„Du wirft es ſehen,“ jagte fie ruhig und ſchaute 
mir feſt in die Augen. „Vergiß es nicht: Du jollft 
heute naht von gar nichts träumen, was deinem 
alten Leben angehört!” Und während fie jprad, 
wuhte ich in meinem Herzen, dab es jo fommen 
würde. 


XL 
Die Grundlage des Eigentumsrechts iſt Das Leben. 

Zu der Einrichtung des unterirdbijchen Gemacht, 
in welchem Dr. Leete mich jchlafend gefunden hatte, 
gehörte auch ein eiferner Schranf mit einem Geheim: 
ſchloß, wie er zu meiner Zeit zur Aufbewahrung von 
Geld und Wertiachen gebraucht wurde. Die Kammer 
: Tag jehr tief unter dem Boden, war aus fejlem Stir 
gebaut und hatte fchwere Thüren, jo daß nicht nur 
fein Lärm dorthin dringen fonnte, fondern fie aus 
Dieben völlig unzugängli war. Da überdies nie 
mand etwas von ihrem Vorhandenfein mußte, hatte 
ich geglaubt, daß ich feinen geeigneteren Plak finden 
fünne, um meinen Reichtum zu verwahren. 

Edith hatte diefen Geldjchrant mit großer Nen- 
gier betrachtet und mehrmals, wenn wir das Gewölbe 
befuchten, den lebhaften Wunſch geäußert, zu eben, 
was er enthielt. Ich erbot mich, ihn für fie zu 
öffnen, aber fie meinte, ihr Vater und ihre Muiter 
würden ich ebenfo jehr für dies Kunſtſtück intereifieren 
| mie fie jelbft ; ich möchte Daher den Spaß noch ber- 

ichieben, bis fie dabei wären. 
Als wir am Morgen nad) deu zulegt geſchilderten 
Erlebniljen beim Frühſtück ſaßen, fragte fie, ob heute 
nicht ein guter Tag dazu wäre, ihnen das Immer: 
des Geldſchranks zu zeigen, und alle waren damit 
einverſtanden. 

„Was enthält denn der Schrank?“ fragte Edith. 

„als ich ihn im Jahre 1887 zufchloß,“ verlegte 
ih, „waren Pfandbriefe und Staatspapiere der ver: 
Ichiedenften Sorten darin, die eiwa einen Wert van 
einer Million Dollars hatten. Wenn wir ihm beut: 
Öffnen, werden wir, danf dem großen Umſturz, nicht? 
als einen Haufen Mafulatur darin finden. — 














Gleichheit. 


Nebrigens möchte ich wiſſen, Doktor, was Ihre Richter 
jagen würden, wenn ich mit meinen Wertpapieren 
vor fie hinträte und das Vermögen, welches fie dar— 
ftellten, feierlich zurüdverlangte ? 

„Euer Gnaden,‘ würde id) jagen, ‚diefe Schäße 


gehörten einft mir, und ich habe fie zu feiner Zeit | 


freiwillig aufgegeben. Warum find fie denn jet nicht 
mehr mein, und weshalb habe ich feinen Anſpruch 


daß ih mich etwa gegen die jeige Ordnung aufs 
zulehnen wünfche ; ich gebe bereitwillig zu, daß fie 
weit beſſer iſt als unjre früheren Einrichtungen.‘ 


geruhten, ſich ernſtlich damit zu befaſſen. 
iheinlih würden fie mid) unter Hohngelädhter zum 
Gerichtshof hinausweifen. Mir fcheint aber dod), 


ih hätte guten Grund zu behaupten, dab, da ich 
nicht zugegen geweſen bin, al& die Revolution ung | 
Rapitaliften unſers Beſitzes beraubte, ich wenigitens | 
das Recht habe, eine Höfliche Erflärung darüber | 
zu fordern, von welchem Gejichtspunft aus fie ihr | 


Ich ver 


damaliged Verfahren verteidigen wollen. 


lange meine Million nicht zurüd, jelbft wenn eine | 
Diedererftattung möglich wäre, aber e& würde mir | 
doch eine gewifje Befriedigung gewähren, zu erfahren, | 


unter welchem Rechtstitel das Gemeinweſen ſich mein 
Vermögen angeeignet hat und e8 mir vorenthält,.* 


„Hören Sie, Julian,“ jagte der Doktor, „es | 
Perſon geftattet, der öffentlichen Verwaltung des 
‚ Gefamtvermögens einen größeren Kapitalanteil zu 


wäre wirklich ausgezeichnet, wenn Sie genau das 
tbun wollten, was Sie joeben vorjchlagen, das heißt, 


eine förmliche Klage auf Schadenerja gegen die | 
Nation vorbringen und fordern, wieder in Ihr Beſitz⸗ 
tum eingejeßt zu werden. Ihre Angelegenheit würde | 
das Öffentliche Intereſſe aufs lebhaftejte bejchäftigen | 
und eine Erörterung über die ethiihe Grundlage | 


unjrer wirtfchaftlichen Gleichheit hervorrufen, die für 
das ganze Volt vom höchſten erzichlihen Nutzen 
jein dürfte. Da die jetzige Geſellſchaftsordnung jhon 
ieit jo langer Zeit befteht, denft außer den Geſchichts- 
forjhern kaum noch ein Menſch daran, daß es jemals 
ander war. Es wäre jehr heiljam für die Staats- 
bürger, wenn fie einmal wieder gründlich über dieje 
Berhältnifje nachdächten, ſich die Unterfchiede zwiichen 
der alten und der neuen Ordnung zu Gemüte führten, 


um die Vorteile und Nachteile beider gegeneinander | 


abzuwägen und fi die Gründe klarzumachen, die 
für das jegige Syſtem ſprechen. Welch eine echt 
dramatiiche Scene wäre das, wenn Sie mit Jhren 
Stoatöpapieren in der Hand, vor dem Gerichts- 
hof erichienen! Das neunzehnte Jahrhundert würfe 


fozufagen dem zwanzigften den Fehdehandſchuh bin; | 


die alte Ziviliſation forderte Rechenſchaft von der 
neuen. Sie könnten fid) darauf verlafien, von den 
Richtern mit der größten Rüdficht behandelt zu werden. 











827 


Man würde Ihnen jofort zugeflehen, dab Sie unter 
den obwaltenden Umſtänden das Necht haben, zu 
verlangen, die ganze Frage der Güterverteilung und 
des Eigentumsrechts von Anfang an erflärt zu ers 
halten, und man würde aufs bereitwilligfte und im 
weitherzigjten Sinne mit Ihren darüber verhandeln,” 

„Wohl möglich,“ ermiderte ich, „aber es ift ein 


ſchlagender Beweis von dem Mangel an uneigen— 
daranf, fie zurüczuerhalten? Glauben Sie nur nicht, | 


nüßigem Gemeinfinn, unter dem meine Zeit litt, 
daß ich feine Luft verjpüre, mich lächerlich zu machen, 


' jelbft wo es jih um die Vollserziehung handelt. 
| Mebrigens bedarf es defjen nicht. 
Aber willen möchte ich doch, was die Richter auf ein | 
ſolches Anfinnen erwidern würden, falls fie überhaupt | 
Wahı- 


Sie fönnen mir 
jo gut wie die Richter fagen, was die Antwort fein 
würde, und ich möchte nur eben dieje Antwort haben 
und nicht mein Vermögen.“ 

„Ih glaube wohl,” jagte Leete, „daß ich Ihnen 
bie allgemeinen Gefichtspunfte darlegen könnte, die 
fie ins Auge faſſen würden.” 

„Nun gut, nehmen wir an, dab Sie der Gerichts— 
bof find. — Aus welhem Grunde weigern Sie fidh, 
mir meine Million zurüdzjugeben? Denn, daß Sie 
fi) weigern würben, fteht doch wohl feit.“ 

„Natürlich aus demfelben Grunde, den die Nation 
hatte, als fie jämtliches Privateigentum, von dem 
jene Million zur Zeit des großen Umſturzes einen 
Zeil bildete, zum Nationalgut machte.“ 

„Ganz recht, das möchte ich gerade wifjen. Welcher 


Grund ift das?” 


„Das Gericht würde jagen, daß, wenn man einer 


entziehen oder vorzuenthalten, als der ift, welcher 
jedem in gleicher Höhe zum perjönlichen Gebrauch 
und Unterhalt zufteht, jo würde die Gejellihaft außer 
ftande jein, die erfte Prlicht, welche ihr obliegt, gegen 
ihre Mitglieder zu erfüllen.“ 

„Was ift denn dieje erfte Pflicht der Gejelljchaft 
gegen ihre Mitglieder, die umerfüllt bliebe, wenn 
gewillen Bürgern geftatiet wäre, fi mehr anzueignen 
ala den für allen gleichen Anteil des Geſamtver— 
mögens ?* 

„Die Pflicht, ihren Mitgliedern ihr erfteg und 
höchſtes Recht zu ſichern — das Daſeinsrecht.“ 

„Aber ich jehe nicht ein, weshalb die Geſellſchaft 
ihren Mitgliedern das Daſeinsrecht nicht fichern 
fan, wenn ein Menſch mehr Kapital befigt als jeine 
Mitmenschen ?* 

„Einfach deshalb,“ veriekte der Doktor, „weil die 
Menſchen eſſen müſſen, um zu leben ; fie müſſen jich 
auch Fleiden und eine gewiſſe Menge notwendiger 
und nüßliher Dinge verbrauden, deren Summe das 
ausmacht, was wir Bejik oder Kapital nennen, Wäre 
nun der Vorrat an diefen Dingen immer fo uns 
begrenzt wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, 
jo hätte man nicht nötig, dafür zu forgen, daß jeder 


828 Edward 
feinen Anteil erhält. Iſt aber der Belisitand zu 
irgend einer Zeit bejchränft, jo folgt daraus, daB, 
wenn einige unverhältnismäßig viel erhalten, die 
andern nicht genug befommen, ja, daß vielleicht nichts 
für fie übrig bleibt, wie das in der That bei Millionen 
in der ganzen Welt der Fall gemejen iit, ehe die 


große Revolution die wirtichaftliche Gleichheit her» | 


ftellte. Wenn aljo das erjte Nedht des Bürgers der 
Schub feines Lebens ift, und die erfte Pflicht der 
Geſellſchaft darin befteht, diefen zu gewähren, jo muß 


der Staat dafür jorgen, dab die Mittel zum Leben | 


nicht unbilligerweife von einigen Individuen an fi 
gerijjen, jondbern fo verteilt werden, da fie die Be— 
bürfniffe aller befriedigen. Um aber allen die Mittel 
zum Leben fichern zu können, genügt e& nicht, daß 
der Staat Sorge trägt, die vorhandenen Güter zu 
einer gewiſſen Zeit gleihmäßig zu verteilen; fonft 
fönnte der Fall eintreten, da fich heute alle mohl 
befinden und morgen alle verhungern müljen, wenn 
nit inzwiſchen neue Vorräte produziert werben, 
Die Pflicht der Gefellichaft, das Leben des Bürgers 
zu fihern, bedingt daher nicht nur eine gleiche Güter⸗ 
verteilung zum Zwed des Verbrauchs, ſondern aud) 
die beftmöglichite Verwendung der Güter ald Kapital, 
um neue Vorräte zu erzeugen. Es ift Mar, daß die 
Gejellihaft in der einen wie in der andern Be— 
ziehung ihre erfte und wichtigfte Aufgabe nicht ausüben 
würbe, wenn fie irgend jemand geitattete, mehr Güter 
für ſich zu behalten, als der für alle gleich bemeſſene 
Anteil beträgt. Ob der einzelne diejelben der öffent« 
lihen Verwaltung für das Gefamtwohl entzieht, um 
fie zu verbrauchen oder als Kapital zu benußen, 
darauf fommt es nicht an.“ 

„Dieje moderne Begründung des Eigentumsrechts 





muß einem Vertreter des neunzehnten Jahrhunderts | 


wunderbar einfach erſcheinen,“ bemerkte ich. „Vieleicht 
würden mid die Richter fogar fragen, woher ich 
überhaupt da& Recht nehme, mein Eigentum zu bes 
fien, und worauf ich meine Anſprüche gründe?“ 
„Gewiß nit. Kein Menſch, weder Sie noch 
irgend ein andrer, könnte möglicherweile je ein jo 


großes Anrecht an materielle Dinge befigen, wie der ; 


geringfte Ihrer Mitbürger an fein Leben hat. Keiner 
könnte je von der Staatögewalt verlangen, daß fie 
für fein Recht auf gewiſſe Güter mit demſelben Nach— 
druck eintritt wie für das Necht der andern auf ihr 
Leben, jobald diefe beiden Rechte an irgend einem 
Punkte direft oder indireft miteinander in Wider: 
ſpruch geraten, Bei einem etwaigen unverhältnis- 
mäßig großen Güterbefig eines Mitglieds der Ge— 


meinichaft, wodurd; das Leben der übrigen gefährdet | 


oder benachteiligt wird, fommt aber die Art, wie 
diefe Güter eriworben wurden, gar nicht in Betracht. 
Ihr unrehtmäßiger Erwerb fann, wie das in früheren 
Zeiten häufig geſchah, die Allgemeinheit noch bejonders 





Bellamy. 


geihädigt haben, aber die Ungleichheit ſelbſt, woher 
fie auch ftammen mag, bildete eine fortgeſehte 
Schädigung, ganz abgefehen von ihrem Urſpruug. 
Unjre Begründung des Eigentumsrechts ift, wie Sie 
ganz richtig Jagen, ureinfah. Sie beiteht mur in 
dem Recht der Selbfterhaltung, das im Namen aller 
gegen die Uebergriffe irgend eines einzelnen zur 
Geltung gebracht wird, Sie beruht auf einem Grund- 
jaß, den ein Kind jo gut verftehen lann wie ein 
Weiler, und den zu widerlegen noch nie ein Weiler 
verjucht hat, nämlid auf dem Recht aller zu chen, 
infolgedeflen fie durchſetzen müſſen, daß die Gelel- 
ſchaft auf eine Weiſe organifiert wird, welche ihnen 
dies höchſte Recht fichert. 

„Aber,“ fuhr der Doktor fort, „eigentlich Follte 
unfre wirtſchaftliche Bethätigung dieſes Grunbjages, 
einem Manne auß Ihrer Zeit feine andre Em- 
pfindung verurjahen als die der Ueberraſchung, daß 
er nicht jchon früher durchgeführt wurde. Seit dem 
Beginn beiten, was Sie moderne Zivilifation nannten, 
haben alle Völker und Regierungen ſtets die Anfiht 
verfochten, daß es die erfte und höchſte Pflicht des 
Staates ei, daß Leben jeiner Bürger zu ſchühen 
Died war der Zwed, um deſſentwillen die Polipi, 
das Gericht, dad Heer und der größte Zeil dei 
Regierungsmechanismus im Grunde vorhanden waren. 
Man ging jogar joweit, zu behaupten, daß ein Staat, 
der nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln das 
Leben feiner Bürger zu ſchützen fuchte, den Anipruä 
auf ihre Unterthanentreue verlor, 

„Während ihr aber diefen Grundſaätz in jo be 
redten Worten verfündetet, überjaht ihr in der Praris 
die bei weitem wichtigite Hälfte feiner Bedeutung. 
Ihr ließet die Gefahr gänzlich unbeacdhtet, welde 
das Leben von der wirtihaftlichen Seite ber durt 
Hunger, Kälte und Durft ausgejeft war. Da} 
Leben, meintet ihr, fünne nur durch Kugel, Meter, 
Keule, Gift oder irgend eine Form des gewaltfamen 
Angriffs bedroht werden, als ob Hunger, Kälte und 
Durſt — in einem Wort, wirtſchaftliche Not — nicht 
der unabläjfigite und verderblichjte Feind des Leben? 
wäre, weit gefährlicher als alle Arten der Gewalt 
jufammengenommen. Ihr vergaßt die einfache That- 
lade, daß, wer auf irgend eine Weiſe, jei fie auch 
noch jo indireft, uns den Unterhalt entzieht oder 
verkürzt, einen ebenjo gefährlihen Angriff au 
unjer Leben begeht, als wenn er uns mit Piſtole 
oder Mefjer bedrohte — ja er gefährdet uns noch 
mehr, mweil wir uns gegen offene Gewalt beiier 
verteidigen könnten. Sein Schub von Rolixi, 
Gericht oder Militär würde einen Menichen, der 
nicht genug Speile und Kleidung bat, davor be 
wahren, elend umzulommen — das habt ihr midt 
bedacht.“ 

„Wir vertraten den Grundſatz,“ ſagte ich, „dei 





Gleichheit. 


es nicht gut iſt, wenn der Staat ſich in Privat- 
angelegenheiten mijcht und es übernimmt, dem ein- 


zelnen zu helfen oder Dinge für ihn zu thun, die er | 


im ftande iſt, jelbft auszurichten. Wir waren der 
Anfiht, man folle die Staatsgewalt nur anrufen, 
wo der einzelne der Aufgabe, ſich ſelbſt zu verteidigen, 
nicht gewachſen jein konnte.” 

„Diefe Theorie wäre gar nicht fchlecht geweſen, 
hättet ihr demgemäß gelebt,“ jagte der Doktor. „Doc 


ift die moderne Theorie bei weitem vernünftiger, | 
Alles, was eine Genoſſenſchaft beifer verrichten fann 
als der einzelne, joll man gemeinfam unternehmen, ' 
jelbft wenn es auf unvollflommenere Art au vom | 
Aber glauben | 
Sie nicht ſelbſt, daß bei den wirtichaftlichen Vers 


einzelnen ausgeführt werden könnte. 


bältniffen, wie fie zu Ende des neunzehnten Jahr- 
bunderts in Amerika berrichten — von Europa gar 
nicht zu reden — der Menſch im Durchſchnitt, wenn 


er nur einen guten Revolver hatte, weit leichter die ' 


Aufgabe erfüllen konnte, ſich und jeine Familie gegen 


Gewalt zu verteidigen, als die Verpflichtung, fie vor 


Mangel zu ſchützen? War im lekteren Kampf die 
Möglichkeit feines Sieges nicht viel ungewiſſer als 
im erfteren, falls er fich als ein leidlich guter Schütze 
erwies? Warum aljo jollte — nad Ihrem eignen 
Grundjaß zu urteilen — die Geſamtmacht der Ger 


ſellſchaft aufgeboten werden, ihn vor Gewalt zu | 


bewahren, was er doch füglich jelbit hätte thun Fönnen, 
während man ihn bei dem hoffnungslojen Ringen 


im ſtampf um ein menſchenwürdiges Dafein fid) 


ſelbſt überließ? Keine Stunde, fein Tag im Jahre 


berging, an dem nicht zahlreiche Todesfälle und die 


moralifchen und phyſiſchen Qualen, die aus der 
Geieglofigfeitdeswirtfchaftlichen Kampfes entjprangen, 
bei dem die Armen jo furchtbar im Nachteil waren, 
die Zahl der Opfer, die zur nämlichen Stunde der 
Gewalt erlagen, mehr als hundertjach überjliegen 
hätten. Die Gejellichaft hätte ihre Pflicht, das Leben 





der Bürger zu ſchützen, weit beſſer erfüllt, wenn jie | 
dad ganze Strafreht abgeſchafft, jämtlicdhe Nichter 


und Roliziften entlaffen und e& den Menichen anheim 
geftellt hätte, fich gegen Gemwaltthat zu verteidigen, 
jo gut fie fonnten. An Stelle der gejamten Gerichtä- 
barteit aber hätte man eine wirtfchaftliche Verwaltung 
einrichten jollen, bei der alle vor Mangel geſichert 


waren. Dann würde jich fehr bald herausgeftellt | 


haben, daß, wo ſolche wirtichaftliche Befamtorganijation 
beftand, das ganze firafredhtliche und bürgerliche 
Gerichtsweſen ebenjo emibehrlih war wie bei uns. 
Die meiften Verbrechen, weiche damals begangen 
wurden, waren ja die direfte oder indirefte Folge 
Ihrer ungerechten, wirtjhaftlichen Zuftände und wären 
mit dieſen verſchwunden. 

„Aber entſchuldigen Sie meine Heftigkeit. 


829 


und nicht Ihre Perfon. Ich wollte Ihnen nur bes 
weilen, dab der Grundfaß, es fei die erfte Pflicht 
ber Gejellichaft, das Leben ihrer Mitglieder ficher zu 
ftellen, zu Ihrer Zeit ganz ebenſo anerkannt wurde 
wie zur unirigen. Man hätte diefen Grundjak nur 
nicht in polizeilicher, gerichtlicher und militäriicher 
Hinficht Feithalten und ihm in der wirtichaftlichen 
Frage untreu werden jollen. Dadurd) hat Ihre Welt 
fich einer Intoniequenz ſchuldig gemacht, die ebenjo 
unlogiih war wie graufam in ihren Wirkungen. 
Wir dagegen haben als Nation die Verpflichtung 
übernommen, das Leben der Vollsglieder in wirt- 
ſchaftlicher Beziehung ficherzuftellen. Dadurch ift 
nur ein Grundjag, welcher jchon jo lange beiteht, wie 
die Zivilifation überhaupt, zum erftenmal in Wahr- 
beit durchgeführt worden.” 

„Das liegt auf der Hand,” jagte ih. „Wer nur 
die Sachlage kennt, muß zugeben, daß die anerkannte 
Pflicht des Staats, das Leben feiner Bürger vor feind- 
lihem Angriff zu ſchützen, die Verantwortlichkeit in ſich 
ichließt, fie jowohl vor den Einflüffen zu bewahren, 
welche die wirtichaftliche Grundlage ihres Dajeins 
bedrohen, als vor direkten Vergewaltigungen. Eine 
aufgeflärte Regierung war ſich auch ſchon zu meiner 
Zeit diefer Verpflichtung bewußt und verſuchte ihr 
durch Armengeiege und Armentommijfionen zu ent» 
ſprechen. Doch war ihre Verjorgung der wirtichaftlich 
Schlechtgeſtellten jo erbärmlich und überdies an jo 
entwürdigende Bedingungen gefnüpft, da die Menichen 
meijt lieber fterben wollten, als fie anzunehmen, Aber 
zugegeben, daß unjre Art, dem Bürger jein Recht 
auf Unterhalt zu fichern, eine größere Barbarei und 
Veripottung war, als wenn wir e& ihm ganz ver— 
weigert hätten, und daß der Staat jeine Verpflichtung 
in viel weiterem Sinne hätte auffallen müſſen, jo 
folgt doch daraus noch lange nicht, daß die Geiell« 
ſchaft verpflichtet ift, allen Bürgern wirtichaftliche 
Gleichheit zu gewährleiften und jeder berechtigt ift, 
dies zu fordern.” 

„Was Sie jagen, trifft zu,“ verjehte der Doktor. 
„Die Gejellichaft hätte ihre Prliht, jedem Mitglied 
die wirtſchaftliche Grundlage des Lebens zu fichern, 
gewiſſermaßen auch erfüllen fönnen, ohne die wirt 
ſchaftliche Gleichheit einzuführen. Gerade jo hätte 
zu Ihrer Zeit der Staat jeine Pflicht, das Leben ber 
Vürger gegen Gewaltthat zu jchühen, dem Namen 
nad) erfüllen fönnen, wenn er fid) damit begnügte, 
den direkten Totichlag zu hindern, aber im übrigen 
ruhig zufah, wie einer dem andern willfürlich allerlei 
Schaden zufügte, ſolange derjelbe ihm nur nicht ans 
Leben ging. Setzten fich denn zu Ihrer Zeit, Jultan, 
die Regierungen jo enge Schranten beim Schub der 


' Bürger gegen Gewaltthat, oder wären die Leute mit jo 


Ver⸗ 


geſſen Sie nicht, dab ih Ihre Ziviliſation anklage 


beſchränktem Schuß zufrieden geweſen ?“ 
„Keineswegs.“ 


830 Edward 
„Richt wahr, eine Regierung. die ih zu Ihrer 
Zeit darauf beichränft hatte, den Mord zu verhüten, 
märe auch nicht einen Tag lang am Ruder geblieben? 
Die Menſchen hätten ja Barbaren fein müffen, um 
fie zu dulden. Alle zivilifierten Regierungen über: 
nahmen die Pliht, die Bürger nit nur vor 
Angriffen gegen ihr Leben, 
der geringften thätlichen Beleidigung ſicherzuſtellen. 
Keiner durfte den andern im Zorn auch nur mit 
dem Finger anrühren, ja, wenn er nur feine bod« 
hafte Zunge gegen ihn gebrauchte, wurde er ins 
Gefängnis geworfen. Das Geſetz jhügte die Menſchen 
nicht nur körperlich, aud) in ihrer Würde durfte man 
fie nicht verlegen. Denn man jah ein, daß beihimpft 
oder angejpieen zu werden, ein cbenio großes Uebel 
iſt als ein Angriff auf das Leben jelbft. 

„Wenn wir das Dajeinsreht des Bürgers im 
wirtichaftlihen Sinme fügen, jo folgen wir nur 
Ihrem Beifpiel in betreff des thätlihen Angriffe. 
Wollten wir feine Yage bloß infoweit jicherftellen, 
dab er nit Hungers zu fterben oder zu erfrieren 
brauchte, wie das Ihre Armengejege bezwedten, To 
würden wir einem Staate aus Ihrer Zeit gleichen, 
der zwar den Mord bei Strafe unterfagte, aber jede 
andre Gewaltthat, die nicht geradezu tödlid war, 
geftattete, Not und Entbehrung, die aus wirtichaft 
lihem Mangel entjtehen, bei dem man nicht gerade- 
wegs verhungern muß, bilden ein genaues Gegenitüd 
zu den geringeren Gewaltthaten, vor denen hr 
Staat jeine Untertdanen jo jorgfältig beſchützte wie 
vor Mord. Dem Rechte des Bürgers auf Schuß 
feines Lebens im wirtichaftlihen Sinne ift nicht 


Genüge gethan, wenn man ihm nur den notdürftigen | 
Er hat vollen Aniprucd auf die | 


Unterhalt ſichert. 
Befriedigung jedes Bedürfnifies, jo weit die Nation 
im ſtande ijt, diefelbe, bei der Iparjamiten Verwal« 
tung jämtlicher Quellen des nationalen Wohlitandes, 
allen Bolksgliedern in gleihem Maße zu gewähren. 

„Als wir die Herrihait von Recht und Geſetz 
auch auf das wirtichaftliche Gebiet ausdehnten, find 
wir nur jehr verftändigerweije Ihrem hochberühmten 
Grundjag der ‚Gleichheit aller vor dem Gejeh' ge» 
folgt, wie das unjre Pflicht war. Dieler Grundſatz 
beiagte, dab, wenn die Gejellichait ald Ganzes irgend 
eine Amtöthätigfeit übernahm, fie diejelbe ohne 


Anjehen der Perſon, zum gleichen Nußen für alle | 


ausüben müfle. Wollten wir daher nicht den Grunde 
ja der ‚Gleichheit aller vor dem Gejeh‘ verwerfen, 
jo konnte die Gejellfchaft, nachdem fie einmal die 
Produktion und Güterverteilung als öffentliche Prlicht 
übernommen hatte, für diefelbe feinerlei andre Grund« 
lage wählen als die wirtichaftliche Gleichheit.“ 
„Der hohe Gerichtshof,” ſagte ih, „möge mir 
nunmehr erlauben, den Antrag auf Wiedererftattung 
meines früheren Eigentums jamt der Klage zurüd- 


jondern jogar vor | 


Bellamy. 


| zuziehen. Zu meiner Zeit hielten wir alles feſt, was 

wir hatten, und fämpften mit gutem Gewiſſen, um 
ſo viel zufammenguraffen, al& wir irgend fonnten : 
| denn unfre Gegner waren gerade jo eigennüßig wie 
ı wir und bejahen fein höheres Recht und feinen 
meiteren Gejichtäfreis. Aber dies moderne Suiten 
mit jeiner Öffentlichen Verwaltung des Gejamtlapitals 
zum allgemeinen Wohl verändert Die ganze Lage 
der Dinge. Es madıt, daß jeder, welcher mehr wer- 
langt als feinen Anteil, im Licht eine: Menſchen 
erjcheint, welcher alle andern Vollsglieder an Lebens 
unterhalt und Wohlbefinden zu ichädigen tradıtet. 
Um ſich in dieſer Rolle zu gefallen, müßte man io 
feft von der Gerechtigfeit feiner Ansprüche überzeugt 
fein, wie ich e8 überhaupt niemals, ſelbſt nicht in 
jener alten Zeit, geweien bin.“ 


XII. 
Die Ungleichheit des Güterbeſitzes vernichtet die Freiheit. 

„Bis jeht,“ fuhr der Doftor fort, „habe ich die 
ı Gründe nur zur Hälfte dargelegt, welche die Richter 
anführen würden, um zu beweifen, daß fie Jhnen 
Ihr Vermögen nicht zurüdgeben können, ohne unier 
beftehendes Wirtihaftsiyftem und die wirtſchaftliche 
Gteichheit in der Nation zu jchädigen. Die Menihen 
haben noch ein zweites großes Recht, das allen 
gleichermaßen zuſteht, und wiewohl es eigentlid im 
‚ Recht zu leben mit inbegriffen ift, von jedem hod« 
gefinnten Geift jogar noch über diejes geilellt wird: 
Ich meine die freiheit — das heikt das Recht, nicht 
nur zu leben, jondern in perjönlicher Unabhängigkeit 
von andern zu leben und nur die allgemeinen jozialen 
Pflichten anzuerkennen, die zu erfüllen uns allen in 
gleicher Weile gebührt. 

„Nun wurde aber zu Jhrer Zeit die Verpflichtung 
des Staates, die Freiheit der Bürger zu hüten, 
ebeniogut amerfannt, wie es ihm oblag, deren 
Leben ſicherzuſtellen, aber ebenfalls nur in dem 
Sinne, daß er fie vor Gewaltthat zu behüten habe. 
Hätte man berjucht, ih der Perjon eines Bürgers 
zu bemädjtigen oder ihn zwangsweije in die Sklaverei 
zu Ichleppen, jo würde ji der Staat ins Mittel 
gelegt haben, aber jonft nicht. Und dennod wurden 
zu Ihrer Zeit Freiheit und periönliche Unabhängig 
feit — gerade jo wie das Leben — weit weniger 
duch gewaltjame Angriffe gefährdet als durch wirt« 
ſchaftliche Uebelſtände, die aus der ungleichen Ver—⸗ 
teilung der Güter entjprangen. Da der Staat dieſe 
Seite der Freiheitsfrage — die bei weitem wichtigite 
— pvolltommen überjah, war jeine Behauptung, et 
verteidige die fyreiheit jeiner Bürger, ein ebenſo 
ichnöder Hohn als die andre, dal er ihr Leben 
ficher ftelle. Ia, bei der ungebeuern Tragweite, welde 
die Sache beſaß, hätte man einen jhlimmeren Spott 
gar nicht treiben lönnen. 








Gleichheit. 


„Ich habe zwar davon gefprochen, daß die Mono- 
polifierung der Güter und der gewerblichen Produftion 
durch einzelne vor allem eine Gefahr für das Leben 
der übrigen in fich ſchloß, der man fich widerfeßen 
mußte; aber die hauptjächliche Wirfung des Syſtems 
war nicht etwa, daß das Leben der Maflen geradezu 
bebroßt wurde, jondern dab man fie durch den Mangel 
nötigte, fi ihr Leben auf Koften der Freiheit zu 
erfaufen. Das heißt, fie begaben ſich in die Dienſt— 
barkeit der befißenden Klaſſen und wurden ihre 
Knete, unter der Bedingung, dat man ihnen die 
Mittel zum Lebensunterhalt gewährleiftete. Obgleich 
men fortwährend wiele dur; Not und Mangel ums 
famen, jo legten die Reichen e8 feineiwens abſicht⸗ 
ih hierauf an. Am Tode der Leute war ihnen 


nit8 gelegen, denn jie bedurften unabläjjig der 


Dienitbarleit einer ganzen Schar menſchlicher Wefen, 





nidht nur um neue Güter zu produzieren, jondern auch 
ald der Werkzeuge ihres Vergnügend und ihres | 
' Zwang auf fie auszuüben ?” 


Luxus. 
„Ih brauche Sie nicht daran zu erinnern, weil 


es Ihnen ganz geläufig ift, daß das Induſtrieſyſtem 


der Welt vor dem großen Umfturz einzig und allein 
daranf berubte, dab fih die Maflen in die Knecht- 
Ihaft der Beſitzenden begaben, weil die wirtichaftliche 
Rot fie dazu drängte.“ 

„Das ift ganz richtig,“ ſagte ich, „die Klaſſe der 


Armen ftand im Dienft der Reichen, oder wie wir ' 
zu jagen pflegten, die Arbeit juchte Beihäftigung | 


beim Kapital; aber das war im neunzehnten Jahr- 
hundert ein ganz freiwilliges Verhältnis von jeiten 


de& Kncchts oder Arbeiterd. Die Reichen hatten nicht | 





die Macht, die Armen zu ihrem Dienft zu zwingen. | 
den Alleinbefik der Güter und des Produktions» 


Sie ftellten nur Diejenigen an, welche von felbft 
famen und fich anboten, ja jogar oft mit Thränen 


um Beichäftigung flehten. Wenn ein Dienft auf 


ſolche Weile begehrt wird, kann doch dabei von feinem 
ſehr viel von der fFreiheit des Vertrages, von dem 


Zwang die Rede fein.“ 


„Sagen Sie, Julian, baten denn die Reichen 
au um das Vorredht, einer des andern Knecht und | 
| dingungen. Wie heuchleriich war diejer Schein! Jeder 
' Vertrag, der zwiichen dem Sapitaliften, der Brot 
| hatte und es für fich behalten konnte, und dem Arbeiter 


Arbeiter jein zu dürfen?” 
„Bemwahre.* 
„Weshalb denn nicht?” 
„Weil natürlich feiner dem andern dienſtbar oder 
unterthänig fein würde, der es nicht nötig hätte.“ 
„Das läßt fih denken; aber weshalb ftrebten 





831 


die Furcht vor Mangel trieb die Armen fo weit, daß 
fie jih den Reichen zur Verfügung ftellten?” 

„So ungefähr.” 

„Und das joll ein freiwilliger Dienft jein? Meiner 
Anficht nach ist er auf feinerlei Wetje vom Zwangs- 
dient unterjchieden. Wenn man fagen kann, ein 
Menich thäte aus freien Stüden, wozu er ſich nur 
entjchließt, weil ihn die bitterfte Not treibt, dann hat 
e8 überhaupt nie eine Sklaverei gegeben. Alles, was 
ein Sflave thut, ift im Grunde immer nur die Wahl 
eines geringeren Uebels aus Furcht vor einem größeren. 
Nehmen wir einmal an, Julian, Ihnen oder einigen 
aus Ihrem Kreiſe gehörte der ganze vorhandene 
Vorrat an Wafler, Ehwaren, Kleidern, Sand oder 
induftriellen Betriebsanftalten in einem Gemeinweſen. 
Nicht wahr, wenn Sie dies Eigentumsrecht behaupten 
fönnten, jo würde ſchon dieje Thatiadhe allein die 
übrigen Glieder der Gemeinde zu Ihren Sflaven 
machen? Sie brauchten dazu gar feinen bejonderen 


„Wohl möglich.“ 

„Wenn Sie nun von jemand beichuldigt würden, 
Sie behandelten die Leute wie Leibeigene, und Sie 
verficherten dagegen, das jei durchaus nicht der Fall; 
alle fämen mit Freuden und küßten Ihnen die Hänbe, 
weil fie Ihnen Dienfte leiften dürften, um dafür 
Waſſer, Speije und ſtleidung zu erhalten — wäre das 
nicht Ihrerſeits eine jehr wenig ftihhaltige Abwehr 
der Beſchuldigung, daß Sie jih Sklaven hielten?“ 

„Sa, ohne Zweifel,“ 

„Und war das nicht genau dasjelbe Verhältnis, 
in dem der Kapitalift und Arbeitgeber zu den übrigen 
Gliedern des Gemeinweſens ſtand, jolange er fi 


mechanismus angeeignet hatte?” 
„Das gebe ich zu.” 
„Die Nationalölonomen jprachen zu Ihrer Zeit 


beiberjeitigen Uebereinfommen zwiſchen Wrbeitgeber 
und Arbeitnehmer über die aufzuftellenden Bes 


‚ gemacht wurde, der es brauchte, wenn er nicht jterben 


denn die Armen jo eifrig danach, den Weichen zu 
dienen, während die Neichen es mit Verachtung von | 


fih wiejen, einander zu dienen? Hatten die Armen 
eine jo große Liebe zu den Reichen ?* 

„Das nicht gerade.” 

„Weshalb denn jonft?“ 

„Nur aus dem Grunde, weil das die einzige Art 
war, wie fie ihren Lebensunterhalt verdienen konnten.“ 

„Das heißt, nichts als der Drud der Not oder 





| Armen mit Tod bedrohten. 


wollte, hätte jelbft von Ihren Geſetzen von Rechts 
wegen für ungültig erflärt werden müfjen. Er wurde 
ja aus Furcht vor dem harten Drud der Not, vor 
Hunger, Kälte und Nadtheit, abgeichloffen, die den 
Wer über die Dinge 
verfügt, welche die Menichen haben müffen, der ver- 
fügt aud) über die Menſchen, welche fie Haben müſſen.“ 

„Aber der Zwang der Not durch Hunger und 
Kälte,“ fagte ich, „geht Doch von der Natur aus. 
Sind wir denn nicht in gewiſſem Sinne alle Sflaven 
der Natur ?“ 


832 


Edward Bellamp. 


„Aber niht Sklaven andrer Menjchen. Darin ı oft aud) niedriger. Den Lohn des Sklaven verwandte 


liegt der ganze Unterſchied zwiichen Freiheit und 
Knechtſchaft. Heute dient feiner dem andern, aber 
alle ftehen im Dienfte des Gefamtwohls, an dem 
jeder feinen Anteil hat. Unter Ihrem Syſtem bejaßen 
die Reichen allein die Mittel, um die forderungen 
der Natur zu befriedigen. Das benußten jie und 
machten die Bedürfnifie der Armen zum Steden des 
Treiberd, ber fie zwang, der Natur den Zoll der 
Arbeit, nicht nur für fich jelbit, ſondern auch für die 
Reichen zu entrichten, ſamt dem Zufchlag für die nuploje 
Berſchwendung, die das Syitem mit jih brachte.“ 

„Nah dem, was Sie fagen, ift unfer Syſtem 
wenig beſſer als Sklaverei geweſen. Das ift doch 
ein hartes Urteil.“ 

„Es klingt hart — und wir wünſchen vor allem 
nicht unbillig zu erjcheinen. Laſſen Sie uns bie 
Frage einmal näher ing Auge fafjen. Ueberall, wo 
ein Menſch den andern zwangsweiſe ausnüßt, beitcht 
Stlaverei. Darüber, dab der Arme zu Ihrer Zeit 


für den Reichen arbeitete, weil ihn die NRotdurft dazu | 


drängte, find wir einig. Der Zivang war ftärler 
oder ſchwächer, je nach der Lage des Arbeitenden. 
Beſaß er ſelbſt einige Mittel, jo leiftete er nur Die 
leichteren Dienſte unter mehr oder weniger guten 
Bedingungen. Wer aber geringe oder gar feine 
Mittel hatte, mußte mit jedem Lohn zufrieden fein 
und alles thun, was verlangt wurde, mochte ed aud) 
noch jo mühevoll oder entwürdigend fein. Die größte 
Maſſe der Arbeiter litt unter ſehr hartem Zwang. 
Der Sklave hatte die Wahl, ob er für feinen Herrn 
arbeiten oder die Peitjche foften wolle. Der Lohne 
arbeiter wählte zwiichen dem Dienft des Arbeitgebers 
und dem Hungertod. In den alten, roheren Zeiten 
der Stlaverei mußten die Herren fortwährend wachen, 
damit die Sklaven ihnen nicht entilohen, auch lag 
ihnen deren Verjorgung ob. Ihr Syſtem war be= 
quemer. Sie machten die Natur zu Ihrem Fronvogt 
und verließen ſich darauf, daß fie Ihre Anechte zur 
Arbeit anhalten werde, 
direfter Zwang ausgeübt wurde, jtand immer auf 
dem Punkt, fi zu empören; bei dem Lohnarbeiter 
wurde durch indireften Zwang diejelbe Dienftleiftung 
erzielt, aber ſtatt fich gegen feines Herrn Obergewalt 
aufzuichnen, war er noch dankbar dafür, daß er ihm 
dienen durfte — darin lag der Unterſchied.“ 

„Aber,“ fagte ih, „der Arbeiter befam feinen 
Lohn und der Sklave erhielt nichts.” 

„Das beitreite ih. Der Sflave erhielt Unterhalt, 
Kleidung und Obdach. Da ein Arbeiter fih für 
jeinen Lohn mehr verſchaffen fonnte, war eine Selten« 
heit. Der Lohnſatz — außer in neuen Ländern, bei 
beionderen Umftänden und für geichidte Arbeiter — 
war nur jo bo, dak man gerade babei beſtehen 
fonnte, manchmal vielleicht etwas höher, aber ebenjo 





Der Sklave, auf den ein | 


der Herr für deffen Unterhalt, der Arbeiter beiorgte 
dies ſelbſt. In mancher Beziehung war das befſſer 
für den Arbeiter, in andrer nicht. Der Herr forgte 
meift Schon in feinem eignen Intereſſe dafür, daß 
der Sklave nebft Frau und Kindern nicht Mangel 
litt. Der Arbeitgeber aber, der für Leben und Ge— 
fundheit des Arbeiters nicht aufzulommen brauchte, 
fümmerte ſich auch nicht darum, ob er lebte oder 
ſtarb. Es hat niemald Sfiavenquartiere gegeben, 
die jo erbärmlih waren wie die Mietshöhlen der 
Lohnarbeiter in den fchmugigen Hintergafien, 

„Aber ein wejentliher Unterſchied beitand dad 
zu meiner Zeit zwiſchen dem Lohnarbeiter und dem 
Sklaven; erjterer konnte jeinen Brotherrn nad Be 
lieben verlajien und letzterer nicht.“ 

„Jawohl, aber diejer Unterſchied ſprach keineswegt 
zu Gunften des Lohnarbeiterd. Ueberall — außer 
in zweitweilig glüdlichen Ländern ohne dichte Be 
völferung — wäre der Arbeiter froh geweſen, ſein 
Recht, den Lohnherrn verlaſſen zu dürfen, gegen die 
Gewißheit auszutauſchen, daß diejer ihn micht fort 
fchidlen würde. Die Furcht, er könne die Gelegenheit 
zur Arbeit verlieren, — jeine Stelle, wie man & 
nannte — war das Schredgeipenit, das dem Arbeiter 
verfolgte. Wir fefen das wenigitens in den Büdern 
aus jener Zeit. Sind wir falich berichtet?“ 

Ich mußte zugeben, daß es jo geweſen jei. 

„Das Vorrecht, den Lohnherrn zu wechſeln,“ fuhr 
der Doktor fort, „hatte aber überhaupt wenig Wert 
für den Arbeiter, weil der Lohnſatz faft überall der 
nämliche war, er mochte gehen, wohin er wollte 
Selbft auf die Sinnesart der verſchiedenen Herren 
lam es nur wenig an, denn alle Beziehungen zwiſchen 
Arbeitgebern und Arbeitnehmern waren durch die Ge 
ſchäftsordnung ſtreng geregelt.” 

Noch gab ich mich nicht zufrieden. 

„Einen wirklichen Vorteil hatte der Lohnarbeitet 
aber doch über den Sklaven, den werden Sie zugeben 
müſſen: Er konnte ſich durch Fleiß und Tüchtiglel 
über ſeinen Stand erheben, konnte ſelbſt Arbeitgebet 
werden und ein reicher Mann.“ 

„Sie vergeſſen wohl, Julian, daß auch die that⸗ 
fräftigfien,, klügſten und anſtelligſten Sklaben ſich 
häufig loskauften oder von ihren Herren freigelaiten 
wurden? Im alten Rom ftieg der Freigelaſſene gan 
ebenjo oft zu Macht und Anjehen empor, wie der 
geborene Proletarier in Europa oder Amerifa ſich 
über jeinen Stand erhob.” 

Ich wußte nicht gleich, was ich dem Doktor hieran] 
erwidern jollte, und da er meine Verlegenheit jah, 
fuhr er fort: „ES iſt höchſt bezeichnend für bie ver: 
ichiedenen Gefichtspunfte unfrer Jahrhunderte, dab 
gerade die Möglichkeit, über feinen Stand empot- 
zufommen — die übrigens zu Ihrer Zeit für den 


Gleichheit. 


Arbeiter faum noch vorhanden war — in unfern 
Augen die ſcheußlichſte Seite Ihres ganzen Syſtems 
it. Wenn man dem Lohnarbeiter oder überhaupt 
dem Armen, um ihn mit feinem Los zu verjöhnen, 
die Ausficht auf fein Emporlommen vorhielt, was 
hieß denn das anders als ihm zu jagen: ‚Sei ein 
guter Sflave, dann wirft aud) du eigne Sklaven haben!“ 
Durch diefen Köder lodte man die gejchidteren Lohn 
orbeiter aus ihrem Kreife fort und heiligte den Verrat 
an den Brüdern, indem man ihn Ehrgeiz nannte. Ein 
chter Mann follte nur wünjchen, in die Höhe zu kom— 
men, um andre mit fi) emporzuziehen.“ 

„Eins werden Sie mir doch wenigftens zugeftehen,“ 
jagte ih. „Beim Sklavenſyſtem Hatte der Herr Macht 
über die Perſon der Sflaven, der Arbeitgeber konnte 
aber jelbft gegen den ärmſten feiner Knechte feine 
Gewalt üben.“ 

„Das ift auch wieder ein Punkt, der zu Gunften 
der Sklaverei ſpricht und fie uns in einem menid- 
liheren Lichte erfcheinen läßt als das Lohnſyſtem. 
Denn bie und dba der Zorn den Sflavenhalter 
übermannte und ihn jo weit fortriß, daß er feinem 
Sklaven ein Glied lähmte oder ihn zum Krüppel 
ihlug, jo waren doch ſolche Fälle jelten und wurden 
von der Öffentlihen Meinung verdammt, wenn auch 
nicht vom Gejeh. Aber unter dem Lohnſyſtem gab 
es nichts, was den Fabrifheren nötigte, Leben und 
Gliedmaßen feiner Arbeiter zu fchonen, Er fühlte 
and feine PVerantwortlichkeit, weil die Bebürftigen 
bereitwillig und fogar mit dem größten Eifer um 
des Broterwerb3 willen die gefahrvollften und müh— 
ieligiten Arbeiten übernahmen, Wir lejen, daß in 
den Vereinigten Staaten alljährlich wenigſtens zwei— 
malhunderttaujend Männer, Weiber und Finder im 
Dienft der Induſtrie ums Leben kamen, nicht weniger 
als vierzigtaufend allein im Cijenbahndienft. Wie 
viele indirekt durch die ſchädlichen Wirkungen jchlechter 
induftrieller Einrichtungen zu Grunde gegangen find, 
bat man wohl niemals feitzuftellen verſucht. Bei 
welchem Sklavenſyſtem ift jemals ein jolcher Maffen- 
verluft von Menfchenleben zu verzeichnen geweſen? 

„Noch mehr — wenn der Herr feinen Sklaven 
ihlug, jo that er es im Zorn und vielleicht nicht 
ganz ohne Urſache; aber das Hinſchlachten der Lohn 
arbeiter gejchah bei kaltem Blut und aus feinem 
andern Beweggrund von feiten der Sapitaliften, 
welde die Verantwortung trugen, als um des Ge- 
winnes willen. 

„Als eine der empörendften Seiten der Sflaverei 
hat man es ftet3 betrachtet, daß die Sklavinnen den 
Lüften ihres Herrn millenlos preißgegeben waren. 
Die ftand es aber in diefer Beziehung während ber 
Hertſchaft der Reihen? Wir lefen von ganzen Scharen 
von Meibern, bie zu jener Zeit, durch die Armut 
gezwungen, als Buhldirnen ihren Unterhalt juchten. 

Kus fremden Zungen. 1897. II. 18, 


833 


Mir lejen, daß ihre Zahl fi) in den großen Städten 
auf dreißig bis vierzigtaufend belief. Ja dieſe 
Mädchenopfer, weldhe die ärmeren Klaſſen der Wolluft 
derer brachten, die dafür bezahlen fonnten, nahmen 
ſolche Ausdehnung an, daß die grauenvolliten Be— 
richte aus dem Altertum kaum ähnliche Scheußlich— 
feiten aufweijen. Sage id) etwa zu viel, Julian?“ 

„Sie jprehen nur von Thatjachen, die mir mein 
Lebenlang ins Angefiht geftarrt haben,” erwiderte 
ich. „Doch ſcheint es, daß erft ein Mann aus einem 
andern Jahrhundert fommen mußte, um mir Har 
zu machen, was fie zu bedeuten hatten.“ 

„Weil Sie und Ihre Zeitgenoffen das alles immer 
vor Augen jahen, war Ihnen die Fähigkeit abhanden 
gelommen, ein Urteil darüber zu fällen. Diefe Dinge 
lagen Ihnen zu nahe, Sie fonnten ſich feinen Ueber- 
blid verſchaffen. Jetzt find Sie weit genug davon 
entfernt, um fie Har zu erkennen und ihre Bedeutung 
zu begreifen. Je länger Sie unfern heutigen Stand» 
punkt einnehmen, um fo befjer werden Sie veritehen 
lernen, daß das Empörendfte bei dem Zuftand der 
Menſchen vor dem großen Umſturz nicht der phufifche 
Mangel war, den fie leiden mußten, und bei bem 


“ganze Mailen infolge der ungleihen Güterverteilung 


wirklich Hungers ſtarben. Weit ſchlimmer noch war 
es, daß durch die indirefte Wirkung dieſer Ungleich— 
heit faſt das gejamte Menſchengeſchlecht in die ent- 
würdigende Knechtichaft einer Minderzahl von Mit- 
menjchen geriet. Uns erſcheint die alte Gejellichafts- 
ordnung noch verderblicher für die Freiheit als für 
das Leben. Selbit wenn fie im flande gewejen wäre, 
allen das Dafeinsredht zu ſichern, indem fie ihnen 
reichlich Unterhalt bot, jo hätte fie doch zerftört werben 
müfjen. War doch die Freiheit ein Ding der Inmöglich- 
feit, folange infolge der ungleichen Güterverteilung und 
des Privatbejihes der Produftionsmittel, die Menſchen, 
welche ihr tägliches Brot verdienen mußten, vom Be» 
lieben ihrer Mitmenfchen abhingen.“ 


XIII. 
Das Privatlapital, ein Diebſtahl am Rationalvermögen. 


„Sch jehe, dak Edith diefe trodenen Nuseinander- 
ſetzungen recht jatt hat,” fuhr der Doktor fort. „Sie 
meint, e8 wäre längjt an der Zeit, daß wir vom ab» 
ftraften Reichtum zum fonfreten übergingen, wie er 
ſich im Inhalt Ihres Kaſſenſchrankes darftellt. Lange 
will ich die Geſellſchaft auch nicht mehr aufhalten; 
erlauben Sie mir nur noch ein paar Worte: Wir 
haben bie Trage, melde Ihre zurüdzuerftattende 
Million betrifft, zwar nur im Scherz aufgeworfen, 
aber fie fteht in jo genauem Zufammenhang mit dem 
Haupt» und Grundprinzip unjrer Geſellſchaftsordnung, 
daß ich Ihnen mwenigftend eine oberflähliche dee 
von der heutigen Anschauung über Die Güterverteilung 
geben möchte. 

105 


834 


„Der Hauptunterfchted zwijchen dem neuen und 
dem alten Gefichtspunft ift Ihnen jet ganz geläufig. 
Die alte Moral betrachtete die Frage, was ein Menſch 
rechtmäßig befiken dürfe, jo, als wäre ihr Anfang 
und Ende das Verhältnis des Individuums zu den 
Saden. Sachen haben einem vernünftigen Weſen 
gegenüber feine Rechte, und daher ftand auch bem 
Individuum nichts im Wege, wenn es fi zum 
unbeichränkten Befiger aller Dinge machte, die ihm 
erreichbar waren. Aber diefe Anſchauung ließ eines 
vollftändig unbeadhtet: die folgen, welche aus einer 
ungleidyen Verteilung der materiellen Güter entftehen 
müſſen in einer Welt, in der das Leben jelbft und 
jeder Lebenszweck eines Menſchen von feinem Anteil 
an diefen Gütern ganz unzertrennlich ift. Das heißt 
nichts anderes ald: Die alte jogenannte Moral 
wußte nichts von der moraliichen Seite der Güter- 
verteilung — von ihrer Wirkung auf die Beziehungen 
der Menichen zu einander. Und gerade dieje Er— 
wägungen find ed, auf denen unfre heutige Eigen- 
tumsmoral beruht. Alle Menjchen haben von Natur 
den gleihen Wert und die gleihen Rechte; daraus 
folgt, daß fein Syſtem der Güterverteilung eine 
Berechtigung hat, welches dieſe Gleichheit nicht be= 
rüdfihtigt und ficher ftelt. Man wird Ihnen ge 
wöhnlich diefes Prinzip ala Grundlage unfrer wirt 
ſchafllichen Gleichheit nennen, aber wir haben nod 
andre Gründe, die genügend beweifen würden, daß 
die gleiche Verteilung der induftriellen Erzeugnifie 
das einzig Richtige und alles andre Diebitahl ift. 

„Der Hauptfaltor bei der Gewinnung von Geld 
und Gut ift jetzt unter zivilifierten Böllern die Ge: 
noſſenſchaſt, der Mechanismus gemeinjchaftlicher Arbeit 
und eines Austauſches, bei dem hundert Millionen 
Individuen für die Nachfrage nad) ihren Produkten 


forgen und fi) durch ihre Arbeit jo ergänzen, daß | 
das Hervorbringungd und Verteilungsſyſtem einer | 
Nation, ja der ganzen Welt, ein großer Mechanis- 


mus if. Das bewährte ſich ſchon zur Zeit des 
Privatlapitals, troß der großen Kraftverſchwendung 
und den Reibungen, welche die damaligen Methoden 
mit fi brachten. Heutzutage, nun der genojjen- 
ſchaftliche Mechanismus fih volllommen glatt ab» 
wickelt und jedes Gramm Energie aufs befte verwertet 
wird, tritt dieje Wahrheit noch viel deutlicher zu Tage. 
Man erfieht leicht, wie viel die Juduſtrie der genofien« 
Ichaftlihen Organifation zu verdanfen hat, wenn 
man den Mert deifen, was ein Arbeiter in Verbindung 
mit vielen andern produzieren fann, mit dem ver— 
gleicht, was er vereinzelt leiften fünnte, Wenn er 
mit feinen Gefährten zujammen arbeitet, Tann er 
und fünnen fie, mit Hilfe der genoſſenſchaftlichen 
Organiſation, genug hervorbringen, um der ganzen 
Gejellihaft den größten Mohlftand und alle edeln 
Lebensgenüſſe zu verichaffen. Arbeitet er aber ver— 


höchſtens einen Pierteldollar verdienen. 





Edward Bellamy. 


einzelt, dann darf er — wie die Erfahrung zeigt — 
von Glüd fagen, wenn er fich ſelbſt motdürftig er: 
halten Tann. Ich glaube, man hat berechnet, daß 
bei uns in Amerifa der durchſchnittliche Erwerb eine: 
Arbeiters täglich fünfzig Dollars beträgt; wenn der- 
jelbe Mann für ſich allein arbeitete, würde er gewiß 
Nun jagen 
Sie mir einmal, Julian, wen gehört die genofien- 
Ihaftliche Organifation, diefer große Mecdaniämu: 
menjchlicher Zujammenarbeit, weldyer die Produktions: 
fähigfeit der Menſchen mehr als zweihundertmal 
vergrößert?“ 

„Difenbar fann er feinem einzelnen angehören,‘ 
erwiderte ih, „sondern muß im gemeinſchaftlichen 
Beſitz der ganzen menſchlichen Gejellichaft jein, Sie 
allein hat ein Recht auf die Erbichaft, melde un 
Verftand und Erfindungsgeift hinterlaſſen haben, 
und fie allein kann für den unausgeſetzten, täglichen 
Wettbewerb forgen, der es möglid) macht, die Erb 
ſchaft zu verwerten.“ 

„Ganz recht. Die genoſſenſchaftliche Organifation, 
mit allem was fie giebt und was fie möglid madt, 
ift der gemeinſchaftliche, unteilbare Beſitz aller. Wen 
gehört alfo von Rechts wegen jener zweihundertfade 
Gewinn, der, dank der genoſſenſchaftlichen Organi- 
jation, die den Wert der Arbeit jedes einzelnen erhößt, 
uns zu gute fommt?” 

„Natürlich der ganzen Gejellihaft gemeinfam — 
dem Nationalſchatz,“ antwortete id. 

„Bor dem großen Umſturz,“ fuhr der Dolter 
fort, „hatte man wohl eine unbeftimmte Vorftelung 
von einem ſolchen Nationalſchatz, welcher der Geltl: 
ſchaft gemeinfam gehörte; aber man machte ſich dot 
feinen Begriff von feiner Größe. Niemand war ihm 
zum Hüter beftellt und niemand forgte dafür, daß 
er eingefordert und zum allgemeinen Bejten verwendet 
wurde, Erjt mußte die Induſtrie organifiert, ein 
nationales Wirtſchaftsſyſtem aufgeftellt werden, che 
der Nationalſchatz geihüßt und richtig verwaltet 
werden konnte. Bis dahin diente er allen zum Raube 
und wurde beruntreut und vergeudet. Abenteurer 
bemädhtigten fi der Staatsmaſchine und bereicerien 
ſich durch die Abgaben des Volkes, ftatt daß der 
Mehaniämus des Staates das Wolf bereichert hätte, 
Wenn man die Folgen des Umſturzes bejchreiben 
wollte, fönnte man jagen: Das ganze Bolt nahm 
Beſitz von dem fozialen Mechanismus, der immer 
jein Eigentum gewejen war. Fortan follte er ein 
Baum fein, deſſen Früchte zu gleichen Zeilen von 
den rechtmäßigen Befigern geerntet würden und nid! 
von Räubern. 

„Sie verftehen gewiß," fuhr ber Doftor nad 
einer Weile fort, „wie diefe Art der Produftion dazu 
führen muß, die Bedeutung der individuellen Tüd- 
tigleit des Arbeiters zu verringern. Wenn ein Mann 


Gleichheit. 


heutzutage mit Hilfe des ſozialen Mechanismus 
Produkte im Mert von fünfzig Dollars liefern fann- 
während er ohne Genoſſenſchaftsorganiſation nur für 


einen Vierteldollar produzieren würde, jo geht daraus | 


bervor, dab jedesmal von fünfzig Dollars neununde 
vierzig dreiviertel Dollars dem allgemeinen Fonds, 
zu gleihmäßiger Berteilung, gutgejchrieben werden 
müſſen. Die induftrielle Tüchtigkeit von zwei Männern, 
die außerhalb der Genoſſenſchaft arbeiteten, mag ji 
verhalten haben wie zwei zu eins — das heißt, 
während der eine täglich für einen Viertelbollar produ⸗ 
zierte, konnte der andre nur für zwölf und einen 
halben Gent produzieren. Daß war unter den da» 
maligen Berhältnifien ein großer Unterjchied, aber 
zwölf und ein halber Gent ift ein jo Feiner Teil von 
fünfzig Dollars, daß er faum der Erwähnung lohnt. 
Verfichen Sie mich recht: der Unterſchied in der 
perfönliden Tüchtigfeit der beiden Männer blieb ganz 
derielbe, er hatte aber faft feine Bedeutung mehr, 
wegen des außerordentlich großen Zuwachſes, den 
die Produftionäkraft beider durch die ſoziale Organi- 
jation erhielt. Oder, nehmen wir ein andres Beiſpiel: 
Ehe das Sciebpulver erfunden wurde, Tonnte es 
vorfommen, dab ein Mann im Kampfe jo viel wert 
war wie zwei. Auch ſpäter blieb der Unterſchied 
wwiſchen den Individuen beftehen, aber ein erbrüdender 
Faktor, die Feuerwaffe, machte fie in Wirklichkeit 
alle gleih. Bei Feuerwaffen fällt mir noch ein 
beſſeres Beijpiel ein: Zwiſchen der Wehrkraft der 
einzelnen Soldaten außerhalb der Linie ift gewiß 
ein großer Unterſchied; aber wenn fie in Reih' und 
Glied find, verleiht die Angriffsftelung ihnen fo viel 
größere Kraft, daß die Verſchiedenheit der Individuen 
vollftändig verichwindet. Nehmen Sie an, daß diefe 
Formation zu der Wehrkrajt jedes Soldaten zehn 
binzufügt; dann würde der Mann, welder außerhalb 
der Linie fich zu jeinem Kameraden verhält wie zwei 
zu eins, jobald beide in Reih' und Glied ftehen, fich 
zu ihm verhalten wie zwölf zu elf — ein unbebeutender 
Unterichied. 

„sh brauche Ihnen kaum zu fagen, Julian, 
welche Bedeutung das Prinzip des Nationalichabes 
für die wirtichaftliche Gleichheit hatte, al$ das In— 
duſtrieſyſtem verftaatlicht wurde. Aus diefem Prinzip 
ging Mar hervor, daß es der Mühe nicht lohnen 
würde, die verſchiedenen Leiftungen und Anjprüce 
an das Gejamtvermögen abzuſchähen, auch wenn es 
möglich wäre, fie annähernd richtig zu berechnen, 
Selbit der hervorragend begabte Arbeiter, der am meijten 
dabei gewinnen fonnte, würde noch mehr verloren 
haben, wenn er auf die gefteigerte Leiftungsfraft des 
Wirtihaftsmehanismus verzichtet hätte, der auf dem 
Gefühl der Solidarität unddes Gemeinfinns beruht und 
aus dem Bewußtjein einer volllommenen Gemeinfam- 
teit der Intereſſen aller Arbeiter entjprungen iſt.“ 








8335 


„Doktor,“ rief ih aus, „diefer Nationaljchat 
gefällt mir ausgezeichnet, Nun verjiche ich unter 
anderm auch, wie e8 möglich geweſen ift, mit dem 
Lohnbegriif jo vollftändig aufzuräumen, ber doch zu 
meiner Zeit in diefer oder jener Form die ganze 
Wirtſchaftslehre beherrichte. Ihr jeid gewöhnt, dag 
Gejamtvermögen als die Duelle eures Reichtums 
anzufehen, und nicht eure eigne tägliche Anftrengung. 
Ihr jeid aus Proletariern Kapitaliften geworden!“ 

„Gewiß, die große Ummälzung bat uns alle zu 
Rapitaliflen gemacht,“ fagte der Doltor, „und die 
Dividende ift an Stelle der Bejoldung getreten. 
Unfer Lohn ift allein die Ehre. Bon unjerm Stand» 
punft aus, der annimmt, daß der wirtſchaftliche 
Mechanismus allen gemeinfam gehört, und daß die 
ganze Gejellihaft ein gleiches Anrecht an feine Pro- 
dufte hat, nimmt es fich beinahe fomijch aus, wie 
Ihre Zeitgenoffen fich ftritten und abmühten, um 
genau herausjubelonmen, wie viel oder wie wenig 
Lohn dieſes oder jenes Individuum und dieje oder 
jene Gruppe verdiente. Glauben Sie mir, lieber 
Julian, wenn der gejchidtefte Arbeiter auf feine 
eignen Produkte angetwiefen wäre und auf jede Ge— 
noſſenſchaft verzichtete, würde er nicht mehr zu ver- 
jehren haben, als ein halbverhungerter Wilder, Bei 
uns hat jeder nicht nur ein Anrecht auf jeine eignen 
Produlte, fondern auf jehr viel mehr — nämlich 
auf feinen Anteil an der Gefamtproduftion; aber er 
bat dies Anrecht nit nah dem Raubſyſtem, das 
bei euch galt und durch welches einige zu Millionären 
und andre zu Sklaven wurden, jondern unter den» 
jelben Bedingungen wie alle feine Mitfapitaliften.* 

„Dan hat aud zu meiner Zeit ſchon davon ge= 
iprochen, daß das Privateigentum durch die ſoziale 
Organifation eine nicht erworbene Vergrößerung 
erhält,” ſagte ich, „aber ſoviel ich mich erinnere, be» 
zog ſich das nur auf Grundbeſitz. Es gab Reforma— 
toren, die behaupteten, die Geſellſchaft hätte das Recht, 
fich durch Befteuerung den erhöhten Wert von Grund 
und Boden anzueignen, der durch joziale Faktoren, 
wie Zunahme der Bevölferung und der Kultur ent» 
ftanden fei. Aber damals jchien man zu meinen, 
der Grundjaß ließe fi nur auf Landbefig anwenden.“ 

„sa,“ jagte der Doktor, „und es ift jonderbar, 
daß fie nicht weiter gingen, da fie den Schlüfjel zu 
dem Syftem jchon in der Hand hielten.“ 


XIV. 


Wir jehen meine Sammlung von Geſchirren an. 


Man hatte elektriiche Drähte zur Beleuchtung und 
Heizung in das Gewölbe gelegt, jo da der Raum 
ebenjo warm und behaglih war wie vor Hundert 
Jahren, als ich noch darin ſchlief. Ich fniete vor 
dem Rafjenjchranfe und fing glei; an, die Stellicheibe 


836 


zu dreben, während meine Gefährten fi in großer 
Spannung über mich beugten. 

Hundert Jahre waren vergangen, jeit ich den 
Schrank zum lehtenmal geſchloſſen hatte, und unter 
gewöhnlichen Umftänden hätte ich in dieſer Zeit die 
Stellung des Schlofjeß zwei oder dreimal wieder ver= 
geſſen können; aber alles war mir jo deutlich im 
Gedächtnis geblieben, als wenn ich fie erit vor vier- 
zehn Tagen felbft erdacht hätte. Für mein Bewußtſein 
war ja auch jeitdem fein längerer Zeitraum verftrichen, 

„Sie ſehen,“ ſagte ih, „daß ich diefe Scheibe jo 
lange drehe, bis der Buchſtabe K dem Buchſtaben R 
gegenüberfteht. Dann drehe ich die andre Scheibe, 
bis die Zahl 9 diefelbe Richtung hat. Seht ift der 
Schrank offen; ich brauche nur noch an diefem Knopf 
zu drehen, der die Riegel zurüdichiebt, und die Thür 
geht auf, wie Sie jehen.” 

Sie fahen aber für den Augenblid nichts, denn 
ber Knopf ließ fi) nicht drehen, das Schloß ſprang 
nicht auf, und doch wußte ich beſtimmt, daß ich die 
Zeichen richtig geftellt Hatte. Vielleicht war einer der 
Hemmbolzen nicht herabgefallen. Vergebens verjuchte 
ih immer wieder, die Stellſcheibe zu drehen; ich 
ſchlug darauf und jchlug auf die Thür — das Schloß 
wollte nicht nachgeben. Offenbar hatte es ein jchlechteres 
Gedächtnis als ich und erinnerte ſich nicht mehr, wie 
es aufging; oder, was wahrjcheinlicher war, das Del 
hatte ſich mit der Zeit jo verhärtet, daß es ein 
Hindernis bildete. Berroftet fonnte das Schloß nicht 
fein, denn die Luft im Gewölbe war ja vollfommen 
troden — ſonſt hätte ich doch nicht am Leben bleiben 
fünnen. 

„Es thut mir leid, daß ich Ihre Erwartungen 
nicht erfüllen kann,” ſagte ih. „Wir werden wohl 
in die SHauptniederlage von Kaflenjchränfen nad) 
einem Schloſſer hidden müljen. Jch weiß noch genau, 
in welcher Straße fie früher war, aber feitdem wird 
das Gejchäft wohl umgezogen fein.“ 

„Es ift nicht nur umgezogen,” ſagte ber Doktor, 
„londern ganz verichwunden. Im hiſtoriſchen Muſeum 
giebt es Schränke wie diefen; aber ich habe nie ge= 
wußt, wie man fie öffnet. Die Erfindung ift wirklich 
Schr ſinnreich.“ 

„Und Sie meinen im Ernft, daß es jeht feinen 
Schloſſer mehr giebt, der diefen Schranf aufmachen 
könnte ?* 

„Jeder Maſchinenbauer fann den Stahl zer- 
Ichneiden wie Pappe,” erwiderte der Doltor, „aber 
ich glaube faum, dab e8 auf der Welt noch einen 
Menichen giebt, der das Schloß regelredht öffnen 
fünnte. Es giebt natürlich auch bei uns einfache 
Schlöſſer, damit Kinder nicht Unheil anrichten, und 
man für ſich fein fann; aber feine, die darauf be— 
rechnet find, vor Arglift oder Gewalt zu fchüßen. 
Die Kunſtſchloſſerei it ausgeſtorben.“ 


Edward Bellamp. 


Edith, die vor Ungebuld brannte, den Schrant 
offen zu ſehen, rief jetzt dazwiſchen: „Wenn das 
zwangzigite Jahrhundert unfähig ift, ein Nätiel zu 
löjen, das jedem geichidten Einbrecher des neunzehnten 
eine Kleinigkeit war, dann jollte es ſich ſchämen!“ 

„Vom Standpunft einer ungeduldigen jungen 
Dame aus mag das richtig fein,“ fagte der Doktor. 
„Uber wir dürfen nicht vergefien, daß Kunſtfertig⸗ 
feiten, die nicht mehr geübt werden, oft Denkmäler 
des menjchlichen Fortſchritts find, weil fie ſich auf 
vergangene Beichränfungen und Bedürfniſſe beziehen. 
Wir haben feine Schloſſer mehr, weil es Teine Die 
giebt. Der arme Julian mußte e8 ſich ſauer werden 
lafien, feine Papiere in dem Schranf ficher zu ver- 
wahren, denn wenn fie verloren gingen, war er ein 
Bettler. Statt Herr über viele zu fein, gehörte er 
dann zur Dienerſchar der wenigen, und vielleiht 
wäre er jelbft zum Einbrecher geworden. Kein Wunder, 
daß damals die Schloifer viele Arbeit hatten. Aber, 
wer braucht fie bei uns? Geſetzt auch, daß ein Menſch, 
der einer Gemeinjchaft angehört, in der alle ſich dei 
gleichen Wohljtandes erfreuen, dennoch Luft hätte, 
fremdes Gut an ſich zu bringen — wo findet er 
etwas, das er ftehlen könnte, um es zu verlaufen? 
Unfer Reichtum befteht nur darin, daß und ein 
Anteil am Kapital und der Einnahme der ganzen 
Nation garantiert if. Die Garantie bezieht hd 
auf unjre Perfon und kann ums nicht weggenommen 
und verkauft werden; denn jeder wird mit diefem 
Unrecht geboren, und nur der Tod fann es ihm 
rauben, Sie jehen aljo, daß Kaſſenſchrankfabrilanten 
und Schlofjer für uns ſehr unnüße Leute wären.“ 

Während wir jprachen, hatte ich immer men 
Verſuche mit der Scheibe angejtellt in der Hoffnung, 
das widerjpenftige Schloß doch nod) zum Gehorfam 
zu zwingen. Da wurden meine Bemühungen plöß 
fi) duch ein leiſes Knarren belohnt — die Thür 
ging auf, 

„Pfui!“ rief Edith, als die eingefchlofjene dumpfe 
Luft herausſtrömte. „Deine Mitmenjhen thun mir 
leid, wenn fie das einatmen mußten !* 

„Jedenfalls ift es wohl der einzige Reſt von 
ſolcher Luft, der noch übrig iſt,“ bemerkte der Doltor. 

„Du meine Güte!“ rief Frau Leete, „das ift ja 
innen ein lächerlich Heiner Raften gegen die anſpruchs- 
volle Außenfeite!* 

„Ia," jagte ih. „Die diden Wände mußten 
nit nur vor Einbrechern jhüken, jondern auch vor 
Teuer — und übrigens jollte ich meinen, daß feuer: 
jejte Schränfe jegt noch ebenfo nötig find wie früher.‘ 

„Es giebt ja feine Feuersbrünſte mehr, außer in 
ganz alten Gebäuden. Das Volk kann ſich dielen 
Lurxus nicht mehr geftatten, ſeitdem es gemeinschaftlich 
baut; denn jede Zerflörung von Eigentum bedeutet 
einen Verluft für die ganze Nation. Unter der 


Gleichheit. 


Herrichaft des Privatfapitals konnte man den Verluft 
in mancherlei Weije auf andre Schultern jchieben. Die 
Feuerverfiherung mußte ihn tragen — jetzt verfichert 
ich die Nation jelber.” 

Ich öffnete die-innere Thür des Schranfes, nahm 
mehrere Schubladen heraus, die mit Hypothelen und 
andern Wertpapieren gefüllt waren, und leerte fie 
alle auf den Tiſch aus, 


„It das dein Reichtum? Diefe umanfehnlicen 


Papiere?” fragte Edith, offenbar jehr enttäujcht. 

„Richt die Papiere jelbft, aber was fie darftellten,“ 
ſagte id. 

„Und was war denn das?“ fragte jie. 

„Der Befit von Land, Häufern, Mühlen, Schiffen, 
Eifenbaßnen und allerhand andern Dingen,“ erwiderte 
ih und verfuchte nach beiten Kräften, ihr und ihrer 
Diutter die Bedeutung von Renten, Zinjen, Gewinn« 
anteilen und Dividenden zu erklären, aber ihre Ge— 
fihter jahen jo verfländnislos aus, dab ih am Er- 
folg meiner Bemühungen zweifelte. 

Der Doktor hatte die Papiere inzwifchen mit dem 
Eifer eines Altertumforfchers fiubiert; jetzt blidte er 
auf und ſagte lachend: 

„I fürchte, Julian, Sie find auf falſchem Wege. 
Schen Sie, bei der Vollswirtſchaft Ihres Jahr— 
hunderts handelte es ſich um Sachen, jeht handelt es 
ſich um lebendige Wefen. Es giebt nichts, was euren 
Renten, Zinſen und andern finnreichen finanziellen 
Erfindungen entipräche; dieje Wörter haben nur 
noch für Sprachforſcher eine Bedeutung. Wenn Sie 
wollen, daß meine Frau und Edith Sie verftehen, 
müfen Sie jene Wertbezeihnungen fo überjegen, daf 
fie ih auf Männer, rauen, Kinder und ihr 


Verhältnis zu einander beziehen. Würden Sie es | 


übel nehmen, wenn id) verjuchte, den beiden Die 
Sache etwas klarer zu machen?“ 

„sh würbe Ihnen großen Dank wiſſen,“ ant« 
wortete ih. „Vielleicht geht mir dann auch ein Licht 
darüber auf.” 

„Bir werden alle die Beihaffenheit und den 
Bert diefer Dokumente weit beijer verſtehen,“ fagte 


der Doktor, „wenn wir nicht von Nechtätiteln auf | 
Güter, Fabrifen, Bergwerte, Eijenbahnen und fo | 
weiter ſprechen, ſondern einfad) jagen, daß die Bes | 
Über diefer Titel ein Necht auf gewille Gruppen von | 


Männern, Frauen und Kindern hatten, die an den 
verichiedenen Orten Iebten. Dem Namen nad) er» 
Närten dieſe Titel, wie Julian bemerkt hat, nur fein 
Anteht auf Sahen; fie erwähnten gar nichts von 
den Männern und frauen. Die Menjchen gehörten 
jedod zu den Gütern, den Majchinen und verjchie- 


denen andern Dingen ; ihre Lebensbebürfnifle feffelten | 


fie an diefe Sachen, und erft durd) ihre Arbeit bes 
famen diejelben einen Wert.” 
„Hätte ed nicht — wie aud) ftilljchweigend an— 


837 


genommen wurde — Menfchen gegeben, die bereit 
waren, für den Befifer zu arbeiten, nur um im 
Lande wohnen zu dürfen, jo wären dieſe Urfunden 
und Hypotheken gänzlich wertlos geweſen. Ebenjo 
ift es mit den Fabrikaltien; man dachte dabei nur 
an Waſſerkraft und Maſchinen, und fie hätten doch 
feinen Wert gehabt, wenn nicht Taujende von Men—⸗ 
ſchen durch ihre Lebensbebürfniffe jo unlöslich mit 
diejen Majchinen verbunden gewefen wären, ala hätte 
' man fie feftgeichmiedet. Und die Bergwerlsattien ? 
Wären nit Scharen von Unglüdlichen durch den 
Mangel dazu verdammt worden, ſich lebendig be» 
graben zu laſſen, jo hätten diefe Papiere nicht den 
geringften Wert gehabt; aber jene Armen find frei- 
lic nicht darin erwähnt, Daß man es nicht für 
nötig Hielt, die Arbeiter im Feld, am MWebftuhl und 
in den Bergwerfen aufjuzählen und bei Namen zu 
nennen, iſt an und für ſich ſchon jehr bezeichnen. 
Zur Zeit der Sklaverei hatte jeder Schwarze einen 
Namen und feine befonderen Kennzeichen, damit man 
ihn zurüdbelommen konnte, wenn er entflohen wäre, 
und die Größe des Verluftes fich feftjtellen ließ, wenn 
er ſtarb. Nber bei den Sklaven, die dem Befiger 
biefer Urkunden gehörten, war feine Gefahr, daß fie 
durch Flucht oder Tod verloren gingen, Sie flohen 
nicht, weil es für fie nichts Beſſeres auf Erden gab, 
| und weil fie dem Syſtem, das fie zur Fronarbeit 
verdammte, doch nicht entgehen konnten, denn es um— 
Ipannte die ganze Welt. Und wenn jie jtarben, hatte 
der Beſitzer feinen Verluſt; es gab ja viele andre, 
die mit Freuden an ihre Stelle traten. Wie unnüh 
wäre e& gemwejen, fie näher zu bezeichnen, 

„Heute morgen am Frühftüdstiich," fuhr der 
Doktor fort, „habe id auseinandergeiekt, daß 
man heutzutage das Wirtſchaftsſyſtem des Privat- 
lapitalismus — der die Hauptmaſſe aller Erzeugniffe 
und die Erwerbäthätigfeit der ganzen Welt mono» 
polifiert — als eine Knechtung des Volles anfieht, 
das durch den Drud der Not gezwungen wird, fi 
unter da& Joch der befigenden Klaſſe zu beugen, die 

| durch Polizei und Soldaten ausreichend gejchüßt ift. 
Nun fommen mir diefe Dokumente gerade recht, um 
Ihnen zu erklären, auf wie geichidte Weife die vers 
ſchiedenen Arbeitergruppen zum Dienft der Kapita— 
liften organifiert waren. Dan fann, wenn ich jo 
jagen darf, jedes dieſer Wertpapiere als ein Joch 
betradhten, mit deſſen Hilfe das Voll, von der Not 
gebändigt und gezähmt, an den Wagen der Kapita— 
liften geipannt wurde, 

„Zum Beiipiel finde ich hier ein Paket Pfand- 
verjchreibungen auf Güter in Kanſas. Nun wohl — 
mit Rüdjicht auf diefe Urkunden haben eine Anzahl 
| Pächter dort unausgefeht für den Beſitzer derjelben 
‚ gearbeitet. Bielleicht Haben weder fie ihn jemals 
geſehen noch er fie, und troßdem waren dieſe Pächter 











838 


fo gewiß und wahrhaflig feine Leibeignen, als wenn 
er mit der Peitjche neben ihnen geftanden hätte, ftatt 
in feinem Zimmer in Bofton, New Mork oder London 
zu ſihen. An ein ſolches Pfandjoch pflegte man die 
aderbauende Bevölferung anzuichirren. Gegen Ende 
des neunzehnten Jahrhunderts trugen es faſt alle 
Heinen Pächter des Weſtens. Nicht wahr, Julian? 
Sagen Sie, ob ich unrecht habe?“ 

„Alles verhielt ſich genau ſo,“ antwortete ich. 
„Seht fange ich an zu begreifen, wie es mit meinem 
Reichtum beichaffen war.“ 

„Nun wollen wir das andre Paket anichen,” 
fuhr der Doktor fort. „Ad jo! das find Aftien von 
Baummollipinnereien in NeusEngland. Dieje Art 
Joch wurde hauptfählih von Frauen und Rindern 
getragen. &3 gab Joche von jo verjchiedener Größe, 
daß ſelbſt Knaben und Mädchen von elf und zwölf 
Jahren hineinpakten. Man pflegte zu fagen, daß 
nur durd die fait foftenloje Arbeit der Kinder ein 
Reingewinn in diefen Spinnereien erzielt wurde, der 
fie zu einem einträglichen Beſitz machte. Ein großer 
Teil der Bevöllerung von Neu-England wurde in 
zartem Kindesalter unter dies Joch gezwungen, 

„Bier haben wir eine etwas andre Art Papiere: 
Eifenbahn-, Gas- und Wafjerleitungsaltien. Das 
war ein allgemeines Joch, durd das nicht eine bes 
fondere Klaſſe von Arbeitern, jondern ganze Gemein« 
den vor den Wagen des Eigentümers geipannt wur» 
den, und ihm Knechtsdienſte leiften mußten. 

„Und hier haben wir endlich das allerjchwerfte 
Joh): die Staaisichuldenverfhreibungen. Durd das 
Dolument, welches ich in der Hand halte, wurden 
fiebzig Millionen Menfchen an die Kutfche des Be— 
fißers dieſer Schuldverichreibungen gefeilelt und, was 
das Schlimmfte war, die Regierung jelbjt war bier 
der Kutſcher und jedes Aufbäumen gefährlid. In 
den andern Geſchirren wurde ſehr viel geſtampft und 
hinten ausgefchlagen, jo daß die Kapitalilten oft 
Unbequemlichfeiten hatten und zeitweije die Arbeit 
der Menſchen entbehren mußten, die fie doch gekauft 
und mit gutem Gelde bezahlt hatten. Daher ſtan— 
den dem auch die Staatäjchuldverichreibungen bei 
ihnen ſehr hoch im Preije, und fie verfuchten auf 
jede mögliche Art die verjchiedenen Regierungen da— 
hin zu bringen, daß fie dem Volfe immer mehr von 








diejen drüdenden Laften auf den Naden legten. Die | 


Regierungen wurden vom den Agenten der Kapita— 
liften unterftüßt, deshalb thaten fie ihnen den Willen, 
und jo wurde es immer jchlimmer, bis zum Vor— 
abend des großen Umſturzes, der alle dieje Altien 
und Schuldverichreibungen in Makulatur verwandelte.“ 

„AS Vertreter des neunzehnten Jahrhunderts,“ 
bemerfte ih, „muß ich geliehen, dab Ihre, allerdings 
jehr abſchredende Schilderung unjerd Syſtems der 
Kapitalanlage im ganzen richtig ift. Aber Sie wer« 





Edward Bellamyp. 


den zugeben, dab, wie ſchlecht es aud war und wie 
hart das 208 der großen Menge fich unter dieſen 
Syſtem geftaltete, die Kapitaliften der Welt doch 
einen großen Dienft geleiftet haben. ft nicht die 
Organilation und Oberleitung unjrer ganzen In 
duftrie ihr Merk?” 

„Gewiß, gewiß,“ erwiderte ber Doktor. „Dieier 
Einwurf wird immer wieder bei der Verteidigung 
jedes Syſtems gemacht, das die Menjchen zu Knechten 
ihrer Mitmenſchen erniedrigt. Es wurde dabei 
immer von einem wertvollen und wunentbehrlicen 
Dienft geredet, den die Unterdrüder als Grund und 
Entſchuldigung für die Frondienſte angaben, bie fie 
bon andern verlangten. Als bie Menfchen kiüger 
wurden, ſahen fie, daß fie einen Wucherpreis für 
diefe Leiftungen bezahlten. Sie ſagten zuerit zu den 
Königen: ‚Ihr helft uns wohl, den Staat vor fren- 
den Eindringlingen zu jhüßen, und laßt die Diebe 
hängen; aber wenn ihr und zu euern Sklaven mat, 
zahlen wir euch zu viel. Wir wollen es bejler haben.‘ 
Und fie gründeten Republifen, Ebenſo ſagte das 
Volk zu den Prieftern: ‚Ihr habt wohl etwas für uns 
gethan, aber eure Hilfe ift zu teuer bezahlt, wenn ih 
unjern Geift in Feſſeln jchlagt; das können wir nit 
dulden.‘ Und jo entitand die religiöje Freiheit. 

„Sn dem Fall, von dem wir vorhin jpraden, 
jagte das Wolf jchliehlich zu den Kapitaliften: ‚Is, 
es ift wahr, ihr habt die Induſtrie organifiert, aber 
wir jind dabei eure Knechte geworben; wir fünnen 


es beſſer haben" Sie feßten eine nationale Genoſſen⸗ 


ſchaft an Stelle des Kapitalismus und gründeten 
die induftrielle Republif, die auf wirtichaftliger 
Gleichheit beruht. Wenn es wahr wäre, Julian, 
daß irgend eine Wohlthat, mag fie noch jo groß fein, 
den Mohlthäter berechtigt, diejenigen, welche fie oe 
nießen, zu Leibeigenen zu machen, dann hätte die 
Sklaverei und jede Art von Gewaltberrihaft ihn 
Entihuldigung gehabt.” 

„sKannft du uns denn gar fein wirkliches Gel 
zeigen?“ fagte Edith. „Nichts als dieſe Papiere! 
Haft du nicht richtiges Gold oder Sifber, wie id « 
im Muſeum gejehen habe?” 

Im neunzehnten Jahrhundert pflegten die Yeuie 
feinen großen Vorrat von barem Gelde im Hauſt 
zu haben, Für alle Fülle hatte ich aber dod eine 
Heine Summe in meinem Kafjenichrant, und alt 
Antwort auf Edith Frage zog ich eine Schublade 
heraus, die mehrere hundert Dollars in Gold ent. 
bielt, und jchüttete den Inhalt auf den Tiſch. 

„Wie hübſch das ausſieht,“ ſagte Edith, indem 
fie mit den Händen in dem Haufen goldener Münzen 
wühlte und jie aneinander Mlingen ließ. „JA c 
denn wirflid wahr, daß den Leuten, die recht viele 
von diefen Goloftüden hatten, Männer und Frauen 
unterthan waren? Konnten fie mit ihnen maden, 


Gleichheit. 


was fie wollten, und fragte niemand danach, woher 
ihe Reichtum kam ?* 

„Iene Männer und Frauen ließen nicht nur alles 
mit ſich machen, nein, fie waren noch dankbar dafür, 
das man ihnen Arbeit gab, ftatt andern Leuten. Die 
Armen riſſen fi darum, Knechte und Mägde derer 
zu werden, die Geld hatten.” 

„Nun verjtehe ih, was die Herren des Brotes' 
für einen Sinn hatten,“ jagte Edith. 

„Was bedeutet der Name ‚Herr des Brotes?* 
fragte ih. „Wer find dieſe Herren?“ 

„Das war ein Name, den man in der Uebergangs— 
zeit den Kapitaliften beilegte,” erwiderte der Doktor. 
‚Edith ſpricht von einer Schrift, die Damals erjchien, 
als dem Volfe darüber die Augen aufgingen, daß die 
große Menge zur Sklaverei verurteilt war, durch ein 
ſlaſſenmonopol auf die Mittel der Gütererzeugung.” 

„Dielleiht erinnere ich mich noch an den Worte 
laut,“ jagte Edith. „Der Anfang ift jo: ‚Ueberall 
handen Männer, Frauen und Finder auf dem Marfte 
und flehten die Herren des Brotes an, fie zu ihren 
Ancchten zu machen, damit fie nicht Hunger leiden 
müßten. Die ftarfen Männer fagten: O, ihr edein 
Derren des Brotes, befühlt unjre Diusteln und Sehnen, 
jeht, wie ftarf wir find. Wir wollen euch dienen; 
wir wollen für euch baden und graben. Wir wollen 
in eure Bergwerle friechen und die Kohlen heraus« 
holen. Wir wollen auf dem Vorderkaſlell eurer 
Schiffe hungern und frieren. Schidt uns in bie 
Hölle des Heizlochs auf euern Dampfern hinunter, 
!hut, was ihr wollt mit uns, aber erlaubt, daß wir 
euch dienen, damit wir zu eſſen haben und nicht 
fierben müfjen ! 

„Dann famen auch Die gebildeten Männer, 
Schriftiteller und Advolaten, die mit dem Kopfe und 
nicht mit den Händen arbeiten, und riefen: O, ihr 
Herren des Brotes, nehmt uns zu euern Dienern; 
wir wollen euern Willen thun. Seht, wie jcharf 
unſer Wig ift und wie groß unfre Kenntniffe. In 
unferm Gehirn find Schäge der Gelehriamkeit ver- 
wahrt und die Spibfindigfeiten aller Philoſophen. 
Uns ift ein jchärferer Verftand verliehen ala der 
Menge, und wir befifen die Gewalt der Rede, denn 
wir waren zu führern des Volls beflimmt, wir jollten 
für die Blinden fehen und den Stimmen unfre 
Sprache leihen. Aber das Volk, dem wir dienen 

ſollten, giebt uns fein Brot. Gebt und Brot, ihr 
Herren des Brote, dann wollen wir das Volk an 
euch verraten, denn wir müſſen leben. Wir wollen 
in den Gerichtshöfen gegen die Witwen und Mailen 
für euch ſprechen. Wir wollen euch in Wort und 
Schrift loben und preifen und mit argliftiger Rede 
die zu Schanden maden, welche gegen eure Macht 
und Herrlichkeit Einſpruch thun. Nichts, was ihr 
verlangt, joll uns zu ſchwer fein; aber weil wir euch 


839 


nicht nur den Leib, ſondern auch die Seele verkaufen, 
jo gebt und mehr Brot als denen, die euch nur mit 
dem Körper dienen. 

„Und wenn die Herren des Brotes über den 
Markt gingen, riefen auch die Priefter und Leviten 
hinter ihnen her: Nehmt ums zu euern Dienern, die 
alles thun, was ihr wollt, denn wir müffen zu eſſen 
haben, und euch allein gehört das Brot. Wir find 
Hüter der heiligen Offenbarungen, die Menjchen 
hören auf uns und mwideriprechen nicht, denn unfre 
Stimme ift ihnen wie die Stimme Gottet. Aber 
wir brauchen auch Brot, um zu leben wie alle andern. 
Gebt und viel von euerm Brot, dann wollen wir 
das Volk ermahnen, daß es ftille ift, und feine Klagen 
eure Ruhe nicht flören. Im Namen Gottes des 
Vaters wollen wir den Menſchen verbieten, ihre 
Bruderrechte zu fordern, und im Namen des Trriede- 
fürften wollen wir euer Sonfurrenzgejeh predigen. 

„Und lauter alä das Nufen der Männer hörte 
man dad Schreien der Frauen, die zu den Herren 
des Brotes die Hände aufhoben und lebten: Geht 
nicht an uns vorüber, wir haben Hunger. Die 
Männer find ftärker als wir, aber fie brauchen viel 
Brot, und wir nur wenig; darum verliert ihr nichts 
an und, wenn wir auch ſchwächer find. Und wenn 
ihr uns des Gemwinnes wegen nicht Dingen wollt, jeht 
und an, wir find Frauen und werden euern Augen 
wohlgefälig fein. Nehmt uns und thut, was ihr 
wollt — wir müfjen zu eſſen haben! 

„Und lauter noch als das Marktgetümmel, als 
da3 heifere Rufen der Männer und die jchrillen 
Stimmen der rauen, erhob ſich der Dislant der 
Heinen Kinder. Und fie riefen: Laßt uns für euch 
arbeiten, die Brüfte unſrer Mütter find vertrodnet, 
unjre Väter haben fein Brot für uns, und wir find 
hungrig. Wir find zwar Hein und ſchwach, aber 
wir braudyen ja auch wenig, faft nichts. Ihr werdet 
feinen Berluft haben, denn wir jind billiger als die 
Männer, unfre Väter, die fo viel eſſen, und als unjre 
Mütter, die doch mehr eſſen ala wir. 

„‚Und die Herren des Brotes fuchten ſich Männer, 
Frauen und Finder aus und gaben ihnen Arbeit 
nad) ihrem Gefallen. Und als fie vorübergegangen 
waren, blieb auf dem Marftplah eine große Menſchen⸗ 
menge zurüd, für die es auf Erden fein Brot gab.'* 

Wir ſchwiegen eine Weile, nachdem Ediths Stimme 
verfiungen war, dann jagte der Doftor: „Da war 
allerdings die Entwürdigung der Menſchen, welche 
euer Syflem nad) ſich zog, auf dem kiefſten Punkte 
angelangt, als fie gezwungen waren, ſich freiwillig 
jelbjt zu verfaufen. Freiwillig im wahren Sinn 
des Wortes thaten fie es ja nit, denn ihre Not 
oder die Furcht vor Mangel lie ihnen feine 
Wahl. Und doc blieb ihnen noch genug Wahl bei 
der Verhandlung jelbjt, um fie jhimpflich zu machen. 


840 


Sie mußten den aufjuchen, dem fie ſich verkaufen 
wollten, und freiwillig handelnd dabei eingreifen. 
In diefer Beziehung war das Mietöverhältnis der 
Menſchen zu einander viel verächtlicher ala Sklaverei, 
die ganz auf Gewalt beruhte. Der Shave mußte 
ſich der phufischen Uebermadjt gefangen geben, aber 
fein Geift fonnte frei bleiben, und er verzichtete nicht 
auf den Groll gegen jeinen Herrn. Bei dem Miets- 
verhältnis dagegen fucht ber Knecht fich jelbft einen 
Herrn und bittet ihn um die Gunst, ihm mit Leib 
und Seele dienen zu dürfen, Nach unfrer heutigen 
Anſchauung war daher der Sklave ein jelbftbewußteres 
und freieres Geſchöpf ald der Mietling eurer Tage, 
der jich doch einen freien Arbeiter nannte, 

„Der Slave konnte fich im Geift über jein Elend 
erheben und in der Knechtſchaft ein Philofoph fein 
wie Epiftet; aber der Mietling durfte die Knechtſchaft 
nicht verabſcheuen, in die er ſich jelbjt begeben. In 
feiner Page war nicht nur der Körper entwürbigt, 
ſondern auch der Geiſt. Als er fich jelbit verkaufte, 
hatte er auch jeine geiftige Unabhängigkeit dahin- 
gegeben. Das eine Wort, das ihr merhwürdiger« 
weile nur auf eine Art von Selbtverfauf anwendet, 
den mande Frauen üben, beichreibt am allerbeiten 
und genauejten euer ganzes Wirtſchaftsſyſtem. 

„Die Arbeit für andre im Namen der Liebe und 
Güte und die Arbeit mit andern zu einem gemein- 
ſchaftlichen Zwed, der allen zu gute fommt, auch die 
Arbeit aus Freude an dem Werke jelbft find ehren- 
voll. Aber wenn wir unire Fähigleiten zum ſelbſt⸗ 
füchtigen Gebrauch andrer verdingen — eine Form 
der Arbeit, die früher allgemein gebräudlid war — 
dann entwürdigen wir bie Menſchennatur. Die 
große Revolution hat zum erftenmal in der Geſchichte 
der Menſchheit die Arbeit auf den Boden brüderlicher 
Gemeinſamleit geftellt und fie dadurch wahrhaft ger 
adelt. Bis dahin war fie im bejten Falle nur eine 
traurige Notwendigleit.“ 

„Wenn eure Wißbegierde genügend befriedigt ift,* 
jagte ich jet, „jo ſchlage ich vor, daß wir dieſe 
Papiere den Flammen übergeben. Es ſcheint ja, 
daß fie jet feinen größeren Wert haben als eine 
Sammlung heidnijcher Fetiſche, wenn ihre Belenner 
Ehriften geworden find.“ 

„Aber eine fjolde Sammlung hat doch hohen 
Wert für den Geſchichtsforſcher,“ ſagte der Doktor. 
„Natürlid in dem Sinn wie früher find die Papiere 
jept unbrauchbar, aber in andrer Weije haben fie 
großes Interefie. Ich glaube, es befinden ſich Stüde 
darunter, die in den hiſtoriſchen Mujeen recht jelten 


— — V0— 


Edward Bellamy. — Gleichheit. 


ſind. Wenn Sie Luſt haben, den ganzen Haufen 
unſerm Muſeum zum Geſchenk zu machen, jo wird 
das jehr anerfannt werden. Das große Freuden— 
feuer, welches unjre Vorfahren entfachten, war zwar 
ein natürlicher und berechtigter Ausdrud ihres Jubels 
über die neue fyreiheit, aber vom archäologiſchen Ge— 
ſichtspunkt find fie jehr zu bedauern.“ 

„Das für ein großes Freudenfeuer meinen Ei: 
denn ?” fragte ich. 

„Es war eine jehr dramatiſche Scene am Schluß 
der Umſturzbewegung. Als der lange Kampf ein 
Ende halte, und die wirtſchaftliche Gleichheit durch 
Öffentliche Verwaltung des Nationalvermögens fider: 
geftellt war, brachte das Volk aus allen Zeilen dei 
Landes große Maffen von fogenannten Wertpapieren 
herbei, die ſich zwar jcheinbar nur auf Sachen ber 
ziehen, in Wirklichkeit aber auf Menſchen, und die, 
wie wir gejehen haben, erſt durch fyronarbeiter, weld: 
die Not an dieſe Sachen gefeflelt hat, ihren Wert 
erhalten. Wie Sie fih denfen fünnen, war bei 
Voll damals dur den plöglichen friſchen Luftzus 
der Freiheit aufs höchſte erregt. In feiner Be 
geifterung machte es auf dem Pla der New Vorker 
Börfe — dieſes großen Plutustempels, in dem 
Millionen Menſchen dem Götzen geopfert morden 
find? — einen riefigen Haufen von ſämtlichen Ir 
funden und zündete ein Freudenfeuer an. Seht ftebt 
an diefer Stelle eine hohe Säule, von der unauf 
börlih eine mächtige Fackel mit elektriſchem Lidt 
berniederleuchtet, zur Erinnerung an jenes Ereignis 
und zum Zeichen, daß das pergamentene Jod, melde: 
ſchwerer drüdte als das Zepter der Könige, für 
ewige Zeiten gebrochen if. Man glaubt, daß in 
diefem Flammenmeer an Dokumenten, welde die 
Herrſchaft über Menjchen bedeuteten , oder, wie iht 
fie nanntet, an Wertpapieren, vierzig Billionen 
Dollars verbrannt find, zugleich mit vielen hundert 
Millionen in Papiergeld. Und wir find überzeugt, 
dab von ben unzähligen Brandopfern, melde von 
Anfang aller Zeiten an Gott dargebracht worden 
find, dieſes ihm das allerangenehmite war. 

„Wenn ich damals dabeigewefen wäre, hätte id 
mic gewiß ganz ebenſo über biefes Feuer gefreut 
wie die Allerausgelafienften, die es mit Frohlocen 
umtanzten. ber in der ruhigeren Stimmung, die 
jebt Platz gegriffen hat, bedaure ih, daß jo viel 
hiſtoriſches Material verbrannt ift. Sie jehen allo, 
daß Ihre Urkunden, Hypothefen und Staatspapiert 
doch noch einen Wert haben,“ 

Fortſehung folgt.) 





Der Tod des 


Pallikaren.‘) 


Erzählung aus dem Volksleben 


von 


Zoltis Valamãs. 


Aus dem Gricchifchen überfeßt von Karl Dieterich. 


1. 
Niemand hatte fih zum Schlafen niedergelegt, 
olles blieb wach. Wie jollte man auch ein Auge 
ſchließen in einer jolden Nacht des Jahres, in der 


ſtarfteitagsnacht! Denn Mitternacht war jchon vorbei, | 


die Gloden aller drei Kirchlein von Thalaſſochöͤri 
waren verftummt — aud) fie jchwiegen angeſichts 
der Leiden des Herrn — und nur die Holzfnarren 
in den Händen der Kinder betäubten das Ohr. In 
der ganzen Nachbarſchaft ziehen Scharen von Kindern 
umher, von Thür zu Thür, und flopfen an unter 
wildem Gejchrei: „Zeit zur Kirche! Zeit zur Kirche!“ 


Und die wenigen, die noch in tiefem Schlummer | 


liegen, ſpringen erfchredt auf und ftürzen ans Fenſter, 
meinen, e8 dämmere eben, und der Epitaph *) ziehe 
unten vorüber, Um der Liebe Chriſli willen ver— 
ſtummen ja einmal des Jahres die Gloden des 


Dorfes, fie allein, denn von einem Ende zum andern | 


it dad ganze Dorf auf den Füßen, wieder um der 
Liebe Ehrifti willen, einmal des Jahres. 

So au in jener Karfreitagsnacht; Frauen und 
Männer, teild zerftreut, teild zufammengedrängt, 


famen aus den Häufern und Kaffeejchenten und zer» 


freuten ſich hier- und dahin, den Kirchen zu. Die 
Tritte dröhnen jchwer auf das Pflafter, und in einem 
fort verflingen die Stimmen im Wiederhall der Nacht 
einer taugquillenden Aprilnacht mit einem jchläfrigen 
Mond, der im Untergehen ift und jeinen Glanz nur 
noh trübe über die büflern, ungefalften Hütten 
ergieht, hinein in die frummen, ſchmutzigen Gäßchen. 
Die Kirche erftrahlte hell mit weit geöffneten Pforten, 
Die und da drang die Stimme des Ghorknaben 
heraus, ehe die Klageweifen begannen. Das große 


Kirchweihfeſt aber findet draußen vor den Kirchen 


*) Der Leichnam des Herrn, der am Rarfreitag früh in einer 
Prozeſſion heeumgetragen wird, 


| 
Papierbomben . . 
! 
i 


ftatt. Rings um große Feuer, die mit Weinreben⸗ 
holz, Brettern, Bejen, Trögen und Wajchlörben, hie 
und da aud) mit einem ganzen Thürflügel unterhalten 
werben, jpielen die Kinder und Straßenbuben,, und 
zwijchen ihnen hindurch fpringen und laufen Männer 
mit Schnurrbärten, jauchzen und jubeln, und Dä«- 
monen glei bliken in der Finſternis und fnattern 
in der Stille der Naht die Raketen und bie diden 
.o hilf, Herr!. . . die Per 
tarden und Die aus Pappe gemaditen und mit un— 
endlich viel Schiekpulver geladenen Schwärmer. Ein 
Teller für das Pulver ging in den Kirchen herum, 
Männer, frauen und Finder verbrannten fi daran 
zum Heil des Jahres, Nach Pulver roch das ganze 
Dorf, und die Bewohner des einen Sprengels ftanden 
mit denen des andern auf Kriegsfuß. 

Richt nur die Kirchen waren zu jener Stunde 
geöffnet; Hier und dort Tugte eine halbgedffnete 
Garküche oder eine Kaffeefchenke hervor. Bis um 
; drei Uhr in der Frühe, wo der Epitaph heraus« 
‚ getragen wird, fonnte die Menge nicht in der Kirche 
jtehend zubringen. Eine ſchwere Süßigfeit, einen 
Lederbiffen, ein paar Schlud Wein nimmt man nad) 
dem Faſten gern zu fi und ftärft fi, um den 
Epitaph zu geleiten. Nun firömte «8 in Scharen 
‚ der Kirche entgegen, Nur eine luftige Geſellſchaft 
hatte man noch in der Weinjchenfe vergejjen: Mitros, 
den Rumelioten, Jannalos aus Tarnanama, Marlos 
aus Kanini und den Sohn der Gharitena, den nie 
mand beim Namen rief, jo daß er ihn ſchließlich 
jelbft vergaß und nur auf „Tari Tarela” hörte. Alle 
vier waren Seeleute; der erite bejuß eine Fiſcher— 
barfe, der zweite arbeitete auf der Barfe des erften, 
der dritte fuhr als Handelsmann mit den Schonern 
umber, und Tari Tarela war Fiſcher, jeder fünfund- 
‚ zwanzig Jahre alt und von flein auf mit dem andern 


*) Das Wort , Pallilare“ läßt ſich ebenfowenig überfchen mie das englifhe gentleman, das franzöflfche galant, das ſpaniſche 


grandezza, daB deutſche Gemilt. 
junger Burſche. 


Es bezeichnet eine nationale Eigenart, das Ideal eines Griechen: ein jhöner, fräftiger, mutiger 
Den Typus eines ſolchen ſchildert die nachfolgende Erzählung, die darum aud für das Verſtändnis des Nolts- 


charalters wertvoll if. Die Pallilaren jpielten befanntlid im griechiſchen Frreibeitsiriege eine große Rolle, 


Aus fremden Zungen. 1807. IL 18, 


106 


842 


verbrübert.*) Der Wein und das Geplauder hatten 
ihnen die Köpfe erhikt, und wäre es nicht Karfreitag 
geweſen, jo wäre «8 zu wüſtem Lärm gelommen. 


| 
| 
| 


Weih und wie von jeibft entquoll das halblaut 


bingefungene Lied ihren Lippen. 


Endlih merften | 


fie, daß fie fich verfpätet hatten; in der Kirche des 


heiligen Nikola®, wenige Schritte von der Wein- 


ſchenke entfernt, flimmte man gerade den Choral an. | 


Der Wirt war im Begriff, zu fchließen. Augen- 
blicklich ſprangen fie auf und waren auf der Straße. 

„Alle Wetter, hab’ ic) das bengalijche Licht ver- 
geſſen,“ ruft der Kapiniad. Das brauchten fie, um 
es auf dem Epitaph anzuzünden, 


„Am Fuße des Tiſches hab’ ich es hingelegt, | 


links in der Ede,” ruft Mitros. „Wartet nur, id) 
hole es.“ Und er lief in die Schenke zurüd. 

Dod auf dem Wege gleitet er auf einem Sie 
ftein aus und ftürzt der Länge nach Hin, Zugleich 
hört man ein Inadendes Geräuſch. 

Ein dreifaches, hart herausplapendes Gelächter 
entfuhr dem Munde der drei Kameraden; dazwiſchen 
eriholl Die Stimme des Mitros: „Ich bin des Todes!” 

„Schon gut, mein Lieber; wie follit du des Todes 
fein? Steh nur auf! Haft du dich denn geflogen?“ 

„Ah, ich kann ja nicht aufftehen! Glaubt ihr 
mir's denn nicht?* 


Und in einem Seufzer erftarb fein Wort, die | 


Stimme entrang ſich MHagend und gebrochen der 
Bruit, als hätte auch fie von dem Falle gelitten. 
Sie drang an ihr Ohr, jo aus dem innerjten Herzen 
herausgepreßt, jo plöblich vor Schmerz verändert, jo 
entjeelt, dab allen dreien der Schweiß ausbrad. 
Sie jahen nun, daß e8 fein Scherz war. 

„Aber Mitros!* konnten fie nur herausbringen 
und liefen, ihm die Hand zu reihen, damit er fi) 
aufrichtete, 

„Nur Mut, Mitros!* 

Mitros konnte ſich nicht auf den Füßen halten; 
fein linter Fuß war unbeweglih wie von Eijen. 
Sie mußten ihn an den Schultern flüßen. Der 
Wirt hatte feinen Faden zugemacht und trat nun 
auch hinzu, um zu helfen. In der Ferne verflangen 








ſtoſtis Palamas. 


„Ruf ſeine Mutter, Kaninias! Sie iſt in der 
Kirche.“ 

„Du haſt recht. Kaninias, geh am die Heine 
Hinterthür. Sprid mit der Schließerin, damit fie 
ihr jagt, man wolle fie ſprechen, aber in jchonender 
Weiſe.“ 

Die Witwe Dimena war ſchon vom Abend an 
mit den übrigen Frauen in der Kirche und hatte am 
Epitaph Nachtwache gehalten. Au Haufe blieb fir 
nur, um für Mitros, ihren einziggeliebten Sohn, 
zu forgen, und fie verlieh ihr Haus nur, um dei 
Weingärtchen zu bejtellen, das ihr jeliger Mann ihr 
binterlaffen hatte. Dabei mußte fie an den Gräbern 
vorüber; zuweilen zündete fie eine Kerze an und ver: 
brannte etwas Weihraud) auf dem Grabe des Selig. 


' Sie war ein arbeitfames, waderes Weib. Als ihr 


Sohn herangewachſen war, mit den Booten umber: 





fummend die Stimmen ber finder, die vor der | 


Kirche ſpielten. Die Raketen ziichten in der Luft, 
die Finſternis der Naht flammte auf, es krachte und 
prafielte, und ein Funkenregen rieſelte hernieder. 
Drinnen an den Fenjtern der Kirche ſchwebten ge 
Ipenjtiich die angezündeten Kerzen und die Fackeln 
des Epitaphs wie Sterne vorüber, und ein friiher 
Kindergefang quoll heraus. 

„Wir wollen ihn nad Haufe bringen.“ 


*) Die Verbrüderung, das heikt das feierliche Geläbde, auf 
Lebenszeit treu und feit zu einander zu halten, fpielt bei ben 
Grieden no eine ähnliche Rolle wie bei und das Gefolgfhafts- 
weſen im Mittelalter. 





fuhr — er trieb das Gewerbe des Vaters — und 
almählih mit der Eltern Segen und dem eignen 
Fleiße ein Segelboot ſich erworben hatte, da begann 
die Witwe, als dächte fie daran, daß fie eine Chriftin 
fei, ih auch um ihre Seele zu kümmern, nachdem 
fie jo lange nur für ihr unflügges Vöglein geleht 
hatte. Seitdem ging fie auch häufiger zur Kirche. 
Und je mehr Jahre vergingen, — fie ftand an der 
Schwelle der ſechjiger — um jo gottesfürdtiger 
wurde fie. Dennob, um es offen zu geitehen, zitterte 
jie noch immer vor Zauberei und Spuk, ohne « 
jelbjt recht zu merken, 

„rau Dimena, man verlangt draußen nad) dir, 
dein Sohn...” und fie am Kleide zupfend, flüflerte 
ihr die Schließerin etwas ins Chr. 

„Mein Sohn? Was mag der von mir wollen!‘ 

Sie konnte es noch nicht recht fallen, da fand 
Markos Kaninias vor ihr, ohne Mütze und mit ver: 
ſtörter Miene. 

„Nichts, Frau Dimena, Mitros hat ſich nur den 
Fuß verſtaucht.“ 

Die Alte ſtürzte hinaus, es entſtand ein Ge— 
tümmel um fie ber, die Weiber fingen an zu flüſtern. 

„Ruhe, ihr Weiber!” gebot der Küſter. Aber 
wie jollten fie Ruhe Halten? Etwas mußte ſich doch 
ereignet haben. Was war das für eine Verſtauchung! 
Es wird fich jemand an den Schwärmern verbrannt 
haben; es wird einer eritochen worden fein, Im 
Nu wurde die Sache ruchbar; im Nu war die halbe 
Kirche Teer! Wie könnte fih das Weibervolk aud 
halten laſſen! In die Kirche kommt man ſchon 
wieder, aber jo etwas, Gott weiß es, kommt doch 
nicht alle Tage vor! 

„Mein Liebling, o Herr Jeſus!“ So rief fi, 
während fie hinauslief. Und draußen vor der Kirde 
erblidte fie vor fih den Sohn, aufreht an die 
Mauer gelehnt. Die Stameraden und nod einige 


| andre ftanden dabei. 


Der Tod bes PBallifaren. 


„Es iſt nichts, Mutter; ich bin gefallen und habe 
mir etwas das Knie aufgeſchlagen. Wir wollen nad 
Haufe gehen und etwas auflegen.“ 

Wie ein Stein fiel es der Armen vom Herzen. 
Sie hatte ſich's in Gedanken weit jchlimmer vor— 
geitellt, und wie fie ihn nun jo in dem halb er— 
loſchenen Mondlicht aufrecht vor ſich ftehen jah, da 
atmete fie auf. 

„O Herr Jefus, welch böfe Stunde, mein Sohn!” 
Aber fie wußte nicht, dab Mitros ſich nicht auf den 
Füßen Halten fonnte und daß er ſelbſt zu ben 
Kameraden gejagt hatte: „Stellt mich jo hin, daß 
ih mid an die Mauer lehnen fann, damit mid 
meine Mutter nicht plöhlich fieht und erichridt.” 

Und während er die jagte, ſprach in jeinem 
Innern noch eine andre Stimme, die nicht über jeine 
$ippen kam: 

„Gott, wenn mid) hier Phrofyne jehen würde!“ 

Vhrofyne war feine Braut. 

Sie hoben ihn mun auf und braditen ihn nad 
Haufe. Dies Jahr aber hatten die Witwe Dimena 
und die drei Kameraden feine Freude an dem Epis 
tapd. Sie erwarteten den Tag an Mitros’ Bette, 
Er ſchloß kein Auge, Hatte Schmerzen und ftöhnte 
entjeplih. Sein Fuß war wie abgejägt, er wurbe 
fteif wie eine Säule, ie 

Man holte den beiten Arzt von Thalajjochöri, 
der einen Namen beſaß und ſchon viele vom Tode 
gerettet hatte, ohne auf die Mutter zu hören; denn 
die hätte lieber die Jungfer Marie aus der Stabt 
geholt, die den böjen Blick beſchwor, Rüdenfchmerzen 
heilte, außgedrehte Gelenke wieder einrenfte und zu 
allem zu gebrauchen war, 

Der Arzt bejah den Fuß. Es war ein verteufelt 
böjer Fall aufs Gelent. Er ſchiente ihn fofort ein 
und jagte: „Bewege dich nicht ; dein Fuß wird wieder 
heilen, aber es braucht ziemlich Tange Zeit und viel 
Geduld. Denke nur immer an das Gute, das ich 
dir thun will.” Unb immer wieder jagte er: „Denke 
ja daran!” Denn er wußte, was für Starrföpfe 
die Bewohner von Thalafjohsri waren. 

Mitros, der Rumeliot, hatte ein Heiteres Herz 
und große Geduld. Aber das Unglüd, das ihn ge» 
teoffen, war ein Fluch Gottes. Die Thalaffohöriten 
hatten taufend verſchiedene Anfichten über denjelben 
Gegenfland ; über Mitros hatten fie nur eine; Mitros 
war ein Pallitare! Sie verfpotteten die Gelehrſam— 
kit; die Pallifarentapferkeit beteten fie an. Mitros 
hatte nie einen Fuß in die Schule gejeht. In der 
Sonne, in der Luft, auf den Wogen hatte er fich 
getummelt und war jo berangewadhjen. Er war 
eine gewöhnliche Erſcheinung; feine Bruft war fein 
grasbewachjener Turm, jein Haupt glich keiner Feſtung. 
Er war weder groß noch Hein, eher mager als ſtark, 


843 


brünett mit feinem Schnurrbart und dichten, fraufem 
Haar; die Mühe chief auf dem Kopfe, einen roten 
Gürtel unzählige Male um die Hüften geichlungen, 
in einem Flanellhemd, fo ging er Winter und Sommer. 
Aber troß feines unſcheinbaren Aeußern ſprach aus 
ihm der echte Pallifare, aus feiner Miene, feinem 
Gang, aus jedem Blid und jeder Bewegung. Mitros 
mit jeinen fünfundzwanzig Jahren, mit dem uns 
ihönen Körper, dem etwas jchüchternen Geſicht, er 
fonnte eine Welt vernichten und eine Welt aufbauen. 
Niemand durfte ihm in den Meg lommen, Mit 
feiner Fauſt fonnte er einen Ochſen niederjtreden. 
Er brauchte nur feinen Fuß auf den Boden zu 
flemmen, und niemand fonnte ihn von der Stelle 
bewegen. Aber diejelben eifernen, unbezwingbaren 
Füße flogen, ſchwangen und drehten ſich wirbelnd 
herum, wie aus Ylammenflügeln und Windeswolfen, 
wenn der Sohn der Dimena den Reigentanz anführte, 

Alljährlich zum Kirchweiheit des St. Elias, am 
Abbange des Zygosgebirges, da, wo der kühle 
Bad) rinnt und die Platanen ein fhattiges Ruhedach 
breiten, an der Stelle, wo einft die Lagerſtätten der 
Kleften*) waren, dahin pflegte Mitros zu gehen, 
angethan mit der Fuſtanella, dem goldnen Waffen- 
ſchmuck feines Großvater, umd zu tanzen, als hätte 
er ein Gelübde gelhan. Dann verließen die Feſt— 
genoffen ihre eignen Luftbarkeiten und bildeten einen 
Kreis um ihn. ſahen ihm ins Geficht und vergaßen 
ſich jchier felbft dabei. Jeder feiner Schritte beim 
Tanzen, windjchnell und feberleicht, quoll über von 
Anmut und verbreitete Jugendluft und Friſche. Er 
verjeßte alle in eine andre Welt, in die Welt der 
Märchen und tapfern Gejellen, die auf dem Felde 
mit den Dirnen tanzten und dann auf der Marmor- 
tenne mit dem Charos **) rangen, Und die Mädchen 
die ihn dort jahen, gedachten nod) monatelang feiner 
und bewunderten ihn; e& famen ganze Scharen aus 
den umliegenden Dörfern und den benadhbarten 
Provinzen alljährlich zur Kirchweih des St. Elias, 
weniger des Feſtes als des Tänzers wegen. 

Dort ſah ihn Phroſyne, die Tochter des Sebdas 
aus Meliſſi. Sie ſah ihn, er ſah ſie, und ſie waren 
ein Paar. Und Monate darauf, gegen den Früh— 
ling hin, ſchickte der alte Sebdas die Werberin zur 
Dimena; die Werbung verlief gut und die Ver— 
lobung fand in Meliſſt flat. Mitros mit jeiner 
Mutter, den drei ungertrennlichen Freunden nebft 
der ganzen Verwandtichaft zogen dorthin. Und nad 
wenigen Tagen brachte er ſeinerſeits der Braut die 
Geſchenke, wie es der Braud) if. Zwei Tage ver: 
brachte er bei Spiel und Tanz in Saus und Braus, 
Und gleich nad) Oſtern jollte die Trauung ftattfinden, 

) Kämpfer im griechiſchen Freiheitsttieg gegen die Türken, 


eigentlib „Räuber*, 
**, Der Zotengott. 


844 


Aber noch bevor Ditern herankam, ereilte ihn das 
jchwere Verhängnis, Er kam nicht wieder nad Meliſſi. 

Diele Mädchen bemeideten Phroſyne um ihr Glüd, 
und eine Heine Brünette, ein flinles Ding voll 
Iprudelnder Fröhlichleit, die närrifche Morfo, wie fie 
die Nachbarſchaft nannte, wäre vor Neid fajt ge 
borften, als fie die Verlobung vernahm. Sie lieh 
fich nicht mehr in dem Gärtchen bliden, ihre Blumen- 
beete zu begießen und ihr Lieblingsliedchen zu fingen, 
wobei ihr Auge umberichweifte, mochte es treffen, 
wen es molltee Nur ganz ſpät fahen fie einige 
Nahbarinnen vom Fenſter aus vor Mitros’ Haufe 
auf und ab geben, mit einem Umbang bis zum 
Scheitel verhüllt, plößlich vor feinem erleuchteten 
Fenſter ftehen bleiben, dann ſcheu um fich bliden 
und geſchwind wie ein aufgeitörtes Reh davoneilen. 
Mitros hatte es ihr angethan, und fie hatte im 
Herzen die duftige Hoffnung genährt, er würde fie 
doch noch eine® Tages zur Frau nehmen. 

Mitros war ein echter Pallifare; er beſaß alles, 
was zu einem ſolchen gehört, Berebjamfeit, Ber 
geifterung, Ehrgeiz, Schönheit, Stolz , Lebensfreude 
und Todesverachtung. Meeresftürme hatte er be— 
flanden, dem Ertrinfen war er entronnen, mitten im 
weiten Meere hatte er feinen Mut erprobt. Nie 
ließ er fih ohne Grund zum Zorn hinreißen; mur 
durfte man ihm nicht reizen oder ihn bei feiner 
empfindlichen Seite fallen; dann griff er jofort zum 
Meſſer. Dom Piſtolenſchießen verftand er nichts; 
er dachte gar nicht daran, Ya, ein Held war er, 
feine Gefahr konnte ihn abichreden, feine Krankheit 
ihn anfechten, jelbjt vor Charos war ihm nicht bange. 
Nur ein Gedanke zehrte an feinem Herzen, machte 
ibm das Blut gerinnen: er wollte nicht mit einem 
Schandmale leben. Lieber das Leben hingeben, lieber 
von allerlei Krankheit und Elend heimgefucht fein, 
als jo leben. Und follte er wirflic) das Beit verlafjen, 
jo wollte er es nicht mit lahmen Füßen. Um alles in 
der Welt nicht! Mitros, der Numeliot, betete, ohne 
es recht zu willen, nur einen Gott an, die Schönheit! 
Die heilige Schönheit der Jugendfriiche und der 
Gefundheit, die den Körper zur Kirche hat. Und 
mochten fie mit feinem Körper anitellen, was fie 
wollten, wenn es ihm nur feine Spuren zu Schimpf 
und Entjtellung binterließe! Ein gezeichneter Körper 
ift ein gejchändeter, häßlicher Körper, Und für 
einen Pallifaren wie Mitros ift Häßlichleit eine 
Ehrloſigkeit! 

Seit der Nacht, wo er ſich verletzt hatte, bis zu 
dem Tage, wo er zum erſten Male aufſtehen konnte, 
um Gehverſuche zu machen, waren drei Monate ver— 
ſtrichen. Gebuldig hatte er die ertragen. Der Arzt 
hatte ihm gejagt, er würde unter allen Umſtänden 
geheilt werden. Aber ſowie er merkte, daß jein Fuß 
lahmte und ſich nicht biegen ließ, daß das franfe 





Roftis Palamas. 


Knie gejchwollen war und er auch beim Gehen 
lahmte, da geriet er in Berzweiflung. Er brad) in 
Klagen aus, und ein brennender Schmerz peinigte 
ihn. Er jagte den Arzt mit feiner ganzen Arzneir 
weigheit zum Teufel und janf gebrochen nieder, um 
zu fterben. Umſonſt juchte ihn jeine alte Mutter zu 
tröjften, die in den drei Monaten um zehn Jahre 
gealtert war. 

„Laß die Neden, Mutter! Entweder wird mein 
Fuß wieder heil, ober ich will nicht länger leben. 
Gezeichnet fol mich niemand nennen !* 

Und ala eines Tages ein Freund zu ihm fagte: 
„Ah, dire fehlt ja nichts mehr. Sei nur nicht 
wunderlih. Wir wollen nad; Meliffi gehen. Das 
Mädel hat ſich's in den Kopf gejeht, dich zu ſehen,“ 
— ba fuhr Mitros wütend auf: 

„Saframent! Lieber will id) fie gar wicht ſehen 
als in ſolchem Zuftande! Lieber ein Mönch auf dem 
Berge und ein Einfiedler, ald ein Bräutigam mit 
lahmem Fuß!” 

Und jo brachte ihm die Erinnerung an die Schöne 
nur SHerzeleid! Was jollte man aud mit ihm in 
Meliffi anfangen? Sollte man ihn als Heiligenbild 
an die Wand hängen? Und nun jah er fi al 
Bräutigam, wie man ihn, mit feinem einen Fuß, 
umringte, wie er nicht mit übereinander geichlagenen 
Füßen bei Tiſch fißen, nicht den Tanz anführen, 
nicht laufen, lämpfen, ſcherzen und ausgelaſſen jein 
fonnte. Dann jah er ſich als Kapitän auf feinem 
Schiffen, wie er ſich nicht auf den Füßen halten 
fonnte, fi auf einen Stod ſtützen, an einem Seile 
halten und alles von andern erwarten mußte. Der 
Braut hatte man einen ſchmucken, Fräftigen Burjden 
veriprodhen, und nun follte man ihr einen vom 
Schickſal gezeichneten Menſchen geben! Er würde ı& 
jelbft nicht über ſich bringen, fie zur Sklavin zu 
machen. Und wenn fie es auch nicht zeigen würde, 
im Innern müßte fie ein beimlicher Kummer ver» 
jehren. Auch er würde es cbenjo machen: lieber die 
Peſt auf ſich laden als ein gezeichneles Weib. 

„Sch werbe mein Kind verlieren,” jagte die Dimos— 
Witwe jammernd; „nicht durch feinen Fuß, durch 
die Qualen, die ihm fein Fuß macht!“ 

Und fie meinte und befreuzigte fi. Die drei 
Unzertrennlihen arbeiteten und dachten inmerfort 
an ihn, den „Herrn Mitros“, ließen ihre Arbeit im 
Stid und gingen zu ihm, ihm Gefellichaft zu leiften 
und ihn zu tröften. Umſonſt! Er wollte von nidt? 
willen, Er wollte eine Säge nehmen und das Bein 
abjägen. Er wollte ein Beil nehmen und e8 abbauen. 
„Es giebt feinen Gott! Es ift auß!” 

So fam der Auguft. Der Kranke konnte ben 
Fuß erheben. Aber keines Menichen Auge wollte 
er auf fich fallen laſſen, und fo blieb er drinnen in 
feinem Haufe. Vom Fenſter aus hatte er die ruhige 





Der Tod des Pallikaren. 


Bucht von Thalaſſochoͤri vor jich, die bei jedem Kuß 
der Sonne von früh bis fpät in unzähligen Farben 
ſpielte. Man hatte das Meer vor ſich: morgens 
blänlich rot, mittags jilbergoldig, nach einer Weile 
dunkelgrün, dann beim Sonnenuntergang einen 
Augenblid veilhenblau. Und dann wieder jpielte 
es in allen farben zugleih, wie eine ganze Welt 
von Gedanken und Leidenſchaflen. Und die Winde 
trieben die ruhige See bald tief in bie Bucht hinein, 
bald jpülten fie Maffen ans Feſtland. Und ein 
andres Ausjchen gab ihr der Nordwind, ein andres 
der Ofiwind, einen andern Duft der Weit, andre 
Wogen der Süd. Und der Kranke von feinem 
Fenſter aus betrachtete mehr als alle die Farben, 
das Braufen und Wehen und alle die Schönheit, 
nur die Schiffe, die leicht gefräufelten Gewäſſer mit 
den weißen Segeln, die man nur ſchwer von den 
Ihwarzen Sturmvögeln und den Möwen mit den 
weißgrauen Flügeln unterjcheiden konnte. Und er 
ſah die beladenen Filcherbarfen gehen und kommen 
und die Schoner, die Korinthen für die Hauptitabt 
bradten. Und von der Nüdjeite des Haufes aus 
ſah man die grüne Linie des Ackers. Wie von 
Ambra funfelten die Trauben an den Reben, und 
die Rorinthen ſchwärzten fi auf der Tenne. Welchen 
Duft ftrömte das fruchtreiche Gefilde aus! Jeder 
Landmann war vom Frührot bis zur Abendbämmes 
rung auf den Beinen, Die Arbeiterjharen, Kefal— 
lonier mit Haden und Weiber von Amphiſſa mit 
Körben, zogen am Fenſter vorüber. Das Meer 
ſandte ihm feinen Salzgeruch, das Feld feinen ſüßen 
Duft Herüber. Und je mehr er fich jelbft verſtümmelt 
vorfam, um jo jchöner jchien ihm die Welt; und je 
mehr er jeine Jugend dahinwelken jah, um jo mehr 
ihien die Welt ſich ihm zu verjüngen. Wo fonnte 
er in folcher Jahreszeit fein! Wo lonnte er umber« 
jegeln und arbeiten! Und das nennt man ein Leben! 

Die Kameraden juhten ihn auf alle Weile zu 
ermutigen, und da er nichts von den Aerzten in 
hen willen wollte, ſprachen Jie immer nur von den 
Wunderdolioren des Dorfes, die allerlei Krankheiten 
heilten. Und wie es immer geht, ein jeder fand in 
feinem Kopf eine Geſchichte von einem Kranken, der 
von dem Arzt aufgegeben war und nur von Quad 
jalbern geheilt wurde, Und alle, die ihn bejudhten, 
Jung und Alt, vom Priejter bis zum Lehrer, alle 
gaben ihm den Rat, er jolle fich nichts zu Herzen 
nehmen und nur Geduld haben, aber aud ja die 
Werzte meiden. 

Eines Tages, am 15. Auguft, fam gegen Abend 
eiligen Fußes Jannalos Tarnanamas angelaufen. 
Es war aus dem Dorfe Lygaria ein berühmter 
Arzneitundiger angefommen, Namens Ropanigas, 
Er war weitberühmt in ganz Rumelien und noch 
darüber hinaus, in halb Morea. Sobald man ihn in 


845 


Thalaſſochöri wittert, fommen ganze Scharen herbei, 
ihn aufzufuchen. Jede Krankheit fennt er und jede heilt 
er; er ift ein ausgezeichneter Chirurg. Alle, die Jan- 
nakos befragte, jagten ihm, daß er Wunder verridhte. 
Warum follte man ihn alfo nicht zum Mitros holen ? 

Troß des Leides, dad Mitros zu tragen hatte, 
brachte er allmählid alle, die ihn liebten und um 
ihn befümmert waren, zu der Meberzeugung, nicht die 
Verwundung feines Fußes an ſich fei dad Schlimmifte, 
jondern die Befürchtung, daß er lahm bleiben könnte, 
Solches Unheil zu verhüten, ſollte man alles auf» 
bieten! So holte man denn den Kopanikas. Alle 
verlangten nad) ihm, der Sohn, die Mutter, die drei 
Freunde, die ganze Berwandtichaft. 

Mit einer Fuftanella befleidet, etwa fünfzig 
Jahre alt, ſchlank, mager, mit großer Nafe, bartlos 
und — mit einem Worte, — das war der Kopanitzas. 

Es mußte ein bitteres Gefühl für den Kranken 
jein, wenn er vor ihm ſtand. Doc was lieh ſich 
jegt maden? Auf einem Auge jhielend, jo daß es 
wie für zwei aus den ſchwarzen, buſchigen Brauen 
hervorjah , jo trat er ind Haus, mit einer gar wid. 
tigen Miene! — Er beſah den Fuß, drüdte ihn, 
drebte ihn und fprad dann: 

„Ich werde ihn dir kurieren; ich werde thun, 
was in meinen Kräften fteht.“ 

„Das giebt dir Gott in deine Hände, Doltor!* 

„Es müfjen zunächſt drei bis vier Tage vergehen. 
Wir werden dann bei Mondichein umhergehen. Jetzt 
find teübe Tage. Denn es giebt welche, wo es dem 
Menſchen ſchon große Krankheit bringt und ihn 
ruinieren kann, wenn man ihm das Blut abzapft. 
Heute haben wir den bdreizehnten, wir wollen den 
jechzehnten abwarten.” 

Dann wandte er ſich zur Dimena und gab ihr 
ichnell das Rezept: 

„5 Gramm Fenchel, 10 Gramm Maftir, 8 Gramm 
Rhabarber, 5 Gramm Anis, 2 Gramm Pfefferwurzel, 
2 Gramm Zimmet; das fein geftoßen, eine Ofa 
Honig, den Schaum davon abgenommen, mit dem 
Honig gekocht, gut durcheinander gemilcht, und ihm 
dann zu eſſen gegeben. Das tft das befte Stärfungs- 
mittel; dabei farın er alles aushalten.“ 

Bis der fechzehnte fam, blieb er feit zu Haufe 
liegen; man mußte den Arzt vollftändig beföftigen ; 
er hatte feine Luft, in die Garlüchen von Thalafjo- 
choͤri zurüdzufehren und in feiner Herberge zu über« 
nachten. Er verlor ſich ganz ins Reben und erzählte 
nur immer von den Wundern feiner Kunſt. Und 
Jannakos, Markos und Tari Tarela ließen ihn 
nicht von ihrer Seite und hörten ihm mit offenem 
Munde zu. 

Der Tag, den man mit Herzflopfen erwartete, 
brad an. Am fechjehnten des Keltermonats, bei dem 
erften Mofl und dem erften Regen, bei den letzten 


846 


Schwalben und ben Iehten Trauben, jagt ſtopanitzas 
zu Mitros: 

„Nur ein wenig Mut! E& wird dir etwas weh 
thun, und dann ift alles vorbei.“ 

„Schmerzen halte ih jhon aus, Doktor, nur 
mein Fuß...“ 

Der Kopanißas gab dem Markos und den beiden 
andern einen Wink: „Haltet ihm ordentlich feit, 
aber gut..." 

In der Mitte des Zimmers breitete man Deden 
und Tücher aus, darauf legte man den Mitros, 

„rau, die Salbe fertig!” — „Da trinf, Mitros!” 
Nachdem er getrumfen, faßt ihn der Wunberdoftor, 
legt ihn auf den Rüden, nimmt den reiten Fuß, 
den franfen, und legt ihm über& Kreuz auf die linte 
Schulter und den linken auf die rechte Schulter; 
darauf tritt er — ja, tritt er auf den kranken Fuß. 
Ein Knacken und ein Stöhnen des Gequälten. Ind 
alle drei konnten ihn nicht halten, wie er aufiprang 
und zufammenzudte. 

„Hilf, Jeſus Maria!* jchrie die Mutter. 

„Ums Himmels willen, werde nicht ohnmächtig, 
Mitros!” jagten die andern. 

„Du haft mid) umgebracht, ach!“ ſtöhnte Mitros. 

„Seht wirft du fliegen wie ein Bogel! In vier 
zehn Tagen bift du gefund.“ 

So ſprach Kopanigas, wandte ſich wieder zur 
Mutter und gab ihr ein neues Rezept, das dem 
eriten nicht® nachgab. 

Draußen vor der Thür erwartete ihn fein Maul« 
ejel. Er ftedte die zwei Yünfgrofchenftüde in feinen 
Gürtel, wünjchte dem Kranlen und den Gefunden 
Lebewohl, und niemand fah ihn wieder, 

Von nun ab jah aud Mitros feine Beſſerung. 
Die vierzehn Tage vergingen, und noch fonnte er 
nicht aufjtehen. Der Fuß wurde wund und fing an 
zu jchwären. Mitros auf feinem Lager, wie ein 
Gefolterter, verging dor Krankheit und Schmerzen. 
So verfloffen zwei Monate. Es fam der Winter 
heran; Südwind mehte; vierzig Tage und vierzig 
Nähte ununterbrodyen Negen; die Mauern bebedten 
fih mit Gras, und der bleierne Himmel bebrüdte 
das Herz. Wehe dem Sranfen! 

Mit dem Kranken aber ging es von Tag zu Tag, 
von Stunde zu Stunde fhlechter. Der Arzt, der 
den Fuß zuerft behandelt hatte, erichien wieder, man 
fiel ihm wieder zu Füßen. Aber wie er den Patienten 
nad) fieben bis acht Monaten wiederfah, da vergaß 
er vor Schreden und Sammer alles Schelten; faſt 
hätte er weinen mögen, doch feinen Augen entlodte 
man feine Thränen. 

„No zu Bett!“ jagte er. „Du mußt etwas 
gethan haben. Aber könnt ihr denn nicht auf mic 
hören? Habe ich dir denn nicht gejagt, du joljt 
den Fuß nicht bewegen?" 





Kofti8 Palamas. 


Er jah den Fuß an, ſah ihn nochmals an, und 
wie er ihn fo ſprachlos und erfchöpft Liegen ſah, ſprac 
er abermald: „Ab, es fehlt dir nichts, es wird hen 
beſſer werden.” 

Heimlich aber jagte er zu feiner Mutter und den 
andern, die bei ihr fanden, troden und gerade heraus: 

„Unmöglich, ihn zu furieren! Die Kurpfuſchet, 
auf die ihr gehört habt, haben ihn zu Grunde gr 
richtet. Die Sehne ift zerrifen und leblos; der 
Krebs frißt im Innern, wenn nicht der Fuß ab- 
genommen wird, Seht zu, daß ihr ihn jo jchnel 
wie möglich nad) Athen Schafft, aber rechtzeitig!” 

Drei Tage und Nächte fuchten ihn Mutter und 
Freunde zu überreden. Aber immer nur gab er eine 
Antwort, immer diejelbe unveränderte: 

„Lieber tot, als mit einem Fuße herumlaufen!* 

In Wirklichkeit hatten alle ihn aufgegeben. Eie 
glaubten an feine menschliche Kunft mehr. Es war 
fein Geſchick, ſagten fie, und warteten auf ben Wil 
Gottes. Sie wollten ihn weder viel beläfligen noch 
bintergehen oder gegen feinen Willen nad Alben 
bringen. Schließlich empfanden auch fie einen tieien 
Schauder, wenn fie ſich Mitros mit einem Fußt 
vorjtellten. Tot oder verftümmelt — fie konnten ſich 
beibe Uebel gar nicht voneinander getrennt denen, 
Die Witwe Dimena ſprach jeit Monaten wenig und 
dachte viel. Nur ein Gedanke ftieg in ihr auf und 
gewann Raum, je mehr er ihr den Sinn durchdrang: 
Man hatte ihren Sohn behert! Die Krantheit war 
nicht von Golt, fie war von Menſchen gejandt! 

Die Mutter der Morfo, Garufaliä, die Karten 
legte und Luftgeifter beſchwor, hatte einen Blid auf 
den Jungen, hatte es ſich vorgenommen, ihn mit 
ihrer Tochter zu bethören. Und als fie jah, dab er 
ihr entwijcht war und die Tochter einer andern 
nehmen wollte, da fann fie auf Rache. Die Atjhro 
hatte ihr's ganz richtig gefagt: eines Abends, als fie 
mit ihrem Kruge von der Quelle zurückkam, ſah je 
zwei halbverhüllte Weiber vor dem Haufe der Dimena; 
fie jah im Mondlicht, wie die größere, die Hund 
gegen das Haus geftredt, Drohungen ausſtieß, un 
die Heinere mit Hexenſtimme ausrief: „Ich befomme 
dich ſchon!“ Und die Arjyro hatte erfannt, dab e 
die Garufaliä und die Morfo waren! Es hatten ib 
ſchon die Nahbarn gefagt. Das ganze Dorf tujcelte; 
e3 war fein Geheimnis mehr: Die Garufalis hatte 
fich’8 vorgenommen, Mitros durch Zauberei zu ver- 
derben. Sie zog nad) Arta, fuchte die Türkin, die 
Zauberin, auf und bat fie um Zauberformeln. Und 
die Morfo, die Hünbin, ließ Mitros von dem Tagt 
an, wo er fich in Meliffi verlobt hatte, unter die 
Toten einfchreiben, ihm eine Totenmeſſe lejen und 
ein Requiem für den Cebendigen abhalten. Und dieie 
Zauberei ift unfehlbar. O, die falſche Morfo! 

Ihre Mutter hatte der Dimos- Witwe eine Werbung 


Der Tod des Pallikaren. 


um Mitros geſchickt, und bieje hatte zur Werberin 
gejagt: 

„Ih habe ihn aufgezogen mit den Sorgen und 
Leiden der Witwe und einen blühenden Burjchen von 
adtzehn Jahren draus gemadt. Und nun, wo id 
jein Glüd ſehe, ſoll ich ihn fo jung verheiraten? 
Und welche jol er nehmen? Die Morfo?” 

Und nochmals fandte fie eine Werberin, aber 
auch dieſer antwortete fie: 

„Denn er fie will, mag er fie nehmen; aber in 
meinem Haufe will ich fie nicht wieder jehen.” 

Und kurz darauf wechjelte Mitros mit Phrofyne 
die Kinge. 

Die Mutter ließ nun Aerzte Aerzte fein, und 
anftatt ihn mit nad Athen zu nehmen, verließ jie 
in eines Morgens und zog nad der Gegend von 
Vatras zu. Sie fuchte eine Wahrjagerin auf, die 
dort bei allen Griechen großes Anjehen genoß. Diele 
gab ihr Zauberfräuter,; wenn fie dem ſtranken den 
Saft davon gäbe, jo würde der Schmerz vorüber« 
gehen. Aber die Dimena merkte, daß fie e8 ihr nur 
zum Trofte gab, nicht als Arznei, denn fie hatte ihr 
andertraut, ihr Eohn wäre nicht zu reiten, 

So lehrte fie heim nad) Thalaſſachoͤri. Ihr Sohn 
erwartete jie wie eine Märzſchwalbe. Bon Arznei 
wollte er nicht willen, aber an Zauberei glaubte er, 
Als man daher nad) einiger Zeit eine andre Wahr: 
jagerin holen ließ, da empfing fie Mitros wie ein 
Kapitän, der das erfte Lüftchen für feine Fahrt er— 
wortet, In jeinem bleichen Gejicht blikte fein Auge, 
und ein Lächeln wie ein Stern an wolfenjchwerem 
Himmel jpielte um feine Lippen. Nur einmal hatte 
ihn jo jeine Phroſyne gefehen, jonft niemand, Die 
Zauberin fam: brünett, ſchlank, mit melodijcher 
Stimme. Was bedurfte e8 noch der Zauberei bei 
ihrem Bid? Sie beugte fi über Mitros und 
blidte ihn jo janft und mitleidig an, daß er meinte, 
mun feien die Qualen zu Ende. Er wartete nur 
noch, daß fie ihn bei der Hand nehmen und zu ihm 
iprechen würde: „Stehe auf und wandle!“ Er glaubte 
an Zauberei, ihre Schönheit hatte ihn bezaubert. 

Die Jüdin nahın feinen rechten Fuß, warf etwas 
darauf, was wie Ducdfilber ausſah, und befahl, «8 
während der Nacht hinaus in die Dachrinne zu legen. 

„Was ihr auch diefe Nacht hört, Iprecht kein ein» 
jiges Wort!” 

Sie legten fi) abends zum Schlafe nieder. Es 
war noch Winter, aber die Nacht mild und flernen« 
hell wie im Frühling. Nur die Mutter wachte bei 
Mitros, ſich an feinem Bette niederfiredend. In 
diefer Naht, und mochte fie alle Gejundheit der 
Welt und alle Sorgenfreiheit in fich bergen, fonnten 
Mutter und Sohn fein Auge zuthun. Die Mutter 
dachte an die Morte der Jüdin: „Was ihr aud) 
dieje Nacht hört, Äprecht fein einziges Wort!" Und 


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beide bejchlich eine Furt, und zugleich durchſtrahlte 
fie ein Hoffnungsihimmer. 

In der geräumigen Stube bämmerte die Hänge: 
lampe; man ſah nichts als das Ilonoftafion *) mit 
dem rauchgeihwärzten Chriftus und dem verfilberten 
St. Nitolas jowie eine Flinte und ein Ruder, beide 
in eine Ede an der Wand gelehnt. Mitros lieh feine 
Ihlaflojen Augen von der Lampe auf die Heiligen- 
bilder und von da an den Herd jchweifen, als wartete 
er auf etwas, das aus der Finfternis herangeſchwebt 
fäme, irgend ein unerwartete Geheimnis, Und in 
dem Dämmerlichte flofjen der Schatten, den der Ehriftus 
warf, der Silberjchein des heiligen Nitolas, das lange 
Ruder und die Geftalt der Flinte ſeltſam ineinander 
und mwurben zu gejpenflifchen ſchwarzen Geftalten, 
bie fi emporredten, als flüfterten fie ſich zu, unheim— 
liche Wejen, die ji jeden Augenblid als Luftgeifter, 
Schidjaldgötter, abgeichiedene Seelen offenbaren 
fonnten.... wer weiß, was nod) alles an den Tag 
fommen würde! Dem Armen jhlug 's Herz, fein 
Kopf war voll von Geſchichten aus einer andern 
Welt, von Märchen aus einer andern Zeit, und er 
wartete wie ein Sträfling, der nidht weiß, ob man 
ihn töten oder Gnade ergehen lajjen würde, Und 
als die Mitternadht herankam, die frieblih und 
ſternenklar hineinſchaute, da brach auf den Ziegeln 
des Daches ein Höllenlärm los, Kiefeljteine fielen, 
als eröffnete man ein Kreuzfeuer auf das Haus, 
als regnete der Himmel Hagel aufs Dad nieder. 
Man hört ein Pfeifen, Stimmen werden laut. Der 
Boden jhwanft, die Thüren und fFenfter ächzen, und 
vor den Augen des Sohnes tanzen jeltfam Lampe 
und Heiligenbilder, Lichter und Schatten. Der Atem 
fteht ihm fill. Er fann nicht ſprechen, obwohl er 
es gar nidjt will, Er denkt an die Worte der Jüdin, 
zittert vor Furcht, die Neraiden **) könnten ihm die 
Sprade rauben, er berührt feine Mutter mit dem 
langen Steden, ben er an der Seite hält, ob fie 
auch nicht ſchläft und ob jie merkt, was vorgeht. 
Und die Mutter Hopft, ohne zu ſprechen, auf den 
Boden, zum Zeichen, daß fie nod wach wäre und 
es hörte, Bon jener Stunde an verharrten Mutter 
und Sohn in regungslofer Stille und warteten, bis 
jeder Lärm zu Ende und die Ruhe wieder eingezogen 
war, Aber jie horchten noch immer und glaubten 
das Pfeifen, Poltern und die Stimmen zu vernehmen 
bis zur Morgendämmerung. 

Wie es graute, war aud) die Zauberin da. Sie 
verlangte nad dem Prlafter, das während der Nacht 
draußen gelegen hatte, betrachtete es finnend, lächelte 
dem Mitros freundlich zu und ſprach zur Mutter: 


*) Die mit Heiligenbifdern bemalte, beitfhirmartig im der 
Stube und in der Kirche aufgeftellte Wand, 

” Weibliche Luft und Waffergeifter, ähnlich unfern (Elfen 
und Rizen. 


848 


„Hab' ich's euch nicht gejagt? Der Junge ift 
behext. Unmöglih, ihm zu heilen! Hätte man ſich 
gleih an die Wahrjagungen gehalten und fich nicht 
mit den Werzten eingelaflen, er wäre nod) zu retten 
geweſen.“ 

III. 

Auch der Winter war vergangen. Der Schnee 
auf dem Zygosgebirge war geſchmolzen, nur ſein 
Gipfel ragte noch, wie im einen zarten weißen 
Schleier gehüllt, hervor. Auf dem Felde blühten 
ſchon die Mandelbäume, in den Häuschen des Dorfes, 
auf jedem Altan, auf jedem Söller grünten Baſilikum, 
Minze und Anemone in Blumentöpfen und Käſtchen. 
Die ärmlichſten Hütten waren wie in ein Diclicht 
von Blumen eingebettet. Die Dorſdirnen mit ſchön 
geflochtenen Zöpfen und jchlanfem Wuchs maden 
fih im Frühling ein bejonderes Gewerbe daraus, 
die Blumen zu begießen und zu ordnen. Und auf 
Altanen und Söllern, in Thür und Fenſterniſchen, 
und zwijchen den Blumentöpfen hatten die Schwalben 
ihre Meter gebaut. Wie leicht fanden jie alle dort 
ein Plähchen, um fich einzuniften. Je ärmlicher das 
Häuschen war, um jo reicher, um jo forgenfreier 
fühlten fich die armen Schwalben. Faſt meinte man, 
fie merften es jelbit. 

In Mitros’ Gehöft hatte fich keine Blume aufs 
gethan; zwei, drei Blumentöpfe ftanden leer auf den 
Brettern. In dem Kopf ber alten Dimena hatte die 
Sorge für Blumen feinen Raum. Im vergangenen 
Winter hatten Wind und Wetter die Blumentöpje 
an der Borberjeite des Haujes jamt den Brettern, 
bie fie trugen, fortgerifien und mit ihnen aud) die 
Neſter mit allen Schwalben. Niemand dadıte daran, 
fie wieder aufzuftellen. Und als der Frühling fam 
und auch die Vögel wiederfehrten, da ließen fie ſich 
nicht in dem Haufe nieder, jondern ſchlugen mit den 
Flügeln und flohen aus der Verwüſtung. 

Der Karneval ging vorüber, die Faſtenzeit neigte 
ih zu Ende, der April verjüngte das Leben und 
ftreute neue Kräfte aus für den Kampf ums Dajein. 
Neue Freuden füllten die Seele, neue Sorgen den 
Sinn. Wie die Blume öffnete die Liebe Die Augen, 
die geöffneten Kirchen jirömten Weihraudhduft aus, 
und die Herzen, noch weiter geöffnet, waren von 
neuer Hoffnung geſchwellt. Diele Zeit verfügt aud) 
dem Gequälten dad Dajein, der Verzweifelte ſchöpft 
neuen Mut; und wer ſchon aufs Ende gefaßt ift, 
der umarmt nur um jo feiter das Leben, fucht e8 jo 
teuer wie möglich zu verkaufen. 

Für Mitros gab es feine Rettung mehr. Seine 
Tage waren gezählt. Umſonſt waren die Aerzte mit 
ihrer Arznei, die Zauberinnen mit ihren Wahr- 
jagungen. Der Fuß war vom Krebs befallen. Das 
Gift flieg immer höher und ging ins Blut über. 
Dabei lag er ſtumm und unbeweglich, nur feine 


Koftis Palamas. 


Augen ſprachen und rollten umher, als erwarteten 
fie den Charos. 

Die arme Dimena war vor Nachtwachen und 
Kummer unfenntlic geworden und bis zum Gerippe 
abgemagert. Die drei Freunde ſprachen weder nad 
rührten fie fi von jeiner Seite. Am Karfreitor 
holte man den Papa Thymios, ihm das Abendmahl 
zu jpenden. Der Tag brach an, nicht wie ſonſt mit 
finfterem Himmel, ſondern ftrahlend blau. Mit dem 
erjten Lichtjtrahl, der ſich durch die Wandrige ju 
Mitros’ Lager ſtahl, fuhr dieſer auf, ſtieß einen 
Schrei aus und rief: „Mutter, ich will Sonne, Kit! 
— Mad das Fenſter auf!“ 

Und fie machte das Fenſter auf. Sonnenſchein 
durchflutete das dunkle, öde Gemach. Wie feitlihe 
Freude ergoß ſich das Licht über Dielen, Wände, ir 
alle Winkel. Es umifpielte den Kranken, und man 
meinte, das jei der einzige Arzt und der einjig 
Zauberer. Die Frühluft, die belebend bereinftrömte, 
jpielte in feinen langen, ungefämmten Haaren. Un 
durchs offene Fenſter jchweilten feine Augen gerad: 
hinaus und begegneten ſich mit der Stillen Budi, 
berjelben, die unter dem Goldkuß der Sonne in 
taujend Farben jchillerte. Nur daß der Auguit ihr 
damals nicht jene geheimnisvolle Schönheit verieiken 
founte, wie es heute der April that, der and al 
Atemzügen und allem Sehnſuchtsdrange des Leben: 
geihaffen if. Und in einer Ede des SHafendamme 
erjpähte fein Auge ein Boot, fein eignes, bei 
abgetafelt auf der Seite lag. Und gleich, al& ob 
die Sonne feinen Sinn noch tiefer durchleuchtete alt 
das Haus, merkte auch er, daß fein letztes Stünbdlein 
gelommen, dab Charos auf ihm fag und er jih al 
ein waderer Held ergeben müfje. Und die Sonne, di 
Zauberin, berüdte und beraujchte ihn mit einem wunder: 
jamen, ſchweren, aus Leben und Tod gefelterten Wein. 

„Einen Spiegel, Mutter, einen Spiegel!” 

Ein fehnfüchtiges Verlangen nah Schmud und 
Pub hatte ihn plößlich ergriffen; er wollte feine alk, 
blühende Jugendfrifche wieder herſtellen zur Reiſe in 
die Unterwelt. Es war ihm, als made er ſich 
fertig zum St. Eliasfeſte, das oben auf den Abhängen 
des Zygos gefeiert wurde. Und die Mutter, web 
fiagend über das Unheil, das fie ahnte und doh 
nicht merkte, das jie merkte, ohne daran zu denken, 
brachte ihm den Spiegel. Er nahm ihn und begann 
fi) darin zu beſchauen, aber er ſah nicht ſich jelbil, 
jondern nur taujend goldene Erinnerungen , taufend 
Bilder von feiner Jugendzeit an bis jet; Bilder 
und Erinnerungen, die in feinem Gemüt begraben 
lagen, nod) einmal aus ihrem Grabe emporftiegen und 
leicht beichwingten Vögeln gleich vor jeinem erlofchenen 
Blide zitternd über das Glas hufchten. Der Spiegel 
erihien ihm wie jener Zauberjpiegel, worin man die 
ganze ferne Vergangenheit erblidte und die ganze 


Der Tod des Pallifaren. 


ferne Zufunft. Dann auf einmal jah er im Spiegel 
nichts weiter als fein totenbleiches, abgezehrtes Geficht. 

Ta rief er mit dem ganzen Herzeleid um bie 
verlorene Lebensfriſche aus: 

„Ah, die ſchöne Jugend, wie fie dahinwellt!“ 
Und bei den Worten „ſchöne Jugend“ ergriff ihn 
noch einmal das Verlangen nach irdiicher Freude, 
nach Put und Schönheit, die feinen echten Pallifaren 
je verläßt, jelbjt nicht in des Todes Armen. Er | 
begann fih die krauſen Haare zu kämmen, die in | 
io dichten, langen Locken herabfielen, als hätten fie 
die ganze Friiche und Fülle des Körpers eingelogen, 
fo üppig wucherten und wuchſen fie. Dann drehte 
er feinen Heinen Schnurrbart, als rüftete er jich zu 
einer zweiten Verlobung. Und wie er damit fertig 
war und auf einen Arm geftüßt dalag, ſprach er, 
als ob ein plößliches Licht fein Gehirn durchzuckte, 
jur Mutter: 

‚Nun, arme Mutter, jo lange hatte ich guten | 
Mut. Ich glaubte, id) würde nicht fterben... Um 
einen Gefallen noch bitte ih did: Sing mir ein 
Magelied, damit ich's höre.“ | 

„Aber, mein Kind, was find das für Reden! 
Magen fol ich jet um dih? Iſt es jo weit ges 
fommen mit dir?“ ftammelte entſetzt die Alte, 

„Ad, und ewig ad)! So finge doch ein Slagelied, | 
Mutter! Sing und weine do! Siehft du, jo: 

‚Die Jugend wird zu Erd’ und Staub, der Jünglingsmut zum 
Rafen, 

Zu Erbe wird der Fralfenleib, darauf man tritt mit Füßen!“ 

So, Mutter, da8 mußt du fingen, wo du gehſt 

und ftehit!“ 

Er ſchwieg ein Weilden, dann fuhr er plößlich 
auf und rief verzweifelt: ) 
Ich will nicht allein fterben; Leute will ich um 

| 











mi haben! Mad) die Thür auf, Mutter, daß die 
Veute hereinlommen!“ 

Es mochte etwa gegen Mittag fein. Die Dorf— 
bewohner famen aus der Kirche zurüd, Männer, 
Weiber und Kinder, mit Blumen in der Hand, 
Blumen von der Grablegung. Und wie das Singen 
an die Chren der Leute drang, die aus St. Nifolas 
lamen und gerade dort vorbeijogen, da Hang es 
ihnen wie ein verhaltener, heiferer Klageton entgegen, 
daß es fie wie ein Schauder durchfuhr, ein Ton wie 
von einem lebendigen Weien, einem Menjchen, ein 
Ton, der fiel und flieg, erftidt wurde und frei dahin» 
ſtrömte, dab es ringaum wiederhallte. Es war fein 
Sprechen, fein Klagen, fein Weinen, fein Lachen, 
fein Fluchen und aud fein Singen. Es war das 
Ausftrömen einer gequälten, wahnfinnigen und ver— 
jeifelten Seele. Die Vorübergehenden horchten 
auf, blieben ftehen, fuhren zufammen, jchüttelten den 
Kopf, und einer jprad) zum andern: 


| Rnechte und Tagelöhner. 





„Ein Totenlied? Wermag denn nur geftorben fein?” 
Aus fremden Zungen. 1897, 11. 18, 


349 


Da wies einer auf Mitros’ Haus hin und fagte: 

„Wißt ihr's denn nicht? Aus Mitros’ Haufe 
fommt der Gejang. Der Herr Mitros ift tot!” 

Mitros tot! Mitros, der prächt'ge Burjche, ber 
fih ein ganzes Jahr lang auf dem Sranfenlager 
gequält hatte! Er, der von allen bewundert und be= 
neidet wurde, ber Beherte, ohne alle Schuld zu Tode 
Gemarterte! Wie Hagelfchlag fiel die Kunde auf 
ganz Thalafjochöri nieder. Alle, die fie vernahmen, 
jeufzten tief auf und rangen die Hände, die Frauen 
zogen fih an den Baden, als hätte man nicht jeit 
Monaten darauf gefabt jein müſſen. Man konnte 
es nicht begreifen. Wenn ein Pallikare wie Mitros 
ftirbt,, dann ftirbt ein ganzes Leben, dann erlischt 
die Sonne! 

Und nun begab ſich etwas, das aud im Gedächtnis 
der ältejten Leute noch nicht in Thalafjohsri da— 
gewejen war. Jeder, der die Nachricht hörte, fagte 
fie dem andern, und jo fort; wie und wo er auch 
war, jeder eilte gefchwind zu Mitros’ Haufe Wo 
follte fi aber die ganze Menge zuſammenſcharen? 
Frauen in Feſtlleidern mit ſchwarzen Kopftüchern, 
Frauen im Alltagsrod, jo, wie fie aus ihrem Haufe 
famen. Männer der verſchiedenſten Art, Hausbefiker, 
Kleine Kinder, die man 
an der Hand hielt, und ganz feine, die nod an der 
Bruft lagen — alles 309 von der Kirche geraden« 
wegs dorthin. Man glaubte, es würde in jenem 
Haufe „das Yeiben Chrifti” gefeiert, und es ſei noch 
ein Epitaph dort aufgeſtellt. Man meinte, die 
Blumen, die fie noch in der Hand hielten, wollte 
man dem Toten aufs Lager ftreuen, ihm damit den 
legten Schlummer zu verfüßen. 

Das Haus blidte ihnen mit offenen Thüren und 
Fenſtern entgegen, in der Mittagsjonne gebadet. 
Niemand fonnte die Menge zurüdhalten. Ale, die 
zuerjt berbeifamen, eilten mit großen Schritten über 
die Schwelle, ſtürzten die Treppe hinauf und zer— 
ftreuten fi in alle Räume des Haujes. Die übrigen 
warteten draußen. Und immerfort famen neue 
Scharen herbei. Und immerfort famen fie herunter, 
und immerfort drängten andre nad. Plötzlich er 
Ichienen die, denen es gelungen war, zuerft ins Haus 
zu fommen, drinnen an den Fenſtern, dann gingen 
fie wieder hinab, niedergejchlagen, befümmert, mit 
bleihen Gefichtern und brachten neue Kunde: 

„Er ift ja noch nicht tot! Er liegt nur im Sterben 
und bat verlangt, man jolle ihm ZTotenlieder fingen, 
jolange er noch lebt. Was jagt ihr dazu? So etwas 
it doch noch nicht dageweſen!“ 

Und es war wirflih jo. Alle, die ins Haus 
traten, fanden wie verfteinert. Während fie erwartet 
hatten, ihn tot zu finden und ihm den Totenkuß zu 
geben, jahen ſie ihn vor ſich aufrecht im Bette ſitzen, 
mit wilden Gelicht, ftieren Augen und geipannten 

107 





850 


Ohren, wie ein ungeduldiger Hengft, der auf die 
Wieſe binausftürmen will, wie ein Pallifare, der 
wartet, daß man ihm jeine Waffen bringen joll, um 
fih in den Kampf zu ftürgen. Und in einer Ede 
jaß zuſammengekauert die alte Dimena, unbeweglich, 
nur no ein Reſt von Körper, ohne Seele, ohne 
Thränen; ihr ganzes Leben war zu einer Stimme 
geworden, zur Stimme der Verzweiflung jelbft. Und 
in einer jeltjam wunderbaren Melodie, die man nicht 
wieder vernahm, fang fie die Worte: 

Im Todestampf ein Jüngling liegt, ein ſchöner Jüngling flirbt; 
So zündet grüne Kerzen denn und bleiche Lampen an, 

Daß fie hinab den Hadesweg dem ſchönen Jüngling leuchten. 
Denn Treppen auf und Treppen ab, jo geht's bort ohne Ende.” 

Die Bafilo, ihre Schwägerin, die ih nicht 
mäßigen konnte, unterbrach fie: 

„Liebe Dimena, fo etwas ift doch unerhört! Dein 
Kind Lebt noch, und du fingft ihm Totenlieder.” 

Aber anftatt daß die Mutter antwortete, unter« 
brad) fie der Sohn: 

„Mach, daß du fortlommft! Ich will, da fie 
um mid Hagen.“ 

Und ſich zu der Heinen Lolo wendend, feiner 
Muhme, die vorm Bett auf den Knieen lag und 
ihre ftillen Thränen im Taſchentuche verbarg, ſprach 
er mit wilden Blid: 

„Was, Lolo, warum Hagit du nit auch?“ 

Und weiter erjholl das Klagelied in der Ede: 
„2a fand ihn wohl ein Würmelein, Das fragt’ ihn allfogleid: 
‚Wohin denn ſchwindeſt, Silber, bu, was wirft du, Gold, fo bleich? 
Wohin denn, Silberglödlein, du, daß dir dein Schall verftummtt‘* 

Und von den Lippen der Mutter pflanzte ſich 
das Rlagelied fort auf die Lippen der andern Weiber, 
wie eine Kerze fich entzündet an der andern, wie die 
Uferfluten, wenn fie anfhwollen und Thalaſſochsri 
überſchwemmten. Und inmitten der Hagenden Weiber 
taudhten andre Weiber auf mit Blütenkränzen umd 
welten Sträußen in der Hand und weiterhin noch 
andre in den andern Stuben, die Käften öffneten 
und die Bahrtücher zurechtlegten für den Toten, der 
noch atmete; und inzwiſchen ftrömte die Menge in 
einem fort ein und aus, und darunter waren auch 
Jannalog, Markos Raninias und „Tari Tarela” ; 
abgemagert von dem Wachen und zerichlagen vor 
Schmerz, jo jtarrten fie mit den Augen wie Blinde 
vor ſich hin und hörten und ſahen nichts. Auf einem 
Tiſche jtand die goldgeftictte Müte, ein letztes Gejchent 
der Braut an den Unglüdlihen, der ihr nun für 
immer entfliehen ſollte. Mit der Mütze wollten fie 
ihn ſchmücken auf dem Totenbett. 

Von Mittag ab begann der Todesfampf. Er 
hielt den ganzen Nachmittag an, Und der Pallikare 
ftöhnte laut und wurde aufgerüttelt. wie ein Stüd 
Land, das ein dämoniſches Erdbeben aus den Grunde 
fejten der Erde emporjchleudert. 








RKRoftis Palamas. — Der Tod des Pallikaren. 


Und in dem Seelenfampf, in dem lekten Ai: 
fladern des Lebens entrangen ſich ihm ſtoßweiſe die 
Worte: 

„Ad, mein Gott, was habe id) ausgeitanden! 
... Du trägft eine Fuſtanella ... ſachte, jahte... 
tritt mir nicht auf den Fuß... ah was! Was find 
das für Leute! ... Bitte, bitte! ... Mutter... tritt 
nicht weiter hinauf, Pla, Platz! ... Ich will Luft! 
Sühes Leben!... Geh aus der Sonne!... Is 
hab’ mich ergeben...“ 

Und damit übergab er feine Seele dem Charsz, 
Sie entfloh ihm vor den Augen der Menge, wie 
wenn der Holzhauer nad langem Kampfe angefiät: 
des ganzen weiten Waldes eine Pappel niederftredt. 
„Schade um den Ballifaren, der ohne Schuld dahin 
geht! Heil dir, Herr, der du ihn erlöft haft!" Co 
ging e& durch die ganze Menichenmenge von Mitrot 
Lager bis hinaus auf die Straße. Und vom Haie 
des Toten aus erblidte man drüben am Rande de 
Meeres die Sonne, die blutrot unterging. Dei 
Waſſer am Strande fräufelte fein Haud. Ein tiefe 
Friede in der Natur! Es ruhten Land und Mer, 
als wollten fie nicht den zeitlihen Schlaf des Ewigen 
ftören, nod) den ewigen Schlaf des zeitlichen Menſchen 

Alsbald jahen die, die noch in der weiten Stube 
bei dem Toten ftanden, wie die alte Dimena vom 
Lager des Sohnes, woran fie wie fejtgebannt ſchien 
ſchnell aufiprang und verftört mitten in die Mengt 
hineintaumelte, wie eine Wildkatze mit ausgeftredten 
Händen und gejpreigten Fingern, als mollte fie 
jemand erwürgen. Sie hatte gejehen, wie eine weil 
liche Geftalt wie eine Schlange in die Stube herein- 
gejhlüpft war, unbeweglich und ſprachlos, wie ver: 
fteinert ſtehen blieb und auf das Zotenbett ftarte. 
Eine boshafte Freude leuchtete in ihren Augen, ihr 
feſtgeſchloſſener Mund öffnete ſich nicht, nur ein 
leichte Linie, wie von einem Lächeln, umzog ibn. 
Sie war nicht groß, aber ferzengerade ragte ihr 
Wuchs empor; ihre Geſicht jchimmerte nur mod 
Ihöner durch den jhwarzen, wallenden Schleier bir 
durch, der ihren ganzen Kopf bedeckte. Auf ſit 
flürzte die Alte los. Ein Flüftern ging rings durd 
die Menge: 

„Ab, das Scheufal! Die Schändliche!” 

„De, ſeht doch die närrifche Morfo!“ 

Dod ehe die Dimena fie noch paden konnt. 
war fie ſchon verjchwunden wie ein böjer Traun 
oder ein lodendes Trugbild. Zitternd und mit de 
Hand drobend blieb die Alte ftehen, und ehe fie ih 
wieder auf den Boden niederfauerte, rief fie ihr 
nod) nad: 

„Ah, du Here! So weit haft du's alfo getrieben 
Zauberin! Du haft mir ihn vernichtet! Doch mag’ 
gut jein! Belommen haft du ihm doch nicht! Befier 
denn, es hat ihn Charos befommen!* 


Das gemietete Kind. 


on 


Iklarie Gorelli. 
Aus dem Enalifchen überfebt von M. Schultz. 


Es war ein büfterer, unfreundlicher Dezember- 
abend, ein Abend, der ſich wie ein naſſes, ſchwarzes 
Bahrtuch auf die Riefenftadt herniedergejenkt hatte, 
ein Abend, an dem die jchweren, tief herabhängen- 
den Dunftwolfen fi hin und wieder in langjam 
und widerwillig herabträufelndem Regen, falt wie 
Eiszapfentropfen in einer Felſenhöhle, auflöften, 
Die Leute huſchten wie Gejpenfter eines böfen Traumes 
dur die Straßen; im gelben, trübe brennenden 
Gaslicht tauchten fie einen Augenblid aus dem Nebel 
auf und entichwanden dann den Bliden, ala feien 
fie plötzlich von einer dunftigen, ebenholzihwarzen 
See verichlungen worden, Mit dumpf und zornig 
füingendem Pfiff jehten die Züge der unterirdifchen 
Stadibahn ihre zahlreichen, fröftelnden und huſtenden 
Fahrgäfte an den verjchiebenen Halteſtellen ab, wo 
Ihlaftrunfene Beamte, durd) das unfreundliche Wetter 
verftimmt, ihnen mit beleidigender Haft und ſehr 
unfanft die Fahrkarten aus der Hand riſſen. Om— 
nibustondufteure wurden anjcheinend ohne ange» 
meflenen Grund ſchlechter Laune und ausfallend, 
Ladenbefiger waren furz angebunden, unliebenswürdig 
und rückſichtslos gegen ihre Kunden; Droſchkenkutſcher 
tiefen ihren Fahrgäſten, die einen jchnellen Rüdzug 
antraten, Schimpfworte und Drohungen nad, — 
turz, jeder war in unzufriedener, fait gehäjfiger 
Stimmung, mit Ausnahme der wenigen, ewig heiteren 
Yeute, die ftet3 allem, fogar dem jchledhten Wetter, 
die befte Seite abzugewinnen wiſſen. Im der langen, 
breiten Straße Gromwell Road, Kenfington, fonnte 
ber Nebel nad) jeinem Belieben ſchalten und walten ; 
er wogte immer fort, wie dichter Rauch aus einem 
Riefenfhlot, drang erſtickend in die Kehlen der Fuß— 
gänger und legte fid vor ihre Augen, jo daß 
fie nichts mehr ſahen, ftahl ſich durch die Riken der 
Häuſer und durchlältete jogar das Blut jener Glüd- 
lihen, die in üppig ausgeftatteten Gemächern am 
lodernden Kaminfeuer ſaßen und leicht vergaßen, daß 
es draußen in der Welt, gegen die fie ihre Thüren 
verrammelt und verriegelt hatten, jo bittere Dinge 
wie ſtälte und Armut gab. 

Bor einem Haufe im bejonderen — mit reich 


verzierter Hausthür und etwas ſchmutzigen gelbfeidenen 
Vorhängen an den Fenjtern — einem Haufe, das 
für jeden, der fi) die Mühe nahm, feine Außenjeite 
näher anzufehen, unverfennbar den Stempel trug: 
„Nur Äußeres Blendwerk!“ — hielt ein geichlofienes 
Coupe, das von einem Paar fich ſtolz bäumender, 
wohlgenährter Pferde gezogen wurde. Ein Kuticher 
von vornehmen Ausjehen ſaß auf dem Bod: ein 
Bedienter von mafellofer Figur fand auf dem 
Trottoir ; jeine gelb behandichuhte Hand ruhte elegant 
auf dem blikenden filbernen Drüder der Wagenthür, 

Diefe beiden Herren zeigten einen entichlofienen, 
unbeugjamen Gefichtsausdrud ; fie jahen aus, als 
trügen fte ſich mit irgend einer großen That, die Die 
Welt zu ungeſtümem Beifalle hinreißen müſſe — 
aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, — ſie 
hatten eben ein jehr reichlic) bemeſſenes Veſperbrot 
zu fid) genommen, und ehe dad ernite Schweigen, 
das fie jet beobachteten, eingetreten war, hatten fie 
erörtert, ob es geraten jei, Beefſteak und Zwiebeln 
zum Abendeſſen zu wählen. Der Kutſcher hatte ſich 
für einfache Hammelfotelett3 erflärt, der leichteren 
Verdaulichkeit wegen; ber Bediente hatte höchſt ein- 
dringlich die größere Saftigfeit und den Wohlgeſchmack 
von Beefjteat und Zwiebeln betont, und jchliehlich 
hatte er jeinen Willen durchgeſetzt. Nach Erledigung 
dieler wichtigen Frage waren fie allmählich in Nach— 
finnen verfunfen über die vergangenen, gegenwärtigen 
und zukünftigen Freuden, ſich auf Koſten eines andern 
fatt zu eſſen, und in dieſe holden und angenehmen 
Beratungen waren fie noch vertieft. Die Pferde 
wurden ungeduldig, ftampften den ſchmutzigen Boden 
und jchüttelten die langen Mähnen und Schweife, 
während der Dampf, der von ihrem glänzenden Fell 
aufftieg, ſich mit dem immer dichter werdenden Nebel 
vermiſchte. 

Auf der weißen, fleinernen Haustreppe der 
Wohnung, vor der fie warteten, lag ein fait unfichts 
bares, ſcheinbar jorm- und regungslojes Bündel, 
Keine der beiden ftattlihen Perſönlichkeiten in Livree 
bemerfte es: es befand ſich zu weit zurüd in einer 
dunfeln Ede und war zu unſcheinbar, um ben 





852 Marie 
zufälligen Blick ihrer erhabenen Augen auffich zu lenken. 
Pıöglih flogen die vorhin erwähnten grell ange: 
ftrihenen Thürflügel mit lautem Knarren auf; aus 
dem dahinter liegenden Flur ftrömten Wärme und 
firahlende Helligkeit in die nebelige Straße hinaus, 
und in demjelben Augenblid machte der Diener, nod 
immer mit ernitem, unbewegtem Antlitz, den Schlag 
des Coupés auf. Eine ältliche, reich gefleidete Dame, 
in deren grauem Haar Diamanten blikten, kam die 
Haustreppe herabgeraufcht und brachte den ſchwachen 
Duft von Patfchuli und Veilchenpuder mit jidh. 


Ihr folgte ein junges Mädchen mit hübſchem Puppen- 


gefichte, einem Stumpfnäschen und trogigem, Tleinem 
Mund, das feine Atlas»: und Spikenröde mit einer 
gewilien ftolzen Verachtung emporhielt, als empfände 


es Abſcheu davor, den Fuß auf Erde zu jehen, die 


nicht mit dem beiten Veloursteppich belegt jei. Als 
fie fi dem Wagen näheren, fam Leben in das 
regungslofe dunkle Bündel, das in der Ede fauerte 
— ein Weib mit wirrem Haar und wirrblidenden 
Augen, defjen bleiche Lippen ebenjo wie die Hägliche 
Stimme von unterbrüdtem Weinen bebten, brach 
plößli in lautes Jammern aus: 

„D, gnädige Frau!” rief fie, „ſchenlen Sie mir 
eine Sleinigteit um ber Liebe Gottes willen! O, gnü- 
dige Frau!” 


Aber die „Gnädige* raufchte mit verächtlichem 


Naferümpfen, ihre parfümierten Gewänder zufammens- 


raffend, an ihr vorüber, ehe fie ihr Flehen wiederholen | 


fonnte, und fie wandte fih mit einer Art ſchwacher 
Hoffnung an das Mädchen mit den fanfteren Zügen. 

„Ad, mein liebes Fräulein, bitte, haben Sie 
Erbarmen! Für die geringjte Kleinigkeit wird Gottes 
Segen über Sie fommen! Sie find reich und glüd« 
ih — und ih bin halb verhungert! Nur einen 
Penny! Für das Kind — das arme, Heine Kind!” 
Und fie machte eine Bewegung, als wolle fie ihr 
zerlumptes Umſchlagetuch öffnen und einen darin 
verborgenen Schaf enthüllen, wid) aber, durch den 
falten, mitleidslofen Blick eingejchüchtert, zurüd , der 
aus jenen Augen, in denen Jugend ohne weiche 
Regungen wohnte, auf fie fiel. 

„Sie haben auf unfrer Haustreppe nichts zu 
ihaffen,” jprad) das Mädchen mit ſcharſer Stimme. 
„Machen Sie auf der Stelle, daß Sie fortlommen, 


jonft werde ich durch meinen Bedienten einen Schuhe | 


mann holen laſſen.“ 

Dann, während fie nach ihrer Mutter in das 
Coupe ftieg, redete fie, mit hochmütig näfelnder 
Stimme, den ftattlihen Bedienten zornig an: 


„Howard, weshalb laſſen Sie ſolch ſchmutziges 
Bettelvolk in die Nähe des Wagens kommen? Ich 


möchte willen, wofür Sie bezahlt werben? Es ift 
geradezu eine Schande für das Haus.” 
„Bedaure jehr, gmädiges Fräulein!“ erwiderte 


Corelli. 


der Diener ernſthaft. 
erſt jetzt geſehen.“ 

Darauf machte er den Wagenſchlag zu und wandte 
ſich mit würbevoller Miene zu dem unglüdlicen 
Geichöpfe, das ſich no in der Nähe aufhielt, und 
ſagte mit einer majeltätiihen Bewegung feines gold: 
geitidten Rodärmels: 

„Hörft du? Pade did!” 

Nachdem er jo feine Pflicht gethan hatte, flieg 
er auf den Bod, ſetzte fich neben feinen Freund, den 
Kuticher, und die Equipage rollte ſchnell davon. 
Ihre blikenden Lichter verſchwanden bald in ben 
rauchgeſchwängerten Dünften, welche wie Trauerflor 
von dem unſichtbaren Himmel auf den kaum ſicht 
baren Boden herabhingen. Sich jelbft überlaflen, 
blidte das Weib, das vergebens bei denen Barm- 
herzigleit geſucht hatte, in deren Herzen fein Erbarmen 
| wohnte, verzweiflungsvoll, faft wie eine Verftört, 
um fih, und es jchien, al& wolle fie im wilde Ber: 
wünſchungen ausbrechen, als ein ſchwaches Wimmern 
kläglich aus den jchüßenden Falten ihres Tude 
hervordrang. Sie bezwang fi jofort und ging 
‚ Ichnellen Schrittes weiter, faum acht gebend wohin, 
bis fie die katholiſche Kirche, Die unter dem Namen 
„das Bethaus“ bekannt ift, erreicht hatte, 

Die noch unvollendete Faſſade ragte dunlel ans 
dem Nebel auf; das Gebäude hatte nichts Maleriſchee 
' oder Ginladendes an fi, dennoch gingen Leute leiſe 
aus und ein, und durch die aufgebenden und ſich 
wieder ſchließenden, mit rotem Fries bezogenen Thüren 
fiel ein teöftlicher, warmer Lichtichimmer. Tas 
Meib blieb fteben, zögerte — und flieg dann, nach⸗ 
dem es anſcheinend zu einem Entſchlufſe gelommen 
war, bie breiten Stufen hinan, blidte hinein und 
trat jhließlih ein. Der Ort war ihr fremd — fie 
wußte nichts von feiner religiöfen Bedeutung, und 
fein faltes, unvollendeted Ausjehen machte fie ber 
tlommen. Es war ungefähr nur ein halbes Dusend 
Menſchen, wie jhwarze Pünktchen, in dem groben, 
weißen Innenraume zerjtreut, und der Nebel bing 
ſchwer unter dem gewölbten Kuppeldach und in den 
dunfein, einen Seitenfapellen. Eine Ede nur er 
ftrablte in Lichterglang und Farbenpradt — dat 
war der Altar der heiligen Jungfrau. Auf ihn ging die 
müde Bettlerin zu, und als fie dort angelangt war, 
ſant fie wie erfchöpft auf ben nächſten Sif nieder. 

Sie hob nicht die Augen zu dem wundervollen, 
marmornen Madonnenbilde — einem der Meifler: 
werfe alter italienifcher Hunft — empor; fie war mur 
dur den Schimmer der Lampen und Kerjen ans 
gelodt worden und dachte nicht Darüber nad, we&halb 
ſie angezündet feien, obgleich fie ſich eines gewifien 
Troftgefügls bei Dem milden Glanz, den fie ringäum 
verbreiteten, bewußt ward. Sie ſchien nad jung; 
ihr Antlik, das durch langen, bitteren Mangel mager 


„Ih babe Die — die Perion 


Das gemietete Rind. 


und bohlwangig geworden, trug die Spuren früherer 
Schönheit, und ihre Augen, in denen eine fieberhafte 
Unruhe lag, waren groß, dunkel und noch immer 
glänzend. Ihr Mund allein — der verräterifcdhe 
Spiegel der guten und böjen Thaten des Lebens — 
verkündete, dab es micht gut um fie fand. Ein 
graufamer und ſchlimmer Zug lag um die Lippen, 
und die hämiſch emporgezogene Oberlippe ſprach von 
thörihtem Stolz und von forglojer Sinnlichkeit. 
Sie ſaß eine oder zwei Minuten, ohne ſich zu regen, 
— dann begann jie mit außerordentlicder Behutſam⸗ 
feit und Zärtlichleit ganz allmählidy ihr dünnes, 
zerriſſenes Tuch auseinanderzuſchlagen und ſchaute 
mit angſtvoller Beſorgnis auf den darin verborgenen 
Gegenſtand nieder. 

Es war nur ein Kindchen, und zwar ein jo 
winziges, blafies und gebrechliches Kindchen, daß es 
den Anſchein hatte, als müſſe es wie eine Schneeflocke 
unter der leiſeſten Berührung ſchmelzen und vergehen. 
Als ſeine Hüllen gelockert wurden, ſchlug es ein Paar 
große, ernſte, blaue Augen auf und blickte mit einem 
ſonderbaren, rührenden, ſinnenden Ausdruck dem 
Weibe ins Antlitz. Es lag ganz ſtill, ohne einen 
Laut von ſich zu geben — ein abgezehrtes, bleiches 
Miniaturbild der leidenden Menſchheit — ein Säug— 
ling, deſſen winzigen, verzerrten Zügen das Leid 
gramvoll ſeinen Stempel aufgedrücht hatte. Auf 
einmal ſtreckte es ein mageres Händchen aus und 
fiebfofte leiſe ſeine Beſchützerin; dabei zeigte ſich auch 


der ſchwächſte Schimmer eines Lächelns in dem kleinen 
Das Weib erwiderte ſeine Zärtlichteit mit 


Geſichte. 
einer Art von Verzückung: ſie drückte es liebevoll an 


die Bruft und bededte «3 mit Hüllen, während jie 


es bin und her wiegte und abgerifjene Worte mütter- 
licher Liebloſung hervorjtammelte, 

„Mein kleiner Liebling!” flürfterte fie leiie. „Mein 
Lämmchen! Ja, ja, id weiß! So müde, fo kalt 
und hungrig! Mad; dir nichts daraus, Kind, mac 
dir nichts daraus! Wir wollen uns bier ein wenig 
ausruhen ; dann fingen wir ein Lied und befommen 
Geld für die Heimfahrt. Schlaf weiter, Schägchen ! 
So! Nım find wir wieder warm und behaglich!* 

Während fie fo ſprach, zog fie ihren Shawl feiter 
in dichtere Falten zuſammen, um das Kind bejier 
zu firmen. Als fie fich damit zu fchaffen machte, 
ging eine Dame in tiefer Trauerfleidung dicht an 
ihr vorüber, ſchritt bis unmittelbar an die Stufen 











des Altars, kniete dort nieder und barg das Geſicht 


in den gefalteten Händen. 
merfiamfeit der müden Manbdererin ; fie ftarrte mit 


einer Art ftumpfer Verwunderung auf die in ſchwere, 


raufhende Seide und Sirepp gelleidete, knieende 
Geftalt, und allmählich glitt ihr Bid weiter nad) 
oben, bis er an dem holden umd mild lächelnden 
Marmorbilde der Madonna mit dem Finde haften 


Das erregte die Auf-⸗ 


853 


blieb. Sie fchaute wieder und wieder hin — über— 
raſcht — ungläubig ; dann jtand fie plößlic auf und 
ging bis an das Altargeländer. Dort blieb fie ftchen 
und blidte auf einen Korb weiher und duftender 
Blumen, die irgend ein andächtiger Beter zurüd- 
gelafien hatte. Sie jchaute ungewiß nad) den filbernen 
Hängelampen, den leuchtenden Kerzen empor; fie 
verjpürte einen feinen, merhvürbigen Wohlgeruch in 
der Luft, als wäre eben ein Korb voll Frühlings- 
veilden und Narzitjen vorübergetragen worden, dann, 
als ihr umberjchweifender Blid zu der einfamen Frau 
in Schwarz, die nod) immer regungslos neben ihr 
fniete, zurückkehrte, ſchnürte ihr ein jeltjames Gefühl, 
als müſſe ſie erftiden, die Kehle zufammen, und ein 
brennend heißes Naß jtieg ihr in die Augen. Sie 
bemühte ſich, dieſe Hufteriihe Anwandlung unter 
einem leilen, verächtlichen Lachen zu erſticken. „Gott, 
Gott,“ murmelte fie halblaut vor ſich hin, „was tft 
das hier, wo fie zu einer Frau und einem fleinen 
Finde beten?“ 

In diefem Augenblick erhob fi die Dame in 
Schwarz ; fie war jung, mit ftolzem, ſchönem, aber 
müdem Antlig. Ihr Auge fiel auf ihre unjaubere 
Schweiter, die, ein Bild der Armut, daftand, und 
fie blieb mitleidigen Blides ftehen. Die Bettlerin 
machte fich diefe Gelegenheit zu nuße und flehte jie 
in eindringlichem Tone um eine milde Gabe an. Die 
Dame zog ihre Börfe hervor, hielt dann zögernd inne 
und ſah wehmütig auf das Bündel im Shaw! nieder. 

„Sie haben da ein Heines Kind?” fragte fie in 
janftem Tone. „Darf ich es anſehen?“ 

„sa, gnädige Fran,“ und die Hülle wurde zurüd- 
geichlagen und zeigte das winzige, weiße Gefichtchen, das 
jebt im Schlafe nod) unendlich viel rührender ausjah. 

„Ich habe meinen Kleinen vor einer Woche vers 
foren,“ ſprach die Dame jhliht, während fie es 
betradtete. „Er war mein Ein und Alles.” 

Ihre Stimme bebte, fie öffnete ihre Börſe und 
drüdte der erſtaunten Bittftellerin eine größere Silber- 
münze in die Hand. 

„Sie find glüdlicher als ich; vielleicht beten Sie 
für mi! Ich bin jehr einfam!* 

Dann zog fie den langen Kreppſchleier, der ihre 
Züge gänzlich verhüllte, vors Geſicht, neigte den 
Kopf und glitt leije davon. Das arme Weib blidte 


| ihr nad, bis ihre graziöfe Geftalt im Dunkel der 


großen Kirche verſchwunden war, und wandte ſich 
danı wieder dem Altar zu. 

„Tür fie beten!" dachte fie. 
beten könnte!“ 

Und fie lächelte bitter. Wiederum blidte fie die 
Statue im Altarſchrein an, fie hatte ganz und gar 
feine Bedeutung für fie. Sie hatte niemals vom 
Chriſtentum gehört, ausgenommen durch ein Traktät- 
hen, defſſen tröftende Ueberſchrift gelautet hatte: 


„Ich! Als ob ich 


854 Marie 


„Halt ein! Du kommſt in die Hölle!" Religion 
jeglicher Art wurde von denen, unter denen zu leben 
ihr 208 war, veripottet und verlacht; Chriſti Name 
wurde nur, wenn es gelegen war, zum Fluchen be= 
nutzt, und deshalb ftand fie dieſem rätjelhaften, 
mild lächelnden, janft einladenden Marmorbilde ohne 
Verftändnis gegenüber. 

„Ale ob ich beten könnte!“ wiederholte fie mit 


einer Art von Hohn. Dann blidte jie auf die 
große Silbermünze in ihrer Hand und das jchlum- 


mernde Kindchen in ihren Armen nieder. Einer 
plöglihen Cingebung folgend, ſant fie auf die 
ſtniee. 

„Wer du auch biſt,“ murmelte ſie, die Statue 
droben anredend, „du ſcheinſt ein Kind, das dein 
eigen iſt, zu haben; vielleicht hilfſt du mir, für dieſes 


zu ſorgen. Es gehört nicht mir; ich wollte, es wäre 


mein! Jedenfalls liebe ich es mehr, als ſeine eigne 
Mutter thut. Du wirſt wohl auf ſo eine, wie ich 
bin, nicht hören. Aber wenn es irgendwo einen 
Gott giebt, ſo würde ich ihn bitten, die gute Seele, 


die ihr kleines Kind verloren hat, zu ſegnen. Ich 


ſegne ſie von ganzem Herzen, aber mein Segen iſt 
nicht viel wert. Ach!“ und ſie heftete von neuem 
den Blick auf das milde, weiße Antliß der heiligen 
Jungfrau, „du fiehjt gerade aus, als ob du mid) 
verftändeft, aber ich glaube nicht, daß du das thuft. 
Das ſchadet nichts. Ich Habe alles gejagt, was ich 
für heute auf dem Herzen hatte.“ 

Nachdem fie mit ihrer ſeltſamen Bitte oder viel— 


mehr Rede zu Ende war, erhob fie fih und ſchritt 
davon. Die großen Kirchenthüren fielen ſchwer hinter 


ihre zu, ala fie ins Freie trat und wieder draußen 
in der I hmupigen Straße ftand. Es regnete — ein 
feiner, kalter, durchdringender Regen riejelte unauf« 
hörlih herab. Aber das Geldjtüd, welches jie in 
der Hand hielt, war ein Talisman gegen äußere 
Unbill des Wetters, und fie ſetzte ihren Meg fort, 


big fie an eine fauber ausjehende Milchwirtſchaft 


gelangte, wo fie für ein paar Kupfermünzen die 
längjt geleerte Saugflafche des Kindchens wieder 
füllen laſſen konnte, aber jie faufte nichts für ſich 
ſelbſt. Sie hatte den ganzen Tag gehungert und 
war zu erihöpit, um etwas zu geniehen, Bald 
darauf jtieg fie in einen Omnibus und fuhr nad 
Gharing Groß. Bei dem großen Bahndofe, der im 


Fichte feiner eleftriichen Lampen in blendender Helle | 


erftrahlte, flieg fie aus und ging draußen auf und 
nieder, mehrere der Vorübergehenden anjprechend und 


fie um ein Almojen bittend. Ein Mann gab ihr einen | 
Penny; ein audrer, jung und hübſch, auf deilen von 
Unmäßigfeit gerötetem Antlitz noch ein Haud des | 
raſch ſchwindenden Knabenalters lag, fuhr mit der 


Hand in die Taſche und zog alle Kupfermünzen ber 
vor, die fie enthielt — es waren drei Pence — und 


a 


Gorelli. 


‘ während er fie in ihre ausgeftredte Hand gleiten lieh, 
fagte er mit frehem Scherz: 

„Sie follten mehr herausichlagen fönnen mit 
Ihren großen Augen!“ 

Sie wich zurüd und jchauderte; er brad in ein 
rohes Lachen aus umd ging feiner Wege. Sie blieh 
an der Stelle, wo er fie verlaffen, ftehen und ichien 
eine Zeitlang in trübjelige Erinnerungen verjunten, 
aus denen das Mägliche Wimmern des Kindes, ba: 
fie trug, fie aufichredte. Es leiſe beſchwichtigend, 
flüſterte fie: „Ja, ja, Liebling, es ift zu naß umd 
falt für dich; wir wollen lieber gehen.“ Und infolge 
diejes Entichluffes rief fie einen andern Omnibus 
an, diesmal einen, der nad) Tottenham Court Road 
| fuhr, und nad) langer, ermübender Fahrt murde fie 
an ihrem Beftimmungsorte — einer jchmupigen 
Gaſſe im jchlimmiten Teile von Seven Dias — 
ı abgejegt. As fie in die Straße einbog, ward fie 
| mit lautem, höhniſchem Lachen von einigen roh aus: 
ſehenden Männern und Weibern, die ſich um einen 
: niedrigen Schnapsladen an der Ede drängten, begrüßt. 
„Da ift Liz!” rief einer, „da ift Liz umd ber 
ı blühende Sprößling!“ 
| „Na, altes Mädchen, heraus mit dem Mammon! 
Mieviel haft du, Liz? Spendiere ums allen, wir 
wir da jind, einen Schnaps!“ 
| Liz ging ruhig und unbeirrt an ihnen vorbei; 
' fie 30g die höhniſch gefchürzte Oberlippe in die Höhe, 
und ihre Augen bligten verächtlich, aber fie jagte 
nichts. Ihr Schweigen reizte ein etwa fiebzehn- 
jähriges Mädchen mit wirrem Haar und fapenartigem 
Gefiht, das mehr als halb betrunfen auf dem Boden 
jah, die Arme um die Kniee gelegt, und ſich nad 
läſſig Hin und her mwiegte, 
| „Mutter Mawls,“ rief fie, „Mutter Mamts! 
Hier iſt Liz wieder mit Ihrem Kind !* 

Als wären ihre Worte eine mächtige Zauber 
formel geweien, um einen böjen Geiſt heranfju: 
beihwören, io flog die Thür eines der elendeſten 
' Häufer auf, und ein wohlbeleibtes Weib, fait nadend 
bis zur Taille herab, mit aufgedunjenem, fledigem und 
äußerst abjchredendem Gejichte, jtürzte wütend herauf, 
iprang auf Piz zu und rüttelte fie heftig am Arm. 

„Wo ift mein Schilling?” jchrie fie mit gellender 
Stimme, „wo ift mein Schnaps? Heraus damit! 
Heraus mit dem Gelde! Dein friechendes Wehen 
verfängt bei mir nichts: ein Handel ift ein Handel 
in der ganzen Welt! Du madjt ein Bermögen mit 
meinem Kind — das weißt du felbit; bezahlt ſich 
viel bejjer als dein altes Handwerk! Sag nicht nein 
— du weißt, daß ich recht habe. So ein fräntlices 
Gör findeit du nirgends wieder, und nur die frünf 
lichen Gören bringen Geld ein und rühren die Herzen 
der gütigen Damen und der guten Herren —" fe 
fegte einen unnahahmlichen, winjelnden Nachdrut 








HR 


Das gemietete Kind, 


auf die legten Worte, der bei ihren Zuhörern Lachen 


und Beifalläflatichen hervorrief. „Du haft es billig | 


genug befommen, das fann ich dir jagen, und wenn 
du nicht regelmäßig bezahlit, wie es jich gehört, jo 
giebt es andre, die froh fein werden, das Geſchäft 
zu machen!“ 

Sie hielt aus Mangel an Atem inne, und Liz 
ſprach ruhig: 

„Es ift alles in Ordnung, Mutter Mawfs,” 
meinte fie mit einem Verſuch zu lächeln, „hier ift 
Ihr Schilling, Hier find die vier Pence für Ihren 
Branntwein. Ich jchulde Ihnen jetzt nichts für das 
Kind.“ Sie ftodte und blidte zärtlich auf das 
ſchwache Gejchöpfchen in ihren Armen nieder; dann 
jetzte fie faft flehend Hinzu: „Ca fchläft jetzt. Darf 
ich e8 heute abend mit mir nehmen?“ 

Mutter Mawls, die gerade die Geldftüde, welche 
Liz ihr gegeben, probierte, indem fie ungeftüm mit 
ihren großen gelben Zähnen darauf losbiß, brad) 
in ein lautes Lachen aus, 

„Mitnehmen! Das gefällt mir! Welche Unver« 
ſchämtheit! Es mit dir nehmen!” Dann die diden 


roten Arme auf die Hüften ftemmend, jehte fie mit | 
einem Grinjen hinzu: „Will dir was jagen, wenn du | 


Luft haft, mir 'ne halbe Krone*) zu bezahlen, jo 
fannft du es meinetwegen gern mitnehmen, um es 
zu herzen und zu füllen!“ 

Die betrunfenen Zuhörer dieſer Heinen Scene 
liegen wiederum ein zuftimmenbes wieherndes Ge- 
lächter hören, und das auf der Erde fanernde Mädchen 
löfte die um bie Kniee geſchlungenen Hände und 
Natjchte laut in biejelben, während fie ausrief: 

„Bravo, MutterMawts! Dan vermietet feine Gören 
nachts nicht umfonft! ’& mühte teurer fein, als bei Tage!” 

Liz’ Antlik war blaß und ſtarr geworden. 

„Sie willen, ic fann Ihnen das Geld nicht 
geben,“ ſagte fie langſam. 
fein Biſſen über meine Lippen gelommen. Ich muß 
leben, obwohl es faum der Mühe wert zu jein jcheint, 
Das Kind,” und dabei wurde ihre Stimme unwill- 
fürlich weicher, „Ichläft ganz feſt; es ift ein Jammer, 
es aufzuwecken, das ift alles, Es wird die ganze 
Racht weinen und unruhig jein — und ich würde es 
ibm warm und behaglich madhen, wenn Sie es mir 
erlauben wollten.“ Sie blidte Hofinungsvoll und 
do ängftlih auf: „Wollen Sie?” 

Mutter Mawks war anjcheinend eine Dame von 
leicht erregbarem Temperament, Die ſchlichte Bitte 
ſchien fie faft zur Wut aufzureizen. Ihre Stimme 
ging geradezu in eim Streichen über, und fie fuhr 
mit ben ſchmutzigen Händen durch ihr noch ſchmutzi⸗ 
geres Haar — eine Gebärde, die eine pafiende Ber 
gleitung für ihre Schimpfreden bildete. 





*) Zwei und eine halbe Mark deuticher Reichswährung. 








„Den ganzen Tag ift | 


855 


„Ob id will, ob ich will!” ſchrie fie gellend. „Ob 
ich mein eignes Kind umfonft für die Nacht ausleihen 
wii? Ob ih das will! Nein, das will ich nicht! 
Zum Kudud auch! Gott im Himmel! Wie uns der 
Kamm ſchwillt! Das Kind wird bei Ihnen rubig 
fein, Fräulein Liz — wirklich? Und bei feiner leib- 
lichen Mutter wird es jchreien und weinen — he?” 
Und bei jedem Sabe fam fie Liz näher, und bei 
jedem Worte fteigerte fi ihre Empörung „Du, 
gemeine Dirne, du! Glaubft du, ich wirde dir mein 
Kind auch nur eine Stumde laffen, wenn du nicht 
bezaglteft! Und du bezaplft viel zu wenig! Ich bin 
ne rechtſchaff'ne Frau, die ſich durch Arbeit ihren 
Unterhalt verdient und mäßig trinft, viel beiler als 
du mit deinem hochnaſigen Benehmen. ine nette 
Schlampe bift du! Gieb mir das Kind, du haft fein 
Recht, e& noch eine Minute länger zu behalten,“ und 
dabei fuhr fie mit der Hand nad Liz’ ſchützendem 
Tuche. „O, thun Sie ihm nicht weh!“ bat Liz zitternd, 
„Es ift ein jo feines Ding; thun Sie ihm nicht weh!* 

Mutter Mawkls ftarrte ſie jo wütend an, daß 
ihre blutunterlaufenen Augen faft aus dem Kopfe 
zu treten jchienen. 

„Web thun! Habe ich nicht ein Recht, mit meinem 
eignen Fleiſch und Blut zu thun, wie e& mir beliebt? 
Weh thun! In meinem ganzen Leben ift mir jo 
etwas noch nicht vorgefommen! Seht her!“ — umd 
dabei wandte fie fich zu den verjammelten Nachbarn 
— „Iſt fie nicht gut? Sie macht ſich nichts aus 
dem Gejeh, die unverfchämte Perfon! Sie enthält 
ein Kind feiner eignen Mutter vor!” 

Und damit machte fie einen heftigen Angriff auf 
den Shawl, und es gelang ihr, das Kind Liz’ wider- 
ftrebenden Armen zu entreißen. Das arme Kleine, 


das auf jo rohe Weile aus jeinem Schlummer geweckt 


wurde, erhob ein ſchwaches Wimmern; feine Diutter, 
dadurd noch mehr aufgebradt, jchüttelte es heftig, 
bis es feuchend nad) Luft rang. 

„Verwünſchter feiner Balg,“ jchrie fie, „warum 
erftidt er nicht Lieber glei, und ich bin ihn los!“ 

Und ohne ſich weiter um Liz’ erichrodene Ein- 
wendungen zu kümmern, warf fie das Kind heftig, 
als wäre es ein Gummiball, durch die offene Thür 
ihrer Behauſung, wo es auf einen Haufen ſchmutziger 
Kleidungsftüde fiel und regungslos liegen blieb — 
fein Wimmern hatte aufgehört. 

„D das arme Kind!” rief Liz im Tone bitterften 
Schmerzes jammend aus. „O, Sie haben es 
fiherlich getötet! Ah, Sie find graufam, grauſam! 
O Kind, Kind!“ 

Und fie brach in leidenſchaftliches Schluchzen und 
Meinen aus. Die Umftehenden ſahen mit unge 
ı rührtem Schweigen zu. Mutter Mawks rafite mit 
einer herausfordernden Gebärde ihre zerfegten Ges 





wänder zufammen und rümpfte die Naje, als wolle 


856 


fie jagen: „Jeder, der fih mit mir einlaffen will, 
zieht den fürzeren,” Es trat eine furze Pauſe ein; 
plöglih kam taumelnd ein Mann, der ſich mit der 
Hand über den Mund fuhr, aus dem Schnapsladen 
— er war ein derb gebauter roher Patron mit böjen 
Zügen, firuppigem , ungefämmten rotem Haar und 
feinen, geröteten Augen. Er ftarrte ftumpffinnig 
die weinende Liz an, dann Mutter Mawls, jchlieh- 
lich von einem der Umftehenden zum andern. 

„Was ift denn los?“ fragte er mit lallender 
Stimme „Mas ift los? Joe Mawks will zujehen, 
dak jedem fein Necht wird. Nur munter aufeinander 
(08, meine Lieben! Immer munter!“ Und mit 
blödſinnigem Kichern fuhr er in die Taſche feiner 
zerriffenen Barchenthoſe und zog eine Pfeife hervor, 
die er gemädhlich aus einem jchmierigen Beutel mit 
jo unficheren Fingern ftopfte, da& der Tabak ringsum 
verfchüttet wurde; dann zündete er fie an und wieder- 
holte dabei mit immer lallenderer Stimme: „Was 
ift los? Immer drauf los!“ 

„Es ift wegen Ihres Kindes, Joe!“ rief das 
vorhin erwähnte Mädchen und jprang jo ungeftüm 
von ihrem Sik auf der Erde auf, dab ihr Haar 
herabfiel und fie wie ein dunfler, feuchter Nebel ums» 


haft hervorſchaute. „Liz it übergeichnappt! Sie 
will Ihr Kind mitnehmen, um e8 zu herzen und zu 
füffen!“ Und fie kreifchte förmlich auf vor Lachen, 
„Ha, ha, denken Sie nur! Will ein Kind herzen!“ 

Joe zwinterte wie betäubt mit den Nugen und ſog 


mit augenjcheinlihem Behagen an dem Stiel jeiner | 


Pfeife. Dann, als wäre er in tiefes Sinnen über die 
Sache verfunten geweſen, nahm er feinen räucherigen 
Tröfter aus dem Munde und jagte: „W’rum nicht? 
Schon gut. Laß ſie's haben. W’rum nicht?” 


ihre Thränen empor, aber Mutter Mawls flürzte in 
wütender Empörung vor. „Du großer, betrunfener 
Narr!” kreiſchte fie ihrem bezechten Gemahl zu, 
„Ihämft du dich nicht? Was! Dein Kind eine 
ganze Naht umfonft ausleihen? Es iſt 'n Glüd, 
daß ich meine fünf Sinne beifammen habe, und ich 
jage, Liz joll es nicht Haben! Und damit Punktum!“ 

Der Mann biidte fie an, und eine eigenfinnige 


Entſchloſſenheit trat im fein finfteres, abſtoßendes 


Geſicht. Er Hob jeine mächtige Hand, ballte jie zur 
Fauft und verjegte feinem wutſchäumenden Weibe 
einen Schlag, der im Handumdrehen ein blutunter- 
faufenes Auge zur Folge hatte. „Und ich jage, fie 
joll es haben. Wo bift du nun, he?” 

Als Antwort auf diefe Frage hätte Mutter Mawks 
jagen können, dab fie in höchſteigner Perjon „zur 
Stelle“ jei, denn fie gab ihrem Gatten den Schlag 
mit Zinſen zurüd, und nad ein paar Sekunden 











Marie Corelli. 


fampf” begriffen, zum Gaudium fäntlicher Bewohner 
des Gäßchens. Jeder aus der Straße drängte ſich 
herzu, um den Kämpfern zuzufehen und die Lüfter 
reden, die Verwünſchungen und Flüche, die bie 
Schlacht begleiteten, mitanzuhören. Inmitten de 
wüften Yärms machte ein verjchrumpiter, gefrümmter 
Alter, der vor jeiner Thür geſeſſen und Qumpen in 
einen Korb gelefen und dem Geichrei ringsum an 
ſcheinend feine Beachtung geſchenkt Hatte, Liz ein 
Zeichen, 

„Nimm jet das Kleine,” flüfterte er. „Niemand 
wird es merfen. Ich will Schon ſehen, daß fie dir 
nicht nachlommen.“ 

Liz dankte ihm ftumm durch einen Blid, furzte 
in die Wohnung, wo dad Kind allem Anſchein nad 
leblog auf dem Fußboden unter den jchmukigen 
Kleidungsſtücken lag, raffte es haftig auf und eite 
ſchnell davon, in ihre eigne, armjelige Dachlammer 
in einem balbzerfallenen Haufe am entlegeniten Ende 
der Galle. Das Kindchen war durch jeinen Fall 


‚ betäubt worden, aber in ihrer zärtlihen Obhut, und 
gewiegt von ihren warmen, liebevollen Armen, erholte 


es ſich bald, obgleih ein ſolcher Ausdrud der Be 


ſtürzung und des Schmerzes in feinen blauen Augen 
wallte, aus dem ihr mageres, erregte Geſicht bos- 


lag, als es fie aufichlug, wie man ihn wohl in den 
Augen eines zu Tode getroffenen Vogels ſieht. 
„Mein Liebling, mein armer, Heiner Liebling!” 
flüfterte fie immer wieder und fühte jein minziges, 
blaſſes Gefihthen und die weichen Händchen. I 
wollte, ic) wäre deine Mutter; weiß Gott, id) wolke, 
id) wäre ed. Du bijt das einzige Wejen, für das 
ich zu forgen habe. Und du haft mich lieb, Kind, 
nit wahr? Ein Meines, Heines bißchen?“ Um 
als fie ihre Lieblojungen fortjeßte, ließ das Heime 


Geſchöpf mit dem traurigen Antlitz einen leiſen, 
Bei diefen Worten blickte Liz hoffnungsvoll durch | 


girrenden Laut, ein Zeichen, daß ihm wohl jei, al 
Antwort auf ihre Zärtlichleiten hören — einen Laut, 
der ihr Ohr wohlthuender berührte als die ſchönſit 


| Mufit, und der ein Lächeln um ihren Mund zauberke, 


während ein ergreifender Ausdrud in ihre dunleln 
Augen trat, der ihr Geficht für den Moment faft 
ihön ericheinen lieh. 

Das Kind feit an die Bruft drüdend, fpähte fie 
vorfichtig aus ihrem jchmalen Fenfter herab umd ge: 
wahrte, daß ber eheliche Zwift zu Ende war. Naeh 


dem wiehernden Gelächter und dem Beifalläjaudzen, 


das an ihr Ohr flug, zu urteilen, war Joe Mamis 


anſcheinend ala Sieger aus dem Kampfe heror 


gegangen; fein Weib hatte das Feld geräumt und 
war von der Bildfläche verſchwunden. Sie jah, wie 
die Menge fich verlief; die meiften von ihnen gingen 
in den Schnapsladen, und jehr bald lag die Gaſſt 
verhältnismäßig ftill und veröbet da. Nicht lange 
darauf hörte fie, wie jemand jie mit leifer Stimme 


war das glüdlihe Paar in einem regelrechten „Gauft- | bei Namen rief: „Liz, Liz!* 


Das gemietete Find. 


Sie ſchaute hinunter und erblidte den alten 
Mann, der ihr feinen Schuß verfprodhen, falls Mutter 
Maris fie verfolgen follte, 

„Sind Sie das, Jim? Kommen Sie herauf, 
es jpricht ſich befjer hier oben als dort unten.” 

Er gehorchte und ftand gleich darauf vor ihr in 
der Ärmlichen Kammer und blicdte jowohl fie ala das 
ſtleine mit neugierigem Intereſſe an. Eine jehnige 
Geftalt mit einem Wolfsgefiht war Jim Duds, wie 
er gewöhnlich genannt wurde, obgleich jein eigent« 
liher Name der arijtofratiiche und merfwürdig un« 
angebrachte James Douglas war. Er gli mehr 
einem Tier ald einem menjchlichen Weſen mit jeinem 
wirren grauen Paar, ftruppigen Bart und den 
Iharfen Zähnen, die wie die Reißzähne eines Raub- 
tiereö unter feiner Oberlippe bervorftanden. Sein 
Beruf war, Küchenabfälle zu ftehlen, was ihn eine 
ganz anftändige, achtbare Beſchäftigung düntte. 

„Mutter Mawls hat diesmal ihr Teil weg— 
befommen,“ fagte er mit einem Grinjen, das eher 
ein Fletſchen war. 
fie gehörig verhauen. Sie wird dich jeßt in Ruhe 
laſſen; jolange du die Miete regelmäßig bezablit, 
haft du Joe auf deiner Seite. Wenn mal ’n jchlechter 
Zag kommen jollte, jo fomm lieber gar nicht nad 


Haufe.“ 


„Joe war geladen, und er hat | 
derte Jim; „bift du ſicher, daß es eine Kirche war? 


| 





„Sch weiß,” ſagte Liz, „aber fie hat immer da® 


Geld für das Kind erhalten, und es war doch ſicher⸗ 
lich nicht zu viel verlangt, fie zu bitten, es mich an 
einem jo falten Abende wie heute behalten zu laſſen, 
um es zu wärmen.“ 

Jim Duds jah nachdenklich aus, 

„Warum macht du dir jo viel aus dem Finde ?* 
fragte er. „Deins ift es doch nicht.“ 

Liz jeufzte. 

„Nein!“ jagte fie traurig. „Das ift wahr. Aber 
es ijt etwas, was ic lieb haben kann. Was iſt 
mein Leben denn geweſen!“ Sie brady ab, und eine 
beiße Biutwelle rötete ihre bleihen Züge. „Yon 


t 





Mein auf nichts als die Straßen — bie langen, | 


ſchlimmen Straßen! Und ih nur ein bißchen Schmutz 
auf dem Trottoir — nichts weiter ; hierhin geworfen, 
dorthin geworfen und ſchließlich in ben Ninnftein 
gefegt!” Sie lachte fur; auf. „Denten Sie mır, 
Jim! Ich bin nie auf dem Lande geweſen!“ 

„Ich aud nicht,“ ſprach Jim und faute finnend 
auf einem Strohhalm. „Es muß mächtig jchön fein, 
mit nichts als grünen Bäumen und Blumenfträußen, 
die überall blühen und wachſen. Aber Ktüchenabfälle 


giebt es dort nicht viel, habe ich mir jagen laflen.“ | 


Kaum auf das achtgebend, was er ſprach, fuhr 
Liz fort: „Das ſtleine fommt mir jo vor, wie es 
auf dem Lande jein muß — fo harmlos und ſüß 
und ruhig, und wenn id) es jo halte, wird mir ganz 
friedlich ums Herz — ich wei nicht, warum.“ 

Aus fremden Jungen, 1897. II. 18, 





857 


Wieder ſah Jim gedankenvoll vor ſich nieder. 
Er fuchtelte eindringlich mit jeinem zerbifienen Stroh 
balm bin und ber. 

„Du haft Erfahrung darin, Piz. Iſt dir nie 
mals ein Mann begegnet, den du lieb haben fönnteft?* 

Liz bebte, und in ihren Augen fladertees unruhig auf. 

„Männer!” rief fie mit dem bitterften Hohn — 
„Männer find mir nicht in den Weg gefommen, nur 
rohe Kerle!” 

Sim ftarrte fie an, fchwieg aber; er hatte feine 
paſſende Antwort bereit. Gleich darauf hub Liz in 
fanfterem Tone wieder an: 

„Sim, willen Sie, daß ich heute in einer großen 
Kirche gewejen bin?” 

„Um jo jchlimmer!“ antwortete Jim, „Kirchen 
find zu nichts nüße, ſoviel ich davon verftehe.“ 

„Dort war eine Figur, Jim,“ fuhr Liz ernſthaft 
fort; „eine Frau, die ein Kind in die Höhe hielt, 
und die Menſchen fnieten davor nieder. Was meinen 
Sie wohl, daß das geweſen jein kann?“ 

„Kann ich nicht jagen,“ erwiberte der verwun— 


Wahrſcheinlich war's 'n Mujeum.” 

„Nein, nein,“ ſprach Liz. „Es war ganz gewiß 
eine Kirche; es beteten Leute drinnen.“ 

„Na,“ brummte Jim mürriſch, „mög's ihnen be— 
lommen! Ich bin nicht für das Beten. 'ne Frau 
und ’n kleines Kind, ſagſt du? Geb bir nur feine 
Verrüdtheiten in den Kopf, Lig! Frauen und Kin— 
der giebt e3 genug — mehr als genug, und zu ihnen 
zu beten —“ 

Jims grenzenloje Verachtung und Ungläubigteit 
waren zu groß, um in Worten Augdrud zu finden, 
und er wandte ſich zum Gehen, ihr kurz gute 
Nacht wünjchend. 

„Bute Nacht!” jagte Liz leife, und lange, nach— 
dem er fie verlaflen, jaß fie ftill da, in Sinnen ver- 
loren, das jchlummernde Kinddhen im Arm und 
horchte auf den Regen, der in ſchweren Tropfen her— 
abfiel, wie Erdichollen, die auf einen Sargdedel 
fallen. Sie war fein gutes Weib — weit davon 
entfernt, Sogar der Beweggrund, ber fie veranlafit, 
das Find für fo viel pro Tag zu mieten, war durch» 
aus nicht zu entſchuldigen — es war nur, um durch 
faljche Vorjpiegelungen Geld zu erlangen, dadurch, 
daf fie mehr Mitleid erregte, als fie jonft gethan 
haben würde, hätte fie für jich allein gebettelt, ohne 
das Find im Urme. Anfangs hatte fie das Seine 
nur zu dieſem Zwede umbergetragen, aber der Heine, 
bilffofe Körper, der fih Tag für Tag jo warm an 
ihre Bruft ichmiegte, hatte durch feine Unſchuld und 
rührende Schwäche ihr Herz weicher geftimmt, und 
endlich hatte fie begonnen, es mit einer jeltiamen, 
tiefen Innigfeit zu lieben, und zwar mit ſolcher Glut, 
daß fie mit Freuden ihr Leben für das Fleine Weſen 

108 


858 Marie 
zum Cpfer gebracht hätte. Sie wuhte, daß feine 
eignen Eltern ſich nichts aus ihm machten, es Sei 
denn wegen des Geldes, das es ihnen durch fie ein— 
brachte, und oftmal8 durchfreuzten tolle Pläne ihr 
armes, müdes Gehirn — Pläne, mit ihm auf und 
davon zu laufen, fern von der alles verjchlingenden 
Stadt mit ihrem lärmenden Getriebe, nad irgend 
einem lieblihen, bejcheidenen Dorfe auf dem Lande, 
fich dort Arbeit zu verichaffen und fich ganz diejem 
einen Kindchen zu widmen und es glüdlich zu machen, 
Arme Liz! Arme, ratlofe, tiefunglüdliche Liz! Eine 


unwiſſende Heidin ber Großftadt, mie jie war, io 


gab es dod) eine duftende Blume, die in der Wüſte 
ihres befledten und vergeudeten Dajeins blühte — 
die Blume einer reinen und ſchuldloſen Yiebe zu 
einem jener „Kleinen“, von denen eine allerbarmenbe 
Gottheit, von der fie nichts wußte, geſagt hat: „Laſſet 


fie zu mir fommen und wehret ihnen nicht, denn | 


ſolcher iſt das Himmelreich.“ 

Die trüben grauen Wintertage ſchlichen langſam 
weiter, und als Weihnachten nahe war, gewöhnten 
lich die Bewohner der Straßen, bie fi vom Strand 


Gorelli. 





abzweigen, daran, Abend für Abend eine traurige, 


rührende Frauenſtimme in eigentümlich ergreifender 
Weile einige der alten Lieder und Balladen, die dem 
Herzen jedes Engländer lieb und vertraut find, 
fingen zu hören, wie: „Die Ufer von Allan Water“, 
„Lehte Roſe“ und andre mehr. Alle dieje belichten 
Volksweiſen fang fie eine nad der andern, und ob« 
gleich ihre Stimme weder friſch noch kraftvoll war, 


jo klang fie rührend weich, bejonder$ bei der ab» | 


gedrofchenen, noch immer fejjelnden Melodie: „Home, 
sweet home*. Die Fenſter wurden geöffnet, und 
Kupfermünzen wurden freigebig der Straßenlängerin 
geipendet, die auf all ihren Wanderungen von einem 
zart ausjehenden Meinen Kinde begleitet wurde, 
welches fie mit beſonders zärtlicher Sorgfalt zu tragen 
ihien. Mitunter jah man fie aud) an den rauhen 
Nahmittagen durh Schlamm und Schmuk ihres 
Weges geben, mit müdem Antlif gegen den icharfen, 
bitterfalten Oftwind ankämpfend und geduldig weiter 
fingend — und Mütter, die aus den reich verjehenen 
Läden und Warenhäufern famen, wo fie Weihnachts« 
einfäufe an Spielzeug für ihre eignen finder ger 
macht hatten, blieben oft fliehen, um voll Mitleid in 
das blaſſe, Schmale Kindergelichtchen zu jehen, und 
jagten, indem fie ihre übrig gebliebenen Pence 


Gelüſte des Menſchtums zu verlieren. 


Und Weihnachten fam — der Geburtstag de 
Chriſtlindes — ein Felt, von defien heiliger Bedau- 
tung Liz nichts wußte: ihr war es nur ein ziemlih 
langweiliger „Bantfeiertag“ *), wo ganz London in 
die Kirche ging und Roaſtbeef und Plumpudding 
ab. Das Ganze war ihrem Geifte unfaßbar — 
aber ſelbſt ihr trauriges Antlik war fröhlicer als 
ſonſt am heiligen Abend und ihr war faft heiter zu 
Mute, denn hatte fie nicht dadurch, daß fie fd die 
Billen am Munde abgeipart, einen wundervollen, 
g0ld« und Icharlahfarbenen, aus Wolle gearbeiteten 
Vogel, der an einer Gummiſchnur hing, faufen 
fünnen — einen Vogel, der auf Befehl auf drollige 
Weiſe auf und nieder hüpfte — und hatte nicht ihr 
gemietetes Kind wirklich über das plumpe Spielzeug 
gelacht — ein foboldartiges und unheimliche Lachen, 
das erite, das es ſich jemals erlaubt Hatte? Und 
Liz hatte ebenfalls gelacht, aus reiner Freude an der 
Fröhlichkeit des Mindes, und der geitridte Vogel 
wurde eine Art Zaubermittel, fie beide Luftig zu 
madıen, 

Aber nahdem Weihnachten gefommen und vorüber 
war, und die melancholiſchen Tage, die letzten ſchwachen 
Pulsihläge des alten Jahres, langſam und ichwer 
dahinſchwanden, trat ein jonderbarer Ausdrud in 
dem eingefallenen Gefichthen des Kindes hervor, ein 
Ausdrud, der etwas Müdes, Leidvolles, Greiienhaftes 
hatte. Seine blauen Augen wurden nod erniter, 
noch finnender und träumeriicher, und mad einer 
Weile jchien es allen Geſchmack an den fleinlichen 
Dingen diefer Welt einzubüßen und die niedrigen 
Es lag jehr 
ſtill in Liz’ Urmen; es ſchrie nie und war nicht mehr 
weinerlich und verdrießlich, und es jchien mit einer 
Urt freundlicher Billigung den Tönen ihrer Stimme 
zu laujchen, wenn fie duch die naßfalten Strafen 


: Mangen, durch welche fie bei Tag und bei Nacht ge» 
‚ duldig wanderte, Almählih fand es auch an dem 
bunten geitridten Bogel fein Gefallen mehr; er hüpfte 


und bligte vergebens, das Kind betrachtete ihn mit einer 
unbewegten Miene überlegener Weisheit, gerade als 
hätte es plöblich herausgefunden, wie wirkliche Vögel 
ausjähen, und wollte fi durch eine jo fümmerlice 
Nachbildung der Natur nicht täujchen laſſen. %iz 


wurde unrubig, aber fie hatte niemand, dem fie ihre 


hergaben: „Armes, Heines Ding, ift es nicht jehr | 


trank?“ während Piz, deren Herz ein plößlicher 
Schrecken eritarren machte, baftig auszurufen pflegte: 
» 


bischen ſchwach, das iſt alles!” worauf die freund⸗ 
lichen fragerinnen, denen die Verzweiflung in ihren 
großen dumfeln Augen nahe ging, ihren Weg fort 
fetten und nichts weiter jagten. 


nein, nein! Es ift immer bla; es ift nur ein | 





Befürchtungen anvertrauen konnte. Sie war in ihren 
Zahlungen an Mutter Mawls jehr regelmäßig ge— 
weſen, und die zornmütige Dame, die von ihrer Bull- 
dogge von Mann in Ordnung gehalten wurde, war 
in der legten Zeit jehr damit zufrieden, ihr das Kind 
ohne weitere Einmiſchung zu überlafjen. Liz wußte 
nur zu wohl, daß niemand in der elenden Gaiie, 
in ber jie wohnte, ſich etwas daraus machte, ob da? 


*, Kin Tag, an dem die Bant von England in der Gitn gr 
Ihloffen bleibt; es gicht im Jahr vier folder »Bank-holidarz«. 








Das gemietete Kind. 


Kindchen frank ſei oder niht. Sie würden ihr nur 
jagen: „Je kränklicher, je bejjer für dein Handmerf.* 
Außerdem war fie eiferfühtig — fie konnte den Ge» 
danken nicht ertragen, daß irgend jemand außer ihr 
ed anrührte oder gar pflegte. Rinder waren oft nicht 
ganz wohl, dachte fie, und wenn man fie fich jelbit 
überließ, ohne fie mit Arzneien zu quälen, jo erholten 
fie fich oft ichneller wieder, als fie franf geworben 
waren. Auf dieſe Weiſe ihre geheimen Beiorgnifie 
beſchwichtigend, jo gut fie es vermochte, hütete fie 
ihren zarten Meinen Schüßling mit nod) mehr Sorg- 
falt denn je umd darbte und jparte, um Nahrung 
für ihn zu beihaffen, obwohl das Kindchen fich immer 
weniger aus weltlichen Bedürfniffen zu machen ſchien 
und ſich gleichſam nur mit geduldigem und jchweigen- 
dem Widerſtreben füttern lieh. 

Und jo rannen die Sandförner aus dem Stunden- 
glafe der Zeit langſam, aber ficher dahin, und es war 
Sylvefterabend. Liz war den ganjen Tag umher— 
gewandert und Hatte ihr Kleines Repertoire volfs- 
tümliher Balladen in den eifigen, Schnee mit fid) 
führenden Wind hinausgefungen — in den Wind, 
ber jo bitterfalt daherwehte, daß Leute, die fonft ein 
weihes Herz und eine offene Hand hatten, ihre 
Thüren und Fenfter feft verichlofen und ihre Stimme 
nicht einmal vernahmen. 
des alten Jahres ihr nur fargen Gewinn gebracht 
und ſich troftlos für fie geftaltet; fie hatte noch feinen 
Schilling eingenommen, faum die Hälfte; wie fonnte 
fie mit dem beicheidenen Gewinn heimfehren und 
Mutter Mawls und ihren Wutausbrüdhen gegenüber: 
treten? Der Hals jchmerzte fie — fie war jehr 
müde, und als die bleiche Nbendbämmerung dem 


So hatte die lehte Spanne | 





' ihren Schaf zu zeigen. 





tiefen, ſternloſen Dunfel der Winternadht wid, | 


ichlenderte jie mehanish vom Strand nad) dem 
Ihemjeslifer. Sie ging eine furze Strede am Ems 
bantınent entlang und jeßte ji in einen Winkel 
nieder, dicht bei der Nadel der Kleopatra — jenem 
Obelislen, der, jelbft fühl- und wandellos, auf den 
Verfall von Weltreihen herniedergeichaut hat und 
noh immer zu jagen jcheint: Geht vorüber, ihr 
armjeligen Gejchlechter! Ich, nur ein behauener 
Steinblod, werde euch alle überleben ! 

Zum erften Male dünkte fie das Kind auf ihrem 
Arme eine jhwere Bürde, Sie jchlug ihr Tuch zurüd 
und betrachtete e& zärtlich; es fchlief ganz feit; ein 
ſchwaches, friedliches Lächeln auf dem jchmalen, ftillen 
Gelichtchen. 


und das Kleine feit an die Bruft drüdend, ſchlummerte 
fie ebenfalld ein und verſank in den jchweren, traum— 


lofen Schlaf äußerjter Ermüdung und phyſiſcher 


Erihöpfung. Die ernfte, bedeutungsvolle Sylveſter— 
naht, eine Nacht ſchwarzer Nebeldünfte, verſtrich 
langjam, Sein einziger Stern erhellte das Toten- 


Selbft zum Tode erjchöpft, lehnte ſie 
den Kopf gegen bie feuchte Steinmauer hinter fid, | 


namen; — umſonſt — umſonſt! 
Körper war ſchon ſtarr und kalt: es war ſeit mehr 





859 


beit des alten Jahres, Seiner der Vorüberhaften- 
den gewahrte die Müde, die in jener dunkeln Ede 
Ichlief, und eine lange Zeit ruhte fie dort ungeftört. 
Ploötzlich blendete ein greller Lichtichein ihre Augen; 
fie jprang noch halb im Schlafe auf, aber das Find 
doch inftinktiv feſt umjchlungen baltend, Eine dunkle, 
bis unterd Kinn zugefnöpfte Geftalt, die eine hell— 
ſtrahlende Blendlaterne in der Hand hielt, ftand 
vor ihr. 

„Komm,” jagte dieſe Perjönlichfeit, „das gebt 
nit! Mari!“ 

Liz lächelte matt und abbittend. 

„Schon gut,“ antwortete fie, und gab jih Mühe, 
in heiterem Tone zu ſprechen, während fie die Augen 


| auf das gutmütige Geficht des Schutzmanns heftete. 


„Ich wollte hier nicht einjchlafen. Ich weiß gar nicht, 
wie es gekommen ift. Natürlich muß ich nad) Hauie 
geben.“ 

„Natürlich,“ ſagte der Wächter des Gefehes, 
etwas belänftigt durd ihre Willfährigkeit und, troß 
jeiner Barjchheit, gerührt durd) den gramvollen Aus- 
drud ihrer Augen. Dann wandte er jeine Laterne 
voll auf fie und fuhr fort: „Haben Sie da ein kleines 
Kind ?* 

„Ja,“ jagte Liz, halb ftolz, halb zärtlich. „Armes 
fleines Herzchen, es ift ihm jehr kümmerlich gegangen 
— aber ich glaube, e8 geht ihm jeht wieder beſſer,“ 
und durch jeinen freundlihen Ton ermutigt, jchob 
fie die fyalten ihres Shawls auseinander, um ihm 
Die Laterne bligte wieder 
auf, als der freundliche Hüter de& Friedens an— 
gelegentlih da8 Feine Bündel beſchaute. Er hatte 
faum bingeiehen, als er mit einem Ausruf zurüdfuhr: 

„Gott fteh mir bei!” rief er; „es ift tot!“ 

„Rot!“ ſchrie Liz auf. „O nein, nein! Nicht 
tot. Sagen Sie das nit, ad), bitte, bitte, jagen 
Sie das nit! O, das fann, fann Ihr Ernft nicht 
jein! Es fann nicht tot, nicht wirklich tot fein, nein, 
nein! O Kind, Kind! Du bift nicht tot, mein 


' Liebling, mein Engel, nicht tot, o nein!” 


Und atemlos, wie von Sinnen vor Angft, befühlte 
fie Hände, Füße und Gelicht des Meinen Gejchöpfes, 
fühte e8 ungeſtüm und nannte es bei taujend Koſe— 
Sein kleiner 


als zwei Stunden eine Leiche. 

Der Schumann Huftete und fuhr ſich mit jenem 
diden Stulphandichub über die Mugen. Er war ein 
Wächter des Gejehes, aber er hatte ein Herz. Er 
gedachte feines helläugigen Weibes daheim und des 
rofigen Heinen Geſchöpfes mit den weichen Bädkhen, 
das ſich zärtlich an ihre Bruſt jchmiegte und vor 
Freude laut auffreiichte, jo oft er ſich blicken ließ. 

„Kommen Sie,“ ſprach er jehr freundlich und 
legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens, das 


860 


Marie Corelli.— Das gemietete Kind, 





fröftelnd an der Mauer fauerte und in grenzenlojem ; Hang in feierlichen, melodiſchen Schwingungen durd 


Jammer auf die regungsloſe, wachsbleiche feine 
Geftalt in jeinen Armen niederftarrte. 

„Das Grämen nüht nichts,” er hielt inne — ihm 
jaß etwas in der Kehle, was ihm Unbehagen ver 
urfachte, und er mußte wieder huften, um es herunter- 
zubringen. „Das arme Geſchöpfchen ift tot — daran 
ift nichts mehr zu Ändern. Im Jenſeits iſt's beffer 
als in dieſer Welt, vergeſſen Sie das niht! Still, 
fill! Nehmen Sie es ſich nicht jo zu Herzen“ — 
dies leßtere jehte er Hinzu, ala Yiz erſchauerte und 
feufjte, einen Seufzer jo namenlojer Verzweiflung, 
daß es ihm das ehrliche Herz zerriß und ihm zeigte, 
wie nußlos jeine Bemühungen, ihr Troſt zuzuſprechen, 
jeien, Aber er durfte jeine Pflicht nicht außer Augen 
laſſen, und er hub in feiterem Tone wieder an: „Jetzt 
feien Sie jo gut und gehen bier fort, hören Sie, 
und machen ſich auf den Heimweg. Wenn id Sie 
hier einen Augenblid allein lafle, wollen Sie mir 
dann verjprechen, geradenwegs nad) Haufe zu gehen ? 
Ih darf Sie hier nicht mehr antreffen, wenn ic 
auf meiner Runde wieder hierher komme, verftehen 
Sie mid) ?* 

Liz nidte, 

„Daß ift recht,“ fuhr er freundlich fort, „ich gebe 
Ihnen genau zehn Minuten; Sie madhen ſich gleid) 
auf den Weg nad) Hauje.“ 

Und mit einem „Gute Naht“, das in einem 
Zone, der tröftend jein jollte, vorgebradht wurde, 
wandte er ſich ab und jchritt weiter; feine taftmäßigen 
Schritte tönten erjt laut, dann ſchwächer und ſchwächer 
dur die Stille ringsum, bis fie ſchließlich ganz 
verlangen, als jeine umfangreiche Geftalt in ber 
Ferne verſchwand. 

Sich ſelbſt überlaſſen, richtete Liz ſich aus ihrer 
fauernden Stellung auf; fie wiegte das tote Kind 
in den Armen und läcdelte, 

„Geradenwegs nah Haufe!” murmelte fie halb« 
laut vor fih hin: „Heim, heim! Ja, Kind, ja, mein 
Liebling, wir wollen miteinander nah Haufe gehen!” 
Und vorfichtig im Schatten der Häufer und Mauer» 
vorjprünge entlang ſchleichend, gelangte jie an eine 
breite Steintreppe, die an den Fluß hinunterführte, 
Sie ftieg die Stufen eine nad der andern hinab; 
das ſchwarze Waſſer jchlug mit dumpfem Plätjchern 
ſchwer gegen die Steinfliefen: e8 war Flut. Sie 
blieb ftehen; eine tiefe, volltönende Metallitimme 


— — — — — — — — — 


die Luft. Es war die große Glocke der Paulslirche, 
die zwölf ſchlug. Es war Mitternacht — das alte 
Jahr war tot. 

„Geradenwegs nad) Haufe!” wiederholte fie mit 
einem ſchönen, erwartungsvollen Ausdrud in den 
verftört blidenden, müden Augen. „Mein kleiner 
Liebling! Ya, wir find beide müde, wir wollen heim 
gehen. Keim, ſüßes Heim! Wir wollen geben! 

Sie fühte das falte Antlig der Kindesleiche, die 
fie jet an ſich drüdte, dann jprang fie hinab; ein 
dumpfes Aufraufhen drunten folgte — ein kurzes 
Ringen — und alles war vorüber! Das Wafler 
ſchlug wieder plätichernd gegen die Stufen wie vorher; 
der Schukmann fam noch einmal wieder des Meges 
und ſah mit Befriedigung, dab die Luft rein war. 
Durd den dunfeln Schleier droben am Himmel 
ſchaute ein einzelner Stern und funfelte einen kurzen 
Augenblid hernieder — dann verſchwand er wieder. 
Lautes, vieljtimmiges Glodengeläute jchredte die Nacht 
aus ihrem Brüten auf — hie und da wurden Fenſiet 
geöffnet, und Geftalten erjchienen auf den Ballon, 
um hinauszuhorchen. Die Gloden läuteten das 
neue Jahr ein — das Feſt der Hoffnung, den Ges 
burtätag der Welt! 

Aber was waren ihr Neujahrstage, die ftil, mit 
totenbleihem, nad) oben gewandtem Antlik und Armen, 
die mit dem nicht Ioslafjenden Griff des Todes ein 
Kindchen umfaßt hielten, den dunkeln Fluß hinunter 
trieb, ungejehen und unbemitleidet von all denen, 
die zu neuen Hoffnungen, zu neuem Streben an jenem 
eriten Morgen einer neuen Prüfungszeit des Lebens 
erwachten! 

Liz war nit mehr — war gegangen, Frieden 
mit Gott zu ſchließen — vielleicht mit Hilfe ihre: 
„gemieteten Kindes” — der Meinen fündenloien 
Seele, die fie jo innig geliebt hatte — war ein 
gegangen zu jener jchönften Heimat, vom der wir 
träumen und um die wir beten, wo die berirrten 
und irregeführten Wanderer diefer Erde willfommen 
geheißen und nad Leid und Berbannung Ruhe finden 
jollen, — in das jchöne, ferne Reich der Glorie, wo 
der göttliche Meifter herrichet, deſſen Worte noch 
immer das Getümmel von Zeitaltern übertönen: 
„Sehet zu, dab ihr nicht jemand von diejen Kleinen 
verachtet. Denn ic ſage euch, ihre Engel jeben 
allezeit daS Angeficht meines Vaters im Himmel.‘ 





— 





—6| Lofe Blätter & 


Bom armen Ladislaus Beöthn. 
on Thoͤt Adlıman. 
Aus dem Ungarifhen überfeht von A. Dirr. 


Eigentlich weiß ih gar nit, warum man ihn 
den „armen Ladislaus Bedihy* nannte. Aber man 
nannte ihn einmal fo. 

„Wohin gehit du?“ 

„Ich ſuche den armen Ladislaus Bedthy auf.“ 

„Wo fommjt du her?“ 

„Den armen Ladislaus Beöthy hab’ ich beſucht.“ 

Aber damals, am Anfang der fünfziger Jahre, 
waren wir ungariſchen Schriftiteller alle arm; Ladis⸗ 
laus war jedoch noch der eleganteite von ung allen, 
Und geſchickt war er; er band feine Krawatte jo 
raffiniert um feinen abgeichabten Rodkragen, dab es 
ihm immer nod) eine gewijje Eleganz verlieh, wenn 
es auch nicht gerade ſchön war, 

Ich ſehe ihm jetzt no vor mir, den armen 
Ladislaus — ja, ja, den arınen — mit jeiner Heinen 
Statur, dem fofett gefämmten blonden Haar und 
feinen winzigen, blinzelnden Aeuglein, die er ganz 
ſchloß, jowie er lachte. 

Was für ein befähigter, herzensguter und ehrlicher 
Schriftiteller war doch unſer armer Ladislaus! 

Die Leute hielten ihn immer für jo etwas wie 
einen großen Lump, aber nur, weil er ſich gewöhnlich 
für einen ſolchen ausgab, Eigentlich war er ja viel 
ju arm, um zu lumpen; feine Konjtitution war jo 
ſchwach, dat er von einem Bierteldden Wein jchon 


ordentlich taumelte. Nad) jeinen humoriftiichen Werten | 


ju urteilen, war er ein jpöttijcher, mwohlgelaunter, 
ewig lachender Menih; ich aber habe in meinem 
Leben feinen jentimentaleren Menſchen gelannt. Ganze 
Nahmittage lang ſprach er auf unſern Spaziergängen 
im Stadtwäldchen bloß von jeiner Mutter und heulte 
dabei wie ein Kind; Sentimentatität gefiel ihm nur, 
wenn fie faft übertrieben war, und von der Liebe 
iprad) er in einem Ton, als ob er im Sterben läge. 
Der Heinejche Vers: 

„Die Blumen fterben ohne Regen, 

Und ich fierbe deinetwegen“ 
gefiel ihm ungemein. Er recitierte ihn zuerjt lang- 
ſam, leije, dann mit Pathos, indem er zugleich Die 
Hand aufs Herz legte, dann brüllte er ihn Hinaus, 
und ſchließlich lachte er ſich ſelbſt herzlich aus: der 
ganze Menſch beitand eben aus einer jonderbaren 
Miſchung von Sentimentalität und Satire. 

Er liebte es auch, zu behaupten, daß er ein großer 
Schuldenmader jei, und in einer jeiner Humoresfen 
beihrieb und zeichnete er jogar jein eignes Leichen» 
begängnis: da ſaß er tſchibukrauchend in jeinem Sar 
und jeine Gläubiger ſchreiend und heulend hinterdrein. 





Mit dieſer Geſchichte verjpielte er feinen lebten ge— 
ringen Kredit. Belonders jein Schneider — ein 
feiner, galliger, jhwarzer Kerl — nahm die Sadıe 
ſchief: 

„Nicht zahlen und noch dazu Wibe machen. Nicht 
einen Knopf nähe ich Ihnen mehr an,“ Mit diejen 
Worten empfing er bei der nächſten Gelegenheit den 
armen Ladislaus. 

MWirdevoller nahm das Pasquill jein Schufter, 
Ignaz Kiß, auf. Ich kannte ihn ſehr gut, denn er 
arbeitete auch für mid. Kiß war ein grundehrlidher 
Menſch, wie e& die ungariihen Schufter im all» 
gemeinen jind. Der arme Ladislaus erzählte mir 
jpäter, wie er Kiß nah dem Erſcheinen der Skizze 
getroffen, und wie diefer ihm dann gejagt habe: 

„Geehrter Herr, es ift durchaus nicht zweddienlich, 
ehrliche Menichen zu beleidigen.“ 

Danad) aber borgte er ihm bis zu jeinem Tode. 


* 


Es war übrigens damals eine gewiſſe Art von 
höherem Rappel dazu nötig, dab jemand zur Schrijt« 
ftellerei ging; die Journaliftit, die eine ſichere Exi— 
ſtenz bietet, exiflierte noch nicht; heute ericheinen 
bundertmal mehr Blätter in der Hauptitadt, damals 
gab es zwei: das „einzige“ politifche und das „ein« 
zige” Titterarijche Blatt. Nicht, dab man der Schrüft- 
ftellerei gegenüber fein Intereſſe gezeigt hätte, Aber 
die Schriftfteller waren die Märtyrer der Verleger; 
war ich doc einmal Zeuge, wie unſer „allgemein 
beliebter Humoriit“, der arme Ladislaus Beöthy, 
einen jeiner Romane um zweiunddreißig Gulben ver- 
faufte, von denen er übrigens bar nur achtzehn be= 
fan; den Reſt zog der Herausgeber für alte Schul- 
den ab. 

„Man bat mich bezahlt, wie man Milton für 
jein ‚VBerlorenes Paradies‘ bezahlt hat,” lachte Beöthn, 
auf, ala wir den Faden verließen. 

„Bas hält dich denn eigentlich aufrecht, Ladis- 
laus?“ fragte id) ihn. 

„Mein Freund, die Begeifterung und die Donau— 
ufer-Zwetichen.“ j 

Damals geihah es auch, daß man mid einmal 
ala Zeugen zur Polizei lud. 

„Bas find Sie, mein Herr?” 

„Schriftjteller.“ 

„Ja, alſo — was?” 

Aber ih war ein „gemadter Mann“ damals im 
Vergleich mit meinen Kollegen; id) war nämlich Re— 
dafteur des „einzigen litterariichen Blattes“; ich 
fritifierte, vezenfierte, jchrieb Humoresfen, ausländiſche 
und inländiſche Berichte und jo weiter. Dafür be- 
fam ich monatlich dreißig Gulden. Das war ſchon 


862 


etwas damald! Die jungen Schriftjteller jaben in 
mir einen Kröfus; ich war natürlich) aud) der Gegen— 
ftand ihres geheimen Neides. Da ſaß ich eines Tages 


in meinem „Bureau“, weldes damals ein Heines | 


Monatäzimmer war. Der arme Ladislaus trat ein. 

„Ad, mein Freund, heute bin ich in Verzweif— 
lung; das Leben ift ein Schmerz, jag mir nur gleid) 
deinen traurigften Vers auf.“ 


Wo ift der zweinndzwanzigjäßrige Poet, der nicht | 


einen traurigen Vers recitieren würde, wenn man 
ihn darum bittet. Ich legte auch gleich 108. 
Etwas recht Trauriges; jo ungefähr: 
„Beinen muß id, fo dunkel und fhmar 
Dat mir der Kummer mein Kerze gefärbt.“ 
Und jo weiter bis zum Abend. Plöplih nahm er 
feinen Hut, ſchickte ſich zum Gehen an und jagte: 
„Kannſt du mir nicht fünf Gulden leihen ?* 
„Lieber Freund — wir find fait am Ende des 
Monats — ich geſtehe —* 
„Was? Du glaubjt aljo, dab ich deine Verſe 
den ganzen Nahmittag umſonſt angehört hätte?“ 
Und damit jehte er ſich auf einen Seflel und 
late, lachte, bis ihm fait die Thränen aus den 
Augen traten. Er hätte fich vielleicht zu Tode gelacht, 
wenn ich nicht auf einmal die Thüre geöffnet hätte, 


Ein fleiner blauer Mantel trat ein; drinnen ftaf | 
ein feines Männchen, von dem aber nur der obere | 


Teil des Kopfes über den Mantel hervorragte. 
„Bitte, macht man hier die Verſe?“ fragte er. 


„Was für Berje? Hier werden feine gemadt, | 


fondern nur heraudgegeben. Was wünſchen Sie?* 
„Ja, bitte, dem reichen Bebauer jeine Frau ift 
geftorben,” jagte der blaue Mantel. 
„Soll ih das ins ‚Vermiſchte‘ hineinnehmen ?* 
„Nein, bitte, man hat mid; hierher geſchickt, damit 
Sie ein Grabgedidt machen, wofür Herr Bebauer 
zwei Goldftüde zahlen wird.“ 
„Grabgedichte machen wir nicht.“ 


Da fteht Ladislaus würdevoll auf. „Der Herr 


da,“ ſagte er, faltblütig mit dem finger auf mid) | 


deutend, „it nur mein Gehilfe, der verfteht vom 
Gewerbe noch nichts, 
gedichte madt. Frau Bebauer war wohl ein recht 
tüchtiges Weib, nit wahr?“ 

„Und ob! Neun Kinder hat fie gehabt.“ 

„Das Grabgedicht wird bis morgen früh fertig; 
fommen Sie nur um neun Uhr in meine Wohnung, 
Waitzengaſſe Nr. 9, denn hier wohnt bloß mein Ge— 
hilfe; dann fönnen Sie das Epitaphium haben. 
Vergeſſen Sie aber die vier Goldftüde nicht.“ 

„Der Bebauer will bloß zwei geben.“ 

„Ja, etwas Schlechtes lann man auch für zwei 
Soldftüde machen; gute Gedichte foiten aber vier.” 

„Na, machen Sie nur, bitte, ein gutes; der Be— 
bauer iſt ja reich und giebt gewiß gern vier,“ 

Das lleine Männchen 309 jeinen Mantel nod) 
etwas mehr in die Höhe und mantelte zur Ihüre 
hinaus. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder mid) 
ärgern jollte. Dem armen Ladislaus aber warf ich 
von meiner Höhe einen verachtungsvollen Blick zu. 


Ih bin es, der die Grab- | 


Loſe Blätter. 


| „Du, mich bitte ich mit ſolchen Dingen nicht p 
ı fompromittieren; ich fchreibe die Grabſchriſt nicht 

„Das brauchſt du auch gar nicht; ic werde « 
Ihon thun.“ 

„Du haſt fein Ehrgefühl.“ 

„Ich thue es aus Patriotismus. Freuen wir ums, 
daß in unfern Tagen die Yeute noch ungariihe Grob. 
| Schriften verlangen. Und warum follte nicht irgend 
jemand eine fchreiben, für eime jo tüdtige from 
wie die?” 

„Du haft fie ja gar nicht gefannt.” 

„Alles eins, Sie hat neun Kinder auf die Bat 
gebracht, und du weißt, was Napoleon zu Madamı 
Stab! fagte: ‚Das jei das tüchtigfte Weib, dos die 
meiſten Kinder hätte.‘* 

„Thue, was du willft, aber bring meinen Namen 
nicht in die Sache. Gott behüte dich.” 

„Du jchidft mich umfonft weg. Hier, bei dir, 
jchreibe ich das Gedicht; ich fühle mid; gerade in: 
ipiriert.* 

Auf das hin lachte ich gerade hinaus, weil ih 
wußte, dab er in feinem ganzen Leben nod nidt 
einen Vers gefchrieben hatte. 

Er fepte ſich am den Schreibtiſch, fuhr mit der Hand 
durch feine Haare, ſeufzte und blieb eine halbe Stud: 
fo figen. Ich lächelte über feine Anftrengungen, 

„Nun, haft du ſchon etwas geichrieben?” fragte 
| ich nad langer Pauſe. 

„Eine Zeile: 
| ‚Hier rubt ein tüchtig Frrauenzimmer — 
| Mad) mir doch einen Reim darauf,“ fuhr er aitia 
| fort, „fonit zernag” ic) glei meinen Calamus.“ 
} „Na, zernag’ ihn nur nicht, ich helf' dir ans. 
Schreib: 





‚Engel trug'n fie in den Himmel,“ 

„Schlechte Reime, ‚immer: und ‚immel‘. Ab 
du machſt ja immer ſolche.“ 

„Das verftehit du nicht; das ift poetijche Ligen,“ 

„Gut, gut; machen wir aljo weiter!” 

„Ja, was willſt du denn eigentlich Tagen?‘ 
' fragte id. 

„Fahr nur logiſch weiter; daß fie jetzt aud ein 
Engel ſei, der Engel ihrer Kinder.“ 

„Gut, ſchreib: 

‚Mög fie auch ein Engel werden 
Für die finder bier auf Erden“ 

„Das ift ja prächtig! Ich werde ganz jente 
mental! Nod zwei Zeilen jept, jo ungefähr, dab fe 
ihre Kinder beſchützen folle und fie im Jenjeits wieder: 
ſehen möge.“ 

„Schreib alſo: 
‚Und für fie zum Hertgott flehen, 
Und fie einſtens wiederiehen.‘” 

„Na, ſehen wir und mal das Ganze an.“ Um 

mit Stentorftimme recitierte er: 

„Hier rubt ein tüdtig Frauenzimmer, 
(engel trug'n fie in den Himmel; 
Mög fe aub ein Engel werben 
Für die finder hier anf Erden, 
Und für fie zum Herrgott flehen, 
Und fie einſtens wiederſehen.“ 


oje Blätter 


Sein Geſicht firahlte von Zufriedenheit. 

„Das hätt’ ich gar nicht gedacht, daß ich ein jo 
ausgezeichneter Dichter bin. Weißt du, im Grunde 
genommen, habe ich die Idee geliefert, du haft bloß 
die Ihlehten Reime dazu gemacht. Auf Wiederjehen 
morgen beim Primus. Und fort war er mit feinem 
Gedicht. 


* 


t 





Bei diefem Herrn mit dem jonderbaren Namen | 
aßen damald wir junge Schriftiteller. Er hielt eine | 


feine Wirtichaft in der Komitatshausftrage, Schred- 
lich freigebig war er, ein echt ungarischer Wirt. Rieſige 
Portionen gab er, und das Brot trug er im Gait- 
jimmer herum; jeder fonnte ſich nad) Belieben davon 
ebihneiden. Er hat's auch nie zu was gebracht. 

Der arme Ladislaus ſaß ſchon da, inmitten einer 
ihmanienden Gejellichaft, jein Seidel Wein vor ji 
und ihon mehrere in ſich. 

„Wie geht’s, Laus?“ 

„So, wie es einem Menjchen geht, der in Gold— 
ftüden zahlt. Ich jchreibe feine Romane mehr, aber 
morgen eröffne ich das ‚erfte, große ungariiche Grab- 
Ihriftenbureau‘. Freund, feiern wir das. Es leben 
die Toten!“ 

Der arme Ladislaus wußte nicht, daß er nad) 
ein paar Jahren ſchon denen Gefellichaft leiſten jollte, 
auf deren Wohl er jetzt trank. 


Schnell ging er dahin, ohne daß jein Talent ſich 


voll zu entwideln Zeit gehabt hätte, ohne dab ihm 
Rürdigung und Erfolg zu teil geworden wäre. 
Armer Ladislaus ! 
——— 
KRoſtis Palamäs. 

Der Verfaſſer von „Der Tod des Ballitaren“, 
gehört Äuferlich und innerlich zufammen mit dem den 
Leſern diefer Zeitichrift bereits aus zwei Erzählungen 
befannten Georg Droffinis. Beide jind 1859 ge 
boren und ftammen aus Mefolongi. Beide haben 


fh mehr auf lyriſchem ala auf novelliftiichem Gebiete | 


einen Namen gemadt, doch iſt Palamäs auch ala 
Lyriker der Bedeutendere und Tiefere von beiden. 
Er hat bis jet zwei Gedichtfammlungen veröffent- 
fit: „Lieder meiner Heimat”, 1886, und „Die 
Augen meiner Seele“, 18983, außerdem eine fom- 
bolijche Dichtung, den „Hymnus an Athene“. Von 
einen wenigen Erzählungen iſt die vorliegende die 
tigenartigfte und vollendetite; fie erjchien 1891 in 
der „Heftia“ umd gehört mit zu ben eriten in der 
teinen Vollsſprache gefchriebenen Erzählungen der 
nengriehiichen Litteratur, wozu freilich auch der echt 
vollstümliche Stoff und die Art der Meberlieferung 
der Erzählung aufforderte — der Verfaſſer verdankt 
ihten Inhalt der Mitteilung einer alten Frau aus 
dem Volle. Weber den piuchologiihen Wert der 
Erzählung Hat ſich der in Paris wirkende Grieche 
Ran Pſichari in jeinem Buche „Autour de la Gröce* 
(Baris, 1895) geäußert, dem wir einige harakteriftiiche 
Stellen entnehmen. Er vergleicht Palamas’ Erzählung 
mit dem berühmten Buche Edmond Abouts „Le roi 
des montagnes“, einer fatiriichen Schilderung des 





863 


griehiichen Räuberlebens, und meint, dab Palamäs 
„ung ein zarteres Gemälde der griedilchen Seele 
gegeben hat ala About”. Auch enthalte unjre Er— 
zählung eine höhere Philoſophie, die zugleih echt 
antif jei: „Für Diele Raſſe, die in der Fülle aller 
Lebensformen aufgeht, iſt jeder Kompromiß verhaßt, 
jeder Fleck todbringend. Es genügt ein erfrorenes 
Roſenblatt, daß der ganze Roſenſtrauch verwellt.“ 
— „Die antite Liebe zur Vollendung wohnt in dem 
Herzen bes ſchlichten Menſchen, des Mitros... 
Aber dieſer jchlichte Menſch iſt zugleich ein Held, 
und der Rahmen der griehiichen Meere giebt der 
ganzen Yandichaft eine gewille ideale Fernſicht.“ — 
Eine andre Heine Erzählung von Palamäs, ein 
Jugendiwverf, hat A. Bolt verdeutſcht in feiner Samm⸗ 
lung „Helleniſche (joll heißen: neugriehiihe) Er— 
zählungen“ (Bibliothef der Öejamtlitteratur Nr. 116,7, 
©. 78 fi.). K. D. 


Der litterariſche Juternationalismus. In Paris 
iſt der Gedanke aufgetaucht, ein internationales Theater 
zu gründen. Es fehlt natürlich nicht an Widerſpruch, 
der ſich in das Gewand des verletzten Nationalgefühls 
kleidet, wenn er auch vielleicht nicht zu trennen iſt 
von dem geſchäftlichen Standpunft, der von aus— 
wärtiger Konkurrenz Schädigung der einheimiſchen 
Produktion befürchtet oder doch wenigftens eine Tei- 
lung des Intereſſes. Albert Lacroir, der ſich in der 
„Revueinternationale” darüber ausſpricht, nennt diejen 


 Standpunft eine Hebertragung des Schutzollfyitems 


auf das geiftige Gebiet und erflärt ihn für völlig 
verfehlt. Wielfache Berührung mit dem geiftigen 
Leben andrer Völker ift ein Gewinn; je mehr neue 
Elemente eine Nation in ihr angeborenes Weſen 
aufnimmt, umbildet und verbaut, defto mehr wird 
dieſes gefräftigt. Lacroix beruft ſich auf die Geichichte 
des franzöſiſchen Vollstums, in dein Gallier, Yigurer, 
Yateiner, Griechen der phofätichen Kolonie Marjeille, 
Belgier, Franken, Iberer, Weftgoten und jo weiter 
zufammengeihmolzen find, und mit noch mehr Be» 
weisfraft beruft er fih auf die wechlelnden Einflüſſe 
fremder Litteraturen, auf die Entwidlung der fran« 
zöfiichen. Rabelais und Ronfard gewannen aus dem 
Studium des Lateinischen und Griechiſchen fruchtbare 
Eindrüde, die ganze Renaiffance in Frankreich iſt 
von ber italienifchen beherrſcht geweſen. Racine 
lehnt ſich an die griechiſche Tragödie, Corneille an 
die ſpaniſche. Shafeipeares Einfluß bricht fich im 
18, Jahrhundert Bahn. Diderot jchöpft aus ihm 
den Keim des erften bürgerlihen Schaufpiel® in 
franzöfiicher Sprade. Die Homantit von Victor 
Hugo, Dumas, Merimee ijt nicht zu trennen von 
der Einwirfung der deutſchen romantiihen Schule. 
Die neueite Zeit hat den ſchwediſchen, den englifchen, 
den rufftihen Roman als Moment der litterariichen 
Entwidlung aufgenommen. Ind gerade das fran- 
zöftiche Theater der Gegenwart fann eine Rejormation 
recht gut brauchen. Selbit bloße Verjuche, neue 
Mege zu finden, find nicht zu tadeln; jo haben auch die 
Stüdevon Hauptmann Anregungen hinterlaifen. Das 


864 


geplante „Theatre International” wird die lebendige 
Berührung mit der dramatischen Dichtung des mo— 
dernen Spaniens, des modernen Portugal vermitteln 
können. Wer wei, ob nicht dadurch der franzöfiichen 
Bühne ein neuer Gorneille oder Racine erwächſt. 
Denn der litterariſche Internationalismus dient ftets 
dem Fortſchritt der mationalen Litteratur; dieſe 
Wahrheit gilt ebenjo in Deutichland, — 1 — 


Die Akademie Goncourt. Das Teſtament Gon—⸗ 
courts iſt vom Gericht als gültig erklärt worden, die 
„Alademie Goncourt“ wird alſo bald ins Leben treten 
fönnen. Alphonſe Daudet, der Teſtamentsvollſtrecker, 
hat der Neugier der Reporter Rede ſtehen müſſen, er 
glaubt, daß nach Abzug aller Koſten für die Stiftung 
ein Kapital von anderthalb Millionen zur Verfügung 
ſtehen werde. Daudet möchte, um alles geſpreizte 
Weſen fernzuhalten, am liebſten auf den Namen 
Akademie verzichten und daraus ein Déjeuner Gon- 
court maden. Hat dod) ſchon vor zwanzig Jahren 
das Diner des cing beftanden, zu dem Edmond, 
Goncourt, Daudet, Zola, Flaubert und Turgenjew, 
troß ihres verfchiedenen Geihmads, ſich allmonatlich 
vereinigten. Flaubert ſchwärmte für Enten und Butter 
aus der Normandie, Goncourt für Ingwerlompotts, 
Zola hielt fih an Seefifhe und Meine Schaltiere, 
Zurgenjew blieb bei feinem ruffiichen Kaviar. Solche 
Traditionen könnte alfo Daudet auf die neue Ala- 
demie übertragen. Acht von deren zehn Mitgliedern 
find von Goncourt jelbft beftimmt worden: Daubdet, 
die beiden Brüder Rosny, Paul Margueritte, Geffroy, 
Mirbeau, Huysmans, Hennique. Dieſe haben die 
zwei noch fehlenden Mitglieder zu wählen, was erjt 
im Herbſt geichehen joll. Man fpricht von Descaves, 
dem Verfaſſer de8 Romans „Les Emmures*, von 
Elifee Reclus, dem berühmten Geographen und 
Anardiften, aber auch von Toljtoj und Ibſen — 
alfo eine Ehrung der ausländiſchen Litteratur — do 
ift das nicht mehr ala bloße Vermutung. Daudet 
hält für das Wichtigfte die baldige Verleihung des 
von Daudet ausgejegten Preijes von fünftaufend 
Franken für das —— Werk eines Anfängers. 


Scjreibt bien Norwegiſch Diefe Frage wirft 
eine amerifanifche Wochenſchrift („Eritic”) auf, um fie 
zu verneinen; denn Ibſen jchreibe ebenjo wie Björnjon 
nichts andres als Däniſch. Es ift doch fraglich, ob 
das in jo jchroffer Faſſung richtig ift. Allerdings 
find die Beftrebungen, das Norwegiſche als Schrift- 
ſprache zu gebrauchen, erft jeit der Mitte des neun= 
zehnten Jahrhunderts lebhafter geworden. Die däniiche 
Schrift und Umgangsiprade hat feit der Calmariſchen 
Union von 1397, welche die drei nordiichen Reiche 
vereinigte, in Norwegen ſich um jo fefler eingemwurzelt, 
als diejes bis 1814 jtaatlich mit Dänemark verfnüpft 
blieb. Norwegiſch jank zur Bauernmundart herunter. 
Holberg, der aus Bergen in Norwegen nad) Ropen« 











Loſe Blätter. 


bagen überfiedelte, gab ſich die größte Mühe, um 
die Anklänge an das Nortwegiiche aus feinem Däniih 
ausjumerzen. Nur in den Volfsliedern und Volt: 
fagen, die fpäter Asbjörnſen ſammelte, behauptete 
das Norwegische feine Geltung. Aus der Mıumdart 
geftalteten dann Ivar Najen und andre um die Mitte 
des meunzehnten Jahrhunderts eine neunorwegiiche 
Sprade (Norst Landsmaal), die in Zeitungen umd 
Büchern angewendet wurde, um die ftaatlidhe Selb— 
ftändigfeit Norwegens zu befräftigen. Belonder: 
Björnjon hat fi bemüht, die Eigentümlichfeiten des 
Norwegiſchen gegenüber dem Dänifchen jchärfer aus 
zuprägen, im Wortſchatz, in den Formen und jelbft 
im Sahbau, jo daß er, wie auch die genannte ameri⸗ 
kaniſche Wochenfchrift zugiebt, für den Durdignittt 
dänen jchwer verftändiih. Demnach ift doch das 
Neunorwegiiche, wenn aud noc feine durchaus 
fertige Schriftipradhe, ſchon ftarf auf dem Wege dazu, 
fid) vom Däniſchen ganz zu entfernen. 


* 

Schriftitellerhonorarevor 60 Jahren. Der Ahnhert 
des modernen franzöfiichen Romans, Stendhal, oder 
mit feinem eigentlichen Namen Henri Benle, bat in 
ben vierundzwanzig Jahren feiner jchriftftelleriihen 
Laufbahn von 1817—1839 im ganzen 2i Bände 
veröffentlicht und dafür an Honoraren 5700 FFranten 
erhalten. Auf feine eigne Koften ließ er 1817 kei 
dem berühmten Verleger Didot in Paris einen Band 
mit Lebensbejchreibungen Haydns, Mozarts und 
Metaftafios (des Hofdichters des Kaifers Karl VL), 
jowie eine „Geſchichte der Malerei in Jtalien“ er: 
jcheinen ; vom erfteren Buch wurden 127, vom Teßteren 
284 Eremplare verfauft, der Verfafjer hatte einen 
Schaden von 3500 Franken. Sein nächſtes Wer 
war der Roman „L’amour*. Im jchroffen Gegeniah 
zum hohlen Pathos in der „Corinne“ der Madame de 
Stael, ftellte er fich die Aufgabe, die Wirklichkeit 
treu umd natürlich zu jchildern und den Leſer zu 
unterhalten. Die Vorrede nennt „Corinne“ ein Meifter- 
wert der Dummheit, aber fie meint zugleich, dab auf 
hundert Zejer nur vier von „L’amour* treffen würden, 
erft um das Jahr 1880 werde das Verjtändnis für 
den Verfaſſer ſich eintellen. Stendhals Meifterwer! 
„Rouge et Noir“ erſchien 1831, eine Schilderung der 
Geſellſchaft vor der Revolution in Romanform, würdig 
eines Balzac oder Thaderay, aber von den Zeitge 
noſſen nicht beachtet. Für „L’amour“ hatte Stendhal 
fein Honorar erhalten, „Rouge et Noir“ bradte ihn 
1500 Franken, jein nächſtes Werk „La chartreus 
de Parme* 2500 Franken. Aber er war jet durd 
den Mangel an Erfolg jo entmutigt, daß er ſich mit 
dem Gedanken an Selbſtmord trug; zum Glüd bei 
ihm der franzöfiihe Konſul in Eivita Vecchia jein 
Gaftfreundichaft an; dort ftarb Stendhal 1842. 
Seine Prophezeiung aber hat ſich erfüllt, erft jet 
find feine Bücher in weiteren Kreiſen gejchägt, * 
Verdienſte ins Licht geſtellt. 


Berantwortlider Redalteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart. Drud und Berlag der Deutſchen Berlagd-Anftalt in Stuttgari. 
Briefe und Sendungen find nur an bie Dentfde Derlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu ridten 








SHleichbeit. 


Edward Bellanın. 
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von W. Jacobi. 


(Fortfekung.) 


XV. 
Wohin wir ohne die Nevolution gelommen wären. 

„Die Geſchichtsbücher erzählen uns viel davon,” 
iagte Ediths Mutter, „bis zu welchem Grabe es ein- 
zelnen Individuen und Familien gelungen ift, die 
Hilfsquellen ber Natur, den induftriellen Medanis- 
mus jowie die Erzeugniffe der verjchiedenen Länder 
in ihren Händen zu vereinigen. Julian hatte nur 
eine Million Dollard; aber von manchen Perjonen 
oder Familien wird berichtet, daß ihre Neichtum fich 
auf fünfzig, hundert, ja zwei- bis dreihundert Millionen 
belief. Man lieft von Kindern, welche ſchon in ber 
Wiege die Erben von ungezählten Millionen waren; 
nirgends aber finde ich in den Büchern eine beftimmte 
Grenze erwähnt, — und die muß es doch gegeben 
haben — bis zu welder ein Menſch fich die Erde 
umd ihre Güter, den Boden zur Bebauung und die 
Erzeugniſſe der Arbeit aneignen durfte.“ 

„Fine Grenze gab es nicht,” erwiderte ich. 

„Du wirft doch nicht behaupten wollen,“ riej 
Edith aus, „daß wenn jemand nur Mug und gewiſſen— 
los genug war, er fih Grund und Boden eines 
ganzen Landes aneignen konnte und den Leuten auch 
feinen Fußbreit Erde übrig zu laſſen brauchte, auf 
dem fie ohne feine Erlaubnis hätten ftehen dürfen?“ 

„Ganz gewiß,” erwiderte ich. „In vielen Ländern 
der alten Welt beiaßen in der That einzelne Perjonen 
ganze Provinzen. Auch in den Vereinigten Staaten 
waren große Streden in Privatbeſitz oder in bie 
Hände gewiſſer Körperjchaften übergegangen. Der 
einzelne durfte jo viel Land befiten, wie er irgend 
wollte. Natürlich ſchloß diefer Bei auch das Recht 
in fich, jeden Bewohner diefer Yandftreden auszu« 
weifen, wenn der Eigentümer es nicht vorzog, Die 
Leute gegen Zahlung eines Tributs dableiben zu 
lafien.“ 

„Und wie verhielt e& fich mit den andern Dingen 
außer dem Grund und Boden?” fragte Edith. 

„Sanz ebenfo,” jagte ih. „Ein Menſch konnte 
in den ausfchließlichen Beſitz aller Fabriken, aufs 
läden und Bergwerke gelangen, ſich aud) aller Hilfe» 

Aus fremden Zungen. 1807. IL. 1%, 


mittel der Induftrie und des Handels bemächtigen, 
jo daß niemand irgend welche Gelegenheit mehr fand, 
jeinen Lebensunterhalt zu erwerben, ausgenommen 
als Knecht des Eigentümers und auf deſſen Be— 
dingungen,” 

„Wenn wir recht berichtet find,“ ſagte der Doktor, 
„10 hatte, ſchon ehe Sie damals in Schlaf verfielen, 
die Konzentration des Befikes von Produftion und 
Güterverteilung, Handel und Induftrie durch Synbdi- 
fate und SKonjortien, in den Wereinigten Staaten 
einen Punkt erreicht, der allgemeine Beunruhigung 
hervorrief.“ 

„Ganz gewiß,” beſtätigte ih. „Es ging ſchon 
jo weit, daß ein paar Dubend Menfchen in New Mort 
es in ihrer Gewalt hatten, nad Belieben jeden 
Transport zu hemmen. Die vereinigte Macht einer 
andern Gruppe von Kapitaliften würde volllommen 
ausgereicht haben, um die Induſtrie und den Handel 
des ganzen Landes zum Stillitand zu bringen, allen 
Broterwerb unmöglich) zu machen und die gejamte 
Bevölkerung dem Hunger preiöjugeben. Das eigne 
Intereſſe, das diefe Kapitalijten am Fortgang der 
Geſchäfte hatten, war die einzige Bürgſchaft, welche 
dem Volke für den Erwerb feines Lebensunterhalts 
von Tag zu Tag blieb. Wenn die Kapitaliften die 
Leute dazu zwingen wollten, ſich bei einer politiichen 
Wahl ihren Wünſchen zu fügen, jo drohten fie ihnen 
regelmäßig, daß fie die Yabrifen im Lande ſchließen 
und eine Gejchäftstrifis veranlafien würden, falls 
das Ergebnis der Wahl nit ihren Erwartungen 
entipräche.” 

„Segen wir einmal den Fall, Julian, daß eine 
Perſon, eine Familie, oder eine Gruppe von ſtapita— 
liften in den alleinigen Befi von dem Grund und 
Boden und dem ganzen wirtjchaftlichen Mechanismus 
einer Nation gelangt wäre. Damit aber nicht zu- 
frieden, wünjchte fie noch den unbefchränkten Beſitz 
alles Landes und aller Induftriemittel auf der ganzen 
Erde an ſich zu reißen — würde das wohl mit euern 
Geſetzen über das Eigentumsrecht unvereinbar ge 
wejen jein?” 

109 


866 e 

„Durchaus nicht. Wenn ein Menjch, fei e8 durch 
Schlauheit und Gejhidlichkeit oder durch Erbſchaften, 
einen Rechtsanspruch auf den ganzen Erdball ger 
wänne, jo würde diefer nach unjerm Gejch fein 
Eigentum, und er fönnte damit anfangen, was ihm 
beliebte, niemand hätte ihm etwas dreinzureden. 
Uebrigens ift Ihre Borftellung von einer Perjon 
oder Familie, die den ganzen Erbball beherricht, fein 
reine® Phantaſiebild. Als ih damals in Schlaf 
verfiel, gab es in Europa ein Bankhaus, deſſen 
Madtmittel und Hilfsquellen ſich über die ganze 
Welt verbreiteten und fo gewaltig waren, auch jo 
raſch und auf jo wunderbare Weiſe zunahmen, daß 
fie fchon einen ftärkeren Einflug auf die Gejchide 
der Nationen hatten, als jemals ein Monard) aus- 
juüben vermochte,“ 

„Hören Sie num, ob id Ihr Syſtem verjtanden 
habe: Wenn die Betreffenden wirllich ben Erbball 
in Befik genommen hätten, fo wären fie gefehlid) 
befugt gewejen, im Namen des geheiligten Eigentums 
rechts der Menfchheit den Aufenthalt auf der Erde 
zu fündigen. Falls ji das Menſchengeſchlecht diejer 
Anordriung nicht fügte, hätten fie ihm befehlen lönnen, 
das Geſetz, von Polizei wegen, an fich felber zu voll- 
jtreden und fi von der Oberfläche der Erde aus— 
zuſtoßen. erhält fid) das jo?“ 

„Ohne Frage.” 

„D Vater,“ rief Edith aus, „du und Julian, 
ihr wollt ung zum bejten haben. Ihr meint wohl, 
ihr könntet uns alles aufbinden, wenn ihr nur ernfte 
Gefichter dazu macht? Aber das geht denn doch zu 
weit.“ 

„Es wundert mid nicht, daß du das glaubft ; 
aber du fannft dich leicht aus den Büchern über: 
zeugen, daß wir die mögliche Ausdehnung des Eigen« 
tumsrecht3 unter dem alten Syſtem durdaus nicht 
übertrieben haben. Was damals Eigentumsrecht 
genannt wurde, bedeutete für einen jeden, der klug 
genug dazu war, die unbegrenzte Befugnis, alle 
übrigen um ihr Eigentum zu bringen.” 

„Dann jcheint es aljo,” fagte Edith, „daß unter 
der alten Regierungsiorm der Traum einer Welt 
eroberung durd) ein Individuum auf wirtichaftlichem 
Wege ansführbarer gewejen wäre ald auf milis 
täriſchem.“ 

„Sehr wahr,“ ſagte der Doltor. „Alexander und 
Napoleon haben ihren Beruf verfehlt. Sie hätten 
Banquierd werben jollen, nicht Soldaten. Aber aller= 
dings war in ihren Tagen die Zeit noch nicht reif 
für eine weltumfaſſende Gelodynaftie, wie wir fie 
beiprochen haben. Die Könige hatten eine raube 
Art, ſich in die jogenannten Eigentumärechte einzus 
mifchen, wenn dieje das königliche Anjehen ſchädigten 
oder eine gefährliche Unzufriedenheit im Wolle er= 
zeugten. Selbſt Tyrannen, duldeten fie nicht willig 








Edward Bellamy. 


Nebentyrannen in ihrem Bereich. Erſt als die Könige 
ihrer Macht entlleidet waren und das Interregnum 
einer Sceindemofratie ſich zu entwideln begann, 
blieb weder im Staat noch in der Welt männliche 
Kraft genug übrig, um einer weltumfaſſenden Gewalt: 
berrichaft des Geldes zu widerfiehen. Als dann gegen 
das Ende des neunzehnten Jahrhunderts internationaler 
Handel und finanzielle Verbindungen jede- nationale 
Schutzmauer durchbrochen hatten und die Erde ein 
einziges Feld wirtichaftlicher Unternehmungen geworden 
war, wurde die Idee einer allgemein herrſchenden 
und in einem Punkte gefammelten Geldmacht nicht 
allein möglich, jondern hatte ſich, wie Julian jagte, 
ichon fo verkörpert, daß fie ihren Schatten vorauswarf. 
Wäre damald nicht der große Umfturz eingeireten, 
jo hätte fidy ohne Zweifel eine unumfchränfte Pluto: 
fratie irgend welcher Art gebildet; oder eine flarle 
Dligardie, die auf volljtändiger Monopolifierung 
alles Eigentums durd eine Heine Minderzahl be: 
ruhte, würde lange vor unfern Tagen die Weli- 
regierung in die Hände befommen haben. Abe 
natürlich der Umfturz mußte fommen, als er fam; 
wir brauchen daher nicht weiter Darüber zu reden, 
was geworben wäre, wenn er fich nicht ereignet hätte.“ 


XVI. 
Eine Rechtfertigung, die verdammt. 

„Wie ich geleſen habe,“ ſagte Edith, „iſt fein 
Syſtem der Bedrückung jemals jo verderbt geweſen, 
daß nicht diejenigen, welche daraus Vorteil zogen. 
nod) genug moraliſches Gefühl beſaßen, um nad 
einer Rechtfertigung für fid) zu ſuchen. War eiwa 
das alte Syftem der Befitverteilung, bei welchem 
eine Heine Zahl die große Menge durch die Furdt 
vor dem Verhungern in Knechtſchaft hielt, eine Aus 
nahme von diefer Regel? Die Reichen hätten id 
doch vor den Armen ſchämen müflen, wenn fie feinen 
Vorwand, feine Vernunftgründe für den graujamen 
Gegenjag in ihrer Lage anführen formten.“ 

„Vielen Danf, dab du uns an dielen Punft 
erinnerft,” jagte der Doltor. „Du haft ganz recht; 
jedes auch noch jo ſchlechte Syſtem Hat fich ſtets weiß 
zu waſchen gewußt. Es wäre fat unbillig, das alte 
Syſtem hurzweg abzufertigen, ohne die Entichuldigung, 
die man dafür vorbradhte, in Betracht zu ziehen. 
Andrerjeits jcheint es beinahe wohlwollender, fie gar 
nicht zu erwähnen, denn jlatt es von Schuld frei« 
zuſprechen, lieferte dieſe Rechtfertigung noch einen 
weitern Grund zur Verdammung des Syſtems, welches 
fie zu verteidigen dachte.“ 

„Worauf ftüßte ſich denn die Rechtfertigung ?* 
fragte Edith. 

„Auf die Behauptung, daß von Rechts wegen jeder 
einen Anſpruch auf die Ergebnifle jeiner förperlicen 
und geijtigen Anlagen habe, das heißt, auf die Früchte 


Gleichheit. | 867 


feiner Fähigkeiten und Anftrengungen. Da nun 
die Fähigkeiten und Anftrengungen verjchiedener 


Perſonen verfchiedene wären, jo veritünde es fich von | 


jelbit, daß fie beim Gelderwerb wie bei andern Dingen 
Rorteile übereinander davontragen mußten. Dies 
jet jedoch in der Natur begründet, und aljo müſſe es 
recht und gut fein. Es habe fih niemand zu be— 
Hagen — wenn nicht über den Schöpfer. 

„Nun ift aber eritens die Theorie, dag man im 
Verkehr mit den Nebenmenſchen berechtigt wäre, 
Vorteil aus jeiner höheren Begabung zu ziehen, 
nichts andre als eine Kleine Umſchreibung des 
Sprihworts: Macht geht vor Recht! Gerade um zu 
verhindern, daß dies zur Wahrheit werde, ftand der 
Schukmann an der Ede, ſaß der Richter auf der 
Bank und erhielt der Henker feinen Lohn. Der 
ganze Endzwed der Zivilifation war ja nichts andres, 
als an Stelle des durch die Natur eingefegten Rechtes 
der Macht des Stärkeren eine künſtliche Gleichheit 
einzuführen, indem man die natürlichen Unterichiede 
unberüdfichtigt Tieß und den Schwachen und Ein- 
jältigen durch gejeßliche Verordnung die Unterftügung 
der Öffentlichen Gewalt lieb, um fie den Starken und 
Verſchlagenen gleichzuftellen. 

„Während aber die Moraliiten des neunzehnten 
Jahrhunderts ebenjo jcharf wie wir die Berechtigung 
der Starlen verneinten, ihre phyſiſche Ueberlegenheit 
im Verkehr Direkt geltend zu machen, waren jie der 
Anfiht, daß die Menichen dazu berechtigt wären, 
wenn es indireft und mit Hilfe von Dingen gejchehen 
tönnte. Zum Beijpiel; Niemand durfte einen Menichen 
anftoßen, der gerade ein Glas Waſſer trank, damit 
er es nicht etwa verfchüttete; aber man durfte den 
Brunnen an fi bringen, der die ganze Gemeinde 
verforgte, und die Leute nötigen, jeden Tropfen 
Waſſer mit einem Dollar zu bezahlen oder ſich ohne 
Waſſer zu behelfen, Auch wenn der Bejiter bes 
Brunnens diefen zufüllen Tieß und die Yeute ohne 
Entihädigung des Waſſers beraubte, meinte man, 
er wäre in feinem Recht. Mit Gewalt durfte er 
nicht dem Hunde des Bettler feinen Knochen fort 
nehmen, aber er durfte den Kornbedarf einer Nation 
aufipeihern und Millionen dem Hunger preisgeben. 

„Wenn man eines Menſchen Lebensunterhalt 
ſchadigt, jo ſchädigt man ihn jelbft. Dieſe Wahrheit 
ift jo einfeucdhtend, daß man fie faum noch aus— 
zuſprechen braucht; aber unjern Vorfahren machte e& 
nicht die geringfte Schwierigfeit, fie zu umgehen. 
Sie fagten: Natürlich dürft ihr dem Manne jelbjt 
nichts thun; wer ihn nur mit einem Finger verlept, 
begeht einen gefeglich jtrafbaren Angriff. Aber fein 
Vebensunterhalt ift etwas ganz andres, Der bejteht 
aus Brot, Fleiſch, Kleidung, Haus, Ader und ber- 
gleihen materiellen Dingen, welche ſich anzueignen 
und nad Gefallen zu verwenden man ein unbejchränftes 








Recht hat, ohne daß man dabei zu berüdjichtigen 
braucht, ob für die übrige Welt auch etwas da ilt. 

„Ich brauche, glaube ich, faum zu erwähnen, daß 
der Unterfchied, welchen unire Vorfahren zwijchen 
der unmittelbaren Anwendung phufilcher Gewalt und 
der mittelbaren Ausübung wirtiaftlihen Zwanges 
im Verfehr mit dem Nachbar zu machen pflegten, 
jeder moraliihen Berechtigung entbehrt. Wer jeinen 
Nebenmenſchen durch größere wirtichaftliche Gewandt— 
heit oder finanzielle Schlauheit des Unterhalts be— 
raubt, ift nicht mehr im Recht, als wer ihm mit dem 
Knüttel zu Leibe gebt; und zwar einfadh deshalb, 
weil niemand die Befugnis hat, den Nähten zu 
übervorteilen oder irgendwie ander& ald gerecht gegen 
ihn zu verfahren. Der Zweck ift unmoraliih, und 
die angewandten Mittel können daran unmöglich 
etwas ändern. Wenn die Moraliften in die Klemme 
gerieten, pflegten fie zu behaupten, dab ein guter 
Zweck die Mittel heilige; aber meines Willens gingen 
fie nie jo weit, zu erflären, daß gute Mittel einen 
böfen Zweck rechtfertigen. Das war aber genau, was 
die Verteidiger des alten Bejigrechts thaten, wenn 
fie den Saß aufftelften, dab man feinen Mitmenjchen 
den Unterhalt nehmen und fie zu Knechten machen 
dürfe, falls man durd mehr Talent oder größern 
Eifer beim Erwerb materieller Dinge über fie trium— 
phieren könne, 

„Die Theorie aber, daß fih dad Monopol der 
Reichen durd) ihre größere wirtichaftlicde Befähigung 
rechtfertigen ließe, würde — jelbit wenn fie moraliſch 
gejund wäre — durchaus nicht auf das alte Belih- 
recht gepaßt haben. Bon allen denkbaren Plänen 
für die Verteilung des Eigentums hätte wohl feiner 
der Vorftellung eines auf wirtichaftlicher Anftrengung 
beruhenden Verdienſtes entfchiedener fpotten können, 
Nichts wäre jo gänzlich falſch geweſen, wenn Die 
Güterverteilung ſich nad) der Fähigkeit und Betrieb« 
jamfeit de& Individuums richten jollte, 

„Diejes ganze Gerede ift nur aus der Beſprechung 
über Julians Vermögen entjtanden. Nun, erzählen 
Sie ung, Julian, war denn Ihre Million Dollars 
das Ergebnis Ihrer wirtichaftlichen Begabung und 
die Frucht Ihres Fleißes?“ 

„Natürlich nicht,” erwiderte ih. „Jeder Gent 
war ererbt. ch habe Ihnen Schon oft gejagt, daß id) 
niemal® in meinem Leben aud nur einen Finger 
zu einem nüßlichen Zwed gerührt habe.“ 

„Und waren Sie der einzige, deſſen Beſitz durch 
Erbſchaft ohne eignes Zuthun auf ihn fam?“ 

„sm Gegenteil; das Erbſchaftsrecht war die feite 
Grundlage und Stüße des ganzen Eigentumsſyſtems. 
Alles Land — ausgenommen in den neuelten Staaten 
— jamt der ganzen Maſſe beweglicher Güter, vererbte 
ih vom Vater auf den Sohn.” 

„Hört ihr, was Julian jagt? Während die Mora— 


868 Edward 
liften und die Geiftlichfeit die Ungleichheit des Be— 
ſitzes feierlich rechtfertigten und den Armen ihre 
Unzufriedenheit zum Vorwurf machten, weil diefe 
Ungleichheit von der verjchiedenen natürlichen Bes | 
gabung und Betriebſamkeit herrühre, wuhten fie und | 
alle, die ihre Worte hörten, die ganze Zeit über, daß | 
das Eigentumsſyſtem fich nicht auf Geichiclichleit, 
Arbeit oder Verdienft irgend welcher Art gründete, | 
jondern allein auf den Zufall der Geburt. Und was 
iprähe wohl mehr aller Moral Hohn als dieſe 
Einrihtung?” 

„Aber Julian,“ rief Edith aus, „du mußt dich 
doc) in irgend einer Weile vor beinem Gewiſſen ent- 
ſchuldigt haben, daß du, angeficht$ einer bebürftigen 
Welt, in ſolchem Ueberfluß ſchwelgteſt!“ 

„Ich fürchte,“ ſagte ich, „daß du dir nicht leicht 
vorjtellen fannft, wie verhärtet im neunzehnten Jahr» 
hundert unfer Gewiſſen war, Mancher unter den 
Befigenden hielt es wohl gar nod) für ein beſonderes 
Verdienft, daß er als Glüdskind geboren war; aber 
zu dieſer Sorte gehörte ich wenigftens nicht. Ich 
habe niemals viel darüber nachgedacht, mit welchem 
Recht ic eigentlich meinen Ueberfluß — zu deſſen 
Erwerb ich doch nichts beigetragen hatte — inmitten 
einer Welt von hungernden Arbeitern bejäße. Wenn 
es mir aber gelegentlich einfiel, war mir zu Mute, 
als müſſe ich den Bettler, der ein Almofen von mir 
erflehte, um Verzeihung bitten, daß ich in der Lage 
war, es ihm zu geben,“ 

„Ja,“ fagte der Doftor, „mit Julian ift nicht 
leicht zu reiten ; aber e8 gab aud) weniger vernünftige 
Leute in feiner Geſellſchaftsklaſſe. Fragte man diefe 
nad) ihrem moraliſchen Anrecht auf ihre Beſitztümer, 
jo beriefen fie fih auf die Vergangenheit. Ihre 
Vorfahren, meinten fie, wären fihherlich durch Verdienft 
zu ihrem Eigentum gelangt, und eben dieſes Verbienft 
berechtigte fie, die Güter amdern zu übermitteln. 
Natürlich verwechjelten fie dabei vollftändig die Bes 
griffe von gejeglihem und moraliihem Recht. Der 
Geſetzgeber durfte zwar, wenn er wollte, dem Menſchen 
bie Macht verleihen, feinen Beſitz auf eine andre 
Perſon zu übertragen; aber ein Verdienſt, das ſich 
auf perjönliche Würdigfeit gründet, fonnte man nicht 
an andre überweilen oder abireten, das war nad) 
dem Wejen der Moral völlig ausgeſchloſſen. Selbſt 
der gewanbdteite Advolat hätte niemals eine Urkunde 
ausfertigen können, durd welche ſich aud nur der 
kleinſte Rechtstitel an Verdienſt von einer Perſon 
auf eine andre übertragen ließe, wie nahe auch ihre 
Blutsverwandtichaft fein mochte. 

„sn alten Zeiten war es Brauch, die Finder für 
die Schulden ihrer Eltern verantwortlich zu machen 
und fie zur Befriedigung der Gläubiger in die 
Sflaverei zu verkaufen. Die Leute zu Julians Zeit 
fanden es ungerecht, die jchuldlofen Nachlommen in 





Bellamy. 


diefer Weife für die Sünden der Väter büßen zu 
lafjen. Wenn aber die Kinder nicht die Folgen der 
Trägheit ihrer Väter tragen jollten, fo hatten fie 
auch feinen Anſpruch auf die Früchte ihres Fleißes 
Die Barbaren, welche auf beiden Arten der Ver: 
erbung beftanden, waren logijcher ala Julians Zeit 
genofien, welche das eine Erbrecht verwarfen und 
das andre beibehielten. War aber lehteres vielleicht 
wenigjtend menjchlicher, wenn auch einfeitig? — 


‚ Ueber diejen Punft hätten Sie die Anſicht der ent: 
| erbten Mafjen hören follen, welchen — infolge dır 
‚ Monopolifierung der Erde und ihrer Hilfsquellen 
‚ durch die Befiger ererbien Gutes von Geſchlecht zu 


Geſchlecht — fein Fußbreit Raum und feine Mög: 
lichkeit, ihr Leben zu friften, mehr übrig blieb, aufer 
durch Vergünftigung der erbberehtigten Klaſſen.“ 

„Doktor, ich habe gegen das alles nichts zu er 
widern,“ jagte ih. Wir hatten feinen moraliſchen 
Anſpruch auf uniern ererbten Reichtum, das wußten 
wir jelbft und alle andern auch, obgleich es nicht für 
böflih galt, dies Faltum in unfrer Gegenwart zu 
erwähnen. Wenn ich aber bier als Bertreter der 
erbberedhtigten Klaſſe am Pranger fliehen mu, ie 
jollten andre neben mir ftehen. Wir waren es nicht 
allein, die fein Anrecht auf unfern Befik hatten. 
Wollen Sie denn nichts über die Geldmenſchen jagen, 
die Schurken, die binnen weniger Jahre große Ver 
mögen durch Betrug und Erpreilung zulammen- 
ſcharrten ?” 

„Berzeihen Sie, id) war gerade dabei,“ jagte der 
Doktor. „Ihr müßt euch erinnern,“ fuhr er, zu 
Edith und feiner Frau gewendet, fort, „dab bie 
Kaffe der Reichen, die zu Julians Zeit beinahe alles, 
was Wert hatte, in der ganzen Welt bejak und den 
Mailen nur den Abfall und die Krumen übrig lieh, 
in zwei Zeile zerfiel: die, welche ihren Reichtum 
geerbt — und die, weldhe ihn erworben hatten. Bir 
haben geiehen, daß erftere fein Recht beſaßen, ſich 
auf den Grundſatz zu berufen, durch welchen das 
neunzehnte Jahrhundert den ungleichen Güterbeitt 
entſchuldigte, daß nämlich jedes Individuum gerechten 
Aniprud auf die Früchte feiner Arbeit hätte, Num 
wollen wir einmal unterfuchen, wie es fich nad dem» 
jelben Grundfat mit dem Befigredht jener andern 
verhält, weldhe Julian vorhin erwähnte. Sie berieien 
fi darauf, daß fie ihr Geld jelbjt erworben hätten. 
Das Leben, das fie geführt, war von der Kindheit 
bis zum Alter, ohne Ruhe und Raſt, einzig dem 
Anhäufen von Schäben gewidmet geweſen. Natürlich 
ſchließt die Arbeit an und für fi, wie eifrig fie 
auch betrieben wird, fein moralijches Verdienſt ein. 
Es fann eine verbrecheriiche Thätigkeit jein. Wir 
wollen jehen, ob dieje Leute, die darauf pochten, ie 
hätten ihr Geld felbft erworben, ein größeres Red 
als Juliana Klaſſe auf ihren Beſit hatten. 


Gleichheit. 


„Die befte Begründung des Eigentumsrechts, bie 
wir aus früherer Zeit überliefert befommen haben, ift 
in dem Grundfaß enthalten: „Jeder Menſch hat ein 
Recht auf das Produft feiner Arbeit, auf fein ganzes 
Produft und auf meiter nichts als fein Produkt.“ 
Diefe Marime hatte aber eine doppelte Schneide, 
eine negative ſowohl als eine pofitive, und die nega= 
tive Schneide iſt jehr Scharf. Wenn jeder ein Anrecht 
auf fein eignes Produkt hatte, fo durfte jonft nie 
mand einen Teil desſelben beanſpruchen. Fand jich 
alfo unter den Schäßen, die ein Menſch anhäufte, 
irgend ein Produkt, welches, jtreng genommen, nicht 
fein eigne® war, fo ftand er nad) obigem Grundjak, 
zu dem er ſich ſelbſt befannt hatte, ala ein über- 
führter Dieb vor der Deffentlichkeit. Börſenſpeku— 
lanten, Eijenbahnfönige, Banquiers, große Grund» 
beiper und andre Geldfürften rühmten fich oft, ihr 
Leben mit einem Schilling angefangen zu haben, 
und ihre Reichtümer wuchſen wie die Pilze, Enthielt 
jedoch ein ſolches Kiefenvermögen irgend etwas, das 
thatſächlich ſich als Produft der Mühe eines andern 
ala des Beſitzers erwies, jo gehörte es ihm nicht, und 
daß er es beſaß, verdammte ihn ala Dieb. Nur 
dann war er beredjtigt, feine Güter zu befigen, wenn 
er aufs forgfältigfte vermied, ſich etwas anzueignen, 
was er nicht jelbft produziert hatte. Beftand er auf 
dem Pfund Fleiſch, welches ihm durch das Geſetz 
zugejprochen wurde, jo mußte er fi auch an den 
Buchftaben des Geſetzes Halten und ſich wie Shylod 
von Portia warnen lajien: 

‚Schneid aud nicht mehr noch minder, 

Als grad ein Pfund; iſt's minder oder mehr 

Als ein genaues Pfund, ſei's nur jo biel, 

(#8 leichter oder ſchwerer an Gewicht 

Zu mahen um ein ermes Zwangzigſtteil 

Von einem Skrupel, ja wenn ſich die Wagſchal' 
Nur um die Breite eined Haares neigt — 

So Hirbft du, und dein Gut verfällt dem Staat,” 

„Wie viele von Ihren großen Männern, Julian, 
die jozufagen durch eigne Anstrengung reich geworden 
iind, würden diefe Probe beitanden haben?“ 

„Rad meiner Ueberzeugung,“ antwortete ich, „gab 
es feinen Darunter, deifen Anwalt ihm nicht geraten 
haben würde, es zu machen wie Shylod und lieber 
jeinen Anipruch aufzugeben, als ihn auf das Rifito 
der Strafe hin weiter zu verfolgen. Wie wäre es 
denn überhaupt möglich geweſen, innerhalb einer 
Lebenszeit ein großes Vermögen zu jammeln, wenn 
man ſich auf fein eignes Produft beſchränkt hätte? 
Die Kunſt, Reichtümer anzuhäufen, berubte ja ans 
erfanntermaßen auf Runftgriffen, durch die man ſich 
ohne offenbare Gefekesübertretung in den Beſitz der 
Trodufte andrer Leute zu ſetzen verſtand. Es war 
ein fanbläufiges und wahres Wort zu jemer Zeit, 
da& niemand eine Million Dollars auf rechtichaffenem 
Wege gerwinnen könne. Nur durch Erpreilung, Spelu— 


869 


lation, Börſenſpiel oder irgend eine andre Form der 
Plünderung, weiche das Geſetz geftattete, fonnte eine 
ſolche That gelingen; das wußte alle Welt. Selbft 
heute würde man jene Blutiauger, welche Haufen 
Ichlecht erworbenen Gewinns auftürmten, nicht härter 
verbammen, als es die Öffentliche Meinung ihrer 
eignen Zeit that. Der Fluch und die Veradhtung 
aller folgte diefen großen Geldmenichen bis in das 
Srab, und das mit vollem Recht. Ich kann nichts 
zur Verteidigung meiner eignen Klaſſe jagen, die 
ihren Neichtum ererbt hat; aber das Volk jchien 
wirflih mehr Achtung vor uns zu haben al& vor 
denen, die ſich rühmten, ihr Geld felbft erworben zu 
haben. Beſaßen wir Erben auch feinen moralischen 
Anſpruch auf den Reichtum, der uns in den Schoß 
fiel, fo hatten wir doch wenigitens fein entſchiedenes 
Unredt gethan, um ihn zu erlangen.” 

„Ihr Seht,“ ſagte der Doktor, „wie ſchade es ge« 
wejen wäre, wenn wir verjäumt hätten, die Ent« 
ihuldigungsgründe näher zu beleuchten, welche das 
neunzehnte Jahrhundert für die ungleiche Güter» 
verteilung vorbrachte. Der ethiiche Maßſtab wird 
mit jedem Zeitalter ein höherer, und es ift oft une 
billig, wenn wir das Syftem einer früheren Zeit nad) 
dem moraliichen Standpunft einer ſpäteren beurteilen. 
Ein milderes Urteil als das des zwanzigften Jahr— 
hundertS wäre aber dem Spflem bes neunzehnten 
Sahrhunderts auch von feinem eignen moraliichen 
Standpunkt aus nicht zu teil geworden. Um dies 
Syſtem zu verdammen, that es nicht not, die moderne 
Anſchauung zu verfündigen, welche das Eigentums 
recht aus den allgemeinen Menſchenrechten herleitet. 
Man brauchte dazu nur auf die praftiichen Ergebniſſe 
des Syſtems ben moralischen Beweisgrund anzuwenden, 
der zu feiner Verteidigung aufgeftellt worden war, 
nämlih: dab jedermann Anſpruch auf die Früchte 
feiner eignen Arbeit und feinen Anſpruch auf bie 
Früchte der Arbeit eine andern habe — und das 
ganze Baumwert war von Grund aus zerſtört.“ 

„Gab es denn aber damals gar feine Kaffe,” 
fragte Edith Mutter, „welche auch nur nad dem 
Maßſtab Ihrer Zeit zugleich ein ethiſches und ein ges 
jegliches Anrecht auf ihren Beſitz beanſpruchen konnte?“ 

„Gewiß,“ erwiderte ih. „Die wirklich Reichen 
hatten zwar in der Regel fein moralifches, auf Ver— 
dient begründetes Beſitzrecht, denn entweder war ihr 
Vermögen ererbt oder es bejtand hauptjächlich aus 
den Erzeugniffen andrer, die fie auf allerlei Weife, 
auch durch Gewalt oder Betrug, an ſich gebradt 
hatten, Es gab jedoch eine große Anzahl Leute in 
beicheidenen Pebensverhältniffen, die das, was jie 
beſaßen, reichlich durch ihre Leiftungen für das Ge— 
meinmwejen verdient hatten. Nach dieien fam die 
unterfle laffe, der große Haufe völlig mittellojer 
Arbeiter, das eigentliche Voll. Dieje hatten num 


870 


wirklich, vom ethifchen Standpunkt aus, großen An- 
ſpruch auf Befik, denn durch fie war ja alles pro- 
dugziert worden; aber außer den ſchäbigen Kleidern, 
die fie am Leibe trugen, befaßen fie wenig oder nichts.“ 

„Im allgemeinen fcheint es,“ fagte Edith, „dab 
ſelbſt nad der Anficht deiner Zeit gerade die befikende 
Klaſſe wenig oder fein Eigentumsrecht hatte, während 
die Maſſen, die ein Recht auf Eigentum hatten, nichts 
beſaßen.“ 

„Der Hauptſache nach war das wohl der Fall,“ 
erwiderte ih. „Das heißt, wenn man ſämtlichen 
Beſitz nahm, der fih nur auf gejehliche Vererbung 
gründete, und alles hinzuthat, was durch Spekulation, 
Frprefiung, Betrug oder erzwungene Dienſte ge= 
wonnen worden war, fo blieb überhaupt wenig 
Eigentum übrig, feinenfalla beträchtliche Reichtümer.“ 

„Wer die Predigten der Geiitlichen zu Juliana 
Zeit hörte, hätte alauben müſſen, der Edftein des 
Chriſtentums fei das Eigentumsrecht, und das hödhite 
Verbrechen die unrehtmäßige Aneignung fremden 
Beſitzes,“ fagte der Doktor. „Wenn aber ftehlen 
nur jo viel hieß, als einem andern das nehmen, 
worauf er einen ethiſch gültigen Anſpruch hatte, jo 
muß das ein ganz bejonders jchwieriges Verbrechen 
geweſen jein, weil es dergleichen nicht zu ftehlen gab. 
Wer dem Armen das Seinige nahm, hatte dagegen 
ohne Zweifel gejtohlen, aber die Armen beſaßen nichts, 
was man ihnen ftehlen konnte.“ 

„Bei diefem ganzen abſcheulichen Zuftand ift mir 
dad Allerunglaubliite,” ſagte Edith, „daß ein 
Syſtem fih auch nur einen Tag zu erhalten ver— 
mochte, welches von jo verhängnisvollen Folgen für 
das Gemeinwohl war, und fidh nicht nur die großen 
enterbten Volfsmajien zu bitteren Feinden gemacht 
hatte, jondern jelbft von Leuten wie Julian, die doc) 
ihren Vorteil daraus zogen, nicht als gerecht ver= 
teidigt werden fonnte,“ 

„Mid wundert nicht, daß es dir unbegreiflic) 
ericheint,“ verjeßte ich, da es mir jeht, im Küdblid 
darauf, jelbit jo vorlommt, und ich in der neuen 
Umgebung immer mehr die Fähigkeit verliere, es zu 
verftehen. Du kannſt dir unmöglich eine Vorſtellung 
davon machen, wie erftarrend der uralte Nimbus, 
der bie Herrichaft der Reichen und unjer Beſitzſyſtem 
umgab, auf das Gemüt wirfte. Nichts in der Welt 
hatte eine ähnliche Dauer aufzuweijen; eine andre 
wirtfchaftliche Ordnung hatte man nie gefannt. Alle 
übrigen menſchlichen Einrihtungen waren dem Wechſel 
von Sitte und Brauch unterworfen gewejen, aber 
im Beſitzſyſtem war niemals ein gründlicher Wandel 
eingetreten, Politijche, joziale und religiöje Syiteme, 
die Herrſchaſt der Könige, der Kaifer, der Geiftlichen 
und des Volkes, nebjt allen andern großen Phaſen 
menfchlicher Entwidiung, waren vorübergezogen wie 
Wollenſchatten; die Reichen aber regierten die Welt 


Edward Bellamp. 


fort und fort jeit dem grauften Altertum, Bedente, 
wie tief eingewurzelt im menjchlichen Vorurteil und 
wie weit verzweigt ein ſolches Syſtem fein mußte! 
Wie vermeſſen erichien der Menge eine Auflehnung 
Dagegen, wie undenfbar bie Vorftellung, daß dieſer 
Gejellichaftsorbnung, deren Anfang fi in tieffiet 
Dunkel hüllte, je ein Ende gemacht werben kinze. 
Was bedurfte ein durch Gewohnheit und Alter fo 
feft gegründetes Syſtem noch der Entſchuldigung 
oder der Verteidiger? — Es iſt micht zu viel gelant, 
wenn ich behaupte, daß man zu meiner Zeit das 
Menichengeichleht in Reiche und Arme teilte, und 
dat die Unterwerfung der lebteren unter die Her: 
ichaft der erfteren beinahe ebeniogut für ein Natur: 
gejeß galt wie der Wedel der Jahreszeiten. Et 
mochte feine Unannehmlichkeiten haben, aber ändern 
ließ es fich keinesfalls. Ich begreife wohl, daß cs 
für die Urheber der Umſturzbewegung eine ebenio 
ſchwere als notwendige Aufgabe geweſen jein mus, 
das ungeheure, tote Gewicht des von alters her en: 
erbten Vorurteil zu überwinden und an der Mög: 
lichkeit feitzuhalten, daß man Mifbräude, die ie 
lange Beftand gehabt hatten, noch los werden fünnt. 
68 galt vor allem, den Leuten die Augen darüber 
zu öffnen, daß das Syftem der Güterverteilung nur 
eine menschliche Einrichtung fei wie andre auch. 
Schreitet die Menſchheit in Wahrheit fort, ſo muß 
jede Einrichtung um jo mehr aus dem Zufammenbange 
mit dem Fortſchritt der Melt geraten, je länger ihre 
Dauer gewejen ift, und um fo gründlicher muß auf 
ihr Wandel fein, damit fie wieder in Einklang mit 
der übrigen Gejellihaftsordnung gebracht werden fann. 

„Webrigens beſteht zwijchen dem Niedergang und 
Fall des Syitems der füniglichen und priefterlicen 
Macht und dem Umfturz der Herrichaft der Reichen 
ein recht bezeichnender Unterſchied. Erftere Syfiem: 
wurzelten tief im Gefühle und in der Romantit. 
Noch Jahrhunderte nach ihrem Untergang behielten 
fie einen mächtigen Einfluß auf Herz und Phantafıe 
der Menjchen. Unier großmütiges Geſchlecht gedachte 
ohne Erbitterung an alle Bebrüdungen, die es je 
erlitten hatte, mit alleiniger Ausnahme der Tyrannti 
der Reichen; die Herrihaft der Geldmacht hatte von 
jeher weder Würde noch moraliſche Grumbdlage be 
ſeſſen. Kaum waren ihre materiellen Stüßen zeritätt, 
fo fanf fie nicht nur dahin, ſondern ſchien ſogleich 
in einen Zuftand von Fäulnis zu geraten, und die 
Welt mußte fie jehleunigft begraben, damit fie iht 
auf immer aus den Augen und der Erinnerung ber 
ſchwand.“ 

XVII. 
Die Nevolution bewahrt dad Privatvermögen baber, 
zum Monopol zu werben, 

„Wer hätte wohl daran gedacht," jagte Frau 

Peete, „dab Edith Vorſchlag, den Kaſſenſchraul zu 


Gleichheit. 


öffnen, eine jo großartige Erörterung veranlajien 
würde ?* 

Ic erwiderte darauf, daß ich am heutigen Morgen 
über die moralilche Baſis der wirtihaftlichen Gleich» 
beit und die Gründe für Abſchaffung des Privat- 
vermögend mehr gelernt hätte als während aller 
meiner früheren Erlebniſſe, feit ich ein Bürger des 
zwanzigſten Jahrhunderts wäre. 

„Die Abjihaffung des Privatvermögens!” rief 
der Doktor. „Was meinen Sie damit?” 

„Ich gebe ja gerne zu, daß Sie etwas viel Bejleres 
an die Stelle gejeht haben,“ fuhr ich fort. „ber 
da& Privatvermögen ift doch jedenfalls abgeichafit, 
nit wahr? Wovon hätten wir denn ſonſt die ganze 
Zeit geredet ?” 

Der Doktor ſah die Damen wie hüfeflehend an, 
ala wolle er fich ihres Mitgefühls verfichern. „Sit 
es denn möglich,” jagte er, „der junge Mann bier 
« glaubt, wir hätten das Privatvermögen abgeihafit, 
und trägt dabei im Augenblid eine Kreditfarte in der 
Taſche, die ihm ein jährliches Einkommen von vier 
taujend Dollars gewährt, welche er ausſchließlich für 
ieine perfönlichen Bedürfniffe verwenden kann. Es 
find die Zinien von jeinem Anteil am Gejamiver- 
mögen der reichften und wohlbegründetften Gejellihaft 
der ganzen Welt. Berechnet man fie zu vier Prozent, 
jo beläuft fich der Wert des Anteilfcheind, den er 
befigt, auf die Summe von hunderttaujend Dollars.” 

Ich kam mir recht einfältig vor, als mir jo deut⸗ 
lich zu Gemüte geführt wurde, wie gedanfenlos meine 
Aeußerung gemwejen war; doch der Doftor beeilte fich, 
mir zu verſichern, er verſtehe vollfommen, was mir 
im Sinne läge. Ohne Zweifel hätte ich zu meiner 
Zeit von den Gelehrten hundertmal behaupten hören, 
daß bei gleicher Güterverteilung unter den Menfchen 
von Privatvermögen natürlich nicht mehr die Rede 
jein fönne, Ohne weiter über die Sache nachzudenfen, 
nähme ih nun an, daß mit der Seritellung der 
wirtfchaftlichen Gleichheit auch, wie vorauägeiagt wor« 
den, da8 Privatvermögen aufgehoben worden ſei.“ 

„Jawohl,“ verjeßte ich, „Io habe ich es mir ge= 
dacht.“ 

„Die Revolution,” erklärte der Doltor, „hat den 
Privatlapitaliamus abgeihafft, das heißt, fie hat 
nicht länger geduldet, daß nichtverantwortliche Per: 
ſonen fich der Leitung von Handel und Gewerbe 
bemädhtigten, um ihren eignen Vorteil daraus zu 
ziehen. Sie hat dieſes Amt dem Volle gemeinjam 
übertragen, und e8 wird von verantwortlichen Beamten 
zum Nuben des Geſamtwohls verwaltet. Durch diejen 
Umſchwung entitand zwar eine ganz neue Beſitz- 
ordnung, aber weder direlt noch indireft war darin 
ein Verbot des Privateigentums enthalten. Im 
Gegenteil, das neue Syſtem ficherte den Privatbefik 
und das perjönliche Eigentumsrecht jedes Bürgers 


871 


auf einer Grundlage, die unvergleichlich feiter, aus— 
gedehnter und dauerhafter war ala irgend eine, welche 
man je zuvor gehabt hatte oder haben fonnte, jolange 
der Privatlapitalismus am Ruder war. Laſſen Sie 
uns die MWirfungen des Syſtemwechſels näher ins 
Auge fallen, dann werden Sie fehen, ob ich nicht 
recht habe: 

„Nehmen wir an, Sie hätten mit einer Anzahl 
Ihrer Zeitgenofien, von denen jeder in einem Berg- 
werfäbezirk feine bejondere Parzelle beſaß, eine Ge⸗ 
noſſenſchaft gebildet, Ihre Befigtiimer vereinigt und 
den Betrieb gemeinfam fortgeführt. Würde dann 
jeder von Ihnen etwa weniger Privateigentum haben, 
al3 da Sie noch die Stüde einzeln befahen? Zwar 


die Art des Beſißtitels Hätte fich verändert, doc das 


würde Ihnen nur zum Vorteil gereichen, wenn fi 
das Ablommen als zweckmäßig eriwieje, nicht wahr ? 

„Natürlich könnten Sie keine ebenjo jelbftändige 
und perjöntiche Auſſicht über das Lonjolidierte Berg» 
werk führen wie über Ihre befondere Parzelle. Sie 
wären genötigt, im Verein mit Ihren Genoffen bie 
Berwaltung des gemeinfchaftlihen Eigentums einem 
von Ihnen gewählten Direktorium anzuvertrauen ; 
doc würden Sie nicht glauben, dadurch Ihr Privat- 
eigentum aufzugeben, jollte id) meinen.“ 

„Gewiß nicht. Das war die Form, unter welcher 
ein großer, wenn nicht der größte Teil des Privat» 
eigentums zu meiner Zeit angelegt und beauffichtigt 
wurde.“ 

„Es jcheint demnach,“ jagte der Doktor, „daß 
man Privateigentum befigen und genießen fann, ohne 
es notwendigerweife in einem bejondern Bündel zu 
haben oder eine direkte perjönliche Aufficht darüber 
zu führen. Sehen wir nun ferner den Fall, daß 
Ihr vereinigter Befik nicht einem Direltorium an— 
vertraut würde, welches aus mehr oder weniger 
ſchurkiſchen Privatleuten beftände, die fortwährend 
darauf ausgingen, die Geſchäftsinhaber zu betrügen, 
jondern daß die Nation jelbft die Verwaltung über- 
nehme und von Beamten bejorgen ließe, die Sie jelber 
wählen und die Ihnen verantwortlid; wären. Würden 
Sie Ihr Eigentumsrecht dadurch für geſchädigt halten?“ 

„Im Gegenteil, der Wert des Beſitzes wäre 
dadurch bedeutend erhöht. Die Regierung leiftete 
ſozuſagen ſelbſt Bürgihaft für ein Privatunter- 
nehmen,” 

„Run wohl — ganz ebenjo ijt das Voll bei der 
großen Ummälzung mit dem Privatbefiß verfahren. 
Man hat das Gefamteigentum des Landes vereinigt, 
das früher in einzelne Teile zerftüdelt war, und die 
Verwaltung einem Nationalausfhuß übertragen, der 
verpflichtet ift, die Dividenden an die Teilhaber zu 
überweifen zu deren perjönlichem Gebraud. Sie 
werden mir beipflichten, daß bierin durchaus feine 
Abſchaffung des Privateigentums lag.“ 


872 


„Das trifft zu,“ ſagte ich, „außer in einem 
Punkte. Zum Weſen des perjönlichen Beſitzes ge— 
hörte vor allem, daß der Eigentümer nad) Belieben 
frei darüber verfügen durfte. Wer Bergwerfs- oder 
Fabrilaltien bejaß, fonnte zwar nicht ein Stüd von 
der Grube oder der Fabril verfaufen, aber doch feinen 
Anteilfchein. Der heutige Bürger dagegen kann feinen 
Teil des Nationalvermögens nicht verwenden, wie er 
will. Nur die Dividende wird ihm ausgezahlt,“ 

„Ganz recht,” verjegte der Doktor. „Die Mög- 
lichkeit, fein Kapital zu verbrauchen, lag damals im 
Begriff des Privateigentums; aber daß fie notwendig 
dazu gehörte oder für den Befiger jehr vorteilhaft 
war, läßt fich nicht behaupten. Wer über fein Ver— 
mögen verfügen durfte, für den lag aud) die Gefahr 
nahe, dab andre es ihm rauben fonnten, Ich glaube, 
es gab zu Ihrer Zeit feinen wohlhabenden Mann, 
der nicht dem Recht, fein Vermögen zu verbrauchen, 
mit Freuden entfagt haben würde, wenn man ihm 
dejjen unantaftbaren Beſitz für jih und feine Kinder 
verbürgt hätte, Bon jeher war es das Streben reicher 
Leute, die ihre Güter den Erben ſichern wollten, ſolche 
Beitimmungen über ihr Eigentum zu treffen, daß 
der Nubnieber das Kapital nicht angreifen könne. 
Denken Sie zum Beifpiel an den unveräußerlichen 
Grundbeſitz. Der Eigentümer lonnte ein ſolches 
Erbgut nicht verfaufen, und gerade wegen dieſes 
Umftandes galt es für ein befonders wünſchenswertes 
Beſitzuum. Ganz ebenjo macht die Thatiache, die 
Sie erwähnen, — dab unfre Bürger nicht über ihren 
Anteil am Nationalvermögen verfügen fönnen, auf 
dem ihr Einkommen beruht — diefen Anteil nur um 
jo wertvoller. Daß man ihn von dem Individuum, 
dem er gehört, auf feine Weife trennen fan, ver— 
ftärft noch feine private und perjönliche Bedeutung. 
Man könnte jagen, dab durd die Neuordnung des 
Eigentumsfoftems, von der wir jprechen, die ganzen 
Vereinigten Staaten zu einem unveräußerlichen 
Grundbejik geworden find, aus dem ihre jümtlichen 
Bürger und deren Nadhlommen in gleicher Weije 
Nutzen ziehen für alle Zeiten.“ 

„Die allerftärffte Maßregel, welche die Revolution 
gegen das Privatvermögen zur Anwendung brachte,“ 
fagte ih, „haben Sie noch gar nicht erwähnt, Ca 
ift dies die Einrichtung, daß jeder genau denielben 
Zeil erhält wie alle andern. Das veritieß zwar 
nicht gegen den Begriff des Privatvermögens über- 
haupt, aber eö war dod jedenfalls eine ungeheure 
Beeinträchtigung aller Beſitzenden.“ 

„Sie unterjcheiden ganz richtig ; dies iſt von hödhiter 
Bedeutung für das Verftändnis des Genenjtandes, 
Die Geſchichte ift voll derartiger Ausgleihungen des 
Beſitzes durch Plünderung, Beichlagnahme oder 
Eroberung. Mandhmal ließen fie ich rechtfertigen, 
mandmal nicht, aber jelbjt wenn fie am allerunbilligiten 


Edward Bellamy. 


waren, bat man doch nie gemeint, daß Dadurch der 
Begriff des Privatvermögens an ſich verneint würde; 
denn man ging augenblicklich dazu über, ihn in einer 
andern Form von neuem geltend zu machen. Weniger 
als bei irgend einer jener früher erfolgten Ausgleih- 
ungen wurde bei der allgemeinen Güterverteilung 
durch die Revolution das Eigentumsrecht in Abredı 
geftellt. Es war im Gegenteil eine Geltendmadung 
und Bejtätigung dieſes Rechts in fo großartigem 
Mapftabe, wie man es nie für möglich gehalten. 
Vor dem Umſturz beſaßen überhaupt wenige Menſchen 
Vermögen oder mehr ald eine Verſorgung von Tag zu 
Tag. Durch das neue Syftem wurde allen ein aus 
giebiger, gleicher und beftimmter Anteil am nationalen 
Gejamtvermögen und Einkommen gefichert. Früher 
hatten ſelbſt die, welche zu einem Vermögen gelangt 
waren, feine Gewißheit, daß man «8 ihnen nidt 
fortnehmen würde ; auch konnten fie es auf taufen- 
derlei Weije verlieren. Selbſt der Millionär war 
nicht ficher, ob nicht fein Enlel heimatlos umberirren, 
feine Entelin in bitterfter Armut jchmachten müſſe. 
Unter dem neuen Syſtem wurde das Recht jedes 
einzelnen an feinen perjönlicen Beſitz unantaftbar; 
er konnte es nur einbüßen, wenn die ganze Nation 
zu Grunde ging. Alſo weit entfernt, das Privat: 
vermögen zu verneinen oder abzuichaffen, hat die Um« 
wälzung es im Gegenteil in einer weit beftinmteren, 
wohlthätigeren, dauerhafteren und allgemeineren form 
beftätigt, al$ das je zuvor der Tall geweien. 

„Wie die menschliche Natur num einmal geartet 
ift, war e8 ganz jelbftverftändlich, Julian, dab Ihre 
Zeitgenoſſen ſich gegen die Vorftellung von einem ale 
gemeinen Eigentumdrecht empörten, weil fie glaubten, 
man zerftöre Dadurch den Grundbegriff des Eigentum: 
überhaupt. Es hat ja auch nie einen Propheten oder 
Reformator gegeben, der, wenn er für reinere, geiftigere 
und vollfommenere religiöje Anſchauungen eintrat, 
von feinen Zeitgenoffen nicht beſchuldigt worden wäre, 
er wolle die Religion antaften. Ebenſo hat man in 
ber Politik feiner Partei, die nad einem gerechteren, 
weitherzigeren, weijeren Regiment ftrebte, den Bor- 
wurf erjpart, fie wolle die Regierung abjhaflen. 
So war es denn ganz folgerichtig, daß man diejenigen, 
welde das Eigentumsrecht aller verfündigten, be 
ſchuldigt hat, fie griffen das Eigentumsrecht jelber 
an. Men aber joll man für die wahren Fyreunde und 
Verteidiger des Privateigentums halten? Etwa die: 
jenigen, die ein Syitem befürworteten, das einzelnen 
Menſchen geftattete, den Erdball zu beherrſchen, wenn 
fie flug und flark genug waren, um ihre Macht zu 
behaupten, — eine Feine Anzahl befand fich ſchon auf 
dem beften Wege dazu — und alle ihre Mitmenſchen 
zu Proletariern zu machen? Oder ung, die wir den 
Grundſatz aufftellen, daß alle Menſchen Eigentum 
bejigen jollen und zwar zu gleichen Zeilen ?° 


Gleichheit. 


„Mir jcheint,” jagte ich, „ſobald es den Führern 
der Umſturzbewegung gelungen war, dem Bolt dieje 
Auffaftung der Sache klarzumachen, müjjen meine 
alten Freunde, die Kapitaliiten, erfahren haben, daß 
iht Geſchrei über ‚geheiligtes Kigentumsrecht‘ zu 
einer gefährlichen Waffe wurde, die ihre Spitze gegen 
fie jelber kehrte.” 

„Das war auch der Fall. Wie wir gejehen haben, 
fonnte nichts den Zweden der Revolution förderlicher 
kin, ald wenn fie die ftrittige Frage über das Eigen- 
tumstecht zur Entjcheidung brachte. Es war vor 
allen wünjchenswert, daß das ganze Volk veranlaft 
würde, ernftlich Darüber nachzudenlen, wie das geltende 
Recht beihaffen war und wie es hätte fein follen. 
Schr bald wurde dann der laute Ruf nad) dem ge= 
heiligten Eigentumsrecht, den zuerſt die Reichen im 
Namen einer Heinen Minderheit erfchallen ließen, 
von den enterbten Millionen mit überwältigender 
Wirlung im Namen aller wiederholt." 


XVIIL 
Ein Echo aus der Vergangenheit, 


„Ah, was finde ich hier!* rief Edith, die im 
Verein mit ihrer Mutter in den Schubfädhern des 
Kaffenihrants geframt hatte, während ich mit dem 
Doktor ſprach. „Ich glaube, das find Briefe! 
Man bewahrte alfo in einem eifernen Schranf nicht 
nur Geld auf, jondern auch andre Dinge.” 

Und wirflich, e8 war ein Paket Briefe und Zeitel, 
die mir Edith Bartlett während unfrer Verlobungs- 
zeit bei verfchiedenen Gelegenheiten geichrieben hatte, 
welche ihre Urenfelin Edith jebt in der Hand hielt. 
Bon unbefchreibliher Rührung ergriffen, nahm ich 
fie ihr ab und öffnete einen der Briefe; er trug das 
Datum des 30, Mai 1887, des Tages, an welchem 
ih mid auf immer von ihr getrennt hatte. Sie 
bat mich darin, fie und die Jhrigen nad Mount 
Auburn zu begleiten, um dort am Todestag ihres 
Bruderd, der im Bürgerkrieg gefallen war, deſſen 
Grab zu jchmüden. „Ich verlange nicht von dir, 
Julian,“ fchrieb fie, „daß du, weil du mid) heirateft, 
alle meine Verwandten als die deinigen betrachten 
jolt. Aber mein Heldenbruder muß auch dir an« 
gehören, und deshalb möchte ich, du gingeft heute 
mit uns,“ 

Das Gold und die Pergamente, die einft jo foft« 
bar gewejen waren, lagen im Zimmer verftreut ums» 
ber und Hatten allen Wert verloren; aber dieſen 
Liebeszeihen hatte die Zeit ihre herzbezwingende 
Macht nicht rauben können. Wie durch Zauberichlag 
tauchten fie mich plößlich in ein Meer von Erinnes 
rungen und verſetzten mic) in eine Welt, Die mir allein 
gehörte, an welcher die Gegenwart feinen Anteil 
hatte. Ich weiß nicht, wie lange ich jo in mid) 
verjunfen dagejeflen habe, ohne die ftumme Gruppe 

Aus fremden Zungen. 1897. I. 18, 


873 


zu beachten, die teilnehmend neben mir ftand. Ein 
tiefer Seufzer, der fih unwillkürlich meiner Bruft 
entrang, wedte mic) endlich wieder aus meiner Geiſtes⸗ 
abweſenheit. Ich Fehrte aus der Traummelt Der 
Vergangenheit zum Bewußtſein meines jeßigen Zu— 
ftandes und meiner Umgebung zurüd. 

„Dies hier find Briefe,“ jagte ich, „von der andern 
Edith — von beiner Urgroßmutter, Edith Bartlett. 
Vielleicht würde es dich interejfieren, fie durchzuſehen. 
Nächft mir hat wohl niemand ein größeres Anrecht 
darauf als du und beine Mutter,” 

Edith nahın das Paket und betrachtete es mit 
Neugier und Ehrfurdt. 

„Die Briefe werden höchſt anziehend für ung fein,” 
fagte ihre Mutter, „aber ich fürdte, Julian, wir 
werden Sie bitten müjlen, fie uns vorzuleſen.“ 

Ohne Zweifel verriet mein Geſichtsausdruck die 
Ueberrafchung, welche mir dies Belenntnis der Un— 
wifjenheit aus dem Munde einer jo hoch gebildeten 
Dame bereitete. „Sind etwa Handſchriften und das 
Leſen von Gefchriebenem auch längft vergefiene Dinge 
wie die Runftichlofferei ?” fragte ich. 

„Allerdings,* verjehte der Doktor, „doch läßt ſich 
dies nicht wie bei den Geheimfchlöffern aus der wirt- 
ſchaftlichen Gleichheit erflären, jondern hat feinen 
Grund im Fortſchritt der Erfindungen. Zwar lehrt 
man die Finder noch Gejchriebenes leſen und jchreiben, 
aber fie haben jo wenig Uebung darin, daß fie es 
meift wieder vergejien, jobald fie die Schule verlaflen 
haben. Edith aber jollte doc noch im ftande jein, einen 
Brief aus dem neunzehnten Jahrhundert zu leſen. 
Kannſt du es wirklich nicht, liebes Kind? Da müßte 
ich mich ja ſchämen!“ 

Sie jah mit emporgezogenen Brauen von dem 
Blatt auf, das fie zu entziffern bemüht war. „Doc, 
Vater,“ rief fie, „dies hier fann ich lefen. Weißt 
du nicht, ich habe ja Julians alte Briefe an Edith 
Bartlett, die in Mutters Befik find, einmal heraus- 
buchftabiert. Das ift freilich jchon zwei Jahre ber, 
und ſeitdem bin id) aus der Uebung gefommen. 
Aber ich habe jeht ſchon faft zwei Zeilen gelefen, es 
ift wirflich gar nicht jchwer, und ich will jchon ganz 
allein damit fertig werden; außer Mutter ſoll mir 
niemand helfen.“ 

„Wie merkwürdig!” rief ich. 
denn jeht feine Briefe mehr?“ 

„Haft gar feine,“ erwiderte der Doktor. „Das 
Schreiben ift ganz außer Gebrauch. Statt des Brief» 
wechſels telegraphieren wir oder benupen die Phono« 
graphen, weldye auch im übrigen allen Zweden dienen, 
für die man jonft die Handſchrift nötig hatte, Das 
ift jet Schon ſehr lange eingeführt, man weiß faum 
mehr, daß es je anders war. Aber dieſe Verände- 
rung fann Sie doch ſchwerlich überrafhen. Den 


„Schreibt man 


| Phonographen kannten Sie ja jhon, und mozu er 


110 


874 


fih würde verwenden laffen, war von Anfang an 
Har erfichtlih. Auch jeßt gebrauchen wir bei wichtigen 
Dokumenten gewöhnlih noch die Drudjchrijt, aber 
der Satz wird nad) Phonogrammen gemadt, jo dab 
man überhaupt faft feine Gelegenheit hat, mit der 
Hand zu jchreiben, außer in bejonderen Notfällen, 
Wenn man e3 recht überlegt, ift es wirklich jeltiam, 
dab die Urkunden der Zivilifation immer vergäng- 
licher werden, je weiter fie ſelbſt fortfchreitet. Die 
Chaldäer und Aegypter verwendeten Fiegeljteine, 
die Griechen und Römer ſchrieben in Marmor oder 
Erz. Wenn unſer Geſchlecht heute zu Grunde ginge 
und bie Erde in fünfhundert Jahren vielleicht von 
den Maräbewohnern bejucht würde, fänden fie jeden- 
falls von unjern Büchern feine Spur mehr vor, und 
die Zeit des römischen Kaiſertums würde für bie 
legte und höchſte Stufe menſchlicher Kultur gelten.” 


XIX. 
Kann auch eine Jungfrau ihred Schmudes vergeflen ? 


Bald darauf ging Edith mit ihrer Mutter in das 
Haus zurüd, um die alten Briefe zu entziffern. Der 
Doktor war noch jo ganz in die Betradjtung der 
Staatöpapiere und Induftrie-Aftien vertieft, daß ihm 
ein Gefallen damit geichah, wenn man ihn in Ruhe 
ließ. Ich hielt daher die Gelegenheit für günftig, 
um einen Plan auszuführen, der mir j on lange am 
Herzen lag. 

Sobald ih in Beſitz meiner Kreditlarte gelangt 
war, hatte ich mir vorgenommen, einen wichtigen 
Einkauf zu machen; ich wollte nämlich einen Ver— 
lobungsring für Edith bejorgen, Daß Geſchenle im 
allgemeinen im zwanzigften Jahrhundert ihren Wert 
verloren haben mußten, lag auf ber Hand; jeder 
ſchaffte fi ja alles an, was er brauchte. Aber dieie 
Gabe, dachte ich, würde ſchon aus Gefühlsrüdfichten 
einem Mädchen ſicherlich noch ebenfo willlommen 
jein wie früher. 

So benußte ich denn ben Umftand, daß meine 
Gajtfreunde mit andern Dingen befchäftigt waren, 
und ging nad dem großen Bazar, den ich jchon 
einmal bei einer früheren Gelegenheit mit Edith be— 
ſucht hatte; in einen andern Laden war ich bißher 
noch nicht gekommen. Da ic die Waren, weldhe ich 
judhte, auf feiner der Wandtafeln, die über den 
Ladentiſchen hingen, angegeben fand, bat ich eine 
ber jungen Gehilfinnen, mid) nad; der Juwelier 
abteilung zu führen. 

„Entſchuldigen Sie,“ jagte das fyräulein und zog 
die Augenbrauen ein wenig in die Höhe, „wonad 
haben Sie foeben gefragt ?* 

„Wo die Jumelierabteilung ift. Ich möchte einige 
Ringe anſehen.“ 

„Ringe?“ wiederholte fie mit verwunderter Miene. 
„Bitte, was denn für Ringe und zu welchem Zwed?* 





Edward Bellamp. 


„Bingerringe,” fagte ich und dachte bei mir: 
Die junge Dame ift doch nicht jo Mug, wie ſie 
ausſieht. 

As ih das Wort ſprach, blickte fie auf mein: 
linfe Hand, wo ich, wie es bei uns Sitte geweſen, 
am finger einen Siegelring trug. Sogleich nahm 
ihr Geſicht einen verſtändnisvollen Ausdrud an, der 
daß lebhafteſte Intereſſe befundete. 

„Bitte taufendmal um Verzeihung,“ ſagte fe, 
„Das ich es nicht gleich begriffen babe. Sie find 
Julian Weit, nicht wahr ?” 

Ich fing an, etwas ärgerlich zu werben über biefe 
Geheimnisfrämerei um ſolche Kleinigkeit. 

„Freilich bin ich Julian Weſt,“ jagte ih; „mas 
das aber mit dem Einkauf zu thun bat, den id 
machen will, ift mir wirklich nicht recht erfichtlich.” 

„Entihuldigen Sie, aber es bat ungemein viel 
damit zu ihun,“ erwiderte das Fräulein, „Auber 
Ihnen würde in ganz Amerika fein Menſch nad 
Fingerringen fragen, weil fie jchon jo lange nicht 
mehr im Gebrauch find, daß wir überhaupt feine 
auf Lager halten. Wenn Sie aber einen jolden 
Ring zu beftellen wünſchen, brauchen Sie nur eine 
Beichreibung dazulafjen, wie Sie ihn haben wollen, 
und er wird jofort angefertigt werden.“ 

Ich dankte ihr, beſchloß aber doc, in der Sacht 
nicht weiter zu gehen, ohne zuvor erft nähere Er- 
fundigungen einzuziehen, 

Zu Haufe erzählte ich nichts von meinem Aben« 
teuer, denn ich wollte mid; nicht mehr auslachen 
laflen, als nötig wäre, Als ich aber den Dolter 
nad Tiihe allein an feinem Lieblingspläschen auf 
dem Hausdah fand, wo er im Freien zu ſtudieren 
pflegte, begann ich ihn behutfam über den Gegenftand 
auszuforjchen, 

Ganz gelegentlich machte ich die Bemerkung, dat 
ih noch niemand geſehen hätte, der einen Ring am 
Finger trüge, und fragte ihn, ob man überhaupt 
allen Schmud abgejhafft hätte, und aus welden 
Gründen das wohl gejchehen jei. 

Der Doktor erwiderte, das Tragen von Ge 
ichmeide jei allerdings ganz veraltet und ſchon ſeit 
mehreren Generationen nicht mehr gebräuchlich. „Die 
Urſachen,“ fuhr er fort, „warum man die Sitte anf 
gab, fliehen übrigens im genauften Zuiammenhang 
mit unjerm heutigen Wirtichaftsigftem. Urſprünglich 
mag wohl der Umftand, daß Gold und Silber ihren 


Handelswert völlig verloren, al3 die Nation die nene 


Güterverteilung auf der Bafis der Gleichberechtigung 
aller Bürger einführte, der Hauptgrund geweſen ſein, 
warum Juwelen und die fogenannten Edelmetalle 
nicht mehr für Schmudjachen verwendet wurden. Wit 
Sie wiffen, würde man für eine Tonne Goldes oder 
einen Scheffel Diamanten feinen Laib Brot in unjern 
Kaufläden erhalten, da dort nur der Kredit dei 





Gleichheit. 


Bürgers Geltung hat, der ihm infolge feines Bürger« 
rechts zulommt, und zwar in gleicher Höhe wie allen 
feinen Mitbürgern, Heutzutage ift für den Menfchen 
nur das von Wert, was ihm perſönlich Nutzen ober 
Vergnügen bereitet. Gold, Silber und Edelfteine 
iheinen früher hauptſächlich deshalb zum Schmud 
gebraudht worden zu fein, weil ihnen ein großer 
Kaufwert innewohnte, der jie zu Sinnbildern von 
Glanz und Reichtum machte, mit denen man in der 
Geſellſchaft prunken konnte. Da fie nım dieſe Eigen— 
ihaft gänzlich verloren haben, erklärt fich leicht, 
weshalb man fie nicht mehr ald Schmudgegenftände 
braucht ; auch fällt, jeitdem das Gejek der Gleichheit 
beiteht, jeder Beweggrund für dergleichen Schau— 
fellungen fort.“ 

„Freilich,“ jagte ich, „aber e8 gab doch auch viele, 
die fie, ganz abgejehen von ihrem Geldwert, jehr hübſch 
fanden.” 

„Wohl möglich,“ erwiderte der Doftor. „Vers 
mutlih Hatten zum Beifpiel wilde Völkerſchaften 
wirflich die Anficht ; aber da dieſe Leute ganz aufe 
richtig waren, machten jie feinen Unterſchied zwiſchen 
Edelfteinen und Glasperlen, wenn dieſe ebenjo heil 
glänzten, Daß gebildete Menjchen Juwelen oder 
Goldihmud bloß aus Schönheitsrüdjichten, ganz 
abgejehen von dem Geldwert, bewundert haben follen, 
halte ih mehr oder weniger für unbewußten Selbft- 
betrug. Wäre plößlich großer Ueberfluß an Edel— 
feinen eingetreten, jo daß Diamanten vom reinten 
Waſſer keinen höheren Preis gehabt hätten als 
Fenfterglas, jo möchte ich willen, wie lange man fie 
in Ihrer Zeit noch als Schmud getragen hätte!“ 

Ih konnte nicht umhin, zuzugeben, daß fie jehr 
bald und für immer vom Schauplah verſchwunden 
fein würden. 

„Schon damals,“ jagte der Doktor, „galt es für 
nicht jehr gefchmadvoll, zu viel Schmud zu tragen, 
und diefe Anficht, verbunden mit dem Einfluß der 
neuen wirtichaftlihen Ordnung, mag wohl dazu 
beigetragen haben, daß man die Sitte aufgab. Als 
die Juwelen und Edelmetalle den Glanz verloren, 
der fie umſtrahlt hatte, jolange fie noch als Ver- 
Üörperung des Reichtums galten, fonnten fie den 
Geſchmack nicht mehr verblenden, und man begann 
hi) ernftlich zu fragen, ob es wirllich den Schönheits⸗ 
finn befriedigt, wenn man ſich Heine, gligernde Steine 
und blante Plättchen, Ketten und Ringe um Geficht 
und Hals hängt und an die Finger fledt? Bald 
ideint man denn aud) einftimmig zu dem Schluß 
gelangt zu fein, daß dergleichen Verzierungen eiwas 
Barbariſches an ſich hätten und im Grunde nicht 
einmal ſchön wären.“ 

„Bas ift denn aber aus allen Diamanten, Rus 
binen und Smaragden und dem Gold» und Silber: 
chmuck geworben?” fragte ich. 


875 


„Die Metalle — Gold und Silber — verwendet 
man natürlid) nad wie vor zu mechanischen und 
fünftierifhen Zweden, Da, wo fie hingehören, find 
fie immer jhön und werden noch ebenfoviel wie früher 
zu Zieraten gebraucht, aber mur bei der Ausfchmüdung 
von Bauwerken und Gerätichaften, nicht von Perfonen. 
Einige Edeljteine finden in der Mechanik Anwendung, 
auch hat man natürlich hie und da Sammlungen in 
den Mujeen. Mehr als ein paar hundert Scheffel 
Ebelfteine find wohl überhaupt niemald vorhanden 
geweien, und man kann fich nicht wundern, baf eine 
fo Meine Menge winziger Steinen im Laufe der 
Zeit verloren ging und verſchwand, als fie aufhörten, 
Koſtbarkeiten zu fein.” 

„Durd) die Gründe, welche Sie anführen, läßt 
ſich allerdings die Abſchaffung des Schmucks erflären, 
aber Sie glauben gar nicht, wie ſehr fie mich über- 
raſcht. Daß der Diamant auf die Stufe von Glas» 
perlen berabgefunfen ift und nur noch zu Handwerls⸗ 
zwecken gebraucht wird, ift der deutlichfte Beweis, den 
es geben fann für die durdhgreifende Umwerlung 
der Dinge in ihrem Verhältnis zum menſchlichen 
Leben der Gegenwart. Daß die Männer fi das 
Tragen von Schmudjadhen abgewöhnen fonnten, ift 
leicht begreiflih, denn man hat es nie für eine jehr 
männliche Sitte gehalten, außer in barbarijchen 
Ländern; aber jelbft den Propheten Jeremias hätte 
es wunbergenorimen, wenn man feine frage: ‚Kann 
auch eine Jungfrau ihres Schmudes vergeſſen * ein- 
fach bejaht hätte.” 

Der Doltor lachte, 

„Jeremiad war ein weifer Mann,“ jagte er. 
„Hätte man ihm das Syſtem ber wirtſchaftlichen 
Gleichheit auseinandergefeht und ihm beffen Einfluß 
auf das Berhältnis der Geſchlechter geſchildert, jo 
würde er zweifellos vorauägeiehen haben, dab als 
folgerichtiges Ergebnis hiervon die Frauen mit der 
Zeit ebenfowenig Wert darauf legen würden, fid) 
bejonders zu ſchmücken, als. e8 die Männer von jeher 
gethan haben. Es hätte ihm nicht überrafcht, zu er 
fahren, daß durch die Gleichheit von Mann und 
Weib die ganze Anihauung der frauen in betreff 
der Kleiderfrage jo umgewandelt worden ift, daß 
jelbft der ärgfte Weiberhaffer — wenn nod) ein ſolcher 
vorhanden war — ihnen nicht hätte vorwerfen können, 
daß fie fi mehr mit Pub und Tand befchäftigten 
als die Männer.“ 

„D Doktor, Doltor! Sie wollen mid doch nicht 
glauben machen, daß bie Frauen jet nicht länger 
von dem Wunſch beieelt find, bejonders reigend und 
anziehend zu erjcheinen?* 

„Entſchuldigen Sie, das habe ich keineswegs be— 
bauptet. Ich ſprach nur von dem allzugroßen Hang 
zu übertriebenem Schmud und Zoilettenfünften, bie 
ihren Zwed, den weiblichen Reiz zu erhöhen, gänzlich 


876 Edward 
verfehlten. Rad den damaligen Berichten zu urteilen 
war dies meiit das Ergebnis der außerordentlichen 
Hingebung, mit der fich die frauen der Sorge für 
ihren Pub widmeten, Habe ich nicht recht?“ 

„Verfteht fih. Ueberladung im Anzug und ein 
zu fichtlihes Bemühen zu gefallen, war zu meiner 
Zeit das befte Mittel, um eine Frau jeden Reizes zu 
berauben,” 

„Und wie ſtand es mit den Männern ?* 

„Einem rechten Manne konnte man ſolchen Bor« 
wurf nicht machen. Es gab natürlid) Stußer, aber 
die meiften Männer legten cher zu wenig Wert auf 
ihr Aeußeres.“ 

„Alſo das eine Geſchlecht beſchäftigte ſich zu viel 
mit Kleidern und das andre zu wenig?” 

„Ja, jo war es.“ 

„Sehen Sie wohl — und die Folge der wirt« 
Ichaftlichen Gleichheit der Geſchlechter und der daraus 
entipringenden Unabhängigkeit der Frau vom Manne 
in betreff ihres Unterhalts ift geweſen, daß die rauen 
heutzutage viel weniger an ihren Anzug denfen ala 
zu Ihrer Zeit und die Männer weit mehr. Jetzt 
fommt überhaupt niemand auf den Gedanfen, daß 
es einem Gejchlecht mehr auf feine vorteilhafte äußere 
Eriheinung ankommen jollte als dem andern. Bei 
einzelnen mag fi) darin ein Unterfchied zeigen, aber 
das Geſchlecht im ganzen ift frei davon,” 

„Aber warum jchreiben Sie dieſes Wunder — 
denn ein Wunder muß ic) es nennen — dem Ein« 
fluß der wirtichaftlichen Gleichheit auf das Verhältnis 
von Dann und Frau zu?” 

„Weil e8 von dem Augenblid an, daß die Gleich- 
heit eingeführt war, nicht mehr vorzugäweije im 
Interejje der Frau lag, fi dem Manne anziehend 
und begehrenswert zu machen, jondern für den Mann 
ganz ebenfo wichtig war, den Augen der Frau wohl⸗ 
gefällig zu fein.” 

„Das heißt jo viel, als daß vor ber wirtjchaft« 
lichen Gleichheit der Geſchlechter die Frau es fi 
entſchieden angelegener fein lafien mußte als ber 
Mann, durch ein angenehmes Aeußeres die Blide zu 
ſeſſeln ?* 

„Ohne alle Frage,” fagte der Doltor. „Sagen 
Sie mir, wie erflärte man ji denn zu Ihrer Zeit 
den übertriebenen Eifer, mit dem fi) bie Frau ihrem 
Pub widmete, während die Männer ihr Aeußeres 
häufig vernachläffigten?“ 

„Sehr reiflih haben wir uns die Sache wohl 
faum überlegt. Alles, was ſich auf das Verhältnis 
der Geſchlechter bezog, wurde überhaupt faum jemals 
ander8 behandelt als in jentimentalem oder ſcherz— 
baftem Tone.” 

„Das ijt allerdings ein auffallender Zug Ihres 
Jahrhunderts, aber doch Leicht erflärlich aus der fon- 
ventionellen Lüge des Verhältniſſes zwiichen Mann 


Bellamp. 


und Weib. Denn während man eine ritterliche Er- 
gebenheit gegen die Frau zur Schau trug, wurde fie 
in Wirflichfeit vollftändig unterjodht. Aber mwelder 
Urfache pflegte man denn damals die große Kleider: 
und Schmudjucht der Frau zuzjufchreiben?“ 

„Es wurde von alters her als feſtſtehend an- 
genommen, daß bie frauen eitler jeien als bie Männer. 
Aber das hörten fie nicht gern, und jo war man 
denn böflih genug, als Grund ihres übermäßigen 
Intereſſes für die Kleiderfrage ihren entwidelteren 
Schönheitsfinn anzuführen oder ihre Selbitlofigfeit, 
die gern andern Freude bereitete, und was dergleichen 
angenehme Redensarten mehr waren.” 

„Und ift e8 Ihnen nie eingefallen, daß die eigent- 
liche Urjache, weshalb den frauen fo viel daran lag, 
ihre Reize zu erhöhen, nichts andres war als ihre 
wirtſchaftliche Abhängigkeit von der Gunft des Mannes? 
Ein hübſches Geficht war ein Heiratägut. Die Männer 
dagegen vernadläffigten meift ihr Neußeres, weil ihr 
Ausfommen ganz und gar nichts mit ihrer Schönheit 
zu thun hatte, ja ſelbſt wenn fie ſich um frauen: 
gunft bewarben, fo fiel ihre weltliche Stellung dabei 
meift mehr ins Gewicht als alle perfönlichen Bor: 
züge. Ich glaube, durch biefe Erwägung ift dai 
größere Interefje der Frauen an Puh und Schmud 
jur Genüge erflärt, ohne daß man irgend melden 
Unterfchied ber Geſchlechter in ihrem natürlichen 
Hang zur Eitelfeit anzunehmen braucht.“ 

„Alſo,“ warf ih ein, „die Frau hat aufgehört, 
ihren Hauptlebenszwed darin zu finden, den Augen 
des Mannes wohlgefällig zu jein, als fie in wirt 
ſchaftlicher Beziehung nicht Tänger von ihm abhängig 
war?“ 

„Ganz richtig; und fie dat an Würde, Bebagen, 
geiftiger Freiheit und Zeit, ſich wichtigeren Dingen 
juzumenden, unendlich gewonnen.“ 

„Um jo mehr wird das Geſellſchaftspanorama 
an Schönheit und Abwechslung eingebüßt haben.“ 

„Durchaus nicht; ganz im Gegenteil, Someit 
wir es beurteilen können, beruht der Anfprud der 
Frauen Ihrer Zeit, als anziehend zu gelten, nicht 
auf ihren Bemühungen, es zu jein — im Gegenteil. 
Wir reden ja doch von ber übertriebenen Sorge der 
Frauen für die Erhöhung ihrer Reize, die zu einem 
tollen MWettrennen führte, bei dem ſchließlich der 
größte Teil das erftrebte Ziel verfehlen mußte. Fiel 
num der wirtſchaftliche Beweggrund fort, eine Ber- 
forgung zu finden, jo blieb nur noch der natürlice 
Trieb der fyrau, die Bewunderung des andern Ge 
ſchlechts zu erringen ; diefer Beweggrund ift far! ge- 
nug, um der Schönheit förderlich zu fein, und um jo 
wirfjamer, gerade weil er nicht zu ſtark iſt.“ 

„Daß durch die wirtjchaftlihe Unabhängigkeit 
der rau ihr Streben nad Ausihmüdung ihrer 
Perfon auf ein verftändigs Maß zurüdgeführt 


Gleichheit. 


worden ift, läßt jich leicht einjehen. Doch verſtehe 
ih nicht, warum fie auf die Männer die entgegen» 
geſetzte Wirkung ausgeübt haben joll, jo daß dieje mehr 
Wert auf ihren Anzug und ihre äußere Erjcheinung 
legten als früher?“ 

„Aus dem einfachen Grunde, weil fie ſich, nach— 
dem ihr wirtjchaftliches Uebergewicht aufgehört hat, 
einzig und allein durch ihre perfönliche Anziehungs- 
fraft die Gunft der Frauen erwerben und bauernb 
fihern fönnen,” verfeßte der Doltor, 


XX. 
Was der große Umſturz für die Frauen gethan hat. 


„Wahrhaftig, Doktor,“ ſagte ih, „mir ſcheint, es 
würde für eine Frau aus meinem Jahrhundert noch 
mehr der Mühe gelohnt haben, in die Gegenwart 
berüberzuichlafen, als für mid. Die wirtfchaftliche 
Gleichftellung ift ja für das weibliche Gefchlecht von 
weit größerer Bedeutung geweien als für uns 
Männer.“ 

„Edith wäre vielleicht mit dem Tauſch nicht zu— 
frieden,” jagte der Doftor. „Aber es ijt allerdings 
viel Wahres in dem, was Sie jagen. Die Frau 
bat durch die Einführung der wirtichaftlichen Gleich“ 
heit in der That mehr gewonnen als der Mann. 
Damals war die große Maffe der Männer in einem 
Zuftand, der erbärmlid genannt werden kann im 
Vergleich zu dem jehigen, aber da& Los der Frauen 
war noch weit befiagenäwerter. Die meiften Männer 
waren freilich Knechte der Reichen, aber die Frau 
mußte dem Manne unterthänig fein, ob er reich war 
oder arm. In lehterem Falle, der am häufigften 
vorfam, war fie daher nichts als die Magd eines 
Knete. Wie tief der Mann aud in Armut und 
Dürftigkeit verjanf, ftets hatte er Macht über ein 
oder ein paar Welen, die nod niedriger ftanden als 
er, dad waren die Frauen, die von ihm abhingen 
und ihm dienen mußten. Auf der Frau lag bie 
Gejamtlaft menjhliher Not und Beſchwerde; jie 
fand auf der unterjten Geſellſchaftsſtufe und hatte 
das Schwerfie zu tragen. Alles, was das Menſchen- 
geihlecht an Geift, Seele und Leib jemals von der 
Iyrannei zu erdulden gehabt, traf fie mit verboppelter 
Kraft... Wie gering aud der Mann geachtet war, 
die Frau ftand noch jo viel tiefer als er, daß es für 
fie ein mächtiger Aufſchwung gemejen wäre, hätte fie 
ih aud nur zu feiner Stufe hinaufarbeiten können. 
Da fam die Revolution und madte fie nicht nur 
dem Manne gleich, jondern erhob beide, Mann und 
Frau, mit gewaltiger Kraft bis zu einer moraliſchen 
Würde und Höhe und einem materiellen Wohlbefinden, 
die jo hoch über der früheren Lage des Mannes 
ftanden wie deſſen frühere Lage über derjenigen des 
Meibes. Wenn alſo der Mann auch der Revolution 
viel verbanft, fo ift die Dankesſchuld des Weibes 


877 


noch unendlich viel größer, Den Mann berief die 
Revolution in eine eblere, beilere Lebensordnung; 
für die Frau war fie die Stimme Gottes, die fie zu 
einem neuen Dajein erſchuf.“ 

„Daß die Frau des armen Mannes ein recht 
fümmerliches Leben führte, unterliegt feinem Zweifel,“ 
jagte ich; „aber die Frau des Reichen hatte durchaus 
feine Bedrüdung zu erleiden.” 

„Die Frauen der Reichen,“ verfehte ber Doktor, 
„waren der Zahl nad ein zu unbebeutender Teil der 
weiblihen Gejamtbevölferung, als daß fie bei der 
Beurteilung des Zuftandes ber Frau zu Ihrer Zeit 
überhaupt in Betradt fommen könnten, Aber wir 
halten ihr 208 durchaus nicht für beneidenswerter 
als das ihrer ärmeren Schweftern, Leibliche Not 
hatten fie freilich nicht zu erbulden, im Gegenteil, 
fie wurden verwöhnt und verzogen von ihren männ- 
lihen Beihüßern wie verzärtelte Kinder; aber das 
war fein Leben, wie wir es wünſchen würden, Nad) 
dem zu urteilen, was wir au& den Berichten und 
Gejellihaftsbildern Ihrer Zeitgenoffen willen, führ- 
ten die Frauen der Reichen ein Treibhausleben in 
einer Atmofphäre von Schmeichelei und Ziererei, Die 
einer gefunden moraliſchen und geiftigen Entwid- 
fung noch weit weniger zuträglih war al® die 
harte Arbeit der rauen aus niederem Stande, 
Wäre eine unfrer frauen verurteilt, in der da— 
maligen Welt zu leben, fie würde ſicherlich das 
208 einer Scheuerfrau dem Daſein einer reichen 
Modedame vorziehen. Letztere erfcheint und noch weit 
mehr wie erjtere als die Verförperung der Ernieb- 
tigung des weiblichen Geſchlechts in Ihrem Jahr« 
hundert.” 

Da mir derfelbe Gedanke jogar ſchon in meinem 
früheren Leben gelommen war, ftritt ich nicht weiter 
mit dem Doftor über diefen Punkt. 

„Die jogenannte Frauenbewegung, mit welcher 
der große Umſchwung für das weibliche Geſchlecht 


- begann,” fuhr Leete fort, „machte zu Ihrer Zeit 


ſchon fehr viel von ji) reden. Sie müjlen manches 
davon gejehen und gehört haben; vielleicht lannten 
Sie jogar einige der ebeln Frauen, die an der Spike 
ftanden.“ 

„D ja,” verfeßte ih. „Man machte damals 
viel Weſens von den Frauenrechten, aber das Pro» 
gramm, dad verfündet wurde, war durdaus nicht 
revolutionär. Die frauen verlangten nur das Wahl- 
recht und die Aenderung einiger Beſtimmungen in 
betreff ihres Eigentums, über das fie nicht frei ver— 
fügen durften, ſowie dab bei Ehefcheidungen die 
Rinder ihnen zugeiproden würden und dergleichen, 
An eine Ummälzung des wirtſchaftlichen Syftems 
dachten damald die rauen ebenfowenig wie die 
Männer, das fann ich Ihnen verfichern.“ 


„Jawohl, ich weiß,” jagte der Doktor, „In 


878 Edward 


dieſer Hinſicht glich der Kampf der Frau um ihre 
Unabhängigkeit allen andern Umſturzbewegungen. 
Nuf neuen Bahnen geraten die Menſchen bei den 
Anfangsſtadien in fo viele Irrtümer und Abwege, 
daß die größte Weltweisheit dazu gehört, um voraus- 
zufagen, wohin dies unbejonnene Stolpern und Um— 
bertappen jchließlih führen wird, Was aus ber 
Frauenbewegung werden würde, ließ ſich jedoch ebenfo 
leicht vorher berechnen, ala dies bei der jogenannten 
Arbeiterfrage der Fall geweien war, Das Ziel, 
nach welchem bie Frau firebte, war ihre Unabhängig« 
feit von der Herrihaft des Mannes, während das 
Verlangen der Arbeiter dahin ging, ihrer Knecht» 
ſchaft im Dienft der Kapitaliften ein Ende zu machen. 
Und derſelbe Schlüſſel, der die Feſſeln der Frau 
aufſchloß, konnte auch den Arbeiter von jeinen Ketten 
befreien. Es war der Schlüflel der wirtſchaftlichen 
Gleichheit, das Recht, über die Mittel zum Lebens« 
unterhalt zu verfügen. Das Gefchleht der Männer 
berrichte über die Frau und die Klaſſe der Reichen 
über den Arbeiter; aber beibes — ſowohl die Hörig- 
feit des weiblichen Geſchlechts als die induftrielle 
Dienftbarfeit — entiprang aus der nämlichen Urſache. 
Nichts andres war ſchuld daran als die ungleiche 
Verteilung des Beſitzes, und der Umſchwung, welder 
beiden Formen der Knechtſchaft ein Ende machen 
fonnte, war offenbar die wirtichaftliche Gleichftellung 
aller. Nicht nur zwifchen den Gejchlechtern, ſondern 
auch in der Arbeiterfrage mußte dadurch jofort die 
Kooperation an Stelle eines Zwangsverhältniſſes 
treten. 

„Die Führerinnen der Frauenbewegung hatten 
zuerft noch einen jo engen Horizont, daß fie ihre 
Bebrüdung und die Dienftbarkeit, in der fie jchmach« 
teten, nur der Schlechtigfeit der Männer zufchrieben; 
fie glaubten, wenn ſich diefe moralisch befjern wollten, 
jo wäre den Frauen geholfen. In jener Periode 
hieß der Mann nicht anders als das ‚Ungeheuer‘ 
und der ‚Tyrann‘, dies wurde förmlich zum Lofungs« 
wort. Die Vorlämpfer der Frauen waren in genau 
denjelben Fehler verfallen wie die erften Führer der 
Arbeiterbewegung, die eine Menge Worte verſchwen⸗ 
beten und viel böfes Blut machten, indem fie ganz 
vergeblich gegen die Kapitaliſten wüteten und bieje 
als die Urheber aller Leiden der Proletarier hin— 
ftellten.. Das war weit ſchlimmer als müßiges Ge- 
rede; es führte die Leute irre und machte fie blind, 
Die Männer waren im Grunde nicht ſchlechter ala 
die Frauen, welche fie bebrüdten, die Rapitaliften 
nicht jchlechter ald die Arbeiter, die von ihnen aus— 
gebeutet wurden. Hätte man die Arbeiter an ihre 
Stelle gejeht, Nie wären genau fo verfahren wie die 
Rapitaliften. Ja, die Erfahrung Ichrte, daß Arbeiter, 
welche Rapitaliften wurden, ſich als die allerftrengfien 
Herren erwiejen. Hätten die rauen die Stellung 


Bellam. 


der Männer einnehmen fünnen, fie würden biefe oßne 
Zweifel nicht anders behandelt haben, als fie jeltit 
zurzeit behandelt wurden, Die Wurzel alles Uebel 
war das Syſtem, welches geftattete, dab menſchlich 
Weſen zu einander in ein Verhältnis von Herridaft 
und Dienftbarkeit gerieten, Wenn ein Menſch Ge 
walt über andre befigt, jo wirft das naturgemäz 
demoralifierend auf den Gebieter und ermiebrigend 
auf den Knecht. Gleichheit ift der einzig moraliſche 
Zuftand im Verhältnis der Menjchen zu einander. 
Lebe Reform, welche den Zweck hatte, die Unter 
brüdung der Frauen durch die Männer, der Arbeiter 
durch die Kapitaliften zu befeitigen, mußte aljo darauf 
ausgehen, fie in eine gleiche wirtjchaftliche Lage zu 
bringen. Erft als die frauen und die Arbeiter das 
thörichte Beginnen aufgaben, die Folgen der wirt: 
Ichaftlihen Ungleichheit anzugreifen, und fiatt deſen 
die Ungleichheit jelbft angriffen, war Hoffnung vor 
handen, daß beide Klaſſen zur Freiheit gelangen 
würben. 

„Wie völlig verkehrt die Vorftellungen waren, 
von denen die Bahnbrecherinnen der fFrauenfrage aus: 
gingen, welche für Heil und Rettung ihres Gejchledhis 
fämpften, zeigt fi am beften im ihrer Beneife- 
rung für die verfchiedenen ſogenannten Mäsigteitt 
betrebungen, durch die man der Trunkſucht unter den 
Männern fteuern wollte. Die frauen hatten ein 
fo großes Intereffe an der Reform diejer Unſitte der 
Männer, — fie ſelber enthielten ſich in der Regel 
der beraujchenden Getränfe — weil fie glaubten, 
wenn die Männer nur nicht jo viel tränfen, würden 
fie ihre Frauen weniger mißbandeln und reichlider 
für ihren Unterhalt jorgen. hr ganzes Streben 
beſchränkte fi alfo darauf, die Moral ihrer Herren 
zu beffern, um ji eine mildere Behandlung zu 
fihern. Der Gedanke an die Möglichkeit, daß die 
Hertſchaſt jelbft abgejhafft werden könne, war ihnen 
bis jeht noch nicht gelommen. 

„Die damaligen Bemühungen der frauen, ein 
Geſetz gegen die Trunkſucht zu erlangen, ftellen den 
Unterjchied ihrer Lage von derjenigen, welche die 
Frauen heute einnehmen, in das grellfte Licht. Wollten 
die Männer ſich jet einer Gewohnheit hingeben, die 
für die Frauen im allgemeinen abftoßend wäre, fo 
würden bieje nicht daran denfen, fi um Abhilfe an 
die Gefehgebung zu wenden, Das Recht der per 
jönlihen Selbtbeftimmung und Unabhängigfeit des 
einzelnen bei allem, was ihn allein betrifft, geitattel 
nicht länger die Einmiſchung des Gejehes in jeine 
Privatangelegenheiten, welche zu Ihrer Zeit nod 
ganz an der Tagedordnung war, Aber die frauen 
hätten auch gar nicht nötig, Gewalt zu brauden, um 
die Männer zur Beobachtung beſſerer Sitten zu 
zwingen. Ihre volllommene wirtſchaftliche Unab- 
bhängigfeit, jowohl in der Ehe wie außerhalb der» 


” 
Yu 
zemb 





Gleichheit. 


jelben, würde fie in den Stand jeßen, ein viel wirf« 
ſameres Mittel zu gebrauchen. Sehr bald würde «8 
offenbar werden, daß die Männer, die auf grobe 
Weiſe das Gefühl der Frauen verlehten, ſich vergeblich 
um ihre Gunft bemübten. Zu Ihrer Zeit war es 
ein Ding der Unmöglichkeit für die Frau, ſich auf 
diefen Standpunkt zu ftellen, um ihren Willen durch» 
zujeßen und fich jelbft vor Unbill zu jchügen. Ihre 
wirtſchaftliche Lage zwang fie, zu heiraten; wenigftens 
war dies für fie jo vorteilhaft, daß nur ſehr glüd- 
liche Umftände ihr geftatten konnten, ihren Des 
werbern Bedingungen zu ftellen. Nach der Hochzeit 
galt es aber als ſelbſtverſtändlich, daß fie fi zum 
Erjak für ihren Unterhalt ihrem Manne unbebingt 
fügen mußte.” 

„Es klingt jchredlich, nun jo lange Zeit darüber 
bingegangen ift,” ſagte ich, „aber glauben Sie mir, 
es Stand nicht ganz jo ſchlimm, wie Sie meinen, 
Die beiferen Männer waren jehr rückſichtsvoll im 
Gebrauch ihrer Macht; in gebildeten Sreijen konnte 
von einem Zwang gar feine Rebe fein, ja in vielen 
Familien galt die Frau in Wirflichkeit für das Haupt 
des Hauſes.“ 

„Gewiß, gewiß,“ verfeßte der Doltor, „das ift 
immer fo gewejen, bei jeder Form der Dienftbarfeit, 
die Herren haben ihre unbeichränfte Gewalt in jehr 
vielen Fällen mit großer Menjchlichleit geübt, und 
farfe Charaktere, jelbft wenn fie dem Namen nad 
Sklaven waren, regierten oft ihre Herren vollftändig. 
Doch können ſolche Ausnahmen nicht als ftihhaltiger 
Entihuldigungsgrund dafür gelten, daß man menjd- 
liche Weſen der Willfür ihres Mitmenſchen überläßt. 
Ohne Zweifel ift nicht nur die Sage der den Männern 
untergebenen frauen, jondern auch der Zuftand der 
Armen, die von den Reichen abbingen, damals weit 
erträglicher geweſen, als wir das jeht für möglich 
halten. Wie der Körper des Menfchen im verjchies 
denſten Klima, vom Pol bis zum Nequator, am Leben 
bleiben und jogar gedeihen kann, fo jehen wir aud) 
an zahlreichen Beiipielen, daß feine fittliche Natur 
unter den entjeglichjten fozialen Bedingungen nicht 
nur ihr Dafein zu friften, jondern jogar Blätter 
und Blüten zu treiben vermag.” 

„Wil man die ungeheure Danlesſchuld ermeſſen, 
welche die Frau der großen Revolution gegenüber 
bat,” begann der Doftor wieder, „jo muß man be— 
denken, daß die Dienftbarfeit, aus welcher fie befreit 
wurde, hoffnungslofer und erniedrigender war ala 
jede andre, in welcher jemals die Männer geſchmachtet 
haben. Sie hatte ein breifaches Joch zu tragen. 
Das erfte Joch war ihre Unterwerfung jowohl unter 
die perfönliche als die Klaſſenherrſchaft der Reichen ; 
diejelbe bebrüdte die Mehrzahl der Frauen ganz 
ebenjo wie die große Mafje der Männer. Die beiden 
andern Laſten wurden nur ihr allein aufgebürbet, 


879 


Die eine beftand in ber völligen Unterthänigfeit, die 
fie in betreff ihrer Perfon und ihres ganzen Ver— 
haltens dem einzelnen Marne jchuldete, von dem ihr 
Vebengunterhalt abhing. Die andre war geiftiger 
und fittliher Art, eine ſtlaviſche Uebereinftimmung 
im Denfen, Reden und Handeln mit einer NAuzahl 
überlieferter und alt hergebradhter Regeln, die darauf 
berechnet waren, alles Urjprüngliche und Eigenartige 
zurüdzubrängen und dem äußern wie dem imnern 
Leben eine künſtliche Einförmigkfeit zu verleihen. 
„Dies lebte Joch war das ſchwerſte von allen 
breien und hatte die verhängnisvollfte Wirkung, nicht 
nur auf die rauen jelbit, jondern durch fie auf die 
ganze Menfchheit, weil es die Mütter des Menjchen« 
geihlecdhts herabwürdigte. Ahr Geift mußte dabei 
verfümmern, und ihre Seclenkräfte wurden jo ſehr 
gelähmt, daß man dies zum Vorwand nehmen konnte, 
um fie überhaupt wie untergeordnete Wejen zu 
behandeln. Die Männer, die das thaten, waren 
jelbft nicht weife genug, um einzujehen, daß, was fie 
als Grund für die Unterjohung der Frau angaben, 
nichts als die Folge diefer Unterjodung jelber war, 
Uns fommt es heutzutage unbegreiflich vor, daß die 
Frau ih im Denken und Handeln einem Geſetz 
unterwarf, welches eigens für ihr Gejchledht erfunden 
war, nur für Sklaven gemacht ſchien und von den 
Männern mit Hohn zurüdgemwieen wurde. Daß fie 
es that, ift nur erflärlich, weil die Frau feine Aus— 
ſicht auf ein einigermaßen erträgliches Dajein hatte, 
wenn es ihr nicht gelang, die Gunft eines Mannes 
zu erwerben, der ihre Verforgung übernehmen konnte, 
Auch für den Mann, der eine Beihäftigung juchte, 
war es unter Ihrem mirtidhaftlihen Syſtem jehr 
vorteilhaft, wenn er in Gedanken und Worten mit 
feinem Arbeitgeber übereinjtimmte. Doch wurde ihm 
meift wenigſtens ein gemwilfer Grab der Selbjt« 
beftimmung und geiftigen Unabhängigkeit von jeinen 
Vorgeſetzten zugejtanden, folange er feinen Anſtoß 
gab, denn im Grunde verlangte man nichts von ihm 
al& jeine Arbeit. Das Verhältnis ber Frau zu dem 
Manne, von dem fie den Unterhalt erhält, war ganz 
andrer Art und viel perjünlicher. Sie mußte ihm 
vor allem eine persona grata jein, wie man ſich 
ausdrückte. Um feine Gunft zu erwerben, mußte fie 
ſuchen, ihm wohlgefällig zu fein, und durfte weder 
durch ihre Anfichten noch durch ihr Verhalten jeine 
Vorurteile und feinen Gejchmad verlegen. Er hätte 
jonft leicht eine andre wählen können. Hieraus 
folgte, daß, während man bei der Erziehung bes 
Knaben darauf ausging, ihn für einen Beruf vor« 
zubereiten, man bei einem Mädchen das Haupt« 
augenmerf darauf richtete, dab es den Männern 
gefallen oder wenigftens nicht mißfallen ſollte. 
„Hätte man num die einzelnen rauen darauf hin 
erzogen, daß fie für beftimmte Männer paffen jollten, 


880 Edward 
fo wäre das ziwar immer noch ganz gegen bie weib- 
liche Würde geweien, aber doch weniger verderblich, 
weil viele Männer entihieden ſolche Frauen bei 
weitem vorgezogen hätten, die felbitändig denken 
fonnten und eigne natürliche Anſchauungen Hatten. 
Da man aber niemals vorauszuſehen vermochte, für 
welches Mädchen fich diefer oder jener Mann ent« 
fcheiben würde, jo war es am ficherjien, wenn man 
bei der weiblichen Erziehung mehr darauf jah, daß 
die Mädchen nicht im aktiven, jondern im paffiven 
Sinne anziehend waren, damit fie den Männern im 
allgemeinen feinen Anſtoß gäben. Dies Ziel lieh 
ſich am leichteſten dadurd erreichen, daß man das 
Mädchen früh gewöhnte, fi in Gedanken, Worten 
und Werfen nad den althergebradhten Sitten und 
Gebräuchen zu richten und ſich ganz den bejtehenden 
Regeln anzupaffen. Bor allem mußte fie ſich vor 
anftedenden neuen und eigenartigen Ideen hüten, 
durch welche fie auf religiöfem, politiſchem oder ſo— 
zialem Felde vom herfömmlichen Geleife abgelenft 
werden konnte. Das heißt, fie mußte ihren Geift 
wie ihren Leib genau nad) den gerade herrſchenden 
Modebildern formen und Heiden. Sollte ihre Hoff: 
nung auf eine behaglidhe eheliche Verſorgung nicht 
getäufcht werden, jo durfte niemand wiſſen, daß fie 
irgend welche eigne ungewöhnliche oder beftimmte 
Meinung über Dinge befaß, die wichtiger waren als 
Kunftftidereien oder die Ausjhmüdung des Em— 
pfangszimmers. War nun im wejentlichen für Be— 
obadhtung des Herkommens gejorgt, dann ftanden 
ihre Ausfihten um jo günftiger, je unterhaltender 
und febhafter fie bei allen nichtigen Anläffen, ober 
Hächlichen Dingen und geringfügigen Erlebnifien war. 
Mad meinen Sie, Julian, ift meine Schilderung 
zutreffend oder nicht?" 

„Dhne Zweifel,“ erwiderte ih, „haben Sie das 
Ideal einer weiblihen Mode-Erziehung zu meiner 
Zeit genau beichrieben, wie es wirklich war. Doch 
dürfen Sie nicht vergeſſen, dab es eine große Zahl 
böchft gediegener und geiftvoller Frauen gab, die 
gewohnt waren, jelbft zu denfen und zu jagen, was 
fie daten.“ 

„Das verfteht fi von ſelbſt. Sie waren das 
Urbitd der jegigen rau; durch fie erhielt man eine 
Ahnung von dem, was fich heute erfüllt hat. Es 
gelang ihnen, die Feſſeln des Herlommens zu brechen 
und der Welt zu beweifen, daß eine Gleichheit von 
Mann und Weib im Gebiet des Denkens und Handelns 
fein Ding der Ilnmöglichfeit jei. Aber, während 
große Geifter über die Verhältniſſe fiegen, laſſen ſich 
die Durchſchnittsmenſchen von ihnen beherrichen und 
bezwingen. Erft wenn wir bedenfen, welchen Einfluß 
Ihr Syſtem auf die ungeheure Mehrzahl der Frauen 
ausübte, durch deren Adern das Gift fittlicher und 
geifliger nehtichaft in den ganzen Organismus des 


Bellamy. 


Menſchengeſchlechts eingedrungen iſt, erlennen wir, 
wie furchtbar die Anflage war, welche die Menid. 
beit gegen dies Syſtem vorzubringen hatte, Indem 
die Revolution die Mütter des Menſchengeſchlecht 
nit nur von ihren leiblichen, fondern aud von 
ihren fittlihen und geiftigen Feſſeln befreite, hat fie 
der Melt eine Wohlthat erwiefen, die gar nicht bed 
genug angeſchlagen werden fann. 

„Ih ſprach ſoeben davon, daß in Ihrer Zeit 
die Lage des weiblichen Geſchlechts und diejenige dei 
Induftrie-Arbeiter® mancherlei Bergleihungspunfte 
bot. Auf einen derſelben muß ich noch näher ein. 
geben; 

„Die Unterjohung der Arbeiter durd die Kapi- 
taliften wurde dadurch erleichtert, daß es zu jeder 
Zeit eine große Maſſe Arbeitslojer gab, melde die 
Arbeiter unterboten und, um nur Beichäftigung zu 
befommen, fich mit jeden Preis und allen Bedingungen 
zufrieden erflärten, Dies war der Popanz, mit dem 
die Kapitaliften die Arbeiter jchredten und in Banden 
hielten. Ebenſo ftand auch ſtets eine Schar unver- 
forgter Frauen zur Verfügung, wodurch die fetten 
der Dienfibarkeit des Geſchlechts noch fefter ae 
ichmiedet wurden. Der Lebendunterhalt war zu Jhrer 
Zeit jo ſchwer zu erlangen, daß viele Männer ſich 
nicht einmal jelbjt verjorgen fonnten ; außerdem noch 
eine Frau zu erhalten, war den meiften ganz unmöglid, 
Der Mann, welder nicht heiraten fonnte, lebte 
vielleicht weniger glüdlich, aber die Frau büßte nicht 
nur ihr Glüd ein, jondern ſah fich auch in der Regel 
dem Mangel und der Armut preisgegeben, denn für 
fie war es eine noch weit ſchwierigere Aufgabe al 
für den Mann, durch eigne Arbeit ihr Leben zu 
friften. Hieraus entftand eins der empöremdfien 
Schauſpiele, weldye die Welt je gejehen hat, nämlid 
ein Wettbewerb und Wettlampf der Mädchen um 
die vorhandenen Seiratsgelegenheiten. Will man 
fi) Har machen, wie ſchwer es für die Frau zu jener 
Zeit war, ihre geiftige, fittliche und leibliche Würde 
dem Manne gegenüber aufrecht zu erhalten, jo braucht 
man nur an ihre furchtbar ungünftige Stellung auf 
dem jogenannten „Heiratsmarkt” zu denlen. Dieſes 
Ausdrucks bedienten fih Ihre Zeitgenojien mit Vor« 
liebe und brutaler Deutlichkeit. 

„Aber das war noch nicht einmal die tiefite 
Erniedrigung des Weibes. Es gab noch eine andre, 
ichredlichere Form des Wettbewerbs innerhalb ihrer 
eignen Klaſſe. Nicht nur war fortwährend eine um 
geheure Meberzahl unverheirateter (Frauen vorhanden, 
welche nad) der wirtſchaftlichen Verſorgung ftrebten, 
die ihnen die Ehe bot, e& gab auch elende Weiber 
in Menge, die auf der unterften Stufe ftanden. Sie 
durften auf feine Verforgung unter ehrenhaften Ber 
dingungen hoffen und waren bereit, ich für eine 
Brotkrufte zu verlaufen. Wundern Sie fid noch, 


Gleichheit. 


Jultan, daß unter dem Haufen von Schmuß, den 
ihr im neunzehnten Jahrhundert Zivilijation nanntet, 
das Verhältnis der Geichlechter für uns den ab» 
ihredendften Anblid bietet?” 

„Unjre Philanthropen machten ſich viel Kopf: 
zerbrechens über die öffentliche Unfittlichfeit und die 
große Menge verworfener Weiber, die es gab; doch 
betrachtete niemand die Frage als ein wirtfchaftliches 
Problem. Man glaubte, fie ftamme aus ber Ver— 
derbtheit des menſchlichen Herzens und jei ein jittliches 
Uebel, gegen das nur die Einflüffe der Moral und 
Religion etwas ausrichten lönnten.“ 

„Ih weiß, ich weiß! Natürlich durfte man es 
zu Ihrer Zeit nicht laut werden laſſen, wie verrottet 
Ihr ganzes wirtichaftliches Syitem war. Deshalb 
pflegte man alle feine entjeglichen Folgen der armen 
menichlihen Natur zuzuſchreiben. Es gab fogar 
Menſchen, die der Meinung waren, man fönne der 
Unfittlichleit durch Predigten feuern, während noch 
Millionen Frauen auf Erden lebten, die in ihrer 
verzweifelten Not fein andres Mittel hatten, fi Brot 
zu verihaffen, ala die Lüfte der Männer zu befriedigen. 
Id habe mich etwas mit Phrenologie befchäftigt und 
öfters den Wunſch gehabt, den Schädel eines ſolchen 
Philanthropen des neunzehnten Jahrhunderts unters 
fuchen zu können, deſſen ehrliche Ueberzeugung dies 
war. Aber vielleiht war gar feiner darunter, der 
aufrihtig an eine joldhe Möglichkeit glaubte.“ 

„Etwas wollte ih Sie noch fragen,” fagte ich. 
‚Schon zu meiner Zeit gab es Frauen von jo uns 
abhängiger Geiftesrichtung, daß fie gegen die Sitte, 
die fie zwang, ihres Mannes Namen bei der Heirat 
anzunehmen, einen Einwand erhoben. Wie macht 
man das heutzutage?” 

„Durch die Ehe verändert fich der Name ber Frau 
jo wenig wie der des Mannes.“ 

„Aber wie ſſeht e8 mit den Kindern ?* 

„Die Mädchen führen den Namen der Mutter, 
und als mittleren Namen den des Vaters; bei den 
Knaben iſt es gerade umgelehrt.” 

„Mir fällt eben ein," ſagte ich, „daß es doch 
merlwürdig wäre, wenn die völlige Umwandlung im 
Leben der Frau, welche ihr die wirtichaftliche Unab— 
bängigfeit brachte, nicht auch den fittlihen Maßſtab 
für das Verhältnis der Gejchledhter in mancher Hin« 
ſicht beinflußt haben follte.” 

„Sagen Sie lieber,“ verfeßte der Doftor, „daß 
die wirtjchaftliche Gleichftellung von Mann und Frau 
es uns zum erflenmal ermöglicht hat, ihr Berhältnis 
auf eine fittliche Bafis zu bringen Die Haupt« 
bedingung bei jeder ethijchen That ift die Freiheit 
des Handelnden. Solange der Lebensunterhalt der 
Frau noch vom Manne abhing, war fie außer ftande, 
fich frei zu bethätigen, und es fonnte daher bei dem 
Verhältnis der Geſchlechter von einer wahrhaft ethifchen 

Aus fremben Zungen, 1897, II, 19. 


881 


Grundlage nicht die Rebe fein. Erſt als die Frau 
in wirtſchaftlicher Beziehung unabhängig wurde, 
fonnte ſich auch die moralifche Seite ihres BVerhält- 
nifjes zum Mann richtig geftalten.“ 

„Die Moralijten meiner Zeit würden große Augen 
gemacht haben,” bemerkte ich, „hätte man ihnen ge= 
jagt, dab der Verkehr der Geſchlechter jeder Ethit 
ermangle. Wir hatten doc fehr ftrenge, ausführliche 
Regeln und Gebote in diefer Beziehung.“ 

Verſteht ſich,“ erwiberte mein Gefährte. „Machen 
wir uns dieſen Punkt jo deutlich wie möglid, denn 
er iſt von höchſter Michtigfeit. Sie hatten, wie Sie 
jagen, jehr bejtimmte Vorfchriften über das Verhalten 
der Gejchlechter zu einander — das heit, beionders 
für die Frau — aber fie beruhten meift nicht auf 
Gründen der Ethik, fondern der Klugheit; ihr Zwed 
war, die wirtſchaftlichen Interefien der frau dem 
Manne gegenüber ficherzuftellen. Für den Schuß 
der frau waren dieſe Negeln im allgemeinen von 
hohem Wert, wiewohl fie in einzelnen Fällen oft ſehr 
grauſam jchienen. Sie bildeten das einzige Mittel, 
um die Frau und ihre Rinder wenigftens einiger 
maßen vor Mißhandlung und Bernadläffigung zu 
ſchühzen, folange fie noch jelbft ein Hilflofes und ab» 
hängiges Wejen war. ch bin weit davon entfernt, 
den Wert diefer Gejehe geringzufchäßen ; fie wirkten 
in hohem Grade jegensreich, folange fie notwendig 
waren. Da fie aber nicht aus der bejonderen Heilig« 
feit des Geſchlechtsverhältniſſes an ſich entiprangen, 
fondern nur aus Fugen Erwägungen, bie ji auf 
Fragen des Unterhalt3 bezogen, jo darf man ihnen 
auch feine ethiſche Bedeutung unterjchieben. Es 
waren nur geſehliche Vorjchriften und Gebräuche, 
weldhe das leibliche Wohlergehen der Frauen und 
Kinder in der Ehe und Familie ſchühen und fihern 
ſollten. 

„Den Heiratslontralt ſchmückte und umranlte die 
Phantaſie mit einer Menge gefühlvoller und religiöfer 
Vorftelungen; aber ich braude Sie faum daran zu 
erinnern, daß er vor dem Gefek und in den Augen 
der Geſellſchaft im mejentlichen nichts als ein Ver— 
trag war, ein ftreng geichäftliches Abkommen mit 
gegenfeitiger Verpflichtung; der Mann übernahm e8, 
für den Unterhalt der Frau und efwaiger Finder zu 
jorgen, und als Erſatz dafür gab fie fih ihm ganz 
zu eigen — das heißt, unter der Bedingung, daß er 
ihr die Nußnießung jeines Vermögens bewilligte, 
wurde fie ein Teil desjelben. War nur diejer Ner« 
trag in aller Form Rechtens gejchloffen, jo galt das 
Verhältnis für fittlich rein und unantaftbar in jeder 
Beziehung. Vielleicht waren die beiden Leute über- 
haupt nicht geeignet, zu heiraten und Eiternpflicht zu 
übernehmen ; die niedrigfte und gemeinjte Berechnung 
fonnte fie zufammenführen; möglich, daß die Braut 
durch die Not gezwungen wurde, einen Mann zu 

111 


882 


nehmen, ben fie verabjcheute, vielleicht opferte man 
die blühende Jugend dem wellen Alter und handelte 
gegen die Stimme der Natur — aber nad) damaliger 
Anfhauung war alles ſchön und gut, jobald mur der 
Vertrag geſehlich vollzogen war. Hatte man im 
Gegenteil dies vernadhläffigt, folgte das Mädchen 
dem Manne ohne Vertrag, jo konnte ihre Liebe noch 
jo groß fein und bie Verbindung noch fo natur« 
gemäß und pailend, die Frau wurde dennoch ala 
unfeufch und verworfen außgeftoßen und dem lebendigen 
Tod gejellihaftliher Schande preisgegeben, Daß ſich 
unter Ihrem abſcheulichen Syftem dies joziale Geſet 
rechtfertigen ließ, gebe ich volllommen zu. Es war 
dad einzige Mittel, die wirtjchaftlichen Intereſſen von 
Frau und Rindern zu ſchühen, aber wenn man be= 
haupten will, e8 habe eine eihijche oder moraliſche 
Bedeutung gehabt, jo läht ſich das nur durch ein 
völliged Mißverſtehen des Begriffs erllären. Wir 
würden im Gegenteil jagen, es fei ein Geſetz ge— 
wejen, bei dem man, um die materiellen Inter— 
eſſen der rau zu jhühen, mit Vorbedacht alle Ge— 
ſetze bintanjeßte, die im Menjchenberzen geichrieben 
ftehen. 

„Wie uns berichtet wird, war in Ihren Tagen 
viel von der ſchändlichen Thatfahe die Nede, dab es 
einen ganz verſchiedenen Moralfoder für den Mann 
und die Frau gab. Die Männer weigerten ich, 
dem Gejek zu gehorchen, dem die Frau ſich fügen 
mußte, und die Gejelljchaft machte nicht einmal den 
Verſuch, einen Zwang auf fie auszuüben. Die, welche 
behaupteten, es dürfe nur eine Moral für beide Ge- 
ſchlechter geben, hatten die Anfiht, daß Recht oder 
Unreht bei Mann und Frau gleich fei, dab es nur 
einen Maßſtab dafür geben jollte, was gut und böje, 
rein und unrein, moraliſch und unmoralijd bei beiden 
wäre Dffenbar war dies die richtige Anſchauung; 
aber welcher moralifche Gewinn würde dem Menſchen⸗ 
geichleht daraus erwachjen jein, wenn man bie 
Männer hätte bewegen können, ſich demjelben Gejeh 
zu beugen wie die frau? Dies Geſeß war ja in 
feinem Grundbegriff vom Verhältnis der Geſchlechter 
jeder Ethik bar. Nur der bittere Zwang wirtſchaft⸗ 
licher Knechtſchaft Hatte die Frau dahin gebracht, 
ein Gefeh anzunehmen, gegen welches die Verzweiflung 
aller ichuldlojen Greichen und das zerflörte Leben 
einer endlofen Menge von Frauen, deren einzige 
Sünde eine allzugroße Liebe geweſen war, viel taujend- 
ftimmig gen Himmel ſchrie. Ohne Zweifel jollte «8 
für Mann und Frau nur ein Sittengejeß geben, 
wie das jetzt der Fall ift, aber das darf fein Sklaven- 
gefeh jein, das auf niedrigen Beweggründen rubt 
und dem bie frauen fi aus Furcht vor Mangel 
fügen müffen. Nur wern die Gejchledhter einander 
in völliger Gleichheit frei und unabhängig gegenüber« 
ftehen, kann das höhere Gefeh für Mann und Frau, 


Edward Bellamp. 


das im Herzen der Menſchen gefchrieben fteht, jur 
Wahrheit werben und jeine Geltung behalten.“ 

„Zuerft hat es mich freilich überraſcht, Dolter, 
das muß ich geftehen, als Sie fagten, bei uns habe 
dem Verhältnis der Geſchlechter die ethiſche Grund- 
lage gefehlt, Aber ſchließlich ift das nichts amdres, 
als was auch unfre Dichter und Satirifer ausſprachen, 
wenn fie diefen Gegenftand behandelten. Der großt 
Abftand zwijchen der herfömmlichen Geſchlechtsmoral 
und ber inftinktiven Moral der Liebe war ſprich 
wörtlich bei uns und lieferte, wie Sie wohl wiſſen 
werden, das Thema für einen großen Zeil unirer 
dramatijchen und romantijchen Pitteratur.* 

Jawohl,“ erwiderte der Doktor, „Ihre Schrift 
fteller haben mit tiefem Gefühl und aller Kraft, die 
ihnen zu Gebote ftand, die graujame Ungerechtigkeit 
des ehernen Geſetzes der Gejellichaft geichildert, das 
um jo empörender war, weil es jeine ganze Schärfe 
ausſchließlich gegen die Frau richtete. Aber ihre ber 
redten Worte verhallten nußlos, und mie jehr ie 
aud die Herzen rührten, es hatte feinen praftiihen 
Erfolg. Sie griffen das Uebel nicht bei ber Wurzel 
an und vergaßen, was eigentlich die Schuld an dem 
Gejeb trug, gegen das fie zu Felde zogen. Es war 
ja nichts andres, wie wir gejehen haben, ala die 
faljche Güterverteilung, welche es mit ſich brachte, 
daß die Frau nur auf Schutz und Wohlbefinden 
hoffen durfte, wenn es ihr gelang, ſich um den 
Preis ihrer Perfon die Verſorgung durd einen 
Mann mitteljt eines gejehlichen Vertrags fihern zu 
laſſen.“ 

„Mir ſcheint,“ ſagte ih, „den Frauen braud- 
ten nur die Augen darüber aufzugehen, welche Be 
deutung die wirtjchaftliche Gleichheit aller, die von 
der Revolution verkündet wurde, für ihr Geſchlecht 
haben würde, um fie zu begeifterten Anhängerinnen 
derjelben zu machen. Der Umſturz lag ja nod 
weit mehr in ihrem Intereſſe als in dem der 
Männer.“ 

„Ohne alle Frage,“ verjehte der Doftor. „Zwar 
binderten bie Feſſeln des Herlommens, der Heber- 
lieferung und des Vorurteils, ſowie die fFeigbeit, 
an welche fie fid) in ihrer Dienftbarkeit jeit unden!- 
lichen Zeiten gewöhnt hatten, die große Maſſe der 
Frauen noch lange daran, einzufehen, welche munder- 
bare Befreiung ihrer harrte; aber ala es ihnen end- 
(ih Har wurde, traten fie einftimmig mit folder 
Begeifterung für die Umjturzbewegung ein, daß ber 
Sieg im Kampfe gefihert war, Für die Männer 
war die wirtſchaftliche Gleichheit günftig oder un 
günſtig, je nad) ihrer Vermögenslage, aber jede 
Frau, ſchon allein um ihres Geſchlechts willen, mußtt 
fie mit Freuden begrüßen, ſobald fie nur erft erfann! 
hatte, um was es ſich für die Hälfte des Menjhen- 
geſchlechts dabei handelte,“ 


m us 





Gleichheit. 


XXI 
Auf dem Turnplak. 

Edith war noch früh genug bei und auf dem 
Hausdad angelangt, um den Schluß unfers Gejprädhes 
mit anzuhören. Seht ſagte fie zu ihrem Vater: 

„Nach dem, was du Julian über die Frauen der 
Neuzeit mitgeteilt haft, würde es ihn vielleicht 
intereffieren, unjern Turnplak zu beſuchen und zu 
jehen, was wir dort für Uebungen machen. Heute 
nahmittag wird um die Wette gelaufen und geflogen, 
auch allerhand andre Proben werden angeftellt. 
Unjer Jahrgang darf dicamal den Plab allein be» 
nupen, und ich muß jedenfall dort jein.” 

Diefem Vorſchlag, der natürlich mit Freuden 
angenommen wurde, verdanfe ich eine ber intereſſan⸗ 
teften und Iehrreichiten Erfahrungen aus jener erften 
Zeit, in der ich mit der Zivilifation des zwanzigiten 
Jahrhunderts Belanntihaft machte. 

An der Thür der Turnhalle verlieh uns Ebith, 
um fi zu ihrer Klaſſe im Amphitheater zu gefellen, 

„I Edith bei einer der Wettübungen beteiligt?“ 
fragte ich, 

„Mehr oder weniger nimmt ihr ganzer Jahrgang, 
das heißt alle, die ebenfo alt find wie fie, an den 
beutigen Uebungen teil.” 

„Worin zeichnet Edith fich denn bejonders aus?” 

„sin allgemeinen werben bei ung die Spezialitäten 
nicht jehr gepflegt,“ erwiderte der Doktor. „Natürlich 
fann jeder zu Haufe thun, was er will, aber bei 
unjerm öffentlichen Unterricht jehen wir hauptfächlich 
auf eine nach allen Seiten ebenmäßige Entwidiung 
des Körpers. Wir fireben zuerft danach, bei allen 
ein gewiſſes Normalma von Kraft zu erzeugen, und 
Beine, Rüden, Schenkel, Schultern, Brufttorb, Naden 
und jo weiter auf bie normale Länge und Breite zu 
bringen. Bei diefem Maß kann fi der höchſte 
Grad von Peiftungsfähigkeit und Schönheit noch nicht 
entwideln; es ift nur das Minimum, Alle, die dies 
erreichen, können als normale, gejunde Männer und 
frauen betrachtet werden, es bleibt ihnen dann über- 
lafien, ſich nach verſchiedenen Richtungen, hin weiter 
auszubilden.” 

„Wie lange dauert denn biejer öffentliche gym- 
naſtiſche Unterricht?“ 

„Er ift ebenjo obligatorijch wie alle andern Unter— 
richtszweige, bis fich der Körper volllommen entwidelt 
bat, was etwa im vierundzwanzigften Jahr der Fall 
ift, wie wir annehmen; aber in Wirklichkeit wird er 
dad ganze Leben lang fortgejeßt. Die Teilnahme 
daran Hängt fpäter natürlich meift vom perfönlichen 
Befinden ab.” 

„Macden Sie denn jeßt noch regelmäßige Uebungen 
in einer Turnhalle, Doktor ?* 

„Warum jollte ich nicht? Man will doch mit jechzig 
Jahren ebenjo gern gejund fein wie mit zwanzig.“ 


883 


„Meine Ueberraſchung darf Sie nicht wunder- 
nehmen,“ jagte id. „Zu meiner Zeit hieß e& immer, 
wenn jemand über fünfundvierzig Jahre alt wäre, 
dürfte er nicht mehr hinter einem Pferdebahnwagen 
berlaufen, um jchnell hineinzuſpringen; und bie 
Grauen hörten überhaupt von fünfzehn Jahren ſchon 
auf zu laufen. Dann wurde ihr Oberkörper in einen 
Panzer gezwängt, der Unterförper in einen Sad ger 
ftedt, die Füße in Daumenſchrauben, und fie fagten 
der Geſundheit für immer Lebewohl.“ 

„Ihr Scheint allerdings mit euerm Körper jehr 
fchlecht umgegangen zu fein,“ verjeßte der Doftor. 
„Die rauen nahmen auf ben ihrigen gar feine 
Rückſicht, und ſoviel ich weiß, haben die Männer 
ihren Körper bis zum vierzigften Jahr mißhandelt; 
von da an mißhandelte der Körper fie — was nur 
gerecht war; die große Mafje förperlichen Elends, 
das durch Schwäche und Krankheiten entftand, die 
leicht zu vermeiden geweſen wären, bildet zufammen 
mit dem moralijchen Elend, welches die notwendige 
Folge eures Syſtems der wirtihaftliden Ungleichheit 
war, eine der jchwerften Anflagen gegen dasjelbe, 
Es ift die Grundurſache, auf die ſich direft oder in- 
direft alle Erſcheinungen diefes Zuftandes zurüd- 
führen lafjen. Bei ihrer wahnfinnigen Jagd nad) 
Erwerb und dem Streben, andern ihren Erwerb zu 
entreiben, konnten die Männer zu Ihrer Zeit weder 
auf Körper noch auf Geift irgend welche Rüdficht 
nehmen. Auf den Frauen aber laſtete eine fo ſchwere 
Knechtſchaft, daß Leib und Eeele verderbt wurben 
und es al& ein Wunder betrachtet werden fonnte, 
wenn irgendwo noch Gejundheit bei ihnen zu finden 
war.” 

Als wir das Amphitheater betraten, jahen wir 
an einem Ende der Arena ziveis oder dreihundert 
junge Männer und rauen lachend und plaudernd 
bei einander ftehen. Dies, fo jagte mir der Doltor, 
waren Ediths Hlaffengefährten von 1978, alle zwei« 
undzwanzig Jahre alt, in dieſem Stadtviertel geboren 
oder dorthin gezogen. Ich betrachtete mit Bewunde⸗ 
rung die Geftalten der jungen Leute, die alle ſtark 
und ſchön waren wie die Götter und Göttinnen des 
Olymp. 

„Soll id denn glauben,” rief id), „daß die ganze 
Jugend eures Landes jeht auß jo herrlichen Menſchen 
befteht und dies nicht nur eine auserwählte Schar 
der Kräftigften iſt?“ 

„Gewiß,“ erwiderte er; „Sie jehen bier ale 
jungen Leute von zweiundzwanzig Jahren verjanmelt, 
welche in dieſem Stadtviertel wohnen, mit Ausnahme 
bon zweien oder dreien, bie aus einem bejonberen 
Grunde fehlen.” 

„Aber wo find Die Krüppel, die Vertvachjenen, 
die Schwachen und Schwindjüchtigen ?* 

„Sehen Sie dort den jungen Mann auf dem 


884 


Stuhl, den jo viele andre junge Leute umringen?“ 
fragte der Doktor, 

„AH! Da giebt es wenigftens einen Kranken.“ 

„Ja,“ erwiderte mein Gefährte. „Der junge 
Dann bat einen Unfall gehabt und wird nie wieder 
ftart werden. Er ift der einzige Kränkliche von der 
ganzen Klaffe, und fie jehen, wie die andern fi um 
ihn bemühen. Bei euch gab es jo viele Lahme und 
Franke, dab das Mitleid felbft ermattete. Eure 
Thränen verfiegten, und euer Erbarmen ftumpfte ſich 
ab beim Anbfid von jo viel Elend. Bei uns find 
die Schwachen jo jelten, daß wir fie ganz bejonders 
lieb und wert halten.“ 

In diefem Augenblid erflang ein Hornfignal, 
und einige jechzig Jünglinge und Jungfrauen flogen 
im Wettlauf an uns vorüber, Während fie liefen, 
wurde auf dem Horn eine nervenanregende Weile 
geblafen. Was mic aber jehr wunderte, war, daß 

„alle faft zugleih das Ziel erreichten, ba die Teil 
nehmer am Wettlauf dod nicht befonders dazu ein= 
geübt waren, jondern nur aus der Gruppe beitanden, 
welche heute an ber Reihe war, im Programme ber 
Uebungen den Wettlauf auszuführen. Wenn zu meiner 
Zeit eine fo zufammengewürfelte Schar um die Wette 
lief, waren einzelne auf der ganzen Länge der Bahn 
vom Ziel bis zur Mitte verzettelt, und bie meiften 
famen nicht über die Mitte hinaus, 

„Edith ift als dritte angelommen,“ las ber 
Doktor von den Signalen ab. „Sie wird ſich doppelt 
freuen, daß fie ihre Sache jo gut gemadt hat, weil 
Sie dabei waren.” 

Das nächſte Ereignis war jehr merkwürdig. Auf 
einer hohen Plattform am äußerfien Ende bes 
Amphitheaters hatte ich eine Gruppe von Jünglingen 
bemerft, die irgend etwas vorbereiteten, und ich war 
geipannt, was fommen würde Plöhlih auf ein 
Trompetenfignal jprangen alle über den Rand ber 
Plattform hinunter, Ih ftieh einen Schrei bes 
Entjegens aus, denn der Sprung fonnte ihnen das 
Leben koſten. 

„Nur keine Sorge,” fagte der Doktor lachend, 
und im nächſten NAugenblid ftarrte ih einer Menge 
junger Leute nad, die fünfzig Fuß hoch über der 
Rennbahn durch die Luft flogen. Dann folgten Wett« 
kämpfe im Ballwerfen und Schießen. 

„seht verftehe ich, weshalb die Frauen bei euch 
eine jo breite Bruft und breite Schultern haben,” 
jagte ich. 

„Das haben Sie aljo bemerft?* rief der Doktor. 

„Gewiß habe ich bemerkt, daß heutzutage bei den 
Frauen der Oberkörper jo kräftig entwidelt ift, wie 
es zu meiner Zeit nur höchſt jelten vorlam.” 

„Dann wird ed Sie ohne Zweifel intereffieren, 
zu jehen, wie Ihre Wahrnehmung ſich beftätigt. Wir 
wollen das Amphitheater eine Weile verlajjen und 


Edward Bellamp. 


uns in die Anatomiefäle begeben. Für einen be 
geifterten Anatomen wie mich ift es ein beſonderer 
Glücksfall, wenn er einen empfänglichen Schüler hat, 
dem er zeigen lann, weldyen Einfluß unfer Prinzip 
der jozialen Gleichheit und der beften Gelegenheit 
zur Ausbildung für alle auf die Vervolllommmung 
des menſchlichen Körpers und befonbers bes Franen- 
förpers gehabt hat. Ich fage, beionders des Frauen- 
förpers, weil dieſer früher ganz verkehrt behandelt 
wurde, ald hätten die Frauen fein Recht auf Lebens⸗ 
genuß. Hier ift eine Anzahl Gipsfiguren, die nad 
ben anthropometriihen Mefjungen gefertigt find, 
welde uns die Sachkundigen der Ichten Jahrzehnte 
des neunzehnten Jahrhunderts, denen wir zu großem 
Dank verpflichtet find, hinterlafien haben. Sie jehen 
an diejen Figuren, daß oberhalb der Taille eine 
Neigung zu verfümmerter, unvolllommener Enttwid- 
lung beitand, während ſich unterhalb derſelben eine 
übermäßige Fülle zeigte. Die Geftalt machte ben 
Eindrud, ald wenn fie geſchmolzen wäre, wie Zuder- 
guß bei warmem Wetter, und ſich unten alles ge= 
fammelt hätte. Sehen Sie, die vordere Breite der 
Hüften ift thatjählich größer als die Schulterbreite, 
während fie einen bis zwei Zoll Heiner fein jollte, 
Damals Hatte die Figur Aehnlichkeit mit einer 
Zwiebel, wozu nod) die maflenhaften bauſchigen Ge— 
wänder beitrugen, welche eure Frauen fih um Die 
Hüften banden.” 

Bei feinen Worten ſah ich zu dem fleinernen 
Geficht der weiblichen Figur empor, deren Reize der 
Doktor jo geihmäht hatte. Mir ſchien, ala ob fie 
mid) aus ihren leeren Augen mit einem vorwurfs« 
vollen Blide anfchaute, und das Herz jagte mir, daß 
fie ein Recht dazu hatte. Ich war ja ein Zeitgenofje 
dieſer Frauentypen gewejen und verbankte ihren 
ihönen Augen alles, was das Leben lebenswert 
machte, Ob nad) modernen Anfichten ihre Schön- 
heit volllommen war oder nicht, fie hatten den Ein⸗ 
fluß des ewig Weiblichen auf mich geübt und mir 
die heiligen Geheimniffe der Natur enthüllt. Kein 
Wunder, daß dieje fleinernen Augen mich vorwurit- 
voll anfahen, denn durch mein Schweigen gab ich 
dem Manne eines andern Zeitalter recht, welcher 
bie Reize läfterte, die mich jo glücklich gemacht hatten. 

„Stil, Doktor, ſtill!“ rief ih aus. „Sie haben 
gewiß recht, aber mir ziemt es nicht, folde Worte 
zu hören.“ 

Sch Konnte feinen Ausdrud finden, um ihm zu 
erklären, was mir das Herz bewegte, aber ed war 
auch nicht nötig. Der Doltor verftand mid, und 
feine jcharfen grauen Augen leuchteten, al& er mir 
die Hand auf die Schulter legte. 

„Recht jo, lieber Freund,” jagte er. „Es freut 
mich, daß Sie fo jprechen, und Edith wird Sie audh 
nur deſto lieber haben, denn heutzutage hält jede 


Gleichheit. 


Frau etwas auf die Ehre der andern, was zu eurer 
Zeit wohl nicht jo der Fall war. Aber ich glaube, 
wenn hier im Zimmer die abgejhiedenen Geifter 
jener Frauen zugegen wären, fie würden fi am 
allermeiften freuen, daß die Freiheit jetzt jo viel 
ihönere und weitere Tempel gebaut hat, in denen 
die Seelen ihrer Töchter wohnen fünnen. 

„Nun jehen Sie," fügte er Hinzu, indem er auf 
eine andre Figur deutete; „dies iſt die typiſche Frauen⸗ 
geftalt der Gegenwart. Stein deal, jondern nad 
den Durchſchnittsmaßen gebildet, die wir zum Zwecke 
wifienjchaftlicher Vergieihung genommen haben. Sie 
werden gleich bemerken, daß dieje Figur zwei Zoll 
größer ift als die erſte. Und nun fehen Sie dieſe 
Schultern an! Sie haben im Berhältnis zur Hüft- 
weite zwei Zoll an Breite gewonnen, wenn man fie 
mit der Figur vergleicht, die wir vorhin geprüft 
haben. Dagegen ift die Gürtelweite über den Hüften 
größer, und dieje haben eine fräftigere Muskulatur. 
Die Bruft ift anderihalb Zoll breiter, während das 
Maß des Leibes reichlich zwei Zoll mehr beträgt. 
Dieje Zunahme in den Verhältniſſen ift bedeutender, 
als fie durch die größere Länge der Geftalt bedingt 
wäre. Was nun gar das Muslelſyſtem anbetrifft, 
jo jehen Sie, daß der Unterſchied gegen früher 
enorm ift. 

„Wie erflärt ſich aber diefe Erjcheinung? Sie ift 
einfach die Folge des freien, vollen, fejjellojen phy— 
ſiſchen Lebens, das bie wirtjhaftliche Gleichheit den 
rauen zum Geſchenk gemadt hat. Damit fich die 
Schultern, Arme, Beine, Schenkel und überhaupt 
der ganze Körper entwideln fann, muß der Menſch 
Bewegung haben — nicht eine mäßige und leichte, 
ſondern eine jolche, die mit lebhajter Anftrengung 
verbunden ijt und regelmäßig ausgeführt wird, nicht 
nur zeitweife. Die Vorſehung erläßt den frauen 
die Kraftübungen nicht, durch welche die Männer 
ihren Körper gejtählt und ausgebildet haben. Aber 
eure frauen hatten Hiervon feine Ahnung. Jahr« 
hundertelang war ihre Thätigfeit auf zahlloje fleine 
Aufgaben beichräntt geweſen, welche Körper und 
Geift zwar aufs äußerſte ermüdeten, bei denen aber 
die Lebenskräfte nicht angeregt und daher auch nicht 
gefteigert wurden. Seit undenklichen Zeiten war ber 
Knabe mit feinem Bater auf die Jagd gegangen, 
hatte das Feld bebaut oder mit andern Jünglingen 
jeine Kraft im Ringfampf geitählt, während das 
Mädchen zu Haufe blieb und jpann. Bis zum fünf: 
zehnten Jahr durfte fie an den weniger unterhaltenden 
Spielen ihres Bruders teilnehmen, jobald fie aber 
erwachjen war, hatte jede lebhafte Bewegung im 
Freien für fie ein Ende. Was mußten die unaus- 
bleiblihen Folgen jein? — Ein verfrüppelter, ges 
ihwächter Körper und unaufhörliches Kränteln, Man 
muß jih nur wundern, daß nad) jo langer Unter- 


885 


drüdung und jo verfehrter Behandlung der mweib- 
liche Körper für die freiere Entfaltung, die ihm das 
vergangene Jahrhundert gejtattete, noch empfänglich 
war, wovon feine große Veränderung in verhältnid« 
mäßig kurzer Zeit der befte Beweis ift.“ 

„Wir haben doch aber auch viele jchöne Frauen 
gehabt; wenigften® zweifelten wir nie an ihrer phy= 
fiiden Volllommenheit,“ jagte ic. 

„Das war jehr natürlid. Sie find gewiß; auch 
jo vollfommen geweſen, wie ihr glaubtet,* erwiderte 
der Doltor, „Diefe Frauen waren eben ein Beijpiel 
davon, wozu die Natur das ganze Geſchlecht beftimmt 
bat. Aber habe ich nicht recht, wenn ich ſage, daß 
Kränflichkeit bei euern rauen ein ganz allgemeiner 
Zuftand war? Wenigftens erfehen wir das aus den 
Regiſtern der damaligen Zeit. Nach diejen zu ur— 
teilen, beftand die Prari$ der Aerzte zu vier Fünfteln 
in der Behandlung von Frauenkrankheiten, und dabei 
ichienen ihre Huren den frauen herzlih wenig zu 
helfen. Das muß id) jagen, troßdem ich über meinen 
eignen Stand feine hämiſchen Bemerkungen machen 
jollte. Solange die Anſchauungen und Sitten, 
welche die Frauen in jeder Weile behinderten, nicht 
abgeſchafft wurden, konnten die Aerzte auch wirklich 
nichts thun — das wuhten fie wahrſcheinlich.“ 

„Leider haben Sie im ganzen recht,“ erwiberte 
ih. „Ih muß jogar geftehen, daß ein berühmter 
Schriftſteller damals der allgemeinen Anſicht Aus— 
druck gab, als er ſagte: ‚Schwächlichleit ſei der nor— 
male Zuſtand der Frau‘.” . 

„Ih erinnere mich, das gehört zu haben. Was 
für ein bejhämendes Gejtändnis, daß es eurer 
Zivilifation unmöglich geweſen ift, der Hälfte des 
Menſchengeſchlechts aud) nur die erjte Grundbedingung 
des Glüdes zu gewähren! Die Schwädlichleit der 
frauen war eine der traurigften Erfcheinungen eures 
Zeitalter und ihre Erftarfung ein wichtiges Element 
bei der allgemeinen Verbreitung des Glüdes, welches 
die wirtichaftlihe Gleichheit den Menichen gebracht 
hat. Bedenlen Sie, was es jagen will, daß Die 
Welt der frau, die eine Welt der Seufzer, der 
Thränen und des Leidens war, jeht jo verwandelt 
iit, dab Frohſinn und Heiterkeit, überſchäumende 
Luft und Kraft die Lebensluft find, in der unjre 
Frauen atmen |” 

„Eins ift mir aber noch nicht ganz klar,“ ſagte 
ih. „Wenn ich auch fein Arzt bin und nicht mehr 
von ſolchen Dingen weiß, als man bei jedem jungen 
Manne vorausjegen lann, jo hatte ich doch den alle 
gemeinen Gindrud, als ob die Kraftloſigkeit und 
Zartheit der weiblichen Konftitution ihre Gründe in 
einer gewiſſen natürlichen Schwäche des ganzen Ge— 
jchlechtes gehabt hätte.” 

„sa, ich weiß, daß damals allgemein die Anficht 
berrichte, die förperlihe Beichaffenheit der Frau 


886 


verurteile fie zu Siehtum und Freudloſigleit; auch im 
beiten Fall könne ihr Leben in phyſiſcher Hinficht nur 
tümmerlich fein. Eine verderblichere Läfterung der 
Natur hat e8 mie gegeben! Keine natürliche Yunktion 
jollte andauernde Leiden oder Krankheit verurfachen, 
und wenn es doch geichieht, muß man vernünftiger- 
weife den Schluß ziehen, daß ungefunde Lebende 
verhältnifje daran die Schuld tragen, Die Orientalen 
fanden in der Sage vom Parabiesapfel und dem 
Fluch, der auf Eva lajtete, eine Erflärung für alle 
Gebrehen und Schmerzen, welde in Wirflichfeit 
nicht Gottes Zorn, fondern ein von Menſchen er- 
fundenes Gefeh den Frauen auferlegt hat. Wenn 
ihr annehmt, daß diefe Schmerzen und Gebrechen 
untrennbar mit der phyfiichen Konftitution des Weibes 
jujammenbängen, dann bleibt euch freilich nichts 
andres übrig, als diefe Sage für hiſtoriſche Wahr: 
beit zu nehmen, Aber es gab auch zu eurer Feit 
ſchon viele Beifpiele davon, wie ganz anders ſich der 
weibliche Körper unter andern Verhältniſſen und in 
andrer Umgebung entwideln konnte, Ein vorurteils- 
loſes Gemüt vermochte ſich leicht Davon zu überzeugen, 
daß volllommen gejunde Berhältniffe, wenn fie lange 
genug andauerten, die Kraft und MWiderftandsjähig- 
feit der frauen auf eine jo hohe Stufe heben würden, 
daß von einer angeborenen Schwäche des Geſchlechts 
nicht mehr die Rebe jein fonnte und die Beihuldigung 
der lingerechtigfeit gegen das Weib, durch die man 
die Ehre ihres Schöpfers beleidigte, für immer ver 
ſtummen mußte,“ 

„Wollen Sie etwa behaupten, daß die Muiter- 
ſchaft jegt feine Gefahr und feine Schmerzen mehr 
mit fi bringt?” 

„Sie wird jeht als ein Vorgang angejehen, der 
weder bei der Geburt jelbft, noch durd ihre Folgen 
zu irgend welchen Sorgen Veranlaffung giebt. Was 
aber die andern körperlichen Zuftände betrifit, von 
denen eure klugen Männer jo viel Weſens machten, 
weil jie ihnen zum Vorwand dienten, um die frauen 
in Unmündigfeit zu erhalten — die haben längjt 
aufgehört, eine Störung des körperlichen Wohl« 
befindens zu jein. 

„Und dieje Wiederherftellung der weiblichen Körper- 
frajt hat noch lange nicht ihr Ende erreicht. Während 
die Männer jeht noch bei gewiſſen athletiichen 
Leiftungen den Borrang haben, glauben wir, daß 
jpäter beide Geſchlechter auf derjelben Stufe jtehen 
werben, daß fein größrer Unterſchied zwiſchen ihnen 
jein wird als zwijchen einem Individuum und dem 
andern.“ 

„IH babe noch eine Frage auf dem Kerzen,“ 
jagte ih, „die bei Ihrer Schilderung von dieſer 
wunderbaren Wiedergeburt der Frau in mir aufe 
geftiegen ift. Wie Sie jagen, ift die Frau phyſiſch 
jeht ſchon faft gleichwertig mit bem Manne, und eure 


Edward Bellamp. 


Phyſiologen erwarten, daß fie nad) einigen Genera- 
tionen ihm auf allen Gebieten ebenbürtig fein wird, 
Das heißt doch — wenn ich nicht irre — daß fie 
im normalen Zuftand von jeher ſeinesgleichen ge 
wejen ift und nur die ungünftigen Bedingungen 
ihres Lebens den Schein hervorriefen, als fei fe 
Ihwäder als der Mann.” 

„Ganz gewiß.“ 

„Wie können Eie fih denn aber die Thatfade 
erklären, daß fie in allen Ländern und zu allem 
Zeiten, foweit die Geihichte zurüdreicht, ihm unter- 
than und dienftbar geweſen ift, mit nur jehr wenigen, 
unverbürgten Ausnahmen? Wenn fie je ſeinesgleichen 
war, warm bat fie aufgehört, e8 zu fein, und zwar 
dauernd und an allen Orten? Wenn ihre allgemeine 
Mißachtung auf Geſetze zurüdgeführt wird, welde 
Männer erdacht haben, warum hat fie fich nicht 
gegen diefe Gejeke aufgelehnt, da fie ihnen doch an 
Körperfraft glei) war? Eine philoſophiſche Theorie, 
die fih damit beſchäftigt, wie ein Zufland aufhören 
jol, müßte fih auch damit befallen, wie er ent: 
ftanden iſt.“ 

„Da haben Sie jehr recht,“ erwiberte der Dolter, 
Ihre Frage trifft den Nagel auf den Kopf. Die 
jenigen, welche ber Ueberzeugung find, daß bie Ftau 
einftmals dem Manne an Körperfräften volllommen 
gleich fein wird, ſetzen natürlich voraus, daß fie vor 
Zeiten ebenjoviel Kraft gehabt hat wie er, und müſſen 
nad) einer Erflärung juchen, wodurch fie derjelden 
verluftig gegangen ift. Nehmen wir einmal an, daß 
zu irgend einem Zeitpunkt in der Vergangenheit 
Mann und Frau gleich ftarf waren, fo bliebe doch 
immer noch ein großer Unterſchied zwiſchen ihnen 
ala Vertreter der beiden Geſchlechter. Der Mann 
fann fi aus Leidenihalt der Frau gegen ihren 
Willen bemächtigen, jobald er fie bezwingen fanı; 
die Frau vermag dad nicht, jelbjt wenn fie es wollte 
und zehnmal ſtärker wäre als er. Ich Habe olt 
darüber nachgedacht, was der Zweck diejer angeborenen 
Verſchiedenheit geweſen jein mag, aus meldjer in 
früheren Zeiten die grenzenloje Tyrannei des männ— 
lichen Geſchlechts entiprang, die fich jept, Gott jei 
Dant, für immer in gegenjeitige Wertſchähung ver 
wandelt hat. Mir ſchien, ala hätte die Natur auf 
diefe Weile die Fortdauer des Menſchengeſchlecht 
ſicher jtellen wollen; denn es gab Perioden in jeiner 
Entwidlung, in denen das Leben faum der Mühe 
gelohnt hätte, ohne die Hoffnung auf befjere Zeiten 
für fpätere Geſchlechter. Die Natur erreichte ihren 
Zwed dadurd), daß fie demjenigen Teil die Möglid: 
feit des Angriffs verlieh, welcher am mwenigften von 
deifen Folgen zu leiden haben würde, Es war fan 
edler Kunftgriff, möchte man fagen, defjen ſich hier 
die Natur bediente, aber er erfüllte feinen Zwed. 
Ohne ihn wäre das Menſchengeſchlecht wahrſcheiulich 


a, — = 3 





Gleichheit. 


in folden dunkeln, hoffnungsloſen Zeiten ausge» 
ſtorben; denn ein natürliches und vernünftiges 
Widerfireben hätte das Geichlecht, welches die Kinder 
zur Welt bringt, davon zurüdgehalten, eine jo ſchwere 
und jcheinbar unnüße Laft auf fich zu nehmen, 
„Aber jehen wir ung die Frage noch näher an: 
Wenn auch Dann und Frau in einem früheren Zeit 
alter gleich ſtark gewejen find, jo gab e8 doch immer 
noch einen Unterſchied zwiichen den Individuen. In 
beiden Geſchlechtern gab e8 Stärfere und Schwädhere, 
Einige Männer waren jtärfer ald manche frauen, 
und ebenfo konnte es Frauen geben, die jtärker waren 
als manche Männer. Nun gut: es iſt Ihnen befannt, 
daß im Altertum die allgemeine Sitte herrſchte, ſich 
ein Meib zu rauben; und jehr wahrjcheinlid ift in 
primitiveren Seiten noch häufiger von der Gewalt 
Gebraud; gemacht worden. Das ftarfe Weib fonnte 
nichts dabei gewinnen, wenn es fich einen ſchwächeren 
Mann raubte, deshalb verfolgte e& ihn nicht. Da— 
gegen war e8 für ftarfe Männer jehr vorteilhait, 
ein ſchwächeres Weib zur Gefangenen zu machen und 
zu behalten. Sie vermieden die ftarfen frauen, die 
ihrem Willen widerjtanden hätten und wählten zu 
ihren Genofjinnen die ſchwächeren, die ihnen feinen 
Widerftand entgegenfegten. Die ſchwächeren Männer 
fanden es verhältnismäßig ſchwer, ſich überhaupt eines 
Weibes zu bemädhtigen und hatten infolgebeflen weniger 
Nachkommenſchaft. Verftehen Sie, was ich meine?“ 
„Sa, die Sache ift ziemlih klar. Sie wollen 
damit jagen, daß ſowohl die ftärferen fyrauen als 
die ſchwächeren Männer mit der Zeit ausfterben 
mußten, und daß bie überlebenden Typen flarfe 
Männer und ſchwache Frauen fein würden,“ 
„Genau jo. Wenn Sie fi nun vorftellen, da 
durch die Fortdauer dieſer Zuftände der Unterſchied 
in der phyſiſchen Kraft beider Geſchlechter ſchon vor 
Beginn der Ziviliſation volllommen feitfland, fo 
folgt das übrige von jelbft. Das zur Herrſchaft 
gelangte Geſchlecht wollte natürlich fein Uebergewicht 
behalten und womöglid vermehren, und die mit ber 


887 


Zeit völlig unterjochten Frauen fingen an, ihr Schick⸗ 
ſal als natürlic), unvermeidlich und von Gott ge» 
wollt geduldig hinzunehmen. So ging es weiter, 
bis die Welt am Ende des vorigen Jahrhunderts 
zum Bemwußtiein erwadhte, daß es notwendig und 
möglich ſei, die menſchliche Gejelihaft auf einer 
moraliichen Grundlage zu reorganifieren, deren erjtes 
Prinzip die gleiche Berechtigung zur fFreiheit und 
der gleiche Wert aller Menſchen fein jollte. Seitdem 
haben die Frauen angefangen, ihre urfprünglichen 
Kräfte zurüdzugemwinnen, und in nicht zu ferner Zeit 
werben fie phyſiſch auf derjelben Höhe ftehen wie der 
Mann,“ 

„Mir fällt etwas Schredliches ein,“ ſagte id). 
„Wenn num die Frauen ſchließlich dem Manne nicht 
nur gleihlommen, jondern ihn an leiblihen und 
geiftigen Fähigkeiten überragen — werden fie diejen 
Vorteil dann nicht ebenfo rückſichtslos ausnutzen wie er?“ 

Der Doftor lahte. „Ich glaube, daß Sie fi 
darüber feine Sorgen zu machen brauchen, Nicht 
deshalb, weil die Frauen eine jolhe Macht weniger 
mißbrauchen würden, jondern weil jet das ganze 
Menichengejchlecht nad einer fittlihen Höhe ftrebt 
und fie zum Teil jchon erreicht hat, auf der nur noch 
geiftige Kräfte alle Dinge beherrichen, fo daß die 
Frage der förperlichen Ueberlegenheit im Verhältnis 
der Menfchen zu einander feine Rolle mehr ſpielt. 
Bereits jeßt wird die Gewalt und die Führerſchaft 
unter den Menſchen denen in die Hände gelegt, welche 
die größte Seele haben, das heißt denen, welche im 
Geiſt dem ‚Höheren Ih‘ am nächſten ftehen. Das 
allein ift jchon ein vollfoinmener Schub gegen den 
Mißbrauch der Gewalt zu ſelbſtſüchtigen Zweden.” 

„Das ‚Höhere Ich’? Was bedeutet der Ausdruck?“ 
fragte id. 

„Es ift eine unfrer Bezeichnungen für die Seele 
und für Gott,“ erwiderte der Doktor. „Aber dies 
Thema ift zu erhaben, als daß ich jet näher darauf 
eingehen möchte.“ 

(Fortfehung folgt.) 


—— — —⸗ e ⸗ 


Kin Wunfd. 
Bon Ginfeppina Milli. 
Aus dem talienifchen überfegt von Otto Saufer. 


Auf Adlersflügeln möchte ich 
Auf hellſten Lichtes Spuren 
Den Geift erheben, wandeln dann 
Auf weiten Bimmelsfluren; 

Daß ich im freien Aetherraum 
für Augenblicke lebte 
Und felig an dem Bufen der 
Unendlichkeit erbebte. 


© dürft’ ich einen Stern mir doch 
Sur Wohnung dann erfiefen! 

Den Morgenftern? — O niminermehr 
Erwählte ich mir diejen. 

In eines Sternes Schof, den noch 
Kein fterblih Aug’ ermeffen, 

Dort wollt’ ich weilen ganz allein, 
Vergeſſend und vergeſſen. 


erg i 


Die Wölfin, 


Skizze von 


Giovanni Verga. 


Aus dem Italienifchen überfeßt von E. v. Sopffaarten, 


Die war groß und bager; nur ihre Brufi war 
feit und üppig, im übrigen war fie nicht mehr jung; 
fie mar bleich, ala ob fie beftändig von ber Malaria 
beimgefucht würde, und aus diefem bleichen Geficht 
leuchteten zwei große Angenfterne und ein Paar 
frifcher roter Lippen, die jeden zu verſchlingen drohten, 

Im Dorfe nannte man fie die Wölfin, weil fie 
nie und von nichts genug befommen konnte. Die 
Frauen fchlugen das Kreuz, wo fie mit jpähendem 
Blick und ſcheuem, unheimlihen Weien, einer hungris 
gen Wölfin gleich, vorüberihlih. Sie quälte ihre 
Männer und ihre Kinder im Handumdrehen zu Tode, 
und dennod mußten fie ihr folgen, wenn fie mit 
diejen Teufeldaugen fie anſah, jelbft wenn fie vor dem 
Altar der heiligen Agrippina auf den Knieen lagen. 
Zum Glück aber fam die Wölfin nie zur Kirche, 
weber zu Oftern noch zu Pfingften,, weder um bie 
Meſſe anzuhören no um zu beichten. 

Pater Angiolino von der Gemeinſchaft Jeſu, ein 
ehrbarer Diener Gottes, hatte jein Seelenheil um 
jie verloren. 

Marichia, die Aermfte, ein gutes braves Mäd— 
hen, meinte fich im ftillen die Augen aus, weil fie 
die Tochter der Wölfin war und feiner fie deshalb 
zur Frau wollen würde, troßdem fie eine ſchöne Aus- 
fteuer im Schrein und ein großes Stüd Feld beſaß 
wie jedes andre Dorfmädden. 

Eines Tages verliebte ſich die Wölfin in einen 
bildihönen Burfchen, der von den Soldaten heim» 
gefehrt war, aber was man fo recht fich verlieben 
nennt. Sie verſchlang ihn mit den großen, brennen⸗ 
den Augen und empfand ein Verlangen, dem Durft 
gleich, den man in der Junihige um die Mittags- 
ftunde in der fchattenlofen Ebene verjpürt. Der aber 
fuhr, den Blick auf die Handhaben feiner Senfe ge— 
richtet, unbeiert zu mähen fort und jagte nur: 

„Was habt Jhr denn, Gevatterin Pina ?* 

In den unabjehbaren fFeldern, wo man weit und 
breit außer dem Flügelichlag der Grillen feinen Laut 
vernimunt, wenn die Sonne jo glühend herniederprallt, 
jchleppte die Wölfin Bündel auf Bündel zufammen, 
häufte Garben auf Garben, ohne je müde zu wer« 
den, ohne fih nur einen Augenblid aufzurichten, 


ohne einen Zug aus ber Flaſche Weines zu thun, 
nur um ſich Nanni an die Ferſen heiten zu können. 
Der aber mähte und mähte und fragte fie von Zeit 
zu Zeit: 

„Was wollt Ihr, Gevatterin Pina?” 

Eines Abends fagte fie es ihm, als die Männer, 
müde von ihrem Tagewerf, in der Tenne jchlummerten 
und das Geheul der Hunde in das dunkle, endloſe 
Laud hinausdrang: „Did will ih! Did, der du 
ihön bit wie die Sonne und janft wie Honig! 
Di will ich!“ 

„So! Ich aber will Eure Tochter, die nod ein 
Kälbchen ift," antwortete Nanni lachend, 

Die Wölfin raufte fi) das Haar, fahte fd an 
die Schläfen, ohne ein Wort zu fagen, und ging 
davon, erſchien auch nicht wieder in der Tenne. Aber 
im Oltober, zu der Zeit, wo das Del gepreßt wurde, 
begegnete fie Nanni wieder, weil er gerade neben 
ihrem Haufe Arbeit that, und das Knarren der 
Preſſe ließ fie die ganze Nacht kein Auge zuthum. 

„Nimm den Dlivenfad und fomm mit mir,’ 
fagte fie zur Tochter. 

Nanni ſchob mit der Schaufel die Dliven unter 
den Mühljtein und jhrie dem Maultier „Hüb!” m, 
damit e8 nicht ftehen bleibe. 

„Willſt du meine Tochter Maricchia haben!“ 
fragte ihn Gevatterin Pina. 

„Was gebt Ihr denn Eurer Tochter Marichie 
mit?” antwortete Nanni. 

„Sie hat die Sachen ihres Vaters, und auftr 
dem gebe ich ihr mein Haus; mir genügt es, wenn 
ihr mir einen Winfel in der Küche laßt, auf dem ih 
mir etwas Stroh ausbreiten kann.“ 

„Wenn es jo fteht, dann wollen wir Weihnadten 
wieder davon reden,“ jagte Nanni. Er war ganj 
fettig und fhmußig bon dem Del und dem Oliven, 
die er bearbeitete, und Marichia wollte ihn wm 
feinen Preis; aber ihre Mutter zerrte fie am den 
Haaren vor den Ofen und zijchelte ihr zwiſchen den 
Zähnen zu: „Wenn du ihn nicht nimmt, dann fit: 
ich dich!” 

Die Wölfn wurde faft krank, und die Leute be 
gannen von ihr zu fagen, daß der Teufel im Akt 


Die Wölfin 


zum Ginfiebfer werde. Sie ſchlich nicht mehr um- 
ber; fie fehte fich nicht mehr wie fonft mit uns 
heimlich glänzenden Augen auf die Schwelle. Wenn 
fie ihren Schwiegerfohn mit diefen Augen jo ſtarr an— 
ſah, dann ladjte er und zog das Madonnenbildchen 
aus dem Wams hervor, um ſich damit zu befreuzigen. 
Marichia blieb zu Haufe, um die Kinder groß zu 
ziehen, und ihre Mutter ging ins Feld, um dort 
mit den Männern wie ein Mann zu arbeiten; fie 
grub, fie hadte, fie hütete das Vieh, fie beſchnitt die 
Weinſtöcke; mochte auch der Ichärffte Nordwind im 
Januar oder der heißeſte Siroffo im Auguſt wehen, 
bei dem die Schafe die Köpfe zu Boden hängen 
ließen und die Männer an der Nordfeite der Mauer 
im Schatten auf dem Bauche jchliefen. Zu der 
Stunde zwijchen Veſper und Abendläuten, in der 
feine ehrliche frau umberjtreift, war Gevatierin Pina 
die einzige lebende Seele, die man durch das Land 
über die ſonnenglitzernden Pflafterfteine des Hohl- 
weges, zwijchen den verborrten Stoppelfelbern irren 
jah, welche fi in unabiehbare Fernen hinzogen, bis 
dahin, wo der Aetna ſich in zarte Nebeljchleier hüllt 
und wo Himmel und Erbe zu einer Linie ber 
ihwimmen. 

„Bach auf!“ jagte die Mölfin zu Nanni, der 
im Graben neben der ftaubigen Hede mit dem Kopf 
auf dem Arm jchlief. „Wach auf, ich habe dir Wein 
mitgebradht, um dich zu erfrifchen.“ 

Als Nanni fie zwifchen Wachen und Träumen 
jo bleih mit dem mächtigen Buſen und den fohl- 


ſchwarzen Augen vor ſich ftehen ſah, riß er die jchlafe | 


trunfenen Augen weit auf und taftete mit den Hän— 
den um ſich. 

„Nein! Eine ehrliche Frau geht nicht zwiſchen 
Veiper und Abendftunde umher!“ ftöhnte Nanni, 
das Gefiht in das trodene Grad des Grabens 
drüdend und ſich mit den Händen dur das Haar 
fabrend. „Geht, geht! Und kehrt nicht wieder in 
die Tenne zurüd,“ 

Sie ging wirkliih, die Wölfin. Sie wand ſich 
die wunderbaren Flechten wieder um den Kopf und 
ſchaute ſtarr mit den kohlſchwarzen Augen vor ſich 
ber auf den Weg, ber zwiſchen den ſonnendurch— 
wärmten Stoppeln dahinführte. 

Aber fie tehrte dennoch oft in die Tenne zurüd, 
und Nanni fagte nichts. Und wenn fie fich zwiichen 
Beiper und Abendftunde veripätete, erwartete er 
fie auf der Höhe des weißgligernden, verlaffenen 
Weges, mit vor Schweiß periender Stirn; und her— 
nad raufte er fich die Haare und wiederholte jedes- 
mal: „Geht, geht! Kehrt nicht wieder in die Tenne 
zurüd !” 

Marichia weinte Tag und Nacht und ſchaute 
der Mutter, jept felbit einer jungen Wölfin gleich, 
mit den vor Thränen und Eiferfucht glänzenden 

Aus fremden Zungen. 1897. IL. 10, 





889 


Augen ftarr ins Antlig, jo oft fie dieſe bleich und 
ftumm von den Feldern heimlehren jah. 

„Ruchloſe!“ jagte fieihr. „Mutter, du Ruchloſe!“ 

„Schweig !* 

„Diebin, Diebin !” 

„Scmeig!“ 

„Ih gehe zum Brigadiere, verlaß did darauf!” 

„Geh hin!“ 

Und fie ging wirflih, das Söhnden auf dem 
Arm, ohne Furcht zu empfinden, ohne eine Thräne 
zu vergießen, einer Verrüdten gleich, denn jetzt liebte 
auc fie dieſen Gatten, der ihr zur Erntezeit, vor 
Schmutz und Fett ftarrend, aufgedrungen worden 
wat. 

Der Brigadiere lie Nanni rufen und drohte 
ihm mit Galeere und Zwangsarbeit. Nanni ſchluchzte 
und raufte fi das Haar; er leugnete nichts und 
verfuchte nicht, fich zu entſchuldigen. „Es ift bie 
Verſuchung!“ ſagte er; „es ift die hölliſche Ver— 
ſuchung!“ Er warf fi dem Brigadiere zu Füßen 
und flehte, er möge ihn auf die Galeere bringen 
lajien. 

„Um der Barmderzigfeit willen, Herr Brigadiere, 
entreißt mic dieſer Hölle! Laßt mich töten, jchidt 
mid ins Gefängnis! Nur laßt mid fie nie, nie 
mehr wiederiehen !* 

„Nein,“ erwiderte die Wölfin dem Brigabiere. 
„I babe mir einen Winkel in der Küche ala Nadht- 
lager vorbehalten, als ich ihm mein Haus zur Mit- 
gift gegeben habe! Ich will nicht weichen!” 

Bald darauf befam Nanni von dem Maultier 
einen Tritt vor die Bruft und war nah’ am Tode; 
aber der Pfarrer meigerte fi, ihm das Abendmahl 
zu bringen, wenn bie „Wölfin” nicht das Haus ver» 
laſſe. Die Wölfin ging, und nun fonnte aud) 
ihr Schwiegerfohn ſich wie ein guter Chrift zur lekten 
Reife vorbereiten. Er beichtete und nahm das Abend- 
mahl mit folder Reue und folder Ergriffenheit, daß 
alle die Nachbarn und Neugierigen vor dem Bette 
des Sterbenden weinten. 

Und es wäre ihm auch beſſer geweien, wenn er 
zu jener Zeit geftorben wäre, ehe der Teufel mwieder- 
fehrte, um ſich nad feiner Genefung aufs neue in 
Leib und Seele feitzuniften. „Laßt mich in Frieden!“ 
jagte er zu der Wölfin; „ich flehe Euch an, laßt 
mich in Frieden. Ich babe dem Tode ins Antlik 
geichen! Die arme Maricchia ift verzweifelt. Jetzt 
weiß es das ganze Dorf! Für mid) und Euch it 
es beiler, wenn wir uns nicht mehr ſehen ...“ 

Und er hätte fi) am liebften die Nugen aus dem 
Kopfe geriffen, um die der Wölfin nicht jehen zu 
müſſen, wenn jie ſich jo ftarr auf ihn richteten, daß 
er darüber Leib und Seele verlor. Er wußte nicht 
mebr, was beginnen, um ſich von dem Zauber zu 
befreien! Er zahlte Meflen für die Seelen im fyege- 

112 


890 Giovanni Perga — Die Wölfin. 


feuer und flehte beim Pfarrer und beim Brigadiere | fommen ſah, hörte er auf, die Weinftöde un: 
um Hiüfe Zu Oftern ging er beichten und that | graben, und nahm die Art von der Ulme heruntır. 
öffentlich, auf den Kiefelfteinen vor der Kirche nieend, | Die Mölfin ſah ihn bleih und ftieren Blides auf 
Buße. Als dann die Mölfin ihn wieder in Ver ſich zufommen, jah die Art im Sonnenſchein blinten 
ſuchung führen wollte, fagte er: und ging, ohne einen Augenblid zu zaudern oder 
„Hört einmal! Kehrt nicht wieder in die Tenne | aud nur den Kopf zu neigen, ihm entgegen. Ju 
zurüd, denn fehrt Ihr wieder dorihin zurüd, um | den Händen Bündel roten Mohnes tragend, ſchien 
mich zu juchen, jo töte ich Euch, jo wahr Gott lebt!” | fie ihn mit den großen ſchwarzen Augen verichlingen 
„Zöte mich,” antwortete die Wölfin, „was liegt | zu wollen. 
mir daran? Aber ohne dich kann ich nicht leben!” „Hab! So fahrt deun zur Hölle!” fammelt 
Als er fie von weitem inmitten der grünen Saat | Nanni ... 








ee —— 


Nähen — Tiebchen. 
Bon Midael Tompa. 
Aus dem Ungarifchen überfeßt von Andor v. Sponer. 





Man ſpricht, mid; reizen Hymens Bande, ' Wie Glanzgefieder, bunt und wonnig 
Wei Gott, woher es fama nabm: Zeigt mir die Welt ihr Angeſicht; 
Faft jedes Mädchen hierzulande ' Die Tage find fo heil und fonnia, 
Befam mich ſchon zum Bräutigam. Die Nächte Tan und Mondenlicht. 

Ich muß darüber lächeln, fehe So dann und warn ein Küfichen, hajtig 
Jh aar fo thöricht aus? O nein! Geftohlen, iſt gar himmliſch fein. 

Caßt, Jungen, laßt mich mit der Ehe, Seht, Jungen, mit der Ehe laßt mid, 
Ein Mädchen foll nur Kiebchen fein! Ein Mädchen foll nur Liebchen fein! 
Ein £ieb....! das ftrahlt gleich Himmelslichtern, Die Mädchenblät', die ſüße Nelke, 

So ſonnig heiter alutenwarm. Ich ſteck' fie nicht auf meinen Hut, 
Dagegen eine Gattin, — nlchtern ı Um ewig dann and noch die welfe 
ft die Idee, wie falt, wie arm! ' Bu tragen, nein, das thut nicht aut. 
Iſt diefe bleih wie Scmee und cifig, ! Kein Riefelbadh, ein ftiller See wär’ 
Iſt jenes heißer Sonnenſchein: Ja dann mein Leben, kein Gedeihn. 
Sprecht nicht von Heirat, eines weiß ich: Drum, Jungen, ſprecht von keiner Eh' mehr, 
Ein Mädchen ſoll nur Liebchen ſein! | Ein Mädchen ſoll nur Liebchen fein! 


Wär' meine Frau wie eine Roſe 

So friſch, ich fenfzt’: o wär' fie blaß! 

Die braune wünſcht' ich blond, die große, 
Die möcht' ich klein, ich kenne das. 

Ach, gar ſo ſchwierig iſt's zu wählen, 

Da alle ſchön, ob groß, ob klein! 

Drum, Jungen, ſprecht nicht vom Vermählen, 
Ein Mädchen ſoll nur Liebchen fein! 


“ 
af 


Nein 


Erinnerung. 


Don 


A. Vlahutza. 
Aus dem Rumänifchen überfeht von W. Rudow. 


Es war ein jhöner Sommerabend, als ich von 
Prinfipo nad) Stambul zurüdiuhr. Ueber dreihundert 
Menichen waren auf dem Dampfer; ich fannte nie= 
mand, und unter diejer lärmenden, in zabliojen 
Spraden redenden Menge war mir's, als befinde 
ich mich in einem Tollhaufe oder ſei auf einen andern 
Stern verfdhlagen, von wo ich nie mehr zu den 
Meinigen würde zurüdfehren können. Ein einziger 
unter den Mitreijenden feijelte meinen Blid, jo daß 
ih ihn faſt ungebührlich lange anjah: ein hagerer, 
ihwarzhaariger junger Mann mit Brille, der mir 
am jelben Tiſche gegenüber ſaß und lad. Soviel ic) 
bemerfte, kannte auch er niemand. — ber wo habe 
ich dieſes Geficht ſchon gejehen? fragte ich mid, 
mir vergeblid dad Hirn zermarternd. Er mußte 
bemerken, daß ich ihn beobachte: zuweilen warf er 
mir über die Brille einen Blid zu, und dann jchlug 
ih ſchnell die Augen nieder, unangenehm berühtt, 
als hätte er meine Hand in jeiner Tajche gefaßt. 

Schließlich) wurde e8 mir zur Gewißheit, daß ich 
ihn Schon einmal geſehen. Aber wo und wann ? 
Nicht nur die Geſichtszüge waren mir befannt, jondern 
auch der eigentümliche Blid, die Art, wie er mit den 
Augen zwinferte und zumeilen die Brauen hoch 
emporzog, die weiße Hand mit den langen, dünnen 
Fingern, die Art und Weije, wie er das Bud) hielt, 
umblätterte, den Kopf in die Hand ftühte — alles 
das ließ im der Tiefe meines Bewußtſeins cin be— 
kanntes Bild wieder aufleben, das ſich bemühte, mir 
deutlich zu werden, jedoch vergeblich. Ach babe nicht 
die Gewohnheit, mit fremden Menichen ein Geſpräch 
anzufnüpfen, Ich ärgere mich, daß ich ein jo un— 
glüdfiches Gedächtnis habe, brenne vor Neugier zu 
willen, wer er ift, wage aber nicht zu fragen, 

Auf einmal fahre ich auf und blide ihm gerade 
ins Auge. Er bat fein Buch geſchloſſen und fieht 
mich ebenfall$ an. Ieht war e& nicht mehr anders 
möglich, als daß einer von uns das Geſpräch beginne. 
Unwillkürlich blidte ich auf das Bud, als das einzige 
Weſen, das uns beide faunte und im ſtande war, 
unſre Belanntihaft zu vermitteln. 

„Kennen Sie dies Buch?” fragte er franzöſiſch, 
mir Taines „Bemerkungen über England” weijend, 

Ich bejahte und beeilte mich, ihm zu erflären, 


weshalb ich ihn jo angeſehen: „Ich wei nicht warum, 
aber mir fommt es vor, als wären wir ſchon einmal 
zuſammengetroffen.“ 

„Auch ich habe dieſen Eindruck. Sie find nicht 
von hier?“ 

„Nein, aus Rumänien, und jet zum erjtenmal 
bier,“ worauf ich mic) vorftellte und erfuhr, daß er 
Omeros Lagi heiße, 

„Sind Sie nie in Athen gewejen?“ fuhr er fort. 

„Nein.“ 

„sn Smyrna?“ 

„Nein.* 

Seine Fragen fchienen meine Antworten voraus« 
zuſehen. 

„Auch ich bin nie in Ihrem Lande geweſen, und 
dennod) ift mir Ihre Geftalt, Ihr Blid, Ihre Stimme 
befannt. Ich bin Arzt in Smyrna und babe in 
Athen ftudiert.“ ’ 

Solange er redete beobachtete ich feine Füge, die 
Bewegungen des Mundes, die Geſtalt der Hände, die 
Warze an dem Meinen finger der Linken, ich laufchte 
feiner Stimme, deren Klang einen tieferen Eindrucd 
auf mich machte als feine Worte, und mein Staunen 
wuchs immer mehr. Wie fommt es, daß diejer Menid) 
jo genau dem Bilde entjpricht, das ich feit lange in 
mir trage? Warum läßt mic) jede jeiner Bewegungen, 
jeder Blid, jede Wandlung feiner Stimme erzittern 
wie das überraichende Erfafjen eines Gedankens, eines 
Vorgefühles? Woher ift mir fein Bild fo ganz und 
bolllommen in den Sinn gelommen? Ich muß ihn 
irgendwo gejehen haben, es iſt nicht anders möglich. 

Alles das ſage ich ihm. Er blidt mich lange 
überlegen an und jchüttelt lächelnd langjam den Kopf. 

„Nein, ich kann Sie verfihern, wir haben ums 
nie gejehen, in diejem Leben, verfteht ſich. Vielleicht 
haben wir voneinander geträumt. Im Traume tauchen 
öfter Erinnerungen aus einem unfrer früheren Leben 
auf; nicht nur Menſchen, fondern ganze verwidelte 
Ereigniſſe des Alltagslebens jcheinen uns Wieder: 
holungen früherer gleiher, Wo und wann wir fie 
gejehen? — Wir willen es nicht mehr. Gewiß ift 
uns dergleichen in früheren Lebensſtufen vorgefommen, 
jo dab ihr ferner, unbeitimmier MWiederhall noch jetzt 
im Grunde unfrer Seele nachklingt . . . 


892 


„Alles wiederholt fi, denn auch die Milliarden 
von Stoffverbindungen haben ihre Grenze; die Natur 
ermübet im Erfinden und muß auf ihre früheren 
Werte zurüdgreifen. Im Verlaufe der Ewigleit be= 
gegnen wir uns wieder nad) zehntauſend oder nad) 
zehn Millionen Jahren hier auf dem Dampfer zwiſchen 
Prinfipo und Konſtantinopel, werden uns ebenfo ans 
jeben, unfre Belanntjchaft erneuern und und wundern, 
daß wir nicht mehr wiljen, wo und warın wir uns ge= 
ſehen, und werden uns nicht mehr entjinnen, was wir 
heute find, wie wir uns heute nicht mehr entjinnen, 
was wir vor humderttaufend Jahren geweſen. 


„Ich will Ihnen hierfür einen jeltiamen Fall aus | 
meiner Studentenzeit berichten. Ich entitamme einem | 


Geſchlecht, das im vorigen Jahrhundert eine wichtige 
Rolle in der Geſchichte Griechenlands gefpielt hat. 


„In Vaters Bücherei fand ich ein altes Bud | 
Indem id) eines Tages | 


mit ſehr guten Stichen. 
darin blätterte, fand ich ein Bild, das Vater auf 
ein Haar gli. Ich war erft fieben Jahr alt, konnte 
noch nicht lefen und erfuhr von einer Verwandten, 
das Bild fielle Vaters Großvater dar. Dann blätterte 
fie weiter und zeigte mir ein andres Bild, ein häß— 
liches, finfteres Gefiht mit ſchwarzem Bart und 
ftechendem Blid, der mir Furcht einflößte. Es ſei 


ein böfer Menſch geweien, erzählte fie und berichtete 
mir eine lange Gejdhichte von Ränken und Liebes | 


bändeln — Dinge, die ich damals nicht verſtand, 
von denen mir jedoch im Gedächtniſſe geblieben ift, 
was ben tiefften Eindrud auf mich gemacht hat, daß 
nämlich jener Böjewicht meinen Urgroßvater eines 
Nachts meuchlings erftochen hat. 


„Jahrelang habe ich nicht mehr an diefe Geichichte 
gedacht und ging ſchließlich als Student nah Athen. | 


Gewiß find aud Ihnen ſchon Menſchen begegnet, 
die Ihnen gleich) beim erften Anblid Abneigung oder 
gar Furcht eingeflößt haben, ohne daß Sie jelbft 
einen Grund dafür gewußt hätten. So lernte auch 
id einen Heinen braunen Kerl mit tief und nahe 


bei einander liegenden Augen fennen, deſſen bloßer | 


Anblick mich ſeltſam beunruhigte, ja mir Hak und 
Furcht einflöhte. Zuweilen empfand id) ſogar den 
Drang, mich auf ihn zu ſtürzen und ihn zu jchlagen. 
Wo ich mit ihm zufammentraf, war ich mürriſch 
und überhaupt wie ausgewechlelt, fein bloßer Anblid 
machte mir übel, und dennod konnte ich die Augen 
nicht von ihm wenden, fühlte mid von ihm an— 
gezogen wie von einem Abgrunde . .. Und er, er 
hatte mich lieb. In Worten, Bliden, in feinem 


ganzen Benehmen mir gegenüber zeigte er eine Güte | 


und Sanftımut, die oft an Unterwürfigleit jtreifte. 
Als wäre er ein reuiger Verbrecher, der Verzeihung 
zu erlangen jucht. Ich aber habe niemals die ge» 
ringfle Gefälligfeit von ihm angenommen. Der erften 


N. Vlahutza. — Erinnerung. 


\ Prüfung haben wir uns am gleichen Tage unterzogen. 

Bei der Ichriftlichen Arbeit jtedte er mir einen eng 
‚ beichriebenen Zettel zu, worauf fi wahrſcheinlich 
die Löſung der Aufgabe befand. Ich jage wahr: 
ſcheinlich, denn ich habe ihn nicht gelejen, ſondern ihn 
dem uns überwachenden Lehrer gegeben, um ihn auf 
diefe Ejelabrüde aufmerffam zu machen. Ach wuhte 
recht gut, daß ich eine Gemeinheit beging, die mir 
ganz zumwider war, aber ich fonnte nicht anders, 
und — merkwürdig — ich bedauerte es gar nicht. 
Der Student wurde von der Prüfung ausgeſchloſſen. 
As id) meine Arbeit beendigt, fand ich ihn draußen 
wartend. Ich bereitete mich auf einen Angriff vor: 
Endlih Tann ih meinen Tollen mal an ihm ans 
lafjen! dachte ih. Aber wie erftaunte ih, als ih 
ſah, daß er ſich mir ſchüchtern näherte und mid) bat, 
ich möchte ihm die Dummpbeit verzeihen, die er be 
gangen, und die ihm leid thue. 

„Ich frug ihm unwirſch, was er wolle, weshalb 
er mich nicht in Ruhe laſſe. Er fing an zu weinen 
und antwortete mit einer Stimme, die nicht die feine, 
jondern von weither zu kommen jchien: ‚Ich weiß 
nicht, was mir ift, vielleicht werde ich wahnfinnig, 
aber jehen Sie, ich fühle mid unter dem Einflufie 
einer unmwiderftehlihen Macht, die mir befiehlt, Sie 
um Berzeihung anzuflehen. Seit ich Sie geichen 
beherrſcht mich diejes unerflärliche Gefühl, das mid 
zu Ihrem Diener macht. — Nicht wahr, id habt 
Ihnen bis heute niemals etwas zu leide geihan? 
Sagen Sie es mir, bitte, ſprechen Sie mic los! 

„Ich blidte ihm gerade ins Auge, ohne & zu 
‚ wollen. Niemals werde ich das Grauſen vergeſſen, 
das ih in diefem Augenblide empfand. Wie ſoll 
ih e8 Ihnen erflären? Denken Sie ſich: Aus diefen 
Meinen, janften, tgränenden Augen flarrte mihan — 
wer, glauben Sie?! Das Scheufal, das meinen lie 
großvater ermordet! Auf einmal jtand mir die Ge 
dichte, weldye mir meine Verwandte erzählt, umd 
die ich längft vergeiien, wieder jo Har im Gedächt⸗ 
nis, als hätte ich fie eben gehört, 

„Dies wollte ih Ihnen mitteilen: es war wirt 
lich der Urenfel des Mörders, der für das Werbreden 
feines Urgroßvaters Verzeihung erbat. — Aber wir, 
wir find Freunde geweien, nicht wahr? Denlen 
Sie daran, was Themiftofles jeht vor zweitauiend- 
dreihundertachzig Jahren bei Salamis über un: 
gelagt bat! .... 

„Auf Wiederfehen! — Ich weiß, was Sie über 
mich denken, aber nad) einigen Jabrtaujenden werden 
wir uns wieder treffen, und dann werde ich Sie au 
das erinnern, worüber wir heute geſprochen.“ 

Er drüdte mir die Hand und blidte mir dabei 
fo tief ins Auge, als wolle er jagen: Gieb adht, daß 
| du mich nicht vergefjeft! 











UL DIT — . 


Das neue Leben. 


Don 
Alaxim Bjelinski. 
Aus dem ARuffifchen überfeßt von Alexis Warkomw. 


I. 

Es war Nat. Stephan Ppilippowitih Manyfin 
fuhr in der Eifenbahn und träumte Er fah im 
Zraume das hohe, düjtere, von alten Bäumen um« 
gebene Haus, in welchem er geboren war. 

63 iſt Nachmittag, Manykins Vater ſitzt auf 
dem Balfon und trinkt Thee. Er bat einen orien= 
taliſchen Schlafrod an, welcher an der Bruſt offen 
ſteht. Im der rechten Hand hält er ein Pfeifenrohr 
mit einem Mundftüd von Bernftein, aus welchem 
der Rauch in bläulichen Ringen aufjteigt. Die 
Mutter jtridt an einem Heinen Tiſchtuch — die Strid» 
nadeln klappern in ihren Fingern und geben einen 
wunderlichen, metalliſch klingenden Ton von fi. Es 
ſcheint Stephan, als ob er wieder ein Heiner Knabe 
geworden jei. Er fteht neben der Mutter und horht 
neugierig und furchtſam auf das Klappern der 
Stridnadeln. Auf den Stufen des Ballkons erjcheint 
der Gärtner Amdej. Er lächelt liſtig und hämiſch, 
und Stephan ahnt jogleih, daß er gekommen, fi 
über ihn zu beflagen. Doch es fällt ihm nicht ein, 
was er begangen hat. Er firengt fein Gedächtnis 
an, aber er kann ſich nicht erinnern. Awdej fagt: 

„Wie Sie befehlen, Herr; aber ih lann den 
jungen Herrn nicht entſchuldigen.“ 

Stephan ſieht auf die Mutter, aber fie antwortet 
ihm mit einem falten Blid. Auch der Vater fieht 
ihn kalt an. 

Die Augen des Alten find matt, bleiern, uns 
beweglich. 

„sn feinerlei Weife!* fuhr Awdej fort. Und 
mit diefen Worten nähert er fih Stephan, padt ihn 
an den Schultern und fängt ihn zu fchütteln an. 

„Was unterftehit du dich!” ſchreit Stephan. 

Aber Ardej ift umerbittlih. Er bi fich auf die 
Lippe, To daß jeine großen weißen Zähne zu fehen 
waren, und fuhr fort, den Knaben zu quälen. 

„Gieb's ihm gehörig!” befiehlt der Vater, indem 
er weiter raucht. 

„Gieb’s ihm gehörig!“ wiederholt die Mutter, ins 
dem ihre Stridnadeln weiter Happern. 

Mit einem Angſtſchrei erwachte Stephan, 
Traumbild ftand ihm noch vor Augen. 


Das 


„Was ift denn meine Schuld ?* fragte er ſich, 
von feinem Lager aufipringend. 

Der Zug war in vollem Gange. Der Wagen 
ſchüttelte, taftmäßig jchlug er an die Schienen. Stephan 
rieb fi die Augen und fonnte nicht wieder ein— 
ſchlafen. Er war jchwermütig; er fing an nachzu— 
denten über alles Böfe, das er in jeinem Leben be= 
gangen hatte. Was bedeuteten die guten Seiten 
feines Charalters gegenüber der unendlichen Zahl 
feiner Sünden! Wieviel Menjchen hatte er gefränft, 
wie oft hatte er feine Freunde im Stich gelaffen, 
wieviel Nächte hatte er ohne Schlaf in ſchlechter 
Geſellſchaft zugebradt, weld ein ausjchweifendes 
Leben hatte er geführt, wie oft hatten ihn Zorn und 
Nahe verblendet und zu Ungerechtigfeiten verleitet; 
welche herrlichen Mädchen hatte er betrogen und ver- 
laflen ! 

Er beflagte feine Eitelfeit, feinen Stolz, feinen 
Unglauben, jeine Wolluſt. 

Und die Muſa Nilolajemna, diefe verkörperte 
Lüge? — warum war er ihr fo ergeben? Vielleicht, 
weil er jelber lajterhaft war? Fand nicht ihre 
Schlechtigkeit in feiner eignen Seele einen Wieder- 
ball? Aber das Schidjal hatte ihn bejtraft. Der 
Sieg über ihre Tugend war leicht, jedoch die Befiegte 
rächte jih an dem Sieger, indem fie jeinen Charakter 
demütigte und ihn zu einem verhängnisvollen Ver— 
gehen trieb. 

Was wird aus meinem Finde werden, wenn es 
auf die Welt lommt? Werden ſich in dem Knaben 
oder dem Mädchen Manyfins Züge offenbaren? Ein 
fleiner Zeil feiner boden und guten Seele? Die 
Neigungen zum Schönen und Eden? Aber der 
niedrige Gefellihaftsfreis und die gemeine Umgebung 
werden dieſen glimmenden Funken göttlichen Feuers 
bald eritiden! Und darin wird fich mein Verbrechen 
weiter zeigen! fagte Manylin. 

Auf einer der Stationen erblidte Manylin, ohne 
den Wagen zu verlaflen , dur) das fyenfter, in ber 
ferne, im Dunkeln, jeufeits des Fluſſes die hell be— 
leuchtete Kirche, in welcher die große Abendmeſſe 
ftattfand. Hunderte von Lichtern glänzten durch die 
Nacht; Bauern umgaben die Kirche. Die Lichter 


894 Marim Bjelinsti. 


fpiegelten fih im Waller wie in einem jchwarzen 
Spiegel, Man vernahm die freudige Beiglode. 


11. 


Manyfins Vater Philipp Stephanowitſch war 
dreimal verheiratet gewejen. Stephan war die Frucht 
der zweiten Ehe. Die dritte Frau, Kleopatra Iwa- 
nowna blieb nad) dem Tode ihres Mannes, an deſſen 
Seite fie kaum vier Jahre verlebt hatte, als junge 
Witwe zurüd. Gegenwärtig war fie etwa fünfund« 
dreißig Jahre alt. Sie hatte eine Tochter Eugenie, 
welche fichzehn Jahre zählte. Kleopatra ſtammte 
aus einer faufmännifchen Familie und war bejtrebt, 
ihrer Tochter eine häusliche Erziehung zu erteilen. 
Sie wohnte zufammen mit ihr auf Manyfins Stamm« 
gute Woswiſchennoje und verwaltete dasſelbe ala 
Bevollmächtigte ihres Stiefſohnes. Sie war mit 
Leidenschaft der Wirtichaft ergeben, und das Gut 
gedieh. Manylin beanfpruchte nur den britten Teil 
des Einlommens, wofür ihn Stleopatra nicht genug 
oben fonnte. So oft er auf dem Gute eintraf, 
fam fie ihm mit allem verwandtichaftlichen Gefühl, 
welches fie nur aufbieten fonnte, entgegen. Als er 
jedoch einmal längere Zeit verweilte, beſondere Pferde 
und Kutſchen unterhielt und viel Geld verausgabte, 
benahm fie ſich ihm gegenüber fühler. Zurzeit war 
fie ihm wieder geneigt. 

Unangemeldet traf er in Moswilchennoje ein, 
Er depeichierte zwar, daß man ihm nad) der Station 
Pferde hinausjhide, allein Kleopatra Jwanowna 
fam nicht dazu, fi auf feinen Empfang vorzu- 
bereiten. Man mußte zum eriten Feiertage die Zim« 
mer in Ordnung bringen, welche Stephan gewöhnlich 
bewohnte. In jpäter Nacht erfchallte auf dem Hofe 
das Bellen der Hunde. Aleopatra Iwanowna er 
wachte und jchidte ihre Mägde nah den Zimmern 
ihres Stieflohnes. Aber Stephan verlangte nichts. 
Finſter ging er in feinem Arbeitszimmer auf und ab. 
Und das dauerte bis zum Frühmorgen. Dann er 
fchten er zum Thee, fühte Kleopatra die Hand und 
begrüßte fie mit dem Oſterkuß. 

Ein brünettes Mädchen von voller Figur, mit 
lebhaften Augen und ſchönem roten Munde fand 
ſchüchtern auf und ordnete die Bänder, welche ihr 
rojiges Muſſelinkleid umgürteten, weldes bäueriſch 
und altmodiſch genäht war. Das war Eugenie. 

„Warum biſt du deinem Bruder gegenüber jo 
ſchüchtem? Und Sie, Stephan, ſcheinen Ihre 
Schweiter gar nicht zu erfennen? Geben Sie ihr 
einen Kuß, fie ift ja bei uns groß geworben, nur 
noch etwas unbeholfen; doch das ändert ſich mit 
Gottes Hilfe.” 

Stephan küßte das Mädchen, Er lächelte un— 
freiwillig, jo herzhaft und laut füßte fie. 

„Werden Sie längere Zeit bei uns bleiben ?* 


fragte Kleopatra, indem fie dem Stiefjohn einen 
Plap anbot und ihm das Glas zuſchob. Der Tiie 
war voll von jühen Oſterſpeiſen, und rote, blau, 
gelbe Eier lagen auf einem bejonderen Zeller, 

„sch weiß es noch nicht; eine Woche werde ik 
wohl bier bleiben; dann reife ich nach ChHruftiki zu 
Alyfin und von dort vielleicht ins Ausland.” 

„Bielleicht bringen Sie den Sommer bei uns zu, 
Stephan! Sie müflen fi) erholen. Sie find gan; 
blaß. Sie haben jogar ſchon graue Haare!“ 

„Jawohl, deren habe ich viele.“ 

„D, viele ſind's nicht, aber mein Vater ift ned 
bi8 jeht ſchwarz wie ein Nabe. Warum eſſen Ei 
nicht 9* 

„Sch danfe; ich habe feinen Appetit." 

„Sie haben wohl die ganze Nacht nicht ge 
ſchlafen?“ fragte Kleopatra. „Fehlt Ihnen etwas’ 
Haben Sie Sorgen?” 

„Ich habe Angſt, zu Schlafen!“ antwortete Ma 
nylin mit Lächeln. 

„Warum denn das?“ 

„Ih fürdte mich vor Träumen! Ich babe gerade 
ein halbes Jahr verträumt; es war ein ſchlechtet, 
aber verlodender Traum —- ich wollte nicht ermwaden. 
Endlich erwachte ich und überzeugte mid, daß « 
wirflih ein Traum war; aber jet kann id fein 
Ange mehr jchließen,* 

Hleopatra Iwanowna nidte mit dem Kopfe. 

„Das ift wunderlich, was Sie erzählen! Sind 
Sie des ſchlechten Traumes wegen befümmert?* 

„Ja!” 

„Sie hätten heiraten jollen! Warum haben Sie 
in Petersburg nicht geheiratet? Sie wären doc ein 
jehr wünjchenswerter Freier !* 

Als aber Stleopatra bemerkte, daß Stephan cin 
finfteres Geſicht machte, änderte fie die Unterhaltung, 

„Haben Sie großen Erfolg gehabt? Eugenie 
bat Ihr Porträt aus der illuftrierten Zeitung au% 
gefchnitten und eingerahmt. Wir haben von Ihnen 
gelefen und uns gefreut. Wieviel Geld haben Sir 
eingenommen ?“ 

„sh habe es nicht gezählt! 
taufend Rubel.” 

Kleopatra Jwanowna ftieb einen Seufzer au. 

„Ach, Geld, Gelb! Der Küfter Iwan fingt dot 
jet auch im Theater. Seine Frau erzählt ja, daß 
er ganz verrüdt geworden ift. Aus dem geiftlicen 
Stande ift er ausgeichieden und doch fein Schau— 
jpieler geworben. Willen Sie, dab Woswiſchennoſt 
ein heiliger Ort geworden ift? Das Volt überläuft 
das Gut, es jtrömt haufenweife zufammen, und bie 
Zahl der Gläubigen ift jehr groß.“ 

„Handelt es ſich wieder um ein Heifigenbild?* 

„Nein, um ein Heiligenbild nicht. Wber unkr 
Vater Wiffarion vollzieht durch leiſes Gebet umd 


Sp gegen zehn 


A 


F 


Das neue Leben. 


Auflegen der Hände Wunder, jo wie in den alten | 


Zeiten. Das ift höchft wunderbar, Stephan!“ 

„sa, das ift wirflid wunderbar. Aber welder 
Art find die Wunder?“ 

„Sehr einfahe! Die Kranken genejen, die Wahn- 
finnigen befommen ihren Berftand wieder, und bie 
Weinenden werben getröftet. Nett, während ber 
Feiertage, ſtrömt das Volk jogar aus den Städten 
hier zufammen. Wenn das jo fortdauert und ber 
Vater Riffarion mich unterftüßt, werde ich ein Gaſt— 
haus erbauen müſſen. Wenn e8 auch nicht viel 
bringen wird, fo kann man doch auf zweitaufend 
Rubel jährlich rechnen.” 

„Werden denn dem Vater Wifjarion dafür Ge- 
ſchenle gemacht?“ fragte Manpfin. 

„Ja, und jehr viel, aber er ift ganz uneigennüßig, 
Mit einer Hand nimmt er und mit ber andern giebt 
er aus, Er ift wohlthätig gegen jeden, der nur 
not leidet. Selber trägt er einen ganz einfadhen 
feidenen Priefterrod, ift ſehr mäßig und trinkt 
nicht mehr als ein Glas Waller mit Rotwein; er 
it Witwer und hat feine Kinder. Er ijt ein bei» 
liger Mann!“ 

„Wie ift er aber heilig geworden ?* 

„Gott machte ihn dazu. Und er bat es ver- 
dient, Gott hätte nicht jedem Beliebigen jeine Wohl: 
thaten erwiejen. Wollen Sie ihn vielleiht einmal 
Ichen ?” 

„Nein, wo ift er hergekommen?“ 

‚Man bat ihn wegen der in Woswiſchennoje 
berrfchenden Keberei zu uns verjeßt, damit er die 
alte Rechtgläubigfeit wieder herftelle. Es wird hier 
bald feinen einzigen Ketzer mehr geben.“ 

„Iſt er denn Prediger? Spricht er gut?“ 

„Einfah! Meiftens weint oder jeufzt er. Seine 
Kraft Tiegt in feinen Thaten. Sie jollten doch, da 
Sie Sänger find, jhon des firdhlichen Anitands 
halber den Chor durch Ihre Kunft unterftügen. Sie 
würden dem Vater Wiljarion dadurch einen großen 
Gefallen erweiſen.“ 

„Ad was! Warum hat der Pater MWiffarion 
den Küſter Iwan gehen laſſen?“ fragte Manyfin. 
Er fühlte das Bebürinis, den Vater Wiflarion zu 
veripotten, weil er die von ihm behauptete Gabe, 
Krankheiten zu beilen, für Aberglauben hielt. „Der 
Vater Wiffarion erwies fi) wohl ſchwächer ala ber 
Küfter Iwan ?” 

„Der Teufel ift ſtarl, Stephan,” erwiderte ſtleo⸗ 
patra. „MWie wollen Sie das ala MHuger Mann nicht 
begreifen! Iwan wurde Zweifler, es fam oft vor, 
daß er in der Kirche laut lachte, aud) hat er ent- 
ihieden die Saframente geleugnet. Und als der 
Bater Wilfarion zu uns fam und bie fterbende 
Eugenie vom Lager hob, — daf fie wirflid) im Sterben 
Ing, wird Ihnen der Arzt bezeugen — verbreitete 


895 


Iwan das Gerücht, dab ich in Uebereinſtimmung 
mit dem Vater Wiffarion dies alles erfunden hätte!” 
„Aber ein Gafthaus werben Sie doc bauen?” 
„Gewiß! Das habe id ſchon beſchloſſen; fonft 
würde mir ein andrer zuvorkommen.“ 

„Wieviel Priefterröde hat der Vater Wiflarion ?* 

„Einen! Auch diefen habe ih ihm geichentt. 
Einen Wagen, Pferde und einen Kutſcher jchentte 
ihm die Saufmannsfrau Plawnilowa. Sonſt forgt 
ja niemand für ihn, und er braucht jo wenig wie 
ein Kind, Mir müſſen gegen den heiligen Mann 
zuvortommend fein. Giebt e& denn viele joldyer 
Leute in Rußland! Eugenie, zeig mal dem Bruder 
deine Handarbeit!“ 

Nach dem Thee ging Manyfin auf fein Zimmer. 
As Kleopatra Iwanowna die Magd fragte, was 
der Herr thue, antwortete fie: „Der Herr durhmißt, 
auf und ab gehend, das Zimmer.“ Dadurch ward 
es der Witwe zur Gewißheit, dab Stephan wirklich 
von irgend einem Summer gequält werde. Zum 
Frühſtück verließ er gar nicht da8 Zimmer, und beim 
Mittagstiſch lenkte fie die Unterhaltung wieder auf 
den gottesfürdhtigen Vater Wiffarion. 


III. 


So verbrachte Manyfin in Woswiſchennoje vier 
Tage. Nach jeinem eignen Ausdrud waren dieje 
tot in feinem Leben. Einmal ließ er fein Licblings- 
pferd fatteln und ritt ins Feld hinaus. Das Ge- 
treide war grün; freudig erwärmte die yrühlings- 
fonne die Erde. Stephan erinnerte fi, wie er vor 
einigen Jahren mit einer Geliebten oft denjelben 
Meg gemadt. Da ift die Schlucht mit ihrem fajur- 
blauen, hellen, über grünliches und rotes Geftein 
murmelnden Fluß. Dort hatte er, über das ausge- 
tretene Waſſer fahrend, feine Geliebte getüßt wie einft 
Petſchorin feine arme Fürftin. Gegen Ende des 
Sommers hatte er diefen reinften Ruß, den er je 
gegeben, vergeſſen. Er ritt in die Schlucht hinab, 
bielt jein Pferd an und ſah auf den Fluß Bin, 
weldyer wie goldige Schuppen in der Sonne glänzte. 
Aber ſtatt der Fürſtin erichien vor feiner Phantafie 
das Bild der Muſa Nitolajeona mit ihrem unfchul- 
digen Munde, mit ihren dichthaarigen Wimpern um 
die Dunkeln, Schwarzen Augen, mit den blaffen, zarten 
Händen und mit ihren leijen, höhniſchen oder tollen 
Reden, denen man feinen Glauben jchenfen konnte. 

Er gab jeinem Pferde die Sporen; es machte 
erjchredt einen Sprung und führte Manyfin ſchnell 
fort. Erſt abends kam Stephan nah Haufe und 
beitellte zum frühen Morgen Pferde. Er beichloß, 
Alyſin, der fiebzig Werft entfernt wohnte, zu befuchen. 


IV. 


Einft waren die Alyſins dur ihren Reichtum 
befannt. Der Vater des Alexander Ignatitſch diente 


39 


als Adelsmarſchall des Gouvernements, und in jechs 
Jahren verſchwendete er fein Erbieil durch Ueppig- 
feit und Pracht, ohne dadurd) in Moskau jonderlich 
Aufſehen zu erregen. Jedenfalls blieb nod für 
Alerander Ignatitſch ein Grundbeſitz, deffen Ertrag 
zwiichen zehn= und zwanzigtaufend Rubel ſchwanlte. 
Diefes Gut Namens Chruftifi lag auf einem langen, 
ſchmalen Hügel, an deffen Fuße ſich das ſchiffbare 
Flüßchen Glaſowka jchlängelte; fein linkes, niedriges 
Ufer war mit einem dichten Walde bededt, welcher 
das Eigentum Alyſins bildete. Das berrichaitliche 
Haus, zur Zeit Alexanders des Gejegneten erbaut, 
trat mit jeinen vier maſſiven weißen Säulen aus 
dem dunfelgrünen Didicht des Tichtenparfes heraus. 
Früher flatterte an der Spike des Hauſes eine 
Flagge, von der aber jeht nur die vergoldete Stange 
geblieben war. Als Manyfin diefe Stange jihon 
aus ber ferne von der Brüde aus erblidte, fing 
fein Herz zu ſchlagen an. 

Die Pferde führten ihn ſchnell an den Eingang; 
nachdem die Kutiche durch das gitterförmige guß-— 
eiſerne Thor hineingefahren war, rollte ſie über eine 
mit Gras bewachſene und von hohen hundertjährigen 
Birken eingefahte Chauffee dahin. Die fahlen Wipfel 
der Bäume raujchten wehmütig, und man hörte das 
Gefrächze der Krähen, deren dunkle Nefter fihibar 
wurden. 

Ob Alexander zu Hauſe ſein wird und ob er 
ahnt, daß id; fomme? Wie mag es jetzt hier aus— 
ſehen? 

Manyfin eilte Martin, ein grauer, alter Mann, 
entgegen, der noch bei Alyſins jeligem Bater Kammer» 
diener gewejen war. 

„Buten Tag, Väterhen, Stephan Philippowitſch,“ 
fagte der Alte, ergriff jeine Hand und küßte fie ehr— 
erbietig. 

„Was joll das, Martin?" 

„Nichts, das ſchickt fich jo! Alexander Ignatitſch 
wird es hoffentlich nicht fehen, ſonſt würde er ſchimpfen. 
Stügen Sie fih auf meine Schulter. Wie lange 
waren Sie nicht bei ung!” 

Den Alten leuchtete die fyreude aus den Augen. 

„Ist Alexander Ignatjewitih zu Haufe?“ fragte 
Manykin, inden er die breite fleinerne Treppe bin- 
aufftieg. 

„Der Herr wird bald zurüdfommen. Ad), was 
für ein Unglüd! Seine Arbeit entipricht nicht mehr 
jeiner Stellung.” 

„Was ift denn geichehen ?* 

„Etwas Trauriged. Ich werde es Ihnen er 
zählen. Vor Ihnen braucht man nichts zu verhehlen. 
Sie gehören zu und. Ach Gott!” 

„Was giebt's denn? Sie erichreden mich! Iſt 
Alegander etwas zugeitoßen ?* 

„Der Herr hat viel zu viel geleſen!“ jagte ges 


Marim Bjelinsti. 


beimnisboll der Kammerdiener, ſich vorſichtig um- 
ſehend. 

„So?“ 

„Er fährt Dünger!” jagte Martin noch geheimniz 
voller; feine Augen funfelten vor Aerger. 

„Was für Dünger?” 

„Gewöhnlichen Miſt,“ erflärte Martin, fait auber 
fih vor Wut. „Der Herr hat ſich einen Lohn von 
fünfzig Kopelen per Tag ausbedungen, und davon 
lebt er, auf mehr habe er fein Recht.” 

Er zog jeine dichten Brauen in die Höhe, zudte 
mit den edigen Schultern und machte eine mitleidige 
Bewegung mit den Händen, 

Nachdem er Stephan ins Gaftzimmer gebradt 
batte, half er ihm ſich umlleiden und betrachtete ger 
rührt fein Reiſeneceſſaire, feine Parfümerien, feine 
Kämme und Bürften und feine gejteilte Wäſche. 

„Dergleichen haben wir nicht,” jagte er. „Denten 
Sie ſich, der Herr fieht niemals in einen Epiegel 
Mir riechen nad Pferden umd geben auch jo zu Bett.‘ 

„Beſchäftigt er fich nicht mehr mit Mufif?“ 

„Woran denken Sie!” 

„Welche Bücher lieft er?“ 

„Bauernichriften und das Evangelium!“ 

„Belucht er die Kirche?" 

„Niemals! Der Pfarrer fam, ihm zum eriten 
Feiertag Glüd zu wünſchen, aber wir haben ihn mit 
feinem Wagen wieder zurüdgejhidt. Wir hafen 
alle Geiftlihen, Stephan Philippowitſch.“ 

„Beludt er die Bauern?“ 

„Ad! was find denn die Bauern? Nichts weütt 
als Schufte. Sie find mit allem einverftanden, wa! 
man ihnen jagt, und bleiben doch bei ihren Spiß 
bübereien. Sie ftehlen ſchönungslos Holz bei und, 
aber an das Gericht wenden wir und nidt, auf det 
Gericht pfeifen wir — mit Eurer Erlaubnis — 
guädiger Herr!” 

„Worüber verhandelt denn Alerander mit den 
Bauern?“ 

„Ueber Dinge, welche man ſchicklicherweiſe mil 
Bauern nicht verhandeln darf. Dak fie fein 
Branntwein trinken und ihre Frauen nidjt ſchlagen 
ſollen. Er erzählt ihnen auch Märchen,“ 

„Märchen?“ 

„Jawohl. Er hat ihnen vorerzählt, daß ein ber 
(iger Geift auf der Erde wandle und die Lüge be 
ftrafe; aber inzwiſchen ftichlt der Bauer das beite 
Holz und jchleppt es mad der Stadt oder md 
dem Hafen, Oder er erzählt, daß ein Engel, de 
ſich vergangen, vom Himmel habe herabfteigen 
müffen, um auf der Erde Nägel zu jehmieden. 34 
erlaube mir die frage: Iſt das eine Beſchäftigun 
für einen Engel? Der Bauer aber, diefer Shut, 
jperrt vor Erjtaunen den Mund auf, hört die Ee⸗ 
ſchichte von den Engelnägeln und jchlägt ander: 


cosle 


Das neue Leben. 


tags wieber heimlich in unjerm Walde Holz. Dann 
fommt er wieder auf unfern Hof mit feinem unver- 
ſchämten Maul, mit Berlaub zu jagen, gnädiger Herr!” 

„So, jo, Martin; aljo auch bei euch ift jet eine 
neue Ordnung!“ 

„Ein neues Leben! 
der Alte, 

„Wird noch Thee bei euch getrunfen?* 

„Kür Gäfte wird Thee mit Sahne, Rum, Gebäd 
nad englijcher Sitte ſerviert!“ rief, vor Freude ftrah« 
Iend, Martin. „Den Bäften wird nichts verweigert. 
Befehlen Sie vielleicht Thee?“ 

„Bitte, ih habe Durft.” 

„Ad, Väterchen! und ich babe fo viel Zeit ver— 
plappert! Wie habe ich das vergefjen können!“ 

Eilig war er hinter der Thür verſchwunden; 
Manpfin blieb an dem großen Fenſter ſtehen und 
jah auf den Hof hin, auf Alyfin wartend. 

Es ift natürlich fomifh! dachte er. Beſonders 
in der Darftellung von Martin. Aber es it etwas 
Rübrendes in dieſem neuen Leben. Oder finde ich 
das vielleicht nur, weil ih Alyfin liebe? 


Ganz neu!“ fagte betrübt 


V. 


Die Sonne ging unter. Die Abendröte färbte 
mit ihrem Lichte die Wollen und die Wipfel der 
Bäume. Auf der hohen Wand des Gaſtzimmers 
erlofh die purpurrote Farbe und verteilte jich über 
die Scheiben des gewölbten Fenſters. Martin jer- 
vierte den Imbiß auf einem altmodijchen Präfentier- 
teller von Rotholz, welcher mit Silber eingefaht war. 
Dann brachte er eine Theemafchine und eine Heine 
geſchliffene Karaffe mit Branntwein. Stephan griff zu. 

„Fährt denn Alexander wirklih jo ſpät nod 
Dünger ?” fragte er. 

Martin zeigte mit der Hand. „Da, gnädiger 
Herr! Menn man den Wolf ruft, iſt er nicht weit. 
Bitte, jehen Sie!” 

Manyfin jah ſich ſchnell um. Alyfin, gefleidet 
in einen kurzen Raftan, ging neben einer ſchmutzigen 
Fuhre, vor welder ein großes, jchediges Pferd unter 
ein geftrichenes Joh gejpannt war. Es ſchien 
Manyfin, als ob Alyfın fich bemühe, im Bauern« 
Ihritte zu gehen, wohl weil er ihn der Beſchäftigung 
entiprehend fand. Im den Händen hielt er die 
Seine und ſchlug dann und wann das Pferd leicht 
mit der Peitſche, indem er die Fuhre in den Hinter» 
bof lenkte. Manyfin öffnete das Fenſter und rief: 

„Guten Abend, Alerander !” 

Alyſin erſchrak, erhob das Haupt, erfannte feinen 
Freund, lieh das Pferd ftehen und eilte wie ein 
Knabe auf ihn zu. Manykin flog ihm entgegen. 
Sie trafen fih im Saale. Alyſin, rot und ganz 
von Schweiß bededt, umarmte Manyfin Herzlich und 
füßte ihn auf Lippen und Augen. Er hätte ihm 

Aus fremden Zungen, 1807, I. 19, 





897 


vor Zärtlichkeit am Tiebften wehe gethan, denn er 
wußte nicht, wie jeiner Liebe Ausdrud zu geben. 

„Wie dankte ich dir; ich dachte ſchon, daß wir 
uns ganz vergeſſen hätten und daß du mir ſchmollſt! 
Hat dir Martin einen Imbiß gegeben? Ich werde 
einmal mit Dir zufammen jpeifen. Es wäre aud 
gut — ein wenig Branntwein! Ad was!“ 

Er ſetzte fi zu Tiſch und ſchenkte zwei Glas 
Branntwein ein. Martin zitterte vor Freude, daß 
fein Herr zu falten aufgehört. Er bediente mit den 
feinen Manieren eined Kammerdieners der guten 
Schule, von welchen er ji in ber legten Zeit zu 
entwöhnen genötigt war. Sein Geficht wurde würdig, 
böflih und ausdrudslos, 

„a, id) bin außer mir vor freude, dich zu jehen !* 
fagte Alyjin mit bligenden Augen, jeinen lang- 
gewachſenen, zerzauften Rotbart ftreichelnd. „Erftens, 
haft du mit mir zu ſprechen; alles genau zu jchreiben, 
verstehe ich nicht, und das, was ich dir gejchrieben 
babe, ift eigentlich gar nicht das, was ich wollte — 
das Rechte und eigentlich doc nicht das Nechte, ver= 
ftehft du? 

„Zweitens, habe ich mit dir zu jprechen und über 
etwas zu bisputieren. Menn ich einen Pfahl in die 
Erde eingerammt habe, und aud du fannft ihn nicht 
wanlend machen, jo werde ich ganz ruhig in meinen 
Entichlüffen, in der vollen Ueberzeugung, daß ber 
Pfahl feft ift. Allein fann ich mir nichts zutrauen! 
Höchftens, wenn ber Pſahl anfault, dann merke ich 
es auch ohne deine Hilfe. Wir haben uns über 
Zaujende von Gegenjtänden zu unterhalten! Ich 
babe viel gelejen, häßlich viel! Das alles aber ift 
nicht das Rechte, nicht das Rechte.” 

Er iprang auf. 

„Martin, wir haben doc Champagner... Laſſe 
ein glänzendes Abendefjen bereiten. Diejer Herr ift 
etwas andres ala ich. Und ich Teifte ihm nur Gefell- 
ſchaft. Ja jo — Stephan, du jollft aber nicht denfen, 
daß ih etwa mit meinem Leben unzufrieden bin, 
Ih bin zufrieden. Sobald ich morgens aufftehe, 
arbeite ich wie jeder Bauer. Geſchickt gebrauche ich 
die Art und die Schaufel, ic) lann aud) eggen und 
jüen. Ich werde auch mähen und pflügen. ber 
die verfluchte Gewohnheit! Heute jah ich im Traume 
eine Geige, geftern ein Mädchen! Gemein!” 

Manykin lächelte. Es war etwas Leichtfinniges 
und Flottes, etwas noch Junferhaftes in der Art, wie 
Ayfın das Wort „gemein“ ausſprach. Aber es 
wurde ihm ſchwer ums Herz, als er bebadhte, mit 
welchen Schwierigkeiten Alyſin einft jein mufitalifches 
Talent erwedt hatte, und welche Qualen es ihn jet 
foften mußte, es wieder zu erftiden. Als er Alyfins 
rotes, fröhlichee Geficht betrachtete und feine haftigen 
Reden hörte, dachte er: „Was für Kunftitüde wird 
mein Freund noch machen? Wird er vielleicht wieder 

113 


898 


ein jo Hiederliches Leben anfangen wie einft im 
Regiment? Oder wird er fich vielleicht mit Aſtro— 
nomie bejchäftigen, einen neuen Stern entdeden, dann 
aber das Teleflop zerbrechen in der neuen Er— 
fenntnis, daß dies wiederum nicht das Rechte jei — 
nicht das Rechte.” 

„Phyſiſch Bin ich gefeſſelt,“ fuhr Alyſin fort, 
„aber wie kann ich meinen Geift in Feſſeln Tegen? 
Das Lefen beflügelt ihn bloß. Fange id an, Ge— 
ichichte zu leſen, phantafiere ich fogleich ; ich werde 
auch mal Geſchichte ſchreiben. Wenn ich mich hin— 
lege, lann ich nicht einjchlafen; böfe Gedanfen geben 
mir feine Ruhe, ich fchreibe Romane, bin Prediger, 
ich Iehre, und die Hauptſache ift, dab ich von allen 
bewundert werde. Man zeigt auf mid mit den 
Fingern — fieh diefen da! Ich habe mir aus 
gedacht, Arabiſch, überhaupt orientaliihe Sprachen 
zu ſtudieren, ich werde mich mit Kabbala beſchäftigen. 
Es wird niemand ſchaden, und was ſich hier regt,“ 
— er zeigte auf die Stirn — „wird jedenfalls be— 
ruhigt werden, Ja?" 

„Das ift nicht das Rechte, nicht das Rechte!“ 
jagte Manylin laut auflahend. „Hör mal, lieber 
Alexander, bift du endlich des Selbitfolterns über» 
drüffig? Sag einmal aufrichtig.” 

„Lab mich!" fagte Myfin, indem er ein finfteres 
Gefiht machte und ernft wurde. Er legte die Hände 
übers Kreuz unter die Schultern und fing an: „Was 
denkſt bu denn? Bin ich ein Kind? Treibe ich denn 
Spa? Ich werde dich morgen ind Dorf führen, 
dann wirft du jelbft jehen, und erft dann wirft bu 
jagen, ob es fo gut fei. Bift du denn einmal von 
einer Bauernhütte zur andern gegangen? Doc nicht? 
Das ift es eben!“ 

Er ftredte mechanifc feine Hand nad) Manyfins 
Zigarettentaſche aus, nahm eine Zigarette und fing 
“an zu rauchen, den Rauch gierig einziehend. 

Rauchſt du ſchon?“ rief Manyfin aus, 

„Was denn? Hol's der Teufel! Warum haft 
du fie mir zugefhoben? Jetzt werde ich anfangen. 
Es wird für mic gut fein. Es betäubt. Martin, 
verlaffe ung! Warum erzählft du mir gar nichts 
von dir? Fällt es dir vielleicht jhwer. Ich erzähle 
dir immer meine Schmerzen, und du bebarfft eines 
Arztes viel eher ald ih. Nun, erzähle doch!“ 

Er ſchlug ihm auf das Knie und jehte fich näher 
zu ihn. 

Manyfin legte vor Alyfin feine Beichte ab, ohne 
etwas zu verhehlen. Zu Anfang feiner Erzählung 
lachte er über jich ſelbſt: Matrena Nifolajewna , bie 
Frau Laskowslys, welche ſich poetiſch Mufa nannte, 
habe auf Schritt und Tritt gelogen. Die Gemein- 
ſchaft mit ihr wäre fait fomijch geweien. Aber es 
trieb ihn doch, die Komödie diefer Liebe in der Er- 
innerung von neuem zu beleben, jo daß er unwill⸗ 


Marim Bjielinski. 


fürlih einen andern Ton annahın und anfing, mit 
Leidenſchaft und mit Entrüftung zu reden. Als er 

geendet, ftüßte Alyfin den Ellbogen auf den Tiſch 
und jagte, ihn mürriſch anjehend: 

„Du batteft unreht! Wie man jät, fo ernte 
man!“ 

„Das weiß ich ſelbſt,“ erwiderte Manylin, un 
zufrieden mit dem Urteil bes fyreundes. „Aber al 
diefe unbedeutende Liebſchaft aufloderte und zur 
Feuersbrunſt wurde, da hatte ich ſchon recht.“ 

„Heiratet man denn für andre?“ ſchrie ihn Alyſin 
an, Laslowsty verteidigend. „Du liebſt fie, aber 
er liebt fie doch auch! Er liebt fie ja mehr ala du! 
Du haft ihm ein Meffer ins Herz geflogen, ihn auf 
der Pfanne gebraten, aber er hat fie nicht Fortgejagt 
und wird fie nicht fortjagen. Du dagegen hätteft 
fie in Jahresfrift und vielleicht noch früher verſtoßen! 
Du hätteft nicht geduldet, was er geduldet bat und 
dulden wird. Sie ift nun einmal eine Betrügerin, 
das hat fie in ihrem Blut; auch dir hätte fie Hörner 
aufgeſetzt. Wofür hätteft du fie lieben können? Da- 
für etwa, daß fie deinetwegen ihrem Manne uniren 
getvorden war? Und wenn fie Die deine geworden 
wäre? Eben dafür hätteft du fie dann gehaßt und 
fie durch Kälte und Widerwillen zu einem neun 
Frevel getrieben. Nein, du hatteft durchaus nicht recht!” 

„But, du bift logiſch. Ich gebe zu, dab ſich 
meine Leidenſchaft zu diefer Frau mit dem Gefüßl 
des unbefriedigten Stolzes verband. Es kränlte mid, 
daß fie am Ende ihren alten, dummen Mann vor 
mir bevorzugte. Aber was wird aus dem Finde 
werben ?* 

„Was heißt Kind? Das ift Einbilbung! Bir 
find alle Väter, alle Brüder, alle Kinder, Die 
Menſchheit — das ift unjer Vater! Die Nad- 
fommenjhaft — das find unfre Kinder. Habe feine 
Angit, das Kind wird nicht verloren gehen! Menſchen 
werden es auferziehen und belehren!” 

„Wie kannt du jo etwas jagen, Alerander? Bil 
du etwa für gemeinſchaftliche Erziehungshäufer?“ 

„Nein, dagegen! Es jollen überhaupt feine 
Kinder fein! Weniger Schmuß — das ift mein 
Rezept!” 

„Was foll ich aber thun? ch kann gegen das 
Schidfal meines Kindes nicht gleichgültig fein. Es 
verbindet mich auf ewig mit diefer Frau.” 

„Sage dod) mal,” begann Alyfin, „mie wäre e, 
wenn du jemand ermordet hätteit? Zum Beiſpiel 
ein dummes Mädchen, welches man zwar Franzöfiſch 
gelehrt hatte, aber nicht vor Mörbern fliehen... 
Und du, wollen wir annehmen, wäreft unter die 
Mörder gegangen. Sie jagt: ‚Ach, welch ein inter 
effanter, brünetter Mörder! Wie ſchön war es, daß 
ich allein in den Wald ging!“ Sie beginnt zu folet- 
tieren. Aber unterdefien jchlägft du fie mit deinen 


„Res 


Das neue Leben. 


Knüttel nieder. Dann fommft du zu mir und fragt: 
Was thun, damit mid dad Gewiſſen nicht quälen 
ſoll? Mas fol ih dir antworten?“ 

„Du bift graufam, Alerander! Uebrigens, was 
für ein Heilmittel fann e8 geben? Wenn man einen 
Mord begangen hat, muß man nad) Sibirien gehen.“ 

„Das Gewiſſen ift der größte Arzt,“ jagte Alyſin. 
„Aber du wirft fo lange leiden, ald du an dem Ge- 
danken fefthältft, daß außer dir noch jemand jchuld 
bat. Ich Halte es für meine Pflicht, dich zu übere 
zeugen, daß nur du allein der Schuldige bift, darum 
höre mich zum lehtenmal an..." 

Bis zum Abendeſſen dauerte dieſe für Manyfin 
unangenehme Unterhaltung. Er brad) fie aber nicht 
ab, weil der Mittelpunkt diefer Unterhaltung Muſa 
Nitolajewna war. Er brach fie nicht ab aus dem⸗ 
jelben Grunde, auß welchem er einige Monate in T. 
verweilte, troß der Seelenfhmerzen, welche er für 
Liebe zu Muſa Nilolajewna hielt. 

Beim Abendeffen in dem von Martin fejtlich er- 
leuchteten Speijezimmer fing Manyfin, nachdem er 
Champagner getrunfen, zu erzählen an: 

„Auf meinem Gute Woswiſchennoje wohnt ein 
Pfarrer, Bater Wilfarion Er foll heilig jein, 
er fol Wunder vollziehen, förperlihe Wunder, und 
Seelenfrankheiten heilen. Ich hätte mich an ihn 
wenden müſſen.“ 

„Ich hörte von dieſem Pfarrer,“ antwortete 
Ayfin. „Er interejfiert mih. Warum lachſt du 
denn? Es giebt heilige Menſchen. Durch Faſten 
und Uebungen, durch Elſtaſe im Gebet erreichen fie 
wunderbare Erfolge. Ic las vor furzem die Lebens- 
beihreibung der heiligen Therefa. Stell dir vor, fie 
war jo heilig, daß fie fi etwa eine Elle von der 
Erde hoch erheben fonnte. Sie erzählt davon mit 
einer ſolchen Naivität und Einfachheit, daß man ihr 
glauben muß. Ein beionderer Wohlgeruch verbreitete 
fi von dieſer Heiligen. Es war der Geruch ber 
Heiligkeit. Ich babe auch bei einem modernen Phy« 
ſiologen gelefen, daß dies wahr ift, und daß nervöſe, 
kranfhafte Frauen zuweilen einen ähnlichen aroma— 
tiihen Duft von fi geben. Beſonders trägt das 
eljtatiiche Beten dazu bei. Auch deinen Pfaffen muß 
man erſt riechen.” a 

Er lachte jelbft auf und fing Anekdoten über 
Mönde und Einfiedler zu erzählen an. Er war roh, 
md feine Augen brannten mit böjem Feuer. Martin, 
an der Thür ſtehend, befreuzigte ſich jtill. 

Ayfın trank nod einige Becher. Nah dem 
Abendeſſen ließ er feinen Freund noch nicht ſchlafen 
gehen. Er jprad mit ihm über Moral, über Land: 
wirtjchaft, über die Prüfungen des heiligen Antonius, 
über Bienenzucht, über Bismard, über die franzöfi« 
ide Revolution, über die Sünden des Jugendalters, 
und erzählend legte er feine Beichte ab. 


899 


VI. 

Als Alyſin allein geblieben war, fing er an, ſich 
langfam auszuziehen. Es war ſchon heil. Das Zim- 
mer, welches für ihn beftimmt war, war einfach ein- 
gerichtet wie das eines Handwerker oder eines Land⸗ 
manned, Gin Werltiſch mit Sägen verfchiebener 
Größe, mit Hobel und Meißel; ein unangeftrichener 
Th, Alyſins eigenhändige Arbeit, ein Breit mit 
Büchern, einfache Holzichnitte an den Wänden, eine 
Schlofjerbant, Kummete, Modelle landwirtſchaftlicher 
Maſchinen, und in der Ede ein eifernes Bett, zu⸗ 
gedeckt mit einer baummollenen, wattierten Dede, 
Das Licht brannte in einem bronzenen Leuchter, 
welcher nicht fünfzig Kopeken gefoftet haben mochte. 
Alyſin fehte fich auf fein Lager und ließ das Haupt 
auf die Bruft finfen. Er dachte daran, daß Many— 
fins Ankunft die von ihm eingeführte Ordnung plöß« 
lich umftürzte; merlwürdig war ihm dabei, daß er 
das jelber mit Ungeduld erwartete, da er wirklich 
überdrüjfig war, nicht des Selbftfolterns, wie Ma— 
nyfin fi ausdrüdte, jondern der Einförmigfeit und 
Einſamkeit. Außerdem ſchien ihm zuweilen felbft 
dies alles etwas dumm zu fein. Natürlich ift es 
beſſer, als auf der Eftrade zu Pawlonsk zu konzer⸗ 
tieren oder andre Säle Peter&burgs zu beiuchen; 
aber es muß doch noch etwas Bellereß geben, Was 
ift e8 aber? Es ift fchade, daß der Verftand fo eins 
gerichtet ift, dab man logiſch weder ſprechen nod) 
denfen, jondern nur jehreiben kann. 

Er nahm aus dem Nachttiiche ein von ihm vor 
furzem angelegtes Heft, von weldem er Manyfin 
nichts geiagt hatte, und las davon einige Seiten. 

„Warum beichäftigte ich mich mit der Revolution?“ 
fo fing das Heft an; „daher, weil ich ein unflares 
Streben nad) Freiheit hatte. Ich dachte, daß Frei— 
heit dur Gewalt erworben werben könne, Erft 
nachher fand ich, daß es noch etwas Stärferes als 
Gewalt giebt, und dieſes Etwas iſt die Geſchichte. 
Ich beuge mich vor der Geſchichte, weil ich jelber ein 
Teil der Geſchichte bin. Daher verwarf ich jo leicht 
die Revolution, Aber mit der VBerwerfung der Res 
volution blieb mein Ich ohne Boden. Die Geſchichte 
geht langjam, und ein Teil der Geſchichte zu fein, 
heißt etwas fajt ganz Unbewegliches jein, und 
wenn die Geſchichte ein Einer ift, jo ift ein Teilen 
der Geſchichte ein Einer dividiert durch die Ewigleit. 
Um das eigne Ich zu fühlen, verjenfte ich mid in 
Gelage. Aber dank meinem angeborenen Talent, 
welches meine Seele kitzelte, verjuchte ich die von mir 
begierig verlangte Freiheit in der angeblichen Welt 
der Töne zu finden. Und ich ſchien fie gefunden zu 
haben; ich triumphierte über meinen Sieg, ald man 
mich als Genius verfündigte. Bald aber wurbe ich 
mir bewußt, daß es nicht das war, wonach ich ge— 
ftrebt hatte, und daß es im Gegenteil eine Ente 


900 


würdigung war, ebenjo wie das Leben in Gelagen. 
Denn ich fühlte meine Individualität nur auf dem 
negativen Wege. Meine Perjönlichkeit rief müßiges 
Händellatihen, müßige Unterhaltungen, müßige 
Thränen und zuletzt auch die Sinnlichkeit hervor. 

„Auf der Geige jpielend, rührte ich ein Mädchen, 
riß es hin und verführte es. Sie fam jelbft zu mir, 
ich konnte mich nicht beherrichen und verführte fie. 
Da ih fie dann zu haffen anfing, jo heiratete ich fie 
nicht, damit ich fie micht töte. Ich fing fie aber zu 
bafjen an, jchon deswegen, weil fie der äußere An- 
laß war, aus dem ich die Mufit verwarf, für welche 
ich bejondere Vorliebe hegte. Es war eine jchwere 
Zeit, ih kämpfte mit mir jelbft mit derjeiben Qual 
wie der Grtrinfende, der nad dem Strohhalm greift, 
und ich erwartete Hilfe, jelbit von einem Manpfin, 
Schließlich verbrannte ich meine Geige, 

„Als ich die Geige verbrannte, verftand ich erit, 
daß ich jtarf war. Ich verfland es nicht zu jener 
Zeit, ala ich da8 Spielen erlernte und ein Virtuos 
wurde, jondern gerade damals, als ich die Geige 
verbrannte. Es war mir angenehm, daß ich jo ge= 
than. Da ich mid für den beften Violinfpieler in 
Europa hielt und der KHunft diefen ſchweren Schlag 
jufügte, ward mir die Stärke meines Ichs bewußt. 
Ich zweifelte nicht, daß andre Künſtler mir folgen 
würden. Wäre ich feine Kraft geweien, hätte nie 
mand mein Verfahren beachtet. 

„sh bin ftark, aber warum befriedigt mich nicht 
das, was ich jegt thue? Bisher bin ich zufrieden, 
aber ich ahne, daß meine Zufriedenheit bald zu Ende 
ift. In Büchern fand ich taufend Erwiderungen auf 
meine Theorie der Arbeit, welche der Perjönlichkeit 
die Freiheit fihert, Meiner Anfiht nah ift die 
Freiheit des Individuums dasfelbe wie Selbftachtung. 
Ih muß jelbit alles das machen, was ich brauche. 
Ich bin unmwürbig des Namens Menſch, wenn ich 
ohne Iwans oder Sidors Hilfe nicht austommen 
fann. Mein Stolz; wird herabgebrüdt, wenn Jan 
freigebiger ift ala ih und mir für Geld das macht, 
was ich ihm um fein Geld machen kann. Die Arbeits« 
teilung hat Millionen von Menſchen zur Knechtſchaft 
dur eine Meine Zahl Auserwählter geführt. Die 
Urbeitäteilung ift eigentlih die Perteilung der 
Menſchheit. 

„Wenn der Menſch keine Leidenſchaften hätte, ſo 
wäre er mit wenigem zufrieden. Macht iſt doch nur 
ein relativer Begriff, und dieſelbe Macht hätten dann 
alle, denn niemand hätte ſich aus feinem Niveau er« 
hoben. Ih, Sibor, Iwan — wir wären alle gleich. 
Uber ich weiß das und bin davon überzeugt umd 
babe doch Leidenſchaften. Die ganze Frage wird 
auf deren Unterbrüdung zurüdgeführt. Wie fol das 
aber geichehen? 

„Durch die Religion etwa? Ich wünjche fie nicht, 


Marim Bijelinsfi. 


denn bie Religion ift die Feſſel des Indibiduums 
Das Individuum kann fih nur jelbft die Grenzen 
beftimmen , jonft wird es feine Selbſtachtung ver- 
lieren, und damit würde wieder dieje Munde er 
ſcheinen, an welcher die ganze Welt leidet. eben 
falls gehört die Religion zum Gebiete der Geſchichte, 
deren Bedeutung ich bereits anerfannt und deren 
Gange ich mich unterworfen habe. Es entjleht ſchon 
ber cercle vicieux ...* _ 

Alyfın ſchlug das Heft zu und ſchleuderte es beifeite. 

„Das iſt nicht das Rechte!” fchrie er auf. „Wo ift 
denn die Wahrheit? Wer kann auf diefe Frage 
antworten? Schreibe ich vielleicht der Gefchichte eine 
Wichtigkeit zu, welche fie gar nicht einmal hat, und 
liegt vielleicht darin mein Grundirrtum? Wenn ja, 
dann ift alles, was ich gethan, nur ein fortwähren: 
der Jrrtum! Das ift nicht wahr!” 

Er jchlief bald ein, ohne das Licht ausgelöfät 
zu haben. Im Traume erfhien ihm wieder eine 
Geige. Er ſpielte allein in einem großen, leeren 
Saale; von den Saiten ſtoben Funken, unter den 
Strichen des Biolinbogens zudten Blitze. Und vor 
Glück ſchien er hinzufterben. 


VII. 


Am folgenden Tage hatte Manykin feine Luft, 
ind Dorf zu gehen. 

„Habe ich denn noch nie Bauern gejehen?* 

Aber Alyjin jhleppte ihn doch mit. 

„Solde haft du noch nie geſehen,“ jagte er. 
„Meine Bauern find ganz befondere.“ 

„I habe ſchon gehört, fie find alle Schurfen!* 

„Sogar große! Trotzdem liebe ih fie. Wir 
wollen zuerjt zu Kornei Timofejew gehen.” 

Korneis Hütte war ganz am Ende des Dorfes, 
ohne Zaun, ihre Seitenwände ftanden ſchief und 
drohten jeden Augenblid einzuftürzen. Kornei, ein 
großer Bauer mit dünnem Bart, kam aus der Stube 
im offenen Raftan. Er verzog den Mund und fprad 
lächelnd die ganze Zeit mit dem Herrn, Manpfin 
jah diejes Lächeln und dachte: Es ſcheint diejer Ca» 
naille doch ungemütlich zu fein; er wird bald nicht 
mehr lächeln, nein — doch! er hält es aus! 

„Haft du dich ſchon mit dem Vater verjöhnt?” 

„Wozu ſoll ic) mich denn eigentlich mit ihm ver- 
jöhnen? Zum Teufel!“ 

„War jchon wieder eine Schlägerei zwifchen euch?“ 

„Sehen Sie doch, meine Herren!“ 

Er ftredte unter dem Kaftan jeine Hand aus, 
die bis zum Ellbogen zerfragt und von geronnenem 
Blute ſchwarz war, 

„Womit hat er did) jo verwundet?“ 

„Mit einem Pflugeifen. Hol ihn der Teufel!“ 

„Und du?“ 

„Er bat aud) feinen Teil befommen.” 


Das neue Leben, 


„Haft du ſchon beine Egge ausgebefjert?” 

„Womit joll ich fie denn außbeifern! ch hätte 
dazu Holz, Heine Stangen haben müfjen....“ 

„It es Schon lange her, feit du bei mir ge— 
ftohlen haft?" 

„Wahrhaftig, das habe ich nie gethan!“ 

„Ih würde dir Stangen, jogar Holz geben. Du 
jolit dein Haus ſtützen. Es ftürzt jonft ein.” 

„Das ift wahr! Es ift Schon nicht mehr darin 
zu wohnen!“ 

„Aber du verjäufft es doch?“ 

Wirllich nicht! Ich hab’ ein Gelübde gethan!“ 

„Gut, ich werde Anweiſung geben.“ 

ſtornei verneigte fidh tief. 

„Diefer Bauer ijt gar feine Seltenheit!“ jagte 
Mamplin, 

„Ein Faulenzer und Trunfenbold! Dentft du 
etwa, daß der Water ihm wirklich die Hand mit 
einem Pflugeifen verwundet hat? Er lebt mit dem 
Toter in der beften Eintracht. Sie find beibe Diebe 
und zanfen fi bloß zum Schein. Borgeftern nacht 
haben fie auf meinem Gute eine hundertjährige 
Fichte gefällt, und dabei hat ſich Kornei mit einem 
trodenen Zweige jeine Hand aufgerifien. Ich weiß 
es ganz genau. Sie find verfhlagen. Hier wohnt 
Iwan Gawrilow. 

„Guten Morgen, Iwan Gawrilom!” fagte er, 
in eine geräumige Wohnung tretend. „Ich bin ge 
fommen, mich nad dir zu erkundigen.“ 

„So?* jagte ein grauer, dider, zweiundfünfzig 
Jahre alter Bauer mit Heinen, dumm blinzelnden 
Augen, indem er fid) erhob. 

„Haft du ſchon das Büchlein von Simeon Stolp- 
nid durchgeleſen ?” 

Jawohl!“ 

„Run, hat es dir gefallen?“ 

Jawohl!“ 

„Der da ſpielt vor mir die Rolle eines Idioten,“ 
erflärte Alyfin laut. „Währenddeſſen betrügt er 
aber das ganze Dorf — er ift der größte Wucherer. 
Ich ſuche noch immer das Gewifien in ihm zu er» 
weden, aber es fcheint auf immer eingejchlafen zu 
fein. Wo ift dein Junge?“ 

„Der Junge?” 

„Ja, ja, dein jüngfter Sohn!“ 

„Ih weiß nicht.“ 

„Schide ihn zu mir. Schau, Stephan, ba fommt 
line Schwiegertochter.” 

Eine Meine, magere Frau in einem langen blauen 
Ueberfleid trat herein. Sie grüßte mit nieber- 
geihlagenen Augen. 

„IR dein Dann zu Haufe?“ 

„Er wurde vor den Unterſuchungsrichter geladen. 
Väterhen! Beſchütze uns! Geftern beläftigte man 
den Schwiegervater, heute lub man den Mann vor, 


1 


morgen muß ich gchen! Bedenle do, mit einem 
Heinen Kinde! Alle haben jet Feiertage, wir aber 
— nur Schande und Unglüd!* 

„Daß geht mich nichts an, Domna. Man muß 
leiden. Ihr habt felber Schuld, wenn ihr fo jham« 
[08 lebt.” 

Als fie auf der Straße waren, erflärte Alyfin, 
dab Iwan Gawrilow mit feiner Schwiegertochter 
verbotenen Umgang habe und daß darüber jeht eine 
gerichtliche Unterfuhung auf Beranlaffung des Pfar- 
rers angeftellt jei. 

„In diefer armen Hütte wohnt ein Mädchen, fo 
ſchön, wie du wohl nie eines geiehen. Sie wohnt 
allein mit ihrer Mutter und heiratet nicht, obwohl 
fie ſchon zwanzig Jahre alt ift. Dahin werde id) 
dic) aber nicht führen. Doc, da iſt fie ſelber!“ 

An der Thüre ftand ein wohlgejtaltetes Mädchen, 
mit einem regelmäßigen, nod nicht verbrannten, 
Ihönen, bis an die Ohren gerötetem Geſichte. Die 
rabenſchwarzen Haare waren in einen langen, diden 
Zopf verflochten; der bloße Hals und die bloßen 
Hände waren ſymmetriſch gebildet, der weiche runde 
Körper war milhweiß. Die großen, dunklen, ſchüch— 
ternen Augen gliden denen eines Sheiligenbildes 
byzantiniſchen Stiles. Ihr Sarafan war rofenfarbig. 

„bie, ift fie nicht ſchön?“ 

„Ungewöhnlich!“ 

„Iſt fie ſchöner als deine Matjona Nitolajewna? 
Uebrigens, ſie heißt auch Matjona.“ 

Manyfin hörte auf, das Mädchen zu betrachten. 

„Wir wollen weiter gehen!” 

Alyfin führte feinen Freund fait um das ganze 
Dorf. Er kannte alle nad den Namen, fogar bie 
Kinder. Im allgemeinen machte das Dorf den Ein- 
drud der MWohlhabenheit. Aber in jedem Haufe 
trafen die fyreunde etwas, was Manylin Widerwillen 
verurfachte. So jahen fie, wie ein Mann jeine Frau 
Ihlug. Sie hielten ihn zurüd, aber faum waren fie 
fort, jo hörte man von neuem Stöhnen, Schreien 
und Hiebe mit Striden. 

Spiridon Kusmin, ein Mechaniker, Autodidalt, 
bei welchem fie auf der Rüdkehr anſprachen, redete 
mit Interejje über Bücher, und mit ernfien Augen 
zeigte er Alyfin ein Kartenmodell des Kremls. 

„Ach, du bift noch gar ein Kind!” ſagte Alyfin 
gutmütig. „Wieviel Zeit arbeitelejt du am Kremi?* 

„Ein halbes Jahr!“ antwortete Spiridon. 

„Wozu aber?” 

„Ich will es nah Moskau jchiden.” 

„Nun?“ 

„sch werde eine Medaille befommen.“ 

Die erwachjenen Söhne des Mechaniker wohnten 
mit ihren Frauen bei ihrem Vater. Spiribons 
Frau, ein altes Frauenzimmer, war jchon betrunfen, 
obwohl es noch ganz früh war, 


902 


„Sie ift eine Strafe Gottes!” ſagte der Mer 
chaniler. „Fort von meinen Augen! Glauben Sie, 
Alegander Ignatitich, unfer Glaube ift gut für alle, 
nur eines ift ſchlecht, daß es feine Eheſcheidung giebt.“ 

„Würdeft du denn heiraten ?* 

„Bott bewahre!“ 

„Er ift wohl von deinen Ideen durchdrungen?“ 
ſcherzte Manyfin, als er fih vom Mechanifer vers 
abjchiedet Hatte. 

„Nicht ganz! Siehft du, er hat den Kreml ge 
macht und träumt von einer Medaille! Und er ift 
doch ſchon fiebzig Jahre alt. Nun, wohin follen wir 
denn weiter gehen? In die Schule etwa? Sie ift 
aber gejchloffen, und der Lehrer hat ſich beurlaubt. 
Vielleicht in die Schenfe?* 

„Nein, erlaffe mir das!“ 

„Unjre Schenke bat auch Muſik. Wie habe ich 
mich angeftrengt, um die Dorfleute zur Abſchaffung 
der Schente zu beſtimmen!“ jagte Alyfin traurig — 
„nein, die Schenke ift ihnen teurer als die Kirche! 
Nun? du willſt nicht nad) der Schenfe? Dann gehen 
wir nad) Haufe.” 

Matjona ftand noch immer vor der Thüre. 

„Warum lächelte fie?" fragte Manpfin, 

„Sieh aufmerkjamer hin — fie wird noch mehr 
lächeln. Sie wollte vielleicht ihre Zähne zeigen. Sie 
fennt ihren Wert. Por etwa fünf Jahren hätte ich 
nicht widerftehen fünnen. Aber jet ftcht die Sache 
ſchon ander®. Haft du bemerkt, was für eine Hütte 
fie haben? Auf dem Dache ragen nur einige dünne 
Stangen hervor. Dffen geftanden, diefes Mädchen 
ärgert mi. Wenn es nad mir ginge, hätte ich fie 
aus dem Dorfe gejagt.” 

„Beträgt fie ſich denn nicht gut?” 

„Das eben ift daS llebel, daß fie ſich tadellos 
beträgt!* 

„Du haft Angjt vor ihr!” jagte Manylin leife, 


VIII. 


Martin benußle die Abweſenheit des Herrn, den 
Dünger durd) die Arbeiter fortjahren zu laſſen. Als 
Alyjin um zwei Uhr zurüdfehrte, war der Dünger 
ihon ganz weggeſchafft. Alyjin hörte es und zeigte 
feine Unzufriedenheit. Der Alte triumphierte und 
ſah mit Dankbarkeit auf Manylin, dem er dieſen 
ſegensreichen Einfluß auf feinen Herrn zuichrieb. 
Unterdejjen disputierte Manyfin mit Alerander. 

„IH kann mir gar nicht vorftellen,” ſagte erfterer, 
„wie man jolches Vieh lieben kann, wie jenen zum 
Beijpiel, welhem du den Simeon Stolpnif zu lejen 
gegeben haft. Ich möchte ihn ordentlich durchprügeln. 
Dein Mechaniker ift auch ein netter Kerl! Sie find 
alle gut. Du zeigit ihnen Liebe; dieje Liebe aber 
lommt aus dem Kopfe und nicht von Herzen.“ 

„Es ift noch die Frage, welche Liebe höher und 


Marim Bielinski. 


wahrhaftiger iſt,“ erwiderte Alyjin, „Die bes Sopieg, 
das heißt die vernünftige, oder Die des Sperzens, das 
heißt die unbewußte. Du ſcheinſt dies umgekehrt 
aufzufaſſen und Haft einen ganz andern Ausgangd 
punlt, Du bift Wefihetifer und willſt nur reine 
Naturen haben. Meiner Anfiht nach wird im un 
Liebe zum Menſchen nur duch deſſen Verſunkenheit 
und Gemeinheit erwedt, Diefe Verworfenheit errest 
in uns Widerwillen, und wir wollen jie bejeitigen; 
das ift die wahre Liebe.“ 

„Alfo ift dein größter Liebling dieſer Wucheret 
und Wüflling ?* 

„Ja!“ fagte Alyfin, ohne zu überlegen. „Ich denke 
oft an ihn. Ich bedaure ihm micht, ich möchte « 
aber erreichen, dab man ihn endlich bedauern fünnte 
— ih möchte aus biefem Kloße einen Menſchen 
ſchnißen, ihn gewiſſenhaft machen und dazu bringen, 
daß er fi zu beflagen anfängt. Darum gebe id 
mich fo viel mit ihm ab.” 

„Um des Müftlings willen haft du auch die Geige 
verbrannt ?” 

„Aus einem andern Grunde — bu weißt, au 
welhen! — Ad, das Wort Unzucht! — Freilich 
wenn es mir Ruhe und Frieden gebradt dat, ie 
muß auch dieſer Wüftling moralijchen Nutzen davon 
haben.“ 

„Aber bisher lacht er dich noch aus! Alerauder, 
du ſagſt mir, daß ich die Kunjt liegen lafjen toll, 
und ich bitie dich, höre auf, dic) als Sonderling 
aufzuführen. Wozu willſt du auf Steine füen? Du 
bift doch bet vollem Verſtande!“ 

„Und wenn ich nicht bei vollem Verſtande wäre!* 
fragte Alyfin, rot werbend und mit dem Augen 
zwinfernd. „Wo ift denn die Grenze zwiſchen dem 
gefunden und ungejunden Berftande? ft denn nict 
auch die Perle eine Krankheit? Bift du gelund! 
Vielleicht bift du ungefund und ich bin gejund? Ober 
vieleicht bin ich franf? Aber meine Krankheit if 
normaler als beine Gefundheit, umd vielleicht wird 
mein Zuftand nur darum als Krankheit betraditel, 
weil er eine Ausnahme der häßlichen und allgemein 
verbreiteten Regel ift?“ 

„D, wie wunderbar du urteilft!“ 

„Ich urteile aufrichtig. Ehe ich zu einem Schluß 
fomme, zweifle ih lange. Am Ende urteile ic, und 
damit baſta!“ 

„Aber auch dann zweifeljt bu noch!" 

„Vielleicht, nad} einiger Zeit! Der Verſtand ift 
ein lebendiger Mechanismus, das fchadet nichts!” 

„Ich erinnere mich, Alexander, wie du noch ald 
Gymnafiaft zu philofophieren pflegteft, daß mir die 
Ohren wehe thaten! Erinnerſt du dich, wie du ein⸗ 
mal mit Kreide einen Punkt auf die Tafel zeichnetefl, 
dann eine Linie zogeft und zwei Tage nadeinamder 
fragteit: Warum ift hier ein Punkt? Warum ift hier 





Das neue Leben, 


eine Linie? Wer jhuf diefen Punkt? Wer ſchuf ben 
Schöpfer dieſes Punktes? Was ift eine Tafel und 
warum ilt fie eine Tafel? Warum habe ich blonde 
Haare und der Lehrer der Mathematik ſchwarze? 
Giebt es wohl einen Zujammenhang zwiſchen der 
blonden Farbe und dem Punkte?” 

„Run, das haft du dir ausgedacht!“ jagte Alyfin 
lädelnd. „E3 war nur ähnlich ; offen geftanden, furz 
vor deiner Ankunft ſaß ich hier, an dieſer Stelle, 
und dort, wo du jebt ſiheſt, ftellte Martin einen 
Krug mit Kwas hin. Ih begann über den Awas 
nachzudenken: Wie wäre es, wenn der Krug jo groß 
wie Martin wäre? Wie hätte er ihn gebradht? Und 
wenn der Krug noch größer wäre? Das fam daher, 
weil ih müde war, fchredlich Durft hatte und im 
Ropfe feinen einzigen friichen Gedanten.“ 

Er fing zu laden an. 

„Martin, ferviere das Mittagejien, aber recht 
reichlich,“ befahl er. 

Nady Mittag lieh er eine Barkaſſe augrüften. Die 
Ürbeiter jegten fi an die Ruder, Alyfın jelbjt nahm 
dad Steuerruder und führte das Boot über bie 
Glaſawla, welche Hinter Chrustifi weit ausgetreten 
war. Sie jah aus wie ein großer See, beſtreut mit 
einer Menge Infelhen. Aus dem Waller ragten 
Gipfel von Bäumen hervor. Verſchiedene Arten von 
Enten flogen mit ſchrillem Geräuſch ſcharenweiſe 
über ihre Köpfe und bebedten die Barkafje mit einem 
durchſichtigen, beweglichen Schatten. Auf den Sand» 
bänfen nifleten Schnepfen, Taucherenten berührten 
mit ihren kurzen Flügeln das Waſſer, hinter ſich 
eine gligernde, bewegliche Spur zurüdlaffend. 

„Du kannſt ſchießen, wenn es dir Vergnügen 
macht,” ſagte Alyfin zu Manyfin. „Die Flinte ift 
deinetwegen mitgenommen. Sch jelbit habe ein Ge— 
lübde gethan, nicht zu jagen. Es ijt ein biutiges 
Vergnügen, fieh einmal — da ift ein Paar!” 

Manpylin nahm die Flinte, zielte und erlegte einen 
Enterich, der fi mit dem Leib nad oben drehte, 
Das Weibchen flog fort. Der Hund jprang ins 
Waſſer und holte das Wild, 

Alyſin bemerfte Blut auf den grauen Federchen 
und wurde blaf. 

„Ein jonderbarer Genuß liegt im Morde!” jagte 
er. „Einen Menjhen ermorden joll wohl ein noch 
größerer Genuß jein. Hinter jenem Inſelchen liegt 
ein Meines Dorf, welches von bier aus faum zu jehen 
ift. Dort wohnen Leute, die aus dem Gouvernement 
Wladimir übergefiedelt find. Sie find noch zur Zeit 
der Leibeigenfchaft nach bem Dorfe gelommen. Diefes 
Dörflein heißt Spafjowfa. Alle in Spaſſowka find 
Setierer, Denke dir, wenn jemand von ihnen feine 
Seele retten will, fo giebt er jeinen Freunden davon 
Nachricht, und es findet fich immer einer, der ihn 
mit einem Mefjer in Stüde ſchneidet. Solche Mord- 


903 


thaten werden jelten entdeckt. Im März verfchicte 
man einen Greis nad Sibirien, der feinem eignen 
fiebenjährigen Sohne den Hals abgefchnitten hatte. 
Er ließ ihm ein weißes Hemd anziehen, legte ihn 
auf eine Bank und opferte ihm bei Sonnenaufgang. 
Ganz jo wie Abraham !* 

„Ad, wieviel Roheit giebt es doch noch in 
Rußland!“ fagte Manyfin mit Efel, eine Patrone 
in die zweiläufige Flinte ftedend, 

„Trotzdem,“ fuhr Alyſin fort, „find die Spaſſower 
jehr gute Menſchen. Sie haben fein ererbtes Eigen« 
tum, fie find Kommuniften; fie trinfen feinen Wein.” 

„Sie find Wahnfinnige! Es ift ein ausartender 
Stamm!” 

„Dasſelbe hätten fie auch von dir gejagt, wenn 
fie gebildet wären.” 

Manpfin zielte nad) einem Waſſerhühnchen, welches 
mit feinen langen, einen Halt juchenden Beinen über 
das Fangnetß floh; er traf es. Mit dem zweiten 
Laufe erlegte er dann eine von dem Schwarm ab» 
gejondert hoch fliegende FKridente. 

„Bis jeht haft du noch fein einziges Mal gefehlt!“ 
rief Alyfin aus und zitterte, als der Vogel ſchwer 
ind Wafler fiel. „Ich bemeide did, warte!” 

Er warf das Steuerruder hin, nahm die Flinte, 
lud fie und traf eine Schwalbe, 

„O!“ fagte Manylin. 

Alyſins Hände zitterten. „Pfui! Das iſt eine 
Schande,“ fagte er mit Reue, „Nein! in mir lebt noch 
der Eitelfeitsteufel. Ich weiß nicht, was mit mir 
geſchehen würde, wenn ich gutes Geigenfpiel hörte.“ 

Lange ſprach er nicht mit Stephan. Er übergab 
ihm die Flinte und regierte ſchweigend das Gteuer- 
ruder. Die Ruderer fingen zu fingen an. Als jie 
endigten, fagte Stephan: 

„But! Aber vielleicht läßt es ſich auch fo fingen!” 

Und er begann dasſelbe Lied in einfacherer Melobie. 

„Wie ſchön!“ flüfterte ein junger Nuderer, und 
Thränen traten ihm in die Augen. 

Die Stimme des Sängers floß wie ein breiter 
ausgetretener Strom dahin, fie ſprach zum Herzen, 
flog in die Ferne und enthielt jo viel wunderbaren 
ruſſiſchen Kummer, daß den Hören Thränen in die 
Augen traten, Plötzlich unterbrach Manylin das 
Lied, da er ſelbſt gerührt war. Er bebedte fein 
Geſicht mit einem Tuche, biß die Zähne zujammen 
und nahm aus feinem Rode eine Zigarettentaſche. 

Ich will aud) ein wenig rauchen,“ jagte Alyfin leiſe. 

Die Sonne war ſchon untergegangen, als die 
Barkajje nad Chrustifi zurückkehrte. 

Abends erzählte Alyfin Stephan zaghaft von 
feinem Hefte. Stephan lag es durch und fing die 
Möglicheit der individuellen Freiheit zu beitreiten 
an. Sie ereiferten ſich beide, aber jeder blieb bei 
jeiner Meinung. 


904 


IX. 

Manykin verweilte in Chrustifi noch einige Tage. 
Alyfin gab fich alle mögliche Mühe, ihn zu zerfireuen, 
aber der Borrat an Bergnügungen erihöpfte ſich am 
Ende, und jo überließ er allmählich feinen Freund 
fih allein. Er ſelbſt langweilte ſich ohne Arbeit 
oder fpielte, wie Manyfin dachte, den fi) Lang- 
weilenden; morgens fuhr er ins Feld oder in den 
Wald, und einmal fam er aus dem Dorfe mit einem 
verwundeten Finger, den er ſich bei Ausbeflerung 
der Egge des Trunfenboldes Kornei verurſacht halte, 
Ohne etwas zu thun zu haben, jchlenderte Stephan 
duch alle Zimmer des Haufes, wühlte in der alten, 
vernachläjfigten Bibliothef herum und pußte mit 
einem Tuche die ſchwarz gewordenen Delgemälde in 
dem Munjche, zwijchen ihnen ein vergeflenes Meifter- 
werk aufzufinden. Aber faft alle Bilder ſtammten 
aus dem Pinjel leibeigner Künftler. Eines von 
ihnen jtellte einen Ahnen bes Alerander Ignatilſch 
bar, eine Standesperjon aus der Zeit der Elifabeth, 
der wegen Grauſamleiten, begangen gegen feine 
jpäter vor Hunger gejtorbene Frau, aufs Yand ver- 
bannt wurde. Diefe von den neun Muſen umgebene 
Stanbesperfon ſaß unter einem Baume und fpielte 
auf einer Geige. „ES ſcheint muſilaliſches Talent 
in der Familie zu liegen,” dachte Manylin. Martin 
erzählte ihm, daß Alexanders Großvater furdtbar 
ſtolz gewejen wäre, jo daß er nicht einmal zum Hofe 
fuhr; und wenn die Kreisbeamten Gejchäfte halber 
zu ihm famen, jo mußten fie vom Thore an un» 
bededten Hauptes gehen. Auch er vertrug ſich ſchlecht 
mit jeiner Frau, Er ließ fie noch lebend in den 
Sarg legen; der Pfarrer hielt das Totenamt, während 
fie im Sarge meinte und jchrie. Bald darauf aber 
wurde fie herausgenommen, und jie überlebte noch 
ihren Ehegatten. Der Urgroßvater Alerander Ignati- 
ſcheus jtand bei der Kaijerin Katharina in bejonderer 
Gunſt; er zog fih den Zorn Potemfins zu, weil er 
eine Tabalsdoſe, die diefer zufällig fallen ließ, nicht 
aufheben wollte. Er wurde jpäter als Gouverneur 
an der Wolga angeftellt, wurde plöglich ſchwermütig 
und ging ins Kloſter. Ein Jahr darauf legte er 
feine Mönchskutte ab, kehrte nach Ehrustifi zurüd und 
errichtete ein Theater, auf deſſen Bühne nicht felten 
ziemlich unanftändige Vorftellungen gegeben wurden. 
Gegen das Ende jeines Lebens verbrannte er es. 

Wie Mlerander feine Geige! Das jcheint im Ge- 
ichlecht zu liegen! dachte Stephan. Und da jpridt 
er noch von Freiheit des Individuums. Eine jchöne 
freiheit das! Jeder unirer Schritte ijt vorherbeſtimmt 
und borausgeichen! 

Am frühen Morgen war Alylin aufgeitanden und 
gab jeinem Freunde bis zur Brüde das Geleit. Er 
umarmte ihn lange. 


Marim Bjelinsti 


„Entſchuldige, ich bin ein langweiliger Menjh!* 
iprad er. „Ich verdarb dir die Laune, Aber mir 
jheint, deine Herzenswunde bat ſich gebeſſert, nicht 
wahr? Einmal beſuche ich did) auch — vor der 
Erntezeit !” 

Er drüdte Manykins Kopf an feinen fruppigen 
Bart und verließ den Wagen. Manyfin wandte fih 
um — Alyſin ging auf einen Damm, ſich auf den 
Stod ftügend, und ſchaute ihm nicht nad). Und ih 
wollte doch ins Ausland. Warum jagte id) ihm das 
nicht? Ich fahre aber erſt im Juli. Es fällt mir 
jchwer, Rußland zu verlaſſen, dachte Manylin und 
jeufzte auf. Nach einigen Angenbliden ſprach er 
wiederum zu jih: Und weshalb ſchwer? Wer hält 
mich bier? Muja Nilolajewna? Alyfin? Aber mit 
dem allen iſt ja längft gebroden. Alhſin fteht 
mir jet am nächſten! und doch wie weit find wir 
voneinander entfernt! Wie werde ich mich in Wo 
wiſchennoje langweilen ! 

Die Sonne brannte. Am Himmel zog ſich eine 
bunfle Wolfe zujammen. Sie wuchs ſchnell und 
jhien in ein Gewitter ausbrechen zu wollen. Die 
Schwalben flogen tief über ber Oberfläche des Waſſers 

In der Ferne donnerte es. Die Sonne ver 
finfterte fi, die Luft wurde ſchwül. Die Wolle ver: 
größerte fi) und bededte die Sonne. 

Dann fielen die erften großen Regentropfen. Die 
Pferde zogen fchneller an, indem fie bie Ohren 
jpigten. Allmählich begann es ftarf zu regnen; && 
blite fortwährend. Donnerſchläge ertönten. Dany 
fins Kutſcher bemerkte in der Ferne ein Gafthaus 
und Ienfte die Pferde direkt dorthin, um das Gewitter 
abzumarten. 

XI. 

In dem Gaſthauſe bemerlte Manyfin einen diden 
Herrn mittleren Alters mit großem Kopf, einer Vogel- 
naſe und goldener Brille, Er tranf Thee, ohne auf 
das Gewitter zu achten, und hielt in einer Hand eine 
Zeitung, bemüht, zwei Gejhäfte auf einmal zu ber 
forgen. ‚Uber er that noch etwas drittes, er hielt 
nämlich eine jtarfe Zigarrenfpike zwilchen den Zähnen 
und tauchte dicke Zigaretten. Der Tabatraud erfüllt: 
das Zimmer und vermehrte deffen Dunkelheit. In 
einiger Entfernung ſaß ein junger Mann auf einem 
geflochtenen Stuhl, mit übereinandergejchlagenen 
Beinen, den einen Arm über die Stuhllehne gelegt, 
in einer gefucht ftußerhaften Stellung. Sein Gefiät 
war belltot, und jeine matten Augen zeigten Selbil- 
zufriedenheit. Er jchredte jedesmal auf, wenn ı 
donnerte, ſah aber gleich darauf durch das Fenſiet 
jobald er ſich überzeugt hatte, daß nichts gefchehen 
war, zudte er mit den Achſeln. 

Manykin jhüttelte den Regen von jeinem Rod; 
faum hatte er einige Schritte nach dem Tiſch gemadt, 
auf welchem der Samowar kochte, als ber vogelartigt 


Das neue Leben. 


Herr alle feine drei Gejchäfte aufgab, auf ihn zu⸗ 
iprang und liebenswürdig fragte: 

„Wollen Sie nicht Thee teinfen? Bitte! Der 
meinige fteht zu Ihrer Verfügung. Geftatten Sie, 
daß ich mich Ihnen vorftelle: Landſchaftsarzt Scheres 
metjew, und hier mein Sohn Scheremetjew, Student 
im vierten Semefter. Unſer bedeutender Familien- 
name ftammt daher, dag mein Großvater Leibeigner 
der Fürſten Scheremetjew war und jeinen Namen 
na dem Gutsheren befam. Als ih Student war, 
war ich auf meine demofratijche Abkunft ftolz, und 
wie follte ich nicht? Hat doch mein Großvater jelbit 
das Feld gepflügt! Aber jegt pfeift man eine andre 
Tonart, Mein Sohn iſt jogar, wie ſich jetzt heraus— 
ftellt, verwandt mit den Scheremetjews und läßt auf 
ſeinen Couverts und Bifitenfarten die Fürjtenktrone 
druden. Mit wem habe ich die Ehre? Vielleicht der 
Gutsbeſitzer Diejes Goudernements ?" 

Manykin bemerkte, daß er vom Sohne des Arztes 
Hart beobachtet wurde; diejer hatte wahrſcheinlich 
von Manyfin gehört oder ihn gar auf der Bühne 
geſchen. Manyfin nannte feinen alten, jeht ver 
geflenen Theaternamen, der Student hörte auf, ſich 
für ihm zu intereffieren, und der Arzt ſagte: 

„Sehr angenehm, jedoch höre ich Ihren Namen 
zum erftenmal. Ausländilcher Name, aber dem Aus» 
jehen nach find Sie ganz und gar Ruſſe. Alfo darf 
ih Ihnen ein Gläschen Thee anbieten oder eine 
Zigarette ?* 

Er öffnete feine Zigarettentajche und bot Manyfin 
eine fingerdide Zigarette an. Manylin ſchlug den 
Thee und die Zigarette aus, 

„Was giebt's Neues in der Zeitung?“ fragte er 
gühnend,. 

„Alles jtill, vielleicht die Stille vor dem Gewitter; 
der Rubel jteigt. Heute ift auch eine Korreipondenz 
abgedrudt aus dem Dorfe Woswilchennoje über eine 
gewiſſe Manykin, eine gottesfürdhtige Witwe, die eine 
bedeutende Summe zur Verjchönerung der Ortskirche 
geſchenkt Hat. Aber das Intereſſanteſte in diejer 
Korrefpondenz ift der Pater Wilfarion, von dem 
man erzählt, daß ein Budliger, für ben er betete, 
gerade wurde. Wenn dad wahr ift, jo handelt es 
ich um einen byfteriichen Kranken. ch habe jelber 
mit jolhen jhon Wunder vollbradt. Ich brauchte 
nur eine Pferdeportion von Brom zu verordnnen, und 
alles war vorüber.” 

„Aber der Vater Wiljarion verordnet doch fein 
Brom?” 

„Der Glaube wirkt ebenjo wie Brom. Ich jchreibe 
manchen Nerventranken einfaches Wafler vor, und 
das hilft. Ich kenne meine Leute, Sch bin ein 
Mann in den Sechzigern. Jh bin nicht jo leicht 
anzuführen,“ 

„sch hörte doch, daß die Tochter der Frau Many 

Aus fremden Zungen. 1897. IL 19, 


905 


fin, ein junges Mädchen, welche die Aerzte bereits 
aufgegeben hatten, dur die Gebete des Waters 
Wiſſarion dem Leben wiedergegeben wurde, ich glaube, 
fie hatte den Typhus. Iſt denn das eine Nerven» 
krankheit? Wie iſt das zu erflären ?” 

„Sie find wohl aus jener Gegend ?* 

„Ja!“ 

„Sagen Sie, bitte, ift es wahr, daß das Bolt 
diejem Wilfarion mafjenhaft nachläuft, jo dab er 
häufig Gottesdienft auf freiem Felde abhält ?* 

„Ich ſah es nicht, aber man jagt, er ſei ein 
Heiliger.” 

„Merkwürdig! und das im neunzehnten Jahr» 
hundert, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, 
im Jahrhundert des Dampfes und der Elettricität! 
Und was den Typhus betrifft, jo ift das eine jehr 
eigenlinnige Krankheit; und der Tod ift noch eigen- 
finniger. Die Diagnofe des Todes ift leicht, aber 
der Menſch muß zuerſt tot fein. Nun, wenn der 
Vater Wiljarion einen Toten lebendig machen wird, 
dann ...“ 

„Dann werden Sie wohl glauben?“ 

„Nein! Ich werde auch dann nicht glauben. Ich 
bin Arzt, meine Pflicht iſt, gegen Verirrungen zu 
lämpfen, und nicht, ihnen Vorſchub zu leiſten. 

„Die Auferſtehung des Lazarus kann vielleicht 
phyſiologiſch erflärt werden! Jawohl! Der Glaube 
fann vielleicht ein Gegenftand der Willenjchaft fein, 
ein Ärztlihes Mittel, aber nicht mehr. Sie haben 
doch vom Hypnotismus gehört?” 

Manykin erwiderte: „O ja! Hypnotismus iſt 
meiner Meinung nach ein großer Schwindel.“ 

„In den Händen eines Schwindlers ja,“ ſagte der 
Arzt, „aber in den Händen eines Arztes der Hebel 
des Archimedes. Jawohl!“ Er jchentte fih noch 
ein Glas Thee ein, goß Cognac hinein und tranf 
haftig. 

„Der Spiritismus ift wirklich ein Unfinn,” begann 
er wiederum, „ein hyſteriſcher Zuftand, nichts weiter. 
Trotz der Autorität vieler Männer der Wiſſenſchaft 
fann ich ihn nicht anerkennen; in meinen Zeiten, 
Väterchen, haben die Autoritäten nichts bedeutet,“ 
fügte er prahlerijd) hinzu. 

„Auh in unjern Zeiten erlennt niemand die 
Autoritäten an,” miſchte ſich plöglich der junge Mann 
leicht hinein, ohne feine ftußerhafte Haltung aufe 
zugeben. „Wir verachten alles!" 

„Nun, mein Lieber, ich denfe, nicht alle find dir 
ähnlich,“ erwiderte der Vater. „Sehen Sie, er ift erft 
zweiundzwanzig Jahre alt, und ich habe jchon fünf, 
taujend Rubel Schulden für ihn bezahlen müflen.“ 

„Bater!” rief der Student, „zunächft ftellit bu mich 
als einen falſchen Grafen vor, und nun beinahe als 
einen Betrüger. Willft du deine päterliche Begeifterung 
nicht ein wenig bezähmen ?!* 

114 


906 


Ein Blitz zudte und beleuchtete mit feinem Licht 
bie Dämmerung der Stube, glei darauf erfolgte 
ein Donnerſchlag. 

Der junge Mann ſchloß die Augen und fchnitt 
eine unzufriedene Grimajle. 

„Er zürnt jeßt auf Gott, auf feinen Vater aber 
ſchon längft,“ jagte der Arzt mit einem Male nach— 
fichtiger. In feinen Augen war zu lejen, daß er 
jeinen Sohn liebte, ihn für jehr hübſch hielt und, 
obwohl er ihn tadelte, im Herzen doch auf ihn 
ſtolz war. 

„Bitte! Woher kommen Sie?* wandte er ſich 
fragend zu Manplin, fi noch Cognac in den Thee 
gießend. 

„Aus Chruſtiti!“ 

„Sie waren wohl zu Gaſt?“ 

„Ja!“ 

„Wahrſcheinlich bei Alyfin ?“ 

„Ja! Kennen Sie ihn?“ 

„Ja, ich hörte von ihm! DO, gewiß! Es muß ein 
fonderbarer Mann fein! Derſelbe Vater Wiffarion, 
nur aus Weizenmehl, Entjhuldigen Sie! Er ift 
vielleicht Ihr Freund, und ich will nichts gegen feine 
Perſon jagen, die ich übrigens aud gar nicht fenne; 
nur etwas über feine Jdeen, Zu unjrer Zeit haben 
fi) fonderbare und unbegreifliche Ideen Bahn ge 
brodhen. In den jechziger Jahren waren die Ideen 
Har, wir wuhten, was wir wollten; und was wollten 
wir damald nicht? Alles! Freiheit der Liebe — eins; 
Vereinäfreiheit — zwei; Zulaffung der rauen in 
die Univerfität — drei; Rebefreiheit — vier; Frei— 
beit — ...“ 

Der Arzt ſchien nad einem Worte zu ſuchen, er 
hatte vergejjen, was für eine Freiheit die Leute in 
den jechziger Jahren noch anjtrebten. 

„Was für Freiheit noh...? Ja, Freiheit des 
Gewiſſens — fünf! Wir wollten fünf Freiheiten, 
und ob es gut oder jchleht war, wir gingen direlt 
auf unjer Ziel los. Wir waren allgemein zugänglich, 
jelbjt Heine Kinder verjtanden und. Gymnafiaſten 
jhwärmten für die Prinzipien der ſechziger Jahre, 
Und jet! Ich bitte Sie! erflären Sie mir, was ifl 
Alyſin? Ich, ich verftehe ihm nicht!“ 

„Das ift auch ausgezeichnet für di, Vater! 
Wenigſtens wird man did nicht nach Sibirien ver 
bannen!“ fagte der Student, in jeiner Stellung ver- 
bleibend und dem Regen zuſchauend, der in ftarfen 
Tropfen gegen die Fenfterfcheiben ſchlug. 

Manyfkin verfuchte nicht, den Arzt über Alyfin 
aufzuflären. Er verjtand ihn ja jelber nicht und 
hatte feine Luft zu ſprechen. 

Wirklich!“ fuhr jener fort, „man ſchaut und ſchaut 
dem Leben zu, man denkt darüber nad und lommt 
ſchließlich zu einem für unfre Intelligenz wenig 
ſchmeichelhaften Schluß. Sie hat jo viel Ideen ver- 





Marim Bjelingtfi. 


jpeift und bat fie nicht verbaut, fie hat fich die Nerven 
ruiniert, fie ließ fih von Budle und Mill, von 
Darwin und Büchner hinreißen, jebt aber, ſehen Sie, 
verachten wir alles. Gieb uns etwas Unerhörtes, 
Uebernatürliches! Selbft der kleinſte Menſch kritifiert 
alles! Wollen Sie nit ein Bläschen Cognac!" 

„Rein, ich danle!“ 

Vor dem Gaſthaus fuhr noch ein Wagen ver, 
Es trat eine dide Gutsbeſitzersſrau mit zwei Ichmäd: 
tigen Badischen ein. Der Student erhob fd, 
flemmte dad Monocle in das rechte Auge und ber 
trachtete die Mädchen. 

Die Gutsbeligersfrau ging mit ihren Zöcten 
in das Heine Nebenzimmer, befahl mit lauter Stimme 
einen Samowar und etwas zum Frühſtüd. Dir 
Backiſche plauderten miteinander, man hörte ftan 
zoͤſiſche Phraſen. 

Der Arzt unterbrad ſein Geſpräch mit Manyfin, 
duch die neu Angelonmenen abgelenkt. Der Regen 
hatte auch bereit$ aufgehört, das Gewitter entfernte 
fi) langſam, in der Ferne bligte es noch dann und 
warn, aber bald leuchtete die Sonne hervor. 


XI. 


Um ein Uhr nachts fuhr der Wagen Manplint 
auf den Hof jeines Gutes. In jeinen Zimmern 
brannte Licht. Man erwartet mid) wohl! dachte er. 

„Sie haben Beſuch, gnädiger Herr!” erklärte das 
Dienſtmädchen. 

„Wer denn?“ 

„Ein Herr aus St. Petersburg!“ 

Er ging eiligft auf fein Zimmer und bemerkt: 
zu feinem größten Erjtaunen den Theateragenten 
Lion, Diefer ftand in der Stellung Napoleons 
und jchüttelte vorwurfsvoll den Kopf. 

„I depeſchiere nad D.,“ begann er — „feine 
Antwort ; ich gebe ein zweites Telegramm auf — wir: 
derum feine Antwort. Ich fahre in eiguer Perjon zu 
ihm — er iftverreift. Ich fahre nad) Woswiſchennojt 
— ebenfalld verreif. Morgen wollte ich zu Alfın, 
um Sie endlich abzufangen, Stephan Philippowitid: 
Was machen Sie aus mir? Ich kann ohne Sie mid 
leben, ich bin ohne Sie eine Null!“ 

„Aber wovon ſprechen Sie denn?“ fragte Ma 
nylin barſch. 

„Sagen Sie mir doch wenigftens: ‚Guten Tag” 
Ihre Hand, Meifter! Die Sadje verhält ſich nm 
lich jo: Ich habe in Peteräburg ein Sommertheatet 
eröffnet und muß dort Opern aufführen.“ 

„Aber darüber haben wir ja nie geſprochen! I4 
verſprach ihnen nichts. Ich habe gar feine Lufl, in 
Sommer in Peteräburg zu fingen.” 

„Das lam unerwartet, ich bin felber überraiht. 
Mitte Mai muß ic die Truppe zuſammen haben. 
und Sie müflen fingen. Sie werden nicht weles, 


Das neue Leben. 


daß mid der Schlag rührt!“ 
$niee nieder. 

Manykin zudte die Achjeln. 

„sn Petersburg? Unſinn! Ich werde mich nie 
bis zur Operette erniedrigen!” 

„Aber e& ift feine Operette, es ift ja eine Oper, 
Sie Unmenſch!“ rief aufipringend Limon. „Hier!“ 
— er zog eine Reihe Telegramme aus der Tajche — 
„alle find einverftanden!” 

„Und ift auch Tintorelli einverftanden !* 

„Zintorelli — nein!” 

Ich auch nicht!“ 

Liwon feufzte Schwer und fahte fih an den Kopf, 

„Das geht nidht, das ift unmöglih! Ach ver 
laſſe Sie nicht,“ erflärte er entſchieden und fing an, 
mit großen Schritten im Zimmer bin und ber zu 
gehen. Sodann hielt er piößlich wie ein gut dreſ⸗ 
fierted Pferd vor Manyfin. Indem er die Beine 
ſpreizte und den Kopf zurüdlegte, rief er aus: „Sie 
fönnen nehmen, was Sie wollen; Tenor reine en or. 
Mir wird nichts zu viel fein! Ich Habe ja nichts! 
Das Geld gehört ja den Sängern und nicht dem 
Direftor. Unfre Pflicht ift, uns zu ruinieren.“ 

„Ich bin nicht ſelbſtſüchtig,“ erwiderte lächelnd 
Manpfin., 

„Hören Sie!” ſagte der andre darauf. „Ich 
fenne Ihre ſchwache Seite. Sie find in Mailand 
durchgefallen. Aber id) werde Revanche für Sie 
uchmen. Sie werden engagiert werden, und man 
wird Sie bort mit Glanz und Entzüden empfangen.” 

„Laflen Sie mich nachdenken,” ſagte Manykin, 
die Brauen zufammenziehend. 

„Wie lange wollen Sie nadhdenfen? Eine Stunde ? 
Eine halbe Stunde?” fragte erfreut Liwon. Er zog 
die Uhr aus der Weitentajche und hielt fie Manyfin 
wie eine Piftole vor die Augen. „Denen Sie 
ſchneller nah! Um Gottes willen ſchneller! Jch will 
ſogleich abreifen, ich habe feinen Augenblid zu ver— 
lieren. He, Franz! laffe die Pferde anfpannen!* 

„Bor dem erjten Juli kann ich nicht,“ fagte 
Manpfin. 

„April, Mai, Juni... Nein! Das ift faft un« 
möglich!” 

„Es iſt doch möglich,“ erwiderte Manyfin mit 
finfterem Geſicht. „Vor Juli kann id unmöglich 
einwilligen. Ih bin jebt nicht bei Stimme, das 
heißt nicht in der richtigen Stimmung; es ift ja das- 
jelbe! Ich bin verſtimmt!“ 

Simon ſenlte den Kopf, legte den Finger an die 
Stirn und rief nah minutenfangem Nachdenten: 

„But, einverjtanden! Einftweilen wird Sokolow 
fingen. Ich werde Sie als Lederbiffen reichen! 
Aber ich werde Sie jeht ſchon ankündigen. Schreiben 
Sie in mein Notizbuh! Sie lönnen auch mit Blei— 
ftift ſchreiben: ‚Einverftanden vom 1. Juli bis 1. Sep⸗ 


907 


Er ließ fich auf die ı tember, 300 Rubel den Abend.‘ Zu wenig? Dann 


ſchreiben Sie ‚400°! Schreiben Sie ‚500‘! Das ift 
ja gleichgültig! ‚Und ein Benefiz. — Manyfin.‘ Und 
bier ift eine Quittung von mir! Schlagen Sie ein, 
Saprifti!” 

Liwon reifte am frühen Morgen ab, 

As Manylin am nächften Morgen aufwachte, 
war es ihm, als hätte er einen böfen Traum gehabt, 
aber er fand Liwons Zettel in der Taſche. Ih muß 
dod) etwas anfangen, juchte er fich zu entjhuldigen. 


XIII. 


„Alſo Sie wollen bei uns bleiben?” fragte Kleo— 
patra, al8 fie in Begleitung Eugeniens Manyfin 
morgens traf. 

„Bis Juli, ja! Was fchreibt man da über Sie 
in den Zeitungen, Kleopatra?“ 

„Von mir?* rief fie erſchreckt. Unmöglich! Ich 
lefe gar feine Zeitungen, aljo wofür denn das?“ 

„Für Ihre Mohlihätigkeit! Sie follen ja für 
eine Kirche viel Gelb geſchenkt haben.” 

„Biel Geld? Ich habe ja bloß dreihundert 
Rubel gegeben.“ 

„Auch von Vater Wifjarion wird gejchrieben, er 
foll einen Budligen gerade gemacht haben.“ 

„Das ift nicht wahr! Er hat viele geheilt! Das 
aber iſt erfunden!” 

„Bielleicht hat der Vater Wiſſarion das felbft in 
die Zeitung gebracht —“ 

Frau Sleopatra wurde böje, 

„Sehen Sie doch! Der fchreibt doch nicht für 
Zeitungen! Er ift ein Geiftliher und fein Komö— 
diant. Wie können Sie ſolche Abjurbitäten von 
ihm behaupten! Das ift nit hübſch von Ihnen, 
Stephan!” 

Aber Stephan wurde noch mehr gereizt, befonders 
durd) den Ausdrud Komödiant, und juchte fie nod) 
weiter zu neden. j 

„Haben Sie nicht den bejonderen Gerud der 
Heiligkeit bemerkt, der vom Vater Wifjarion aus— 
geht?“ 

„Sottesläfterer!” rief fie und verließ erzürnt das 
Zimmer. 

„Warum jagen Sie mur jo etwas?“ fagte 
Eugenie errötend und ernft. „Man muß den Vater 
Wiſſarion erjt jehen und dann über ihn urteilen. 
Wenn der Vater Wiffarion eintritt, wird einem das 
Herz jo wohl und alle böjen Gedanken verlajien 
einen. Die Mutter hat recht, wern Sie Ihnen böfe 
geworden ift.* 

„Ja, es thut mir leid, daß ich fie erzürnte! Aber 
was joll ich tun? Es ift nur aus Langeweile ge- 
ſchehen; und ich fürchte, ich werde fie noch häufig 
erzürnen, Doc du, ſei mir nicht böfe!“ 

„Weshalb jollte ich Ihnen denn böfe fein? Sie 


908 


thun mir nur leid, weil Sie jo obenhin von Pater 
Wiſſarion ſprechen. Sie müffen ihn unbedingt ſehen.“ 

Manpfin erzählte ihr von der heiligen Therefe 
nad den Worten Alyſins. Sie jchüttelte mit dem 
Kopf. 

„Das ift möglich!“ fagte fie jodann; „bei Gott 
ift alles möglich!“ 

Kleopatra verjöhnte fich jehr bald mit ihrem 
Stiefſohn. Er entwarf ihr den Plan des Gafthaujes 
und den Roftenanjchlag. 

„Aber warum jo viel für Wandteppiche ?* fragte 
fie, die Einzelheiten betrachtend. 

„Daß iſt für dieſes Zimmer.“ 

„Bas ift das für ein Zimmer?“ 

„Das ift das Zimmer für die Tobſüchtigen!“ 

Sie jeufzte, aber wurde nicht böfe. Dann ver- 
ſchloß fie Plan und Koftenanjchlag. 

So vergingen die Tage Manpfins im dolce far 
niente und im leeren Geſchwätz. Manpfin ſtudierte 


Marim Bjelinski. — Das neue Leben. 


dann und wann jeine Rollen, manchmal ſehr eifrig. 
Dann warf er wieder alles hin. Des Morgen: 
quälte er Frau Kleopatra mit Gefang oder Klavier: 
jpiel, erteilte au Eugenie Unterricht. Dieje aber 
war gar nicht muſikaliſch und hatte troß ihrer jchönen 
Bruftftimme gar fein Gehör. Stephan ſpottete über 
fie und gab ihr den Beinamen die „Tiſchſchweſier“. 
Er nötigte fie, ſich mit mehr Geihmad zu Heiden, 
nahm fie auf feinen Beſuchen in der Nachbarſchaft 
mit und machte ſich, als er bemerkte, daß fie ſchlecht 
tanzte, folgenden Scherz: 

Sie mußte jeden Abend verſchiedene Pas bei ibm 
üben, ſich hin und her drehen, Stellungen und Ver— 
beugungen fludieren. Er jaß dann in dem Seid, 
rauchte und fommanbdierte. Wenn fie müde wurde, 
ſprach er mit fittlihem Ernſt: „Jetzt gute Nadt, 
mein Rind, gehe beten!“ 

Der Juli nahte. 

(Schluß folgt.) 


— en 


— Lofe Blätter &- 


die Tanzorönung. 
Don Emile Bola. 
Aus dem Sranzöfiichen überfet von Irene 5. Cferhalmi. 


Georgette war erft vor furzem aus dem Kloſter 
gefommen, und bie firahlenden Flammen des Ball- 
jaal& blendeten ihr findliches Auge. 

Ihre zartgebräunten Wangen zeigten jene gols 
digen Reflexe, die den Sizilianerinnen eigen, und 
ihre nachtſchwarzen Augenbrauen verjchleierten bie 
Glut ihrer Blide; aber im Balliaal war fie noch 
das jchüchterne Penfionsfräulein, die bei jedem 
Kompliment bis über die Ohren errötete. 

Und wie fie jet im Halbdunfel ihres Zimmers, 
aus welchem dichte Vorhänge die Strahlen der 
Winterfonne ausſchließen, fich im leichten Halbſchlaf 
auf ihren Kiffen bin und ber dreht, gaufeln die 
Bilder des geflrigen Ballabends verworren durch 
ihren Kopf. 

Auf den Stühlen liegt nachläſſig verjtreut ihre 
buftige Balltoilette, da ein weißes Gazerödchen, dort 
ein Paar zjarter weißer Seidenfchuhe, bier eine fufe 
tige Schärpe. Auf dem Toilettentifh funfelt in 
einer Achatſchale ein blipender Schmud, und neben 
der Tanzordnung haucht ein welfendes Bouquet feine 
legten Düfte aus, 

Ein Sonnenftrahl ftiehlt fi zwiichen den Vor— 
hängen durch und huſcht über das Geficht der 
Schläferin. Sie erwacht, blinzelt jchläfrig mit den 


Augen, die Rechte greift unwillkürlich nad) der Zany 
ordnung und gedankenlos jchweifen ihre Blicke darüber 
hin. Mechaniſch durchblättert fie das Büchlein, und 
wie fie Blatt um Blatt umwendet und auf jedem 
einzelnen den Namen Karl wiederfindet, zudt etwas 
wie Unmut über die Tieblichen Züge. 

Immer Eoufin Kal! Er hat eine jehr jchöne 
Schrift, jo runde, gerade Lettern. Seine Hand jit- 
tert niemal®, nicht einmal, wenn er die meinige 
drüdt. Er ſoll eines Tages mein Mann werden. 
Bei jeden Ball nimmt er, ohne zu fragen, meine 
Tanzordnung und fchreibt ſich für den erften Tanz 
ein. Das fcheint ohne Zweifel ein Recht der Gatten 
zu fein. Dies Recht mißfällt mir. 

Traumverloren blidt fie vor ſich hin. 

Ein Gatte, flüftert fie, dad Wort erfchredt mid. 
Karl behandelt mich wie ein Schulmädchen. Uebri⸗ 
gens weiß ich gar nicht, warum er mein Gatte wer- 
den fol, ic hab’ ihn nicht darum gebeten, und er 
hat mich nie um Erlaubnis gefragt. Als wir nod 
Finder waren und miteinander fpielten, erinnere id 
mid) — war er jehr unartig. Jebt ift er jehr artig 
— ich wollte, er wäre lieber ungezogen. Karl und 
immer wieder Karl! Als ob ich jchon die Seine 
wäre. Ich werde ihm fagen, er joll feinen Namen 
nicht mit jo großen Buchſtaben herſetzen. ‚Dui 
nimmt zu viel Pla ein. 

Das Büchlein, dem Coufin Karl auch jchon läftig 
zu fein jchien, klappte vor Langeweile zufammen. Die 
Tanzordnungen verabjcheuen vermutlich alle Ebe 


2oje Blätter. 


männer! 
Namen. 

Ludwig, murmelte die Kleine. in fomifcher 
Menſch. Er kam und bat mich um eine Duadrille, 
faft ohne mich anzufehen. Dann, als die Mufit 
anhob, zog er mich mit ſich in die entgegengejekte 
Ede des Saales einer großen blonden Dame gegen« 
über, deren Blide ihm folgten. Bon Zeit zu Zeit 
lädhelte er ihr zu und vergak mich jo volljtändig, 
dab ich mein Bouquet, da8 mir entfallen war, jelber 
aufheben mußte. So oft die Dame vigra-viß an 
ihm vorüberjchwebte, flüfterte er ihr etwas ins Ohr. 
Ich horchte auf, aber ic) verftand nichts. Das war 
vielleicht feine Schweiter, O nein! Er brüdte ihr 
die Hand, und wenn er neben ihr jtand, rief ihn 
die Mufif vergebens zu mir, jeiner Tänzerin, zurüd, 
Ih and auf meinem Platz wie ein Haubenftod, und 
alle Figuren wurden verborben. Ob das vielleicht 
jeine frau war. Ad, wie dumm ich bin! Seine 
Fran; Karl plaudert während des Tanzens nie mit 
mir. Ober ift fie vielleicht ... 

Georgette blidte mit halb geöffneten Lippen träume- 
riſch vor fi bin, wie ein Kind, das einem uns 
befannten Spielzeug gegenüberfleht und es neugierig 
anſtarrt. Mechaniſch begann fie die Eicheln ihrer 
Dede zu zählen, und die Rechte lag auf der Tanz- 
ordnung. Die Meinen weißen Blätter raſchelten 
und regten ſich, offenbar wußten fie, wer die blonde 
Dame var. 

Georgette blätterte weiter, Ein Name fiel ihr 
wieder auf. Diejer Robert iſt ein ſchlechter Menſch. 
Nie hätt’ ich gedacht, daß man fo eine elegante weiße 
Weite und fo eine jchwarze Seele haben fan. In 
einer kurzen halben Stunde hat er mid) mit Blumen, 
Sternen und hundert ſchönen Sachen verglichen. Ich 
fühlte mich geſchmeichelt, aber ich wußte nicht, was 
ih ihm antworten jolle. Als er mich auf meinen 
Pak zurüdführte, that er, als könne er ſich nicht von 
mir trennen. Ich zog mich in eine fyenfterbrüftung 
zurüd, umd die Vorhänge, die hinter mir zuſammen- 
ihlugen, verbargen mid den Bliden. Da hörte ich, 
wie er einem jeiner freunde lachend erzählte, er 
babe mit einem Meinen Kloſtergünschen getanzt, das 
bei jedem Wort feuerrot geiworden und die Augen 
niedergeichlagen habe. Dann machte er fih auch 
über die andern Damen luſtig. Ich habe zugehört, 
aber nicht alles verjtanden. Fin Kloſtergänschen! 
Bar ich das? Oder meine Freundin Thereje? 

Die Tanzordnung flüfterte ihr tröftend eine Reihe 
Vornamen zu, um ihr zu beweijen, es jei Therefe 
geweſen. 

Paul hat blaue Augen, Paul iſt kein Lügner, und 
er bat dir jo ſüße, ſchöne Worte gejagt. 

Ja, ja, wiederholte Georgette. Paul hat treue, 
blaue Augen und Paul ijt fein Lügner. 

Und was jagjt du zu Julius? begann die Tanz« 
ordnung von neuem; er behauptet, du feiit die bejte 
Walzertänzerin! Und Lucien und Georges und 
Abert? Sie alle finden did, reigend und beiteln 
um das Almoſen deines Lächelns. 


Andre Blätter zeigten verführerijch andre 


909 


Georgette fühlte, wie da8 Büchlein ihr zwiſchen 
den fFingern brannte, fie wollte e8 ſchließen und hatte 
nicht den Mut dazu. 

Denn du wart die Königin des Feſtes, flüjterte 
der Verjucher ihr aus der Tanzorbnung zu. Deine 
jechzehnjährigen Reize ließen die Farben deines Blüten- 
franzes vor Neid erblaſſen. O Georgette, du haft 
viele Köpfe verdreht! 

Das junge Mädchen Iaujchte errötend den ver- 
führerifchen Worten. 

Ah, dachte fie jeufzend. Eine Schleife meines 
Ballfieides hat fih gelöft. Gewiß haben mich die 
jungen Herren ausgelacht. Diefe Schneiderinnen 
find jo unachtſam! 

Hat er nicht mit dir getanzt, raunte ihr die 
Tanzordnung plößlid zu. 

Wer, fragte Georgette bis auf den Naden er« 
rötend. 

Und der Name, der ſeit einer Viertelſtunde vor 
ihren Augen flimmerte, und deſſen Lettern ihr Herz⸗ 
chen ſehnend buchſtabierte, trat endlich auf ihre Lippen. 

Herr Edmund ſchien mir geſtern traurig. Ich 
ſah, wie er mich aus der Ferne anblidte, Da er nicht 
wagte, ſich mir zu nähern, ging id auf ihn zu. So 
war er gezwungen, mich aufzufordern. 

Edmund gefällt mir, liſpelte das Büchlein, 

Georgette errötete noch tiefer. 

Beim Tanzen fühlte ich feine Hand in der meinen 
zittern. Als ich jah, daß ihm meine Blumen ge» 
fielen, gab ich ihm eine der Rojen. Da iſt doch 
nichts Uebles daran. 

Nein, nein, Georgette. Und als er die Blüten 
empfing, befanden ſich ſeine Lippen in unmittelbarer 
Nähe deiner Finger, und er hat ſie ein klein wenig 
gelüßt. 

Daran iſt doch nichts Schlimmes! wiederholte 
Georgette. 

O gewiß nicht. Im Gegenteil. Du verdienſt 
Schelte, weil du ihn ſo lang auf dieſen armſeligen 
Handkuß warten ließeſt. Edmund wäre ein reizen⸗ 
der Gatte, 

Edmund wäre ein reizender Mann, flüfterte 
Georgette träumeriſch. 

Ich liebe ihn, fuhr der Verführer fort. Wenn 
ich an deiner Stelle wäre, id) gäbe ihm das Küß- 
hen zurüd. 

Georgette wied den Gedanfen entrüftet zurüd, 

Der eifrige Apoftel fuhr fort: 

Nur einen Kuß, hierher, auf feinen Namen! Ich 
werd’ ihm's nicht jagen. 

Sie ſchwur bei allen Göttern, nichts dergleichen 
thun zu wollen. 

Während dieſer heftigen Weigerung berührten 
ihre Lippen den Namen einmal — zweimal. 

Plötzlich hnarrle die Thire und das Kammer: 
mädchen trat ein. 

Die Tanzordnung ſchlüpfte rajch unter das Kiffen 
und verbarg fi) im jchneeigen Spikengefältel. 


— — 


910 


Loſe Blätter. 


Folk-lore 


aus der pyrenäifhen Halbinfel. 
Ueberfeßt von Luife Ey. 


Aus Portugal. 


Wer fingt, 
Sein £eid bezwingt. 
® 


Trugbild, du, voll Mirenichöne, 

Mit den grünen Mondfcheinaugen ; 
Nimmſt mir Herz und Sinn gefangen, 
So, wie Meere flüfe fangen. 


Crugbild mit den Tiebelauaen, 
Grün umd tief wie Meereswogen — 
Ad, zu diefen grünen Rätjeln 
Hat’s midy feltiam bingezogen. 


“ 
Nimm, Mägdlein, diefe Lehre wahr: 
Es fpielen die Männer mit Herjen! 
So Hein aud immer der Altar, 
Es breimen darauf zwei Kerzen. 

* 
Wenn jede Chrän’, die ich geweint, 
Ein Manerftein gleich wär, 
So ließ' ich ſtolze Schlöffer ban'n 
Mitten im Toten Meer. 


Aus Andalufien. 


Dein Duter war ohne Zweifel 
Ein Zuderbäder; 
Drum machte er dir die Lippen 
So füß und leder. 

% 
Du machſt mir fo viel Grämen, 
Daf ich bei mir gedacht: 
Wie muß mich der wohl lieben, 
Der fo mich leiden macht! 


“ 
„Die Männer find lauter Teufel fürwahr 
Und mögen mir fein geftohlen!“ 
So fagen die Weiber und wünſchen dabei, 
Der Teufel möge fie holen. 

= 


Ein armer Teufel im Tollhaus, 

Der fagte einftmals zu mir: 

Nicht alle find toll, die hier find, 

Und nicht alle Tollen find hier.“ 
” 


Es träumte, Mädchen, mir neulich, 
Du feieft mir hold und tren; 
Doc träumt‘ mir zu gleicher Seit andy, 
Daß es ein Traum nur fei, 
Dem armen Derfchmähten werden 
Nicht mal die goldnen Träume 
Gegönnt auf diefer Erden! 

* 
Ich lebe, wenn von dir getrennt, 
Diel länger, das ift wahr; 
Denn es erfcheint mir ein Moment 
Gerad’ wie hundert Jahr. 
Jedoch, mein Schat, ich wünſchte mir 
Wohl tanfendmal zu fterben, 
Als leben weit von dir. 





Edward Bellamy, der berühmte Verfaflervon „Rüd: 
blick“ und defien Fortſetzung „Gleichheit“ ift im Jabre 
1850 geboren in dem Dorfe Chicopee Falls im Staate 
Maſſachuſetts, das jegt einen Teil der Stadt Chicopee 
bildet und einer Gruppe von Anfiedlungen zugehört, 
deren Kern Springfield darſtellt. Bellamy lebt noch 
heute in feinem Geburtsort und bewohnt ein ſchlichtes, 
doc; geräumiges und bequemes Haus als Erbe jeine: 
Vaters, eines Geiftlihen. Den Einfluß diefer Ab» 
ftammung findet ein Aufſatz im Juliheit der „Ameri- 
can Monthly Review of Reviews*, dem wir Diele 
Nachrichten entnehmen, auch in ber litterariihen 
Andividualität Bellamys wirkſam. Er bejuchte das 
Union College in Schenectady, hielt ſich ſodann ein 
Jahr in Deutſchland auf und widmete fich hierauf 
dem Studium der Rechtswiſſenſchaft, doch made 
er von der erworbenen Befähigung zur Rechtsanwalt: 
ſchaft feinen Gebrauch, jondern wandte fid ber 
fitterarifchen Laufbahn zu, zunächſt als Redallions- 
mitglied der New Yorker „Evening Poſt“, dann der 
Springfielder „Union“. ine Reife nad Hawai 
über Panama und die Rüdfehr quer durd Nord: 
amerifa erweiterte feinen geographiichen Gefidhtäfteis, 
Der Erfolg feines „Rüdblids" und glänzende An 
erbietungen vermochten Bellamy nicht von feiner 
Neigung zu einem ftillen, zurüdgezogenen Leben ab- 
zubringen ; feine Freunde ſchähen feine beicheidene 
und gewinnende Perfönlichkeit, jeine anregende Unter: 
haltungägabe, feinen feinen Humor, der gelegentlid 
zu fpielender Satire neigt; er verſchmäht es, ſich in 
Streitgejpräche über feine Ideen einzulafien, und ver- 
ſichert im Scherz fogar, er würde feinen Wohnſiß 
ändern, wenn ſich praftiihe Reformer in feine 
Nachbarſchaft niederlaffen wollten. 3a 


Die Wiedererwedung der langue d’oe. Die neu: 
provencgalifche Litteratur erfreut fi, wie wir ans 
einem Artikel der Revue encyclopedique Larousse 
(31. Zuli 1897) erfehen, eines wachſenden Kreiſes 
von Freunden und Pflegern. Die langue d'oe, 
die fühe Sprache des Südens, erjtrebt mit Mat 
den lange verlorenen Nang einer neben dem Nord- 
franzöfiichen ftehenden Schriftipradhe. Es liegt darin 
eine Reaktion des provinziellen Partikularismus gegen 
die einſchnürende Centralijation, die, vom alten fran- 
zöſiſchen Königtum begründet, durch die Revolution 
und das napoleonifche Kaifertum weiter ausgebildet 
worden ift. Am 21. Mai 1854 vereinigten fid 
fieben ſüdfranzöſiſche Schriftfteller, um bie provenga- 
life Sprache von den Gallicismen zu reinigen, eint 
einheitliche Schreibung durchzufeßen, die provencaliſcht 
Litteratur aus ihrer jahrhundertelangen Erniedrigung 
und Vernachläſſigung zu neuem Leben zu erweden. 
Die fieben nannten ſich die Felibres, nad einem 
geheimnisvollen Wort dunkler Bedeutung, das iht 
Meifter Miftral in einem alten provengaliichen Licd 
auf die Jungfrau Maria gefunden Hatte. Die 
mittelalterlichen Blumenjpiele von Toulouſe wurden 
gleichfalls von fieben Dichtern begründet, ficben 
Buchftaben enthält Félibre wie der Name Mijlral. 


2oje Blätter. 


Im Jahre 1855 erſchien der erfte Almanac provengal ; 
1859 gab Miftral durch fein hervorragendes Wert 
Mireille der neuprovengaliichen Sprache eine litte— 
torifche Norm; fie beruht auf. der Mundart von 
Atles und ift bereichert duch Entlehnungen aus 
den andern jüblichen Mundarten. Im Jahre 1862 
gab fich der FFelibrige Satzungen. Die heilige 
Siebenzahl der Trelibres darf nicht überfchritten 
werben, ber Zweck ift, die Eigenart der Provence in 
Sprade, Charakter, freier Bewegung, nationaler 
Ehre zu bewahren, unter der Provence jei ganz 
Südfranfreih begriffen. Im Jahre 1876 wurden 
aber die Sagungen abgeändert; als der Zwed der 
Foͤlibrige wird da genannt die Vereinigung aller 
deren, die durch ihre Werke die Yandesiprache aufs 
teht erhalten, jowie der Gelehrten und Künſtler, 
die zum Vorteil des Landes arbeiten. Die Gliederung 
nah Provinzen und Schulen, die Beftimmungen 
über die Feſte und Zufammenkünfte und dergleichen 
mehr laſſen ſich mit den Meifterfingern und Rede— 
rijters vergleichen; die Wahl von „Königinnen des 
Felibrige* lehnt fih an provengaliihe Traditionen 
des Mittelalters, 

Mittlerweile war 1875 in Paris die Gefellichaft 
le cigale (die Gicade) gegründet worden; neben 
den jpradhlichen und litterariſchen Geſichtspunkten 
machte ſich dort auch eine partifulariftiiche Strömung 
im politiihen Sinne geltend, eine Abneigung gegen 
die völlige Gentralijation der Verwaltung. Schärferen 
Ausdrud gab fi diefe Strömung in der 1879 ges 
gründeten Gejellichaft der FFelibres von Paris; als 
Milglied wurde nur zugelafien, wer jeine Aufnahme 
rede in der langue d’oc abfaſſen fonnte und einen 
Eid darauf ablegte, die Intereſſen der Sprache, 
Litteratur, Kunft, Sitten und Gebräuche des Südens 
zu befördern. Die fchärfere Richtung der Felibres 
bat mehr und mehr die cigaliers ins Schlepptau ge= 
nommen, beide Gejellihaften machten gemeinfame 
Ausflüge nach verschiedenen Gegenden von Süd— 
jranfreih zur Einweihung von Denfmälern mit 
provengaliichen Aufjchriften oder zur Abhaltung von 
Vorträgen. Die eigaliers bedienten ſich in der 
Deffentlichfeit des Franzöſiſchen, die Felibres aber 
nur des Provengaliihen, Der Widerſpruch gegen 
die Betonung des ſprachlichen Partikularismus konnte 
nicht ausbleiben; das Signal gab die offene Ver— 
fündigung dieſes Standpunftes bei einem Feſt der 
Félibtes von Paris 1892, daß die Entwidiung der 
provengaliihen Sprache und Litteratur nur gefichert 
werden lönne durch autonome Verwaltung ber 
Provinzen — aljo ganz und gar eine Auffriſchung 
der Gironde zur Zeit der Revolution. Im Som» 
mer 1893 erflärte ſich der Vizepräfident der Félibres 
be Paris für die Wahrung der ſprachlichen Einheit 
des Franzoſentums, duch die langue d’oil; die 
jöderatiftiichen Anhänger der langue d’oc, zwölf an 
der Zahl, ſchieden aus und bildeten die „Parifer 
Schule der Félibrige“, im engiten Anſchluß an die 
Organijation der Felibrige in Südfrankreich, der 
gegenüber die beiden älteren Pariſer Geſellſchaften 


91 


ihre Selbftänbigfeit ftets feftgehalten haben. Llebrigens 
enthält fich jet die Parifer „Schule” jedes provo⸗ 
zierenden Wuftretens; fie hat aber den Gebanfen 
fefigehalten , die dreiunddreißig füdlihen Departes 
ments in der Idee eines provengalifchen Partifula- 
rismus zu einen. Gin Sorrefpondenzbureau für 
Provinziafzeitungen und Beröffentlihungen patrio» 
tiihen und volfstümlihen Inhalts — beides in 
provengalijder Sprache — jollen die Decentralifation 
„der Verwaltung vorbereiten. 

Man braucht derartige Beftrebungen, die ſich aus 
der urjprünglich rein litterariſchen Bewegung der 
provengaliichen Fyelibreg allmählich herausgebilbet 
haben, nicht zu überſchätzen, aber ein gewiſſes Inter- 
eſſe haben fie immerhin gerade für den Deutjchen 
als Gegenftüd unfers ſüddeutſchen Partilularismus. 

* 58. 

Guftave Flaubert und die „Bovary“. Die vor 
wenigen Jahren veröffentlichte Korrefpondenz Guſtave 
Flauberts (Paris, Eharpentier) offenbart dem ftaunen- 
den Leſer, mit welcher Langſamkeit, Schwerfälligfeit 
und Sewifjenhaftigfeit der große Realift feine Meijter- 
werfe ſchuf. Intereſſant find beſonders die Briefe 
an jeine „Muje” (Madame H., alias Luiſe Collet, 
bie ſich als Schriftitellerin einigen Namen gemacht 
bat). Hier fehen wir den unvergleidhlichen Roman: 
„Madame Bovary“ entjiehen. Flaubert brauchte 
fünf Jahre zur Abfaffung diefes einzigen Bandes 
und legte fi einen wahren Frondienſt bei feinem 
Genius auf, indem er ein feiner Natur ganz entgegen- 
geiehtes Süjet mit der Treue eines Momentphoto- 
graphen darzuftellen juchte, Meiſt arbeitete er im 
feinem Landſitz Croiſſet wie ein Einfiebler lebend, 
vierzehn Stunden täglih. Dabei braudte er oft 
acht Tage, um eine einzige Seite zu ſchreiben. 

So erzählt er: „Es nimmt mich oft mehrere 
Stunden in Anſpruch, ein Wort zu ſuchen. Wenn 
Du wüßteft, was ich alles ausſtreiche und welch ein 
Brei meine Manujfeipte find! Einhundertundzwanzig 
Seiten find jetzt fertig und dazu habe ich etwa fünf- 
hundert gejchrieben. Weißt Du, womit ich mich den 
ganzen Nachmittag beſchäftigt habe? Die Gegend 
durd farbige Gläſer zu bejehen, denn ich brauchte 
diefe Eindrüde für eine Stelle der ‚Bovary‘, die 
nicht zu den jchledhteften gehören wird,“ Dann 
heißt e8: „Die ‚Bovary‘ fchreitet wie eine Schnede 
vorwärls. Bisweilen bin ich verzweifelt, Welch 
ſchwierige und vor allem verwidelte Maſchine ift zu 
fonftrwieren, wenn man ein Buch jchreibt!* 

Oder er teilt einen ganzen Plan mit: „Wie die 
‚Bovary‘ mic) verdrießt! Trohdem fange ich an, mid) 
ein wenig bineinzufinden. Nie in meinem Leben 
babe ich etwas jo Schwieriges gejchrieben als jet 
diefen trivialen Dialog. Dieſe Wirtshaußjcene wird 
mich noch drei Monate in Anſpruch nehmen — oft 
babe ic) Luft zu weinen, fo empfinde ich meine Ohne 
macht. Allein ich will lieber darüber fterben, ala 
ihr aus dem Wege gehen. Ich muß fünf bis ſechs 
Perſonen zugleich in die Unterhaltung bringen, dazu 
nod zwei, von denen geiprocdyen wird. ferner 


912 


müffen der Ort und bas Land, in dem fie fich befinden, 
beichrieben,, die Leute und Dinge in ihrer äußeren 
Erſcheinung glaubwürdig gemacht und das Milieu 
des ganzen geihaffen werden. Dazu beginnen ein 
Herr und eine Dame aus Nehnlichfeit ihres Ge— 
ichmades fih ein wenig füreinander zu erwärmen. 
Wenn ich nur noch Plaß hätte! Aber alles dies mu 
raſch vor fich gehen, ohne troden zu jein.“ 

Und weiter: „Endlich beginne ich ein wenig Har 
in meinem verwünjcten Dialog mit dem Pfarrer 
zu jehen. Doch offen geftanden wird mir bisweilen 
ganz übel dabei, jo niedrig ift die ganze Geſchichte. 
Ich will die folgende Situation herausbringen: In 
einem Anfall von Religion geht meine Heine Frau 
(Emma Bovary) zur Kirche. An der Thür findet 
fie den Pfarrer, der fi) jo dumm, fad und unfähig 
zeigt, daß fie ganz angeelelt und erfaltet wieder weg 
geht. Dabei ift der Pfarrer ein braver, vortrefflicher 
Mann, der aber nur phyſiſche Leiden im Auge hat 
und die moraliichen nicht verfteht. Diefer Dialog 
ift ganz ohne Reflegionen zu machen. Nun kennſt 
Du die Qualen, deren ich mich während vierzehn Tagen 
ausjegen will.“ 

1856 ift die „Bovary“ endlich fertig und der 
jeltene große Mann fucht fi, um nicht im „realisme 
bourgeois* zu verflahen, im biftoriichen Realismus 
eine andre gewaltige Aufgabe: „Salammbö*“. Auch 
dieje bewältigt er mit eijernem Fleiß und einem Aufs 
wand der jchwierigiten archäologiſchen Studien. 

* —nn. 

Wie Romane gemacht werden, Einem „bes 
kannten“ Pariſer Romanfchriftfteller „in Fortſetzungen“ 
iſt vor einigen Tagen ein kleines Mißgeſchick drolligſter 
Art begegnet. Eine große Pariſer Zeitung hatte 
am Ende vorigen Jahres bei dieſem Schriftſteller 
einen Feuilletonroman, wie der Vertrag beſagte, zu 
einem Franken die Zeile beſtellt. Unſer Feuilletoniſt 
ging zu einem alten Schriftjteller, einem geheimen 
Mitarbeiter vieler lebenden Gelebritäten, der das 
Feuilleton zu Schreiben für 25 Gentimes per Zeile 
übernahm. Die Zeitung war vor einigen Wochen 
im Begriff, den zweiten Teil des Romans in Angriff 
zu nehmen, als unjer Schriftfteller erfuhr, daß jein 
alter Mitarbeiter ſehr ſchwer erkrankt jei. Er lief 
zu ihm bin und fand ihn im Sterben liegend. Sehr 
beunruhigt über das Schidjal „jeines" Feuilleton— 
romand beeilte er fi, in die Redaktion des Blattes 
zu gehen, wo er fich die fünfzehn legten Nummern 
der Zeitung geben ließ. Im zehn weiteren Forts 
jeßungen führte er den Roman einem fchleunigen 
Ende entgegen. Das Manuffript trug er dann zur 





Loſe Blätter. 


Kedaltion. „Was ift das?“ fragte ihn der Redations 
jefretär.. „Nun, die Fortſetzung und das Ende 
meines Romans!“ — „Sie wollen ihn wohl ändern, 
denn bier ift er ja ſchon, wır erhielten das Manuftript 
vor drei Tagen!“ .... Man kann ji) das verdußte 
Geſicht des Autors vorſtellen ... Die Sache verhielt 
fih nämlich wie folgt: Der alte Schriftiteller zu 
25 Gentimes die Zeile hatte einem andern Lieferanten 
jeinen Auftrag zu 10 Gentimes die Zeile überlafjen und 
diefer hatte den Roman in aller Ruhe fertig gemadit! 


Desinfizieren der Bücher. Seit den großen Ent: 
dedungen auf dem Gebiete der Balteriologie haben 
die ärztlichen Kreiſe in Deutichland mehrfad die 
Gefahr einer Berfchleppung von Krantkheitsfeimen 
buch die Bücher der Leihbibliothefen ins Auge ge 
fast; find ja doc; die Kranken mit deren befte Kunden. 
Die New Yorker Zeitichrift „Library Journal“ bringt 
neuerdings Mitteilungen über Verfuche zur Detinf 
zierung von Büchern, welche auf Anregung von 
Dr. Billings zuerſt im hygieniſchen Inſtitut der 
Univerfität Wafhington angeftellt worden find. As 
geeignetes Desinfeltionsmittel erwiejen ih Dämpfe 
von Formalin, das in den Droguerien und Apothefen 
geführt wird. Die Verfuhe wurden neuerdings in 
der Deffentlihen Bibliothef von New NYork ange 
ftellt; e8 handelt ſich beſonders um die Vernichtung 
der Ipezifiichen Bazillen des Unterleibstyphus, der 
Diphterie und des Fäulniserregers Staphylocoecus, 
Die Einzelheiten des Verfahrens zu bejchreiben hätte 
feinen Wert; die Hauptſache ift, daß die Berjude 
gelungen find. Demnach lafien id) Bücher genügend 
besinfizieren in einem gewöhnlichen geichloffenen Raum 
durch Formalindämpfe, ein Hubilcentimeter Formalin 
genügt für 300 Jtubilcentimeter Luft, bei einer Dauer 
der Desinfektion von 15 Minuten, Das Verfahren 
beihädigt die Bücher nicht, das Wohlbefinden defien, 
der die Desinfeltion vornimmt, ift nur vorübergehend 
gejtört durch Reizung der Naſe und der Augen. Mi 
der Frage der Uebertragung von Kraänkheitsleimen 
durch Bücher beſchäftigt fi auch ein Aufſatz in dem 
„Memorial de la librairie frangaise* vom 10, und 
17. Juni d. 3. Der Verfaſſer, van der Haeghen, 
Mitglied der belgischen Alademie der Wiſſenſchaften, 
ſchildert lebhaft die Gefährdung der Geſundheit durch 
die Schlechte Gewohnheit, beim Umblättern den Finger 
zu befeuchten; der Herausgeber fügt dazu den Wunit, 
daß die Schulfinder über die möglichen Folgen dieſet 
üblen Gewohnheit durch einen ausdrücklichen Erlaß dei 
Unterrichtäminifteriums aufgeflärt werben jollten. 


Ss, 











Unſre verehrlichen Mitarbeiter werden Freumdfichft erfucht, den für die Zeitſchrift „Aus fremden Zungen‘ 


beitimmten Ueberſetzungen 


1) Angaben über Jahr und Ort des Erfdeinens des Originals, ſowie 
2) Rurze Biograpbifde Paten über den Berfaler 


beizulegen. 


Die Redaktion behält fi vor, den Einfender im alle der Annahme einer Arbeit mit der Erweiterung der 
biographijchen Daten zu einem biographiiden Yufjag für die Rubrit „Lofe Blätter” zu beauftragen, 


Stuffgart. 


Deutfche Verlags Anfalt 
Litterariſche Abteilung. 





Verantwortlicher Redakteur: Harl Bolboeener in Stuttgart. Drud und Berlag ber Deutſchen Berlags-Unftalt in Etutigart, 
Briefe und Sendungen find nur an bie Deutſche Verlags -Auſtalt In Stuttgart — ohne Perfonenangabe — za rihiem 


Gleich tzeit. 


Edward Bellanıy, 


Aus dem Amerikanifchen überfeßt von M. Jacobi. 
(Frortfegung.) 


XXII. 
Der wirtſchaftliche Untergang durch das Gewinniyitem. 


Am folgenden Morgen erhielt Edith die Auf— 
forderung, ſich wegen einer beſonderen Angelegenheit 
auf ihrer Arbeitsſtelle einzufinden. Nachdem fie fort- 
gegangen war, begab ich mich zu dem Doktor in die 
Bibliothel und fing an, ihm allerlei Fragen vorzus 
legen, Die mir, wie gewöhnlich, über Nacht in den 
Kopf gelommen waren. 

„Wenn Sie heute morgen Ihre hiſtoriſchen Studien 
fortzujegen wünſchen,“ jagte er nad einer Meile, 
„jo möchte ich Ihnen vorſchlagen, Ihren Lehrer zu 
wechſeln.“ 

„Sc bin mit dem Lehrer ſehr wohl zufrieden, 
den mir die Vorjehung zugewiejen hat,” animwortete 
ih, „aber es ift nur natürlih, daß Sie fih nad 
einer feinen Erholung von dem unaufhörlichen Kreuz- 
verhör jehnen müſſen, das ich mit Ihnen anftelle,“ 

„Davon ift feine Rebe,” ermwiderte der Doktor. 
„Eine anregendere Aufgabe als die meinige läßt ſich 
überhaupt nicht denken; auch fommt es mir gar nicht 
in den Sinn, fie ſchon aufzugeben. Aber es fiel 
mir ein, da e& für alle Zeile angenehm fein würde, 
heute morgen einmal eine fleine Veränderung in der 
Methode und der Art der Belehrung zu verfuchen.“ 

„Wer joll denn mein neuer Lehrer jein ?“ fragte ich. 

„Sie werden ihrer viele haben. Es find aber 
nicht Lehrer, jondern Schüler.” 

„Ei, Doktor,“ warf ich ein, „meinen Sie nicht, 
daß ein Mann in meiner Lage genug Rätjel zu löfen 
hat, daß Sie mir nod; neue aufgeben?” 

„Richt wahr, es Mlingt wie ein Rätſel? Aber e3 
ift keins. Ich will es Ihnen fogleich erflären. Als 
einer der Inhaber des blauen Bandes, welches mir 
meine Mitbürger für jogenannte öffentliche Dienfte 
zuerlannt haben, befleide ich verjchiedene Ehrenämter 
bei öffentlichen Angelegenheiten, bejonbers in Sachen 
der Erziehung. Heute früh ift mir angejagt worden, 
daf ein Eramen der neunten Klaſſe in der Arlington- 
Schule ftattfindet. Dort hat man die Geſchichte der 
Periode vor der großen Revolution durchgenommen, 

Ans fremden Zungen. 1897. II. 20, 


und bie Schüler follen nun ihre allgemeine An« 
ſchauung darüber wiedergeben. Ich dachte, es würde 
Sie vielleiht zur Abwechslung intereffteren, dabei 
zuzuhören, bejonder& wegen des Themas, welches be— 
ſprochen werden joll.* 

Ih verjicherte dem Doktor, daß ich mit dieſem 
Plan ganz einverftanden wäre, weil ich mir große 
Unterhaltung davon verjpräde, und fragte, was es 
denn für ein Thema fei, das zur Verhandlung käme. 

„Das Gewinnſyſtem als Methode des wirtichaft- 
lihen Selbjtmordes',“ erwiderte er. „Wir haben bei 
unjern Gejprächen bis jet Hauptjächlich das moralijche 
Unrecht der alten wirtihaftlihen Ordnung berührt. 
In der Beiprehung aber, der wir heute morgen 
zuhören werben, jollen moraliiche Erwägungen nur 
beiläufig in Betracht fommen. Die jungen Leute 
werden verjuchen, und zu zeigen, daß gewiſſe ver- 
hängnisvolle Gebrechen bei Erzeugung des Reichtums 
von dem Privatfapitalismus unzertrennlih waren 
und — ganz abgejehen von eihiihen Rückſichten — 
feine Vernichtung notwendig machten, wenn die große 
Maſſe der Menſchen ſich jemals aus dem Schlamm 
der Armut reiten follte,“ 

„Das ift freilich eine ganz andre Lehre, als id) 
zu hören gewohnt war,“ fagte id. „Uns pflegten 
Geiftliche wie Moralijten zu verfichern, es gäbe gar 
feine fozialen Uebel, für welche die moralifhen und 
religiöfen Heilmittel nicht ausreichten. Sie jagten, 
die Armut ſei Schließlich nur die Folge der menſch— 
lichen WVerderbiheit und würde verjchwinden, wenn 
nur jedermann brav jein wollte.“ 

„Das habe ich gelejen,” jagte der Doltor. „Ob 
die Geiftlihfeit und die Moralijten dieje Lehre von 
Amts wegen verfündeten, um die Wichtigkeit ihrer 
Dienfte als Sittenprediger zu erhöhen, ob fie dieſelbe 
nur nachſprachen, um ihre geiftige Trägheit damit 
zu entihuldigen, oder ob Das wirflich ihre aufrichtige 
Meinung gewejen ift, fönnen wir nad) jo langer 
Zeit nicht mehr beurteilen. Doc ift gewiß ein ver- 
berblicherer Unfinn niemals gelehrt worden. Das 
Syſtem des Handels und der Induftrie, nad) welchem 

115 


914 


die Arbeit einer großen Bevölkerung angeordnet und 
der Betrieb geleitet wird, bildet eine jehr fompligierte 
Maſchine. Wird diefe Maſchine aus Unkenntnis 
faljh zujammengefegt, jo muß Berluft und Unheil 
entitehen, ohne daß es im geringiten darauf anfommt, 
ob die Beiriebäleiter die größten Heiligen oder die 
ihlimmften Sünder find. Die Welt ift von jeher 
aller Tugend und wahren Gottesfurdt benötigt ge— 
weien, welche die Menſchen nur irgend zu üben 
vermodhten, und wird ihrer 'nie entbehren fünnen. 
Wollte man aber einem Landwirt einreden, daß per« 
jönliche Frömmigleit den Betrich bes willenfchaft- 
lihen Aderbaus erjegen lann, oder dem Kapitän 
eines jeeuntüchtigen Schiffes, daß ein ftreng fittliches 
Verhalten feinerjeit3 das Fahrzeug ans Ufer bringen 
würde, jo wäre das eine ebenſo große Kinderei, wie 
fie die Priefter und Moraliften zu Ihrer Zeit be— 
gingen, als dieje Herren der durch ein verfehrtes 
Wirtihaftsigiten verarmten Welt verficherten, man 
fünne durch religiöjen Sinn und quite Werke zum 
Wohlſtand gelangen. Die Geſchichte ſpricht dieſen 
blinden Führern des Volles ein hartes Urteil. Sie 
haben während der Zeit der Umſturzbewegung mehr 
Schaden gethan als diejenigen, welde die alte Ord« 
nung offen verteibigten. Die ungejchminkte Selbit- 
jucht der lehteren wirkte abſtoßend auf alle guten 
Menſchen, während die Reben der erjteren fie irre 
führten, jo daß fie lange nicht zu erfennen vermochten, 
wie das Syftem an allem Uebel ſchuld jei; fie hätten 
es ſonſt in ihrer Entrüftung ſchon früher zerftört. 

„Dies ift ein höchſt wichtiger Punkt, Julian, auf 
den ih Sie nod bejonder3 aufmerffam machen 
mödhte: Erſt dann konnte die große Revolution fi 
Eingang in der Welt verihaffen, als die Menſchen 
jener kindiſchen Lehre entwachſen waren und die 
Urſachen des Mangeld und Elends nicht in erſter 
Linie ihrer eignen Werderbtheit, ſondern der wirt 
ſchaftlichen Thorheit des Gewinnſyſtems zufchrieben, 
auf dem der Privatfapitalismus berubte.“ 

Der Doktor hatte gejagt, die Schule, die wir 
bejuchen wollten, ſei in Arlington. Dieſer Ort lag, 
wie ich wußte, in einiger Entfernung außerhalb der 
Stadt, und dad Examen follte um zehn Uhr beginnen, 
Tropdem blieb mein Gefährte gemütlich im Arm— 
ftuhl ſihen, obgleich «8 ſchon fünf Minuten vor 
jehn war. 

„Iſt das Arlington, von dem Sie jprachen, das— 
felbe, welches zu meiner Zeit eine Vorſtadt Bojtons 
war?" erlaubte ich mir endlich zu fragen. 

Jawohl.“ 

„Es war zehn oder zwölf Meilen von der Stadt 
entfernt,” ſagte ic. 

„Wir haben es nicht von der Stelle gerüdt, das 
verfichere ih Sie,“ erwiderte der Dollor. 

„Werden wir dann aber nicht zu jpät fommen, 


Edward Bellamp. 


wenn das Eramen jchon in fünf Minnten anfangen 
ſoll?“ bemerkte ich beicheibentlich. 

„O nein,” lautete die Antwort, „wir haben noch 
drei oder vier Minuten Zeit.“ 

„Doltor,” rief ih, „ih habe zwar in den Iekten 
paar Tagen jo viele neue Arten der jchnellften Ber 
förderung fennen gelernt, aber wie Sie mid noch 
rechtzeitig von hier nad Arlington bringen werben, 
wenn dad Examen in drei Minuten anfängt, kann 
ich doc nicht einſehen. Bielleicht wollen Sie mid 
in ein eleftrijches Fluidum aufldfen, mic per Draht 
verjenden und am andern Ende wieder im meine 
Perfon umwandeln? Aber felbft in dieſem Fallt, 
follte ich glauben, wäre feine Zeit mehr zu verlieren.“ 

„Gewiß nicht, wenn wir die Abficht hätten, nah 
Arlington zu gehen. Ich dachte nicht, daß Ihnen 
etwas daran gelegen wäre, ſonſt hätten wir ja eben- 
fogut früher aufbrechen können. Das thut mir leid!‘ 

„Ich habe fein bejonderes Verlangen, deu Weg 
nad Arlington zu machen,“ erwiderte ich; „aber id 
hielt e8 für notwendig, wenn wir dort bei einem 
Examen zugegen fein wollten. Jetzt jehe ich meinen 
Irrtum Schon ein. Mid wundert, daß ich nidt 
längjt verlernt babe, es als jelbfiverftändlid) zu ber 
trachten, daß von dem, was wir Naturgeiehe zu 
nennen pflegten, nod irgend etwas in Kraft fichen 
müſſe.“ 

„O, die Naturgeſetze find ganz underändert,“ 
jagte der Doktor lachend. „Aber ift es denn mög 
lich, daß Edith Ihnen das Eleltroftop nicht gezeigt 
bat?“ 

„Was ift das?“ fragte id). 

„Das Elektroflop thut für das Sehvermögen, 
was das Telephon für das Gehör thut.“ 

Gr führte mid in den Mufilfaal, zeigte mir den 
Apparat und fagte dann: 

„Es ift zehn Uhr. Zu Erklärungen haben wir 
feine Zeit mehr. Nehmen Sie diejen Stuhl und 
richten Sie das Inftrument, wie Sie e8 mid) thun 
fehen. Yet! —“ 

Augenblicklich, ohne irgend ein Zeichen oder die 
leifefte Vorbereitung auf das, was da fommen würde, 
blidte id; in ein große Zimmer hinein. Etwa 
zwanzig Knaben und Mädchen von vierzehn bis 
fünfzehn Jahren ſaßen im Halbkreis auf einer doppelten 
Reihe von Stühlen, einem Pult gegenüber, an melden 
ein junger Mann, der uns den Rüden zuwendete, 
Platz genommen hatte. Die Schüler waren anſcheinend 
faum zwanzig Fuß von ums entfernt; mit Auge und 
Ohr nahm ich jedes Geräufch ihrer Bewegungen und 
jeden Wechſel im Ausdrud ihrer lebhaften Geſichlet 
wahr, als befänden wir ung unmittelbar hinter dem 
Lehrer, wie das in der That den Anſchein hattt. 
In dem Augenblid, als das Schaufpiel ſich vor mir 
aufthat, war ic) im Begriff, eine Bemerkung an 





Gleichheit. 


den Doktor zu richten. Er lachte, als ich plößlich 
verilummte, 

„Sie brauchen nicht zu fürchten, die Schüler zu 
fören; diefe find ein Dubend Meilen von uns ent 
fernt, fie jehen und hören uns nicht, obgleich wir 
beide fie jo gut wahrnehmen.“ 

„Aber um alles in der Welt, find wir denn bier 
ober bort?” flüfterte ich; denn troß feiner Berficherung 
fonnte ih es mir nicht Mar machen, daß fie mid 
nicht hörten. 

„Wir find ganz ficherlich hier; aber unjre Augen 
und Ohren find dort,“ ſagte der. Doktor. „Dies 
it ein mit dem Telephon vereinigtes Eleltroſkop. 
Natürlich) hätten wir die Prüfung ganz ebenjogut 
ohne das Efektrojfop hören fünnen, aber ich meinte, 
«3 würde unterhaltender für Sie fein, die Klaſſe 
zugleich zu fehen und zu hören, Nette junge Yeute, 
nicht wahr? Wir werden num bald erfahren, ob fie 
nicht nur hübſch anzujehen, fondern auch klug und 
aufgewedt find.” 


Wie der Gewinn den Berbraud einſchränkt. 


„Wir beſchäſtigen uns diefen Morgen,” begann 
der Lehrer in lebhaften Ton, „mit ‚dem wirtichaft« 
lihen Untergang der Produktion um des Gewinns 
willen‘ oder ‚mit der Hofinungslofigfeit der Ver— 
mögensverhältniffe des Bolfes unter der Herrſchaft 
des Privatkapitalismus“. — Sage uns einmal genau, 
Frank, was diefer Satz bedeutet.“ 

Sofort ftand einer der Knaben aus der Klaſſe auf. 

„Der Gap bedeutet,” ſagte er, „daß, jolange der 
Privatfapitalismus beftand und alle Produktion der 
Lebensbedürfniffe — wie das nicht anders möglich 
war — um des Gewinns halber betrieben wurde, 
das Gemeinwejen immer Mangel leiden mußte, weil 
es in der Natur des Gewinnſyſtems lag, die Pro- 
duftion gerade bei dem Punkte zu hemmen und ihr 
ein Ziel zu ſetzen, wo fie anfing, leiltungsfähig zu 
werden,“ 

„Wodurd wird die äußerfle Grenze der Güter- 
produftion beitimmt?*” 

„Dur den Verbrauch.“ 

„Kann nicht der Ertrag geringer fein ala der 
mutmaßliche Verbrauch? Könnte nicht der Bedarf 
die Ertragungsquellen überfteigen ?* 

„In der Theorie wohl, aber nicht in der Praris, 
Das heißt, wenn die Nachfrage fih auf vernünftige 
Anſprüche beihränft und nicht auf thörichte Wünſche 
auägedehnt wird. Seitdem die Arbeitsteilung ein— 
geführt wurde, und bejonders jeit die großen Er— 
findungen die Leiftungsfähigfeit de Menſchen ins 
Unendliche vermehren, wird ber Produktion thatſächlich 
nur durch die Nachfrage, weldye von dem Verbrauch 
abhängt, eine Grenze geftedt." 

‚War das vor der großen Revolution ebenfo ?* 


915 


„Gewiß. Die Vollswirte waren alle der Mei« 
nung, daß jowohl die Vereinigten Staaten als 
England oder Deutihland allein den Bedarf der 
ganzen Welt an Fabriferzeugniffen mit Leichtigkeit 
würden deden fönnen. Sein Sand erſchöpfte feine 
Produftionsfähigkeit in irgend einem Zweige aud) 
nur annähernd.” 

„Warum denn nicht?“ 

„Weil dad Gewinnſyſtem notwendigerweile die 
Beſchränkung der Erzeugniffe zur Folge haben mußte.“ 

„Woraus entiprang dieje Notwendigkeit ?* 

„Aus dem Abftand zwiichen der Produktionskraft 
und der Konſumtionskraft des Gemeinweſens. Die 
Leute waren nicht im ftande, jo viel zu verbrauchen, 
als fie produzieren konnten.” 

„Auf welche Weiſe führte denn das Gewinnſyſtem 
zu dieſem Ergebnis ?* 

„Da es unter der alten Ordnung feine Geſamt— 
fommiffion gab,” fuhr der Knabe Frank fort, „welche 
die Organifation der Arbeit und den Umſatz der 
Werte in die Hand nahm, fo fiel dies Geſchäft 
naturgemäß den Sapitaliften zu, denn es erforderte 
bedeutende Geldmittel und Unternehmungsgeift. Die 
Rapitaliften teilten fich in zwei Klaſſen. Die eine 
organifierte die Arbeit zum Zweck der Produltion, 
die andre bejorgte die Güterverteilung. Lebtere, die 
Handelöherren, Makler und Ladeninhaber, jammelten 
alle verichiedenen Produkte und Berbrauchsartifel, 
um fie dem großen Publiftum zum Kauf anzubieten. 
Die Maſſe des Volls — vielleicht, neun unter zehn 
— waren Fohnarbeiter, weldye den Kapitaliften ihre 
Nrbeitäfraft verfauften, oder Heine Gewerbetreibende, 
die ihre eignen Erzeugnifle an die Zwiſchenhändler 
abjegten. Auch die Landwirte gehörten zur letzteren 
Klaſſe. Mit dem Gelde, weldyes die Lohnarbeiter 
und Landwirte für ihre Arbeit oder ihre Produlte 
erhielten, gingen fie jpäter auf den Markt, wo fänt- 
liche Erzeugnille zu finden waren, und fauften zu 
ihrem Verbrauch jo viel zurüd, wie fie fonnten. Nun 
mußten natürlid) die Kapitaliften, mochten jie ſich 
bei der Produktion oder der Giüterverteilung be= 
thätigen, einen Beweggrund dafür haben, ihr Kapital 
zu wagen und ihre Zeit joldher Arbeit zu widmen. 
Diefer Beweggrund war der Gewinn.” 

„Sage uns, wie der Gewinn einfajjiert wurde.“ 

„Die Fabrifanten bezahlten die Leute, welche für 
fie arbeiteten, und die Handeläherren bezahlten Die 
Landwirte für ihre Produfte mit Münzen, die man 
Geld nannte, und für weldhe man die verjchiebenen 
Erzeugniſſe aller auf dem Markte zurüdfaufen konnte. 
Aber die Kapitalilten gaben weder den Lohnarbeitern 
noch den Landwirten genug von dieſen Münzen, um 
jo viel kaufen zu fünnen, wie das Produkt ihrer Arbeit 
wert war, Die Differenz, welche die Stapitaliften 
für fi) behielten, war ihr Gewinn, Er wurde dadurch 





916 


erzielt, daß auf die Produfte beim Berfauf ein 
höherer Preis gefegt wurde, als die Koften des Pro— 
dukts für den Kapitaliften betragen hatten.“ 

„Sieb uns ein Beilpiel.* 

„Nehmen wir zuerft einen Sapitaliften, der 
Yyabrifant war und Wrbeiter anſtellte. Setzen wir 
den Fall, daß er Schuhe verfertigte und bei jedem 
Paar Schuhe dem Gerber für das Leder zehn Cents 
bezahlte, für die Anfertigung der Schuhe zwanzig 
Cents und für alle andre Arbeit, die noch dazu ge— 
hört, wieder zehn Gents, fo dab ihn ſchließlich das 
Paar vierzig Cents foftete. Er verkaufte die Schuhe 
an einen Zwifchenhändler für fünfundfiebzig Eents, 
Der Zwiſchenhändler gab fie dem Kaufmann für 
einen Dollar, und der Kaufmann ſetzte fie an den 
Kunden im Laden für anderthalb Dollars ab, Oder 
nehmen wir einen Landwirt. Diefer mußte nicht 
nur jeine Arbeit verlaufen wie die Lohnarbeiter, 
fondern auch die Erzeugniſſe feines Bodent. Er 
verfaufte zum Beijpiel feinen Weizen an den Korn 
händler für vierzig Cents den Scheffel. Der Korn- 
händler, der ihn in die Mühle verlaufte, wird wahr- 
ſcheinlich jechzig Cents für den Sceffel verlangt 
haben. Der Müller überließ ihn dem Mehlhändler 
zu einem Preis, der einen hübſchen Gewinn für ihn 
abwarf, Der Großhändler erzielte wieder einen 
Profit beim Verkauf an den Krämer und lehterer 
beim Berfauf an den Kunden. Kaufte nun der 
Sandwirt das fertige Mehl für feinen Verbraud) 
zurüd, fo foftete es ihn, allein um des vielfachen Profits 
wegen, der darauf geichlagen worden war — bie 
wirklichen Ausgaben für die Arbeit gar nicht zu 
reinen — mindeſtens zweimal fo viel, als er von 
dem Kornhändler für feinen Scheffel erhalten hatte.” 

„Sehr richtig,” jagte der Lehrer. „Wie fteht es 
nun aber um die praftiichen Folgen dieſes Syſtems?“ 

„Es folgte notwendigerweife daraus,“ erwiderte 
der Knabe, „dab zwiſchen der Produktionskraft und 
der Konfumtionsfraft der Leute, welche die Dinge, 
von denen der mannigfaltige Profit genommen wurde, 
urſprünglich produziert hatten, eine Kluft entitand. 
Ihr Verbrauch mußte fi nach dem Wert der Münzen 
richten, die fie für die Produktion der Waren em— 
plangen hatten. Dieſer Wert war aber, wie wir 
geiehen haben, geringer als der Ladenpreis der Waren. 
Durd die Differenz wurde die Kluft gebildet zwifchen 
dem, was fie produzieren fonnten, und dem, was fie 
fonfumieren durften,“ 


Margarete berichtet über die tiefe Kluft. 


„Margarete,“ ſagte der Lehrer zu einem ber 
Mädchen, „du fannft jet da weiter fortfahren, wo 
Frank jtehen geblieben ift, und uns zeigen, welche 
Wirkung es auf das Wirtſchaftsſyſtem eines Volkes 
haben muß, wenn dur das Profitnehmen zwiſchen 


Edward Bellamy. 


feiner Konſumtionskraft und feiner Produftionstraft 
eine Muft entftanden iſt, wie Frank fie uns ge 
fhildert hat.” 

Margarete antwortete: „Die Wirkung würde 
von zwei Faktoren abhängen: zuerjt davon, wie groß 
die Anzahl der Lohnarbeiter und erften Produzenien 
war, deren Produfte mit dem Gewinn belaftet wurden, 
und zweitens: wie hoch fich der gewonnene Profit 
und der daraus entjtehende Abſtand zwiſchen ber 
Konjumtionstraft und Produftionskraft eines jeden 
Individuums der Arbeiterfhar belief. Wenn bie 
Produzenten, deren Erzeugnifie man mit dem Gewinn 
belaftete, nur ein Heiner Bruchteil des Volles waren, 
dann würden die folgen für die Geſellſchaft als 
Ganzes nicht von Belang geweien jein. Sobald fie 
aber einen großen Teil der Bevölkerung bildeten, 
mußte die luft dementiprechend ſehr bedeutend werben 
und den Fortgang der Produktion in verhängnidvoller 
Meife hemmen.“ 

„And weldyen Bruchteil der ganzen Bevölferung 
bildeten denn die Lohnarbeiter und Produzenten, 
die durch dieſes Syſtem verhindert wurden, fo viel zu 
verbrauchen, als fie produzierten ?* 

„Wie Franlk gejagt- hat, bildeten fie wenigitens 
neun Zehntel des ganzen Bolles — wahrſcheinlich 
noch mehr. Diejenigen, welche den Gewinn ein 
nahmen — ob fie nun die Produktion organifierten 
oder die Güter verteilten — bildeten eine der Zahl 
nad jehr unbedeutende Gruppe, während die große 
Maſſe der Bevölkerung aus Produzenten beitand.‘ 

„Gut. Jetzt wollen wir den andern Traktor in 
Erwägung ziehen, von dem die Größe der Kluft 
zwiſchen Produktion und Konfumtion der Gejellihait 
abhängig war — die Höhe des Gewinnes. Sage 
uns einmal, welche Regel die Kapitaliften bei ber 
Berehnung ihres Gewinnes bejolgten. Als ver 
nünftige Leute, denen es Mar fein mußte, dab hohe 
Preiſe die Konſumtion beichränken, werden fie gewiß 
ihren Gewinn jo niedrig wie möglich angejeht haben.“ 

„Im Gegenteil, die Kapitaliften wollten jo viel 
gewinnen, wie fie irgend fonnten. Ihr Grundjaf 
war: ‚Legt dem Handel jo ſchwere Laften auf, ald er 
tragen fann‘.“ 

„War denn nicht ein ftarfer Verbraud in ihrem 
eignen Interefje? Haben fie wirflid mit Abficht die 
ichlimmen Folgen des Gewinnſyſtems nod ver- 
größert ?* 

„Sa, gewiß,“ erwiderte Margarete, „Die goldene 
Regel des Gewinnſyſtems fautete: ‚Billig kaufen und 
teuer verfaufen‘,* 

„Und was bedeutete das?” 

„Es bedeutete: die Kapitaliften follten denen, 
welche für fie arbeiteten, und allen, welche ihnen ihre 
Waren verkauften, jo wenig wie möglich bezablen. 
Braten fie jelber aber dieſe Produfte auf den 


* 
br Gopaie 


Gleichheit. 


Markt, um fie dem großen Publikum zum Kauf an— 
zubieten, dann follten fie die allechöchften Preiſe 
fordern.“ 

„Dies große Publikum beftand ja aber aus den« 
ielben Arbeitern, die von den Kapitalijten ſoeben 
fait nichts für die Waren erhalten hatten, die fie 
nun zu hohem Preife zurüdkaufen jollten,“ bemerkte 
der Lehrer. 

„Gewiß,” 

„Dann wollen wir einmal verjuchen,, uns die 
Geihäftsflugheit diefer Regel ganz Far zu machen. 
Nicht wahr, fie verordnet, dab man ſich alles recht 
billig, womöglich umfonft, verſchaffen ſoll? Gelingt 
es einem nun, gar nichts dafür zu bezahlen, dann 
hat man diefe Regel am treiflihiten befolgt. Wenn 
alfo ein Fabrifbefiger feine Arbeiter Hupnotifieren 
und fie zwingen fönnte, ganz ohne Lohn für ihm zu 
arbeiten, jo würde er im Sinne diejer Regel handeln; 
ift das richtig?” 

„Ohne Frage; ein Fabrikant, dem Dies gelänge 
und der die Produlte feiner unbezahlten Arbeiter zum 
gewöhnlichen Preife auf den Markt bringen könnte, 
mürde jchnell ein reiher Mann werden.” 

„Und ganz dasjelbe würde wohl ftattfinden, wenn 
ein Getreide-Großhändler die Landleute jo ausnußte, 
daß er ihr Korn umjonft beläme und es dann zu 
den höchſten Preifen verkaufte?” 

„Jawohl. Der würde in fürzefler Friſt ein 
Millionär fein.” 

„Wenn nun das Geheimnis diefer Arbeitsleiftung 
in der Hypnoſe unter den Sapitaliften allgemein 
befannt würde, und fie alle im flande wären, ſich 
Arbeiter ohne Lohn zu verjchaffen und Produkte zu 
faufen, die fie nichts koſten — würden fie dann 
alle in kurzer Zeit zu fabelhaften Reichtum gelangen?” 

„Nein, durdaus nicht.“ 

„Ei was! Warum denn nicht ?* 

„Wenn die Lohnarbeiter feinen Lohn für ihre 
Arbeit belämen und die Landleute fein Geld für ihr 
Korn, wer follte dann etwas faufen? Der Markt: 
verfehr würde ſich auflöfen, weil keinerlei Ware mehr 
begehrt wäre, außer dem Wenigen, was die Kapita= 
liften und ihre freunde verzehren Lönnten. Sehr 
bald würden bie Arbeiter verhungert fein, und die 
Kapitaliften müßten dann jelbjt jede Arbeit ver 
richten.“ 

„Was der einzelne Kapitalift mit Nutzen thun 
lönnte, würde alſo für ihn jelbft und alle andern 
verhängnisvol jein, wenn es allgemeiner Gebraud) 
wäre, Wie geht das zu?” 

„Weil der einzelne Kapitalift, der durch zu niedrige 
Bezahlung feiner Arbeiter reich werden will, darauf 
rechnen muß, jeine Produfte nicht diefen, fondern 
einer andern Gruppe von Arbeitern zu verkaufen, 
die von ihren Brotherren nicht um ihren Verdienft 





917 


betrogen worden find und folglih nod Geld zum 
Kaufen haben. Der Kunftgriff fonnte dem einzelnen 
Kapitaliften nur gelingen, wenn er den andern nicht 
gelang. Hätten aber jämtliche Kapitaliften zugleich 
den Wunſch und die Macht, ihre Arbeiter zu über 
vorteilen — dann müßte alle Induftrie zu Grunde 
gehen.” 

„Es ſcheint aljo, daß wir in dem Gewinnſyſtem 
eine Methode vor uns haben, die nur ftreng befolgt 
zu werden braudjte, um das ganze Syftem zum Still 
Hand zu bringen; das Syftem blieb nur deshalb im 
Gange, weil die allgemeine Durdführung feiner 
Grundjäße einige Schwierigkeiten hatte.” 

„Genau jo war ed,“ erwiderte Margarete, „Der- 
jenige Kapitalift wurde am ſchnellſten reich, der alle 
zu Bettlern machte, die ihm ihre Arbeit oder ihre 
Produkte verkauften; fobald aber eine genügende 
Anzahl von Rapitaliften diefen Weg einſchlug, wurde 
reih und arm ins Verderben geſtürzt. Es war 
das Ideal jedes Kapitaliften, einen möglichft vorteil- 
haften Handel mit dem Arbeitnehmer oder Produ« 
zenten abzuichliegen, ihm jo wenig als möglich zu 
geben; und doc ließ ſich mit mathematifcher Ges 
wißheit vorausfehen, daß jeder derartige Vortrag 
dazu diente, das ganze Gejchäft zu untergraben. 
Wenn es vielen Kapitaliſten gelang, ſolche vorteilhafte 
Handelsverträge abzuſchließen, fiel das ganze Gebäude 
in Trümmer.” 

„Roc eine Frage: Die Folgen eines ſchlechten 
Syſtems werden gewöhnlid durch die Schlechtigkeit 
der Menſchen, die es für ihre Zwede ausnußen, noch 
verfhlimmert. So ift das Gewinnjuftem gewiß nur 
durch den Eigennuß der Menſchen jo gefährlich ge= 
worden. Vorausgeſetzt, dab alle Kapitaliften ehrlich 
denfende Leute geweſen wären und feine Ausbeuter, 
daß fie ihre Dienfte nur jo hoch berechnet hätten, 
als es der Selbftihug und ein mäßiger Gewinn er« 
forderten, würde dann das Wolf in der Lage gemwejen 
fein, feine Produkte auch zu verbrauchen und damit 
die Produltion im ganzen zu fördern?“ 

„D nein,“ erwiderte Margarete. „Das feindliche 
Verhältnis, in dem das Gewinnſyſtem zu einer wirt« 
lihen Bereicherung des Wolfes fteht, jlammt ans 
Gründen, die vom Kapitalismus ungertrennlich find. 
Solange der Privatfapitalismus nicht abgeichafit 
wurde, fonnte das Gewinnſyſtem nie mit einem 
Fortſchritt des Volles in wirtjchaftliher Hinficht 
verbunden jein — felbjt wenn die Kapitaliften Engel 
geweien wären. Die Wurzel des Uebels lag nicht 
in der Moral; fie war rein wirtichaftlich.* 

„Aber der Betrag des Gewinns würde doch in 
dem angenommenen fall bedeutend heruntergegangen 
fein?“ 

„sn manchen Fällen und auf Furze Zeit, gewiß; 
aber nicht allgemein und niemals für die Dauer, 








918 Edward Bellamyp. 


Man weih ja überhaupt nicht genau, ob die Profite 
damals höher gewejen find, als nötig war, um die 
Kapitaliften zu Unternehmungen in Handel und In— 
duftrie zu ermutigen.“ 

„Warum mußte denn dazu der Gewinn fo groß 
jein ?* 

„Zur Zeit des Privatfapitalismus,* erwiderte 
Margarete, „beitand der erlaubte Gewinn, das heißt 
ein jolcher, der zum Schub des Unternehmers hin» 
reichte, aus drei Elementen, die aufs genaufte mit 
dem Privatfapitalismus zufammenhingen, und von 
denen jebt feines mehr befteht. Zuerſt mußte der 
Rapitalift darauf rechnen können, dab ihm jein 
Anlagelapital mindeftens ebenfoviele Zinſen trüge, 
als wenn er es zum herrſchenden Zinsfuß ausgeliehen 
hätte; war er deſſen nicht ficher, fo lieh er es lieber 
aus. Allein das genügte noch nicht. Wenn er fi 
auf Unternehmungen einließ, risfierte er fein ganzes 
Kapital, was nidjt der Fall geweſen wäre, wenn er 
es gegen gute Sicherheit ausgeliehen hätte. Deshalb 
mußte er den Zinfen noch eine Summe hinzufügen, 
bie fein Kapital ficher ftellte — das heißt, er mußte 
im Fall des Gelingens einen jo großen Profit in 
Ausficht haben, daß der Verlujt an Kapital gebedt 
war, wenn das Unternehmen mißlang. Wenn zum 
Beifpiel die MWahrjcheinlichkeit für beides gleich war, 
mußte er im Fall des Gelingens auf mehr als Hundert 
Prozent rechnen können. Die Chance, bei einem Ge— 
ſchäft das Anlagefapital zu verlieren, war damals 
in der That reichlich ebenfogroß wie die Möglich- 
feit, zu gewinnen. Jede Unternehmung war Spefu« 
lation, ein Glücksſpiel, in dem die Nieten die Gewinne 
überwogen. Deshalb mußten die Gewinne groß 
fein, um die Kapitaliften zu loden, Uebernahm num 
ein Kapitalift noch perfönli die Leitung des Ge— 
ſchäftes, in dem er fein Geld angelegt hatte, dann 
fonnte er mit Recht eine Vergütung für jeine Mühe 
erwarten — jozufagen als Entihädigung dafür, daß 
er das Unternehmen mit jo viel Gefhid und Kluge 
heit durch die flürmijchen Gewäſſer des Gejchäftslebens 
bindurd) fteuerte; denn gegen den damaligen Zuftand 
jener Gewäſſer ift der Atlantifche Ozean im Winter 
jo glatt wie ein Mühlgraben. Für dieſe Leiltung war 
er berechtigt, feinem Profit eine ganz bedeutende 
Summe hinzuzufügen.” 

„Du ſchließeſt alfo daraus, Margarete, dab ein 
Kapitalift der damaligen Zeit, ohne eignen Schaden 
nicht im ftande war, feinen Gewinn jo niedrig an= 
zuſetzen, Daß die Nation dem Ziele näher lommen 
fonnte, ihre Produfte auch zu konfumieren; jelbft 
wenn er den beften Willen Hatte, dem Volle nicht 
zu ſchaden ?* 

„sa. Die Wurzel des Uebels lag eben darin, 
dab der Privatfapitalismus die Produltion und 
Güterverteilung in enorme Schwierigkeiten, Fehler, 


Verluſte und Gefahren verwidelte, während die 
nationale Kapitalverwaltung alles einfach, ſicher und 
nußbringend geftaltet.“ 

„So braudht man aljo unfre vermögenden Bor» 
fahren nicht für Ungeheuer zu halten, um die tragifhen 
Folgen ihres Wirtſchaftsſyſtems zu erklären ?* 

Keineswegs. Wahrfcheinlicd waren die Kapita— 
liften nicht beſſer und nicht ſchlechter ald andre Leute 
und mwehrten ſich, jo gut fie konnten, gegen den ver: 
derblichen Einfluß eines Syftems, das den Himmel 
jelbft in eine Hölle verwandelt Haben würde, wenn 
es noch fünfzig Jahre am Ruder geblieben wäre.“ 


Marianne erflärt die Ueberproduftion. 


„Nun genug, Margarete,” jagte der Lehrer. „Wir 
wollen jet Marianne bitten, den Gegenfiand no& 
weiter zu beleuchten. Wenn das Gewinnſyſtem eine 
derartige Wirkung gehabt hat, find wir darauf vor: 
bereitet, zu hören, daß fi in den Händen der Profit: 
nehmer bedeutende Vorräte anhäuften, welche fie gern 
verfaufen wollten. Daneben ſtand die große Menge 
ber Produzenten dieſer Güter; fie bedurften der 
Vorräte aufs dringendfte, waren aber außer Hande, 
fie zu faufen. Wie ſtimmt dieje Theorie mit den 


Thatſachen überein, welche ung die Geſchichtsbücher 


erzählen ?" 

„So gut,” erwiderte Marianne, „dab man bei- 
nahe denten lönnte, Sie hätten fie geleſen.“ Tie 
ganze Klaſſe lachte und ich aud). 

„Dann bejchreibe uns den damaligen Zufland 
der Dinge, ohne unnüße Spähe zu machen — denn 
unjern Vorfahren war die Sade durdaus nicht 
ſpaßhaft. Haben unfre Urgroßväter ſchon erkannt, 
daß diejer leberfluß an Gütern, im Verhältnis ju 
den Käufern, die vorhanden waren, die wirtidalt: 
liche Entwidlung hinderte?“ 

„Sie haben bdiejelbe als die hauptſächlichſte und 
dauerndfle Störung des Wirtjchaftslebens erfannt 
und fortwährend über ſchlechte Zeiten, Handel 
ftodungen und Ueberfüllung des Marktes geflagt. 
Manchmal gab es fogenannte gute Zeiten, in denen 
das Geichäft etwas Iebhafter ging, aber im beit 
Fall war die Page der großen Maſſe des Volkes ned 
unſern Begriffen unbeſchreiblich elend.“ 

„Mit welchem Ausdrud bezeichneten fie es ge 
wöhnlid, wenn mehr Waren auf den Marlt kamen, 
ala verlauft werden konnten?“ 

„Heberproduftion,“ 

„Sollte das bedeuten, daß wirklich mehr Lebens 
mittel, Kleider und andre wünſchenswerte Ding: 
produziert wurden, als das Volk brauchen konnte!” 

„D nein! Die meiften Menjhen waren immer 
in Not, Gerade wenn der Gejchäftsbetrieb wegen 
Ueberprodultion ftodte, waren fie im bitterften Elend. 
Wenn das Volk im ftande gewejen wäre, zu den 





Gleichheit. 


überprodugierten Waren zu gelangen, hätte es fie 
alle in einem Augenblid verbraucht und laut nad 
mehr gefchrieen. Das Schlimme war eben, dab der 
Preis, den bie Produzenten für ihre Waren erhielten, 
bei weitem nicht ausreichte, um fie zurüdzufaufen, 
wenn fie mit dem Profit der Fabrilanten und Kaufe 
leute belaftet waren.” 

„Womit haben unfre Geſchichtsſchreiber den Zu- 
fand der damaligen Gefellichaft unter dem Gewinn» 
ioftem verglichen ?* 

„Mit dem Zuftand eines Menfchen, der an 
chroniſcher Magenſchwäche leidet — eine Krankheit, 
die bet unfern Vorfahren fehr häufig vorfam.“ 

„Bitte, führe den Vergleich näher aus.“ 

„Ein Kranker, der an Magenſchwäche litt, konnte 
die Nahrung dem Körper nicht aflimilieren. Wenn 
auch alle Lederbifien der Welt ihm erreichbar waren, 
ſchwand er doch langſam dahin, weil feine VBerdauungds 
thätigfeit gelähmt war; der Patient fühlte fortwährend 
dad Unbehagen eines überladenen Magens und 
fonnte doch nicht einmal genug eſſen, um feine 
Lebenskräſte zu erhalten. Die wirtichaftlihe Lage 
einer Gemeinschaft unter der Herrichaft des Gewinn» 
Ioftems bildete eine genaue Analogie zu dem Zuftand 
eines ſolches Dyspeptiferd. Die Maſſe des Volkes 
mußte Mangel leiden, während fie fehr wohl im 
flande war, das zu produzieren, was jie brauchte. 
Das Gewinnſyſtem erlaubte aber dem Volfe nicht, 
zu fonfumieren, was es produzierte, und noch weniger 
fo viel zu produzieren, wie es konnte. Kaum fingen 
die Menfchen am, ihren Hunger zu befriedigen, jo 
litt der ganze Geichäftsverfehr an den Schmerzen 
eines berborbenen Magens und allen Symptomen 
der gejtörten Verdauung, die nur durch eine Hunger⸗ 
fur wieder hergeftellt werden konnte. Nach einer 
Weile wurde dann derjelbe Verſuch mit dem näms 
fihen Erfolg wiederholt, und jo ging ed immer 
weiter,“ 

Kannſt du ung erflären, warım man eine jo 
falfche Bezeichnung wie ‚Ueberproduftion‘ auf Ver» 
hältnifje anwendete, die einer Hungeränot viel ähn- 
licher jahen? Warum man meinte, daß ein Zujtand, 
der jo augenfcheinlich die Folge gezwungener Ent— 
baltjamfeit war, von Weberjättigung herrühre? Das 
ift ja ebenfo faljch, wie wenn bei einem Todesjall 
aus Mangel an Nahrung die Diagnoje auf Tod 

dur Unmäßigkeit lautet.“ 

„Das geihah deshalb, weil die gebildeten Klaſſen, 
welche allein mitreden durften, die Wirtichaftsfrage 
lediglih vom Standpunkt der Kapitaliften aus be— 
trachteten und auf die Intereſſen des Volkes gar 
feine Rüdfiht nahmen. Von diefem Standpunkt 
aus war Ueberprodultion vorhanden, wenn die Pro— 
dulte durch den Gewinn des Stapitaliften jo teuer 
geworben waren, daf das Volk fie nicht mehr kaufen 


9 


fonnte, und deshalb nannte es der Nationalöfonom, 
der in des Neichen Intereſſe jchrieb, bei diefem Namen. 
Die einzige Frage, um die e8 ſich handelte, war ber 
Zuftand des Marktes und nicht der des Mole, Es 
war den Sapitaliften ganz glei), ob das Bolt Hunger 
litt oder im Ueberfluß ſchwelgte. Ihr Grundjaß: 
‚Die Nachfrage beherrſcht das Angebot, und das 
Angebot muß der Nachfrage entſprechen‘, bezog ſich 
in feiner Weije auf die Bebürfniffe, denen das Boll 
nachfragte, jondern auf den Markt, der nichts andres 
war als eine fünftliche Erfindung des Gewinnſyſtems.“ 

„Mas war denn eigentlid) der Markt?“ 

„Alle Leute, die Geld hatten, bildeten zufammen 
den Markt. Wer wenig Geld Hatte, pielte eine ent» 
ſprechend Heine Rolle, und wer gar leins bejaß, war 
für den Markt nicht vorhanden. Die Bebürfnifle 
des Marktes waren die Bedürfniffe derjenigen, welche 
fie bezahlen fonnten. Die übrigen Menjchen hatten 
auch ſehr viele Bedürfnifie, aber fein Geld, darum 
zählten fie nicht mit, wenn auch ihr Verhältnis zu 
den Reichen wie hundert zu eins geweſen wäre, Der 
Markt war genügend verforgt, wenn alle, die faufen 
konnten, genug hatten, einerlei ob die meiften Menichen 
ſehr wenig und viele gar nichts empfingen. Der 
Markt war überfüllt, wenn mehr da war, als bie 
Reihen brauchen konnten, wenn auch zerlumpte und 
hungernde Vollshaufen in den Straßen lärmten.” 

„Würde heutzutage noch jo etwas möglich jein? 
Könnte es volle Kaufhäufer geben und daneben ein 
jchlecht gefleidetes und darbendes Bolt?!“ 

„Gewiß nicht. Ehe nicht jeder voll befriedigt 
wäre, gübe es jeht feine Ueberproduktion. Bei unſerm 
Syiten fann e3 nirgends zu wenig geben, fo lange 
es irgendwo zu viel giebt. Uber das alte Syſtem 
hatte feine Blutzirkulation.“ 

„Wie nannten unjre Vorfahren die wirtſchaft— 
lihen Störungen, die jie der lleberproduftion zus 
ichrieben ?* 

„Diefe nannten fie Geſchäftskriſen. Das heiht, 
e3 gab einen chroniſchen Zuftand der Meberfüllung, 
den man eine hroniiche Krifis nennen konnte. Von 
Zeit zu Zeit aber häuften fi die Nüdftände aus 
dem Mißverhältnis zwijchen Nachfrage und Angebot 
derart an, daß jedes Geſchäft ftodte. Wenn das 
geihah, jagten fie, eine ‚Panik‘ wäre eingetreten, 
weil diefer Zuftand blinden Schreden hervorrief.“ 

„Welchen Urſachen jchrieben fie dieſe Kriſen zu?“ 

„Allen möglichen Urſachen, nur nicht den einzig 
wahren. Es ſcheint, daß die Litteratur ſich damals 
aufs eingehendſte mit der Sache beſchäftigt hat. Im 
Muſeum ſtehen ganze Bretter voll Bücher darüber, 
und ich habe verſucht, ſie zu leſen oder wenigſtens 
oberflächlich durchzugehen. Wenn dieſe Bücher nicht 
in ſo trockenem Stil geſchrieben wären, könnten ſie 
recht unterhaltend fein. Die Verfaſſer vermeiden 





920 Edward Bellamn. 


die natürliche und in die Augen fpringende Erklärung 
der Thatjachen, von denen fie reden, mit ganz merf- 
wirdiger Geſchicklichkeit. Sie verirren ſich jogar in 
die Aſtronomie.“ 

„Wie meint du das?“ 

„Ich fürchte, die ganze Klaſſe wird denken, ich 
erzähle Märchen ; aber es ift ein Faltum, daß eine 
der verbreitetften Theorien zur Erflärung der immer 
wiederfehrenden Geſchäftsſtockungen fi auf bie 
Sonnenfleden bezog. Während der erften Hälfte des 
neunzehnten Jahrhunderts geſchah es, daß in Zwijchen- 
räumen bon zehn oder elf Jahren mehrere jehr ſchwere 
Frien die Gejchäftswelt erichütterten. Nun hatte 
aber auch die Sonne ungefähr alle zehn Jahre die 
meiiten fyleden, und ein berühmter engliicher Na= 
tionalölonom folgerte daraus, daß die Kriſen von 
den Sonnenfleden veranlaft wären. Später konnte 
dieje Löfung der frage die Menfchen nicht mehr be= 
friedigen, und fie gingen zur Theorie vom Mangel 
an Vertrauen über,“ 

„Und was war das ?* 

„Dieje Theorie ift mir nicht ganz Mar geworben ; 
aber jedenfall war es fein Wunder, wenn fich bei 
einem Wirtſchaftsſyſtem, das ſolche Früchte zeitigte, 
ein großer Mangel an Vertrauen entwidelte.” 

„Ich fürchte, Marianne, du bringst der Art, wie 
unfre Vorfahren die Sache fludierten, zu wenig 
Teilnahme entgegen, und ohne Teilnahme fönnen wir 
andre nicht verftehen.“ 

„Wahrjcheinli fann ich fie nicht verftehen, weil 
fie jo ganz anderd waren.” 

Die ganze Klaſſe Ficherte, und Marianne durfte 
ſich ſetzen. 


Johann ſpricht über die Konkurrenz. 


„Nun wollen wir dir ein paar fragen vorlegen, 
Johann. Wir haben gejehen, wie das Gewinnſyſtem 
zur Folge hatte, daß die Produkte der Kaufkraft des 
Volfes entzogen wurden, und wie dadurch eine chro- 
niſche Ueberfüllung des Marktes eintrat. Welcher 
Hauptcharakterzug im Gefchäftsverfehr unſrer Vor— 
jahren entwidelte ih aus diefem Grunde?“ 

„Meinen Sie die Konkurrenz ?” 

„Was war die Konkurrenz? und woher jtammte 
fie, beſonders unter den Rapitaliften ?” 

„Sie ftammte, wie Sie ſchon gejagt haben, aus 
der ungenügenden Sonjumtionsfraft der großen 
Menge, die binmwiederum aus dem Gewinnſyſtem 
ſtammte. Wenn die Kauffraft der Arbeiter und 
Produzenten jo groß gewejen wäre, daß fie ben Zeil 
aller Waren an fih nehmen fonnten, welcher ihrer 
Anzahl entiprah, dann würde der Markt in fürzefter 
Zeit und ohne Anftrengung jeitens der Verkäufer 
geräumt worden fein. Die Käufer hätten die Ver- 
fäufer aufgefucht, und ihre Zahl wäre groß genug 


geweſen, alles zu verbrauchen, Da aber die Auıi. 
fraft der Maſſen durchaus nicht hinreichte, um all 
Maren ded Marktes aufzufaufen, entjtand natücid 
ein großer Wettlampf unter den Kapitaliiten, weil 
jeder die Kaufluft der wenigen Zahlungsfähigen auf 
feine Waren Ienfen wollte. Im ganzen wurde th: 
dem nicht für einen Dollar mehr gekauft, folane 
bas Wolf nicht mehr Geld in die Hände befam, cher 
man fonnte dod die Richtung ändern, in derdei ; 
wenige verausgabt wurde — und dies war da 
einzige Biel und Streben der Konkurrenz. nie 
Vorväter hielten fie für etwas jehr Gutes und meinten, 

fie belebe den Handel, während die Konkurrenz mır 
ein Symptom ber Folgen des Gewinnigftems war, 
das die Konjumtion lahm legte.” 

„Welche Methode wendeten denn die Kapitaliften 
an, um die Käufer zu loden?* 

„In erfter Linie baten fie Diefelben aufs dringend, 
zu ihnen zu fommen, und priefen ihre eignen Waren 
in ganz jhamlojer Weife an, während fie ihre Mit: 
bewerber und deren Produkte in den Augen dei 
Publikums verädhtlid machten. Es war damals io 
allgemein Geſchäftsregel, ohne jedes Bedenken die 
Dinge faljh darzuftellen, da; man den Kaufleuten 
aud feinen Glauben jchenfte, wenn fie einmal die 
Wahrheit fagten. Die Gefchichte lehrt uns, dab zu 
allen Zeiten mehr oder weniger gelogen wurde, aber 
im neunzehnten Jahrhundert entwidelte ſich durch 
die Konkurrenz diefe Gewohnheit jo ſtark, daß nie 
mand ohne fie leben konnte, Unſre Grofßpäter — 
und die mußten es doch noch wilfen — fagten, das 
einzige Oel, mit dem man die Maſchinerie dei Gr- 
winnjuftems jchmieren fünne, wäre die Lüge — und 
darum wurde fie jo eifrig betrieben.“ 

„Und wie du jagft, war diejes Lügenmeer bod 
nicht im ftande, die Konſumtion um eines Dollar 
Wert zu erhöhen ?* 

„Natürlich nicht. Nichts konnte den Konfum ver: 
größern als eine Vergrößerung der Kaufkraft de 
Volkes. Das Anpreifungsiyitem, oder, wie man & 
damals nannte, die Reklame, war weit davon ınl- 
fernt, den Berkauf im ganzen zu Heben; im Gegen 
teil, fie verringerte ihn !* 

„Wie denn dad?” 

„Weil fie außerordentlich toftfpielig war. Diele 
Koften mußten dem Preis der Ware hinzugefügt und 
vom Konjumenten bezahlt werden, der deshalb viel 
weniger faufen fonnte, als wenn feine Rellame ge 
macht wurde und der Preis der Waren um di 
Nellameloften niedriger war,“ 

„Du ſagſt, daß nur durch Vergrößerung der 
Rauffraft des Volkes die Konſumtion gehoben werden 
tönnte. Nun wohl, unjre Vorväter behaupteten, dit 
Konkurrenz erfülle gerade diefen Zwed; fie jei em 
kräftiges Mittel, die Preife zu reduzieren und dem 


Gleichheit. 


Gewinn der Kaufleute eine Grenze zu fteden. Auf 
diefe Weife mache fie e8 dem Volle möglich, mehr zu 
kaufen. War dieſe Anſicht richtig ?* 

„Rein,“ erwiderte Johann, „der Wettitreit der 
Rapitaliften untereinander, um die Käufer anzu— 
ziehen, veranlaßte fie allerdings, ſich gegenfeitig zu 
unterbieten ; aber dieſe Preißverminderung, die oft 
ſeht groß ausſah, verbeijerte die Lage des Volkes im 
groben Ganzen durchaus nicht, weil die Mittel, welche 
dabei angewendet wurden, den Vorteil wieder zu 
nichte machten,“ 

„Du mußt uns das nod) deutlicher erklären.“ 

„Es war natürlich das Bejtreben des Kaufmanns, 
die Preife jo zu reduzieren, daß fein Gewinn dabei 
derjelbe blieb. Nun gab es verjchiedene Wege dieſes 
Ziel zu erreichen. Der erfte war: den Wert der 
Waren, die angeblich billiger verfauft wurden, zu 
verringern, was durch Berfälihung und jchlechte 
Arbeit geihah. Auf allen Gebieten des Handels 
und der Jnduftrie war im neunzehnten Jahrhundert 
dieſes Verfahren gebräudlich, jo daß alle Verbrauchs- 
artifel darunter zu leiden hatten. Es ging joweit, 
wie uns die Gejchichtsjchreiber jagen, daß fich nie— 
mand mehr wundert, wenn der Gegenfland, den er 
gelauft Hatte, ganz anders beichaffen war, als er aus— 
ſah, und überhaupt nicht das war, wofür er aus— 
gegeben wurde. Dieje Kniffe verpefteten die ganze 
Handelsatmoſphäre. Kapitaliften, bie ſich mit den 
wichtigften Zweigen der Fabrifation beichäftigten, 
griffen zu dem Mittel, Waren anfertigen zu laſſen, 
bie nur kurze Zeit halten konnten, damit fie deſto 
ihneller erneuert werden mußten. Sogar ihre 
Maſchinen waren betrügeriiher Schein, benn fie be= 
fanden aus verfälfchten Kupfer und Stahl. Selbfl 
die ftodblinden Leute jener Zeit täujchten ſich nicht 
mehr über den Wert diefer Preisherabjekung und 
bezeichneten die wohlfeileren Waren mit dem Aus« 
drud: ‚billig und jchleht., Es ift ganz Far, daß 
der Konſument dabei für jeden Dollar, den er zu 
jparen glaubte, zwei bezahlen mußte. Ein Beifpiel 
fol Ihnen beweiſen, wie trügertich dieſe niedrigen 
Preife waren: Gegen Ende des neunzehnten Jahr- 
hunderts wurden in Amerila ganz fabelhafte Er- 
findungen gemadt, um das Schuhwerk billiger her— 
zuftellen, und doc jagte man allgemein: wenn auch 
der Preis für Schuhe viel niedriger fei als vor fünj- 
zig Jahren, während fie no ganz mit der Hand 
gemacht wurden, jo jei doch das Schuhwerk jett jo- 
viel Schlechter, daß es in Wirklichkeit wenigſtens ebenjo 
teuer wäre wie früher.“ 

„Baren denn Berfälihung und ſchlechte Arbeit 
die einzigen Kunſtgriffe der Kaufleute bei diefer jchein« 
baren Herabſetzung der Preije?” 

„Sie war nod; auf zwei andern Wegen zu er: 
reihen. Beim erilen rettete der Sapitalijt jeinen 

Aus fremden Zungen. 1897, IL 2, 


921 


Gewinn daburd, dab er den Lohn jeiner Arbeiter 
um foviel verfürjte, als er den ‘Preis niedriger jehen 
mußte. Dies war die Methode, welche am meiften 
im Schwunge war, und natürlich wurde hierbei die 
Kaufkraft des Volkes um ebenſoviel verringert. Die 
Gruppe von Rapitaliften, welche die Preije niedriger 
ftellte, erreichte auf diefe Weiſe für kurze Zeit einen 
lebhaften Umſatz — bis andre Kapitaliſten aud die 
Preije niedriger ftellten. Schließlih war niemand 
damit geholfen, auch nicht den Kapitaliften. — Nun 
gab es aber nod) eine dritte Art der Preiäverringe- 
rung, die aus der Konfurrenz entiprang. Sie wurde 
durch allerhand Erfindungen und Arbeit jparende 
Maſchinen erzielt, welche die Arbeiter überflüffig 
machten. Hier beruhte die Preiäverringerung, ebenjo 
wie bei der vorigen Methode, darauf, daß weniger 
Lohn gezahlt wurde, folglich verringerte ſich auch auf 
diefem Wege die Kauflraft der Geſellſchaft, jo daß 
ber Vorteil der Preisherabjegung null und nichtig 
war.” 

„Du haft uns gezeigt,“ jagte der Lehrer, „daß die 
Herabiekung der Preije gewöhnlich auf Koſten der 
Produzenten oder Konjumenten geihah und ben 
Gewinn des Kapitaliften nicht Meiner machte. Willft 
du damit jagen, daß die Konkurrenz nie die Wirkung 
hatte, den Gewinn des Unternehmers zu verringern?“ 

„Ohne Zweifel bat fie mandhmal auch dieſe 
Wirkung gehabt, in Ländern, wo das Gewinnſyſtem 
ihon jo lange herrichte, daß ſich überflüjfiges Kapital 
angelammelt hatte, was die Kapitalanlage erfähwerte ; 
aber wenn aus jolden Gründen die Preiſe janken, 
fam dieſer Umjtand gewöhnlich zu jpät, um der 
Konjumtion des Volkes aufzubelfen — jelbft wenn 
die Kapitaliften bereit waren, Opfer zu bringen.“ 

„Wiefo zu ſpät?“ 

„Solange e8 nody möglid war, den Betrag der 
Preisverringerung an den Löhnen abzuziehen, wollten 
die Kapitaliften natürlich ihren Gewinn nicht opfern. 
Das heißt, fie entichloffen fich erft einen Zeil ihres 
Profits aufzugeben, wenn die arbeitende Benöllerung 
ſich ihon mit dem Mindeſtmaß an Lebensbedürfniſſen 
begnügen mußte. Nun war die Preisreduftion ver- 
gebens — das Volk fonnte feinen Vorteil mehr daraus 
ziehen ; jeine Kaufkraft war jo erſchöpft, daß fie einer 
Wiederbelebung nicht mehr fähig war. Nur wenn 
man die Waren ganz umſonſt gab, konnte dem Volt 
geholfen werden. Daraus erflärt ſich auch die That« 
jache, daß im neunzehnten Jahrhundert die Preije 
in den Gegenden am niedrigften waren, wo bie 
hofinungslofefte Armut herrſchte. Es war immer ein 
ſchlechtes Zeichen für die wirtichaftlihe Lage einer 
Gemeinſchaft, wenn die Kapitaliſten ſich entjchließen 
mußten, große Opfer zu bringen, ein Zeichen, daß 
die arbeitenden Maſſen bereits fo lange ausgepreßt 
worden waren, bis es nichts mehr auszupreſſen gab.“ 

116 


3 
! 





922 Edwarb Bellamy. 


„So wurden alfo im ganzen genommen bie 
Uebelſtände bes Gewinnſyſtems durch die Konkurrenz 
gar nicht vermindert ?* 

„Ich glaube, es ift uns Har geworden, daß fie 
eine traurige Berichlimmerung desjelben war, Der 
verzweifelte Kampf der Kapitaliften um einen Anteil 
an dem jpärlichen Marktgewinn, den ihre eignen 
Maßnahmen jo verringert hatten, trieb fie zu Ber 
trügerei und Grauſamkeit, ja er erftidte jedes Gefühl 
in einer Weiſe, wie es bei menſchlichen Wefen nur 
unter jo ichwerem Drud vorkommen kann.” 

„Was war denn im allgemeinen die Wirkung 
ber Konkurrenz?“ 

„Sie beeinflußte alle Zweige der Inbufirie und 
wirkte mit der Zeit auf alle Klaſſen der Gejellichaft, 
Rapitaliften und Nichtlapitaliften, jo ficher und un— 
aufhaltiam nieberziehend, wie die Schwerkraft. Bei 
denen, die am wenigfien Kapital hatten, machte fid) 
dieie Wirkung zuerft fühlbar. Die Lohnarbeiter, die 
gar keins hatten, und bie Heinen Landwirte, die fait 
nichts befaken, litten unter der nämlichen Schwierig« 
feit; die einen mußten um jeden Preis Abjak für 
ihre Produfte fuchen, die andern hatten Mühe, irgend 
welche lohnende Arbeit zu befommen. Dieje Klafjen 
waren bie eriten Opfer bes verzweifelten Kampfes 
um den Verkauf, auf einem Markt der von Waren 
und Menjichen überfüllt war. Zunächſt kamen die 
Neinen Sapitaliften daran, bis jchließli nur die 
reichften übrig blieben, und dieſe fanden es nötig, 
ſich dadurch vor dem Untergang zu retten, daß fie 
ihre Intereffen vereinigten, Es ift ein haralteriftifches 
Merkmal der Zeit, die dem großen Umſturz voran— 
ging, daß die Kapitaliften ihre Zufludt in der 
Vereinigung zu großen Syndifaten und Handeld- 
ringen ſuchten.“ 

„Wenn nun der Umſturz das Yortichreiten diejer 
Vorgänge nicht unterbrochen hätte, würde dann ein 
Spitem, bei welhem das Sapital und der ganze 
Geſchäftsverlehr in den Händen einer Heinen Anzahl 
von Kaufleuten vereinigt waren, nicht beſſer für die 
Geſellſchaſt geweſen fein, als die Konkurrenz und 
ihre Folgen?” 

„Diele Art Ronfolidation würde jedenfalls zu 
einer unleidlichen Tyrannei geworden fein; hätte die 
Nation dies Joch auf fih genommen, jo würde fie 
es wohl ſchwerlich je wieder abgejhüttelt haben. Eine 
Rereinigung der Geldariftofratie, wie jie dem Handel 
zur Zeit bes Umſturzes drohte, wäre für die Wohl« 
fahrt des Volkes viel gefährlicher gewejen als die 
Konkurrenz. Uber, was die unmittelbaren Folgen 
beider Syfteme anbetrifft, jo hätte vielleicht das 
Privatfapital in Form der Konfolidation einige Vor— 
züge gehabt. Da fie eine Selbftherrichaft darftelte, 
hätte hie und da ein mwohlwollender Deſpot bejler 
jein fönnen als das Syſtem, jo daß er die Möglich- 





feit gehabt hätte, die Lage des Volles etwas glüd: 
licher zu geftalten — und das war bei ber fon 
furrenz unmöglid).* 

Ich verſtehe dich nicht.” 

„sc meine, daß der Kapitaliſt unter der Kerr: 
ihaft des Konkurrenzſyſtems gezwungen war, feine 
befieren Gefühle zu unterdrüden, wenn er welde 
hatte, Er konnte nicht beſſer fein als das Suiten; 
bei jedem Verſuch der Art erdrüdte ihm bie Kom 
furrenz. Wenn er mit feinen Gegnern nicht Schritt 
bielt, ging er zu Grunde. Jedes jchändlice oder 
graufame Berfahren jeiner Nebenbuhler mußte «x 
nahahmen, wenn er im Kampf nicht unterliegen 
wollte. Der ſchlechteſte, gemeinfte und ſchändlichſie 
von allen, derjenige, welcher feine Angeitellten am 
ihamlojejten ausbeutete, jeine Waren am geſchickleſten 
verfälfchte und lügneriſch anzupreifen verftand, gab 
für alle den Ton an,” 

„Wenn du im Anfang der revolutionären Bes 
wegung gelebt hätteft, würdeft du aljo nicht mit den 
Reformatoren übereingeftimmt haben, die e& für ein 
Unglüd hielten, wenn die großen Monopole der Ron 
furrenz ein Ende gemadjt hätten?“ 

„Ih weiß nicht, ob ich in diefem Fall Hüger 
gewejen wäre als meine Zeitgenoſſen,“ ermwiderte 
Johann, „aber wenn id aud den Monopoliſten 
dafür dankbar gewefen wäre, daß fie Die Konlurren; 
bernichteten, jo würde ich doch mit großem Eifer zum 
Sturz der Monopoliften beigetragen haben, um dem 
Nationalkapitalismus Plaß zu maden.” 


Robert fprihtoondemleberjlußan Menfden. 


„Nun lommſt du an die Reihe, Robert,” fagte 
der Lehrer. „Johann hat von dem Weberfluß an 
Gütern geiprochen, welcher die Kapitaliften zu einem 
MWettfampf untereinander veranlaßte, der jehr ver- 
hängnisvolle Folgen für das Volk Hatte. Auher 
diefem entjtand aber nocd ein andrer Weberfluß 
aus dem Gewinnſyſtem. Kannſt du uns jagen, 
welcher ?“ 

„Ein Ueberfluß an Menſchen,“ erwiderte Robert. 
„Der Mangel an Kaufkraft des Volles, fei es au: 
Mangel an Arbeit oder wegen zu niedriger Löhne, 
bedeutete geringere Nachfrage nad) Produften, und 
das bedeutete wieder weniger Arbeit für die Produ 
zenten, Wo es überfüllte Warenhäufer gab, wurden 
die Fabriken geichloffen, und Scharen von Arbeitern 
mußten müßig geben, das heißt der Ueberfluß auf 
dem Gütermarft veranlaßte Weberfluß auf dem 
Menſchenmarkt. Und wie die Ueberproduftion die 
Konkurrenz erzeugte, jo erzeugte der Ueberfluß an 
Arbeitskraſt einen ebenfo verzweifelten Kampf unter 
der Menge, die Arbeit juchte. Der Kapitalift, welcher 
für feine Waren feine Käufer fand, verlor nur jein 
Geld, während die Arbeiter, welche ihre Kraft und 


Gleichheit. 


Geſchicklichkeit, das einzige was fie beſaßen, nicht ver⸗ 
laufen fonnten, verhungern mußten. Der Kapitaliſt 
tonnte auf den nächſten Marft warten, wenn jeine 
Produlte haltbar waren; der Arbeiter mußte fofort 
einen Käufer finden, oder jterben. Und in An— 
betracht diefer feiner Unfähigleit, auf einen Käufer 
ju warten, war der Landwirt, obgleich in feinem 
Detriebe ein Kapitalift, wenig beffer daran als der 
Taglöhner; denn er war bei ber Kleinheit feines 
Kapitals ebenfomwenig im ftande, mit feinem Erzeug- 
nis zu warten, wie der Arbeiter mit feiner Arbeit. 
Diefe Zwangslage — für den Lohnempfänger, feine 
Kraft zu verfaufen fofort und unter jeder Bedingung, 
wie für den feinen Befiker, jein Erzeugnis zu ver» 
werten — bot den großen Sapitaliften die Hand» 
babe, unerbittlih den Arbeitslohn und die Preije, 
die den eigentlichen Erzeugern für ihre Erzeugniffe 
gezahlt wurden, herunterzudrüden.” 

„Beftand denn diefer Ueberfluß an Menjchen 
nur unter den Lohnarbeitern und fleinen Land» 
wirten? 

„Im Gegenteil, Handel und Gewerbe, jede Kunſt 
und jeder Beruf, auch der allergelehrteſte, hatten 
Ueberfluß an Menjchen. Feder neue Ankömmling 
wurde mit fcheelen Augen angejehen; er war ein 
Gegner mehr im Kampf ums Dajein, der ſchon 
ſchwer genug war. Unmöglich konnte Damals irgend 
ein Menſch rechte Befriedigung in feiner Arbeit 
finden, wenn fie auch noch jo anjtrengend und auf- 
opierungsvoll war. Gewiß hat ihn der Gebante 
unaufhörlich verfolgt, ob es nicht beifer jei, einem 
andern die Arbeit und auch den Lohn zu überlaſſen, 
da doch weder Arbeit noch Lohn für alle vorhanden 
war.” 

„Haben denn unjre Vorfahren gar fein Ver— 
ſtändnis für diefe Dinge gehabt? Erfannten fie nicht, 
daß die wirtſchaftlichen Verhältniſſe fehlerhaft fein 
mußten, wenn ein ſolcher Ueberfluß an Menjchen 
entftehen konnte ?* 

„Gewiß erkannten fie dies," erwiderte Robert. 
„Sie waren jogar jehr unglücklich darüber. Viele 
Schriftfleller erörterten die Frage, warum die Arbeit 
in der Melt denn nicht für alle reichte, da doch 
Armut und Not auf Erden ein Zeichen jei, wie viel 
noch immer zu thun wäre. Die Kongreſſe und ge— 
iehgebenben Körper beauftragten eine Kommiſſion 
gelehrter Männer nad der andern, die Sache gründ» 
lic zu unterfuchen und darüber Bericht zu erjtatten,* 

„Und haben diefe Gelehrten die wahre Urfache 
herausgefunden? Haben fie erflärt, daß es eine not= 
wendige Folge des Gewinnſyſtems fei, wenn die 
Kinft zwiſchen Produktion und Konfumtion immer 
größer würde ?” 

„D nein! Das Gewinnſyſtem zu tadeln wäre 
Gottestäfterung geweſen! Die Gelehrten nannten es 


923 


ein Problem — das Problem der Arbeitälofigfeit — 
und gaben die Löjung des Nätfels auf. Unſte Bor- 
fahren liebten e&, einer Frage auf dieſe Weije aus 
dem Wege zu gehen, wenn fie unfähig waren, biefelbe 
zu beantworten, ohne gefeßlich feſtſtehende Intereſſen 
zu verleßen. Sie galt ihnen für jo unerforjchlid) 
wie die Vorſehung.“ 

„Aber gab es nicht einen Philofophen, Robert, 
einen Engländer, der dem Weberfluß an Menſchen 
auf den Grumd ging? Er hat dem einzigen Weg an— 
gegeben, wie berjeibe vermieden werben konnte, auch 
wenn das Gemwinnfyften beibehalten wurde. Kannft 
du mir feinen Namen nennen?“ 

„Nicht wahr, Sie meinen Malthus?“ 

„3a. Welchen Vorſchlag machte er?" 

„Er riet den armen Leuten, lieber nicht geboren 
zu werden, das jei der befle Weg, nicht zu verhungern. 
Mit andern Worten: er riet den Armen, keine Kinder 
in die Welt zu ſetzen. Wie Sie jagten, war diejer 
Mann der einzige von der ganzen Gejellichaft, der 
dem Gewinnfyftem auf den Grund ging und er- 
fannte, dab auf Erden fein Raum war für diejes 
Syftem und die Menjchheit zugleih. Da er das 
Gewinnſyſtem für eine von Gott verordnete Not— 
wendigfeit hielt, konnte er gar nicht im Zweifel darüber 
jein, daß unter den Umſtänden die Menjchheit den 
Platz räumen müſſe. Man nannte Malthus einen 
gefühllojen Philojophen — vielleicht war er das auch, 
aber jolange das Gewinnſyſtem auf Erden herrſchte, 
wäre es ein Akt der Menjchlichkeit geweſen, die rote 
Fahne auszuhängen, um alle Seelen vor der Landung 
auf unferm Planeten zu warnen.” 


Emilie zeigt, wie notwendig Abzugsröhren 
jind, 


„IH bin ganz deiner Meinung, Robert,“ jagte 
der Lehrer. „Und nun, Emilie, wollen wir did) bitten, 
uns in dieſer interefjanten, wenn auch nicht erfreus 
lichen Betrachtung weiter zu führen. Das Wirt: 
ſchaftsſyſtem der Produktion und Güterverteilung 
fann man jehr gut mit einem Wafjerbehälter ver- 
gleichen, der ein Zuflußrohr (die Produktion) und ein 
Ableitungsrohr (die Konſumtion) hat, Wenn der Be= 
hälter richtig fonjiruiert ift, können beide Rohre ihren 
Zwed erfüllen, jo dab man ebenjoviel Waſſer ab- 
laffen, wie einpumpen fann, und nichts dabei über« 
fließt. Bei dem Gewinnſyſtem unfrer Vorfahren 
war ed aber anderd. Statt dagjelbe zu leiften wie 
das Zuflußrohr (die Produktion), wurde das Ab« 
feitungsrohr (die Konjumtion) zur Hälfte oder zu 
zwei Dritteln durch die Schleufe des Kapitaliften- 
gewinns verſchloſſen, jo daß es nur die Hälfte oder 
ein Drittel des Waſſervorrats ablafjen fonnte, Der 
durd) das Zuflußrohr eingepumpt worden war. Nun 
jage mir, Emilie, welches die natürliche Folge fein 





924 Edward Bellamp. 


muß, wenn Zufluß und Abfluß bei einem Majjer- 
bebälter nicht übereinitimmen ?* 

„Dann würde fich jedenfalls der Mafferbehälter 
zu sehr anfüllen,” antwortete Emilie. „Man würde 
gezwungen fein, die Leitung des Zuflußrohrs zu 
verringern, das heißt, fie auf die Leiftungsfäbigfeit 
des Ableitungsrohrs zu beſchränlen.“ 

„Wenn aber dieſe Maßregel den Umfang bes 
Ableitungsrohrs (Konſumtion) noch mehr verkleinerte, 
dadurch daß es den arbeitenden Klaſſen ſelbſt die 
geringe Kaufkraft entzog, die fie in Form von Lohn 
und Ertrag ihrer Produkte noch beſaßen?“ 

„Wenn das der Fall it,“ jagte Emilie, „wenn 
dadurd nur die Produftion gehemmt wird und der 
ſtonſum nicht vergrößert, dann bleibt nichts andres 
mehr übrig, als die Abzugsröhren zu öffnen.” 

„Ganz recht. Nun fönnen wir uns auch vor— 
jtellen, was für eine wichtige Nolle die Abzugsröhren 
im Wirtſchaftsſyſtem unfrer Norväter geipielt haben. 
Unter ihrem Syftem verfaufte die Hauptmafje des 
Volks feine Urbeit und feine Produlte den Kapita— 
liiten, fonnte aber nur einen Meinen Teil derjelben 
fonjumieren — das übrige blieb in den Händen der 
Unternehmer. Da e8 aber nur eine Kleine Anzahl 
von Kapitaliften gab, konnte dur ihre Bedürfnifie 
nur ein winziger Zeil der aufgehäuften Produfte 
verbraucht werden, und doch ınußten fie Diefelben los 
werben, jonft fodte der Handel. Die Kapitaliften 
allein konnten ja über die Größe der Produftion 
enticheiden und hatten natürlich feine Veranlaflung, 
noch mehr Güter anzuhäufen, die fie nicht verlaufen 
fonnten, Je mehr nun aber die Produktion erjchlaffte, 
deito ſchneller verminderte ſich die Konſumtion des 
Bollkes; es fand feine Arbeit, niemand kaufte ſeine 
Produkte, und die Ueberfüllung in den Lagerräumen 
ber Kapitaliften wurde immer größer, deun die Rauf- 
fraft des Volles war erſchöpft. Was thaten nun 
die Hapitaliften, nachdem alle ihre eignen Bedürfniſſe 
befriedigt waren, um dieſen Leberfluß zu verwenden, 
und Naum für neue Produktion zu fchaffen ?” 

„Nenn die überflüffigen Produkte der Ueber— 
füllung abhelfen jollten,* antwortete Emilie, „dann 
mußten fie natürlich in einer Art verwendet werden, 
die nichts einbradte. Sie mußten vollftändig ver— 
geudet werden — wie Waller, da3 man ind Meer 
gießt. Das geſchah dadurch, dak man Arbeiter- 
klaſſen, die fi mit unfruchtbaren Unternehmungen 
beſchäftigten, unterftüßte. Es gab zweierlei Arten 
von dieſer unfruchtbaren Arbeit: die erfte beftand in 
ben nußloſen Unternehmungen ber gewerblichen und 
faujmänniichen Konkurrenz ; die zweite wurbe zum 
Zweck und im Dienfte des Luxus unternommen,“ 

„Sage uns zuerft etwas über die fruchtfoje Arbeit, 
melche die Konkurrenz veranlaßte.“ 

„Sie entftand durch Unternehmungen auf dem 


Gebiet des Hanbels und der Induftrie, für die feinerlei 
Bedürfnis vorhanden war. hr Zwechk mar einzig 
und allein, dem Gejchäft des einen Kapitaliften durch 
da3 des andern den Rang abzulaufen.” 

„Und verurfachte das eine große Vergeudung?“ 

„Man kann ermeifen, wie groß die Vergeudung 
war, wenn man bedenft, daß damals allgemein ge— 
jagt wurde: fünfundneungig Prozent aller gemerb: 
lichen und faufmännifhen Unternehmungen jchlügen 
fehl, das heißt, die Unternehmer verlören ihr An— 
lagefapital, weil fie für Bedürfniffe arbeiteten, die 
nicht vorhanden waren, oder für die ſchon in aus 
reichender Weiſe gejorgt war. Wenn dies Zahlen: 
verhältnis annähernd richtig ift, fann man ſich einen 
Begriff davon mahen, was für Unjummen von 
angehäuften Gewinn bei diefer Art von Konkurrenz 
vergeudet wurden. Man darf auch nicht vergelien, 
daß ebenjoviel Kapital verloren ging, wenn es einem 
Kaufmann gelang, den andern in feinem Geſchäft 
aus zuſtechen, nur war in biefem Fall der Berluft 
auf jeiten bes erjten Unternehmers, während im 
andern Fall der zweite fein Kapital verlor. In 
jedem einigermaßen fultivierten Lande gab es in 
allen Gejchäftsjweigen viel mehr Unternehmungen 
als das Geſchäft verlangte, und nur der geringfle 
Zeil aller angelegten Rapitalien trug Zinfen. Man 
fonnte nur neues Kapital anlegen, wenn man ba: 
alte, ſchon angelegte, verbrängte und vernichtete. Die 
immer neu anwachſende Maſſe des Gewinns, der 
einen Markt fuchte, welcher doch durch ebem dieſen 
Gewinn verftopft war, veranlaßte einen leidenfhaft- 
lihen Kampf unter den Hapitaliften, der nad allem, 
was wir davon gehört haben, jo verheerend wirkte 
wie eine Feuersbrunſt.“ 

„Nun ſage und etwas über die andre große 
Gewinnverſchwendung, durch welche der Ueberfluß 
in dem Waſſerbehälter ſo verringert wurde, daß die 
Produktion doch weiter gehen lonnte — ich meine die 
Benützung des Gewinns zur Anſtellung von Arbeitern 
im Dienfte des Lurus. Was verftand man unter 
Lurus ?* 

„Wenn man von dem Zuftand der Gefelihait 
vor der Revolution jpricht, jo bedeutet der Ausdrud 
Luxus die Güterverichwendung, welche die Neichen 
trieben, um ſich einen verfeinerten Sinnengenuß zu 
bereiten, während die Maſſe des Volles ſelbſt an 
den nötigften Lebensbedürſniſſen Mangel litt. 

„Nenne uns einige Beifpiele von dem Luxus und 
der Verſchwendung, weldhen die Kapitaliften frönten!* 

„Sie thaten es auf alle mögliche Art; zum Bei— 
ipiel bauten fie fich koſtbare Paläſte als Wohnung 
und flatteten fie mit Löniglicher Pracht aus, fie hielten 
fi große Dieneriharen, genoſſen die jeltenfien 
Speifen und Getränke, hatten jchöne Equipagen und 
Vergnügungsboote, aud) prächtige leider und herrliche 





Gleichheit. 925 


Edelſteine in großer Menge. Man ftrengte feine 
Erfindungsgabe an, um allerlei Beranftaltungen zu 
treffen, die e8 den Reichen ermöglichen jollten, den 
Ueberfluß zu verprafjen, um bejientwillen das Wolf 
darbte. Eine ungeheure Wrbeiterjhar war fort» 
während beichäftigt, zahlloſe Artifel zu fabrizieren, 
die der Eitelkeit und Prunkſucht der Reichen dien» 
ten, während die Arbeiter jelbft das Nötigfte ent— 
behrten.“ 

„Welchen Eindruck macht dieſer Luxus vom mora= 
lichen Standpunlt aus?” 

„Hätte fih das geſamte Gemeinwejen in einem 
MWohlftand befunden, der allen feinen Gliedern ge— 
ftattete, den gleichen Luxus zu genießen,” erwiberte 
dad Mädchen, „jo würde es ſich nur darum handeln, 
ob mar Geſchmack daran fände. Aber die ungeheure 
Güterverſchwendung der Reichen, in Gegenwart einer 
armen nofleidenden Bevölkerung , zeugte von einer 
Unmenfchlichkeit, wie man fie bei zivilifierten Völkern 
nicht für möglich halten würde, wären die Thatjachen 
nicht volllommen verbürgt. Man denke ſich nur eine 
Gejellichaft, die bei einem Gaftmahl an reich be= 
ſetzter Tafel ſitzt, während rings auf dem Boden und 
in allen Eden de3 Saales eine Anzahl ihrer Mit 
geihöpfe umberliegen und mit gierigen Bliden jedem 
Biffen folgen, den die Schmaujenden zum Munde 
führen! — Genau fo machten e8 aber die Reichen 
in den großen Städten von Amerika, Frankreich, 
England und Deutjchland vor der Revolution; bloß 
mit dem Unterſchied, daß die Hungrigen und Not— 
leidenden nicht drinnen im Banfettfaal waren, jondern 
draußen vor der Thür auf der Straße.” 

„Sagte man aber denn nicht, um den Luxus der 
Kapitaliften zu entjchuldigen, daß fie auf diefe Weife 
vielen Leuten Arbeit verjchafiten, die jonft feine er= 
halten hätten?“ 

„Und warum fehlte e8 ihnen denn an Beſchäf— 
tigung? Weshalb waren die Leute frob, wenn fie für 
die luxuriöſen VBergnügungen und Genüffe der Reichen 
arbeiten durften? Weshalb gaben fie fih zu den 
untergeorbnetften und entwürdigendften Dienten her? 
— Einzig und allein, weil diefe jelben Kapitaliſten 
durch den Gewinn, welchen fie nahmen, die Kon— 
jumtionätraft des Bolfes weit unter feine Produktions» 
fraft herabdrüdten. Sie ſchränlten dadurd zugleich) 
das Feld der probuftiven Arbeit ein, auf dem, unter 
einem vernünftigen Wirtſchaftsſyſtem, jedermann Be— 
ihäftigung gefunden hätte, bis alle Bedürfniſſe be« 
friedigt waren, wie das heutzutage der Fall iſt. 
Wenn die Kapitalijten für ihre Iururiöfen Ausgaben 
die Entjhuldigung vorbradhten, die Sie erwähnt 
haben, fo beriefen fie fi nur auf die Folgen eines 
Unredts, um ein neues begehen zu können.“ 

„Die Sittenprediger haben zu allen Zeiten den 
Luxus der Reichen verurteilt,“ ſagte der Lehrer. 


„Weshalb hat denn ihr Tadel feine Beſſerung zur 
Folge gehabt?“ 

„Weil fie die wirtjchaftlihe Seite der Frage 
überfahen. Sie begriffen nicht, daß, folange das 
Gewinnfyftem herrjchte, die Verſchwendung bes Ge- 
winnüberichuffes durch unproduftive Ausgaben eine 
wirtfchaftliche Notwendigkeit war, wenn die Produktion 
weiter fortgehen jollte, wie Sie das an dem Beifpiel 
mit dem Waſſerbehälter Har beiwiejen haben. Die Ge- 
winnverfchwendung durch den Luxus war in wirtichafte 
licher Hinfiht fo unentbehrlich, wie zum Beiſpiel in 
gewiſſen Kranfheiten eine offene Eiterbeule, um die 
unreinen Säfte aus dem Körper zu entfernen. Bei 
unferm Syftem der gleichen Güterverteilung ijt der 
Geſamtbeſitz des Gemeinmwejens an alle Glieder gleid)« 
mäßig verteilt, wie das Blut in einem gefunden 
Körper. Unter dem alten Syſtem aber fammelte 
fi) der Bejik in den Händen einer Meinen Minder- 
beit an und verlor dadurch feine lebenſpendende 
Kraft; wie dad Blut, wenn es ſich in beflimmten 
Organen ftaut, zu einem Gift wird, deſſen man id) 
um jeden Preis entledigen muß. Der Lurus läßt 
fi) daher mit einem Geſchwür vergleichen, das offen 
gehalten werden mußte, wenn das Gewinnſyſtem 
überhaupt Beſtand haben jollte.” 

„Du ſagſt,“ warf der Lehrer ein, „baß die Pro- 
duftion feinen Fortgang hätte haben fönnen, wenn 
nicht der Meberfluß an Gewinn durch unprobuftive 
Ausgaben auf irgend eine Weije verſchwendet worden 
wäre. Aber hätten ſich denn nicht die, welche den 
Gewinn hatten, eine verfländigere Art ausdenken 
fönnen, ihn zu verbrauchen? Gab «8 fein befjeres 
Mittel bazu, als bie bloße Konkurrenz, bei der einer 
den andern verdrängte, oder die Güterverſchwendung 
im berfeinerten Sinnengenuß, welde obendrein, in 
Gegenwart der notleidenden Menge, jo wenig menjchen- 
freundlich war ?* 

„Gewiß. Es wäre weit menfchenfreundlicher und 
weniger entjittlichend geweien, hätten ſich die Kapita— 
liften auf andre Weile ihres Ueberfluffes entledigt. 
Sie brauchten nur von Zeit zu Zeit ein großes 
Feuer anzuzünden, um dem Gotte ‚Gewinn‘ ein 
Branbopfer zu bringen, wenn fie nicht vorzogen, mit 
ihren Schätzen ins Meer hinauszufahren und fie zu 
verjenfen, wo es am tiefjten war.” 

„Es läßt fih nicht leugnen, dab ein ſolches 
periodifches DOpferfeuer oder die Sitte, überflüffige 
Güter ins Waller zu verjenfen, den Göttern und 
Menſchen angenehmer geweſen wäre, als das Schwelgen 
in einem Luxus, der dem bitteren Mangel der Maſſen 
Hohn ſprach. Welchen Einfluß aber hätte dies Ver— 
fahren auf das Wirtſchaftsſyſtem gehabt ?* 

„Einen weit bvorteilhafteren, nicht nur in fittlicher, 
fondern auch in wirtjchaftlicher Beziehung. Durch 
Konkurrenz und Luxus wurde der überflüjfige Gewinn 





926 Edward Bellamy. 


nur langfam und allmählich aus der Welt geichafft; 
in der Zwiſchenzeit aber ftodte die Gewerbethätigfeit, 
und die Urbeiter mußten müßig daftehen und warten, 
bis der Ueberſchuß fich jo verringerte, daB wieber 
Raum für neue Produktion entjtand. Wurde da— 
gegen der Ueberihuß raſch zerftört, jobald er ſich 
bemerklich machte, jo fonnte der Betrieb ohne Unter: 
brechung fortgefeßt werden.“ 

„Bie fteht e8 denn aber mit den Arbeitern, welche 
bie Lurusgegenſtände für die Kapitaliften fabrizierten ? 
Hätten fie nicht ihre Beichäftigung verloren, wenn 
ber Luxus abgeſchafft wurde?” 

„Im Gegenteil; wenn ein regelmäßiges Opferfeuer 
eingeführt worden wäre, hätten fie fortwährend Arbeit 
gehabt, um neues Material zu produzieren, das in 
die Glut geworfen wurde. Das wäre noch eine viel 
würbigere Beichäftigung geweſen, als den Kapitaliſten 
dazu behilflich zu fein, daß fie die Erzeugniffe der 
Gemwerbethätigfeit ihrer Brüder im Taumel des Ge— 
nuſſes verzehren konnten. Doch hätte ein ſolches 
Opferfener, wenn ed an Stelle des Luxus getreten wäre, 
vielleicht noc) größeren Nutzen geftiftet. Nachdem die 
Nation dem Gewinn einige diefer jährlichen Brand» 
opfer gebracht hatte, ja möglicherweile ſchon nach dem 
eriten berjelben, würde ſich ihr aus eigner Anſchauung 
die Frage aufgedrängt haben, ob denn die moraliichen 
Vorzüge des Gewinnjyftems für dieſe großen Opier 
an Güterbefik irgend welche Entſchädigung boten,“ 


Karl bejreit und von einer Befürdtung. 


„Nun Karl,“ fagte der Lehrer zu einem Knaben, 
„Huf du uns einen Zweifel zu befeitigen, der unfer 
Gewiſſen beunruhigt, Wir haben alle viel Schlechtes 
über das Gewinnſyſtem gejagt, jowohl in fittlicher 
als wirtſchaftlicher Hinſicht. Iſt es denn aber nicht 
möglich, dab wir es mit Unrecht jo hart tadeln ? 
Haben wir das Bild nicht zu ſchwarz gemalt? Von 
ethiichen Geſichtspunkt aus kann das zwar faum der 
Fall fein, denn es läßt fi gar nicht mit Worten 
ſchildern, wie ſehr e8 aller Menſchlichleit Hohn ſprach. 
Aber vielleiht haben wir doc feine wirtfchaftliche 
Schädlichkeit zu ftark betont und es als zu hoffnungs- 
los bingeftellt, daß die Welt, jo lange fie jein Be— 
ſtehen duldete, je zu materiellem Wohlbefinden ge- 
langen könne? Kannjt du uns über diefen Punft 
berubigen ?* 

„Mit Leichtigkeit,“ verjeßte Karl. „Die National» 
Ökonomen des neunzehnten Jahrhunderts ftellen uns 
ielbit das ficherfte Zeugnis darüber aus, daß es unter 
der Herrichaft des Privatlapitalismus feinerlei Aus— 
ficht auf wirtidhaftliches Gedeihen gab. Sie konnten 


feine verhängnisvolle Wirfung waren fie völlig im 
flaren. Weit entfernt davon, die Menjchheit zu er— 
mahnen, fie folle die beftehenden Uebel tapfer ertragen 


und ſich mit der Hoffnung tröften, da befiere Zeiten 
tommen würden, lehrten fie allgemein: das Gewinn: 
inftem müſſe jedenfalls über furz oder lang den in- 
duftriellen Fortichritt hemmen, jo daß ein Stillfland 
in der Produltion unvermeidlich wäre,“ 

„Wie führten fie diefen Beweis?“ 

„Sie erfannten wie wir, daß ſich bei der Herr- 
ſchaft des Privatfapitalismus Nenten, Zinfen und 
Gewinne immer mehr in Form von Kapital in den 
Händen der Kapitaliftenflaffe anfammeln muhten, 
während andrerfeits die Konſumtionskraft der Mafien 
nicht zunahm, fondern fic entweder verminderte oder 
unverändert blieb. Die Folge diefer mangelhaften 
Ausgleihung von Produktion und Konjumtion war, 
dab es immer jchwieriger wurde, das Kapital mit 
Gewinn in der Induſtrie zu verwenden, währen) 
das anzjulegende Kapital mehr und mehr wucht. 
Nahdem der einheimifche, ſowie der fremde Martt 
mit Erzeugniffen überfchwenmt war, bemühten ſich 
die Hapitaliften um die Wette, produktive Verwendung 
für ihre Gelder zu finden. Zuerſt fehlen fie den 
Lohn jo weit wie möglich herunter und gaben dann 
foviel von ihrem Gewinn auf, als fich irgend thun 
ließ, wenn es überhaupt für fie noch lohnen follte, 
ihr Kapital zu riskieren. War diefer Punkt erreicht, 
jo wurde weiter fein Kapital verwendet um Geſchäfte 
zu madjen. Die Güterproduftion nahm nicht mehr 
zu, ſondern geriet in Stillftand.“ 

„Du fagft, die Ergebnis des Gewinnfuflen: 
hätten die Nationalöfonomen des neunzehnten Jahr 
hunderts jelbit vorhergeſagt?“ 

„Gewiß. Ich könnte eine Menge Stellen aus 
ihren beften Büchern angeben, welche dieſen Zuftand 
der Dinge im voraus ſchildern; übrigens bedurfte 
es gar feined Propheten, um das zu thun,“ 

„War die Welt — das heißt die in der induſtriellen 
Entwidlung am weiteften vorgejhrittenen Völlet — 
diefem Zuftand ſchon jehr nahe gefommen, als die 
Kevolution eintrat ?* 

„Sie hatten ihn faft erreicht. Die in wirtſchaft⸗ 
licher Beziehung entwideltjien Völfer hatten meift 
die Kaufkraft des heimischen Marktes erſchöpft und 
tämpften verzweifelt um ein Abjaßgebiet auf fremden 
Märkten. Der Zinsfuß, welcher bezeichnete, bis zu 
welchem Grade der Ueberfluß an Kapital geftiegen 
war, fiel in Amerifa innerhalb dreißig Jahren von 
fieben oder ſechs auf fünf, vier oder drei Prozent 
und ſank immer mehr von Jahr zu Jahr; im Eng 
fand betrug er noch zwei Prozent. Die probultiv: 
Gewerbethätigkeit war faft überall gehemmt und nahn 


nur dan und warın einen Aufſchwung. In Amerika 
ſich zwar fein andres Syſtem vorftellen, aber über | 


wurden die Lohnarbeiter zu Proletariern und die 
Landbeſitzer zu Pächtern. Die allgemeine Unzufrieder- 
heit mit dieſen Zuftänden und die Furdt, daß ned 
Schlimmeres zu erwarten ftehe, hat mehr als al 





Gleichheit, 


andre dazu beigetragen, dem Volke zu Ende des 
neunjehnten Jahrhunderts endlich die Notwendigfeit 
far zu machen, daß es den Privatlapitalismus für 
ewige Zeiten abſchaffen müſſe.“ 

„Und ift denn der Stillftand, nach deſſen Beginn 
fih feine Zunahme der Güterproduftion mehr er— 
warten ließ, wirfiich ſchon eingetreten, bevor noch 
für die notwendigften Pebensbedürfniffe der Maflen 
aejorgt war ?* 

Jawohl. Die Befriedigung der Bedürfniſſe der 
Maſſen fam bei der Vroduftion überhaupt nicht in 
Belraht, folange das Gewinnſyſtem herrſchte, das 
haben wir bereit zur Genüge geiehen. Je mehr die 
Froduftion fi) dem Stillitand näherte, um jo größer 
wurde das Elend des Vollkes, infolge des Wettſtreits 
der Kapitaliften, die mit ihrem Ueberſchuß an Kapital 
Geihäfte zu machen ſuchten. Zu diefem Zweck 
drüdten fie, wie gejagt, die Preiſe aller Erzeugniife 
herunter; dadurch ſank zuerſt der Lohnſatz der Are 
beiter und die Einnahme der Landwirte jo tief wie 
möglich, und endlich entſchloſſen ſich die Kapitaliſten, 
au ihren Gewinn herabzuſetzen. Was die alten 
Rationaldfonomen den Stillftand in der ‘Produktion 
nannten, bedeutete alfo für das Boll einen fort 
dauernden Zuftand der größten Not, unter der es 
nur gerade noch beftchen konnte.“ 

„Das genügt, Karl. Nach dem, was du gejagt 
haft, brauchen wir nicht mehr zu fürchten, dak wir 
zu hart über das Gewinnfyiten geurteilt haben. Wie 
wäre das auch möglich, wenn jelbjt die Leute, die 
dafür eintraten, einen ſolchen Ausgang prophezeiten. 
Die Schilderung, die fie von dem Stillftand der 
Induftrie entwerfen, melde am Ende ihrer Hilje- 
mittel angefommen ift, während ringsum die Mafjen 
im bitterjten Elend ſchmachten, reicht allein ſchon 
bin, um dem Syſtem das VBerbammungsurteil zu 
iprehen. Das war die Zukunft, welche die National 
öfonomen des neunzehnten Jahrhunderts den frierenden 

und Hungernden Arbeiterjharen vorausjagten; eine 
andre Hoffnung hatten fie ihnen nicht zu bieten. Es 
ſollte ihnen noch ſchlimmer ergehen als je zuvor, und 
von einer Bellerung ihres Zuftandes fonnte nie mehr 
die Rede fein. Kein Wunder, daß unfre Vorfahren 
die Volkswirtſchaftslehre als eine troſtloſe Willen« 
haft bezeichneten, denn einen ärgeren Peſſimismus, 
eine größere Hoffnungslofigteit, als fie verkündete, 
hat e& niemals gegeben. Wie jchredlich wäre es für 
die Menſchheit geweien, hätte diefe Wiſſenſchaft auf 
Wahrheit beruht. 


Eſther berechnet die Koften des Gewinn— 
fyſtems. 

„Nun, Eſther,“ fuhr der Lehrer fort, „möchte ich 

von dir hören, wie viel die Beibehaltung des Gewinn- 

igftems unjern Vorfahren etwa gekojtet Haben mag? 


927 


Emilie hat uns einen Begriff davon verjchafit, wie 
groß die Verſchwendung geweſen ift, welche Kon— 
lurrenz und Luxus verurſachten. War denn aber 
die Vergeudung des Kapitald der einzige Verluft, 
den das Volk durd das Gewinnſyſtem erlitt?“ 
„Seineswegs, auch nicht einmal annähernd,” ſagte 
das Mädchen, „Wären die Güter, welche durch 
Konkurrenz und Luxus verichwendet wurden, gleich“ 
mäßig unter das Volk verteilt worden, fo hätte der 
Verbrauch derjelben natürlih den Zuftand im all 
gemeinen weit behaglicher gemadjt. Aber bei dem 
Ueberidylag der Koſten, welche einem Gemeintwejen 
dur das Gewinnſyſtem erwuchſen, fam die Güter- 
verſchwendung der SKapitaliften faum in Betracht. 
Der größte Schaden beftand darin, daß das Gewinn⸗ 
ſyſtem die Güterprodbultion hemmte, indem es die 
faft unbegrenzte Produftionsfraft des Menſchen in 
Feſſeln ſchlug und der freien Bewegung beraubte. 
Menn die große Mafje des Bolfes, die in Armut 
verjunfen war und zum Teil bittere Not litt, genug 
erhalten fjollte, damit fie alle ihre Bedürfniſſe ber 
friedigen und zum vollen Lebensgenuß gelangen 
fonnte, jo wäre die Produltion einer ungeheuern 
Menge von Gütern erforderlid) gewejen, um ihrer 
Konfumtionsfraft zu genügen. Danach läßt ji un- 
gefähr berechnen, wie viel das Volt in Amerika oder 
in irgend einem andern Lande damal3 produziert 
haben würde, wäre das Gewinnfyftem nicht gewejen. 
Man kann, je nad) dem Maßftab, weldden man an« 
legt, behaupten, die Broduftion hätte auf das fFünf- 
fache, Siebenfadhe oder Zehnfache fteigen müflen.” 
„Aber ſage mir: wäre daß amerikanische Volt 
am Ende des neunzehnten Jahrhunderts denn aud) 
im ftande gewejen, jeine Produftion bis zu folcher 
Höhe zu ſteigern, wenn die Kouſumtion es erheijchte ?* 
„Ohne alle frage, und zwar mit Leichtigkeit. Die 
Erfindungen hatten im neunzehnten Jahrhundert 
ſolchen Fortſchritt gemacht, daß die Produftionstraft 
der Induſtrie in ungeheuerm Maße zunahm. Während 
des leiten Vierteljahrhunderts hätten zum Beiſpiel 
die vorhandenen Betriebtanlagen in Amerika oder 
irgend einem andern Sulturftaat in einem halben 
Jahr den damaligen Bedarf für das ganze Jahr 
liefern fönnen. Und dieje Betriebsanlagen ließen 
ſich noch ins Unendliche vermehren. Auch die land« 
wirtjchaftlihe Produftionskraft fonnte fih niemals 
voll entfalten, denn jede reichliche Ernte brachte den 
Landwirten einen faum zu ertragenden Preisabichlag, 
jolange das Gewinnſyſtem herrſchte. Wie gejagt, 
darin flimmten die alten Nationalölonomen alle 
überein, daß es für die Produftionäfraft faum eine 
Grenze geben würde, wenn nur genügende Nachfrage 
zum Zwed des Verbrauchs vorhanden wäre.” 
„Könnteft du mir ein andres Beijpiel in ber 
Geſchichte nennen, daß die Völker jemals einen fo 





928 Edward Bellamy. 


hoben Preis bezahlt haben, wie unter der Herrichaft 
des Gewinnfyflems, um eine altgewohnte Tyrannei 
beizubehalten, bie ihre ganze Weiterentwidlung hemmte 
und unmöglich machte?“ 

„In ähnlicher Weife fann das wohl nie geichehen 
jein, jollte ih meinen. Zwar ifl der menſchliche 
Fortichritt auf verjchiedenen Stufen feiner Entwidlung 
durch volksbedrückende Inftitutionen verzögert worden, 
bei deren Shurz die Welt einen großen Sprung bore 
wärts that. Aber noch nie hat e8 eine Zeit gegeben, 
in der alle Vorbereitungen für einen rajchen und 
ungeheuern ſozialen Fortichritt ſchon jo lange und 
in jo großartigem Maße getroffen worden twaren, 
wie während der Periode vor der Revolution. Das 
Gewinnſyſtem hielt alle mechanischen und induftriellen 
Kräfte in Banden, und fie brauchten ſich nur zu bee 
freien, um den ganzen wirtſchaftlichen Zujtand bes 
Menſchengeſchlechts wie mit einem Zauberſchlag umzu⸗ 
wandeln. Wie groß aber auch der materielle Schaden 
war, deu das Gewinnjyftem unjern Vorfahren be= 
reitete, er läßt ſich auch nicht von ferne mit dem 
Verluſt an Menfchenglüd vergleichen, den es mit ſich 
brachte, Wollte man die Summe von Thränen und 
Schmerzen, von moraliihem Elend und erlittenem 
Unrecht zufummenzählen, welche die Welt an jedem 
Tage für die Beibehaltung des Privatfapitalismus 
bezahlen mußte, fein Menſch wäre im ftande, dieſe 
Verluſte auch nur annähernd zu ſchähen.“ 


Vor der Revolution gab es nod feine 
Nationaldöfonomen. 


„But, Eſther. Nun Georg, berichte du uns einiges 
Nähere über eine Klaſſe von Gelehrten im neune 
zehnten Jahrhundert, die das Volk über deu wirt« 
ihaftlihen Untergang, dem es durch die Herrſchaſt 
de3 Kapitalismus entgegenging, hätten belehren ſollen. 
Bei dem Studium ihrer Wiſſenſchaft konnten fie, 
ebenjogut wie wir, den verderblichen Charakter des 
Gewinnſyſtems erfennen, Ich meine die National« 
öfonomen.” 

„Es gab gar feine Nationalöfonomen vor der 
Revolution,” entgegnete der Knabe. 

„Aber eine große Anzahl Gelehrter nannten fih 
doch Nationalöfonomen,“ 

„Das wohl, aber fie legten ſich einen falſchen 
Namen bei,” 

„Wie willft du das beweijen ?* 

„Weil es vor Eintritt der Nevolution außer 
denen, welche den Umsturz ins Werk zu ſetzen juchten, 
überhaupt niemand gab, der eine Ahnung davon 
hatte, was Nationaldlonomie war.” 

„Was verjteht ınan denn darunter?” 

„Delonomie,“ jagte Georg, „it ein weile Haus- 
halten mit dem Beſitz mittels der Produftion und 
Güterverteilung, Der einzelne richtet ſich dblonomiſch 








ein, wenn er fein befonderes wirtjchaftliches Intereiie 
verfolgt, ohne Rüdiicht auf andre. Die Oelonomit 
einer familie befteht darin, daß fie den Vorteil ihrer 
Angehörigen ſucht, ohne andre Familiengruppen 
dabei in Betracht zu ziehen; Nationalökonomie kann 
aber nichts andre bedeuten, als bie Verwaltung 
des Belihes zum möglichft großen Ruben der Ge 
jamtheit, da ja jämtlihe Bürger zufammengenommen 
die Nation bilden. Eine ſolche Verwaltung jest 
notwendigerweife das Borhandenfein eines ‚Wirt: 
ſchaftsſyſtems voraus, welches das allgemeine Beite 
fortwährend im Auge behält. Aber vor der Revolution 
ahnte man noch nichts von ſolchem Syftem und fonnte 
daher auch feine wirtihaftlichen Einrichtungen treffen, 
welche Diefem Zwed entſprachen. Alle früheren Syſteme 
und Lehren der Vollswirtſchaft waren nach Theorie 
und Praris ausjchlieglih für das Individuum und 
feine Privatintereffen berechnet. Auf andern Feldern 
hatten unfre Vorfahren zwar die Wichtigleit der 
politifchen Einheit und Sozialen Solidarität ſamt 
ihren Rechten und entjprechenden Pflichten erfannt, 
aber bei allem, was ſich auf Erwerb und Verteilung 
der Güter bezog, zeigten fie ſich in Theorie und 
Praris feindfelig, roh und ſelbſtſüchtig — antifozial 
und antinational.“ 

„Halt du je in der hiſtoriſchen Bibliothek eine 
der Abhandlungen gelefen, welche die jogenannte 
Nationaldlonomie unfrer Vorfahren enthielten ?* 

„Nein,“ fagte der ſtnabe. „Schon der Titel des 
Hauptwerl& diefer Sammlung hat mic abgeichredt. 
Es hieß: ‚Der Reichtum der Nationen‘, Das wäre 
heutzutage ein herrlicher Titel für ein nationalöfono: 
mifches Werk, weil bei uns die Produktion und 
Güterverteilung durch und für das ganze Voll bes 
trieben wird, Melden Sinn fonnte er aber mög 
licherweije bei einem Buche haben, das hundert Jahre 
früher geichrieben war, che man nod) überhaupt au 
eine nationale Wirtichaftspolitif Dachte? Sein einziger 
Zwed war, den Kapitaliften zu zeigen, wie fie auf 
Koften ihrer Mitbürger reich werden fönnten, oder 
wenigftend ohne die geringfte Rüdficht auf deren 
Wohlbefinden zu nehmen. Ein Werteidiger bei 
Privatlapitalismus und des Gewinnſyſtems kanntt 
ja noch nicht einmal das Abc der Güterproduktion, 
welches in der Erkenntnis von der Notwendigfeit der 
Koordination und gemeinjhaftlichen Arbeit beiteht. 
Die Wirtjchaftäpolitik, welche jene Schriftfteller lehrten, 
beihäftigte jih dagegen hauptſächlich mit der Kon 
furrenz, dem Streit der Parteien und zahliofen ſich 
freuzenden Intereſſen.“ 

„Und doch,“ jagte der Lehrer, „beſteht der einzige 
wirkliche Fehler diefer Bücher über Nationalöfonomie 
in ihren abgejhmadten Titeln. Sobald man dirk 
ändert, erweilen fie fi) als wertvolle Urkunden aut 
der damaligen Zeit. Ein pafjender Name für fi 


Gleichheit. 


wäre zum Beijpiel: ‚Unterjuhungen über die wirt⸗ 
Ihaftlichen und fozialen fyolgen eines Zuftandes, der 
jegliher Nationalölonomie ermangelt‘, oder auch: 
‚Studien über den natürlihen Berlauf der Volls— 
wirtihaft, wenn fie, durch den Mangel jeder An— 
ordnung für das Gefamtinterefje, der Anarchie 
preiögegeben wird‘. Erft wenn wir fie in dieſem 
Lichte betrachten — als eine ausführliche und über 
jeugende Darftellung der verderblihen Wirkung, 
welche der Privatfapitalismus auf die Wohlfahrt bes 
Gemeinwejens ausgeübt hat, erfennen wir den wahren 
Zwei und Nutzen diefer Bücher. Die Verfaſſer 
verbreiten ſich über die verjchiedenen Erſcheinungen 
in der Welt des Handels und der Gewerbethätigkeit, 
ihildern ihre Rüdwirtung auf die fozialen Verhält- 
niffe und beweiſen, daß bei der Natur des Privat» 
fapitaligmus gar fein andre Ergebnis zu erwarten 
war. Solange diejer herrſchte, lonnte nur eine 
ſchwache Gefühlzjeligfeit hoffen, daß die Sade eine 
Wendung zum Befleren nehmen würde, modhten die 
Abfichten der Menjchen auch noch jo vortrefflich fein. 
Der Stil jener Bücher war zwar etwas ſchwerfällig, 
doch habe ich oft gedacht, daß während der Umjturz« 
periode nichts geeigneter gewejen wäre, um verftändigen 
Menihen — falls man fie bewegen konnte, dieſe 
Dofumente zu lefen — die Ueberzeugung beizubringen, 
wie unumgängflid notwendig e8 war, den Privat« 
fapitaliämus abzufhaffen, wenn die Menſchheit je— 
mals vorwärts fommen jollte, 

„Der verhängnisvolle und völlig unbegreifliche 
Irrtum ihrer Verfaſſer beſtand darin, daß fie nicht 
jelbjt zu dieſem Schluffe gelangten und ihn ver- 
kündeten. Statt deſſen nahmen jie wunderbarer- 
weile als Grundlage für ihre Wiſſenſchaft einen 
Zuftand der Dinge an, den wir nur als ein bar« 
barifches MWeberbleibjel aus früherer Zeit anjehen, 
Sie hätten doch fofort erfennen müſſen, daß ſchon 
der Begriff einer fozialen Ordnung überhaupt zu 
jeiner Verwirklichung als erften Schritt die Abjchaffung 
diejes Zuftands erheifchte, 

„wei oder drei Punkte bedürfen aber noch der 
Aufflärung, ehe wir den vorliegenden Gegenftand 
verlaſſen. Wir haben miteinander über den Ges 
winn geſprochen; aber das war nur eine ber drei 
Hauptmethoden, weldhe die Kapitaliften anwendeten, 
um von ber Wrbeiterwelt den Tribut einzufordern, 
durch den fie ihre Macht erwarben und behaupteten. 
Melde zwei Mittel benubten fie no) zu dem Zwed?“ 

„Den Zins und die Bodenrente.* 

„Was verfteht man unter Bodenrente ?” 

„Zu jener Zeit,” antwortete Georg, „beſaß nicht 
jeder Menſch, wie jeht, das Recht, einen für alle 
gleich bemefienen Anteil des Landes zu feinen Privat- 


zweden zu benupen. Daß die Menfchen von Natur | 


ein Recht an Grund und Boden haben, wurde von 
Aus fremden Zungen, 1897. IL 20, 


929 


niemand anerkannt. Andrerjeits gab es feine Grenze 
für den Bei an Land — und wäre es eine ganze 
Provinz gewejen — deſſen Erwerb das Geſetz dem 
einzelnen nicht geitattet hätte. Zufolge dieſer Ein- 
richtung hatten die Starken und Liftigen ſich fait 
des ganzen Grund und Bodens bemächtigt, während 
die Mehrzahl des Volles gar kein Land beſaß. Der 
Inhaber des Landes hatte überdies das Recht, jeden, 
der jein Eigentum betrat, auszuweiſen und beftrafen 
zu laſſen. Wünſchte das Volk felbft Grund und 
Boden zu haben und zu benugen, jo mußte es fi 
natürlich an die Rapitaliften wenden. Dieſe ließen 
fh die fogenannte Bodenrente als Preis dafür ber 
zahlen, daß fie die Leute nicht aus dem Lande ver» 
trieben. * 

„Hatte der Empfänger der Rente dem Gemein— 
wejen irgend einen wirtſchaftlichen Dienft dafür ge 
leiftet ?* 

„Bar feinen, Der Entgelt für Benugung bes 
Landes — natürlich abgejehen von etwaigen Ver« 
befferungen — wurde dem Eigentümer nur bezahlt, 
damit er fein gejeßmäßiges Recht, die Bewohner des 
Landes zu verweiien, nicht in Anwendung brachte, 
Er erhielt ihn nicht für etwas, das er gethan hatte, 
jondern für etwas, das er unterlafjen hatte,“ 

„Nun fage uns, was verftand man unter Zinjen?* 

„Zinſen waren der Preis, den man für Bes 
nutzung von Geld bezahlte. Heutzutage braucht die 
Gejamtverwaltung die induftriellen Kräfte der Nation 
zur allgemeinen Wohlfahrt, Aber damals diente 
jedes wirtjchaftliche Unternehmen dem Privatgewinn, 
und die Urheber besfelben mußten die Arbeit, deren 
fie bedurften, mit Gelb bezahlen. Wer Geldmittel 
entlehnen wollte, die ihm unentbehrlich waren, hatte 
einen hohen Preis dafür zu entrichten — das waren 
die Zinjen.” 

„Hatte der Empfänger der Zinfen dem Gemein» 
wejen irgend einen wirtihaftliden Dienft dafür ge— 
leiftet ?* 

„Gar feinen. Im Gegenteil, der Gläubiger 
verzichtete auf den Gebrauch feiner Arbeitätraft zu 
Gunften bes Entleihers. Er erhielt das Geld dafür, 
daß er einen andern thun ließ, was er jelbit hätte 
tun fönnen. Der Unthätige erhob diefen Tribut 
von dem Handelnden.“ 

„Wenn alle Grundbefiger und Geldverleiher über 
Nacht geftorben wären, hätte das ber Welt irgend 
welchen Schaden gebradjt ?“ 

„Richt den geringften, falls nur ihr Geld und 
ihr Sand zurüdblieb, Sie jpielten eine pajfive Rolle 
in der Wirtſchaftspolitik, im Gegenſatz zu den Ge— 
winn ſuchenden Kapitaliften, die wenigftens thätig 
eingriffen, jei e8 im guten oder böfen Sinne,” 

„Welche allgemeine Wirkung hatten Zins und 
Bodenrente auf die Konfumtion und folglich auch 

117 





930 
auf die Güterproduftion durch das Gemein- 
weien ?* 

„Sie verminderten beides.” 

„Wie geihah das?“ 

„Ganz ebenfo wie bei dem Gewinn. Die Em— 
pfänger der Nente waren eine Minderheit, und faft 
alle übrigen mußten fie entrichten. Nur wenige er= 
hielten Zinjen, die meiften mußten fie zahlen. Rente 
und Sins bedeuteten daher, gleich dem Gewinn, den 
allmählichen Uebergang der Kaufkraft des ganzen 
Gemeinmwefens in die Hände einer Meinen Anzahl 
feiner Mitglieder.“ 

„Welche von den drei Methoden hatte mehr Ein- 
fluß auf die Zerftörung ber Konſumtionskraft ber 
Maflen und folglicd auf die Veränderung der Nach— 
frage nad) Produkten ?“ 

„Das wechjelte in den verjchiedenen Ländern und 
Zeitaltern, je nad) ihrer wirtihaftlichen Entwicklungs- 
finfe. Man hat den Privatlapitaligmus einem Stier 
mit drei Hörnern verglichen, deren Länge und Stärle 
zunahm, je älter er wurde, Die drei Hörner waren 
Rente, Gewinn und Zins. Zu der Zeit, von der 
wir reden, war in den Wereinigten Staaten der 
Gewinn noch das längſte von den dreien, aber die 
beiden andern wuchjen mit furchtbarer Schnelligkeit.” 

„Wir haben gejehen, Georg,” jagte der Lehrer, 
„daß Ichon lange vor der großen Revolution, gerade 
jo wie jeßt auch, die einzige Grenze der Güter« 
produktion Durch die Konſumtionskraft der Geſellſchaft 
gebildet wurde, Unter der Herrſchaft des Privat- 
fapitaliamus ſchmachtete die Welt in Armut, weil 
der Gewinn, verbunden mit Rente und Zins, die 
Konfumtion verminderte und dadurch die Produltion 
bemmte, jo daß die Kaufkraft des Volkes in den 
Händen einer Minderzahl lag. Das war eine ganz 
verfehrte Einrihtung. Nun jage uns in furzen 
Worten, wie e8 hätte richtig gemacht werden müſſen. 
Die Produktion wird durch die Konfumtion bedingt. 
Welche Negel muß alſo in betreff der Verteilung 
aller zur Sonfumtion bejtimmten Güter befolgt 
werden, um die Konſumtion auf ein möglichſt hohes 
Mar zu bringen und dadurch die Produftion, for 
viel fich das thun läßt, zu vermehren ?” 

„Um diefen Zwed zu erreihen, muß man die 
produzierten Güter zu gleichen Teilen unter alle 
produftiven Mitglieder der Gejamtheit verteilen.“ 

„Beweiſe uns, weshalb das jo ift.“ 

„Es beruht auf einer einfahen mathematiichen 
Beredinung. Ein Laib Brot oder jede andre der- 
artige Ding wird um fo jchneller verzehrt, je mehr 
Perſonen zu gleichen Teilen davon erhalten, worauf 
neue Nachfrage entjteht. Oder, um den Gedanlen 
nod) anders auszudrücken: die Bedürfnifie der Menſchen 
entjtehen aus derfelben natürlichen Konftitution und 
find weſentlich die gleichen. Durch eine gleichmäßige 


Edward Bellamp. 


Verteilung aller Verbrauchsgegenſtände läßt ſich daher 
bie Konſumtion am beften erweitern und ohne Unter: 
bredyung in der nämlihen Ausdehnung erhalten, bis 
alle Bedürfnifie vollfommen befriedigt find. Die 
Einrihtung aljo, durch welche die größtmögliche 
Konfumtion gefichert und folglich auch zur ftärkiten 
Produftion angeregt wird, ift die gleiche Güter 
verteilung.“ 

„Weihe Wirkung würde denn eine ungleide 
Verteilung der Verbrauchsgegenſtände auf die Kon 
jumtion haben ?“ 

„Daraus würde entjtehen, daß einige mehr hätten, 
als fie in einer gegebenen Zeit verzehren könnten, 
und andre weniger. Die Gejanttonfumtion wär 
aljo geringer, als fie in derſelben Zeit bei gleicher 
Büterverteilung geweſen fein würde. Teilt man eine 
Million Dollars gleihmäßig unter taufend Perjonen, 
jo würde das Geld jehr bald für Lebensbedürfnifſe 
ausgegeben werden und ein neuer Antrieb für die 
Produktion entfliehen. Bleibt das Geld in der Hand 
eines Mannes, jo würde er wahricheinlic in der 
jelben Zeit auch nicht den hundertiten Zeil davon 
ausgeben und wenn er noch jo viel Luxus triebe. Das 
allgemeine Grundgejek in betreff des Reichtums der 
Nationen ift daher: daß die Wirkung einer gegebenen 
Menge von Kaufkraft zur Vermehrung der Kon 
jumtion um jo größer ift, je weiter fie ſich ausdehnt, 
und am größten, wenn jie unter ſämtliche Konſumenten 
gleich verteilt wird, weil fie Dann die denkbar weitejte 
Ausdehnung erhält.” 

„Du haft den Umftand nicht erwähnt, daß die 
gleiche Verteilung der Güter unter alle Glieder der 
Geſamtheit nicht nur die Produltionskraft aufs höchſte 
fleigert, jondern auch Die größte Summe von Menfden 
glüd erzeugt.“ 

„Ich habe mich nur an die wirtſchaftliche Seite 
des Gegenftands gehalten.“ 

„Würde es nicht die alten Nationalölonomen in 
Erſtaunen geſetzt haben, zu hören, daß das gedeihlichſit 
Syftem der Güterprodbuftion auf nationaler Baſis 
ganz übereinftimmt mit der ethiſchen dee einer 
gleichen Gefinnung gegen alle Menſchen, melde Jeſus 
Chriftus in den Worten ausgeſprochen hat: ‚Als 
nun, was ihr wollt, das euch die Leute thun follen, 
das thut ihr ihmen‘?“ 

„Ohne Zweifel, denn fie ftellten die ſfalſche Be 
hauptung auf, es gäbe zweierlei Geficht&punfte für 
das Verhalten der Menſchen untereinander, einen 
moralifchen und einen wirtichaftlichen, von benen 
jeder in feiner Weiſe berechtigt wäre. Wir aber 
willen, daß ed nur eine Richtſchnur für das Verhalten 
der Menſchen zu einander giebt, und fie ift ethiſcher 
Art, Jede Lehre der Nationalöfonomie, welde den 
ethiſchen Grundjägen widerſpricht, muß fih al! 
falſch erweiſen. Eine gejunde Wirtfchaftspolitit wird 





Gleichheit. 


aud eihiich gejund fein. Es ift durchaus fein zu= 
fäliges Zufammentreffen, fonbern eine logiſche Note 
wendigfeit, daß, ſowohl in der Ethik wie in ber 
Vollswirtſchaft, die höchſte Weisheit nichts andres 
it als Brüderlichleit und Gleichheit. Die Nächften- 
liche in ihrer jozialen Anwendung ift nicht nur der 
Schlüjel zum Reichtum, fondern aud) zum Frieden.“ 


XXI. 
Die Parabel von dem Waflerbeden. 


„So, Georg, dabei wollen wir e8 bewenden lafjen 
und für jetzt ſchließen. Unſre Erörterung bat ſich 
weiter ausgedehnt, als ich erwartete, und wir werben 
am Nahmittag noch einmal auf kurze Zeit zufammen- 
fommen müflen, um ben Gegenfland zu erſchöpfen. 
Jeht will ich auch zum Schluß noch meinerfeits einen 
Heinen Beitrag liefern. Als ich neulich die Dent- 
mäler der Litteratur aus der großen Revolutiongzeit 
durchſuchte, fiel mir eine feine Flugſchriſft in bie 
Hände, die, vergilbt und kaum noch leferlich, fich bei 
näherer Unterfuhung als eine recht unterhaltende 
Satire und Schmähſchrift auf das Gewinnſyſtem 
erwies. Es fchien mir, daß unfre heutige Unterrichts- 
funde vielleicht geeignet wäre, und das Verftändnis 
für den Gegenftand zu Öffnen, und ich madhte mir 
eine Abichrift. Das Flugblatt nennt fi: ‚Die 
Parabel von dem Wafferbeden‘ und lautet wie folgt: 

„&8 war einmal ein gewifles jehr dürres Land, 
und die Bewohner litten großen Waffermangel. Bon 
morgen& bis in die Nacht hinein fuchten fie fort und 
fort nad Wafler, und mande lamen um, weil fie 
feines finden konnten, 

„Nun lebten aber einige Männer in dem Lande, 
die Müger und fleißiger waren als die übrigen; dieſe 
hatten ſich Waſſervorräte gefammelt, während die 


andern fein finden konnten, und diefe Männer wur« | 


den Sapitaliften genannt. Es trug ſich aber zu, daß 
die Leute dieſes Landes vor die Kapitaliſten traten 
und baten, fie möchten ihnen von dem Wafler geben, 
das fie gefammelt hätten, auf daß fie tränfen, denn 
ihre Not fei groß. Die Kapitaliften aber antworteten 
ihnen und ſprachen: Hebt euch fort, ihr Thoren! 
Warum jollten wir euch von dem Waſſer geben, 
welches wir gefammelt haben ; würde es uns denn nicht 
geben, wie es euch ergeht, und wir müßten mit euch) 
umfommen? Aber fehet, was wir für euch thun 
wollen: Werdet unfre Knechte, jo ſollt ihr Waſſer 
haben.‘ 

„Und die Leute jagten: ‚Gebt und nur zu trinfen, 
jo wollen wir eure Knechte fein, wir und unjre Kin— 
der.‘ Und jo geſchah es. 

„Run waren die Kapitaliften aber Männer von 
Verftand und weife in ihrem Geſchlecht. Sie ord⸗ 
neten die Leute, welche ihre incchte geworden waren, 
mit Anführern und Hauptleuten. Einige ftellten fie 


931 


an die Quellen zum Schöpfen ; andre ließen fie das 
Waſſer tragen; noch andre ſchickten fie aus, um nad 
neuen Quellen zu ſuchen. Alles Wafjer aber wurde 
an einen Ort zuſammengebracht, und daſelbſt ließen 
die Rapitaliften ein großes MWaflerbeden machen, um 
es aufzunehmen. Das Beden aber wurde ‚ber 
Markt‘ genannt, denn dort war es, wo das Voll 
zufamt den Dienern der Rapitaliften hinkam, Wafler 
zu holen. Und die Kapitaliften Sprachen zu bem Boll: 

„Sehet, für jeden Eimer Waſſer, welden ihr 
bringet, daß wir ihn in das Beden giehen, welches 
„der Mari“ ift, wollen wir euch einen Pfennig geben; 
aber für jeden Eimer, den wir herausziehen und 
geben ihn euch, daß ihr davon trinfen möget, ihr 
und eure Weiber und Finder, jollt ihr uns zwei 
Pfennige geben. Der Unterfchied aber ſoll unjer 
Gewinn fein; denn wenn es nicht um dieſes Ge— 
winnes halber wäre, jo thäten wir die Sache nicht 
für euch; ihr aber müßtet alle umfommen.‘ 

„Was fie jagten, ſchien recht und gut in der Leute 
Augen, denn fie waren ſchwach von Verftand. Und 
viele Tage brachten fie fleißig Wafler in das Beden. 
Für jeben Eimer, den fie brachten, gaben die Kapi— 
taliften einem jeden Mann einen Pfennig, aber 
für jeden Eimer, den die Kapitaliften heraufzogen 
aus dem Beden, um denjelben dem Wolf wiederzu- 
geben, gab das Volk den Stapitaliften zwei Pfennige, 
ein jegliher Mann, 

„Nach vielen Tagen floh das Waflerbeden, wel- 
es ‚der Marft‘ war, oben am Rande über, weil 
die Leute für jeden Eimer, den fie eingojjen, nur 
fo viel befamen, daß fie einen halben Eimer zurüd- 
faufen fonnten. Wegen des Waſſers, das von jedem 
Eimer drinnen blieb, floß das Beden über, denn der 
Leute waren viele, aber ber Kapitaliften waren we— 
nige, und fie fonnten doch nicht mehr trinfen als 
andre. Daher floh das Wafjerbeden über. 

„Als nun die Kapitaliften jahen, dat; das Waſſer 
überfloß, jprachen fie zu dem Bolf: 

„Sehet ihr denn nicht, wie das Beden, welches 
der Markt ift, überfließt. Deshalb ſehet euch nun 
nieder und wartet geduldig. Nicht cher ſollet ihr 
ung wieder Waffer bringen, bis das Beden leer ift,‘ 

„As nun aber die Leute von den Kapitaliften 
nit mehr die Pfennige belamen für das Waſſer, 
das fie braten, konnten fie fein Waller mehr von 
den Fapitaliften faufen; denn fie hatten nichts, um 
damit zu faufen. Da die Hapitaliften ſahen, daß 
fie feinen Gewinn mehr hatten, weil niemand mehr 
Waſſer von ihnen faufte, wurden fie unruhig in 
ihrem Gemüt. Und fie jandten Männer auf bie 
Heerftraßen, auf die Landiwege und an bie Heden, 
die da riejen: 

„Wenn jemand dürjtet, jo komme er zu dem 
Waflerbeden und Taufe Wafler von uns, benn es 





932 Edbwarb 
flieht über,‘ Und fie ſprachen untereinander: ‚Siebe, 
die Zeiten find fchledt; wir müllen das Waller 
öffentlich ankündigen.‘ 

„Das Rolf aber antwortete und ſprach: 

„Wie lönnen wir faufen, wenn ihr uns nicht 
dinget; woher follen wir ſonſt eiwad nehmen, um 
damit zu faufen? Dinget uns beöhalb wie zuvor, 
io werben wir gerne Waſſer faufen, denn wir bürjten, 
und ihr habt dann nicht nötig, es öffentlich zu ver- 
fündigen‘ Die RKapitaliften aber ſprachen zu dem 
Rolf: ‚Sollen wir euch dingen, Waſſer zu tragen, 
wenn das Beden, welches der Markt iſt, doch jchon 
überflieht? Deshalb kaufet erit Waller; wenn dann 
das Beden durch euer Kaufen leer ift, aladann wollen 
wir euch wieder Dingen.‘ 

„So geihah e8, daß, weil die Kapitaliften die 
Leute nicht mehr anftellten, das Mailer zu holen, 
diele das Mailer nicht faufen fonnten, welches fie ſchon 
gebracht hatten — und meil die Leute das Waſſer 
nicht Taufen konnten, das fie ſchon gebracht hatten, 
dingeten die Kapitaliften fie nicht mehr zum Waffer- 
holen. Und überall ging die Rede: ‚Es ift eine 
ſtriſis. 

„Der Durſt der Leute aber war groß. Jeht lag 
das Yand nicht mehr offen vor ihnen, wie zu ihrer Väter 
Zeiten, jo daß ein jeder jelbft Waſſer für fi fuchen 
fonnte, denn die Rapitaliften hatten alle Quellen und 
alle Brunnen, jamt den Wafferrädern und Wajjerbehäl- 
tern an ſich gebradt, jo daß fein Menſch zu Waller 
fommen lonnte, ala aus dem Beden, welches ber 
Markt war, Und die Leute murrten gegen die Kapi» 
taliften und ſprachen: 

„Siehe, das Beden läuft über, und wir fterben 
vor Durst. Gebt uns daher von dem Wafler, auf 
daß wir nicht umlommen.* 

„Die Kapitaliften aber antworteten: 

„Nicht aljo, das Waſſer ift unjer. Ihr werdet 
nicht bavon trinfen, jo ihr es nicht von und faufet 
mit euren Piennigen.‘ Und fie befräftigten es mit 
einem ide nad) ihrer Art und ſprachen: ‚Geichäft 
iſt Geſchäft.“ 

„Uber die Kapitaliſten waren unruhig in ihrem 
Sinn, dat das Volk fein Wafler mehr kaufte, wo— 
durch fie jeglichen Gewinnes entbehrten, und fie ver⸗ 
handelten untereinander und ſprachen: ‚Es jcheint, 
daß unfer Gewinn unjerm Gewinn Einhalt gethan 
hat. Um des Gewinnes willen, den wir gehabt 
haben, können wir nichts mehr gewinnen, Wie geht 
es denn zu, daß unjer Gewinn nicht mehr gewinn- 
bringend für uns ift und uns arm madt? Laſſet 
uns doch zu den Wahrfagern fchiden, daß fie uns 
dieje Sache erllären.‘ Und fie jandten nad ihnen. 

„Die Mahrjager aber waren gelehrte Männer, 
wohl bewandert in dunfeln Sprüchen und dem ſtapi— 
taliften willfährig, wegen des Waſſers der Kapita— 


Bellamın. 


liften, daß fie davon nehmen und leben könnten, ſie 
und ihre Rinder. Und fie ſprachen an Statt der 
Rapitaliften vor dem Volk und richteten ihre Bot- 
ſchaften aus, denn bie Kapitaliften waren nicht Leute 
von ſchnellem Verftändnis, noch gewandt in der Rede, 

„Die Sapitaliften verlangten von den Wahr—⸗ 
jagern, daß fie ihnen dieſe Sache erflären jollten, 
damit fie wüßten, woher es läme, daß das Bolt kein 
Waſſer mehr von ihnen faufe, da dod) das Beden 
voll fei. Und einige von den Wahrſagern antwor: 
teten und fagten: ‚Der Grund ift bie Ueberprodul- 
tion,*und einige jagten : ‚, Es liegt an der Ueberfüllung, 
aber beide Wörter bedeuten dasjelbe. Andre aber 
ſprachen: ‚Nein, jondern die Sonnenfleden find ſchuld 
an der Sade.‘ Und nod) andre antworteten und 
jagten: ‚Weder durch Ueberfüllung noch durd bie 
Flechen in der Sonne ift dieſes Uebel entjtanden, 
fondern wegen des Mangels an Vertrauen.‘ 

„Während nun die Wahrfager untereinander 
ftritten, nad) ihrer Weiſe, ſchlummerten und jchliefen 
die Gewinnſuchenden, und als fie erwachten, ſprachen 
fie zu den Wahrfagern: Jetzt ift e8 genug. Ihr 
habt tröftlih mit uns geſprochen — gehet num bin 
und redet auch tröftlich zu dem Volke, daß fie mögen 
zur Ruhe lommen und auch uns in Frieden lajlen.‘ 

„Aber die Wahrjager hatten fein Verlangen, hin 
auszugehen zu dem Wolfe; fie fürdhteten, es möchte 
fie wohl gar fteinigen, denn das Voll Tiebte fie 
nit. Und fie fagten zu den Kapitaliften: 

„Ihr Herren, es ift ein Geheimnis unfrer Kunft, 
daß den Leuten, die fatt find und nicht dürften, jon- 
dern ihr Behagen haben, unjre Rebe mwohlgefält, 
wie euch joeben. Wenn fie aber durftig find und 
ihr Magen Teer ift, jo finden fie fein Gefallen daran, 
und jie verhöhnen uns, denn es fcheint, daß, wenn 
ein Mann nicht jatt ift, ihm unſre Weisheit ganz 
hohl und leer vorlommt.‘ 

„Aber die Kapitaliften fagten: ‚Gebet hinaus zu 
den Leuten. Haben wir euch nicht angeftellt, dab 
ihr unſre Botſchaften ausrichtet * 

„Und die Wahrfager gingen hinaus zu den Leuten 
und jepten ihnen das Geheimnis der Ueberproduftion 
außeinander. Sie jagten ihnen, wie es zugehe, dab 
fie vor Durft umfommen müßten, weil zu viel Waller 
vorhanden fei, und wie deſſen nicht genug fein könne, 
weil deifen zu viel jei. Desgleichen ſprachen fie zu 
ihnen von den Sonnenfleden, und daß dieje Drang: 
jal über das Volt gefommen fei wegen feines Mangel 
an Vertrauen. Und es gefchab, wie die Mahrfager 
erwartet hatten, denn ihre Weisheit ſchien dem Voll 
eitel Thorheit. Die Leute verfpotteten fie und ſprachen 

„Hebt euch fort, ihr Kabllöpfe! Wollt ihr euch 
über und luftig machen? Erzeugt ber Ueberfluß je 
den Mangel. Kommt Nichts etwa von Zuviel? 

„Und fie hoben Steine auf, um fie zu fteinigen. 


“ % =. 
Per 


Gleichheit. 


„As nun die Kapitaliften jahen, daß das Volf 
fortfuhr zu murren und nicht ftille fein wollte, noch 
auf die Wahrjager hörele, fürdhteten fie, die Leute 
möchten über das Beden berfallen und das Waſſer 
mit Gewalt nehmen. Daher jammelten fie um ſich 
gewiſſe heilige Männer — e8 waren aber falſche 
Priefter — daß fie das Volk ermahuten,, es möchte 
fih ruhig Halten umd nicht, weil es dürſtete, bie 
Rapitaliften bedrängen. Und die heiligen Männer, 
welche falſche Priefter waren, zeugten vor den Leuten, 
daß dieſes Mifgeihid ihnen von Gott geſandt jei 
zum Heil ihrer Seelen. Wenn fie e8 in Gebulb 
tragen wollten, auch mit nad dem Waller be« 
gehren, noch die Kapitaliften beunruhigen, jo würden 
fie — nachdem fie den Geift aufgegeben hätlen — 
in ein Land lommen, wo feine Kapitaliften mehr 
wären und eine Fülle des Waſſers fein würde. Außer: 
dem gab es aber auch einige wahre Propheten Gottes; 
diefe hatten Mitleid mit dem Bolf, wollten nicht für 
die Rapitaliften zeugen, ſondern fprachen vielmehr 
ſtandhaft gegen dieſelben. 

„Als die Kapitaliſten nun ſahen, wie das Volk 
immer noch murrte umd nicht jtille jein wollte, weder 
auf die Worte der Wahrſager noch ber falichen 
Priefter, da traten fie jelbft hinaus zu ihnen, tauchten 
ihre Fingerſpihzen in das Waſſer des Bedens, welches 
überfloß, und jprigten die Tropfen von ihren Fingern 
umher auf das Bolt, welches fih um das Beden 
drängte. Der Name aber der Wallertropfen war 
‚Almojen‘, und fie waren überaus bitter, 

„Wiederum fahen die Rapitaliften, daß weder 
auf die Worte der Mahrjager noch der heiligen 
Männer, die faljche Priefter waren, noch auch wegen 
der Tropfen, deren Name ‚Almojen‘ war, dag Rolf 
fille wurde, jondern es wütete um fo mehr und 
umdrängte das Beden, als ob e8 ſich des Waſſers 
mit Gewalt bemädhtigen wollte. Da berieten fie ſich 
untereinander und ſandten in der Stille Männer 
hinaus unter das Volk, Dieſe Männer aber wählten 
die Härfften unter den Leuten und afle, welche ge- 
ſchidt im Streit waren, nahmen fie beijeite und 
rebeten ſchlau zu ihnen, indem fie ſprachen: 

„Hört auf ung; warum haltet ihr e& nicht mit 
den Rapitaliften? Werdet ihr ihnen zu Willen fein 
und ihnen gegen das Voll dienen, damit es nicht 
dad Beden überjällt, jo ſollt ihr Waſſer die Fülle 
haben, daß ihr nicht umlommt, ihr und eure Kinder. 

„Die jtarfen Männer aber und die, welche im Streit 
gewandt waren, horchten auf diefe Worte und ließen 
fi überreden, denn ihr Durft bezwang fie; und fie 
gingen hinein zu den Kapitaliften und wurden ihre 
Diener. Man gab Stangen und Schwerter in ihre 
Hände; fie wurden eine Schußwehr für die Kapitaliften 
und jchlugen das Bolf, wenn es fich zu dem Beden 
drängte. . 


933 


„Rad vielen Tagen ftand das Waſſer tief in 
dem Beden, denn bie KHapitaliften machten Spring» 
brunnen und Fiſchteiche von dem Waſſer und badeten 
darin, fie, ihre Frauen und ihre Kinder, und ver— 
ſchwendeten das Waller zu ihrem Vergnügen. 

„AB die Kapitaliften ſahen, daß das Beden leer 
war, fagten fie: 

„Die Krifis ift zu Ende‘ Sie fhidten aber 
hinaus und dingten die Leute, daß jie Waſſer bringen 
follten, e& wieder zu füllen, Für das Waller aber, 
welches die Leute brachten, erhielten fie für jeden 
Eimer einen Piennig; für das Waller aber, daß die 
Kapitaliften aus dem Beden jchöpften und ihnen 
wiedergaben, nahmen fie von ben Leuten zwei Pfen—⸗ 
nige, auf daß fie ihren Gewinn hätten. Nad einer 
furzen Zeit floß das Beden abermalß über wie 
zuvor. 

„Endlich, nachdem bie Leute vielmals das Beden 
gefüllt hatten bis zum Weberfließen und gebürftet 
hatten, bis das Waſſer von den Kapitaliſten vergeubet 
war, trug es ſich zu, daß in dem Lande einige 
Männer aufjtanden, welche man ‚Aufwiegler‘ nannte, 
weil fie das Volk erregten. Dieſe Männer jagten 
zu den Leuten, fie möchten ſich zuſammenthun, als— 
dann brauchten fie nicht Knechte der KHapitaliften zu 
fein und würden nie mehr nad Waſſer dürften. In 
den Augen der Kapitaliften aber waren bie Auf— 
wiegler verruchte Gejellen, und fie hätten fie gerne 
gefreuzigt, wagten es aber nicht, auß Furcht vor dem 
Bol. 

„Und die Aufwiegler redeten mancherlei Worte 
zu dem Molfe, 

„Ihr thörichten Leute,‘ jagten fie, ‚wie lange 
wollt ihr euch durch Lügen täufchen laſſen und zu 
euerm Schaden glauben, was nicht wahr iſt? Denn 
jehet, alle diefe Dinge, die vor euch von den Kapita= 
liften und den Wahrjagern geredet worden find, 
waren liftig erjonnene Fabeln. Desgleichen die hei— 
ligen Männer, welche euch jagen, es jei der Wille 
Gottes, daß ihr immerdar arm, elend und dürſtig 
fein follt — fiehe, fie läftern Bott und find Lügner, melde 
er furchtbar richten wird, wenn er allen andern ver= 
zeiht. Wie geht es zu, daß ihr nicht zu dem Waſſer 
in dem Beden fommen dürft? Iſt es nicht, meil 
ihr fein Geld habt? Und warum habt ihr fein 
Geld? Iſt es nicht, weil ihr nur einen Pfennig für 
jeden Eimer befommt, den ihr zum Beden bringt, 
aber zwei Pfennige für jeden Eimer zahlen müßt, 
den ihr daraus nehmer, auf dab die Kapitaliften 
ihren Borteil haben? Sehet ihr nicht, daß auf 
ſolche Weife das Becken überfließen muß, da es ge— 
füllt wird mit dem, was euch mangelt, und zum 
Ueberfließen gebradht durd euer Notleiden? Und 
wenn ihr noch jchwerer arbeitet und noch fleißiger 
Waſſer ſuchet und bringt, jo wird es dadurch nicht 





‚N 
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l 


934 Edward Bellamn. 


beiier für euch, jondern nur defto fchlimmer, um des 
Gewinnes willen. Sehet ihr das nicht? 

„Auf diefe Weile ſprachen die Aufwiegler viele 
Tage vor dem Wolf, ohne daß jemand auf fie hörte. 
Nach einer Zeit aber horchten fie doch auf. Und jie 
antworteten umd jpradhen zu den Aufwieglern: 

„Ihr redet wahr, die Kapitaliften und ihr Ge— 
winn find ſchuld, daß wir Mangel leiden, denn um 
ihres Gewinnes willen können wir nicht zu den 
Früchten unfrer Arbeit kommen, jo daß biejelbe 
vergeblich ift. Je mehr wir arbeiten das Beden zu 
füllen, um jo früher fließt e8 über, und wir befommen 
nichts, weil zu viel da ift, ganz nad) den Morten 
der Wahrfager. Siehe, die Kapitaliften find harte 
Menihen und ihre Mitdthätigkeit ift graufam! Sagt 
e3 uns, wenn ihr ein Mittel wiljet, wie wir und aus 
ihrer Knechtſchaft befreien fönnen. Wenn ihr aber 
feinen fichern Ausweg wiffet, jo beſchwören wir euch, 
verhaltet euch ruhig und laßt uns in Frieden, daß 
wir unfer Elend vergelfen mögen.‘ 

„Die Aufwiegler antworteten und ſprachen: ‚Wir 
wiſſen einen Weg. 

„Die Leute aber ſprachen: ‚Betrüget und nidt. 
Dieſe Sache ift von Anbeginn jo gewejen, und nie» 
mand hat bis jeht einen "Ausweg zur Befreiung ges 
funden, obgleih ihn jo viele in Sorgen und mit 
Thränen gefuht haben. Wenn ihr aber einen Aus- 
weg willet, jo jagt ihn uns ſchnell.“ 

„Da redeten die Aufwiegler zu dem Volk von 
dem Ausweg und fagten: 

„as braucht ihr überhaupt dieſe Kapitaliften, 
dab ihr ihnen Gewinn an eurer Arbeit gejtatten 
jolltet? Was für große Dinge thun fie für euch, 
daß ihr ihnen diejen Tribut zahlen müßte? Sie 
haben euch in Abteilungen geordnet, euch eure Aufs 
gaben zugewiejen und euch nachher ein wenig von 
dem Waſſer gegeben, das ihr gebradt habt — nicht 
fie. Nun fuchet den Weg aus dieſer Knechtſchaft! 
Thut das für euch, was die Kapitaliften thun — 
regelt jelbft eure Arbeit, führt eure Abteilungen und 
verteilt eure Aufgaben. So werdet ihr die Kapita— 
litten nicht mehr brauchen, und fie werden feinen 
Gewinn mehr an euch haben, jondern alle Frucht 
eurer Arbeit jollt ihr ala Brüder teilen, auf daß ein 
jeder das Gleiche habe. Dann wird das Beden nie= 
mals überfließen, bis ein jeder genug hat und ihn 
nicht nach mehr gelüftet. Nachher aber könnt ihr 
mit dem MWeberfluß Springbrunnen und Fiſchteiche 
machen, euch damit zu vergnügen, ganz wie Die 
Sapitaliften thaten, jedod) zum Genuß für alle,‘ 

„Die Leute antworteten: ‚Was ihr redet, jcheint 
ung gut zu fein, aber wie jollen wir die Sache an— 
fangen ® 

„Und die Aufmwiegler ſprachen: ‚Wählet unter 
euch verfländige Männer, die vor euch ein» und aus- 


gehen, eure Abteilungen anführen und eure Arbeit 
verteilen. Diefe Männer jollen fein, wie die Kapila⸗ 
lijten waren, aber ſehet, fie follen nicht eure Sperren 
jein, fondern eure Brüder und Hauptleute, die euern 
Willen thun. Auch follen fie feinen Gewinn für 
fih nehmen, fondern ein jeglicher feinen Teil er: 
halten gleich dem andern, auf daß feine Herren ımd 
Diener mehr unter euch find, fondern nur Brüder. 
Von Zeit zu Zeit aber, wie es euch paſſend dünkt, 
jollt ihr andre verftändige Männer wählen an die 
Stelle der erften, auf daß fie eure Arbeit ordnen.‘ 

„Die Leute aber horchten auf und es ſchien ihnen 
jehr gut. Auch dünkte es fie feine ſchwere Sadı. 
Und fie riefen alle einflimmig aus: ‚So jol « 
fein, mie ihr gejagt habt, denn wir wollen alio 
thun !‘ 

„Die Kapitaliften aber hörten den Lärm und 
das Rufen und was das Volf jagte; die Wahrjager 
börten «8 gleichfalld. Desgleihen hörten es die 
falſchen Priefter und die mächtigen Kriegsleute, die 
den Stapitaliften zum Schuß dienten, und ala fie e— 
hörten, überfam fie ein Zittern, alſo daß ihre Kniee 
zufammenjchlugen, und fie jagten einer zum andern: 
‚Daß ift unjer Ende!‘ 

„Und fiehe, da waren aud) einige wahre Priefier 
des lebendigen Gottes, die nicht für die Kapitaliften 
jeugen wollien, jondern Mitleid mit dem Bolte ge» 
habt hatten. ALS dieje das Rufen der Menge ver- 
nahmen und was fie jagte, da waren fie hocherfreut, 
frohlodten und dankten Gott für die Befreiung. 

„Das Voll aber ging hin und that, wie ihm die 
Aufwiegler gejagt hatten. Und alles traf genau ein 
nad) ihren Worten. . Es war fein Durft mehr in 
dem Lande noch jemand”, der da hungerte oder fror 
oder nadt war, noch jonft in irgend welcher Not. 
Jeder Mann jagte: ‚Mein Bruder‘ zu feinem Mit- 
menschen, und jegliche frau zu ihrer Gefährtin: 
‚Meine Schweiler‘; denn fie waren untereinander 
wie Geſchwiſter, die einträdhtiglich zujammen wohnen. 
Und der Segen Gottes ruhte auf dem Lande immerdar.” 


XXIV. 
Mir werden alle Reiche der Welt gezeigt. 

Die Schüler und Schülerinnen der Bolfswirt- 
ſchaftsllaſſe erhoben fich bei des Lehrers verabſchieden⸗ 
den Morten, und ſchon im nächſten Nugenblid war 
das Schaufpiel verſchwunden, das meine Aufmerlfan- 
feit bisher gefeijelt hatte. Ich flarrte in Doktor 
Leetes lächelndes Geſicht und verſuchte mid zu be 
finnen, wo ich jei und wie id dahin gefommen war. 
Faſt die ganze Zeit über, und bejonders während 
der Ichten Hälfte der Prüfung, hatte ich mid jo 
völlig der Illufion hingegeben, als bejände id mid 
wirflih in dem Schuljimmer, und war der Er 
Örterumg des Themas mit jo großem Interefje gefolgt, 


Gleichheit. 


daß mir die kunſtvolle Erfindung, die ed uns mög— 
lih gemacht hatte, die Vorgänge zu ſehen und zu 
bören, ganz aus dem Sinn gelommen war. Nun 
id aber wieder daran erinnert wurde, wendeten ſich 
meine Gedanken mit maßloſer Neugierde der Ein- 
richtung des Elektroſktops und jeinen Wunder» 
wirfungen zu. AR, 

Nahdem mir der Doltor einige Erklärungen über 
die mechaniſche Thätigfeit des Apparats gegeben und 
mir gezeigt hatte, auf welche Art er die Funktionen 
eines verlängerten Sehnervs verrichtet, jchritt er 
dazu, mir feine Kraft in größerem Maßftabe vorzu- 
führen. Im Lauf der num folgenden Stunde machte 
id, ohne meinen Stuhl zu verlaffen, eine Reife rund 
um die Erde und überzeugte mid aus eigner Anz 
ihauung, daß die völlige Umwandlung, die feit 
meinem früheren Leben mit Bofton vorgegangen war, 
nur als eine Probe von dem zu betrachten jei, was 
fi in der ganzen übrigen Welt ereignet hatte. Ich 
brauchte nur eine große Stadt oder einen berühmten 
Ort in irgend einem Lande zu nennen, fo glaubte 
ih mich durch Gefiht und Gehör auf der Stelle dort- 
bin verpflanzt. Ich blidte auf das moderne New 
York, auf Ehicago, San Francisco und New Orleans 
und fand dieſe Städte alle bis zur Unfenntlichfeit 
verändert ; nur die äußern Umrahmungen, welche ihre 
natürliche Lage bedingten, waren ſich gleich geblieben, 
Ih befuchte London, hörte die Parifer franzöſiſch, 
die Berliner deutich fprechen und begab mid) von 
St. Peteräburg über Delhi nach Kairo. Wenn eine 
diefer Städte in der Mittagsfonne badete, jo erhob 
fih über der nächſten vielleicht der Mond, und die 
Sterne begannen aufzuleuchten, während die dritte 
in ſchweigender Mitternacht ruhte. Ich erinnere mich, 
dab es in Paris tüchtig regnete, London ganz in 
Nebel gehüllt war und in St. Petersburg dichter 
Schnee durch die Luft wirbelte. Aus der wechſel— 
vollen Welt der Menſchen wandte ich mid, jodann 

der ewig wechjellojen Schöpfung zu und ermeuerte 
meine alte Bekanntſchaft mit den großen Wundern 
der Natur. Die flürmifchen Hüften des Ozeans 
ſuchte ich auf, die donnernden Waſſerfälle, die ein- 


935 


jamen Bergesgipfel, die großen Flüſſe, die gligernde 
Herrlichleit der Polarregionen und die öden Wüften- 
fireden. 

Der Doktor jehte mir dabei außeinander, daß 
jowohl Zelephon wie Elektroſtop ſtets in dauernder 
Berbindung mit allen merfwürdigen Orten der Erde 
wäre, daß aber, wenn ſich irgendwo ein Schaufpiel 
oder Ereignis von außergemöhnlichem Intereſſe ab- 
ipielte, fogleich ein befonderer Anſchluß hergerichtet 
würde. Die ganze Menjchheit Fönne ſich dann ohne 
Auſſchub ſelbſt von der Sachlage überzeugen, jo daß 
man nicht genötigt fei, erft wirkliche oder vorgebliche 
Künfller nah dem Schaupla zu entjenden. Alle 
meine Begriffe von Zeit und Naum löſten ſich in 
ein Chaos auf, und beinahe Irunfen vor Staunen 
und Bewunderung rief ich endlich: 

„Mehr kann ich für jetzt nicht eriragen. Ich fange 
ſchon ernftlih an zu zweifeln, ob id) überhaupt noch 
in meinem Leibe bin oder nicht.” 

Um dieſe Frage gleich praftiih zu entjcheiden, 
ſchlug mir der Doktor vor, einen tüchtigen Spazier- 
gang mit ihm zu machen, denn wir hatten den ganzen 
Morgen das Haus nicht verlafjen. 

„Haben wir für heute genug Vollswirtſchaſt ges 
habt,“ fragte er, als wir ins Freie traten, „oder 
hätten Sie Luft, beim Nachmittagsexamen, von dem 
der Lehrer ſprach, zugegen zu fein ?* 

Ich erwiderte, daß ich jedenfalls dabei fein möchte, 

„Nun gut,” jagte der Doltor, „jehr lange wird 
der Unterricht ja nicht dauern. Was meinen Sie 
dazu, wenn wir ihm diesmal perfönlich beiwohnten? 
Wir haben noch reichlich Zeit, ums Bewegung zu 
machen, und können ganz bequem vor Anfang der 
Schule dort fein, wenn wir an irgend einem Punlt 
in den Straßenwagen fteigen. Sie haben das Eleltro- 
jfop zum erftenmal benußt und beſitzen außer jeinem 
Zeugnis feinen Beweis dafür, daß eine ſolche Schule 
oder ſolche Schüler wirflih vorhanden find. Da 
würde es doch die Eindrüde, die fie empfangen 
haben, weſentlich verftärken, jollte ich meinen, wenn 
Sie den Ort in eigner Perſon befuchten.” 

Fortſehung folgt.) 





Srabläuferinnen. 


(Les Tombales.) 
Bon 
Guy de Maupaſſant. 
Aus dem Iranzöfifchen überfeßt von $. Miller. 


Die fünf freunde hatten eben ihr Diner beendet, 
Sie waren alle fünf Männer von Welt, gereift und 
reich ; drei davon verheiratet, zwei noch Junggejellen. 
Sie famen jeden Monat einmal zufammen, um 
Jugenderinnerungen aufzufriichen, und nachdem fie 
gejpeift hatten, plauberten fie ſtets noch bis gegen 
zwei Uhr bes Morgens. Weil fie Freunde geblieben 
waren und ſich alle fo gut einander verftanden, waren 
dies vielleicht die ſchönſten Abende ihres Lebens, 
Man ſchwahte über alles, über alles, was Paris 
gerade bejchäftigte oder amüfierte. Wie in ben 
meiften Salons begann aud bei ihnen die Unter- 
haltung damit, daß man über die Lektüre der Morgen» 
blätter ſprach. Der Iuftigfle von ihnen war Joſeph 
de Bardon, ein Junggefelle, der das Parijer Leben 
auf die vollfommenfte und phantafievollite Weiſe zu 
genießen verftand. Er war weder Lebemann ſchlimmſter 
Sorte noch Wüftling, er war nur vomvihig, lebens— 
luftig und noch jung, denn er zählte faum vierzig 
Jahre. Weltmann im weiteiten und wohlwollendften 
Sinne dieſes Wortes, geiftig ſehr begabt ohne gerade 
große Tiefe, von einem vieljeitigen Wiſſen, aber ohne 
wirflihe Gelehriamteit, von lebhafter Auffaffungs- 
gabe ohne ernfthaftes Eindringen, zog er aus feinen 
Beobachtungen, feinen Abenteuern, aus allem, was 
er ſah und fand, Anekdoten und humoriſtiſche Bes 
merkungen, die komiſch und zugleih philoſophiſch 
waren und ibm den Ruf großer Intelligenz ein« 
trugen. 

Er war auch der Rebner beim Diner, Er hatte 
jedesmal „Eine“, Cine Gefchichte, auf die man 
ſicher zählte und die er vorzutragen begann, ohne 
daß er befonders darum gebeten wurbe, 

Nauchend, beide Ellbogen auf dem Tiih, ein 
halbvolles Seftglas neben dem Zeller, erihlafft von 
der Taballuft, die jih mit dem aromatischen Duft 
des heißen Kaffees mijchte, fühlte er ſich bier voll« 
ftändig zu Haufe, wie gewiſſe Geſchöpfe ſich an be— 
flimmten Orten und zu beitimmten Momenten zu 
Haufe fühlen, wie eine Nonne in einer Kapelle oder 
ein Goldfiſch im Fiſchglas. 


Er begann aljo zwijchen zwei behaglichen Zügen 
aus feiner Zigarre: 

„Da ifl mir vor einiger Zeit ein jeltiames Aber: 
teuer paſſiert.“ 

Alle riefen wie aus einem Munde: „Erzählen!* 

Er gab zurüd: 

„Gerne... Ihr wißt ja, daf ic) viel und gem 
in Paris herumjchlendere, und wie die Sammler und 
Liebhaber die Schaufäften und Fenſter nad) Raritäten 
durchſuchen, jo ſuche ih, aber Scenen, Menſchen, 


"alles, was an mir vorüber oder um mid) her vorgebt. 


Alſo, gegen Mitte September, es war gerade red 
Ichönes Wetter, ging ich eines Nachmittags von Haufe 
weg, ohne eigentlich zu willen, wo ich hinwollt. 
Man hat ja gewöhnlich die Abficht, einer Schönen frau 
einen Beiuch zu machen. Man wählt dann in jeiner 
Galerie, vergleicht in Gedanken, wägt das Interefe 
ab, das fie und einflöht, den Neiz, den fie ausübt, 
und man emtjchließt ſich endlich doch dafür, wo & 
einen an dem Tag gerade bejonders hinzieht. Aber 
wenn die Sonne jo heil jcheint und die Luft jo lau 
ift, verliert man manchmal ganz die Luft, Beſuche 
zu madıen. 

Die Sonne ſchien hell und die Luft mar lau; 
ich zündete eine Zigarre an umd wandelte ftumpf- 
finnig nad) den äußern Boulevard: Wie id nun 
da jo herumflanierte, fam mir plößlich die Jder. 
einmal nad) dem Friedhof Montmartre zu geben. 

Ich Tiebe die Friedhöfe ſehr, ja, das wirkt io 
beruhigend auf mid) und haucht mich jo ein bißchen 
melancholiſch an; und das hab’ ich manchmal nötig. 
Und dann — man bat aud gute Freunde den 
draußen, die man hier oben nicht mehr befuchen lann, 
und darum ſchon gehe ich gerne von Zeit zu Jet 
bin. Gerade da, auf Montmartre, hab’ ich eine 
Herzensgefchichte, eine Geliebte, die mir jehr nad 
ging, ein reizendes Meines Weib, deren Erinnerung 
mich ungeheuer jchmerzt und zugleich Bedauern in 
mir welt... Bedauern jeder Natur. Und da gebt 
ih auf ihr Grab, um zu träumen... Für fie il 
alles aus, 


Grabläuferinnen. 


Dann lieb’ ich auch die Friedhöfe, weil fie jo 
wunderlic bewohnte, riefenhafte Städte jind. Denlt 
doch nur daran, wie viel Tote in diefem Heinen 
Raume; die Generationen von Pariſern, die hier 
wohnen für immer, Troglodyten, unwiderruflich ein= 
geihloffen in ihre Heinen Höhlen, in den Fleinen 
Löchern, die mit einem Stein bededt oder nur mit 
einem Kreuz bezeichnet find, während die Lebenden 
fo viel Platz beanjpruchen und jo viel Lärm machen, 
Schwahlöpfe! Ferner findet man auf ben fFried- 
böfen ebenfo intereffonte Monumente wie in den 
Muleen. Das Grabmal Cavaignacs erinnert mid, 
allerdings ohne es damit vergleichen zu wollen, an 
das Meifterwerf Jean Gonjons: die Geſtalt Louis 
de Bröz6s in der unterirdiichen Kapelle der Kathedrale 
von Rouen; die ganze Kunſt, die man modern und 
realiftiich nennt, ift hier beifammen, meine Herren. 
Diejer Tote, Lonis de Bröze, ift wahrer, jchredlicher 
und von leblojerem, todesfampfverzerrterem Fleiſch 
als all die gequälfen Leichname, die man heutzutage 
auf den Gräbern ausmeißelt, Aber auf Montmartre 
it übrigens aud; noch das Grabmal Baudins bes 
wundernswert. Grandios! Das von Gautier, das 
Murgers, wo ich neulich einen Kranz gelber Immor— 
tellen bemerkte. Wer mag ihn hingebradjt haben ? 
Die letzte Griſette vieleicht, die jeht irgendivo in ber 
Umgegend Concierge it? Es ift eine reizende Statuette 
von Millet, aber Vernachläſſigung und Schmutz be— 
ginnen fie zu zerſtören. O Murger, Sänger der 
Jugend! 

Ih trat aljo in den Friedhof ein und warb 
fogleich von einer Traurigfeit erfaßt, einer Traurig- 
feit, die nicht ſchmerzt und die einem, wenn man 
ſich wohl befindet, den Gedanken aufzwingt: „Nun, 
er ift ja gerade nicht luſtig, der Ort hier, aber für 
dich ift ja auch der Augenblid noch nicht gefommen ...“ 

Und der Eindrud des Herbſtes, dieſer lauen 
Teuchtigfeit, durch die der Duft der toten Blätter 
firömt, und die Sonne, deren Strahlen geſchwächt, 
müde und blutlos, verflärfte und poetifierte diejes 
Gefühl der Einfamkeit und des untwiderruflichen 
Zuendeſeins, das dieſen Ort der ewigen Ruhe durdh« 
flutet. 

Ich ging mit Meinen Schritten durch dieſe Gräber⸗ 
ſtraßen, wo die Nachbarn feine Nachbarſchaft mehr 
halten, nicht mehr beifammen fißen und feine Zei— 
tungen mehr leſen fönnen, Ich, ich las die Grab» 
ſchriften. Das ift zum Beiſpiel eine der amüſante— 
ften Sachen der Welt. Niemals hat mid) Labiche, 
niemals Meilhac jo laden gemacht ala die Komil 
diejer Gräberproja. Ad, das jind Bücher, zwerch— 
fellerjchütternder ala Paul de Kocks fämtliche Werte, 
diefe Marmorplatten und »freuzge, auf denen die 
Berwandten der Toten ihre Herzensergüfie ausftrömen, 
ihre Trauer, ihre Wünjche für das ewige Heil der 

Aus fremden Zungen. 1897, I. 20, 


937 


Dahingegangenen und ihre Hoffnungen auf ein 
Wiederjehen — Flauſenmacher! 

Ganz bejonders ſchwärme ich auf diefem Fried— 
bof für dem ganz verlaffenen Zeil, für das alte 
Viertel Tängft Verftorbener mit feinen großen Tarus- 
bäumen und Cypreſſen, dad nun bald wieder ein 
neues werden wird, wenn man bie grünen Bäume 
da fällt, die von Leihen gedüngt find, um dann 
friſch Geftorbene unter Heinen Marmorfteinen ans 
zureihen ... 

Als ich ſo eine Zeitlang herumgeirrt war, um 
mir den Geiſt zu erfriſchen, merkte ih, daß ich im 
Begriff war, mich zu langweilen, und daß id) nun 
der Iehten Rubeftatt meiner Heinen Freundin eine 
ehrfurchtsvolle Bezeugung treuer Erinnerung zollen 
müßte, Das Herz ward mir ein bißchen ſchwer, 
als ih an dem Grabe anfam. Armes Liebchen, fie 
war jo reizenb, jo verliebt, jo weiß, fo friih... und 
nun... wenn man ba öffnete... 

Auf das eiferne Gitter geftüßt, flüfterte ich ihr 
all meinen Schmerz zu, den fie zweifelsohne nicht 
hörte, und wollte fortgehen, al& id eine Dame in 
Schwarz in großer Trauer auf dem nachbarlichen 
Grabe fnieen jah. Ihr zurüdgeichlagener Krepp- 
jchleier Lie einen hübſchen blonden Kopf jehen, 
dejjen um die Stirne gewundenen Haare wie vom 
Morgenrot beleuchtet ſchienen unter der Nacht der 
Kopfbededung. Ich blieb. 

Sie litt offenbar unter einem großen Schmerz. 
Ihr Geficht hatte fie in die Hände vergraben, unb 
ſtarr, mit der Unbeweglichfeit einer Statue in ihr 
Seid verjunfen und von qualvollen Erinnerungen 
gefoltert, Tieß fie unter, den vorgehaltenen Fingern 
langjam Perle um Perle ihres Roſenlranzes hervor« 
rollen und ſchien jo beinahe jelbft wie eine Tote, die 
für einen Toten betet. Dann bemerkte id plöplic, 
daß fie weinte; ich erriet es an der ſchwachen Bes 
wegung des Rückens, Windesſäuſeln in Weiden» 
zweigen vergleichbar. Zuerſt weinte fie leife, dann 
ſtärler, mit bejchleunigten Bewegungen des Nadens 
und der Schultern. Plötzlich lich fie die Hände von 
ben Augen; die waren voller Thränen und fo ent- 
züdend! Nugen einer Irren, bie fie herumjchweifen 
ließ, ala ob fie eben von einem abjcheulichen Alp- 
drüden erwacht wäre. Sie jah, daß ich fie betrachtete, 
ſchien verſchämt und verbarg aufs neue ihr Geficht in 
den Händen. Damn ſchluchzte fie lonvulſiviſch, und 
ihr Haupt ſank langjam gegen den Marmor. Sie 
lehnte die Stirn daran, ihr Schleier breitete fi um 
fie aus und bededte die weiße Platte des geliebten 
Grabes wie mit neuer Trauer. Hierauf beugte fie 
jich nieder, die Wange auf der Platte, und blieb 
vollftändig unbeweglich, leblos. 

Ic ftürzte zu ihr hin, rieb ihr die Hände, hauchte 
auf die Augendedel und las dabei die einfache In— 

118 


938 


ihrift: „Hier ruht LonisTheodore Garrel, Kapitän 
der Infanterie der Marine, gefallen durch Feindes⸗ 
band in Tonkin. Betet für ihn!” 

Sein Tod datierte nur einige Monate vor. Ich 
wurde zu Thränen gerührt und verdoppelte meine 
Bemühungen. Und fie waren von Erfolg; fie lam 
wieder zu ſich. Ich war fehr bewegt — ich bin 
doch auch fein Unmenjch und noch nicht ganz vierzig 
— ih mußte auf den erſten Blid, daß fie liebens- 
würdig und erfenntlich jein würde. Sie war es. 
Mit neuen Thränen erzählte fie ihre Geſchichte, in 
abgebrochenen Stößen, mit feuchender Bruft, den 
Tod des Offizier, der in Tonfin gefallen nad) faum 
einem Jahr glüdlicher Ehe. Sie hatten ſich aus 
Liebe geheiratet; fie war Doppelwatie und beſaß 
gerade die vorſchriftsmäßige Mitgift. 

Ich tröftete fie, ich redete ihr zu, ich ftüßte fie, 
ih hob fie auf. 

Dann fagte id: 

„Bleiben Sie nicht bier, fommen Sie!” 

Sie murmelte: 

„D, ih bin unfähig, zu gehen.“ 

„sc werde Sie führen.“ 

„Danke, mein Herr, Sie find ſehr gütig. Sie 
fommen auch hierher, um einen Toten ju beweinen ?* 

„sa, gnädige Frau.“ 

„Eine Tote?“ 

„sa, gnädige rau,“ 

„Ihre Frau?“ 

„Eine Freundin.” 

„Man kann eine Freundin ebenjo lieben wie 
eine Frau, die Leidenſchaft kennt fein Geſetz.“ 

„sa, gnädige Frau.“ 

Und wir gingen zujammen fort, fie auf mid 
geftüßt und ich fie beinahe die Wege des Kirchhofes 
entlang tragend, WS wir außerhalb waren, mur- 
melte fie mit erlöjchender Stimme: 

„Ih glaube, e8 wird mir jchlecdht.* 

„Wollen Sie irgendwo eintreten, etwas zu ſich 
zu nehmen?" 

„Ja, mein Herr,” 

Ich bemerkte ein Reftaurant, eines jener Reſtau— 
ranis, wo die Freunde der Verftorbenen fih von 
dem überflandenen Pflihtgang zu erholen pflegen. 
Wir traten ein. Ich ließ fie eine Taſſe heißen Thee 
nehmen, der fie wieber zu beleben fchien, Ein mattes 
Lächeln kam auf ihre Lippen, und fie fing an, von 
fich zu ſprechen. Es wäre fo traurig, o, jo traurig, 
ganz allein zu jein in feiner Wohnung Tag und 
Naht, keinen Menjchen mehr zu haben, den man 
lieben, bem man vertrauen, dem man Freundſchaft 
ſchenlen könnte. 

Das hatte alles ſehr den Schein der Aufrichtig« 
feit, Es Hang jo hübih in ihrem Munde. Sie 
war noch ſehr jung, höchftens zwanzig vielleicht. Ich 


Gun de Maupaliant, 


machte ihr Komplimente, und fie acceptierte fie ganz 
gern. Dann aber, als die Zeit allmählich vorjeritt, 
machte ich ihr den Borfchlag, fie in einem Wagen 
nad ihrer Behaufung zu bringen. Sie nahm m 
und wir ſaßen bald in einem Fialer nebeneinander, 
Schulter an Schulter, und eines fühlte die Wärme 
bes andern durch die Kleidurg hindurch, und nichts 
verwirrt mehr auf der Welt als das, 

Als der Wagen an ihrem Haufe hielt, hauchte fi: 
„Ich fühle mid) unfähig, allein die Treppen hinaufe 
zufteigen,, ich wohne im vierten Stod, Sie waren 
fo gütig, wollen Sie mir auch nun noch den Arm 
geben bis zu meinem Logis?“ 

Ich beeilte mih, ihn anzubieten. Sie flieg 
langjam, ſchwer atmend hinan; dann, vor ihrer Thür 
fagte fie: 

Treten Sie doch eine Minute ein, dab ich Jhnen 
wenigjtens danfen kann.“ 

Und id) trat ein, meiner Treu! 

Es war beicheiden, beinahe ein wenig ürmlic bei 
ihr, aber alles einfach und nett arrangiert. Wir 
ſetzten uns Seite an Seite auf ein Heines Sanaper, 
und fie ſprach mir wieder von ihrer Einjamleit. 

Sie jhhellte ihrem Mädchen, um mir etwas zum 
Trinfen anzubieten. Das Mädchen fam nicht. Ih 
war fehr vergnügt darüber, denn ich vermutete, daß 
diejes Mädchen überhaupt nur des Morgens da war, 
was man jo eine Zugeherin nennt. 

Sie hatte ihren Hut abgenommen. Sie war 
wirklich reizend mit ihren Haren, auf mid) gerichteten 
Augen, jo auf mich gerichtet, fo Mar, daß ich eine 
ſchreclliche Verſuchung hatte, und — ich unterlag ihr. 

Ich nahm fie in meine Arme, und auf ihre Augen: 
lider, die fi ganz plößlich ſchloſſen, regneten meine 
Küffe... Küffe... Küffe... zu viel und noch mehr. 

Sie fträubte fih und ftieß mich zurüd, immer 
wiederholend : 

„Laflen Sie... lafien Sie... laffen Sie dai!* 

Welchen Sinn gab fie dem Wort? Im einem 
ſolchen Fall hat „laffen Sie das“ mindeftens zwei 
Um fie zum Schweigen zu bringen, ging id) von den 
Augen zum Munde über und legte dem Wort 
„laſſen Sie das" die Bedeutung bei, die ich vorzog. 
Sie widerftrebte nicht mehr jehr, und al® wir uns 
wieder einander anſahen nad) dem heißen Ausbrud 
der Erinnerung an den Kapitän von Tonkin, hatte 
fie ein ſolch ſchmachtendes, gerührtes, ergebungsvolles 
Ausjehen, das meine Beforgnis zerftreute. 

Alsdann wurde ich galant und jehr eifrig. 

Und nad) einer neuen Koje- und Plauderſtundt 
fragte ih: 

„Wo fpeilen Sie?" 

„sn einem Gafthaus in der Nähe.” 

„Ganz allein?” 

„Allerdings.“ 





—— 


Grabläuferinnen. 


„Wollen Sie mit mir jpeifen ?" 

„Wo ift das?“ 

„sn einem guten Reſtaurant auf dem Boulevard,” 

Sie zögerte ein wenig. Ich drang auf fie ein. 
Sie gab nah, fich felbjt mit dem Argument be= 
rubigend. „Ich langweile mich zu ehr... zu ſehr,“ 
worauf fie hinzufügte: „Aber ih muß bann eine 
weniger düſtere Kleidung anlegen.“ 

Sie ging in ihr Schlafzimmer, und als fie wie- 
der heraußtrat, war jie in Halbtrauer, entzüdend, 
fein, ſchlank, in einer grauen, jehr einfachen Toilette. 
Offenbar hatte fie Kirchhofs- und Straßentoileite. 

Dad Diner wurde jehr gemütlih. Sie tranf 
Champagner, wurde animiert, feurig, und ich ging 
mit ihr zurüd, zu ihr. 

Diejer Bund, auf den Gräbern geichlofjen, dauerte | 
ungefähr drei Wochen. Aber man wird eben alles | 
müde, befonders die Weiber. ch verlieh fie unter 
dem Vorwand einer unaufihiebbaren Reife. Bei 
meiner Abreije war ich jehr generöß, und fie bedankte 
ich ſehr. Und ich mußte veriprechen, ſchwören, wie- 
der zu ihr zu fommen, denn fie ſchien wirklich ein 
bißchen am mir zu hängen. 

Indes knüpfte ich andre zarte Bande, und un— 
gelähr ein Monat war vergangen, ohne daß mid 
gerade bejonders lebhaft der Wunſch erfaht hätte, 
diefes Heine Liebihen von den Gräbern wiederzujehen. 
Jedoh, ich vergaß fie auch nit... Die Erin- 
nerung fuchte mich heim wie ein Myſterium, wie ein 
piohologiiches Rätjel, wie eine jener unerflärlichen 
Fragen, deren Löſung uns beunruhigt. Ich weiß 
nicht warum, aber eines Tages bildete ich mir ein, 
fie auf Montmartre wieder finden zu müſſen — und 


id ging hin. 


Ich fpazierte ange umber, ohne andern Leuten | 


als den gewöhnlichen Bejuchern diejes Ortes zu be= 


939 


gegnen, folhen, die noch nicht allen Verkehr mit ihren 


Toten abgebrochen haben. Am Grabe des zu Tonkin 


| 
| 


gefallenen Kapitäns fniete feine weinende Trauernde 
auf dem Marmor, noch waren Blumen oder Kränze 
zu ſehen. 

Aber als ih mid in ein andres Viertel dieſer 
großen Totenftadt verlor, bemerkte ich urplögli am 
Ende eines Kreuzweges ein Paar, er und fie in tiefer 
Trauer, auf mid) zu fommen. 

O Eritaunen! Als fie näher famen, erfannte 
ich fie wieder. Sie war es! 

Sie jah mich, errötete, und als ich fie, an ihr 
vorübergehend, jtreifte, gab fie mir ein ganz kleines 
Zeichen, einen furzen Blid nur, der jagte: „Erkennen 
Sie mich nicht,” der aber auch jo viel heißen konnte 
als: „Komm bald zu mir, Liebfter!“ 

Der Herr war elegant, vornehm und dic, Offizier 
der Ehrenlegion und ungefähr fünfzig Jahre alt. 

Und er ftüßte fie, wie ich jie geftüßt hatte, ala 
wir den Kirchhof verließen! 

Ich ging, ſtarr vor Erjtaunen, fort, mic; fragend, 
was ic) denn ba gejehen hätte, welcher Art von 


Weſen dieje Kirhhofsjägerin wohl angehören möchte, 





War es einfach eine Dirne, ein überjpanntes Yrauen= 
zimmer, das auf den Gräbern die Männer auflas, 
welche, trauernd noch, vom Geijte des Weibes, ob 
Gattin oder Geliebte, umfchwebt waren und ſich nad) 
den verlorenen Zärtlichkeiten zurüdjehnten? 

War fie vereinzelt? Giebt es mehrere? Iſt 
dies eine Profeſſion? Hält man den Friedhof dem 
Trottoir gleih? Grabläuferinnen! Oder hatte fie 
nur allein diefe bewundernäwerte Idee? Wahrlich, 
eine tiefe Philofophie, den Schmerz der Liebe, der 


' an diejem düſtern Ort wieder auflebt, auszjubenten ! 


Ih hätte nur zu gern gewußt, weſſen Witwe fie 
an jenem Tage gerade war? 


Verlorene Siebe. 
Bon Giofud Garducci. 


Aus dem Italienifchen üderfeßt von Joachim v. Dürow. 


Ich hab’ zerlanfen fieben Paar 

Der Schuh’ von Eifen, dich zu finden, 
Serbrochen fieben Eifenftäb, 

Zu ſtützen mich auf fchwerem Ganae; 


Doll Tränen weint ich fieben Krüg’ 

In fieben Jahren, bittre Chränen, 

Doch du, du fchläfft bei meinem Schrei — 
Es fräht der Hahn, dich wert er nimmer. 


— re — 


Das neue Leben. 


Don 
itlaxim Bjelinski. 


Aus dem Ruſſiſchen üderfeßt von Alexis Warkom. 
(Stluf.) 


XIV. 


„Das ireibt jet Alyfin? Das Leben in der 
Natur? Die Gemeinschaft mit feinen einfachen 
Menihen? Die Bauernarbeit? Ich wäre verrüdt 
geworben, hätte ih in Woswilchennoje noch einen 
Monat zubringen müſſen. Ich werde täglich dümmer; 
fommt noch ein wenig Pharijäertum hinzu, dann ift 
es aus mit mir! 

Sp dachte Manylin, ald er am Abend von der 
Jagd zurückkehrte. Es war am Ufer eines Grabeng, 
der in einen Teich verlief, an welchem eine Mühle 
und ein Badehäuschen jtanden. 

Die Dämmerung nad dem ruhigen, heißen Tag 
verbreitete fich golden über die Wieſen und die Heinen 
Waldchen. In der Luft roch es würzig, und rechts 
bod vom Himmel ftand in filberner Sichel ber zu- 
nehmende Mond; lints die Abendröte. Unten im 
Grafe zirpten die Grillen, der Hund lief vor ihm 
her oder |prang an ihm empor. Aber Manyfin bes 
merkte nicht feinen Eifer. In gleihmäßigem, nad» 
läffigem Schritt, in Gedanlen verfunten, ging er 
weiter. 

Mann wird Alerander fommen? Er wollte mic 
ja nod) vor der Heu-Ernte befuchen. Die it nun 
bald beendet und er ift noch nicht da. Ich kann 
ihn nicht länger erwarten; ich fchreibe ihm und reife 
ab. Er fann mir nicht zürnen. 

Als er fih dem Badehäuschen näherte, trat 
Eugenie aus demjelben mit einem Tuche um den 
Kopf, da die Haare noch nicht troden waren; fie eilte 
ihrem Bruder entgegen, 

„Haben Sie etwas erlegt?” 

„Nein, Eugenie! Es ift eine Sünde, Gottes 
Geihöpfe zu töten, jei es aud ein Fiſch!“ 

„Warum maden Sie fie immer verwirrt?" fagte 
frau Kleopatra, die der Tochter aus dem Bader 
häuschen folgte. Sie hatte ebenfalls ein Tuch um 
den Kopf und ein feucdhtes Handtuch um die Schule 
tern, um ſich beim Gehen nicht zu erhitzen. „Warum 
follte e& denn eine Sünde fein? Selbſt die heiligen 
Väter, jelbit Ehriftus hat Fiſche gegeſſen. Er hat 
jogar befohlen, Nefe zu werfen.“ 

„Und Bater Willarion ?* 


„Als Dater Willarion am erjten Feiertage bei 
ung war, ſchnitt er ein Stüd vom Spanferfel,” 

„Es war das Ohr, weldjes er ak,“ jagte Eugenie. 

„Gratuliere!“ 

„Was ſoll eine Gratulation? Wäre er ein Heuchlet, 
fo hätte er nicht gegeflen,“ jagte Kleopatra, „und 
andre verurteilt. Aber da er,in der Welt lebt und 
weiß, was wirflih Sünde iſt und was nicht, jo ver: 
urteilt er niemand. Sehen Sie! Sie find noch 
fein einziges Mal in der Kirche gewejen! As ih 
ihn darauf aufmerffam machte, antwortete er ohne 
Verdruß: ‚Es wird die Zeit fommen, da er beten 
wird" Er jagte e8 beinahe heiter.” 

„Wozu mußten Sie es ihm jagen?” fragte Ma 
nyfin unzufrieden. 

Troßdem er bereits zwei Monate in Woswiſchen⸗ 
noje lebte, hatte er noch nie den Pater Wiflarion 
geiehen. Aus dem Gefühl des Eigenfinns, welches ale 
Leute mit rationaliftifchen Anſchauungen über Glau 
ben und Kirche haben, war er nod) nie im Gottes- 
baufe von Woswiſchennoje geweſen und prablie vor 
Kleopatra damit, daß er bereits drei Jahre nicht in 
der Kirche geweſen jei und feit fünfzehn Jahren 
nicht gefaftet und nicht das Abendmahl genommen 
habe. In Woswiichennoje mußte er immer vom 
Bater Wilfarion hören, feine ganze Umgebung jprad 
von diefem Geiftlichen; und in der That, um ihn 
nur zu jehen und von ihm Gegen und Geneſung 
von Seelen und jogar von Körperleiden zu erhalten, 
famen in letzter Zeit jehr viele Perfonen aus den 
entfernteften Orten des Moskauer und andrer Gow 
vernements nad) Woswiſchennoje. Water Wifjarion 
erregte in Manyfin immer größere Neugierde, Aber 
diefe fchrieb er dem Mangel an Zerftreuungen zu 
Wären jedoch zum Beifpiel die Buddhiften nad 
Woswiſchennoje gefommen und hätten dort ihren 
Kultus getrieben, jo wäre Manykin wahrſcheinlich iu 
ihren Tempel gegangen, Aber der Vater Wiſſarion 
ſchien ihm gerade deshalb abzuftohen, weil er Be⸗ 
ſchützer jener Religion war, in welcher Manyfin ge 
boren war, und von der er fid) durch Lebensweiſe, 
Bildung und Entwidlung losgejagt hatte. 

Aber trogdem Manykin durch das Bild des Pater! 


u 


Das neue Leben. 


Wiſſarion abgeftoßen wurde, begann biejes Bild 
anfangs unflar, allmählich aber beftimmter zu wers 
den und in Manyfins Seele einzubringen, indem es 
in ihm unbewußt eine Art von Bedauern darüber 
bervorrief, dab ihm bereits jene Naivität fehlte, 
welche ihm einft vor vielen, vielen Jahren in ber 
goldenen Kinderzeit fo viel frohe Augenblide ver 
ſchaffte. Manykin fühlte, wie fich dies in feiner 
Seele Berborgene rührte, aber e8 jchien ihm lächer- 
ih, ebenfo einfach wie Eugenie und Kleopatra zu 
werden. Er beganı allmählid; über den Bater 
Wiſſarion zu jpotten. Er zürnte ihm fogar von 
Zeit zu Zeit und ftaunte über die Regierung, welche 
der Popularität dieſes Popen fein Ende machte. 
Zugleich aber begriff er, daf er doc ungerecht handle, 
indem ex ſich doch zuerft überzeugen müſſe, was denn 
eigentlich diejer Pope jei. Endlich begann er ihn 
zu fürchten, Er ftellte fich ihn vor mit Augen, die 
wie in einem Buche in der fremden Seele leſen. 
Und darum vermied er noch mehr eine Begegnung 
nit Vater Wiflarion. 

As Manyfin mit Eugenie und Sleopatra nad) 
Haufe ging, fagte er nochmals zu fi, da er in 
Boswilchennoje genug habe und es jogar gefähr- 
(ih für ihn jei, länger im Dorfe zu bleiben. Er 
ſah fi das Lämpchen an, das Frau Kleopatra 
vor dem Heiligenbilde anftedte, wurde nachdenklich, 
ging in fein Zimmer und legte ſich dort auf das 
Sofa. 

Das Dienfimädchen brachte ihm Thee. 

Was für ein hübjches Ding fie ift! dachte er. 
Ad, nein, nein! ih muß fort von hier, morgen! 
Die Luft befommt mir nicht! Meine wehmütige 
Stimmung ift bier nicht verichwunden, Das Fau— 
Ienzen bat die unangenehmen Erinnerungen nicht 
nur nicht betäubt, jondern eher verjtärft. 

Plöglich fam ihm der Gedante, daß es doch gut 
wäre, mit dem Bater Wiſſarion befannt zu werden, 
damit dieſer feine Verhältniffe fennen lerne, fein 
Freund werde, und daß er es fo hätte einrichten 
jollen, daß Mufa Nikolajewna ihren Mann verlieh 
und zu ihm nah Woswiſchennoje gelommen wäre. 
Er war heute viel gegangen, war müde, und feine 
Augen ſchloſſen fih. Der Thee ſtand noch unberührt 
vor ihm. Anfangs fchlief er nicht, und jeine Phan— 
tafie, im Dienfte feines Herzens, ſchilderte ihm uns 
aufhörlich helle Bilder ſolchen Glüdes, welches Muia 
ihm nie geben fünne. Der Berfland jchlummerte 
und gab ſich ohne Widerftreben der jchönen Lüge der 
Einbildung hin. Endlich, nad einer Reihe von un— 
Nlaren Traumbildern, ftand der Vater Wiffarion vor 
ihm. Er ftand auf einem Stuhle und jegnete Muſa 
mit erhobenen Händen; diefe war bucklig. Water 
Wiſſarion aber hatte die Gefichtszüge Alyſins, und, 
old Manykin ihn ſtarr anjah, erglänzten fie von 


941 


einem ſolchen Lichte, daß ihn die Augen ſchmerzten, 
er die Hände vorhielt und zu flöhnen begann. 
„Seht ift e8 aber genug!” jagte Alyfin. 
Manyfin fuhr erfchredt auf und öffnete langſam 
die Augen, Vor ihm ſtand, mit einem Lichte in der 
Hand, Alexander und lächelte, 


XV. 


„Du wirft alfo wieder reiſen? Willſt dich wieder 
über dich ſchämen?“ fragte Alyfin, ber bereit$ von 
Frau Sleopatra erfahren hatte, dab Stephan zum 
erften Juli nach Peteräburg ginge. 

Ich reife, ich kann nicht anders! Ich verbumme 
bier auf dem Lande!” antwortete Manyfin, vom 
Sofa aufjpringend. „Man muß deine Nerven und 
beine Anſichten haben, um bier zu leben, ohne un» 
verbeiferlihe Dummbheiten zu begehen, und ich habe 
ohnedies jhon davon genug auf dem Gewilfen. Wie 
geht es übrigens deinen Brüdern?“ fragte Manyfin, 
ihn begrüßend. 

„Welchen Brüdern ?* 

„Ja, du hatteft doc die Abficht, Bruder jener 
gemeinen Kerle zu werden, zu denen du mid damals 
führteft. Weißt du noch, wie du immer jagteft: „Ich 
will ihe Bruder werden“ Dad Mort ‚Bruder‘ 
Hang wirklich zu jonderbar.” 

„Ah, Höre doch auf zu ſpotten,“ fagte Alyfin. 
„sener, der mit feiner Schwiegertochter verbotenen 
Umgang pflegte, ift verbannt, und der betrunfene 
Kornei hat ſich anfcheinend gebefjert.“ 

„Anſcheinend? Nun, wie gebt es deiner Schönheit?“ 

Alyfin errötete und antwortete nicht. 

„Lebt fie noh? Geht es ihr gut?” fragte Ma— 
nylin immer weiter, Er war in einer Gemütsftim« 
mung, welche nad) einem unterbrochenen feften Schlaf 
einzutreten pflegt. „Tugendhaft?“ fragte er gähnend, 

„Geh doch mit deiner Schönheit!” ſagte Alyfin. 
„Lafle mid in Ruhe!“ Aber plößlich ergriff er 
Manykin bei der Hand, drüdte fie in feiner jehnigen 
Rechten und zog fie an fih: „Du haft den Nagel 
auf den Kopf getroffen. Ich bin deshalb fo lange 
nicht zu dir gelommen, weil ich, kurz gejagt, dachte 
und immer wieder mit mir fämpfte, ob ich fie hei- 
raten jolle oder nicht,“ 

„Wen denn?* fragte Stephan erftaunt, „dieje 
Dirne?“ 

„Nun ja, dieſelbe!“ erflärte Alyſin zornig. „Das 
würde mich dem Volle nähern. Bis jeht bin ich doch 
noch immer der Fremde. Wir wollen dieſe Frage 
überlegen.“ 

„But; dab fie hübſch ift, das weiß ih. Jetzt 
jehe ich auch, daß du fie liebft. Mber weiter! Du 
bift doch Gegner der Ehe?“ 

„sa. Ich will fie heiraten, aber ih will mit 
ihr nicht wie mit einer Frau leben.“ 


942 


„Banz etwas Neues!“ 

„Ich will ihr Bruder fein!“ 

„Schönes Wort!” 

„Was rätft du, zu thun?* 

„Du bift energiicher als ih, Alexander. Unire 
gegenjeitigen Ratjchläge haben für uns feine Be— 
deutung. Wir lieben einander und bilden für ein- 
ander ein Stubienftüd, damit erjchöpfen ſich unfre 
Beziehungen. Ih will dir von der Heirat nicht 
abraten, will fie dir aber auch nicht anraten. Biels 
leicht wirft du glücklich fein, vielleiht aber aud 
nicht!” 

„Mein perfönliches Glüd hat gar nichts mit der 
Sache zu thun. Verftehft du, Stephan, fie erregt 
mid burd ihre Schönheit, durch ihren Stolz, und 
fie thut mir leid; niemand wirbt um fie, und doch 
fürchte ich, daB fie fich verheiraten fönnte, Ich bin 
wütend vor Eijerjudt,” 

„Aha!“ 

„Nur durch die Heirat kann ich fie von Armut 
und Leid befreien. Dann aber würde id) auch ruhig 
werben. Ich werde mid) jo mit dem Lande verbinden. 
Verftehft du mich?” 

„Nein, ich verftehe dich nicht!“ 

„Du mußt mid verftehen!” rief Alyfin ärgerlich. 

„But, ich habe begriffen. Und liebt fie dich?” 

„Sie wird mid) heiraten, und das ift mir genug. 
Ich brauche weder ihre Liebe noch ihre Dankbarkeit. 
Uebrigens ſprach ich nod gar nicht mit ihre. Ich 
beſchloß, fie zu heiraten, und damit ift die Sadıe 
erledigt!” 

„Wenn du es beſchloſſen haft, wozu nod) weiter 
darüber reden?“ 

„Wie das? Sch mußte es dir doch jagen; du 
bift doc mein Freund, und wir verhehlen doch ſelbſt 
nicht die ſchlechteſten Gedanklen voreinander. Alſo 
ich muß fie heiraten, hörſt du ?* ſagte Alyfin erregt, 
nit freudigem Lächeln. 

„Sa, ich höre!” 

„Sch habe mein Gut verlaffen, aber ich halte e8 hier 
feine zwei Tage aus. Ich muß mein Leben unbedingt 
in ein Syftem bringen. Es blieb ftehen! Das flört 
mich. Aber wenn ich das ändere, wird alles anders 
werden. Ich muß mein Ziel erreichen, ich will das 
Gleichgewicht meiner Seele finden. Aber jetzt gleicht 
meine Seele einer Wage, auf deren einer Schale eine 
Zentnerlaft liegt und auf der andern nicht greifbare 
Gegenftände, wie Arbeit, Freiheit, Brüderlichkeit, 
Es iſt unerträglid!” 

„Auf den Schalen lag eine Geige, aber du warfſt 
fie von dir, Dieſe Zentnerlaft fühlft du jetzt!“ 

„Sprid mir nicht von der Geige! Ich bin nicht 
zu dir gefommen, dab du mid) reigejt,“ ſagte Alyfin 
erblaflend, 

Manyfin erfaßte feine Hand: 


Marim Bjielinski. 


„Entihuldige mih, Freund,” ſagte er und be 
mühte fich zu lächeln. „Ich erwartete dich mit folder 
Ungeduld! Saum fehen wir uns, da liegen wir uns 
ſchon in den Haaren, aber wenn du in meiner Serie 
leſen würdeſt, jo würdeft du mir alles verzeihen,“ 

„Ich bin dir gar nicht böſe,“ fagte Alyfin weich 
„Ih kenne dich doch zu gut. Sage einmal, Freund, 
haft du dich immer noch nicht beruhigt ?* 

„Rein!“ 

„Haft du dich nicht nach ihr erkundigt?“ 

„Wozu das?“ 

„Das ift gut!“ lobte ihn Alyſin. 
du doch Charakter.” 

Wie gewöhnlich blieben fie lange auf und aingen 
im Garten umber; jchon bei Tagesanbrud; hört 
Kleopatra, wie fie ſich ſtritten. 

„Deiner Meinung nad ift die Freiheit der 
Individualität das Gleichgewicht der Seele?” 

„Und bein Ideal ift wohl Unbeftändigleit ?* 

„Glaubft du, dab Schopenhauer verrüdt war!“ 

„Und war denn Schumann nicht verrückt? und 
Mozart ?* 


Nun zeigt 


XVI. 


Der Ankunft Alyſins in Woswiſchennoje folgt 
ein trauriges Ereignis. Am Morgen nad) feine 
Rückkehr trieb die Tochter des Gärtnerd, ein Mid 
hen von etwa achtzehn Jahren, eine Kuh auf die 
Weide. Ein Ochſe bemerkte das Mädchen, ging au 
dasſelbe los, bob es, als es ihm mit der Peitſche 
ſchlug, auf die Hörner und zerftampfte es, bis es 
Vorübergehende befreiten. 

Als Frau Kleopatra von diefem Unglüd erfuhr, 
ichidte fie nach dem Arzt, aber diejer war nicht zu 
Haufe. Jrgend eine Kurpfuſcherin verband fie, doch 
am Abend trat der Brand hinzu. Die Kranke litt 
jo, dak ihr Stöhnen auf dem ganzen Hofe zu hören 
war. Den Tod ahnend, flehte fie verzweifelt, man 
jolle fie töten, fie verfluchte alle Gefunden, die noch 
am Leben blieben, und wurde dann bewußtlos. 

Alyfin und Manyfin befuchten fie, verliehen fe 
aber bald mit Schaudern. Bejonders ſchwer wirft: 
ber Anblid der Unglücklichen auf Alyſin. Den ganzen 
Tag ging er finfter umher unb wiederholte immer, 
daß der Tod jehr ungerecht jei. Zum erſtenmal ber 
merkte Manyfin, dab Alyfin den Tod fürdte. Und 
um ihn von dem unangenehmen Eindbrude zu be 
freien, führte er ihm in eim abgelegenes Schäfer 
haus, 

Die Freunde fchliefen auf dem Heu, gingen il 
auf die Jagd, erlegten nichts, da Alyfin abſichtlich 
vorbeiſchoß und vorzog, philoſophiſche Gejpräd 
über den Tod zu führen. Gegen Mittag kehrten ſit 
nad Haufe zurüd, 

„Lebt fie nor?” fragte Stephan. 

„Sie atmet noch,“ antwortete Kleopatra. 


Das neue Leben, 


„Warum ließen Sie nicht den Vater Wifjarion 
holen? Es ift doch lächerlich, einen Arzt holen zu 
laffen, wenn fol ein Mann in der Nähe iſt.“ 

„Ih weiß das beſſer ald Sie, mein lieber Herr 
Sohn. Aber zum Unglüd ift der Vater des Mäd— 
chens Raskolnik, und erft heute hat er ſich einver- 
itanden erflärt, den Vater Wifjarion zu empfangen. 
Diefer aber war jehr beihäftigt und eben von einem 
diphtherielranlen Knaben gelommen. Auch der Knabe 
fühlte ſich wohler, als er die Hände über ihn hielt. 
Das Volk lief ihm dann bis hierher nad), jo daß er 
faum zur Belinnung fam.“ 

„Sie hätten ihm Geld anbieten follen, dann 
wäre er vielleicht jchneller gelommen.“ 

„Ad, was iſt ihm Geld! Machen Sie ihn nicht 
io ſchlecht, Stephan! noch dazu in Gegenwart von 
Fremden. Schämen Sie fih! Ich ſagte Ihnen 
doch, daß er fein Geld mag, und wenn er etwas 
erhält, e8 an die Armen verteilt. Er wünjcht nichts 
weiter, als da man ihm mit Liebe und Einfachheit 
entgegenfommt. Er wird ſchon zu ung fommen, jo- 
bald er frei if. Alexander Ignatitſch, ich bitte zu 
ih. Eugenie, nimm neben Alerander Ignatitſch 
Platz.“ 

XVII. 


Vater Wiſſarion fuhr auf den Hof. An der 
Menſchenmenge, die fi vor dem Gärtnerhaus an» 
ſammelte, erfannte Kleopatra ſofort jeine Ankunit, 
Sie ftand gerade mit Alyſin und Manyfin am 
Fenſter, im Geſpräch über das gejtrige Unglüd, 
Plößzlich veränderte fich ihr Gefiht und freudig rief 
fe: „Eugenie, Eugenie!“ 

Alyfin und Manyfin traten näher an das Fenſter 

„Eugenie!” Meopatra wurde unruhig und beeilte 
fih, ein Oelbild, eine Kopie des „badenden Mäd- 
hen3” von Brüllow, mit einem Tuche zu verhängen, 
obgleich fie e8 für jehr gut hielt und zur Erinnerung 
an ihren Mann, welcher dieſes Bild ſehr liebte, jorg« 
fältig bewahrte. 

EEugenie, eile auf den Hof und erwarte dort den 
Bater Wilfarion. Sobald er das Gärtnerhaus ver- 
laſſen bat, rufe ihn zu uns! Sollte er es au 
ihlagen, jo ſage ihm, daß ich dann annehmen müßte, 
er wolle mein Haus nicht jegnen. Für dich wird 
er alles thun, er liebt dich! Sage ihm nur, daß ich 
inftändig bitte!” 

Eugenie Tief aufgeregt dur den Saal, Man 
börte fie die Stufen des Baltons heruntereilen. Sie 
drängte fi durch die Menge, ftellte fih vor die 
Thüre des Gärtnerhaufes, im jtillen Gott bittend, 
daß er doch dem Water Wiljarion den Wunſch ein« 
geben möchte, ihr Haus zu befuchen. 

„So? es kann alfo auch vorfommen, daß er Ihr 
Haus nicht befucht ?* fagte Manykin. 

„Er bat feine Zeit, er hat jehr viel zu thun! 


248 


Ihn einzuladen, ift zwedlos und unbequem für ihn. 
Mir ift e8 felber peinlich; kann er doch während der 
Zeit jemand die Seele retten. Wenn Sie wühten, 
wie müde er wird. Er ift doch ſchon über jechzig 
Jahre,“ erwiberte Kleopatra und jah unverwandt 
durd) das Fenſter. 

Die Frauen, welche in dem Gemüfegarten Ma— 
nyfins arbeiteten, verließen ihre Arbeit. Andre Frauen, 
mit Säuglingen auf den Armen, famen auf den 
Hof, in der Hoffnung, vom Bater Wifjarion ges . 
jegnet zu werden. Die Menge barrte in ſrommer 
Erregung feiner Ankunft. 

Die Spannung übertrug fih aud auf Manyfin 
und Alyſin. Manyfins Herz ſchlug heftiger. Als er 
dies bemerfte, bemühte er ſich, feinem Geficht einen 
gleihgültigen Ausdrud zu geben, obwohl niemand 
auf ihn achtete, da die Aufmerffamteit aller auf die 
Perſon des Vater Wilfarion vereinigt war. 

Es vergingen einige Minuten. Plößtzlich trat Die 
Menge zurüd und begab fih an den Balfon des 
Haujes. 

„Er kommt, er kommt!“ rief Sleopatra zitternd. 
Sie nahm den roten Stoff, aus dem ein Kleid für 
Eugenie werden follte und breitete ihn auf den Boden 
aus bis direft zur Thüre. Sie war wie bewußtlos, 
unb in ihren Augen jtanden Thränen der Freude. 

Inzwiſchen ging Vater Wiffarion, unterwegs das 
Volk fegnend, langſam bis zum Haufe. Aus der 
Menge leuchtete fein blaues, ſeidenes Gewand, 

Eugenie bat die Bauern, von dem Vater Wif- 
farion abzulaffen, aber man gehorchte ihr nicht, 
jondern ergriff den Saum feines Mantel, um ihn 
nur zu berühren. Er trat auf die Stufen, fi) auf 
Eugenie ſtützend. Aber auch hier verließ ihn die 
Menge nicht. Endlich trat er ind Haus. Eugenie 
ſchloß eiligft die Thüre, jo daß das Boll ausge 
ſchloſſen wurde, 

Er ging lähelnd am roten Stoff vorbei und 
fegnete die vor Entzüden ftumm gewordene Rleopatra. 

„Bitte, Vater Wiflarion, bitte jehr! Beehren 
Sie und!” ſagte fie endlich und zeigte mit der Hand 
auf den Saal. 

„Soll ich vielleicht für jemand beten?“ fragte er 
einfah, wie ein Arzt in der Wohnung nad) einem 
Kranlken fragt. 

„Bitte, Vater Wiffarion, bitte!” wiederholte fie 
immer, al3 wenn fie die Sprache verloren hätte und 
ihr nur diefe Worte im Gedächtnis geblieben wären. 

Bater Wiffarion trat in den Saal und verneigte 
fih gegen Manyfin und Alyſin. 

Alyſin trat zurüd, um nur Zujchauer zu fein. 
Er jah verjtohlen, aber durddringend auf ben 
Geiſtlichen. 

Unerwartet für ſich ſelbſt, trat Manykin auf den 
Vater Wiſſarion zu und bat um ſeinen Segen. 


944 


Diefer jegmete ihn und küßte ihn jchüchtern auf 
die Lippen. 

Vater Wifjarion war ein Mann von mittlerem 
Wuchs, Meinem Bart, magerem und im ganzen an— 
genehmem Geſicht. ZTroß feines vorgerüdten Alters 
war er noch gar nicht grau, und fein dunkles Haar 
jah frisch aus. Seine von Fleinen Fältchen ums 
gebenen Augen waren noch rein, heil und fchauten 
jo guimütig drein, wie franfe Kinder, wenn fie dem 
ſchmeichelnden Ausdrud der weinenden Mutter bes 
gegnen. Seine Lippen verlieh nicht ein einfaches, 
faum bemerfbared Lächeln, und er felbft zitterte am 
ganzen Körper, vielleicht vor Müdigkeit, vielleicht aus 
einem andern, höheren Grunde, ba er joeben für ein 
entftelltes jlerbendes Mädchen gebetet hatte, welches 
mit demütigem Lächeln und erlöſchenden Augen das 
Kreuz gelüßt. 

Er ſchaute um ſich und ſah, daß man ihn nicht 
des Gebets wegen eingeladen, jondern als Gaſt, und 
obwohl er wirllich nur jehr wenig Zeit hatte — er 
mußte noch nad) dem Nachbardorf — entſchloß er 
fi) doch, auf wenige Augenblide zu bleiben. Er 
nahm nicht einmal Plab. 

„Sie fingen?” fragte er Manyfin. 

„Ja, ich finge,“ 

„Ich fang früher ebenfalls. Im Seminar war 
ein Sänger, der einen wunderbaren Tenor hatte; 
Archangelsky hieß er; er war jpäter in der faiferlichen 
Kapelle, ging jhließlich zur Oper, wo er fich fehr 
auszeichnete.“ 

„Ss hörte von ihm; er iſt jetzt tot!” 

„Er ift tot, er war ein guter Menſch; Gott gab 
ihm ein Talent, ebenfo wie Ihnen; ein feltenes 
Glück, welches man verflehen muß, für die Mite 
menjhen auszunußen. Wie alt find Sie?“ 

„Ich werde bald ſechsunddreißig Jahre.” 

„Ein ſchönes Alter! Seien Sie eifrig, und Gott 
wird Ihnen helfen. Talentvolle Menjchen find eben» 
falls gefalbt, jedes Land ftüht fi auf fie und wird 
durch fie geziert. Ohne fie bleibt gar feine Erin- 
nerung an ein Bolt! Und das ift wohl Ihr Kollege?” 

„Alyfın heißt er.” 

„Wohl ebenfalls Künſtler?“ jagte Water Wil: 
jarion mit wohlgefäligem Lächeln. „Stammen Sie 
aus dem Moskauer Gouvernement?“ 

„Haben Sie denn nichts von mir gehört?” 

„Nein! Und find Sie auch underheiratet ?* 

„Wozu wollen Sie das wiſſen, Wäterdhen ?* 

Bater Wiffarion wurde rot, ald wenn er in der 
That etwas gejagt hätte, was ſich nicht ziemte. 

„Entichuldigen Sie!“ verjehte er und jah nad 
feinem Hut. „Das Leben bes Künſtlers,“ ſagte er 
zu Manyfin, „ift vol Unruhe und Verführung. 
Männer mit ſchwacher Seele werben oft ſchwermütig 
und geraten in Zweifel, Wenn Sie oder Ihr Kollege 


Marim Bjelinsfi, 


etwas auf dem Herzen haben jollten, irgend eine 
unangenehme Erinnerung oder einen Kampf mit 
einer Leidenichaft, jo ſprechen Sie nur den Wunih 
aus, und ih will in meiner freien Zeit für Eie 
beten.“ 

Mit feuchten Augen ſchaute Manylin den Vater 
Wiffarion an. Sein Herz ſchlug ihm fo, daß ef 
faum zu jprechen vermochte. 

„Schön!“ jagte gutmütig Vater Wiſſarion. „Nun 
danfe ih Ihnen für die Unterhaltung und bitte, 
mich zu entſchuldigen.“ 

Er verneigte fich, lüßte Eugenie und frau leo: 
patra auf die Stirn, umarımte und fühte Mauyfin 
und wollte ſich Alyfin nähern. Diefer aber wandte 
fih ab und ging auf die andre Seite des Saalet, 

Vater Willarion ſchien zu ſchwanken, ob es böf- 
lich jei, fortzugehen, ohne fih von Alyfin zu ver: 
abichieden. Aber er bemerkte die Menge auf dem 
Hof, vergaß Alyfıin und ging eilig hinaus, über den 
roten Stoff, den er jetzt nicht bemerfte. 

Manyfin war es fo leicht auf dem Herzen, wit 
ihon lange nicht. Er jchämte fich jetzt nicht, und 
er lachte auch nicht darüber, dab ein Blid eins 
Menſchen, den er entſchloſſen war, von ſich zu flohen 
und über den er fortwährend jpottete, feine Seele jo 
heben und ihn ganz anders flimmen fonnte. Sein 
Gewiſſen ſchien ſich plöhlich beruhigt zu haben, und 
er hielt fich für beffer, als er bis jetzt war. Lächelnd 
trat er zu Alyfin. 

Aber diejer ſchaute wehmütig feinen freund an. 
Auf Alyſin hatte Vater Wiffarion ganz anders gt 
wirft. Er ärgerte ſich, daß er niemals eine folde 
Seelenreinheit, eine jo milde Leidenſchaftsloſigkeit 
beſeſſen, wie diefer Priefter. Sein Herz that ihm 
weh und jein Stolz war getroffen. Er erjchien ſich 
jelber ſchlecht, ſchlechter als er bisher war. 

„Was willft du jagen?“ fragte Alyfin. 

„Altrander! fonderbar, ich bin glüdiih! Was 
ſoll ich dir noch mehr jagen?” 

„Er fagte dir fo viel Komplimente, und du freuft 
dich num darüber. Höre, ich ſagte dir doch ſchen 
früher, daß ich hier nicht Iange bleiben werde. Ich 
muß fort! Laſſe meine Pferde anfpannen! Nein, 
nein, halte mich nicht zurüd! Höre, Fremd, ih 
habe meinen Weg, meinen eignen und feften, und 
du wirft vielleicht dereinft mit mir gehen wollen. 
Ich bin davon überzeugt! Ginftweilen aber lebt in 
meiner Seele ein Etwas, was du nod nicht haft. 
Daher verjtehit du mich nicht. Nicht die natür— 
liche Ehrlichkeit eines Tieres wünſche ich, fondern 
ein bewußt menjchliches Leben.” Seine Augen 
glänzten mit einem Feuer, weldjes Manykin böje 
erſchien. 

Nach einer Stunde war er fort. Frau Kleopatta 
nahm falt von ihm Abſchied. 


Das neue Leben. 


XVII. 

frau Kleopatra war mit dem Benehmen ihres 
Sohnes jehr zufrieden. Seine gute Stimmung dauerte 
nod einige Tage, dann übergab er frau Kleopatra 
für den Vater Wiffarion taufend Rubel zur Ver 
teilung an bie Armen und machte ſich zur Abreije 
nad Petersburg bereit. 

Als er auf dem Bahnhof war und ſchon das 
Billet in Händen Hatte, bebrüdte wieder die alte 
Sehnfucht fein Herz. Er erinnerte fi), wie er doch 
noch vor furzer Zeit gerade durch feine unglüdliche 
Liebe zu Muja glüdlih war. Selbft Alyfin wollte 
doch heiraten. Er ging mit großen Schritten auf 
dem Perron umber und dachte an feine Einſamleit. 
Aber ich werde doch endlich ein Mädchen finden, die 
alle Erinnerungen aus meinem Herzen verdrängen 
wird. Vor jeiner Phantafie jtand ein Mädchen, 
der Mufa Ähnlich, frei, unverborben durch Lüge, 
leidenihaftlih, zum Lafter geneigt und doch rein. 
Er Hatte zarte und unſchuldige Mädchen jo wenig 
gern wie den erften Schnee. Er hielt fie für be= 
ſchränkt und nannte fie die Heinen Bürgerstöchter. 

„Guten Tag, gnäbiger Herr!“ 

Er drehte fi um; über eine Wieje hinter ihm 
lief mit einem großen Regenſchirm die budlige Köchin 
der Muja. 

„Bott hat es gefügt, daß ih Sie noch einmal 
treffe, gnädiger Herr; ich freue mich über Sie wie 
über einen nahen Verwandten, Ich fahre nad) meiner 
Heimat, ich babe den Leuten gelündigt; es waren 
gute Herrſchaften, aber wie jeht die Uneinigfeit zwi— 
hen ihnen entjtand, und Frau Muja Ohnmachts- 
anfälle befam oder in der Aufregung alles, was fie 
in die Hände belam, an die Wand oder in den 
Spiegel warf, da wurde es mir doch unerträglich. 
Der Mann der Frau Mufa ijt freilich früher jehr 
freundlich gemwejen, dann aber wurde er jehr unan- 
genehm und rief fortwährend: ‚Ich bin der Kerr, 
und mir gehört dein ganzes Vermögen.‘ Indeſſen 
ſchlägt fih Frau Muſa mit den Fäuften an den 
Kopf und ruft: ‚Hier ift dein Vermögen, bier haft 
du es, hier ift es!“ Als fie noch das Kind Hatten, 
zankten fie fi) mur des Kindes wegen, da ging es 
noch; aber jeht lacht die Herrin fortwährend, putzt 
fih, und ift etwas nicht nach ihrem Wunſch, jo wird 
fie hyſteriſch. Ueberdies ift jet ein Arzt gekommen, 
zu dieſem fuhr fie jeden Tag hin, ihn um Rat zu 
fragen. Der Herr jah auch, wie fie uns quälte, 
und ftellte fi auf die Seite der Dienerfhaft; da 
wurde die Herrin eiferfüchtig, jelbft auf mich, jo daß 
der gnädige Herr mic einmal ſchlagen wollte Da 
bin ich böſe geworden und fünbigte. Die Leibeigen- 
Ihaft hat doch in Rußland aufgehört!“ 

Manyfin hörte erregt die lange Erzählung. Die 
Köchin fuhr fort: 


Aus fremden Zungen. 1897, IL 20. 


945 


„Ja, wenn fie noch gut gezahlt hätten, dann 
fünnte man bienen; aber fo, der Herr verfpielt alles 
im Klub, und Frau Muſa pußt fh. Beſtechen läßt 
fi der Herr auch nicht, daher ſpricht man davon, 
daß man ihn fortjagen wil, Mir lag gar nichts 
an der Stellung.“ 

„Haft du ſchon ein Billet?* unterbrach fie 
Manyfin. 

„Bis Mostau!“ 

„Hier haft du noch Gelb!” 

Die Köchin erwartete nicht ſolche Freigebigleit. 
Selbſt ihr jchielendes Auge drüdte Dankbarkeit aus; 
fie füßte Manylin die Hand. 

Er beeilte fi in einen Wagen zu fteigen, wo 
viele Reilende waren, denn er wollte mit jeinen 
dur) die Begegnung erregten Gedanten nicht allein 
bleiben und bemühte ſich, mit jeinen Nachbarn ein 
Geſpräch anzuknüpfen. 


XL. 


Alyſin kam nach Chruſtiki. Sein Kammerdiener 
Martin erſchrak, als er ihn ſah, denn ſein Geſicht 
war dunkel, und ſeine Augen funkelten unter den 
finſter zuſammengezogenen Brauen. Er ſagte kein 
Wort zu Martin, und rührte das Frühſtück, welches 
aus einem harten Ei und einem Stück Schwarzbrot 
beitand, nicht an. Er ſchien feine Ermübung von 
ber Reife zu jpüren, denn er jchritt, die Hände auf 
dem Rüden, unermüdlich vor dem Haufe auf und ab. 
Sodann jah Martin, wie er ſich zu Korneis Hütte, 
am Bergabhang des Dorfes begab, 

Alyfin date: Das Leben ift eine ernfte Sache, 
und doch ift es Unfinn, Es hängt davon ab, wel- 
hen Standpunft man wählt. Ich wollte immer ernjt 
leben, jelbft dann, als ich jo ausgelaſſen war wie 
Manyfin. Aber weder das ernfte Leben noch über- 
haupt eines befriedigt mich. ch hafle mein Talent, 
das wie eine Krankheit an mir nagt, und ich haſſe 
jenes Mädchen, zu dem ich jebt doch gehe. Ich hafje 
aljo zweierlei, das heißt, ich liebe, weil Liebe und 
Haß ein und dagjelbe ift. Habe ich mich verheiratet, 
jo werde ich ohne Zweifel wieder anfangen, Geige 
zu jpielen. Aber ich werde Teine Zuhörer haben, 
wie meine Frau leine Belannten. Ich werde meine 
beiden Lafter, die Frau und die Geige verfteden. 
Die Menichen werden mid) nicht mehr ſtören. Ich 
werde mich mit mir felber verföhnen, indem ich einen 
Teil meiner Seele den Hunden zum Fraße bor- 
werfe, jenen Zeil meiner Seele, mit welchem ich jeßt 
nicht fertig werden fann, und welcher hundert Zent⸗ 
ner wiegt. 

As Alyſin ſich der Hütte näherte, wo die ſchöne 
Matrjona wohnte, ging er langjamer und riet: Iſt 
fie zu Haufe, jo ſoll das heißen, daß ich fie heirate, 
ift fie nicht da, jo gehe ich fort und heirate fie nicht. 

119 


946 


Matrjona war zu Haufe, nur war ihre Mutter 
nicht anweſend. Alyfin hatte diefe Leute nie befucht, 
Nie Hatte er ihnen eine Hilfe erwiefen, aber nie 
hatten fie ihn um eine ſolche gebeten. Sie hatten einen 
Gemüfegarten, Matrjona pflanzte Hopfen, verfaufte 
ihn an die nächſte Brauerei, und fie lebten davon. 


Alyfin mußte zu gut, dab Matrjona nur zu 
wollen brauchte, um reich gekleidet und mit Ge⸗ 


ſchenken jo überhäuft zu fein, daß alle Dorfmädchen 


fie beneibet hätten; aber fie war bejcheiden. Das | 


rührte und ärgerte ihn zugleih. Denn ihre Be— 
icheidenheit und ihre Schönheit zogen ihn an. 

Auf ihrem Gefiht war, als Alyfin eintrat, weder 
Erftaunen noch Bewegung zu bemerken. Sie begrüßte 
ihn und ſchlug ihre ſchwarzen Augen nieder. 

„Ich bin zu dir gelommen,* begann Alyfin 
finfter, „weil id} etwas mit dir zu bejpredhen habe.“ 

Sie lächelte laum wahrnehmbar, und da Alyfin 
ſchwieg, fo fragte fie: 

„Und dies wäre?" 

Alyſin Tieß fich nieder, fie blieb ftehen. Dur 
dad Meine Edfenfter fielen Sonnenftrahlen und 
ipielten in den Falten ihres jauberen Sarafans. Sie 
war von der Sonne voll beſchienen; groß und gleich⸗ 
mäßig gewadien, ſah fie aus wie eine Statue in 
bäuerliher Kleidung. 

„Willſt du Heiraten?” fragte Alyfin. 


Er erwartete, daß das Mädchen erröten würde, | 


aber fie fragte nur ruhig: 

„Wen?“ 

„Mic!“ verſette Alyſin. 

Sie ſchlug ihre ſonderbaren großen Augen zu 
ihm auf, welche nicht mehr ruhig auf einen Punft 
ſahen, jondern ſich nachdenklich hin und her bewegten, 
was ihr wieder einen neuen Reiz verlich. 

„Nein!“ erwibderte fie, „dich will ich nicht Hei» 
taten!“ 

„Ich ſcherze nicht!” bemerkte er zornig. 

„Ic glaube dir das auch, gnädiger Herr, warum 
ſollteſt du auch ſcherzen? Doch will ich dich nicht 
heiraten,“ wiederholte leicht lächelnd da8 Mädchen, 

Alyfin erhob ſich; mit funfelnden Augen fragte er: 

„Willſt du dir das nicht Lieber überlegen?“ 

„Was ſoll ich noch weiter überlegen?“ fragte das 
Mädchen. 

„Aber warum wilft du mid) nicht heiraten ?* 

„Wir paſſen nicht füreinander!” 

„Nur das? Nun, wir werden ſchon zu einander 
paſſen, wenn wir uns heiraten,“ fagte er liebend« 
würdiger. 

„Ach nein! Ich würde es dir jagen, gnädiger 
Herr, aber ich fürchte, du fünnteft mir zürnen.“ 

„Sprich nur!” 

„sch liebe dich nicht!“ verfehte leife das Mädchen. 

„sch werde dich bejuchen, dann wirft du mich 


Maxim Bjelinstfi. 


fennen lernen,“ erwiderte Alyfin erſtaunt. „Du wirkt 
mich kennen lernen, wirft mich lieben.” 
| Du bift rothaarig,“ fagte das Mädchen, „ic 
haſſe die Nothaarigen; und was du für große Ohren 
ı haft! Nein, beſuche mich Tieber micht!” 
Das Mädchen heftete ihre jchönen Augen auf 
ihn, als ob fie nad) weiteren Mängeln an ihm ſuchte. 

„Lebe wohl!” verjegte er. 

„Lebe wohl, gnädiger Herr!” 
| WS er fortgegangen war, vermahm er das laute 
| Laden des Mädchens. Sie ift nicht bei Sinnen, 
dachte Alyſin. Das Herz that ihm weh vor Scham 
und Zorn. Ihm war es, als ob das ganze Darf 
ihn jet auslache und ſich von ihm losſage. 

Aber was foll das bedeuten, was ſoll das bir 
deuten? fragte er ſich beim Rüdweg und konnte feine 
Antwort finden. 

Die Antwort des Bauernmädchens war jelbft für 
Alyfin zu einfad). 


XX. 


Bon Petersburg aus ſchrieb Stephan nad Mair 
land; Liwon hielt Wort. Der Sänger erregte bie 
allgemeine Aufinerffamfeit, man rief ihn nad London 
und hörte ihn jchließlich auch in New Vorl. Selbſt 
jene ruffiichen Zeitungen, welche ihn getadelt hatten, 
waren jeht ftolz auf den Ruhm eines rujficen 
Sängers und braten Depeſchen über feine un 
geheuren Erfolge in Amerika. Im Frühling fehrte 
er nad Rußland zurüd, und ohne in Woswiſchennoje 
einen Beſuch zu machen, begab er fich ſogleich nah 
Chruftiti zu Alyfin, von dem er jet gar feine Nad 
richt hatte, troßdem er aus feinem Briefe von dem 
Mißerſolg feiner Werbung gehört hatte, 

Chruſtiki war abgebrannt, An Stelle der Bauern 
hütten ſah man nur verräucherte Defen umd Ballen. 
Die Bauern Iebten in fchnell erbauten Baraden und 
in vom Brande verſchonten Speichern. Die Pferde 
ftanden an die Wagen gebunden und fauten träge 
Heu und Stroh. 

„Ih kann mir vorftellen, wie unglücklich Alerander 
darüber if. Es ift für ihm felber ein großer Bere 
luft. Wahrſcheinlich wird er jetzt mißgeftimmt fein, 
vielleicht ganz ofme Geld. Ich werde ihm etwas 
anbieten, vielleicht braucht er es.“ 

Als er auf den Hof fuhr, bemerkte er mit Ver 
wunderung, daß ber ganze Platz vor dem Haufe mit 
Stroh belegt war. Er ift wohl krank? dachte er. 

Martin fam ihm entgegen. 

„Guten Tag, gnädiger Herr! Darf ih Ihte 
Hand küffen? Ach, mein Gott! umd ich dachte, es 
ift Vater Wilfarion. Schlecht geht es mir jeft. 
Hier, bitte, hier! Still! wir müffen bier jet auf 
den Zehen gehen. Der gnädige Herr ift jehr frant!* 

„Was jagen Sie da, Martin ?* 

„Großes Unglüd, gnädiger Herr!“ 








Das neue Leben 


Er führte Stephan geheimnisvoll in ein ſchlecht 
beleuchtetes, unbewohntes Zimmer, das einſtige Schlaf« 
zimmer von Alyfins Vater. 

„Sie werden jebt hier bleiben müſſen, gnädiger 
Herr, das Zimmer, in dem Sie früher zu wohnen 
pflegten, ift von Doktor Scheremetjew bewohnt.“ 

„Aber was ift gejchehen? Iſt Mexander jchon 
lange frani?* 

Martin machte eine Bewegung mit ber Hand: 

„Schon lange! Ich vermute, die Krankheit datiert 
noch vom vorigen Jahre. Aber fie ift infolge des 
Brandes jehr ftark hervorgetreten.. Willen Sie, «8 
bat Donate gegeben, wo der Herr fein Wort jprad). 
Er ging nur im Zimmer umber von einer Ede in 
die andre. Die jhwere Arbeit gab er auf, Anfangs 
freute id) mid) darüber. Aber da wurde es noch 
ihlimmer. Im Winter erhob er fih nachts und 
ging auf dem Parkettboden hin und her. Er hat 
einen Pfad auf dem Boden getreten. Denn er hat 
einen ebenjo guten Tritt wie der alte gnädige Herr, 
wenn er fein Geld hatte; diefelbe Manier zu gehen, 
die Hände hinter dem Rüden, und marſch von einer 
Ede in die andre,“ 

„Sage mir ordentlich! Iſt Merander beim 
Brande verunglüdt?* fragte Manyfin, ohne feinen 
böjen Ahnungen Glauben zu ſchenlen. 

„Rod, ſchlimmer!“ fagte der Alte, und Thränen 
flofjen aus feinen Augen. „Er redet irre! Der 
Doktor ift ein gelehrter Mann, er fann fein Schwei« 
gen nicht verfiehen. Der Herr befindet fi in einer 
Störung jeines ganzen Geiftes, verſteckt fich in einer 
Ede, jeufzt immerfort, und wenn er mit dem Kopfe 
zu ſchütteln beginnt, wird es jelbft mir, feinem alten 
Diener, fhaurig. Drei bis vier Stunden fchüttelt 
er mit dem Kopfe, immer, unaufhörlich.“ 

„Aber man kann ihn jehen?“ 

„Ich denke, ja. Es wäre fogar gut, wenn Sie 
ihn ſprächen. Nur weiß ich nicht, wie der Arzt dars 
über denfen wird. Der macht mich ganz wirt. Ich 
will ihn fragen. Warten Sie einen Augenblid, 
gnädiger Herr!” 

XXI 

Der Arzt fam, erfannte Manpfin und erriet, 
dab das jener berühmte Manpkin ſei. Neugierig 
Ihaute er ihn an und jagte jelbftzufrieden die Hände 
reibend : 

„Sie find nicht zu verlennen, freue mich une 
gemein, Sie wiederfehen zu dürfen. Ja, ja, unjer 
Alerander Ignatitich ift ſchwach. Ich weiß gar nicht, 
was thun, Gin fchwerer Fall! Ich fürdte, es 
fönnte Blödfinn werden. Woher mag es nur fom- 
men? Spridt fein Wort. Das Schlimmfte ift aber 
dabei, daß er bereits jeit zwei Tagen nichts gegeſſen 
bat. Solche Patienten müßte man in einer Spezial» 
Hinif behandeln.” 


947 


Stephan folgte dem Arzt. 

„Er tft wohl wahnfinnig?“ fragte er, „Aber wie 
zeigt ſich ſein Wahnfinn ?* 

Der Arzt blieb mitten im Saale ftehen und be» 
gann zu erflären. Stephan hörte ihm ungeduldig 
zu, ohne etwas zu verjtehen. Es war wie gewöhn- 
lih bei einem Laien, er glaubte, der Arzt ver- 
ftehe jelber nicht, was er ſprach. 

„Bielleicht ift es aber einfah Melancholie,“ fagte 
er, in dem Bemühen, den Arzt aus feiner Verlegen« 
heit zu befreien. 

„Freilich!“ rief lebhaft Scheremetjew, und ftolz 
rüdte er jeine glänzende Brille zuredt. „Nun ja, 
es ift die typiſche Melancholie.” 

Aber das Wort Melandolie erfreute Manyfin; 
für ihm war fie nicht gefährlih und ſchrecklich. Er 
war ja zeilweije felber melandoliih. Für den Arzt 
freilich Mang das Wort anders, 

„Das ift e8 ja gerade, daß es die Melandolie 
ift,“ wiederholte er beforgt und ging weiter. 

An dem Zimmer Alyſins machte er vorfichtig die 
Thüre auf und jah zunächſt, was der Stranfe thue. 
Manykin Hielt e8 nicht Tänger aus, ſchob den Arzt 
zurüd und ging direkt auf Alyfin zu. 

„Alerander!* 

Ayfın ſaß an feiner Drechslerbank, auf beide 
Arme geſtützt. Er Hatte ein rotes Zitzhemd unter 
einem furzen,, blauen offenen ſtaftan und Lachſchuhe 
an. Er war mehr gelb ald mager. Seine ſonſt leb⸗ 
haften und blitenden Augen ſchauten düjter auf das 
Bild des Sonnenaufgangs, den man vom Fenſter 
aus fehen fonnte. 

Er wandte nicht einmal den Kopf, obwohl er 
Manykin an der Stimme erkannte, und fragte nur 
leife: 

„Iſt auch der Arzt bier?” 

„Herr Scheremetjew? ja!” 

„Erſuche ihn, daß er uns verläßt. 
nicht, e8 ihm felber zu jagen.” 

„Bitte, verlaffen Sie uns,“ ſagte Manyfin zum 
Arzt. 

„Gut, aber Sie werben mir nachher erzählen 
müjlen, was er jpredhen wird, Denn fängt er ein« 
mal zu ſprechen an, fo ift e8 jehr intereffant.” * 

Der Arzt verlieh das Zimmer. Manylin ver 
ſchloß die Thüre hinter ihm. Alyſin jah feinen 
Freund an und ſagte mit derjelben leijen gedrüdten 
Stimme: 

„Alſo von jo weit her bift du zu mir gelommen ? 
Aus Amerika, o, das ift ſehr weit! Ich dachte, du 
babeft mich ſchon vergefien, weil ich in deinen Augen 
lächerlich fein muß. Uebrigens verdiene ich Vers 
achtung. Ich wußte, wie man zu leben bat, und 
beritand es nicht. Niedere Leidenfchaften ergriffen 
und beherrſchten mid. Dieje haben ihr Neft in 


Ich wage 


948 


meiner Einfamfeit gebaut. Hier im Herzen wohnen 
fie, bier im Herzen!“ 

Manykin fahte feine Hand und bdrüdte fie zart. 

„Ad, leeres Gerede! Aber dies find...” 

„Dummheiten?“ unterbrach ihn mit fauın wahr« 
nehmbarem Lächeln Alyfin. „Es ift gut, dab du 
bier bift und deinem Freunde die Hand brüdit. Ich 
gab mir dad Wort, mit niemand zu ſprechen, ſelbſt 
mit Martin nicht, um fie mit meinen dummen Mei— 
nungen nicht in Erftaunen zu ſetzen. Sie behandeln 
mich alle von oben herab, und ic) verdiene es frei- 
lich nicht anders. Vor dir aber ſchäme ich mich nicht! 
Mit dir bin ich fo viel zujammen geweſen, und an 
dich habe ich mic) jo gewöhnt, da in meinem Gehirn 
ſich immer ein Teil des deinigen befindet.” 

„Denke dir, mir geht es ebenfo! Ich nenne dieſen 
Zeil die Alyſinkammer!“ rief lachend Manylin, froh, 
daß fein Freund wieder ebenjo vernünftig ſprach wie 
bisher — in feiner Weile. 

„Ganz richtig!" fagte Alyfin, „und ich habe 
eine Manykinkammer. In Ddiejer Kammer liebe 
id) dich wie meine nächſten Verwandten — ja noch 
mehr!” 

„Über jage mir, weshalb unterbrahft bu den 
Briefwechfel mit mir ?* 

„Was ſollte ich dir denn jchreiben? Worüber? 
Ich will dir aufrichtig geftehen, für mich gab es in 
biefem Jahre feine Daten, Mein ganzes Leben 
wurde inhaltlos. Deine Briefe las ich freilich mit 
Vergnügen, aber mit einer inneren Erregtbeit. Du 
warſt tierijch glüdlich, das heißt du ſtandeſt jo hoch 

über mir, weil id) tieriſch unglüdlih war.“ 
j Er lächelte wiederum. 

„Du hältft jelber dein Glüd gefangen,“ bemerkte 
Manyfin vorfihtig, Du könnteſt glüdlicher jein 
als id.“ 

„Das ift nicht richtig, da ich in der Jagd nad) 
dem menſchlichen Glüde nur das tierifhe Unglüd 
erreichte, Etwas muß bier,“ — er deutete auf feine 
Stim — „nit in Ordnung fein. Ich verſtehe wohl, 
dab man mich für wahnfinnig halten muß, wie dies 
Martin und der Doktor thun. Sie haben redht, denn 
ich rühmte mid), ein Meer zu entflammen, und er= 
trinfe in einer Pfüge. Der Arzt ſprach im Glauben, 
ih höre es nit. Man will mid mit Gewalt er- 
nähren und mir einen Schlaud) durch die Nafe führen. 
Vielleicht drohte er nur wie Erwachjene einem eigen- 
finnigen Knaben drohen, wenn fie fo thun, als ob 
fie im Ernſt berieten, ob fie ihn wirklich dem Schorn« 
fteinfeger ſchenken follen. Aber ich glaube, der Arzt 
meinte es mit mir ernjt, Und jo habe ich abfichtlich 
nicht gegeſſen, um zu erfahren, was Gewaltthat ift, 
Eine ſolche Ermiedrigung, wie die Nahrung mittels 
eines Schlauches durch die Nafe einzunehmen, glaube 
ih, dannſt du dir faum vorftellen. Aber ich ftellte fie 


Maxim Bijelinsti. 


mir bor, und id) erwartete fie ald Strafe für alles, 
was ich gethan habe, das heißt für alles, mas id 
nicht gethan habe.“ 

„Aber du bijt ja der alte Alyfin, immer nod 
berjelbe Alyſin, derjelbe originelle Philoſoph!“ rief 
Manyfin aus. „Und jene wagten es, did für... 
das ift unerträglich !” 

„Rur ruhiges Blut, Stephan,” ſagte Alyſin, 
„wenn meine Verwandten erfahren würden, dab id, 
wie du meinft, nicht ganz bei Verftande ſei, ımd 
wenn fie mich ins Irrenhaus bringen würden, würde 
ih mich unterwürfig binbringen laſſen; und ein 
Menſch in meiner Lage kann gar nicht anders! Ih 
tauge zu nichts mehr. Da hatten einige junge Leute, 
die nad) dem Guten und Idealen ftrebten, gebört, 
daß ich ein neues Leben führe, und erfchienen in dielem 
Winter unerwartet bei mir. Sie nannten mid ihren 
Lehrer, fie wollten von mir aufgeflärt werden. Ich jekte 
ihnen meine Theorie der Arbeit außeinander. Sie gingen 
ins Dorf, ſchauten es fi an, lehrten wieder zu mir 
jurüd und rieten mir in böflicher Weiſe, ich folk 
doch den Bauern alles abgeben, was ich beſihe. Id 
fagte ihnen, daß die Bauern das Gut ebenforwenig 
brauchten wie ic) ſelbſt, daß am wichtigſten für den 
Menſchen das Seelengleichgewicht fei, welches id je 
doch bereit verloren habe. Als Antwort darauf ber 
zogen fie fi auf die Rationalöfonomie. Ich wies 
fie hinaus. Als ich allein blieb und mich von ihrem 
Standpunft aus betrachtete, da kam mir der Ge 
danke in den Kopf, daß fie mir nur deshalb jenen 
Nat gaben, weil fie mid um meinen ſcheinbaren 
Reichtum beneideten, der ihnen im Vergleich mit der 
Iheinbaren Armut ber Bauern ungeheuer erſchien. 
Deshalb beſchloß ich, in niemand mehr Neid hervor 
zurufen, das heißt ein ſchlechtes Gefühl, und ic ber 
gann alles Geld, welches ich beſaß, zu verteilen. 
Dreißigtaufend verteilte ih troß meines Wider 
willens zu menſchenfreundlichen Zweden, das heist 
zur Erniedrigung der Armen durch die Reichen. Wat 
entftand num? Die Männer begannen zu trinfen, 
die frauen wurben ausgelaſſen, und es entjtand end⸗ 
lich ein folches Babylon, daß fie betrunfen das Dorf 
anzündeten. Sage mir, wer hat ſchuld daran? Jh! 
Alſo, weshalb ſoll man mich denn nicht ins Itren⸗ 
haus fperren?” 

„Du jcherzeft, lieber Alexander! Glaubft du denn 
im Ernft, dab dein neues Leben ein folder Mikgrif 
ift, daß er gar nicht wieber gut gemacht werben fan? 
Im Ernft geiprochen, ift doch die ganze Welt ein 
Irrenhaus; wir brauchen nad) feinem andern zu 
juchen. Dan muß leben, wie e8 ſich eben leben läht. 
Bift du auf ‚einem Wege gejtrauchelt, jo giebt «& 
deren noch viele andre. Rüttle dich auf, Alerander! 
Dein Stern ift noch nicht untergegangen. Ich vers 
lafje dich nicht, bis bu heiter geworden bift und den 


Das neue Reben. 


Unfinn im Bezug auf deine Perſon aufgiebit. 
Hörft du?“ 

„Das ift jehr hübſch, nur bitte ich dich, entferne 
den Arzt von bier. Ich fürchte mich vor allen Men— 
ihen, die fich jelbft viel vertrauen. Selbft vor Martin 
fürdte ih mid. Ich bin in jeinen Augen ein 
Dummfopf, und ich ſchäme mich, ihm in die Augen 
zu hauen. Weißt du, womit er mic) zu zerftreuen 
dachte? Ich ſchwieg lange Zeit und ſprach fein Wort; 
id war nahe daran, mid) zu erhängen, jo wehmütig 
war es mir zu Mute. Da kauft er irgendwo im 
Dorfe eine Geige für einen Rubel, tritt in mein 
Zimmer und beginnt darauf zu fragen. Ich muß 
nämlich vorausſchicken, daß er nie vorher im Leben 
einen Bogen in den Fingern hielt. Er fraßte dar—⸗ 
auf eine volle Stunde; ich litt, aber ich hielt aus. 
Er gewann die Heberzeugung, daß ich verrüdt ge= 
worden jei, und ich gewann damals ebenfalls Die 
Ueberzeugung, daß ich mindeftens objeltiv verrüdt 
bin, das heißt für andre,“ 

Stephan lachte. 

„Alyſin, Moyfin! Immer derjelbe, das heißt 
wann wirft bu deine fchlechten Gewohnheiten aufe 
geben? Uebrigens, wenn du aufrichtig wünjcheft, 
daß ich dich für vernünftig halte, dann darfit du 
nicht vergefien, daß du Wirt bift! Schon in New 
York träumte ich davon, wie ich mit dir zufammen 
hier fpeifen werde. Alſo laß auftiihen, was vor« 
handen iſt.“ 

Alyſin erhob ſich langſam, trat an die Thüre 
und blieb ſtehen, ohne ſich entſchließen zu Fönnen, 
Martin zu rufen, Endlich einen Blid auf Stephan 
werfend, rief er: 

„Martin !* 

XXI 

Während Martin in der Küche zu thun hatte 
und das Eſſen bereitete, ſuchte Manyfin Alyfins 
Wunſch zu erfüllen und den Arzt zu entfernen, Er bes 
gab ſich daher in das Gaftzimmer. Der Arzt lag 
auf dem Sofa und rauchte eine dide Zigarette. Ma« 
nplin, der nicht rauchte, dachte unwillkürlich, als er 
den Arzt anjah, wie groß der Unterjchied ſei zwijchen 
einem gefunden, nichtrauchenden Menjchen und einem 
Kranken, der völlig vom Tabafraud; geträntt ift. 
Eigentlich müßteft du auch in Behandlung genommen 
werden, dachte er. 

„Nun, wie ſteht's?“ fragte der Arzt. 

„Wie foll es denn flehen, Doktor? Nichts Ber 
jonderes, das Gefühl ift bei ihm nur niedergebrüdt, 
oder, wie Sie da jagen, das Selbſtgefühl. Doc 
müſſen Sie die Enttäujchung erleben: er ift bei vollem 
Berftande. Sie haben da etwas erfunden?“ jagte 
Manyfin erregt. 

„Ich habe nichts erfunden, aber ic} verfolge ein 
wenig die Wiſſenſchaft, und glaube in ihr ein wenig 


949 


bewandert zu fein,” antwortete Scheremetjew lächelnd. 
„Das Gefühl ift alfo niedergebrüdt? So — jo — 
jo! Und was ſpricht er denn?“ fragte der Arzt. 

„Er bittet Sie, das Haus zu verlaffen und dies 
in Empfang zu nehmen — hier!” 

Er reichte dem Arzte Papiergeld. Diejer nahm 
es mit feiner von dem vielen Tabafgenuß zitternden 
Hand, beſchaute es, lächelte zufrieden und erhob fi. 

„a, ja,” fuhr Manyfin fort, „nehmen Sie es 
nicht übel, aber Ihre Anweſenheit übt auf ihn einen 
ſchlechten Einfluß aus. Er wollte einfach nicht mit 
Ihnen ſprechen — Sie halten das für Krankheit und 
geben der Krankheit den Namen Blödfinn. Ich 
zweifle nicht an Ihren Kenntniſſen, aber — Sie find 
dod) fein Spezialift!” 

„Nein, das ift richtig,” verjegte Scheremetjew. 
„Ich bin nicht Spezialift. Ich fann nun aud) ab» 
reifen. Und bat er fi einverjtanden erflärt, Speife 
zu ji nehmen ?* 

„Denken Sie fih nur, er hat fogar ein ganzes 
Mittagefien beſtellt!“ 

„Hm, es kann ja fein! ber ich bin Steptifer, 
Väterchen,“ verjeßte liebenswürdig der Arzt und blin« 
zelte ſchlau mit den Augen, „mid; führt man nicht an!" 

Manpfin erflärte ſich das Benehmen des Arztes 
anders. Ihm that er leid, da er nun feinetwegen 
einen Patienten verlor. Er fragte liebenswürdig: 

„Und wie ſteht es mit Ihrem Sohn?” 

Das Geficht des Arztes verfinfterte ſich plötßzlich. 

„Mein Sohn? Haben Sie ihn nicht vergejien? 
Ih mußte wiederum zweitaujend Rubel bezahlen — 
für den Familiennamen nämlich. Fataler Familien- 
name!” 

„Der gnädige Herr bittet Sie zu fi!” meldete 
der eintretende Martin, deſſen Geſichtsausdruck jehr 
niedergejchlagen war. 

„Ich hoffe, wir jehen ung noch,” fagte Manyfin, 
brüdte dem Arzt die Hand und begab fi) auf das 
Zimmer Alyfins. 

Der alte Diener holte ihn im Saal ein und 
flüfterte ihm zu: 

„Sch meldete dem gnädigen Herm den Water 
Wiffarion, aber der Herr ſchrie mid an. Freilich 
ift das aud ein erfreuliches Zeichen — denn früher 
war der Herr durch nichts zu erzürnen.“ 

„Ah, Martin! Der gnäbige Herr iſt ver« 
nünftiger als wir beide!“ unterbrad ihn Manylin. 

Martin jhaute verlegen und zugleich mißtrauiſch 
Manylin an, 

„Run ?* 

„set aber jdrie der gnädige Herr mid an und 
befahl das Thor zu ſchließen. Es ift nämlid) ge» 
meldet worden, daß Vater Wifjarion in der Nähe 
fi...“ 

„Wer hat ihn rufen Tafjen?* 


950 


„Ich! ...“ 

Manyfin dachte nach. 

„Du brauchſt das Thor nicht zu ſchließen; laſſe 
Vater Wiſſarion hinein.” 

„Zu Befehl!“ 

„seht fannft du gehen.” 

Manyfin traf Alyfin zitternd an, er wußte nicht, 
ob vor Zorn oder vor Furcht. 

„Der Arzt fährt gleich fort,“ erflärte er. 

„Dieler Martin bringt mich noch ins Grab!” 
rief Alyſin wehllagend. „Was joll mir Bater Riffarion ? 
Aber er lich Vater Wiffarion, der fiebzig Werft von 
bier wohnt, holen, und der fommt nun. Ich empfange 
ihn nicht! Jch will niemand außer bir jehen! Er lommt, 
erfommt! Hier iſt fein Wagen! Rette mid) vor ihm! 
Sage, daß du jelbft frank bijt. Ueberdies bin ich ja 
völlig gefund! Hier ift meine rechte Hand, hier meine 
linfe! Ich jehe dich, ich jehe die Dinge um mich, 
ich träume nicht von Zeufeln und Teufelchen. Ich 
bin geſund!“ rief er nochmals aus und ſchlug auf 
den Tiſch. 

„Aber man muß ihn doc) empfangen!“ bemerkte 
würbevoll Manytin, deſſen Herz heftiger zu jchlagen 
anfing bei dem Gedanken, dab Pater Wiſſarion 
fomme, wobei es ihm erfhien, daß die Verwirrung, 
welche plößlich in der gebrüdten Seele Alyfins ent- 
ftand, ein Zeichen fein müffe, daß in ihr eine Um» 
wälzung vorgehe und fid) eine Wendung zum Befjeren 
vollziehe. „Thue e8 um meinetwillen, Alexander! 
Freilich bift du gefund, und deshalb mußt du ihn 
empfangen. Du wirft ihn doch nicht fortjagen, nicht 
wahr?“ 

Er nahm ihn am Arm und drüdte ihn. Es fehlten 
ihm Worte, Alyfin genügend zu überzeugen, denn er 
bemerkte, daß das, was er eben gejagt, nicht logiſch 
genug war. Große Schweißtropfen traten auf jeine 
Stirn, auf welcher eine blaue Ader erſchien. 

Alyfin ſah, wie der Wagen des Vater Wilfarion 
hinter dem Berge verſchwand und dann wieder in 
der Lindenallee fihtbar wurde. Da hielt er vor der 
Einfahrt, und es wurde ihm Mar, daß Wiſſarion 
empfangen werden müſſe, denn alle wollten es, jelbit 
Manylin. Ein Lächeln des Leidens zeigte ſich auf 
jeinen zitternden Lippen, 


XXIII. 


Martin öffnete die Flügelthüren, fiel vor dem 
Prieſter auf die Kniee und ftredte die Hand nad) 
dem Saum des neuen Priefterrodes aus, den ihm 
aus Eiferfucht gegen Frau Manyfin Frau Pladni— 
fow gejchenft hatte. Bater Wifjarion fegnete den 
Alten umd begab ſich ſchnellen Schrittes in den Saal, 
jo daß der zitternde Martin ihm faum folgen konnte, 
Der Arzt Scheremetjew ſchaute mit ſarkaſtiſchem 
Lächeln, welches dem gutmütigen, wohlgenährten Ges 


Maxim Bjelinstki. 


| 
ſichte wenig fland, aus feinem Seitenzimmer auf | 
Vater Wiffarion: das ijt mein Kollege — der Ep 
zialift! dachte er. Aber kaum traf fein Blid die | 
feurigen und guten Augen des Vater Wifjarion, als | 
feine Gedanlen fich veränderten und er zu ſich felber 
fagte: „Es ift doch intereilant!” 

Manyfin, der Alyfın unter dem Arm führte, trat 
dem Vater Wilfarion entgegen. 

„Guten Tag!” fagte Vater Wifjarion. 

Uber Manylin, der diesmal in einer noch gröheren 
Bewegung war als das erſte Mal, da er fi mehr 
um Alyfin erregte, fühlte, daß feine Zunge veriagte. 
Schweigend führte er Alyfin zum Segen und [ie | 
ſich jodann jelber ſegnen. | 

Ayfın zitterte. So zittert ein furchtſames, edles | 
Roß, das am Wege in der Dämmerung einen Baur 
bemerkt, deijen Zweige, vom Winde bewegt, rauſchen. 

„Weshalb find Sie zu mir gekommen?“ fragte | 
er leiſe. 

„Um für Sie zu beten," antwortete Vater Bi: 
jarion und legte feine lange jehnige Hand auf die 
Alyſins. 

„Iſt es wahr, daß bei Gott alles vorausgeſchit 
wird?“ fragte Alyſin. 

„Alles, und nie ſoll man verzweifeln!“ | 

„Weshalb jol denn aber Ihr Gebet belfen?“ 

„Weil e8 meine Seele erhebt, jo hoch, daß ſich 
auch die andre Seele mit erhebt. Sie fünnen auf 
jo beten, wenn Sie nur wollen.“ 

Alyfın ſchlug die Augen empor und fchaute Patır 
Wiſſarion an. Er konnte nicht das Feuer dei Wit 
leids und der Liebe ertragen, das in dem Blide 
Vater Willarions brannte, und erjchüttert fing er zu 
weinen an. Er fiel auf die Kuiee nieder umd flüfterte: 

„Beten wir!“ 

Und neben ihm ließ ſich Vater Wiſſarion nieder: 

„Herr, unjer Gott!“ begann er mit lauter Stimme, 
die alle erzittern machte. „Herr, unjer Gott! Her! 
Du vermagft alles. Du bift ſtark und einig! Giebihm 
das Licht der Seele wieder, welches bu jelbft angezündet 
haft, lafje das von dir gepflanzte prächtig und jhön 
aufblühen! Entferne das Schlechte aus deiner Saut, 
Herr unfer Gott!” fuhr er ſchluchzend fort, „mie ih, 
der Unwürdige, lebe und mich des Lebens freue, io 
lafje die Seele, die du jelber zum Leben und zur 
Freude geichaffen Haft, wieder auferftehen! Zerſtteut 
feinen Summer, ſchone den von dir Ermwählten und 
zeige ihm den Weg zur Ewigfeit! Herr, unfer Gott, 
du vermagft e8!” wiederholte er, indem er den Kor! 
emporhob und die glänzenden Augen, in benen Tirw 
nen fanden, gen Himmel aufjchlug. 

So vergingen einige Augenblide, während welder 
nichts die eingetretene tiefe Stille flörte. Endlich 
ſchlug Vater Wiffarion ein Kreuz, beugte den Kopf 
zur Erde und erhob fih. Ihm folgte Ayfin, dem 


— —— — —— — — 


— * 5 GER 


Das neue Leben. 


Thränen über den Bart floffen. Dann fühte Vater 
Riffarion Alyfin. 

Er zog ein weißes Tafchentuh aus der Taſche 
und trodnete den Schweiß, der auf feiner hoben reinen 
Stirn hervortrat. Seine Hände zitterten, und da er 
müde war, fuchte er mit den Augen einen Plaß, mo 
er ſich hinſetzen könnte. Manyfin reichte ihm einen 
Stuhl. Vater Wiffarion wurde verwirrt und ließ 
ſich nicht nieder, ſondern ſtühte fih nur auf die 
Lehne des Stuhle. 

„Es ift doch gut, daß Sie zu mir gefommen 
find,” begann Alyfin, indem er auf ihn zutrat und 
fortiubr, ftille, leichte Thränen zu vergießen. „Trotz⸗ 
dem ich Sie nicht rief, ſcheint es mir doch, da in 
meinem Herzen etwas lebte, was mich ſchon lange 
zu Ihnen zog. Entihuldigen Sie mich, daß ich fo 
Ihroff gegen Sie war, und entjhuldigen Sie, daß 
id nichts mehr zu Ihnen jagen kann... Ich bin 
äußerft erregt, jehen Sie, mid) drüden die Thränen, 
AU dies erfcheint mir als etwas Webernatürliches.” 

„D nein,“ bemerkte naiv und liebenswürdig Vater 
Wiſſarion, Alyfin beobahtend. „Das Gebet Hilft 
und wird immer helfen. Die Menjchen werden immer 
nad dem Guten fireben und werden es finden.” 

Martin zupfte Manyfin am Rochſchoße. Diefer 
wandte ih um. Martin, welcher fürchtete, das 
fromme Gejpräd zu unterbrechen, ſprach in Zeichen. 
Er zeigte auf das Speifezimmer, jodann auf feinen 
Mund und endlih auf Vater Wiffarion; und allen 
diefen Zeichen folgte ein Kopfſchütteln. 

„Dit denn das Mittageſſen fertig?” fragte Manyfin, 

„Jawohl!“ fagte Martin, „ſchon längft! Ich 
fürdte jogar, die Suppe wird lalt.“ Und ermutigt 
ftellte er ſich ſtramm Hin und meldete, dag Mittag- 
eſſen ſei ferviert. 

Vater Wiſſarion blieb gern zu Tiſch, aber er aß 
nur von der Fiſchſuppe, die vorher für ihn beſtellt 
war, und tranf auf das Wohl Alyfins ein Glas er= 
wärmten Rotweins, 

Die ganze Zeit, während Vater Wiffarion dort 
blieb, fühlte fi Manyfin jo überglücklich, daß er 
nicht ſprechen und denken konnte, wie er ed gewohnt 
war — ungezwungen und leicht. Und er vermutete 
nad) Alyfins Bewegungen, daß auch diejer dasjelbe 
fühlte. Deshalb war Manyfin doppelt glüdlich. Und 
wenn man ihn jeßt gefragt hätte, ob er etwas Böſes 


951 


auf dem Herzen habe, er würde aufrichtig geantwortet 
haben, daß er nichts Böſes auf dem Herzen habe 
und nichts Böjes haben werde, 

Als Vater Wiſſarion fortging, — der Arzt hatte 
fich Schon früher entfernt — ging Manyfin noch lange 
im erleuchteten Zimmer bin und ber. Beide ſchwie⸗ 
gen, weil jedem das Herz voll war. 

Draußen war eine warme Frühlingsnadht, und 
dur die offenen Fenſter jchaute der fternflare 
Himmel, Im Gebüſch des Gartens ertönten die 
erften Triller der Nachtigall. 

„Ah, wie ſchön ift das alles!“ fagte Manyfin. 
„Höre, Alexander! Du wirft mir doc) nicht böfe fein, 
ic brachte dir aus dem Auslande ein Geſchenk mit! 
Ih kaufte in London die Geige von Stradivarius,“ 

Er wartete, was Alyfin jagen würde. 

„Bieb fie her!” jagte Alyfin. 

„sch will fie dir bringen !* 

Er holte einen Kaften und nahm aus demjelben 
eine alte Geige mit furzem altmodifhem Griff. 
Alyfin warf einen ſchüchternen Blid auf das In— 
firument. 

„Soll id) es verjuchen, wie?“ fragte er, und feine 
Augen glänzten. „Was find das für Noten? Gieb 
fie mir!“ 

Er fing an die Geige zu ftimmen und führte den 
Violinbogen über die Saiten. 

„Das klingt ja mehr wie eine Stimme, ald wie 
ein Ton!“ rief er zitternd. Aber die Noten taugen 
nichts. Hier ift Schubert! Tifj... Ich Habe 
Furcht! Die Technik, glaube ich, ift bei mir zu 
Grunde gegangen. Schubert will ich jpielen. Ich 
liebe Schubert. Ich fange an! Ad was!“ 

Er führte den Bogen, die Saite fang leife. Aber 
da fam fie in Bewegung, und plößlich tönte fie Hell; 
neue Töne erflangen, einer feuriger als der andre, 
einer verliebter als der andre; und fie floffen in— 
einander in ein großes Lied einer unverjtandenen 
und früh verirrten Seele. Der Violinbogen glitt 
gehorjam über die Saiten; der Perlmuttereinſatz 
glänzte und zitterte bald wie die Morgenröte im 
Frühnebel, bald bewegte er fi langſam hin und ber. 
Und ſchwiegen die Saiten einen Augenblid, jo ant« 
wortete die ferne Nachtigall mit ihrem fterbenden 
Seufzer, mit ihrem leidenjchaftlich wehmütigen Triller. 

Alyfin jpielte und meinte... 





Liſa. 


Jane GernandtClaine. 
Aus dem Schwediſchen überſetzt von Francis Maro. 


Meine Erinnerungen an Eliſabeth Bratt reichen 
zurüd bis zur Zeit als fie fünfzehn, ſechzehn Jahre 
alt war, aber ich fannte fie damals ebenfowenig ala 
jpäter; fie jchloß fich nie an jemand an, nicht ein« 
mal in diefem zur Offenheit geneigten Alter hatte fie 
je eine Vertraute. Sie hatte nicht viel anzuvertrauen, 
und ich glaube nicht, daß fie im allgemeinen für be= 
gabt angejehen wurde, aber ich weiß nicht warum — 
ich habe fie nie etwas Dummes äußern hören. Es 
lag etwas unbeſchreiblich Stilles und Gebämpftes 
über ihr, und fam man einmal, um fie zu befudhen, 
jo wurde man unmillfürfih weniger laut — es lag 
dies bei Bratts in der Luft. 

Ihr Vater war Ratsherr, ſehr lang, fehr ſchmal 
und ebenjo fteif wie feine Altenrolle. Die Mutter 
war eine geborene Barfoot, abgemeſſen und korreft, 
mit einer unbeweglichen Falte um den Mund, und 
der Ton in diefem Haufe war das Trodenfte, das 
man fich denfen fonnte; das geht an, und das geht 
nicht an, und zweimal zwei ift vier. Ich frage mic 
noch heute, wie es möglich war, dak Kaj Rude — 
der Komponiſt — je Schwiegerfohn in dieſer Familie 
wurde. Aber Bratts hatten einen Sommer an der 
Weſtküſte zugebracht, und e8 genügte wohl, daß er 
Elifabeth fommen und gehen jah, weiß; und ftill wie 
ein Schwan, mit ihrem ſchmalen, weichen Geſicht und 
den großen, bdumfel befranften Puppenaugen, die 
blauer als alles Blau zu jein ſchienen, um zu glauben, 
fie jei aus irgend einer mittelalterlichen Legende 
emporgeftiegen, um ihn zu einer Ballade zu infpirieren. 
Er komponierte Tage hindurd; an feinem Klavier, 
er widmete ihr feine Lieder, und der ziemlich uner« 
wartete Schluß dieſer fyreierei in Muſik war, daß 
Bratts ihm ihre Tochter gaben. Er lebte nur zu 
ihren Füßen; es war der Anbeter, wie man ihn ſich 
träumte: die Hand auf dem Herzen, das hohe C. 
Er hatte jenen ftrahlenden Blid und jene MWeichheit 
des Weſens, die unabläffige Verehrung iſt. Sie 
brauchte nicht zu ſprechen, fie war das Wunder, fie 
war dad Märchen, fie war die Zukunft, und ihr 
Schweigen war das gelobte Land, voll holder Heim 
lichleiten. Glücklich, ahnen, jehnen, begehrten zu 
können, brachte er die Tage auf den Knieen vor ihr 


| zu, aber ich weiß; nicht, ob er je das wohlbiscipfiniert 


Feine Herz in einem andern Talie, ala dem rim 
gelernten, ſchlagen machte. 

Ih ſah fie als Neuvermählte, und ic) jah fir a 
fie von Berlin zurüdfamen, wo er fi aufgehalten 
hatte, um Kompofitionslehre zu ſtudieren — und mar 
brauchte nicht jehr Icharffichtig zu fein, um die Ber 
änderung zu bemerlen. 

Jetzt war er nicht mehr jo eiferfüchtig anf den 
geringften ihrer Blide, da er ausrief: „Aber wat 
fiehft du denn dort am Wege?“ wenn fie ihn nich 
lange betrachtete; und es geichah ſehr jelten, daß er 
bat: „Erzähle mir deine Eindrüde,“ wenn fie von 
irgend einem Konzerte famen. Er hatte zu oft gefragt, 
ohne eine Antwort zu erhalten, und wenn er eine 
erhielt, jagte fie nichts. Es ift wohl nicht notwendig 
über Kontrapunkt ſprechen zu können, wenn man aud 
mit einem Komponiften verheiratet ift, aber man mus 
doch etwas andres zu fagen wifjen als ja und nein, 
und ich glaube nicht, daß es Hug ift, entrüſtet aus— 
zuſehen, wenn der Unglückliche einmal die unmiber: 
ftehliche Luft empfinden jollte, fi in Hembärmeln 
ana Klavier zu feßen umd jo zu jpielen, „Ihr feid 
alle jo geſchniegelt,“ ſagte er dann und befand ſich 
oft in einem jolhen Zuftand der Nervofität, daf tr 
aufiprang, den Knopf aus feinem Kragen rik und 
bie Achſeln jo heftig zudte, als wollte er Schwieger- 
vater, Schwiegermutter und die Heine Frau ab: 
ſchütteln, die er einft auf Händen getragen. Sein 
Ungeftüm erſchreckte fie — fie begriff es nicht, fe, 
die ihr Leben lang fein Gefühl gezeigt hatte, das nich 
abſchattiert, zerftüdelt, gedämpft war, bevor fie & 
einem andern offenbarte. Sie fonnte ihn zumeilen 
mit einem großen, ſcheuen Blid anjehen, in dem auf 
etwas Angft lag, ihn zu verlieren. Man jah es, er 
war müde, und das geftand er mir eines Abends 
ziemlich rüchhaltslos, ala wir bei einander jahen und 
plauderten. Ich hatte ihn ganz arglos gefragt, wor 
mit er ſich augenblicklich bejchäftigte, und erjäral, 
ala ich ihn aufipringen und ſich mit beiden Händen 
durch das Haar fahren jah: „Sprechen Sie mit mir 
nicht über Muſik,“ jagte er, „ich bin muſikmüde — 
das iſt ein furchtbares Gefühl und bedeutet bei mir 


— — 





Liſa. 


jo viel wie daß ich alles ſatt habe. Ich brauche 
Wärme, Licht brauche ich.“ Liſa lam gerade ins 
Zimmer, und ob fie ihn nun verſtand oder nicht, es 
war far, was er meinte. 

Er jah wirklich aus, als könnte er nicht arbeiten. 
Zumweilen war er jo nervös, daß er es mit fich jelbft 
nicht ausbielt, und zuweilen jo gleichgültig, daß man 
nicht glaubte, es fünne etwas in der Welt geben, 
das ihn aufzurütteln vermöchte. Aber als ich eines 
Abends hinaufkam, um Lija zu befuchen, ftürzte er 
plöglih mit der Abendzeitung in der Hand zu uns 
hinein, 

„Sie fommt!” rief er. 

„Wer?“ fragten wir, 

„Sharlotte Armas!* 

Lolo!“ jogte Lifa. 

Lolo!“ bekräftigte er ftrahlend, und als ich wiſſen 
wollte, wer Lolo jei, rief er alle Himmel als Zeugen 
meiner unverzeihlichen Unmiljenheit an. „Eine Bes 
rühmtbeit, eine gottbegnadete Liederjängerin,* mit 
der fie in Berlin befannt geworden waren... Sch 
mußte fie hören, wenn id) eine Ahnung haben wollte, 
wie man Schumann fingen jolle... . Es war uns« 
möglich, ihn wieder zu erfennen. Er ſprach voll Leben, 
mit glänzenden Augen, und bevor wir uns verjahen, 
jaß er am Flügel und ſpielte „Frauenliebe und Leben“, 

„Ich will dich mit Lolo bekannt machen,“ jagte 
Lila, „Tie wird dir gefallen. Lolo Armas gefällt 
allen. Sie ift gar nicht jo übertrieben wie viele von 
den andern. Sie ift jo einfach, ganz wie ein ge= 
wöhnlicher Menſch, und fie war jo freundlich gegen 
mich, als ich mich einfam und fremd unter all den 
Mufiffeuten dort in Berlin fühlte.* 

Drei Wochen darauf fam fie. Liſa und ich follten 
zufammen in das Konzert gehen — Kaj fonnte nicht 
mit uns fommen, er mußte zuerjt in irgend eine 
Zeitungsredaltion, umd dann follte er noch einmal 
Lolo Armas aufjuhen. Er zweifelte nicht an ihrem 
Erfolge — das war eine ſtünſtlerin .. ein Pianiffimo, 
wie ein Ylötenton, und eine Seele, ein Humor, eine 
Grazie, ein Adel in dem Gefange — kurz, von 
Gottes Gnaden ... Er jprang im Zimmer umber 
und fuchte in allen Taſchen nad unjern Billetten, 
aber fand nur drei zerdrüdte ragen, die er auf 
Tiſch und Stühle warf. „Gott weiß, wo die her- 
fommen,“ jagte er, „aber ich habe immer die Tajchen 
voll,” 

„Daber, daß du fie nie um den Hals haft,“ 
jagte Lila in ihrem ruhigen Ton. 

„Um den Hals, um den Hals, warum nicht 
gleih hinauf bis über die Chren. Du bift doch 
immer biejelbe," jagte er und ging. 

Es war mir immer peinlih, Zeuge diefer Nuss 
brüche zu fein, aber Lija that nichts dergleichen und 
legte ftil die Kragen zufanmen. „Es ift feine leichte 

Aus fremden Jungen. 1897. IL. 20, 


953 


Sade, fie in Ordnung zu halten,“ fagte jie. „Wenn 
er in Eifer fommt oder beichäftigt ift, dann reiht er 
fie nur herunter und ftedt fie ein — das geſchieht 
jogar mandmal, wenn er im Frack it.” 

Wir verfuchten beide zu lachen, aber ich begriff, 
welche Pein eine jolche Kleinigleit auf die Länge für 
ein Weſen wie fie jein mußte — ordentlich big zur 
Aeuperlichkeit, gejchniegelt, wie er fagte, und völlig 
außer ftande, die bohtmeartigen Seiten einer Natur 
wie der feinigen auch nur zu begreifen, 

Nach fünf Minuten fam er zurüd, ohne eine 
Ahnung von feiner Hejtigkeit eben erft. Die Billette 
lagen in der Weſtentaſche, e$ war unerklärlich, er 
fonnte e& nicht begreifen, aber dieſe Armas machte 
ihn ganz wahnjinnig. 

Mit ungewöhnlicher Neugierde betrat ich an diejem 
Abend den Saal der Mufilalifhen Akademie, und 
als die Armas auf die Ejtrade fam, von einem 
ſchwachen Applaus begrüßt, denn es gab nicht viele, 
die mehr von ihr mußten als ihren Namen, war 
mein erfter Eindrud: wie gut fie ausficht. Es war 
ein norddeutſches, ziemlich bürgerliche Ausſehen — 
eine große, volle Geftalt, ein rumdes, weiches Geficht 
und meizengelbes Haar, das wie eine Löwenmähne 
um ihren Kopf lag. Die Stimme war groß, aber 
vor allem war fie lyriſch, vor allem für bie innige 
Poefie der deutjchen Liebesdichtung geſchaffen. 

Ih war jehr glüdlih, fie zu hören, aber Kaj 
Rude befand ſich offenbar in jenem fiebenten Himmel 
der Mufifmenjchen, der für gewöhnliche Sterbliche 
ein verſchloſſenes Reich ift; und als ic) Liſa begleitete, 
um zu jehen, ob alles in Ordnung fei, die Armas 
zu empfangen, die verſprochen hatte, bei ihnen zu 
ſpeiſen, war er ſchon gegangen, fie zu beglüdwünſchen. 
Sie famen nad) einer halben Stunde, fie und Rude, 
und der Begleiter — mit einem MWolfshunger, wie 
die Armas jagte, als fie Durch die Thüre trat, Und 
fie aß und fie plauderte — alles mit derjelben Gründ- 
lichkeit. Und als fie gegeffen hatte, fand fie auf 
und umarmte erft Lila und dann Kaj, und dann beide 
auf einmal und fagte ihnen, daß fie die herrlichften 
Menfchen auf der Welt jeien. Hierauf war fie bereit, 
Schumann: Widmung zu fingen, aber ihr Begleiter 
hatte ſich kaum ans Klavier gejegt, als fie ihn ſchon 
bei den Haaren riß und ausrief: „Aber — Sie Ejel, 
was machen Sie? Jit das ein Talt? Diefer Samek, 
diejer Samel, der macht mid noch grauhaarig.“ 

Der Begleiter war aud) ein Typus. Er ſah aus 
wie eine große Ratte; und fie konnte ihm jagen, was 
fie wollte, er ließ fich alles gefallen, und man fühlte, 
daß fie die beften Fyreunde in der Welt waren, Wie 
war ed übrigens möglich, ihr nicht gut zu fein? Sie 
war unmwibderftehlih, und wir konnten den Blid nicht 
von ihr wenden, Liſa, Kaj und ih. Als fie heim» 
fuhr, begleiteten wir fie zum Hotel, und am nächſten 

120 


954 Jane Gernandt-Elaine. 


Morgen ftanden wir alle drei dort — Kaj mit einem 
enormen Roſenbouquet. Sie ichalt, weil wir jo früh 
famen, aber empfing uns doch, im Morgenfleid, 
beide Hände an ber gelben Mähne. „Blumen!“ 
rief fi. „Halte doch die Zügel ftraffer, Liſa, damit 
er nicht joihe Dummbeiten macht. Wartet mal — 
das ift für Sie, und das ift für die Lila.” Sie gab 
uns ein paar Rofen, lächelnd und glüdlich, ihr großes 
Bouquet in den Armen. In diefem Augenblid war 
e3 nicht die Feine Lila, die von den beiden am 
jüngften und reizendften ausſah. 

Sie hatte mich ganz umb gar bezaubert, e8 war 
etwas von „Freiluft“ um fie — eine Friſche, jo be 
rüdend wie die der Felder nad einem Sommerregen ; 
in ihrer Nähe fein, war wie in einer Yandjchaft mit 
Fluren und Wieſen zu Iufiwandeln, mit breiten, 
lachenden Flüſſen, in denen der Himmel ſich wider» 
jpiegelt, groß, fröhlih und blau. Sie fonnte die 
merfwürdigften Dinge jagen — alles wirkte friſch 
und bezaubernd von ihren Lippen. Sie jelbft jah 
das Häßliche nie — darin lag der große, unwider⸗ 
ftehliche Neiz, der in ihr war; das Leben war groß 
und gefund und luftig, ein Lachen wert, einen Scherz, 
eine Umarmung; und e8 gab feine Thorheit in der 
Welt, mit der man fic) nicht verföhnt hätte, wenn Lolo 
darüber lachte. Alles, was fie berührte, wurde gut, 
man konnte es nicht erflären, man wußte nicht, wie 
es fam, aber es war wohl dieſe Unſchuld, die ges 
wife Menfchen in ihren Handlungen und ihrer 
Art zu denken und zu fühlen haben, dieſe heilige 
Offenheit des Herzens, die von Lug und Trug nichts 
weiß. 

Sie war Liſas Freundin, jo wie fie Kajs Freundin 
war, mit ihrer ganzen ehrlichen Seele, ohne Hinter- 
gedanfe und ohne Kompromiß, und fie nahın fie 
gegeneinander in Schuß, mit jenem einfachen Ge= 
fühl für das Necht des einen oder des andern, das 
fie fo jelten beirog. 

„Nt es nicht eine blutige Sünde,“ fagte fie ein» 
mal zu mir, „daß dieje zwei herrlichen Menjchen 
nebeneinander hergehen und fich gegenfeitig das Leben 
verderben?“ Alle, die fie gerne hatte, waren herr⸗ 
lihe Menſchen — außer Samek. Ich habe fie nie 
Samel einen „herrlichen Menſchen“ nennen hören. 
„Es ift etwas in ihr, das ihn zu Boden brüdt,* 
fuhr fie fort, „und doch ift fie zehnmal zu gut 
für dieſen Schlampfad.” Aber als fie „Diefen 
Schlampſack“ ſagte, fam ein Ausdrud in ihr Ge- 
fiht, ein Lächeln um ihre Lippen, das ihn ent« 
züdt haben würde, wenn er es gejehen hätte. Er 
war glüdlid, wenn er nur am Flügel fiten durfte, 
indes fie feine Lieder fummte oder mit ihm über 
Mufit ſprach. Bon einem Worte von ihr entflammt, 
fo wie der Feuerſtein den Stahl zündet, fonnte er 
ſich in unendlihe Disfuffionen über Theorien und 


Schulen verlieren, über die Muſik von Heute und die 
Muſik von morgen. 

Liſa ſaß ftil da und hörte zu; aber einmal, als 
die Rede von irgend einem jungen Mufifrevolutionät 
war, den er von Berlin fannte und bis in die Wollen 
erhob, jagte fie in ihrer ſtillen, umperfönlichen Art: 
„I weiß ja, daß er jo bedeutend fein joll, aber & 
ift merfwürdig, ich verftehe ihn nicht.“ 

„Das fommt mir gar nicht merfwürdig vor,‘ 
jagte er, fland auf und ging in fein Zimmer, 

„Der galante Gatte!“ Tachte Polo. Aber als fi 
jah, daß Liſa Thränen in den Augen hatte, nahm 
fie fie in ihre Arme und wußte gar nicht, was fie 
thun jollte, um fie zu tröften. Kaj war den ganzen 
Tag über in Ungnadbe, aber den Abend, bevor fie 
reifen jollte, ſah ich, daß fie vollftändig verjöhnt 
waren. Er jaß da und jpielte jeine neueften Kom 
pofitionen, etwas unheimlich Keberijches, ein Greuel 
für alle redhtgläubigen Mufici, wie er behauptete, 
Sie ftand ganz nahe dem Inftrument, mit geienftem 
Kopf, die Arme über einem Stuhl, Er umfaste fe 
die ganze Zeit mit den Augen, ohne fie anzuſehen, 
und fein Geficht trug einen Ausdrud, als wandelte 
er in Fluten von Licht. Es war, als hätte fic alles, 
was ihr Weſen an Fülle und Wärme bejah, auf 
ihn gejentt und ihn reich gemadjt. Es wogte und 
brannte um ihn in Strömen und Strahlen. € 
ftand in der Sonne. 

„Singen Sie,“ bat er, und indes er ein paar 
Accorde anſchlug, begann fie leiſe: 

„Ein Fichtenbaum ſteht einfam im Norden auf lahlet Hih'...* 

Die Mufif war von ihm, aber fie war nicht auf⸗ 
regend, fie war nur jchön, und mit unbeweglichen 
Gefiht ftand Liſa und betrachtete die beiden. 

Ich weiß nicht, was fie dachte, ich weiß nidt, 
was fie begriff, aber als fie am Morgen darauf zum 
Zuge fam, um von Lolo Abjchied zu nehmen, war 
fie bleic) wie der Tod. Dennoch lächelte fie, als fir 
ihre Freundin auf dem Perron fliehen ſah, von einer 
Schar Verehrer umgeben, ausgeruht und jchön, wie 
verjüngt vom Morgen, und friſch und gut nach ihrem 
Schlummer, wie ein Kind. Der Abfchied war heiter 
— jie jprachen davon, ſich in einigen Monaten zu 
treffen, denn Kaj beabfichtigte, feinen alten Lehrer in 
Berlin wieder aufzuſuchen. Es dauerte jedod) kaum 
einige Wochen, bis fie reiften; aber fie hatten nod 
nicht ausgepadt, als Liſa an das Totenbett ihrer 
Mutter heimberufen wurde. Kaj fam zum Begräbnis 
nicht nach Haufe, und fobald es vorüber war, fuhr 
Liſa wieder fort, tief niedergefchlagen, mit etwas im 
Blide, das mir weh that. ch hörte von ihr immer 
nur in ein paar haftigen Zeilen, aber nad) einigen 
Monaten befam ich einen Brief von Lolo Armas. 

„Alles ift entjchieden,“ jchrieb fie, als ob fie von 
etwas ſpräche, deſſen Kenntnis fie bei mir voraus 





Liſa. 


ſetzte, „morgen reift Liſa nad) Haufe zu ihrem Vater, 
Kommen Sie ihr entgegen, laſſen Sie fie fühlen, 
daß fie Freunde hat, fie verdient es. Man muß ein 
großes Herz haben, um fo zu Handeln mie fie. 
Menſchen, die lügen, und Menjchen, die einander 
beirügen, fünnen ein Verhältnis wie das unſre nicht 
begreifen. Ih babe zu ihr hingehen können und 
jagen: ‚Liſa, id} liebe deinen Dann‘ und fie ant— 
mortete nur: ‚Ich wei e&.‘ Kaj ift frei, er bleibt 
bier, bis die Scheidung ausgeſprochen iſt, ich jehe 
meine Konzerttournee fort, wie jchwer es mir auch 
fällt, von meinem Geliebten getrennt zu fein. Der 
Standal joll feine Nahrung haben — um Liſas 
willen, denn was fümmere ich mich um die Melt? 
Zeit und Raum und Menichen find für mich vers 
ihwunden. Ich lebe nur in der Erwartung meines 
Glücks.“ 

Liſas Scheidung ſtand alſo bevor, aber lein Wort 
von ihr ſelbſt gelangte an jemand, außer au ihren Vater, 
Der Ratsherr grüßte mid) ſchweigend auf dem Bahn 
hof an dem Tage, als er feine Tochter erwartete, 
fleifer, gerader, aufrechter denn je; und als Liſa ihm 
aus dem Koupefenfter zunidte, erfroren von der 
Morgenfälte, aber mit ihrem gewohnten Blid und 
ihrem ruhigen Lächeln, da ahnte wohl niemand, daß 
fie fam, um für immer bei ihm zu bleiben. Als fie 
fi in der Droſchle zurechtrüdte, fagte fie nur jehr 
fill: „Wie mwunderlich es ift, jetzt nah Haufe zu 
lommen, wenn Mama nicht mehr da ift.“ Das war 
die einzige Andeutung, die fie in Bezug auf die Ver- 
änderung machte, welche ſich in ihrem Leben voll 
zogen hatte. 

Am Nahmittag empfing fie mich in dem Heinen 
Zimmer, das fie als junges Mädchen bewohnt hatte; 
ein paar Kleinigleiten aus ihrem Koffer hatte fie 
ihon ausgepadt — einige Glasmalereien und eine 
Porzellanhirtin, die ich dort gejehen, jolange ich fie 
lannte. 

„Es hat ja keinen Wert,“ ſagte ſie, „aber ich 
hänge ſo an allem, an das ich mich gewöhnt habe.“ 
Sie erwähnte kein einziges Mal ihren Mann, aber 
als ich ging, ſagte ſie plötzlich errötend: „Ich habe 
Lolo gebeten, wenn fie an mich ſchreibt, es unter 
deiner Ndrefie zu thun. Papa darf nichts davon 
wifien. Er glaubt, daß «3 ihre Schuld ift, er ſieht 
nicht ein, daß ich nicht für ihn paßte.“ 

Das war alles. Ich ftellte ihr feine Fragen, 
und ich fühlte, daß fie mir dafür danfbar war. 

Es verging faum eine Woche, ohne daß fie Briefe 
von Berlin befam, und gewöhnlich Tagen auch einige 
Zeilen an mid) bei. Lolo beffagte ſich unaufhörlich, 
von dem Geliebten getrennt zu fein. 

„Ein Fichtenbaum — eine Palme, das ift fehr 
poetiich,“ ſchrieb fie einmal, „aber er hat e8 nun jo 
trübfelig, mein armer Fichtenbaum, in Berlin, und 


955 


die Palme verfteht ſich nicht darauf, in ber Wirf« 
lichkeit tragisch zu fein. Mitten in al meiner Ente 
behrung iſt doch etwas da, das mid unabläjlig 
erfreut: ich denfe an meine Liſa. Wir hätten Tod» 
feindinnen jein fönnen, und anftatt deſſen lieben wir 
einander jo innig. Es ift meine Freude, ihr mein 
Herz eröffnen zu fönnen, und jo groß ift unjre Zur 
neigung, dab ich ihr alles jagen fann — davon 
Iprechen, wie ih mich nad ihm jehne und wie er fich 
nad mir jehnt.“ 

„Nun können fie froh fein,” fagte Liſa eines 
Tages zu mir. 

Sch mußte, dab fie von der Scheidung ſprach, 
die nun entſchieden war, und ich fragte: 

„Und du?* 

„3?“ ſagte fie ſehr leije. 
ih. Nicht um mich.“ 

Sie nannte fi wieder Bratt, und wenn id) fie 
in der alten Umgebung ſah — das Haus, in dem 
fie gewohnt hatte, ließ fie verfaufen, ich weiß faum, 
ob fie es wiederſah — fragte ich mid) zunveilen, ob 
dieſe Ehe je eine Wirklichkeit gewefen, und ob fie ihr 
nicht felbft wie ein Traum erjchien. Sie war immer 
thätig, immer mit irgend einer Arbeit beſchäftigt — 
warn jollte fie Zeit haben, fi ihren Erinnerungen 
hinzugeben? Nur des Abends, wenn der Ratsherr 
mit dem Bezirfsrichter Barjoot Schad) fpielte, hatte 
fie eine Weile für jih. Kam ich dann zu ihr hin« 
auf, jo ſaß fie an ihrem Meinen Arbeitstiich in einer 
Ede des großen Salons und ftidte, und während 
wir von neuen Moden oder Handarbeiten ſprachen 
— dieſem neutralen Gebiet, zu dem fie immer ihre 
Zufludt nahm, um mir auszuweichen — jah ich 
unter den Garnjträhnen in ihrem Arbeitskorb die 
wohlbefannten Bogen mit Lolos großer Handſchrift, 
eiferfüchtig verborgen, wie Liebesbriefe. 

Manchmal erhob ſich der Bezirksrichter, kam auf 
ung zu und bat, mit den Damen anftoßen zu dürfen. 
Lifa nahm ein Meines Glas Glühwein, das fie ſich 
jeden Abend braute, um ihrem Bater eine Freude 
zu maden, und führte e& lächelnd an die Lippen, 
Und der Bezirförihter, der glaubte, charmant ge= 
wejen zu fein, ging wieder zum Spieltiſch mit ein 
paar ſcherzhaften Worten — beinahe jeden Abend 
diefelben. Er war ſehr korreft und jehr wohlerjogen, 
mit eingefleifchten Junggejellenanfichten, die aber ſicht⸗ 
lich zu wanfen begannen. Dies war feine Art, den Hof 
zu machen, und als Bratts alter Hausarzt wünjchte, 
daß Lila fih von den Haushaltungsjorgen ein wenig 
ausruhe, und fie nach Lufetil jchidte, wohin ich fie 
begleitete, zweifelte ich nicht daran, daß er nahlommen 
würde. Er zeigte ſich als ſehr disfreter und jehr 
aufmerffamer Anbeter, der, dankt feiner Eigenſchaft 
als Verwandter, gewiſſe Privilegien hatte, fie zu be— 
ſchüßen; und man begann allgemein, feine Schluß» 


„Um fie handelt es 


956 


folgerungen zu ziehen. Sie hatte angefangen, die 
Trauer um ihre Mutter abzulegen, und erſchien 
mandmal in der Geſellſchaſt, fanit und ftill, mit 
einem verbindlichen Lächeln um bie feinen Lippen, 
freundlich gegen alle, und überall mit der wärmften 
Sympathie aufgenommen. Es gab feinen Schatten 
in dem fleinen, weißen, volllommen ruhigen Geficht, 
feine Nuance in diefen Augen, die davon ſprach, 
daß fie in ihrem Leben etwas durchzumachen gehabt 
hatte, Sie verriet ſich nie, fie war jo wohl ein» 
gehüllt wie eine Meine Mumie, und man wußte nichts 
von den Schmerzen, die fie in ihrem zurüdhaltenden 
Herzchen einbalfamiert hatte. 

Sie jprad) nie mit mir von dem Berflojjenen, fie 
fam nur manchmal ganz ruhig und fragte: „Haft 
du feinen Brief?“ Und wenn ich nein antwortete, 
fagte fie wohl: „Das ift, weil fie gar zu glücklich 
find, aber ich finde doch, daß fie jchreiben könnte,“ 

Später habe ich jo viele Male an diejes Meine 
„Doch“ gedacht ... 

Wenn Briefe kamen — oft nur ein paar Zeilen 
an ung beide zugleich — lajen wir fie zufammen. Es 
war die große, friiche Freude eines übervollen, mun« 
tern Herzens, das ſich in ihnen Luft machte: 

„Wahrhaftig, Lieſel,“ jchrieb fie einmal, „du 
jollteft mir Dank wifjen, daß id) dich von ihm be= 
freit habe. Er ift unerträglich, ich kann nicht einmal 
biefen einen Heinen Augenblid in Ruhe und Frieden 
ſitzen. Er ruft beftändig nad mir. Ich fpiele die— 
ſelbe Rolle für ihn wie die Theefanne für Halevy — 
ohne mich kann er nicht komponieren,” Und ein 
andermal: „Du warjt hundertmal zu gut für ihn, 
und er war nit immer jo, wie er hätte fein follen, 
aber du fannft e8 mir glauben, jeht muß er e8 ent« 
gelten. Er ſteht Mäglich unter dem Pantoffel, ſchon 
jet, wie wird es erſt werden, wenn ich verheiratet 
und in meinem guten Rechte bin? Er zittert vor 
einer Krümmung meines Heinen Fingers, ja, jo muß 
man diefe Herren der Schöpfung, diefe Männer, ber 
handeln.“ Und endlih: „Liejel, Lieſel, liebe, mein 
Herzenäfind, liebe, damit du einmal erfährt, was 
Süd iſt.“ 

Es war am Abend, bevor wir abreifen follten, 
als wir dies laſen. Wir ſaßen unten am Strande, 
und der Bezirfsrichter war eben dageweſen und 
hatte fie gefragt, ob fie nicht friere. Sie hatte 
nur mit ihrem artigen, Heinen Lächeln den Kopf 
geſchüttelt. 

„Wie lange wirft du ihn noch ſchmachten laſſen?“ 
fragte ich. 

Sie ſah mid mit einem Paar Augen an, fo ab» 
weiend, daß fie leer ſchienen: 

„Du glaubt, das fünnte etwas für mich fein,” 
jagte fie, 

„Er iſt jo verliebt in dich —“ 


Jane Gernandt»-Glaine. 


Sie fhüttelte den Kopf: „Wenn er mid; liebte, 
müßte er fühlen, daß er mir gleichgültig ift. Aber 
das thut er nicht. Er glaubt Eindrud auf mic ger 
macht zu haben. Wenn er nur wüßte, wie er mid 
ermüdet!“ 

Alles ſchien fie übrigens zu ermüden, obgleich fie 
e8 felten jagte, alles, das nicht 2olo war, An fie 
konnte fie lange Briefe ſchreiben, und im Herbſte 
arbeitete fie bis tief in die Nächte an einem Teppid, 
ber als Hochzeitsgeſchenk nad Berlin geſchickt werben 
follte. Ihr Vater durfte nicht? davon wiſſen, und 
wir padten die Gabe eines Abends auf ihrem Heinen 
Zimmer ein, aber al3 wir damit fertig waren, war 
fie jo ermattet, daß fie faum vermodte, ſich vom 
Boden zu erheben. 

Ih begann mich wirklich über fie zu beunruhigen, 
und der Ratsherr ſprach ermjthaft mit dem Arzte, 
Man konnte nicht eigentlich jagen, daß fie Iranf war, 
und fie jelbft wollte e& nie zugeben; fie war ftet 
mit einer diefer Handarbeiten beichäftigt, die fie 
mehr al& irgend etwas andres zu zerfireuen jchienen, 
oder mit dem Haushalt, den fie in muftergültiger 
Ordnung verjah. Aber eines Tages, als fie mid 
zu Mittag eingeladen hatte, bat fie mich, die Suppe 
zu geben — fie lonnte den Arm nicht erheben. Und 
als ihr Vater fie zwang, ſich einen Augenblid nad 
dem Speijen auszuruhen, ſah jie jo bleich aus, wie 
fie fo da auf dem Sofa lag, dab ich erſchral. Aber 
faum war der Ratsherr in fein Zimmer gegangen, 
ſchlug fie die Augen auf und jagte: 

„Du haft etwas für mid —“ 

„Woher weißt du das?“ fragte ich. 

„Ah, ich bin überzeugt davon. Das fühle ih 
immer... .* 

Diejes Mal hatte ich ihr nichts zu geben als ihre 
Vermählungsanzeige, und dieſe war eigentlich an mid 
gerichtet. 

Sie ſah lange auf die gedrudten Zeilen: „Char 
lotte Armas, Kaj Rude, Vermählte*. 

„Unartige Menjchen, haben nicht daran gedadt, 
mir aud) eine Karte zu jhiden.“ Und dann lächelnd: 
„I bin neugierig, wie mein Teppich ihr gefallen 
wird.“ 

Ich weiß nicht, was über mich fam, aber es er- 
griff mich ſolch eine Luft, die blaffe, Heine Hand zu 
ftreicheln. 

„Was für ein munderliches Frauchen du bifl,* 
fagte id). 

„Wunderlich... wiefo®... wie fommft du dar: 
auf? Weil ic) mich danach jehne, zu hören, was 
fie über mein Geſchenl jagt ?* 

Ein paar Tage darauf hatte fie einen langen 
Brief, voll Dankbarkeit und voll Glüd, Der Teppich 
lag in Lolos Zimmer, vor ihrer Chaiſelongue. 

„Ich bin recht unartig, ich jollte mich bedanfen, 





Liſa. 957 


dab fie ihm ſolche Ehre erweift,” jagte fie lächelnd, | des Alters zu jein pflegt, zumeilen aber aud) des 
ewa vierzehn Tage hindurd jedesmal, wenn ich | Kummers. 
zu ihr binauflam, aber fie jchrieb dennoch nicht, Ich jchrieb dies Polo nicht, aber ala ich ihre Briefe 
und eines Tages bat fie, ich möge es an ihrer Statt | unter Liſas Kopfliſſen fand, fragte ich mid, ob dieſe 
thun: „Es ift recht häßlich, fie jo lange warten | fie nicht getötet hatten. Sie ließ es nie ahnen. Sie 
zu laſſen — nicht, daß es ihr etwas macht, aber | empfing fie unbeweglich und lächelnd, wie der Mär- 
bo...“ tyrer einen Regen von Pfeilen in jeiner biutenden 
Ich that, was fie wünjchte, aber als einen Monat | Bruft empfängt; und es war ihr Geheimnis, wie 
ipäter bie Antwort fam, war die, die fie lefen jollte, | tief dieje Enthüllungen einer Liebe, die jo glüdlich 
nicht mehr da... war und eine ſolche Fähigkeit zu beglüden hatte, in 
Alle, die fie gekannt, wunderten ſich über diefen | ihr Herz drangen. Ich fragte mid, ob fie nicht doch 
jo unerwarteten Todesfall, und der Arzt, mit dem | bis zum Letzten Kaj liebte, und ob fie nicht an dem 
ih ſprach, fagte, die Obduktion hätte gezeigt, dat | Opfer ftarb, das fie Lolo brachte, als jie ihr frei« 
Frau Bratt an einem Schwähephänomen gejtorben | willig den Weg räumte, aber ich weiß es nicht, nie» 
fei, daS bei jo jungen Perſonen jehr felten vor- | mand wird es je erfahren. 
lam — das totale Uebergewicht der weißen Blute „Il ya un mystöre dans l’esprit des gens, qui 
förperdhen über die roten — etwas, das eine Folge | n’en ont pas.“ 





— Lofe Blätter ®- 


eine Probe zu machen, welches von ihnen am meiften 

Frau Forluna und Herr NMammon. Macht hätte. — „Schau!“ ſagte die Frau zum Ges 
Ein Märden. mahl, „Tiehft du da unter dem —— * 
niedergeſchlagenen und mißmutigen Armen? Laß uns 

Rus dem Spanifgen überfeht von 4. Gy. mal jehen, wer von uns beiden im ftande ijt, ihn 
Frau Fortuna und Herr Mammon waren in | aufzumuntern und ihm ein bejjeres Los zu bereiten.” 
Liebe zu einander entbrannt, jo daß man die eine ohne Der Gemahl war's zufrieden, und beide begaben 
den andern gar nicht mehr jah. Wie der Eimer dem | fich nad dem DOlivenbaum, um dort Quartier auf 
Brunnenfeil und der Stiel der Art folgt, jo folgte | zufhlagen, er friechend, fie mit einem großen Sahe. 


Herr Mammon der Frau Fortuna auf den Füßen, Der dort Naftende, ein armer Teufel, dem fein 
fo daß fie am Ende miteinander ing Gerede famen, | Lebtag weder die eine mod) der andre vor Augen 
was fie beivog, ſich ehelich zu verbinden. gelommen war, fperrte Mund und Naje auf, ala ſich 


Run war Herr Mammon ein wohlbeleibter Herr | plöglich diefe vornehmen Herrſchaften vor ihm auf- 
mit großem rundem Kopf aus glänzendem peruanijhem | pflanzten. 


Golde, einem Schmerbaud) von merifanishem Silber, „Bott fei mit dir!” grüßte ihn Herr Mammon. 
Beinen aus Kupfer von Segovia und Papierpantoffeln „Mit Euer Gnaden gleichfalls!” erwiderte der 
aus der großen Fabril in Madrid. — Frau Fortuna | Arme. 

war eine mutwillige Dame, ohne Treu’ und Glauben, „Kennit du mich nicht?“ 

ſehr launiſch, jehr wetterwendiſch und blinder als ein „Nur um Euer Gnaden zu dienen!” 
Maulwurf. „Haft du mich nie vorher gejehen?* 


Kaum hatten die Neuvermählten bie Flitterwochen „Mein Lebtag nicht.“ 
hinter ſich, als fie fich entzweiten. Die junge Frau „Was, befigeft du gar nichts?“ 
wollte fommandieren; aber dem Herrn Mammon, „Doch, Herr; ich habe ſechs Kinder, nadt wie 
der ftolz und dünkelhaft ift, war das nicht nach Thürriegel und mit Schlünden jo weit wie ein Paar 
Geihmad. — Mein Vater (Gott hab’ ihm jelig!) | alte Hojen; aber Glüdägüter habe ic) nicht mehr als 
pflegte zu jagen, daß das Meer, wenn es fich ver | von der Hand zum Mund, wenn es überhaupt mal 
heiratete, zahm wie eine Pfübe werden würde; aber etwas giebt.” 
Herr Mammon ift ftolger und proßiger als das | „Und warum arbeiteft du nicht?” 
Meer und wollte fid) von feiner Würde nichts ver— „Schöne Frage! Weil ich feine Arbeit finde. Ich 
geben. babe ſolch ein Pech, daß mir alles chief und krumm 
Da nun beide mehr und feines weniger gelten | geht wie ein Ziegenhorn. Seitdem id) verheiratet bin, 
wollte als der andre, jo kamen fie am Ende überein, | jheint e8, als wenn der Reif auf mid) gefallen wäre 





958 


und ich die Zieljcheibe alles Unglüds fein müßte, Herr! 
Da hat uns ein Herr aufgetragen, ihm einen Brunnen 
im Verding zu graben und uns jedem eine tüchtige 
Handvoll Dublonen verjprohen, wenn er fertig 
wäre; aber vorher gebe er nicht einen Maravedi; 
das war der Kontrakt.“ 

„Und wohl bedadht war's von deinem Herrn,“ 
fagte wichtigtöuend der andre, „denn das Sprichwort 
lehrt: — Vorbezahlte Arbeit, lahme Arme. — Was 
weiter, Mann?” 

„Wir machten und an die Arbeit und gruben 
und die Seele aus dem Leibe, denn, Herr, fo, wie 
Ihr mich ſeht, zerlumpt und erbärmlich, bin ich doch 
ein Mann, Herr!” 

„Sa, ja,” jagte Don Mammon, „glaub’s ſchon!“ 

„Es giebt nämlich vier Mlafen von Männern, 
Herr,“ fuhr der Arme fort; „es giebt Männer, was 
man nennt Männer; es giebt Männchen, Stußer, 
dumme Jungens und Graßaffen, die nicht einmal 
das Maffer verdienen, das fie trinken. — Aber wie 
ih ſagte, wie jehr wir auch gruben, wie jehr wir uns 
auch abquälten, nicht einen Tropfen Waſſer fanden 
wir. — Na, es war beinahe, ald wenn das Innere 
der Erde ausgetrodnet wäre; wir fanden abjolut 
nicht weiter, Herr, als jchließlih und zu guter Let 
einen alten Schub.* 

„sm Innern der Erde!* rief Don Mammon, 
empört, daß fein herrſchaftlicher Palaft jo üble Nad- 
barſchaft haben jollte. 

„Nein, Herr, nicht im Innern der Erde, fondern 
auf der andern Seite, im Lande der andern Leute.“ 

„Welcher Leute, Menſch?“ 

„Der ‚Antripulen‘, Herr.“ 

„Ih will dir aufelfen, Freund,“ ſagte Don 
Mammon und ftedte ihm majeftätiih einen Duro 
in die Hand.“ 

Dem Armen ſchien's, ald träume er, und er fing 
an zu laufen, als hätte er Flügel an den Füßen, 
bis er vor einem Bäderladen landete, wo er Brot 
forderte. Als er aber das Goldſtück hervorziehen 
wollte, fand er in feiner Taſche nur ein Loch, durd) 
welches der Duro, ohne ſich weiter zu verabſchieden, 
entichlüpft war. 

Bol Verzweiflung machte er ſich auf die Suche. 
Über er hatte gut juchen. Für das, was in den 
Schlamm gefallen, kann nicht einmal der heilige 
Antonius, der Schußpatron alles Verlorenen, aufs 
fommen. — Hinter dem Duro her verlor er aud) noch 
jeine Zeit; und hinter der Zeit her die Geduld, und 
jo fing er an, fein Pech zu verwünjchen, dab einem 
Hören und Sehen verging. 

Unterdes barft Donna Fortuna vor Laden, 
während Don Dammons Geficht vor Wut noch gelber 
wurde, Aber was half’3? Er griff nochmals in den 
Sädel und gab dem Armen eine Unze. 

Der Beſchenlte firahlte vor Vergnügen. Diedmal 
lief er nicht, Brot zu kaufen, jondern eilte in einen 
Kaufladen, um für Weib und Kinder Kleider und 
Tücher zu erftehen. Als er aber zur Bezahlung dem 
Kaufmann die Unze reichte, fing derjelbe an laut zu 


Loſe Blätter. 


Ihimpfen und zu jagen, das fei ein faljches Golb- 
ftüd und jein Eigentümer alfo ein Yalfchmünzer, den 
er der Juftiz überantiworten werde, Als der Arme 
dies hörte, wurde er jo voll Zornesglut, dab man 
in feinem Geficht hätte Kaffeebohnen röften können; 
er nahm die Beine über die Achſel und lief zu Don 
Mammon zurüd, dem er das Vorgefallene erzählte, 
wobei ihm die diden Thränen über die Baden 
liefen. 

Donna Fortuna wand fi) vor Faden, und Don 
Mammon jchnitt ein Geficht, als ftiege ihm der Senf 
in die Nafe. 

„Da nimm,” jagte er und gab dem Armen zwei⸗ 
taufend Realen; du haft Pech, aber ich merde dir 
ihon aufhelfen, oder ich will ein Stümper heiken.* 

Der Arme wurde närrijch vor Freude und lief, 
ohne aufzujehen, biß er plötzlich mit ein paar Halunlen 
zufammenftieh, die ihn ausgezogen und nadt, wie 
ihn feine Mutter zur Welt gebracht, auf der Land⸗ 
ſtraße liegen ließen. 

Donna Fortuna jcherwenzelte ſpöttiſch um ihren 
Gemahl herum, und dieſer ſchämte ſich wie ein ge» 
prügelter Hund, — „Nun ift aljo die Reihe an mir,“ 
fagte fie, „und nun wollen wir einmal jehen, wer 
mehr vermag, der Unterrod oder die Hojen.“ 

Sie näherte ſich dem Armen, der fid auf den 
Boden geworfen hatte und fich die Haare raufte, und 
blies ihn an. Sogleic fühlte er unter den Händen 
den verlorenen Duro. „Beſſer wenig, als gar nichts,“ 
dachte er, „laufen wir aljo Brot für die Kinder, die 
jeit drei Tagen auf halbe Ration geſtellt find, und 
deren Magen leerer fein wird als eine Opferſchale. 

Wie er fo an dem Laden vorbeiging, mo er die 
Kleider gelauft hatte, rief ihn der Kaufmann und 
bat ihn, er möchte es ihm doch nicht nachtragen, was 
er ihm gethan; er babe geglaubt, die Unze jet falſch, 
aber der Nichmeifter, der zufüllig vorbeigefommen 
wäre, hätte ihm verfichert, daß fie gut und jo vol- 
wichtig wäre, daß fie eher zu viel, als zu wenig 
wöge. Hier folle er jie wieder nehmen umd all 
Kleider, die er gewählt babe, dazu, er gebe fie ihm 
zur Entihädigung für den Schreden. 

Der Arme gab ſich damit zufrieden, lud ſich all 
auf die Schultern und ging fort. Als er über den 
Marktplatz ſchritt, denkt euch, da führte eine Abteilung 
der Zivilgarde die Räuber gefangen, welche ihn aus 
geplündert hatten, und der Richter, der ein Richter 
nach dem Herzen Gottes war, ließ ihm die zwi- 
taujend Realen wieder zuftellen, ohne Gerichtstoften 
noch Sporteln. 

Dies Geld legte der Arme mit einem Gevatier 
zujammen in einem Bergwerk an, und kaum hatten 
fie drei Faden tief gefhürft, als fie eine Goldader, 
einen Bleigang und einen Eifenjteingang fanden. 

Nach kurzer Zeit nannte man ihn Don, bald 
darauf Euer Gnaden und endlich Eure Excellenz. 

Seit jener Zeit führt Donna Fortuna ben ein- 
geſchüchterten Gemahl am Gängelbande, und ft, 
windbeuteliger und toller denn je, verteilt igre Gurt: 
bezeigungen ohne Sinn und Berftand, aufs Gerate- 











Loſe Blätter. 959 


wohl, freuz und quer, wie ein blinder Krüppel, und 
eine davon fällt auch wohl für den Erzähler ab, 
wenn dies Märchen dem lieben Leſer gefallen hat. 


— — 


Die dekadente Richtung der heutigen frauzöſiſchen 
Litteratur. „Le Livre des Masques“ nennt ſich ein 
in der Bibliothek de „Mercure de France* er— 
idienener Band, der Silhouetten und Biographien 
aller jungen und jüngften franzöfiichen Schriftjteller 
enthält, die ftolz darauf find, „Dekadente“ zu heißen. 

Da find Dichter, Nomanjchreiber und Drama- 
tifer, die die altlajfiichen, aber ausgetretenen Pfade 
der franzöſiſchen Litteratur ängſtlich meiden, die 
Schiffe Hinter fich verbrennen und oft mit mehr 
Selbfibewußtjein als Genie das gelobte Sand ent« 
deden wollen. „Individualismus, volle Freiheit in 
der Kunſt!“ heißt ihre Loſung — welches aber iſt ihr 
gelobtes Land? Alles, was neu, jeltiam, bizarr, ja 
abiurd if. Sie haben wirklich eine Fülle wunder- 
barer und wunderlier Dinge entdedt, weil fie, wie 
die Kinder fterbender Kulturperioden, kräftiger Thaten 
müde geworden find und nur in Gefühlen jchwelgen. 
Von einer „Senfation* und „Impreffion” jagen fie 
zur andern und jhäßen nur das, was diefem Em- 
pfindungsvermögen die apartejten Eindrüde zu geben 
im jtande if. So haben fie fi zu raffinierten 
Stimmungsfünftlern ausgebildet und bejonders 
zweierlei erfunden: die Nuance und das Symbol, 


„Car nous voulons la nuance, la nuance encore, 
Pas la couleur, rien que la nuance, 

0, la nuance seule fiance 

Le röve au röre et la flüte au cor —“ 


fo fingt ihr genialfter Vertreter Baul Berlaine. 
Die Sprade in Roman und Dichtung muß nad 
ihnen eine ganz andre werden; fie muß ſich dem 
immer rajcher, immer nerpöjer pulfierenden Parijer 
Leben anpafien. So wird die neue pittoresfrimprej= 
ſioniſtiſche Schreibweife erfunden, die den Eindrud 
der flüchtigen Ericheinung auf das virtuos ausgebil- 
dete Wahrnehmungsvermögen in jo bezeichnenden 
Worten, durch jo originelle, harakteriftiihe Epitheta 
wiedergiebt, daß der Lejer von dem Bilde gepadt 
wird, als ob er es lebendig vor ſich jähe. Mit Vor- 
liebe wird es aber nicht jo wiedergegeben, wie es er= 
ſcheint, jondern durd ein mehr oder weniger ver— 
ftändliches Symbol überjegt. Solche hat es zu jeder 
Zeit gegeben — aber Symbole, Allegorien von Harer 
tlaſſiſcher Deutlichfeit. Die echten Symboliften da- 
gegen fuchen entweder ihre aparten Gedanken durch 
ein naives, faft kindiſches Symbol auszudrüden, 
oder einen recht jimplen Gemeinplatz hinter einem 
mühjam ausgeflügelten zu verjcheiern. 
Ein Beifpiel des Meiſters Verlaine: 


La lune plaquait ses teintes de zinc 

Par angles obtus ; 
Des bouts de fumte en forme de einq 
Sortaient drus et noirs des hauts toits points. 
Le ciel ötait gris. La bise pleurait 

Ainsi qu’un basson. 
Au loin un matou frileux et discret 
Miaulait d’ötrange et gräle fagon. 


Moi, j'allais, rövant du divin Platon 
Et de Phidias 

Et de Salamine et de Marathon 

Sous l'cil clignotant des bleus becs de gaz.") 

Diefe Heine Imprejfion mwimmelt von Wider— 
jprüchen. Hat der Rauch, wenn der Nord heult, die 
Form einer Fünf? Kann bei Mondſchein der Him— 
mel grau fein? Die Worte aber haben gewiß einen 
tiefen Sinn, allerdings nur für den Poeten jelbit 
und feine Bewunderer. Verlaine hat fich jedoch jo oft 
ala ein echter Dichter von Gottes Gnaden offenbart, 
daß man ihm jolche Heine, affektierte Spielereien wohl 
verzeiht. Als verfommenes Genie mit zerrüttetem 
Nervenfyftem war er doch wiederum ein Poet von 
jo zartem Empfinden, daß er das geheimjte VBibrieren 
der Seele unter den mannigfaltigften Einwirkungen 
der Außenwelt zu erlaufchen und wiederzugeben ver« 
jtand. Seine Nahahmer find weniger Stimmungs- 
fünjtler von Natur; fie haben ſich erft dazu abgerichtet. 

Stephane Mallarme faht die neue Lehre vom 
Symbol und von der imprefjioniftifchen Schreibweife im 
„Traité du verbe“ zufammen; e8 werden darin alle 
Regeln des ftrengen hochklaſſiſchen Vers- und Satz- 
baus umgeftürzt: freie Verſe, formloje Zeilen, neue, 
durh das Diltionär der Akademie noch nicht 
janftionierte Worte, wunderlich verdrehte, unklare 
Konftrultionen gehören bei den Dekadenten zur Regel. 
Boileau muß ſich noch im Grabe herumdrehen. Die 
Henri de Negnier, Jean Moreas, Frangois Viele 
Griffin, Jules Laforgue, Arthure Rimbaud und andre 
befolgen dieje Lehren getreulihd. Durch die große 
Schwärmerei, die in den letzten Jahren für Richard 
Wagner ausgebrochen ift, hat dieſe finnliheüberfinn« 
liche Poeſie eine wejentliche Bereiherung an phan— 
taftiichen Stoffen erfahren. Es wimmelt darin von 
Nittern, Schwanenjungfrauen, geheimnisvollen Mife 
jionen, heiligen Geräten, goldenen Rüftungen und 
Zaubertränfen, Der eine laujcht nur auf den Wohl- 
flang der Worte, ohne fich viel um den Sinn feiner 
Verje zu befümmern. Der andre (De Regnier) 
ihwärmt für die Neime „or* und „mort“ und jucht 
dieſe überall anzubringen. Ein dritter endlich ver- 
nadläffigt über tiefjinnigem, mühſam zujammen- 
gequältem Symbol gänzlich die Form, und es fommt 
nur eine Art bilderreicher Proja zu ſtande. Der eine 
dichtet in Farben, der andre denft in Tönen, für 
den einen find Vögel (meift Schwäne), für den an« 
dern Blumen bevorzugte Symbole, und das Tollſte 
feiftet der dichtende Graf Robert de Montesquiou- 
Fejanzag, der in einem Bande feiner Poefien die 
blauen Hortenfien, im andern die Fledermäuſe ver» 
berrlicht. 

Neben all diefen Wunderlichfeiten, von denen die 


*, In ftumpfen Winkeln jandte der Mond feine zinffarbigen 
Zinten nieder — Alleine Rauchwöllchen ftiegen did und jhmarz 
in Form von Fuünfen aus den hoben ſpitzen Dächern auf. 

Der Himmel war grau; der Nordwind heulte. Bon weitem 
miaute ein Sater frierend und verſchwiegen mit feltfam dünner 
Stimme. 

Ih wandelte unter dem zwinkernden Auge der blauen Gas- 
Nammen daher und träumte vom göttlichen Plato, von Phidias, 
von Marathon und Salamis, 


960 


Litteraturgefchichte höchſtens einige als Kurioſa aufs 
bewahren wird, finden ſich Perlen echter Poeſie vor. 
Im übrigen find fie als harmloſe Verirrungen 
des gejunden Menjchenverftandes anzufehen. Weit 
gefährlicher ift die „defadente* Richtung für den 
Roman. Hier werden die traurigften phyfiihen und 
moralischen Kranlkheitsprozeſſe auf das ſubtilſte analy« 
jiert und als Zuftände gepriefen, die zur inneren Berfei= 
nerung und Entwidlung des Individuums unumgäng- 
lid notwendig find, denn aus ihnen allein quellen 
Empfindungen, von denen der nüchterne Alltagsmenſch 
— ber jo verhaßte Bourgeois — feine Ahnung hat. 
Das Tollſte leiftet Karl Huysmans in feinem Roman 
„A rebours“. Sein Held, Des Effeintes, der Iehte 
Sproß einer erlöfchenden Raſſe, deſſen Vater „an 
einer vagen Krankheit ftirbt*, und deſſen Mutter, 
„eine lange, blafle, ſchweigende Frau, an Erſchöpfung 
binweltt”, ift ein ſolch ſtaunenswerter Typus der 
faft für das Jrrenhaus reifen Empfindungsfünftler, 
daß wir und nicht verjagen fünnen, ihn wenigftens 
in einigen jeiner Verſchrobenheiten vorzuführen. 
Keiner jeiner fünf Sinne ift normal. Er liebt die 
Mufit der Farben, das Parfüm der Töne, den 
Wohlklang des Gejchmades. Deshalb Hat er fi 
eine Meine Kolleltion von Yiqueurflafchen zugelegt, 
die er feine „Mundorgel* nennt... „Die mit ‚Flöte‘, 
‚Engliih Horn‘, ‚voix c&leste* bezeichneten Regifter 
waren gezogen. Des Efjeintes tranf bie und da 
einen Tropfen und vernahm innere Sinfonien, 
Jeder Liqueur entſprach in feinem Geihmad dem 
Ton eines Injtruments. Der Curaçao zum Beifpiel 
glich der Klarinette, deren Ton jäuerlid) und ſammet- 
weich if. Der Kümmel war die Oboe, deren bei— 
Bender Timbre näjelt* und jo weiter, Das Ge 
fünftelte erjcheint Des Efjeintes als ein Zeichen der 
Vornehmheit des Menichengeiftes. 

„Deshalb verachtete er als leidenichaftlicher Blumen 
freund jeit langem die gemeinen Blumen, wie fie 
auf den Märkten ausgeftellt werden. Mit der Ver— 
feinerung jeines Kunftgeihmades nahm jeine Vorliebe 
für die von gequälten und jubtilen Gehirnen aus» 
geflügelten Erzeugnifje zu. Nah den künſtlichen 
Blumen, die wirflihe Blumen nadäfften, jammelte 
er natürliche Blumen, die eine Nahahmung der 
fünftlihen waren.” 

Uebertrumpft wird Huysmans noch dur den 
jet jo gefeierten Pierre Louys, dem die Parijer 
Boulevarddefadenz nicht mehr genügt und der unter 
dem Vorwand einer Renaiffance der hellenifchen 
Lebensfreude feinen Landsleuten wüfte Orgien halb 
griechiſcher, halb orientaliicher Verfallzeitler ſchildert. 
Und diefes Gift, welches jeinen Roman „Aphrodite“ 
durchweg erfüllt, wird von den lüfternen Kindern 
de3 fin de siecle mit Begierde eingejogen. 

Einem gemütvollen, tieffinnigen Poeten, der ftatt 
der raffinierteften Sinnlichkeit das Weberfinnliche, 
die Seelen der Menſchen und Dinge in ihren ge— 
heimſten Offenbarungen wiederzugeben verſucht, be- 
gegnen wir in Maurice Maeterlind, dem Verfaſſer 
inmbolifcher Dramen, Bon Geburt ein Belgier, 


Loſe Blätter. 


gehört er feit langem zur Blüte der franzöfilden 
Neo⸗Idealiſten. Maeterlinds Geftalten find feine Lebe» 
wejen, ſondern perjonifizierte Gefühle. Es find 
Märhenprinzen und Prinzeſſinnen, die in einfamen 
Schlöſſern an weiten Meeren haufen, unter düfteren 
Cypreſſen Iuftwandeln oder in geheimnisvollen unter- 
irdifchen Grotten träumen. Sie verftehen nur zu 
leiden, zu lächeln und zu lieben — zu handeln nie 
mals. Sie verförpern unjre geheimjten Impulſionen, 
die wir oft jelbjt nicht ahnen, denen wir aber willen: 
108 gehorchen müfjen und die unjre verzehrenden 
Leidenſchaften vorbereiten. Sie verkörpern alles, was 
Unmillfürliches in unfern Worten, Gejten und Bliden 
liegt. In bejtändiger Furcht erzittern fie vor dem 
unbefannten, aber unentrinnbaren Schidjal und laſſen 
fih von ihm übermwältigen, ohne auch nur die geringfe 
Anftrengung zu machen, dagegen anzufämpfen. Eine 
ftile Refignation, ein faft freudiges Aufhören des 
Willens zum Leben umjchwebt fie. „Die Sonn 
bat fein Mitleid mit uns gehabt (das heikt, fie hat 
unjre ſchönen Jlufionen vom Leben grauſam zerftört), 
mir ift nicht mehr leid um die Strahlen der Sonne.” 
Mit diefen Worten fterben Alladine und Pallomide, 
ein holdes Liebespaar, glücklich, aus dem Leben gleiten 
zu dürfen, das zu hart und graufam für ihre mır 
zum Leiden bejtimmten Seelen war. 

Durch die denkbar einfachſten Worte, durd) faft 
findlic naive Neden ſucht Maeterlinck feine Wirkungen 
zu erzielen, und neben ermüdenden, ja kindiſchen 
Scenen gelingen ihm ergreifende Bilder von unüber- 
troffener Anmut. Einige Beifpiele: 

Der alte König Ablamore will die jüß jhlummernde 
Alladine, die er liebt, heimlich küffen. „Ich werde jie 
füflen, ohne daß ſie's bemerkt, denn ich werde meinen 
armen alten weißen Bart zurüdhalten,“ 

Dder vom Kuß zweier Liebenden , bie frühen 
Tode geweiht find: 

„Wie feierlich küßt du mich heute!“ 

„Schließe die Augen nicht, wenn ich dich küſſe! 
Ich will die Küſſe jehen, wie fie in deinem Herzen 
wiederzittern; den ganzen Tau will ich jehen, der 
aus deiner Seele auffteigt. Wir werden feine Küſſe 
mehr finden wie diefe, denn man umarmt ſich nicht 
zweimal am Herzen des Todes,” 

So lieblih, zart und buftig diefe Poeſie er 
iheinen mag, aud) in ihr liegt viel verborgenes Gift, 
ein wehmütiger Peſſimismus und eine kranlhafie 
Feinfühligkeit und Willensſchwäche, die dem Leben 
wehrlos gegenüberfteht. Maeterlind3 Heine Dramen 
find ausgeſprochene Produkte einer Verfallzeit. In 
gefunden, aufftrebenden, lebens · und ſchaffensfreudigen 
Epochen ift ein derartige Analyfieren von Em— 
pfindungen und Stimmungen, ohne Bezug auf das 
kraftvolle Bethätigen des wirklichen Lebens, nicht 
denkbar. Mag die franzöfische Detadenzlitteratur von 
einer noch jo großen Verfeinerung des Individuums 
Zeugnis ablegen — fie entrüdt e8 immer mehr dem 
gefunden Nährboden des normalen Lebens und führt 
es zu krankhaftem, haltlofem Schwanlen in einem un« 
natürlichen Ausnahmezuftande. A. Brunnemann. 





Verantwortlicher Nebatteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart. Drud und Berlag der Deutichen Berlags-Anflalt in Etuttgart. 
Brlefe und Senbungen find nur an die Deutfche Berlags- Anhalt in Stuttgart — ohne Perjonenangabe — zu ridten 





Gleichtzeit. 


Edward Bellamuy. 


Aus dem Amerikanifchen überſetzt von M. Jacobi. 
Fortſetzung.) 


XXV. 
Die Streiler. 

In unſre Unterhaltung vertieft, gingen wir quer 
durch die Anlagen der Stadt. Da fiel ein Schatten 
auf unſern Weg. Ich blidte auf und jah vor uns 
eine folofjale Marmorgruppe emporragen. 

„Was ftellt das vor?“ rief ich. 

„Sie müſſen das doch am beften wiſſen,“ jagte ber 
Doktor. „ES find Ihre Zeitgenoffen, die in jenen Tagen 
häufig genug Ruheftörungen veranlaßt haben.” 

Allerdings war mir die Frage, wen die Figuren 
darftellen follten, aud nur im NAugenblid der erften 
Ueberraſchung unwillkürlich entfahren. 

Euch, ihr Leſer des zwanzigften Jahrhunderts, 
will ich erzählen, wa& ich hoch oben auf dem Poſta— 
ment jah, und ihr werdet die weliberühmte Gruppe 
wiebererfennen, 

Schulter an Schulter, als gelte es, ſich vereinigt 
einem Angriff zu widerſetzen, ſtanden drei Männers 
geftalten im der Arbeiterffeidung aus meiner Zeit 
dort barhäuptig beilammen. Ihre groben Hemden, am 
Halje offen und mit über die Ellbogen aufgeftreiften 
Aermeln, zeigten jehnige Arme und eine rauhe Bruft. 
Bor ihnen auf dem Boden lagen ein paar Schau— 
jeln und eine Spikhade. Die Mittelfigur wies mit 
der außgeftredten rechten Hand auf die weggeworfenen 
Werkzeuge. Die Arme der beiden audern waren 
über der Bruft gekreuzt. Ihre Gefichter Hatten 
grobe, harte Züge und ftarrten von ungefämmten, 
firuppigen Bärten. Sie trugen einen Ausdrud ver- 
fodten Troßes, und ihr Blid haftete gejpannt und 
mit jo finfterm Groll auf dem leeren Raum vor 
ihnen, dab ich unwillkürlich Hinter mic ſchaute, 
um zu fehen, auf was jie dort blidten. Zu der 
Öruppe gehörten auch zwei Frauen, deren Kleidung 
und Gefichtözüge ebenjo grob waren wie die ber 
Männer, Die eine fniete vor der Geſtalt rechts, 
Auf dem Arm hielt fie ein abgezehrtes, halb nadtes 
Kind empor, während fie mit lebender Gebärde auf 
die Werkjeuge am Boden deutete, Das andre Weib 
zog den Mann zur Linken am Wermel, ald wolle es 
ihn zurüdhalten, und bededte fi mit der andern 
Hand die Augen. Die Männer adhteten auf die Frauen 
nicht oder jchienen vor Verbitterung und Wut gar 
nicht zu bemerken, daß jie da waren. 

Aus fremden Zungen. 1897. IL 21. 


„Das find ja Streifer!” rief ic) aus. 

„Jawohl,“ fagte der Doltor, „das find ‚die 
Streifer‘, Huntington Meifterwert, die Herrlichite 
Marmorgruppe unjrer Stadt und eine der berühm— 
teften im ganzen Lande.“ 

„Wahrhaftig, dieſe Leute jehen aus, als wären 
fie lebendig!“ ſagte ih. 

„Schade,“ meinte der Doktor, „dab Huntington 
zu früh geftorben ift, um dies Zeugnis eines Sach— 
verftändigen zu hören, Es würbe ihn gefreut haben.” 

Gleich der ganzen reichen und gebildeten Welt 
meiner Zeit hatte auch ich die Streifer immer mit 
Veradtung und Abſcheu angefehen. Wir hielten fie 
für urteilsloſe, gefährliche Unheilftifter, die über ihre 
eignen wictigften Intereſſen ebenjo verblendet wie 
rüdficht8los gegen die Angelegenheiten andrer Leute 
waren. Sie galten im allgemeinen für höchjt ver« 
ruchte Menjchen, deren Kundgebungen man, jolange 
fie nicht zu Thätlichleiten ausarteten, unglüdlicher- 
weile nit mit Gewalt unterdrüden konnte. Ver— 
dammlich jchienen fie uns immer, und fobald eine 
Möglichkeit zum Einjchreiten der Polizei vorlag, 
mußten fie, unfrer Anficht nach, mit eiferner Hand 
niedergeworfen werden. Der wohlhabende Mittels 
ftand zeigte fich gegen alle jogialen Reformer mehr oder 
weniger duldjam. Man ließ fie in Büchern ober 
öffentlihen Reben fogar für durdgreifende wirt« 
Ichaftliche Veränderungen eintreten, jolange ſie ſich 
mit Wort und Schrift in den herfümmlichen Grenzen 
hielten; doc) zur Verteidigung der Streifer gab ſich 
fajt niemand her. 

Die Kapitaliften leerten natürlid) die ganze Schale 
ihres Zorne® und ihrer Beratung über fie aus. 
Aber jelbft Leute, die fich ſonſt für Freunde der 
Arbeiterllaſſen hielten, jchüttelten die Köpfe, wenn 
die Streils erwähnt wurden, weil jie diefe als ein 
Hemmnis und nicht als eine Hilfe zur Befreiung 
der Arbeit anfahen. Ich war in diefen Vorurteilen 
aufgewadhjen und daher, wie ſich denten läßt, nicht 
wenig verblüfft, dab man einen jo zweifelhaften 
Gegenftand gewählt hatte, um ihm den höchſten 
Ehrenplaß in der Stadt zu geben. 

„Weber die Mortrefflichleit des Kunſtwerls kann 
ja fein Zweifel jein,* jagte ich, „aber worin beſtand 
das Verdienft der Streiler, um bejjentwillen ihr fie 

121 


962 


als Gegenftand der Verehrung aus unirer Generation 
ausgewählt habt?” 

Der Doltor erwiderte: „Wir jehen in ihnen die 
Pioniere der Erhebung gegen den Privatfapitalismus, 
welche die gegenwärtige Zivilifation eingeleitet hat. 
Gleich Arnold von Winfelried bahnten fie der fyrei- 
heit eine Gaſſe und flarben; fie waren bie erften 
Blutzeugen der fooperativen Induftrie und wirtichaft- 
lichen Gleichheit — deswegen achten und ehren wir fie.“ 

„Ich verfichere Sie aber, Doktor, daß diefe Men» 
ſchen, wenigftens zu meiner Zeit, weit entfernt davon 
waren, ſich gegen das Syſtem des Privatfapitalismus 
aufzulehnen. Sie waren jehr unwifjend und ganz un« 
fähig, einen Gedanken von ſolcher Tragweite zu fallen. 
Daß fie ohne die Kapitaliften beftehen könnten, fam 
ihnen gar nicht in den Sinn. Eine etwas beflere 
Behandlung jeitens ihrer Arbeitgeber, ein paar Cents 
mehr für bie Stunde, ein paar Minuten weniger 
Arbeitszeit täglich oder auch vielleicht nur die Ent« 
lalfung eines unbeliebten Werfführers — das war 
alles, was ihnen als möglih oder wünſchenswert 
erſchien. Und um eine folche geringfügige Verbeſſe— 
rung ihrer Lage durchzuſetzen, flanden fie feinen 
Augenblid an, den ganzen induftriellen Mechanismus 
in Berwirrung zu bringen.“ 

„Wir willen daß alles wohl,” erwiderte der 
Doktor. „Sehen Sie fi) dod nur diefe Gefichter 
an. Hat der Künſtler fie etwa ibealifiert? Sind das 
Gefichtszüge von Philoſophen? Beitätigen fie nicht 
Ihr Zeugnis, dab die Streifer, gleich den Arbeitern 
im allgemeinen, in der Regel unwiſſende Menjchen 
mit engem Horizont waren, beren Faſſungskraft für 
jo weltbewegende fragen, wie der Umſturz einer jeit 
undenklicher Zeit beftehenden Wirtſchaftsordnung, in 
feiner Weife ausreichte? Erſt einige Jahre, nachdem 
Eie in Schlaf verfallen waren, fingen jene Leute end« 
lid) an einzufehen, daß fie es bei ihrem Kampf nicht 
mit der Perſon einzelner Kapitafiften, jondern mit 
dem Privatfapitalismus überhaupt zu thun hatten, 
Nur langfam und jchiwerfällig enwachten fie zur vollen 
Erkenntnis der Bedeutung ihrer Umfturzbewegung 
und glihen darin genau den Pionieren aller großen 
Freiheitsbewegungen. Die Scharfihügen von Concord 
und Serington machten es ſich im Jahre 1775 nicht 
Har, daß fie mit ihren Gewehren das ganze mon» 
archiſche Prinzip bedrohten. Ebenjowenig erkannte 
der dritte Stand in Frankreich, als er 1789 in die 
Nationalverfammlung eintrat, dab fein Weg über 
die Trümmer des Thrones hinwegführte. Auch die 
Bahnbrecdher der Freiheit in England, die ſich dem 
Willen Karls des Erſten widerjehten, ahnten nicht, 
daß jein Haupt fallen müfje, bevor fie ihr Ziel er- 
reichten. Sahen aber aud jene Pioniere bei ihrem 
eriten Entſchluß und den rohen Anfängen der Bes 
wegung noch nicht alle Folgen ihrer Handlungsweife 


Edward Bellamy. 


voraus, fo kann das doch die Danlesſchuld der Na: 
welt für ihre Initiative, ohne welche der volle Triumph 
niemals gefeiert worden wäre, nicht fchmälern. 
Die eigentliche Bedeutung der Streils war der Stug 
der Willlücherrihaft in der Induſtrie — mochten 
dad die Streifenden wiſſen oder nicht. Wir aber 
dürfen uns nicht der Folgen dieſer Umwälzung er- 
freuen, ohne ihre Urheber zu ehren, Vielleicht würde 
die Art, wie wir das ihn, die Ihnen jo wunderbar 
vorfommt, aud jene Leute jelbjt nicht wenig über 
raſcht haben. Laſſen Sie mid) jett verfuchen, Ihnen 
unjre heutige Anſchauung über die Rolle auseinander 
zuſetzen, welche die Originale diejer Gruppe in der 
Geſchichte ſpielen.“ 

Wir nahmen auf einer Bank vor dem Denfmal 
Plaß, und der Doktor fuhr fort: 

„Sagen Sie mir doch, lieber Julian, wer bat 
in Ihren Tagen zuerft die Welt zur Ertenntnis ge» 
bradt, da es überhaupt eine induftrielle Frage gab? 
Wer hat fünfzig Jahre lang mit rührender Ausdauer 
den pafjiven Widerftand gegen das Unrecht fort: 
geführt und die Öffentliche Aufmerffamfeit mit diejer 
Trage bejchäftigt, bis endlich die Löſung erfolgte? 
Maren es vielleiht Ihre StaatSmänner, Ihre Nar 
tionalöfonomen, Ihre Gelehrten oder irgend einer von 
Ihrer jogenannten weifen Leuten? O nein! Es waren 
jene mißachteten, verhöhnten, geſchmähten und ver- 
folgten Gejellen dort oben auf dem Poftament, die 
mit ihren ewigen Streils die Welt nicht zur Ruhe 
fommten ließen, bis dem Unrecht, das man ihnen ans 
gethan, und unter dem zugleich die ganze Welt litt, 
ein Ende gemacht war. Abermals hatte Gott bie 
Thörichten diefer Welt erwählt, um die Weilen zu- 
nichte zu maden; er hatte fi der Schwachen ber 
dient, um die Mächtigen zu Falle zu bringen, 

„Will man fich Mar machen, was für ein gewal · 
tiges Mittel diefe Streif® waren, um den Leuten bie 
unerträgliche Gottlofigkeit und Thorheit des Privat- 
fopitalismus zum Bewußtjein zu bringen, jo muß 
man bedenken, daß lebendige Thaten einen weit 
ftärferen erziehlichen Einfluß üben als die meijeften 
Lehren, Dies ift befonders in einem Zeitalter wie 
das Jhrige der Fall, wo die Mafjen weder genügende 
Bildung nod) Fähigkeit huben, um felber ihre Schlüfie 
zu ziehen. Zwar gab es zur Zeit der Revolution 
viele Männer und Frauen, die in Wort und Schrift 
für die Sache der Arbeiter eintraten und ihnen den 
Rettungsweg zeigten; aber ihre Reben würden wohl 
ungehört verhallt fein ohne den furdtbaren Rad: 
drud, mit dem fie dur; die Männer dort oben be» 
feäftigt wurden, welche Hungers jtarben, um ihre 
Wahrheit zu beweiſen. Dieſe rohen Gejellen, die 
wahrſcheinlich außer flande gewejen wären, aud nur 
einen richtigen Sa zujammenzubringen, Tieferten 
durch ihre vereinten Anftrengungen einen ſchlagenderen 





Gleichheit. 


Beweis für die Notwendigkeit der völligen Erneue- 
rung des inbuftriellen Syſtems, als dies ſelbſt dem 
geihidteften Redner hätte gelingen fünnen, Wenn 
Menfchen ihr Leben daran jehen, um fich gegen die 
Bedrückung zu wehren, wie e& jene ihaten, jo zwingen 
fie ihre Mitmenfchen, aufzumerfen. Wir haben auf 
dem Fußgeſtell, wie Sie jehen, eine Inſchrift ein- 
graben laſſen. Es find die Worte, welche man der 
Gruppe dort oben nad) ihrer Gebärde und Haltung 
in den Mund gelegt bat: 

„Mehr können wir nicht tragen. Lieber ver» 
hungern als unter den Bedingungen weiterleben, die 
ihr ung ftellt! Wir werfen unjer Leben, das Leben 
unjrer Weiber und Rinder in die Wagichale gegen 
euern ſchnöden Gewinn. Stellt ihr uns den Fuß auf 
den Naden, jo wollen wir euch in die Ferſe ftechen!: 

„Das war der Wutjchrei der durch Bedrüdung 
zur Berzweiflung getriebenen Menſchen, denen ihr 
jammervolles Dajein eine Laft geworden war. Der- 
jelbe Schrei ift, wenn aud) in andrer Form, immer 
das Loſungswort bei jeder Ummälzung gewejen, welche 
einen Fortſchritt des Menſchengeſchlechts bedeutete, 
‚Gebt uns die Freiheit oder gebt uns den Tod!« 
Aber niemals ift diefer Ruf für eine gerechtere Sache 
erhoben worden, nie hat er die Welt zu einem jo 
mächtigen Aufjhwung erwedt, al da er aus dem 
Munde diejer erften Rebellen gegen die Thorheit und 
Tyrannei des Privatlapitalismus erichallte. 

„Ich weiß es wohl, Julian,” fuhr der Doktor 
in milderem Tone fort, „zu Ihrer Zeit war man 
gewöhnt, ſich die Tapferkeit nur im Verein mit 
Waffengeflirr, mit Kriegslärm und Gepränge zu 
denfen. An unfer Ohr dagegen dringt der Wieder- 
hall von Trommeln und Trompeten nur mit ſchwachem 
Laut und verjeit uns nicht mehr in Aufregung. Der 
Soldat hat ſich überlebt und ift zugleich mit dem 
Ideal der Männlichkeit verichwunden, welches er dar- 
jtellte,. Die Gruppe dort aber gilt uns als das 
Sinnbild einer Selbftaufopferung, die uns tief er= 
greift. Al jene Männer die Werkzeuge ihres Berufs 
von ji warfen, fehten fie ganz ebenjo ihr Leben ein 
wie der Soldat, der in die Schlacht zieht. Sie unter- 
nahmen ein verzweifeltes Wagnis für fih und ihre 
Familien, deren fi damals fein dankbares Vater— 
land angenommen hätte, falls fie im Kampf erlagen, 
Der Soldat zieht ins Feld, begleitet von den Klängen 
der Mufif und getragen durch die Begeiflerung feiner 
Mitbürger. Die Streifer aber betrachtete man all- 
gemein mit Abjchen und Verachtung; ihre Mißerfolge 
und ihre Niederlagen wurden mit Jubel begrüßt. 
Und doch trachteten fie nicht etwa andern nad dem 
Leben, jondern wollten nichts weiter, als da fie und 
bie Ihrigen ihr Leben friften dürften, Dachten fie 
auch anfangs nur an die eigne Wohlfahrt, jo Fämpften 
fie doch für das Heil der Menjchheit und der fünfs 


963 


tigen Gejchlechter. Sie fümpften auf die einzige Art, 
die ihnen offen fand, während noch niemand es 
überhaupt gewagt hätte, ſich gegen das wirtichaftliche 
Spftem zu erheben. Durd) fanfte Worte oder irgend 
ein andreg Mittel als vernichtende Streiche hätte 
man dies Ungeheuer, das die Welt un der Kehle ge— 
padt hatte, wohl nun und nimmermehr vermocht, fein 
Opfer loszulaſſen. 

„Die Nationalöfonomen, die Schulmeifter und 
die Geiftlichfeit hatten dieſe unwiſſenden Leute ſich 
feibft überlafjen. Sie mußten nach der Löjung des 
fozialen Problems ſuchen, jo gut fie es konnten, 
während jene im Wohlleben ſaßen, leugneten, daß 
es überhaupt ein ſolches Problem gäbe, und mit 
glatten Worten die Verirrungen der Arbeiterllafle 
tadelten. Und doch gab es überhaupt in dem jo- 
zialen Labyrinth feinen verhängnisvolleren, thörich- 
teren und jündhafteren Irrweg als denjenigen, wel 
chen die Leute eingeſchlagen hatten, die nach gar feinem 
Ausweg ſuchten. Kein Zweifel, Julian, ich habe den 
Männern dort oben gewähltere Worte in den Mund 
gelegt, als fie im Leben auch nur verjtanden hätten ; 
aber wir fragen nicht nad) ihren Worten, ſondern 
nah ihren Thaten. Wir ehren fie als die Vor— 
fümpfer und Märtyrer unfrer heutigen indujtriellen 
Republik und führen unfre Kinder hierher, daß fie 
voll Dankbarkeit die grobbeſchuhten Füße derer küffen, 
die uns den Weg gebabnt haben.” 

Alle Erfahrungen, die ich jeit meinem Erwachen 
im Jahre 2000 gemadht hatte, bejtanden auß einer 
Reihenfolge plößliher geiftiger Ummanbdlungen ber 
überwältigendften Art. Was mir früher böje er= 
ſchien, war jet recht und gut; was mich Weisheit 
dünfte, war zur Thorheit geworden. Hätte unſre 
Unterhaltung über die ÖStreifer an irgend einem 
andern Orte jtattgefunden, jo würbe fih mir nur 
die neue Anfhauung, die id von dem Auftreten 
diefer Männer bei dem großen jozialen Umſchwung 
erhielt, defien Vorzüge ich jeht jelbft genoß, innerlic) 
eingeprägt haben. Aber der Anblid der Gruppe mit 
den lebensvollen Gejtalten nahm mid) ganz gefangen, 
und während der Doftor zu mir ſprach, fühlte ich 
mic jo ergriffen, daß ich plößlid) aufjprang und mit 
entblößtem Haupt die grimmen Gejtalten dort oben 
begrüßte, die ich einjt im Leben mit meinen Zeit 
genofjen um die Wette geihmäht hatte. 

„Willen Sie, Julian,“ fjagte der Doltor mit 
ernitem Lächeln, „es geſchieht nicht oft, daß ſich die 
Gerechtigteit im Kreislauf der Zeit auf jo dramatiſche 
Teile vollzieht.* 

XXVI. 
Der auswärtige Handel unter dem Gewinniyiten ; Schuß- 
zoll und Freihaudel oder die Wahl zwijchen zwei Uebelu. 


Wir famen noh etwas vor dem Beginn 
bes Schulunterrihts, dem wir beimohnen wollten, 


964 Ebward Bellamp. 


nad Arlington, und der Doktor ergriff die Gelegen« 
heit, mich dem Lehrer vorzuftellen. Dielen intereifierte 
es jehr, als ich ihm jagte, ich hätte am Vormittag 
bei dem Examen zugehört; auch war er begierig zu 
erfahren, welchen Eindrud es mir gemacht habe. Da 
er glaubte, e8 würde die Schüler in Verlegenhei 
bringen, wenn fie wühten, daß ein Gaft von jo be= 
fonderer Art anmwejend fei, wollte er ihnen meine 
Gegenwart erft am Schluß der Stunde fund thun und 
bat mich, ihm dann zu erlauben, daß er fie mir per« 
ſönlich vorftellen dürfe. Sie würben das als ein großes 
Ereignis in ihrem Leben anjehen und ſicherlich noch 
den fpäten Enfeln davon erzählen. Die Klaſſe war 
jetzt verjammelt; wir mußten unſre Unterhaltung 
abbrechen, und id nahm mit dem Doktor auf einer 
Galerie Pla, wo wir, ohne jelbft gejehen zu werden, 
alles hören und beobachten konnten. 

Der Anfang des Unterrichts ließ micht auf fi 
warten, 

„Wir haben ung heute morgen darauf beſchränlt,“ 
begann der Lehrer, „um uns die Wirkung des Ge- 
winnſyſtems recht Mar zu machen, diejelbe nur hin» 
fichtlich ihrer Folgen für ein Gemeinwejen oder eine 
Nation zu betrachten, als ob dieje allein auf der 
Melt wäre und feine Beziehung zu andern Völlern 
hätte. Zwar werden die für den Gewinn geltenden 
Regeln, die wir Heute früh erörtert haben, durch joldhe 
auswärtigen Beziehungen nicht im geringften um— 
geftopen, aber lehtere beeinflußten doch deren Ans 
wendung auf mancherlei Weife, jo daß unſre Be— 


Iprehung des Gewinnſyſtems jehr unvolljtändig wäre, | 


wollten wir den Handel mit dem Ausland dabei 
nicht in Betracht ziehen. 

„In den fogenannten nationalöfonomijchen Werfen 
unfrer Vorfahren ſteht jehr viel über die Vorteile des 
internationalen Handels zu lejen. Seine Befeftigung 
und Ausdehnung ſcheint das Haupiſtreben aller 
Staatömänner des neunzehnten Jahrhunderts geweſen 
zu fein, weil man glaubte, darin den Schlüffel für 
den MWohlitand der Völfer zu finden, Nun, jage 
mir, Paul, was ftelt die Wirtichaftslcehre für eine 
Theorie in betreff der Vorteile auf, die der aus— 
wärtige Handel mit jich bringt?” 

„Sie geht von der Thatjache aus,” erwiberte 
der Schüler, „dab in den Ländern Unterjchiede bed 
Klimas, der natürlichen Hilfsquelen und jonftigen 
Bedingungen beftehen, jo daß es in einigen Gegen» 
den gänzlich unmöglich oder wenigſtens jehr ſchwierig 
ift, gewilfe notwendige Dinge zu erzeugen, während 
andre Dinge mit Yeichtigkeit und in einer Fülle, die 
den Bedarf überfleigt, erzeugt werden. Außerdem 
machte ſich auch in früherer Zeit ein großer Abitand 
in Hinfiht der Zivilifation und der Entwidlung von 
Kunft und Gewerbe in den verjchiedenen Ländern 
bemerkbar, wodurch ihre reipeftive Produktionskraft 





noch weiter beeinflußt wurde. Es war daher ofien- 
bar vorteilhaft für die Länder, wenn fie ihre Erjeng- 
niffe gegenjeitig für diejenigen Dinge austauschen, 
welche jie entweder gar nicht oder mur unter uns 
günftigen Umſtänden bervorbringen konnten. Sie 
gelangten dadurch nicht nur in den Befik einer Menge 
von Gegenftänden, die fie ſonſt hätten entbehren 
müſſen, ſondern vermehrten auch die Ertragsfähigfeit 
ihrer ganzen Induſtrie, indem fie fich auf Artifel ber 
Ihränften, für deren Prodbuftion die Umftände be» 
fonders günftig waren. Sollten aber die Völler 
aus diefem Austauſch wirklichen Vorteil ziehen, io 
mußte er notwendigerweife zum allgemeinen Nutzen 
betrieben werden, damit er dem ganzen Volle zu gute 
lam, wie das jet geichieht; denn bei uns liegt der 
auswärtige Handel, wie jedes andre wirtihaftlide 
Unternehmen, in den verſchiedenen Ländern in den 
Händen des Staats. Aber damals gab es natürlich 
feine Nationalverwaltung für den auswärtigen Handel. 
Diefer wurde vielmehr, ebenfo wie die Probuftion 
und Güterverteilung im Lande, von ben Kapie 
taliften nad den Regeln des Gewinnſyſtems be 
trieben; daraus folgte, daß aller Segen, ber ſich 
nad jener jchönen Theorie vom auswärtigen Handel 
erwarten ließ, entweder völlig vernichtet oder in Fluch 
verwwandelt wurde. Die internationalen Handels- 
verbindungen der Völker ſchufen nur noch ein weis 
tere Feld für die verberblichen Wirkungen des Ge 
winnfyftems und lieferten einen neuen Beweis von 
feiner unheilvollen Macht, Gutes in Böſes zu ver- 
fchren und der Menjchheit jede Gnabdenpforte zu 
verjchließen.” 


Wie der Gewinn den Handeldvorteilver 
nichtet. 

„Erkläre uns jetzt die Wirkung des Gewinn 
ſyſtems auf den internationalen Handel,” 

„Nehmen wir an,” jagte Paul, „Amerila er 
zeugte Korn und andre Nährprodufte jehr billig und 
in größerer Menge, als das Wolf ihrer bedürfte; 
England dagegen fünnte nur mit Schwierigkeit ein 
geringes Maß von Nahrungsmitteln erzeugen. Do 
gegen wäre England aus verjhiedenen Gründen im 
ftande, Sleiderftoffe und Metallwaren billiger und 
reichlicher zu produzieren als Amerika. Im diejem 
Fall würde es anſcheinend günftig jein, wenn bie 
Amerikaner ihre Nährprodulte gegen die Kleiderſtoffe 
und Metallwaren der Engländer austauſchten. Man 
follte glauben, das müßte beiden Völkern gleichen 
Nugen bringen. Aber dies ift natürlich nur der 
Fall, wenn eine Nationalverwaltung den Austauſch 
zum Wohl ber beiderjeitigen Bevölkerung bemirl» 
ftelligt. Wird dagegen, wie zu jener Zeit, der Austauſch 
nur durch Privatlapitaliiten bejorgt, die miteinander 
um ihren perjönlichen Gewinn auf Koſten dei 


ur ns ann an — — — 





Gleichheit. 


Gemeinweſens im Wettſtreit liegen, ſo ſtellt ſich die 
Sache ganz anders heraus. 

„Der amerikaniſche Kornhändler, welcher die 
Ausfuhr des Korns nah England unternahm, 
wurde durch die Sonfurrenz der andern amerifanifchen 
Kornhändler genötigt, von den Engländern einen 
ſeht niedrigen Preis zu verlangen; um das zu fünnen, 
mußte er dem amerikaniſchen Landwirt, der das Korn 
baute, jo wenig dafür bezahlen, wie irgend möglich. 
Aber der Händler mußte nicht nur ebenjo billig ver« 
kaufen wie feine amerikaniſchen Konkurrenten, er mußte 
auch alle Kornhändler andrer Getreideftaaten, wie 
Rußland, Aegypten und Indien, noch unterbieten. 
Was hatte aber nun das engliiche Volk für Borteil 
von dem billigen amerifaniihen Kom? Durd die 
Zufuhr ausländijcher Nahrungsmittel wurde das Leben 
in England vielleicht um die Hälfte oder ein Drittel 
weniger koſtſpielig. Das wäre gewiß ein großer 
Nupen; aber die Sache hat nod) eine andre Seite: 
die Engländer mußten zum Entgelt für ihr Korn bie 
Amerifaner mit Kleiderjtoffen und Metallwaren ver- 
iehen. Die englifchen Fabrilanten diejer Artilel waren 
ebenjogut Konkurrenten untereinander wie die ame» 
tifanishen Kornhändler — jeder trachtete danach, 
jo viel Abſatz wie möglich auf dem amerifanifchen 
Markt zu finden. Er mußte daher, joviel er konnte, 
feine heimiichen Konkurrenten unterbieten. Ueberdies 
mußte auch der englilche Fabrikant, ganz wie der 
ameritanifhe Kornhändler, fid) gegen feine aus— 
ländifchen Mitbewerber wehren, Belgien und Deutjch- 
land lieferten jehr billige Kleiderſtoffe und Metall- 
waren, und die Amerikaner konnten ihr Korn gegen 
die belgischen und deutjchen Artifel umtaujchen, wenn 
die Engländer die ihrigen nicht billiger verkauften, 
Die Hauptloften bei der Fabrifation jener Waren 
wurden aber durch die Arbeitslöhne verurjacht. Jeder 
engliſche Fabrikant übte daher einen Drud auf feine 
Arbeiter aus, damit fie fi mit einem geringeren 
Lohn begnügten, jo daf er nicht nur feine englijchen 
Konkurrenten, jondern auch die belgijchen und 
deutichen Fabrilanten ausftehen fonnte, die den 
amerilanifhen Handel an fi zu reißen juchten. 
Kann mun aber der englijche Arbeiter mit weniger 
Cohn austommen ala früher? Freilich kann er dag, 
benn er erhält ja billigere Lebensmittel. Bald wird 
denn auch jein Lohn um gerade jo viel herabgedrüdt, 
als die billigere Nahrungszufuhr jeinen Unterhalt 
weniger koftipielig gemacht hat. Er fteht aljo genau 
auf demjelben Fleck, wie beim Beginn des amerila- 
niſchen Handels. Und wie ift e8 dem amerilaniſchen 
Landwirt ergangen? Er erhält jetzt feine importier- 
ten Kleider und Werkzeuge weit billiger als früher, 
und deshalb ift der niedrigjte Preis, für den er jein 
Korn verfaufen und dod noch beftehen kann, viel 
geringer ala vor Beginn des englifchen Handel — 


965 


genau um jo viel geringer, ala jeine Eriparnis für 
Kleidung und Werkzeuge beträgt. Das macht fich 
der Kornhändler natürlich raſch zu nutze, denn wenn 
er jein Korn nicht billiger auf den englifchen Markt 
bringt als die andern ſtornhändler, jo verliert er 
feinen Abſatz; Rußland, Aegypten und Indien find 
bereit, England mit Korn zu überſchwemmen, wenn 
die Amerikaner fie nicht unterbieten. Und dann it 
es mit den billigen Kleidern und Werkzeugen auf 
immer vorbei! So fanf denn der Preis, den der 
amerifanijche Sandwirt für fein Korn erhielt, jort 
und fort, bi$ er jo weit herunterfam, daß jeine Er— 
ſparnis an ben billigen importierten Artifeln voll» 
fländig aufgewogen wurde. Er ift nun gleich feinem 
Leidensgefährten, dem engliihen Fabrikarbeiter, um 
fein Haar beifer daran, ala ehe man überhaupt an 
den Handel mit England dachte. 

„Aber geht es ihm wenigftens ebenfogut? Hat 
weber der amerifanische noch der englische Arbeiter einen 
Nachteil erlitten durd den Austauſch der Produfte, 
welcher ihnen beiden bei richtiger Werwaltung fo 
großen Nuben gebradt haben würde? Das kann 
man durhaus nicht behaupten; im Gegenteil, beide 
haben in mancher wichtigen Beziehung einen Rück— 
ſchritt gemacht. Schon vorher erging es ihnen nicht 
allzu gut, aber das Induftriefuftem, von dem fie ab» 
bingen, herrichte Doch nur innerhalb der Yandesgrenze, 
Es war auf Selbfterhaltung angewieſen, auch ver« 
hältnismäßig einfach und wenig verwidelt, da es nur 
fofale und vorübergehende Störungen zu befürdten 
hatte, deren ſchädlichſte Wirkungen fi einigermaßen 
voraugfehen und möglicherweile wieder gut machen 
ließen. Jetzt aber war jowohl der englifche Arbeiter 
wie der ameritanijche Landwirt von allerlei ſchwie— 
rigen internationalen Berechnungen abhängig, die in 
jedem Nugenblit in Verwirrung geraten fonnten, 
Verloren fie aber ihren Lebensunterhalt, jo hatten 
fie nicht einmal den armjeligen Troſt, zu willen, 
weshalb das Unglüd über fie hereinbrach. Die Preiſe 
ihrer Arbeit und ihrer Produkte richteten ſich nicht 
mehr wie früher nad gewijlen Iofalen Gebräuchen 
und der im Bolfe üblichen Lebenshaltung, jondern 
wurden durch die eijerne Notwendigkeit einer Welt« 
fonturrenz beftimmt. Der engliihe Handwerker jah 
ſich gezwungen, mit dem oſtindiſchen Bauer, dem 
ägyptiſchen Fellah, dem notleidenden belgiſchen Berg« 
mann und dem beutjchen Weber in Wettbewerb zu 
treten. Zur Zeit, als der internationale Handel 
noch nicht allgemein eingeführt war, erging es oft 
einer Nation gut, wenn es aud der andern jchlecht 
ging, und jenjeits des Meeres fonnte man ſich immer 
noch Troſt und Hoffnung holen. Aber welde Aus— 
fiht bot die unbeſchränlte Entwidlung des inter- 
nationalen Handels bei der Herrihaft des Gewinn- 
ioftems der Menſchheit zu Ende des neunzehnten 


966 


Jahrhunderts? Nichts als eine in der ganzen Welt 
feitftehende Lebenshaltung, die nad) einem Makftab 
beredinet war, der für die unter den ungünftigften 
Bedingungen Tebenden Völler galt. Schon waren 
alle Anzeichen vorhanden, daß die Kapitaliften aller 
Länder den internationalen Handelsverlehr als Mittel 
benußen würden, um ihre Alleinherrichaft auf Erden 
zu gründen. Da aber trat die große Umwälzung ein.” 
„Bei deiner Schilderung des gegenjeitigen Aus— 
taufches von Handelsartifeln zwiſchen England und 
Amerifa,“ jagte der Lehrer, „baft du angenommen, 
daß derjelbe unter gleihen Bedingungen vor ſich 
ging. In diefem Fall ſcheint das Gewinnfyften be» 
wirft zu haben, dab in beiden Ländern die Arbeiter- 
maſſen etwas jchlecdhter daran waren, als wenn über- 
haupt fein auswärtiger Handel beftanden hätte; der 
Gewinn fiel ſowohl auf englifcher wie amerilaniſcher 
Seite einzig und allein den Kapitaliften, das heißt den 
Fabrikanten und Handeläherren zu. Die Handeld« 
bedingungen waren jedoch jehr häufig ungleich. Die 
Kapitaliften des einen Landes bejahen oft eine weit 
größere Macht als die des andern und Hatten eine ftärfere 
oder ältere wirtjchaftliche Organifation zur Berfügung. 
Was war denn das Ergebnis in ſolchem Falle?” 
„Die überwältigende Konkurrenz der Kapitaliſten 
des ftärferen Landes vernichtete die Unternehmungen 
der Kapitaliften des ſchwächeren Pandes, deifen Bes 
wohner demzufolge gänzlih auf die fremden Kapita— 
liften angewieien waren, um fid) viele Produlte zu 
verichaffen, die jonft im eignen Lande produziert 
worden und für die heimiſchen Kapitaliften gewinn- 
bringend gewejen wären. Dadurch wurben die Kapi— 
taliften des abhängigen Yandes immer umfähiger, 
in wirtfchaftlicher Beziehung Widerftand leiften, und 
die Hapitaliften des jtärferen Landes regelten die 
Handelsbedingungen nad ihrem Belieben. Aus der- 
artigen Berhältnifien entiprang zum Beiſpiel Die 
Bedrüdung, weldhe die amerifanijchen Kolonien im 
Jahre 1776 dazu trieb, ſich gegen die englijche Ober- 
herrſchaft zu empören. Die Staatäkunft im fiebzehnten, 
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ging bei der 
Gründung von Kolonien hauptjählicd darauf aus, 
daß neue Länderftriche in dies wirtjchaftliche Vaſallen— 
verhältnis zu den heimifchen Sapitaliften gebracht 
wurden, die den eignen Markt dur ihr Gewinn« 
iyftem ausgejogen hatten und nun feine Ausficht 
auf Mehrerwerb beſaßen, wenn fie fich nicht in frem— 
den Ländern feftjehen Fonnten, um dort Beute zu 
machen. Großbritannien, das bie ftärkften Kapita— 
liften beſaß, Hatte natürlich die Vorhand in diejer 
Volitif, und der Hauptzwed aller Kriege und diplo— 
matiſchen Verhandlungen, die es viele Jahrhunderte 
lang vor der großen Umwälzung geführt hat, war bie 
Erwerbung jolder Kolonien. Es zwang die jchwä- 
cheren Nationen, ihm Handelsbeziehungen und Vor« 


‚Edward Bellamp. 


teile zu eröffnen — auf friedlichen Wege, wenn es fein 
fonnte, ober im Notfall auch mit Kanonenkugeln.“ 

„Wie war der Zujtand der großen Maflen in 
einem Lande, das in fommerzielle Abhängigkeit von 
den Kapitaliften eines andern Landes geraten war? 
Befanden fie fi) notwendigerweije ſchlechter als das 
Volk in dem Lande, welches den Vorrang hatte?“ 

„Das war nicht unbedingt nötig, Wir müſſen 
und immer vor Augen halten, daß die Intereſen 
ber Kapitaliften mit denen des Volles nicht Hand 
in Hand gingen, Aus dem Reichtum der Kapitaliften 
eined Landes darf man weder auf den Mohlftand 
der ganzen Bevölkerung ſchließen noch umgelehrt. 
Wären die Maſſen des abhängigen Landes nicht von 
den fremden Sapitaliften außgebeutet worden, jo 
hätten die heimiſchen Rapitaliften fie ausgenützt. In 
beiden Ländern waren die Arbeiter gleichermaßen 
die Werkzeuge und Sklaven der Kapitaliften, welche 
ihre Landsleute durchaus nicht beſſer behandelten, 
als wenn fie es mit Fremden zu thun gehabt hätten. 
Die Kapitalijten des abhängigen Landes litten mehr 
durch Die Unterdrüdung ihres ſelbſtändigen Geſchäfis 
betriebs als die großen Maſſen.“ 


Die Wahl zwiſchen zwei Uebeln. 


„Sp, Paul, du kannſt dich ſetzen. Jcht möchte 
ih von dir, Helene, über einen Punkt, den Paul 
angedeutet hat, noch nähere Auskunft haben: Wäh- 
rend bes adjtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts 
herrſchte unter unfern Vorfahren ein erbitterter 
Meinungsftreit zwiſchen zwei politiichen Parteien, 
die ih Schußzöllner und Freihändler nannten, 
Erftere behaupteten, man müfje durch einen Einfuhr 
zoll die Konkurrenz der fremden Kapitaliften vom 
heimischen Markt ausſchließen, während leßtere dar⸗ 
auf beftanden, daß man dem freien Handelsverleht 
fein Hindernis in den Weg legen dürfe. Was kannſt 
du mir über die Hauptgründe jagen, die bei dieſet 
Streitfrage vorgebradht wurden ?“ 

„Für die großen Maſſen,“ antwortete Helene, 
„machte das Verfahren beider Parteien keinen Unter: 
ſchied. Es handelte ſich nur darum, ob fie ſich lieber 
von den heimijchen oder von den fremden Rapitaliiten 
ausplündern laſſen wollten. Nach Freihandel riefen 
alle Kapitaliften, die ſich ſtarl genug fühlten, um die 
andern Nationen aus dem Felde zu jchlagen, wenn 
fie jich mit ihnen im Wettbewerb maßen. Für Schuf- 
zoll traten alle Kapitaliſten ein, die ſchwächer waren 
al andre und fürdhteten, ihre Unternehmungen wür: 
den beeinträchtigt werden, und fie müßten ihres Ge 
winns verluflig gehen, wenn man die Konkurten; 
freigab. Der fyreihändler gli einem Manne, wel- 
her fieht, daß fein Gegner im Streit ihm nicht ge 
wachen ift und mun ehrlichen Kampf verlangt, 
ohne alle Begünftigung; der Schußzöllner dagegen 








Gleichheit. 


handelte wie ein Mann, der ſich von einer Weber- 
macht bedroht fieht und nad) der Polizei ruft. Während 
der Freihändler glaubte, daß der Rapitalift ein na= 
türliches, ihm von Gott verliehenes Recht habe, das 
Voll auszunutzen, wo er ed auch fände, und daß dies 
Recht über alle Landesgrenzen, Raffen und Nationa= 
fitäten erhaben ſei, berief ſich der Schubzöllner auf 
die patriotifche Berechtigung des Kapitaliften, nad 
weldher ihm allein die" Ausnügung feiner Landsleute 
zuſtehe, ohne daß fi fremde Kapitaliften hineinzu— 
mifchen hätten. Für die große Mafje des Volkes, 
bie Ration im ganzen war es aber, wie Paul jchon 
geſagt hat, völlig gleichgültig, ob fie bei berrichen- 
dem Schubzoll von den Kapitaliften ihres eignen 
Landes geplündert wurde oder von den Kapitaliften 
fremder Länder, wenn man den Freihandel einführte, 
Das läßt fi aud aus ben Streitfchriften beider 
Parteien deutlich erkennen, Mancherlei Beweife für 
die Richtigkeit ihrer Lehre blieben die Schußzöllner 
zwar ihuldig, aber daß der Zuftand eines Voltes 
in freihändleriihen Ländern ganz ebenjo jchlimm 
war ald anderswo, vermochten fie far zu beweiſen. 
Die Freihändler dagegen durften mit ebenjo großer 
Betimmtheit behaupten, daß das Volf bei herrichen- 
dem Schußzoll um nichts beffer daran war, ala wo 
Freihandel beitand. Die Frage, was vorzuziehen jei, 
war nur für die Kapitaliften von Wert. Für das Volt 
bedeutete fie nichts ala eine Wahl zwiſchen zwei Uebeln.“ 

„Wir wollen die Sache burd) ein praktisches Bei- 
jpiel erläutern,“ fagte der Lehrer. „Sehen wir ein- 
mal England an. Sein ausmwärtiger Handel war 
im neunzehnten Jahrhundert der bei weiten bedeu⸗ 
tendfte; es beherrichte faft alle fremden Märtie, 
Wäre zur Zeit des Gewinnſyſtems der Welthandel 
unter Bedingungen, bie faft ausjchließlid von den 
Kapitaliften felbft diktiert wurden, eine Quelle des 
Nationalwohlftands geweſen, jo Hätte ſich das britische 
Volf am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im 
Vergleich mit andern Völkern, eines ganz außer— 
ordentlichen Glüdes und Wohlergehens erfreuen müfjen. 
Noch nie zuvor hatte ſich ja der auswärtige Handel 
einer Nation zu jo ungeheurer Größe entfaltet, Wie 
aber ſtand es in Wirklichkeit ?* 

„Unjre Borfahren,” erwiderte das Mädchen, 
„derbanden mit den Ausdrüden ‚Nation und na— 
tional’ nur einen jehr unbeftimmten Begriff. Sie 
pflegten daher aud Großbritannien reich zu nennen. 
Aber nur die dortigen Kapitaliften, einige zwanzig« 
tauſend Individuen unter einem Volt von vierzig 
Millionen, waren reiche Leute. Dieje beſaßen aller- 
dings ungezählte Schäße, aber der Reſt ber vierzig 
Milionen — das heißt, das ganze Volt bis auf 
einen Heinen Bruchteil — war in Armut verjunfen. 
Man jagt, dab in England die Armenfrage ein 
größeres und jchwieriger zu Löfendes Problem bot ala 


i 
I 


967 


in irgend einem andern zivilifierten Sande. Die 
Arbeitermafien ſchmachteten dort nicht nur in einem 
elenderen Zuftand al& bei den meilten Völkern, ſon⸗ 
dern ihr Leben joll damals jogar dürftiger geweſen 
fein ala im fünfzehnten Jahrhundert, ehe nod von 
einem auswärtigen Handel überhaupt die Rede war- 
Wem e8 zu Haufe wohl ergeht, der wandert nicht aus, 
Aber die Menjchen, die durch den Mangel aus Eng« 
land vertrieben wurden, fanden jelbft das vom Eije 
ftarrende Kanada und die nördliche Zone gaftfreund- 
licher als ihr Heimatland. Die Wohlfahrt der Arbeiter- 
maſſen eines Landes wurde auf feine Weije dadurch 
gefördert, daß feine Kapitaliften die Hauptrolle auf 
den fremden Märkten fpielten. Wie hätten fid) ſonſt 
die britiichen Auswanderer in den engliichen Kolo— 
nien, deren Markt völlig von den engliſchen Kapita— 
liften beherrjcht wurde, einen reichlicheren Lebens— 
unterhalt verjchaffen fönnen als daheim, wo fie bei 
jenen Kapitaliften in Arbeit ftanden? Wir dürfen 
auch nicht vergeflen, daß es Malthus war, der den 
Sab aufjtellte: Das größte Glück für einen Arbeiter 
jei, nicht geboren zu werben. Als Engländer leitete 
er jeine Schlüffe jehr logiſcherweiſe aus den Beob- 
adhtungen ber, die er über die Pebensbedingungen 
der Bevölferung in demjenigen Lande gemacht hatte, 
dem es beifer gelungen war als jemals irgend einem 
andern, den fremden Weltmarkt durch feinen Handel 
zu beherrſchen. 

„Dder,* fuhr Helene fort, „jehen wir nad) Bel« 
gien hinüber. Die alten Niederländer hatten ohne 
Unterbrechung und länger als jedes andre europäiſche 
Volt auswärtigen Handel getrieben. Zu Ende des 
neunzehnten Jahrhunderts aber joll es ber großen 
Maſſe der Belgier, die eins der arbeitfamften Völfer 
der Welt find, buchftäblih an genügender Nahrung 
gefehlt haben, fo daß fie allmählich vor Entkräftung 
dahinfiechten. Sie ſowohl als die Volksmaſſen in 
England und Deuifhland haben ſich im fünfzehnten 
und zu Beginn des ſechzehnten Jahrhunderts, als 
man erit anfing, auswärtigen Handel zu treiben, 
wirtichaftlich weit bejjer befunden als im neunzehnten 
Jahrhundert. Das beweiſen die ftatiftiichen Ver— 
gleihe, die uns überliefert worden find. früher 
hatte das Volk wenigjtens die Möglichkeit, einen 
Anteil von den Reichtümern eines fruchtbaren Landes 
zu erhalten, weil jie innerhalb der Grenze blieben. 
Aber die Einführung des auswärtigen Handels 
machte dieſer Möglichkeit duch das Gewinnſyſtem 
gleich ein Ende. Fortan wurde alles, was gut und 
begehrenäwert war und über die bloße Notburft ber 
Arbeiter hinausging, von den Rapitaliften ſyſtematiſch 
zufammengetragen und aufgehäuft, um in fremden 
Ländern gegen Gold, Edelfteine, Sammet und Seide 
und Straußenfedern für die Reichen eingetauſcht zu 
werben. Denn wie jhon der alte Dichter jagte: 


968 


„Was nur der Menſch bedarf, was ihn kann freun und laben, 
Das ſchenkt die Erbe ihm; wer zählet ihre Gaben f‘* 

„Womit hat man den Kampf ber Nationen um 
den auswärtigen Marlt im neunzehnten Jahrhundert 
häufig verglichen ?* 

„Mit der Wettfahrt zweier von Sklaven bemannten 
Galeeren, deren Bejiger um den Preis ftreiten.* 

„Welchen Ruderfnechten erging es bei folder 
Wette wohl am ſchlimmſten, denen auf der gewinnen» 
ben oder denen auf der verlierenden Galeere ?“ 

„Aller Wahrſcheinlichkeit nach waren die Sflaven 
auf der gewinnenden Galeere wohl am übeljten baran; 
denn fie wurden natürlich am mwütendften gepeitjcht,* 

„Jawohl,“ jagte der Lehrer, „und gerade jo ge— 
ihah es, daß, wenn die Kapitaliften zweier Länder 
ſich um das Nbjahgebiet eines fremden Marktes 
ftritten, die Arbeitnehmer der ſiegreichen Kapitaliſten- 
gruppe am meiften zu beflagen waren. Denn ihr 
Arbeitslohn war ſicherlich am tiefjten berabgedrüdt 
und ihr allgemeiner Zuſtand am erbärmlidhften. Aber 
ſage mir, herrſchte denn nicht unter den Völfern, 
die feinen auswärtigen Handel hatten, eine ebenjo 
allgemeine Dürftigfeit wie in den Ländern, von 
denen wir geredet haben ?* 

„Freilich war das der Fall,“ ſagte das Mäd— 
hen. „Ich mollte durchaus nicht den Eindrud er 
weden, als ob die heimijchen Sapitaliften weniger 
graufam geweien wären als die auswärtigen. Es 
handelte fih nur um eine Bedrüdung im größeren 
oder Heineren Maßſtabe. Ob man das Yand mit 
einer Mauer umgab, damit das Volk ausſchließlich 
von den heimijchen Kapitaliften ausgeplündert würde, 
oder ob man die Mauer niederriß und das Land 
den fremden öfinete, das machte überhaupt feinen 
Unterjchied, jolange nod) das Gewinnſyſtem beitand,“ 


XXVII. 
Privatintereſſen ſtehen dem menſchlichen Fortſchritt 
feindlich gegenüber, 

„Run wollen wir mit deiner Hilfe, Flora, die 
Schlußbeiprehung des Wirtſchaflsſyſtems unjrer Vor« 
fahren in Angriff nehmen,“ jagte der Lehrer, „nüm— 
lich feine feindliche Stellung gegen den Fortichritt 
und jede neue Erfindung, Wir haben leider ſchon 
an zahlreichen Beijpielen zeigen müſſen, wie ſehr ſich 
unjre Väter über Weſen und Wirkung ihrer wirt« 
ſchaftlichen Einrichtungen im Irrtum befanden. Am 
alleraufiallenditen ift ung aber, daß fie nicht einfahen, 
wie der Privatfapitalismus notwendigerweile mit 
jedem Fortſchritt in Widerfprud fteht. Uns Scheint 
das ſonnenklar, jie aber waren im Gegenteil über- 
zeugt, daß ihr Syſtem für fortichreitende Neuerungen 
beſonders günftig ſei und durch feine außerorbent- 
lien Vorzüge auf diefem Felde alle Nachteile wies 
der gut made, die es etwa in ethiſcher Beziehung 


Edward Bellamy. 


haben lönne. Wir ftoßen bier auf eine ſehr be 
beutende Meinungsverſchiedenheit, aber glüdlichermweiir 
ftehen die Thatſachen fo unbeftritten feſt, daß es ums 
nicht ſchwer fallen wird, zu entſcheiden, meldes bie 
richtige Anſicht ift. 

„Der Gegenftand zerfällt in zwei Teile. Erftens: 
die natürliche Feindichaft des alten Syſtems gegen 
jede wirtfchaftliche Veränderung, und zweitens: die 
Berminderung und Zeritörung des Nutzens aller neu 
eingeführten wirtichaftlichen Verbefferungen dur das 
Gewinnſyſtem. Nun fage mir, fylora, woher lam 
es denn, daß dad alte Wirtſchaftsſyſtem des Privat 
fapitalismus allen durchgreifenden Weränderungen 
notwendigerweije abhold fein mußte?“ 

„Die Urfahe war,“ ermwiderte das Mädchen 
„daß e& auf feinem Prinzip der Genoſſenſchaft oder 
Koordination beruhte, jondern aus lauter einzelnen 
Privatinterefien beftand. Die wirtfchaftliche Wohl. 
fahrt der Individuen und getrennten Gruppen hing 
daher ausichließlih von der bejonderen Art ihrer 
Kapitalanlage ab, ohne Rüdjicht auf andre oder auf 
das Mohlergehen der Geſamtheit.“ 

„Erkläre mir das deutlicher durch den Vergleich 
unfers heutigen Syſtems mit bem Privatfapitalismus.” 

„Bei unjerm Syſtem fommt alles dem Ganzen 
zu gute — das heißt, niemand hat irgend ein be 
ſonderes Intereſſe an einem Teil oder einer Funk 
tion der Wirtfhaftsordnung. Unjer einziges Intereſe 
bejteht in der möglichft großen Wohlfahrt der Ge» 
jamtheit. Zwar arbeitet bei uns jeder in jeinem 
eignen Beruf, aber nur damit es dem Vollsvermögen 
defto größeren Nußen bringt. Wenn wir uns für 
ein bejonderes Fach begeiftern, fo ift das bloße Ge 
fühlsjache, denn unjer wirtjchaftliches Intereſſe hängt 
nicht von dieſer oder jener ſpeziellen Beichäftigung 
ab, Wir haben alle das gleiche Anrecht auf das 
Gejamtproduft, mag das fein, was es wolle.” 

„Welhen Einfluß hat unſer Mirtjhaftsigften, 
jeinem ganzen Weſen nah, auf unjre Stellung zu 
allen Verbeſſerungen und Erfindungen auf volfäwirt- 
ſchaftlichem Gebiet ?* 

„Sie find uns aufs höchſte willlommen. Bie 
jollte das auch anders jein? Alle Fortſchritte diejer 
Art müſſen natürlich jedem einzelnen Gliede der 
Nation Vorteil bringen, und zwar allen in gleihem 
Maße. Sollte aud) durd eine Neuerung gerade die 
Thätigfeit, welche wir ung gewählt haben, beeinträd- 
tigt oder völlig überflüffig gemacht werden, fo ver: 
lieren wir nichts dadurch. Höchſtens könnten wir 
einiged Bedauern empfinden, weil wir eine alte Ge: 
wohnheit aufgeben müflen. Aber wejentliche Inter» 
eſſen find weder an dieſe noch an jene Beihältigung 
geknüpft. Wir ftehen alle im Dienft der Nation, 
und es ift ihre Sache und ihr Intereſſe, daß jedem 
eine andre Arbeit zugewiefen wird, jobald jeine 


Gleichheit. 


frühere Beihäftigung für die allgemeine Wohlfahrt 
entbehrlich geworden ift. Auf den Lebensunterhalt des 
einzelnen hat das aber nicht dengeringjten Einfluß. Jede 
Verbefierung in wirtſchaftlicher Beziehung ift daber 
der gröhte Segen für das Gemeinweſen. Die Gabe, 
welche der Erfinder den Menjchenkindern darreicht, 
it eine Vermehrung von Wohlftand und Mußezeit 
für alle. Sein Wunder daher, daß das danfbare 
Volk ihn den größten und bemeidenswerteften Lohn 
zuerfennt, den ein Wohlthäter der Gejamtheit zu er- 
ringen vermag.“ 

„Kun jage mir aber, Flora, wie ging es zu, daß 
die Kapitaliften dur die große Menge ihrer ver» 
Ihiedenen Privatintereffen zu Feinden aller wirt- 
ihaftlichen Reuerungen und Verbeſſerungen wurden ?“ 


Der Fortihritt und die Privatinterefjen. 


„Das Intereſſe eines jeden Menſchen,“ ants 
wortete da8 Mädchen, „war, wie gejagt, ganz an 
die Thätigfeit gefnüpft, der er fih widmete, War 
er Rapitalift, jo verwendete er feine Geldmittel für 
feinen befonderen Zwed; gehörte er zu den Hand— 
wertern, fo beitand jein Kapital in feiner Tüchtigfeit 
in irgend einem Gewerbe, und fein Lebensunterhalt 
ding davon ab, daß er gerade in dem Handwerk, 
das er gelernt Hatte, Arbeit erhielt. Weder als 
Kapitaliſt noch als Gewerbetreibender, weder als 
Arbeitgeber nod als Arbeitnehmer hatte er irgend 
ein wirtichaftliches Interefje außerhalb jeines eignen 
Geſchäfts. Nun macht aber jeder neue Gebante, 
jede Entdeckung oder Erfindung auf wirtſchaftlichem 
Gebiet die Früher zum gleichen Zwed verwendeten Hilfä- 
mittel entbehrlich und zerftört dadurch die wirtichaft- 
lihe Grundlage des Gejchäftsbetriebs. Bei und ver- 
urfaht das, wie gejagt, niemand einen Verluft; 
die Arbeiter wechjeln nur, und es entfieht ein Vor— 
teil irgend welcher Art für die Gejamtheit. Aber 
damal3 waren alle, die es betraf, zu Grunde ge- 
richtet, Der Kapitaliit büßte fein Geld, jeine Be- 
trieböwerfzeuge, jeine Stapitalanlage ein, der Arbeiter 
ging jeiner Stelle verluftig und war auf das falte 
Mitleid andrer angemwiejen, das ihn oft mit wahre 
haft eifigem Hauche anwehte. An einen Erfah oder 
auch nur eine Entihädigung für ihn durch das Ge- 
meintejen war gar nicht zu denken, jelbit wenn die 
für ihn unheilvolle Erfindung der Gejamtheit den 
größten Borteil brachte. Er fiel ihr unweigerlich 
zum Opfer. Folglich wurde jede Erfindung, mochte 
fie noch jo wohithätig fein, zu einer Graufamfeit für 
die, welche fie ihres Unterhaltz oder des Gewinnes 
beraubte, auf den fie bei ihrer Thätigfeit gerechneh 
hatten. Die Kapitalijten verzehrten fi in Sorge 
und Angjt vor Erfindungen, die in einem Tage ihre 
toftbaren Werkzeuge zu altem Eifen machen konnten, 
dad zu nichts mehr müßte, ald auf den Kehricht ge 

Kus fremden Zungen, 1897, IL 21 


969 


worfen zu werben. Das Schredgeipenft des Hand« 
werfers aber war eine Majchine, die feinen Kindern 
das Brot vom Munde wegnahm, weil der Arbeit» 
geber nun die Dienfte des Arbeiter entbehren 
fonnte, Das Wirtjchaftägebiet war unter lauter 
Privatintereffenten und Gruppeninterefienten geteilt, 
die weder unter fi irgend welchen Zufammenhang 
hatten, noch am Wohl des Ganzen Anteil nahmen. 
Jeder ftand oder fiel für ſich allein, und auch der 
kleinſte allgemeine Fortſchritt in Künſten und Wifjen- 
ſchaſten geſchah auf Koſten eines Teils des Gemein— 
weſens, dem er Verluſt und Verderben bereitete, als 
ob ein Mißwachs oder die Peſt hereingebrochen wäre. 
Ueber die Leichen ihrer Opfer hinweg machten ſich 
die Erfindungen Bahn. Als die Spinnmajchine das 
Spinnrad vertrieb, hielt der Hunger feinen Einzug 
in den Dörfern Englands. Die neue Bodenkultur 
des Weſtens machte die Landwirte des Oſtens zu 
Bettlern. Sobald die Eijenbahn an Stelle der Poſt— 
futiche erfchien, war e8 um taujend Städte geſchehen, 
die am Bergabhange lagen, während ebenjoviele 
drunten im Thal neu erftanden. Der Walfiichthran 
machte dem Petroleum Pla, und Hunderte von 
Seehäfen lagen verödet da. Man entdedte Kohlen 
und Eijengruben im Süden, und das Gras wuchs 
in den Straßen der Fabrikſtädte des Nordens. Die 
Eleftricität verbrängte den Dampfbetrieb, und Billio- 
nen von Eifenbahnaftien wurden wertlos gemadt. 
Aber wozu eine Lifte noch weiter führen, die endlos 
forigefeßt werben könnte? Alle dieſe Beijpiele be— 
ftätigen nur die Regel, dab jede wichtige Erfindung 
einem Teil des Voltes unerfelichen Schaden brachte. 
Unzählige Leute wurden banferott, Scharen von 
Arbeitslofen zogen umher, ein Meer von Leiden aller 
Art war der Preis, den unfre Vorfahren für jede 
neue Stufe des Fortſchritts entrichteten. 

„Später, wenn die Opfer beijeite gefhafft und 
begraben waren, pflegten unſre Väter dieje Triumphe 
der Induftrie fejtlich zu begehen. Die Nedner, die 
fi) bei ſolcher Gelegenheit hören ließen, führten unter 
anderm gern eine Phraſe im Munde, welche lautete: 
‚Auch im Frieden erfämpft man Siege, und fie 
find nicht weniger glorreidh als gewonnene Schlach— 
ten.‘ Bon der Thatiache, dab dieſe Siege ihres 
jogenannten Friedens gewöhnlich durch ebenjoviele 
Menichenverlufte und Leiden — ja oft jogar mit 
größeren Qualen — erfauft werden mußten als 
friegeriiche Triumphe, pflegten die Redner nichts zu 
erwähnen, Man erzählt, Tamerlan habe einft in 
Damaskus eine Pyramide aus fiebzigtaufend Schä— 
bein der Erichlagenen aufgebaut. Hätte man aber 
zu Ehren Stephenjons oder Arkwrights ein Dent« 
mal aus den Schädeln der Opfer errichten wollen, 
welche die Einführung der Dampffraft gefordert hat, 
wie winzig wäre daneben Tamerlans Pyramide 

122 


970 


erfchienen! Der Tatare war ein lingeheuer und 
Urhvright war ein Genie, zum Heil der Menjchen 
in die Welt gefandt. Aber durd; die ſcheußliche Ver— 
wirrung des alten Wirtihaftsinftens wurde ber 
Mohlthäter des Geſchlechts zum Urheber ebenjo großer 
menjchlicher Leiden mie der blutige Eroberer. Es 
war ſchlimm genug, als die Menſchen ihre Helfer 
und Retter freuzigten und fteinigten ; aber der Privat- 
fapitalismus that ihnen einen nod) größeren Schimpf 
an, denn er verwandelte die edle Gabe, die fie 
brachten, in einen Fluch.“ 

„Welche Mittel ergriffen denn die Arbeiter und 
Kapitaliften, deren Intereflen durch den Fortſchritt 
der Erfindungen gejhädigt wurden, um der Madt 
Wiberfland zu leiften, die fie zu verderben drohte?” 

„Sie thaten alles, was fie konnten. Wären die 
Arbeiter ſtark genug geweſen, fie hätten ein für 
allemal gegen jede Erfindung Einiprud erhoben, 
welche den Bedarf an roher Handarbeit in ihren 
verjchiedenen Gewerben verringerte. Wie die Sahen 
aber ftanden, mußten fie ji damit begnügen, zur 
Abwehr Gewerkvereine zu gründen, wenn fie nicht 
Pöbelaufftände erregten oder zu andern Gewaltmah- 
regeln jchritten. Man kann dies den armen Men— 
ſchen aud) faum verübeln, denn ihr ganzer Lebens— 
unterbalt ftand auf dem Spiel. Eine Arbeit erjparende 
Maſchine war in jener ſchweren Zeit für die Leute 
faft jo todbringend, als hätte man mit Hanonen« 
fugeln unter fie geſchoſſen. Berlor ein Dann jeine 
Beihäftigung in dem Handwerk, das er gelernt hatte, 
und fonnte er feine andre Arbeit erhalten, jo war 
jein Gejchid beflagenäwerter, ala wenn ihn im Kriege 
beim Schall der begeifternden Schlachttrompete eine 
Kugel dahinraffte, wobei er doch hoffen durfte, daß 
für feine Frau und Kinder gejorgt werden würde. 
Natürlih hätten die Arbeiter aber das Syſtem des 
Privatfapitaliamus angreifen ſollen und nicht die 
Arbeit erfparende Maſchine. Dieje wäre bei einem 
vernünftigen Wirtſchaftsſyſtem die reinfte Wohlthat 
für alle gewejen.” 

„Wie widerſetzten fid) denn die Kapitaliften den 
Erfindungen ?* 

„Hauptfählih durch negative Mittel, die aber 
weit wirfjamer waren als die Gewaltmaßregeln, zu 
denen die Arbeiter griffen. Die Kapitaliften waren 
im ftande, alles durchzuſetzen. Sein Menſch konnte 
jeiner Erfindung Eingang verihaffen, mochte fie auch 
noch jo vortrefflih fein, wenn es ihm nicht gelang, 
die Sapitalijten zu bewegen, fie in die Hand zu 
nehmen. Das thaten fie aber gewöhnlich nur, im 
Fall der Erfinder willens war, den größten Teil des 
Gewinnes, den er von feiner Entdedung erhoffte, 
an fie abzutreten. Ein nod größeres Hemmnis für 
die Einführung neuer Erfindungen bejtand darin, 
daß. ſich ſaſt nur die Leute darum befümmerten, 


Edward Bellamp. 


welche bereits in bem beſonderen Betriebszweig 
thätig waren, auf ben ſich die Erfindung bezog. In 
ihrem Intereſſe lag es aber meift, eine Neuerung zu 
unterdrüden, nach deren Einführung die Maſchinn 
und Methoden für veraltet gegolten hätten, in denen 
ihr Kapital angelegt war, Deshalb ließ ſich der 
Kapitalift auf nichts ein, bevor er nicht genau wuhte, 
da die Erfindung ſowohl an fi) gut war, als aud 
daß fie ihm perjönlich einen Vorteil verſchaffen würde, 
der alle Berlufte an feiner erjten Kapitalanlage 
reihlih aufwog. Erfindungen, welche ein Geichäft, 
das früher gewinnbringend gewejen war, ganz ju 
vernichten drohten, brachten den Sapitaliften oft 
großen Schaden. Konnten fie dieſelben nicht völig 
unterdrüden, jo pflegten fie fie aufzufaufen und beis 
jeite zu legen. Nach dem großen Umſchwung fanden 
fih jo viele folder Patente vor, die von den Kapita- 
liften aus Selbfterhaltungstrieb aufgejpeichert worden 
waren, dab die Welt noch zehn Jahre lang reichlich 
mit Neuerungen verjehen gewejen wäre, falld man 
inzwifchen aud gar nichts mehr entdedt hätte 
Eins der tragijchften Kapitel in der Gejchichte der 
alten Geſellſchaftsordnung erzählt von den Schwierig: 
keiten, Zurüdweifungen und lebenslangen Ent. 
täufhungen, mit denen die Erfinder zu kämpfen 
hatten, bevor fie ihren Enidedungen Eingang ver- 
Ihafften. Die Kapitaliften, die ihnen dazu bebililid 
waren, verfianden ed meift, fie durch ihre jchlauen 
Kunftgriffe um die Früchte ihrer Anftrengung zu ber 
trügen. Heutzutage fommen uns biefe Geſchichten 
faft unglaublich vor, weil die Nation jede Regung 
des Erfindungsgeijtes mit dem größten Eifer bewill⸗ 
fommnet und pflegt. Jedem, der irgend einen neuen 
Gedanken hat, jteht die Unterftüßung der National 
verwaltung völlig fojtenfrei zu Gebote, das Erfin« 
dungsrecht wird ihm gefichert, und man erleichtert eſ 
ihm auf alle Weile, ſich Belehrung, Material und 
Werkzeuge zu verichaffen, wie er fie zur Ausführung 
feines Entwurfes bedarf,“ 

„Wenn man nun bedenkt,“ fagte der Lehrer, 
„twie viel Harer unfre Vorfahren erkannt haben müſſen 
als wir, daß die Privatintereffen dem Fortfſchritt 
feindlid; gegenüberftanden, wodurd läßt es ſich dann 
erflären, daß fie wirflih aufrichtig überzeugt waren, 
ihr Syitem des Privatlapitalismus jei den Er 
findungen förderlich?“ 

„Ohne Zweifel fam das daher,“ antwortete das 
Mädchen, „weil fie bemerkt hatten, daf jede neue 
Erfindung mit Hilfe der Kapitaliften eingeführt wurde. 
Das konnte natürlich gar nicht anders jein, da diele 
allein bie Entſcheidung darüber hatten. Unfre Väter 
überjaben dabei jedoch die Thatfache, da die Kapi- 
taliften gewöhnlich erft alle Kraft anjtrengten, um 
das Auflommen einer Erfindung zu hindern, bevor 
fie ſich entſchloſſen, ihr nicht länger im Wege zu 


Gleichheit. 


ſlehen. Ebenſo gut könnten ſich Kinder einbilden, 
wenn ſie den Fluß an einer Stelle über den Damm 
ſtrömen ſehen, man habe den Damm errichtet, um 
den Abfluß des Waſſers zu erleichtern, während er 
doch ein Hindernis bildete, durch welches das Waſſer 
ſo lange wie möglich zurückgehalten wurde, bis es 
endlich überfloß.“ 

„Unſre heutige Erörterung,” ſagte der Lehrer, 
„sollte fi, fireng genommen, nur auf bie wirtfchaft« 
lichen Folgen der alten Ordnung beziehen; aber wir 
flogen Dabei auf frühere joziale Zuftände, die zu wich« 
tig find, um mit Stillſchweigen übergangen zu werben, 
Wir haben uns überzeugt, wie hinderlic) der Kapita— 
lismus mit feinen Privatinterefien allen Neuerungen 
und Fortichritten auf wirtichaftlichem Gebiet gemwejen 
it. Aber auch auf einem andern Felde machte fich 
fein Einfluß geltend und führte dort zu Ergebnijien, 
die thatſächlich von noch größerer und verhängnis- 
vollerer Bedeutung waren. Sage uns etwas über 
die Art, Flora, auf weiche fi) das Syſtem ber 
Privatintereffen dem Fortfchritt aller neuen Gedanken 
auf geijtigem und filtlichem Gebiet, in Wiſſenſchaft 
und Religion widerſetzte.“ 

„Ehe bie große Ummälzung erfolgte,” ermwiberte 
das Mädchen, „wurbe die höchſte Bildung nicht 
allen zu teil wie bei ums, fondern nur einer 
Heinen Gruppe von Menschen, die fich den gelehrten 
Fächern und Berufswiffenichaften widmeten und na— 
türlih die Lehrer und Führer der Nation wurden. 
Sie beeinflußten die Gedanken des Volfes, ftellten 
die Richtſchnur feines Handelns feit, beherrichten 
dur ihren Geiſt auch alle materiellen Intereſſen 
und beftimmten den Entwidlungsgang der Zivilifation, 
Jeht befigt feine einzelne Klaſſe mehr eine derartige 
Macht, weil e8 bei dem heutigen Standpunkt ber 
allgemeinen Bildung ganz undenkbar wäre, dab das 
Volf ſich blindlings der Führung einiger hervor— 
tragenden Geifter überlaffen ſollte. Wenn aber da— 
mals eine jolhe Einrichtung bejtand und die Bil 
dung ſich auf eine verhältnismäßig jo Meine Anzahl 
beihränkte, jo mußte es von höchſter Wichtigkeit fein, 
daß dieje Leute auch ganz befonders geeignet waren, 
ihre verantwortliche Pflicht mit aller Hingebung für 
dad Gejamtwohl und ohne jede Nebenabjicht zu er 
füllen. Bei dem Syſtem des Privatlapitalismus 
war jebod) dies deal unerreichbar; denn jeder inter- 
eifierte ſich ja ausſchließlich für denjenigen Beruf, 


dem er ſich gewidmet hatte und von deſſen gedeih-⸗ 
ſchritt von vornherein Widerftand leifteten. 


lichen Fortgang er in wirtfchaftliher Beziehung 
abhing. Die gebildeten lafjen, Lehrer, Prediger, 
Schriftfteller und Fachgelehrte, waren eigentlich ganz 
in berjelben Lage wie die Handwerfer, die Schub- 
macher und Zimmerleute. Ihre Wohlfahrt beruhte 
völlig auf der Nachfrage nach den befonderen Lehren 
und Vorftelungen, die fie vertraten, und auf ihren 


971 


Leiftungen in dem Beruf, durch melden fie ihren 
Lebensunterhalt gewannen. In dem Fach, das je— 
mand lehrte oder betrieb, gipfelte fein Privatinterejje, 
es diente ihm zum Broterwerb. Diejer Umftand 
brachte e& mit ſich, daß auch die gelehrten Berufs— 
arten durd; jede Neuerung auf biefem oder jenem 
Felde beeinflußt wurden, wie der Schuhmacher oder 
Zimmermann durd Erfindungen, die fein Handwerf 
betrafen. Entjtand nun irgend eine neue Idee auf 
dem Gebiet der Religion, der Medizin, der Natur- 
lehre, Nationaldfonomie, Sozialwiſſenſchaft oder 
fonft wo in der Geifteswelt, jo fragten die Gelehrten, 
beren Beruf und Lebentunterhalt die Sache anging, 
nicht zuerft danach, ob die Idee an fi wahr und 
gut jei und für die allgemeine Wohlfahrt erſprießlich, 
fie überlegten vielmehr, welde unmittelbare Wir: 
fung fie wohl auf die Lehren, Satzungen und Ein— 
rihtungen haben würde, auf denen ihr perlönliches 
Interefie und Anfehen beruhte. War eine neue re= 
ligidje Vorflellung aufgetaucht, jo dachte der Geifte 
lihe zu allererit daran, wie feine Gemeinde und feine 
perjönliche Stellung in derfelben davon berührt werde. 
Machte man eine neue medizinifche Entdeckung, fo 
fragte fi) der Doktor, welchen Einfluß fie auf die 
Schule, zu der er gehörte, üben könne. Werbreitete 
ih eine Theorie über Wirtſchaftslehre oder Sozial« 
wiſſenſchaft, jo überlegten alle, deren Kapital in ihrem 
Nuf als Lehrer in diejem Fach beftand, wie die neue 
Anſchauung zu den Ueberlieferungen und Lehrſähen 
paßte, die ihr Handwerfäzeug bildeten. Da nun 
jede neue Idee naturgemäß ältere Borftellungen 
auf bemjelben Felde verdrängen muß, jo folgte 
daraus, daß der wirtichaftliche Erhaltungstrieb der 
gelehrten Klaſſen fie unmwillfürlih und fait durch— 
gängig veranlaſſen mußte, fi der Reform oder 
dem geiftigen Fortſchritt auf ihrem Berufsfelde zu 
widerjeßen. 

„Es war nur menſchlich, und man fonnte es ihnen 
faum verdenfen, wenn fie die Neuerungen in ihrem 
Fach injtinftmäßig mit derielben Abneigung ber 
trachteten wie der Weber oder Ziegelbrenner die 
neuen Erfindungen, melde ihn brotlos zu machen 
drohten. Aber man bedenfe nur, welches furdtbare, 
faum überfteigbare Hindernis der Entwidiung des 
Menichengefchlechts in den Weg gelegt wurde, wenn 
die geiftigen führer und Vorbilder der Nation aus 
Rückſicht auf alte Vorftellungen, an die ſich ihre 
wirtſchaftlichen Privatintereſſen Fnüpften, jedem Fort⸗ 
Sobald 
wir dieſe Thatſache in ihrer ganzen Bedeutung er— 
fennen, werden wir und feinen Augenblick mehr dar— 
über wundern, daß die Welt jrüher jo langjam vor- 
wärts geichritten if. Im Gegenteil, wir können 
nur ftaunen, daß fie es überhaupt jemals zu einem 
höheren Aufihwung gebracht hat.” 


972 


XXVII. 
Turch das Gewinnſuſtem wird die Wohlthat neuer 
Erfindungen zu nichte gemadt. 


„Wir haben unfre Betrachtung über die feind- 
liche Stellung, die der Privatlapitalismus gegen den 
Fortſchritt einnahm, in zwei Zeile geteilt,“ ſagte 
der Lehrer. „Zuerſt haben wir gejehen, daf ein 
Spitem beftimmter und vereinzelter Privatintereffen 
feiner ganzen Natur nad) überhaupt im Widerſpruch 
zu Wechſel und Veränderung ftchen muß. Nun 
möchte id von dir, Harold, etwas über den zweiten 
Teil hören — nämlich über die Verminderung und 
Zerflörung des Nubens aller neu eingeführten wirt« 
Ihaftlihen Berbefferungen durch das Gewinnſyſtem. 
Das Ende des achtzehnten und das ganze neunzehute 
Jahrhundert zeichnen ſich durch eine ſtaunenerregende 
Menge großer Erfindungen auf wirtſchaftlichem Ge— 
biete aus, Was veranlaßte denn dieſen beiſpielloſen 
Aufihwung des Erfindungägeijtes ?” 

„Er entiprang aus derjelben Urſache,“ antwortete 
der Stuabe, „wie die ganze demokratiſche Bewegung 
und die Erkenntnis der Gleichheit aller Menſchen, 
welche jih damals Bahn brad. Zum erftenmal 
hatte ſich nämlich ein allgemeineres geiftiges Leben 
im Volle verbreitet, feine Denkiähigfeit nahın taujend- 
fältig zu, und in politiſcher Hinficht trat das Wohl 
der Gejamtheit mehr in den Vordergrund, während 
man biöher nur die Intereſſen einer Heinen Minder« 
beit im Auge gehabt hatte.” 

„Da die großen Erfindungen unter der Herrihaft 
des Privatlapitalismus gemacht worden waren,” 
bemerkte der Lehrer, „jo nahmen unjre Vorfahren 
an, daß dies Syitem der Entfaltung des Erfindungs- 
geiftes ganz bejonderd günjtig fein müſſe. Weißt 
du mir noch etwas über diefen Punkt zu jagen, was 
bisher nicht erwähnt worden iſt?“ 

„Nichts, als daß wir mit demfelben Recht bes 
haupten fönnten, der demofratijche Gedanke, welcher 
in der großen Ummälzung feine höchſte Entwidlung 
fand, verdanfe feine Entftehung dem Königtum, der 
Macht des Adels und der Geldherrihaft, weil dies 
die Gewalten waren, unter deren Einfluß die da— 
malige Zeit ſtand,“ antwortete der Knabe, 

„Dann wollen wir, denke ich, dieſen Gegenfland 
verlaſſen,“ jagte der Lehrer, „und und noch näher 
mit der Aera der großen Erfindungen beſchäftigen, 
welche gegen den Schluß des adhtzehnten Jahr- 
hunderts ihren Anfang nahm.“ 

Harold giebt eine Ueberſicht der That- 
jaden. 

„Seit den älteften Zeiten bis zum lebten Viertel 
des achtzehnten Jahrhunderts,“ jagte der Knabe, 
„hatte die Mechanik faft gar keine Fortſchritte gemacht, 
außer beim Schiffbau und der PVerfertigung von 


Edwarb Bellamp. 


Waffen. Etwa um das Jahr 1780 begann jede 
eine ganze Reihe von Entdedungen neuer Naturkräfte 
und deren Benugung zu wirtichaftlihen Zweden 
duch Maſchinen, was eine völlige Ummälzung im 
Handel und in der Induftrie zur Folge hatte, Wie 
jehr die Kraft des Menjchen durch die Verwendung 
von Dampf und Steinfohlen bei der Güterproduftion 
gejteigert wurde, läßt fi faum berechnen ; man fann 
wohl jagen: er war aus einem Zwerg plöglich zum 
Niefen geworden. Unzählige Entdedungen der ver 
ſchiedenſten Art folgten nun Schlag auf Schlag und 
verurfachten eine ungeheure Erſparnis an Arbeitd 
fräften in allen Gewerben, die dem Menſchen zur 
Erhaltung und Förderung des Lebens dienen. Man 
hätte glauben jollen, daß der menschliche Erfindungs- 
geift auf die Prodbuftionsfraft des Aderbaus keinen 
bedeutenden Einfluß haben könnte, weil im dieſem 
Betrieb die Natur, die ſich nicht übereilen läßt, eine 
größere Rolle jpielt als die Arbeit des Menſchen. 
Und doch hatten die landwirtſchaftlichen Mafchinen, 
bie in Amerifa zur höchſten Bolllommenheit ge 
bracht wurden, nach ungefährer Schätzung das Arbeit! 
produft des einzelnen um das fünfzehnfache vermehrt. 
Alle Produktion aber, die nicht in direfter Abhängig» 
feit von der Natur ftand, war durch die Maſchinen 
in weit höherem Maße beeinflußt worden; es konnte 
fünfzig«, Hunderte, ja viele taufendmal joviel pro: 
duziert werden. Ein einziger Mann war im ftande, 
mehr zu leijten als ein ganzes Heer in früheren Zeit- 
altern.“ 

„Alſo,“ jagte der Lehrer, „während die Bebürf- 
nifle der Menſchen nicht zugenommen hatten, war 
ihre Fähigleit, für Befriedigung derjelben zu jorgen, 
bis ins unendliche gefteigert worden. Diefer unge 
beure Zuwachs an Arbeitsfraft war ein wirtjchaft- 
licher Reingewinn für die Welt, wie ihn die Geichichte 
bisher noch nie erlebt hatte, Wahrlich, es ſchien, 
als hätte Gott der Menfchheit unumfchränfte Boll- 
macht gegeben, alle Kräfte der Schöpfung in ihren 
Dienft zu ftellen. Wenn du nun nichts andres wüßleſt, 
Harold, als da die Produftionsfraft ſich in jener 
Periode Humdertfadh vermehrt hat, und man es dir 
überließe zu beurteilen, was für Verbejlerungen im 
Zuftand des Menſchengeſchlechts daraus entiprumgen 
fein müßten, — zu welcher Schlußfolgerung würdeſt 
du gelangen?“ 

„Bor allem würde ich es für ganz ausgemacht 
halten,“ verjegte der Knabe, „daß jede Art der Uns 
vollfommenheit und des Leidens, die direft ober in- 
direft aus Not und Mangel berrührt, auf immer 
bon der Erbe verbannt wäre. Davon, was Armut 
fei, hätte man natürlicherweije feinen Begriff mehr 
haben jollen. Ja, man hätte glauben follen, der Luxus 
in jeder Geftalt würde fi) über die ganze Welt ver- 
breiten, und die kühnften Träume von Menſchenglüch 


Gleichheit. 


ſoweit fie auf materiellem Wohlfein beruhten, müßten 
ſich verwirklichen laſſen.“ 

„Ganz recht, Harold. Das wäre vernünftiger— 
weiſe zu erwarten geweſen. Nun laß uns ſehen, bis 
zu welchem Grade ſich die wirtſchaftliche Lage des 
Menſchengeſchlechts infolge der großen Erfindungen 
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in 
Wahrheit gebeſſert hat. Schildere uns den Zuſtand 
der großen Maſſe des Volks in den Kulturländern, 
nahdem die Dampffraft jamt den andern wichtigen 
Erfindungen ein Jahrhundert lang im Gebraud 
geweſen war, und vergleiche ihn mit ben Berhältniflen, 
die etwa um das Jahr 1780 herrichten. Hatte jich 
der allgemeine Wohlftand nicht zu einer unendlich 
höheren Stufe emporgejchwungen ?“ 

„Man hat jehr viel darüber geftritten und genaue 
Hatiftiiche Berechnungen angeftellt,“ erwiderte ber 
Knabe, „um zu ermitteln, ob felbjt in ben fort 
geihrittenften KHulturländern — wenn man von dem 
bloßen Wechfel der Moden abfieht und die Klaſſen 
im Durchſchnitt betrachtet — überhaupt bei der großen 
Mehrzahl des Volfs von einer wirklichen Verbeſſerung 
des wirtichaftlichen Zuftandes die Nede fein könne.“ 

„fo, der Fortſchritt war jo geringfügig, daß 
man nicht ficher war, ob überhaupt eine Verbejlerung 
fattgefunden hatte? Mie ift denn das möglich ?” 

„Es jcheint ſchwer begreiffih, und doch war es 
der Fall, Wie es dem englifchen Voll im neun» 
zehnten Jahrhundert erging, bat und Flora ſchon 
geihildert. England beſaß nicht nur den bedeutendften 
auswärtigen Handel, jondern es hatte fih aud am 
früheften und im ausgedehnteften Maße alle großen 
Erfindungen zu nuße gemacht. Trotzdem war das 
engliiche Voll, wie wir aus den Berichten der 
Nationalölonomen willen, am Schluß des neunzehnten 
Jahrhunderts in einem elenderen Zuftand als zur 
Zeit vor Entdedung der Dampfleaft. Auch aus den 
Niederlanden und von der großen Maſſe des deutjchen 
Volles hören wir dasſelbe. Die Arbeiterflaffen in 
Italien und Spanien aber find jelbit in gewiſſen 
Perioden der Herrſchaft des römiſchen Kaifertums 
wirtſchaftlich beſſer gejtellt gewejen ald damals, Wenn 
in Frankreich im neumzehnten Jahrhundert etwas mehr 
allgemeiner Wohlſtand herrfchte als im achtzehnten, 
io war das nur die Folge der gleihmäßigeren Ver— 
teilung von Grund und Boden während der fran« 
zöſiſchen Revolution; den großen Erfindungen vers 
dankte man das in feiner Weiſe.“ 

„Die jtand e3 in den Vereinigten Staaten?“ 

„Hätte fih im dem Zuftand des amerikanischen 
Volls ein weientliher Aufihwung fund getban,“ 
jagte Harold, „jo brauchte man das deshalb noch 
nicht den großen Erfindungen zugufchreiben. In 
einem neuen Lande mit jo wunderbaren Hilfsquellen 
bat das Bolf naturgemäß einen ungeheuren, wenn 


973 


aud nur vorübergehenden Vorteil vor andern Nationen. 
Doch war man fehr zweifelhaft darüber, ob ſich in 
Amerila der Zuftand im allgemeinen mehr gebefjert 
babe als in der alten Welt. Im Iehten Jahrzehnt 
des neunzehnten Jahrhunderts, als die Unzufrieden- 
beit der Lohnarbeiter und Landwirte in beunruhigen- 
dem Grade geftiegen war, lieh die Regierung der 
Vereinigten Staaten ausführliche vergleichende Ta— 
bellen über Lohn» und Preisverhältniſſe veröffent- 
lien, aus denen hervorging, daß fich die wirtſchaft⸗ 
liche Lage der amerifanifchen Arbeiter im Laufe des 
Jahrhundert? um einen Heinen Prozentjat günftiger 
geftaltet Hatte. Nach jo langer Zeit können wir 
natürlih über die Richtigkeit diefer Tabellen im 
einzelnen fein Urteil mehr abgeben, aber hätte ſich 
die große Mafje des Volkes wirflih in einer ge 
beihlicheren Lage befunden, jo würde man ſchwerlich 
nötig gehabt Haben, derartige Berechnungen anzu— 
ftelen, um den wadjenden Mißmut der Bevöl- 
ferung einigermaßen zu bejchwichtigen. Das Volt 
mußte doch feine eignen Verhältniſſe am beiten 
fennen, und wir willen, dab die amerikanischen 
Ürbeiter während der lebten Jahrzehnte des neun« 
zehnten Jahrhunderts der feften Ueberzeugung waren, 
daß fie in wirtichaftliher Beziehung immer mehr 
herunterfämen und Gefahr liefen jo tief zu finfen 
wie das Proletariat und der Bauernjtand im alten 
Europa. Die erjchredende Zunahme ber Bettelei 
und des Vagabundentums, der Banferoft, dem die 
Landwirtſchaft unaufhaltſam zuftenerte, und die er— 
bitterten Aufftände der Pohnarbeiter, welche einen 
fortwährenden induftriellen Kriegszuftand erzeugten, 
geben uns ein richtigeres Bild von den bamaligen 
Verhältniſſen, als jene mühjam ausgearbeiteten Ta- 
bellen der Verteidiger des Kapitalismus.“ 

„Es wäre nutzlos,“ jagte der Lehrer, „auf ihre 
Zahlen näher einzugehen. Uns genügt zu wifjen, 
daß die durch ben menſchlichen Erfindungsgeift un— 
endlich vervielfältigte Produltionskraft im jtande ge= 
wejen wäre, die Armut aus der Welt zu verbannen 
und einen allgemeinen Wohljtand herbeizuführen, 
hätte man fie zum beten der Gejamtheit ausgenußt 
und weiter entwidelt. Dieje Ihatjache ift ſonnenllar 
und Hat mehr Wert für uns als die Haarjpaltereien der 
Nationalötonomen, die fid) ftritten, ob im einen oder 
im andern Lande dieje oder jene Klaſſe um eine 
Kleinigkeit jchlechter oder beſſer geftellt war. Nies 
mand dachte daran zu behaupten, daß irgendwo ein 
weientlicher Fortſchritt zu verzeichnen wäre, oder daß 
ih aud) nur ein Anfang von der günftigen Um— 
wandlung des menihlichen Zuftands abjehen ieh, 
den die Erfindungen hätten erzeugen fönnen und 
jollen, wie allgemein anerfannt wurde. 

„Nun jage uns, Harold, wie erflärten ſich denn 
unſre Vorjahren diefe erjtaunliche Thatjache, die noch 


974 


wunderbarer ift als bie großen Erfindungen ſelbſt? 
Welcher Urſache ſchrieben fie es zu, daß dieje der 
Menſchheit feinen Segen brachten? Man follte doch 
glauben, dab eine jo merkwürdige Erſcheinung, die 
alle berechtigten Hoffnungen auf Menfchenglüd zu 
Schanden machte, jeden verftändigen Menjchen zu 
ernftem Nachdenken veranlaft haben müßte, Kamen 
denn unfre Vorfahren, als fie dieſen furchtbaren 
Mißerfolg erlebten, nicht ganz von ſelbſt zu der 
Ueberzeugung, daß in ihrem Wirtſchaftsſyſtem irgend 
etwas völlig verkehrt und jchlecht fein müſſe und fie 
nichts Schleunigered zu thun hätten, ala es von 
Grund aus zu ändern?” 

„Seltjamertveife jcheint es unjern Urgroßvätern 
gar nicht in den Sinn gelommen zu fein, dab ihr 
Wirtihaftsiyftem ſchuld daran fei. Zwar gaben fie, 
wie gejagt, im allgemeinen die Thatfache zu, daß die 
großen Erfindungen fo gut wie nichts zur Erzeugung 
befjerer Berhältniffe beigetragen hätten; aber woran 
das lag, ſcheint ihnen nicht Mar geworden zu jein, 
In den diden Bänden, die uns die alten National» 
ölonomen hinterlafien haben, finden wir feine ein- 
gehende Beiprehung über den Gegenftand, ja nicht 
einmal ben Verſuch, eine Thatſache zu erflären, mit 
der fi, nad) unjrer Anficht, in der ganzen MWirt« 
Ichaftspolitif vor der Revolution Teine andre an 
Wichtigkeit irgendwie mefien fann. Das jonderbarfte 
babei ift, daß unfre Vorfahren es nicht verftanden, 
einen auch nur nennenswerten Nußen aus den großen 
Erfindungen zu ziehen, und froßdem voller Begeifte 
rung für biefelben waren. Ganz trunfen vor Stolz 
über ihre Thaten, die ihnen doch feinerlei Worteil 
braten, träumten fie Tag und Naht von neuen 
Entdeckungen, durch die fe fich fämtliche Kräfte der 
Natur in noch höherem Grade unterthan machen 
wollten. Aber was wäre e8 wohl den Menſchen 
nütze gemwejen, hätte Gott ihnen aud) alle Schäße 
und Geheimniffe feiner Schöpfung zur Verfügung 
gejtellt, jo lange fie keine wirtſchaftlichen Einrich— 
tungen bejaßen, um die Früchte der wunderbaren 
Entdeckungen auf verfländigere Weiſe als bisher dem 
Wohl der Gefamtheit zuzuwenden? Wenn die Ar— 
mut unverändert beitehen blieb, jo wurde jede Ent» 
dedung, welche die Produttionskraft fleigerte, zu 
einer neuen furdhtbaren Anklage gegen die Thor— 
heit und Ungeredhtigfeit der damaligen Wirtjchafts- 
ordnung. Was waren denn die gewaltigen Maſchi— 
nen anders als ein merfwürdiges millenichaftliches 
Spielzeug, das für die Menſchen nicht mehr wirl- 
lichen Wert hatte als irgend eine bejonders kunſt⸗ 
reich erdachte Gliederpuppe, wenn fie nicht dazu 
bienen fonnten, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern ? 
Das leidenjhaftliche Verlangen nad) immer größeren 
und ausgiebigeren Erfindungen zu wirtſchaftlichen 
Zweden, bei vollftändiger Gleichgültigkeit dagegen, 


Edward Bellamp. 


ob fie ben Menſchen Segen brädhten oder nicht, er 
ſcheint uns wie eine jener ſeltſamen Epibemien, die 
befonders im Mittelalter zumeilen ganze Voöller— 
Ihaften in wahnfinnige Aufregung veriehten. Eine 
vernünftige Erflärung dafür fucht man vergebens,” 
„sh muß die recht geben,” ſagte der Lehrer, 
„Was half e3 wohl, daß Steinfohlenlager entbedi 
wurden, wenn nad wie vor fein Feuer auf bem 
Herbe der Armut brannte? Was nüpten die Ma— 
ihinen, mit denen ein Mann fo viel Tuch meben 
fonnte wie taufend Arbeiter in einem früheren Jahr 
hundert, wenn es noch ebenjoviele zeriumpte und 
frierende Menfchen gab wie vorher? Konnte auf 
der amerifanijhe Landwirt mit feinen Maſchinen 
zwölfmal jo viel Lebensmittel erzeugen als fein Groß: 
vater, jo ftarben doch mehr Menſchen vor Hunger, 
es gab mehr elend geffeidete und elend gemährte 
Leute im Lande als je zuvor, und noch nie hatte 
man ſolche Scharen heimatlofer, verzweifelter Bago- 
bunden umberziehen jehen, die ihr Brot von Ihür 
zu Thür erbettelten. Unfre Väter hatten Dampfſchiffe 
erfunden, die ala ein Wunder angeftaunt wurden, 
aber ihr Hauptgeihäft war, Die verarmte Bevöllerung 
ber alten Länder in ein neues Land binüberzufchaffen, 
wo jie nad furger Zeit notwendigerweiſe abermals 
an den Bettelftab fommen mußten, trob aller Arbeit 
erfparenden Maſchinen. Um die Mitte des Jahr 
hunderts geriet die Welt ganz außer fi vor Ent 
züden über bie Erfindung ber Nähmaſchine; man 
glaubte, daß fie der Menjchheit eine Rieſenlaſt von 
den Schultern nehmen würde. Yünfzig Jahre fpäter 
war jedoch das Verfertigen von Kleidungsſtüden, 
das fo fabelhaft errleichtert werben follte, nicht mur 
in Europa, jondern aud) in Amerifa zu einem wahren 
Skiavendienft geworben, der unter dem Namen 
Schwitzſyſtem‘ jogar der damaligen Generation dei 
größte Aergernis bereitete. Statt Stahl und Feuer- 
ftein gebrauchte man Zündhölzer, an Stelle von 
Kerzen und Lampendl Gas und eleftriiches Licht, doch 
beleuchtete es ebenjoviel Schmuß, Elend und Er: 
bärmlichkeit, und das Schaujpiel nahm ſich in dem 
helleren Glanz no abjhredender aus, Zu Anfang 
des neunzehnten Jahrhunderts gingen alle Bettler in 
Amerila zu Fuß; gegen Ende besjelben ftahlen fie fih 
in die Bahnzüge hinein und ließen fidh per Dampf 
befördern, aber es gab fünfzigmal mehr Bettler als 
früher. Man fuhr mit einer Gefchwindigfeit von 
ſechzig Meilen die Stunde, ftatt der fünf oder zehn 
zu Beginn des Jahrhunderts: aber bei der wilden 
Hebjagd Tief die Armut immer getreulich nebenher 
und begleitete fie, wie den Reiter fein Schatten.“ 


Helene erklärt die Thatfaden. 


„Nun, Helene,” fuhr der Lehrer fort, „erfläre 
ung einmal die Thatjadhen, von denen Harold 


Gleichheit. 975 


gefprodhen hat. Wie kam e3, daß die Erfindungen, 
tropdbem fie die Produftionskraft fteigerten, der 
Menſchheit feinen Nuben brachten, während jie doch 
nad) vernünftiger Berechnung den ganzen Zuftand 
auf Erden hätten umwandeln und allen Mangel aus 
der Welt vertreiben jollen? Weshalb hatte das alte 
Syſtem des Kapitalismus einen jo ungeheuren Miß⸗ 
erfolg zu verzeichnen ?* 

„Der Privatgewinn war ſchuld daran,“ jagte das 
Mädchen. 

„Erfläre uns das deutlicher.” 

„Die großen Erfindungen auf wirtiaftlichem 
Gebiet,“ fuhr Helene fort, „hatten den Zwed, Arbeit 
zu erfparen. Das heißt, fie machten e3 dem Men— 
ſchen möglich, mit derjelben Anftrengung mehr als 
früher zu produzieren — oder ebenjoviel wie früher 
mit weniger Anftrengung. Bei einer gemeinjamen 
Verwaltung der Imduftrie zur Förderung des Ge- 
ſamtwohls, wie wir fie haben, würde der Mehrertrag 
allen zu gute gefommen jein, oder wenn das Bolt 
es vorzog und dafür flimmte, wäre der Ertrag der—⸗ 
jelbe geblieben und die durch die Arbeitäerleichterung 
gewonnene größere Muße hätte von allen gleihmäßig 
genofjen werden fönnen. Aber unter dem alten Syftem 
gab es keine Gejamtverwaltung. Die Kapitalijten 
allein Hatten da8 Heft in den Händen, weil außer 
ihnen niemand im flande war, ſich auf induftrielle 
Unternehmungen einzulafjen oder fie auszuführen. 
Bei all ihrem Thun hatten fie aber weder das öffent- 
liche Interefje, nod) das Geſamtwohl im Auge, jon- 
dern nur ihren perfönlichen Gewinn. Führte der 
Kapitalift eine neue Erfindung ein, fo ging er dabei 
entweder von dem Gedanken aus, für bdenjelben 
Arbeitslohn ein größeres Produft zu erlangen, oder 
für dasfelbe Produkt einen geringeren Arbeitslohn 
zu zahlen. Nehmen wir den eriteren Fall: Ein 
Kapitaliſt hat ſich eine Arbeit erjparende Maſchine 
angeichafft, will aber alle jeine Arbeiter beibehalten 
und feinen Gewinn dadurch erzielen, daß er für die 
gleihen Koften ein größeres Arbeitsproduft erhält. 
Denn früher der Fapitalift jeinen Ertrag vergrößern 
wollte, mußte er mehr Arbeiter dingen und ihnen 
Lohn zahlen, für den fie dann ihren Bedarf auf dem 
Diarkte faujten., Dadurd wurde zugleich mit der 
Vermehrung des Prodults aud die Kaufkraft im 
Gemeinweſen geftärkt, wenn auch in unzulänglichem 
Make. BVergrößerte aber der Kapitalift feinen Er— 
trag mit Hilfe der Majchinen, ohne die Zahl jeiner 
Urbeiter zu vermehren, jo entſprach feine größere 
Kauflraft im Gemeinwejen der größeren Güter: 
produktion. Nur durch den Lohn, welchen die mit 
dem Bau der Mafchinen beichäftigten Arbeiter er— 
hielten, wurde die Kaufkraft erhöht; aber diejer war 
gering im Vergleich zu der Vermehrung des Ertrags, 
ben der Kapitalift für ſich erhofjte, jonjt hätte «8 


für ihn feinen Zwed gehabt, fi eine Mafchine an» 
zuſchaffen. Die Zunahme der Produfte diente aljo 
nur dazu, den ohnehin ſchon überfüllten Markt noch 
mehr zu überfüllen. Kauften ſich nun aber viele andre 
Rapitaliften ebenfalls Mafchinen, jo fteigerte fich die 
Meberprodultion zu einer Frifis, und im ganzen Be— 
trieb mußte ein Stillftand eintreten, 

„Die Kapitaliften fonnten durch verſchiedene 
Methoden die Unglüd abwenden ober wenigftens 
den Schaden verringern. Entweder, fie jehten den 
Preis der vermehrten Mafchinenprodufte herab, jo 
daß die ftodende Kaufkraft fi einigermaßen wieder 
belebte und die Leute jo viel erjtehen konnten, wie 
von der ſchlechteren Sorte ber feuern Produkte vor 
Einführung der Maſchine. Bei diefem Verfahren 
hatten die Kapitaliften aber feinen Ertragewinn durch 
ihre Majchine, e8 fam nur dem Gemeinwejen zu gute, 
und dab fie ihr Geſchäft nicht bloß dieſem zulieb 
betreiben wollten, braucht nicht erft noch erwähnt 
zu werden. So griffen denn die Kapitaliften meift 
zu dem andern Mittel: fie behielten diefelbe Menge 
der Produkte bei, und um einen Gewinn zu erzielen, 
entließen fie einen Teil der Arbeiter und ſparten den 
Ürbeitälohn an den Koflen des Ertrags. Sehte zum 
Beifpiel die Maſchine einen Mann in den Stand, 
fo viel zu leiften wie früher zwei Arbeiter, jo fonnte 
der Rapitalift die Hälfte feiner Leute foriſchicken, 
die erfparten Arbeitäfoften in die Taſche fteden und 
doch genau jo viel produzieren wie vorher. Ueber—⸗ 
dies war hierbei noch ein bejonderer Vorteil, Die 
entlafjenen Leute vermehrten die Scharen der Arbeits« 
loſen, die einander unterboten, um Gelegenheit zur 
Urbeit zu befommen. Je verzweifelter diejer Weit- 
ftreit wurde, umfo leichter fonnte der Kapitalijt den 
Lohn der Leute herabjeen, die er nod) behalten hatte. 
Das gewöhnliche Ergebnis der Einführung einer 
Maſchine war aljo zuerjt die Entlafjung von Ars 
beitern und über fur; oder lang die Herabſetzung 
der Löhne derer, welche im Gejchäft geblieben waren,“ 

„Wenn ich dich recht verjtanden habe,” jagte der 
Lehrer, „vergrößerten aljo die Arbeit jparenden Er» 
findungen entweder die Probuftionsfraft ohne ent» 
Iprechende Vermehrung der Kaufkraft im Gemeinwejen, 
wodurch ein Meberfluß an Gütern entftand, oder fie 
verminderten die Kauflraft der Maffen wejentlic) 
dur Entlafjung und Lohnherabjeung, während die 
Menge der Produkte nod) jo groß war wie früher, 
Das heißt nichts andres, als daß durch die Arbeit 
erfparenden Maſchinen der Abſtand zwiichen Pro- 
dultion und Konjumtion vergrößert wurde und als 
Gewinn in den Händen ber Sapitaliften blieb.” 

„Sa, jo meine ih es. Die Hapitaliften führten 
die Mafchinen nur ein, um einen größeren Gewinn 
für ſich zu erzielen, indem fie den Anteil der Arbeiter 
verminderten. So fam es, daß die Arbeit erjparenden 


976 Edbwarb 
Maihinen, anftatt den Mangel aus der Welt zu 
ſchaffen, bei dem herrſchenden Gewinnſyſtem ein 
Mittel wurden, um die große Maffe des Volls noch 
raſcher als je der Verarmung zuzutreiben.” 

„Aber wurden die Kapitaliften nicht durch die 
Konkurrenz gezwungen, einen Teil ihres vergrößerten 
Gewinns wieder aufzugeben, weil fie die Preiſe herab⸗ 
jegen mußten, um ihre Waren los zu werden?“ 

„Ohne Zweifel, doch damit wurde die Kon— 
fumtionsfraft des Volles nicht erhöht; denn, wie 
wir fchon gehört haben, retteten die Kapitaliften 
ihren Gewinn fo lange wie möglich. Mußten fie 
den Preis herunterfegen, jo verichlechterten fie zuerſt 
die Waren und verminderten dann den Arbeitslohn, 
bis fie das Publilum und die Lohnarbeiter nicht 
länger betrügen und ausbeuten fonnten. Dann erjt 
opferten fie einen Teil des Gewinns, die Konfumenten 
aber waren bereits jo verarmt, daß fie nicht mehr 
daran dadjten, ihren Verbrauch zu erhöhen. Johann 
hat uns heute morgen gejagt, daß in den Ländern, 
welche die ärmſte Bevölkerung hatten, auch die 
niedrigften Preije berrichten, aber dem Volk brachte 
das feinen Nutzen.“ 


Der amerikaniſche Landwirt und die 
Maſchine. 


„Nun möchte ich dich aber noch fragen,” fagte 
ber Lehrer, „was für einen Einfluß die Arbeit jpa= 
renden Erfindungen auf eine Klaſſe jogenannter 
Kapitaliften hatten, welche die Hälfte der amerifa- 
nischen Bevölkerung bildeten, ich meine die Land- 
wirte, Boden und Mdergeräte gehörten ihnen, 
mochten auch noch jo viele Hypothelſchulden darauf 
laften, daher zählten fie dem Ramen nad) zu den 
Kapitaliften, waren aber in Wirklichkeit ebenfo gut 
die Opfer des Kapitalismus, wie die Proletarierffafie 
ber Arbeiter. Die landwirtſchaftlichen Majchinen in 
Amerika leifteten im neunzehnten Jahrhundert wirf- 
lihe Wunder an Arbeitserfparnis, und doch kam 
der amerifanifche Landwirt immer mehr in Not, ſo— 
bald man mit ihrer Einführung begann, Wie läßt 
ſich das erflären? Warum häufte der Landwirt den 
Gewinn, weldhen er den Majchinen verdanfte, nicht 
ebenfo gut auf wie die andern Rapitaliften?* 

„Der Gewinn, den die Maſchinen einbrachten,” 
antwortete das Mädchen, „entfprang, wie bereits ge= 
jagt, aus der größeren Ertragsfähigfeit der ver= 
wendete Arbeitäfraft. Der SKapitalift fonnte ent« 
weder mit denſelben Koften mehr erzeugen, oder 
ebenjoviel mit geringeren Koſten, wenn er die Ars 
beiter entließ und durch die Mafchine erſetzte. Der 
Gewinn hing daher von der Ausdehnung des Betriebs 
ab: das heit, es fragte fi, ob viele Arbeiter an« 
geftellt waren und der Arbeitslohn eine bedeutende 
Role im Geſchäft ſpielte. Wo die Landwirtſchaft 


Bellamp. 


in jehr großem Maßſtab betrieben wurde, wie da 
mal® auf den jogenannten Bonanzagütern in den 
Vereinigten Staaten, die zwanzig oder dreißigtaufend 
Morgen umfaßten, hatten die Kapitaliften, die fie 
bewirtjchafteten, zeitweije einen fabelhaften Gewinn, 
welchen fie unmittelbar den Arbeit erfparenden Ma- 
ſchinen verdankten und der ohne diejelben unmöglid 
gewejen wäre, Die Maichinen jeßten fie in den 
Stand, eine weit größere Menge ihrer Erzeugniſſe 
auf den Markt zu bringen, ohne die Arbeitsloſten 
bebeutend zu vermehren, oder Diefelbe Menge wie 
früher mit jehr verminderten Koften. Die meiften 
amerifanijchen Landwirte hatten jedoch nur einen 
Heinen Betrieb, ftellten wenige Arbeiter an und be» 
jorgten ihr Geſchäft größtenteils jelbit. Sie konnten 
dur Entlafjung von Arbeitern bei Einführung der 
Maſchinen nur wenig Gewinn erzielen. Statt da 
ber die Koften ihres Ertrags zu verringern, mußten 
fie ihren Borteil darin juchen, durch ihre vergrößerte 
Arbeitskraft einen Mehrertrag zu erzielen. Die 
Kauffraft der Gejamtheit hatte aber inzwiichen nidt 
zugenommen: es war nicht mehr Geld zur Bezahlung 
der Produkte vorhanden ala zuvor. Vermehrten alfo 
ſämtliche Landwirte bei Einführung der Maſchinen 
ihren Ertrag, jo konnten fie ihre Erzeugnifie nur zu 
berabgejehten Preifen 108 werden, jo daß fie ſchließ⸗ 
li für den Mebrertrag gerade fo viel erhielten wie 
früher für die geringere Menge. Ja, häufig erhielten 
fie weit weniger, denn jelbjt ein unbedeutender Ueber 
ihuß in der Hand ſchwacher Kapitaliften, die ges 
zwungen waren zu berfaufen, drüdte Die Marttpreife 
oft ganz unverhältnigmäßig herab. In den Ber 
einigten Staaten waren dieſe Meinen Landiirte jo 
zahlreich und ihre Geldnot oft fo drüdend, daß fie 
zu Ende des Jahrhunderts die Marftpreife nicht nur 
für fich jelber verbarben, jondern ſchließlich auch für 
die großen Kapitalijten, welche die ausgedehnten 
Sandgüter bewirtichafteten.“ 

„Wir kommen aljo zu dem Schluß, Helene,“ 
jagte der Lehrer, „dab durch die Arbeit erjparenden 
Maſchinen die jämtlihen Meinen Landwirte ber Ver 
einigten Staaten zu Grunde gerichtet wurden.“ 

„Gewiß,“ verfeßte das Mädchen. „In dieſem 
Fall beftätigt die Geſchichte unſre Theorie voll» 
ftändig. Die Erfindungen, welde des Yandwiris 
Produftionäkraft um das fünfzehnfache vermebrien, 
machten ihn banferott. Daran war allein das Ger 
winnſyſtem jchuld, und fo lange es beitehen blieb, 
gab es feine Rettung für ihn.” 

„Waren denn die Landwirte die einzigen Heinen 
Kapitaliften, welche durch die Majchinen mehr ge 
ſchädigt als gefördert wurden ?” 

„Nein, diefelbe Regel galt für alle Heinen Rapi- 
taliften, mochte ihr Geichäft fein, was es mollt. 
Bon der Größe des Betriebs hing es ab, ob fie bei 


Gleichheit. 


Einführung der Maſchinen viele Arbeiter entlaſſen 
lonnlen. Wurden ihre Arbeitsfoften nicht auf dieſe 
Weiſe verringert, jo gerieten fie in furdtbaren Nach» 
teil gegen die Großfapitaliften. Daher waren es 
hauptſächlich die Arbeit erjparenden Mafchinen, die 
gegen Schluß des neunzehnten Jahrhunderts jede 
Konkurrenz zwijchen Heinen und großen Rapitaliften 
zu einent Ding der Unmöglichfeit machten und die 
Zahl derer, welche in wirtichaftlicher Beziehung die 
Herren der Welt waren, mehr und mehr beichräntte,” 

„Wäre nun der Umſchwung nicht gelommen, 
Helene, hätte man noch immer mehr Arbeit er- 
iparende Mafchinen erfunden, und wäre ed ben 
großen Kapitaliften gelungen, wie man bereit$ voraus» 
ſah, alle Macht in ihren Händen zu vereinigen, jo 
daß auch die Vergeudung des Gewinns durch ihre 
Konkurrenz untereinander aufhörte — was wäre dann 
die Folge geweien?” 

„In diefem Fall,“ antwortete das Mädchen, 
„würden alle überflüffigen Güter, die früher im 
Weltbewerb verſchwendet worden waren, außfchließ- 
li dazu gedient haben, einen immer größeren Qugus 
zu erzeugen. Die neuen Maſchinen hätten es er— 
möglicdht, daß Jahr für Jahr ein ftetS Meinerer Bruch⸗ 
teil der Menjchheit mit der Produktion der zu ihrer 
Unterhaltung nötigen Lebensbedürfniſſe bejchäftigt 
gewejen wäre, während die übrige Welt in unpro— 
duftiver Thätigkeit dem Luxus der Reichen gefrönt 
oder fich ihrem perſönlichen Dienft gewidmet hätte, 


Die Menſchheit würde fi in drei Klaſſen geteilt | 


haben: in eine Kafte von Herren, deren Zahl ſehr gering 
war, in eine ungeheure Maſſe unproduftiver Arbeiter, 
die dem Prunf und Luxus der Herren dienten, und 
in eine Heine Schar wirklich produftiver Arbeiter, 
die bei der VBervolllommnung der Maſchinen für jämt- 
liche Bedürfniſſe zu jorgen vermochten. Alle außer 
den Herren hätten ſich auf die farge Notdurft ber 
Ihränten und ein höchſt armfeliges Leben führen 
müffen, das verfteht ji) von ſelbſt. Im Altertum 
haben wir bei untergehenden Reichen ſchon häufig 
dad Schaufpiel eines glänzenden Kaiferhofes mit 
feinen pruntenden Edelleuten gejehen, für deren 
Ihwelgerifchen Sinnengenuß darbende Nationen zu 
jorgen hatten. Aber etwas weit Verderblicheres als 
die alte Herrſchaft der Ariftofratie wäre im zwanzig« 
ften Jahrhundert eingetreten, wenn nicht die große 
Ummwälzung gelommen wäre und dem Sapitaliß- 
mus ein Ende gemadt hätte. Um die Lebend- 
bebürfniffe der Welt zu befriedigen, war früher die 
produftive Arbeit für die große Mafje der Bevöl« 
lerung eine Notwendigkeit. Den Reichen ſtand nur 
eine verhältnismäßig Meine Arbeiterzahl zur Ver— 
fügung, weldje ihrer Genußfucht und Prachtliebe 
diente. Bei der Plutofratie aber, mie wir fie im 
Auge haben, würde der Erfindungsgeift mittels der 
Aus fremden Zungen, 1897. IL. 21. 





— — — — — — 
— — — —— 


977 


Arbeit erſparenden Maſchinen den Herren der Welt 
die Möglichkeit eröffnet haben, den größten Teil der 
ihnen unterthänigen Bevölferung in den unmittel- 
baren Dienft ihres Pomps und Lurus zu ftellen. 
Das hatte zuvor noch fein Dejpot, von dem uns 
die Geſchichte erzählt, in folhem Maße vermocht. 
Das widerwärtige Schaufpiel von Menſchen, die als 
Götter über ber großen Maſſe des elenden Boltes 
thronen, welches vor ihnen anbetend im Staube liegt, 
wie es Aſſyrien, Negypten, Verfien und Rom in 
alter Zeit jahen, wäre durch die Plutokratie nod) 
überboten worden.“ 

„Genug, Helene,” jagte der Lehrer. „Wir wollen 
nunmehr unjre Erörterung über das Wirtſchafts- 
ſyſtem des Privatfapitalisınus fließen, welchem durch 
die große Ummälzung für immer ein Ende gemacht 
wurde. Der Gegenitand ließe ſich natürlich noch 
von vielen andern Geiten betrachten, aber das 
Studium würde ebenjo uneriprießlich wie entmutigend 
fein. Die wejentlihjten Punkte haben wir, glaube 
ih, alle erwähnt. Sobald ihr verfteht, wie und 
weshalb durh Gewinn, Rente und Zins die ſton— 
fumtionsfraft des größten Teils der Geſamtheit 
auf ein Bruchteil ihrer Produktionäfraft vermindert 
und dadurch auch leßtere beeinträchtigt wurde, habt 
ihr den Schlüffel zu dem Geheimnis, weshalb die 
Welt vor der Ummälzung in Armut veriunfen ift. 
Jede Verbejlerung in dem wirtjhaftlihen Zuftand 
der Menfchheit, jeder wichtige und dauernde Forte 
ſchritt war gänzlich ausgeſchloſſen, wenn nicht ber 
Privatlapitalismus, von dem das Gewinnfgitem mit 
Rente und Zins unzertrennlicd war, für ewige Zeiten 


abgeſchafft wurde.” 
XXIX. 


Mir wird eine Huldigung dargebracht. 

„Und nun habe ich eine große Ueberraſchung für 
euch,” fuhr der Lehrer fort, indem er einen Blid auf 
die Galerie warf, wo wir beide, der Doktor und ich, 
ganz verftedt jahen. „Unter den Perjonen, welche 
heute vor» und nachmittag bei eurer Prüfung zu— 
gehört haben, ift jemand, der beſſer al$ irgend ein 
andrer Menſch, ja, der jogar ganz allein von allen, 
bie jeht auf Erden leben, beurteilen kann, ob ihr die 
Verhältniffe im neunzehnten Jahrhundert richtig dar⸗ 
geftellt habt. Wer das ift, werdet ihr wohl erraten 
können. Um euch nicht zu zerftreuen, habe ich es bis 
zu diefem Augenblid verjchoben, euch mitzuteilen, daß 
fein Geringerer als Herr Julian Weit, unſer verehrter 
Gaſt, unter uns weilt, und daß er mir freundlichit 
erlaubt bat, euch mit ihm befannt zu machen.“ 

Ich hatte dem Lehrer dieje Erlaubnis ziemlich un« 
gern gegeben, denn ich fürdhtete, daß die Neugier 
der Kinder jehr unbequem fein würde. Aber ich jollte 
die Jugend des zwanzigften Jahrhunderts erft noch 
fennen lernen. Als fie mich umringten, konnte man 

123 


978 


in den ernften Augen der Mädchen umd ben ertegten 
Gefihtern der Knaben Iejen, was für Gedanfen und 
Gefühle meine Gegenwart bei ihnen wachrief. Sie 
waren weit entfernt von oberflächlicher Neugier, und das 
Intereife, welches fie meiner Perſon entgegenbrachten, 
ſprach fi in fo zarter Weile aus, daß jelbit das 
empfinblichfte Gemüt durch ihre Teilnahme nicht be= 
leidigt worden wäre, 

Aehnlich hatten fih ja auch alle Erwachſenen bes 
nommen, mit denen ich bis dahin verfehrt hatte, 
aber bei Schulfindern war mir jo viel Zartgefühl 
jehr überrafchend. Es wurde mir erft Mar, welchen 
Einfluß die geläuterte Atmoſphäre, in der die Kinder 
jegt von fein auf leben, auf ihr Benehmen haben 
muß. Sie hatten ja niemals einen rohen, groben 
oder unhöflihen Menſchen gefehen, ihr Vertrauen 
war nie getäuicht, ihr Herz nie verwundet worden, 
und niemand hatte ihnen Grund zum Mißtrauen 
gegeben. Da fie einen Standesunterjchied bei ihrer 
Umgebung nicht fannten, braudten fie auch nicht 
zweierlei Benehmen zu lernen; fie brauchten nicht zu 
feinen, was fie nit waren, und hatten feine Heim» 
lichfeiten.. Was fonnte da natürlicher fein, ala daß 
jede Ziererei diefen Kindern fremd war? 

In Wahrheit find e8 ja auch dieje weiteren Fol— 
gen der wirtichaftlichen Gleichheit, die moralijchen und 
jozialen Einwirkungen, welche am meiften zum Glüd 
der Menjchen beigetragen haben, weil fie diejelben in 
eine gereinigte, veredelte Atmoſphäre verjekten. 

Ih fing jogleih an, mit den jungen Leuten fo 
vertraut zu plaudern und zu feherzen, als wären wir 
jeit langer Zeit miteinander befannt, Ihre Teils 
nahme an allem, was ic) ihnen erzählte, und meine 
Freude an ihren unbefangenen Yeußerungen war jo 
groß, dab eine Stunde wie im Fluge verging. Die 
Jugend ift immer anregend, und der Verkehr mit 
diefen frischen, ſchönen, freimütigen Rindern wirkte 
wie ein jtärfendes Bad. 

Flora, Efther, Helene, Marianne, Margarete, 
Georg, Robert, Harold, Paul! Nie werde ich euch 
vergeſſen, ihr Mädchen mit den leuchtenden Augen, 
ihr herrlichen Knaben, in demen ich zuerft die Jugend 
bes zwanzigften Jahrhunderts verkörpert jah. Hat 
Gott edlere Seelen auf die Erbe hermiedergefandt, 
num die Welt jo viel würdiger ift, fie zu empfangen? 


XXX, 
Was iſt allgemeine Bildung? 


Es war einer jener jhönen Nahmittage im Spät- 
fommer, an denen es uns wie eine Sünde vorfommt, 
eine einzige Stunde ohne Rot im Zimmer zu verbringen, 
Da wir gar feine Eile hatten, mielete der Doltor 
auf dem nächſten Halteplak einen Motorwagen für 
zwei Perjonen, und wir fuhren in der Richtung auf 
fein Haus zu, wobei wir allerhand verlodende Um« 


Edwarb Bellamy. 


wege machten, Während mir geräufchlos über die 
glatten Wege rollten, auf welche die Bäume reits 
und linfs ihre bunten Blätter geftreut hatten, brüdie 
ih dem Doktor mein Erftaunen über die FFrühreie 
diefer Schulfinder aus, die mit dreizehn und bier- 
zehn Jahren ſchon über Dinge ſprechen konnten, die 
zu meiner Zeit nur in Fortbildungsfurjen und auf 
Univerfitäten erörtert wurden. Das nahm der Dolter 
aber nicht ſchwer. 

„Seit alle Menſchen gleichen Anteil am Arbeit 
und Gewinn haben,“ jagte er, „ift die MWirtidaftz 
lehre eine jo einfahe Wiſſenſchaft geworben, daß 
jedes Kind, welches weiß, wie man feinen Apkt 
redlich mit den feinen Brüdern teilt, ihre Rätfel zu 
löfen verfteht. Es ift auch jehr leicht, die Fehler 
einer falſchen Wirtichaftslehre auseinanderzufehen, 
wenn man Gelegenheit hat, fie mit der richtigen zu 
vergleichen. Was übrigens die geiftige Frühreife be⸗ 
trifft,“ fuhr der Doftor fort, „fo glaube ich gar nid, 
daß fie bei unfern Kindern, im Vergleich mit der 
damaligen Jugend, beſonders hervortritt. Jedenfalls 
geben wir ung feine Mühe, dieje Eigenfchaft zu em— 
wideln. Ein aufgewedtes Kind von zwölf Jahren 
aus dem neunzehnten Jahrhundert würde ſich in 
betreff der fFähigteiten ſehr gut mit uniern Zwölf⸗ 
jährigen mefjen können. Erft wenn Sie die beiden 
zehn Jahre jpäter vergleichen, müßte fich der Unter» 
ſchied in den Erziehungsprinzipien fühlbar machen. 
Bei euch war die Durhichnittsbildung eines Jüng- 
linge von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren 
wahrſcheinlich nicht viel größer, als die des vierzehn 
jährigen Knaben, denn etwa in dieſem Lebensalter 
mußte er die Schule verlafien, um in eine Fabril 
oder einen lanbwirtfchaftlichen Betrieb einzutreten — 
wenn er nicht zufällig zu den Kindern ber begüterten 
Minderheit gehörte. Unfre jungen Leute jehen ihre 
Studien ununterbrodien fort, jo daß ihre Kenntnifie 
von zweiundzwanzig Jahren dem entjprechen würden, 
was ihr eine Univerfitätsbilbung nanntet.“ 

„Das Erziehungswefen muß ja jeht einen enormen 
Apparat erfordern, wenn jeder Menſch eine höhere 
Bildung erhalten joll. Unfre Elementarſchulen braten 
allen Rindern die Grundlagen bei, aber faum der 
zwangigfte Teil kam bis zur lateinischen Schule, und 
böchitens der hundertſte fonnte ein Gymnafium be 
fuchen. Eine Hochſchule jah kaum der tauiendite 
Zeil der jungen Leute. Die großen Univeriitäten 
aus meiner Zeit müfjen ja Meine Städte geworden 
fein, wenn fie alle Studenten aufnehmen jollen, die 
ihnen jebt zuſtrömen.“ 

„Sie mühten fi) jogar zu jehr großen Stäbten 
entwidelt haben, wenn fie allein die Pflege det 
höheren UnterrichtS der Jugend übernehmen jollten,” 
erwiderte der Doktor; „denn während die Zahl 
eurer jährlichen Promotionen einige taufend oder 


Gleichheit. 


zehntauſend betrug, beläuft ſich die unfrige auf ebenſo⸗ 
viele Millionen. Aus dieſem Grunde, das heißt 
wegen ber großen Zahlen, mit denen wir rechnen 
müffen, können wir ben höheren Unterricht ebenjo- 
wenig zentralifieren, wie ihr früher ben Elementar« 
unterricht. Jede Gemeinihaft hat jet ihre Univer- 
fität, wie fie ehemals ihre Vollsſchulen hatte, und 
aus der nächſten Umgegend ſtrömen derjelben mehr 
Studenten zu, al3 eine eurer großen Univerfitäten 
aus der ganzen Welt zujammenbringen konnte.“ 

„Aber zieht nicht der Ruf diejes oder jenes be= 
deutenden Lehrers die Studenten nad) einer beftimm«- 
ten Univerfität?* 

„Dem fann leicht abgeholfen werden,“ erwiderte 
der Doktor, „Unjre Telephone und Eleftrojfope find 
io volllommen, daß man in jeder Entfernung den 
Unterricht eines beliebten Lehrers genießen kann. 
Jeder Profeſſor hält heutzutage mit Leichtigkeit jeine 
Vorlefung vor Millionen von Zuhörern — wenn er 
heiter jein follte, fogar mit halber Stimme — wäh« 
rend fich eure Profefioren in einem Hörjaal, der 
fünfzig Studenten faßte, jhon anftrengen mußten, 
um verftanden zu werden.“ 

„Doltor,* jagte ich, „Leine andre Neuerung eurer 
Zivilifation ſcheint mir jo erfreuliche Ausfichten zu 
eröffnen, als dieſe Verbreitung einer höheren Bil— 
dung, bie im voraus alle Schwierigfeiten bei der 
Durchführung eures fozialen Syftems befeitigt. Ich 
glaube, jede vernünftige Geſellſchaftsordnung müßte 
Eingang finden, wo dieje Bedingung erfüllt ift. In 
der Theorie haben meine Zeitgenofjen auch jehr wohl 
erfannt, wie notwendig eine gute Vollserziehung für 
die erfolgreiche Leitung eines demolratiſchen Staatd« 
wejens fein muß; aber, mit der heutigen Vollsbildung 
verglichen, war bod) unſer Syftem, bei dem Die große 
Maſſe kaum lefen lernte, ein Poſſenſpiel.“ 

„Das fonnte nicht anders fein,“ erwiderte der 
Doktor. „Die Bafis jedes Unterrichts ift wirtichaft« 
licher Art, denn dieſer verlangt, daß der Schüler 
während der Lernzeit jeinen Unterhalt hat, ohne 
etwas zu erwerben. Wenn die Ausbildung ihren 
Zwed erreichen foll, muß fie nicht nur die Kindheit, 
fondern auch ein reiferes Alter, wenigitens bis zum 
jwanzigften Jahr, umfaſſen. Das erfordert große 
Ausgaben, die zu eurer Zeit unter taufend Vätern 
faum einer zu tragen im ftande war. Der Staat 
hätte fie übernehmen lönnen, aber das wäre darauf 
binausgefommen, daß die Reichen den Unterhalt der 
armen Kinder bezahlten, und davon wollten fie na= 
türlid nichts wiſſen; fie fanden, daß Kenntnijfe in 
den Anfangsgründen für die ärmeren Vollsklaſſen 
genügten, Und jelbjt wenn das Geld feine Rolle 
dabei jpielte, wären die Reichen doc Narren gewefen, 
wenn fie den unteren Volksſchichten eine höhere Bil 
dung zum Geſchenk gemacht hätten. Sie jollten ja 


979 


alle ſchmutzige Arbeit verrichten, und dagegen hätten 
fie ji) gewiß bei Harer Einfiht empört. So war 
denn euer Wirtichaftsfyften ganz unvereinbar mit 
einer Vollsbildung, die diefen Namen verdient. Die 
joziale Gleichheit dagegen betrachtete es als eine ihrer 
eriten Aufgaben, allen den nämlichen Unterricht er— 
teilen zu lajjen, und zwar den beiten, den die Ge— 
meinſchaft bezahlen lonnte. Eins der intereffanteften 
Kapitel aus der Geſchichte des Umfchwunges erzählt 
ung, wie — unmittelbar nad Einführung des neuen 
Syſtems — die jungen Leute unter zwanzig Jahren 
fi in ſolchen Mafjen zu Schulen und Univerjitäten 
drängten, daß faum Pla für fie gejchaffen werden 
fonnte. Die meiften hatten auf dem Feld und in 
ber Fabrik gearbeitet und wollten womöglid das 
Verfäumte noch nachholen. Sie alle jahen, daß die 
höhere Bildung, welche auch ihnen bei der wirtichajt« 
lichen Gleichheit erreichbar war, die größte Wohlthat 
der neuen Gejelljhaftsordnung fe. Die Geſchichte 
erwähnt, daß nicht nur die Jugend, jondern Männer 
und frauen, jogar alte Yeute, die feine Gelegenheit 
gehabt Hatten, fich weiter zu bilden, jeden freien 
Augenblid, den ihnen der Induſtriedienſt übrig ließ, 
dazu benußten, die Lüden in ihren Kenntniſſen aus- 
zufüllen, damit fie fi) nicht vor der jungen Gene- 
ration zu ſchämen braudten. 

„Wenn id) von unſerm jebigen Unterrichtsſyſtem 
ſpreche,“ fuhr der Doltor fort, „muß id Sie vor 
einem Irrtum warnen. Sie dürfen nicht glauben, 
daß der Unterrichtslurſus, welcher mit dem einund⸗ 
zwanzigjten Jahre jchließt, den ganzen Bildungs- 
gang unjrer Studenten beendigt. Im Gegenteil, er 
ftellt nur das geringfte Maß von Kenntniffen dar, 
die von jedem gefordert werden, der ein Bürger 
unſers Gemeinweiens fein wil. Eine Bildung, die 
damit ihren Abſchluß fände, würden wir nicht jehr 
hoch jtellen. Nach unfrer Anficht ift die Promotion 
der jungen Leute beim Berlafjen der Hochſchulen nur 
ein Beweis, da fie ein Alter erreicht haben, in dem 
angenommen werben darf, daß fie ihre Bildung 
jelbftändig, ohne flaatliche Leitung oder Zwang weiter 
verfolgen können, und daß fie hierzu als Erwachjene 
auch daS Recht haben, Zu diefem Zweit unterhält 
die Nation ein ausgebehntes Syſtem von forte 
bildungsfurjen in allen Zweigen der Mijienjchaft. 
Sie find unentgeltlich, und jeder darf fie auf kurze 
oder lange Zeit, regelmäßig oder mit Unterbrechungen 
beſuchen; er darf fleißig oder faul, aufmerlſam oder 
zerjtreut fein — ganz wie e& ihm gefällt. 

„Diele jehr wichtige Zweige der Wifjenichaft kann 
der Verſtand ja nur in reiferem Alter erfailen; die 
Freude daran erwacht erit jpäter, und dann wird in 
einem Monat fleihiger Arbeit mehr erreicht, ala 
wenn man auf denſelben Gegenjtand in der Jugend 

\ Jahre verwendet hätte, Wir verjchieben deshalb 


980 Ebwarb 
foviel wie möglich das Studium foldher Fächer auf 
die Fortbildungsſchulen. Die Jugend muß eine alle 
gemeine Anſchauung der Dinge befommen, aber für 
gründliche, tiefe und erfolgreiche Studien eignet ſich 
dies Lebensalter nicht. Wenn Sie begeifterte Forſcher 
ſehen möchten, deren größte freude es iſt, ihre 
Kenntniſſe zu erweitern, jo müffen Sie diejelben unter 
den älteren Vätern und Müttern in den fyortbildungs- 
ſchulen ſuchen. 

„Wir finden die Mußeſtunden unſers Lebens, die 
euch fo lang ſcheinen, nur allzu kurz, um die Ge« 
legenbeit zur Vermehrung unfrer Kenntnifie voll» 
fändig auszunußen. Diefe Mufe, welche den halben 
Tag, die Hälfte jedes Jahres und die ganze letzte 
Lebenghälfte umfaßt, wird durch jede Arbeit er— 
Iparende Erfindung nod) vergrößert. Sie darf aus- 
jchließlich perjönlichen Zweden gewidmet fein, aber 
troß alledem hätte fie wenig Wert für unfre Geiftes- 
bildung, wenn nicht noch etwas hinzufäme, das zu 
eurer Zeit nur wenigen zu teil wurde, das aber 
durch unsre Einrichtungen Gemeingut geworden ift. 
Ich meine die Atmojphäre ungetrübter Heiterfeit, die 
daraus entiteht, daß der Geift vollfommen frei ift 
von aller Angſt und Sorge um das eigne materielle 
Wohl und um das Wohl derer, die wir lieben. 
Unfer Wirtſchaftsſyſtem macht es uns leicht, Chrifti 
Gebot zu erfüllen: ‚Sorget nicht für den andern 
Morgen,‘ während es für euch faſt unmöglih war. 
Natürlich müſſen Sie mid) nicht fo verftehen, als ob 
wir alle Gelehrte und Philojophen wären, aber wir 
ſtudieren doch alle mit mehr oder weniger Eifer und 
gehen unfer ganzes Leben lang in die Schule.“ 

„Wahrlich,“ rief ih, „von allem, was Sie mir 
mitgeteilt haben, bildet nichts einen fo grellen Kon— 
traft zwiſchen euern Zuftänden und den früheren, 
ala dieſes ftetige Wachien ber geiftigen Interefjen 
das ganze Leben hindurch. Zu meiner Zeit waren 
ſchließlich doch nur ſechs oder acht Jahre Unterjchied 
in dem geiſtigen Leben des armen Knaben, der mit 
vierzehn Jahren in die Fabril geſteckt wurde, und 
dem des glücklicheren Jünglings, der die Univerfität 
bejuchen durfte. Wenn bie Bildung des einen im 
vierzehnten Jahre zum Stillftand fam, jo war die 
des andern im zwanzigjten ober zweiundzwanzigften 
faft ebenſo vollftändig am Ende. Statt daß fein 
eigentliche Studium nad der Promotion erft recht 
begonnen hätte, war diefe gewöhnlich für den Stu- 
denten der Gipfel feiner ſtenntniſſe in Wiſſenſchaften 
und Humaniora. Der Durchſchnittsſtudent wußte 
nie in feinem Leben wieder jo viel wie beim Examen, 
denn wenn er nicht zu den Allerreichiten gehörte, 
mußte er fi) unmittelbar darauf in das Geſchäfts- 
leben ftürzen und den Kampf um bie materiellen 
Güter des Lebens auf fih nehmen. Ob er in diefem 
Streit unterlag oder fiegte, jedenfalls welfte und 


Bellamp. 


erftarb von num am fein geiftiger Beſitz. Er Hatte 
weber Zeit noch Gedanken für irgend etwas andres, 
Glückte e8 ihm nicht, dann mußte er fich fein Sehen 
lang in Sorgen verzehren; hatte er Erfolg, jo machte 
ihn dies gewöhnlich zu einem jelbitbewußten, höheren 
Anterefien abgeftorbenen Materialiften. Für einen 
freien Aufihwung von Geift und Seele war in bei- 
den Fällen feine Hoffnung mehr. Selbſt wenn den 
Menſchen im fpäten Alter als Frucht ihrer An 
firengung nod) ein wenig Ruhe vergönnt war, lonnten 
fie faft feinen geiftigen Gewinn mehr daraus ziehen. 
Verſtand und Gemüt waren ihnen durd Mangel an 
Nahrung verfümmert, fie vermochten die günftige 
Gelegenheit nicht mehr zu ergreifen.“ 

„Und dies elende Leben führten die Beneibeten und 
Glüdlichen unter euch,” ſagte der Doktor, „diejenigen, 
welche die Güter der Welt errungen hatten, Können 
Sie ſich da wundern, daß es und vorkommt, als hätte 
der große Umſchwung die Menjchen zum zweitenmel 
erſchaffen, indem er der rein phyſiſchen Exiſtenz unter 
mehr oder weniger angenehmen Bedingungen, — etwas 
andres fannte Die Menjchheit kaum — das entſprechende 
geiftige Leben hinzufügte. Der Kampf ums De 
fein wäre an fi) ſchon ſchlimm genug geweien, benn 
er hemmte die geiftige Entwidlung des Jünglings, 
wenn er fauın dem Sfnabenalter entwachjen war, Wir 
müſſen aber aud) bedenken, daß er mit unmoralijden 
Waffen ausgefochten wurde, dab er nicht nur bie 
geiftige Entwidlung hinderte, jondern aud) das ſitl— 
liche Leben zerftörte — dann erit wird uns das Elend 
der Generationen, die vor dem großen Umſchwung 
lebten, völlig Mar. Die Jugend ftrebt nad) hoben 
Zielen und träumt von Aufopferung und Volltommen: 
heit; fie fieht die Welt, wie fie fein follte, nicht wie 
fie ift. Und wohl dem Boll, deſſen Inftitutionen 
dieſe edle Begeifterung nicht erftiden, ſondern fie für 
daB ganze Leben erhalten und fördern! Ich glaube, 
die heutige Gefellihaftsordnung hat dies erreit. 
Danf unjerm Wirtihaftsiyftem, das die höchſten 
fittlihen Ideen verförpert, findet der Jüngling bier 
ein Uebungsfeld für alle Tugenden. Jeder edle Ge⸗ 
danfe und jedes begeifterte Streben Tann ſich im 
Dienfte der Gefamtheit frei entfalten. Wo gäbe es 
einen Jüngling, deifen Weltanſchauung von reineren 
und ebleren Ideen getragen wäre, als diejenigen find, 
welche bei ung Handel und Induftrie leiten? 

„Auch zu eurer Zeit träumte die Jugend von 
edeln Thaten und jah hoffnungsvoll in die Zukunft. 
Aber wenn der Jüngling in die Welt des praftifcen 
Lebens hinaustrat, jah er, wie überall jeine Träume 
verjpottet und feine Ideale in den Staub getreten 
wurden. Er mußte wohl oder übel die Waffen auf 
nehmen und im Kampf ums Dafein feine hobt 
Lebensanfhauung verleugnen und jein Gewiſſen be 
täuben. Es gab verjchiedene Ausdrücke, um ben 


Gleichheit. 


Ubergang zu bezeichnen, ben jeder junge Mann 
durhmachte, wenn er auf feine Jdeale verzichten 
mußte und ſich endlih in bie Bedingungen biejes 
gemeinen Wettftreit fügte. Man jagte: ‚Er hat 
gelernt, die Welt zu nehmen, wie fie ift,‘ ‚er hat jeine 
wmantiihen Jdeen aufgegeben,‘ oder ‚er ift praftiich 
geworden.‘ In Wirklichkeit fiel aber bei dieſem 
Uebergang eine Seele dem Verderben anheim. Habe 
ich mich zu ſtark ausgebrüdt?“ 

„Nein, es ift nur zu wahr; wir Haben es alle 
empfunden,“ antwortete id). 

„Gott ſei Danl, diefe Zeit ift vorüber und wird 
nie wiederkehren! Jetzt braucht der Bater den Sohn 
niht in Menſchenverachtung zu unterweijen, damit 
er jein gutes Fortlommen hat, und die Mutter 
braucht der Tochter feine MWeltweisheit zu predigen, 
damit ihr warmes Empfinden nicht mißbraucht wird. 
Die Eltern find jetzt unverdorben wie ihre Kinder 
und wert, mit reinen Geſchöpfen zu verfehren — dag 
tonnten fie zu eurer Zeit nicht fein. Das ganze Leben 
ift bei uns fo groß und ſchön, wie e& dem feurigen 
Kinde erjcheint, und die Ideale, welche dem Jüng« 
fing und ber Jungfrau vorſchweben: Vollkommenheit, 
Aufopferung, Ehre, Liebe und Pflicht, weichen in 
Ipäterem Aiter nicht niedrigen Beweggrünben, jons 
dern erfüllen und ſchmücken das Leben bis and Ende. 
Erinnern Sie fih, was Wordsworth jagt: 

„Der Himmel Tiegt um unfre Kindheit her. 
Der Knabe wächſt — und fiche, alljobald 
Hullt ihn des ird'ſchen terlers Schatten ein.‘ 

„Ich glaube, wenn der Dichter an unſerm Leben 
teil gehabt hätte, wäre e8 ihm nicht eingefallen, die 
Rindheit auf often der reiferen Jahre zu verhert- 
lien, denn bei ung wird das eben immer reicher und 


edler bis zuleht.“ 
XXXI. 


‚Weder auf dieſem Berge noch zu Jeruſalem.“ 

Am nächiten Morgen begleitete ih Edith zum 
Bahnhof, da fie ſich wieder auf ihre Arbeitsjtelle be— 
geben mußte. Während wir den Zug erwarteten, 
fiel mir ein ungewöhnlich geiftreich ausjehender Mann 
auf, der eben mit der Bahn angelommen war. Im 
neunzehnten Jahrhumdert hätte ich ihn für einen 
Sechziger gehalten, wahrfcheinlich war er aber achtzig 
oder neunzig Jahre alt; die Erfahrung hatte mid 
gelehrt, daß bei meinen neuen Mitbürgern die Zeichen 
de3 herannahenden Alters viel langjamer zu Tage 
traten. — Als ich Edith nach diefer merfvürdigen 
Perſönlichkeit fragte, erfuhr ich zu meiner lleber- 
rafhung, dab e& niemand anders jei als Herr 
Barton, deſſen Predigt mich jo jehr ergriffen hatte, 
ala ich fie am erften Sonntag meines neuen Lebens 
dur) das Telephon hörte. Im „Rüdblid” habe ich 
näheres davon erzählt. 

Edith Hatte mur gerade Zeit genug, mid ihm 


981 


borzuftellen, ehe fie den Zug befteigen mußte. Als 
wir nun den Bahnhof zufammen verließen, bat ich 
meinen Gefährten, mir eine unbefcheidene Frage zu 
geftatten. Es würde mich ſehr intereffieren zu ere 
fahren, welcher befonderen Selte oder religiöfen Ge« 
meinichaft er vorſtände? 

„Lieber Herr Weſt,“ erwiderte er, „Ihre Frage 
läßt mich vermuten, dab mein Freund Leete Ihnen 
nur wenig über unjre Heutige Anſchauung in relis 
giöfen Dingen gejagt hat.“ 

„Unjre Gejpräche haben allerdings dieſen Gegen- 
ftand nur felten berührt,“ antwortete ih, „aber es 
würde mich nicht überrafchen, wenn Ihre Vorftellungen 
und Gebräuche mit den unfrigen gar nicht mehr über» 
einflimmten, Die religiöjen Anſchauungen und kirch— 
lichen Einrichtungen gingen ſchon damals einer ſchnellen 
und geündlihen Auflöfung entgegen. Man konnte 
mit Sicherheit voraugfagen, daß, wenn die Religion 
no ein Jahrhundert überleben follte, dies nur in 
Formen geichehen könne, welche von allen früheren 
gänzlich verfchieden waren.” 

„Sie find da auf ein Thema gelommen, das für 
mid vom höchſten Intereſſe ift,“ jagte mein Ge— 
fährte. „Wenn Sie nichts andres vorhaben und fi) 
ein wenig mit mir Darüber ausjprechen wollen, jo 
lönnte mir nichts erfreulicher fein.” 

Auf meine Verfiherung, dab ich durchaus nichts 
zu thun hätte, als möglichft viel Belehrung über das 
zwanzigfte Jahrhundert einzufammeln, jagte Herr 
Barton: 

„Lallen Sie uns in dieſe alte Kirche eintreten, 
welche, wie Sie ohne Zweifel ſchon erfannt haben, 
noch aus Ihrer Zeit ftammt. Wir können uns da 
in einer Umgebung, die dem Thema gerade angemefjen 
ift, gemütlich zu unferm Geſpräch niederjegen.“ 

Mir landen in der That vor einer der Kirchen 
des neunzehnten Jahrhunderts, die man als geſchicht- 
liche Denfmäler bewahrt hatte. Merlwürdigerweiſe 
war e3 gerade bdiejelbe, in der meine Familie dem 
Gottesdienft beizumohnen pflegte, und auch ih — 
das heißt, wenn ich überhaupt die Kirche befuchte, 
was jelten genug geſchah. 

„Was für ein jonderbarer Zufall!” rief Herr 
Barton aus, als ic) ihm meine Entdedung mitteilte. 
„Ber hätte das denfen können! Aber wenn Sie einen 
Ort wiederjehen, an den ſich jo viele liebe und un— 
vergebliche Erinnerungen für Sie fuüpfen, werden 
Sie natürlich wünſchen, allein zu fein. Ich war mir 
nicht bewußt, daß id) eine Rüdjichtslofigkeit beging, 
ſonſt hätte ich Ihnen nicht vorgefchlagen, hier mit 
mir einzutreten.” 

„Ich verſichere Sie,” erwiderte ih, „das Zur 
jammentreffen ift mir zwar intereffant, aber durd- 
aus nicht rührend, Junge Leute nahmen zu meiner 
Zeit ihre lirchlichen Beziehungen in der Regel nicht 


982 


ſehr ernft. Mich verlangt aber doch zu fehen, wie 
ber alte Bau fich innen jept ausnimmt. Wir wollen 
jedenfalls hineingehen.“ 

Das Innere der Kirche war im wejentlichen un« 
verändert, ſeit ich e& vor mehr als einem Jahrhundert 
zulegt betreten hatte, Ich wußte fogar noch, bei welcher 
Gelegenheit. Es war ein Ojftergottesdienft geweſen, 
zu welchem ich ein paar hübjche Couſinen vom Lande 
begleitete, die gewünjcht hatten, die Mufil zu hören 
und den Blumenſchmuck zu ſehen. Augenſcheinlich 
waren im Lauf der Zeit notwendige Ausbellerungen 
vorgenommen worden, doch beeinträchtigte das den 
urſprünglichen Eindrud in feiner Weife. 

As ih duch das Hauptihiff voranging, blieb 
ich vor dem Kirchenſtuhl unjrer Familie ſtehen. 

„Dies, Herr Barton,” jagte id, „ift nder war 
mein Kirchenſtuhl. Zwar bin id) etwas im Rüditand 
mit der Mietszahlung, aber ich darf es dod wohl 
wagen, Sie zu bitten, fich hier neben mid) zu een.“ 

Mein Verhältnis zur Kirche war, wie ih Herrn 
Barton ſchon der Wahrheit gemäß gejagt hatte, durch- 
aus feine Sache des Gefühls geweſen. Yamilien- 
überlieferung und geſellſchaftliches Herlommen hatten 
weit mehr damit zu thun. Trotzdem war ich nicht 
wenig bewegt, al& id mid von meinem gewohnten 
Pag im Kirchenſtuhl aus in dem düſtern, ftillen 
Raume umblidte. Während mein Auge von Stand 
zu Stand irrte, jah ich im Geijte alle die Männer 
und frauen, bie jungen Leute und Mädchen, die 
vor hundert Jahren jeden Sonntag auf diefen Stühlen 
zu ſihen pflegten. Ich rief mir ihre mandherlei Be— 
ftrebungen, Anjchläge, Hoffnungen, Sorgen, ihren 
Mettjtreit und ihre Lebensziele zurüd. Bei allem 
und jedem fpielte das Geld die größte Rolle, das fie 
entweder beſaßen oder verloren hatten oder mit 
Begierde erfehnten. Nicht jowohl der Tod meiner 
jämtlichen alten Belannten war es, was mid) jo 
mächtig ergriff, als vielmehr der Gedanke, wie voll» 
jtändig das ganze Geſellſchaftsſyſtem vergangen war, 
in dem fie gelebt und gewebt hatten. Sie waren 
dahin, und mit ihnen war auch ihre ganze Welt 
verſchwunden — ihre Stätte kannte fie nicht mehr, 
Wie wunderlich, wie gefünftelt und ſonderbar war 
doch jenes Leben geweien! Und dod hatte ich es, 
wie damals alle Welt, für die einzig mögliche Form 
des Daſeins gehalten! 

Herr Barton überließ mich mit zarter Rückſicht 
meiner nachdenllichen Stimmung, bis ich das Schwei— 
gen brad). 

„Da Sie unfre Kirchen nur als merkwürdige 
Denkmäler einer früheren Zeit ftehen laſſen,“ ſagte 
ih, „lo haben Sie ohne Zweifel befjere zu Ihrem 
jegigen Gebraud) ?* 

„Wir haben überhaupt jo gut wie feine Ver— 
wendung mehr für Kirchen,“ erwiderte mein Gefährte, 


En 


Edward Bellamp. 


„Ach ja. Ich hatte im Augenblid vergeffen, baf 
ich Ihre Predigt durch das Telephon gehört habe, Ei 
muß in feiner gegenwärtigen Bollendung wirklich die 
Kirche als Verfammlungsort ganz entbehrlich machen.“ 

„Mit andern Worten,” erwiderte Herr Barton, 
„Wenn wir uns jet verfammeln wollen, brauchen wir 
unfern Körper nicht mehr mitzubringen. Ich weih, 
das klingt wunderlicd und ſcheinbar wiberfinnig. Aber 
Telephon und Eleltroffop haben die Entfernung als 
Hindernis für Geſicht und Gehör befeitigt und bie 
Menſchheit in eine jo nahe geiftige Berührung ver- 
jet, wie wir fie uns früher nie hätten vorftellen 
fönnen. Zugleich find indefjen auch die Individuen 
in ber Lage, wenn es ihnen wünjchenswert ericheint, 
mit allem, was in der Welt vorgeht, im engften Zus 
fammenhang zu bleiben und ſich dabei einer Ab 
geihlofienheit zu erfreuen, wie man fie in Jhren 
Zagen nur ala Einfiedler geniehen durfte. Unſte 
vorzüglihen Einrichtungen in diefer Hinficht haben 
und jo verwöhnt, daß wir nicht daran denfen würden, 
und um eines Vergnügens willen in ein Gedränge 
zu begeben — das wäre ein zu hoher Preis! Für 
Sie dagegen war es der unvermeibliche Zoll, den 
Sie zu zahlen hatten, um irgend etwas Bejonderes 
zu jehen und zu hören,” 

„Dhne Zweifel,” fagte ih, „find durch bie all- 
gemeine Einführung des Telephons für den Gotiet- 
dienft die firdhlichen Einrichtungen auch nod) in andrer 
Meife beeinflußt worden. Da der Redner mit jeiner 
Stimme doch nur eine beichränkte Anzahl von Zur 
hörern erreichen fonnte, mußte man in meiner Zeit 
notwendig eine ganze Armee von Predigern haben 
— gewiß an fünfzigtaufend allein in den Vereinigten 
Staaten — um die Bevölferung zu erbauen. Unter 
vielen Hunderten gab es dabei faum eine Perfönlüh: 
feit, Die etwas des Hörens Wertes zu jagen Hatte. 
Denken Sie ſich nun, daß fünfzigtaufend Prediger 
jeden Sonntag ihre Predigten vor ebenjovielen Ge 
meinden hielten. Bier Fünftel diejer Reden waren 
dürftig, die Hälfte der übrigen mittelmäßig, einige 
gut, etwa zwanzig unter allen möglicherweiſe von 
wirklich höherem Werte. Natürlich würde niemand 
eine ſchwache Predigt über irgend einen Tert anhören 
mögen, wenn er ebenjogut eine ausgezeichnete haben 
fünnte. Hätten wir da8 Telephonjyften zu folder 
Vollendung gebracht wie Sie, fo würde ſich gleich 
am erften Sonntag nad; feiner Einführung jeder, 
der eine Predigt zu hören wünſchte, mit der Kirche 
in Verbindung gejeht haben, in welcher einer ber 
wenigen weltberühmten Prediger feinen Vortrag hielt. 
Die übrigen hätten gar feine Zuhörer gehabt und 
hätten ſich bald nach einer andern Beichäftigung 
umthun müjlen.“ 

„Sie haben wirflid den Nagel auf den Kopf 
getroffen,“ erwiberte Herr Barton lächelnd. „Einer 


—E 


“Rn 


j 


Gleichheit. 


der größten Gegenſätze zwiſchen Ihrer und unſrer 
Zeit liegt darin, daß ein mittelmäßiger Unterricht 
anf geiſtigem und religiöſem Gebiet heutzutage ganz 
abgeſchafft iſt. Da wir im ftande find, unjre Lehrer 
unter den größten Sittenpredigern und Weiſen zu 
wählen, jo würden wir e8 für eine Zeitverfchiwendung 
halten, wenn wir jemand hören wollten, der nicht 
der geborene Verkündiger des Höchſten und Beiten 
wäre und zu den bevorzugteften Geiftern gehörte. 
Auf diefe MWeife find alle in der Lage, der Erbauung 
teilhaftig zu werden, welche die Begabteften unter 
ihnen jpenden können. Auch haben alle, dank der 
allgemeinen höheren Bildung, ein einigermaßen rid)- 
tiges Urteil darüber, was wirklich das Beſte ift. In 
diefer Führerſchaſt des religiöjen und geiftigen Genius 
fiegt zugleich das Geheimnis und der Schuß für die 
Zivilifation, welche wir bis jet erreicht haben, jowie 
die ſicherſte Bürgſchaft unjers Fortſchreitens zu 
immer bejjeren Zuftänden. Für jemand, der, wie 
Sie, in den demokratiſchen Vorftellungen des neun- 
zehnten Jahrhunderts erzogen ift, mag es wieber- 
finnig erjcheinen, daß die Einführung der gleichen 
wirtihaftlihen Zuftände und einer allgemeinen 
Bildung, dur welche erft die rechte Demokratie 
geihaffen wurde, in der allervoflfommenften Ariſto— 
fratie, die man fih denken kann — nämlich der 
Regierung der Beten — ihren Gipfelpunkt erreicht 
bat. Welches Ergebnis könnte aber jelbftverftändlicher 
fein? — Unfer heutiges Bolt ift zu aufgewedt, um 
fi) irre führen oder felbft von Halbgöttern zu eigene 
nügigen Zweden mißbrauchen zu laſſen. Andrerfeits 
ift e8 aber auch bereit, jeder befjern Leitung mit 
Begeifterung zu folgen. So fommt es, daß unjre 
größten Männer und rauen heutzutage eine jelbit- 
lofe Herrihaft ausüben, die unumfchräntter ift, als 
je ein Tyrann fie fi) hat träumen lafien, und neben 
welcher die Siege des großen Alexander in nichts zus 
jammenjchrumpfen. Es giebt Denfchen in der Welt, 
die ihre Mitmenjhen bloß zur That aufzurufen 
brauchen, um der gleichzeitigen Zuftimmung vieler 
Millionen gewiß zu jein. Handelt es fi um einen 
großartigen Anlaß und ift der Redner es wert, fo 
wird die ganze Welt in ehrfurdtsvollem Schweigen 
an des Führers Lippen hängen, im Süden und 
Norden, im Oſten und Weiten, jeder an feiner Stätte, 
Solche Gewalt wäre vielleicht in Ihren Tagen ge— 
fährfich erichienen; wenn Sie aber bedenfen, daf 
ihr Befig von der Weisheit und Selbftlofigfeit ab— 
bängig ift, mit der fie ausgeübt wird, und daß fie 
bei dem erften falſchen Schritt verfagen würde, fo 
werden Sie ſich überzeugen, daß man diejer Herrichaft 
jo ficher trauen kann wie der Vorjehung Gottes,” 

„Doltor Leete hat mir zwar auseinandergejekt, 
in welcher MWeife die allgemeine Verbreitung ber 
Bildung mit Hilfe Ihrer wiſſenſchaftlichen Erfindungen 


983 


dieſe Führerſchaft der Auserwählten praltiſch er— 
möglicht hat,“ ſagte ich, „aber — verzeihen Sie — 
wie iſt es denn denkbar, daß ein Redner zu einer 
fo ungeheuern Zuhörerſchaft ſpricht, wenn ſich nicht 
das Pfingjtwunder wiederholt? Er muß fi doch 
wenigſtens auf diejenigen beichränten, welche diejelbe 
Sprade verftehen.” 

„Hat Ihnen denn Doktor Leete wirklich noch 
nichts von unjrer Weltipradhe gejagt?“ 

Ich habe nur Engliſch ſprechen hören.“ 

„Natürlich ſpricht jeder ſeine Landesſprache mit 
feinen Landsleuten, aber mit den übrigen Nationen 
redet man die Weltfprache — das heißt, wir brauchen 
heutzutage nur zwei Sprachen zu fennen, um mit 
allen Nationen zu ſprechen — unfre eigne und die 
allgemeine. Lernen können wir ja jo viele Sprachen, 
wie uns beliebt, und gewöhnlich treibt man mehrere 
zum Vergnügen ; aber nötig find nur dieſe beiden, 
wenn man die Welt bereifen oder ohne Dolmetſcher 
nad) allen Orten hin verkehren will, Diele kleinere 
Völker haben ihre Mutterfprahe ganz aufgegeben 
und fprehen nur die allgemeine. Den größeren 
Nationen, die in ihrer Sprache Schüße der ſchönen 
Literatur befien, widerfteht es natürlich jehr, auf fie 
zu verzichten; hierdurch haben die Meineren Bölter- 
ihaften eine Art Vorzug vor den großen. Indeſſen 
die Neigung, nur eine Sprache als lebende zu ge— 
brauchen und alle andern ala tote oder abiterbende 
zu betrachten, nimmt jo raſch zu, daß vielleicht nur 
noch gelehrte Philologen im jtande geweſen wären 
mit Ihnen zu ſprechen, hätten Sie noh um ein 
Menſchenalter länger geſchlafen.“ 

„Aber trotz des Telephons und der Weltſprache 
bleiben doch immer nod die religiöfen Gebräuche 
und Feierlichkeiten in Betracht zu ziehen,“ fagte id. 
„Zu ihrer Ausübung müffen fi) die Gläubigen doch 
in den Kirchen verfammeln, wenn jie dieſelben aud) 
zum Zwed der Unterweijung entbehren lönnen.“ 

„Wenn ein folches Bedürfnis vorhanden ift, jo 
hindert nicht3, daß man fo viele Kirchen hat, als irgend 
gewünſcht werden, um ſich darin zu verfammeln. Ich 
glaube wohl, da manche dies auch noch thun. Bei 
einem hohen Grade allgemein verbreiteter Geiſtes— 
bildung konnte aber die Welt nicht umhin, den Zere- 
monien ber Religion zu entwachjen, welche mit ihren 
Formen und Symbolen, ihren heiligen Zeiten und 
Orten, ihren Opfern, Feſten, Faſten und Neumonden, 
der Kindheit des Gefchlechts jo wichtig waren. Die 
Zeit, welche Chriftus in feinem Gejpräh mit ber 
Samariterin am Brunnen voraudverfündete, ift num 
vollftändig eingetreten — die Zeit, da der Tempel 
und alles, was er dem Bolfe bedeutete, einer rein 
geiftigen Religion den Pla räumen mußte — dem 
Gottesdienft ohne Rückſicht auf Zeit und Ort, den 
Jeſus für den Gott wohlgefälligften erklärt hat.” 


984 Ebwarb Bellamy. 


„Wenn die religiöjfen Feſte und Zeremonien be— 
feitigt find, der Klirhenbefuh zum Zweck der Er 
bauung entbehrt werden fann und fich jeder den 
Prediger nad) perfönlicher Neigung wählt, jo würde 
ih glauben, daß alles Seltenweſen beinahe ganz ver- 
ſchwunden jein müſſe.“ 

„Das erinnert mich an den Anfang unſers Ger 
ſprächs,“ jagte Herr Barton, „Sie fragten, zu welcher 
Selte ic gehöre? — Es iſt ſchon lange nicht mehr 
im Volke gebräuchlich, fi in Selten zu teilen und 
ſich, auf Grund abweichender religiöfer Anfichten, ver« 
Ichiedene Namen beizjulegen.” 

„Ist es möglich?” rief ih aus. „Streitet man 
jeßt nicht mehr über die Religion ? Haben die Menjchen 
wirklich gelernt, verjchiedener Meinung über Dinge der 
zukünftigen Welt zu fein, ohne daß fie auf Erden zu 
Feinden werden? Doktor Leete hat mich genötigt, eine 
Menge Wunder zu glauben; dies ift aber zu viel!“ 

„Ich begreife wohl, daß «8 einem Manne bes 
neunzeßnten Jahrhunderts zuerft ganz unglaublich) 
vorfommen muß," erwiderte Herr Barton, „Wer 
hat denn aber die Streitigkeiten über Religion in 
jenen Tagen angeregt und aufrecht erhalten ?* 

„Natürlich die geiftlichen Körperjchaften, bie Priefter 
und Prediger.“ 

„Das waren ja aber nicht viele, Wie konnten fie 
ſolche Mißhelligkeiten veranlaffen ?* 

„Durd die Maſſen des Volls, die, vollftändig 
unmiffend, und demzufolge abergläubiih und ab» 
göttiſch, zu Werkzeugen in den Händen der Geit- 
lichen wurden.” 

„Es gab aber doch eine Meine Zahl von Ge» 
bildeten. Waren dieje auch Werkzeuge der Priefter?“ 

„Im Gegenteil, fie bewahrten in religiöfen fragen 
eine ruhige, duldſame Haltung und waren ganz un= 
abhängig von der Geifllihfeit. Wenn fie ſich ihrem 
Einfluß überhaupt fügten, jo geſchah es, weil fie 
glaubten, er jei notwendig, um den rohen Pöbel im 
Zaum zu halten.“ 

„Sehr gut. — Sie haben das Wunder erflärt. 
Es giebt jet feinen unwiſſenden Pöbel mehr, um 
befientwillen es für die Gebildeten notwendig wäre, 
die Wahrheit zu vertujchen. Die gebildete Klafie, 
welde duldfamen und weilen Anfichten über die relis 
giöjen Streitfragen huldigt und e8 als eine jündhafte 
Thorheit erfennt, um ihretwillen zu zanfen, ift die 
einzige Klaſſe geworden, die es giebt.“ 

„Wie lange ift es denn aber ber, daß die Leute 
aufgehört haben, ſich Katholiten, Proteſtanten, Bap- 
tiften, Methodiften und was ſonſt noch zu nennen?” 

„Das hat wohl zur Zeit ber großen Umwälzung 
vollftändig aufgehört. Schon früher hatten die mancher⸗ 
lei Unterfheidungen und Sakungen bedeutend von 
ihrem Anjehen verloren; gänzlich vertrieben und ver- 


Gefühl brüderlicher Liebe, weldyes die Menſchen bei 
der Gründung einer edleren gejellichaftlichen Ordnung 
zuſammenſchloß. Doc hätte die alte Gemohnbeit 
möglicherweije wieder aufleben können, wäre nicht in 
der erften, auf den Umſchwung folgenden Generation 
der Boden der Unwiſſenheit und des Aberglaubens 
zerflört worden, der den Firdhlichen Einfluß unter: 
ftüßte. Seitdem hat die allgemeine Geiftesbilbung 
jeine Wiedererhebung für immer unmöglid; gemacht. 
Sie ift die einzige Urfache, die man zur Erflärung 
des Verjhwindens der Sekten anzuführen braudt; 
aber wenn Sie ſich die Kluft zwifchen den alten und 
neuen religiöfen Gebräuchen noch deutlicher machen 
wollen, jo dürfen Sie nur an gewiſſe wirtjchaftlihe 
Bedingungen benten, die jet gänzlich verſchwunden 
find, aber zu Ihrer Zeit die Macht der lirchlichen 
Einrichtungen weſentlich verjtärkten. Man bedurfte 
damals mandherlei zum Gottesdienft; vor allem Ge 
bäude zur Feier der religiöfen Gebräuche und Fer 
monien und für das Halten der Predigt. Auch machte 
es der Umftand, daß die Heiligkeit der religiöien 
Unterweifung hauptſächlich auf ihrer ehtwürdigen 
Meberlieferung berubte, jtatt auf innern VBernunft- 
gründen, notwendig, daß jeder Prediger, welder Zu⸗ 
hörer um fi ſammeln wollte, in den Dienit einer 
der beitehenden Selten eintrat. Mit einem Wort: 
die Religion — wie die Induftrie und Politit — 
war fapitalifiert, von großen ober Heinen Körper: 
ſchaften, welche ausſchließlich den Betrieb beherriäten 
und nur den Glanz und die Macht ihrer Firma im 
Auge hatten. Wer fi) an der Politik oder Induſtrie 
zu beteiligen wünſchte, war genötigt, fi den Stimm- 
führern der Partei oder den Leitern des Geſchäfte 
unterzuorbnien, und in Sachen der Religion fand e 
ebenjo. Wollte jemand Religionsunterricht erteilen, 
jo konnte er das nur thun, wenn er fich einer bes 
ftehenden Organifation anſchloß, weldye den Betrieb 
in Händen hatte — das heißt, einer der groben 
Kirchengemeinſchaften. Religiongunterricht außerhalb 
dieſer Gemeinihaften zu erteilen war, wenn nidt 
geradezu ungejehlich, doch ein höchft ſchwieriges Unter: 
nehmen, mochte die Begabung des Lehrers für jeinen 
Beruf auch noch jo groß fein. Ebenjogut hätte man 
verfuchen können, in der Politik ein Rolle zu fpielen, 
ohne ein Parteiabzeichen zu tragen, oder es in einem 
Geihäft zu eimas zu bringen, wenn man fid die 
großen SKapitaliften zu Feinden machte, Deshalb 
mußte, wer Religionslehrer fein wollte, ji zum 
Sprachrohr der einen oder andern Sekte hergeben, 
wollte er ji überhaupt Gehör verſchaffen. Stand 
er unter einer Prieſterherrſchaft, jo erhielt er jeine 
Befehle von oben her, Hatte die Religionsgeielideft 
Gemeindeverwaltung, jo erhielt er jeine Weiſungen 
von unten ber. Die eine Kirche war monarchiſch, die 


gejlen wurden fie jedoch in dem leidenſchaftlichen andre demokratiſch — beides gleich unvereinbar mit 


BEE. En nn U on A DU DU uU OU LU um O0 DAR 00 ı 00 0 U Gl UT TU an m. 





Gleichheit. 


dem Amt eines Religionslehrers, deſſen erſte Be— 
dingung, unſrer Anſchauung nach, die volllommenſte 
Urfprünglichkeit des Gefühls und unbeſchränlkte Rede— 
freiheit ſein ſollte. 

„Man kann ſagen, das alte kirchliche Syſtem 
babe unter einem doppelten Zwang gelitten, Diejer 
beftand erften® in der Unterwerfung der unwiſſenden 
Maffen unter ihre geiftlichen Leiter, und zweitens 
in der Knechtſchaft diefer Leiter felbft, die in den 
Safungen ihrer Selten gefangen waren, welde, ala 
geiftliche Kapitaliften, alle Beftimmungen über das 
Lehramt für fi allein in Anjpruch nahmen. Wie 
die Feſſel zweifach war, fo auch die Befreiung — 
eine Erlöfung jowohl des Volls, ald auch feiner 
Lehrer, welche es fcheinbar geleitet hatten, aber jelbft 
nur Puppen gewejen waren. Heutzutage ift das 
Predigen fo frei wie das Hören und beides allen 
zugänglih. Wer einen befonderen Beruf fühlt, über 
religiöfe Dinge zu feinen Mitbrübern zu ſprechen, 
bedarf feines andern Kapitals, ala daß er etwas zu 
jagen weiß, was der Rede wert iſt. Hat er das, jo 
braucht er feine weiteren Anftalten außer dem freien 
Telephon, um fih einen Zuhörerkreis zu jammeln, 
defien Größe fich nad) dem Maß der Ueberzeugungs- 
fraft richtet, das er bejikt. Jetzt hängt fein Unter- 
halt nicht von feinen Predigten ab. Sein Geſchäft 
ift nicht ein beftimmtes Amt. Er gehört weder durch 
feine Erziehung, noch durch feine Thätigleit zu einer 
beſondern Klafje unter den Bürgern, und er braucht 
niemals eine abgefonderte Stellung einzunehmen. Die 
höhere Ausbildung, die er mit allen andern teilt, hat 
feinen Verftand genügend ausgerüftet, und die voll« 
Händige Enthebung von allen öffentlichen Pflichten 
nad dem fünfundvierzigiten Jahr giebt ihm reichliche 
Muße zur Ausübung feines Berufs. Kurz — ber 
heutige Religionslehrer ift nicht ein Priefter, fondern 
ein Prophet. Seine Weihe erhält er jedod nicht 
duch irgend melde menſchliche Ermächtigung oder 
firhliche Beftätigung. Die Kraft feines Wortes be: 
zeugt fi ganz wie bei den Propheten des Altertums 
— einzig und allein in dem Wiederhall, den es in 
den Herzen ber Menſchen zu erwecken vermag.“ 

„Wenn aber num Leute,” warf id ein, „denen 
noch die kirchlichen Zeremonien der alten Zeit und 
das unmittelbare Anhören der Predigt am Herzen 
liegen, wünfchen follten, beim Gottesdienft Kirche und 
Geiftliche zu Haben, würbe dem etwas entgegenstehen?“ 

„Gewiß nicht. Freiheit ift das erfte und Tehte 
Wort unjrer Zivilifation. Es fteht volljtändig im 
Einklang mit unferm Wirtſchaftsſyſtem, wenn ſich 
eine Gruppe zufammenthut und Beiträge aus ihrem 
Einkommen giebt, um ſich Gebäude zu Vereinszweden 
zu mieten und einen bejondern Prediger anzuftellen. 
Sie brauden nur die Nation für den Verluft feiner 
öffentlichen Dienfte jchadlos zu halten. Der Staat 

Aus fremden Zungen. 1897. IL 21. 


985 


nötigt niemand, einen Privatvertrag einzugehen, aber 
verbieten thut er e8 keineswegs. Auf dieſe Weiſe 
wurde das alte Kirchenſyſtem nach der Umwälzung 
noch eine Zeitlang von einem Zeil feiner Anhänger 
feftgehalten. Das hätte aud) bis jeßt gefchehen können, 
wenn es jemand wünſchte. Aber die Verachtung, 
in welche jedes Mietsverhältnis fogleih nach der 
Umwälzung geraten war, machte die Stellung ſolches 
gemieteten Geiftlihen unerträglich, und bald gab ſich 
niemand mehr dazu her. Obendrein mochte auch 
fein Menſch noch dergleichen Dienfte, beſonders geift- 
licher Art, unter folden Bedingungen annehmen.” 

„Wie Sie die Sache erzählen,” fagte ih, „ſcheint 
alles jo einfach, als hätte es nicht anders fommen 
können. Aber Sie glauben nicht, welchen Eindrud 
einem Mann de3 neunzehnten Jahrhunderts eine 
Welt machen muß, die fih ohne den kirchlichen Ein» 
fluß behelfen will, der damals eine jo große Rolle 
bei allen menjchlichen Angelegenheiten ipielte und einen 
jo breiten Raum im Leben jedes einzelnen einnahm.“ 

„zum Zeil kann ich mid) in Ihre Gefühle ver» 
jegen,“ erwiderte mein Gefährte, „obgleih ohne 
Zweifel faum annähernd, Und doch iſt durch die 
Zeichen der Zeit in Ihren Tagen der Untergang bes 
firhlihen Syſtems ſchon deutlich vorausverfündigt 
worben. Es vollzog fih damals eine allgemeine 
Auflöfung des Dogmatismus, welche es Ihren Zeit« 
genofjen fraglich machte, was denn überhaupt noch 
übrig bleiben würde, Die Geiftlichkeit verlor zufehends 
an Macht und Einfluß, der Unterſchied ber Selten 
verſchwand, die Glaubensbefenutniffe wurden gering 
geachtet, und um die kirchliche Ueberlieferung fümmerte 
man ſich nicht mehr. Wenn alfo irgend etwas mit 
Sicherheit vorausgejagt werden fonnte, jo war e&, 
daß die religiöfen Vorftellungen und Einrichtungen 
ber Welt einer großen Umwandlung entgegengingen.” 

„Das ift ganz richtig,“ jagte ih. „Hätten die 
Prediger damals angenommen, daß die Geiftesrichtung 
der Männer den Ausſchlag geben würde, fo wäre 
ihnen wohl alle Hoffnung vergangen, ihren Einfluß 
zu bewahren. Sie rechneten jedoch auf Unterftühung 
von einer andern Seite.” 

„Bon welder denn?” 

„Sie verließen fi auf ihre treuen Anhängerinnen, 
die rauen. Diefe wurden zu meiner Zeit bas 
fromme Geflecht‘ genannt. Mußte die Geiftlidh- 
feit aud) zugeben, daß es um das kirchliche Intereſſe 
der gebildeten Klaſſe der Männer, ja vielleicht der 
Männer überhaupt, ſchlecht beitellt jei, jo hegte fie 
doch die Zuderficht, daß die Frömmigkeit der Frauen 
die heilige Sache retten werde. Die Frauen waren 
der Hauptanfer der Kirche, nicht nur, weil fie am 
fleißigften die Gottesdienfte befuchten, ſondern auch, 
weil fi die Männer duch ihren Einfluß meift be— 
wegen ließen, die firhlihen Anfprühe ſtillſchweigend 

124 


986 


zu dulden. Warum hätten denn unſre Geiftlichen nicht 
auch ferner auf die Anhänglichkeit der Frauen zählen 
follen, mochten bie Männer auch thun, was fie wollten?” 

„Gewiß wäre das gerechtfertigt geweſen, hätte 
fi die Stellung der Frau nicht gänzlich verändert. 
Aber ihre Erhebung und die Erweiterung ihres Be— 
reichs nad allen Richtungen hin ift ja gerade das 
merfwürdigfte Ergebnis der Ummwälzung. Davon 
haben Sie ſich jet ohne Zweifel bereits jelbft über- 
zeugt. Wohl nannte man zu Ihrer Zeit die Frauen 
das ‚fromme Geſchlecht‘, aber das jollte nicht etwa 
heißen, daß fie beſonders geiftlich gefinnt waren, 
Man wünjhte dadurch nur auf ſchmeichelhafte Weife 
auszudrücken, daß fie ſich leichter Ienfen ließen als 
die Männer. In der Regel weniger unterrichtet, zu 
Unterordnung und Unfelbjtändigfeit erzogen, ohne 
da& Gefühl der Verantwortlichleit, flüßten ſie ſich 
in allen Dingen auf Sitte und Herfommen. Daher 
hielten fie natürlih auch an den alten Lehren ber 
Religion feit, nahdem die Männer fich bereits all« 
gemein bon den Feſſeln des Dogmas freigemadt 
batten. Mit dem Umſturz war das alles auf ein« 
mal umgewandelt; freilich hatte ſich ſchon lange vor: 
ber eine Veränderung angebahnt. Seitdem befteht 
fein Unterfchied mehr in der Ausbildung der Ge— 
ſchlechter. Sowohl in der Selbftändigfeit ihrer wirt« 
ſchaftlichen Stellung, als was ihre Verantworklichleit 
und praftiiche Lebenserfahrung betrifft, fteht die Frau 
dem Manne gleich. Daraus ergibt ji ganz bon 
jelbft, daß das weibliche Geſchlecht nicht mehr jo 
gefügig ift wie früher. Weber in Sachen der Religion 
noch der Politif oder Vollswirtſchaft find die rauen 
jetzt unterwürfiger oder urteilglojer als ihre Mit- 
brüder. An allen Beftrebungen der Männer haben 
fie ihren gleichberechtigten Anteil, aud) an der höchſten 
und widtigiten Aufgabe des Menjhen, dem Forſchen 
nad der Erkenntnis der Natur, nach feiner eignen 
Beftimmung umd feinem Zufammenhang mit ber 
geiftigen und materiellen Unendlichleit, von der er 
ein Teil iſt.“ 

XXXIL 
Eritis sicut Deus. 

„Wenn ih Sie recht verſtehe,“ fagte ih, „fo hat 
das Verſchwinden der religidfen Spaltungen und der 
Prieflerlafte das allgemeine Intereffe für die Reli— 
gion durchaus nicht verringert.“ 

„Blaubten Sie, dab dies die Folge fein müſſe?“ 

„Ih weiß nicht. Ich habe niemals viel über 
ſolche Dinge nachgedacht. Die Geifllichkeit ftellte «8 
fo dar, ala ob fie höchſt wejentlich zur Erhaltung 
der Religion fei, und wir übrigen nahmen be&halb 
als jelbftverftändlih an, daß es der Fall wäre.“ 

Jede ſoziale Einrichtung, die längere Dauer gehabt 
bat,“ erwiderte Herr Barton, „diente ohne Zweifel 
einem Zwed, welcher zurzeit nützlich und unentbehrlich 


Edward Bellamp. 


war. Könige, Geiftlihe und Kapitaliften — lektert 
waren fie übrigens alle, wenn auch Kapitaliften von 
ſehr verjhiedener Art — haben während ihrer Herr 
haft Aufgaben zu erfüllen gehabt, die notwendig 
waren und damals auch faum befjer erfüllt werden 
fonnten, Wie aber mit der Abſchaffung des König 
tums eine verfländige Regierung begann und bie 
Vernichtung des Privatfapitalismus der Anfang eines 
wirklichen Wohlſtandes war, erjeugte auch die Be 
feitigung der kirchlichen Anftalten, Regeln md 
Safungen — aus denen ber geiftliche Kapilalismus 
beftand — eine Erwedung der Welt zur innigften 
Zeilnahme an allen großen Angelegenheiten, die das 
Mort Religion umfaßte. 

„Wie notwendig auch die Unterwerfung der Den 
ſchen unter priefterliche Herrſchaft für ihre Entwid: 
lung gewejen fein mag, jo war doch gerabe diee 
Bevormundung am meiften dazu angethan, die 
Fähigkeiten, auf die fie einmirfte, zu lähmen und ja 
ertöten. Der Zufammenbruch des Kirchentums machte 
jogleich die Bahn frei für eine begeifterte Teilnahme 
an den großen fragen nad dem Weſen und ber 
Beftimmung des Menſchen. Die würdigen Erl- 
jorger Ihrer Tage, welche die ihnen amverteaute 
Herde mit jo mühevoller Anftrengung und jo ges 
ringem Erfolge für geiftlihe Dinge zu erwärmen 
fuchten, würden diefes neue Leben unbegreiflid ge 
funden haben. Der Mangel an allgemeinem Inter: 
eſſe dafür war das natürliche Ergebnis der Alein- 
herrſchaft der Geiitlichteit auf dieſem Gebiete. Die 
Priefter ftanden als Dolmetſcher zwiſchen dem Men- 
fhen und dem Miyfterium, das ihn umgab, und 
übernahmen die Bürgihaft für bie geiftlide Wohl 
fahrt aller, die ihnen vertrauen wollten. Als die 
Macht der Kirche gebrochen war, jah ſich jede Seele 
diefem Geheimnis felbjt gegenübergeftellt und mußte 
es aufeigne Berantwortlichfeitzu ergründen ſuchen. Die 
Erlenntnis vom Zufammenhang des Menjchen mit dem 
Ewigen ftand mun nicht mehr unter der drüdenden 
Beeinfluffung des Dogmas einer überlieferten Theo 
logie, welches bis dahin die unbegrenztefte der Willen 
haften zu der befchränfteften und engften gemacht hatte. 
Als der Gottesdienst der Vergangenheit und die knech 
tifche Unterwerfung unter das gejchriebene Wort den 
Geift nicht mehr lähmten, drängte fich den Menſchen 
die Ueberzeugung auf, dab es für ihre Erlenntnis 
von der Natur ihres Weſens und ihrer Beftimmung 
feine Schranfen gebe, und daß dieje Beitimmung 
unendlich fei. An die Stelle der priefterlichen Lehre, 
daß Gott ſich nur den Nätern offenbart habe und 
die Vergangenheit göttlicher jei als die Gegenwart, 
trat der Glaube, daß mir vorwärts und nicht rüd« 
wärts fchauen müffen nad) der Quelle der Begeifter 
rung; daß wir von der Gegenwart und der Zukunft 
eine reichere und ficherere Erkenntnis hofien dürfen 


Gleichheit, 


über alles, was die Seele und Gott betrifft, als uns 
die Bergangenheit gebracht hat.“ 

„Und Hat ſich diefer Glaube prakliſch beitätigt?” 
fragte ih. „It man wirflich der Wahrheit näher 
gefommen? Willen Sie in diefen Dingen mehr ala 
wir? Haben Sie mit größerer Beſtimmtheit er- 
fannt, was wir nur zu glauben verjuchten ?* 

Herr Barton ſchwieg einen Augenblid, ehe er 
antwortele : . 

„Sie jagen, daß Sie bei Ihren Geſprächen mit 
Doftor Leete bis jeht die religiöfen Dinge wenig 
berührt haben. Als er Sie in die heutige Welt ein« 
führte, war es auch durchaus richtig und logiſch, daß 
er zuerſt hauptjächlich bei der Ummandlung im wirt» 
Ihaftlichen Syjtem verweilte, da «3 die Grundlage 
für alle Veränderungen bildet, die eingetreten find, 
IH bin aber überzeugt, daß Ihnen auf die Frage, 
welcher Fortjchritt im vergangenen Jahrhundert am 
meijten dazu gedient hat, das Glüd der Menjchen 
zu erhöhen, jedermann antworten würde: ‚Der Fort— 
ihritt in der Erkenntnis der Seele und ihres Zus 
jammenhangs mit dem Emigen und Unendlichen.“ 

„Dieje höhere Erkenntnis ift nicht allein das 
Ergebnis einer verftändigeren Auffafjung des Gegen- 
ftandes und ber volljtändigen geiftigen Freiheit bei 
feiner Erforſchung, ſondern wir verdanken fie auch 
zum großen Zeil den fozialen Verhältniſſen. Die 
materiellen Interefjen nehmen uns nicht mehr aus— 
ſchließlich in Anſpruch; feit ſaſt einem Jahrhundert 
erfreuen wir uns einer wirtſchaftlichen Wohlfahrt, 
die in Rückſicht auf phyfiiche Befriedigung nichts zu 
wünjchen übrig läßt. Dabei hat fid) beſonders durch 
gefteigerte Bildung eine Einfachheit des Geſchmacks 
entwidelt, welche allen Lurus und alle Ueberladung 
berwirft. Man legt weniger Wert auf die materielle 
als auf die geiftige und moralifche Seite des Lebens; 
je mehr wir haben, um fo geringer find unfre Be- 
dürfnijfe. Nach der materiellen Seite hin hat unfer 
Geſchlecht das Endziel der Entwidiung erreicht; das 
hatten wir längft erfannt und hegen in diejer Rich— 
tung feinen Ehrgeiz mehr. Die natürliche Folge 
davon war, daß mir unfre Hauptlräfte auf die 
geiftige Entwidiung der Menſchheit gerichtet haben, 
welche durch die Vollendung der materiellen Entwid» 
hung erſt ermöglidt wurde. Was wir bis jeht ge 
lernt Haben, ift umfrer Heberjeugung nad nur ein 
ſchwacher Schimmer von der Erkenntnis, die wir er 
reihen werben. Sollten aber aud die Schranfen 
diejes irdiſchen Zuftandes uns die Hoffnung rauben, 
jemals hienieden mehr zu wijlen, jo würden wir 
nit murren. Die Erfenntnis, die wir haben, reicht 
bin, um den Schatten des Todes in einen ‚Bogen 
der Verheißung‘ umzumandeln und allen menſchlichen 
Ihränen ihre Bitterfeit zu nehmen. Wenn Sie fi 
näher mit unfrer Litteratur befannt machen, werden 


987 


Sie bemerken, daß fie fih in einer Hinfiht ganz 
entichieden von der Jhrigen unterjcheidet: ihr Fehlt 
jeder mweltjchmerzliche Ton. Das fommt natürlic) 
daher, daß unfer wahres eben in nicht zu erjchüte 
ternber Sicherheit ruht, ‚verborgen in Gott‘, wie 
Paulus jagt. Bei diefer Auffafjung haben die Be- 
gebenheiten und Mechjelfälle im Leben des ein- 
zelnen nur eine verhältnismäßig geringfügige Be— 
deutung. 

„In Augenbliden der Begeifterung haben Ihre 
Meilen und Dichter wohl erfannt, daß der Tod nur 
ein Schritt im Leben fei; aber den meiften Menjchen 
ſchien das ein hartes Wort. Wenn fich heutzutage 
ein Leben feinem Ende naht, wird es nicht vom 
Duntel überjhattet, fondern von immer hoffnungs- 
froherer Erwartung durchglüht. Die Jungen könnten 
die Alten darum beneiden, wenn fie nicht wüßten, 
da ſich über ein Kleines dieſelbe Pforte auch ihnen 
Öffnen wird. Zu Ihrer Zeit ſcheint eine unaus« 
ſprechliche Traurigkeit der Grundton des Lebens ge- 
weſen zu jein, der — gleich dem Slagegejtöhn der 
Wellen für die Küftenbewohner bes Meeres — immer 
hörbar wurde, fjobald der Lärm und das Tages- 
getriebe einen Augenblid aufhörte, Jeht ift diefer 
Grundton jo wonnevoll, daß wir fill find, um auf 
ihn zu lauſchen.“ 

„Wenn die Menjchen dergeftalt fortfahren, in 
der Erfenntnis zu wachſen und teil zu haben am 
göttlichen Leben, wohin werden fiedann noch fommen?“ 
fragte id). 

Herr Barton lächelte: 

„Sprad nicht die Schlange in der alten Er- 
zählung: ‚Wenn Ihr von der Frucht diefes Baumes 
eifet, jo werdet Ihr jein wie Gott! Das Ver— 
Iprehen war dem Wortlaut nad) richtig; es jcheint 
aber, daß in Betreff des Baumes ein Irrtum vor« 
lag. Vielleiht war ed der Baum jelbftfüchtiger Er« 
lenntnis — oder die Frucht war noch nicht reif. — 
Die Geſchichte ift nicht recht Mar. Chriftus ſagte 
jpäter dasjelbe, als er den Menjchen verhieh, daß fie 
Gottes Kinder werden könnten. Er aber irrte ſich 
nicht in dem Baum, welchen er ihnen zeigte — und 
defjen Frucht war reif. Diefe Frucht war die Liebe; 
denn die alles umſaſſende Liebe ift zugleih Saat 
und Frudt, Urſache und Wirkung der höchſten und 
vollfommenften Erkenntnis. Durch unendliche Liebe 
wird der Menſch Gott gleich, denn durch diejelbe 
wird er ſich bewußt, mit Gott eins zu fein, und alle 
Dinge find ihm unter die Füße gegeben. Erſt feit 
die große Ummälzung die Aera der menschlichen 
Brübderlichfeit eingeführt hat, ift die Menjchheit im 
Stande, dieje Frucht vom wahren Baum der Erkennt» 
nis in Fülle zu genießen und dadurch mehr und 
mehr zum Bewußtjein ihres eigentlichen Seins und 
Weſens und des verborgenen Lebens der Seele in 


988 Edward Bellamy. — Gleichheit. 


Gott zu gelangen. — Ja, wahrlich, wir werben Gott | rechte Weiſe bereitet und bargebradht wurde. — Ohne 
glei fein. Das Motto der modernen Zivilifation | Zweifel werben Sie, Herr Weit, von jener Kanzel 
ift: Eritis sicnt Deus.“ dort wiederholt Worte gehört haben, wie: ‚So wir 
„Sie ſprachen eben von Ehriftus. Verſtehe ich | uns untereinander lieben, jo bleibet Gott in ung, 
Sie recht, daß die neue Religion als diefelbe an- und feine Liebe ift völlig in uns.‘ — ‚Wer jeinen 
gejehen wird, welche Chrijtus gelehrt hat?” | Bruber liebet, der bleibet im Licht.‘ — ‚So jemand 
„Sanz gewiß. Sie befteht zwar ſchon feit dem | ſpricht: Ich liebe Gott, und hafjet feinen Bruder, der 
Beginn der Geſchichte, ja feit Urzeiten. Die Lehre | ift ein Lügner. — ‚Wer den Bruder nicht liebet, 
Chriſti ift ung jedod am vollfommenften und Harften | der bleibet im Tode. — ‚Gott ift die Liebe, und wer 
übermittelt worden. Er lehrte die Religion der Liebe; ; in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott 
aber von der damaligen Welt fonnten nur wenige | in ihm‘ — ‚Wer lieb hat, der kennet Gott‘ — 
fie in fih aufnehmen. Weberhaupt ijt die Welt im | ‚Wer nicht lieb hat, ber fennet Gott nicht, denn Gott 
ganzen außer ftande gewejen, fie zu befennen ober | ift die Liebe,‘ 
aud nur zu verfiehen, bis zu dieſem gegenwärtigen „Hierin Liegt ber wahrhaftige Gehalt der Lehre 
Jahrhundert,” Chriſti ſamt den Bedingungen für den Eintritt in 
„Warum konnte die Welt denn nicht früher die | das Reich Gottes, Wir jehen darin auch eine ge» 
Offenbarung empfangen, welche fie jept fo leicht zu | nügende Erflärung, warum die Offenbarung, welde 
begreifen jcheint ?* Ehrifto ſchon vor fo langer Zeit zu teil wurde und 
„Weil fi Gott der Menfchenjeele durch die Liebe | andern erfeuchteten Seelen nad) ihm, unmöglich bei 
offenbarte, die Welt es aber von fich wies, der Liebe | der Menfchheit im allgemeinen Eingang finden konnte, 
Gehör zu geben, und fie gefreuzigt hat. Die Reli» | folange eine unmenjchliche geſellſchaftliche Ordnung 
gion Ehrifti, welche auf felbftlofer Begeifterung bes | eine Mauer zwifchen Gott und dem Menfchen auf: 
ruhte, fonnte unmöglih von einer Welt aufgefaht | richtete. Im Augenblid, als jene Mauer fiel, über: 
und verjtanden werden, deren joziales Syftem ſich flutete die göttlihe Offenbarung die ganze Welt 
als Bedingung ihres Dafeins auf brudermörberijchen | gleich einem Sonnenaufgang. 
Kampf gründete. Propheten, Seher und Heilige „Wenn wir einander lieben, jo wohnt Gott in 
mögen wohl ihren Gott von Angeficht zu Angefiht | uns‘; achten Sie barauf, auf welche Weiſe dieſe 
geihant haben, aber unmöglich fonnten alle Men- Worte in Erfüllung gingen, als das Menſchengeſchlecht 
ſchen Gott erfennen, wie Chriſtus ihn offenbarte, ehe | endlich feinen Gott fand! Achten Sie darauf — & 
die joziale Gerechtigkeit eine allgemeine brüderliche | geichah nicht durch abjichtliches oder bewußtes Suden 
Liebe erzeugt hatte. Der Menſch mußte den Men» | Gottes. Die große Begeifterung der Menſchheit, 
hen als feinen Bruder betrachten, ehe ihm Gott als | welche die alte Ordnung umftürzte und bie brüder- 
fein Bater enthüllt werden fonnte, Dem Namen | liche Gemeinfhaft einführte, war urſprünglich feine 
nad wollte zwar die Geiſtlichleit Chrifti Lehre, daß | unmittelbare Erhebung zu Gott. Es war eine rein 
Gott ein Liebender Vater fei, annehmen und ver- | menjchliche Bewegung. Die Menfchenberzen zer 
breiten; aber natürlih war es einfah unmöglich, | ſchmolzen und ftrömten einander zu; e& entitand ein 
daß dieſer Gebanfe feimen und Wurzel ſchlagen Erguß reuevoller Zärtlichkeit, ein Teidenjchaftliche: 
fonnte in Herzen, die falt und hart wie Stein und | Erwachen gegemfeitiger Liebe und opferfroher Hin- 
von Hab und Mißtrauen gegen ihre Milmenſchen gabe für das allgemeine Wohl, Aber ‚mern wir 
erfüllt waren, ‚Denn wer feinen Bruder nicht liebet, | einander lieben, fo wohnet Gott in ums‘ — das 
den er fiehet, wie fann er Gott lieben, den er nicht | follten die Menſchen erfahren. Es fcheint, daß ein 
fiehet.‘ Die Priefter beftürmten ihre Gemeinden mit | Augenblid eintrat — ber erhabenſte Augenblid in 
Ermahnungen, Gott zu lieben und ihm ihr Herz zu | der Gedichte der Menjchheit, als fich zu der Glut 
ſchenken. Sie hätten fie vielmehr lehren jollen — wie | neu entdedier Bruberliebe das unausſprechliche Ge 
Epriftus es that — ihre Mitmenſchen zu Lieben und | fühl einer göttlichen Anteilnahme gejellte — als ob 
ſich ihnen von Herzen zu ergeben. In jolden Herzen | Gottes Hand ſich auf die geeinigten Hände der Men- 
würde fi die Liebe zu Gott raſch entzündet haben, ſchen Iegte. So ift es geblieben bis heute und wird 
Die Alten berichten ung ja, daß himmliſches Feuer | jo bleiben immerdar.“ 
unfehlbar jedes Opfer in Brand jehte, das auf die | (Fortiefung folgt.) 








— er — 


Heimweh. 
Von 


Henryk Sienkiewicz. 
Aus dem Volniſchen überſetzt von Leonhard Brixen. 


J 

Der Leuchtturmwächter von Aſpinwall, in der 
Nähe von Panama, war eined Tages ſpurlos ver— 
ſchwunden. Es geſchah während eines heftigen 
Sturmes, man nahm daher an, dab der Unglüdliche 
dem Ufer der felfigen Meinen Inſel, auf der ber 
Kuchtturm ſteht, zu nahe gelommen und, von einer 
hochgehenden Woge erfaßt, Hinmeggejpült worden 
war. Da das Heine Boot, das in ber felfigen Ein- 
buhtung ruhte, am darauffolgenden Tage gefunden 
wurde, jo ſprach alles für die Richtigkeit der Annahme. 
Auf diefe Weile war der Poften eines Leuchtturm« 
wächters frei geworden, und es mußte um jo jehneller 
an Erſatz gedacht werden, als der Leuchtturm für die 
Bewegung am Plak jelbft, jowie für den Verkehr 
der Dampfſchiffe zwifhen New York und Panama 
feine geringe Rolle jpielt. Die zahlreihen Sandbänte 
und Verjchüttungen find durch Moskitoſchwärme ge— 
radezu verfinftert, und es wird ſchon am Tage ſchwer 
genug, an ihnen vorüberzufommen. In der Nacht 
wird die Durchfahrt durch dieſe von der Sonne durch⸗ 


glühten Gewäſſer faft zur Unmöglichkeit. Da ift der | 


Leuchtturm den zahlreichen Schiffen der einzige Weg« 
mweiler. Die Aufgabe, einen Leuchtturmmwächter zu 


finden, fiel dem in Panama anfälfigen Konful der | 


Vereinigten Staaten zu und war in Anbetradht defien, 
daß binnen zwölf Stunden Erfah gefunden werden 
mußte, feine geringe. Auch mußte der Neuzumählende 
ein durchaus zuverläffiger Menſch fein, es paßte aljo 
nicht jedweder für den Poften ; was aber das Schlimmite 
war, es fehlte im allgemeinen an Bewerbern für die 
Stelle. Das Leben auf dem Leuchtturm ijt ein jehr 
ſchweres und fagt den Südländern, die ein müßiges, 
Ihatenlojes Daſein vorziehen, wenig zu. Der Leudht- 
turmwächter lebt faft wie ein Gefangene. Mit 
Ausnahme des Sonntags darf er jein Hleines Felſen⸗ 
eiland Leinen Augenblid verlajien. Die Fähre von 
Apinwall verfieht ihn einmal täglih mit den not- 
wendigen Nahrungsmitteln und mit friſchem Waſſer, 
worauf der Fährmann ſich alsbald wieder entfernt 
und der Wächter auf der ganzen, einen Morgen 
Land umfafjenden Infel mutterfeelenallein zurücbleibt. 
Der Wächter bewohnt den Leuchtturm, den er in 
Ordnung zu halten hat. Tagsüber giebt er jeine 


j 








Zeichen hinſichtlich des Barometerftandes durch Aus« 
hängen verjdhiedenfarbiger Flaggen, am Abend wird 
die Flamme angezündet. An fi wäre die Arbeit 
nicht jo bedeutend, wäre damit nicht der Umftand 
verbunden, daß der Wächter, um die Spike des Leudht- 
turms zu erflimmen, vierhundert durch weite Zwiſchen⸗ 
räume getrennte Stufen einer [malen Wendeltreppe 
erjteigen muß und gezwungen ijt, diejen Weg wieber« 
holt im Laufe des Tages zurüdzulegen. Es ift ein 
Kloſterleben, oder befler gejagt ein Einfiedlerleben. 
Mas Wunder daher, dab Mr. Iſaak Folcombridge 
fi in feiner geringen Berlegenheit befand, um einen 
dauernden und entjprechenden Erjah für den Dahin- 
gegangenen zu finden, und man wird jeine Freude 
begreifen, als ganz umverhofft ſich nod an bemfelben 
Tage ein Bewerber meldete. Es war ein alter 
Mann, fait ein Siebziger, aber kräftig und uns 
gebeugt, mit der Haltung und den Bewegungen eines 
Soldaten. Er hatte ſchneeweiße Haare, und die Haut- 
farbe war von der Sonne jo braun gebrannt wie 
die eines Kreolen, doch nad den blauen Augen zu 
ſchließen, war er fein Sübländer. Sein Antlig war 
gramdurchfurcht und traurig, hatte jedoch einen biebern 
Ausdrud, Schon auf den eriten Blid fand Fol- 
combridge Gefallen an ihm. Es galt alfo nur, fi 
ein Urteil über ihn zu bilden, infolgebefjen erhob 
fi) das folgende Zwiegeſpräch: 

„Was jeid Jhr für ein Landsmann?“ 

„sh bin ein Pole.“ 

„Was war biß jet Eure Beichäftigung ?“ 

„Ich habe mich Herumgetrieben,“ 

„Der Leuchtturmmwächter muß jeßhafter Natur 
jein !* 

„I bedarf der Ruhe.“ 

„Habt Ihr jemals gedient? Habt Ihr Zeugniffe, 
daß Ihr dem Staat je ordentliche Dienfte geleiftet ?* 

Der alte Mann zog aus der Brufttafche feines 
Gewandes ein verjchoffenes Stüd Seidenftoff, das 
einem Fahnenfetzen gli, breitete es auseinander 
und ſprach: 

„Hier find meine Zeugniffe. Diejes Kreuz er— 
bielt ih im Jahre 1830: Dieſes zweite Ktreuz, das 
ſpaniſche, im Karliftenkrieg; das dritte ift das Kreuz 
der franzöſiſchen Legion, ein viertes erwarb ich mir 


990 


in Ungam. Dann kämpfte id in den Vereinigten 
Staaten gegen den Süden, ba giebt e& feine Kreuze 
— daher diefes Papier.“ 

Volcombridge ergriff ben Bogen und las: 

„Hm! Stawinsfi? Das aljo ift Euer Name? 
Hm! Eigenhändig im Handgemenge zwei Fahnen 
erobert! Ihr wart ein tapferer Soldat!” 

„Ich werde es auch verftehen, ein gewiffenhafter 
Leuchtturmwächter zu ſein.“ 

„Man muß täglich mehreremal den Turm er 
klimmen. Habt Ihr gejunde Beine?“ 

„Ih bin zu Fuß von New York nad Kalifornien 
gewandert!* 

„All right! Kennt Ihr den Dienft zur See?“ 

„Ih habe drei Jahre bei den Malfiihfängern 
gedient.“ 

„Run, Ihr habt ja allerhand verſucht.“ 

„Nur die Ruhe habe ich nirgends gefunden.“ 

„Weshalb?” 

„Das war jo mein Schidjal.“ 

„Nun, für den Dienft auf dem Leuchtturm finde 
ich Euch doch zu alt.“ 

„Herr,“ entgegnete der Bewerber mit bewegter 
Stimme, „id habe mic viel herumgeſchlagen und 
bin ſehr müde. Ihr jeht, daß ich viel verjucht habe, 
Dieje offene Stelle ift eine derjenigen, nad) der ich 
mid) am heißeſten gefehnt, Ich bin alt und möchte 
ausruhen. Ih muß mir jagen können: da bleibft 
du, das ift der Hafen, in ben bu eingelaufen bift. 
O Herr! Das hängt nur von Euch ab. Eine ſolche 
Stelle findet jih vielleicht für mich nie wieder. 
Welch ein Glüd, daß ich gerade in Panama war! 
Ich flehe Euh an. So wahr mir Gott helfe, ich 
bin wie ein Schiff, dad, wenn es den Hafen nicht 
erreichen fan, untergehen muß. Wenn Ihr einen 
alten Mann beglüden mwolltet! Ich ſchwöre, daß ich 
ein ehrlicher Menſch bin — das Herumtreiben aber, 
das habe ich fatt!” 

Aus den blauen Augen des Greijes ſprach fo 
heißes Flehen, daß Folcombridge, der ein gutes, braves 
Herz hatte, ſich ganz ergriffen davon fühlte. 

„Nun wohl," jagte er. „Ihr jollt die Stelle 
haben, von jet ab jeid Ihr der Leuchtturmmächter.“ 

Eine unbejchreibliche Freude überſtrahlte das 
Antlig des Alten. 

„Tauſend Dant!* 

„Könnt Ihr noch heute Euern Dienft antreten?“ 

Jawohl.“ 

„Alſo — good bye! Doch, noch ein Wort. Ihr 
wißt, daß jedes Vergehen im Dienſt ſofort die Stelle 
loſtet ?“ 

„AU right.“ 

Noch an demjelben Abend — der Sonnenball hatte 
fich in die Meeresfluten gefentt, und auf den ſtrahlenden 
Tag war faft ohne Dämmerung die Nacht gefolgt — 


Henryf Sienfiewicz. 


war der neue Turmwächter offenbar ſchon auf jeinem 
Platz, denn aus dem Leuchtturm ftrömten wie immer 
grelle Lichtgarben aufs Waller hinaus, Die Nadıt 
war ruhig und lautlos, wahrhaft tropiſch, durdträntt 
von lichtem Nebel, der um den Mond einen großen 
regenbogenfarbigen Hof mit weich verſchwimmendemn 
Rande bildete. Nur dad Meer war beivegt, denn die 
Flut fam heran. Skawinski fand auf dem Balton 
neben den mächtigen Feuern und erſchien, bon unten 
gejehen, wie ein Meiner ſchwarzer Punkt. Er ver: 
fuchte e8, jeine Gedanken zu jammeln und jeine 
neue Lage ins Auge zu faſſen. Aber auf ihm ruhte 
ein zu jchwerer Drud, um ihm ein regelrechtes Denlen 
zu geftatten. Ihm war zu Mute wie einem geheßten 
Wild, das nah langer Jagd auf einem unzugäng 
fihen Felfen Schuß gefunden. So war für ihn 
wirllih der Zeitpunkt der Ruhe gelommen, Des 
Gefühl der Sicherheit erfüllte feine Seele mit un- 
gefannter Wonne. War er auf diejem einjamen 
Felfen thatfächlich vor dem Umherirren, dem Mik- 
geihid, dem Unglüd geborgen? War er nicht wie 
das Schiff, dem der Sturm den Maft gebroden, bie 
Segel zerrifien, das, von der Höhe in die Tiefe ge: 
jchleudert, von den ſchäumenden Wellen gepeiticht 
und überjpült, dennoch den rettenden Hafen erreiät ! 
Im Hinbfid auf die unendliche Ruhe, die jeiner jet 
harrte, lieh er die Erinnerung an die Stürme jeines 
Lebens flüchtig an feinem Geifte vorüberzichen. Einen 
Teil feiner Erlebnifje hatte er ja dem Konſul erzählt, 
das meifte war unerwähnt geblieben. So oft er eſ 
auch verfucht hatte, jein Zelt aufzuſchlagen, einen 
eignen Gerd zu gründen, immer verfolgte ihn das 
Unglüd und führte ihn dem Verderben zu. Während 
er jo auf dem Balton des Turmes ſtand und auf 
die beleuchteten Wellen niederblidte, entrollten fich 
vor ihm die Bilder feiner Vergangenheit. Er halte 
in vier Weltteilen gefochten und hatte es, herumirrend, 
faft mit jedem Beruf verſucht. Ehrlich und arbeit 
fam, wie er war, hatte er fi) jo mandes Mal einen 
Notpfennig erworben und ihn gegen alle Wahr: 
icheinlichleit und troß der größten Vorſicht wieder 
verloren. Er war Goldgräber in Auftralien geweien, 
hatte in Afrifa Diamanten gefhürft und in Wei 
indien dem Staate als Jäger gedient. Ws a 
feinerzeit fi) in Auftralien eine Farm anlegte, ward 
diefelbe durch die Dürre vernichtet, Er verſuchte 
mit den wilden Stämmen, die im Innern Brafiliens 
haufen, Handel zu treiben. Sein Floß zerſchellte 
auf dem Amazonenftrom, er jelbjt irrte wehrlos und 
halb nadt wochenlang in den Wäldern umher, nährt 
fi) von wilden Früchten und war fortwährend ber 
Gefahr, von Raubtieren zerrifjen zu werden, ausgeieht 
In Helena in Arlanſas legte er eine Echmiedemerl- 
ftätte an; in der fyeuersbrumft, die den ganzen Urt 
vernichtete, ging fie zu Grunde. In den Rody 


Heimmeh. 


Mountains geriet er in die Gewalt von Indianern 
und wurde nur wie burch ein Wunder von kanadiſchen 
Jägern gerettet. Er diente als Matroje auf einem 
Dampfer, der zwifchen Bahia und Bordeaug verlehrte, 
auf einem zweiten als Walfifchjäger ; beide Schiffe 
gingen zu Grunde. Er betrieb eine Zigarrenfabrif 
in Havanna und wurde, während er ſchwer franf 
daniederlag, von feinem Gompagnon beſtohlen. 
Endlich aelangte er nad Ajpinwall, und hier follte 
feinen Leiden eine Grenze gejeßt werben. Was fonnte 
ihm auf diejer Meinen Felſeninſel noch zulommen, 
wer ihm etwas anhaben? Weber Feuer, noch Waller, 
noch die Menſchen! Bon den Menſchen hatte Sta- 
winski übrigens nicht viel Schlechtes erfahren. Ihm 
waren mehr gute als böje Menjchen begegnet. Nur 
die Elemente ſchienen ihn zu verfolgen. Diejenigen, 
die ihn fannten, fagten, daß er fein Glüd habe, und 
damit war alles gejagt. Schliehlid wurde es bei 
ihm jelbit zur firen Idee, daß eine furchtbare rächende 
Hand ihn zu Waſſer und zu Land verfolge. Doch 
liebte er es nicht, darüber zu ſprechen. Nur mand» 
mal, wenn man ihn fragte, weſſen Hand das wohl 
fei, deutete er geheimnisvoll nach dem Polarftern 
und meinte, daß fie dort zu fuchen wäre, That- 
jählih waren jeine Mißerfolge jo dauernd, daß jie 
faft umbegreiflich erjchienen, und fein Wunder, daß 
fie den, der fie erfuhr, faft um den Verſtand brachten. 
Er hatte übrigens die Geduld eines Indiers und 
jene große zähe Widerftandäfraft, die dem braven, 
rechtlichen Sinne entfpringt. In Ungarn hatte er 
jeinerzeit eine ganze Anzahl von Bajonettftößen in 
den Leib belommen, weil er den gebotenen Ausweg, 
Pardon zu erbitten, nicht ergreifen wollte. Ganz 
ebenfowenig ergab er ji dem Unglück. So emfig 
wie die Ameiie verfuchte er e8, den Berg aufwärts 
zu Mimmen. Neunundneunzigmal berabgeftoßen, 
verjudhte er ruhig jeinen Weg zum bundertjienmal, 
Er war in jeiner Weife ein ganz eigenartiger Sonder- 
ling. Diejer alte Soldat, gehärtet durch jegliches 
Unglüd, geprüft und gejchlagen, er trug ein wahres 
Kinderherz in der Bruft. Bei einer Epidemie auf 
Ruba erkrankte er einzig beshalb, weil er jeinen 
ganzen bedeutenden Vorrat an Chinin den Kranken 
hingegeben und nur ein Gramm für ſich behalten 
hatte. Auch das war ganz merfwürdig an ihm, 
daß er nach fo zahllofen Enttäuſchungen immer voll 
Vertrauen war und die Hoffnung nicht aufgab, daß 
alles ſich noch zum Guten wenden würde. Bejonders 
befebte ihn der Winter und fand ihn ſtets in Er- 
wartung irgend eines bedeutjamen Ereignifjet. Er 
erwartete es ungeduldig und zehrte an dieſer Er— 
wartung jo manches Jahr. Aber die Winter folgten 
einander, doch Skawinsli erlebte nur, daß fie ihm 
die Haare bleichten. Endlich alterte er und verlor 
nad und nad feine Energie. Seine Geduld nahm 


991 


allmählich die Geftalt der Refignation an. Die ehe- 
malige Gelaffenheit verwandelte fi in Weichmütig« 
feit, und dieſer geftählte Krieggmann war bei jed« 
weder Gelegenheit nahe daran, fi in Thränen auf« 
zulöjfen. Ueberdies ergriff ihn von Zeit zu Zeit das 
Ichredliche Heimweh, das oft durch die unbebeutendfte 
Beranlafjung hervorgerufen wurde. Der Unblid 
einer Schwalbe, eines grauen Vogels, der ihn an 
einen Spaben gemahnte, der Schnee auf den Bergen, 
ein Ton, der an eine einft gehörte Melodie erinnerte, 
genügten. Schließlid kannte er nur noch einen Ge- 
danfen — bie Sehnjuht nad) Ruhe. Diefer eine 
Gedanke beherrſchte ihn jo vollftändig, daß alle 
Wünſche und Hoffnungen daneben verftummten, 
Ein ewiger Wanderer, kounte er fich nichts Beglüden« 
deres ausdenlen als einen Erdenwintel, in dem es 
ihm vergönnt fein würde, ftill und ruhig bis zu feinem 
Ende auszuharren. Wohl eben deshalb, weil ein 
fonderbares Geihid ihn zu Land und Meer fo uns 
ausgejegt umberftieß, daß er gar nicht zu Atem zu 
fommen vermochte, ftellte er ſich das Ausruben auf 
einem Fleck als das größte irdifche Glüd vor. Als ob 
auch nur ein jo befcheidener Wunſch für ihn erreichbar 
gewejen wäre! Aber an Enttäujchungen gewöhnt, 
träumte er von dieſem Glück, wie man von Unerreich— 
barem träumt. Zu hoffen wagte er nicht mehr, 
Da fiel ihm innerhalb zwölf Stunden eine Anftellung 
in den Schoß, die unter allen auf der Welt eigens 
für ihn geſchaffen ſchien. Es war aljo nicht zu ver 
wundern, daß er am Abend, als er das Leuchtfeuer 
anzündete, noch ganz verwirrt daſtand, ſich ſelbſt fragte, 
ob das alles wahr jei, und «8 faum zu bejahen wagte. 
Dabei ſprach die Wirklichkeit zu ihm mit unmwider- 
leglichen Beweijen, und die Stunden verflogen 
ihm, wie er jo auf dem Ballon ſtand. Er ſah um 
fh und jog die Gewißheit ein. Es war, als ſähe 
er das Meer heute zum erftenmal in feinem Leben 
— Mitternadt ertönte von den Türmen von Aſpin— 
wall, und noch dachte er nicht daran, jeine Iuftige 
Höhe zu verlaſſen. Das Meer wogte zu jeinen 
Füßen. Das feuer warf einen riefigen Lichtkreis 
aufs Waller. Darüber hinaus irrte das Auge des 
Greiſes in nächtliche, geheimnisvoll dunkle Ferne. Aber 
jene Ferne ſchien dem Lichte zuzueilen, Lange, ge» 
furchte Wellen rollten aus der Finſternis herbei und 
ſchlugen braufend an das Ufer der Injel, während 
der ſchäumende Gifcht rofig im Lichte erglühte. Die 
Flut fam immer näher heran und überjpülte die 
jandigen Flächen. Die geheimnisvolle Sprache des 
Ozeans wurde immer gewaltiger und lauter vernehm- 
bar, bald dem Donner der Kanonen, bald dem Braufen 
des Urwalds, bald taufendjtimmigen menſchlichen 
Lauten gleihend. Kurzes Schweigen, darauf Seufzen 
und Stöhnen und wieder grollende Ausbrüche. 
Darauf vertrieb der Wind den Nebel und fegte 


992 


ſchwarzes, zerriffenes Gewöll herbei, da8 den Mond 
verhüllte. Vom Weiten ber blies es ftärfer und 
immer ſtärler. Die Wogen ſchlugen immer wütender 
gegen das Gemäuer des Leuchtturms, aus der Ferne 
zog der Sturm heran. Auf der bunfeln bewegten 
Oberflähe erglänzgten einige grüne Lichter an den 
Maften der Schiffe. Die grünen Punkte erfchienen 
bald hoch, bald niedrig, ſchwankten nach rechts und 
lints. Da endlich begab fid) der Alte in fein Zimmer. 
Der Sturm brad) 108. Da draußen auf jenen Schiffen 
fämpften die Menichen mit Nacht und fFinfternis und 
den Wogen, bier in diefem Gemache war es ftill und 
friedlih. Selbft der Anprall des Sturmes drang 
nur ſchwach durch die diden Mauern des Leuchtturms, 
und das eintönige Tidtad der Turmuhr wiegte den 
müden Greiß in den Schlaf. 


II. 


Stunden, Tage und Wochen flofien dahin. Ma» 
trofen buldigen dem Glauben, daß fie mandhmal 
auf wildfürmender See durch Nacht und Finſternis 
ihren Namen rufen hören. Wenn die Unendlichkeit 
bes Meeres dieſe Vorftellung hervorruft, dann fann 
es ja fein, daß, wenn der Menſch altert, er aus einer 
weit dbunflern und geheimmisvollern Unendlichkeit 
eine Stimme vernimmt, die nach ihm ruft, und je 
müder ihn das Leben gemacht, um fo lieber hört er 
den Ruf. Um ihn hören zu fönnen, bedarf er der 
Stille. Außerdem ift e8 eine Vorliebe des Alters, 
fi abzufondern, ein Vorgefühl der Grabesftille. 
Der Leuchtturm war für Stawinsfi faft ſchon ein 
Grab. Eintöniger fann das Peben wohl nirgends 
dabingehen ald an diejer Stelle. Wenn ſich ein 
junger Menſch zu diefer Aufgabe entichließt, fo kann 
man gewiß jein, daß er fie binnen furzer Friſt wieder 
aufgiebt. Ein Turmwächter ift daher auch in ber 
Regel ein älterer, düftrer, verfchlofjener Dann. Will 
es der Zufall, daß er wieder den Poften aufgiebt 
und unter Menſchen gerät, dann wandelt er unter 
ihnen, wie aus ſchwerem Schlaf erwacht. Auf dem 
Leuchtturm gebricht es an all jenen Fleinen Eindrüden, 
die im Alltagsleben den Maßſtab geben. Alles, 
womit der Turmwädhter in Berührung kommt, geht 
ing Riefenhafte und entbehrt gefchlofjener, ſcharf 
begrenzter Umriffe. Der Himmel ift eine Unendlich— 
feit, ebenfo dad Meer, und innerhalb dieſer un— 
begrenzten Welten die einfame Menſchenſeele! Das 
ift fein Leben, nur ein ftetes Hinträumen, und aus 
diefem Traumbafein erweckt den Wächter nichts, nicht 
einmal feine Beihältigung. Ein Tag gleicht dem 
andern, wie ein Waflertropfen dem andern, und höch- 
ſtens die Verfchiebenheit in der Witterung bringt ein« 
mal eine Abwechslung. Dennod) fühlte ſich Stawinsfi 
jo glücklich, wie noch nie in feinem Leben. Mit Tages- 


anbruch verließ er jein Lager, nahm eine Heine ; Leuchtturm und feiner Einjamteit. 


Henryf Sienkiewiez. 


Stärkung zu ſich, reinigte die Linſen feiner Laterne, 
nahm darauf feinen Plab auf dem Ballon ein 
und vertiefte fih in den Anblid der Unendlichlei 
des Meeres, am deren mannigfaltigen Bildern ſich 
fein Auge nie ſati zu fehen vermochte. Gemöhnlic 
erblidte man auf ber riefengroßen, tiefblauen Ober 
flähe zahlloje ausgeſpannte Segel, die jo ftarf in 
der Sonne leuchteten, dab man vor dem Uebermaß 
des Glanzes die Augen jchließen mußte; mandmal 
machten die Schiffe von den Paſſatwinden Gebraud 
und zogen in langgedehnten Reihen hintereinander 
ber, wie große Fetten von Seemöwen. Die rotem 
Täffer, die den Weg bezeichnen, wiegten ſich letie 
und leicht auf den Wellen. Zwiſchen den Segeln 
erhob ſich täglich um die Mittagsftunde eine mächtige 
Ihwarzgraue Rauchfäule. Sie verfündete das Dampf 
boot, das den Waren» und Perjonenverkehr zwiſchen 
New Mork und Wipinwall vermittelte. on der 
entgegengejeßten Seite des Balfons überblidte ber 
Alte Afpinwall und jeinen belebten Hafen, den Bald 
von Maften zahllofer Schiffe und Kähne. Eimas 
entfernter die Stadt mit ihren weißen Häuſern und 
Türmen. Bon der Höhe des Leuchtturms gejehen, 
erichienen die Häufer wie Möwennejter, die Kühne 
wie Käfer, und die Menſchen bewegten ſich mie winzige 
Nunfte auf den weißen Steinen der Hauptitraße. 
Des Morgens brachte eine leichte Briſe ans dem 
Dften einzelne Laute des menschlichen Treibens herüber, 
vor allem den jehrillen Ton der Dampfpfeife. Um 
die Mittagsftunde hingegen herrichte abjolute Rue, 
Die Bewegung im Hafen hörte auf, die Mömen 
verftedten ſich in die Felſenſpalten, die Wellen wurden 
ſchwächer und bewegten ſich faum, und über Sand 
und Waſſer breitete fi einen Augenblid lautloſe, 
ungetrübte Stille. Die Fleden gelben Sande, den 
die Ebbe freigelegt, glänzten goldig zwiſchen den breiten 
Waſſerflächen, ſcharf hob ſich der Leuchtturm von der 
glänzenden Oberflähe ab. Eine Flut von Sonnen 
ftrahlen ftrömte vom Himmel nieder und ergo ſich 
über Waſſer, Sand und Felfen. Da fühlte auch 
der Greis ih von einer unausſprechlich ſüßen 
Mattigfeit’ergriffen. Er fühlte, daß die Ruhe, die 
er genoß, köſtlich war, und wenn er bedachte, dab fie 
dauernd bleiben würde, dann blieb ihm nichts zu 


wünſchen mehr übrig. Er jhwelgte in feinem Gläd, 


doc) da es in der Menſchennatur Liegt, ſich ſehr bald 
an das Gute zu gewöhnen, fo gewann aud) er nadı 
und nad) den Glauben und das Vertrauen wieder 
und dachte: wenn die Menjchen ſchon auf das Schid« 
jal ihrer Invaliden bedacht find und ihnen Häufer 
bauen, wie follte Gott nicht feinem Invaliden endlich 
ein ficheres Neſt bejcheert Haben? Die Zeit ging 
dahin und befräftigte ihn in feinem Vertrauen. Der 
Greis ging ganz auf in feinen Felſeneiland, feinem 
Er wurde auf 


Heimmeh. 


mit den Möwen vertraut, die in den Felſen nifteten 
und am Abend den Turm umſchwärmten. Der Alte 
freute die Refte feiner Mahlzeiten für die Vögel bin, 
und diefe wurden mit der Zeit jo zutraulich, daß, 
fowie er fich zeigte, ganze Schwärme von weißen 
Möwen hinter ihm berflatterten und er in ihrer Mitte 
wie ihr Gebieter erjchien. Zur Zeit der Ebbe durch⸗ 
wanderte er die jandigen Ufer, ſammelte ſchmachhafte 
Schaltiere und bunte, perlfarbige Mufcheln, die die 
Wellen dem Lande überantworteten, In mondhellen 
Nähten Holte er fich jeinen Vorrat an Fiſchen von 
der überreichen Menge, die die Ufer umſchwammen. 
Er gelangte dahin, dieſes Heine öde Felſeneiland 
von ganzem Herzen zu lieben, War e8 innerhalb 
der Felſen auch öde, jo wurde ihm andrerjeit3 mancher 
unerwartet jchöne Anblid zu teil. Zur Mittagftunde, 
wenn die Atmoſphäre ganz durchfichtig wurde, konnte 
man die ganze Landenge bis zum Stillen Ozean, 
von der üppigjten Vegetation bebedt, überjehen. Es 
ſchien dem Alten, al3 ſähe er einen einzigen Riefen- 
garten. Solosbäume und Palmen erfchienen wie 
mächtige, weit ausfallende Blumenfträuße dicht hinter 
den Häujern von Ajpinwall. Etwas weiter zwifchen 
Apinwall und Panama überblidte man einen uns» 
geheuern Wald, über dem morgens und abends die 
Dünfte in rötlichem Nebel aufftiegen, ein wirklicher 
Urwald, deifen Grund ftehende Waller dedten, von 
Lianen durchflochten, in dem flurmgleich die Blätter 
der Orchideen, der Gummi⸗ und Milhbäume raufchten. 
Durd) jein Fernglas konnte der Alte nicht nur die 
Blätter der Bananen erkennen, er jah auch Die Affen- 
berden, Die Marabus und die Menge der Papa- 
geien, die fi einer farbigen Wolfe gleich von dem 
Grün des Waldes abhoben. Stawingfi fannte der— 
artige Wälder aus eigner Anfhauung nur zu genau, 
war er doch nad jeinem Schiffbruh auf dem 
Amazonenfluß dur Wochen in einem ähnlichen grünen 
Diclicht umbergeirrt. Er wußte, welche Todesgefahren 
dieje lachende herrliche Oberflähe barg. Hatte er 
doch den Todedgefahren ins Auge gejehen, das Brüllen 
der Jaguare und andrer Naubtiere in nächfter Nähe 
gehört, Hatte die Niefenfchlangen gejehen , die ſich 
wie Lianen an den Zweigen wiegten, er fannte jene 
fillen Waldfeen, die von Krampffiſchen überfüllt find, 
und in denen die Krokodile haufen. Er mußte, 
unter welchem Joch der unglüdliche Menſch in diejer 
Wildnis lebt, wo einzelne Blätter ihn zehnfah an 
Größe übertreffen und Schwärme blutgieriger Mos— 
fitog, Baumblutegel und gefräßige Riefenfpinnen ihn 
ftets bedrohen. Er hatte all das jelbft erfahren, 
fennen gelernt und erlitten, daher gewährte es ihm 
jebt eine um fo größere Befriedigung, aus feiner 
ſicheren Geborgenheit die Schönheit bewundern und des 
überftandenen Grauens gedenken zu können. Sein 
Zurm barg ihn vor allem Böſen. Er verlieh ihn aud) 
Aus fremden ungen. 1897. IL 21. 


993 


nur in langen Zwifchenräumen an einem Sonntags 
morgen, Dann legte er feine dunkelrote, mit Sifber- 
fnöpfen verfehene Wächteruniform an, heftete jich jeine 
verjhiedenen Kreuze an die Bruft und warf feinen 
Ichneeweißen Kopf ftolz zurüd, wenn er beim Aus- 
tritt aus der Kirche die Kreolen hinter ſich jagen 
hörte: „Wir haben wirflid) einen anftändigen Leucht- 
turmwächter, und er ift fein Ketzer, wenn er auch ein 
Dantee iſt.“ Kaum war die Meile vorüber, jo kehrte 
er auch ſchon auf fein Eiland zurüd und fühlte fich 
glüdlih, denn immer noch traute er dem feſten Boden 
unter feinen Füßen nicht recht. Am Sonntag las 
er auch eine jpanifche Zeitung, die er fih in der 
Stadt faufte, oder den New York Herald, den er ſich 
im Konfulat ausborgte, und forſchte eifrig nach Nadh« 
richten aus Europa. Armes, treues Herz! Auf 
diejer fernen Turmwarte auf ber andern Seite der 
Erdkugel ſchlug es no warn fürs Vaterland. Hie 
und da geſchah es auch, daß er von feiner Warte 
herabftieg, um mit dem Fährmann John, der ihm 
feine täglichen Vorräte bradjte, einige Worte zu 
wechjeln. Allmählich zog er fi) immer mehr in ſich 
ſelbſt zurüd, Er fam nicht mehr in die Stadt, las 
feine Zeitung und politifierte auch nicht mehr mit 
Sohn. Wochen verftrichen, ohne daß er mit Menſchen 
verfehrte. Nur das mit größter Negelmäßigfeit 
allabendlich wiederkehrende Aufleuchten des Turms 
feuerd und das Verſchwinden der Lebensmittel vom 
Ufer jprah dafür, daß der Alte lebe. Allem An— 
Iheine nad) war die Außenwelt dem Greife gleich- 
gültig geworden. Auch das Heimweh hatte ſich 
endlich in Refignation umgewandelt. Seine ganze 
Welt war ſchließlich diefes einfame Eiland geworben. 
Er hatte jich mit dem Gedanken vertraut gemacht, 
bier leben und fterben zu wollen; was außerhalb lag, 
geriet einfach für ihn nad) und nad in Vergeſſenheit. 
Nebenbei wurde er zum Myſtiker. Seine janften 
blauen Augen waren wie die Augen eines Kindes 
geworden, fragend ins Weite gerichtet. In der jteten 
Einſamleit und in dieſer eintönigen und doch fo 
großartigen Umgebung verlor der Greis das Be— 
wußtjein des eignen Ichs, er hörte perjönlich zu exi= 
ftieren auf und ging auf in dem, was feine Welt 
bildete. Das war feine Sache der Ueberlegung, 
unbewußt überfam es ihn, aber jchließlid wurden 
ihm der Himmel, das Waſſer, bie Felſeninſel, die 
Warte, Ebbe und Flut, die blinfenden Segel und 
die flatternden Möwen zu einer einzigen großen 
Einheit, zu einer mächtigen geheimnisvollen Seele, 
er jelbft ging unter in diefem Myſterium, fühlte den 
Geift, der lebt und alle Stürme befänftigt. Er ging 
unter, ließ ich einwiegen und vergaß. In dieſem 
Aufgeben des eignen Ichs, diefen dumpfen Empfin- 
dungen, diefem Halbichlaf fand er ein fo unendliches 
Ausruhen, daß «8 fait dem Scheintode glich. 
125 


994 


III. 

Da auf einmal fam das Erwaden. 

Eines Tages, als Stawinsfi ang Ufer ging, um 
feine täglihen Vorräte zu holen, bemerkte er, daß 
neben denjelben ein Palet lag. Es war für ihn 
beitimmt, trug die Marfen von Norbamerifa, und 
auf der Adrejje war deutlich zu leſen: „Skawinsfi, 
Esq.“ Da wurde er neugierig, jchnitt das Patet 
auf und ſah, daß e8 Bücher waren. Er ergriff 
einen Band, ſah hinein und legte ihn zurüd, wobei 
feine Hände heftig zu zittern begannen. Er blinzelte 
mit den Augen, als jehe er nicht recht — ihm war, ala 
träume er. Ein polnisches Buch!! Was follte das 
heißen? Wer konnte ihm dieſe Bücher gefchidt 
haben? Im erften Augenblid fiel es ihm nicht ein, 
daß er einige Zeit, nachdem er feinen Poften an- 
getreten, im New Yorl Herald von der Gründung 
eined polnischen Vereins gelefen, dem er fofort mit 
der Hälfte feines Monatögehaltes beigetreten war. 
Der Berein erwies ſich dankbar und ſchickte ihm einige 
Bücher. Diejen natürlichen Borgang fonnte der 
Alte im erften Augenblid nicht auffaſſen. Polnische 
Bücher in Aipinwall, auf feiner Warte, inmitten 
feiner Einjamfeit diejer lebenswarme Hauch aus fernen 
Zeiten — ba war ein Wunder geſchehen! Jebt 
war ihm widerfahren, was dem Schiffer in ftiller 
Nacht, eine teure, faſt vergeffene Stimme hatte ihn 
angerufen. Er ſetzte ſich, jchloß die Augen und war 
faft ficher, daß, wenn er fie wieder öffnete, ber Traum 
verſchwunden fein würde, Dod nein! Hier lag 
das aufgejchnittene Packet vor feinen jehenden Augen, 
überftrablt von dem Glanze der ſüdlichen Sonne, 
und obenauf das aufgefchlagene Bud. Als der 
Alte abermals die Hand danad) ausſtreckte, hörte er 
inmitten ber tiefen Stille das Pochen des eignen 
Herzens, Er jah hinein, es waren Berje. Er las 
das Titelblatt und den Namen des Autors. Der 
Name war ihm nicht fremd, er wußte, dab es ein 
großer Dichter war; einzelne Sachen von ihm hatte 
er in den dreißiger Jahren in Paris gelefen. Später- 
bin, als er in Algier und in Spanien kämpfte, er» 
zählten ihm Landsleute, die er traf, von ben großen, 
immer wachjenden Erfolgen des Dichterd, er aber 
war jo and Waffenhandwerf gewöhnt, daß er fein Bud) 
mehr anjah. In jeinem neunundvierzigften Jahre 
ging er nad Amerila, und in dem Abenteurerleben, 
das er jührte, begegnete er faum je einem Polen, 
nie aber war ihm ein polnifches Bud) in die Hand 
gelommen, Mit um jo größerem Eifer und hoch— 
Hopfenden Herzens begann er jet zu bfättern. Jetzt 
fam es ihm vor, al& trüge ſich auf feiner Felſen— 
injel etwas ungemein Freierliches zu. Es war ein 
Augenblid unendlicher Ruhe und Stille. Die Uhren 
von Aſpinwall verfündeten die jünfte Nahmittags« 
ftunde. Kein Wölfen trübte das klare Blau des 


Henryl Sienkiewiez. 


Himmels, leiſe herüber ſchwebten einige Möwen. Re 


‚gungslos lag dad Meer, kaum hörbar ſchlugen die 


Wellen ans Ufer und zerfloffen ſanft in dem goldigen 
Sand. Aus der yerne leuchteten die weißen Häufer 
von Aſpinwall und ſchimmerten die herrlichen Palmen- 
gruppen. Wahrlic fill, feierlich und ernit war « 
ringsum. Da auf einmal erjchallte durch die Stille 
bie zitternde Stimme des Alten, ber, um beijer zu 
verjtehen, mit lauter Stimme las: 

„Litauen, mein Vaterland, du bit wie die Ge 
fundheit, Wie man did) wert halten muß, erfährt nur 
der, ber Dich verloren. Heute jehe und bejchreibe ih 
beine Schönheit und Herrlichkeit, weil mein Herz ſich 
nad) dir jehnt.“ 

Dem Alten verfagte die Stimme, Die Bud 
ftaben verſchwammen. In der Bruft ſchien ſich ehwas 
loszulöfen und, einer Welle gleich, vom Herzen auf 
wärts fteigend, ihn zu würgen, die Stimme zu breiben, 
Noch einen Augenblid, dann beherrichte er fi und 
las weiter, jene herrlichen Berje, die der Sehnfucht 
nad dem Baterlande Ausdrud geben. 

Was fih in der Bruft angefammelt, durchbrach 
die Macht des Willens. Laut auf fchrie ber Alte 
und warf ſich zu Boden. Seine ſchneeweißen Haare 
vermiſchten fich mit bem Sande des Meeres, Vierzig 
Jahre waren vergangen, jeitdem er das Baterland 
nicht mehr gejehen — Gott mochte wifjen, wie viele 
Jahre, feit er die Mutterſprache nicht mehr vernommen! 
Und da fan fie zu ihm, dem Einfamen, auf der 
andern Hälfte der Weltlugel, über das weite Meer 
hinüber, jo innig und traut, jo warm und ſchön! 
Indem Schluchzen, das feinen ganzen Körper ſchüllelte, 
lag fein Schmerz, nur die plötzlich erwachte um 
endiiche Liebe, neben der alles andre verfinft! Mit 
diefen unendlichen Thränen wollte er einfad die Ge 
liebte, faft Bergefjene um Vergebung anflehen, daß er, 
alt geworden, fi jo in die Einfamfeit vergraben, 
daß jelbit das Heimweh in ihm zu erfterben begann. 
Und jetzt war es dur ein Wunder zurüdgerufen 
worden, jetzt brach es in feinem Herzen auf. Die 
Stunden verflogen — er lag da und meinte, reis 
ſchend umfreiften die Möwen den Turm, als triebe 
fie die Unruhe um ben alten Freund. Die Zeit 
war gefommen, wo er ihnen jonft die Reſte feine 
Mahles ausftreute, daher flogen einige der Vögel 
bi8 zu ihm herab, Nah und nad famen immer 
mehr herbei, fie pidten mit ihren Schnäbeln an ihm 
und bewegten leicht die Flügel. Der Flügelſchlag, 
der ihn umfreifte, wurde immer flärfer und bradite 
ihn zum Bewußtjein. Die Thrünen hatten ihn er 
leichtert, fein Antlig erfhien jet ruhig und ſtrahlend, 
und die Augen blidten wie verflärt. Faſt unbemußt 
ftreute erfein ganzes Efjen den Vögeln hin, die ſchreiend 
darüber herfielen, er jelbjt griff wieder nach dem Buch. 
Schon war die Sonne über den Gärten und bem 


er 


| — — — — 


Heimweh. 


Urwald von Panama niedergegangen und jenfte ſich 
langfam über die Pandenge dem andern Meere zu, 
aber voller Glanz lag nod; über dem Atlantifchen 
Ozean, die Luft war Mar und durchſichtig, und jo 
laß er denn weiter: 

„Du aber trage inzwiſchen meine verſchmachtete 
Seele zu diejen bewaldeten Hügeln, zu diefen grünen 
Wieſen.“ 

Erſt die flüchtige Dämmerung verwiſchte die Buch⸗ 
ſtaben auf dem weißen Blatt. Der Alte lehnte ſein 
Haupt an den Felſen und ſchloß die Augen. Da 
nahm die Gottesmutter ſeine Seele in ihre Arme 
und ſchwebte mit ihr hinüber zu jenen Feldern, die 
bunt bemalt von blühendem Getreide. 

Lange rotgoldene Streifen breiteten ſich über das 
Himmelszelt, mit ihnen jchwebte die Seele fort, der 
teuern Heimat zu, Er hörte die Fichtenwälder rauſchen 
und die heimifchen Quellen murmeln. Er ſieht alles, 
wie er es einft gejehen, und alles fragt: Weißt du 
noh? Ob er daran benft, ob er ſich erinnert — 
er ſieht fie ja leibhaftig vor fih, die ausgedehnten 
Felder, die Wieſen, die Mälder, die Dörfer. Nacht 
iſt's! Um diefe Zeit erleuchten fonft immer bie 
Teuer des Leuchtturms die Finfternis des Meeres — 
er aber weilt in feinem Heimatsdorfe. Das alte 
Haupt ift auf die Bruft geſenkt — er träumt. 
Schnell und unvermittelt ziehen die Bilder der Ver- 
gangenheit an feinem Geifte vorüber. Er fieht nicht 
fein Baterhaus, der Krieg hat e8 von der Erde ge= 
fegt, er fieht weder Vater noch Mutter — war er doch 
noch ein Rind, als fie ftarben ; aber das Heimatsdorf 
fieht er vor fi, als hätte er es erft geftern verlafien, 
die lange Reihe der Hütten, auß deren Fenſtern bie 
fleinen Lichter Simmern, den Damm, die Mühle, 
die beiden Teiche, aus denen die ganze Nacht hindurch 
der Chor ber Fröſche zu hören iſt. Einit ſtand er 
nachts in diefem jeinem Heimatsdorfe auf der Reiter- 
wahe — dieſe Vergangenheit tritt jetzt in die Reihe 
der Erſcheinungen. Da fleht er als Ulan wieder 





auf feiner Wade, Wie mit Glutaugen blidt das | 


Wirtshaus aus der Ferne herüber, wüſter Lärm, 


Aufftampfen, Singen und Spielen ſchallt durch Die ſtille 


Naht. Das find die Ulanen, die mit ihren Sporen 
zufammenjchlagen, und er langmweilt fi fo einfam 
auf feinem Pferde. Träge jchleihen die Stunden 
dahin, da verlöjchen die Lichter, jeht, ſoweit das 
Auge reiht, undurddringliche Nebel — fie fleigen 


von den Wiefen auf und büllen die Welt in ein= | 


fürmiges Grau. Du glaubft, e8 ift das Meer — 
nein, das find die Wiefen. Wann wird im Dunfeln 


die Wachtel anfhlagen, warn das Gezwitfcher ber | 


995 


Vögel das Weidengebüſch beleben? Welch eine 
ruhige, fühle Nacht, eine wahrhaft polniiche Nacht! 
Nicht fturmbewegt, nur von felbft raufcht in ber 
Ferne der Fichtenwald — mie die Meereswelle. 
Bald wird der Morgen grauen — der Hahn fräht 
bereits jein Morgenlied. In den Hütten wird es 
nach und nad lebendig, und man hört die Kraniche 
von fernen Höhen. Der Ulan fühlt ſich friſch und 
kräftig. Sprach man nicht etwas von der morgigen 
Schlaht? Hei! da wird er aud hingehen wie die 
andern, mit Kriegsgeichrei und wehendem Fähnchen! 
Das junge Blut Freift heiß, wenn die Nacht auch 
fühl ift. Aber da dämmert der Morgen, die Nacht 
verblaßt. Aus der Umgebung treten die Einzel- 
heiten greifbar hervor. Die Brunnen fnarren, wie 
die Wetterfahne auf dem Turm. Wie jhön ift die 
teure Muttererde im rofenroten Lichte der Morgen- 
bämmerung! Du Teure, du Einzige! 

Still! Horch! Der aufmerffame Wachpoſten hört, 
daß jemand ſich nähert. Wahrſcheinlich ſoll der 
Poſten gewechjelt werden, 

Plötzlich Hört der Alte dicht neben fi eine 
Stimme: 

„Heda, Alter, wacht auf, was habt Ihr?“ 

Er ſchlägt die Augen auf und fieht voll Staunen 
jemand neben ſich ftehen. Seine Träume und 
Bifionen fämpfen noch mit der Wirklichkeit. End» 
lich wird e8 Flar vor feinen Augen. Vor ihm fteht 
der Hafenwächter John. 

„Was habt Ihr,“ fragte John, „ſeid Ihr krank ?* 

„Nein,“ 

„Shr habt die Peuchtfeuer nicht angezündet, Ihr 
feid Eures Dienftes entlaffen. Der Kahn von 
St. Jerome ift in den feichten Waflern zerjchellt. 
Zum Glüd ift niemand verunglüdt, ſonſt hättet Ihr 
Euch den Gerichten ftellen müſſen. Kommt, ſteigt 
ein, alles übrige erfahrt Ihr auf dem Konſulat.“ 

Der Alte erbleihte. Es wahr ja wahr, er hatte 
dieje Nacht das Anzünden der Leuchtfeuer vergefien. 

Mehrere Tage darauf wurde Stawinsfi auf dem 
Verded des Dampfers gejehen, der feinen Lauf nach 
New York nahm. Er war feiner Stelle verluftig 
geworden. Das Herumirren fonnte wieder anfangen. 
Wie ein lofes Blatt ergriff ihn der Sturm, um ihn 
über Fand und Meer, hierhin und dorthin zu treiben. 
Er war in diefen wenigen Tagen gealtert und ge— 
beugt, nur in den Augen lag ein merhwürdiger 
Schimmer. Für feine weiteren Lebenswege trug er 
als Talisman an der Bruft jein Buch, das er von 
Zeit zu Zeit ängftlich befühlte, als fürchte er auch 
dad nod) zu verlieren. 


Yas nackte Modell. 


Skizze von 


Juhani Aho. 
Aus dem Finnifchen überfeßt von Wathilde Mann. 


Schon mit ſeinem erſten Gemälde erregte er un- 
gewöhnlihe Nufmerffamkeit. Die Zeitungen wie 
auch das Publifum nahmen es wohlwollend auf, 
Das Bild ftellte das Innere einer Dorffate dar. 
Am Ende des Tijches ſaß ein alter Mann und flidte 
ein Neh, neben ihm auf der Bank fniete ein Meines 
Mädchen, bemüht, leſen zu lernen. Durd) das Fenſter 
im Borbergrund fah man eine Winterlandichaft mit 
Zannenwald, und durch das andre ſchien bie Sonne 
herein, Auf dem Fußboden fonnte ſich die Kahe 
mit halbgeſchloſſenen Augen. Das Geficht des Alten 
und das hellblonde Haar des Kindes feien bejonders 
gut gelungen, fagte man. Ein fo durd und durch 
finnifches und fo naturfrifches Bild hatte man felten 
geſehen. Befonders die finniſch Gefinnten waren 
über das NKunftwerf begeiftert. Erſtens war der 
Künftler felber einer von ihnen, und dann hatte er 
feinen Borwurf dem Bolfsleben entnommen, befien 
Schilderung jeht an der Tagedordnung war, und 
das der junge Maler von Grund aus verftanden zu 
haben ſchien. Ueberall fprah man von dem „Nef- 
flidenden Alten”, und Photographien nad) dem Ge» 
mälde fanden einen Weg in jedes Familienalbum. 

„Ihr Nepflider ift doch etwas ganz Brillantes !* 
fo redete man ihn an, wohin er kam. „Das Bild 
iſt gewifjermaßen ein Stüd von der Kulturgeſchichte 
unſers Volles. Bringen Sie ung nicht bald etwas 
Neues im jelben Genre? Etwa einen alten Fiſcher —* 

„Und was jo bejonders anziehend auf uns alle 
gewirft hat, ift die Reinheit, die Unſchuld in Ihrer 
Kunſt — jeder einzelne Zug Ihrer Geftalten trägt 
das Gepräge finnifcher Einfachheit, und aus Jhrer 
Landſchaſt ftrahft einem förmlich eine Johannis— 
Stimmung entgegen!“ 

Er war ein hübjcher, flattlicher junger Mann, 
und er ward bald in das gejellige Leben der finniſch 
gefinnten Kreife von Helfingfors hineingezogen, Die 
Tochter eines höhern Beamten, eine Kammerrats, 
verliebte ſich in ihn und er fih in fie. Sie ver- 
lobten fi, und die Verlobung wurde in den Zeitungen 
beiprodhen. j 

Die Eltern der Braut, die fi jelbftverftändlich 
auf Kunft verftanden, — der Kammerrat war Mit- 
glied des Kunſtvereins — waren ganz entzüdt von 


ihrem fünftigen Schwiegerſohn und jogar ein Hein 
wenig ſtolz auf ihn. Für den umbemittelten jungen 
Mann brach eine glüdliche Zeit an. Während der 
Sommermonate malte er auf dem Lanbdfik jeiner 
künftigen Schwiegereltern und führte dort ein jorgen- 
freies Leben. Die Kritik behauptete, daß feine Aunkt, 
die das Vollsleben mehr und mehr ergründete, ſich 
auch mit jedem neuen Bild, dad er ausftellte, meh: 
und mehr veredfe. Alle feine Gemälde ftellten die 
ländliche Natur dar und waren Mein und fein, ja 
oft idylliih. Es war ihm gelungen, dem Publikum 
gerade das zu geben, was e& haben wollte, und er 
fand eine ganze Menge von Nachahmern. 

Nur eins von feinen Gemälden befricdigte weder 
die Mefthetifer noh das Publikum. Er hatte einen 
Strand gemalt, an dem Frauen ftanden und Wäſche 
jpülten, 

Man machte in den Zeitungen einige tabeinde 
Bemerkungen über das Bild, weil nämlich die Bein 
der einen Wäſcherin reichlich weit entblößt waren. 
„Er ift gerade fo weit über das Knie gegangen, wie 
er hätte darunter bleiben ſollen,“ bemerkte ein fird« 
liches Blatt ſpitz und meinte in dieſem realiſtiſchen 
Bild die frühere, edle, liebenswürdige Auffaſſungs- 
weile des Künftlers überhaupt nicht jpüren zu können. 

Die Kritif ärgerte ihn und verftimmte ihm auf 
lange Zeit. Er hatte ſich eingebildet, daß biejes feiner 
Anfiht nah wirkungsvolle Gemälde ala Fortihritt 
in feiner Kunſt begrüßt werden würde. Die ftarl 
fonnengebräunte Farbe an den Armen, den frühen 
und der halb entblößten Brufi der Frauen hatte er 
mit bejonderer Sorgfalt ftudiert und feine ganze 
Kraft daran geſeht, die Schwierigfeiten, die ſich ihm 
bei der Wiebergabe diejer Hautfarbe entgegenftelten, 
zu überwinden. Er hatte das Verlangen empfunden, 
ſich an ſchwerere, ernftere Nufgaben zu wagen und 
nicht ausſchließlich „in Idyllen zu fchlummern*, wie 
er jelber es bezeichnete, 

Er Hatte fich gleichzeitig um ein Stipendium zu 
einer Studienreife nad) Paris beworben, und er er 
hielt e8. Aber es gab mand einen, der ganz offen 
äußerte, es ſei wohl ſehr zweifelhaft, ob ihm dieſer 
Ausflug zum Nutzen gereihen würde, 

„Wenn dir dort nur deine ideale Auffaffung 





Das nadte Modell. 


nicht abhanden fommt,“ meinte der Kammerrat, — 
„hüte dich vor dem ftarken Einfluß der franzöfifchen 
Nealiften. Du haft niemals etwas fo Wahres und 
dabei jo Ideales geichaffen wie deinen ‚Nepflider‘, 
umd wirft es auch wohl ſchwerlich je wieder fertig 
bringen. Ich habe Perjonen, auf deren Urteil ich 
großes Gewicht lege, diefelben Befürchtungen auf 
Grund deiner ‚Wäſcherinnen‘ äußern hören. ber 
ih gebe die Hoffnung nicht auf, daß du unjre Bes 
ſorgnis zu Schanden machen wirft.“ 

Er hatte ein Gefühl, als wenn ihm mit diejer 
Staatsunterftügung Verzeihung für feine zufällige 
Verirrung erteilt werde. 

* 

In Paris hielt er ſich zwei Jahre auf. Alle 
Freunde der einheimiſchen Kunſt erkundigten ſich 
neugierig nach ſeinen Studien im Ausland, und in 
den Zeitungen las man hin und wieder unter der 
Rubrik „Finnische Künſtler in Paris“ Notizen über 
ihn. Eine Weile arbeitete er in Cormons, dann in 
Juliens und ſchließlich ſogar in Bonnats Atelier, 

Es hieß, er male an einem großen Bild, das 
eine Scene aus der Nino-Sage darſtelle. Er jchrieb 
begeijterte Briefe darüber an feine Braut, und dieſe 
Briefe wurden allen Belannten der Familie vor— 
gelejen und von dieſen auszugsweiſe in den Zeitungen 
veröffentlicht, 

„IH babe Aino in dem Augenblide dargeftellt, 
wo fie: 

Hat abgeftreifet dad Gewand, 
Die Schuhe abzieht an dem Etrand 
Und ſich anfdidt, zu ſchwimmen — 

„Alle meine Kameraden rühmen das Bild und 
meinen, es ſei das Befte, was ich je gefchaffen habe. 
Das Thema ift nicht neu, aber ich glaube, ich habe 
es ganz neu und jelbftändig aufgefaßt. In erfter 
Linie Habe ich die völlige Unſchuld diefer mythiichen 
Geftalt, ihre jungfräuliche Reinheit wiedergeben wollen, 
Werden alle die Augen machen, die bejorgt waren, 
dab ich meine aus der Heimat mitgebradhte Auf- 
faffungsweife einbüßen Fönne! Im Gegenteil, die 
ift mir befeftigt.* 

Hatte man nicht immer geweigjagt, dab etwas 
Großes aus ihm werden würde! Und bie fünftigen 
Schwiegereltern ſprachen überall von dem künftigen 
großen Dann, weldhe Fortſchritte das Gemälde 
machte, wie die Landſchaft ſchon jo gut wie beendet 
fei, und daß die Arbeit bald eintreffen werde, um 
ausgeftellt zu werben, 

Während defjen legte der Künstler eines Tages auf 
ben Montmartre in Paris die lehzte Hand an fein 
Wer. Das Fenſter nad dem Boulevard hinaus 
war geöffnet, die Bäume prangten im erjten Frühlings« 
ſchmuck, und der Iuftige, jchmeichleriiche Sonnenjchein 
erfüllte das Zinnmer. Er befand fi in einem fürm- 


997 


lichen Rauſch ber Befriedigung und des Enthufias- 
mus. Geine Reife war nicht vergebens gemwejen. 

Er Hatte die ſchwerſte Aufgabe gelöft, die ein 
Maler fich ftellen fanı. Es war ihm gelungen 
die jhönften, feinften Schattierungen der Haut 
wiederzugeben, und bie fleinen blauen Adern mit dem 
pulfierenden Blut ſchimmerten förmlich durch dieſe 
Haut hindurch. 

Ein Paar von feinen Kameraden ſaßen bei ihm 
im Atelier, während er malte, 

„Berade in Bezug auf die Behandlung des 
Fleiſches kannſt du es mit jedem franzöfiichen Meifter 
aufnehmen.“ 

„Was mich bei deiner Aino am meiſten verwun— 
dert,“ ſagte der andre Freund, „iſt, daß, obwohl ſie ſo 
völlig unbekleidet und jo gänzlich realiſtiſch aufs 
gefaßt ift, und obwohl der Körper fein Idealkörper 
nad) der alten Schule ift, jondern ſchlecht und recht 
der eined finniichen Bauernmädchens, man doch ein 
Gefühl Hat, als bebürfe fie feines fyeigenblattes, um 
ſich zu verhüllen. Das ift die Keuſchheit des Uns» 
bewußten, die fo unvergleichlich nicht nur aus ben 
Gefihtäzügen, jondern aus der ganzen Geftalt ſpricht.“ 

Und dann entftand ein Disput zwifchen den 
beiden Beichauern. 

„Aber was glaubft du, daß man baheim von 
den Gemälde jagen wird ?* 

Wieſo?“ 

„Da wird es gründlich heruntergemacht werden.“ 

„Und weswegen ?* 

„Beil fie jplitternadend ift.“ 

„Aber zum Kudud aud), das ift ja gerade das 
Teinfle an dem ganzen Gemälde! Der Grumb» 
gedanfe!* 

„Freilich, ic) verſtehe das, glaubſt du aber, daß 
die Thoren daheim — Wie dentjt denn du darüber ?* 

Der Maler jagte nichts, betrachtete nur das Bild 
von weitem, pfiff eine Melodie vor ſich Hin und jah 
vergnügt aus, 

% 

Schon mehrere Tage vor der Eröffnung ber 
Frühlingsausſtellung berichteten die Zeitungen der 
Hauptjtadt, daß das neue Gemälde angelommen jei, 
und daß der Künſtler in den allernädften Tagen 
erwartet werde. 

Er fam und zeigte fid) bald auf der Promenade, 
ein fompletter Pariſer, nach der neueften Mode ges 
fleidet. Man beobadhtete ihn und feine Braut und 
machte fich gegenfeitig auf fie aufmertjam, jobald 
jie ſich nur bliden ließen. 

Alle Bekannte, denen fie begegneten, riefen aus: 

„Und dein neues Gemälde, — das foll ja etwas 
ganz Ungewöhnliches fein. Welch ein Genuß, es zu 
ſehen!“ 

Als das Bild aufgehängt war, lud er ſeine Braut 


998 


und deren Eltern ein, es zu bejehen. Er holte fie 
ab und hatte in einem eleganten Reftaurant ein 
Frühſtück beftellt, das nad der Befichtigung ein- 
genommen werden follte — ganz auf Parijer Manier, 

Er führte fie direft vor fein großes Gemälde und 
tief lebhaft aus: 

„Da ift ea! Was meint ihr dazu?” Er jah 
feine Braut erröten und fühlte, wie ihre Hand aus 
feinem Arm glitt. Die Kammerrätin wandte fi) 
mit einer empörten Bewegung nad) ihm um: 

„Haft du das Bild da gemalt?” 

Ja.“ 

Da wußte die Kammerrätin nichts weiter zu 
fagen ala ein beftiges: 

„Pfui! — Komm, Anna, dies bier ift etwas 
ganz Schamlofes.” 

Und fie zog ihre Tochter mit ſich fort, zur Thür 
hinaus, 

Der Maler eilte ihnen nad und fuchte fie zurüd« 
zubalten, aber es gelang ihm nicht. 

„Ein Schande für die ganze Familie — hätte 
ich nur eine leife Ahnung davon gehabt —“ jo Hang 
e3 erzürmt von der Treppe zu ihm herauf, 

Er mußte fie gehen laffen und kehrte wieder in 
die Ausstellung zurüd, 

„Aber was hat dies alleß nur einmal zu bedeuten ?* 
fragte er den Kammerrat, der ſich balbverlegen von 
dem Gemälde zurüdzog, das er in allernächiter 
Nähe betrachtet Hatte. 

Wie kannſt du nur fo ehvas ausftellen — was 
denfft du denn, daß die Menſchen darüber jagen 
werben ?* 

„Ih mache mir gar nichts daraus, was die 
Menſchen jagen!” 

„Du mwillft das Bild alfo Hängen Taffen ?* 

Natürlich!“ 

„Dann mußt du für die Folgen einſtehen.“ 

„Das werd’ ich ſchon thun!“ 


„Nun ja — dann empfehle ih mid.“ Und 
auch der Kammerrat verichwand, 
Er war wie vom Blitz getroffen. „Die Wäſche— 


rinnen“ und das Gerede über die nadten Beine fielen 
ihm ein. Er hatte das im Auslande ganz vergefjen. 

„Aber ift denn darin etwas Anſtößiges?“ Er 
drehte fi um und betrachtete das Bild. Nino jtand 
dort, dem Beichauer zugewendet, im Begriff, fi) ins 
Waſſer zu flürzen, fie jtand dort natürlich und aller« 
dings entblößt, aber rein, fühl, ruhig, halb erjchauernd 
in der frischen Morgenluft, die träumeriichen Augen 
auf die See gerichtet. 

„Sit es möglich, daß dieje Nadtheit fie hat ver— 
legen können? Sollten fie wirklich fo einfältig, fo 
beichränft, jpießbürgerlid) fein?” 

Er bemühte jih, fie zu verftehen, als er aber 
daran dachte, wie feine Braut fi ihm gegenüber 


Jubani Abo. 


benommen hatte, gab er feinen Entichluß, fie aufe 
zuſuchen unb eine Erflärung von ihr zu verlangen, 
wieder auf, 

Den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht 
fochte die Oppoſitionsluſt in ihm. Erft am nächſten 
Morgen begab er fich, noch fehr ergrimmt, zu feinen 
Schwiegereltern. Er bat, mit jeiner Braut reden zu 
dürfen. 

„Sie ift frank in Folge der Gemütsbewegung,* 
antwortete die Kammerrätin, die ihm feierlich im 
Salon empfing und ihm erflärte, einige Tragen an 
ihn richten zu müſſen. 

„Sage mir doc, ift bein Bild nad) der Natur 
gemalt?“ 

„Ih war fo glüdlih, nad) langem Suchen ein 
Modell zu finden, das mir vorzüglich paßte.“ 

„Sie hat alfo genau jo vor dir geflanden ?* 

„sa, natürlich!“ 

„Die Modelle in Paris find ja —“ 

„Was meinft du?” 

„Du verjtehft wohl, was ich jagen will —* 

„Run, — was weiter?” 

„Das war alles, was ich wiffen wollte,“ 

„Verfteht ihr euch wirklich nicht beſſer auf 
KHunft?“ 

„Wenn dies Kunſt ift, jo danfe ih Gott, daß 
wir fein Verſtändnis dafür haben. — Arme Anna!” 

-Sie verſchwand durch die eine Thür im ſelben 
Augenblid, als der Kammerrat durch die andre trat. 
Er hielt die Morgenzeitung in der Hand und warf 
fie vor ſich auf den Tiſch. 

„Haft du gelefen, was man hier über dich 
fagt?* 

„Sa, ich habe es gelefen —: um fo etwas malen 
zu können, hat mein Gemüt in dem Parifer Un— 
zuchtsneft befledt werben müjlen — ih muß ale 
meine befjeren Gefühle ertötet haben — ift das die 
Art und Weile, wie ich mit Staatdunterftähung 
ftudiert habe? — es ift Pornographie, Schweinerei 
— id bin Schritt für Schritt zurüdgegangen ſeit 
ih den nebflidenden Alten malte, und nun bin id 
rettungslos verloren — ich habe die edelfte Sagen 
geftalt Finnlands geſchändet! — Ich aber Sage 
euch, ihr jeid nicht im flande zu beurteilen, was 
vaterländifch ift — und ich ſage euch, daß ihr mir 
nicht einmal leid thut, daß dies alles jo blödfinnig, 
fo ſinnlos ift — und darin liegt die Gemeinheit, 
nicht aber in meiner Auffaffung! — So fage mir 
doch wenigſtens, was euch bei meinem Gemälde 
anftößig ift!” 

„Aber fie ift ja gänzlich unbelleidet!“ 

„Habt Ihr denn niemals nadte Geftalten auf 
Gemälden geſehen?“ 

„Freilich hat man dad — auch Hier bei ums, 
aber das ift ja etwas ganz andres — immer jedes 


Das nadte Modell, 


beliebige Bild — die Figuren find doch mindeftens 
teifweije befleidet — ein Maler mit Anjtandagefühl 
bängt ſtets einige Blätter davor oder legt einen 
Zipfel des Gewandes um die Geftalt, du hingegen 
— auf deinem Bild ijt ja nicht die fleinfte Faſer 
von einer Bekleidung — was hinderte did, ebenjo 
ehrbar zu fein wie alle die andern?“ 

Der Zom ftieg in ihm auf, er vermochte ſich 
nicht mehr zu beherrſchen, er nahm feinen Hut, warf 
die Zeitungen zu Boden und rief mit einem Hohn⸗ 
oelädhter aus: 

„Und wenn ich dies Schamgefühl in mir gehabt 
hätte, jo wäret Jhr nur um fo ſchamloſer gewejen! 
Hätte ich meiner Geftalt ein paar Feigenblätter vor« 
gehängt, jo würdet Jhr fiher dahinter gegudt haben!” 

„Soll das auf mich gehen?“ 

„Ja, du bift nicht befjer als alle die andern.“ 

„Du wagft es — hinaus mit bir!“ 

„Bielleiht bin ich ein wenig übereilt gewejen,* 
dachte er bei fi, als er ſich auf der Straße be- 
fand. 

„Aber richtig war es doch, daß ich mich ganz 
rüdhaltlos ausſprach!“ 

Nahdem er eine Weile umbergewandert war, 
begab er fih nah Haufe. Dort wartete ein Brief 





999 


bon jeiner Braut auf ihn. Der Berlobungsring 
lag darin. 

„Wenn du mich wirklich geliebt hätteft, würbeft 
bu diefe Schande nicht über meine Eltern und über 
mid gebracht haben. Du hätteft doc wifjen müffen —“ 

Er zerknitterte den Brief, richtete feine ſchlanke 
Geftalt jo, daß fie in eine einzige, elaftiihe Sehne 
verwandelt zu fein ſchien, erhob drohend Die geballte 
Fauſt und rief: 

„Ih will diefen thörichten Menſchen zeigen, was 
ih kann. Ich will fie beſchämen, will fie zwingen 
mid um Verzeihung zu bitten, will ihnen die Anſicht 
der ganzen gebildeten Welt ins Geficht jchleudern — 
ih will fie zermalmen!* 

“ 

Und er hielt Wort, Er nahm Nahe und ward 
einer der erjten Maler feines Landes, Wenn man 
im Auslande gelegentlich, einmal von feinem DBater- 
lande ſprach, ſo nannte man unwillfürlid) im jelben 
Atem feinen Namen. 

Und in allen feinen Biographien, die in ben 
großen ausländiichen Zeitjchriften mit feinem Porträt 
veröffentlicht werden, wird bie Geſchichte von ben 
Weigenblättern erzählt, die vorzuhängen er unter« 
laſſen hatte. 


nn — 


Die Weinlefe. 
Don Gabriel d'Annunzio. 
Aus dem Jtalienifhen überfegt von Valerie Matthes, 


Es ftampft mit kräft'gem Fuß im eichnen Bottich 
Ein Jüngling; den geräumig weiten Boden 

füllt er aufs nene fiets mit faft’gen Trauben, 
Und beim Serdrüden fließt der Moft in Strömen. 


Auf einen grünen Waldesſtab gelehnet, 
Begleitet er den Wechſelſprung der Fühe 
Mit feinem Sange, und gleich Dionyfos 
Scheint aus Achajas Marmor er gebildet. 


Es lachen feine Glieder, die aus Grazie 

Und Kraft gemifcht, bewealich-froh im Rhythmus; 
Die ftoljen Bogen feiner Rippen treten 

Hervor an feinem jugendlichen Körper, 


\ 


ı 
3 


Als feien fie zum Studium einem Künftler 
Beftimmt; die Arme, auf der Bruft verichlungen, 
Sind -feft und nervig wie Athletenarme, 

Die ftarf und wohlgeübt im Disfuswerfen, 


Die Beine haben jene Mannesſchönheit 

Der form, die gleichſam fliegend-langen Linien, 
Die einft dem Altertum fo wert und teuer 

Auf Leinwand und an Marmorbildern waren. 


Es fommen zu dem Bottich rings die Mädchen 
Dom nahen Weinberg her, den Korb voll Trauben 
Auf ihrem Banpte tragend, Gruppen bildend 

Wie ehmals in Athen die Kanephoren. 


Zu beiden Seiten von des Winzers Ferfen, 
Die purpurrot gefärbt find, fliegen Ströme 
Don Moft hervor; die Sonne ftrahlet Segen 
Freigebig nieder auf das Werk der Menfchen. 





| ng 


Eine Kußgeſchichte. 


Bartholomäus Sralscry, 


Aus dem Ungarifchen überfeht von Andor v. Hpöner. 


Mein Amtsbruder in Baltony pflegte immer zu 
fagen: „Dieje Predigerichaft wäre ja ganz gut, wenn 
man nur nicht predigen müßte.” 

Und er hatte recht. Müßte ich nicht jeden 
Sonntag, gleichviel, ob ich Luft dazu habe oder nicht, 
die Kanzel bejteigen, jo wäre ich der glücklichſte 
Menſch auf Gottes Erdboden, 

Uebrigens habe ich mich auch fo nicht zu beffagen. 
Ich habe eine gute Pfarre, faft die befte hier im 
Berglande. Ich habe ein braves, gutes Eheweib, 
mit welchem ich ein ftilles, friedliches Leben führe, 
jo dab ich auch ſchon Hierfür dem lieben Herrgott 
nicht genug dankbar jein fann. 

Aber neulich wäre biejer Friede beinahe geftört 
worden. Umjonft — eine Frau bleibt immer nur eine 
Frau. Sie denft nie jo wie ein andrer Menid. 

An unjern Haufe gab ed nämlid eine Heirat. 

Da und Gott feine Kinder gejhenft, hatten wir 
das verwaifte Tödhterchen einer armen alten Be— 
dienerin an Slindesjtatt angenemmen, aber nicht 
etwa als Fräulein, Sondern fo al eine Art Dienft- 
boten behandelt. Ich zog fie auf in großer Gottes« 
furht und Frömmigleit. 

Aus diefem Meinen Mädchen, aus Manczi, wurde 
aber bald eine jchöne, Tiebliche, Tiederreihe Jungfrau, 
Es war eine wahre Luft, ihr unfchuldiges Geplauder 
anzuhören, ob in der Küche, ob im Garten oder auf 
dem Felde. Ihre jchuldloje Seele, der Blid ihrer 
blauen Augen machte manchem Jüngling das Herz 
höher jchlagen. 

Einige hielten auch um ihre Hand an. Manczi 
indeſſen wollte vom Heiraten nichts hören, „Wozu 
follte ich denn heiraten ?* — fragte fie. „Hier geht es 
mir ja auch gut bei dem hochwürdigen Herrn und 
der hochwürdigen Frau. Hier habe ich ja auch zu 
eſſen. Heiraten — mozu denn? Iſt das nötig? 
Ih weiß wahrhaftig nicht, weshalb id) mic ver— 
beiraten ſollte.“ 

Dann fing aber der reihe Gabriel Pafti auf 
einmal an, öfters unfer Haus zu beſuchen. Die 
längfte Zeit wuhten wir beide es uns abjolut 
nicht zu erflären, weshalb dieſer alte, hochmütige 
Hageftolz jebt jo häufig zu uns fam. Bis endlich 
meine rau wahrnahm, daß Herr Pajti auf Manczi 





‚ find das etwa verächtlihe Dinge? 





ein Auge geworfen hatte, denn jo oft er ſich ver- 
abihiedete, fand er immer Gelegenheit, Manczt, die 
fi in der Küche beichäftigte, in die Wangen zu 
jiwiden. 

Und das hielt ich dann auch einmal Herm Gabriel 
Paͤſti vor. 

„Was?“ verſehte Gabriel Päfti, indem er ſich 
mit der Hand in das ergrauende Haar fuhr, „Sie 
glauben doch nicht, hochwürdiger Herr, daß ic) dieſes 
Mädchen verführen will? Nein. Aber zur frau 
möchte ich fie nehmen. Nun, wir ſprechen noch darüber.“ 

Meine Alte war höchlich erftaunt, als ich ihr am 
Abend Gabriel Paftis Abfihten mitteilte. 

„Er wird doch nicht!” 

Wird nicht?“ fprad ih; „und warum folk, 
warum fönnte er nicht? Wielleicht, weil er ſechsund⸗ 
fünfzig Jahre alt ift? Ei was, diejer Gabriel Pati 
ift noch ein ganz wohl erhaltener, febensluftiger Mar. 
Und dann das große Stüd Feld in der Ebene, dat 
Haus mit der Vorhalle, der prächtige Weinberg, 
Herr Gabriel 
Päfti thut gut daran, wenn er nad) feiner Neigung 
heiratet; er kann ſich's erlauben und hat noch Feit, 
das Leben zu genießen.“ 

„Aber, lieber Alter, bedenke doch, dab der Alter 
unterjchied zwiſchen ihnen vierzig Jahre beträgt.“ 

„Nun ja, id) wußte voraus, daß du das einwenden 
würdeft. Auch dein Verftand ijt nur jo ein Weiber 
verftand, teuerfte Gattin. Was verfteht ihr alleſamt 
vom realen Leben? Don Kindheit an bis zum jpäten 
Alter beijhäftigt ihr euch immer nur mit Heiratie 
angelegenheiten und verfteht doch nur jo viel davon 
wie die Henne vom Abe. Bierzig Jahre Alter 
unterfchied ift zwiſchen ihnen ... jagft du? Rum, 
und was dann? Du möchteſt haben, nicht wahr, 
daß — jo pflegft du zu fagen — ein Gleichgewicht 
im Alter ſei. Freilich, damit beide unerfahren, 
unbeholiene Kinder feien; eins könnte fingen und 
tanzen, das andre unterdefien am Zaun ftehen und 
die Hirtenflöte blajen. So könnten fie dann leben 
von Singen, Tanzen und Flötenblaſen. Du verficht 
das nicht, gute Alte, denn du biſt auch nur eine Ftau 
Ahr wißt nichts von der Philojophie, und dieje iſt je 
in der Ehe die Hauptjache.“ 


Eine Kußgeſchichte. 


„Gut, gut, lieber Alter, du weißt das jedenfalls 
beſſer als ich. Aber eines möchte ich Dich doc bitten: 
Denn das Mädchen nicht jelber mag, jo zwinge es 
nicht dazu.“ 

„Darüber fannft du beruhigt fein, das Zwingen 
ift nicht meine Gewohnheit. Aber ich glaube, es 
wird fein Zwang vonnöten fein, benn wenn biejes 
Mädchen aud nur jo viel Berftand hat wie ein 
Buchfink, jo wird «8 auch ohne jeden Zwang ein» 
willigen.” 

„Das möchte ich bezweifeln, lieber Alter.“ 

„Gut, alfo verjuhen wird, Manczi, hör, lomm 
doch herein!“ rief ich dem in ber Küche jpinnenden 
Mädchen zu. 

Mangzi irat ein. Ihre fröhlichen, großen blauen 
Augen ſchweiften lächelnd in der Runde umher. 

„Alſo, Manczi, mein Kind, ſchon wieder hat ſich 
ein freier gemeldet. Was benfft du über die Sache ?" 

„Wieder ?” fragte das Mädchen erftaunt. „Sch 
weiß ihon wahrhaftig nicht, was fie mit mir haben 
wollen, daß fie mit der Sache jo drängen,” 

„Und du fragft nicht einmal, wer es ift?“ 

„Mir ift’8 ja einerlei, wer immer !* 

„Nicht doch, jet fteht Die Sache anders! Dies- 
mal iſt e8 nicht ein unreifer, hergelaufener Junge, 
der ein Auge auf dich hat, jondern Herr Gabriel 
Pafti.” 

„Der, welcher immer hierher kommt?“ 

„Jawohl, der! Der, welcher dort am Saume des 
Wäldchens wohnt in dem großen Haufe mit der 
Vorhalle.“ 

„Der jo viel Feld beſitzt?“ 

„Ja, der.” 

„Der neben dem unfrigen den großen Wein— 
garten hat?” 

„sa, der.” 

„Der die ſechs mächtigen Ochſen mit ben ge— 
wundenen Hörnern hat?“ 

Ja, ber.” 

„Und wenn ich einmal feine Frau bin, wird das 
Haus, wird das Feld, werden bie ſechs Ochſen auch 
mir gehören?“ 

„Hreilih, mein Kind. Du möchteft aljo jeine 
Frau werden, wenn er did) verlangt?“ 

„Ajo willen Sie, hochwürdiger Herr, mir ift es 
ja einerlei. Ich habe immer gehört, daß ein Mäds 
hen heiraten muß. Gut, jo fann ich ja aud) heiraten, 
Ob ich hier lebe oder dort. Ein bißchen werde id) 
wohl bei der Hochzeit weinen, dab id Euer Hod)- 
würden und die hochwürdige rau verlaffen muß, 
aber jchließlich werde ich mich ja tröften in dem großen 
Haufe mit der Vorhalle. . .“ 

Damit ging fie hinaus, Sie nahm wieder den 
Roden in die Hand und fang, bei dem flimmernden 
Lämpchen fihend, ihre Lieblingsweiſe: 

Aus fremden Yungen. 1897. IL 21. 





1001 


„Kalter Sturmwind bläſt fo ſchaurig, 
Mädchen ift fo bang, fo traurig... .* 

Ich jah meine Frau an. 

„Nun, was ſagſt du dazu ?* fragte ich. 

„Nichts, mein Alter, als dab die Sade kein 
gutes Ende nehmen wird.” 

„O dieſer Weiberverftand !* ſprach ich ärgerlich. 
„Wahrlih, vertraute man die Führung der Welt 
euch an, nad) ein paar Tagen würde jchon das ganze 
Weltall auf dem Kopfe ftehen.” 

Damit ging id zu Bette mit dem feften Vor— 
jage, weiter über die ganze Sache fein Wort mehr 
zu jprechen. 

Indeſſen war es nicht möglich, diefen ſchönen 
Vorjak auszuführen, denn ſchon am Morgen des 
nächſten Tages erjhien Herr Gabriel Päfti bei und 
und hielt in aller Form um Mangis Hand an, 
Manczi ſchlug mit unbefangenem Gelächter ein, und 
nad) drei Tagen bot ich fie in der Kirche zum eriten» 
mal auf; eine Woche jpäter zum zweiten, dann zum 
driftenmal, fo daß wir nad) drei Wochen die Hoch— 
zeit begehen konnten. Mit rot angeſchirrten Füllen 
führte Herr Pafli feine Feine junge Frau heim, die 
luftig und munter die Hochzeitstücher den Füllen 
auf die Ohren band. 

Während der erften Woche hörten wir nichts von 
ihnen. Aber nad Verlauf einer Woche hörten wir, 

Es war gerade — ich erinnere mich noch jehr 
deutlich! — am Tage vor der Kommunion. 

An diefem Tage pflege id — nah altem 
Brauche — die Kirchenzucht auszuüben. Wenn 
es umeinige Ehegatten im Dorfe giebt, beftelle ich 
fie an diefem Tage zu mir. Dem jchuldtragenden 
Teile gebe ich einen Verweis, ſuche etwaige Miß— 
verſtändniſſe zu bejeitigen — mit einem Worte, ich 
tradhte Frieden zu ftiften, und kann jagen: faft immer 
mit Erfolg. 

Ich erinnere mich nod) ganz genau, daß an diejem 
Tage Julie Särfäny und Siegmund Tobeli zu mir 
bejtellt waren. Beide waren in Uneinigfeit mit ihren 
Ehehälften. 

Bei Julie Särläny war das der Hafen, daß ihr 
Gatte — ber, nebenbei gejagt, jo ein vierfchrätiger 
Gefell war — feinen Strauß auf jeinen Hut fteden 
wollte wie die übrigen. Darüber ärgerte fi Julie 
und ſprach drei Wochen lang fein Wort mit ihrem 
Manne. Ich gebot diefem, den Strauß aufzujteden, 
und damit war der Friede hergeitellt. 

Siegmund Tobeli aber beflagte ſich darüber, daß 
jein Weib in der Abenddämmerung mit dem Rinde 
immer gegen den rüdwärtigen Zaun zu fpazieren 
ging. Schon Hundertmal hatte er ſie geheißen, es 
nicht zu thun, und doch that fie es immer wieder, 
Das wollte er nicht leiden, Ich verfühnte auch diefe, 
indem ich der Frau fireng anbefahl, den rückwärtigen 

126 


1002 


Zaun in Zufunft zu meiden. Warum dies Gieg- 
mund Tobeli jo jehr wünſchte, weiß ich nicht. ber 
es gehört ja auch nicht zu meinen Obliegenbeiten, 
dies auszuſpüren. 

Als ich all dieſe Dinge dermaßen in Ordnung 
gebracht hatte, trat plößlich Herr Gabriel Pafti zu 
mir ein, 

„Nun, hochwürdiger Herr,“ polterte er unter jeinem 
balbgrauen Schnurrbarte, „auch ich bin gelommen ; 
id bin aud) ein uneiniger Gatte. Auch bei ung ift 
bie Fehde ausgebrochen. Machen Sie aud) mit uns 
Ordnung, hochwürdiger Herr.” 

„Sie jherzen, Herr Pafti.” 

„Bitte, nein, ich fcherze nicht, bin auch nicht im 
mindeften zum Scherzen aufgelegt.” 

„Dann jagen Sie alfo, Herr Pafti, was Sie 
auf dem Herzen haben. Ich kann nicht recht glauben, 
dab Manczi etwas Böſes gethan hätte. Das fieht 
ihr gar nicht ähnlich. Ich habe fie hier in meinem 
Haufe erzogen in Gottesfurdt und tugendhafter 
Sitte.“ 

„Nur allzuſehr in tugendhafter Sitte, hochwürdiger 
Herr.” 

„sch verftche Sie nit, Herr Gabriel Paſti. Nur 
allzuiehr in tugendhafter Sitte! Ich glaube, tugend« 
bafte Sitte kann nie ſchädlich fein.“ 

„Nun, was weiß ich! Aber ich dbenfe, es wäre 
doch befler, fie würde dieje tugendhafte Sitte nicht 
jo ſehr beihätigen,, mindeftens nicht mir, ihrem an« 
getrauten Gatten gegenüber.” 

„Wieſo? Mas joll das heißen ?* 

„Das joll heiten, hochwürdiger Herr, daß 
Manczi ... wie jol ich e8 denn nur fagen?* 

„Nur heraus damit, Herr Paſti.“ 

„Alſo das joll heißen, hochwürdiger Herr, daß 
Manczi mich nicht... füffen will.“ 

„Sie will nit?“ 

„Nein, fie will nit. Und Kreuzſchockſchwere⸗ 
not, ich jage Euer Hochwürden, ſehen Sie ihr ben 
Kopf zurecht! Denn fonft, ich fage nur jo viel, wird 
die Sache fein guted Ende nehmen,“ 

Damit ftand er brummend und die breiten Achfeln 
zudend von jeinem Stuhle auf und entfernte fich, 
ohne auch nur zu grüßen, fo daß id; ihm bis auf 
die Straße nachrennen mußte, um ihm zu jagen, 
er möge aljo Manczi zu mir jchiden, damit ich mit 
ihr rede. 

Was in aller Welt können nur die miteinander 
haben? Es wäre mir nicht lieb, wenn wirklich 
Manczi in etwas gefehlt hätte. Wenn fie das ſchöne 
Glüch, welches fich ihr getroffen hat, nicht zu ſchätzen 
weiß, fo verdient jie aud nicht, glücklich zu fein. 

Während ich noch jo vor mich hin brütete, öffnete 
ſich mit großer Haft die Thüre, und Manczi trat ein. 

„Guten Morgen, hochwürdiger Herr,“ 


Bartholomäus Szalscyy. 


„Gott gebe auch dir einen guten Morgen, Manz. 
Schon lange Zeit habe ich dich micht gejehen. Wie 
geht's dir?“ 

„Danke der gütigen Nachfrage, es ginge ja or 
weit gut.” 

„Afo, Manczi, dein Gatte war aud) bier," 

„War er, hochwürdiger Herr?“ 

„Jawohl, aber er hat eine Klage wider did; tr 
fagt, du erfüllft deine eheliche Pflicht nicht jo, wie 
er e& will.“ 

„Ich, hochwürdiger Herr?“ 

„Du, mein Kind.“ 

„So, alſo ich erfülle meine Pflicht nicht! Aber 
wie Tann er joldhes behaupten? Koche ich ihm denn 
nicht, wie ſich's gebührt? Hat er denn nicht erft 
neulich gejagt, daß er noch jein Lebtag nicht folde 
getriebene Klöße gegeffen hat, wie ich fie ihm bereitet 
babe? Und fümmere ich mich denn nicht um alles, 
um Haushalt, um Vieh, um Dienftboten? Alſo wie 
fann er nur jo etwas jagen?“ 

„Aber, mein Find, ich habe es ja nicht jo gemeint. 
Nicht das hat er gejagt, und auch ich fage e& nicht, 
daf du den Haushalt nicht gut führſt, ſondern ... 
fondern „.. mit einem Worte, daß du ihn nicht 
lüſſen magft, — nun aljo, das ift ed, wenn dus 
wifjen willſt.“ 

„Daß ich ihn nicht küffen mag? Ah fo, alio 
das ift ber Fehler? Alſo darum ift er lagen ge 
fommen? Schaut nur, ſchaut! Alfo er trägt ned 
den Kopf hoch! Was das für ein falfcher Menſch 
it! Sehen Sie, hochwürdiger Herr, feitdem ich bei 
ihm im Haufe bin, wollte ih immer hierher fommen, 
um mich über ihn zu beflagen, aber ich Habe es nur 
geduldet und geduldet. Und jeßt — da haben wir’s! — 
jeßt fommt er noch, um ſich zu beklagen!” 

_ „Und worüber wollteft denn du dich beffagen?“ 

„Worüber? Sie möchten es gar nicht glauben. 
Sie glauben beftimmt, hochwürdiger Herr, daß dieler 
Herr Gabriel Pafti irgend ein Heiliger ift. Ja, 
der ein Heiliger! Wenn er zu Ihnen kommt, mag er 
ein Heiliger fein. Würden Sie ihn aber nur zu 
Hanje jehen! Glauben Sie mir, hochwürdiger Herr, 
— jetzt jag’ ich's Ihnen nur ganz leife — er iſt näm- 
lid) gerade fo, wie ber alte Michael Deſzkas, dem 
Euer Hohwürden jo nachdrücklich den Text geleſen 
haben, als er Elfe Dudas umarmen wollte. Glauben 
Cie vielleicht, hochwürdiger Herr, daß Gabriel Pati 
befier ift als jener? Ja, der beſſer! Niemals 
läßt er mid in Frieden. Schon wie oft geſchah 
es ... daß ...“ 

„Run, was geſchah ?“ 

„Alſo es geſchah ... ei was, ich nehme mir fein 
Blatt vor den Mund, gejchebe, was wolle „.. es 
geihah, daß er, feitbem ich zu ihm wohnen ging, 
mid, wann es ihm nur einfällt, umarmen will wie 








— 1 


Eine Kußgeſchichte. 


irgend ein Jüngling; denn ein paarmal hat er mic 
ihon mit Gewalt gefüßt, daß mir vor Scham faft 
die Augen ausbrannten; dann ... Aber jo fügen 
Sie doch jelbft, hochwürdiger Herr, jchidt ſich das 
für jo einen alten Mann, der nod obendrein im 
Konſiſtorium fit?“ 

„Db es fich jchickt, Tiebes Kind? Wie würbe e8 
fih denn nicht ſchicken, du bift ja jeine Gattin.“ 

„Seine Gattin, feine Gattin, auch er fommt mir 
immer damit. Wenn ich ſchon aud feine Gattin 
bin, lann ich jet darum doch nicht jene ſchönen, 
göttlichen Dinge vergeflen, melde Euer Hochwürden 
mich gelehrt haben. Und ich will fie auch nicht ver- 
geſſen. Nein, wahrhaftig, ich küffe ihm nit. Warum 
begehrt er denn das jo ſehr?“ 

„Warum begehrt, warum begehrt er e8? Er 
begehrt es, weil er ein Recht darauf hat, weil, wie 
ih dir ſchon gejagt habe, du feine Gattin bift, 
Punltum!“ 

Dieſes Punktum ſprach ich ein bißchen nachdrück— 
li betont aus, jo daß Manczi dabei zuſammenfuhr 
und mich betroffen anjah. 

„Und fo begehe ich aljo einen Fehler damit, 
wern ich ihn nicht küſſe?“ 

„Freilich begehft du einen. Der Kuß, liebes 
Kind, ift im ehelichen Leben nicht nur geftattet, ſondern 
auch ein Zeichen und ein Erhalter der Liebe. Da— 
nad mußt auch du dich richten.” 

„Muß ich?” fragte fie erftaunt, 

„Du mußt — nun ja, du mußt!” 

„Aber das haben Sie mir ja nicht gejagt, hoch— 
würdiger Water.“ 

„Aber, liebes Kind,” verjeßte ich, über ihre Worte 
lähelnd, „weshalb Hätte ich auch davon ſprechen 
ſollen? Es ift ja eine ganz natürlihe Sache, daß, 
wer heiratet, den Gatten lieben muß.“ 

„Auch dann, wenn —“ fragte fie mit ausbrechen- 
dem Schluchzen. 

„Was willft du jagen, ſprich es aus, fürdhte dich 
nicht.” 

„Alſo aud dann... aud dann... wenn er fo 
alt it?“ 

„Allerdings, aud dann.” 

„Aber, lieber, hochwürdiger Vater, wenn ich nur 
hätte wiljen können, daß ih muß... muß...“ 

„Laß fein, liebes Rind, laß fein, beruhige dich. 
Gehe nad) Haufe. Sei deinem Gatten eine liebende 
Genoffin. Du wirft jehen, es wird ſchon alles gut 
werden. Sieh, du haft ja feinen Grund zu irgend 
einer Klage, halt Haus, Hof und Feld, einen biedern 
Ehemann, halte ihn in Ehren.” 

Damit jhob ich fie zur Thür hinaus. Dann 
ſpähte ich aber am Fenfter, um zu jehen, was fie 
draußen machte. Wie fie den Hof entlang ging, 
blieb fie zeitweije ftehen und blidte betreten, gleichſam 


1003 


fragend, zu meinem Fenfter hinauf. Auch als fie 
Ihon zum Thore hinaus war, ſchaute fie noch zurüd 
mit ihren großen, glänzenden Augen, als ob fie noch 
auf etwas gewartet, etwas nicht verftanden hätte, als ob 
fie darauf rechnete, daß ich fie noch zurüdrufen würde, 

Als ih mid vom Fenfter abwandte, ſah ich, daß 
meine Frau hinter meinem Rüden ftand. 

„Bas fehlt Manczi ?” 

„Nichts.“ 

„Beh, ich weik, daß ihr etwas fehlt. Ich habe 
es ja voraus gewußt. Ich wußte es längſt, daß 
aus der ganzen Sache nichts Gutes werden kann.“ 

„Uber jo ſprich doch nicht, Liebe, laß das doch 
gut fein! Was verftehft du in dergleihen Dingen? 
Ein bißchen Thränen, ein bißchen Schmollen find ja 
ganz gewöhnliche Sachen bei jungen Eheleuten, ich 
fenne das. Freilich, bein MWeiberverftand macht gleich) 
eine große Gejchichte daraus, während id) darüber 
nur lächeln fann, weil ich weiß, was davon zu halten 
ift, und weiß, daß Manczis Geficht nad) acht Tagen 
vor Glück ftrahlen wird wie eine Gentifolie. Du 
verftebft das nicht, liebe Alte, denn du haft feine 
Philoſophie.“ 

Indeſſen geſchah es nicht genau ſo, wie ich es 
vorausſagte; denn als ich den dritten Tag darauf 
nachmittags zum Fenfter hinausſchaute, jah ich, daß 
Herr Gabriel Pafti wiederfam und zwar diesmal 
auch Manczi mitbrachte. 

Was mochte beim mit diefen beiden wieder 108 fein? 

Mit hochgerötetem Angeiht und polternder 
Stimme trug Herr Gabriel Pafti feine Beſchwerde 
vor, welche wieder nur Die alte war: wieder hatte 
ihn Manczi nicht füljen wollen. 

Ich habe fie mitgebracht, Herr Pfarrer, hier ift 
fie. Machen Sie etwas mit ihr, denn jo fann die 
Sache nicht bleiben, Euer Hochwürden haben mich 
mit ihr verbunden, Ihre Sache ift es nun auch, zu 
forgen, daß, was Sie verbunden haben, gut verbunden 
jei. Ich thue ihr mit feinem Finger, aud) mit feinem 
Morte was zu leide, aber Euer Hochwürden Prlicht 
ift, ihre zu bejehlen, daß fie mich küſſe, jo oſt ich es 
haben will,” 

„Sie find zwar ein wenig im Irrtum, Herr 
Gabriel Paſti, denn «8 iſt ja wahr, daß ich es bin, 
der die Eheleute verbindet, aber das, was dann ge— 
ſchieht, iſt denn doch nicht ganz meine Sade; in» 
defjen es joll geichehen nad Ihrem Wunſche.“ 

Hierauf richtete ich — wie ich zu thun pflegte — 
eine verweijende, aber liebevolle Anfprade an Manczi. 
Ich gründete meine Nede auf verichiedene Sprüche 
de8 Evangeliums und auf die Erempel der alten 
Kirchenväter, Gabriel Paſti gab mit großer Leb- 
haftigkeit ſeine Zuflimmung zu erfennen, befonders 
als ich aus Zjarnays „Moral“ Citate über die eheliche 
Liebe vorbrachte. 


1004 Bartholomäus Szalscyzy. — Eine Kußgeſchichte. 


Meine Rede machte auch auf Manczi Eindrud, 
Sie hob den Kopf, ſchlug ihre großen, melandholifchen 
Augen auf, in welchen ich jenes Feuer aufleuchten 
jah, das ich fo häufig an ihnen wahrgenommen 
hatte, beſonders in ihrer Kinderzeit, wenn fie durch 
irgend etwas auß dem gewohnten Geleife heraus- 
gefommen war. Ihre blaffen Wangen wurden rot, 
jo rot, daß ich gern meine Alte herbeigerufen hätte, 
um ihr zu zeigen, wie jehr ich recht hatte, al& ich 
jagte, Manczis Geſicht werde nad) einer Woche vor 
lauter Glüdfeligleit fo rofig werden wie eine Genti« 
folie. Schlieglih fing Manczi jogar zu plaudern 
an, und lächelnd legte fie ihre Hand in die Herrn 
Paſtis, gleihfam ala wäre es zum Pfande der Zus 
funft. 

Nachdem nun alles fo regelrecht und ſchön voll« 
bracht war, verabjchiedete ih Manczi. 

Als ich fie aber bis zum Thore hinaus begleitete, 
wurde fie wieder traurig. Sie ergriff meine Hand 
mit beiden Händen, jah mid; mit ihren blauen, un« 
ſchuldigen Kinderaugen an und fragte in befangenem 
Tone: 

„Alfo, lieber, hochwürdiger Herr, alfo wirklich 
muß ih... wirklich, wirffih muß ich ihn küſſen ?* 
„Sa, wirklich, liebes Kind, du mußt wirklich.“ 

„Und wer befiehlt mir das?“ 

„Gott befiehlt es, der allgütige Gott, in deſſen 
Namen du auch Treue gef hworen haft.“ 

„Sie jagen, Gott, der allgütige Gott. Und wie 
lange muß ic) denn?“ 

„Wie lange, mein Kind? So lange du lebſt.“ 

„Alſo wenn ich jterbe, dann werde ich nicht mehr 
müſſen, nicht wahr?” 

Ih Tonnte mich eines Lächelns nicht erwehren, 

„Beh nad Haufe, geh, du Meines Närrchen“ — 
ſprach ich, fie zum Thore hinausſchiebend. — „Was 
fragft du nur folche Dinge? Jawohl, wer tot ift, 
füßt nicht mehr. Geh nad) Haufe, bald kommen 
wir dir mit Herrn Pafti nad, bis dahin kannſt du 
ung einen Krug von jenem feurigen Emöder bereiten,“ 

Damit ging fie. Lange noch, bis ans Ende der 
Straße, jah ich ihr Hellrotes Tuch feuchten. Sie 
ſchwebte dahin wie ein vom Farbenftaube behaudhter 
Frühlingsfalter. Algütiger Gott — die wird aud) 
nod) als Greifin ein Kind fein! 

„Seht, Here Gabriel Paſti,“ ſprach id), in die 
- Stube zurüdfehrend, „jeht begleite ih Sie nad 
Haufe. Daſelbſt, auf dem Schauplatze der Fehde, 
will ich die Friedensſtiſtung vollenden, welche — dem 
Himmel ſei's gedankt — jo ſchön gelungen iſt. Dort 
auf dem Schauplafe der Fehde muß Manızi Sie 
vor meinen Augen umarmen und küſſen.“ 





Wir gingen aljo fröhlich und voll Vertrauen. 

Als wir zu dem Thore Herrn Paſtis hineintraten, 
fah ich gleich, wie jehr fich hier alles verändert hatt, 
welche Ordnung und Sauberleit überall hertſchte, 
auf dem Hofe, im Garten, in der Vorballe. Ja 
nahm mir auch vor, Manczi dafür zu beloben, 

Doch Manczi war nirgends zu jehen, mweber im 
Hofe, noch in der Vorhalle. Die Stubenthür aber 
war verſchloſſen. 

Während wir an der Thüre pochten, jah id, ala 
ich mich niederbeugte, dab der Schlüffel von in 
wendig in dem Schloſſe ftedte. 

„Alſo ſehen Sie, hochwürdiger Herr,* fprad 
Gabriel Pafti ſchmollend, „jo geht e& immer, bei 
Tag und bei Nacht. Manczi, hör! Mad) auf, wenn 
ic dir's ſage!“ 

Wir drüdten heftig auf die Klinke, jo daß die 
Thüre auffprang und wir eintraten. 

Beide brachen wir in ein Gelächter aus. 

Manczi lag auf dem Bette und fchlief. 

„Eine prächtige Meine Hausfrau!” verjekte ih 
ſcherzend, „erwartet einen Gaft und jchläft dabei ein.“ 

Als id) aber näher zu ihr trat, um fie zu weden, 
nahm ich wahr, daß fie allerdings fchlief, aber einen 
Schlaf, aus welchem es fein Erwachen giebt. 

Ein Heines Meſſer mit buntem hölzernen Griffe, 
wie es bie Landleute gewöhnlich bei fich tragen, fat 
ihr in der Gegend des Herzens. Ihre Heinen Hände 
hielten aud jet am Schafte ſeſt. Die ſchmalen 
Lippen waren zufammengepreßt, als ob dieje Lippen 
ſich vor etwas gefürdhtet Hätten — vielleicht dor einen 
Kufie? 

Ihr Brautfleid Tag zerfnittert auf dem Tiſche, 
auf dem Bette die Blumen des Kranzes verftreut. 

Jet drängten fich ſchon viele Menſchen ins Hans 
herein. Aber ich weiß gar nicht, wer. 

Ih weiß auch gar nicht, wie ich nad Haufe 
gelangte. 

Als id) eintrat, fand id) meine Frau am fenfter 
figend. Sie lehnte den Kopf an das Fenſterkiſſen 
und jchluchzte Teile, 

Ich ſprach fein Wort, ging in mein Zimmer, 
ftüßte die Ellbogen auf ein großes Bud) und verjanl 
in Nachdenten. 

Gott, lieber Gott! — dachte ich bei mir, — ih 
habe Kövys, habe Somofys Vorträge gehört und muß 
dennod) beiennen, daß e8 Dinge giebt, welde and 
ich nicht recht verftehe. Ich muß anerkennen, daß 
ſelbſt eine jo beſcheidene, ſchlichte Frau, wie es meint 
Alte iſt, beiſpielsweiſe auch von der Ehe mehr ver: 
fteht ala wir Männer allefamt, trofdem daß die 
trauen feinen Dunft von Philoſophie haben. 


—-& Lofe Blätter &- 


die Legende vom Vogelneſte. 
Erzählt von 5. Lagerlöf. 
Aus dem Schwedifchen überfegt von Reinhold Hahn, 


Hatto der Eremit fland in der Einöde und betete 
zu Gott. Es war ftürmifch, fein langer Bart und 
das verworrene Haar flatterten um ihn, wie die wind⸗ 
gepeitihten Grasbüjchel auf der Zinne einer alten 
Ruine. Dod) er ftrich fi) das Haar nidht aus den 
Augen und ftedte den Bart nicht in den Gürtel, 
denn er hatte feine Arme zum Gebete aufgehoben. 
Schon von Sonnenaufgang an hielt er die knochigen, 
behaarten Arme zum Himmel empor, ebenjo uns 
ermüdlicdh wie ein Baum, der feine Zweige dorthin 
ausftredt, und er wollte jo ftehen bleiben biß zum 
Abend. War es doch etwas Großes, um das er bat! 

Er war ein Mann, der viel von der Arglift der 
Belt erfahren hatte. Er hatte jelbft verfolgt und 
gepeinigt, und Verfolgungen und Pein waren auf 
feinen Teil gefommen, mehr, als fein Herz hatte 
tragen können. So war er denn auf die große 
Steppe hinaußgezogen, hatte ſich eine Höhle in das 
Flußufer gegraben und war ein heiliger Mann ge— 
worden, deſſen Gebete an Gottes Throne Erhörung 
fanden. 

Hatto der Eremit ftand dort am Flußufer vor 
feiner Höhle und betete das große Gebet feines Lebens, 
Er bat Gott, daß er den Tag des jüngjten Gerichtes 
über diefe böje Welt hereinbredhen laſſen möchte. 
Er rief die pofaumenblafenden Engel, damit fie das 
Ende des Neiches der Sünde verfündigten; er be— 
ſchwor die Wogen des Blutmeeres, fie möchten die 
Ungerechten ertränfen;; er flehte die Peft herbei, damit 
fie die Kirchhöfe mit Haufen von Leihen anfülle. 

Rings um ihn war öde Heide, aber ein Meines 
Stückchen am Flußufer weiter hinauf ftand eine alte 
Weide mit furzem Stamme, aus deſſen diem, zu 
einem fopfähnlichen Knollen angejhwollenem Ende 
die neuen friſchgrünen Zmweigbüjchel herauswuchſen. 
In jedem Herbſte pflegte der Baum von den Be- 
wohnern diejer brennholzarınen Ebene um jeine friſchen 
Jahrestriebe geplündert zu werden, in jedem Frühe 
jahre fandte er neue, geſchmeidige Schößlinge aus, 
und an ftürmifchen Tagen jah man dieſe um ihn 
ſchwingen und wehen, wie Haar und Bart um Hatto 
den Eremiten. 

Das Bachſtelzenpaar, welches jein Neſt oben 
auf den Stamm der Weide zwiſchen die aufjprießen- 


den Triebe zu bauen pflegte, wollte gerade an diefem | 
Sttrohhalme und hielt fie feſt, und vier Finger wölbten 


Tage feinen Bau beginnen. Aber die Vögel fanden 


unter den ungeftüm peitichenden Zweigen feine Nube. | 


Sie famen mit Binſenſtroh, Wurzelfajern und dürrem 
Riedgras angeflogen, mußten jedoch unverrichteter 
Sade wieder umkehren. Da bemerften fie gerade 


den alten Hatto, welcher Gott anrief, daß der Sturm 
fiebenmal ftärfer werden folle, um die Nefter der 
Singvögel wegzufegen und die Adlerhorfte zu zerftören. 

Natürlich kann Fein Menſch Heutzutage begreifen, 
wie moofig, vertrodnet und knochig, ſchwarz und 
menſchenunähnlich ſolch ein alter Heidebewohner jein 
konnte. Die Haut ſaß jo ftraff über Kinn und 
Wangen, daß der Kopf einem Totenſchädel ähnlich 
war, und bloß an etwas Glimmendem im Grunde 
der Nugenhöhlen konnte man erkennen, dab er Leben 
hatte, Die verdorrten Muskeln gaben dem Slörper 
feine Rundung, jondern der emporgejtredte nadte 
Arm beftand bloß aus ein paar dünnen Armbeinen, 
die mit harter, zufammengefchrumpfter und rinden- 
ähnlicher Haut bededt waren. Er trug eine alte, 
enganjchließende ſchwarze Kappe, er war braun ges 
brannt von der Sonne und ſchwarz von Schmuß. 
Nur fein Haar und Bart waren hell, aber jo lange 
von Regen und Sonnenſchein bearbeitet, bis fie die⸗ 
jelbe graugrüne farbe befommen hatten wie die 
Meidenblätter an ihrer Unterjeite. Die Vögel, die 
berumflogen und einen beſſeren Plak für das Neft 
fuchten, hielten Hatto den Eremiten für eine andre 
alte Weide, der in ihrem Himmelsftreben gleichwie 
jener dort durch Art und Säge Grenzen geſetzt worden 
waren. Gie freiften vielmald um ihn, flogen weg 
und famen wieder, adhteten auf Merkzeichen für den 
Weg zu ihm, unterfuchten, ob er Schuß gegen Raub» 
vögel und Stürme gewähre, fanden ihn zwar ziem- 
li) unvorteilhaft, entichieden fich ſchließlich aber doch 
für ihn wegen der Nähe des Fluſſes und der Nied- 
grasbüjchel, ihres Vorratshaufes und Materiallagers. 
Einer von ihnen ſchoß pfeilichnell in die ausgebreitete 
Hand hernieder und legte dort feine Wurzelfajer ab. 

Der Sturm machte gerade eine Pauſe, jo daß die 
Wurzelfajer nicht jofort aus der Hand hinweggeweht 
wurde, aber in den Gebeten des Eremiten gab es 
feine Baufe. Möchte doch der Herr bald fommen 
und dieſe gefährlihe Welt vernichten, damit die 
Menſchen nicht noch mehr Sünde über fi jammeln 
fünnten! Möchte er doch die noch Ungeborenen vom 
Leben erlöfen! Für die Lebenden gab es feine Er» 
löfung. 

Da ſetzte der Sturm wieder ein, und das MWurzel= 
fäſerchen flatterte hinweg aus der großen, flachen 
Hand des Eremiten. Aber die Vögel famen zurüd 
und verjuchten die Grundpfeiler des neuen Heims 
zwiſchen den Fingern feitzuflemmen. Plöglich legte 
fi) da ein plumper, ſchmutziger Daumen über die 


fi) über der Handflähe, jo daß fich eine gefchüßte 
Nifche für den Bau bildete. Aber der Eremit fuhr 
in feinem Gebete fort. 

„Herr, wo find die yeuerwolfen, welche Sodom 


1006 


vernidhteten? Wann öffneft du die Schleufen bes 
Himmels, welche die Arche auf die Spike des Ararat 
trugen? Iſt das Maß deiner Langmut noch nicht 
erihöpft, und find die Schalen beiner Gnade noch 
nicht leer? Herr, wann frittft du hervor aus deinem 
berftenden Himmel?“ 

Und da offenbarte fi vor Hatto dem Eremiten 
ein Geficht vom Tage des jüngften Gerichte, Die 
Erde bebte und der Himmel glühte. Unter dem roten 
Dunft jah er Schwarze Wollen von fliehenden Vögeln, 
über die Erde wälzte ſich brüffend und blöfend ein 
Strom flühhtender Tiere. Aber während noch feine 
Seele von dieſem Feuergeſicht eingenommen war, 
begannen zu gleicher Zeit feine Augen dem Fluge 
ber Heinen Vögel zu folgen, wie fie blitzſchnell hin 
und wider flogen und mit einem leifen Gezwitſcher 
der Genugthuung neues Stroh in das Neit ſchafften. 

Der Alte dachte nicht daran, fi) zu rühren, Er 
hatte fi) das Gelübde gegeben, den ganzen Tag 
über mit emporgehobenen Händen ftilleftehend zu 
beten, um jo unjern Herrn zur Gebetierhörung zu 
zwingen, Je ermüdeter jein Körper mwurbe, befto 
lebhaftere Erjheinungen erfüllten fein Hirn. Er 
hörte, wie die Mauern der Städte einſtürzten, und 
die menfhlihen Mohnftätten barften. Schreiende, 
von Schreiten bethörte Menjchenhaufen raften an 
ihm vorüber, ihnen nad) jagten die Engel der Rache 
und der Vernichtung. Hohe Geftalten, mit ftrengem, 
Ihönem Antlitze, ritten fie in Silberrüftungen auf 
Ihmwarzen Pferden und ſchwangen Geißeln, die aus 
weißen Blitzen geflochten waren. 

Die Heinen Bachftelzen bauten und zimmerten 
den Tag über wie gute Arbeiter, und das Neft machte 
große Fortſchritte. Hier auf diefer hügeligen Heide 
mit dem jleifen Riedgrafe, an diefem Fluſſe mit 
feinem Schilfe und Binfen herrſchte fein Mangel an 
Baumaterial. Sie hatten weder Zeit zur Mittagd« 
raft noch zur Veiperbrotpaufe. Glühend vor Eifer 
und Freudigleit flogen fie ab und zu, und che noch 
der Abend fam, waren fie beinahe oben am Dachfirſte. 

Aber ehe der Abend fam, hatte auch der Eremit 
feine Augen mehr und mehr auf fie geheftet. Er 
folgte ihnen auf ihren Fahrten, zanfte auf fie, wenn 
fie ſich ungeſchickt anftellten, ärgerte ſich, wenn ihnen 
der Wind Schaden zufügte, und vertrug e& am aller 
wenigjten, wenn fie einmal eine Pauſe machten. 

So ſank die Sonne bernieder, und die Vögel 
flogen auf ihre befannten Schlafpläße drinnen im 
Schilfe. 

Wenn man abends über die Heide geht und ſich 
jo weit nieberbüdt, daß das Geſicht in gleiche Höhe 
mit den welligen Erhebungen im Grafe kommt, fann 
man jehen, wie fi eine mwunderliche Erjcheinung 
gegen den hellen Abenphimmel abzeichnet. Eulen 
mit großen runden Schwingen jagen über das Feld 
dahin, unfichtbar für den, der aufrecht fieht. Nattern 
ringeln ſich ſchnell und geſchmeidig hervor, das ſchmale 
Haupt auf dem ſchwanenartig gelrümmten Halfe 
emporgehoben. Große Kröten friechen träg heraus, 
Hajen und Mäufe fliehen vor Raubtieren, der Fuchs 


2oje Blätter. 


fpringt nad) einer Fledermaus, welche Müden über 
dem Fluſſe jagt. Es ift, als ob jede Raſenwelle 
Leben befommen habe. Aber unterdeſſen jchlafen 
die Vögelchen fiher vor allem Böen auf ihrem 
Nuheplafe, dem ſchwankenden Schilfrobre, welchem 
fein Feind nahen fann, ohne daß das Waſſer plätſchern 
ober das Rohr zittern und fie weden müßte, 

Als der Morgen fam, glaubten die Bachſtelzen 
erft, Die geſtrigen Ereignifje feien ein jchöner Traum 
gewejen. Sie hatten ja ihre Merkzeihen und flogen 
gerade auf ihr Neft zu, aber das war fort. Sie 
jagten ſuchend über die Heide und fliegen gerade 
auf in die Luft, um zu jpähen. Es fand ji aber 
feine Spur von einem Neſte oder Baume. Julekt 
jegten fie fi auf ein paar Steine am Flußufer und 
grübelten nad. Sie wippten mit ihren langen 
Schwänzen und drehten die Köpfe. Wohin mochte 
nur der Baum mit ihrem Nefte gelommen fein? — 
Doch kaum hatte fi die Sonne eine Hand breit 
über den Waldgürtel auf dem andern Flußufer er- 
hoben, al& ihr Baum angewandert fam und ſich auf 
denjelben Platz ftellte, welchen er am vorigen Tage 
eingenommen hatte. Er war glei ſchwarz und 
fnorrig wie geftern und trug ihr Neft auf der Spike 
von etwas, das ein teodener, aufrecht ftehender Zweig 
fein mußte. 

Da begannen die Badhfteljen wieder zu bauen, 
ohne über die vielen Wunder in der Natur nad 
zugrübeln. 

Hatto der Eremit, welcher jonft die Vögel von 
feiner Höhle fortjagte, indem er ihnen jagte, dab e& 
das beſte für fie wäre, wenn fie nie das Tageslicht 
erbfidt hätten, er, der in den Flußſchlamm hinein 
watete, um Verwünſchungen über die jungen, fröhlichen 
Menſchenkinder zu jchleudern, welche in bewimpeiten 
Booten den Fluß heraufruderten, er, vor deſſen böſem 
Blide die Hirten der Heide ihre Herde hületen, 
fam nicht der beiden Singvögel wegen zu feinem 
Plafe am Ufer zurüd. Aber er wußte, daß nicht 
nur jeder Buchſtabe in den heiligen Büchern feine 
verſteclte myſtiſche Bedeutung habe, jondern daß bie 
mit allem fo ift, wa& Gott draußen in ber Natur 
geichehen läßt. Er hatte jeht herausgefunden, wa! 
es bedeuten jolle, daß die Bachſtelzen ihr Neſt in 
feine Hand bauten. Gott wollte, daß er mit hoch 
erhobenen Armen betend ſtehen bleiben follte, bis 
die Vögel ihre Jungen groß gefüttert hätten; ver 
möchte er das, jo jollte er erhört werden. 

Aber an diefem Tage begannen bei ihm die Bir 
fionen vom jüngften Gerichte ſchon jeltener zu werben; 
dafür folgte er den Vögeln mit feinen Bliden, Er 
jah das Neſt bald vollendet, Die Meinen Baumeifter 
flatterten um dasſelbe herum und befichtigten «8. 
Sie holten etwas Moos von der wirklichen Weide 
und befeftigten e3 von außen daran, dies war Erſaß 
für Bewurf oder Farbe, Sie ſchafften das feinſte 
Mollgras herbei, und dad Weibchen nahm Daunen 
von feiner eignen Bruft und beffeidete das Neft 
damit inwendig ; das war bie Einrichtung und Mir 
blierung. 





Loſe Blätter. 


Bauern pflegten ihm aus Furcht vor der ver— 
derblihen Macht, welche die Gebete des Heide» 
bewohners am Throne Gottes haben lönnten, Milch 
und Brot zu bringen, um jeinen Zorn zu bejänftigen. 
Sie famen auch jebt zu ihm und fanden ihn, wie 
er unbeweglich, mit einem Vogelneſte in der Hand, 
daftand. „Sieh, wie der fromme Mann die Meinen 
Tiere liebt,“ jagten fie und fürdhteten jich nicht mehr 
vor ihm, jondern hoben den Milcheimer an feinen 
Mund und führten das Brot an feine Lippen. Als 
er gegefjen und getrunfen hatte, trieb er die Leute 
mit heftigen Worten fort, aber fie lachten bloß über 
feine Verwünſchungen. 

Sein Körper war feit langem der Diener feines 
Willens geworden. Durd Hunger und Schläge, 
durch tagelangen ſtniefall und wochenlanges Wachen 
hatte er Gehorfam gelernt. Jetzt hielten eifenharte 
Musteln feine Arme während Tagen und Wochen 
ausgeftredt, und als das Weibchen auf den Eiern 
laß und das Neft nicht verließ, juchte er aud) während 
der Nacht jeine Höhle nicht auf. Er lernte ſitzend, 
mit ausgeftredten Armen, zu jchlafen. Unter den 
Freunden der Wüſte finden ſich wohl mande, die 
noch größere Dinge gethan haben. 

Er gewöhnte fid) an die beiden unruhigen Vogel» 
augen, welche über den Nejtrand auf ihn herabjahen. 
Er gab auf Hagel und Regen acht und ſchützte das 
Net, jo gut er konnte, 

So wurde denn das Weibchen eines Tages feiner 
Baht ledig. Beide Bachſtelzen figen auf der Neft- 
fante, wippen mit dem Schwanze, beraten ſich und 
iehen Herzlich vergnügt aus, obgleich das Neſt von 
einem ängſtlichen Piepen erfüllt zu jein fcheint. 
Und aladann veranftalten fie die allerwildeite Müden- 
jagd. 

Mücke auf Mücke wird gefangen und nach jenem 
gebracht, was da oben in ſeiner Hand piept. Und 
wenn das Futter fommt, wird das Piepen am aller— 
lauteſten. Der fromme Mann wird durch das Piepen 
in ſeinem Beten geſtört. 

Und ſachte, ſachte ſinkt der Arın, der faſt ſchon 
das Vermögen, ſich zu rühren, eingebüßt hat, in den 
Gelenfen hernieder, und jeine fleinen Feueraugen 
farren auf das Neft herab. 

Noch niemals hatte er jo etwas Hilflojes, Häßliches 
und Elendes gejehen: Heine nadte Körper mit einigen 
dünnen Daunen, feine Augen, feine Flugkraft, eigent- 
ih bloß ſechs große, gähnende Mäuler. 

Das kam ihm fo jonderbar vor, aber fie gefielen 
ihm doch jo, wie fie waren. Ihren Vater und ihre 
Mutter hatte er niemals von dem großen Untergange 
ausgenommen, als er aber fünjtighin Gott anrief, 
um von ihm die Erlöfung der Welt durch ihre Zer— 
Hörung zu fordern, machte er eine jtille Ausnahme 
mit diejen ſechs Wehrloſen. 

As ihm die Bauernweiber jegt Nahrung brachten, 
dankte er ihnen nicht damit, daß er ihnen den Unter« 
gang wünſchte. Weil er für die Meinen da oben 
notwendig war, war er frob, daß jie ihn nicht vers 
hungern ließen, 


1007 


Bald bemerkte er, daß ſich ſechs runde Köpfe 
während bes ganzen Tages über den Neftrand ftredten. 
Der Arm des alten Hatto fanf immer öfter zu feinen 
Augen herab. Er jah, wie die Federn aus der roten 
Haut hervorfproffen, wie die Augen fich öffneten, 
wie die Körperform ſich abrundete. Als glüdliche 
Erben der Schönheit, welche die Natur den Iuft« 
jegelnden Tieren gegeben hat, entwidelten fie diefe 
bald in ihrer ganzen Pracht. 

Und während all diefem kamen die Bilten um 
bie große Vernichtung immer unficherer über die 
Lippen des alten Hatte. Er glaubte das Gelübde 
Gottes zu befifen, daß dieſe hereinbrechen jollte, 
wenn bie Vögel flügge wären. Nun jtand er ba- 
und fuchte gewilfermaßen eine Ausflucht vor Gott 
dem Vater, Denn dieſe ſechs Kleinen, welche er 
beihirmt und beihüht hatte, fonnte er nicht aufe 
opfern, 

Das war früher eimas andres geweſen, als er 
noch nichts zu eigen hatte. Die Liebe zu den Kleinen 
und Schwachen, weldhe den großen, gefährlichen 
Menſchen unwillfürli von jedem Heinen Kinde ge= 
lehrt wird, kam über ihn und machte ihn unſchlüſſig. 

Er wollte bisweilen das ganze Neft in den Fluß 
werfen, denn er hielt es für gut für fie, ohne Kummer 
und Sünde fterben zu müſſen. Sollte er die Kleinen 
nicht vor Raubtieren und Kälte, vor Hunger und 
den vielfältigen Heimſuchungen des Lebens erretten? 
Aber während er noch darüber nachdachte, rauſchte 
der Sperber gerade gegen das Neft heran, um die 
Jungen zu erwürgen. Da ergriff Hatto den Dieb 
mit feiner linfen Hand, ſchwang ihn rund um jein 
Haupt und jchleuderte ihn mit der Macht des Zornes 
in den Fluß hinein. 

Der Tag fam, an welhem die Jungen flügge 
waren. Die eine von den Bachſtelzen arbeitete drinnen 
im Nefte, um die Jungen an die Neftkante zu ftoßen, 
die andre flog umher, um ihnen zu zeigen, wie leicht 
das wäre, wenn fie nur den Verſuch wagten. Und 
als die Jungen eigenfinnigerweife davor bange 
waren, flogen die beiden Alten aus, um ihnen ihre 
Ihönften Flugkünſte zu zeigen. Die Flügel plöglic) 
zufammenjchlagend, flogen fie in Schlangenwindungen 
vorwärts, fliegen aud) gerade in die Höhe wie Lerchen 
oder jtanden mit heftig vibrierenden Schwingen in 
der Luft ftill. 

Aber als die Jungen trotzdem eigenfinnig blieben, 
fonnte es Hatto der Eremit nicht unterlajjen, ſich 
in die Sache zu miſchen. Er gab ihnen einen zarten 
Stoß mit dem Finger und damit war alles gethan. 
Sie fallen flatternd und unficher heraus, bie Luft 
wie eine Fledermaus peitſchend, jinfen nieder, aber 
erheben fih, erfahren, worin die Kunft liegt, und- 
wenden fie an, um das Neſt jo bald wie möglich 
wieder zu erreichen. Die Eltern famen ſtolz und 
jubelnd zu ihnen herab, und der alte Hatto lächelte. 
War er es doc) geweſen, der in der Sache jedenfalls 
den Ausjchlag gegeben hatte. 

Er grübelte nun ernjtlich nach, 06 fich nicht irgend 
ein Ausweg für unfern Herrgott finden Tiche. 


1008 


Bielleiht kam ſchließlich alles darauf hinaus, daß 
Gott Vater dieſe Erde in feiner reiten Hand hielt, 
wie ein großes Vogelnejt, vielleicht hegte er Liebe 
für alle die, welche dort bauen und wohnen , Liebe 
für alle die ſchutzloſen Erdenfinder. Vielleicht em— 
pfand er mit denen, welche er feinem Gelöbniffe nad) 
verderben jollte, Mitleid, gleichtwie der Heidebewohner 
mit dem Vogelneft Mitleid hatte. 

Sicherlich waren die Vögel des Eremiten viel beffer 
als die Menichen unfres Herrn, aber er fonnte wohl 
verftehen, dab Gott Vater doch ein Herz für fie hatte, 

Am nächſten Tage ftand das Vogelneft leer und 
die Bitterfeit des Alleinfeins legte ſich über den 
.Eremiten. Langſam ſank fein Arm an jeine Seite 
herab, und ihm war es, als ob die Natur den Atem 
anbielt, um auf die dröhnenden Pojaunen des jüngjten 
° Tages zu lauſchen. Aber zugleich famen alle Bach— 
fteljen wieder und ſetzten fih auf fein Haupt und 


feine Achjeln, denn fie waren gar nicht bange vor ihm, 


Da fuhr ein Fichtftrahl durch das verwirrte Hirn 
des alten Hatto. Er hatte ja den Arm gejenkt, jeden 
Tag hatte er ihn geſenlt, um nad) den Bögeln zu jehen. 

Und da jtand er nun mit allen ſechs Jungen, die 
um ihn flatterten und fpielten, und nidte wie zufrieden 
mit etwas, was er nicht ſah: „Du fommft los davon,” 
ſprach er, „du fommit los. Ich Habe mein Wort nicht 
gehalten, jo brauchft du auch deines nicht zu halten.“ 

Und ihm dünfte, als ob die Felſen zu zittern 
aufhörten und der Fluß in jeinem Bette ſich zur 
Ruhe niederlegte. 


Ein nenes Werf von Toljtoj. Der berühmte 
ruſſiſche Schriftiteller und Philanthrop Tolſtoj jchreibt 
zurzeit an einer neuen Novelle. Die Eröffnungscene 
jpielt in einem Gerichtshofe. Ein junges Weib wird 
wegen Diebftahls zur Deportation nad) Sibirien ver- 
urteilt, Einer der Geſchworenen erfennt in ihr ein Mäd- 
hen, mit dem er jich einige Jahre vorher vergangen 
hatte, und um Buße dafür zu thun, begleitet er die 
Verurteilte nah Sibirien, um ihre Strafe zu teilen. 


* 

Mark Twain. Ueber die finanziellen Schwierig— 
feiten, in welche der amerikaniſche Humorift Mark 
Twain infolge des Bankerotts feines Verleger ge— 
raten ift, haben alle Zeitungen berichtet: feine Arbeits« 
kraft ift dadurch nicht im mindejten gebrochen, er hat 
zurzeit, wie die amerifanifche Wochenſchriſt „The 
Critic* mitteilt, ein Werf unter der Feder, das den 
Titel „Länge des Aequators“ tragen joll, und erhält 
dafür ein Honorar von 40000 Dollars in Raten 
zu 10000 Dollars. Seine Verpflichtungen betragen 











Loſe Blätter. 


60 000 Dollars. Major Pond Hat ihm den Antrag 
gemacht, eine Reihe von Vorträgen gegen ein Honorat 
von 50000 Dollars zu halten. Mark Twain hat 
aber abgelehnt. Das New Yorker „Journal“ bezahlte 
ihm unlängft 2000 Dollars für zwei Artikel, die er 
über den Jubiläumsfeftzug gefchrieben hat; den einen 
davon bdiltierte er einem Stenographen, während der 
Feſtzug vor feinen Augen vorüberzog. Solche Unmittel- 
barkeit und Lolalfarbe der Berichterftattung kann wohl 
nicht mehr überboten werben, es gehört aber auch ameri- 
laniſche „Fixigleit“ zu einer derartigen Straftleiftung. 
* Sa, 


Turgenjeff und feine Freunde in Frankreich. 
Zurgenjeif, der fi befanntlich viel in Paris auf 
gehalten hat, zählte zu feinen dortigen freunden 
auch den vor kurzem geftorbenen Edmond Goncout, 
der ihn „liebes Ungeheuer, teurer Barbar“ zu nennen 
pflegte, dann G. de Maupafjant, der von Turgenjefi 
fagte, er jei der ehrenhaftejte, tapferfte, aufrichtigte 
und anhänglichite Menſch geweien, den man über: 
haupt treffen fonnte, und bejonders eng befreundet 
war er mit Daudet, der Turgenjeif als einen feiner 
beten, intimjten Freunde betrachtete. Defto unan« 
genehmer war die Ueberraſchung, als die bald nad 
Turgenjeffs Tode in Paris erfchienenen „Souvenirs 
sur Turgenjeff“ dieje jeine Freunde jehr unfteund⸗ 
Ichaftlich behandelten. Man bejchuldigte Turgenjefi 
deshalb des ſchwärzeſten Undanls, der Verftellung. 
Neuerdings erfchienen in der ruſſiſchen Zeitichrift 
„Severni Wjestnik* (Neuigleiten des Nordens) bid- 
ber ungedrudte Briefe Turgenjeffs, deren Herausgeber 
Halperine-Staminsty in einer Einleitung den Beweis 
liefert, daß ſolche Vorwürfe nicht gerechtfertigt waren. 
Eine Anzahl der Briefe zeigt, wie Turgenjeff zeit 
lebend jeinen franzöfiihen Freunden Sympatbien 
bewahrt hat. Die Auslafjungen über Zola und bie 
Gebrüder Goncourt, die ſich hie und da finden, ent- 
halten nur eine Kritik ihrer Leifiungen; an ihrer 
Perſon war nur das nicht nach feinem Geſchmad. 
daß fie „zu jehr nad) Fitteratur rohen“. Gegen alle 
Verlennung jollte Turgenjeff ſchon gefichert jein durch 
feine Bemühungen, die Werke von Flaubert, Zola 
und Goncourt in Rußland befannt zu machen. Von 
jeiner Neidlofigfeit zeugt fein Verhältnis zu Toffto. 
Die franzöfiiche Zeitung „Temps“ hatte Turgenjeff 
um eine Novelle angegangen; er verſprach dem Her- 
ausgeber eine jehr angenchme Ueberraihung — et 
waren Tolftojs „Erinnerungen an Sebajtopol*. Tur- 
genjeif jchrieb dazu, man brauche ſich über dieſen 
Erjagmann nicht zu bejchweren, Tolftoj jei ihm un 
ermeplich überlegen. 














beftimmten Ueberjegungen 


Unire "verefrlichen Mitarbeiter werden freundfichft erjudht, den für die , Beitichrift „I „Aus fremden Bungen‘ 


1) Angaben über Jahr und Ort des Erfheinens des Originals, ſowie 
2) Aurze Biographifde Paten über den Berfafer 


beizulegen. 


Die Nedaktion behält fi) vor, den Einfender im alle der Annahme einer Arbeit mit der Erweiterung der 
biographiichen Daten zu einem biographiihen Aufſatz für die Rubrik „Loje Blätter” zu beauftragen. 


Stuttgart. 


Deutfhe Perlags:Anftalt 
Litterariſche Abteilung. 


Verantwortlier Redakteur: Karl Bolhoevener in Stultgart. Drud und Berlag der Deutſchen Berlags-Anftalt in Etuttgari. 
Briefe und Eenbungen find nur an die Deutſche Yerlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu ridtem 





Sleichbeit. 


Edward Bellamy. 
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von M. Jacobi. 


Gortſetzung. 


XXXIII. 
Noch allerlei Wichtiges. 
Nach Tiſche ſchlug uns der Doktor einen Aus— 
flug vor. 
„Ich habe ſchon öfter daran gedacht,“ ſagte er, 
„dab Sie mid) für einen recht ſchlechten Pädagogen 


halten werden, wenn Sie ſich jept in die Welt hin | 
ſten Teil der merkwürdigen Erlebnifje zu jchildern, 


aus begeben, jie aus eigner Anſchauung kennen lernen, 





und dann an meine Vorbereitungsftunden zurüd: | 
denken. Ich bin ſelbſt ganz unzufrieden mit der Art, | 


wie ich die Sache angefangen habe. Statt nad) 
einem wijjenjchajtliden Lehrplan vorzugehen, haben 
wir uns völlig planlos unterhalten, und der Inhalt 
unires Geſprächs wurde mehr duch Ihre Wißbegierde 
als durch eine bewußte Abficht meinerjeits beſtimmt.“ 

„sh war Ihnen jehr dankbar dafür, daß Sie 
mie die wiſſenſchaftliche Methode eripart haben, mein 
lieber Freund und Lehrer,“ erwiderte ih. „Wenn ich 
aud) feinen Grund Habe, mid) meiner jchnellen Auf— 
jafjung zu rühmen, jo glaube id) doc), daß ich ſchon 
recht viel von dem jehigen Syſtem weiß, und zwar 
gerade deshalb, weil Sie jo freundlich waren, meiner 
Neugier freien Spielraum zu laſſen und mich nicht 
in eine bejtimmte Methode zu zwängen.“ 

„Es würde mich jehr freuen, wenn id; glauben 
dürfte, daß unfre Unterhaltungen für Sie ebenſo 
Iehrreich geweſen find, wie fie mir angenehm waren,” 
fagte der Doktor. „Wenn id Fehler gemacht habe, 
jo muß mir zur Entidhuldigung dienen, daß wohl 
jelten oder nie ein Lehrer vor eine jo große Aufgabe 
geftellt wurde wie ich — vor eine Aufgabe, die ihm 
ganz unerwartet fam, und die er wegen der begreifs 
lichen Spannung jeines Schülers in kürzeſter Zeit 
bewältigen mußte.” 

„Spraden Sie nicht davon, daß wir zufammen 
heute nachmittag einen Ausflug unternehmen wollten?“ 

„sa,“ antwortete der Doltor, „Es ſoll ein Ver- 
ſuch fein, einige meiner jchlimmjten Verſäumniſſe 
wieder gut zu machen. Viele wichtige Seiten unfres 


Lebens find Ihnen noch ganz unbelannt, Was wür- | 
den Sie Dazu jagen, wenn wir diesmal einen Lufts | 


wagen mieteten, damit Sie die Stadt und ihre Um— 
Aus fremben Zungen. 1897, IL 22, 








| gebungen aus der Bogelperjpeftive ſehen fönnen? Sie 


werden dabei gewiß allerhand Neues entdeden, was 
wir dem Fortſchritt der Zivilifation verdanlen.“ 
Der Plan jchien mir vortrefflid), und er wurde 
jogleich zur Ausführung gebracht. 
Es ift mir natürlich unmöglich, in diefen furzen, 
fragmentariichen Aufzeichnungen aud) nur den hunderte 


die mir in der neuen Welt begegneten. Trotßdem 
muß es aber euch, liebe Leſer, ſonderbar ericheinen, 


dab ih euch jo wenig von meinem Eritaunen 


über die vielen großen mechanischen Erfindungen 
und Hilfämittel erzählt habe, welche eure Zivili- 
jation hervorgebracht bat, und die euch nun zu 
Gebote fliehen. So hatte ih ſchon mande andre 
Luftfahrt gemacht, ohne euch über meine Gefühle bei 
dieſer Art der Beförderung zu berichten, die dod) 
einem Nepräfentanten des neunzehnten Jahrhunderts 
über alle Maßen wunderbar vorlommen mußte. Zur 
Erklärung diejer jcheinbaren Gleichgültigleit gegen 
die Wunder der Mechanik muB id) jagen, daß fie 
mich unendlich viel weniger überrajchten als die mo— 
raliichen Fortichritte, die eure neue Geſellſchafts— 
ordnung zu wege gebracht hat. 

Unter denjelben Umständen wäre e8 jedem meiner 
Zeitgenofien ebenjo ergangen. Schon während der 
legten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte 
man die großartigften Entdedungen und Erfindungen 
gemacht, und jo ſchien auf dem Gebiet der Wiſſenſchaft 


| und der Mechanik fein Problem für die Zukunft 


unlösbar. Wir erwarteten zum Beiſpiel längft mit 
Beſtimmtheit eure unterjeeiihe Schiffahrt und hatten 
die Aufgabe beinahe jchon bewältigt. Die Entdedung 
der Eleftricität machte faſt alles möglihd. Was die 
Luftſchiffahrt anbetrifft, jo waren wir überzeugt, 
daß unfre Enkel, wenn nicht Schon unjre Kinder, die 
Frage erfolgreich, löfen würden. Es hätte mich jehr 
überrajcht, wenn die Menſchen jetzt noch nicht fliegen 
fönnten. 

Aber während wir von dem Berjtand der Men 
ſchen und ihrer Herrichaft über die Naturfräfte jo 
viel erwarteten, verzweifelten wir an ihrer moraliichen 

127 


1010 Edward 
Entwicklungsfähigleit. Wir glaubten, fie würden nie 
über ſich hinaus wachlen und fittlih volllommenere 
Geſchöpfe werden. Im Prinzip waren wir uns 
darüber ebenjo Mar wie ihr, dab eine Geſellſchaft, 
die ſich auf die Bafis der allgemeinen Menjchenliebe 
gründete, unendlich viel glüdlicher jein müßte, als 
Menjchen je geweien find, weil auf einer ſolchen 
Grundlage das Wohl aller am beiten gefördert wer— 
den fünne. Zu gleicher Zeit begten wir aber bie 
fefte Ueberzeugung, dab die jündhafte Anlage des 
Menidhen und feine blinde Selbftfucht ihn hindern 
würden, dieſes Ideal je zu verwirflien. Bergebens 
hatte Gott ihm einen Geift verliehen, der dem jeinen 
ähnlich war, denn alle höheren Ziele des Lebens 
waren ihm umerreichbar. Eine untilgbare fittliche 
Verfehrtheit hinderte ihn daran, feinem befieren 
Willen zu folgen, und machte ihn zum Sklaven feiner 
gemeinen und ſchädlichen Triebe. 

„Unmöglich! Es ift gegen die menjchliche Natur!” 
Das war der Auf, welder allen Propheten und 
Lehrern entgegentönte, fie übertäubte und zum Schwei- 
gen brachte, wenn fie die Welt dazu aufrütteln wollten, 
die Herrjhaft des Chaos nicht länger zu dulden. 
Sie redeten von der Möglichkeit des Reiches Gottes 
auf Erden — aber fie fanden feinen Glauben. 

Iſt es da ein Wunder, daß ein Menſch wie ich, 
der in diejer Hoffnungslojigfeit groß geworden iſt, 
bem die fittliche Erhebung der Menſchheit für uns 
möglich galt, allen euern Wundertpaten auf materiel= 
lem Gebiet wenig Aufmerkjamfeit jchentt, um mit 
immer wacjender Bewunderung fih in das Ge— 
heimnis eurer gerechten und freudenreichen Lebens— 
Jührung zu vertiefen? 

Wenn id) jet zurücblide, jehe ih ein, daß dieſe 
Anſchauung von der Schlehtigfeit der Menſchennatur 
die größte Yäfterung Gottes und der Menschen war, 
die je erfunden worden if. Aber ad), die Kirchen 
haben dieje Lehre nicht verdammt, jondern fie durch 
ihre Predigt von der hoffnungsiojen Sündhaftigleit 
des Menjchen noch beftätigt. 

Gerade die Luftſchiffahrt, von der ih ſprach, 
giebt ein anjchaulidhes Bild davon, wie meine Zeit: 
genofjen ein unbefchränftes Vertrauen in den orte 
ſchritt der Menſchen auf materiellem Gebiet mit dem 
größten Unglauben in betreif ihrer moralifchen Ver— 
volllommnung verbunden haben. Ich erwähnte 
ion, dab wir mit Beltimmiheit erwarteten, daß 
unjre Nachlommen die Luftſchiffahrt einführen wür— 
den, aber das Wichtigfte dabei war, wie man die 
neue Kunft im Sriege dazu verwenden lönnte, Dyna— 
mitbomben in das Menjchengedränge großer Städte 
hinunter zu ſchleudern. Machen Sie fi eine Vor— 
ſtellung davon, wenn Sie fünnen. Hat nicht ſelbſt 
der Dichter Tennyjon dies Zufunftsbild gemalt, 
wenn er jagt: 


Bellamp. 


„Die fylotten der Bölter mit Rriegsgetin 

Sie fämpften im Uetherblau. 

Laut ſchallte ihr Grimm durd des Himmels Höh'e, 
Es regnete eifernen Tau.“ 


Wie das Voll die Zügel führt. 

Jetzt lie der Doktor unfern Wagen in einer Höhe 
von ungefähr taufend Fuß halten und fagte: „Run 
zu unfrer Leltion! Sehen Sie da unten nicht eiwas 
Mertwürdiges?* 

Ich Hatte einen Blick auf die Kuppel des Rat: 
hauſes geworfen und fagte: „Was in aller Welt habt 
ihr denn da oben hinaufgelledt? Das Sieht ja ganz 
aus wie eine jelbftthätige Windmühle, wie fie zu 
meiner Zeit die Landleute aufflellten, um Waſtet 
beraufzupumpen. ine jeher jonderbare Berzierung 
für ein öffentliches Gebäude!” 

„Es joll auch feine Verzierung fein, jondern ein 
Symbol,“ ermiderte der Doltor. „Es ftellt dei 
heutige Jdcal eines Regierungsſyſtems dar. Die 
Mühle bedeutet den Mechanismus der Verwaltung, 
und der Mind, der jie treibt, den Willen des Volles, 
Das Steuerruder, welches den Flügel der Mühle 
immer vor dem Winde hält, mag diejer noch io 
plötzlich umjpringen, ſoll zeigen, wie die Verwaltung 
jederzeit dem Wunſche des Volles entjprecdhen und 
ihm gehorſam fein fol, wenn er ſich andy nur wie 
ein feier Windhauch äußert. 

„Ich habe jchon ſoviel über den Gegenftand mit 
Ihnen geſprochen, daß ich mich jetzt nicht länger 
darüber zu verbreiten brauche, wie jede bemofratiüce 
Regierung, wenn fie diejen Namen mit Recht trägt, 
auf der wirtichaftlichen Gleichheit der Bürger, jumt 
allen ihren Folgerungen, beruhen muß. Das demo 
fratiiche Negiment wäre immer eine Komödie ge 
blieben, troh aller fonftitutionellen Einrichtungen und 
parlamentariichen Kniffe, jolange das Privatwohl, 
von dem Wohl des Ganzen getrennt, ihm feindlid 
gegenüberftand, und folange das jogenannte ‚jour 
räne Volk‘ jein Brot aus den Händen der KRapite 
liften empfing. Nimmt man dagegen an, dab dai 
Privatintereffe mit dem allgemeinen Intereſſe Haud 
in Hand geht, daß kein Individuum mehr von irgend 
einem andern abhängig ift, und daß alle auf gleide: 
Bildungaftufe ftehen — dann könnten jelbjt Umvel- 
fommenbeiten in der Verwaltung nicht verhindern, 
daß das Volk fid) einer guten Regierung erfreut. 
Mir haben aber den Mechanismus der Berwaltung 
ebenjo verbefjert wie den ber Triebfraft. Eure Wahlen 
fanden einmal im Jahre ftatt oder vielleicht ale 
zwei oder alle ſechs Jahre; ihr wähltet die Männer, 
welche über euch bereichen jollten, und von dem 
Augenblid an, da fie gewählt waren, bis zur nächſten 
Wahlperiode waren jie ebenſowenig verantwortid 
wie der Zar, ja noch weniger als diejer. Denn ber 
Zar hatte doch ein Interefje daran, feinem Sohn 


Gleichheit. 


das Erbteil ungeſchmälert zu hinterlaſſen, während 
eure unumſchränkten Herrſcher fein andres Intereſſe 
tannten als das, von ihrer Macht Nutzen zu ziehen, 
jolange fie diejelbe in Händen hielten. 

„Wir find der Anficht, dab bei einem demolra- 
tiichen Regiment die Macht. an niemand auch nur 
eine Stunde lang unwiderruflich übertragen werden 
darf, fondern nur jo, daß die Wählerfchaft ihr Mandat 
jederzeit zurüdziehen fann, Auch heute werden die 
Beamten auf eine gewiſſe Zeit gewählt, weil das 
jwedmäßiger ift, aber diefe Zeitbeftimmung bat feine 
bindende Kraft ; fie fann durch Stimmenmehrheit der 
Auftraggeber widerrufen werden, Ebenfo wird feine 
Berordnung von einer Körperſchaft erlaflen, ohne 
dem Volfe noch einmal vorgelegt zu werben. Kein 
Abgeordneter darf über eine wichtige Vorlage ab— 
ſtimmen, ohne feine Wähler zu befragen. Wenn ein 
Vertreter des Volls der Anjicht feiner Wähler ent- 
gegenhandelte, würde er abgeſetzt und der Beſchluß 
am nähften Tage umgeſtoßen werden. Sie können 
fich vorstellen, daß bei diefem Syitem dem Abgeord=- 
neten jehr viel daran liegen muß, mit feinen Wäh— 
lern Fühlung zu behalten. Das Bolt ijt durch dieſe 
Beftimmungen vor unverantiwortlicher Gejekgebung 
geſchühzt, jehr oft macht es aber auch jelbft Vorjchläge 
zu neuen Maßregeln, ftatt ſich durch feine Abgeord» 
neten vertreten zu laſſen. 

„Das fompliziertefle Wahlſyſtem ijt durch unjre 
Telephone jo volllommen geworden, dak im Not- 
fall die ganze Nation wie ein organifiertes Parla— 
ment vorgehen kann. Unſre Repräientantenhäuier, 
die euren Kongreſſen und Parlamenten entiprechen, 
haben unter diefem Syflem nur die Geſchäfte zu 
führen, welche euern Kommiffionen oblagen. Das 
Volt regiert nicht nur dem Namen nad, jondern in 
Wirklichkeit. Wir haben die wahre Demofratie, 

„Es ift unire tete Sorge, dab die Geſchäfts— 
führung überwacht wird, aber nicht weil wir unjern 
Abgeorbneten kein Vertrauen jchenfen. Die uns 
widerrufliche, unveränderliche wirtſchaftliche Gleichheit 
bietet weder Gelegenheit noch Veranlaffung zur Bes 
ſtechlichleit. Kein Vorteil, den man auf unredht- 
mäßige Weiſe erringt, lönnte den großen Porteil 
aufwiegen, ich die Achtung des Volkes zu erwerben 
— das einzige, was heutzutage die Bürger dazu be— 

ftimmt, ein foldes Amt anzunehmen. Unfre Ger 
jellichaftzordnung felbft fichert alle unfre Lebens» 
intereffen vor jeder Störung. Wir könnten ruhig 
einer auderwählten Gruppe von Bürgern die Leitung 
der Dinge lebenslänglich übertragen; wir thum es 
aber nicht, weil wir die Anregung, welche die divefte 
Teilnahme an der Regierung uns bietet, nicht ent 
behren wollen. Ich möchte uns mit einem reichen 
Manne vergleichen, der eine Menge tüchtiger Kutſcher 
in feinen Dienften hat, es aber doch vorzieht, die 








1011 


Zügel jelbit zu führen, weil es ihm freude macht. 
Ihr habt einmal im Jahre gewählt; in fünf Mi« 
nuten war der At vorüber, aber es that euch doch 
leid um die Zeit, weil ihr fie nicht euern Privat: 
angelegenheiten widmen fonntet — die waren immer 
die Hauptſache. Bei ung find die allgemeinen An— 
gelegenheiten unsre Brivatangelegenheiten; wir lennen 
feine andern, die gleich wichtig wären, Wir ftimmen 
wohl hundertmal im Jahr über die verjchiedenjten 
Dinge ab, von der Temperatur der öffentlichen Bäder 
oder dem Bauplan, der für ein öffentliches Gebäude 
gewählt werben joll, bis zu den größten Fragen ber 
ganzen Welt, und wir finden diefe Ausübung unjrer 
Bürgerpflict ebenſo anregend wie lehrreich. 

„Und num, Julian, jehen Sie, bitte, noch einmal 
hinunter, ob Ihnen nicht noch etwas auffällt, worüber 
Sie eine Frage ftellen möchten.“ 


Die Meinen Kriege und der große Krieg. 


„Sch Sehe, daß die Hafenbefeitigungen noch vor— 
handen find," ſagte ih. „Die werden wohl als 
hiſtoriſche Beweiſe von der Barbarei eurer Vorfahren 
und meiner Zeitgenofjen aufbewahrt, wie die Mietö« 
fafernen, die ich gejehen habe?” 

„Sie müflen e8 nicht übelnehmen, wenn ich jage, 
dak wir wirklich eine vollitändige Sammlung ſolcher 
Anftalten konſervieren müſſen. Die Kinder würden 
es fonft nicht glauben wollen, was ihre Urgroßväter 
einft für Pollen getrieben haben, wenn die Bücher 
ihnen davon erzählen.” 

„Man hält doch wohl die Garantie des Welt- 
jriedens, den die neue Ordnung der Dinge den 
Menſchen gebracht, für eine ihrer größten Leiſtungen,“ 
jagte ih. „Und doc) haben Sie noch jo wenig mit 
mir darüber geſprochen.“ 

„Sie ift an umd für fi ein großer Segen,“ 
jagte der Doktor. „Aber unendlich viel wichtiger 
it es, dab der wirtichaftliche Krieg der Menſchen 
untereinander aufgehört hat! Die Anſchauungen 
unjrer Borfahren in diefer Beziehung find uns höchſt 
merfwürdig. Wenn gelegentlih ein Krieg zwiſchen 
zwei Nationen ausbrach, konnten fie ſich über die 
Härte und Graufamfeit, die er im Gefolge hatte, 
gar nicht beruhigen, und body waren fie jcheinbar 
ganz gefühllos den Greueln gegenüber, welche der 
Kampf ums Dajein, in den ihr alle verwidelt wart, 
täglich mit ji brachte. Von unjerm Gefichtspunft 
aus waren eure Kriege zwar jehr thöricht, aber ver- 
bältnismäßig menſchlich und geradezu unbedeutend, 
wenn man fie mit dem brudermörderiſchen Interefion- 
fampf vergleicht. Im Kriege griffen nur die Männer 
zu den Waffen, ftarke, auserlejene Mannſchaften, 
ein jehr Heiner Teil der gefamten Bevöllerung. Da 
gab es feine Frauen, feine Kinder und alten Leute; 
die Schwachen wurden außgejchloffen, die Verwundeten, 


1012 Edward 
ob Freund, ob Feind, forgfältig gepflegt und 
dem Leben zurüdgegeben. Die Kriegäregeln unter« 
lagten jtreng jede unnütze Graujamfeit, und der Bes 
fiegte fonnte fid) jederzeit mit Ehren zurüdziehen, er 
war einer guten Behandlung ficher, Die Schlachten 
fanden gewöhnlich an den Grenzen ftatt, außer Sicht: 
und Hörweite der großen Maſſe der Bevölkerung. 
Außerdem wurden die Kriege nad) und nad) jo jelten, 
dab manche Generation gar feinen erlebte. Sie 
appellierten an die Hingebung und den Opfermut des 
Volles, und wenn auch die Urſachen des Krieges diefer 
Opfer nicht wert waren, jo gehörten die Tugenden, 
welche er erzeugte, doch zu den jeltenften und größten. 

„Bergleihen Sie mit einem ſolchen Kampf die 
Umftände, welche den wirtfchaftlichen Krieg begleiteten. 
Hier waren die Krieger nicht eine außerwählte Schar. 
Die ganze Benöllerung aller Länder — wenige reiche 





Bellamy. 


erwiderte der Doktor; „aber es ift unglaublich, wie 
furzfichtig fie waren. Ihre Anitrengungen, die Lrien 
abzuihaffen, während fie dem wirtſchaftlichen Kampi 
rubig zujahen, der doch in einem Monat mehr Leiden 
und Opfer fordert al& die internationalen friere 
einer ganzen Generation, machen den Eindrud, alt 
hätten fie ‚Mlüden gejeihet und Kamele veriählude‘, 

„Der Segen, welcher der Menſchheit daraus er: 
wählt, daß es feinen Krieg mehr giebt, beficht 
unfrer Meinung nad weniger darin, dab lein Blut: 
vergießen mehr ftattfindet, al& darin, daß Eiferſuch 
und Neid, welche die Völker nicht nur im Sriege, 
fondern auch im Frieden gegeneinander erbitterten, 


‚ Jeßt außgeftorben find. An ihre Stelle ift brüder: 


Leute ausgenommen — wurde zum Dienft gezwungen, | 1 
Die alte und die neue Vaterlandsliehe 


Nicht nur mußten Frauen und Slinder, Alte und 


Kranke daran teilnehmen, ſondern je ſchwächer der 


Streiter, deſto jchwerer war der Kampf. In diejen 
Gefechten fanden die Verwundeten feine Pilege und 
die Beltegten weder Gnade noch Barmberzigfeit, 


Nicht an den fernen Grenzen fremder Länder tobte | 


diejer Krieg; nein, in jeder Stadt, jeder Straße und 
jedem Haus. Seine erihöpften, verwundeten und 
fterbenden Opfer wurden mit Füßen getreten, 
und wohin das Auge jah, erblidte e3 das Elend in 
immer neuer Geftalt. 
Unterliegenden, ihre Seufzer und Klagen drangen 
zu jedes Menjchen Ohr. Und diefer Krieg fam nicht 
ein» oder zweimal in hundert Jahren, um eine Zeit 
lang die Erde mit Blut zu färben und dann dem 
Frieden Pla zu machen; nein, er war ohne Ende, 
ohne MWaffenftillftand — lebenslang. Nicht Edelmut 
und Selbjtlofigfeit wurden dabei entwidelt, jondern 
Gemeinheit, Falſchheit und Graufamfeit — auf die 
jchlechteften Regungen des Menjchenherzens war ein 
für allemal ein Preis gejekt. 

„Wenn wir auf euer Zeitalter zurüdiehen, jo kommt 
und der Krieg, welcher dort vor jenen alten Be— 
feftigungen ausgefochten wurde, nur tragiſch und beis 
nahe erhebend vor gegen das grauenhafte Schaufpiel 
bei dem Kampfe ums Dafein, 


„Wir Fönnten beinahe den Soldaten von Beruf | 


recht geben, weldye damals behaupteten, von Zeit zu 
Zeit ſei ein Krieg ganz notwendig, um Großmut 
und Opfermilligfeit unter den Menjchen neu zu bes 
(eben, da ſich ſonſt die Gefellichaft in der Fäulnis 
ihrer Selbſucht und Gemeinheit auflöjen müfſe.“ 

„Sch fürdte, daß die Nachwelt den Gründern 
ber Vereine zur Beförderung des Weltfriedens feine 
jo aroßen Denfmäler errichtet hat, wie fie ertvarteten,* 
ſagte id. 

„Diefe Leute hatten jedenfalls den beiten Willen,” 


Das vergebliche leben der | 





| fonnte das auch nicht anders fein. 


liche Teilnahme und alljeitiges Wohlwollen getreten, 
die feine Schranken der Nationalitäten oder der Fün- 
ber fennen,“ 


Während der Doktor ſprach, fiel mein Blid anf 
eine Fahne, Die ſich tief unter mir im Winde ent 
faltete. Es war das Sternenbanner, Bei diefen 
Anblid klopfte mir das Herz, und meine Augen wur« 
den feucht. \ 

„Ach,“ rief ich aus, „da weht unfer ruhmreide: 
Banner!” 

Die Blide des Doftors folgten den meinen, 

„Ja,“ jagte er, „aber jetzt verkündet es einen 
neuen Ruhm. Wo dieſes Banner weht, giebt e 
feine Not und feine Leiden mehr, welche menſchlich 
Hilfe lindern kann. 

„zu eurer Zeit waren die Amerilaner aud) patrie: 
tisch gefinnt,* fuhr er fort, „aber der Unterjdie 
zwiſchen dem alten und dem neuen Patriotismus it 
jo groß, dab man beide faum für dasjelbe Gefühl 
halten fann. Früher waren die Gedanfen und Gr 
fühle, welche unſre Fahne erwedte, rein friegeriiber 
Art, Aufopferung für die eigne Nation, wenn fie mit 
einer andern im Kriege lag, dad war es, was man 
unter Vaterlandäliebe verftand. Bei Zuftänden, in 
denen die Nationen ſtets bereit fein mußten, zum Schuß 
der eignen Exiſtenz Die übrigen Völker zu befämpien, 
Aber die Folge 
diefer WVaterlandsliebe war, daß das Gefühl der 
nationalen Solidarität an Stelle der Solidarität 
aller Menſchen gejeßt wurde. Eine bejchränfte Pflicht 
erfüllung ftand einer umfalfenderen entgegen, und je 
entitanden natürlich viele fittliche Konflikte, Sebt 
oft war, was ihr als Vaterlandsliebe priefet, nur 
Haß und Mikgunft gegen eine andre Nation, weil 
fie nicht eure eigne war, nur ein blindes Vorurteil 
gegen fremde Jdeen und Einrichtungen, aus feinem 
andern Grunde, als daß fie nit euerm Wolfe an 
gehörten. Diefe Art Patriotiemus richtete jahr: 
bundertelang unüberfteiglihe Schranfen auf; fie ftellie 


Gleichheit. 


dem Fortſchritt der Zivilifation Hinderniffe in den 
Meg, die höher waren ala Berge, breiter als bie 
grökten Ströme und tiefer als das Meer. 

„Der neue Patriotismus war die natürliche Folge 
der veränderten fozialen und internationalen Zuftände, 
die feit dem Umſturz eingetreten find. Schon zu 
eurer Zeit wurden die ſtriege immer feltener — jet 
bat die Entwicklung der allgemeinen Verbrüderung 
fie unmöglich gemacht; jeit mehreren Generationen 
ift fein Krieg mehr geführt worden, Die alten blut= 
getränften Grenzen der Länder bleiben jeht nur be= 
ftehen, weil fie die Verwaltung erleichtern, wie die 
Grenzlinien der einzelnen Staaten unjrer Republif, 
und jo ift der internationale Neid, das Miftrauen 
ſamt aller Furcht und Feindſeligleit, eines natürlichen 
Todes verbliden. Die Jahrestage der Schlachten 
und Siege über andre Nationen, durch welche das 
Feuer des alten Patriotismus gefchürt wurde, find 
fängft vergeſſen. Mit einem Wort: die Vaterlands— 
liebe ift fein friegerifches Gefühl mehr. Auch die 
Fahne hat ihre alte Bedeutung verloren; fie joll 
nicht mehr dem Feinde Troß bieten, jondern das 
höchſte Symbol des Friedens und der Eintracht fein. 
Sie ift das ſichtbare Zeichen der jozialen Solidarität, 
durd; welche das Wohl aller auf unerjchütterliche 
Weiſe gefichert ift. Wenn jetzt der Amerifaner feine 
Augen zur Standarte erhebt, denft er nicht an bie 
Heldenthaten feiner Nation im Kriege mit andern 
Bölkern, nicht an vergangene Triumphe und zufünftige 
Kriege. Die flatternden ahnen erweden in ihm 
feine jolden Gedanken. Sie erinnern ihn vielmehr 
an den Bruberbund, den er mit allen feinen Lands— 
leuten geichlofien hat, zum Schuß der Ehre und 
Wohlfahrt jedes einzelnen durch die Macht der 
Gemeinschaft. 

„Die alten Patrioten ftellten fi) vor, dab nur 
fremde Nationen die Fahne beſchimpfen könnten, und 
jobald das Volk hörte, daß jeinem Banner nicht die 
vorjchriftsmäßige Ehre erwielen worden war, geriet 
es in patriotifhe Raſerei. Jetzt würde dies Gefühl 
uns wunverftändlic jein; wir meinen, daß fein 
Fremder die Madt hat, unjre Fahne zu entehren; 
er hat nichts mit ihr zu Schaffen und weiß nicht, was 
fie uns bedeutet. Ihre Ehre oder Unehre hängt von 
dem Volke ab, das ihr, als dem Sinnbild der Brubder- 
liebe, Treue geihworen bat. Für den Patrioten in 
alter Zeit war «8 fein Widerfinn, wenn dad Syms 
bol der nationalen Einheit über einer Stadt ſchwebte, 
in der die jchmählichjte Unterdrüdung, Proftitution 
und Bettelei ihr Weſen trieben, und welche Höhlen 
des namenlofeiten Elends in ſich barg. Nach unſrer 
Anficht würde unfer Stolz auf das Banner zu einer 
prablerifhen Lüge werden, wenn man in irgend 
einem Winkel des Landes den geringiten Bürger un— 
geftraft feiner Menjchenrechte beraubt hätte. Das 





1018 


Volk ſelbſt würde mit Entrüftung die Niederlegung 
der Fahne verlangen und fie erft wieder aufrichten, 
wenn das Unrecht gejühnt und gut gemacht wäre.“ 

„sa wahrlih,* ſagte ih, „ihr neuer Ruhm 
ſcheint mir größer, al& der alte je gemejen tft,“ 

Während wir uns unterhielten, hatte der Doktor 
unjern Wagen von dem Weſtwind dahintreiben 
laſſen. Wir jchwebten jet über dem Hafen, und ich 
wunderte mid), wie wenige Schiffe dort vor Anfer 
lagen. 

„Mir ſcheint,“ jagte ih, „daß die Anzahl der 
Schiffe im zwanzigften Jahrhundert fi) gar nicht 
vermehrt hat. Ich erwartete eine große Flotte zu 
jehen, da die Bevölferung und der Handel doch zu— 
genommen haben müſſen.“ 

„Die neue Ordnung hat im Gegenteil den über: 
jeeifchen Handel ſehr eingefchräntt; dagegen wird 
zur Belehrung und zum Vergnügen tauſendmal mehr 
ind Ausland gereift als früher.“ 

„sn welcher Weile hat denn die neue Ordnung 
den Austauſch der Produkte mit fremden Ländern 
beichränft?* fragte ich. 

„Auf zweierlei Weiſe,“ erwiderte der Doktor, 
„Zuerft müſſen Sie willen, daß das Gewinnſyſtem 
im ausländiihen Handel ebenjogut abgeihafft iſt 
wie bei der imländijchen Güterverteilung. Ein in- 
ternationaler Rat überwadht den Warenaustanjch 
zwiſchen den Nationen, und das eingeführte Produft 
muß zu demfelben Preis geliefert werden, welchen 
die Bürger der ausführenden Nation dafür zahlen, 
Deshalb bat auch Fein Volk ein Intereſſe daran, 
Güter für den Erport zu fabrizieren, wenn «8 nicht 
zu jeinem eignen Verbrauch folder Produfte eines 
andern Landes bedarf, die in der Heimat nicht eben- 
fogut herzuftellen find. 

„Nod weit mehr trägt aber jet zur Beſchrän— 
fung des überjeeiichen Handels der Umſtand bei, daß 
alle Fähigkeiten und Senntniffe in gelehrten und 
praftiichen Dingen ſich viel gleihmäßiger in den 
Nationen verbreitet haben. Heutzutage würde jedes 
Bolt ih Ihämen, irgend ein Lebensbebürfnis von 
auswärts zu beziehen, wenn die natürliche Beſchaffen— 
beit des eignen Landes es nicht unmöglich macht, die 
betrejfende Ware zu produzieren. So wird jet aus» 
Ichlieplich mit Waren gehandelt, die nur an beftimmten 
Drten erzeugt werden fünnen, und je mehr es dem 
Menſchen gelingt, die Natur zu beherrſchen, defto 
Heiner wird ihre Zahl, Früher batten die Kohlen- 
länder einen großen Vorteil, aber der beſteht jekt 
nit mehr. Schon vor hundert Jahren find Er— 
findungen gemacht worden, durch welche die Ent: 
widiung eleftriicher Kraft in beliebiger Stärke fait 
nichts mehr fojtet. 

„Aber denten Sie ja nicht, daß die verichiedenen 
Voller nur aus wirtichaftlihen Gründen oder aus 


1014 


Eitelleit danach fireben, alles felbit zu beichaffen, 
ftatt von andern Nationen abhängig zu fein. Sie 
thun es baupliächlih um des erziehlichen und ans 
regenden Einfluffes willen, den ein mannigfaltiger 
Betrieb in Heinen Verhältniffen mit fich bringt. Wir 
geben nicht nur darauf aus, dab jede Nation ein 
volllommenes Induftrieigitem haben follte, jondern 
möchten aud, dab in jedem Lande die Gewerbe jo 
gruppiert wären, baß jeder größere Diftrift gewiller« 
mahen einen Mitrofosmos aller Induſtrie in der 
ganzen Welt darjtellen fann, Sie werben fi er- 
innern, daß wir fchon neulich auf der Indbuftriebörfe 
davon gejprodhen haben.“ 


Wie leicht jet der Beruf des Arztes ifl. 


Schon vor einer Weile hatte der Doktor uniern 
Kurs verändert; wir fuhren jebt in weſtlicher Rich— 
tung über die Stadt hin, 

„Was ift das für ein Gebäude?“ fragte ich, „wir 
befinden uns gerade darüber; es Hat jehr viele 
Fenſter.“ 

„Das iſt eins von unſern Sanatorien,“ ant« 
wortete der Doktor. „Hier gehen die Leute hin, 
welche krank find und eine Luftveränderung brauchen, 
aber doch ihre Heimat nicht verlaffen mödjten. Jeht 
läßt fid) beides vereinigen. An diefen Gebäuden iſt 
alles jo genau und jorgfältig auf den Auftand bes 
Kranken berechnet, daß er e& nirgends befjer haben 
fönnte,” 

„Gewiß find feit meiner Zeit in jedem Zweige 
Ihres Berufes große Fortichritte gemacht worden: 
in der Arzneifunde, der Hygiene, der Chirurgie und 
allem übrigen.“ 

„Ja,“ erwiderte der Doltor, „und zwar haben 
wir pofitive und negative Fortſchritte gemacht; die 
leßteren find fogar die allerwichtigften. Sie beſtehen 
in der Abſchaffung aller Zuftände, die der Gefund- 
beit ichädlih find, und die doch früher von den 
Aerzten vergebens belämpft wurden. Ich will Ihnen 
ein Beiipiel jagen: In den beiden letzten Öenerationen 
bat die wirtjchafttiche Unabhängigkeit der Frauen jie 
in den Stand gefeht, ihre Beziehungen zu den Männern 
jelbftändig zu regeln, und Sie werden leicht begreifen, 
wie infolgebdejfen die Supbilis bei unfrer Raſſe ſchon 
längjt nicht mehr vorlommt. Die jeit drei Generationen 
allgemein eingeführte äußerfte Sauberkeit in allen 
Wohnungsverhältnifien, in Kleidung, Heizung und 
der ganzen Lebensweiſe der Menſchen hat alle ans 
jtedenden Krankheiten faft ganz vertrieben ; wer dennoch 
franf wird, hat die bejte Pflege. Denten Sie jid) 
nun zu diefer Umwandlung in den hygieniſchen Bes 
dingungen, unter denen das Volk lebt, noch die alle 
gemeine planmäßige Ausbildung und Abhärtung des 
Körpers hinzu, die einen Teil der Jugenderziehung 
bildet, und ſchließlich noch die Kräftigung, man könnte 


Edward Bellamp. 


jagen: die körperliche Wiedergeburt der Frauen — 
dann müflen Sie geftchen, daß wir den Strom des 
Lebens an feiner Quelle gereinigt und geftärtt 
haben.” 

„Weiter brauchen Sie nichts zu fagen, Dollot — 
Sie haben ja ſchon den Merten ihre ganze Prarit 
fortdisputiert.* 

„Ganz recht,“ erwiderte der Doktor. „Die Er: 
findungen und Verbefferungen, die feit Ihrer Zeit 
gemacht worden find, haben den Aerzten verfchiedentlih 
ihre Thätigfeit tweggenommen, ebenfo wie fie jedem 
andern Gewerbe einen Teil der Arbeit entzogen — aber 
nur um ihm neue Felder für reichere und eblere 
Arbeit zu erichliehen. 

„Dielleiht habe ich den wichtigſten negativen 
Faktor bei den Berbeflerungen unfrer hygieniſchen 
Verhältniſſe noch gar nicht erwähnt,“ fuhr mein Ge— 
fährte fort. „Die Menſchen befinden ſich jet nicht 
mehr im Zuftand gänzlicher Unwiſſenheit, was ihren 
eignen Körper betrifft. Die Fortſchritte in dieler 
Beziehung haben mit der allgemeinen Bildung Schritt 
gehalten, Nad) allem, was wir darüber leſen, ſcheinen 
früher jelbft Die gebildeten Klaſſen es als feine Schande 
angejehen zu haben, von Phnfiologie und der Be 
ichaffenheit des gefunden und franfen Körpers nicht das 
Geringfte zu willen. Sie überließen dem Aerzten die 
Sorge für ihe körperliche Wohl in demfelben Geift 
cyniſcher Ergebung, wie fie ihre Seelen deu Geiftlicen 
überließen. Jeht würde man jedes Erziehungsinften 
lächerlich finden, das nicht dem Schüler jo viele Kennt: 
niſſe in den Grundzügen der Phufiologie, der Hygiene 
und der Medizin beibringen könnte, daß er im itande 
wäre, ein gewöhnliches Unwohlſein jelbit zu behandeln, 
ohne einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ich glaube 
nicht, daß es eine zu gewagte Behauptung if, wenn 
ic) jage, daß Heutzutage jeder jo viel von der Ber 
handlung in Krankheitsfällen versteht, wie ein großer 
Zeil der früheren Aerzte. Natürlich) kann man bei 
diefer Lage der Dinge, ganz abgejehen von den großen 
Fortjchritten im Gefundheitszuftand der Menſchen, 
jeßt mit einem Arzt außfommen, wo früher zwanzig 
genug zu thun Halten. Wir Aerzte find jet wur 
Spezialiiten und Sacdverftändige in Dingen, von 
denen bis zu einem gewiſſen Punkte jeder etwas ver- 
fteht. Wenn man uns rufen läßt, ift es gewöhnlich 
zu einem Konſilium — wenn ich einen Ausdtud 
gebrauchen fol, der euch ganz geläufig war — die 
andern Teilnehiner an dem Konfiltum find dann der 
Fatient und jeine Freunde. 

„Der allerwichtigfte Faktor bei dem Fortidriti 
der medizinishen Wiſſenſchaft ift aber das Ber 
ihwinden des Parteiweſens aus der Arzmeikunde, 
was größtenteil® denjelben fittlichen und wirtſchaft 
lichen Gründen zu verdanfen ift, welche die Seltiererei 
aus der Religion verbannt haben. Sie werden ſich 





Gleichheit. 


erinnern, daß zu Ihrer Zeit nächſt der Theologie 
feine Wiſſenſchaft dem lähmenden Einfluß des über— 
lieferten Dogmas fo ſehr unterworfen war wie die 
Medizin. Ob es fih um das Heil des Körpers 
handelte oder um das der Eeele, in beiden Füllen 
wurde jeder eigne, urſprüngliche Gedanke mit blindem 
Eifer umterbrüdt und dadurch der Fortſchritt ges 
hemmt, 

„seht ift das Stubium der Werzte in feiner Weije 
beſchränkt; ihre theoretifche Ausbildung it jo um— 
fallend wie möglich, aber im einzelnen Fall bleibt 
die praftiiche Behandlungsweiie ganz dem Doktor 
und feinem Patienten überlajien. Man nimmt an, 
daß ein jo gebildetes Volk wie das unjrige die Pflege 
des eignen Körpers ebenjogut jelbit in die Hand 
nehmen kann wie die der eignen Seele. Infolge 
der gänzlichen Unabhängigkeit der praftiichen Aerzte, 
die Durch die Kritik und den Beifall eines ganzen 
Volles, das den Wert ihrer Leiltungen richtig be= 
urteilen fan, zu immer neuen Eifer angeipornt 
werden, hat die medizinische Wiſſenſchaft ganz an— 
glaubliche Fortichritte gemacht. Nicht nur hat bie 
Anwendung der Heilmittel unzählige Verbeſſerungen 
aufzuweijen, wir haben ganz neue Prinzipien ent- 
dedt und jind der Kenntnis vom Urfprung des 
Lebens jo nahe gelommen, wie ihr es nie für mög— 
lich gehalten hättet. Zu eurer Zeit wäre es Goltes— 
läfterung geweſen, an dieſes Grundgeheimnis aud) 
nur bon ferne zu rühren. Was den Schmerz an— 
betrifft, jo dulden wir ihn nur als Symptom, 
damit er uns bei der Tiagnoje den richtigen Weg 
zeigt.“ 

„Aber den Tod werdet ihr dodp nicht abgejchafit 
haben ?* : 

„Wenn wirklich einer diejem Geheimnis auf die 
Spur kommen follte,” jagte der Doktor lachend, 
„dann können Sie fiher fein, dad das Volk ihn 
fortjagen und jein Rezept verbrennen würde, Wir 
wollen doch nicht ewig auf diefer Erde bleiben!“ 


Wie ift es nur möglich gewejen? 


Ich wendete meine Aufmerkjamkeit num wieder 
dem Panorama zu, das ſich ſcheinbar unter uns 
jortbewegte. Dabei machte ich die Bemerkung, daß 
twir über der Vorſtadt Brighton ſchwebten, wo fich 
früher die VBiehftände zur Verforgung der Stadt mit 
frischem Fleiſch befanden. 

„Ich jehe, daß die alten Viehſtälle nicht mehr 
da find,“ fagte ih. „Gewiß habt ihr weit bejiere 
Einrichtungen. Uebrigens muß es doch jeht viel 
ſchwieriger jein, eine große Stadt mit friſchem Fleiſch 
zu verjorgen, da jeder in der Lage ift, ſich die beften 
Stüde zu beitellen. Früher haben die armen Leute 
fehr wenig Fleiſch fonjumiert und mußten ſich mit 
der geringften Sorte begnügen.” 


1015 


Ein paar Minuten jchaute der Doftor aus dem 
Magen hinunter, dann antwortete er: 

„Sie haben wohl nody mit niemand über diefen 
Punkt geſprochen ?” 

Ich glaube nicht. 
gefallen.” 

„Das ſchadet auch nichts,“ fagte der Doltor. 
„Sehen Sie, Julian, bei der gänzlichen Umwandlung 
in den Sitten und Anſchauungen der Menjchen 
fonnte e8 gar nicht anders fein, als daß die Ver— 
änderungen in manden Fällen einen großen Wider: 
willen gegen frühere Gebräuche mit ſich brachten. 
Ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrüden joll, 
aber ih bin doch frod, daß Sie zuerft mit mir von 
der Sache geſprochen haben.” 

Mir ging ein Licht auf, und allerhand Dinge, 
die ich zwar bemerkt, aber nur halb verftanden Hatte, 
wurden mir auf einmal Klar, 

„Ah jo!” rief ih aus, „Sie wollen jagen, daß 
man das Fleiſch der Tiere gar nicht mehr ißt.“ 

„Haben Sie das wirklich nicht früher erraten? 
Hat man Ihnen denn Fleiſchſpeiſen angeboten?“ 

„Die Ernährung ift jeht in jeder Beziehung jo 
verichieden von der jrüheren, daß ich es ganz aufs 
gegeben habe, herauszubelommen, was ich eſſe. Ieden- 
falls habe id) feinen einzigen angenehmen Geihmad 
vermißt, an den ich mich von früher erinnere, während 
mir vieles Neue jehr aut ſchmeckt.“ 

„Ja,“ jagte der Doftor, „Itatt des unvollfommenen 
Verfahrens bei der Zubereitung der Speijen, das 
ihr von euern Vätern geerbt hattet, kennen wir die 
verſchiedenſten Methoden, um Nahrungsſtoffe zu ge— 
winnen und zu bereiten. Ich glaube faum, daß es 
einen Wohlgeihmad giebt, den wir nicht berftellen 
lönnten — dagegen hat man jet viele neue Würzen, 
von denen ihr nichts wußtet.“ 

„Wann ift denn die Fleiſchnahrung abgeſchäfft 
worden?“ 

„Sehr bald nad) dem großen Umſchwung.“ 

„Und wie fam man darauf? Glaubtet ihr, daß 
es für die Gejundheit vorteilhafter jei, fein Fleiſch 
zu ejlen?“ ' 

„Das ift wohl nicht der Hauptgrund geweſen. 
Es unterliegt feinem Zweifel, daß die phyſiſche Ver— 
volllommnung der Raſſe damit zuſammenhängt, daß 
fein Fleiſch mehr gegeſſen wird und die Krankheiten der 
Schlachttiere nicht mehr auf die Menjchen übertragen 
werden. Aber wie in alten Zeiten die Kannibalen nicht 
aus Gejundheitsrüdjichten aufgehört haben, ihre Mit- 
menjchen zu freſſen, jofann auch beiuns die Veränderung 
in der Nahrungsweiſe nicht auf diefen Grund zurüde 
geführt werden. Die Sache ift jchon ſehr lange ber; 
wahrjcheinlich verſchwand die Gewohnheit, das Fleiſch 
der Tiere zu eſſen, jo jchnell, weil man ſich ihrer 
Ihämte und darum können und die Geſchichtsbücher 


Es ift mir eben erjt ein— 


1016 


nur wenig von der Webergangszeit erzählen. Es 
icheint aber, daß damals eine lebhafte Empfindung 
des Erbarmens wie ein Strom über die Menfchheit 
fam und fie von Reue ergriffen wurde über alle 
Schmerzen, die fie verurfadht hatte. Das leiden- 
Ihaftlihe Mitgefühl, das fie durchdrang, wurde 
ſchließlich die treibende Kraft der ganzen Umwälzung. 
Natürlicherweiie beeinflußte ihr wärmeres Empfinden 
nicht nur das Verhältnis der Menſchen zu einander, 
ſondern auch ihr Verhältnis zu allem Lebendigen. 
Das Gefühl der Brüderlichleit und der Solidarität 
beſchrünkte fich nicht auf Männer und frauen, jones 
dern dehnte jich auf die bejcheideneren Geſchöpfe aus, 
die auf Erden unfer Schidfal teilen — auf die Tiere, 
Ein neues, grelles Licht fiel auf die Rechte und Pflichten 
der Menfchen und lehrte fie, aud) die Rechte der Ge» 
jchöpfe einer niedrigeren Gattung erfennen und achten, 
Schon vor längerer Zeit hatte ſich im zivilijierten 
Ländern ein Abjcheu vor jeder Art von Grauſamkeit 
bei der Behandlung der Ziere entwidelt, — ein Zeichen, 
daß eine menſchlichere Geſinnung erwacht war. Nad) 
dem Umjchwung fteigerte ſich Dieje zur Begeifterung. 
Die neue Anſchauung von der Tierwelt jprady zum 
Herzen und ergrüf die Phantaſie der Menſchen. Sie 
jahen ein, daß es ihre Pflicht ei, den ſchwächeren 
Geſchöpfen in der großen Familie der Mutter Natur 
wie ältere Brüder zur Seite zu ftehen, jie zu jhügen 
und zu pflegen, ftatt fie ihren Bedürfniffen und 
Freuden aufzuopfern. Das Wohl und Wehe ber 
Tiere lag ja in unjrer Hand; wir waren ihre 
Götter, — Nicht wahr, Julian, nun können Sie ji) 
denfen, wie dieje neue Erkenntnis dahin geführt hat, 
dab man die Site, feine Mitgeſchöpfe zu verzehren, 
abſchaffte und fie beinahe jo abſcheulich fand wie 
den Kannibalismus?* 

„Das läßt ſich natürlich leicht begreifen. Aber 
Doltor, Sie dürfen ja nicht glauben, daß meine 
Zeitgenofien in diefer Beziehung gar fein Gefühl 
hatten, Schon lange, ehe man an die neue Zeit aud) 
nur dachte, hatten viele von meinen Belannten große 
Sfrupel über den Genuß von Fleiſchſpeiſen, und es 
gab gewiß wenig gebildete Leute, die ſich nicht zeit— 
weije darüber Gedanten machten. Sie wußten aber 
feinen Ausweg — ganz wie bei unjerm Wirtihafts- 
ſyſtem. Zartfühlende Menſchen fanden e8 ſündhaft 
und roh, Fleiich zu effen, aber jehr wenige Perſonen 
hatten eine Mare Vorjtellung davon, wodurdh man 
es erjegen ſollte. Bei euch jcheint die Kochtunſt ganz 
gut ohne Fleiſch auszulommen; jie hat es jogar viel 
weiter gebradjt al& bei uns. Aber Sie glauben gar 
nicht, wie unmöglich es den Menjchen zu meiner 
Zeit vorfam, ohne Fleiſchnahrung zu beitehen, denn 
es gab feine Speife, die den Gaumen ebenſo be= 
friedigte, jelbft wenn fie für gleich nahrhaft galt.“ 


Edward Bellamy. 


ſtellen, daß es nicht leicht war, ebenſo wie es nicht 
leicht war, euer Wirtſchaftsſyſtem zu verändern. Wenn 
man einen beftimmten Gejhmad auf der Zunge bat, 
iſt es ſchwer, ſich einen andern vorzuftellen. Dieier 
Mangel an fchöpferiicher Phantafie bei dem Bolt 
war immer das Hindernis, welches der Abjchaffung 
aller eingewurzelten Mißbräuche im Wege jtand, und 
jo mußte eine revolutionäre Kraft die Arbeit thun. 
In dieiem Fall war es, wie id) Ihnen geichildert 
habe, der Strom leidenihaftlihen Mitgelühls, welder 
der jet eingewnrzelten Sitte des Fleiſcheſſens cin 
Ende machte. Sobald die Empfindung der Menichen 
ihnen den Fleiſchgenuß verleidete und ein dringendes 
Bedürfnis nad) einem andern zweckentſprechenden 
Nahrungsmittel entjtand, ſcheint ſich dieſes ſchnell 
genug gefunden zu haben.” 

„Und aus welder Quelle?“ 

„Natürlich zum größten Teil aus dem Pflanzen: 
reich,“ erwiderte der Doltor, „aber doch leineswegs 
aus diefem allein. Man hatte bisher nie ernſtlich 
Verſuche augeftellt, um den Reichtum der Natur an 
Nährſtoffen völlig zu ergründen; noch weniger wußte 
man, was fi durch willenschaftliche Behandlung 
aus denfelben herjtellen ließ. Solange man nur ein 
geeignetes Tier zu ſchlachten brauchte, um ſich Nab- 
rung zu verjchaffen, war das aud) nicht nötig. Die 
Reichen lebten faft ganz von Fleiſch, und was das 
arbeitende Wolf anbetraf, das jeine Krait aus degt⸗ 
tabilifcher Nahrung jchöpfte, jo lag niemand etwas 
daran, ihm feine Koſt jhmadhafter zu machen. Kun 
aber fing mit einem Schlage die ganze Menſchheit 
an danad zu fragen, womit wohl die Natur denen, 
welche dem Morden abgeichworen hätten, den Tiſch 
zu deden vermöchte. i 

„Gerade wie die Sklaverei, zuerit in Form der 
Leibeigenichaft, dann als Lohnjflaverei, jo bequem 
war, dab niemand daran dachte, ſie durch ein fünfte 
liches Induſtrieſyſtem zu erjeßen, jo war aud bie 
rohe Art der Ernährung durch das Fleiſch der Tiere 
jo bequem, daß feiner mit Ernft daran ging, die 
Nahrungäquellen der Natur zu erforichen. Außerdem 
erflärt fi der Stillftand auf dieſem Gebiet noch 
dadurd), daß die Kochkunft immer als Privatinduftric 
betrieben wurde und folglich Hinter allen andern 
Künften zurüdblieb,” 

„Wieſo blieb fie hinter den andern Künften zurüd ?* 

„Sie war von jeher Sache der einzelnen Haus 
haltungen gewejen und al& ſolche fait ganz den 
Dienftboten und den Frauen überlafjen worden, 
welche in damaliger Zeit die fonjervativfte, an alten 
Gewohnheiten fefthaltende Klaſſe der Bevölkerung 
ausmachten. Die Negeln der Kochkunſt hatten ſich 
im wejentlihen kaum verändert, feit die Frau dei 
indogermaniſchen Kuhhirten ihrem Manne das Eſſen 


„Bis zu einem gewifien Grade fann ich mir vor= | fodhte. 


Gleichheit. 


1017 


„Nun wäre der Erfolg höchſt zweifelhaft geweien, ı Ti ans Werk, neue Stoffe und neue Zubereitungs- 


wenn bie betreffende Familienlöchin, ob Hausfrau 
oder Magd, in ihrer Privatfüche geblieben wäre, 
um fi dort ganz allein mit dem Problem herum— 
zuquälen, wie ein geeigneter Erjat für Fleiſchkoſt zu 
finden jei. Aber dank der großen Bieljeitigkeit der 
Umfturzbewegung traf der Zeitpunkt, in dem das 
Wachſtum der Menfchlichkeit eine Empörung gegen 
die SFleiichkoft hervorrief, genau mit dem Zuſammen⸗ 
bruch aller häuslichen Dienftverhältniffe und der 
Emanzipation der Frauen zufammen. Seht mußte 
auch die Zubereitung der Nahrung genoſſenſchaftlich 
betrieben werden; jie wurde ein Teil des öffentlichen 
Dienftes. Schon waren die Vorbereitungen ges 
teoffen worden, um eine Abteilung in der Vertval- 
tung einzufegen, welcher die wiſſenſchaſtliche Be— 
gabung der Nation und die Hilfsquellen des ganzen 
Sandes zu Gebote jtanden, um die Frage zu löſen: 
was werben wir eſſen? Sie können ſich denken, 
daß feine der neuen Abteilungen die Öffentliche Teil- 
nahme in jo hohem Maße erregte wie dieje; fie wurde 
durh das Intereſſe des Nolfes an feinem Küchen- 
zettel zu immer neuen Verfuhen ermuntert. Auf 
dieſes Zuſammenwirken aller Kräfte hatte die Er— 
nährungslehre gewartet; jetzt erft fonnte fie eine 
Wiſſenſchaft werden! 

„Su allererft wurden bie in allen verfchiedenen 
Nationen bisher gebräuchlichen Nahrungsmittel und 
Zubereitungsmethoden, joweit man fie fannte, ge 
ſammelt und verglichen, was noch nie geichehen war. 
Angefihts der großartigen Ausdehnung und Ab— 
wechslung dieſes fosmopolitifchen Speifezetteld famen 
alle Nationen zu der Erkenntnis, daß fie ſich bisher 
in alten Vorurteilen fetgefahren hätten. Gerade in 
Sachen der Nahrung und des Kochens hatten ſich 
die Völker tbörichterweife am meiften dagegen ge 
fräubt, voneinander zu lernen. Jetzt entdedte man 
— mas allerdings einfichtige Beſucher fremder Fän- 
der jhon lange wußten —, da jede Nation, jedes 
Land, ja man könnte jagen: jede Provinz, ein halbes 
Dutzend gaftronomischer Geheimniffe beſaß, welche 
nie die Grenze überſchritten hatten oder im günftig« 
ften Fall nur zu kurzem Beſuch. 

„Dabei will ich bemerken, daß dieje Kollation 
de8 internationalen Speijezettel® nur ein Beiſpiel 
von Hunderten war, wie die Nation, ſobald die neue 
Ordnung eingeführt war, alle alten Vorurteile be» 
feitigte. Man fing an, von rechts und links zu bor- 
gen und die guten Einrichtungen, Methoden und 
Ideen aus allen Ländern anzunehmen, was ſehr viel 
zum allgemeinen Wohl beitrug. 

„Über die Organifation eines wiſſenſchaftlichen 
Ernährungsigitems blieb nicht bei der Verwertung 
der ſchon vorhandenen Lebensmittel und Methoden 
ftehen. Der Botaniker und der Chemiker machten 

Bus fremden Zumgen. 1897. Il. 22, 








arten zu entdeden, Da fand man gleih, daß bie 
Menſchen nur einen verſchwindend Heinen Teil der 
Naturprodukte, die fi zur Nahrung eignen, aus— 
gebeutet hatten, nämlich nur diejenigen, weldhe man 
auf die primitive Weiſe, mit der die Bölfer ſich 
einfiweilen begnügt hatten, durch Sieben oder Braten 
zubereiten konnte. Jetzt ſchlugen die Chemiker ein 
neues Verfahren nad) dem andern vor, und die Ne= 
fultate ihrer Bemühungen entzüdten unſre Vorfahren 
durch Neuheit und Wohlgeſchmack. Bisher war es 
der Kochkunſt ebenjo ergangen wie der Metallurgie, 
lolange man nur die Anwendung des Feuers kannte. 

„Es ſteht geichrieben, dab die Rinder Israels 
fih nach den Fleiſchtöpfen Negyptens jehnten, als jie 
in der Wüfte gezwungen waren, von Pflanzen zu 
leben, und wahrjcheinlich hatten fie guten Grund 
dazu. Unſre Voreltern jcheinen in diejer Beziehung 
ganz andre Erfahrungen gemacht zu haben, Raum 
war ein kurzer Zeitraum verjtrichen, jo jahen fie auf 
die Fleiſchtöpfe, die fie hinter ſich gelaffen hatten, 
mit Gefühlen zurüd, die weder der Sehnſucht nod) 
der Reue ähnlich ſahen. Wir befigen ein Bild aus 
dieſer Zeit, welches darſtellen joll, wie ſchnell die Leute 
erfannten, daß fie ſich jelbft den größten Gefallen 
gethan haben, als fie beichloffen, die Tiere zu ver» 
ſchonen. Ich erinnere mich, daß das Gemälde zwei— 
teilig ift. Auf der einen Seite fleht die Menſchlich- 
feit, dargeſtellt durch eine weibliche Figur, welche 
eine Gruppe von Tieren betrachtet, die aus einem 
Ochſen, einem Schaf und einem Schwein beiteht. 
Ihre Geficht drüdt die tieffte Neue aus, und unter 
Thränen ruft fie: ‚Ihr armen Geichöpfe! Wie ift 
es nur möglich gewejen, euch zu eſſen!‘ Auf der 
andern Seite fteht diefelbe Gruppe mit der Ueber— 
ſchrift: ‚Fünf Jahre jpäter.‘ Hier drüdt das Geficht 
der Menjchlichfeit nicht Reue und Zerknirſchung aus, 
ſondern Efel und Abſcheu, während fie fait mit den« 
jelben Worten, aber mit ganz andrer Betonung, jagt: 
„Ja, wie ift e8 nur möglich gewejen ?** 


Was aus den großen Städten geworden ift. 


Während wir weitwärts nad dem Innern des 
Landes zu fuhren, ließen wir allmählich die dichter 
bevölferten Teile der Stadt hinter und — wenn man 
überhaupt irgend einen Teil diejer modernen Städte, 
wo jedes Wohnhaus von einem Garten umgeben ift, 
dicht bevölfert nennen fann. Die Wieſen und Wälder 
wurden häufiger, und von Zeit zu Zeit fam ein Dorf. 
Wir waren auf dem Lande, 

„Doftor,” jagte ih, „bis jeht habe ich faft nur 
das Stadtleben im zwanzigiten Jahrhundert gejehen. 
Wenn das Landleben ſich ebenſo verändert hat, 
möchte ich es ſehr gern näher kennen lernen. Ere 
zählen Sie mir etwas davon,“ 

128 


1018 


„Haft in feiner andern Beziehung.” antwortete 
ber Doltor, „hat die Verftaatlihung der Produktion 
und der Güterverteilung eine jo große Ummälzung 
hervorgerufen wie in dem Verhältnis der Städte 
zum Sande, Mertwürdig, daß wir noch nicht davon 
geiprodhen haben.“ 

„Als ich zuletzt unter den Lebenden weilte,“ 
jagte ich, „da war die Stabt im Begriff, das Land 
zu verfhhlingen. Hat fich diefer Zuſtand weiter ent« 
widelt, oder ift es jebt umgefehrt ?* 

„Es iſt entichieden umgelehrt," erwiderte ber 
Doktor, „und Sie werben leicht einfehen, warum, 
wenn Sie daran denfen, daß das enorme Auwachſen 
der großen Städte eine wirtichaftliche Folge des 
Privatfapitalismus war, mit jeiner Abhängigleit von 
den einzelnen Unternehmern und feinem Konfurrenz- 
iyftem.* 

„Der Gedanke ift mir ganz neu,* fagte id). 

„Bei einiger Ueberlegung werden Sie aber fin» 
den, daß ich recht habe. Unter dem Privatlapita- 
lismus gab es ja fein öffentliches Syſtem, welches 
Produktion und Güterverteilung regelte. Ebenſo— 
wenig gab es eine Mafchinerie, welche Produzenten 
und Konſumenten zufammenbradte. Jeder mußte 
auf eigne Fauſt Arbeit und Lebensunterhalt fuchen, 
und der Erfolg hing ganz davon ab, ob er eine 
Selegenheit fand, jeine Produkte und feine Arbeit 
gegen die andrer Leute einzutaufchen. Zu dieſem 
Zwed eignete ſich natürlich der Ort am beften, wo 
es zugleich viele Käufer und Verkäufer gab. Wenn 
ih alfo zufällig oder abfichtlich eine Menge Men- 
jchen zujammendrängten, famen nod) andre Scharen 
dazu, denn jede ſolche Anfammlung eröffnete einen 
Markt und beflere Gelegenheit zum Austauſch, als 
fich da finden ließ, wo wenige Menfchen zufammen 
waren. Go entjtand eine Stadt, und je größer fie 
wurde, deſto jchneller mußte jie wachſen, aus dem« 
jelben Grunde, dem fie ihre Entftehung verdantte, 
Der Arbeiter, der jeine Musteltraft verwerten wollte, 
der Kapitalift, dem als Unternehmer daran gelegen 
jein mußte, große Auswahl an Arbeitsfräften zu 
finden, der Großhändler, welcher bort auf kleinem 
Kaume die meiften Konfumenten feiner Waren zus 
jammen traf — fie alle famen in die Stadt. 

„Trotzdem alſo die Städte zuerſt nur fo ſchnell 
entftanden und größer wurden, weil fie den Austausch 
der Güter unter ihren eignen Bürgern erleichterten, 
jo war doch bald der Waren- und Arbeitämarft dort 
jo viel beifer organifiert, daß fie auch für das Land 


zu einem Mittelpunkt des Handels wurden. Auf | 


dieſe Weife hatten die Stadtbewohner die beſte Ge- 
legenheit, reich zu werden, denn eine große an» 
geſeſſene Bevölkerung war auf fie angerwiefen, und 
außerdem fonnten fie die Produkte der Landleute be= 
fteuern, Nur durch ihre Hände gelangten diefe Er— 


Edward Bellamn. 


zeugniffe zu den Konſumenten, ſelbſt wenn fon 
fumenten wie Produzenten auf dem Lande lebten 
und vieleicht gar die nächſten Nachbarn waren. 

„Almählich führte dieſe Konzentration der mate- 
riellen Güter in den Städten dahin, daß ſich dort 
auch alle höheren Genüſſe, aller Luxus, alle An 
nehmlichfeiten und Bergnügungen vereinigten. Die 
Arbeiter waren es nicht allein, welche nach der Stadt 
ftrömten, um dort den Kapitaliften ihre Arbeitäfcaft 
zu verfaufen — auch die gebildeten Klaſſen dräng— 
ten fi dahin. Gelehrte, Pädagogen, Aerzte und 
Redner, alle Männer, die ſich in irgend einem Be: 
ruf auszeichneten, jahen ein, daß ihre Kenntniſſe und 
Tähigfeiten dort die beite Verwendung und dem 
reichften Lohn finden würden. 

„Aus demjelben Grunde ftrömten auch alle nadı 
der Stadt, weldhe Vergnügen für Geld anbieten 
wollten: Künftler, Schaufpieler, Sänger, ja auch die 
Sourtifanen. Und wer Vergnügen ſuchte und reich 
genug war, es zu faufen, wer jein eben auf grobe 
oder feine Weiſe genießen wollte, zog den freude 
bringern nad. Schließlich kamen noch die Räuber 
und Diebe, alle, welche die arge Kunſt verftchen, 
von ihren Nebenmenicdhen zu leben; denn fie hofften 
in der Stadt ein reiches Feld für ihre Ihätigfeit zu 
finden, auf dem fie ihre Talente entfalten fonnten. 
So wirde aus der Stadt ein reißender Strom, der 
das Schönfte und Befte, aber auch alles Schlechte im 
ganzen Lande in jeinen Strudel zog. 

„Aus diefen Gründen, lieber Julian, find die 
Städte entftanden und getwachjen; diefelben Urſachen 
führten zur PVerödung und zum Untergang der 
Dörfer und des Landlebend. Wenn die Aera dei 
Privatfapitals noch länger gedauert hätte, wären bie 
ländlichen Bezirfe jo heruntergelommen twie zur Zeil 
des römiſchen Reiches und aller Reiche, die dat 
Ende ihrer Entwidlung erlebten. Wer irgend konnte, 
hätte jein Glück in den Städten gefucht und die 
den Gegenden verlafjen, deren Einwohnerſchaft nur 
nod) aus Leibeignen und ihren Aufjehern beitand. 

„Ih will Ihren Zeitgenofjen nicht unredt thun; 
fie wußten recht gut, daß es für die Zivilijation fein 
Vorteil war, wenn die Städte auf Koften des Yande: 
einen fo riefenhaften Umfang annahmen, und hätten 
gern ein Mittel gewußt, ihr Wachstum einzuſchränlen 
Sie fonnten aber nicht einfehen, daß der Privat- 
fapitalismus allein daran ſchuld war, und daß nit: 
zu machen fei, wenn er nicht abgejchafft würde,“ 

„Auf welche Weiſe hat denn die Abſchaffung dei 
Privatlapitalismus und die Perftaatlichung de 
Mirtichaftslebens dem Wachstum der Städte Ein 
halt gethan?“ fragte ich. 

„Dadurch, daß zum Austauſch der Maren umd 
zue Gewinnung von Arbeitskräften oder Verdienfl 
fein Markt mehr nötig war,“ erwiberte der Doktor. 


Gleichheit. 


Durch die nationale Organiſation der Produktion 
und Güterverteilung wurden alle Handelserleich— 
terungen in den Städten völlig unnütz und ungehörig. 
Man hörte auf, die landwirtſchaftlichen Produlte in 
den Städten zu verfaufen und einzuhandeln, wenn 
fie nicht dort auch konſumiert wurden. Weberall war 
die Güte der Maren diejelbe, ebenio wie alle das 
gleiche Arbeitsmak im Induftriedienft leisten mußten. 
Reiche und Arme gab es nicht mehr, und die Städte 
hörten auf, größeren Luxus und Lebensgenuß zu 
bieten als das Land. Ebenſo bejeitigte die gleich« 
mäßige Verteilung von Arbeit und Verdienſt den 
Vorteil der Stadt für diejenigen, welche ihren Lebens 
unterhalt dort gelucht hatten. Mit einem Wort, jede 
Veranlaffung, das Leben in ber Stabt dem auf dem 
Lande vorzuziehen, fiel jet fort, wenn man nicht im 
Gedränge leben wollte, bloß um fi zu drängen. 
Wie Sie ſich denken fünnen, hörten die Städte nun 
auf zu wachſen, und ihre Entvölferung begann, jo= 
bald die Wirkungen des Umſchwunges ſich fühlbar 
machten.“ 

„Aber es giebt doch jetzt noch Städte,“ rief 
ich aus. 

„Gewiß — das heißt an manchen Orten iſt die 
Beböllerung noch immer dichter als an andern. 
Reine eurer großen Städte iſt untergegangen, aber 
ihre Einwohnerzahl ift nur ein Meiner Bruchteil von 
dem, was fie früher war.“ 

„Jedenfalls fieht Bofton jegt viel jchöner aus 
als zu meiner Zeit.“ 

„Alle Städte find jet viel ſchöner als früher 
und bei weitem bejier dazu geeignet, den Menjchen 
zum Wohnort zu dienen. Um das zu erreichen, 
mußte man aber die überzäbligen Bewohner erft los 
werden. Früher lebten in Bofton viermal jo viele 
Menſchen wie jet auf demfelben Grund und Boden; 
aber nur der vierte Teil hatte jo gute Mohnungen 
und eine jo freundliche Umgebung, wie wir fie zu 
einem gefunden und glüdlichen Leben für notwendig 
halten, New Mork, das nod) viel übervölferter war 
als Bofton, hat einen noch größeren Zeil feiner Ein— 
wohner verloren. Wenn Sie jeht nad Manhattan- 
Island lämen, würden Sie zuerſt den Eindrud 
haben, als hätte ſich der Zentralparf auf die ganze 
Strede zwifchen der Battery und dem Harlemfluß 
ausgedehnt. Für unfre Begriffe ift die Gegend dort 
aber noch ziemlich dicht bevölkert, denn zwiichen ben 
Springbrunnen und Wäldchen wohnen über 250 000 
Menſchen.“ 

„Und Sie ſagen, daß dieſe erftaunliche Ver— 
änderung gleich nach dem Umſchwung ſtattfand?“ 

„Sie fing ſofort an, Die einzige Möglichkeit, 
jo große Menſchenmaſſen auf feinem Raum unter 
zubringen, beftand darin, fie wie Heringe in großen 
Mietsfajernen zu verpaden. Sobald aljo feſtſtand, 


1019 


daß alle Einwohner ohne Unterſchied gute Quartiere 
befommen ſollten, veritand es fi von jelbft, dab 
eim großer Teil derjelben auf das Land überfiedeln 
mußte. Natürlich konnte eine jo große Umwälzung 
nicht augenblidlich ins Werl gejeßt werden, aber man 
beeilte fi damit jo viel wie möglid. Zu den Leuten, 
welche die Stabt verließen, weil fie dort nicht auf an« 
genehme Weiſe leben tonnten, gejellte ſich noch eine 
Menge andrer, welche, nun die Stadt feine wirtichafte 
lichen Vorteile mehr bot, von den Naturjchönheiten des 
Landes angezogen wurden. So beftand eine Haupt⸗ 
aufgabe des erften Jahrzehnts nach dem Umſchwung 
darin, allen denen, die aufs Land zu ziehen wünſchten, 
dort Heimftätten zu bereiten. Diejer Auszug aus den 
Städten dauerte jo lange, bis es gelungen war, bort 
durchgreifende Veränderungen ins Leben zu rufen, 
Ein großer Teil der alten Gebäude, alle, die häß- 
lich, unfünftleriich und zu hoch waren, wurden nieder» 
geriſſen und an ihre Stelle niedrige, breite und ge= 
räumige Wohnhäuſer gejeßt, wie fie zu der neuen 
Lebensweiſe paßten. Ueberall wurden neue Parks, 
Gärten und Fuftige Pläge angelegt und Einrich— 
tungen getroffen, daß der Verkehr feinen Staub und 
Lärm mehr machte; kurz, die alte Stadt, wie fie 
zu eurer Zeit war, verwandelte fi in die neue, Es 
lebte ſich nun dort ebenfo angenehm wie auf dem 
Lande, niemand zog mehr fort, und das Gleich— 
gewicht war hergeftellt.” 

„Mir kommt es aber doch jo vor, al& ob heute 
noch die Städte wegen der größeren Konzentration 
der Bevölkerung beflere öffentlihe Einrichtungen 
haben müßten als Feine Dörfer,“ jagte id. „Alles 
rentiert fich doch natürlich viel befjer, wo eine große 
Menge Menichen davon Nußen zieht.“ 

„Wenn jemand in großer Entfernung von feinen 
Nachbarn zu leben wünſcht,“ ermwiderte der Doltor, 
„dann muß er fich natürlich feine Unbequemlichkeiten 
gefallen lafjen. Er wird feine Vorräte aus dem 
nächſten öffentlihen Kaufhaus beziehen und auf 
einige öffentliche Einrichtungen verzichten müſſen, 
die ſolche Leute genießen, welche näher bei einander 
wohnen. Aber um dieje Annehmlichkeiten ganz zu 
entbehren, müßte er ſchon jehr weit entfernt jein. 
Man darf nicht vergefien, dab unjre Verkehrs- und 
Trandportmittel jo volllommen find, daß Ent» 
fernungen, Die euch früher in Verlegenheit jeßten, 
jest gar feine Rolle mehr fpielen. Dörfer, die fünf 
oder zehn Meilen voneinander entfernt lagen, find, 
was gejelligen Verkehr und wirtſchaftliche Lage an— 
betrifft, einander jegt viel näher als zu eurer Zeit 
ein Stadtviertel dem andern. Entweder allein oder 
duch Verbindung mit andern Gemeinfchaften fönnen 
die Bewohner der Hleinjten Dörfer alle Vorzüge der 
öffentlichen Einrichtungen genießen, ebenfogut, ala 
wären fie in der Stadt. Jeder Ort hat jeine 


1020 


Öffentlichen Kaufhäuſer und Küchen mit ZTelephon« 
und Ablieferungsiyftem, feine Bäder, Bibliothefen 
und Erziehungsanftaiten. Alles iſt an dem einen 
Ort ebenjo gut wie am andern. Schließlich können 
jelbft die Bewohner der tiefften Wälder und der 
höchſten Berge, bei Benußung des Telephons und 
bes Elektroſkops, mit demjelben Genuß Theatervor- 
ftelungen, Konzerte und Vorträge anhören wie die 
Bürger der größten Städte.“ 


Die Neubeforftung. 


Wir flogen nım weiter nach dem Innern zu, eine 
Meile nad) der andern hinter uns laffend. Noch 
immer glich die Gegend unter uns einem wohlgepflegten 
Park, wie in der unmittelbaren Nähe der Stadt, 
Der eigentümliche Neiz jeder Gegend war zu vollfter 
Schönheit entwidelt, als hätte ein geidhidter Land⸗ 
ſchaftsgärtner alle Einzelheiten mit Liebe und Gorg» 
falt geordnet. Das Werk des Menſchen verband ſich 
in vollfommener Harmonie mit dem Bilde der Natur. 
Schon in meiner Zeit hatte man ähnliche Part- 
anlagen, die in dem Umkreis großer Städte mit 
ungeheuern Koſten angepflanzt wurden; aber in 
jolhem Mapftab hätte ich dergleichen nie für möglich 
gehalten. 

„Wie weit erftredt ji) denn diefer Part?“ fragte 
id endlid. „Es läßt fih ja gar fein Ende ab» 
ſehen.“ 

„Bis zum Stillen Ozean,“ ſagte der Doltor. 

„Bas? — die ganzen Vereinigten Staaten lönnen | 
doch nicht auf ſolche Weiſe in Anlagen verwandelt jein?” | 

„Bewahre, nicht gerade jo wie bier, jondern auf 
hunderterlei verjchiedene Art, wie die Natur der 
Gegend es eben mit ji bringt, Wo wir uns jebt 
befinden, trägt fie weder fühne noch großartige Züge 
und eignete ſich am beiten für ein lachendes, fried« 
liches Landſchaftsbild, dem man jo viele Abwechälung 
zu geben juchte wie möglid. Im Gebirge dagegen, 
wo die Natur jelbjt Wirkungen erzielt, welche menſch— 
liche Kunſt nicht zu erhöhen vermöchte, hat man alle 
urjprünglichen Formen beibehalten und nur das 
Reifen und die Beobachtung auf jede Weiſe zu er— 
leihtern gejuht. Wenn Sie einen Ausflug nad 
den Weißen Bergen oder dem Hügelland von Berkſhire 
machen, jo werden Sie dort ohne Zweifel jteilere 
Höhen, reißendere Ströme, höhere und bunflere 
Wälder finden als vor hundert Jahren. Nur die 
Straßen, die durd jede Schluht und über jeden 
Gipfel führen und dem Wanderer alle wilden, ges 
waltigen oder anmutigen Naturſchönheiten zugänglich 
machen, find das Werk der Menjchenhand.” 

„Mir tcheint, ich brauche nicht erjt ind Gebirge | 
zu gehen, um mic) zu überzeugen, daß alle Walb- 
bäume jet viel höher und in weit größerer Menge 
vorhanden find als zu meiner Zeit.” 








Edward Bellamy. 


„sa,“ ſagte der Doktor, „diefer landbidaftlice 
Unterjhied muß Ihnen natürlich auffallen. Man 
fagt, es giebt jeht fünf» oder zehnmal mehr Bäume 
als damals. Don denen, die Sie dort unten jehen, 
find manche faft hundert Jahre alt und wurden jur 
Zeit der Neubeforjtung gepflanzt.” 

„Neubeforftung? Was ift denn das?” 

„Die Wiederherftellung aller Wälder nad der 
Ummälzung. Als der Privatlapitalismus berride, 
hatte man aus Habgier oder Not jo viele Bäume ge 
fällt, dab die Flüſſe ftellenweife austrodneten, uud 
das Sand fortwährend an Waflermangel litt. Die 
erſte und dringendfte Arbeit, die man vornehmen 
mußte, war die Neuanpflanzung der Wälder, Natür- 
lih hat dad Wahstum der Bäume lange Zeit in 
Anſpruch genommen, aber jeit etwa fünfundzwanzig 
Jahren haben fie fi zu faitlicher Höhe entwidelt, 
und jomit find auch die lehten Spuren der früheren 
Verheerung verſchwunden.“ 

„Etwas ganz Charalteriſtiſches vermiſſe ich aber 
doch an der Landſchaft,“ jagte ic. 

„Und das wäre?” 

„Die Wiefen und Heuhaufen.” 

„D ja, natürlich,“ fagte der Doktor. „Damals 
war ja die Heuernte von größter Wichtigkeit in Neı 
England,” 

„Berfteht fi. Und jet braucht man wohl über: 
haupt fein Heu mehr. Seit die Tiere dem Menſchen 
weder zur Nahrung noch zur Arbeit dienen, mus 
ja eine unzählige Menge von Beichäftigungen und 
Intereſſen ganz abgefommen fein!“ 

„Ja,“ fjagte der Doltor, „und fo undanfbar & 
fingen mag — der joziale Zuftand hat ſich dadurd 
jehr wejentlich verbeijert. Denken Sie nur an dat 
Pferd. Erſt jeit e8 von jeinem gedulbigen Knecht 
dienft bejreit ift und den wohlerworbenen Lohn ge 
niet, ift man im flande, glatte, reinliche und dauer 
bafte Straßen zu bauen, jo dab Staub, Schmus, 
Gefahr und jede Art von Unbequemlichteit wicht 
mehr vom Reijen ungertrennlid find. 

„Als man aujhörte, das Pferd zum Reiten und 
fahren zu benupen, fonnte man alle Wege um bie 
Hälfte oder ein Drittel ſchmaler machen und aus 
glattem Gußmörtel herjtellen, dem weder Wind noch 
Waſſer Schaden tun. Sie find dauerhaft wie alie 
Römerftraßen, und es wächſt fein Gras und fan 
Kraut darauf. In die entlegenften Eden und Bint! 
des Landes führen jet ſolche Pfade, und durch fie 
ift im Verein mit den eleftrifchen Motorwagen das 
Reifen zu einem Genuß geworden, den ſich niemand 


| verfagen mag. Kleinere Ausflüge, ja aud länger: 


Fahrten, wenn die Zeit nicht drängt, unternimmt 
man am liebften im eignen Gefährt. Wäre das 
Reifen zu Lande jo unbequem geblieben, wie es war, 
als man ſich dazu der Pferde bediente, jo würden 


Gleichheit. 


die Menjchen jeit Erfindung der Lufiwagen in großer 
Verſuchung gewejen fein, fih nur wie die Vögel 
zwiſchen einem und dem andern Fluge auf der Erde 
niederzulafien, Aber jet find bie Anfichten darüber 
geteilt, ob e& ſchöner ift, durch die Luft zu ſchweben 
oder über den fejten Boden zu gleiten. Die eine 
Bewegung ift beinahe jo jchnell, jo leicht und ge= 
räujchlos wie die andre.“ 

„Schon vor 1887 fam das Fahrrad in Auf- 
nahme,“ jagte ich, „und die mannigfadhe Anwendung 
der Eleltricität begann den Menſchen einzuleudhten; 
bereit Damals prophezeite man gelegentlich, daß die 
Zeit der Pferde vorüber fei. Aber wenn fie aud) 
nicht mehr zum Reiten und Fahren gebraucht wurden, 
jo dachte doch niemand daran, daß man fie bei den 
mancherlei Geſchäften der Landwirtichaft entbehren 
könnte, Das kommt mir auch jelbft unbegreiflid 
vor; wie fteht es denn damit?” 


Der Aderbau im zwanzigften Jahrhundert. 


„Gedulden Sie fi einen Augenblid,* erwiderte 
der Doktor. „Wir wollen uns etwas tiefer finfen 
laffen; dann kann ich Ihnen die Sache praktiſch 
zeigen.“ 

Wir fliegen von unjrer Höhe, die etwa taufend 
Fuß betrug, bis auf ein paar hundert Fuß hin— 
unter, 

„Sehen Sie dort nad) rechts hinab,” ſagte der 
Doktor. 

Als ich es that, erblicte ich ein breites Feld, das 
ihon abgeerntet war. Große Mafchinen fuhren 
darauf in einer Reihe, und hinter ihnen erhob ſich 
der braune Erdboden zu wellenförmigen Hügeln. 
Auf jeder Maſchine ftand oder jaß ein Mädden 
oder ein junger Mann in jo bequemer Haltung, ala 
handle es fi um eine Vergnügungspartie. 

„Das find offenbar Pflüge,“ ſagte ih; „aber 
wodurch werden fie getrieben ?* 

„Durd) Elektricität,* lautete Die Antwort. „Sehen 
Sie nit den Strid, der gleicd) einer Schlange hinter 
jeder Maſchine über den aufgepflügten Boden friedht ? 
Das ift das Kabel, welches die Kraft liefert; man 
braucht e& nur mit einem der Pfojten in Verbindung 
zu jeßen, die, wie Sie bemerfen, in regelmäßigen 
Zwiſchenräumen am Felde entlang ſtehen. Jede 
landwirtſchaftliche Maſchine erhält dadurch eine 
Stärle von hundert Pferdefräften, und die Leitung 
iſt jo einfad) und leicht, dab ein Kind fie übernehmen 
lann.“ 

Doch das war noch nicht alles. Der Doktor 
erflärte mir, man könne durch ein ſolches biegſames 
Kabel die eleftrifche Kraft nicht nur zu der ſchwereren 
Arbeit verwenden, die früher von Zugtieren verrichtet 
wurbe, fondern fie aud mit allen Werkzeugen ver- 


binden, welche der Landwirt zur Hand nehmen muß. | 


1021 


Er braucht jeßt nicht mehr feinen Rüden zu frümmen, 
um den Spaten, die Schaufel und Miftgabel zu re= 
gieren. An jedem Werkzeug, ſei es nod) jo flein, 
läßt jid) der Motor anbringen; der Arbeiter hat 
nichts zu thun als es zu leiten. 

„Mit einer unſrer Schaufeln,* jagte der Doftor, 
„tann ein aufgewedter Snabe einen Graben meilen- 
weit führen oder einen Kartoffelader beftellen, an 
dem ehemals eine ganze Schar Arbeiter beſchäftigt 
war, umd jeine Anftrengung ift dabei nicht größer, 
als wenn er einen Karren vor fich ber ſchöbe.“ 

Ich hatte ſchon öfters jagen hören, daß ber 
Aderbau heutzutage eine ebenjo bequeme Beihäftigung 
jei wie jede andre. Bei meiner früheren Vorftellung, 
die ich von der Mühjeligfeit des Berufs hatte, fonnte 
id) mir aber das nicht recht denlen. Jet erft ſah 
id) die Möglichkeit ein. 

Der Doktor ſchlug mir vor, zu landen, falls ic) 
Luft hätte, etwas vom heutigen landwirtichaftlichen 
Betrieb in der Nähe zu jehen, was ich mit Freuden 
annahm. Zuvor aber zeigte er mir noch von unfrer 
erhöhten Stellung aus das Netzwerl von Eifenbahnen, 
auf denen der Transport bejorgt wurde, jo daß das 
geſchnittene Korn fofort, falls es gewünſcht wurde, 
verladen und ohne weiteres nad) jedem beliebigen 
Ort des Landes geſchafft werden konnte, Wir ſtiegen 
nun aus dem Wagen und gingen quer über das 
Feld, bis zu dem erjten der großen Pflüge. Die 
Leiterin desfelben war eine junge Dame mit ſchwarzem 
Haar und zierlihem Anzug, eine Geftalt, wie fie 
ficherlich fein Aderfeld des neunzehnten Jahrhunderts 
jemals erblidt hat. Wie fie jo anmutig daſaß auf 
dem Nüden des glänzenden, metallenen Ungeheuers, 
das immer näher fam und mit feinen furdhtbaren 
Hörnern die Erde aufwühlte, erinnerte fie mich une 
willtürlih an die Europa, wie jie auf dem Stiere 
reitet. Wenn ihr Urbild ebenjo reizend war wie 
dies junge Mädchen, jo fann man es Jupiter nicht 
verübeln, daß er fie entführt hat. 

Sie hielt jetzt die Maſchine an und erwiderte 
unfern Gruß aufs freundlichfte. Offenbar erfannte 
fie mich beim erften Blick, wie alle andern auch, was 
nicht zu verwundern war, da man mein Bildnis nad) 
allen Himmelsgegenden verbreitet hatte. Das In— 
terejfe, mit dem fie mid) anfah, wäre mir jchmeichel- 
bafter gewejen, hätte ich es nicht ausſchließlich dem 
Umftand verdankt, daß ich für ein Naturwunder galt; 
meine Perjönlichkeit kam dabei nicht in Betracht, 

Als id) fie fragte, was denn um dieſe Jahreszeit 
noch gebaut werben ſolle, erwiderte fie, das Feld 
werde nur ganz umgepflügt, wie das alljährlich zur 
Verbeflerung des Bodens oftmals geichehe. 

„Wir benügen natürlich die verihiedenften Düng» 
mittel,” jagte fie, „betrachten aber als das befte 
Mittel das völlige Umgraben des Aders.“ 


1022 Ebmward 
„Dhne Zweifel,“ jagte ih. „Schon Aefop lehrte 
uns das im Altertum durch feine Fabel vom ‚Ber- 
grabenen Schatzt; aber zu meiner Zeit war dies 
Umadern jehr koftjpielig; Menſchen und Tiere ver- 
brauchten dabei zu viel Musfelfraft. Mehr als ein- 
mal im Jahr fonnten unjre Landwirte ihr Feld nicht 
pflügen, und ſchon das war ein jaures Geſchäft.“ 
„sa,“ verjeßte fie, „id habe gelefen, wie ſchlimm 
es die armen Menſchen hatten. Aber das ift jetzt 
anderd. Solange Ebbe und Flut nicht aufhören, 
und Winde und Waflerfälle uns ihre Kraft liefern, 
fann man, jobald man will, das Feld täglid) pflügen. 
Es wird jetzt etwa zehnmal jo viel Kraft auf jeden 
Morgen Landes verwendet als in früherer Zeit.“ 
Wir befichtigten num die Einrichtungen des Gutes 
mit aller Muße. 
wendung der Drudpumpe und das Entwäflerungs- 





Der Doktor erklärte mir die Anz | 


ſyſtem, wodurch jowohl der Mangel als der Ueber: | 


fluß an Regen unſchädlich gemadt wird; auch fand 
ich Gelegenheit, einige der wunderbaren Werkzeuge, 
die er mir bejchrieben hatte, eingehend zu prüfen. 
Mustelfraft war dazu von jeiten des Arbeiters fait 
gar nicht erforderlich; nur jeinen Verſtand mußte er 
gebrauchen. 

Wir befuchten auch eine der großen Gewächs- 
häufer, die zu dem Yandgut gehörten, wo man die 





frifchen Gemüfe für den Winter zieht. Die Wunder | 


ber Bodenfultur, die ih in dieſem Rieſengebäude 
ſah, wirden dem heutigen Leſer alltäglich erjcheinen, 
aber mir madıten fie einen unvergeßlichen Eindrud, 
Wenn dem Gärtner Licht, Wärme, Feuchtigkeit und 
die nötigen Beltandteile de Bodens ganz nad) 


Wunſch zur Verfügung ftehen, ann er alle Gewächſe 


jur volllommenften Entwidlung bringen. Mir war, 
als Habe ich mich heimlich in die MWerfftätte des 
Schöpfers eingeichlichen, wo er mit unfichtbarer Hand 
dem Erdenſtaub und der geftaltlofen Yuft eine lebendige 
Form verleiht. Ich hatte noch nie die Pflanzen vor 
meinen Augen wachſen jehen und das Funftitüd des 
indischen Gauflers für eine Fabel gehalten. 
bier beobachtete ich, wie fie die Köpfchen heraus: 
ftedten, Knoſpen anſetzten und ihre Blüten ent- 
falteten ; jede neue Phaſe ihres Lebens fonnte ich 
verfolgen, und id; begann ordentlich zu laufchen, ob 
ich fie nicht miteinander flüftern hörte. 

Zu meiner Zeit war die Gewächshauskultur nur 
betrieben worden, um die Iuxuriöfen Bedürfniſſe 
einer Heinen Zahl jehr reicher Leute zu befriedigen. 


Von der Möglichkeit, ſolche Maflen zu mäßigen | 


Preiſen für das ganze Volt zu erzeugen, hätte ſich 
natürlich fein Menſch etwas träumen lafjen. 
Inzwiſchen war der Nadjmittag vorbei, und bie 


Aber | 





Sonne neigte fih zum Untergang. Wir beftiegen | 


wieder unfern Luftwagen, erhoben uns rajch bis zu 
einer Höhe, wo wir noch die Wärme der Sonnenftrahlen 


Bellamy. 


empfanden, und traten den Heimweg an. Ron allen 
Eindrüden, die id auf diefem wunderbaren Ausflug 
empfangen hatte, prägte fi) mir der legte am tiefften 
ein. Ih dachte mit Staunen an die völlige Um— 
wandlung aller Bedingungen für die Bodenkultur, 
biejer urſprünglichſten der menſchlichen Beſchäf- 
tigungen, welche die Grundlage des ganzen Induſtrie⸗ 
joftems bildet. „Zu meiner Zeit,“ fagte ich endlich, 
„tt die Landwirtſchaft vornehmlich unter zwei Uebel⸗ 
ſtänden. Da es euch gelungen ift, den erften der— 
jelben, die übergroße Mühſeligleit der Arbeit, zu 
überwinden, werdet ihr gewiß auch ein Mittel ge 
funden haben, um dem zweiten abjubelfen, der in 
der Abjonderung und Einjamfeit, dem Mangel an 
gefelligem Verlehr und Gelegenheit zu feiner Bildung 
beftand und von dem Leben des Landmann u 
jertrennlid war.” 

„Schwerlid würde jet jemand den Beruf des 
Sandwirts wählen,“ erwiderte der Doktor, „wenn er 
härtere Arbeit und ein einjameres Dafein erforderte 
ald ein andrer. Der Landmann ift aber jeht in 
feiner Weije anders geftellt ala der Handwerker umd 
jeder andre Arbeiter. Er wohnt, wo er will, umd 
benüßt irgend eine der jchnellen Verlehrsgelegenheiten, 
die überall zu finden find. Wer auf dem Lande 
arbeitet, braucht deshalb nicht dort zu wohnen, wenn 
er feine Vorliebe für das Yandleben hat.“ 

„Die Arbeit des Ackerbauers wechjelte in unſtet 
Zeit jehr, je nach ben verichiedenen Jahreszeiten,“ 
jagte ih; „bald hatte er wenig zu ihun, bald häuften 
fi) feine Geſchäfte, wie zur Saat und zur Ernte 
zeit, wo alle Kräfte aufs äußerte angeipannt werden 
mußten. Gin Schwanlen zwiſchen Mangel und 
Ueberfluß an Arbeit muß doch auch heute noch die 
Landwirtihaft von allen andern Berufsarten unter 
ſcheiden.“ 

„Allerdings,“ verſetzte der Doftor, „aber diejer 
Wechſel bedingt weder ein unnützes Ausruhen noch 
eine übermäßige Anſtrengung des Arbeiters. Gerade 
dur die Erholung, welche die landwirtſchäaftlich 
Beſchäftigung bietet, gewinnt fie noch einen befonderen 
Neiz. Bei einem jo ausgedehnten Lande wie uniret 
find die Saat» und Erntezeiten natürlich nicht überall 
und in allen Bezirken Ddiefelben. Daher kann man 
nadjeinander an jebem Orte jo viele Arbeiter aus 
andern Gegenden einitellen, wie gerade gebraudt 
werden. Wenn es irgendwo ungewöhnlich viel zu 
thun giebt, ruft man in fürzefter Friſt viele Tauſendt 
zur Hilfe herbei; das gejchieht jehr häufig. Eine 
jolde Mafjenbewegung pflegt eine wahre Begeifterung 


' zu erzeugen, ähnlich derjenigen, welche in früheren 


Zeiten entjtand, wenn ganze Heere mobil gemacht 
wurden, um in den Krieg zu ziehen.“ 

Wir ſchwebten eine Zeitlang jchweigend umter 
dem immer dunkler werdenden Himmel dahin. 


Gleichheit. 


„Wahrlih, Julian,“ ſagte der Doktor endlich, 
„die Umwandlung, welche die Landwiriſchaft jeit 
Ihrer Zeit erfahren bat, iſt bedeutender und volls 
tommener als jede andre im ganzen Gebiet der 
Induftrie und hat auf einen jo großen Teil der Ge— 
lamtbenölferung ihre Wirkung geäußert wie feine 
andre. Alle Dichter von Virgil bis in die neuefte 
Zeit haben in ländlicher Beſchäftigung und dem 
Anbau des Bodens die bejten Bedingungen für 
ein heiteres und glüdliches Dajein gefunden. 
Dod Hat bis zu unſrer Zeit der wirkliche Zur 
ftand der Pandwirtichaft ihre Phantafiebilder Lügen 
geitraft, denn das Los des Bebauers der Erde, des 
Ernährers aller Welt, war das traurigfte, mühes 
vollfte und erbärmlichjte von allen. Seit den Ur— 
zeilen bis zum lebten Jahrhundert ift der ders. 
mann das geplagtefte Gejhöpf auf Gottes Erdboden 
gewefen. Als die Sklaverei herrichte, war er ber 
niedrigfte der Knechte. Später wurde fein Beruf 
anftrengender, forgenvoller und hoffnungslojer ala 
irgend ein andrer; feine Armut war größer als die des 
Lohnarbeiters, er hatte alle Sorgen des Rapitaliften 
ohne deſſen Hoffnung auf Entihädigung und Gewinn. 
Einesteil® hing fein Ertrag ganz von den Wechſel— 
fällen der Natur ab, andrerjeit8 war er ausſchließlich 
auf die Zwiſchenhändler angewiefen, um feine Pro- 
dufte zu verwerten. Er durfte fi) wohl fragen, wer 
graufamer ei, die Natur oder die Menſchen. Schlugen 
die Ernten fehl, fo ging der Landwirt zu Grunde; 
waren fie ergiebig, jo nahm ber Zwiſchenhändler ben 
Gewinn. Er war ein Spielball der Naturgewalten 
wie der menschlichen Geſellſchaft; an feinen Befik ge: 
feflelt, geriet er in eine Abhängigfeit vom Bedarf 
der Städter, die ſchlimmer war als die mittelalterliche 
Veibeigenihaft. Sein einfames, abgeiondertes Leben 
machte ihn ungelent und ungejellig; es jchnitt ihm 
aud jede Gelegenheit zu geiftigem Wortichritt ab, 
jelbft wenn ihm feine jchwere Arbeit noch Zeit und 
Kraft übrig gelaffen hätte, ſich weiter zu bilden. 
Darum jahen die Städter verächtlich auf ihn herab, 
als jei er ein untergeordnetes Weſen. Ueberall und 
jederzeit hat der Landmann felbft dem nichtsnupigiten 
Städter zum Gegenftande des Spottes gedient. Der 
bungrige Proletarier verhöhnte den unwiſſenden 
Bauer. Feiner nahm jich feiner an oder redete zu 
feinen Gunften, und feine eignen ſchwachen und un« 
verftändlichen Klagen empfing man mit Hobngelächter. 
Wie Bileam, der Prophet, erftaunte, al& der Ejel, 
auf dem er ritt, plößlid den Mund aufthat, jo 
verwunberten ſich auch die herrichenden Klaſſen in 
Amerika, als zu Ende des letzten Jahrhunderts ber 
Landwirt ſich erhob, um auch bei der Regierung ein 
Wort mitzureden. 

„Im Laufe der Weltgeichichte hat es dann und 
wann eine beſſere Zeit für den Landmann gegeben. 


1023 


Der englifhe Freibauer durfte dem Edelmann ted 
ins Antlib ſchauen. Auch der amerikanische Land» 
wirt lebte bis zur Mitte des meunzehnten Jahr- 
hunderts im goldenen Zeitalter des Aderbaus, Eine 
Meile verbrauchte er dann nod) feine eignen Erzeug- 
niffe, genoß einen verhältnismäßigen Ueberfluß und 
war einer der unabhängigiten Menſchen auf Erden. 
Aber dieſe idyllische Periode nahm nod vor dem 
Schluß des Jahrhunderts ein Ende, Der Privat- 
fapitalismıus brachte den Landwirt mehr.und mehr 
herunter, bis er unaufhaltiam der Knechtſchaft ver— 
fiel. Diefe war von alter her fein normaler Zus 
ftand geweſen. Er hätte fi aud nie wieder em— 
porraffen lönnen, folange die Menjchen einander 
noch gegenjeitig ausbenten durften. Die wirtichaft- 
liche Gleichberechtigung ift ein Segen für das ganze 
Menſchengeſchlecht geweſen; zwei Klaſſen aber hatten 
Urſache, fie mit befonderer Freudigleit zu begrüßen, 
weil fie fih aus einer tieferen Erniedrigung em— 
porgehoben jahen als bie übrige Menjchheit. Die 
eine diejer beiden Klaffen waren Frauen, die andre 


Landwirte,“ 
XXXIV, 


Was den großen Umſchwung berbeiführte, 


Als wir nad Haufe famen, empfing mid Edith 
mit der Frage, ob ich Luft hätte, heute abend eine 
Theatervorftellung zu jehen. In Honolulu follte ein 
berühmtes geichichtliches Drama aus der Zeit der 
Revolution gegeben werden, und fie glaubte, daß 
das Stüd mid; intereffieren würde. 

„Du mußt das Stüd wirklich ſehen,“ fagte fie, 
„denn eigentlich wird e8 bir zu Ehren aufgeführt. 
Das allgemeine Interefie an der Gejchichte der großen 
Ummälzung ift durch deine Gegenwart neu belebt 
worden, und da hat man dies Drama wieder her« 
vorgeholt.“ 

Eine beſſere Anwendung des Abends hätte ich 
mir gar nicht wünſchen lönnen, und auch die übrige 
Familie war mit dem Plan einverftanden, 

„Das Schlimme ift nur,” fagte ih, ald wir um 
den Theetifch verfammelt waren, „daß ich nod) zu 
wenig von dem Gang der Ereigniffe weiß, um dem 
Stüd mit Berftändnis folgen zu können. Einzelne 
Vorkommniſſe aus jener Zeit habe ich zwar häufig 
erwähnen hören, aber eine zujammenhängende Ans 
Ihauung vom Ganzen fehlt mir noch.“ 

„Das ſchadet nichts,“ ſagte Edith. „Water kann 
dir vor Anfang des Stücks noch alles, was nötig ift, 
erzählen. Die BVorftellung fängt erft um drei Uhr 
in Honolulu an, jeßt ift es faum jedhs, und bei dem 
Unterschied in der Zeit müſſen wir noch eine gute 
Stunde warten, ehe der Vorhang aufgeht.“ 

„Das ift allerdings feine lange Frift und eine 
recht Schwierige Aufgabe, jo ohne alle Vorbereitung 
ein Bild der großen Ummälzung zu geben,“ warf 


1024 Ebwarb 
der Doktor ein. „Aber unter den Umſtänden werbe 
ich es wohl jo gut machen müſſen, wie ich Tann. 

„Aller Anfang ift meift in Nebel gehüllt,“ fuhr 
er fort, ala ich ihm gleich mit der frage auf ben 
Leib rüdte, warn die Umwälzung begonnen babe. 
„Bielleicht hat Johannes, der Evangelift, die einfachste 
Antwort darauf gefunden, wenn er jagt: ‚Im Ans 
fang war Gott‘ Ja, man darf eigentlich wohl 
behaupten, daß Jeſus Chriftus den Grund zu der 
großen Ummälzung gelegt und ihren Hauptzwed ges 
lehrt hat, als er die goldene Kegel der allgemeinen 
Nächſtenliebe zur Richtſchnur für den Verkehr der 
Menſchen untereinander machte. Wie bei allen 
wichtigen Ereignifjen überhaupt nehmen Die Gejchichte- 
ichreiber auch für den großen Umſchwung zweierlei 
Urſachen an, eritens die allgemeine und urjprüngs 
liche, die fie ſchließlich notwendigerweiſe herbeigeführt 
hätte, ganz abgefehen von allen Nebenumftänden, und 
zweiten die unmittelbare nächſte Veranlaſſung, welche 
vorherging, und nad) der ſich die Zeit und alle Ein» 
zelheiten einigermaßen bejtimmen laffen. Diefer un« 
mittelbare Anlaß war natürlih in allen Yändern 
verſchieden, aber die Grundurjache war überall dies 
jelbe, denn, wie Sie willen, bat die große Um— 
wälzung in der ganzen Welt bei ſämtlichen Kultur: 
völfern faft gleichzeitig ftattgefunden. 

„Diefe Grundurſache war, wie ich in unfern Ge— 
ſprächen ſchon öfters angebeutet habe, die wachſende 
Geiſtesbildung und Verbreitung von Kenntniſſen 
unter der großen Maſſe des Volls, welche ſich ſeit 


Einführung der Buchdruckerlunſt während des jech- | 


zehnten, fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts 
langjam vollzog, dann im neunzehnten Jahrhundert 
plöglih einen raſchen Auffchwung nahm und in 
einigen Ländern faſt allgemein wurde, Ehe dieje Zeit 
der Aufflärung begann, war der größte Teil der 
Menjchheit jeit dem Altertum faft anf derjelben, 
noch jehr rohen Entwidlungsftufe ftehen geblieben, 
Ohne jelbitändigen Gedanten oder eignen Willen 
ließen fie ſich widerftandslos von ihren klügeren und 
mächtigeren Mitmenſchen zu deren Zweden ausnüßen ; 
fie waren ‚wie der Thon in des Töpfers Hand‘. So 
ging es weiter, viele Jahrhunderte lang, und niemand 
dachte an eine Veränderung, bis endlich die Seit 
erfüllt war, und alle Umſtände zufammenwirkten, um 
den ftumpfen, unempfänglichen Geſchöpfen geiftiges 
Leben einzuhauchen. Diejer Vorgang vollzog ſich in 
alfer Stille, almählih und unmerklich; aber in der 
ganzen Geſchichte der Menjchheit hat nichts auf deren 
Entwidiungsgang einen jo entſcheidenden Einfluß 
gehabt. Won da ab trat mehr und mehr das Interefie 
aller in den Vordergrund, an Stelle des Vorteils 
einer Heinen Minderheit; es fam nun Darauf an, 
die Wohlfahrt des Ganzen zu fördern und nicht nur 
die eines bevorzugten Teild, Nach diefer Richtung 





! danke einer Vollsherrſchaft verwirklicht. 





re — — — — 


Bellamy. 


bin entwickelte ſich die Geſellſchaftsordnung; dies Fiel 
ſtrebte ſie zu erreichen. 

„Die Philoſophen des neunzehnten Jahrhunderts 
icheinen eine ſchwache Ahnung davon gehabt zu haben, 
daf die Vermehrung der Geiftesbildung von großer, 
entjcheidender Bedeutung fei und einen neuen jozialen 
Fortſchritt bezeichne. Aber dak fie notwendigerweilt 
eine vollftändige Umwälzung des Wirtſchaftsſyſtemt 
der Geſellſchaft herbeiführen müſſe, vermochten fie 
nicht zu erlennen. Sie waren blind gegen die That: 
jache, daß nun das Klaſſenintereſſe und Privatintereie 
aufhören und das Wohl der Geſamtheit zur Richtſchuur 
werden müſſe. Zuerſt entjtand eine politische Be 
wegung ; das perjönliche Regiment und die Safe: 
regierung wurden geftürzt und der bemofratifche Gt— 
Uns Icheint 
es faum begreiflih, daß unter den bedeutenden 
Männern jener Zeit fein einziger geweſen iſt, dem 
es Mar wurde, dab die politiihe Demokratie nur 
das PVorjpiel der wirtihaftlihen Demokratie war. 
Sie follte nur für das Hauptftüd des ganzen Pro- 
gramms — die gleiche Verteilung von Arbeit und 
Beli — den Weg ebnen und alle Vorbereitungen 
treffen. 

„So haben wir alfo die Grundurſache der großen 
Ummandlung erklärt: fie lag in der fortjchreitenden 
Geiftesbildung der Maflen vom jechzehnten bis zum 
Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Dadurd war 
auch der Umſturz der wirtichaftlihen Grundlage der 
Gejellfhaft bedingt. Früher oder jpäter mußte er 
jedenfalls erfolgen, mochten auch die Art und Weile, 
twie dies geſchah und die einzelnen äußeren Umflände, 
je nad) der Bejchaffenheit der verichiedenen Länder, 
voneinander abmweichen. 

„sn Amerifa begann die Umſturzbewegung, die 
mit der Einführung unſrer jehigen Ordnung ſchloß, 
faft unmittelbar nad) dem Bürgerkrieg. Einige Ge 
ſchichtsſchreiber legen ihren Anfang in das Jahr 1879.* 

„Achtzehnhundertdreiundſiebzig!“ rief id ver 
wundert, „Das ift ja mehr als ein Duhend Jahr, 
bevor ich in Schlaf verfiel. Alfo war ich Zeuge eines 
Teils der Ummälzung und habe doch nichts davon gr 
jehen! Die ernfte Lage und die große Verwirrung, in 
der fich die Induſtrie befand, erfannten wir wohl; 
auch war uns die allgemeine Unzufriedenheit nich 
verborgen; aber daß eine völlige Ummälzung dr 
Verbältnifie im Gange fei, davon hatten wir fein 
Ahnung.“ 

„Das lieh fich nicht anders erwarten,“ jagte ber 
Doktor. „Die Zeitgenoffen großer revolutionärt 
Bewegungen haben ſelten ein Verftändnis für ihre Br 
deutung, biß fie faft vorüber find. Spätere Geſchlechter 
glauben dann jtets, daß fie Die Zeichen der Zeit 
beſſer erfannt haben würden; vermutlich ift das je 
dod ein Irrtum.“ 


En. PRREL er 1 


Gleichheit. 


„Aber warum ſetzen bie Geſchichtsſchreiber den 
Anfang des großen Umſchwungs gerade in das Jahr 
1373?“ 

„Weil damals die wirtichaftliche Not im ame— 
rifanifchen Volle bejonders Far zu Tage trat. Zwar 
wurden die Verhältniffe jpäter eine Zeitlang wieder 
beſſer, und es fanden zum Zeil Erleichterungen ftatt; 
im ganzen aber dauerte die Drangjal fort bis zur 
Abſchaffung des Privatfapitalismus. Aus der alle 
gemeinen Unzufriedenheit, welche durch dieſen Zuftand 
der Dinge herbeigeführt wurde, entiprang fchliehlich 
die neue Ordnung der Dinge. Sie wedte die Ameri— 


faner aus ihrem jelbjtgefälligen Traum, daß das | 


joziale Problem durch eine nur auf politische Formen 
teichränfte Voltsherrihaft bereits gelöjt worden jei 
oder überhaupt gelöft werden fünne, und bewog fie, 
nad) der wahren Löjung zu juchen. 

„Die wirtichaftliche Not, welche im letzten Drittel 
des Jahrhunderts begann und die Umwälzung zur 
Folge hatte, war übrigens nur gering im Vergleich 
zu dem Elend, in dem fi) andre Nationen jchon von 
alterd ber unausgejeht befanden. Die Amerikaner 
hatten in ihrem neuen Lande jo reiche Erwerbäquellen 
und einen jo weiten Raum, daß fie noch ein Jahr- 
hundert lang von dem allgemeinen Geſchick der Aus— 
nugung durd den Kapitalismus verſchont blieben. 
Diefe Vorteile beſaßen fie jett nicht mehr; bie Friſt 
war verjtrichen, und aud) fie jollten nun den Naden 
unter dasjelbe Joch beugen, das vor ihnen ſchon alle 
Völker getragen hatten. Aber durch ihren langen 
verhältnismäßigen Wohlſtand ſtolz und kühn ge— 
worden, widerſetzten fie ſich der Zumutung, und da 
der bloße Widerſtand nichts half, ſo führten ſie eine 
Umgefialtung der beſtehenden Verhältniſſe herbei. 
Das iſt in kurzen Worten der Verlauf der Umſturz— 
bewegung in Amerika. Die Sade ijt jetzt ſchon fo 
lange ber, daß ein Zuhörer aus dem zwanzigften 
Jahrhundert ſich mit dieſer Erflärung zufrieden geben 
würde; aber Sie, Julian, werden vielleicht wünjchen, 
noch einige Einzelheiten zu erfahren. In Storiots 
‚Geichichte der Umfturzbewegung‘ ift ein Kapitel, das 
mir in meiner Schulzeit einen tiefen Eindrud gemacht 
bat. Es jchildert die wachſende Macht des Kapita- 
lismus und die allgemeine Erhebung, welde fie 
ſchießlich zur Folge hatte. Ich glaube, ic kann die 
nur jo furz bemejjene Zeit nicht beijer anwenden, 
als wenn ich Ihnen einige Abjchnitte Daraus vorleſe.“ 

Edith holte das Bud) aus der Bibliothef — denn 
wir ſaßen nod immer am Theetiſch —, und der 
Doltor las: 

„In Bezug auf die Entwidlung des Privat- 
fapitalismus bis zu dem Punkt, wo er Leben und 
Freiheit des Volles bedrohte und die Urjache des 
Umfturzes wurde, teilen die Hiftorifer die Geſchichte 
der amerifanijchen Republik von ihrer Gründung im 

Uus fremden Zungen, 1897. IL 22, 


1025 


Jahre 1787 bis zu der großen Umgeftaltung, die fie 
erft zu einem wahren Freiſtaat machte, in drei 
Merioden ein. 

„‚Die erite umfaßt die Zeit von der Gründung 
der Republif bis etwa um das Yahr dreißig oder 
vierzig des neunzehnten Jahrhunderts. Damals hatte 
fih die Macht des Privatlapitalismus dem Volke 
noch nicht geradezu feindjelig gezeigt. Die Zahl der 
Geldariftolraten war Mein und die Summen, die fie 
bejaßen, geringfügig. Die ungeheure Ausdehnung 
und die reihen Erwerbäquellen des jungfräulichen 
Bodens befriedigten nod die menſchliche Habgier 
und ficherten jedem feine Unabhängigkeit als Preis 
der Arbeit. Man durfte ſich jo viel Land nehmen, 
als man wollte, und feiner brauchte dem andern 
untertgan zu fein. Dies war die idylliiche Zeit der 
Republik, wie fie De Tocqueville jah und bewunderte, 
obgleich er ſchon das Verhängnis ahnte, welches über 
ihr jchwebte. Der Freiſtaat barg einen Todesleim, 
ber ihn zu verderben drohte. Das war der Private 
fapitalismus. Fürs erfte begünftigten die Um— 
jtände deſſen Wachſen und Reifen nod) nicht. Alles 
jchien im beften Gange, und es iſt nicht zu ver— 
wundern, dab fi) das amerifaniihe Voll der Hoff- 
nung bingab, es habe mit feiner Republik die joziale 
Frage gelöſt. 

„Etwa um das Jahr 1830 oder 1840 begann 
die zweite Periode mit der rajchen Zunahme und 
Konzentration des Kapitals. Die Geldarijtofratie 
wurde mächtig und ftredte die Hand nad allen 
Seiten aus, um ſich die natürlichen Hilfsquellen des 
Landes anzueignen und ſich die Arbeiterbevölferung 
dienftbar zu machen. Mit einem Wort: das Ger 
winnſyſtem bildete ſich aus, und die Plutofratie be— 
fam immer größere Gewalt. Der llebergang von 
der erjten zur zweiten Periode wurde durch die all, 
gemeine Anwendung der Dampfkraft in Handel und 
Induftrie verurſacht. Begonnen hatte er eigentlich 
ihon mit der Einführung des Fabrifwejens über- 
haupt; aber wäre der tyabrifbetrieb aud nicht Durch 
die neuen Erfindungen ermöglicht worden, jo würde 
e3 doc) nur eine frage der Zeit geweſen fein, wie 
lange die Kapitaliftenflafje gebraucht hätte, um ſich 
zu Herren des Grund und Bodens zu machen, durch 
ihr Wucherſyſtem die Mafjen in ein Lehensverhält« 
nis zu bringen und die Demofratie umzuftoßen, 
wie das im Altertum gejchehen iſt. Die neuen Er- 
findungen beichleunigten jedoch das Wachstum der 
plutofratifchen Herrſchaft auf fabelhafte Weife. Zum 
erftenmal in der Weltgeichichte bediente fi der Ka— 
pitalift der Mafchinentraft zur Unterjohung feiner 
Mitmenjhen, und fie erwies fid) als eine mächtige 
Verbündete. Nur dadurch, daß fie die Gewalt des 
Kapitals vervielfältigte und die Bedeutung des Arbeits- 
mannes verhältnismäßig verringerte, läßt ſich die 

129 


1026 


ungeheure Schnelligkeit erklären, mit welcher während 
der zweiten und dritten Periode die Plutofratie ihre 
Eroberung der Republif vollendete. 

„Es ift eine Thatſache, die jehr zu Gunſten der 
Amerikaner ſpricht, dab fie jchon zu Anfang der 
vierziger Jahre erlannt haben, welche neue und ge— 
führliche Richtung in ihrem Freiſtaat Eingang zu 
finden ſuchte und die Hoffnung auf eine weite Ber- 
breitung des Wohlſtands zu vernichten drohte. Wäh- 
rend jenes Jahrzehnts fanden allgemeine Beratungen 
darüber flatt, ob es nicht möglich ſei, eine beſſere 
Geſellſchaftsordnung einzuführen, und zahlreiche Ver⸗ 
fuche wurden angeftellt, um den Privatfapitalismus 
durch fooperativen Induftriebetrieb zu erfegen. Schon 
tonnten die umfichtigeren und für das öffentliche 
Wohl beforgten Bürger die Beobadhtung machen, 
daß ſich ihre jogenannte Volfsregierung die Herrſchaft 
der Neihen und die wirtichaftlihe Unterjohung der 
Maſſen ganz ruhig gefallen ließ. Sie fragten fich, 
ob das jo weiter gehen jolle, und welchen Wert dann 
eigentlich ihre republifanifchen Einrichtungen hätten, 
auf die fie jo ſtolz gemefen waren. 

„Eine gründliche Erörterung der fozialen Frage 
war indeſſen jürs erjte ausgeſchloſſen, weil fie in 
Amerika durch einen befonderen Umftand unmöglich 
gemacht wurde — nämlich durch das Borhanbenjein 
großer Sklavenjharen aus Afrifa, Bei einer grund« 
fäglihen Anerlennung der menſchlichen freiheit konnte 
diefe rohe und gewaltihätige Form der Dienftbarteit 
nicht länger beftehen, War jie aud im ganzen faum 
graufamer als die Knechtſchaft des Lohnarbeiters, jo 
mußte fie doch vor allem aus dem Wege geräumt 
werden, Diejen beionderen Verhältniffen ift es zu« 
zufchreiben, daß der große Umſchwung ſich nicht ſchon 
fünfundzwanzig Jahre früher in Amerika vollzog. 
Von 1840.bis 1870 nahm die Stlavenfrage, die jo 
furdtbare Kämpfe und Streitigleiten im Gefolge 
hatte, nicht nur die geiftigen und fittlichen,, jondern 
auch alle phyfifchen Kräfte der Nation vollftändig in 
Anſpruch. 

„Während der dreißig oder vierzig Jahre vom 
ernftlihen Anfang der Antijflavereibewegung an, 


— — — — —— — —— — ——— — 


bis der Bürgerkrieg beendet und feine Wunden ges | 


heilt waren, hatte man in Amerika für nichts andres 
Sinn. Diefe Verhältnifje benußte nun die Hapita« 
liftenklaile, um ganz unbemerkt und ohne Widerjtand 
zu finden, den Reichtum bes Landes einer feinen 
Anzahl ihrer Mitglieder in die Hände zu jpielen. 
Diefe hatten in der Kriegäzeit und den unrubigen 
Perioden, die ihr vorangingen und folgten, Gelegen- 
heit gehabt, eine feſte Stellung einzunehmen, aus 
der fie ſich nicht wieder vertreiben ließen. 

„Etwa um das Jahr 1873 jah fih das Land 
endlich von den folgen des Krieges befreit und nicht 
länger durch fittlihe und religiöje Streitfragen in 





Ebwarb Bellamp. 


Anſpruch genommen. Da gingen den Amerifanern 
plöglid) die Augen auf, und fie jahen, welchen furdt- 
baren Konflitt da8 Wachstum des Kapitalismus 
beraufbejchworen hatte. Die Macht des Reichtums 
ftand gerüftet da, um gegen den demokraätiſchen Ge 
dauken — das gleiche Recht aller auf Leben, freie 
heit und Glück — zu Felde zu ziehen. Von dielem 
Zeitpunft datieren wir daher den Anfang der fehten 
Periode der amerifanifchen Pſeudorepublil, welcht 
deren Umſturz herbeiführte und das heutige Syſtem 
zur Herrſchaft brachte. 

„Im Lauf der MWeltgefhichte hatte man zwar 
ſchon manche Republif infolge der Anhäufung und 
Konzentrierung des Privatbejiges zu Grunde geben 
ſehen; aber e& war noch fein Beifpiel von einer jo 
vollftändigen und plößlichen Umwandlung des ganzen 
Wirtjhaftsfyftems einer großen Nation jemals vor: 
gefommen. or dem Kriege war in Amerila, wie 
wir gejehen haben, die Güterverteilung jo allgemein 
und gleihmäßig gewejen, wie man das früher nie 
gefannt Hatte. Sehr reiche Leute und jehr große 
Belistümer waren höchſt jelten, Weder einzeln noch 
Maflenweife fonnten daher die Kapitaliften die übri» 
gen Glieder des Gemeinweſens bedrüden. In dem 
furzen Zeitraum von fünfundzwanzig oder dreikig 
Jahren hatten ſich aber alle wirtichaftlichen Ber 
dingungen jo gänzlid verändert, da man Amerila 
in den fiebziger und achtziger Jahren nur noch das 
Land der Millionäre nannte. Nirgends in der ganzen 
Melt hatte ſich der Privatreihtum zu jo ungeheuren 
Maſſen angehäuft, und dieje riefige Konzentration 
der Güter übte die verderblichfte Wirkung auf die 
induftriellen, fozialen und politifchen Zuftände des 
Volles — fein Wunder, daß jie zum Umſturz führte. 

„Der freie Wettbewerb im Gejchäft hatte ganz 
aufgehört. Ehemald war das Feld imduftrieller 
Unternehmungen allen offen gewejen; jeht beherrjchten 
e3 die Kapitalijten allein, und zwar nur die größten 
unter ihnen. Amerifa, das früher die befte Erwerb 
gelegenheit bot, hatte ji in dem Zeitraum einer 
Generation in das Land der Monopole umgewandelt. 
Der Wert eines Mannes beftand nicht mehr in dem 
was er war, jondern in dem, was er hatte. Wenn 
jemand Fleiß und Kenntniſſe mit höflihem Benehmen 
vereinigte, durfte er hoffen, das Amt eines höheren 
Ungeftellten im Dienft des Kapitals zu befleiden, 
aber eine jelbjtändige Laufbahn war ihm nicht be— 
ſchieden. 

„Dadurch, daß eine verhältnismäßig Heine Zahl 
großer Kapitaliſten die ganze wirtjchaftliche Verwal 
tung des Landes an fid) geriljen hatte, war aud) die 
Produktion und Güterverteilung völlig in ihre Hände 
geraten. Einzelne mächtige Handelshäufer, die über 
ungeheure Geldfummen geboten, hatten weite Streden 
des geichäftlichen Gebiets für ich in Befik genommen, 


Gleichheit. 


auf denen früher zahlloſe kleinere Firmen thätig ge— 
weſen waren. Bei dieſem Vorgang war natürlich 
eine Unmaſſe Heiner Gefchäfte elendiglich zu Grunde 
gegangen, und ihre früher unabhängigen Beſitzer 
mußten frob fein, wenn fie wenigſtens eine Anitel» 
fung in den großen Handelshäufern fanden, durch 
die fie verdrängt worben waren. Während der ſieb— 
ziger Jahre verging fein Monat, feine Woche, fein 
Tag, an dem nicht irgend eine neue Provinz des 
Wirtichaftsftaates, irgend ein Zweig der Induſtrie 
oder des Handels, der vormals allen für ihre Unter: 
nehmungen offen geſtanden hatte, in den Alleinbefik 
mehrerer vereinigten Kapitaliften überging, die ſich 
in ihrem Monopol wie in einem feiten Lager ver— 
ſchauzten. Für ſolche gewaltige Verbindungen ers 
fand man die Namen „Truft* und „Syndifat“ ; die 
alte Geſchäſtswelt befah in ihrer Sprache fein Wort, 
um fie zu bezeichnen. 

„Es war jchwer zu jagen, welche der beiden 
großen Abteilungen der Arbeitermafien am meiften 
unter der veränderten Ordnung der Dinge gelitten 
hatte, ob der Pohnarbeiter oder der Landwirt. Das 
alte periönliche Verhältnis und freundliche Wohl« 
wollen zwijchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer war 
nicht mehr vorhanden. An die Stelle des früheren 
Brotheren war die große Altiengeſellſchaft getreten, 
eine umperjönliche Macht, für welche der Arbeiter 
nicht mehr als Menſch, jondern als Srafteinheit galt. 
Man brauchte ihn nur, um die Majchine zu be= 
dienen; die Direftoren betrachteten ihn als ein 
notwendiges Uebel, das man leider noch nicht los 
werden fonnte und mit möglichft geringen Soften 
beibehielt, bis e8 durch eine neue Erfindung gänzlich 
aus der Melt geichafft wäre. 

„Auf ganz ähnliche Weife war auch die Thätig- 
feit des feinen Landwirts und die Möglichleit jeines 
Erwerbs dur die Konzentration des Betriebs der 
Bodenkultur beichränft oder ganz gehemmt worden. 
Die Eifenbahnen und der Kornmarkt verfchlangen 
den früheren Gewinn des Landmanns und ließen 
ihm nichts als einen dDürftigen Tagelohn, wenn die 
Ernte gut ausfiel, und eine Hnpothelenfhuld, wenn 
jie mißlang. Dabei trug er aber nod) afle Werant« 
wortlichteit de Kapitaliſten, weil fein Geld in dem 
Landbeſitz ſteckte. Doch diefe Sorge quälte ihn 
natürlicherweile nur kurze Zeit, da er unter joldhen 
Umftänden von Jahr zu Jahr nur beftehen fonnte, 
wenn er Schulden machte, ohne die leiſeſte Ausſicht, 
fie je bezahlen zu können. Bald verfiel fein Gut 
den Gläubigern; er ſank von der früher jo ftolzen 
Stellung eines amerifaniichen Landwirts herab, wurde 
zum Pächter und war bald nur noch ein gewöhn- 
licher Bauer. 

„Von 1873 bis 1896 wird uns über mehr ala 
ſechs verichiedene Geichäftäfriien berichtet. Die Er- 


1027 


holungspauſen zwiſchen denſelben waren jedoch fo 
kurz, dab man füglih von einer fortgefekten Kriſis 
während diejeß ganzen Zeitraums reden kann. Auch 
in der erjten und der mittleren Periode der Nepublif 
waren zahlreiche, jchlimme Geſchäftskriſen eingetreten, 
aber damals ruhten Handel und Induſtrie noch auf 
einer breiten und ſtarken Grundlage im Volke; die 
Erhebung folgte unmittelbar auf den Niedergang 
und hatte ſtets einen größeren Wohlftand zur Folge, 
al& der frühere geweien war. Davon fonnte jet 
aber feine Nede mehr jein. Nad den Srifen der 
fiebziger, achtziger und neunziger Jahre entftand fein 
günftiger Rückſchlag mehr; im Gegenteil, die Preiie, 
die Yöhne, jowie die allgemeine Wohlfahrt und Zu- 
friedenheit der Landwirte und der Arbeiterklafle 
nahmen unaufhaltiam und immer mehr ab. 

„‚Der befte Beweis für die Verfchlechterung in den 
Verhältniſſen der Lohnarbeiter und Landwirte war die 
große Verminderung der Zahl der fremden Einwanderer 
und ihre Minderwertigleit während dieſer Periode. 
Seit einem halben Jahrhundert galten die Nereinigten 
Staaten für die Armen als ein Sand der Verheißung ; 
in Scharen wanderten die Europäer ein, und Diele 
Bevölkerung, die fort und fort herbeiftrömte, beftand 
aus den füchtigften Kräften der Alten Welt. Bald 
nad dem Bürgerfriege wurde das jedoch anders; in 
den achtziger und neunziger Jahren famen faft nur 
noch die niedrigiten und elendeſten Menſchen und Die 
barbariſchſten Völler, der Auswurf Europas, zu ung 
herüber, Und jelbft um ſolche erbärmliche Rekruten zu 
befommen, mußten die Agenten der transatlantijchen 
Dampfer und der amerifaniihen Synbifate oben» 
drein ihre Sendlinge in die ärmſten Länder ſchicken 
und ganz Europa mit lügenhaften Zirkularen übers 
ſchwemmen. Es war ſchon fo weit gefommen, daß 
fein europäifcher Bauer oder Taglöhner, der noch 
nicht ganz heimatlos und am PBelteljtab war, das 
208 des amerikaniſchen Landwirts und Arbeiters teilen 
mochte, um welches diejen noch vor kurzem die ganze 
Arbeiterwelt beneidet hatte, 

„Während die Politifer, bejonderö vor ben 
Wahlen, den Arbeitern Mut zu machen fuchten mit 
der Verfiherung, daß beifere Zeiten unmittelbar be— 
vorjtünden, ſcheinen ſich die erufteren nationalöfono« 
miſchen Schriftfteller offen darüber ausgeiprochen zu 
haben, daß es mit den Vorteilen, welche die Arbeiter 
in Amerifa vor denen andrer Länder früher voraus 
hatten, für immer vorbei fei. Alle Preife und Löhne 
in der ganzen Welt, fagten fie, würden ſich mehr 
und mehr ausgleichen, das heikt, biß zu dem Maß» 
ſtab desjenigen Landes herabfinfen, wo fie am niedrig- 
ften wären. Es flimmt ganz und gar mit diejer 
Prophezeiung überein, daß ſich der amerikanische 
Fabrikant in den neunziger Jahren durd die Ver- 
minderung der Produftionstojten, welche hauptſächlich 


1028 Edward 
mittels Lohnherabjegung erzielt wurde, zum erften- 
mal in der Lage jah, auf dem fremden Markt die 
Produkte der ſchlecht bezahlten Arbeiter britischer, 
beigifcher,, franzöſiſcher und deutſcher Kapitaliften 
zu unterbieten, 

„‚Gerade während dieſer Periode, als die wirt« 
ichaftliche Not der Maffen einen Induftriefrieg herauf: 
beihwor und and) die amerifanifche Fandbevölferung, 
die zufriedenjte und vormals wohlhabendfte, welche 
08 je gegeben hat, zum Aufruhr brachte, wurde der 
riefigfte Privatbeiit angehäuft. Vor dem Bürgers 
frieg hatte niemand eine Million Dollars beſeſſen, 
und noch bis in die fiebziger Jahre war das ein 
höchſt jeltener und ungewöhnlicher fyall. Aber bald 
darauf gab es Herren vieler Millionen, und höher 
als jie erhoben ſich noch die wirtichaftlichen Titanen, 


die über Hunderte von Millionen verfügten, ja esjchien, | 


als ob die Villionäre nicht lange mehr auf ſich war- 
ten lafjen würden. Es war daher nicht ſchwierig zu 
erfennen, und alle Welt wußte es wohl, wohin der 
Reichtum fam, den die große Mafle des Volls ein- 
büßte. Zehntauſend verloren ihr bejcheidenes Ein- 
fommen, das in den Händen eines Mannes als 
ungeheures Vermögen wieder zum Vorſchein fan. — 
Der Körper der Spinne Shwillt zufehends, wenn fie 
ihren Opfern das Blut ausfaugt; jo wuchſen auch 
die ungeheuren Geldhaufen der Kapitaliften, während 
der Belik des früher wohlhabenden Volles mehr und 
mehr zulammenjchrumpfte, 

„Daß die wirtjchaftlichen Zuftände fo vollfländig 
aus dem Gleichgewicht gelommen waren, mußte not= 
wendigerweije zu einer revolutionären Bewegung 
führen. Ehemals war in Amerifa der Reichtum 
meift durch perſönliche Anſtrengung erworben worden ; 
er war felten groß und jein Beſitz ungewiß. „Die 
dritte Generation arbeitet wieder in Hemdärmeln,“ 
lautete ein vollstümliches Sprichwort, womit man 
ausdrüden wollte, dab, wenn jemand ein Feines Ver- 
mögen jammelte, fein Sohn es meiſt wieder verlor 
und der Enkel von vom anfangen mußte. Inter 
diejen Umſtänden fehlten bei der geringen wirtichalt- 
lichen Ungleichheit alle Klaſſenunterſchiede. Es gab 
feine beftimmte Klaſſe der Arbeiter und der Müßig— 
gänger; die Menfchen teilten ſich nicht in Arme und 
Neiche. Wenn man viel beſaß oder wenig, ſich aus— 
ruhen konnte oder arbeiten mußte, jo galt das nicht 
für einen dauernden Zuftand, jondern für eine zeit- 
weilige Gunſt oder Ungunſt des Schickſals. Wie 
ganz anders war das alles geworden! Ein großes 
Vermögen bildete nad) der neuen Ordnung der 
Dinge, ſchon wegen der ungehenren Summen, die 
es umfaßte, einen feften Beſitz, der nicht leicht ver— 
loren gehen fonnte, ſondern fih von Geſchlecht zu 
Geſchlecht To ficher vererben lieg, wie ein Adelstitel. 
And made es die Monopolifierung aller gewinn- 





Bellamy. 


bringenden Erwerbögelegenheiten durch die großen 
Kapitaliften jedem, der nicht zu ihrer Klaſſe gehörte, 
jo gut wie unmöglich, reich zu werden. or dem 
Kriege durfte ein thatfräftiger Amerikaner immer 
hoffen, einmal zu Wohlitand zu gelangen; jeht lag 
das ganz außerhalb des Bereich! eines Mannes, der 
in der Armut geboren war. Zwiſchen den Armen 
und Reichen erhob fi von mın an eine Scheidewand. 
Kein Weg führte mehr aufwärts, und die Thür war 
mit Geldjäden verrammelt. 

„‚Bald jpiegelten ſich auch die veränderten fozialen 
Zuftände des Landes in der neuen Klafleneinteilung 
wieder, die bald nad) dem Bürgerkrieg in den Ber» 
einigten Staaten Eingang fand und der Alten Welt 
entlehnt war. Die Amerifaner hatten früher damit 
geprablt, dab alle Bewohner ihres Landes Arbeiter 
feien, aber jeßt fing man mehr und mehr an, durch 
dieje Bezeichnung die Armen von den Wohlhabenden 
zu unterjcheiden. Zum erftenmal leſen wir in ameri- 
faniihen Büchern von unteren, oberen und mittleren 
Volklsklaſſen. Vor dem Kriege hätte man gar nicht 
gewußt, was das bedeuten ſolle; jet aber entſprachen 
dieje Benennungen jo jehr der Wirklichkeit, daß 
jeder fie gebrauchen mußte, er mochte wollen oder 
nicht. 

„Die Befiker der großen Reichtümer umgaben 
fich mit einem Purus, in dem es ihnen Europa nicht 
gleichthun konnte, eine nie gejehene Pracht und 
Herrlichkeit, ein föniglicher Pomp und grenzenloie 
Verihwendung begannen ſich zu entfalten. Solde 
Zuftände jpotteten der Unzufriedenheit des Volles 
und warfen ein grelles Licht auf die weite und tiefe 
Kluft, die ſich zwifchen den Herren der Erde und den 
großen Maſſen aufgethan hatte. 

„Dabei gaben fich die Geldfürften feine Mühe, 
die Thatjache zu verbergen, daß ihrer Weberzeugung 
nad die Tage der Demokratie gezählt jeien, und der 
Traum der Gleichheit aller Menjhen zu Ende gebe. 
Als das Volk anfing, jeinen bittern Gefühlen über 
dieje Bebrüdung Luft zu machen, Sprachen fie ganz 
unummunden ihre Abneigung und ihren MWidertvillen 
gegen das Land und jeine bemofratifchen Einrichtungen 
aus. Die amerifanifchen Millionäre waren inter: 
nationale Perfönlichkeiten geworden; fie verbradten 
ihr Leben größtenteild in Europa, wo fie ihre Schäke 
ausgaben and ihre Kinder erziehen ließen; ja, einige 
trieben ihre Vorliebe für die Alte Welt jo weit, dab 
fie Unterthanen einer fremden Macht wurden. Bie 
groß die Neigung der amerilaniichen Sapitaliften 
war, dem Volfsftaat den Rüden zu kehren und ſich 
den europäiſchen und monardijchen Einrichtungen 
anzuschließen, läßt fich deutlich aus der fangen File 
von Heiraten erfennen, welche reiche amerikaniſche 
Erbinnen in jener Zeit mit ausländiichen Ebdelleuten 
eingingen. Man glaubte, dab die Tochter eines 








Gleichheit. 


vielfachen amerikaniſchen Millionärs durch ſolchen 
Ehebund eine für ſie paſſende Stellung erhalte. Die 
großen Kapitaliſten pflegten in Geldſachen ſehr ſchlau 
zu ſein, und daß ſie es ſich ſo ungeheure Summen 
toften ließen, für ihre Nachlommen einen Adelstitel 
zu kaufen, war ber ſtärkſte Beweis dafür, daß fie 
feft überzeugt waren, die Zufunft der Welt gehöre 
nicht dem Volle, jondern einzelnen Bevorzugten aus 
ben oberen Klaſſen. 

„Der Einfluß, den die Geldariftofratie auf die 
politiiche Regierung ausübte, war unter dem Mor: 
wand geichäftlicher nterefin — momit natürlich 
die Intereffen der Reichen gemeint waren — von 
jeher bedeutend gewejen und hatte oft zu ärgerlichen 
Auftritten geführt. Ye mehr ſich der Reichtum des 
Landes bei einer Minderzahl anhäufte, die ſich unter- 
einander verband, um jo färfer wurde natürlich ihre 
Macht in der Regierung, und während der fiebziger, 
achtziger und neunziger Jahre übten jie eine förmliche 
Diltatur aus. Damit die jogenannten Vertreter des 
Volkes nicht aus Irrtum gegen ben Willen Der 
Kapitaliften handelten, jtellten dieje überall, wo die 
Regierung ihren Sik hatte, eine Schar ihrer ver- 
trauten Agenten an. Dieje beobachteten das Thun 
und Treiben aller Männer der Oecffentlichfeit, und 
wenn fie fahen, daß einer in feiner Treue gegen bie 
Kapitaliften wanfend wurde, jo wandten fie alle 
Mittel der Einfhüchterung oder Beſtechung bei ihm 
an, die jelten erfolglos blieben. Die Leute Hatten 
jogar eine halbamtliche Stellung im politiſchen Partei- 
getriebe; fie durften die Abgeordneten in den Vor— 
räumen der Sikungsjäle auffuchen und beeinfluffen, 
ohne daß man ihnen ihr Handwerk legte, 

„Es iſt ſchmachvoll, wenn man in der Geichichte 
diefer Zeit lieſt, wie nicht nur die Regierung in jeder 
Stadt und in jedem Staat, fondern aud bie ganze 
legislative und erefutive Gewalt, ſamt den Gerichts- 
höfen, miteinander wetteiferten, durch Verleihung 
von Grund und Boden, Vorrechten, Monopolen und 
Gerechtſamen aller Art das Land mit feinem ganzen 
Ertrag und allen Bewohnern der Herrichaft der 
Kapitaliften und deren Erben und Rechtsnachfolgern 
zu überantworten, bi in die ſpäteſten Zeiten. Von 
den Öffentlichen Ländereien, die noch wenige Jahrzehnte 
zubor eine Quelle unerſchöpflichen Reichtums für alle 
fommenden Gejchlechter hatten fein jollen, wurden 
riefige Streden an Syndilfate und einzelne Kapita= 
liften abgetreten, um eine Fünftige neue Ariftofratie 
von Grundherren zu bilden, denen die ganze Land— 
bevölferung zinspflichtig umd unterthänig wäre, Aber 
nicht nur das von den Bätern ererbie National- 
vermögen war einer Tleinen Minderzahl überliefert 

worden; aud) auf dem Gebiete des Handels und der 
Induftrie hatten dieſe Leute jih durch Privilegien 
und Monopole alle wirtſchaftlichen Vorteile zu ſichern 


1029 


gewußt, jo daß den jpäteren Geichlechtern jede Ge— 
legenheit abgejchnitten war, Erwerb oder Beſchäf—⸗ 
tigung zu finden, außer ald Diener und Lehend- 
männer einer erblihen Kapitaliſtenllaſſe. Die Gejchichte 
der Monarchien erzählt uns von manchen Miffethaten 
unter ber Herrihaft der Könige. Lafterhafte oder 
ſtumpfſinnige Fürften haben gelegentlich ihre Unter— 
thanen in die Knechtichaft verfauft oder den Wohl: 
ftand ihrer Neiche zu Grunde gerichtet, um fittenlofe 
Günftlinge mit Schägen zu überhäufen. Doch find 
jelbjt die jchwärzeften Nergehen diejer Art Thaten 
des Lichts im Vergleich zu der Schuld, welche die 
Regierungen des jogenannten Volksſtaats auf ſich 
luden, ala jie das Nationalerbe der Amerikaner an 
den Meifibietenden verichacherten. 

„Beſonders wegen der erbitterten und verzweifelten 
Stimmung der arbeitenden Klaſſen war es ber 
Plutokratie äußerſt erwünſcht, daß fie ſich der Re— 
gierungsgewalt nach Belieben bedienen konnte. 

„Die Arbeiterausſtände führten häufig zu Un— 
ruhen, die ſo weit um ſich griffen, daß die Polizei 
ihrer nicht Herr werden fonnte. In ſolchen Fällen 
pflegten bie Rapitaliften fi an die Staatsregierumg 
zu wenden und die Hilfe dee Militärs in Anſpruch 
zu nehmen, um ihr Eigentum zu ſchützen. Das 
Hauptgejchäft der Truppen war damals die Unter- 
drüdung der Streils durch Kugel und Bajonett oder 
die Bewachung der Betriebdanlagen der Kapitaliften, 
bis der Hunger die auffälligen Arbeiter zur Unter- 
werfung zwang. 

„Im Laufe der achtziger Jahre waren bie 
Regierungen der Staaten eifrig bemüht, das Militär 
für diefen neuen und nüßlichen Beruf anzulernen, 
der ſich zuſehends erweiterte. Die Nationalgarde 
verwandelte ſich in eine Sapitaliftengarde. Die 
Truppenmacht wurde vergrößert, reorganifiert, einer 
ſtrengeren Disciplin unterworfen und bejonders für 
den Zweck eingeübt, widerfpenftige Arbeiter tot» 
zuihießen. Der Straßenfampf wurde förmlich ein- 
exerziert — cine ſehr verhängnisvolle Neuerung bei 
der Ausbildung der amerifanischen Milz. Ai 
itrategifch wichtigen Pläen der großen Städte erhoben 
ſich ſtark befeftigte fteinerne Zeughäufer mit Schieh- 
ſcharten; auch wurden Kanonen aufgepflanzt, welche 
die Straßen beherrſchten. Es waren jedoch Beifpiele 
vorgefommen, daß die Miliz, welche ziemlich genaue 
Fühlung mit dem Volfe behielt, eine jolche Abneigung 
an den Tag legte, auf die Ausſtändiſchen zu ſchießen, 
und jo großes Mitgefühl für ihre Beichwerden zeigte, 
daß die Kapitaliſten fih nicht auf ihre Treue ver— 
lafien mochten, jondern im Ernftfall lieber die regu— 
lären Regierungstruppen zu Hilfe riefen, die fein 
Erbarmen fannten. Auf Verlangen der Kapitaliften 
ließ daher die Regierung befeitigte Lager in der 
Nähe großer Städte aufichlagen und mit ftarfen 


1030 Ebwarb 
Befahungen verſehen. Der Krieg gegen bie Indianer 
ging damals zu Ende, und die Truppen, welche auf 
den Ebenen des Meftens ihr Standbquartier gehabt 
hatten, um die Nieberlaffungen der Weißen gegen 
die Rothäute zu verteidigen, wurden nad dem Dften 
geihafft, um die Kapitaliften vor den Arbeitern zu 
ſchützen. So weit hatte es der Privattapitalismus 
gebracht. 

„Man fann fi einen Begriff davon machen, in 
welcher Ausdehnung die Kapitaliiten ſich die Militär« 
gemalt der Regierung bei ihren Streitigfeiten mit 
den Arbeitern dienftbar machten, wenn man ver» 
nimmt, daß zu Anfang der neunziger Jahre oft 
Heere von acht⸗ bis zehntauſend Mann mobil gemacht 
wurden, um die Aufftände in New Vorl oder Thila- 
beiphia zu unterdrüden. Im Jahre 1892 ftand zu 
gleicher Zeit die Miliz von fünf Staaten, durd 
reguläre Truppen unterftüßt, gegen die Streifer unter 
Waffen. Vereinigt wäre diefe Militärmadht gewiß 
größer geweſen als die ganze Armee, melde General 
Waſhington einft befehligte. Konnte man da nicht 
jagen, daß der Bürgerkrieg bereit3 ausgebrochen 
ji? — 

„In früherer Zeit hatten die Amerifaner mit 
Hohnlachen von den europätichen Monardien ge 
ſprochen. Sie fagten ganz ridtig, daß es um eine 
Regierung, die ſich nur durch die Gewalt der Bajo- 
nette vor ihrem eignen Volke jchügen könne, höchſt 
täglich bejtellt ei. Die Vereinigten Staaten waren 
aber infolge ihres Induftriefyftems nicht mehr weit 
von diefem Zuftand entfernt, und auf dem bejten 
Wege, ein Militärjtaat zu werben. 

„So war durch die Stonzentration des Beſitzes, 
welche man jchon unmittelbar nad dem Bürgerfrieg 
nicht ohme Sorge zu betradhten anfing, die Verfajlung 
des amerikanischen Volkes im ganzen und großen 
umgewandelt worden. Man braudt gar nicht näher 
auf Einzelheiten einzugehen, um zu dieſer Ueber— 
jeugung zu gelangen. 

„Die Heere des Nordens waren einft im Bürger- 
Trieg ausgezogen, um die Republif von ihren offenen 
Gegnern zu befreien. Unterdeilen hatte ſich aber 
ein viel gefährlicherer Feind, der daheim geblieben 
war, unbemerkt in die Regierungsgemalt eingeichlichen. 
Sie hatten die Kaftenherrfhaft der Stämme des 
Südens niedergeworfen; im Norden war jedoch in— 
zwiſchen die Klaſſenherrſchaft der Reichen ans Ruder 
gekommen, die ihre Macht über Süden und Norden 
gleichermaßen ausbreitete. In dem Beftreben, die 
politijche Einheit der Nation aufrecht zu erhalten, 
hatten die Voltsheere Ströme von Blut vergoſſen. 
Die foziale Einheit aber, welche die Grundlage jeder 
Republik bildet, war durd) den Beginn einer Klaſſen⸗ 
ipaltung zeritört worden, bei welcher die früher ge— 
einigte Nation ſchließlich in feindliche Parteien zer 


Bellamy. 


fallen mußte, die einander beargwöhnten und nur 
durch den eifernen Arm des Dejpotismus zufammen: 
gehalten noch als ein politiiches Ganzes beftanden, 
Vier Millionen Neger hatte man aus der Sklaverei 
befreit, dem Wolf der Meißen jedoch ein Jod auf 
erlegt, das es zur wirtichaftlichen und jozialen Knedt- 
Ichaft verdammte. Dies war zwar das gemeiniam 
208 ber europäiſchen Völker in der Alten Welt, aber 
die Gründer der amerifanijhen Republik hatten 
ſtolzen Mutes darauf vertraut, daß ihre Nachlommen 
dies Geſchick niemals teilen würden.‘“ 

Der Doktor Schloß das Buch, nachdem er jo writ 
gelefen hatte, und legte e8 aus der Hand, 

„Julian,“ jagte er, „dieſe Schilderung bon der 
Unterjohung der Republif durd die Piutofratie if 
höchſt merfwürdig. Sie haben das alles miterlebt 
und müfjen am beften beurteilen fönnen, ob die That: 
fachen übertrieben find.“ 

„Im Gegenteil," erwiderte ich; „es war fall, al 
läfen Sie mir das alles aus den damaligen Tage 
blättern vor. Alle politifchen, fozialen und geſchäft⸗ 
lichen Vorlommniſſe, die der Verfaſſer erwähnt, 
waren allgemein befannt und wurden öffentlich, ber 
fproden. Wenn fie mir nicht denjelben Eindrud 
machten wie jebt, fo fam das nur daher, daß nie 
mand fie überfichtlih zufammenftellte, um und ihre 
Bedeutung Har zu machen.” 

Der Doktor lieh ſich jekt von Edith nod ein 
andres Buch aus der Bibliothef holen. Er blätierte 
darin, bis er die Stelle gefunden hatte, die er fuchtt, 
und jagte dann: 

„Damit Sie nicht glauben, daß der Eindrud 
von Storiot® Schilderung der wirtſchaftlichen Zu: 
ftände in den Wereinigten Staaten während des 
letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durd 
feine Darftellungsweife fünftlich hervorgerufen wird, 
möchte ich Ihnen nur noch einige trodene, ftatiftiih: 
Angaben über die wirkliche Güterverteilung im jener 
Periode unterbreiten. Man erfieht daraus, bis auf 
weldjen Grad die Konzentration des Befites bereit 
gelangt war. Diefer Band enthält eine Sammlung 
von Berichten über Vermögensabjhäkung, Steuer 
veranſchlagung, Alten der Erbſchaftsgerichte und 
andre öffentliche Urkunden. Ich will Ihnen dreierlei 
Berechnungen vorlegen, die, alle von verſchiedenen 
Behörden veranſtaltet, auf ganz voneinander ge 
trennten Ermittlungen beruhen. Trotzdem ftimmen 
fie mit folcher Genauigfeit überein, daß man ſich bei 
einer jo umfangreichen Berechnung nur höchlich dariiber 
verwundern fann. Jeder Zweifel an der Richtigkeit 
der Reſultate wird dadurd völlig bejeitigt. 

„Aus den eriten Tabellen, welche Auszüge der 
Vermögensabſchätzung nad den ſtatiſtiſchen Zuſammen 
ſtellungen der Vereinigten Staaten vom Jahre 18% 
find, geht hervor, daß von den zmeinmdiedhzig 


Gleichheit. 


Billionen, die den Beſitzſtand der Republif bildeten, 
zwölf Billionen oder etwa ein Fünftel Eigentum 
einer Gruppe vielfacher Millionäre war, welche nur 
drei Hundertjtel Prozent der Bevölkerung ausmachten. 
Dreiunddreigig Billionen teilte die reiche und wohl— 
habende Klaſſe unter fich, zu der aber feine Millionäre 
zählten, und die nicht ganz neun Prozent des ameri— 
taniſchen Volls betrug. Alfo: die Millionäre, die 
Neihen und Wohljabenden — zujammen neun 
Prozent der Nation — bejaßen fünfundvierzig Billio- 
nen von den zweiundjechzig Billionen, auf die das 
ganze Nationalvermögen gejchägt wurde. Der Reit 
von einundneunzig Prozent der Gejamtbevölferung, 
die großen Maſſen, galt für unbemittelt und teilte 
die übrigen fiebzehn Billionen Dollars unter fic). 

„Nach der Schätzung einer zweiten Lifte, die im 
Jahre 1894 veröffentlicht und aus den Regiltern des 
Nachlaßgerichts über den Landbejik im Staate New 
York zufammengeftellt wurde, beſaß ein Prozent des 
Volles — aljo der humdertite Teil der Nation — 
mehr als die Hälfte, nämlich fünfundfünfzig Prozent, 
des Geſamtvermögens. Ein zweiter Bruchteil der 
Benölferung, die Wohlhabenden, etwa elf Prozent, 
war im Belik von über zweiunddreißig Prozent 
des nationalen Reichtums, von dem folglid nur 
dreizehn Prozent übrig blieben, in die ſich der Reſt 
von achtundachtzig Prozent der Nation teilen mußte. 
Diefe achtundachtzig Prozent zerfielen in die Armen 
und die Aermſten; letztere bildeten ungefähr fünfzig 
Prozent, das heißt, die Hälfte der ganzen Nation, 
und ihr Befig war jo gering, daß er bei der Schätzung 
überhaupt nicht in Betracht kam; offenbar lebten fie 
meift von der Hand in den Mund. 

„Die dritte Zählung, die ih anführen möchte, 
beruht auf ganz andern Daten, bezieht ſich aber auf 
die nämliche Periode und ſtimmt merkwürdig gut 
mit den beiden bereit8 erwähnten überein. Sie 


wurde in den Jahren 1889 und 1891 veröffentlicht 
Hiernad) 


und erregte ebenfalls großes Aufjehen. 


| 


— — — — — — — — — — — — — — — — — — 


1031 


zerfällt die Nation in drei Klaſſen, nämlich: bie 
Reichen, der Mittelftand und der Arbeiterftand. Den 
Reihen — ein und vier Zehntel Prozent der Be- 
völferung — werden jiebzig Prozent des Gejamt- 
befies zugejchrichen. Der Mittelftand — neun und 
zwei Zehntel Prozent der Bevölkerung — verfügt über 
zwölf Prozent des Nationalvermögens. Die reiche und 
die mittlere Klaſſe — zufammen zehn und ſechs Zehntel 
Prozent der Bewohner — hat alſo zweiundachtzig 
Prozent des Gejamtvermögens, und der Arbeiter- 
ftand — neunundachtzig und vier Zehntel Prozent 
der Nation — behält nur achtzehn Prozent von dem 
Gejamtvermögen für fi) übrig.” 

„Doktor,“ rief ih, „dab die Güter zu meiner 
Zeit recht ungleich verteilt waren, wußte ich wohl, 
aber ich hatte feine Ahnung davon, daß die Sachen 
jo ſchlimm ftünden. Es wäre unnüß, wollten Sie 
ſich noch weiter bemühen, um mir zu erflären, warum 
das Volt fi gegen die Herrſchaft des Privat- 
fapitaliamus empört hat. Wen diefe Zahlen nicht 
zum Revolutionär maden, der müßte ja von Stein 
fein.” . 

„IH dachte mir gleih, dab Sie das fagen 
würden,“ verjeßte der Doktor. „Vergeſſen Sie aud) 
nicht, daß durch dieſe ungeheuerlihen Zahlen nur 
der Fortichritt in der Konzentration des Beſitzes 
innerhalb einer einzigen Generation dargeftellt wird. 
Wohl mochten die Amerikaner zu einander jagen: 
‚So man das thut am grünen Holz, was will am 
dürren werden? Wenn der Privatlapitalismus in 
einem Gemeinwejen, welches früher eine Art wirt 
ichaftlicher Gleichheit bejejlen hatte, nur eines Zeit- 
raumes von dreißig Jahren bedurfte, um der ganzen 
Nation ihr Eigentum zu rauben und eine Heine 
Minderzahl zu bereichern, was würde er wohl dem 
Volke nad) hundert Jahren noch übrig gelafien haben ? 
Was war denn überhaupt für die nächfte Generation 
eigentlich noch) vorhanden ?* 


(Fortfeßung folgt.) 





Wie gebeiratet wird. 


Fmile Zola. 
Aus dem Franzöſiſchen überfeßt von B. C. 


Im fiebzehnten Jahrhundert ift Amor in Fran: 
rei ein vornehmer Herr in prächtigen Kleidern, 
mit einem Federbuſch, der, von einer ernſten DMufit 
angekündigt, durch die Salons ſchreitet. Er unter- 
wirft fich einem jehr verwidelten Zeremoniell und 
wagt feinen Schritt zu machen, ohne daß derjelbe 
im voraus geregelt ward; im übrigen ift er ein Edel— 
mann vom Scheitel bis zur Sohle, gemeſſen in 
feiner Zärtlichkeit, ehrbar in jeiner freude. Im 
achizehnten Jahrhundert ijt Amor ein aufgelnöpfter 


Taugenichts. Er Tiebt, wie er lacht, um des Liebens | 


und des Ladens willen, führt fi zum Frühſtück 
eine Blonde, zum Mahl eine Braune zu Gemüte 
und behandelt die frauen als Göttinnen, die die 
Luſt mit offenen Händen unter alle ihre Berehrer 
verteilen. Ein Haud von Wolluſt jtreift über die 
ganze Gejellichaft, führt den Reigen der Hirtinnen 
und Nymphen mit den entblößten, unter Spiken 
erjchauernden Buſen; es ijt eine anbetungswürdige 
Zeit, da die Sinnlichkeit Königin war, ein großes 
Geniehen, deflen jerner Atem zugleich mit dem Duft 








gelöften Haares nod warm zu uns herüberjchlägt. | 


Im neunzehnten Jahrhundert ift Amor ein geießter 
junger Menſch, forreft wie ein Notar, der Staatö« 
papiere befißt, Er geht in Gejellichaft oder ver— 


fauft irgend etwas im Hintergrunde eines Ladens; | 
die Politit beichäftigt ihm, die Geſchäfte nehmen | 


feinen ganzen Tag von neun Uhr morgens bis 
ſechs Uhr abends in Anſpruch, und feine Nächte 
widmet er der Praxis in der Liederlichfeit, entweder 
einer Geliebten, die er bezahlt, oder einer legitimen 
Gattin, die ihn bezahlt. 

So ift alſo die heroijche Liche des fiebzehnten 
Jahrhunderts, die finnliche Liebe des achtzehnten zur 


pofitiven Liebe geworden, die man wie ein Geihäft | 


auf der Börſe abmacht. Neulich Hörte ich einen 


eine Maſchine zum Slindererzeugen erfunden babe. 


Man maht ja Mafhinen zum Dreſchen des Ge 


treides, zum Weben der Leinwand, um bei allen 
Arbeiten die menſchlichen Muskeln durch Räder zu 
erjegen; von dem Tage an, da eine Machine für bie 
großen Arbeiter des Jahrhunderts, für jene, welde 
jede Minute der modernen Thätigkeit ſchenlen, lieben 


wird, werden fie Zeit erjparen und in den Kämpfen 
des Lebens härter und männlicher fein. Seit der 
furdtbaren Erjchütterung der Revolution haben die 
Männer in Frankreich noch feine Muße gefunden, 
an die rauen zu denfen. Unter Napoleon 1. Bit: 
derten die Kanonen die Liebenden, ſich zu veritehen; 
während der Reftauration und während der Juli: 
monardie Hat ſich der Gejellichaft ein wütende 
Bedürfnis nad) Reichtum bemächtigt, und jhlichlid 
bat die Regierung Napoleons II. nur die Gelb 
gelüfte jchwellen gemacht, ohne auch nur ein origineles 
after, eine neue Schwelgerei herbeizuführen. Es if 
auch noch) eine andre Urfache vorhanden: die Willen: 
ichaft, der Dampf, die Eleftricität, alle Entdedungen 
der lekten fünfzig Jahre. Man muß dem modernen 
Mann nur jehen, wie er mit jeinen vielfachen Beihil- 
tigungen, immer draußen lebend, verzehrt von der 
Notwendigkeit, jein Vermögen zu bewahren und ju 
vermehren, den Geiſt von den ſtets meuerftchenden 
Problemen gefangen, die Sinne von den Strapayn 
jeines täglihen Kampfes eingeichläfert, jelbit ein 
bloßes Räderwerk in der in voller Arbeit befind- 
lichen riejenhaften fozialen Maſchine geworden il, 
Er hat Geliebte, jo wie man Pferde hat, um fih 
Bewegung zu machen. Wenn er heiratet, jo geſchiehl 
es, weil die Heirat eine Unternehmung if, wie jede 
andre, und wenn er Sinder hat, jo fommt bas da: 
her, weil jeine Gattin es wollte. 

Die traurigen Heiraten von Heute haben ned 
eine andre Urſache, bei der ich verweilen will, eb 
ich zu den Beilpielen gelange, Diefe Urſache it 
der tiefe Graben, den bei uns Erziehung und Unter: 
richt von Kindheit auf zwiſchen den Knaben um 
Mädchen aushöhlen. Ich nehme als Beijpiel die 
Meine Marie und den feinen Pierre. Bis zu jed? 


‚ oder jieben Jahren läßt man fie zuſammen jpiden, 
Induftriellen darüber Hagen, dab man nod nicht | 


ihre Mütter find Freundinnen, fie duzen ſich, ver- 
jeßen einander geſchwiſterliche Klapſe, wälzen fie 
ohne Scham in den Winkeln herum. Mit fieber 
Jahren aber trennt die Gejellihaft fie und bemäd- 
tigt fi ihrer. Pierre wird in ein Gymnaſium 
eingejperrt, wo man alle Kräfte aufbietet, um jeinen 
Schädel mit dem Reſumé aller menjchlichen Kent 
niffe anzufüllen; jpäter tritt er in Spejzialſchulen 


Wie geheiratet wird. 


ein, wählt eine Saufbahn, wird ein Mann. Sid 
jelbft überliefert, während diefer langen Lehrzeit des 
Lebens mitten unter das Gute und Böſe losge— 
laſſen, hat er die Gemeinheit geftreift, Schmerzen 
und Freuden gefojtet, ſich Begriffe von Dingen 
und Menichen gebildet. Marie im Gegenteil hat 
die ganze Zeit in der Wohnung ihrer Mutter zu= 
gebracht; man lehrte fie, was ein wohlerzogenes 
junges Mädchen wilfen muß: gereinigte Litteratur 
und Geſchichte, Geographie, Arithmetit, den Kate 
chismus, und außerdem kann fie Klavier jpielen, 
tanzen, mit zweifarbigem Stift Landſchaften zeichnen. 
Marie kennt daher die Welt nicht, die fie mur durchs 
Fenſter gejehen hat; ja, man hatte jogar das Fenſter 
geſchloſſen, wenn das Leben zu lärmend durch bie 
Straßen ging. Nie hat fie ſich allein auf das 
Trottoir hinausgewagt; fie wurde jorgjam gleich einer 
Treibhauspflanze bewacht, indem man ihr Luft und 
Licht zuteilte umd fie fern von jeglicher Berührung 
in einer künſtlichen Umgebung entwidelte. Nun 
ftelle ic; mir vor, daß Marie und Pierre einander 
zehn oder zwölf Jahre jpäter wieder gegenübertreten. 
Sie find einander fremd geworden, die Begegnung 
iſt voll Befangenheit, fie duzen einander nicht mehr, 
foßen fi nicht mehr zum Spaß in den Zimmer- 
eden herum. Grrötend fteht fie unruhig dem Un— 
befannten gegenüber, das er mit ſich bringt, und er 
fühlt, wenn fie unter fih find, den Strom bes 
Lebens, die graujamen Wahrheiten, von denen er 
nicht ganz laut zu jprechen wagt. Was könnten 
fie einander auch jagen? Sie reden eine verjchiedene 
Sprache, find nicht mehr Ähnliche Wefen. So bleiben 
fie auf die alltäglichen landläufigen Gejpräcdhe be» 
ſchränkt; eim jeder hält fi in Defenfive, faft wie 
Feinde, und ſchon belügt eins das andre. 

Gewiß will ich nicht behaupten, daß man unire 
Söhne und Töchter miteinander aufwachſen laſſen ſoll 
wie das Unkraut in unjern Gärten. Die Frage diefer 
zweifadhen Erziehung ift für einen einfachen Beob— 
achter zu ſchwierig. Ich begnüge mich, zu jagen, wie 
8 ſteht: unſre Söhne willen alles, unſre Töchter 
wiffen gar nichts. Einer meiner Freunde erzählte 
mir oft von dem jeltfamen Gefühl, das er während 
jeiner Jugend empfand, ala er merkte, daß feine 
Schweftern ihm nad und nad fremd wurden. Jedes 
Jahr, wenn er vom Gymnafium beimfam, fühlte er, 
daß der Graben tiefer, die Kälte größer geworben 
jei. Schließlich kam ein Tag, da er ihnen nichts 
mehr zu jagen wußte, und nachdem er fie herzlich 
umarmt hatte, blieb ihm michts weiter übrig als 
jeinen Hut zu nehmen und zu gehen, Wie ſteht es 
aljo in dem wichtigen Fall der Ehe? Dort treffen 
die beiden Welten in einem unvermeidlichen Zufammen« 
prall aufeinander, und ftet3 drobt der Stoß die Frau 
oder den Mann zu zerbrechen. Pierre heiratet Marie, 

Aus fremden Zungen. 1897, IL 22, 





1033 


ohne fie fennen zu Fönnen, ohne daß er ſich ihr zu 
erfennen zu geben vermag; denn es ift nicht er= 
laubt, eine gegenfeitige Probe zu verjuchen. Die 
Familie der jungen Dame iit gewöhnlich glücklich, 
fie endlich zu verforgen: Sie übergiebt fie dem 
Bräutigam, indem fie ihn darauf aufmerffjam madjt, 
daß man fie ihm in gutem Zuftand, intakt über- 
giebt, wie eine Braut fein muß. Dept iſt es der 
Gatte, der über ſeine Frau zu wachen hat. Nun wird 
Marie jäh in die Liebe, ins Leben, in die jo lange 
behüteten Geheimniffe hineingejchleudert; das Un— 
befannte enthüllt fi ihr von einer Minute zur 
andern. Die beiten Gattinnen behalten davon manch- 
mal eine tiefe Erjchütterung zurüd; aber das 
Schlimmſte ift, daß der Antagonismus der beiden 
Erziehungen weiter dauert. Wenn der Ehemann 
jeine frau nicht nad) jeiner Weiſe umbildet , wird 
fie ihm mit ihren Weberzeugungen, der Richtung 
ihrer Natur, der unheilbaren Einfalt ihrer Erziehung 
erwig fremd bleiben. Welch ein ſeltſames Syitem 
ift es, daß man die Menſchheit in zwei Lager teilt, 
die Männer auf der einen, die Frauen auf der 
andern Seite, um die beiden Lager, nahdem man 
fie gegeneinander bewaffnet hat, zu vereinigen und 
zu ihnen zu jagen: „Lebet in Frieden miteinander!” 

Mit einem Wort, der Mann unſrer Zeit hat 
feine Zeit, zu lieben, und er heiratet jeine Frau, 
ohne fie zu fennen, ohne von ihr gefannt zu werden, 
Das find die zwei untericheidenden Merkmale der 
modernen Ehe. Ich vermeide e8, die gegebene That— 
fache durch weiteres Spezifizieren zu verwideln, und 
gehe zu den Beijpielen über, 


I 


Der Graf Marime de la Roche-Mablon ift 
zweiunddreißig Jahre ‘alt und gehört einer der 
älteften Familien von Anjou an; jein Vater war 
Senator während des Kaiſerreichs, ohne, wie er jagt, 
eine einzige feiner Tegitimiftifchen Ueberzeugungen 
aufgegeben zu haben. Die la Roche-Mablons haben 
übrigens während der Emigration fein Stüd Erde 
verloren und werden nod) unter den großen Grund— 
befigern Frankreichs angeführt, Was Maxime ber 
trifft, jo hat er eine ſchöne Jugend verlebt, Dienfte 
ala päpftlider Zuave genommen, iſt dann nad) 
Paris zurüdgelehrt, wo er Pferde laufen lieh, 
ipielte, Maitreſſen hatte, ſich duellierte, ohne ſich 
ins Gerede bringen zu können, iſt ein großer, blon— 
der junger Menſch, ein guter Reiter, von mittel« 
mäßiger Intelligenz, ohne extreme Leidenidaften, 
und denft jet daran, in die Diplomatie zu treten, 
um ein Ende zu machen, 

Der ftarte Geiſt der Roche-Mablons ift eine 
Tante, die Baronin von Buſſiere, eine alte, unruhige 
Dame, die ſich in der akademiſchen und politijchen 

130 


1034 


Gefellichaft bewegt. Kaum vertraut ihr Marime 
feine Pläne an, fo fchreit fie, daß er vor allem 
heiraten müffe, denn die Heirat jei die Grundlage 
jeder ernjlen Laufbahn. Marime bat gegen die 
Ehe gar keinen ernftlichen Einwand zu erheben. Er 
bat nicht daran gedacht, würde e& vorziehen, Jung« 
gejelle zu bleiben, aber ſchließlich, da es abjolut 
notwendig iſt, zu heiraten, um feinen Rang in der 
Sefellichaft einzunehmen, wird er aud) dieje Förm— 
lichkeit durchmachen wie jede andre, ber da er, 
wie er lachend gefteht, gar feine Liebe im Herzen 
trägt, müßt es ihm nichts, wenn er jein Gedächtnis 
duchhftöbert: es fcheint ihm, daß alle junge Mäd— 
hen, mit denen er in den Salon getanzt hat, 
dasjelbe weiße Kleid und dasjelbe Lächeln haben. 
Frau von Bufficre ift entzüct und nimmt alles auf ſich. 

Am nächſten Tage erzählt ihm die Baronin von 
Fräulein Henriette von Salneuve. Beträchtliches 
Vermögen, alter normannifher Adel, auf beiden 
Seiten vollftändige Konvenienz. Bejonderes Gewicht 
legt fie auf die forrefte Seite dieſer Verbindung: 
eine Partie, welche die Forderungen der Welt beijer 
befriedigen würde, ließe ſich nicht finden; es wäre 
eine jener Heiraten, die niemand in Erjiaunen ſetzen. 
Maxime jcpüttelt mit wohlgefälliger Miene den Kopf. 
In der That, all das fommt ihm jehr vernünftig 
vor. Die Namen find einander gleih, das Ver— 
mögen ebenfalls, und wenn er dabei beharrt, in die 
Diplomatie eintreten zu wollen, ftellen ſich die Ver— 
bindungen als jehr koftbar bar. 

„Sie ift blond, glaub’ ich?“ fragt er zuleht. 

„Nein, braun,“ antwortet die Baronin, „Das 
heißt, ich weiß nicht mehr recht.“ 

Uebrigens liegt wenig daran, Sicher ift, daß 
Henriette neunzehn Jahre alt if. Marime fommt 
es vor, daß er mit ihr getanzt hat — vielleicht ift 
es aber auch ihre jüngere Schwefter geweien. Von 
ihrer Erziehung wird nicht geſprochen; das wäre 
unnüß: fie ift von ihrer Mutter erzogen worden, 
das genügt. Was ihren Charakter betrifft, jo Lönnte 
davon gar nicht die Rede jein; niemand fennt ihn. 
Frau von Buffiere behauptet, daß jie fie einmal 
einen Chopinſchen Walzer mit ſehr viel Seele fpielen 
gehört habe; im übrigen joll nod) jelbigen Abends in 
einem neutralen Salon eine Begegnung ftattfinden. 

Als Marime am Abend Fräulein von Salneuve 
erblidt, ift er jehr überraſcht, das fie hübſch if. Er 
tanzt mit ihr, macht ihr Komplimente über ihren 
Fächer und erhält zum Dank ein Lächeln. Vier— 
zehn Tage ſpäter wird der offizielle Antrag geitellt, 
und der Ehevertrag vor dem Notar abgeichlofien. 
Marime bat Henriette fünfmal gejehen. Sie ift 
wirllich jehr hübſch, hat eine weiße Haut, eine runde 
Taille und wird es verftehen, fich zu Heiden, jobald 


— — — — — — — — — — — — — — — — ——— — 


Emile Zola. 


Mittlerweile ſcheint fie Muſik zu lieben, verabſchent 
den Geruch von Moſchus und hat eine Freundin 
gehabt, die Elaire hieß und tot if. Tas ift ale. 
Marime findet übrigens, daß dies genügt: fie ift 
eine Salneuve, er übernimmt fie aus der Hand 
einer flrengen Mutter. Später werden fie Zeit 
haben, einander fennen zu lernen, und mittlerweile 
gedenft er ihrer ohne Mißfallen. Er ift nicht gerade 
verliebt, aber es ift ihm durchaus nicht unlieb, daß jie 
hübſch ift; denn wenn fie zufällig häßlich geweſen 
wäre, hätte er fie offenbar ebenfalls geheiratet. 

Acht Tage vor der Hochzeit jchlieht der junge 
Graf mit feinem Junggejellenleben ab. Seine Geliebte 
ift zurzeit die große Antonie, eine ehemalige Kunft: 
reiterin, die diamantenbededt von Brafilien zurüd: 
fehrte. Er erneuert jeine Einrichtung und bricht mit 
ihr in aller Freundihaft, nad einem Souper, bei 
dem auf fein eheliches Glüd getrunfen wird. Dann 
bezahlt er die paar Echulden, die er haben fan, 
entläßt feinen Kammerdiener, verbrennt unnüke 
Briefe, läßt die Fenſter öffnen, damit fein Palais 
gelüftet wird, und iſt nun bereit. Troßdem giebt 
es ganz tief in feinem Innern einige Yebensftunden, 
die er aufbewahrt, und er hält es für genügend, 
dab er die Thüren feines Herzens für ewig hinter 
ihnen geſchloſſen bat. 

Die Notare der beiden Kamilien haben den Ehe 
vertrag aufgejeßt; dieſe ganze niedrige Geldfrage ift 
ihnen überlajlen worden. Nichts einfacher: das Zus 
gebrachte der Gatten ift befannt, die Ehe ſoll nad dem 
Dotaliyitem ftattfinden. Während der Berleiung 
des Vertrags verhalten fi die beiden Familien 
ftumm; dann unterjhreibt man ohne jede Bemerkung, 
indem man einander lächelnd die Feder reicht, und 
jpricht von etwas anderm — von einem Wohlthätig- 
feitöfeft, das die Baronin ſich ausgedacht, von einer 
Predigt, bei der Pater Dulac wirklich viel Geiſt 
gezeigt hat. 

Die ſtandesamtliche Trauung geht an einem 
Montag vor ih, an einem Tage, an dem auf der 
Mairie gewöhnlic Feine Hochzeiten ftattfinden. Die 
Braut trägt ein jeher einfaches graues Seidenkleid, 
der Bräutigam Ueberrod und helles Beinkleid. Reine 
einzige Einladung ift ergangen; nur die Yamilie 
und die vier Zeugen, hervorragende Perlönlichteiten, 
find anmwejend. Während der Maire die Geſetzes 
artifel verlieft, begegnen fi) die Blide Marimes und 
Henrietteng, und jie lächeln einander zu. Wie bar: 
bariſch ift dieje Sprache des Gejehes! Iſt die Ehe 
wirflih etwas jo Schredliches? Eines nad) dem 
andern jpricht daß feierliche „Ja“ ohne die geringiie 
Bewegung aus, denn der Maire ijt ein beinabe 
budligs Männden, dejjen kränkliche Ericheinung 
jeder Majeftät entbehrtl. Die Baronin, in dumfler 


fie einmal ihre Badfıfchkleiver wird abwerfen fönnen. ! Toilette, betrachtet den Saal durd ihr Lorgnon 


Wie geheiratet wird. 


und findet, daß das Geſeß eine recht ärmliche Be— 
hauſung habe. Beim Verlaſſen der Mairie hinter 
legen DMarime und Henriette je taufend Franken 
für die Armen. 

Aller Pomp, alle Thränen der Rührung wer: 
den jedod) für die Firchliche Zeremonie vorbehalten. 
Um nicht mit den gewöhnlichen Hochzeiten vermengt 
zu werden, bat man eine Privatfirdhe, die Heine 
Miffionskapelle, gewählt; das verleiht der Hochzeit 
ſofort einen Duft höherer Frömmigkeit. Monfeigneur 
Felibien, ein Biſchof aus dem Süden, ein ent- 
fernter Nerwandter der Salneuves, ſoll den Bund 
einjegnen. Als der große Tag erfcheint, erweiit fich 
die Kapelle als zu fein; drei Nebenjtraken find von 
Equipagen verjperrt; durch das Innere, durch das 
Halbdunkel der Kirchenfenſter geht ein Raufchen von 
reihen Stoffen, ein diäfretes Gemurmel. Ueberall 
find Teppiche gelegt; vor dem Altar fliehen Fünf 
Reihen Lehnftühle; der ganze Adel Frankreichs ift 
da, zu Haufe bei jeinem Gott. Marime jedoch, in 
tadellojer Kleidung, fieht ein wenig blaß aus. Hen« 
riette erjcheint, ganz weiß, von einer Tüllwolke um— 
geben; auch fie ift jehr bewegt, ihre Augen find rot, 
fie hat geweint. Als Monſeigneur Fölibien die 
Hände über ihre Häupter breitet, verharren beide 
einige Sekunden in gebüdter Stellung, mit einer 
Inbrunſt, die den beiten Eindrud madht. Dann 
fpricht der Bijchof mit fingender Stimme von den 
ehelichen Pilihten, und die Familienmitglieder 
wilchen fi Thränen aus den Augen, insbejondere 
Frau von Bulfiere, die eine jehr unglüdliche Ehe 
führte. Dann endet die Zeremonie inmitten von 
Weihrauchduft und der Pracht brennender Kerzen, 
Es ift dies fein bürgerlicher Luxus, ſondern eine 
höhere Vornehmbeit, welche die Reliaion zum Ge— 
brauch hochgeborener Leute verfeinert. Bis zu den 
legten, nad) der Unterzeichnung der Dokumente ge- 
wechielten Händedrüden bleibt die Kirche ein Salon. 

Am Abend Diner im Familienkreiſe, bei ge 
ichloffenen Fenſtern und Thüren, und plößlich, 
gegen Mitternacht, ala Henriette, das Gefidht der 
Wand zugefehrt, in ihrem Ehebeit vor Froſt zittert, 
fühlt fie, wie Marime einen Hub auf ihr Haar 
drüdt. Er ijt geräufchlos Hinter den Eltern ein- 
getreten. Sie Htöht einen Schrei aus, fleht ihn an, 
fie allein zu laſſen; er lächelt und behandelt fie wie 
ein Kind, das man beruhigen will, Er ift zu galant, 
um nicht zuerft alle mögliche Schonung walten zu 
lafien; aber er fennt die frauen, weiß, auf welche 
Art man gegen fie vorgehen muß, bleibt alfo und 
füßt ihr mit ſchmeichelnden Worten die Hände. Sie 
hat nichts zu fürchten; ift er denn nicht ihr Gatte, 
muß er nicht über ihr teures Leben wachen? Dann, 
als fie immer mehr erfchridt und unter Schluchzen 
nach ihrer Mutter zu rufen beginnt, glaubt er die 


1035 


Sade ein wenig brüsfieren zu müjjen, damit die 
Situation nicht ind Lächerliche umſchlage. Uebrigens 
bfeibt er Weltmann und entjinnt fich zu jehr ge 


fegener Zeit an die Art und Weile, wie er es mit 


der Kleinen Laurence von den Folies angefangen hat, 
die nach einem Souper nichts von ihm willen wollte, 
Henriette it viel beffer erzogen als Laurence: fie 
kratzt ihn nicht, verfegt ihm keine Fußtritte; von 
einem Furchtſchauer gejchüttelt wehrt jie ſich kaum und 
gehört ihm, Sie weint, fie fiebert und wagt nicht mehr 
die Augen aufzuſchlagen. Die ganze Nacht weint 
fie und drüdt den Mund ins Kiffen, damit er es 
nicht hört. Diefer Mann an ihrer Seite verurjacht 
ihr Entſetzen und Widerwillen. Ach, wie ſchrecklich! 
Warum bat man ihr nie davon erzählt? Sie hätte 
gewiß nicht geheiratet. Daß ihre lange, frenge und 
unwiſſende Jugendzeit zu dieſer brutalen Einweihung 
führte, erjcheint ihr als cin unbeilbares Unglüd, 
über das fie fich nie tröften wird. 

Vierzehn Monate fpäter betritt der Graf nicht 
mehr das Zimmer der Gräfin. Die Flitterwochen 
dauerten drei Wochen; die Urſache des Bruches war 
eine ſehr heille. Maxime, an die große Antonie 
gewöhnt, wollte aus Henriette eine Geliebte machen, 
und dieſe, eine falte Natur mit noch jchlummernden 
Sinnen, wehrte ſich gegen gewiſſe Launen. Andrer— 
ſeits entdedten fie gleich am zweiten Tage, daß fie 
fidy niemals miteinander vertragen würden, Marime 
befikt ein ſanguiniſches, heftige und jlarrfinniges 
Temperament, Henriette eine große Schlaffheit, eine 
lähmende Ruhe in ihrem Weſen, troßdem jie bei 
der geringften Sade eine ähnlihe SHartnädigfeit 
zeigt. Sie beſchuldigen daher einer den andern der 
Ihwärzeften Bosheit, aber da Peute ihres Ranges 
immer den Schein wahren müflen, leben fie auf jehr 
böflihem Fuß miteinander. Jeden Morgen lajjen 
fie ſich gegenfeitig nad ihrem Befinden erkundigen, 
trennen jich abends mit einem zeremonidfen Gruß 
und find einander fremder, als wenn fie Taufende 
von Meilen voneinander wohnen würden, während 
bloß ein Salon ihre Zimmer jcheidet. 

Mittlerweile hat Marime ſich mit Antonie aus- 
gejöhnt und auf die Idee, Diplomat zu werden, 
gänzlich verzichte. Das war eine dumme bee. 
Ein de la Rode-Mablon bat es nicht nötig, ſich in 
diejer Zeit des demofratiichen Gejchreis in der Por 
Titit zu fompromittieren. Was ihn mandmal, wenn 
er die Baronin von Buſſière trifft, lächeln macht, 
ift der Gedanke, daß er fih jo gänzlich unnützer— 
weile vermäblt hat. Uebrigens bereut er es nicht: 
Titel, Vermögen, alles ift da, Er läßt abermals 
Pferde laufen, verbringt die Nächte im Klub und 
führt das vornehme Leben eines Edelmannes aus 
großem Geſchlechte. 

Henriette bat ſich zuerft ſehr gelangweilt, dann 


1036 


ſehr lebhaft bie fyreiheit der Ehe geloftet. Sie läßt 
zehnmal des Tages anipannen, beſucht die Kauf: 
läden, ihre Freundinnen, genieht die Gejellichaft, 
befibt alle Benefizien einer jungen Witwe. Bißher 
bat die große Ruhe ihres Temperamentes fie vor 
ernften Wehltritten bewahrt; das Höchfte war, daß 
fie fich die Finger füllen ließ. Aber es giebt Stun— 
den, da fie ſich für jehr dumm bält, und fie tft jo 
weit, gelaffen mit ſich ſelbſt zu erörtern, ob fie ſich 
nicht im nächſten Winter einen Geliebten nehmen Toll. 


II. 


Herr Jules Beaugrand iſt der Sohn des Ad— 
volaten Beaugraud, des berühmten Redners auf 
unſern politiſchen Verſammlungen. Antoine Beau— 
grand, der Großvater, war ein friedlicher Bür— 
ger don Anger, aus einer in der Provinz jehr 
geihäßten Notarsfamilie. Er hatte am Notariat 
feinen Geſchmack gefunden und verjehrte ruhig feine 
Renten. Sein ältejter Sohn hingegen, der berühmte 
Veaugrand, ein jehr thätiger und ehrgeiziger Menſch, 
hatte fi ein jchönes Vermögen geihaffen. Was 
Jules Beaugrand betrifft, jo befikt er die großen 
Abſichten feines Vaters, die eitle Sucht nad einer 
hohen Stellung, das Bedürfnis nad fürftlichem 
Luxus. Leider ift er eben dreißig Jahre alt ge— 
worden und beginnt, jich für mittelmäßig zu halten. 
Anfangs träumie er von einem Mandat, von Tri- 
bünenerfolgen, einem Minifterportefeuille bei der 
eriten Regierungsfataftrophe; aber in dem Mlubzimmer 
der jungen Advokaten, wo er fi in der Berediame 
feit verjuchte, entdedte er an ſich ein unerträgliches 
Zungengeitammel, eine Xrägheit in Ideen und 
Worten, die ihm politiiche Triumphe unbedingt ver- 
jagten. Später ſchwankte er einen Augenblid und 
überlegte bei ſich, ob er ſich nicht auf die Induſtrie 
werfen jolle; allein die Spezialſtudien erjchredten 
ihn. Schließlich entjchied er fih ganz einfach für 
eine Anmwaltsfanzlei, und fein Water, der nicht wußte, 
wie er fich benehmen follte, kaufte ihm zu ſehr hohem 
Preife eine der beften Kanzleien, deren leßter In— 
haber ein paar Millionen verdient hatte. 

Seit einem halben Jahr iſt Jules aljo Anwalt. 
Die Kanzlei befindet ſich in einer büfteren Wohnung 
in der Rue Sainte-Anne, aber er jelbit bewohnt ein 
Palais in ber Rue d'Amſterdam, verbringt jeine 
Abende in Geſellſchaft, ſammelt Gemälde und giebt 
ih jo wenig wie möglich als Advokat. Troß- 
dem findet er, dab die Sache langſam geht; es 
fehlt ihm ein größerer Luxus in feiner Umgebung, 
zum Beijpiel ein Diner wöchentlich für hervor— 
tragende Perfönlichkeiten oder ein Jour am Diend- 
tagabend, der alle politischen Freunde jeines Vaters 
vereinigen würde. Er redet ſich jogar ein, daß ein 
größerer Haushalt, Empfänge, fünf Pferde im Stall, 


Emile Zola, 


furz eine Vergrößerung feines ganzen Heims eimas 
Vortrefflihes wäre, wodurch feine Kundſchaft ſich 
verdoppeln würde. 

„Heirate,“ jagt fein Vater, den er um Rat 
fragt. „Eine Frau wird dir Leben und Glanz ins 
Haus bringen. Nimm eine Neiche, denn unter 
diejen Borausjegungen foftet eine Frau ſehr vie. 
Halt, Fräulein Defoignes, die Tochter des Fabri— 
fanten... jie befommt eine Million Mitgift. Das 
paßt für dich.” 

Jules beeilt ſich nicht, er läßt den Gedanken reifen, 
Ohne Zweifel, eine Heirat würde feine Stellung 
feitigen; aber das ift eine ernjte Sache, die nicht 
jo leichthin abgejchloffen werden darf. Er ihäkt 
alfo die Vermögen in feiner Umgebung ab. Sein 
Vater mit feinem überlegenen Blid hatte redt: 
Fräulein Marguerite Desvignes ift wirklich die 
folidefte Partie. Nun zieht er genaue Erkundigungen 
über die Profperität der Desvignesichen Fabrik ein, 
bringt ſogar geihidt den Notar der Familie zum 
Reden. In der That, der Bater giebt ihr eine 
Million mit; vielleicht wird er jogar bis zu zwölj- 
malhunderttauiend Franlen gehen. Wenn der Vater 
zwölfmalhunderttaujend Franken giebt, jo ift Jule 
entſchloſſen zu heiraten. 

Drei Monate lang wird das Unternehmen Hug 
geführt, und der berühmte Beaugrand ſpielt dabei 
eine entjcheidende Rolle. Er ift es, der mit Dei- 
vignes, einem feiner ehemaligen Kollegen in der fon 
ftitwierenden Verſammlung, in Verbindung tritt; er 
ift es, der ihn allmählich blendet und dahin treibt, 
feine Tochter ſamt den zwölfmalhunderttaujend fran- 
fen anzubieten. 

„Ich Habe ihn in der Hand!” jagt er lachend 
zu Jules. „Jetzt mache du ihr den Hof!” 

Jules bat Marguerite als Kind gefannt; die 
beiden Familien verbradten den Sommer auf dem 
Sande, in der Nähe von Yyontainebleau, und waren 
Nahbarn. Marguerite iſt bereits fünfundzwanzig 
Jahre alt — aber, du lieber Gott, wie häßlich 
fommt fie ihm vor, als er fie wiederfieht! Gewiß 
fie ift nie ſchön geweſen; fie war früher ſchwarz 
wie ein junger Maulwurf; aber fie ift beinahe 
budlig geworden, und ein Auge ift größer al& da? 
andre. Indes ift fie das liebenewürdigfte Mädchen 
von der Weit, ſehr geiftreich, wie es heißt, und in 
Bezug auf die Eigenihaften, die fie von einem 
Manne fordert, außerordentlich anſpruchsvoll; ſie 
bat die beſten Partien abgewiejen, wodurd ih er: 
klärt, warum fie bei ihrer Million fo lange Mäbd- 
hen geblieben ift. Als Jules fie nad) der erſten 
Begegnung verläßt, erklärt er, daß fie ganz hübſch 
ſei; fie kleidet fich entzüdend. jpricht über alles mü 
prächtiger Zuverſicht und ſcheint die Frau zu fein, 
die einen Salon zu führen verfteht, eine echtt 








Wie geheiratet wird. 


Pariſerin, der ihre Häßlichkeit einfach einen Stich von 
Originalität verleiht. Und dann: ein Mädchen mit 
zwölfmalfunderttaufend Franken darf fid) wirklich 
geftatten, häßlich zu fein. 

Fortan geht die Sache glattweg. Die Ver- 
lobten find nicht Leute, die fi) bei unwichtigen 
Dingen aufhalten; beide wijfen jehr gut, was für 
einen Handel fie jchließen, und haben fih mit einem 
Lächeln verftanden. Marguerite ift in einem arifto- 
fratiichen Penfionat erzogen worden; fie hatte ihre 
Mutter mit fieben Jahren verloren, und ihr Vater 
fonnte nicht über ihre Erziehung wachen. So ift 
fie bis zu ihrem fiebzehnten Jahre in der Penfion 
geblieben, wo jie alles lernte, was ein reiches junges 
Mädchen fönnen muß: Mufil, Tanzen, gute Manieren, 
ſogar ein bißchen Grammatik, Gejchichte und Arith- 
metit. Ihre Erziehung vollzog fid) jedoch vor allem 
in der Gejellichaft ihrer Kameradinnen, der fleinen 
Damen, die aus all den vornehmen Bierteln von 
Paris zujammenfamen. In diefer engen Welt, 
die das verfleinerte Abbild der ungeheuren Welt war, 
zwiichen den vier Mauern des Garten®, in dem 
ie aufwuchs, lernte fie von ihrem vierzehnten 
Jahre ab die Süßigkeiten des Reichtums, den prak— 
tiihen Geift des Jahrhunderts, die Macht der Frau, 
alles fennen, was unfre vorgefchrittene Zivilifation 
ausmacht. Wenn fie auch bei irgend einer haus— 
wirtfchaftlichen Frage ſchwanlen mag, jo unterjcheidet 
fe mit einem Blid alle nur denkbaren Spipen, 
Ipricht über Moden wie eine große Schneiderin, 
fennt die Schaufpielerinnen bei ihren Taufnamen, 
wettet bei den Rennen und beurteilt die Pferde mit 
tehnijchen Ausdrücken. Sie weiß aud nod andre 
Dinge — in aller Ehrbarfeit übrigens; denn fie hat 
jeit den acht Jahren, jeit fie das Penfionat verlaijen 
bot, ein wahres Junggefellenleben geführt. 

Mittlerweile ſchickt ihr Jules täglich einen Blumen 
ftrauß für drei Louisdor, und wenn er fie befucht, 
it er jehr galant gegen fie; aber das Geſpräch 
ſchlägt raſch um: fie fehren ſtets zu ihrer bevor« 
ftehenden häuslichen Einrichtung zurück. Außer ein 
paar gebräuchlichen Komplimenten ſprechen fie von 
nichts anderm als von Tapezierern,, Wagenbauern, 
Lieferanten jeder Art. Marguerite hat fi endlich 
entſchloſſen, Jules’ Werbung anzunehmen, denn er 
erjcheint ihr genügend mittelmähig, und fie hat fich 
im borigen Winter bei ihrem Vater zu jehr gelang» 
weilt. Ihr erſter Liebesipaziergang bejteht darin, 


daß fie dad Palais in der Rue d’Amfterdam be— 


fihtigen. Sie findet es etwas klein, aber fie will 
zwei Zwilchenwände abtragen und die Thüren ver- 
ändern laſſen. Dann erörtert fie die Farbe der 
Möbel, will willen, wo ihr Schlaizimmer liegen 
wird, fleigt jogar in die Ställe hinunter, mit denen 
fie zufrieden ift, und fehrt nod zweimal in das 


1037 


Palais zuräd, um dem Architekten ſelbſt Befehle zu 
erteilen, Jules iſt entzüdt; er bat die Frau ge— 
funden, die er brauchte. 

Acht Tage vor der Trauung find beide Familien 
mürbe. Der berühmte Beaugrand und der alte 
Desvignes haben bereits drei Konferenzen mit den 
Notaren gehabt und überwachen als mißtrauiſche 
Leute, die ſich über die menſchliche Redlichleit Feine 
Ylufionen machen, die geringfte Klauſel. Jules 
jeinerjeit3 giebt fi) wegen der Brautgeſchenke un— 
erhörte Mühe, Gegen alle Sitte hat Marguerite 
ihn mit dem Lächeln eine verzogenen Kindes ge 
beten, jelbft die Juwelen und Spiken ausſuchen zu 
dürfen, und jo maden fie fih, blo von einer 
armen Verwandten begleitet, auf, um die Kaufläden 
zu durchftreifen und vom Morgen bis zum Mbend 
Diamanten und Balenciennesipigen abzuſchätzen. Sie 
gehen nicht wie ein naives Piebespaar mit ver— 
ihlungenen Händen die Heden entlang; vor dem 
Pult ſihend lächeln fie einander zu, indem fie fid) 
mit den von den fojtbaren Steinen fühl gewordenen 
Fingern Ringe und Broden reichen. 

Endlich ift der Ehevertrag unterzeichnet. Während 
ber Verlefung entfteht zwijchen dem berühmten Beau— 
grand und Desvigned noch eine lehte Distuffion ; 
aber Jules mengt ji ein, während Marguerite mit 
großen, aufmerffamen Augen zuhört, wöllig bereit, 
ihre Intereſſen zu verteidigen, jobald fie fie gefährdet 
ſähe. Der Vertrag ift jehr verwidelt; er ſtellt die 
Hälfte der Mitgift zur Verfügung des Gatten und 
bildet aus ber andern Hälfte ein unveräußerliches 
Gut, hinfichtlich dejjen Gütergemeinjchaft beftehen jo, 
jedbod) unter der Bedingung, dab der Ehefrau eine 
Summe von zwölftaufend Franken jährlich für ihre 
Toilette zugeftanden werde, Der berühmte Beau— 
grand, der Verfaſſer diejeg Meifterwerfes, ijt ent— 
zückt, daß er feinen alten freund Desvignes „dran« 
gekriegt” hat. 

Höchſtens zehn Perfonen werden zur jtanbes- 
amtlihen Trauung geladen. Der Maire ift ein 
Better Jules’; er nimmt bei der Verleſung des Code 
eine ernjte Miene an, aber faum hat er das Bud) 
niedergelegt, jo beeilt er fi, wieder Weltmann zu 
werden, macht den Damen Komplimente und befteht 
darauf, den Zeugen, unter denen fich zwei Sena— 
toren, ein Minifter und ein General befinden, felbit 
die Feder zu reichen. Marguerite bat das ſakra— 
mentale „Ja“ mit etwas lauter Stimme und erniter 
Miene ausgeſprochen, denn fie fennt das Gejch. 
Ale Anwejenden find ernft, als würden fie durch 
ihre Gegenwart zum Abſchluß eines Gejchäftes ver- 
helfen, das große Kapitalien verrüdt, Jeder der 
Gatten binterläßt fünfzehnhundert Franken für bie 
Urmen, und am Abend findet bei Desvignes ein 
Diner ftatt, zu dem die Zeugen geladen wurden; 


1038 


bloß der Minifter konnte nicht fommen, was die 
beiden Familien lebhaft ärgerte. 

Die firdhliche Trauung findet in der Madeleine- 
fire jlatt. Drei Tage früher gingen Jules und 
fein Bater hin, um fich über den Preis zu einigen. 
Sie verlangten allen nur möglichen Lurus und 
machten gewiſſe Ziffern ftrittig: jo und jo viel für 
die Meſſe am Hauptaltar, fo und fo viel für bie 
Drgel, jo und fo viel für die Teppiche. Es wird 
abgemacht, dab ein Teppich über die zwanzig Stufen, 
bis zum Trottoir, gelegt werden joll; desgleichen 
fommt man überein, daß die Orgel den Eintritt 
des Auges mit einem Triumphmarſch begrüßen jolle. 
Das koſtet fünfzig Franken mehr, wirb aber große 
Wirkung mahen. Eintaufend Einladungen find 
ausgegeben worden. Als die Wagen in einer langen, 
forrelten Reihe anlangen, ift die Kirche bereits voll 
von Männern im rad und Frauen in großer. 
Toilette. Durd ein Wunder der Kotetterie ficht 
Marguerite unter ihrem weißen Schleier und ihrem 
Orangenblütenkfranz faft gar nicht mehr häßlich aus, 
Jules ſchwillt vor Wichtigkeit, als er fieht, daß jo 
viele Leute fich jeinetwegen in ihrer Ruhe geſtört haben. 
Mittlerweile dröhnt Die Orgel, die Sänger haben 
metallene Stimmen, die Jeremonie unter dem maje- 
ftätiichen Gewölbe dauert faſt anderthalb Stunden. 
Alles ift jehr ſchön. Dann beginnt in der Safriftei 
ein endloſes Defilee; Belannte, geladene Gäjte, jelbit 
Unbelannte fommen zu der einen Thür herein und 
gehen zur andern hinaus, nachdem fie den Gatten 
und den Mitgliedern der beiden Familien die Hand 
gedrüdt haben. Dieje Förmlichkeit nimmt wieder 
mehr als eine Stunde in Anſpruch. Es find jehr 
viele Politifer, Advofaten, Rechtsanwälte, Grof- 
induftrielle, Künſtler, Journaliſten anweiend, und 
Jules jchüttelt beſonders herzlich die Hand eines 
feinen, blaffen jungen Mannes, mit dem er ein 
wenig befannt ift, und der für ein Boulevardblatt 
ſchreibt, in dem er vielleicht eine Notiz über die 
Hochzeit bringen wird. 

Da weder die Beaugrands noch die Desvignes 
einen Salon befigen, der groß genug wäre, um darin 
das Mahl zu geben, wird im Hotel du Louvre ge 
geffen und abends getanzt. Das Mahl ift mittel= 
mäßig, der Ball im Feſtſaal des Hotels jehr glänzend. 
Um Mitternadht trägt ein Wagen die Neuvermäblten 
nad der Rue d'Amſterdam, und fie fcherzen während 
des ganzen Weges, inmitten des nachtichwarzen 
Paris, während an den Straßeneden weibliche 
Schatten herumftreichen. Als Jules das Brautgemach 
betritt, findet er Marguerite, einen Ellbogen auf 
das Kiſſen aufgeftüßt, ruhig feiner harrend. Sie ift 
ein wenig blaß, ihr Lächeln ift etwas befangen, 
aber das ift alles, und die Ehe vollzieht ſich ganz 
natürlich, wie etwas längjt Erwartetes, 


Emile Zola, 


Die Beaugrands find jeit zwei Jahren ver: 
heiratet; fie haben nicht miteinander gebroden, aber 
ein halbes Jahr lang vergeflen fie einander, Wenn 
Jules don einer neuen Laune für jeine Ftau er 
griffen wird, muß er ihr eine ganze Woche den Hoi 
machen, ehe er in ihr Zimmer eingelaflen wird; am 
bäufigfien geichieht es, daß er, um feine koflbare 
Zeit zu jparen, feine Laune anderwärts befriedigt. 
Er bat ja fo viele Geſchäfte! Er ift heute ein ſehr 
thätiger Mann, begnügt ſich nicht mehr mit feiner 
Ranzlei, fondern iſt bei mehreren Gejellichaften und 
Ipielt jogar auf der Börſe. Sein Vergnügen beitcht 
darin, Paris mit ſich zu beichäftigen, und die Zei- 
tungen jchreiben ihm geiftvolle Ausſprüche zu. Hebrigens 
ichlägt er feine Frau nicht und hat froß der Rat: 
ſchläge feines Vaters noh fein Mittel gefunden, 
die vom Ehevertrag feflgelegten jechamalhundert: 
taujend Franken anzugreifen. 

Marguerite ift eine reizende Frau; das junge 
Mädchen hielt, was es verſprach. Sie hat das 
Palais in der Rue d'Amſterdam zum Stelldichein 
des Luxus und der Feſte gemacht, und die ganze. 
tolle Verihwendung von Paris, Die Toiletten zu 
taufend Ihalern, die an einem Abend zu Grmde 
gehen, die Banknoten, die zufammengerolit werden, 
um damit Kerzen anzuzünden, legen darüber den 
Glanz außerordentlichen Reichtums. Vom Morgen 
bis zum Abend rollen die Equipagen durch das Thor, 
und in gewilfen Nächten hört das Stadtviertel bis 
zur Morgendämmerung eine ferne Mufil, die das 
gebämpfte Lachen der Tänzerinnen wiegt. Marguerite 
ſtrahlt in ihrer Häßlichfeit; fie hat es jo eingericiet, 
dab fie begehrenäwerter ift als eine hübſche rau; 
fie ift mehr ala ſchön, Ärger als ſchön, wie fie ſelbſt 
lachend jagt. Die zwölfmalhunderttaufend Franfen 
ihrer Mitgift flammen wie ein Strohfeuer auf, und 
wäre fie nicht fo intelligent, jo würde fie ihren 
Dann in weniger als einem Jahr zu Grunde richten. 
Man weiß, dab fie für ihre Toilette bloß tauſend 
Franlen monatlich zur Verfügung hat; aber niemand 
ift jo geſchmacklos, fich zu wundern, wenn man fieht, dab 
fie in einem Monat auägiebt, was fie ein ganze: 
Jahr bezieht. Jules ift entzüdt, denn feine andre 
Frau würbe fein Haus auf dieſem Fuß erhalten 
haben, und er ift ihr für alles, was fie thut, um den 
Kreis ihrer Beziehungen zu erweitern, aufrichtig 
dankbar. Im Augenblid benimmt ſich Marguerite 
jehr töchterlich gegen einen der Senatoren, die bei 
ihrer Hochzeit Zeugen waren, läßt fich hinter der 
Thür auf die Schulter küſſen und in Paflillenſchächtel- 
chen Rentenſcheine ſchenken. 


III. 
Luiſe Bodin hat ihr dreißigſtes Lebensjahr über⸗ 
ſchritten. Sie iſt eine große, weder ſchöne moch 





Wie geheiratet wird. 


häßliche Perſon, mit einem flachen Geſicht und 
Wangen, die das Cdlibat kupfrig zu machen be— 
ginnt. Ihr Vater iſt ein kleiner Krämer in 
der Rue Saint-Jacques, der dort ſeit mehr ala 
zwänzig Jahren in einem bdunfeln Laden etabliert 
ift und noch nicht mehr ala zehntaufend Franken 
beifeite legen konnte; zu dieſem Behufe durfte er 
höchſtens zweimal die Woche Fleiſch eſſen, mußte 
drei Jahre diejelben Kleider tragen und im Winter 
die Schippen Kohle zählen, die in den Ofen ge— 
worfen wurden. Seit zwanzig Jahren jteht Luiſe 
binter dem Ladentiſch und fieht nichts andres als 
die Fialer, die die Fußgänger beiprigen. Zweimal 
war fie auf dem Lande, einmal in Vincennes, das 
andre Mal in St. Denis. Menn fie fi unter die 
Thüre ftellt, bemerft fie am unteren Ende der Straße 
die Brüde, unter der der Fluß fließt. Uebrigens ijt 
fie ein anftändiges Mädchen und wuchs in der Ach— 
tung vor den Nähnadeln für einen Sou und dem 
Zwirn für zwei Sons auf, die jie an die Arbeiterfrauen 
des Viertels verlauft. Ihre Mutter jchidte fie in ein 
fleines Penfionat in der Nachbarſchaft, nahm fie 
aber mit zwölf Jahren wieder herauf, um fein 
Ladenmädchen nehmen zu müflen. Luiſe kann leſen 
und fchreiben, ohne in der Orthographie bejchlagen 
zu fein; am beften fennt fie die vier Spezied, und 
“jo, wie fie fie mit ihrer gemeſſenen Stimme herjagt, 
ift fie für das Geſchäft gelehrt genug. 

Indes hat ihr Vater erklärt, daß er ihr zwei— 
taujend Franfen Mitgift geben wolle, Diejes Ver— 
ſprechen verbreitete fih im Stadtviertel, und alle 
Welt weiß, daß Fräulein Bodin zweitaufend Franken 
mitbefommen wird. An Partien hat es daher nicht 
gefehlt, aber Luiſe ift ein vernünftiges Mädchen; 
fie jagt jehr beftimmt, dab fie nie einen Mann 
heiraten werde, der nichts habe. Man thut fich nicht 
zuſammen, um die Arme zu verjchränfen und ein- 
ander anzujehen. Es können Kinder fommen, und 
dann, wenn man alt wird, ift man recht froh, ein 
Stüd Brot zu haben. Sie will aljo einen Gatten, 
der mindeftens jo wie jie zweitaufend Franken befipt. 
Dann können fie einen feinen Laden mieten und 
ehrlich ihren Lebensunterhalt verdienen. Allein wenn 
auch Gatten mit zweitaufend Franken nicht felten 
find, jo fordern fie gewöhnlid rauen, die das 
Doppelte oder Dreifache befigen. Aus diefem Grunde 
ift Luife auf dem Wege, eine alte Jungfer zu werden. 
Sie ift den Taugenichtjen, den Männern, die fich in 
der Hoffnung, ihre Mitgift zu verfchlingen, um fie 
drehten, aus dem Wege gegangen und will ja gern 
ihres Geldes wegen geheiratet werden, da das Geld 
eigentlich alles im Leben iſt — allein fie gedenkt einen 
Gatten zu finden, der ebenfalls das Geld achtet. 

Endli erzählt man der Familie Bodin von 
einem jehr braven jungen Mann bon vortrefflichen 


1039 


Sitten, einem lihrenarbeiter, der mit feiner Mutter, 
die von einer Heinen Rente lebt, in der Nachbar» 
ihaft wohnt. frau Meunier hat dur Wunder 
der Sparjamfeit die Summe von fünfzehnhundert 
Franken beijeite gelegt, um ihrem Sohne das Hei— 
raten zu erleichtern. Werander Meunier, ein Jahr 
jünger al& Luiſe, ift ſehr Ichüchtern, jehr geeignet; 
aber Luiſe jagt, als fie von den fünfzehnhundert 
Franken hört, rund heraus, daß es nutzlos fei, die 
Sache weiter zu betreiben: fie will zweitauſend 
Franken haben, fie hat alles berechnet. Mittlerweile 
treten die beiden Familien in Beziehungen zu ein= 
ander; rau Meunier kommt jelbft dahin, eine 
günftige Heirat für ihren Sohn zu wünſchen, und 
ala fie hört, was für eine Summe Luije verlangt, 
billigt fie diefen weifen Entſchluß des jungen Mäd— 
hend und verſpricht, die zweitaufend Franken in 
anderthalb Jahren komplett zu machen. Von da 
ab ijt alles abgemadt. Die Familien leben auf 
eng vertraulihem Fuß miteinander, die Sinder, 
Alerander und Luije, warten ruhig, indem fie ſich 
freundfhaftlid die Hände jchütteln. Jeden Abend 
fommt man zujammen, und dann ſitzen fie hinterm 
Laden, zu beiden Seiten des Tiſches, ohne Erröten, 
ohne Ungeduld, jprechen über die Nachbarn, das 
Glüd der einen, die jchlechte Aufführung oder das 
Pech der andern. In den anderthalb Jahren wechjeln 
fie fein Liebeswort miteinander. Luiſe hält Ale— 
rander für ſehr chrenhaft, aber vielleicht ein wenig 
charakterſchwach; denn fie hat gehört, wie er eines 
Tages jagte, daß er nicht wage, zehn Franken zurüds 
zufordern, die er vor ſechs Wochen einem Freunde 
geliehen hatte. Alexander erklärt, daß Yuije fürs 
Gejhäft geboren ift, was in feinem Munde ein 
großes Kompliment bedeutet. 

Zum beftimmten Tage, wie bei einem Wechjel, 
hat Frau Meunier die zweitaujend Franken bei— 
jammen. Seit anderthalb Jahren entzieht fie ſich 
den Kaffee und knappt die Sous vom Efjen, der 
Peleuhtung und Beheizung ub. Der Termin der 
Hochzeit wird nun auf drei Monate jpäter feſtgeſetzt, 
damit man Zeit zu den Vorbereitungen hat. Es 
wird beſchloſſen, daß Alerander ſich in einem Heinen 
Laden, der in bderjelben Aue Saint-Jacques entdedt 
ward, als Uhrmacher etablieren ſoll. Es ift der 
Laden einer Obfthändlerin, deren Geſchäft ſchlecht 
ging, und vor allem handelt es ſich darum, ihn in 
Stand zu ſetzen. Man begnügt ſich ſchließlich da— 
mit, den Plafond zu weißen und die Malerei zu 
tünchen, denn der Maler würde für dad Neumalen 
deö Ganzen zweihundert Franken verlangen. Was 
die Waren betrifft, jo werben fie zuerjt aus einigen 
gewöhnlichen Schmudjadhen und einigen Dccafions- 
uhren bejtehen. Alexander wird damit anfangen, 
die Ihren im Stadtviertel zu reparieren, und nad) 


1040 


und nad, wenn fie befannt geworben find, werden 
fie mit großer Ordnung dahin fommen, den ſchön— 
ſten und reichhaltigiten Laden in der Straße zu 
haben, Wenn alles berechnet, der Yaden bereit, die 
Herrichtungsfoften bezahlt jein werben, bleiben ihnen 
dreitaufend Franken, mit denen fie vorteilhafte Ein- 
füufe abwarten fönnen. Dieſe Anordnungen be= 
ichäftigen fie bis zum Vorabend der Hochzeit. 

Als man vom Ehevertrag ſpricht, zuckt Luife 
die Achjeln, und Alerander beginnt zu lachen, Ein 
Ehevertrag foftet mindeftens zweihundert Franken. 
Sie werden alles zujammenthun und dann alles 
miteinander teilen: das iſt doch viel natürlicher. 
Indes find fie entichloflen, alles zu thun, jo wie es 
ih ziemt. Außer dem Trauring, einem Trau— 
ring für fünfzehn Franken, jchentt Wlerander Luife 
eine Uhrkette, und die Hochzeit jo in einem Re— 
jtaurant in der Bannmeile, in St. Mandé, beim 
„Blumenkorb“, ftattfinden; die Familie Bodin ers 
Märt, die Koften des Mahles tragen zu wollen, 

Die Hochzeit wird auf einen Sonnabend feite 
gejegt, weil man derart den ganzen Sonntag zum 
Ausruhen hat. Die Hochzeitsgeſellſchaft befteht aus 
fünf Wagen, die für den ganzen Tag gemietet wur— 
den, Wlerander hat jich einen Weberrod und ein 
ſchwarzes Beinfleid machen laflen, Luiſe ihr weißes 
Kleid jelbjt angefertigt und eine Tante ihr Kranz 
und Strauß aus Orangenblüten gejchenft. Uebri— 
gens haben fi alle Gäfte — beinahe zwanzig Per— 
jonen — in Unkoften für die Toilette geftürzt: Die 
Damen tragen roja, grüne und gelbe Seidenkleider, 
die Herren Ueberröde, ein ehemaliger Möbelhändler 
jogar einen Frack. Bor allem drehen ſich die Vor— 
übergehenden nad den Brautjungfern um, zwei 
großen, blonden Mädchen in weißen Mufjelinlleidern, 
mit breiten, blauen Gürteln um den Yeib. Um elf 
Uhr Bormittag ſeht jih der Zug in Bewegung und 
begiebt ji nad) der Mairie, wo die Hochzeitägejell» 
ſchaft den Trauungsſaal überflutet. Der Maire 
läßt beinahe drei Viertelftunden auf fi warten. 
Es ift ein dider Mann mit einer gelangmweilten Miene, 
der die Gejehesartifel raſch abfertigt, indem er fort 
während die Uhr ihm gegenüber anblidt; wahr: 
ſcheinlich hat er irgend eine geihäftliche Zufammens 
funft. Frau Bodin und Frau Meunier weinen ſehr 
viel, Die Brautleute jpreden das „Ja“ aus, in— 
dem jie dem Maire eine höfliche Verbeugung madıen. 
Mittlerweile erlaubt ſich der ehemalige Möbelhändler 
Wie, die die Herren zum Lachen bringen, Dann 
befteigt die Hochzeitsgejellichaft wieder die Wagen, 
fährt über den Pla und jteigt vor der Kirche wie— 
der aud. Tags zuvor waren Alexander und Herr 
Bodin dort, um die Zeremonie zu regeln, und 
nahmen das Allereinſachſte, denn es ift nicht nötig, 
die Pfaffen fett zu mahen; Herr Bodin, der ein 


Emile Zola. 


Freidenler ift, wollte jogar nicht, daß man in bie 
Kirche gehe, und gab nur der Konvenienz wegen 
nad. Der Priefter lieft raſch die Meſſe, eine ſtille 
Meſſe am Altar der Jungfrau Maria; die An- 
wejenden erheben ſich und laffen fi nieder, wenn 
der Firchendiener ihnen ein Zeichen macht; bloß die 
Frauen haben Mehbücher, in denen fie nicht leſen. 
Die Brautleute find ernft und fehen gelangweilt 
und zerftreut aus, als dädten fie an nichts. is 
die Hochzeitägefellichaft endlich die Kirche verläkt, 
ftößt alles einen Seufzer der Erleichterung aus. Et 
iſt alfo vorüber; nun wird man ein bißchen laden 
fönnen! 

Gegen zwei Ihr langen die Wagen in St. Mande 
an. Das Diner joll erjt um ſechs Uhr flattfinden; 
man fährt alfo bis zum Wald von Vincennes, und 
drei Stunden lang jpaziert alles wie am Sonntag 
inmitten der Bäume umber; die Brautjungfern 
laufen wie Schulmädchen herum, die Damen ſuchen 
den Schatten auf, die Herren zünden ſich Zigarren 
an. Da die ganze Hochzeitsgefellihaft vor Müdig- 
feit umfällt, läßt man ſich ſchließlich inmitten einer 
Lichtung nieder und bleibt dort fißen, um den Trom- 
peten der nahen Feitung, den fcharfen Pfiffen der 
vorüberfahrenden Lokomotiven, dem fernen Grollen 
bes am Horizont ſichtbaren Paris zuzuhören. 

Mittlerweile naht die Stunde des Diners, und 
man fehrt ind Reftaurant zurüd. Der Tiſch ift in 
einem großen, gleich einem Kaffeehaus von zehn 
Gasbrennern erhellten Saal gededt; an den zwei 
Enden der Tafel jtehen zwei große, künſtliche Sträuße, 
deren Blumen vom häufigen Gebrauch verblaßt find. 
Das Eſſen wird nun aufgetragen, während die Lönel 
in den Suppentellern Happern, und allmählid er— 
bien fich die Gäſte, herzen von einem Ende der 
Tafel zum andern hinüber. Der Iuftigfte Augen» 
blid des Abends ift der, ald ein junger Mann, ein 
Modewarencommis, unter den Tiſch ſchlüpft und 
das Strumpiband der Braut, eine Flut von Bän- 
bern, losfnüpft, deifen Enden die Herren unter 
ſich verteilen, um damit das Knopfloch zu ſchmücken. 
Luiſe wollte, daß man ihr diejen klaſſiſchen Scher; 
eripare; allein ihr Vater gab ihr zu verjtchen, daß 
dies die Geſellſchaft betrüben würde, und jo fügte 
fie fi mit ihrem gewöhnlichen, gefunden Menſchen— 
verftand in dieſe Eitte. Alexander lacht jehr laut 
und überfließt vor Freude, der Freude eines braven 
Jungen, der ſich nicht oft amüfiert. Das Strumpf- 
band hat übrigens jehr gewagte Scherze hervor 
gerufen, und wenn einer gar zu arg iſt, verfteden 
die Damen daß Geficht hinter der Serviette, um 
nad Herzensluſt lachen zu Fönnen. 

Es iſt neun Uhr, Die Kellner bitten die Hoch 
zeitögejellichaft, einen Augenblid in ein Nebenzimmer 
zu treten, entfernen indes raſch dem Tiſch, umd der 


Wie geheiratet wird, 1041 


große Speifefaal ift in einen Tanzjaal verwandelt, 
Zwei Violinen, ein Waldhorn, eine Klarinette und 
ein Kontrabaß werden auf einer Eftrade inftalliert, 
der Ball beginnt, und die von den blauen Gürtel» 
ichleifen gepeitjchten Kleider der Brautjungfern flat 
tern die ganze Nacht inmitten der ſchwarzen Ueber— 
röde von einem Saalende zum andern. Es ift 
iehr heiß; die Damen öffnen die fyenfter und atmen 
die friſche Luft von draußen ein. Auf Servier— 
brettern werden Gläjer Johannigbeerfirup herums 
gereicht. Gegen zwei Uhr ſucht man überall die 
Braut; allein fie ift verſchwunden, mit ihrer Mutter 
und dem Gatten nad) Paris zurüdgefahren, während 
Herr Bodin zurüdgeblieben ift, um die Familie zu 
vertreten umd die gute Laune der Gäſte aufrechtzu- 
erhalten. Denn bi8 Tagesanbrucd muß getanzt werden. 
In der Rue Saint-Facques angelangt, machen ſich 
Frau Bodin und zwei andre Damen an die Nadıt« 
toilette der Braut. Sie bringen fie zu Bette und 
fangen dann alle drei zu weinen an, worauf Yuije, 
die das verdrießt, fie wegſchickt, nachdem fie jelbft 
ihnen Mut hat zufprechen müfjen. Sie ift jehr 
ruhig, bloß müde, hat große Luft zu jchlafen, und 
in der That, als der eingejhüchterte Alerander jein 
Erſcheinen allzu jehr verzögert, ſchläft fie ſchließlich 
auf ihrem Plage Hinten im Bette ein. Wlerander 
lommt jedod auf den Fußſpihzen herein. Er bleibt 
ftehen, betrachtet die Schlafende einen Augenblid 
erleichtert, dann entfleidet er ji mit größter Vor— 
ſicht und ſchlüpft, jede Erjchütterung des Bettes 
vermeidend, unter die Dede. Er küßt fie nicht ein- 
mal; das hat bis morgen früh Zeit — jie haben ja 
Zeit genug, da fie fürs Leben verbunden find. 
Und jo führen fie ein jehr glücliches Leben. Sie 
haben das Glüd, feine Kinder zu belommen — 
Kinder würden fie ſtören. Ihr Geſchäft gedeiht, 
der Heine Laden wächſt, die Auslagefenjter füllen 
fh mit Schmudjahen und Uhren. Luije ift der 
Chef des Haufes. Sie fteht flundenlang am Laden- 
tiſch, Tächelt die Kunden an, giebt außer Mode ge— 
lommene Schmudjahen als Fabrikate von gejtern 
aus und fieht des Abends, eine Feder hinter dem 
Ohr, die Rechnungen dur; ſehr oft auch bringt 
fie der Beftellungen wegen die Tage mit Laufereien 
durch alle vier Winkel von Paris zu. Ihr ganzes 
Leben verläuft in der bejtändigen Sorge um das 
Geihäft; das Weib verjchwindet; nichts bleibt übrig 
ala ein thätiger, jchlauer, geichlechtslojer Commis, der 
die fire Idee hat, fih mit fünf bis ſechstauſend 
Franken zurüdzuziehen, um fie in Suresnes in einer 
Vila von der Form eines Schweizer Schlößchens 
zu verzehren. Alexander ift daher vollftändig ruhig 
und legt ein blindes Vertrauen in jeine Frau an 
den Tag. Er beichäftigt fi bloß mit den Uhr— 
macherarbeiten, der Reparatur der Tajchen- und 
Aus fremden Zungen. 1897, IL 22. 


— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — 





Wanduhren, und es iſt, als ſei das Haus ſelbſt eine 
große Uhr, deren Pendel dieſe beiden für immer 
geregelt haben. Sie werben nie wiſſen, ob fie ein— 
ander geliebt haben; aber fie wiſſen bejtimmt, daß 
fie ehrliche, auf Geld erpichte Compagnons find, die 
weiter miteinander jchlafen, um ein doppeltes Waſchen 
der Bettwäſche zu erjparen. 


IV, 


Valentin ift ein großer, ftarfer Burj von fünf— 
undzwanzig Jahren, jeines Zeichens Tiſchler. Er 
ward im richtigen Faubourg Saint-Antoine geboren, 
und fein Vater wie jein Großvater waren Tiſchler. 
Inmitten von Hobeljpänen wuchs er auf und fpielte 
auf dem Trottoir des Baftilleplahes, rings um die 
Julifäule, bis zu jeinem zehnten Jahr mit Klötzchen. 
Jetzt jchläft er in der Rue de la Roquette, in einem 
ärmlichen Logierhaus, wo er für zehn Franken 
monatlich ein Loch unterm Dad) hat, gerade Platz 
genug für ein Bett und einen Stuhl; dabei muß er 
fi) noch, um ins Bett zu fteigen, büden, wenn er ſich 
nicht den Kopf an der Zimmerdede zerhauen will, 
Uebrigens ſcherzt er jelbft darüber. Er hält in feinen 
Gemädern keine Empfänge ab, fommt um zehn Uhr 
heim, um fid) ſchlafen zu legen, und jchüttelt Winter 
und Sommer um fünf Uhr morgens feine Flöhe 
aus. Nur wenn er eine Belanntihaft macht, jagt 
er, daß ihn das ärgert, denn er wagt nicht, Damen 
in jein Zimmer zu führen, Es iſt jo Hein, daß, 
wenn zwei darin jchliefen, der eine ficherlich jeine 
Beine auf der Treppe laſſen würde. 

Ein braver Teufel, der Valentin! Er arbeitet 
fleißig, weil er noch jung ift und an der Arbeit 
freude hat; dabei ift er fein Trinfer, fein Spieler, 
vielleicht nur ein bißchen Schürzenjäger. Die Weiber, 
das ijt jein größter fehler! Wenn er des Mor- 
gens feinen Hobel ſchlapp zieht, neden ihn die Ka— 
meraden und rufen ihm zu, daß er Fräulein Life 
getroffen hätte. Eine alte Flamme Valentins hieß 
nämlich Life, und er pflegte an Tagen, da ihn Die 
Faulheit padte, zu jagen: „Saframent, es geht 
nicht; ich Hab’ geftern Life getroffen!“ In den 
Tanzichenfen des Faubourg nennt man ihm den 
ſchönen Tiſchler. Er hat einen diden, Iuftigen Kopf 
mit fraufem Haar, und wenn er tanzt, jchiebt er 
fih mandmal die Aermel feiner Bluje hinauf — 
der Bequemlichkeit wegen, jagt er; in Wirklichkeit 
aber, um feine ftarfen Arme zu zeigen, die weiß 
find wie Frauenarme. Seine Eroberungen find daher 
aud) befannt. Er hat die jhönjten Mädchen gehabt, 
die große Nana, die Heine Auguftine, die dicke 
Adele, die nur ein Auge bat, bis zur Bordelaiſe, 
einer Brojchiererin, um derentwillen ſich zwei Sol— 
daten umgebracht haben. Jeden Abend macht er 
die Runde durch die Ballfäle und wirft einen Blid 

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1042 Emile 
dahin, einen Blick dorthin, bloß um zu fehen, ob 
nicht in den Winkeln Mädchen fiken, die er fennt, 

Eines Abends, als er in den „Floragarten”, 
eine Schenke in der Rue de la Charonne, tritt, er- 
blidt er Glemence, eine jechzehnjährige Blumen 
maderin, und ihr jchönes blonde Haar kommt 
ihm wie eine Sonne vor, die im Saale brennt. 
Auf der Stelle ift er toll, und während bes ganzen 
Abends fpielt er den Liebenswürdigen, tanzt mit der 
Kleinen, zahlt ihr einen Vin à la frangaise, Als 
Cloͤmence dann gegen elf Uhr heimgeht, begleitet er 
jie und will natürlich zu ihr hinaufgehen; aber jie 
weiſt ihn in beſtimmtem Ton ab, Sie bringt gern 
einen Abend beim Tanz zu, aber weiter gebt es 
nicht. Und fie macht ihm die Thür vor der Nafe 
zu. Am nächften Tag zieht er Erkundigungen ein. 
Elömence hat bereit3 einen Liebhaber gehabt, der 
fie figen ließ, indem er ihr zwei Zinstermine auf 
dem Halfe lieh. Da bat fie geihworen, fih an 
dem eriten Manne zu rächen, der jo dumm wäre, 
fi in ſie zu verlieben, 

Indes pabt Valentin während der nächſten Tage 
fie auf der Strafe ab, wagt ed, in ihre Wohnung 
binaufzugehen, um ihr guten Morgen zu wünjchen, 
verfolgt fie überall. 

„Nun, wie ſteht's, auf Wieberjehen heut abend ?* 
ruft er ihr lachend zu. 

„Nein, nein, auf Wiederjehen morgen,” antwortet 
fie jedoch mit fröhlicher Stimme. 

Jeden Sonntag trifft er fie im „Floragarten“. 
Da ſitzt fie neben der Mufiffapelle, nimmt jehr gern 
den Vin ä la frangaise an, tanzt mit ihm, aber ſo— 
wie er fie küſſen will, verjegt fie ihm einen Klaps, 
und wenn er davon jpricht, daß fie ich zufammen« 
ihun jollten, antwortet fie mit fehr vernünftiger 
Miene, daß er unrecht habe, ſich das in den Kopf 
zu jehen, daß fie nicht will, weil fie feine Luft dazu 
habe. So ſcherzen fie ſechs Wochen lang und laden 
dabei unaufhörlich. 

Zu Ende des zweiten Monats wird Valentin 
traurig. Er kann des Nachts in feinem Loch unterm 
Dad nicht mehr jchlafen; er erftidt darin. Wenn 
er mit weit offenen Augen baliegt, erblidt er im 
Dunfeln das weiße Geſicht Glömencens, deren blondes 
Haar mit feinem Sonnengefunfel leuchtet. Da padt 
ihn das Fieber, bis Tagesanbruch wälzt er ſich mie 
auf Kohlen herum, und am nächſten Morgen kann 
er in der Werkſlätte nichts thun, ſtarrt ins Leere, 
und die Werkzeuge fallen ihm aus der Hand, „Du 
haft aljo Fräulein Lije getroffen?“ rufen ihm Die 
Kameraden zu. Ach nein, er hat Fräulein Lije 
nicht getroffen! Dreimal war er bei Glömence, fiel 
vor ihr auf die Kniee und flehte fie an, ihm gut zu 
jein; aber fie jagte nein, immer nein, jo daß er 
wie ein Narr auf der Straße meinte. Er träumt 


30la. 


davon, vor ihrer Thür, auf dem Flur zu jchlafen; 
denn es fommt ihm vor, daß ihm dort beſſer wer« 
den wird, wenn er durch die Niken der Thür ihren 
leichten Atem hören könnte. Die Sehnſucht nad 
dieſem Meinen Mädchen, dem er wie einem Huhn 
den Hals mit zwei Fingern umdrehen könnte, lüht 
ihn nicht eſſen und nicht trinfen, 

Endlich geht er eines Abends zu Elemence in 
die Wohnung und erbietet ſich unvermittelt, fie zu 
heiraten. Sie ift betroffen, willigt jedoch raſch ein; 
fie jelbft liebt ihn ja von ganzem Herzen — fie bat 
bloß gar jo geweint, al& der Erite fie verlief. So— 
bald es fih darum Handelt, ſich für immer zu 
jammenzuthun, iſt es ihr jehr recht. 

Am nächſten Tage begeben fie fich auf die Mairie, 
um ſich zu erkundigen. Die Länge der Förmlich 
feiten macht fie bejtürzt: Glömence weiß nicht, wo 
der Tolenſchein ihres Vaters zu finden iſt, Valentin 
läuft von Amt zu Amt, um das Dofument zu er- 
langen, das jeine Befreiung vom Militärdienft ber 
ſcheinigt. Sie treffen einander jet jeden Tag, geben 
auf den Wällen fpazieren und jchmaujen mit» 
einander auf den vorſtädtiſchen Feſten. Abends, 
wenn fie durch die langen Straßen der Vorflädte 
heimgehen, ſprechen fie nichts, jondern drüden ein- 
ander leife den Arm. Eine Freude jchmwellt ihr 
Herz, von ber fie nicht zu reden willen. Einmal 
fingt Elömence ihrem Valentin eine Romanze vor, 
in der eine Dame auf einem Ballon und ein Prinz 
vorlommen, der fie aufs Haar füßt; Valentin finde 
das jo ſchön, daß ihm die Augen feucht werden. 

Die Förmlichkeiten find erfüllt, die Trauung iſt 
auf einen Sonnabend feftgejeßt worden. Es ſoll 
eine ganz ftille Hochzeit werden. Valentin erlundigt 
fid) in der Kirche, allein da der Priefter ſechs Franlen 
von ihm verlangt, antwortet er, daß er jeine Meſſt 
nicht brauche, und Glemence ruft, daß die Hochzeit 
auf der Mairie die einzig richtige jei. Zuerſt wollen 
fie gar feine Hochzeitsfeier veranftalten, aber dann 
ftellen fie, damit es nicht ausjehe, als verliedten 
fie fih, bei einem Meinhändler auf der Place du 
Tröne ein Pidnid zu hundert Sous pro Kopf, ju- 
fammen achtzehn Perſonen. Glemence joll drei ver: 
heiratete yreundinnen mitbringen; Valentin hat eine 
ganze Bande von Schreinern und Kunfitijchlern mit 
ihren Damen angeworben. Die Zujammentunit 
beim MWeinhändler fol um zwei Uhr ftattfinden, 
denn es wird geplant, vor dem Mittageiien noch 
einen Spaziergang zu maden. 

Auf der Mairie erfcheinen Valentin und Ele 
mence bloß in Begleitung ihrer Zeugen. Valentin 
bat feinen Ueberrod von fyettfleden reinigen Lafien, 
Elömence die drei lehzten Nächte damit zugebradt, 
fi) ein altes, blaues Kleid herzurichten, das eine 
Freundin, die größer ift als fie, ihr für zehn Franken 


Wie geheiratet wird. 


verfauft hat. Sie trägt einen mit roten Blumen 
gepußten Hut und ift mit ihrem weißen Kinder— 
geſichtchen, unter ihren loſen, blonden Löckchen jo 
hübſch, dab der Maire jie väterlich anlächelt. Als 
die Reihe des „Ja“ an fie fommt, fühlt fie, daß 
Valentin ihr einen Stoß mit dem Ellbogen giebt, 
und fängt zu laden an, Der ganze Saal, bis zu 
den Amtsdienern, lacht mit; etwas wie ein Hauch 
von Jugend ſtreiſt durch die vergilbten Blätter des 
Geſetzbuchs. Dann, ala unterjchrieben werden fol, 
laſſen die Zeugen es ſich angelegen fein; Balentin 
zeichnet ein Kreuz, da er nicht Schreiben kann, Ele= 
mence macht einen dicken Zintenfleds. Beim Ein- 
jammeln für die Armen jpendet ein jeder zwei Sous; 
bloß die Braut giebt, nachdem fie lange ihre Tajchen 
durchſucht hat, Schließlich zehn Sous. 

Um zwei Uhr findet ich die Geſellſchaft bei dem 
Weinhändler auf der Place du Tröne ein. Von 
dort macht man fid) auf den Weg, wandert auf die 
Feſtungswerke und gebt gerade vor fih hin; dann 
veranstalten die Männer eine Partie Blindefub im 
Graben, Wenn einer der Tiſchler eine Dame er: 
wiicht, hält er fie einen Augenblid feft und kneift 
fie in die Hüften; die Dame jtöht leiſe Schreic 
aus, jagt, das fei verboten: gefniffen dürfe nicht 
werden. Die ganze Gejellihaft lacht laut und ftört 
diefen einjamen Winfel durch einen ſolchen Lärm, 
daß die erjchredten Spaben von den Bäumen längs 
des Nundenganges auffliegen. Beim Rückweg müſſen 
drei Kinder von ihren Vätern SHudepad getragen 
werden, da fie nicht mehr laufen können. 

Das hindert niemand, abends beim Diner 
wütend dreinzuhauen. Ein jeder will für feine hundert 
Sous eſſen. Man zahlt ja dafür; da lann man 
doch den Zeller rein ejien, nicht wahr? Man muß 
nur jehen, mit welcher Sorgfalt die Knochen gepußt 
werden; nichts darf in die Küche zurüd. Valentin, 
den die Kameraden zum Spaß betrunfen machen 
wollen, giebt auf jein Glas acht, aber Elömence, 
die gewöhnlich feinen puren Wein trinkt, iſt jehr 
rot im Geſicht, ipricht wie eine Elfter und ftöht 
Schreie aus wie ein Vogel. Alles ift jehr luſtig, 
alles geht ſehr gut von flatten. Beim Nachtiſch 
fängt das Singen an; ein jeder fagt fein Lied auf, 
und drei Stunden lang herricht ein unaufhörliches 
Gegirre von Couplets. Der eine fingt eine Romanze, 
eine Geſchichte, in der Venedig und Gondeln vor- 
tommen; die Spezialität eines andern find fomijche 
Liedchen, und er erzählt die Mifjethaten des billigen 
Weines, indem er beim Refrain einen Trunfenen 
nachahmt; ein dritter ſtimmt ein ſchmutziges Scherz» 
lied an, das die Damen unter lautem Gelächter 
begleiten, indem fie mit den Mefjerfliugen auf die 
Gläſer jhlagen. Als es jedod ans Zahlen geht, 
giebt es Merger. Der Weinhändler rechnet Zu— 





1043 


gaben auf. Wie, Zugaben? Hundert Sous war 


abgemacht; bei hundert Sous bleibt's, mehr nicht! 


Us aber der Weinhändler droht, die Poliziiten zu 
rufen, nimmt die Sache eine böfe Wendung; Fauſt⸗ 
ichläge werden gewedhjelt, und ein Zeil der Hochzeits- 


| geſellſchaft muß die Nacht auf der Wache zubringen. 


Die Brautleute find zum Glüd Hug genug geweſen, 
glei zu Beginn des Streites zu entichlüpfen. 

Es iſt vier Uhr morgens, als Balentin und 
Glemence in das Zimmer der letzleren zurüdtchren. 
Sie haben ſich entichloffen, es bis zum nächſten 
Termin zu behalten. Bei leichtem, kaltem Wind, 
den fie nicht ſpüren, jo raſch jchreiten fie aus, find 
fie zu Fuß durch den ganzen Faubourg Saint-Antoine 
gegangen, und faum hat fich die Thür geſchloſſen, 
jo nimmt Valentin Glömence in feine Arme und bes 
bet mit einer ungejlümen Leidenſchaft, die fie zum 
Lachen bringt, ihr Geficht mit Küſſen. Sie hängt 
ih an feinen Hals und küßt ihn ebenſalls aus 
aller Macht, um ihm zu beweijen, daß fie ihn liebt, 
Das Bett ift nicht einmal gemacht; fie hat jih am 
Morgen jo geeilt, daß fie bloß die Dede darüber 
breitete, Er Hilft ihr, die Matratze umkehren. Als 
fie fich niederlegen, geht die Sonne auf. Der Zeifig 
Elömencen®, deſſen Bauer beim Fenſter bängt, 
zwitfchert jehr jüß, und es ift, ala ob in dem 
arınjeligen Zimmer hinter den verblichenen Bettvor- 
hängen Amor mit den Flügeln rauſche. 

Alles wohl berechnet find Valentin und El&mence 
mit dreiundawanzig Sous in die Ehe getreten. Am 
Montag ehrt ein jeder von ihnen ruhig an feine 
Arbeit zurüd, und die Tage verftreichen, das Leben 
geht vorüber. Mit dreißig Jahren ift Elömence häß- 
lich; ihr blondes Haar ift ſchmuhßiggelb geworden, 
und die drei ſtinder, die fie jelbft genährt hat, haben 
fie entjtellt. Valentin Hat jih ans Trinken gewöhnt, 
fein Atem ift übelriechend, feine jhönen Arme find 
vom Hobeln hart und mager geworden, An Löhnungs- 
tagen, wenn ber Tiſchler betrunten, mit leeren Tajchen 
heimtommt, prügelt fich das Ehepaar, während Die 
Kinder heulen. Nach und nad gewöhnt ſich die 
Frau daran, den Mann beim Weinhändler abzus 
holen, und ſchließlich jet ſie ſich mit an den Tiſch, 
um inmitten des Pfeifenrauchens ihr Teil an den 
Litern Wein zu haben. Aber fie liebt ihren Mann 
troß alledem, entſchuldigt ihn, wenn er ihr eine Obr- 
feige verjeht, bleibt im übrigen eine ehrbare Frau; 
man fann ihr nicht vorwerfen, daß fie es wie ge= 
wiſſe Geſchöpfe mit dem erften beften hält, und in 
diefem Leben voll Streit und Elend, in dieſer 
ſchmutzigen Behauſung, in der es oft lein Feuer 
und fein Brot giebt, in dem [augjamen Verfall der 
Mirtichaft giebt es bis zum Tode Nächte, da hinter 
den zerlumpten Bettvorhängen Amor jchmeichelnd 
mit den Flügeln rauſcht. 


— mb es 


Hir Williams Frau. 


Bon 
iu, &, Lorris, 
Aus dem Englifchen überfegt von Marie v. Schmid. 


Der geräumige Kranlkenſaal jah ftrahlend, friſch 
und heiter aus an jenem jonnigen Junimorgen, und 
Schweſter Luiſe, die flinf die Reihen binabichritt 
und den Inhabern der eifernen Bettftellen rechts 
und links ein Lächeln zuwarf, worauf viele von ihnen 


den müben Kopf erhoben und zurüdlächelten, ſah aleich» 


falls ftrahlend, friſch und heiter aus. Sie hatte allen 


Grund, heiter auszuſehen, da der heutige Tag, nad) | 


welchem fie fich leidenschaftlich geiehnt, fie in falten- 
reicher, ſchwarzer Tracht jah, die ſich Icharf von der 
weißen Wand abhob, und der Hoipitaldienft, welchen die 
Sabungen ihrer Religionsgejellichaft verlangten, fein 
Ende erreicht hatte. Nichtsdeſtoweniger empfand fie 
einiges Bedauern. 

„Es ift jeltfam!” fagte fie zu ih. „Ich wußte, id; 
würde dies Leben halfen, und in mander Hinficht 
habe ich es gehaßt; doch jetzt thut es mir faſt leid 
zu gehen. Ich glaube, man gewöhnt ſich ſchließlich 
an alles und jedes.“ 

Ohne Zweifel thut man das, und an ſolchen Er— 
fahrungen ift gar nichts Seltfames; aber der armen 
Schweiter Luiſe, die eine Meine Alltagsnatur war, 
muß man es verzeihen, wenn fie Ulltagsreflerionen 
macht und dieſe für Entdedungen hält. Als das 
einzige Find eines verwitweten Landpfarrers, der 
num auch geftorben war und jie ohne genügendes 
Austommen zurückgelaſſen hatte, hatte fie ſich einer 
Schweſterſchaft für Krankenpflege angeſchloſſen, — 
nicht, weil ſie den Beruf dazu fühlte, ſondern weil 
mit einem Einlommen von insgeſamt fünfzig Pſund 
Leib und Seele nicht zufammengehalten werden 
fönnen, und weil der Himmel ihr ein Geficht, 
das ein Vermögen aufgewogen hätte, verjagt hatte. 
In der Folge war ihr offenes, freundliches Geficht« 
hen oft von Thränen entjtellt worden, während das 
nerböſe, empfindliche Temperament feiner Belikerin 
mehr als einmal an die Grenze des Zuſammenbruchs 
gebracht worden war; denn, fürwahr, die Pflege 
Kranker und Verletzter ift feine jo hübſche Beſchäfti— 
gung, wie fie Fernftehenden erfcheinen mag, und dies 
jenigen, welche fie übernehmen, müflen gewöhnlich 
ein ziemlich ernftes und hartes Noviziat durchmachen. 


Aber zu diejer Zeit war Schwefter Luiſe mit ſich 
und ihrem Berufe zufriedener, als fie jemalä er: 
wartet hatte, Sie hatte gelernt, Wunden mit einer 
Zartheit und Gewandtheit zu verbinden, welde ihr 
einige Worte vorfichtigen Lobes eingebracht hatten; 
jie hatte gelernt, ihre Patienten zu lieben; vor allem 
aber hatte jie gelernt, ſich deren Gegenliebe zu er 
werben. 

So würde fie jeßt gern ihnen allen Lebewohl ge 
fagt und eine fchnelle Geneiung gewünſcht haben, 
wenn Seit dazu geweien wäre; aber e3 war feine 
Zeit; denn Sir William Savill konnte jeden Augen: 
blid erjcheinen, und unter den Dingen, wovor {hau 
bernd in Schreden und Beftürzung zurüdzumeiden 
diejes junge Mädchen verlernt hatte, war ſicherlich 
nicht der Anblid des berühmten und gefürdteten 
Wundarzies. Zudem war fie ſich wohl bewußt, daf 
auc ihr Anblid in diefer Nonnentracht Sir Willen 
nicht angenehm fein würde Er hatte fi der 
Neuerung ſtark widerjegt, durch welche Glieder ihrer 
Religionsgeſellſchaft im Hoipitale Fuß gefaßt heiten. 
Er war in religiöjen Dingen ein notoriſcher Slep 
tifer, und man jagte, ein ſchwarzes Gewand bringe 
auf fein Temperament diefelbe Wirkung hervor wie 
ein rotes Tuch auf dasjenige eines Stiered,. Mi 
Operateur hatte er feinen Rivalen in England; aber 
er hatte den Ruf, graufam zu fein, und allerdings 
war feine Art und Weije raub und roh, beinabe 
brutal. Schwefter Luiſe floh wie ein erichredies 
Kaninchen bei dem Ton feines ſich nähernden ſchweren 
Trittes; fie würde ſich auch jeht, al® jener Ton ibe 
Ohr erreiht hatte, geflüchtet haben; nur gab «# 
nirgends ein Loch, in welches fie fich hätte unter 
duden können. Daher trat fie Hopfenden Herzen 
zur Seite, um das Ungeheuer vorbeizulafien. 

Wenn er fein Ungeheuer war von Gharafter, in 
phyſiſcher Beziehung war er es jedenfalls, In feiner 
ftattlichen Größe von ſechs Fuß drei Zoll, mit breiter 
Bruft, ſtruppigem Haar und grauem Bart, trat tr 
in den Saal, gefolgt von dem Aiffiftenten, der den 
Infteumentenfaften trug, und von einer Wärterin in 


' Hofpitalfleidung, nicht in der Tracht, welche die 


Sir Williams Frau. 


jitternde Schwefter Luiſe ſchmückte. Die lehtere zog 
zu ihrem Schreden feine Aufmerffamfeit auf ſich, trotz 
aller Anftrengungen , die fie machte, jehr Mein aus— 
zufehen. Er ftand vor ihr ftill, richtete jeine grim— 
migen Augen auf fie und fragte ſchroff: 

„Wer jind Sie?“ 

„Schwefter Luiſe, Sir William,“ antwortete fie 
janft. 

„Schweſter — was? Das ift fein englifcher Name 
und fein engliicher Titel. Warum, zum Xeufel, 
fönnen Sie fi nicht Pflegerin Johanna nennen? 
Nicht daß es darauf anfäme, wie Sie ſich nennen, 
jolange Sie thun fünnen, was von Ihnen verlangt 
wird. Schon einmal bei einer Operation ajfiftiert?” 

„sh habe eine oder zwei gejehen, Sir William,” 
antwortete Schweiter Luije, und ihr fanf das Herz; 
denn fie wußte, was fommen würde, und, um die 
Wahrheit zu jagen, fie war nicht ganz abgehärtet 
der „Schredendfammer* gegenüber, wie fie ben Opes 
rationsſaal im flillen nannte. 

Der große Mann hielt eine furze Beratung mit 
jeinem Kollegen ab und jagte dann: „Gut, Sie wer- 
den jetzt bei einer ſchwierigen Operation zu affiftieren 
baben, Wir haben Mangel an Hilfsfräften und 
müſſen nehmen, was wir kriegen können.“ 

Er legte ihr feine ungeheure Hand auf die 
Schulter und fügte mit etwas weniger herausfordern» 
der, doch noch genügend ftrenger Betonung hinzu: 

„Run, mein gutes Mädchen, machen Sie, bitte, 
feinen Unfinn. Thun Sie genau, was Ihnen ges 
jagt wird — Gie werden nichts zu thun geheißen 
werden, was Sie nicht thun fünnen —, und denfen 
Sie daran, daß, wenn Sie ſich ſchwach zeigen, Sie 
einem Mitgefhöpf den Tod bringen können.“ 

Sie hielt es nicht für ſehr wahricheinlich, daß 
fie ſich Schwach zeigen werde; denn fie hatte ja im 
Grunde einige Erfahrung, was den Anblid häßlicher 
Dinge betraf, und obgleich fie dergleichen fürchtete 
und haßte, hatte doch bis jekt noch nichts vermod)t- 
fie dazu zu bringen, daß jie den Kopf verlor. Aber 
diefe Angelegenheit, welcher fie fich möglicherweiſe 
durch den Einwand, dab ihre Zeit im Hofpital zu 
Ende fei, hätte entziehen fünnen, wäre fie nicht zu 
ängſtlich dazu geweſen, erwies ſich als ein langwieri« 
ges und fchrediiches Geihäft. Der unglückliche Pa— 
tient, welcher allerdings injoweit glüdlich zu preijen 
war, dat ihm die Dienfte des glänzendſten aller 
lebenden Operateure zur Verfügung ftanden, ohne 
daß er etwas dafür zu bezahlen hatte, war durch die 
Angft ganz außer ſich gebradht und bot einen Wibder- 
ftand, der allein durch Gewaltmaßregeln überwunden 
werden konnte; die Natur des Falles war derart, daß 
Betäubungsmittel nicht angewendet werden fonnten, 
und ein Auftritt folgte, deſſen ausführlide Schilde» 
rung, wie man annehmen darf, niemand leſen möchte. 


— — — — — — — — — — — — — —— — — 





1045 


Von den vier Perfonen, welche Zeuge davon 
waren und daran teilnahmen, waren drei be- 
wunbernde Enthufiaften, welche nur den erhabenen 
Triumph der wiſſenſchaftlichen Gewandtheit jahen ; 
die vierte, deren Herz von Jammer und Mitleid zer— 
riffen wurde, empfand felber Todesqualen und fühlte 
TH um zwanzig Jahre älter geworden, als alles vor« 
über war, und ihr daß Zeichen für ihre Freilaſſung 
gewährt wurde, 

Sie hatte ihre Pflicht gethan ; fie hatte fich feinen 
Vorwurf zugezogen; fie war weder in Ohnmacht ge= 
fallen, noch war fie ermattet. Aber jebt, da fie allein 
war indem langen, weißgetündhten Korridor draußen, 
gaben ihre Nerven, denen zu viel zugemutet worden, 
plöglich nad); fie fiel in voller Länge auf eine Bank 
und brad in leidenihaftliches Weinen aus, Es jchien 
ihr, wie es ihr ſchon ein- oder zweimal früher er 
gangen war, daß das Leben faft zu ſchrecklich und 
graufum jei, um ertragen zu werben; daß die Vor— 
ftellung von einem barmberzigen und Liebenden 
Schöpfer eines Geſchlechtes wie des unfern zu 
jhwierig oder zu phantaftiich jei für den menſch— 
lichen Geilt, und dab der Fluch, der auf den Erden» 
bürgern liegt, ganz außer Verhältnis zu ihrer Schuld 
ftehe. Wie unendlich viel beffer würde es für neun 
unter zehn Sterblichen jein, wenn fie niemals ge— 
boren worden wären! 

Sie hatte feine Zeit, ihre Flucht ins Merk zu 
jeßen oder auch nur ihre Thränen zu trodnen, bevor 
die beiden Doktoren geräufchvoll in den Gang traten, 
Sir William Savill blieb ftehen, um fie anzujehen, 
und Hopfte ihr wohlwollend auf die Wange, Er 
war in fehr guter Saune, wie er immer war nad) 
einer glüdlichen Operation. 

„Na nu, Maria Johanna oder Schwefter Luife, 
oder wie immer Sie fich zu nennen für gut befinden, 
was ſoll das alles heißen, he?“ ſagte er nicht un— 
freundlih. „Sie find ein gutes eines Mädchen 
geweſen und haben mitgeholfen, einen armen Teufel 
vom Grabe zurüdzureiien — dabei ijt doch nichts 
zu weinen, was? Sie lieben es nicht, Blut zu jehen, 
und fieben es nicht, Leute Frei herausjchreien zu hören, 
wenn fie verleht werden, jcheint mir. Du lieber 
Himmel! Blut ift doch fein bißchen erfchütternder, 
als Thränen es find, und ein Kerl, der unter dem 
Meſſer fchreien fann wie der vorhin, ift ein glüde 
licher Burſche, der eine Fülle von Lebenskraft in ſich 
bat. Kommen Sie mit, und laſſen Sie fi) Riechſalz 
geben. Sie werden in zehn Minuten wieder jo wohl 
wie je jein, und unſer freund wird Luftiprünge 
machen, ehe er ſechs Wochen älter ift.” 

Schwefter Luife nahm die Unterfiüßung von Sir 
Williams ftarlem Arm an — wer hatte ſich jemals 
geweigert, Sir William Savill zu gehordhen? — und 
wurde in jein Privatzimmer geführt, wo fie, wie er 


1046 


borausgejagt hatte, bald ihre Haltung wiederfand, 
Er verließ fie auf eine Weile, und als er zurüdfehrte, 
nidte er ihr mit einem beifälligen Lächeln zu. 

„Kommen Sie! So iſt's beſſer,“ ſagte er. „Sie 
werden mieder vernünftig, wie ich Sehe, und thun, wie 
Sie geheißen werden. Jetzt habe ich eine Arbeit für 
Eie heraudgefunden, die Jhnen zujagen wird. Ich 
möchte Sie in das Haus einer leidenden Dame 
bringen , welche abjolut fein organijches Leiden hat. 
Allgemeine Schwäche, jagt man — Hyſterie vielleicht. 
Nicht mein Fach, aber ganz das Yhrige, follte id 
meinen. Kurz, id) brauche eine mitfühlende Frau, 
welche feine Närrin ift, und ich nehme an, dab Sie 
diefer Anforderung entfprechen. Nein, Sie brauchen 
ſich nicht bei Ihrer Frau Oberin abzumelden; ich 
habe alles das geordnet. Ich hörte von ihr, daß 
Ihre Sachen ſchon gepadt ſeien; jo bleibt für mic 
nur übrig, Sie nad) dem Portman Square zu fahren.* 

Fünf Minuten fpäter jaß die nicht widerftrebende 
Schweſter Luife in Sir William Savills Brougham 
und plauderte mit ihrem Nachbarn mit einer Frei— 
mütigfeit, die fie jelber in Eritaunen ſetzte. 

Ja,“ jagte fie in Beantwortung einer feiner Be— 
merfungen, die darauf berechnet waren, fie etwas 
auszuhorhen. „Das ift es gerade, Ich liebe die 


Krankenpflege und glaube einiges Geſchick dafür zu | 


haben; aber Operationen kann ich nicht vertragen. 
Mir ift dabei zu Mute,“ — fie hielt atemjchöpfend 
inne und ſchloß dann mit leiſer, von Ehrfurcht er 
griffener Stimme: „Mir ift dabei zu Mute, ala ob 
es feinen Gott gäbe !* 

„Es faun einen Gott geben, und es fann aud 
fein, daß es feinen giebt," erwiderte der große 
Chirurg; „es ift das eine von denjenigen Fragen, 
in deren Beantwortung die größten Autoritäten von» 
einander abweichen. Aber ich möchte jo weit gehen, 
zu jagen, daß ich feinen Pfennig für eine Frau 
geben würde, die feine Religion bat. 
religiöfen Uebungen anbetrifft, jo ſpreche ih nicht 
von denen; denn, um die Wahrheit zu jagen, fie 
üben diejelbe Mirfung auf mich aus wie die Ope— 
rationen auf Sie. In kurzen Worten: Ih bin ein 
Mann, während Sie eine Frau find; das erflärt 
alles, Lady Savill ift aud) eine Frau.“ 

Der letzte Punkt feiner Ausführung Mang ein 
wenig überflüffig, und möglicherweife drüdte Schwefter 
Luiſens Geſicht eine ftille Frage aus; denn Sir Wil⸗ 
liam beeilte ſich hinzuzufügen: 

„O, id) glaube, ich habe zu jagen vergefien, dat 
meine Frau Ihre Patientin jein ſoll, bis es ihr 
befler geht. Meine Gattin ift nicht nur eine Frau, 
fondern eine firhlide Frau; jo werden Sie es in 


W. E. Norris. 


Ihnen, dab Sie, wenn Sie das können, fie über: 
zeugen, daß ihr Magen ganz geſund ift. Später 
Lönnten Sie — wer weiß? — fie dazu überreden, 
zu glauben, da fie einen Gatten hat, deſſen Bellen 
ſchlimmer ift al8 fein Biß, und der es gut meint, 
obgleich er nicht zur Kirche geht. Aber ich beftehe 
nicht auf diejem lehteren Punkte,“ 

Der große raue Mann bellte nicht, noch bih er, 
als der herrſchaftliche Wohnfik erreicht war, und er 
Schweſter Luiſe in ein verdunfelte®, auserleſen 
möbliertes Bouboir führte. Er trat auf den Fuß— 
ipigen ein und fagte in freundlichen, fanften Tönen, 
welche feiner von Sir Williams Patienten wieder: 
erfannt haben würde: 

„Meine Liebe, ich habe dir die befte Feine Pile- 
gerin in London gebracht.“ 

Die Dame, welche auf einem Sofa lag, in einem 
Anzug, der eine beträchtliche Summe Geldes gefoftet 
haben muhte, erhob ihr ſchönes Haupt von den 
Kiffen, auf welchen es geruht hatte, und jagte mit 
einem Stoßfeufzer in mattem Tone: 

„Welch ungewöhnliche Stunde für dein Er— 
ſcheinen!“ 

„O, id bin gleich wieder fort!” antwortete ihr 
Gatte mit der Miene eines, der ſich bewußt ift, ſich 
entihuldigen zu müflen. „Ich bin nur anf einen 
Augenblick zurüdgelommen, um dir unſre junge 
Freundin hier vorzuftellen. Fühlſt du did — fühlſt 
du dich etwas leichter ?* wagte er nach einer kurzen 
Pauſe zu fragen. 

„Dauke dir; es geht mir immer gleich, das heißt 
ganz gut,” antwortete Lady Savill, ihrem Kopfe ae 
ftattend, wieder zurüdzufinten, und die Augen weg: 
wendend. „Nach deiner Anſicht geht es mir immer 
gut, wie du weißt, Ich will dich nicht länger auf—⸗ 
halten; ich bin ficher, daß jemand auf dich wartet, 


ı um in Stüde zerhadt zu werden.” 


Was eure | 


Thatjählih warteten mehrere Leute auf Eir 
William, der fich ebenjo geräufchlos zurüdzjog, wie 
er eingetreten war. Seine Stiefel knarrten nicht, 
noch jchlug er die Thür zu; doc die Dame auf dem 
Sofa hätte nicht mehr die Stirn runzeln und zu 
jammenfahren fönnen, wenn fein Abgang ſich obne 
die geringfte Rüdficht auf ihre empfindlichen Nerven 
vollzogen hätte. Bis jebt hatte Schweſter Luiſe feinen 
jehr günftigen Eindrud von ihr gewonnen; aber e 
traf fih, daß Lady Savill einen günfligen Eindrud 
von Schwefter Luiſe gewonnen hatte, und Yadu 
Savill verftand es — wie jo mander Mann neben 
Eir William auf feine Koften erfahren hatte — 
Lady Savill verjtand es, unwiderſtehlich zu fein. In 
der That, fie hatte zu dieſem Zwede hundert Mittel 


beiden Punkten treffen. Ihre vorige Pilegerin, welche | zur Verfügung, und es gefiel ihr, eine$ davon der 


ich aus dem Haufe jagen mußte, überzeugte fie da— 
von, daß fie Magenkrebs habe. Ich wünſche von 





Heinen Schweiter gegenüber anzuwenden, deren Hände 
fie in die ihrigen nahm, und welche fie mit janfter 


Sir Williams Frau, 


Gewalt zwang, fih auf eine Fußbank neben dem 
Sofa niederjulalien. Sie war eine Tiebliche, bleiche 
Frau mit Haren, blauen Augen, fein gezeichneten 
Brauen, bronzefarbenem Haar und einem gewinnens 
den, rührenden Lächeln. 

„Meine Liebe,” rief fie aus, „wie müde Sie auf» 
iehen! Ich kann mit Ihnen fühlen; denn ich bin 
Tag und Naht müde. Klingeln Sie, und beftellen 
Sie ſich eine Taſſe Thee oder ſonſt etwas. Es jcheint 
mir, dab ich damit anfangen muß, meine Pflegerin 
zu pflegen!” 

Es jah ihr nicht im mindeften ähnlich), dies zu 
ihun, noch war e& jemals in Wahrheit ihre Art ges 
wejen, ſich viel mit den Leiden andrer zu quälen. 
Aber fie liebte es, auf ihren eignen zu verweilen, 
und fie fuhr fort, jo hübich und geduldig davon zu 
erzählen, daß fie bald das Herz eines Weſens ge— 
wann, deſſen Temperament in jeder Hinficht von 
dem ihrigen verjchieden war. Lady Savill war, was 
der unerfahreniten aller Srankenpflegerinnen kaum 
hätte entgehen fünnen, nicht wirklich franf; aber fie 
war zart, und jie war unglüdlic, und ohne Zweifel 
hatte fie dann und wann einen Anfall von Neuralgie. 
Menſchen, die unglüdtich find, leiden oft an Nerven» 
zufällen, und dieſe reizende fyrau, die faſt vom Schul» 
jimmer weg an einen Mann verheiratet worden war, 
der zweimal jo alt war wie fie (und nod dazu an 
ſolch einen Mann!), Hatte ficherlich ein Recht, uns 
glücklich und neuralgiſch zu jein. Ehe Schwefter Luiſe 
an jenem Abend zu Bett ging, hatte jie Die Geſchichte 
ihrer Patientin gehört — oder auf jeden Fall jo 
viel davon, wie ihre Patientin ihr mitzuieilen für 
angemeijen erachtet hatte — und hatte Thränen 
darüber vergoffen. Es war ſo ſchrecklich traurig! 
Und jelbft, wenn Sir William nicht beabfichtigte, ein 
Barbar zu fein — was er, um ihm Gerechtigkeit 
wiberfahren zu laſſen, jehr wahrjcheinlich nicht that 
— lonnte man ſich leicht vergegenwärtigen, was für 
ein beftändiges Fegefeuer es jein mußte, mit ihm 
als jeine Gattin zu leben. Darüber indejjen hatte die 
arme Lady Savill, welche mit Vorliebe die Kirche zu 
bejuchen ſchien, und deren Schlafzimmer voll hübſch 
eingebundener Heiner Andachtsbücher war, kaum ges 
flagt. Das Schlimmfte, was fie von ihm gelagt 
hatte, war, daß es fie manchmal ſchaudern mache, 
fich für das ganze Leben an einen Schlächter gefeitet 
zu haben. 

Kun, man konnte es nicht leugnen, daß er ein 
Schlädter war. Sein Handwerk war allerdings der 
Gebraud des Meijers, und wenn das Leben ber 
Leute davon abhängt, dab man das Meier in ihre 
Leiber jentt, jo iſt es vielleicht am beften, ſchnell 
und bejtimmt mit ihnen zu verfahren. Doch er hätte 
ein wenig mitfühlender jein fönnen, dachte Schweiter 
Luiſe; er hätte verſtehen können, daß nicht alle Welt 


| 





1047 


mit feinen eifernen Nerven gefegnet war, und daß 
das, was den einen nur ein ganz erträgfiher Schmerz 
ift, für den andern faft unerträgliche Pein fein lann. 
Sein gefeierter und fajhionabler Kollege, Sir James 
Gurney, der täglich vorijprah, um Lady Savill zu 
bejuchen, war ein praftiicher Arzt von weit feinerem 
Empfinden. Sir James war voll Güte, Mitleid 
und unermüdlich in Verordnungen. Seine Patientin 
— das ift freilich wahr — wurde nicht geſund; aber 
welcher Arzt kann gerechterweiie getabelt werden, wenn 
es ihm nicht gelingt, einen Patienten zu furieren, 
der feine bejtimmte Krankheit zum Kurieren hat? 

„Es ift einer von jenen Fällen von Schwäche und 
Niedergeſchlagenheit,“ jagte er zu Schweiter Luiſe 
mit feiner angenehmen, harmonischen Stimme, „welche 
mehr eine einfichtevolle Behandlung als Arzneien 
erfordern, obgleich ich nicht jage, dab Arzneien ganz 
nublos find. Es ift, wie Sie ſicherlich bemerft haben 
werden, ein gut Zeil — jollen wir es geiltige Ab» 
jpannung nennen? — dabei. Mit Ihrer janften 
und taftvollen Geſellſchaft, mein liebes Fräulein, 
werben wir bald, das glaube ich zuverſichtlich, in 
jener Hinficht einige Bellerung erzielen; aber wir 
dürfen nicht — wirflih nicht — unmittelbare Er— 
folge erwarten. Das ijt es, was id dem armen 
Sapill beizubringen mid; bemühe, der wie jo viele 
Chirurgen geneigt ift, etwas ungeduldig und ſleptiſch 
zu fein,” 

Es war einige Tage, nachdem Schwejter Luije in 
das Haus am Portman Square eingezogen war, 
dab Sir James ihrer Sanftmut und ihrem Takt 
diejen anmutigen Tribut zollte. Sie hatte miitler- 
weile entdedt (oder e& war ihr vielmehr ziemlich 
deutlich gejagt worden), daß Lady Savills unbefrie⸗ 
digender Gejundheitäzuftand faft gänzlich) ſeeliſcher Ber: 
fünmerung zuzuſchreiben war; aber man fanı nicht 
jagen, daß Sir Williams Ungeduld und Skeptizismus 
ihr fichtbarer geworden wäre. Im Gegenteil, fie 
hatte angefangen, den großen rauhen Dann zu be» 
mitleiden, der, wenn er nichts andres verfiand, Far 
genug zu verftehen ſchien, daß feinem Weibe, das er 
augenscheinlich anbetete, jein Anblid allein verhaßt 
war. Lady Savill wurde nicht oft von feinem Anz 
blid beläftigt. Er war von morgens bis abends nicht 
zu Haufe; er drängte ſich ihr nicht auf, wenn fie 
erflärte, jie fühle jich zu frant, um eine Unterhaltung 
zu führen, noch beflagte er ji, wenn fie abends das 
Haus verlieh, um Diners und „Klatſchgeſellſchaften“ 
aufzujuchen, welche mit ihrer Gegenwart zu ſchmücken 
fie ſich nicht zu krauk fühlte, 

„Das ift alles ganz in der Ordnung jo, müflen 
Sie willen,“ bemerkte Sir William zu Schweiter 
Luife. „Die Hauptſache ift, fie in guter Stimmung zu 
erhalten, und weun Gejelligfeit das bei ihr erreicht, 
jo bin ich der Gejelligfeit jehr verpflichtet. Vielleicht 


1048 


verzeihen Sie mir, wenn ich ſage, daß — nad) meiner 
Anſicht — Geſelligkeit heilfamer ift als Ohrenbeichte.“ 

Schweſter Luiſe, die zwar verſchwiegen war, aber 
ſcharf beobachtete, antwortete nicht; aber im Laufe 
der Zeit war ſie nicht mehr ſo ſicher, daß alles in 
der Ordnung ſei, und ſie fing an zu argwöhnen, 


daß Lady Savills anglifanifcher Veichtvater ein ges | 


fälliger oder ein ziemlich beſchränkter Mann jein 
müfle, Das war ein unjhidlicher und unwürdiger 
Verdacht, der zu einem jo unſchuldigen Gemüte feinen 
Zugang hätte finden follen, und die gute kleine 
Schweiter wies ihn jeden Abend, wenn fie ihr Gebet 
ſprach, mit geziemender Zerknirſchung zurüd. Nichts- 
deftoweniger fehrte er mit uneingejchränfter Kraft 
am folgenden Tage wieder — verftärft einerjeits 
durch gewiſſe Umftände, und andrerjeits durch ver= 
ſchiedene Andeutungen, die von Fady Savill$ eignen 
Lippen fielen. Ihrer Ladyſchaft Andeutungen wiejen 
far auf das Borhandenfein einer geheimen und 
boffnungslojen Neigung ihrerjeits hin; der Umfland, 
welcher die Deutung jener Winfe ergänzte, war 
der, daß Schweiter Luiſe öfters um die befondere 
Gefälligfeit gebeten wurde, die Briefe ihrer Lady» 
haft zur Poft zu bringen. Nun, man mag die 
argloje Tochter eines Landpfarrers und eine Kranlen⸗ 
ichwefter dazu fein, — was joll man wohl daraus 
ſchließen, wenn unter verjchiedenen unintereſſant aus» 
jehenden Schreiben fi immer ein dider Brief be— 
findet, adrejfiert an „Captain the Hon. Frederick 
Pomfret?* Schwejter Luife gelangte zu einem fo 
beftimmten und jo durchaus vernunftgemäßen Schluß, 
daß ſie fich verpflichtet fühlte, feiner gegen Lady 
Savill zu erwähnen, welche fie damit überrajchte, 
daß fie in Lachen ausbrach: 

„Sie liebe, Heine Seele! Als ob ich nicht die 
ganze Zeit mein Beſtes gethan hätte, um Ihnen zu 
enthüllen, was Ihnen joeben zu entdeden gelungen 
ift! Es ift wahr, e8 würde mir nicht bejonders lieb 
jein, wenn die Dienftboten wüßten, daß ich mit Fred 
forreipondiere ; aber abgejehen davon wünjchte ich 
itet3, daß Sie davon wühten, fürdtete mich nur 
halbwegs, es Ihnen zu jagen. Sehen Sie nidht jo 
betroffen drein; es iſt feine Sünde, an ihn zu jchreis 
ben — und wenn es ſelbſt eine wäre — aber nutür« 
lich iſt es feine, und ich finde es ziemlich unfreundlich 
von ihm, niemals zu fommen und mich zu bejuchen. 
Es ijt ein jo jämmerliches und unbefriebigendes 
Zujammenfein, das und in andrer Leute Haus zu 
teil wird, wo wir faum ein paar Worte wechfeln 
fönnen, ohne daß man uns hört.“ 

Schwefter Luiſe war eine von jenen jeltenen, beis 
nahe unnatürlichen rauen, die e& niemals gelemt 
baben, mit ihrem Gewiſſen einen Vergleich zu ſchließen. 
Folglich blieb fie traurig und enttäuſcht, ſelbſt als jie 
Lady Savill® rührende Heine Liebesgeſchichte angehört 





W. © Norris, 


hatte, obgleich fie nicht umhin fonnte, das ſchlichte 
Pathos derfelben anzuerkennen. Der hübiche, aber 
arme Garde-Dffizier; Die eben in die Gefellihaft 
eingeführte, ſchöne, aber unglücklicherweiſe mitgiftloie 
junge Dame; die Unmöglichkeit einer Verbindung; 
der reiche Anbeter mittleren Alters, der fid) in einem 
Augenblide vorgeftellt hatte, als feinerlei Ausſicht 
auf Berwirflihung ihrer Hoffnungen mehr vorhanden 
zu jein ſchien; die drängenden Eltern umd die nad» 
folgende liebeleere Ehe — all diefer Stoff zu einer 
häuslichen Tragödie ift nur zu alltäglich, aber er 
ruft deswegen nicht minder da8 Mitleid weicher 
Herzen an. Zugleich aber konnte Schweiter Life 
es wirklich nicht für richtig halten, daß Kapitän 
Pomfret ins Haus käme. Nod weniger konnte fie 
da®, als verlautete, daß Sir William, der fid) im 
ganzen der Sache gegenüber bis zu einem gewiſſen 
Grade großmütig benommen, beftimmt hatte, daß 
die Beziehungen feiner Frau zu dem jungen Herm 
aufgören müßten, 

„Es ift abjcheulich von ihm — und fieht ihm jo 
ähnlich!” rief Lady Savill aus. „Sie willen, ob 
gleich ich vermute, er thut's nicht, daß id; nicht im 
Zraum daran bene, etwas wirklich Unrechtes zu ihun; 
aber es jcheint mir doc, dak man, wenn man kein 
Vertrauen findet, auch nicht verpflichtet ift, Befehlen 
zu gehordden. Iſt es nicht zugejtandene Thatjade, 
daß ein Gefangener vollfommen im Recht ift, wenn 
er entflieht, jobald er fan?“ 

Das konnte Schwefter Luiſe nicht jagen, ſondern 
fie antwortete unter dem Eindrude deſſen, daß fie 
einmal von einem Gefangenen gehört hatte, der er: 
ſchoſſen worden war, während er jeinen Fluchtverſuch 
ins Werl jehte, 

„Ah, das ift es ja eben! Ich bin gewiß, er 
würde den armen Fred töten, wenn er ihn bier im 
Haufe fände.“ 

„Dann follten Sie um Kapitän Pomfrets jelber 
willen ihn nicht bitten, ins Haus zu fommen,“ er⸗ 
flärte Schweſter Luiſe. 

„Aber wenn er nicht kommt, werde ich jelber 
jterben!* rief die arme Kranle aus. Und bei dem 
bloßen Gedanfen an eine jo jammerbolle Kataſtrophe 
brad) fie in leidenfchaftliches Weinen aus, das jchlieh- 
lih zu einem hyſteriſchen Anfall wurde. 

Am folgenden Tage richtete Sir James Gurne 
einen gemejlenen Verweis an Lady Savills Wärterin. 

„Das geht nicht! Verzeihen Sie mir, wenn id 
fage, daß ich Ihnen mehr gefunden Menjchenverftand 
zugetraut hatte. Sie erzählt mir, da geftern eine 
Erörterung zwijchen Ihnen flattgefunden bat, welcht 
fie jehr außer ſich brachte, und Sie können jelber 
jehen, daß wir den Grund verloren haben. Wirflid, 
wirklich, mein liebes Fräulein, es darf feine Die 
fujfionen mehr geben!* 


— 7 


Sir Williams Frau. 


So geihah es, daß Schweiter Luijens feinem 
Kompromik zugänglices Gewiſſen zu einer ſchweren 
Bürde für fie wurde, und dab Lady Savill ohne 
weitere Veranlaffung zu hyſteriſchen Zufällen erhielt, 
was fie wünjchte. Man braucht faum zu jagen, daß 
das, was Lady Savill wünſchte, eine treue und ber« 
trauenswürdige Freundin war, welche freundlich 
darein willigte, biäweilen für Kapitän Pomfret die 
Hausthür zu Öffnen, anftatt dab der Portier dazu 
aufgeboten wurde; aber Schwefter Yuije würde, jo 
jehr fie ihrer Patientin zugethan war, e& ficherlich 
nicht über ſich vermocht haben, dieſen ſehr zweifel— 
haften Freundſchaftsalt zu leiſten, hätte fie nicht be— 
ftimmt gefühlt, daß die Bejuche, welche ſich daraus 
ergaben, verhältnismäßig harmloſer Natur waren. 
63 war unrecht, ohne Zweifel, und e8 war betrüge- 
nid, und fie mußte es infolgedeflen aufgeben, zur 
Beichte zu gehen; dennoch hatte die Sade ihre be» 
ruhigenden Seiten, von denen nicht die unmichtigite 
Kapitän Pomfrets eigne Behandlung der Angelegen- 
heit war. Der hübſche, fonnverbrannte, blonde 
baarige junge Krieger ſprach nicht oft vor, und es 
war augenjcheinlih, daß er überhaupt nicht gern 
vorſprach. 

„IH wünſchte, Sie blickten mich nicht jo vor— 
wurf8voll an,“ jagte er eines Nachmittags zu Schwefter 
Luiſe, mit welcher er gewöhnt war, auf der Treppe 
ein paar verlegene Bemerkungen zu tauſchen. „Es 
ift nicht alles meine Schuld, wie Sie willen. Wenn 
die arme Marion nicht jo elend wäre, würde es 
etwas andres jein, aber —* 

„Sie haben fein Recht, fie Marion zu nennen,” 
unterbrach ihn Schweſter Luiſe herb; „und ich glaube 
nicht, daß Sie ein Recht haben, ji jo in Sir Wil- 
liom Savilld Haus zu ſchleichen.“ 

„Schon gut; aber man hat nicht das Herz — 
fommen Sie, Sie willen ja, daß Sie jelber nicht 
das Herz haben! Das einzige, was ich befürchte, 
ift, daß der alte Burjche fich eines ſchönen Tages 
unerwartet zeigen und mic) hier finden wird. Dann, 
vermute ich, würde ih ein Seziermejler im Leibe 
baben, ehe ich bis drei zählen könnte.“ 

Schweſter Luiſe erwiderte, wenn ein joldes 
Schickſal über Kapitän Pomfret fommen jollte, jo 
würde er nicht mehr empfangen, als er verdient habe. 
63 gewährte ihr einige Erleichterung, einen Delin- 
quenten zu jchelten, der nicht mit Thränen und 
Obnmachten antworten konnte, und es war eine 
große Erleichterung für fie, zu bemerken, daß ber 
junge Mann fi aufrichtig ſchämte. Der Schluß 
der Londoner Saijon ftand in einigen Wochen bevor. 
Sir William und Lady Savill würden bald während 
der alljährlichen fyerien ins Ausland gehen, und fie 
ſelbſt, jeßte fie voraus, würde dann abgerufen wer- 
den, um andre Pflichten auf fich zu nehmen, Im 

Uus fremden Zungen, 1897. IL. 22, 


1049 


übrigen wurde fie nit von der Vorftellung ſolch 
eines Zujammentreffens wie das, auf welches Ka— 
pitän Pomfret angeipielt hatte, gepeinigt, da jie jah, 
daß Sir William niemals durch irgend einen Zufall 
während des Nahmittags nah Haufe fam. Was 
jie mit Summer und Gewiſſensbiſſen erfüllte, das 
war der Gedanke, daß fie zur Hintergehung eines 
Mannes hilfreihe Hand bot und Vorſchub leiſtete, 
für welden ihre Zuneigung und Hodadtung ſich 
vergrößerte, je mehr fie von ihm ſah. 

Sie jah freilich nicht viel von ihm; aber er hatte 
immer ein freundliches Begrüßungswort für fie, wenn 
fie einander begegneten, und fammelte glühende Kohlen 
auf ihr Haupt, indem er die offenbare Bellerung in 
Fady Savilld Befinden ganz ihrer Hugen Behandlung 
eines ſchwierigen Falles zuſchrieb. Vielleicht reipet- 
tiert man einen Mann nicht gerade bejonders dafür, 
daß er ſich anführen läßt; aber man lann ihn gern 
haben, weil er zu ehrenhaft ift, um andre eines un- 
ehrenhaften Betragens zu verdächtigen, und ed war 
unmöglih, lange unter Sir William Savills Dad 
zu leben, ohne jeine volltommene Selbjtverleugnung 
anzuerfennen und zu bewundern. Sein Dajein war 
das unaufhörlicher und befonders jchwieriger Arbeit ; 
er nahm jeine Mahlzeiten, wann und wie er fie be« 
fommen fonnte, nicht jelten eine oder zwei hinter« 
einander auslaſſend. Seine Dienſte wurden, wie 
Schweſter Luife bald entdedte, ebenjo bereitwillig 
nichtzahlenden wie wohlhabenden Leidenden gewährt. 
Wenn er riftlihe Dogmen verwarf, jo jchienen 
jeine Handlungen von etwas der chriſtlichen Richt- 
ſchnur jehr Aehnlichem geleitet zu werben. 

„Laborare est orare,* bemerlte er eines Abends. 
„Wenn an diefem Safe etwas Wahres ijt, dann 
können Sie mid) an der Spitze ganzer Kongregationen 
frommer Damen in das himmlische Königreich ein- 
marjchieren jehen. Nicht, daß ic) begierig wäre, mir 
mit den Ellbogen den Weg zur Front zu bahnen. 
Ich neide euch nicht Die Freuden des Paradiejes, wo 
wenig los jein wird für einen armen Chirurgen. 
Ich werde mic für reichlid) belohnt halten, wenn 
mir geilattet wird, mich Hinzulegen und für immer 
jhhlafen zu gehen, wenn mein Werk gethan ift.* 

Er jah müde und franf aus. Mehr ala durch 
feine Worte wurde Schweiter Luiſe durch ein Etwas 
in dem Zittern feiner Stimme berührt; ſchüchtern 
jagte fie: 

„Nur ſchlaſen! Das heißt nicht zu viel erbitten. 
Ich habe auch gedacht, daß, wenn Sie nicht über 
das Grab hinausbliden können, Sie die Empfindung 
haben würden, daß Sie bier ein Recht auf etwas 
Glück hätten.“ 

Sir William lachte. „Das haben Sie gedacht? 
Wie ſteht's dann um die Pferde, die tagtäglich in 
den Strafen bis zum Tode audgenußt werden und 

132 


1050 


hungern müſſen? Wie um die Schafe und Ochſen, 
die wir töten und zu Mittag eſſen? Ich will nicht 
von den armen Teufeln in den Hofpitälern ſprechen, 
weil ich vermute, daß Sie mir jagen werden, 
ihrer warte Entjhädigung nad) diejem Leben; aber 
es jcheint mir, je weniger wir in einer Welt wie 
diejer von ‚Nechten‘ iprechen, je beſſer iſt es. Was 
mich betrifft, ich beanipruche feine.” 

Er war ficherlich berechtigt, einige zu beanſpruchen, 
oder jedenfalls eines — fonnte Schweſter Luiſe 
nicht umbin zu denfen. Sie ftußte und errötete, als 
er, als ob er ihre Gedanken erraten babe, hinzufügte: 

„Die Zumeigung derer, die man liebt? Yun, 
die mag man jo lange beanjpruchen, bis man ſchwarz 
wird; aber es entipricht nur der Vernunit, daß man 
jie nicht erlangen fann, wenn jene fie nicht haben, 
um fie einem zu jchenfen. Gin Mann könnte Ge 
horſam beanspruchen — vielleiht — oder ehrliche 
Handlungsweife oder Hunderterlei andres; aber «8 
würde wirklich nicht der Mühe wert fein. Denn die 
Wahrheit ift, daß man niemals verjuchen jollte, 
etwas zu fordern, was man nicht erzwingen faun. 
O, dieje Erde ift ein fchnurriger, ein famojer Meiner 
Planet, meine liebe junge Freundin, und es wird 
für uns alle ein trauriger Tag fein, wenn wir fie 
verlaflen müſſen.“ 

Bon jenem Augenblide an war es fir Schweiter 
Luiſe klarer als ein bloßer Verdacht, dab die Falſch— 
beit, deren fie ſch jo jehr ſchämte, ihren Zweck ver— 
fehlt habe, und dab Sir William fi in Bezug auf 
feine Frau feinen Illuſtonen bingebe; er ſprach fein 
zweites Mal in diefem Zone zu ihr, während Lady 
Savill, nahdem jie von der obigen Unterredung 
unterrichtet worden, auf einmal jo erregt wurde, daß 
nicht daran zu denfen war, bei ihr auf Bekenntnis 
und Buße zu dringen, 

Etwa zehn Tage jpäter wurde Schwejter Luife, 
die gerade ihrer Franken zugeredet hatte, ein jehr 
jorgfältig zubereitetes und einladendes Meines Früh— 
ſtück zu fich zu nehmen, benachrichtigt, daß Sir Wil- 
liam wünjche, fie auf einige Minuten in feinem 
Stubdierzimmer zu ſprechen. Es war die Stunde, 
die für den Empfang von Patienten feſtgeſehzt war, 
deren viele mit Beben darauf warteten, die Vers 
fündigung ihres Urteil® zu hören; aber der große 
Mann war allein und hatte augenjcheinlich etwas freie 
Zeit zur Verfügung. Er war dabei, feinen Schreib- 
tiſch zu verichließen, als Schweſter Yuije eintrat, und 
er warf jetzt das Schlüfjelbund hin, indem er jagte: 

„Wollen Sie jo gut fein, diefe Schlüffel unter 
Ihre Obhut zu nehmen, bis fie gebraudht werden? 


Sie werden die Geldfaffette in der oberſten Schub- | 


lade finden. Ich weiß nie, wieviel Geld ich in Häns 


den habe; aber es jollte genug da jein, um die | 


laufenden Ausgaben zu bejireiten, und obgleich es 





W. € Norris, 


im höchſten Grade unwährſcheinlich ift, daß ic je 
mals in dieſes Haus zurüdfehre, fönnen Sie e& mid 
ja wiſſen laſſen, wenn Sie meiner bedürfen, um 
einen Check unterzeichnen zu laſſen. Nun, was ftarrer 
Sie mid) an?“ 

„SH — ich verftehe nicht,” flotterie Schweiler 
Luiſe, welche am vorhergehenden Nachmittag Kapitän 
Pomfret eingelaffen hatte, und welche fürchtete, daß 
fie nur zu gut derfland, Sir Williams Antwort 
war jedod) nicht, was fie erwartet hatte, 

„Und Sie nennen fi eine Krantenpflegerin! 
Nun jehen Sie mir, bitte, einen Augenblid in das 
Geficht, und wenn Sie dann nicht verftehen, warum 
ic im Begriff bin, diefen Nadmittag ins Holpital 
zu gehen, jo müſſen Sie dümmer jein, ala ih an- 
genommen babe,” 

Cie fam feinem Anfuchen nad und wurde jäh 
betroffen durch feine eigentümliche Bläffe, von wel- 
cher er ohne Zweifel gemeint hatte, dab dieſe ihre 
Aufmerkfamfeit wachrufen müſſe. Auch bemerkte jie, 
dab jeine Wangen Hohl geworden und mit einer 
Menge Heiner Runzeln bededt waren. 

„Sie ſehen?“ ſagte Sir William, ziemlich grim: 
mig lächelnd. „Ein Fall, an dem ich meinen Meifter 
finde. Ich werde nicht geflatten, dab man mid 
operiert; e& würde bloße Verſchwendung von Zeit 
und Mühe fein. Dennoch, aus vielen Gründen, 
thäte ich befjer, meinen alten Kadaver jeht nad) dem 
Hofpital zu verſetzen; wir fönnen nicht zwei Jnvaliden 
in einem Hauie haben. Sehen Sie deshalb nicht 
jo traurig aus. Wie Sie ſich denken fönnen, habe 
id) alles dies feit einer langen Zeit vorausgeſehen, 
und ich bin ganz verjöhnt mit dem, was fommt. 
Nur wünjche ich, dab Sie den wahren Stand meine: 
Falles vor Lady Savill verbergen, die natürlich un 
tröftlich fein würde, wenn ihr etwas aufdämmern 
ſollte.“ 

Sprach er ironiſch? Es war unmöglich, eine 
Antwort aus ſeinen Zügen zu entnehmen, die gar 
nichts anzeigen, als entjchloffen unterbrüdten 
Schmerz — phyſiſchen oder feelifchen. Aber Schwelter 
Luiſe, deren Kraft der Selbftbeherrihung nicht der 
jeinen gleichfam, und welche ſich Hingeriffen fühlte 
von einem plößlichen Strom von Mitleid und Fer: 
knirſchung, brach, ehe fie ihre Worte abwägen konnte, 
weinend aus: 

„D Sir William! 
allein weggehen fallen ! 
ich thun ſoll!“ 

„Aber ich weiß es,“ ſagte er ruhig. „Sie wer: 
den thun, wie Ihnen gejagt wird, ohne irgend wel» 
hen unnötigen Lärm darüber zu jchlagen — als das 
verftändige Mädchen, welches Sie find. Sie werden 
Fady Savill erllären, daß ich eine ziemlich läſtige 
Krankheit an mir entdedt habe, die mich zwingen 


Ich kann Sie nicht jo ganı 
Ich — id) weiß nicht, wa! 


Sir Williams Frau, 


wird, mich auf einige Wochen zurüdguziehen; Sie 
werben fie freundlich befreien von den Sorgen de& 
Haushalts, den ih — mie Sie wohl nicht willen 
werden — biß jept in meinen eignen Händen ges 
halten habe; endlich werden Sie aufhören zu weinen 
— guter Gott, was ift da zu weinen? — und mic 
verlafjen, damit ich den letzten Schub Patienten 
unterſuchen kann, die jemald mein Konjultations- 
zimmer noch betreten werben.“ 

„Aber, Sir William, ficher darf ich jeden Tag 
im Hojpital nachfragen, wie es Ihnen geht?“ 

„D, das natürlih! Und jeden Tag wird Ihnen 
geſagt werden, mein Befinden jchreite ganz jo zu— 
friedenftellend fort, wie man erwarten fünne. rüber 
oder jpäfer wird ein Tag fommen, da man Sie 
bitten wird, bei mir vorzufprechen; aber bis dahin 
wäre es mir lieber, wenn Sie mid) nicht jähen, weil 
es in der Natur der Sache liegt, daß meine Er— 
ſcheinung ſich nun ſchnell zum Schlimmeren verändern 
wird, und ich wünjde, Ihre Aufgabe, Fady Savill 
zu täuschen, nicht ſchwerer zu machen, als fie ohnehin 





iſt. Die Aufgabe, fich zu verftellen, kommt Sie nicht | 


jehr leicht an, nicht wahr?“ 

Er mochte etwas mehr gemeint haben, als er 
jagte, und der juchende Blid, unter welhem Schweiter 
Luiſens Augen ſich ſchuldbewußt jenkten, mochte alles 
entdedt haben, was es zu entdeden gab. In jedem 
Falle hatte er die Wirkung, fie jchleunig aus dem 
Zimmer zu treiben. 

Mas folgte, bewahrheitele Sir Williams Vor— 
ausficht in jeder Beziehung. Lady Savill war nicht 
im geringften beitürzt; die Botjchaften, welche jeden 
Tag vom Hoipital aus zu ihr gelangten, waren be— 
ruhigenden Charakter, und obgleich fie eine Zeit 
lang murrte wegen ihres erzwungenen Zurüdbleibens 
in London (welches Kapitän Pomfret verlafien hatte, 
wie es jchien), hatte es gar feine Schwierigkeit, 
irgend weldhe unbeſtimmte Bejorgnig, die fie möglicher» 
weije wegen ihres Gatten hätte fühlen können, zu 
beichwichtigen. Unbeſtimmt auch und erfolglos waren 
die Appellationen, welche ihre Pilegerin ſich nicht 
enthalten fonnte dann und wann an fie zu richten. 
Schweſter Luiſe, welche ja beftimmt wußte, daß Sir 
William ein fterbender Mann war, welder aber von 
einer Autorität, der fie nicht ungehorſam zu fein 
wagte, verboten worden war, zu enthüllen, was fie 
wußte, hätte jo gern wenigſtens den Anſchein einer 
Ausföhnung zwiichen zwei Menſchen zu ſtande ge— 
bracht, die gut zu ihr geweſen waren; aber die Bes 
Handlung dieſes verwidelten Falles war zu ſchwierig 
für Sie. 

„Was wollen Sie mir eigentlich jagen?* fragte 
Lady Savill ungeduldig, „Natürlich thut es mir 
feid, daß er tranf ift; jedermann, der franf ift, thut 
mir leid, Aber es würde lächerlich fein, zu behaupten, 


\ ihe, fie brauche nicht zu erichreden. 
' jeßt feine Schmerzen — feine körperlichen, heist das. 





1051 


daß jeine Abwejenheit nicht vielmehr eine Erleichter 
rung für mich ſei.“ 

Solch eine Tächerlihe Behauptung wurde aljo 
nicht aufgeftellt, noch wurde irgend welche direfte 
Verbindung mit dem fiehen Manne unterhalten, 
bis endlich Schwefter Luije die Aufforderung erhielt, 
auf welche fie vorbereitet worden war. Auf was fie 
nicht ganz vorbereitet war, das war, fich nicht vor 
einem dem Tode .erft Entgegengehenden, jondern 
einem bereit3 im Sterben Liegenden zu finden. Als 
fie in das Zimmer trat, wo Sir William lag, ver- 
lief; dieſes gerade ein berühmter Vertreter feines Ber 
rufe®, mit ernitem Gefiht und einem fchnellen, 
fragenden Blid zu ihr hin. Im folgte eine der 
Hoipitalwärterinnen, und dann fam von der ab- 
gemagerten Geftalt auf dem Bett das ſchwache Echo 
defien, was einige Wochen zuvor noch eine Hare, 
Ichallende Stimme gewejen war. 

„Schnellere Arbeit, als ich erwartete — nun, um 
jo beifer! Nur wird meine ran ſich beeilen müſſen, 


| werm fie mich noch lebendig wieberjehen joll, — und 


ich würde ihr gern Yebewohl jagen. Sagen Sie 
Nein, ich habe 


Was Sie betrifft, jo habe id) Ihnen zu danten für 
alle Ihre Güte gegen und beide — und — und id) 
habe Ihnen in meinem legten Willen eine Kleinig« 
feit binterlajien, wie Sie finden werden,“ 

Er hielt, nah Atem ringend, inne, während 
Schweſter Luiſe an der Seite feines Bettes auf ihre 
Kniee niederfant. Die meiften Menſchen würden ges 


dacht haben, es fei faum der Mühe wert, bes armen 


Mannes Gemüt in diejem ernjten Augenblide nicht 
zu beunrubigen; aber fie war in einer etwas ftrengen 
Schule erzogen worden, hatte auch vielleicht eine Ein- 
gebung, dal; er vorziehen würde, die Wahrheit zu 
hören — in jedem Falle plaßte fie mit ihren Em— 
pfindungen heraus, 

„DO Eir William, id kann fein Legat nehmen! 
Ic bin nicht gut zu Ihnen geweien. Ich habe Sie 
getäufht — und Ihre Frau Hat es ebenjo gethan. 
Sie hat Kapitän Pomfret: bei fich gefeben, und ich 
habe ihn in das Haus eingelaſſen. Ich bitte nicht, 
daß Sie mir vergeben! Ich bitte nur und flehe Sie 
an, ihr zu vergeben! Vielleiht — wenn Sie daran 
denen wollen — hat fie auch etwas zu vergeben, 
und —“ 

„Sie Närrchen!“ unterbrad fie der jterbende 
Mann mit dem Schatten eines Lächelns. „Sie haben 
mich niemals nur einen Hugenblid getäufcht. Wenn 
ich noch ein Leben vor mir gehabt hätte, würde ich 
diefem Treiben jeit langem haben, Einhalt gebieten 
müſſen; aber da ich wußte, dab ich dem Tode ent— 
gegenging, hielt ich den Mund. Ich tadle niemand, 
und — nun, da ich im Regriff bin, den Schauplaß 


zu verlaflen — nehme ich an, daß auch mid) niemand 
tabeln wird. Unſinn mit dem Heinen Legat! Wenn 
Sie es nicht annehmen , werde ih Sie ald Geſpenſt 
heimfuchen. Ich möchte jagen, Sie thäten am beiten 
daran, bei der Krankenpflege zu bleiben, — wenn 
Sie nicht heiraten; aber die Heirat ifl ein gejähr« 
liches Experiment. Ich kann nicht mehr reden. Gehen 
Sie, fo Schnell Sie lönnen, und bringen Sie lady Sapill 
mit zurüd hierher, Denfen Sie daran, ihr zu jagen, 
daß ich um alles weiß, und daß fie nicht erichreden 
ſoll.“ 

Aber Lady Savill war entſetzlich erſchrocken. 
Thränen, hyſteriſche Anwandlungen, Proteſte unter 
Berufung auf ihre phyſiſche Unfähigkeit, aufzuſtehen 
und ſich anfleiden zu lafien, waren zu befämpfen ; 
foftbare Stunden wurden mit fruchtloſen An— 
ftrengungen vergeudet, ihren Mut bis zu ber er— 
forderlichen Höhe emporzufchrauben, und als Schweiter 
Luiſe in Verzweiflung zu dem Hoſpitale zurüdilog, 
um zu fragen, ob nicht ein weiterer Aufſchub gewährt 
werben könne, traf fie an der Thür mit der Nach— 
richt zufammen, daß alles vorüber jei. Wenn Sir 
William feiner Frau irgend etwas Wichtiges zu ſagen 
gehabt hatte, jo mußte fie jeht für immer in Un- 
fenntnis deſſen bleiben. 

Rad) einem gewifien Alter hört für die Mehrzahl 
von uns die meunſchliche Natur auf, fi von allem 
möglichen in Erftaunen jehen zu laſſen; aber 
Schweſter Luiſe hatte erft ungefähr zwanzig Jahre 
in einer Welt gelebt, von der fie jo gut wie nichts 
gejehen hatte, jo dab fie ebenjofehr erftaunt wie 
entjeßt war über die unbeftimmten und gänzlid) über« 
flüffigen, vorfihtigen Bemerkungen, mit welchen Lady 
Sapill die Todesnachricht aufnahm. 

„Er gab Ihnen jeine Schlüffel, nicht wahr? 
Lafjen Sie uns um des Himmels willen fofort gehen 
und nachjehen, ob ein Zeitament da ift! Er ift im 
ftande und bat mir einen graufamen Streid) ge— 
ſpielt!“ 

Die Frau erleichterte ſich mit ſolchen Ausrufen, 
durch welche ſie die Achtung eines freilich nicht ſehr 
wichtigen Mitgeſchöpfes ſtetig mehr verlor. Es iſt 
wahr, fie ließ ſich herab, beſchämt zu ſein und nach— 
träglich Entſchuldigumgen vorzubringen, als es ſich 
erwies, daß Sir William ihr keinerlei grauſame 
Streiche geſpielt hatte, daß fie unbeftrittene Herrin 
eines großen Vermögens war, und dab es ihr frei— 
ftand, fi), jobald e8 ihr gefallen würde, wieder zu 
verheiraten. Manche Menſchen find zu gerader 
Natur, um liebreich zu fein, und zu beichräntt, um 
elwas zu verjichen, das außerhalb der Grenzen ihrer 
geringen Erfahnung fällt — jo wurde von Lady 
Savill das Urteil gefällt über ihre fich ftillichweigend 
zurüdziehende Wärterin, gegen welche fie in der Folge 
ein Etwas empfand, das nicht weit von einem Dor- 








a — — 


W. E. Norris. 


wurf entfernt war; denn zehntauſend Pfund find 
wirflich eine unpaflende Summe, um fie einer Kranlen⸗ 
pflegerin zu vermachen, wie nützlich und zuvorlom— 
mend fie ſich auch während eines oder zweier Monate 
erwieſen haben mag. 

„Richt, da ich Ihnen das Gelb im geringfien 
mißgönnte, meine Liebe; bitte, denken Sie das nicht! 
Nur ſetze ich voraus, dab Sie mit einem jolden 
Eintommen laum Luft haben werden, noch länger 
in Ihrer gegenwärtigen Stellung zu verbleiben, und 
in der That geht es mir ſchon jo bedeutend befier, 
dab ich e& nicht bedarf, gepflegt zu werden.” 

63 war auf der Inſel Wight, wohin ſich Lade 
Savill wegen des nötigen Luft» und Ortswechſels 
begeben hatte, wo Schweſter Luife diefen willtomme: 
nen Winf erhielt, daß man ihre Dienfte entbehren 
fünne. Lady Savill ging es gewiß viel bejier, und 
jweifello® war, um fie ganz geſund zu machen, nichts 
erforderlich als die Ankunft Kapitän Pomfrets. Hatte 
fie Kapitän Pomfret, welcher, wie fie gelegentlich 
erwähnte, zufällig um dieſe Zeit an Bord der Jadıt 
eines Freundes in Cowes war, herbeigerufen — oder 
hatten Erwägungen des Anftandes fie davon zurüd- 
gehalten, zu jo jchleunigen Maßnahmen ihre Zuflucht 
zu nehmen ? 

Eines Nachmittags, ala Schwefter Luiſe, die gerade 
in Vorbereitung ihrer für den nächſten Morgen feſt⸗ 
geſetzten Abreije ihre leider eingepadt hatte, zu einem 
einiamen Spaziergange außgegangen war, erſchien 
Kapitän Pomfret in Perfon, um Antwort zu geben. Er 
hatte die Miene eines Hundes, der die Ohren hängen 
läßt und den Schweif einzieht. Er ſchien ängfllic be» 
jorgt, dem Bemerktwerben auszuweichen; doch ſobald 
er die Meine Schwefter erfannte, ftürzte er mit einem 
Freudenrufe auf fie zur. 

„So, da find Sie enblih! Ich habe die ganze 
Zeit in Erwartung gejchwebt, daß Sie fidh zeigen 
möchten. Ich jage Ihnen, daß ich ſchrecklich mötig 
babe, eine Minute mit Ihnen zu ſprechen, wenn Sie 
nichts dagegen haben.” 

„Mir ſcheint,“ antwortete Schweiter Luiſe ziem- 
li fteif, „Sie meinen, daß Sie mit Lady Savill 
zu Sprechen wünſchen.“ 

„Nein — auf Ehre! Das ift gerade, was id 
nicht wünſche. Doch wenn fie Schreibt und mid) bittet 
herüberzulommen, dann fann ich nicht jehr gut ab» 
lehnen, nicht wahr?“ 

„Sie würden es alfo vorziehen, abzulehnen?“ 

„Nun — die Sache ift die, jehen Sie, dab id 
verlobt bin. O, ic) mwuhte, Sie würben entſetzt und 
angeefelt fein; aber ich bin nicht ganz der Verräter, 
für den Sie mi halten. Wollen Sie mid nidt 
Ihnen die ganze Gejchichte erzählen laſſen? Dann 
werden Sie, deſſen bin ich ficher, bereit jein, einem 
armen Burjchen hilfreiche Hand zu leihen.“ 





Sir Williams Frau. 


Die Geſchichte feiner Beziehungen zu der ver 
witweten Marion, welde Kapitän Pomfret zu er— 
zählen begann, wich ficherlich in mehreren wichtigen 
Punkten von dem ab, mad Lady Savill bei einer 
früheren Gelegenheit erzählt hatte, und fie jchien den 
Stempel der Wahrheit zu tragen. Daß er des ver- 
ftorbenen Sir William Sapill Weib einft jehr ge— 
liebt Hatte, leugnete er nicht; aber fie hatte ihn aus 
dem guten und genügenden Grunde abgewiefen, daß 
er zu arm jei, um heiraten zu fönnen, während fie aus 
eignem, freiem Willen ben berühmten Wundarzt ans 
genommen hatte — aus dem guten und genügenden 
Grunde, daß er reih war! Dann hatten zufällige 
Zufammenkünfte ftattgefunden, die, wie Schweiter 
Luiſe wußte, zu Zufammenkünften geführt hatten, 
die nicht zufällig gewejen waren, 

„Natürlich Hätte ich nicht nach dem Portman 
Square gehen jollen, und wenn id) es that, jo hätte 


ich ehrlich geſtehen jollen, dab — nun, daß ich andre 
Nur ift es nicht leicht, der- 


Hoffnungen hatte, 
artiges einer frau zu jagen, die jeden Augenblid 
ebenjo wahrjcheinlic wie nicht einen dadurch um den 
Verſtand bringen fann, daß jie in Ohnmacht fällt 
und jtirbt, Es muß jeßt gejagt werden ; jedoch ich 
vermute und — und — glauben Sie nicht, daß Sie 
es ihr viel freundlicher und weniger plump jagen 
fönnten als ich?“ 


1053 


„Ich weiß nicht,” antwortete Schweiter Luiſe; „aber 
ich bin ganz ſicher, daß ich nichts von der Art verfuchen 
werde. Sie haben fein Recht, es von mir zu verlangen.” 

Nichtsdeſtoweniger war fie von ſolcher Herzend- 


‚ güte, daß dringende Bitten es endlich über fie ver 





mochten, der Herold der poetijchen Gerechtigkeit zu 
werden — das unmittelbare Rejultat davon war, 
ſoweit es fie betraf, daß fie die Inſel Wight noch 
am ſelben Abend zu verlaſſen hatte anſtatt am folgen— 
den Tage. Denn es ift unangebradht, den Meg einer 
Frau zu freuzen, welche droht, in Ohnmacht zu fallen ; 
noch unangebradhter ift es, unter dem Dache einer 
Fran zu verbleiben, weldhe, nachdem fie di als 
einen falichen und ränfevollen Skorpion bezeichnet 
hat, Dir zu veritehen giebt, daß dein bloßer Anblid 
ihren fofortigen Tod veranlafien wird, 

Lady Savill ift jedod) noch am Leben und zwar 
bei jehr guter Geſundheit. Im Gegenſatz zu den 
Erwartungen einiger Yeute fährt fie fort, Witwen— 
Heider zu tragen, und affeltiert — zur Erbauung 
andrer — die Miene untröftlicher Trauer über ihren 
Berluft. Von ihrem verftorbenen Gatten fann fie 
nicht zu bewundernd und zärtlich jprechen. 

„Der einzige Mann,” pflegt fie zu erflären, „der 
mich jemals wirklich verftanden hat.“ 

Diefes Kompliment mag, ganz fo, wie es lautet, 


| woblverdient geweſen jein, 


Meine Siebe. 
Don Minka Ezöbel. 


Aus dem Angariſchen überfeßl von Andor v. Sponer. 


So weißt du’s nicht, daß ich dich liebe 
Und wer ich bin, woher entftammt? — 
Bin funfe, der, im Sturmgetriebe 
Entfacht, zu heller Glut entflammt. 


Der Funke, der in mir entfacht ift, 
Erfüllt die Bruſt mit heißer Glut 
Und leuchtet, daf es eine Pradt ift; 
Es löfcht ihn Feines Meeres Flut. 


Die Gluten, die das Herz verjehren, 
Than grimmig weh, doch einerlei: 
Man muß das Feuer fchüren, nähren, 
Damit die Flamme heller fei. 


f 
I 





Schau in die Flamme, fürchte nimmer, 
Sie blende dir der Augen £icht; 

Die Sonne hat den hellſten Schimmer, 
Doch Adler fchaun ihre ins Geficht. 


Komm, laf uns in die Höhe ſchweben 
Sum blitzdurchzuckten Himmelszelt, 
Uns war ja Stanb und Erdenleben 
Von jeher eine fremde Welt. 


Komm, laß uns fliegen, bis die Seelen 
Dor BHimmelsalanz veralühn im Flug — 
Mär’ folben Flammentod zu wählen 

Nicht ſchon des Glücks und Beils genug 


— Lofe Blätter &- 


der Zeilungsſchreiber und der Kefer. 
Von Schtſchedrin (M. Saltykow). 
Aus dem Ruſſiſchen überfegt von Nina Boffmann. 


Es waren einmal ein Zeitungsſchreiber und ein 
Lejer. Der Zeitungäfchreiber war ein Lügner — 
immer und über alles log er —; der Leſer aber war 
leihtgläubig — alles glaubte er. So geht «8 ſchon 
von Alterdzeiten her: die Lügner lügen und betrügen, 
die Leichtgläubigen glauben. Suum cuique, 

Da figt der Zeitungsfchreiber in feiner Höhle und 
lügt und fügt drauf los. 

„Hütet euch,“ jagt er, „die Diphtheritis hält 
reihe Ernte unter den Stadtbewohnern.*“ — „stein 
Regen,” jagt er, „feit Frühlingsanfang; ſicherlich 
droht ung Hungersnot. — Brände verheeren Stäbte 
und Dörfer. — Srongelder, öffentliche Gelder wer— 
den verjchleppt — “ 

Und der Leſer lieft und denkt, da ihm der Zeitungs⸗ 
jchreiber die Augen öffnet. 

„Solch eine Preßfreiheit befigen wir ſchon,“ jagt 


er, „wohin man den Blid nur wenden mag, überall | 


entweder Diphtheritis oder Brände, oder Mikernten.” 

Es wird immer beſſer. Der Zeitungsichreiber 
bat gleich begriffen, daß feine Lügen nad) des Leiers 
Geihmad find. Da fängt er an, ftärker aufzutragen. 
„Bei uns ift gar feine perjönliche Sicherheit,“ jagt 
er, „wage dich nicht auf die Straße, lieber Leſer, 
gleich Fällft du ins Loch.” 





Und der leichtgläubige Lefer geht auf der Gafle | 


ftolz einher und jagt dabei: „Ad, wie richtig hat 


ſich doc) der Zeitungsfchreiber über unsre Umficherheit | 


ausgeſprochen!“ Nicht genug an dem; trifit er einen 
zweiten leichtgläubigen Leier, jo fragt er auch ihn: 
„Haben Sie's geleien, wie herrlich ſich Heute der 
Zeitungsichreiber über unfre Unficherheit ausgeiprochen 
hat ?* 

„Die denn nicht!” antwortet der zweite leichte 
gläubige Leer, „unvergleichlich! 
nein, man kann durchaus nicht bei uns auf der 
Straße geben, jofort kommſt du ins Loch!“ 

Und alle können fie fi) über die Preßfreiheit 
nicht genug glüdlich preifen. 

„Wir haben gar nicht gewußt, dab bei und die 
Diphtheritis wütet,“ rufen im Chor die leichigläubi- 
gen Leſer, „und da haben wir’ nun!“ Dabei wird 
ihnen jo leicht ums Herz! 

Und jagte ihnen jeßt der Zeitungsichreiber: „Die 
Diphtheritis hat gewütet, es ift aber ſchon aus da— 
mit," jo würden fie wahrjcheinlich ſein Blättchen gar 
nicht mehr leſen. 


Dem Zeitungsfchreiber ift das aber gerade recht, 
denn der Betrug iſt für ihn der reine Vorteil, die 
Mahrheit ift ja nicht jedermanns Sache — geb, Plage 
dich, wie du willjt, du befommft fie nicht heraus, 
nicht für zehn Kopeken das Zeilen. Die Lüge aber, 
das ift Schon ganz was andres. Kehre dich am nichts, 
ſchreibe und Lüge! Fünf Kopelen das Zeilden, und 
ganze Haufen bringt man dir von allen Seiten! 

Und es entjteht folch eine Freundſchaſt zwiſchen 
dem Zeitungsfchreiber und dem Leſer, daß du jie mit 
Wafleriprigen nicht auseinander brädteft. 

Je mehr der Zeitungsichreiber lügt, Deito reicher 
wird er (und was braucht ein Betrüger denn jonft?), 
ber Leſer aber, je mehr er betrogen wird, deſto mehr 
fünffopefenftüdchen trägt er dem Zeitungsichreiber 
zu. Sei's ala Geld oder Ware, immer ftreicht der 
Zeitungsichreiber feine Kopele ein. 

„Keine Hoien hat er früher gehabt,” jagen feine 
Neider, „und jet, ſchaut ihn an, wie er aufbaut! 
Einen obredner hält er, einen Vollserzähler bat er 
fih angeichafft — der jißt in der Wolle!“ 

Einmal verjuhen es andre Zeitungsjchreiber, 
ihm mit der Wahrheit ein Bein zu ftellen. Wer 
weiß, denfen fie, vielleicht beißt ein Abonnent auf 
an unjre Lodjpeife an! Ya, was nicht gur! Nichts 
will er davon hören, der Lejer, nur bei einem bleibt 
er ftehen und wiederholt nur immer: 

„Ein Trug, der mich erhebt, der ift mir licher, 
Als ihlimmer Wahrheiten ein ganzes Schod.“ 

Ob die Gejchichte eine fange oder eine kurze Zeit 
jo fortging — genug, es fanden fich brave Leute, 
welche mit dem leichtgläubigen Leſer Erbarmen hatten. 
Sie beriefen den lügenhaften Zeitungsichreiber und 
redeten jo zu ihm: „Laß e8 genug fein, du Unver- 
Ihämter, du jalfcher Menſch! Bis jet haft dur mit 
der Lüge Geſchäfte gemacht, von nun an mußt du 
mit Wahrheit handeln —“ 

Und gerade zur felben Zeit begannen auch die 


| Leſer nad) und nad) zu erwachen, fingen an, ihm 


Man kann nicht, | 


Zettelchen zu jchreiben, ungefähr fo: „Hören ie,“ 
jagt einer, „heute ging ich mit meiner Tochter längs 
des Newski⸗Proſpelts jpazieren und dachte, wir wür- 
den auf dem Polizeiamt übernachten (meine Tochter 


' hatte ſich für alle Fälle mit Butterbemmchen veriehen; 


fie fagte : ‚wie Iuftig!‘), und anftatt deſſen find wir 
doch beide ganz wohlbehalten wieder nach Haufe ge» 
fommen. Wie fol man nun eine jo erjreulice 
Ihatjache mit Ihren Leitartifeln über unsre Unſicher- 
heit in Einklang bringen?” 

Natürlich hat der Zeitungsichreiber jeinerjeit® nur 
darauf gewartet. Offen geſtanden, ihm jelber war 
das Lügen ſchon überdrüffig! Sein Herz hatte fih 


— — 


Loſe Blätter. 


ihon längjt der Wahrheit zugeneigt. Ja, was ijt aber 
zu thun, wenn der Leſer nur an der Füge anbeißt? 
Beine, Herz, dennoch mußt du weiter betrügen! 
Jeht aber, da man ihm von allen Seiten mit dem 
Meſſer an die Kehle rüdt, damit er die Wahrheit 
ichreibe, warum denn nicht? Er ift bereit, Wahr» 
beit bleibt Wahrheit, hol’& der Teufel! 

Mit dem Betrug hat er fich zwei Zinshäuſer aufs 
gebaut — jetzt heißt «8, weitere zwei mit der MWahr« 
heit aufbauen. 

- Und nun begann er fich täglich mit der Wahrheit 
Leſer einzutreiben. Keine Diphtberitis und Punktum. 
Auch feine Arreftlöcher, feine Brände mehr; und ijt 
auch Konotopje abgebrannt, jo hat man’s nad; dem 
Brande doc) viel ſchöner aufgebaut. Die Ernte aber 
bat ſich nach den eingetretenen Regengüſſen jo gläns 
zend erwielen, dab ſich jeder ſelbſt jatt gegeſſen und 
noch dem Deutichen unterm Tifch etwas hingeworfen hat, 
„Da, eritide!" Das merfwürdigfte aber bei alledem 
ift: der Zeitungsichreiber drudt bloß die reine Wahr« 
heit und zahlt immer nod) fünf Ropefen bie Zeile; auch 
die Wahrheit ift von der Zeit an im Preife gejunfen, 
als man angefangen hat, fie im Kleinhandel anzu— 
bieten. Ob Wahrheit oder Lüge — alles eins — 
jedes ift um einen Örojchen zu haben. Die Zeitungs: 
ipalten aber find darum nicht nur nicht langweiliger, 
ſondern im Gegenteil noch viel amüjanter geworden, 
weil, wern man erft anfängt, die Neinheit der Lüfte 
tüchtig auszuſchattieren, ſolch ein Bild hervorlommt, 
daß du's mit Gold nicht bezahlen kannſt. 

Schließlich wurde der Leier endgültig nüchtern 
und fam zu fi. Und war es ihm jchon früher nicht 
Ichlecht gegangen, da er nod den Betrug für die 
Wahrheit nahm, jo fiel ihm jet ganz und gar ein 
Stein vom Herzen. Tritt er in den Bäckerladen 
ein, jo bört er: „Sicherlich, mit der Zeit wird das 
Brot billig werden.” Kommt er in den Geflügel» 
laden, dort jagt man: „Sicherlich, mit der Zeit wird 
man bie Hajelhühner umjonft belommen!” 

„Nun, und wie flehen fie einſtweilen?“ 

„D, einfiweilen einen Rubel zwanzig das Paar! 
Seht aljo, was für eine Wendung mit Gottes 
Hilfe!” 

Und nun ging einmal der leichtgläubige Leſer, 
ganz fein herausgepußt, auf die Straße. Er ging 
jo dahin, „froher Erwartungen voll*, und fuchtelte 
mit jeinem Spazierflödchen in der Yuft herum. Merlt 
es num alſo, dachte er bei fih, in wie volllommener 
Sicherheit ich bin! 

Aber dieſes Mal, wie zum Troß, geihah das Fol 
gende: Er hatte faum einige Schritte gethan, ala 
ſich ein juridischer Irrtum ereignete, und man ſteckte 
ihn ins Loch. 

Dort jah er einen ganzen Tag, ohne zu eſſen, 
denn man jehte ihm zwar ein Eſſen vor, aber er 
Ihaute e$ nur an und ſchaute es wieder an und 
jagte dann bloß: „So fehen fie aus, umjre Ernten ?* 

Dort Hat er auch die Diphtheritis gefriegt. 

Am andern Tage, verfteht fi, hat ſich der juris 
diſche Irrtum aufgeflärt, und man hat ihn gegen 


1055 


Bürgihaft (wer weiß, vielleicht fann man ihn ein 
andermal brauchen) auf freien Fuß geiekt. 

Er kehrte nad Haufe zurüd und farb. 

Der lügenhafte Zeitungsichreiber lebt aber heute 
noch. Er bringt eben fein viertes Zinshaus unter 
Dad und finnt vom Morgen bis zum Abend nur 
über das eine nad: womit er fünitighin den leicht« 
gläubigen Leſer am beten betrügen wird, mit der 
Füge oder mit der Wahrheit? 


— ⸗ — 


Zolas „Paris“. Zolas neuer, mit Spannung 
erwarteter Roman „Paris“ hat in dieſen Tagen 
im „Journal“ zu erfcheinen begonnen und wird, 
wie wir bereit$ zu erwähnen Gelegenheit hatten, im 
nächſten Jahrgange unfrer Zeitjchrift in deuticher 
Ueberjegung veröffentlicht werden. Der Roman wird 
nicht nur durch feinen Stoff das Intereſſe, welches 
man einem Merk Zolas entgegenzubringen gewohnt 
ift, in ſtärkſtem Make auf fih ziehen — kann doch 
jeibft Rom, das moderne Rom, ſich nicht mit Paris, 
der „Königin der Städte”, meſſen —: aud) die Dar- 
ſtellung und die Behandlung des gewaltigen Stoffes 
ftempelt „Bari“ zu Zolas bedeutendftem und größtem 
Werke, hauptſächlich weil Zola fich diesmal in einer 
Welt bewegt, die er nicht erfi zu durchforichen und 
fennen zu lernen brauchte, ſondern längjt aus eigner 
Anſchauung und gründlich wie nicht leicht ein zweiter 
moderner Schriftiteller kennt. 

Zola jelbft hat einem Mitarbeiter de „Temps” 
gegenüber fih über den Inhalt und den Eharafter 
des Wertes in folgender Weile ausgeiprocden: 

„Paris‘ hat mehr dramatijches Yeben und eine 
bewegtere Handlung als ‚Rom‘; der befchreibende 
Zeil umfaßt nur wenige Seiten. Es wäre mir 
lächerlich erjchienen, eine ausführlihe Schilderung 
von Paris geben oder für ‚Notre-Dame‘ das thun 
zu wollen, was ich für St. Peter in Rom gethan 
babe. Was die Schwierigkeit vermehrte, ift, daß 
Paris von jeinen verjchiedenen Seiten bereits in 
meinen früheren Merten geſchildert ift: die Marlt— 
ballen im ‚Ventre de Paris‘, die großen Berfaufe- 
läden in ‚Au Bonheur des Dames', die Prole- 
tarierviertel im „Assommoir‘, Eine allgemeine 
Schilderung von Paris iſt übrigens ein gewagtes 
Unternehmen. Bei Gelegenheit der Weltausftelung 
von 1867 machte ſich eine Gruppe von Schriftftellern 
daran, ein ſolches Werk zu fchreiben, und arbeitete 
ein umfangreiches Buch aus, zu dem, wenn ich nicht 
irre, Victor Hugo die Vorrede ſchrieb. Von dieſem 
Werk find nur wenige Exemplare verfauft worden, 
und die ganze Arbeit hat feine Spuren binterlafien. 
Diefe Erfahrung hat mir meinen Weg erhellt. 
Ueberhaupt jollte ‚Paris‘ fein Fremdenführer werben. 
Ebenjowenig hätte es jih mit meinem Beruf ala 
Romanſchriftſteller vertragen, die Geſchichte dieſer 
Stadt zu ſchreiben, die jetzt die Königin der Städte 
iſt, wie es in vergangenen Zeiten Rom war. Alſo 
weder Plagiat meiner ſelbſt noch Führer noch Ge— 
ſchichtswerk. Ich glaube, daß es mir gelungen iſt, 


1056 


diefe drei Klippen zu vermeiden, aber jedenfalls nicht 
ohne Mühe. 

„Ih laffe in dem Roman zahlreiche Perjonen 
auftreten, in dem ganzen Milteu, deſſen charakteriſtiſche 
Eigentümlichkeiten fie an fih tragen — Finanz— 
männer, Litteraten, Gelehrte, Künftler, Leute aus 
der Geiellichaft, Proletarier, Politifer, Nebenbei 
möchte ich Sie bitten, diejenigen zu beruhigen, welche 
mich bereits beichuldigt haben, Porträts von Zeit- 
genofien gezeichnet zu haben. Ein ſolches Verfahren 
liegt mir fern und widerjtrebt meiner Nechtlichfeit. 
Der ‚roman & clef ijt meine Eradtens eine un— 
geſunde Schöpfung und dem dauernden Erfolg, den 
jeder Künftler anftrebt, nur unzuträglid. In Ya 
Bruyered ‚Caractöres‘ unterhält ſich ein halbes 
Dutzend Pitteraten damit, auszuflügeln, auf welche 
belannte Perjönlichkeit des Hofes oder der Stadt 
ſich diejes oder jenes Gemälde beziehen falle; die 
große Menge kümmert fi) darum wenig, und 2a 
Bruyeres Ruhm beruht glüdlicherweiie auf andern 
Berdieniien, Leute, Die am Standal Geſchmack finden, 
werden ſich aljo enttäufcht jehen. 

„Paris entzüdt und bezaubert den fremden — 
um wieviel mehr muB e8 dem Herzen eines Pariſers 
teuer fein! Ich habe eine tiefe Liebe und Bewunderung 
für die Stadt. Allein wie der Hexenkeſſel in ‚Mac« 
beth‘ birgt e& in feinem Innern von allem etwas, 
das Schlimmfte wie das Befte, die edelften Tugenden 
und die abjcheulichften Yaiter, heroiihe Selbftver- 
leugnung und die gemeinften Verbrechen, kurz, alle 
die verjchiedenen Manifeftationen der menschlichen 
Natur. Kein Schleier verdedt feine Fehler in meinem 
Buche, und wenn darin eine Pietätlofigfeit zu liegen 
ſcheint, jo dient es doch nur dazu, jeine unvergleid)- 
lichen Vorzüge in einem helleren Licht ericheinen zu 
lajien. An diefem Herde des Wiſſens und der 
Güte will ſich das Herz des Abbe Froment wieder 
erwärmen. Er belommt bort einen Begriff von der 
Religion der Zukunft, von einem beiferen ſozialen 
Zuftande, der ſich hier in der gewaltigen, von der 
Rieſenſtadt Tag für Tag geleifteten Arbeit ent— 
widelt. So thut Paris, jo mildthätig es iſt, das 
Unvermögen der Nädjitenliebe dar, die ein chriftliches 


Loſe Blätter, 


und antijoziales Gefühl ift. Notwendigerweiſe muß 
die dee der Gerechtigkeit, an der die Schwachen 
einen Halt finden, die Nächitenliebe töten, welde 
fie in ihrem Elend ftüßt. Eine Aera der Gerechtig⸗ 
feit — das ift die Verheißung der Zukunft, und 
über Paris wird ſich dieſe Morgenröte erheben. 
Jeder arbeitet dort, mit ehrlihem Willen oder un 
freiwillig — der Strom reißt das Hindernis wit 
ih fort, das ihm den Weg verfperrte, und benust 
ed, um jeine Gewalt zu verftärfen, Innerlich mürbe 
geworden nad) jo vielen Erfahrungen, lebt der Abbe 
endlich wieder auf, und der Schrei der Herzensangft, 
den er bei feiner Flucht aus Rom ausgeftoßen hatte, 
Mingt aus in ein ſanftes Gemurmel der Dankbarkeit 
nad) einem dreijährigen Aufenthalt in Paris, 

„Dieje aufeinanderfolgenden Seelenzuftände bilden 
den leitenden Faden der Trilogie, der dem Leer 
nicht irregehen läßt. Und der Ausgang, dem ich hier 
angedeutet babe, entipricht meinen Anſchauungen 
über das Glüd des Dajeins, über die Erhabenheit 
des menfhlihen Schidjals, wenn die Geſellſchaft 
einmal zur alleinigen Bajis die Arbeit haben 
wird.” 

Zum Schluß fügte Zola hinzu: 

„Ich bin bei dieſem neuen Buche auf dieſelben 
Kritilen gefaßt, welden meine früheren Werte bei 
ihrem Ericheinen begegneten. Ich hoffe jedoch, nad 
meinem Tode gerechter behandelt zu werden. Man 
wird alsdann erfennen, daß ich weder ein Peſſimiſt 
noch ein Sittenverderber war. Wer bei jeder Ge— 
legenheit dem Leben Hymnen fingt, ift fein Peilimitt, 
und fein Gittenverderber, wer unermüdlich die hoben 
Wohlthaten der Arbeit verfündigt. Wenn man bie 
Serie der „Rougon-Macquart“ durchgeht, wird man 
finden, daß auf jeder Seite die Liebe zum Leben 
und die Vegeifterung jür die Arbeit durchbrechen... 
Nichts ift Schlimmer ala die Dede und der Tod. 
Die Furde, die id in das wunergiebige Feld der 
Fitteratur eingegraben habe, ift die Liebe zur re 
beit und zum Leben. Es ijt nicht wahr, daß id 
die Geifter habe verderben und entmutigen wollen, 
und wie mich dieſe Anficht im Augenblid gleichgültig 
läßt, fo glaube ich auch nicht an ihre Dauer.” 


Der Jahrgang 1898 diejer Zeitjchrift wird mit den Romanen 


„e ar is“ m „Die Stütze der Familie“ 


von 


Emile Bola 


von 


Alphonfe Daudet 


eröffnet. Wir freuen uns, unjern verehrlichen Leſern wiederum die neueiten Werfe der beiden 
größten zeitgenöffiichen Nomanjchriftiteller Frankreichs bieten zu fünnen. 


Die Redaktion von „Aus fremden Sungen“. 





Berantwortliger Nedakieur: Karl Bolhoevener in Stuttgart, Druck und Berlag ber Deutihen Berlagd-Anftalt in Stuttgart. 


Briefe und Sendungen find nur au bie Deutſche Derlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu rider 





Gleichheit. 


Edward Bellampy. 


Aus dem Amerikanifchen überfeßt von M. Jacobi. 
(Fortiegung.) 


XXXV. 
Der langſame Anfang und der ſchnelle Fortgang. 

„Do viel von den Urfachen des Umſturzes. Wir 
haben gejehen, wie ein neuer Faktor in der jozialen 
Evolution — die Aufflärung der Maſſen — un— 
aufhaltjam zur Herftellung der Gleichheit führte, und 
daß es an den Zuftänden lag, die damals in Amerifa 
berichten, wenn die große Umwälzung gerade zu 
diefer Zeit ftattfand und gerade diefen Verlauf 
nehmen mußte, Nun noch ein paar Worte über den 
Verlauf jelbft. 

„Diejenige Klaſſe, welche feine eignen Mittel hatte, 
die Arbeiter, drüdte der wirtſchaftliche Schuh natürlich 
zuerft, und man kann wohl jagen, daß ihre Auf- 
lehnung gegen die Konzentration des Befites den 
Anfang gemacht hat. 1869 bildete fi in Amerifa 
die erfte große Arbeitergenoffenihaft zum Widerftand 
gegen die Macht des Kapital. Vor dem Kriege 
fonnte man die Streifs im ganzen Sande noch an 
den Fingern herzählen. Ehe die ſechziger Jahre zu 
Ende waren, gab e8 derem Hunderte, während ber 
fiebziger Jahre Tauſende. In den achtziger Jahren 
führten die Wrbeitäberichte beinahe zehntaufend 
folder Ausftände auf, am welchen ſich zwei bis drei 
Millionen Arbeiter beteiligten. Viele dieſer Streits 
verbreiteten fich über den ganzen Kontinent, er— 
jhütterten die Handelswelt und verurfacdhten eine 
allgemeine Panil. 

„Auf die Empörung der Arbeiter folgte jchnell 
die der Landwirte. Sie machte weniger Lärm, war 
aber ernfter und nachhaltiger in ihren Folgen. Es 
bildeten fich teild geheime Verbindungen, teils poli« 
tiſche Parteien, weldhe offen den Kampf gegen die 
Macht des Geldes auf ihre Fahne ſchrieben. Schon 
in den fiebziger Jahren brachten diefe Organifationen 
den Staat in Verwirrung, und fpäter wurden fie der 
Kern der revolutionären Partei. 

„Man kann Ihre Zeitgenoffen nicht bejchuldigen, 
daß fie diefen Vorzeichen gegenüber gleichgültig ges 
blieben wären. Es wurde öffentlih darüber ver 
handelt, und auch in der Litteratur der damaligen 
Zeit fpiegelt ſich deutlich wieder, in welche Unruhe 

Aus fremden Zungen, 1897, IL 24, 





und Verwirrung die unerhörten Ausbrüche der Un— 
zufriedenheit des Volles alle ernft benfenden Men- 
ſchen verfeßt haben. Die alten Prahlereien am vierten 
Juli verftummten. Alle waren darüber einig, daß 
aus irgend weldem Grunde die demofratifche Re— 
gierungsform ihr Verfprechen, die allgemeine Wohl- 
fahrt zu fördern, nicht gehalten habe. Sie hatte ſich 
unfähig erwiejen, bie Uebel, an denen die alte Welt 
Iranfte, auch die des Klaſſen- und Saftengeiftes, 
welche doch, wie man meinte, in republifanifcher Luft 
nicht gedeihen Fünnten, von ber Neuen Welt fern zu 
halten. Von allen Seiten fonnte man hören, daß 
die alte Organifation immer fchlechter würde, daß 
der Republik und allen Ideen, die fie einft vertreten 
hatte, Gefahr drohe. Man rief nad einem Mittel, 
diefem Niedergang Einhalt zu thun ; von allen Lippen 
tönte das Wort ‚Reform‘; dies war der Schlachtruf 
aller Parteien, der aufrichtigen wie der heuchlerifchen. 
Aber ich brauche wohl feine Zeit damit zu ver— 
ſchwenden, Ihnen bie damaligen Zuftände zu ſchildern. 
Bis 1887 haben Sie ja alles mit erlebt,“ 

„Es ijt genau jo geweſen, wie Sie es befchrieben 
haben. Im Erwerbsleben und in der Politik herrſchte 
die größte Verwirrung; man hatte ganz allgemein das 
Gefühl, wir jeien auf falfchem Wege, und rief nad) 
Reformen, Allein, wie gejagt, die Bewegung war, 
wenn auch ſehr beunrubigend, doch viel zu unflar und 
ziellos, um zu Refultaten zu führen, Alle wußten, 
dab etwas nicht in Ordnung jei, aber was es war 
und wie bem abgeholfen werben lönne, wußte nie 
mand zu jagen.“ 

„Sehr richtig,” erwiderte der Doftor. „Unire 
Geſchichtsſchreiber teilen die ganze Umwandlungsepodhe 
— vom Ende des Krieges oder dem Anfang der fieb- 
jiger Jahre bis zur Einführung ber jehigen Orb« 
nung beim Beginn des zwangzigften Jahrhundert? — 
in zwei Perioden: die planlofe und die zielbewußte. 
Bon der erfteren haben wir joeben geſprochen; fie ift 
in den Paragraphen geſchildert, die ich aus Storiot 
vorgelefen habe. Sie, Julian, formen jene Zuftände 
zum Zeil aus eigner Erfahrung. Sie milfen am 
allerbeiten, wieniel Angft und Unruhe, Verwirrung 

133 


1058 Edward 
und zweclloſer Aufruhr in dieſer Periode herrſchten. 
Es war ein Gefchrei und ein Durcheinander wie 
beim Turmbau zu Babel. Die Leute wehrten fich 
im Dunkeln blindlings gegen die Schläge des Kapi- 
talismus und hatten feine Ahnung, was dabei alles 
mit Füßen getreten und zerbrochen wurde. 

„Arbeiter ſowohl wie Landwirte befanden ſich 
über die Lage der Dinge und die Natur der Macht, 
welder fie zum Opfer fielen, völlig im unflaren. 
Die Urbeiter ſehten ihre einzige Hoffnung darauf, 
daß durch Organifierung de3 Handwerls die Löhne 
in die Höhe getrieben werben könnten. Sie waren 
wie die Kinder und wußten nichts davon, daß das 
Gewinnſyſtem die Konſumtionskraft der Geſellſchaft 
unweigerlich unter das Maß ihrer Produllionskraft 
herunterdrückt und fortwährend eine mehr oder weniger 
große Ueberfüllung des Arbeits- und Warenmarktes 
herbeiführt. Solange das Gewinnſyſtem geduldet 
wurde und den Verdienſt des Arbeiters belaſten 
fonnte, bis ihm faum das Notwendigſte zum Leben 
übrig blieb, war an eine Beſſerung nicht zu denken. 
Das ſahen aber die Arbeiter nicht ein; darum 
erſchöpften fie ihre Kräfte vergebens in fruchtlofen 
Streits, ftatt fi zum Sturz des Gewinnſyſtems zu 
vereinigen, und einftweilen brauditen die Rapitalijten 
nod) feine Furcht zu haben, 

„Die zweite Klaſſe der Geplagten, die Landwirte, 
nahm gar feinen Anteil an den Plänen der Ar— 
beiter, weil dieje nur das Befte der Lohnempfänger 
bezwedten. Sie widmeten ſich ebenjo fruchtlofen 
Verfuchen zum Nuben ihrer eignen Klaſſe, die hin- 
wiederum bei den Arbeitern feine Teilnahme fanden. 
Ihr Streben ging dahin, die Regierung zu veranlafjen, 
fie, die Heinen Rapitalijten, gegen die großen Kapi— 
taliften, welche Handel und Verkehr des Landes be- 
berrichten, in Schuß zu nehmen. Als ob es irgend 
ein Mittel gegeben hätte, die natürliche Entwidlung 
des Privatkapitalismus zu verhindern, die dahin führt, 
daß der fleine Kapitalift von dem größeren erbrüdt 
wird. 

„Es ſcheint, daß man die ſchlechte Lage der Yand« 
wirte hauptjählicd auf gewilfe fehlerhafte Finanz— 
gejeße jchob, die das Geld verteuert hätten, und daß 
man glaubte, allen ihren Beſchwerden wäre ein Ende 
gemacht, wenn nur diefe Gefeße aufgehoben würden, 
io daß mehr bares Geld in Umlauf füme. Hiervon 
jollte vornehmlich die Landwirtihaft Nutzen ziehen, 
indem es dann möglich wurde, die Schuldzinfen herab» 
zujeßen und den Preis der Produfte zu erhöhen, 

„Ohne Zweifel hatten die Kapitaliften das Münz— 
wejen und den Kurs des Geldes, ja das ganze 
Finanzſyſtem der Regierung auf unverantwortliche 
Weiſe dazu mibbraudt, das Vermögen der Nation 
an fid) zu reißen. Aber diefer Mißbrauch war nicht 
jchlimmer als ihr Verfahren in den andern Zweigen 


des Molfes zu verfchlingen, 
herbeizuführen, war fein beſonderes Währungsiyfiem 





Bellamy. 


des wirtſchaftlichen Lebens. Ihre Kunſtgriffe bei der 
Mährungsfrage Hatten ihnen nur Dazu verholfen, 
etwas ſchneller ans Ziel zu gelangen, als wenn fir 
ſich bloß durch die erlaubten Operationen, duch 
Renten, Zinfen und Gewinn, bereichert hätten, Auch 
ohne den Einfluß der Kapitaliften auf den Umlauf 
des Geldes hätte ihr großer Plan, die wirtſchafiliche 
Lage des Volles ganz zu beherrichen, gelingen müſſen. 
Sie hatten es gar nicht nötig, ihr Gaulelſpiel mit 
ben Münzweien zu treiben, wenn fie ſich mit dem 
langjameren Verfahren begnügen wollten, das fie in 
ftand ſehte, allmählich den Landbeſitz und alle Habe 
Um dies Ergebnis 


erforderlich, und fein Geldſyſtem irgend welcher Art 
hätte e& verhindern fünnen. Gold, Silber, Papier, 
teures und billiges, jchlechtes und gutes Geld in jeder 
Form, vom Mufchelgeld bis zu den Guineen, alle 
hatte zu verjchiedenen Zeiten den Zweden der Kapi- 
taliften gedient, und nur Nebenfächliches wechſelle 
dabei, je nad) den Umftänden. 

„Der amerifanishe Landwirt brauchte fih nur 
in andern Ländern umzuſehen, wenn er zu der Er- 
fenntni® fommen wollte, wie thöricht es jei, die 
Notlage feiner eignen Mafje wie die des ganzen 
Bolfes einem Kongrekbefhluß über die Währung 
zuzufchreiben. Er hätte gefehen, daß die Landwirt 
ſchaft überall mit noch viel größeren Schwierigfeiten 
zu fämpfen hatte, einerlei, ob dieſe oder jene Währung 
im Lande herrichte. 

„War die Erjcheinung, daß der Aderbauer in die 
Enge getrieben wurde, denn überhaupt jo überrajchend, 
daß der amerilaniſche Landwirt eine Erflärung dafür 
in ber Politit fuchen mußte? Iſt das nicht zu allen 
Zeiten fein Schidjal gewejen? War das Verhängnis, 
das über dem amerifanifchen Farmer jchwebte, nict 
dasfelbe, weldhes feinen Stand in jeder Generation 
an allen Enden der Welt bedroht hatte? Er durfte 
die Gründe diefes Elends nicht in Lofalen Verbält: 
niffen juchen ; fie ſtammten aus einer allgemeinen, 
von jeher beftehenden Urſache. Die Geſchichte hätte 
ihn darüber belehren können, daß dieſe Grundurjade, 
welche in allen Ländern, zu allen Zeiten und bri 
allen Raffen fortwirkte, in dem Zwang beftand, den 
die Kapitaliften auf das Volk ausübten, deſſen Ver 
mögen fie ſich durch ihre Renten, Zinfen und Profit: 
aneigneten. Die Maſſe des Volles wurde durch ie zu 
wirtichaftlicher, jozialer und politijcher Abhängigkeit 
verdammt, und die allerveradhtetite Klaſſe ift immer 
die gewejen, welche den Ader beftelltee Dank dem 
Reichtum eines noch unausgebeuteten, ſchwach be 
völterten Kontinents gelang es eine Feitlang in 
Amerika auch den Landleuten, diefem umerbittlihen 
Geſetz zu entgehen; aber jet waren fie nahe daran, 
dem allgemeinen Schidjal zu verfallen, und nichts 


Gleichheit. 


hätte e8 abwenden fünnen, wenn nicht der Privats 
fapitaliamus, die Wurzel aller ihrer Leiden, aus— 
gerottet worden wäre. 

„Die Zeit würde nicht ausreichen, wenn ich bie 
taujenderlei Mittelhen aud nur aufzählen wollte, 
welche von ben verſchiedenſten Reformatoren bvor« 
geihlagen wurden, um bie franfe Nation zu heilen. 
Sie umfaßten alle möglichen Gebiete, von der Theorie 
der Mäßigfeitävereinler, welche behaupteten, daß die 
beraufchenden Getränfe am wirtichaftlichen Elend 
jhuld feien, bis zu der Anficht, die Notlage fei ein 
göttliches Strafgericht, weil in der Verfafjung feine 
feierliche Anerfennung der Dreieinigfeit enthalten 
wäre. In jolden Anſchauungen waren natürlich nur 
die überfpannten Leute befangen, aber auch Die, 
welhe den Grund des Uebels in der Konzentration 
de3 Beſitzes jahen, waren weit davon entfernt, ſich 
Mar zu machen, dab die Konzentration jelbft nur 
eine natürliche Folge des Privatfapitalismus fei, und, 
wenn man biejem nicht ein Ende mache, der Zuftand 
niemals gehoben werden lönne. 

„Es war vorauszuſehen, daß der planlofe Wider- 
fand der Arbeiter und Landwirte ebenfo mie die 
Berfuche einer Menge Meiner Reformvereine in der 
erfien Periode der Umfturzbewegung wirkungslos 
bleiben mußten. Nach zwanzigjährigem Kampfe hatte 
es fich gezeigt, dab die großen Arbeiterorganijationen, 
die fi unmittelbar nad) dem Kriege gebildet hatten, 
nicht im flande gemwejen waren, die Rechte des Ar- 
beiters mit Erfolg zu verfechten oder jeine Lage im 
geringjten zu beffern. Während dieſer Periode hatten 
zehn- bis fünfzehntaufend Streils und Ausftände 
fattgefunden, aber diefer induftrielle Bürgerkrieg, 
der ſich jo lange hinzog, Hatte fein andres End⸗ 
refultat gehabt, als daß jeht auch der beſchränkteſte 
Arbeiter einſah, wie unmöglich es fei, durd eine 
Klaffenorganifation oder durch Klaſſenanſtrengungen 
nennenswerte Worteile zu erreichen und bie Rechte 
der Arbeiter vor Uebergriffen zu ſchützen. Nach bei— 
jpiellojem Leiden und einem verzweifelten Kampf 
hatte ſich ihre Lage nur verſchlechtert. Auch die 
zweite große Abteilung der aufftändifchen Maſſen, 
die Landwirte, hatte keinerlei Erfolg bei ihrem Kampf 
gegen die Geldmacht. Wenn auch ihre Verbindungen 
über Millionen Stimmen geboten, jo vermodten fie 
ihren Mitgliedern womöglich noch weniger zu helfen 
als die Arbeitergenoſſenſchaften. Selbſt wenn fie 
iheinbar gefiegt hatten und ſich der politifchen Lei» 
tung eines Staates bemädhtigten, konnten die Kapi— 
taliften doch auf taufend indirelten Wegen ihre Be- 
ftrebungen zu nichte machen, jo daß bie Früchte ihres 
Triumphs fih gleid) den Sodomäpfeln in den Händen 
derer, die fie pflüdten, zu Aſche verwandelten. 

„Mit Angft und Sorge hatte das Volt wohl 
fünfundzwanzig Jahre lang gefragt: Was foll ge— 


1059 


ſchehen? Und wo war mın das praftiiche Ergebnis 
jeines verzweifelten Ringens? Nirgends ließ ſich 
etwas davon ſehen. Wenn hier und dort unbedeutende 
Reformen eingeführt wurden, fo hatten auch die 
Mißbräuche, denen diefe Reformen fteuern jollten, 
bedeutend zugenommen, Die Macht der Plutofratie 
war jeit 1873 auf bedrohliche Weile gewachſen. Es 
mußte dem oberflädhlihen Beobachter jo jcheinen, 
als hätte der Kampf ſchnell umd ficher eine Ent- 
ſcheidung zu Ungunften des Volles herbeigeführt, als 
wären die amerifanishen Rapitaliften, welche für die 
gewonnenen Millionen ihren Kindern Adelsbriefe 
tauften, ‚Hüger in ihrem Gejchlecht, denn die Kinder 
des Lichts‘, weil fie die Zeichen der Zeit bejier ver= 
ftanden hatten, 

„Zroßdem war diefer Schluß fo falſch wie nur 
irgenb möglich, Während der Jahrzehnte vergeblichen 
Streites und fortwährenden Mißlingens hatte die 
revolutionäre Bewegung ſolche Fortſchritte gemacht, 
daß die BVerftändigen und tiefer Blidenden ihren 
endlichen Triumph über das Privatlapital in nicht 
zu ferner Zeit hätten vorausjehen fünnen.“ 

„Worin beftand denn der Fortſchritt? Ih kann 
feinen entdeden,” jagte ic). 

„Inder Entwidiung der revolutionären Stimmung 
unter der Maſſe bes Volfes,” erwiderte der Dottor, 
„Das Bolt wurde auf diefe Weiſe befjer als auf 
irgend einem andern Wege dazu vorbereitet, die 
Notwendigleit einer Reorganifation des Wirtſchafts- 
ſyſtems von Grund auf einzujehen. Sie müſſen 
bedenken, daß eine große Umwälzung, welche bie alten 
Formen zerbrechen joll, erjt eine riefige moralifche 
Kraft anfammeln muß. Solange die Gründe für ihre 
Rechtfertigung nicht viel jchwerer wiegen ala alles, 
wos fie aufs Spiel ſetzt, kann fie nicht beginnen. 
Die Vorgänge, durch welche diefer Impuls allmählich 
an Kraft gewinnt, fallen weniger ins Auge als die 
Ereignifje der jpäteren Periode, in welcher bie 
revolutionäre Bewegung einen jo fräftigen Schwung 
befommen hat, daß fie ohne Widerſtand alle ein» 
dämmenden Hinderniſſe mit fortreißt, als wären es 
Strohhalme. Aber für den denfenden Menſchen ift 
die Zeit der Vorbereitung ein noch intereffanteres 
Feld der kritiſchen Betrachtung. Das amerifanifche 
Volt mußte erft durch eine harte Pehre und viele 
bittere Erfahrungen zu der Erkenntnis fommen, daß 
feine halben Mafregeln helfen könnten, um eine jo 
welterjhütternde Reform wie den Sturz des Privat- 
tapitals und die Einführung der Nationalverwaltung 
zu unternehmen. Es mußte ihm durch zahlreiche 
Verfuche Mar werden, daß der Privatfapitalismus 
ſchon zu weit außgeartet war, um nod) einer Beſſerung 
fähig zu jein, damit es zu dem Entſchluß fam, ihn 
über den Haufen zu werfen. Diele ſchmerzliche, aber 
durchaus notwendige Erfahrung machte das Volk in 


1060 Ebmwarb 
den erften Jahrzehnten des großen Ringens. Seine 
unzähligen Niederlagen und Demütigungen bei jedem 
neuen Verſuch, die Macht des Geldes einzufchränfen 
und ihrer Willfür zu feuern, trugen in den fiebziger, 
achtziger und im Anfang der neunziger Jahre mehr, 
als alle Siege gethan hätten, zu der Vollfommenheit 
und Größe feines jchließlichen Triumpbes bei. Alle 
diefe Kämpfe und Leiden mußten dem Umfturz den 
Weg bahnen. Der Privatlapitalismus, dies Syftem 
der Tyrannei, mußte das Maß feiner Mifjethaten 
erfüllen, er mußte zeigen, daß er ein unverjöhnlicher 
Feind der Demokratie, des Lebens, der freiheit und 
des Glüdes der Menjchen fei, damit das Verlangen, 
ihn zu ftürzen, immer gewaltiger würde. Ummälzungen, 
die zu früh beginnen, haben zu früh ein Ende, und 
dieje durfte nicht ftille ftehen oder aufhören, bis 
die legte Spur eines Syſtems, welches dem ein- 
zelnen Menſchen Gewalt über Leben und Scid- 
jal feiner Nebenmenſchen verlieh, auf immer ver« 
tilgt war. Deshalb war feine Schmach, fein Alt 
der Unterbrüdung, feine Neuerung gewiffenlojer 
Habgier, kein jhamlofer Mißbrauch der Staate- 
gewalt und der Gejehgebung, feine Thräne ber 
Scham über die Herabwürdigung der Nation, fein 
Schlag mit dem Knüttel der Poliziften, feine einzige 
Kugel ber Soldaten, fein Stoß mit dem Bajonett 
vergebens, Nur diefe harte Schule der Prüfungen 
und Miherfolge konnte das Volk dazu erziehen, den 
Baum, der ſolche Früchte trug, mit der Wurzel aus» 
zureißen. 

„Wir jehen den Anfang der zweiten Periode in 
die Zeit, in welcher fi bei einem großen Teil 
ber Gejellihaft eine Hare Anſchauung gebildet hatte 
von dem, was not that. Sie erfannten, daß es ſich 
bier um Menichenredhte handelte, die einer unverant» 
wortlihen Macht, dem Privatlapitalismus, gegen- 
überftanden, daß ein völlig neues Wirtichaftsigflem 
gegründet werden müfle, bei dem das Voll jelbft, 
zum allgemeinen Beften, Produftion und Güter 
verteilung fontrollierte, ftatt daß fie durch einige 
Privatperfonen beforgt wurden.” 

„Haben Sie eine Idee, wann Die revolutionäre 
Bewegung aus dem planlojen in das zielbewuhte 
Stadium eingetreten iſt?“ fragte ich. 

„Natürlich konnte von einer augenblidlichen Um- 
wandlung nicht die Rebe fein,“ erwiberte ber Doktor. 
„Es war vorerft nur das Erwachen eines neuen 
Geiftes und einer klareren Erfenninis. Die Vers 
wirrung, Planlofigfeit und Verblendung der erflen 
Periode ragte noch lange über die Zeit hinaus, in 
der ein verftändigerer Geiſt fih Bahn brach und den 
Menſchen ein beftimmtes Ideal vor Augen ftellte. 
Dom Beginn der neunziger Jahre datieren wir das 
erſte Nuftauchen einer gewiſſen Planmäßigkeit in den 
revolutionären Befirebungen ; von da an entwidelten 


Bellamy. 


fie fih aus formlofen Empörungen gegen unerträg- 
liche Zuftände zur logifhen und zielbewußten Ser 
beiführung der neuen Gefellihaftsorbnung.“ 

„Ich hätte fie aljo beinahe noch erlebt,“ rief ih. 

„Sa,“ erwiderte der Doktor. „Wenn Sie nur 
noch ein oder zwei Jahre länger wach geblichen 
wären, daun hätte unjer Induſtrieſyſtem und bie 
mit demfelben eng verbundene wirtſchaftliche Gleich⸗ 
heit Sie gar nicht jehr überraſcht. Ein paar Jahre 
nad) Ihrem vermeintlichen Ableben ſprach man ſchon 
in ganz Amerifa davon, daß möglicherweile aus der 
Krifis, in der fich die Gejellichaft befand, eine jolde 
neue joziale Ordnung hervorgehen könne. 

„Die Idee eines Wirtſchaftsſyſtems, bei dem die 
Kräfte aller zufammenwirken, um das Gemeinmchl 
zu fördern, ift natürlich jo alt wie die Philoſophie 
ſelbſt,“ fuhr der Doktor fort. „Schon bei Mato 
findet ſich diefer Gedanke, auf dem unſer heutiger 
Staat beruht, in der Theorie, und niemand fanı 
wiſſen, ob er nicht ſchon viel früher aufgetaucht if, 
benn er ift ganz natürlich und muß jedem einleuchten, 
Aber die Aufklärung mußte fich erft über weite Kreiſt 
verbreiten und ein Vollsregiment möglich maden, 
ehe die Welt reif war, dieſe Siaatäidee zu ver 
wirllichen. Bis dahin hatte jie feine fichtbare Ge⸗ 
ftalt, wie die Seele, ehe fie Fleiſch geworben iſt. 
Selbſtſüchtige Herrſcher betrachteten das Poll nur 
ala Mittel zu ihrer eignen Erhebung, und wenn fie 
die Induftrie zwedmäßiger organifierten, jo geſchah 
es ausichliehlih, um ihre Tyrannei mit noch größerer 
Macht zu umgeben. Erft als die Maſſen einen 
Standpunkt erreicht hatten, der fie befähigte, die 
Zügel felbft in die Hand zu nehmen, war eine 
kräftige Agitation für das Wirtſchaftsſyſtem auf ge 
nofjenschaftliher Baia möglih und wünichenswert, 
NIE ſich in Europa zum erftenmal der demolratiſche 
Geift regte, war die Möglichkeit einer ſolchen Organi- 
jation lebhaft erörtert worden. Schon Mitte dei 
neunzehnten Jahrhunderts hatten in der Alten Wat 
ſcharfſichtige Beobachler diefe Bewegung als ein 
Zeichen der Zeit erkannt, aber Amerika hatte ſich 
bisher der Ngitation in Europa nicht angeſchloſſen 
— wenn man bie kurzen, verunglüdten Erperimenit 
der vierziger Jahre ausnimmt. 

„Wie ih ſchon gejagt habe, lebte das Boll in 
Amerifa damals unter viel günftigeren Verhältnifien 
als irgend eine andre Nation feit Menfchengedenten, 
und das war der Grund jeiner Gleichgültigleit. Die 
individualiftiiche Methode, bei der jeder für feinen 
eignen Unterhalt forgte, hatte jo befriedigende Re 
jultate, daß niemand an andre Methoden dachte. Es 
fehlte ein ftarfer Beweggrund, um bie jchwerfälligen, 
am Alten hängenden Maſſen aufzuftaheln und mit 
neuen, revolutionären Gedanken zu erfüllen. Die 
Periode des Umſchwungs hatte ſchon begonnen, alt 


Gleichheit. 


es noch unmöglich war, ben Anjchauungen über eine 
Neuordnung ber Gefellichaft, die Europa bereit3 mächtig 
erregten, bei und Eingang zu verjchaffen. Am Ende 
der achtziger Jahre mußte es aber jedem Mar wer- 
den, wie kläglich die verzweifelten Verſuche des Volts, 
ih aus der Gewalt des Privatfapitalismus zu bes 
freien, nad) zwanzigjährigen Anftrengungen gejcheitert 
waren, und nun lonnten die Amerikaner den Ge- 
danken fajjen, daß man möglicherweife ganz ohne 
Rapitaliften austommen könne, wenn man an ihre 
Stelle eine Organifation jehte, durch welche die Er— 
werbäthätigfeit, wie jede öffentliche Angelegenheit, zum 
Wohl des ganzen Volkes geregelt wurde. 

„Das amerifaniihe Volt war ganz bejonders 
dazu befähigt, die beiden Hauptpunkte des Umfturz- 
programm zu würdigen und zu verjtehen. Die 
Adoofaten hatten für die Vereinigten Staaten eine 
Berfaffung erdacht; aber die wahre amerifanifche 
Ronftitution, die, welche im Herzen des Volkes ge- 
ihrieben ftand, blieb immer die unjterbliche Unab- 
bängigfeitserflärung, mit ihrer Anerfennung der 
unveräußerlichen Gleichheit aller Menjchen. Auch 
die Verftaatlihung der Erwerbsthätigkeit konnte den 
Amerikanern im Prinzip nicht fremd fein, obgleich fie 
eine völlige Umwandlung der Gejellichaft hätte nad) 
ih ziehen müſſen. Sie war ja nur eine Weiterentwid» 
lung der bemofratifchen Grundidee des amerifanijchen 
Staated, Die Anwendung bdiefer Idee auf die 
Wirtichaftsverwaltung war allerdings neu, aber fie 
war jo unverkennbar jchon in dem ganzen Prinzip 
enthalten, daß jeder aufrichtige Demokrat, jobald die 
Nationalverwaltung einmal in Vorſchlag gebracht war, 
fh nur darüber wunderte, daß eine jo Mare und 
vernünftige Ergänzung des Vollsregiments nicht 
ſchon lange Eingang gefunden hatte. Die Verkün— 
diger einer gemeinfamen Verwaltung des Wirtichafts- 
ſyſtems im Intereſſe aller hatten in Europa eine 
doppelte Aufgabe: zuerſt mußten fie die Lehre ver 
breiten, daß das Volk ein abfolutes Recht Habe, jelbft zu 
regieren, und dann mußten fie bie Anwendung dieſer 
Lehre auf die Volfswirtichaft darlegen. In Ame— 
tifa dagegen brauchten fie mur die Folgerungen eines 
befannten, aber bis jegt nicht beachteten Grundſatzes 
zu ziehen, der im Prinzip Schon längſt nicht mehr 
beftritten wurbe, 

„Die Annahme des neuen Ideals ſchloß nicht 
nur eine Programmänderung in fi, ſondern bedingte 
aud) eine ganz andre fyrontjtellung der revolutionären 
Bewegung. Bis jet war fie ein Verſuch geweſen, 
Äh gegen neue wirtſchaftliche Zuftände aufzulchnen 
und das alte Syftem des freien Wettbewerbs, das 
vor dem Krieg herrichte, wieder einzuführen; dieſer 
Verſuch war natürlich erfolglos, da die Verſchlech— 
terung der wirtfchaftlichen Lage des Volles in ber 
natürlichen Entwidlung des Privatkapitalismus lag, 


1061 


und fomit jeder Widerftand vergebens war, jolange 
biejer jortbeftand. 

„Vorwärts, marſch!‘ jo lautete das neue ſtom— 
mando, ‚fämpft gegen die Feinde vor euch und laßt 
das Alte dahinten! Schreitet mit der wirtſchaftlichen 
Evolution weiter und ftreitet nicht gegen fie! Der 
freie Wettbewerb fann nie wieder eingeführt werden; 
er ift es aud) nicht wert, denn im beften Yall war 
dies Syftem unmoraliſch, eine Vergeudung der Kräfte, 
ein brutaler Kampf um das tägliche Brot. Neue 
Fragen verlangen neue Löſungen. Vergebens ruft 
ihr das altersſchwache Syſtem des freien Wettbewerbs 
gegen den jungen Rieſen Privatmonopol zum Kampf 
auf. Schidt ihm den größeren Riejen entgegen, 
das Vollsmonopol. Die Konjolidation des Geſchäfts 
im Privatintereffe muß durch die feftere Konfolidation 
im Interefie des Volkes verdrängt werden; der Truft 
und das Syndilat ſollen der Stadt, dem Staat, der 
Nation weichen, der Privatfapitalismus dem Natio- 
nalismus, Die Kapitaliften haben das Syftem des 
freien Wettbewerbs zerflört; ſtellt es nicht wieder ber, 
fondern dankt ihnen dafür, dab fie die Arbeit ge 
than haben, wenn ihre Motive auch nicht Tauter 
waren! Baut euch nicht wieder Hütten des Elends, 
fondern errichtet endlich auf dem frei gewordenen 
Raum den Tempel, deifen die Menſchheit ſchon fo 
lange hart!‘ 

„Im Lichte Diefer neuen Lehre wurde es ben 
Menſchen klar, daß der Engpaf, in dem die Re— 
publif augenblicklich ſteckte, nichts als der Durchgang 
voll Angft und Schreden zu einer Zukunft de all« 
gemeinen Glüdes fei. Man hätte mit jo glühenden 
Farben malen müfjen wie die Propheten bes alten 
Bundes, um die Herrlichkeit diejer Zeit würdig zu 
ſchildern. 

„Der Streit, welcher ſich zwiſchen dem Voll und 
der Plutokratie erhoben hatte, war nun fein uner= 
Härliches und beflagenswertes Ereignis mehr, ſon— 
dern eine notwendige Phaſe in der Evolution einer 
Geſellſchaft, die von einem niedrigen zu einem un— 
endlich viel höheren Niveau emporftieg, Er mußte 
mit Freuden begrüßt, nicht gemieden, nad) bejten 
Kräften gefördert, nicht verhindert werben; denn ba 
jebt Auftlärung und demofratijche Denkweiſe über 
die ganze Welt verbreitet waren, konnte der Ausgang 
diejes Streites nicht mehr zweifelhaft jein. An dem 
Meg, welchen alle Republifen aufwärts gezogen find, 
aus den dürren Niederungen der Arbeit und Mühſal, 
hat immer gerade an der Stelle, wo der fteile Hügel 
erllommen ift, und ſich Tiebliche Hochthäler der Freude 
und des Glüdes aufthun, eine Sphinx geftanden 
und ihnen das Rätjel aufgegeben: ‚Wie läßt fi in 
einem Staat die demofratifche Gleichheit bei wachſen⸗ 
dem Reichtum bewahren?‘ Die Löjung wäre ein- 
fach genug gewefen. Das Bolt hätte nur fein 


1062 


Wirtſchaftsſyſtem fo einrichten müflen, daß der Gewinn 
immer an alle gleihmäßig verteilt wurde, dann konnte 
er der Gleichheit des Volkes nicht ſchaden, fo jehr 
er auch zunahm,. Das gerechte Prinzip der Gleich. 
heit ift der Brunnen lebendigen Waflerd für das 
politifche Leben der Völker; ‚jo eine Nation davon 
trinfet, wird fie ewig leben.‘ Troßdem hatte nod) 
feine von allen Republifen das Rätſel löſen Fönnen, 
und darum ‚bleichten die Gebeine ihrer Söhne auf 
dem Hügel, und niemand durfte die lieblichen Thäler 
betreten, welche fie geſchaut hatten‘. Jeht aber war 
die Zeit gefommen, da die Menſchen Hug genug 
waren, die rechte Antwort auf diefe Frage zu geben, 
die jo oft geftellt und nie gelöft worden war. Die 
Sphinx verſchwand — und für alle Völler der Erde 
war der Meg nun frei. 

„Ein Geift volllommener Sicherheit und Sieges- 
gewißheit erfüllte die neue Bewegung. Sie wirkte 
um fo hinreißender und erhebender durch den Gegen- 
fat zu dem freublofen Peſſimismus der Kapitaliften« 
partei und zu ben kleinlichen Zielen, den Klafjen- 
intereffen, der Blindheit und Zaghaftigfeit aller Re— 
formatoren, die bisher diefe Partei befämpft hatten. 

„Man hätte glauben follen, daß eine Lehre von 
ſolcher Kraft und Schönheit, die den Menſchen jo 
viel Gutes verſprach, in fürzefter Frift das note 
feidende Volt um fi fcharen würde. Aber bie 
Unterweifung des Volles und feine geiftliche Leitung 
lagen nit in den Händen der Neformatoren, ja 
überhaupt nicht in uneigennüßigen Händen; fie hingen 
faft ganz von den Kapitaliften ab. Ehemals waren 
die Zeitungen nicht große Kapitalanlagen geweſen, 
deſto mehr aber hatten fie fi dazu geeignet — wie roh 
und unreif fie auch) waren —, die Stimme des Volles 
zu repräjentieren. In der Iehten Hälfte des neun« 
zehnten Jahrhunderts erforderte aber jede Zeitung 
mit ausgedehnten Leferkreis ein bedeutendes Kapital. 
Folglich waren alle großen Zeitungen im Befik der 
Kapitalijten; natürlich wurden fie au im Sinne 
der Eigentümer redigiert. So vertraten die großen 
Zagesblätter immer die beftehende Ordnung ber 
Dinge und befämpften die revolutionäre Bervegung — 
die feltenen Fälle ausgenommen, in denen der Kapi— 
talift, unter defien Oberaufficht die Zeitung fand, 
bejonders freifinnige Grundfäße hatte. Sie monopo« 
lifierten das Einſammeln und die Verbreitung aller 
öffentlichen Nachrichten und übten auf diefe Weiſe 
eine Zenjur aus, die nicht viel beſſer war ala die— 
jenige, welche zu derjelben Zeit in Rußland und der 
ZTürfei die Dinge auswählte, die zu den Ohren des 
Boltes dringen durften. 


„Nicht die Preſſe allein, auch die religiöfe Unter- 


weifung des Volkes wurde von den SKapitaliften 
überwadht. Die Kirchen waren Anftalten, welche von 
den Kapitaliften und einem wohlhabenden Bruchteil 


Edward Bellamıy. 


des Volkes aufrecht erhalten wurden; fie fonnten ohne 
Unterftügung des Kapitals ihre Arbeit weder forte 
ſehen noch ausdehnen. Ebenjo waren alle Univerfir 
täten und höheren Unterrichtsanftalten mit goldenen 
Ketten an den Triumphwagen der Plutolratie ges 
ipannt. Ihr Beftehen und ihr Gebeihen Bing von 
den Gaben der Reichen ab, und es wäre Selbitmord 
gewejen, dieje zu beleidigen. Außerdem waren ja 
auch nur die Sapitaliften und der wohlhabende 
Bruchteil der Bevölkerung in der Lage, ihre Kinder 
in dieſe höheren Unterrichtsanſtalten zu jchiden, und 
die bejißende Klaſſe gab natürlich ſolchen Schulen 
den Vorzug, welche eine Lehre verfünbeten, die ihr 
angenehm war. 

„Wenn die Neformatoren über Preſſe, Kanzel 
und Univerfität hätten gebieten fönnen, um dem Ber 
ftand, dem Herzen und dem Gewiſſen des Volles 
ihre Lehre einzuprägen, dann würden jie gejiegt und 
da8 Sand belehrt haben, ehe ein Monat zu Ende 
war. „Im Gefühl, wie ſchnell ihnen die Herzen zur 
fliegen würden, wenn fie dem Boll nur nahe fommen 
fönnten, grollten fie mit Recht über den Aufſchub, 
denn fie mußten es ja vor Augen jehen, mie die 
Menjchheit immer wieder and Kreuz gejchlagen wurde 
und ohne Not unbeſchreibliche Qualen erduldete. 
Welcher Menſch wäre unter folhen Umjtänden nicht 
ungeduldig geworben und hätte gerufen wie fie: ‚Wie 
lange, Herr, wie lange‘ Jeder Tag, der verging, 
ohne die Erlöfung aus jo großem Elend zu bringen, 
mußte ihnen wie ein Jahrhundert jcheinen. Da fie 
mitten im Staub und Lärm unzähliger Heiner Ge» 
fechte ftanden, war e8 für fie ebenfo ſchwer wie für 
den Soldaten inmitten der Schladt, den Verlauf des 
Kampfes und die Operationen der Streiifräfte, die 
den Ausgang beftimmen, zu überbliden, Uns aber er- 
icheint e3 wahrhaft wunderbar, wie ſchnell das ame: 
rilaniſche Volt in den neunziger Jahren für das 
Programm des Umfturzes gewonnen wurde; es fonnte 
feine Frage mehr fein — der Sieg war errungen. 

„Bom Anfang der zweiten Phaſe der revolutio- 
nären Bewegung an jpricht ji) in der Tageslitteratur 
ein neuer Geift Fraftvollen Proteftes gegen die Uns 
gerechtigfeiten der Geſellſchaftsordnung ganz offen 
aus, Nicht nur in Abhandlungen und Journalen 
mit ernjterem Inhalt, jondern auch in den Romanen 
und Dichtungen der damaligen Zeit überwog ba® 
Thema der fozialen Reformen, ja es beherrſchte 
die Litteratur fat ganz. Die Verbreitung einiger 
Bücher, die eine völlige Neorganifation der Gefell- 
ſchaft forderten, war jo enorm, daß man an dieſen 
Zahlen allein ſchon das Herannahen des Umfturges 
ſpüren konnte. Die Antifffaverei hat nur ein ‚Onkel 
Toms Hütte gehabt, der Antilapitalismus Hatte 
viele ſolche Bücher. 

„Eine höchſt bedeutſame Thatſache war bie ein 








Gleichheit. 


ſtimmige Begeiſterung, mit der die ausſchließlich ader- 
bauende Bevölkerung des fernen Weftens die neue frohe 
Botſchaft von der wirtfchaftlichen Gleichheit begrüßte. 
Auf Umfturzbewegungen aus den Reihen der ftädtie 
ſchen Proletarier waren die Regierungen von jeher 
gefaßt geweſen, aber fie zählten ſtets mit Beftimmt« 
heit darauf, daß der aller Neuerung abgeneigte 
Bauernftand ihnen helfen würde, die leicht erregbaren 
Sohnarbeiter im Zaum zu halten. Bei diefer Um» 
wälzung ſah man jebod) den Landmann in der vorber« 
ften Reihe ftehen, ein Umftand, der jchon allein den 
tafhen Verlauf und den zweifellofen Ausgang des 
Kampfes im voraus verfündete, Gleich beim Beginn 
der Schlacht hatten die Rapitaliiten ihre Reſerven 
verloren. 

„Zu Anfang der neunziger Jahre gewann die 
Umfturzbewegung eritmals eine Bebeutung auf poli» 
them Felde. Nach dem Schluß des Bürgerfrieges 
hatte die feindfelige Stimmung zwijchen Norden und 
Eüden zwanzig Jahre lang den Ausſchlag bei ber 
Porteibildung gegeben. Dadurch waren die unzu« 
friebenen Induſtriellen bisher von jeder politischen 
Kundgebung zurüdgehalten worden, um jo mehr, als 
fie fich nicht für ein beftimmtes Verfahren entſchließen 
und darüber einigen konnten. Gegen das Ende der 
achtziger Jahre war endlich die Erbitterung zwifchen 
Norden und Süden fo weit gejhwunden, daß das 
Volk ih zu dem neuen Kampfe rüften konnte, der 
fi) bereit& feit dem Kriege drohend und unabweisbar 
am Horizonte gezeigt hatte. Es war ein Kampf auf 
Leben und Tod zwiſchen ber Demofratie und ber 
Plutokratie zur Verteidigung der Menſchenrechte 
gegen die Tyrannei des Kapitals. 

„Man hatte früher in Amerika dem öffentlichen 
Betrieb wirtfhaftliher Unternehmungen durch Na— 
tionalverwaltung weder Aufmerkſamkeit noch Gunft 
jugewendet; aber jobald die Angelegenheit überhaupt 
zur Sprade fam, jhon im Jahre 1890, Hatten 
politifche Parteien, die eine derartige Verwaltung 
wichtiger Gefchäftszweige als wünfchenswert erfannten, 
eine bedeutende Anzahl Stimmen dafür abgegeben. 
1892 bildete fih in faft jedem Staate ber Union 
eine Partei, weldhe verlangte, daß wenigjtens bie 
Eifenbahnen, Zelegraphen, Bankinftitute und andre 
zu Monopolen gewordene Einrichtungen in Staats- 
verwaltung genommen werben jollten. Damals ver- 
fügte die Partei über eine Million Stimmen, aber 
ihon zwei Jahre jpäter war fie weit zahlreicher; 
1896 nahm fogar eine der großen hiftoriichen Par« 
teien des Landes ihr Programm im weſentlichen an, 
und die Nation teilte ſich num in zwei faft gleiche 
Hälften, die dafür und dawider waren. 

„Der Schreden, welcher ſich der befitenden Klaſſe 
bemächtigte, als fih die joziale Unzufriedenheit in 
folcher Ausdehnung fund that, ſcheint uns jegt, nach⸗ 


1063 


bem fo lange Zeit darüber verftrichen ift, in hohem 
Grade auffallend. Denn der Angriff richtete ſich 
noch keineswegs gegen den Privatfapitaliamus über« 
haupt, fondern nur gegen bie ſchlimmſten Mißbräuche 
der Rapitaliften. Was diefe am meiften beunrubigte, 
waren ohne Zweifel nicht die einzelnen Forderungen 
der Aufftändifchen, fondern die Erbitterung des 
Volkes gegen fie und all ihr Thun und Treiben, die 
dabei zu Tage trat und beutlich erfennen lieh, dab 
dies nur der Anfang jei, und man fpäter noch weit 
mehr verlangen würde. Auch die Abolitioniften 
hatten zuerft nicht die Abſchaffung, jondern nur die 
Beſchränkung der Sklaverei gefordert, und doch hatten 
fih die Sklavenhalter über ihre eigentliche Abſicht 
nicht getäufcht. Die Kapitaliften hätten thörichter 
fein müſſen als ihre Vorgänger, um nicht die 
politifche Tragweite der Bewegung einzujehen. Sie 
mußten recht gut, daß es ih um den Kampf der 
Maffen gegen die Klaſſen handelte — wie man fid) 
damals ausdrüdte —, und daß die wirtſchaftliche und 
foziale Revolution in der nächſten Zufunft bevor 
ſtehe.“ 

„Aber gewiß beſaßen doch viele Kapitaliſten einen 
ruhigen Einblid in die Lage der Dinge,” ſagte id; 
„warum machten fie denn nicht von jelbft die nötigen 
Zugeftändniffe, um fi wenigftens einen Zeil ihrer 
Vorrechte zu wahren?“ 

„Dann wären fie ficherlich der Tyrannei zum 
Opfer gefallen; denn dieſe pflegt bei jeder revolu— 
tionären Erhebung erft einzulenfen, wenn e3 zu jpät 
ift und an feine Rettung mehr gedacht werden kann. 
Während bei den großen Revolutionen fittliche Kräfte 
im Spiel find, pocdhen die Tyrannen ftet auf ihre 
materielle Macht und fönnen ihr Geſchick niemals 
vorausjehen, biß es unabwendbar über fie hereinbricht.* 

„Nun müfjen wir aber bald unjre Sitze ein« 
nehmen,” unterbrad) jet Edith das Geſpräch. „Ich 
möchte nicht, daß Julian den Anfang des Schau- 
ſpiels verfäumt.“ 

„Wir haben gerade nod ein paar Minuten Zeit,“ 
erwiderte der Doktor, „und da nun einmal die Rebe 
auf den Verlauf der Ummälzung gefommen ift, will 
ich noch einige Worte über die großartige Begeijte- 
rung jagen, mit der fi das Volk ber Bewegung 
bemädhtigte und fie wunderbar rafch zum Ziele führte. 
In diefer Periode jpielt au das Stüd, dejjen Auf» 
führung wir jehen wollen. 

„Sie müflen nämlich wiſſen, Julian, daß zwar 
viele der Anfiht waren, es werde ſchließlich ſowohl 
in Amerifa wie überall ein Syſtem der Kooperation 
an die Stelle des Privatfapitalismus treten, aber 
fie glaubten, diefer Vorgang fünne fih nur langjam 
und allmählich vollziehen, vielleicht im Laufe mehrerer 
Jahrzehnte oder eines halben Jahrhunderts, Das 
ſcheint die allgemeine Auffafjung geweſen zu fein. 


1064 


Aber jobald es den Maflen Mar geworden war, daß 
die Sache Ausfiht auf Erfolg hatte, drängten fie 
unaufhaltfam vorwärts. Zuerft freilich fam der 
Plan eines nationalen Induftrieigftems dem Volke 
wie ein Märchen vor. Die gleihe Güterverteilung, 
die Abjihaffung der Armut, ein allgemeiner Wohl⸗ 
ftand und alle die andern Verheißungen, bie man 
ihm machte, ſchienen ihm unfaßlich. Im ihrem hoffe 
nungslofen Elend hatten die Mafjen laum zu 
glauben gewagt, daß die Armut einft im Himmel 
aufhören werde, aber daß es im Bereich ber Möglich- 
feit fein folle, bier und jet, in dem nüchternen 
Amerila ein jolches irdiſches Paradies zu errichten, 
das vermochten fie ſich nicht zu vorzuftellen. 

„Als aber nun die revolutionäre Propaganda 
immer weiter um ſich griff und feften Grund und 
Boden gewann, famen felbft die Mutlofeften zu ber 
Ueberzeugung, da die Stunde des Triumphes nahe 
fei. Die Hoffnung des Volles wurde zu froher Zus 
verfiht, und bald loderten die Flammen der Be- 
geifterung hoch empor. Hatte die Größe der Ber- 
heißung die Menge zuerft erfchredt, jo war jeht ber 
Jubel grenzenlos, Alle glühten vor Eifer, dies 
wonnevolle Leben zu beginnen; feinen Tag, feine 
Stunde wollte man mehr warten, Die Jungen 
riefen: ‚Laßt uns eilen, in das gelobte Land zu lom« 
men, folange wir noch jung find, damit wir er- 
fahren, was es heißt, zu leben!: und die Alten ſagten: 
‚Laßt und noch vor unferm Ende bineingehen, auf 
daß wir in Frieden fterben können, weil wir wiſſen, 
es wird unjern Rindern wohlergehn, wenn wir bie 
Augen jhließen‘ Die Führer und Pioniere ber 
Bewegung, deren Bemühungen lange Jahre an dem 
Unglauben und der Gleidhgültigfeit des Volles ge 
jcheitert waren, zu dem fie rebeten, ſahen fich jetzt 
von einer mächtigen Woge der Begeijterung mit fort- 
geriffen, die fie unmöglich aufhalten oder in ruhigere 
Bahnen Ienfen konnten. 

„Aber der Weg lag Mar vor ihnen, und um die 
Erregung des Volfsgemüts nod höher zu fleigern, 
erfolgte jebt die ‚große Erwedung‘ und verlieh der 
ganzen Bewegung eine religidje Färbung.” 

„Auch wir hatten zu meiner Zeit fogenannte re 
ligiöfe Erwedungen, die ſich manchmal in weite Kreije 
verbreiteten. War dieſe ähnlich beichaffen ?” 

„Wohl kaum,” erwiderte der Doltor. „Bei der 
‚großen Erwedung‘ begeifterte man fich für die joziale 
Erlöfung, nicht für die Rettung der einzelnen Seele. 
Es galt die Gründung des Reiches Gottes auf Erden, 
des Reiches der brüderlichen Liebe, welches Chriftus 
verfündet hatte, auf welches er die Menſchen hoffen 
ließ und wofür fie wirken jollten nad feinem Gebot. 
Am Schluß des vorigen Jahrhunderts waren den 
Amerikanern die Augen darüber aufgegangen, daß 
ein Induſtrieſyſtem, welches die wirtfchaftliche Gleiche 


1 


Edward Bellamy. 


heit aller Menſchen einführte, auf einer wahrhaft 
ethiihen und religiöfen Grundlage beruhe. 

„Daß die Bewegung von Kriftlichem Geift und 
Sinn getragen war, Tiegt auf der Hand. Sie ber 
abfihtigte ja nichts Geringeres, als Chriſti Lehre, 
daß man feinen Nächſten lieben ſolle wie ſich jelbit, 
zur Grundlage der ganzen Gejellihaftsordnung zu 
machen. Der erfte Schritt dazu mußte natürlich die 
Sorge für dad materielle Wohlergehen aller fein. 
Man follte denfen, daß man Leuten, welde ſich 
Ehriften nannten und mit dem Neuen Teftament 
vertraut waren, das alles nicht erft zu erflären 
brauchte. Sie mußten ja fofort erfenmen, daß das 
Programm der Reformpartei nicht? war als eine 
Anwendung ber chriftlichen Nächftenliebe auf wirt- 
ſchaftliche und politifche Verhältniſſe. Die gläu 
bigen Chriften hätten ohne Zögern berbeieilen müffen, 
um fi aus allen Kräften, mit ganzer Seele und 
vollem Herzen der Bewegung anzufchließen. Das 
fie nur jo langjam herzufamen, daran war bie falfche 
oder mangelhafte Belehrung ſchuld, welche fie von 
denen erhalten hatten, die vor allen andern berufen 
und verpflichtet geweſen wären, fie zur That zu trei- 
ben — von den riftlichen Predigern. 

„Seit vielen Jahrhunderten, ja gleich nad dem 
Beginn der hriftlihen Aera, hatten die Kirchen ſich 
von dem chriftlichen Ideal abgewendet, das in der 
Gründung des Reiches Gottes auf Erden beitand, 
unter Einführung bes Geſetzes gegenfeitiger Hilfs 
bereitjhaft und brüberlicher Liebe. Die Geiftlichteit 
hielt die Regeneration der menjchlichen Geſellſchaft 
in dieſer Welt für ein hoffnungslofes Unternehmen 
und verfündete dem Volk im Namen deſſen, der uns 
das Vaterunfer gelehrt hat, dab Gottes Wille auf 
Erden nicht geichehen würde. Statt wie Chriftus 
die beftehende Gejellihaftsordnung für böje, ver» 
derblih und ber Erneuerung bebürftig anzujehen, 
übernahmen fie den Schuß und die Verteidigung der 
ſozialen und politiſchen Injtitutionen und brauchten 
ihren ganzen Einfluß, um das Streben des Volle 
nad) einer gerechteren und gleichmäßigeren Güterver- 
teilung zu unterbrüden, In der Alten Welt kämpften 
fie für die Gewalt und das Vorrecht der Mächtigen 
und erftidten jedes Verlangen nad) Freiheit und 
Gleichheit. Wenn bie Könige und Kaifer ſich den 
Wünſchen ihrer Unterthanen wiberjegen wollten, jo 
leifteten ihnen die Geiftlihen nützlichere Dienite als 
die Polizei und das Militär. In der Neuen Welt 
hatte das Königtum bei jeiner Wbdanfung das Zepter 
binterrüds den Rapitaliften in die Hand gelegt. Da 
übertrugen aud) die Priefter ihre Unterthänigfeit auf 
die Geldmacht. Hatten fie früher das göttliche Recht 
der Könige verkündet, über ihre Mitmenſchen zu 
herrſchen, fo lehrten fie jet: der erworbene oder er- 
erbte Reichtum verleihe feinem Beſitzer ein göttliches 








Gleichheit. 


Recht, ſich andre dienſtbar zu machen, und es ſei die 
Pflicht des Volkes, ohne Murren zuzuſehen, wie die 
Reichen ſich alle Güter ausſchließlich aneigneten. 

„Die Stellung, welche die Kirchen beim Streit 
der Mächtigen gegen die Menſchenrechte und die 
Gleichheit aller einnahmen, hatte von jeher viel 
Hergernis verurfacht und ihrem Anjehen und Einfluß 
bei jeder revolutionären Kriſis großen Abbruch ge= 
than. Da nun der jehige Kampf zwiſchen dem 
Privatlapitalismus und der wirtjhaftlichen Gleichheit 
von jo großer Wichtigkeit war, wie fein früherer je 
geweien, jo mußte auch die Haltung, welche bie 
Rirhen dabei annahmen, über ihre ganze Zukunft 
entiheiden. Stellten fie ſich in diejer großen Lebens- 
frage auf die Seite der Gegner des Volfs, fo be— 
gingen fie einen ungeheuren Jrrtum, der für fie ver- 
hängnisvoll werden Fonnte, indem er ihnen den legten 
Halt raubte, den fie noch in Geift und Herz des 
Volkes bejejen hatten, Wären dagegen bie fir» 
lihen Führer im ftande gewejen, die volle Bedeutung 
der großen Umkehr aller Herzen zu Chrijti Menjchheits- 
ideal zu verftehen, welche ih am Schluß des neun 
jehnten Jahrhunderts vollzog, jo hätten fie hoffen 
dürfen, die allgemeine Achtung und Ehrfurcht vor 
der Kirche wiederherzuftellen und fi troß aller be— 
gangenen fehler als die wahren Vertreter des drift- 
lichen Geiftes und der chriftlichen Lehre zu erweiſen. 
Unter den Geiftlichen gab es aud) einige — ja ver» 
bältnismäßig viele — die dies einjahen und ben 
verzweifelten Verſuch machten, ihre Standesgenofjen 
davon zu überzeugen. Aber das Herfommen und 
die alten Weberlieferungen machten dieſe blind; fie 
vermochten dem Drängen des Kapitalismus nicht zu 
widerjtehen und erfannten die Zeichen der Zeit erft, als 
es zu fpät war. Auch andre gelehrte Körperfchaften 
verichloffen fih der Einficht, daß die Menſchen- und 
Bruberliebe, welde fih wie ein gewaltiger Strom 
über die Erde ergoß, von Gott gewollt und im flande 
fei, die Welt umzuwandeln und zu erneuern. Aber 
wern es aud zu beflagen war, daß viele weile 
Männer das Weſen der großen Krifis mißverftan- 
den, jo war doch die Blindheit der Geiftlichfeit am 
Ihlimmften, denn ihr Beruf Hatte ihnen ausdrücklich 
die Pflicht auferlegt, das gleiche liebevolle Verhalten 
gegen alle zu predigen und auf daß Reich der brüder- 
lihen Liebe zu warten, das durch den Umfturz ge= 
gründet werben jollte, und deſſen Kommen fie jet 
mit Verwünjhungen begrüßten. 

„Die damaligen Reformatoren ſprachen ſich jehr 
bitter gegen die Geiftlihen aus und bejchuldigten 
fie eines doppelten Verrats an der Menſchheit und 
dem Chriftentum, weil fie fich der Revolution wiber- 
ſetzten, ftatt fie zu unterftüßen. Aber die Zeit hat 
alle harten Urteile gemildert, und jet denken wir 
nicht mehr mit Entrüftung, ſondern voll tiefen Mit- 

Aus fremden Yungen, 1897. II. 24 


1065 


leids an jene Unglüdlichen zurüd, denen die Führer» 
ſchaft bei dem größten Fortfchritt, den die Menſchheit 
je gemadht hat, angeboten wurde, und welche bieje 
unvergleichliche Gelegenheit von ſich wieſen. Ihr 
Mißgeſchick ift ohnehin jchon groß genug, warum 
jollten wir es noch duch unfre Vorwürfe ver- 
ſchlimmern? 

„Infolge der wachſenden Aufklärung hatte der 
kirchliche Einfluß in Amerifa um dieje Zeit zwar 
jehr abgenommen, aber daß ſich die Geiftlichfeit gegen 
das Programm der wirtjchaftlihen Gleichheit jo ab— 
Ichnend verhielt, trug doc entjchieden dazu bei, die 
ausgeſprochen chriftlichen Sereife der Umfturgbewegung 
abgeneigt zu machen, welcher fie ſich jonft natur 
gemäß hätten anſchließen müſſen. Allein das war 
nur eine Frage der Zeit; die öffentlichen Beiprechungen 
bes Gegenitandes madten bald ihre erziehliche Wir⸗ 
fung geltend, jo daß jeder in den Stand gejeßt 
wurde, fich ein jelbftändiges Urteil zu bilden. Nun 
folgte die ‚große Erwedung‘ ; die Maſſen des Volkes 
waren zu der Ueberzeugung gelangt, dab die Ume« 
mälzung, vor der die Priefter fie warnten, weil fie 
unchriſtlich fei, in Wirklichkeit den wahren Geiſt bes 
Chriftentums atmete und fo tief und innig von ihm 
durhdrungen war wie feine andre geiftige Erhebung 
jeit jener Zeit, da Ehriiius feine Jünger berief, 
Jeder, der Chriſti Lehre liebte und an fie glaubte, 
mußte fi daher der neuen Bewegung aufs eifrigfte 
anjchließen. 

„Unter allen großen Völkern der Erde jheinen 
die Amerikaner in Bezug auf das, was man damals 
Religion nannte, am aufgeflärteften und am meijten 
von chriſtlichen Gefühlen befeelt gemwejen zu jein. 
Als die Nation erkannte, daß die gleiche Wohlfahrt 
aller, dieg Jdeal ber Welt, das die Priejter als ge- 
fährlihen Irrwahn verdammten, nichts anders jei 
ala das Reich Gottes, welches Chriftus gründen 
wollte, war die Begeifterung groß. Nun wußten fie, 
daß die Hoffnung, die den Anhängern des Um- 
ſchwungs voranleudhtete, fein verzehrenbes Feuer Sei, 
wie die Kirche es lehrte, fondern nichts andres als der 
Stern von Bethlehem mit der neuen froben Botſchaft. 
Kein Wunder, daß die Umfturjbewegung von da ab 
immer mehr den Charalter eines Kreuzzug: annahm; 
es war der erfte Ktreuzzug in der Weltgeſchichte, der 
jeinen Namen mit Recht trug und in Wahrheit den 
Anſpruch erheben durfte, das Kreuz zu feinem Sinn- 
bild zu machen. Die von jeher religiös gefinnten 
Mafien kamen zu der Erkenntnis, daß die Wohlfahrt 
aller Menſchen auf einem göttlichen Plan berube, 
fo daß fie zugleich ihre höchſte Glücfeligfeit erlangen 
und Gottes Willen erfüllen fönnten. Auf ſolche Weije 
murde die Umfturzbewegung zu einer religiöjen Er— 
wedung. Wie damals nad der Predigt Peters des 
Einfiedlers, jo rief auch jetzt das Volk nad) der Rebe 

134 


1066 


der Reformatoren aus: ‚Es ift der Wille Gottes!‘ 
und feiner zweifelte mehr daran, daß die Verheißung 
fich erfüllen würde. Die Ummälzung, welche ihren 
Lauf umter dem Bann der Kirche begonnen hatte, 
fand ihre Vollendung in einem hohen fittlichen und 
religiöfen Aufſchwung.“ 

„Was wurde aber aus den Kirchen und ben Geift- 
lichen, als das Wolf die Blindheit ihrer Führung 
erkannt hatte?” fragte ich, 

„Sie werden wohl geglaubt haben, der jüngfte 
Tag fei erſchienen,“ erwiberte der Doktor, „als ihre 
Gemeinden mit der Bibel in der Hand Rechenſchaft 
von ihnen forderten, warum fie jeit Jahrhunderten 
das Evangelium verborgen und Gottes Dffenbaruıngen 
gefälicht Hätten, ftatt fie richtig auszulegen, wie fie 
doc vorgaben. Allein der Jubel und die freude 
des Volkes über die Entbedung, daß freiheit, Gleich. 
heit und Brüderlichfeit nichts andres als ber praf- 
tiiche Inhalt des Ehriftentums fei, war jo groß, daß 
feine Bitterfeit gegen irgend eine Menſchenllaſſe 
mehr in den Herzen Raum fand. Die Welt Hatte 
nur für alle Zeiten die Erfahrung gemacht, daß fie 
fih auf die Führung der Geiftlichkeit nicht blindlings 
verlaffen dürfe. Daß die Priejter ihr Amt jo 
mangelhaft verwaltet hatten, lag aber — wie ji 
das von ſelbſt verfteht — nicht etwa daran, daß fie 
weniger gut waren al3 andre Menſchen. Die Schuld 
trug nur ihre hoffnungslos falſche Stellung, das 
heißt, ihre wirtichaftliche Abhängigkeit von denjenigen, 
deren Leiter fie hätten fein follen. Sobald die 
‚große Erwedung‘ in vollem Gang war, “beteiligten 
fie fi) mit demfelben Eifer daran wie das Volt, 
ohne jedoch eine Führerrolle zu beanſpruchen. Sie 
folgten ber Menge, an deren Spike fie hätten fiehen 
fönnen. 

„Mit der ‚großen Erweckung‘ fängt aud) die 
Hera der heutigen Religion an, einer Religion, die 
weder heilige Zeremonien und Gebräuche noch Dog- 
men und Glaubensbefenntniffe fennt und alle leib- 
lihe Furcht und Sorge aus dem Leben verbannt hat. 
Daß innigfte Gefühl von der Zufammmengebörigteit 
der ganzen Menjchheit untereinander und der Ver— 
bindung des Menſchen mit Gott erfüllt alle Herzen 
und bethätigt fi) in der Lebensführung, Der Menſch 
ift jich feines göttlichen Urfprungs bewußt und fürchtet 
nichts Böſes, weder auf Erden noch jenjeits des 
Grabes.“ 

„Nach den weiteren Entwicklungsſtufen der Um— 
wandlung brauche ich Sie faum noch zu fragen,” ſagte 
ih, „denn vermutlich hat ihre Vollendung nad der 
‚großen Erwedung‘ nicht lange auf ſich warten laſſen.“ 

„Freilich, fie gab den höchſten Antrieb für die 
unmittelbare Einführung der gleichen Wohlfahrt aller, 
der jedes Hindernis fiegreich überwand, Aber nicht 
gewaltfam wurde der Wideritand bejeitigt, er ſank 


Edward 


Bellamy. 


von ſelbſt dahin. Daß die Kapitaliſten, zu denen 
Sie ſelbſt gehörten, nicht ſchlechter waren als andre 
Leute, brauche ich Ihnen laum zu ſagen. Sie waren 
gleich allen übrigen genau das, wozu das herrichende 
Wirtſchaftsſyſtem fie gemacht Hatte. Auch fie ver- 
mochten der Vegeifterung für das Menſchenwohl, die 
fi) aller Welt bemächtigte, nicht zu wibderjtehen; fie 
fühlten ſich mit ergriffen von der Flut der unend- 
lichen Liebe und des Erbarmens, welche bei ber 
‚großen Erwedung‘ die Menjchheit durchſirömte. 
Die Erkenntnis, daß es fi in dem Kampf der alten 
mit der neuen Ordnung nur darum handelte, ob der 
allmächtige Dollar auf Erben herrſchen jollte ober 
der allmädtige Gott, machte allem Wiberftreit ein 
Ende. Eine Meine Minderzahl von SKapitalifien 
ſcheint freilich noch bis zufeßt heftig gegen die Um— 
fturzbewegung aufgetreten zu jein, aber fie fonnten 
nichts erreichen. Der größere und beffere Teil ihrer 
Partei machte gemeinfame Sache mit dem Bolle und 
half die neue Geſellſchaftsordnung vollenden, welät, 
wie jet jedermann einfah, die Wohlfahrt aller ber 
zwedte.“ 

„Und es entſtand fein Krieg?“ 

„Ein Krieg? Bewahre. Wer hätte auf feind⸗ 
licher Seite kämpfen follen? Sonderbar, daß die 
alten Reformatoren fi; den Umſturz bes Privat- 
fapitalismus nur auf gewallfame Weije vorſtellen 
fonnten! Sie erinnerten fortwährend an den Bürger: 
frieg in den Vereinigten Staaten und an die fran- 
zöſiſche Revolution, um ihre Befürchtungen zu recht- 
fertigen; aber in dieſen beiden fällen war bie 
Sadjlage eine ganz andre, Als es fich um die Ab⸗ 
ſchaffung der Sklaverei handelte, ſtanden zwei gto- 
graphiſch gejchiedene Ländermaflen, deren jebe für den 
auf der Gegenfeite vorherrfchenden Gedanlen unzugäng- 
lich war, einander feindlich gegenüber, und der Krieg 
ließ fi) nicht vermeiden. Bei der franzöſiſchen Re 
volution aber wäre es zu keinem Blutvergießen in 
Frankreich gelommen, hätten fich nicht die benachbarten 
Fürften und Völker unberufenerweife eingemijcht. Das 
die große ‚Revolution‘ in Amerika einen fo frieblicden 
Verlauf nahm, wurde überbies noch dadurch erleichtert, 
daß es feine von alteräher beftehenden laffemunter 
ſchiede und folglich auch keinen tief eingemurzelten 
Klaſſenhaß gab. Zwar begann fi dies Gefühl 
bereit3 mit großer Schnelligkeit im Bolfe zu ent- 
wideln, aber noch war e8 nicht fo weit gebiehen, daß 
die foziale Begeifterung bei der großen Ummälzung 
nicht im ſtande gewefen wäre, es zu überwinden und 
die ganze Nation in gemeinfamer Liebe und Treue 
zu bereinigen. 

„Man darf auch nicht vergefien, daß die Umſturz⸗ 
bewegung in Amerika durchaus feine Ummälzung im 
politiichen Sinne war, wie alle früheren Roll 
erhebungen. Bisher hatte fich das Volk ſtets gemötigt 


Gleichheit. 1067 


geſehen, um eine wünſchenswerte Veränderung durch⸗ „An kleinen Unruhen und Zuſammenſtößen, bei 
zuſeten, bie Regierung zu ſtürzen und die Zügel | denen es auch zuweilen zum Handgemenge kam, jo 
ſelbſt in die Hand zu nehmen. In einem demokra- daß Blut fließen mußte, hat es wohl nicht gefehlt. 
tiſchen Staat wie Amerika brauchte die Nation aber | Aber ein allgemeiner Kampf, wie ihn die Neforma- 
nur zu beſchließen, was geändert werden follte, und | toren erwarteten, blieb gänzlich aus, Im Lauf der 
damit war die Ummälzung fchon im wejentlichen volle | Weltgeſchichte find bei ganz unbebeutenden Streitig« 
bracht. Das Volk befah die Macht und das Recht, | keiten zwiichen Heinen Fürften und Sönigen mehr 
feinen Willen zu behaupten; das konnte ihm niemand | Menjchenieben verloren gegangen als in Amerifa 
bejtreiten. So vollzog fich die ‚Revolution‘ alfo nicht | bei der größten aller Umwälzungen.“ 
mit Kanonendonner und Blutvergießen; fie glich mehr „Und ift es den europäiſchen Völfern ebenjogut 
der Verhandlung eines Rechtsfalles vor Gericht. | ergangen, als fie diejelbe Krijis durchmachen 
Der Gerichtshof war das Volt, und der Kläger mußten?“ : 
fonnte feine Sache nur getwinnen, wenn die Richter „Die Zuftände in jenen Ländern waren einer 
ihm beipflichteten; denn eine Berufung gab es nicht. | friedlichen Ummwälzung nicht jo günftig wie in den 
„Es entjtanden weber Verſchwörungen, Intriguen, | Vereinigten Staaten, und bei den meiften dauerte 
Mord und Totſchlag noch alle die taufend Zwiftig- | die Entwidlung länger und forderte härtere Kämpfe. 
feiten, wie bei den revolutionären Bewegungen in | Aber zu Mord und Totſchlag, wie die alten Volls— 
den italienischen und vlämiſchen Städten des Mittel- | verbeijerer befürdhteten, ift e8 auch unter den Völlern 
alter. Für den dramatijchen und romantifchen | Europas nirgends gelommen. Im ber ganzen Welt 
Schriftſteller lieferte die große ‚Revolution‘ in Ame= | gelangte die Bewegung hauptſächlich durch Die 
rifa feinen dankbaren Stoff.” Macht ihrer fittlichen Sräfte zum endgültigen 





„Ist e8 denn möglih, daß fich die Ummälzung | Siege.” 
wirllich ohne jede Gewaltthätigleit vollzogen hat?* (Schluß folgt) 
von 
a. ©. Euja. 
Aus dem Rumänifchen überfeßt von W. Rudom. 
l. Den Menfchen wohl erniedrigt, die Menfchheit doch erhebt. 
© füße Nactigallen, o fehnfuchtsvolle Sterne, Doch ſuchſt du hinter allem den letzten Swed und Grund: 


Gebt, daß mein Kerze Ruhe, daß ſich's befrieden ferne! | Wozu dann die Gefege? Wer thut mir diefes fund? 
Und du, o Mond, o ziehe mich auf zum Himmelszelt, So bleibft du, wo die Menſchheit vor taufend Jahren ftand: 
Daß ich nicht immer hafte an diefer Meinen Welt! Sie mögen Zweck wohl haben — uns ift er unbefannt, 
Dom Schmutz; des Alltagslebens, o reinige mich, Quelle, 2. 
Daf mir der Wind von oben des Geiftes Segel ſchwelle! Wie fönnten wir auf Erden fo froh u — 

NE — nd glücklich leben, 
Und tret’ ich, Wald, in deine geweihten Sauberfchranten, Wenn fich die Menfchen wollten nicht ftets fo überheben, 


O gieb die Auhe wieder den ftürmenden Gedanfen! | ern nicht die niedre Selbftfucht fie zöge in den Staub, 


Beruhigt oben fchwebend im offnen Himmelsraum, ; sn: . * 

Sehr ich im Exdentreiben mr einen wäßen Tamm. Drin fie wie Dieh ſich wälzen, gemeiner £üfte Raub! 
Dann bin ich nicht gleich andern entwürdigt unters Tier, 3. 

Am Felſen feftgefchmiedet der niederen Begier. Der Kampf ums Dafein zwingt uns, die andern zu ver- 
Und find des Berzens Wünfche gewelft im Sturm der Zeit, geffen, 

So werd’ ich ruhig ftehen, von Keidenfchaft befreit. Und uns mit Haut und Haaren einander aufzufreffen. 
Ich werde um mich bliden und werde freudig fehen, Und fragft du: Wird die Zukunft nicht ändern diefes 
Wie durch das ganze Leben Gefetze waltend gehen; Treiben? — 


Daß auch die Selbftjucht, welche ins Herz die Krallen gräbt, | So hörft du: Ewig, ewig wird diefer Jammer bleiben! 





Neubau. 


Novelle von 
Auguſt Strindberg. 
Aus dem Schwebilchen überfegt von Guſtav Lichtenfein. 


&s war an einem MairAbend am Genferjee. 
Die Meinftöde trieben ihre erfien Blüten, Die 
Nachtigall ichlug Tag und Nacht in der Libanon- 
jeder des Beau Rivage, die Rofen befleideten 
Mauern und Wände, der Bambus neigte fid) vor 
dem warmen Seewinde und bie fyeigenbäume be» 
dedten fih mit jungem Laub. Die frifh anges 
ftrichenen Bergnügung&boote Tagen ſchaukelnd in dem 
Heinen Hafen und hatten die Flaggen aller Nationen 
gehißt. Die bunten Wimpel flatterten in friedlichen 
Spiele, einander peitj—hend oder fi um einander 


ihlingend wie badende Knaben; der bleiche Halb» | 


mond neben dem glänzenden Sternenbanner, der 
ſchwarze Adler die Trifolore liebfojend, Albions 
bluteote Leinwand mit der blaugezeichneten Ede 


ala Andenfen an die blutgetränften blauen Berge 
und Seen des Schwefterlandes, Spaniens rotgelbe 
und Griechenlands blauweiße Flagge, alle augen= | 
blidfich in Gottes Frieden glänzend durd das weiße | 
Kreuz auf rotem Grunde der Eidgenoſſenſchaft, alle | 
beleuchtet von berjelben Abendjonne und fih ab» 


zeihnend an den für unverleglich erflärten Savoyer 
Alpen, wo nad dem legten Donner und Knallen 
der für immer verwiefenen Kanonen und Ehaffepot- 


gewehre nur die Büchſe des Gemsjägers die Ruhe | 


ftören darf. 


Frohe, freundliche Menſchen firömten hinab in | 


den Park im Bean Nivage, um die Magnolien 
biühen zu fehen. Das Unterholz mit feinen dunklen, 


gejhmeidigen Zweigen zeigte nod) fein Blatt, aber | 


es war von der Spike bis zur Wurzel mit wohl 
taujend weißen Glödchen, deren Grund violette 
Farben zeigt, bededt. Der Gärtner hatte zwijchen 
Lorbeer und japanifcher Mifpel für fie Platz gemacht, 
damit fie, die Königin aus frembem, jonnigem Lande, 
den bewundernden Menſchen ihre Schönheit zeigen 
fonnte, 
Lachen veritummt, und ber Fremde, der fie zum 
eriten Male fieht, bleibt ernit und verwundert, wie 
vor einer Offenbarung ſtehen. Man will heran- 
treten, um fie zu berühren, fie mit feinen Sinnen 
zu empfinden, aber der wohlgejhorene Rajen hält 
die Profanen in einem gewilfen Abftand. Die 


Man nähert fi ihr mit Ehrfurdt, das 


ı fchreienden Tulpen auf den Rabatten werden von 
| der einfachen, weißen Blumenpradht zum Schweigen 
| gebracht, weiß wie der Schmud einer Braut oder 

einer Leiche, und die ſchwarze Zeder ftredt ihre 
‚ langen Zweige mit dem aufwärts gebogenen Sproß 
wie Finger aus, ala wolle fie die Schönfte auf der 
großen Hochzeit des Frühlings jegnen. 

Auf einer Bank in der Nähe des See⸗Ufers fahen 
zwei alte Damen, beide elegant gefleidet, vielleicht 
' für ihre fünfzig Jahre in etwas zu lebhaften Farben 
und zu modernem Schnitt. Die eine hielt eine 
Nummer der „Saturday-Review* in ber Hand, 
deren Leitern fie durch ein goldenes Binocle be 
tradtete. Ihr Gefiht war weißgelb und ftreng, und 
ihre Nafe hatte jene vornehme Form, die zugleich 
auf reihe Eltern und ein edles Gemüt hindeuten 
jol, Als fie von ihrem Bude aufjah und bie 
ſchönſte Ausficht der Welt betrachtete, geſchah dies 
mit einer Miene, als ob ie in der Anordnung der 
Alpen und ber Sonne irgend etwas Tadelnswertes 
gefunden habe, 

Die andre Dame, ihre Schwefter, ſah mie die 
Güte, die Nahfiht und Zufriedenheit jelbft aus, 
‚ und ihr rundes, freundliches Geficht midte allem, 
was fie ſah, Beifall zu; jedem Schatten, allen 
Flecken wich fie aus, und wenn dies nicht anaing, 
ſchloß fie die Augen und dadte an etwas Schöne. 
Wenn jemand von einem Unglüd, einem Verbrechen 
' erzählen wollte, fo bat fie für fih um Schonung; 
es thue ihr nur wehe, und fie könne ja dod ge 
ſchehene Dinge nicht ungejchehen machen. 

Zwiſchen ben beiden Damen faß ein junges 
Mädchen mit dem in der Schweiz ala jchön an- 
gefehenen Typus: ovales Geſicht, niedrige Stim, 
gerade, ſchmale Nafe, welche die Mütter daburd) 
bervorzubringen ſuchen, daß jie recht fleißig dir 
Stumpfnafe des Kindes zufammendrüden, hochbuſig, 
mit geraden Schultern und ſchmaler Taille, wie die 
Mode der Frauen im Mittelalter war. Ihr Haar 
aber war faft weiß. Sie hatte ein Buch auf den Knieen 
und betrachtete unruhig alles und alle, bald ben 
Schwan, der mit feinen kürzlich außgebrüteten Jungen 
am Ufer auf und nieder ſchwamm, bald die 





Neubau. 


amerilaniſchen Anaben, die mit ihren Schwimmfleidern 
in dad Badehaus hinunter gingen. Sie betrachtete 
die Segelboote, die auf dem See freuzten, und Die 
Möwen, die mit breitem, ruhigen Flügelſchlag ihre 
Kreije zogen. Endlich Mappte fie dad Buch zu und 
jagte mit müder Stimme: 

„Wer doch ein Schwan fein könnte!“ 

„Ein Schwan?" antwortete die firenge, unver- 
heiratete Tante. „Weldhe Einfälle! Und jedes Jahr 
im April fünf Yunge befommen!“ 

„Was ift denn meiner Blanche heute abend?“ 
fragte die freundliche Tante, eine Witwe, deren ein« 
jiges Kind geſtorben war. 

„O, nichts,“ antwortete Blandje und errötete, 

Es wurde wieder ftill, 

Nun ging ein Trupp Bergfteiger, englifhe Damen 
und Herren mit Alpenftöden und Rudjäden, an ihnen 
vorüber. Sie gingen Arm in Arm und blidten 
froh und glüdtich drein. Wie männlich die Mädchen 
ausſehen! dachte Blanche, ala fie die Gamaſchen, 
bie furzen Nöde und die fchottiichen Wollmüßen 
derfelben erblidte, Und fie würden in einer Senn« 
hütte übernachten und bei Sonnenaufgang auf die 
Gipfel fteigen, Käſe und Brot efjen und weihen Wein 
trinten — ohne Eltern, Tanten oder 2ehrerinnen, 
Sie fühlte fi wie eine Gefangene, von zwei Wäd- 
terinnen, die niemals einfchlafen konnten, bewacht. 
Hätte fie um Erlaubnis zum Baden gebeten, fie 
wären ihre mit zwei Thermometern gefolgt; hätte 
fie gewünfcht, auf den See hinausrubern zu dürfen, 
fie hätten drei Männer und zwei Pfalmbücher mit 
fi) genommen; hätte fie um die Erlaubnis gebeten, 
mit Hameradinnen auszugehen, fie wären mit ihr 
gegangen. Fiel ihr einmal ein fühner Gedanke ein, 
die beiden Tanten lafen ihn fofort von ihrem Ge— 
fiht und ertappten fie; empfand fie einmal ein auf- 
rührerifches Gefühl, fie wurde ſogleich durchſchaut. 
Sie hafte diefe Tanten. Sie wollte ihnen davon- 
laufen, fid in den See flürzen, aber da fühlte ihr 
gutes Herz einen Stid. Sie war undankbar; dieſe 
beiden Menſchen lebten nur für fie, und fie war 
deren einzige freude. Sie war deren Freude! 
Welche Freude aber gaben fie ihr? Sie gaben ihr 
Lebensunterhalt und Erziehung; ein Kind kann in« 
bes für den Lebensunterhalt nicht dankbar jein, denn 
es ift noch nicht zu der Erkenntnis gelommen, daß 
man für das bloße Leben dankbar fein müjle. 

Aber die Erziehung! Das ift wahr; fie war 
dazu augerloren, ihr ganzes Gejchlecht zu rächen, 
fie durfte ftudieren und ber Welt zeigen, daß das 
Weib dem Manne nicht untergeordnet jei, was die 
Welt niemals bezweifelt hatte, was aber der ſtrengen 
Tante von vornherein Har war. Sie jollte Rache 
nehmen, Rache an dem Unrecht, welches die frenge 
Tante durch das ganze Männergeſchlecht erlitten 


1069 


hatte, weil nicht ein einziger ihrer Freier Kavallerie 
lieutenant gewejen war. Sie jollte außerdem ber 
andern, der gütigen Tante den verlorenen Mann 
und das tote Kind erſehen. Das war ihre doppelte 
Aufgabe, aber diefe befriedigte fie nicht. Sie hatte 
neulih von den anthropomorphen Affen gelefen, die 
von einem einzigen iyrannifiert werben, der bie 
ganze junge Truppe für ſich leben läßt, bis die 
jungen heranwachſen, dann regelmäßig revoltieren 
und ſich befreien. Die Orbnung ber Natur fhien 
in der Natur ungleich zu fein. 

Run kam eine Schar Studenten unter Gejang, 
mit Trommeln und Fahnen an das Ufer, wo be- 
flaggte Boote ihrer warteten, um fie zu einer Re» 
gatta zu führen, Ihre Couleur-Mützen, ihre bunten 
Berbindungsbänder über den MWeften, ihre freien 
Bewegungen in den Booten, das anfeuernde Trommel» 
ſchlagen, das alles machte Blanche noch unrubiger. 

Die Tante mit der „Review“ betrachtete die 
Studenten dur ihr Binocle mit mürriſchem, bo3« 
haftem Auge, als ob fie dächte: Wartet nur! Blanche 
aber fam der Gedanke: In drei Wochen bin auch 
ih Student! Ein Dann aber werde ich doch nie» 
mals, 

Was bedeutet diefer Seufzer des weiblichen Ge— 
fchlechtes, den man durch die Stürme der Zeit ver- 
nimmt? Wäre ih ein Mann! jo grübelte fie weiter. 
Iſt es die Empörung gegen die männlichen Unter 
drüder? Nein, Blanche wurde ja von zwei Frauen 
unterbrüdt, und aud alle Männer widerjegen ſich 
der Unterbrüdung! Iſt es das Urteil der Kultur 
über ſich jelbft? Iſt es die verftümmelte, unter 
jochte Natur, die Tieber nichts fein will als etwas 
Halbes? Bedeutet die Sehnſucht des Weibes nad) 
Freiheit nicht Dasjelbe wie die des Mannes? Blanche 
fühlte ſich kranl. Sie wollte nah Haufe gehen. 
Es fing an falt zu werden. Die beiden alten 
Frauen ftanden auf; die firenge Tante Bertha, 
deren Füße unficher waren, ergriff aus alter Ge- 
wohnheit Blanche Arm. Und jo gingen fie, Schritt 
für Schritt. Blanche hörte den Gejang der Stu: 
denten auf dem See — fie mußte dem ſonnigen 
Bilde den Rüden fehren und zurüd in die graue 
Stadt. Ihre Füße wollten eilen, aber der magere 
Arm der Tante hielt den ihrigen wie eine Ktrücke 
umjpannt; fie war an das Alter feftgefettet, gefeſſelt 
an eine ſelbſtiſche Zärtlichkeit, die zu geben glaubte, 
wo fie allein empfing, Schritt für Schritt, wie 
eine Wanderung zum Grabe, ging die Rüdfehr zur 
Eifenbahnitation von ftatten ; dazwiſchen mußte man 
ftillftehen, damit Tante Berta Atem jchöpfe. Sie 
Hletterten in ein Coupe, ftarrten auf die Anſchläge 
in der Bahnhofshalle und wurden endlich durch den 
Tunnel hindurch nad Yaufanne geichleift. . 


1070 


Nah beendigtem Abendefien durfte Blanche zu 
einigen fyreundinnen gehen, die Geburtstag feierten; 
bad Dienftmäddhen aber follte fie um zehn Uhr 
holen. Blanche fühlte ſich unwohl, fie hatte Kopf- 
jchmerz und fror und zog e& daher vor, zu Haus 
zu bleiben, Sie begab ſich auf ihr Zimmer, das 
vor dem der Tanten lag, und bat, fie allein zu 
laſſen, da fie leſen wolle. Es war ein großes, 
ſchönes Zimmer, mit allerhand einen Lurusgegen- 
ftänden angefült. Die Möbel waren gepolſtert 
und mit Kiffen belegt, die Dielen mit Matten be» 
dedt, die Wände mit Bildern behängt. Anftatt der 


Toilette war ein Schreibjefretär vorhanden, anftatt- 


einer Kommode ein koloſſaler Mahagonitiih mit 
Fächern und Saften und zu beiden Seiten bes 
enter paradierten gewaltige Büchergeftelle. Aus 
der Büherfammlung leuchtete die „Revue Suiffe* 
in ihrem blauen Umfchlag, die „Revue des Deur- 
Mondes“ in ihrem fleifchroten Einband hervor ; hier 
ftanden „Thomas a Kempis“ und „Bunyan“, „Eurer 
Bell“, „Miftreß Gore“ und „Miß Cavanagh* fried- 
li nebeneinander, Der Schreibtiih war mit allerlei 
Büchern bededt. Blanche jehte fih an den Tiſch 
und blätterte in benjelben. Hier aljo lagen bie 
Bejreier aus den engen Banden, welde um das 
Weib gezogen find — dies waren die Zaubermittel, 
die fie dem Manne gleich; machen follten. Wunber« 
bar genug, meinte fie; noch hatte fie von einer Ber 
freiung nichts gemerft. Ihr Kopf war jcdhwerer, 
aber ihre Gedanken waren nicht freier. Sie hatte 
in all diefen Büchern, die vom Staate gebilligt und 
garantiert waren, nicht ein Wort von Befreiung 
gelejen. Sie hanbelten ja nur von unwirfliden 
Dingen, von dem, was gewejen und niemals wieber 
werden fonnte; aber von dem jefigen Leben, von 
der Zukunft ftand fein Wort darin. Es war nur 
eine Berberrlihung menſchlicher Thorheit. Bon dem 
großen Reformator Ealvin, der, faum den Flammen 
entgangen, weil er nicht an das Mofterium bes 
Abendmahls glaubte, Michael Servet verbrennen 
ließ, weil dieſer in der Dreieinigleitslehre einen 
Widerſpruch ſah. Hier pries man den Meineidigen 
und Anardiften Wilhelm Tell, der, „ſtreng genom» 
men“, fein ehrenwerter Mann war, ba er feinen 
Eid gebroden und das Volk aufgemwiegelt hatte. 
Sie hatte feine Hoffnung, im Leben jemals ein 
Dreied mit drei rechten Winkeln anzutreffen ober 
dag Vergnügen zu genießen, einen Kleinmütigen 
zu überzeugen, daß das Quadrat der Hypotenuſe 
gleih dem Quadrat der beiden Katheten jei. Sie 
wußte nicht, wozu die Logariihmen anzumenden 
wären, da fie nit Seemann werden wollte, und 
Chriſtoph Kolumbus Amerika übrigens ohne Loga— 
rithmen entdedt hatte, an deren Aufitellung ſich 
Leibniz erjt ein paar humdert Jahre jpäter ergöhte, 


Augufi Strindbberg. 


Sie wußte mit dem neueren Entdeckungen der Aſtro- 
nomie nichts anzufangen, da ſchon bie Wegupter 
ohne Herſchels Zeleftop den Kalender aufgeitellt 
hatten; fie begriff nicht, was fie mit den Sähen 
des Archimedes und mit Mariottes Gejeen beginnen 
folte, da Edifon das Zelephon ohne dieſelben er» 
funden hatte, Worin lag alſo der Wert der Bücher? 
Im Diplom, das ſie fid erringen follte, oder in 
der Rache der frauen gegen die Männer, von der 
die Tante ftets jprah? An wen follte fie ſich 
rähen? Männer hatten fie nicht unterdrüdt; dies 
war nur von frauen geichehen. Ihre verftorbene 
Mutter hatte jie bewacht; der Water war nie zu 
Haufe gemwejen; ihre Lehrerinnen hatten fie wie eine 
Gefangene eingeſchloſſen, Lehrer hatte fie nie gehaht, 
außer einem Slavierlehrer, der. für fie in den Tod 
gehen wollte und deshalb verabjchiebet wurde; ihre 
Zanten hatten fie wie ein Schoßhündchen gehütet. 
Warum? Um fie vor fallenden Dachziegeln, vor 
Feuersgefahr oder Erdbeben zu fügen? Bewahre! 
Bor andern Dingen? Vor weldhen? Bor bölen 
Buben? Die Jungen waren jtet3 freundblid und 
dienfibeflifien, und Blanche hatte fie lieber als bie 
Freundinnen, die fi nur neidiih und boshaft 
zeigten. Warum aljo ſollte fie vor jenen beſchüht 
werden, warum fi rädhen? Sollte fie einmal zu 
der Macht gelangen, ihre Hand gegen Feinde er- 
heben zu können, jo würde es nicht gegen Männer 
geihehen. DO, wenn dod ein Dann füme, fie zu 
befreien! Er jollte ſchmutzige Stiefel tragen, nad 
Tabak riechen und unrafiert fein dürfen, alles Eigen- 
Ihaften, welche Tante Bertha verabjcheute. 

Sie blidte im Zimmer umber, wie nad) einem 
Ausgang; es gab feinen; es war ein Sad, eine 
Mäufefalle, und draußen lagen die Katzen auf der 
Lauer, Sie fand auf und jchritt wie eine Ge 
fangene auf dem Teppich auf und nieder, Ihr 
Kopf ſchmerzte. Sie holte aus einem Schrank eine 
Flaſche Eifig heraus , befeuchtete ein Handtuch mit 
demfelben unb legte e8 um ihren Kopf. Darauf 
blidte fie in den Spiegel; außer um die Augen 
war fie völlig rot im Gefiht. War es die Geſund ⸗ 
beit, welche den Büchern nicht ganz zu zerflören ge- 
lingt, oder war es Krankheit? Die rote Farbe 
ſchien ihr nicht zu behagen, fie jehte die Flaſche an 
den Mund, trank einen Schlud, ohne Grimafjen zu 
ſchneiden, al& wäre fie daran gewöhnt, und jtellte 
darauf die Flaſche beijeite. Sie öffnete das Feniter 
und juchte tief Atem zu holen, aber die Luft war 
heiß und troden, und die Brije hatte viel Staub 
aufgewirbelt, jo daß fie fofort das Fenſter ſchloß 
und die Gardine vorzog. Sie zündete die Lampe 
auf dem Tiſche an. Auf einer Etagere Daneben 
ftand ein Raften mit Parfümerien. Blanche richtete 
die Augen auf denjelben, blicte erft zur Thür, ſchlich 


Neubau. 


dann mit leiſen Schritten hin, Taufchte und ſchob 
den Riegel vor. Sie trat an den Schranf, nahm 
einen mit blauer Seide gefütterten Pelz heraus, zog 
ihn über die Schultern, ſchmiegte fi) in die Sofa- 
Ede, jehte den Kaſten auf ihre Kniee und enttorfte 
ein Fläſchchen nad) dem andern. 

Es Tag etwas Unbeftimmtes, Baftardartiges über 
diefem Bilde, das der gebämpfte Schein der Lampe 
beleuchtete. Das Zimmer eine Mifchung eines 
Mädchenbouboirs, eines Stubentenzimmerd und 
eines Taufmännifhen Comptoirs. Die Befigerin 
auf dem Sofa, mit dem Geficht eines Mädchens, 
dem Naden eines Knaben, den mit Tinte beſudelten 
Fingern eines Schreiber und ben hochgewölbten 
Füßen einer Tänzerin. Der Stehfragen mit einem 
Seemannsfnoten auf dem weiblichen Bufen. Der 
widrige Geruch des Eſſigs, der fi) mit dem ber 
Parfümerien vermengte. Erft umfprühte fie ſich 
mit Ylang-Plangs Narziffenertraft, der betäubend 
dad Zimmer füllte. Blanche öffnete die Nafenflügel 
und den Mund und atmete den beraufchenden Duft 
mit vollen Zügen ein, während das Blut im bie 
dur den genofienen Eſſig gebleichten Wangen ftieg. 
Darauf folgte ein Staubregen von Maiblumen, 
mit feinem feufchen, reinen Frühlingsduft. Jetzt 
ſchloß Blanche die Augen, als ob fie eine Pifion 
hätte, eine Frühfommerlandichaft mit ungemähten 
Wiejen und blühenden Fruchtbäumen, fpielenden 
Kindern und bahinziehenden Wollen; fie hörte das 
Alphorn und das Raufchen der Bäche, Dampfer- 
gloden und Jünglingschöre. 

Ihre ganze trifte, ewig graue Jugend war ver 
geffen; Gebete und Schulbücher, Kataplagmen und 
Kampfer, Konferenzen und Eramenrede mit Dante 
barfeitägeplapper, Zärtlichleit mit Gezänt und Liebe 
mit Strafarbeiten, Die Träume verdunfteten, die 
Bilder verblaften, und die Etinnerungen an das 
friſche, pulfierende Leben fliegen empor. Sie öffnete 
den Kaſten auf neue, und über den Teppich ergoß 
fih ein frifcher Regen. Jetzt war es der Spät» 
ſommer, der vor ihren Sinnen auftaudhte. Das 
friih gemähte Heu der Wiejen; die Blumen und 
Gräjer als wohlgetrodnetes futter, bereit, in Export⸗ 
butter verwandelt zu werden. Die Sonne geht 
zeitig zur Rüſte, wie ein bejahrter Menſch; die 
Bögel haben ihr Singen eingeftellt, und die Nuß- 
bäume find mit Früchten beladen. Der Herbft ift 
nahe. Nein, noch nicht Herbit! Und Blanche er 
greift eine neue Flaſche, Violette. Nun ſprießen 
Beilhen und Tazetten aus dem flaubigen Teppich 
empor, Tauben girren, der Schnee ſchmilzt; Schwäne 
jchnäbeln fi, Fiſche ſpielen, Heimchen zirpen, und 
die herzigen Knoſpen der Kaſtanie ſpringen auf, 
damit die Blüte hervorlomme und im Sonnenlicht 
ihre Beſtimmung erfülle. 


1071 


Nun ſchloß Blanche die Augen, ihr Buſen wogte, 
während das Blut flammend in ihre Wangen ſtieg. 
Sie befand fid) an einem Sommerabend im KHalb- 
dunfel in der Kathedrale zu Freiburg; die Thür 
zur Kapelle des heiligen Grabes ift geöffnet; bier 
liegt der Erldjer; daneben ftehen trauernde Weiber ; 
die Orgel tönt und brauft: dies irae, dies illa, 
dies irae, dies illa; es find Menfchen-Engeljtimmen, 
es find Stimmen der Titanen, welche die Kuppel 
von ihrem Plage heben wollen ; aber draußen dunfelt 
es immer mehr, und die gemalten enter mit 
Königen und Heiligen verlieren die Farbe; bie 
Pfeiler rüden näher aneinander wie eine Pappel- 
allee, die Bänke und Betftühle rotten fi zufammen 
wie eine Menfchenmafle; da hört man ein Donnern, 
als ob Kanonen über ein Kupferdach gezogen wür— 
den, ein bläulicher Blitz ſchlägt mitten burd) bie 
Kuppel und beleuchtet das Altarbild in der Kapelle 
deö heiligen Franziskus, und es ift jo far, daß 
man die gefchriebenen Worte leſen kann: Kafteie 
dich! Aber die Orgel, vom Donner übertönt, nimmt 
den Zweilampf auf; der unſichtbare Organift ver- 
bindet die Regifter; es entfleht eine Paufe, während 
welcher die Flötenſtimme allein einen Ton aushält, 
einen Ton, der von andern in höheren und tieferen 
Oktaven ergänzt wird, er wird durch Terzen ber» 
ftärft, bricht fi an Septimen, wird durch Duinten 
gereinigt, neue Stimmen ertönen, Oboe und Fagot, 
vox humana und bie Bojaunen, und nun ftürmen bie 
Tonmaſſen hervor wie Titanenchöre, wie Heraugforde- 
rungen an neidifche Mächte, herzzerreißend wie das 
Jammern unglüdjeliger Menſchen, aber der Donner 
vermehrt fi), das Krachen wird verboppelt durch 
das Echo in den Freiburger Alpen und in bem 
tiefen Thal der Savine; die Orgel ahmt jeine 
Stimme nad und fohnaubt und brauft, ſchreit und 
kracht, aber nun — ein Blitz, von einem Knall be» 
gleitet, als ob alles Eifen der Welt vom Himmel 
auf die hängende Brüde gejchleudert würde, Fenfter 
flirren, Thüren krachen. Da ſchweigt die Orgel, 
und bie Flöte begleitet die Menſchenſtimme, die alle 
mählih aus einer Romanze in eim mweltliches Lied 
übergeht, aus dem Lied in einen zügellofen Tanz; 
die blanfen Pfeifen der Orgel werden riejengroße 
Fliederbüſche, die runden Baden der vergolbeten 
Engel fallen ein, das Kinn verliert fi) in einem 
Ziegenbart, und durd) die Loden treten die Spigen 
Heiner Hörner hervor; grinſend blafen fie in die 
Zinnpfeifen, fie blafen Hymnen Pant, des Wald» 
gottes, des Nilbefruchters der Natur; die Pfeiler 
ſchäfte ſchlagen Laub aus, und im der Luft fingen 
glüdliche Vögel. Unter der blaugeiprenfelten Haut 
des heiligen Franzislus bildet ſich rofenrotes Fleiſch, 
und er wandert wie ein glüdficher Jüngling mit 
Maria Magdalena empor zur Apfis, wo fie einander 


1072 


ſüße Sünden beichten; aus der Kapelle des heiligen 
Grabes fteigt Apollo mit fchwellenden Schenteln 
und fräftiger Bruſt; troig und froh blidt er bie 
weinenden Weiber an, und mit auägeftredter Hand, 
ein Siegerlädeln auf den Lippen, jpricht er: „Ehriftus 
ift auferftanden.“ Und aus den Gräbern unter 
dem Boden vernimmt man ein Poltern, ald ob Ge- 
fangene ins Freie wollen, und ſie rufen und ant« 
worten: 

„Das Wort werde Fleiſch!“ 

Blanche erwacht aus ihrem Rauſch. Die Lampe 
brennt noch auf dem Tiſch; die Luft im Zimmer 
iſt erſticend. Es klopft an die Thür. Sie ſpringt 
auf, ſchiebt den Riegel zurück und finft auf einen 
Stuhl, weinend, daß ihr Körper ſich jchüttelt. Die 
Tanten bringen fie zu Bett, bereiten im Kamin ein 
Teuer und machen ihr Kamillenthee. 

* 

Der Examentag war vorüber und Blanche am 
Abend bei den Tanten, die einige Freundinnen zum 
Thee geladen hatten. Tante Bertha flrahlte vor 
Vergnügen. Blanche war ruhig wie nad) einer 
überftandenen Gefahr. Die Fenfter fanden offen; 
von der Straße herauf hörte man fröhliches Summen, 
Blanche wuhte, daß die neuen Studenten ein Feſt 
feierten, zu dem man auch fie geladen hatte, aber 
fie bejaß nicht den Mut, die Tanten zu bitten, dem— 
jelben beimohnen zu dürfen, und noch weniger das 
Herz, fie an diefem Abend zu verlaffen, Ihr Ge- 
fängnis war gejprengt, die Hoffnung auf freiheit 
war erwacht; das machte fie froh, obgleich fie wußte, 
daß bie Ketten nur verlängert, nicht gebrochen wer« 
den würden. 

„Nun,“ jagte Tante Bertha, „die Zeitung bringt 
einen hübjchen Artikel über Blande. ‚Die Be- 
freiung des Weibes ſcheint zur Wirklichkeit zu wer« 
den‘,“ lad fie; „Jahrhunderte alte Vorurteile, daß 
die Beitimmung des MWeibes darin befiehe, zu ge- 
bären und zu nähren, haben das glänzendfie De— 
menti erfahren, da wir heute mit Vergnügen mit- 
teilen fönnen, daß Fräulein Blanche Chappuis das 
Eramen beftanden bat, um fi an der Univerfität 
Zürich als Aerztin auszubilden.‘“ 

„Ih bin erjtaunt,* jagte Blanche, die von dieſer 
Art Befreiung nichts wiffen wollte, „daß man es 
als etwas Merkwürdiges betrachtet, wenn ein Mäd— 
hen das Mbiturienteneramen beſteht, was doch 
jeder mittelmäßig begabte Knabe kann,“ 

„Darin hat Blanche recht,“ fiel eine Penfions- 
Ichrerin ein. „Auch die ‚Revue‘ bringt eine jehr 
richtige Bemerkung. ,‚E3 ift eigentümlidy‘, jagt fie, 
‚daß jedes Gramen eines Mädchens vom unfern 
fonjervativen Kollegen als ein Sieg begrüßt wird, 
während fie gleichzeitig über die Vermehrung des 
wiſſenſchaftlichen Proletariats jammern, da bekanntlich 





Yuguft Strindberg. 


das Abiturienteneramen, zum Vorrecht der oberen 
Klaffen geworden, nur den Vermögenden erreichbar 
if. Unfre Studentinnen follten ſich für die Ehre 
bedanken, ala ein Wunder gefeiert zu werden, denn 
das ift ein Schimpf gegen ihr Geſchlecht, und daß 
unfre fonjervierenden Elemente ihnen unter die Arme 
greifen, beweift, daß jene eine gute Verftärkung ihrer 
Neihen durch fie erwarten. Wenn der Tag kommen 
wird, wo das Maturitätseramen ein andres umd 
das gleiche für alle Mafjen und für beide Geſchlechtet 
jein wird, dann werden wir mit in den Lobgejang 
einftimmen.‘“ 

„Ja, hört nur,” rief Tante Bertha aus, „Die 
Männer des Fortſchritts! Ein Eramen für ale. 
Dann wäre es ja feine ſtunſt mehr.“ 

„Das ſoll es auch nicht fein,“ antwortete Blande, 
„und id; meine, die ‚Revue‘ hat recht.“ 

„So, alfo ſolche Lehren empfangt ihr jeht,“ fagte 
Tante Bertha. 

„Ja, weißt du, Tante, aus Euflid oder Julius 
Gäfar erhalten wir fie nicht, aber troß diefer Bücher,“ 
antwortete Blanche, die ſich ungewöhnlich mutig 
fühlte. „Bedenke doch, wie fi alle armen Schnei- 
derinnen, Wäfcherinnen, Arbeiter und Bauernfrauen 
gedemütigt fühlen müfjen, die tro ihrer Begabung 
nicht dasſelbe Wunder verrichten fönnen, wie e& 
mir dank eurer freigebigfeit vergönnt war, ber 
meinft du, daß alle Frauen das Examen machen 
jolen? Warum nicht alle Knaben, alle Handwerler, 
Arbeiter, Bauern und Gomptoiriften? Es ift je 
nur eine ölonomifdhe Frage, und wenn es einem 
gelungen ift, fi etwas Wiſſen anzueignen, weil 
man vermögende freunde oder Angehörige hat, jo 
ſoll man damit nicht in den Zeitungen prahlen, 
denn es ift genau dasjelbe, als ob man anmoncieren 
würde, man fei in der glüdlichen Lage geweſen, ſich 
ein neues Sammetlleid zu kaufen.“ 

„Du bift jo philoſophiſch geworben, liebe Blande,“ 
antwortete die Tante Bertha, „daß deine alte Tante 
dir kaum antworten kann. Aber du jollteft dein 
tiefes Willen lieber dur die Anwendung einer 
Sprache beweifen, die nicht jo voller Mut, um nicht 
zu jagen Uebermut, ift. Denn man kann ſehr viel 
Wiſſen befiten, ohne gebildet zu fein. Die Bildung 
fit nicht in dem Büchern, fondern im Herzen. Yu 
Herzen, liebe Blanche!“ 

Blanche that es Leid, die Tante gefränft zu 
haben, aber fie war ſtark verſucht, deren verwortent 
Argumente zu widerlegen. Sie ftand jedoch davon 


' ab. Einen Vorwurf hatte fie nicht verdient, im 


Gegenteil, aber die Tanfe war jo voller Groll und 
Leidenfchaftlichteit, daß fie es nicht hören Tonnte, 
wenn ihre geliebte Nichte fich jelbft aufs Obr ſchlug 

Beim Abendeffen erhob Tante Bertha ihr Ga! 
und tranf auf den Sieg des Tages (des Kapitalt!); 


— — ._% 





Neuban. 


„sie hoffe (ganz wie Blanche), daß der Tag fommen 
werde, da alle frauen (aber nicht alle Männer) 
das Eramen machen werden; fie jei überzeugt, daß 
das Weib eines Tages als Siegerin aus dem 
Rampfe (gegen die Naturgejee) hervorgehen werbe, 
und dann würden die Männer erfahren... .” 

Dur das offene Fenſter drang ber Laut von 
Hornmufil, Blanche Tannte fie ehr genau. Es 
war die der Studenten, die zum Feſte nad) Beate 
Nivage hinunter zogen. Blanche vermochte nicht 
ruhig zu fißen, fie jprang auf und trat an das 
Fenſter. Da gingen fie, der ganze Trupp mit 
fliegenden Fahnen und leuchtenden Bändern. Wenn 
fie hätte dabei fein fünnen! Freie Gedanfen aus— 
ſprechen, aus voller Bruft fingen, fie unter den 
Arm nehmen, vielleicht mit ihnen tanzen dürfen! 
Jeht wurde fie gejehen! Die Fahnen jenkten jich, 
Mügen wurden gejchwenft, und die Muſik ſchwieg 
einen Augenblid infolge der fräftigen Hurrarufe, 
Sie wurde von dieſem Gruß — al Huldigung wollte 
fie es nicht auffaffen — fo ergriffen, daß ihr die 
Thränen in die Augen traten, aber zugleich empfand 
fie einen Stih im Herzen. O, die lähmenben 
Feſſeln an ihren Händen und Füßen! 

Der Laut der Schritte erftarb, aber unten in 
dem Gäßchen ſah fie einen ihr befannten Studenten 
jeine Müte ſchwingen, als ob er ihr winfe, hinaus, 
fort, fort mit ihnen zur Freude, zur freiheit und 
zum Sampf! Als Blanche vom Fenfter fortgehen 
wollte, erblidte fie auf der entgegengejeßten Seite 
der Straße in einem Thorweg einen Schuiterjungen 
mit einem Paar Stiefel in der Hand, der der ber= 
Ihwindenden Jünglingsſchar nachſah. Lange, fange 
ſchaute er ihnen nad, er jo wie fie. Es giebt aljo 
no mehr Menſchen, die nad) Freiheit jeufzen, außer 
uns rauen. Der ärmlich gefleidete Junge ſchlich 
aus dem Thor, um ungeſehen feinen Weg fortzujegen, 
ungejehen von den Rindern des Glüds, eines Glüds, 
das für ihn nur Leiden birgt, ohne es zu wollen, 
ohne es zu wiſſen. 

Das Abendeſſen war vorüber, und bie Gäſte 
gingen fort. Blanche ſchützte nach den Aufregungen 
des Tages Mübdigfeit vor und ſchloß fi in ihrem 
Zimmer ein. Das erfte, was fie that, war, daß 
fie fämtliche Lehrbücher in einen Winfel warf. 
Darauf fehte fie ih an den Schreibtiſch und über- 
fie fih ihren Gedanken, Welches Wunder, dachte 
fie, daß es überftanden ift! Wenn nun der Era- 
minator nad dem Spaniſchen Erbfolgefrieg, nad 
dem dritten Bud; Livius, nach der Proportionslehre, 
nad den Niedgräfern, nach der Witrologie, nad) den 
deutichen Präpofitionen gefragt hätte... Dann 
wäre biefer Tag ein Tag der Schande gemejen! 
Welches Glück, Hindurd zu fein, und wie gering 
das Verdienſt! Und nun war fie für dieſes Wunder 

Aus fremden Qungen, 1897. IL 23, 


1073 


in der Zeitung gelobt worden. Für das Wunder 
durften nur die Tiebenswürdigen Eraminatoren ge— 
lobt werden! Für das Glüd — niemand! — 
Uber die Befreiung! Die würde nun fommen! In 
welcher Form? Chemie, Anatomie, mehr Latein, 
Phyſil. Wovon war fie bisher befreit worden? 
Don dem Unbehagen, weniger zu wiſſen al& viele 
andre! Das ift zwar eine Erleichterung, aber eine 
geringe und ganz etwas andres, als was fie er- 
träumt hatte. Ihre frifcheften Gedanken hatte fie 
in müßigen Stunden ohne Bücher gedadt. Und 
von ihren Wächterinnen war fie auch jeht gefangen, 
aber wenn der lange, der jehsjährige Kurſus vor« 
über war, und fie als Aerztin hinaus mußte in die 
Praris, dann — dann war fie doch frei? Doc, 
ſechs Jahre! Es ift eine lange Zeit! Aber immer- 
hin eine Hoffnung! Nun fommt der Sommer. 
Eine Penfion in Interlafen mit den Tanten. Dort 
würde fie wenigftens Menſchen treffen, was in ben 
Büchern nicht gefchehen war, benn die find fo vor- 
fichtig geſchrieben, daß die Wirklichkeiten des Lebens 
gewiſſenhaft verborgen werden. Mit dieſer Hoffnung 
ging fie zu Bett; bald war fie eingeſchlafen. 

Sie hatte nicht lange geſchlafen, vielleicht einige 
Stunden, als jie erwachte. Der Mond ſchien in 
das Zimmer und zeichnete gelbe Striche und Flächen 
auf die Dielen. Sie hörte Gejang, eine klingende 
Männerftimme, die eine italienische Romanze mit 
Buitarrebegleitung fang, und am Schluß jeber 
Strophe fiel ein Chor ein. Sie lauſchte eine Weile. 
Weshalb fingt man fo jpät auf der Straße, und 
wer kann es jein? — Sie ſchlüpfte in ihre Pantoffel 
und trat an die Gardine. Unten ftand eine Gruppe 
Studenten, die fie an den Mützen erkannte. Und 
alle jahen nad ihrem Fenſter. Eine Serenade! 
Für fie? Ohne Zweifel. 

In demfelben Augenblid trat Tante Mathilde 
im Morgenrod ein. 

„Laß die Gardine herunter und zünde Licht an, 
Kind! Eine Serenade für dich!“ 

„Aber Tante Bertha?” fragte Blanche unruhig. 

„Sie ftellt ſich ſchlafend,“ flüfterte Tante 
Mathilde, 

„Beeile dich, fie fingen ſchon eine ganze Weile!“ 
Die Gardine wurde herabgelafjen und Licht an— 
gezündet, 

Als es auf der Straße wieder till getvorden 
war, lag Blandje in ihrem Bett und grübelte. Die 
fröhlichen Menſchen hatten ſich heute abend vergnügt 
und boten ihr das Deſſert an. Wohin gingen fie 
von bier aus mit ihrer Guitarre und ihren halb» 
heiferen Stimmen? Und warum hatte man fie 
gefeiert? Sie brachten doch den andern Studenten 
feine Serenade? Mein, man feierte fie ala Weib! 
As Weib! Das war der Grumd! Es iſt alfo 

135 


1074 


etwas Bejonderes, eiwad mehr, Weib zu fein? Ver- 
mutlih! Aber das ift langweilig! Vielleicht ift 
es ein Vorteil, ein Gewinn? Das kann ſchon fein. 
Blanche erinnerte ſich, diefer Tage in einer Zeitung 
von einem Ehemann gelefen zu haben, den feine 
Frau gejchlagen hatte; aber e8 war in der Form 
einer fcherzhaften Anekdote unter „Vermiſchtes“ er 
zählt worben, während fie unter der Ueberjchrift 
„Unnatürlihe Gewalt“ Geſchichten von Männern 
gelefen hatte, die ihre Frauen ſchlugen. Schützt 
denn das Geſetz den Mann nit, wenn er der 
Schwächere ift, da e8 das Weib jhüßt, ohne Rück- 
ficht, ob fie die Stärfere ift, was ja bie amüfante 
Anekdote als möglic gezeigt hatte? Dann ift das 
Geſetz ungereht! In gewilfen Fällen ift es alio 
ein Vorteil, Weib zu jein, in andern wieder nicht. 
Iſt es in wichtigeren Fällen ein Vorteil? Vielleicht! 
Marum ift Tante Bertha fo wütend auf die Männer 
und nennt fie Tyrannen, die geftürzt werden müſſen? 
Ja, warum? 
Und damit jchlief fie wieder ein. 
— 

Es war wieder Herbſt, als Blanche in das 
chemiſche Laboratorium am Polytechnikum zu Zürich 
eintrat, Sie wurde von den Aſſiſtenten in den 
großen Saal geführt, wo ihr ein Tiſch mit Kaſten, 
Fächern, Flaſchen und Gläfern, Reagentien in allen 
Farben enthaltend, angewielen wurde, Ein Gas 
rohr mit einer Lampe und ein Wafferrohr mit einem 
Spülfaß. Ferner eine Anzahl von Röhren, Kolben, 
Vorlagen, Retorten, Trichtern, Filtern und Pinzeiten. 
Mitten in dem Saal ftand ein folofjaler Schorn- 
ftein mit Rapelle, Zugfenftern und Gasflammen, 
um die ſchädlichen Dämpfe zu entfernen. Alles 
erichien Blanche neu und geheimnisvoll, Alles hatte 
bier ein Aeußeres, was ſich im täglichen Peben nicht 
wieder fand, Die veraltete Form der Retorten er= 
innerte an die Alchymie des Mittelalters, die Pro- 
bierröhren an das Seziergimmer des Arztes und 
die Reagentien in den Gläſern an die Myſterien 
des Apothefers, Das chromſaure Kalium Teuchtete 
wie der Untergang der Sonne; das fchwefelfaure 
Kupferoryb mar blau wie der Genferjee, und die 
Arſenikſäure glänzte wie der Neif auf Birfenzweigen. 

Mit einer langen blauen Schürze befleidet 
jchritt fie an das Merk, die Geheimniffe der Natur 
zu erforichen und zu jehen, wie die Schöpfung in 
ihrem Innern beſchaffen iſt. Der Aifiitent, der fie 
am erjten Tage unterweifen jollte, fam zu ihr und 
begann ohne weiteres die Inſtruktion. 

Er ſprach mit ruhiger, trodener Stimme, ohne 
höflich oder unhöflich zu fein, Er ergriff ihre Hand 
wie eine Zange und lehrte fie daß Probierrohr 
richtig faſſen, er ermahnte fie, den Gaskran ficher 
geichloffen zu Halten, wenn die Flamme nicht mehr 


Auguſt Strindberg. 


benußt würde, und das Spülfaß gut zu reinigen, 
wenn bie Leltion vorüber war. Darauf ging er 
in die andern Säle. 

Er war der erfte Dann, der nicht höflich gegen 
fie gewefen, und Blanche fühlte fich faſt gedemütigt. 
Aber das geſchah ja möglicherweife auf Grund feiner 
Ueberlegenbeit. 

Um fie herum an den übrigen Tiſchen ftanden 
Studenten und arbeiteten. Bei ihrem Eintritt hatten 
fie gelacht, geſchwatzt und gefungen, aber jeßt waren 
fie ruhig und flüfterten untereinander. Blande 
hörte, was jie ſprachen, denn ihre Nerven waren 
dur die neue Situation aufs äußerſte geipannt, 

„Wie fieht fie aus?“ flüfterte einer hinter einem 
Tiſche. 

„Häßlich!“ wurde ihm von einem andern ge 
antwortet, 

Blanche fühlte fich unangenehm berührt. Wer 
fragte danach, ob fie, die Herren, häßlich oder ſchön 
feien, wenn fie Chemie ftudieren wollten? War jie 
denn aber wirklich häßlich? Sie blidte im den 
großen Glaskolben, der über der Spiritusflamme 
Bing. Dort ſah fie ihr langes Geficht mit der 
fräftigen Nafe durch die fonvere Form bes Glaſes 
in folder Berzerrung, daß fie fein rechtes Urteil 
erlangen konnte, Aber jene Herren hielten fie für 
häßlich. Nun, das mwollte fie fich nicht zu Herzen 
nehmen. 

Als ihr die erfle Reaktion gelungen war, wollt 
fie dieſe dem Affiftenten zeigen, um feinen Beifal 
zu erhalten. Er war nicht in dem Zimmer. Sollte 
fie ihn aufſuchen? Nein, fie wollte nicht an al 
den Herren vorübergehen. Sie wollte warten, bit 
er wieder füme. 

Mährend der Zeit öffnete fie alle Flaſchen und 
Büchſen, um daran zu riechen. Dann pußte fie 
ein paar Probierröhren, wobei ihr etwas Schwefel⸗ 
jäure an bie Finger fam, die jofort ſchwarz wurden. 

Der Alfiftent fam. Blanche zeigte ihm ihr 
Arbeit, als wolle fie ein Lob hören. Er ſah ie 
an, wie man ein Kind anfieht, und fagte: „Es if 
nett. Fahren Sie fort!“ und damit ging er. 

Blandhe war mit diefer Anerkennung nicht zu⸗ 
frieden. Er behandelte fie überlegen. „Es ift nett!“ 
Er hätte jagen müfjen: „Sehr gut, mein Fräulein!* 
Sie war ja Studentin und fein Schulmädden. 

Bei der Heimfunft mußte Blanche ganz genau 
berichten, was am Vormittag paffiert war. Tante 
Bertha biß die Lippen zuſammen, jagte aber nur: 
„Neid!“ 

Am Abend hatte „Aeskulap“, der Verein ber 
Mediziner, Kommers und Blanche nad langen Die 
fuffionen die Erlaubnis erhalten, demjelben bey 
wohnen; um zehn Uhr follte fie jedoch zu Haufe 
fein, 


Neuban. 


Um fieben Uhr betrat die junge Studentin die 
Brafjerie Nuß. Sie mußte dur den großen Saal 
gehen, um in das Zimmer zu gelangen, wo ber 
Kommers abgehalten wurde. Der Saal war mit 
Rauchenden und Trinfenden angefüllt, die Dielen 
feuht, das Ganze jah nicht einladend aus. Sie 
hatte fich den fröhlichen Aufenthaltsort, wo die Herren 
fo gerne ihre Abende zubringen, anders vorgeftellt. 
Sie betrat das Verjammlungszimmer. Niemand 
empfing fie, niemand half ihr die Kleider ablegen, 
wie es früher geichehen war, wenn fie zum Balle 
ging. 

Das Zimmer fah ungemütlih aus. Die Herren 
rauchten Zigarrenftummel, die zum Zeil widerwillig 
in die Ede geworfen wurden, als fie eintrat. Das 
Lachen verſtummte, und das Gefpräd ward unter- 
broden. Hinter der Thür wurde fie von zwei 
Studenten durch das Pincenez betrachtet. Dasſelbe 
Flüftern wie im Laboratorium, — „Iſt jie hübſch?“ 
— Antwort: „Häßlich wie die Nacht!” 

Der Vorfigende war noch nicht anwejend. Da— 
ber jtand niemand auf, um fie zu empfangen, und 
fie fannte niemand. Man verbeugte fih nur 
leicht im Sitzen. Es wurde ganz ruhig. Blanche 
ſah fih um und bemerkte, daß fie das einzige 
weibliche Wejen war. Sie nahm auf einem Stuhl, 
der frei war, Platz, aber niemand verließ der 
jeinigen. 

Endlich kam der Vorfigende. Er grüßte wirklich, 
ohne jedoch ein höfliches Wort zu ſprechen. Darauf 
erichienen fünf Mädchen. 

Sie wurden jogleic einer Mufterung unterzogen, 
welde ergab, daß eine das Prädifat ,hübſch“ erhielt. 
Blanche juchte fih den Damen zu nähern, jie waren 
aber nicht zugänglid. 

Die Verhandlungen begannen. Wahlen wurden 
vollzogen, Statuten verlefen. „Langweilig!“ dachte 
Blandye. Darauf wurde ein Vortrag gehalten: 
Ueber die Deicendenztheorie. 

Das war neu für Blanche, aber roh, Der Bor« 


tragende verglich die Menſchen mit Tieren, und, 


Gott hatte doch den Menſchen geichaffen fih zum 
Ebenbild, die Tiere dagegen zum Nußen des Men- 
ſchen. Der PVortragende behauptete, daß das Pferd 
nicht geichaffen jei, um zu ziehen oder geritten zu 
werden, denn Noah fei weder geritten noch habe er 
kutjchiert. Das Kamel ſcheine mit einem natürlichen 
Sattel geboren zu fein; dies jei jedoch nicht jo; da— 
gegen ſcheine das Dromedar geſchaffen zu fein, um 
einen Neiter nicht aufzunehmen. Das Ganze war 
„abjcheulich“, wie Blanche meinte, Nah Schluß des 
Vortrags ftand man auf und promenierte im Zimmer 


umber. Die Herren liebäugelten mit ihren unan« 
gebrannten Zigarren und beftellten Bier, Der 
Kellner eilte mit den Seideln ab und zu. Bon 


1075 


Zeit zu Zeit vernahm man in einer ifolierten Gruppe 
eine Lachſalve, die aber jtet3 von liftigen Bliden 
nad rechts und links begleitet wurde. Die fünf 
Mädchen ſaßen wie Mauerblümden auf einem 
Balle, und Blanche fühlte fih unbehaglid. Es 
war langweilig. Sie fand, daß die Herren geniert 
waren, daß fie fi von feindlichen Elementen ums 
geben fühlten. Die Herren witterten Konkurrenten, 
und die Damen lagen auf der Sauer nad Riva- 
linnen. Die Herren wagten feine galante An— 
näherung, weil das als Huldigung aufgefaßt wer- 
den fonnte; fie wußten ja, daß emanzipierte Damen 
vor allem feine Weiber jein wollen. Die Stuben- 
tinnen waren hierher gelommen in ber Vorausjekung, 
daß fie wie Kameraden behandelt würden, aber ın 
diefer Gleichheit lag etwas Demütigendes, Blanche 
empfand, daß mit Gleichheit die Unterordnung ver— 
bunden war, und fand es ficher angenehmer, ala 
es früher gewejen. Dann war fie erflaunt, daf 
feiner der Herren den Damen etwas anbot. Aller- 
dings beftellte Hier ein jeder jein Bier jelbft, und 
e8 wäre von ben Herren höchſt unpafjend gemejen, 
fremden Damen etwas anzubieten. 

Blanche, die fih immer mehr geniert fühlte, 
fahte enblih Mut und fragte die andern Mädchen, 
ob fie etwas trinken wollten. Man warf ihr er« 
ftaunte Blide zu, und fie erhielt zur Antwort: 
„zrinten? Bier? Pfui!“ Die Situation wurde 
immer ſchwüler. Der Vorjigende, der mit den 
Damen über Chemie geſprochen hatte, jchidte num 
die Herren der Reihe nad zum Reden vor; Phyfit, 
Latein, alles mögliche, das nad) nichts weniger ala 
einer Huldigung ausjah, wurde in die Unterhaltung 
gezogen. Die Mädchen wurden immer einfilbiger. 
Das ſchöne Mädchen hatte jedoch eine geſchickte 
Wendung im Gefpräh gemadt und es mit ihrem 
Herm auf menſchlicheres Gebiet Hinübergeleitet. 
Infolgedefien war fie bald von drei Herren ums 
geben, die munter plaubderten und lachten. Die 
übrigen Mädchen zogen ſich zurüd und folgten aus 
der Entfernung mit bitterböfen Mienen dem un— 
würdigen Betragen. Die Schöne vergaß fi jchlieh- 
lich jo weit, daß fie ein großes Seidel Bier beftellte. 
Da wurde die Gruppe um fie herum immer dichter 
und die Oppofition am Ofen, wohin fid) die andern 
jungen Damen jurüdgezogen hatten, immer ſchärfet. 
Mit einem Schlage waren fie num gute freunde 
und in einer jehr lebhaften Disluſſion begriffen, 
die jedoch bei jedesmaliger Annäherung eines Herrn 
verſtummte. 

Man verſpürte ein Gewitter in der Luft, und 
die Batterie, die am Ofen geladen wurde, erſchien 
immer beunruhigender, denn jeder Verſuch eines 
Herrn, die Elektricität durch ein Geſpräch abzu— 
leiten, wurde mit einem Stoß beantwortet, der ihn 


1076 


zurüdwarf. Die Schöne hatte den Kampf auf einen 
andern, gerade ben gefürchteten und verbotenen 
Boden gelenkt und deshalb gefiegt. 

Um die Entladung zu ſtande zu bringen, ergriff 
der Vorfigende fein Seidel, Mopfte auf den Tiſch 
und räujperte fich zu einer humoriftifchen Rebe. 

„Kameraden!“ begann er, dann hielt er einen 
Moment inne, und die Damen fpikten die Obren 
bei diejer ifmen neuen Anrede, weldhe dem üblichen 
„meine Damen und Herren!” jo unähnlid war. 

„sn unfrer Jugend lehrte man uns, dab das 
Weib aus der Rippe des Mannes geichaffen jei, 
und dab alfo der Mann vor dem Weibe vorhanden 
war; deshalb konnte auch der unbefannte Berfafler 
der Bücher Mofis — der fih, wenn er jetzt gelebt 
hätte, vermutlich eine Anklage auf den Hals geladen 
hätte, weil er den Mormonismus empfiehlt — mit 
Recht von dem Weibe fordern, dem Manne unter- 
than zu fein, denn Adam war ja der Vater Evas 
und Eva aljo nad Mofis Code civil $ 4 verpflichtet, 
ihren Bater zu ehren. Nun bat uns aber die 
Wiſſenſchaft gelehrt, daß das Weib vor dem Manne 
gelebt bat, Die erfte Zelle war Weib, und fie 
allein erhielt das Geſchlecht aufrecht. Ich halte mich 
bei der unregelmäßigen Lebensweife der ſchönen 
Blumen nicht auf, ſondern werfe mich auf bie 
Tiere, indem ich bei den niedrigften beginne, um 
mit ben höchſten zu fchliegen — den Menſchen. 
Bei den Mollusfen finden wir Hermes und Aphro« 
dite, wenn ih mich jo außbrüden darf, noch un- 
individualifiert, und Männer giebt es noch nidt. 
Zum erften Male tritt Adam nicht im Paradies 
auf, jondern in der Tiefe des Meeres bei den ung 
altbefannten Cirrhipeden, wo er wie ein armfeliger 
Zropf ein Parafitenleben führt, mit unlöslichen, 
aber echten Fejjeln an die viel ftärfere und größere 
Eva fejtgelettet, jo daß er eher als eine — ver- 
zeihen Sie den Ausdruch — dem Weibchen gehörige 
klaſſiſche Rippe erfcheint, um die ganze Theorie der eng⸗ 
lichen Bibelgejellichaft von der Erſchaffung des Weibes 
über den Haufen zu werfen. Aber wir wollen bie 
niedrigeren Tiere verlajjen, um uns hoch und höher 
zu erheben. Noch bei ben Inſekten lebt die Mutter 
in ihrer natürlihen, überlegenen Stellung; fie tft 
Königin bei der Ameije und der Biene. Sie iſt 
die Herrjcherin, die Urmutter, und nur durch fie ift 
der Bienenkorb ein Korb und der Ameijenhügel ein 
Hügel, die Gefellfhaft eine Gefellichaft. Aber die 
arbeitenden Mitglieder find nicht die Männden ; 
die Ehre, zu arbeiten und ein jelbfländiges, indie 
vibuelles Leben zu führen, fällt ihnen erft viel jpäter 
zu. Die Arbeittameife ift ein verfümmertes, une 
fruchtbares Weibchen, die das Eſſen ſchafft, Woh— 
nungen baut, Srieg führt und die Jungen erzicht, 
Es ift aljo das Meib, das zuerft Kriegerin war! 


Auguft Strindberg. 


Die Männchen — verzeihen Sie den Ausdrud — 
haben ſich nicht emanzipiert. Sie find unfelbftändige 
arme Teufel, die einzig und allein bie Aufgabe 
haben, Väter von Kindern zu werben, die fie 
nie zu ſehen befommen, und dann zu fterben! 
Ein großer Schritt höher hinauf, und wir find bei 
den Fiſchen. Das Männden hat feine Freiheit 
und ein individuelles Leben gewonnen. Es ift jhon 
zum Sindererzieher veredelt, aber bamit noch Slam. 
Einen Schritt höher — dem Ideal entgegen — 
und wir find in der Luft bei den Vögeln, Das 
Männden ift Urbeiter, Krieger und Gatte. Dei 
Weibchen hat ihn emanzipiert und in die Feſſeln 
der Liebe geſchlagen. Die Arbeit ift bier geteilt. 
Bei den Säugetieren variiert die Arbeitseintei⸗ 
lung, denn die Entwidlung geht nicht gerade wie 
eine Schnur, nicht ſchnell wie der Blitz, aber im 
Zidzjad wie dieſer. Und nun find wir bei ben 
Engeln, ich wollte fagen: bei den Menſchen. Bei 
wilden Bölterftämmen ift bie untergeordnete Stellung 
des Mannes, wie man es nennt, noch in Blüte, 
Das Weib fiht zu Haufe am Feuer, fpielt mit den 
Kindern, pußt das Tifchgerät, wen folches vorhanden 
ift, und bereitet die Speifen, wenn fie überhaupt 
zubereitet werben. Die Männer werden in bie 
Wälder getrieben, um Ziere zu töten, Eſſen zu 
ſchaffen, und darein finden fie ih. Aber bei einigen 
Stämmen merkt man noch Spuren, Rüdfälle oder 
Ntavismen, wie wir Gelehrte es nennen, in ältere 
angeftammte Verhältniſſe. Die Sagen und Ge: 
ihichtsjchreiber erzählen von Amazonenreichen in 
verfloffenen Zeiten. Das find Neminiscenzen an 
den Ameifenhügel. Die Frauen find fich ſelbſt 
genug, führen Krieg und ernähren ſich und die 
Kinder; die Männer werden bloß einmal im Jahre 
einberufen, 

„Solche Verhältniſſe beftehen noch bei den X: 
ghanen, wo der Dann das Eigentum der Frau if, 
und bei den Dahomeys, wo die Frauen ſtrieg 
führen. Bei den zivilifierten Völkern, um zu uns 
zu fommen, iſt die Verteilung ber Arbeit zwiſchen 
den Geſchlechtern ziemlich ungleich, meift von den 
jozialen Berhältniffen abhängig. Bei den Armen 
arbeiten beide, der Mann allerdings am jchwerfien, 
weil die Frauen noch nicht darauf dringen, zum 
Holzfällen oder in die Kohlengruben gehen zu dürfen. 
Die Familie war in ihrem Urjprung eine Gejant- 
heit mit Eigentumsgemeinſchaft. Das Eigentum 
gehörte der familie, und da der Mann allein ver» 
pflichtet war, frau und Kinder zu verforgen, braudte 
das Weib nicht zu erben, was auch nicht geſchah, 
weil das Beſißtum, als der Familie gehörig, durd 
Heirat der Tochter nicht an einen andern übergehen 
durfte. Die Beweisführung enthält hier zwar manche 
Lüden, die ich aber lieber verftopfe; ſonſt müßten 








Neubau, 


wir in die Myſterien des Eigentumsrechtes hinab- 
jehen, und das fpare ih mir für ein andermal auf. 

„Für die Gefamtheit, die man familie nennt, 
brauchte die Gefellihaft ein Haupt. Das Weib 
hatte feine Beihäftigung mit den Kindern innerhalb 
des Haufes; die Kinder find zu umverftändig und 
bedürfen jorgjamer Pflege und Aufſicht; deshalb 
übernahm der Mann die Sorge für die Allgemein- 
heit und Fam jo ſcheinbar ans Ruder, Aber in 
höheren, das heißt in den nicht arbeitenden Klaſſen, 
wo die Degeneration allmählih um ſich gegriffen 
hat, machen ſich gewiſſe Symptome bemerfbar. Das 
Weib fühlt ſich erniedrigt, Königin zu jein, und will 
wieder Arbeitgameife werden: das heißt, in ben 
Ameifenhaufen zurüdkehren. Damit geht natürlich 
Hand in Hand ber Niedergang des Mannes zum 
Herrn. Nun frage ich: jchreiten wir vorwärts mit 
der Emanzipation, oder gehen wir zurüd? Hat das 
Weib recht, wenn e8 die Macht an fich reißen will, 
bie ihm urſprünglich gehörte, und hat der Mann 
recht, wenn er Wiberftand leiftet? Ich glaube, daß 
die Emanzipation eine Antizipation ijt, etwas, das 
zu zeitig fam, denn wir flehen vor einem neuen 
Wendepunft in der Entwidlung ber Geſellſchaft. 
Wie weit die Arbeitsteilung in der neuen Gejell- 
ſchaft gehen wird, willen wir nicht, aber daß fie 
ſich nicht über die natürlichen Grenzen jedes Ge- 
ſchlechts erjtreden wird, das nehmen wir für gewiß an, 
denn num jcheint Die Menjchheit ihre geſunde Vernunft 
wiebdererlangt zu haben, und Vernunft ift Natur, 

„Meine Damen, wenn ih mich an Sie wende, 
To geichieht e8 in Ihrer Eigenfchaft als Frauen und 
mit der Ehrerbietung, mit der ich ſteis zum Weibe 
aufgejehen habe, einer Ehrerbietung, die nicht ver 
mindert wird durch Ihre VBerjuche, das ſchwere Joch 
des Mannes don feinen Schultern zu nehmen und 
mit ihm die Arbeit zu teilen; Sie, meine Damen, 
haben den erjten Schritt zur Befreiung des Mannes 
gethan, und darum bringe ich Ihnen im Namen 
meines Geſchlechts einen herzlichen Dank dar!“ 

Das ſchöne Mädchen lachte und die Herren 
gleichfalls, aber am Ofen blieb e8 ruhig, unheimlich 
ruhig. Und bald erhoben fi die Damen, um die 
Ueberfleider anzulegen. Wie auf ein gegebenes 
Zeichen eilten die Herren herbei, um den Damen 
behilflich zu fein, die jedoch mit deutlichen Gebärden, 
daß fie zum Fortgehen feiner Hilfe bebürften, 
danften, 

As fie zum Gehen gerüftet waren, zogen fie 
ihre Handſchuhe an und warfen lange Blide in 
den Saal nad) ber Stelle, wo die Schöne jap. 
Die aber wollte nichts verftehen, fondern tranf 
lachend ihr Bier. Blanche, die mit dem Mädchen 
befannt war, hielt es aus Höflichkeit für ihre Pflicht, 
ihr zu jagen, daß die andern Damen gingen. „Ja, 


1077 


geht nur,“ antwortete fie — und fie gingen. Sie 
durchſchritten das rauchige Reftaurant und wurden 
mit frechen Bliden betrachtet; endlich gelangten fie 
auf die Straße, Hier warteten fie auf die Pferde 
bahn. Zufällig drehte fih Blanche noch einmal 
um. Da vernahm fie von innen ein Lied und 
Klavierfpiel. Sie trat an das Fenſter heran und 
bfidte in das Zimmer: Zigarren und Streichhölzer 
in allen Händen, frohe Mienen, Gejang und Spiel, 
und mitten in einer Gruppe ftand Luiſe — fo hie 
die Schöne — und raudhte, 

Blanche fühlte einen Stich im Herzen. Jetzt 
amüfieren fie ih! Jetzt! Und Luife war allein 
mit allen Herren. Welche Unmoralität! Welch 
ihledhtes Mädchen! Aber fie amüjiert fi auf alle, 
Fälle! 

Zu Haufe wartete Tante Bertha bereit auf 
den Rapport. 

„Dar es ſchön?“ 

„Schön? Entſetzlich langweilig! Und bie Herren 
waren unhöflich,“ 

„Haben fie geraucht?” 

„Rein, aber Bier getrunken und unmoralifche 
Reden gehalten. Der Vorfigende hat die Frauen 
mit Zellen und Scaltieren vergliden! Ja, und 
dann hat er über Dinge geiprodhen, die man zwar 
in Büchern leſen fann, über die man aber nur in 
Borlefungen ſpricht.“ 

„Bas hat er gejagt? Etwas Unpafjenbes?* 

„Jawohl, beinahe. Und dann find die Mädchen 
fortgegangen, aber Luiſe blieb da.“ 

„Allein ?” 

„Allein, und raudte!“ 

„Raudte, allein! Das wollen wir ihr doch 
anftreihen,“ jagte Tante Bertha. Darauf lieh fie 
ſich ale Einzelheiten berichten. 

Blanche ging ſpät zu Bett. Sie hatte über jo 
vieles nachzudenken. Weshalb war es heute abend 
langweilig geweien? Weshalb hatten ſich die Herren 
jo jteif, unhöflih und feindlich gezeigt? Was Hatte 
ber Redner mit feinen Worten gemeint? Das aljo 
ift die erträumte freiheit, ofne Bewachung höfliche 
Kavaliere in der Nähe zu fehen! Vielleicht find 
fie gar nicht jo liebenswürdig, wie fie ji den Ans 
jchein geben wollten, Aber gegen Luiſe betrugen 
fie fich ganz jo, wie fie auf Bällen zu jein pflegen, 
Wie anders ift doch alles in der Wirklichkeit im 
Vergleich zu unfern Vorſtellungen. Wie anders! 
Aber auf jeden Fall hat Luife ſich amüfiert! 

Am folgenden Morgen Meidete fi Tante Bertha 
frühzeitig an, um bei dem Rektor der Univerfität 
Klage zu führen. Der Profefjor war unglüdlicher- 
weiſe ein Grobian, der die häßliche Angewohnheit 
hatte, zu jagen, was er dachte, und die Tante hatte 
unglüdlicyerweife die Vorſtellung, ein Profeſſor müſſe 


1078 


ein gebildeter Mann jein und willen, was zu jagen 
ſich ſchide. 

Die Tante erſchien natürlicherweiſe zu einer 
Zeit, wo der Profeffor nicht empfing. Was ging 
das fie an? Er mußte fie empfangen, da es bie 
Ehre der Alademie und das Wohl der Jugend be= 
traf. Schließlich wurde fie vorgelafen. Sie ſprach 
ihr Anliegen aus und referierte über die Rede. Der 
Profefior blidte fie an wie eine neue Spezies und 
antwortete endlich: 

„Und was geht das mich an?” 

„Was das Sie angeht?“ 

„Was geht es denn Sie an?” 

„Wie? Was? Die Moralität der Jugend ift 
ja in Gefahr!” 

„Wiejo? Erzählen Sie! Was ilt gejchehen? 
Er hat die Frauen mit Zellen verglihen. Das 
ift natürlich Lüge, Schlimmer wäre es gewefen, 
wenn er fie mit Engeln verglichen hätte! Glauben 
Sie an Gottes heiliges Wort? Natürlich. Nun? 
Er hat gejagt, das Weib jei die Herricherin und 
der Mann der Save. Das ift ja ſchön gejagt! 
Mollen Sie hören, was die Bibel jagt: Dein Wille 
joll deinem Manne unterworfen fein, und er fol 
dein Herr fein! Iſt das nicht richtig?" 

„Das ift nit richtig!” 

„Wie? Dann find Sie ja eine Freidenlerin, 
die Gottes heiliged Wort verleugnet! Iſt das 
nicht jo?“ 

Die Tante fühlte ih wie auf einer Folter. 
Sie war einer Ohnmacht nahe. Der Profeffor aber 
fuhr fort: „Mit Schmerzen jollft du Kinder gebären! 
Haben Sie dieſes Gebot Gottes erfüllt?” 

Nein, das wolle fie nicht! 

„So? Alſo Sie lehnen fih auf gegen Gottes 
heilige Geſetze! Aber zur Sade! Die Herren 
haben nicht geraucht, ſich nicht unpafiend betragen, 
fie haben Ihre Anfichten geteilt, dab die Lehren der 
Bibel falſch find, und im übrigen — was biejelben 
innerhalb ihrer Vereinigungen zu thun belieben, geht 
niemand etwas an. Was geht e8 Sie an, ob 
Fräulein Luiſe gern Bier trinft oder raucht? Tabak 
ift weder im Code civil nod im Code moral 
verboten. Es giebt Weiber, die fchnupfen. Und 
dann find alle alten Damen auf junge Mädchen 
neidiich, die fi amüfieren — befonders in Herren« 
gejellichaft. Wem es dort nicht behagt, der ift ja 
nicht gezwungen hinzugeben, und wer die dortigen 
Vorgänge ausplaudert, der fann einfadh hinaus» 
geworfen werden.“ So liegen die Dinge! Man 
babe nicht das Recht, ſich in eine gefchloffene Ge— 
ſellſchaft einzudrängen und nachher abfälige Be— 
merfungen zu machen. „Die Achtung, die man dem 
Weibe jchuldig ift?* Welche Achtung jei man denn 
dem Manne ſchuldig? Gar feine? Ihm komme das 


Auguft Strindberg, 


ganz fo vor; jonft würde man fich nicht zu ungelegener 
Zeit eindrängen und fi) mit Klatſchereien abgeben! 
Im übrigen: Weshalb bilden die Mädchen nicht 
jelbft einen Verein? Wie? Das fei nicht intereſſant 
genug! Er bitte um Entjhuldigung, er müſſe in 
die Vorlefung! Er fei Lehrer an der Univerfität, 
aber kein Polizift. 

Das Rejultat ber Unterredung war die Gründung 
eines Vereins zur Erörterung der Frauenfrage und 
das Merbot für Blanche, noch jemals einen Kommers 
zu bejuchen. Dem Frauenverein durfte fie dagegen 
beitreten, und bier verbrachte fie entjeßliche Abende. 
Das Leben in Züri, von dem fie ſich jo viel ver- 
ſprochen hatte, wurde immer unerträglicher. Ständige 
Bewachung, endloſes Studieren: neue Auflage von 
römischen Kaiſern, Königen und Königinnen, immer 
mehr Philoſophie. 

Wann würde das ein Ende nehmen? Und würde 
es überhaupt jemals aufhören? Was minfte ihr 
nad abgelegtem Examen? Die freiheit? Nein, 
dann begann eine neue Sflaverei. Wie ein Drojäten- 
futiher mußte fie für jeden, der fie anrief, bereit 
fein; treppauf, treppab, wie ein Wunderthäter ber 
handelt, obwohl man bei ſich weiß, wie wenig man 
thun kann, Und die Freiheit? Wird fie mit einem 
Mann zu verfehren wagen, wenn fie feine Gefel- 
ihaft der von Frauen vorzöge? Keineswegs, denn 
dann wäre ihr Anfehen erichüttert; die Patienten 
würden fie fliehen und fie jelbft aus der Geſellſchaft 
ausgeſtoßen werben. Sein Ausweg! Jawohl, einer! 
Heiraten! Die Frauen haben dann das Recht, mit 
einem Manne zufammen zu wohnen, an demfelben 
Tiſche zu effen, im jelben Bette zu fchlafen, mit 
andern Männern zu verfehren, foviel fie wollen, 
auf der Straße allein zu gehen! Aber es giebt 
ein „Aber“. Die frauen eſſen das Brot andrer, 
bewahen den Haushalt, die Wäſche andrer und 
behaupten im allgemeinen, Sklavinnen zu jein. 
Das wollte Blanche nit. Alſo auch dort feine 
Freiheit ? 

Eines Tages follte fie im Laboratorium eine 
chemiſche Analyje herftellen. Die Arbeit war jiem- 
lich ſchwierig und erforderte große Aufmerlſamleit. 
Zu diefem Zwecke war ihr ein Pla in einer ab» 
jeit3 gelegenen Küche angewiefen worden, damit jte 
fi) beifer bewegen konnte, Sie hatte eine Maßte 
vor das Geſicht gebunden und in ber Kapelle, wo 
ihr Apparat ftand, ftarfen Zug hervorgebradt, weil 
die Einatmung des Chlorgafes mit Gefahren ver 
Inüpft war. 

Der Ajliftent am Laboratorium, mit dem fie 
jeit dem berüchtigten Kommerſe nicht mehr geſprochen 
hatte, ging durd) das Zimmer. Das Geſicht hinter 
der Maske verborgen, fühlte Blanche ein trogiges 
Berlangen, ihn anzureden. Sie wurde nämlich nad} 


Neubau. 


dem Beſuch der Zante bei dem Profeſſor ala 
Klatſchbaſe behandelt, und niemand hatte ſich ihr 
wieder genähert. Deshalb fühlte fie das Bedürfnis, 
ſich zu rechtfertigen. Aber auch der Aififtent war 
auf die gleiche Idee gefommen, in ſchicklicher Weife 
ein Geſpräch zu eröffnen. 

„Es ijt wohl recht amüjant, in der Küche zu 
ſtehen?“ fragte er ſpitzig. 

„Hier iſt's noch erträglid, aber in ber Küche 
verheirateter Leute joll e8 weniger amüjant fein,“ 
antwortete Blanche. 

„Auch ich glaube nicht, dak die Köchinnen, die 
in der Küche verheirateter Frauen ſtehen, das be= 
ſonders luſtig finden,“ fagte der Aififtent. „Die 
Frauen jollen nämlich bisweilen recht wunderlich 
fein!” 

Blanche errötete unter der Maske. Die Phraje 
der Tante, daß Frauen Köchinnen jeien, war in 
eine Scharfe Säurelöfung des Antagonijten ver— 
wandelt, 

„Sie fommen nicht mehr zum Kommers?“ hub 
er wieder an. 

Blanche ſchwieg. 

„Sie haben fih gelangweilt?” fuhr er fort. 
„Wollen Sie in einen andern Verein geben, wo es 
nicht jo langweilig it? Wollen Sie mit mir zu 
den Ruſſen gehen?“ 

Blanche hatte von den Ruffen fo viel gehört, daß 
ihre Neugierde gewedt wurde, 

„Ih glaube nit, daß ich die Erlaubnis von 
der Tante erhalten werde,” jagte fie kindlich. 

Der Aſſiſtent lachte. 

„Weshalb ſollte es die Tante nicht wollen? Es 
liegt ja feine Gefahr darin, Iſt es denn gefährlich, 
neue, friſche Gedanken zu hören ?* 

„Nein,“ antwortete Blandıe. 
ſollen jo frei fein!“ 

Er lächelte wieder und ſah ihr in die Augen. 

„Wollen Sie nicht auch frei ſein?“ 

Blanche fühlte ihr ganzes Verlangen, ihre ganze 
verzehrende Sehnſucht von feinen Lippen ausgeſprochen. 
Und der zu ihr ſprach, jah aus wie ein Mann, der 
ihr würde helfen können, Feſſeln zu brechen. 

„Jamohl,” jagte fie, „ich möchte frei fein. O, 
frei!” 

„Schen Sie, fehen Sie! Kommen Sie alfo 
morgen mit!” 

„Aber die Tante!“ 

„Lügen Sie ihr etwas vor!” 

Blanche fuhr zujammen. Er, der wie die Ehr- 
lichkeit und Wahrheit jelbft ausjah, er riet ihr zu 
lügen! 

„Iſt es nicht unehrenhaft, zu lügen?“ 

„Nicht immer! Wenn ein Mörder, defjen Ab— 
fichten ich fenne, mid) nad dem Wege zu jeinem 


„Aber die Ruffen 


1079 


Opfer fragt, fo zeige ich ihm ben unrechten und 
lüge mit frohem Gemüt.“ 

„Über die Tante ift doch fein Mörder!" 

„Nein, aber eine Mörderin! Fühlen Sie nicht 
ihr Gift, das nahe daran ift, Ihr Blut gerinnen 
zu madhen? Ihr Hab, ihre Nahe, die Sie ber 
friedigen jollen, fließen in Ihren Adern, werben 
von Ihren Lungen abjorbiert, paralyfieren Ihr 
Merveniyflem! Sind Sie frei? Sie efjen das 
Brot dieſes Vampyrs, dad Sie nicht dur Ihre 
Arbeit verdienen, Sie find von ihr bezahlt, um 
ihre Rache auszuführen, Sie haben Ihre Seele ver» 
fauft, wie andre frauen ihren Körper. Was treibt 
Sie auf Ihre Lebensbahn? Iſt es das Pflichtgefühl 
gegen Ihre Mitmenfchen, ift es die Luft, mit Uns 
fauberkeiten zu hantieren, Sranfenzimmerluft zu 
atmen, Wehegefchrei zu hören, aus dem Schlaf und 
bei den Mahlzeiten gejtört zu werden? Nein, e& 
ift Rache! Rache, an wem? An den verabjchiedeten 
Liebhabern Ihrer Tante? Sind Sie als Arzt nötig? 
Sind auch nur fünfzig Prozent von den ſchon vor« 
bandenen nötig? Glauben Sie, es fehlen Rezept 
ichreiber? Sie treten einander unter die Füße und 
können doch nicht helfen. Warum die Ruſſinnen 
Herzte werden? fragen Sie. Nicht, um Rezepte zu 
ſchreiben, nicht, um der Ehe zu entgehen; o nein, 
es geichieht, damit die Menfchheit von größeren 
Schäden geheilt werde, jo daß jpäter einmal über» 
haupt fein Arzt mehr nötig fein oder die gleich 
mäßige Verteilung des Wiſſens jedermann zum 
eigenen Hüter feiner Gejumdheit machen wird.” 

Blanche ſtand da wie ber Nezipient in einer 
Eleltriſiermaſchine; fie nahm alles auf, was ber 
funlenſprühende Dann um fi warf, aber zugleid) 
fühlte fie ein ummiderftehliches Beftreben, ihn zurüd« 
zuichleudern. Vorher war es im ihr leer gewejen, 
und jetzt wollte er fie mit dem Ueberſchuß feiner 
Seele anfüllen. Seine Augen flammten, und jein 
kräftiges, männliches Gefiht jah wie die Wahrheit 
jelbft aus, als er ſprach: „Lüge!” Sie ſuchte an ihm 
nad) einem Punkte, wo fie verwunden und entwaf- 
nen fonnte, und dies fonnte gerade in dem leptern 
geichehen. Er fand jo hoch und flar vor ihr, höher, 
als fie zugeftehen wollte, aber fie mußte ihn herunter- 
ziehen. Und doch wollte fie ihn groß, ſtark jehen, 
als die Stütze, den Befreier, den fie ſuchte. Un— 
bewußt fühlte fie, daß der Befreier auch der Herrſcher 
werden Tonnte; fie ſuchte ihn und flieh ihn von ji. 
Endlih ſprach fie: „Sie predigen die Moral der 
Jeſuiten.“ 

Uber er, der jedes Schlagwort kaunte, war jo» 
gleich mit der Antwort bei der Hand: 

„Nein, das thne ich nicht. Das Geheimnis bes 
Iefuiten liegt in den falihen Schlußfolgerungen; er 
macht ein Kartenkunftftüd mit Worten, und Sie find 


1080 


büpiert. Er jagt: Der Zwed (gut oder ſchlecht) 
beiligt die Mittel. Ich Tage: Der heilige, große, 
fchöne Zwed, den Sie erftreben, heiligt das Mittel, 
Ein niedriges Ziel entweiht jedes Mitte, Die 
neue Moral, die ſchon neu war, als Montes- 
quien fie ausſprach, lautet folgendermaßen: ‚Wenn 
ih etwas weiß, was nühlih für mich ift, aber 
ſchädlich für meine Familie, muß ich es aus meinem 
Sinne verbannen; wenn id etwas weiß, was für 
meine familie nützlich ift, aber ſchädlich für mein 
Vaterland, muß ich es zu vergeſſen fuchen; wenn 
ih etwas weiß, was für mein Vaterland nüßlich 
ift, aber ſchädlich für ganz Europa oder die Menſch- 
beit, dann muß ich es für ein Verbrechen halten! 
Der Egoismus, dieſes herrliche Geſchenk, das unter 
dem Namen des Selbjterhaltungstriebes alles Leben- 
bige leben läßt, wird ſich gleichfalls entwideln; ſchon 
jept hat er einen großen Schritt nad) vorwärts ge- 
than zum Altruismus oder zur Liebe gegen andre. 
Diefe Liebe hat ſich zuerft gezeigt in der Liebe zum 
Kinde, dann zur familie, Aber die Familie hat 
ein Stadium erreicht, das wir hinter ung legen 
müfjen, und bat fi zur Geſellſchaft entwidelt, zur 
fünftigen Gejellihaft. Sie liegen nod in den 
Feſſeln der Familie, die nur eine blonomiſche In— 
ftitution iſt; reißen Sie fi) 108 aus den engen 
Bienenzellen der Familie, ſchwärmen Sie hinaus 
und bauen Sie jelbft einen Korb; verlaffen Sie 
die Familie mit ihrem Agglomerat Meinlicher In— 
tereffen und iolierten Egoiftenlebens und leben Sie 
für das Geſchlecht.“ 

Blanche ſah die Wände zurüdweichen, die Thüren 
in unendlicher Flucht fich öffnen; feine Rede wirkte 
wie Wärme und Feuchtigkeit auf alten Samen, der 
im falten Raum gelegen hat. Sie fühlte ihr Weſen 
feimen, fühlte, daß die Zeit bald kommen würde, 
wo die Schale gefprengt werden mußte! Aber dann 
wurde fie von einer jonderbaren Luft ergriffen, mit 
dieſer Seele, die fie befruchten wollte, zu ringen. 
Sie flatterte wie das Schmetterlingsweibchen davon, 
das, vom Gatten verfolgt, fühlt, daß der Tod in feinen 
Küffen liegt, der Tod für fie ala Individuum in der- 
jelben Stunde, in der fie dem Geſchlechte Leben giebt. 

„Barum jagen Sie das alles mir? Weshalb 
verihwenden Sie all diefe Worte auf mid, ein 
unbedeutendes, fremdes Mädchen ?" fragte fie. 

„Das haben Sie ſchon erraten!* antwortete er; 
„aber wollen Sie, daß ich es ausjpreche, jo fommen 
Sie morgen abend mit mir zu den Rufen!“ 

Er ergriff ihre Hand, „Sie fommen? Nicht 
wahr?“ 

„Ich komme fiher,“ antwortete Blanche, 
fonnte nicht anders. 

Als Blanche wieder zu Haufe am Mittagstifch 
faß, fühlte fie, dak das Geheimnis, welches fie be— 


Sie 


Auguſt Strindberg. 


ſaß, fih wie eine Mauer zwifchen ihr und ben 
Tanten erhob. Das Band war morjc geworden. 
Sie befah etwas, was fie nicht von jenen empfangen 
hatte. Es war ihr Eigentum, e& waren ihre neuen 
Gedanken, ihr Geheimnid. Sie dachte daran, wie 
ſchwach doc jenes Band gewejen fei. Es war nicht 
das Band ber Liebe, denn fie liebte jene Gefangen 
wärterinnen nicht, ed war das Band des gemeinen 
Intereſſes. Sie bedurfte ihrer wie die Miftel der 
Pappel, wie der Parafit der Wirtäpflange. Eie 
erwartete, daß die Stimme des Blutes reden würde, 
aber die jchwieg. Keine Gewiſſensbiſſe, feine war 
nende Stimme! Das Alte flürzte zufammen mie 
ſchlecht gefleifterte Tapetenwände, und fie fühlte, 
wie fie wuchs. Jeht erft empfand fie den erften er- 
frifchenden Flügelſchlag der freiheit um ihre bei- 
tiichen Wangen; nicht bloß der ſtörper war gefangen 
gewejen, nein, auch ihr Geift! 

Blanche erſchien zeitig an dem beftimmten Plape 
in Baufhänzlis Park. Der Schnee fiel ruhig jur 
Erde, und draußen lag der ſchwarze See. Sie war 
fehr erregt, und wenn der Fuß zufällig ein dürtes 
Blatt berübrte, fuhr fie zufammen, aber der Schne 
fiel dicht, fo dicht, daf fie den Laut ihrer Schritte 
bald nicht mehr hörte. Hie und da knirſchte wohl 
noch der Sie, aber der Schnee brachte auch ihn 
bald zum Schweigen. Sie fühlte, daß jeder Schritt, 
den fie that, fie auf eine neue Bahn führte, hinaus, 
einem unbefannten Geſchick entgegen, aber er führte 
fie wenigftens hinaus. Wohin? Sie war fi be— 
wußt, eine Vereinbarung zu brechen! Sie hatte 
den beiden alten frauen ihre Freiheit verkauft, und 
die gaben ihr dafür die Mittel zum Leben. Yept ftelte 
fie ihre Bezahlung ein — durfte fie dann noch von 
jenen nehmen? Im Grunde war es alfo nur ein 
ölonomifches Problem. Nur wer die Mittel zum 
Lebensunterhalt befiht, ift frei; alle andern find 
Sklaven. Ein verborgener Haß gegen die Alien 
begann in ihr emporzuwachien. Hätte Blanche Ver« 
mögen gehabt, dann wäre fie frei gewejen. Was 
fchreien da die Völler nad Freiheit, wenn fie fein 
Geld befigen! Freiheit ohne Geld ift ja unmöglich! 
Sie lief vom Hauje fort, hinaus aus dem Gefäng- 
nis der Schule, in das Gefängnis der Univerfität, 
wieder hinaus in das Gefängnis der Praris, der 
Gunſt des Publikums. Ueberall Gefängnifie. Und 
erjheint der Befreier, der ftarfe Mann, der ihre 
Ketten zerreiben ſoll, dann gefchieht e8 nur, um fie 
in ein neues, ftarfummauertes Gefängnis zu führen, 
in das Ießte, das nur der Tod öffnen fann, Sie 
vermochte das Problem nicht zu löſen. Würde er 
e8 thun, der auf jede frage eine Antwort hatte, 
fonnte er es löjen? 

Der Schnee wirbelte um ein paar kräftige Füße 
auf, und die Luft beivegte ſich von feinen feuchenden 


ul | 





Neubau, 


Atemzügen; er ftand an ihrer Seite und legte ihren 
Arm in den feinigen. 

„Böſes Gewiſſen?“ jagte er. „Das giebt fi). 
Dem Korjen, der es verfäumt hat, ben Feind jeiner 
Familie zu ermorden, ſchlägt aud) jein böſes Ge— 
wiſſen. Es ijt das fonventionelle Gewiſſen, das 
jemanden eine® unterlafjenen Mordes anklagt. Wort 
damit!” 

Und er führte fie mit ſich. Sie gingen im 
gleichen Schritt, und ihr Arm Tag jo ſicher in dem 
jeinigen. 

„Iſt es weit?” fragte Blanche. 

„Vor der Stadt,“ antwortete Emil. 
Auffen lieben die Städte nicht !* 

Und fie wanderten hinaus über weiße Weder, 
Hügel hinan, zwiſchen Weinbergen, und famen end» 
lich zum Cafe des Alpes, einem Meinen, von Lärchen 
und Tannen umgebenen Holzhauſe. Es jah idylliſch 
und traulich aus, nicht wie ein Reftaurant oder ein 
Cafe, wo beichäftigungslofe Menſchen die Zeit töten, 
fondern wie eine Herberge am Wege, wo der müde 
Wandersmann Ruhe findet. 

Sie fliegen eine Holztreppe hinan und gelangten 
auf einen Ballon, der von dem Lichte im großen 
Saale erleuchtet wurde. Als fie noch den Schnee 
von ben Füßen und Kleidern jchüttelten, Tam ein 
Herr aus dem Saal und bewilllommmnete fie wie 
alte freunde. Es war ein großer, dunfler Mann 
mit einem auf breiten Schultern ſitzenden Kofafen- 
fopf. Er ergriff Blanches Hand, bdrüdte fie wie 
die einer Schwefter, nahm ihr den Mantel ab und 
führte fie in den Saal. Es war ein altmodifches 
Zimmer mit niedriger Dede, an welcher die Balten 
freilagen. Oberhalb der hohen Holzpannele erblidte 
man Alpenlandjhaften und Bärenjagden; in gleid)« 
mäßigen Nbftänden Hingen Heine Wandlampen, 
deren blanfe Meffingreflettoren den Lichtſchein zu- 
rüdwarfen. Mitten in dem Raum ftand ein langer 
Tiſch, an welchem ungefähr zwanzig Herren und 
Damen jaßen, die Thee tranfen und Zigaretten 
raudten, während in der Mitte ein mächtiger Sa— 
mowar von frifchgepußten Kupfer funmte. In 
dem großen, jhranfartigen, grünen Kachelofen, um 
welchen Holzbänte liefen, brannte ſtarles euer. 

Als Blanche und ihr Begleiter eintraten, erhoben 
Jich die Anweſenden und drüdten ihnen die Hände. 
Die Mädchen fühten Blanche auf die Bade und 
machten ihr Platz. Wie die warme Luft aus einem 
traulihen Heime ſchlug es ihr entgegen, und der 
Eindrud bier war nicht der düjtere, Falte wie in 
der Brajierie Nuß. Hier herrjchte feine Feind— 
feligfeit, feine Nivalität, fein Konkurrenzneid, und 
Blanche fühlte fich gleich wie zu Haufe. Die Herren 
waren gegen die Damen höflih, ohne Galanterie, 
und die Damen nahmen deren Achtungsbeweiſe mit 

Aus fremden Zungen. 1897. IL 23. 


„Die 


1081 


Dankbarkeit und Freundlichkeit entgegen. Sie 
rauchten Zigaretten, trugen aber weder furzes Haar 
nod) blaue Brillen; fie waren anmutig in ihren 
Bewegungen und ſuchten weder durch Worte nod) 
durch derbe Geften den Männern nachzuahmen. Sie 
ſprachen ernit und ohne Furcht, mißverftanden zu 
werben, denn fie ftanden alle auf gleicher Bildungs» 
ftufe und teilten fich einander mit, ohne fich belehren 
zu wollen, 

Man jervierte Thee für Blanche, troßdem die 
Zeche eine gemeinfame war, Dies erſchien ihr an- 
genehmer, ala daß jeder ſelbſt beftellte, und der 
Kellner jeden Augenblid durch das Zimmer rannte, 
Man bot ihr Zigaretten an, die fie ablehnte. Sie 
fand in dem Rauchen der Damen nichts Anftößiges, 
denn es ift ja bei jenen „Sitte”, alfo „ſittlich“, während 
es in WWeftenropa nicht Sitte, alfo unſittlich ift. 

„Paul Beſtuchew,“ begann eines der Mädchen, 
weldhes für den Abend den Borfik führte, „Hat 
darum gebeten, Heute abend ſprechen zu dürfen, 
Aber nicht länger als dreißig Minuten, Väterchen.“ 

Der mit Beſtuchew Angeredete jchob feinen Stuhl 
etwas vom Tiſche zurüd, blieb aber figen und holte 
einen Bogen Papier hervor, auf dem er ſich einige 
Anmerkungen gemadht hatte. 

„Ih will über ‚das Allerheiligite‘ ſprechen,“ 
begann Paul und tranf von feinem Thee. 

„Es handelt doch nit von Religion?“ fragte 
ein Rotbärtiger. 

„Nicht do,“ antwortete Paul. „Darüber jpricht 
man nicht. Nein, ich will darüber reden, was 
heiliger ift ala das Heilige, über 

Das Allerheiligfte. 

„In der Kindheit der Gefellfhaft, che die Ar« 
beitseinteilung höhere und untere Klaſſen geihaffen 
hatte, war die Erde die Mutter Aller. Der Stamm 
beſaß jein Territorium ungeteilt oder parzellierte es, 
wie bei den Landwirten, zur Benußung auf eine 
beitimmte Zeit, ohne fein Eigentumsrecht aufzugeben. 
Solchen Kommunismus haben wir noch in ruſſiſchen 
Dorfihaften, und unfer Vaterland beſitzt ungefähr 
vierzig Millionen legalifierter Kommunisten. Da 
das Glück deſſenungeachtet fi bei unjern armen 
Mujchiten nicht wohl befindet, das beruht auf an⸗ 
dern Dingen, denen jeht abgeholfen werden joll. 
Da nun die fiegreihen oberen Klaſſen bie urfprüng- 
ih kommuniſtiſche Erde ih anmahten, das heist 
einen Diebftahl begingen, jo erflärte man in dem— 
jelben Moment den Diebftahl für heilig. Das 
geftohlene Eigentum wurde für Die oberen Klaſſen 
heilig; die untern aber, die dem Beiſpiel folgen 
und das Geftohlene zurücdnchmen wollten, mußten 
ihren Tribut an die Gefängnifie bezahlen. 

„Inzwiſchen wurde das widerrechtlich angeeignete 
Eigentum immer mehr und mehr den Anfprüden 

136 


1082 


der Heimzahlung ausgeſezt. Die Heiligleit wuchs, 
Jetzt kann man den Kaiſer erfchießen, Goit leugnen, 
die Moralgeiege angreifen und doc unter Staats» 
Ihuß fliehen, wie wir in der Schweiz, aber wir 
werden ausgeliefert wegen eines Angriffs auf das 
Eigentum. Das Eigentum ift aljo heiliger gewor- 
den al& der Zar, als die Moral, als Gott, 

„Aber die Zeit jchreitet vorwärts, und die Schlinge 
um den Hals der oberen Klaſſen ift zugezogen wor= 
ben. Unſre Zeit bat drei große legalifierte Angriffe 
geſehen, fonftitutionelle, Taiferliche, Löniglidhe, fon- 
greßliche Angriffe auf das Eigentum. Der erfte ift, 
wie befannt, die Aufhebung der Leibeigenſchaft in 
Rußland (die Leibeigenen waren Eigentum), der 
zweite die Befreiung der Neger in Amerifa (bie 
Neger waren Eigentum, folglich heilig), den dritten, 
den wir 'täglid vor Augen fehen, nennt man Ex— 
propriation. Mein Vater hatte eine Befikung und 
einen ſehr Ichönen Garten, den er jehr liebte. Er 
batte jeden Baum jelbft aufgezogen; jeder Buſch 
war ihm wie ein freund. Er war ihm um nichts 
feil, denn ‚er liebte ihn, wie man ein lebende: Weſen 
liebt. Eines Tages erihien ein Ingenieur einer 
Eijenbahngeielfchaft und jhlug alle Bäume nieder, 
riß jeden Buch aus der Erde. Der Bater meinte 
und fluchte. Der Ingenieur jagte, das Land jei 
erpropritert, und der Water werde dafür bezahlt be- 
fommen, Der Bater wollte feinen Garten nicht 
verfaufen, wollte ihn nicht bezahlt haben. Da 
wurde er ihm genommen, 

„Diele großen Beifpiele haben die Unverlehlich- 
feit des Eigentums erichüttert. Nicht, daß die 
Menihen der Zukunft es ebenſo machen werben 
wie der Staat und einfach nehmen werben; fie 
werden im Gegenteil geben. Aber das werben wir 
erft erleben, wenn jedermann den Vorteil eingeichen 
haben wird, dak niemand befibt, was er morgen 
verlieren fann, und daß alle befigen, was fie nicht 
verlieren fönnen. 

„Aber ich will jeht nur die ‚moralifche‘ Seite 
des Eigentums betrachten, die vielleicht am meiften 
zu dem unmoralifhen Zujtand der Gejellichaft bei- 
getragen hat. 

„Der Begriff und das Gefühl des Befikes ift 
in unfer ganzes Seelenleben eingedrungen, hat unfern 
Egoismus amplifiziert. Selbft unjre Gedanken find 
zum Gegenjtand unfrer Habgier geworden. Der 
Gelehrte hütet jeine Entdedung. Weil fie ihm Ehre 
bringt, giebt er fie nit zum Nuben der Menich- 
heit frei. Der Erfinder beeilt fih, ein Patent zu 
nehmen, um bie Menfchheit daran zu hindern, Nutzen 
aus feinem Werk zu ziehen; die Priefter, die Diener 
des Herrn, ſchlagen fi um das Brot und hohe 
Aemter, einige geben jogar, wie die Sängerinnen 
im Café chantant, mit dem Teller in der Kirche 


Auguft Strindbberg, 


umber. Der Volfävertreter, der im Reichstage die 
Wahrheit jagen ſoll, überlegt es fich zweimal, ehe 
er das entjcheidende Wort ſpricht, denn hinter ihm 
lauern jeine Gläubiger; der Journalift, der die 
Art an die Wurzel des morſchen Baumes jeher 
ſoll, windet fih wie ein Wurm, ehe er zuſchlägt, 
denn er fieht, wie Frau und finder die Köpfe 
darunter legen. Für Frau und Kinder! Wie 
mander Wille ift um ihretwillen gebrocden, wie 
mande Seele verblutet! Der Mann ift das Eigen- 
tum der Familiengefamtbeit, er iſt Leibeigener, Er— 
nährer, und darum — tie ſchlau! — hat ihm die 
Oberllafle das Stimmrecht und die fcheinbare Leitung 
in die Hand gegeben, denn fie weiß, daß er am 
Fuß eine Feſſel trägt. Um wie viel freier würde 
fih das Weib in der Deffentlichkeit bewegen, fie, 
die eine blonomiſche Stüße hinter fi bat! Was 
bei ihr Stärfe ift, ift bei dem Manne Schwäche. 
Deshalb ift die Stellung des Weibes freier als bie 
des Mannes, und darum ift fie fühner. Menn der 
Mann ſich von einem Kaufmann an der Ware be— 
trügen läht und feinen Lärm jchlägt, um ſich feinen 
Feind zu ſchaffen, jo wirft die Frau dem Schelm 
bei ſolchen Verfuchen die Ware ins Geſicht. 

„Aber der Eigentumsbegriff hat fi auch in 
unfre heiligflen Gebiete eingefhämuggelt , deshalb 
beiligften, weil die Natur fie felbit abgeftedt hat. 
Der Yüngling wirft die Augen auf ein Mädchen; 
er gefällt ihr, ihre Seelen lieben fich, aber eine 
Kleinigkeit ift dabei zu erwägen, die allerdings die 
Hauptſache ift: Hat er Geld? Mein! Dann mag 
er ruhig gehen! Die Kinder, die das Eigentum 
der Gejellichaft jein jollten, werden als Privat 
eigentum der Eltern behandelt, denen die Aufgabe 
zufällt, die Kinder, ſolange fie Hein find, durch 
Liebfofungen, durch Spielen zu unterhalten und, 
wenn fie älter geworden find, ihnen „Ehren“ zu 
ſchenken — und warum nicht auch Geld. Die Gatten, 
die gef hworen haben, einander „anzugehören”, fangen 
durch die Macht der Gewohnheit bald an, jid al 
Eigentum zu betrachten. 

„Zum Schluß einige Worte über das ſchlechte, 
aber darum gefährlihe Symbol des Eigentums, 
das Geld, 

„Das Geld ift ein Gedicht, ſchön für den Be— 
fißer, aber trügeriſch wie alles Schöne. Es ift cin 
ſchlechter Wertmefler, denn es mißt nicht den Wert. 
Heute erhält man einen Sad Weizen für einen 
Louisdor, morgen nur einen halben. Es mit weder 
den Nutzen nod den Wert, denn eine Flaſche Kap 
wein, die einen Louisdor koſtet, fommt am Wert 
einem Sad Weizen nicht glei. Denn während 
ih den Sad Weizen aufeije, ift meine Seele fri, 
frei von Nahrungsjorgen, vielleicht für einen Monat, 
in dem meine Seele arbeiten fann, während eine 


Neubau. 


Flaſche Kapwein mich für einige Stunden einjchläfert 
und dann zum Sflaven madt. 

„Das Geld ift ala Wertmeſſer gefährlich, weil 
es in ſolch Fongentrierter Form auftritt, daß das 
Auge den ihm innewohnenden Nußen nicht jehen 
Tann. Tauſend Franken in Golb auf einem Tiſche 
geben feinen wahren Begriff des Wertes, aber taujend 
Franfen Getreide in Süden ſehe ih. Deshalb war 
die erfte Münze Vieh, pecus, pecunia, Ein Rind, 
das zum erften Male ein Geldftüd erhält, darf ſich 
dafür Bonbons faufen. Das ift ein jämmerlicher 
Fehler, denn das Kind fieht dann im Gelbe ein 
Genußmittel. 

„Das ſchlimmſte am Gelde iſt, daß es falſch iſt. 
Es behauptet, ein Repräſentant vorhandener Nütz- 
lichleiten zu ſein. Das iſt unwahr. Dean bat 
Banken ſtürzen geſehen, die mehr Papiergeld aus— 
gegeben haben, als Gold vorhanden war, aber jo 
lange bejtanden haben, folange der Glaube an das 
Papiergeld gewährt bat. Wenn nun der Tag fommt, 
an dem der Glaube an das Gold erjchüttert wird, 
an dem man für das unnüße Gold nichts Nüßliches 
mehr erhalten fann? Man hat ba bei der Ber 
lagerung von Paris gejehen. Die Stadt war mit 
Gold angefüllt, aber niemand wollte Gold; jeder 
mann wollte Speilen haben, die nicht vorhanden 
waren; deshalb war der Wert des Goldes für den 
Augenblid annulliert. Der Araber, der in der 
Wüſte einen Sad Perlen findet, ift ebenjo arm 
wie der belagerte Parijer. 

„Der Markt ift mit Getreide überfüllt, während 
Millionen Menſchen hungern. Das ift ein fyehler 
in der Perteilung ber Probufte, ein fyehler des 


Geldes und der jalihen Münze, der Wertpapiere | 


jowie der ausgedehnten Arbeitsteilung, Wenn die 
Selbjthilfe zum Prinzip wird, wenn das Privat» 
«igentum Solleftiveigentum fein, wenn man bie 
Arme benußen wird, um Brot zu jchaffen, anftatt 
Lurusgegenjtände, dann wird die Not verjchwunden 
jein! Darum wollen wir arbeiten, um die Menjchen 
den Borteil der Aufhebung des Privateigentums 
zu lehren!” 

„Seht find die dreißig Minuten ficherlich vorüber, 
liebe Schweiter!“ 

Hierauf wurde in die Diskuffion eingetreten, 

„sch möchte einwenden,” begaun Anna, „dab, 
wenn man die Schäße der ganzen Welt verteilen 
würde, jeder Menſch fünfzig Gentimes befäme, und 
damit wäre niemand geholfen.“ 

„Diefe Einwendung,“ antwortete Beſtuchew, „ift 
Nr. 1 der von uns regiftrierten ‚Elih6s‘, wie wir 
es nennen. Die Schwefter mag fih die Antwort 
aufjchreiben: Wenn man die drei Milliarden Dollars 
der Vanderbilts, Stewart3 und Aſtors unter die 
anderihalb Milliarden Einwohner der Erde verteilen 


1083 


würde, jo befäme ein jeder zwei Dollar& ober zehn 
Franken. Wenn wir aber annehmen, daß nur Europa 
und Amerifa bei der Zeilung bedacht wären, jo 
würde ſich dabei die Summe von zwölf Dollars 
oder jechzig Franken pro Kopf ergeben. Mit jechzig 
Franken fann ein Tiſchler ſich Werkzeuge, ein Fiſcher 
Nee, ein Krämer Waren, ein Dienftjuchender neue 
Kleider und jo weiter anſchaffen. Dieje Teilung 
wäre aljo nicht uneben, obwohl fie nur die Teilung 
dreier Vermögen von jo vielen berührt, Aber nun 
will ich ſelbſt, da ich die Einwendungen kenne, fort 
fahren, damit fie in der richtigen Ordnung er« 
jcheinen. Alfo Cliché Nr. 2: ‚Wenn man die Erde 
um acht Uhr des Morgens verteilen würde, jo hätten 
die Schlauften und Stärkiten die ganze Erde um 
zwölf Uhr im Beſitz.“ Antwort: jehr wahricheinlic. 
Daher hat fein Sozialift, ſondern nur ein fleines, 
fonjervatives Gehirn diefe Stupidität erjonnen. Es 
iſt nämlih nicht im entfernteften die Rede von 
irgend einer Teilung, denn gerade die gegenwärtige 
‚Zeilung‘, vermöge deren zwanzig Berfonen den Grund 
und Boden Englands befigen, ſoll ja aufgehoben wer⸗ 
den. Der Staat joll allmählich jedes Eigentum, das 
ja dem Staate gehört, erpropriieren, da der Staat 
Staatsſchulden machen fann. Und dann wird ber 
Staat fih wohl hüten, nod einmal eine Teilung 
vorzunehmen! Iſt das Mar? — Elihe Nr. 8: ‚Die 
Spyialijten, die auch Darwiniften find, jollten das 
Erbrecht nicht angreifen, denn das Erben von 
Mitteln zum Leben wäre ja ein gutes Erbteil zur 
Beredlung der Kaffe.‘ Halt! Das Gefühl, etwas 
zu bejifen, was man nidt erworben, bringt bie 
Kaffe zur Entartung. Beweis: die alten Königs« 
und Adelsgeſchlechter. Jeder, der nicht arbeitet, 
wird jterben, eines natürlihen Todes, wenn bie 
Krifis über die Welt jchreiten wird. Das ſchlimmſte 
Erbe, das du deinem Finde geben Fannit, ift Eigen» 
tum, jobald es aufgehört hat, Mittel zur Arbeit zu 
jein, und ausjchließlich Genußmittel geworden ift. — 
Clichéè Nr. 4 (wir lennen fie alle, wie die Schweiter 
fieht!): ‚Die Menfchen werden, wenn das Erbrecht 
aufhört, es unterlajien, mehr zu produzieren, als 
fie gebrauchen.‘ Antwort: So joll es jein. Dadurd 
hört das Anwachſen des Kapitals in einer Hand 
auf und zugleich die Ueberprodultion, die alle Kriſen 
bervorbringt. Und — das übrige ſpare ich mir für 
das nächſte Mal auf — ein jeber, der feinen Kindern 
feine Erbſchaft binterlaffen fann, eine Erbichaft, Die 
jo oft von VBormündern, von den Erben felbjt ver 
geudet wird, bie ihren Wert verlieren fann durch 
Teuerägefahr, Erdbeben und jo weiter, wird feinem 
Kinde ftatt deſſen das Befte geben: eine Erziehung! 
Mit Starken Armen und einer gefunden Seele. Dann 
werben die heiligen Gefühle des Sohnes am Toten» 
bette des Vaters nicht entweiht werden durch ſchändliche 


1084 


Gedanken an das Erbe, an den Nuben, den ihm 
der Geliebte durch feinen Tod gemährt, und der 
Sterbende wird das angenehme Gefühl haben, der 
Nachwelt einen ftarfen, nüßlichen und guten Mit 
bürger zu binterlaffen, während fein Eigentum zum 
Mohle aller verwendet wird, alfo aud) zum Mole 
des Sohnes, der fi dadurch ſolidariſch fühlen wird 
mit dem Gejchlecht, das in Eintracht genießen wird, 
was ein jeder befonders für dasſelbe erarbeitet hat.“ 

Die Verhandlungen wurden geſchloſſen. Die 
Theemaſchine fummte, und man leerte friiche Gläfer 
des duftenden Trankes. Der ernfte Teil war vor« 
über, und nun wollte man fi duch Scherz und 
Spiel erholen. Emil holte eine Guitarre herbei 
und fang. Dann ſchob man die Tiſche beijeite und 
tanzte. Hierauf wurde ein leichtes Abendeſſen auf- 
getragen, Die Stunden verſchwanden unter herz- 
licher Freude und Luftigfeit. Man vergnügte ſich 
wie außgelaffene Kinder, in dem Bewußtjein, daß 
da& Leben ernft genug jei, und man nicht nötig 
babe, um eines Nichts willen der Freude zu entjagen. 

Es wurde fpät, und Blanche mußte gehen. Emil 
begleitete fie. 

Draußen hatte fih der Himmel aufgeflärt, und 
der Mond beleuchtete den See umd die Alpen. 

Blanche ergriff Emild Arm, und ftumm gingen 
fie nebeneinander ber. 

„Haben Sie ſich heute abend amüſiert?“ fragte 
Emil, 

„Wie nie zuvor,“ antwortete Blanche. „Aber 
fagen Sie mir nur eins. Sind diefe jungen Men« 
ſchen heimlich verheiratet?“ 

„Wiefo ?“ 

„Hm! Mir ſchien, ald wären fie ſo — wie fol 
ih jagen? — intim.“ 

„Jawohl, fie find verheiratet, heimlich.” 

„Getraut?” 

Es entftand eine Paufe, 

„Nein, nicht getraut,” jagte Emil. 

Blanche fuhr zufammen. 

„In welche Geiellichaft haben Sie mid dann 
geführt ?" 

„In die Geſellſchaft verheirateter Leute.“ 

„Uber nicht getrauter?” 

„Ihre Tante war verheiratet, aber nicht getraut.“ 

„Meine Tante?” 

„Ja, denn fie war cine Zivilehe eingegangen. 
Die Trauung ift eine fpäte Erfindung, die im 
vierten Jahrhundert gebräuhlih, im vierzehnten 
obligatoriih und nah der Revolution freiwillig 
wurde.” 

Blanche Tann eine Weile nad). 

„Wohnen fie zufammen ?“ 

„Nein,“ ſprach Emil, „Die einander lieben, 
brauchen nicht in derjelben Wohnung zu wohnen, 


Auguft Strindberg. 


nicht diejelben Möbel abzunugen und nicht an einem 
Tische zu eſſen. Auch das Zivilgefeh jchreibt das 
nidjt vor.” 

„Sie verteidigen aljo das Laſter?“ 

„Das Lafter, liebe Freundin, das Sie, mid 
und alle Menſchen zur Welt gebracht hat, das Laiter, 
auf welches der Pfaffe bei der Trauung Gottes 
Segen herabruft, das Laſter, deſſen Folgen bie 
Eltern der jungen Eheleute mit Sehnfucht entgegen 
jehen, und deſſen Folgen die höchſte Freude der 
Menſchen bilden — ja!” 

„Sie ſprechen jo jonderbar!” ſagte Blande. 
„Aber Sie haben ja recht!” 

Sie wanderten ruhig weiter und waren balb in 
ber Stadt. 

„Was wird bie Tante ſagen?“ meinte Blande. 
„Ih kann mid) von dem Gedanken nicht frei 
machen, daß es unehrenhaft ift, ihr Brot zu eſſen 
und meine Verpflichtungen nicht zu erfüllen.“ 

„Ihr Brot? Woher hat fie 8? Hat ſie & 
ſich erarbeitet? Nein, fie hat nie gearbeitet. Sie 
hat es von ihrem Vater, einem Kaufmann, ererbt, 
der e& durch Angebot und Nachfrage, das Heikt durch 
die Not andrer, ſich angeeignet hat!* 

„Durch die Not andrer ?* 

„sa, gewiß. Wenn Getreide genügend vorhan- 
den ift, das heißt, wenn feine Not herricht, dann 
fällt der Preis; ift Not vorhanden, das heißt, ift 
die Nachfrage groß, jo fteigt der Preis. Bon jelbft? 
Nein, der Kaufmann beitimmt den Preis und nüft 
die Not der Menjhen aus. Das ift ein ſchönes 
Recht, ein äfonomifches Recht! Ein Großhändler 
ſetzt als Gehalt für einen Commis zwölfhundert 
Franlen aus. Er annonciert die Stelle. Bewirbt 
fi) nur einer darum, jo giebt er jeine zwölfhundert 
Franken, denn er fürchtet jonft, allein zu bleiben 
und felbft in Not zu geraten, Bewerben fid) zwanzig 
um die Stellung, jo bietet er taujend fyranten; hat 
er fünfzig Bewerber, fo giebt er fünfhundert Franten. 
Das heift, er macht fi die Notlage andrer zu 
Rufe, Wer hat ein folches Geſetz gemacht? Mit 
Hilfe dieſes Geſetzes genieht Ihre Tante jeht die 
Zinfen! Wie vieler Menihen Tod, wieviel Hunger 
und Leiden haben dieſe Zinſen geloftet! Jeht jollen 
Cie die Miffethaten der Väter gutmachen und ber 
leidenden Menjchheit dienen — natürlich; gegen 
Honoraf. Sie werden Enzian gegen Magenbe 
ſchwerden, bie durch unregelmäßige Mahlzeiten ent» 
ftanden find, verichreiben und vier Franken für ben 
Kranfenbefuh nehmen und der Apotheler, Ihr 
Eompagnon, einen Franken für den Enzian, der auf 
den Bergen gratis wächſt, und einen halben Fraul 
für die Flaſche, denn die Glashütten wollen aud 
leben. Weld herrliche Aufgabe Ihnen da blüht! 
Anftatt dem Armen ſechs Franken für Fleiſch zu 


Neubau. 


geben, nehmen Sie ſechs Franken, damit er mur die 
privilegierte Gentiana des Apothekers kauft, die 
nicht jättigt, und die der Arme mit einiger Kennt« 
nis der Geiundheitspflege jelbit pflüden faun! Welch 
edle Aufgabe — gefeßlihen Humbug zu treiben !“ 

„Aber Sie zerftören ja alles vor meinen Augen! 
Sagen Sie mir doch: warum werben die Ruſſinnen 
Aerzte ?* 

„Um das Elend, bloßzulegen; um in den falfchen 
Karten zu leſen; um danad) zu forſchen, ob nicht 
die Urſachen der Krankheiten in der Armut liegen 
ober im Wohlleben, in ber Tugend oder im Laſter; 
um die Möglichkeiten zu ftudieren, den Sranfheiten 
vorzubeugen, anftatt fie zu heilen! Werjchreiben 
Sie den Blutarmen Filet und ftarkes Bier an Stelle 
von Enziantinftur, dann werden Sie hören, was 
man Ihnen antworten wird. — ber jetzt find wir 
zu Haufe! Leben Sie wohl! Sehen wir uns 
morgen im Schänzli? Um mehr zu befpredhen ?* 

„Ja,“ ſagte Blande, „Warum fünnen Sie 
nun nicht mit mir fommen, neben mir ftehen und 
für mid; ſprechen, wenn ich der Tante etwas vor⸗ 
lügen werbe?“ 

„sa, warum?“ antwortete Emil und ging. 

* 

Am nächſten Abend, als der Mond den See 
beleuchtete, promenierten Blanche und Emil zu— 
jammen, 

„Was ift die Liebe?" fragte Blanche, indem fie 
fih auf Emils Arm ſtützte. 

„Sie ift ein Myfterium, deifen profaifche Löſung 
Sie noch nicht anzuhören ertragen! Wir find näm— 
ih jo mit Lügen gefättigt, daß uns die Wahrheit 
widerlich erfcheint.“ 

„Aber jagen Sie es mir dennoch! 
es, ohne von Zellen zu fprechen!“ 

„Das fann- ich nicht!" 

„Sagen Sie es dennoch! Sagen Sie, was fie 
nicht it.“ 

„Sie ift nit die Schönheit, denn Sie find 
nicht Schön; fie ift nicht der Geift, denn Sie find 
laum ſcharfſinnig; fie ift nicht die Tugend, denn 
die Begriffe darüber find unſicher; fie ift nicht bie 
Feſtigkeit des Willens, denn Sie find ſchwach; fie 
ift eine Ericheinung, nichts weiter, Ich liebe Sie, 
obwohl Sie nicht ſchön, nicht geiſtvoll, nicht ftarf 
find, Ich liebe Sie, trofdem mein Verftand mid) 
vor Ihnen warnt, id) liebe Sie, troßdem ih Sie 
nicht bemundere, Bisweilen kan ich Ihnen eine 
Menge Eigenjhaften andichten, die Sie nicht be» 
Ren, aber — dann fommt mein fcharfer Verftand 
und ftreicht alles dur, das Faktum aber bleibt trotz⸗ 
dem beſtehen — id liebe di, weil — ih did 
liebe! Dein Bild ift auf dem Grunde meines 


Sagen Sie 


Auges photographiert, jo daß ic) feinen Gegenftand ı 


1085 


betrachten fann, ohne ihn durd) dein Bild zu jehen; 
wenn ich auf die Uhr fehe, erblide ich dein Bild 
zwiſchen den Zeigern; wenn ich eine Dame auf der 
Straße ſehe, nimmt fie deine Geftalt an. Wenn 
ich dich fehe, jehe ich das Vollkommenſte, deine 
Linien nehmen Töne an und feßen meine Nerven 
— die Saiten meiner Seele, verzeihe — in Harmonie; 
deinen Gang betraditen macht mid glücklich und 
bein Bild mich trunfen! Ich bin überzeugt, daß, 
wenn man mich jebt totſchlüge und jofort obduzierte, 
ein Mitroftop dein Bild auf meiner Nekhaut, in 
jeder Sungenzelle, in jedem Gewebe des Herzens, im 
Rückenmark jehen könnte; jebes Blutkörperchen würde 
dich widerjpiegeln, jede Gehirnzelle — verzeihe den 
Ausdrud — wie ein Mikrophon beine liebe Stimme, 
du Geliebte, wiedergeben!“ 

Er umfahte fie und drüdte fie feit an fih. Ihr 
Pelzkragen mit den weichen Federn berührte jeinen 
Mund, und er fühte fie auf die Stirn. 

„Wir müflen uns verloben,“ ſagte Blanche ſchnell 
und ftieß ihn zurüd. 

„Wir find verlobt,” antwortete er. 

„sa, aber die Tante...“ 

„Was geht das die Tante an?” 

„Aber fie giebt mir das Brot.” 

„Das ift wahr! Und darum!! 8 liegt fonft 
in ber Natur der Liebe, fich zu verbergen. Man 
nennt dad Keuſchheit. Mir ericheint es unkeuſch, 
zu zeigen, was nicht gejehen werben joll, was nur 
uns beide angeht! Liebſt du mich, Blanche?“ 

Ich liebe di! Aber deshalb, weil du ftärker 
bift als ich, weil du mir neue Gedanken giebft, weil 
du mid) tragen kannſt, wenn id; mübe werde, weil 
du alle Eigenjhaften befigeft, die ich entbehre.” 

„Dann bijt du ja eine Egoiftin, Blande! Du 
verleumbeft dih! Du liebſt mid aus Berechnung. 
Weil du etwas von mir empfängft, Nuben, eine 
Stütze an mir haft. Glücklicherweiſe bin ich arm; 
fonft müßte ich glauben, du liebt mich des Geldes 
wegen.“ 

„Pfui, wie du jcherzeft!” ſagte fie. 

Und damit trennten fie id. 


* 

Am nächſten Abend trafen fie fich wieder, 

„Haft du gehört, dab die Deputiertenfammer 
einem Gejeh über das Erbrecht uneheliher Kinder 
zuzuftimmen im Begriffe ift?* begann Emil, 

„Nein, aber es fommt nicht zu früh.“ 

„Zu früh und zu ſpät wie jede Halbreform. 
Hebrigens ift es mehr gut gemeint als ſcharfſinnig. 
Die PVaterfchaft kann nie bewiefen werden; die 
Mutterfchaft ift das einzige, worauf man fich ver- 
laſſen kann. Aber das Weib hat feine Erwerbs- 
mittel zu jeiner Dispofition, deshalb mußte es 
den Mann zum Sklaven maden, daß er für fie 


1086 


arbeite. So hat fie es jeit undenflidhen Zeiten ge— 
madt; aber die Sflaverei hat immer den Sflaven- 
‘halter demoralifiert; daher ift das Weib entartet, 
egoiftiih und für die Gefellihaft faſt unmöglich, 
Sie ift in dem Entwidiungsftadium der Familie 
ftehen geblieben. Dur den Verfuh, den Mann 
frei zu machen, durch Selbftarbeit tritt fie als Kon— 
furrentin auf, und der überfüllte Arbeitämartt wird 
zum blutigen Wahlfeld der beiden Geſchlechter für 
den Kampf ums Brot werden. Diefer Kampf wird 
die Gefellichaft fprengen und den Eintritt einer 
neuen Gejelihaftsordnung vielleicht beichleunigen, 
vielleicht aber aud) aufhalten. In dem Augenblid, 
wo die Erbſchaft ganz aufgehoben werden joll, mit 
neuen Erbſchaftsgeſetzen hervorzufommen, das ift 
fein Fortichritt. Den Unterſchied zwiſchen ehelichen 
und unehelihen Rindern fann nur die neue Ge» 
jellichaft auslöſchen, wenn der Staat alle Kinder 
gleihmäßig in jeinen Schuß nehmen wird.“ 

Blanche wurde unaufmerfjam und wollte von 
andern Dingen reden. Der Schnee war gefchmolzen, 
und zum Spazierengehen war es naß und häf« 
lich; vom Waſſer her blies ein rauber, feuchter 
Wind. 

„Es ift nicht angenehm, hier zu gehen,” fagte fie, 

„Nein, es wäre behaglider, in einem warmen 
Zimmer mit Teppichen zu fiken,“ antwortete er, 
„Wie jollen wir dahin gelangen?” 

„Wir müſſen uns verloben,” fagte Blanche, 

„Und zu Haufe bei der Tante ſitzen und über 
die Männer berfallen! Nie mehr von dem ſprechen, 
was wir denlen, ſondern aus Höflichfeit mit ihr 
über gleichgültige Dinge plaudern!” 

„Dann müflen wir heiraten!” 

Emil wurde ftill. 

„Ja, natürlih,* ſprach er. „Wir müflen heis 
raten. Wir können doch nicht unſer ganzes Leben 
lang im Dunkeln auf der Straße umberwandern! 
Über deine Lebensbahn ?* 

„Wird wohl dadurch nicht gehindert werben!“ 

„Dielleicht! Oder wir werden durch deine Lauf- 
bahn gehindert. Der Herr geht des Morgens aus, 
Kommt mittags nad Haus. Iſt die frau zu Haus? 
Nein, fie ift ausgegangen, Nachmittags kehrt fie 
zurück. Iſt der Herr zu Haufe? Nein, er ift 
ausgegangen. Man trifit ſich möglidherweile am 
Abend. Das feuer im Ofen brennt, die Lampe 
it angezündet, Nun wollen wir plaudern. Da 
flingelt e8, die Frau muß fort. Und jo jieht man 
ich nicht mehr, denn der Mann fchläft, wenn die 
frau nah Haufe fommt. Man fpielt blinde Kuh, 
ohne ſich jemals zu erhafchen.” 

„Uber wenn ich meinen Beruf aufgebe? Ich 
babe, aufrichtig gejagt, gar feine Luft dazu!” 

„Dann mußt du allein zu Haufe fihen und 


Auguſt Strindberg. 


trifft mich nur bei den Mahlzeiten an! Was iſt 
dann zu thun?“ 

„Du fragft mih? Du müßteft antworten, wenn 
ih frage.“ 

„Nur die Zulunft kann antworten! Nur bie 
Zukunft kann uns Freiheit geben; jetzt find wir 
alle Sklaven, und jeder Verfuch, die Ketten zu durd« 
feilen, ſtraft ſich durch verftärkte Kerlerhaft. Lebe 
wohl, Die Uhr ſchlägt! Die Kerfermeifter warten!“ 

In Zürich herrichte große Aufregung. Vor dem 
Polytechnilum fanden Gruppen von Studenten im 
Geipräh, ebenjo auf den Straßen, und in den 
Reftaurants ſaßen fie in dichten Haufen in lebhajter 
Diskuffion. Ein Schreiben der ruffiichen Regierung 
an ben Rektor der Univerjität hatte um die Be 
fanntmadhung gebeten, daß Diejenigen Studierenden 
beiderlei Geſchlechts, welche durch ihr regellojes Leben 
der Nation Schande gemacht Hätten, das ruſſiſche 
Unterthanenredht aber behalten wollen, umverzüglid 
in ihre Heimat zurüdzutehren haben. 

Hierauf war eine Unterfuhung vorgenommen 
und viele nichtruſſiſche Studierende fompromittiert 
und relegiert worden. 

Der Aififtent am chemiſchen Laboratorium, Emil 
Suchard, wurde unter den Ausgewiejenen genannt. 
Dies machte einen um fo peinlicheren Eindrud, ala 
der Mann allgemein beliebt war und man wuhte, 
daß er jeine Studien allein durch das geringe 
Honorar beftritt, das er als Affiftent empfing. 

Emil ſaß des Morgens in jeinem Zimmer und 
ſchrieb Briefe. Nicht an Angehörige, denn die beſaß 
er nicht. 

Sein Schiff war gefheitert. Es galt ein neues 
zu bauen. Mit einem unvollendeten Eramen blieb 
ihm nur übrig, den Verſuch zu maden, in eine 
chemische Fabrik hinein zu gelangen. Aber wo? 

Es Hopfte an die Thür, Blanche trat ein. Kot, 
verweint. 

„Hier haſt du mich! Tante weiß alles!“ ſagtt 
fie und warf ſich weinend auf das Sofa, 

„Was weiß die Tante?” fragte Emil. 

„Alles.“ 

„Daß du bei den Rufjen warſt?“ 

„ya!“ 

„Daß wir uns im Parke trafen?“ 

„Ja!“ 

„Mehr kann fie nicht wiſſen, denn mehr if 
nicht geſchehen. Was follen wir thun ?* 

„Reifen !* 

„Wohin?“ 

„Wohin es iſt.“ 

„Und dann ?” 

„Beiraten!“ 

Emil jhwieg eine Weile, 


Neubau. 


„Wie die andern,” ſagte er ſchließlich. 

„Nicht wie die andern,“ antwortete Blandhe, 
„jondern wie wir,“ 

„Wie wir? Was bebeutet das: wie wir? Unter 
alfen Berhältniffen können zwei Fälle eintreten; wir 
befommen Finder, dann bift du die Magd ber 
Rinder; oder wir belommen feine Rinder, und bu 
wirft meine Magd.” 

„Wir werden feine Kinder und feinen Haushalt 
haben; ich werde Arzt.“ 

„Wovon?“ 

Blanche ſchlug die Augen nieder und juchte am 
Boden. 

„Es ift wahr,“ hub fie wieder an, „meine 
Reflourcen find zu Ende.“ 

„Und meine auch,” fagte Emil. 

Blanche, die über Emils Bermögensverhältnifie 
nie etwas erfahren hatte, ſchien unangenehm über- 
raſcht. Sie hatte als fiher angenommen, daß er 
Mittel beſaß. Es war ja nun peinlich, gerade jet 
ölonomiſche Verhältniffe zu berühren. Aber das 
ganze Dafein hing ja in dieſem Augenblide von 
der Defonomie ab. Sie jah zu Emil auf, ihn mit 
Bliden bittend, die Frage zu löfen. Er ſah un— 
abläffig auf die Erde. Gerade jekt, wo die Hinder- 
niffe gefallen, wo die Feſſeln geiprengt waren, und 
fie einander in die Arme hätten fallen können, jebt 
trat ein Ungebetenes dazwiſchen. 

Blanche war zu ihm gefommen, edelmütig, ftolz 
auf fich, ihm zu zeigen, daß fie für ihn ein Opfer ge= 
bracht, und nun, da ihre Seelen in himmelftürmen« 
den, gemeinfamen Gedanken ſich begegnen follten, 
nun ſaßen fie einander gegenüber, verlegen, voller 
Scham, Blanche obendrein zerfniricht, als ob man 
ihr die Bitte um eine Geldanleihe abgeſchlagen hätte. 

Und er, ihre Gedanken leſend, litt um ihret- 
willen; er war gedemütigt, er jah jedoch feinen 
Ausweg. Aus dieſem entſetzlichen Schweigen aber, 
das deutlicher ſprach, als Worte es gefonnt hätten, 
mußte er fie retten. 

„Wenn wir beide auch,” ſprach er, „unjern 
Beruf fortjegen, ſo glaube ich an eine Ehe zwiſchen | 
zwei Aerzten ebenjowenig wie an die zweier 
Tiſchler oder Schuhmacher. Was gejchehen ift, ge» | 
ihah ohne unfer Verfchulden. Blanche, unfre Wege | 
trennen fi; fehre zu den Deinen zurüd! Verfolge 
deine Laufbahn!” 

„Zurüdtehren! Unmöglih! Dort winft mir 
das Gefängnis.” 

„Mit der Freiheit im Hintergrunde! 
aber bift du lebenslänglich gefangen!” 

„Was haft du denn von mir gewollt? Du haft 
mic an einen Abgrund gelodt, und num jagit du: 
Kehre um!” 

„Weil ich jehe, daß du den Sprung nicht wagſt.“ 


Mit mir 


1087 


„Welchen ?* 

„Ueber die alten Gedanken! Tritt hinaus in& 
Leben und arbeite; du fannft Lehrerin werben, bu 
lannſt nähen, verfaufen ...“ 

„Nähen ſoll ich?“ 

„Was weiß ih? ch werde Seife ſieden oder 
Knochen mahlen! Wir müflen ja leben! Mas du 
auch thun magjt, made dich frei, frei von mir, 
denn nur frei kann ich zu bir aufſehen; als meine 
Frau würde ich dich unter meine Füße treten!” 

Ich joll alfo deine Geliebte werden?” 

„Und id) bein Beliebter! Das ift etwas andres 
a3 Mann und Frau jein!” 

„Und du ſchämſt di nicht, mir ſolche Vor— 
ftellungen zu machen? Ich werde Näherin und beine 
Geliebte! Iſt dies dein Ernſt? Emil, Emil!“ 

„Das ift mir ebenjo ernft, wie daß ich Geifen- 
fieder und dein Geliebter werden fol! Iſt das 
nicht gleiches Spiel?” 

Ich veritehe dich nicht.“ 

„Ih Tange an, es einzufchen. Deshalb bat ich 
dich: Kehre zu deiner Tante zurüd!” 

„Du verhöhnft mich obendrein!” 

„Rein, nur mich ſelbſt. O, dieje alten Lügen— 
ideale, die unfre Augen blenden und unfern guten 
Verſtand abjtumpfen! Du verwirfft meinen Vor— 
ſchlag; du haft alfo andre. Was haft du dir ge» 
dacht, als du hierher lamſt?“ 

Blanche war aufgeftanden und hatte ihre Hand« 
ſchuhe zugefnöpft. 

„Ih will Ihnen jagen, mein Herr,“ ſprach fie 
mit bebender Stimme, „dab ein Mann, ber ein 
Weib an ji lodt, eine gewiſſe Berantwortung 
trägt... .” 

„sowohl! Das weiß id. Schabloshaltung, 
Erfah... Nein, nein, Blanche, nicht diefen Romane 
Ihluß zwifchen ung! Willſt aud) du die Rechnung 
für deine Liebe präjentieren, den Waſchzettel für 
zerfnüllte Kragen und Manjdetten, o pfui! Laß 
uns zu Ende fommen! Mas willft du? Daß wir 
ung heiraten? Zwei Betten, einen Eßtiſch, ſechs 
Rohrftühle. Sich im jelben Zimmer entfleiden, am 
felben Tiſche zanfen, fih mit demjelben Kamme 
fümmen! O, ich wollte, ich wäre tot!” 

Blanche ftand an der Thür und hielt die Klinke 
in der Hand. 

„Du glaubft alfo feine Pflichten zu haben für 
die Opfer, die ich dir gebradht?* 

„Dpfer? Du Haft mir deine Liebe geopfert 
und ich dir die meine! Hätten wir ein Kind ge— 
habt, dann wäre es meine Pflicht geweſen, für diejes 
Kind und für dich zu forgen, denn die Frau hat 
feine Pflichten gegen ihre Kinder, und fie kann fie 
auch nicht haben, da fie auf dem Markte des Er- 
werbes nicht volle freiheit genießt oder nicht genießen 


1088 


wollte. Aber jeht! Noch haft du deinen Beruf 
nicht aufgegeben, fehre um! Ich biete dir die 
freiheit, und du verlangft nad dem Keerler.“ 

„Ih werde umkehren,“ ſprach Blanche mit fefter 


Stimme „Und fein Mann wird mid) je wieder 
verloden. Lebe wohl!“ 
Sie ging. 


Er hörte, wie ihre Heinen Stiefel auf die Stufen 
auſſchlugen; hinab, hinab die teile Treppe. Dann 
fiel die Hausthür dumpf, ſchwer wie ein Seufzer, zu. 

Er lief an das Fenſter, riß es auf und lehnte 
fi hinaus. Hier jah er Blanche wieder, aber aus 
der Höhe ſah er fie in einer Verkürzung. Ihre 
Figur wurde durch die Perfpeltive entjtellt; fie ſah 
aus wie eine jener groteäfen Figuren, bie eine 
Gartenkugel wiedergiebt. Ihre feinen Linien waren 
verzerrt und das ganze Bild entftellt. 

Sein jhöner Traum war zu Ende, er ging ba» 
bin, indem er fi in eine Mißgeftalt auflöjte und 
nur die Erinnerung an etwas Häßliches Hinterlieh. 


* 

„Sit der Doktor zu Haufe?” fragte ein Patient, 
der an eine Thür Mopfte, an der ein Meſſingſchild 
mit der Inſchriſt: „Blanche Chappuis, praltiſcher 
Arzt” befeitigt war. 

„Der Doktor ift frank," antwortete Tante 
Bertha, „aber ich) werde einmal nachfragen, ob ie 
empfängt.“ 

Mademoifelle Bertha, die in den fummernollen 
Jahren, welche dem Verluft ihres Vermögens gefolgt 
waren, bedeutend gealtert hatte, ging in Blanches 
Zimmer, um zu fragen, ob fie empfangen wolle, 
Hier war es voliftändig finfter, und auf dem Sofa 
lag Blande, den Kopf verbunden. Zwei Tage 
batte jie, wie gewöhnlich, im heftigen Kopfweh ge— 
legen, ohne etwas genießen zu fünnen, unfähig, zu 
jprechen ober fich zu bewegen. Einmal im Monat 
markierte fie „Leichenparade”, wie fie e8 nannte; ein 
Mittel dagegen gab es nicht. 

„Ein Patient ift da,* jagte die Tante jo janft 
wie möglich). 

„Lab mich in Ruhe,” braufte dat arme Mädchen 
auf und wand fi auf dem Sofa. 

„Über liebe Blanche, du weißt, wie jchwer wir 
es haben.” 

„Ich weiß, ich weiß! Iſt's der Krämer oder 
der Schlähter? Ich ertrage das nicht.” 

„Aber liebes Kind, wir müflen doc) leben, und 
du darfit die Patienten nicht fortgehen laſſen. Du 
mußt rechnen!” 

„Die Wohlthäter der Menfchheit follen vom 
Elend der Menjchheit leben,” ftöhnte Blanche. „Welche 
Widerſprüche, welche faliche Stellung!” 

„Aber liebes Kind, wer nun einmal geboren 
ift, der muß doch auch leben, und wenn bu beine 


Auguft Strindberg. 


Patienten nicht verſcheuchen würdeft, fönnteft du « 
jehr gut haben.“ 

„Jawohl, wenn ich jener reichen Frau nicht ger 
ſagt hätte, daß ihre Hyſterie Ziererei ift, dann hätte 
ih jet Frauenpraxis gehabt. Aber ich Habe fie 
ja mit einer Karaffe falten Waſſers geheilt, und 
ihr Mann ift mir für diefe Kur ewig dankbar, die 
Frau allerdings nit! O! — Gieb mir mein 
Notizbud. Sieh mal meine Gejchäfte durch; ih 
kann heute nicht leſen. Ein Mervenfieber Rue de 
Montblanc, zehn Beſuche & drei Franken; das wird 
vermutlich bezahlt. Mafern bei dem Portier Route 
de Garouge: bezahlt nit. O! Nein, das mußt du 
erledigen, Tante, das ift zu demütigend. Was will 
der Menfh draußen? Sage ihm, daß ich ihn heute 
nicht empfangen kann! Unmöglich, börft du? Und 
gehe jeht hinaus! Jh muß allein fein!“ 

Tante Bertha verabfchiedete den Patienten. 

Blanche Hatte feit der ſchweren Krifis in Zürid 
bittere Tage und viele zerftörte Jlufionen durchlebt. 
Die beiden legten Stubienjahre hatte fie umter vol: 
ftändiger Bewachung und ſcharfen Kämpfen zugebradt. 
Sie arbeitete und arbeitete, um die Eiſenkette zu 
durchfeilen, mit der die wirtichaftlichen Werhältnifie 
fie an die Alten ſchmiedete, und ala fie endlich das 
Eramen bejtanden hatte, und die freiheit ihr winkt, 
da mußte fie wie früher mit den Alten leben, die 
jet aber eine Laſt waren, bie fie zu tragen hatte, 
weil die beiden Alten nad) dem Verluſt ihres Ber 
mögens ſich jelbjt nicht ernähren fonnten, 

In Genf, wo fie ſich zuerft niedergelaſſen hatte, 
gab es bereit3 mehrere weibliche Aerzte, To da fi 
die Ehre, die erfte zu fein, nicht mehr geniehen 
fonnte, Außerdem durfte fie weder auf Hilfe nod 
auf Rat oder Freundihaft von jeiten ihrer männ 
lichen und weiblichen Kollegen rechnen. Der Kamp 
ums Dajein ift hart, und überall begegnete jie einem: 
„Hilf dir ſelbſt!“ Die männlichen Aerzte behandelten 
fie nicht mehr mit Höflichkeit wie eine Dame, ſon⸗ 
dern mit ber Kälte, die einem Konkurrenten ji 
kommt. 

Worauf fie ſicher gerechnet hatte, das war natür 
licherweije die Frauenpraxis. Aber hier befand fie ih 
in einem großen Jrrtum, denn die Damen hatten zu 
einem männlichen Arzte mehr Vertrauen oder fanden 
größeres Gefallen an jenen intimen, zwar für die 
Keuſchheit peinlichen, aber doc fo herzitärfenden 
Tete⸗a⸗tetes. An die Wiſſenſchaft zu denken, blieb 
ihr gar feine Zeit, denn die Eriftenz nahm ale 
Kräfte in Anſpruch, und nad zweijähriger Prazit, 
unter umendlichen Kämpfen mit ihrem Zartgefühl, 
umbergeworfen in ihrer Zwitterrolle ala Wohlthäterin 
und Gejhäftsperjon, war Blanche ſchließlich zu einem 
genügjamen Praktifus berabgefunfen, dem jet 
Arbeit recht jein mußte. Sie hatte viele Arme zu 


Neubau, 


Patienten und wurbe bisweilen bei ſchweren Fällen 
ala Hilfe der Hebamme zugezogen. Den Reiz, ihr 
eignes Brot zu effen, fühlte fie faum, da es mit 
jo vielen Demütigungen des Erwerbes verbunden 
war, und bie Freiheit, das heißt die Freiheit, feine 
Stunde für ji zu haben, faft Feine Nacht ruhig 
ichlafen zu Fönnen — der jhöne Traum war vorüber, 
Aber wenn fie wenigſtens die Freiheit beſeſſen hätte, 
fiet3 ihrem Gewiſſen folgen, dem Patienten bie 
Wabrheit jagen zu dürfen! Doch die harte Hand der 
Not zwang fie jehr bald, diefen Kampf aufzugeben. 
Bei den Damen hatte fie einen ſchlechten Anfang 
gemacht mit der Verordnung, das Korfett' und die 
hoben Abjähe abzulegen ; jolche Verordnungen, meinte 
man, fönne man fich ſelbſt geben; ein Arzt, deſſen 
Hüfe man in Anfprucd nehme, den man bezahle, 
müſſe etwas „verſchreiben“. Dann fam der Kampf 
gegen ihr eignes Fleiſch. Sie ftand in der Blüte 
ihres Alter, wo fie auch ein gejchlechtliches Leben 
führen jollte, aber nach dem Bruche mit dem erften 
Manne, den fie geliebt hatte, war ihr das andre 
Geſchlecht gleichgiltig geworden, und das andre Ge- 
ſchlecht wollte aud) von ihr nichts willen. 

Es war ein trauriges Dajein, an dem die Un» 
ruhe um die Eriftenz nagte. Ihre menjchenfreunds 
lihen Gefühle wurden durch ſolche Gedanken, die 
jie nicht 108 werben konnte, entweiht. 

Wäre es in der Ehe nicht bejjer geweien? fragte 
fie ſich mitunter, aber jeht, wo fie jo manchen Ein» 
blid in das Familienleben gewonnen hatte, war fie 
überzeugt, daß es dann mindeftens ebenjo traurig 
gewejen wäre. Sie hatte hineingeblidt in die Sad- 
gafje halber Mafregeln, die man zur Befreiung bes 
Weibes ergriffen hatte. Es erforderte ganz andre 
Reformen, um alles in das rechte Geleiſe bringen 
zu können, Aber welche? 

Eines Tags bejuchte fie eine Hebamme, die ver 
heiratet war und ihr in der Praris zu helfen pflegte. 
Sie fand weder den Mann nod) die Frau zu Haufe. 
Der Mann war Schuhmader. Im Zimmer hinter 
ber Küche fchrieen vier Kinder. Das ältefte war ein 
Mädchen von fieben Jahren, das nad) den andern 
Geſchwiſtern jehen follte. Sie mußte Mil; wärmen, 
die Saugflaſchen voll halten, die Heinen Geichwijter 
tragen und wiegen und hatte ſchon infolge der 
ſchweren Laft einen frummen Rüden und einen her= 
vortretenden Unterleib, Sie mußte die ganze Schwere 
des Lebens und ber Mutterfhaft tragen, noch ehe in 
ihr ein Gedanfe vorhanden war, Mutter zu werben. 


„Aber Hebe Frau, wie fonnten Sie fih aud) | 


berbeiraten?“ jagte Blandje vorwurfävoll, als die 
Frau jhließlih nah Haufe kam. 

„Man muß doch einen Mann haben, willen 
Sie,“ antwortete die Hebamme, die zu Haufe eine 
tüchtige Mutter war, 

Aus fremden Jungen, 1897, IL 29, 


1089 


Blanche jah diefe Notwendigkeit nicht ein. Aber 
die Hebamme erklärte ihr, daß ihre Kinder es nicht 
ſchlimmer hätten als andrer armer Leute Kinder, 
deren Eltern auf Arbeit gehen müſſen. 

Und das ift, dachte Blanche, die ideale refor« 
mierte Ehe, in der beide Gatten arbeiten, und die Frau 
von der Sklaverei des Mannes befreit ift! Hier 
ift ja die behauptete Freiheit der Mutter mit der 
Sklaverei der Siebenjährigen erfauft! Ueberall 
SMaverei! Und wenn aud) die Siebenjährige ihrer- 
ſeits durch die erhöhten Einkünfte der Eltern befreit 
werden könnte, jo gejchähe es auf SKojten einer 
neuen Sflavenarbeit — der einer Dienftmagd! 

Unter den weiblichen Werzten hatte nur eine ge» 
heiratet. Die Ehe blieb Finderlos und endete mit 
ber Trennung. Eine Ruffin, die nicht heiratete, 
aber mit einem Manne Verbindung unterhielt, ver» 
lor ihren „Ruf* und damit ihre Praxis und mußte 
die Stadt verlajjen, 

Wäre Blanche allein im Leben gewejen, jo hätte 
fie vielleicht gewagt, ihre eignen Wege zu gehen, 
aber jeht hatte fie an den beiden Alten zu ziehen. 
Bisweilen fühlte fie fi) gegen dieſe tief undanfbar. 
Sie haben ja, jo meinte fie, ihre Forderungen der 
Dankbarkeit, des Gehorſams recht gründlich ein- 
gezogen; num verlangen fie noch bare Bezahlung oben⸗ 
drein. Und dieſen beiden unproduftiven Weſen, 
ohne welche die Welt ebenjogut beftanden hätte, 
follte fie ihr Leben opfern, ihre Sehnjucht, in ihrem 
Berufe ehrlich fein zu dürfen! 

Dann traten noch traurigere Tage ein, Blanche 
hatte das Unglüd gehabt, daß ihr eine Operation 
mißlang. Ebenjo folidarish, wie wenn es die 
Dogmen und Interefien der Zunft, des neuen 
Priefterftandes gilt, ebenſo rajch find fie bei der 
Hand, einen Konkurrenten zu töten. Die Praxis 
war vernichtet, und die Not ftand vor der Thür, 
Blandjes Kredit war gejhädigt, und fie ſah zum 
erften Male ein, daß es thatjächlich Tebensgefährlich jei, 
ohne fichere Zinfen zu leben. Vor dem bungernden 
Leibe wurde der Menſch all feines angehängten Pubes 
als Geiſtesweſen entfleidet, Auge in Auge ftand fie 
ſich jelbit ala ein Tier gegenüber, das ohne Ejjen und 


| Trinken bald aufhören wird, den chemischen Kräften 


MWiderftand zu leiften, und das feiner Verwandlung 
in Erbe entgegengeht. Aus Angſt um das Dafein 
ichlief fie des Nachts nit. Es war ganz einfach 
die Armut! Ohne Ejien leidend und tot, ohne 
Eſſen feine Seele, keine „hohen“ Gedanken, feine 
„Ideale“. Und doch predigen die Jdealiften ftets 
gegen den „rohen Vorteil“, gegen das materielle 
Streben, fiherlich, weil fie nicht zu erjtreben brauchen, 
was jie ſich längſt angeeignet haben. 

Tante Bertha, die gute und ſtolze Tage gejehen, 
und deren ganze Menihenwürbe auf ihren Renten 

137 


1090 


gerubt hatte, war gar; verzweifelt. Sie fluchte den 
Kapitaliften und fing an, Sozialiamus zu predigen, 
natürlich ohne es zu wiffen. Zu einer Eriftenz ges 
boren werden, in der man micht die Mittel für 
alle (jeht rechnete fie fich bereits zu den unglüdlichen 
„allen“) vorrätig babe, das jei ja ein gefährlicher 
Zuftand der Dinge, der jo jchnell ala möglich ge= 
ändert werben müſſe. Einen Augenblid kam fie 
wirflich auf die Idee, zu arbeiten, und begann zu 
nähen, aber der Arbeitämarft war jo von Näherinnen 
überlaufen, daß für fie fein Pla vorhanden war. 
In diefem Halle konnte fie beim beſten Willen die 
Männer nicht beihuldigen, daß fie den Markt in 
Beihlag genommen hätten. 

Die Not ſchtie immer lauter, die Seelen bes 
reiteten ih aus Mangel an Nahrung vor, zur 
ewwigen Ruhe zu gehen, und nun mußten alle zu= 
geben, daß es ohne Nahrung feine Seele gäbe. 
Endlih, nad monatelangem Suchen, gelang es 
Blande, in Norbeffrantreih eine Anftellung als 
Fabrilarzt zu erhalten. 


An einem ſchönen Frühlingsmorgen langte Doktor 
Blanche Chappuis in der Meinen Stadt Guife im 
Departement Aisne an, von wo man fie jogleich 
an ihren neuen Beitimmungsort in die große Eijen- 
gießerei des Deputierten Godin brachte. Nachdem 
man fie in ihr Zimmer geführt und Blanche Toilette 
gemacht hatte, wurde fie in das Gomptoir geleitet, 
um ihren Prinzipal zu begrüßen. In einem feinen 
Gebäude in der Nähe der Giehereien hatte Frank— 
reichs edelfter, wenn nicht berühmtefter Mann fein 
Arbeitszimmer, und hier ftand Blandje, nicht ohne 
eine gewille Unruhe, bald einem Manne gegenüber- 
zutreten, von deſſen gutem Willen ihr Dafein ab- 
bing. ber das wohlwollende Aeußere und die ein« 
fache Freundlichkeit des alten Herrn beruhigten fie 
jofort. 

„Doktor Ehappuis,” begann er, „ich fenne Sie, 
aber Sie werden vermutlich weder mich noch ben 
Ort fennen, an dem Sie eine Wirffamfeit ſuchen. 
Vielleicht beginnen wir zunächſt damit, daß id) Sie 
mit diefer Heinen Gemeinde befannt mache, ehe Sie 
irgend welche Verbindungen zu berfelben eingehen.“ 

„Mit Vergnügen, Herr Prinzipal,“ antwortete 
Blanche. 

„Ih bin weder Ihr Prinzipal noch Ihr Patron,” 
entgegnete ber alte Herr, „denn bier find wir alle 
Prinzipale, und auch Sie werden einer werden, aber 
wir find arbeitende Prinzipale.” 

Er ergriff feinen Hut und jeinen Stod und 
führte jeinen Gaft auf den Hof hinaus. 

„Nehmen Sie zuerjt einen raſchen Ueberblick 
über das Ganze“, fagte er, „über das Exterieur. 
Hier rechts der nervus rerum, die Gießereien; bort 


Auguſt Strindberg. 
im Hintergrunde der Geſellſchaftspalaſt, das Pha- 


lanftöre, drei rechtwinflige Gebäude mit glasbebedten 
Höien, Wohnungen für zweitaujend Perjonen eni- 
baltend. 

„Houriers und Owens Utopie,“ jchaltete Biande 
ein. 

„Eine verwirffidte Utopie! Eine der vielem 
verwirflichten Utopien, deren Dajein die alten 
Menjhen leugnen. Ebenſo wie fie die Möglichkeit 
internationaler Schiedögerichte zum Erſatz des Krieges 
beftreiten, trotzdem fie die Löjung der Mlabamafrage 
miterlebt haben. Die faljche Logik des böfen Willens, 
Ferner: das Kinderhaus, in dem jämtliche Kinder 
gepflegt und erzogen werben; die Schulfäle, Theater, 
Reftauration, Cafe, Billardzimmer, die Bibliothet, 
dad Badehaus, der Stall, die Meieret und bie 
Gärten. Das tft, wie Sie fehen, ein vollftändiger 
Staat. Und diefer Staat bafiert auf der Arbeit. 
Iſt das nicht richtig?* 

„Sowohl,“ antwortete Blanche, „aber Arbeit 
ohne Kapital?“ 

„Ganz recht! Arbeit ohne Kapital kann Kapital 
ſchaffen, denn jo ift jebes Kapital entftanden, aber 
das Kapital ohne Arbeit bedeutet nichts. Das habe 
ih erfahren, aber leider erft ziemlich jpät. Mein 
Vater legte dieſe Gießerei an und gelangte zu einem 
Vermögen, das ich erbte. Ich ſetzte das Geſchäft 
fort und wurde ſehr reich. Ich hatte mich in große 
Lieferungsunternehmungen eingelafjen und jollte zu 
Anfang der jechziger Jahre das Eijenbahnmaterial 
für die Staatsbahnen liefern, Die Arbeiter ftreitten, 
und mein ganzes Vermögen fand auf dem Spiel, 
denn ein Konkurrent Iodte die Arbeiter von mir 
fort. Da jah id die Ohnmacht des Kapitals ein 
und erlannte die Arbeit als dauernde Triebfrait, 
die erjt dem Kapital feine Macht verleiht. Im den 
fummervollen Tagen, die ich nun durdjlebte, wurden 
mir die Augen geöffnet für die Wahrheit, jeht, wo 
ich jelbft auf dem Wege war, ärmer zu werben als 
jeder meiner Arbeiter, und ich fand, daß id) ein 
Dieb geweſen. Dieje Maſchinen und Gebäude, die 
id von meinem Vater geerbt habe, find ja von den 
Vätern diefer Arbeiter für jenen zufammengearbeitet 
worden; was ijt natürlicher, als daß fie alle an 
dem Erbe und dem Kapital, das fie mitgejchaffen, 
teilnehmen? Dies wurde mir Mar; ich berief jäntlice 
Arbeiter und erflärte fie als Teilhaber der Gicherei 
mit all ihrem beweglichen und unbeweglichen Eigen 
tum, Wir haben die Affociation verwirklicht und 
in zwanzig Jahren zur Blüte gebradjt.” 

„Seht, da Sie mir das jagen,“ antmworielt 
Blanche, „finde ich es volllommen in jeiner Ordnung, 
ebenfo wie ich früher das Wegenteil für richtig hielt.“ 

„Ganz recht,“ meinte der Fabrikant, „Sie jehen 
daran, wie gut die Wahrheit in Irrtümer eingehüllt 


Neubau, 


ift, da es ihr jo ſchwer fällt, ans Tageslicht hervor⸗ 
zufommen. Aber nun bitte ih, Ihre Einwendungen 
zu machen, damit ich alle beaniworten Tann,“ 

„Sawohl, es ſeht mich einigermaßen in Er- 
ftaunen, daß alle diefe Menſchen in einer Kaſerne 
wohnen wollen, da jonft befanntlic ein jeder nad 
jeinem eignen Heime jtrebt.“ 

„Wir alten Menfchen ftrebten nach eignem Herde, 
bis wir fanden, wie unficher dies fei, wie feindlich 
‚mein Heim‘ dem Heim andrer gegenüberfteht, und 
wie ſchließlich das gemeinfame das ficherjte ſei.“ 

„Aber ber Zwang,“ wandte Blande ein. 

„Es giebt feinen Zwang! Wir haben ſechs— 
hundert Haushaltungen. Denken Sie fich doch ſechs- 
hundert Küchen, ſechshundert arme Hausfrauen, die am 
Herde ftehen; wie viel verjchwendete Kraft! Jetzt 
haben fie gemeinfame Küche und, wer Gejellihaft 
liebt, einen Speifefaal; wer die Einjamleit wünſcht, 
ißt auf feinem Zimmer, Da haben fie die Frau 
von ber Küche freigemacdt. Aber jebt eſſen alle 
lieber in Geſellſchaft, denn auf die Dauer ift ein 
Tete⸗a⸗tete jelbft zwiſchen Gatten langweilig, Es 
bat ſich herausgeſtellt, daß die Verheirateten den 
Speifejaal früher aufjuchen als die Unverheirateten!“ 

„Aber bie Kinder!” 

„Es ift uns gelungen, aud die härtefte aller 
Nüffe zu fnaden. Wir haben das Kinderheim.“ 

„sh bitte, welche Mutter wird ihr Kind da 
hinein geben?“ 

„Ale! Jawohl! Alle! Hören Sie, bitte, 
Denn wir von einem Kinderheim ſprechen, jo dürfen 
Sie nicht an die Waifenhäufer der Gemeinden 
denken, in denen die Eltern ihre Kinder faum zu 
jehen befommen. Hier liegt die Sache fo: an Stelle 
von jechshundert Kinderzimmern haben wir nur 
eines, ftet3 zugänglich, ftet3 überwacht. Wie war 
es früher? Früher, jage ich, ala ob die alte Gefell- 
ſchaft jchon zu Grunde gegangen wäre! Wie haben 
3 denn die Armen im fapitaliftiichen Staat? Die 
Rinder werben in einem Heinen Zimmer eingeichloffen, 
während die Eltern zur Arbeit gehen,” 

„Aber die Mutter bat fie dann wenigjtens in 
der Nacht.“ 

„Ganz wie bier, denn jedes Find hat zwei 
Miegen oder zwei Betten; eins im Kinderheim, eins 
im Zimmer der Mutter. Aber ich werde Ihnen 
eine Beobachtung mitteilen: Die Mutterliebe jcheint 
meiftens auf ber Furcht für das Wohlbefinden bes 
Kindes zu beruhen. Hier, wo diefe Furcht bejeitigt 
ift, ſcheint mir dieſe Liebe, wenn fie auch noch jo 
übertrieben war, im Abnehmen begriffen zu fein. 
Nur eine geringe Anzahl von Müttern behält ihre 
Kinder des Nachts bei fih. Sie fehen aljo, bie 
Ichwerfte aller Fragen ift gelöft.” 

„Aber das Familienleben?“ 


1091 


„Früher, Hm! Wie fteht es denn mit dem 
Tamilienleben draußen in der alten Welt? Die 
Wohnung durd das Zufammenleben vieler Menjchen 
und die linfauberfeit der Kinder dumpfig. Der 
Mann flüchtet zuerft in die Kneipe. Was ift die 
Kneipe? Eine Stätte bes Laſters? Nein, bewahre! 
Es ift das Geſellſchaftszimmer, wo man jeinem 
fozialen Inftintt das rechtmäßige Opfer bringt. 
Aber der Mann wird bort nidht recht froh. Er 
weiß, daß jemand zu Haufe auf ihn wartet und 
ſich langweilt. Macht er es wie fo viele andre und 
nimmt die Frau mit, dann find beide der finder 
wegen unruhig, und beide langweilen fih. Wie. ift 
e3 hier? Des Abends gehen Mann und Frau in 
die Vorlefung, in das Theater oder in das Café. 
Sind fie unruhig, jo fragen fie nur burd das 
Sprachrohr nad) dem Befinden ber Kleinen und 
brauchen nicht ängftlic zu jein. Oft entfernt ſich 
die Mutter für einige Augenblide, um zu jehen, ob 
das Kind bewacht wird oder ſchläft.“ 

„Hier ift aber eine Lüde vorhanden," wandte 
Blanche ein, 

„Bitte, zeigen Sie fie mir, damit id) fie fehen 
kann,“ ſagte der Fabrilant. 

„Die Mütter übertragen ihre Laſt einer Frem— 
den.“ 

„Zugegeben, dies ſei eine Lüde! Denn bier 
berricht natürlich feine Volllommenheit, jondern nur 
das Beſſere. Aber dieje Laft übernimmt niemand, 
der nicht die Luft dazu verfpürt, und wenn es 
Menſchen mit ausgejprochener Neigung zu Kindern 
thun, jo fällt ihnen die Laſt nicht ſchwer!“ 

„Aber wer verjpürt denn Luft zu Kindern andrer 
Menſchen?“ fragte Blanche, 

„Der feine eignen Finder hat und feine eignen 
befommen kann, ber pflegt feine Liebe auf fremde 
zu übertragen! Wer eine Neigung befriedigen fan, 
ber empfindet die Arbeit nicht ſchwer. Um nun 
aber zu Ihnen zu fommen, glauben Sie, daß es 
Ihnen in diefer Umgebung gefallen wird? Es giebt 
in unfern Tagen flarfe Jndividualitäten, die es 
nit vertragen, fih an andern zu reiben, Ueber— 
nervdje, die durch fremde Eleftricität leiden; wenn 
Sie zu diefen gehören, jo werden Sie ji zunächſt 
nicht wohl fühlen, aber Sie können daraus nicht 
ichließen, daß dies immer der Fall fein wird, Unſer 
Necomodationdvermögen ift jehr groß.” 

„Das fann ich noch nicht beurteilen,“ antmoxtete 
Blanche, „aber da ich mein ganzes Leben lang an 
zwei Perjonen feftgefettet war, deren Dentart von 
der meinigen grundverjchieden war, jo hoffe ic, daß 
ein freier Umgang mit Gleichdenfenden mir nicht 
jchmerzlid; werden kann. Es ift bier ja feine 
Kaferne, keine Mauern, fein Trommeljchlag und 
fein Reglement.” 


1092 


„Wir wollen aljo einen Verſuch machen,“ ſprach 
der Yabrifant. „Was Ihre Bedingungen betrifft, 
jo find dieſelben nur vorläufige, bis Sie fi für 
den Eintritt in die Gejellichaft als Mitglied ent- 
ichloffen haben. Sie erhalten fein Honorar, haben 
aber das Net, für Ihre ſämtlichen Bedürfniſſe 
die Gefellihaft forgen zu laffen; Sie bürfen 
effen und trinken, was Sie wollen, ſich nad Ge- 
ihmad und Gewiſſen Heiden, fi) nah Neigung 
amüfieren, Bücher und Inſtrumente auf unjern 
Kredit nehmen. Außerdem find Sie gegen Unfall, 
Krankheit und Alter verfihert. Soweit man im 
Leben garantieren fann, ift alfo Ihre Exiſtenz ver 
bürgt, aber Sie befommen fein Geld in die Hänbe, 
denn das Geld haben wir als ſchlechten Wertmeſſer 
abgeſchafft.“ 

„Gerade das iſt der Wunſch meiner Träume,“ 
antwortete Blanche; „für mic hat das Geld, jo 
notwendig es auch unter den jebigen Verhältniſſen 
ift, ftet3 etwas Unſicheres und Unlauteres an ſich ge= 
habt. Ich nehme daher Ahr Anerbieten mit Danf« 
barleit an.” 

„seine Dankbarkeit, denn wenn Sie fid) aud) 
gegenwärtig in Not befinden, fo ift unfer Bedürfnis 
nah einem Arzte nicht minder groß. Von Ihren 
Pflichten will ich nicht prechen ; fie beftehen, wie Sie 
ja willen, darin, die Kranken zu pflegen und, ſo— 
weit es möglich ift, zu verhindern, dab die Gefunden 
frant werden. Keine Ronden, feine Mufterungen! 
Mit einem Worte: Sie haben volle Freiheit, nad) 
Ihrem Gewilfen zu handeln. Und nun gebe ich 
Ihnen die freiheit. Mic jehen Sie nur dann, 
wenn Sie es wünſchen. Leben Sie wohl!” 

Und Herr Godin verließ Blanche vor dem Ein- 
gang des Haufes. 


Nun begann für Blanche ein neues Leben. Be— 
freit von jedem Gedanfen an Ausgaben und Eits- 
nahmen, das Dafein verbürgt ohne Furcht vor dem 
fommenden Tage, konnte fie ſich ungeteilt ihrem 
Berufe widmen, ohne fi um bie Saunen oder bie 
Kitelfeit der Patienten zu fümmern. Sie lebte für 
andre, beſaß aber die Freiheit ihres Gedantens, 
Willens und Gewiſſens. Sie brauchte nicht feig 
ihre Meinung zu verbergen und durfte ihre Patienten 
ausſchließlich als Leidende betrachten, ohne baran 
zu benfen, ob fie bezahlen würden oder nicht. Seine 
Koufurrenten, feine gelehrten Rechenſchaftsberichte 
für die Fakultät. 

Es war ein Leben voller Ruhe. Und ihre ganze 
Umgebung beitand aus ruhigen, ſtillen Menſchen. 
Ihre Gefichter hatten einen Zug des Friedens, den 
fie draußen in der Welt nicht bemerkt hatte, und 
fie bewegten fi ohne jene fieberhafte Unruhe, der 
man jo häufig im eben begegnet. Sie, fahliefen 


Yuguft Strindbberg, 


ohne böfe Träume von Nahrungsmangel, von Ars 
beitölofigfeit, von einem Alter in Not und Ent: 
behrungen. In ben Häufern herrſchte Ordnung 
ohne Reglement; man ſchlief bei offenen Thüren, 
denn man fürdjtete feine Diebe; wer einen Dieb- 
ftahl beging, beging ihn ja an ſich jelbfi. Sein 
Streit und fein Neid, denn jeber hatte, was er 
braudte. In dem großen, Rate, der über die 
Finanzen der Geſellſchaft beſchloß, ſaßen Männer 
und Frauen, Herren und Diener. Die Diener, die 
aus Neigung Beihäftigung im Haufe gewählt halten, 
waren gleichfalls Mitglieder der Gejellichaft, und in 
der Küche wie in der Waſchſtube und im finder: 
heim waren ebenfalls Männer beichäftigt. 

Obwohl in der Reftauration ſtarle Getränfe 
verabfolgt wurden, ſah man dod niemals einen 
Beraufchten. Zwar hatte man in den eriten zehn 
Jahren jtarle Getränke verboten, aber dies wurde 
nur als eine Uebergangsmaßregel betrachtet, die ſeht 
bald fortfiel. Dadurch, dab die Ware leicht zu- 
gänglid war, verlor fie ihren Reiz, nicht zum 
wenigiten dadurch, dab man ihrer nun als eines 
Tröfters in der Verzweiflung nicht bedurfte, da man 
nicht mehr verzweifelt war, 

Auch den jhönen Künften war ein Platz an- 
gewiefen, aber als freies Spiel lediger Stunden. 
Man führte Theaterftüde auf, die von Mitgliedern 
der Gefellihaft verfaßt waren und Probleme aus 
der neuen Gejellichaft behandelten. Man verjah 
die Wände des Speifejaales und der Zimmer mit 
Gemälden, um fie zu jhmüden und dadurch den 
Aufenthalt für alle behaglich zu machen. 

Eine Kirche gab es nit. Die Religion, die 
früher ein Surrogat für das gewejen war, was das 
Leben nicht bieten Tonnte, bisweilen auch ala Schreden 
benußt wurbe für die Unzufriebenen, fie war in bas 
Leben eingedrungen, und jeber behielt jeine Religion 
für ſich. 

Die Ehe war im allgemeinen dauerhaft. Die 
meiften Anläfle zur Scheidung waren befeitigt. Jeder 
Mann, jede Frau hatte ein eigned Zimmer. Die 
Frau war nicht mehr vom Manne abhängig und 
der Mann nicht mehr das Lafttier der Frau. Die 
wenigen Mifhelligfeiten, die unter Gatten entjtanden, 
leiteten fih aus abnehmender Neigung oder dem 
Stehenbleiben des einen Teiles auf älteren Ent 
wicklungsſtadien her. Unter folden Berhältnifien 
war die Trennung leicht und geſchah ohne jebe 
Pitterfeit; man hörte ganz einfach auf, als Gatten 
zu leben, während das Gejchid der Kinder unver: 
ändert blieb, da bie Gejellihaft die Kinder erzog- 
Auch das Erbrecht gab zu Streitigkeiten feinen An 
laß, denn die Gejellihaft war der einzige Exbe. 

Die einzige Sorge Blanche war die um die 
Tanten. Sie hatte die Erlaubnis erhalten, ihnen 


Neubau. 


die Stellung von BVorjleherinnen in der Plättanſtalt 
anzubieten, allein mit der Verpflichtung, daß fie an 
ber Arbeit teilnähmen, denn Müßiggänger wurden 
nicht geduldet. Tante Bertha war rajend, als ihr 
der Eintritt in das „Arbeitshaus“ angeboten wurde, 
aber die Not zwang fie allmählich dazu, Sie traten 
ſchließlich ihre Aemter an, lonnten ſich jedoch nie 
recht darein finden. Sie waren zu alt, um die 
Ebenbürtigkeit eines Arbeiters anzuerlennen, aber 
es blieb ihnen eben feine andre Wahl. Tante Bertha 
hielt da Alte ftets für das Beſſere, wenn fie nur 
ihre Renten hätte behalten dürfen, die ihr Vater 
„ehrlih” erworben — durch die Not anderer. 

Innerhalb des Haufes wurden mandherlei Ver— 
gnügungen veranftaltet, denn man hatte wieder 
Beranlaffung dazu und durfte nunmehr heiter fein. 
Auch Vorlefungen wurden gehalten, aber nicht zu 
oft, denn die Schule vermittelte das Notwendige für 
dad gegenwärtige Leben, kümmerte fid) dagegen um 
das Vergangene, das beffer der Vergefjenheit über- 
liefert wurde, nicht. Leere Spekulationen auf ein 
fommendes Leben nahmen feine Zeit in Anfprud, 
denn darin war man einig, daß das ganze irdiſche 
Dajein der Sorgen genug habe, und die Unficher 
heit eines jpäteren Lebens gab alle Weranlaffung, 
vom gegenwärtigen einen jo nüßlichen und ange= 
nehmen Gebrauch wie möglich zu maden. Die 
Ordnung wurde von dem wohlverftandenen Intereſſe 
aufrecht erhalten. Niemand verjuchte des Nachts 
ruheftörenden Lärm in feinem Zimmer zu machen, 
aus dem einfahen Grunde, weil er damit ja die 
Luft des Nachbars, ebenfalls Lärm zu machen, hätte 
hervorrufen fünnen, 

Da das ganze Etabliffement von Parkanlagen 
und Gärten umgeben war, jo vertrieb man ſich 
meiftens die Zeit im Freien mit Balljpiel, Turnen, 
Schaufeln und jo weiter, während in dem bebedten 
Hofe des Haufes häufige Feſte abgehalten wurden. 
Das heißt Feſte, die dem Vergnügen galten, nicht 
der Feier eined großen Mannes oder einer bes 
rühmten frau, denn von Menſchenverehrung hielt 
man fi) ebenjo fern wie von der Verehrung jed- 
weder Theorie; nicht einmal die neuen naturwijien« 
Ichaftlichen waren davon ausgenommen, Theorien, 
die ebenfo gefährlihe Dogmen zu werden drohten 
wie die alten religiöfen. Man hütete ſich auch, 
irgend ein Belenninis zu firieren, benn jedes Bes 
fenntnis von heute fonnte nach den Geſetzen der 
Entwidlung morgen fajfiert werden, und bann war 
das alte nur mit Schwierigkeit auszurotten. 

Ei 

Es war wieder Frühling geworden, Des Abends 
ging Blanche hinaus in den Park zu einem Spazier- 
gang. Man hatte entdedt, dab ein ftändiges Zu- 
jommenjein Teiht einen Zwang zum Verkehr mit 


1098 


führen könnte, und aus dem Grunde war aus fi 
ſelbſt die Sitte entflanden, niemand anzureden, an 
dem man bemerkte, daß er für ein Geſpräch feine 
Neigung verfpürte. Blanche fonnte alfo inmitten 
der Spaziergänger in der großen Allee umbergeben, 
ohne grüßen oder ſich aus Höflichkeit in ein Geſpräch 
einlaffen zu müffen, wenn fie mit ihren Gedanfen 
allein jein wollte. 

Die großen Raftanien hatten ausgejhlagen und 
die düſteren Baumffelette mit dem ſchönſten Grün 
befleidet; der Boden war troden, und die Luft um« 


ſchmeichelle die Haut wie laues Wafler; aber auf 


Blut und Lunge wirkte fie wie edler Wein. Blanche 
dachte an den Frühling am Genferfee, an die Träume, 
die fie von einem vergangenen, fieberfranten Ge- 
jchlechte ererbt hatte, deſſen Gehirn mit jeiner hohen 
Temperatur alle feften Körper in gasförmigen Zu— 
ftand verjeßte, jo daß fie den Sinnen unzugänglid) 
wurden. Dur intime Berührung mit der that» 
ſächlichen Wirklichkeit, dur das Studium ber Bio- 
logie hatten ihre Gedanken fich der Erde zugewandt, 
wo fie fi ruhiger fühlten als hoch oben in ber 
Luft. Aber jene Träume? Wovon handelten fie? 
Bon unerreichten Wirklichleiten. Wohl hatte fie ben 
Traum vom Manne feiner Berwirklichung entgegen- 
gehen gejehen, aber fie hatte ihn aus Furcht wieder 
aus den Händen gelafien. 

Blanche verließ die Allee und gelangte in den 
Garten. Hier blühten Kirfhbäume in weißen und 
grünen Farben wie eine Braut, aber fie hatte fich 
daran gewöhnt, die Blide zur Erbe zu richten, und 
fah dies alles nicht. 

Sie jegte fih auf eine Bank und beobachtete, 
wie der Gärtner die Erde mit feinem Spaten Ioderte, 
damit fie jo beffer der auflöfenden Wirkung der 
Luft ausgefeht werde und durch ihre Auflöfung, durd) 
ihren Tod ala Mineral höheren Pilanzeneriftenzen 
Leben gebe. Neben dem Gärtner ftand ein Karren 
mit Dünger, von dem er ab und zu einen Spaten 
voll in die Erde miſchte. Der Heine Sohn des 
Gärtnerd jpielte neben ihm und blieb bisweilen 
ftehen, um der Arbeit zuzuſehen. 

„Bater,“ fagte er, „was haft du hier in dem 
Karren?" - . 

„Siehit du, Jean,” antwortete ber Vater, „das 
jollen Erdbeeren werben.“ 

„Das ift ja Schmutz,“ ſagte Jean. 
man Erdbeeren aus Schmuß?“ 

„sa, mein Kleiner, das thut man. Aus Schmuß 
madht man Weizen, und aus Weizen Brot, und 
aus Brot macht man Menſchen. Du mußt nicht 
verädhtlih vom Schmuß fpredhen, denn wenn du 
ftirbft und in die Erde fommft, wirft auch du zu 
Schmutz. Nur unverftändige Menjchen ſprechen mit 
Geringihägung von der Arbeit im Staube, weil 


„Macht 


1094 


fie durch Nichtarbeiten höheres Anſehen zu erhalten 
glauben.” 

„Aber die Seele, macht man die auch aus 
Weizen?“ 

„sa, mein Sohn, denn der Weizen hat aud) 
eine Seele. Es erfordert viel Nachdenfen bei bem 
Weizenkorn, ehe es den beften Pla für feine 
Burzeln finden fann; der Weizen, der aus dem 
Süden fommt, mußte feinen ganzen Verſtand auf« 
wenden, um ſich allmählich gegen bie Kälte bei uns 
durch didere Schalen zu ſchütßen; die ganze Dent« 
fraft der Aehre war nötig, ehe fie dahinter lam, daß 
der Frühling die, günftigfte Zeit der Blüte fei. Der 
Weizen bat ſchon feine Seele!“ 

„Hm,“ fagte der Knabe, der feinen Neligiond- 
unterricht genoſſen hatte. „Aber flirbt demn bie 
Seele, wenn ber Weizen ftirbt ?“ 

„Nein, das nicht, denn nichts ſtirbt. 
nur jo aus!” 

„Ach jo! Aber wenn wir fterben ?* 

„Dann hört unjer Leben auf, aber aus dem 
unjrigen entfleht wieder neues, ſiehſt du! Nur unfer 
Hochmut fonnte auf den Gedanken fommen, wir 
leben ein egoiftiiches Leben weiter; deshalb hat die 
neue Geſellſchaft uns vor allem gelehrt, für umd 
mit andern und zugleih für uns felbft zu leben, 
und dies ift aud die einzige Bedingung, um das 
Leben erträglih zu mahen! Ja! Nun werde ich 
bier Melonen und hier Blumen machen, aus Schmuf, 
wie du es nennft!“ 

Blanche ftand auf und ging davon. Das eben 
gehörte Geſpräch war die Frucht ihrer Vorlefungen 
über organijche Chemie, die der Gärtner zu beſuchen 
pflegte. Er hatte ben Mut gehabt, die Schluf- 
folgerungen daraus zu ziehen, aber fie fonnte e3 nicht! 

„Er hat recht,“ dachte fie, aber, aber... bie 
Träume, die ſaßen im ihr feft. Unerfüllte Träume! 
Das that ihr weh! Der Gram, daß ihr Leben 
verging, ohne daß fie ihre wichtigſte, herrlichſte Be— 
flimmung erfüllt hatte, zwang fie, den Notanter 
auszumerfen: ben Glauben an ein andres Dafein! 

Sie jehte fih an dem KHarpfenteiche nieder, um 
— zu träumen. Das Leben lag ruhig und Ilar 
vor ihr. Sie beſaß ihre Gedanken und ihr Ge 
willen. Sie hatte den relativen Wert ihres Berufes 
ald eine Notmaßregel durchſchaut, die fortfallen 
würde, wenn bie Urſachen der Krankheit gehoben 
wären, Dies hatte den Ehrgeiz aus ihrer Seele ge- 
ftrichen; das Bewußtjein, zu leben, ift ja auch etwas, 
vielleicht das einzige, aber fie lebte nur ein halbes 
Leben, Jene Hälfte, an die alle andern ein Recht 
hatten ; die andre Hälfte aber, die ihr gehörte, bie 
es ihr zur Pflicht machte, zu leben, die fehlte ihr. 

Die Sonne neigte ſich ihrem Untergange zu und 
entfachte Hinter den Kronen der Bäume ein uns 


Es fieht 


Auguft Strindberg. 


geheures Flammenmeer; die Amfeln jchlugen, die 
Sänger im Laube ſchnäbelten ſich zum letzten Male, 
ehe die Naht anbrach. Der Laut froher Stimmen 
ließ fih aus dem Parfe hören, und abgeriſſent 
Aceorde aus der Borftelung im Feſtſaale ftrömten 
hinaus aus den Fenſtern. Es war die Ouvertüre 
zu Wilhelm Tel. Die Introdultion der Eefli war 
nur undeutlich zu Hören und mwogte leife durch die 
warme, bampfende Luft. Blanche lauſchte nicht auf 
bie Muſik, aber fie verjpürte das leife Wallen dei 
Blutes, da ihr Gemüt, das nocd mit den Gedanken 
auf ihrem eingefchlagenen Wege kämpfte, in ein 
wunderbare Unruhe verjeßte. Aber nun Mang die 
Mare Stimme der Flöte mit ihren Alphornklängen 
dur, und plößlich liehen die Zähne im Rabe der 
Gedanlen nad, und Blanche laufchte. Teure, längtt 
belannte Töne aus dem Oberland, von den Alpen; 
die weißen Berge von Lauſanne und Zürich wurden 
fihtbar. Das Hochgebirge, zu dem die Jugend zog, 
wenn es Frühling wurde, zu dem bie Jugend zog 
an jenem Frühlingsabend am Genferjee, wohin fir 
jelbjt aber nimmer fommen jollte. Ja, wenn er fir 
geführt hätte, aber er hatte fie ja verlaffen! Hatte 
er das wirflih gethan? Nein, fie wurden durch 
eine ſtarle Hand getrennt, der fie damals nicht hatte 
entgehen können, die fie jept aber nicht mehr trennte. 
Wo war er? Wie hatte er von ihr gehen fönnen! 
Er hatte ihr halbes Weſen genommen und war be 
mit in die weite Welt gezogen. Dazu hatte er kein 
Recht! DO, fie war jo unglüdlih, jo unglüdiid. 

Und fie weinte, als jtände fie an der Leiche bei 
Teneriten, das fie beſaß; die Thränen floffen jo 
reichlich, daß ihr Kleid vorn an der Bruft feucht 
wurde! Plötzlich fland fie auf, als wäre fie jet 
entichloffen, ihn zu ſuchen, ihm emtgegenzugeben, 
ihn zu Holen und ſich im feine Arme zu werfen, 
wie wenn fie wüßte, daß er ihr nahe jei. 

In demjelben Augenblide Täutete die Tijchglode. 
Blanche trodnete mit ihrem Tuche, daS fie ins Waller 
tauchte, ihr Geficht und lenlte ihre Schritte heimmärt“. 

* 


Blanche jehte fich in dem großen Reſtaurant an 
einen Tiſch, denn fie war jeht fo daran gewöhnt, 
Menjchen um ſich zu ſehen, daß fie nicht allein fein 
fonnte, und den Zanten, die auf ihrem Zimmer 
aßen, wollte fie feine Gejellihaft Ieiften, um ihr 
Seufzer nicht zu hören, wenn fie ihr „Brot“ (Fleiſch 
Gemüje und Defjert) „mit Thränen der Demütigung 
negten“, 

Sie hatte ihren üblichen Pla an dem großen 
Kamin eingenommen, von wo fie einen Weberblid 
hatte über den hellen Saal mit jeiner ſchön ge 
malten Dede, die ein Weinlaubdach vorftellte, und 
feinen mit großen, jonnigen Landſchaften geſchmüdten 
Wänden. Um fie herum vernahm fie ein Summen 


Neuban. 


von Männer- und Frauenftimmen, die in friedlichen 
Geſpräch begriffen waren, und wo Eheleute bei 
einander ſaßen, da zankte das eine nicht über das 
Ejien, und das andre widerſprach nicht im Gefühl 
ſeines Rechtes. Hier gab es dazu feine Veran. 
laſſung, und die Finder jtörten niemand durch ihr 
Schreien; das durften fie in ihren Zimmern thun, 
ſobiel fie wollten. 

Blanche ſaß allein; fie verfpürte feine Neigung 
zum Efjen. Ihre Gedanken jehten den einmal ein- 
geihlagenen Weg fort, ruhig, gleihmäßig, über: 
zeugt, den zu treffen, dem fie galten, 

Plötzlich blidte fie von ihrem Teller auf und 
betrachtete mit einer Ruhe, die fie lange nicht ge 
fannt hatte, ein Geficht, das dem ihrigen zugefehrt 
war, und deſſen Augen ſich tief in die ihrigen 
jenkten. Ihre Kehle war wie zugeſchnürt, und ihr 
Atem ſtockte. War er es, oder war es nur ein 
Mann, der ihm glich? Diefelbe Lage des Haares, 
derjelbe Ausdrud in den tiefliegenden Augen; auch 
der Bart, der in reichen Wellenlinien die etwas 
barten Züge verbarg, war der feinige. Und wie 
fie bei der plötzlichen Gemütserregung ihre Mienen 
veränderte, ſah fie gleichzeitig, wie auf jeinem Ge— 
ſicht fih alle Empfindungen wideripiegelten. Es 
founte fein andrer fein. 

Da ſtand er auf, näherte ſich achtungsvoll ihrem 
Tiſche und blich in einiger Entfernung ftehen, wie 
um durch Blide zu fragen, ob fie geitatte, daß er 
fie ſtöre. Vermutlich lautete die Antwort bejahend, 
denn im der nächſten Minute war er bei ihr und 
ergriff ihre Hand, 

„Sie ertennen mich und wundern ſich, wie id) 
bierher tomme?” fragte er. „Ich habe mich auf einer 
Gejhäftsreife befunden; ich bin hier al3 Chemiker 
angeftellt. Wie geht es Ihnen?“ 

„I danke, gut,“ antwortete Blanche, „hätte 
ih aber gewußt, dab Sie hier find, jo wäre ich 
nit jo unzart geweſen, mich hier niederzulaffen.“ 
Und dann fügte fie, um ihn zu verſöhnen, da er 
verlegt zu fein ſchien, Hinzu: „Sie werben mich 
wohl nicht fliehen, und ich verſcheuche Sie Hoffent- 
lich nicht? j 

„Nein, das thun Sie nicht. Aber werde id) Sie 
verjcheuchen, wenn ich Ihnen nad) beendeter Mahl- 
zeit im Parke zufällig begegnen würde?” 

„Das haben Sie nie gethan,” antwortete Blanche, 
„und hier fann ja eine Dame mit einem Herrn im 
Mondſchein fpazieren gehen. Ich erwarte Sie alfo 
am Ausgange.“ 

Er entfernte fih und ging wieder an feinen 
Tiſch zurüd, r 

„Was fleht num eigentlich noch zwiſchen ung?“ 
fagte Emil, als fie am Abenb zum achten Male 





m 


1095 


die große Allee durchwandert hatten. „Das vorige 
Mal war es eine Stellung, ſechs Rohrftühle . . .* 

„Ein Tiſch und die Küchengeräte,” ergänzte 
Blande. „Seht haben wir nicht einmal an die 
Wohnung zu denken,“ 

„Und die Kinder ſetzen wir in das Kinderhaus 
wie Roufjeau,* meinte Emil. 

„Jawohl, mit dem größten Vergnügen, denn 
dort hätte ich fie wenigjtens unter den Augen, was 
in meinem Zimmer nicht der Fall jein würde,“ 
antwortete Blandhe. 

„Welches Monftrum von Mutter, die ihre Kinder 
ind Waiſenhaus geben will!“ 

„Sa, unter den alten Verhältnifien! Ober 
richtiger, welch unglüdliche Mutter, die ihre Kinder 
fortgeben muß! War es Ihnen nicht unheimlich, 
draußen in ber alten Welt herumzureifen® Ich 
bin jeit einem Jahre nicht von hier fortgefommen !* 

„Mir war es, ala ob ich in Pompeji und Her- 
culanum umberginge. O, ich will nicht Daran benfen! 
Leibende Kinder, Kranke, Halbverhungerte am Rande 
des Trottoirs; blutlofe, angemalte Kadaver reicher 
Leute in ihren Wagen auf der Strafe. Alle Ge- 
ſichter entftellt, die der Armen von Haß und Sorgen, 
bie der Reichen von Furcht, zu verlieren! Als wir 
ſelbſt unter ihnen lebten, vermochten wir das nicht 
zu erfennen, aber jet fann ich es.“ 

„Und doch find wir noch weit von ber Volle 
fommenbeit entfernt,“ ſagte Blanche. 

„Jawohl, weit entfernt! Denn unjer ftolzes 
Gebäude fteht auf dem unfichern Grunde bes Alten. 
Bebenten Sie, daß wir Lurus produzieren: unjre 
Schirmſtänder, Spudnäpfe, Randelaber, Fontänen, 
Figuren und andre Schmudgegenjtände werden ein- 
mal bei der großen Kriſis nicht mehr verlangt wer⸗ 
den — und dann jtehen wir da!“ 

„Was werden wir dann thun?“ 

„Dann haben wir ein neues, hartes Leben zu 
beginnen, aber wir werben doch Ieben, denn wir 
befißen in der Erbe große Fonds; von der Erbe 
find wir gelommen und fönnen von der Erde leben, 
Aber die Kriſis wird dennoch ſchwer werden. Unter 
Berüdfihtigung deſſen jollten alle Kinder die Land⸗ 
wirtihaft erlernen, denn wir werben vielleicht bei 
dem letzten großen Krach nicht mehr zugegen jein! 
Deshalb wollen wir leben, Blanche! Diefes Leben 
durchleben wir mit Sicherheit nur einmal! Willſt 
du mit mir leben oder ohne mich?” 

„Mit dir, Emil, denn fonft Iebe ich nicht!” 

„Als meine Gatlin frei, als Menſch frei, dein 
eignes Brot ejjend; da haben wir ja unfre Utopie 
verwirflicht, und die böfen Menichen behaupten, daß 
fie nie verwirflicht werden fünne,* 

„Weil fie e8 nicht wollen!“ 

„Oder vielleicht nicht willen!“ 





Ein Enkel des Eid. 


Bon 
Emilia Bardo-Bayan. 
Aus dem Spanifchen überfeßt von A. Rudolph. 


Der alte Pfarrer von Sanlt Elemens in Boa | 


ſaß friedlich in einer Ede feiner großen Küche beim 
Abendbrot. Das Licht der Oellampe mit drei Dochten 
fiel auf die markierten Züge des Geiftlichen und die 
von filbergrauen Locken umrahmte Tonfur, Für feine 
Gefundheit und Rüftigfeit ſprach aber die rote Haut« 
farbe und der fräftige Naden. 

Der Pfarrer ſaß oben am Tiſche, in der Mitte 
fein Neffe, ein hübjcher junger Dann von zweiund« 
zwanzig Jahren, der ſich das Eſſen jchmeden lieh, 
und am Ende, mit bis über den Ellbogen aufgerollten 
Hemdsärmeln, der Tagelöhner, welder feinen Holz— 
Löffel in einen großen Napf dampfender Suppe ſenkte 
und zum Munde führte, 

Die drei bediente ein Bauernmädchen. Sie jpeifte 
nicht mit, mifchte ſich aber von Zeit zu Zeit in bie 
Unterhaltung. Ihre Pflichten erlaubten es ihr, denn 
fie waren nicht ſchwer und beftanden nur darin, ein 
riefiges Brot hinzuftellen, aus dem Schranfe Wein 
und Teller hinzuzufügen und darauf vorfidtig eine 
große, did an den Rand mit Kartoffeln in Fett an« 
gefüllte Schüffel auf den Tiſch zu jehen. 

„Herr Xaver,” fragte fie während ihres Hin» und 
Hergehens, „was haben Sie von der Diebesbande 
gehört, die fich hier herumtreibt ?* 

„Bon der Räuberbande, Kleine? Warte, halt...“ 
erwiderte der Jüngling und erhob fein lebhaftes, ge= 
bräumtes Gefiht. „Was hörte id) doch von ber 
Bande? Richtig, man jprad) auf dem Markte davon. 
Ja, man erzählte... .” 

„Die Leut’ jagen, dem Herrn Abt Qubrego 
babe man viel Geld geftohlen — hundert Unzen. 
Sie haben gewartet, bis er den Zehnten und die 
Ochſen auf dem Marlte am fünfzehnten verfauft 
hatte, und dann haben fie fich beeilt, das Gelb zu 
holen.” 

„Und er verteidigte ſich nicht?” 

„Wien Sie nicht, daß er ein alter Herr ift? 
Außerdem hat er fürzlih an Glieberjchmerzen zu 
Bett gelegen.” 

Der Pfarrer, welcher bisher geſchwiegen hatte, 
bob jegt die Augen in die Höhe, die unter den ſchnee⸗ 





—— — — — — — — — — — — — m nn 


weißen Brauen wie ſchwarze Diamanten glängten, 
und ſprach: 

„Was das Verteidigen anlangt, hat Lubrego ſein 
Leben lang mit der Flinte umzugehen gewußt.“ 

„Er ift alt.“ 

„Ach was, alt! Ich bin zu Pfingften fünfund 
jehzig geworben, und zu Corpus Chriſti wird er 
ſechsundſechzig. Ich weiß es genau, er jelbit hai 
mir’3 gejagt. — Alſo, was da3 Alter angeht —, mun, 
Gott jei Dank, ich kann noch zielen.” 

Der Neffe ftimmte lebhaft zu. 

„Jawohl! Und die NRebhühner geften! Das 
leßte, welches ich fehlte, trafen Sie!“ 

„Und die Hafen heute, mein Junge?” 

„Und der Fuchs am Sonntag,” fiel der Kucht 
ein und erhob den Kopf über die Schüflel. „Ei 
ihn der Herr Pfarrer am Stride gejchleppt bradie, 
und ſchwer war er! Hm, Hm!“ 

„Dort hängt der Räuber!” brummte der Pfattet 
und wies nad der Thür, an der man das Fell zum 
Trodnen aufgenagelt hatte, 

„Der frißt keine Hühner mehr,“ verfeßte die 
Magd und drohte mit der Fauſt nad) dem Felle zu. 

Die Jagdunterhaltung brachte wieder die vorherigt, 
ruhige Stimmung zurüd, und Xaver dadte nit 
daran, das zu erzählen, was er von der Räuberbande 
wußte. - 

Der Pfarrer fprad das lateinische Dantgekt, 
tranf einen Schlud Wein, zündete fi eine Zigaretr 
an, reichte jeinem Neffen die noch zufanmengefalkt: 
Zeitung und brummte: „Nun laß hören, was di 
Zeitung ſchreibt.“ 

Xaver fing an, den Leitartikel zu leſen. Die Mor 
lieh das Geſchirr ruhig auf dem Tiſch ftehen, ſchöpftt 
ih eine Schüffel Suppe ein und jehte fich dam! 
auf eine Banl beim Herde. Bald darauf wurde di 
wohlklingende Stimme des Vorleſers durch ein heftige 
und andauerndes Heulen des Hundes unterbrodir. 
Die Magd behielt den gefüllten Löffel in der Han, 
Xaver lauſchte eine Sekunde und fuhr dann fort zu 
leſen, während der Pfarrer gleichgültig große Raud- 
wollen blies, wobei er häufig ausſpuckte. Es vergingen 


Ein Entel des Eid, 


zwei Minuten, da wurde die Stille außerhalb aber: 
mals durch wütendes Hunbebellen und Heulen unter 
brochen. Jetzt ließ ber junge Mann das Leſen fein, 
Die Magd ftand erfchroden auf und ftammelte: 

„Herr Xaver! — Here Pfarrer — Herr Pfarrer!” 

„Sei ſtill!“ befahl Xaver und ging leife an das 
Fenſter, von welchem das Bellen der Hunde herfam, 
aber dieſes verftummte plößlich. 

„Ontel,* flüfterte Xaver. 

„Mein Junge,“ antwortete diefer. 

„Die Hunde find ruhig geworden, aber ich möchte 
ihwören, daß ih Stimmen höre.“ 

„Nun, wie würden fie da ruhig geworden fein?“ 

Der junge Mann antwortete nichts. Er war 
dabei, den FFenfterriegel leiſe zurückzuſchieben, den 
Laden zu öffnen und, von der Stille veranlaßt, das 
Fenſter aufzumachen. Ein fühler Luftzug drang ins 
Zimmer. Dan ſah ein Stüd Sternenhimmel und 
im Hintergrund die dunfeln Umrifje der Bäume vom 
Walde. Gleichzeitig drang ein ſcharfes Ziſchen durch 
die Luft, man hörte einen Knall, und eine Kugel 
ſtreifte das Haar Xaverd und drang in die gegen« 
überliegende Wand. Xaver ſchloß unwillfürlic das 
Fenſter. Der Pfarrer ftürzte auf feinen Neffen zu 
und Hopfte ihm zutraulich auf die Schulter. 

„Verwünſcht! Das galt dir, Schlingel!” 

„sa, fie ſchießen mit jcharfen Patronen — das 
ift hübſch!“ fagte Xaver etwas außer Faſſung. 

„Sind fie da unten?” 

„Hinter den erſten Kaſtanienbäumen.“ 

„Mach den Riegel vor — jo — bring raſch bie 
Büchſe — die Kugeln, das Pulverhorn ... Auch die 
Lefaucheux — Hörft du?“ 

Hier mußte der Pfarrer ſchon die Stimme er— 
beben, als ob er ein Negiment Soldaten befehligte, 
benn das mwütende Bellen der Hunde ertönte immer 
ftärfer. 

„Seht bellen fie... Warum waren fie vorhin 
ruhig, zum Henker?” 

„Sie werben jemand von der Bande gefannt 
haben. Er hat ihnen vielleicht gepfiffen oder fie ge- 
rufen,“ verjeßte der Schäfer, der aufgeftanden war 
und eine Meine Heugabel ergriffen hatte, während 
die Magd am Feuer fauerte. Sie zitterte am ganzen 


Körper und quiefte von Zeit zu Zeit wie eine Ratte... 


Der Pfarrer öffnete einen Meinen Schieber im 
Laden, ſteckte die Fauft durch und zerbrad) eine Scheibe, 
Dann legte er den Mund an die Deffnung und 
ſchrie mit gewaltiger Stimme den Hunden zu: 

„Drauf, Diana, Morito, Linda! — Drauf, Diana, 
beiß! 208, Linda, reiß fie in Stüde!” 

Daß Bellen wurbe wütender, toller. Man hörte 
Kampf unter dem Fenſter, ein fchmerzliches „Aut“, 
einen Fluch und dann das Stöhnen eines jterbenden 
Tieres. 

Aus fremden Zungen. 1997, IL 23 


1097 


„Der arme Morito wird feinen Fuchs mehr jagen,“ 
brummte der Schäfer. 

Inzwiſchen hatte der Pfarrer aus Xabvers Hand 
feine Flinte genommen und Iud fie erftaunlich fchnell. 

„Mir laß meine alte Hübnerflinte,* fagte er. 
„Du verſtehſt dich auf die Lefaucheux. Ich bleib’ bei 
meiner alten ſpaniſchen. Haft du Patronen ?* 

„Ja,“ erwiderte Xaver und macht fich daran, 
den Karabiner zu laden. 

„Sind fie unten?” 

„Gerade unter dem Fenſter. — Kann fein, fie 
legen die Leiter an.“ 

„sit Gefahr fürs große Thor?“ 

„Ich glaube nit, Sie müſſen über die Lehm— 
mauer vom Hof jpringen, und wir fönnen fie vom 
Gang beſchießen.“ 

„Und die Gewölbethür ?* 

„Wenn fie fie nicht in Brand fteden, zerhauen 
fönnen fie die nicht.” 

„Run, wir fönnen uns eine Meile beluftigen. — 
Wartet nur, wartet nur, Freundchen!“ 

Xaver jah feinen Onlel an. Diejer hatte ein 
farbonifches Lächeln um den Mund, die Zungenfpibe 
ihaute zwifchen den Zähnen hervor, bie Wangen 
waren gerötet, und die Augen leuchteten. Er ſah aus 
wie auf der Jagd, wenn ber Hund im Geflrüpp einen 
Flug Rebhühner aufgejagt hatte. Xaver waren dieſe 
Vorbereitungen zur Jagd auf Menjhen jchrediich, 
In dem wichtigen Augenblid, al er die Flinte (ud, 
wünſchte er im Hörfaale der Univerfität zu fein, im 
Café oder auf dem Marlte, um für Fräulein Pazo 
Zudergebäd und Bonbons einzufaufen. Er jah in 
Gedanten den Markt vor fi, die ftörriichen Ochſen 
und gebuldigen Kühe, die Pferde und Fohlen, und 
hörte die friiche Stimme von Gafildita Pazo, die 
in dem hübſchen, anmutigen Landesdialefte zu ihm 
ſagte: 

„Ach, bitte, reichen Sie mir doch den Arm um 
Gottes willen! Hier bei den vielen Leuten kann man 
gar nicht gehen!“ 

Er glaubte den Druck eines Armes zu fühlen. 

Es war die rauhe, feſte Hand des Pfarrers, die 
ihn nach dem Fenſter ſchob. 

„Die Lampe aus!“ — Er blies dreimal kräftig. 
„Nun kann der Tanz losgehen. Während ich lade, 
jchießeft du, — und umgekehrt. — He, Tomaja!” rief 
er der Magd zu, „quiefe nicht wie ein Wieſel! Koche 
Mafier, Oel, Wein, fo viel, wie da if. Du,“ rief 
er dem Knechte zu, „auf den Balton! Wenn fie auf 


die Mauer Nettern, melde mir's.“ 


Vorſichtig machte er das Fenſter auf und lieh 
nur eine Oeffnung für den Flintenlauf. Xaver 
ſchauerte, al& er die falte Nachtluft ſpürte. Er ers 
mannte ſich aber bald, denn er war nicht feig. Er 
ſah nad) unten. Da bewegten ſich dunkle Geftalten 

138 


1098 


durdeinander, und man hörte eine leiſe geführte 
Unterredung. 

„euer!“ Flüfterte ihm der Onfel ins Ohr. 

„Es find an die zwanzig und mehr,” antwortete 
Xaver. 

„Ad was,“ brummte der Pfarrer, ſchob den Neffen 
ungeduldig beifeite, legte den Flintenlauf am Fenſter⸗ 
gewölbe an und ſchoß. 

Es gab eine Bewegung in der Gruppe, und ber 
Pfarrer rieb ſich die Hände. 

„Einer ift gefallen — quoniam!” brummte er. 
Er bediente fich dieſes lateiniſchen Wortes, um alle 
in der ſpaniſchen Sprade jo reichlich enthaltenen 
Verwünſchungen zufammenzufaflen. — „Iebt ift es 
an dir, Schlingel. Sie haben eine Leiter — der erfte, 
der herauffteigt ...* 

Die Finger Kavers umflammerten die jchöne 
Lefaucheux⸗Büchſe, aber er ließ fie wieder los. 

„Dntel,” wagte er leife zu diefem zu jagen, „Es 
find befannte Leute darunter; ich erinnere mich, was 
man auf dem Markte jagt. Man behauptete, ber 
Chirurg von Solas, der Feuerwerler von Gunsende 
und der Bruder des Arztes von Doas feien dabei. 
Grlaube, daß ic) mit ihnen rede. Es iſt möglich, daß 
fie fi) mit etwas Gelb begnügen und uns in Ruhe 
lafien, ohne daß wir Menſchen zu töten brauchen.“ 

„Geld! Geld!“ rief der Pfarrer rauf. „Du 
glaubft wohl, daß e& im Haufe Millionen giebt?” 

„Und die Kirchengelder?“ 

„Die gehören dem Kirchenſchatz, — quoniam! — 
und ehe ich ihnen einen Heller gebe, laſſe ich mir bie 
Füße röften, wie fie es voriges Jahr dem Pfarrer 
von Solas taten, Beſſer ift e8 aber, wenn fie einem 
gleich die Haut durchlöchern, ehe man geröftet wird. 
Teuere darauf! Wenn du Furcht haft, gehe ich Hin.“ 

„Furcht habe ich nicht,“ erflärte Xaver und legte 
den Karabiner an. 

„Sieb ihnen die beiden Schüſſe!“ befahl der Onkel. 

Zweimal drüdte Xaver ab, und auf jeden Schuß 
folgte von unten ein furdtbarer Schrei. Der junge 
Mann Hatte keine Zeit gehabt, die Hand zurüd- 
zuziehen, als auf den Fenſterſims eine Ladung nieder⸗ 
krachte, die das Holz zerjplitterte, Es war eine Salve 
aus den verſchiedenſten Gewehren, Piſtolen, Flinten 
und Donnerbüchſen. Xaver taumelte zurüd, Sein 
rechter Arm hing ſchlaff herab; die Büchſe fiel auf 
den Boden. 

„Was haft du, Schlingel?* fragte der Pfarrer, 

„Sie müffen mir das Handgelenf getroffen haben,“ 


jeufjte Xaver und ließ ſich erfchöpft auf eine Bank 


fallen. 

Der Pfarrer, der feine Büchje wieder lub, fühlte, 
dab man ihn an den langen Schöken feines Rodes 
zog, und jah beim matten Schein des Herdfeuers, wie 
fih eine bleihe Geftalt ihm zu Füßen warf. Es 


Emilia Pardo-Bazän. 


war die Magd, die mit faum vernehmlider Stimm: 
bat: „Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, ergeben Sie fh 
— um der Seele Ihrer Mutter willen — fie morden 
ung — fie bringen uns alle um —“ 

„Laß los, quoniam —!” rief der Pfarrer un) 
ftürzte nad) dem Fenſter. 

Xaver war unfähig, weiter zu fämpfen, er ftühnte 
und juchte mit der linfen Hand fih ein Tuch um: 
zubinden. Die Magd ftand nicht auf; der Schret 
hatte fie gelähmt. Aber der Pfarrer kümmerte fid 
nicht um die andern. Schnell riß er den Laden aui, 
erblidte eine Leiter und ftieß beinahe mit dem Royi 
an zwei Männer, welche daran aufitiegen. Er jhei 
fofort auf den unteren, ber hinabjtürgte, und veriekte 
dem andern einen Kolbenichlag, der ihm hinabwarl. 
Es folgten weitere Schüffe, aber der Pfarrer war 
ihon wieder im Zimmer und lub von neuem, 

Xaver hörte auf zu ftöhnen und trat entidlofien 
zu ihm: 

„Auf diefe Weiſe, Onkel, können Sie feine Viertel 
ftunde Widerftand leiften. Ich rieche Petroleum; fi 
werden die Gemwölbethür anbrennen. Ich lann nit 
mehr ſchießen, aber ich möchte Ihnen etwas helfen.‘ 

„Bieh kochendes Del mit ber linken Hand auf 
die Leute,“ 

„Ich will die Stute herausholen und nad) Don; 
galoppieren.“ 

„Zum Wachpoften ?* 

„Ja, zum Wachpoſten.“ 

„Dazu ift feine Zeit mehr. Du wirft mid) tot 
finden, Lebe wohl, Junge! Bete für mich und lei 
Mefien leſen.“ 

„Sehen Sie, daß er fich ergiebt,“ rief Xaver der 
Magd zu, „halten Sie die Leute auf! Ich werde 
jagen!“ 

Man ſah noch einen Augenblid den Schatten dei 
jungen Mannes, als er am Feuer vorbeiging, und 
dann verjhwand er auf dem dunfeln Gange. Der 
Onkel zudte die Achſeln, drehte jih um und gab 
noch einen Schuß auf die Angreifer ab. Dann lief 
er nad) dem Herde, machte den ſchweren Keſſel von 
der Eijenfette los, öffnete das Fenſter ganz, und oda: 
ſich umzuſehen, hob er den Keſſel in die Höhe m 
goß das fiebende Del auf die Feinde. Man hört 
ein fchredliches Heulen, und als ob dieje rohe Br 
grüßung ihre Wut über die heldenmütige Verteidigung 
entflammt hätte, ftürzten ſich alle auf die Leiter. 
Einige ftiegen über die Brüftung bes Balfons und 
rangen mit dem Knete. Ein Menſchenknäuel län 
auf den Pfarrer, der noch mit Kolbenjchlägen Wider: 
ftand leiftete. Als der Menfchenhaufe fich zerteilte 
fonnte man bei der von den Einbrechern wieder um 
geftedte Lampe den Alten gefeffelt am Boden jeben. 

Die Räuber hatten geſchwärzte Gefichter, juli 
Bärte, Tücher um den Kopf, breitfrempige Hüte und 


Ein Enfel des Eid, 


allerlei Bermummungen, was ihnen ein wildes Aus- 
jehen gab. Sie wurden von einem großen Manne 
befehligt. Sofort ließ diefer die Thür fließen und 
berrammeln und ben Knecht und die Magd feſſeln. 
Einer der Räuber flüfterte dem Anführer etwas zu, 
worauf diejer zu dem beſiegten Geiftlichen trat. 

„Herr Abt, ftellen Sie ſich nicht tot. Bier ift 
ein durch Sie Verwundeter, der beichten will.“ 

Man hörte ſchon Tritte auf der Treppe, und bald 
darauf traten vier Männer ein, die einen mit Blut 
bededten Menſchen trugen, Der Kopf des Berwunbeten 
wadelte, die Augen waren ftier, der Mund ftand offen, 
und das Gefiht war geichwärzt. 

„Ad was, beichten!" jagte der Anführer. 
iſt ſchon vorbei mit ihm.” 

Aber der Sterbende, den man auf eine Bank ger 
legt hatte, machte eine Bewegung, und fein Blid 
belebte fich wieder, 

„Beichten!“ rief er laut und deutlich. 

Man band den Pfarrer 108 und zerrte ihn nad 
der Bank. Die Lippen des Verwundeten bewegten 
Äh im Gebet. Der Pfarrer erfannte den nahen 
Zod und bemerkte den rötlihen Schaum, der vor 
den Mund trat. Er erhob nur die Hand und ſprach: 
„Ih gebe dir Abfolution.” Darauf fiel der Kopf 
zum legtenmal auf die Bruft jurüd. 

„Bringt ihn fort,” befahl der Anführer. „Und jet, 
Herr Abt, jagen Sie ung, wo Sie Ihr Geld haben!” 


„Es 


1099 


„I habe nichts für euch,“ antwortete entſchloſſen 
der Pfarrer. 

Seine Stirn rungelte ji, fein Geſicht war nicht 
mehr rot, jondern freideweiß vor Zorn, und feine von 
ben Striden zerjhundenen Hände zitterten. 

„sn zehn Minuten werden Sie anders ſprechen. 
Mir werden Ihnen die Finger in dem Del braten, 
welches Sie auf und warfen. Wir jehen Sie auf 
bie Kohlen. Eins, zwei —“ 

Der Pfarrer blidte um fih und ſah auf dem 
Tiſche das Mefjer, womit fie das Brot zerjchnitten 
hatten. Mit einem Tigerfprung flürzte er ſich hin, 
bemädhtigte fih der Waffe, warf Tiſch und Lampe 
um, verſchanzte fi dahinter und wehrte ſich im 
Dunkeln wie ein Löwe. Er fühlte die Schläge nicht 
und dachte nur daran, heldenmütig zu fterben, während 
man ihn mit Kugeln überjchüttete, 

Der Anführer der Gendarmerie von Doas fam 
eine halbe Stunde jpäter auf den Kampfplatz, während 
die Räuber noch vergeblich überall in Betten, Da» 
tragen und fogar im Gebetbuche nad) Geld fuchten. 
Er verſicherte jpäter, daß die Leiche des Pfarrers fein 
menschliches Anjehen gehabt habe, jo verftümmelt war 
fie. Er erzählte auch, daß e8 jeit dem Tode des Pfarrers 
viel mehr Rebhühner in der Gegend gebe, und zeigte 
mir auf dem Marfte Xaver, der nicht mehr auf die 
Jagd gehen kann, denn er ift an der reiten Hand 
gelähmt. 


— — 
Die Wolke. 


Bon Seweryn Goszczynski. 
Aus dem Polnifchen überſetzt von Robert Braune. 


Dom Eichenbaum, dem Teich entgegen, 
Im Blute wälzt fi ein Mosfal,*) 
Heult wie ein hungriger Schafal 

Und lechjt nach einem Tropfen Regen. 


Derfengend ruh'n auf ihm die Strahlen 
Der Sonne; Waffer ift fo nah, 
Doch niemand, ihm’s zu reichen, da, 
Und niemand adytet feiner Qualen. 


Und eine Wolfe ſchwimmt im Blauen 
Mit Regen, der ihr leicht entquillt, 
Nur feine Pein bleibt ungeitillt; 

Er hört im Domnerfchall voll Grauen: 


*) Auffe. 


„Schweig, Sproß verfluchter Kreaturen! 
Don den Karpathen fomm ich her, 
Der Weichfel Tochter, regenfchwer, 

Erquidung bring’ id; Polens Fluren. 


Doch löfchen werd’ ich nie und nimmer 
Des Polenfeindes heiße Gier; 
Su viel der Chränen tranfet ihr 
Des Dolfs, zu viel ſchlugt ihr in Trümmer! 


Sur Newa geh, dort zu erfahren 
Des Durftes £abung, dorten buhl 
Darum aus blut’ger £ache Pfuhl, 
Entitrömt dem Eingeweid' des Zaren!“ 


— el — 


Brautfahrt. 


Oskar Angaard. 
Aus dem Norwegiſchen überfeßt von Marlott. 


Große Eisftüde trieben den Bergftrom hinab. 

Scholle auf Scholle prallte aneinander; zuweilen 
fließen fie gegen bie Ufer, ftauten fich nirfchend und 
frachend gegen das Geftein des Strombettes, riſſen 
ſich wieder los und trieben weiter. 

Zwifchendurd tauchte das ſchwarzblaue Waſſer 
des Stromes auf. Ab und zu bildete es ſchäumende 
Strudel oder ftürzte in weißem Gicht dahin; doch 
zumeift flutete e& in glatter Strömung auf feiner 
ewigen Wanderichaft zum Meere hinab. 

Ringsum dehnte ſich die Eindde aus, ſchnee— 
bededte Höhenzüge. Keine dunfle Tanne, feine 
ihwarzbraune Kiefer unterbrach ihre Eintönigkeit. 

Die weite, unendliche Einöde der weiten, undurch— 
dringlichen Wildnis. 

Graue Schneewolten hingen über der Land» 
ſchaft, — zogen ſacht landeinwärts nad Norden zu. 
Nirgends eine Hütte, joweit das Auge reichte, 
Nirgends eine menſchliche Stimme zu hören. 

Nur weit in der fyerne ertönte in Zwiichenräumen 
langgezogenes Geheul, wie von Wölfen, die Leichen 
wittern. 

So lag fie da, dieſe Landſchaft, wie eine un— 
geheure Begräbnigftätte, und der finitere Strom war 
der große Abzugsfanal diefes Kirchhofs. 

* 


Gegen Abend zu fiel Schnee. 

Aber als er über alles eine weiche, mehrere Zoll 
hohe Dede gebreitet hatte, teilten fi die Wolfen, 
und ein fternflarer Himmel öffnete fi gegen Norden 
bin und breitete fi) allmählich mehr und mehr aus, 
bis die Molfenfhicht faft ganz verdrängt war und 
nur wie eine dunfle Mauer noch am jüdlichen Hori- 
zont ſtand. 

Gleichzeitig nahm die Kälte zu. 

Das Waller des Stromes fror zu, dort, wo e& 
ſich längs des Ufers hinzog, und an andern Stellen, 
wo die Strömung am jchwächlten war. 

Im Laufe einiger Stunden lag eine ſchwache 
Eisdede überall, wo das Waſſer nicht reißend dahin» 
ſchoß und die Scollen ſich nicht im Strombett 
brachen. 

Millionen von Sternen erglängten über ber 











Plötzlich — wie auf ein Machtgebot — ergoh 
ih ein Meer von flammendem, vielfarbigem List 
über das Himmelögewölbe — ſchoß in langen Zungen 
nad) allen Seiten — dehnte ſich wie breite Bänder 
von Horizont zu Horizont — ftand wie ein gezadte: 
Diadem im äußerften Norden — flimmerte im Zenit 
wie furze, blendende Blike. 

Ueber den mweißbededten Totenader, über die öde 
Wildmark zitterte das Licht wie der Wiederſchein 
eines im Himmel gefeierten Feſtes. 

Jeder funkelnde Stern fah wie ein geſchlifentt 
Diamant aus, jeder der ftillen Planeten wie eine 
blafje Perle. 

Das Nordlicht aber war der Strahlenglanz du 
Kronleuchter und Kandelaber des ungeheuren König 


ſaales, der ſchwebenden Prismen und funfelnden Ede 


fteine. Es erjchien, als habe der Herrſcher geboten, 
daß die breiten Flügelthüren geöffnet werden jollten, 
damit das Volk all diefe Herrlichkeit erſchaue. 

Aber der Abglanz jenes Feſtes nahm fid) jo jet: 
fam aus, jo fremd auf der armen Erde, 


* 


Nachdem der furdtbare Froſt einige Stunden 
angehalten hatte, trat ein Umjchlag ein, 

Mit einem Male wurde e8 milder. Und als Luna 
hinter den Höhen emporftieg, hatte fie ihr Antlig in 
den Brautſchleier gehüllt. Sacht glitt fie dahin, 
Ihüchtern und blaß, ummallt von einem ſpinnweben⸗ 
feinen Schleier, aus den leuchtendften Silberfäden 
gewoben. Einen Augenblid lang ftand der Himmel 
in regenbogenfarbene Glut getaucht — mur eine 
Augenblid, 

Dann, während der Mond ſich mit dem jeidenen 
Mantel des Nebeldunftes und dem daunenweichen 
Pelzwerk der Wolken umhüllte, ſchwand dieſe Be 
leuchtung, 

Jedes Thor in der Königäburg da droben wurd 
verriegelt, jedes Fenſter geſchloſſen. 

Die Sterne und Planeten verjchlang das Dunke, 

Und die weichen Schneefloden ſchwebten in lauf: 


loſem Elfentanz zur erftarrten Erde nieder, legien 


Schneewüſte. Es war, als ob ihre zitternden Strahlen | 


die fchneidende Kälte mit ſich führten, die für eine 
Zeitlang fogar die brodelnden Waller des Stromes 
zu binden vermochte. 


ſich Leicht über die fyelfen und Berghalden und kr 
bedten da& längs der Ränder des Stromes niw 
gefrorene Eis, 

Düftergraue Nacht Tag über Himmel und Er. 


* 


Brautfahrt. 


Zwei phantaftiche Geftalten tauchten aus dem 
Schneegeftöber auf, zwei Männer. 

Der eine, hochgewachſen und kräftig, in heller 
Frieäfleidung, den Rudjad auf dem Nüden, das 
Gewehr über die Schulter gehängt und den Berg— 
ftod in ber rechten Hand. 

Der andre, Hein und gekrümmt, in ber Kleidung 
ber Finnen. Beide trugen Schneeſchuhe an den Füßen. 

Sie famen von Oſten ber, glitten in gleich— 
mäßigem Laufe über den Schnee hin und gelangten 
zum Strom, 

Da hielten fie an, jahen ſich rings um, und der 
fleine Mann, der einen großen Sad auf dem Rüden 
trug, fehte diefen am Ufer ab. 

„Hier wird's nicht gut brüberzufommen fein,” 
jagte der Kleine; feine Stimme war heifer und hatte 
einen fremdartigen Klang. 

„Hinüber müſſen wir!“ antwortete der Große. 
„Wir wollen ein wenig ausruhen,“ 

Sie ſetzten fi auf den Sad. 

„8 wird fpät, eh’ wir zum Gehöft kommen!” 
jammerte der Kleine. 

„Wir müflen Hin, noch heute Nacht!” verjeßte 
ber andre, 

„Aber wir können unmöglicd über den Strom, 

er!” 

„Nichts ift unmöglid. Wir wollen bier etwas 
effen, ehe wir weiter gehen!“ 

Sie holten Mundvorrat aus dem Rudjad und 
aßen. 

„Ein Schnaps würde uns gut thun, Herr!“ 

Der andre hatte ſich erhoben und ſchien bie 
Feſtigkeit des Stromeijeg zu erproben und den beiten 
Uebergang zu ſuchen. 

„Iſt der Flußlauf nicht ſchmäler höher Hinauf?” 


wandte er fih an den Kleinen. 


„Er ift noch mehrere Meilen aufwärts gleich breit . 


und gleich gefährlich zu paffieren.” 

„But! So verſuchen wir's bier!“ 

Der Heine Mann warf einen rajhen Blick auf 
ben Großen, und in feinen Heinen ſchwarzen Augen 
glimmte e8 wie Feuerfunlen. 

„Ein Schnaps würde und nicht gut fein,“ jagte 
der andre etwas barſch. „Wir brauchen einen Maren 
Blick und fihere Füße heut nacht. Und zum Gehöft 
müjjen wir, che der Tag graut.” 

„Shr ſeid ftreng, Herr!“ 

„Ich bin ein Mann!” 

Der Kleine jchüttelte den Kopf, wandte fi um 
und zog aus der Brufttafche eine flache Flaſche, die 
er heimlich an den Mund jehte, 

„Eine Pfeife Tabat wenigftens macht einen nicht 
wirr im Kopf,“ murmelte er, während er die Flaſche 
wieder verbarg und Pfeife und Feuerzeug hervor—⸗ 
holte. 

„Meinetwegen, rauche!“ jagte der Große geiftes- 
abwejend, 

Darauf ftemmte er den Bergftod gegen das Eis 
des Stromes, ſtarrte nad) der andern Seite hinüber 
und fann nad. 


1101 


„Wir müffen es verfuchen,” fagte er dann leife, 
wie zu fich jelbft. 

Ab und zu ſchielte der Kleine nad ihm hin, jog 
an feiner Pfeife und fand noch ein paarmal Ger 
legenheit, eine Herzſtärkung zu fi zu nehmen 

„Sie erwartet mid) morgen früh,“ ſprach ber 
andre weiter mit fich felbit. „Sie erwartet mid). 
Folglich komme ih. Nicht jeden Tag feiert man 
Hochzeit. Sie erwartet mich ſicher morgen.“ 

Er jah in die Höhe und ringsum, dann fagte er 
laut: 

„Bir müſſen aufbrechen. Es ficht nad) einem 
Unwetter aus!" 

Der Kleine erhob fih und band den Sad wieder 
auf feinen Rüden, 

„sa, das Unwetter kommt herauf,“ meinte er. 
„Es giebt Sturm.” 

„Wir müffen verſuchen, über die Eisſchollen zu 
jpringen.* 

„Das giebt ein Unglüd, Herr!” 

„Unfinn! Der Wille eines Mannes erzwingt alles. 
Und id bin Bräutigam.” 

„Um fo jhlimmer für deine Braut; jo wird fie 
noch vor der Hochzeit Witwe,” dachte der Kleine. 

Der Große unterfuchte das Niemenzeug feiner 
Schneeſchuhe, zog es feſter an und machte ſich bereit. 

Ihr zuerft gehen ?* fragte jein Begleiter. 

a u 


„Wollt Ihr denn nicht den Rudjad und das 
Gewehr ablegen ?* 

„Nein!“ erflang es kurz und beftimmt. 

Und indem er das Eis mit dem Stod unter 
juchte, glitt er vorwärts. 

„Seid vorfihtig! Das Eis knirſcht! Paßt auf, 
jept prallen die Schollen an!“ ſchrie der Seine und 
nahm dabei einen Schlud aus der Flaſche. 

„Folg mir, ich zeige den Weg,“ rief der andre 
und wandte den Kopf einen Nugenblid nad) feinem 
Gefährten um. 

Im jelben Augenblid barft das Eis, das bünne 
Eis unter der Schneedede, 

Er verjuchte den Oberkörper und ein Bein auf 
eine große Scholle zu heben, die gerade vorbeitrieb. 
Es glüdte ihm nicht. 

Und im Berfinfen riß ihn die Strömung unter 
das Eiaftüd, 

Der Kleine ftand mit weit offenem Munde und 
funfelnden Augen dba und ftierte ihm nad). 

„Hola!“ jchrie er gellend, al der Kopf und ein 
Arm des andern wieder auflauchten. „Holla, Herr! 
Ih komme jhon! Hier ift mein Stod! Ergreift 
ihn!“ 

Aber der Untergehende fonnte ihn nicht mehr 
falten. 

„Haltet Euch an der Scholle,” brüflte der Kleine, 
„Wartet ein wenig!“ 

Er jprang jo raſch in den Strom hinaus, daß 
das Eis augenblidlih unter ihm zerſchellte und er 
bis zu den Schultern im Waſſer ftand, 

Und während er jich erjchroden wieder an das 


1102 


Ufer hinaufarbeitete, hörte er Die Stimme des andern 
etwas rufen, was das Getöje des wilden Stromes 
verjchlang. 

Als der Begleiter wieder auf dem feften Lande 
ftand, jehüttelte er fich wie ein naffer Hund, warf 
einen jpähenden Blid über den Strand, that einen 
langen Zug aus der Flaſche und lachte trunfen: 

„Glück auf die Brautfahrt, guter Herr!” 

%* 


Der Schnee fiel dicht die ganze Nacht hindurch. 
Aber gegen Morgen machte fih ein Wind auf. Er 


fam aus Norden, wuchs raſch zum Sturme an, jagte | 


die Wollen vor fi ber, fegte die Luft mit einem 
Beſen aus Fisnadeln, peitichte den loſen Schnee in 
ftöberndem Flug ſüdwärts, lieh die offene Halde 
nadt zurüd, wie fie vorher gewejen, und häufte ganze 
Schichten an jeder fperrenden Felswand auf. 

Und als der Sturm ermattete und eine kurze 





Loje Blätter. 


Weile raftete, lag die Einöde fill und ſtarr da wie 
zuvor. Feine Menichenftimme war zu hören, nichts 
Lebendiges rings zu erbliden, außer drei hochbeinigen, 
mageren Wölfen, die aufrecht jaßen und mit blut 
unterlaufenen Augen und hängenden Zungen auf 
einen Heinen Mann in der Sleidung der Finnen 
niederflarrten, der zufammengelauert, halb vom Schnee 
zugededt, mit einer leeren Flaſche in der Hand, offenem 
Mund und einem erlojchenen Blid in den glanzlofen, 
ſchwarzen Augen balag. 

Das Geräuſch des Eisgangs aber auf dem Strom 
durchſchnitt wie wildes Geichrei die eifige Stille der 
Eindde. 

Und von der Hüfte ber drang das dumpfe, liefe 
Gedröhne der Meereöbrandung gegen das Bollwert 
der Bergwände wie der Klang ferner Kirchengloden, 
die von ſtarken Händen in Bewegung geſetzt wurden, 
um die Toten zur Ruhe zu läuten. 


u nr 9 


— Lofe Blätter &- 


Mein erffer litterariſcher Erfolg. 
Don Iulie Elofon Keuley. 
Aus dem Englifchen überfeht von Guntram Frank. 


Gefchrieben babe ich die ſchwere Menge, aber mit 
dem Drudenlafien haperte es meiftens gewaltig. Die 
Redakteure fandten mir meine Manujkripte zurüd 
und fügten ben guten Rat hinzu, id) folle ihre Zeit« 
ihriften faufen und den Inhalt ftudieren. Ich kaufte 
mir fieben Stück und las die Geſchichten forgfältig 
duch. Bei Tiſch fand meine Familie, daß ich aus— 
jähe wie Gift und Galle, 

Ih lernte recht viel, was Geſchichten angeht. 
Sie müfjen handeln von einem Helden, von einer 
Heldin und von Liebe. Am Anfang pflegt der Held 
diejes fFrauenzimmer zu haſſen — warum, wurde 
mir nie Mar; ich hätte ebenjogut daran denfen 
fönnen, einen hübſchen Meinen Lampenſchirm zu haſſen. 
Gegen das Ende zu lernt er fie lieben. Das Ein— 
treten dieſes Ereigniſſes merkt er daran, daß „fein 
Herz in ihm erſtirbt“, wenn fie ihn allein läßt. Das 
ſcheint aber fein lebensgefährlicher Vorgang zu fein; 
e8 wird ihm dabei nicht einmal übel. Zuweilen find 
dieſe zwei Figuren alte Belannte — ihr wißt es nur 
nicht — von den Jlluftrationen abgefehen; fie ſprechen 
um fein Haar vernünftiger. 

Ich brauchte Geld, mein gewöhnlicher Fall, des⸗ 
halb entſchloß ich mid, eine Gejchichte zu jchreiben 
nad) dem Gefchmad der großen Maffe. Ich fchrieb 
auf blaßrotes Papier mit einem filberplattierten 
Treberhalter. Ich war überzeugt, daß das das einzig 
Richtige wäre, um burdichlagende Geſchichten zu 
ſchreiben. 


Die erſte Damenrolle belam den Namen „Grace“, 
der wichtigfte von den Herren war „George“. Georac 
traf Grace beim Tennisjpielen, „als die Vögel über 
ihren Häuptern zwitjcherten“, ch weiß zwar, dab 
auf gutgehaltenen Spielpläßen feine Bäume zu ftehen 
pflegen — aber die Vögel hatten in jeder der Ges 
ſchichten gezwitſchert, die ich gelefen hatte, und id 
hielt e8 darum für nötig, daß auch die meinigen 
zwitſcherten. George fagte: 

„Miß Silverthorn, ich habe Ihnen etwas zu 


‚jagen, etwas jo Großes, daß es für mich Leben oder 


Sterben bedeutet.” Denn ich erinnerte mich daran, 
daß er fie gerade allein getroffen hatte. 

Ich wollte den Ausſpruch unverändert laſſen, ob⸗ 
gleich ih — o die liebe alte Leier! — es nur ab» 
ſchrieb, es lautete eigentlich ſo: 

„Miß Silverlhorn, ich habe Ihnen etwas zu 
jagen, etwas jo Großes, daß es für mich Leben oder 
Tod bedeutet. Eſſen Sie gerne Flaben ?* 

Ich Tagte das, weil ich mir nicht denken Tonnte, 
was er fonft zu jagen hätte, und ich ſchloß: wenn 
ih nichts anderes wüßte, fo wüßte der Dummlopf 
George es erft recht nicht. 

Dann ließ ich fie auf einen Hügel bei einem 
Sommerhaufe fteigen. Ich kam mir dabei wie ein 
DOchjentreiber vor. Den Hügel machte ich jehr fteil, jo 
daß George „den leifen, unwillkürlichen Drud ihrer 
Finger, die in dem feinen Handichuh ſtaken,“ fühlen 
fonnte. Das Sommerhaus war „ein ländlicher Bes 
mit dem Ausblid auf einen murmelnden Fluß und ein 
wogenbes Kornfeld“. Wie das Korn wogte, fann 
id) mir nicht vorftellen, denn George ſagte zu Grace, 
es rege fich fein Lüftchen. Vielleicht verneigte fi) das 
Korn George zu Ehren, weil fie jo alte Belannte waren. 


Loſe Blätter. 


Im Fortgang meiner Gefchichte wurde die Ver« 
widlung hoffnungslos. „Der Wind wehte die Loden 
auf ihrem Naden an jeine gebräunten Wangen.“ 
Es fam aljo zu allem andern nicht nur ein ruchlofer 
Gegenwind dazu, es lag darin auch no, daß Georges 
Mangen nur bis zu Grace Naden reichten, und ich 
hatte doc) erzählt, daß George „hochgewachſen war, 
mit einem feingefchnittenen Antlig*, und daß „Grace 
flein und zierlich wie eine Frühlingsblume war“. 
Gleichviel, ich beſchloß, der Sache ihren Lauf zu lafien, 
um zu ſehen, was der Jlluftrator damit anfangen 
würde, Der wußte ſich gleich zu helfen; er gab 
George einen Bollbart. ch blieb mäuschenftill, ich 
fenne die Zeichner; ich war froh, daß Grace auf den 
Bilde feinen Geisbart befam. 

Die beiden waren nicht lang in dem Sommer« 
haus, da brach George ein Bein. Es war zu ſchlimm, 
dab das geſchah — aber Grace mußte doc eine 
Gelegenheit haben, „um fein bewußtloſes Antlik mit 
leidenjhaftlichen Küſſen zu bebeden“. 

Als er wieder die Augen aufichlug, blidte er fie 
an und rief: „Sie haben mein Leben gerettet. Wie 
fol ich Ihnen das vergelten?* 

IH wußte nicht, was man darauf zu antworten 
pflegt, deshalb biß ich die Enden von zwei Zünb- 
hölzern ab zum Loſen. Ich zog das längere. Sie 
fagte aljo, den Blid weggewendet und mit Thränen 
in ihren großen Augen: 

Teurer Weatherſpoon, es hat nichts zu bedeuten; 
denken Sie nicht einen Moment daran.“ Es war 
eine recht unglückliche Wendung, aber ich gab es dem 
langen Zündholz ſchuld. 

George verbarg ſein Geſicht in den Händen und 
ſeufzte: „Wehe mir! Grace Silverthorn, mein Herz, 
ach, ift gebrochen!“ 

Grace war vernünftiger — ich habe fie immer 
gern gehabt. Sie fagte: „Seien Sie ein Mann, 
George Weatherjpoon !” 

Dann heirateten fie fih, und „die Braut war 
Ichlanf und bla wie eine Oſterlilie“. 

George betrug ſich wirflich wie ein Mann, — ich 
war entzüdt von George. „AUS er fie zum Altar 
führte, war feine Haltung jtolz und jet“, fein Bein 
war in vierzehn Tagen geheilt. 

Das letzte, was ich von ihm hörte, war, als er, 
Grace in die Augen jchauend, jagte: 

„Süßes Weib, laß uns jederzeit den Preis der Liebe 
gewinnen auf dem großen Tennisplaß des Lebens!“ 

Es war eine reizende Geſchichte — jo lebens— 
wahr, jo ganz, wie das Publikum fie liebt. Ich 
zeichnete ald „Anthony Trollope“. Der Redakteur, 
an den ich fie jandte, jchrieb fofort zurüd, ob 
ih mit dem englijchen Novelliften Trollope ver— 
wandt fei. Ich antwortete: nein, aber meine Groß 
tante habe einft Trollopes Stiegen geſcheuert. Er 
fandte mir eine Anweiſung auf dreißig Dollars, 
Er ließ meine Geſchichte erjcheinen mit einer Notiz, 
daß id) eine Stiefbafe des engifchen Novelliften ſei. 

Die Naht darauf träumte mir, ich flände vor 
einem Grabmal mit der Injchrift: 


1103 


„George und Grace ruhen in dieſem Grab, 
Ihre Seelen bliden vom Himmel herab — 
Und das ift der Grund, ich will ihn verkünden, 
Daß ihr meine Seele könnt anderäwo finden,“ 
Am nächſten Tage faufte ich Papier mit Trauer- 
tand und band der Katze eine Kreppſchleife um. 
(„Bolton Herald.“ 


— — 


Das Ende Maupaſſauts. Die jüngſt erfolgte 
Enthüllung des Denkmals, das Raoul Vernet für 
Maupaſſant gefhaffen, und das in dem idyllischen 
Park Monceau feine Aufftelung gefunden hat, bringt 
das traurige Ende des genialen franzöſiſchen Novel- 
liften wieder in jchmerzliche Erinnerung. Maupaſſant 
wurde befanntlich nad einem Selbſtmordverſuch als 
unheilbar wahnfinnig in der am Quai von Paſſy 
gelegenen Anftalt des Doktors Blanche untergebradit. 
Dort verlebte er achtzehn Monate in rapid zu— 
nehmender Geiflesumnachtung, bis ihn furdtbare 
Gehirnfrämpfe von feinem Leiden erlöften. Zahl— 
reiche teilnehmende Kollegen und Freunde beſuchten 
ihn während der erjten Zeit feines Aufenthaltes. 
Er jhüttelte den Kopf, ala ihm ihre Karten gezeigt 
wurden — „Ich kenne fie nicht!“ Er wollte fie nicht 
empfangen. Als ſich einft ein befannter Journalift 
meldete, fchleuderte er zornig die Karte fort und 
murmelte: „Bel Ami — Bel Ami —“ Mit diejem 
Titel fuchte er feiner Beratung gegen die Journa« 
litten Ausdrud zu geben. Er ſchrieb und las nicht 
mehr und jprad nur noch unzufammenhängende 
Worte. Ein einziged Mal nahm er eine Feder und 
jehrieb ein paar ſinnlos zufammengeftelte Silben 
nieder. Anfangs weigerte er fi), von den Speiſen, 
die man ihm vorjeßte, zu eſſen. „Gift — Gift,“ 
äußerte er argwöhniſch. Im übrigen war er ruhig; 
mur bei den Mahlzeiten zeigte er Anfälle von zorniger 
Wut. Er ging jehr friedlich jpazieren, arbeitete 
jedod niemals im Garten, wie oft erzählt wurde. 
Seine Erinnerungsfähigfeit war gänzlich entſchwunden; 
er wußte weder, wer er war, noch, wie er früher 
gelebt hatte. Als die „Comödie Frangaise* jeine 
zweialtige Komödie: „La paix du ménage“ auj- 
führte, überreichte man ihm das Buch — er jah 
nicht einmal hinein. Sein Verleger, der ihn damals 
bejuchte, wollte ihn von der Autorjchaft überzeugen, 
Er fträubte ſich lange, plößlich rief er: „Ah — ja — 
ja — von mir!” Dann warf er das Bud) haftig 
beijeite und jagte: „Nein, nein! Das habe ich nicht 
gemacht!” — Bergebens bemühte fi) eine Frau, eine 
Schriftftellerin, für die er einft eine Neigung gehabt 
hatte, ihn durch Aufmerkjamfeiten zu erfreuen. Sie 
wurde niemals vorgelaffen, und als fie ihm einjt 
Trauben jandte, wies er fie von fich, indem er un« 
aufhörlih wiederholte: „Sie find aus Kupfer!“ 
Seine Mutter, felbjt jchwer leidend, und jein Bater, 
gelähmt und an den Lehnſtuhl gefefjelt, konnten ihn 
nie bejuchen, doch die Schwefter jeiner Mutter wich 
bis zum letzten Augenblid nicht von jeiner Seite. 
Sie hatte ihn ſchon in feiner Kindheit gepflegt, 


1104 


feinen Sinn für die fo heiß geliebte Litteratur er= 
ſchloſſen und oft befruchtend auf die junge Phantafie 
eingewirft, die num für immer erlojdden war. A. Br. 


Tv 

Das höchſte Schriftitellerhonorar. Rudyard 
Kipling hat für feine Eiſenbahngeſchichte „Nr. 007" 
in der Auguſtnummer von „Scribners Magazine* 
das höchſte Honorar erhalten, das jemals einem 
Autor gezahlt worden ift. Die kurze Gefchichte zählt 
7000 Wörter, das Honorar betrug 1500 Dollars, es 
ſchließt jedod alle Rechte buchhändleriſcher Ver— 
wertung ein; zwanzig Cents für jedes Wort, das ift, 
jagt die amerikaniſche Wochenſchrift „The Critic*, 
die Hodwallermarfe der Honorierung. In England 
erzielt Kipling nicht jo hohe Honorare; feine Arbeiten 
werden von amerikanischen Verlegern erworben, die 
dann das Abdrucksrecht für England weiter verfaufen, 

x. 


Wie ein moderner englifher Schriftiteller ar- 
beitet. ©. R. Erodett ſchrieb unlängft dem „New 
Illustrated Magazine“, er jei jehr jchwerfällig im 
‚ Ausdenten feiner Stoffe und trage eine Geſchichte 
oft Monate und Jahre lang im Kopfe herum, ohne 
ein Wort zu Papier zu bringen; aber wenn es fi 
dann um die eigentliche Niederjchrift handle, jo 
arbeite er rapid. Ein Befucher des Schriftitellers 
in deſſen Heim zu St. Andrews macht darüber an« 
ziehende Mitteilungen. Grodett hat zwei Schreib- 
maſchinen von ungewöhnlihem Format und be— 
jonderer Peiftungsfähigfeit, die er ih eigens hat 
bauen lafjen, jede um 500 Dollars, und er arbeitet 
damit blitzſchnell. Während er mit der Schreib» 
maſchine feine Erzählung ausgeftaltet, Tiebt er es, 
zugleid an der allgemeinen Unterhaltung einer ganzen 
Menge im Zimmer Anmwejender teilzunehmen. Er 
fegt fi) jhon morgens um fünf Uhr an die Arbeit; 
bis zum Frühftüd um neun hr pflegt er bereits 
5000 Wörter gejchrieben zu haben. Niemals, urteilt 
der Befucher, habe er einen ſolchen Mann gejehen ; 
er jcheine geradezu unerſchöpflich an Geftaltungstraft 
und fei jedenfalld nicht zu ermüden. Sechs Fuß 
und drei Zoll groß und 280 NIS rn R er fo 


2ofe Blätter. 


flint wie eine Katze. Man darf daraus freilich nicht 
jchließen, daß ein großer, ftarfer Mann immer ſchon 
deshalb Teiftungsfähiger fein müßte als andre. So 
war zum Beifpiel Littre, der große franzöſiſche Lerilo: 
graph, ein Meines, dürres Männchen, aber er arbeitete 
doch an feinem Wörterbuch noch viel angeftremgter 
ala Grodett, von der Morgendämmerung bis in die 
Nacht hinein; nur bei feinen haftigen Mahlzeiten lieh 
er fich einige Augenblide Ruhe; für förperlihe Er— 
holung gönnte er ſich feine Zeit, denn ſelbſt bei den 
fpärlihen Spaziergängen dachte er beftändig an jein 
Wörterbudd. Und dabei wurde er achtzig Jahre alt. 
Grodett dagegen hat ebenfoviel Zeit zur Erholung 
wie zum Arbeiten; er widmet ſich mit Leidenihait 
und Ausdauer dem fchottifchen Nationaljpiel mit dem 
Treibball auf den Feldern bei St. Andrews; wie ein 
Wirbelwind jauft er über die fünf engliichen rg 
des Spielplatzes hinweg. 


Geniehen Büdhertitel gr Schutz des geiftigen 
Eigentums? Wie jeder Schriftiteller weiß, ift es 
gar nicht jo leicht, einen guten, zugfräftigen Titel zu 
finden, und es giebt feine größere Verdrießlichleit, 
ald wenn man einen paflenden Titel gefunden zu 
haben glaubt und dann erfährt, daß er ſchon gebraudt 
worden ift. In vielen Fällen aber läßt fih gar 
nicht mit Sicherheit herausbringen, ob ein Titel neu 
ift oder ſchon verwendet. Die amerifanifche Zeit 
ichrift „The Critic* wirft die Frage auf: Wenn ein 
Buch vergefien und verſchollen ift, gleichſam tot, fann 
jein Verfaſſer die Klage auf Schuß feines geiftigen 
Eigentums erheben gegen einen andern Autor, der 
für ein neues Buch den bereit3 abgejtorbenen Titel 
wieder belebt? Der Fall ift wohl nicht nur in Ame⸗ 
rifa vorgelommen, daß ein Schriftitellee von hervor 
ragender Geltung bei der Veröffentlichung eines neuen 
Merts fi den Vorwurf gefallen lafjen mußte, dab 
defjen Titel bereit3 von einem andern in Beſchlag 
genommen jei. „The Critic* hält die Sade für 
wichtig genug, daß Buchhändler und Schriftiteller ſich 
förperjhaftlih darüber ausſprechen, ob die Titel 
geiſtiges Eigentum feien, und wie ein Schub dafür 
I Tefaeieht werden fönne, Ss. 








Der Yahrgang 1898 diefer Zeitfchrift wird mit 


„»aris“ von EGmile Bola 


eröffnet. 


Diefem Werke lafjen wir unmittelbar 


„Die Hfüße der Jamilie“ von Alphonfe Daudet 


folgen. 


Wir freuen uns, unfern verehrlichen Lejern wiederum die neueften Werfe der beiden 


größten zeitgenöffischen Romanfchriftiteller Frankreichs bieten zu können. 
Die Redaktion von „Aus fremden Sungen“. 





Berantworilicder Redakteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart. Drud und Verlag ber Deutichen Berlagk-Anflalt in Sluttgart. 
Briefe und Sendungen find nur an die Deutſche Yerlags-Iuftalt im Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu richtes. 


Gleichheit. 


Edward Bellamy. 
Aus dem Amerikanifchen überſetzt von M. Jacobi. 


(Schluß.) 


XXXVI. 
Theaterbeſuch im zwanzigſten Jahrhundert. 
‚Ss thut mir leid, wenn ich ſtöre,“ ſagte Edith, 
„aber in fünf Minuten geht der Vorhang auf, und 
Julian jollte doc nicht die erfte Scene verfäumen.“ 
Auf dieje Ankündigung gingen wir ſogleich in 
das Mufifzimmer, wo vier Lehnſeſſel behaglich für 
uns zulammengerüdt waren. Während der Doktor 





den Anſchluß von Zelephon und Eleltrojfop ber- 


richtete, beiprach ich mit den beiden Damen den 
Unterfchied zwijchen dem Theaterbefuh im neun— 
zehnten und zwanzigiten Jahrhundert, der jo groß 
ift, daß bie glüdlichen Bürger der jegigen Welt ihn 
fih, bei aller Anftrengung ihrer Phantafie, faum 
dvergegenwärtigen fünnen. „Zu meiner Zeit,“ jagte 
ih, „waren nur die Bewohner der großen Städte 
oder die Befucher derjelben im ftande, den Auf— 
führungen guter Schaufpiele und Opern beizumohnen; 
der Maſſe des Volks blieb diefer Genuß notwendiger- 
weife verfagt und unbefannt. Uber felbjt wer fich 


nad den Ortsverhältniſſen eine jolde Erholung 


geitatten fonnte, war genötigt, ſich dabei den ab— 
icheulichiten Unbequemlichkeiten auszufegen, Gedränge, 
Unkoften und Störung des gewohnten Behagens 
ließen ſich nidht vermeiden, und man zog es daher 
meiſtens vor, zu Haufe zu bleiben, Wünſchte jemand 
große Künſtler andrer Nationen zu jehen und zu 
hören, jo mußte er jih auf Reifen begeben oder 
warten, bis die Künſtler in jeine Gegend famen, 
Wie anders das heute ift, brauche ich Ahnen ja nicht 
zu jagen. Sie bleiben zu Haufe und jhiden Ihre 
Augen und Obren über Land, Wie fern aud eine 
menjchliche Wohnung von den Hauptftädten liegen 
mag, ja jelbft bis zu dem Luftballon, der im Himmels- 
raume jchwebt, biä zu dem Floß des MWächters, dem 
die MWetterbeobadhtung mitten im Ozean obliegt, ober 
der Eishütte des Polarforſchers — überallbin reicht 
die eleftrijche Verbindung und macht es jedem mög- 
lich, in Schlafrod und Pantoffeln, wenn es ihm be— 
liebt, unter den öffentlihen Bergnügungen zu 





wählen, welde an dem Tage irgendwo auf der Erde | 


vor fich gehen. 


Aus fremden Jungen. 1897. IT. 24. 


Spiel gejehen noch ſchlechten Gejang gehört. Das 
fommt aber daher, weil jet eine Truppe bor der 
ganzen Welt fingen oder jpielen fann, und durch dieje 
Möglichkeit alle erbärmlichen Schaufpieler und Sänger 
aus der Welt geſchafft worden find. Denn mer bie 
beften Künftler jehen und hören fann, findet an 
mittelmäßigen Leiftungen fein Vergnügen mehr.“ 
„Da läutet die Glode, der Vorhang geht auf,” 
fagte der Doktor, und im nächſten Augenblid hatte 
ich alles über dem Schauſpiel vergeffen, das wir zu ſehen 
befamen. Auf die Handlung des Stücks, „Die Ritter 


| der goldenen Regel“, brauche ich nicht näher ein- 


zugeben, da fie allen wohlbelannt it. Ich erwähne 
nur die Thatjache, daB fämtliche Koftüme und Ge» 
rätichaften dem neunzehnten Jahrhundert angehörten 
und aus der Welt jtammten, wie fie zu meiner Zeit 
geweſen war. Ein paar Anachronismen und Un— 
genauigfeiten, bie mir auffielen, find fpäter von der 
Theaterleitung auf meinen Rat verbeilert worden. 
Vom eriten Augenblid an hatte ic) aber während 
der Voritellung meine gegenwärtige Umgebung gänz« 
lich vergeiien, und das ift wohl der befte Beweis für 
die Nichtigkeit der Wiedergabe im allgemeinen, ch 
ſah mic) einer Gruppe meiner lebendigen Zeitgenoſſen 
gegenüber; Männer und frauen waren gefleidet, 
wie ich fie von jeher gefannt, und glichen in Sprache 
und Benehmen genau den Leuten, mit denen ich 
noch vor wenigen Wochen verfehrt hatte, Ihre 
Leidenſchaften und Vorurteile, ihre Sitten und jelbit 
die alltäglidhften Gewohnheiten hatte der Verfaſſer 
des Stüds jo genau zur Daritellung gebracht, daß 
mich diefe Heinen Züge noch mehr anheimelten alt 
die Aehnlichfeit im großen und ganzen. Das einzige 
Gefühl, welches mich binderte, mir vorzuftellen, das 
ic; einem Schauſpiel des neunzehnten Jahrhumderts 
beiwohnte, war ein verwirrte® Erftaunen darüber, 
dab ich jo viel mehr von dem Ausgang der fozialen 
Ummälzung wußte als die handelnden Perſonen; 
denn dieſe jpradhen von dem Umfturze, als fei er erit 
in der Entwidlung begriffen. 

Als der Vorhang nad dem erften Alt fiel, blidte 


Sie jelbjt haben weder jchlechtes | ich mich um und ſah Edith, ihre Mutter und ihren 


139 


1106 


Vater neben mir im Muſilſaal fißen. 
Schlage fühlte ih mid in die Wirklichkeit meines 
gegenwärtigen Dafeins verjegt. In der früheren Zeit 


Edward Bellamn. 


Mit einem ı Durhführbarfeit überzeugt waren, vor ber unüberjche 


| 


baren Verwirrung und Echwierigfeit zurüdichredten, 
die nad ihrer Meinung von dem Uebergang ums 


meiner Laufbahn im zwanzigften Jahrhundert würde | zertrennlich war. Natürlich benugten die Kapitaliften 
eine ſolche Erjchütterung mir ficherlih die Sinne 


verwirrt haben; aber jet ſtand ich ſchon zu feft auf 
den Füßen, um etwas derartiges zu befürchten, 
Während der übrigen Aufzüge erhöhte das Bewußt⸗ 
jein meines wunderbaren Geſchicks, das mid) zwei fo 
weit außeinanderliegende Zeitalter miterleben lieh, 
meinen Genuß an dem Spiel nur auf ganz un« 
beichreiblicdhe Weiſe. 

Nachdem der Vorhang gefallen war, blieben wir 
nod im Geſpräch über dad Stüd und viele andre 
beifammen, bis die Kugel der Farbenuhr vom Grün 
ins Weiße überging und und mahnte, daß e8 Mitter- 
nacht jei. Die Damen zogen ſich zurüd und ließen 
mich mit dem Doktor allein. 


XXXVI. 
Die Uebergangsgeit. 

„Es ift zwar ziemlich ſpät, aber doch möchte ich 
Ihnen gern no ein paar fragen über die große 
Ummälzung vorlegen,” jagte ih. „Trotz allem, was 
ih ſchon geliehen und gebört habe, bin ich noch außer 
ftande, mir vorzuftellen, auf welche Weiſe der Ge- 
famtbefig aller an Stelle des Privatfapitalismus 
eingeführt worden fein fann, ohme daß Gewalt 
maßregeln nötig wurden, und ein furdhtbarer Aufruhr 
losbrach. Wir hatten in unjern Tagen ſehr geſchickte 
Ingenieure, denen es ein Leichtes war, große Ge— 
bäubde von einem Standort auf einen andern zu ver- 
feßen, ohne die Bewohner während des Transports 
zu beläftigen, jo daß fie ihre täglichen häuslichen 
Verrichtungen ununterbrochen jortjegen fonnten. Eine 
ähnliche Aufgabe, die jedoch millionenmal größer 
und verwidelter war, muß entitanden fein, als es 
galt, die Grundlage aller Produftion und Güter 
verteilung gänzlich umzuwandeln. Sämtliche Ber 
dingungen, auf denen Geſchäft und Unterhalt eines 
jeden berubte, wurden plößlid; verändert, während 
gleichzeitig die verfchiedenen Teile des wirtſchaftlichen 
Mechanismus in ihrem Lauf nicht gejtört werden 
durften, da die Erhaltung des Volta von Tag zu 
Zage hiervon abhängig war. Es würde mic) höchlich 
intereffieren, wenn Sie mir erflären wollten, wie man 
das möglich gemacht hat.” 

„Ihte Frage,“ erwiderte der Doktor, „entfteht 
aus demjelben Gefühl, welches das Volk zur Zeit der 
Ummälzung in hohem Grade beeinjlußte, Troß der 
wadhjenden Empörung gegen den Privatkapitalismus 
fuhr man fort, ihn zu dulden, weil ein vollftändiger 
Wechſel des Syftems als ein jo ungeheures und ges 
wagtes Unternehmen erſchien, daß ſelbſt viele, welche 
die neue Ordnung heiß erſehnten und feſt von ihrer 


und alle Verfechter des Beſtehenden dieſe Stimmung 
zu ihrem Vorteil, Sie forderten die Reformatoren 
auf, ihnen doch die bejonderen Maßnahmen zu nennen, 
welche fie anwenden würden, jobald fie die Gewalt 
in Händen hätten, um an Stelle des gegenwärtigen 
Syſtems eine Nationalinduftrie einzuführen, deren 
Ertrag allen gleihmäßig zu gute fommen würde. 
„Eine Partei der Neuerer lehnte jede Aufftellung 
eines Programms für die Entwidlung und Vollendung 
des Umfchwunges rundweg ab. Wenn die Krifis ein- 
träte, fagten fie, würde ſich die Methode der Ause 
führung ſchon von jelbft ergeben; es fei thöricht und 
zwedios, jede Möglichleit im voraus zu erwägen. 


| Diejer Beicheid fonnte natürlich die Gemüter nicht 


beruhigen. Jeder gute General macht fich vorher 


\ feinen Feldzugsplan, obwohl er weiß, daß er ihn 


unter Umftänden wejentlih verändern oder aud 


gänzlich aufgeben muß. Es war daher den ängfl- 
lichen und fonjervativen Leuten nicht zu verübeln, 
wenn fie jo ungewifien Reformvorichlägen mit Mik- 
trauen begegneten. 

„Andre Reformparteien erfannten denn aud bie 
Notwendigkeit, einen beflimmten Sclachtplan auf 
juarbeiten. Nah dem einen Entwurf jollten die 
Gewerkvereine ſich zujammenjhließen, bis fie die 
Aufiht und Verwaltung aller großen Geſchäfte in 
Händen hätten, und dann Beamte nad) ihrer Wahl 
anjtellen, ſtatt der Kapitaliften. Hätte diefer Plan 
berwirflicht werden lönnen, jo würde ein Gruppen 
fapitalismus entftanden jein, der im weiteren Sinne 
eine ebenjo trennende und antijoziale Wirkung ge 
habt hätte wie der Privatlapitalismus felbft. Aber 
ber Gedanke wurde bald aufgegeben, da ſich heraud- 
fteflte, dab ein Bund ber Gewerfvereine überhaupt 
nur eine jehr bejchränfte Machtvolllommenheit be 
figen würde. 

„Bon andrer Seite wurde der Vorſchlag gemadit, 
eine Anzahl freiwilliger Kolonien mit fooperativen 
Einrihtungen zu gründen. Dieje jollten durch ihr 
Gedeihen zur Bildung von immer mehr Stolonien 
aufmuntern, die zuleht, wenn der größte Teil der 
Bevölterung ſich ihnen augeſchloſſen hätte, einfach 
jufammenfließen und ein Ganzes bilden würden. 
Viele edle und begeifterte Seelen widmeten ſich dielen 
Beftrebungen. Die zahlreihen Kolonien, welde in 
den Vereinigten Staaten während ber Periode det 
Umſchwungs entftanden, lieferten den offenfundigen 
Beweis, wie jehr fih aller Menſchen Herzen nad 
einer beiieren Gejelljhaftsordnung jehnten. Senf 
aber führten diefe Verſuche zu feinem Ergebnis, wie 
ſich das von ſelbſt verftand. Wirtſchaftlich zu ſchwach. 


2, 


Gleichheit. 


nur der gleichen Gefühlsrichtung entiprungen, konnten 
ſich dieſe Vereinigungen meift jehr waderer, aber 
ihwärmeriicher Leute inmitten einer feindlichen Welt, 
die über alle fozialen und wirtf&haftlichen Vorteile 
verfügte, nicht behaupten. Ein ſolches Unternehmen 
hätte überhaupt nur unter einem hervorragenden 
Führer oder den günftigften Umftänden ein prafs 
tiſches Ziel zu erreichen vermocht. Eine dritte Partei 
behauptete, die befjere Ordnung werde allmählich 
aus den alten Einrichtungen hervorgehen, wenn nur 
verjhiedene menfchenfreundliche Verbeſſerungen eins 
geführt würden. Durch fyabrifgejeße, verkürzte Ar— 
beitäftunden, Altersverſorgung, gute Arbeitermoh« 
nungen, Bejeitigung der Schmutzhöhlen und eine 
Menge ähnlicher Notbehelfe hoffte man den bejonderen 
Uebeln zu fteuern, die der Privatkapitalismus er- 
zeugt hatte. Wenn dann in einer unbeftimimten, 
fernen Zeit alle böjen Folgen des Kapitalismus 
vernichtet wären, würde es, jo meinte man, ver— 
bältnismäßig leicht jein, den Kapitalismus jelbft 
abzuſchaffen. Das heißt, man mollte die faulen 
Früchte des böfen Baumes eine nad) der andern 
von den Aeſten pflüden und zuleßt erft den Baum 
jelber fällen. Als ob nicht, jolange der Baum ftand, 
die böje Frucht ebenfo jchnell wieder wachjen würde, 
wie man fie abgepflüdt hatte. 

„Diele, jowie eine Menge andrer Maßregeln, 
welche die NReformatoren zur Berbeflerung der Zus 
ftände vorjchlugen, waren in ihrer Art gewiß vor- 
trefilich, aber feineswegs außreichend, um ben Kapi-⸗ 
talismus zu zerjtören. Davon waren fie weit ent 
fernt; im Gegenteil, fie verhaljen dem Kapitalismus 
wahrjcheinlich zu einer längeren Lebensfrift, weil fie 
ihn etwas weniger verabjcheuungswert machten. Nach— 
dem die Umfturzbewegung jchon bedeutend fort« 
geihritten war, fam wirklich eine Zeit, in der be= 
fonnene Führer die Befürchtung Hegten, fie möchte 
wieder von ihrem wahren Ziele abgelenft und alle 
Kraft in ſtückweiſen Reformen vergeudet werden. 

„Sie fragen, auf welche Weile die Männer der 
neuen Ordnungden Privatfapitalismuszulekt doch noch 
ftürzten, als fie endlich die Macht gewonnen hatten? 
Ich will es Ihnen jagen: fie führten ein militärijches 
Manöver aus, das in der Kriegsgeſchichte häufig 
vorfommt; man nennt es dem Feind ‚in die Fylante 
fallen‘. Durch eine ſolche Flanlenbewegung umgeht 
eine Armee ihren Gegner auf einer Seite, ftatt ihn 
geradezu in der Front anzugreifen, und nötigt ihn 
ohne Schwertjtreich, feine Stellung aufzugeben. Ganz 
diefelbe Kriegsliſt wendeten die yührer der Bewegung 
gegen die Rapitalijten an, ala es fih um die leßte 
Enticheidung handelte. 

„Die Kapitaliften hatten es für jelbftverftändlich 
gehalten, daß man ſich mit Gewalt ihrer Güter be= 
mächtigen würde. Davon war aber feine Rede. Der 


1107 


gemeinfame Befig wurde erſt an die Stelle des 
Privateigentums geſetzt, als das ganze Syften des 
Kapitalismus durchbrochen und zerfallen war — 
um es zu jürgen, bediente man fid) andrer Mittel. 
Wie bei der vorhin erwähnten Flanlenbewegung 
griff die Revolutionsarmee die Feſtung des Kapi-— 
talismus nicht direft an, jondern mandvrierte jo, daß 
fie zur Räumung gezivungen wurde, weil fie ſich 
nicht länger zu halten vermochte. 

„Sie dürfen aber nicht glauben, daß man dies 
Verfahren aus Rüdfiht gegen die Anſprüche der 
Rapitaliften einſchlug. Das Volk hatte ſich längſt 
gewöhnt, im Privatfapitaliämus die Quelle und den 
Inbegriff aller Schlechtigkeiten zu jehen,; es war 
überzeugt, daß die Menichheit fich jeden Tag einer 
Todfünde jchuldig machte, an dem fie ihn nod 
buldete. Wenn die Männer des Umſturzes nicht 
direft zum Angriff jchritten, jo geſchah das nur im 
Intereſſe des Volles, und um deilen wirtfchaftliche 
Angelegenheiten während des Uebergangs der alten 
zur neuen Ordnung jo viel wie möglich vor ernftlichen 
Störungen zu bewahren. 

„Und nun will ich Ihnen einfach erzählen, was 
geſchah — das Heißt, inſoweit mir die Sade noch 
erinnerlich ift. Ich habe mich jeit meiner Schulzeit 
nicht wieder eingehend mit ber Umfturzperiode be 
ihäftigt, und wenn Sie jpäter die Geſchichte nach- 
lefen, werden Sie vielleicht finden, daß ich mid) in 
betreff der Einzelheiten öfters geirrt habe; ich will 
Ihnen nur, jo gut id) fann, eine Vorftellung von dem 
allgemeinen Verlauf der Ereigniffe geben: Der erfte 
Schritt, den die Gegner de Privatfapitalismus 
thaten, befland wie gejagt darin, daß fie das Volt 
dazu braten, gewille öffentliche Veranftaltungen zu 
monopolifieren und zu verftantlichen. Died waren 
meiſt Einrichtungen wie: Wafjerleitung, Beleuchtungs⸗ 
werte, Fähren, Fotalbahnıen, Telegraph und Telephon, 
Eifenbahnbetrieb, die Gewinnung von Kohlen und 
Petroleum, jowie der Handel mit geiftigen Ge— 
tränfen — lauter Saden, deren Verwaltung nicht 
direft in da® Syitem der Produktion und Güterver- 
teilung im allgemeinen eingriff, jo daß jelbft die 
Aengſtlichen und Konjervativen diefen Schritt mit 
geringer Beforgnis anjahen. Man konnte aud) in 
der That alle derartigen Angelegenheiten in öffent- 
lichen Betrieb nehmen, ohne daß damit notwendiger« 
weile ein Angriff auf den Privatfapitalismus ver» 
bunden war; denn jelbft wenn man dieſe Geſchäfte 
in Staat&betrieb übernahm und Die Betriebsfoften vom 
Ertrage dedte, jo wäre die für die Gemeinſchaft ge- 
wonnene Lebenserleichterung fogleich wieder durch die 
Beſchränkung der Löhne und Preiſe zu michte gemacht 
worden, welche von der gewiſſenloſen Konkurrenz des 
Profitſyſtems unzertrennlich war. 

„Wenn daher die Gegner des Kapitalismus die 


1108 


Öffentliche Verwaltung ſolcher Geſchäfte begünftigten, 
fo verfolgten fie damit einen andern Zwed, Sie 
wollten dem Volle die größere Einfachheit, Wirf- 
jamfeit und Menfchenfreundlichteit der öffentlichen 
Verwaltung, im Bergleih zum Privatbetrieb, bei 
wirtichaftliden Unternehmungen zeigen. Zugleich 
aber jollte durch dieje teilweife Berftaatlichung eine 
Anzahl öffentlicher Arbeiter vorgebilbet werden, bie 
ala Konſumenten auftreten konnten, jobald die Re— 
gierung das allgemeine Syſtem der Produktion und 
Güterverteilung ohne Privatgewinn einführen wollte. 
Die Arbeiter der verftaatlichten Eijenbahnen allein 
beliefen fich auf nahezu eine Million, und wenn 
man ihre Frauen und finder dazu rechnete, waren 
es etwa vier Millionen Leute, In den Kohlen» und 
GEifengruben und den Gewerlken, die, ald zum Eijen- 
bahnbetrieb gehörig, von der Regierung übernonmen 
waren, zählte man zufammen mit den Arbeitern auf 
den Telephon= und Telegraphenftationen, die gleich- 
falls im öffentlichen Dienit ftanden, und ihren An— 
gehörigen wieder einige hunderttauſend Perionen. 
Schon früher hatte die Regierung etwa zweihundert- 
fünfzigtaufend Angeftellte im Zivildienſt gehabt; 
dazu lieferten Heer und Flotte noch weitere fünfzig— 
taufend. Dieſe beliefen ſich mit ihrem ganzen Anhang 
fiherlih auf eine Million Köpfe. Nechnet man 
hierzu die erwähnten Arbeiter aus dem Eiſenbahn-, 
Bergwerlö» und Telegraphenbetrieb, jo erhält man 
ungefähr fünf Millionen Geute, die im Dienfte der 
Nation jtanden. Außer diefen gab es aber nod) in 
den verichiedenen bürgerlichen Körperſchaften öffent- 
liche Beamte aller Grade, von den Gouverneuren der 
einzelnen Staaten biß herunter zu den Straßenfegern.” 


Die öffentliden Warenlager. 


„Sobald die Umfturzpartei zur Macht gelangte 
und von ber Vollämehrheit den Auftrag erhielt, die 
neue Ordnung einzuführen, richtete fie zuerjt in allen 
bedeutenderen Städten öffentliche Warenlager ein, 
wo die Urbeiter ſämtliche Lebensbebürfnifie und 
Lurusgegenftände, die jie bisher in Privatläden ge» 
fauft hatten, zum Selbitkoftenpreije geliefert erhielten. 
Das fonnte niemand überrafhhen, da der Gebante 
nicht ganz neu war. Schon früher pflegte die Re— 
gierung für gewilfe Lebensbebürfnifie der Matrojen 
und Goldaten durch Niederlagen zu jorgen, in 
welchen alle Vorräte von befter Beichaffenheit waren 
und genau zum Herftellungspreife abgegeben wurden. 
Die Waren ftanden in betreff der Billigfeit und 
Güte in feinem Vergleich zu irgend einem Xrtitel, 
den man anderdwo faufen fonnte, und die Soldaten 
wurden um ihres Vorrechts willen vielfach von den 
Ziviliften beneidet, welche ſich mit den verfälichten 
Waren der gewinnfüchtigen Krämer begnügen mußten. 
Die neuen Niederlagen, die jeßt von der Regierung 








Edward Bellamp. 


eröffnet wurden, übertrajen jedoch an Vollſtändigleit 
alle ähnlichen Einrichtungen aus früherer Zeit, da 
fie allen Bebürfniffen einer Bevöllerung genügen 
follten, welche eine Nation im Heinen darſtellte. 

„Die Waren für dieje Kaufhäuſer bezog die Verwal- 
tung notwendigerweile anfangs von den Privatfapi- 
talijten, den Produzenten und Großhändlern. Dabei 
erjparten die Arbeiter im öffentlichen Dienit ſchon 
den Profit des Zwiſchenhändlers und Kleinkrämers. 
Sie befamen die Saden vielleicht zur Hälfte oder zu 
zwei Dritteln des Preiſes geliefert, den fie im Laden 
hätten zahlen müfjen; überdies fonnten fie ſich darauf 
verlafjen, daß die Beihaffenheit der Waren einer 
jorgfältigen Prüfung unterlag, Sehr weienilid 
wurden dieje Vorzüge noch erhöht, als die Regierung 
auch die Güterverteilung in die Hand nahm und 
fo raſch wie möglid dazu überging, die Produlte 
jelbft zu erzeugen, fiatt fie vom den Kapitaliften zu 
faufen. 

„Zu dieſem Zwed wurden große Tandwirtidaft- 
liche Betriebe und Baummwollpflanzungen in allen 
Gegenden bes Landes angelegt und zablloje Fabriken 
gegründet, jo daß die Regierung bald nicht allein 
die urſprünglichen fünf Millionen, jondern wohl 
noch einmal jo viele Landwirte, Handwerker und 
Arbeiter aller Art in ihrem Dienft beichäftigte. Diele 
hatten natürlich alle den Anſpruch, aus den öffent 
lihen Warenlagern verjorgt zu werden, und man 
mußte die Einrichtungen dementfprechend erweitern. 
Die Käufer in den öffentlichen Warenlagern eriparten 
nun nicht allein den Profit der Zwiſchenhändler und 
Krämer, jondern aud) den der Fabrikanten, der 
Produzenten und die Koſten der Einfuhr. 

„Aber dieſe Kaufhäufer verforgten die Angejtellten 
nit nur mit dem ganzen Bedarf für ihren Lebens— 
unterhalt, auch andre Erfordernifie wurden berüd 
fihtigt. Die Regierung ließ Küchen, Wafchanftalten, 
mandherlei Aushilfe für Die Hausarbeit und dergleichen 
einrichten, alles ausſchließlich zur Benutzung für die 
im öffentlichen Dienft jtehenden Arbeiter, denen nur 
die Betrieböfoften angerechnet wurden. Sie fomnten 
nım daheim oder in einem Gaſthaus die vor 
trefflichiten Speifen genießen, die nicht nur aufs 
jorgfältigfte zubereitet, fondern auch weit billiger 
waren ala die grobe Koſt, mit der ſich die Leute 
früher begnügen mußten.“ 

„Wie verſchaffte fih aber die Regierung bie 
Ländereien und Fabrilen, deren fie bedurfte?“ fragte 
ich, Kaufte fie Aeder und Felder von den Befigern 
und baute fie die Fabriken?” 

„Das hätte fie natürlich thun können, aber es 
bedurfte deſſen gar nicht. Millionen Landwirte waren 
nur zu froh, ihre Güter an die Regierung abzutreten 
und eine Anftellung zu erhalten, welche ihnen einen 
geficherten Lebensunterhalt für ſich und die Jhrigen 








Gleichheit. 


verbürgte. Auch übernahm der Staat alle noch un» 
benußten Ländereien, die fi für den Anbau eigneten, 
‚und entihädigte die Befiger durch Steuererlaf. 
„Aehnlich verfuhr man mit den Fabriken und 
Warengefchäften, deren das nationale Syſtem be- 
durfte. Zaufende der verjchiedenften Betriebe in 
allen Teilen des Pandes ſtanden fill inmitten einer 
bungernden Bevölferung von Arbeitslofen. Sie 
wurden in Beſitz genommen, in Thätigfeit geſetzt und 
die früheren Arbeiter darin beichäftigt. Auch bie 
Inipeftoren und Werfführer traten meift mit Freuden 
wieder in die alten Stellungen ein, nun die Nation 
ihe Arbeitgeber war, Den Befigern ſolcher Fabrilen 
wurde, wenn ich mid) recht erinnere, eine Summe 
ausgeſetzt, welche einem niedrigen Zinsfuß entſprach, 
und die fie zur Entihäbigung für den Gebraud) 
ihres Eigentums bis zur vollftändigen Durdführung 
der neuen Ordnung erhalten jollten. Nach dieſem 
Zeitpunkt verbürgte die Nation allen ihren An— 
gehörigen gleihmäßig den Lebensunterhalt, und nie 
mand zweifelte Daran, daß es jehr bald jo weit fommen 
würde. inftweilen aber waren die Befiter der 
toten Geſchäfte glüdlich, irgend etwas für die Bes 
nugung berjelben zu erhalten. Um die öffentlichen 
Raufhäufer ausjuftatten, bedurfte man auch einer 
Maſſe ausländijcher Artikel, an denen gleichfalls die 
Zahlung des Profits der Kapitaliften erfpart werden 
ſollte. Die Regierung brachte zu diefem Zweck alle 
unbenußt liegenden Schiffe an ſich, lie neue bauen, 
foviel fie brauchte, und betrieb den überſeeiſchen 
Handel jelbit. Sie führte Die Erzeugnifje der ſtaat— 
lichen Inbuftriearbeit in fremde Länder und brachte 
dagegen die notwendigen auswärtigen Waren zurüd, 
Auch zogen ganze fylotten, welche die Flagge der 
Nation trugen, auf den Fiſchfang und kamen mit 
dem Ertrag des Meeres wieder heim. Balb war 
die Zahl diejer friedlichen Handelsjchiffe weit größer 
als die Kriegsflotte, welche bis dahin allein als Be— 
vollmächtigte der Nation gegolten hatte. Auf diefen 
Schiffen war der Seemann fein Slave mehr.“ 


Wie das Geld jeinen Wert verlor, 


„Und nun wollen wir noch eine andre Seite des 
neuen Handelsſyſtems betrachten: Die öffentlichen 
Raufhäufer nahmen gar fein Geld mehr an; man 
bediente fih einer Art Zettel, die nur furze Zeit 
Gültigkeit behielten und nah dem Gebraud ver- 
nichtet wurden. Gegen Ddieje durfte der öffentlich 
Angeftellte jein Geld, das er ald Lohn erhielt, al pari 
eintaufchen. Die Regierung teilte ſolche Zettel nur 
an ihre Angeitellten aus, während jie in den Kauf: 
häuſern von jedem, der fie vorzeigte, an Zahlungs» 
ſtatt angenommen wurden, jolange der Gefamtbetrag 
nicht den ausgezablten Lohn überjtieg, worauf man 
ftreng achtete. Auf dieſe Weife famen die Zettel 


1109 


in Umlauf und erhielten einen vielhundertfad) 
höheren Wert als das Geld, für weldes man nur 
die teuren und verfälichten Waren, faufen konnte, 
die in den noch übrig gebliebenen Geſchäften der Kapi- 
taliften feilgeboten wurden. Das früher vergötterte 
Gold, das man ala Zahlungsmittel für unvergäng- 
lich gehalten hatte, wurde in den Kaufhäufern ebenfo 
wenig angenommen wie Silber, Kupfer oder Bapier- 
geld, und die Leute, welche die befte Ware zu haben 
wünjchten, priefen ſich glüdlid, wenn fie einen ber 
Öffentlichen Arbeiter trafen, der thöricht genug war, 
für drei oder vier Dollars in Gold einen Dollarzettel 
herzugeben. 

„Zu dieſer Entwertung des Geldes beim Einkauf 
fam noch der. Umſtand, daß e8 von der immer wadh- 
fenden Zahl der Menfchen, die im öffentlichen Dienft 
ftanden, bald gar nicht mehr gebraucht wurde, Auch 
wollte niemand mehr Geld entlehnen zum Zwechk einer 
etwaigen Erweiterung jeines Geſchäfts, da es ja auf 
der Hand lag, daß für das Privatfapiral bald fein 
Feld der Unternehmungen mehr vorhanden jein 
würde. Geld aufjujpeichern fiel aber erft recht feinem 
mehr ein, denn es ließ fich deutlich vorausjehen, daß 
es über furz oder lang ganz wertlos fein mußte. 
Hatte man im Anfang der Umfturzperiode noch jein 
Geld gegen Zetiel umtaujchen fünnen, wenn auch 
mit ungeheurem Verluft, jo hörte das jpäter ganz 
von jelbft auf; der Wert des Geldes ſank, wie ge— 
jagt, zufehends, und e8 war bald zu gar nichts mehr 
nüße. 

„Wenn Sie den vollftändigen Verfall des ganzen 
alten Geld- und Finanzſyſtems begreifen wollen, jo 
brauchen Sie ſich nur vorzuftellen, welhen Einfluß 
es zu Ihrer Zeit auf alle Verhältniſſe gehabt haben 
würde, wenn ſich die beftimmte und nicht zu be= 
zweifelnde Nachricht verbreitet hätte, daß die Welt 
innerhalb weniger Wochen oder Monate untergehen 
würde. Im vorliegenden Falle war zwar von feinem 
Untergang der Welt die Rede; fie jollte im Gegen- 
teil neu verjüngt werden und in einen Zuftand viel 
böberer, glüdlicherer und fräftigerer Entwidlung ein» 
treten, aber das Geldiyftem und alles, was damit 
zulammenhing, war do der Vernichtung geweiht; 
denn die neue Welt brauchte fein Geld, und es diente 
ihr nicht mehr zum Maßſtab für alle Anſprüche und 
Berhältniffe der Menſchen.“ 

„Wenn das Geld aber jo ganz wertlo8 geworden 
war,” ſagte ih, „können die Steuern des Volls der 
Regierung aud nichts mehr eingebradht haben.” 

„Steuern,“ erwiderte der Doftor, „waren nur 
eine Frucht des Privatfapitalismus und mußten 
mit diejem aufhören. Ihr Zweck war gewejen, dem 
Staat die Geldmittel zu verſchaffen, um die für die 
Gejamtheit nötige Arbeit ausführen zu laffen. Jetzt 
arbeitete das ganze Volk für das allgemeine Wohl, 


1110 


und man bedurfte der Steuern ebenfowenig wie des 
Geldes. Je mehr die Volfsarbeit und der Gejamt- 
befiß für allgemeine Zmwede verwendet wurden, um fo 
mehr nahm die Beiteuerung ab, und als der Um— 
fturz vollendet war, fiel fie gänzlich fort,“ 


Die übrige Bevölkerung. 
„Hat denn aber nicht um dieje Zeit, wenn nicht 





ſchon früher, die Maſſe des Volks, die noch außer | 
halb ftand, aufs lebhaftefte darauf gedrungen, in 


den öffentlichen Dienft aufgenommen zu werden, um 
Teil an allen Vorzügen zu haben, die er bot?” 
„Gewiß war das ihr dringender Wunſch,“ er 
widerte der Doktor; „das ließ ſich nicht anders 
erwarten. Sie jollten aud Aufnahme finden, jobald 


das neue Syftem der Produftion und Güterverteilung | 
im vollen Gange war. Für diefen Zeitpunkt wurde | 


alles vorbereitet; doch erſt ald er eingetreten war, 
wagte es bie Regierung, nicht allein ausgewählte 
Gruppen von Arbeitern, jondern alle, die ſich meldeten, 
im öffentlichen Dienft anzuftellen. Zu zehn» bis 


fünfzigtaufend traten fie dann täglid ein, biß in | 


kurzer Zeit das Bolt ald Ganzes allen gemeinjamen 


Zweden diente. 
„Natürlich wurde jeder, der ein Gewerbe oder 


Geſchäft hatte, zuerft auf dem Pla verwendet, an 


dem er ſich biäher bethätigt hatte ; durch den bereits 


gebräuchlichen Arbeitsaustaufh bejorgte man das 
übrige. Später, als alles in Gang gebracht war, 
ließen fi) die wünjchenswerten Umänderungen immer 
noch bewerfitelligen,“ 

Wahrſcheinlich wurden doc; bei der öffentlichen 
Anftellung die früheren Lohnarbeiter zuerft berüd- 
ſichtigt,“ fagte ich. „Die Reihen und Wohlhabenden 
find wohl am längfien außerhalb geblieben und 
dann — jozujagen — alle auf einen Schub ein- 
getreten ?* 

„Ganz richtig,” verjeßte der Doktor. „Die An- 
geftellten, für welche die Kaufhäuſer eingerichtet 
wurden, waren lauter Arbeiter; auch die Landwirte, 
Handwerker und Kaufleute, die fpäter famen, ger 


hörten zu diefem Stande. Nichts Hinderte aber einen | 


Kapitaliften, fich dem öffentlichen Dienft anzujchließen, 
wenn er es ala Arbeiter thun wollte, gleichberechtigt 
mit den andern. In den öffentlihen Warenlagern 
fonnte er nur fo viel faufen, als jein Arbeitslohn 
betrug. Sein übriges Geld war dort nicht zu brauchen. 
Während der Umfturztage hatten zwar viele Männer 
und frauen unter den Reichen, von der allgemeinen 
Begeifterung ergriffen, ihre Ländereien und Fabriken 
der öffentlihen Verwaltung übergeben und ſich zu 
jedem Dienft erboten, den fie zu leijten vermochten. 











Der Mehrzahl aber war, wie ſich erwarten lieh, der | 


Gedanke, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten und 
mit ihren ehemaligen Dienftboten wirtichaftlich gleich- 


Edward Bellamn. 


geftellt zu fein, feineswegs erfreulich; fie famen erft, 
ala ihnen nichts andres mehr übrig blieb.“ 

„Wurden fie denn ſchließlich gewaltſam dazu ge 
nötigt ?* 

„Bewahre, wo denken Sie hin!” rief der Dottor. 
„Bon irgend welchem Zwang war feine Rede. Nah 
und nad) hatte es aber immer größere Schwierigleit, 
Leute zu finden, welche perjönliche Dienfte über— 
nahmen; auch wurde es ſchließlich zur Unmöglichkeit, 
ſich feinen Lebensbedarf anderswoher zu verſchaffen 
als aus den Kaufhäuſern und mit den neuen Zetteln 
Ehe die Regierung zu der Maßregel jchreiten konnte, 
jeden, der ſich bei ihr meldete, anzuftellen, ſuchten 
die Arbeitslofen noch bei den Kapitaliften Beſchäf ⸗ 
tigung. Aber jpäter konnten dieſe niemand auf» 
treiben, ber für fie auf den Feldern und den Fabrilen 
oder im Haushalt arbeiten mochte. Das entwertete 
Geld, welches ihr einziger Beſitz war, hatte nichts 
Verlodendes mehr, im Vergleich zu den Vorzügen 
des öffentlichen Dienjtes. Auch wußte jedermann, 
dab die Zeit der Reichen vorüber war, und ihre 
Gunft feinerlet Gewinn brachte. Weberdies wurden 
auch bald alle diejenigen vom Volk mit Beratung 
angejehen, weldhe ſich dazu erniedrigen mochten, 
andern für Geld zu dienen, während fie für die Na- 
tion arbeiten fonnten, deren Bürger fie waren. Das 
machte die Stellung eines Dieners oder Angeitellten 
im Privatdienft vollends unerträglich, wie Sie ſich 
leicht vorftellen können. So fanden denn bie uns 
glüdlichen Kapitaliften feine Leute mehr, die für jie 


‚ kochen, waſchen, ihre Stiefel puben, ihre Zimmer 


fegen oder ihre Wagen kutſchieren wollten. Sie ge 
rieten- in die größte Verlegenheit, wie fie auf den 
erbärmlichen Privatmärkten, wo allein ihr Geld noch 
etwaß galt, die notwendigiten Lebensbedürfniſſe er- 
ftehen ſollten. Auch das wurde bald unmöglid. 
Eine Zeitlang ſcheinen fie noch gegen das unbarm« 
berzige Geſchick angelämpft und ſich mürrifch im den 
Winkeln ihrer vereinfamten Paläfte verborgen zu 
haben; endlich aber mußten fie doch ihren früheren 
Untergebenen folgen, denn es gab überhaupt fein 
Leben mehr, außer im Zujammenhang mit der 
nationalen Wirtjhaftsorganifation. Auf jo jchlagende 
Weiſe wurde es den früheren Reichen ſchließlich noch 
bewiejen, wie abhängig das Kapital von der Arbeit, 
welche e3 verachtet und tyrannifiert Hatte, war und 
immer gewejen ijt.“ 

„Und wurde wirflich gegen niemand Zwang ange 
wendet, um ihn in den Öffentlichen Dienft zu treiben?“ 

„Eine gewiſſe Nötigung lag, wie Sie jehen, in 
den angeführten Verhältniſſen,“ antwortete der Doktor. 
„Aber die neue Ordnung hatte feinen Raum für 
wiberwillige Genojjen. Sie jelbft brauchte niemand, 
doch jeder bedurfte ihrer, Mer nicht wünfchte, in 
den öffentlichen Dienft zu treten, und außerhalb 


Gleichheit. 


desjelben leben konnte, ohne zu jtehlen oder zu betteln, 
dem jtand es frei. Nah den Berichten aus jener 
Zeit waren die Wälder zuerft voll von Leuten, die 
die Einſamleit juchten, aber einer nad) dem andern 
wurde deſſen überdrüffig und fam in das neue, gafl« 
freie Haus. Nur wenige Gemeinjchaften blieben noch 
jahrelang außerhalb.“ 

„Aller Widerftand ift jehr gründlich überwunden 
worden,“ bemerkte ich, „und doch muß man bei dem 
Aufbau no auf manche Schwierigkeit geſtoßen fein, 
ichon wegen des von Natur widerjpenftigen Materials, 
das es zu bearbeiten gab. Nehmen Sie zum Bei« 
jpiel meine eigne Klaſſe, die der müßigen Reichen, die 
fein andres Geſchäft fannten als ihre Vergnügungen. 
Welche nüpliche Arbeit fonnten ſolche Leute wie wir 
wohl verrichten, mochten wir auch noch jo willig ge= 
worden fein, der Gejamtheit zu dienen? Wobei hätte 
man uns anjtellen jolen? Wir wären überall ein 
Hindernis und feine Hilfe gewejen.” 

„Das hätte allerdings eine bedenkliche Aufgabe 
werden können, wenn die Anzahl jener müßigen 
Reichen nicht im Verhältnis zur Bevölkerung nur 
gering geweſen wäre. Sie hatten zwar bisher eine 
große Rolle gejpielt, aber gegen die Mafje der nüß- 
lichen Arbeiter famen fie faum in Betracht. Die 
gebildeten unter ihnen — und im allgemeinen waren 
fie doch wenigjtens oberflächlich unterrihtet — fans 
den Beihäftigung als Lehrer. Natürlich, gute Lehrer 
waren fie ja nicht, umd bei der Erziehung konnten 
jie wenig helfen, Aber unmittelbar nad dem Um— 
ſchwung, als es galt, die Finder und jungen Leute aus 
der früheren Armenklaffe zu Millionen von den Fel— 
dern und Fabrilen weg in die Schulen zu jchiden, 
und auch die erwachjenen Arbeiter dringend nad 
einem mäßigen Grade von Bildung verlangten, der 
fie befähigte, fih den befferen Lebenszuftänden an— 
zupafien, da entjtand überreichliche Nachfrage nad) 
allen, die etwas lehren konnten, und wenn es nur 
die erften Anfangsgründe waren: Leſen, Schreiben, 
Geographie oder Rechnen. Bejonders die Frauen 
der ehemals reichen Klaſſe, die meijt gut unterrichtet 
waren, widmeten ſich der Aufgabe, bie Rinder bes 
Volls, die Erben der neuen Welt weiter zu bilden, 
Sicherlich fanden fie bei diejer Beichäftigung in dem 
Gefühl, der Menichheit nülich zu fein, mehr wahres 
Glüd, als ihr ganzes früheres, leichtfertiges Dajein 
ihnen je hatte bieten fönnen. Es gab wirflih nur 
wenige Perjonen, bei denen ſich nicht irgend eine 
phyſiſche oder geiftige Befähigung entdedte, durch 
welche jie, zu ihrer eignen Freude, ihren Mitmenichen 
förderlich werben fonnten.” 


Die Lafterhaften und die Verbreder. 


„Mit einer Klaſſe meiner Zeitgenoſſen,“ fagte 
ih, „muß man in der neuen Ordnung doch noch 


1111 


mehr Mühe gehabt haben als mit den Reichen; ich 
meine die Lafterhaften und verbredheriihen Müßig- 
gänger. Die Neichen hatten wenigftens Verftand 
genug, um feinen Anftoß zu geben; fie hielten es 
für Hug, fi) der neuen Ordnung zu fügen und ſich 
in das Unvermeidliche zu ſchicken. Mit jenen andern 
aber muß doc viel ſchwerer auszulommen geweſen 
fein. Wir hatten eine große, überall verbreitete Be— 
völferung von Landflreihern, Spigbuben und Ber- 
brechern jeder Art, männlichen und weiblichen Ge- 
ſchlechts, wie Sie ohne Zweifel wifjen. Zwar mochte 
unfre verderbliche Geſellſchaftsordnung dafür ver— 
antwortlich fein, aber die Leute waren nun einmal 
da, und die neue Welt mußte mit ihnen jertig wer« 
den. Völlig entartet und gefährlich wie wilde Tiere, 
fonnten fie durch ein Heer von Poliziſten und bie 
Macht der Strafgefege nur notdürftig im Zaum ges 
halten werben. Sie bildeten jlets eine Gefahr für 
Ordnung und Gefeh. Ju Zeiten ungewöhnlicher 
Aufregung, und ganz bejonders bei revolutionären 
Kriſen, pflegten jie fich in bedrohlichen Maſſen zu 
jammeln und zum Angriff zu rüften. Auch während 
des Umfturzes, den Sie bejhreiben, haben fie ſich 
ohne Zweifel höchſt zügellos benommen,. Was konnte 
da die neue Ordnung mit ihnen anfangen? Ihre 
gerechten und menſchenfreundlichen Abfichten werben 
auf die Glieder der Verbrecherllaſſe ſchwerlich großen 
Eindrud gemacht haben. Es waren feine verſtän— 
digen Wejen; fie lehnten fich gegen Recht und Sitte 
auf, verübten Thaten roher Gewalt und wollten 
jelbft unter den günftigften Bedingungen nit von 
ihrer Hände Arbeit leben. Derartige Bürger müſſen 
für die Nation recht jchwer zu ertragen gewejen jein.” 

„Nicht ganz jo ſchwer wie in der früheren Ge— 
ſellſchaft,“ erwiderte der Doftor. „Da dieſe ſich auf 
Ungerechtigleit gründete, fehlte ihr aller Glorienſchein 
und jedes eihiiche Uebergewicht im Verkehr mit den 
verbrecheriſchen und gejeplojen Klaſſen. Die Gejell« 
ſchaft jelbft ftand verurteilt vor ihmen da, und mit 
dem von ihr begangenen Unrecht rechtfertigten fie 
ihre eignen Uebertretungen, Die ganze jogenannte 
Strafgerechtigfeit wurde dadurch zu Spott und Hohn. 
Jeder vernünftige Menſch war überzeugt, dab bie 
Verbrecher meift dur Vernachläſſigung und Un— 
gerechtigteit auf den Pfad des Laſters geraten waren, 
fowie durch die verberblichen Einflüfe einer Um— 
gebung, für welche wiederum die verfehrte gejellichaft« 
lie Ordnung die Verantwortung trug. Wenn e8 
nad) Recht und Gerechtigkeit gegangen wäre, fo hätte 
die Gejellichaft, ftatt fie zu verdammen, mit ihnen vor 
einem höheren Richterftuhl ericheinen müſſen, um ein 
weit jchwereres Urteil über fich ergeben zu laſſen. 
Das erfannten auch die Verbrecher im Grunde ihres 
Herzens, und die Bewußtjein machte es ihnen une 
möglih, das Geſetz zu achten, welches fie fürchten 


1112 


mußten. Sie fühlten, daß die Gefellihaft, die ihnen 
befahl, jich zu befiern, der Beſſerung noch mehr be= 
durfte als fie. In der neuen Orbuung war das 
ganz anders. Man hatte fih den Ausgeftoßenen 
gegenüber feine Schuld vorzumerfen und ſtreckte hilf- 
reich die Hände nad) ihnen aus. Das Unrecht, unter 
welchem jie in der Vergangenheit gelitten hatten, 
ward anerkannt; man ermumterte fie zu einem neuen 
Leben in ganz neuen Verhältniſſen und ficherte ihnen 
unter den für alle gleichen und gerechten Bedingungen 
ihren Anteil an dem jozialen Erbe, Können Sie 





ſich eine jo niedrige Natur vorftellen, die nicht ein= | 


mal fähig fein jollte, zu verftehen, ob ihr recht ober 
‚unrecht geichieht, und ſich in gewiſſem Grade daburd) 
beeinfluffen zu lafien ? 

„Eine überrafchend große Anzahl von Menfchen, 
welche Ihre Zivilifation als verloren aufgegeben 
hatte, ergriff. mit Begierde die erſte Gelegenheit, 
die ihnen jemals geboten worden war, ehrbare Leute 
zu werden. Es gab matürlih auch einen anfehn- 
lichen Reit jolher, die zu hoffnungslos verdorben, 
au jehr von Geburt an jeeliich verfrüppelt waren, 
um noch troß aller Hilfe ein geordnetes Leben zu 
führen. Diefe behandelte die neue Gejellichaft zwar 
mit Erbarmen, aber auch mit Feſtigleit. In ihrer Mitte 
dulden konnte fie weder Verbrecher noch Bettler, wie 
das die alte Geſellſchaft gethan hatte, die fein mo— 
raliſches Recht bejah, den Diebjtahl zu verbieten und 
ben Räuber zu bejtrafen. Ihr ganzes wirtfchaftliches 
Spitem berubte ja darauf, daß fich einzelne Perfonen 
den Grund und Boden jamt jeinen Früchten und 
den Arbeitsertrag der Armen durch Gewalt oder 
Betrug aneigneten. Noch weniger hatte fie ein Recht, 
den Bettel zu unterfagen oder die Gewaltthat zu 
ftrafen, da ihre wirtichaftlihen Einrichtungen förm— 
lich darauf angelegt waren, Bettler zu erjeugen und 
ben Menjchen zur Gewaltthat zu reizen. Die neue 
Ordnung hingegen, welche allen den gleichen , reich— 
lien Unterhalt verbürgt, bietet dem Diebe und dem 
Räuber feinen Vorwand für ihr Thun, dem Bettler 
feine Entihuldigung, dem Gemwaltthätigen feinen 
Anlaß. Wenn foldhe Perjonen ihren böjen Lebens— 
wandel einem guten und ehrbaren eben vorziehen, 
jo Kefern fie dadurch jelbft den Beweis, daß fie für 
den menschlichen Bertehr ungeeignet find. Deshalb 
Ihritt man in der neuen Ordnung mit reinem Ger 
willen dazu, die Yafterhaften und die Verbreiher als 
moraliih unzurechnungsfähig zu behandeln. Man 
ſchickte fie am geſicherte Orte, wo fie ihr Leben ver— 
bringen jollten, nicht zur Strafe oder unter Mühſal 
und Beichwerden irgend einer Art, jondern nur mit 
ausreichender Arbeit für ihren Lebensunterhalt. Dort 
blieben fie, ganz von der Welt abgefondert, und es 
war ihnen vollftändig unmöglich gemadıt, ihre Gat— 
tung fortzupflanzen, Durch diejes Mittel gelang es 


| 





Edward Bellamn. 


dem Menſchengeſchlecht in der erften Generation nad; 
dem Umſchwung, ſich für immer von der Laſt angebomer 
Verderbiheit und gemeiner, ererbter Triebe zu be» 
freien. Mit der Zeit wurde das Streben, fid von 
aller Unreinigfeit zu läutern, immer ftärfer, und io 
ift e8 fortgegangen von Generation zu Generation.“ 


Die farbige Rafſe. 

„Zu meiner Zeit,“ bemerkte ih, „war in den 
Südftaaten eine befonders jchwierige joziale Aufgabe 
für Amerita durch die Befreiung der Negerjfiaven 
entftanden, die zum Zeil für die Selbitverantwort- 
lichkeit no durchaus nicht reif waren, melde bie 
Freiheit mit ſich bringt. Bitte, wollen Sie mir 
fagen, welche Stellung man in der neuen Geiellidafte- 
ordnung zu dieſer Frage einnahm?* 

„Dies Problem, welches jonft eine endloſe Plage 
für das amerifanische Volk geblieben wäre, fand 
feine jofortige Löfung,* erwiderte der Doktor. „Die 
Bevölkerung vonerft kürzlich befreiten Sklaven bedurfte 
einer wirtichaftlichen Lebensordnung unter zwar wohl 
wollenden, aber feften Bedingungen, Die zugleich 
darauf binwirkten, fie geiftig zu heben, zu erziehen 
und zu bilden. Dafür war das neue Syftem geradegu 
wie geihaffen. Die unter dem neuen Syjtem berr- 
chende Zucht und Ordnung, welche nicht auf Gewalt: 
maßregeln, fondern hauptſächlich darauf berubte, das 
niemand im ftande war, außerhalb diefer Ordnung 
zu leben, übte den ſanſten, aber ummiberfich- 
lihen Zwang aus, deſſen der befreite Leibeigite bes 
durfte. Auch war die allgemeine Erziehung, dıe 
Milderung der Sitten, die angenehme Lebensweiſe, 
die zugleich mit der wirtichaftlihen Wohlfahrt allen 
zu gute fam, ein nocd weit widhtigeres Bildung» 
mittel für die farbige Raſſe als für die weiße Be 
völferung, welche verhältnismäßig weiter vorgeichritien 
war.” 

„In manchen Fandesteilen würde ſich aber jeitent 
ber Weißen ein ftarfes Vorurteil gegen jedes Suften 
erhoben haben, das eine größere Vermiſchung der 
Raſſen mit ſich brachte,“ bemerkte ich. 

„Andiejem Vorurteil brauchte, wo es bejtand, burd» 
aus nicht gerüttelt zu werden. Es handelte ſich mr 
um das Wirtſchaftsſyſtem, das mit den jozialen Be— 
ziehungen damals jo wenig etwas zu thun hatte wie 
jest. Selbjt die induftriellen Zwecke bedingten feinen 
engeren Verfehr der Raſſen als in früherer Zeit; dieſt 
fonnten fich beim Induftriebetrieb jo volljtändig bon. 
einander trennen, als e3 das blindefte Vorurteil mur 
irgend für wünjchenswert hielt.” 


Wiederllebergang hätte bejdleunigt wer 
den fönnen. 


„Auf einen Punlt, der die Uebergaugszeit betrifft, 
möchte ich noch zurückkommen,“ ſagte ich. „Als die 


ot ] 





Gleichheit. 


Entiheidung eintrat, haben die Rapitalijten, wie Sie 
erwähnten, ihr Kapital fejtgehalten und ihre Gejchäfte 
folange fortgeführt, als fie noch jemand fanden, der 
für fie arbeiten oder von ihnen faufen wollte, Das 
lag wohl in der menjchlihen Natur — jedenfalls 
in der Natur der Kapitaliften; aber es war auch 
zugleich günjtig für den Umfturz. Durch deifen lang» 
fameren Verlauf erhielt das neue Wirtſchaftsſyſtem 
Zeit, feinen Aufbau zu befejtigen, che es die Laft 
auf fich nehmen mußte, die ganze Bevölferung zu 
verforgen. Hätten num aber bie Kapitaliften einen 
andern Ausweg ergriffen und in dem Augenblid 
ihre gejamte Thätigfeit eingejtellt, ald die National- 
regierung durch Beichluß der Volfsmehrheit den Um— 
fturzmännern übergeben wurde — was wäre dann 
geihehen? Die neue Regierung hätte noch feine 
Zeit gehabt, auch nur die erften Anfänge des Syſtems 
zu ordnen, und die zu löjende Aufgabe wäre weit 
verwidelter geworden. Meinen Sie nicht au?” 
„Das glaube id) faum,“ erwiderte der Doltor; 
„man hätte nur ein raſcheres und jummarifcheres 
Berfahren anwenden müllen. Die Regierung wäre 
genötigt gewefen, auf der Stelle den ganzen Mecha— 
nismus der Induſtrie an fich zu bringen und die 
von den Kapitaliften aufgegebene Produftion fort- 
zuführen, um zugleich den Unterhalt für die Be- 
völferung berbeizufhaffen bis zu dem Zeitpunft, 
da die neuen Erzeugnifje benußt werden konnten. 
Man würde zur materiellen VBerjorgung der Bevöl—⸗ 
ferung etwa diejelben Maßregeln ergriffen haben, 
wie jie die Regierung gewöhnlich traf, wen durch 
Ueberſchwemmung, Hungersnot, Belagerung oder 
andre Notjtände plößlich der Unterhalt einer ganzen 
Gemeinde gefährdet wurde. Der erfte Schritt wäre 
gewejen, die jämtlihen Worräte an Getreide, Klei⸗— 
dungsjtüden und Pcbensbedürfniffen jeder Art im 
ganzen Lande für den Gebrauch aller zu jammeln. 
Bei zivilifierten Nölfern gab es doch immer einen 
überſchüſſigen Vorrat folder Bedarfsartifel, die für 
mehrere Monate, jelbit für ein Jahr ausgereicht 
hätten. Während diefer Zeit fonnte man leicht die 
Produktion wieder in Gang bringen, die aus dem 
Privatbetriebin die Staatsverwaltungübergehen mußte, 
An alle Bürger, die ſich meldeten und ſich in den 
öffentlichen Induſtriedienſt flellten, wären An— 
beijungen auf Nahrungsmittel und Kleidung aus» 
geteilt worden. Auch die fyabrifen, welche die Kapi— 
taliften verlaſſen hatten, würde die Regierung jofort 
wieder in Betrieb gejegt haben. Jeder, der früher 
dort gearbeitet hatte, wäre einfad in jeiner Stelle 
geblieben, und den Arbeitslojen hätte man jo rajch 
wie möglich VBeihäftigung gegeben. Die neuen Pro- 
dulte wären ſodann in öffentlichen Kaufhäuſern ge— 
jammelt worden, und der ganze Verlauf würde thats 
ſachlich derjelbe geweſen fein, wie ich ihn beichrieben 


Aut fremden Jungen. 1897. 11. 24, 


1113 


babe, nur daß er ſich in viel fürgerer Zeit abgejpielt 
hätte. Die Entwidiung wäre vielleicht nicht jo glatt 
von ftatten gegangen, wegen der notgedrungenen Eile; 
aber man würde jchneller mit dem llebergange fertig 
geworden jein. Mir fünnen uns faum vorftellen, 
dat das Volk dadurch in größeren Notftand geraten 
wäre als bei ben Gejchäftskeifen, melde nad An« 
ſicht Ihrer Zeitgenoſſen alle fieben Jahre unvermeib- 
lich wieberfehren mußten, und die gegen das Ende 
der alten Ordnung unausgeſetzt fortdauerten.“ 


Die Arbeitälojen. 


„Ihre frage erinnert mid) indejjen an einen andern 
Punkt, deu ich vergeffen habe zu erwähnen," fuhr 
der Doltor fort. „Ih muß Ihnen doch erflären, 
auf welche Weile man den Arbeitslofen Beihäftigung 
verſchafft hat, bis der Staatsbetrieb in der Indufirie 
vollftändig eingeführt war, Das Gewinnſyſtem Ihrer 
Zeitgenofjen hatte bie jogenannte Klaſſe der Brotlojen 
erzeugt, welde immer anwuchs und während ber 
Umfturgperiode nah Millionen zählte. Einerjeits 
erleichterte diefe Lage der Dinge die revolutionäre 
Propaganda, weil fie den anſchaulichſten Beweis für 
die Unfähigleit des Privatlapitalismus lieferte, das 
Problem der Volfsernährung zu löfen. Andrerjeits 
wurde dadurch der Einfluß, den die Arbeitgeber auf 
ihre Angeftellten und die Arbeitjuchenden ausübten, 
wejentlich geſtärlt. Durch die Furcht, ihre Beichäf- 
tigung zu verlieren, oder die Hoffnung, eine Stelle 
zu erhalten, wurden die Arbeiter wie Wachs in den 
Händen der Arbeitgeber. Bei den Wahlen zum 
Beiſpiel gaben fie ihre Stimmen ab, wie es ihnen 
vorgejchrieben wurde. Cine Wahl nad der andern 
ward auf dieſe Weife von den Sapitaliften entjchieden, 
welche «8 in ihrer Gewalt hatten, den Arbeiter zu 
jwingen, gegen feine Heberzeugung zu jlimmen, 

„Bei diefer Sadlage ſah fih die Umſturz— 
partei genötigt, den Leuten wenigftens vorläufig 
Beihäftigung zu verſchaffen, um fie in den Stand 
zu jeßen, zu Gunſten ihrer eignen Befreiung zu 
ſtimmen; aud mußte fie den Fohnarbeitern ihren 
Lebensunterhalt ſichern, wenn fie bei den Privat» 
fapitaliften feine Stelle fanden. 

„Als die Umfturzpartei zur Macht gelangte, 
wurden in den Stauten ber Union verjdiedene 
Methoden angewendet, um diejer ſchwierigen Yage 
zu begegnen. Die Leute jamt und jonders ohne 
Unterſchied bei den öffentlichen Arbeiten anzuftellen, 
wie die Regierung früher in ähnlichen Notfällen zu 
thun pflegte, das paßte nicht mehr in die neuen Ver— 
hältniſſe. Eine eimfichtövollere Methode war er- 
forderlih und auch bald gefunden. Gewöhnlich 
fiherte der Staat jedem Bürger, der darauf antrug, 
die Mittel zum Lebensunterhalt als Lohn für jeine 
Arbeit. Mit dem Erwerb aller, die fih an der 

140 


1114 


Arbeit beteiligten, wurden Lebensbedarf und Wohnung 
für fie beſchafft. Die überflüffigen Produfte ver— 
faufte man zu Marftpreijen und fand ein bejonderes 
Abjaggebiet in den Staatögefängnifen, jowie den 
Kranken- und Waifenhäufern. Für den Erlös wurden 
dann das nötige Rohmaterial und die Einfuhrartifel 
angeſchafft. Diejes Syſtem, durd welches der Staat 
die jonjt Arbeitslojen in den Stand jehte, gegen- 
feitig für ihren Unterhalt zu forgen, während er jich 
jelbft nur die Einrichtung und Oberaufſicht vor- 
behielt, fam während der Llebergangsperiode in jehr 
ausgedehnten Gebrauch und jpielte eine wichtige Kolle 
bei der Vorbereitung de& Volls für Die neue Ordnung, 
zu der es gewiljermaßen das Voripiel bildete. 

„Da der ganze Koftenüberichuß unter die Arbeiter 
verteilt wurde, jo erfreuten ſie ih an Orten, wo 
der Induftriedienit ſchon ziemlich ausgebildet war, 
eines viel befieren Unterhalts als in jeder Privat- 
anftellung und hatten daneben nod ein Gefühl der 
Sicherheit, das ihren Genuß unendlich erhöhte. Des 
Arbeitgebers Macht war gebrochen; er konnte jeine 
Untergebenen nicht mehr durch die Drohung ber 
Dienitentlaffung jchreden, jobald die fooperative 
Arbeit begann, As dann jpäter der Staatsbetrieb 
fertig ausgebildet war, ging die frühere Organifation 
naturgemäß darin auf.” 


Die rauen. 


„Wie jtand es denn um die frauen?” fragte 
ih. „Haben jie wirflid von Anfang an, wenn jie 
förperlich gejund waren, ihre Stelle beim öffent- 
lihen Induſtriedienſt gleih den Männern einge: 
nommen?“ 

„Wo die Frauen don außreihend im Haushalt 
und der eignen Familie beihäftigt waren,” erwiderte 
der Doktor, „nahm man an, daß fie dadurd dem 
allgemeinen Wohl genugfam dienten, bis bei ber 
neuen gemeinlamen Haushaltung die Notwendigkeit 
befondrer Küchen und andrer umftändlicher häuslicher 
Einrichtungen für jede einzelne Familie fortfiel. Im 
übrigen aber traten die Frauen — unter Berüds- 
fihtigung von Ausnahmefällen — mit den Männern 
als gleichwertig in den Induſtrieſtaat ein. Wäre 
der Umſturz hundert Jahre früher erfolgt, ala die 
Frauen nod feinen andern Beruf fannten außer 
der Hausarbeit, jo hätte das wohl befremblid) er« 
icheinen können; aber zu jener Zeit hatte ſich die Frau 
ihon eine Stellung in der Geichäjtswelt erobert, und 
als die Immälzung erfolgte, gab es fait feine un= 
verheiratete Frau, die nicht ihre regelmäßige Ber 
ihäftigung außerhalb des Hauſes hatte, wenn jie 
nicht zu der Klaſſe der reihen Müßiggängerinnen 
gehörte. Als die neue Ordnung die Thatſache an— 
erfannte, dab die Frauen ebenjo berechtigt und 
verpflichtet zum öffentlichen Dienſt feien mie Die 


Edward Bellamp. 


Männer, beftätigte jie den Arbeiterinnen nur die 
Unabhängigkeit, welche fie bereit gewonnen hatten,“ 

„Aber wie ſtand es um Die verheirateten 
Frauen ?” 

„Zu gewiſſen, oft beträchtlich langen Zeiten waren 
Mütter und verheiratete Frauen gänzlich von aler 
Zeilnahme an öffentlichen Pflichten befreit. Im 
übrigen aber war durchaus fein Grund vorhanden, 
warum die verheiratete Frau ein zurüdgezogeners 
und nuplojeres Leben führen jollte ala der Mann. 
Bei der neuen Geſellſchaftsordnung beitanden die 
Frauen jelbit — mehr noch al& die Männer — 
darauf, daß fie an den Pflichten und Rechten dei 
Bürgertums ihren vollitändigen Anteil erhielten. Die 
Männer würden e8 nicht von ihnen verlangt haben, 
Um dies zu verjtehen, muß man bedenfen, daB gleid- 
zeitig mit der Umfturzbewegung das Perlangen nad 
größerer Freiheit im Leben der Frau, nah Er 
weiterung ihres Wirfungsfreijes, nach ihrer Gleid- 
jtellung mit dem Manne bervorgetreien war. Die 
verheirateten jowohl wie Die unverheirateten Frauen 
waren ed müde geworden, immer beijeite geichoben 
zu werden, und hatten ſich gegen das Uebergewicht 
der Männer empört. Wäre bei dem Umſturz nicht 
die Gleichheit und Genoffenihaft der Geichledter 
eingeführt worden, die ſich die Frauen jchon fait 
jelbft erfämpft hatten, jo würden die Männer nidt 
auf ihre Unterftügung haben rechnen können.“ 

„Aber wie wurde ed mit der Sorge für die Kinder, 
für den Haushalt und dergleichen?" 

„Glauben Sie, man hätte fid) nicht Darauf verlaſſen 
tönnen, daß die Mütter die Wohlfahrt ihrer Finder 
überwachen würden? Ihre Obliegenheiten im öffent: 
lihen Dienft binderten fie daran gewiß nidt. Die 
Zujammengebörigleit von Mutter und Sind ver« 
bietet der frau aber feineswegs für alle Zeiten die 
Ausübung ihrer jozialen Pflichten. Das war audı 
in Ihren Tagen nicht der Fall, wenn die Frauen 
wohlhabend genug waren, um fich die nötige Hilfe 
zu verichaffen. Daß die unbemittelten Frauen, jobald 
fie Kinder hatten, ihr unabhängiges Dajein umd 
eignes Leben aufgeben mußten, war nur ein Zeichen 
von der Unvolltommenheit Ihrer gejellichaftligen 
Einrichtungen und feineswegs eine natürliche oder 
moraliiche Notwendigkeit. Was aber die Sorgen 
für die Hauswirtichaft betrifft, jo nahmen dieſe jebr 
bald ein Ende. Als der gemeiniame Haushalt mit 
feinen mannigfaltigen Abteilungen und Zweigen des 
öffentlichen Dienftes eingerichtet worden war, mußte 
die frühere Hausfrau durchaus einen andern Bern 
finden, wollte fie nicht müßig gehen.“ 


Die Wohnungsirage 
„Da wir vom Haushalt ſprechen — wie murde 
es denn in betreff der Häuſer gehalten?“ fragte ih. 


Gleichheit. 


„Wie beftimmte man, wer die guten und wer Die 
dürftigen Wohnungen haben jollte?” 

„Für die große Anzahl,derer, die ſchlecht unter 
gebracht waren, befjere Wohnungen zu bauen, war 
eine der erſten und, größten Aufgaben der Nation,“ 
erwiderte der Doltor. „Aber dazu brauchte man 
Zeit. Inzwiſchen wurden alle bewohnbaren Häujer, 
je nad) Umfang und Annehmlichkeit, abgeſchätzt. 
Wer in jeinem früheren Quartier bleiben wollte, 
hatte die Miete aus feinem neuen Einfommen als 
Bürger zu entrichten. Für eim bejcheidenes Haus 
war die Miete jehr gering, aber für eine allzugroße 
Wohnung war fie jo hoch, dab niemand fie zahlen 
fonnte. Man hätte ja auch einen Palaft der Millio- 
näre, zum Beijpiel, ohne ein Heer von Dienftboten 
gar nicht bewohnen können, und wo jollte man dieje 
bernehmen? Die großen Gebäude mußten baher als 
Hotels, Mietshäufer oder für öffentliche Zwede Ver- 
wendung finden. Nur wenige jcheinen ihre Wohnung 
gewechjelt zu haben, ausgenommen die ganz; armen 
Leute, deren Häufer überhaupt unbemohnbar waren, 
und die jehr reichen, die unter den neuen Werhält- 
niſſen feinen Gebrauch von ihren früheren Wohnfigen 
machen konnten.“ 


Die völlige Durdhführung der wirtihaft« 
lihen Gleichheit. 

„Ein Punkt ift mir nicht ganz far,“ ſagte ich. 
„sn welchem Augenblid fonnte denn ber Staat die 
Garantie für den Unterhalt aller Bürger über- 
nehmen ?” 

„Ich glaube, die Nation hat die VBerjorgung des 
ganzen Volles übernommen, als der lehte Reit bes 
Privatlapitalismus zuſammenbrach,“ erwiberte der 
Doktor. „Bis dahin mußte der Öffentliche Dienjt 
noch mit Hilfe von Lohn und Gehalt geregelt. werden. 
Nur auf diefem Wege konnte der Plan einer Verjtaat- 
lihung der Induftrie allmählich Eingang finden, denn 
der größte Teil aller Gejchäfte befand fich noch in den 
Händen ber Kapitaliften, und das neue Syſtem mußte 
ſich in vieler Beziehung an Beftehendes anlehnen. Das 
induftrielle Arbeiterheer wuchs in der Uebergangszeit 
mit jo rajender Schnelligfeit von Woche zu Woche, 
daß es ganz unmöglich geweien wäre, einen Maßſtab 
zu finden, nad) dem die gleiche Verteilung hätte er- 
folgen können; ſchon nad) vierzehn Tagen waren 
alle Verhältniife verändert. Um aber die Arbeiter 
an gleiche Teilung zu gewöhnen, hatte die Regierung, 
ſoweit es anging, einen beitimmten Lohn für alle 
im öffentlichen Dienft ftehenden feftgejtellt. Da durch 
die Abſchaffung des Profits alles billiger geworden 
war, konnte fie diefe Neuerung einführen, ohne das 
Einfommen irgend eines Angeftellten herabzuſetzen. 

„Nehmen wir zum Beiipiel zwei Arbeiter, von 
denen der erfte täglich zwei Dollars und der zweite 


1115 


anderthalb Dollars erhielt. Wegen der niedrigen 
Preije in den öffentlichen Kaufhäuſern hätten fie für 
ihren Cohn zweimal fo viel faufen können als früher. 
Statt daß man nun diefen höhern Wert ſich multiplie 
zieren ließ, fo daß der urjprüngliche Unterjchied in 
den Einnahmen der beiden Arbeiter ſich verdoppeln 
mußie, gab man beiden die gleiche Zulage. Sie 
befamen beide mehr, aber der Unterſchied zwiſchen 
ihren Löhnen war geringer geworden. Der, welder 
früher mehr Geld erworben hatte, durfte ſich auch 
nicht über Ungerechtigfeit beffagen, denn er verdankte 
die Zulage nicht jeiner eignen Anftrengung, jondern 
der neuen Organifation, die ihm nur dasſelbe 
ſchuldete wie feinen Gefährten. Als nun die Nation 
jo weit fortgefchritten war, daß die gleiche Teilung 
vorgenommen werden konnte, bielten fich die Löhne 


ſchon fo ziemfich auf derjelben Höhe. Was aber die 


großen Einnahmen einzelner Beamten betraf, die zu 
dem Lohn des Arbeiters in gar feinem Verhältnis 
ftanden, jo wurden fie gleich im Anfang des nationalen 
Regiments unerbittlich verkürzt. 

„Die größte Neuerung bejtand aber nicht in einer 
Ausgleihung der Löhne, jondern darin, dab die 
ganze Bevölkerung — die Thätigen ſowohl als die 
Alten und Untüchtigen — den gleichen Anteil an 
der Produktion des Landes haben jollte. In der 
Uebergangsperiode hatte die Regierung gezwungener⸗ 
maßen ebenjo gehandelt wie die Kapitaliften, das 
heißt, fie hatte fich die tüchtigften Arbeiter ausgeſucht 
und ji um die Frauen, die Kinder, die Alten, Ge— 
brechlichen, Verfrüppelten und Kranken gar nicht 
gefümmert. Sobald die Nation aber alle wirtichaft« 
lichen Hilfsquellen des ganzen Landes zu ihrer Ver— 
fügung hatte, verteilte fie biejelben nad) dem Grundjak, 
daß alle menſchlichen Weſen ein gleiches Anrecht auf 
Leben, Freiheit und Glück hätten, daß es daher die 
Aufgabe der Regierung ſei, dem Wolfe diefe Güter 
zu verihaffen und zu erhalten. Zwar hatte jhon 
die Unabhängigkeitserflärung dies Prinzip verkündet, 
aber es war niemals zur Wahrheit geworden; die 
Republik hatte es bisher ſtets verleugnet. Jetzt 
wurden alle Erwachſenen, die der Nation nühliche 
Dienfte leiften fonnten, veranlaßt, zu arbeiten, wenn 
fie die Vorteile des neuen Wirtſchaftsſyſtems genießen 
wollten, aber aud) die, welche der Geſamtheit nicht 
dienen konnten, erhielten den gleichen Teil von den 
Produlten der Nation wie jeder andre. Auch für 
die Bedürfniſſe der Kinder wurde geiorgt, jo daß 
ihre Interefien nicht mehr durch Vernachläſſigung 
oder die Paunen jelbftjüchtiger Eltern gefährdet werben 
fonnten. i 

„Die erite Folge dieſer Mafregel war natürlich 
die, dab alle beichäftigten Arbeiter ein geringeres 
Einfommen bezogen al& zu der Zeit, da fie allein 
die Vorteile der neuen Ordnung genießen durften. 


1116 


Aber wenn fie, wie guten Menſchen geziemt, ihren 
Sohn früher mit denen geteilt hatten, die auf ihren 
Beiftand angewieien waren, dann blieb ihnen jeßt 
zum perjönlihen Gebrauch noch reichlich ebenjoviel, 
wie fie damals für fi ausgeben durften. Nur die 
alleinjtehenden Arbeiter und diejenigen, welche bie 
Pflichten gegen ihre Angehörigen vernadpläffigt hatten, 
befanden ſich jeßt im Nachteil — aber das hatten 
fie aud) verdient. Uebrigens verlor dieſe Trage jehr 
ſchnell alle Bedeutung. Eobald die neue Wirtſchafts— 
ordnung vollitändig im Gange war, beichäftigte ſich 
jeder mit der Verwendung feines eignen Anteils und 
hatte feine Zeit, über den der andern nachzudenken. 
Natürlih hat die Einführung der wirtichaftlichen 
Gleichheit aller Bürger auch dem Dienfthotenverhältnie 
ein Ende gemacht — mern dasſelbe überhaupt bis 
dahin noch beitanden hatte; denn wenn jemand einen 
Dienfiboten halten wollte, hätte er ihm ebenfoviel 
bezahlen müflen, wie er im öffentlichen Dienft be= 
fam, und das wäre genau jo viel gewejen, wie der 
vermeintliche Arbeitgeber jelbjt einnahm — er hätte 
gar nichts übrig behalten.“ 


Die Übrehnung mitden Kapitalijten. 


„Kun erflären Sie mir noch eins,“ jagte id. 
„AS die Nation ſchließlich alles Land, alles Kapital 
und den ganzen VBerwaltungsmechanismus für immer 
in Beſitz nahm, wird wohl eine Art Schlußrehnung 
ftattgefunden haben. Das Volk mußte ſich doch mit 
den Kapitalijten, deren Eigentum verftaatlicht wurde, 
auseinanderſetzen. Wie ging das vor fih? Was für 
Beitimmungen wurden getroffen ?* 

„Das Bolt verzichtete auf eine Abrechnung mit 
feinen Feinden,“ erwiderte der Doktor. „Guillotine, 
Galgen und Pelotonfeuer haben bei dem Schlußaft 
diejer großen ‚Revolution‘ feine Rolle gejpielt. Aller- 
dings hat man im Anfang prophezeit, dad Bolt 
werde in der Stunde feines Triumphes ftrenge 
Rechenſchaft fordern für alle jeine Leiden; als aber 
diefe Stunde fam, da flammte in den Herzen der 
Menſchen die Begeifterung jo mächtig auf, daß fie 
allen Haß und alle Rachſucht verzehrte, Nein, nie 
mand verlangte eine Abrechnung — das Volk hat 
alles vergeben!” 

„Dottor,* jagte ih, „Sie. haben meine Frage 
zur Genüge, ja ic möchte jagen mehr als genügend 
beantwortet; aber ihren Sinn haben Sie doch falſch 
verftanden. Sie dürfen nicht vergeifen, da meine 
Begriffe und meine Moral noch die eines gewöhnlichen 
Kapitaliſten aus dem Jahre 1887 find. Ich wollte 
eigentlic) fragen, welche Entihädifung denn die Kapi⸗— 
taliften für ihr Eigentum erhalten haben, als es ver- 
ftaatliht wurde? Bom Standpunkt des zwanzigiten 
Sahrhunderts jcheint es allerdings, als ob das Volk bei 
dieſer Abrechnung noch etwas zu fordern gehabt hätte.“ 


Edward Bellamy. 


„Ich Habe mir eingebildet, daß ich dem Unter⸗ 
ſchied zwiſchen Ihren Anſchauungen und den unirigen 
immer im Wuge behalten fünnte,” ertwiderte der 
Doktor; „aber diegmal jehe ich ein, daß ich aus der 
Role gefallen bin. Wenn wir an die Umwälzung 
zurüddenfen, ericheint una immer die Großmut det 
triumphierenden Volkes, weldes jeinen früheren 
Unterbrüdern die Strafe erlieh, als einer der ſtrah— 
lendſten Züge im Bilde der damaligen Zeit. 

„Wenn der Privatlapitalismus recht hatte, dann 
war die Revolution im Unreht; wenn aber die 
Revolution recht hatte, dann war das Unrecht der 
Rapitaliften größer als irgend eine andre Schuld 
auf Erden. Sie mußten dem Bolf, das fie fo lange 
gefnechtet hatten, Genugthuung leiften; es durfte 
ihnen ohne Entihädigung die Machtmittel entziehen, 
die fie jo ſchändlich mißbrauchten. Wenn das Volt 
jich bereit gezeigt hatte, feine {Freiheit der früheren 
Tyrannei abzufaufen, dann hälte e8 die Berechtigung 
jeiner Sflaverei anerkannt. Sllaven, die ſich em- 
pören, bezahlen ihren Peinigern nicht die Reiten, 
welche fie zerriffen haben; die einftigen Herren find 
jehr froh, wenn fie mit- dem Leben davonkommen. 
Es war ein Glüd für die Kapitaliften, daß damals 
feiner den Borihlag machte, mit ihnen abjurechnen 
— fie wären ſchlecht dabei gefahren. Auf ihre Frage 
‚Wer bezahlt die Güter, welche das Volk uns ge 
nommen bat?‘ würde die Antwort gelautet haben: 
‚Wer entjhädigt das Volt für alles, was ihr ihm ge- 
nommen habt? Ungezählte Generationen find durd) 
euch des Lebens und der Freiheit, des Lichts und der 
freude beraubt worden.‘ Diefe Rechnung wäre jo 
groß gewejen und hätte jo weit zurüdgereidht, daß die 
Schuldner gern auf eine Berichtigung derjelben ver: 
zichteten. Durch Betrug hatte man dem Bolt jein 
Erbe und die Frucht feiner Arbeit entzogen, und e: 
nahm nur das Seine zurüd, ald es von der Erde 
und ihren Erzeugniffen, von den Werten menſchlichen 
Fleißes und allen Erfindungen Belig ergriff. Wenn 
der rechtmäßige Erbe kommt, mögen die ungeredhten 
Haushalter, die ihn verdrängen wollten, frob jein, 
wenn er Gnade für Recht ergehen läßt. 

„Der Gedanke, die Kapitaliften dafür zu ent: 
ihädigen, daß ihre Tyrannei nun aufhören mußte, 
wäre nicht nur vom ethiſchen Standpunft aus ver- 
fehrt geweſen — wie die Dinge lagen, fonnte er gar 
nicht ausgeführt werden. Sobald man ben Slapite- 
liften bei der Neuordnung einen Erjaß gab, ber 
ihrem früheren Bei einigermaßen entſprach, richtete 
man den Privatfapitalismus noch vor jeinem gänz 
lichen Zufammenbrud) von neuem auf — die ‚Repo- 
Intion‘ wäre mitten im Siege geſchlagen und ver- 
ipottet worden. 

„Sie jehen, daß dieje größte und letzte aller 
Revolutionen ſich von ihren Vorgängerinnen dadurd 


Gleichheit. 


unterichied, daß fie reinen Tiſch machte, Bei allen 
jonftigen Ummälzungen war es möglich gewejen, die 
Bürger auf irgend eine Weile zu entjchädigen, wenn 
die Negierung ihre Güter einzog oder zu öffentlichen 
Sweden verwendete. Die früheren wirtjchaftlichen 
Borteile der Betroffenen beftanden weiter, wenn aud) 
in andrer Form. Wurde zum Beifpiel Landbefik 
fonfisciert, jo fonnte man ihn mit Gelb bezahlen, 
und ebenjo konnte man den Beſitz an Menichen- 
material erjegen, als die Sklaverei abgeſchafft wurde. 
Das Privilegium der Befikenden war nicht ganz 
vernichtet, jondern gewiflermaßen in andre Werte 
umgejeßt worden. Aber der große Umfturz, deſſen 
Aufgabe es war, jedes Vorrecht, jede Herrichaft und 
jede Ungleichheit unter den Menfchen für immer zu 
jerftören, mußte dem Kapitalismus die Möglichkeit 
abſchneiden, in irgend einer Form jeine Uebermacht 
neu zu begründen. Alle Formen, unter denen in 
vergangenen Zeiten Menihen ihre Mitbrüder ge— 
fnechtet hatten, waren durch die früheren Revolutionen 
eine nad) der andern zerbrodyen worden und zuleht 
nur noch die wirtichaftliche Ueberlegenheit übrig ges 
blieben. Als auch dieſes letzte Bollwerk der eigen- 
nüßigen Herrſchſucht gefallen war, hatte fie feine Zus 
flucht mehr auf Erden. Die ‚Revolution‘ riß ihr die 
Maske vom Gefiht, und ihre Häßlichkeit ward am 
Licht der Sonne offenbar,” 

„Seht haben Sie mich über die Abrechnung des 
Volls mit den Sapitaliften gründlich aufgellärt,“ 
jagte ich. „Aber nicht wahr, als zuerft die National- 
verwaltung der öffentlichen Einrichtungen, wie Gas» 
und Wafferleitung, Eifenbahnen und Telegraphen, 
an Stelle der Verwaltung dur die Kapitaliften 
trat, ift man dod nad) einer Art Entihädigungs« 
theorie vorgegangen? Wahrſcheinlich verlangte das 
die öffentliche Meinung, denn damals hatte man ſich 
das Programm der ‚Revolution‘ nod nicht ganz 
zu eigen gemadt. Wie lange hat das mohl ge— 
dauert ?* 

„Sehen Sie, lieber Julian,“ erwiderte der Doltor, 
„je mehr fich die Erkenntnis verbreitete, daß die 
wirtichaftliche Gleichheit nahe bevorftand, defto Tächer- 
licher erſchien es den Leuten, die Kapitaliften mit 
Geld abzufinden, das doch in fürzefter* Zeit allen 
Wert verlieren mußte. So ließ man die Idee fallen, 
ihnen die öffentlichen Einrichtungen, von denen Sie 
iprahen, abzufaufen, und verfuchte ftatt deſſen, fie 
während der Uebergangsperiode vor zu großem Uns 
gemach zu ſchühen. Im eriten Stadium des Umſchwungs 
bezahlte das Voll alle Geſchäfte, deren Führung 
es übernahm, mit Geld oder Sthuldicheinen, und 
jwar zu reifen, welche für die Sapitaliften jehr 
vorteilhaft waren. Mas die größeren Betriebe an— 
langt, wie Eijenbahnen und Bergwerfe, welche die 
Nation erft jpäter übernahm, jo wurde dabei anders 





1117 


verfahren. Die öffentlide Meinung war damals 
ſchon genügend herangereift. Jeder fonnte mit ziem⸗ 
licher Wahrjcheinlichfeit vorausfehen, daß das revo- 
Iutionäre Programm durchdringen müfle, und dann 
wurde das Geld im’ jeder Form ebenſo wie alle 
Schuldverfhreibungen zu wertlojem Trödel. Natürlich 
lag bei ſolchen Ausfihten den Kapitaliften auch nichts 
mehr daran, diefe Münzen und Obligationen zu 
erhalten, das Volt aber hatte feine Luſt, die Staat$- 
ſchuld um fünf oder ſechs Billionen zu vermehren, 
denn fo viel wäre nötig geweien, um alles aufs 
zufaufen. Die Eifenbahnen und Bergwerle verblieben 
aljo den bisherigen Eigentümern. Man hatte ſich 
ja nur über ihre ſchlechte Verwaltung beflagt, und 
das empörte Voll verlangte die Verſtaatlichung des 
Betriebes. So wurde der Betrieb verjtaatlicht, 
und die Eigentumsverhälmnifje blieben unverändert. 

„Das heißt, die Regierung übernahm aus volts- 
wirtjchaftlichen Gründen, und um unerträgliche Uebel⸗ 
fände abzuſchaffen, die ausfchließliche und dauernde 
Verwaltung aller Eijenbahnlinien. Der Gewinn, 
den fie erzielten, wurde bis zu einem beftimmten 
Prozentfag unter die Aktionäre verteilt. Diefe 
Maßregeln erfüllten den doppelten Zwed, ſowohl 
dad Boll als die Altionäre von den Erprejlungen 
und der Mißwirtſchaft der früheren Privatunter- 
nehmer zu befreien; auch trat auf dieſe Weiſe eine 
Million Bahnıbeamte in den öffentlichen Dienft und 
genoß jeine Wohlthaten, jo daß ed ganz ebenjogut 
war, als hätte man die Eifenbahnen den Rapitaliften 
regelrecht abgelauft.. Derjelbe Plan wurde bei ben 
Kohlengruben und andern Bergwerfen befolgt, und 
diefe Verbindung von Privatbejis mit Boltsverwal- 
tung bejtand fo lange, bis die Vollendung der Um— 
wälzung die Verftaatlihung alles Kapitals durch ein« 
malige Verordnung herbeiführte. 

„sn ihrem Berhalten gegen die Bejikenden ging 
die ‚Revolution‘ von dem Grundſatz aus, daf zwar 
die Güterverteilung bisher durchaus ungerecht ges 
weien jei, und daß die früheren Beſitzanſprüche feine 
moralijhe Gültigfeit hätten, daß aber die geſetzlichen 
Rechte der Eigentümer berüdfichtigt werden jollten, 
jolange nicht ein ganz neues, alles umfaſſendes 
Syſtem eingeführt jei. Wenn die Kapitaliften im 
öffentlichen Intereſſe ihren Befik hergeben mußten, 
wollte man jie mwenigitend vor Not und Mangel 
ſchützen. Der Febensunterhalt aus Privatmitteln follte 
ihnen nicht entzogen werden, bis die Verjorgung 
aller Bürger durch die Nation in ſtraft getreten war, 
Die Revolutionäre jcheinen dies Prinzip auf fehr 
logische, ſcharfſinnige und bejtimmte Weile durch— 
geführt zu haben. So ſchlecht die alten Eigentums» 
rechte aud begründet waren, fie wurden nicht zügel« 
los mit Aufruhr und Plünderung über den Haufen 
geworfen. Das Bolt ftellte ſich unter ein logiſches 


1118 Edward Bellamy. 


| 


und ftrenges, aber auch gerechies Geſetz. Nie ift in 
den Ölanzzeiten des Kapitalismus der Diebftahl 


ſchärfer verurteilt worden als am Vorabend ber | 


Einführung des neuen Syftems.” 


„Laſſen Sie mich noch einmal alles zujammen« | 


fallen,“ jagte ich. „Es erging den Reichen bei dem 
Uebergang aus der alten in die neue Ordnung ebenio 
wie beim llebergang aus diejer Welt in die jenjeitige 
— fie mußten ihre Neichtümer hinter ſich laſſen.“ 

„Ein fehr guter Vergleich,“ rief der Doktor 
fachend, „aber er paßt doch nicht ganz. Die Bibel 
erzählt, dab es dem reihen Manne jehr jchlecht 
erging, als er in die andre Melt fam; aber bei uns 
war das neue Wirtſchaſtsſyſtem faum jechs Jahre in 
Thätigfeit, da gab e& feinen Er-Millionär, der nicht 
zugegeben hätte, dab ſein Leben jegt viel ſchöner und 
menjchenwürdiger ſei als früher.“ 

„Iſt die neue Ordnung denn jo jchnell in Gang 
gefommen?“ fragte ich, 

„Natürlich war fie erit nah Jahren jo aus 
gebildet wie heutzutage. Das Merjonal ift bei der 
wirtjchaftlichen Leiſtungsfähigleit einer Geſellſchaft 
immer der Hauptfaktor. Erſt nachdem eine Generation 
in der neuen Ordnung geboren und herangewachſen 
war — unter den denkbar günftigften Erziehung®- 
verhältniffen —, fonnte das Syſtem feine Vortreff- 
lichfeit bewähren, Als die nationale Regierung das 
ganze Volt zum öffentlihen Dienjt berufen und 
allen dafür den gleichen Anteil an der Produktion 
verjprocdhen hatte, da dauerte es faum ein paar 
Jahre, bis die Welt mit Staumen die Früchte bes 
neuen Wirtſchaftsſyſtems bewundern fonnte. Durch 
die größere Billigfeit und beilere Beichaffenheit der 
Maren in den Kaufhäujern, welche die Regierung 
bereitö übernommen hatte, befam das Volk einen 
Begriff davon, welche Vorteile die Abſchaffung des 
Profits, jelbit unter einem Lohnſyſtem, mit ſich 
bringen könne; aber erit als das ganze Wirtſchafts— 
igftem verjtaatliht war, und alle zum allgemeinen 
Beiten zufammenmwirkten, fonnte die Gefamtproduftion 
geihäßt und alles gleihmäßig verteilt werden. Auf 
diefe wunderbare Leiſtung der Wirtihaftsmaihine 
war das Volk nicht vorbereitet. Es hatte alle Ver- 
iprecjungen für übertrieben gehalten; jetzt ſahen die 
Menjchen, wie der Wohlftand wuchs, und beſchuldigten 
die Neformatoren im Gegenteil, ihnen die Wahrheit 
verheimlicht zu haben, Und doc hätte jeder Dies 
Ergebnis vorausjehen fünnen, jobald er fich die 
Mühe gab, die ölonomiſche Wirkung der beiden 
Syſteme zu berechnen. Die großen Erfindungen des 
legten Jahrhunderts hätten ja ſchon längft den Neid) 
tum der Nation ungemein vergrößern müjjen, wenn 
das Gewinnſyſtem nicht geweien wäre; nun aber 
wurde die fange verfchobene, aber überreiche Ernte 
endlich eingeheimit, 


„Unter der Herrſchaft des Gewinnſyſtems hatte 
man die Produftion zurüdhalten müſſen, jeht wußte 
das Volf nicht, wie es gemug produzieren jollte, Die 
geringe Nachfrage hatte das Angebot beichräntt; jekt 
galt e8, einen ſchrankenloſen Bedarf zu deden, Unter 
dem Kapitalismus war die Nachfrage ein Zwerg 
gewejen, und zwar ein lahmer Zwerg, und dod hatte 
diejer Krüppel dem Rieſen Produftion den Schritt 
angegeben. Jetzt, bei dem Zujammenwirfen der 
ganzen Nation, waren dem Zwerge Flügel gewächſen, 
und die Sandalen des Dierfur bejchwingten jeine 
Füße. Nun mußte der Rieſe alle jeine Kräfte zu 
fammennehmen und jeine Musfeln von Stahl und 
Eijen jcharf anfpannen, wenn er dem Zwerge folgen 
wollte, der vor ihm herflog. 

„Es würde Ihnen ſchwer werben, ſich einen Be— 
griff davon zu machen, welde ungeheure Energie 
jebt auf induftriellem Gebiet entfeſſelt ward, wie die 
verjüngte Nation ji am Morgen der Ummälzung 
mit Begeifterung der Aufgabe widmete, das Wohl 
ergehen aller Klaſſen auf ein jo hohes Nivea zu 
bringen, dab jelbit der frühere Reiche, der das all- 
gemeine Pos teilte, nichts zu entbehren brauchte. 
Etwas Nehnliches wie die titaniſchen Anstrengungen, 
welche ein ſolches Ergebnis erzielten, ift in der Ge— 
Ihichte noch nicht dageweſen, und wer weiß, ob je 
wieder ein fo großes Merk vollbradt werben wird. 
In früheren Zeiten hatte man nicht Arbeit genug 
für das Volk gehabt. Millionen Menfchen, Reihe 
und Arme, die einen aus Bequemlichkeit, die andern 
gezwungenermaßen, hatten ihr Yeben lang nichts getban, 
und außerdem wurde noch die Hälfte aller Arbeit 
auf Reflame und Lurusgegenftände verfchwendet, um 
ber Nachfrage einer Heinen Anzahl entgegenzulommen, 
während die dringenden Lebensbebürfnijie der großen 
Mafle unbefriedigt blieben, Es jchien, al& wollte 
man die Not des Volles verhöhnen, jo viele unnüte 
Maſchinen, jo viel unproduftiveg Land, jo viel tote: 
Rapital aller Art war noch vorhanden. Yeht auf 
einmal waren nicht Hände genug im Sand, um al 
Arbeit zu thun, nicht Räder genug in den Wer: 
fätten, nicht Kraft genug im Dampf und der Ele 
tricität, der Tag hatte nit Stunden genug, und 
in der Woche waren zu wenige Tage, um die große 
Aufgabe zu erfüllen, dem ganzen Voll ein behagliches 
Dajein zu verjchaffen. Erft wenn für alle genug 
da war, wenn alle eine gute Wohnung, gute Nahrung 
und gute Kleider hatten, durfte ſich auch der einzelne 
diejer Güter erfreuen. So wollte es die neue Ord- 
nung der Dinge. 

„Man jagt, daß im erften Jahr nad) der Ein- 
führung des neuen Wirtſchafteſyſtems die Gefamt- 
produftion bes Landes ſich verdreifachte, und daß fie 
im zweiten boppelt jo groß war wie im erften, und 
doch wurde alles biß auf den lekten Reſt verbraudt. 


Gleichheit. 


„Natürlich war in den erften Jahren die Ver: 
befierung der materiellen Sage der Nation das, was 
am meijten in die Augen fiel; jehr bald machte ſich 
aber auch eine große Wereblung der Sitten, eine 
zunehmende Herzlichkeit im Verkehr deutlich bemerf« 
bar. Bei der lebenden Generation fonnten Die er» 
erbten linterjchiede, die fih in den Gewohnheiten, 
der Erziehung und Bildung ber einzelnen Klaſſen 
lundthaten, nicht ganz verwiſcht werden; mehr oder 
weniger bildeten jie nod immer eine Schranfe. Aber 
das Bewußtſein, daß die Bafis dieſer Schrante für 
immer verſchwunden war, daß die Nachkommen der 
Hohen wie der Niedrigen nicht nur in wirtichaftlicher 
Gleichheit, jondern aud in geiftiger, moraliſcher und 
geielichaftliher Gemeinſchaft zufammen aufwachſen 
würden, jcheint einen mächtigen Einfluß gehabt zu 
haben. GSelbit die älteren Leute, die nicht mehr 
hoffen durften, bie Früchte des Umſchwungs ganz zu 
genießen, waren von einem Gefühl der Brübderlichfeit 
bejeelt. 

„Noch etwas andres verdient Erwähnung: Kaum 
hatte ſich der allgemeine Wohlftand fo erftaunlic 
gehoben, da konnten fich die Menſchen faft nicht mehr 
erinnern, daß fie noch vor furzer Zeit einen jo maß- 
lofen Wert auf geringe Unterjchiede in Yohn und 
Gehalt gelegt hatten. Als das ganze Volt noch arm 
war und unter jo großen Schwierigfeiten jeinen 
Lebensunterhalt erfämpfen mußte, da machte es dem 
Arbeiter einen bedeutenden Unterjchied, ob er fünfzig 
Cents oder einen Dollar mehr oder weniger befam, 
jo daß er fich eine wirtjchaftliche Gleichheit, bei der 
es feinen großen und feinen Heinen Yohn mehr gab, 
gar nicht vorftellen fonnte. Das war auch ganz 
natürlich. Mo die Menjchen am Verhungern find, 
freiten fie um eine Brotrinde; wenn fie aber beim 
Gaſtmahl fiben, wo es Speije die Fülle giebt, fällt 
ihnen das nicht ein. So ging ed auch in den Jahren 
nad der Ummälzung. Der Hunger war nicht mehr 
der Beweggrund zur Arbeit; der Neid und die Miß- 
gunft des darbenden Volkes wurden nicht länger 
durch das Wohlleben der Reichen genährt. Jeht waren 
die Luft am Schaffen, die freude am Bollbringen 
und Wohlthun das treibende Motiv. Die Arbeit 
erichien in verflärtem Licht, und aus dem kriechenden 
Sklaven des neunzehnten Jahrhunderts war ein Held, 
ein Vorkämpfer der Menjchenliebe geworden.“ 


XXXVIII. 
Tas Bud der Blinden, 

Jeder, der dieje Blätter lieſt, wird höchſt wahre 
icheinlih denten, ich hätte mich während der Tage, 
von denen ich bier berichte, vollftändig in das Stu— 
dium der neuen Nationalöfonomie und Sozialwiljen- 
ſchaft vertieft, welches ich unter Doktor Leetes Leitung 
betrieb. Das ift jedoch ein großer Irrtum, Wie— 


1119 


viel Anziehendes und Staunenerregendes mir dieje 
Beichäftigung auch bot, fie hatte doch nur ein 
profaisches Interefle für mich, im Vergleich mit einer 
gewiſſen alten Gejchichte, welche feine Tochter und 
ich zufammen durchlebten. Ich habe mit Fleiß nur 
wenig davon geſprochen, denn es ift eine Sache, die 
jeder jelber erfährt oder erfahren jollte. Der gute 
Doktor, der den gewöhnlichen Verlauf ſolcher Ge— 
ſchichten kannte, jah ohne Zweifel ein, daß die unfrige 
bald an einem Punkt anfommen mußte, wo fie meine 
ganze Aufmerkfamteit in Anfpruc nehmen und mid 
wenigftens eine Zeitlang für andre Dinge unem- 
plänglid machen würde. Dieſe Erwägung hatte ihn 
wohl veranlaßt, unjre Geſpräche jo einzurichten, daß 
ic eine ausführliche und abgerundete Ueberficht der 
Inftitutionen in der neuen Welt erhielt, ſoweit Dies 
die Größe des Gegenjtandes und die Kürze der Friſt 
zuließ. Nachdem er mir die Gejchichte der Ueber— 
gangsperiode erzählt hatte, vergingen einige Tage, 
bevor wir wieder zu einer längeren Unterhaltung 
Zeit fanden, und die Wendung, welche er feiner Rede 
bei diejer Gelegenheit gab, ſchien mir anzudeuten, 
daß fie eine Art Schluß der Vorträge bilden jollte, 
die er mir biäher gehalten hatte. 

Edith und ich waren an jenem Abend erit ſpät 
nad Hauje gelommen, und als fie ji von mir ge— 
trennt hatte, begab ich mich in das Bibliothefzimmer, 
wo nod Licht brannte, ein Zeichen, dab id) den 
Doktor dort finden würde, Er war wirklich noch auf 
und blätterte in einem jehr alten, vergilbten Buche, 
defjen jonderbarer Titel mir gleich ind Auge fiel. 

„Kenloes Buch der Blinden‘,“ rief ih, „wie 
merfwürdig das Klingt!” 

„Jawohl,“ jagte der Doktor, „aber der Titel iſt 
nicht wunderlicher al3 das Merk ſelbſt. Das ‚Buch 
der Blinden‘ ift fait hundert Jahre alt, da es un» 
mittelbar nad) dem Triumph der großen Umwälzung 
entjtand. Alle Welt war damals glüdlih, und das 
Volk zeigte ſich in der Freude jeined Herzens bereit, 
den erbitterten Widerftand zu vergeben umd zu ver 
gefjen, durch welchen die Kapitaliften und die Männer 
der Wiſſenſchaft die jegensreiche Veränderung fo lange 
gehindert hatten. Die Geiftlihen, die Lehrer und 
Scriftfteller, welche gegen die neue Ordnung geeifert 
hatten, waren jet deren größte Lobredner geworden 
und hegten feinen jehnficheren Wunſch, ala daß man 
ihre früheren Neußerungen vergeiien möchte, Aber 
Kenloe, ein Dann von ftrengem Gerechtigleitägefühl, 
wollte das nicht zugeben. Mit großer Sorgfalt und 
unter genauer Angabe aller Namen, Daten und Orte 
unterzog er fi der Arbeit, eine Maſſe Auszüge aus 
den Reden, Büchern, Predigten und Zeitungen zu 
ſammeln, in welchen die Anhänger des Privatlapi- 
talismus dieſes Syſtem verteidigten. Sie hatten 
während der langen Periode der Umfturzbewegung 


1120 Edward 
die Verfechter der wirtjchaftlichen Gleichheit unaus- 
gejegt mit ihren Angriffen verfolgt, und Kenloe war 
entjchlofien, dieſe blinden Führer, welche alles 
gethan hatten, was in ihrer Macht fland, um die 
Menichheit irre zu leiten, zur Strafe dafür vor der 
Nahwelt an den Pranger zu jtellen. Er jah die 
Zeit lommen, da man es für ganz unglaublid 
halten würde, daß vernünftige Menichen und ges 
lehrte Körperichaften ji jemals. der Einführung 
der wirtſchaftlichen Gleichheit widerfeht hatten, einer 
Mafregel, die doch einzig und allein die allgemeine 
Wohlfahrt bezwedte. Deshalb beſchloß er, durch 
diejes Bud die Erinnerung an ihre Thorheit zu ver- 
ewigen und ein unvergängliches Zeugnis gegen fie 
abzulegen. Jene Leute hätten die Vergangenheit jo 
gern begraben, und es war jehr graujam, daß Kenloe 
ihnen diefe wenig ehrenvolle Unjterblichkeit verlich ; 
man fann fich denfen, wie fie ihn verwünjcht haben 
müfjen, als das Bud) erſchien. Aber es läßt ſich 
auch nicht leugnen, daß fie es reichlich verdient hatten, 
für alle Zeit erbarmungslos gebrandmarlt zu werben. 

„Als mir neulich diefer alte Band im oberjten 
Fach meines Bücherfchranfes in die Hände fiel, fam 
mir der Gedanfe, ob er nicht dazu dienen Fönne, 
Ihre Eindrüde über die große Ummälzung zu ver- 
volljtändigen. Sie würden daraus auch die andre 
Seite der Frage fennen lernen und die Gründe 
hören, weldye die Rapitaliften — Ihre eigne Gejell- 
ihaftstlaffe — gegen die Einführung einer gleichen 
und allgemeinen Wohlfahrt vorzubringen hatten.” 

Natürlich erregte das mein lebhafteites Intereffe, 
wie ic) dem Doftor verfiherte. Ich war jeht jchon 
ein jo eingebürgerter Ameritaner des zwanzigſten 
Jahrhunderts, daß es mir höchſt ergöklid vorkam, 
mich an meinen Rapitaliftenjtandpunft aus dem neun» 
zehnten Jahrhundert erinnern zu laſſen. 

„Das dachte ih mir wohl,” jagte der Doftor. 
„Wenn e8 Ihnen recht ift, wollen wir heute abend 
Kenloed Buch zufammen durchgehen; ich habe mir 
zu dem Zwed einen Auszug aus jeiner Sammlung 
gemacht, welcher die Haupteinwände enthält, die er— 
hoben wurden. Vieles, worauf wir jchon in unjern 
Geſprächen zu reden famen, oder was mir weniger 
wichtig erjchien, habe ic) dabei natürlich ganz weg» 
gelajjen.“ 

Als ich mich behaglich neben dem Doktor nieder» 
gejeßt hatte, fuhr er fort: 


Bon der Kanzel aus erhobene Einwände. 

„Zu Ihrer Zeit hatten die Prediger die Führer: 
rolle im Volke übernommen; jo wollen wir denn mit 
gebührender Achtung zuerft den Haupteinwand in 
Betracht ziehen, der jich von der Kanzel aus gegen 
die wirtfchaftliche Gieichheit aller erhob. Er Klingt 
mebr wie eine Entſchuldigung als wie ein Angriff, 


Bellamn. 


Einen ſolchen hätten Leute, die ſich Ehriften nannten, 
auch faum wagen dürfen, da das neue Syitem nichts 
andres bezwedie, ald das Gebot der Nädhitenliebe 
zur Ausführung zu bringen, 

„Die Geiftlichen predigten, die Grundurſache des 
gejellichaftlichen Elends fei die menschliche Sünde und 
Verderbtheit. Man könne unmöglih irgend eine 
große Verbefferung im Zufland der Menſchen durch 
veränderte joziale Formen und Jnjtitutionen er 
zielen, wenn das Volt nicht in moralifcher Beziehung 
einen entiprechenden Aufihwung nähme. Bis die 
Wiedergeburt erfolgt jei, nüße es daher nichts, ein 
geläutertes ſoziales Syjlem einzuführen, weil dat 
Ergebnis ein ebenjo ichlechtes fein würde, jolange 
die Menjchen jelber ſich nicht bejierten und belehrten. 

„Es iſt etwas Wahred an diejer Behauptung. 
Nur was man verfteht und zu ſchätzen weiß, fann 
man ſich auch zu nuße machen. Sein Gedanle und 
feine Einrihtung fann Frucht bringen, jolange im 
Gemeinweſen die nötige Einficht dafür fehlt. 

„Andrerjeits ift es aber nicht minder wahr, wie 
auch die Geiftlihen fofort zugeben muhten, da, 
wenn ein Volk erft in fittlicher und geiftiger Be— 
ziehung jo weit gebildet ift, um befiere Inftitutionen 
zu begreifen und zu würdigen, ihre Einführung die 
jegensreichfte Wirkung ausüben fann. Ein Beiipiel 
biervon jehen wir an der religiöjen Freiheit und der 
Demofratie. Hätte man dieſe zu einer Zeit ein 
geführt, da die Menſchen noch nicht reif genug waren, 
um ihr Weſen richtig aufzufallen, jo wäre nichte 
Gutes daraus entjtanden. Als aber die Welt in 
ihrer Entwidiung jo weit gefommen war, um dieſe 
Gedanken in jih aufzunehmen, führte ihre Nerwirk- 
lihung durch joziale Inftitutionen zu einem großen 
Fortichritt in der Zivilifation. 

„Aljo: wenn das Voll noch zu unreif ift, nüßen 
befiere Einrichtungen nichts; beginnt es aber ein 
Verſtändnis zu zeigen, jo entjteht ein großer Verluft, 
wenn man bie wünichenswerten Verbeijerungen auf 
ſchieben oder der Welt vorenthalten will. Bei jeder 
einzuführenden Neuerung gilt es alfo, die Frage zu 
entſcheiden, ob die für den Fortichritt notwendige 
Reife ſchon vorhanden ift, oder in welchem Zeitpuntt 
fie eintreten wird, 

„Die Gejhichte lehrt uns, daß es hierfür nur eine 
untrüglice Probe giebt, nämlich das dringende Ber- 
langen nad) der Aenderung, weldyes im Bolte jelbit 
entfieht. Als die Völker jelbit anfingen, nad Re 
ligionsfreigeit und Gewifjensfreiheit zu rujen, waren 
lie offenbar auch fähig, fie anzunehmen. Als die 
Nationen fidh eifrig fr eine Volfävertretung erklärten, 
war dies der beite Beweis, daß fie die geijtige Reife 
dazu beſaßen. Daraus folgte nicht etwa, daß fie 
nun jogleih den beitmöglihen Gebraud von der 
neuen Inftitution machen würden; das konnte fie nur 


Gleichheit. 


die Erfahrung lehren und eine ſtetige Weiterentwid« 
lung, zu der fie ohne die neue Einrichtung niemals 
gelangt wären, Hatte das Volt aber erjt einmal 
diefen Punkt erreicht, dann wurde die alte Inftitution 
jofort unbrauchbar. Mochte die Neuerung aud) ans 
fänglich noch jo viele Hebelftände mit fi bringen — 
die Menjchheit verlangte danach, und wer ſich ihr 
wiberjeßte, hemmte den Fortſchritt. 

„War denn nun aber am Ende des neunzehnten 
Jahrhunderts der Beweis geliefert, daß die Welt 
befähigt fein würde, die völlige Ummälzung zu er 
tragen und eine menichenfreundlichere Gejellichafts« 
ordnung einzuführen? Ohne Zweifel; denn das Volt 
forderte fie mit einem Eifer und einer Ausdauer wie 
nie zuvor. Die Bewegung hatte ſich der ganzen 
zivilifierten Welt bemächtigt und trat mit großer 
Kraft und Entſchiedenheit auf. Dieſe Thatſache war 
jo offenkundig, daß die Geifllichen, welche ſich dem 
Berlangen des Volkes nad) befjeren Zuitänden wider: 
jeßten, fi) dadurch Hätten warnen laſſen jollen. Sie 
würden gut daran gethan haben, fi) die Frage vor— 
zulegen, ob fie nicht vielleicht gegen Gott jelbft und 
jeinen heiligen Willen fämpften. Den klarſten Bes 
weis dafür, daß die Welt der alten Wirtſchaftsord⸗ 
nung entwachjen war, lieferte der Schrei des Abicheus 


und Entjeßens, der fich gegen ihre graufame Willkür» | 


berrfjchaft erhob. Die Menſchen hatten während diefer 
Beriode in humaner und philanthropiicher Beziehung 
ſolche NRiefenfortichritte gemacht, fie hatten dem neuen 
Gedanken einer allgemeinen Bruberliebe und jozialen 
Gleichberechtigung mit ſolcher Begeijterung zugejubelt, 
dab fie dadurd) aufs deutlichite fund thaten, fie jeien 
reif genug, um wenigſtens den Verſuch zu machen, 
ihr joziales Leben auf eine höhere Stufe zu heben. 

„Hätten die Geiitlichen, die fi) dem Umſturz 
widerjeßten, dies aufrichtig aus dem Grunde gethan, 
da die befieren Jnjtitutionen den Menſchen nichts 
nüßen könnten, wenn fein bejjerer Geift unter ihnen 
berrjchte, jo würde ihr Widerftand nicht lange ges 
dauert haben. Sie hätten bei näherer Unterſuchung 
der Stimmung im Volke bald einfehen müflen, dab 
diefer beijere Geiſt fich bereits in ganz ungewöhn- 
lihem Grade bemerfbar machte, und folglich die Be- 
dingungen ſchon erfüllt waren, von welchen allein fie 
ſich einen Erfolg verſprachen. 

„Aber es mangelte ihnen zumeift leider an Auf- 
richtigfeit. Hätten fie an Chriſti Lehre feftgehalten, 
daß der Menjc von neuem geboren werden fünne, 
jofern er nur fein altes Leben haft und von Herzen 
nad) einem befjeren verlangt, jo würden fie den 
dringenden Wunic des Volkes, von der Knechtſchaft 
einer jündhaften Geſellſchaftsordnung befreit zu wer— 
den und fortan in Liebe und Güte miteinander zu 
leben, auf freudigfte begrüßt haben. Statt dejjen 
jagten fie dem Volle etwa folgendes: ‚Ihr klagt mit 

Aus fremden Jungen, 1897, IL 24, 





1121 


Recht, daß die heutige joziale und wirtichaftliche 
Ordnung fittlih höchſt verwerflih und unchriſtlich 
ift, und daß die Menjchen dabei an Seele und Leib 
zu Grunde gehen müflen. Trotzdem dürft ihr nicht 
daran denfen, ein beſſeres Syſtem einzuführen, denn 
ihr ſeid noch nicht gut genug, um den Verſuch zu 
maden, bejier zu werden. Ihr müßt erft warten, 
bis ihr gerechter jeid, ehe ihr beginnt, von der Sünde 
zu laſſen. Ihr müßt fortfahren, zu jtehlen und mit- 
einander zu ftreiten, bis ihr zur Heiligung durd)= 
gedrungen jeid.*‘ 

„Was würde wohl die Geiftlichkeit dazu jagen, 
wenn ein chriftlicher Prediger auf ähnliche Weile zu 
dem reuigen Sünder ſpräche, ber ihm befennt, daß 
er jein früheres Leben verabjcheut und ſich zu be— 


' fehren wünjcht? Es giebt leine Worte, die jtarf 


genug find, um das Berfahren der jogenannten 
Diener Chrifti zu verdammen, die in feinem Namen 
das Streben einer Welt tadelten und veripotteten, 
welche die ungerechte Geſellſchaftsordnung nicht länger 
dulden wollte und nad) einem Ausweg fuchte, um zu 
bejleren Zuftänden zu gelangen.” 


Ein weiterer Einwand: die Lähmung der 
Thatkraft. 


„Aber wir wollen den armen Geiſtlichen auch 
nicht unrecht thun,“ fuhr der Doktor fort, während 
er in Kenloes Buch blätterte; „ſie waren weder un— 
duldjamer noch verblendeter als andre Klaſſen von 
Berufsgelehrten, zum Beiſpiel als die Nationalöfo- 
nomen. Dieje behaupteten, e& würde bei wirtſchaft— 
liher Gleichheit und flaatliher Organijation der 
Arbeit an jeder Aufmunterung zu Fleiß und That- 
fraft fehlen, ſo dat alle gebeihliche Thätigkeit aufs 
hören müſſe. 

„Wir wollen diefen Einwand einmal näher ins 
Augen faflen: Unter dem alten Syflem gab e$ zweierlei, 
was die Menſchen zur Arbeit trieb, Lebten fie von 
der Hand in den Mund und durften nur hofien, 
ihre farge Notdurft zu befriedigen, jo war es der 
Drud der Armut, Gehörten fie ſchon zu den Be— 
fißenden, jo war es der unerjättliche Wunſch, immer 
mehr Güter zu ſammeln, ber fie zu ftetS vermehrter 
Anftrengung Ipornte. Das neue Syjtem, welches 
allen ihren Unterhalt unter günftigen Bedingungen 
ficherte, ſchloß zwar jeden Drud der Not, jede Furcht 
vor Mangel aus, eröffnete aber auch feinem Men— 
ſchen die Hoffnung, daß er wirtjchaftlich befier gejtellt 
jein werde als jeine Nebenmenjchen, mochte er ji 
abmüben, foviel er wollte, Da num jeder mehr Wert 
auf einen perſönlichen Anteil legte als auf jeine 
perjönliche Leiftung, jo würde, meinte man, fein 
Arbeitzeifer entftehen. Jeder würde möglichſt wenig 
thun und fi mit dem Minimum von Anftrengung 
begnügen, welches das Gejeß verlangte, Die Gejamt« 

141 


1122 


heit fünnte durch das Syſtem daher nicht zu wirt« 
ſchaftlichem Wohlſtand gelangen, jondern müßte ſich 
mit dem notbürftigften Lebensunterhalt begnügen.” 

„Das klingt nicht unwäahrſcheinlich,“ jagte ich; 
„einen ſolchen Einwand würde ich für ſehr ſchlagend 
gehalten haben.“ 

„Ihre Freunde, die Kapitaliften, waren derjelben 
Anſicht, und doch enthält gerade dieje Beweisſührung 
dad Belenntnis einer wirtſchaftlichen Einfältigfeit, 
die nichts zu wünfchen übrig läßt. Bebenten Sie 
doch, Julian, was das heißen will, wenn man zu— 
giebt, da unter Ihrem Wirtſchaftsſyſtem die Mafjen 
des Volls niemals dem Drud der Not oder der 
Furcht vor Mangel entfliehen fonnten! Der ärgfte 
Feind des Privatfapitaliamus hätte ja feine ſchlim— 
mere Anklage dagegen erheben fönnen. Wenn man 
eingeftand, daß bei der alten Ordnung die Mafjen 
immer Humger litten, war das der erdenklich ftärtfte 
Grund, um ohne Zögern wenigitens einen Verſuch 
mit dem neuen Syſtem anjufiellen. Sclimmeres 
ließ jich doc) davon feinesjall® erwarten, als daß es 
einer fortdauernden Hungersnot bedurfte, um e& im 
Gang zu erhalten.” 

„Will man die Sache von diefem Gefichtöpunft 
aus betrachten, jo muß man ihnen allerdings unrecht 
geben,” ſagte ich. „Und doch fam mir das Bedenten 
zuerst jehr einleuchtend vor.“ 

„Da die Güterproduftion zu Ihrer Zeit fein 
andres Ergebnis hatte al& eine fortgejegte Hungers- 
not,” fagte der Doftor, „Io fann der Trieb, ſich ihr zu 
widmen, nicht jehr groß geweſen fein. Trotzdem priejen 
Ihre Nationalölonomen den Munich, reich zu werben, 
als ein vorzüglidhes Hilfsmittel in wirtſchaftlicher 
Beziehung und widerſetzten fich der Gleichheit haupt« 
ſächlich aus dem Grunde, weil fie dies Verlangen 
ausſchloß. Aber hatte denn das Streben des ein« 
zelnen, fich zu bereichern, einen wirklichen Wert ? 
Diente es dazu, den Gejamtbefiz des Gemeinmwejend 
zu vermehren? Die Antwort auf diefe Frage iſt 
ſehr bedeutſam. Ein ſolches Streben hatte nur Wert, 
wenn «8 zu neuer Güterproduftion anregte. Setzten 
fi) dagegen die Menſchen bloß in den Beſitz fertiger 
Produfte, welche ihren Mitmenſchen gehörten, jo än» 
derte fich zwar die Güterverteilung, aber das Gejamt- 
vermögen vergrößerte fich in feiner Weile; ja es ver» 
minderte ſich noch durch den nußlojen Kampf um 
das Eigentum. Ch nun diejenigen, welche die meiften 
Güter anhäuften, ihren Reichtum hauptſächlich durch 
neue Produktion erwarben oder dadurd, daß fie Die 
Produkte andrer Leute in Beſitz nahmen, ich Die 
Früchte ihrer Anftrengungen zu nuße machten und 
ernteten, wo fie nicht gejät hatten, darüber, Ju— 
lian, werden Sie am beiten ſelber enticheiden fönnen.“ 

„Natürlich erwarben fie ihre Güter auf letztere 
Art,“ erwiderte ich. „Die Produktion ging nur 





Edward Bellamy. 


langjam von ftatten und erforderte jaure Arbeit. 
Große Reichtümer gewann man dabei nicht, ba& 
wußte alle Welt. Am leichtefien und ficherften 
fonnte man reich werden, wenn man fich die Pro- 
dufte andrer zueigneie und ihre Unternehmungen be» 
nußte. Wer Mug und geichidt genug war, das zu 
thun, fonnte große Schäße ſammeln.“ 

„Das habe ich gelefen,“ jagte der Doktor. „Der 
Wunſch, reich zu werden, trieb die Kapitaliften jedoch 
auch mehr oder weniger zu produftiver Thätigfeit, 
welche die Duelle alles Wohlftands ift. Aber joldie 
Produktion um des Gewinns willen war wirtſchaft⸗ 
licher Untergang; wir haben das ſchon neulich im 
Examen der Volfswirtichaftsflafle gehört. Sie be 
ſchränkte die KHonfumtionäfraft eines Gemeinwejens 
auf einen Bruchteil jeiner Produftionsfraft, hinderte 
dadurch die Produftion felbft und zwang den größten 
Zeil der Menichheit zu fortdauernder Armut. Was 
bie Welt einbüßte, als fie das Jagen nad Erwerb 
und den Privatfapitaligmus aufgab, war nur die 
allgemeine Armut und das Gewinnſyſtem. Wahrlich 
fein großer Schaden! 

„Daß unter dem heutigen Syilem niemand daran 
denkt, daß er je Mangel leiden könnte, will id) nicht 
beftreiten; aber wir halten die Furcht vor Entbehrung 
für einen ebenfo ſchwachen wie graufamen Sporn zu 
produftiver Thätigkeit. Um des bloßen Erwerbs 
willen würden wir fie unter feiner Bedingung dulden. 
Sogar zu Ihrer Zeit wuhten die Kapitaliften, daß 
der bejte Arbeiter nicht der mar, weldher von der 
Hand in den Mund lebte, fondern der, welcher ſich 
jo gut ftand, daß feine unmittelbare Nahrungsiorge 
jein Gemüt bedrüdte, Selbſtachtung und jFreude an 
ber eignen Leiftung bildeten einen mächtigeren Ans 
trieb als der Gedanke an den zu erwartenden Tage- 
lohn. Und war das damals ſchon der Fall, um wie 
viel mehr heute! Arbeiteten zwei Männer neben- 
einander für benjelben Herrn, jo mochte der eine 
nod) jo viel faulenzen und betrügen, der andre fün- 
merte ſich nicht darum. Er hatte ja feinen Berlufl 
dadurch, ſondern der Arbeitgeber. Jetzt ſchaffen aber 
alle für den gemeinjamen Fonds, und wer Pfujcer- 
arbeit macht oder die Zeit vertröbelt, ſchädigt alle 
jeine Mitmenſchen. Lieber würde man ji heutju- 
tage am eriten beiten Baum auffnüpfen, als für 
einen Müßiggänger zu gelten. 

„Wer da glaubte, daß die wirtichaftliche Gleid- 
heit der Thatkraft und dem Eifer der Menjchen Ab« 
bruch thun würde, weil der einzelne feinen Yohn für 
feine perfönlichen Leiſtungen befommt, bat ſich gründ- 
lich über die Wirfung des Syſtems getäuſcht. Es 
wäre ganz lächerlich, anzunehmen, daß fein Wett: 
ftreit von Fleiß und Tüchtigkeit ftattfinden fann, 
ſobald die Bezahlung fortfält. Im Gegenteil, einem 
jeden fommen jeine Verdienfte viel unmittelbarer und 


Gleichheit. 


gewiſſer zu gute als zu Ihrer Zeit, wenn auch nicht 
in klingender Münze. Wie Sie wiſſen, wird bei 
uns jede Öffentliche und ſoziale Stellung und Führer» 
ihaft, fowie jede Staatsauszeichnung nach dem Wert 
der Dienfte bemeiien, die der einzelne für bie Ge— 
ſamtheit leiftet. Durch dies Syitem des Verdienft- 
adels entfteht ein Wetteifer, der zu viel größeren 
Anftrengungen treibt al$ der frühere Lohnerwerb. 


„Ihre Zeitgenoffen jcheinen in dem noch ſehr 


findiihen Wahn befangen gewejen zu fein, dab es 
zu Fleiß und Tüchtigfeit auf jedem Felde haupt- 
fählicd; eines äußeren Sporns bebürfe , während es 
doch vor allem auf den inneren Trieb ankommt. 
Trägheit oder Thatlraft find dem Menjden an— 
geboren. Der eine wird nur das Heinjte Maß von 
Arbeit verrichten, mag die Gelegenheit noch fo günitig, 
das Ziel noch jo verlodend fein. Der andre ſchafft 
fih die Gelegenheit jelbjt und ftedt ſich feine eignen 
Ziele; mur mit Gewalt kann man ihn verhindern, 
jein möglichites zu thun,. Wenn die Triebfraft nicht 
von Anbeginn im Menjchen ift, nüben äußere Be- 
weggründe wenig, und es giebt überhaupt feinen 
Erjag dafür. Das Uhrwerk im Menſchen muß gleich 
bei der Geburt aufgezogen jein; fpäter läßt ſich das 
nicht nachholen, Auch das beite Induftriefoften fann 
zur förderung des Fleißes nichts andres thun, als 
alle Bedingungen fo einrichten, daß jedes Verdienſt 
feinen gerechten und angemeflenen Yohn findet. Dies 
gelingt unjerm Syitem volltommen, während das 
Ihrige aller Gerechtigkeit und Billigfeit ermangelte. 
Die Inglüdlichen, denen die Trägheit angeboren ift, 
lann auch unjer Syſtem nicht durdy einen Zauber« 
ſchlag thatkräftig machen, aber es forgt aufs be- 
flimmtefte dafür, daß jeder Menſch mit gefunden 
Gliedmaßen, welcher jeinen wirtjchaftlichen Unterhalt 
von der Nation empfängt, wenigftens dad Minimum 
an Dienfien leitet. Selbft der Trägfte zahlt fo viel, 
wie er koftet. Zu Ihrer Zeit dagegen mußte die 
Gejellihaft viele Millionen arbeitsfähiger Müßig— 
gänger füttern, die fie als totes Gewidht mit fich 
fchleppte. Auch von dieſer Yajt ift die Welt durch 
die große Umwälzung befreit worden.“ 

„Doktor,“ jagte ih, „gewiß hatten meine alten 
Freunde doch noch etwas Bellered vorzubringen. 
Lafjen Sie uns zu andern Einwänden übergehen, die 
fie gemadjt haben.” 


Die Beforgnis, daß die Gleichheit die 
Menſchen völlig gleihartig machen würde, 

„Heber einen Punkt ſcheinen fie viel nachgedacht 
zu haben. Sie behaupteten, die wirtjchaftliche Gleich— 
heit werde die Verjchiedenartigkeit der Menjchen zer- 
ftören; alle würden über einen Kamm gejchoren und 
das Leben jo eintönig werden, daß die Leute fich vor 
Ueberdruß umbringen müßten, ehe noch vier Wochen 


1123 


vorüber wären. Diejer Einwand ift höchſt dharafte- 
riſtiſch für ein Zeitalter, welches Menfchen und Dinge 
nur nad) ihrem Geldwert beurteilt. Da einer nur 


fo viel Geld als der andre haben jollte, nahm man 





TEE 


bon vornherein als jelbftverftändlich an, daß daburd) 
aud) alle wejentlichen Unterjchiede zwiſchen den Indi— 
viduen verloren gingen. Dieje Schlußfolgerung giebt 
einen deutlichen Begriff von der Lebensanſchauung 
eines Geſchlechts, das gewohnt war, von einem 
Manne zu jagen, er jei jo und fo viele Taufende, 
Humderttaufende oder Millionen Dollars ‚wert‘! 
Solchen Leuten muß es natürlich vorfommen, als 
fönnte man die Menſchen überhaupt nicht mehr von- 
einander unterfcheiden, wenn ihre Bantlontos alle 
gleich wären, 

„Uber wir wollen nicht ungerecht gegen Ihre 
Zeitgenofien fein. Bielleiht würden die Verfechter 
diejes Einwands ſich gefräntt fühlen, wenn man 
ihnen eine fo niedrige Gefinnung zutraute. Nach 
Kenloes gejammelten Auszügen zu urteilen, jcheinen 
fie ernftlich befürchtet zu haben, daß die wirtſchaft- 
liche Gleichheit zu einer einförmigen und langweiligen 
Achnlichkeit der Menſchen untereinander führen müßte, 
jo daß nicht nur ihre Banklontos ſich glihen, ſon— 
dern auch alle ihre Eigenſchaften. Man bejorgte, 
daß ſich die Verfchiedenheiten in der Naturanlage 
und Begabung verwiſchen würden, welde dem ge= 
jelligen Verkehr feinen ganzen Reiz verliehen. Uns 
erjcheint eine jo widerfinnige Annahme faft unglaub- 
lich. Ihre Zeitgenoffen brauchten ja nur die Augen 
aufzuthun, um zu erfennen, dab gerade die wirt« 
Ichaftlihe Ungleichheit die Figenart des Individuums 
unterdrüdt, weil fie zu ſtlaviſcher Nahahmung der 
Höherftehenden treibt. Unabhängige Gefinnung findet 
id) nur unter einander Gleichgeftellten. Hätten Sie 
Julian, zum Beijpiel eine Abteilung Refruten vor 
ih, deren Größenunterfchied Sie auf einen Blid zu 
überjehen wünſchten, wo würden Sie diejelben auf- 
marjchieren laſſen?“ 

„In der ebenften Gegend, die ic) finden könnte.“ 

„Natürlih. Auch jene Leute würden das ohne 
Zweifel vorfommenden Falls gethan haben. Aber 
daß die wirtfchaftlihe Gleichheit auf die Gejamtheit 
gerade dieje Wirkung haben mußte, jahen fie nicht 
ein. Gleiche wirtſchaftliche Stellung, gleiche Er- 
ziehung und gleich günftige Gelegenheit war das 
ebene Feld, der Standpunkt in derſelben Höhe, welchen 
bei der neuen Ordnung alle einnehmen mußten, fo 
daß die natürlichen Unterjchiede deutlich hervortraten, 
und man jeden nach feiner Beichaffenheit ertannte, 
Nicht das neue, jondern das alte Suftem hätte man 
bejchuldigen fünnen, daß es alle Eigenart zerftöre, 
denn die tauſend fünftlichen Einrichtungen und Ver— 
anjlaltungen, die aus der wirtichaftlichen Ungleich— 
heit entiprangen, machten es unmöglich, zu entfcheiden, 


1124 


ob die zu Tage Iretende Verichiedenheit der Men» 
ſchen eine natürliche oder fünfilich hervorgebrachte 
jei. Sobald alle auf gleichem Boden jlanden, famen 
zum erjienmal die von Natur angeborenen Unter: 
ſchiede der menſchlichen Anlagen Har und deutlich 
zum Vorſchein. Die wirtihaftliche Gleichheit ift die 
erfte Bedingung, wenn von einer Wertmeſſung der 
Menjchen überhaupt die Rede fein foll.“ 

„Wirklich,“ Tagte ih, „mir ſcheint, alle diefe Ein- 
wände fallen auf ihre Urheber zurüd und thun dieſen 
mehr Schaden als ihren Widerſachern.“ 

„Jawohl,“ erwiberte der Doktor, „die Gegner 
der neuen Ordnung drüdten den Anhängern des Um— 
fturzes felbft die Waflen in die Hand. Was joll 
man zum Beijpiel davon denfen, wenn fie behaup⸗ 
teten, bei wirtichaftlicher Gleichheit würde die Welt 
feine Abwechslung und Unterhaltung mehr bieten, 
weil der Gegenfaß zwilchen Armen und Reichen in 
Wegfall käme? Wahrhajtig, da möchte man doch 
fragen: Für welche Klaſſe machten dieje Gegenfähe 
das Leben wohl unterhaltend? Gewiß nicht für die 
Armen, die großen Maffen des Volles, die fie em« 
pörend fanden. Aljo hätte man zum Vergnügen 
einer Handvoll Reicher und Glüdticher die Armut 
aufrecht erhalten jollen? Das hieße doch die Thor- 
heit zu weit treiben! Kenloe legt Diefe Beweisführung 
den ſchönen Damen aus der feinen Gejellichaft in 
den Mund; der dunkle Hintergrund des allgemeinen 
Elends erjcheint ihnen notwendig, damit der Pomp 
des Reichtums fich um fo glänzender abhebe.. Das 
ift jedoch eine ebenfo rohe wie oberflächliche An- 
ſchauung. Gewiß giebt es nur wenige Menjchen, 
denen der Weberfluß größere Freude bereitet, weil 
fie die andern darben jehen; im allgemeinen gilt die 
Regel, dab das eigne Behagen wädhft, wenn man 
auch jeine Nebenmenſchen glüdlih weiß. Auch fteht 
die Thatjache feit, daß die Reichen keineswegs ges 
wünſcht haben, an das Vorhandenjein von Armut 
und Elend erinnert zu werden; fie fuchten es ſich 
vielmehr jo fern wie möglich zu halten, weil jie nicht 
dadurd im Genuß gejtört jein wollten. 

„Dergleihen völlig unhaltbare Behauptungen ent- 
Hält das Buch noch in großer Zahl. Unter anderm 
ift davon die Rede, dab man in der neuen Gejell- 
ihaftsordnung gejehlich gemötigt fein fönnte, mit 
aller Welt zu verfehren, ohne Rüdjiht auf Wahl- 
verwandtichaft oder perjönlice Neigung. Kenloes 
Leute widerjegten ich diefer Zumutung mit größter 
Heftigkeit. Natürlich erhigten fie fich ganz unnötiger- 
weiſe. Ebenjowenig, wie früher alle Menden, die 
das gleiche Finfommen hatten, gezwungen waren, 
miteinander umzugehen, ift das jept der Fall. Die 
allgemeine Bildung und Verfeinerung der Sitten 
vergrößert zivar den Kreis, aus welchem man fi) 
gleihgeitimmte Genoffen wählen fann, jehr bedeu— 














Edward Bellamp. 


tend, aber wer es vorzieht, ein ganz ungeſelliges und 
einfames Leben zu führen, wird auf feine Weile 
daran gehindert; er kann ſich jo völlig abjondern 
wie der ärgite Menſchenhaſſer in alter Zeit. 


Die Gleichheit und der Wettbewerb, 


„Wir fommen nun zu einem Einwurf gegen bie 
wirtichaftliche Gleichheit, welcher Kenloes jorgiältige 
Aufzeichnungen beionders rechtfertigt. Man jollte & 
wirklich nicht für möglich halten, daß es Leute gab, 
die fi gegen die Neuerung auflehnten, weil jie.der 
Konkurrenz und dem Kampf ums Dafein ein Ende 
maden würde. Sie behaupteten jedoch, dadurch gebe 
der Welt eine unſchätzbare Schule für Die Charafter- 
bildung verloren, und fie büße den ficherften Prüf- 
ftein für den Wert der Menjchen ein, denn alles 
Mittelmäßige ſei jtets untergegangen, und nur daö 
Beite habe ſich entwideln und fortpflanzen können, 
Hätten Ihre Zeitgenofjen ſich wegen der Beibehal- 
tung des Konkurrenzſyſftems damit entjchuldigen 
wollen, daß, wie ſchlecht und graufam es auch ſei, 
die Welt doc; noch nicht reif genug wäre, um ein 
andres zu wählen, jo würden wir das zwar unver 
ftändig, aber doch erflärlich gefunden haben. Allein, 
dab fie die Konkurrenz an fi als wünſchenswett 
binftellten und fie vom moraliihen Standpunkt aus 
nicht entbehren zu fünnen glaubten, ift uns unbegreij⸗ 
lid. Die Konkurrenz; war ja nichts andres al ein 
erbarmungslofer, unaufhörlier Kampf um bie Eri- 
ftenzmittel, der deshalb jo erbittert geführt wurde, 
weil nicht für alle genug da war. Wer im Kampfe 
erlag, mußte daher zu Grunde gehen oder ſich die 
farge Notdurft fihern, indem er der Knecht des 
Siegerd wurde. Zwiſchen joldhem Ringen um das 
täglihe Brot und dem Krieg auf Leben und Tob 
mit den Waffen in der Hand war jchliehlich der 
Unterichied nicht groß. Aber fallen wir einmal den 
Konturrenztampf noch näher ins Auge: Bei jeden 
Wettſtreit, deffen Ergebnis in irgend einer Weije er» 
ſprießlich fein fol, muß vor allem Gerechtigfeit und 
Biligleit herrſchen. War nun dieje erfte Bedingung 
bei Ihrem Sonkurrenzioftem, erfüllt? Kämpften die 
Streiter mit gleichen Waffen ?* 

„Im Gegenteil,” erwiderte ich, „die meiften waren 
bon vornherein durch Mangel an Kenntniſſen und 
Ungunſt des Gejchids gehemmt und hatten nicht die 
geringite Ausficht auf Erfolg. Manche erhielten einen 
gemaltigen Vorſprung auf der Rennbahn durch ihre 
geficherte wirtſchaftliche Stellung, während andre 
weit dabinten blieben, wenn ihnen nicht eine un- 
gewöhnliche Begabung zur Seite ftand. Uebrigens 
waren alle großen Preife bei dem Mettlauf ſchon 
zum voraus vergeben; der Zufall der Geburt ent- 
ichied darüber, wer fie erhalten ſollte.“ 

„So war aljo die ganze Konkurrenz nichts alt 


“ 





Gleichheit. 


ein erbärmliches, ungleiches, betrügeriſches Poſſen⸗ 
ſpiel; kein ehrlicher Kampf, ſondern nur rohes und 
feiges Niederhauen wehrloſer Menſchen durch eine 
Schar wohlbewaffneter Gegner! Und zu dieſem 
hoffnungsloſen Ringen für ihr Leben und ihre reis 
heit jahen fich die Mermiten gezwungen, jie mochten 
wollen oder nicht. — Auch die alten Römer ergöbten 
jih daran, Menjchen zu ſehen, die um ihr Leben 
fämpiten ; aber fie wählten dazu Gladiatoren aus, 
die fih an Kraft miteinander meſſen fonnten. Die 
verhärtetften Zujchauer im Koloſſeum würden eine 
Vorftellung in der Arena ausgezifcht haben, bei der 
die Kämpfer einander jo wenig gewadjen waren 
wie in dem jogenannten Konfurrenztampf zu Ihrer 
Zeit, wo auch auf Tod und Leben geitritten wurde.“ 

„Sie fennen zwar diefe Dinge nur aus den 
Bühern, Doktor,“ verſetzte ich, „aber was Sie jagen, 
ift leider nur allzuwahr.” 

„Bas hätte man denn billigerweile thun müſſen, 
wenn von einem ehrlichen Metttampf überhaupt die 
Rebe jein jollte?“ 

„Alle Streiter hätten zum mindejten die gleiche 
Bildung und geiftige Ausrüftung, fowie die nämlichen 
wirtichaftlihen Borteile haben müſſen.“ 

„Ganz recht, und dies wollte ihnen eben unjer 
Syſtem gewähren. Die wahre, echte Konkurrenz 
wurde durch die wirtichaftliche Gleichheit nicht zer— 
ftört, wie Ihre Zeitgenofien wunderbarerweije 
meinten, jondern erft recht zur Geltung gebracht.” 

„Bei diefem Einwand haben fich die Leute mit 
ihren eignen Waffen geichlagen,“ jagte id. 

„Das läht fi nicht leugnen. Aber wäre auch 
bei dem Kampf alles mit rechten Dingen zugegangen, 
fo würde es ſich nod immer fragen, ob aud der 
Zwed, um den es ſich handelte, überhaupt wünjchend- 
wert war. Es fonnten ſich ja dabei menſchliche 
Eigenſchaften entwideln, die durchaus nicht dem 
öffentlichen Wohl zu gute famen. Da nun die 
Verteidiger Ihres Konturrenzinftems behaupteten, es 
jei der Gharatterbildung bejonders zuträglich, jo 
darf man wohl mit Recht annehmen, daß die Sieger 
in diejem Streit, die großen Geldfürften Ihrer Zeit, 
im geiftiger und moraliiher Hinfibt wahre Mufter 
des Menjchengeihlechts waren. Wie fland es denn 
damit ?* 

„Seien Sie doch nicht jo ſarkaſtiſch, Doktor!” 

„Das ift gar nicht meine Abficht; es fommt ganz 
von ſelbſt. Sagen Ste mir dod: was hielt denn 
die Welt im allgemeinen von den großen Kapitaliften 
Ihrer Zeit? Was waren es für Menjchen? — Es galt 
als Erfahrungsjah, dab, wer ein guter Geichäfts- 
mann jein jollte, feine gelehrte Erziehung erhalten 
dürfe — und das war ganz natürlich. Yede Kenntnis 
allaemein bildender Willenichaften mußte ja den 
Menſchen unfähig machen, fih an dem gemeinen 





1125 


Kampf um Geld und Gut zu beteiligen. So hören 
wir denn auch, daß die Sieger im ſtonlurrenzlampf, 
denen die größten Preiſe zufielen, meift damit praßlten, 
daß jie feine geiftige Erziehung genofien und nie 
mehr als die erften Anfangsgründe alles Wiſſens 
gelernt hätten. Die Kinder und Enkel ſchämten ſich 
meift des groben Ausſehens und Benehmens ihrer 
Väter, weil es von dem Luxus, ber fie umgab, un« 
angenehm abſtach. Ihre erworbenen Weichtümer 
ließen fie ſich aber gern gefallen. 

„So itand e& um die Geifteteigenjchaften jener 
Geldmenjhen. Und in fittlicher Beziehung war es 
um fein Haar befjer mit ihnen bejtellt. Ihr Leben 
lang hatten jie jih die Schwächen, die Not und die 
Irrtümer ihrer Nebenmenjchen zu nutze gemacht und 
ſich erbarmungalos jedes Vorteil® bedient, den ihnen 
der Zufall oder ihre Schlaubeit in die Hände pielte. 
Bei allem, was fie faufen wollten, hatten fie ſich 
gewöhnt, den Preis herabzudrüden, und beim Ber- 
fauf getrachtet, den höchſten Gewinn zu erzielen. 
Der Eigennuß war der Pol geweſen, um den fid) 
all ihre Thun und Denken von jeher gedreht hatte, 
und jo war ihnen jeder großmütige oder jelbitloje 
Trieb allmählih abhanden gelommen, Zu jolcher 
Seelen« und Gemütsverfaffung gelangte der Menſch 
damals dur den Wettjtreit um Geld und Gut. Am 
deutlichiten trat das natürlich bei denen hervor, welche 
die höchſten Preije gewannen. 

„Wäre aber dieſer entfittlihende Einfluß nur 
auf die geringe Zahl derer befchränft geblieben, die 
als Sieger aus dem Kampf hervorgingen, jo hätte 
fih der Schaden nod ertragen laſſen. ber ber 
Mettftreit war für den Gharafter der Millionen, 
welche unterlagen, ganz; ebenjo verberblih. Ihr 
Mißgeſchick befiel fie ja nur, weil fie weniger Fähig« 
feit oder Glück hatten als die Sieger; fie brauchten 
durchaus nicht tugendhafter zu jein als dieje oder 
vor den Kunſtgriffen zurüdzuichreden, welche fie an» 
wandten. Obgleih es faum einem unter Zehn- 
taujenden glüdte, reich zu werben, jo mußte dod 
jeder diejelben Regeln befolgen, ob es galt, jein Leben 
zu friiten oder ein Vermögen zu gewinnen, ob er 
einen Sad alter Lumpen laufen wollte ober eine 
Eijenbahnlinie. Daher fam es, daß unter dem 
ſtonturrenzſyſtem auch der ärmſte Mann, der den 
Kampf ums Dajein fämpite, dabei den Troft eines 
guten Gewijiens verlor, jo gut wie der Reiche. Die 
Sage erzählt, daß der Teufel den Menjchen, die ihm 
ihre Seele verkaufen, dafür die Güter dieſer Welt 
verfpricht. Das war ein ehrlicher Vertrag in jeiner 
Urt, Wer fi dem Teufel verjchrieb, erhielt immer 
den ausbedungenen Preis. Das Konkurrenzſyſtem 
aber war ein Hinterlifliger Teufel; es forderte die 
Seelen aller und verlieh dod unter Tauſenden nur 
einem die Güter der Welt. 


1126 


„Auf den erjten Blid wird e8 ung nun Mar 
werden, Julian, dab der Erfolg unter dem alten, 
verkehrten Konkurrenziyften etwas gang andres be= 
deutete als heutzutage. Damals beftand jeder Ge— 
winn nur darin, daß man andern fo viel wie mög⸗ 


lih von ihrem Gelde fortnahm. Die Sieger im | 


Wettſtreit dachten gar nicht daran, das Wohl der 


Gejamtheit zu fördern; geſchah dies trogdem einmal, | 


fo war e8 der reine Zufall. Meiſtens ‚erzielten fie 
ihren Gewinn nur durch den Verluſt der andern. 
Kein Wunder daher, daß der Befit von Reichtümern 
und der Triumph im Konkurrenztampf zur Schmad) 
und Schande wurde Heute ift das ganz anders. 
Wer am meiften dazu beiträgt, die Wohlfahrt aller 
und den Beſitzſtand der Gejamtheit zu vermehren, 
gilt als der Sieger im Wettlauf. Die, weldhe zurüd- 
bleiben und feinen Preis erringen, find aber nicht 
feine Opfer; er hat nur ihren Intereifen zugleich 
mit denen des Gemeinwejens beſſer gedient, als fie 
es allein hätten thıun können. Da nun die höher 
begabten Menichen ihre Fähigkeiten ausſchließlich zum 
allgemeinen Beften verwenden, jo gereichen fie aud) 
den Minderbeanlagten zum Segen, Die Nemter und 
Würden jamt allen Ehrenzeichen, welche die Sieger 
im Wettjtreit erringen, dienen nur dazu, der Liebe 
und Dankbarkeit des Bolfes Nusdrud zu verleihen, 
als defjen größte Wohlthäter und hingebendſte Diener 
jie ſich erwiejen haben.” 

„Ih muß geftehen, Doktor,” fagte ih, „was 
Sie mir biöher mitgeteilt haben, Klingt wahrhaftig, 
als hätte man jemand angejtellt, um eine Lifte von 
den ärgſten Schwächen und Hebelftänden des Privat» 
fapitaliamus anzufertigen, Wie konnten die Ver— 
teidiger des alten Syſtems nur glauben, dies jeien 
ftihhaltige Gründe gegen die Einführung der neuen 
Wirtihaftsordnung?“ 


Die Gleichheit als Feindin der Selb 
ftändigfeit und Eigenart betradtet. 


„Mid wundert nicht, dak es Ihnen jo vor— 
kommt,“ jagte der Doktor. „Auch der nun folgende 
Einwand wird Ihre Anficht beftätigen. Man ftellte 
nämlich die Behauptung auf, dab, wenn dem ganzen 
Volk die Erlangung des wirtſchaftlichen Unterhalts 
gefihert und auf jede Weile erleichtert werde, alle 
Selbitändigfeit im Denken und Handeln aufhören 
und die Entwidlung unabhängiger und eigenartiger 
Charaktere unmöglich werden würde. Dies hängt 
im Grunde genau mit den beiden vorhergehenden 
Einwürfen zufammen, aber die Gegner der neuen 
Ordnung betonten es mit ſolchem Nahdrud, daß ich 
es noch ganz beſonders angemerft habe, 

„Es ift ſchwer zu begreifen, weshalb eine äußer- 
lih unabhängige Stellung die unabhängige Ge- 
finnung des Menjchen beeinträchtigen follte. Wenn 











Edward Bellamy. 


ih Sie num fragte, Julian, welches zu Ihrer Zeit 
die günftigften Lebensbedingungen für den Menichen 
waren, der ſich im geiftiger und fittliher Selbftändig- 
feit erhalten und furchtlos nad feiner innerften 
Ueberzeugung handeln wollte — was würden Sie 
antworten ?“ 

„Ih würde jagen, daß bie Grundbedingung bier» 
für die Sicherung des Lebensunterhaits ift.“ 

„Natürlich. Und gerade diejen geſicherten Unter 
balt verfchaffte die neue Ordnung allen Menſchen. 
Troßdem warf man ihr vor, fie untergrabe die Selb- 
ftändigfeit des Charakters. Uns ſcheint im Gegen 
teil, dab eine der größten Wohlthaten, welche bie 
wirtichaftliche Gleichheit dem Menſchen gewährt, feine 
Befreiung von jeglichem Zwang ift; denn für jeine 
Meinungen, für fein Reden und Thun ift er nie 
mand veraniwortli, außer feinem eignen Ge— 
wifjen. 

„Es war mwirflid eine Kühnheit obmegleichen, 
daß die Verfechter des Privatlapitalismus e8 wagten, 
zu behaupten, irgend ein andre Syilem fönne mehr 
als das ihrige der menjhlihen Würde und Un— 
abhängigkeit Abbruch thun. Der Hauptichaden, den 
der Privatfapitalismus verurjachte, beftand ja eben 
darin, daß er feige, liebedienerische und Friechende 
Geſchöpfe erzeugte. Dies war die unausbleiblide 
Folge einer Geſellſchaftsordnung, bei der faft jeder 
in betreff jeine® Unterhalts von einer Perjon oder 
einer Gruppe von Menſchen abhängig war. 

„Sehen wir und ben Zuftand, der Welt einmal 
aus diefem Gefihtspunft an. Betrachten wir zuerft 
die Frauen, die Hälfte des Menſchengeſchlechts. Da 
fie ſich faſt allefamt in wirtfhajtlicher Abhängigfeit 
befanden und meift ihren Unterhalt von einem be 
ftimmten Manne erhielten, blieben fie ihr Leben lang 
teils den Befehlen des letzteren unterthan, teil& waren 
fie genötigt, fi) einer ganzen Reihe ihren Geift be 
ſchränkender Vorſchriften zu fügen, welche nach Gut 
dünken der Männer von alters ber für fie ſeſtgeſtellt 
waren. Fehlte e8 aber auch der Frau an jeder 
Selbftändigkeit, jo erging es den Männern nicht viel 
befjer. Der größte Teil der männlichen Bevölkerung 
beitand aus Mietlingen, die von ihren Arbeitgebern 
abhingen, und deren größtes Intereſſe es war, fih 
die Gunft ihrer Herren zu fihern. Sie mußten 
fo viel wie möglich ihren Meinungen, Vorurteilen und 
Anjhauungen beipflidten und, wo fie das nidt 
konnten, ftilljchweigen. Ein Beweis hiervon war die 
geheime Abftimmung bei den Wahlen. Man bielt 
diefe Einrichtung für notwendig, um es dem Arbeiter 
überhaupt zu ermöglichen, feine Stimme zu geben, 
wen er wollte. Daß die Arbeitgeber die Arbeitnehmer 
einzufhüchtern und zu beeinfluffen ſuchten, wo fie 
nur fonnten, war ein offenes Geheimnis, Die Kauf 
leute und Handwerker hatten es noch ſchwerer, ihre 








Gleichheit. 


Unabhängigkeit zu wahren; fie mußten aller Welt 
zu Willen fein, um die Kunden anzuziehen und feft 
zubalten. Wie fland es denn aber mit den ſoge— 
nannten gebildeten Klajjen, mit den Vertretern von 
Kumft und Wiſſenſchaft? Waren fie wenigitens un— 
abhängig im Denfen und Handeln? Laſſen Sie uns 
auch diejer Frage einmal näher treten. Betrachten wir 
zuerſt die Geiftlichfeit, die Prediger und Religions» 
lehrer. Sie waren in wirtfchaftlicher Beziehung ent 
weder die Diener einer firchlichen Behörde oder ihrer 
Gemeinden und mußten für ihr Gehalt die An— 
ſchauungen ihrer Herren verfündigen und feine andern. 
Iedes Wort, das aus ihrem Munde ging, wurbe 
lorgfältig auf die Wagichale gelegt, und wenn ſich 
jelbjtändige und eigenmächtige Gedanken darin fund» 
thaten, verlor der Geiftliche jeine Stelle. Ober jehen 
wir uns ben weltlichen Unterricht der Profeſſoren 
an den Gymnafien und Univerfitäten an. Beim 
Studium der toten Sprachen jcheint noch einige Un— 
abbängigkeit geherricht zu haben; wollte der Lehrer 
fich aber über irgend einen Gegenftand von lebendigen 
Interefje in einer Weile ausſprechen, die den Kapi— 
taliften nicht zujagte, jo war es bald um ihn ge» 
ihehen. Und wie ſtand e8 mit den Schriftſtellern 
und Journaliften, die zu Ihrer Zeit einen jo großen 
Einfluß befaßen? Eine bedeutende Zeitung war im 
neunzehnten Jahrhundert gerade jo gut ein kapita— 
fiftifches Unternehmen wie eine Tertilfabrif, und den 
Redakteuren war es ebenfowenig gejftattet, nad} ihrer 
perfönlichen Weberjeugung zu jchreiben, wie die 
Arbeiter fih die Mufter ausiuchen durften, welche 
fie weben wollten. Sie wurden dafür bezahlt, daß 
fie die Anterefien und Anfichten der Kapitaliften 
verfochten, denen die Zeitung gehörte, und feine 
andern. Ein Unterfchied beitand jedoch zwiſchen dem 
Prediger und dem Journaliften; erjterer halte die 
auf alter Ueberlieferung beruhenden und daher feſt— 
ftehenden Glaubensbelenntniſſe zu verfündigen, wäh— 
rend die politijchen Anjchauungen, die der Redakteur 
vertrat, häufig wechjelten, jobald die Zeitung in andre 
Hände überging. Wie fonnte bei joldhen Zujtänden 
überhaupt noch von geiftiger und fittlicher Unabhängig» 
feit und einer freien Entfaltung der Eigenart des 
Individuums die Rede fein? Wir beftreiten gewiß 
nicht, daß alles, was die Selbſtändigkeil und Eigen- 
art des Individuums bejchränft, verwerflich iſt, aber 
diefe Selbjtändigfeit war damals jo jelten geworden, 
daß fie bei einem Wechjel nur zunehmen fonnte. 
Am allerwenigjten konnte fie dur die Einführung 
der wirtjchaftlichen Gleichheit gefährdet werden, wie 
Ihre Zeitgenojjen bejürdhteten.” 

„Den Anhängern der Revolutionspartei fann es 
wahrlich nicht ſchwer gefallen fein, die ſchwache Be- 
weisführung ihrer Gegner zu nichte zu machen!“ 

„Das war allerdings eine leichte Aufgabe. So— 


1127 


wohl vom ethiſchen und politiſchen als vom wirtfchaft« 

lichen Standbpunft aus war es jo ſchlecht um die Sache 
ber Kapitaliften beftellt, daß fich überhaupt nichts 
Stichhaltiges zu ihren Gunften vorbringen ließ. Der 
befte Rat, den man ihnen geben fonnte, war, jtill« 
zuichweigen, und fie würden ihn nur allzu gern be— 
folgt haben, wenn nicht das Volt darauf gedrungen 
hätte, daß fie fi gegen die Anlagen verteidigen 
jollten, mit denen man fie überhäufte. Wie wenig 
Anftrengung es aber auch den Revolutionsmännern 
foftete, die Gründe ihrer Gegner aus dem fyelde zu 
ſchlagen, jo blieb ihnen doch eine Riefenaufgabe zu 
erfüllen, nämlich, die geiftige und fittliche Schlafiheit 
der Mailen zu überwinden und fie zu eignem, ver« 
nünftigem Denken anzuregen,“ 


| 
Die Wirfung der Gleichheit auf die poli« 
tiſche Beſtechlichkeit. 

„Nun habe ich nur noch zwei oder drei Einwände 
anzuführen, die des Erwähnens wert ſind. Der erſte 
richtet ſich gegen die Art und Weiſe, wie das neue 
Induſtrieſyſtem gehandhabt werden ſollte. Wenn 
die Vollsregierung ſich auch auf Handel und Induſtrie 
erſtreckte, ſo mußte natürlich eine öffentliche und 

politiſche Verwaltung in großem Maßſtabe an die 
Stelle der früheren, unverantwortlihen Macht der 
Rapitaliften treten. Nun hatte fi aber die Re— 
gierung der Vereinigten Staaten im ganzen und 
einzelnen während des lehten Drittels des neun« 
zehnten Jahrhunderts ungemein verſchlechtert — das 
wußte jedermann. Einer jo fäuflihen und erbärm- 
lichen Regierung noch größere Befugniſſe zu über« 
tragen, erflärte man für den reinjten Wahnfinn.” 

„Das läßt ſich Hören,“ rief ich; „es ift der erfte 
wirklich vernünftige Einwand. Ich wenigſtens würde 
großes Gewicht darauf gelegt haben, denn die Ktor—⸗ 
ruption unjers Regierungsſyſtems war wirklich himmel⸗ 
ſchreiend.“ 

„Ohne Zweifel,” ſagte der Doktor, „war die 
politiſche Beftehlichkeit groß, und es herrichten viele 
Mißbräuche. Um aber verjtehen zu können, welchen 
Einfluß diefe Thatjache auf die Einführung der 

wirtſchaftlichen Nationalverwaltung haben fonnte, 
| müſſen wir fie etwas eingehender betrachten, 
| „Ein Häufig vorfommender Mißbrauch war es 
| zum Beijpiel, daß der öffentliche Beamte die ihm 
; anvertraute Macht benüßte, um einen Privatgewinn 
| zu erzielen, ſtatt das allgemeine Intereſſe zu fördern, 
| ganz als ob e& ſich um jein eignes Geihäft handle, 
bei dem er einen Profit machen wollte. Argwöhnte 
man ein joldyes Verfahren, jo erhob ſich jedesmal 
ein großes Geichrei dagegen, und zwar mit Recht. 
Deshalb mußten die ungetreuen Beamten mit höchiter 
Vorjicht zu Werke gehen und liefen fortwährend Gefahr, 
| entdedt und bejtraft zu werden. So fam es, daß jelbit 


1128 Edbwarb 
unter der jchlechteften Regierung zu Ihrer Zeit bie 
meisten Gejchäfte ordnungsgemäß und zum allgemeinen 
Beten ausgeführt wurden, und fi nur dann und 
wann unrehtmäßige Einflüſſe geltend machten. 

„Wie Hand es dagegen mit dem Verfahren der 
Kapitaliften, welche den wirtichaftlichen Mehanismus 


in Händen hatten? Sie nahmen gar nicht einmal | 


die Miene an, als ob fie das öffentliche Intereſſe 
irgend etwas anginge, und verfolgten feinen andern 
Zwed, als ihre Stellung zu benußen, um ſich den 
größten perjönlichen Gewinn aus dem Geſamtver— 
mögen zu fihern. Das heißt alio: die Benugung 
de3 öffentlihen Mechanismus zum Privatgewinn, 
welche bei dem Beamten verurteilt, als Verbrechen 
befttaft und dur die Wachſamleit des Publifums 


meijt verhindert wurde, war bei den Kapitaliften ein | 


feftitehender Gebrauh, wie fie unummunden ein= 
geitanden. Der Beamte war ſtolz darauf, wenn er 
feine Stelle ebenjo arın verließ, wie er fie angetreten 
batte; der Kapitalift prahlte damit, wenn er die 
Gunft der Verhältnifie benutzt hatte, um jich ein 
Vermögen zu erwerben. Der Gewinn des Kapita— 
liften galt nicht für unreblich, wie der des Mannes, 
welcher ein öffentliches Amt bekleidete. Aber diejer 
fogenannte rechtmäßige Profit foftete dem Volk, das 
ihn bezahlen mußte, gerade jo viel wie ber gejeh- 
widrige Naub der Beamten. 

„Und doch lehrten die Mugen Leute in ſtenloes 
Sammlung das Bolf, es jei gefährlich, der öffentlichen 
Verwaltung noch meitere Befugniſſe zu erteilen, weil 
es trotz aller Vorſicht den angeftellten Beamten bis— 
weilen gelänge, ihre Stellung zu Privatzweden zu 
mißbrauchen. Dan behauptete, es ſei ficherer, den 
Privatfapitaliften die Verwaltung zu überlafien, und 


Bellamp. 


wachten, war ganz in der Ordnung, aber dab auf 


der Profit der Kapitaliften aus dem Gemeindeſäck 
fam, fonnten fie nicht einjehen. Obendrein war bei 
ben Geſchäften der lekteren der Prozentjah viel höher 
als bei den Mißbräuchen, welche ſelbſt die unredlichften 
Beamten treiben fonnten, 

„Das. Gewinninftem der Kapitaliften war bei 
weitem verderblicher für die Gejamtheit als bie Un— 
treue ber Beamten. Damit ſoll jedod nicht geſagt 
fein, daß dieſe geduldet zu werben brauchte, wenn 
man mit gehöriger Wachſamkeit verfuhr. Die gröte 
Wachſamkeit herrſcht aber immer da, wo den Beamten 
wichtige Interejien anvertraut werden. Wenn die 
öffentliche Verwaltung über das tägliche Wohl oder 


\ Wehe des Gemeinweſens zu entiheiden hat, jo wird 


dod) thaten dieſe offenkundig und gemwohnheitsmäßig | 


das, wofür die Beamten beftraft wurden, wenn man 
fie einmal dabei ertappte — fie bereicherten fich auf 
Öffentliche Koften. Mit demjelben Recht hätte man 
einem Gutsbeſitzer, der es jchwierig fand, Verwalter 
zu befommen, auf deren Redlichfeit er ſich feit ver« 
fafien konnte, den Nat erteilen müflen, feine An— 
gelegenbeiten berufsmäßigen Spigbuben anjuver- 
trauen.“ 

„Sie wollen damit jagen, daß bei der politischen 
Korruption das Gewinnſyſtem den Beamten nur in 
einzelnen Fällen ald Handhabe diente, während es 
bei allen Privatgeihäften die Grundlage bildete?“ 

Jawohl. 


vergaß er ſeines Eides und janf zu der moraliſchen 
Stufe herab, auf der alle Privatgeichäfte anerfannter- 
maßen betrieben wurden. Wie Ihre Zeitgenofjen 
diefe Thatjache jo gänzlich überjehen fonnten, ift mir 
wirflid; unverftändlih, Julian. Daß fie die Hand« 
lungsweife der angeftellten Beamten genau über- 








Wenn ein öffentlicher Beamter fich | 
eine Veruntreuung zu Schulden fommen lieh, fo | 





e8 auch an der nötigen Ueberwachung nicht fehlen 
Die größten Mißbräuche famen immer in denjenigen 
Regierungsdepartements vor, für die ſich die Mafıe 
des Volls am wenigften interejfierte. Die Leute, 
welche ji dagegen auflehnten, daß die Regierung 
die Verwaltung des neuen Wirtſchaftsſyſtems über: 
nehmen follte, weil die Beamten nicht zuverläflig 
feien, hätten im Gegenteil dafür ſtimmen müſſen, 


| weil es das befte Mittel war, um dem Uebel zu fteuern. 


„Die Gegner der neuen Ordnung zeigten ihre 
Kurzlichtigkeit noch bejonders darin, daß fie niät 


die große Gefahr erkannten, welche für Amerika in 


der Beitechlicyleit der Geſetzgeber lag, von denen ſich 
die Privatlapitaliften FFreiheiten und Privilegien 
verbürgen ließen. Im Vergleich zu dieſem Mißbrauch 
famen direfte lnterjchleife oder Beftechungen gar 
nicht in Betracht, und er hätte auf der Stelle auf 
hören müflen, jobald die Regierung mit der öffent: 
lihen Wirtjchaftäverwaltung betraut wurde; denn 
gerade derartige Unternehmungen der Sapitaliften 
wollten die Revolutionsmänner am ftrengiten be 
aufſichtigen. 

„Es handelte ſich dabei natürlich nur um dir 
Zeit während der Einführung der neuen Ordnung. 
Später war überhaupt jede Möglichkeit einer Ber: 
untreuung abgejchnitten, da alle nad) dem Get 
genau das gleiche Einkommen bezogen,” 

„Mit der Thorheit der Leute in Kenloes Bud 
wird es ja immer jchlimmer,“ rief ih. „Num habe 
ich auch genug gehört; laſſen wir es hierbei be 
wenden !” 

Noch einen Augenblid Geduld,“ jagte der Doktor. 
„Wir wollen die Sache zu Ende bringen, num wir 
einmal dabei find. Zwei Einwürfe, die gemadıt 
wurden, möchte ich noch mit Ihnen beſprechen.“ 


Die angeblide Bedrohung der Freiheit 
durch die neue Ordnung. 


„Vor allem behauptete man, durch die wirtjhaft: 
lihe Nationalverwaltung befäme der Staat ein 


Gleichheit. 


Macht in die Hände, welde für die Freiheit der 
Nation gefährlich werden Zönne, und wenn die Re 
gierung noch jo volfstümlidh wäre, 

„Hierbei wurde ftillichweigend vorausgeieht, daß 


das Volt unter dem Privatlapitaliamus in indu= | 
‚ und jehen wir lieber zu, welche Wirkung die wirtjchaft- 
liche Nationalverwaltung ihatfählih auf die Volls— 


ſtrieller Peziehung frei und unabhängig gewejen jei. 
Aber das entſprach, wie wir wijien, feineswegs dem 
Thatbeftand. Unter dem alten Syſtem waren Handel 


und Induftrie, welche der großen Maſſe Beihältie 


gung und Lebensunterhalt gaben, in der Gewalt 
einzelner deſpotiſcher und unverantwortlicher Herren. 
Das Verlangen nad) wirtihaftlicher Nationalverwal« 
hing war überhaupt nur entitanden, weil das Bolt 
unter dem Jod) der Kapitaliften jo Schweres zu er» 
dulden hatte. 

„Sm Jahre 1776 hatten die Amerifaner die 
königlich britiiche Herrihaft in den Kolonien ab- 
geihüttelt und fi; ihre eigne Nationalregierung 
gewählt. Was würden fie wohl gejagt haben, wenn 
ihnen der englische König damals eine Botichaft ge— 
ſchickt hätte, um fie zu warnen, weil fie Gefahr liefen, 
ihre Freiheit zu verlieren, wenn fie der neuen Re— 





gierung die Funktion übertrügen, weldhe England bie- 
ber auszuüben pflegte? Man hätte die Gejandten | 
einfach verladt und fie mit dem Auftrag heim= | 
geichidt, dem Könige zu verfünden, daß die Ameri- | 


faner ſich nicht mehr einer ſremden und feindjeligen 
Gewalt beugen, jondern ſich jelbit regieren wollten, 
wie es für ihre eignen Intereſſen am förderlichſten 
ſei. Einen andern Zwed hatte auch die wirtſchaſt— 
lihe Nationalverwaltung nit. Die Frage war 
nur, ob e3 der Nolfsfreiheit dienlicher fein würde, 
wenn nicht verantwortliche Perſonen mit feindlichen 
Interefien die Macht in Händen hatten, oder wenn 
das Wolf ſelbſt darüber verfügte und fie verante 
wortlichen Beamten übergab? ine Enticheidung 
hierüber zu treffen, war nicht ſchwer. j 





„Und dennod hat ein befannter Philojoph, der | 


zu jener Zeit lebte, durch eine Abhandlung, welche | 
noch vorhanden ift, zu beweiien verjucht, daß, wenn | 


der demofratijche Gedanke aud auf die wirtſchaftliche 


Nationalverwaltung außgedehnt würde, das Bolt | 


bald in eine Stiaverei geraten müfje, gegen welche 
die Zeiten eines Nero und Galigula noch erträglich 
zu nennen wären, Sätte id) nur jenen Philoſophen 
bier, um ihn zu fragen, wie er fi das eigentlich 
vorgeftellt hat! Sollten ſich die Leute etwa jelbft 
das Jod) der Knechtſchaft auflegen? Oder erwartete 
er, daß ein Gemwaltherricher fich des ſozialen Me— 
chanismus bemächtigen und das Volk unterwerfen 





merde? Wie war das denkbar in einem Staat, der 
geſchlechtlicher Selbfibeitimmung und Unabhängigfeit 


feine Klafjenintereffen fannte, wo es weder Ariſto— 

fratie noch Pöbel gab, und an deffen ruhigen Fort» 

bejtand das Lebensintereſſe jedes einzelnen Bürgers 

gefmüpft war? Wer den Umfturz einer jolhen Re» 
Aus fremden Qungen, 1897. IL 24. 


1129 


publif befürchtete, hätte ebenſogut glauben fünnen, 
daß die Pyramiden ſich plöglih, allen Ratur- 


‘ gefegen zum Trotz, umkehren und auf die Spihe 
' ftellen würden. 


„Aber laſſen wir die Toten ihre Toten begraben, 


regierung hatte. Selbſt wenn der Regierungd- 
mechanismus, der alles regelte, fontrollierte, bejtimmte 
und Teitete, ebenſo umfangreidy geblieben wäre, jo 
würde er umter der Selbjtverwaltung des Volles dod) 
erträglicher gewejen fein, als da nod die Kapitaliften 
das wirtjchaftliche Leben beherrichten, weil afles nur 
im Intereffe und zum Nuben der Gejamtheit ge- 
ſchah. Aber das MWirtfchaftsiyften erhielt durch 
feine Verftaatlihung nicht nur einen ganz; andern 
Gharalter und Zwed, fondern die Verwaltung jelbft 
wurde auch weientlich vereinfacht. Dies war bie 
natürliche Folge der Einheitlichfeit des Syftems, in 
welhem alle Zeile miteinander und füreinander 
arbeiteten, während die frühere taujendföpfige Ber— 
waltung den verſchiedenſten und entgegengejepteiten 
Intereifen gedient hatte. Den Arbeitern mußte «8 
vorfommen, als feien fie plöglih dem Taunenhaften, 
perjönlichen Regiment zahllofer Feiner Dejpoten ent= 
ronnen und einer gejeßmäßigen Regierung unter- 
worfen worden, die nad) jo einfachen und geordneten 
Grundfäßen verfuhr, daß niemand mehr das Gefühl 
hatte, als ſtehe er unter einem perjönlichen Regiment. 

„Der Vorwurf, den man der neuen Ordnung 
machte, daß unter ihr zu viel regiert werde, mußte 
fi) befonders im weiteren Verlauf als haltlos er- 
weilen. Sobald die vollfommenfte joziale Ge- 
rechtigfeit hergeftellt war, wurde faft der ganze frühere 
Regierungsmehanismus völlig überflüffig. Zu Ihrer 
Zeit beitand das Hauptgeſchäft der Regierung in 


' dem Schub des Eigentums und Lebens gegen bie 


Verbrecher, wobei nicht felten ganz unichuldige Per— 
fonen fälfhlih angeflagt wurden. Mit dergleichen 
bat der Staat jeht gar nichts mehr zu thun. Jeder 
erhält jo viel, wie er braucht, aber nicht mehr und 
nicht weniger als jeine Nebenmenjchen. Früher 
entitand aud eine große Zahl von Verbrechen aus 
Liebe oder Eiferſucht. Das war die Folge jener ſeit 
urdenflihen Zeiten bejtehenden, barbariichen Vor— 
itellung, dat Mann und Weib ein geſchlechtliches 
Eigentumsrecht aneinander bejähen, welches auch 
gegen den Willen des einen oder andern Teils bes 
hauptet werden könne. Alle derartigen Verbrechen 
hörten auf, al® die erſte Generation umter der 
Herrſchaft der wirtichaftlichen Gleichheit in vöfliger 


aufgewadhfen war. Da es feine höheren Klaſſen 

mehr giebt, weldje e& für ihre Prlicht halten, die 

niederen Klaſſen zu lehren, was fie thun und laſſen 
142 


1130 


follen, jo macht auch die Geſetzgebung feinen Verſuch 
mehr, das perfönliche Verhalten der Menſchen bei 
ihren eignen Angelegenheiten zu regeln. Eine 
foordinierende Oberleitung unjrer Genofienidhafts- 
indufirie werden wir immer brauden, aber von 
anderweitiger Regierung ift jeßt bei uns jo gut wie 
gar nicht mehr die Rede. Es ift von jeher ein 
Traum der Philoſophen geweſen, daß dereinſt Ver« 
nunft und Gerechtigkeit in der Welt zur Herrſchaft 
gelangen würden, jo daß die Menſchen ohne Geſetze 
miteinander in Frieden leben könnten. In betreff 
aller Zwangs- und Strafbeftimmungen haben wir 
dieſen Zuitand bereits erreicht. Die freiheit des 
Handelns wird jo wenig durch die Geſehe beſchränkt, 
daß man faft jagen könnte, wir lebten in völliger 
Anardie. 

„Auch mit Bezug auf die allgemeine Pflicht bes 
Öffentlichen Dienftes herrfcht im Grunde fein Zwang ; 
das habe ih Ihnen ſchon neulich gelagt, als wir auf 
der Arbeitsbörje waren. Wir verlangen nur, daß 
alle, die ſich gänzlich weigern, an der Erhaltung der 
jozialen Wohlfahrt mitzuarbeiten, aud) deren Vorteile 
nicht mitgenießen dürfen. Sie müffen fi von den 
andern abjondern und allein für ſich jorgen.“ 


Die Malthusihe Theorie. 


„Seht kommen wir zu dem lepten Einwand, der 
auf meiner Liſte fteht. Er unterſcheidet ſich dadurch 
ſehr weientlih von allen andern, daß die Leute, 
weldje ihn vorbrachten, bie wirtſchaftliche Gleichheit 
fowohl für praktiſch ausführbar als für wünſchens— 
wert hielten. ‚Das neue Syſtem', jagten fie, ‚würde 
von Erfolg gelrönt fein, die Wohlfahrt der Menjchheit 
ungemein fördern und alle Zuftände auf Erden jo 
angenehm wie möglid machen.‘ Aber gerade diejer 
zu erwartende Triumph des Syſtems machte fie zu 
feinen Widerſachern.“ 

„Das ift ja höchſt wunderbar,“ rief id; „was 
hatten fie denn dagegen einzumenden?“ 

„Wir wollen einmal annehmen‘, jagten fie, ‚daß 
die Armut und alle verderblihen Einflüſſe auf Leben 
und Gefundheit, die fie in ihrem Gefolge hat, aus 
der Welt verſchwinden, und feinem Menſchen feine 
natürliche Spanne Zeit auf Erden verkürzt wird. 
Da nun einem jeden der Unterhalt für ſich und feine 
Kinder gefichert ift, jo würde feine weile Vorficht die 
Zahl der Rachlommenſchaft mehr beihränten. Die 
Menſchen würden ſich mit weit größerer Schnelligkeit 
vermehren als früher und die Erde übervöltern, welche 
jchließlich ipre Bewohner nicht mehr mit Lebensmitteln 
verjehen fünnte, wenn man nicht ganz neue, un 
erichöpfliche Nahrungsquellen entdedte.‘* 

„Das ſcheint mir gar nicht unverjtändig,“ ſagte 
ich. „Ein ſolches Ergebnis ließe fich allerdings er- 
warten, wie die Sachen fliehen.“ 


Edward Bellamp, 


„Ja, aber die Sachen fliehen ganz anders,” meinte 
ber Doktor, „und deshalb würde auch ber Erfolg ein 
ganz andrer jein,“ 

Wieſo?“ fragte ic. 

„Schon wegen der allgemeinen Verbreitung von 
Bildung, Kultur und Verfeinerung der Sitten. Sagen 
Sie mir doch, gab es denn zu Ihrer Zeit im der 
wohlhabenden und gebildeten Klaſſe in Amerika ſeht 
viele zahlreiche Familien ?* 

„Im Gegenteil. Die Geburten und Sterbefäle 
glichen ſich meift gerade aus.“ 

„Gründe der Klugheit und Vorſicht werden jene 
Leute aber jchwerlih bewogen haben, ihre Zahl zu 
bejchränfen. Sie waren in dieſer Beziehung ganz 
ebenjo unabhängig geftellt wie wir heutzutage bei 
wirtfchaftlicher Gleichheit und gefichertem Unterhalt. 
Haben Sie wohl je darüber nachgedacht, warum die 
gebildeten und mohlhabenben Familien zu Ihrer 
Zeit nicht größer waren?“ 

„Bermutlich fam dabei die Thatſache in Betradt, 
daß, wo durd Kultur und Bildung geiftige und 
äfthetifche Interefjen geweckt wurden, der rohe Natur» 
trieb feine jo bedeutende Rolle mehr im Leben Ipielte. 
Auch hörte bei zunehmender Zivilifation die Frau 
auf, im geſchlechtlicher Beziehung die leibeigene 
Sklavin des Mannes zu fein, und ihre Wünjche fanden 
demgemäß Berüdfihtigung.“ 

„Ganz redt. Was Sie eben gejagt haben, ge 
nügt, um bie Verfehrtheit der Malthusſchen Theorie 
zu beweilen, two e8 jih um die Zunahme der Be 
völferung infolge der beſſeren fozialen Bedingungen 
handelt. Malthus behauptete, wie Sie wiſſen, dab 
die Menſchen ſich rafcher vermehren als die Mittel zum 
Unterhalt, daß daher die Armut und die mit dieler 
verbundene große Sterblicdhfeit unumgänglich nötig 
fei, wern die Welt nicht wegen Uebervölklerung dem 
Hungertode verfallen jollte, Diefe Lehre fand natürlich 
bei den Reichen und Gebildeten, welche für das Elend 
der Welt verantwortlich waren, ungeheuren Anflang. 
Sie freuten ſich jehr, zu hören, daß ihre Gleid- 
gültigfeit gegen die Leiden der Armen, ja die Ber 
größerung derjelben durch ihre Mithilfe im Plau 
ber Vorſehung liege und deshalb eher lobenswert alt 
verwerflich jei. Auch ließ fi die Malthusiche Theorie 
ſehr bequem gegen alle Vollsfreunde ins Feld führen, 
weldye der Armut fteuern wollten. Man bewies ihnen, 
dab ihre Reformen der Menfchheit feinen Segen 
bringen, jondern nur Uebervölkerung erzeugen würden, 
bei der alle Welt verhungern müßte. Der elendefte 
Bedrüder der Armen konnte ſich auf dieſe Lehre bee 
rufen, um als ein verfappter Wohlthäter der Menid- 
heit zu erjcheinen, und der edelſte Philanthrop richtete 
nur Schaden an, 

„Wäre es nicht jo wunderbar bequem geweſen, 

| die Malthusiche Lehre ala Entihuldigungsgrund für 


a 





Gleichheit. 


alle herrjchenden Uebelftände zu benußen, jo hätte 


man fich die große Verbreitung und den Beifall, den 
diefe abgejhmadte Theorie fand, auf feine Weije 


erflären können. Sie behauptet zwar mit vielem 
Nahdrud, daß die Armut, mit Lafter und Elend im 
Bunde, die größte Sterblichfeit erzeugt, aber daß die 
Armut zugleich eine Verrohung mit ſich bringt, Die 


ih in allzu großem Bevölkerungszuwachs kundthut, 


läßt fie gänzlich außer at. Wenn auch Hundert- 
taujende durch Mangel und Not umlamen, jo wur- 
den ohne jegliche Borfiht Millionen von Menichen 
in die Welt gejekt. 
nur auf die Verminderung der Bevölkerung durch 


Not und Mangel hin; ihre ungeheure Zunahme ger 


rade bei den roheſten, elendeften Zuftänden lieh fie 
unberüdfihtigt, und darin lag ihr verhängnispoller 
Irrtum. 

„Diejer Irrtum ließ fi um fo weniger ent« 
ihuldigen, al Malthus und jeine Anhänger in einer 
Zeit lebten, die in völligem Widerſpruch zu jeiner 
Theorie jtand. Sie brauchten nur die Augen zu 


öffnen, um zu jehen, daß gerade da, wo Armut, | 
Schmußt und Elend berichten, die fie ald Hemmung | 


der Uebervöllerung anſahen, die unbegrenzte Fort⸗ 
pflanzung im Schwange war, während ſich in jeder 
Klafje, die eine höhere Lebensführung anftrebte, die 
Zunahme verringerte. Es jtellte ſich aljo als un— 
beftreitbare Thatjache heraus, daß man den twirt« 
ſchaftlichen Zuftand der Mafjen nicht herabdrüden, 
ſondern ihn heben und ihre allgemeine Wohlfahrt 
fo viel wie möglich fördern müfle, um einer uns 
verftändigen Vermehrung der Menichen zu jteuern. 
Wäre Malthus ein Anhänger der Umfturzpartei ge= 


wejen und nicht ein Verteidiger des Kapitalismus, 


jo hätte man ihm den gröblichen Irrtum, der jeiner 


Die Maithusiche Lehre wies | 


1131 


‘ ganzen Theorie zu Grunde lag, nicht jo ruhig hin— 
gehen laſſen. 

„Tod genug von Malthus. Die Verhältniffe, 
in denen die gebildeten Klaſſen zu Ihrer Zeit lebten” 
— alſo auch die beichränfte Zahl der Geburten —, 
‚ waren vorbildlich für den Zuftand aller, jobald die 
‚ wirtjchaftliche Gleichheit eingeführt wurde, und damit 
ift die Behauptung, daß Mebervölferung eintreten 
müßte, bereit8 widerlegt. Aber der Gegenbeweis 
läßt ſich auch noch auf eine andre Weife führen, wie 
die Zukunft gelehrt hat. Sie haben foeben gejagt, 
daß ein Grund, warum in den gebildeten Familien 
| weniger Kinder geboren wurden als in den unteren 
Klaffen, der war, dab man in erfteren die Wünſche 
der frauen mehr berüdjichtigte al® in legteren. So— 
' bald die wirtſchaftliche Gleichheit für beide Ge- 
ſchlechter beitand, war der Wille der Frau bei allen 
| derartigen Angelegenheiten natürlid) der entjcheidende. 
Ehe die große Ummälzung eintrat, beftimmte das 
Geichlecht, welches die Kinder nicht zur Welt bringt, 
| über ihre Zahl, und die natürliche Folge davon war, 
dab Malthus es wagen durfte, mit feiner Lehre auf- 
zutreten. Die Natur hat durch die Mühen und 
Sorgen der Mutterfhaft für eine genügende 
Hemmung gelorgt, wie fie aud) alle andern natür- 

lihen Funktionen vor Mißbrauch ſchützt. Soll aber 
diefe Hemmung der Natur ihre geeignete Wirkung 
üben, jo müfjen auch die Frauen frei über fich ver- 
fügen fünnen. Die Grundbedingung diefer freien 
Verfügung ift aber die wirtfchaftliche Unabhängigkeit. 
Wird nur diefe erft geſichert, jo fünnen wir ung feſt 
darauf verlaflen, dab die Menjchheit nicht ausſtirbt 

— dafür forgt Schon der Naturtrieb —; aber aud) 

vor einer unvernünftigen Webervölferung der Erbe 
ı braucht uns niemals bange zu fein.” 





2. 


a 


Miſchka. 


Gljeb Ulpensky. 
Aus dem Ruffifchen überfeßt vor A. Diſchwang und G. Kryzanowski. 


Iwan Jermolajewitſch entſchloß ſich, feinen Sohn 
zur Schule zu jchiden. Hierzu muß bemerft werden, 
daß Iwan Jermolajewitich über die Notwendigfeit, 
etwas zu lernen, höchſt unflare Gedanten hatte. Er 
ſelbſt brauchte für gewöhnlih feine Schultenntnifie. 
Sein eigned Beben wie das jeiner familie — den 
elfjährigen Sohn miteinbegriffien — lieferte ihm 
außer viel Arbeit eine ſolche Maſſe von Erfahrung, 
daß nicht das mindeſte Bebürfnis nad fremdem 
Wint und Rat, furz, nad) irgend etwas, das nicht 
in feiner Wirtihaft, aus jeinem Brunnen geichöpft war, 
fi geltend machen fonnte. Aber zuweilen, minuten» 
weile, erjchredte ihn irgend etwas Unbeftimmtes, 
Unbegreifliches, etwas weit, weither Kommendes. 


Eine Ahnung dämmerte ihm auf, daß irgendwo | 
draußen in der Ferne etwas Schlimmes, Schwieriges 


feime, deifen man aber mit Hilfe des Verſtandes 
Herr werden könne, Und wie er aus einem fernen 
Glodenllang auf eine Feuersbrunſt ſchloß, wenn er 
auch nicht wußte, wo oder bei wen es brenne, jo 


witterte er bei gewillen Anläjlen irgendwo irgend | 
| e8 muß fein, e8 muß.“ 


eine Gefahr, wenn er auch nicht jagen fonnte, worin 


fie beftebe. 





Und in ſolchen Augenbliden war es, 


daß er die Bemerkung machte: „Miihutfa muß 
ſagt immer aufs neue: „Nein, e8 muß fein, es muß.“ 
' Und ich antworte: 


lernen!“ 
Erftaunlih merlwürdige Umftände feiteten ihn 
zu diefem Gedanken. Einmal, zur Zeit der Heu— 


mahd, gingen wir über Wiejenland, das von deutfchen | 


Kurländern gepadtet war. Wir jtießen auf einen 
Kurländer, der da auf einem Haufen Heu ſaß und 
etwas verzehrte. Näher tretend, jahen wir auch, 
daß es Fiſch war. 

„Was ift das für ein Fiſch?“ erfumbigte ſich 
Iwan Iermolajewitic. 

„Brätling.” 

„Laß mal koſten!“ 

Der Deutihe gab ihm; Iwan Jermolajewitſch 
betrachtete den Fiſch, drehte ihn in der Hand, maß 
ihn, biß ein Stüdchen ab, faute e8 und fragte: 

„Wie teuer?“ 

Der Deutihe nannte den Preis. 

Iwan Jermolajewitih ab den Fiſch zu Ende, 
dankte, und wir gingen weiter. Und nun, bei diejer 








Gelegenheit that er einen tieftiefen Seufzer und 
fagte: „Nein, Mituſchla muß lernen! Auf Ehr' und 
Eeligfeit, font gebt alles zu Grund! Haft du ge 
jehen, was für einen Fiſch er ißt?“ 

Der er fuhr irgendwohin, nad) einer Mühle, 
einer Bahnftation, ſah dort allerlei Leute, hörte 
allerlei ipredhen, und niedergedrüdt durch die Maſſe 
von Eindrüden, unwirſch und einfilbig jagte er: 

„Nein, e8 muß fein — er muß fort — im bie 
Schule!” 

Aber daheim bei der Arbeit entſchwand ihm al 
das wieder. Er vergaß, warım Miſchla mit einem: 
mal lernen ſollte. Kurz, nur ein unangenehmer 
Drud, den er außerhalb des Haufes fühlte, ein ge 
wies Unbehagen, Zeitwehen fozufagen, die er nidt 
in bejtimmte Worte faflen konnte — dies, nur dies 
brachte ihn auf den Gedanken, daß Miſchka lernen 
müſſe. Was er jedoch eigentlich lernen jollte, dam 
über wurden wir ung nie fo redht far. In unjern 
Geſprächen über dieſes Thema wurde vielmehr immer 
nur das eine wiederholt: „Es geht nicht anders — 


Er fiht da, in etwas gebrüdter Haltung, fidt- 
lid) von einem einzigen Gedanken beherrſcht, und 


„Sa, es muß jein, Iwan Jermolajewitſch! 

„Wie denn?” fragt er, indem er wahriheinlid 
nad ein paar tüchtigen Gründen jucht, um feine 
Worte zu unterftügen. In der Regel aber findet 
er die Stühen nicht, die Worte bleiben, wie fie ſtehen, 


| und nad langer Zeit ſeufzt er nur abermals und 


jagt: „Ad, es muß fein, ed muß. Es geht nicht 
anders.“ 

Und ih darauf: „Natürlich, es muß jein.“ 

„Run, was jag’ id denn? Das jag’ id ja 
eben — es muß jein. Anders geht's nicht.“ 

„Natürlich muß es. Und warum denn wicht? 
Was fleht denn im Weg?” 

Dergeftalt erörterten wir die Sache oft ziemlih 
lang und gingen dann auseinander mit dem jdhred- 
lihen Gewicht auf der Seele: „Es muß jein, e& 
muß,“ Iwan Jermolajewitfch ratlos ergeben in dus 


7 
— —— 


Miſchka. 


Unbegreifliche und ich zu bequem, es ihm zu er— 
Hären. Ja, oft wußte ich ſelbſt nicht mehr, wie 
diejes furdtbare Muß begründen. 

Schweren Herzens und jo widerwillig wie mög« 
li begann Iwan Jermolajewitich endlich fein Vor—⸗ 
haben ind Werk zu ſetzen. Die Getreidearbeit ift 
längjt gethan, ber Herbft geht zu Ende, und der 
Winter ftellt fih ein, und immer noch ift Miſchla 
nit in der Schule. Immer noch denft Iwan 
Jermolajewitſch nad, wen er ihn übergeben ſolle. 

Zunächſt denkt er an eine Lehrerin. Aber auf 
der Station macht man ihm llar, daß eine Lehrerin 
nichts tauge. 

„Meberleg doch mal jelbit," jagt man ihm. 
„Was fanı ein Frauenzimmer denn leiften? Lernen 
ift doch eine ernjthafte Sache. Und nun, Bruber, 
nehmen wir zum Beiipiel deinen Mijchla! Den 
zu verhauen, was für ein Lehrer gehört nicht dazu? 
Verſuch mal, ihm die Dummheit auszutreiben! Du 
meinft, Bruder, das wäre jo leiht? Oho, Bruder, 
gefehlt! Du wirft ſchwitzen. Hier heißt's jo... 
Lieber Gott, wie joll ein Frauenzimmer das leiten? 
Nein, ih rate Dir: ſuch dir einen Lehrer, der’s 
ernſt nimmt. So ſteht's. Einen, der deinem Michailo 
gleich bei erften Wort die Courage abfauft, der ihm 
Drdnung beibringt, der nicht nachläßt, der ihn auf 
feinen Fleck ftellt und mit einem Schlag bändigt — 
ihm den Bauernjchädel — ſchwapp, ſchwapp — aus- 
treibt! So!“ — er zeigt eine Fauſt —, „daß er glaubt, 
fein letztes Stündlein hat gejchlagen! Dann wird 
er zur Befinnung fommen. Sonſt kriegt er zwei 
Jahr lang den Bauernteufel nicht los. Ich weiß 
ed nah mir. Mein Vater, nicht aus den Augen 
Hat er mich gelaffen, wie ich angefangen habe zu 
lernen: immer mit dem Steden hinter mir her. Und 
wie er fi nur umbdreht, ich wupps über den Zaun! 
Serrgott, was der mich geprügelt hat! Was meint 
du, he? Und dafür bin ih ihm jekt danfbar, ja! 
Aber die Prügel! Vom Haus bis zur Schule 
in einem Ritt! Immer hat er mir mit dem Steden 
das Geleit gegeben. Ich made eine Wendung — 
eins! — ich will ein bißchen ſeitaus — zwei! Mandj- 
mal war's ein förmlicher Kampf, mich in die Schule 
hineinzufchlagen — und du jprichjt von einem Frauen⸗ 
zimmer, du willft Ordnung von einem Weibsbild ?* 

So murde denn der Beihluß gefaßt, Miſchka 
einem Lehrer zu überantworten. Iwan Jermolaje- 
witſch fuhr eigens zu diefem Zwede in eins ber 
nächſten Dörfer, wo eine Semftwojchule bejtand, 
ſprach mit dem Lehrer, und endlich rüdte der Tag 
heran, wo man mit Michailo zur Schule fahren 
mußte, 

„Siehft du?" jagt Iwan Jermolajewitſch. „Jetzt 
geht's bald zur Schule. Schau zu, daß du mas 
lernſt!“ 


————— —— — — — in = 





1133 


Miſchla fchmeigt, antwortet feine Eilbe. So 
macht er es immer, wenn das Geipräh auf bie 
Schule fommt. Sonſt ein lebhafter, munterer, ger 
jprädjiger Junge, wird er dann: wie ein Gtein: 
ärgert fich nicht, freut ſich nicht und blidt verftodt 
und verjchlagen vor fidh hin. 

Der Tag der Abfahrt ift nun da, und Iwan 
Jermolajewitich jagt unter ſchweren Seufzern: 

- „Nun, Micha, jebt werden wir gleich fahren ! 
Mutter, zieh den Miſchka an!“ 

Die Mutter thut es und weint. Auch dem Iwan 
Jermolajewitich ftehen die Thränen nahe, und dabei 
fann er nicht begreifen, weshalb, warum, wozu er 
all dieje Dual erdulde, Dagegen giebt Miſchka 
feinen Laut von fid. 

Man fragt ihn: „Freuſt du did, in die Schule 
zu fommen?“ 

Er ſchweigt. 

Man fragt: „Du gehft wahrjheinlich nicht gern 
zur Schule?” 

feine Antwort, 

Oder vielmehr, er antwortet doch. In dem Augen- 
blid nämlid, da er angefleidet und überhaupt alles 
zur Abreiſe bereit ift, da der Knecht das angejchirrte 
Pferd vorführt, und Iwan Yermolajewitih nad 
hartem Kampf mit fich felbft in tiefer Schwermut 
den Schlitten bejteigt und feufzend jagt: „Kriech 
herein, Miſchutla!“ — in demſelben Augenblid ftellt 
es ſich heraus, daß Miſchutla, der ſich bisher jtarr 
und fteif verhalten wie ein Stüd Eifen — daß 
Miſchutla nicht da ift. 

Man ruft, man jchreit — feine Antwort. Man 
beginnt zu ſuchen — er ift nicht zu finden: im 
Stall, jeder Winkel in Haus und Hof wird durd- 
jucht — nirgends ein Michailo. Iwan Jermolaje— 
witjc wird unruhig. 

Ich fragte ihn doch, den Teufelsrader,” grollt 
er, „willſt du lernen oder nicht?" Er jchweigt wie 
ein Stein, dieſer Hloß, und jet reißt er auß! 
Komm du mir nur wieder! ch werde die Ant- 
wort jchon aus dir herausſchlagen.“ 

Aber diefer Zorn im väterlichen Herzen wid 
bald dem Mitleid, und nicht lange, jo reute es 
Iwan Jermolajewitich tief, daß er die „ganze Mufit” 
angefangen. „Er hätte eben daheim gelebt, ſich an 
die Arbeit gewöhnt, und da muß mid plößlich der 
Satan plagen... .* 

Abends neigten fi die Gedanken Iwan Jer— 
molajewitſchs endgültig dahin, dab die ganze Mufik 
umjonft angefangen worden, Die Dämmerung fam, 
aber fein Miſchta. Alle, auch der Knecht nicht 
ausgenommen, verjanfen in tiefen Kummer, der fich 
aber plößlih in helle freude verwandelte, als jpät 
abends ein Bauer aus dem Nachbardorfe den Miſchka 
nad) Haufe brachte. Alles ſchwamm in FFröhlichkeit. 


1134 


Niemand dachte mehr an Schule und Bildung; die 
Prügeldrofung war vergelien. Man fragte nur: 


„Bift du nicht erfroren? Du haft wohl Hunger?“ | 


Und die andern Bauern drüdten offen ihren 
Beifall aus: 

„Das haft du gut gemacht, Miſchenka, wirklich gut!” 

Miichenfa fühlte fit als Sieger. Er war in 
der furzen Zeit jeiner Flucht gleihlam größer und 
ftärfer geworden. Sofort nad jeiner Heimkehr 
tleidete er fih um, und wenige Minuten jpäter lief 
er auf dem Hofe umber und fchaute in die Vich- 
ftäle, Kammern und jo iveiter, als wolle er fi 
überzeugen, ob alles wohlauf und in derjelben Ord⸗ 
nung ſei wie früher. 

Man fragte Miichenta gar nicht mehr, ob er 
lernen wolle oder nicht, und eine Woche lang lieh 
Iwan Yermolajewitich fein Wort über Schule und 
Unterricht fallen. Er hatte feine Plage mit dem 
Heu und dachte nicht an dieje Dinge. Aber da 
widerfuhr es ihm abermals, daß er auf der Bahn 
ftation unter Leute fam und mit unruhigen Ger 
danken heimfehrte. „Nein, er muß unbedingt lernen! 
Es geht nicht andere. Es ift eine ſolche Zeit.“ 
Und damit begann er fich wieder über Miſchka zu 
ärgern. 

„Diesmal werde ich dich hinkriegen,“ jagte er, 
„du ſollſt mir nicht mehr entlaufen. Ich kenne dich 
jeßt. Ich werde mit dir nicht erft reden.“ Und 
in der That jagte er Mijchka nichts von feiner Ab» 
jicht und traf mit mir eine Verabredung: Ohne 
gegen jemand etwas verlauten zu laffen, wollten wir 
einen Tag auswählen, Milhla auf den Schlitten 


jegen umd ihn nad einem andern Dorfe bringen, | 


das etwa zwölf Werft entfernt an der Eijenbahn 
lag. Dort würden wir ihn unverfehens in die Schule 
jteden und in Koft und Mohnung geben. Dort 
hatte Iman Jermolajewitſch Belannte, die auf ihn 
act haben und, falls nötig, ihm eins ins Genid 
geben würden. „Das macht nichts, Er kann es 
aushalten. Er ift ein gutes Vieh.” 

In der That, Miſchka ahnte nichts, ald Iwan 
Jermolajewitih befahl, das Pierd zu ſchirren, mit 
dem Bedeuten, daß er nad der Mühle fahre. Wie 
immer half er anjpannen, wobei er es liebte, das 
Pferd an der Schnauze zu ziehen, dieſe hin umd ber 
zu bewegen und es wie ein großer Bauer anzu— 
ſchreien. 

Das Fuhrwerk war bereit. Da plößlich ſagte 
Iwan Jermolajewitih zu Miſchka: „Zieh dich an! 
Du fährjt mit mir.“ 

Mifchla wurde weiß wie Ceinwand. Er fühlte, 
dak er meuchlings überfallen werde, ſprach jedoch 
fein Eterbenäwort, jondern fleidete jih an. Jetzt 
fam auch ich zu Hilfe Wir nahmen Miſchka zwi— 
ſchen ung, und fort ging es. 


Gljeb Uſpensky. 


| Miſchka ſchwieg wie ein Steinbild, aber in einem 
Blid, den er gelegentlich auf mich richtete, Tas ih 
einen furchtbaren Proteſt. Er wußte nicht, wohin 
wir fuhren, aber er vermutete ed. Auf dem guten, 
bartgefrorenen Wege famen wir wie der Wind nad, 
dem Dorfe, wo die Schule war, und machten die 
ganze Sadje in weniger denn einer Stunde ab, 
Dem Schulhaus gerade gegenüber fanden wir bei 
einer alten Witwe, deren Enlel ebenfalls bie Schule 
beſuchten, Wohnung für Miſchla, gaben Vorſchuß, 
führten dann Milka zum Lehrer und gaben auch 
diefem Vorſchuß, worauf der Lehrer unverzüglich 
unfern Miſchla in die Schule bradhte, in der be- 
reits vierzig Kinder ſaßen und mie bie Fliegen 
jummten. 

Der Uebergang von dem heimatlichen Dorfleben, 
wo ihm alles vertraut und interellant war, zur 
fremden und langweiligen Schule, von den Be 
fannten zu Haus, unter denen Miſchla ſich bereits 
als „großen Burſchen“ zu betrachten begann, in 
einem Schwarm wildfremder Jungen war ums 
gemein raſch und ſchroff. Miſchla hatte ficherlic 
gute Nerven, aber als ihn ber Lehrer mitten in das 
Schülergedräng jeßte, erglühte der Kleine und brannte 
vor Verlegenbeit. 

„Gerade jo muß es fein,” fagte Iwan Ier- 
molajewitfch, als wir die Schule verliehen, vor der 
er jelbft übrigens nicht weniger erichroden war als 
Miihle. „So mu man direft unter das Beil. 
Er wird fi) auf die Art ſchneller abichleifen. Dan 
muß ihn mit einem Schlag betäuben. So wird ır 
aufmweihen. Gott jei Dank, daß es direlt gelom- 
men if. Es macht nichts. Dabei ſoll's bleiben!“ 

So Iwan Sermolajewitih, worauf wir weg« 
fuhren. 

Unterwegs kamen wir zu einem Huf und Sur 
ihmied Namens Lepilo, bei dem ich gerade ein 
| Pferd Iwan Iermolajewitihs in Behandlung be 

fand. Pepilo war ganz zufällig Kurjchmied geworben. 

Das Geihäft hatte es jo mit ſich gebracht. Zuerit 

war er fimpler Hufichmied und beiching Werde. 

Die Bauern aber pflegten ihn um Auskunft zu 

fragen, ob er nicht wiſſe, warum das Pferd hinle, 

warum ihm da und da das Bein geſchwollen jei, 
| und jo weiter. Fünf Jahre lang hatte Lepilo auf 
diefe Fragen geantwortet: 

„Sch weiß es nit. Woher ſoll ich es wiien?* 
und jo weiter. Dann aber fing er an, allmählid 
auc Antworten zu geben wie dieje: „Iſt's geſchwollen! 
Ya, es ift geſchwollen, es bildet ſich eine Gejhwulft. 
Daher kommt's.“ Oder: „Es hinkt. Es hinkt von 
einer Krankheit, Es giebt eine ſolche Krankheit.“ 
Und daraufhin begann er zu furieren. Auf diefen 
Gedanken aber hatte ihn jeine Frau gebradit. 

„Was iſt's mit dir?“ hatte fie gejagt. 


| 
5 
1 
{ 
I 
ı 
| 





„Ber 


Miſchka. 


ſoll kurieren, wenn nicht du? Wenn andre Kur— 
ſchmiede da wären, dann wär's was andres. Du 
läßt ja den Profit aus.“ 

Meiner Treu, fie hat recht, dachte Lepilo umd 
begann nad) und nad) fi an die Heillunft zu ger 
möhnen. Wie befannt, ftellt bereits ein ganz gewöhn⸗ 
fiher Lappen, wofern man nur eine franfe Stelle 
damit ummidelt, an und für jich ein Heilmittel bar. 
Dergeftalt begann Lepilo mittel® unterſchiedlicher 
Lumpen, wie er fie in der Nähe des Haufes fand, 
zu heilen, Er wird doc) nicht erft zehn Werft weit 
in die Apotheke gehen, und was jollte er aud) dort 
faufen? So ftreicht er denn allen Schmub feines 
Hofes auf den Lappen, mengt zuweilen einen Unrat 
mit dem andern und befleiftert damit die Fetzen. 
Manchmal geichieht e8 wohl auch, dab die Frau 
Aſche aus dem Ofen, Ruß oder jonft etwas Un— 
nüßes auf einem Blech herausgeichleppt bringt und 
zu ihm jagt: „Da!“ Lepilo weiß, was dieſer kurze 
Ausdrud bedeutet und wirft Aſche und Ruß in den 
präparierten Dred. Die einzigen Heilmittel, die er 
ſonſt gebrauchte, und die gewifjermaßen ihren Namen 
verdienten, waren Branniwein, Terpentin, Bitriol 
und in neuefter Zeit aud) Petroleum. Daß aud 
glühendes Eifen unter den Heilmitteln des Schmiebs 
Lepilo eine Rolle fpielte, verfteht ſich von jelbit. 
Nichts war ihm leichter, als eine Eifenftange zu 
erhigen und damit an die kranke Stelle zu fahren. 
Iſt das doch auch eine Arznei und wird bezahlt. 

Wir famen zu Lepilo, befahen uns das franfe 
Pferd, um deſſen Bein ein Lappen mit einer auf 
die bejchriebene Art hergeflellten Schmiere gewidelt 
war, begaben und dann in einen Laden, um Ein- 
fäufe zu machen, faßen hierauf ein paar Stunden 
in der Stube, wärmten und, plauderten und famen 
gemächlich gegen ein Uhr nachts heim, 

„Miſchla ift zurüd,* war das erfte Wort, mit 
welchem die Frau Iwan ermolajewitihs uns em— 
pfing, al& wir vor der Treppe jeines Hauſes an« 
langten, 

Sowohl ih als Iwan Yermolajewitih waren 
unausjprechlich verwundert. 

Iwan Yermolajewitih kroch aus dem Schlitten 
und trat ſchweigend in die Stube. Ich begab mich 
ebenfalls ſchweigend nah Haufe. Es war ſchon 
ipät, und jo jah ih Iwan Jermolajewitich erft am 
nächſten Morgen wieder, 

„Der Lehrer hat ihm gefchidt — er braucht einen 
Griffel — er braucht ein Bud — Papier —* 

Wir befprahen uns über die nötig gewordenen 
Ausgaben und beſchloſſen, Miichta mit Geld zum 
Lehrer zu jchiden, der ihm den Griffel und das 
übrige kaufen ſollte. Man jandte ihn andern Tags 
mit einem Knechte fort. Aber den Morgen darauf 
erjchien er wieder, 


1155 


„Weshalb fommft du ſchon wieder?” 

„Die Wirtin hat mich Hinausgeworfen, Sie be- 
trank fi, fing an mic; zu jchlagen und jagte mid) 
hinaus. Ich Habe noch nichts gegeſſen, nichts ge— 
trunken.“ 

Miſchka erzählte eine unerhörte Geſchichte bon 
den Thaten der Wirtin. 

Allen war es leid um ihn. Beſonderes Mit- 
gefühl erwedte der Umjtand, daß er ſich die Schuhe 
zerriffen und die Füße wundgelaufen hatte, 

Aber Miſchutka kümmerte fi) während feiner 
furzen Ammvejenheit weder um das Mitleid noch um 
die Füße felbit. Er hatte die lange Wanderung 
durch Schnee und Froſt faum hinter fi, jo machte 
er ſich jhon wieder daran, nachzuſehen, ob alles in 
der alten gewohnten Ordnung ſei. Er lief in den 
Kubftall, den Schweineloben, zu den Schafen und 
Vierden, in die Kammer, zum Ententeih — alles 
ſchnell, förmlich fieberhaft — er riß die Thüren 
auf, blidte Hinein und herum, zählte, ichlug wieder 
zu, flog nad der Kammer, bejah und betaitete 
da alles — mit einem Wort: er konnte ſich über die 
Heimat nicht genug freuen. Jedes Staubkörnchen 
ſchien ihm teuer zu jein. 

Am andern Morgen fuhr Iwan Jermolajewitich 
ſelbſt mit Miſchka, da «8 nötig jchien, die Sache zu 
unterfuchen. Nah jeiner Abfahrt fam der Knecht 
zu mir und fagte: 

„Miſchla wird nicht lernen. Nein, er wird nicht.” 

„Warum denn ?* 

„Er hat nicht das Zeug dazu, Er ijt für die 
Wirtihaft. Er liebt Pferde, Vieh, aber das Lernen 
iſt nicht für ihn. Es wird nicht gehen, Ich fenne 
feinen Charakter. Wenn er ein Pferd Ienft oder 
Heu führt, zittert er vor freude. Aber das Lernen 
... nein, er hat mir jelbit gejagt, daß er das alles 
mit der Wirtin nur jo zuſammengedacht hat, daß er 
falſche Worte erzählt hat, alles, damit der Bater 
ihn zu Lepilo in Koft geben joll, denn dort jteht 
unjer Pferd. Er hat e$ mir jelbit gejagt:-,Als id) 
unfern Fuchs dort jah,‘ ſagte er, ‚wie er da mit 
dem kranken Bein ftand, da erinnerte id mid an 
daheim‘ Darum ift er aus der Schule gelaufen. 
Nein, nein, er wird nicht. Er ift fein ſolcher —“ 

Iwan Jermolajewitſch fehrte in tiefer Trauer 
zurüd. Mijchla Hatte alles gelogen, nicht nur mas 
die Wirtin, jondern auch was ben Lehrer betraf. 
Der Lehrer hatte nicht einmal daran gedacht, ihn 
wegzuſchicken, und die Wirtin gab angeſichts einer 
folhen Unverjchämtheit Iwan Jermolajewitid das 
Geld zurüd. Sie wollte Miſchla nicht mehr be- 
halten. Wohl oder übel mußte man ihn bei Lepilo 
einquartieren. Aber dies geſchah nicht, ohne daß 
ihn Iwan Jermolajewitſch erjt tüchtig beim Schopi 


; nahm. 


1186 


Hiermit jedoch hatten die Leiden noch nicht ihr 
Ende. Nad zwei Tagen erzählten Bauern, die von 
der Station famen, daß Milchfa ſich dort um die 


Wagen herumtreibe, beim Beilagen der Pferde | 
behilflich jei und dafür allgemeines Lob ernte. Aber | 
was ſchrecklich ſei: er beffage fi) dort vor den | 
Bauern über die flechte Behandlung von feinem | 
Bater; man babe ihn geichlagen und aus dem Haufe | 


gejagt. Er bitte, ihn aufzunehmen. Vor dem ge— 
meinften Voll beihäme er den Vater zju Tod, 

Iwan Jermolajewitih geriet vor Zorn außer 
fih und machte ſich jofort auf den Weg, um Miſchla 
zu paden. Dies ging aber nicht ohne einen förm— 
lichen Sampf ab. Eben hat zum Beiſpiel Iwan 
SJermolajewitih den Miſchla bei einem Wagen er— 
wicht, aber Miſchka entjchlüpft unter den Wagen, 
und Iwan Jermolajewitſch im Schreden, daß der 
Junge nicht etwa zerqueticht werde, weiß nicht, was 
tun, Miſchla riecht unter dem Wagen hervor und 
läuft davon. Iwan Jermolajewitic fährt ihm nad). 
Aber ihn zu finden, ift unmöglid, denn Miſchla 
weiß folde Dinge von feinem Vater zu erzählen, 
daß man ihn überall verjtedt und verleugnet: „Bei 
uns ift er nicht.” Drei Tage hintereinander kam 
Iwan Jermolajewitic ohne Erfolg und mit wachjen- 
dem Ingrimm nad Haufe: „Wart, Halunte, ich 
werde dich paden! Du lommſt, du ko —0 — ommſt, 
Halunk! Ich werde dir's eintränken.“ 

Miſchka ahnte wohl, was ihm drohte, doch ergab 
er ſich nicht, ſondern leiſtete zähen Widerſtand. 
Woher er die Kraft nahm, ſo lange Zeit Tag für 
Tag ſeine zwölf Werft zurückzulegen, iſt unbegreif- 
id. Endlich aber fahte man ihn und bradite ihn 
beim. 

Damals waren alle auf Micha jo erboft — er 





Glieb Ufjpensty — Miſchka. 


Miſchka jchrie fürchterlich, weinte und wehllagte, 
aber die Züchtigung wurde jhonungslos vollzogen. 

Dies bedeutete indes nichts andres als da 
ſchließlichen und endgültigen Sieg Miſchlas. Nah: 
dem Iwan Jermolajewitich feinen Zorn auägelafien, 
wurde er aläbald ftill und begann ſich höchlich dar: 
über zu wundern, daß all der Verbruß doch nur 
von dieſer Lernerei herfomme. Er fand es un— 
begreifli, wozu das Lernen eigentlih dem Miſchla 
plößlich nötig fein jolle, ihm, deſſen Anlagen dod 
jo zweifellos und heil zu Tage traten. Was be 
deutete jeine Lernicheu im Vergleich mit diefem uns 
beirrbaren Feſthalten am Bauernleben, diejer Treue 
gegen den väterlichen Stand, wie fie fich in jeiner 
Neigung zum Vieh, zu „unjerm Fuchs“, in dieſem 
unbändigen Drang nad Haufe offenbarte, wo jedes 
Huhn, jede Ente lieb umd teuer war? Mit jeder 
Minute überzeugte fih Iwan Jermolajewitſch mehr 
und mehr, dat in Miſchka ein Familienhaupt her 
anwuchs, auf dad man ſich verlaflen könne, ein 


| Arbeiter, der mit ungerreißbaren Seiten an jeinem 


' Boden hange — und ber biäherige Zorn berwandelte 





fih in Entzüden. 

Am folgenden Tage kam Iwan Jermolajewitid 
zu mir, erzählte von Miſchka, der feinen Zeil be 
fommen hätte, und ging nad und nad) zu einem 
Lobe jeines feften, unbeugjamen Charakters über, 
der kein Nachgeben kenne, und jeiner körperlichen 
Kraft, die in diefem Alter wunderbar jei. „Er bat 
ja anderthalbhundert Werft in dieſen Tagen zurüd- 
gelegt,“ jagte Iwan Jermolajewitich begeiftert. Mit 
einem Wort, wie Jwan Jermolajemwitjc als Oelonom 


und Bauer die Sache betrachtete, ftellte ſich in 
' Mifchla ein vorzüglider Junge dar, der ſich mit 


hatte fo viel gelogen, Bater und Mutter in jo ſchlechten 


Ruf, in ſolche Schande gebracht, daß feine Ankunft nicht 
mehr {Freude bewirkte, jondern den einjtimmigen 
Ruf des Elternpaares: „Prügel!” 


Fedor!“ 

Fedor aber weigerte ſich und zog ſich zurück. 
Nach ſeiner Meinung ſollte man den Jungen nicht 
ſchlagen, ſondern loben für den mufterhaften Wider— 
ftand, ben er fo einem Lehrer entgegengejept 
hatte, 

Auch die Magd weigerte ſich und lief bavon aus 
denjelben Gründen. 

Da entihloß fi die Mutter, ihn zu halten. 


der Zeit zu einem ausgezeichneten Exemplar jeiner 
Gattung entwideln mußte. 
Aber dieje Figenichaften waren es nicht allein, 


‚ die Miſchka Anerfennung und Beifall eintrugen. 
; Nicht wenig wurde er auch für die Streiche gelobt, 

Ruten waren in Bereitihaft gelegt, und faum | 
betrat Miſchta die väterliche Schwelle, als Iwan | 
Jermolajewitih dem Knecht zurief: „Halt ihn mal, 


die er zu ſpielen mußte, namentlich von jeiten des 
Gefindes, Und in diefer Maſſe von Lob verſchwand 
vollftändig feine Neigung zur Lüge, die Unverſchämt⸗ 
heit, die fich micht fcheute, jogar den eignen Vater 
vor fremden zu beichimpfen, wenn damit nur ein 
gewiſſes Ziel erreicht wurde. Dafür war Miſchka 
geprügelt worden, und jo war es vergeſſen. 

Iwan Jermolajewitſch ſpricht nicht mehr von 
Bildung und Unterricht, Mifchla aber ift, der er war: 
alles it verbeilt und vernarbt, und al& wäre nie 
etwas gejhehen, vertreibt er fih den langen Tag 
bei Kühen und Schafen, Getreide und Heu. 


Br 





Ein Anglücszeichen. 


Andreas Barkammibas., 
Aus dem Griechifchen überfeßt von Karl Dieteric). 


Donmenuntergang: ereilte uns zwiſchen Siphnos 
und Seriphos, zwei und eine halbe Meile unterhalb 
des roten Cherjones. Bis dahin war ung der Nord- 
weit günftig, und mit Vorder- und Hinterjegeln 
waren wir in fünf Stunden von Myfonos herunter» 
gelommen. Die Brigg des Kapitän Kremydas war 
flint und fonnte bei gutem Wetter leicht acht bis 
zehn Meilen die Stunde machen. Aber von bier 
aus weiter machte fie kaum drei in der Stunde, 
Denn plößlid) fuhr aus der Richtung von Milos 
mit einem harten und unaufbörlichen Getöje, als 
braufte er durch einen unendlichen Schilfwald , ber 
Südweſt daher und verfchlug uns auf einmal unter 


balb Kimolos. Kaum war Kapitän Kremydas in 


dem Getöje zur-Befinnung gefommen, jo ließ er. Die 
Segel reifen. Uber ehe er es noch jagte, hatte ſchon 
das Wetter außgetobt, und bald gerann das Meer 
und wurde zu einem fiehenden Teich. 

„Vorwärts, zum Teufel!“ ächzte Kapitän ſtremh— 
das voll Wut. 
ein andermal fommen wir nicht vom led!” 

Kapitän Kremydas war ein fünfziger, unterfeht, 
ftämmig, mit einem Kopf jo rund wie eine Kanonen ⸗ 
fugel, einem feuerroten Geficht, ſchneeweißen Haaren, 
Heinen, freisrunden Augen, rotblonden, Brauen und 
Schnurrbart, mit- heiferer und ſchwerer Stimme, 


gleich dem Rollen der Woge, die ſich an den Riffen 


des Strandes bricht, und mit einem io arglofen 
Herzen, daß ihn felbft ein Meines Kind hintergehen 
fonnte, 
unermüdlich im Arbeiten und Zujammenhalten. Nach 
und nad hatte er fich Geld geipart,, ein altes Segel« 
boot gemietet und trieb num ‚hier fein Gewerbe auf 
eigne Fauſt. Dann wurde das alte Segelboot 
jein Eigentum; er dehnte nun. feine Fahrten bis 


nah Attalia aus ‚und, als er die Brigg erworben, 
jelbft bis ins Schwarze Meer. Damals, waren noch 


andre Zeiten; das Meer warf etwas ab, und wer 
zu fparen. wußte, Matroje oder Kapitän, hatte bald 
Haus und, Hof. 


Heute war Kapitän Rrempdas voll Gift und | 


Galle. As wir vom Schwarzen Meere herunter 
famen, ba legten es die Matroſen, die. jeine Lands- 
Aus jremden Zungen, 1897, IL 24, | 


„Einmal bringt er ung zum Sinfen, | 


Dom Matrofen an war Kapitän Kremydas | 


ı leute waren, darauf an, ihn au feine Heimat und 
jeine Häufer zu erinnern. 

„He, Kapitän, wenn nun jo 'n Unglüdstind bier 
drunter wär, und es füm’ ein fteifer Nordoſt in 
den Sund gefahren, wir friegten Sturm bei Kap 
Doro,*) und es freuzte unfre Brigg unterhalb des 
Tſilnias!“ **) ſagte der eine. 

„Statt Tſiknias follteft du lieber Mykonos jagen!“ 
meinte der andre und jah dem Kapitän gerade ins 
Geſicht. 

Der wandte ſeine Augen nach der andern Exike, 
als höre er nicht, und begann jo lange ein Geſpräch 
mit dem Steuermann Barbatrimis. Und wenn ſie 
ihn mit ihren Worten beläftigten und mit ihren 
Bliden, die noch zudringlicher und hämiſcher waren, 
dann riß er jeine rote Mühe ab, und blaurot 
werdend wie eine Tolllirfche ſagte er zum Steuer: 
mann: 

„Berflucht der Kapitän, der Yandäleute anwirbt! 
An der Maftjpige jolft du mich zappeln jehn, wenn 
ich nochmal einen -MWiyfoniaten in meine Brigg 

nehme! ...“ 
Die Matroſen duckten ſofort den Kopf und 
ſtoben auseinander, blutrot vor Scham, das traurige 
Lächeln wie verſteinert auf den Lippen und mit einer 
Thräne, die fein und faſt unſichtbar in ihrem Augen- 
quell ſtand. Und der Kapitän, ärgerlich, daß er fie 
geärgert hatte, und wütend, weil fie ihn feſteinge— 
ſchlummerte Erinnerungen gewaltjam gewedt hatten, 
ging fort, in feinen Schuhen das Verbed entlang 
ſchleifend, in der Abſicht, recht furchtbar und grimmig 
auszufehen, und ſchloß ſich in feine Kabine ein. 
Kapitän Kremydas’ Herz ſchlug vor Sehnſucht 
| nad) feinem Mykonos. Er hatte dort jein liebes 
| Weib, die große, brünette Elephanto, mit einem 
Meinen Sinde in. der Wiege und einem unterm 
Herzen zurüdgelafien. Aber das widrige Weiter 
hatte ung lange im Schwarzen Meere aufgehalten, 
and anftatt nah Marjeille zu gelangen, hatten wir 
noch nicht den halben Weg zurüdgelegt. 








*) Borgebirge von Eubsea. 
**) Bergipitie von Tinos, gegenübst Motonos. 


143 


1138 


Aber nun war da ein Unglüdstind an Borb: 
es machte ſich ein fräftiger Nordoft auf und fuhr 
in den Sund, wir befamen Sturm am ap Doro, 
und unfre „Evangeliftra® freuzte vor Kap Tſiknias. 
Als der arme Kapitän Mylonos vor ſich liegen ſah, 
wie jollte er fid) leichten Serzens davon losreigen ? 

Anftatt aber von Reigen und Spiel, von Freun—⸗ 
den und Berwandten begleitet in die Brigg zurüd- 
zulehren, fam er ſprachlos und verftört wieder, wie 
der Tſiknias, wenn er ſich rüftet, den wilden Nord 
loszulaſſen. Und wenn er aud) jekt auf der Fahrt 
das Vorderteil nad Südweſt zu halte, waren doch 
feine Augen nad Norboft gerichtet, und mitten unter 
den glänzend weißen Häuſern und den ſchönen 
Kirchen, ben fanften Abhängen und den felien« 
umſchloſſenen Hafenbuchten von Mylonos jah er 
immer nur ein Häuschen und darin fein Weib, das 
im Bette lag und mit dem Tode rang; wie fie 
ihre hellen und feuchten Augen bier- und dahin 
wandte und mit ſchwacher Stimme langſam vor fich 
hinſprach: „Wo bijt du, lieber Manolis, armer 
Kapitän?" Wie follte er da Ruhe finden, ber 
Kapitän Kremydas? Er lief mit großen Schritten 
vom Hinter biß zum Worderded, wie ber Löwe im 
Käfig; bald ſprach er laut allein, bald geftifufierte 
er ohne Grund, bald raufte er ſich in den Haaren, 
fließ feinen Kopf gegen den Maft und fluchte über 
fein Geidhid und fein Gewerbe. Und es ift wahr: 
welch Gewerbe trennt jo lange Mann und Weib ala 
die Schiffahrt? 

Auf der Brigg waren alle Segel aufgeipannt, 
vier vorn und fünf am Hintermaft, aber das Schiff 
biieb unbeweglid, wie in feftem Schlafe. Man 
meinte, es ſchlüge Wurzel auf dem Grund und 
wollte anfangen zu keimen. Schwüle Schläfrigleit 
herrichte rings bei Befeeltem und Unbejeeltem, von den 
Menſchen bis zum Schiff, vom Meer bis zum Himmel. 
ſtaffeebraune Woltenfegen hingen riefigen Spinnen 
glei hier und da, und ein -afchroter Staub lagerte 
feiht rings auf Feſtland und Meer. Bißweilen 
wurden die Segel vom Winbe bewegt, blähten ſich 
etwas auf und legten fih auf die Seite. Mir 
durchfurchten eine Strede lang das Meer unter 
ſanftem Murmeln, das aud etwas Einjchläferndes 
hatte. Dann legte fich der Wind, ſchweigend wogten 
die Segel, die Seile jchlenkerten, ringelten ſich und 
ſchlugen gegen das Verded, bis fie ſchließlich regungs⸗ 
(08 und tot niederfielen. Und Kapitän Kremydas 
murmelte wiederholt aiftig, indem er fi auf die 
Zähne biß: 

„Vorwärts, zum Zeufel! Einmal bringt er 
uns zum Ertrinfen, ein andermal fommen wir nicht 
vom Flech!“ 

„Nur rubig, Kapitän, glei nimmt der Eüd zu,” 
ſprach plößlich zu ihm der Steuermann Barbatrimis. 


Undreas Karkawitzas. 


„Sieh nur, was für eine Mauer er bei Gerigo auf- 
gebaut hat.“ 

Wirklich, unterhalb Eerigos türmten ſich jhmarj- 
rote Wolfen vierfady übereinander, und bahinte 
ſchoß Die untergehende Sonne zwifchen jranien 
bejegten Spalten, aus bdunfelgelben oder blutrot 
gefärbten Höhlen, Bündel von Strahlen hervor und 
badete die liebliche Schöpfung in Strömen älheriſcher 
Lichter und Farben. Man ſah das Meer ſich 
bläulichweiß färben, ganz wie mit Schuppen bebeit 
von dem Hauch der Abendbrije, ſah die lange 
geftredten Eilhouetten der Injeln fich wiederſpiegeln, 
gefurdt von den Strömungen und über umd über 
von Giraßen und Fußpfaden durchzogen wie ein 
meites SKreidefeld. Und die Inſeln und Stüflen 
rings umber, Milos und Erimomilos, das die wil⸗ 
den Ziegen ernährt; dahinter Siphnos und Seriphes 
mit jeinen ſcheckigen Ejeln und noch fchedigeren Be 
wohnern; Naxos weiter oben und Paros mit feinen 
Marmorbrüchen; das budlige Polybos und Kimolok, 
den Salamander; Sikinos und Pholegandros die 
ſeits, unterhalb zur Seite Jerafunia, wie ein Edelftein 
auf dem weiten Meere von ben Wogen umher: 
getrieben, und Betrofaravo, — alle ſah man, jede 
nad) ihrer Eigenart, eine farbe aufnehmen und 
taufend zurüdftrahlen; man jah, wie ein Strahl auf 
die Uferfiefel fiel, auf das Geftein des Berges, auf 
die Scheiben der Häufer, auf den Rajen des Berg: 
rüden®, und wie dann eine golbigrote, blendend: 
Flamme daraus emporloderte. Und man fah die 
eine Infel bier mit einem Wölkchen Iuftgewoben auf 
bem Gipfel, die andre dort mit einem dumfelblanen 
Nebelgürtel um die Hüfte gefchlungen ; die Hier mit 
jafranfarbiger Spitze, die dort mit einer Burg ge 
frönt; bie weiterhin mit einem blendend weißen 
Dörfchen, wie eine Handvoll Schnee, die der grimme 
Winter in dem Rinnfal vergefjen hatte. Und zur 
Rechten, auf dem Meere, das ſich dehnte wie eine 
Seidendede, bis hin zu den Buchten und Borgebir- 
gen Rumeliens und Moreas, an den kryſtallenen 
SHimmelsfeften, jchienen wie mit der Feder hin 
gezeichnet die Schiffe, die gingen, und die Dampfer, 
die famen, und der ſchwarze Rauch, wie er, geadelt von 
dem Kuß der Sonne, emporftieg und in golbblonde 
Tloden ſich auflöjte, die dann der Wind vermwehte, 
Und hoch am Himmel jah man eine Wolfe von 
Nögeln wogenartig flatiern und ihre fchneemweihe 
Bruft filbernen Blättern gleid) erglänzen, bie ber 
Mind aus einer Golbwerkjtätte entführt hatte; und 
unten von dem nahen Strande ber hörte man ba? 
Summen des Feſtlandlebens heranwogen, wie ein 
bejtridendes Sirenenlied, voll von Jubel und Laden, 
jrei von Bitternid und Thränen. Und aufer dem 
Kapitän, den die Sorge um fein armes Weib un. 
empfindlich gemacht hatte, hatten wir alle uns hinten 


vgl 











Ein Unglüdszeiden. 


niedergelegt ‚und. behnten Leib und Seele, um das 
Paradies einzufaugen, mit deutlicher Eiferſucht in 
ben Augen gegen bie, die e8 genießen konnten, 
Und plößlich, ich weiß nicht, wie, fenkte das glänzende 
und farbenreiche Bild, das ih um mich hatte, ein 
fanftes Glüd und eine. noch janftere Wehmut Teife 
in meine Sinderbruft, daß ich mid) davon freis 
machen, fie hinausjauchzen mußte, wenn fie mich 
nicht ertränfen jollte in ihrem reißenden Echwalle, 
Und da fand ich fein andres Mittel, als daß ich 
das Liedchen anjtimmte: 

„Des Scemannd Mutter badt dem lieben Sohne Zwiebach! — 
Sie badt ihn wohl mit Thränen und Inetet ihn mit Seufjen“ ... 

„Satansferl, daß ich dir nicht das Steuer am 
Kopf zerſchlage!“ unterbrach mich plöhlich die wilde 
Stimme des Kapitäns. 

Ich vergab fofort Singen und Gefühle und 
verfroch mich in eine Ede des Hinterdeds wie ein 
geprügelter Humd. Plöplich erhebe ich meine Augen 
und jehe im Hintermard vor dem untern Segel eine 
Eule fipen. Ihre Schwarzen Krallen, ringförmig ge— 
frümmt, umflammerten die Ränder des Korbes und 
ſtüßten ihren Körper, der jo regungslos dajaß, ala 
wäre er künſtlich; es war die ſchönſte Eule, die ich 
mein Lebtag gejehen babe! Und wenn es wahr ift, 
daß bie Eule einmal.eine fyrau war, und daß ihr 
das Nebhuhn das Futter ihres Jungen gab, um es 
ber ſchönſten zu geben, da fand fie feine andre ala 
die Eule, — jo hatte fie nicht jo unrecht. Ihr Ge— 
fieder mit den herablaufenden, erbjenfarbigen Linien, 
ſpärlicher auf der vorfpringenden Bruſt, dichter auf 
ben Flügeln und dem Rüden, jchimmerte wie reine 
Seide und ging weich wie Schnee in die fcheren- 
förmigen Flügeljpigen über,.die fi) mit dem Schweif 
vereinigten und als breiter Vorhang hinter den 
buſchigen Nohrfüßen niederfielen.. Und was für ein 
Mondgefiht fie hatte! — Ihr kugelrunder Kopf, 
nad) hinten ausladend wie eine Nu und vorn wie 
eine ‚vollftändige Platte, ſaß zwifchen den Schultern 
wie der Vollmond zwiichen zwei Bergrüden. Aus 
jeinem „Zentrum. fprang die Naje hervor. wie ein 
Dreied, mit der Spiße oben und.der Bafis unten, 
und bort jeßte der Schnabel an den Knochen: an, 
ſpitz und gebogen wie eine Sichel. Linls und rechts 
von der, Naje ‚gloßten aus Höhlen, die von: zarten 
Hlaumfebern umfjäunt waren, die Augen. hervor, 
ohne Lider, fühn, freidrund, mit ihrer Hornhaut, die 
von einer: hellgelben Flüffigkeit übertündt war, und 
mit der Rupille, die, ſchwarz umd groß, unbeweglich 
feftjaß, wie ein Stein im Ringe, der ſchön in feinen 
Reif gefaßt ift. : Und rings umher, vom Zentrum 
nad der Peripherie zu, zogen ſich feine Flaumfedern 
gebogen hinauf: und bildeten einen Kranz. ‚Und wie 
fie jo zufammengebudt daſaß, mit den Augen.rings 
ins Blaue ſtarrend, da machte jie gar nicht ‚den ver— 


1139 


haften Eindrud, den jonjt immer bie Eule macht; 
fie glich einer Hausfrau, die. ihre Arbeiten beendet, 
ſich gewaſchen und gefämmt bat und nun vor ber 
Thüre fitt, um ihren Mann zu erwarten. Ich be= 
fam Luft, mit dem böſen Vogel zu fpielen, und be— 
gann ihn zu neden, indem ich Hände und Füße 
bewegte: „Kiriri! — xixixi!“ 

„He, was machſt bu ba?“ ruft: mir der Kapi— 
tän zu. 

„Eine Eule fit im. Korbe.“ 

„Eine Eule!“ — fpricht er mit wilder und entſehier 
Stimme, als hörte er, es ſei der Teufel ſelbſt. 

Er ſtand ſofort von feinem Platze auf und ging, 
nad der Eule zu ſehen. Dod der Bogel flog, 
ſowie ich meine Hand erhob, um fie ihm zu zeigen, 
hinüber auf die andre Seite; der Kapitän verfolgte 
ziemlich Tange fein unrubiges Geflatter, und dann, 
als hätte er nicht die Kraft, wieder auf feinen Platz 
zu gehen, jehte er fich wie feitgebannt auf dem Dache 
der Kajüte nieder, - Dort blieb er lange mit ge= 
beugtem Haupte ſitzen; dann jagte er, mir gerade 
in die Augen jehend, mit halb gebrochener Stimme: 

„Ein Unglüdszeihen, mein Junge; - ein großes 
Unglüdgzeihen! — Haft du -gejehen, wie der Un» 
jelige fi) nad) fints wandte? — Wäre er nach rechts 
geflogen, hätten wir gute Yabrt; aber jo ift e8 ein 
böjes Zeichen. Entweder bei und oder zu Haufe 
wird es ein Unglüd geben!" — 

Auch ich hatte damals den gleichen Gedanten, 
Die Eule, heißt es, war früher ein Mädchen geweſen, 
ihrer Mutter Lieblingsfind, die Schweiter des Kon— 
ftontin, und hatte noch acht andre Brüder. Ihre 
Mutter hegte und pflegte fie und ließ ihr fein Haar 
frümmen, 

„Sie wuſch fe und flocht ihre im Dunkeln den Zopf, 
Strählt fraus ihr das Haar bei des Morgenfterns Schein!" 

Wie fie zwölf Jahre alt wurde, famen Freier 
und wollten fie als Frau mitführen, weit weg nad 
Babylon. Die Mutter und die acht Brüder wollten 
fie nicht jo weit fort lafjen; fie fonnten die Trennung 
von ihre nicht ertragen. Aber Konftantin beftand 
darauf, und jeden Tag wiederholte er zur Mutter: 


„So gieb in die Fremde fie, Mutter, doch bin, 
Bin ein Sandeldmann ja, hab’ dort ein Quartier,” 


Mit vielem Reden und Flehen brachte es Kon» 
ftantin endlich dahin, Arete von der Familie zu 
trennen. &3 dauerte aber nicht lange, fo beftätigten 
fich die Sorgen der unglüdlihen Mutter. Eine jchred- 
liche Peft befiel das Land. Sie fegte alles fort, hoch 
und niedrig, und mit ihnen auch die neun Brüder. 


Die Mutter, einſam und verlaffen, weint und jam— 


mert an den falten Grabjteinen der. adıt Söhne; aber 
vom Grabe des Kaufmanns ſtößt fie mit dem Fuße 
die Platte fort und brüllt und flucht hinein: -«.. 


1140 


- „Steh auf, Konſtantin, 

Als Zeugen riefft Gott und die Heil’gen du art, 

Sei's zu Freud’ oder Leid, fie zu ſchaffen zur Stelle!“ 

Der Fluch der Eltern, wie aud ihr Segen, wird 
exhört. Konjlantin wird, halbverweit, aus dem 
Grabe aufgerüttelt, 

„Nimmt die Wolle als Rob, als Zügel den Stern, 
Den Mond als Genofien und bringt fie herbei.* 

Wie die befümmerte Mutter die Tochter erblidt, 
traut fie faum ihren Augen. Und als fie fie fchlieh- 
lich erlennt und erfährt, wer fie aus der fremde 
geholt hat, da bricht ihr alter Körper tot zufammen, 
elend von Sünde und Martern. Und Arete, in— 
mitten jener furdptbaren Ausrottung ihres Geſchlechts, 
fällt vor Goit nieder, bittet und jagt: 

„Bott, made zum Vogel, zum. Rachtvogel mic, 
Daß in Dede ich irrend die Brüder beiveine!* 

So wurde die bildidhöne Maid zur Eule. Sie 
veränderte ihre Geftalt, aber nicht ihre Seele. Die 
Vertilgung ihres Geſchlechts verfolgte wie ein gött« 
licher Fluch noch ihr Geflatter, und wohin fie fommt 
und ſich ſetzt, bringt fie auch VBertilgung und Ver— 
mwüftung mit. Da fie nun auf unjer Schiff fam 
und ſich dort niederließ, fam fie gewiß nicht zum 
Heile. Doch um den Kapitän zu Fröften, ſtellle ich 
mich gleichgültig. 

„Ad, glaub dod nur fo was nicht, Kapitän,“ 
jagte ih ihm; „Gott gut, alles gut!” 

. Kapitän Kremydas jagte nichts, fondern ging, 
traurig den Kopf ſchüttelnd, 
Kabine, 

„Er geht, eine Kerze mehr anzuzünden,“ jagte 
feife der Steuermann Barbatrimid. Die Bußen 
und Kerzen hatten fein Ende genommen, jeitdem wir 
von Myfonos fort waren, 

Kapitän Kremydas war wirllich fehr fromm. 
Seine Kabine jah von Heiligenbildern und Lampen 
wie eine Kirche aus. Im Hafen, wenn wir bor 
Anker lagen, oder bei Windftifle auf dem Mecre 
that er nicht® andres, als religiöje Bücher leſen, 
und fang jo viel, als wäre man auf einem Schiffe 
vom heiligen Berge.) Bon Buße und Faften erft 
gar nicht zu ſprechen; denn darin übertraf er. den 
heiligen Antonius ſelbſt. Wohin follte er ih auch 


jept flüchten, um demütig zu flehen für die Nettung - 


feines Weibes, als zum Göttlichen? 

Sodann war es auch nicht das erfte Unglüde- 
zeichen, dad dem Kapitän begegnete, Bevor er nod) 
von Haufe aufbrah, um zur Brigg binabzugehen, 
waren ihm alle Zeichen nngünjtig und wibrig. 
Zuerft, als er einen Kapitän ſuchte, der jeine Brigg 
fahren ſollte, um jelbft zurüdzubleiben und jeine 
Frau zu pflegen, fand er feinen; alle waren mit 


Hagion Oros, d. h. der dis: der jet mit — wie 


bedeckt iſt. 


— 


Andreas Karkawihas. 


ihren Schiffen fort. Dann, wie er ſah, dab gün 
fliges Wetter eintrat, und er ſich zur Abreife ent: 
fchlofien hatte, war es gerade Dienstag, und r 
hob es auf. Er macht fih am Mittwoch auf, 
an den Strand hinunter zu gehen, und ba& erfte, 
was er vor ſich fieht, it — eine Ziege. Was fol 
er machen? Er kehrt alſo wieder nad) Haufe zurüd. 
Endlich am Donnerdtag, mit taufend Vorſichts 
maßregeln, nachdem. er zuerft feine Verwandten 
vorausgejhidt hatte, um die Straßen und die Winkel 
zu unterfuchen, und bie: Weiber vorangegangen 
waren, um jede böje Begegnung zu verhüten, gelang 
es ihm, in die Brigg zu fommen. Und nicht nur 
das, nein, ſelbſt des Nachts, wo er zu Haufe machte, 
jaß die Eule beftändig. auf dem Dache und ſtieß 
ihren blutbürftigen Ruf aus. Auch jeht, meinte man, 
folgte fie ſeinen Schritten und dachte nicht daran, 
fih von dem Schiffe zu trennen. Es dauerte auch 
nicht lange, jo fam fie wieder und jegte ſich auf 
den Maft. Sie ſaß dem Kapitän zugefehrt und 
beftete ihre großen, runden Augen gerade auf. ihn, 
al& wäre er ein Kadaber, und fie wollte ihn zer 
fleiihen, Sowie ich fie jab, ſuchte ich fie durch 
Geftifulationen zu verſcheuchen, damit fie nicht der 
Kapitän ſähe und feine Unruhe vergrößerte, Aber 
ſoviel ih auch thun mochte, die Verfuchung wid 
nit. Zuweilen drebte fie fi um, und fah einen 
Angenblid meine Gejtitulationen mit an,. bamı 


N drehte fie plöglih mit großer Gleichgültigleit den 
hinunter in jeine 


Kopf auf die andre Seite, mit einer jo verächtliden 
Miene, als wollte fie mir jagen: „So pad bid 
doch fort!" — 

Endlih kam der Kapitän wieder und ſah die 
Eule; wie er jie erblidte, jchauderte ihn. 

„Zurüd von mir, Satan!” fagte er und bi 
freuzigte fi. Er bob die Augen auf und blidte 
dem Bogel feft ind Auge. Und der wieder blidte 
dem Rapitän auch gerade ind Auge, mit derjelben 
Ausdauer, als wollte er ihn beheren. Und wirküd 
beberte ihm zuletzt die Verfuhung. Der Kapitän 
tam zurüd und wurbe bieich wie eine Kerze. Dam 
auf einmal änderte er.die farbe und wurde bunfel- 
rot: das Blut ſchoß ihm ins Geſicht, wie um ihn 
zu erfliden. Seine: Haare fträubten ſich, feine 


Augen. ichofien Blitze, und fei es vor Zorn, ei c 


von der Behexung, er fing.an, am ganzen Leibe 
wie Eipenlaub zu zittern. Er jah den Vogel au 
und ließ nicht ab, mit Zorn und. Klagen zu mur 
meln, wie eine ungerecht geauälte Dulderjeele: . 
„Pfui, ich. bejchwöre dich bei der Raute, Ver 
fucher! Was willſt du von mir, Ruchloſer? — Fort 
von mir, ftraf mich nicht; jo laß mich, einen armen 
Familienvater, doch fein Brot verdienen!” 
Aber der Vogel verftand nichts davon; regungs 
los blieb: er..auf ‚feinem Plahe, die Krallen. feſt an 


Ein Unglüdszeiden. 


dad Holz gedrüdt, wie eine ägyptiſche Gottheit, die ı der Treppe aus feuerte er fie, 


von ihrem Poftament herab unbeweglich die Klagen 
und bie Bilten ihres Verehrers anhörte. 


als hörte fie Sehertöne, 
Nether vorm weit ber herantrug. Dann erhob jie 
ihn ſchroff, mit den großen, gligernden Augen 
regungsloß, ohne Ausdruck und Leben in die Luft 


flarrend, abgewandt vom Idiſchen, ala wollte fie 
bie Sehertöne erflären; und plölich jentte fie den. 


Kopf mit einem drohenden Ausdruck des Selbit- 
bewußtſeins, als wollte fie fagen: „Sieh nur ja zu: 
wenn ich will, dann wehe und dreimal wehe deinem 
Haufe!" — 

Darauf fledte fie den gefrümmten Schnabel in 
ihre zottige Bruft, firäubte die Flaumfebern ihres 
Kopfes wie hafenförmige Schuppen empor, gloßte 
mit ihren flammenden Augen, nahm die Miene 


eines wütenden Tieres an, jo daß man meinte, fie 


wollte ein großes Unglüd anrichten, und ſchonungs- 
108 zerriß fie ihr Fleiſch, um ſich Luft zu machen. — 
Wie der arme Kapitän fie jo ſah, ſchlug er bie 
Augen nieder und lief zitternd fort, um fie nicht 
noch mehr zu reizen. Aber ungeduldig, nervös, ganz 


erhigt blieb er, naddem er eine Weile auf dem 
Verdeck hin.und her gegangen war, gerade under ber . 


Rabe ſtehen, und die Arme eilig auf ber Bruft 
freuzend, hob er voll Furt und Mut zugleich den 
Kopf empor und ſprach zu ihr: 

. „port mit Dir! 
Gottes und „meiner Eltern Segen; laß mid doch 
meines Weges ziehen und jtraf mich nicht! — 
Schändlide, Hündin, Scheufal, Auswurf! — Scher 
dic zum Teufel! — 

Und die Stimme des armen Kapitäns. ftieg all 
mähli von dem anfangs fanften und. flehenden 
Zone. immer höher, je mehr feine. Wut zu fochen 
begann, und ſchließlich ſchäumte fie vor Schmähungen 
über, wie die Woge, die an die eine Küſte weich 
und. Zofend heranplätjchert und an ber gegenüber- 
liegenden zur furdtbaren und fchredlihen Welt- 
vermwüfterin wird, . Aber ber Vogel, wie befriedigt 
über jein Entjehen. und feine Wut, öffnete den 
Schnabel, zeigte eine Heine, ſpitzige Zunge und einen 
blutigroten Rachen und jperrte. ihn weit auf mit ver= 
ächtlichem Lachen. Und wie Kremydas das ſah, wurde 
er immer hikiger ; er: fluchte, ſchimpfte, geitifulierte 
und biß ſich trotzig in. ben. Finger, bis er blutete, 

„De, bring mir die Büchſe!“ ächzte er plötzlich 
vor Wut; „bring mir die Büchſe, * ich ihm. 's 
Blut abzapfe!” . » 

Ich machte mid): auf, Die Büchfe zu holen. Aber 
er hatte feine Geduld. Mit großen Schritten jehte 
er übers Berded wie ein Toller, fam zuerft in ber 
Kajüte an, riß die roftige Flinte herab, und von 


Von Zeit 
zu Zeit neigte ſie den Kopf leicht auf die Seite, 
die der blutig gefärbte 








Zieh in Frieden; geh mit 


"ort, du 


1141 


ohne zu zielen, auf 
den Vogel ab. 

Man vernahm einen harten Fall, aber weiter 
nichts. Der Hahn fiel nieder, aber er traf. nicht die 
Pfanne. Wir waren alle wie ftarr. . Unglüdäzeichen 
über Unglüdszeichen! Alles ging heute ſchief! Hätte 
die Flinte getroffen, wäre der Vogel getötet worden, 
jo wäre damit das Unglüdszeichen bejeitigt geweſen, 
und es hätte feinen andern Ausweg gehabt. Jetzt 
aber zog es anderäwohin. Ganz richtig hatte Kapitän 
Kremydas gejagt: entweder auf dem Schiff. oder zu 
Haufe wird es ein großes Unglüd geben! . . 

Bei jenem harten Knall flog die Eule auf. Aber 
fie flog nicht jo weit. fort, um uns zu entſchwinden; 
fie flatterte troßig um die Brigg, durchſchnitt pfeifend 
die Luft mit ihren Scherenflügeln,, ſtrich wie ein 
Schnelljegler über das ruhige Meer, ließ ſich plößzlich 
auf dem Maft nieder, und den Körper zwijchen den 
bochgerichteten Flügeln feft aufießend,. mit aufs 
geblafener Bruft, den Hals zwiſchen die. diden 
Schultern gedudt, ftieh fie plögli einen ſcharfen 
und jchrillen Ton aus, der uns das Blut gerinnen 
machte: 

„ſtuluwaau! — ſtukuwaau!“ — 

Jetzt war die Sonne untergegangen, und man 
jah am Horizont nur noch blutigrote Wollen und 
einen dunfelroten Dunft wie. den Abglanz einer 
geoßen Feuersbrunſt auffteigen und unmerklich mit 
ber blauen Farbe des Himmels verſchmelzen. Drüben 
bei Gerigo vollendete der Südwind als ein tüchtiger 
Baumeijter jeine Mauer, Wollen aufeinanbertürmend, 
tiefſchwarz und unregelmäßig wie Blöde von Blei 
felfen, darauf hellere und blaugefärbte, auf die 
Spite dunfelblaue, und oben auf die fchwanfen 
Zinnen, auf die Türme und Schießſcharten, goß er 
wie ein Goldſchmied eine breite Borte von ſiedendem 
Goldfhmud, darauf nod) eine von lauterem Silber; 
und .ganz oben auf die Spitze jehte er, als feine 
toftbare Krone und jein. Wahrzeichen, ben Abend» 
ftern , in friedlicher Ruhe und. göttlicher Schöne zu 
leuchten, wie eine Hymme auf die ganze Schöpfung. 
Und hinter diefer Iuftgebauten Mauer hervor ſchoß 
den lauernde Wind jeden Augenblid Breſche auf 
Breſche in den Bau, auf den kritiſchen Augenblid 
harrend, jelbft mit jeiner ganzen Heerſchar hervor- 
zubrechen und alles zujammen über den Haufen zu 
werfen. 

Aber auch dieſe Küftenwinbe begann das Meer 
zu jpüren; unſre Segel begannen ſich zu füllen und 
das Fahrzeug feinen Lauf zu befchleunigen. Barbar 
trimig, der Steuermann, der ſchon lange. Zeit nach— 
denklich den Bau der Wolfenwand. erfolgte und 
jein. Auge nah rechts und links wandte wie ein 
Jagdhund, der in.der Luft — des Wildet 
wittert, jagte plötzlich zum Slapitän: . 


1142 


„Kapitän Aremydas, der Südwind wird uns 
eine fteife Brife bringen; ich meine, wir ziehen ein 
paar Segel ein.” 

Aber Rapitän Kremydas, von dem Vogel ab« 
gelenft, der die Brigg unaufhörlich umfreifte, als 
wollte er fie ins Berberben ziehen, ſprach gleid;- 
gültig: 

„Ad was! 
lommen.“ 

Der Kapitän war ein herzensguter Menſch, ein 
vollftändiges Kind. Nur durfte man ihn um Gottes 
willen nicht reizen; halte man ihn gereijt, dann 
zurüd von ihm! Iſt doch jelbft der Norbwind in 
den erfien Tagen am flärkften. Jetzt war er wütend 
über den Vogel und jah weiter nichts vor ſich. Er 
hatte ji vorgenommen, ihn entweder zu töten oder 
ihn nicht auß dem Auge zu laſſen. 

„Wenn id dir nit das Blut abzapfe, dann 
will ich nicht mehr Kapitän Kremydas beißen,“ 
jagte er und riß voll Wut feine rote Mütze ab, 

Er wechjelte ſofort die Lunte der Büchſe, brachte 
den Hahn in Ordnung, und dem Steuermann das 
Steuer gebend fagte er: 

„Lente grad auf den Schändlichen los! Beobadhte 
ihn ſcharf, daß du ihm nicht aus den Mugen ver- 
lierft.* 

„sh meine, Kapitän, wir reffen ein paar Segel; 
der Süd bringt uns Wind,“ wiederholte mit leijer 
Stimme der Steuermann Barbatrimis. 

„Ad, jo laß ihn doch, alter Dummkopf!“ rief 
wütend Kapitän Kremydas. „Lenfe gut und grab 
auf ihn 108, fage ich dir! * 

Barbatrimis knurrte wie ein Hund, ber. bellen 
will und wieder nicht will, ſehte ſich ans Steuer 
und nahm den Griff in die Hand, ber ganz in 
Schuppen gejehnipt war und am Ende einen Schlangen« 
fopf trug. Inzwiſchen nahm der Wind befländig 
zu. Die Küftenwinde wurden ftärfer; Die Segel 
füllten fi, eins nad) dem andern, wölbten fid) wie 
riefige Mufeln, die Maften und Winden knarrten, 
die Seile wanden ſich; Barbatrimis gab die Befehle 
Schlag auf Schlag, die Matrofen liefen von Schote 
zu Schote; die Brigg hüpfte auf den Wogen wie 
ein hurtiges Roß auf dem ebenen Felde, und das 
Hinterteil betreute da8 Waller mit Reis. Aber 
Kapitän, Matrojen und Steuermann, wir alle adhteten 
weder auf Brigg noch Wetter, fondern nur auf die 
Eule, die unaufgörlich über uns kreiſte, immer nad 
recht3 und linf8 fliegend. Diefes beftändige Fliegen 
nad rechts und linfs war es, das uns alle entjekte. 

Anfangs erſchien uns die Hartnäckigleit bes 
Kapitäns, es mit einem Vogel aufzunehmen, höchſt 
fonderbar. . Außer dem Barbatrimis, der der Aelteſte 
war und noch bie alten Anjchauungen hatte, waren 
wir andern mißtrauiſch. Aber allmählich vergaßen 


Es ift Sommerwind ; Taf ihn nur 


Andreas Karkawitzas. 


wir uns einer nad) bem anbern,. ohne es jelbit zu 
merken, und folgten dem Fluge des Vogels. Troh 
und Aberglaube fämpften jet in uns und beihörten 
uns. Wir wünjchten alle, der Kapitän möchte jeinen 
Zwed erreichen; es ſchlug und das Herz, ob nidt 
vieleicht der Vogel jortfliegen und in der blenben- 
ben Luft ung entrinnen würde, Ja, entweder über 
ihn oder ung mußte das Unglüdszeichen hereinbrecen. 
Wenn er ihn tötete, waren wir, dad Schiff und 
unſre Häufer gerettet. - Unſre Häufer, unjre Ber- 
wandten und freunde. Denn wer weiß, ob bie 
Eule nur für den Kapitän beflimmt war und nicht 
auch für irgend einen andern von und. Allerdings 
war er der Herr hier drinnen; er hatte zu befehlen, 
er hatte ein Franfes Weſen zu Haufe gelaflen. 
Gleichwohl konnte es aucd und gelten. Wer wollt 
das jagen? Die Bellemmung befiel uns alle, nnd 
das Ende diejes Kampfes bebrüdte unfre Eeele. 
Der Kapitän, jo konnte man meinen, teilte und.von 
feinem Zorne mit, und ich fanı jagen, hätte uns 
jemand zu diejer Stunde gejehen, er hätte glauben 
müſſen, wir hätten alle Tollfirichen gegeſſen, und feiner 
wäre bei Verſtande. 

„Da ift er, vorwärts!“ ſchrie einer nad) dem 
andern, mit Händen und Füßen nad) dem Kapitän 
fuchtelnd. Und der, mit jeiner Büchſe in. der Hand, 
mit emporgefträubtem Haar, mit flammendem Ge— 
fit, lief vom Hinterded zum Vorderded und vom 
Vorderded zum Hinterded, acht gebend, die gloßen- 
den Augen umherrollend, als kämen Seeräuber auf 
das Schiff los, das er verteidigen wollte, 

Aber der Vogel war mit allen Hunden gehekt. 
Machte uns der zu ‚jeinem Spieljeug wie ein ver: 
nünftiges Weſen! Er flog nicht fo.weit weg, dab 
wir ihn aus den Augen verloren, blieb aber aud 
nicht jo nahe, daß ihn die Büchfe erreichen konnte. 

Plötzlich zeigte er fich zw unſrer Rechten, und 
mit günftigem Winde ſchoß die Brigg gerade auf 
ihn los; er flog vor dem Vorderteil Her, immer die 
gleiche Entfernung haltend, wie ein böjer Geift, der 
mit unſichtbaren Schlingen vor dem Schiffe herzog 
So lam es unterhalb von Milos an. Da, um vor 
den lauernden Klippen geſchützt zu fein, ftoppte die 
Brigg; aber während wir noch wütend fluchten, das 
wir ihn verfehlt hatten, tauchte er plötzlich . hinter 
der Nahe. des Hinterbedmaftes auf,. um jeine wein. 
roten Augen auf den Kapitän zu heften, mit einer 
Wut, daß man meinte, jet würde er ſich auf ihn 
ſtürzen, ihn zu zerfleiſchen. Und kaum hatte dieſer die 
Büchſe viſiert, jo ſtieß der Vogel feinen ſchrillen Schrei 
aus, wie Spott und Hohngelächter, und flog kreiſend 
hierhin und dorthin, mit einem zitternden, ſchweren, 
unregelmäßigen, wie beraufchten Fluge. Und mir, 
noch mehr berauſcht durch ihn, fuhren gerade auf 
ihn los, mit vollen Segeln, daß: die Brigg auf ben 


Ein Unglüdszeiden. 


ihäumenden Wogen tanzte wie ein Hurtiges Roß 
auf weitem Felde. Der Kapitän mit feiner Büchfe 
in den Händen, erihöpft von Kampf und Wut, 
und wir alle, mit verwirrtem Haar, feuerrotem 
Geſicht, geftitulierend und irre redend, ald wären 
wir von Sinnen! — 

Jetzt flieg der Vollmond Hinter dem Ge— 
birge. auf Naxos empor, und dem lebendigen, feuer 
roten Sonnenlicht folgte ein milder und weicher 
Schimmer, der die ganze Natur im Traumfchlummer 
zeigte. Die fernen Inſeln und verfinfterten Hüften 
jehienen fi wie riefige Maſſen in die Dämmerluft 
zu flechten und ließen ihre Umriſſe mehr erraten 
als unterjcheiden. Die näher gelegenen, wie Kimolos 
und Polybos, Milos, Erimomilos und Jeralunia, 
hoben ſich deutlich ab, in einen weißblauen Nebel 
gehüllt, mit ihren Klüften und tieſſchwarzen Spalten, 
ihren PVorgebirgen und helleren Bergrüden, mit 
ihren ſanften Hängen, ihren flachen Rinnſalen und 
den Küften ohne Steine und Felsblöde. Alle, in 
dem magijchen Lichte gebadet, nahmen einen be— 
firidenden Ausdruck an, als wären es die Injeln 
der Seligen. 

Der Vogel hatte uns bis unterhalb Erimomilos 
verjchlagen, und wir ſahen gegenüber auf der Burg 
von Milos und unten in den fretiichen Gewäſſern 
Lichter auf dem Waller tanzen, wie Spiegelungen 
von Sternen, und zwei große euer auf Erimomilos, 
die ſich wie PLichtjtröme übers Meer ergofien und 
Hadernd bis and Schiff famen, daß man meinte, 
jet müßte es fi auch entzünden; und von ber 
entgegengejehten Seite glitt der Glanz des Mondes 
herab und beledte mit filbernen Zungen ben über 
und über ſchwarz geteerten Schiffärumpf von einem 
Ende zum andern, fiel auf das Verdeck, auf bie 
roftigen Sletten und bie helle Leinwand, die Anlege- 
pfeifer, die Bootftänder und Anferwinde, auf die 
Taue und Ruderpflöde, ſtieg an den flogen Maiten 
empor, die mit Eijen, Seilen und Stangen jchwer 
beladen waren, fiel auf die aufgeblähten Segel, 
ichlüpfte zwifchen den Kreuzungen hindurch, beleuchtete 
dies, beichattete jenes, als wäre das Fahrzeug ein 
gemeißelter Marmorbiot, der mitten im Meere 
emporgewadhjen war. 

Der Wind ward indes immer ſtärler; man hörte, 
wie er in den Seilen und Segeln pfiff und uns 
zählige Töne erjchallen ließ, von dem wilden Heulen 
einer Herde Schafale und Wölfe bis zu dem melo— 
difchen Liede und dem jchwingenden Pfeifen einer 
Flöte. Der Steuermann Barbatrimis, immer une 
ruhig wie ein Schiffähund, der das Feſtland mittert, 
fo weit «8 auch noch entfernt ift, und in einem fort 
beilt, horchte jeht auf den Lärm des Windes, und 
in dem Augenblid, wo der Kapitän ſich ihm näherte, 
wiederholte er unruhig die Worte: 


1143 


„Kapitän, der Südwind wird flärfer; wie wollen 
die Segel reffen, meine ich, jonjt wird er uns ver 
ſchlingen.“ 

„Mach, was du willſt,“ ſagte der Kapitän mit 
einem Ausdruck des Ueberdruſſes. 

Und ermattet, mit Schweiß bedeckt, lehnte er ſich 
leuchend auf die Ruderpflöcke, die Büchſe loslaſſend. 
Und wie toll vor Zorn ſchrie er wild: 

„Ans Steuer, Barbatrimis! Ans Steuer und 
gerade los auf ihn!" — 

Wir ließen alle die Segel im Stich, und jeder 
nahm feinen Pla ein. Der Steuermann drehte 
mit einer Steuerwendung die Brigg von Erimomi- 
los nah Jeralunia zu. Jene Stelle war gefährlich), 
denn fie hat reißende Strömungen, und leicht kann 
fie einen verderben, „Du fommft von Erimomilos 
und gerätjt nad) Jeralunia,“ jagten die Alten, Aber 
Barbatrimis hatte eine nervige und geſchickte Hand. 
Wenn er das Steuer padte, wurde es wie von 
einem Zuden befallen. Er hatte auch ein jo ſcharfes 
Auge, daß er die Plejaden unterſcheiden fonnte, 
wenn fie erjt drei Tage alt waren. Wir hatten 
aljo Feine Furcht, und mit vollen Segeln begannen 
wir wieder den tollen Kampf. 

Wir waren aber alle wie aufgelöft von Mühe 
und Schwindel, Mein Naden war fteif vom Drehen, 
und die Adern traten hervor, did wie Bindfäden. 
Es fam jo weit, daß ich nicht mehr meinen Kopf 
nad) linf$ und rechts drehen fonnte, jondern aud) 
meinen Körper mitdrehen mußte. Jeden Augenblid 
zog eine jchwarze Wolfe vor meinen Augen vorüber, 
ein brüdender Schmerz legte fi wie ein eilerner 
Reif um meine Stirne, und ein Schwindel ergriff 
mid, daß ich meinte, jet würde ich von meinen 
Füßen herunterfallen. 

Und der verführerifche Vogel hatte nicht die Ab- 
ſicht, fein Spiel aufzugeben. Schwarz wie eine 
Handvoll Erde, zufammengedudt, jo ſchwamm er in 
dem blaſſen Aether, ganz langfam, als forgte er 
dafür, daß wir ihm nicht aus den Augen verlieren 
follten. Und bald 309 er Sreife um die Brigg, 
bald flatterte er niedrig und ſchoß wie. ein Pfeil 
zwiſchen den Segeln hindurd über den Steg hinweg, 
ritt auf dem, Bormaft, flog unten bei dem Seiten» 
maftjegel bindurd und jehte ſich auf den äußeren 
Fockmaſt. Und plöplich flog er mit Geſchrei und 
Flügelſchlagen über die Brigg, lieh fi zu dem 
Hintermaft herab, und von da, nod einen Schrei 
ausjtoßend, ſchwang er ſich in die leere Luft hinaus 
und begann dasjelbe Spiel, fein ewiges Umklreiſen, 
von netiem. 

„Zurüd von mir, Teufel!“ jagte der arıne 
Rapitän, ſich befreuzigend und zu Tode erfchredt 
durch diefe Bewegungen. 

„Den Kopf will ich mir abfchlagen laſſen, Kapitän, 


1144 Andreas Karkawitzas. 
wenn biefer Vogel nicht ein Berjucher iſt,“ jagte 
der Steuermann. Barbatrimis plößlich; „nimm die 
Büchſe in die Linke, fage ich, damit er fie dir nicht 
fortreißt! — Hörft du nit, wie der Hund nun 
ihon eine Stunde lang fnurrt?* 

Wirllich, unſer treuer Hund, am Hinterbed 
niebergeftredt, zufammengefauert, als wollte er fi 
- jo fein wie möglich machen, den Schwanz zwiichen 
den Beinen, den Kopf auf feine WVorderpfoten ger 
ftredt, die Ohren herabhängend, öffnete und ſchloß 
die Augen und Inurrte, ohne es zu wagen zu bellen 
wegen der Anwelenheit eines böjen Geipenftes, 
Einen nah dem andern begann aud uns Furcht 
zu bejchleihen, und wir befreuzigten uns, indem 
der eine jein Amulett lüßte, der andre eine Serze 
von der Grablegung in die Taſche ftedte, und cin 
andrer im jtillen religiöje Lieder herſang. Der 
Teufel ipielt den. Schiffen Häufig ſolche Streiche. 
Wie der Kapitän den Hund jo jah, befreuzigte er 
fih und griff mit der linfen Hand nad) dem Hahn. 

Endlih fam ein Augenblid, wo wir uns jagten, 
nun müßten unfre Qualen zu Ende jein. Die Eule, 
ermüdet, wie es Ihien, begann jeht langjam zu 
fliegen und fich herabzulaſſen, und plößlich ſchwebte 
fie nieder aufs Verdeck. 

„Ziel auf ihn!“ riefen wir alle wie aus einem 
Munde. 

Aber che der Kapitän zielen fonnte, war die 
Erſcheinung vor unfern Bliden zerronnen wie Qued» 
filber, 

Kapitän Kremydas fing an, die Schuld auf uns 
zu Ichieben und uns zu jchelten, dab wir es. ihm 
nicht rechtzeitig geiagt hätten. Aber zugleich jehe 
id), wie der. Steuermann den Steuergriff losläßt, 
triehend fi dem Kapitän nähert und mit Gejtifu- 
lationen ihm auf dem Tau der mittleren Majtftange 
den Vogel zeigt. 

„Biel auf ihn!“ — Bum! drößnte es durch 


— Ein Unglüdszeiden. 


die ruhige Luft, und Schrot und Werg yrajieite 
qualınend dicht auf die Segel nieder, wie wenn fie 
ſchwerer Hagel peitichte. Aber zugleich mit jenem 
Schuß erllang noch ein andrer dumpfer Schlag, 
wie wenn ein Baum jamt Zweigen, Stamm und 
Wurzeln niederftürzt, und wir fielen alle vornüber 
aufs Verdeck. 

Der Teufel hatte jeinen Zwed erreicht. Im dem 
Moment, wo der Steuermann das Steuer verlaſſen 
hatte, wurden wir von der Strömung in ihre Strudel 
gerifjen, oberhalb Jerafunia getrieben, und .unire 
unglüdliche Brigg Haffte in zwei Teile auseinander 
wie eine Nuß. Und aus der dämmernden Eindde 
der Inſel flieg zum leßtenmal, noch wilber und blut ⸗ 
gieriger, die Stimme der Eule empor wie ein Siege 
ruf aus Unheil und Thränen. 

ſtuluwaau! Kukuwaau! — 

„Ach, du haſt mich vernichtet, Verſucher!“ — 
brüllte der Kapitän, feine Haare raufend. 

Doch Barbatrimis, der Steuerntann, lief freudig 
herbei und hielt ihm den Mund zu. 

„Spei auf deine Bruft!” fagte er eilig zu ihm; 
„ſpei auf deine Bruft und läftere nit Gott! — 
Sieh, das Unglüdszeichen hat ſich in nichts auf 
gelöft; beijer auf dem Schiff als zu Haufe!“ 

Der Kapitän drehte fih um und blickte ihn 
ſprachlos an. Plößlich war das traurige Bild jeinet 
Haujes vor feine Seele getreten, wie es war, al 
er es und jeine frau verließ, die, betilägerig und 
mit dem Tode ringend, die thränenfeuchten Augen 
hier⸗ und dorthin wandte, ihn zu fuchen, und zu 
ihren Füßen die Kinder, die umberkrochen und 
weinten, einfam und allein. Und der arme Kapitän 

| fiel unter Schluchgen und Thränen dem Steuermann 


‚ in die Arme, 


„Sa,“ ſagte er mit halberfticdter Stimme, alt 
| wollte er fie jelbjt nicht hören, „Gott ſei gelobt! 
Bejier auf dem Schiff als zu Haufe!“ 


Weißnactslied für meine Tochter. 


Von Saroslav Prolichy. 
Aus dem Wöhmiſchen überfebt von Victor Graf Boos-Walded. 


„Hofianna! Ehre fei Gott in der Föh’ 

Und Friede den Menſchen auf Erden!” 

Es jauchzt die Welt — du beagreifft das nicht; 
Bift Mein, mußt größer erft werden. 


Das Drängen und Treiben verftehft dm nicht, 
Das Flüſtern, das heimliche Bliden, 

Und dann die Freude — Auge in Aug' —, 
Wenn Zwei fich die Hände drücken. 


| Die goldne Nuß am Weihnachtsbaum, 


Das Naſchwerk im Glanz der Kerzen, - 
Und unfer Lächeln — alles vereint 
Sum Traum fich in deinem Herzen. 


Meinen Geiſt, dem nicht die Melt genügt; 
Du lehrteft ihn, was er nicht wußte: = 
Erjt jetzt begreif' ich's, daf ein Kind 

Die Welt erlöfen mußte! 


-———>-e -I-cIie  ——— 


Das Feſt der Dächer. 


Ein Weihnahtsmärchen 
von 
Alphonfe Daudet. 
Aus dem Franzöffchen überfeßt von Gunfram Frank. 


J 

O, wie die Dächer von Paris dieſe Nacht funfel- 
ten! Welches Schweigen, welche Ruhe, welch über« 
natürlicher Glanz! Drunten die Straßen waren 
ſchwarz von Schmuh, der Fluß träge vom Eis, das 
tlägliche Gaslicht ertrant im Tauwaſſer der Gofien. 
Oben, in ſchwindelnder Höhe, über den Paläften, 
den Türmen, den Terraffen, den Kuppeln, auf der 
dünnen Spike der Sainte»-Chapelle und den 
Taufenden gedrängter Dächer, die fi) gegeneinander 
neigten, glißerte der Schnee, ganz weiß mit bläu« 
lihem Schimmer, und all das bildete gleichſam eine 
zweite Stadt, ein Paris der Luft, ſchwebend zwiſchen 
der jchattenlofen Dede und dem phantaftiichen Licht 
des Mondes. 

Es war nod) nicht ſpät, aber alle Feuer waren 
ihon erloſchen, nicht eine Spur von Rauch wallte 
über den Dächern. Doch ließen ſich die glüdlicdhen 
Eſſen, in denen Tag für Tag das Holz flammt 
und kracht, leicht erfennen an den ſchwarzen Ringen, 
die. der Rauch um fie herum gezogen hatte, und an 
dem laulichen Hauch, der in die eijige Luft empor— 
flieg, wie der Atem des jchlafenden Hauſes. Die 
andern, froftig, begraben in didem Schnee, zeigten 
noch Nejter vom letzten Frühjahr, ohne Wärme und 
eben, wie fie ſelbſt . . Und in diefer Etadt der 
Höhe, mit ihrem ftarren Weiß, welches die Straßen 
von Paris durchſchnilten wie ungeheure Sprünge, 
freuzten ſich die Schatien all der Schornfteine, uns 
gleich, zadig und ſchwarz wie Bäume des Winters, 
auf den öden Allen, die nie jemand betreten hatte 
als die Parifer Spaken, deren jharfe, hüpfende 
Spuren den feiten Schnee da und dort rißten. 
Selbſt zu diefer Stunde trieb ſich eine Rotte dieſer 
dreijten feinen Landftreicher herum, flatterte am 
Rand einer Dahrinne, und ihr Lärmen allein ftörte 
das fromme Schweigen, dies feierlihe Harren ber 
Dächerſtadt, die mit einem unermeßlichen Teppich 
von Hermelin überdedt war, wie für den Durchzug 
eines Königskindes. 

Die Spaßen von Paris. 

Zum Kuckuck! Wie falt es it! Nicht die Mög- 
lichkeit zu jchlafen. Umfonft, daß man ſich aufbläft, 
die Federn fträubt, der Froſt wedt und peitjcht 
einen auf, 

Ein einzelner Spaß (von weiten). 

Heda, ihr andern, heda!... Schnell hierher! 

Aus fremden Qungen, 1897. IL 24. 


ı Ih Habe eine alte Efje gefunden mit gegofjener 
Kuppe, wo man jehr jpät noch Feuer gemacht hat. 
| Da haben wir's warm- genug, wenn wir uns ſeſt 
dran drüchken. Baer 
Der ganze Schwarm (zu ihm Hinfliegend). 
Schaut, es ift wahr. ‚Wie einem behaglid) 
wird! Wie das erwärmt!... Gar nicht zum Sagen. 
Es lebe die Freude! Piuh, piuh! Kwi, kwi, 


twi. 
Die Eſſe. 

Wollt ihr gleich Ruhe geben, ihr Windbeutel! 
Niemand außer euch getraut ſich zu ſchreien in 
einem ſolchen Augenblick, wo alles ſich zuſammen— 
nimmt und ſtill iſt. Seht, ſogar der Wind hält 
den Atem an. Nicht eine Wetterfahne rührt ſich. 

Die Spatzen (leiſer). 

Was iſt denn los, Alte? 

Die Ejje. 

Was — ihr wißt nit, daß dieſe Naht das 
Feſt der. Dächer ift? Ihr wißt nicht, daß das Chriſt- 
find kommt, um ben Kindern zu bejcheren ? 

Die Spaßen. 
| König Chriftfind ? 
Die Eſſe. 

Ja freitich!... Wenn ihr drunten in den Häufern 
alle die Heinen Schuhe jehen könntet, wie fie vor 
der warmen Aſche jtehen — von allen Arten, von 
allen Größen, von den winzigen Schühchen der 
Heinen Strampelfühe bis zu den großen GStiefeln, 
die jo feſt auftrappen, daß es durch die ganze Woh- 
nung dröhnt; vom pelzbejeßten Halbſtiefelchen bis 
zu den Heinen Holzpantoffeln der Dürftigen, und 

| bis zu den Stiefeln, die viel zu weit find für die 
ı bloßen Füße, die nur der Zufall damit beffeidet hat, 
als ob der Arme weder das Alter nod) das Recht 
hätte, ein Kind zu jein. 











Die Spapen. 

Und um wie viel Uhr joll er denn: fommen 
diejer wunderbare feine Junge? 
Die Eſſe. 

Jetzt gleich, um Mitternacht ... St! horcht! 
Die Uhr (mit feierlicher Stimme). 
Dang... dang... dang... 
Die Eſſe. 
Schaut, wie dort hinten der ganze Himmel aufs 
leuchtet! 
144 


1146 


Die Spapen (mit der Begeifterung der Heinen 
Pariſer Maulaffen beim Feuerwerk). 
Ah! Fein! 
Die Uhr (fortichlagend). 
Dang... dang... dang... Mitternacht! 


II. 


... Kaum ift der lehte Schlag Mitternadht 
verflungen, fo wiederhallt ein ganzer Schwarm von 
Gloden von allen Seiten zugleih. Unter den Tür- 
men, die in ihren Schneefapuzen jteden, Täuten 
fie wie für fie allein in der Höhe der Dächer, 
bald abmwechjelnd, bald zufammenklingend, das Ge- 
läute im tiefen Baß begleitend, bald nah, bald fern, 
mit der Fülle, mit dem Abjchwellen des Tones, wie 
es durch die Windrichtung ſich ergiebt, daß man 
meint, der Turm müſſe ſich drehen wie ein Leucht- 
feuer. 

Die Gloden. 


Bim... bam... bim... bam... Da ift 
er, er ift es, das Chriſtlind, der Meine König! 
Der Wind, 


... bü... Läutet feit, meine guten Gloden, 
läutet mit vollem Schwung, nod) jtärfer! Chriftfind 
ift da, es folgt mir auf dem Fuße... Riecht ihr 
diefen feinen Duft von grünen Stedhpalmen, von 
Weihrauch, von wohlriehendem Wachs, den ich auf 
meinen Schwingen mitbringe? 

Die Slodenklänge. 
Dig däng dong... dig däng dong... 
find, Chriftfind! 


Ghrift« 


Der Wind, 

Friſch zu, ihr Efien! Was fteht ihr da und 
jperrt das Maul auf? ... Ruft mit mir Chrift- 
find! Vorwärts, ihr Dächer, vorwärts, ihr Wetter« 
fahnen! 

Die Ejjen. 
Ui, Wil... Chriſttind, Chriftfind! 
Die Wetterfahnen,. 

Kra, Kra!... Ehriftkind, Epriftfind! 

. Ein Dachziegel (in übergroßer Begeiflerung). 

Chriſtkind, Chri... (in jeiner Freude macht er 
einen Sprung und fällt auf die Straße). Pata— 

. beng! 
Die Spapen. 
Was für ein Pati! 
Die Eſſe. 
Nun, ihr Spaßen, jonft jagt ihr nichts? ... 
Jeßtzt ift es an der Zeit, zu zirpen. 
Die Spapen. 

Piuh, piuh, piuh! Kwi, kwi, fwi.. 
find, Chriſtlind! 

Die Eji 


liegt doch auf meine ra; da könnt ihr 
beijer jehen. 
Die Spapen (auf dem Kamin). 
Schönen Dant, Alte... Ei, wie ift das hübſch, 
wie ift das hübſch . . . All dieje rofa, grünen und 
blauen Lichter, die auf den Dächern tanzen! 


, Ghrifte 


Alphonſe Daubdet. 


Die Eſſe. 

Und diefer Zug von Körben, voller Spieliaden, 
Bänder, Blumen, Bonbons; der ganze Parijer Win- 
ter geht da vorbei, umringt von Vergolbung und 
bunten farben. 

Die Spaßen. 
Was find denn das für Heine Männer, die die 
Körbe tragen? Sind das lauter Chriftfinder? 
Die Ejje. 
Nein doc, das find die Kobolde. 
Die Spatzen. 
Wie, was?,.. die... 
Die Efje 

Die Kobolde, die Hausgeifler jeder Familie, die 
das Ghriftfind zu allen Eſſen führen, wo Heine 
Schuhe harren. 

Die Spatzen. 


Und das Ghrifttind, — wo iſt denn das? 
Die Ejje. 

Der Iete von ihnen allen ift e8, der blonde 
Knabe mit den fanjten Augen, mit den goldftrahlen: 
den Haaren, die ihn umgeben wie verftreute Stroh 
balme aus jeiner Krippe, mit den von der frijſchen 
Luft geröteten Wangen. Schaut, wie er jchreitet... 
jeine Füße freifen den Schnee, ohne Spuren ju 
binterlajjen. 

Die Spapen. 
Wie jhön er it! Wie ein Bild... 
Die Eſſe. 
St! Hordt! 
II. 


In diefem Augenblide tönte eine ermfle, junge 
Stimme, rein und hell wie Kinderlachen, durch die 
eifige Luft, wie fie ſtarler Froſt und Mondſchein über 
die Höhen breite. Das Chriftfind war auf einem 
Terraſſendach jtehen geblieben, und dort jprad es, 
ſich hoch aufrichtend, umgeben von allen feinen Heinen 
Korbträgern, zu feinem Volle. 

Das Chriſtkind. 

Guten Tag, ihr Dächer! Guten Tag, meine 
alten Glodentürme! Die Naht ift jo beil, daß id 
euch alle jehe, rings um mic zerfireut in dem großen 
Paris, das ich liebe... Ya, ja, mein Paris, id 
liebe dich, weil du, das über alles lacht, noch nicht 
gelacht haft über das Heine Chriſtlind, weil du an 
diefes glaubft, du, das jonjt an nichts glaubt!... 
Du fiehft, ich fomme auch alle Jahre. Niemals bin 
ich ausgeblieben... Ich bin fogar während ber 
Belagerung gefommen, erinnerft du dih? ... Es 
war damals wirklich jehr traurig, Weder feuer 
noch Licht, die Efjen alle falt. Die Granaten, die 
über mein Haupt bin pfilfen, ſchlugen durd die 
Dächer, ftürzten die Efjen um... Und dann, von 
den Ileinen Rindern waren gar jo viele nicht da!... 
Ich hatte zu viele Spieliachen jenes Jahr; ich habe 
volle Körbe zurüdgebracht . . . Glüdlicherweije wird 
mir dieje Nacht nichts übrig bleiben. Man bat mir 
angefündigt, daß ich viele Heine Schuhe zu füllen 
haben würde. Ich habe auch; entzüdende Spielſachen 
bei mir, lauter franzöſiſche ... 











Das Felt der Däder. 


Ein Parijer Spatz. 
Bravo! Ich ſehe mich nicht fatt an dieſem 
Kind, 
Alle Spapen. 

Piuh, pin... Kwi, wi... 
Ghriftfind! 

Ein Schwarm von Störden (in langgefiredtem 
Dreied am Himmel vorüberziehend). 

Uah, uah ... Es lebe das Chriſtkind! 

Der Wind (den Schnee durdeinanderwirbeind). 

Rufe doch Eprifttind, du auch! 

Der Schnee (jehr leiſe). 

Ih lann nicht, aber ich freue ihm Weihrauch. 
Sieh die Wirbel feinen weißen Staubes, die ich 
um die Körbe blaje, in dus Haar meines Königes- 
findes... Wir fennen uns jeit lange gegenjeitig; 
denke doch, ich jah ihn zur Welt kommen, dort unten 
in feinem einen Stall... j 
Der Wind, die Gloden, die Eſſen (zujammen 

aus Leibesträften rufend). 

Chriſtlind, Chrifttind! Es lebe das Chriſtkind! 

Das Chriſtkind. 

Nicht io laut, meine freunde, nit jo laut! 
Man darf nicht alle die kleinen Peute da drunten 
aufweden ... Es it jo was Schöne um bie 


Es lebe das 


Freude, die einem im Schlaf kommt, ohne daß man 


daran denkt . . . Und jetzt, meine Herren Kobolde, 
kommt mit mir auf die Böſchung der Dächer, wir 
wollen mit der Beſcherung anfangen. Allein für 
dieſes Jahr habe ich bejchloijen, etwas zu probieren. 
Das Allerihönfte, was wir haben an Spielſachen, an 
Goldhanswurjteln, an Atlasſäckchen voll gebrannter 
Mandeln, Pralinen, an großen Puppen mit lauter 
Spigen, all das, will ic, foll in die armfeligjten 
Schuhe fallen, in die Eſſen ohne Feuer, in die 
froftigen Dachfenſter. Und dafür wollen wir in die 
Häufer des Glüds, auf die jammetenen Teppiche, 
auf die diden Pelze alle diefe Heinen Spielſachen 
um einen Sou werfen, bie nad Harz und blankem 
Holze riechen. 
Die Spaben von Paris, 

Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Das ijt ein guter 

Einfall. 
Die Robolde. 

Verzeih, Ehrifttind! Bei deiner neuen rd» 
nung werben die Armen glüdlic fein, die Reichen 
aber werden weinen. Ind, poptaufend, ein Find, 
das weint, ift weder reich noch arm. Es iſt ein 


| 
| 





weinendes Kind, und es giebt nichts Trübfeligeres... | 
ſchöne Winterjonne, ein rofiges Kunftwert, und ihre 
Laßt nur, ich fenne das bejjer als ihr... Die | 


Das Chriſtkind. 


Urmen werden außer ſich fein vor Vergnügen, dieſe 
funjtvollen Spieljachen anfallen zu lönnen, die ihnen 


N 


1147 


bünfen, und deren vergoldeter Glanz den Wert als 
Spielzeug, den Reiz der Unterhaltung nicht erhöht. 
Uber ich wette, daß die reichen Finder das eine Mal 
ebenjo zufrieden fein werben mit ihren Hampel- 
männern von Bindfaden, mit den Springpuppen 
und all den Podvögeln der Dreizehn-Sous-Bazare, 
wo fie nie hinfommen... Alſo jeht, jo ift die 
Sache. Und jet vorwärts, und eilen wir uns! Es 
giebt jo viele Efien in Paris, und die Nacht ift iv 
kurz! 
IV. 

Dort oben die Meinen Lichter verbreiteten ſich jetzt 
in der ganzen Runde, als hätte man auf den Schnee 
der Dächer alle mit Lichtern beſteckten Zweige eines 
Weihnahtsbaumes hingeſchüttet. Nicht eine einzige 
Efje .war überjehen, von den Paläften, umgeben von 
Terrafien und meihbereiften Bäumen, bis zu den 
armjeligen Dächern des Elends, die ausfehen, ala 
ob ich eines ans andre lehnen müſſe, um nicht 
unter ihrem Gewicht einzuitürzen. Bald hörte man 
über all den Häufern von Paris das Gellingel 
der Schellen, alle die verfchiedenen phantafliichen 
Geräuſche aus den Spielwarenläden, dad Bähen 
der Hammel, das Lallen der Puppen, das Rauſchen 
von geftidtem Atlas, die Stlappern, die Trom« 
peten, die Trommler, die Räder der Poſtpſerde, den 
Peitſchenknall der Poftillone, das Flügelrad der 
Windmühlen. Al das rührte ji, verlor ji dann 
und verflang zwiichen den Schornfteinen. Wo es feine 
Kinder gab, da ging das Chriſttind, geführt von 
jeinen Kobolden, raſch vorbei, ohne fich zu täujchen; 
aber mandmal, gerade wenn es ſich mit vollen 
Händen näherte, flüfterte die Efje mit ihrem ſchwarzen 
Mund: „Es ift geflorben, 's ift unnötig... es giebt 
feine Heinen Schuhe mehr im Haufe... Behalte 
deine Spielfahen, mein Königstind. Die Mutter 
müßte weinen, wenn fie ſähe ...“ 

Lange, lange noch ſchwebten die Meinen Lichter 
fo umber. Da frähte plößlich ein heiferer Hahn 
mitten im Dunfel, ein Streifen des Tageslichts durd)- 
brach den Himmel, und alsbald verjchwand der ganze 
Weihnachtszauber. Das Felt der Dächer war zu 
Ende, das der Häufer begann. Schon entftiegen 
liebliche, entzüdende Laute den Eflen, zugleich mit 
dem Rauch der angezündeten feuer, Das war 
ein Jubelgeichrei, ein tolles Gelächter, findliche 
Stimmen, die num ebenfall® ausriefen: „Chriſtkind, 
Chriſtlind! Hoch das Ghriitfind!" während über 
den verddeten Dächern die Sonne ſich erhob, eine 


eriten Strahlen ausjandte; fie glichen im Flimmern 


des Schnees Silberblättchen, Perlmutter und Gold- 


franjen, die aus den Körben des Königskindes ge— 


binter dem Schaufeniter der Läden jo verjührerijch | fallen waren... 


— 
* * — ⸗ 


— Lofe Blätter Bo 


So blieben fie zufrieden. Es gab wenig Arbeit, die 
D as g ro ß e Ss 08. Bezahlung ftieg von Zeit zu Zeit, und dann kamen 
Von Emilia Pardo-Bazän. noch die Ueberrafhungen durch Gejchente. — 


Einmal im Dezember war es fälter als nötig. 
Das Weichbild und die ganze Umgebung von fFuencar 
Zur Zeit Godoys zählte das Vermögen der | waren mit einer eine Viertelelle hohen Schneedede 
ZTorreänobled von Fuencar zu den bejtfundierten | überzogen. Der Marquis fühlte ſich in feinen großen 
und größten des fpanifchen Reiches. Politiiche und | Zimmern einjam und ftieg häufig abends in die 
andre Ereignijje brachten den Ertrag herab, und | Küche hinab, um aus Inſtinkt die Gefelichaft der 
ganz bejonders dezimierte es die leihtfinnige und | Menjchen zu ſuchen. Er jteilte ſich an das Herdieuer, 
verſchwenderiſche Lebensweije des lezten Marqui® | märmte fich die Hände, Mnadte mit den Fingern und 
von Torresnobles, worüber man ſich bei Hofe vicle | Lachte faft über die Geſchichten, die ber Vogt und 
Geſchichten erzählte. ' der Hirte mit andalufijhem Humor erzählten. €r 
Als der Marquis von Torresnobles ſich fhon | bemerkte auch, daß die Köchin ſehr ſchöne Augen 
den Sechzigern nahte, faßte er den Entſchluß, jih | Hatte. Unter andern ländlichen Unterhaltungen, die 
auf fein Gut Fuencar zurüdzuziehen, den .ein- | ihm Spaß machten, vernahm er auch, daß alle feine 
zigen Beſitz, den er nicht verpfändet hatte. Dort | Diener beabfidhtigten, fi) zufammenzuthun, um 
befaßte er ſich ausichlieglih damit, feinen Körper | ein Zehntel in der Weihnachtslotterie zu jpielen. 
zu pflegen, der ebenſo gelitten hatte wie jein Beſitz. Am nächſten Tage frühzeitig ſchidte der Marquis 
Da der Ertrag von Fuencar ihm nod ald Land» | einen Boten in die benachbarte Stadt, und ki 
edelmann ziemlich gut zu leben ermöglichte, jo | Dunkelwerden kam der freigebige Herr in die Kühe 
richtete er feinen Hausftand derart ein, daß ihm | und fündigte feiner Dienerfchaft an, dab er ihre 
feine Bequemlichfeit mangelte. Er hielt fi einen | Wünſche erfüllt und cin Lotterielos genommen hab, 
Kaplan, der ihm an Sonne und Feſttagen die Meſſe wovon er ihnen zwei Zehntel ſchenke. Die andern 
las und außerdem mit ihm Karten fpielte und ihm | adıt Zehntel behalte er felbit, um auch das Glüd zu 
die reaftionärften Zeitungen vorlad und erflärte; | verſuchen. Als man dies hörte, gab es in der Hüde 
ferner einen Verwalter oder Vogt, der die Feldwirt- einen Freudenausbruch, Hochs und Dankestufe. 
ſchaft leitete; einen dien, phlegmatiichen Kutſcher, Nur der Hirt, ein alter, gefehter Mann, jepüttelte 
der feierlich die zwei Maultiere des Wägelchens den Kopf und meinte, wenn man mit großen Herren 
lenkte; eine würdige, jlille Haushälterin in gejehtem | fpiele, verfcheuche man das Glüd. Dies fränkte den 
Alter; einen Kammerdiener, den er als Ueberbleibfel | Marquis jo, dab er ihn mit feinem Seller bei den 
und Andenken an jein leichtjinniges Leben mit aus | bewußten zwei Zehnteln beteiligte. 
Madrid gebracht hatte, und der ſich mit jeinem Herrn Diefe Nacht ſchlief der Herr nicht jo gut wie 
jept eines geordneten Lebenswandels befleihigte, Dabei | früher in fyuencar. Er hatte trübe Gedanken, wie 
verjhwiegen und pünktlich wie vorher war. Schließ- | fie nur Hageftolze kennen, Die Begehrlichkeit, mit 
lich hatte er noch eine jaubere Köchin, die geichidt | welcher die Diener von dem Gelde ſprachen, melde: 
in der Herftellung der ihmadhaften, alten Nationale | fie gewinnen könnten, hatte ihm ſehr mißfallen. 
gerichte war, die ben Gaumen kitzeln, ohne zu ſchaden. „Diefe Feute,* jagte fi) der Marquis, „warten nur 
So vortrefflich organifiert, funktionierte das Haus» | darauf, ich den Beutel zu füllen, um mich im Stich 
wejen wie eine gute Uhr, und der Herr freute ſich zu laffen. Und was für Pläne haben fie! Caledonio 
täglich mehr, aus dem bewegten Meer von Madrid | (der Kutſcher) will eine Schenke aufmahen — natür- 
entronnen und in den ftillen, bübjchen Hafen von | Lich, um felbft den Wein zu trinfen! Die einfältige 
Fuencar eingelaufen zu fein. Seine Gefundheit er- | Dona Kita (die Wirtjchafterin) will ein Galihaus 
holte fi, die Verdauung und andre Thätigfeiten | errichten! Jacinto (der Kammerdiener) ift wohl fill, 
der gebrechlichen Hülle des Geiſtes famen wieder in | aber er wirft der Pepa Blide zu, daß ich ſchwören 
Ordnung. Nah einigen Monaten wurde der Marquis | möchte, fie wollen fich heiraten. Ach was!“ jagte 
forpulenter; ohne an Beweglichkeit zu verlieren. | der Marquis, wandte ſich im Bette um und dedie 
Sein Rüden wurde wieder fteifer, und jeine gefunden | ſich beffer zu, weil e& ihn im Genid fror. „Was 
Atemzüge zeigten, daß der böje Magenlrampf ihn ! gebt mid jhliehlich alles dad an? Das große Los ge 
nicht mehr plagte. winnen wir doch nicht. Sie mögen nur mir teiter 
Wenn der Marquis ſich wohlbefand, jo ging es geboren.“ Und bald darauf ſchnarchte der gute 
feiner Dienerichaft ebenfalls gut. Damit es ihr Herr. 
gefiele, bezahlte er fie beifer wie irgend jemand in Zwei Tage darauf fand die Ziehung flatt. 
der Provinz, und außerdem beſchenkte er fie bisweilen, | Jacinto, der nicht umionft viele Jahre Kammerdiener 


Aus dem Spanifchen überfezt von A. Rudolph. 











Loſe Blätter. 


geweien war, wußte es jo einzurichten, daß fein Herr 
ihn nad) der Stadt ſchickte, um irgend welche nötigen 
Saden zu holen. Bei Einbruch der Nacht ſchneite 
es gehörig, und Jacinto war immer nod) nicht zurüd, 
obgleich er zeitig aufgebrochen war. 

Die Diener waren in der ſtüche, wie immer, ver« 
jammelt, als fie leiſes Pferbegetrappel auf bem 
friſchen Schnee hörten, und bald darauf kam Jacinto 
wie eine Bombe zur Thür hereingefallen. Er war 
blaß, zitterte und ſprach mit matter Stimme: 

„Das große 203!” 

Der Marquis befand ich gerade in jeinem Arbeits- 
zimmer, hatte die Beine in Deden gehüllt und raudhte 
eine Havanna, während der Kaplan die politischen 
Neuigkeiten aus der Zeitung vorlat, Bald wurde 
die Borlefung unterbrodyen,, und beide Taufchten auf 
den Lärm, der aus der Küche drang. Es ſchien 
ihnen anfangs, als ob die Leute ſich zanften, aber 
bald hörten fie, daß es nur große, ſtürmiſche FFreuden- 
ausbrüche waren. Der Marquis fühlte ſich in feinem 
Anfehn bedroht und jandte den Kaplan nach der 
Küche, um ſich zu erfundigen, was gejchehen fei, und 
Ruhe zu gebieten. Nach wenigen Minuten fam der 
Abgefandte zurüd, ließ fih auf das Polfter fallen 
und ſprach mit röchelnder Stimme: „Ich erjtide,“ 
riß ſich den Kragen ab und zerrte an der Weite, um 
fie aufzumaden. Der Marquis kam ihm zu Hilfe 
und fächelte ihm mit der Zeitung Luft zu. Darauf 
fam von feinen Lippen in abgebrocdhenen Worten: 

„Das große Los ... haben wir ge — wonnen !“ 

. Troß feiner Gelenfleiden eilte der Marquis mit 
nie gejehener Schnelligfeit nad) der Küche. Als er 
unter die Thür trat, blieb er erftaunt über den ſich 
ihm Ddarbietenden, merkwürdigen Anblid flehen. 
Galebonio und Dona Rita tanzten und hüpften wie 
eleftrifch gewordene Holumderfügelhen. Jacinto 
tanzte mit einem Stuhl, Pepa ſchlug mit einem Stiel 
an eine Pfanne und machte eine jchredliche Mufif, 
Der Vogt Tag am Boden, wälzte ſich herum und 
ſchrie wie ein Beſeſſener: „Gelobt fei die heilige 
Jungfrau!“ Kaum bemerkten dieſe Tollen den 
Marquis, als fie fih mit offenen Armen auf ihn 
flürzten. Ohne daß er es hindern konnte, hoben 
fie ihn in die Höhe, fangen und tanzten und warfen 
ihn ich wie einen Gummiball zu. Sie jdhleppten 
ihn in der ganzen Küche herum, und als fie ihn 
wütend fahen, ließen fie ihn auf den Boden jallen. 
Die Köchin hob ihn auf und tanzte mit ihm Galopp, 
während der Vogt ihm einen Schlauch Wein hinhielt 
und ihn drängte, zu irinfen. Er fagte, er märe 
ausgezeichnet, was er ficher wilfen mußte, denn er 
hatte ihn allein faft ausgetrunfen. 

Sobald er fid) losmachen konnte, flüchtete ſich der 
Marquis nad feinem Zimmer. Er hatte üble Laune 
und gedachte fie an dem Kaplan ausjulafien. Zu 
feinem großen Erftaunen traf er den Kaplan in 
feinen Mantel gehüllt und im Begriff, fi den Hut 
aufzuſetzen. 

„Um Gottes willen, wo wollen Sie hin?“ rief 
der Marquis. 


1149 


Nun, mit ſeiner Erlaubnis ging Don Calixto 
nad) Sevilla, feine Familie zu bejuchen und ihnen 
die angenehme Nahricht zu bringen. Auch wollte 
er ſelbſt ſeinen Anteil am Zehntel eintafjieren, eine 
Summe von einigen taufend Thalern. 

„Und da verlaffen Sie mich ? Und die Meſſe?“ 

Da ftedte der Kammerdiener feinen Kopf zur 
Thür herein. Wenn der Herr Marquis erlaubten, 
wollte er auch gehen, um feinen Anteil einzufajjieren. 
Der Marquis erhob die Stimme und ſagte, man 
müſſe vom Zeufel bejeijen jein, wenn man zu dieſer 
Stunde und bei einer Biertelelle Schnee fortginge. 
Darauf antworteten beide, um zwölf fäme der Zug 
an der nächſten Station vorbei, und bis dahin kämen 
fie ſchon zu Fuß, oder wie fie könnten. Schon 
wollte der Marquis jagen: „Jacinto bleibt da, denn 
ich brauche ihn,* als fi) in der Thür das rote Ge— 
ficht des Kutſchers zeigte, der, ohne um Erlaubnis 
zu bitten, und mit umverjchämter Freude ſich von 
feinem Herrn verabjchiedete, denn er ginge fort, um 
die Moneten zu holen. 

„Und die Maultiere?* ſchrie der Herr. 
der Wagen, wer ſoll ihn bejorgen?* 

„Der, den Eure Gnaden beftellen, ich werde aber 
nicht mehr fahren,“ antwortete der Kutjcher und drehte 
fih um, um Dona Rita vorbeizulaffen, die nicht 
wie gewöhnlich, demütig, und als ob fie auf Eier 
trete, anfam, jondern mit aufgelöftem Haar, lebendig 
und lachend. Sie ſchwenkte ein Schlüffelbund in 
der Hand, das fie dem Herrn reichte. 

„Willen Sie, Euer Gnaden, der ift zur Vorrais— 
fammer, der zum Wäſcheſchrank, der ...“ 

„Der Teufel hole euch alle zufammen!” fuhr der 
Marquis auf. „Jetzt ſoll ich jelbft kochen, Sped 
und Bohnen herausnehmen! Gehen Sie zur...” 

Donna Rita hörte den Schluß der Verwünjchung 
nit, denn fie war trällernd fortgegangen. Die 
übrigen folgten ihr und hinterher wütend der Marquis, 
der fie in der Küche beinahe eingeholt hätte. Aber 
nad) dem Hofe wagte er, der Kälte wegen, nicht zu 
folgen. Beim Mondſchein fah der Marquis, wie fie 
fi entfernten. Voran ging Don Galirto, dann 
Galedonio mit Donna Rita am Arm und zuleßt 
Jacinto, dicht an eine weibliche Geſtalt geſchmiegt, 
in weicher er Pepa, die Köchin, erlannte. „Alfo bie 
Heine Bepa au!" Der Marquis lieh feine Blide über 
die verödete Küche jchweifen. Er jah das ausgehende 
Teuer und hörte ein furchtbares Schnarchen. Am 
Teuer hingejtredt, jchlief der Vogt feinen Rauſch aus. 

Am nächften Tage bereitete der Hirt, welcher 
dem Glüd nicht getraut hatte, für den Marquis 
von Torresnobles eine Brotfuppe und ein Knoblauch— 
gericht, damit der edle Herr an dem eriten Tage, 
an dem er ald Millionär aufwachte, etwas Warmes 
eſſen konnte. 


„Und 


* 

Es ſcheint überflüffig, die prachtvolle Einrichtung 
zu bejchreiben, Die der Marquis fi in Madrid an« 
ſchaffte, aber erwähnenswert iſt, daß er einen Koch 
annahm, deſſen Speiſen gaſtronomiſche Meiſterwerke 


1150 


waren. Man vermutete, dab die Merle dieſes vor- 
trefflichen Künſtlers die Sranfheit erzeugten, welche 
den Marquis ind Grab brachte. Dennod glaube 
ih, daß der Schred und der Fall, welchen er erlitt, 
als jeine prächtigen engliſchen Pferde durchgingen, 
der wahre Grund feines Todes war. Seinen neuen, 
prädtig eingerichteten Palaft in der Alcalaſtraße 
hatte er nur wenige Monate bewohnen fünnen. 

Als man das Teftament des Marauis öffnete, 
ftaunte man, dab er zu feinem Erben den Hirten 
von Fuencar ernannt hatte, 


— — 


Folk-lore aus Andaluſien. 
Aeberſetzt von Luife Ey. 





Gar ſchwierig iſt's, in allen Sachen 

Den Leuten es recht und aut zu machen. 

Was Peter zu weit, ift Micheln zu enge, 

Bans fchmält über Kürze und Kunz über Länge 
Und Klas gar anf beides zu gleicher Zeit: 
Kurz, feinem, feinem paßt das Kleid. 


“ 
Wie glaubt’ ich an die Reize wohl, 
Die ohne Zweifel dich zieren? 
Wenn id, o Schöne, dran alauben fol, 
So laß fie mich erft ftndieren! 
* 
Trau nicht, noch mißtrau ohne Grund, 
Straf andrer Kinder nicht, noch Hund! 
Zahme fein Füllen, verpflanz feinen Wein, 
Behalte dein Weib für dich allein! 
® 
Uebel nenn’ ich folche Keiden, 
Die nicht töten, fondern quälen; 
Die auf einen Streich uns töten, 
Möcht' ich zu den guten zählen. 
* 
Warum willſt du, o Kerze, dich 
In Ungeduld verzehren? 
Weit beſſer: Begehren ohne Beſitz 
Als beſitzen ohne Begehren. 


—— — 


Drientaliſche Lebensweisheit. 
Arabiſchen Schriftquellen entnommen und überlſeht 
von Egmont Aladin. 


Ein braver Diener, jagt Kisra, ift beſſer ala 
der eigne Sohn; denn nur in dem Leben jeines 
Herrn fieht der Diener fein Glüd, der Sohn da« 
gegen erhofft jein Glüd nad) dem Tode des Vaters. 

# 
Diener ift, wer jelber viele Diener hat, 
(Arabifches Sprichwort.) 


Wenn ein Menſch, der einen Fehler begangen 
hat, bereuend ſich dir naht, und du verzeihjt ihm 
nicht, jo ruht hinfort die Schuld auf dir, 

(Mohammed Benulhazim, arabifher Dichter.) 


—— — —— — —— — — — — — — — u u — — 


Loſe Blätter. 


Der Kalif Omar ging nachts durch die Strafen. 
Da hörte er aus einem Hauje Geſang und Bedher- 
‚ Hirten ſchallen. Er ftieg über die Mauer, ging 
| feife hinein und jah im Gemad einen Mann mit 
' einem Weibe Wein trinten. „O du Feind Gottes, * 
| rief er aus, „glaubft du, Allah wird dich beſchühen, 
wenn du feinen Geboten ungehorfam biſt?“ — „Sei 
nicht fo raſch in deinem Urteil,” erwiderte der Fröh— 
lie dem Fürſten der Gläubigen. „Wenn id ein 
Gebot Gottes verlekt habe, jo haft du num gleid 
drei auf einmal übertreten. Denn Gott ipricht im 
Koran: ‚Forſchet nicht heimlich umher‘, und du bift 
ausgegangen bei nachtſchlafender Zeit, um heimlich 
herumzuforſchen. Ferner: ‚Gebet nicht von rüd: 
wärts in die Häufer‘, du aber bift jogar über dic 
Mauer in mein Haus gefliegen, — und endlich ſagt 
Allah: ‚Betretet nicht fremde Häufer, außer euren 
eignen, bis dab ihr angefragt und die Erlaubnis 
erhalten und die Einwohner begrükt habt‘, und du 
haft nicht angellopft und bift ohne Gruß bier ein- 
getreten!” — „Ih Habe unrecht gethan,“ ſprach 
darauf Omar; „willft du mir verzeihen ?“ 
Hoffe nicht auf Beilerung eines Echuldigen, der 
die Entichuldigung jeines Vergehens wit Gründen 
miſcht. 


Wer auf Ohreubläſer hört, der ſtopft ſein Ohr 
mit diden giftigen Jungen voll.  (Mbur-Temmän,) 
* 
Der Edle iſt milde bei Verteilung feiner Gunſt. 


der Unedle hart bei jeiner Wohlthätigfeit: 
(Sad ben Zfäbit.) 


« 


w 


„Ih kann dem Manne meine Bewunderung 
nicht verjagen,” ſprach der Kalif Moavia, „der, 
wenn er etwas mit Gewalt erreichen könnte, es durd 
Beweis feines Rechts erreicht und, wenn er etwas 
mit Härte erzwingen fönnte, durch Milde zum Ziele 
lommt.“ 





Andreas Karkawitzas. 

Der Berfaffer der Erzählung „Ein Unglückszeichen“, 
den Leſern dieſer Zeitichrift bereils aus dem „Berfehm: 
ten“ befannt (f. „Aus fremden Zungen“ 1894 Rr.6i, 
gehört zu den bedeutendften Vertretern ber jungen Er: 
zählungslitteratur Griehenlands. Der erjt etwa füni: 
unddreifig Jahre alte Schriftfteller Hat fich um die 
Ausbildung einer nationalsvollstümlichen Pitteratur 
bereitö ſehr verdient gemacht, indem er mit umter 
den eriten den reichen Rohſtoff des Vollslebens für 
die Fitteratur nutzbar gemacht, ihn künſtleriſch ge 
ftaltet und pſychologiſch vertieft hat — kurz, er ift 
der Schöpfer der neugriehiichen Vollserzählung, im 
Stoff wie in der Form. Sein zweites großes Ver 
dienft ift, daß er in richtiger Erkenntnis des orgar 
niſchen Zufammenhangs zwiſchen jahlichem Inhalt 
und jpradjlicher Form mit der bisher in der griechiichen 
Proja allein herrſchenden altgriechiſch-byzantiniſchen 
Kirchenſprache gebrochen, die frifche, Fernige und 








Loſe Blätter. 


bilderreiche Vollsſprache an ihre Stelle gejekt und 
io den Grund zu einer wirklich nationalen Litteratur« 
ipradhe gelegt hat, die den Griechen biäher noch 
fehlt. Dieje Erkenntnis hat fich aber erjt allmählich 
in ihm vollgogen. Die erfte Sammlung feiner Er- 
zählungen (1892), welche unter anderm auch ben 
1888 entjtandenen „Verfehmten“ enthielt, war nod) 
in der alten fonventionellen Kunſtſprache geſchrieben; 
aber inzwilchen hatte er dieje abgejchworen, und das 
Vorwort diefer Sammlung ift bereits in der lebendigen 
jogenannten Vollsipradhe verfaßt. Es zeigt ſich in 
diefer Wandlung ein Hebergang wie etwa in Italien 
zur Zeit und in der Perſon Dantes, der ja in 
jeiner Jugend noch lateinisch jehrieb, oder wie be» 
deutend jpäter bei den flavijchen Völkern, zum Beijpiel 
bei den Rufjen jeit Karamſin (geb. 1765), bei den 
Serben jeit Obradovicz (geboren 1739) und be= 
ſonders jeit Vuk Karadzicz (geboren 1787), die aud) 
erſt die nationale Sprache aus dem Banne des bis 
dahin allmächtigen, aber erftarrten Altjlavischen (das 
jogenannte Kirchenſlaviſch) befreien mußten, Dieier 
interejjante Prozeß vollzieht ſich jetzt auch bei den 
Griehen, und Karlawißas ijt fein eifrigfter und 
begabtefter Förderer. 

Für die Beurteilung feiner Litterarijchen Bes 
deutung ift bemerfenswert, daß er feiner fremden 
Sprade mächtig ift, und daher fremde litterarifche 
Einflüſſe auf die Entwidlung feines Darftellungs- 
talentes nur in beſchränltem Maße einwirken fonnten. 
Sodann ift nicht zu überjehen, daß fein Name auf 
ſlaviſche Abſtammung weil. Belanntlich ift ber 
Peloponnes, aus dem Karkawitzas gebürtig ift, im 
Mittelalter ſtark jlavifiert worden. Diefe Thatjadhe 
jtellen zwar die Griechen aus falſchem Batriotiamus 
immer noch gern in Abrede; gerade das Beifpiel Karka— 
witzas' zeigt aber, daß fie fich der ſlaviſchen Beis 
miſchung durchaus nicht jo ſehr zu ſchämen brauden, 
Iebenfalls jcheint Karkawitzas' Kunſt in der pſycho- 
logiſchen Schilderung und Analyje ein jlavifches Erb» 
teil zu fein. 

Seinem bürgerlihen Beruf nad) ijt Karkawißas 
Arzt, und gewiß darf man annehmen, daß aud 
dieje Berufsthätigfeit auf die Entwidlung jeiner 
pſychologiſchen Beobachtungsgabe nicht ohne günftigen 
Einfluß geblieben iſt. Ihr verdankt er aud den 
Stoff zu der vorliegenden Erzählung: zwei Jahre 
als Schiffsarzt thätig, hatte er Gelegenheit, das an 
charakteriſtijſchen Eigentümlichkeiten reiche Leben ber 
griechiſchen Seeleute, wie es fi in dem maleriſchen 
griechiſchen Injelmeere abjpielt, mit eignen Augen 
zu Studieren. Aus dieſem Studium erwuchs eine 
Reihe erzählender Schilderungen, die als „Plaudereien 
vom Vorderded” nacheinander veröffentlicht wurden, 
Zu ihnen gehört auch die Erzählung: „Ein Unglüds- 
zeichen“ (1895 erjchienen), die ebenſoſehr wegen der 
feinen Charakteriftit der Hauptfigur wie wegen der 
ftimmungsvollen Ausmalung des landſchaftlichen 
Hintergrundes Intereſſe verdient. x. D. 


1151 


Eine Namensändernng in Zolas „Paris. 
Jedes neue Werk, das Emile Zola erſcheinen läßt, 
pflegt feinem Autor neben enthuftaftifcher Bewunderung 
auch eine Anzahl von Angriffen einzutragen, die der 
Dichter mit Refignation oder gutem Humor über ſich 
ergehen läßt. Sein neuer Roman „Paris“ jcheint 
von dieſer Regel keine Ausnahme zu machen. Zolas 
erbittertfte und prinzipielle Gegner, die Indersflons 
gregation und der grimme Kritiker Ferdinand Brune— 
tiöre, haben fich zwar noch nicht geäußert und werden 
ihr gewohntes Verdammungsurteil erit ſprechen, wenn 
der Roman vollftändig erjchienen tjt; aber die Klafje 
der argwöhnifchen und ängftlichen Leute, die in den 
Figuren eines Romans ihre eignen Porträts zu er- 
fennen oder ihren guten Ruf gefährdet glauben, weil 
ihr Name zufällig darin vorkommt, fängt bereits an, 
dem Autor von „Paris“, faum dab die Veröffentlichung 
des Romans begonnen bat, durch Refriminationen 
das Leben jauer zu machen. Schon hat ſich Zola in 
einem kürzlich mitgeteilten Geſpräch mit einem Parifer 
Journaliften gegen die ihm gemad)te Unterftellung 
verwahren müfjen, daß er in „Paris“ beftimmte zeit— 
genöſſiſche Perjönlichkeiten habe zeichnen wollen, und 
jeht hat ein Herr Andre Sagnier, chemaliger Direktor 
der Bibliothek der republifaniichen Propaganda, da— 
gegen Einipruch erhoben, daß ein in dem Roman 
vorfommender Publizift, der Chefredakteur der „Voix 
du peuple*, der in jeinem Blatte jenjationelle Ars 
titel über angebliche „Standale“ veröffentlicht und von 
andern Perfonen des Romans mit wenig jchmeichel- 
haften Bezeichnungen, wie,imbecile* „foudangereux* 
und jo weiter, belegt wird, feinen, Sagniers, Namen 
trägt. Er hat in einer Eingabe an den Polizei— 
präfelten, geftütt auf Enticheidungen aus den Jahren 
VIII und IX (!), die fofortige Umtaufung feines 
Namensvetters indem Roman verlangt. Zola,derficher- 
lich nicht daran gedacht hat, Herrn Andre Sagnier 
nahezutreten, jondern den Namen völlig frei erfunden 
hatte, hat fich ohme weiteres bereit erflärt, aus dem 
„Sagnier“ einen „Sanier“ zu machen, fo daß Herrn 
Sagnierd Ehre nun wieder als gerettet gelten darf 
— ein Rejultat, das er bei der befannten Liebens— 
würdigfeit Zolas wahricheinlic auch ohne das ſchwere 
Geſchütz, deſſen er fich bedient hat, erreicht hätte. 
Dem geplagten Autor aber ift zu wünjchen, daß nun 
nicht aud) ein Herr Sanier jeinen guten Ruf durch 
ihn angetaftet findet. —r. 
* 


Zur Charakteriſtik Tolftojs. Ein Mitarbeiter der 
ruſſiſchen Zeitſchrift „Orlowsky Wjeſtnif“, der kürze 
lich mit Tolſtoj zu ſprechen Gelegenheit hatte, weiß 
einige intereſſante Mitteilungen über den berühmten 
Dichter zu machen. In feiner Stellung zur Muſik 
iſt Tolſtoj konſervativer, als nach ſeinen litterariſchen 
Werfen und Anſchauungen zu erwarten wäre, Richard 
Wagner ift in jeinen Augen ein Defadenter, der 
die Inſpiration durch Verftandesthätigkeit erſetzt; er 
hat in jeiner Muſil wenig Melodie, liebt den Lärm 
und ift für die große Menge unverſtändlich. Tolſtoj 
giebt der anſpruchsloſeſten Volksweiſe den Vorzug 


1152 


vor Wagners großartigiter Kompoſition. — Für die 
Politik hat der Dichter ein äußerft lebendiges Inter- 
eſſe und ſpricht fich im ſehr fräftigen Worten über 
die politiichen Verhältnifje in Rußland aus, Die 
litterariiche Thätigfeit nimmt indefjen im feinen Zus 
funftsplänen die erite Stelle ein, und aus einer 
Feder iſt nod manches Werk zu erwarten, um jo 
mehr, als er alle körperliche Arbeit und Beſchäſti— 
gung, die ihm font befanntlich Bedürfnis und Ge— 
wohnheit war, jeit einiger Zeit hat aufgeben müfjen. 
Sein Alter und fein Gefundheitäzuftand, erflärte er, 
erlauben ihm nicht mehr, jo zu leben, wie er es 
nad) den Naturgejegen und nad den Vorjchriften 
des Evangeliums für geboten erachtet. 


* 


Ein moderner Magier. Zu den wunderlichiten 
Erſcheinungen des franzöfiichen Defadententums fin 
de siöcle gehört die originelle Perjönlichkeit des 
Schrijtitellers Jojepbin Pöladan (geb. 1858 zu Lyon), 
„Sar Peladan* oder „Sar Merodach“ genannt. 
Er zeigte vielverjprechende jchriftitellerijche Begabung, 
dod genügte e& ihm nicht, banale Lorbeeren wie 
andre Leute von Talent zu pflüden. Er erhob fi 
über jeine Kollegen in das Neid) des Myſtizismus, 
Spiritismus und Occultismus, und fuchte einen 
ejoterijchen Neufatholizismus im Geifte des „dia= 
boliſchen“ Dichters Barbey D’Aurevilly zu gründen, 
Selbftverftändlih fand er, wie jeder überjpannte 
Kopf, feine Anhänger und Bewunderer. Einft 
gerierte er fi als Mephiftopheles und jpazierte in 
ihwarzem Sammetanzug, furjem Beinfleid und 
jeidenen Strümpfen einher; eine brennend rote ſtra— 
watte zierte feine Bruft. Jetzt läßt er ſich „Sar“ 
nennen und giebt fi für einen Ablömmling chal— 
däifcher Fürften aus, Haar und Bart hat ſich der 
„Sur“ nad dem Mufter der ajiyriichen Fürſten— 
häupter im Louvremuſeum zuftugen und ſich jo jür 
jeine Bewunderer malen lajien. Als er ji vor 
zwei Jahren mit einer reichen Witwe vermählte, 
unterbrach er die Trauungszeremonie und jehte maje- 
jtätifch, wie Napoleon auf dem befannten Bilde von 
David, jeiner Gattin ein Diamantengefhmüdtes Dia- 
dem auf das Haupt. Neuerdings hat Peladan die 
Hünftlerfette der „Roſenkreuzer“ gegründet, die alle 
jährlich unter feiner Leitung eine Ausjtellung ſym— 
boliiher und myſtiſcher Kunftwerfe, vorwiegend Ge— 
mälde, in der Nue de la Pair veranjlaltel. Der 
‘ Bund, „Ordre de la RosefCroix du Temple et du 
Graal*, hüllt jih in allerhand myjteriöje Bräuche 
und Formeln, die mittelalterlichen Geheimbünden 
entlehnt find; übrigens zählt er bedeutende Künſtler 
ju feinen Mitgliedern, und jeine „Salons“, das 
heißt die Ausftellungen diejer Vereinigung, ſpielen 
im Sunftleben von Paris eine große Rolle. Eine 
gewiffe Beachtung hat der „Sar“ aud) als Schriſt- 
jteller gewonnen, und man muß ihm, um gerecht 
zu jein, eine hohe poctiiche Begabung zuerlennen. 


Loſe Blätter. 


„Le vice supreme“ und „La victoire du mari*, 
die er jelbft zu den Werten der „D&cadence latine* 
zählt, find ein wunderliches Gemiſch von Simnlid: 
feit, fauftijcher Grübelei, Bejhwörungen und märden: 
hafter Symbolif, womit die jüngfte franzöfiihe De: 
fadenz mit Vorliebe ihre Erzeugniije füllt. A. Dr. 


* 


Der Geheimpolizift im englifchen mud franzö« 
ſiſchen Roman. Charles Didens hat den englifchen 
Geheimpoliften zuerft für den Roman entdedt; jein 
Inſpeltor Budet in „Bleafhouje” ift der Fitterarifche 
Typus, die Verförperung von Findigkeit, Klugheit 
und Gewandtheit, die fid) in den Dienft des Rechtt 
und der Ordnung gejtellt hat. Seitdem hat jeder 
Romanjchreiber ſich verpflichtet gefühlt, feinen Iekten 
Vorgänger in der Schilderung des Geheimpoliziften 
zu überbieten, und jo ift allmählich ein Ideal des 
Geheimpoliziften entftanden, vor defjen übermenid- 
licher Klugheit, vor deifen geradezu wunderbarer frait 
logiſchen Schließens der gewöhnliche Sterblide in 
Erftaunen dajteht. Wir kennen alle den Mann, der 
den kleinſten Riß in einer Witwenhaube bemerkt und 
dann ſchnurſtracks nach Whitechapel geht und den 
Mann ergreift, der allein von allen Uebellhätern 
gerade an dem betreffenden Stüd der Witwenhaub: 
und gerade auf die betreffende Weiſe Riſſe hervorju- 
bringen pflegt; wir fennen den Mann, der eine 
Fußſpur nad) anatomijchen Anhaltspunkten beurteilt, 
den Betrag der geftohlenen Lebensmittel hinzu addiert, 
das Ergebnis dividiert durch das Metter zur Zeit 
des Einbruchs und dann unfehlbar den Namen der 
Kneipe herausbekommt, wo der Schuldige gerade mit 
feinen Kumpanen den Erlös verjubelt. Wir ale 
fennen dieſen Mann, der mit der ganzen Bande 
von Verbredhern auf du und du fteht, und ber nur 
den Finger aufzuheben braudt, um jeden zum’ Fil- 
tern zu bringen; und wir möchten diefen Mann wicht 
vermiſſen, wenn wir eine Erzählung zur Hand nehmen, 
um uns einen litterarifchen Genuß zu leiſten. Abet 
nit nur die Engländer haben diejes litterariſche 
Bedürfnis befriedigt und das Jdealbild des Geheim- 
polizijten geichaffen, nein, aud) die Fyranzofen, immer 
überlegen an Phantafie, haben ſich auf diejes Fild 
geworfen. Die Geheimpoliziften der franzöfiiden 
Erzähler erfüllen in noch höherem Grade alle Ans 
forderungen einer idealen Bolllommenheit in ihrem 
Berufe. Die franzöfiiche Kriminalgeichichte wird auf 
beiden Seiten des Kanals mit Heißhunger verjhlungen; 
der franzöſiſche Geheimpolizift de Romans ijt dem 
englijhen an Spürkraft und Fernblid weit über. Et 
ift zwar auch im Anfang verblüfft, aber jchliehlih 
triumphiert er über alle Schwierigkeiten und erfüllt 
den Leſer mit dem Eindrud, daß er die Fäden in 
der Hand Hat und die ganze Geſchichte längſt zu 
Ende hätte führen fönnen, wenn das dem a 
in den Sram taugen würde. (Mad dem „London 
Journal“,) Ss 





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DEE” uUm freundliche Beachtung der Ankündigung des neuen Jahrgangs auf der zweiten 
und dritten Seite des Umſchlags wird gebeten. ; 





Berantworilicher Redakteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart, Drud und Berlag der Deutſchen Derlagd-Anfalt 
Driefe und Sendungen find nur an die Deutſche Berlags- Iufalt in Sinttgart — ohne Perjonenangabe — zu rien 





in Stuttgart, 











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