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HARVARD COLLEGE
LIBRARY
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PURPOSES OF INSTRUCTION
IN GERMAN
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Eine Halbmonatsſchrift.
Hiebenter Jahrgang.
weiter Band,
Stuttgart und Leipzig.
Deutſche DVerlags-Anfalft.
1897.
7
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HARVARD
UNIVERSITY
LIBRARY
JUN 23 1941
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Inhalts-Verzeichnis.
1897. Band II. (Beft 13-24.)
(Die mit * bezeichneten Arbeiten find in der Rubrif „Coſe Blätter” erfchienen.)
Aus dem Amsrikanifcden:
Gleichheil. Bon Edward Bellamy. Ueberſetzt von M. Jacobi 769, 817. 865. 913, 961. 1009, 1057. 1105.
Aus ben Arabiſchen:
*Sinnfprüde. Sprihmwörtern nachgebildet von Marimilian Bern 720. 767.
*Orientafifde Lebensweisheit. Arabiſchen Schriftquellen entnommen und überjegt von Egmont Aladin 1150.
Aus dem SBaskifchen:
*Sinnfprüde. Sprihwörtern nachgebildbet von Marimilian Bern 767.'
Aus dem Böhmifchen:
Weihnachtslied für meine Tohter. Bon Jaroslav Vrchlicki. Ueberſetzt von Victor Graf Boos-Waldeck 1144.
Aus dem Dänifcdıen:
Die Geſchichte eines jungen Mädchens. Noman von Erna Juel-Hanjen. Ueberjegt von Ernft Brauje-
wetter (Fortſetzung) 597. 647. 704.
*Hüßneriana. Ein Gleihnis von Guſtav Wied, Ueberſetzt von G. Denwiß 818.
Aus dem GSunaliſchen:
„Srauenlieb““. Bon Rudyard Kipling. MUeberjegt von Leopold Lindau 610.
*Sinnfprüde. Sprichwörtern nachgebildet von Marimilian Bern 720.
Das gemielete Kind. Von Marie Eorelli. Ueberiegt von M. Schulg 851.
Sir Williams Fran, Von W. E. Norris. Ueberſetzt von Marie v. Schmid 1044.
*Mein erfier fitterarifher Erfolg. Von Julie Elojjon Kenley. Ueberſetzt von Guntram Frank 1102.
Aus dem &fimifcen,
Berforgi. Bon Eduard Wilde. Ueberſetzt von Paul Dange 792.
Aus dem Zinnifchen:
Das nahte Modell. Skizze von Jubani Abo. Ueberſetzt von Mathilde Mann 996.
Aus dem Franröfifchen:
Damuniho. Von Pierre Loti. Ueberjegt von E, Philiparie (Fortſetzung) 577. 625. 673.
*Sinnfprüde. Sprihwörtern nacgebildet von Marimilian Bern 720.
Ein trüder Tag. Gedicht von Alice de Chambrier. Ueberſetzt von Dtto Hauer 760.
"Die Tanzordunung. Don Emile Hola. Ueberjegt von Irene H. Gjerbalmi 908.
Grabfäuferinnen. (Les Tombales.) Bon Guy de Maupaſſant. Ueberſetzt von F. Miller 936.
Wie geheiratet wird. Von Emile Zola. Ueberjegt von B. €, 1032,
Das Fe der Däder. Ein Weibnachtamärden von Alpbonje Daudet. UWeberjegt von Guntram Frank 1145.
Aus den: Griechifchen :
Der Tod des Pallikaren. Erzählung aus dem Vollsleben von Koſtis Balamäs, Ueberjet von Karl Dieterich 841.
Ein Anglühszeihen, Von Andreas Karkawitzas. Ueberjegt von Karl Dieterih 1137.
Aus dem Holländifchen:
Sonnenuntergang. Gedicht von E. B. Koſter. Ueberjegt von T. Pluim 640,
Berbaftel. Bon W. G. van Noubuys. Ueberſetzt von Anna Herbit 714.
Aus dem Dtalienifcyen:
*Sinnfprüde. Sprichwörtern nadgebildet von Marimilian Bern 670.
*36r Suftem. Don N. Eorazzini. Ueberſetzt von J. P. 717.
Ein Bunfh. Gedicht von Giujeppina Milli. Ueberjegt von Otto Hauſer 887.
Die Bölfin. Skizze von Giovanni Verga. Ueberſetzt von E. v. Hopffgarten 888.
»Berlorene Liebe. Gedicht von Giojue Carducci. Weberiekt von Joachim v. Dürow 939.
Die Weinfefe. Gedicht von Gabriel d'Annunzio. Ueberſetzt von Valerie Matthes 999.
Aus bem Horwegifcıen:
Sonnenwolken. Erzäblung von Kriſtian Elfter. Ueberiekt von Cora Ihams 72. 798,
»Brantfahrf. Bon Ostar Nagaard. Ueberfegt von Marlott 1101,
Aus dem Perfifchen:
*Der Maler als Freiwerder. Aus dem Tüti Kiamil. Ueberjegt von Egmont Aladin 766.
Aus dem Polnifcyen:
*Sinnfprüde. Sprichwörtern nadgebildet von Marimilian Bern 720.
Das Leidroß. Gedicht von Stefan Witwidi. Weberjeht von Nobert Braune 765.
Seimmweh. Von Henryk Sienfiemwicz. Ueberſetzt von Leonhard Briren 989.
Die Wolke. Gedicht von Seweryn Goszezynski. Weberjegt von Nobert Braune 1099.
IV Inhalts-Verzeichnis.
Aus bem Portugiefifcdren:
*Zwei Nachbarn. Gebicht von Antbero de Quental. Ueberſeht von Luiſe En 797.
Fofk-fore. Weberiegt von Luiſe Ey 910,
Aus dem Numänifchen :
Gedichte von ©. Eosbuc. Weberjegt von W. Rudow. 1. In der frühe. 2. fFresto-Ritornelle 609.
"Drei Bani. Bon. Blabuga. Ueberſetzt von Mar Schroff 668.
Erinnerung. Von A. Vlahutza. Ueberjet von W. Rudow 891.
Gedichte von U. C. Cuza. Ueberjekt von W. Rudow 1067.
Aus dem Nufifchem:
Diener. Pier Porträts von J. A.Gontſcharow. Ueberjegt von A. Olſchwang und H. Siryzanomäti. II. Anton 591.
III. Stjepan mit der Familie 641. IV. Matwei 691.
*Sinnfprüde. Spridwörtern nadhaebildet von Marimilian Bern 669. 720.
Das neue Leben. Don Marim Bjelinski. Ueberſetzt von Aleris Martom 893. 940.
Der Beitungsihreiber und der Keſer. Don Schtihedrin (M. Saltufow), Leberjegt von Nina Hoffmann 1054.
Miſchlla. Von Glieb Uſpensky. Weberjegt von U. Olſchwang und 9. Slmzanowati 1182,
Aus bem Schwediſchen:
Modernes Suftem. Gedicht von Auguſt Strindberg. Ueberſetzt von Otto Hauſer 690.
Ein Courtiſeur. Bon Tor Hedberg. Weberiegt von Otto A. Wied 761.
Life, Von Jane Gernandt-Claine. Weberjegt von Francis Maro 952,
*Die Legende vom Bogelnefie. Erzählt von ©. Lagerlöf. Ueberiegt von Reinhold Hahn 1005.
Reubau. Novelle von Auguſt Strindberg. Ueberſetzt von Guftan Lichtenftein 1068.
Aus bem SHerbifchen:
*Sinuſprũche. Spribwörtern nacdhgebildet von Marimilian Bern 767,
Aus bem Spanifdıen:
*Hofk-lore aus Andalufien. Ueberſetzt von Luiſe En 910. 1150,
"Fran Foriuna und Kerr Mammon. Gin Märchen. Ueberſetzt von Yuile Eu 957.
Ein Enkel des Eid. Don Emilia Pardo-Bazän. Ueberſetzt von A. Rubolpb 1096.
*Das große £os. Don Emilia Bardo-Bazdän. Weberjegt von A. Rudolph 1148,
Aus bem Angariſchen:
*Bater geht auf die Jagd. Don KH. Murai. Ueberſetzt von W. Rudow 621.
Herrn Walters Lil. Von E. Sas. Ueberſetzt von W. Rudow 665.
Das Zauberſtraut von Kohina. Erzählung aus dem Dorfleben. Non Koloman Mikszäth. Ueberſetzt von
Irene H. Cſerhalmi 741.
Bom armen Sadistans Zeöthy. Von Thöt Kälmän. Ueberſeht von A. Dirr 861.
Maädchen — Liedhen. Gedicht von Mihael Tompa. Ueberſetzt von Andor v. Sponer 890,
Eine Kußgeſchichte. Von Bartholomaus Szalöczy. Ueberſetzt von Andor v. Sponer 1000.
Meine Kiebe. Gedicht von Minka Czöbel. Ueberſetzt von Andor v. Sponer 1053.
Fitterarifhe Artikel, Notizen und Mitteilungen.
(In der Rubrif „Lofe Blätter*.)
Frankreich und bie Litteratur des Auslandes 622. I Die befabente Richtung der beutigen franzöſiſchen Litte⸗
Ein Brief Ouidas 624. ratur. Von A. Brunnemann 959,
Zur Entwidlung des modernen Romans 670. Ein neues Wert von Tolftoj 1008.
Kleine Mitteilungen 672. 816, Mart Twain 1008.
Die Nerven in der Kunſt und der Litteratur 767. Turgenjeff und feine Freunde in Frankreich 1008.
Urteile eines Franzoſen über die Deutichen 768. Zolas „Paris“ 1055.
Die deutiche Litteratur und das Ausland 816. Das Ende Maupaflants 1108.
Koſtis Palamäs 863, Das höchſte Schriftitellerbonorar 1104.
Der litterariiche Internationalismus 863. Wie ein moderner engliiher Schriftiteller arbeitet 1104.
Die Akademie Goncourt 864. Geniehen Büchertitel den Schuß des geiltigen Eigen-
Schreibt Ibſen norwegiſch? 864. tums? 1104.
Schriftitellerbonorare vor 60 Jahren 864. Andreas Narfawigas 1150.
Edward Bellamy 910. Eine Namensänderung in Zolas „Paris“ 1151.
Die Wiedererwedung der langue d’oc 910, Zur Charafteriftif Tolitoj3 1151.
Guftave Flaubert und die „Bovary“ 911. x Ein moderner Magier 1152.
Wie Romane gemacht werden 912, Der Geheimpolizift im engliſchen und franzöfiichen Ro»
Desinfigieren der Bücher 912, man 1152.
re —
MHamuntcho.
Vierre Loti.
Aus dem Iranzöfifchen überfeßt von E. Vhiliparie.
(Fortichung.)
VII.
Blei grauer, falter Morgendämmerung erwachte
Namuntcho in feiner Wirtsftube mit dem fortdauern-
den Gefühl des geftrigen Glückes — nicht mehr ber
wirren Angjt, die ihn jo häufig beim allmählichen Er»
wachen erfahte.
Draußen hörte er das Scellengeflingel de& zur
Weide geführten Viehes; die Kühe brüllten dem an-
brechenden Tage entgegen, die Gloden läuteten, und
an der Mauer des großen Plaßes prallte ſchon der
basfijhe Ball au: das ganze Geräuſch des beginnen-
den Tages im pyrenäifchen Dorfe. Für Ramumtcho
waren «8 Feſtllänge.
Frühmorgens fliegen die beiden Freunde wieder
in ihren Heinen Wagen, und die Barette, wegen des
Windes beim Fahren, tief über bie Stirne ziehend,
fauften fie im Galopp über die leichtbereiften Wege
dahin.
Als jie gegen zwölf Uhr in Etcheͤzar ankamen,
hätte man glauben lönnen, e& jei Sommer geworden,
jo herrlich ſchien die Sonne.
Im Gärten vor ihrem Haufe ſaß Graziella
auf der fteinemen Banf.
„Ih habe mit Arrochtoa geſprochen,“ jagte Ra-
muntdho mit einem glüdlichen Lächeln, ſobald er
allein mit ihr war, „und er iſt ganz auf unjrer
Seite — du weißt?“
„O,“ entgegnete die Heine Braut mit traurig |
finnender Miene, „o, natürlid) .. . mein Bruder, ich
wußte e8! Das war fiher! Ein Ballipieler wie
du, mußt du denken! — das gefällt ihm! Wenn
man ihn hört, giebt e& nichts Höheres!“
„Aber auch deine Mama, Gacchutcha, begegnet
mir feit einigen Tagen viel freundlicher, finde id)...
So zum Beijpiel am Sonntag, als ich dich zum
Zanz aufforderte.“
„D, verlaß did) darauf nicht, mein Ramuntdo,
Meinft du vorgeitern, nad) der Kirche? Sie hatte
gerade mit der Schweiter Oberin geredet, haft du's
Aus fremden Burgen, 1897, IT. 1%,
aufgebradyt, ich jollte nicht mehr mit die auf dem
Plabe tanzen - - und nur um fie zu ärgern — bu
verftehjt! Aber, wie gejagt, verlaß Dich nicht
darauf...“
„O,“ antwortete Ramuntcho, deſſen Glück ſchon
wieder zu ſinken drohte, „'s iſt wahr, ſie ſtehen nicht
gut zufammen ...“
„Richt gut? Mama und die Schweiter Oberin ?
Wie Hund und Rabe, ja!... Seitdem die Rebe
von meinem Eintritt ins Kloſter war — erinnerft du
dich nicht der Gejchichte ?*
Er erinnerte ji im Gegenteil jehr gut, und
noch fühlte er den Schreden. Die lächelnden, ge—
heimnisvollen Schwarzen Nonnen hatten es einmal
verfucht, den feinen, eigenwilligen Blondkopf mit
jeinem maßloſen Bedürfnis nad Liche in ihr fried—
liches Kloſter zu locken.
„Gatchutcha, du biſt ſtets mit den Schweitern
zufammen! Warum? Erlläre es mir! Gefallen
fie dir jo gut?“
„Die Schweftern? Nein, Namuntdho, befonders
nicht die jehigen, die neuen, die ich faum kenne, —
denn man ſchickt jo oft andre her, du weißt es ja...
Die Schweftern!.. .. nein!... Id muß dir fogar
geftehen, daß ich, gerade wie Mama, die Schweiter
Oberin nicht leiden Tann...“
„Weshalb alſo?“
„Run, weißt du, mic gefallen ihre Lieder, ihre
Kapellen, ihr Mofter, alles!... Ich kann es dir
nicht auseinanderjeßen. Und überhaupt... Jungen,
die verſtehen das nicht... „“
Das leiſe Lächeln, mit dem fie es fagte, war
bald wieder verſchwunden und machte einem ſinnen⸗
den oder vielmehr abweijenden Ausdrud Platz, den
Ramunichd oft an ihr wahrnahm.
Aufmerkſam ſchien fie vor ſich Hinzufchauen, und
doch war vor ihr nichts zu jehen als die einſame
Straße, die entblätterten Bäume, die erdrückende
braune Maſſe der Gizume; allein eswar,al8ob Graziella
durch jenfeits erblidte Dinge, welche Ramuntchos
nicht gemerft? Nun, die gute Schweiter jagte jehr |
Augen nicht unterſcheiden konnten, in wehmütige
73
578
Ekſtaſe geraten fei. Während beide ſchwiegen, fing
die Betglode zu läuten an und erhöhte noch die
friedlihe Stimmung in dem ftillen Dorfe, auf das
die Mittagfonne ihre wärmenden Strahlen warf.
* Pierre Yoti.
deſſen Lichter von weitem, durch den Regen gelrübt,
herüberſchimmern.
Das Unwetter iſt furchtbar ; ſchon find die Hemden
der Männer ganz durchnäßt, und unter dem tief her—
Den Kopf niederbeugend, machten beide gleichzeitig | untergezogenen Barett peitjcht der Wind um Die
andächtig das Zeichen des Kreuzes.
Nachden bie Glodentöne, die in den baskiſchen
Dörfern gleich dem Gefang der Muezzins im Orient
jedes menjchliche Treiben unterbrechen, verflungen
waren, nahm ſich Ramuntcho ein Herz und fagte:
„sh bin änafllih, Gatchutcha, did immer in
ihrer Gefelljhaft zu wiſſen. Ich kann nicht umhin,
mic zu fragen, was bu im Grund deines Herzens
dabei denkſt.“
Ihn mit ihren dunfeln Augen feit anjchend, ent«
gegnete fie janft jcheltend:
„Wo denkſt du hin? Kanuft du jo mit mir ſprechen,
nad) dem, was wir ums Sonntag abend gejagt
haben? Aa, wenn ich dich verlieren ſollle! ... Ja,
dann vielleiht!. .. . Gewiß fogar! Aber bis dahin,
o nein!... o, ſei unbejorgt, mein Ramuntcho!“
Lange ſah er in ihre Augen, die ihm allmählich |
Geräuſch zu verurfaden, fommen fie langſam, fang«
wieder entzücdendes Vertrauen einflößten, und ſchlieſ⸗
lich Lüchelte er wie ein Kind:
Verzeih mir!“ bat er.
heiten, weißt du! ...“
„Ia, das muß ich jagen — in der That!” und
beide brachen in ein herzliches Lachen aus,
Ramuntcho rüdte num nach gewohnter Art feine
Jade auf die andre Schulter, zog jein Barett auf
die Seite, und ohne andre Lebewohl als ein jreund-
liches Zuniden trennten fie fi, weil bort drunten
an der Straßenede Dolores ſich bliden lieh.
„Ich jage oit Dumme
VIII.
Mitternadt. Eine Mitternacht ſchwarz wie bie
Hölle, mit ſtarlem Winde, peitihenden Regen. Am
Ufer der Bidaſſoa, mitten auf unficherem Grunde,
auf dem tüdijchen Boden, der Gedanken an cin
Chaos wachruft, im Sumpfe, in den ihre Füße cin«
finfen, tragen Männer große Kiſten auf den Schul»
tern. Bis zu den Anieen im Waſſer watend, werfen
fie ihre Loft in ein langes Ding, dunkler nod als
die Nadıt, das ein Boot fein muß; ein verdädhtiges,
am Ufer mit einem Tau befejtigtes Boot ohne
Laterne.
«3 ijt abermals Ilchouas Bande, welche die!-
nal ihren Weg durch den Fluß nehmen will. Einige
Augenblide haben fie angekleidet in einer Schmuggler«
herberge nächſt dem Waſſer gefchlafen, und zur be—
jtimmten Stunde hat der ftet$ nur mit einem Auge
ichlafende Itchoua feine Leute aufgerüttelt. Alsdann
find fie wie die Füchfe unter Faltem, dem Schmuggel
günftigem Regen in die Finfternis hinausgejchlichen.
Jetzt geht e& vorwärts auf das ſpaniſche Ufer zu,
ſich gegen eines der großen, leeren Schiffe.
Ohren, Dank ihren fräftigen Armen jedoch kommen
fie gut und raſch vorwärts,
Plötzlich gleitet in der Dunfelheit etwas wie ein
Ungeheuer auf fie zu. Ein ſchlimmes Ding! Es ift
das Schiff, das allnächtlich mit ſpaniſchen Zoll«
beamten die Runde macht. Eilig müſſen fie jeht
eine andre Richtung einfchlagen, ſchlau dem Feinde
ausweichen und foftbare Zeit verlieren, obwohl «8
ohnehin ſchon jpät ift,
Endlich find fie jedod ohne Störung an das
fpanifche Ufer gelangt, zwiichen die Fiſcherboote, die
bei ſtürmiſcher Nacht hier angefettet vor der „Marine“
von Fontarabia liegen. Jept fommt der wichtige
Augenblid. Zum Glüd bleibt ihnen der Negen treu
und fällt firömend herab, Niedergedudt im Boote,
um nicht geſehen zu werben, nichts redend und mit
den Rudern bis auf den Grund ftohend, um weniger
fam, und jedesmal ftillftchend,, jobald etwas fich zu
beivegen jcheint, durch wirres Dunkel und formfofe
Schatten heran.
Jetzt, dem feiten Lande ganz nahe, drüden fie
Hier ift
die verabredete Stelle; hier ſollen fi) die Kameraden
vom andern Lande einfinden, um fie zu empfangen
und ihre Kiſten bis zum Schmugglerhaufe zu tragen.
Niemand ift da... Wo find fie? Die erſten Mo»
mente vergehen in aufregender Erwartung und einem
Lanern, welches die Sehfraft verdoppelt und das
Gehör verſchärft. Mit weit offenen Augen und
Ohren lauern fie unter dem eintönig niederraufchen-
den Regen. Wo bleiben fie, die jpaniichen Ka—
meraden? Wahrſcheinlich it die Stunde ſchon vor-
über, infolge des langen, durch dieje verwünjchte
Zollrunde verurfachten Aufenthalts, der das ganze
Unternehmen aus dem Geleiſe brachte; fie werden es
für gejcheitert gehalten haben und wieder abgezogen
fein,
Abermals vergehen Minuten in derſelben Stille
und Unbeweglichfeit. Ringsum liegen große, lebloſe
Boote glei ſchwimmenden Tierleihnamen, und über
den Waſſern eine unbeflimmte dunffe Mafle, dunkler
als der Himmel; es find die Häuſer, die Berge am
Ufer... Sie warten, ohne fich zu rühren, ohne zu
Ipredden — wie gejpenftiihe Schiffer am Landung®-
plaße einer untergegangenen Stadt! ...
Almählih erfchlaffen die geipannten Sinne,
Müdigkeit und Schlaf übermannen fie, und fie wiür«
den jogar bier unter dem falten Regen ſchlafen, wäre
ihre Yage nicht jo gefährlich.
Ramuntdo. 579
Itchoua Hält endlich ganz Ieife in baskifcher
Sprade mit den Nelteften Rat, und fie bejchließen
ein lühnes Wagnis.
Da bie andern nicht kommen, müſſen fie ver—
ſuchen, die Kiften bis zum Schmugglerhaus dort
drunten zu tragen. 8 ift ſchrecklich gewagt, allein
fie haben es fich in den Kopf gejeßt, und nichts fann
fie mehr davon abbringen.
„Du,“ jagt Itchona zu Ramuntcho, mit feiner
eignen Art, die feine Widerrede erlaubt, „du, mein
Junge, hüteſt das Boot, da du niemals den Weg
gegangen bift, den wir einjchlagen müſſen. Binde es
an, aber nur ganz loje, damit wir raſch und ohne
Lärm entfliehen können, falls ein Grenzjäger in
Sicht käme.“
Ale andern machen ſich alfo auf den Weg, bie
Schultern von der ſchweren Lat niebergedrüdt; das
faum hörbare Geräuſch ihrer Schritte verliert ſich
alsbald auf dem menſchenleeren und dbunteln Geflade,
in dem noch immer raufchend herabſtrömenden Regen.
Ramuntcho ift nun allein; er kauert ſich, um nicht
bemerft zu werden, auf den Boden des Bootes und
bleibt unbeweglich im ftrömenden Regen liegen.
Die Kameraden bleiben lang aus, und nad) und
nach verfällt er in dieſer ftillen Unthätigfeit in ſchwere
Erſchlaffung, faſt in Schlaf.
Jetzt naht ſich eine Tanggeformte Male, noch
dunkler als die übrige Umgebung, zieht an ihm vor—
über, raſch, ſehr raſch — und ſtets mit unheimlicher
Stille, die eine Eigentümlichfeit diejes nächtlichen
Unternehmens geworben ; es ift ein großes ſpaniſches
Boot!... Aber, denft er jeht, da alle Schiffe vor
Anker liegen, und dieſes weder Segel noch Ruderer
bat — wie? — aljo ift es mein eignes Schiff, das fi)
bewegt! Endlich hat er begrifien. Sein Boot war
zu leicht befeitigt, und die flarfe Strömung hat es
fortgerijfen . . . Und er ift ſchon weit, er treibt ber
Mündung der Bidafjoa, der Brandung, dem Meere
zu. Große Angft, ja Schreden erfaßt ihn. Was
beginnen? Die Page ift noch dadurch verichlimmert,
daß er ohne Hilferuf, ohne das geringſte Geräuſch
handeln muß, denn längs dieſer Ufer, ivo nur Nacht
und Finſternis zu herrſchen fcheinen, Tauern die
Grenzjäger, in endlofer Linie aufgeftellt, Spanien
wie ein verbotenes Land bewachend. Er verjucht mit
einem der langen Ruder bis auf den Grund zu
flogen, um das Boot aufzuhalten. Allein er findet
feinen Grund mehr, ohne Widerftaud taucht das
Ruder Hinab in die dunkle Strömung —: er ijt im
tiefen Fahrwaſſer... Jetzt heißt es um jeden Preis
rubdern, lomme, wa3 da wolle...
Mit großer Anftrengung und jchweißtriefender
Stirn bringt er das ſchwere Boot gegen den Strom
zurüd, bei jedem Auderichlag befürdhtend, das leije
Knarren könnte dort drunten von irgend einem
laufchenden Ohr vernommen werben. Wegen des
jtets zunehmenden Regens kann er nichts mehr unter-
ſcheiden; alles iſt ſchwarz — ſchwarz wie die Ein«
geweide der Erbe, wo der Teufel hauft, Er erfennt
nicht mehr den Ausgangspunkt, wo ihn die andern
finden jollen, und vielleicht verjchuldet er dadurch ihr
Unglüd; er zögert, hält mit geipannt horchendem
Ohr und Flopfendem Herzen ftill und umflammert,
um jic eine Weile zu befinnen, eines der großen
jpanischen Boote. Jetzt nähert ji) etwas, mit un—
endlicher Vorfiht auf dem kaum bewegten Waller
dahingleitend. Ein menſchlicher Schatten, jo ſcheint
es, eine aufrechtftehende Geftalt, gewiß ein Schinugafer,
da er jo geräufchlos ift! Beide veritehen fi und —
Gott ſei Dank! — es ift Arrochloa, Arrochloa,
ber einen leichten ſpaniſchen Kahn flott gemacht bat,
um ihn zu ſuchen ... Nun haben fie ſich gefunden,
und wahrſcheinlich ſind alle wieder einmal gerettet.
Allein Arrochloa ftößt wütend, als er näher an
ihn herankommt, mit erſtickter Stimme durch die zu—
fammengepreiten Zähne Schmähungen gegen ihn
aus, die eine unmiltelbare Antwort erheiſchen und
wie eine Aufforderung zum Kampfe lauten. Es tommt
jo unerwartet, daß die Beſtürzung Ramuntcho einen
Moment lähınt und das Aufwallen des Blutes zum
Kopfe Hin aufhält. War es wirklich das, was fein
Freund foeben fagte, und zwar mit einem ſolchen
unleugbar beihimpfenden Tone?
„Du ſagteſt? ...“
„Nun ja!“ führt Arrochkoa etwas beſänftigter
und vorſichtiger fort, denn troß der Finſternis merkt
er Ramuntchos Erregung. „Freilich — beinahe
wären wir durch deine Schuld alle erwiſcht worden,
ungeſchickter Menſch!“
Indeſſen tauchen aus dem nebenanſtehenden Boote
Geſtalten auf.
„Da find fie!“ fährt er fort, „ſpute dich und
juche in ihre Nähe zu kommen!“
Ramuntcho feht Fich auf feine Ruderbank, jeine
Schläfen find heiß vor Zorn und feine Hände zittern
... Nein!... e8 ift Graziellad Bruder: alles wäre
verloren, wenn er mit ihm handgemein würde! Um
ihretwillen neigt er den Kopf und antwortet nichts,
Jetzt entfernt ſich das Boot mit Fräfligen Nuder-
ſchlägen und führt fie alle weiter — der Streich ijt
gelungen! Es war die höchfte Zeit, zwei ſpaniſche
Stimmen jhallen vom Schwarzen Ufer herüber. Zwei
Grenzjäger, die, in ihre Mäntel gehüllt, ſchlummerten
und vom Geräufch gewedt worden find!... Sie bes
ginnen das fliehende Boot, das feine Laterne führt
und nicht zu jehen, ſondern nur zu vermuten üjt,
anzurufen; doch es ift ſchnell in der allgemeinen
nächtlichen Verwirrung verſchwunden.
„Su ſpät, meine Herren!“ hohnlacht der mit
aller Kraft rudernde Itchoua. „Ruft nur an, jo
580
lange ihr wollt — ber Teufel mag euch ant-
worten!“
Die Strömung ift ihnen günftig, fie entfernen
ſich im dichter Nacht mit der Gefchwindigkeit eines
Fiſches.
Heiſa! jeht find fie in franzöſiſchem Gewäſſer,
— in Sicherheit unfern des ſumpfigen Uſers.
„Halten wir einen Moment an, um Atem zu
ſchöpfen!“ ſchlägt Itchoua vor.
Keuchend und von Schweiß und Regen durch—
näßt, bleiben fie unbeweglich im falten Regen, ben
fie nicht zu fühlen feinen. In der großen Stille
hört man deutlicd das allmählich ruhiger geworbene
Atemholen und die Heine Mufit der riefelnden
Waſſertropfen.
Plötzlich jedoch dringt aus dem ſtillen Boole, das
vorher kaum noch die Bedeutung eines Schattens
hatte, ein entjehlich ſchriller Schrei in die dunkle
Nacht hinaus; er erfüllt die weite Leere und jchallt
ohrzerreißend in bie ferne... Ein hoher Ton, wie
ihn gewöhnlich nur Frauen hervorbringen, aber die
Stimme ift rauh und fräftig und kann nur von
einem Manne ausgehen — helltönend und jcharf
wie das Gebell des Echafald, und doch liegt etwas
Menſchliches darin, was um jo mehr entjegt, Mit
Bangen wartet man auf das Ende; der langanhal-
tende Schrei wirft beängftigend. Gleich dem Klagen
eines verendenden Wilbes hat er begonuen, und
nun endigt er mit wilden Lachen, das feltjam und
gräßlid, wie das eines Wahnſinnigen klingt.
Jedoch feiner von den Gefährten ſcheint über den
aljo jchreienden, vorn im Boote fienden Mann er-
ftaunt, und nad) wenigen Sehunden des Stillf yweigens
Pierre Loti.
Luft, fie jhreien aus dem phyſiſchen Bebürfnis, ſich
für das bis jeht eben beobachtete Schweigen zu ent⸗
ſchädigen.
Nur Ramuntcho bleibt ſtumm und verzieht keine
Miene, Dieſer plöhliche wilde Freudenausbruch macht
ihn erſtarren, obwohl er ihm läng't bekannt iſt; er
verjenft ihn in eine unruhige, verworrene Träumerei,
Dazu bat er an diefem Abend von neuem er-
fahren, wie unguderläjfig und wandelbar jeine einzige
Stüße in der Welt ift, Arrochkoa, auf ben er fi
doch müßte verlaſſen fönnen wie auf einen Bruder; mit
feinem Heldenmut und feinen Erfolgen im Balljpiel
wird er Arrochloa zwar ohne Zweifel wieber für fid
| gewinnen, aber ein Mißerfolg, irgend eine Rleinig:
; feit fann in jedem Augenblid dazu führen, daß er
antwortet ein andrer im Boote vom Hed her mit !
demjelben Schrei, in denfelben eigentümlichen Phajen,
die eine alte Ucberlieferung find.
Es ift ganz einfach der „Irrintzina“, der große
basliſche Schrei, der ſich bis heute feit den älteften
Zeiten treu überliefert hat. Eine Eigentümlichkeit
diefer Rafle, deren Urſprung ſich in der Nacht der
Zeiten verliert.
Er gleicht dem Signalfchrei gewiſſer Indianer»
ſtämme in den amerifanijhen Wäldern; wenn man
ihn in der Nacht hört, hat man das jhaurige Gefühl,
als fliege die Urzeit wieder herauf, die Zeit, da mitten
in der Wildnis der alten Welt die Menſchen ein
Geheul wie das der Affen ertönen ließen.
Man ftöht diefen Schrei bei Feſten aus oder um
ſich abends in den Bergen ein Zeichen zu geben, und
beſonders um irgend ein freudiges Geſchehnis, irgend
ein ımerwartes Glüd, eine erfolgreiche Jagd oder
einen ergiebigen Fiſchzug zu feiern,
So vergnügen ſich jet auch die Schmuggler mit
diejem Freudengeſchrei der Vorfahren; der Jubel
über ihr geglüctes Unternehmen macht ji darin
ihn wieder verliert, Dann aber hat — das fühlt
er — bie Hofinung feines Lebens einen fejten Boden
mehr, — alles ſchwindet dahin wie ein weſenloſes
Trugbild,
IX.
Es war Sylvefterabend.
Ten ganzen Tag hindurch blieb der Himmel,
wie jo häufig im baskiichen Lande, in büfteres Grau
gehüllt, das übrigens zu den herben Bergen, zum
wildſchäumenden, braufenden Meer dort drunten
trefilich paßt.
Zur Dämmerftunde dieſes legten Tages im Jahr,
zur Stunde, wo die Iujtige Reifigflamme die Männer
am Herde zurüdhält, — zur Stunde, wo das Heim
behaglich und köſtlich iſt, wollten ſich Ramuntdho
und jeine Mutter zum Abendefjen jehen, als fie ein
beicheidenes Klopfen an der Thür hörten,
Beim erſten Anbiid jchien ihnen der ſpäte Be-
fuch unbelannt ; al® er jedodh feinen Namen nannte:
Joſé Bidegarray aus Hasparig, erinnerten fie ſich
bes Matiofen, der vor Jahren nah Amerika gereift
war.
„Sch ſoll,“ fagte er, nachdem er fi auf den an-
gebotenen Stuhl geſeht, „ich foll Ihnen Grüße
bringen. AS ich in Rofario in Uruguay war und
mit andern audgewanderten Basen eine Tags am
Landungsplak zufammentraf, gejellte fih ein Mann
von ungefähr fünfzig Jahren zu uns, da er mid)
von Etchezar |prechen hörte.
„Sind Sie aus Elchézar?“ fragte er mid.
„Mein, aber aus dem Dorje Hasparik, das nicht
weit davon entjernt liegt.‘
Nachher fragte er mid) über eure ganze Familie
aus; ich jagte: ‚Die Alten find tot, der ältefte Bru-
der ift beim Schmuggel umgelommen, der zweite iſt
nad Amerila geflohen. Es bleibt nur noch Franchita
und ihr Sohn Ramuntcho, ein hübſcher, junger
Burſche, der jeht achtzehn Jahre alt jein kann.‘
„Als er mid) jo reden hörte, wurde er ganz nad)-
denllich.
nn be A en
Ramuntdo. 581
„Nun,“ fagte er endlich, ‚da Sie dorthin zurüd-
fehren, jo jagen Sie ihnen, Ignacio laſſe fie grüßen.‘
„Er bot mir nod) einen’ Trunf an und entfernte
fig.“
Franchita erhob ſich zitternd und jah noch blaſſer
als gewöhnlich aus, Ignacio, der feit zehn Jahren
verſchwundene Bruder, ber niemals von fi) hatte
hören laſſen! ...
„Wie war er? Wie ſah er aus? Wie war er
geffeidet? Schien er wenigftens glücklich oder machte
er den Eindrud eines Armen?“
„O,“ antwortete der Matroje, „er ſah noch gut
aus troß der grauen Haare, und was feinen Anzug
betrifft, jo hatte es den Anichein, als ob es ihm recht
gut gehe, auch trug er eine ſchwere goldene Sette
am Gürtel,“
Dies war jedoch alles, was er außer dem ein«
fachen, furzen Gruß berichten konnte; weiter wußte
er durchaus nichts über den Verbannten, und viels
leicht jollte Franchita bis zu feinem Tode nichts mehr
von dieſem Bruber hören, ber für fie faft wejenlos
war wie ein Gejpenft.
Nachdem er ein Glas Apfelwein geleert, machte
fi) der ſeltſame Bote wieder auf den Weg, um in
jein hochgelegenes Dorf zurüdzufehren.
Mutter und Sohn feßten ſich, ohne zu reden, an
den Tiſch. Sie, die ftille Frandita, war zerfireut,
und Thränen glänzten in ihren Augen; er gleich—
falls, jedoch auf andre Weije, bewegt durch din Ge—
danken an diefen Ontel, der weit von bier ein aben»
teuerliches Leben führte.
As Ramuntcho, den Kinderſchuhen entwachjen,
fi dem Schulbeſuch zu entziehen begann, um den
Schmugglern ins Gebirg zu folgen, ſagte oftmals
Franchita fopfichüttelnd :
„Du bift wie dein Onfel Ignacio; du wirft es
niemals zu etwas bringen.“
In der That hatte er das von jeinem Onfel,
daß ihn alles Gefährliche, Unbelannte und Ferne
anzog.
Wenn ſie alſo an dieſem Abend mit dem Sohn
nicht über die ſoeben gebrachte Botſchaft ſprach, fo
geihah das, weil fie fi den Sinn feiner Träume»
reien über Amerita wohl zu deuten wuhte und ihr
vor jeiner Antwort bangte. Ueberdies fpielen jich
bei ben Landleuten oder im Volle die Heinen häus—
lihen Dramen ohne Worte, mit Mißverſtändniſſen,
die nie aufgellärt werden, mit bloßem Erraten der
Gedanten und beharrlichem Schweigen ab,
Am Schluſſe des Mahls jedoch hörten fie einen
Ehor Iuftiger junger Stimmen, der ſich unter Trommel» |
jchlag bem Haufe näherte. Es waren die Burjchen |
aus Etchözar, die Ramuntcho zu einem Umzug durds |
Dorf mit Mufit abHolten, wie es am Sylvefterabend
Brauch ift. Sie treten in jedes Haus ein, trinfen
ein Glas Apfelwein und bringen, Inftig ihre alten
Weiſen fingend, vor jeder Ihür ein Ständdhen.
Ramuntcho vergaß den alten, balbverjchollenen
Onkel in Uruguay und ward wieder ein Kind in
feiner Freude, mit ihnen zu ziehen, mit ihnen längs
der dunfeln Wege zu fingen, und beſonders entzückt
von dem Gedanken, in das Haus der Deitcharrys
einzutreten und Graziella einen Moment zu jehen.
X
März, der Veränderlihe, war gelommen und
mit ihm beraufchende Frühlingsſtimmung, befeligend
für die Jungen, wehmütig für die Alten.
Graziella jaß wieder in der Dämmerftunde auf
der alten fleinernen Bank vor ihrem Haufe.
O, dieje alten fleinernen Bänke vor den Häufern,
die ſchon in früherer Zeit zur Träumerei am milden
Abend und zum ewig gleichen Geflüfter der Lieben-
den einluden!
Graziellag Haus war jehr alt, wie die meiften
Häufer des basfifchen Landes, wo die Jahre nicht
wie anderwärts bie Dinge verändern. Es hatte zwei
Stodwerte, ein großes vorftiehendes Dad, Mauern
wie eine Feitung, die jeden Sommer forgfältig weiß
übertüncht wurden, und jehr Meine Fenſter mit Ein-
fafjungen von behauenem Granit umd mit grünen
Läden,
Die Oberjchwelle an der Eingangsthüre war von
Granit und trug eine Neliefinjchrift, lange, verwidelte
Worte, die für die Augen Fremder an nichts Bes
fanntes crinnerten. Sie bejagten: „Unſre heilige
Jungfrau fegne dieſes Haus, gebaut im Jahre 1630
von Pierre Detcharry, Kirchendiener, und feiner frau,
Damaja Jrribarne, aus dem Dorfe Jitarik.“
Ein zwei Meter breites Gärtchen mit niedriger
Mauer, über die man auf die Straße blicken fonnte,
lag vor dem Haufe, Ein prächtiger Dleanderbaum
breitete feine ſüdländiſchen Blätter über die Banf;
auch fanden dort Yuccas, eine Palme und gewaltige
Hortenfienbüfche, welch letztere in dem fchattigen
Lande mit dem milden Klima zu riefenhafter Größe
anwachſen. Hinter dem Haufe lag ein fchlecht ge—
ſchloſſener Baumgarten, der fi bis zu einem ein-
ſamen Pfad hinunterzog, ein günfliger Plak zum
Stelldichein für Liebende, da man leiht aus- und
einfteigen fonnte,
Wie lichtftrahlend glänzte der Morgen in dieſem
Frühling, wie Hill und rofenfarben der Abend!
Nach einer Vollmondswoche, in welcher zur Nachtzeit
das ganze Land bis zum Morgen mit blauen Licht-
ſtrahlen überflutet war und die Leute Itchouas nicht
arbeiteten, — fo hell war der Schauplaß ihrer Streife-
reien, jo Lichterfüllt die großen, dunſtigen Tiefen der
Pyrenäen und Spaniens — nahm das Schmuggler-
treiben wieder feinen Fortgang, feit nur mehr früh:
582
morgens die ſchmale, fanft glänzende Mondfichel am
Himmel erfchien. Bei diejer ihönen Jahreszeit waren
die nächtlichen Wanderungen eitel freude. Ein
Leben der Einſamkeit und Träumerei, wo die Seele
biejer naiven, im Grunde nicht jchlechten Menſchen
beim Anblid des Himmels mit den unzähligen
Sternen unbewuht größer wird, ebenjo wie die Seele
des Seemanns, der nachts auf dem dahinfahrenden
Schiffe Wade hält, und wie ehemals die Seelen der
chaldäiſchen Hirten...
Auch Für die Liebenden waren die milden Früh—
lingsnächte nad) der VBollmondszeit günjtig und ein—
ladend; denn überall herrſchte Dunkelheit um die
Häufer, auf allen baumüberwölbten Wegen und bes
jonders hinter dem Baumgarten des Haufes Det-
harry, auf dem verlaffenen Pfade, wo nie jemand
zu treffen war,
Graziella war immer häufiger auf der fteinernen
Bank vor ihrer Thür zu jehen.
Dort ſaß fie, um wie in jedem Jahr die Faſchings-
tänzer zu empfangen und tanzen zu jehen, jene
Gruppen junger Männer und Mädchen aus Spanien
oder Frankreich, die fid) jedes Frühjahr für einige
Tage zuſammenſcharen und gleihmähig gekleidet,
entweder weiß oder rofa, dur die Dörfer ziehen
und vor den Käufern Fandango mit Eaftagnetten-
begleitung tanzen,
Immer länger blieb Graziella abends auf diejer
Bank unter dem aufblühenden Dleander fihen ;
manchmal jogar flieg die Heine Dudmäujerin, nad)»
bem fich die Mutter ſchon gelegt hatte, geräuſchlos
aus dem Fenſter, um bier noch länger frifche Luſt
zu ſchöpfen.
Ramuntcho wußle es, und jeden Abend ftörte der
Gedanke an diefe Bank feinen Schlaf.
XI.
An einem Haren Aprilmorgen gingen Graziella
und Ramuntcho der Kirche zu. Sie, halb ernſt,
halb fpötltiich, mit ganz bejonders jchelmifcher Miene,
führte ihn dorthin, damit er cine von ihr auferlegte
Buße thue.
Im Friedhofe blühten die Beete auf den Grä-
bern, die Roſen an der Mauer.
Wieder einmal war das Pilanzenleben über der
Auheftätte der Toten erwacht.
Eie traten zufammen durch das untere Thor in
bie menjchenleere Kirche, in der fi nur eine alte
Frau in Schwarzer Mantille befand, mit dem Nein»
machen der Altäre beichäftigt.
Nachdem Graziella ihrem Freunde das Meih-
waſſer gereicht und beide das Zeichen des Kreuzes
gemacht, führte jie ihn durch das alte, hallende
Schiff bis zu einer dunleln Ede unter der Empor«
bühne der Männer, wo ein jeltjam Bild an der
— — —— —— — — — — —— — — — —
Pierre Loti.
Mauer hing. Es war ein dem alten Myſticismus
enilehntes Gemälde: das Geficht Jeſu mit gefchlof-
jenen Augen, bfutiger Stirn und ſterbendem, weh:
Hagendem Ausdruck. Der Kopf ſchien vom Numpfe
getrennt und ruhle auf einem grauen Tuche. Unter
dem Bilde flanden die langen „Litaneien bed hei-
ligen Antliges“, die, wie jedermann weiß, beftimmt
find, von renigen Gottetläfterern zur Buße hergeſagt
zu werden.
Tags vorher hatte Ramuntho im Zorn jehr
häßliche Flüche ausgeſtoßen, eine undenfbare Reihen-
folge von Wörtern, worin die Saframente und die
heiligften Dinge mit Teufelshörnern und andern,
noch abjcheulicheren Gottlofigfeiten vermengt waren.
Deshalb fand Graziella, daß Buße not that,
„Geh nur, mein Ramunicho,“ befahl fie ihm,
„und laß von all dem, was zu jagen ijt, nichts aus.”
Sie ließ ihn dem Heiligen Geficht gegenüber
allein, wo er mit leijer Stimme feine Litaneien be«
gann, und gejellte ſich zuder Alten, um ihr vor dem
Altar der Mutter Gottes behilflich zu fein.
*
Als aber der träumeriſche Abend wieder kam
und Graziella im Dunleln finnend auf ihrer Bant
jaß, tauchte plöglich eine junge Menjchengeftalt vor
ihr auf; jemand, der ebenfo geräufchlos wie bie
jeidenweiche Eule in der Luft, wahrſcheinlich vom
Hintergrumd des Gartens, herbeigeſchlichen kam und
fi) aufreht mit der über die Schulter geworfenen
Jade vor fie hinftellte: ex, an den fie mit ihrer
ganzen Innigkeit date... er, die Verkörperung
des fühen Traumes ihres Herzens, ihrer Sinne...
„Ramuntcho,“ jagte fie, „o, wie bang haft du
mir gemacht! Woher fommft du zu dieſer Stunde?
Was willft du? Weshalb bift du gekommen?“
„Weshalb ich gelommen bin? Um bir meiner
jeit3 eine Buße aufzuerlegen,“ erwiderte er lachend.
„Nein, jage mir die Wahrheit, was ijt los?
Mas willft du?”
„Einfach bei dir will ich fein! Sonft nichts!
Leider jehen wir uns niemals! Deine Mutter fucht
mich mehr und mehr zu entfernen, Ich fan jo nicht
weiter leben! Es ift ja nichts Böjes, da wir uns
heiraten wollen, ſag felbft! Und weißt bu, ih
fönnte jeden Abend fommen, wenn e3 dir redht ift
und ohne daß es jemand merft.“
„D nein! Thue es nicht — niemals! — bitte,
bitte ...“
Sie plauderten eine Weile, doch ſo leiſe, als ob
ſie befürchtelen, die Vögel in ihren Neſtern zu wecken.
Sie erkannten nicht mehr den Ton ihrer Stimmen,
jo ganz anders klangen fie, jo ſehr bebten fie, als wäre
es irgend ein entzüdendes und ftrafbares Verbrechen,
daß fie jo bei einander landen in der großen,
’
Ramuntcho.
geheimnisvollen Aprilnacht, die um fie herum fo viele
Pilanzenfeime und Liebesgefühle auffprießen ließ...
Er wagte nicht einmal, ſich neben fie zu jehen,
und blieb ftchen, bereit, beim geringften Geräuſch
durch die Büſche zu entflichen.
Als er jedoch fortgehen wollte, war fie es, bie
ihn zögernd und verwirrt, faſt unverftändlich fragte:
„Und morgen? Kommſt du wieder? Sag!”
Er mußte über diefen raſchen Ideenwandel lachen
und entgegnete:
„Freilich! Morgen und alle Abende! Jeden
Abend komme ich, wenn wir feine Arbeit für Spa»
nien haben ...“
X.
Ramuntdhos Stube im Haufe feiner Mutter be
fand fich über dem Stalle; fie war weiß getüncht
und ſehr reinlih. Dort jtand fein Bett, ſtels weiß
und fauber, allein der Schmuggel ließ ihm jeht wenig
Zeit zum Schlafen. Bücher mit Reiſe- oder Erb»
beichreibungen, die ihm der Pfarrer lieh, lagen auf
feinem Tische, — eine jeltfame Erſcheinung in Diejer
Behaufung. Berjchiedene Heiligenbilder zierten die
Band, und etliche Weidenhandichube für Ballipieler,
foft Jagd- oder fFifchergeräten gleihend, hingen an
den Ballen der Dede,
Franchita hatte bei ihrer Rüdkehr in die Heimat
dad Haus ihrer verjtorbenen Eltern mit dem Gelbe,
das ihr der Fremde bei der Geburt des Sohnes ge=
geben, wieder angefauft. Den Reſt der Barichaft
hatte fie angelegt. Dabei nähte fie Kleider ober
bügelte Wäſche für die Leute in Etchézar, aud) ver-
mielete fie an die Pächter nahgelegener Aeder zwei
Zimmer zu ebener Erde mit der Stallung für ihre
- Kühe und Schafe,
Berjchiedene vertraute Klänge wiegten Ramuntcho
in Schlaf: das fortwährende Raufchen des nahen
Baches, der Gefang der Nachtigall oder die Morgen-
ſtäudchen andrer Vögel, und befonders in dieſem
Frühjahr regten ſich die ganze Nacht hindurch, unter
ftetem Schellengeläute, feine Nachbarinnen drunten,
die Kühe, die offenbar den Duft des friſchen Graje!
twilterten.
Oftmals nad langen nächtlichen Märjchen ſuchte
er tes Nachmittags, auf irgend einem moosbewach-
jenen Plähchen im Schalten außgeftredt, den ver
lorenen Schlaf wieder einzubringen.
En nn — — — —
|
|
583
Sonne des neuen Tages anzuſchauen. Was er in
der nächſten Umgebung des Hauſes jah, war grün,
berrlid grün, wie jedes Fleckchen Erde des ſchattigen,
oft vom Regen befeuchteten Landes im Frühling.
Das Farnlraut, das im Herbft jo intenfiv rotgelb
wird, bededte mit feinem friſchen Grün den Berg:
abhang wie mit einem riefigen Teppich von dichter,
gefräufelter Wolle, rot gefledt von Digitalisblüten,
Unten in einer Schlucht raujchte der Bad zwiſchen
mächtigen Bäumen; oben jtanden Gruppen von
Eichen und Buchen an die Berge gelehnt, und zwi«
ſchendrin Tagen faftiggrüne Matten,
Ueber diejem ftillen Eden ragte die große Gizune
mit ihrem lahlen Gipfel als unumjchränfte Herrin
der Wolfenregion in den Himmel, Eiwaß weiter
zurück ſah Ramuntcho die Kirche, die Häufer — das
abgeſchiedene, hochgelegene Dorf, entfernt von allem,
weit von den Verbindungslinien, die das flache Land
drunten am Meere umgejtaltet und verdorben haben;
behütet vor fremder Neugier und Entweihung und
noch der alten Silte getreu.
In diefen Morgenjtunden fühlte ih Ramunicho
an feinem Fenſter von Frieden und Glüd durch—
drungen. Das Erwachen des jungen Bräutigams
war eitel Luft und Wonne, feitdem er wußte, daß
er Graziella des Abends am verabredeten Pläbchen
trejfen werde,
Die traurige Ungewißheit, die ihn jonft jeden
Morgen beihlichen Hatte, war verſchwunden, und bie
Erinnerung an die Zufammenkünfte und die frobe
Erwartung verjheuchten fie wollend!, Sein Leben
war cin andres geworben; fobald er die Augen öff-
nete, bejeligte ihn das Gefühl eines herrlichen Ge—
heimnifjes und einer entzüdenden, hohen Freude.
Dieje wohlthätige Ruhe, die er jeden Morgen wieder
fand, jchien ihm jedesmal elwas Neues, jo ganz ver⸗
ſchieden von dem, was er in früheren Jahren em—
pfunden hatte, — unendlid) ſüß jeinem Herzen, voller
Wonne für feine Sinne und voll unergründticher,
beglüdender Hoffnungen,
XII.
Dfterabend. Die Dorfgloden find verftummt,
verfiungen die vielen frommen Klänge in Frankreich
und Spanien...
Am Ufer der Bidaſſoa ſitzen Ramuntcho und
Für gewöhnlich war er gleich den andern Schmugg⸗ Florentino und lauern auf die Ankunft eines Bootes.
lern kein Frühaufſteher, und häufig erwachte er erſt | Ringsum herrſcht Stille, Die Glocken ruhen; länger
nad) Tagesanbruch, wenn ſchon zwiſchen den Riten
des Fußbodens helle Lichtfirahlen vom Stalle drunten
heraufdrangen, da deſſen Thür weit offen blieb,
wenn das Vich zur Weide gegangen war, Aladann
trat er an jein Fenſter, ftieß den Heinen hölzernen,
olivengrün angeſtrichenen Fenſterladen auf und ftüßte
fih auf das. breite Geſims, um die Wolken oder die
er
[25 .
Jaute..
als zuvor währt die milde Dämmerung. Schon
beim Einatmen der Luft fühlt man den Sommer
nahen,
Sobald «8 Naht geworden ift, ſoll der mit
Phosphor beladene Schmugglertahn an der jpanifchen
Küfte erjcheinen. Für Phosphor bejteht ein jehr
ſtrenges Einfuhrverbot. Das Schiff ſoll nicht bis
584 Pierre Poti,
ans Ufer fahren, fie müſſen bis zu ihm durch den
Strom waten und die Ware holen, große, zugeipihte
Stöde in den Händen haltend, um ſich den Anfchein
zu geben, ala fifchten fie in aller Unſchuld, für den
Tall, da fie dabei überrajcht werden,
Heute nacht ift das Waſſer der Bidaſſoa ein un—
getrübter Spiegel, noch lenchtender ala der Himmel;
alle Sternbilder und der gegenüberliegende Berg mit
feiner dunfeln Spige fpiegeln fi darin ab.
Der Sommer, der Sommer — mehr und mehr
fühlt man ihn herannahen, jo Kar und mild iſt die Nacht.
Doch Namuntho findet in diefem Augenblid
das Watt zwifchen ben beiden Yändern noch trauriger
als jonft, noch enger eingeſchloſſen in den ſchwarzen
Bergen, an deren Fuß faum zwei bis Drei trübe
Lichter ſchimmern — und es fleigt wieder im ihm
der Wunſch auf, zu willen, was jenfeitS der Berge
und jenfeits dieſes Jenfeits if, O, welches Glüd
müßte es fein, in die Ferne zu gehen... für eine
Zeitlang wenigflens aus dem eingeengten und doch
fo geliebten Pande zu fliehen... vor dem Tode
noch diefem bedrüdenden, ausfichtslofen Dajein zu
entgehen .. . andres zu verſuchen ... fort von hier
zu wandern, zu reilen, fich in der Welt umzuſehen!
Während er fortgefeht die Stelle, an welcher das
Schiff ſich zeigen joll, überwacht, erhebt er von Zeit
zu Zeit die Augen zum Himmel, zum Unendlicden.
... Er betrachtet den neuen Mond, deſſen Eichel
untergeht und verſchwindet; er betrachtet Die Sterne,
deren regelmähige, langjame Bahnen er oft verfolgt
bat, und fühlt ſich beängftigt durch die Größen-
verhältnifje und die unbegreiflichen Entfernungen im
Weltraum...
Der alte Pfarrer im Dorfe, der ihm früher
Neligiontunterricht erteilte und an dem begabten,
gewedten Jungen Gefallen fand, lieh ihm Bücher,
plauderte manchmal mit ihm über verſchiedene Gegen:
ftände, gab ihm Beſcheid über den Lauf der Sterne,
ihre Entfernung und über die Unermeßlichfeit bes
Naumes und der Zeit. In feiner Seele erhoben ſich
alsdann die in ihr ſchlummernden angeborenen Ge—
fühle, Zweifel, Schreden, Trofllofigteit, kurz, das
ganze traurige Erbteil des Vaters, in düfterer Geflalt,
Unter dem großen Sternenhimmel fing der Glaube
des jungen Baslen an zu wanfen. Seine Seele
war nicht mehr arglos genug, um die Firchlichen
Dogmen und Sabungen blindlings anzuerkennen,
und da ſich alles unzufammenhängend und ungeorbnet
in dem fo jeltjam vorbereiteten und niemals ge—
feiteten Kopfe bewegte, jo fonnte er nicht willen, daß
es höchſte Weisheit jei, ſich troß allem mit Vertrauen
den altehrwürdigen,, geheiligten Formeln zu unter«
werfen, hinter denen ſich vielleicht alles, was wir
von den unerforjchlichen Wahrheiten ahnen, verbirgt.
Die Oftergloden, die ihn noch im vorigen Jahre
mit Andacht erfüllten, hört er diesmal wie irgend
eine beliebige Mufif an und findet fie eher traitrig,
faft unnötig. Und jekt, da fie verftummt find, ver:
nimmt er mit unerflärlicher Wehmut das mächtige,
dumpfe Getöfe der Brandung dort drunten, das,
feitbem die Klippen dee Bisfayifchen Meeres ent
ftanden find, beinahe unaufhörlich fortdauert und
in ftillen Nächten weit hinten in ben Bergen gehört wird.
Doch jeht wendet ſich Ramuntdos flatternde
Phantafie wieder andern Dingen zu... Das Watt
ſcheint ſich jetzt zu verfinftern, man fieht nicht mehr
die Menfhenwohnungen, und alles ift dort anders
geworben; ja, plöglich erſcheint es ihm — jeltjam! —
als ob irgend etwas Geheimmisvolles vorgehe; er
ficht nur noch die großen, rauben, ewig unveränder:
fihen Linien und wundert fih, daß er vertvorren
an die graue Vorzeit denken muß ... Der Geift der
alten Zeiten, der manchmal während ftiller Nacht, zur
Stunde, da die alles umilürzende Menfchheit der
Jetztzeit fchläft, aus der Erde fteigt, diefer Geift un-
zweifelhaft ift es, der ihn jet zu umſchweben be»
ginnt, Er fann fi davon feine Rechenſchaft geben,
denn jein Scharflinn und feine Künfllernatur haben
ſich bei feiner mangelhaften Bildung nicht entwideln
tönnen; er hat nur eine unflare, beunrubigende Vor:
ftellung davon. In feinem Kopfe dreht ſich ein
Chaos von Gedanfen, die ſich fortwährend zu ent-
wirren ſuchen, aber ohne daß es gelingt.
Nachdem der Mond langſam hinter dem ſchwarzen
Berg verſchwunden, fieht alles eine Heine Weile wild
und urweltlih aus. Plöhlid taucht eine ſchwache
Borftellung von den unveltlichen Zeiten deutlicher in
feinem Geifte auf und läßt ihn bis ins Innerfte er-
ſchauern. Unwillfürlich denkt er jeht an jene Wald:
menſchen, die in umberechenbaren, dijleren Zeiten
bier lebten, — denn plötzlich fallt von einem ent
fernten Punlt des Uſers ein langer baskiſcher Schrei,
mit ſchauerlicher Fiftelftimme ausgefloßen, in die
Nacht hinaus, der „Irrinkina“, die einzige Figentüm-
lichkeit feiner Heimat, mit der er ſich niemals be»
freunden konnte... In der ferne erhebt ſich jeht
ein andres mißtönendes Geräufh: Eijengellirr —
Pfeifen! ... Es ift der Zug von Paris nach Madrid,
ber dort drunten, Binter ihm, im Dunkel des fran«
zöſiſchen Ufers vorüberdampft... Und der Geift
der alten Zeiten faltet jeine Schattenflügel zufammen
und berichwindet,
Nachdem das ſeelenloſe, eilige Ding vorüber
gebrauft ift, lehrt allmählich die Stille wieder, aber
der entflohene Geift kommt nicht zurück ... Endlich
zeigt fi) dort drunten das von Ramuntcho und Flo⸗
rentino erwartete Boot, andern Augen als den ihrigen
faum ſichtbar — eine Meine graue Maffe, winzige
Wellen auf dem nadhthimmelfarbenen Spiegel Hinter
ſich laſſend. Die Stunde ift übrigens gut gewählt,
Ramuntdo. 585
ed ijt die Stunde, zu der die Grenzjäger nicht jo
wachſam find, die Stunde, zu der die Dunkelheit am
tiefften jcheint, da die lehten Sonnenfirahlen und die
des Mondes erloſchen und die Uugen der Menjchen
nod nicht an die Finfternig gewöhnt find.
Und nun nehmen fie ihre langen Stöde zur Hand,
um die verbotene Ware zu holen, und treten beide
Ihmweigend ins Waſſer.
XIV.
Für nächften Sonntag ift großes Balljpiel in
Erribiague, einem entfernten Dorſe im Hochgebirye,
angeſagt. Ramunicho, Arrochkoa und Florentino
ſollen gegen drei berühmte Spanier ſpielen, und heute
abend wollen ſie ſich einüben und auf dem Plahe
die Arme gelenfig machen. Graziella und etliche
andre junge Mädchen find gekommen, um zuzufchauen,
und jeen ich auf die Granitjtufen — lauter hübſche,
elegante Erſcheinungen in hellen, nach der neueften
Mode geichnittenen Kleidern.
Forlwãhrend lachen und kichern die jungen Mädchen,
nur weil jie einmal angefangen haben zu laden, und
ohne zu wiſſen warum. Gin Nichts, ein halbes
Wort in ihrer alten, basliſchen Sprache, ohne den
geringfien Anlaß von einer unter ihnen ausgeſprochen,
— md fie können fich nicht mehr halten vor Lachen,
In diefem Erdenwintel kliugt das Lachen der
Mädchen jo Löfllich wie fonjt nirgends; kryſtallllar
tönt es voller Jugendluft aus den frischen Kehlen.
Arrochkoa war ſchon eine Zeitlang mit dem an—
geihnallten MWeidenhandihuh da und ſchlug allein
den Ball, den ihm herumftehende Kinder aufhoben.
Ramuntho und Fplorentino aber, an was mochten
fie denfen? Wie lang blieben fie aus! ... Endlich
famen fie ſchwerfällig und ungeſchickt daher, die
Stimmen voller Schweiß, und als die jungen, lachen—
den Gejchöpfe fie mit dem jpöttifchen Ton anrebeten,
ben die Mädchen, wenn ihrer mehrere beiſammen
find, leicht dem Manne gegenüber anſchlagen, lächelten
fe und jchlugen fi auf die Bruft, aus der es me—
tallen Hang... Sie famen zu Fuß über die Pfade
der Gizune aus Spanien, mit Rupfermünzen bes
laden und behängt, auf welchen das Bildnis des
Heinen Königs Alfonjo XII. geprägt war. Es war eine
neue Schmugglerlif. Für Jtchoua Hatten fie dort
drunten eine große Summe Silbergeld gegen Kupfer:
geld mit Vorteil ausgewechielt, und diejes follte dann
ju feinem richtigen Wert auf den nächſten Märkten
in verjchiedenen Dörfern der Landes,“ wo ſpaniſche
Rupfermünze Kurs hat, umgejeßt werben.
Beide brachten in ihren Taſchen, ihren Hemden,
auf der Haut je vierzig Kilo Kupfer. Ieht ließen
fie alles wie einen Regen auf die alten Granitbänfe
) Les Landes, der fandige Küftenftrich am Bislayiſchen
Meerbufen zwiihen Gironde und Pyrenden,
Aus fremden Zungen. 1897, II. 13,
und baten diefe, die Münze zu behüten und zu
zählen; nachdem fie jid) die Stirn getrocknet und
etwas Atem gejhöpft, fingen fie an zu fpielen und
zu jpringen und bewegten fich leicht und gewandt,
da fie von der erbrücenden Laſt befreit waren,
Außer drei oder vier Schulfindern, die gleich
jungen Raben nad den gefallenen Bällen hüpften,
waren nur die jungen Mädchen da, in Gruppen
beifammen ſitzend auf den unteren Reihen der leeren
Stufen, deren alte, rötliche Steine mit Frühlings—
blumen und Gräfern überwucert waren.
Mit ihren hellen Kattunfleidern, weißen oder
rojafarbenen Taillen waren fie die ganze Augenweide
des feierlich ernften Ortes. Neben Graziella ſaß
Panichila Dargaignarag, eine andre fünfzehnjährige
Blondine, die mit Graziellad Bruder, Arrochkoa, ver-
lobt war und ihn ſchon bald heiraten jollte; denn
als Sohn einer Witwe brauchte er nicht zu dienen.
Die Balljpieler kritifierend und die ſchweren ſtupfer⸗
münzen aufftapelnd, Tachten und tufchelten fie in ihrem
fingenden Tonfall, mit den fteten Endungen in rra
und rrik, wobei fie in ſolch Iuftiger Weile jedes r
roflten, daß es jeden Augenblid in ihrem Munde wie
das Geräuſch flatternder Spahenflügel ertönt.
Auch die jungen Leute waren froher Laune; bie
und da famen fie heran und fehten fich unter dem
Vorwand, auszuruhen, zu den Mädchen,
Diefe ſchüchterten fie beim Spielen dreimal mehr
ein als das Publikum der großen Tage, jo jpöttijch
waren fie alle...
Namuntho erfuhr hier von feiner Heinen Braut
etwas recht Erfreuliches, das er nie zu hoffen gewagt.
Sie hatte nämlih von ihrer Mutter die Erlaubnis
erhalten, aud zu dieſem Feſte nad Erribiague zu
gehen, dem Balljpiel beizuwohnen und die Gegend,
die ihr unbelannt war, zu beſuchen. Es war aus—⸗
gemacht, daß fie im Wagen mit Pantdhifa und Frau
Dargaignarak hinfahren und man fid) dort treffen
follte, ja möglicherweife follten fie die Rückfahrt alle
zuſammen machen.
Beinahe zwei Wochen war es jebt her, daß ihre
abendlichen Zufammenfünfte begonnen hatten, und es
war das erſte Mal, daß Ramuntdyo wieder Gelegenheit
hatte, fie bei Tag mit andern zu treffen; ihre Art,
zuſammen zu verfehren, war nicht mehr diejelbe, fie
war anjdeinend zeremonieller, mit einem fühen Ge—
heimnis jedoch in ihrem tiefiten Innern. Schon
lang aud) hatte er fie nicht jo genau im helfen Lichte
gejehen, und fie jchien ihm bedeutend ſchöner ge=
worden; ihre Taille runder und jchlanfer, ihre Hal—
tung vornehmer. Immer noch hatte fie große
Aehnlichkeit mit Arrohfoa, diejelben regelmäßigen
Züge, dasjelbe ovale Gefiht; allein die Verſchieden—
heit ihrer Augen trat flärfer hervor: die des Bruders
waren von blaugrüner farbe, ſcheu und ausweichend,
74
586
bie ihrigen dagegen mit ben ſchwarzen Bupillen und
ſchwarzen Wimpern blidten jedermann feft ind Geſicht
und vergrößerten fich dabei noch. Niemals hatte Ra—
muntcho ſolch offene, innige Augen gefehen ; fie entzüdtten
ihn, wenn fie ihn lang umd fragend anſchauten. Schon
in ber Kinderzeit hatten ſich diefe Augen feiner Meinen
Seele mit allen, was gut in ihm war, bemädhtigt...
Die Ballipieler waren ſehr zeriireut angefichts
ber Schar ber jungen Mädchen mit ihren weißen
und roten Taillen, und lachten oft über fich jelbit,
weil fie jo viel ungeſchidter ala gewöhnlich jpielten.
lleber den Zuichauerinnen, Die nur einen win—
jigen Pak im großen Amphitheater einnahmen, er—
hoben ſich lange Reihen leerer Bänfe, dann die
Häufer des friedlihen, weltabgejchiedenen Dorfes,
und endlich die dunfle Maſſe der den ganzen Him-
mel einnehmenden Gizune, die ſich mit den Dichten,
an ihrem Abhang ruhenden Wollen vereinigte, une
beweglichen, Harmlojen Motten, die nicht mit Regen
drohten, turteltaubenfarbigen Frühlingswolfen, mild
und rubig gleich der Luft an dieſem Abend.
Und jebt, da der Tag ſich neigte, fing in einem
Einihnitt, nicht jo hoch wie der alles beherrichende
Gipfel, die Mondſcheibe an, ſich zu verfilbern.
Eie jpielten in der Föftlichen Dämmerung bis zur
Stunde der Fledermäuſe, bis zur Zeit, wo der Ball
wirklich nicht mehr zu ſehen war. Vielleicht fühlten
alle unwilltürlih, daß eine jo ſchöne Stunde nicht
ſo leicht wiederfehre, und ſuchten fie jo lang als
möglich hinauszuziehen.
Schließlich machten fie fi auf, um Jthona die
ſpaniſchen Kupfermünzen zu bringen. In zwei gleiche
Teile geteilt, wurden fie in dide rote Servietten ge—
legt, welche die Burfchen und Mädchen je an einem
Zipfel trugen, und fo zogen fie friſch und fröhlich
dahin, das Lied der Spinnerin fingend.
Wie lang, wie licht, wie entzüdend war dieſe
Aprildämmerung! Roſen und allerlei andre Blumen
blühten vor den chrivürdigen weißen Häufern mit
brannen oder grünen frenfterläden. Jasınin, Geiß-
blatt und Lindenblüte verbreiteten ihren Duft.
Für Graziella und Ramuntdho war e3 eine jener
töftlichen Stunden, die man ſich jpäter im Moment
des bangen, traurigen Erwachens mit zugleich herz-
zerreißendem und entzüdendem Weh zurüdruft.
O, wer e8 jagen fünnte, warum ed auf der Erde
Frühlingsabende und jo ſchöne Augen giebt! — warum
das fühe Lächeln der Mädchen! — warum den Gärten
Blumendüfte entftrömen, wenn es Abend wird! —
warum der ganze entzüdende Zauber des Lebens uns
umgaufelt, da ja doch alles höhniſch, mit Trennung,
Altersſchwäche und Tod endigen muß! ...
XV.
Am nähflen Tag, Freitag, treffen fie Anftalten
zur Reife in das Dorf, in welchem am Sonntag
Pierre Loti
barauf das Feſt ftattfinden fol. Es Liegt jehr ent
fernt in fchattiger Gegend, an der Biegung einer
tiefen Schluht, am Fuße hoher Berge. Arrochloa
ift dort zur Welt gefommen und hat die erften Mo—
nate feines Lebens dort verbracht, die Zeit, da jein
Vater als Brigadier bei den franzöſiſchen Grenz-
jägern dort wohnte; Doch ift er noch ala Find von
dort fortgefommen und hat nicht die geringfte Er
innerung daran behalten.
Im Heinen Wagen der Delcharry ſitzen Graziella,
Panthifa und, mit einer langen Peitſche in der
Hand, Frau Dargaignarak, ihre Mutter, melde
futichiert. So fahren fie zufammen zur Dittagszeit ab,
und über die Bergftraßen direft ans Ziel ihrer Reiſe.
Ramuntcho, Arrochfoa und Florentino dagegen,
die in St. Jean de Luz noch einige Schmuggler-
geichäfte abzuwideln haben, machen einen Umweg
und werden erjt in der Naht mit der Bahn nad)
Erribiagne fommen,
Heute find alle drei glüdtich und ſorglos; nic«
mals ſaßen basliſche Barette über luſtigeren Gefichtern.
Die Naht finkt herab, als fie mit dem Zug von
Burguetta in das ftille innere Pand fahren. Die
Wagen find voll von vergnügten Leuten, die, wie es
jcheint, von einem Feſte fommen; die jungen Mäd—
den mit dem feidenen Tuch auf dem Hinterlopf, bie
jungen Männer in Wollbaretten; alle fingen, lachen
und küſſen ſich. Troß der alles einhüllenden Duntel-
heit find doch die blühenden Meihbornheden und
die Heinen, ganz weißen Wälder von Nlazienblüten
zu unterfcheiden. Im die offenen Wagen dringt ber
ftarfe, würzige Waldduft. Und durch diefen weißen
Blütenflor des April zieht der vorüberfaufende Zug
gleihjfam ein Kielwaſſer der Luft Hinter ſich her, den
Refrain einer alten navarrefiichen Weife, die immer
wieder von vorn begonnen und von den Mädchen und
Burſchen aus voller Stehle, mitten unter dem Getdie
der Räder und des Dampfes, gefungen wird,
Erribiague! An den Wagenthüren wird der
Name laut ausgerufen, jo da die drei Freunde auf:
fahren. Die fingende Schar ift ſchon früher aud-
geftiegen und hat fie fajt allein in dem ftiller ge
wordenen Zug gelaffen. Höhere Berge haben bie
Nacht noch undurdhdringlicher gemacht, und faſt hat
die jungen Leute der Schlaf übermannt.
Ganz betäubt fpringen fie heraus; es ift jo dunlel,
da jogar ihre Schmuggleraugen nichts unterjcheiden
fönnen. Saum fieht man einige Sterne flimmern,
fo jehr ift der ganze Himmel von den überhängenden
Bergen eingenommen.
„Wo liegt das Dori?* fragen fie einen Mann,
der allein dafteht, um die Reiſenden zu empfangen.
„Eine Viertelftunde von bier, dort rechts.“
In der That wird jeht das graue Band einer
Straße fihtbar, das ſich aber alsbald wieder im
Ramuntdo.
Dunkel verliert. Und bei diefer großen Stille, in
der friſchen Feuchtigleit diefer im Finſtern liegenden
Ttäfer, begeben fie ſich lautlos auf den Weg.
Ihre Fröhlichleit ift durch die düſtere Majeftät
der die Grenze behütenden Höhen gedämpft.
Sept überjchreiten fie auf einer alten Bogenbrücke
einen Bad; und dann fleht das eingeſchloſſene Dorf,
das fich durch fein Geräufch mehr.verrät, vor ihnen,
Das Wirtshaus, in dem nod) eine Lampe flimmert,
ift nicht weit entfernt und liegt an den Berg gelehnt
neben dem rauſchenden Bad).
Man führt fie dort gleich in ihre Heinen Zim—
mer, die ehrbar und jäuberlich ausfehen, trotzdem
fie uralt, niedrig und durch die ungeheuren Ballen
gebrüdt find; an den weißgetündhten Wänden hängen
Chriſtus⸗ Madonnen- und Heiligenbilder.
Zum Abendeflen fteigen jie wieder in den am
Eingang gelegenen Saal herab, wo zwei oder drei
altfräntijh gelleidete Alte fen, mit breiten Gürteln
und in ſchwarzen, jehr kurzen Kitten mit taujend
Falten, Arrochloa, der fih auf jeine Familie etwas
einbifdet, kann die Frage nicht unterlaffen, ob fie
einen gewiſſen Detharry gefannt, der früher als
Grenzjäger, vor eiwa achtzehn Jahren, hier war,
Einer der Alten, den Kopf vorbeugend und Die
Hand über die Augen haltend, ſieht ihn ſcharf an:
„O, ih wette, Sie find fein Sohn, Sie jehen
ihm auffallend ähnlich... Detharry! und ob id)
ihn fannte, und mich feiner erinnere! Er nahm mir
jur Zeit mehr als zweigundert Ballen Ware ab;
doch das ift ſchon lang her — hier, reihen Sie mir
Ihre Hand, obgleich Sie fein Sohn find.“
Und der alte Echmuggler, der jeinerzeit Anführer
einer Bande geweſen iſt, drüdt ohne Groll, mit
Wärme beide Hände Arrochloas.
Detcharry ift nämlich in Erribiague noch immer
berühmt wegen der Verjchlagenheit und Schlaubeit,
womit er jo ojt den Schmugglern ihre Waren ab»
nahm, Mit diejen erwarb er ſich jpäter ein Meines
Vermögen, das jeht Dolores und ihren Kindern zu
gute fommt.
Arrochloa wirft fihd in die Bruft, indes Ra—
muntcho den Kopf ſinken läßt, denn jchmerzlich fühlt
er feine Herkunft, er, der feinen Bater hat...
„Sind Sie vielleiht auch beim Zoll, wie Jhr
feliger Vater?” fragt der Alte ſchalkhaft.
„D nein, das gerade nicht, im Gegenteil jogar... .*
„Ah jo!... Verftanden!... da reichen Sie
mir nochmals Ihre Hand! Sehen Sie, das rächt
mid an diefem Detcharry, daß fein Sohn gleich)
uns ein Schmuggler geworden iſt.“
Sie beftellen nun Apfelwein und trinfen zuſam—
men, indeſſen die Alten ihre Abenteuer und Schliche
aus ehemaliger Zeit, Nachte und Gebirgsgefhichten,
erzählen. Ihr Dialekt ift nicht der gleiche wie in
587
Etchézar, wo ſich die Sprache deutlicher, ſchärfer aus—
geprägt, vielleicht reiner erhalten hat. Ramuntcho
und Arrochkoa verwundern ſich über dieſe Ausſprache
des Hochgebirgs, die weicher und ſingender iſt. Die
weißhaarigen Männer lommen ihnen wie Fremde vor;
ihr Geplauder klingt wie eine Reihenfolge eintöniger,
jtets wiederholter Strophen, ähnlich den alten Klage—
liedern.
So oft fie zu reden aufhören, dringt aus dem
friedlichen, Fühlen Dunkel draußen das leiſe Ge»
murmel der Nacht. Grillen zirpen, am Fuß der
Berge rauſcht der Bad, und von den riefigen, mit
dichtem Blätterwerl überwachlenen, quellenreichen
Höhen hört man die Waſſer herabträufeln.
Das Heine, eng eingeichloffene und abgeſchie—
dene Dorf in der tief ausgehöhlten Schlucht ſchläft,
und man hat das Gefühl, als fei hier die Nacht
dunkler und geheimnisvoller als anderwärts,
„Mein Gott!” jagt endlich der alte Schmuggler,
„Zolldienſt und Schmuggel haben im Grunde viel
Hehnlichteit miteinander. Beiderſeits gilt's, die
andern zu überliften und der Kühnſte zu fein —
nicht wahr? Ich finde fogar, daß ein entſchloſſener
und ſchlauer Grenzjäger, wie Ihr Vater zum Bei—
jpiel einer war, ebenjoviel gilt wie der nächſtbeſte
ber Unſrigen.“
Es erſcheint jeht die Wirtin und bedeutet fie, daß
es Zeit jei, das Licht auszulöfchen — das letzte noch
fladernde Licht im Dorfe. Die alten Schmuggler
gehen fort. Ramuntcho und Arrochloa fteigen in
ihr Zimmer hinauf, legen fi und jhlafen unter
fortdauerndem Grillengezirpe und dem Rauſchen des
fließenden oder herabriejelnden Waſſers ein; Ra—
muntho glaubt, wie in feinem Haufe in Etchézar,
während jeines Schlafes ein undeutlihes Schellen-
gebimmel am Halje der Kühe, die fi) unter ihm im
Stulle bewegen, zu vernehmen.
XVI.
Jeht öffnen ſie am ſchönen Aprilmorgen die
Läden der ſchmalen Fenſter, die wie Stückpforten in
die dicken, uralten Mauern gebrochen find.
Ihre Augen find plößli von ganzen Fluten
Lichts geblendet. Draufen glänzt und leuchtet der
Frühling. Niemals haben fie jo hohe Berge in
nächſter Nähe gejehen, wie fie jeht dort über ihren
Häuptern ſich erheben, Längs der bufchhededten Ab-
hänge, längs der braun bewachienen Höhen gleitet
die Sonne herab und ftrahlt in diefem tiefen Thal«
grunde über das weiße Dorf, über die alten Häuſer
mit den grünen Fenſterläden.
Beide erwachen mit Jugendluſt und Freude,
Sie haben nämlich für diefen Morgen geplant, dort
drunten im einjfamen Haufe der Vettern der Frau
Dargaignarak die zwei Mädchen, die geflern im
Wagen ankamen, zu beſuchen.
588
Nachdem fie einen Blid auf den Spielplaf, wo
jie ſich des Nachmittags einüben wollen, geworfen,
begeben fie fih auf den Weg über prächtig grüne
Pfade, die ſich im tiefften Grunde des Thales, längs
friiher Bäche verſtecken. Ueberall ſchießen Digitalis-
blüten gleich Tangen , rofafarbenen Raketen aus der
unabjehbaren Menge der Farnen hervor.
Das Haus der Vettern Olhagarray ſcheint weit
entfernt zu liegen, und von Zeit zu Zeit bleiben lie
ftehen, um vorübergehende Hirten nad) dem Weg zu
fragen, oder jie Hopfen an die Thür irgend einer
der einſamen Behaufungen, die hie und da unter
den Bäumen ſtehen. Niemals haben fie ſolch alte
Bastenhäufer gejehen, wie dieje hier im Schatten der
großen Saftanien.
Sie fommen dur ſellſam eingeengte Schluchten.
Noch höher als die überwölbenden Eichen- umd
Buchenwälder jind büftere, unbewachſene Gipfel fiht-
bar, eine rauhe, lahle Region von dunfelbramer |
Färbung, die in den tiefblauen Himmel ragt.
Hier unten jedoch ift eine gejchüßte, mooſige |
Melt, tiefes Grün, das die Sonne nie verdorrt, und in
dem der April jeinen frijchen, reihen Schmud veritedt.
Aud) die zwei, die auf diefen von Digitalis und
Farnen umſäumten Pfaden dahinwandern, nehmen
ihren Anteil an der Yenzespradht. In ihrer Freude,
hier zu fein, und unter dem Einfluß dieſer von der
Zeit nicht berührten Gegend erwachen nad) und nad)
tief in ihrer Seele Jagd» und Zerftörungsgelüfte,
Arrochloa beſonders hüpft erregt von rechts nad
liuls, entwurzelt Gräſer und Blumen oder bricht fie
ab, ſucht nah allem, was ſich umter dem grünen
Blättern regt, nach den Eidechien, den Vögeln und
den Schönen, im hellen Waffer ſchwimmenden Forellen.
Er hüpft und Läuft, wünscht fich Fiſchergeräte, Stöcke
oder eine Flinte, Die MWildHeit des richtigen Naturs
tindes tritt in ihm zu Tage, die Triebfraft feiner
blühenden achtzehn Jahre. Ramuntho dagegen wird
bald wieder ruhig. Er bricht nur ein paar Zweige
ab, reißt eine Handvoll Blumen aus, und ſchon
fängt er wieder an, ji) zu ſammeln, wird nachdenk-
ih und träumeriſch .. .
Jetzt bleiben fie an einem Kreuzweg im Thale |
fiehen, — es ift eine jlille, einfame Stelle, wo feine |
menschliche Wohnung zu emideden if. Ringsum
dunlle Schluchten, in welchen ſich mächtige Eichen
übereinandertürmen, und über ihnen ſchwere Berg:
mailen von rotbrauner, jonnenverbrannter Färbung.
Nirgends ein Zeichen der Neuzeit, völlige Stille, ur-
weltlicher Friede.
Sie erheben die Köpfe zu den braunen Höhen
und entdeden in weiter Ferne dort droben Menſchen,
die auf unfihtbaren Wegen dahinwandeln, Feine
Schmugglerejel treibend. Die ftillen Wanderer am
Abhang des riefigen Berges, winzig, gleich Injelten,
Pierre 2oti.
in diefer Entfernung, find Baslen; von bier aus
betrachtet find fie faft einä mit der roten Erde, aus
der jie hervorgegangen find, und in Die fie wieder
zurüdfehren, nachdem fie wie die Vorfahren gelebt,
ohne von dem Leben unfrer Zeit, von andermärtigen
Dingen etwas zu ahnen...
Arrocdhfoa und Ramuntcho ziehen ihre Baretie
ab, um ji die Stirn zu trocknen; es ift jo heiß in
der tiefen Schlucht, und fie jind jo gelaufen und
berumgehüpft, daß ihnen der Schweiß am ganzen
Körper niederperlt. Obgleich ihr Weg kurzweilig if,
jo möchten fie doch bald bei den zwei blonden Mäd—
chen fein, die jie erwarten. Wen aber nad dem
Weg fragen, da niemand bier zu ſehen ift?...
„Ave Maria!” ſchreit neben ihnen im Dichten Buſch⸗
werf eine alte, heifere Stimme; und fie fährt fort,
eine ganze Reihenfolge von Wörtern, die immer
leifer werden, raſch, raſch herzuplappern: ein bas-
tiſches Gebet.
Aus den Farnen tritt jet ein alter Bettler, erd⸗
fahl, ftruppig, grau, auf feinen Stod gebeugt, wie
ein Waldmenſch ausfehend.
„Ja!“ jagt Arrochloa, die Hand in die Taſche
ſteckend; „allein um unfer Almofen zu verdienen,
mußt du uns bis zum Haufe Olhagarray führen.“
„Das Haus Olhagarray?” entgegnet ber Alte.
„Ei, da komme ich gerade her — und, meine lieben
Jungen, ihr ſteht gerade davor.“
Fürwahr, wie ift es möglich, daß fie den laum
hundert Schritte entfernten ſchwarzen Giebel zwiſchen
den Kaſtanienzweigen nicht geiehen ?
An einer Stelle, two es um die Schleufen ſchäumt und
brauft, fteht das alte, große Haus zwiſchen hundert:
jährigen Bäumen, mit dem Fuße im raujchenden Bade.
Ningsum ift die rote Erbe fahl und vom Ge-
birgswaſſer unterwühlt. Ungeheure Wurzeln winden
ſich gleich rieſigen grauen Schlangen drüber hin,
und der ganze von den pyrengiſchen Höhen «in
geſchloſſene Plaß ift unfreundfic und finiter.
Allein dort ſitzen zwei junge Mädchen im Schatten,
mit blondem Haar und rofafarbenen Blujen ; wunder:
‘ bare, jehr moderne feine Feen mitten in der alten,
wilden Landſchaft . . . Sie erheben fich mit jreudigem
Ruf und laufen den Anlömmlingen entgegen.
Freilihh wäre es pallender geweien, vor allen
Dingen ins Haus zu treten und die Alten zu be
grüßen, Die jungen Leute jagen ſich jedoch, daß
man fie wahrfcheinlich nicht gefehen, und beide
fangen lieber damit an, ſich an den Rand des Baches
auf die großen Wurzeln zu jehen, jeder neben feine
blonde Braut. Zufällig richten es Die Paare jo ein,
daß jie fich gegenjeitig nicht flören, und bleiben eines
vor dem andern hinter Felſen und Zweigen veritedt.
Nun fangen jie ganz leife an zu flüftern, Arrod)-
foa mit Pantchila, Ramuntcho mit Graziella.
—— —
Ramuntdo. 589
Was haben fie ſich nur alles zu jagen, daß fie '
io viel, jo eilig reden müjlen ?
Obgleich ihr Dialet nicht jo fingend wie der des
Hochgebirges ift, worüber fie jich geitern verwunderten,
jollte man dennod glauben, rhythmiſch jfandierte
Strophen zu hören — eine unendlid ſüße Mufik,
bei welcher die Stimmen der jungen Leute janft wie
eine Kinderſtimme werden.
Was haben fie ſich nur alles zu jagen, daß fie
jo viel, jo eilig am Rand des Bades, im wilden
Hohlweg, umter der heißen Mittagsjonne plaudern ?
Mein Gott, es ift faum viel Sinn darin, «8 ift
nichts als ein dem Liebenden eignes Geflüfter, ehva
wie das Teile Gezwiticher der Schwalben, wenn fie
ihre Nefter bauen. Es iſt kindiſch, unzufammen-
hängend und mit Wiederholungen durchwebt. Nein,
es bat faum viel Sinn, — wofern es nicht das
Höchſte auf der Welt ift, das Tieffte und Wahrite,
was ſich mit menjchlichen Worten ausſprechen läht...
63 bedeutet nichts, — wofern es nicht die ewige,
wunderbare Hymne iſt, für die allein die Sprache
der Menfchen und Tiere gejchaffen wurde, und neben
der alles andre hohl, erbärmlich und eitel iſt ...
Es iſt drüdend Heiß in der von allen Seiten
eingeſchloſſenen Schlucht. Trotz des Schattens ber
Kaftanien brennen dennoch; die von den Blättern
gedämpften Strahlen, und der fahle, rotjteinfarbige
Boden, daS altertümliche, unfern ftehende Haus, die
alten Bäume machen das Bild der ganzen Um—
gebung etwas rauh und unfreundlich.
Niemals hat Ramuntcho ſeine Heine Freundin
ſo roſig geſehen; auf ihren feinen, durchſichtigen
Wangen liegt die friſche Röte des geſunden Blutes
— ſie iſt roſig wie die Blüte der Digitalis.
Mücken und Fliegen ſummen um ihre Ohren,
und jeht hat ſogar eines dieſer Tiere Graziella ge—
ſtochen, — faſt auf den Mund, oberhalb des Kinns,
und ſie verſucht, mit ihrer lleinen Zunge dort hin—
zulommen, mit den oberen Zähnen die jchmerzhafte
Stelle zu fragen.
Ramuntdo, der dies jo nahe ficht, allzu nahe,
fühlt ſich plöglich erichlafft, und um fich aufzumun—
tern, redt und dehnt er ungeflüm die Arme, wie
einer, der eben erwacht.
Das junge Mädchen beginnt von neuem, ba ihre
Lippe fie fortwährend judt, — und Ramuntcho redt
wieder die Arme, indem er den Rumpf zurüdiehnt.
„Bas haft du, Ramuntcho, dab du dich dehnft
und ftredft wie eine Katze? ...“
Als aber Graziella zum dritten Male jih an
berjelben Stelle beißt und noch einmal die Heine
Spike ihrer Zunge hervorftredt, beugt ſich Ramuntcho
nieder, von einem unwiderſtehlichen Verlangen er»
griffen — aud er pickt mit den Zähnen an die
Stelle, wo die Müde fie geflohen, und zieht die
frische Lippe Teicht in jeinen Mund, wie eine hübjche
rote Frucht, die man genießt, doch ängſtlich bejorgt,
fie nicht zu zerbrüden ...
Eine Weile bleiben fie ftumm, es durchſchauert
fie Schreden und Wonne ... Graziella zittert am
ganzen Körper, fie hat bei diejem Kuß Ramuntchos
ſchwarzes Schnurrbärtchen an ihrer Lippe gejpürt.
„Bift du mir böfe — ſag?“
„Nein, Ramuntcho, o nein, ich bin nicht böſe ...“
Und er, von hefliger Liebe erfaßt, beginnt von
neuem; und in der warmen, drüdenden Luft geben
fie fich zum erſtenmal in ihrem Leben lange Liebesküſſe.
’ XVII.
Am nächſten Morgen, Sonntag, waren ſie alle
andächtig zur Frühmeſſe gegangen, und an demt-
ſelben Tag gleich nad dem Ballfpiel follten fie ab»
reifen, um Etchézar noch vor der Nacht zu erreichen.
Nun war e3 diefe Rücklehr bejonders, mehr noch als
das Spiel, welche Ramuntcho und Graziella beichäf-
tigte, denn wie jie gehofft, blieben Pantchila und
ihre Mutter in Erribiague, und jie follten in dem
fleinen Magen, ganz nahe beifammen jikend und
unter der nachfichtigen und oberflädlichen Beaufs
ſichtigung Arrochkoas, heimfahren. Fünf bis ſechs
Stimden Fahrt, alle drei allein, über Frühlingäwege,
unier neuem Grün und mit fröhlicher Naft in un«
befannten Dörfern.
Schon um elf Uhr des Morgens füllten ſich die
Zugänge des Platzes mit Gebirgsieuten, die von
allen Seiten, von den Höhen, von allen wilden
Dörfern ringsum Herbeigelaufen famen. Es war
eine internationale Partie, drei franzöſiſche Ball-
jpieler gegen drei jpanifche, und in der VBerjammlung
ſah man befonbers ſpaniſche Basken, — ja, jogar
Männer mit breiten Sombrerog, mit Jaden und
Gamaſchen aus vergangener Zeit.
Die durch das Los beftimmten Richter beider
Nationen begrüßten jich mit altfränlifcher Höflichkeit,
und die Partie begann unter großer, fliller Er—
wurtung, unter drüdender Sonne, welche die Spieler,
trogdem fie die Barette wie ein Schild über die
Augen drüdten, belüftigte,
Bald jauchzte die Menge Ramuntcho und nad
ihm Arrochkoa zu; fie waren die Sieger des Tages,
Von allen Seiten ſchaute man die zwei Meinen, jo
aufmerkjam zufehenden fremden Mädchen an, die jo
hübſch in ihren rofafarbenen Taillen ausjahen; —
man raunte ſich zu: „ES find die Bränte der beiden
guten Spieler.“ Graziella, die alles hörte, war flolz
auf ihren jungen Bräutigam,
Zwölf Uhr. Sie fpielten ſchon fait eine Stunde,
Die alte Mauer mit dem abgerundeten Gicbel und
dem gelben Anſtrich war riſſig vor Trodenheit und
Hitze. Die großen Gebirgsmaſſen, hier noch näher,
noch erdrüdender und höher als in Elchzar, ragten
590
ringsum über die Heinen, menschlichen Gruppen em—
por, die fich in ciner tiefen Falte ihrer Abhänge
bewegten. Die Sonne fiel ſenkrecht auf die ſchweren
Barctte der Männer, auf die unbebedten Köpfe ber
Frauen, dad Gehirn erhigend und die Begeifterung
verflärfend. Die leidenſchaftliche Menge ſchrie, und
die Bälle flogen bin und her, als die Betglode leiſe
anfing zu erklingen. Ein alter, narbiger, jonne«
verbrannter Dann, der dies Signal erwartete, fehle
feine Trompete an den Mund — jeine alte afrika—
nijche Zuaventrompete — und blies zum Gebet.
Alle ſitzenden frauen erhoben fi, alle Häupter der
Männer eniblößten ſich, das gejamte Volk machte
das Zeichen des Kreuzes, indefien die Balljpieler
mit fchweißtriefender Bruft und Stirn im heißeften
Moment der Partie unbeweglich ftehen blieben und
andächtig den Kopf zur Erde neigten.
Schlag zwei Uhr war das Spiel glorreich für
die Franzoſen beendigt. Arrochkoa und Ramuntcho
ftiegen in ihren Meinen Wagen, und die jäntliche
Jugend aus Erribiague begleitete fie und jauchzte
ihnen zu. Graziella nahm zwiſchen beiden Plahz,
und fort ging's auf die lange, ſchöne Fahrt, die
Taſchen voll von dem gewonnenen Golde, von ber
Freude, dem Lärm und der Sonne beraujdt.
Ramuntcho, dem die Erinnerung der geftrigen
Küffe geblieben war, hatte große Luft, vor der Ab»
fahrt den Leuten zugurufen: „Die Seine, die ihr hier
jo ſchön vor euch ſeht, gehört mir. Ihre Lippen
find mein. Geftern preßte ich die meinigen auf die
ihrigen, und heute abend werde ich e3 wieder ihun... .“
Sie fuhren ab und befanden fid) bald wieder in
ftiller, ruhiger Umgebung in den jchattigen Thälern,
jwijchen den mit Digitalis und Farnen bewachjenen
Bergwänden ...
Stundenlang auf den ſchmalen pyrenäiſchen
Wegen zu fahren, fajl täglich) anderswo zu jein, das
baskiſche Land nad allen Seiten zu durchkreuzen,
von einem Dorf zum andern zu wandern, heute
wegen eines Feſtes, morgen wegen eines Grenz—
abenteuers — darin beftand jetzt Ramuntchos Leben,
Ein wanderndes Dafein, bei Tag durch Balljpiel,
bei Nacht durch Schmuggel ausgefüllt. —
Bald ging's bergauf, bald bergab, mitten in der
grünen Pracht. Fajt unberührt ſchienen hier die
Eichen: und Buchenwälber, wie fie ehemals in fliller
Vorzeit waren,
Wenn fie an irgend einer altertünlichen, in dieſer
Baumeinöde verirrten Behaufung vorüberfamen,
fuhren fie langjamer, denn es machte ihmen DBer«
gnügen, über den Thüren die traditionellen, in ben
Granit eingehauenen Juſchriſten zu leſen:
„Ave Maria! Im Jahre 1600, oder im Jahre 1500,
hat der und der, ausdem und dem Dorfe,diejed Haus ge⸗
baut, um dort mit der und der, jeiner Ehefrau, zu leben.“
Pierre Loti. — Ramuntdo.
Weit von jeder menfhlichen Wohnung, an der
Biegung eines Hohlwegs, begegneten jie einem
Händler mit Heiligenbilbern, ber fi) die Stimm ab»
troduete. Er hatte jeinen Korb auf die Erde geieht.
Diejer war mit wertlojen Heiligenbildern in Gold—
rahmen angefült, weldhe die Basen gern zur Aus—
Ihmüdung ihrer weißgelündgten Wände faufen. Der
Mann ftand erfhöpft von Hihe und Müdigkeit in
den Farnen. Graziella wollte abfteigen und ihm
ein Muttergottesbild ablaufen,
„Es ift für fpäter,” fagte fie zu Ramuntdo, „für
unjer Heim, als Erinnerung.”
Und das buntfarbige Bid in goldnem Rahmen
fuhr mit ihnen weiter unter den langen, grünen
Baumgängen ...
Sie jhlugen nun einen Umweg ein, denn fie
wollten durd) ein gewiſſes Kirfchenthal fahren, nicht
daß fie hofften, jebt Schon, im April, reife Kirſchen
dort zu finden, jondern nur, um dieſe im ganzen
Lande bewunderte Gegend Graziella zu zeigen.
Es war jchon beinahe fünf Uhr und die Sonne
dem Untergang nahe, als jie dorthin famen. ine
ſchattige, flille Landſchaft, wo in dieſer Zeit die
Dämmerftunde einſchmeichelnd über die Pracht der
Blüten und des jungen Grüns berabftieg, Die
Luft war friih und angenehm, Afazienblüten und
friſches Gras dufteten lieblich. Ringsum ſchloſſen
die Berge, die beſonders gegen Nerden hoch hinauf-
ragten und das Klima jo mild geflalteten, das Thal
ein und warfen über das Ganze die geheimnisvolle
Melandolie eines verborgenen Ebene,
Als die Kirſchbäume in Sicht kamen, waren alle
drei nicht wenig überrafcht, ſie ſchon jet, am zwan-
jigften April, ganz rot zu finden,
Niemand war auf diefen Megen zu fehen, über
welche die großen Bäume ihre forallenroten Zweige
auß&breiteten,
Hie und da nur ftanden einige noch unbewohnte
Sommerhäuschen, etliche vernadläjiigte Gärten,
von hohem Gras und wilden Rojen überwuchert.
Das Pferd mußte nun im Schritt gehen; fie
ließen ihm die Zügel und ftellten ich, eins nad) dem
andern, in den Wagen ; e8 beluftigte jie, Kirſchen im
Vorüberfahren vom Baume zu eſſen. Nachher jtedten
fie ganze Büſchel in die Knopflöcher und befeftigten
am Kopf des Pferdes, am Sattelzeug, an der Las
terne große Zweige; — 18 war, als ob der Wagen
zu irgend einem frendigen Jugendfefle geſchmückt wäre.
„Seht aber eilig vorwärts!” bat Graziella, „dus
mit wir noch vor der Naht anlommen und die Leute
in Eichezar unfer ſchön verziertes Fuhrwerl ſehen.“
Namuntdho aber dachte bejonders bei dieſer her-
einbrechenden Dämmerung an die Zufammentunft
am Abend, an die Küſſe, die er ihr, wie geitern,
geben wollte, (Bortichung folgt.)
Yiener.
Vier Porlräts
bon
3. A. Gontfcharom.
Aus dem Ruffifchen überlegt von A. Olfchwang und K. Kryzanowski.
II.
Anton.
Der Diener, der an Stelle Valentins proviſoriſch
bei mir eingetreten war, erklärte mir nad) drei Tagen,
nicht länger bleiben zu lönnen, da fein Here vom
Sande zurüdfehre und er jeinen Dienft wiederum
aufnehmen müſſe. Er veriprad mir einen andern
Diener zu ſchicken, einen Freigelaſſenen, der kürzlich
vom Dorfe hereingelommen ſei.
„Wer ift er? Kein Menſch kennt ihn hier. Kann
ih ihn fo ohne Empfehlung nehmen?” fragte ic)
zweifelnd,
„Er bat im Freihaus feine eigne Ede gehabt,
bevor er in Stellung ging. Dort empfiehlt man
ihn. Er ſoll ein ruhiger, unverborbener Burſch fein,
jo ein rechter aus dem Dorf. Er ift fräftig gebaut.
Heißt Anton.“
„Run gut!“
Des andern Tags jchidte er mir einen Menſchen
von folofjaler Größe, etwa fünfundvierzig Jahre alt,
brünett, mit dichtem, bufchigem Haar, langen, ftarfen,
musfulöjen Armen und ebenjoldden Beinen, Er ftedte
in einem langen, weiten, unförmlichen Kittel, der
offenbar nicht für ihn geichmeidert worden war, und
blieb wie feftgemauert an der Thür ftehen. So jchaute
er demütig, faft ängftlich vor fi) hin mit einem
übrigens jlumpfen, apathiſchen Blid, aus dem fein
Strahl, ja nicht einmal ein Funke von innerem Licht
feuchtete.
„Du heißt Anton? Bift aus dem Dorfe?“
fragte ih, während id) feinen Pak durchſah.
„Zu dienen!“ antwortete er demütig, mit leijer
Stimme. „Habe bei der Herrſchaft gedient uud bin
jeßt freigelafien auf Zins.*
„Als was haft du gedient?“
„Bei Tiſch. Bin auch mit den Herrichaften zu
Beſuch gefahren — aud beim Jagdweſen —“
„Du bift aljo ein guter Schühe ?*
„Das mieder nicht. Wild geſchoſſen haben
bei ung andre — jelbe haben beim Hunde»
wejen gedient — aber ich mehr, was die Wölfe an-
betrifft —”
„Wölfe? Giebl's ihrer denn viel bei euch?”
„O, ſchwer viel in unſerm Bezirk, Alles voll
Wald, und da haben fie ſich vermehrt — viel Vieh
zerriffen. Da hat der Herr unſer drei geichidt —
handfeſte Leut' miteinander” — er fireifte mit einem
kurzen Blid feine Fäuſte und jhüttelte fie ein wenig —
„und mit uns fünf Bauern, eher. noch handſeſter —
zu den Wölfen —*
„Man hat euch doch aber mit Flinten geſchickt,
nicht mit bloßen Händen ?*
„Beileibe niht! Mit Knüppeln —*
„Wie? Auf Wölfe mit — ?*
„Zu dienen! Wie man hört, daß Wölfe zus
gelaufen find, jidt man uns mit Neken, Wir brei
Mann jtellen die Nee auf und warten. Jetzt fängt
man brüben auf der andern Seite an und jchrect
fie mit Klappern und Pfeifen — fie rennen, ala ob
ihnen der Balg brennen thät', wirren ſich in Die Nebe,
und wir mit unjern Snüppeln empfangen fie — jo —“
Er redte jeine Fäuite und ſchwang fie wie zwei
BDlöde, der echte Ilja Muroweß:*) „wo der hin—
ichlägt, geht ein Glied weg.”
Nun, dachte ich bei mir, wenn er nicht mich felbft
mit dem Knüppel empfängt, wirb er mir eine zu—
verläfjige Haus und Leibwache abgeben. Einer wie
der wird mit einer ganzen Diebsbande fertig.
„Wie war dad mit den Wölfen?" fragte ic)
weiter. „Habt ihr fie gleich getötet?“
„Jawohl! Man muß nur auf den Kopf zielen,
jonft, wenn man auf einen andern Fleck — jo wird
er nicht gleich hin rennt herum — und dann, paß
auf, wird er durchs Neb gleid) einen zerreißen.”
„Sind auf deinen Teil viel Wölfe gekommen?“
„D, viel! Ich Hab’ ihrer vielleicht ein halbes
) Sprihwörtlih. Ilja Muroweh eine Art von ruſſiſchem
Herkules.
592 J. A. Gontfharom.
Hundert totgeſchlagen. So weit hab' ich gezählt,
dann hab' ich die Rechnung verloren.“
„Nun, ſchön! Bleib bei mir, und wenn Wölfe
fommen, fo jollit du fie tüdhtig ---”
„Was denn für Wölfe — bier?“ verjehte er naiv
und wollte lächeln, brachte es aber wicht zuwege.
„Bon einer andern Gattung!” fagte ih. „Die
hiefigen Wölfe ſchleichen ih in die Speicher und
dringen in Kommoden, Schränfe und Tiſche.“
Ich behielt ihn alfo bei mir, und er begann me—
chaniſch feinen Dienft zu verrichten, der übrigens
feine großen Anſprüche an ihn ftellte. Dabei hatte
er troß aller Schwerfälligfeit etwas Leiſes, Weidhes,
Behutſames in feinen Bewegungen und ſchlich auf
feinen breiten Sohlen umher wie eine Katze ober
vielleicht auch wie ein Wolf. Unhörbar räumte er,
während id) fchlief, in den Zimmern auf, brachte Holz
herein, e3 jorglih an die Bruft drüdend, ala 06 die
Scheite feine leiblichen Kinder wären, und fchichtete
dann Stüd um Stüd beim Ofen auf mit der Acht |
jamfeit einer Mutter, die ihr Kleines in die Wiege
beitet. Er legte fie hin wie Flaumfederchen; niemals
verurſachte eins der Scheite ein Geräuſch, niemals
erlaubte er fich, mich anzureben, und antwortete mir
nur leife und ſchüchtern.
„Hinter dein ſteckt etwas, aber was?” fragte id)
mid), nicht ohne eine gewiſſe Bejorgnis, indem ic)
ihm mit den Augen folgte, wenn er leije wie ein
Schatten durch die Zimmer glitt,
„Trinkſt du nicht, Anton ?” fragte ich ihn einch
Tages in aller Freundſchaft.
Er ſchwieg ein Weilden.
„Heutzulag trintt auch ein Huhn,“ antwortete
er dann ausweichend, .
„Nun, wenn's nicht mehr ift, hat's feine Ge—
fahr — *
IH kam nicht dazu, meinen Sa zu vollenden,
da Anton in feine Kammer entjchlüpfte, um, wie er
fagte, eine Bürfte zu holen.
Moden und Monate vergingen. Ich entdedte
nichts „Hinter ihm“ und war innerlich froh, einen
jo ruhigen, accuraten Diener zu haben,
Allerdings bemerkte ich dann und wann fleine
Ungebörigfeiten, und zwar von jener gewiſſen Art,
wie man fie namentlich an Gutsleibeignen beobachten
fann, Ich fpeifte damals nicht zu Haufe, aber id)
frühftücdte mandmal da, das heißt ich nahm Thee
mit irgend etwas Kaltem: Käje, Kaviar und ders
gleichen.
Eines Tages erſuche ich Anton, mir den Thee
zu bringen und dazu den Käſe oder Kaviar, dei von
geftern übriggeblieben war.
„Gleich!“ jagt er und geht an? Büffet. Nach
einer Weile fommt er zurüd, „Rein Käſe da!” jact
er leiſe.
„Mo it er denn? Geſtern ift doch nod ein
großes Stüd übrig geblieben !*
„Ih — habe — ihn verwendet,” jagt er, ber
Ihämt die Augen niederſchlagend.
Ebenjo ging es an andern Tagen mit dem Kaviar,
mit dem falten Fleiſch und den Sardellen, Fragte
man ihn danad), jo ging er zunächſt, als wolle er
nachſehen. Dann ſagte er leije: „Verwendet!“
Ich genierte mich, ihm ehwas darüber zu fagen,
daß diefe Verwendung nicht am Plabe jet. Vielleicht
vervolftändigte er jeine ärmlichen Mahlzeiten, die er
in irgend einem Heinen Laden oder bei einem Speije-
wirt in der Nahbarichaft einnahın, durch dieje Ueber
bleibfel meines Frühſtücks. So dachte ich und ſchwieg
deshalb. Ich war gern bereit, dieje Kleinigleiten mit
ihm zu teilen.
Aber einmal war vom Tag vorher eine Menge
Eingemadtes, Obſt und Badwer! übriggeblieben,
Ich erinnerte mich daran und wollte e8 mir zum Thee
bringen laflen. Wie gewöhnlich ging Anton ans Büffett,
flirrte da mit dem Geſchirr herum und brachte mir
dann zwei Stüdden Badwerf und den Topf mit
Eingemachtem, das heiht den Topf. Von dem Ein
gemachten war faum mehr ein Theelöffelchen voll
vorhanden,
„Ich habe den Topf doch erſt geftern geöfjnel,
und von Backwerk war ein ganzes Brett voll da,“
bemerkte ih. „Wo ift denn das alles?*
Er trat von einem Fuß auf den andern und
ſchwieg verlegen. Endlich flüfterte er faum hörbar;
„Berwendet!*
Auch Heute gemierte ich mich, ihm eine Bemerkung
zu machen. Ic) zog ein andres Mittel vor. Von
num an pflegte ich nämlich, jo oft ich mir etwas vom
Frühftüd auf ein andermal aufheben wollte, zu
jagen: „Hebe das auf, verivende es nicht!”
Auf diejen Befehl antiwortete.er mit feiner Silbe,
„derwendete* aber auch nicht.
Fand ich e8 dagegen nicht nötig, eiwas aufju-
zubeben, jo ſagte ich:
„Das verwende, wenn bu willſt.“
„Zu Befehl!“ anwortete er dann und „vere
wendete“.
So wurde eine Ordnung eingeführt auch in dem,
was das „Frühſtückweſen“ betraf.
Abermals verfloſſen einige Monate, und alles
ging gut. In meiner Wohnung herrſchte ungetrübte
Rube, Anton ging jelten aus, einmal in zivei
Wochen, Untertags jah ich ihn wenig. Abends half
er mir beim Ausfleiden, begab ſich dann in feinen
Verſchlag, und ich ſah ihn nicht mehr bis zum
Morgen, wußte aud) nicht, was er treibe: ob er ſich
da ohne mid) langweile oder nicht, ob jemand ihn
bejuche — ich wußte es nicht und war jehr zufrieden.
Aber „niemand hoffe auf ein dauernd Glück!“
Diener.
fingt und als unerbittliche Wahrheit das befannte
Lid, Einmal im Winter — ih glaube, es war
Dezember — Fam ich um fieben Uhr abends heim,
jepte mich zu einer dringenden Arbeit und trug Anton
auf, mir um zehn Uhr den Thee zu bringen.
Lange ſaß ich und arbeitete. Es war ein Viertel
über zehn, und noch fam weder Anton noch Thee.
Doch drang ab und zu ein befanntes Geräuſch aus dem
Borzimmer, der dumpfe Schall leiſer Tritte. Offen-
bar war er aljo noch wach und auf ben Beinen.
Ich läutete. Keine Antwort. Nad fünf Minuten
ſchellte ich abermals und wieder und wieder und
wieder.
Endlich öffnete fich leiſe die Thür, und herein trat
oder ſchob fich vielmehr ein mir ganz unbelannter
Menſch, das heißt deſſen Kopf und Schultern.
„Was fteht zu Dienften?“ fragte er ehrerbietig.
„Wie — was? Natürlich Thee! Wo ift Anton?
Barum fommt er nicht?”
„Gleich !” war die Antwort, und der Kopf mit
den Schultern verſchwand.
Ih glaubte, Anton fei irgendiwohin gegangen,
vielleicht nach der Küche oder ins Treppenhaus, und
der Menſch ſei ein Bekannter von ihm und bei ihm
zu Saft. Ich vertiefte mid wieder in meine Arbeit,
Es verging etwa eine halbe Stunde, Niemand fam.
Ih wurde wütend und jchellte aus aller Kraft. Nach
einer Heinen Weile öffnete fich die Thür zur Hälfte,
und wiederum erfchien ein großer Kopf mit Schuls
tern, aber nicht ded vorigen, jondern eined andern
Menſchen, und diejer Kopf fragte ebenjo:
„Was fteht zu Dienjten ?”
„Was iſt's mit dem Thee? Wo ift Anton?“
rief ich ungebuldig.
„Blei!“ jagte der Kopf und verſchwand.
Aber als nad zehn Minuten weder Thee noch
Anton erjchien, ging id) raſchen Schritts nad) dem
Vorzimmer. Ich wollte jehen, was dort, bei Anton,
vorgehe, öffnete die Thür und war — Starr. Der
Heine Raum war vollgejtopft von Leuten: nicht
weniger als fieben Maun waren da verfammelt. Sie
jagen auf zwei Stühlen, einem Schemel, einer Banf,
einer war auf ben Tiſchrand gellettert und zwei
drängten fi) von vorn auf dem Bett Antons. Es
waren die beiden, die zu mir hereingejehen hatten.
Auf dem Tiiche ftanden Flaſchen, Glaskrüge, Teller
mit Pirogen, Schinfen, Wurft, Gurlen und andern
Speifen. Es gab auch Nepfel und Weinbeeren,
Anton jelbft Sag in feiner ganzen riefigen Größe
auf dem Bett, die Füße auf den Boden hängend,
ben Kopf nad hinten über, mit offenem Mund und
offenen Augen, befinnungslod. Man ſah von ben
Augen nur das Weihe, die Pupillen waren unter
die Stirn gerollt.
„Nun, da haft du aber tüchtig verwendet!” entfuhr
Aus fremden Zungen. 1897. II. 14.
I. Anton, 593
es mir unwillkürlich. „Ah du Dudmäufer, du
Dudmäufer! — Iſt Hier vielleicht eine Schente?“
fragte ich jtreng die ganze Geſellſchaft. „Wer jeid
ihr, und was wollt ihr in joldem Haufen?“
„Heut ift der Namenstag Anton Tychonptichs,“
antwortete einer mit betrunfener jühliher Stimme.
„Wir find hier verfammelt, um zu gratulieren.”
„Birogen, Pirogen haben wir gebracht,“ wollte
ein andrer mir energifch bedeuten, aber es gelang
ihm nicht.
Ein dritter zeigte auf die Süßigfeiten, auf die
Hepfel und Rofinen, und wies dann mit dem Finger
ftillfchweigend auf feine Bruft, als wollte er jagen:
„Das habe ich gebracht.”
„wort, fort!” Ich zeigte nad) der Thür,
„Ber—zei—hung! Ber—zei—hung!” wollte einer
bemerlen; „wir find nicht um —“
Sch winkte mit der Hand,
Ale griffen nad den Mühen und drängten in
einem Haufen, einer den andern ftoßend und drüdend,
nad der Thür. Auf der Treppe gab e8 ein Gejtampf,
als hätten fie fteinerne Stiefel an. Jeder wollte
der erjte drunten fein.
„Schicke mir jofort den Dwornif!* rief ich einem
der Letzten zu.
Der Divornif fam. Ich zeigte ihm Anton, der
nad wie vor mit offenen weißen Augen und aufe
gejperrtem Mund befinnungslos dalag.
„Bitte, fieh zu, wie du ihn wieder zu fid
bringjt!”
„Er it Halt das Namenstagslind!“ ſagte der
Dwornil, „und da hat er ein bißchen über die Schnur
gehauen. Neulih Hat er au mir und Akim an»
geboten. Morgens ift er zur Frühmeſſe gegangen —“
„Leg ihn, wie's nötig iſt,“ jagte ih. „Morgen
belfommft bu von mir ein Trinkgeld.“
„Wie fann id) das, Herr? Ein Menſch allein
bringt das nicht fertig. Sehen Sie nur dieſe Größe!
Es fehlt nicht viel zu einem Saſchen. Ich werde
Alim holen,“
Er bradte feinen Kameraden herbei, und beide
gingen mit vereinten Kräften daran, das Namens
tagsfind ins Leben zurüdzurufen. Sie goffen ihm
Waſſer über den Kopf, benegten ihm Schläfen und
Scheitel mit Ejfig, fleideten ihn aus und legten ihn
dann nieder.
Ich ging indeffen im Zimmer auf und ab, nieder«
gejhlagen, ja betrübt über das alles. „Ach bu!”
ſeufzte ih, „du grüner Wein!*) Du Jod, du här-
teftes Jod) der Leibeigenſchaft! Wer wird did) dere
tilgen, und wann wird das gefchehen? Wer wird
di, Mütterhen Rußland, von ihm befreien? Fürft
Wladimir, der Große,“) jagte dereinft: ‚Die Freude
) Branntwein.
*") Zu Anfang des zwölften Jahrhunderts.
75
594
Rußlands ift das Trinken,‘ und diefes Wort ift zu
einem ſchweren, ewigen Gebot für das ruffifche Volt
geworden. Warum bat er nicht gejagt: ‚Trinken,
aber nicht Betrinfen‘ ?*
Am nähften Morgen fam Anton mit feinem
Molfstritt zu mir herein, den Kopf gefenft, die |
matten Augen niedergeichlagen. Ich jah ihn ſcharf | waren. Da wolle er fi alles anfehen und dann
an. Er wollte ſich entfernen.
„Halt,“ ſagte ih. „Was war dad geftern
mit dir?“
Vorerſt wußte er nicht, was antworten.
„War Namenstagslind,“ fagte er endlich leiſe.
„Schön! Aber warum Haft du mir nichts mit
geteilt, mir nicht vorher gejagt, daß du Gäſte ein-
laden wollteft, daß eine Kneiperei ftattfinden würde?
Ich wäre dann weggegangen, irgendwohin, um dieſe
Wüftheit nicht zu ſehen.“
„sch wuhte nicht, dab fie fommen. Sie haben
mir Wein, Ehwaren, Pirogen gebradht, und ich...“
„Habe dies alles verwendet,“ ergänzte ih.
„Eigentlich haben fie jelbft alles verwendet,“
ſagte er Teile,
„Ich wußte nicht, daß du eine fo zahlreiche Be—
fanntichaft Haft. Was find das für Leute?“
„Sie haben mit mir gewohnt, in derjelben Woh-
nung, ehe ih in Stellung gelommen bin. Jebt
haben fie alle miteinander Stellen.“
„Berwendeit du oft jo ?*
„Beileibe nicht! Selten! Es war halt Namend«
tag, und da hat es fi jo gemadt. Wär’ nicht
Namenstag geweien, jo gab’3 das nicht.“
In Erwägung des Umftandes, dak in jedem Jahr
nur einmal Namenstag fei, beichloß id, der Sache
feine Folge zu geben und Anton bis zum nächſten
Namenstag in Ruhe zu lafien.
„Das joll mir aber das letzte Mal ſein,“ ſagte
ih. „Ich mühte dich jonft entlaſſen. Es fünnte ja
ein Unglüd geben, Geh!"
Alles ging wie früher, nur daß ich ihm, dieſem
ftilen Waſſer, nicht mehr jo viel Vertrauen ſchenkte
wie ehedem.
Der Winter z0g vorbei. Es begann zu tauen.
In der Luft roch ed nach Frühling, das heißt nad
Ranal und Straßenſchmutz. Damals war es noch
nicht üblid), beizeiten das Eis zu bredien und weg—
zuihaffen, und in den Straßen gab es daher ganze
Meere von Kot und eine Unzahl von Hügeln und
Löchern, jo dak der unglückliche Pafjant, gleichviel
ob zu Fuß oder zu Pferd, faum durchlonnte. Im
April war es in den Straßen bereit$ warm, aber auf
Fluß und Kanälen hielt das Eis noch feſt.
Sp war es damald auch in der ganzen heiligen
Mode (Diterwode). Am Donnerstag gab ich dem
Anton frei, Ich gedachte erjt jpät abends heimzu.
fommen und riet ihm, ſich die Zeit bis dahin zu
J. A. Gontſcharow.
nutze zu machen. Am Freitag hatte ich wieder zu
Haufe zu ihun, Briefe, Palete, Zeitungen und Bes
fuche in Empfang zu nehmen und jo weiter.
Anton nahm mein Anerbieten nicht an, Biel
leicht, jo jagte er, werde er zu den Buben gehen,
die damald auf dem Admiralitätsplaße aufgeitellt
wieder heimlommen.
„Wie du willſt,“ ſagte ich und gab ihm Gel,
um die Buden zu beſuchen.
Als ih um Mitternacht heimlam, ſagte mir der
Divornif, der am Thore jaß, in feiner Hammer liege
ein Kronspaket unter meinem Namen. „Ich bringe
es gleich.“
„Barum liegt es da? Warum nicht in meiner
Wohnung?* fragte ich.
„Wahrſcheinlich war Ihr Burfche nicht zu Haus,
und da hat es der Bote mir gegeben,”
Ich nahm das Paket und ftieg die Treppe hinauf.
Ich wohnte damals in demjelben Haufe, wo ih no
jegt wohne, und hatte meinen befonderen Eingang
von der Straße aus, der weder von einem Schweizer,
noch fonft wen gehütet und niemals verſchloſſen war.
Unter mir, an derſelben Treppe, wohnte eine alte
Hofdame — wahrſcheinlich noch aus der Zeit Katha—
rinas I. — jonft niemand,
Sorglos ftieg ich hinauf und klingelte. Niemand
rührte ſich. Die Thür öffnete ſich nicht. Ich Hingelte
ein zweites Mal. Wiederum nichts. Ich drüdte
die Klinke nieder, die Thür ging auf, und ich trat ein.
Im Borzimmer feine Seele. Aus der Kammer
Antons jchimmerte Licht. Ich öffnete feine Thür
und flieh unmwillfürlih einen Schrei aus,
Auf dem Tiſch ſchwalchte ein zerflichender Kerzen⸗
ftumpf, hart darüber hingen auf einem aufgelpann-
ten Stride Tücher und Lumpen. Anton jelber lag
jchrägüber auf dem Boden, ausgefleidet, wieder mit
offenem Munde und weißen, verbrehten Augen, be=
ſinnungslos.
„Verwendet! Er hat ſich nicht enthalten können,“
fagte ich mit Aummer und Verdruß, indem ich ihn
an der Schulter fahte und feinen Kopf aufzuheben
verſuchte.
Vergebliche Mühe! Er rührte ſich nicht, gab
feinen Laut von fi) und ſchlug die Augen nicht auf.
„Das nennt man Feiertag! Heilige Woche! Hei«
lige — daß bedeutet 8. Tragt die Heiligen hinaus!“ *)
jagte ih ärgerlih. Ich glaube jogar, die Zähne
fnirfchten mir. Aber die Ueberrafhungen waren
hiermit noch nicht zu Ende.
Ah nahm die Kerze vom Tiſch, ging ind Bor«
zimmer und mußte zum zweitenmal aufichreien. Ih
ging in den Salon, ins Kabinett, ins Schlafzimmer —
*) Rufiihes Sprichwort.
Diener
überall basjelbe: das war ja die reinfte Verheerung.
Ale meine Koffer, Schachteln, Körbe, Säde waren
in den Salon geſchleppt und angefüllt mit Kleidern,
Wäſche und andern meiner Sahen. Aus den Körben
mit Wäſche ragten Leuchter, Lampen und allerlei
Geſchirt. Auf dem Fußboden lagen Spiegel und
Nippſachen. Im Kabinett war mein Schreibtiſch
erbrochen, begleichen der Bücherfchranft und ber
Schrant mit ben Mappen, und alles das war von
der Stelle gerüdt und ftand mitten im Zimmer, Auf
dem Boden waren Briefe, Palete, Papiere umber-
geftreut, darunter etwa breißig große Hefte bes
„Sblomoff*,*) der bereits zum Drud fertig war.
Kurz, die vollftändigfte Zerſtörung! Es waren die
Wölfe, von denen ich Anton gejagt hatte, und er lag da
wie ein Toter! Der Knüppel hatte ihm nicht genüßt.
Das Herz z0g fi mir zufammen. Ich fühlte,
mein Hauswejen war von den guten Geijtern ber
Ordnung und Zuverläjfigkeit verlaffen. Jh war
auf mich felbft angewieſen, allem preiägegeben, ohne
Schutz und Stüge. Wäre id) jünger gewejen, id)
würde vielleicht geweint haben,
„Das ift Ihre Strafe dafür, dab Sie nicht ge-
heiratet haben. Da haben Sie die Reize des Jung-
gejellenlebens: Freiheit, Unabhängigkeit!" So jagte
mir nachher eine gute Bekannte, Anna Petrowna,
die es jehr liebte, Ehen zu ftiften, „Hätten Sie eine
Frau, jo wären feine Wölfe gelonmen, Heiraten
Sie! Die Zeit ift noch nicht vorbei. Ich würde Ihnen
eine gute Braut ausſuchen.“
„Dielleiht würden dann andre Wölfe lommen,
und möglicherweife ſchlimmere als dieſe,“ antwortete
ih melancholiſch.
„R—u—n!” protejlierte fie, das Wort dehnend
und unficher, wobei fie mit einem geheimnisvollen
Lächeln und einem ebenjolden Blid an mir vorüber
in den leeren Raum jah.
Ich Habe dieſen Blid bei allen Frauen bemerkt,
bei Mugen und unflugen, durdhtriebenen und unſchul⸗
digen, von den vielerfahrenen Matronen bis zu dem
zarten Geſchlecht der ſchamhaften Cherubim. Er
zeigt ſich in verſchiedenen Momenten ihres Lebens:
zum Beiſpiel wenn fie einen Gedanlen, ein Gefühl,
einen ſtillen Wunſch oder eine Abficht verbergen
wollen, oder wenn bon dem Fehler einer andern
Perjon die Rede ift, den fie in ſich jelber fühlen,
oder wenn fie irgendwen ihre Mitleid ausſprechen,
ohne es zu empfinden und fo weiter. Dann wird
dad Auge durchſichtig, gleichjam glafig, das Fluidum,
das die Seelenvorgänge wiederjpiegelt , verſchwindet,
und der Blid wird, wie gejagt, rätjelhaft, geheimnis«
voll oder, wenn man will, diplomatiſch. Falſch
möchte ich ihm nicht nennen — aus Höflichkeit.
*, Belannter Roman Gontſchatows.
U. Anton.
595
Ein folder Blid war es, der den Ausruf Anna
Petrownas: „N—u—n!” begleitete. Ich erlaubte
mir, aus biefem biplomatifchen Blid eine geheime
Antwort zu erraten: „Ia, freilich, dad fommt vor.
Das heißt, es fommen Wölfe vor, die den Ehefrieden
zerfiören, und das lann auch Ihnen paffieren. Aber
was liegt daran, wenn Sie nur heiraten?“
Ich bitte dieſer Abſchweifung halber um Ente
ſchuldigung und wende mich wieder zu meiner Ge—
ſchichte.
Ich rührte von meiner zerſtreuten Habe nichts
an, ſammelte nur die Hefte mit dem „Oblomoff“, über⸗
zeugte mich, daß fie vollzählig und unverfehrt waren,
und berubigte mid. Die Diebe hatten alles durch⸗
wühlt. Sie hatten augenicheinlich nad Geld gejucht,
aber feines gefunden. Und doch war welches da;
in einem Stoß Mappen mit verjchiedenen alten
Handſchriften befanden fi, zwijchen die Blätter ein
gelegt, einige große Banknoten, die den Dieben ent-
gangen waren. Dieſe waren jedenfalls überrajcht
worden und hatten Reißaus genommen.
Wie ich fpäter erfuhr, Hatte derfelbe Bote, ber
das Paket brachte, aud die Diebe verfheudt. Er
hatte an der Thür gejchellt und, da feine Antwort
erfolgte, da3 Palet dem Diwornif übergeben. Die
Diebe aber nahmen das Hlingeln für ein Zeichen
der Heimkunft des Hausheren, ließen ihre Beute im
Stih und verſchwanden duch die Hinterthür in
den Hof.
Ich ſchlief ſchlecht und erwachte vor Anton. Als
ich hörte, daß er aufftand, begab ich mich zu ihm.
Er war wieder nüchtern, beneßte fi ben Kopf und
zog ih an. Als er mich ſah, ftand er vom Bette
auf, juchte aber meinen Blick zu vermeiden.
„Wo warft du gejtern, Anton?“ fragte ich.
„Bei den Buden, wie Sie befahlen,“ flüfterte erleife.
„Und wo noch?“
Er ſchwieg.
„Wer war bei dir zu Beſuch?“
„Bei mir? Niemand,* antwortete er ziemlich)
lebhait.
„War’s nicht diejelbe Gejellichaft, die im Winter
an deinem Namenstag bei dir war ?*
„Beileibe nicht! Die hab’ ich jeither nicht wieder«
gejehen,* antwortete er beflimmt.
„Alfo find Wölfe gelommen — was?"
„Was für Wölfe? Es war niemand hier.“
Er blidte ratlos auf mid. Man ſah ihm in der
That an, daß er meine Frage nicht verjtanden hatte.
„Komm ber! Du fannft dich freuen. Was ift
denn dad?"
Ih führte ihn ins Vorzimmer, in den Salon,
zeigte ihm die Bündel und Koffer mit meinen Hab-
feligfeiten, und was auf der Diele umberlag — die
Möbel —
596
„Herr des Himmels, Gott, Allmächtiger!* rief
er. Er drehte fich um fich feibit, mit tieren Augen,
und breitete die Arme aus. Dann plöglih begann
er zu weinen und warf fih auf die Siniee.
„Ehriftus ift mein Zeuge — ih habe Teine
Ahnung, gnädiger Herr! Nur das ift meine Schuld,
daß ich mid) betrank.“
„Steh auf und erzähle mir, was geftern gejchehen
ift. Ich werde es auffchreiben umd der Polizei mit-
teilen.“
Er erzählte, er ſei geitern in eine der Buben ge=
treten. Da hätten drei ihm unbefannte Leute, viels
leicht Händler, vielleicht auch Bediente, neben ihm
geſeſſen. Zunächſt hätten fie zufammen eine Affiche
gelefen, dann hätten fie geplaudert, dann wären fie
zu den Schaufeln jpaziert und endlich in eine Thee-
ſchenke. Sie hätten ihn da eingeladen und Thee
mit ihm getrunfen, ihn gefragt, wer er jei, mo er
wohne, wo er diene, wie es ihm in feiner Stelle
gehe, ob der Herr zu Haufe jei, ob er reich ſei. Alles
das hätte er ihnen gejagt. Dabei hätten fie ihn
bewirtet und auch felber getrunfen. Dann ſei der
eine weggegangen und zwei andre gekommen. Die
hätten auch angefangen zu trinfen und ihn zu be=
wirten, bi®...
„Bis abends war ich ganz betrunfen,“ ſchloß
Anton, „und — und — meiß nicht mehr,
was geſchehen ift, und wie ih nad Haufe ge»
fommen bin,”
Bon neuem jah er ſich beftürzt um und wollte
fi auf die Kniee werfen. Ich hielt ihn auf und
befahl ihm, die Wäfche, die Kleider und alles übrige
aufzunehmen und in Ordnung zu bringen.
Es ergab ſich, daß zwei Dutzend Tiichlöffel, eine
billige hölzerne Standuhr und endlich ein vorzüglicher
J. A. Gontſcharow. — Diener.
I. Anton.
Tulup*) aus chineſiſcher Seide, mit Eichhörnchenfell
gefüttert, den ich aus Sibirien mitgebracht, nicht
mehr vorhanden waren.
Ich konnte das Geftohlene entbehren. Die Löffel,
Familienftüde von alter Faſſon, die ich für alle Fälle
aus dem Elternhaufe mitgenommen, lagen, da id
nicht daheim aß, ungebraudht in meinem Tiſch. Die
Standuhr ging unrichtig und diente mir wenig. Den
vorzüglichen Tulup aus Eichhörnchen legte ich nie
mals an, um nicht ben Körper an überflüjfige Wärme
zu gewöhnen, Gleichwohl that es mir leid um ihn,
weil es ein ſchönes Stüd war.
Wenn aljo auch der Verluft kein jehr empfind-
licher war, fo machte ich doch bei der Polizei An—
zeige, aber mehr ber Abichredung wegen, damit man
wenigftens auf dem Hofe wifle, daß Leute im Hauſe ſeien.
Natürlich kam, wie gewöhnlich, bei der ganzen
Sache nichts heraus. Es erſchien ein Wierteld-
injpeftor, nahm ein Protofoll auf und Anton ins
Verhör. Dann rief man auch mich zur Polizei und
zeigte mir da eine ſchwarz angeftrichene Stanbuhr,
mit der Frage, ob es die meine ſei. Ich antwortete,
die meine fei aus Palmenholz und gelb. Ebenio
zeigte man mir einen Ehlöffel, ob es nicht der meine
wäre. Da id) aber meine Löffel zehn Jahre nicht
aus der Tiſchlade genommen, hatte ich vergefjen, wie
fie ausſahen, fonnte alfo auf die Frage weder ja
noch nein jagen.
So endete die ganze Geſchichte. Von Anton
trennte ich mich in der vollen Ueberzeugung, daf er
fein Dieb fei, daß Spigbuben ihn begeht hatten, um
die Wohnung auszuplündern. Ich war frob, jo
leichten Kaufs losgelommen zu fein,
*) Pelgmantel mit großem Kragen,
die Hefdichte eines jungen Mädchens.
Roman von
Erna Auel-Hanfen,
Aus dem Dänifchen überfeßt von Ernſt Braufewetter.
(Fortichung.)
IX.
Im Laufe des Winters begann Margarete Botanit
zu lernen. Mama hatte einen Lehrer nad ihrem
Kopf ausfindig gemacht. E& mar ein jüngerer
Mann, der in den Mädchenſchulen auf diefem Gebiet
jehr beliebt war.
Ganz im geheimen jtellte die Etatärätin die ein-
gehendften und gründlichen Nachforſchungen an,
bevor fie wagte, ihm den Unterricht ihrer Tochter
anzubertrauen, Und erft als er durch und durch als
ein Pradhteremplar ber feltenen Art „Tugendmurfter“
befunden wurde, ließ fie Margarete in einen der
privateften der privaten Zirkel hinein. Er beftand
bisher nur aus zwei Schülerinnen, Margarete war
die dritte.
Sie hatte Papas Mitteilung, daß fie nın „etwas
lernen” follte, als eine der unbehaglichften Ueber»
tafhungen aufgenommen, an denen diefes langweilige
Leben jo reich ift, hatte jo lebhaften Widerſtand ge=
leiftet, als fie fonnte, verfucht, fich davon loszuquälen
und zu bitten, und ba dies, unerwarteterweife, nichts
balf, war fie zwei, drei ganze Tage maulend umher⸗
gegangen. Sie hatte ihm, wenn er nad) Hauſe fam,
nicht jeine Morgenfchuhe gebracht, war nicht mit
ihren Küſſen und ihrer Hilfe dagewejen, wenn er
feinen Ueberzieher anzog, um auszugeben.
Papa jollte ſchon merfen, dab fie ſteinhart,
granitfeft fein könnte, bis er nachgab. Denn es war
doch allzu unerträglich, nun, da man endlich ein er»
wacjenes Mädchen geworden war, auf der Schul-
bank figen und wieder lernen zu jollen — ihr wurde
ganz übel, wenn fie nur daran dachte,
Aber Papa war taub und blind, und als ber
Tag fam, mußte fie zu dem Kurſus. Und dann
war es noch obendrein jo früh morgens! Daß jie
mitten im Winter um neun Uhr aufftehen jollte
und in Schmuß und Nälfe bis ans andre Ende der
Stadt gehen, damit fie um zehm Uhr an Ort und
Stelle fein fünnte, das war einfad) empörend, Das
Stubenmäbchen, das ein halbes Dukendmal an ihrem
Bett gewejen war, bis Margarete ſich herbeitich,
aufzuftehen, lernte jie von der liebenswürdigen Seite
fennen, Das ganze Haus erbebte, ald Margarete
an dieſem Morgen die Entreethüre hinter fich zuwarf.
Aber als fie dann um die Frühſtückszeit wieder
fam, meld eine Veränderung! Sie trippelte im
Entree auf und ab, um auf Papa zu warten, und
als er fam, empfing fie ihn ungemein vergnügt und
gab ihm einen wohlgemeinten Kuß, der gleichjam
um Berzeihung bat für all die fauern Mienen, Und
die Morgenſchuhe waren warm und der Hausrod
ebenfall®, und ihre Meinen Aufmerkfamleiten beim
Frühſtückstiſch, bei dem fie allein waren, wollten gar
fein Ende nehmen, Mama war früh morgens zu
Olivia geholt worden. Der Kleine litt an den
Zähnen.
Als Papa jie mit leicht ſpöttiſchem Lächeln und
jenem Blid aus den Augenwinkeln, der allerhand
ausbrüden konnte, fragte: „Na, wie war es denn,
in die Schule zu gehen, Fräuleinchen?“ war ihr
Geficht ein einziges ftrahlendes Sonnenſcheinlächeln.
Ad, es wäre jo interefjant geweſen, fie fönnte
fi gar nichts Amüfanteres denken. Sie hätten von
Zellen und Blattgrün gehört, und das alles im
Milroſlop gejehen — und dann wären die beiden,
mit denen fie zujammen die Stunden nahm, ſolch
reizende Mädchen!
Ellen Bramfen war gewiß furdtbar tüchtig und
begabt — aber im übrigen ein Meiner Bandit, hätte
die andre, Ludovika von Arndt, gejagt — ach Gott,
was das für ein Mädchen war! Papa jollte fie
nur jehen, ganz reijend — jo hübſch und fo welt«
Hug! Sie hatten ſogleich beſchloſſen, Freundinnen
zu werben,
„Na, das ift ja nett!” meinte Papa, „und der
Schulmeifter?*
„Ach — der...” So ungern Margarete e8 wollte,
wurde fie doch rot, beeilte ſich aber, nach der Salat-
ſchüſſel zu greifen und ſich eine große Portion auf
598
ihren Teller aufzulegen, „ia, denke, Papa, er ift jung,
das heißt, nicht jo ganz jung — und dann ift er
hübſch, du — ich glaube nicht, daß ich ſchon jemand
geiehen habe, der fo ausſieht ... und jo ernſt, aber
ungeheuer intereffant. Das heißt, er jpricht ja nur
von Botanik und lächelt niemals, wenn es auch etwas
noch jo Komiſches giebt... aber, höre, Papa, du
mußt mir bei meinen Leltionen helfen und mid)
überhören. Denn ich darf niemals dort hinaus»
fommen, ohne meine Aufgaben zu lönnen, bei Gott,
ſolche Augen macht er einem, wenn man eine dumme
Antwort giebt! Aber ich freue mich trokdem uns
geheuer auf die nächſte Stunde — o, ih wünſchte,
es wäre morgen!“
„Hm!“ Der Etatörat machte ein ſehr vieljagen-
des Geſicht, „ſteh — ſieh!“
Aber Margarete ftedte den Arm unter den ſei—
nigen, legte den Kopf an feine Schulter, blinzelte
mit den Augen und ſagte zärtlich bittend:
„Lieber Papa — nicht neden! Es war dumm
von mir, aber ich konnte ja nicht willen...” fo,
nun hätte fie fich beinahe wieder verplappert, denn
was fie um alles in der Welt nicht geftehen wollte,
worüber fie aber jpäter nachdachte, als fie in ihrem
Zimmer auf dem Sofa lag, und was fie jo vergnügt
gemadt, und ihre ganze Anfhauung von „diefer
Schulbanf und alle dem“ ganz verändert hatte, das
war gerade, daß er, jlatt eines alten, bebrillten,
langweiligen Prachtexemplars von einem “lehrer,
auf das fie gefaßt geweien war, da Mama ihn ja aus«
findig gemacht hatte — ein junger Mann war. Und
er war obendrein hübſch, und jo groß und flarf mit
breiten Schultern, eine großartige Figur und ge=
Heidet — Gott, wie alles bei ihm ſaß! — geradezu
imponierend, als er dajtand und ich vor ihnen etwas
fteif verbeugte, und — fürdterlih ernſt — aber,
fo gejeßt wie heute war er doch gewiß nicht
immer. Er mußte doch aufgetaut werden fünnen,
dazu fühlte fie ih wohl im ftande — und fie knipfte
mit ben Fingern, wenn fie nur daran dachte. Wie
amüfant fie es während des ganzen Winters zweimal
in jeder Woche haben würden! Sie brei follten ganz
allein mit einem jungen Mann bajiben — babei
war etwas, was an die Bälle erinnerte, jo zwifchen
den Tänzen, wenn man jo zu zweien oder dreien in
einem Kabinett gemütlih plauderte, eine förmlich
pifante Situation.
Und dann die fyreundinnen. Gott, wie reizend
war Ludovika! Und was fie alles wußte! Sie hatten
bereit3 auf dem Heimwege von allem möglichen vertrau⸗
lich geſprochen, da jie merkte, was Margarete nod) für
ein Kind war — und dann hatte fie verſprochen,
ihr bei Gelegenheit alles zu erzählen — alles — ad),
wie fie ſich auf dieſes und all das andre freute!
Aber die Freude wurde doch feine unvermijchte,
Erna YJuel-Hanjen.
benn es war ganz offenbar, daß er in jedem Fall
ſehr ſchwer „aufzutauen* war, obſchon Margarete
ihr möglichſtes that. AU die Meinen Pfiffe, die
fie ih auf den Bällen einftudiert hatte, erwiejen ſich
als wirkungslos und prallten ſämtlich an feinem un
veränberlichen Lehrerernſt ab.
Dann verfuchte fie eine neue Taktif. Sie lernte
ihre Leltionen bis aufs Tüpfelchen, konnte noch mehr,
als im Bud) fand, dank der Hilfe und Ueberhörung
durh Papa, ihre Augen Bingen an jeinen Lippen,
als wäre es das Höchſte für fie, jedes Wort von ihm
aufzufangen,. das er von all dieſen Pflanzen fagte,
von den Gejchlechtern, Arten und Individuen, obſchon
fie e8 nicht ein bißchen amüfanter fanb als das meifte
andre auf dieſer langweiligen Welt. Und dann be
gann fie wirklich gleihfam Taumetter in ber Luft zu
jpüren.
Aber übrigens fand fie e8 doch auch nicht jo un-
interefiant, al& fie zu ber Lehre vom Gefchlecht und
der Vermehrung der Pflanzen kamen. Daß ei
männliche und weibliche Blüten gab, dab einige,
jedes Geſchlecht für fi, auf demfelben Baum wohnten,
andre ganz getrennt, und daß fie doch einander
fanden, wenn die Zeit kam, gerade wie die Menfchen
— fo zum Beifpiel die ſchöne Geſchichte von Vallis
neria spiralis — das waren ganze Romane.
Und dann, dab man davon fo ganz ungeniert
reben fonnte, wie er es that, wenn er die Fyrudt-
Inoten öffnete, ihnen ben Befruchtungsporgang
erflärte, von den Fortpflanzungsorganen der männ«
lihen und weiblichen Blüten ſprach und allem
dem, ohne aud nur mit den Augen zu blinken,
ohne rot zu werden, ald wäre es bie natürlichfte
Sade von der Welt, Das war es ja freilid; aud,
dad fühlte fie bis in die Tiefe ihres Herzens. Wenn
man nur frei heraus von diefen Dingen ſprach, ernit
und vernünftig, wie er es that, dann war gar nichts
Peinlies dabei — warum hatte das nur bisher
noch feiner gethan?
Aber ob Mama eigentlich das alles wußte? Nein,
aber fie jollte natürlich aud; feinen Mud davon zu
hören befommen,
In befonders fritiichen Momenten Mniff Lubopifa,
die vor unterbrüdtem Kichern ganz rot im Geſicht
war, fie in den Arm, jo daß fie blaue Flecken davon
befam, aber Margarete that, als wenn fie es nicht
merkte, deun das war peinlih, und es ftörte fie in
dem Genuß, den fie über das empfand, was er er
zählte. Sie meinte, es wäre förmlich poetifch, wenn
er childerte, wie in der Pflanzenwelt das ganze
große Fortpflanzungswerk jo fiill und behutfam vor
ſich geht, ohne Leidenjchaften, ohne Triebe; wie aus
dem geöffneten Staubbeutel der befruchtende Staub
über die Furche im Blütenlelch herniederrieſelt, mit
dem Winde oder dem Waſſer oder den Flügeln der Jn-
Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 599
fetten von Blume zu Blume geführt wird. Und er
wurde ganz beredt über das Thema, es kam Leben
in jeine Augen, und von hinter den Ohren her bis
über die Schläfen wurde er ganz rot — er konnte
aljo warm werden. Dann erglühten ihre Wangen,
und fie fuchte jeinem Blick zu begegnen, ihm ihr
BVerftändnis zu erfennen zu geben — und es war
auch nicht ganz vergeben? — das merkte fie wohl,
Unmillfürlich richtete er die Rede häufiger an fie ala
an bie andern, an bieje blaugrauen Augen, die feine
Worte mit jo umverlennbar verfländnisvoller Bes
wunderung zu verfchlingen fuchten, daß fie ihn
aufmerffam machten und ihn anlodten, während er
in Ludovikas kokettem Kichern und Ellen Bramſens
praltiſchem und geſundem Wiſſen einen Widerſtand
fand, der ihn irritierte.
Ludovila hatte Wort gehalten und ihr volle NAuf-
tlärung über alles gegeben, was fie nicht wußte, und
an dem Tage Hatte fie in der Einfamfeit ihres
blauen Zimmers geweint, faft wie fie in jener Nacht bei
Olivia weinte. Es war ihr fo jchredlich vorgelommen,
jo häßlich und abftoßend, daß fie ſich abermals ſchwor,
ſich niemals zu verheiraten. Und doch brannte das
neue Willen ſich in ihre Seele ein wie eine flam«
mende Glut, die ihre Unruhe und ihr fieberhaftes
Barten und ihre Sehnſucht erhöhte, die fie wie ein
Alpdrud befallen Tonnte,
Ihre Phantafie umtfreifte unaufhörlich diejes neue
Mofterium, ihre Träume wurden unruhig, fie war
herzenskrank, und doch fehlte ihr nichts. Sie wurde
ſeltſam und unberehenbar und alle Augenblide andrer
Stimmung.
Das Leben war eine Plage, und die Liebe — fie
Ichauderte bei dem Gedanken an das, was fie bringen
fonnte, und wünjchte ſich an die Stelle der Blumen
und Pflanzen — und dann war das doch zu falt
und entſprach zu wenig alle dem, wovon ihr eignes
Blut flüfterte und was es verlangte. Herrgott, was
war die Welt doch für ein Durcheinander! — das
war das einzige beftimmte Rejultat, zu dem fie durch
ihre Erfahrungen gelangte.
Eines Abends auf einem Familienball befam fie
einer der erwachſenen Bettern, ein guter freund
Chriſtians, bei einem Tanz in einer Ede allein zu
ſprechen und bat fie, „die ja ein vernünftiges Mäd—
hen wäre und immer bei Kaffe”, mit ihm und einigen
andern freunden und Kameraden Chriſtians „für
das arme Mädchen und das Sind” etwas zufammen
zu fchießen, denn es ftände ganz troftlos mit den
Armen. Es wäre wohl etwas bei ber Verfteigerung
feiner Bilder eingefommen, aber er hätte auch einige
Schulden gehabt, und nun ftändedas Elend vor der Thür.
Margarete verjtand ihn nicht. Chriftian hatte
in lezter Zeit begonnen, aus ihrem Gedächtnis zu
entihwinden.
„Was für ein Mädchen? Weſſen Find?“
„Na, zum Teufel, fein’s... ich glaubte, du
wüßteft ...“
Sie war warm und vom Tanz erregt, hatte ſich
brillant amüfiert, war bei vorzüglider Stimmung,
und nun plötzlich ... hu! fie bebte wie Ejpenlaub
vor Froſt und fühlte, daß fie bleich wurde, und
blidte mit einem jeltiam Hilflojen Blid zu ihm auf
... faßte fi dann aber und ſagte ſchnell, indem fie
nad Luft ſchnappte:
„sa — ja — natürlich, alles, was ich habe, das
ift ja nicht viel, aber... ja, es ift wahr, ich habe
ja zweihundert Kronen, ich befam fie von Papa zu
einem neuen jeidenen Seide. Willſt du fie haben ?
Dart einmal — ja — fomm morgen zu mir —
ober joll ich es bir ſchicken? ...“
„Donnerwetter! Zweihundert Kronen! Du bift
wirklich ein gutes Mädchen — aber geht es auch an?
Dein Vater... .”
„Unfinn!* fagte fie ſcharf.
machen, was ih will!“
„Die nächjten vier Paare! Austanzen, aus—
tanzen!” rief der anführende Herr und zupfte den
Vetter am Aermel.
„Wir kommen an die Neihe,“ Jagte er und legte
den Arm um ihre Taille. Das fam ihr wohl un-
erwartet, dachte er, während fie tanzten, aber — zum
Teufel! — er glaubte eben, alle wüßten es!
In diefer Naht mußte der Wagen ftundenlang
auf Margarete warten, obſchon fie Mamas ftrengiten
Befehl Hatte, jpäteftens um zwei Uhr nad) Haufe zu
fommen, wenn fie allein aus war,
Aber fie war nicht fortzubelommen. Ausgelaffener
als jemals, brachte fie Leben in die ganze Gejellihait.
Nod niemals hatte fie ſolches Furore gemacht. Aber
mitten in dem Gewimmel der Pollas und Galop=
paden, und während man ihr beim Tanz ind Ohr
flüfterte und fie lachte und ihnen mit brennendem
Glanz im Blick in die Augen jah und feine Se-
funde vergaß, durch Antworten und Widerſprüche fie
anzufeuern, umfreijten die Gebanfen in ihrem
Kopfe nur dieſes eine, das ihr feinen Augenblick
aus dem Bewußtſein fam — bisweilen meinte fie,
das wäre alles nur Füge, nicht ein Wort wahr von
dieiem Mädchen und dieſem Kinde, welches das
feinige fein ſollte — alles nur Geſchwätz und Lüge
— dann aber ſchien es ihr wieder wahr — und es
bedeutete für fie das tiefite Weh und trofiloje Ver-
jweiflung, gerade als wenn etwas in ihr wühlte und
bohrte wie mit jcharfen Krallen und Nägeln — und
es war, als wenn er fie erft geftern gefüßt hätte,
und fie noch auf ihn wartete, und er nicht käme —
und das war „ihre“ Schuld, der andern... „fie“
hatte er auch gefüßt.... und das Kind, das Kind! Sie
weinte beinahe, fie jhrie dabei auf, und jah fi um...
„Ih kann damit
600
„Wollen Sie Polfa tanzen, Fräulein? Das ift
Rheinländer,“ und fie wurde fortgeführt, fo fejt an ein
fteifes Chemifett gebrüdt, daß fie Die ftarfen Herzichläge
bes atemlofen Mannes hörte: „Ja — die Arme in die
Seite — hören Sie... und dann trampeln wir...”
rief fie fed. Tramp, Tramp! Und fie lachte,
daß es wieberhallte, und flog in feine Arme wie in
eine Umarmung.
„Abtanzen, abtanzen!” Der Ehampagnergalopp
fnallte und gludfle. Sie tanzten die Treppen hin-
unter, in den Wagen hinein.
Als fie aber nah Haufe lam, war fie allzu müde
und betäubt, um etwas andres thun zu können, als
jich ins Bett zu legen und zu ſchlafen. Und dann
war e8 merfwürdig, wie ſchnell der Eindrud verblaßte.
Schon am Tage darauf mußte fie ſich faft zwingen
zu weinen, und doch meinte fie, fie müßte weinen!
Was zurüdblieb, war ein zurüdicdheuender Widerwille,
eine Art phyſiſchen Elels bei der Erinnerung an den
toten Better, jeine Küſſe und ihre Berliebtheit, und
fie verabjcheute es wie einen böjen Traum, ein gif-
tiges, friechenbes Tier, das man tottreten konnte...
und dann ſchlichen ihre Gedanken und Träume öfter
und Öfter zu der männlichen Ericheinung Doktor
Henning Möllers hin.
Und nun widerfprad fie Ludovilas fländigen
Ausfällen gegen ihn um feiner Tugend und Kalt«
finnigfeit willen mit großem Eifer.
Er wäre nur reiner, beffer, edler als alle andern,
erflärte fie mit erfahrener Richtermiene und war
frob, daß fie Ludovifa niemals etwas von Ehriftian
erzählt hatte,
Uebrigens vergingen die Tage wie gewöhnlih —
nicht das geringfte Neue, nichts, was einem Erlebnis
ähnlich jah! Immer diefelbe unaufhörlich wieder»
holte Frage, wenn fie aufftand: wie folte fie den
Tag herumbringen — und den nächſten und den über«
nächſten? Hie und da ein Ball oder eine Geſell—
ihaft und vor allem die botaniihen Stunden
brachten wohl ein bißchen Abwechslung; aber das
war nur fehr wenig, und dann waren diefe Tage mit
der Unbequemlichkeit verbunden, daß fie früh aufſtehen
mußte, auch war der Tag auf diefe Art nod) länger
— und dann die Leltionen! Sie meinte, fie würde
von all der Arbeit ganz angegriffen.
Es war gegen Ausgang de3 Winters, und die
langweilige Zeit war gefommen, wo es nad
ihrem jpäten Mittagefjen weder bunfel genug war,
Licht anzuzünden, noch hell genug, um es zu unter
laſſen.
Olivia kränlelte wieder, und daher ging Mama
zu ihr, ſobald fie den Ichten Schlud Kaffee auß«
getrunken hatte. Papa zündete jogleih Licht an und
jepte fih an den Schreibtiih. Er hatte eine neue
Schrift in Arbeit gegen das Proviforium — uff! —
Erna Juel-Hanjen.
dieje widerliche Politif nahm ihn immer mehr und
mehr in Anſpruch. Und Margarete ging in ihre
Stube unter dem Vorwande, daß fie ein biß—
en jchlummern wollte, entweder weil fie am Abend
vorher lang auf geblieben oder an demjelben Morgen
„0 jehr früh" aufgeftanden wäre — eigentlic aber
weil die Stunden doch noch am erträglicdhiten ver«
gingen, wenn fie zwifchen Schlaf und Wachen auf
ihrem Sofa die Zeit verträumte, bi! Mama nad
Haufe fam und es Theezeit war — was jollte fie
außerdem mit fold einem dummen Abend anders an
fangen, wenn man nicht ausgeben jollte?
Papa liebte gutes Mittagefjen mit fräftigen Ge»
richten und reihlichem Wein dazu, und Margarete
artete ihm in dieſer Beziehung nad. Zu träge, um
zu träumen, konnte fie fi) gedanfenleer nur in das
einzige Gefühl von der Yangweiligkeit des Dajeins hin⸗
eingleiten laſſen, das fie wie in Nebel einhüllte, und
aus dem fie nur mit einem Nud erwachte, wenn fie
feft eingejchlafen war und träumte, fie fiele zu Boden.
Dann legte fie ſich wieder ärgerlich zwiſchen den
Kiffen zureht und bdujelte weiter, Oder fie
folgte mit einem trägen Blick den Goldſchnörleln
auf der imitierten Seidentapete, die fie im Dunkel
gerade nod) unterjheiden konnte — wenn fie die mur
nicht immer vor ſich gejehen hätte! — fie mußte die
Augen fliegen — uff, eigentlich mochte fie bier
nicht liegen — aber aufftehen mochte jie auch nicht
— alles war langweilig, langweilig, langweilig ...
ad, wenn nur etwas gejchehen wollte — ad, wenn
nur etwas geſchehen wollte!
Bweites Bud.
I.
Und dann geſchah endlich etwas.
68 war eines Abends auf einem Ball bes Stu
dentenvereind. Ein „Fuchs“, ein Vetter Marga
retens, hatte fie unter dem Schutze der Mutter mit-
belommen,
Bor dem Ball wurde eine Stubentenfomödie ge-
jpielt, und im ihr hatte Herr Henning Möller eine
Rolle, Er war Gladiator, eine der Hauptperfonen
des Stüdes, welches eine jentimentale griechiſche
Heldenfomöbdie traveftierte, die im Augenblid in dem
Königlichen Theater Furore machte.
Erft wurde ihr ganz flau zu Mut, als fie ihn
erblidte. Er war nur in Tricot, mit einem Heinen
Mantel darüber, jo gut wie nadt — und al fie
Mama ihrer Nachbarin zuflüftern hörte, das wäre
ſchon beinahe anftößig, wern man in Betracht zöge,
dab junge Mädchen anweſend wären und fo weiter
— meinte fie beinahe, Mama hätte recht, umb ver«
mied es, ihn anzufehen.
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
Aber dann hörte fie ein Flüſtern hinter ſich:
„Gott, Karoline, wie jchön er gewachſen ift! Diele
Bruft und diefe Arme!“ Und rund um fie ertönten
halblaute Nufe der Bewunderung: ein Herfules! ein
Achilles! und dann gingen ihr nah und nad) die
Augen für die Schönheit diefes fräftigen, faft über:
trieben entwidelten männlichen Körpers auf.
Ja, das war jchön, mwunberlich ergreifend jchön,
ihr wurde gleihjam ganz angft und bange, wenn fie
das anfah — und doch jah und jah fie und hörte nicht
auf das Geſchwätz der andern Darfteller. Die Wie
verftand fie nicht, da ihr das Drama, das fie paro=
dierten, unbekannt war, und das Gelädter im Saal
verlegte fie, namentlich wenn es ihm galt.
Die Bühne war für fie leer, wenn er nicht da
war ; war er aber zugegen, dann ſaß fie atemlos da
und verfolgte jede Bewegung feines Körpers, das
Spiel jeiner Musteln unter dem dünnen, jiramms
fifenden Stoff, ber breiten Bruft, die fidh bei den
Atemzügen bob und jenkte, jo taftfeft und regelmäßig,
als wäre Müdigkeit und Anftrengung etwas Un-
mögliches für ihn. Und die ganz nadten Arme, wie
ſahen fie ſtark aus, ald wenn man im ihrer Um—
armung zerdrüdt werben müßte! Es wurde ihr dabei
ganz beffommen zu Mut — und doch — Gott, wie
ihön er war! Wie fahen die andern neben ihm
dünn und unbeholfen aus... ja, er war ein Mann,
wie fein, fein andrer!
Wenn er fid) nur rührte, ging oder lief, welche
Sejchmeidigkeit, welche Kraft in jedem Gliede... o,
es war eine wahre Augenmweide jondergleichen, — wenn
es nur niemals aufhören wollte!
Als er endlih nad) dem fingierten Kampf zum
Schluß in grandioſer Attitude das kurze Schwert in
die Bruft des Schurfen bohrte und den Fuß auf
feinen Naden ſetzte, brach Beifall und Gelächter im
Saal 108, und es war deutlich erſichtlich, daß noch
andre als fie anmejend waren, die auch gejehen
und bewundert hatten. Da wehten Spigentajchen-
tücher und Matichten behandſchuhte Damenhändden,
und die Huldigung galt offenbar ihm. Wieder und
wieder mußte der Vorhang in bengaliicher Beleuch-
tung ſich heben.
Aber Margarete fand es allzu brutal, zu Hatichen,
fie beivegte ihre Hände mur ganz ſachte im Schoß
gegeneinander — wie bezaubert, ergriffen, gleichjam
lieblojend. Und als der Vorhang zum letztenmal
fiel, ſchloß fie die Augen, um die Geflalt feitzuhalten
— ein Mann, das war ein Mann!
Sie war ganz verwirrt, als fie fich erhob, ihr
war ganz jonderbar zu Mut, in ihrem Augenwinkel
perlte jogar eine Thräne hervor . ... jo was Dummes!
Wenn das jemand bemerft hätte! Niemals hatte fie
aber auch etwas gejehen, was jo — fo... Gott,
wie jhön er war!
Aus fremden Zungen, 1897. IL 18
601
Der Saal follte zum Tanz geräumt werben,
Mama zog fih mit ihr in ein Seitenzimmer zurüd,
und während fie dajtand, gegen ihre Gewohnheit
ganz ftumm und ftill, hinter einer Schar Herren und
Damen, die mitten im Courfchneiden und beim Aus«
füllen der Tanzfarten waren, lam Lubovifa zu ihr
hin, gab ihr einen Heinen Klaps mit dem Fächer
und fagte:
„Was ftehft du da und Hältft Maulaffen fe?
Auf diefe Weiſe befommft du niemals all beine
Tänze belegt — bier find zu viel Damen, man muß
fih umthun!“
„Ad was,” verjekte Margarete gleichgültig, als
wenn fie gerade erwachte, und fügte, faft gegen ihren
Willen, hinzu: „du — mar er nicht ſchön?“ — das
mußte heraus,
Zudovifa lachte laut auf: „Ad — Möller? Ja,
Körper hat er genug, hübſch ift er auch, aber das,
was all dem Fleiſch erft Leben verleihen follte —
pah! Nein, danke ſchön, lieber den häßlichſten Heinen
Knirps mit — aber höre —“ brach fie ab, als fie
Margaretend aufgebradhte Miene ſah, „du denfjt
doch nicht gar daran, did) im ihn zu verlieben, in
dieje Holzpuppe — bei Gott, bu bijt doch auch wie
ein neugeborenes Kind —*
Margarete wollte etwas antworten, aber im felben
Augenblid verneigte ſich vor ihr eine hohe Geftalt.
„Haben Sie nod) einen Tanz übrig, Fräulein?“
Er war es.
Margarete holte jchnell ihre Tanzfarte vor, und
während fich ihre Köpfe juchend über diefelbe neigten,
ſah Lubovifa die Nöte und den ftrahlenden Ausdrud
ihres Gefichtes. Sie zudte mit ärgerlich verächtlicher
Gebärde, die faft etwas wie Mitleid ausdrüdte, Die
Achſeln.
So ein Gänschen! dachte fie, wandte dem Paar
den Rüden und raufchte davon.
Sie tanzten einen Tanz zuſammen und dann die
Tiſchtour, und mit ſüßem, beflemmendem Gefühl bes
merfte Margarete, daß er feine andre zu einem
ganzen Tanze engagierte als fie. Im übrigen jah
er zu oder tanzte hie und da eine Ertratour mit der
einen oder andern Dame, die er kannte,
Einmal auch mit Ludovika. Und biefe benußte
dann einen günftigen Augenblid, um Margarete ins
Ohr zu flüftern: „Das muß man ihm laffen, tanzen
lann er — er führt geradezu göttlich, aber zu was
anderm taugt er auch wirklich nicht!“ Und ala
Margarete nichts antwortete, fuhr fie fort: „Serr-
gott! Falle dich doc, Kind! Die Leute beobachten
dich ſchon und lachen über did. Ich habe den Naje-
weifeften was aufgebunden und gejagt, das täme
daher, weil du deinen Draden mithaft. Aber du
mußt dich ermannen, hörft du — na, ihr feid ein
Paar jeltjame Tröpfe . . . wann foll es denn
76
602 Erna JuelsHanjen.
befannt gemacht werden ?* und dann lachte fie necliſch;
und fort war fie.
Aber Margarete befümmerte ſich nicht um ihr
Geſchwätz, ebenfowenig wie um die Sticheleien und
feinen anzüglichen Ausfälle ihrer Kavaliere, die ſich
vergebens bemühten, fie zu erheitern. Mama war
mit, und wenn Mama mit war, konnte fie fich nicht
amüfieren — aber fie machte fid) auch nichts darauß,
fich zu amüfieren — ihr lag nur an einem, und das war,
in dieje ruhigen, hellen Augen hineinzuſchauen, die
jo Mug und ftreng blidten, daß fie die ganze Zeit,
während fie zufammen ſprachen, voll Angft daſaß,
ob fie auch jelbft Aug genug antwortete, und es war
nicht leicht darauf aufzupaſſen.
Denn beftändig eilten ihre Gebanfen von dem
fort, was er fagte, weil fie troß feiner ſchwarzen,
eleganten Kleidung es nicht unterlaffen konnte, ihn
ſich vorzuftellen, wie fie ihn vorher in der Gladia-
torentracht geſehen hatte, und ihr war jo bange, er
fönnte es bemerfen, daß fie gewaltige Herzklopfen
befam, wenn das Geſpräch flodte oder er nur ein
wenig weiter rüdte,
Und doch hätte fie wer weiß was barum geben
mögen, ihm jagen zu fönnen, wie hübſch fie ihn fand.
Aber das war unmöglich. Die Worte blieben ihr
im Halfe fteden, und ihr fiel nichts andres ein, als
eine langweilige Phrafe, daß das Stüd fehr amüfant
geweſen und jehr gut geipielt wäre, „bejonders von
Ihnen,” fügte fie Hinzu — aber er that das Ganze
mit der höhnijchen Bemerkung ab, e8 wäre der reine
Blödſinn.
Meiſt ſaßen ſie ſtill. Er liebte das Tanzen nicht,
erzählte er ihr ſogleich, dieſes thörichte Herumhüpfen
wäre ihm zuwider — nicht einmal als Leibesübung
hätte der moderne Tanz einen Wert, er ſchwächte,
anſtatt zu kräftigen. Ob ſie nicht derſelben Meinung
wäre?
„Ja—a.“ Sie wurde rot, als jie das fagte,
benn fie tanzte jehr gern, die Bälle waren ja bie
einzigen Erlebniffe ihres Lebens — und dann mit
ihm zu tanzen! Es war ein Genuß ohnegleichen.
Selbft in dem jagenditen Galopp war jo ein be—
herrichter Rhythmus in feinen Bewegungen, daß man
faum atemlo8 wurde. Das fagte fie ihm — „und
Sie tanzen doc jo ausgezeichnet, wie kein andrer,”
und ihre Augen leuchteten den jeinen entgegen; er
aber machte nur eine leichte Verbeugung gegen fie
und fagte troden: „O ja — id) bin gut trainiert.”
- Und dann begann er zu erzählen, was für Leibes—
übungen und Sport er betrieben hätte. Ws Junge
hätte er abjolut Trapezkünftler werden wollen, Er
wäre aus einer Provinzialftabt und hätte ſeine
meijte freie Zeit ala Kind unter den umberreifenden
Kunftreitern, welche feine Vaterſtadt bisweilen be—
juchten, zugebracht. Als er vierzehn oder fünfzehn
Jahre alt war, fonnte er ihnen bereitö die meiften
gymnaſtiſchen Runftftüde nachmachen, und dieſe
Paſſion hatte ihn noch verfolgt, als er ſchon ſein
Studium gewählt hatte. Es verging noch jeht fait
fein Tag, an dem er ſich nicht Zeit nahm, wenigftens
ein paar Stunden feine Fertigkeit am Trapez zu
üben — und ohne ein paar Meilen gegangen zu
fein, Tegte er fich niemals zu Bett, Von frübefter
Jugend an hätten ihn Bergtouren intereifiert. Es
wäre daher ganz natürlich, wenn er zum Botanifieren
Ausflüge machte. Und er erzählte von gefahrvollen
Erpeditionen nad ben höchſten Punkten, die noch
fein Touriſt erreidht hatte, den einen Sommer im
Norden, ben andern in den Alpen. Und Margarete
lauſchte geipannt und voll Angft, wenn die Gefahr
beſonders groß zu fein jchien, und fie mußte ſich
damit beruhigen, ihn lebendig und wohlerhalten
neben fi figen zu jehen — er war aljo lebend
davongekommen.
Er ſprach mit einer gewiſſen dozierenden Lang«
famfeit in breiten, langen Süßen, die das Rejultat
unendlich in die Länge zogen. Aber für Margarete
hatte alles, was er fagte, das höchſte Interefje, war
neu und felfelnd, und daß er ſprach und fortfuhr
zu fprechen, beftändig von ſich ſelbſt, erſchien ihr als
die jchmeihelhaftefte Vertraulichkeit. Sie fand nur
wenig Veranlafjung, etwas zu jagen; bie und ba
eine Frage, ein Ausruf, daß war alle, was er
brauchte, um im Zuge erhalten zu werden.
Bon ben Tanzenden rund um fie herum waren
fie allmählich auf ihrem Plage dicht zufammengedrängt,
und einmal, bei einem unerwarteten Stoß von einem
Paar, das beinahe gefallen wäre, wurden feine Schulter
und jein Arm feſt gegen die ihrigen gebrüdt. Er
erhob ſich ſchnell und fagte übertrieben förmlich: „Ic
bitte jehr um Verzeihung, Fräulein!“ mit jo uns
motiviert heftigem Zornesausdrud im Geſicht, daß
förmlich die hübſchen Züge entftellt wurden, und mit
bdjem Blid in den Augen. ‚Und er verjeßte dem
armen Zölpel einen higigen Stoß.
Aber das ſah Margarete nicht, denn im dem
furzen Augenblid, da fein Körper den ihren berührt
hatte, hatte fie gleihjam eine ſüße, verwirrende Angit
überlommen, ihre. war. zugleid „warm und Halt,
und nun, al® es vorbei war, mußte fie ſich an-
ftrengen, um Mar zuhören und dem folgen zu fönnen,
was er fagte. Nach der Tiſchtour ging er ſogleich
fort. Er hätte heute noch feine zwei Meilen zu laufen,
jagte er. ;
AL fie dann an diefem Abend nad Haufe Fam,
war fie fid) ganz Mar darüber, daß fie verliebt ſei —
und es hämmerte und pochte mit Jubel und Ent»
züden in jedem Schlag ihres Herzens — denn fie
glaubte, aud) er wäre e$ ein Meines bißchen — warum
hätte er ſonſt diefes gejagt und jenes getfan? Und
Die Gefhihte eines jungen Mädchens,
obihon e8 nur eine Meine Hoffnung war, an die fie
fi halten konnte, tröftete fie fi) doch damit; denn,
jagte man nicht, Liebe erzeugt Liebe? — und dieſes
Mal war es die wahre, echte Liebe, was fie empfand,
und feine bloße Einbildung, die ebenjo ſchnell ver-
ging, wie fie gelommen war — nein, ihn — ihn
in alle Ewigfeit — war es nicht, als wenn fie vor
Glück vergehen jollte, wenn fie ſich in die faſt be=
ängftigende Kraft diejer Arme gepreßt dachte — ja,
ihn wollte fie haben — ihm und feinen andern —
und jo mußte fie ihn auch befommen... nie war
fie mit rofigeren Träumen eingeichlafen, als dieſe
Nacht.
II.
Und was für eine Spannung das hervorrief, — es
gab dem ganzen Daſein Inhalt. Gar keine Rede
mehr von Langweile jetzt!
Sie Hatte vorigen Winter von Papa Schach
jpielen gelernt und ſchnell darin eine große Gewandt«
beit erlangt; num war fie Papa ſchon beinahe über»
legen, und fie war noch eifriger dabei, abends eine
Partie zu ftande zu belommen, als er. Das Spiel
war ihr faft zur Peidenjchaft geworden, und wenn
fie die Schadhfiguren von Feld zu Feld zog,
den Angriffen des Vaters entgegen, oder dieje mit
den jhlaueften Manövern abwehrte, dann erjchien
ihr das wie ihr eignes Leben, es galt die Eroberung
de3 Königs, und der König war Herr Henning
Möller — und was war er nicht außerdem alles?
Ihre Phantafie ftattete feinen ſchönen Körper,
der fie zuerft entzüdt hatte, mit allen den Eigen-
Ihaften aus, die fie bei ihm zur Anfenerung ihrer
Verliebtheit finden mußte.
Sie wußte beflimmt, welche warme Seele ſich in
diejer fühlen Hülle barg. Hatte das nicht in den
zwei bis drei Dußend engliſchen Romanen gejtanden,
die Mama ihr in den legten paar Jahren um ber
Sprache willen geftattet hatte, zu Iefen? Er paßte
genau zu den Beihreibungen der engliichen Lords
in denjelben — und was hatten die nicht für glühende
Herzen in ihren forreften evening dresses, welche
Fülle von Zärllichleit barg ſich nicht Hinter ihren
Reifen Berbeugungen und ihrem hochmütigen Weſen!
Wenn die glückliche Gouvernante endlich am die Bruft
bei Lords ſank, was für feurige Liebesworte flüfterte
er ihr dann nit ind Ohr! Die Worte jelbit ſtan—
den dort freilih nicht — aber vor Margaretens
Ohren klangen fie wie ferne, wirre Muſik, ihr Blut
brannte, und ihre Wangen glühten, wenn fie daran
dachte, daß fie all das erleben follte, wenn der rechte
Augenblid fam, und fie — fie jelbit fih an dem
männlichen Herzen ihres Lords, bes Herrn Henning
Möller, wiederfand,
Und diefen Augenblid malte fie fi) wieder und
wieder and. War er eines Tages älter ala ge-
603
wöhnlich geweſen, jo tröjtete fie ſich damit, ſich die
Löjung um fo viel wärmer vorzuftellen, und hatte
eine Berbeugung, ein Lächeln oder ein vorübergehen-
ber Schimmer von diefem „Etwas“, daß fie beftändig
in jeinen Augen fuchte, ihre taujend Heinen Sunft-
griffe, es hervorzurufen, belohnt, dann nahm die
leidenſchaftliche Erregtgeit des Augenblids gar fein
Ende.
In ber erften Zeit nach dem Balle war er, wenn
möglich, noch zugefnöpfter und froftiger als jonft.
Aber dann veränderte fie die Taktik, ftellte ſich gleich
gültig, war träge und unaufmerlfam in den Stun»
den, gähnte und erlaubte ſich jogar, eine Stunde zu
ſchwänzen. Da wurde er aufmerffam. Er vermißte
ihren Eifer, die unverfennbare Bewunderung ihrer
hübſchen, warmen Augen. Es ärgerte ihn, dort zu
langweilen, wo er früher Intereffe erwedt hatte. Er
kroch urplößlih aus jeiner Schale heraus, wurde
lebhaft, wich von feinem Lehrftoff ab, zog Schubladen
aus, nahm feine Herbarien von den Regalen herab,
erzählte die Geſchichte beſonders jeltener Exemplare,
ganze Meine Romane. Sie genoß ihren Triumph,
war aber flug genug, ſich lange loden zu laſſen,
ehe jie nachgab, und dann zeigte ſich, daß fie
nichts verſäumt hatte, daß fie weiter war, als die
andern.
Uber du Fieber Gott, was ihr das zu Haufe auch
für Kopfzerbrechen koftete! Papa war überaus ver
wundert über all das Studieren, freute ſich aber über
ihren Fleiß, obſchon die Buchhändlerrechnung diejes
Mal zu Neujahr unverhältnismäßig hoch war infolge
al der botanischen Werke, die auf dem Conto des
Fräuleins aufgeführt waren.
Herr Henning Möller war mit Etatsrats auf
den Vifitenfuß gefommen. Margarete hatte bei
Papa jo gejchidt mandvriert, daß er einmal den
Wunſch ausſprach, den Pehrer feiner Tochter bei einer
Mittagsgeſellſchaſt bei fi zu jehen. Mama hatte
diejen Vorſchlag überaus eifrig gebilligt, Herr Hen-
ning Möller hatte. eine Einladung befommen, war
eriienen, hatte Mama zu Tiſch geführt, und fie er=
Härte ihn für einen überaus decenten jungen Mann
und für jehr interejlant. .
Papa hatte ihm im Rauchzimmer auf den Zahn
gefühlt und meinte bei ſich im ftillen, er wäre ein
Stodfijh, aber davon fagte er fein Wort, da er bei
Mamas Lob Margareten: Wangen erröten und ihre
Nugen aufleuchten ſah. Na, es konnte ja jein, daß
er dem jungen Mann unrecht that — aber er be»
ſchloß doc) bei Gelegenheit feiner wohl ein wenig zu
leicht feuerfangenden Tochter einen Meinen Dämpfer
aufzujeßen. Er entjann fi nod) des Maskenballes
und Chriftians — da war fie ja noch gut davon«
gefommen, und dies hatte wohl nicht viel mehr zu
bedeuten.
604
Und damit fchrieb es Papa ins Bud des Ver-
geſſens — das gehörte eigentlich zu Mamas Gebiet,
Er hatte eine neue Arbeit umter der Feder, die ihn
völlig in Anſpruch nahm,
As es Frühjahr wurde, erforderte es Marga-
retens Gejundheit plößlich, daß fie nad den An-
firengungen des Winters, wie fie jagte, Morgen«
Ipaziergänge machte. Und fie, die früher erft ſpät
am Tage aus dem Bett herauszubringen war, war
num ſchon um fieben Uhr auf den Beinen und fort,
ehe ein andrerim Haufe fid) recht zu rühren begonnen
hatte. Und da Mama jogleich erklärte, daß fie un«
möglid) dad Ausrennen vertragen fünnte, befam
Margarete Erlaubnis, allein auszugehen. Sie war
ja nun aud) fo alt, daß fie auf fich ſelbſt mußte
aufpafjen können — und dann blieb Mama im Bett.
Es war freilich ein merfwürbiger Einfluß, den
biefe Frübfpaziergänge auf Margaretens Gejundpeits-
zuftand Hatten. All das PVertanzte, Abgebleichte
verſchwand wie im Fluge, und wenn fie um neun
Uhr beim Morgenkaffee erſchien, gratulierte Papa
fih im ftillen zu feinem hübſchen Töchterchen. Und
was für ein Leben in das Mädchen gelommen war!
Mama vergaß die Köchin, bie auf den Speifezettel
wartete, und Papa feine Schreiberei über all diefer
zwitjchernden Munterfeit, die fie mit ſich nah Haufe
brachte. „Bei Gott, e8 wäre ja gerade, als wenn
man dem Frühjahr zuniefte, wenn man fie nur an«
fähe,* ſagte Papa nnd kniff ihr in die frifchen
Wangen,
Herr Henning Möller wohnte in einer der Quer⸗
ſtraßen der Defterjö-Promenade. Er war in feinen
Gewohnheiten jo pünktlich wie ein Uhrwerk und
machte regelmäßig vor und nad feinen Stunden
Spaziergänge — jehr häufig denjelben Weg um einen
beftimmten Glodckenſchlag.
Das hatte Margarete zufällig in Erfahrung ge
bradt und bemußte bie Gelegenheit. Die botanischen
Stunden und die wenigen Male, daß fie fi in
ihrem Heim jahen, waren ihr ein zu Feines Opera-
tionsfeld — und dann hatte fie einen unlöſchbaren
Durft danach), ihm zu jehen. Es brannte und pei
nigte fie wie eine Wunde von einem Mal zum
andern. ber jobald ihre Augen nur feine Geitalt
gewahr wurden — ad, was für eine Erquidung
und für ein Genuß das war!
Da erdadhte fie die Frühſpaziergänge. Und aus
diefen flüchtigen Begegnungen — im Anfang wagte
fie fi niemals in jeine Nähe, hie und da folgte fie
ihm ungefehen — fog fie eine Freude und ein Glüd,
das Papa wohl recht an den Lenz erinnern konnte.
Als fie ſich die erften Male trafen, ftußte er ein
‘wenig und ging mit einem Gruß vorüber. Aber
‚eines Tages — er hatte ihnen in den vorhergehen-
‚den botanischen Stunden von einer jeltenen Pflanze
Erna Juel-Hanien.
erzählt, die gerade im Treibhauſe des Bolaniichen
Gartens in Blüte ſtand — blieb er vor ihr flehen und
fragte, ob fie Luft hätte, fie zu ſehen. Sie befänden
fi dort ganz in ber Nähe. Natürlich hatte fie große
Luft dazu. Und dann erhielt jie dort drinnen eine
ganze botanische Stunde.
Dasjelbe ereignete fich mehrmals. Sie wäre eine
jo angenehme und weit vorgejchrittene Schülerin,
jagte er, daß er mit Freude jede Gelegenheit ergriffe,
ihre Kenntniſſe zu erweitern, auch außerhalb ihrer
Stunden, und Margarete war darüber ganz ftolz und
ſehr glücklich.
Es herrſchte eine ſolche laue, feuchte Wärme in
dieſem Treibhaus, es war ſo ſtill darin und ſo ge—
würzt vom Duft naſſer Erde und der vielen Blu—
men, und fie waren allein dort, ganz allein — ad,
fie hätte dort bis in alle Ewigkeit mit ihm weilen
mögen, meinte fie, und fie dachte oft, wenn fie zu
Haufe abermals die Ereigniffe durchlebte, num müßte
gewiß der „Augenblid” kommen.
Jedesmal, wenn fie fich jept trafen, wechjelten fie
ein paar Worte über Wind und Wetter, über eine
Pflanze, die er gefunden hatte, und mehr dergleichen
— und in der allerlegten Zeit kehrte er jogar mit
ihr um, oder fie ließ fih von ihm einholen, und fe
gingen zufammen die Promenade entlang am den
Seen hinauf nad; Defterbro oder auch am Weitrande,
je nachdem es ſich traf,
Dann plauberten fie, meift übrigens von Botanil.
Sie hatte jo vieles gelernt, da fie ſich auch auf
wifjenichafiliche Details einlafjen konnte. Er war
im Augenblid eifrig intereffiert für das Thema einer
Preisabhandlung, die er ausarbeiten wollte: „Der
Einfluß des arltiihen Klimas auf das Verhältnis
zwijchen Blumen und Injelten*, und fie vertieften
fih Häufig in das Thema von entomophilen und
anemophilen Pflanzen,
Er hoffte im nächſten Frühjahr mit der Staat
erpedition nad Grönland gejandt zu werden, um
dort in diefer Richtung Studien zu machen. or
diefer Reife graufte ihr. Es war, als wenn eine
kalte Hand fie ums Herz padte, wenn er davon
ſprach .. . aber bis dahin war es, Gott jei Danl,
nod) lange, noch jo lange!
Er bot meift recht magere Koſt, aber Margare-
tens verliebtes Herz ſog fie wie den lieblichſten Honig«
feim in ih. Schon allein die tägliche Spannung
und Erwarlung von dem Augenblid an, da fie zur
Hausthüre hinaustrat: würde fie ihm zu jehen ber
tommen? Und dann, wenn fie bereits von weilher
feine hohe, fräftige Geftalt jah, in der fie fid
niemals irrte, weil feine andre ihr ähnelte! Der
Augenblid war e8 faft wert, dafür zu fterben.
Ihre Kniee zitterten, und ihre Augen wurden
förmlich) naß dabei, und dod wußte fie, daß ihr
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
Gefiht vor Freude ftrahlte, obſchon fie ſich große
Mühe gab, recht ernſt auszuſehen und gleichgültig
zu hun. Sie hätte die größte Luft gehabt, jobald
fie ihn nur erblidte, ſich in Lauf zu jeßen, jo ſchnell
ihre Füße fie tragen mochten, und e& Foftete jie
jedesmal große Ueberwindung, nicht wenigftens ihren
Schritt zu beſchleunigen, um in Eite die Entfernung
zwiſchen ihnen abzufürzen. Dann zählte fie bie
Bäume am Wegrande. Sie meinte, das hülfe für
die Ungeduld. Nun war er nur nod zehn Bäume
entfernt, nun adt, nun ſieben ... nun vier, num:
„Guten Morgen, Fräulein Holm!“
Ihr „Guten Morgen, Herr Möller,“ verſchwand
in einem Luftſchnappen, jo jeltiam troden war ihr
im Halje geworden! Er Tüftete den Hut, jo daß
fie um die Stirm den roten Rand von bemfelben
und das glatte, blonde Haar erblidte, an dem ber
Wind zaufte, während er zeremoniell, faft fteif grüßte.
Und dann trat für einen Augenblid atemlofe Angſt
ein; würde er gehen... oder?... Er ſchloß ji
ifr an!
Aber die erften hundert Schritte gingen fie in ver«
legenem Schweigen nebeneinander her. Es überlam
fie ein Tächerlich flaueß, leeres Gefühl der Ent—
täufhung — aber dann begann er zu reden, ihr
Gemüt beruhigte ſich, und fie fonnte genießen — ja,
mit jedem Atemzug das Glüd genießen, neben ihm
zu gehen, allein ſchon der Verjud, mit ihm Schritt
zu halten, barg ein freubiges Vergnügen in
fih! Und dann, als er es merlie und jeinen
Gang dem ihrigen anpaflen wollte, es aber nicht
fonnte, wie laut fie da beide lachten! Es war das
erfte Mal, dab fie ihn lachen hörte. Sie meinte
auch, er bereute ed hernach, denn er verabjchiebete
fih an diefem Tage ungewöhnlich ſchnell und machte
den Verſuch niemals wieder. So mußten fie in Zus
funft in verſchiedenem Tritt gehen.
Machte er ſich etwas aus ihr? Sie glaubte «8
wohl... mern auch nicht gerade in der Weiſe, wie
fie es wünjchte. Aber das fam ſchon noch — das
mußte tommen!
An dem Tage halte er ihr die Hand gegeben,
oder richtiger, Tie hatte ihm ganz ummillfürlich bie
ihrige gereicht, als fie jich trennten; denn er hatte
gegen jeine Gewohnheit von feinen perfönlihen Ver⸗
hältniſſen geſprochen, ihr von feiner Kindheit erzählt,
die ungewöhnlich ftreng und hart gewejen wäre, und
das hatte fie gerührt — ad), jo unbejchreiblih — und
dann hatte fie ihm ihre Hand Hingeftredt, und er
hatte fie genommen — zwar in ſeltſam Falter, ehr-
erbietiger Art, aber dann hatte jie gewiß betrübt
ausgejehen, und die dummen Thränen! — und er
hatte fie angefehen, und es hatte Wärme in feinen
Bliden gelegen, als er ſagle: „Danke, Fräulein, für
dieſes Zeichen Ihrer freundlichen Gefinnung für
nn LT —— —— — — — ——— — — — — — — —
605
mich,“ und ſeitdem hatten fie einander die Hand ges
reicht, wen fie ſich trafen, und aud) beim Abjchied.
Er hatte auch einmal gejagt, daß fie der einzige
Menih wäre, dem gegenüber er ſich jemals aus—
geſprochen Hätte, wie er es nun jo häufig thäte, von
alle dem, was ihn perjönlid) anbetraf, von feinen
Zutunftsausfichten als Gelehrter und Forſcher, von
Werken, die er ſchreiben wollte, und jo weiter, Und
entjhieden war in der lehten Zeit in feinem Be—
nehmen ihr gegenüber eine Veränderung zu jpüren,
die bedeuten lonnte . . . guter Gott! Sie hielt die
Hände vor die Augen, Thränen flürzten über ihre
Wangen herab, und es war, ald wenn jid) alles in
ihr in Glüd und Erwartung auflöjen wollte, wenn
fie daran dachte, was es möglicherweiſe zu bedeuten
haben fünnte,
Er ſprach nicht mehr jo viel wie früher — fie
fonnten jeßt bie und da geradezu die ganze Prome-
nade von Dejterbro bis Nörrebro entlang gehen,
ohne auch nur zehn Worte miteinander zu reden,
aber in dem Schweigen lag etwas — etwas, das fie
hundertmal mehr bewegte und verwirrte als zehn-
taujend Worte,
Sie hatte gewagt, ihren Blid vorſichtig unter dem
Sonnenfhirm von jeiner Schulter bis zu feinem Geficht
binaufgleiten zu laffen, und dann war es mehr als
einmal geſchehen, daß ihre Augen den feinigen begeg-
neten, und objchon fie fich beeilt hatte, die ihrigen abzu⸗
wenden, ſah fie do, daß er rot wurde. Er lieh
jetzt auch nicht ihre Hand ſogleich los, und fein Gruß
— ja, er war freilich fajt noch zeremonieller ala
früher, aber in jeiner Ehrerbietung lag etwas, was
ihr Herz rührte. Sie Hatte gefühlt, daß fie das
legte Mal, als fie voneinander Abjchied nahmen,
ganz bleich geworben war.
Aber warum fagte er nichts, wenn er doch —?
Er mußte ja wiſſen — o, er wußte, daß fie... Ja,
warum, warum fagte er nichts?
II.
Es hatte begonnen, Sommer zu werden. In den
Allen fanden die Kaftanien in voller Blüte, und
von den Gärten jandten die Fliederbüſche Wogen von
Wohlgeruch über die Spaziergänger hin.
Ungefähr eine Woche lang hatte Henning Möller
jeine Frühſpaziergänge allein gemadt. Die erften
Tage, ohne der Sache bejondere Aufmerkjamfeit
zu ſchenken, aber jpäter mit fortwährend wachſender
Ungebuld,
Er hatte, wie er fi) mit einer gewiſſen Gereizt-
heit geftehen mußte, begonnen, mehr an fie zu denfen,
als e8 für feine Studien gut war.
Beſonders jet, da fie fortblieb,
Bisher waren ihm dieſe Begegnungen mit ihr
nur eine Zerfireuung geweien — eine Zerftreuung,
606
bie er juchle und die ihm mit jebem Tage mehr zur
Gewohnheit wurde — faft ein Bedürfnis, und nun
merkte er mit Verwunderung, eine wie große Deere
es in ihm zurüdließ, daß er fie nicht mehr jah. Ein
jehr unbehaglices und peinliches Gefühl der Ent-
täufchung, der verlehten Eigenliebe Märte ihn darüber
auf, daß jein Verhältnis zu ihr mehr Bedeutung für
ihn erlangt hatte, ala er jelbft wußte,
Und dann begann er über die Sache nachzudenken,
ernft, praftiich, wie über ein wifjenjchaftliches Problem.
Die Löſung war nicht ſchwer zu finden.
Dann traf er fie endlich ganz unvermutet um
die Mittagszeit, als er von feinen Stunden heim-
fehrte,
Er jah fie jchon von weitem. Sie ging in ber»
jelben Richtung wie er, langſam, ſehr langſam,
als wenn fie auf jemand wartete. Auf ihn, natürlich...
und er fühlte, wie aus feinem Herzen das Blut in
ungewöhnlich eiliger, warmer Weiſe in bie Adern
binausftrömte. Er jchritt umvilltürlid weit aus und
war bald an ihrer Seite.
Sie fuhr zufammen, als fie feinen Echritt er»
fannte, und doch wandte fie ihm nicht jogleich das
Gefiht zu. Indem er aber grüßte, ſah er e& um
ihre Lippen zittern, und der Blid, der dem feinigen
aus den feuchten Augen begegnete, war jo feltfam
verzweifelt in all feiner Verzagtheit, daß feine Stimme
ein wenig unficher wurde, als er fragte: „Sind Sie
— frank gewefen, Fräulein?“
Es Mang, als wäre fie heifer, und die Worte be»
famen faſt feinen Ton, als fie antwortete: „Ad nein
— durchaus nicht — aber — aber —“ fie drüdte
ihre behandſchuhten Fingerfpigen gegen die Augen,
und er jah eine Mare Perle an der lichten Haut hin«
abgleiten.
Es war fajt peinlich, mit einem weinenden jungen
Mädchen jo auf einer belebten Straße zu gehen,
was fehlte ihr heute nur?
Er Hätte am liebften mit einer Entſchuldigung
den Hut abgenommen und — es auf ein andres
Mal verſchoben.
Aber es war, als hätte fie erraten, was er Dachte,
benn fie blidte auf, zwang ſich zu lachen, es wurde
aber nur ein Gluckſen zwijchen Weinen und Lachen,
und jagte leiſe und bittend: „Warten Sie ein wenig,
achten Sie nicht auf mich — es ift dumm, aber —
aber — id) bin bier jo lange gegangen. Reden Sie
nicht mit mir! Laſſen Sie mich nur einen Yugen-
blid jo ganz ftill dahingehen. Ich habe Ihnen
etwas zu jagen, was — mas —*
Nein, e8 war jeßt unmöglich, das konnte er der
Stimme anhören, die überjchlug.
Er jelbit war ganz ruhig, Er wollte e8 jein,
Wozu diente all diefe unnüße Aufregung um einer
jo einfachen Sache willen? Es ſchoß in ihm das
Erna Juel-Hanjen.
triumpbierende Gefühl empor, daß er der Herr ihres
Schickſals wäre, bie Thränen im dieſen hübjchen
Augen trodnen könnte, ihr Geficht in jedem beliebigen
Augenblid dazu bringen, vor Glück zu ſtrahlen.
Diefe Gewißheit bereitete ihm einen Genuß — den
er noch eine Weile verlängern wollte. Und außer
dem mußte bie Zeit wahrgenommen werden. Es war
zwiſchen zwei und drei Uhr an einem jehr warmen
Tage. Es waren nur wenige Spaziergänger auf
der Straße, aber er wußte aus Erfahrung, daß &
binnen kurzem belebter fein würde, und danı —
aber nun begann fie zu reden,
Sie hatte nun die Selbſtbeherrſchung wieder:
gewonnen, aber in der Stimme lag unterdrüdte Er-
regung, und bie und dba mußte fie tief hinunter
ſchlucken, um für die nächſten Worte den Ton
hervorzubringen. Sie ſtrich nervös mit der Zungen
jpige über die Lippen, die immer wieder troden
wurden und nicht gehorchen wollten. Sie blidte zu
Boden, aber hie und da glitt ihr Blick mit ängfi-
lihem Spähen zur Seite, wenn jemand vorbeilam.
„sa — ich habe Ihnen etwas zu jagen, und —
ich weiß nicht recht, wie ich es jagen joll. Es ift jo
dumm und jo — jo — aber ich muß,” fie holte tief
Atem; „wir — wir — können nicht — das heißt,
id) lann morgens nicht länger bier fpazieren geben!
Papa hat es mir verboten, er verbietet mir jonft
niemald etwas, Mein Onf... Es iſt jemand —
man hat uns bier zufammen gefehen, und man bat
dem eine — eine peinliche, finnloje Auslegung ge-
geben — und — und — ad, Sie willen nicht,”
lam es mit plöglihem Ausruf, „wie ſchredlich es ift,
ein junges Mädchen zu fein — daß ift das Schred-
lichfte von allem in der Welt; es ift gerade, als wenn
man ftändig in der Zwangsjade ftedte — nichts darf
man, alles ift unpafjend oder unanft . . . Und dann
— dann jehen wir und niemald mehr, nun, da die
botaniſchen Stunden ein Ende haben, und dad —*
fie wurde jehr rot und zitterte, jo daß er den Son»
nenjchirm in ihrer Hand erbeben jah, fe jeufzte tief
und fagte tonloß, aber ſeſt: „Ja — Eie follen es
wiſſen. Das find die beften Stunden, die id) noch
verlebt habe, hier zufammen mit Ihnen — das ein-
zige, was...” dann brad ihre Stimme um, und
fie ſchwieg.
Sie waren nad) Defterbro binaufgelangt. Eiwas
weiterhin famen einige Spaziergänger ihnen entgegen.
„Kehren wir um!” jagte er furz.
Sie fehrten um, gingen raſch vorwärts und waren
bald den andern aus dem Geſichtskreis. Sie prefte bie
Augenlider jet zu über die Thränen, die fie nicht
fallen laſſen wollte, und fam fich wie eine Gefangene
vor, die ihr Urteil erwartet.
Aber es war gleich, heute mußte es zur Entfchei-
bung fommen. Sie hielt es nicht länger aus, Nun
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
war fie jeden Tag in diefer Woche‘ hier auf und ab
gegangen und hatte gewartet. Zange durfte fie nicht
fortbleiben, zu Haufe wurde auf fie aufgepaßt, jeit
Papa Skandal gemadt hatte, und über Möllers
Rahmittagefpaziergänge wußte fie nicht genau Bes
ſcheid. Sie war jo müde und vergrämt vom Warten,
num hieß es biegen oder brechen.
„Sagen Sie mir, Fräulein — Margarete,“ er
zögerte ein wenig vor dem Vornamen. Er hatte fie
noch niemals mit demjelben angeiprochen, fie fuhr
daher zufammen und mußte nad Luft fchnappen.
Sie ſah auf. Er fing den Blid auf und wurde rot,
Er ſuchte nach Worten in ben erften paar Säßen, aber
dann befam jeine Rede ihre gewöhnliche vortrags-
mäbige Sicherheit.
„Haben Sie niemals darüber nachgedacht, wozu
unfre — wozu diefe Begegnungen führen könnten
— ja führen müßten?“
Sie beugte den Kopf tief herab und fagte leiſe
und zögernd: „Nein,“ aber fie wurde glühend rot.
Cie lonnte doc unmöglich „ja!” fagen. Aber in
ihr jubelte e8: ja! — es ſchrie faft in wilder freude:
Endlih! Endlich!
„So—0? Na, dann ift es ja gut, dak ich für
uns beide gedacht habe. Ihr Vater hat volllommen
tet. Ein junger Dann und eine junge Dame
lönnen ſich nicht im {Freien treffen und zujammen
ſpazieren gehen, wie wir es in der lehten Zeit gethan
haben, ohne für ein jo vertrauliches Verhältnis, wie
es dadurch angedeutet wird, einen legitimen Hinter
grund zu haben. Sie erraten wohl, dab id) eine
Verlobung meine?" Er jchwieg, ald erwartete er
eine Antwort.
Aber fie fagte nichts.
Sie war jehr bleich geworben und jdhritt wie
iaumelnd dahin. Der Weg jchien ihr plöglid in
einem großen Bogen nad) rechts in den See hinaus-
jubiegen. Das Blut fummte vor ihren Ohren, feine
Stimme erflang zu ihr wie durd Baumwolle, und
obſchon fie jedes Wort hörte und wie mit allen
Nerven lauſchte, konnte fie es nicht unterlaffen, bie
Baumflämme am WWegrande zu zählen: eins, zwei,
drei, vier, fünf — bis fie vor ihren Augen in der
Ferne in einen Strich zufammenliefen.
Er fuhr fort: „Ich bin immer allein gewejen,
Ih Hatte bis auf diefen Augenblid oder vielleicht
richtiger biß vor ganz furzem mein Leben darauf
eingerichtet, e8 auch fernerhin zu bleiben. Das paßte
am beiten für meine Natur, meinte ih. Ich habe
wiemal3 Freunde gehabt. Ich habe keine Zeit ge=
habt, mich der Kultivierung von Freundſchaften zu
widmen, Meine Studien und meine Thätigfeit als
Lehrer haben mic biäher ganz und gar in Anspruch
genommen, Und außerdem — e8 ift nicht viel Ver—
gnügen dabei zu finden. In den meiften Menjchen
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ftedt jo verteufelt wenig drin! Man it jelbft
mit ben beften Eremplaren der Raſſe in vierzehn
Tagen fertig. Mit einer merhvürbigen Indistretion
plappern fie ihr bißchen Inhalt bereits in den erjten
Geſprächen aus, und dann driſcht man leeres Stroh
auf den alten Geſchichten. Daß ich eine traurige
Kindheit gehabt habe, habe ich Ihnen wohl ſchon
erzählt. Mein Vater verbitterte und das Leben
buch eine brutale Tyrannei, die ihresgleichen
ſuchte. Ich babe ihn gehaßt, ich glaube, vom
erfien Augenblid an, ba ich denfen konnte. Glüd-
licherweife ift er ſchon vor vielen Jahren ge=
ftorben, nachdem er erſt meine brave Mutter zu
Tode gequält hatte. Ich habe eine verheiratete
Schweſter — aber ich ehe fie niemald. hr Dann
ift ein Lumpenferl, den ich nicht ausftehen ann.
Sie enlſchuldigen, daß ich Hier all diefe perfönlichen
Verhältniffe berühre, aber ich hielt e8 für notwendig,
Ihnen einige Nufflärungen über mich zu geben, ehe
— ehe ich zu dem eigentlichen Thema unſers Ge-
ſpräches übergehe.” Er räufperte ſich und ſchwieg
einige Augenblide,
Ad, warum dauerte das jo lange? Sie mußte
ja zum Mittag zu Haufe jein und durfte nicht
weiter ala bis zum Ende des Weges gehen — warum
fagte er es denn nicht gleich? AN diefes konnte ja
jpäter an die Reihe fommen. Und doch rührte es
fie in einer eigentümlichen Weife. Es war, als würde
das Herz ihr jo weit in der Bruft. Ad, wie fie
ihn Tieb haben wollte, wenn fie nur durfte!
Dann ſprach er wieder weiter, Wber bereits die
erfien Worte jagten ihr das Blut in heigen Strömen
zum Kopf und in die Wangen hinauf.
„Ich bin niemals verliebt geweſen, und ich fage
es mit einem gewifjen Stolz: es giebt fein Weib auf
der Welt, das irgend welche Nechte auf mich hat,
nicht eined, das auch nur den flüchtigften Eindrud
auf mich gemacht Hat. Ich Habe keine Dummheiten
begangen — das phyfifche und pſychiſche Ich eines
jungen Mädchens fann in der Beziehung nicht reiner
und unberührter fein ala das meinige — und das ift
mehr, glaube id) wohl, als die allermeifien Männer
in meinem Alter von fi rühmen fünnen —“
AH Gott, wie fie ſich ſchämte! Sie entjann ſich,
als wäre es gejtern geweſen, des bärtigen Mannes,
ben fie damals gelüßt hatte, und der Verliebheit —
o, wenn fie es hätte ungeichehen machen können...
und dann die Bälle — die Händedrücke — die Worte,
bie ihr zugeflüftert waren und die fie beantwortet
hatte — alles, alles zufammen tauchte wieder vor
ihr auf und ängftigte fie. Sie fuchte mit Gewalt
die Röte zu unterbrüden und neigte den Kopf jo tief,
daß der Schatten des Strohhutes ihr Geficht verbarg.
Denn er e8 ihr nur nicht anjehen oder anmerken
fonnte! Wenn er fie jept bat — durfte fie dann
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ja jagen? Ach, aber fie fonnte, fonnte micht nein
fagen!
„IH darf nicht mit Beftimmtheit jagen, dab ich
in Sie verliebt bin —“
Sie wurde ganz kalt, und ihr Herz ſchlug jo
langiam, als wenn es ftillftehen wollte, nur mit
Mühe vermochte fie die Füße von der Stelle zu
bringen.
Er jah den Schatten des Schmerzes, den er ihr
bereitete, über ihr Geficht hinziehen und fuhr fort:
„Ih gebe im ganzen genommen nicht viel für den
Rauſch, den man PVerliebtheit nennt —*
Nein, das war nicht auszuhalten! Nun mußte
fie, wo er hinaus wollte. Zubovifa hatte fie gewarnt
— ah, daß fie jo Dumm gemejen war, ſich zum
Narren halten zu laſſen! Sie hob den Kopf empor,
ſah ihn an und fragte — es fam wie in einem Schnap-
pen nad Luft, aber recht ſcharf und ficher:
„Wollen Sie etwa mit mir experimentieren ?”
Er ſtutzte, runzelte die Stirn und jagte verlegt:
„Wie fommen Sie zu der Frage, Fräulein? Was
berechtigt Sie zu glauben —“
„Ad, man beihuldigt Sie, mit jungen Mädchen
zu experimentieren — fie in Sie verliebt zu machen
und — und fie dahin zu bringen, daß fie ihre Ge—
fühle ausplappern ... und dann — dann ſich ber=
nad) über fie luftig zu machen.“
„So, deſſen beſchuldigt man mich wirflih? Ei,
ei!" Er ſtrich ih das Kinn und um den Mund,
um das Lächeln gefihelter Eitelkeit zu verbergen, das
er nicht unterdrüden fonnte. „Und nun meinen
Sie,“ fuhr er fort, „daß alle unfre Gejpräche, die
Befriedigung, die wir empfunden haben, wenn wir
ung trafen, von meiner Seite nur ein Experiment
geweien jein jollten, um Ihnen Ihren feelifchen In—
halt auszupreffen, wie man eine Zitrone auspreit —
hm! Das veripricht nichts Gutes für den Ausfall
diefer Unterredung,” er beugte fich über fie und ſah
fie mit einem Blid an, dem er einen zweifelnden
Ausdrud geben wollte; aber fie wandte den Kopf
von ihm ab,
Schmerz, Scham und Verlegenheit rangen in ihr.
Es war, als hätte fie Die größte Luft, ſich von diejem
Menſchen loszuringen. Er war in diefem Augenblid
ein fremder Dann für fie — ah, wie dumm fie
gewejen war, und wie weh das that!
Er beobadhtete den Ausdrud auf ihrem Gefidt.
Es war nicht ganz das, was er erwartet hatte. Sollte
er ſich möglicherweiie geirrt haben? War fie nur
tofett — oder... Der Zweifel regte ihn an, und
es lag mehr Gefühl in feiner Stimme, als er fortfuhr:
„Ich will Ihnen gegenüber ehrlich fein. Dabei
ftehen wir uns beide am beften. Ich habe mich biß«
weilen mit — mit jungen Damen in meiner Weiſe
amüfiert. Aber, glauben Sie mir, es ijt weniger
Erna Juel-Hanjen.
meine Schuld als die der jungen Damen geweſen,
und id; habe Ihnen ja gejagt, daß ich mir michte,
abfolut nichts vorzumwerfen babe. ber Fräulein
Margarete, mit Ihnen ift das anderd geweſen. Ih
babe geglaubt, bei Ihnen ein wärmeres, tieferes
Interefje für mich zu jpüren, als ein andre Mäbd-
hen es mir erwieſen hat, und ich ſelbſt — Sie find
nicht ganz fo wie andre, es ift etwas im Ihrer
Natur, etwas Neues, das —“
„So—0?* unterbrady fie ihn furz, und es lag
Bitterleit in ihrem Ton, „mit mir find Sie aljo
noch nicht fertig geworden — obſchon es mehr ala
vierzehn Tage ber it —“
„Warum wappnen Sie fi plölich mit jo viel
Mißtrauen gegen mih? Sie wiſſen ja gut, daß
meine Morte von vorhin nicht Ihnen galten. Unſer
Verhältnis ift feine Tagesfreundfchaft — nicht wahr?“
Er ſah fi eilig um, um fid) zu vergewiſſern,
daß niemand in der Nähe wäre, trat ihr ein wenig
näher und ergriff ihre Hand, die ſchlaff an der Seite
herabhing. „Liebes Fräulein Margarete — ich meinte
ja gerade, daß diefe Unterredung dazu führen follte,
daß von heute ab zwiſchen ums eine geiftige, unauf-
lösliche Kameradſchaft beftehen follte, ein Dajein en
deux, ibeeller und bauernder, als die gewöhnlichen
Verbindungen zwiſchen den Geſchlechtern. Was wir
zu erreichen wünſchen, ift ja eine Legitimierung bed
Verhältniſſes, das ſchon in diefem Augenblid zwi—
ſchen und befteht, und das vermutlich auf ber fym-
pathifchen Anziehungsfrajt beruht, die überall in der
Natur zwifhen dem männlichen und meibliden
Element entſteht. Mein Leben ift bisher leer und
nüchtern geweſen, wenn Sie wollen, aber in dieſen
Tagen, da ih Sie nicht fah, wurde es mir Kar,
dad — daß — es — wenn Sie wollten, einen
reicheren und gehaltvolleren Inhalt bekommen Fönnte.
Ih Habe in diefer Richtung ficher manderlei zu
lernen — wollen Sie diejenige fein, die es mid
lehrt — wollen Sie, Margarete ?*
Endlih, endlih! Das mußte Liebe jein, das
war fie — natürlih! Sie atmete tief auf, als fiele
eine fchwere Laſt von ihrer Bruft herab, indem fie
halb flüjternd, halb lachend einige verwirrte Worte
ſprach, deren Bedeutung fie ſelbſt nicht kannte. Ihre
Augen ihwammen in Thränen, das Sonnenliät
gligerte vor ihnen, jo daß alles zujammenlief,
indem fie ſich unwillfürlich fefter an ihn drüdte. Als
er ihr fragend ins Geſicht blidte, lag über ihren
Zügen ein Ausdrud, der ihn fo ſtark ergriff und be=
wegte, dab er, faft gegen feinen Willen, die Haud,
die er noch in ber feinigen hielt, an feine Lippen
binaufführte — aber er ließ fie augenblicklich wieder
los. Und obſchon die Berührung jo flüchtig war,
daß fie eigentlich fie nicht bemerkte, durchfuhr doch
ein Beben des Glüdes ihren Körper.
"Die Gefhihte eines jungen Mädchens.
Es waren nur noch wenige Schritte, bis fie
Nörrebro erreicht hatten, wo jte ſich trennen mußten,
und das fiel ihr mit einem ſchmerzlichen Stich durchs
Herz ein.
Ein paarmal blidte fie nad jeinem Arm bin —
dann jchob fie jhüchtern ihre Hand darunter. Er
zögerte einen Wugenblid wie in Ueberraſchung,
bog dann aber den Ellbogen. Im jelben Augenblid
preßte fie ihr Gefiht umd ihre Lippen in einer
plötzlichen, unwiderſtehlichen Lieblofung in feinen
Rodärmel hinein, dicht unter der Schulter, und fühlte
den feften, harten Musfel, — und dann waren fie
am Ende der Promenade.
„Run müfjen wir jcheiden,* jagte er, „ich möchte
Sie gern weiter begleiten, aber — es hat ja feinen
Zwed, das Vollsgerede herauszufordern, bevor Sie
— bevor ich bei Ihrem Herrn Vater gewefen bin.“
Er ließ den Arm finfen. Sie wurde rot und
zog den ihrigen an fid.
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„Sie werden Yhren Vater ja wohl darauf vor=
bereiten — ich werde ſuchen, mir Zeit zu verſchaffen,
und fomme jchon heute abend —“
Sie blidte ihn mit feuchten, warmen Augen an,
„sa — ad) ja, danke! Kommen Sie heut abend!”
Dann lachte fie, weich, gludjend, Halblaut. Sich
zu denken, daß fie jagen fonnte: „Adieu — auf heut
abend!”
Er Tüftete den Hut, und fie ging. Aber nicht
ohne ſich umzudrehen und feiner verſchwindenden
Geſtalt einen Blick nachzuwerfen. Wie groß, ſtark
und ſtolz er dahinſchritt und den Kopf hoch über
allen andern trug. Es war, als wenn ihr Herz vor
Zärtlichleit und vor Glück überſtrömte, während ſie
daſtand und ihm nachblickte . .. und dann lief fie
davon, nad) Haufe, jo ſchnell fie konnte, um nicht zu
jpät zum Mittagefjen zu fommen.
Fortſehung folgt.)
Gedichte von G. Gosbue.
Aus dem Rumänifchen überfeht von W. Rudow.
J.
Inder Sriübe.
Mit Peitichentnall, fo 309 er heut
Schon früh vorbei an unferm Baus;
Und an der Peitjche kannt' ich ihn
Und eilt hinaus,
Ich weiß; es jelbft nicht, wie es fam:
Um Mebjtuhl Tief ich alles ſtehn —
Sprang auf umd ftürzjte zu der Chür,
Um ibn zu fehn.
Den Faden hab’ ich ganz verwirrt,
Zerbrochen gar ein Fenſterlein:
So eilig hatt’ ich's, ihn zu fehn,
Bei ihm zu fein.
Mei nicht mehr, wo der Kopf mir fteht —
Was wollt‘ ih nur fo unbedacht ?
©, nidyts! Nur fragen, ob er fanft
Geruht die Nacht.
So ift er nun! Er fafte mich
Zuerſt nur bei der Hand — und fieh!
Auf einmal hielt er mich im Arm,
Weiß felbft nicht wie!
Ich aber hab' mich losgemacht,
Gab harte Wort' ihm zum Geleit,
Doch war es mir nicht ernſt — und jetzt,
Jetzt thut's mir leid.
Nicht, weil ich an der Schwelle mir
Den Fuß geſtoßen und verrenkt —
Nein, weil ich unrecht ihm gethan
Und ihn gekränkt.
So aut wie er ift feiner mehr;
Wenn ich ein böfes Wort ihm ſag',
So hat er feine Freude mehr
Den ganzen Tag.
I.
Sresto-Ritoruelle.
Ich finde, daß es feinen Kingen giebt,
Der durch die Kiebe nidyt ein Narr geworden;
Jedoch auch feinen Klugen, der nicht liebt.
“
Diel Liebchen hab’ ich drin und draußen auf der Gaſſe,
Dod; feine will, daß ich fie küſſe noch ihr folge;
och wen’ger aber, daf ich ungeküßt fie laffe.
“
Die Rofe rühmte fich, fie fe fo weiß wie du;
Der Wind vernahm's und gab ihr einen Badenftreich,
Da ward die Rofe rot vor Scham und ſchwieg dazı.
*
Du bift verdreht! Ich hab’ dich bei der Hand genommen:
Umfaſſen wollt’ id; dich — das hat dich jo erzürnt:
Acht Tage bift du drauf nicht mehr zu uns gekommen.
*
„Leicht fteiaft du auf, vermagft du MWiderftand zu zwingen."
„Die £eute ſchmähen mich!" — „Es wiflen ja die Kinder:
Wennmanam Drachen zieht, wird er fich höher ſchwingen.“
=
„Wir zankten geftern. Schlimm, daß ich fo ſchnell vergeffe,
Erft eben, da du mich gefüßt, fällt mir es ein,
Es follte geftern ja zum lettenmal fein!"
“
Gelb ift die Sonn’ im Nebel, gelb das Komm,
Durch das du Gelbgezopfte wandelft hin,
Weißt du, woher auch idy fo gelb geworden bin?
Aus fremden Zungen, 1897. IL 13,
77
„Srauenlieb“.
Von
Rudyard Ztipling.
Aus dem Englifchen überfeßt von Leopold Lindau,
Der Schreden, die Verwirrung, die Verhaftung
des Mörders, alles war vorbei, als ich fam. Auf
dem Stajernenhof fonnte man nur noch das Blut
des Ermordeten jehen, da3 zum Himmel um Rache
ſchrie. Die heiße Sonne hatte es ſchnell getrodnet,
es fah jetzt aus wie ein dünnes Blättchen dunkler
Goldſchlägerhaut, und die Hibe hatte es in Heine,
rautenförmige Täfelchen geteilt, die, vom Winde nad
oben gehoben, wie eine ftumme Zunge den Himmel
zum Zeugen anriefen. Dann kam ein heftiger Wind«
ftoß und blies alles fort, in feinen, bunfeln Staub»
förnden. Die übermädtige Hike lieh fein Ber
weilen auf dem Hofe zu. Die Mannjchaften waren
in ihren Stuben und unterhielten fi über das
Ereignis des Morgend. Eine Gruppe von Soldaten-
‚frauen ſtand am Eingange der Abteilung für ver-
heiratete Leute, von wo aus bie jhrille Stimme eines
jeternden Meibes zu hören war, die böfe und ſchmutzige
Worte jprad),
Ein Sergeant, ein ruhiger, anftändiger Mann,
der fid) eines tadellofen Rufes erfreute, hatte joeben
im hellen Tageslicht einen feiner eignen Korporale
totgeſchoſſen, war dann ruhig in jeine Stube ge»
gangen, hatte fich auf fein Bett gefeßt und ganz un«
befangen und ohne die geringfte Aufregung zu zeigen,
gewartet, bis die Wache fam, um ihn zu arretieren.
Nah dem gewöhnliden Gang der Dinge wird
er einem Gerichtshof überwiejen werden. Tyerner —
aber daran hat er wahrfcheinlich in jeiner Aufregung
nicht gedadjt — wird er mir eine Maſſe unangenehmer
Arbeit aufbürden; ich werde über ben Prozeß zu
berichten haben, ohne jedwede Hilfe; und was ber
Prozeß bringen wird, dad weiß ich aus eigner,
trauriger Erfahrung: die übliche Unterfuchung jeines
Gewehrs, das Verhör eines halben Dubends feiner
Kameraden, die erftidende Hitze im Gerichtsjaal, bis
der Bleiftift aus ben jchweißtriefenden Fingern auf
das Papier fällt; das einförmige Geräuſch des
Punkah,“ das Geſchwätz der Zeugen auf ber
Veranda u. ſ. w. Der Oberſt jeines Regiments
Groher indiſcher Facher.
wird über die moraliſche Führung bes Angellagten
Zeugnis ablegen ; die Geſchwornen ſchwitzen und ftöhnen,
und die Sommeruniformen der Zeugen riechen nad)
Schweiß und billiger Seife; ber unjelige Sajernen-
feger, der als Zeuge geladen ift, wird ſich in dem
Kreuzverhör verwirren, das der ehrgeizige, junge
Advolat mit ihm anftellt, der ſtets die Verteidigung
ber gemeinen Soldaten übernimmt, bloß wegen dee
Ruhmes, den fie ihm nie einbringt, und der fiets
auf mich wütend ift, weil ich jeine bemofihenilchen
Leiftungen nicht forreft berichte. Schließlich werde
ih den Angeklagten wieder treifen als Schreiber
im Gefängnig — denn er wird ganz gewiß nicht
gehängt werden — und ihn mit der Hoffnung tröiten,
daß er in einigen Jahren Gefängniswärter auf den
Andamanen *) werden wird.
Das indiihe Strafgejeßbuh und die Richter ber
traten den Mord unter allen Umftänden und bei
jedweder Provokation als keinen Spa. Sergeant
Raines, der jeinen Kameraden totgeſchoſſen hatte,
konnte ſich glüclich ſchätzen, wenn er mit fieben Jahren
Strafarbeit davonlam. Er hatte die vorhergehende
Nacht über das Unrecht, das ihm gejchehen war, ge
brütet und jein Opfer am nächften Morgen erſchoſſen,
ehe er mit irgend jemand darüber hätte reden können.
Davon war ich überzeugt: fieben Jahre würden das
Geringfte fein, das Raines erwarten durite.
Kein Tag ift fo lang wie der eines Mordes. Am
Abend diejes Tages traf ich Ortheris**) mit ben
Hunden.
„IA werde einer von den Zeugen fein,” jagte
er, ohne daß ich ihn aufgefordert hatte, über bie
Sache zu ſprechen. „Ich war auf der Veranda, alt
Madie aus Frau Raines' Stube fam. Quigleh,
Parſons und Trot waren auf der inneren Veranda,
wo fie nichts hören und jehen konnten. Sergeant
Naines war auf der Veranda und unterhielt fih mit
mir, und ald Madie über den Hof kam und Raines
*) Infelgruppe im Meerbuſen von Vengalen.
**) Ein Soldat in der anglo-indiihen Armee, der in ſtip⸗
lings Novellen eine hervorragende Rolle jpielt.
„Frauenlieb“.
ſah, ſagte er zu ihm: Na, Sergeant, haben ſie
Ihnen ſchon Ihren Helm abgeſtoßen?“ Darüber
wird Rained wütend, er holt tief Atem und jagt:
‚Mein Gott, das ift zu viel, das kann ich nicht er—
tragen" Mit den Worten reift er mir mein Gewehr
aus der Hand und ſchießt Madie nieder. Com-
prenez-vous?*
„Aber was thaten Sie denn mit Ihrem Gemehr
auf ber äußeren Veranda, eine Stunde nad) der
Barade ?*
„Was ich mit meinem Gewehr that? — ja, ih
machte es rein — natürlich,“ ſagte Ortheris mit
dem trotzigen, unverjchämten Blid, der gewöhnlich
feine frechſten Lügen begleitet.
Er hätte mir ebenfogut jagen fünnen, daß er
eine Polfa mit feinem Gewehr getanzt hätte, denn
zwanzig Minuten nad der Parade konnte er abfolut
nicht mit feinem Gewehr zu thun haben. Der
Gerichtshof jedoch Tonnte das nicht willen. „Und
wollen Sie bei dieſer Ausſage bleiben? — auf Ihren
Eid?" jagte id.
„sa, da können Sie ſich verdammt drauf vers
lafien.*
„Gut, das ift Ihre Sache, ich will weiter nichts
wiffen. Aber vergefien Sie nicht, daß Quigley und
Parſons und Trot etwas gehört haben müflen, wo
fie waren; und Sie können fi darauf verlafien,
dab irgend ein Kajernenfeger oder jonft ein Arbeiter
auf dem Hof geweſen jein muß; die Kerle find faſt
immer da.“
„Es war nicht der fyeger, es war der ‚Beaftie‘,*)
und auf den kann man fich verlaffen, der ſchwatzt
nicht.“
Daraus konnte ich Schon merken, daß beim Prozeß
recht gefunde Ausjagen gemacht werben würden, und
der Staat3anwalt, ber die Auflage vertrat, that mir
wirklich leid.
Als der Prozeß anfing, that er mir noch mehr
leid. Er war ein Mann, der ſehr leicht heftig und
gereizt wurde und jebe verlorene Sache ala jeine
eigne betrachtete.
Raines’ junger Advolat hatte Diesmal feine Paflion
für Alibis und Unzurechnungsfähigfeit vergeſſen, ließ
alle gumnaftiichen und pyrotechnifchen Runftftüde aus
dem Spiele und arbeitete ruhig und gemefjen für
feinen Klienten. Es war glüdlicherweije erit der
Anfang des heißen Wetters, und bis jet war noch
kein Morbanfall in der Kaſerne zur Kenntnis ber
Behörde gefommen; die Jury war eine gute, ſo—
gar für indiſche Verhältniſſe. Ortheris ftand feft
und ließ fich durch nichts in feiner Ausjage er-
ſchüttern . . . Der eine ſchwache Punkt in jeinem
Zeugnis war der limftand, daß er fein Gewehr auf
) Korruptes anglosindijches Wort für Bheeſty = Wafferträger.
611
der äußeren Veranda hatte, und dies wurde von dem
Anwalt nicht beachtet; — es war eine Sache, welche
die Weisheit des Ziviliſten überſtieg, obgleich einige
der Zeugen nicht umhin konnten, über dieſe Be—
ſchränktheit zu lächeln.
Der Vertreter der Negierung beantragte Todes-
firafe und befand darauf, dab es ein Fall
bon vorjäßlihem Mord je. Er beftritt durchaus,
daß das Unrecht, weldes dem Mörder wider-
fahren fei, ein Milderungsgrund für eine ſolche
That fei. In Anbetracht dieſes Unrechts jedoch, das
niemand in Wbrede ftellen konnte, fowie des vor«
trefflihen Zeugniſſes, das ihm jein Regimentsfom«
mandeur ausftellte, erhielt der Gefangene nur zwei
Jahre Gefängnis, Der Vertreter der Regierung war
entrüftet über dies allzu milde Urteil und verließ ben
Saal in großer Wut. Der Gefangene wurde ab«
geführt und den Zeugen, bie zum Regiment gehörten,
anbefohlen, bis zur Abendlühle zu warten und dann
nad) ihren Rantonnements zurüdzumarjchieren. Sie
fammelten fi) auf der breiten Veranda und unters
hielten fidh über den Prozeß, das Gefängnis und
andre das Zagedereignis betreffende Fragen. Man
gratulierte Ortheris, der die Hauptrolle in diejem
Drama geipielt hatte und die ihm erwiejenen Ehren»
bezeigungen mit geziemender Beſcheidenheit im
Empfang nah.
„Das ift ein efelhafter Heiner Kahltopf,“ ſagte
Ortheris, als er den Regierungsanwalt, der zu jeinem
Frühſtück fuhr, bemerkte „Ih kann ihn wahr«
haftig nicht ausftehen, aber er hat einen hübjchen,
Heinen Hund, den ich jehr gut leiden mag.”
Ortheris war im ganzen Kantonnement als großer
Hundeliebhaber und als jehr geſchickter Hundedieb
befannt.
„Nächte Woche muß ich nach Murree,*) — der
Hund ift immerhin feine fünfzehn Rupien wert.”
„Sieb fie nur für Meſſen für bein Seelenheil
aus,“ jagte Terenz Mulvaney, **) der drei Stunden
lang Wache geftanden hatte,
„Na, ganz gewiß nicht," ſagte Ortheris über
mütig. „Du fiehft müde aus, Terenz.“
„Das bin ich auch, bei Gott! Das Wacheſtehen
greift die Fußjohlen an, aber hier it das Sifen
beinahe ebenjo unbequem.“
„Warten Sie einen Augenblid, Terenz, ich werde
Ihnen einige Siffen aus meinem Gig holen,”
jagte id).
„Bei Gott,“ fagte Ortheris, als ſich Mulbaney
auf die Kiffen warf, „wir werden jehr fein! Ich
wünjche dir, Terenz, daß du ſtets einen jo weichen
*) Berühmte: Sanatorium im nordweſtlichen Punjab.
*) Iriſcher Soldat in der anglosindiihen Armee, cine in
Kiplings Novellen häufig vortommende Figut.
612
Platz finden mögeft, wie du ihn jet haft, und ihn
mit einem Freunde teilen fannft.“
„Hier ift ein Kiffen für di, Stanley, — fo,
num gieb mir meine Pfeife; ja, ja, bier ift wieder
ein guter Kerl zum Teufel gegangen, und nur wegen
eines Frauenzimmers. Ich muß wenigſtens vierzig
bis fünfzig Mal bei Gefangenen Wache geflanden
baben, und ich haſſe e8 jedesmal mehr und mehr.”
„Ich erinnere mic) an vier oder fünf Fälle, Terenz;
bei Loſſon, bei Lancey Dugard und bei Stebbin,
wenn ich nicht irre,” jagte ich.
„Ach! und lange vor der Zeit,“ ſagte der alte
Soldat mit einem müden Lächeln, „’s iſt wahr«
baftig beifer, mit ihnen zu flerben, als fie alle zu
überleben. Wenn Raines aus dem Gefängnis fommt,
wird er ein ganz andrer Menſch geworden jein,
Er hätte zuerft das Frauenzimmer und dann fid
ſelbſt totſchießen follen. Jeht hat er feine Frau allein
zurüdgelaffen, die noch vorigen Sonntag mit Dina
Thee getrunfen hat. Madie ijt am beiten daran.”
„Der wird es auch ziemlich heiß haben, wo er
bingegangen iſt,“ bemerkte id, denn mir war etwas
von dem Lebenswandel des Ermorbeten befannt.
„Sa, da haben Sie allerdings recht," ſagte
Terenz, indem er über das Geländer der Veranda
jpudte. „Aber was er da friegt, ift doch nichts
im DVergleih zu dem, was er bier gefrient haben
würde, wenn er gelebt hätte.“
„Ad, dummes Zeug! Er würde ruhig jo weiter
gelebt und alles vergeifen haben!“
„Haben Sie Madie gut gelannt?“ jagte Terenz.
„sa, ih habe ihn mal einen Tag zur Jagd bei
mir gehabt, er war ein recht amüfanter Kerl.“
„Die Amufements werben fie ihm jeht wohl ein
bischen hoch hängen; ich Habe Madie recht gut ger
fannt und ich habe zu viel jeinesgleichen geſehen,
um mid in ihm zu irren. Er würde, wie Sie
fagen, die ganze Geſchichte vergeflen haben, das heißt
nur anſcheinend. Er war ein Mann von guter Er«
jiehung und madte in feinen Affairen mit den
Frauenzimmern einen glüdlihen Gebraud) davon,
Aber manchmal gelang es ihm doch nicht jo recht,
und e3 fam vor, daß eine, die ſich das ihr gejchehene
Unrecht nicht gefallen laffen wollte, ſich wie eine
Furie auf ihn ſtürzte und ihm drobte, ihn zu zer=
fleiſchen. Ich kann e8 Ihnen nicht jo recht be=
ſchreiben, wie es mir jo in den Kopf gefommen ift,
aber Madie war die lebende Kopie eined Mannes,
den ich gekannt habe und der ungefähr dasjelbe Leben
führte, und es ift jammerfchade, daß er nicht dasfelbe
Ende genommen hat wie Madie. Wie hieß er doch
glei... ad) ja: Larry, Larry Tighe, das war fein
verfluchter Name. Einer der Refruten, der mit ihm
eingezogen war, jagte, Larry wäre von guter Familie
und beabjichtige, Offizier zu werden — und Larry
Rudyard Pipling.
bat ihn dafür Halb totgefchlagen. Er war ein
ichöner, großer Mann, und bei manchen Frauen«
zimmern macht das einen großen Eindrud, — viel»
leicht nicht bei allen; aber bei Larry war e& wirklich
immer ber fall. Er verſtand allen zu jchmeicheln,
und fein Mädchen, — und, wenn man die Wahre
heit fagt, feine Frau, die auf Gottes Erde lebt —
fonnte ihm widerftehen. Und er wußte es, er wußte
es geradefo, wie Madie e8 wußte, der jet wo anders
gebraten wird. Und er hat nie verfucht, eine zu
überreden, wenn er nicht die jhlechteften Abfichten
dabei Hatte. Es ziemt mir wahrhaftig nicht, darüber
zu reden, der liebe Gott weiß es, aber ich muß jagen,
die meilten meiner Affairen — wie foll ih fie
nennen — ‚Mesalliancen‘ — famen vom reinen
Uebermute, und recht herzlich leid hat e& mir immer
gethan, wenn irgendwie etwas Schlimmes daraus
entftand. Und wie oft, wenn ich es dem Mädchen
an den Augen anjehen konnte, daß id; mehr Unheil
anrichtete als ich glaubte, habe ich die ganze Ge-
ſchichte abgebrochen, beſonders wenn ich an meine
gute, alte Mutter dachte, die num tot ift! Aber
Larry, wie e8 mir ſchien, — ber mußte mit ber
Milch einer Teufelin gejäugt fein, der hat nie eine
gehen laſſen, bis er fie an Leib und Seele zu Grunde
gerichtet Hatte. Und er nahm das alles jo leicht
und ruhig hin, ala wenn er feinen gewöhnlichen
Kafernendienft thäte. Und, bei Gott, er war ein
ſchneidiger Soldat. Da mar zum Beijpiel die
Gouvernante des Oberften, die niemand je in ber
Kaferne gejehen hatte, und er war doch nur ein ges
meiner Soldat; und eine von des Majors Dienft-
mädchen, die fih ſchon einem andern verfprodhen
hatte — und Gott weiß, wie viele noch, von denen
wir nichts wußten.... und wie's fam, daß er fie alle
in feiner Macht hatte, daß wußte niemand, Es
war eben in feiner Natur, es war ihm angeboren,
fie alle zu überreden. Und nicht immer die Güb-
ſcheſten — Gott bewahre! — fondern joldhe, von denen
Sie bei allen Heiligen geihworen haben würden, daß
fie nie etwas Unrechte8 oder Unbeſonnenes thun
fünnten. Und fo fam es au, daß er niemals ab»
gefaßt wurde. Ein paarmal war er allerdings dicht
daran, aber jo recht haben fie ihm doch nie etwas
anthun fönnen. Und, willen Sie, das hat ihm
zuleßt mehr Schaden als alles geihan. Er hat ſich
oft und gern mit mir unterhalten; er jagte oft, wenn
ich eine ebenjo gute Erzichung gehabt hätte wie er,
würde ich eim ebenjo großer Lump geworben jein.
Iſt es denn wahrjcheinlich,‘ fagte er, ald wenn er
jehr ftolz darauf wäre — ‚ift e8 denn wahrfcheinlich,
dab ich abgefaßt werde? Und am Ende aller Enden,
was bin ih denn? Ein verlumpter, verlommener ge
meiner Soldat. Glaubt du denn, Terenz, daß bie,
die mich wirklich fennen, mit einem gemeinen
„Frauenlieb“.
Soldaten etwas zu thun haben würden? Für die bin
ih nur Nummer 10407* Ih konnte an feiner
Sprache merken, wenn er ſich nicht verftellte, daß
er ein Gentleman war, Ich weiß nicht, was du
meinft,‘ fagte ich, ‚aber eines weiß ich: dab dir der
Teufel aus den Augen gudt, und ich will nichts mit
dir gemein haben; ein bißchen Spaß von Zeit zu
Zeit ift alles recht jchön und gut, das kann niemand
ſchaden, aber ich müßte mich jehr irren, Larry, wenn
dir Died wirflih Spaß mad.‘ — ‚Du irrft dich jehr!*
fagte er, ‚und id) rate dir, diejenigen, bie befier find
als du, nicht zu Fritifieren.‘ — ‚Befler find als ich?
Ad, du lieber Gott, Larry, in diefer ganzen Ge«
ſchichte ift nichts befjer, es iſt alles gleich niedrig und
ſchlecht, und das wird dir eined Tages Mar gemacht
werden!" — ‚Entſchuldige mich,‘ fagte er, indem er
feinen Kopf ſtolz zurüdwarf — ‚du bift nicht im
geringften wie ih!" — ‚Gott und alle Heiligen feien
gelobt, daß ich nicht wie du bin! Was ich Un—
rechtes gethan, habe ich von ganzem Kerzen bereut,‘
jagte ih, ‚und bu wirft eines Tages daran denten.‘
— ‚Und wenn die Zeit fommt, ehrwürdiger Vater
Terenz, werde ich zu Ihnen um Nat und Hilfe
fommen.‘ — Und mit den Worten ging er fort,
voller böjer Gedanken. Er war ein jchlecdhter Kerl;
ſchlecht und durch und durch verdorben, wie die Hölle
jelbſt. Es liegt nicht in meiner Natur, vor irgend
etwas Bange zu haben, aber — bei Gott! — mir
war in diefem Augenblid bange vor Larry. Er kam
in die Kaferne mit feiner Mühze auf einem Ohr und
warf fi auf fein Bett und flarrte nad) der Dede
hinauf. Bon Zeit zu Zeit hörte man ihn lachen,
ein Meines, höhniſches Lachen, das Hang, ala käme
e8 aus dem Abgrund der Hölle herauf, und ich wußte,
daß er über neue Niederträchtigkeiten nachdachte, und
dann war mir bange vor Larry. Das ijt Tange,
lange her, und es hat mir wirklich gut gethan —
auf einige Zeit wenigftens.
Ich glaube, ich habe Ihnen gejagt, dab man mid;
höflichſt und freundlichſt erfuchte, aus den ‚Tyronern‘*)
auszutreten, wegen einer Heinen Unannehmlichkeit,
die ich dort Hatte.“
„Ja, hatte es nicht etwas zu thun mit einem
Manne, dem Sie den Kopf aufgejpalten hatten?“
Zerenz hatte mir ſchon einmal die Details der Ge-
ſchichte erzäßlt.
„sa, und wahrhaftig — jedesmal, wenn id)
Bade bei einem Gefangenen habe, wundere ich mic
immer, daß ich nicht der Gefangene bin, Aber es
war alles im ehrlichen, offenen Zweitampf, und der
Mann, dem ich den Kopf zerichlug, war vernünftig
genug, nicht zu fterben. Denten Sie nur, was aus
der Armee geworden wäre, wenn ich ihn totgejchoffen
*) Name eines anglosindiihen Regiments,
613
hätte! Und fo hat man mid) erfucht, befonder® mein
Oberft, aus dem Regiment zu treten, Ich ging
auch, um nicht unhöflich zu fein; Larry ſagte mir,
daß es ihm jehr leid thäte, von mir zu ſcheiden. Ich
babe feine Ahnung davon, warum es ihm leid thun
jollte, und jo lam ich denn wieder zu dem alten
Regiment und ließ Larry) dort, um auf feinem eignen
Wege zum Teufel zu gehen. — Wer ift denn das,
der da eben aus dem Gehege geht?" Terenz' geübtes
Auge hatte einen Dann in weißer Uniform bemerft,
ber verfuchte, unbemerft um die Ede zu ſchleichen.
„Der Sergeant macht jeine Runde,” jagte einer
von den Umſtehenden.
„Dann habe ich das Kommando,“ ſagte Terenz,
„und ich verbitte mir, daß einer von euch den
KRafernenhof ohne Erlaubnis verläßt. Ich habe feine
Luft, heute um Mitternacht eine Patrouille nad) dem
Bazar hinunter zu ſchicken. Nelfon, ich weiß, Sie
find es, fommen Sie fofort hier auf die Veranda
zurück!“
Nelſon, der ſich ertappt ſah, kam räſonnierend
auf die Veranda zurück, und Terenz fuhr ſort:
„Nach dem habe ich lange Zeit nichts von Larry ge»
jehen. Wenn man feinen Abfchied nimmt, ift es
ebenjo, als wenn man geftorben wäre. Man ver—
gißt alle und wird von allen vergeffen. Und dann
heiratete ich meine Dinah — und fo fam es, daß id)
gar nicht mehr an die alten Zeiten dachte. Kurz
darauf wurde das Regiment an die Front kom—
mandiert, und es brad) mir beinahe das Herz, daß
ich meine junge Frau im Depot in Pindi laſſen mußte.
„Sie erinnern fih, Herr, was ich Ihnen von
dem Gemehel bei Silver’! Theatre erzählt habe.
Mein Regiment und die Tyroner waren zufammen,
und nad) dem Kampf wurde ich fommandiert, mid)
um die Toten zu befümmern. Ich jah mi um,
ob ich nicht jemand von den Tyronern fände, der
fi meiner erinnerte, Der zweite Mann, den ih
traf, war Larry, und ich wunderte mich, wie es fam,
daß ich ihn nicht im Gefecht bemerkt Hatte. Er war
noch immer ein ſchöner Dann, nur ein bißchen älter
geworden. ‚Larry‘, ſagte ih, ‚wie geht es dir!" —
‚Sie irren fi,‘ jagte er mit feinem vornehmen
Lächeln, ‚Larry ift jchon jeit drei Jahren tot. Es ift
„Frauenlieb“, mit dem Sie reden.‘ — Daran fonnte
ich merfen, dab er den alten Teufel noch in ſich
hatte; aber das Ende einer Schlacht ift gerade nicht
die befte Gelegenheit, ſich gegenfeitig Offenheiten zu
jagen, und fo fegten wir uns hin und ſchwatzten ein
bißchen.
„Ich habe gehört, du haft dich verheiratet,‘ fing
er an, ‚bift bu glüdlich mit deiner Tyrau ?
„Sch werde es fein, wenn ich nach dem Depot
zurüdtomme,' ſagte ih; ‚dies iſt eine Art Re—
connaifjfance-Honigmond.‘
614
„Ich bin aud) verheiratet,‘ fagte er, indem er
langſam und nachdenklich feine Pfeife paffte.
„Ich gratuliere dir von ganzem Herzen! Das
ift wirklich eine gute Nachricht, die beſte, die ich jeit
langer Zeit gehört habe.‘
„Meinſt du wirklich?‘ fagte er, und bann fing
er an, von der Campagne zu ſprechen. Das Blut
und der Schweiß von dem Kampfe bei Silver’s
Theatre waren noch nicht troden, und er fing ſchon
an, um neue Arbeit zu beten. Ich märe froh genug
gewejen, till zu liegen und dem Singen des Thee-
keſſels und dem Klappern der Rüchentöpfe zuzuhören.
„Als er aufftand, bemerkte ich, daß er beim Gehen
hin und her ſchwankte und fein Körper ganz ver-
dreht zu fein jchien.
„Du haſt mehr weg gefriegt als du glaubit,
Larry,‘ fagteich ; Iaß dich mal ordentlich unterfuchen.
Es fommt mir vor, als ob es ſchlimmer mit dir
ftände, als es jcheint,‘
„Er drehte fich herum und ftand gerade und ftramm,
wie ein Ladeſtock, vor mir und nannte mic) einen im»
pertinenten irländiſchen Affen, der fich lieber um ſich
ſelbſt befümmern follte. Wenn dies in der Kaſerne
ober irgendwo anders geweſen wäre, jo würde ich ihn
für feine Frechheit gehörig verhauen haben; aber vor
dem fyeinde und nad) einer ſolchen Affaire, wie das
Gefecht bei Silver’s Theatre, konnte man niemand
wegen jeiner ſchlechten Laune zur Rechenſchaft ziehen
— und id war jpäter jehr froh, daß ich nicht$ weiter
fagte. Während wir noch da ſaßen und ſchwahten,
fam unfer Kapitän — Groof hieß er — auf uns
zu. Er hatte fih mit dem Heinen Offizier von den
Zyronern unterhalten. ‚Wir find alle in Stüde
gehauen, und die Tyroner haben faft gar feine Unter«
offiziere mehr. Gehen Sie 'rüber, Mulvaney, -und
jehen Sie zu, was Sie dort thun fünnen.‘
„I that, wie mir befohlen war, und ich fand, daß
bom ganzen Negiment ein einziger Sergeant bienft=
fähig war, und dem wollten fie nicht gehorchen. Der
ganze Dienft fiel alfo auf meine Schultern, und es
war die höchfte Zeit, daß ih fam. Aber vor dem
Abend hatte ich ſchon Disciplin in die Kerle gebracht,
und es dauerte nicht lange, fo war ich es eigentlich, der
das Regiment kommandierte. Und das war Crools
Abficht geweien, und der feine Offizier wußte e8,
und ich auch, aber die Leute in der Gompagnie
wußten es nicht und — jehen Sie — das ijt gerade,
was ein alter Soldat wert ift und was fein Geld
in der Welt bezahlen fann: daß er den Dienft des
Dffizier kennt und ihn thut, ohne daß die Leute es
merlen.
„Bald darauf wurden die Tyroner und das alte
Regiment auf Rekognoscierungsdieuſt über die Grenz»
hügel geihidt, Wiffen Sie, es ift meine unmaß-
geblihe Meinung, dab es jehr häufig vorfommt, daß
Rudyard Kipling.
ein General in vielen Fällen nicht weiß, was er mit
feinen Leuten anfangen jol. Dann fhidt er fie
lints und rechts herum auf alle möglichen Exkurſionen.
Ich weiß aber, daß bei diefen Geſchichten mehr Leute
umlfonmen al& bei einer großen Schladt. Und was
hatten wir von dieſen verfluchten Scharmügeln?
Einer nad) dem andern unfrer beflen Leute murde
uns des Nachts von hinten weggeſchoſſen. Wir
waren alle der Sache berzlih müde, — bloß nicht
Frauenlieb‘. Für den war es das größte Per
gnügen! Ich Habe die Tyroner wohl zwanzigmal
zum Rüdzjug geführt, aber ‚Frauenlieb‘ konnte
ich nie fortfriegen. Der blieb zurüd, bis er beinahe
allein war; dann fland er auf, jo groß, wie er ge»
wachſen war, im jchlimmften euer. Oder des
Nachts feuerte er auf feine eigne Fauft, denn er hat
nie auch nur eine halbe Stunde gefchlafen. Mein
fommanbdierender Offizier — Gott fegne den lichen,
Heinen Kerl ! — konnte auch nicht das Geniale meiner
Taltik verftehen, und wenn wir mit dem alten Re
giment zufammenfamen, lief er herüber zu Groof
und beſchwerte fich über mich. Ich hörte ihn einmal
von meinem Zelte aus und mußte herzlich laden.
‚Er läuft fort wie ein Safe,‘ fagte der Steine. ‚Er
demoralifiert meine ganze Mannjchaft.‘
„Sie dummer Heiner Kerl!‘ fagte Eroof ladhend,
‚im Gegenteil, er lehrt Sie, was Sie zu thun
haben! Haben Sie ſchon mal einen nächtlichen
Ueberfall erlebt *
„Nein,‘ fagte der Kleine ganz traurig; ‚id
möchte, wir hätten einen erlebt.‘
„Haben Sie Verwundete gehabt?‘ fagte Crool.
„Mein, antwortete das Find, ‚das war gar nicht
möglich, die Kerle laufen zu jchnell hinter Mulvaney
ber!‘
„Na, was wollen Sie denn mehr? Terenz weiß,
was Sie noch nicht wiſſen: daß es eine Zeit für
alles giebt; Sie können fih auf ihm verlaflen, er
wird Sie nit irre führen. Aber ich gäbe einen
Monat meines Gehalte, wenn id) wüßte, was er
von Ihnen hält.‘
„Das beruhigte den Kleinen auf einen Monat.
Aber ‚Frauenlieb‘ hielt fich über alles auf, was ih
that, bejonder8 über meine Taltik.
„Herr Mulvaney,‘ fagte er eines Abends in jehr
verächtlicher Weiſe, ‚Sie find verdammt flint auf
den Beinen. Unter Gentlemen benennt man das
mit einem jehr häßlichen Namen.‘
„Unter Gemeinen nennt man es anders,‘ fagte
ich fehr ruhig und ernft. ‚Gehen Sie jegt in Ihr
Zelt — ich bin der Kommanbdierende hier Er
merfte wohl am Ton in meiner Stimme, dab id
feine Worte gerade nicht jehr freundlich aufnahm.
Als er von mir fortging, bemerkte ich wieder den
eigentümlichen Gang, der mir ſchon mehrere Dale
„Frauenlieb“.
aufgefallen war. Er ſchob langſam dahin, als ob
ihn jemand von hinten getreten hätte.
In derſelben Nacht machten die Afghanen eine Meine
Pandpartie. Das erfte, was ich davon bemerfte,
waren die Kugeln, die in meinem Zelte wie Hagel»
fürner berumflogen. ‚Bleibt ruhig Tiegen,‘ foms»
mandierte ich; ‚rührt euch nicht, Takt fie nur ihre
Munition verplempern!‘ — Ich hörte ganz deutlich,
wie einer meiner Leute aufgeflanden war, und fonnte
ebenjo beitimmt den Knall eines ‚Zini‘*) erkennen,
Ich hatte gemütlich und warm im Zelt gelegen und an
meine Dinah gedacht; ich kroch aber jetzt vorfichtig
heraus, um mid doch ein bißchen umzufehen, im
falle fie einen Sturm auf das Lager machten,
Ih lonnte das Feuer des ‚Tini‘ am äußerſten Ende
des Lagers erfennen. Beim Sternenlicht jah ich
‚Hrauenlieb‘. Er ſaß auf einem feinen Felſenblock
und hatte feinen Helm und Gürtel abgenommen.
Don Zeit zu Zeit ftieß er ohne jede DVeranlaflung
einen lauten Schrei aus. ‚Sie hätten die Diftanz
längft ausfinden müſſen,‘ hörte ich ihm zu ſich jelbft
jagen. ‚Vielleicht werden fie fie an meinem Feuer
erfennen.‘ Dann feuerte er mehrere Schüffe ab,
deren jeder wiederum eine Salve vom Feinde zurüd«
brachte, und ich hörte, wie ihre Kugeln gegen bie
Helfen rajlelten wie die Baumfröſche in einer heißen
Nat. ‚AH, das iſt beſſer,“ jagte ‚Frauenlieb‘,
‚D Herr! O Herr! Wie lange! Wie lange! Dann
zündete er ein Streichholz an und hielt e8 über feinen
Kopf. Verrückt!‘ dachte ih — ‚ganz und gar ver=
rüdt!® — Ih ging einen Schritt vorwärts; in dem»
jelben Augenblid fühlte ih, wie alle Knochen in
meinen Beinen prickelten. &8 war eine Kugel, Die
mich — Gott jei Dank! — nicht einmal berührte,
fondern an dem Felsblod, gegen den ich mich lehnte,
abprallte. Ich aber padte Frauenlieb beim Kragen
und ſchmiß ihn unter den großen Stein. ‚Du kannſt
bier deine ſchlechten Witze machen, ich aber habe feine
Luft, mich zu deinem Vergnügen totjchießen zu
laffen.‘ — ‚Du bift zu früh gelommen,‘ fagte er,
‚einen Augenblid zu früh. Noc eine Minute, und
fie fönnten mid) nicht verfehlt haben. Heilige
Mutter Gottes! Nun muß ich noch einmal von
vorne anfangen. Warum haft du mid nicht ge
währen fafjen? Er verbarg fein Gefiht in feinen
Händen. — ‚Sp, fagte ich und ſchüttelte ihn tüchtig,
‚und deshalb willft du nicht Ordre parieren® —
Terenz, jagte er, ‚ich habe nicht den Mut, mich jelbft
zu töten, ich lann es nicht mit eigner Hand thun,
und jchon jeit einem Monat Habe ich alles verjucht,
aber feine Kugel will mid, berühren, es ift gerade,
als wenn ich gefeit wäre, Es ift mein Schidjal,
+, Martinigewehr, in der englifhen Infanterie im Ge—
brauch.
‘ fünfzig Fuß von uns entfernt.
615
langfam und qualvoll zu fterben. O, ſchrie er wie
ein Frauenzimmer, ‚ich leide jet jchon die Dual eines
Verdammten!‘ — ‚Gott beichüke dich, Larry,‘ fagte
ich, als ich jein erbärmliches Geficht jah. ‚MWillft du
mir nicht jagen, was mit dir los ift? Wenn es
fein Mord ift, fann man dir am Ende noch helfen,‘
— ‚Mord jagte er mit einem jchredlichen Lachen,
‚Mord? Entfinnft du dich nicht, was ich die einmal
in der Sajerne jagte, daß ich zu dir fommen würde,
wenn ich deines Rates bebürfte? Die Zeit ift jet
gekommen, die Zeit ift da; jeit Monaten und Monaten
habe ich mic, dagegen gefträubt, aber es geht nicht
mehr. Terenz, der Schnaps hat feine Wirkung
mehr, ich kann mich nicht mehr bejaufen.‘ Da wußte
ih, daß er die Wahrheit gejprochen Hatte und daß
er wirklich Höllenqualen litt, denn wenn der Schnaps
nicht mehr wirkt, jo ift das ein Beweis, daß ein
Mann durch und durch vernichtet if. Aber, was
lonnte fo einer, wie ich bin, ihm jagen? — ‚Dia-
manten und Perlen,‘ fing er wieder an, ‚Diamanten
und Perlen Habe ih fortgefhmiffen, mit vollen
Händen fortgeihmiffen, und was ift mir nod in
dieſer Welt geblieben?‘ — Er lehnte feinen Kopf an
meine Schulter, und ic fonnte merfen, wie er am
ganzen Körper zitterte und bebte. Und ich hörte,
wie die blauen Bohnen fo recht Iuftig über uns hin«
pfiffen, und ich wunderte mid), daß mein Heiner
Offizier vernünftig genug war, feine Leute bei all
diefem Feuer ruhig zu halten. — ‚Solange ih
nicht anfing, über mein Leben nachzudenken,‘ fuhr
Frauenlieb‘ fort, ‚jolange ich nichts ſah, nichts fehen
wollte, war es erträglich; aber jetzt kann ich jehen,
was ich verloren habe. Jeht kann ich verfichen, was
ich jagte, daß es mir gefiel, allein meinen Weg zur
Hölle zu gehen. Aber fogar dann,‘ jagte er umd
zitterte mehr alß je — ‚jogar dann würde ih nicht
glüdlich gewejen fein. Wie fonnte ic) ihrem Schwure
glauben? ch, der ich meinen Eid fo ojt gebrochen
hatte, bloß um das Vergnügen zu haben, fie weinen
zu ſehen! Und damn find noch all die andern!
O, was ſoll id anfangen — was joll ich thun?...*
Er wiegte fi Hin und her, und ich glaube, er weinte
wie eines von den Frauenzimmern, von denen er
ſprach. Das meifte von dem, was er ſprach, war
mir unverſtändlich, aber ich konnte mir doc jo un«
gefähr flar machen, was ihn quälte: es war das
Gericht Gottes, das über ihn gefommen war, wie
ich ihm in der Tyroner Kaſerne gejagt hatte. Die
Kugeln kamen immer dichter, und ich fagte zu
ihm: ‚U, dente jet nicht an dieje Geichichten ; wir
lönnen jeden Augenblid einen Sturm auf das Lager
erwarten!" Ich hatte dies faum gejagt, als ich einen
Afghanen bemerkte, der auf uns zufroch mit jeinem
Meſſer zwilhen den Zähnen. Er war höchſtens
Frauenlieb‘ fprang
616 Rudyardb Fipling.
auf und ftieß einen lauten Schrei aus, und ber
Feind ſah ihn und ftürzte auf ihn los mit dem
Meffer. „Frauenlieb‘ blieb vollftändig gleichgültig,
aber der Afghane ftolperte und fiel lang bin, und ich
hörte das Klirren feines Meſſers auf den Steinen,
— Ich fagte dir ja,‘ ſagte, Frauenlieb‘, ich bin wie
Kain; was nüßt e8, den Kerl tot zu fchlagen? Er
ift am Ende ein beſſerer Menſch als ih.‘ — Ich
batte feine Luft, gerade in diefem Augenblid mit ihm
über die Moral der Afghanen zu flreiten, ih riß
Frauenliebs‘ Gewehr aus feinen Händen und zer—
ſchmelterte mit dem Kolben den Kopf des Afghanen.
‚Schnell, ſchuell! ind Lager zurüd!" rief ich ihm zu,
‚das ift wahrjcheinlich der Anfang eines Sturms!‘
— Bir blieben noch Tange Zeit unter Waffen, aber
es fam fein Sturm. Der Afghane muß allein ger
fommen fein, aus eigner, perjönlicher Niederträchtig-
feit. Bald darauf ging aud ‚Frauenlieb* in fein
Zelt, mit dem verfluchten ſchiefen Gang, den ich nie
verfiehen fonnte. Wahrbaftiger Gott, er that mir
leid; ich Fonnte auch nicht ſchlafen.
„Sie lönnen fid) wohl denken, daß wir nad) diejer
Nacht oft und viel miteinander ſprachen, und nach und
nad) fam es denn aud) alles heraus, wie ich vermutete,
Alle jeine Frauenzimmetgeſchichten, alles, was er ge=
fagt und gethan hatte — und er allein wußte, was es
war — waren ihm wieder durch ben Kopf gegangen,
und er konnte feinen Augenblit Ruhe finden. Es
war eine Art Säuferwahnfinn, an dem er litt, ohne
Schnaps getrunfen zu haben — ad Gott, was
jag’ ich denn? — er würde froh geweien jein, wenn es
bloß Delirium gewejen wäre. Aber e8 war ſchlimmer,
zehnmal jhlimmer als das, Al die Frauenzimmer,
mit denen er zu ihun gehabt hatte — und Gott
weiß, wie viel dad waren — famen ihm wieder ins
Gedächtnis, und er bereute fein Unrecht, wie ich es
noch nie von jemand gejehen hatte. Unter den
Dutzenden von Frauenzimmern, an bie er badhte,
war ganz beſonders eine, die jeine Seele mehr quälte
als alle andern. Und wie oft hat er mir gejagt, er
hätte jo glüdlich mit ihr jein können, er, der an fein
irdijches Glüd glaubte... ‚Diamanten und Perlen‘
nannte er fie und fagte, er hätte Hände voll davon
weggeſchmiſſen. Und dann fing er wieder von vorne
an; und jo ging e& herum und immer wieder herum,
wie ein blindes Pferd in einer Delmühle. Und je
mehr er über alles nachdachte, je elender fühlte er
fi und je mehr meinte er, — e3 war wirklich zum
Herzbrechen! Wie oft habe ich geſehen, dab er ohne
befonderen Grund fich tief büdte, und al& ich ihn
fragte, was das bedeuten ſolle, jagte er: alles Unrecht,
was er im Leben gethan hätte, alles Gute, was er
verloren hätte, fände vor ihm und quälte ihn wie
mit glühenden Zangen, Was er den andern gethan
hätte, bereute er aud), aber das Unrecht, das er diefer
einen Frau zugefügt habe, das fönnte er ſich nie
vergeben. Nie in meinem Leben habe ich einen
Mann gejehen, der ſich jo gequält hat wie diefer,
Ih Habe viel durchgemacht im Leben und viel ge»
litten, aber das ift ja alles Kinderſpiel im Vergleih
zu dem, was dieſer arme Kerl zu ertragen hatte.
Und was fonnte ich für ihn tun? Für ihn beten
vielleicht, aber ich fürdhte, das würde nicht genüht
haben, —
„Die Campagne ging nun zu Ende, die Re
gimenter wurden zufammen gerufen und wieder
nad ihren verſchiedenen Kantonnements gejandt.
„Frauenlieb‘ war in Verzweiflung, denn es gab nichts
mehr zu thun, und defto mehr Zeit hatte er zum
Nachdenken. Ich Habe den Mann beobachtet, wie er
fi) mit feinem Gewehr und feinem Säbel unter
halten bat, bloß um nicht zu denlen. Und mit
feinem Gang wurde e8 immer ſchlimmer und ſchlim ⸗
mer; feine Beine baumelten vom Rüdgrat herunter
wie die eines Hampelmannes. Aber ich konnte ihn
nie bewegen, zum Doltor zu gehen, und wenn id
ihm dazu riet, wurde er bitterbös umd ſchimpfte und
fluchte wie ein Verrüdter. Aber ich wuhte jehr wohl,
daß man ihn nicht mehr wie einen vernünftigen
Menſchen behandeln konnte, So lieh ich ihn räfon«
nieren, ſoviel er wollte. Eines Tages famen wir
beide von einem Spaziergange um das Lager zurüd,
als er plößlich ſtehen blieb und mit feinem rechten
Fuße drei oder viermal den Erbboden zu berühren
ſuchte. ‚Was ift denn 108% fragte ih. — Iſt das
der Erdboden? jagte er. Ich glaubte, er wäre
geradezu verrüdt geworben. In dem Augenblid fam
ber Doktor auf uns zu. ‚yranenlieb‘, der jet immer
tödlich blaß ausjah, wurde mit einem Male feuerrot,
und feine Beine baumelten mehr wie je hin und her,
‚Halt da!‘ fagte ber Doktor, ‚till geſtanden!“
jagte er zu ‚Frauenlieb‘, ‚Machen Sie die Augen
zu und halten Sie fi) nicht an Ihrem Kameraden
feſt!‘ — ‚8 ift alles vorbei mit mir,‘ jagte , Frauen⸗
lieb‘ mit einem herzbrechenden Lächeln, ‚ich werde
fallen, wenn ich meinen Kameraden loslafie; das
willen Sie am beiten, Herr Doktor.‘ — ‚Was?
fallen, wenn du die Augen zujchlieheft,‘ ſagte ic;
‚was meinft du denn?" — ‚Der Herr Doltor weiß,
was ich meine,‘ jagte er. Ich habe mich ſtramm
gehalten jolang es ging, aber bei Gott im Himmel,
es geht nicht mehr! Und ich bin froh, dab alles
vorbei ift. Ich werde fterben, langjam, langjam
fterben.‘ — Ich fonnte dem Doftor anjehen, dab
ihm der Mann jehr leid that; er fommandierte ihn
fofort ins Lazarett. Ich brachte ihn dorthin und war
im höchſten Grade erjtaunt. ‚iFrauenlieb‘ ftolperte
und ftrauchelte bei jedem Schritt. Er ruhte mit einer
Hand uuf meiner Schulter, und fein rechtes Bein
baumelte willenlos bin und ber, wie das eines lahmen
„Brauenlieb“.
Kamel. Ich konnte es nicht fallen, was denn
eigentlich mit ihm los war. Es war gerade, als
wenn des Doltors Worte das ganze Unheil ange
richtet hätten, al$ ob, Frauenlieb‘ bloß auf dieſe Worte
gewartet hätte, um ganz und gar zuſam menzufallen.
„Als wir ind Lazarett famen, jagte er etwas zum
Doltor , was ich nicht verftehen konnte. — ‚Heiliger
Antonio !* jagte der Doktor, ‚wer find Sie denn und
was fällt Ihnen ein! Ihre Krankheit beim Namen
zu nennen, das iſt gegen alles Reglement!‘ — ‚Ich
werde nicht ange mehr Soldat fein, Herr Doktor,‘
jagte Frauenlieb‘ in feiner vornehmen Manier. Der
Doltor flugte. ‚Behandeln Sie mich des Studiums
wegen, Herr Doktor — und — lebe wohl, Terenz!
63 ift ein toter Mann, der zu die fpricht, und bu
mußt von Zeit zu Zeit fommen und ein bißchen bei
mir ſitzen um meines Seelenjriedens willen,‘
„Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, den Haupt«
mann zu bitten, mic) zu dem alten Regiment zurüd»
zuididen, denn es gefiel mir hier bei den Tyronern ganz
und gar nicht; aber jet entfchloß ich mich, noch zu
bleiben, und beſuchte, Frauenlieb‘ im Lazaret, jo oft
ich lonnte. Wie ich Ihnen ſchon jagte, der Mann
brach mit einem Male ganz und gar zujammen. Ich
weih nicht, wie lange er dieſe fürchterlichen Anjtrengune
gen gemacht hatte, jeinen eigentlichen Zuftand jo zu
verheimlichen, aber wie er faum zwei Tage im Lazarett
war, war er faft nicht mehr zu erfennen, Mit jeinen
Armen und Händen ging es jeht ebenjo, wie mit
feinen Beinen, fie wadelten hin und ber, als wenn
er nicht die geringfte Gewalt über fie hätte. Er
fonnte ſchon jeinen Rod nicht mehr zuknöpfen. —
‚Es wird noch fange genug dauern,‘ jagte er, ‚ebe
ih fterbe, denn der Lohn der Sünde ift wie die
Zinien bei der Regimentsfparkaffe: ſicher! Aber
es dauert verflucht lange, ehe fie bezahlt werden.‘ —
„Eines Tages jagte der Doktor zu mir im geheimen :
‚Hat denn Ihr Freund Tighe irgend etwas auf dem
Herzen? Es ſcheint mir, als ob er von irgend etwas
im Innern gequält würde.‘ — ‚Nicht dab ich wüßte,
Herr Doktor,“ fagte ich ganz unjchuldig. — ‚Sie
nennen ihn „Frauenlieb“ bei den Tyronern, nicht
wahr? Es war fehr dumm von mir, zu fragen,
Bleiben Sie bei dem armen Kerl, jo viel wie Sie
fönnen! Sie thun ihm wirklich Gutes.‘ — ‚Aber
was fehlt ihm denn eigentlich, Herr Doftor?* fragte
id. — ‚Man nennt es Locomotiv attaxus*,*)
jagte er, ‚weil es uns wie eine Lolomotive attadiert,‘
jagte er. ‚Und es fommt davon,‘ jagte er und gudte
mid mit jeinem jeltiamen Lächeln an — ‚wenn man
„Frauenlieb* genannt wird. — ‚Ad, Sie jpaßen,
Herr Doktor — ‚Kein Spaß !' jagte er, ‚und wenn
) Mulvaney meint „Locomotor ataxy“, eine form von
Varalyſis der Rüdenmarkönerven.
Aus fremden Zungen. 1897, IL 1%
617
Sie jemals ein Gefühl in Ihren Füßen haben, als
ob Sie eine Filziohle in Ihren Stiefeln hätten, anftatt
vorjhriftsmäßiger Strümpfe, dann fommen Sie fo bald
wie möglih zu mir und ich will Ihnen zeigen, ob
es ein Spaß ift.‘ — Sie werden mir faum glauben,
Herr, aber ala ih den Doktor jo jprechen hörte
und ſah, mie dieſe Krankheit jo plößlic über
Frauenlieb‘ fam, habe ich meine Zehen den ganzen
Tag gegen einen Stein oder einen Baumſtamm ge—
ftoßen, bloß um zu fühlen, daß es noch weh that.
„Frauenlieb‘ hätte fängft mit den Verwundeten
zurüdgehen können, aber er bat jo rührend und io
dringend, man möchte ihn doc hier mit mir zurüdlafjen,
daß man dem Wunſche des fterbenden Mannes nach-
fam, Und jo lag er denn in feinem Bett Tag und Nacht,
und Gott allein weiß, was in feinem Herzen vor
ging. Er jchrumpfte zufammen wie unjre Fleiſch—
rationen in der heißen Sonne, und feine Hände und
Beine waren in fortwährender Bewegung. Er fonnte
fie eben nicht mehr ſtill halten.
„Die gejagt, die Campagne war jeht zu Ende, und
die Regimenter jollten jo jchnell wie möglich in ihre
Kantonnements zurüdgehen. Aber es war grade
wie ed immer ift, als ob nod nie ein Regiment
vorher in Bewegung geieft worden wäre, Wir haben
hier ungefähr neun Monate im Jahre Krieg, jeit
Gott weiß wie vielen Jahren, Aber bier war wieder
diejelbe Konfufion, als wenn alles zum erjtenmal
pajfierte. ‚Heilige Mutter Gottes!‘ jagte das Kom—
miffariat und die Eifenbahndireftion und die Inten—
dantur, — ‚was follen wir jet anfangen: — Wir
— id meine die Tyroner und das alte Regiment —
hatten den Befehl erhalten, zu marjchieren. Und
weiter hörten wir nichts. Wir gingen allo aufs
Geratewohl durch den Kyber Paß. Wir hatten unjre
Kranken mit uns, und id) glaube heute noch, daß
viele von ihnen in den Dhoolys*) auf dem Mariche
zu Tode gejchüttelt wurden. Aber daraus machten
fie ſich nichts, wenn fie nur nah Peſchawur famen,
tot oder lebendig. Ich marjchierte den ganzen Tag
neben ‚Frauenliebs‘ Seffel. ‚Ah, wenn ich nur da
oben geftorben wäre!‘ jeufzte er die ganze Zeit, und
dann verbarg er feinen Kopf wieder Binter dem Vor—
bang des Seſſels, als wenn ihm vor etwas bange
wäre,
„Dinahb war im Depot in Pindi, ih war
aber jehr vorfihtig, denn ih wußte aus Erfahrung,
daß das Schlimmfte in der Regel unerwartet fommt,
wenn man ſchon am Ende zu fein glaubt. Ich habe
geiehen, wie ein Artillerijt, der gemütlich auf feinem
Pferde ſaß und ſich ein Lied aus der Heimat fang,
mitten in feinem Liebe von feinem Pferde umter die
*) Indische Tragfefjel mit Vorhängen zum Schub gegen die
Sonne,
18
618
Kanonenräder geworfen wurde und, breitgequeticht,
wie ein Pfannfuchen wieder herausgejogen wurde.
Darum jah ic) mich vor — ich wollte mid) nicht über-
eilen, obgleid; mein Herz, Golt weiß es, in Pindi
war. ‚Zerenz‘, ſagte, Frauenlieb‘ eines Tages, ‚mad)
doch, daß du vorwärts fommit, ich weiß, wer in
Pindi auf dich wartet.‘ — ‚Ih habe Zeit genug,‘
jagte ih; ‚was auf mid wartet, läuft mir nicht
davon.‘ — Sie kennen doch die jcharfe Biegung,
die der Paß bei Peihawur macht? Die ganze
Stadt war und entgegengelommen. Sie hatten ſchon
mehrere Tage und Nächte im Freien zugebradt.
Jeder erwartete irgend einen, ben er liebte, Freunde,
Brüder, Söhne, Männer, Liebhaber. Und die
Mufitcorps Hatten fie auch mitgebradjt. Es war
frümorgens, als wir aus dem Paß herausfamen
und geradewegs in die Mitte der Wartenden hinein»
marſchierten. Heilige Mutter Gottes! Werde ich
je diefe Scene vergeffen? Es war noch nicht ganz
Tageslicht, und das erfte, was wir hörten, war ein
englijches Volkslied. Sie glaubten, wir wären bie
vier Gompagnien des Lincolnjhire-Regiments, Wir
mußten ihnen jufchreien, wer wir waren, und dann
jpielten fie das gute alte, iriſche Vollslied: ‚The
wearing of the Green‘, Ich zitterte am ganzen
Leibe, als ich das Med hörte. Und hinter ung fam,
was von den ſchottiſchen Regimentern übrig geblieben
war, mit vier Sadpfeifern, — die letzten, die noch
am Leben geblieben waren — und die bliefen, was
fie fonnten, und bewegten ihre Körper hin und her
wie Kaninchen. Und ein Regiment Eingeborener,
das feine Muſik hatte, ſchrie aus voller Kehle da—
zwiichen. Ich habe nie jo etwas gehört; und bie
Männer weinten wie finder und, bei Gott, ih kann
mich nicht darüber wundern. Was mid) aber am
meiften padte, war die Stapelle der Ulanen, die den
Feldzug nicht mitgemacht hatte und in glängender, neuer
Parade-Uniform mit den filbernen Keilelpaufen auf
ihre Kameraden wartete. Sie jpielten den Regiments-⸗
marſch, und, bei Gott, dieje armen Klepper, die ji
kaum auf den Beinen halten konnten, und die Leute,
die in den Sätteln hin und ber wadelten wie Ge—
ipenfter, verfuchten Takt zu halten — es war ein
graufiger Anblid. Wir thaten unſer Beſtes, ihnen
‚Hurra!‘ zujurufen, als fie vorbeigingen, aber es
wollte nicht recht gehen; es Hang wie ein heilerer,
melancholiſcher Huften, und id) weiß, es waren viele
unter uns, die es ebenjo fühlten wie id. Die
‚Nadhtihwärmer‘*) warteten auf ihre zweite Com—
pagnie, Als fie näher famen, jahen wir, daß das
Pierd des Oberſten an der Spibe des Bataillons
geführt wurde, aber mit Ieerem Sattel. Das mar
einer von den Offizieren, die von ihren Leuten ber—
*) Name eines berühmten Ravallerieregiments,
Nudyard Kipling.
göttert wurden. Er war bei Mi Musjid auf dem
Heimmege geftorben. Sie warteten, bis die übrigen
Mannihaften des Bataillons herauffamen, und
dann, ganz und gar gegen allen Befehl — den
wer wollte ſolche Muſik an diefem Tage haben? —
marjchierten fie nad) Peſchawur zurüd mit der Mufil
eines Trauermarſches. Sie marjchierten im lang:
famen Tempo in ihren ſchwarzen, traurigen Uni—
formen bei uns vorbei, als wollten fie uns das Her
aus dem Leibe reißen; wie Geipenfter fchlichen fie
dahin. Die anderen Mufifcorps jchrieen ihnen zu,
jie jollten was andres fpielen, aber fie achteten nidt
darauf, fie hatten die Leiche ihres alten Komman-
deurs mit fich, und die würden fie jo begleitet haben,
wenn fie zu einer Krönung marſchiert wären. Unjre
Drdre war, nad) Peſchawur zu marſchieren, und wir
überholten die ‚Nachtfchwärmer‘ — aber wir jagten
ihnen nicht, fie jollten andre Muſik jpielen. — Der
Trauermarich klang mir noch in den Obren, und id
fühlte es in mir, daß Dinah nicht weit von mir war. Und
auf einmal hörte ich einen lauten Schrei, und dann jah
ich ein Pferd und einen Pony mit Weibern darauf
wie bie wilde Jagd den Hügel herabjtürmen. Ich
wußte jofort, wer ed war, es war bie Frau dei
Oberſten des Tyroner Regiments, des alten Beder
Frau. Ihre grauen Haare waren aufgelöft und
flogen um ihr dides, rotes Geſicht, — und Dinah,
die ic) in Pindi glaubte, war au da. Die Ftau
bes Oberſten jtürmte auf unfre Kolonne los, wie
auf einen Feitungswall, und rannte den alten Beder
beinahe vom Pferde herunter und umklammerte ihn
mit ihren Armen und meinte und meinte. ‚Dein
Junge! Mein geliebter, alter Junge“ — Und
Dinah ftürmte auf mich los, und id) jließ einen
Schrei aus vor Freude, den ich jeit Monaten in
mir hatte, Werbe ich es je in meinem eben ver
geſſen? — Sie war von Pindi gelommen, und die
Frau Oberft hatte ihr den Pony geliehen ; fie hatten
die ganze Nacht Arm in Arm gelegen und gemeint,
Und ich marſchierte weiter an ihrer Seite, Hand in
Hand mit ihr, und fragte fünfzig Sachen auf einmal,
und fie beſchwor mich bei der heiligen Jungfrau, ihr
die Wahrheit zu jagen: ob ich nicht irgendwo, viel«
leicht ohne es zu willen, eine Kugel im Leibe habe?
— Da fiel mir mit einmal ‚Frauenlieb* ein. Er
beobachtete uns, und fein Geſicht jah aus, wie das
eines Teufels, der zu lange am hölliſchen Feuer ge»
braten ift. Ich wollte nicht, daß Dinah ihn ſehen
jollte, denn wenn das Herz einer Frau von Glüds
jeligkeit überftrömt, macht alles, beſonders etwas
Unangenehmes, einen tiefen Eindrud auf fie, den
fie vielleicht ihr ganzes Leben lang nicht vergißt. Ich
zog aljo die Gardine zu, und ‚rauenlieb‘ warf ſich
ins Bett zurüd und ftöhnte. Als wir in die Stadt
marfchierten, lief Dinah voraus nad der Kajerne.
„nrauenlieb“, 619
wo fie auf mich warten wollte. Ich fühlte mich fo
glücklich und fo froh an diefem Tage, daß ich mir
vornahm, ‚Frauenlieb‘ jelbft ins Lazarett zu bringen.
Es war am Ende das wenigfte, was id) für ihn
thun konnte. Ich konnte ihm wenigftens ben Staub
und die Hibe der Chauffee erjparen. Ich führte die
Träger auf eine ruhige Seitenitrafe, und wir gingen
friedfih dahin und unterhielten ung, jo gut es ging,
dur die Gardine Auf einmal rief er: ‚Halt!
Warte mal! Laß mich mal fehen! Um Himmels
willen, laß mich mal jehen"" ch Hatte den Kopf
ſo voll mit dem Gedanken, ihn aus dem Staub zu
bringen, und an mein Miederfehen mit Dinah, daß
ich gar nicht bemerkte, wa um mich herum vorging.
Ich jah jet erft eine Frau, die Hinter und herritt,
und nach dem, was id) von Dinah hören konnte, ala
wir abend& darüber ſprachen, muß dieje Frau einen
weiten Weg geritten fein. Dinah jagte mir, fie
hätte wie ein Raubvogel auf der linten Flanke ber
Kolonne gelauert. ch hielt die Träger an und zog
die Gardinen zulammen. Sie ritt bei uns vorbei
in langjamem Schritt, und ‚rrauenlieb‘ folgte ihr mit
den Augen, ald wenn er fie mit jeinen Bliden aus
dem Sattel reisen wollte. — ‚Folge ihr! folge ihr!‘
war alles, was er jagte; aber ich habe nie einen
Mann mit folder Stimme fprechen hören, nie in
meinem ganzen Leben, vorher oder ſpäter — und
nach dem, was ich hörte, und nad) dem Ausdrud in
feinen Augen, war ich ganz ficher, daß diefe Frau
‚Diamanten und Perlen‘ war. — Wir folgten ihr,
bis fie in ein Meines Haus, das didt am Edwards-
thor lag, eintrat. Auf der Veranda waren zwei
Frauenzimmer, bie in das Haus hineinliefen, als
fie uns fahen. Ich verfihere Sie, man brauchte
keine jehr jcharfen Augen, um zu erfennen, was für
ein Haus es war, Als wir an der Veranda an-
gelommen waren, bat uns ‚Trauenlieb‘ ‚zu halten,
und mit einer großen Anftrengung, als wenn ihm
dad Herz im Leibe brechen wollte, ſchwang er ji
aus dem Dhooly heraus. Der Schweiß lief in
Strömen über jein Geficht, aber er ftand ſtramm
und jchneidig da, ald wenn er auf der Parade wäre,
Bei Gott! Wenn ich jeht Madie hereinfommen
jäh’, würbe ich mich weniger wundern. Wo er bie
Kraft herfriegte, das weiß Gott allein — oder ber
Teufel! Aber er war eher ein toter Mann mit dem
Gefiht und dem Atem eines Toten, der nur von
feinem eijernen Willen aufrecht gehalten wurde, dem
die Arme und Beine einer Leiche gehordhten. Die
Frau, der wir gefolgt waren, blieb auf der Veranda
ſtehen; jie muß eine Schönheit geweſen jein, obgleich
jeßt ihre großen, dunkeln Augen tief eingefunfen
waren. Sie blidte ‚Frauenlieb‘ von oben bis unten
mit einem fchredlihen Ausdrud an. Dann jagte
fie, indem fie die Schleppe ihres Neitfleides mit
ihrem Fuße beifeite fließ: ‚Was wollen Sie benn
bier, Sie, ein verbeirateter Mann?" „Frauenlieb‘
ſchwieg; ein bißchen rötliher Schaum trat auf feine
Lippen, den er mit feiner Hand abwiſchte. Fein
Wort fagte er; aber er blidte fie an mit einem uns
ausfprechlicd; traurigen Ausdrud, den ich nie ver
geilen werde. — ‚Und doch,‘ jagte fie mit einem
wilden Lachen, — haben Sie Raines’ Frau laden
hören, als Madie ftarb? — zund doch, ſagte fie,
‚wer hat mehr Recht, bier zu jein, ald Sie? Sie,
der mir den Weg hierher gezeigt hat! Na‘, fagte
fie, ‚Sie allein haben mir den Weg gezeigt, erinnern
Sie fih noh? Cie waren es, der mir jagte: eine
Frau, die falfch zu einem Manne ift, fann e8 auch
zu mehreren fein, Das ift es, was ich gethan habe,
Sie haben mir oft gefagt, dab ich eine gelehrige
Schülerin fei, Ellis, — erinnerft du dich wohl, dab
ih mich im Angefiht Gottes bein Weib nennen
dürfte?‘ und fie lachte wieder. — ‚ Frauenlieb‘ ſtand
ftill in der Sonne, als wenn er veriteinert wäre; er
ächzte und ftöhnte, als wenn er den Geift aufgeben
wollte, und er verwandte feine Augen feinen Augen-
blid von ihrem Geſicht. — ‚Was willit du hier, der
mir meine Glüdfeligkeit geftohlen bat, ber meinen
Leib getötet und meine Seele zur Verdammnis ge-
bracht Hat — bloß aus Spaß, bloß um zu jehen,
wie es gemacht wird? Halt bu in deinem Leben
ein andres Meib gefunden, das mehr für dich geihan
hätte als ih? Würde ich nicht mit Freuden mein
Leben gegeben haben für dich, Ellis? Das weißt
du, Ellis — wenn je bein ſchlechtes Herz im Leben die
Wahrheit erfannt hat, dann weißt bu es.˖ — ‚Frauen⸗
lieb* ftand aufrecht und ftramm da, wie in Reih’ und
Glied; er hob feinen Kopf nit hoch und ſagte nur
faum veritändlih: ‚Ja, das weiß id.‘ Er ftand
immer noch jtill, wie fejtgenagelt, aber der Schweiß
ſtrömte ihm übers Geſicht unter jeinem Helm hervor.
Es machte ihm die größte Mühe, zu reden, feine
Lippen bewegten ſich krampfhaft hin und her, ohne
dab er einen Laut hervorbringen konnte. — ‚Was
willſt du hier? rief fie mun in einem lauteren Tone,
‚Es gab eine Zeit, wo bu mir viel fahneller ant«
worten fonnteftl, wo du viel geläufiger mit deinen
Worten warft. Du, der du mich mit deinen Worten
zur Hölle hinabgeredet haft, bift bu jetzt ſtumm? —
‚Darfic) hereinfommen?* war alles, was, Frauenlieb⸗
jagen konnte. — ‚Das Haus ift Tag und Nacht
offen,‘ jagte fie wieder mit ihrem häßlichen Lachen ;
er büdte ſich, als wenn er fürdhtete, einen Schlag zu
friegen — und — bei meiner Seele! — er ging bie
Stufen hinauf. Er, der ſchon einen ganzen Monat
lang wie eine lebende Leiche im Lazarett gelegen hatte,
— ‚Und nun? fagte fie und ftarrte ihn an — und
die rote Schminfe trat auf ihrem blafien Geſicht
hervor, wie das Zentrum auf einer Scheibe Er
—
4 .
— — — —
EEE er ec — ER
620
bob feine Augen langſam, laugjam empor und blidte
fie lange, lange an; dann brachte er mit großer
Mühe die folgenden Worte heraus: Ich fterbe, ach,
ich fierbe!‘ Er war jeit langer Zeit ſchon immer
feichenblai gewefen, jet wurde fein Geficht aſchgrau.
Seine Augen bewegten fih nicht, fondern waren
ftarr auf fie gerichtet, Ohne ein Wort zu reden,
dffnete fie ihre Arme weit und preßte ihre Hand auf
ihren Bufen und fagte — o, was für ein himm-
liſcher Ausdrud war in ihrer Stimme! —: ‚Bier,
bier! jtirb bier, das iſt der befte Plag für dich!
Frauenlieb‘ fiel vorwärts in die Arme des großen,
ftarfen Weibes; fie mußte ihn aufhalten, fonjt wäre
er lang hingefallen. — Ich wußte, da er in dieſem
Augenblid geftorben war — es war, ald wenn feine
Seele im Todesröcheln ans feinem Körper jchied.
Sie legte ihn auf den langen Stuhl und fagte zu
mir: ‚Herr Soldat, wollen Sie nicht einen Augenblid
warten? Geben Sie hinein und unterhalten Sie
fi einen Augenblid mit den Mädchen, die Sonne
ift hier zu heiß für ihn.‘ Ich wußte jehr wohl, daß
ihm feine Sonne mehr was anthun fonnte, aber idy
fonnte nicht jprechen, und id) ging fort, um ben
Doktor aufzufuhen. Der hatte während der ganzen
Zeit beim Frühftüd geſeſſen und war bejoffen mie
eine Sanone. ‚Sie haben fi verdammt jchnell be—
foffen,‘ fagte er zu mir. ‚Der Dann war fon eine
Leiche, als er auß dem Lazarett fam. Ich habe große
Luft, Sie ins Loch fteden zu laſſen.“ — ‚Herr Doktor,‘
fagte ich feierlich, ‚hier ift genug zu trinken, es fragt
fi) nur, wer zu viel genommen bat, Aber wollen
Sie nicht mit mir fommen und bie Leiche jehen "*
— ,‚&3 ift eine Schande,‘ fagte er, ‚dab man von
mir erwartet, dab ih in ein foldes Haus gehe.
Sagen Sie mal, Mulvaney, ift es ein bübiches
Frauenzimmer?* und mit diefen Worten marſchierte
er im Schnellichritt fort. Als ich näher fam, fonnte
ih jehen, daß die beiden noch auf ber Veranda
waren, wo ich fie gelafien, und das Krächzen der
Raben, die um fie berumflogen, jagte mir, was bor-
gefallen war. Ihr Kopf war auf feine Schulter ges
fallen, und ihr langes ſchwarzes Haar fiel über feinen
Nod. Dies ift das erfte- und daß legtemalin meinem
Leben, daß ich gejehen habe, daß eine Frau Gebraud)
von der Piftole gemacht hat. In der Regel ift ihnen
Rudyard Kipling — „Frauenlieb“.
vor dem Schub bange. Aber ‚Diamanten und
Perlen‘ war nicht bange, nein, nicht bange, Der
Doltor berührte ihre Hand, und das ſchien ihn
nüchtern zu machen. Er jtand lange vor ihr mit
beiden Händen in den Taſchen; endlich fagte er:
‚Dies iſt ein doppelter Todesfall aus natürlichen
Urſachen, — verjtehen Sie wohl, Mulvaney? Und
wie die Sachen jet ftehen, wird das Regiment ganz
zufrieden fein, ein Grab weniger graben zu müfjen.
Verftehen Sie mid, Mulvaney? Dieje beiden jollen
auf meine often auf dem Kixcchhof begraben werden ;
und möge der Allmäcdhtige dafür forgen, daß mir
ein Gleiches gefchehe, wenn meine Zeit fommt.
Gehen Sie nah Haus zu Ihrer Frau, gehen Sie
und amüfieren Sie ſich, ich werde für alles bier
jorgen.‘ — Er war noch tief in Gedanken verloren,
ala ich fortging.
„Die beiden wurden auf dem Kirchhof nad) dem
engliihen Ritus begraben. Der Doltor, ja, der
Doltor, der brannte in bemfelben Sommer mit
Major Dan Dyces Frau durch, aber er hat
alles, was das Begräbnis anbetraf, beitens bejorgt.
Was eigentlih mit ‚Diamanten und Perlen‘ los
gewefen ift, das habe ich nie erfahren, und fein
andrer hier weiß mehr davon als ich. Ich habe es
Ihnen jo erzählt, wie es mir eingefallen ift. Und
deshalb jage ih, daß Madie, der tot ift und in der
Hölle ſchwitzt, am beiten daran ift. Es fommt vor,
mein Herr, da es bejier ift für einen Mann, zu
fterben, als zu leben, und folglich millionenmal befjer
für eine Frau.“ ö
„Kommt, Kinder,“ fagte Ortheris, „wir müflen
uns fort machen.“
Die Zeugen und bie Wache ftellten fich in Reih'
und Glied in dem diden, weißen Staub des bren-
nenden Zwwielichtes und marſchierten ab.
Unten bei der Kirche fonnte ich Ortheris noch
bören, mit der ſchwarzen Bibellüge auf feinen Lippen,
wie er mit wunderbar feinem Geſchmack jang:
„Hd, bitter bereut, wer der Weiten Rat ſcheut
Und vom Alter ſich nicht läßt beraten,
Ad, zu hoch nicht hinaus, es gebt übel aus!
So ſprach die Dirn’ zum Soldaten,
Soldaten, Soldaten!
So ſprach die Dirn’ zum Soldaten!“
— Lofe Bläfter 8*—
Bater geht auf die Jagd.
Bon
Kt. Murai.
Aus dem Ungarifhen überfeßt von W. Rudow.
Bater wurde immer dider, und das Atmen wurde
ihm immer ſchwerer. Er jchnob fo ſehr, daß die
Mutter nach dem Arzte jhidte; und der kam auch
alsbald. Man nötigte ihn, in dem bequemen Arm-
fuhle Plaß zu nehmen, und bot ihm eine Zigarre
an. AS er fie angezündet und den Sofabezug mit
funftverftändigen Fingern unterfucht hatte, erzählte
er allerlei Gejchichtchen über die Belannten, zur
großen Freude der Mutter, welche für die Angelegen-
beiten andrer Leute das lebhafteſte Intereſſe heat.
Faſt hatte er feinen Glimmftengel ſchon zu Ende
geraucht und wollte eben aufbrechen, da fiel ihm ein,
dag man ihm gerufen und daß aljo jemand im
Haufe frank jein könne. Er legte daher feinen Hut
wieder auf den Tiſch und fragte: „Wer ift denn
frant?*
Darauf berichtete ihm die Mutter, dem Vater
werde das Atmen ſchwer, und das made ihr Sorgen.
Bater trat in dem Augenblid ein und ſchnaufte wie
gemöhnlih. Als er den Arzt erblidte, fam er ſo—
gleich) auf fein Uebel zu ſprechen und erflärte genau
alle Begleitericheinungen. Wir glaubten, der Ontel
Doltor würde feine Zunge unterfuchen, ihm den
Puls fühlen und in der Herzgegend horchen, wie der
andre Onlel Doktor früher gethan, der noch nicht
Univerfitätsprofefjior war und feinen jo jchönen
goldgelben Bart hatte. Aber wir täufchten und. Der
Onkel Doktor mit dem goldgelben Barte riß Wite,
belachte fie behaglich und anerfennend, und bemerkte
erft beim Fortgehen nebenbei, der Vater würde jehr
gut thun, wenn er auf die Jagd ginge. Bejonders
da, wo das Land nicht allzu eben ift, und wo man
auch etwas jteigen fann.
Der hingeworjene Nat des Onkel Doltors —
der mich feineswegs befriedigte — gewann im übrigen
jedermanns Beifall. Die Mutter erflärte kurz und
bündig, Vater werde auf die Jagd gehen, worauf
auch Vater beftätigte: Gewiß, er werde auf die Jagd
gehen. Dieje Ausſprüche erregten allgemeines Ent«
züden. Mutter freute fi im voraus darauf, daß
Bater einen Bären ſchießen und fie defjen Fell auf
das Sofa breiten werde. Ich freute mich auf die
Fajanfedern, und mein Meines Brüderchen war ganz
weg vor Glück in dem Gedanken, daß Vater ihm
aud ein Eihhorn und eine Eljter bringen würde.
Das Gefinde freute ſich ebenfalld, und der Diener
bemerkte vergnügt, Vater werde fünftig oft ab»
wejend jein.
Da aber das Haus uns gehörte, und der Haus-
———— — — — — — — — — — — — — — — — —
—— — — — — — — — —
meiſter ebenfalls erfuhr, Vater gehe auf die Jagd,
wußte nunmehr das ganze Haus, Vater gehe auf
die Jagd.
Aber das ging nicht fo leicht. Zunächſt mußte
er ich nad; einem Jagdgrunde umſehen. Er be=
auftragte mehrere Leute damit und ſetzte es auch in
die Zeitungen. Nach langem Hin und Her gelang
es dem Vater endlih, einen jolden Grund zu
pachten, und er war damit jehr zufrieden, denn es
gab dort aud Berge; außerdem führte die Bahn
dahin. Der Verpächter behauptete, es gebe dort viel
Wild, auch gehe das der Nachbargebiete dorthin zu
Beſuch, befonderd Sonntag nachmittags, wenn die
Herren aus der Hauptjtadt zu jagen pflegen.
ALS Vater feinen Jagdgrund hatte, jah er fi
nad) den übrigen Erforderniffen um, Vom Schneider
ließ er fich drei Jagdanzüge machen und faufte apfel«
finengelbe Gamaſchen mit dreifohligen, auf engliſche
Art gefütterten Schnürftiefeln. Und ald er den
Jagdanzug zur Probe anlegte und ſich uns zeigte,
waren wir ganz weg. Hinten auf feinem Lodenhute
ſchwankten allerlei federn, die dem Hute ein fo
friegerijches Ausſehen gaben, daß alles Wild bei
feinem Anblide die Geiftesgegenwart verlieren mußte.
Der graue Rod war kurz und mit teuerm Pelze ge-
füttert. Ueber den Hüften hielt ihn ein Gurt zu—
jammen, und in dem Gurte ftafen Dolche, Hirich-
fänger und Bärenmefjer, infolgedefjen mein Brüderchen
erklärte, Vater jehe aus wie ein Räuber. Die Tud)-
hoſen reichten faft nur zum nie, von da begann
der dide Strumpf, und dann famen die apfelfinen«
farbenen Gamaſchen.
Bater machte in diefem Anzuge einen fehr friege-
riihen Eindrud und zog das Geſicht dazu in finftere
Halten. Das rechte Bein firaff, das linfe nad)
vorn ausjchreitend, fo ſtand Vater da, während er
den Griff des Nidfängers umklammerte. In diefer
Stellung ließ er fi nod) vor den Jagden auf-
nehmen. Auf dem Bilde freilich hat er in der an«
dern Hand fchon die Waffe, zu feinen Füßen liegt
ein ausgeſtopfter Steinadler, auf den Vater fieges«
freudig niederblidt.
Nah dem Anzuge kaufte er Waffen ein. Der
Händler, ein Belannter von ihm, gab ihm die teuer«
ften amerifanijchen Hinterlader und Drebgemwehre,
mit der Bemerkung, daß ähnliche Waffen nur der
Prinz von Wales beſihe. Auch Faufte er eine Un—
menge Sciebedarf, eine geftidte Jagdtaſche und
einen Sibflod. Er ſchaffte ſich Jagdflaſche, Jagd«
peitihe, Jagdmeſſer, eifenbejchlagenen Bergſtoch,
Jagdhandſchuhe für den Winter, Unterzeug von Jäger
und hunderterlei andre Sachen an, deren ein heuti«
ger Weidmann nad europäijcher Mode bedarf.
Der Diener, der ihn auf der Jagdreije begleitete,
622
erhielt ebenfall3 einen eignen Jagdanzug und bes
fondere Bezahlung, denn e& war doch nicht zu ver
langen, daß er das zu erlegende Wild umfonft jam-
meln und ſich umſonſt anftrengen folle.
Als Vater zum erftenmal auf die Jagd ging,
gab es ein Feft im Haufe. Die Bewohner kamen
vom erften bis zum legten und ließen ihn hochleben.
Vater war aber auch wirklich eine Geftalt zum
Malen. Nur daß er gewaltig ſchnaufte und fich
ſchon daheim die Stirn wiſchte. Nachdem jeder ihn
angeftaunt, jeder ihm begrüßt und jeder ihm Glüd
gewünjcht, fuhr die Drofchle vor. Als er dann zum
Bahnhof fuhr, war fein Menſch auf der Straße,
der ihm nicht nachgeblidt hätte. Im Zuge — er—
zählte er — ſchaute ihn alles mit bewunderungsvoller
Furcht an, und die Mitreifenden wagten fi nur
flüfternd zu unterhalten.
Ich habe: vergeffen, zu bemerfen, dab, al& bie
Hausbewohner auf dem Hofe Vater in feinem vollen
Jagdanzuge bewunderten, aus feiner Thür der lahme
Schuſter heraushumpelte, der nebft Frau und Kin—
dern im Erdgeihoh ein enges Loch bewohnte. Er
trug ärmliches, abgetragenes Zeug und hatte einen
einläufigen, altmodiſchen, rofibededten Vorderlader
auf der Schulter hängen, an der Seite einen alten
Futterſack. Vater jchüttete fi aus vor Laden, ala
er den lahmen Schuſter mit feinem einläufigen
Vorderlader ebenfalls auf die Jagd gehen ſah, ebenjo
alle andern, um was fi) jedoch der auf die Jagd
gehende lahme Schufter nicht ſonderlich kümmerte.
Er ging jeinen eignen Weg, allein und zu Fuß, im
Gegenjak zu Vater, den der Diener begleitete, und
auf den der Wagen wartete,
Der arme Papa hatte fein Glüd. Er jagte,
alles habe fich gegen ihn verjhmworen. Kam das
Wild ihm nahe, jo verjagte das Gewehr; ging es
aber los, jo ging das Wild eben aud) los. Hätte
es nicht Vater jelbft gejagt, ich würde nie geglaubt
haben, wie gewißigt das Wild in der Umgebung der
Hauptftadt ijt. Aber joviel ift gewiß, und das be—
merkte aud) die Mutter, daß Vater ſich tüchtig aus—
lief, und das war jeiner Gejundheit förderlih. Ich
glaubte e3 zwar nicht, demn wenn Vater von ber
Jagd heimlam, ſchnaufte er noch ftärker als ſonſt.
Er konnte ji) faum noch fortichleppen, aud) die
Seite jehmerzte ihn, denn als er einem Hafen nad
lief, war er über einen Baumftumpf geftolpert und
hatte ſich arg geſtoßen.
So viel aber wußte er von der Jagd zu erzählen,
dab wir faum mußten, wohin vor Entzüden. Er
berichtete, er habe auf einen Hafen geſchoſſen, und
dieſer ſei fortgelaufen. Natürlich dachte er, er habe
ihm micht getroffen, dod hatte er ihn wirklich ge»
troffen, was er erft gewahrte, al& der Haſe urplößlich
ih in die Seite fahte.
Unfre Fröhlichkeit aber nahm ein jähes Ende.
Die Mutter war die Urſache, denn zum Fenſter
binausblidend, rief fie auf einmal: „Es giebt feine
Gerechtigkeit auf Erden!” Sie jah den lahmen
Schuſter nämlich mit jeinem einkäufigen Vorderlader
oje Blätter.
beimhumpeln. Sein Futterfad war voller Hafen und
Rebhühner. Das Blut tropfie noch von dem armen,
niedergeichoflenen Wilde.
„Nein, keine Gerechtigkeit!” wiederholte Mutter,
fih an mich wendend. „Vater hat neunhundert
blanfe Gulden ausgegeben, und jeder muß zugefteben,
daß er ein Jäger zum Malen ifl. Er hat einen
YJagdgrund, vorzüglihe Waffen und ſchießt nichts,
obgleih er mit der Droſchle und fogar mit der
Bahn fährt. Und diefer Iumpige, lahme Menid,
den nur anzujehen ein Jammer ift, und der mit
feinem Trödlergewehr zu Fuß hinausgeht, bringt die
Beute futterfadweije heim!” *
Vater gab der Mutter recht, und auch wir ftellten
und auf ihren Standpunft. Es giebt wahrhaftig
feine Gerechtigfeit mehr auf Erden, und die Un—
geredhtigkeiten find nicht mehr zu ertragen! Und
wer daran zweifelt, der fomme Sonntag nachmittag
zu uns und jehe Vater jowie ben lahmen Schuiter.
Er wird jehen, dab Vater recht gut auf die Löwen-
jagd geben könnte, der Schufter dagegen fich faum
für ein Schneiderlein ausgeben lann. Und trof
alledem jchieht der Water nie etwas, während der
Scufter feine Beute faum beimfchleppen kann,
Mutter wollte dem Schufter ſchon fündigen, weil
er nad) ihrer Anficht Vater lächerlich made, Aber
Vater erlaubt e8 nit. O, Vater erlaubt das nicht,
denn er hat ein wahres Goldherz. Er verzeiht alles
und könnte aud feinem Todfeinde Gutes thun.
Nicht genug, daß er ihm nicht fündigt, er fauft ihm
auch die Hafen und Hühner ab. Und nicht nur,
daß er fie kauft, jondern er verjpeijt fie auch mit
Wohlgefallen,
Dann erzählt er uns feine Jagderlebnifje, die
wir mit offenem Munde anhören. Dann jchweigt
er plößlid und ftarrt in Gedanken auf das große
Lichtbild, das ihn im Jagdanzuge vorftellt, zu feinen
Füßen der erlegte Steinabler. Und auch wir bliden
auf das Bild. Und wenn wir darauf bliden und
uns daran erfreuen, wandelt uns ein gewiſſes Be—
dauern für den armen, lahmen Schufter an, der
ewig in jeinem abgeichabten Zeuge bleiben und nie=
mals ein jo malerijcher, ein jo jchmuder Jägers-
mann jein wird wie Vater, der übrigens ſchon leichter
atmet und nur dann noch jchnauft, wenn er von der
Jagd heimfehrt.
Frankreich und die Litteratur des Auslandes.
Ueber die Wertihäßung, welche man in neuerer Zeit
in frankreich der Geijteskultur des Auslandes ent«
gegenbringt, jhreibt der befannte franzöfiiche Roman
cier Marcel Prevoft im „Journal“:
„Eine italienische Künftlerin *) giebt im ‚Theatre
de la Renaissance‘ Vorftellungen in ihrer Mutter
ſprache, und ganz Paris gerät in Aufregung ; die
ganze Aufmerkjamteit des Publifums und der Blätter
fonzentriert ji im Augenblid auf dieſes Ereignis.
Bor kurzem ſprach alles von Spanien; zwei Bühnen
projeftierten die Aufführung moderner fpanifcher
* Eleonora Tufe,
2
R-
2
Loſe Blätter. 623
Stüde, und Camille Vergniol gab ihnen den Nat,
das Majjiihe ſpaniſche Drama nicht zu vergejien.
In der Akademie wird Herr Hörelle für eine Ueber
fegung von D’Annunzios ‚Vergini delle Rocce‘ mit
dem Preife gekrönt; Subermann und Hauptmann
find in Frankreich ebenjo berühmt wie in Deutſch-
land. Die ruſſiſche Litteratur, die una bis 1885
als Stern erfter Größe galt, ift bei uns nur des
wegen in eine leichte Ungnade gefallen, weil fie that«
fächlich in Rußland ſelbſt an Geltung verloren hat.
In Franfreih hat Oslar Wilde, kaum aus dem Ge»
fängnis entlaffen, eine Gemeinde um ſich verfammelt.
Was die Dänen und Standinavier betrifft, jo find
fie bei uns die Könige des Tages; und das Jahr«
hundert wird nicht zu Ende gehen, ohne daß Paris
fih an ber litterariſchen Blüte Finnlands begeiftert.
„Diejen fosmopolitifchen litterariſchen Geſchmachk
brauchen wir nicht zu beffagen. Der Proteltionis-
mus ift vor allem auf dem Gebiete der Kunſt zu
verwwerfen, und — nod mehr — er ijt dort läder-
lich. Die Vorftellung, daß eine einzige Nation, die
\ eigue, genügen fönne, um dem Bildungsdrang ber
Welt Nahrung zu geben, ift ein Zeichen von großer
Kurzfichtigkeit. Vor fünfzig Jahren konnte die fran«
aöfiiche Nation den andern Völkern voranschreiten, weil
fie die einheitlichfte und zugleich diegebildetfte war, Heute
liegt die Sache anders, Durch die gewaltigen Nölfer-
gruppen, welche und umgeben, find wir an Zahl und
an Landgebiet ein Meines Volk geworden. Es nützt
nichts, fich dagegen zu fträuben: es ift jo und es ift
unabänderlih. Es fteht nicht in unfrer Macht, ebenfo
zahlreich) zu werden, wie die Anglo-Saronen, die
Slaven, die Germanen. Es fleht nicht im unfrer
Macht, zu verhindern, daß die Gedanken ber Anglo«
Saronen, der Slaven, der Germanen unter uns ein—
dringen und ihren Einfluß ausüben. Alſo fort mit
dem Proteftionisnnus auf dem Gebiet der Litteratur
und der unft!... Freudig begrüßen jollten wir dieſes
Aufblühen der fremden Geiftesfultur in Frankreich:
die Pilteraturgeichichte unferd Landes zeigt, daß
folde Bewegungen fait immer eine Erneuerung
unſers nationalen Geiftesfebens zur Folge hatten.
„Dafür follte man aber aud im Auslande end«
(id die Behauptung fallen laſſen, die feit einem
Halben Jahrhundert in den europäijchen und ameri«
laniſchen Blättern ftändig wiederfehrt: day Fyranl«
reich für die Geiftesfultur des Auslandes fein Ver—
fändnis habe. Unter unfern Nachbarvöllern ift nad)
meiner Anficht das deutſche das einzige, das es in
Bezug auf Intereſſe für die im Auslande entftande»
nen Geiftesfhöpfungen mit ung aufnehmen könnte,
Und außerdem hat biejes Intereſſe in Deutſchland
eine von dem unfrigen ſehr verfchiedene Form. Auf
dem Gebiete der Litteratur und Kunſt ift Deutſch-
land, wie auf dem der Wiſſenſchaft, immer das ge«
Iehrte Deutfchland, Es verfährt mit Vorliebe wijien-
ſchaftlich. Es ſammelt feine Beobachtungen, handhabt
die Analyſe und die Syntheſe und arbeitet bewun—⸗
dernöwerte Enchflopädien aus, Um welde Gegen«
Hände ans dem Neid) der Künſte es ſich auch handeln
mag — es findet ſich ftets über dem Rhein drüben
ein Burdharbt, um jeinen „Gicerone“ darüber zu
ſchreiben, einen mit Thatſachen gejpidten Katalog,
voll fnapper und wie Lehrſätze gefaßter Urteile, aber
ohne jeden fünftlerijchen Reiz. Ganz anders ift bie
Art, mit der man in Frankreich der fremden Geiſtes—
kultur gegenübertritt. Dort findet fie begeifterte
Freunde oder erbitterte Gegner. Eine gut nationale,
gut Franzöfiiche Kritik beſchäftigt ſich damit, die flüch«
tigften Nuancen des Gebanfenganges aufjujpüren,
fie ift mehr beftrebt, diefe Nuancen zu befinieren,
als den Leſer unter einer Lawine von Thatſachen
und Ziteln zu begraben. Eine jolde Färbung
mildert die Härte der Urteile; mit dem ‚Que
sais-je?' Montaignes als unfihtbarem Motto ent-
ſchuldigt man von vornherein materielle Jrrlümer
und die eine oder andre Unwiſſenheit, während jie der
deutjche Kritifer hervorhebt, um feine Ueberlegenheit
darzuthun. Kurz, man kennt in Deutichland einen
ausländiſchen Schriftfteller, man fennt ihn durch und
dur, man könnte eine Prüfung über feine Werte
beftehen, aber mir ſcheint, daß man ihn in Frankreich
mehr liebt oder habt, ihn tiefer auf die Seele wirken
läßt; er übt dort, alles in allem, einen tieferen
Einfluß.
„Ein andrer Vorwurf, welhem man von Zeit zu
Zeit jogar in der franzöſiſchen Preſſe begegnet, richtet
fih gegen das Fehlen oder die ſchlechte Beſchaffen—
beit der franzöfifchen Weberjegungen ausländiſcher
Schriftſteller. Nichts jcheint mir unberedhtigter zu
fein. In Wirklichkeit veröffentlichen wenige Länder
fo zahlreiche und überdies jo wohlgelungene Ueber—
jegungen ausländijcher Romane und Novellen, wie
Frankreich. Große Tagesblälter machen fih das
zur fpeziellen Aufgabe. Zu behaupten, daß die
Wahl der übertragenen Werke immer durchaus glüd-
fi ift, wäre allerdings unverfländig; die Initia—
tive ift in dieſen Fällen fait immer Sade bes
Ueberſehers, und dieſer hat manchmal einen etwas
fonderbaren Geſchmack. Tafür muß man jedoch
andrerjeits den Beftrebungen der großen Zeitjchriften,
wie der ‚Revue de Paris‘, Anertennung zollen, die
in Wahrheit muftergültige Ueberſetzungen, namentlich)
von Sudermann, Fogazzaro und Gabriel D’Unnunzio,
veröffentticht haben. Welcher franzöſiſche Roman
ichriftfteller hätte beim Leſen derfelben nicht gewünſcht,
dem Auslande in gleid) vorzüglicher Nebertragung vor-
geführt zu werden!
„Frankreich ift recht eigentlich das Land der guten
fitterarifchen Weberfehungen. Es war dies ſchon zur
Zeit Perrot d'Ablancourts; und diefe Tradition hat
ſich bis zur Zeit Leconte de Lisles, bis zur unfrigen
forterhalten. Diefe Spezialität, in künſtleriſchem
Beifte zu überjegen, müſſen wir uns in der gegen-
wärtigen Blütezeit der ausländiſchen Geiftesbildung
zu erhalten ſuchen. Lafjen wir den Nachbarländern
die eilfertigen Bearbeitungen Titterarifcher Werte,
die von hungrigen Studenten dutzendweiſe aufs Papier
gejubelt werden. Und was die Anzahl und die Wahl
der überfehten Autoren betrifft, jo brauchen wir bloß
624
zu erwähnen, daß Balzac bisher nur ins Engliſche
überjeßt worden ift, um das Ausland in diejer Hin-
ficht zur Beicheidenheit zu mahnen.
„Die lehte Behauptung endlich, die es einmal
definitiv aus der Welt zu ſchaffen gilt, bezieht ſich
auf die Unkenntnis der fremden Sprachen in Frank⸗
reih. Man muß diefe frage bier von einem
höheren Gefichtöpunfte aus betrachten. Die Beherr-
ſchung einer fremden Sprache gehört nicht zu den
Kenntniffen, auf die man Urjadhe Hat, bejonders
Rolz zu jein. Gouvernanten und Hotellellner thun
es darin den gelehrteften Doktoren leicht zuvor, und
nichts befähigt beſſer zur fchnellen Aneignung des
Wortſchatzes und der Ausſprache eines fremden
Idioms als eine gewille intelleftuelle Paſſivität. Am
Ende eines in einem deutjchen Inftitut verbrachten
Jahres wird jeder franzöfiiche Junge deutſch fprechen.
Die Aneignung einer fremden Sprache geht aljo ſo—
zuſagen von jelbft, je nad) Maßgabe des Bedürf-
niſſes, vor ſich. Bei den Völtern, deren Mutters
Ipradhe eine Art von Weltvolapüf ift, wird fi
jelten ein folches Bedürfnis lebhaft fühlbar machen.
Ein Engländer, ein Franzoſe, der die Welt durch—
reift, ſchlägt fich faft überall mit den Wörtern und
der Syntar feiner Mutterſprache durch, während ein
Slave oder ein Rumäne faum die Grenze feines
Baterlandes überjchreiten fan, wenn er nicht wenig-
ſtens die eine der großen internationalen Sprachen
fennt. Dieje Umſtände haben zur folge, daß ber
Franzoſe und der Engländer nicht leicht eine andre
Sprache jpricht ala die eigne. Dank dem bejtän-
digen Ideenaustauſch zwijchen diejen beiden Völkern
wird indeſſen, in Paris wenigjtens, jetzt faſt überall
engliſch geſprochen. Das Deutſche, das weniger
notwendig iſt, iſt auch weniger bekannt. Das Rufs
ſiſche beginnt ſich in neuerer Zeit, infolge der enger
gewordenen Beziehungen zwiſchen Rußland und
Frankreich, bei und raſch einzubürgern ... Die Ber
hauptung, daß ein Volk mehr linguiſtiſche Begabung
beſitzt als ein andres, iſt im Grunde recht albern,
Die Phyſiologie lehrt, daß die Sprachzentren und
Sprachorgane keinen Unterſchied bei den verſchiedenen
Völlern aufweiſen. Ein franzöſiſches Kind, das in
Rufland erzogen wird, wird in ſprachlicher Beziehung
Rufe und umgelehrt. Mit Fug und Nedht läßt
fh nur jagen, daß die Sprachen nur unter dem
Einfluß einer Notwendigkeit erlernt werden, und dieje
Notwendigkeit ift eben bei den Völlern je nachdem
mehr oder weniger dringend. Die Zeit modifiziert
fie, ebenjo Ereignifie im politijchen und künſtleriſchen
Leben. Es gab eine Zeit, in der jeder gebildete
Franzoſe ſpaniſch fonnte, und vor fünfzig Jahren
ſprachen alle der guten Geſellſchaft angehörigen fran«
zöſiſchen Damen italienisch.
„Kurz, weder Anjchauungen und Gemwohn-
heiten, nod) die Unzulänglichkeit der Ueberſetzungen,
noch auch Mangel an Begabung zur Erlernung und
zum Lejen fremder Sprachen hindert die franzöſiſche
Loſe Blätter,
Nation, fi mit fremder Geifteskultur, zu befaſſen.
Oeffnen wir ihr die Thüren und fuchen wir fie ung
nußbar zu machen. Ein Volt, das jich mit fremden
Litteraturen vertraut macht, verliert ebenfowenig feine
geiftige Figenart wie ein Schriftfteller, der die Werte
feiner Berufsgenofien lieft. Und ein Schriftfteller,
welcher ſich der internationalen Bewegung auf dem
Gebiete der Kunft entgegenwerfen wollte, wäre ein
ebenjoldyer Narr wie jener Mann bei Erdmann:
Ghatrian, der mit einem Spieß eine Lokomotive auf-
halten will. Die Zeit ift nahe, in der die veridie-
denen Staaten Europas in Hinficht auf das Geiftes-
leben nur mehr Provinzen eines und desielben Landes
fein werden — bis fie e8 endlich auch politiich find,“
R r.
Ein Brief Ouidas. In einem von der „Review
of Reviews“ veröffentlichten Briefe äußert ſich die
befannte engliſche Schriftftellerin Duida (Louiſe
de la Ramee) in höchſt draftiicher Weife zu der Idee,
eine Afademie zur Reinhaltung der engliſchen Sprade
zu begründen. Der Brief lautet:
„Geehrter Herr! Sie erfuchen mich, einige pral-
tiiche Vorfchläge zur Reinigung der englijchen Sprade
von Dialeften, ‚Slang‘ und andern Verunftaltungen
zu machen. Ich fchlage folgende Maßregeln vor:
Neun Berlegern von je zehn und neununbmeunzig
Schriftſtellern von je hundert in Großbritannien wird
ein gnädiger Tod gegeben. Mittels des Großen und
des Wllantiihen Ozeans werden die Vereinigten
Staaten von Norbamerifa unter Wafjer gefeht. Das
lann feine großen Schwierigkeiten machen; mit der
Injel Atlantis*) iſt es befanntlich ſchon gejchehen.
In gleicher Weife wird Auftralien durd den Indi—
hen Ozean und den jüblichen Teil de3 Großen
Ozeans bejeitigt. Den vereingelten Amerilanern und
Auftraliern, die allenfalls dem Verderben entronnen
find, wird eine dreijährige Quarantäne auferlegt,
während welcher fie weder Zelegramme noch Zei»
tungen leſen dürfen, auch nichts Fitterarifches, aus
genommen die Pjalmen, die Efjayiten**) und bie
Dramatiter des Glifabethanifchen Zeitalters. Es
bleiben num nod) jene großen Mifjetgäter übrig, die
man unter dem Namen ‚die gute Gejellihaft‘ zu
fammenfaßt. Da es doch ausſichtslos wäre, fie
bejjern zu wollen, jo fann id) nur raten, ihnen ind«
geſamt, anjtatt ihren Hunden, Maultörbe anzulegen.
Sie würden e8 in viel höherem Grade verdienen.
Wollen Sie dieje Zeilen veröffentlichen, jo thun Sie
es, bitte. Mit den beften Empfehlungen Ihre Duida.“
R.D.
*) Mythifche Infel im Atlantifhen Ozean, die infolge eines
Erdbebens verjunten fein joll.
*) Als „Gfayiften* im befonderen Sinne werden gemifle
engliihe Scriftitellee des 17. und 18, Jahrhunderts bezeichnet,
welche vorzugsmeile Eſſays fhhrieben, und denen die Ginführung
und Ausbildung diefes litrerariihen Genres zu verdanten it. Zu
den berühmteiten „Eijayiften“ gehören Bacon, Cowley, Eryden,
Temple, Addifon, Steele, Johnſon.
Verantwortlicher Redakteur: Karl Bolhoevener in Etuttgart. Drud und Verlag der Deutihen Berlags-Anftalt in Etuttgart.
Briefe und Sendungen find nur an die Deutſche Verlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perjonenangabe — zu richten.
Hamuntcho.
Pierre Loti.
Rus dem Iranzöfifchen überfeßt von &. Philiparie
(Fortfekung.)
XVII.
Mai! Das Gras wächſt auf allen Seiten wie
ein prachtvoller Teppich in die Höhe, wie langhaariger
Sammet, von jelbft aus der Erde aufgeiprokt.
Um das bastifche Land zu bewällern, das den
ganzen Sommer über grün und feucht bleibt, —
gewiffermaken eine wärmere Bretagne — jammeln
fich die über das Biskayiſche Meer hinziehenden Dünſte
in diefem Winkel des Golfs, hängen fih an bie
Gipfel der Pyrenäen und fommen als Regen herab,
Lange, unangenehme Regengüffe fallen nieder, aber
nachher duftet bie Erde wieder herrlicher nad) Blumen
und jungem Gras.
In den Feldern, längs der Wege, it dad Gras
frühzeitig dicht, jeder Pfad ift mit prächtigen Blumen
eingefaßt, überall eine Fülle von großen Maßliebchen,
Butterblumen auf hohen Stengeln, Pfingitröschen
und breiten, rojafarbenen Malven, gleid) denen,
die man in Algerien findet.
In den langen, linden Dämmerftunden von blaffer
Irisfarbe Hört man die feſtlichen Glodentöne des
Marienmonats jeden Abend unter ben dichten, an
den Bergen hängenden Wollen lange Zeit er-
llingen.
Während dieſes Monats Mai begleitete Graziella
die ſchwarzen, ſchweigſamen, ſtart lächelnden Nonnen
zu jeder Stunde in die Kirche. Eiligen Schrittes
gingen fie in dem ſtrömenden Regen über den roſen⸗
bebedten Friedhof, zufammen, ftet3 zuſammen: die
Heine heimlich Berlobte im hellen Anzug neben den
eingemummten, ſchwarzverſchleierten Schweitern. Am
Tage brachten fie große Sträuße weißer Blumen,
Maßliebchen, ganze Garben weiher Lilien; am Abend
jangen fie in dem noch jtärfer ala bei Tage hallen-
ben Kirchenschiff ſüßandächtige Lieder zu Ehren der
Jungfran Maria:
„Sei gegrüßt, Königin der Engel!
Meeres, jei gegrüßt!“
O, dieſe weißen, ferzenbeleuchteten Lilien! Diele
weißen Blätter mit dem gelben Blütenftaub! Wie
Aus fremden Zungen. 1897, IL 14,
Stern bed
nn — ——
herrlich duften ſie am Frühlingsabend im Garten
oder in der Kirche!
Wenn Graziella dort am Abend beim verklingen—
den Glodengeläute aus dem bleichen Halbdunkel des
Kirhhofs voller Roſen in die im Kerzenlicht ſtrah—
lende Kirche trat, aus dem würzigen Kräutergerud)
in den MWeihraud und Lilienduft, aus der milden,
belebenden Frühlingswärme in die erftarrte, grabes-
fühle Luft, welche die Jahrhunderte in den alten
Gotteshäufern erzeugen, dann fam jofort eine eigen-
tümliche Ruhe über fie, eine Beſchwichtigung aller
ihrer Wünjche, eine Entjagensfreudigfeit allen irdijchen
Freuden gegenüber. Dann, wenn fie ſich niedergelniet
hatte und die erften Lieder unter der hallenden Wöl—
bung verflungen waren, fam fie nach und nad) in
eine Elftafe, einen Traumzuitand, in dem berworren
weiße Erjcheinungen vorüberzogen: alle® mar weiß,
überall Lilien, Myriaden von Lilien und weiße Flügel,
weiße, zitternde Engeläflügel! ...
O, wie ſchön, in dieſer Verzückung zu verharren,
alles zu vergeſſen, ſich rein, fromm und unbefleckt zu
fühlen unter dem unfagbar Füßen, zauberhaften, uns
widerftehlich anziehenden Blid, den die heilige Jung»
frau, in langen, weihen Gewändern, hod) vom Taber-
nafel herniederjandte!
Wenn fie aber dann wieder draußen war, wenn
Frühlingsluft fie mit ihrer belebenden, linden Wärme
umgab, verjagte der Gedanfe an das verabredete
Stelldidein gleih einem Gewitterfiurm alle dieſe
Traumgebilde. Bei der VBorausficht, Ramuntho nun
bald neben ſich zu fehen, jeinen ſtuß zu erwidern,
fühlte fie fich einer Ohnmacht nahe und fürdtete, wie
eine Verwundete unter den feltiamen Gefährtinnen,
den friedlichen, geipenftiichen Nonnen, die fie heim—
begleiteten, hinzufinfen,
Und wenn die Stunde da war, laujchte fie auf
jeden Schritt und war voller Bellemmung troß aller
Borfäge. Ihr Herz Hopfte, wenn ein Zweig fi
rührte — die geringfte Beripätung des Vielgeliebten
marterte jie.
Er fam ſteis mit demſelben geräufchlofen Schritt,
79
626
die Jacke über die Schulter geworfen, und mit ebenfo«
viel Lift und Vorficht, als gälte es, das gefährlichſte
Schmugglergefhäft auszuführen.
In regnerifchen Nächten, die zur Frühlingszeit
jo häufig im Basfenlande find, blieb fie in ihrem
Zimmer zu ebener Erde, und er ſetzte fi) auf das
Gefims des offenen Fenſters, nicht wagend, einzu-
treten, wozu ihm übrigens die Erlaubnis wäre ver-
weigert worden. Dort vermeilten fie, er draußen,
fie innen, jedoh Wang’ an Wang’ lehnend und mit
den Armen fih umſchlungen haltend.
Bei ſchönem Wetter ftieg fie zum Fenſter hinaus,
um ihn draußen zu erwarten, und in langem Bei-
jammenjein ſaßen fie, faft ohne zu reden, auf ber
fteinernen Gartenbanf. Sogar das leiſe Liebes-
geflüfter hatte zwiſchen ihnen aufgehört, fie verharrten
in Schweigen. Anfangs geihah es aus Furcht, ſich
zu verraten, daß fie nicht zu reden wagten, denn in
der Nacht Hört man das leiſeſte Murmeln; dann,
ſeitdem nichts Neues mehr ihr jo geftaltetes Leben
bedrohte, hatten fie fait fein Bedürfnis mehr, mite
einander zu ſprechen. Was hätten fie ſich jagen
tönnen, das befler gewejen wäre, als Hand in Hand
nebeneinander zu figen?
Die Möglichkeit, überrajcht zu werden, bielt fie
in einer gewilfen Unruhe, und oft laufchten fie mit
gejpanntem Ohr; doch um jo entzüüdender waren dann
die Momente, wo fie fih mit ermeutem Vertrauen
gehen ließen. Bor niemand war ihnen übrigens jo
bange wie vor Arrochfoa, der fich jelbit jo gut auf
nächtliche Schleichwege verftand und ſtets wußte, two
Ramuntho zu finden war. Zroß feiner Nachficht
für ihre Pläne mußten fie fi) immer wieder fragen,
wie er fi} verhalten würde, wenn er alles entdeden
ſollte ...
O, wie traulich find fie, die alten ſteinernen
Bänke vor den Hänfern unter den Zweigen, wenn
der milde Frühlingsabend herniederfinft! Die ihrige
war das richtige Verfted für Liebende. Dazu fam,
dab ſie allabendlich das Konzert der unter allen
Steinen der benadhbarten Mauern fingenden Laub—
fröjche hörten, der Tierchen des Südens, die, jobald
die Nacht gefommen, von Minute zu Minute einen
furzen, leifen, jonderbaren Laut ausſtoßen — er er—
innert an das Klingen einer Kryſtallglocke oder an
eine Kinderjtimme,
Ueberall ringsum gab es ſolche Laubfröſche, die
in verjchiedenen Tonarten einander antworteten; jogar
unter der Bank jangen fie von Zeit zu Zeit, indem
fie, dank der Umberweglichfeit der beiden Liebenden,
immer wieber neuen Mut faßten. Dieje erfchrafen
feiht und lächelten, wenn ſich der kleine, helle Laut
wieder jo plöglich in ihrer nächften Nähe vernehmen
lie. Die köftliche Dunkelheit ward durch dieſe kleine
Mufit belebt, die fi in ber Ferne, unter den ge—
Pierre Roti.
beimnisvollen Blättern und Steinen, im Innern all
der ſchwarzen Spalten der Felſen und Mauern fort»
jebte. Es war wie zartes Glodengeläute oder vielmehr
wie ein feines, etwas fpöttifch Flingendes Lied —
nur ganz wenig und ohne jede Bosheit — als ob es
von ſchallhaften Gnomen gelungen würde, Die Naht
ward dadurch belebter und mwonniger,
Nah der Tiebestrunfenen Kühnheit der eriten
Male wurden fie ängftlidher, und wenn eines bon
ihnen etwas Befonderes zu jagen hatte, zog es dad
andre lautlos an der Hand; das bedeutete, es folle
geben, Teife, Teile folgen, glei) den Haben auf der
Jagd, bis zum Baumgang hinter dem Garten, wo
man in aller Ruhe reden fonnte.
„Wo werden wir wohnen, Graziella?" fragte
eines Abends Ramuntdo.
„Bei dir, denke ich.“
„Ach ja, auch ich dachte jo... Nur befürchtete
id, du würdeſt es zu traurig und einfam finden, fo
weit von der Fire und dem Plaße zu fein,“
„Wo denfft du hin! Wie könnte ich es traurig
finden mit dir?!*
„Da müßten wir alfo den Leuten unten fün«
digen, jag! — und das große Zimmer mit der Aus-
ficht auf die Straße nad) Hafparik für uns nehmen.”
Daß Graziella in fein Haus ziehen wollte, war
ihm eine weitere Freude, in dem fichern Gefühl,
daß fie durch ihre Gegenwart Sonnenjchein in die
alte, geliebte Wohnung bringen und fie dort ihr
Neſt fürs ganze Leben bauen würden! ...
XIX.
Die lange, blafie Junidämmerung, etwas ber
ichleiert wie die des Monats Mai, nur noch wärmer,
fam beran.
In den Gärten blühten die Oleander in ihrer
ganzen Pracht und waren nur noch herrliche roja-
farbene Garben.
Am Schluffe jedes arbeitsvollen Tages ſetzten ih
die guten Leute vor ihre Thüren und jahen die Nacht
herabfinfen — die Nacht, welche die zur wohlthätigen
Ruhe VBerfammelten bald unter den gewölbten Pla-
tanen in völliges Dunkel hüllte. Stille Wehmut
breitete fich mährend dieier Abende über das Dorf.
für Ramuntcho war «8 die Zeit, im der ber
Schmuggel leiht war und ihm herrliche Stunden
bereitete: welche Luft, jo auf die Höhen zu fteigen,
duch Frühlingswolfen zu ziehen, über Gräben zu
fpringen, in der Region der Quellen und wilben
Feigenbäume umberzuirren, auf Teppichen von wür-
zigen Kräutern oder Nelten bis zu ber imit den Ge
fährten verabredeten Stunde zu fchlafen!... Der
Wohlgeruch der Pflanzen durchduftete feine Kleider,
feine ſtets nur übergehängte Jade, die ihm als Kiffen
oder Dede diente — und Graziella jagte mandmal
des Abends: „Ich weiß, wo du in vergangener Nacht
Ramuntcho.
in Geſchäften warſt — deine Kleider riechen nach ber
Würze des Berges oberhalb Mendiazpi;” oder ein
andres Mal: „Heute riehft du nad dem Wermut
des Sumpfes Subernoa.”
Graziella that e8 leid, da der Monat Mai mit
dem Mariendienjte in ber mit weißen Blumen ge
Ihmüdten Kirche ſchon vorüber war, Zur Dämmer-
funde, wenn e8 nicht regnete, fehte fie fi) mit den
Schweſtern und einigen „Großen“ der Schule unter
den Kirchenbogen an die niedere Mauer des Fried—
hofs, wo man einen hübſchen Ausblid auf die unten
gelegenen Thäler hatte. Sie verbrachten die Zeit
mit Geplauder oder mit findlichen Spielen, bei wel-
hen die Nonnen ſtets bereitwillig ſich beteiligten,
Nachdem fie geplaudert oder gejpielt, jagten fie lange,
jeltiame Gebete ber; der fich neigende Tag, die Nähe
der Kirche, der Gräber und Blumen ftimmten zu
entfagender Ruhe, machten frei von allen Banden der
Sinne.
In ihrer erjten myftiichen Mädchenſchwärmerei,
beionder8 durch den prunfvollen Gottesdienft, die
Orgeltöne, die weißen Blumen, die taufend Flammen»
den Kerzen genährt, erichienen ihr nur Bilder,
freilich jehr ſtrahlende Bilder: Altäre auf Wollen,
goldene Tabernafel, um welche Mufif raufchte und
große Engeliharen fich niederliehen. Uber aus diefen
Traumgebilden waren num Jdeen geworben: fie be
lam eine Ahnung von dem Frieden und der höchſten
Entjagung, welche die Gemwißheit eines ewigen himm-
lijhen Lebens giebt, fie befam einen höheren Begriff
von der wehmutävollen Freude, alles zu verlaflen,
alles, um nur noch ein unperjönlicher Teil dieſes
Ganzen, diejer weißen, ſchwarzen oder blauen Nonnen
zu fein, welche aus zahliofen Mlöftern der Erde fort-
während Fürbitten für die Sünden dieſer Welt empor-
enden...
Sobald jedoch die Nacht völlig herabgefunten war,
627
XX.
Ramuntcho fam eines Abenbs früher als gewöhn—⸗
lih — daher fein zögernder Gang, denn an dleſen
Juni⸗Abenden fonnte man verjpätete Mädchen längs
dieſer Wege, ober junge Burſchen, die auf Liebes-
abenteuer ausgingen, antreffen.
Zufällig war Graziella ſchon unten und ſah hin«
aus, jedod ohne ihn ſchon zu erwarten.
Sofort erkannte fie feine aufgeregte oder freudige
Stimmung und erriet, daß etwas Beſonderes vor«
gefallen jein müſſe. Er wagte nicht, zu nahe heran
zufommen, und machte ihr ein Zeichen, fchnell zum
Fenſter herauszufteigen und in den dunkeln Baums
gang zu fommen, wo fie ungeftört reden könnten.
Als fie dann unter den finfteren Schatten der Bäume
bei ihm war, umfaßte er ihre Taille und kündigte
ihr rafch die große Begebenheit an, bie ihn und
Franchita jchon den ganzen Tag erregt hatte,
„Dntel Ignacio hat gefchrieben!”
„Wirklich? Der Onkel Ignacio?“
Sie wuhte nämlich, daß diefer abenteuerliche Ontel
in Amerika ſchon vor vielen Jahren in die Ferne
gezogen war und bis jet nur daran gedacht hatte,
ben jeltjamen Gruß duch den Matrofen zu jchiden.
„Isa — und er fchreibt, er habe Beſitzungen dort
drüben, die zu bewirtichaften jeien, große Wieſen,
ganze Herden Pferde; daß er feine Kinder habe, und
wenn e8 mir recht wäre, jollte ich eine nette Baslin
im Sande heiraten und mit ihr zu ihm fommen, er
würde uns beide an Kindes Statt annehmen... O,
ich glaube, jogar meine Mutter würde mit uns gehen !
Alſo wenn du wollteft — fo könnten wir gleich hei«
raten; du weißt, es ift erlaubt, Brautleute in unferm
Alter zu trauen... . Nun, da mich der Onfel adop⸗
tieren will und ich eine richtige Stellung haben werde,
wird deine Mutter hoffentlich nichts dagegen einzu-
wenden haben, — wenn jeßt nur nicht der Militär
wurde ihr Gedankengang wieder unmiderftehlih auf | dienft wäre!“
beraufchende, irdifche Dinge gelenkt. Bon Minute
zu Minute ward ihre Sehnſucht ungebuldiger und
fieberhafter. Kaum konnte fie erwarten, daß ihre
falten, ſchwarzen Gefährtinnen wieder in ihr trau—
riges Kloſter zurüdkehrten, um allein in ihrem Zim«
mer, frei endlich im jchlafenden Haufe zu fein, bereit,
|
ihr Fenſter zu öffnen, um auf den leichten Schritt
Ramuntchos zu Taufchen.
Der ſtuß der Liebenden, ber Kuß auf die Lippen, |
war jeht ein erworbenes Gut, dem zu entjagen fie
nit mehr den Mut fanden, — fie verlängerten ihn
ſehr, denn aus zarter Scheu und keuſcher Zu—
rüdhaltung wollten beide ſich nicht mehr gewähren.
Uebrigen® , mochte auch vielleicht ihr Rauſch ein
wenig finnlich fein, fo waren doch beide von jener
ſchrankenloſen, einzigen, unendlichen Liebe bejeelt,
die alles erhebt und verebelt,
Sie ſetzten ſich auf die moofigen Steine, die hier
herumlagen; der Kopf ſchwindelte ihnen, jo fehr er-
regte beide das unverhoffte nahe Glück. Jetzt alfo
lag es nicht mehr in ungemwiljer ferne, nad feiner
Dienftzeit, jondern glei, in zwei, höchſtens drei
Monaten konnte ihre jo heiß erjehnte, geitern noch
jo fernliegende und bis heute ihnen vermehrte Ver—
bindung vor fich gehen, ohne Sünde, ehrbar in aller
Augen, erlaubt und geſegnet ... Ach, niemals hatten
fie dieſes Glüd in jo naher Zeit ins Auge gefaßt...
Sie lehnten die von der Heberfülle der Glücksgefühle
ſchwer gewordenen Stirnen aneinander, und beibe
waren wie gelähmt im Taumel des Entzückens.
Ringsum flieg Blumenduft von der Erde auf und
erfüllte Tieblich die Nacht, und ald ob noch nicht genug
MWohlgerüche verbreitet wären, ftrömten der Jasmin
und das Geißblatt dort an den Mauern ihre ftärtften
628
Düfte aus. Es war, als ob unfichibare Hände in
aller Stille Räucherfäffer im Dunteln zu einem ver-
borgenen Feſte oder zu einer heimlichen, entzüdenden
freude Hin und ber wiegten.
Oftmals und überall giebt es ſolch geheimnisvolle,
hohe Freuden, die auß der Natur felbft hervorgehen, |
und bie von einem hohen Willen mit unergründlicher
Abſicht angeordnet find, um uns alle auf unſerm
Todesweg in Täufchungen zu wiegen.
„Du antworteft mir nicht, Graziella, du fagft
nichts? ...“
Er fah wohl, daß fie gleich ihm vom Glüd be-
raucht war, und doch erriet er an ihrem langen
Schweigen, daß jih ein Schatten über den jchönen,
fügen Traum geworfen babe.
„Aber,* fragte fie endlih, „mie ift es mit den
Papieren, deiner Naturalijierung — baft du fie nicht
ſchon erhalten ?*
„Sa, fie find vorige Woche gelommen, du weißt
doh! Und du ſelbſt bift es doch gewefen, die mid
bat, diefen Schritt zu thun ...“
„Und folglich bift du jet Franzoſe — und wenn
du deiner Militärpflicht nicht nachlommft, bift du
fahnenflüchtig!“
„Freilich! gewiß ... ja! ... nicht gerade fahnen-
flüchtig, aber, wie fie, glaube ich, ſagen: ich würde
mid dem Heeresdienft entziehen — was nicht viel
beſſer ilt, da man nicht mehr ins Land zurüdfommen
darf — und ich dachte nicht daran! ...“
Wie folterte es jetzt Graziella, daran ſchuld zu
fein, ihn zu diefem Schritt veranlaßt zu haben, der
jebt eine jo jchwerdbrohende Gefahr über ihr Glüd
heraufbeſchwor, faum daß es ſich verwirklichen zu
wollen ſchien! O Gott! Fahnenflüchtig! Er! Ihr
Ramuntcho! Das hieß verbannt auf immer aus
dem geliebten baskiſchen Lande! — und dieſe Reiſe
nad Amerika ward plößlih zu etwas entſetzlich
Ernjtem, Feierlihem — eine Art von Tod, da «8
von ihr feine Rücklehr mehr geben follte!... Was
nun ihun?...
Angftvoll, ſtumm blieben fie nebeneinander. Jedes
mollte fich dem Willen des andern fügen ; mit Bangen
warteten fie auf einen Entſchluß. Aus der Tiefe ihrer
jungen Herzen jtieg diejelbe Not und diejelbe Bangig-
feit. Bergiftet war das Glüd, das ſich ihnen dort
drüben , in diejem Amerifa bot, wenn fie von dort
nicht wieder zurüdfehren durſten . . Und aus den
fleinen, nächtlichen Räucherbühschen des Jasmins,
des Geißblatis, der Lindenblüte ftrömte fortgejeht
entzüdender Wohlgeruch, um fie zu beraufchen ; immer
einschmeichelnder wurde die fie umhüllende Dunkel—
heit. Mitten in der Stille ertönten von Minute zu
Minute die Heinen Flötentöne der Laubfröſche wie
leiſes Biebesloden unter dem moofigen Sammet, und
durch das ſchwarze Blätterwerk hindurch jahen fie
Pierre Lotti,
am Maren Junihimmel, ber ewig unveränberlid
ſchien, die ungeheure Menge ber Welten Flimmern.
Die Freierabendglode fing an zu läuten, Der
Klang diefer Glode, befonders des Nachts, bedeutete
für fie etwas Einziges auf diefer Erbe. In dieſem
Moment jchien e8 ihnen jogar, als ob durch ihren
Laut ihrer Unfchlüffigfeit Tiebevoller Rat gebradt
würde. Stumm hörten fie, mit wachſender Erregung,
Kopf an Kopf gelehnt, dem Giodengeläute zu, und
die raterteilenden Klänge, die lieben, beſchirmenden
Klänge jagten: „Mein, gehet nicht für immer fort...
die fernen Länder find mur für die Jugendzeit! Iht
müßt nach Etchézar zurüdlommen! Hier müht ihr
alt werden und fterben ; nirgenb& werdet ihr fo janit
gebeitet jein wie auf dem Friedhof bei ber Kirche!
— fogar unter der Erde könnt ihr mich nod) läuten
hören, immer hören! ...“
Die beiden Finder, mit ihren naiven, gottes-
fürdtigen Seelen, waren mehr und mehr geneigt,
der Glode Gehör zu fchenten. Ramuntcho fühlte
auf feiner Wange eine Thräne Graziellas fliehen.
„Nein,“ jagte er endlich, „fahnenflüchtig werden
— nein! Weißt du, ich glaube, dazu hätte ich nicht
den Mut,“
„Ich dachte dasſelbe, mein Ramuntcho,” erwiderte
fie. „Nein, das wollen wir nicht thun ... Ich wollte
nur warten, biß du es jelber ſagteſt ...“
Aud) er weinte jeht...
*
Der Enlſchluß war gefaßt, fie wollten das Glüd
vorüberziehen laſſen, das fhöne Glüd, das jo nahe
an ihnen vorbeiging, faft in ihrer Hand lag. Sie
wollten alles wieder auf die ungewiſſe, ferne Zufunit
verſchieben.
Traurig, doch nad) der großen Entſcheidung etwas
gejammelter, berieten fie, waß nun zu thun fei.
„Man könnte deinem Onfel Ignacio,“ fagte fie,
„mit einem jchönen Brief antworten, ihm jchreiben,
daß du annimmft, daß du mit großem Wergnügen
zu ihm kommſt, jobald du deiner Militärpflicht Ge:
nüge geleiftet haft; du fannft fogar hinzufügen, wenn
du willit, daß deine fleine Braut herzlich dankt nnd
ſich bereit Hält, dir zu folgen, — aber fahnenflüchtig
werden — nein, das ginge nicht!“
„Wie wäre ed, Gatchutcha, wenn du jebt ſchon
mit deiner Mutter redeteft, um zu hören, was fie
dazu jagt? Denn jept ift es nicht mehr wie früher,
du verſtehſt! — ich bin nicht mehr der verlaflene
Junge von ehemals...”
Da — leichte Schritte hinter ihnen im Weg —
und über der Mauer erjdhien die Geſtalt eines jungen
Mannes, der auf feinen Strohſchuhen leiſe heran-
geihlihen fam, um fie zu belaufen...
„Fort, Ramuntcho, flieh! Auf Wiederjehen mor⸗
gen abend!”
Ramuntdo.
In einer halben Sekunde ift niemand mehr da.
Er im Gebüjch verftedt, fie in ihr Zimmer geflohen.
Ihre ernfte Unterredung war beendigt. Beendigt
bis zu welcher Zeit? Nur bis morgen oder für
immer? Ueber ihrem eiligen oder lang hinaus
gezogenen, erjchrodenen oder frieblichen Abjchied
ſchwebte jedesmal, in jeder Nacht, diefelbe Ungewiß⸗
heit des MWiederfehens,
XXI.
Die Glode von Etchezar, Ddiejelbe geliebte alte
Glode, die am ruhigen Feierabend, an jeglichem Feſte
und aud) zur Sterbeftunde läutet, Mang heute luſtig
hinaus in die ſchöne Junifonne. Das Dorf war
überall mit weißen Tüchern, weißen Stidereien be»
hängt, und die Prozejfion des Fronleichnamstages
zog langſam auf grünbeftreuten Wegen hin. Die
Berge ſchienen nah und dumtel; düſter braun gefärbt
ragten fie empor über dieſem Zuge weißgekleideter
Mädchen, die auf dem grünen Blätterteppich dahin-
wandelten. Alle alten Fahnen der Kirche waren her⸗
vorgeholt und wieder einmal von der Sonne bes
leuchtet, die fie ſchon jahrhundertelang Fannte, fie
aber nur ein⸗ bis zweimal im Jahr an jehr hohen
Feſttagen ſah.
Die größte, die der heiligen Jungfrau Maria,
aus weißer, matigolbbejlidter Seide, rückte heran,
getragen von Graziella. Dieje war ganz weiß ge
Heidet und jchritt mit traumverlorenen Augen einher.
Hinter den Mädchen kamen die ſchwarzverſchleier⸗
ten frauen, alle Frauen des Dorfes, auch die beiden
Feindinnen Dolores und Franchita. Männer, in
ziemlich großer Zahl, beſchloſſen den Zug mit einer
Kerze in der Hand und entblößten Haupte, meift
mit grauem Haar, Gejichter mit lebensmüdem, res
figniertem Ausdrud, Greifentöpfe.
Graziella, die Fahne der heiligen Jungfrau hoch
baltend, war in diefer Stunde eine Gottbegeifterte.
Cie hatte das Gefühl, ald wäre fie geftorben und
auf dem Wege zu dem ewigen Tabernafel, und wenn
die Erinnerung an Ramuntchos Küffe ihren Traum
durhfreugte, jo überlam fie mitten im diefer ganzen
weißen Umgebung ein brennendes, aber doch ent-
züdendes Gefühl... Bon Tag zu Tag bveredelten
fh ihre Gedanten, und immer weniger waren es die
bei ihr leicht bezwungenen Sinne, die Graziella zu
ihm hinzogen, aber dafür wachſende, echte, tiefe Liebe,
jene Liebe, die nicht der Zeit und den Enttäujhungen
der Sinne erliegt. Und dieje Liebe erhöhte ſich noch
dadurch, daß Ramuntho weniger begütert war als
fie und verlaffener im Leben ftand, weil er feinen
Vater hatte,
XXIL
„Run, Gatchutcha, haft du deiner Mama vom
Ontel Ignacio erzählt ?*
„No nicht, nein; ich hatte nicht den Mut...
629
Wie follte ich ihr erklären, woher ich alle dieſe Dinge
weiß, da fie mir doch verboten hat, mit dir zu reden?
Denfe nur, wenn fie Argwohn ſchöpfte! Alles wäre
verloren, wir könnten una nicht mehr jehen! Ich
möchte die Mitteilung lieber auf fpäter verfchieben,
wenn du fort bit, denn dann ift mir alles gleich»
gültig.”
„Du haft recht — warte lieber, da ih ja doch
bald fortgehe.“
In der That, er follte bald abreifen, und ihre
Abende waren gezäßlt.
Nun, da fie das angebotene Glüd an ſich hatten
vorbeiziehen laffen, glaubten fie, es jei beſſer, Ra—
muntchos Eintritt in die Armee zu bejchleunigen,
damit er um fo früher wieder zurüdfäme. E& ward
alfo befchlofjen, daß er der Einberufung zuvorfommen
und bei der Marine-Infanterie eintreten folle, der
einzigen Truppe, bei der die Dienftzeit nur brei
Jahre beträgt, und da fie eine beitimmte, lang vorher
ind Auge gefaßte Zeit brauchten, um fih Mut zu
jammeln, jo hatten fie Ende September feitgejett,
die Zeit nah den großen Ballipielen,
Sie betradteten übrigens dieſe dreijährige Tren-
nung mit völligem Vertrauen in die Zulunft — jo
fiher glaubten fie eines des andern, ihrer ſelbſt und
ihrer unvergänglichen Liebe zu fein.
Dennoch war das eine lange Wartezeit; ihr Herz
war fonderbar beflommen, und der Gedanke baran
ließ ihmen jonft gleichgültige Dinge unfagbar traurig
eriheinen: die Flüchtigleit der Tage, die geringften
Anzeichen der fommenden Jahreszeit, das Aufblühen
gewiſſer Blumen, alles, was den raſchen Verlauf
ihres letzten Sommers andeutete.
XXI
Schon haben Iuftig und rot die Johannisfeuer
in klarer, blauer Nacht geflammt, und ber ſpaniſche
Berg dort drüben jchien am Sonnwendabend lichter=
(ob zu brennen, fo zahllos glänzten die Freudenfeuer
auf dem Abhange. Sie hat begonnen, die Zeit der
großen Hitze und der Gewitter, nad) welder Ra—
muntcho Abſchied nehmen muß.
Der im Frühjahr jo rajch emporfteigende Pflanzen»
jaft verliert feine ftrogende Kraft, bie Entwidiung
bes Grüns hat ihr Ende erreicht, die Blumen haben
ſich voll entfaltet.
Die viel heißeren Sonnenftrahlen überhitzen alle
Köpfe unter den Baretten, erhöhen das Feuer und
die Leidenſchaft und erweden in allen basfifchen
Dörfern außerordentlihe Erregung und lärmende
Fröhlichleit.
Währenddem in Spanien die großen, blutigen
Stiergefechte beginnen, ift bier eine Zeit Iuftiger
Fefte, großer Ballipiele und vieler am Abend ge—
tanzter Yandangos.
630
Bald naht die heiße Julipradıt des Südens.
Der Bisfayifche Golf ift tiefblau geworden, und bie
Küfte von Gantabrique hat für eine Zeitlang bie
rötlichgelbe Farbe Algeriens und Maroklos an—
genommen,
Mit fchweren Gewitterregen wechjelt wunderbar
ſchönes Wetter bei völlig Marer Luft ab. Dann giebt
es auch Tage, an welchen die entfernt gelegenen
Dinge wie von ber, Hitze aufgezehrt und mit Sonnen
ftaub überftreut fcheinen.
Die über den Wäldern und dem Dorfe Etchézar
fi erhebende Gizune mit dem jpiken Gipfel wird
aladann dunftiger und höher, Seine, vergolbete
weiße Wollchen, mit etwas Perlmuttergrau an den
dunfeln Stellen, ſchweben am Himmel und heben
jein tiefes Blau noch mehr hervor.
Die Quellen unter den dichten Farnen ſprudeln
leifer und langjamer, und die von halbnadten Mäun—
nern begleiteten, müdenumjhwärmten' Ochſenwagen
ziehen bebächtiger auf den Strafen dahin.
*
In diefer Jahreszeit führte Ramuntcho bei Tage
das aufregende Leben des „Pelotari”; fortwährend
war er mit Arrochfoa unterwegs, von Dorf zu Dorf
wandernd, um ein Ballfpiel ins Werk zu ſetzen oder
auszuführen.
Dod in jeinen Augen hatten nur noch die Abende
Wert.
Die Abende... .! Da ſaß er in der duftenden,
warmen Duntelheit des Gartens Ineben Graziella,
er hielt fie mit feinen Armen umſchlungen, zog fie
allmählich immer fefter an feine Bruftl. So hielt
er fie lange, ohne ein Wort zu reden, das Kinn auf
ihr Haar gelegt, und atmete den jugendfriichen Duft,
ber von der Geliebten ausftrömte.
Ramuntho hatte einen ſchweren Kampf zu be—
ftehen bei biejen lange währenden',, wonnigen Um—
armungen, die fie ihm nicht verwehrte, Er fühlte,
daß Sie jeht Bertrauen und Hingebung genug für
ihm hatte, um ihm nichts mehr zu verfagen; aber
jugendlihe Scham, ein Gefühl der Ehrerbietung vor
feiner Braut und feine unendliche, tiefe Liebe hielten
alle feine Wünfhe nah den höchſten Freuden der
Liebe im Zaum. Manchmal fprang er jäh auf, um
jeine Glieder zu dehnen — „mie eine Rabe, die
ſich ftredt”, jagte Graziella, wie Damals in Erribiague
— mern ihn das gefährliche Beben befiel und die
übermäctige Verſuchung, die Geliebte am ich zu
reihen um einer Minute höchfter, unausſprechlicher
Seligfeit willen...
XXIV,
Franchita indeſſen beunrubigte fich über das uns
erflärliche Benehmen ihres Sohnes. Anſcheinend ſah
er Graziella niemals, und er ſprach nicht mehr von
ihr. Tiefe Trauer über den nahen Abſchied ſammelt
Pierre Loti,
fih in ihr an, und dabei beobachtete fie ihn ſtill und
geduldig.
Eines Abends — es war einer jeiner letzten —
als er geheimmisvoll und eilig, fange vor der nädt«
lichen Schmugglerfiunde, ausgehen wollte, ftellte fie
fich vor ihn bin und jah ihn ſcharf an:
„Wohin gehſt du, mein Sohn?“
Und da er rot und verlegen den Kopf abwandie,
war fie plößlich ihrer Sache gewiß.
„s iſt gut! Jetzt weiß ich alles! Ah, ich weiß
alled! ...“
Die Entdedung des großen Geheimnifies erreate
fie; daß es nicht Graziella, jondern eine andre jein
fünnte, daran dachte fie nicht im entfernteften, dazu
war fie zu jharffinnig. Und nun erwachten chriftliche
Strupel in ihr; ihr Gewiſſen erichraf über das
Unrecht, das fie_vielleiht begangen — zugleich aber
flieg aus ihrem tiefften Innern ein Gefühl auf, deijen
fie fich wie eines Verbrechens ſchämte, eine Art wilder
Freude; denn ſchließlich, wenn ſich die Liebenden
vergeiien hatten, jo war e& ficher, daß die Zutumit
des Sohnes fid) jo geftaltete, wie fie immer geträumt...
Sie kannte überdies ihren Ramuntcho zu gut und
wußte, daß er treu bleiben und Graziella nie ver»
lafjen würde.
Schweigend ftanden fie einander gegenüber. Sie
verjperrte ihm den Weg.
„Mas Habt ihr gethan?“ entſchloß fie fich endlich,
zu fragen. „Sag mir die Wahrheit, Ramuntdo,
was habt ihr Schlimmes gethan?”
„Schlimmes? O, nichts, Mutter! Nichts Schlim-
mes, ich ſchwöre es dir!...“
Ohne im geringften gereizt über die Frage zu
fein, hielt er den Blid der Mutter mit guten, offenen
Augen aus. Es war ja die Wahrheit, und fie
glaubte ihm.
Allein da fie noch immer, mit der Hand auf ber
Thürflinte, vor ihm ftehen blieb, fuhr er mit dumpfer
Heftigleit fort:
„Du wirft mich hoffentlich nicht abhalten wollen,
zu ihr zu geben, da id) in drei Tagen abreifen muß ?!*
Angefichts des jungen, fi) auflehnenden Willens
verſchloß die Mutter den Tumult ber widerſprechen⸗
den Gefühle in fich felber, ‚beugte den Kopf, und
‚ ohne ein Wort zu fpredhen, trat fie beifeite und lieh
ihn fortgehen.
XXV.
Es war der letzte Abend der Liebenden, denn
vorgeflern hatte Ramuntcho mit zitternder Hand auf
der Bürgermeifterei von St. Jean-de⸗Luz die Ordre
unterjchrieben, durch die er für dreijährigen Militäre
dienft in das in einer nörbliden Hafenjtabt in
Garnijon ftehende zweite Marine-Infanterieregiment
eingereiht wurde.
Es war ihr lehter Abend!... und fie hatten
a.
Ramuntdo.
ausgemacht, länger ala gewöhnlich beifammen zu
bleiben — bis Mitternadt, hatte Graziella be»
ſchloſſen. Mitternadt ift im Dorfe eine ungewöhn-
liche, ſchwarze Stunde, eine Stunde, nad) welcher
fonderbarerweife der feinen Braut alles erniter und
itrafwürdiger erfchien,
Troß des brennenden DVerlangens ihrer Sinne
war weder ihm noch ihr die Idee gefommen, daß
fie bei dieſem letzten Beiſammenſein im Schmerz
über den Abſchied mehr ala ſonſt begehren könnten.
Ihre Empfindungen waren im Gegenteil in diefem
andachtsvollen Augenblid des Scheidens noch reiner
ala jonft, jo wahr und treu liebten fie einander,
Weniger vorfihtig jedoch, da ie feine Rüdficht
wegen des kommenden Abends zu nehmen braudhten,
wagten fie es, auf der fleinernen Banl zu flüftern,
was fie nie geihan. Sie ſprachen von der Zukunft,
von der nun fo fernen Zukunft; denn in ihrem Alter
eriheinen drei Jahre als eine unendlich lange Zeit.
Wenn Ramuntho in drei Jahren wieder heim—
fehrte, jo war Graziella gerade zwanzig Jahre alt,
und follte alsdann ihre Mutter immer noch nicht
eimmiligen, jo wollte fie nach einem weiteren Jahr
von ihrem Recht ala großjähriges Mädchen Gebraud)
mahen, Das war unter ihnen eine abgemadhte und
verjprochene Sache.
Auch ihr zukünftiger Briefwechſel beſchäftigte fie.
Ales ſchien jo verwidelt, voller Hindernifje und
Heimlichkeiten. Arrochloa, ber allein ihr Vermittler
fein fonnte, Hatte wohl feinen Beiſtand zugefagt; er
war jedoch fo wanfelmütig, jo unzuverläffig! Großer
Gott, wenn er fie im Stiche ließe! Ob er überhaupt
die Verpflichtung übernehmen würde, die Briefe ver—
fiegelt hin und ber zu beforgen? Sonjt war ja alle
Freude bes Briefichreibens dahin! In unfern Tagen,
bei den vielen, bequemen Verkehrswegen, giebt es
feine vollftändige Trennung mehr, wie bald die ihrige
fein ſollte. Es war däher ein jeierlicher Abichied,
gleih dem der Liebenden aus ehemaliger Zeit, als
es noch Länder ohne Poſt, jchredenerregende Ent»
fernungen gab. Das glüdliche Wiederſehen ſchien ihnen
in ferne, ferne Zeit hinausgerüdt, dod) ihr gegenfeitiges
Vertrauen ließ fie mit fliller Zuverficht darauf hoffen
wie die Gläubigen auf das ewige Leben.
Jede Kleinigkeit wurde für fie an diefem Abend
von großer Bedeutung; der nahe Abſchied lieh alles
wichtiger und erheblicher erjcheinen, wie e8 beim
Nahen des Todes geſchieht. Das nächtliche Geräuſch
und alles um jie herum fam ihnen jo ganz anders
vor, und unwillkürlich prägte es ſich in ihr Gedächt-
nid... Das Gezicpe der Grillen hatte etwas Eigen-
tümliches, wie fie es früher nie gehört. Das Geheul
eines Hundes, das in der hallenden Nacht von einem
entfernten Meierhof bis zu ihnen drang, flöhte ihnen
ſchauerlichen Schreden ein. Und Ramuntho nahın
631
in die Verbannung einen im Garten abgefnidten
Planzenftengel, mit dem er mechaniſch den ganzen
Abend gejpielt, mit; er bewahrte ihn ſpäter als tief-
trauriges Andenken.
Ein Abichnitt ihres Lebens endigte mit biefem
Tage; ein Stüd ihres Dafeins lag hinter ihnen —
e8 war vorbei mit der Sinderzeit...
Es bedurfte für fie feiner langen Verficherungen, jo
gewiß war eines des andern, ja, fie hatten fich nicht
ſoviel wie gewöhnliche Brautlente zu jagen, weil fie
gegenseitig ihre innerften Gedanken kannten, und nad
einer Stunde des Plauberns blieben fie Hand in
Hand, ernft und ftill nebeneinander fiten, indes bie
unerbittlihen Minuten dahinſchwanden.
Um Mitternadht, wollte fie, follte er fortgehen, wie
es im voraus in ihrem verftändigen Kopf feit be-
ihloffen war. Nachdem fie ſich lang gefüßt, trennten
fie fi), als ob der Mbichied zu dieſer beftimmten
Stunde etwas Unvermeidliches und unmöglich zu
verſchieben jei.
Indes fie in ihr Zimmer zurüdging und plößlich
in ein Schluchzen außbrad), das bis zu ihm drang,
überftieg er die Mauer und befand fi) bald auf der
einjamen Straße unter den weißen Strahlen bes
Mondes. Bei diefer erften Trennung litt er weniger
als fie, weil er es war, der wegzog, und ihm bie
folgenden Tage Neues und Unbelanntes bringen
follten. Als er auf dem flaubigen, hellen Wege
dahinſchritt, war er von dem mächtigen Zauber des
Reiſens und der Veränderung gleichſam betäubt, und
ohne beftimmte oder zufammenhängende Gedanfen
jah er feinen im Mondſchein ſcharf und deutlich ge
zeichneten Schatten vor fich hergeben. Und die große
Gizune beherrfchte mit Falter, geipenftijcher Ruhe die
ganze, mondbeichienene Gegend.
XXVL
Der Tag der Abreiſe. Da und dort nimmt
Ramuntho Abſchied von Freunden; alte, vom
Regiment heimgefehrte Soldaten geben ihm herzliche
Glückwünſche mit auf den Weg. Seit dem Morgen
ift er in fieberhafter Betäubung; vor ihm liegt Die
unbefaunte Welt!
Arrochkoa, der ſehr freundlich an diejem legten
Tag gegen ihn war, hatte ihn inftändig gebeten, ihn
mit feinem Wagen bis St. Jean⸗de⸗Luz fahren zu
dürfen, und zugleich ausgemacht, daß fie bei Sonnen»
untergang abreifen wollten, damit er gerade reiht-
zeitig zum Nachtzug käme.
Der Abend war herangelommen; Franchita wollte
ihren Sohn bis zu dem Plabe begleiten, wo der
Magen bereit fand, und bier, troßdem fie ſich mit
aller Gewalt zu beherrfchen juchte, überwältigte fie
der Schmerz, und ihr Geficht zog fich zuſammen;
er hielt ſich gewaltſam ftraff, um fi das fühne
682
Ausfehen zu geben, das ſich für einen zum Regiment
abziehenden Refruten jchidt.
„Machen Sie mir ein wenig Pla, Arrochloa!“
jagte fie plöglih, „ich will mich zwifchen euch beide
jeßen und bis zur Kapelle des heiligen Bitchentcho
mitfahren. Bon dort fomme ich zu Fuß zurüd.“
Sie fuhren ab. Die untergehende Sonne breitete
über fie wie über alles andre ihre goldne und fupfer-
rote Pracht.
Am Eichwald vorüber famen fie zur Kapelle,
aber die Mutter wollte noch weiter mitfahren; von
einer Biegung zur andern ſchob fie die jchredliche
Trennung hinaus und bat, fie den Sohn weiter be—
gleiten zu laſſen.
„seht aber, Mutter, oben auf der Anhöhe von
Marik mußt du ausfteigen,” ſagte Ramutcho mit
Herzlihleit. „Hörft du, Arrochfoa, dort hältjt du
an! Ich will nicht, daß meine Mutter nod weiter
mitfährt.”
Das Pierd ging mun viel langſamer bergauf.
Der Mutter und dem Sohne brannten die Augen
von den zurüdgehaltenen Thränen; Hand in Hand
jaßen fie da, und langſam, langſam fuhren fie ftill-
ſchweigend dahin, ala wären fie auf einer Wallfahrt
begriffen.
AS fie endlich oben angelangt waren, zog der
gleichfalls ftumm gewordene Arrochkoa ſacht die Zügel
an mit einem einfachen: „Ho—la!” Es Mang ftill
wie ein Trauerfignal, da8 man nur zögernd giebt,
— und der Wagen bielt an.
Ramuntcho ſprang ſchweigend ab, half jeiner
Mutter abfteigen, gab ihr einen langen, langen Ruß
und ftieg raſch wieder auf.
„Wahre zu, Arrochfoa! Raſch, weiter!”
Und in zwei Selunden verlor er auf dem nun
abwärts führenden Weg die Mutter, deren Geficht
jet Thränen überfirömten, aus den Augen,
*
Immer mehr wuchs die Entfernung zwiſchen
Frandita und ihrem Sohne. In entgegengejehter
Rihtung zogen fie auf der Strafe von Etchözar, in
ber Pracht des Somnenuntergangs, in einer Welt
von rojafarbenem Heidefraut und gelblichen Farnen,
weiter.
Langjam ging Franchita dem Dorfe zu, ſie be-
gegnete nur einigen Adersleuten und einigen, von
fleinen basfischen Hirten durch den goldnen Abend
getriebenen Herden.
Ramuntcho fuhr indeilen abwärts und fehr raid)
durch dunfle Thäler dem flachen, von der Eijenbahn
durchfreuzten Sande zu.
XXVII.
Franchita kam zur Dämmerzeit ind Dorf zurüd
und bemühte fi dort, ihre gewöhnliche ſtolze und
gleichgültige Haltung anzunehmen.
Pierre 2oti.
Bor dem Haufe Detharry begegnete fie Dolores,
die gerade heimlam; dieſe drehte ſich um, blieb in
der Thür ftehen und jah die Feindin ſcharf an. Es
mußte etwas vorgefommen fein, fie mußte irgend
etwas gehört haben, daß fte fich in ſolch auffallender,
herausfordernder Weile benahm.
Franchita blieb gleichfalls ſtehen, und fat un
willfürlich ftieß fie die zwijchen den Zähnen gemur«
melten Worte aus:
„Was hat fie, dieje Frau, daß ſie mich in dieſer
Weiſe anfieht?”
„Aha, heute abend wirb er wohl nicht mehr
fommen, ber feine Liebhaber — nicht wahr?“ rief
Dolores,
„So, du weißt es alfo, daß er immer hierher
fam und mit deiner Tochter zufammentraf?”
In der That, fie wußte e8 feit dieſem Morgen.
Graziella Hatte es ihr gejagt ; nad) langem Sträuben
| Hatte fie fi) dazu entſchloſſen, num fie feine Rüchſicht
mehr zu nehmen brauchte — allein es war alle
umſonſt gewejen, was fie von Onfel Jgnacio berichtete,
was fie von Ramuntchos beſſeren Ausfichten zu jagen
wußte, alles, was ihre Sache hätte fördern können,
„So, bu weißt e8 alfo, daß er mit beiner Tochter
bier zuſammenlam?“
Aus alter Gewohnheit jagten fie du zu einander,
wie zur Zeit, als fie noch zufammen in die Schule
gingen, die beiden Frauen, die nun ſchon feit zwanzig
Jahren fein Wort mehr ausgetaufcht hatten.
Weshalb fie fich jo jehr haften? Fürwahr, fie
wußten es felber nid;t recht. Oftmals fängt jo etwas
mit einem Nichts an, mit findifcher Eiferjüchtelei oder
Nivalität, und jchließlih, nad) täglihem Begegnen
ohne Ausſprache, nad) vielen böfen Blicken wächſt e&
bis zum unverjöhnlichen Haß...
Sie ftanden eine vor der andern, ihre Stimmen
jitterten vor Groll und böswilliger Erregung.
„Freilich!“ entgegnete die andre, „du wußteſt es
vor mir, bas denfe id) mir wohl; bu warft es, die
ihn zu uns ſchichte! . . . Man begreift übrigens, daß
du vor feinem Mittel zurüdichredit, nad) dem, was
du damals geihan haft...”
Frandita, die von Natur weit mehr Würde und
Anftand beſaß, blieb ſtumm und entjegt über den
ungeahnten Streit auf ofjener Straße, während
Dolores fortfuhr:
„Nein, das wäre noch ſchöner! Meine Tochter die
Frau dieſes Baftards mit feinem Heller Vermögen!”
„Ih meine aber, er wird fie Irokdem heiraten!
Verfuche es doch, ihr einen Mann nad) deiner Wahl
vorzuſchlagen, und bu wirft ſchon ſehen!“
Damit eilte Frandita weg; es ſchien ihr unter
ihrer Würde, den Streit weiter fortzujeßen, und jie
hörte hinter fich die zornige Stimme und die Schmäb-
worte der andern,
Ramuntdo,
Sie zitterte an allen Gliedern, und einer Ohn—
macht nahe, taumelte jie bei jedem Schritt.
Welch traurige Heimkehr! Weiche Leere fand fie!
Diefe dreijährige Trennung erſchien ihr jeht als
etwas entiehlicd Neues, als ob fie faum darauf vor=
bereitet gewejen wäre — gerade wie man bei der
Küdtehr vom Friedhof die Abweſenheit des teuern
Toten zum erftenmal in ihrer ganzen Schmerzlichteit
fühlt,
Dazu Fam jetzt noch diefe Beihimpfung auf
offener Straße — dieſe Worte, die um fo peinlicdher
waren, als fie fich im innerſten Herzen ihres Fehl-
tritt® mit dem Fremden graufam bewußt war.
Die fonnte fie, ftatt ihres Weges zu ziehen, wie
fie hätte thun follen, vor dieſer Feindin ftehen
bleiben und durch die Teife geflüfterten Worte dieſen
ſchmachvollen Streit heraufbeihwären! Wie konnte
fie ſich zu etwas derartigem erniedrigen, fich jo jehr
vergeffen, fie, die jeit fünfzehn Jahren durch ihre
volftändig würdige Haltung nad und nad) die
Adtung aller erworben hatte! ... O, warum mußte
fie fich diefe Beihimpfung von Dolores bieten laſſen,
deren Vergangenheit tadellos war und die wirklich
ein Recht hatte, fie zu verachten!
Bei weiterer Ueberlegung erjchraf fie immer mehr
über dieje Herausforderung, bejonder8 wegen ber
Zukunft; wie unflug war es von ihr, fie hinzumwerfen !
Es war ihr num, als hätte fie alle teuern Hoffnungen,
die ihr Sohn hegte, aufs Spiel geſeht, da jie den
Haß diejer Frau reizte. Ihr Sohn, ihr Ramuntcho,
den ein Wagen zu diejer Stunde weit weg von hier
der Gefahr, dem Krieg entgegenführte!.. .. .
Wahrlich, fie hatte eine große Verantwortung auf
ih geladen, als fie fein Leben nad) ihren Ideen,
mit Eigenfinn, Stolz und Egoismus leiten wollte.
Und jet, an diefem Abend vielleicht, hatte fie das
Unglüd über ihn heraufbeihworen, während er voller
Vertrauen in die Zukunft von dannen fuhr.
Sicherlich war ihr das als ihre härtefte Strafe
zugedacht. Es war ihr, als hörte fie im leeren
Haufe, wie ihr mit diefer Buße gedroht ward, und
fie fühlte ihr langjames, aber ſicheres Nahen.
Sie fing an, Gebete für Ramuntcho herjufagen,
mit bitterm, aufrühreriichem Herzen jedoch, weil bie
Religion, wie fie diejelbe veritand, ihr weder Troft
noch Erleichterung verihaffte, ihr fein Vertrauen ein»
flößte und ihr Herz kalt lieh. Ihre Not und ihre
Verzweiflung waren grenzenlos, ja, jogar die Wohl:
that der Thränen blieb ihr verjagt.
”
Ramuntdho war in diejer Abendfiunde noch immer
unterwegs; burch dunkle Thäler fuhr er weiter, dem
Lande zu, welches die Bahnen durchkreuzen, Die
Menjchen weit wegführend, alles verändernd und
ummwälzend.
Aus fremden Sungen, 1897. IL 14.
633
Ungefähr eine Stunde lang war er noch auf
baskiſchem Gebiete — alsdann hatte er die Heimat
im Rüden, Auf feinem Wege begegnete er noch
etlichen ſchwerfälligen Ochfengejpannen, bie an das
beichauliche Dajein in alten Zeiten gemahnten, oder
undeutlichen menſchlichen Geftalten, die ihm im Vor—
beigehen den traditionellen Guten Abend boten, das
altertümliche „Gaou-one*, das er morgen nicht mehr
hören follte. Und dort drüben links zeichneten ſich
am Himmel noch die Höhen Spaniens ab, das num
für lange Zeit feine Nächte nicht mehr beunruhigen
ſollte ...
XXVIII.
Drei Jahre find vergangen, in reißender Schnelle.
Ein Novembertag geht zur Rüfte. Frandita ift
allein zu Haufe, franf und betilägerig.
Es ift der dritte Herbſt ſeit der Abreije des
Sohnes. Ihre fieberglühenden Hände halten einen
Brief von ihm — einen Brief, der nur wolfenlofe
freude hätte bringen müſſen, da er feine Rückkehr
ankündigt, dennod aber fie ſorgenvoll ſtimmt, denn
das Glüd des Miederjehens ift durch Leid und Un—
rube, jchredliche Unruhe, vergiftet.
O, jie hatte an jenem Abend, als fie ihn zum
Abſchied begleitet hatte und jo angftvoll nad) Haufe
fam, eine richtige Ahnung der trüben Zukunft. Ia,
es ift graufame Wahrheit geworden, damals hat fie
mit der Herausforderung auf offener Straße bes
Sohnes Glüd für immer zerſtört ...
Monate jcheinbarer Ruhe waren auf diejen Streit
gefolgt, indeſſen Ramuntho, weit von der Heimat
entjernt, die erften Kämpfe mitmachte. Alsdann
bewarb fich ein reicher Freier um Graziella, und alle
Welt wußte, daß fie ihn, troß Zuredens ihrer Mutter,
beharrlich abwies.
Eines Tages reiften Mutter und Tochter, unter
dem Vorwand, nahe Verwandte im Hochgebirge zu
befuchen, plöglih ab. Die Reife dauerte lange, und
dieſe Abwejenheit ward immer mehr in großes Dunfel
gehüllt. Mit einem Male verbreitete fi) die Runde,
Graziella jei als Novize bei den Schweftern der
heiligen Maria des Rofentranzes in einem Kloſter
der Gascogne, wo die frühere Schweiter Oberin nun
Hebtiffin war.
Dolores fam allein in ihr Haus zurüd; fie blieb
ftumm und jchien verdroſſen und unglüdlih. Niemand
erfuhr, welche Beeinfluffungen auf die Kleine mit
den golbnen Haaren gewirkt, noch wie ſich die leuchten-
den Thore dei Pebens vor ihr verſchloſſen hatten,
— furz, wie fie fid) in diefes Grab fonnte einmauern
lafien. Allein glei, nachdem die regelrechte Probezeit
verftrichen war, und ohne ihren Bruder wiedergejehen
zu haben, legte fie ihr Gelübde ab, während Ra—
muntcho fern in einer der Kolonien, weit von allen
Berbindungen mit Frankreich, inmitten der Wälder
80
634
einer Inſel Auſtraliens, den Unteroffiziergrang und
die Militärmedaille errang.
*
Schon fürdtete Franchita fait, daß Ramuntcho
nie wieder in die Heimat zurüdfehren werde...
Und jetzt follte er endlih fommen! In ihren ab»
gemagerten, beißen Händen hielt fie den Brief, ber
ihr fagte: „Ach reife übermorgen und werde Samstag
bei Dir fein.”
Was wird er beginnen, wenn er wieder hier ift?
Zu was wird er fich für die Folge feines jo traurig
veränderten Lebens entjchließen? in jeinen Briefen
bewahrte er tiefes Schweigen über dieſen Punkt.
Auch ſonſt war ihr alles fehlgeichlagen. Die
Pächter, welche ihre untere Mohnung inne gebabt,
hatten Etchözar verlaſſen, und der Stall ftand Ieer,
dad Haus war einfam und ihr bejcheidenes Gin»
fommen natürlich jehr gejchmälert. Dazu fam noch,
daß fie durch unvorfichtige Anlage einen Teil des von
dem Fremden für den Sohn beftimmten Geldes ein:
büßte,
Wahrlich, Hagte fie fih an, fie war eine zu un«
geichidte Mutter, die in jeder Weiſe das Glüd ihres
geliebten Ramuntcho aufs Spiel gejeht... oder viel-
mehr, fie war eine Mutter, auf der die göttliche
Gerechtigkeit, ihrer vergangenen Schuld wegen, ſchwer
faftete !
Das alles Hatte fie überwältigt, das alles hatte
ihre Krankheit bejchleunigt und verſchlimmert, und
es gelang dem zu ſpät gerufenen Arzt nicht mehr,
ihr Einhalt zu tun.
So lag fie jet da, in hefligem Fieber auf ihrem
Bett auägeftredt, um den heimfehrenden Sohn zu
erwarten.
XXIX.
Ramuntcho war nach ſeiner dreijährigen Dienfte
zeit aus dem Regiment in der nördlichen Garniſon—
ſtadt entlaſſen. Mit zerriſſenem Herzen, mit einem
Herzen voller Aufruhr und Weh, kehrte er in die
Heimat zurüd.
Sein zweiundzwanzigjähriges Gefiht war durch
die heißen Sonuenftrahlen gebräunt, fein jehr lang
getvordener Schnurrbart gab ihm ein ſtolzes, vornchmes
Aussehen, und den Aufſchlag des Zivilanzugs, den er
im Moment vor der Abreife gelauft, zierte das ehren-
volle Band der Berdienftmedaille. Nach einer Nacht»
fahrt war er in Bordeaur angelangt und beftieg dort
mit wacjender Erregung den Zug nad) Irun, der
ihn durch die einförmigen, endlofen Landes direft in
den Süden führte, Er hatte ſich in die Ede rechts
gejeßt, um fofort den Bisfayiichen Golf und die Höhen
Spaniens zu jehen.
In der Nähe von Bayonne erbebte fein Herz, als
er die erften baskifchen Barette und an den Halte
ftellen die erften basfifchen Häufer zwifchen Fichten
Pierre Loti.
und Korkeichen wieder ſah. In St. Jean⸗de⸗Luz endlich,
als er ausſtieg, fühlte er ſich gleichſam berauſcht ...
Nach dem Nebel und der Kälte, die ſchon im Norden
Frankreichs herrſchen, befand er ſich hier plötzlich in
einem wonnigen warmen Klima und hatte das Ge-
fühl, ald ob er in ein Treibhaus trete. Es war ein
jonniger Tag; der Südwind, der entzüdende Südwind
wehte, und die Pyrenäen ragten in herrlichen farben
ftimmungen in den hoben, freien Himmel. Dazu
fam noch, daß junge Mädchen vorübergingen, deren
frößliches Lachen an den Süden oder an Spanien
erinnerte, und welche die ungezwungene, vornehme Anz
mut der Baslinnen hatten. Nach den ſchwerfälligen
Blondinen des Nordens gefielen jie ihm nod mehr
ala alle dieſe jommerliche Stimmung . . . Raſch jedod
fiel er in jein tiefes Brüten zurüd; wie mochte er nur
daran denken, ſich je wieder vom Zauber dieſes Landes
einnehmen zu laſſen, da die wiedergefundene Heimat
nun immerdar leer und öde für ihn war? Wie fonnte
die reizvolle Natürlichfeit diefer Mädchen, die iro-
niiche Heiterkeit des Himmels, der Menſchen und
Dinge feine unendliche Verzweiflung ändern?
Nein! Schnell heim in fein Dorf! Schnell fein
Mutter umarmen!...
Wie er vorbergeiehen, war der Eilwagen nad
Eichezar jhon vor zwei Stunden abgefahren. Chne
Anstrengung jedoch konnte er diefen langen, vertrauten
Meg zu Fuß unternehmen, ex fonnte trogdem nodh
vor Naht ankommen. Er faufte fih Strohſchuhe,
jeine Fußbekleidung bei den früheren Märſchen, und
mit jeinem raichen Gebirgägang, mit ben langen,
fräftigen Schritten war er bald im Herzen des Pandes,
auf Straßen, die liebe Erinnerungen wedten.
Der November ging zu Ende Warm ftrahlte
die Sonne, die bier auf den pyrenäiſchen Abhängen
immer lange verweilt. Seit vielen Tagen ſchon lag
derjelbe Mare Himmel über den halbentblätterten
Wäldern und über den von der intenfiven Farbe der
Farne geröteten Bergen. Am Rande des Weg?
wuchſen hohe Gräfer wie im Monat Mai, jowie grobe,
ihirmartige Blumen, die ſich in der Jahreszeit geirrt
zu haben jchienen. In den Heden hatten Rainweiden
und wilde Rojen wieder Blüten getrieben, Bienen
jummten um fie herum und auch beharrliche Schmet:
terlinge, denen der Tod noch für einige Wochen Sche-
nung angebeihen lieb.
Hie und da jahen baskiſche Häuſer aus den
Bäumen hervor, ſehr hoch, mit vorfpringendem Dadı,
grell weiß troß ihres hoben Alters, mit braunen oder
grünen Fenſterläden, von altem, verblaftem Grün.
Ueberall trodneten auf den Holzbalkonen goldgelbe
Kürbiffe und Garben rojafarbener Bohnen ; auf allen
Mauern hingen, gleich ſchönen Roſenkränzen aus ſto—
rallen, Guirlanden von hochrotem ſpaniſchem Pieffer:
Ramuntdo.
635
alle die Spenden der fruchtbaren Erde, des nähren» | jchon feine Vorfahren, Aderer und Ochfentreiber wie
den alten Bodens, die jeit Menjchengedenfen als Bor: |
räte für die fonnenlojen trüben Monate gefammelt |
werden.
Nach dem herbitlichen Nebel des Nordens erwedten
diefe Mare Luft, diefe füdliche Sonne, jede Heine |
Eigentümlichkeit der Heimat Gedanken voller —
in Ramuntchos Seele.
63 war auch die Zeit gefommen, wo man die
Farne jchmeidet, mit denen die rotbraunen Hügel '
wie mit einen Vließ bebedt find. Große, ochſen⸗
beipannte Wagen fuhren damit beladen langiam in |
der jhönen melandholiihen Sonne, eine Spur des
würzigen Duftes binter fi) laffend, den einfam ges
legenen Meierhöfen zu. Schr langſam bewegten ſich
diefe ungeheuern Laſten von Farnen auf der Berg-
frake vorwärts, — langjam, mit Schellengeflingel.
Starte, ſchläfrige Zugtiere, mit dem traditionellen
braunen Scaffell auf den Köpfen, das ihnen eine
Uchnfichleit mit Auerochſen oder amerikanischen
Büffeln giebt, zogen die jchweren Fuhrwerle, deren
Räder volle Scheiben find, gleich denen der antiken |
Bagen.
waffnet, gingen geräujchlos in Strohſchuhen voraus,
im rojafarbenen, auf der Bruft geöffneten Hemd, die
Jade über die Schulter geworfen, das wollene Barett
tief in das bartlofe, magere Geficht gedrüdt, dem die
große Kinnlade, die breiten Halsmuskeln ein ſeſtes,
ſtarkes Ausfehen gaben.
Es famen auch Zwilchenpaufen völliger Einfanı-
feit, wo man auf diefen Wegen nur noch das Summen
der Mücken im gelblichen, ſchon ſchwindenden Schatten
der Bäume hörte,
Ramuntcho muflerte die jeltenen,, feine Wege
freugenden Borübergehenden und war erflaunt, noch |
feinen Bekannten unter ihnen gejehen zu haben. Kein |
vertrautes Geficht, fein Freund, der in Herzlicher MWeije
mit ihm gefprochen hätte! Niemand — nur das banale
„Guten Tag” von Leuten, die ih wohl umdrehten,
weil fie glaubten, ihn ſchon irgendwo gejehen zu haben,
aber fi) nicht erinnern lonnten wo, und wieder in
Nilfer Träumerei durd) Feld und Wald weiterfchritten,
Die Ochſentreiber, mit langen Stöden be |
Jahren babe ich mid, verheiratet.
— und mehr denn je fühlte er die Verfchiedenheit
wiſchen fich und diejen Feldarbeitern.
Dort drunten jedoch zeigte ſich jeht ein Wagen
mit fo hoch aufgetürmter Laft, dab er an den Baum:
jieigen im Worüberfahren anjireifte. Voraus ging
der führer, der ruhig und gelafjen dreinichaute, ein
breitfhulteriger, gemütlich ausfehender Burſche, rot
wie die Farnkräuter, rot wie der Herbſt, mit rotem,
fruppigem Pelz auf der nadten Bruft. Gemächlich
ſchritt er dahin, die Arme über den quer auf der
Schulter liegenden Zreibftahel gelreuzt. Ebenſo
gingen ohne Zweifel am Abhang berjelben Berge
er, ungezählte Jahrhunderte zuvor,
Als der Burſche Ramuntcho erblidte, berührte er
feine Ochſen an der Stirn und hielt fie mit einer
Bewegung und einem furzen, befehlenden Ruf an;
aledann ging er auf den Wanderer zu und ſtreckte
ihm bieder die Hände entgegen...
Florentino! Ein jehr veränderter Florentino! Er
war breiter geworben und jah männlicher aus; dazu
fam noch, dab er viel freier und ficherer auftrat.
Die beiden freunde umarmten ſich und ſahen ſich
ſchweigend an, eingeſchüchtert vlößlich durch die aus
dem tiefiten Innern der Seele fteigende Flut der
Erinnerungen. Seiner von beiden wußte ihr Aus«
drud zu geben, Ramuntcho ebenjowenig wie Floren—
tino; war aud) feine Sprade unendlih mehr aus-
gebildet, fo war auf der andern Seite fein tiefes,
geheimnisvolles Seelenleben viel unergründlicher.
Es lag ihnen fchwer auf dem Herzen, daß fie nicht
im Sande waren, ihre Gefühle auszuiprechen, und
verlegen blidten fie auf die beiden ftillfiehenden
Ochſen.
„Die gehören mir,“ fagte Florentino. „Vor zwei
. Meine Fran
hat ihrerjeit$ zu thun .„.. und da wir beide arbeiten,
geht es uns leidlich gut. — Ah!“ fuhr er mit naivem
Stolz fort, „ich habe noch ein andres Paar Ochſen,
wie dieje, zu Haus.“
Plötzlich hielt er inne und ward über und über
rot, denn er beſaß den Takt, der aus dem Herzen
fommt. Die einfachften Menſchen haben benjelben
oft von Natur, und die Erziehung kann ihn niemals bei=
bringen, jogar den feinften Weltmenſchen nicht. Er
dachte an die traurige Heimfehr Ramuntchos, fein
jerftörtes Glück, an feine bei den Nonnen begrabene
Braut, feine fterbende Mutter, und befürchtete jchon
zu graujam geweſen jein, als er von feinem eignen
Glüd ſprach.
Sie ſchwiegen wieder und jahen ſich nod) eine
Weile gutmütig lächelnd an, aber fie fanden feine
Worte. Hatte fih doch auch zwiſchen beiden die
Kluft der Begriffsverfchiedenheit in diejen drei Jahren
noch vertieft! Florentino berührte wieder feine Ochſen
an der Stirn, und mit der Zunge fchnalzend, fehte
er jiein Bewegung, nachdem er die Hand des Freundes
warm gebrüdt.
„Mir fehen uns bald wieder, — nicht wahr?“
Das Schellengeflingel feines Geſpanns verlor ſich
in der Stille des ſchattigen Weges, wo allmählich
die Hitze des Tages abnahm.
„Sa, der hat Glüd gehabt!” dachte Ramuntcho
und ging traurig finnend unter den herbjtlichen
Zweigen weiter,
*
Die fortwährend bergauf führende Straße iſt hie
636
und da von Quellen unterwühlt, mandmal von
diden Baummurzeln durchlreuzt.
Bald wird Etchézar jichtbar fein, und noch ehe
er es erblidt hat, jteht fein Bild Mar vor ihm; die
ganze Umgebung ruft es ind Gedächtnis und belebt
es. Sein Schritt wird eiliger, fein Herz klopft ſtärker.
Dede ilt es jeht für ihn, das ganze Fand — Gra—
ziella ift nicht mehr dort! Dede, jchmerzlich zu durch—
wandern, wie ein geliebte Heim, in dem der große
Schnitter Einkehr gehalten hat...
Und dennod wagt Ramuntcho im Innern feiner
Seele ‚daran zu denken, daß in irgend einem Meinen
Klojter dort drunten, unter der Nonnentapuze, die
lieben, ſchwarzen Augen noc leuchten und er fie |
wenigitens wiederjehen kann — daß ein Kloftergelübde
im Grund noch nicht der Tod ift, und vielleicht
das Schidjal das letzte Wort noch nicht geiprochen
bat...
Alles wohl erwogen — wie fonnte Graziellas Herz,
das ihm früher jo ganz zu eigen war, ſich jo plößlich |
umftimmen laſſen? O, entjeßliche, fremde Beein-
fluſſung mußte auf fie gedrüdt haben, und wer weil;
|
— wenn fie ſich wiederjehen, jih Aug’ in Aug’ bes |
raten fönnten?... Allein was fonnte er Vernünf—
|
tiges, Mögliches hoffen? Sah man je hierzulande |
eine Nonne ihrem Gelübde untreu werden, um ihrem |
Bräutigam zu folgen? Wohin überdies konnten fie
zufammen gehen? Alle Welt würde ihnen aus-
weichen, fie wie Abtrünnige fliehen! Nah Amerika
vielleicht! — und da fragte es jih! Schliehlich, wie
an fie heranfommen und fie wieder aus dem weißen
Totenhauje holen, in dem die Nonnen leben, ewig über—
wacht und belauert!... Nein, nein!
waren unausführbare Hirngejpinfte!
Ende, bofinungslos!
Für einen Moment vergiht er jeht die Trauer
um Graziella — es zieht ihm von ganzem Kerzen
zu feiner Mutter, die ihm geblieben, die hier ganz
in der Nähe und ohne Zweifel durch die freudige
Erregung, ihn jo bald zu jehen, etwas erjchüttert ift.
Linfs auf der Straße erjcheint jeht halb verftedt
zwiſchen Buchen und Eichen ein armes Dorf mit
einer alten Kapelle und mit einer von hohen Bäumen
umgebenen Mauer zum Balljpiel. Alsbald tritt wie—
der Wandel in dem Gedanfengang des jungen Kopfes
ein. Beim Anblid der Heinen, oben abgerundeten
Mauer erwachen in Ramuntcho ftürmifche Erin-
nerungen, Leben, Freude und Kraft. Mit findlichem
Vergnügen jagt er ih, dab er morgen wieder mit
dem basfiihen Spiele beginnen fann, ſich tummeln
in rajchen, gewandten Bewegungen.
großen Spielpartien an den Sonntagen nad) dem
Gottesdienft, an den Sieg nad) ſchönen Kämpfen mit
den Spielern Spaniens, lauter Dinge, die er in den
legten drei Jahren der Verbannung jo jehr vermißt
Das alles
Alles war zu |
Er gedenft der |
Pierre Loti.
bat und durch die er jeht ſein Fortlommen finden
fann.
Allein es dauert nur eine furje Weile, und
Schmerz und Verzweiflung fehren wieder in jein
Herz ein. Seine Triumphe auf dem Plaf!... Gra—
ziella wird fie nicht mehr mit anjehen!... Wozu
alſo? Mein Gott!... Ohne fie ift alles auf der
Welt, jelbft das, farblos, unnötig und eitel, alles das
hört auf, für ihn vorhanden zu fein...
*
Etchezar! An der Biegung dort drunten wird
es plöglich fihtbar. Es liegt in rotem Scheine, gleich
einem Zauberbilde, und als ob es abſichtlich, auf
ganz beiondere Weile, inmitten der jchattigen, abend»
lihen Umgebung beleuchtet wäre. Die Sonne ift
im Untergehen. Um das einfame Dorf mit dem
alten, jchwerfälligen Glodenturm zeichnen die letzten
Strahlen einen Hof von Gold» und Stupferfarke,
indes Wollenballen und ein von der Gizune ber:
fommendes gewaltige Dunkel die Erde oben und
unten verfinſtern! ...
O, mit welch wehmütiger Stimmung ſieht er die
Heimat, wie traurig iſt dieſe Erſcheinung für den
heimkehrenden Soldaten, der ſeine Braut nicht mehr
findet! ...
Drei Jahre find vergangen, ſeitdem er von bier
fortzog . . Drei Jahre, wenn auch ein flüchtiges
Nichts im ſpäteren Leben, find in feinem Alter dod
eine lange Zeit, eine Periode, in der ſich vieles ver-
ändert, Wie vermindert, wie Fein, wie jehr in die
Berge eingeengt, wie traurig, wie verlaffen erſcheint
ihm nad) der langen Verbannung das Dorf, das er
trotzdem von ganzer Seele liebt! . . Jm Innern des
großen, noch wenig entwidelten Jungen beginnt, um
feine Leiden noch zu vermehren, von neuem der Kampf
der beiden ihm angeborenen Gefühle — bier eine
faft krankhafte Anhänglichleit anfein Haus, jeine Hei-
mat — dort ein Erjchreden vor dem Gedanfen, ſich
hier wieder einichließen zu jollen, nun, da er weih,
dab die Welt jo groß, jo weit ift.
Troß des warmen Nachmittags macht ſich ſchon
der Herbit fühlbar durch den früh abnehmenden Tag,
durch plötzlich eintretendes fühles Wetter mit einem
Geruch welfer Blätter und feuchten Moojes. Taujend
feine Erinnerungen aus früheren Serbitzeiten im
Basfenlande, aus verflofjenen Novembertagen treten
flar vor jeinen Geift: die falten, nebligen Abende nad)
den ſchönen, jonnigen Tagen, die in tintenfarbigen
Dunſt gehüllten oder auch ftellenweife als ſchwarze
Silhouetten von dem blaßgoldnen Himmel ſich ab»
hebenden Pyrenäen; rings um die Häujer die jpäten,
hier vom Reif lang verihonten Sommerblumen und
vor jeder Thür die dide Blätterſchicht der Platanen,
die unter dem Schritt des zum Abendeſſen heim»
fehrenden Mannes raſchelt . . . O, diejes Wohlgefühl
Ramuntdo.
und dieſe jorgenlofe Freude, diejes fröhliche Nach—
hauſelommen nad langen Märichen in den rauhen
Bergen! O, wie luſtig fladert zur Winterszeit das erfte
Feuer im hoben, mit weißen Leinwandzaden ver«
jierten Kamin! Nein, in der Stadt mit der Un—
mafle von Käufern, dieſen aufeinander ſitzenden
Wohnungen hat man nicht das wirfliche Gefühl eines
Heims wie bier in dem einfamen Dorfe, mitten in
der freien Natur, mit der großen Finſternis ringsum,
dem jchwarzen, zitternden Laubwerk, dem großen,
wechjelnden Dunkel der Höhen und Wolfen. Dod)
jest haben ihm Entfernung, Reifen und neue Bes
griffe fein Heim in den Bergen verleidet und ver—
dorben ; ficherlich wird er es faſt traurig finden, be=
jonders bei dem Gedanken, daß feine Mutter nicht
immer und Graziella niemals dort jein wird,
Sein Schritt wird durd die Ungeduld, feine
Mutter wiederzuichen, immer eiliger. lm das ab»
gelegene Haus zu erreichen, ſchlägt er einen Weg
oberhalb des Plafes ein umd geht um die Kirche und
das Dorf herum. Schnell vorübereilend fieht er
alles mit unſäglicher Erregung an. Friede und
Stille umſchweben die Heine Gemeinde Eichözar, die
im Herzen des franzöfiihen Bastkenlandes liegt und
die Heimat aller in der Vergangenheit berühmten
Pelotaris iſt, die jet ſchwerfällige Großbäter find
oder jhon längft im Grabe ruhen,
Die ſtets unveränderte Kirche, in melcher feine
gläubigen Träume begraben liegen, it noch immer
von dunfeln Cypreſſen umgeben, wie eine Moſchee.
Den Ballipielplag beleuchtet, während Ramuntdho
eilig vorüberſchreitet, ein letzter Sonnenftrahl, der
auf die von den alten Infchriften bededte Mauer
fällt — gerade wie an jenem Abend jeines erften
großen Erfolges. Bier Jahre ift es her, daß Gra—
jiella im blaßblauen Kleide hier unter der fröhlichen |
Menge ſaß — fie, die jetzt eine ſchwarze Nonne ges |
doch mit der unergründlicen Wehmut des langjam
worden!...
Auf den leeren Sihreihen, auf den grasbewade |
jenen Granititufen fißen drei oder vier Greife, melde |
früher zu den Kühnſten und Gewandteften des Ortes
gehörten. Ihre Erinnerungen führen fie ſtets wie«
der hierher, und bei herabfinlender Dämmerung plaus
dern fie von ehemaliger Zeit...
O, diefe Meinen Wirtshäufer, dieſe Fleinen, er- |
bärmfichen Buben mit den altfränfiichen feinen
Dingen für den Bedarf der Gebirgsleute! Wie fremd
wandelt ihn dies alles an, als ob es in den Hinter—
grund längſt vergangener Jahre geihoben wäre!
Gehörte er wirklich nicht mehr zu den Leuten von
Etchézar? Mar er nicht mehr der Ramuntcho von
chedem?
beihaffen fein, daß er ſich Hier nicht ebenſo wohl fühlte
wie die andern! Warum? DO, mein Gott! warım
war ihm allein verjagt, das jtille, geträumte Glüd
—— —ñe —ñ— —— —— —— —— — ——
Wie außergewöhnlich mußte ſeine Seele
637
zu erreichen, da doch alle ſeine Freunde das ihrige
erreicht hatten!
Endlich iſt er bei ſeinem Hauſe! Hier, vor ſeinen
Augen ſteht es! Es iſt ganz fo, wie er es wiederzu—
finden dachte. Längs der Mauer erkennt er alle
die ausdauernden, von ſeiner Mutter gepflegten
Blumen, dieſelben Arten, die im Norden längſt der
Reif zerſtört hat: Heliotrope, Geranien, hohe Dahlien
und Kletterroſen. Und die liebe Blätterſchicht, die
jedes Jahr von der Wölbung herabfällt, iſt auch da
und rajchelt traulich unter feinen Füßen.
Im unteren Saal iſt es bei feinem Eintritt ſchon
gran und dunkel. Der hohe Kamin, auf den jein
Blick zuerft jällt — denn inſtinktiv erinnert er ſich der
Ihönen, hellen Flammen in früheren Tagen — ift
derjelbe mit feinen weißen Verzierungen, jedod) kalt,
voller Schatten, als ob er Abmwejenheit oder Tod
berriete.
XXX,
Ramuntho irrte am nächſten Morgen im Dorfe
und der Umgebung umber unter einer Sonne, welche
die Molfen durchdrang und wie am Tage vorher
glänzte,
Sorgfältig gekleidet, mit Hinaufgeftrichenem
Schnurrbart, ftolz und vornehm ausjehend, ernft und
ſchön, ging er dahin, um zu jehen und um gefehen
zu werden; in feinen Ernft mifchte fich ein wenig
Kinderart, in feinen Summer ein wenig Wohl«
behagen. Seine Mutter hatte ihm beim Erwachen
gejagt:
„Ich verfichere dich, ich fühle mich beſſer. Heute
ift Sonntag, gehe jpazieren, ich bitte dich inftändig.“
Die Vorübergehenden drehten fi um und fahen
ihm nad, flüfterten eine Weile und trugen alsdann
die Neuigfeit im Dorfe herum: „Franchitas Sohn
ift wieder da ; welch prächtiger Menfc er geworden iſt!“
Ueber der ganzen Gegend lag Sommerftimmung,
nabenden Abſterbens. Troß der Sonnenftraßlen jah
das pyrenäiſche Fand traurig aus. Alle Planzen,
alle Gräjer jchienen in eine eigentümliche, lebensmüde
Ergebung, in Todesahnung verjunfen.
Jede Biegung det Weges, jedes Haus, der ge-
ringfte Baum, alles erinnerte Ramuntcho an che
malige Tage, an die Tage, da Graziella an allem
teil hatte, Bei jeder Erinnerung, bei jedem Schritt
prägte und hämmerte fi unter neuer Form der un—
umftößliche Urteilsſpruch in feinen Geift: Alles ift
zu Ende! Du bift allein auf immerdar... Oraziella
ift die genommen und in ein Kofler geiperrt ...!
Alles auf feinen Wegen erneuerte und vermehrte fein
Weh, und im tiefften Innern quälte ihn die andre
bittere Sorge, um jeine Mutter, feine gute Mutter,
die jo frank jchien, vielleicht lebensgefährlich .. .
Er begegnete Leuten, die ihn anbielten und
638 Pierre Loti.
freundlid) und gut einige Worte in der lieben baski—
ſchen Sprade an ihn richteten... Alte Barettträger
mit grauen Häuptern ſprachen über das Ballipiel
mit dem bewährten Spieler, der zu ihrer fyreube num
wieder heimfam... Aber fofort nad) den erften Bes
grüßungen wurden fie troß der hellen Sonne am
blauen Himmel ernfter, und der Gedanke an Graziella
im Kloſter, an die fterbende Franchita machte fie ver
legen,
Alles Blut flieg ihm plößlich zu Kopf, als er von
weitem Dolores kommen ſah. Er fand fie jehr ge
altert und jehr gedrüdt ausjehend. Auch fie erfannte
ihn fiherlid), denn raſch wandte fie den eigenfinnigen,
böjen, mit einer Trauermantille bededten Kopf zur
Seite. As er fie fo elend und unglücklich vorbei=
gehen jah, kam helles Mitleid über ihn, denn er
mußte ſich jagen, daß fie zugleich fich ſelbſt geftraft
hatte und nun in ihrem Alter allein jein würde,
allein, wenn der Tod heranfommen würde.
Auf dem Plage traf er Marcos Jragola. Dieler
teilte ihm mit, daß er gleich Florentino verheiratet jei,
natürlich mit feiner Meinen Geliebten, die er ſchon
als Kind gern hatte,
„I brauchte nicht beim Militär zu dienen,“
erklärte er ihm, „weil wir, wie du weißt, Guipuz⸗
coaner find; daher fonnte ich früher heiraten,“
Er war einundzwanzig, fie achtzehn Jahre alt.
Beide hatten weder Gut noch Geld. Trotzdem waren
Marcos und Pilar fröhlich und guter Dinge, gleich
zwei Spaken, die ihr Neft bauen.
Und lachend jehte der junge Ehemann hinzu:
„Was willſt du? Der Vater hatte zu mir ges
jagt: ‚So lange du, mein Veltefter, nicht heirateft,
made dic darauf gefaßt, daß du jedes Jahr einen
Meinen Bruder kriegt.‘ Und das wäre auch fo ge—
worden, das fannjt du glauben! Wir find jeht glück:
lic vierzehn, alle gefund und munter! ...“
O, diefe einfachen Naturmenfchen, wie find fie
zu beneiden, dieſe frommen, in ihrer Anipruchslofig-
teit glüdlihen Menſchen!
Ramuntcho verließ ihn etwas eilig, denn er fühlte
fi jetzt womöglich noch unglücklicher. Dennoch
wünſchte er dem jungen Pärchen, das ſich ſo ſorglos
ſein Neſt gebaut, von ganzem Herzen Glüd.
Hie und da ſaßen die Yeute vor ihrer Thür in
dem Atrium aus Zweigen, das vor allen Häufern
jteht. Durch die Wölbungen der Platanen, im Som—
mer undurchdringlich und ſehr durchſichtig in diefer
Jahreszeit, fielen große Lichtftrahlen. Die Sonne
brannte zerftörend und traurig auf die gelben, welken⸗
den Blätter,
Schon bei jeinem erften Spaziergang fühlte
Ramuntcho mehr und mehr, welch eigentümliche, bes
harrliche Bande ihn an diefen eingeſchloſſenen Erden-
winfel fmüpften, jelbit wenn er allein und verlaffen
wäre, ohne Freundin, ohne Gattin und ohne Mutter.
Jetzt läutete e& zur Meſſe. Die Klänge erregten ihn
auf jeltfiame Weile, wie er ed nie empfunden hatte.
Ah, früher war der mohlvertraute Ton ein Auf zu
Freuden und zu Feſten! — Er blieb fichen, er
zögerte troß jeines jekigen Unglaubens, troß feines
Grolls gegen dieje Kirche, die ihm feine Braut ge-
raubt. Die Glode ſchien ihm heute ganz befonders
mit einjchmeichelnden, beruhigenden Klängen zuzu—
rufen: „Komm, fomm! Laß did) einmwiegen, wie deine
Voreltern! Komm, fomm, armer Betrübter, laß dic
vom jüßen Wahn einnehmen! Deine Thränen wer:
den ohne Bitterkeit fließen, und er wird dir in der
Todesſtunde helfen! ...“
Unſchlüſſig und immer noch widerſtrebend, ging
er ſchließlich der Kirche zu, als Arrochloa auf ihn
zulam. Arrochloa, deſſen Katzenſchnurrbart ſich an-
ſehnlich verlängert und deſſen latzenartiger Geſichts—
ausdruck ſich noch ſchärfer ausgeprägt hatte, eilte
mit ausgeftredten Händen auf ihn zu, mit einer un:
erwarteten Herzlichkeit und einer vielleicht aufrichtigen
Begeifterung für den Erfergeanten, der jo flott auf
ſah, mit dem Band der Mebaille geſchmückt, und
deſſen Waffenthaten in die Heimat gedrungen waren,
„Ah, Ramuntdho, jeit warn bift du hier? ©,
wenn ich hätte alles verhindern fünnen, mein Lieber!
Was jagft du zu meiner alten, gefühllofen Mutter
und all diejen alten Betjchweftern?... O, ich habe
dir ja noch nicht gejagt, ich Habe einen Sohn, ſeit
zwei Monaten, ein famojer Heiner Kerl!... So viel
haben wir ung zu erzählen, jo viel, armer Freund!“
Haſtig fteigt er zum Zimmer feiner Mutter hinauf.
Von ihrem Bette aus hat fie den Schritt des
Sohnes erfannt und ſich aufrecht geſeht, ganz gerade,
ganz weiß im Dämmerlichte.
„Ramuntcho!“ ruft fie mit dumpfer, altersmüder
Stimme.
Ste ftredt ihm die Arme entgegen, und jobald
fie ihn Hält, umichlingt fie ihn und drückt ihn am ſich.
„Ramuntcho!“
Und nachdem ſie den Namen ausgeſprochen, lehnt
ſie, ohne weiter zu reden, ihren Kopf an ſeine Wange,
wie ſie früher in den Momenten großer Zärtlichleit
gethan ... Er fühlt das Geſicht der Mutter brennend
heiß an dem feinen ruhen. Dur das Hemd hin.
durch jpürt er die Fieberhige der abgemagerten Arme.
Unfäglicher Schreden befällt ihn beim Gedanken, das
fie ſehr frank jein müſſe, — und die Möglichkeit, du
plögliche Angft, fie werde jierben, entjegen ihn.
„Ah! du bijt ganz allein, Mutter! Wer pflegt
dih? Wer wacht bei dir?“
„Bei mir wachen ?" antwortet fie etwas jchroff, in
einer Anwandlung bäuerlicher Sinnesart. „Wie? ich
follte Geld ausgeben und jemand bei mir wachen Laffen?
Wozu denn? Die alte Doyamburu fommt bei Tage
—
ke.
Ramuntdo.
und reicht mir alles, was ich brauche und was ber
Arzt anordnet ... Obgleich ... weißt du, die Arz«
neien! . . . Zünde die Lampe an, mein Ramuntcho!
Ich möchte dich ſehen und fann es nicht!“
Als er mit einem geihmuggelten Streihholz Licht
gemacht, fährt jie mit liebloſender, unendlich janfter
Stimme fort, wie man mit einem noch ganz kleinen,
vielgeliebten Finde redet: „Ab, dein Bart! Wie lang
dein Schnurrbart geworden ift, mein lieber Sohn!
Ich erfenne ja gar nicht mehr meinen Ramuntdo...
Bringe die Lampe näher her... daß id) dich befjer
iehen fann !”
Er ſieht fie nun auch beffer im Schein der Lampe,
indeflen fie ihn betrachtet und voll Liebe bewundert.
Und feine Angft verftärft fi, weil die Wangen ber
Mutter jo hohl, ihre Haare jo weiß geworden find;
ja jogar der Ausdruck ihrer Augen ift ein andrer,
fie find wie erloſchen .. . Auf ihrem Geficht liegt ein
tiefbetrübendes und unheilbares Weh, von der Zeit,
der Arbeit und dem Kummer aufgeprägt. Jebt fließen
jwei ſchwere, raiche Thränen aus Franchitas Augen,
welche plößlid durch Verzweiflung, Haß und Em-
pörung größer, lebendiger und jünger werden.
„D, diefe Frau!” ruft jie aus. „O, wenn bu
wühteft, diefe Dolores!”
Ihr unbollendeter Ausruf drüdt den gungen
dreibigjährigen Groll gegen die Feindin aus, der «8
endlich gelungen, das Leben ihres Sohnes zu zerftören,
Beide find ſtumm. Er hat jich gebeugten Hauptes
an das Bett geſetzt und hält die fieberglühende Hand
jeiner Mutter in der feinen. Sie atmet tiefer, fie
fteht, wie es fcheint, eine Zeitlang unter dem Drude
des Gedankens, den auszuſprechen fie zögert.
„Sag mir, mein Ramuntcho, ich möchte dich
fragen — was gedentft du jeht zu thun, mein
Sohn? Welche Pläne haft du für die Zufunft ger
macht?”
„Ich weiß noch nicht, Mutter! Wir werden und
darüber bereden — es wird fich alles finden. Du
fragst fo ſchnell danach! Wir haben ja alle Zeit,
nicht wahr? Nach Amerika, vielleicht . . .*
„Ah ja!” Führt fie langſam fort, doch mit dem
ganzen Schreden, der jchon viele Tage in ihr brütet,
„nad Amerika! ... Ja, ich dachte es wohl! Ach ja!
das wirft du thun! ... Ich wuhte es! ... Ich wuhte
ea wohl! ...“
Ihre Worte endigen mit einem
und fie faltet die Hände zum Gebet,
Die Glode läutete und läutete und erfüllte mehr
und mehr die Quft mit ihrem fanften, ernften und
zugleid) gebieterifchen Ruf.
„Du wirft doch nicht da hinein geben, denfe ich?“
fragte Arrochloa, auf die Kirche deutend.
„Nein, o nein!" antwortete Namuntcho, der jebt
düfter entihloffen daftand.
tiefen Seufzer,
—— — — — — — ————— —— —— — — — —
639
„Nun, ſo komm mit mir, wir wollen den neuen
Apfelwein verſuchen!“
Er zog ihn mit ſich ins Schmugglerwirtshaus;
beide ſetzten ſich ans offene Fenſter, wie ehedem, und
ſahen hinaus; aud) diefer Ort, die alten Bänke, die
in geordneten Reihen liegenden Fäſſer, die Bilder
an der Wand, erinnerten Ramuntcho an die ent-
züdende frühere Zeit, die nun dahin war,
Das Wetter war köftlih, der Himmel von jel-
tener Klarheit — in der Luft ſchwebte der Duft der
Herbſtzeit; der Geruch der fich entblätternden Wälder,
ber von der Sonne erhigten welfen Blätter am Boden,
Nah der vollitändigen Windftille des Morgens
erhob ſich nun ein leichter Herbfiwind, ein November:
Ihauer, der Mar und beutlih, Wehmut erregend,
den Winter anfündigte — wohl ein jüdlicher Winter,
ein jehr gemäßigter, der faum das Leben im Freien
unterbricht. Uebrigens waren die Gärten und alle
alten Mauern noch über und über mit Rojen bededt.
Zuerft redeten fie von gleihgültigen Dingen, ihren
Apfelwein trinfend, von Ramuntchos Reifen, von
dem, was fich unterdeifen im Dorfe zugetragen, von
den Heiraten, die ſich vollzogen oder ſich wieder ge—
löft; und zu den beiden die Kirche fliehenden
MWiderjeglihen drang jedes Geräuſch der Meffe: das
Klingeln mit der Schelle, die Orgeltöne, die Jahr:
hunderte alten Gefänge.
Schließlich berührte Arrochtoa die brennende
Trage.
„OD, wäreft du hier gewejen! Niemals hätte es
dazu fommen fönnen, glaube mir! Und jeßt noch,
wenn jie dich wiederſähe! ...“
Ramuntcho ſah ihn an und erbebte vor dem Ge“
danten, den er zu erraten glaubte.
„Seht noch? ...“
„O, mein Lieber, die Frauen! Lernt man ſie
jemals verſtehen? .. Sie hing zwar ſehr an dir, das
fann ich dich verſichern, auch daß es ſchwer hielt!
In unſern Tagen jedoch giebt es fein Geſetz mehr, das
jemand zurüdhalten fönnte, zum Teufel! ... Ich für
meinen Teil würde mich nicht darum jcheren, wenn
fie ihr Kloſter verließe! DO, la la!“
Ramuntho wandte den Kopf ab. Er ſah zu
Boden, antwortete nicht und Mopfte mit dem Fuße
auf den Boden auf. Während beide ſchwiegen, erjchien
ihm die gottlofe Eingebung, die er fich kaum ſelbſt
einzugeftehen gewagt hatte, nicht mehr jo chimäriſch,
nicht unausführbar, faft leicht... Nein, wahrlich, es
wäre nicht undenlbar, fie wiederzubeflommen... Im
Notfall würde ohne Zweifel Arrochkoa, ihr eigner
Bruder, die Hand dazu bieten. O, welche Verſuchung,
welch neue Seelenerregung !
Er fragte kurz:
„Wo ift fie? Meit von hier?“
„Ziemlich! Dort drunten gegen Navarra ; es
640 Pierre Poti.
find fünf bis jehs Stunden Wagenfahrt. Zweimal
ſchon, jeitdem fie in ihrer Gewalt ift, mußte fie das
Klofter wechſeln. Jetzt ift fie in Amezqueta, jenjeits
des großen Eichwalbes von Oyanzabal. Man ge:
langt über Mendichoco dahin, du weißt, wir haben
den Weg jchon einmal zufammen in Geihäften mit
Itchoua gemacht.”
Der Gottesdienft war zu Ende,
zogen die Leute vorüber: Frauen, jhöne Mädchen
mit vornehmer Haltung, unter welchen Graziella nicht
mehr war; dann die Männer, die Barette über bie
gebräunten Stirnen gezogen, Jeder wandte ſich um
und betrachtete die beiden am Fenſter des MWirts-
hauſes. Der nun heftiger wehende Wind wirbelte
große, welle Platanenblätter auf, die um ihre Gläfer
berumtanzten.
Eine ältere Frau warf ihnen unter der Trauer-
mantille hervor einen böfen, traurigen Blid zu.
„Aha!“ ſagte Arrochkoa, „dort geht meine Mutter;
wie ſeltſam ſchaut fie ung an!... Ja, ja, fie hat
an jenem Tag jchöne Dinge angerichtet! . . . fie fann
fih dejien rühmen ... Uebrigens ift fie damit am
meiften geftraft, denn ſie wird nun ihr Leben in Ein»
ſamkeit beſchließen . . . Die Katharine, — du weißt,
die alte Eljagarray — ift ihre Zugängerin; außerdem
bat fie niemand, mit dem fie die Abende verbringen
fönnte ,
Plöplid) wurden fie von einer Baßſtimme unter
brochen, die ein basliſches, bohlffingendes „Guten Tag“
ausrief, indeſſen eine jchwere, große Hand ſich auf
Gruppenweiſe
— Ramuntdo.
Ramuntchos Schulter legte, als ob fie Beſitz von ihm
ergreifen wollte, Es war JItchoua, der joeben mit
4 jeinem Kirchengelang fertig geworben war. Er war
ganz unverändert. Immer dasjelbe farbloje Geſicht,
| diejelbe Phyfiognomie, halb Mönd, halb Strafen:
‚ täuber, diejelben tiefliegenden Augen mit dem geifte-
abwejenden Blid. Auch in jeinem Weſen ſchien er
derjelbe geblieben zu fein — er, der im ſtande war,
in aller Gelaffenheit zu morden, und zur gleichen Zeit
‚ aus der Andacht einen Fetiſchdienſt machte,
„Ah!“ jagte er mit einem Ton, der gutmütig
fingen ſollte, „da wäreſt bu ja wieder bei uns, Ra
muntcho. Ich denfe, wir arbeiten jet wieder zufammen!
Nicht? Im Augenblid blüht das Geſchäſt mit Spa:
nien, und man braucht Arme an der Grenze. Du ge
börft dody noch zu uns? MWie?...*
„Mein Gott, vieleiht!” antwortete Ramuntco.
„Man kann ja noch darüber reden und id ver
ftändigen ...”
Seit einigen Minuten nämlich war im feinem
Geifte die Abreife nach Amerika wieder hinausgerüdi
worden ... Nein! lieber im Lande bleiben! Das
frühere Leben wieder aufnehmen, überlegen, beharr-
lich warten... Webrigens nun, ba er wußte, wo
' Graziella war, mußte er viel und mit gefährlichen
Abfichten an dieſes Amezqueta, dad nur fünf bis
ſechs Stunden fern von hier gelegene Dorf, benlen,
‚ und er fahte jetzt allerlei frevelhafte Pläne, an die er
bis zum heutigen Tag kaum zu denken gewagt.
N Sqluß folgt.)
Sonnenuntergang.
Don
E. 2, Rolter.
Ans dem Bolländiichen überfegt T. Pluim.
Du Sonnenflamm', am Borizonte fintend
Still in dein aoldnes Grab im blauen Aetber,
Wie feierlich ift deines Todes Stunde!
Das jtilfe Waſſer fchläft in deinem Lichte
And fendet zart fein rofenrotes Lächeln,
Entzückt von deinem Bild, zu dir empor.
Das filberhelle Schilf- am Ufer raufchet
Noch einen zarten Abjchiedsgruß dir zu.
Der Wipfel, den du rötlich-aolden färbeft,
Erfchauert leis im fanften Abendiwinde
Und bebet leicht in feligem Entzüden,
Inden er dir ins Rofenantlitz fieht. —
Yun ftirbt allmählich auch der Wind, ımd alles
Erwartet ehrfurchtsvoll dein letztes Licht.
Noch eine Weile glüht der Himmel nadı
Und fpricht von deiner hehren, zarten Prabt.
Und wenn die fahle Nacht gefomment ift,
Die Erde deckend mit dem dunkeln Schleier,
Derfolgft du deine Bahn jtill durch den Kaum.
——
Diener.
Vier Porträts
von
A. A, Gontfcharom,
Aus dem NRuffifchen überfeht von A. Olfchwang und $. Kryzanowski.
1118
Stjepan mit der Familie.
Wo ſeid ihr, meine Diener, meine Leibwächter?
Ihr Hüter meines Geldes und meiner Wäſche? —
„Einige find nicht mehr da, und die andern weit.”
Aber wenn meine Erinnerung bei dem einen
oder andern verweilt, erjcheinen vor mir, aus der
Finfternis auftauchend , gleichſam lebendig die Ge—
ihter von Michejs, Jegord, Maxims, Pamweld und
fo weiter. Ich fehe fie vor mir mit Präfentier-
brettern und Taſſen, Bürften in ben Händen, und
höre förmlich ihre Gefprähe. Von einigen, die mir
mur kurze Zeit dienten, ift nicht viel zu jagen. Sie
bilden eine ziemlich einförmige Geſellſchaft und laſſen
ſich kurz bezeichnen als die Gruppe der Trinfenden,
Sie haben mir viel Blut verborben und mein Jung—⸗
geiellendafein gründlich vergällt. Ich wähle aus
diejer Zahl ein paar Silhonetten als Gegenftüde zu
Anton.
Da war ein gewiſſer Piotr, ber mich nachts, ſo—
bald er mit der Bedienung fertig war, in ber
Wohnung einſchloß und irgendwohin wanderte, um
Branntwein zu trinfen oder arten zu jpielen. Ich
erfuhr dies jpäter von einer alten Frau, die bei mir,
in der Küche, einen Winkel hatte, damit die Mob-
nung nicht ganz leer jtünde, wenn ich und ber
Diener nicht da waren,
Ich ftellte ihn darüber zur Rede. Er Teugnete
jedoch hartnädig. Ganz bejonders wollte er vom
Branntwein nichts willen.
„Nie, nie! Ich bin zweimal weggegangen, aber
nit, um Branniwein zu trinken. — Nein!”
„Weshalb denn alfo? Was thateit bu?“
„Ich ging nit, um Branntwein zu trinfen,*
wiederholte er ftarr und fleif. „Ich ging aus andern
Gründen — aus gejchäftlichen.”
„Aus was für Gründen ?*
„Aus andern, nur nicht, um Branntwein zu
trinken,“
Einmal wollte ich fontrollieren, ob die alte Frau
Aus fremden ungen, 1897. IL 14
recht habe, und ging fpät in der Nacht, als ich mit
meiner Arbeit zu Ende war, ind PVorzimmer, um
durch feine Kammer in die Küche zu fommen, Piotr
war nicht dba und die Thür — verjchlofjen.
Kaum war ich zu Bett, ala ich hörte, wie er
zurüdfam und in ber Finfternis herumbantierte,
Ih begab mid) mit einer Kerze zu ihm. Er war
eben babei, fich auszufleiden.
„Wo warſt du?“ fragte ih ſtreng. „Es ift
gleich drei Uhr.“ .
„Das geht Sie gar nicht? an,” antwortete er
fred. Er war in jehr erregtem Zuftande.
„Wie? Was? Du wohnft bei mir und ſtreichſt
nachts herum!“
„Wie können Sie ſich unterſtehen, mich einen
Herumftreiher zu nennen?“ fchrie er aus vollem
Halfe und mit ſolcher Wut, daß die alte Frau aus
der Küche hereingelaufen fam. Er hörte nicht auf
zu jchreien und mich mit Grobheiten zu bewerfen.
„Nun geh ſchlafen!“ ſagte ich ruhig und entfernte
mid.
Ich werde von jelber jchlafen gehen, ich brauche
Sie nicht dazu!” rief er Hinter mir drein. „Ic
werde mir dieſes Kujonieren nicht gefallen laſſen. Ich
bin fein Herumſtreicher. Ich gebe zu anitändigen
Leuten, aber nicht, um Branntwein zu trinten. Das
giebt’ nicht, nein!“
Früh klingelte ih. Er bradte mir den Thee
und die Zeitungen, als ob nicht3 vorgefallen wäre.
Ich gab ihm feinen Paß, feinen Lohn und bemerkte,
da er jofort gehen jolle.
Er ftußte einigermaßen und wußte nicht, was er
antworten jollte,
„DBerzeihen Sie, warum denn ?“ fragte er endlich)
mit leiler Stimme.
Ich erwiderte nichts.
Gelb und ging.
„Frlauben Sie nur, daß ih meine Saden für
81
Er nahm den Paß, das
642
einen ober zwei Tage bier lafje, bis ich eine Stelle
finde!“ fagte er, ji) in ber Thür ummenbenb,
„Schön! Sag der Frau, daß fie auf die Sachen
achtgiebt. Du begreifft, daß du nicht mehr bei mir
bleiben kannſt.“ j
„Sehr wohl!” Er ſprach leiſe, den Kopf gefentt.
„Berzeihen Sie wegen des geſtrigen ...“ fügte er
hinzu, indem er die Thür öffnete,
Ih winkte mit der Hand, und er verſchwand.
Später erzählte mir die alte Frau, er hätte, als
er erfuhr, was und wie er mit mir geredet, ſich mit
beiden Händen am Kopfe gefaßt: „It e8 wahr?
Das hab’ ich alles gejagt?”
Er war fonft ein ruhiger, anfländiger, dienſt⸗
eifriger Menſch, dreißig Jahre alt, blond, hübſch
gewachien und mit etwas groben, aber regelmäßigen
Geſichtszügen. WS er nad) zwei Tagen fam, um
jeine Sachen abzuholen, fragte ich ihn nochmals, wes⸗
halb er fich machts entfernt hätte,
„Was war das für ein Geſchäft, das du nicht
nennen wollteft?*
„Branntweintrinfen ,” geſtand er aufrihtig, in«
bem er die Augen niederfchlug.
Einen Tag darauf trat ein neuer Diener bei mir
ein, Marim, ein Feiner, unterfeßter Manu mit
ftarfen Musleln und vielen Puſteln. Mit ihm dauerte
es etiwa drei Monate. Einmal, als ich fpät in der
Nacht Heimfam, fand ich die Thür unverjchlofien.
Marim ſchlief noch nicht und fchien mir in großer
Erregung zu fein. Da er jedoch jonft munter auf
den Beinen war, mir wie gewöhnlich beim Aus«
Heiden half, Rod und Schuhe abnahm, jo ſchenkte
id) dem feine Beachtung. — Am andern Morgen
benadrichtigte er mid, daß mein Ueberrock mit dem
Biberkragen verſchwunden jei.
„Wie? Wohin verfhwunden? Warft du daheim
oder bift du ausgegangen? Iſl jemand bei dir ge»
wejen ?”
„Nnein! Wahrfcheinlih bin ih nicht aus-
gegangen. Ich glaube, ic war zu Haus. Und
bei mir bürfte niemand gemwejen fein — ich kann
mid nicht erinnern, Wer könnte denn zu mir
fommen ?* ſtammelte er wie ein Kind.
„Warum war die Thür denn nicht zu, als ich
geftern kam?“
„Weiß nit... kann mich nicht erinnern, ob fie
zu war oder nicht,” rechtfertigte er ſich, zur Seite
blidend.
„Sude! Frage, erfundige dih!... Wenn
jemand bei dir war, fo geb und frage nad. Ich
werde bei der Polizei Anzeige machen,“ drohte ih.
„Bis morgen gebe ich dir Zeit.“
Er erwiderte nichts darauf. Am nähften Morgen
war es mein erjtes, ihn nach dem lleberrod zu fragen.
„Weib nicht das Geringfte. Nirgends aufzus
J. A. Gontfharom.
finden. Fragte beim Dwornil, ob niemand gelommen
wäre — ob man nicht ben Ueberrock meggetragen
hätte. Er hat niemand geſehen.“
„Nun, dann muß ich mich an bie Polizei wen-
ben. Dort wirft du dich vielleicht erinnern, warum
die Thür nicht zu war.“
„Ganz nad) Wunſch, wie's beliebt,“ antwortete
er gleichgültig.
Ich machte jedoch keine Anzeige bei der Polizei,
ba mir aus zahlreichen Fällen befannt war, wie
zwecllos eine joldhe fei, jondern gab dem Marim fofort
feine Entlaflung.
Ih kam zu dem Entſchluß, daß mit einem ein.
zelnen Menſchen nicht gut zu haufen ſei — ſelbſt
für einen Junggefellen. Er wird ſich langweilen
und auswärts Unterhaltung ſuchen wie Pjotr, oder
es werden ungebetene Bäfte zu ihm fommen, wie ih
es bei andern Dienern erlebt hatte.
Man gab mir den Rat, einen Verheirateten zu
nehmen, zumal id) ja in der Küche Plab genug für
eine ganze Familie hatte, und empfahl mir einen
Mann von fünfundjehzig Jahren, zwar jchon etwas
verjchrumpft umd rungelig im Geſicht, jonft aber nod
gefund und friſch. Er war ein Freigelaſſener, hatte
meift ala Koch gedient, fühlte fi num aber, wie er
jagte, zu alt für die Hihe und zog eine Beſchäftigung
vor, bei der es fühler berging.
Er fand vor mir und blidte mich gutmütig und
fejt mit jeinen hellen blauen Augen an, ohne zu
zwinlern — wie ein Hund, ber einen Befehl er—
wartet.
„Ich werde alles thun, was Sie mir befeblen,“
las ich in feinem Blid und feiner Haltung. „Und
was Sie nicht befehlen, werde ih um feinen Preis
thun,“ ergänzte ich die ſtumme Verheißung feiner
Augen.
Den folgenden Tag fand er ſich mit feinem
Weibe Matrjona bei mir ein, einem Frauenzimmer
von fünfzig Jahren mit einem gefunden Geſicht,
deſſen Naje, Kinn und Wangen wie aus Guttaperdha
gemacht waren. Yhre Augen fahen nicht geradeaus,
ſondern feitwärts. Die Unterlippe war feſt an die
Oberlippe gebrüdt und nad Aitweiberart in bie
Höhe gejhoben. Sie verneigte ſich vor mir bis zum
Gürtel und überreichte mir den Pak ihres Mannes,
ben fie in Verwahrung hatte.
Nah ein paar Tagen lernte ich bei einem ge⸗
legentlihen Blid in ihr Gelaß auch das bunte
Allerlei ihrer Einrichtung fennen: das Bett mit dem
Unterbett und einem Berg von Kiffen, ber bis nah
an die Dede reichte, eine Menge von verjhiedenem
Geſchirr, Pfannen, Töpfen und fo weiter. Was
aber am reihlichften vorhanden war, waren Heiligen
bilder und Sampen dazu, Oſtereier, vertrodnete
Ofterzöpfe und Palmzweige um den Heiligenfhrein.
Diener U. Stjepan mit der Familie.
Matrjona war eine echte fromme Ruffin und
verwendete für den Kiot*) und die Heiligtümer nicht
nur die ganze vordere Ede der Küche, fondern auch
einen Zeil der Garderobe und des Badezimmers
Lange Zeit hörte ich das Einhämmern der Näge
für all die vielen Heiligen und andre Bildniffe der
Gottesfurht, und jeder Schlag befeftigte ſozuſagen
auch in mir die beruhigende Ueberzeugung, dab ich
ed mit einer ordentlichen Familie zu thun habe, —
Sie hatten auch einen Sohn von fiebzehn Jahren,
Petruſcha. Er lernte die Schlofferei und bejuchte
die Eltern nur an hohen Feiertagen.
Die Einrihtung war beendet, und alles ging
jeinen alten Gang. Das heißt, nicht fo ganz: mit
der Ruhe und Stille von früher war es nämlich
vorbei. Wenn ich jet in meine Garderobe trat,
hörte ich regelmäßig ein Geſpräch. Nun, wo zwei
zuſammenwohnen, ift das ganz natürlich, aber was
mich Dabei befremdete — dieſes Geſpräch war unwandel-
bar ein zänfijches. Es gab Geſchrei, auch Schimpf-
wörter, und zwar allemal auf jeiten Matrjonas.
Stjepan — jo hieß mein neuer Diener. Viel—
leicht hieß er außerdem Michailo oder Petrow. Ich
babe daS vergefin. Bei unjern Leibeignen und
Hofleuten gab es Feine Familiennamen, Dean
nannte fie nah dem Vater oder mit einem Spih-
namen. Etjepan, jage ih, bewahrte für gewöhnlich
ein volllommenes Schweigen. Nur zuweilen fnurrte
er al Antwort auf die Bosheiten, mit-denen feine
Frau ihn reiste.
„Daß dich! Schweig doch einmal, du Satan!”
„Nichts Schweigen! Du mich einen Satan heißen !”
berjeßte fie in einem Ton, der förmlich ätzte und
ſchnitt. „Was fiheft du da und firedft die Beine
von dir? Haft du nirgends hinzugehen ?”
Er zog die Beine ein, ftand auf und mollte in
mein Zimmer gehen.
„Wohin? Wohin ?* fuhr fie ihn giftig an. „Was
bringft du fein Holz? Soll ich vielleicht das Holz
holen? Ich ſoll kochen, was? Und du willft freifen
und faulenzen? Wie? Na, darauf fannjt du warten!
Eine ſolche Gans haft du an mir nicht gefunden. Ich
bin nicht deine Sklavin!"
„Herrgott, was für eine Hexe ift diefe Alte!“
föhnte Stjepan und machte ſich auf, um Holz zu holen.
„Ich werde bir die ‚Hexe‘ geben, bu...” zifchte
fie auf ihm los und ſchlug ein Kreüz. „Gott fich
mir bei, eine ſchöne Laft hab’ ich mir auf den Hals
geladen mit Dir!”
Machte jedoch Stjepan den wohlgemeinten Ver—
u, ihr an bie Hand zu gehen: „Sieb mal bie
Panne ber! Ich werde die Kartoffeln röſten“ —
jo ftürzte fie auf ihn los.
*, Heiligenfhrein.
Er — R 5
643
„Miſch dich nicht in meine Sachen!” herrſchte fie
ihn an. „Hat dich jemand drum gebeten?“
„sc würde fie mit geriebenem Zwiebad be—
fireuen — diden Rahm darüber gießen — Zwiebel«
hen bräunen — fie follten ſchmecken, daß man ſich
bie Finger danach leckt!“ fügte er hinzu.
„Nimm dich in acht! ch werbe dir mit dem
Schüreiſen einheizen, wenn du mir etwas anrührft.
Ih ſchwör's dir bei der heiligen Mutter Gottes, ic)
werde dir einheigen,* drohte jie.
„Nun, jo hol dich der Teufel, der Waldteufel
ſoll dich mitnehmen!“
Wenn ich neben der Küche im Bade ſaß, wenn
ich mich aus- und anzog, hörte ich flet4 nur Zwie—
geſpräche diefer Art. Sie fraß ihn einfach auf, und
er lieh fie gleichmütig gewähren, lächelte oder jchüttelte
den Kopf. Nur dann und warn fnurrte er vor ſich
hin. Zumweilen, wenn ihm die Kraft fehlte, das
Geſpräch auszuhalten, ſchlich er fi ins Vorzimmer.
— Aus feiner großen Ruhe fonnte ich erfchen, daß
ihm dieje Art zu Teben zur Gewohnheit geworden war.
Unter anderm bat mid Matrjona eines Tages,
ben Lohn ihr einzuhändigen und nicht ihrem Mann,
„Warum?“ fragte ih. „Iſt er vielleicht . ..“
„Er verjchwendet,” bemerkte fie, indem fie Die
Unterlippe hochſchob und aus den Augenwinkeln zu
Stjepan hinüberſah. Er ſchüttelte ergeben den Kopf
und lächelte,
„Er giebt das Geld für Näjchereien aus,” fügte
fie Hinzu,
„Ich habe nicht das Recht, den Lohn einem
andern als ihm zu geben. Wenn er einverjlanden
A
„Bitte, ja, ihr den Lohn zu geben. Sie ift
meine Kaſſierin,“ ſagte er mit demjelben ergebungs«
vollen Lächeln.
„Dei mir Hält es ſich beffer,” fügte fie mit
halber Stimme Hinzu und ſah nad der Seite.
Damals wußte ich nit, was fie damit jagen
wollte,
Ohne befondere Zwiſchenfälle lebten wir fo bis
in den Winter hinein, das heißt, e8 gab wohl einige
Unannehmlichleiten: zum Beifpiel kamen einen Mo»
nat, nachdem die familie ſich bei mir eingerichtet
. hatte, Schwaben zum Vorſchein. Sie wimmelten
nicht nur in der Küche, jondern aud) in der Garde»
robe und dem anliegenden Slorridor, jowie im Vor—
zimmer, Zu guter Lebt zeigten fie fi aud in
meinen Zimmern.
Ih machte das Ehepaar auf dieje Ericheinung
aufmerkfjam. „Was foll denn bas fein?“ fragte id).
„Das find Schwaben,” antworteten fie wie aus
einem Munde, ohne im allermindeften auß der
Faſſung zu fommen. Zugleich jammelte Stjepan
mit ber Hand das herumfriechende Ungeziefer und
644 J. U Gontſcharow.
warf es zum Teil aus dem Schiebfenſter, zum Teil
in den Waſchtrog.
„Das darf nicht mehr ſein,“ ſagte ich. „Man
muß das ausrotten. Bevor ihr gelommen ſeid, habe
ich nie ſolche Tiere geſehen.“
„Ad, wie iſt denn jo was möglich?“ ſagte
Matrjona, zu mir herüberſchielend. „Wir haben
fie doch nicht mitgebracht. Wo giebt’3 denn bie
nicht? Wo wir gewohnt haben, hat’8 überall Wangen
und Schwaben gegeben,”
„Bor euch waren feine da,” wiederholte ich jtreng.
„Man muß fie ausrotten. Ich werde Infeltenpulver
laufen.“
Aber das Pulver half nicht. Die Schwaben
bielten bei mir aus, folange Stjepan und Matrjona
bei mir blieben. Und das dauerte etwa zwei Jahre.
Da Stjepan ſich rühmte, ein vorzüglicher Koch
zu fein, ſuchte ich ab und zu von feiner Kunſt Nupen
zu ziehen. Und in der That, er rühmte fich nicht
umfonft, fondern machte jeine Sache gut. Auch ein
paar Belannte, die ih mir einlud, konnten feine
Zubereitung der Nationalgerichte nicht genug loben.
Mir jelbft ſagte dies Efjen am eignen Tiſch mehr
und mehr zu, und ich dachte daran, meinen Stjepan
wieder feinem alten Berufe zuzuführen, ihn zum
Koch zu mahen und feinen Lohn zu erhöhen. Ich
wollte ganz und gar häuslich werden, und Stjepan
ſchien meinem Vorhaben, ſoweit es ihn betraf, nicht
abgeneigt.
„Warum denn nicht? Ich kann es,“ fagte er
mit einem Tone, der nidht daran zweifeln ließ, daß
er feiner Sache ficher ſei. „Ich kann alles...
Suppen, Pürees... wie's beliebt... Saucen zu
Fiſch ... zu Spargeln... Kuchen, die Möglich.
feit.. . Waffeln, Schofolabecreme, Vanillecreme... .*
Er nahm das ganze Kochbuch durch.
„Ja! Nur heißt e8 dann Ziegel faufen, Pfannen
und andres Geſchirr,“ fügte er hinzu.
„Schön! Das wollen wir alles kaufen,”
„Dann haben wir feinen Keller,“ fiel ihm
plößlid ein. „Gelee, Eingemachtes... auch wenn
was bei Tiſch übrig bleibt... Wir haben ja feinen
fühlen Raum, e8 aufzuheben.”
„Ich werde aud einen Seller mieten,” fagte ich.
„Nun, mir iſt's recht. Ihre Wirtſchaft ift ja
nit Gott weiß wie groß. Sie haben feine Fa—
milie, felten Gäfte. Ich werbe zurechtlommen.“
Auch feine Frau drüdte, wenn auch etwas zögernd,
mit einigen „Hm, hm!“ ihr Einverftändnis aus,
Sie hatte ſich's übrigens nicht verjagen können,
während der ganzen Unterredung höhniſche Seiten«
blide auf Stjepan zu ſchießen. Warum — das
follte mir erft jpäter Mar werden,
Weihnachten fam heran. — Bis jept hatte ich
nur zuweilen und verſuchshalber zu Haufe gejpeift;
das Ejjen war ftet3 gut umd ſchmachaft. Jeht faufte
ih Tiſchwäſche, Geſchirr, Mefjer, Gabeln und fo
weiter. Dann lub id) eines Tages zwei Freunde ein,
um ihnen meine Wirtjchaft zu zeigen. Dem Stjepan
gab ich Geld, beſprach mit ihm, was er einfaufen
und auf den Tiſch bringen jollte, und ging dann weg.
Als ich zur Eſſenszeit, um fünf Uhr, heimlam,
erfuhr ich zu meinem Schred, daß nichts hergerichtet,
ja nicht einmal der Ofen geheizt und Stjepan jelbft
jeit Vormittag verjchwunden jei.
„Er ift einkaufen gegangen und jeither nicht
wiedergelommen,* jagte Matrjona düfter. E3 war
nicht zu entjcheiden, was in ihrer Stimmung vor«
wog: Hummer oder Aerger.
„Was ſoll ih thun?“ fragte ih. „Die Gäfte
werden glei da fein. Und das Eſſen — jelbft
wenn Stjepan jeht heimläme — es könnte doch nicht
fertig werden. Was foll man thun?“
„Der kommt heut nicht. — Bielleicht in der
Naht!" antwortete Matrjona, ohne mich anzufehen.
„Was joll das heißen?” fragte ih. „Wo ift
er bin?”
„Warum haben Sie ihm auch Geld gegeben?“
fuhr fie plöglich ftreng und vorwurfsvoll heraus. „Ic
hatte Sie doc) gebeten, e8 mir zu geben! Ich wäre
auf den Markt gegangen, hätte eingefauft, und Sie
hätten jeßt zu eſſen, und das Geld wäre nidt
verthan.“
„Hat er's denn auch früher jo gemacht?“
„Immer! Wie er noch Koch war, da paffierte
es — wenn er feinen Lohn friegte, zwanzig Rubel
— daß er in eine Schenke fiel und feine Kopele
heimbrachte.“
„Iſt's möglich? Wie kann er auf einen Sik
zwanzig Rubel durchbringen? Trinft er denn Cham-
pagner?“
„Ach wo, gnädiger Herr! Bei dem thun’s zwei
Gläshhen Branntwein — die fteigen ihm im den
Kopf, und dann fängt er eben an, alles freizuhalten
— und wenn ihm dabei noch was in der Taſche
bleibt, jo ziehen ſie's ihm 'raus.“
„Wo ift er? Suchen Sie ihn und bringen Sie
ihn mir!“ fagte ich ratlos,
„Ah, wo wird er denn viel jein? Im einer
Schenle oder in einer Speifewirtihaft. Zu finden
wäre er wohl. Aber wozu? Laſſen Sie ihn lieber
dort! Gott behüte, er joll bleiben, wo er ift. Ich
lafje ihn nicht herein. Wenn er getrunfen hat, iſt
er bös. Meinetwegen foll er auf der Straße über:
nachten oder auf der Polizei.”
„So jo! Alfo er trinkt!
heimnis ?*
Sie jhielte ſchweigend in die Ede.
„Wenn er nicht trinken thäte, glauben Sie, man
hätte ihn jo aus der Stelle gelafien? Man hätte
Das iſt Ihr Ge
Diener.
ihn do mit beiden Händen gehalten... Was für
Ihöne Stellen hat er nicht gehabt! Bei was für
hohen Herren! In einem fürftlichen Haus hat er ge
dient, in jo einem Haus! Einen Monat, zwei Mo—
nate, dann — unb wenn er bann feine Entlafjung
hat, dann fällt er wieder mir zur Laft, dieſer Schatz,
und ich Unglüdsweib muß mid in meinen alten
Tagen jo mit ihm durchſchlagen.“
Sie verſuchte zu weinen, es wollten jedoch feine
Thränen kommen, und fie wilchte trodene Augen.
„Wenn er nur bin würde, der Lump, ber ver—
fluchte!“ ſchloß die zärtliche Gattin,
Dies war das Ende meines Traums von einem
eignen Haushalt.
Der Abend verging, und Stjepan war noch nicht
zu Haufe. In finfterer Nacht Hopfte er mit Macht an
bie Thür, fand jedoch keinen Einlaf. Er mußte
diefe Nacht in der falten Kammer und die folgende
beim Dwornif im Heuſchuppen zubringen. Wie der
arıne Alte das aushielt, wie er aus folder Kälte
mit dem Leben davonfam, ift mir bis heute rätjel-
haft, unbegreiflid.
Uebrigend befam id, folange die fyeiertage
dauerten, feinen Stjepan zu Geficht. Die Bedienung
wurde bon Matrjona und ihrem Sohn Petruſcha be=
forgt, der während dieſer Zeit bei feinen Eltern war,
Petruſcha beftätigte mir, dab „Papachen trinfe, ſo—
bald er Geld befomme. Dann werde er wülend,
zaufe mit Mamachen, zerre aud) ihn jelber an ben
Haaren herum und zerichlage und zerbreche alles,
was ihm in die Hände falle“. — Mit einem Wort,
der janjte, ruhige Alte wurde zu einem wilden Tier,
„Ih und Mamachen jchließen uns vor ihm die
ganze Naht ein und laſſen ihm nicht herein,“ fügte
Petruichea Hinzu. „Dann, wenn er das Geld ver—
trunfen hat oder jeine Saufbrüder es ihm aus ber
Taſche geftohlen Haben, wenn's mit dem Trinken
aljo nichts mehr ift, gebt er ein paar Tage herum
wie ein Irrfinniger und murmelt unverfländliches
Zeug vor fih Hin, Dann kommt er endlich nad)
und nad wieder zu ſich und nimmt feine janfte
Geftalt wieder an mit dem gutmütigen Blick und
Lächeln.”
So erſchien er nad den Feiertagen aud) wieder
vor mir und machte ſich an feine Verrichtungen, als
wäre nichts vorgefallen.
Zu Faftnaht dasſelbe. Am letzten Tag betrug
er ih wie ein Rajender, wollte die Küchenthür zer»
frümmern und ging, als er troßdem nicht eingelafjen
wurde, auf den Hof, wo er ein heidenmäßiges
Lärmen und Schimpfen vollführte, bis ihn endlich
die Dwornils mit Mühe und Not hinausjhafften.
Ich war Zeuge von alledem, und als Stjepan,
bereits in müchternem Zuſtand, fich wieder vor mir
ſehen Tieß, bedeutete ich ihm, daß ich mir eimen
II. Stjepan mit der yamilie.
645
andern Diener juchen würde, Auch drohte ich ihm
für den Fall, daß er noch einmal folden Aufruhr
und Skandal mache, mit Polizei und Arretierung.
Er warf ſich vor mir auf die Kniee, kreuzte die
Hände über der Bruft und fagte im Tone innigfter
Zuverſicht:
„Nein, eine ſolche Gemeinheit werden Sie gegen
mich nicht begehen!“
Nun, ich beging in der That dieſe Gemeinheit
nicht, ſeiner Gutmütigkeit zulied. Ich nahm ſogar
dann und wann wieder ſeine Kochlunſt für Häusliche
Mahlzeiten in Anfprud. Nur hütete ih mich na=
türlicherweife, ihm das Einfaufsgeld in die Hand zu
geben; und dank diefer Vorſicht ging jetzt alles glatt
und gut.
Indes neue Verdrießlichkeiten jollten nicht aus—
bleiben. Jedesmal, wenn zwei oder drei Feiertage
einftelen, machte ſich Stjepan unfihtbar und überlich
es feiner Familie, den Dienft bei mir zu verjehen.
Manchmal, wenn ic) nad) Hauje fam, war niemand
ba ala Petrufcha, und der vertrieb ſich die Zeit da—
mit, in einem Winkel des Hofes mit Straßenjungen
Steinchen zu fpielen, oder er lag im Bett und jchlief,
daß er durch fein Klingeln zu weden war.
Einmal jaß er auf der Vortreppe und weinte,
„Warum weinft du?“ fragte ich ihn.
„Ad, alle find fort, und ich bin allein und
fürchte mich . . .*
„Wo ift denn Water und Mutter ?”
„Papachen ift im Stabal*), und Mamachen ift
zur Meſſe und bis jet nicht da.”
Sie fam erft abends zurüd, und zwar, wie id)
bemerkte, ebenfall3 in angeheitertem Zuftande. Nach
ihrem Mann fragte ich gar nicht.
„Wo warft du, Matrjona? Alles ift weg, das
Haus fteht leer. Wie kann man denn fo etwas. ..?*
„Heut ift Iljä-Feiertag. Ich war draußen bei
den Porochoff ⸗Fabrilen,“ verſetzte fie in beleidigtem
Ton. „Man muß doch aud) einmal... Menſch ift
Menſch. Bin ich vielleicht feiner? Ich hab’ eben«
falls mein Kreuz zu tragen.“
Derlei wiederholte fi bon nun an immer
häufiger. Bald war Geburtsfamstag, bald Drei—
faltigleitstag, bald Himmelfahrt, bald Allerheiligen,
bald die, bald das — und bei all diejen Gelegen-
heiten verjchwand fie nad) dem Smolensk-Kirchhof
ober jonft wohin. Ganz bejonders häufig waren die
Ausgänge während der großen Faſten.
„Wo warft du?“ fragte id).
Und fie antwortete:
„Auf der Station der heiligen Maria von
Aegypten,” oder: „Beim heiligen Kreuz. Es it ja
die Kreuzwoche.“
Echenle.
646
Sie ging am Lazar- Samftag, um Palmzweige
zu holen, fie ging am Sazar-Sonntag; in der heiligen
Dfternadht wanderte fie dahin mit einer ganzen Tracht
von Evangelienbüdhern und jo weiter. Und all dieſe
Teiertage benußte fie, wie ich nicht umhin fonnte, zu
bemerken, weniger um Gott zu dienen als ihrem
„Mammon“, denn wenn fie nad Haufe fam, roch
fie feineswegs nad Heiligkeit. Unterdeſſen ſaßen
Gatte und Sohn daheim in ihrer laufe und fafteten,
bis e8 ihnen zuviel ward. Dann verzog ſich aud) der
Gatte, und ic) ſaß hilflos in der öden Wohnung wie
ein Waifenfind.
Die leßten drei Tage vor den großen Feiertagen
war id; beinah obdachlos. Es war dies die Zeit
des großen Fegens und Reinmachens, des Möbel-
rüdens und Abſtäubens, des Ofterbrotbadeng und
Eierfärbens und enblih, was das MWichtigfte war,
bes Putzens der SHeiligenbilder. Hatte ich vorher,
im Herbft oder Winter, auf Spinngewebe in den
Eden, auf Staub und Schmuß auf den Schränten,
oder fonftige Unfauberfeit und Unordnung aufmerl«
jam gemadt, jo befam ich unwandelbar zur Ants
wort: „Es fommen ja die Feiertage“ — mochte es
auch bis dahin noch ein Vierteljahr dauern — „dann
werben wir die Heiligenbilder pußen und Ordnung
machen, dann werden wir abjtäuben und die Spinn-
gewebe wegſchaffen.“
Ueberhaupt habe ich bemerft, daß fein einziger
meiner Diener aus freien Stüden und ohne meinen
ausdrüdlichen, pofitiven Befehl jemals von Möbeln
und dergleihen den Staub wiſchte. Dan reinigt
wohl den Fußboden; was aber die fonftige Unfauber-
feit betrifft, jo muß der ruffiiche Diener fozufagen
mit der Naſe draufgeftoßen werden, wenn er fie jehen
und bejeitigen ſoll.
Mertwürdigerweife hörten mit der Zeit die Zänte-
reien zwijchen Matrjona und Stjepan auf, und in
der Küche herrſchte Eintracht und Ruhe. Eines
Tages traf ich die ganze Familie beim Thee, jah
bei diefer Gelegenheit aber auch auf dem Tiſch
Branntweinflafhen und Gläjer. Alle drei, Vater,
Mutter und Kind, waren fihtlich angeheitert, Mir
ſchwante denn auch Unheil angefichts diejes Friedens,
und meine Sorge wurde nurzubald gerechtfertigt. Eines
Abends, im Winter, jah ich zu ihmen hinein und
erblidte eine heitere Yamilienjcene, wie nad) einem
J. A. Gontſcharow. — Diener.
II. Stjepan mit der Familie.
Gemälde von Tenierd. Stjepan ſaß da, ganz be
trunfen, fuchtelte mit den Armen umher und tom:
mandierte Petrujcha :
„Zanz, Petjka, tanze, du Hundejohn!”
„Bin ich, feine Mutter, vielleicht eine Hündin?
jagte Matrjona.
„Du, du bift ein alter Köter.”
„Wart, ich werde dich! — tanz nicht, Petjfa! —
folg ihm nicht!“
„Zange, du gemeiner Kerl!” fommandierte Stje
pan. „Zanz! Ich befehle es.“
„Tanz nicht!” verbot fie. „Da, trink lieber!“
Mit zitternder Hand füllte fie ein Glas.
„Auch ich werde trinfen, gieb auch mir!“ Tall
ber ganz bezechte Stjepan.
Sie jhob hurtig den Branniwein beifeite. „Du
haft genug. Du belommſt nichts. Schau, wie du
aufgeladen haft! Für eine ganze Woche!”
„Schenk ein, du SHavin! Was bift du denn?
Meine Sklavin bift du. Wie fteht in der Schrift?
‚Das Weib fol dem Manne dienen, und er fol
dein Herr fein.‘ — Schenk ein, jonft werde id
dich ...“
Er ſtand auf, holte mit dem Schemel aus und
ging mit ſchwankenden Schritten auf fie los, mobei
er unterwegs bie Serze vom Tiſch warf. Der
Junge heulte: „Papachen, Papachen, thu Mamachen
nichts!“
Ich ſah, in der Thür ſtehend, das alles, ſah,
daß alle drei betrunken waren, und beeilte mich, der
häßlichen Scene ein Ende zu machen.
Bald darauf entlieh ich das Paar und hörte erit
zwei Jahre jpäter von meinen freunden, die Stjepan
vom Sehen fannten, fie hätten ihn in der Kafan-
fire betteln gejehen. Wiederum ein oder zivei
Jahre jpäter fam Matrjona zu mir, um „für arme
Leute” zu bitten, und nicht lange darauf bat jie um
einen Beitrag zum Begräbnis des Alten. Sie erzählte
mir von ihm, wie er immer tranf und tranf, bis er
endlich ganz ſchwach wurde und nicht mehr aus
gehen fonnte, wie ihm Arme und Beine zitterten,
dann fteif wurden, und wie er endlich janft und
ruhig entjchlief, nachdem er die heiligen Saframente
empfangen, und wie er, dem Tode nahe, die Worte
geiprohen: „Verflucht derjenige, der den Brannte
wein erfunden hat!”
— ee
die Hefdichte eines jungen NMädchens.
Erna as
Aus dem PDänifchen überfeßt von Ernſt Braufewetter.
IV,
Margarete kam im lehten Augenblick nad) Haufe.
Sie riß in aller Eile den Hut vom Kopf und konnte
gerade noch ihr Haar ordnen, bis fie zum Mittag
bineingerufen wurde, Aber erjt füßte fie noch den
Handihub, den er mit feinen Lippen berührt hatte,
frih das Leder Tiebfojend zärtlich glatt und küßte
ihn wieder, Dann ftedte fie ihn in den Bufen und
ging zu Tiſch.
Papa war neulich ſehr freng zu ihr geweſen,
als Onkel Hans geihwaht hatte, aber, Gott jei Lob,
nit zu Mama — er war dem Etatärat auf der
Straße begegnet — und dadurch war e8 vermieden.
Margarete war jehr unglüdlich gewifen, und Papa
hatte fein allerernfteftes Geſicht gemacht, wie feit
langer Zeit nicht.
Aber nun war alles gut — ad, jo gut!
Es ſah nun auch danach aus, als hätte Papa
feinen Zorn vergefjen, und als er fie zum Willfomm
füßte, hätte fie ihm beinahe gleich alles gejagt, jo
gerührt und bewegt war fie. Der Etatsrat merfte
dem Rufe an, daß es bei ihr etwas Ungewöhnliches
gab, aber er jchrieb e8 ihrem Heinen Scharmühel zu,
firich ihre über das Haar und flüfterte ihr ins Ohr,
daß fie ein gutes Mädchen wäre, fein liebes, eines
Gretchen — und dann jehten fie ſich zu Tiſche.
Während der ganzen Mahlzeit jah fie die jonnen-
beichienene Allee und die Bäume, die fie gezählt
batte, und hörte ihn fagen: „Wollen Sie e8 mid)
lehren, Margarete?" Und dann war es wieder, als
wenn ihr Herz jo groß würde und jie faum Raum
für all das Glück hätte, Ach Gott, ob fie wollte?
Ja und ja, und taufendmal ja!
In den legten Tagen hatte jie nichts eſſen lönnen,
alles war ihr zuwider, jeder Laut war ihr unerträg-
fi} gewejen. Aber heute war fie hungrig, richtig
Bungrig, lobte das Eſſen und bat zum zweitenmal
um Suppe. In ihr herrſchte ein jo jchöner Friede
und ſolch eine Stille und gleihwohl ſolch brodelnde
Freude, daß fie jajt ganz led wurde.
Na, da war endlich der Kaffee. Und nun nahm
Mama den Löffel und ftedte das letzte Bißchen
Zuder vom Taffenboden in den Mund und jprad
davon, daß fie am liebften zu Haufe bliebe, da es
jo warın wäre. Aber da befam Margarete plößlich
einen Anfall liebevoller Angſt und Fürſorge für
Dlivie. Sie bangte fi natürlih nah Mama und
würde unruhig werden, wenn fie nicht zur gewöhn-
Tihen Zeit käme, und das fünnte Olivia unter den
jetzigen Umftänden dod unmöglich gut fein. „Ad
nein, das arme, liebe Kind!” — und dann ging Mama,
Der Etatsrat ſaß in feinem Zimmer, den Rüden
der Thür zugewandt, als fie Hineinfam, Sie ging
raſch zu ihm Hin, umfaßte von Hinten her feinen
Hals, legte ihre Wange an die feinige und jagte:
„Papa, nun ift alles in Ordnung.”
Er blidte erftaunt auf, und fie beeilte fich hinzu»
zufügen: „Das, bu weißt doch — das, wovon wir
neulich ſprachen, als du böfe warft — weil — Papa,
ih babe mid verlobt — mit Doktor Möller —
darf ih — er —“ Sie wuhte nicht recht, was fie
jagen follte, ob fie um Erlaubnis bitten — oder —
Er fuhr zufammen, legte ſchnell fein Bud) beifeite,
zog fie zu ſich herab und begann zu fragen, und fie
antwortete, indem fie mit dem Kopf an feiner Bruft
lag und abwechjelnd lachte und weinte, bis er fie
endlich feſt an ſich drüdte, küßte und jagte:
„Na — ja, ja, mein Zipfel! Es war ja gut,
daß es jo endete! Mögeft du glüdlich werden!”
Es fam mit einem Seufzer, und feine Augen
waren feucht.
„Das bin ih, Papa — ad, jo glüdlich!”
flüfterte fie,
Es jah aus, als wenn feine Gedanken weit fort
wären, als er antwortete: „Ja, damit beginnt es —
damit beginnt es bei ung allen — und do...
Na, warın fommt er denn, bein Doktor?“
„Heute abend,“
„Weiß Mama etwas davon ?”
„Ach, wo denfft du hin, Papa, nicht daß geringfte!
Du mußt es ihr jagen.”
648
„Ich? — Hm!
wenn bu ſelbſt ...“
„Ach nein, Papa, id) fann das nicht. Ich geniere
mich jo fchredli vor Mama — du mußt es.“
Der Etatsrat jchüttelte den Kopf und verfanf in
Gedanken. Es war eigentlih ein lomiſches Ver—
hältnis, daß die Tochter mit ihren Herzensangelegen⸗
heiten zu ihm fam und nicht zur Mutter. ber
beshalb hatte er fie gern, fie war fein Augenftern,
jein Herzensfind, das ihm fozufagen in feinen alten
Zagen gejchenft war, jo jpät nah Olivia. Und
num ſollte er fie abtreten, fie einem Maune über-
geben! Es erhob ſich etwas wie Zorn in feiner
Seele gegen diefen fremden Menſchen, der ſich jo
eindrängte und fie ihm raubte, Er hatte nicht das
geringste der Art empfunden, als der PBaftor kam
und Dlivia von ihm verlangte, eher ein gewiſſes
Erſtaunen darüber, dab fie jemand haben wollte,
Sie war nicht recht nad) feinem Geſchmack — und
doch jah fie Mama in ihrer Jugend ähnlich — ja,
jo fonnte man fi) verändern! Mit Margarete war
dad etwas andres. Sie war fold) ein fühes, Meines,
fuftiges Ding und jo — Im. Es war natürlich
unrecht, einen ſolchen Unterſchied zwiſchen feinen
Kindern zu machen. Aber was Tonnte er dafür?
Triebe, Inſtinkte, Antie und Sympathien — pub,
welche Macht hatte man jchliehlih über all den
Kram? Man mußte noch froh fein, wenn man
jeine Handlungen einigermaßen beherrichen fonnte;
feine Gefühle — das mußte man hübſch bleiben lafjen !
„Sp, du willit aljo deinen alten Water ver
lafien?”
Er rieb zärtlich jeine Wange gegen die ihrige.
Dann hielt er fie ein wenig vor fi hin und blidte
fie an: „Es ift außerordentlich ſchnurrig, ſich zu
denken, daß fol eine Dirm’ ſich verheiraten will!“
Hochzeit — fi verheiraten — richtig im der
Kirche getraut werden wie Olivia — und dann —
dann — mit ihm, biefem fremden Manne, Kinder
befommen! Ein Schauder überlief fie. Es war
wie eine Sturmflut verwirrter Gedanken, die über
fie hereinbrach. Ja, damit mußte es ja endigen.
Wo hatte fie nur ihre Gedanken gehabt — ihn, ihn
heiraten! Und abermals überfam fie dies fonder«
bare Gefühl, das fie bereit! früher einmal ergriffen
hatte, daß er ein fremder Dann wäre — wie war
das nur möglih? Aber fie liebte ihn ja — und
dann — dann machte es ſich wohl von ſelbſt, wenn
die Zeit fam — und —
Sie fahte plöglich ihren Vater um beide Wangen,
fühte ihn heftig und fagte:
„Ah, Papa, ſprich nicht davon, das ift gewiß
noch lange bin, und außerdem...”
Der Etatärat lachte: „Ja, ja, mein Zipfel, er-
freuen wir uns an der Sonne, jolange fie ſcheint.
63 wäre bod wohl richtiger,
Erna Juel-Hanfen.
Je länger ich dich behalte, defto beſſer. Obſchon id
bir jagen muß, daß lange Verlobungen mir zumider
find, Na, aber ich ſpreche ja hernach jelbft mit ihm.“
Doktor Henning Möller fam im Laufe des Abende,
Margarete empfing ihn im Entree und wies ihn in
Papas Stubierzimmer hinein. Und dort blieb er
mehr als eine Stunde,
Wovon in aller Welt konnten fie nur fo lange
zu reden haben? Papa machte doch nicht etwa
Schwierigkeiten? Ad nein, Papa war jo aut —
aber jelbjt wenn — ja, dann brad) fie mit Papa,
denn nun jollte feine Macht der Welt fie trennen,
Sie wollte ihn jeden Tag jehen, jeben, jeden Tag,
und wenn ſie noch fo viel ausgejcholten werden
ſollte — ja, ſelbſt wenn Papa fie aus dem Hauſe
jagte! Aber dann mußte fie laden: Papa fie aus
dem Haufe jagen! Nein, das war ja alles dummes
Zeug, aber wovon fonnten fie denn zu reden haben?
Und dann legte fie das Chr an die Thür, konnte
aber nichts weiter hören als eine gleichmäßige Rebe
zweier ruhiger Stimmen. Sollte fie hineingehen ?
Aber gefeht, er Hatte noch nichts gefagt oder — nein,
fie mußte warten, bis fie riefen — ad), waß für eine
Pein das war!
Endlich hörte fie die Stühle drinnen rüden, Sie
erhoben fi. Sie beeilte ſich, fich jo meit wie
möglih von ber Thür hinzuſetzen. Nein, was für
ein fomifches Geficht Papa machte, als er fie anfah!
Er jah halbwegs verlegen aus, und doch lagen um
feine Augen all die Meinen Runzeln, die dem Geſicht
einen jo amüfanten, fuchsjchlauen Augdrud vers
lieben.
Uber gerade als die Herren in die Mohnflube
hineintraten, fam Mama zur andern Thür herein,
Margarete hatte ſich erhoben und warf Papa einen
flehenden Blid zu. Er nidte, ging zu feiner rau
bin, fahte fie um die Schultern und jagte:
„Na, Mutter, ich habe eine große Neuigkeit für
dich — fannft du raten?”
„Bolt, Holm, du lommſt immer fo mit allem
ins Haus gefallen! Haft du — hajt du das Grof-
freuz befommen?*
„Ad, den Teufel auch! Du Haft niemals was
andres ala die Kinkerligchen im Kopf — nein, dann
barfft du nicht raten. Darf ich dir ein neuverlobtes
Paar vorftellen: Herr Dr. phil. Henning Möller
und Fräulein Margarete Holm!“
Einen Augenblid war die Etatsrätin mie aus
den Wolfen gefallen; aber dann that fie, ald wenn
fie durchaus nicht überrafcht wäre: Ihre mütter:
lien Augen hätten natürlich ſchon lange — Mar-
garete wäre ja ein jo offenes Gemüt, dab... Und
dann umarmte fie die Tochter, gab ihrem zukünftigen
Schwiegerfohn die Hand und bat Gott, ihren Palt
zu fegnen, indem fie fich die Augen wiſchte. Und
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
dann eilte fie in die Küche hinaus, um bie Neuigfeit
weitergehen zu lafjen und für einige Heine Aende—⸗
rungen ber Abendmahlzeit zu jorgen.
Als fie fort war, entftand eine Paufe zwiſchen
den dreien in ber Wohnſtube. Der Etatsrat wußte
nicht recht, ob er hinausgehen ober bleiben jollte.
Die beiden wollten wohl am liebften allein fein, aber
anbrerfeit3 konnte es unhöflich ausjehen... .
Er blieb, und bald waren er und Möller an einem
Fenſter im lebhafteſten Geſpräch.
Margarete kehrte entiäuſcht in ihre Ede zurüd,
Sie hatte jo beftimmt gehofft, dab Papa gehen
würde,
Der Friede und die Ruhe, die über ihr gerubt
hatten, ſeitdem fie nad) Haufe gelommen waren, nun, ba
er bier war, völlig fort. Ah, wie fie fi) danach jehnte,
bier in der Stube mit ihm allein zu jein — denn
dann würde das ja fommen, wonach fie ſich jo lange
gejehnt Hatte — er würde fie in feine Arme nehmen,
und fie fühlte gleichſam, wie fie in feinen großen,
ftarfen Männerarmen ganz die Befinnung verlor.
— es nagte und brannte in ihr, jodaß fie vor Un—
gebuld hätte weinen können, während die beiden bis
in die Unendlichfeit weiter ſchwatzten und Ihwapten.
Mie konnte er da fo ruhig ftehen und ſich förm⸗
lid für das, wovon fie ſprachen, intereffieren — weiß
Gott, was es war? Sie mochte nicht einmal zuhören,
Ad, er wußte nicht, daß, wenn fie fich Bier zu
Haufe die Augenblide nicht ftahlen, die fi) darboten,
ihnen feine blieben. Mama würde in der Wohnftube
aufgepflanzt figen von dem Augenblid an, da er fam,
bis er ging — ad, Papa, Papa, warum gingft bu
doch nicht!
Ales war heute jo anders gewefen, jo ganz an«
ders, als fie es fich gedacht hatte, und ein Gefühl
der Leere und Traurigkeit überfchlich fie, während fie
dort am Fenſter jhwahten und ſchwatzten. Ganz
gegen ihre Gewohnheit war ihr heute den ganzen
Tag das Weinen jo nahe geweien; auch nun quollen
ein paar Tropfen aus den Augenwinfeln hervor —
ah, wenn Papa nun do ginge und er zu ihr hin«
läme unb vor ihr ftände, ganz dicht, und fich über
fie neigte, die Thränen von ihren Augen fortlüßte
und fie fragte... .!
„Darf ih bitten — ein Tähchen Thee!“ fagte
die Etatsrätin und öffnete die Flügelthüren zum
Eßzimmer.
Dort drinnen waren Lichter angezündet, alle
Lichter an der großen Hängekrone.
Ein wenig feftlih müßten fie e8 dod an diefem
feierlichen Abend haben, meinte Mama. „Das
fit in die Augen,” fagte Margarete und hielt die
Hand vors Gefict.
Der Etatörat bot Mama den Arm. „Die Vers
lobten jollen zufammen figen!" Margarete legte ihren
Aus fremden Zungen. 1897. IL. 14.
649
Arm in den ihres Bräutigams, und fie gingen zu
Tiſch.
Es wurde eine lebhafte Mahlzeit. Herr Henning
Möller fühlte ſich offenbar fehr behaglich und ſprach
jehr viel. Frau Holm war eine äußerſt gaftfreie
Wirtin und jorgte jpeziell für den Teller ihres neuen
Schwiegerſohnes. Er wäre fehr einfach in feinen
Gewohnheiten, jagte er, und nähme täglich ein ganz
beitimmtes Quantum Fleiſch mit vielem Gemüfe zu
ſich. Frau Holm gelodte fich jelbt, ihren Speijezettel
danach einzurichten, denn am Sonntag, jagte fie zu
ihm, würbe er doch wohl bei ihnen ejlen; er müßte
ja Margaretens familie lennen lernen. Er wäre
natürlich auch an jedem beliebigen andern Tage will«
lommen, aber am Sonntag jollte e8 eine fejle Ver—
abredung fein. Here Möller verneigte ſich dankend,
Margarete wurde glühend rot und dachte au das
Kabinett, in dem Paſtor Schou und Olivia ihre
Verlobungdtage zugebracht hatten,
Aus Wein machte er fi nicht viel, merkte ber
Etatsrat, aber — vielleicht wollte er einen Schnaps
haben? Ja, er räumte ein, dab er ein gutes
Schnäpshen gern hätte — und der Schiwiegerpapa
holte jelbft die Geneverflaihe. Er hat brillanten
Appetit, date Mama, als fie zum dritten Male
und nidjt vergebens ihm die Schüffel mit ben Hühn-
chen reichte — aber, Gott, man wurde ja auch nicht
bon nichts jo groß!
Margarete aß faft nichts und mußte deshalb
verfchiedene Spißtvorte von Papa über ſich ergehen
laffen. Aber es geſchah eigentlich nicht, weil fie
feinen Appetit hatte, jondern weil fie fich genierte,
Es erſchien ihr jo peinlich, da neben ihrem Verlobten
zu fifen und Efjen in den Mund zu ftopfen. Nichts
von dem, was heute abend geſchah, entiprad ja
dem, was fie fi gedacht und erträumt hatte.
Rapa hätte e& auch gut bleiben lafien können, von
„Liebe und Quellwaſſer“ und all dergleichen dummen
Zeug zu reden.
Und dann, gerade als fie begonnen hatte, ein
wenig ihre Verlegenheit abzuſchütteln, wurde e8 ganz
ſchlimm. Ihr Bräutigam hatte fie nad) diefem und
jenem gefragt, und fie Hatte geantwortet; da legte
Papa im felben Augenblid den Löffel mit den Erd«
beeren beifeite, den er gerade zum Munbe führen
wollte, und rief:
„Nein, jo etwas habe ich doch noch niemals ges
bört! Ih glaube gar, die beiden fihen ba und
fagen nod ‚Sie‘ zu einander — Mutter, her mit
der Flaſche! — wollt ihr augenblidiih nad allen
Negeln der Kunft auf, Du‘ miteinander trinken ...“
Alle beide wurden rot. Möller lachte geziwungen,
und die Zeremonie ging von ftatten, aber keineswegs
zur Zufriedenheit des Etatäratd, „Das Wichtigfte
fehlte,” fagte er, „aber das wollten fie vielleicht lieber
82
er
ge SEEN
ren nn nt m EI PL —
650 Erna Juel-Hanjen.
allein abmachen!“ fügte er hinzu und nidte Marga-
rete pfiffig zu. Ihre Hand zitterte infolgedeilen jo
ſtarl, daß fie Wein auf dem Tuch vergoß. Aber
von num an mußte jie jedesmal, wenn fie mit ihrem
Bräutigam reden wollte, den Sak im voraus prä«
parieren, um das „Du” zu umgehen, das ihr gleichfam
im Halje fteden blieb. Es war ihr unmöglich, jeht
gleich — jolange er ihr nod) fo fremd war, und ehe
fie recht empfunden hatte...
Ihm fiel es leichter, Nur ein» ober zweimal
ftolperte er über da3 „Du*, aber dann fam es mit um
fo größerem Nachdruck.
Die Etatsrätin ging in ihrer Liebenswürdigkeit
fo weit, daß fie den Herren geftattete, im Wohn⸗
zimmer zu rauchen. Dort führte Herr Möller das
Wort, erzählte lang und breit von feinen Reifen und
Studien, fam auf die Frage der gymnaſtiſchen Er-
ziehung der Jugend, die ihm jehr am Herzen lag,
und ließ den Etatörat feine Oberarmmusfeln be»
taſten.
Punlt zehn Uhr erhob er ſich und verabſchiedete
fh. Sieben Stunden Schlaf wären ihm Bedürfnis,
er wäre ein Frühauffteher, „ob Fräul... ob Mar-
garete morgen ihren Frühjpaziergang machte?“
Margarete ſah halb erjchredt nad) Papa hin, bes
fann ſich aber im jelben Augenblid, dab nun —
und Papa lachte und drohte ihr mit dem Finger.
„sa, fie bächte wohl...“ Und währenddeſſen durch-
zudte es jie, ob fie ihn hinausbegleiten dürfte — fie
allein! Sie war ſchon an der Thür,
Aber Mama fagte troden: „Ah, Margarete,
Hingle nad Anna, daß fie Herrn Doltor Möller die
Hausthür aufſchließt!“
Er gab der Etatsrätin und Margarete die Hand
— und fort war er.
An diefem Abend weinte Margarete fi in
Schlaf. Es war dumm und thöridht, zu weinen,
aber fie konnte nicht anders, obihon alles, was
fie gewünſcht Hatte, in Erfüllung gegangen war.
Sie hatte ihn, fie waren verlobt — Mama und
Papa waren zufrieden — fie waren jo gut geweſen,
jo gut — fie durfte ihn jeden Tag jehen — jeden
einzigen Tag — ſchon morgen — und dann —
dann... Aber trotzdem meinte fie, vielleicht weil
fie jo glüdlich war oder — e8 werden würde!
Mama und Papa ſprachen noch Tange zufammen
im Schlafzimmer, welches vor Sauberfeit glänzte.
Die Etatsrätin forderte Auskunft und Rechenſchaft
darüber, was zwifchen ihm und Doltor Möller vor
fi gegangen wäre, bevor fie nad) Haufe kam, welche
Ausfihten er hätte, warın er fich verheiraten könnte
und fo weiter,
Der Etatärat ſaß in Unterbeinfleidern auf der
Bettkante und zog jenſeits des Vorhangs, durch den
Mama, jeitdem die Töchter heranwuchſen, ihr gemein⸗
Ihaftliches Schlafzimmer getrennt hatte, feine Soden
aus, Er ſtrich fi mit nachdenkllicher Miene das
bichte, Fraufe, graue Haar über dem einen Auge
empor, jo daß es wie ein ſchiefer Hahnenkamm in
die Höhe ftand, und antwortete ein bischen verlegen:
„Sa — du, eigentlich ſagte er gar nichts.”
„Was joll das heihen?* fragte die Etatärätin
und zog den Vorhang fort, daß die Ringe rafielten,
„er muß doc, weiß Gott, um deine Zuftimmung
gebeten und dir über feine Ausfichten Nechenjhaft
abgelegt haben.”
„Ja — a, das hat er eben nicht. Siehſt du,
Margarete hatte mir im voraus einige Worte davon
ing Ohr geflüftert — und dann jagte er, als er
lam, meine Tochter hätte mich vermutlich auf feinen
Beſuch vorbereitet. Na, das hatte fie ja — und
dann — ja — dann fagte er etwas davon, daß
wir die Sache wohl ald abgemacht betrachten Lönnten,
und da weiß ich zum Xeufel nicht, wie es zuging,
dab wir anfingen, von Politif zu reden. Das iſt
heutzutage ja nicht anderd möglid. Und kannſt bu
dir denken, er ift in allen wichtigſten Fragen in-
different — ober thut in jedem Fall jo. Er ift fid
nicht einmal im allgemeinen über feinen Standpunft
zum Proviforium Har. Das ift doch zu toll für
einen jungen, begabten Kerl — und Hug ift er.
Aber ich habe ihn ordentlich gefaßt, das kannſt du
dir wohl denlen.“
„Bott, Peter — daß du fo Teichtfinnig jein
fannft! Die Rolitik richtet uns ſchließlich noch alle
zu Grunde. Erſt kürzlich hat jie dir bein Amt ger
koſtet ...“
„Na, das war nun ziemlich gleichgültig, es war
eine ſchiefe Stellung und auf die Dauer unerträglich.
Jeßzt Habe ich freie Hand, und du ſollſt nur ſehen,
was fie zu hören befommen werden. Ich habe einen
Artikel gefchrieben, der Hand und Fuß hat...“
„Ad, verjhone mid damit, Peter! Du weißt,
ich teile durchaus nicht beine Anfhauungen!“ Die
Etatsrätin hatte die Nachtjacke gerade über dem Kopf
und zerrte fo an den Knöpfen, daß einer von ihnen
losriß. „Na, dem mag num fein, wie ihm wolle, das
ift deine Sache, aber daß du die Wohlfahrt deiner
Tochter über der abfcheulichen Politik vergefien fannit,
das geht mid an — dann weißt du wohl nicht ein-
mal, warn er ſich verbeiraten kann?“
„D, das maächt fih jhon. Margarete fann gut
nod warten. Und fo viel erfuhr ich doch vom ihm,
daß er ‚summa cum laude‘ bei allen Egamina
hatte — er iſt ein Pfiffikus — er will fi mit der
Regierung gut ftellen, um vorwärts zu fommen, und
fümmert fih den Teufel darum, wer regiert oder
wie regiert wird —“ damit flieg ber Etatsrat ins
Bett,
Mama z0g den Vorhang wieder vor und jeufzte
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
erleichtert auf. Das war doch immer ein Troft. |
Sp müßten alle Männer denfen, die Familie hätten
ober fie begründen wollten. Aber dann fing fie an
zu erzählen, was fie von ihrem zufünftigen Schwieger«
ſohn mußte: daß er einiges Vermögen befäße, gute
Verbindungen hätte, brillant bezahlte Stunden und
fo weiter. Und al& der Etatsrat erftaunt fragte, wo
fie al die Kenntniſſe her hätte, antwortete fie un«
willig, daß fie fid) natürlich gründliche Auskunft über
den Lehrer ihrer Tochter verſchafft hätte — man
fönnte ja niemals wifien, was geſchehen könnte, und
eigentlich verdanfe Margarete ihr Glüd ihr.
Zu all dem ſchwieg der Etatärat. Aber gerade
ad Mama im Begriff war einzufchlafen, wurde
fie dadurch aufgeichredt, daß ihre Ehehälfte fo
ladhte, daß fie fühlte, wie das Bett unter ihm er-
zitterte.
„Aber, du lieber Gott, Peter, was lacht du denn
fo um dieſe Nachtzeit?*
„Ach, du — ba, ha, ha! Mir fielen gerade —
ba, ba, ba! — die Hanteln ein...”
„Ich glaube, bei Gott, du ſprichſt im Schlaf,
Peter. Hanteln? Was meinft du damit?”
Der EtatSrat late no immer. „Ja — ſiehſt
du — das ift etwas, was du vielleicht nicht weißt —
er erzählte — unſer neuer Schwiegerfohn — na ja,
— er ift feufch wie eine Jungfrau, mußt du willen
— und daß, fagte er, hätte er jeinen Hanteln zu
verdanfen — verftehft du, wenn die Verſuchung über
ihn fommt, nimmt er eine Uebung mit ihnen vor —
and dann — ha, ha, ha!”
„Nein, Peter, weißt du was — daß bu darüber
laden fannft! Der brave junge Mann! Er ift
ein Schwiegerfohn nad) meinem Herzen, denn es ift,
weiß Gott, jelten, daß ein Mann das von fid) fagen
lann ...“
Verdammt ſelten — leider!“ ſagte der Etatsrat
mit Nachdruck, „aber ih kann es wahrlich nicht
unterlaflen, zu lachen, wenn ich daran denfe, daß fo
ein Riefenkerl — Hm! Ein Dann ift num einmal
ein Mann — und...”
„Hu, Peter, wie abſcheulich du biſt! Du weißt,
ih mag auf das Thema nicht eingehen — beine
phyſiologiſchen Auseinanderfehungen fannft du für
dich behalten — ich kenne fie. Nein, Margarete ift
ein glüdliches Mädchen! Wenn ih daran benfe,
daß die arme Dfivia nun wieder — fie ift, Gott
belie uns, bereit wieder über die halbe Zeit hinaus,
Dos muß ich jagen, das hätte ich niemals von einer
meiner Töchter gedacht — zwei Kinder in neungehn
Monaten und das dritte zu erwarten, das ift, bei
Gott, geradezu unanftändig, das mußt du doch ein«
räumen...”
Aber num ſchlief Peter — oder war in jedem
Fall taub auf beiden Ohren.
—
651
V.
Die am nächſten Sonntag der ganzen Familie
feierlich bekannt gegebene Verlobung brachte Marga-
rete nicht das Glück, das fie erhofft, von dem fie ge=
träumt, nad bem fie getradhtet hatte, ja es trat
eigentlich feine Aenderung in ihrem Verhältnis ein.
Er kam freilich mehrmals in ber Woche zu ihnen
ins Haus, aber das hätte er ebenjo gut unterlaffen
fünnen, meinte fie. Denn fie waren niemals allein.
Immer zu breien mit Mama in der Mohnftube —
und es war erftaunli, wie gut Mama und er zu»
fammenpaßten — fie waren in fo vielen Dingen einig.
Nur über zweierlei gerieten fie beinahe in Streit,
nämlich über die Verlobungsringe und über die
Beſuche. Möller wollte fich auf beides nicht einlaffen.
Die Ringe gehörten zur Trauung, erflärte er, und
die Befuche wären verlorene Zeit. Mama mochte
reden, was fie wollte — fie brachte ihn nicht Davon ab.
Dft hatte Margarete die größte Luft, ihnen zu
widerſprechen, ihre Meinung vorzubringen, wenn fie
gar zu einig waren, Aber fie wagte es nicht recht.
Er konnte feinen Widerſpruch vertragen; das hatte
fie fon jene wenigen Male bemerkt, da fie es ver⸗
jucht Hatte. Er wurde fo leicht beleidigt und redete
dann fo rückſichtslos, daß fie ebenfalls verleht den
Kopf hängen ließ und ſchwieg. Und dann war er
jo ftarr in feiner „formalen Logik”, von der fie, wie
er behauptete, Feine Ahnung hätte, und ihr „mir fcheint
aber doch!“ wurde mit einer jehr langen und jehr
ſchlagenden Bemweisführung zurüdgemiejen. Aber
nichtsbeftoweniger wußte fie jehr häufig bei fih im
ftillen, daß fie recht hatte, ja, fie hatte doch recht!
Drinnen bei Papa, während fie ihre Zigarren
tauchten, war es aud) nicht viel beffer, denn da gab
es endloſe politifche Diskufftionen, jo daß ihr die
Ohren fauften.
Und das Kabinett — ad), dad Kabinett ſchien ihn
durchaus nicht zu verlocken. Keiner ihrer liftigen Heinen
Winle und ihrer darauf bezüglichen Hindentungen
wurde von ihm verftanden. An einem Sonntag«
nachmittag, als er da war, hatte fie ſich allein bort
hineingejeßt und gehofft und gewartet und gewünjcht
aber es half nichts, bi Mama jie vom Wohnzimmer
her rief und fie fragte, ob fie jchliefe. Sie — Ichlafen?
O nein — fie weinte, bittere Thränen der Sehnſucht
und Ungeduld: das follte die Brautzeit fein!
Täglih einmal trafen fie fih und gingen zu—
fammen fpazieren. Aber — das wurde aud nicht
fo, wie fie e8 erwartet hatte, Sie war freilich von
derjelben unruhigen Freude und Erwartung wie früher
erfüllt, und im Anfang jchien e8 au, daß er an
diefen Zufammenkünften Gefallen fand. Aber bald
merkte fie, daß fie für ihn etwas Alltägliches wurden:
fie fonnte es jeinen unveränderlichen Mienen an—
ſehen, in feinen Augen leſen — während e8 in ihr
652 Erna Juel-Hanjen.
wie zum Feſt aufjubelte, jobald fie ihn nur in der
ferne gewahrte.
Und dann war e3 oft ſchwierig, Stoff zur Unter-
haltung zu finden, und das Schweigen, das ihr vor
der Verlobung jo inhaltreich erſchienen war, fagte
ihr num nichts mehr. Dann griff fie nad) dem erjten
beften, um nur das Gefpräd wieder in Gang zu
bringen, am liebften etwas aus dem Gebiet jeiner
MWiflenichaft, denn über dies Thema fonnte er uner»
müblich ſprechen. Aber fie wollte davon eigentlich
nicht reden.
Die Frühfpaziergänge hatte fie aufgegeben.
Jetzt, da der Winter fam, war es ihr allzu unbequem,
fo früh auf zu fein, umd wenn fie nicht genau zur
verabredeten Zeit da war, war er fort. Als fie das
erite Mal vergebens lam, hatte es ihr eine bittere
Enttäufhung bereitet. Sie fam nur einige Minuten
zu jpät, aber er war ſchon fort — und an dem Tage
fah fie ihn nicht mehr. Ihre zärtlich vorwurfsvolle
Frage am Tage darauf hatte er mit einem verdrieß-
lihen: „Meine Zeit ift foftbar, ich fann nicht auf
dich warten,” abgethan.
Da ſetzte fie die Zeit für ihre Zufammenkünfte
auf jpäter am Tage feft und war dann immer die
erfte am Plahe.
Denn fie mußte ihn fehen. Wenn fie ihn er-
blidte, jeinen Schritt hörte oder fein Klingeln er»
kannte, überfam es fie momentweife wie ein milder
Troft. Es war, ald wenn das Dajein plößlich reich,
fiht und ftrahlend würde, ein Vorgeſchmack des
Glückes. Aber dann, im nächften Augenblid, wenn
er da war, litt und jehnte fie ſich in feiner Nähe
nad dem, was niemals fa.
Ob er wie fie litt? Ob er wußte, daf fie Titt?
Sie glaubte es nit. Denn in feiner fiheren Ruhe,
in feiner leidenſchaftsloſen Hingebung lag ein folder
Gegenfaß zu dem nerböfen, unruhvollen Gemüts-
zuftand, in dem fie fich befand, wenn fie ihn nur
im nächſten Zimmer wußte, daß es unmöglich etwas
andres zu bedeuten haben fonnte, als daß er zu—
frieden war und nichts vermißte.
Und dod wußte fie, daß er fie liebte, fie nicht
entbehren wollte, fie ganz und gar als fein Eigen-
tum betrachtete, auf das fein andrer das geringite
Recht hätte. Und er war eiferfühtig — fogar auf
ihren Bater,
Auf Papa! Wie läherlih! Aber er konnte es
zum Beifpiel nicht Teiden, daß fie Papa in feiner
Gegenwart liebtofte oder fie fi auf feinen Schoß jehte
und wie ein Feiner Junge geflopft und geftreichelt
wurde.
Er hatte ihr darüber etwas Unfreundliches,
Scharfes gejagt, was fie fränkte und verlegte, und
doch hatte ihr Herz dabei geflopft — er war eifer«
füchtig, alfo liebte er fie.
Und wenn fie mit andern zufammen waren, mit
ihren jungen Bettern oder in Gejellfchaft, und ihr,
gerade wie vor ihrer Verlobung, der Hof gemadıt
wurde, oder fie fi) einem von ihnen gegenüber
irgend eine Feine Freiheit erlaubte, dann ſah fie «
auf feinem Geficht wie ein Donnerwetter herauj-
ziehen, feine Augen funfelten, daß ihr ganz bange
wurde — und dann konnte er hernad) fo eflig fein,
daf fie darüber weinen mußte und doch einen ftillen
Jubel in dem Bewußtſein empfand, Macht über ihn
zu beſihen.
Aber warum zeigte er ihr feine Liebe nicht fo,
wie fie e8 wünſchte, in Worten und Lieblojungen?
Warum hörte fie es nicht feiner Stimme an — fie hatte
ihr gegenüber denjelben Klang wie allen andern
gegenüber — oder jah es in feinen Augen? Wie un-
gern fie aud) daran dachte, mehr als einmal mußte
fie an den warmen Blid aus ein Paar andern
Augen denken, der ihr dur Mark und Bein ge
gangen war, jo daß ihr noch jet das Herz erbebte.
Was half es ihr, daß fie die Seinige war, wenn
fie ein ftändiges Vermiſſen empfand und ſich jo
jehnte, da ihr das Blut aus den Wangen ſchwand
und fie ganz herzenskrank wurde.
Sie meinte, fie hätte ihr Leben hingeben lönnen,
um fid) nur einmal in feine Arme gepreßt zu fühlen
und feine Küffe auf ihren Lippen zu fpüren — aber
das geſchah nicht, in jedem Fall nicht jo, wie fie es
wünſchte. In der Beziehung beftand eim großer
Unterfchied zwifchen ihnen; das merkte fie am der
Art und Weife, wie er fie bei der Hand faßte, oder
wenn fie beifammen ftanden und zum Beifpiel mit
Papa ſprachen, und ihr Bräutigam recht vertraulich,
ad) ja — aber als wenn er nicht wüßte, was er
that — den Arm um ihre Schultern legte oder über
ihr Haar hinſtrich.
In ſolchen Augenbliden war e8, als wenn eine
magnetische Kraft ihren Körper zu dem feinigen hin-
zog, und es überfam fie eine wilde Sehnſucht da
nad), fi an ihm zu ſchmiegen, ihn mit Küffen und
Liebkoſungen zu überjchütten, ihm einige bon jenen
dummen, jonderbaren Worten zuzuflüftern, die ihr
auf den Lippen brannten und von denen fie meinte,
es müßte jo ſüß fein, fie zu jagen — aber fie wagte
es nicht. Es ftand gleichfam wie eine unüberjhau-
bare, unüberfteiglihe Mauer zwiſchen ihnen ; das
rührte von ihm her und hielt fie von ihm fern.
Die Bewegung in ihrer Seele konnte fo far!
fein, daß fie ſich ſelbſt der leichten Berührung entjog,
wenn er feinen Arm um ihre Schulter legte — lieber
ihm gar nicht nahe fein, ala jo — jo falt und fremd!
Ein ſchwerer, dumpfer Schmerz ergriff fie dann, und
während fie ihm oder Papa antworten und lädeln
oder laden mußte, war es, als weinte fie innerlid,
fühlte die Thränen in ihrem Herzen brennen.
—
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
Würde er fie jemals lieben wie fie ihn? Und
wenn nicht — Sie durfte den Gedanken nicht aus—
denfen, jo unglüdlich und verzweifelt machte er fie.
Aber hatte er nicht ſelbſt gefagt, fie müßte ihn erit
lieben Iehren? — ja, wenn fie nur dürfte! Aber
daran war die Berlobung und die ewige Bewachung
durch Mama ſchuld. Wenn fie nur einmal fo richtig
mit ihm allein fein fönnte, dann würde jchon alles
anders werden. Und fie fuchte fich in das hinein-
zuträumen, was dann fommen würde, ihn nad) dem
Bedürfnis ihres warmen Herzens umzuſchaffen —
aber auch das erhöhte nur die Sehnſucht und machte
die Enttäufchung, welche die Wirklichkeit ihr bereitete,
um fo fühlbarer.
v1.
Es ging zum Frühjahr, und mit jeder Woche
rüdte die Zeit näher, da Möllers Reiſe nad) Grön-
land vor fich gehen follte, dieſe Reife, vor der jie ſich
immer gefürchtet hatte.
Mehr als ein halbes Jahr lang follte fie ihn
nicht jehen! Mie follte fie das Leben ertragen, wenn
alles fort war, was ihrem Dafein Inhalt verlieh ?
Und gerade jet, da nur noch einige Tage bis
zur Trennung waren, hatte er ihr durch ein paar
Zeilen im Telegraphenftil mitgeteilt, daß er ſich er—
fältet hätte umd zu Haufe bleiben müßte. Weiter
ließ er fein Wort von fich hören.
In den erften Tagen glaubte fie gar nicht an die
Erkältung. Er pflegte ſonſt niemals Rüdficht auf
feine Gejundheit zu nehmen. ber er hatte ihr ein-
mal gejagt, daß fein hypochondriſches Temperament
es ihm zeitweiſe unerträglich erfcheinen ließ, Menſchen
zu jehen, und daß er ſich dann einfchloß, feine Stuns
den verfäumte, ohne Mittageſſen blieb, ja jogar ohne
friiche Luft, nur um dem Anblid feiner zweibeinigen
Mitgeihöpfe zu entgehen.
Das war es natürlich, was jekt vorlag. Er
mochte fie nicht jehen — nicht einmal fie!
Sie verfuchte ſich gegen ihn mit Kälte und Bitter-
feit zu wappnen. Aber e3 glüdte ihr nit, Sie
ſehnte ſich förmlich die Seele aus dem Leibe. Sie
ging ihren gewöhnlichen Weg, ſpähend und um ſich
blidend — und doch jo voll Angit, ihm unvdermutet
zu begegnen. Jede Männergejtalt, die mit ihm nur
bie entfernteſte Yehnlichkeit hatte, flößte ihr einen foldden
Schred ein, daß fie Kehrt machte und, fo ſchnell fie
fonnte, in entgegengejeßter Richtung davonlief,
Aber er fam nit — viele Tage hintereinander
nicht.
Da bfieb fie zu Haufe, und die Tage vergingen
in ſtändigem Warten, in fortwährender Enttäufchung,
biß eine ganze Woche verfloffen war. Ihr erſchien
fie wie ein Jahr!
Was hatte das zu bedeuten? Eine ſchredliche
Angſt ergriff fie. Er mußte aljo wirklich ernftlich
653
frant fein. Er lag da vielleicht allein, ohne Hilfe,
ohne Pflege!
Sie wußte über feine häuslichen Verhältniſſe
nichts weiter, als daß eine alte Frau, die in feinem
Haufe wohnte, jeine Aufwartung beforgte.
Sie hatte ihn einmal gebeten, ob fie ihn befuchen
bürfte. Sie wollte feine Zimmer fehen, wiffen, wo
er faß, wenn er jchrieb oder las, alles kennen, was
ihn dort umgab, entdeden, was ihm bort an Bequem»
lichkeiten fehlte, und was fie ihm ſchenken könnte.
Denn fie empfand den fländigen Drang, ihm
etwas zu ſchenken, Gebrauchs⸗ oder Luxusgegenſtände,
am liebſten etwas, was er täglich vor Augen hätte,
„denn dann mußt du an mich denken, wenn du es
ſiehſt,“ ſagte ſie zu ihm, mit dem halb unbewußten
Gefühl, ſich ihm aufdrängen zu müſſen, wenn er ſich
ihrer Exiſtenz erinnern ſollte.
Sie überwand ihre Abneigung gegen Handarbeit,
um bie und da etwas zu feinem perjönlichen Ges
brauch jelbft anzufertigen, und fie empfand eine be=
fondere Befriedigung, wenn fie ihn davon Gebraud)
maden ſah. Es war wie eine Lieblofung, die end«
lich bis zu ihm gelangte.
Er hatte ihre Bitte, ihm befuchen zu dürfen, fo
fur; und mit foldem Erftaunen über ihr unmoti—
vierte® Verlangen zurüdgewiefen, daß fie ihren
Wunſch niemals wiederholt hatte. Sie wußte außer-
dem, daß er wie Mama es als geradezu vernichtend
für ihren guten Namen und Ruf anjah, wenn fie es
allein tun würde, Und mit Mama als sauve-
garde — nein, dann lieber gar nicht!
Aber nun fragte fie nad) allem dem nicht mehr.
Ihre Angſt, nachdem fie ſich erft in den Kopf gefeßt
hatte, daß er ernftlich franf wäre, brach mit jeder
Bedenkflichkeit und jeder Rüdjiht. Sie mußte hin«
gehen und ihn ſehen. Unter ſolchen Umſtänden hatte
fie das Recht dazu, fie war ihm die nächſte — fie
hatte in jedem Fall feine näheren Angehörigen.
Und fie ging zu ihm.
Plötzlich war neues Froſtwetter angebroden; es
war glatt, und fie fam nur ſchlecht vorwärts gegen
den ſcharfen Oftwind, der ihr den lofen Schnee von
den Hausdächern und Gaſſen wie Flugfand ins Ge—
ficht trieb und ihr den Atem benahm, jo dak fie
mehrmals umfehren mußte, um nad) Quft zu ſchnappen.
Das peinigte und reizte fie, als ftritte fie gegen einen
böjen Willen, der ihren Schritt hemmte. Nun, da
fie auf dem Wege war, fonnte fie nicht jchnell genug
vorwärts fommen. Und doc) hatte fie in ihrer Seele
ein Gefühl, als wäre das, wozu fie hinging, ein
Verbrechen, etwaß Unrichtige. Und dazu fam die
Furcht, wie er fie empfangen würde, die noch fait
größer war, als ihn fehr frank zu finden.
Willtommen würde fie ihm nicht fein. Darüber
begte fie feine thörichten Hoffnungen, und fie fürdhtete
654
fi vor dem Schmerz, der jie jo oft angeſichts dieſer
falten Augen überfam, unter deren Blid ihr Gerz ih
zufammentrümmte und die faft böfe wurden, wenn fie,
felbft ohne es zu wollen, ihm zumwiderhandelte.
Als fie aber die Straße erreichte, in ber er
wohnte, ſank plöglic ihr Mut völlig zu Boden,
Nein, fie wagte es nicht, zu ihm hinaufzugehen —
nicht gleih! Sie wollte fi) damit begnügen, feine
Aufwärterin aufzufuchen und diefelbe erft nach feinem
Befinden zu fragen. Aber wo follte fie fie ſuchen?
Sie wußte nicht einmal, wie fie hieß. (Er that jelbit
mit den geringften Details feines Privatlebens fo
geheimnisvoll.
Es war ein großes, Fafernenartiges Haus mit
ichmalen Treppen und Entreethüren zu drei und vier
verjhiedenen Wohnungen in jeder Etage. Sie las
die Namen. Bor jeder Thüre war ein Porzellan-
ſchild und zwei big drei Vifitenfarten. Hoc oben
im Haufe fand fie den Namen „Frau Peterſen“. Viel⸗
leicht war fie e8?
Sie klingelte — flingelte wieder. Niemand lam.
Sie ftieg noch höher hinauf. Da wohnte er. Sein
Name jtand auf der Thüre.
Alles Blut ftrömte ihr zum Herzen, und unmwill-
fürlich fehrte fie um, um zu flüchten. Hatte er jie
gehört?
Bon drinnen war fein Laut zu vernehmen. Viel
leiht war er gar nicht zu Haufe? Und abermals
durchfuhr fie ein zorniger Schmerz, daß e8 jo wäre,
wie fie e8 ſich gedacht hatte: er wollte niemand jehen
— jelbjt fie nicht!
Aber darüber wollte fie ins Mare fommen!
Es war feine Glode da. So Hopfte fie. Keine
Antwort. Er war aljo nicht da, ihm fehlte nichts,
er war außgegangen! Der Zorn lief gleichfam mit
ihr davon, es kochte in ihr. Hart, heftig klopfte fie
nod) einmal,
„Zum Donnerwetter — herein!” erflang es von
drinnen fo heiſer und ärgerlich, daß fie darüber zu—
fammenfuhr. Gott im Himmel, er war da!
Dann drehte fie den Thürgriff herum, die Thür
war nicht verſchloſſen, und ging hinein.
Das Zimmer war groß und hell, mit einem brei=
fachen enter der Thür gegenüber, Bücherregale
längs der Wände, ein großer Arbeitstifch mit Neagenz=
gläjern, Mikroſtop und aufgeichlagenen botanifchen
Bildwerfen, alles in peinlichfter Ordnung. Er war
nicht da. Aber die Thür zu einem andern Zimmer,
jeiner Schlafftube, ftand offen, und dort lag oder
richtiger ſaß er aufrecht im Bett und rang mit einem
heftigen Huftenanfall, der durch fein Nufen ent«
ftanden war.
Als er fie erblidte, machte er eine ungeduldige,
abwehrende Bewegung und wollte etwas jagen, aber
es war ihm infolge des Huſtens unmöglich.
Erna Juel-Hanſen.
Sie war verwirrt an der Schlafzimmerthür ſiehen
geblieben, von unſäglichem, ratloſem Mitleid ergriffen.
Sie hatte Thränen in den Augen und leiſtete ihm
in ihrem Herzen die demütigſte Abbitte wegen des
Verdachtes, den fie gegen ihn gehegt hatte,
Aber ihr Blick reizte ihn nur. Er war ärgerlich,
verlegen, ſchämte jich, im Bett angetroffen zu werben,
und empfand doc eine gewiſſe Rührung darüber,
daß fie fam. Aber er liebte e8 nicht, frank gejehen
zu werden, er verbarg ſich am liebjten, wie ein ver-
wunbetes Tier, bis e& vorüber war. Und num dazu
noch diefer verdammte Huften!
Sein Aerger wuchs, und ala er endlich fühlte,
wie ſich der Schleim löſte, winfte er ihr zornig, fait
drohend, daß fie gehen follte — gehen!
Aber das konnte fie nicht, gehen, ohne mit ihm
gejprochen zu haben oder zu erfahren, was ihm fehlte!
— das mußte ja ein Bruftleiden fein. Sie ſchlich
fih von der Thüre fort und in der andern Stube
zum Fenſter hin, wo er fie nicht fehen konnte. Und
dort blieb fie, von Angft überwältigt, ftehen. Es
fam ihr jo viel ſchlimmer vor, als fie geglaubt hatte.
Bon dort, wo fie ſtand, konnte fie gerade das
Fußende feines Bettes mit dem Stuhl daneben jehen,
und auf demjelben eine henkelloſe Theetaffe, die zur
Hälfte mit Haferfuppe gefüllt war. Um den Hals
hatte er einen alten, graumwollenen Shawl, aber unten
ftand das Hemd offen, fo daß die entblößte Bruft
zu jehen war. Es war falt im Raume, und troß
ber peinlichen Ordnung ſah es etwas rumpelfammer-
artig aus,
Endlich war der Huftenanfall vorbei. Sie ftand
noch ein Weilhen und bedachte jich, biß feine Atem-
züge ruhiger geworden waren. Ob er glaubte, daß
fie gegangen wäre? Sie ging leife zur Thüre hin,
Dort jtand fie eine Weile am Thürpfoflen und jah
ihn an, ehe fie ſich näher wagte.
Er lag ermattet infolge der Anftrengung, mit ges
ihloffenen Augen, gegen das Kiffen zurüdgelehnt.
Der Schweik jtand ihm auf der Stirn. Er ſah mit
feinem unrafierten Gefiht und dem häßlichen grauen
Halstuch nicht gut aus, Unwillkürlich map fie die
Länge des Bettes. Seine Geftalt hatte etwas fait
Riefenhaftes an ſich.
Aber es rührte fie in beſonders inniger Weile,
daß diefer große, fräftige Dann jo Hiljlos wie ein
Kind dalag und der Pilege bedurfte. Unwillkürlich
trat fie näher zu ihm bin, beugte jich über ihn und
trodnete mit ihrem Taſchentuche die Schweißtropfen
von feiner Stirn ab,
Als fie ihn berührte, ſchlug er die Augen auf.
Es lag eine jo zärtliche, liebevolle Frage in dem
Blid, der dem jeinigen begegnete, daß jeine reije
bare Ungeduld über die Störung entwafnet wurde.
Aus Furcht, daß durchs Reden der Huften wieder
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
hervorgerufen werben lönnte, bildete er mit ben
Lippen lautlos die Worte: „Erfältung — nicht reden
— beſſet —“
Sie legte ihre Hand weich und behutſam auf die
ſeinige und lächelte ihm mit naſſen Augen zu.
„Ad, Gott ſei Lob — aber laß mich — nein, ſage
nichts, antworte nur mit den Augen. Lab mid) bei
dir bleiben — und — und dich pflegen. Hier ift
niemand — und —*
Er ſchüttelte unmillig den Kopf mit ſolch ab—
weiſendem Ausdrud, daß fie es ſogleich beihämt umd
erſchredt aufgab.
„Haft du feinen Arzt?“
Er ſchlug verädhtlich mit der Hand aus,
„Darf ich dir unfern ſchicken?“ Es lam mit
furchtſamer Bitte.
„Nein!“ erwiderte er verdrießlich.
Es arbeitete wieder in feiner Bruft. Er entjog
feine Hand der ihrigen mit heftigem Rud:
„Sch — geh nun! Der verdammte Huften —“
Der Reſt ertrant in einem neuen Anfall.
Dann war fie fort. Bon der Thür her warf
fie ihm einen legten, betrübten Blid zu und wan—
derte mit dem Weinen im Halje dur den tiefen
Schnee und den eifigen Wind nad Haufe.
Warum war fie nur jo dumm gewefen, dorthin
zu gehen? Sie wußte ja — ad, fie wußte —
Das that fie niemals wieder — nein, niemals!
vu.
An diefem Nachmittag wollte das Geſpräch zwiſchen
ihr und Papa nicht recht in Gang kommen, obſchon
fie ganz für fih allein waren. Mama war aus:
gegangen.
Sie fam ihm in letzter Zeit fo bleih und ver—
fimmt vor. Er hatte ſchon lange darüber nach—
gedacht, was mit ihr fein lönnte. Aber wenn er fie
fragte, errötete fie jogleich und jagte, ihr wäre nichts,
oder fie hätte Kopfihmerzen. Na, damit gab er ſich
zufrieden. Er hatte in diefer Zeit jo viel andres im
Kopf. Und nun, ba fie verlobt war — er mußte
nicht, woher es fam, aber e8 war ihm gleichwohl ge=
trade jo, als wenn fie ihn num weniger anginge, da
fie fi für dieſen Menſchen intereffierte, den er nie=
mals recht al3 zu ihnen gehörig zu betrachten vermochte.
Dann fraßte er fi hinterm Ohr und gab ber
Verlobung die Schuld. Junge Mädchen wurden
immer bleichnäfig, wenn fie verlobt waren, und das
war fein Wunder. Das Ganze war eigentlid) eine
unmorafiiche Einrihtung. Obichen er von Marga-
retend Verlobung eigentlich nicht jagen fonnte, daß
fie fie in der Beziehung angreifen könnte. Er hatte
fi im Gegenteil gewundert, da der junge Mann
fo wenig...
Aber heute ſah fie wirklich mijerabel aus und
hatte offenbar geweint.
655
Er blieb vor ihr ftehen, neigte fi über fie und
hob ihe Geficht mit dem Zeigefinger unter dem Kinn
empor. a, wirklich, fie weint. Ein paar warme
Thränen liefen über jeine Finger herab,
„Was ift dir denn, Gretchen?“ fragte er weid.
Und dann hing fie im nächſten Augenblid an
feinem Halje und weinte und ſchluchzte, als wenn ihr
das Herz brechen jollte, und ihr ganzer Körper zitterte,
„Na — na — na — Gretchen, was giebt es
denn? Was giebt es denn?“
Aber fie weinte unaufhörlich und drüdte ih nur
fefter und heftiger an ihn.
Er zog fie zu ſich in ben Lehnftuhl herab, nahm
fie auf den Schoß und fragte dann, da das Weinen
endlich ein wenig nachließ:
„Handelt es fi um deinen Liebften, Margarete ?*
Sie biß in einen Zipfel des Tafchentuches und
nidte, indem fie wieder zu ſchluchzen begann.
Er gedachte die Sache als Scherz zu behandeln,
fniff fie in die Wange und fragte mit blinzelnden
Augen:
„Habt ihr euch ein bißchen gezankt?“
Sie ſchüttelte den Kopf,
„Ra, was ift denn, Margarete ?*
„Er — er — ift — frank,” ftammelte fie.
„Gefährlich?“ fragte er plöhlich ernſt.
„Nein — das wohl nit, — eine ftarle Er—
fültung —*
Er zog fie fcherzend und liebkoſend an einem
Ohrläppden: „Na, Zipfel, wozu denn die Thränen ?
Iſt e8 denn jo ſchlimm, ihn einige Tage zu ent«
behren? Biſt du aber ein verwöhntes Kind!”
Aber da brad) das Meinen abermals hervor; in
einem Anfall wilden Schmerzes prefte fie fih an
ihn und flüfterte ſchluchzend: „Ach, Papa, id) bin fo
unglücklich — fo unglüdlich !“ j
Das traf fein Herz, die Thränen traten ihm ins
Auge, er Mopfte und ftreichelte fie: „Armes Meines
Mäuschen !*
Aber was gab's denn nur? Dod nicht efwa gar
— das Blut ftieg ihm einen Augenblid zu Kopf —
aber ein Blid auf ihr Geficht beruhigte ihn. Was
Teufel war ihr denn aber? Sollte fie des Menfchen
überbrüffig fein? Das würde ihn wirklich nicht in
Eritaunen verjeßen — ober wollte er...
„Liebft du ihn nicht mehr?" fragte er.
„sa — ad) ja, ja!” kam es jo leidenſchaftlich
innig, daß ein Zweifel nicht wohl entftehen konnte,
„Dat er benn etwa..."
„Ih — id weiß es nicht — denn — ad —
Papa, — er ift jo hart gegen mi — und fo falt.
Errührt mid) niemald an, und er — ja, er küßt
mid faft niemals — und id) warte doch immer dar—
auf. Ich glaube, daß er fi aus mir gar nichts
macht — obſchon er bisweilen — ad, Papa, du
656 Erna Juel-Hanjen.
weißt nicht, wie jchredlich e8 ift, jo unglüclich in
feinen eignen Liebften verliebt zu jein! Das ift ja
geradezu lächerlich — wenn es nicht jo — nicht jo
traurig wäre... .”
Obſchon fie fih Mühe gab, ein wenig zu lächeln,
und eigentlich) verlegen war, nachdem fie es gejagt
hatte, Mangen ihre letzten Worte doch jo qualvoll
und hoffnungslos. Und obwohl er aud lächeln
mußte, begriff er fie doch und das, was fie litt, durch
das Verwandte in ihrer Natur und feine Liebe zu ihr.
Und indem er fie in feine Arme ſchloß, glühte
ein faſt unbändiger Zorn in feiner Seele gegen
diefen Menſchen auf — diejen Holzbod, der, weiß
der Teufel wie, das Mädchen in ſich verliebt gemacht
hatte und fie dann unglüdlich machte. Dann be=
gann er ihr zuzureden, wollte fie zur Vernunft
bringen und fie veranlaffen, die Verlobung aufzu-
heben, da der augenblickliche Schmerz nicht jo ſchlimm
wäre, wie ein ganzes unglüdliches Leben. Er wurbe
ganz erregt — befam aber auf alle jeine Por
ftellungen nur hartnädig die eine Antwort: „Papa
— ih fann nicht — ich kann nicht! Ich fterbe,
wenn — wenn“ — Wber ob er nicht auch glaubte,
dab es anderd werden würde, wenn — wenn... .?
Und fie fönnte ſich nicht von ihm trennen, nein, fie
fönnte e8 nit. Papa mühte gut und lieb fein und
nichts zu ihm jagen, und ihn auch nichts merken
laffen — und ebenjowenig Mama!
Nein, davor würde er ſich wohl hüten. Na, was
war da weiter zu thun, al& fie zu tröften, fie zu
ftreiheln, ihr nad) dem Munde zu reden, zu jagen,
er glaubte wohl, daß es anders würde, wenn —
wenn fie ſich verheirateten, Aber er gelobte jich doch,
bei Gelegenheit mit ihm zu reden. Das Mädchen
war wirklich in feinem Recht, und fie follte ihm nicht
zu Grunde gerichtet werden. Sie jah beinahe aus,
als wollte fie fi die Schwindſucht antrauern.
„Sag mal, hat er nichts davon gejagt, wann ihr
euch verheiraten könnt?" fragte er plößlich.
„sa — fie glaubte, wenn er von Grönland
zurücklehrte.“
„Hm!“
vorher zur Vernunft bringen.
er bald reijen jollte.
Dann berubigte er fie endlich und plauderte mit
ihr von andern Dingen. Er rubte nicht eher, als
bis er fie zum Lachen gebracht hatte, aber das Lachen
hatte feinen rechten Klang.
Als fie die Etatsrätin fommen hörten, ſputete ſich
Margarete, ins Bett zu fommen, damit Mama nicht
ihre verweinten Augen ſehen follte. Als jie ipm aber
gute Nacht jagte und die Arme um feinen Hals
ſchlang, legte fie ihre Wange an die jeinige und
flüfterte: „Und dann, Papa, ſprechen wir niemals
mehr — niemals mehr — von — von...“
Dann konnte man fie vielleicht noch
Es war nur gut, daß
Nun, da es gefchehen war, bereute ſie bitterlich,
dab fie davon zu Papa geſprochen hatte, und kam
fi jo ſeltſam entblößt und fremder Kontrolle preis
gegeben vor. Ach, es war eigentlich jchredlich, verlobt
zu fein! Hätte fie gewußt! — aber man wußte ja
nichts — gar nichts. Das Leben war nicht jo, wie
man glaubte und hoffte. Und wenn jelbit die Liebe
nicht das Glüd brachte, was fonnte man dann nod
erwarten?...
VII.
Henning Möllers Erkältung hielt lange an. Vier-
zehn Tage ſpäter erhielt fie ein paar Zeilen von ihm,
daf es ihm beffer ginge, daß er zum erften Male aus-
gegangen wäre und fie bäte, mit ihm am nächften
Tage zu gewöhnlicher Zeit und am befannten Ort zus
fammenzutreffen.
Als fie die Adreffe auf dem Couvert jah, flieg
ihr plöplih das Blut in die Wangen empor, alle
Pulſe ſchlugen, und eine jeltiame, ganz thörichte
Freude durdhriefelte fie.
Ad, wie lange es noch bis zum nächften Tage war!
Obſchon fie beichlofien hatte, erit jo jpät von
Haufe fortzugehen, daß fie genau zur beflimmten
Zeit da war — denn es war jo unerträglich, auf der
Straße zu warten — war fie doch jchon lange vor
der Zeit auf dem Platze und ging mit der Uhr in
der Hand auf und ab. Es war unglaublich, wie viel
Schritte man in einer Minute gehen konnte.
Sie durfte ſich nicht weit vom Platze entfernen
— denn womöglich fam er inzwiichen! Aber übrigene
wußte fie ja, daß er feine Minute zu früh noch zu
jpät fam, jondern gerade auf den Glodenichlag.
Sie war nahe daran, vor Ungeduld außer fich zu
geraten, und trippelte mit feinen, ſtampfenden
Schritten das fleine Stüd Wegs hin und her. „Ihn
— ihn wiederſehen!“ jubelte es in ihr, und doch
lag ihr ein folder Drud auf dem Herzen: Wie
würde er heute ausjehen? Wie würde er fie em-
pfangen?
Der Frühlingsglanz der Märzionne, die fühle
Friſche der Luft waren jo feftlich — es war gründlich
fühl hie und da, wenn ein Sturmwind dabherfegte,
jo daß fie ein Stüd laufen mußte, ob fie wollte oder
nicht. Ad, es war ſchön, bier jo zu gehen, ſchön
zu leben, fich zu jehnen und — ja — da fam er!
Eie fühlte, wie das Blut fie heiß durchſtrömte
und eine eigentümliche, bebende Mattigleit fie über-
fam. Sie flog ihm entgegen, reichte ihm ihre Hand
hin, blieb mit ſtrahlenden Augen vor ihm ſtehen und
vermochte im erjten Augenblid vor Herzklopfen und
Erregung nichts zu jagen. Auch über jein Geſicht
zog ein vergnügtes Lächeln hin, indem er nidte und
ihr die Hand reichte; und jein „Guten Tag, Mar-
garete!” Hang jo warm, dab ihre Wangen babei
glühend rot wurden. Aber dann fuhr ein Falter
Die Geſchichte eines jungen Mäbdens,
Windſtoß ſauſend über fie hin und drängte fie fo
dit an ihn heran, gleihiam in eine halb unfrei=
willige Umarmung hinein. Ihre Kleider und ihr
Mantel widelten fi) um ihn. Sie lachte und blidte
ihm ganz glüdlic ins Gefiht. Allein dieſes hatte
plöglih den Ausdrud gewechſelt.
Verdrießlih und gereizt rief er, indem er ſich
losmachte und den Rod um den Hals zufammenzog:
„Ih muß nach Defterbro — aber vielleicht willft du
in entgegengejeßter Richtung? In dem Fall muß
ich dir Lebewohl jagen. Ich bin frank gewefen —
wie du dich vielleicht entfinnft* — dies wurde mit
Nahdrud gejagt — „in diefem verwünfchten Zug
fann ich nicht ftehen bleiben, ohne es wieder zu
werden !“
Seine Worte jenkten ſich wie eißfalte Tropfen über
fie herab — ach, wie weh das that! Ob fie fich dar—
auf befann, daß er franf gewejen war!
Sie gingen rajch zu, ganz ftumm. Ohne aufs
zujehen fam fie halb widerftrebend mit. War es
nicht beffer, adieu zu jagen und umgufehren? Am
liebiten ging er gewiß allein. Aber warum hatte er
dann an fie geichrieben — ja, warum?
Da bededte eine kalte, graue Wolte die Sonne,
und feine Hagellörner jprühten herab, die der Wind
ihnen entgegentrieb.
„Ein jchauderhaftes Wetter!* brummte er und
huftete,
Sie jah ihn in plötzlichem Schred an. Ad, er
hatte ja recht. Er war nod nicht gejund, er war
bleich — und das Geſicht magerer. Es rührte fie,
als fie das jah.
Es war wirklich unverantwortlich, unbejonnen von
ihr, da ftehen zu bleiben. Sie wollte es ihm jagen,
ihn um Verzeihung bitten, ie fam ſich fo demütig
Ihuldig vor. Aber es war jo ſchwer, das erfte Wort
zu finden. Sie fam ihm ein wenig näher, jah nicht
auf, aber ſteckte verftohlen ihre Hand in die feinige
und drüdte fie leife an fih. Er lieh ihr feine Hand.
„Die nett es ift, dich wiederzuſehen!“ fagte fie
baldlaut und blidte mit warmen, feuchten, frohen
Augen zu ihm auf, Er nidte ihr verjöhnt zu:
„sa, es ift wirflih angenehm, wieder auf den
Beinen zu fein.”
Sie ging fo dicht neben ihm, daß ihre Mange faft
feinen Arm berührte, wenn fie hie und da den Kopf
auf die Seite legte. Unwillkürlich jeufzte fie.
„Wie jchön e8 ift, wieder mit dir zu gehen! —
ah, das war für mich eine ſchreckliche Zeit, lannſt
du mir glauben! Es ift mir wirklich ſchmerzlich ges
weien, ala ich dich jo krank ſah — und ich dir gar
nicht helfen konnte ...“
Abermals fuhr über fein Gefiht ein büfterer
Schatten bin :
„Reden wir nicht von meiner Krankheit.
Mus fremden Zungen. 1891. IL 14,
Ich
657
vertrage fein Bedauern — und, apropos, für ein
andermal, ich liebe feine unerwarteten Beſuche, na=
mentlich nicht, wenn ich bettlägerig bin, und aufer«
dem —- ja, mißverftehe mich nur nicht, wie du es
jo gern thuft, aber ich halte e3 für richtig, es dir zu
jagen. Wir haben jchon früher davon geſprochen.
Eine junge Dame muß in der Beziehung äußerft
vorfichtig fein — die Leute aus dem Haufe — dein
Beiuh bei mir — fo lieb er mir natürlich jein
würde — könnte leicht mißdeutet werden...“
Sie ließ plöglich feine Hand los. Sie war
zornig, verleßt, verwundet, gebraudjte bei fi im
ftillen harte Worte gegen ihn, jagte, er wäre lieblos,
böje, abjcheulih. Sie könnte ihn gar nicht mehr
leiden, fie hätte Luft, jet gleich ihres Weges zu
gehen und ihn gar nicht mehr wiederzujehen.
Aber warum that fie es denn nicht? Nein, fie
fonnte nicht, Und es peinigte und ärgerte fie, daß
fie ihm gegemüber nicht fonnte, was fie wollte —
nicht einmal ihrem Zorn und ihrem Schmerz redit
Luft machen — allen andern gegenüber konnte fie es,
aber nicht ihm gegenüber, Es war etwas an ihm,
was ihren Zorn niederzwang, jo daß fie vor einem
böfen Worte aus jeinem Munde verfiummte — nur
leiden konnte fie — weil fie glaubte, wußte, daß er
ſich nicht jo viel auß ihr machte, wie fie aus ihm, und
weil ſie jih von ihm doc nicht losreiken konnte,
denn — was dann? Gott im Himmel, was dann ?
An was er wohl dachte, während er da jo da-
binichritt und ausjah — ausjah, als hätte er fie ver-
geſſen, ala wäre fie gar nicht mehr da?
Sie gudte ihn von der Seite an — und war
ganz betroffen über das, was fie jah. Es war, als
ſähe fie ihn plöglich in ganz neuem Lichte. Er war
ja gar nicht mehr hübſch. Etwas Schweres, Träges,
faft Schläfriges Tag in ben großen Linien dieſes
Gefichtes, zu dem fie bisher niemals ohne herzens-
innige Bewunderung aufgeblidt hatte, Und fie jah
genauer hin und unterfuchte fritiich und aufmerkſam
jeden Zug. Seine Naje war an der Wurzel zu did,
der Mund zu ſchmal — fie jah e8 von unten, troß
des Bartes — faft ohne Lippen, und dann hing er
jo mürriid) an den Mundwinkeln herab,
Sonft war ihr fein Lächeln melancholiſch er-
ſchienen. Aber nein, das war feine Melancholie, das
war — und plößlich hatte fie ein Gefühl, ala würde
fie von ihm fortgerüdt, jähe ihn als Fremden, der
fie nicht8 anging, und den fie demgemäß beurteilte.
Unwillkürlich trat fie ein wenig von ihm zurück.
Indem fie vor einer Pfübe auf dem Wege ausbog,
tam fie ganz auf die andre Seite des Promenaden-
weges hinüber. Es fam ihre zum Bewußtiein, daß
fie ſich langweilte, und fie ertappte fi über dem
Wunſche, daß fie Defterbro jchon erreicht hätten und
fie nach Haufe gehen fönnte,
83
658
Da fragte er plößlih — es Hang ihr, al wenn
es aus weiter Ferne herfäme:
„Giebt es nichts Neues? Ich habe in der ganzen
Zeit weder Zeitungen gejehen noch etwas gehört.“
„Nichts Befonderes.“
Sie erzählte kurz die Meinen Begebenheiten des
öffentlichen und privaten Lebens, die fih während
feiner Krankheit ereignet hatten. Er nüpfte hie und
da eine Bemerkung daran, fo dab es zu einer Art
Geſpräch wurde,
Sie erreichten das Ende der Allee.
Er hatte fie einige Male forjchend angeblidt. Es
lag etwas ihm fremdes in ihrem Ton — derjelbe
Hang jo gleichgültig. Er wußte gut, daf er fie vor
bin verlegt hatte, und fannte die Wirkung, bie es
auf fie hatte, und daf fie ihrem Zorn nicht Luft zu
maden wagte. Und dieje feine Macht über fie be=
reitete ihm ein gewiljes Behagen. Ihr „Maulen”, wie
er es nannte, pflegte niemals lange anzuhalten und
ſchlug immer in die eine oder andre demütige, liebe—
volle Annäherung um, die gleihjam um Verzeihung
bat. Aber heute — hm!
Ich muß nod) ein Stüdhen laufen. Ich will auf
den Strandweg hinaus — du mußt wohl nad) Haufe?”
Es lag in den Worten eine Art Bitte verborgen,
das merkte ſie wohl.
„Ja—a, id; müßte eigentlich," kam es leichthin,
mit kühler Sicherheit. Da war es wieder. Der
Ton war ihm neu.
Ihre Blide begegneten fih. Auch ihre Augen
ſahen anders aus, Sie pflegten ihn jonft mit ihrem
jchnell wechſelnden Ausdrud — da fie bisweilen von
zurüdgehaltenen Thränen verfchleiert, bisweilen mit
büfterer Glut erfüllt waren, auf die er feine Antwort
hatte — zu genieren, da immer etwas wie ein ber=
borgener Vorwurf darin lag. Nun war nichts davon
da — ruhig und ſtumm blidten fie in die feinigen
hinein. . Ihre ganze Geftalt erjchien plößlich gleich—
jam neu in einer gewiffen fühlen, vornehmen Anz
mut, die ihn beſonders anzog. Zum erjtenmal, jeit
er fie fannte, merkte er bei ihr einen Widerjtand,
etwas, das überwunden werden mußte.
fperte ſich:
„Du — du jollteft wenigfteng bis Vibenshus mit«
fommen. Es ift dir auch gut, ein Stüd zu gehen.
Du fannft ja mit der Pferdebahn nach Haufe fahren.“
Am Tiebften hätte fie nein gejagt. Sie hatte
feine Luft dazu. Sie antwortete nicht, aber fie ging
jögernd ein paar Schritte nad Oefterbro mit.
„Willſt — willſt du nicht mich unterfaffen ?*
Sie jah ihn erftaunt an. Er hatte ihr früher
lange Vorträge darüber gehalten, wie unbequem und
unfrei e8 wäre, jo Arm in Arm zu gehen. Sie
fönnten ja doch nicht Schritt halten. Aber daran
ſchien er ſich nicht zu erinnern, Er war plößlich
Er räus |
Era JuelsHanjen.
mitteilfam geworden. Er ſprach von jeiner Reife
nad) Grönland, dad Schiff ginge in drei bis vier
Wochen ab. Er jhilderte die Natur dort oben, die
Pflanzen, und dann erzählte er von feinem Aufent-
halt in London hinterher, wo er die botaniſchen
Sammlungen befuchen wollte, und daß er mindeftens
acht bis zehn Wochen darauf verwenden müßte.
Dann würde er gemäß den gewonnenen Rejultaten
feine Preisaufgabe fertig machen. Er würde aljo
faft ein Jahr fortbleiben. Er wunderte ſich, was
aus ihrem Schmerz geworben war, mit dem fie ihn
früher von diefer Reife hatte reden hören — umd
nun wurde die Trennung doch eine jo viel längere,
als fie vermutet hatte — und wenn er dann heim—
fehrte — es durdhzudte fie faft wie ein Schred, was
dann gejchehen jollte,
Es war nur gut, daß er jo viel ſprach, denn fie
hatte jo wenig zu antworten, aber er jdhien es nicht
zu merlen. Denn alß er ihr bei Vibenshus in die
Pferdebahn half, drüdte er mit ungewöhnlider
Wärme ihre Hand und ſagte ſichtlich aufgeheitert und
eifrig:
„Ich beſuche dich morgen — jeid ihr zu Haufe?“
„Ja.“
„Dann komme id zum Mittag.“
Es war das erfte Mal, daß er fich bei ihmen jo
ohne weiteres zu Gaft lud. Aber darüber dachte
fie gar nicht nad), fondern antwortete nur mit er-
jwungenem Lächeln: „Ja, thue das!“
Schlaff und müde fam fie nad Haufe und bünkte
fi doch wie befreit — von was? Danach fragte
fie nicht, ihr war nur alles jo zumiber, fo zuwider,
das ganze Dafein und fie fich jelbft, fie mochte weder
denken noch träumen, fanf aber auf dem Sofa in
Papas Zimmer in Schlaf.
Sie wäre mit Möller jo weit gegangen, ſagte
fie in entſchuldigendem Tone zu Papa, und er läme
morgen.
„Na, dann bift du wohl wieder froh?” fragte er
und kniff fie in die Wange.
| „Ja — id bin froh —“ erwiberte fie und hatte
bereit8 die Augen geſchloſſen.
Drittes Bud. |
I.
Möller war abgereift. Ihr jhien, als wäre es
bereit3 Tange her. Wie ein ſchwerer, trüber Regentag
lag die Erinnerung an ihn über ihr und bedrüdte
ihre Seele. Ihre Gedanken waren nicht oft bei ihm.
Nun hatte fie andres zu thun.
Da hatte fie nun den ganzen Winter gefejlen
und im Winkel gehodt, weil er feine neuen Befannt-
haften anfnüpfen wollte und fi nur mit Gewalt
in die intimften Familienkreiſe jchleppen lieh. Auch
— —
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
659
nicht zu einem Ball oder einer ordentlichen Gefelle | zu ſchwärmen und verſchwendete an fie eine Be—
ſchaft mit jungen Leuten wollte er mit. Daher blieb
aud) fie zu Haufe.
Aber jet nicht mehr! Es waren nod einige
Moden der Saifon übrig, und während dieſer eilte
fie von Ball zu Ball und Geſellſchaft zu Geſellſchaft,
troß der Protefte Mamas. Diele fand e8 ſchrecklich
unpaffend, daß ein verlobtes Mädchen nicht zu Haufe
fähe, wenn der Bräutigam fort wäre. Aber Papa
lachte nur über dad Geſchwäh: „Lab das Kind ſich
doch amüfieren, jolange es kann — man ift ja nur
einmal jung!”
Und Margarete amüfierte ſich ober erlangte
wenigftens, was fie ſuchte, daß ihre Seele von Un—
ruhe erfüllt würde. Es war wieder ein heißes Be—
dürfnis nach Erregung über fie gelommen, danach,
dort zu fein, wo es Lärm, Licht und viele Menſchen
gab. Sie griff nad) allem möglichen, ſelbſt wenn fie
bisweilen fich ein wenig ermübdet fühlte, wenn fie
nur nicht in ihrer Wohnftube daheim war. Selbft
die Plauderftunden mit Papa verlodten fie nicht mehr.
Wenn fie nur in einen Balljaal oder zu einer
Mittagsgefellichaft der Jugend hineinfam, war fie
fogleih wie ein andrer Menſch, oder richtiger, fie
fand fich ſelbſt, ihr eignes, richtiges Selbft von den
Bällen und Gefellihaften in den „alten Tagen”
wieder, wie fie es bereitö nannte, obſchon nur ein
Jahr dazwifchen lag, Denn diejes Jahr — ad,
biäweilen glaubte fie, fie wäre ſchon ganz alt und
häßlich — aber nun erfuhr fie etwas andred. So
war fie noch niemals gefeiert worden! Es war da%-
ielbe befebende, erregende Spiel mit Courſchneiden
und Flirtation — e8 machte nicht das Geringfle,
daß fie verlobt war, jo viel merkte fie wohl — und
fie wurde dreiſter, ihrer jelbit mehr ſicher, nachdem
ihr far geworben war, daß Männer jelten in ihre
Nähe kamen, ohne fi ein bifchen die Flügel zu
verbrennen.
Das bereitete ihr Vergnügen, jolange es dauerte
— aber hernach, ad) ja, hernach war e8 leer wie
immer und ebenjo langweilig.
Aber dann geihah etwas, was für einige Zeit
ihre Stimmung verbeſſerte.
Ihre Freundin Ludovbika verheiratete ſich mit
einem nicht mehr jungen, aber jehr reichen und hohen
Diplomaten bei einer ausländifchen Gefandtihaft in
Kopenhagen.
Sobald das Paar von der Hochzeitsreife zurüd-
fehrte, noch im Anfang des Frühjahrs, juchte Lubo-
vila Margarete auf und zog fie fogleih in eine
wahre Flut des Gejellichaftslebens hinein, Sie
waren täglih beiſammen. Margarete hatte Ludo—
vifa niemals fo gern gehabt wie jebt. Sie hatten
fich feit Margaretens Verlobung nicht mehr ordent-
lich geiehen. Aber num begann fie förmlich für fie
wunderung und Anbetung, welche — obſchon fie zum
großen Teil erlünftelt war — doc ein wenig ihre
innere Deere ausfüllte.
Unter der Dede einer gebildeten Sprache und
abgeichliffener Formen herrjchte in Frau Ludovilas
Haus ein ziemlich freier Ton. Margarete fühlte
fih dort in ihrem richtigen Element und machte
ſtehenden Fußes in dem etwas blafierten Kreiſe der
jungen Männer der Hautevolde, die fie „verteufelt
niedlich, aber fofett wie einen Satan“ fanden, Er—
oberungen,
Es herrichte dort eine eigne Atmoiphäre. Die
fpäte Liebe des älteren Mannes für das junge, ko—
fette Weib, das er jeden Tag, ja fait jeden Augen—
blid fürchten mußte zu verlieren, das er gleihfam er—
obern mußte, und das ji jcheinbar erobern lieh,
erfüllte dad Haus wie mit verborgenem Feuer und
machte die Atmofphäre gleichſam eleftriih. Selbſt
bie Satteften unter den Gäften wurden davon erfaßt,
und mit Ausnahme einiger Freunde aus feiner
Yunggejellenzeit verfammelten ſich meift junge Leute
in dem eleganten Haufe, das nad neueftem Parifer
Geſchmack möbliert war: warın und weich, mit Dra—
perien an den Wänden und um die Thüren, mit
einer Weberfülle von Möbeln in matten Farben,
einer Unmenge Blumen, großen Pflanzen, und mit
franzöfifchen Kunſtwerken der Plaftif wie der Malerei,
ſowie einer Unmaffe loftbarer , fremdartiger Nipps
laden.
Anfangs Hatte fie nicht begreifen können, daß
Ludovika fid) mit einem alten Manne verheiraten
fonnte, Er war freilich fein und ftatilich anzufehen,
fogar hübſch — oder war es geweſen. Aber er war
boch ziemlich dünnhaarig, hatte einen allzu großen
Bart, viele Runzeln und — was das Schlimmite
war — ihm fehlten Zähne.
Aber ala jie fie innerhalb ihrer vier Wände bei—
ſammen ſah, begriff fie e& cher. Denn er war fo
verliebt in feine Frau, daß es fi lohnte. Ihr
fonnte ganz heiß; werden, wenn fie ſah, wie er Ludo—
vifa liebloite. Ja, er war verliebt,
Und das erzählte Ludovikla auch, wenn fie am
Vormittag beifammen jaßen und plauberten, während
der Gatte aus war; und fie gab ihr mit offenherziger
Vertraulichkeit Beiipiele davon, wie fie geliebt wurde,
oft fo intimer Natur, daß fie fich biaweilen unter«
brach, da ihr einfiel, daß Margarete ja nur verlobt
war — aber ad) was, fie jollte ſich ja bald ver—
heiraten, und dann erfuhr fie ja doch alles. Und
Margarete ſaugte diefe Mitteilungen in ſich ein,
zwar mit geheimer Scheu und leichter Scham, aber
wie ein fühes Gift, das im Blut blieb und nebelhafte,
Iodende Geftalten in einem verzauberten Sande ſchuf.
Tann fonnten die Gedanken, die heiß und durftig
660
waren infolge bes nie geflillten Sehnens, zu ibrem
Bräutigam zurüdtehren. Aber nun träumte fie fich
nicht mehr in liebesheiße Situationen mit ihm bin-
ein; fie führte in ihren Gedanken nur ftürmijche
Scenen auf, in denen all ihr verborgener Schmerz
und Zorn in ſchwulſtigen Erllärungen zu Worte
fam, daß er fie für das ganze Leben unglüdlich ge»
macht hätte, daß er kalt und herjlos wäre und ihre
Liebe niemals verftanden hätte, Und fie wußte nicht
oder wollte es nicht willen, daß dieje Liebe tot und
erlojchen war, als wenn fie niemals erifliert hätte,
Eie fragte ſich nur wieder und wieder jelbft in qual«
vollem Serzeleid, ob fie denn niemals das Leben
genießen jollte.. .?
Aber dann plößlic wurde alles anders. Auf
einem Ball bei Ludovila, gerade auf dem, mit wel-
chem die Saifon ſchließen follte, traf fie Otto ſtrog
wieder, Chrijtians freund, den „Straßenjänger” vom
Mastenball vor drei Jahren. Und obſchon fie die
ganze Zeit einander nicht gejehen hatten, wurben fie
doch beide wie von einem Rauſch des Entzüdens
über dies Wiederjehen ergriffen.
Er hatte in jener Nacht, da er fie zum erftenmal
fah, ſich im fie mit der plößlichen Leidenſchaft einer
ftillen, träumerifchen Natur verliebt. Etwas von
diefer Verliebtheit jah ihm noch im Blut und glühte
wieder empor, als er fie ſah, wie eine Flamme, bie
neue Nahrung befommt, Damals, nad) dem Tode
des Vetter, hatte er fie überall gefucht — aber fie
war und blieb verſchwunden. Dann hatte er unter
dem Nachlaß des Freundes die Heine Skizze von ihr,
„Revelation“, gefunden, fie gefauft und ſich niemals
recht von dem Zauber losreißen lönnen, den jie
in ihm erregte, und Hatte ſich in fie Zug für Zug
vertieft — es lag für ihn etwas beinahe dämoniſch
Lodendes in dem Bilde, das fo einfach und doch fo
bezaubernd Iebensvoll gemacht war.
Und nun fand er alles bei ihr wieder: bieje
wunderlich ſuchenden, lodenden Augen, halb ver-
fchleiert von langen Wimpern, Augen, die zugleich
die bes Meibes und bie des Kindes waren, gleichſam
taubenegt von ber erſten Ahnung der Liebe, den
Heinen, gejchweiften, Teichtgeöffneten Mund mit dem
verlodenden Lächeln, das eine eigne, unbewuht
finnlihe Anmut hatte. Es war, als fönnte man
ben Seufzer hören, der ſich in neugierig träumender
Sehnfucht hervorſchlich. Die ganze Geftalt, die erft
halb entfaltet war, erſchien lodend durch die Ver
beißungen deifen, was fie werden wollte und was fie
geworben war — ja, denn wie hübſch war fie erft
jebt! Mehr Weib, weniger Rind, verführerifch, be
zaubernd ſchön! Bis auf die Tracht war fie leib-
baftig das Bild. Die Seide ſchmiegte ſich fo eng
und dicht um fie, daß es war, als wenn nur ein
Erna IJuel-Hanfen.
fließendes Gewebe von Rofenrot das Auge von all
diefer frifchen Jugendfülle trennte, es harmonierte in
Ton und Farbe mit dem feinen Schimmer der Haut
wie von Apfelblüten über den entblößten Hals, die
runden Schultern und bie vollen, Shöngeformten Arme,
Das entzüdte Erflaunen in feinem Blid, als
Ludovila fie einander vorftellte: „Herr Krog, Fräw
lein Holm,“ drang ihr warm und verwirrend bis in
das Herz hinein,
Ob fie ihn wiedererfenne, fragte er.
O ja, fie erfannte — feine Augen, hätte fie bei«
nahe gejagt.
Es durchfuhr ihn wie ein eleftrifcher Schlag, als
er das Lächeln, diefes Lächeln um ihre Mundwinlel
beben ſah. Unwilllürlich drüdte er die Hand, bie
fie ihm entgegengeftredt hatte, und erhielt einen
leichten, zögernden Gegendbrud. Ihre Augen trafen
fih, aber bie ihren wichen der dunkeln Glut in jeinen
Augen aus, die ihr das Blut in die Wangen trieb.
Ludovikla jah äußerſt erftaunt von einem zum
andern, dann lachte fie: „Ab, alte Bekannte!“ fagte
fie, „davon haft du mir ja niemals etwas erzählt,
du Galgenftrid — !”
Dann wollten fie beide gleichzeitig erflären, aber
es fam mur zu einigen verwirrten Worten von
einem Mastenball und einer Naht und Chriſtian —
„mein Vetter, du weißt dod — und —“ und dann
endigte es mit einem luftigen Lachen, denn Ludovila
verftand nicht einen Mud; fie hatte niemals von
einem Better gehört.
„Das muß dor meiner Zeit gewejen fein,“ jagte
fie zu Margarete und drohte ihr jchelmijc mit dem
Finger.
Margarete wurde glübend rot, und ein eigner,
fingender Laut fag in dem Lachen.
„Na, aljo — vergnügte Fortſetzung der Freund»
ſchaft!“ jagte Ludovika und nidte ihnen zu, indem
fie fih abwanbte, um andre Gäſte zu empfangen.
Oho! dachte fie, das wäre wohl ber rechte —
aber was in aller Welt will fie benn mit dem andern?
Sie joll mir morgen ordentlidy Rede ftehen!
Die beiden jeßten ſich in eine Ede und fanden
ſogleich den Ton von alten Belannten. Sie hatten
von fo vielem zu reden, fie wurden nicht fertig, aber
immer famen fie auf die Freude zurüd, daß fie ſich
wiedergejehen hatten — „und dann, daß e& gerade
heute abend war!“ jagte er.
„Warum gerade heute abend — iſt ber Tag be»
fonders merfwürdig?” fragte fie.
Ya, mit ihm hätte ein ganz neues Daſein and
in andrer Beziehung für ihn begonnen. Er wurde
rot, als er dies fagte; fie jah es, und dann durd-
fuhr es fie glühend heiß, was in den Morten lag.
auch in andrer Beziehung.
„Was denn — ad, erzählen Sie, wollen Sie?*
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
fagte fie flehend und wagte nicht, den Blid zu er—
heben. Sie fühlte nur durch ihre Augenlider, wie
er fie anblidte. Gott im Himmel — war e8 denkbar,
dab — daß —?
Und dann erzählte er, im Anfang etwas kurz
und wortfarg, nur weil fie fragte, aber fpäter hin⸗
gerifjen von der faft exaltierten Stimmung, in ber
er ih gerade an diefem Abend befand.
Bis zu diefem Tage hätte er nur das flagnierende
Leben eines armen, noch unbeadhteten Künſtlers ge—
lebt, ohne Ausſichten, unter Entbehrungen — bis-
weilen in Not — faſt ohne Hoffnung — nicht eine
gewonnene Schladht in all diefen Jahren — zuleßt
faft ohne Glauben an fein Talent.
Und dieſes Leben im Dunkel hatte ihn zu er-
ftiden gedroht, hatte ihm feinen Mut, feine Bes
geifterung geraubt; aber dann, ala es am aller-
ihlimmften ftand, hatte er, er wußte nicht wie oder
warum, fich zu einem großen Werke gefammelt, alles
auf eine Karte gejegt, wie ein Wahnfinniger ge
arbeitet, fich faft alles verjagt — nur gemalt, gemalt
som Morgengrauen, bis das letzte bischen Licht des
falten, elenden Himmels hier im Norden erlojchen
war — gehofft, geglaubt, gezweifelt — meift gezwei⸗
felt — und dann war es geglüdt über alle Erwar«
tung. Das Bild war fertig geworden, ausgeftellt —
nur einen einzigen Tag — und dann war e& ihm
ergangen, jagte er ſcherzend, wie Byron, ber eines
Tages erwachte und ein berühmter Mann war —
das gefhah geflern; heute früh war das Bild von
Ludovikas Mann gelauft und hing nun drinnen in
dem großen Salon — ob fie es ſchon gejehen hätte?
Sie nidte. „Ja, 0, das ift von Ihnen — das
ſchöne neue Bild?”
Ja — es wäre von ihm. Er jelbft hätte den
Pak ausgewählt und es aufgehängt, und biefem
Umftande hätte er wohl auch die Einladung für
heut abend zu verbanten gehabt. Und nun fegnete
er fein Schidjal, daß er fie angenommen hätte und
nicht gleich abgereift wäre, wie er am liebften gewollt
hätte, denn das war e8 ja, wofür er gearbeitet hatte, Er
mußte von bier fort, um etwas zu werden, ben Heimat»
faub abfchütteln, hinaus in lichtere Luft, zu reicherem
Leben, feine Seele mit dem wahrhaft Großen in ber
Kunft und Natur erfüllen. Bei dem bloßen Ge-
danfen daran fühlte er in fih neue Kräfte ſprießen,
den Glauben an ſich und an das, was er erreichen
lönnte —
Er hatte wie im Traume vor fi) hingeblidt;
fein Antlik leuchtete. Das plötzliche Glück, die reiche
Umgebung, die Mufit, der Wirbel der Tanzenden —
alles wirkte magisch auf ihn, ala ſtände er mitten
im Märchen und braudte nur zu wünjhen, bann
wäre alles da, wovon er geträumt, worauf er ger
hofft, wonad er ſich gefehnt hatte, gleich ihr, dieſem
661
jungen Weibe, das in feiner Phantafie gelebt hatte,
jeit jenem Mastenball, und das ihn jeßt wieder ge=
fangen nahm.
Margarete war ganz flumm und verjagt ge»
worden. Kerrgott, er jollte fort?! Dann wurde ja
nichts daraus, wie aus allem andern — es war, als
fäh’ fie etwas verfinfen, in weiter Ferne verfinfen,
und es preite ihr jo ſeltſam das Herz zufammen.
Sie war nahe daran, in Thränen auszubrechen,
und ſchloß die Augen. „Sie wollen fort?” fragte
fie, ihre Stimme zitterte ein wenig.
„Würden Sie — würden Sie — o, das ift ja
unmöglich! ftammelte er, tief über fie geneigt, und
verjuchte, ihr in die Augen zu fehen. Sie leuchteten
auf, fie lächelte ſchwach und wurde ein wenig gerührt:
„Wollen wir tanzen? — wir find gewiß an der
Reihe,“ ſagte fie flüfternd und ſchmiegte fich in feinen
Arm.
Es war, ald wenn die Luft plößlich um ihn heik
würde, das Blut jagte ihm in Strömen zum Kopf,
er drüdte fie feſt an fi, und fie glitten zwiſchen die
andern hinein.
Und dann war es allmählich, ala wöbe dag Damals
und das Jetzt fich ineinander, nur war es nicht Chri-
ſtian, fondern er, den fie auch damals geliebt hatte.
Daß fie das jo lange vergejien hatte — 0, e3 war
ja nicht vergeffen — es lebte, es war in ihr — alles
— nur taufendmal heißer, füßer — aud in ihm.
Sie fühlte die Wärme Hinter feinen Worten; die in-
folge der Erregung ein wenig verſchleierte Stimme
fieß fie jo tief, jo bedeutungsvoll erfcheinen — oder
waren es die Augen, von denen e8 herrührte, dieſe
„Hirihaugen“, die fie nicht losließen und fie gleich
ſam an ſich faugten, jo daß fie ihnen nicht ent«
ſchlüpfen fonnte — nein, nicht Tonnte ?
Der Ball rings um fie her nahm feinen Verlauf,
ohne daß fie darauf achteten. Sie waren nur für
einander da. Er that feine Pflicht als tanzender
Kavalier, aber die Damen, die ihn ſogleich reizend
gefunden hatten, meinten zu einander, die Augen
täuſchten — er wäre geradezu langweilig und machte
dem Fräulein Holm allzu offenbar die Cour. Und
dann ziſchelten fie über Margarete, wenn fie in den
Tanzpauſen die Köpfe zufammenftedten. Die Männer
wären zu dumm, jagten fie; was denn eigentlich an
ihr zu jehen wäre — mit ber Nafe, und den jchiefen
Augen, und biejer gejhnürten Taille? Aber die
Herren fanden fie, wie gewöhnlich, bezaubernd, fie
hatte Chic, verftand fich zu benehmen, fprudelte von
Leben, und es rubte heute abend gleihjam eine neue
verführerifche, Todernde Anmut über ihr — im Kotillon
ftritten fie ſich förmlich um fie. Sie flog von Arm
zu Arm, aber hernach hatte fie feine Ahnung, mit
wen fie getanzt hatte.
Es waren Meine Tiſche in dem großen, halbrunden
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Speiſeſaal gedelt. ſtrog hatte Frau Ludovila zu
Tiſch geführt. Margaretens Herr war ein junger
Altaché, der ganz vernarrt in fie war — fie ſaßen
zu vier an einem Tiſch, aber er wußte ſich nicht
ordentlich auszudrücken, und ihm fiel nichts weiter
ein, als daß er ihr jeden Augenblid ins Ohr flüfterte,
fie wäre bezaubernd ſchön und könnte einen Mann
mit ihren Augen ganz verrüdt machen — und dann
wäre fie graufam — o, fo graufam! Es war nicht
möglich, ihn zum Schweigen zu bringen! Sie war
mutwillig in ihrem überftrömenden Glüd, und jchließ-
lich band fie ihm die Serviette um ben Mund. Der
Lärm von all den lachenden Menſchen ſchwirrte
ringsum im Saal, überall firahlten Augen und
glühten Wangen, aber nirgends war das Laden
Iuftiger, die Stimmung lebhafter als an ihrem Tiſch.
Als der Champagner fam, erhob Lubovifa ihr
Glas gegen dad Margaretens, blinzelte ihr ſchelmiſch
zu und rief:
„Du, vive la libertö!“
Margarete begriff, wurde fehr rot, hielt das Glas
in die Höhe, warf den Kopf trohig zurüd und ant«
wortete triumphierend: „Ja — vive la liberte!*
und feßte den Mund ans Glas.
„Et l’amour!* tönte es in weichem Flüftern von
der andern Seite in ihr Ohr.
Sie wandte ſich nad) ihm um, ihre Blicke ruhten
ineinander, wieder war e8, als jollte fie weinen, faft
ſchmerzhaft ftark ſchlug ihr Herz: „Et l’amour!*
wiederholte fie nur mit einer Beivegung der Lippen, bie
er jah, ohne zu hören —dann ſchloß fie die Augen
wie im Schwindel und tranf das Glas aus. Ihr
war e8, als gäbe fie in diefem Augenblide ſich ihm
hin und wäre fich deſſen bewußt.
Und ihr war e8, wenn er nur ihre Hand ergriff
oder den Arm um fie legte, wenn fie tanzten, als
jollte fie ohnmächtig werden vor Glüd. Er war nur
ein wenig größer al& fie, jo dab ihr Geficht dem
feinigen ganz nahe war — und diefe Nähe war ein
neues Glüd — einmal fühlte fie jeine Lippen ihr
Haar ftreifen wie einen Kuß — er fühlte fie dabei
erbeben und preßte fie feſter an ſich. Ad Gott, wie
fie ſich gejehnt hatte, fich gejehnt nad) dem, was nun
gefommen war — war es gefommen? Sie blidte
auf — und las die Autwort in der milden, ftrahlen«
den Glut unter den halb geſchloſſenen Lidern.
Und dann hatten fie getanzt, geſprochen, ge=
ſchwiegen — am meiften geſchwiegen — Nuge in
Auge, Seel’ in Seele die ganze Nadıt.
Dann ſaßen fie nebeneinander, drinnen im Salon.
Die Mufit tönte vom Ballfaal zu ihnen herüber,
wo die Paare — es waren bald nicht mehr viel
übrig — im Getümmel des letzten Extratanzes ſich
herumfchwangen. Hin und wieder fam einer ber
Herren und forderte fie auf. Aber fie wollte nicht
Erna Iuel-Hanjen.
mehr tanzen, fagte fie, fie wollte ſich ausruhen, ſich
abfühlen, bevor fie heimfuhr. Zwei-, dreimal wurde
gemeldet, der Wagen warte, und jedesmal bat er:
„Bleiben Sie noch!“
Und fie blieb,
Sie wollten das flumme Glüd in dieſen Iehten
Minuten genießen, die zu einer Viertelftunde, einer
halben Stunde wurden, ohne da fie mußten, wie.
Sie ſprachen nur wenig. Sie fühlten, etwas war
nabe, wollte geichehen — und diejes Etwas machte
die Worte jo weich, zart, daunenleicht, und ſchien
bie Luft um fie her zu erfüllen mit hellem feuer.
„Wann reifen Sie?" fragte fie plößlich.
Sie hatten lange geſchwiegen.
„Ja — wann —* er blidte fie von der Seile
an und fonnte die Augen von den Meinen rojencoten
Ohren, die von jo feiner Zeichnung waren, nicht
losreißen, nod von ben Linien am Hals hinunter,
und dem Naden und der Bengung des Hauptet,
welches fie jept ein wenig zu ihm hinüber auf die
Seite legte, — wie anmutsvoll weiblich es im ber
Form war! Nun entjann er ſich: dag war e8, was zuerit
feinen Blick auf ſie hingezogen hatte, bereits damals
unter der Masle — nun zog es feine Lippen dort»
hin — er mußte die Stelle, dort gerade, wo das
lichte Haar ſich über dem Halje zu kräuſeln begann,
füffen. Er that es. Sie wandte mur den Kopf
und fah ihm mit einem Lächeln in die Augen hinein,
„Kommen Sie, gehen wir!” flüfterte fie.
Sie gingen hinaus ins Entree, der Diener reichte
ihnen die Mäntel, fie gingen wie im Traume, fie
voran, er hinten nah, zum Wagen hinunter. Er
half ihr hinein und legte dem Pelzmantel um fie.
Dann reichte fie ihm die Hand zum Lebewohl. Er
ergriff fie mit feinen beiden Händen, jchob den langen
Handſchuh bis zum Handgelent hinab und bdrüdte
in einem Augenblid mit trodenen, heißen Lippen
Kuß auf Kuß auf den entblößten Arm.
Dann hatte er die Empfindung, als zöge fie ihn
fanft an fih. Er blidte auf — begegnete wieder
ihren Augen und fprang mit einem halb erftidten
Ausruf zu ihr Hinein und ſchlug die Wagenthüre
hinter ſich zu.
Der Kutſcher lächelte in feinen Bart und fuhr
zum Thorweg hinaus.
Er ſchlang die Arme um fie, fie glitt im feine
Umarmung hinein, und dann küßte er fie — wieder
und wieder reichte fie ihm ihren Mund und ſtam—
melte halb im Faden, halb im Weinen, gleichjam
entſchuldigend: „O, id habe mich fo geſehnt — To
gejehnt —“ x
„Nah mir?” fragte er, „Jage es — nad) mir?“
„Ja — nad dir —“ und fie glaubte, was fie
ſagte.
Er hätte fie beinahe mit feinen Liebloſungen
nn
Die Gejhihte eineg jungen Mädchens. 663
erftidt. Ein Regen von Küſſen fenkte ſich über ihr Ge=
fit, ihren Hals und ihre Arme herab. Es war, als
follte fie vor Glüd vergehen. Endlich, endlich!
„Wir müflen uns wiederjehen, Margarete, wir
mũſſen uns treffen — bu bift jebt ja mein — mein
— pillft du?“
Ja — aber — aber —”
„Aber was? Du Süße — bu fannft alles jagen,
börft du, alles!“
Nichts — nichts, als —” fie flüfterte es fo
leiſe, daß er es faum hörte. Die Erinnerung an
Möller und ihre Zukunft, an unbequeme Onfels und
viele8 andre ſtrich wie ein falter Hauch über fie Hin.
Nein, fie wollte e8 haben wie jet — ja, gerade jo
— und dann durfte es niemand wifjen, nur fie beide
ganz allein,
Er jah fie mit einem Blid an, ganz dumm vor
Entzüden über die naive Hingabe, die er in ihren
Worten zu finden glaubte, und preßte fie fo feft an
ſich, dab es fie faſt ſchmerzte.
„D Margarete — du biſt — bu biſt —“ dann
legte er ſeine Lippen dicht an ihr Ohr und flüſterte,
ob fie zu ihm kommen wollte — morgen, ob fie wollte?
Seine Stimme bebte vor Leidenſchaft, feine Hand,
weldhe die ihre hielt, brannte; fie begann jelbft zu
jittern, wurde ganz falt von etwas, was fich ihr faft
wie ein Schreden um das Herz legte — fie zog ſich
ein wenig von ihm zurüd, vermochte faum zu atmen,
ihr Herz ſchlug beinahe nicht — aber das war nur
einen Augenblid, dann ergoß fi eine glühende
Bärme durch alle ihre Glieder, das Blut faufte ihr
vor den Obren, es war wie ein wilder Wirbel, der
fie zu ihm hinzwang, und fie hatte nur einen Wunſch,
einen Willen, der dem feinen entgegenlam:
„Ja — ja —
Dann ſaßen fie ftumm, ganz ftill lächelnd, Hand
in Hand, das Iekte Stüd Weges. Plöplich jagte fie:
„Bo wohnft du?* und dann lachten fie darüber,
daß fie es nicht wußte — e8 war hohe Zeit, fie war
gleich daheim.
„Nun mußt du gehen — das Mädchen ift unten,
um mic zu empfangen.”
„Ja —“ er fah ihr tief und ernft in die Augen,
„Nicht wahr, du fommft, du vergißt dein Verſprechen
nit?"
Sie ſchüttelte den Kopf: „Ich komme — glaubit
du, ih würde —“ und dann in einem plößfichen
Ausbruch: „Ic kann nicht ander —* verbarg fie das
Geſicht an feiner Bruft. Noch einen Kuß, dann ließ er
fie los, der Wagen hielt, und er war verſchwunden.
Das jchläfrige Stubenmäbchen, das mit einer
Stearinkerze in der Hand fie an ber
Thür in Empfang nahm, wurde ganz wach, als es
fe ſah — ein folder Schimmer neugeborenen, ſtrahlen⸗
den Glüdes lag auf dem glühenden Antlif.
„Na — Fräulein, Sie haben ſich wohl ordentlich
amüfiert ?*
„Herrlih — Anna — herrlich!“
Es Hang wunderjam wie Gejang in ber Stimme
und die Augen glänzten, als wäre fie im Begriff,
in Thränen auszubrechen — fie taumelte faft in den
Flur hinein.
Gott erbarme fih! — das Fräulein ſcheint nicht
ganz nüchtern zu fein, dachte Anna; da muß es luſtig
jugegangen fein — ja, ja, die Fräuleins!
Margarete hatte die Empfindung, als hätte ie
Anna an fi drüden und ihr alles erzählen fünnen
— alles, e8 war, als wollte das Glüd fie erftiden,
als hätte fie nicht Raum genug für den Jubel da
drinnen, fie fonnte faum atmen, jo ſchlug ihr das Herz.
Sie mußte Luft haben, und fie ergriff Anna,
drebte fie im Kreife herum, fo daß ihr das Stearin
an den Fingern herablief, lachte, ohne Luft zum
Lachen, laut — jo da Anna ganz böje wurde und
fie zum Schweigen bringen wollte: „Fräulein, Sie
find ja ganz verrüdt —“
„Ah, Anna, du weißt nicht — du weißt nicht —”
und dann fuhr fie wild die Treppe hinauf, hinein
in ihr Zimmer, und fertigte Anna an der Thür ab;
fie wollte ſich jelbft auslleiden, jagte fie. Aber fie
blieb auf und ging tanzend im Zimmer bin und ber.
Es war warm und heil darin, ein weiches, träumen
bes Licht von ber blauen Ampel. Sie ging und
fummte Meine Stüde eines Liedes vor ji hin, von
dem fie nicht mehr als eine Zeile fannte.
„Die Lieb’ ift wie ein Vögelein — Die Lieb’
ift —“ fie konnte fich nicht fill verhalten. Sie ging,
faß, erhob fich wieder, legte die Ellbogen über die
Lehne eines Stuhles, blidte hinaus in den Raum,
ohne etwas zu fehen, fühlte feine Küſſe, jeine Lieb»
fofungen wieder, verbarg ihr glühendes Geſicht in
den Händen und flüfterte, daß fie liebe — liebe —
geliebt wäre — der bloße Laut des Wortes blendete,
beraufchte fie. Das war Leben — und fie wollte
leben! Dann jenkte fi eine müde Sehnjucht über
fie. Sie wurde fo jonderbar till und froh, fie ſputete
fi ins Bett, fie wollte ſchlaſen — denn nun fam
ein „Morgen“, und mit ihm begann das Leben.
Aber fie konnte noch nicht ſchlafen, wenigftens
nicht gleich, fie lag und flarrte mit offenen Augen
in das graulichte Dunkel der Frühlingsnadht hinein,
wohl ein wenig beflommen, aber glücklich, o jo glüd=-
li, und dann — ein ganz Mein wenig neugierig.
Erft als der Tag richtig graute, ſchlief fie ein.
II.
Und fie hatie lange gejchlafen, war aufgeftanden,
hatte mit Papa geſprochen, vernünftig auf alles
geantwortet, wonad er fie fragte, das wußte fie,
denn er hatte fie nicht ein einzigesmal verwundert
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664 Erna JuelsHanjen — Die Gejhihte eines jungen Mädchens.
angejehen, und fie hatten gelacht und geſcherzt, wie
fie es zu thun pflegten.
Aber wovon fie geiprodhen oder worüber fie ge=
lacht, wie der Tag jonft vergangen war, ob Mama
zu Haufe war oder fie allein in der Wohnftube ja
— davon hatte fie feine Ahnung.
Die ganze Zeit war ed, als wenn fie träumte,
Sie war fie jelbft und doc eine andre, und diefe
andre war «8, bie ſprach, lachte, ſich anzog und fagte,
fie ginge zu Ludovila und käme zu Mittag nad
Haufe — oder vielleicht auch nicht.
Sie errötete nicht einmal, als fie das jagte, bevor
fie zur Thür hinaus war; dann aber glühten ihre
Wangen auf, obſchon fie fi damit tröftete, daß fie
ja wirflid zu Ludovika follte, aber hernach — ja,
es handelte fi} gerade um dieſes Hernach!
Auch mußte fie nicht, welchen Weg fie ging, ob
die Sonne ſchien, ob e8 warm war oder kalt, ob
Menſchen um fie her waren, ob fie jemand begegnete,
— einmal bejann fie ſich auf das Geſicht eines Be-
fannten, lange, lange, nachdem der Betreffende an
ihr vorbeigegangen war — oder war das geilern?
Sie hörte nichts, außer daß fie ging, gehen mußte,
obſchon die Füße jo wunderlich ſchwer waren, daß
fie fie gleichfam nicht mitjchleppen konnte, aber das
Herz klopfte und das Atmen fiel ihr ſchwer, fie hatte
Stiche in der Seite — vor Angſt, glaubte fie, aber
die Angit war ein Sehnen, das fie durch ein ver—
wirrtes Gewebe von Fäden vorwärts trieb, welche
fie zurüdhielten, die ihr Wille aber zerriß, einen nad)
dem andern — denn fie wollte, fie mußte!
Dann war fie dort.
Ein niedriges, villenartiges Haus an der Ede
einer grünen Allee. Und dort oben ein Altan, hinter
bemfelben ein großes, über den Dachgiebel hinaus»
ragendes Fenſter, das von einem grünen Vorhang
verdedt wurde, der auf der einen Seite ein wenig in
die Höhe gehoben war. Dort jah fie ihn oder nur
feine Augen — der Vorhang fiel zu, und im jelben
Augenblid war es, als wenn ber Iehte Faden bes
Gewebes riß; die Angſt war fort, fie atmete tief auf,
fie war frei, jubelnd froh, fie war die Seine —
wie von einer Welle getragen, war fie oben und
ftand vor der Thür, die bereits geöffnet war.
Eine Hand, die feinige, ergriff fie — es rubte
wie Sonnenfchein über feinem Geſicht, dünkte ihr,
und dann dieſe halb geichloffenen Augen — wie fie
lädhelten! Ein Finger wurde, Schweigen gebietend,
fanft auf ihren Mund gelegt. Er zog fie mit ſich,
noch eine Thür — und fie war drinnen bei ihm, in
einem hohen Atelier mit grünen, jchrägen Wänden,
von einem gedämpften, grünlichen Licht überflutet,
welches durch den Vorhang hindurchſchimmerte, den
fie von unten gejehen hatte. Eine Scheibe mußte offen
jein, denn man hörte die Vögel laut zwitjchern, und die
Luft war drinnen Find und warm von der Frühjahr
fonne, die auf dem Scieferdad brannte. Wieder
war es ihr, als wenn fie träumte — und als wenn
fie dies alles ſchon früher gejehen hätte — aber wo,
darauf konnte fie fi nicht befinnen.
Sie ftand einen Augenblid ſtill und ſah ſich um,
während er die Thür hinter ihr abſchloß. Dann
balf er ihr mit linfifchen, bebenden Händen die Ueber⸗
Heider ablegen — Mantel, Hut und Schleier, der
gar nicht aufgehen wollte — er war im Naden ges
bunden. Auch fie zitterte, jo daß fie ſich nicht helfen
fonnte — aber endlich glüdte es.
Dann nahm er fie in feine Arme und brüdie
einen Kuß auf ihre Lippen. Sie erbebte noch ſtärlet
dabei und hatte ein wunderliches Gefühl im Halkk,
als wenn fie nicht ſchlucken könnte. „Mein zitterndes
Vögelchen,“ fagte er, „mein ſüßes Mädchen — o,
daß du hier bift, daß du kamſt —“ fie behutjam
liebkoſend, glättete er ihr Haar und ftreichelte ihre
Wangen.
Inm ſeiner Stimme lag ſolch ein eigner, janfter
Jubel, der ihr zu Herzen ging, dann traten ihr die
Thränen in die Augen, wunderlich ſelige, freudige
Thränen, die er fortfüßte, indem er flüfterte: „IS
Tiebe dich — ich Tiebe dich — mein mutiges, leiden⸗
ſchaftliches Mädchen.” Dann ließ er fie auf einem
Heinen grauen Sofa Plaf nehmen, das in einer Ede
ftand, und fing an zu erzählen, wie er fie erwartet
hätte, wie er hier die ganze Nacht in einem beftän-
digen Fieber der Glüdjeligfeit auf und ab gegangen
wäre — daß er aud in feinen kühnſten Jugend-
träumen nicht gewagt hätte zu hoffen, daß das ge
ſchehen würde, was nun geſchehen war, daß ein liebens-
wertes, warmberziges Weib fommen würde, wie fie
beute gelommen, „weil fie nicht anders konnte!" Die
Worte würde er niemals vergeſſen — das wäre bie
natürliche Stimme der Liebe, die in ihnen aus ihr
geſprochen — er hätte ihr zu Füßen fallen Lönnen,
in Anbetung vor ihr nieen, denn was fie heute ger
than hätte, dafür wollte er ihr fein ganzes Leben
lang danfen, jeine wärmfte Liebe ſollte fie belohnen,
fie hätte ihn zum glücklichſten Menſchen auf Erden
gemacht ... ¶Schluß folgt.)
durch einen halbdunkeln Gang ſchleichend — dann
Herrn Walters Lift.
’ & Sas.
Aus dem Ungarifchen überſeht von W. Rudom.
(den wurde bei Walters der Kaffee auf den Tiſch
gefeßt, als eine Drahtnachricht anfam. In dem
Telegramm ftand:
„Heute vormittag habe ich die Doltorprüfung be—
fanden. Mit taufend Kiffen Euer Sohn.”
Vater Walter ſchlug mit der Fauſt jo heftig auf
den Tiſch, daß die Heinen Majolikataſſen rafjelnd
auffprangen. Lange blidten die übrigen auf; welch
ſchlimme Nachricht giebt es? Der Ausdrud unfag-
barer Glückſeligkeit jedoch, welcher Herrn Walter:
Antlig überftrömte, die Freudenthränen in feinen
Augen widerlegten fofort die donnernde Fauſt, und
er rief:
„Leit, Left doh! Warum leſt ihr denn nicht?
Liegt -euch nichts an dem Erfolge unfers Jungen?“
Als ob fie nicht eifrig genug danach griffen, obgleich
fie das Blatt einander faft aus der Hand riffen!
„Doktor ift er geworben, Doktor!“ rief er aus
und fuhr fort, wütend auf und ab gehend: „Wie
ärgerlich ich über ihn bin! Ich wollte ihn befuchen,
um ihn zu umarmen, jobald er Doltor geworden,
und ber Nichtsnuß fchreibt, daß die Prüfung erft
nad) einer Woche fein wird. Er wollte uns über»
raſchen, der ſchlechte Kerl!”
O, wie fie alle dem ſchlechten Kerl zürnten! Die
franfe Mutter, feit Jahren an den Stuhl gefeflelt,
fühlte ſich auf einmal fo leicht wie die von ber
Muttergottes geheilten Kranken in Zolas „Lourdes“.
Als ob die Feſſel der Krankheit von ihren Füßen
gefallen, als ob fie um zehn Jahre jünger geworben
wäre! Und fie begann einen hartnädigen Kampf
mit ihren erwachjenen Töchtern, welche ihr das Blatt
entreißen wollten, worauf fie doch das größte Recht
hatte.
Herrn Walter wurden die vier Zimmer feiner
BVohnung für feine weltumhalfende Stimmung zu
eng. Er ging aljo in das Wirtshaus, das er feit
Jahrzehnten gepachtet Hatte, und jofort erfuhr jeder
Gaft die große Neuigkeit. Der leidenſchaftlichſte
Billardipieler legte mitten im Spiel den Stod aus
der Hand, die Schadhferen, welche fich Durch den Unter»
gang der Welt nicht hätten flören laffen, erwachten
aus ihrem Brüten; jelbft die halb nad Gigerln,
Aus fremden Zungen, 1897. IT. 14.
halb nad Barbiergejellen ausjehenden jungen Leute
an der Kaffe vergafen einen Augenblid die glut-
äugige, verführerifche, duftende, Liqueur ſchenkende
Büffettdame. Die Nachricht erregte überall die größte
Freude — und nun gar, als Herr Walter verſprach, zu
Ehren jeines Sohnes ein fürftliches Mahl geben zu
wollen, zu dem alle Gäfte geladen feien! Ja, alle,
felbft die Herren Studenten, die jeit acht Wochen
ihre Schnäpfe Shuldig waren, dafür aber um jo mehr
mit dem Kellner zanlten.
Herrn Walters Freude fühlte ſich bald jelbit im
geräumigen Wirtshaufe beengt. Er warf feinen Ueber—
zieher um, und das Heine rote Männchen eilte durch
die Stadt, bejuchte feine Verwandten und Freunde,
ja er ſtellte jich jogar fremden Menſchen vor und
reichte ihnen das Blatt mit der Freudenbotſchaft:
„Bitte, leſen Sie, mein Sohn iſt Doltor geworden!”
Das war für das Städtchen ein joldhes Greignis,
daß andern Tags jogar die Blätter in auszeichnen«
der Weiſe erwähnten: Der Sohn unjers waderen,
beliebten Gafthauspächters hat mit hervorragenden
Erjolge die Doktorprüjung beftanden. Und ſchon
am Abende jah das Blatt mit der Freudenbotſchaft
aus wie eine zerfehte Siegesfahne, eines ehrenwerten,
liebenden, vorwärtäjirebenden Vaters Siegeszeichen.
.
„Padt meine Sachen ein, heute abend reife ich
zu unjerm Jungen!“ befahl Herr Walter. „Ih will
ihn feierlich einholen. Warum follte ih nit? Er
ift ja ihon Doltor, ih aber bin nur Gaftwirt.”
Seine kranfe Frau vergoß ihre bitterften Thränen
vergeblich, die Freudenbotſchaft vollbradhte fein
Wunder, und jo fonnte fie ihrer gelähmten Füße
wegen nicht mitreijen.
„Sräme dich nicht!” tröftete fie ife Mann, „dein
Sohn kommt und wird dich ſchon heilen. Du weißt
doch, wie begabt er ift — haft ja gelefen, wie ihn jeine
Lehrer rühmen! Wie fannit du aljo jet weinen ?*
Die franfe Mutter weinte auch nicht länger,
fondern bat ihren Mann nur ſchluchzend, ihr den
Sohn jo bald wie möglich heimzubringen — wenn
er fie auch nicht werde Heilen können, Die jchwarz«
äugige, flinfe Giſela aber vollbradgte ein Wunder
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ihrer Kunft — wie war ed nur möglich, in ben
wenigen Stunden einen folden Berg Kuchen und
Gebäd zu bereiten! Freilich hat es feinen Zwech,
das alles mitzunehmen, da ein Menſch es faum in
einer Woche bewältigen fann, und Herr Walter jo-
fort heimfehrt. Aber womit joll ſich die große, große
Liebe beihätigen, wenn nicht im Baden und Braten?
Herr Walter wurde in den Zug gepadt. Er aber
froh ſogleich unter feinen zahllofen Gepädftüden
hervor, die Drahtnahricht in der Hand, und meihte
den Schaffner in feine freude ein:
„Hier, mein Freund, ein Gulden. Mein Sohn...“
*
Ein blendend heller Wintertag gob fein faltes
Gold über die Hauptftadt aus, Schon der bloße
Anblid dieſer Häufermafen ſtimmte Herm Walters
Freude herab, denn hier hatte er feinen einzigen Ber
fannten, dem er die große Neuigfeit mitteilen konnte,
‚ Diefe auf und ab wogende Menge würde fein Glüd
nicht würdigen lönnen, er jledte aljo das Blatt in
feine Rodtafche, ala ob er fein Glüd vor diefer ihm
feindfeligen Rieſenſtadt verſchließen wolle, damit ihr
lärmender Strom es ihm nicht raube.
Mit vor Erregung bebender Stimme rief er dem
Droſchlenkutſcher die Adreſſe feines Sohnes zu,
mahnte ihn zur größten Eile und verſprach ihm ein
fürftliches Trinfgeld. Der Kutſcher alfo jagte, jagte
... Über trogdem, wie endlos lang waren die Straßen!
Die Leute, welche fie gebaut hatten, dachten gewiß
nicht daran, was für Qualen fie einem Vater ver-
urjachen können, der feinen Doktor gewordenen Sohn
heimzuholen gefommen ift.
Endlich hielt der Wagen. Herr Walter fuhr
plöglich zufammen: Wie, ſchon am Ziele? Im nächſten
Augenblide wird er feinen Sohn, den neugebadenen
Doktor, im Arme halten!
Er mußte fih Gewalt anthun, feine Haltung zu
bewahren. Es ift nicht gut, wenn das Sind ficht,
daß der Vater jeinetiwegen bis zu Thränen gerührt ift.
Er ftieg die Treppen zur Wohnung feines Sohnes
binauf, bis ins dritte Stodwerf,
Unangenehm berührt ihn, daß mit ihm zugleich
büftere, verbächtige Geftalten im die alte, abgenußte
Mietkajerne hinauffteigen. An ihren Mühen glänzt
das Abzeichen des Todesheeres: Beerbigungsanftalt.
Gerade heute ift alſo jemand in diefem Haufe ge-
ftorben. Auch ein Schutzmann geht mit ihnen ; dieſer
Jemand ift alſo feines natürlichen Todes geftorben.
Gewiß gehen fie in das erſte Stockwerl. Nein, in
das zweite, Aber fieh! aud hier bleiben fie nicht.
Auch fie fteigen in den dritten Stod. Wo fein Sohn
wohnt! Großer Gott!
Sie gehen in die Wohnung feines Sohnes !
*
„Sehen Sie ihn nicht mehr an, Herr Walter!”
E. Sas.
ſagte in dem verdunkelten engen Zimmerchen vor
dem verhängten Bette ein Freund des jungen Arjtes
zu dem Vater, „Die Kugel bat ſein Geſicht furdt.
bar entſtellt.“
Herr Walter zwang ſich zur Feftigfeit. Wie ır
fi) eben gejagt hatte: es ift nicht gut, wenn das
Kind fieht, daß der Vater feinetwegen weint...
Oder darf er jeht weinen? Jeht ſieht es ja fein
Kind nicht mehr!...
Nah der Beerdigung begleitete den Bater ein
guter freund feines Sohnes zur Bahn. Erſt da fam
er jo weit zu fi, daf er fragen konnte: „Aber, mein
Gott, warum denn...”
„Er war in ein jchönes, vornehmes Mädchen
verliebt. Die Eltern wollten es ihm nicht geben.
Ihr Sohn wartete, hoffte und glaubte, wenn er
Doktor fein würde, werde er die Hand feiner Gr
liebten befommen. Er wurde Doktor und hielt von
neuem um fie an...“
„Und,...”
„Belam einen Korb,”
„Und deshalb?“
Der Zeitungsfchreiber blidte ergriffen auf den
Alten. Defjen Augen aber ſchweiſten in die Ferne,
ala wolle er ſich die Geftalt vorzaubern, jeine Tod-
feindin, die fo ſchön, jo wunderſchön fein mußte, daß
ihretwegen fein Sohn die neuerworbene Doftorwürbe
jamt den Seinigen verließ.
Der gute Freund philofophierte gern. Auch jeht
brach dieje Leidenichaft bei ihm durd, umd er fagte:
„Das ift das Trauerfpiel der Väter, mein lieber
Herr! Der Sohn tritt ins Leben hinaus und wird
von neuen Banden gefeflelt, welche ftärfer find, alt
die ihn an das Elternhaus knüpfen ... Dieſes Geſeß
des menfchlichen Herzens, das unerbittliche Schidjal
der Väter, hat fi) aud) in diefem falle erfüllt.“
O, welcher Troft liegt nicht in der Philoſophie!
*
Der Zug ſchnob durch die Naht dahin. Der
Schaffner befam wieder ein Trinfgeld, damit er Herrm
Walter allein laſſe.
*
„Du kommſt allein? Wo iſt unſer Sohn?“
rief an der Bahn das ganze Haus dem Heimfehren-
den entgegen.
Sogar die alte Mutter hatte fi hinausfahren
laſſen und in der jhneefalten Nacht auf die Ankunft
ihres Sohnes, des Doklors, gewartet.
„Unfer Sohn ?*
„Aber warum bift du jo bla? Warum fichft
du jo traurig aus?“
„Ja, traurig, laßt mich in Frieden!“ ſchnob
Herr Walter. „Wie fol ein Menſch richt traurig
fein, wenn er feinen Sohn im Glanze des Ruhmes
fieht, um ihn fofort zu verlieren!“
N:
— Jungen eine Studienreife ins
id unternimmt und ihn aufgefordert hat, mit=
‚zugehen. Ein ſolches Glüd konnte er doch nicht von
ch — Ins Ausland mit dieſem berühmten
Die — behende Giſela fragte betrübt:
And fommt er bald zurüd?*
Zurück? Als berühmter Mann kommt er zurüd
xt ihr? — als berühmter Mann!“
Nur die alte Mutter konnte ſich nicht darein fin«
‚fie brach in ihrer bitteren Enttäufchung heraus:
Aber wenn er fortging, fih Ruf und Ruhm zu
en, hätte er vorher wenigjtens feine arme franfe
: bejuchen follen! Wer weiß, wann er heim«
mm! Vielleicht wird der berühmte Mann dann
nur noch mein Grab finden!“
2 . ger Walter wurbe wieder faſt zornig: „Siehft
bu, wie kibftjütig aud) du bift, Mutter! Er wollte
on ganz entſchieden ſogar; er jagte: ‚Was
"Ehre und Name, was die ganze Welt,
ih nur einmal meine lieben Eltern umarmen
at er das gejagt? Wirklich ?*
& iß! Aber ich habe ihm befohlen, ſtreng
ſohlen — du weißt, wie fireng ich immer zu ihm
weſe — — Du wirft mit dem Herrn Profeſſor
land geben, nach Spanien, oder id) weiß
jin. Das Glüd, den Finger Gottes ab»
t Dummheit, ja jogar Sünde.‘ — Alſo
Aber er kehrt wieder! Freilich, ein,
werben darüber hingehen; eher dürfen
zurüd Anparien. So lange müſſen wir
wartete, wartete die alte Mutter ge-
in dem Städtdien fragten die Leute
nad) feinem Sohn und nad) dem ver-
endeſſen. Und der Alte erzählte jedem
D erzählte, fein Sohn jei auf einer
von welder er ruhmbededt heimlehren
ng Damit bei feinen Belannten herum,
f, und in der Sündflut wichtiger
bie Zeitungen daS Trauerjpiel
Herrn Walters Lift.
| „In drei Tagen ift er hier.”
667
waren. Der Mitjhuldige an diefer Fälſchung war
der gutherzige Freund aus der Hauptftadt.
„Aber, hat ſich jeine Handſchrift verändert!” jagte
die Mutter vertvundert.
„Warum nicht? Jedes Menſchen Handſchrift
ändert fih, wenn er erwachſen iſt. Er kann doch
nicht mehr jchreiben wie ein Schuljunge. Alle großen
Menſchen jchreiben unlejerlih." —
Schließlich wurde die alte Mutter frank, jehr
franf, jo daß die Aerzte fie aufgaben. Mit kaum
börbarer Stimme diftierte fie einen Brief an ihren
Sohn:
„Wenn in deinem Herzen nod ein Funle find»
licher Liebe ift, jo fomme fofort heim zu deiner
fterbenden Mutter!“
„Dies jchidt ihm!” fügte fie Hinzu.
darauf heimfommen wirb?*
„Gewiß wird er kommen ,*
„Ob er
tröftete ihr Gatte.
Drei Tage lang fümpfte die arme Fyrau mit
übermenjhliher Kraft gegen den Tod. Drei Tage
lang Hatte der gebrochene Leib die Kraft, dem
Senjenmann fernzuhalten, dab er fie verſchone, bis
ihr Sohn heimfehre.
Die drei Tage vergingen, und er fam nicht. O,
welch undanlbares Kind! Zum drittenmal jchon
bricht die Nacht herein!
Herr Walter trat ein, in der Hand einen Brief.
Heren Walter Geſicht glängte vor Freude.
„Hier ift der Brief! Der Brief deines Sohnes,
Mutter! Er jchreibt, daß er lommt, daß er jchon
unterwegs if. Und binnen furzem wird er ein be=
rügmter, reicher Mann fein. Hier, lies!“
„Wann wird er lommen?“
„Morgen früh!“
„Morgen früh!
leben!" —
Das hatten aud) die Aerzte als gewiß erklärt...
Herr Walter ſehte fih neben ihr Bett und
ftreichelte mit feinen großen, roten Händen fanft die
ſchweißbedeckte Stirn derer, bie vierzig Jahre lang
feine treue Gefährtin gewejen war.
„Du wirft es noch erleben, Mutter. Morgen
übermorgen und noch viele, glüdlihe Tage. Du
wirft auch das nod; erleben, dab unſer Sohn die
Gijela heimführt; denn er ſchreibt, daß er fie nicht
vergeſſen hat und fie heiraten will. Wie glücklich
werben fie fein! Von dir, von uns werden fie noch
ihren Enkellindern erzählen!”
„Ich erlebe es nicht mehr!“ flüfterte feine Frau.
Und fie erlebte es auch nicht mehr.
*
„Sie ift tot!* rief Herr Walter, aufjpringend.
Und er hob die gefalteten Hände zum Himmel, als
wolle er Gott für etwas danfen.
Das werde ich nicht mehr er-
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—
668 Loſe Blätter.
Die Menſchen blidten ihn jehr unzufrieden, miß- | freue, als ob ihm ein großes Unternehmen geglüdt
billigend an. Sie hatten geglaubt, er babe feine | wäre. Er beihleunigte die Beerdigung fo jehr wie
Frau ſehr lieb; hatte er fie dod) aus Liebe geheiratet | möglih, als könne er es nicht erwarten, daß die
und war immer um fie bejorgt gewejen, hatte fie auf | Leiche hinausgeſchafft würde, als fürchte er, die alte
Händen getragen. Und jeht? Frau möchte aufmachen und jehen, wie er zu Boden
Herr Walter kümmerte ſich nicht um das Kopf» | ftürzte, um fi) über feine beiden Toten endlich aus
ſchütteln und das Flüſtern der Leute, jondern ging | zuweinen.
um den Sarg herum, als ob er ſich über etwas
— er —
— Lofe Blätter. 5
Ä jehen habe. Ihr könnt euch denken, was dieſes gute,
zarte, träumeriſche Weſen in der Gejellichaft eines
Mannes, welcher nur an Geld und gutes Eſſen
glaubte, dulden mußte. Als fie heiratete, war fie
eine Schönheit, und nad) weniger ala einem Jahre war
nur nod ein Schatten ihrer jelbjt übrig. Dennoch
glaubte ich nicht, daß fie fo bald fterben werde. Mit
dem nächſten Zug reifte ich ab und langte, über
wältigt von Müdigkeit und Aufregung, an. Das
Thor war ſchwarz verhängt. Meine arme Schwägerin
lag auf einem weißen Katafall aufgebahrt im Salon.
Zu Häupten der Toten brannten zwei Kerzen. Eine
„IH war Staatsanwalt in Falticeni. Eines | alte Frau ſchühte das Geſicht der Entſeelten vor
Abends, als ic) mit mehreren Freunden in einem | Fliegen; als fie mich erblidte, fing fie an zu weinen.
Wirtshaus ipeifte, überfiel mich plößlich inmitten des Und wie glaubt ihr, daß ich meinen Bruder gefun
Drei Bari.
Von
a. Blahutza.
Aus dem Rumänifchen überfeßt von Wax Schroff.
Wir waren bei der fünften Taffe Thee angelangt
und ſprachen von Träumen , Borahnungen und Bor«
bedeutungen.
„Da muß ich eud) etwas erzählen, was mir vor
vier Jahren begegnet ift,” jagte Ghemiſch, zündete ſich
eine Zigarette an und ſchob jeine Taſſe beifeite.
Geſprächs eine Unruhe, eine Beängftigung, welche | den habe? Ganz unverändert. Um neun Uhr mor»
id mir in feiner Weife erflären konnte, Es fcheint, | gens jaß er im Speifefaal und aß — ak mit einem
da aß ſich auch meine Geſichtsfarbe verändert hatte, | empörenden Appetit. Er erflärte mir ganz ruhig,
denn einer der freunde fragte mid, ob mir nit | daß er mich gerufen habe, um ihm beizuftehen....
gut gut jei. Ich weih nicht mehr, was ich ihm antwortete, | ‚Es kommen bei einem Begräbnifje jo viele Wider:
die Gabel entfiel meiner Hand, id nahm den Hut | wärtigfeiten vor; alles ift fo gelbgierig und ſucht
und entfernte mich eilig, al$ wenn mic) jemand ge» | dich zu betrügen, zu beftehlen; denk dir einmal...
rufen hätte. Zu Haufe angelangt, erfundigte ih | faum ſchloß die arme Zinkutza die Augen, als mir
mid unwillfürlih, ob jemand nad) mir gefragt habe, | jchon die Leichenbeftatter auf den Hals kamen —
obgleich ich niemand erwartete. Ohne zu willen, acht find gefommen.... Der erfte verlangte von mir
warum, fam e8 mir fonderbar vor, dai meine Frage | dreitaufend Lei; ich mies ihm die Thüre... Und
verneint wurde. Die Unruhe verließ mich aud) zu | auf wie viel glaubft du, daß jchließlich einer herr
Haufe nicht; mit großen Schritten durchmaß ich | unterging? Auf vierhundert Lei; Begräbnis erfter
mein Zimmer, und eigentümliche Gedanten fliegen | Mlafje! Das macht die Konkurrenz.‘
in mir auf. Eine Halbe Stunde modte jo ver „Wir ftellten miteinander die Lifte der Perfonen
gangen jein, als ic) eine Depejche erhielt. Fieberhaft | zufammen, welchen man Einladungen zum Begräbnis
pochte mein Puls, als ich fie entgegennahm. Mit | zujenden mußte. Es waren dreihundert. Ich kaufte
zitternden Händen öffnete ih fie. Sie fam von ſchwarzumränderte Gouverts, jhrieb den Tag über ganz
meinem Bruder in Bulareft — „Komme fofort. | allein die dreihundert Adrejjen und Hebte die Marken
Zintuga iſt geſtorben.“ — Ich war wie verfteinert. | darauf. Abends brachte man mir die Einladungen aus
Mein Bruder hatte feinen edein Charalter. Er war | der Buchdruderei; ich faltete fie zufammen, fiedte fie
roh und ein durchaus profaijcher Menſch. Im Alter | in die Couverts, machte drei Palete, nahm fie unter
von vierzig Jahren heiratete er ein wohlerzogenes, | den Arm und ging fort. Die Hälfte warf id) in
gebildetes, jechzehnjähriges Mädchen, ein naives und | den Brieffaften an der Ede der Dionyſiusſtraße, und
poetifch angehauchtes Kind, wie ich jelten eines ge- | da nicht mehr hineinging, begab ich mich mit der
—*
’.
am Siegedallee und warf fie in
dem Föniglichen Palafte gelegenen
Ihr werdet euch wundern, dafı ich all dieje
erzähle. Das hat jedoch jeinen Grund,
fpäter jehen werbet. ch kehrte nah Haufe
1. untei mich mit meinem Bruder noch un«
eine Stunde lang und begab mich jodann
zehn Uhr zur Ruhe. Mein Zimmer Tag
neben dem Salon, in welchem die Tote auf«
— — bin weder abergläubiſch noch furcht⸗
in jener Nacht war es mir unangenehm,
fein. Ich fühlte in der Atmoſphäre des
8 etwas Unbeftimmtes, Geheimnigvolleg, was
Kälte im Rüden verurjadhte, etwas von
fühl, welches man empfindet, wenn man die
eines Toten berührt.
„Der Tiſch, auf welchem ich die Adreſſen geſchrie-
tte, = neben dem Bett. Auf dem Tiſche be=
fi ein Leuchter, ein Tintenfaß, eine Wafjer-
d ein zerfnitterte® Couvert mit einer ber
rien Adrefſe. Ich zog mir ſchnell die Dede
über den Kopf und war überzeugt, daß, wenn id)
dh * geöffnet und in das Dunkel des Zimmers
gefchaut hätte, ich eiwas Schredliches erblict haben
würde. Trotz meiner Müdigleit dauerte es lange,
einſchlief. Ich Hatte einen höchſt ſonderbaren
m. Und ihre glaubt nicht, wie Mar, wie über⸗
id ſich mir alles vorjtellte. Es ſchien mir, als
die Tote aufgeftanden und zu mir ins Zimmer
men. Ich lag im Bette. Sie ftand vor mir,
m Tiſch geftüpt, jah mir in die Augen und
fe mir, daß fie uns getäufcht habe, daß ihr
ir Berftellung fei, die wir für Wirflichfeit ge»
ı hätten, Sie war fo heiter, und auch ich freute
ber ihr Wiedererwachen. Auf der linken
ſie einen blutroten Fleck.
Weiß es mein Bruder?" fragte id) fie, ohne
em zu hören, fowie ich auch ihre nicht
er jhläft —
nt ch nahmen ihre Gefichtäzüge einen Aus»
mütiger Trauer an.
Hmerzt mic jebr,‘ jagte fie jeufzend, ‚daß ihr
en ſchon Einladungen gefendet habt. Was
e — fagen, wenn fie das ſieht?“
er das zerfnitterte Gouvert zu glätten,
den Bid ſtarr auf die Adreſſe.
dieſer Traum nur einen Augenblid ge»
', ob er ji während meines Schlafes
zuerie — ich weiß es nicht. Ich weiß
mit dem Bewußtjein aufwachte, die
eilanden. Doch diefe Täuſchung verflog
durchs Fenſter — die Sonne ſchien
be mir der traurigen Wirklichkeit be⸗
gentümlich, ich konnte mich nicht mit
vertraut machen, da ich geträumt
fe mich, daß mein Bruder mir am
kt hatte, das Begräbnis werde um
n, obgleich dasjelbe in den Ein-
nt
J
Loſe Blätter
669
Wie viel Uhr mochte es wohl ſein? Ich erhebe mich
und — entjeht ſtarre ih auf den Tiih... Dort
lagen die Einladungen, welche ich mit eigner Hand
in den Brieffaften geworfen hatte! Einen Augenblid
glaubte ich den Verftand zu verlieren. Ich rieb mir
die Augen und fuchte mir Rechenſchaft abzulegen
über das, was ich gethan, geträumt und gejehen hatte.
Vielleicht find e8 andre Couverts — id) jpringe auf,
Nein, kein Zweifel, e8 find die von mir gefchriebenen
Adreſſen, es find die Couverts, welche ich mit meiner
Hand in den Brieffajten geworfen hatte. Mein Gott,
was joll das bedeuten? Ich griff mir an die Stirn
und dachte nad)... . Ya, ich erinnere mich doc), daß
ich einige Adreffen in dem Augenblide gelejen hatte,
als ich die Gouverts in den Kaften jhob und da — da
erkenne ich ja noch eines, bei weldhem id) eine Ede um«
gebogen hatte, weil es nicht mehr hineingehen wollte.
„Und nun — finnverwirrt ftürze ich gegen bie
Salonthür, reiße fie auf. Zu Häupten der Toten
brannten die Kerzen. Die alte Frau jchlief auf einem
Stuhl, den Kopf an den Statafalt gelehnt. Sie
wachte auf und jah mich erjchredt an.
„War jemand bier... bei mir, heute nacht?‘
„Nein, gnädiger Herr, ich habe niemand ge-
jehen ...
„Ich glaube, ic; wäre wahnfinnig geworden, wenn
nicht in diejem Augenblicke die Köchin eingetreten
wäre.
„Herr, der Pofibote Hat diefe vielen Briefe ge-
bracht. Er hat gejagt, dak man Drei-Banimarken
darauf Meben müſſe .. .*
„Ich hatte jie, wie Drudjahen, nur mit andert-
halb Bani franfiert; — mein Bruder wollte auch mit
den Einfadungen jparen.”
— ——
Fremoͤländiſche Sinnfprüde.
Spridwörtern nadıgebildet von Marimilian Bern,
Mus ruſſiſchem Voltsmunde.
Die Welt kann nur das Gute loben,
Das du ihr fichtbar ſchon befcyert;
Das Gold auch hat erft einen Wert,
Wenn aus der Erde es gehoben,
Oft früher als das Alter
Sinft Jugend in das Grab;
Der Hagel ſchlägt mehr frifche
Als welfe Rofen ab.
®
Ticht auf die Senfe allein fommt es an,
Sondern auch ftets auf den mähenden Mann.
“
Wer auf das Hemd, das er erben foll, harrt,
Nackt geht, bis man ihn felber verfcharrt.
670
Nicht jede Liebe läuft aufs Eheglüd hinaus,
Nicht jeder grüne Hanf wächſt fi zum Brauthemd aus,
Dom Krieg der Eulen und der Raben
Wird ftets der Landwirt Dorteil haben.
.
Nie zu Infeln der gelangt,
Dem vor jedem Waſſer banat.
“
Du kannſt ſchon nach den Netzen
Den Fiſcher richtig ſchätzen.
Iſt der Tod nicht mehr entfernt,
Selbft der Teufel beten lernt.
Ein jeder glaubt, daß ihm das Schidjal
Das langerfehnte Glüd verbürgt;
Die Hoffnung ift ein Kederbiffen,
An dem man ſich zu Code würgt.
Aus italieniibem Vollsmunde.
Die ganze weite Welt
Aus Treppen nur befteht:
Binanf der eine fteigt,
Binab der andre acht.
Ohne gefät zu werden,
Keimen ftets Wunder auf Erden,
Dem Dogel wird fein fchönfter Sang nicht frommen,
Wenn er in ödem Thal zur Welt gefommen.
Wenn jeder fegte vor feinem Haus,
Die ganze Stadt ſähe fauber aus.
*
Den fhönften Sang erſchallen läßt
Der Dogel nur im eignen Neſt.
—n
Zur Entwidlung des modernen Romans, Weber
Emile Zolas Bedeutung für die moderne Litteratur
ſchreibt Paul Mathier in der „Nouvelle Revue
Internationale“ ;
„Wie Balzac mit feinem außerordentlichen Genie
alle Romanſchriftſteller der erften Hälfte unſers Jahr⸗
hunderis überragt, jo hat ſich in der zweiten Hälfte
Emile Zola unbejtritten ben erften Plab errungen,
durch jeine gewaltige Begabung wie durch jein un-
ermüdliches Titterarifches Schaffen. Während der
Verfafjer der ‚Rougon-Macquart‘ in der lebendigen,
kraftvollen Darftellung und der Zeichnung von Typen
wie Goupeau und Nana, die klaſſiſche Figuren bleiben
werden wie Gaudiffart oder Grandet, feinem Lehrer
und Vorbild gleihlommt, übertrifft er ihn durch
ſtiliſtiſche Schärfe und Mlarheit und durd den ein”
heitlichen Charakter feines ganzen Schaffens.
Loſe Blätter.
„Zola hat nicht nur den Ruhm, der Schöpfer
einer neuen Schule zu fein und bie Legion ber
‚Naturaliften‘ ins Feld geführt zu haben, die ſich
auf feine Theorien ftüßen, jondern er hat aud) das
Verdienit, eine vor ihm nur unentwidelt vorhandene
Gattung des Romans geichaffen zu haben, indem er
ihr die eigentliche, volllommene Form gab: den
fozialen Roman.
Dieſer ift bei Zola nicht mehr der foziale Theien-
roman, der dem Verfaljer vor allem als Mittel
dient, feine Anſchauungen eindrudsvol” vorzuitagen,
fondern der foziale Roman, der durch ein getreu
Bild von Zuftänden, durd) eine unparteiiſche Schil-
derung des Lebens und der Menjchen den Lejer zum
Nachdenken zwingt, ihn anregt, um ſich zu ſchauen
und im Geifte an allem menſchlichen Elend Anteil
zu nehmen.
„Fugöne Sud hatte in feinen ‚Mystöres de Paris
Studien über das Volt machen wollen, aber jeine
Feuilletoniſtenphantaſie verführte ihn unglüdlicer-
weije, mit trefflichen, wahrheitsgetreuen Schilderungen
unwahrſcheinliche Abenteuer und rein erfundene Typen,
wie den Prinzen Rodolphe, zu verquiden.
„Us Zola feinen ‚Assommoir‘ ſchrieb, hütele er
ſich forgfältig, in einen derartigen Fehler zu verfallen;
diefer Roman enthält feine jener Tonventionellen
Figuren, die beftimmt find, durch ihren Mut und
ihre Vorzüge fentimentale Leferinnen zu enthufiat
mieren, und feine wunderbaren Abenteuer, ſondern
volle, ungejhmintte Wirklichkeit, wogendes, zudendes
Leben. Die Handlung des Romans ftellt ein furdt-
bares Drama dar, taufendmal erjchütternder als
alles, was ih in Suss Werken abjpielt — ein
berzbewegendes Drama aus dem Alltagsleben, das
den Lefer ängftigt und beflemmt, weil er weiß, daß
es wahr ift und alle Tage vorfommt; er weih, dab
fi) derartiges täglich in den Arbeitervierteln abjpielt,
dab es vor den Schenktiihen in den Weinftuben
feinen Anfang nimmt, fid) zu Haufe, in Gegenwart
der Frau und der Kinder, fortjept und im Hoſpital
oder vor dem Schmwurgeriht und im Zuchthaus
endigt — es iſt das Drama des Xrinfers, in
dem der Allohol fein Opfer in Schmach und Tod
führt,
„Aus dem Buch entwidelt fich eine Lehre; der
Verfaſſer läßt die Thatſachen reden, er ſelbſt tritt
dabei völlig zurüd; man fieht nur die Perfonen,
deren Thun und Treiben er belaufcht und die er mit
folcher Lebenswahrheit in feinen Roman geſchildert
bat, daß wir fie kennen, ihnen zuhören, fie beobachten,
ihr Dajein mitleben, ihre Leiden und ihr Elend mit»
durchmachen. Wir befommen Mitleid für diefen
Goupeau, der, urjprünglid ein fleißiger Arbeiter,
durch das Verhängnis in eine unfreiwillige Unthätig-
feit verjeht und jchließlih dem Müßiggang in die
Arme geführt wird; die Trägheit führt ihn ins
Wirtshaus, Hält ihm dort in langem, abftumpfendem
Stillfigen beim vollen Glaſe feft, das ſchnell geleert,
dann wieder gefüllt und von meuem geleert wird,
ftundenlang, während um ihn her in dichtem Oualm
by. Gage
Loſe Blätter. 671
färmende Geſpräche und Wortwechſel geführt werben.
Man braudt nur in ein Arbeiterviertel zu gehen;
dort wird man ‚„Bec-Sal&‘ und „Mes bottes‘ geftifu-
lieren jehen und wiebererfennen, wie fie Zola in
feinem Buch geſchildert hat.
„Dann wird man ſich von einem tiefen Mitleid
mit diefen Unglüdlihen ergriffen fühlen ; denn wenn
man den Roman ihres harten Dajeins gelejen hat,
fennt man die Urſachen ihrer fittlihen Berfommen»
beit, die geheimnisvolle Macht, die fie dem Verderben
zuführt, Goupeau trinft, um ſich auf andre Gedanten
zu bringen, um die Zeit totzuichlagen, dann aus
Gewohnheit und endlich aus Bedürfnis; der Alkohol
wird ihm ebenfo unentbehrlich wie das Brot, fogar
in noch höherem Grade — ihm erfeßt das Getränk faſt
die Nahrung; Gervaife, feine Frau, trinkt, um ſich
zu tröften, um ihre Sorgen zu ertränfen, um den
Jammer ihrer traurigen Lage zu vergeilen; das
Refultat ift das gleiche: bald fann auch fie das töd«
liche Gift nicht mehr entbehren.
„Das ift der foziale Roman, der unvergleichlich
berebter wirft, als alle Tageschronifen in den Zei—
tungen, alle Refriminationen der Moraliften, alle
ärztlichen Statiftiten; der ‚Assommoir* ſchildert nicht
nur das Uebel, fondern er legt auch deijen Urſachen
bloß, und zwar nicht in einer fühlen Aufzählung von
Ihatfahen, jondern in einem padenden, nad) dem
Leben gemalten Büde von der Hand eines Mannes,
der gejehen und, was er gejehen, getreu gemalt hat...
„Der ‚Assommoir* hat Zolas Ruf begründet;
als dieſes Buch erichien, wurde er mit allen denf-
baren Angriffen, Schmähungen und Beleidigungen
überjgüttet. Man befchuldigte ihn, er ſuche den
Skandal, er gefalle fih im Schmuß. Der große
Säriftfteller hatte ein Meifterwerk gejchaffen, das
andre hervorrufen mußte; er hatte den Schriftitellern
der Zufunft den Weg gewieſen. Zola wurde an«
gegriffen wie alle Neuerer — wie Victor Hugo, als
er den Klaſſikern den Krieg erklärte, die ihm nicht
verzeihen konnten, dab er einen neuen Ton in die
Litteratur gebracht hatte,
„Zola hatte alle diejenigen gegen ſich, die nur
einen Roman & la Dumas oder Feuillet verjtchen:
die alten, ewigen Liebesgeſchichten einesjungen Mannes
und eines jungen Mädchens, oder die ewigen Ehe-
brüdhe, oder auch Geſchichten von Abenteurern, Eifen-
freffern, Mustetieren, Verrätern und ritterfichen
Helden.
„Man wollte nicht verftehen, daß der gewaltige
Einfluß der fozialiftiihen Ideen ſich nicht auf das
enge Gebiet der Politif beſchränken konnte, daß er
aud in der Litteratur eine meue Strömung bervor«
bringen mußte. Auf dem Felde der Politik Hatten die
neuen Theorien beredte Verteidiger und Erflärer ge—
funden, und fo war es nur ganz natürlich, da& Romans
ſchriftſteller die Verhältniſſe unterfuchten, welche die
neue Lehre erzeugt, die Urfachen, welche zu dem Kampf
jwüchen dem beftehenden Regime und dem Bolfe
geführt Hatten.
„In der gegenwärtigen, unruhigen, fieberhaften
Zeit offenbart ſich in allen Schichten der Geſellſchaft
ein Gefühl der Angft, der Bangigfeit vor einer
ſtürmiſchen Zufunft; aufrührerifch gärt und brobelt
es in dem Gewühl des Proletariats; ab und zu
werden Drohungen im Volfe laut; die Volkslava
ſcheint ſich in verderblichen Strömen über die luxuriöſen
Stadtteile ergießen zu wollen, in denen die glüdlichen
Befigenden lachen und lärmende Feſte feiern. Dann
wird alles wieder ftill und die Ordnung fehrt wieder;
aber dieſe Ruhe an der Oberfläche ift beängfligender
als der Lärm, denn man jpürt unter dieſer jchein-
baren Gelafjenheit den unterdrüdten Groll und bie
verhaltene Wut...
„In einem Roman, der vielleicht fein ſchönſtes
Werk ift, hat Zola die großen Arbeiterzentren ge—
ichildert; im ‚Assommoir* hatte er den durch bie
Lajter der großen Städte verborbenen Arbeiter date
gejtellt ; im ‚Germinal* ſchildert er die Welt der Gruben
arbeiter, jene Menſchen, die ihr Leben unter der
Erde, fern von den Freuden der Sonne und der
freien Luft verbringen, in engen Gängen fi ab—
quälen, deren Steinlohlenwände fich wieder zuſammen⸗
ſchließen zu wollen jcheinen, wo eine erftidende Hitze
bherricht und die Atmoſphäre durch die aus ben
Höhlungen auffteigenden Gafe verborben ift.
„Trotz der gewollten Objeltivität der Darftellung
geht ein Schauer des Mitleids durch das Bud);
manche Schilderungen empören, andre rühren; wenn
man dieſe Kapitel gelefen hat, in denen das qualvolle
Leben und die harte Arbeit der Minenarbeiter be=
jchrieben ift, verfteht man erft das Ungeſtüm, mit
dem gewijle Forderungen vorgebradht werden. Der
Verfaſſer hat jedoch fein Wort aus feiner Feder
ſchlüpfen laſſen, das feine Anfichten erraten laſſen
fönnte; er iſt fühl geblieben wie ein Regiſtrator, der
die Refultate einer Enquete zufammenftellt; er will
dem Leſer feine Meinung aufbrängen, er überläßt
es ihm, aus dem Buche Lehren zu ziehen und Be—
trachtungen darüber anzuftellen. Dieſes großartige,
gewaltige Werk durchzieht der Geruch des Boltes‘ ;
wenn man es gelejen hat, jo fann man ſich den Haß
und die Wutausbrüche diejes ‚Menichenviehs‘ erlären,
defjen erziwungene Refignation plößlich in das furdt»
bare Toben des Aufruhr: umſchlägt.
„sm ‚Germinal‘ hat der Dichter die Arbeiterwelt
in allen ihren Manifeftationen gejchildert: Streils,
Zumulte, Meetings, Wahlen, Kämpfe gegen die
Armee. Nach diejem Buche würde es Thorheit fein,
einen andern Roman über denjelben Gegenftand
jhreiben zu wollen: alles ift hier in fertiger, voll»
fommener Weije gejagt.
„Mit dem ‚Germinal‘ hatte Zola, mehr als mit
feinen andern naturaliftiihen Studien, die junge
Generation zum Schaffen angeregt; er wies ihnen
darin den Weg, den er durch eine tiefe Furche be
zeichnet hatte. Aber was auch daraufhin in diefem
Genre noch gejhaffen werden mag, — ‚Germinal‘
wird immer der Typus und das Meiſterwerl des
fozialen Romans bleiben.
672
„Der Anftoß ift aljo jet gegeben. Die alten
Formen, in die man bislang den Noman gegofien
hatte, find erweitert, Mit Dumas hat ber hiftorische
Roman, den er mit feinem bedeutenden Genie belebt
hatte, jein Ende gefunden; feine Nahahmer find
lächerlich und ihre Erzählungen lindiſch. Die heutigen
Beuilletoniften laſſen fi mit Ponfon du Terrail*)
nicht im entjerntejten vergleichen; ihre Verbrechen,
ihre Attentate find ſchon unzählige Male dageweien ;
ihre Stoffe find abgenügt — mur litterariih un«
gebildete Leſer können ſich für ihre Geſchichten inter-
eflieren. Der pſychologiſche Roman wird nicht lange
leben; jeine Beliebtheit ift künſtlich gemacht, wie die
Marionetten, die er auftreten lieh, und die Empftn«
dungen, die er ihnen beilegte.
„Ganz allein der naturaliftiihe Roman hat uns
in den lebten dreißig Jahren Meijterwerfe beichert.
In der gegenwärtigen Zeit der großen jozialen Be-
wegungen müflen ſich die Leſer mehr als je von den
banalen Geſchichtchen angemwidert fühlen, die nur
darauf ausgehen, zu unterhalten; man will, da der
Autor zum Denken anregt, indem er babei zugleich
unterhält; und feilelt nicht in der That ‚Germinal‘
mehr als das abwechslungsreichte Feuilleton, und
unterrichtet es nicht beiier über die Bergwerle als
das ausführlichfte Spezialwert ?
„Den jozialen Roman ins Leben gerufen zu
haben, wird immer das Verdienft der naturaliftiichen
Bewegung in der Litteratur bleiben. Man wird dem
Naturalismus verzeihen, daß er eine Anzahl von jeichten
Tröpfen ermutigt hat, auf gewifje Senjationsgelüfte
zu fpelulieren und gemeine Schmußgefhichten zu
Ichreiben: alle dieſe unzüchtigen Produlte erſcheinen
in den Auslagen der Buchhandlungen nur, um bald
darauf wieder in die Gofje zu fallen, aus welcher
Individuen ohne Vorurteile fie herausgezogen hatten.
Uebrigens befommt man in Frankreich dieſe une
jaubere „Litteratur“ bereits jatt (2) ; heutzutage ift es das
Ausland, wo derartige Sachen Anklang finden. (?)
„Aber die Namen diejer Shamlofen Pornographen
werben längjt vergeljen fein, wenn man noch immer
die großartigen fozialen Studien der naturaliftiichen !
Schriftſteller lieft, die ihre Würde gewahrt und ihren
Beruf in Ehren gehalten haben. Das fichert der
*) Ein in Deutfchlarnd nur wenig belannt geworbener franjd-
ſiſcher Romanſchrifiſteller (1829— 1871), der fi durch große Er ⸗
findungsgabe auszeichnete.
== — —— —
Unfre verehrlichen Mitarbeiter werden freundlichſt erjucht, den für die Zeitſchrift „Aus fremden Zungen‘
beftimmten Ueberjegungen
Loſe Blätter.
naturaliftiichen Periode einen ehrenvollen Pla in
der Geſchichte der Litteratur.“
Kleine Mitteilungen. In Victor Hugos Geburis-
ſtadt Bejancon wird die Errichtung eines Denkmals
für den Dichter geplant. Der Stadtrat hat die
Subjfription dafür mit dem Betrage von fünftaujend
Franlen eröffnet. — Auf der Place Malesherbes in
Paris joll ein Denkmal Alerandre Dumas des Yün-
geren errichtet werden. Eine Subjfription für diefen
Zwed ift bereit® im Gange, und da Dumas in
Frankreich nod immer fehr populär ift, wird e
vorausfichtlich weniger Schwierigfeiten machen, das
nötige Geld zujammenzubringen, als dies in frant-
reich für derartige Zwede gewöhnlich der Fall if.
— Der in Not geratene amerifanijche Humoriſt
Mark Twain hat es abgelehnt, das Ergebnis einer
von danfbaren Lejern für ihn veranftalteten Samm-
lung in Empfang zu nehmen. In einem an den
„Herald“ gerichteten Schreiben jagt er, es ſei no
Zeit genug, Hilfe anzunehmen, wenn einmal wirllich
erwieien fei, daß er nicht mehr arbeiten könne. Die
eingelaufenen Gelder follen an die Geber zurüd-
erftattet werben.
—
Eingefandte Bücher und Schriften.
Geſchichte der Weltlitteratur nebit einer Ge
ſchichte des Thenters aller Zeiten um
Bölter. Herausgegeben von Julius Hart. Het J.
Verlag von J. Neumann in Reudamm.
Das a 40 Hefte berechnete, populär *
und mit inſtruktiven Illuſtrationen
veripricht nach dem vorliegenden 1. t fir =
Kreiſe ein erwünſchtes, uchbares Haut und
Familienbuch zu werden.
SKrafinsfi, Graf Sigmund. Drei Gedanten des
Heinrich Ligieza. Poetiiche Erzählungen. Aus dem
Polniſchen überjegt und mit einer litterar⸗hiſtoriſchen
Einleitung verſehen von Vincenz Strofa. Arafar.
Am Verlage des Verfaſſers.
Schwabenland. Illuſtrierte Halbmonatsjchrift. Heraus
gegeben von Eugen Palmer. -I. Jabrgang 189.
Nr. 5 und 6. Verlag von Brügel & Pier in
Stuttgart,
1) Angaden über Zahr und Ort des Erfheinens des Originals, jowie
2) Rurze Biographifde Paten über den Ferſaſſer
beizulegen.
Die Redaktion behält fi vor, den Einfender im Falle der Annahme einer Arbeit mit der Erweiterung ber
biographiſchen Daten zu einem biographijchen Aufſat für die Rubrik „Loje Blätter“ zu beauftragen.
Stutigart.
Deutfhe Verlags: Anftalt
Kitterarifche Abteilung.
Berantwortlier Aedalieur: Aarl Bolboevener in Stutigart. Drud und Verlag der Deutſchen Berlags-Anftalt in Etutigart.
Briefe und Eendungen find nur'an bie Deutſche Yerlags- Anhalt in Stuttgart — ohne Perjonenangabe — zu riätm
Ramuntcho.
Pierre Loti.
Aus dem Iranzöfifchen überfeßt von &. Vhiliparie.
Schluß.
XXXI.
Ulm zwölf Uhr kehrte Ramuntcho in fein einſames
Haus, zu feiner Mutter zurüd,
Die fieberhafte, künſtliche Befferung des Morgens
dauerte fort. Die alte Doyambunı pflegte Frandita,
und dieſe behauptete, fie werde nun genefen. In
ihrer Sorge, ihn unbejchäftigt und nachſinnend zu
ſchen, wollte fie durchaus, daß er auf den Wat; gebe,
um dem Tonntägigen Balljpiel beizuwohnen. Bon
Süden ber wehte ein warmer Wind; nichts mehr
war von dem fühlen Schauer des Morgens zu jpüren,
Im Gegenteil, über den roten Wäldern, den toft«
gelben Farnen, auf den Wegen, wo der traurige
Blätterfall fortdauerte, lag eine Sonne und eine
Atmoiphäre wie im Sommer, Allein der Himmel
verhüllte fih mit diden Wolken, die plößlich hinter
den Bergen bervorfamen, als ob ſie dort gelauert
hätten, um alle auf ein gegebenes Signal zu er-
ſcheinen.
Die Ballpartie war noch nicht feſtgeſtellt; einige
Männergruppen redeten heftig bin und ber, als
Ramuntcho auf dem Plafe erſchien. Schnell war er
umringt, alle riefen ihm freudig zu und forderten
ihn einjtimmig auf, in das Spiel einzutreten und
die Ehre der Gemeinde zu retten.
Er getraute fich nicht, da er jchon feit drei Jahren
nicht gefpielt hatte und fein Arm ungelenfig gewor—
den war.
Shliehlih gab er nad) und fing an, ſich jeiner
Jade zu entledigen ... Allein, wen fie jekt anver⸗
tranen? Das Bild Graziellas, wie fie in den erften
Reihen ſaß und die Arme ausftredte, um feine Jade in
Empfang zu nehmen, erſchien ihm plößlih! Wem denn
fie Beute zumerfen? Gewöhnlich vertraute man fie
jemand Befreundetem an, wie es die Toreadore mit
ihren golobeftidten jeidenen Mänteln thun . . . Er
warf fie diefes Dial aufs Geratetvohl, einerlei wohin,
auf den Granit der alten, mit Herbſiſtabioſen bededten
Bänle. Die Partie begann. Anfangs wußte er
ſich nicht zurecht zu finden und verfehlte einige Mal
us fremden Zungen, 1807, IL 15.
das Meine, tolle, hüpfende Ding, das in der Luft
aufgefangen werden joll. Nachher jedoch bot er alles
auf, und es gelang ihm wieder, gewandt und ficher
wie früher zu fpielen. Seine Muskeln hatten an
Kraft gewonnen, was fie vielleicht an Gewandtheit
eingebüßt. Neuerdings jauchzte die Menge ihm zu,
und er ichwelgte wieder im phyſiſchen Rauſche, in der
Freude, ſich zu bewegen, zu hüpfen, zu fühlen, wie
feine Glieder gleich flarten elaftischen Federn auf:
jchnellten, und ringsum den begeifterten Applaus zn
hören...
Dann fam die Nubepaufe, wie gewöhnlich in
der Hälfte lang beftrittener Partien ,.., Es war
der Montent, wo ſich die Pelotaris außer Atem, mit
wallendem Blute, roten, zitternden Händen hin—
jeßten und den durch das Spiel unterbrodenen Ge—
dankengang wieder aufnahmen...
Wieder überlam ihn das Weh des Alleinfeins...
Ueber all den Köpfen, über den Wollbaretten, den
bunten, leichtgeidjlungenen Tüchern zog ſich am
Himmel ein Unmetter zuſammen, wie meiften® nad)
langem Südwind. Die Lufi war völlig flar, ala ob
fie dünner geworden fei, dünn bis zur Leere. Die
Berge ſchienen aukerordentlich nahe gerüdt, Die Py—
renden erdrüdten das Dorf; die ſpaniſchen ſowie bie
franzöfiichen Höhen waren alle gleich nabe, als ob ſie
aneinandergerüct würen. Ihr ausgebranntes Braun
ſchien ſchärfer, ebenſo das intenfive Dunkelviolett.
Dide Wollen, anſcheinend greifbar wie irdiſche Ma—
terie, entjalteten ſich zu einem großen Fächer, ver—
jchleierten die Sonne und erzeugten das Dunlel einer
Sonnenfinfternis. Hie und da durch einen ſcharf
gezeichneten, ſilberglänzend eingefaßten Riß ſah man
den tief blaugrünen, faſt afrikaniſchen Himmel...
Die ganze Gegend, in welcher das unbeſtändige Klima
oft vom Morgen bis zum Abend ſich plötzlich ver»
ändert, war auf einige Siumden, was Anblid, Teme
peratur und Luft betraf, echt ſüdlich. Ramuntcho
atmete Die belebende, aus dem äußerſten Süden ge=
fommene trodene, milde Luft ein, Es war bie richlige
Witterung feiner Heimat, das charalleriſtiſche Metter
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674 Pierre Loti.
diejes Landſtrichs am Bislayifchen Meere. Ein Wetter,
das er immer vorzog und das ihn auch heute mit
phyſiſchem Mohlbehagen erfüllte, ihn aber auch in
große Seelenerregung verjegte, denn alles, mas
fi) dort oben vorbereitete, alles, was ſich dort oben
fo düster drohend anhäufte, gab ihm das Gefühl,
ala ob der Himmel taub für der Menjchen Gebet
jei, ohne Plan und ohne Leitung einfach ein befruchten-
ber Herd von Gewittern, von blinder Schaffeng= und
Zerftörungstrast; — und al& ihn während diefer Träu-
mereien, noch atemlos, die Männer in Baretten, von
andrem Schlag als er, beglüdwünicdhend umringten,
antwortete er nichts, hörte er nicht. Er empfand
nur die vergängliche Ueberfülle feiner Kraft, feiner
Jugend, feines Willens und fagte ſich, dab er fein
Leben noch geniehen wolle, alles verjuchen, ohne ſich
von eitlen Befürchtungen, von eitlen, religiöfen Skru—
peln zurüdhalten zu lafjen, um Graziella wieder zu
gewinnen, — fie, der Wunſch feiner Seele und feiner
Sinne, — feine einzige Braut.
Nachdem die Partie ſiegreich beendigt war, kehrte
er allein, traurig, aber feſt entichloflen heim, — ſtolz
auf jeinen Sieg und die wiedergefundene Gewandt-
beit, wohl begreifend, dab es ein Erwerbsmittel,
eine Goldquelle und eine Macht fei, einer der eriten
Spieler im basfiihen Lande zu fein. Unter dem
Ihwarzen Himmel überall diejelben ſtarl markierten
Tinten, diefeiben jcharfen, dunfeln Horizonte, immer
derjelbe heitige, heiße, trodene Südwind, der Mustfeln
und Gedanfen anregt.
Nach und nad) jedoch jenkten fich die Wolfen immer
tiefer herab, was für die allernädjite Zeit dauern-
den MWetterumfchlag anzeigte. Er wußte e8 wohl, wie
alle, die ed gewohnt find, den Himmel zu beobachten.
Herbitfturm kündigt fi an, der den warmen, linden
Lüften ein Ende bereiten und heftig an den Wäldern
rüttelnd fie vollends entblättern wird. Nachher fommt
die lange, kalte Regenzeit; dichter Nebel läßt die Berge
wire und entfernt erjcheinen, und die traurige Winters
zeit beginnt, trodnet den Pilanzenjait ein, erſchlafft
die kühnen Pläne, löſcht Eifer und Erregung.
Die erften Negentropfen fielen jchwer und weit
voneinander auf die dicke Blätterichicht, Seine Mutter
war allein, wie gejtern, als er zur Dämmerjtunde
heim fam,
Leiſe ſich hinaufſchleichend, fand er fie in aufe
geregtem Schlummer und brennend heiß.
Im Haufe umberirrend, verjuchte er, damit es
weniger traurig bier ausiehe, ein großes Reiſigfeuer
im hohen Stamine anzuzünden, allein es wollte nicht
brennen und ging rauchend aus,
Draußen fiel jeht der Regen in Strömen herab.
Kaum noch erblidte man das Dorf, wie durd ein
graues Bahrtuch Hinter den Fenſterſcheiben. Wind
und Regenguß peitjchten die Mauern des einjamen
Haufes, um welches wieder einmal das tiefe Duntel
fich gelagert hatte, und dazu noch die große Etile,
an welche Ramuntcho nicht mehr gewöhnt war. In
fein Kinderherz ſchlich ſich nach und nad) ein bangez
Gefühl der Einſamleit, des Verlaſſenſeins; ja er ver
lor jogar feine Energie, das Bewußtſein feiner Liebe,
feiner Kraft und Jugend, und vor dem nebeligen
Abend Ihwanden feine Kampfes und Widerftand:-
gelüfte. Seine vor einigen Minuten noch freudig
ins Auge gefaßte Zukunft ſchien ihm nun erbärmlid
und chimäriſch, — feine Zukunft ala Ballſpielet, alt
armer Beluftiger der Menge, von dem Zufall einer
Krankheit oder eines ſchwachen Moments abhängend;
feine Hoffnungen zerrannen, da fie zweifellos auf
feinem feften Grunde ftanden und in die Nacht ent:
flohen waren.
Da nahm er wie früher, als er nod ein Rind
war, feine Zuflucht zum Multerherzen; er ftieg leiſe
hinauf, um fie wenigjtens zu jehen, wenn audı
ſchlafend, und neben ihr am Bette zu jein.
Als er in ihrem Zimmer, weit von ihr, eine Meine
Lampe angezündet, fchien fie ihm Durch das Fiebet
noch mehr verändert als geftern. Die Möglichkeit, je
zu verlieren, trat in feinem Geifte in noch viel ſchred⸗
licherer Weile auf, fortan allein zu fein, niemals
mehr auf feiner Wange die Liebfojung ihres an ihn
gelehnten Hauptes zu fühlen... Zum erftenmal fand
er fie alt ausjehend, und beim Gedanken an die vielen
Enttäwihungen, die fie ſeinetwegen erlebt, kam tiefe:
Mitleid über ihn, — zärtliches, unendliches Mitleid
angeſichts diefer Falten, die er noch nicht bemerit
hatte, der ergrauten Haare an ihren Schläfen.
O, ein tiefbetrübtes, hoffnungsloſes Milleid, mit
der Ueberzeugung, dab es jeht zu jpät ſei, das Leben
anders zu geftalten, und tiefer Schmerz, den er u
möglich bewältigen fonnte, rüttelte an jeiner Bruft
und verzog fein junges Gefiht. Ringsum wurde
alles trüb vor jeinen Augen ; mit einem unwilllürlichen
Bedürfnis zu beten, um Gnade zu bitten, fiel er auf
die Kniee, legte jein Geficht auf das Bett der Mutter
und tweinte endlich, heiße, heiße Thränen...
XXX.
„Wen haft du im Dorfe gefehen, mein Sohn?*
fragte Frandita am nächſten Morgen während der
Beſſerung, die fich ftet3 in der Frühe mad dem
Fieber einftellte. „Wen haft du im Dorfe geieben,
mein Sohn?“
Sie bemühte ſich, heiter zu ſcheinen, von gleid*
gültigen Dingen zu reden; es war ihr fichtlih bang,
die ernften Dinge zu berühren und damit feine
jchmerzerfüllten Antworten heraufzubeichwören.
„Ich ſah Arrochfoa, Mutter,” antwortete er in
einem Tone, der fofort die brennende frage jurüd«
tief.
„Arrochloa? Und wie war er mit dir?“
„hate getraute Nie — weiter zu reden,
und ließ den Kopf ſinlen.
x * agte er dir, mein Sohn?“
sen... dafi vielleicht .
— wenn fie mic miederäße..
m Anftand zu glauben...
Grregt über dieſe Mitteilung, ſehte ſich Franchita
im Belle auf. Mit den mageren Händen ſtrich fie
die ro Haare zurück, und ihre Augen wurden
u Öplih jung und lebhaft; mit einem faſt böfen Aus-
diuch Br Schadenfreude und des gerächten Stoljes
je ei fi:
„Das hat er dir gejagt?”
Bürbeft du mir verzeihen, Mutter, wenn ich
"eh verfuchte?“
Kr R Er ergriff feine Hände, und beide jchwiegen, da
4 jes wagte, den frevelhaften Gedanten auszujprechen.
Fromme Strupel bewegten ihr Herz.
- A ihren Augen erloſch der böje Blid,
„Dir verzeihen?“ bob r mit leijer Stimme au.
ja, das weißt du ... Allein the es nicht,
itte Dich inftändig, mein Sohn; es würde eud)
n Unglüd bringen, Denfe nit mehr daran,
— ———— denle niemals daran!“
t hörten fie den Schritt des Arztes, der ſeinen
m Befuc machte. Es war das einzige, lehte
‚ fie im Leben darüber jprechen follten.
micho wußle aber von nun an, daf fie ihn
ich dem Tode weder des Verjuchs noch der Aus-
3 iegen fludhen würde. Ihre Vergebung
— und jeßt, da er ſich derſelben bewußt
daß
nimmt er
—— fcant.
t kräftigen Konititution war bie Krantheit
m ‚wegen ungenügend gepflegt und hatte
1 feinen Mitteln gleich anfangs nur Miß⸗
{ gebracht. Der jchredliche Gedante,
müfjen, gewann nad und nad) bei
Oberhand. Während der langen
am ihrem Bette ftill und allein ver-
‚die Wirflichleit diefer Trennung,
es, des Begräbnifies ins Auge
Leben, dad Haus, das er
er die Heimat verliche, nachher
jelte Verſuch im Kloſter Amez-
7.
jie traurige, daraufjolgende Zeit
675
queta, und alsdann wahrſcheinlich die Reife, allein
und mit zerriſſenem Herzen, nah Amerifa...
Auch der Gedanle an das große Geheimnis, das
fie für immer mit fi) nehmen würde, das Geheimnis
feiner Geburt, beſchäftigte ihm mit fteigender Qual,
Endlich ſich über fie beugend und zitternd, als
ob er einen Kirchenfrevel beginge, getraute er ſich zu
jagen:
„Mutter, ſage mir doch, wer mein Vater war!”
Sie erbebte bei diefer großen frage, denn jie
begriff wohl, daß fie verloren fein müſſe, da er es
wagte, fie darnach zu fragen. Zögernd jchwieg fie eine
Weile; in ihrem fieberglühenden Kopfe kämpfte fie
einen harten Kampf. Sie war nicht mehr im ftande,
ihre Pilicht zu erkennen, zu unterſcheiden; ihr lang⸗
jähriger Starrjinn kam angejichts des Todes beinahe
ins Wanlen.
Allein endlich entjhloffen, amtwortete fie im
barſchen Ton der böjen Tage:
„Dein Vater? Und wozu denn, mein Sohn?
Was willſt du mit deinem Vater, der num jeit länger
als zwanzig Jahren nicht an dich gedacht ?*
Nein, es war entjhieden, zu Ende — jie war ent=
ſchloſſen, es nicht zu jagen. Ueberdies war es jeht
zu fpät. Im Augenblid, wo fie verfhwinden, dem
Tode anheimfallen würde, wie jollte jie e8 da wagen,
das Leben des Sohnes, das fie nicht mehr zu über
wachen im ftande war, jo vollitändig zu ändern? Wie
konnte fie ihn dem Bater überlaflen, der vielleicht einen
glaubensloien, verdrojienen Menſchen, gleih ihm
jelbft, aus ihm machen würde! Welche Berantwor«
tung! Welch entieglicher Gedante!
Nachdem ihr Entſchluß unwiderruflic gefaßt war,
dachte fie an fich ſelbſt, denn fie fühlte zum erfien-
mal, dab das Leben ſich Hinter ihr verjchliehen würde,
und fie faltete die Hände zum Gebet, —
Nah diejem Verſuch, der ihm beinahe gottlos
vorgefommen war, beugte ſich Namuntdo vor dem
Willen der Mutter und fragte nichts mehr.
XXXIV.
Es ging ſehr raſch mit ihr zu Ende; bald hatte
fie verzehrendes Fieber, das ihr die Wangen rötete,
bald verfiel fie ſchweißgebadet in einen Schwäche.
auftand, und ihr Puls war faum fühlbar. Ramuntcho
hatte nur mehr für feine Mutter Gedanfen. Graziellas
Bid umſchwebte ihn nicht mehr während diefer ent=
jeglichen Tage.
Frandita war dem Tode nahe — ſtumm und
anſcheinend gleichgültig verlangte fie nichts und Hagte
niemals .. . Einmal jedoch, bei einer Nachtwache,
rief fie plöglich den Sohn mit ſchmerzerfüllter Stimme,
warf die Arme um ihn, zog ihn an jid und Ichnte
den Kopf an jeine Wange. In diefer Minute jah
NRamuntho in ihren Augen den großen Schreden
vorüberzicehen — den Schredten des Fleiſches vor dem
*
a: =
Ei.
—
—
——
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676
nahen Ende, der bei Menjchen wie bei Tieren ent-
jehlich und der gleiche für alle it... Sie war wohl
gläubig — oder vielmehr fie beobachtete die lirchlichen
Gebräuche, wie jo viele andre Frauen um fie herum, —
äußerft gewiſſenhaft, was Dogmen und Gottesdienft
betraf, allein ohne Haren Begriff vom Jenfeits, ohne
lihte Hoffnung ... Der Himmel mit all den
ichönen, verheißenen Dingen ... ja, vielleicht ...
Allein das ſchwarze Grab, wo nur Verweſung ift,
war dort, nahe und ſicher. Gewiß, unerbittlich gewiß
war au, daß fie nie mehr ihr zerftörtes Geficht
an Ramunthos Wange lehnen würde, und im Zweifel,
ob fie eine Seele habe, im Schreden und der Not
vor der Vernichtung, Staub und Nichts zu werden,
verlangte fie noch einmal nad) den Küſſen des geliebten
Sohnes — und fie Mammerte fih an ihn wie der
Schiffbrüchige, der im dunfeln, tiefen Waſſer untergeht.
Er verftand recht gut, was ihm die armen, ihrem
Ende nahen Augen jagten; und das innige Mit«
leid, das er ſchon gefühlt, als er die Falten und das
weiße Haar jeiner Mutter geſehen, ergoß ſich gleich
einer Flut aus feinem noch jo jungen Herzen. Er ant«
wortete auf ihren Ruf mit allem, was jein vom tiefften
Weh überfülltes Herz an zärtlichen Piebkofungen geben
fonnte,
Aber das war nur von furzer Dauer. Sie gehörte
niemals zu denen, die lange weich find, oder die es
jeigen.
Sie lieh die Arme los, warf ihren Kopf zurüd,
ſchloß die Augen, bewußtlos jetzt, — oder ſloiſch ...
Ramuntcho, vor ihr ftehend, getraute fich nicht
mehr, fie anzurübren und meinte lautlos mit ab»
gewandtem Kopfe — indes die fyeierabendglode zu
(äuten anfing, den ftillen Frieden des Dorfes befang
und die Luft mit milden, beſchützenden Klängen erfüllte,
als ob fie denen, die noch einen andern Morgen er:
leben, gute Nacht wünschte.
In der Frühe, nachdem fie gebeichtet, verſchied fie
ſtill und ftolz, wie wenn fie fich ihres Leidens, ihres
Röchelns ſchämte, und die Glode dort drunten Tiek
langſam, traurig Sterbegeläute erflingen. Am Abend
war Ramuntcho allein mit dem Leichnam, dem kalten
ftarren Körper, den man noch einige Stunden bei
ſich behält und anfieht, dann aber fo eilig der Erde
übergeben muß.
XXXV.
Acht Tage jpäter.
Ein böjer Sturmwind rüttelte die Zweige der
Bäume, als Ramuntho eines Abends in fein Haus
voller Todesgrauen fam. Schon lag ald Vorzeichen
des Winters ein leichter Reif im baskiſchen Sande, der
die Blumen zeritörte umd dem fommerlichen Trugbild
im Dezember ein Ende madte.
Vor Franditas Thür waren die Dahlien und
Geranien abgeftorben, und der zum Haufe führende,
Pierre Loti.
nicht mehr gepflegte Pfad verichwand unter einer
Unmafje welter Blätter.
In diefer erften Trauerwoche mußte ſich Ramuntcho
mit taufend den Schmerz einwiegenden Stleinigfeiten
bejhäftigen. Auch er hatte eine gewiſſe Eitelteit
und wollte, daß alles auf lururiöje Weile und nad
den alten Gebräuchen des Dorfes vor fich gehe. Der
Leihnam wurde in einem mit ſchwarzem Sammet
und filbernen Nägeln verzierten Sarge fortgetragen.
Alsdann lamen die Totenmeflen, zu welchen bie
Nachbarn in langen Happmänteln, die Nachbarinnen
in langen ſchwarzen Gewändern und mit der Trauer
fapuze erichienen. Sauter Dinge, die ihm bei jeiner
Armut zu große Ktoften verurfachten, Bon der ehemals
bei feiner Geburt von dem unbelannten Vater ge
gebenen Summe war nur wenig übrig, da der größte
Teil bei einem unredlichen Notar verloren gegangen
war. Und jet galt es, das Haus zu verlaffen, die lieben
alten Möbel zu verlaufen — kurz, fo viel Geld ala mög-
(ic für die Flucht nad Amerika flüffig zu machen.
Diejesmal fam Ramuntcho bejonders erregt nad
Haufe, weil er ein Vorhaben ausführen wollte, das
er von Tag zu Tag verfchoben hatte und worüber fein
Gewiſſen in Unruhe war. Alles, was von feiner
Mutter berrübrte, hatte er durchgeſehen und forg«
fältig geordnet ; allein das Käſtchen mit ihren Papie-
ten und Briefen war noch unberührt, und am diejem
Abend wollte er es öffnen.
Er war ſich nicht Mar, ob der Tod, wie jo viele
glauben, den Zurüdgebliebenen ein Necht giebt, die
Briefe zu lefen, die Geheimnifje der Abgejchiedenen
zu durdwühlen. Verbrennen, ohne zu leſen, ſchien
ihm ehrfurdhtävoller, erhabener. Jedoch hieße es zu
gleich alles zeritören, was dem verlafjenen Sohne
einen Anhalt geben konnte, um feinen Bater aufzu-
finden. Was nun thun? Und wer hätte ihm raten
können, da er niemand mehr auf der Welt hatte?
Im hohen Kamine zündete er ein großes Feuet
an und holte aus cinem der oberen Zimmer das bes
unrubhigende Käftchen, ftellte e8 auf einen Tiſch ans
Feuer und jehte ih, um nochmals zu überlegen.
Gegenüber diefen faft geheiligten, fajt verbotenen
Papieren, die er num berühren wollte und die der
Tod allein im feine Hände gab, wurde er ſich in noch
jchmerzlicherer Weife der unwiderruflichen Trennung
von der Mutter bewußt; und er jaß in der großen
Stille allein und weinte bitterlih ...
Endlich öffnete er das Käftchen.....
Seine Schläfen pochten. Es jchien ihm, als ob
draußen unter den Bäumen, in der dunfeln Einfam«
feit Geftalten auftauchten , als beivegten fie fih und
fähen ihn durchs Fenſter an. Er hörte ein ber
eignen Bruft fremdes Atmen, wie wenn hinter ihm
jemand feuchte. Schatten verfammelten ſich, als ob
fie bei feinem Borhaben beteiligt jeien.
Ramuntcho. 677
Es waren Briefe von derſelben Hand, die ſchon
ſeit zwanzig Jahren bier aufbewahrt und mit der
nahläjfigen, leichten Schrift, welche den Leuten aus
der Gejellichaft eigen und in den Augen der Un—
gebilbeten ein Zeichen des großen Standesunterſchiedes
ift. Ein kurzer, unbeitimmter Traum von Proteltion,
hoher Stellung und Reichtum gab feinen traurigen
Gedanken auf einen Augenblid eine andre Wendung...
Es war zweifellos, von welcher Hand die Briefe her—
rührten, — dieſe Briefe, die er zitternd in der Rechten
hielt und ſich nicht getraute zu leſen, ebeniowenig
den Namen, mit dem fie unterfchrieben waren.
Ein einziger noch war in einem Convert, und es
fand darauf: „Frau Frandita Duval*, — ad) ja,
er entſann ſich, gehört zu haben, daß feine Mutter,
als fie die Heimat verließ, eine Zeitlang diefen Namen
angenommen hatte... Es folgte die Bezeichnung der
Strafe, der Hausnummer, was ihm peinlich zu lejen
war und ihm, er mußte nicht warum, das Blut ins
Geſicht trieb; alsdann der Name der großen Stadt, in
welcher er zur Welt gelommen war... Starr vor ſich
binjehend, ſaß er da und jah nichts weiter an...
Plöglih trat vor feinen Geift das entſetzliche Bild
diejes heimlichen Haushalts: wie in einer Borftabte-
wohnung jeine Mutter, jung und elegant, als Ge»
liebte irgend eines reichen Müfiggängers oder viel
leicht eines Offiziers lebte. Beim Regiment hatte er
ſolche Haushaltungen fennen gelernt, die wahrjchein-
lich alle einander gleichen . . . Schwindel erfahte ihn,
al& er die, welche er jo jehr verehrte, in diejem neuen
Lichte flüchtig zu ſehen glaubte: die geliebte Ver—
gangenheit wanfte hinter ihm, als ob fie in einen
troftiofen Abgrund finfen wollte. Seine Hoffnungs«
lofigfeit verwandelte ſich plöglih in Abſcheu gegen
ben, der ihm das Leben geichenft. O, verbrennen,
fo ſchnell als möglich verbrennen! Alle dieſe unglüd«
feligen Briefe! ... Und er begann fie nacheinander
ins Feuer zu werfen, wo fie rajch in Flammen übers
gingen.
Eine Photographie fiel jedoch heraus, und er
fonnte nicht umhin, fie näher an die Lampe zu halten
und fie zu betradhten. Der Eindrud war ein ſchmerz⸗
lid ergreifender, als feine Augen in die des halb»
verwiichten und vergilbten Bildes blidten!... Es
jab ihm äbnlih!... Mit tiefem Schreden fand er
etwas von ſich jelbit in dem Unbekannten. Injtinttiv
drehte er fh um, fürdhtend, die Gefpenfter in den
dunfeln Eden jeien näher gelommen, um aud das
Bild zu betrachten,
Dieſe ftille, einzige und lebte Begegnung mit
jeinem Bater war von faum abjhäbgarer Dauer,
Raſch war fein Entichluß gefaßt: ins Feuer auch mit
dem Bilde! Und er warf es halb zornig, halb ent»
jeht in Die Glut der letzten Briefe; von allem war
bald nur noch ein Häuflein ſchwarzer Aſche übrig.
Fertig! Das Käſtchen war leer, Er warf fein
Barett, das ihm Kopfſchmerzen verurfadhte, zu Boden
und richtete fih auf. Schweiß ſtand auf jeiner
Stirne, feine Schläfen pochten.
Fertig! ... Zeritört alle diefe Erinnerungen von
Schuld und Schande! Und jegt ſchien wieder alles
ins frühere Gleichgewicht zu fommen, Er fühlte
wieder die ſüße Ehrfurcht vor feiner Mutter, beren
Gedächtnis durch den Tlolzen Alt, den er vollzogen,
in feinen Augen gereinigt und ein wenig gerächt |chien,
Sein Schidial war alfo an diefem Abend für
immer entichieden worden. Er wollte der Namumicho
bon ehedem bleiben, der Sohn Franchitas, Ballipieler
und Schmuggler, ein unabhängiger Menſch, der nie=
mand etwas ſchuldete und an niemand ein Wer
langen ftellte.
Er fühlte ſich aufgeheitert, frei von Gewiſſens-
biffen und aud ohne Furcht in dem Sterbehaufe,
aus welchem die Schatten, beruhigt und verfühnt,
gewichen waren...
XXXVI.
An der Grenze, in einem Gebirgsdorſ. Schwarze
Naht, gegen ein Uhr des Morgens. Eine Winters
nacht, von Falten, ftrömendem Regen überſchwemmt.
An einem übel ausfchenden Haufe, aus dem fein Licht-
ſchein fällt, ladet Ramuntcho eine ſchwarze Schwmuggler-
fifte mitten im Grabesdunfel auf jeine Schultern.
Sthouas Stimme teilt Teife Die Befehle aus, mit
einem Laut, wie wenn mit dem Bogen die lebten
Saiten einer Bahgeige berührt würden, Ringsum
in dieſer vollſtündigen Finſternis befinden ſich andre
Schmuggler, ebenſo beladen und bereit, zum Abenteuer
auszuziehen.
Dieſe Märſche füllen jetzt mehr denn je Ramuntchos
Leben aus — beſonders in den bewöllten Nächten
ohne Mondſchein, in denen die Pyrenden nur ein
ungeheures dunkles Chaos bilden. Da er ſo viel
Geld als möglich für ſeine Flucht zuſammenſparen
will, jo beteiligt er ſich bei jedem Schmugglerunters
nehmen, ebenjowohl an denen, Die einen anftändigen
Verdienſt abwerfen, al& an ſolchen, bei welchen man für
fünf Franken das Yeben aufs Spiel ſetzt. Gewöhnlich
begleitet ihn Arrochloa, nicht daß er es nötig hätte,
fondern mehr aus Yiebhaberei oder zum Spaß.
Arrochloa und Ramuntho find übrigens ungers
trennlih und reden unumtmunden bon ihrem Vor—
haben, Graziella beireffend, Arrochkoa iſt beſonders
durch den Gedanken, eine ſchöne Heldenthat auszu—
führen, angezogen, auch durch das Vergnügen, der
Kirche eine Nonne zu entreißen und die Pläne feiner
alten, gefühllofen Mutter zu durchkreujen. Ramuntd)o
fnüpft, iroß feiner mandmal wiederkehrenden Sfrupel,
an dieſes gefährliche Unternehmen feine einzige Hoff:
nung, ja, es ift der Beweggrund jeder feiner Hand—
lungen geworden.
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678 Pierre Loti.
Seit bald einem Monat ift der Plan in der
Hauptjache feftgeftellt, und bei jeder Zuſammenkunſt
an den Dezemberabenden, auf den Straßen, wo fie
ſpazieren gehen, oder auch in den Wirtsfluben des
Dorfes, wo fie ſich abjeits ſetzen, beſprechen fie die
Mittel zur Ausführung, als ob von einem gewöhn-
lichen Grenzabenteuer die Rede jet.
„Es muß befonders jehr raſch gehandelt werden,”
jagt immer wieder Arrochkoa. „Während der leber-
raſchung einer erften Zufammenkunft, die für Graziella
eine unfägliche Aufregung fein wird, muß man, ohne
ihr Zeit zur Ueberlegung noch zur Faſſung zu lafien,
den Verſuch machen, fie zu entführen...
„Wenn du wüßteft, wie diejes Meine Alofter von
Amezqueta, wo man jie hingebracht, ausjiebt! Vier
alte Schweftern ſind in einem einfamen Haufe bei ihr.
Ic) habe, wie du weißt, ein rajches Pferd, und wenn
einmal die Nonne mit dir in meinem Wagen fibt,
wer fönnte fie, ich bitte Dich, wieder einfangen ?...*
An diejem Abend beſchloſſen fie, Jtchoua ins
Vertrauen zu ziehen, als einen Mann, der vor bedenf=
lichen Unternehmungen nicht zurüdjchraf, der braud)-
bar bei ſolch nächtlichen Handjtreihen war und der
für Geld alles that.
Der Ort, von welchem fie heute auf den gemohne«
ten Schmuggel ausziehen, heißt Landachloa und liegt
in Frankreich, zehn Minuten von der Grenze entjernt,
Die einjame Herberge fieht, jobald es dunfelt, wie
eine Mördergrube aus. In dem Moment, wo die
Schmuggler durch eine Hinterthür verfchwinden, kehren
ipanifche Grenzjäger hier ein, die gemütlich über die
Grenze gefommen find, um ſich bier fingend und
trinfend zu belufligen.
Die mit den nächtlichen Heimlichleiten und Um—
trieben vertraute Wirtin ift joeben vergnügt zu den
Seuten Jtchouas gefommen und berichtet in basliſcher
Sprade:
„Alles geht vortreiflih! Sie find alle betrunten,
ihr lönnt fortgehen!. . .*
Aber das ift leichter gejagt ala gethan. Nach
ben erjten Schritten ſchon find alle durchnäßt, und
troß ihrer eiſenbeſchlagenen Stöde gleiten fie auf
den teilen, Mebrigen Pfaden aus. Keiner kann den
andern jehen, man fieht überhaupt nichts, weder die
Mauern des Dorfes, längs welcher fie gehen, nod)
ipäter die Bäume, noch die Felſen. Sie tappen wie
Blinde herum und flolpern jeden Augenblid unter
einer wahren Sündflut, und ala zweiter erichwerender
Umſtand betäubt fie das entjeßliche Naufchen des
Regens.
Ramuntcho, der zum erſtenmal dieſen Weg zurüd«
legt, hat feine Borftellung von den fteilen Gemspfaden,
auf denen fie gehen; er ftößt hie und da mit feiner
Laſt an ſchwarze Dinge, — es find Baumzweige —
und gleitet mit beiden Fühen aus, wanft, jtemmt ſich
und ſtößt aufs Geratewohl mit der einen freien Hand
den fpigen Stod in die Erde,
Arrochloa und Ramuntcho beichließen den Zug
und folgen der Bande mit Aufbietung ihres ganzen
Spür= und Gehörſinns; die Borausgehenden maden
mit ihren Strobpantoffeln faum jo viel Lärm wie ein
Wolf im Walde,
Im ganzen find es fünfzehn Schmuggler auf der
etwa fünfzig Meter langen Strecke, ftaffelförmig im
ſchwarzen Duntel des Gebirgs unter dem unaufhörlichen
Negengubaufgeftellt. Sie tragen Kiſten voller Jumelier-
gegenftände, Uhren, Ketten, Roſenkränze oder in
Wachstuch eingehüllte Ballen Lyoner Seide. Boran
gehen zwei Männer als Nelognoscierer, welche mit
Waren von geringerem Werte beladen find, im Not-
fall die ſpaniſchen Flintenſchüſſe auf fich lenken und
alsdann die Flucht ergreifen, nachdem fie alles zu
Boden geworfen. Selbitverftändlich ſpricht alles nur
leife, troß des trommelnden Negens, der jeden Laut
erjtict.
Ramuntchos Vormann dreht ſich um und ap
ihm zu, er jolle auf jeiner Hut jein.
„Bor ung ift ein Bach,“ — der ſchaumende Bad
verrät fich übrigens durch fein ftarfes, den Regen über:
tönendes Rauchen — „wir müfjen ihn paſſieren! ...“
„So, und wie paffieren? Durchs Waſſer gehen?"
„Nein, nein, das Waller ift tief. Folge uns!
Es liegt ein Baumftanım über dem Bad.“
Ramuntcho, herumtaftend, findet in der That den
naſſen, jhlüpfrigen, runden Baumſtamm. Jeßt fteht
er darauf und geht vorwärts auf diefer Alfenbrüde
im Walde, immer mit der ſchweren Laft, indeſſen
unter ihm der unjichtbare Strom ſchäumt und braufl.
Er fommt, weiß der Himmel wie, mitten in der dun ⸗
fein Nacht über das raujchende Waſſer.
Am andern Ufer müfjen fie mit verdoppelter
Vorſicht und Stille weitergehen. Die Bergpfade,
das jteile Abfteigen, das Ausgleiten find zu Ende,
und fie jind jet in der noch befflemmenderen Nacht
des Waldes. Jeht kommen fie in eine vom Regen
durchweichte Ebene, wo die Füße einfinfen. Die
mit Bändern an die jehnigen Beine gebundenen
Strohpantoffeln laſſen ein Meines Plätjchern verlaufen,
ein „Flock! Floch!“ wie gepeitichtes Waſſer. Die
Augen der Schmuggler, wahre Katzenaugen, die ſich
in der Dunfelheit erweitern, jehen undeutlich, dab
fie ringsum freier Raum umgiebt, daß fie nicht mehr
eingeichloffen unter Bäumen gehen. Gie atmen
leichter und nehmen eine regelmäßigere Gangart an,
bei der fie ausruhen.
Jetzt erſchallt Hundegebell jehr weit dort drunten,
und plöglich bleiben alle unbeweglich, wie wenn fie
unter dem Negenguß verfteinert wären. Sie warten
eine Viertelftunde lang, ohme zu reden, ohne ſich zu
bewegen. Auf ihrer Bruft perlt der Schweiß und
Ga in ee
Ramuntdo. 679
vermijcht fich mit dem dom Himmel herabjallenden
Waſſer, das durch die Hemdlragen eindringt und bis
zum Gürtel fließt. Bei dem fortgefeßten Horchen hören
fie die eignen Ohren braufen, die eignen Adern Hopfen.
Diefe Spannung der Sinne gehört übrigens zu
den Dingen, die ihnen am meiflen bei ihrem aben-
teuerlihen Leben gefallen. Sie bereitet ihnen eine
fait tieriſche Freude, verdoppelt die Mustelfraft und
ruft in ihnen die uriprünglichiten menſchlichen Ein«
drüde in den Wäldern oder in den Scilfgegenden
der eriten Zeiten zurüd. Es wird noch Jahrhunderte
von Zivilijation bedürfen, um diefen Hang zu gefähr—
lichen Ueberliftungen, welcher manche Kinder zum Ver«
ftedenfpielen, manche Männer zu hinterliftigen Nach—
ftellungen,, zu Scharmüßeln, oder zum Schmuggel
treiben, zu unterdrüden. — Die Hojhunde ſchweigen
endlich beruhigt oder abgelenkt, weil fie andres wittern.
Tiefe Stille lehrt wieder zurüd, jedoch nicht beruhigend,
da dort drumten die Tiere wachen. Auf ein dumpfes
NKommandowort Itchouas nehmen die Männer eine
langjamere und zögernde Gangart an; alle gehen ges
beugt, in ſich gefunten gleich einem wilden Tiere auf
der Lauer.
Wie es jheint, fommen fie jet an die Nivelle ;
man jieht den Fluß nicht, da man gar nichts fieht,
allein man Hört ihn raufchen, und jet verhindern fie
lange, biegjame Dinge am Gehen und jtreifen die
menichlichen Körper; es ift das Schilf am Ufer. Die
Nivelle bildet hier die Grenze. Sie müfjen durch das
Waſſer auf einer Neihe jchlüpfriger Felsſtücke von
einem Stein zum andern hüpfen, troß der Lajt, die
ihren Gang erſchwert. Allein vorher halten jie am
Ufer an, um ſich zu fammeln und auszuruhen. Vor
allen Dingen zählen fie ſich mit leifer Stimme; alle
find zugegen, Die Kiſten find ind Gras gelegt
worden und erjcheinen dort ala etwas Helleres, dem
menjhlichen Auge einigermaßen Erfennbares, indes
auf dem Hintergrund der Finſternis die flehenden
Männer lange gerade Streifen, jhwärzer noch als
der leere Raum der Ebene, bilden. Als Jtchoua an
Ramuntcho vorüberfommt, flüjtert er ihm ins Ohr:
„Wann erzäglit du mir von dem Streich, den du
auszuführen gedenkjt, Meiner?“
„Nachher, bei unfrer Rückkehr! . . . O, feien Sie
ohne Sorgen, Itchoua, ich erzäble Ihnen alles.”
In diefem Moment, wo jeine Bruſt feucht,
jede Muskel im Thätigfeit, feine ganze Kampfes-
fähigfeit verdoppelt und durch die ihm zugemutete
Veihäftigung gereizt ift, zögert Ramuntcho nicht
‚mehr. In der gegemwärtigen Anfpannung jeiner
Kraft und Kampfesluſt erfennt er weder moraliſche
Feſſeln noch Sfrupel an. Der Borjchlag feines
Fteundes, Itchoua ind Geheimnis zu ziehen, jtößt
ihm nicht mehr ab.
Was liegt daran? Er wird fi an den Nat des
liftigen, gewaltthätigen Mannes halten, jollte e8 bis
zur Entführung, zum Einbruch kommen. In diejer
Nacht ift er der zügelloje Nebelle, dem man die Ge—
fährtin feines Lebens, die Angebetete, die Unerjekliche,
geraubt hat, und er will fie haben, fofte es, was es
wolle.
Die Undeweglichleit dauert fort, der Atem wird
ruhiger, und indeljen die Männer die durchnäßten
Barette abjhütteln, mit der Hand über die Etirn
fahren, um die augenverjchleiernden Schweih- und
Regentropfen abzuwijchen, überfommt jie ein frofliges
Gefühl — feuchte Kälte durchdringt fie; ihre nafjen
Kleider liegen eisfalt auf ihnen, ihre Kräfte ſchwinden,
und es bemächtigt fich ihrer nah und nad infolge
diejer Anftrengung nad) jo vielen andern eine Art
Betäubung in dieiem ſchwarzen Dunfel, unter dem
fortdauiernden Regenguß.
Uebrigens find fie, als verhärtete Landftreicher, die
zu Stunden und an Orte fommen, wo andre Menſchen
nie erjcheinen, an Wind und Wetter gewöhnt, jeder
Furcht in der ſchwarzen Nacht unzugänglich und im
Itande, ohne Obdach, wo es auch fei, bei Nacht und
Regen, im gelährlihen Sumpfe oder in einjamer
Schlucht zu ſchlafen ...
Vorwärts jetzt, die Reiſe hat lange genug ge—
dauert! Es kommt num der ernjte, entjcheidende
Moment der Grenzüberichreitung. Alle Mustleln
find angeipannt, die Ohren laujchen, die Augen er—
weitern ſich.
Zuerſt fommt der Vortrab, alädann einer nad)
dem andern die Träger der Ballen, der Kiſten,
jeder vierzig Kilo auf dem Kopf oder der Schulter
tragend. Hie und da auf den runden Kieſelſteinen
außgleitend oder im Wafler ftolpernd, erreichen alle
mit heiler Haut das andre Ufer. Jetzt find fie auf
ſpaniſchem Boden. Es bleiben nod ungefähr zwei-
hundert Mieter Marſch, und es heißt num, ohne Flinten⸗
ſchuß oder ſchlimme Begegnung bis zum einfamen
Pächterhaus, dem Hehlermagazin des Anführers der
ſpaniſchen Schmugglerbande zu gelangen, und wieder
einmal ift der Streid) gelungen!
Selbſtverſtändlich ift dieſes Haus nicht beleuchtet;
es Sicht dunfel und traurig aus. Lautlos und herum
taftend treten jie einer um den andern ein, und nad)
dem zulebt Eingetretenen werden die großen Niegel
der Thüre zugeihoben ...
Fertig! Verbarrifadiert und gerettet, alle! Der
Schaf der Königin ward in diefer Nacht wieder um
taujend Franken betrogen.
Sie zünden nun ein Feuer im Kamin an, ftellen
ein Licht auf den Tiſch, jehen fich, erfeunen ſich und
lachen über den gelungenen Streich. Die Sicherheit,
die tanzende, erwärmende Flamme, der Apfelwein
und der Branntwein rufen bei diejen Yeuten lärmende
Freude nad) dem langen, durch die Umjtände gebotenen
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680 Pierre Loti.
Stillſchweigen zurüch. Sie plaudern luſtig, und ber
alte, weißhaarige fyührer, der fie zu dieſer vorgerüdten
Stunde alle beherbergt, kündigt ihnen an, daß er
für fein Dorf einen ſchönen Plak zum Balljpiel
ftiften will, und dab die Koſten fi) auf ungefähr
zehntauſend Franken belaufen.
„Seht erzähle mir dein Anliegen, Kleiner,“ flüſtert
Itchoua Ramuntho zu. „O, id) fann mir halb und
halb denken, was du vorhaft! Graziella! Niht?...
Gelt, das iſt es? ... Ein ſchweres Unternehmen,
verftehjt du mich? .... . Ueberdies möchte ich der Kirche
nichts anhaben, du begreifft ... denn ich jehe bei
diejer Geſchichte meine Stelle ald VBorjänger aufs
Spiel... Lab einmal jehen — wieviel willjt du
mir geben, wenn ich alles zu einem guten Ende führe,
um dic zu befriedigen ?“
Ramuntcho hat vorausgeiehen, daß dieje Mit-
bilfe teuer zu ftehen fommen würde, da Itchoua
in der That ein Diener der Kirche, deſſen Ge—
willen vor allen Dingen bezahlt werden muß;
und jehr verwirrt, mit dem Blut in den Wangen,
bewilligt er nad) vielem Hin= und Herreden taufend
Franken, Uebrigens jammelt er jein Geld einzig und
allein nur zu dem Zwecke, Graziella wiederjugewins
nen, und wenn ihm nur genug bleibt, um mit
ihr nach Amerika zu fliehen — was liegt an allem
andern!
Jetzt, da Jtchoua um fein Geheimnis weiß, jeht, da
jein lieber Plan in dem halsftarrigen, liſtigen Kopfe
Itchouas ausgearbeitet wird, glaubt er, daß ein
entjcheidender Schritt zur Ausführung gethban und
plötzlich alles wirklich und nahe bevorjtehend ge—
worden ift.
Mitten in dem verwahrloften Raume, unter den
Männern, zu denen er weniger denn je paßt, jondert
er ſich mit feiner unendlichen Liebeshoffnung ab.
* s
Sie trinfen ein letztes Glas zufammen, nachdem
fie lärmend angeftoßen, und fort geht's durch die
dunkle Naht und den unaufhörlichen Negen.
Diefes Mal jedoch) bleiben fie auf der Landſtraße,
und zwar laut fingend, Nichts in der Hand, nichts
in der Taſche, gleich irgend beliebigen Leuten, die
von einem Spaziergang zurücklommen.
Ganz zulet, eiwas abjeits von den übrigen, geht
Ilchoua auf feinen langen Stelzenbeinen und lehnt
die Hand auf Ramuntchos Schulter.
Seitdem die Summe bejtimmt it, zeigt er ſich
mit Eifer und Intereffe auf den Erfolg erpicht und
flüftert ihm feine gebieteriſchen Natichläge zu.
Gleich Arrochfoa will er, daf mit niederjchmettern«
der Gejchwindigfeit und in der Erregung einer erſten
Zujammenkunft gehandelt wird. Dieje muß am
Abend und zwar jo jpät, wie es die Kloſterregel zu=
läßt, ftattfinden ; zur Dämmerftunde, wenn das unter
dem jchledhtbehüteten Meinen Klofter gelegene Dorf
ſchon eingejchläfert iſt.
„Beſonders aber, lieber Junge,” jagt er, „zeige
dich nicht, ehe du den Streich unternimmt! Sie darf
did) vorher nicht gejehen haben, hörſt du? Ja, fie
darf nicht einmal deine Heimlehr erfahren! ...
Sonſt verlierft du jeden Vorteil der Ueberrafchung!
Indes Ramuntho ihn anhört und ſchweigend
nadhfinnt, fingen die andern am Anfang des Zuges
immer dasſelbe alte Lied und geben im Talte voran,
So kehren fie nad) Landachloa, in das franzöfiide
Dorf, über die Brücke der Nivelle, und den ſpaniſchen
Grenzjägern breiit ins Geficht jehend, zurüd.
Uebrigens willen die Grenzjäger auf der Wacht
recht out, was dieſe durchnäßten Männer in fo dunllet
Stunde in ihrem Lande getrieben haben...
XXXVIL
Nach dem leichten Reif, der die Pflanzen ver-
nichtete und den trügeriichen Anblid des Feldes
veränderte, breitete ſich allmählich der Winter über
das baafijche Land aus, um den kommenden Yen
vorzubereiten.
Ramuntcho nahm langjam feine Gewohnheiten
als Verlaſſener an und beftellte ohne irgend eine
Bedienung jein allein bewohntes Haus wie in den
Kolonien oder der Kaſerne, denn er fannte die hun
dert wirtjchaftlichen Einzelheiten, die ein jorgjamer
Soldat ſich aneignet.
Immer noch hielt er etwas auf fein Weuheres,
Meidete ſich forgfältig, trug ſtets das Band ber
ZTapferen im Anopfloh und um ben Arm den
ſchwarzen Kreppftreifen.
Anfangs ging er jelten ind Wirtshaus, wo die
Männer in der Falten Jahreszeit ſich des Abends
verfammeln. Während der lehten drei Jahre, in
denen er viel gejehen, viel gelejen und oft Gelegenheit
gehabt hatte, mit dem oder jenem ernſte Geſpräche zu
führen, waren zu viele neue Ideen im feinen ſchon
gewedten Geift gedrungen; mehr denn je fühlte er
fih) den ehemaligen Genoffen entfremdet, und er
konnte den Hundert Meinen Dingen, die fie beichäf-
tigten, fein rechtes Intereſſe abgewinnen.
Nach und nad jedoch, da er ſtets allein war und
häufig an diefem Wirtslofal vorbeiging, wo er durd) die
dunftigen Scheiben die Barette ſah, gewöhnte er ſich
ſchließlich daran, dort einzufehren und ſich unter die
andern zu miſchen.
Es war die Zeit, zu der die pyremäijchen Dörfer,
befreit von den vielen, durch die ſchöne Jahreszeit
berbeigelodten Touriſten und eingefchloffen von
Wolken, Dunft oder Schnee, wieder zu dem werden,
was fie in den alten Zeiten waren,
In dieſen Apfelweinſtuben — die einzigen, Meinen,
belebten und beleuchteten Pünktchen in der groben,
leeren Duntelheit — erwachte an den langen
Winterabenden etwas von dem Geift der Vergangen⸗
heit. Bor den großen, im Hintergrund aneinander
geeißten Fäffern, wo es ganz dumfel ift, wirft die
von den Balken berabhängende Lampe ihren Schein
auf die Heiligenbilder an der Wand, auf die Gruppen
der jchwäßenden, rauchenden Gebirgsleute.
* Manchmal erhebt ſich einer und ſingt ein Lied
aus der grauen Vorzeit; das Getrommel auf einem
Tamburin ruft den alten, vergefienen Rhythmus
eig traurig gemahnt Guitarrenfpiel an die Zeit
der Mauren... Ober einer vor den andern ſich
ftellend , fangen zwei Burjchen plöglich an, Fandango
Be langen, und wiegen und drehen fich mit antiker
bei fortmährendeım Geflapper der Eaftagnetten,
Es diefen unſchuldigen Zufammenfünften gehen
ſe beigeiten auseinander — beſonders bei jchlechter,
tegnerifcher, dem Schmuggel günftiger Nacht. Ieder
hat irgend etwas Geheimmisvolles dort drunten in
| ü aniens Nähe zu Yun.
An dieſen Orten, ſtets in Arrochtoas Gejell-
haft, beredete Ramuntcho feinen teuren, frevelhaften
13 mn — aud) gingen fie oftmals zur Zeit de8 Mond-
5 8, da an der Grenze nichts unternommen werden
auf ben Straßen hin und ber.
u Immer noch hielten ihm religiöſe Strupel zurüd,
ie daß er ſich Rechenſchaft darüber ablegen konnte
— Strupel, die fich nicht erflären Tießen, da er auf-
gel t hatte, zu glauben. Sein ganzer Wille jedoch,
‚kei a Mat und feine Kühnheit, jeder Gedanke ftrebte
biefem einzigen Ziel entgegen.
Das Verbot Itchouas, Graziella vor dem großen
zu jehen, verjtärkte jeine Ungebuld.
9* inte, launiſch wie immer in diejem Lande,
* unregelmäßigen Gang fort. Hie und
errajchte Sonne und Ps —— oder der
—
8 war Ramuntho nahe daran, alles zu
.. Allein im lehten Moment erfahte ihn
jen, es fönne mißlingen, er werde
ingewiejen, allein fein für immer und
ffnung in feinem Leben.
ölte €8 nicht an vernünftigen Gründen,
m. Die Gejchäfte mußten
verfauft jein und er alles
Ramuntdo.
681
warten; Namuntcho hatte ihm feine baldige Ankunft
angemeldet und rechnete darauf, ein Unterfommen
bei ihm zu finden.
So vergingen die Tage, und bald regte ſich
der frühzeitige Frühling. Schon blühten im letzten
Sonnenftrahl des Monats Januar im Walde und
längs der Wege die gelben Primeln und die blauen
Genzianen..
XXXVIL.
Diejes Mal waren fie im Weinhaus des Dorfes
Gaftelugain, unfern der Grenze, und warteten auf
den Moment des Aufbruch mit Kiften voller Ge—
ſchmeide und Waffen,
Itchoua jagte:
„Sollte fie zögern, weißt du — doch fie wird feinen
Augenblid zögern, ſei unbejorgt!... aber ſchließ⸗
lich follte fie e8 tun — nun, dann entführen wir
fiel... Lab mid nur allein handeln — mein Plan ift
gemacht! Es muß am Abend fein, verfiehjt du wohl?
.. Wir führen fie einerlei wohin und fchließen fie mit
dir ein. Freilich, es lönnte auch alles jchief ausgehen und
die Notwendigkeit an mich beranfommen, das Land
zu verlaffen, nachdem ich dir zu Gefallen den Streid)
ausgeführt... Daher mußt du mir noch mehr Gelb
geben, du begreifit! Damit ich mwenigitens meinen
Unterhalt in Spanien juchen kann.”
„sn Spanien, wie? Was habt Ihr eigentlich
vor, Itchoua? Ihr wollt dod feine Gewaltthat
ausüben ?”
„Obo, fei nur unbeforgt, ich will niemand ums
bringen,“
Ihr redet doch davon, dab Ihr Euch in Sicher-
bringen müßtet!...“
„Na, mein Gott, das fuhr mir nur jo heraus!
Erftens find hierzulande die Gejchäfte flau — und
dann mußt du doc den Fall annehmen, deine Ge—
ſchichte könnte jchlimm ausgehen, wie id) dir ſchon
fagte, und die Polizei eine Unterſuchung einleiten,
Dffen geftanden, da gehe ich lieber fort, ganz gewiß!
.. Wenn die Herren vom Gericht ihre Naſe in unfre
Angelegenheiten jteden, wollen jie jchließlich alles
willen, was vor langer, langer Zeit geſchehen ift...
und alsdann iſt fein Fertigwerden ...“
In ſeinen ausdrucksvollen Augen war plößlich
Verbrechen und Angſt zu leſen, und Ramunicho ſah
den Mann mit wachſender Beſorgnis an. Er galt
als wohlhabend im Dorfe, beſaß ein Grundſtück, und
num faßte er jo leicht den Gedauken, ſich zu flüchten.
Was für ein Bandit war er denn, da er ſo ſehr die
Gerichtsbarkeit fürchtete? . . Was für Dinge konnten
es wohl fein, die ſich „vor langer Zeit” zugetragen?
Nach etlihen Minuten Schweigens jagte Ramuntcho
leife und mißtrauifch:
„Uebrigens, fie einfperren?.
im Ernft, Itchoun?...
.. Sagtet Ihr das
Wo denn, um Gottes willen,
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682 Pierre Loti.
ſollte ich fie einſperren? Ich beſihze weder ein Schloß
noch ein Burgverließ, wo ich fie verborgen halten
fönnte!...”
Itchoua entgegnete ihm mit einem Yaunenblid,
den er noch nie an ihm bemerkt hatte, und auf
Ramuntchos Schulter Hopfend, rief er:
„D, fie einjperren!... Für eine Nacht nur,
Kleiner! Das genügt, du kannt mir's glauben!...
Sie find alle dieſelben — weißt du! Der erfte Schritt
nur ift ſchwierig! ... Und fei verfichert, fie wird nicht
mehr ins Klofter zurüd wollen.“
Durch Ramuntchos Arm und Hand zudte wie
ein eleftrijcher Funke die Luft, das düſtere Geficht
zu obrfeigen. Er beherrjchte ſich jedod, denn von
jeher war er gewohnt, dem alten Kirchenſänger eine
Art Reſpelt entgegenzubringen. Stumm blieb er ftehen,
das Blut war ihm in die Wangen geftiegen, und
er wandte ben Kopf um — außer fi, jemand in
folder Weife von ihr iprechen zu hören, und höchſt
überrajcht, daß «8 diefer Menſch war, der, wie ihm
ſchien, von Liebe niemals etwas wiljen wollte, und
den er vom jeher als den ruhigen Ehemann einer
alten, häßlihen Frau gefannt. Allein die imper«
tinenten Worte machten in feiner Phantafie einen
gefährlichen, unerwarteten Eindrud... Graziella mit
ihm in einem Zimmer eingeſchloſſen? Dieje Möglich
feit, der die rauhen, groben Worte jo deutlich Ausdrud
gaben, verurjachte ihm Schwindel, als ob er beraufcht
wäre. Er liebte feine Braut zu wahr und innig,
um fi an brutalen Hoffnungen erfreuen zu können.
Gewöhnlich ſuchte er dieje Bilder zu verjcheuchen,
aber jeht hatte fie ihm diefer Mann mit teuflijcher
Roheit unter die Augen geführt, und er zitterte, als
ob es draußen jehr falt wäre.
Ad, ob auf das Wagnis ein gerichtliches Verfahren
erfolgte oder nicht, was lag ihm daran? Er hatte
nichts mehr zu verlieren! Gar nichts! Alles war ihm
einerlei, und von diejem Abend an fühlte er ſich mit
noch mehr Verwegenheit entſchloſſen, jeder Regel,
jedem Geje, jedem Hindernis Troß zu bieten.
Ueberall umher ſchien es Frühling zu werden.
Die Tage wurden länger und wärmer; an jedem
Wegrand blühten Veilhen und Immergrün. Seine
religiöfen Sfrupel allein hielten ihn noch zurüd — un=
erflärlicherweife blieben fie immer in den geheimften
Tiefen feiner zerrütteten Seele... Inſtinktiver Abſcheu
bor jeder Entweihung... der Glaube troß alledem
an etwas Uebernatürliches, das Kirchen und Klöſter
umſchwebt, um fie zu befhügen.
XXXIX.
Der Winter war zu Ende.
Namuntdjo, der einige Stunden in einem Heinen
Zimmer im neuen Haufe feines Freundes Ylorentino
unruhig nad ſchlimmer Nacht geſchlafen hatte, er—
wachte bei Tagesanbrud).
Die vorhergehende Nacht war ſtürmiſch und jhmwarz
nad Wunſch und dod) unheilvoll für die Schmuggler
geweien. Nahe beim Kap Figuier, in den Felſen,
wo fie gerade mit Ballen Seide gelandet waren,
wurden fie mit Flintenſchüſſen verfolgt und gezwungen,
ihre Laft zu Boden zu werfen; alles preisgebend,
flohen die einen ins Gebirge, die andern flüchteten
ſich ſchwimmend durd; die Brandung ans franzöfide
Ufer, im Schreden vor dem Gefängnis in Santt
Sebaftian,
Gegen zwei Uhr des Morgens hatte Ramuntdo
durchnäßt und halbtot an der Thür des einjamen
Haufes angeflopft, um bei dem guten Tylorentino
Hilfe und Obdach zu juchen. Bei jeinem Erwaden,
nah dem großen Lärm der Yequinoftialftürme, des
ſtrömenden Regens, der ächzenden Zweige fiel ihm vor
allen Dingen die große Stille auf, die ihn jeht um-
gab. Er horchte aufmerlſam und hörte nicht mehr
das gewaltige Braufen des Weſtwindes, nicht mehr
das Getöfe der in der Finſternis gerüttelten Dinge,
Nein, nichts als das entfernte, regelmäßige und mäd-
tigen Rauſchen der Waſſer des Golfes, der jeit dem
Urjprung der Zeiten wild und unruhig ift: ein rhyth⸗
mijches Gebraufe, als ob es daB riejenhafte Atmen des
ſchlaſenden Meeres wäre, Die Luft jedoch, die Bäume
und alles ringsum war unbeweglich, der Sturm hatte
ausgetobt, ohne vernünftigen Grund, gerade wie er
angefangen, und nur das Meer ſetzte jein Klagen fort.
Um die Landſchaft zu betrachten, dieſe Küfte
Spaniens, die er vielleicht niemals mehr jehen würde,
da feine Abreiſe jo nahe bevorftand, öffnete er das
Fenfter und jah in die noch blaſſe Weite, im den
jungfräufid frifchen Morgen hinaus.
Ein grauer Schein fiel aus grauem Himmel;
überall diefelbe müde und eritarrte Unbeweglichleit,
alles noch unbeitimmt hervortretend, halb Traum,
halb Nacht. Ein dunkler Himmel, der greifbar ſchien
und aus horizontalen, Meinen Schichten beitand.
Dort drüben die jhmwarzbraunen Berge und der
düſtere Schattenrig Fontarabias, deſſen vielgundert-
jähriger Turm noch älter und ſchwärzer ſchien. Zu
diefer frühen, jo geheimnisvollen Stunde, zu der die
Augen der meilten Menſchen noc nicht offen find,
war es, als ob man die Dinge im tiefbetrübten Ge»
ſpräch über Tod und Erſchöpfung überrafchte und
fie ji in der Morgendämmerung erzählten, was fie
beim hellen Tag, um niemand zu ängjtigen, ver»
ſchwiegen.
Was hilft's, dem Sturm in dieſer Nacht widerflan-
den zu haben? fagte der alte Turm müde und traurig.
Was Hilft’3? Neue Stürme kommen, ewig neue!
Andre Stürme, andre Gewitter, und ich muß dod
ſchließlich untergehen ; ich, den die Dienjchen als.eine
Aufforderung zum Gebet hier auf unſchäßbare Dauer
zu errichten glaubten?... Schon bin id nur nod
Ramuntdo,
ein Geipenft aus amdrer Zeit; ich fahre fort, zum
Gottesdienft und illuſoriſchen Feſten zu Täuten. Ich
laffe auch Sterbegeläute erklingen und habe es ſchon
fo oft für Taufende von Toten gethan, an die nie=
mand mehr denkt. Doc) ich bleibe Hier, unnüß und
unter dem faft ewigen Drud diejer vom Meere her-
braujenden Weſtwinde.
Am Fuß des Turmes ſchien die dort drunten
in grauen Tinten gemalte Kirche zu befennen, daß auch
fie nichtig, unmüß fei, und nur arme Bilder aus Holz
oder Stein, Mythen ohne Berftändnis, ohne Kraft
und ohne Erbarmen in ihr wohnten. Und alle bie
Häufer, die fromm um fie herum fanden, gaben zu,
dab ihr Schuß ohne Wirkung gegen ben Tod, daß
he falſch und trüglich wäre.
Beionders aber die Wolfen, die Wolfen und bie
Berge gaben dem Geflüfter ber Stadt eine ftumme,
vielfagende Beftätigung. Sie erfannten in aller
Stille die traurigen Wahrheiten an: der Himmel
nichtig wie die Kirchen, eitel Blendwert! Die raſtlos
eilende Zeit Mieht dahin wie ein Strom, in dem
Myriaden lebendiger Weien, ebenjo wie nußlofe,
nicht zu beadhtende Dinge, eines nach dem andern
mit fortgerifjen werden und unterſinken.
Sterbegeläute wurde jeht in der Ferne vernehnt-
bar; langſam und mit gemeljenen Schlägen ließ ſich
die alte Glode wieder einmal beim Ende eines Lebens
hören. Im der fahlen Morgenflunde, unter den
dichten, einengenden Wollen röchelte jemand, jenfeits
der Grenze wurde dort drumten irgend eine Seele
ausgehaucht. Und es fam ihm ber Gedanke, dab
dieſe Seele ganz einfah dem Körper in die Ber-
weiung bringende Erde jolgen werde.
Ramuntcho horchte und ſchaute. Am Heinen Fenſter
des basliſchen Häuschens, das vor ihm nur Geſchlechter
von Finfältigen und Vertrauensvollen beſchützte, auf
den breiten Fenſterſims fich Iehnend und den grünen
Fenſterladen vollftändig öffnend, lieh er die Augen
über das vor ihm traurig ausgebreitet Fleckchen Erde
ſchweifen; es war das jeinige, und er follte es
bald auf immer verlajlen. Sein unausgebildeter
Geift vernahm zum erftenmal dieje Enthüllungen der
Dinge, und Schreden befiel ihn dabei. Im feiner
ſchon durch Vererbung mit Zweifel und Angſt be»
fafteten Seele arbeitete plößlich neuer Unglaube...,
Eine ganze Offenbarung von der Nichtigkeit der
Religionen und der von den Menichen angerufenen
Gottheiten kam unverſehens und anſcheinend end—
aültig Über ihn. Wenn es nichts dergleichen gab,
wie naiv war es dann, vor der weißen Jungfrau,
ber chimäriſchen Beſchützerin Ddiefer ſtlöſter, zu
jütern! : ..
Die arme Sterbeglode, die unermüdlich ihr fin«
diihes Geläute ertönen ließ, um unnützes Gebet zu
verlangen, ſchwieg endlich, und unter dem büftern
683
Himmel hörte man nur noch in der allgemeinen Stille
den ftarfen Atem des Meeres,
Allein die Dinge ſetzten bei diefer grauen Däm-
merung ihre Geiprädhe ohne Worte fort: Nichts
überall! Nichts in den alten, jo lang verehrten
ſtirchen, nichts im Himmel, wo fih Wollen und
Dunft anfammeln — nur immerdar das Schiwin-
den ber Zeit und das ewige, erſchöpfende Mieber-
beginnen der Weſen und bald darauf Alter, Tod,
Verweſung, Aſche. Das jagten ihm beim fahlen
Schein des anfangenden Tages die düftern, müden
Dinge. Und Ramuntcho fand es lächerlich, aus ein»
gebildeten Berweggründen jo lang gezögert zu haben.
Mit bitterer Verzweiflung ſchwur er fih nun jelbft,
dab von diefem Tage an er entjchlofien jei, feinen
Plan auszuführen, tofte e8, was es wolle, daß nichts
mehr ihn abhalten würde,
XL.
Diele Wochen waren wieder mit Vorbereitungen,
mit Unentſchloſſenheit über die Urt, zu handeln, mit
raſchem Wandel in den Plänen und den Ideen
vergangen.
In diefer Zeit fam Onkel Ignacios Antwort
nad Etchoͤzar.
Hätte fein Neffe früher zugefagt, fchrieb er, jo
wäre er froh gemweien, ihn aufzunehmen; allein nad)
feinem langen Zögern habe er ſich, trogdem er nicht
mehr jung ei, entfchloffen, eine frau zu nehmen, umd
vor zwei Monaten jei ihn ein Kind geboren worden.
Alſo keinen Schu mehr von diefer Seite zu er»
warten... ber Verbannte würde dort bei jeiner An«
funft nicht einmal ein Obdach finden!...
Das Haus feiner Mutter ift verkauft; beim Notar
find alle Gelbangelegenheiten geordnet, alles, was
Ramuntcho beſeſſen, ift in Goldſtücke umgewandelt...
Und heute joll der Tag des großen Unternehmens
fein, der große Tag! Schon find die Bäume
wieder ſtark belaubt, hohes Gras bededt die Wiejen
es ijt Mai geworden.
Im Heinen Wagen, ben das raſche Pferd zieht,
fahren Urrochloa und Ramuntcho über die ſchattigen
Gebirgäwege dem Dorfe Amezqueta zu. Sie fahren
ſchnell und gelangen in eine endlofe Baumregion. Je
weiter fie fommen, deſto fliller und wilder wird es
ringaum; die Dörfer find altertümlicher, das bas—
liſche Land ift einjamer.
Im Schatten der Bäume, auf den Böſchungen
der Wege blühen rojafarbene Digitalis und Silenen
zwiſchen den Farnen, fait dieſelbe Flora, wie in der
Bretagne. Die beiden Länder haben übrigens eine
gewiſſe Nehnlichkeit durch den Granit und den ewigen
Negen; auch durch ihre Unveränderlichleit und die
Fortdauer derjelben religiöjen Vorfiellungen.
Ueber den beiden auf Wbentener auszichenden
jungen Leuten verdichten fich die Wolfen. Die Strafe
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in dieſen Päſſen zwijchen hohen Bergen ijt ent«
züdend grün; fie liegt in tiefem Schatten, zwijchen
farnenbededten Abhängen.
Unmwandelbarfeit feit vielen Jahrhunderten, Starr«
heit der Wefen und Dinge macht ſich mehr und mehr
geltend, je tiefer fie in diefe ftille Waldeinjamteit
eindringen.
“ Unter dem dunfeln Himmelsſchleier, in welchem
fi die Spigen der großen Pyrenäen verlieren, er-
ſcheinen und fliehen einfame Behaufungen, hundert-
jährige Pächterhäufer, und immer jeltener werden
die Dörfer, ftets fahren fie unter derfelben Wölbung
von Eichen und Raftanien, deren Alter unberechenbar
ift und deren Wurzeln gleich bemooften Schlangen bis
zum Rande des Weges ſich winden. Alle dieje durch
jo viel Wald und Didiht getrennten Dörfer fehen
einander ähnlich, und ihre Bevöllerung, treu den alten
Traditionen, fträubt ſich gegen alles, was Unruhe, was
Veränderung bringt; überall diejelbe beicheidene ſtirche,
meiftens ohne Turm, nur mit einem einfachen Cams»
panile an der grauen Hauptfafjade, und derjelbe Platz
mit der farbigen Mauer zum Balljpiel, wo von Bater
zu Sohn die Männer ihre Fräftigen Musteln ſtählen.
Ueberall waltet der ftille Frieden des Landlebens, das
im Baslenland unmwandelbarer als anderwärts ijt.
Die wenigen Wollbarette, welchen die zwei Toll«
fühnen beim raſchen Borbeifahren begeguen, neigen
fi zum Gruß, erfiens aus allgemeiner Höflichkeit,
befonders aber, weil fie Arrodhloa und Ramuntdo,
die beiden berühmten Ballfpieler, erfennen. Viele
fürwahr hatten Ramuntcho vergefien, Arrochloa je-
doch kennt jedermann zwijchen Bayonne und Santt
Sebaftian, ja bis zu den verftedteften Dörfern, an
feinem frifchen Gefichte und dem hinaufgeſtrichenen
Katzenſchnurrbart.
Die Reiſe in zwei Hälften teilend, ſchliefen ſie in
dieſer Nacht in Mendichoco. Und jeht fahren bie
zwei jungen Männer raſch weiter, zweifellos ſo ſehr
in Gedanlen vertieft, daß fie nicht daran denfen, ihr
fräftiges Tier für die fommende Nacht zu ſchonen.
Itchoua ift nicht bei ihnen. Im letzten Augenblid
befam Ramuntcho einen Schreden vor diefem Mann,
der ihm zu allem fähig ichien, jogar zu töten; in einer
plöglichen, bangen Anmwandlung wies er feine Hilfe
ab, und daraufhin Hammerte ſich diefer an die Zügel
des Pferdes, um die Abfahrt zu verhindern. fyieber-
haft warf ihm Ramuntcho Gold in die Hände, um ihn
für feine Ratſchläge zu bezahlen, um feine Freiheit,
allein handeln zu dürfen, die Gewißheit, ſich wenig«
ſtens mit feinem Verbrechen zu befleden, zu erfaufen.
Stüd um Stüd überließ ihm Namuntcho die Hälfte der
verſprochenen Summe, um ſich von ihm loszubinden.
Als das Pferd endlich fortgaloppierte und das
umerbittlihe Geficht hinter den Bäumen verfchwand,
fühlte er fein Gewiſſen erleichtert.
Pierre Koti.
„Du wirſt in diefer Nacht meinen Wagen in
Aranok bei Burugoity, dem Wirte, der unterrichtet ift,
ftehen laſſen,“ jagte Arrochloa. „Du begreifit, daß
ich euch nad) dem ausgeführten Streiche verlafe; ih
will weiter nichts damit zu thun haben, lebrigens
erwartet mic) ein Gefchäft mit den Leuten in Buru—
zabal: es jollen nämlich noch diefen Abend Pierde
nad) Spanien gebradht werden, nicht weit von Amej«
queta, und ich habe verjprochen,, vor zehn Uhr dort
zu fein.
Wie wollen fie es num anftellen, was eigentlich
thun? Die beiden freunde willen es nicht recht.
Es wird davon abhängen, welche Wendung die Dinge
nehmen.
Sie haben verjhiedene Pläne, alle find kühn und
zwedmäßig, je nad) den Ereignifien.
Zwei Pläße jind bereits auf einem großen Aus
wandererſchiff beftellt, einer für Ramuntcho, der andre
für fie. Das Gepäd erwartet fie ſchon auf dem
Schiff, das morgen abend von Borbeaur mit etwa
hundert Baslen nad) Amerika abjegeln ſoll. An
der Meinen Station Aranotz, wohin die beiden Lieben-
den mit dem Wagen fahren follen, werden fie
um brei Uhr in der frühe nach Bayonne fahren, und
in Bayonne alddann mit dem Kurierzug nad) Bordeaug.
Es wird eine eilige Flucht jein, die der Heinen Fliehen⸗
den in ihrer Beftürzung, ihrem Schreden und ohne
Zweifel aud in ihrem entzüdend überwältigenden
Rauſche keine Zeit zum Denken, zum Ueberlegen
laſſen wird.
Ein Kleid und eine Mantille von Graziella find
im Wagen für fie bereit, um die Kapuze und bie
ihwarze Kutte zu erjegen. Lauter Dinge, die fie
vor ihrem Eintritt ins Kloſter getragen und die ſich
Arrochloa aus dem Schrank jeiner Mutter zu ver:
ſchaffen gewußt hat.
Ramuntcho denkt, daß es vielleicht in Kurzer Zeit
Wirklichkeit fein und fie hier neben ihm figen wird,
fehr nahe auf dem engen Siß, mit ihm in biejelbe
Reijedede gehüllt, mitten in der Nacht fliehend, und ihm
gehören wird auf immerdar — und je mehr er daran
denkt, defto gewaltiger ergreift ihm Schwindel und
Bittern.
„Ich jage dir, fie wird dir folgen!“ wiederholt
fein Freund und ſchlägt ihm tüdhtig auf die Schulter,
fo oft er ihn düfter und träumerifch fieht. „I6
jage dir, fie wird dir folgen; ich glaube es ſicherlich!
Sollte fie zögern, laß nur mich machen! Sollte jie
zögern, alsdann etwas Gewalt, dazu find fie ent
ſchloſſen! O, ſehr wenig, nur fo viel als unbedingt
nötig ift; — nur die Hände der alten Nonnen lod
machen, wenn fie fie fefthalten... Alsdann trägt
man fie bis zum Wagen, wo unfehlbar die zärtliche
Liebe ihres frühern Geliebten ihr fehr raſch den Kopf
zurechtſetzt.“
Ramuntdo. 685
Wie wird Dies alles vorübergehen? Sie willen
nod nit genau und verlafien ſich viel auf ihre
Geiſtesgegenwart, ihren entichloffenen Mut, die fie
ſchon aus fo gefährlichen Schlingen gezogen, Eines
willen fie jeboch, daß fie nicht Schwach werden! Und
fo fahren fie weiter, einer ben andern anjpornenb,
Man follte fie jeht jolidariich bis zum Tode verbunden
glauben, feſt umd entjchieden wie zwei auf Tod und
Leben ausziehende Banditen.
Die baumreiche, von hoben, unfichtbaren Bergen
eingeſchloſſene Gegend beſteht aus tiefen, unterwühlten
Schluchten, Abgrundsfalten, wo reißende Ströme
unter dem grimen Dunkel der dichten Blätter raufchen.
Eichen, Buchen und Kaftanien, die ſchon feit Iahr-
hunderten von ſtets treibender, verjüngender Strajt
leben, ericheinen riefiger, je weiter fie vorwärts dringen.
Sanftes, üppiges Grün ift über den zerflüfteten Boden
geworfen, den es mit feinem frischen, ummwandelbaren
Mantel bededt und lieblich geftaltet. Der nebelige,
fait dunkle Himmel erhöht noch die über allem
lagernde andächtige Stimmung. Seltjames Halbduntel
fenft fi von allen Seiten herab, von den Bäumen,
bon dem grauen, dichten, über die Zweige gejpannten
Schleier, von den hinter den Wolfen verborgenen
Pyrenãen.
Mitten durch dieſen unendlichen Frieden, durch
dieſes grüne Dunlel ziehen Arrochloa und Ramuntcho
wie zwei junge Störenfriede, die im tiefen Walde
itgend einen Zauber brechen wollen.
An jeder Biegung des Weges erheben ſich alte
Kreuze aus Granit, gleich Notſignalen, bie ihnen
jurujen: Hütet euch! ... Alte Kreuze mit der erhaben
einfahen Inſchrift, die gleihiam der Wahlſpruch
eines ganzen Stammes geworden:
Ö crux, ave, spes unica!
Der Abend bricht herein. Sie find fchweigiam
geworben, weil die Stunden fliehen, weil der ent«
Iheibende Augenblick naht, weil dieſe Kreuze am Weg
fie faſt einfchüchtern.
Unter dem traurigen Schleier am Himmel neigt
fih der Tag. Die Thäler werden wilder, die Gegend
öder, und an jeder Ede des Weges erhebt ſich immer
wieder ein Kreuz mit derjelben Inſchrift:
Ö crux, ave, spes unica!
*
Amezqueta, im legten Dämmerſchein. Sie halten
den Wagen im Dorfe vor der Schenfe an. Arrochfoa
hat es eilig, zum Haufe der Schweftern zu kommen,
und ift ärgerlich, daß es jo jpät geworden... Denn
er befürchtet, man werde ihnen den Einlaß verwehren.
Ramuntdho läßt ihn ſtillſchweigend walten und über-
läßt ihm alles.
Dort droben fteht das Kloſter auf halber Höhe;
e& ift das einfame, von einem weißen Kreuz über«
ragte und ſich weiß von der dunkeln Gebirgsmaſſe
abhebende Haus. Sie ordnen an, daß der Wagen
an eine Biegung dort drunten gebracht werben ſoll,
jobald das Pferd einigermaßen ausgerubt bat. Dann
machen ſich beide auf den Weg und Ienfen in einen
bis zum Klofter führenden Baumgang ein. Dichtes
Blätterwerf verbreitet bier ſchon nächtliches Duntel,
Ohne ein Wort zu reden, fteigen fie geräujchlos
auf ihren Schnurjohlen leicht und gewandt bergauf.
Ringsum ſtimmt Wald und Flur zu tiefer Meland)olie.
Arrochkou Mopft an die Thür des friedlichen Hauſes.
«sh möchte meine Schwefter befuchen, wenn’s
erlaubt ift,“ jagt er zu einer alten Nonne, welde
verwundert die Thür halb öffnet...
Ehe er nur audgeredet, dringt ein freudiger
Schrei aus dem dunkeln Gange, und eine, foviel die
ſchwarze Umbüllung erkennen läßt, junge Nonne ftürzt
auf ihn zu und ergreift jeine beiden Hände. Sie
bat ihn an der Stimme erlannt... Hat fie erraten,
wer der andre ift, ber nebenan ſteht und feine Silbe
iprit?... Auch die Oberin fommt herbei und bittet
fie, auf der dunfeln Treppe ins Sprechzimmer des
feinen, ländlichen Kloſters zu fteigen. Strohſeſſel
werben berbeigerüdt. Man jet ſich: Arrochfoa neben
feine Schwefter, Ramuntcho gegenüber — und endlich
find fie beifammen, die Braut und der Bräutigam —
und tiefes Schweigen voll dumpfer Herzihläge, voll
feelijcher Erregung, voll bangen Fiebers fteigt über
fie herab.
Fürwahr, an diefem Orte umſchwebt fofort ein
geheimnisvoller, doc füher, auch etwas grabes-
ähnlicher Frieden die ſchredliche Zuiammenkunft. In
tiefer Bruft pocht mit gewaltigen Schlägen das Herz
— allein die Worte der Liebe oder ber Gewalt, alle
Worte jterben, che fie über die Lippen fommen...
Und dieſer Friede macht ſich ſtets geltend... es if,
als ob ein weißes Bahrtud nad und nad) alles
bedede, um zu beſchwichtigen, zu dämpfen.
Und doch ift nichts Befonderes in diejem fo be»
ſcheldenen Sprechzimmer: Vier völlig nadte, weiß
getündhte Wände, eine Dede aus roh gezimmertem
Holz, ein Boden, auf dem man außgleitet, jo jorg«
fältig ift er gebohnt, und auf einer Konfole eine
Madonna aus Gips, die unbeftimmt auf dem gleich-
fals weißen Grunde, wo die Maidämmerung eben
erlöſchen will, hervortritt.
Ein Fenſter ohne Vorhänge gewährt einen Ausblid
auf die großartigen pyrenätfchen Horizonte, über welche
ſchon die Nacht hereingebrochen ift. Aus diefer gefuchten
Armut, diejer weißen Einfachheit offenbart ſich end-
gültige Unperjönlichleit, entjchiedenes Entſagen, und
Ramuntcho wird fich der Unwiderruftichkeit der That-
ſache bewußt; troßdem lommt eine Art Beruhigung,
eine plöpliche und unwilllürliche Ergebung über ihn,
Die beiden unbeweglic auf ihren Stühlen figenden
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Schmuggler ericheinen faum ala Schattenrifje mit ihren |
breiten Schultern auf dem weißen Grund der Mauer,
und von ihren verwilchten Zügen fieht man faum das
intenfivere Schwarz der Schnurrbärte und Augen.
Die zwei Nonnen mit ihren durch die Schleier ver«
einigten Umriſſen ſihen wie zwei ſchwarze Gefpenfter ba.
„Warten Sie, Schweiter Marie Angelila,“ jagt
die Oberin zu dem jungen, umgewandelten Mädchen,
das früher Graziella war. „Warten Sie, Schweiter,
ich will eine Lampe anzünden, damit Sie wenigftens
das Geficht Ihres Bruders jehen können!”
Sie geht hinaus, fie allein lafjend, und neuer«
dings erjüllt Schweigen den jeltenen, vielleicht ein-
jigen und unmöglich wieder zu erhajchenden Augen»
blid des Alleinſeins ...
Sie kommt mit einer Meinen Lampe zurüd, bei
deren Schein die Augen der Schmuggler glänzen,
und mit munterer Stimme und gutmütigem Blid
fagt fie, auf Ramuntcho deutend: „Und diefer hier?
Es iſt wohl ein zweiter Bruder?”
„D nein!" antwortet Arrochloa in ſeltſamer Weife,
„o nein, er ift nur mein Freund!"
In der That, er ift nicht ihr Bruder, dieſer
Ramuntho, der ſtumm und finfter daſiht ...
Welch große Angft hätten die Nonnen, wenn fie
wüßten, was für ein Sturmwind ihn hierhergeführt!
Dasjelbe Schweigen, tief und beängitigend, fällt über
diefe Wejen, die eigentlich einfach über die einfachiten
Dinge miteinander reden jollten. Die alte Oberin
merft e8, und jchon verwundert fie ih... Doc die
lebhaften Augen Ramuntchos werden unbeweglid, und
verjchleiern fich, als ob fie unter bem Zauber irgend eines
unfihtbaren Bändigers ftänden.
Unter die fräftige Hülle feiner nad) Atem ringen-
den Brujt dringt allmählich Ruhe — zweifellos be»
einfluffen ihn die geheimnisvollen, bier in der Luft
ſchwebenden weißen Mächte; ererbte Frömmigfeit,
die in jeinem tiefften Innern ſchlummert, erfüllt ihn
mit ungeahnter Unterwürfigfeit und Ehrfurcht; die
altehrwürdigen Symbole beherrſchen ihn: jene Kreuze,
die er vorhin längs des Weges ſtehen gejehen hat, und
die blendend ſchneeweiße Madonna auf dem fleden-
lojen Weiß der Wand...
„Nun, Kinder, erzählt euch dod) etwas von ber
Heimat, von Etchézar,“ jagt die Oberin zu Graziella
und ihrem Bruder; „wißt ihr was, wir wollen euch
allein laſſen, wenn ihr wollt,“ fügt fie hinzu, dabei
Ramuntcho ein Zeichen gebend, als ob jie fich mit
ihm entfernen wolle.
„OD nein!* verfichert Arrochkoa, „er ſoll nicht hinaus⸗
gehen! Nein, nein, er ftört uns nicht im geringjten!. . .”
Und die junge, nad) mittelalterlicher Weiſe ver«
mummte Nonne ſenlt den Kopf nod) tiefer herab, um die
Augen im Schatten der düjteren Kapuze verftedt zu
halten.
Pierre Loti.
Die Thür bleibt offen. Die Fenſter bleiben offen,
Das Haus und alle Gegenftände bewahren ihr Aus
jehen völligen Vertrauens, völliger Sicherheit gegen
Entweihung oder Gewaltthat. Noch zwei andre, ſeht
alte Schweftern fommen herbei, rüden einen Heinen
Tiſch in die Mitte, deden für zwei Perſonen und
bringen für Arrodloa und feinen Freund ein Meines,
frugales Abendeſſen: Brot, Käſe, Kuchen und reife
Trauben von ihrer Gartenmauer. Sie richten dies
mit einer faft jugendlichen Fröhlichtkeit, mit fait find-
lihem Geplauder her, und alles bildet einen jonder«
baren Gegenjaß zu dem heikblütigen Ungeſtüm, das
jedoch ſchweigt und ſich zurüdgedrängt fühlt, — zuräd«
gedrängt mehr und mehr in die Tiefen der Seele,
gleihjfam wie durd) die dumpfen Schläge einer mit
weißem Filz bededten Seule. Wider ihren Wilen,
den Bitten nachgebend, jehen fich die beiden Freunde ju
Tiſch, einer dem andern gegenüber, und eilen jer-
ftreut die einfachen, auf dem blütenweißen Tiihtuh
ftehenden Speifen. Ihre breiten, an Laſten gemöhnten
Schultern drüden fi an die Rüdenlehne der Meinen
Stühle, und das ſchwache Holz kracht. Die Schweſtern
fommen und gehen ſtets mit demfelben leijen Gr
plauder und kindlichen Lachen, das etwas gebämpit
unter der VBermummung bervortönt.
Nur fie, die Schweiter Marie Angelila, bleibt
ſtumm und unbeweglid neben dem fihenden Bruder
ftehen und legt ihre Hand auf feine wuchtige Schulter.
Schlank und fein fteht fie da, gleich einer Heiligen
auf einem alten SKirchenbilde. Düfter beobachtet
Namuntcho die beiden. Er hatte vorher Graziellas
Geficht nicht genau jehen können, fo jehr umrahmt
und verjtedt es die Haube. Bruder und Schweſtet
gleichen fi) immer noch. In den langen, mandel-
förmigen Augen, die jedoch mehr denn je verſchieden
im Ausdrud find, bleibt etwas unerflärlich Achnlices,
leuchtet diefelbe Flamme, welche den einen einem aben-
teuerlichen Leben und der fteten Hebung der Mustel-
fraft, die andre myſtiſchen Träumen, der Kaſteiung
und Abtötung des Fleiſches entgegengeführt. Allein
fie ift ebenjo zart und ſchmächtig geworden, mie er
kräftig ift. Ihre runde Geftalt, ihre ftarfen Hüften
find gejchwunden, das ſchwarze Gewand fällt gerade
berab, wie eine Umbüllung, die nichts Menſchliches
mehr zu umgeben jcheint. Zum erftenmal jeht jehen
die Braut und der Bräutigam, Graziella und Ra
muntcho, einander ins Geſicht; ihre Augen find ein:
ander begegnet. Sie jenft nicht mehr den Kopf vor
ihm, aber es ift, als ob fie ihn aus weiter Fernt
anfähe, wie hinter einem unüberiteigbaren weihen
Nebel, wie jenjeit$ eines Abgrundes, jenfeits det
Todes. Sanft giebt ihr Blick zu verftehen, dab fie
wie abweſend ift, emtrüct in ftille und unnabbare
ferne. Und ſchließlich Ichlägt Ramuntcho befiegt die
feurigen Augen vor dem jungfräulichen Blid nieder-
Namuntdo.
Die Schweitern jeken ihr Geplauder fort. Sie
möchten beide jungen Leute für diefe Nadt in
Amezqueta zurüdhalten; das Wetter, jagen fie, fei
jo drobend .. . Der Herr Pfarrer, der ins Gebirg
gegangen jei, um einem Kranken das heilige Abend»
mahl zu bringen, wird bald wiederkehren; da er
Urrodhloa von Etchözar her, wo er als Kaplan war,
fannte, würbe er fid} freuen, ihm und natürlich feinem
Freunde ein Zimmer im Pfarrhauſe anzubieten,
Aber Arrochloa ſchlägt es ab, nachdem er Ra—
muntcho einen ernten, Fragenden Blick zugemorfen.
Unmöglich, hier zu ſchlafen. Sie wollen jogar jeht
aleih nad) einigen Minuten wieder abreifen, benn
man erwartet fie an der ſpaniſchen Grenze.
Graziella, die anfangs in ihrer entjeglichen Vers
wirrung fein Wort heruorbringen konnte, richtet nun,
bald in basliſcher, bald in franzöfiicher Sprache
alleriei Fragen an den Bruber und erkundigt ſich
nad) denen, bie fie auf immer verlaffen:
„Und die Mutter? Ganz allein jet im Haufe,
logar des Nachts?“
„D nein,” jagt Arrochloa, „die alte Hatharine ift
jept ftet8 bei ihr, und ich habe angeordnet, daß fie
im Haufe ſchläft.“
„Und bein Kind, Arrochfoa, wie jieht es aus?
Iſt es ſchon getauft? Wie heit e8? Laurent wahr»
ſcheinlich, wie fein Großvater ?”
Etchözar liegt etwa jechzig Kilometer von Amez⸗
queta entfernt; dieſe Gegend hat jedoch immer
noch jo wenig Verbindungen wie in früheren Jahr-
hunderten.
„D, obgleich) wir jo weit auseinander find, höre
ih doc manchmal von euch. So zum Beifpiel im
vergangenen Monat haben Leute von hier auf dem
Markte in Hafparren frauen aus Eidyezar ans
getroffen, und jo erfuhr ich mancherlei . . . An Oftern,
weißt du, hatte ich gehofft, dich zu ſehen, — ich
wuhte, daß in Erricalde ein großes Ballfpiel fei und
dab du hinkämeſt. Ich dachte, du werdeſt vielleicht
bis zu mir reifen — und während ber zwei Feſttage
ſchaute ich oftmals auf die Strafe, hier durch dieſes
Fenſter, ob ich dich nicht kommen fähe.”
Sie deutet dabei auf das weit offenftehenbe Fenſter,
durch welches man in die Nacht der wilden Gegend
fieht. Unendliche Stille Tiegt darüber ausgebreitet,
bie und da nur hört man leijes Frühlingsrauſchen
und die Heine, öfter ausſetzende Muſik der Grillen und
Laubfröjche.
Als Ramuntcho fie jo ruhig reden hört, bleibt er
ſchier vernichtet dor dieſer vollftändigen Entfagung,
und fie erfcheint ihm noch unmwiderruflicher verändert
und entrüdt... Arme, Heine Nonne, Einjt hieß fie
Graziella — jebt wird fie Schwefter Marie Angelifa |
genannt und bat feine Familie mehr... Unperfön«
lich Tebt fie nun in dem Heinen Haufe hinter den
687
weißen Wänden, und ohne irbiihe Hoffnung und
vielleicht ohne Wünfche, ala ob fie ſchon in das Neid)
des großen Vergefiens, des Todes verjeht jei. Doch
jet lächelt fie, fie ſcheint auf einmal heiter zu fein
und fein Leid zu fühlen... Arrochkoa fieht Ramuntcho
mit jeinem durchdringenden Blid, gewohnt, die
Ihwarzen Tiefen zu ergründen, fragend an. Auch
er ift befiegt durch biefen unerwarteten Frieden und
begreift wohl, dab fein jonft fühner Kamerad nichts
mehr wagt, dab feine Pläne wanfen, daß alles un—
haltbar und leblos vor der unfichtbaren, feine Schweiter
umſchließenden Mauer zuſammenſinkt.
Auf Augenblicke wird er ungeduldig und möchte
auf die eine oder andre Art der Sache ein Ende
machen, — ben Zauber brechen oder ſich ihm unter—⸗
werfen und vor ihm fliehen. Er zieht ſeine Uhr hervor
und ſagt, daß wegen der Kameraden, die dort drunten
warten, es höchſte Zeit ſei, weggugehen . .. Die
Schweſtern erraten wohl, wer dieſe Kameraden ſind
und weshalb ſie warten; allein es ficht ſie nicht an.
Selbſt Baslinnen, Töchter und Enlelinnen von
Basken, haben ſie Schmugglerblut in den Adern und
betrachten dieſe Art Geichäfte mit Nachſicht.
Endlich ſpricht Graziella Ramuntchos Namen aus;
jedoch wagt ſie nicht, ſich direkt an ihn zu wenden,
ſondern fragt ruhig lächelnd den Bruder:
„Da iſt Ramuntcho alſo jegt mit dir? Iſt er
wieber im Dorf anjälfig, und arbeitet ihr zufammen ?”
Mieder lange Stille. Arrochkoa ſieht Ramuntcho
an, in der Erwartung, daß er antworte,
„Rein !* jagt diefer, langiam und büjter; „nein!
denn ich reife morgen nad) Amerifa! . .*
Jedes ſcharf betonte Wort dieſer Entgegnung
flingt wie Aufruhr und Herausforderung mitten in
bie ſeltſam friedliche Stimmung hinein.
Die Meine Nonne ſtützt ſich flärfer auf bes Bruders
| Schulter, und Ramuntcho, wohl fühlend, mit welch
ihwerem Schlag er getroffen, betrachtet und ver-
ſchlingt fie mit feinen verführeriihen Angen, bie
wieber Mut faſſen und anziehend und gefährlid) find
im legten Anlauf feines liebeerfüllten Herzens, jeines
ganzen, jungen, feurigen, fir Zärtlihfeit und Lieb—
kojung geſchaffenen Weſens. Während einer Minute
Unentjchloffenheit ift es, als ob das Kloſter zittere
und die weißen Mächte in der Quft weichen und ver—
dunften gleich unbeftändigem Rauch vor dem jungen
Bändiger, der bierherfam, um den Zriumphruf
des Lebens erſchallen zu laſſen.
Und das nun ſich wieder einſtellende Schweigen
iſt das tieffte von allen, die ſchon dieſes nur mit
halben Worten oder faſt ohne Worte gejpielte Drama
unterbrochen haben.
Endlich jpricht die Schweiter Marie Angelita zu
Ramuntcho ſelbſt. Wahrlich, man jollte nicht deuten,
daß ihr Herz einen lekten Schlag bei der Unfündigung
688
Pierre 2oti.
dieſer Abreiſe erlitt, noch daß ihr ganzer jungfräu« | veriüßtes Lebewohl gejagt. Aber mein! Er bleibt
licher Körper unter dem Blick des Geliebten erzitterte.
Mit einer Stimme, die nad und nad) einen fanft-
mütigen Ausdrud befommt, jpricht fie von ganz ein=
fachen Dingen wie zu irgend einem beliebigen fyreunde:
„Ah, ja... der Onkel Jgnacio, nicht wahr?
Ic) hatte mir immer gedacht, daß Sie ihn dort drüben
auffuchen würden... Wir alle wollen die heilige
Jungfrau bitten, Sie auf Ihrer Reife zu begleiten.”
Und abermals ift e8 der Schmuggler, der das
Haupt jenft, wohl fühlend, daß alles vorbei, daß die
Kleine Gefährtin feiner Kindheit verloren it — auf
immerdar — daß fie unter einem unantaflbaren
Leichentuch begraben liegt.
Die Worte der Liebe, der Lodung, die er zu
fagen gedachte, die Pläne, die ſchon jeit Monaten
in feinem Kopfe reiften, das alles jchienen ihm jeßt
tolle, frevelhafte, umausführbare Dinge, Kinder-
prahlereien. Arrochloa, der ihn aufmerfjam beob⸗
achtet, unterliegt übrigens demjelben unwiderſtehlichen
Zauber ; beide verftehen ſich ohne Worte und geftehen
fi ein, dab bier nichts zu machen ift, daß fie es
niemal® wagen würden...
Doch ein noch menſchlicher Schreden zuckt durch
die Augen der Schweſter Marie Angelita, als
Arrochtoa ſich zum Abichied erhebt... Sie bittet
mit veränderter Stimme um einige Minuten Aufs
ihub, und Ramuntcho ift plötzlich von heißem Ber-
langen ergriffen, ſich ihr zu Füßen zu werfen, mit
dem Kopf den Saum ihres Schleierd zu berühren,
alle Thränen, die ihm beinahe erftiden, auszuweinen,
fie um Gnade zu bitten; ebenjo dieje fanfte Oberin,
— ihnen allen zu jagen, daß dieſe Braut feiner
Kindheit jeine Hoffnung, fein Leben, jein Mut, fein
Alles war; daß man Barmherzigkeit ausüben joll,
fie ihm wiedergeben, weil er außer ihr nichts befipt.
Alles unendlich Gute, das in feinem Herzen liegt,
begeiftert ſich jet zu dem einen Wunſch: flehend zu
bitten, — zu einem Anlauf inftändigen Gebet? und
auch des Vertrauens in die Güte und das Mitleid
der andern,
Und wer weiß, o Gott! Wenn er es gewagt
hätte, das große Gebet reiner Liebe auszujprechen ?
Wer weiß, wie viel Gutes, wie viel menſchliche Herz-
lichleit auch bei den armen Mädchen mit den ſchwarzen
Schleiern erwedt worden wäre? Bielleicht hätte ihm
die alte Oberin, die alte, ausgetrodnete Jungfrau
mit dem kindlichen Lächeln und den biederen, hellen
Augen die Arme wie einem Sohne geöffnet, alles
begreifend, alles verzeihend, troß der Klofterregel, trotz
der Gelübde! Vielleicht wäre es möglich geweien, Gra-
ziella ohne Entführung, ohne Betrug, von ihren
lojtergefährtinnen fait entjhuldigt, wieder zu er—
langen. Oder wenigjtens hätte fie ihm dod ein
etztes, tröftliches und durd) einen Kuß reiner Liebe
ſtumm. Sogar dies, jogar dieſes Gebet fann er
nicht hervorbringen, und der Nugenblid des Abſchiede
naht. Arrochloa fteht auf, jcheint erregt und madıt
ihm ein gebieterifches Zeichen mit dem Kopfe. Da
erhebt auch er feine ftolze Geftalt und ergreift jein
Barett, um dem freunde zu folgen.
Sie danten für dad Abendejlen und jagen halb»
laut und ſchüchtern gute Nacht.
Im ganzen find fie während der furzen Dauer
ihres Beſuchs ſehr korreft, jehr ehrfurdhtsvoll, beinahe
zaghaft geweſen; und als ob nicht alle Hoffnung ſo⸗
eben zerronnen wäre, als ob der eine nicht jein Lebens
glüd hier zurüdgelaffen hätte, fteigen fie ruhig die
jäuberliche Treppe zwifchen den weißen Wänden hinab,
und die guten Schweitern leuchten mit der Eleinen
Sampe.
„Kommen Sie, Schweiter Marie Angelika,‘
ſchlägt die alte Oberin mit ihrer dünnen Kinder:
flimme munter vor, „wir wollen beide hinunter
begleiten, bis ans Ende unjer3 Baumganges, Sit
wifien wohl, bis zur Biegung, die zum Dorfe führt..."
Iſt fie denn eine alte, ihrer Macht ſichete fr,
oder jpielt fie nur unbewußt mit dem verzehrenden
Feuer?
Es war zu Ende! ... das herzzerreißende pfer
gebradit! Der Abichied entſchieden, der Kampf erftidt.
Jetzt gehen die zwei, die ſich anbeteten, nebeneinandr
draußen in der warmen Frühlingsnacht, in der ein
ſchmeichelnden, lieblihen Nacht, unter den friſchen
Blättern, durch das hohe Gras mitten im der über:
wältigenden Pracht des Lenges, wo überall die Leben!
fäfte emporquellen. ;
Langſam, mit Heinen Schritten gehen fie durch
die entzückende Dunkelheit, als wären fie ſtillſchweigend
übereingelommen, den Weg länger dauern zu lafjen;
beide find ſtumm, voll heißen Verlangens und zu⸗
gleich großer Furcht vor einem Anftreifen ihrer Meider
einer Berührung ihrer Hände. Arrochkoa und die
Oberin folgen ihnen auf dem Fuß; — auch ſie reden
fein Wort,
Die Nonnen auf ihren Sandalen, die Schmuggler
auf den Schnurfohlen gehen geräufchlos wie Geipenfter
durch die milde Nacht. Still wie bei einem Ber
gräbnis fommen die jungen Leute mit dem ſeltſamen
Gefolge langjam an den Wagen heran. Still ift et
auch ringsum, überall in dem großen Dunkel bit
tief in Berg und Wald hinein, und an dem ſternen ⸗
lojen Himmel ſchlummern die großen, ſchweren Wolfen
voller befruchtender Waſſer, nad) welden bie Erde
fi) fehnt und die morgen herabfallen werden, um
den Wald noch ftärfer zu beleben, das Gras noch
üppiger, noch höher emporſchießen zu laſſen. Die
ſchweren Wolfen über ihren Häuptern bededen die
ganze ſüdliche Frühlingspracht, die fie jo oft in ihrer
—
Ramuntcho.
Kindheit entzückte, bie jedoch Ramuntcho wahrſcheinlich
niemals wieder ſehen wird und welche Graziella in
Zukunft nur mit den Augen einer Toten anjehen
muß, ohne fie in ſich aufzunehmen, ohne fih an ihr
zu erfreuen,
Weit und breit ift niemand zu jehen, und weiter
unten ſcheint das Dorf ſchon eingeichläfer. Die
Nacht iſt hereingebrochen, geheimnisvoll hat fie ſich
über alles ergoſſen — über die Fernen des einſamen
Landes, über die Berge und die wilden Thäler ...
Wie leicht wäre jeht das Vorhaben der beiden
jungen Männer in diefer Einiamfeit, mit dem Wagen,
der ganz nahe von bier fteht, und mit dem rajchen
Pferde auszuführen! Doch ohne ein Wort geredet,
ohne ſich berührt zu haben, kommen Die Liebenden
an diefe Biegung des Weges, wo Abjchied auf ewig
genommen werden muß. Ber Wagen ift richtig hier,
ein Heiner Junge hält das Pferd, Die Laternen
find angezündet, das junge Tier ift ungeduldig. Die
Oberin bleibt ftehen :
Sie find jebt, jo ſcheint es, am äußerften Ziele
des legten im dieſer Welt nebeneinander gemadten
Ganges, und die alte Nonne fühlt ſich mächtig genug,
ohne Widerruf darüber zu entjcheiden.
Mit derjelben feinen Flötenſtimme und beinahe
fröhlichem Zone fagt fie:
„Nun, Schwefter, nehmen Sie jeht Abſchied!“
Sie ſpricht es mit der Sicherheit einer Parze
aus, beren Beichlüffe über Leben und Tod unanfedht-
bar find,
In der That, niemand verjucht ed, ihrem mit
io viel Gelafjenheit erteilten Befehl zu widerſtehen.
Der rebelliihe Ramuntcho ift befiegt, — völlig
befiegt durch die ftillen, weißen Mächte. Ritternd
nach dem dumpfen, in feinem Innern vor ſich ger
gangenen Kampfe fenlt er das Haupt, — willenlos
jet, beinahe ohne Gedanken, wie wenn er unter
dem Einfluffe irgend eines einichläjernden Zauber«
trantes jei.
„Nun, Scwefter, nehmen Sie Abſchied,“ hatte
die alte, ruhige Parze gelagt, und da fie fieht, daß
Graziella Arrochtoa nur die Hand Hinreicht, fügt
fie Hinzu:
„Wie? Sie füllen Ihren Bruder nicht?”
Freilich, der Meinen Schweſter Marie Angelifa
wäre es lieb gewejen, den Bruder von ganzem Herzen,
von ganzer Seele zu küſſen, ihn zu umichlingen, ſich
an jeine jtarfe Bruft zu werfen und dort Schut zu
ſuchen, jeßt zur Stunde des übermenfchlichen Opfers,
wo fie den Heißgeliebten ohne ein herzliches, liebe-
volles Wort jcheiden laſſen muß... Und bennod
liegt in ihrem Kuß eine jeltfame, erfchrodene Zurüd-
haltung : ber Kuß einer Nonne ift gleichfam der Kuß
einer Toten ... Wann wird fie den Bruder, der
das Baslenland nicht verläßt, wiederjehen? Wann
Aus fremden Zungen. 1897. IE 15.
689
wird fie Nadhriht von der Mutter, vom Haufe, vom
Dorfe, durch irgend welche Borüberziehenden, die in
Etchöjar waren, erhalten?
Sie wagte ed nicht einmal, Namuntcho ihre
Meine Hand zu reihen, und läßt fie am ſchwarzen
Rode über die Perlen des Rojenfranzes herunterfallen.
„Wir werben beten,“ jagt fie nochmals zu ihm,
„daß die heilige Jungfrau Sie auf der langen Reife
beſchützen möge.”
Seht gehen ſie fort ; langſam, gleid) ftillen Schatten,
huſchen fie zurüd, dem bejcheidenen, vom Kreuze be=
hüteten Mlofter zu; und die zwei Beſiegten, unbetveg-
lich ftehen bleibend, fehen im dunfeln Baumgang
ihre Schleier, die jchwärzer als die Nacht der Bäume
find, nad) und nad) verſchwinden. Ad, auch fie, die
bort broben in ber Dunkelheit des fchattigen Aufgangs
fich entfernt, ift ganz gebroden!...
Uber nichtsdeftoweniger wird bie weiße, beruhi-
gende Atmofphäre des Mlofters fie gleihfam unem-
pfindlich machen, und ihr ganzes Leid wird bald durch
eine Art Einjhläferung beſchwichtigt ſein. Morgen
wird fie wieder, und jo weiter bis zu ihrem Tod, den
jeltfam einfachen Lebenslauf fortjegen: unperſönlich
einer Reihenfolge täglicher Pflichten nachlommen, die
ſtets diefelben find, und aufgehen in einer Gemein»
haft von Wefen, die allem entjagt haben, — und
jo kann fie erhobenen Hauptes dem fühen, himmlischen
Zraumbild entgegengeben ...
O crux, ave, spes unica!
Ohne Wandel oder Raſt bis zum Ende zwiichen
den weißen Mauern einer Slofterzelle leben, bald
hier, bald anderswo, frembem Willen anheim«
gegeben in irgend einem dieſer bejcheidenen Doris
föfter, wo ihnen nicht einmal vergönnt ift, Wurzel
zu faſſen — nichts auf der Erde beſitzen, nichts
wünſchen, nichts erwarten, nichts hoffen! Die flüchtigen
Stunden diefer Welt als eitel und vergänglich an«
ſehen und fi von allem befreit fühlen, ſelbſt von
der Liebe — als jei der Tod Schon darüber hingegangen.
Das Geheimnis eines foldyen Lebens ift wohl
dazu angethan, die noch daftchenden jungen Leute
ju verwundern — fie, die für den Kampf des Da-
ſeins ausgerüftet find, — lebensfrifhe Menjchen,
duch ihren Inſlinkt fowohl als ihre Sraft dazu
geſchaffen, das Leben zu genießen, es zu lieben und
es zu erweitern,
O crux, ave, spes unica!,.. Man ficht fie nicht
mehr, fie find in ihr friedliches Klofter zurückgekehrt.
*
Die beiden tauſchen fein Wort über das auf-
gegebene Unternehmen und über die ihnen jelbft nicht
far gewordene Urjache aus, welche zum erjtenmal
ihren Mut ins Wanken gebradt. Sie jhämen ſich
ſchier voreinander wegen biejer plößlichen, unüber-
windliden Zaghaftigfeit.
87
690
Eine Weile noch waren ihre ftolgen Köpfe den
langiam fliehenden Nonnen zugewandt, jetzt jehen fie
fi in der Dumfelheit an. Auch fie trennen fich num,
und wahrſcheinlich für immer. Arrochloa giebt jeinem
Freunde die Zügel des Heinen Wagens, den er ihm,
feinem Verfprechen gemäß, leiht.
„Ceb wohl, mein armer Ramuntcho!“ fagt er
mit mitleidigem, aber faum berzlihem Ton. Und
das unausgefprochene Ende des Sahes joll klar und
deutlich heißen: „Geh, da dein Streich mißlungen,
und mich, du weißt, die Zeit drängt, die Kameraden
erwarten mid)...“
Namuntho hätte ihn gern von ganzem Kerzen
bei diefem legten Abjchied gelüßt und in biefer Um—
armung des Bruders der jo innig geliebten Braut
feiner Jugend ohne Zweifel heiße Thränen geweint,
die ihm, für einen Augenblid wenigftens, wohlgethan
hätten.
Aber nein! Arrochkoa ift wieder der Arrochloa
der jchlimmen Tage geworden, der gewandte Ballipieler
ohne Seele, der nur die Kühnheit bewundert, und
zeritreut reicht er Ramuntcho die Hand:
„Wohlan, auf Miederjehen! Viel Glüd zur Reife!“
Und geräuſchlos eilt er bei der günftigen Duntel«
heit zum Stelldichein der Schmuggler, der Grenze zu,
*
Namuntho, jetzt allein auf der Welt, treibt
jein Meines Gebirgspferd mit der Peitiche an, und
mit leichtem Schellengeraflel eilt es fort. Inſtinktiv
ipornt ihn etwas an, den durch Aranok kommenden
Zug, das in Bordeaur abjegelnde Dampfboot nicht
Pierre Loti. — Namuntdo.
zu verfehlen. Gleich einer Majchine beeilt er ih, ohne
nur zu willen warum — wie ein feelenlojer Rörper
ohne Seele, der fortfahren würde, einem früher ger
gebenen Antrieb zu gehorchen; und jehr raid) dringt
er, der doch ohne Ziel, ohne Hoffnung in der Weltift,
in die wilde Gegend ein, in das Didicht der Wälder,
in das ganze tiefe Dunkel der Mainacht, welde die
Nonnen von ihrem hohen Fenfter aus ringsum jehen
fönnen.
Für ihn ift alles zu Ende — zu Ende für al
Zeit! Zu Ende find die entzüdend jühen Träume
feiner erften Jahre. Er ift jet eine aus dem batti-
ihen Boden entwurzelte Pflanze, die ein Wind von
ungefähr anderswohin treibt, In der Gtille dei
eingejhläferten Waldes Mingen am Halſe des Pferdes
munter die Glödlein. Der eilig dahinfliegende Schein
der Laterne zeigt dem traurigen Flüchtling die untern
Zweige, das friſche Grün der Eichen und am Rand
des Weges die Blumen der Heimat, hie umd da die
Mauern eines befannten Dorfes, eine alte Kirde —
lauter Dinge, die er niemals wiederjehen wird, «
fei denn im fpäten, ungewiſſen Alter.
Vor ihm liegt Amerika, die Verbannung, vieleiht
ohne Rücklehr, das unendlih Neue voller Lieber:
raſchungen, ein ganzes, langes Leben mit dem Leid
einer zerriffenen Seele, bei welchem er jeine Kraft
ausgeben und erjchöpfen wird — Gott weiß wo, in
ungeabnten Arbeiten und Kämpfen...
Dort oben in ihrem Meinen Kloſter, in ihrem
Grab mit den weißen Wänden, jagen die ftillen
Nonnen ihr Abendgebet ber...
O crux, ave, spes unical...
Modernes Syſtem.
Bon Auguft Strindberg.
Aus dem Schwediſchen überfegt von Otto Hauſer.
Es ftand die alte Hänferreih
Und ranbte alles Kicht den andern,
Da roh fie Männer einft herbei
Mit Brechgeräten munter wandern.
Bald wallte Staub
Und, längjt ——
iel von der Wand
er Mörtel, der
Nicht widerftand.
Die Stange ſtieß,
Es hieb der Karft,
Bis an ganz
Die Maner barft.
if
Die Zan
Das 3—
Das Dach, es fiel,
Der Scornftein nad.
Don Haus zu Baus
Ging's wer fort;
Was alt und morſch,
Man brach es dort.
Da geht vorbei ein alter Mann
Und * das Treiben tief bekümmert;
Nun bleibt er es ficht ihn an,
Daß man die Häuſer hier zertrümmert.
„Bier werden Dillen wohl erftehn?
Sagt an, mein freund! Ich will es hoffen.”
„Kein Baumerf foll man hier mehr jehn!
Der Platz bleibt unbebaut und offen!“
Ihr reift nur nieder, banet nicht,
Ihr wollt nur brechen, wollt nur töten — —!"
„Ja, meint Ihr denn, daß £uft und Licht
Nicht ebenfo uns find vonnöten?!"
m
Viener.
Vier Porträts
bon
I. A. Gontſcharow.
Aus dem Ruſſiſchen überfeßt von A, Ollchwang und G. Kryzanowski.
IV.
Matftwei.
Rt hatte von jeher und unter allen Umjtänden
einen Widerwillen gegen Trunfenbolde, und gerade
mir war e& bejchert, fie um mich dulden zu müfjen.
Id) fam denn auch in dieſer Zeit nicht zur Ruhe, denn
befanntlich ift die Trunffucht ein intermittierenber
Bahnfinn, der zuweilen gefährlich wird und in un—
erwarteten Rataftrophen ausbricht, — wie das bei
Anton teilweife der Fall war — wenn er nicht nod)
größeres Unglüd herbeiführt.
Diejer Zuftand dauerte über zwei Jahre. Ich
wollte mich um jeden Preis von meinem Hausjoch
bejreien. Zu dem Zwecke galt e& aber vor allem die
Frage zu löfen, wo ein nüchterner Diener zu finden
fi. Beiorgt und traurig begab ich mich zu meiner
Freundin Anna Petrowna, der Eheftifterin.
„Barum laſſen Sie fi fo lange nicht jehen?*
Mit diefen Worten kam fie mir entgegen. „Und
warum jo unfroh ?” fügte fie hinzu.
Stillſchweigend ließ ich mich neben fie und ihren
Arbeitstiih auf den Diwan fallen.
„Wie fann ich froh fein,” verſetzte ich unmutig,
„einig in Sorgen, wie ich mir meine Häuslichfeit ein«
richten joll, um mid) ihrethalb nicht quälen zu müſſen?
Um nicht beftändig in Angft zu leben, daß bei mir
Feuer aus» oder ein Dieb einbricht, oder daß mein
Diener ſich betrintt? Mich beichäftigt nur noch
eins —*
„Und was?“ fragte fie, mir forſchend in Die
Augen blidend, „Sie haben ein Anliegen?“
„Allerdings. Ich fuche ein Phänomen —“
„Ad!“ fuhr fie plöplih auf. „Da haben Sie's
aber gerade jekt gut getroffen." Sie legte ihre
Stiderei weg und rüdte näher zu mir. „Denen
Sie nur: da habe id} gerade ein wahrhaftiges Phä-
nomen — Schönheit, Anmut, Erziehung — und
wos für eine Seele, was für ein Herz!*
„Und trinkt nicht?” fragte ich zerftreut und lachte
elber dazu. „Unmoglich!“
— — — —— ———— — — —
„Was meinen Sie? Was für ein Phänomen
brauchen Sie?“ Ihr Ton war mit einemmal kühl
geworben, Zugleich rückte ſie etwas weiter weg.
„IH braude einen nüchternen Diener, der durch—
aus nicht trinft, Ich bezweifle, dab es einen foldhen
giebt. Und darin befteht mein Summer, meine Sorge,”
Sie antwortete nicht jogleih. Dann ftimmte fie
ihr altes Lied an: „Heiraten Sie! Dann... .*
„Dann wird die Dienerfchaft nicht trinken, meinen
Sie?“
„Denigftens werden Sie nichts davon merken:
ift der Lakai fort und beirinft fi, fo tft der Koch
da oder bie Köchin oder das Stubenmädchen. Das
Haus wird nie leer ſtehen.“
„Alſo ih muß außer der Frau noch eine Köchin
oder einen Koch ober ein Stubenmädchen heiraten!
Diel Dienftboten, viel Feinde! Nein, Anna Petrowna!
Aber Scherz beifeite! Wiſſen Ihre Leute keinen ſolchen
Diener? Ihr Haushalt ift groß, Ihre Familie zahle
reich, es giebt eine Menge Leute bei Ihnen, und dieſe
Leute haben vielleicht Belanntichaften. Wenn ſich ein
jolches Phänomen findet, ich jehe einen Preis aus,”
„Gut, ich werde jehen und vorfommenden Falls
Ihnen Mitteilung mahen. Fragen Sie in drei
Tagen bei mir an! Außerdem aber kommen Sie
Mittwoch zu Tiſch! Katerina und Jwan Karlowitſch
werden ba fein. Wir werden Whift jpielen. Unter
deſſen werde id) mid) erfundigen.“
Ih ging. Aber noch vor Mittwoch fam eines
Morgens der Büffettdiener Anna Petrownas zu mir,
ein alter, jolider Domeftif mit grauen Haaren und
von würdigen Ausjehen.
„Komme von Anna Petrowna,“ jagte er, „Sie
lafjen grüßen. Beliebten zu fragen wegen eines
Dieners, der nicht trinkt?“
„sa. Giebt's denn jo einen?” fragte id).
„Gewiß!“
„Das heißt, er trinkt nicht viel?“
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— — u 2.
692 J. U Gontiharom.
„Nichts! Nicht einen Tropfen nimmt er in den
Mund, nur —*
„Nur Waller? Sagen Sie mir aufrichtig: ift er ein
Grobian oder ein Faulenzer oder ftiehlt er vielleicht ?“
„Nein, nein!“ antwortete lächelnd der Büffett-
diener. „Nur... wenn Sie ihn anjehen, jo werden
Sie ihn nicht nehmen. Er ift viel zu komiſch.“
Ich wunderte mid.
„Komiih? Inwiefern komiſch ?“
„So! Er ift viel zu komiſch.“
„Im Ausjehen? Was?“ fragte id.
„Auch im Ausjehen, und überhaupt — er jpricht
lomiſch und macht nichts wie andre Leute.“
„Nun, und wie iſt's mit dem Bedienen? Kann
er Zimmer aufräumen, Thee auftragen, Kleider und
Stiefel pußen, mit einem Wort, kann er das, was
ein Diener fönnen muß?“
„Das kann er. Und warum nit? Gr ift bei
feinem Herrn lange Zeit Bedienter gewefen. Er tft
ein Leibeigener. Bis jept, glaub’ ich, ift er noch
nicht frei. Nur lomiſch ift er und außerdem jo —
jo — gierig — *
„Wie? Aufs Eſſen?“
Der Büffettdiener lachte: „Ad wo? Er ift ja
gar nichts.”
„Wie, er ißt nichts? Nun, das nenn’ ich mir
wahrhaftig ein Phänomen.”
„Geldgierig ift er. Er ſpart.“
„Nun, das ift fein Unglüd. ‚Geiz,‘ jagt man,
‚ift feine Dummheit.‘ Wenn er fein Gelb hütet und
fein fremdes nimmt —“
Der Büffettdiener lachte wieder: „Ah wo? Der
wird lieber jein eignes geben als fremdes nehmen.
Nein, er ift ehrlich, durch und durch ehrlich," fügte
er ernfthaft hinzu. „Nur fomifch ift er. Er hätte
verfchiedene Stellen haben fünnen, aber wenn die
Herrſchaften ihm anfehen, nehmen fie ihn nicht. Wir
haben nad ihm geihidt, und wenn Sie wünjchen,
werben wir ihn herſchicken. Nur bezweifle ih, daß
Sie ihn nehmen werden. Er ift viel zu komiſch,
gnädiger Herr.“
„Bitte, jchiden Sie ihn. Ich werde ihn nehmen
— unter allen Umftänden — wenn er nur fein
Trinter iſt. Ih bin in diefem Augenblid ohne
Diener. Eine Frau aus der Nachbarſchaft beforgt
mir das Notwendigſte.“
Der Büffettdiener wollte gehen, bejann ſich aber
und jagte: „Ja, etwas babe ich vergeſſen. Matwej
— jo heit der Bewußte — ift fein Ruſſe. Er ift
aus Polen, und fein Herr lebt gleichfalls in Polen.
Doc Spricht Matwej nicht polniſch. Beten gebt er
in feine Kirche auf dem Newsky.“
„Nun, das ift mir gleih. Schiden Sie ihn ge—
fälligft fofort und danken Sie in meinem Namen
Anna Petrowna,. Ihnen jelbjt werde ich mid) noch
erfenntlich zeigen. Wenn er nicht trinkt und nicht
ftiehlt, ift er ein wahrer Schatz.“
Des andern Tags in aller Frühe erjchien bei mir
Matwej. Nach der Beichhreibung des Büffetidienert
war id) aufgelegt, zu lachen. Als ich jedoch den Ane
fömmling jah, erftarb mir das Lachen auf den Lippen.
Er war etwa fünfundvierzig Jahre alt, ziemlid
lang gewachſen und jpindeldürr, ein Menſch, der eben
vom Totenbette aufgeftanden jchien, nichts als Haut
und Knochen. Sein Kopf war Hein, die Augen ein-
gefunken, der Blid flier und ausdrudslos, der große
Mund ftand weit offen, als ob er ihn vor Schwächt
nicht ſchließen könne, die Baden hingen herab, das
ganze Geficht war von ber Farbe alten vergilbten
Handiduhleders, die ſpärlichen Haare von der einer
alten Baftmatte. Gelleidvet war er in einen langen
grauen, ganz abgetragenen Rod mit einem verſchoſſenen
Sammetlragen, Um den Hals hatte er einen alten
gehäfelten Shawl.
Mir wurde angft und bang bei feinem Anblid,
Er ſchien ſich faum auf den Beinen halten zu können,
Er jah mir gerade ins Geſicht, wobei er wie vor
Erjhöpfung mit den Augen blinzelte und ſchwer
aufatmete. Die Beine waren von den Knieen an
gleihjam nicht mehr fein eigen, fie fchienen über-
haupt feine natürlichen Beine, jondern aus Holz zu
fein, und die Arme paßten weniger zu einem menic-
lichen Körper als zu dem eines Orangelltan.
Komiſch? — Komiſch ift er micht, fondern bee
mitleidenswert,* dachte ich bei mir, als ich ihn anjah.
„Bilt du krank?“ fragte ich.
Er wachte ſozuſagen auf.
„Durchaus nicht!“ beeilte er fich, zu antworten,
„Ih bin, Gott jei Dank, gejund.“
„Warum bift du fo mager und bleih? Warit
du immer jo?*
Er lächelte breit. Seine Lippen zogen ſich aus
einander und zeigten fein blaſſes Zahnfleiih. Im
Unterkiefer fehlte ein Zahn.
„Wie ich nod) Mein war, war ich vielleicht anders,”
fagte er leije, mit einer wahren Grabesſtimme, und
zog dann mühjam den Atem ein. „Aber jeit ih
mich fenne, war ich immer jo wie jet.“
„Man jagt mir, daß du nicht trinkſt,“ fuhr ich fort,
„Nicht das mindefte. Ich habe nie getrunten und
trinfe aud nit — außer Thee und Waſſer.“
„Gut! Aber man jagt mir au, daß du nicht
ißt, und das ift nicht gut. Deshalb bift du auch
jo mager.“
„Nein, das kommt nicht daher,“ bemerkte er mit
traurigem Lächeln. „Das fommt von etwas anderm.“
„Woher denn?“
„I bin ftark geichlagen worden." — Er jah
mid) mit einem eigentümlich traurigen, fajt kranl-
haften Blid an.
Diener IV. Matwei.
„Geihlagen? Und von wen?”
Natürlich vom Herrn.”
„Wer ift denn der Herr?*
Er nannte einen polnischen Namen, den ich jegt
vergeffen habe. „Er war Militär, diente bei den
Hufaren,“ fuhr Matwei for. „Er nahm feinen
Burſchen, um das Geld zu jparen, ch diente bei
im ftatt eines Burſchen, und da ſchlug er mid),
O, er ſchlug mich tüchtig.”
Und als märe er völlig erjchöpft, atmete er
wiederum ſchwer auf, aus voller Bruft.
„Warum denn?“
„So! Es fiel ihm ein, und ba ſchlug er. Es ift
ja befannt: ein Herr darf für alles ſchlagen und
braucht für nichts Rechenſchaft zu geben. Trifft man
etwas nicht, jo fängt er an: mit den Fäuſten auf
den Kopf — auch mit den Füßen — oder au mit
dem Säbel oder mit dem Stiefel —“
Ich hörte mit Schaudern diejer Erzählung zu,
für deren Wahrheit fein Ausſehen nur zu deutlich
jeugte, Er ſprach weiter: =
„Manchmal war es unmöglich, mit ihm auf einem
unebenen Weg zu fahren. Da ſchmiß er mich vom
Bagen herunter und befahl mir, bis ans Fiel zu
Fuß zu laufen. Und fo bin ich mit der Zeit ſchwach
geworden. Dann nahm er ſich einen Burjchen vom
Militär, und mid) Tieß er gegen Kaution frei. Fünfzig
Rubel Hab’ ich Sicherheit geleiftet.*
AL dies erzählte er ſchwer atmend, mit ber
Stimme eined Sterbenden, indem er langjam die
Augen öffnete und ſchloß.
Ih hörte ihn mit tiefem Mitleid an. — „Mein
Gott, wie elend!“ dachte ich bei mir. „Und es giebt
Menſchen, die ihn komisch finden!”
„Ih habe immer noch vor, mic, freizufaufen,*
fuhr er fort. „Nur verlangt er viel: fiebenhundert
Kubel. Ich Habe ihm vierhumdert geboten. Aber er
nimmt fie nicht.“
„Haft du denn fo viel Geld ?* fragte ich.
„Seht nicht mehr, Ich Habe nicht ganz drei—
hundert übrig behalten,“ fügte er beinahe flüfternd
binzu. „Ich war lange Zeit ohne Dienft, mußte für
eine Schlafftelle bezahlen. Auch mit Ausleihen hab’ ich
jechzig Rubel verloren. Ich befomme fie nicht mehr.”
Er ſeufzte.
Ich werde aber wieder jparen und mich losfaufen,*
ſchloß er ziemlich lebhaft. Sogar feine Augen leuch—
teten auf. Man fah: es war fein innigiter Wunſch,
frei zu werben.
„Sp! Darum aljo bift du fo gierig nad) Gelb!“
dachte ich bei mir. „Du willft dir die Freiheit er-
faufen. Du Armer, Elender, Unglücklicher!“
„Uebereile dic) nicht!” jagte ich laut. „Vielleicht
wirft du auch umfonft frei. Man jpricht viel davon.“
Thatiählih war damals in den höheren Kreiſen
698
von der Aufhebung der Leibeigenichaft die Rebe,
Zwar wurde diefe Frage durch die politiichen Ereig«
nuiſſe, die fi in Europa abipielten, auf den zweiten
Platz zurüdgebrängt, aber darum nicht erftidt, und
die Gerüchte nahmen einen ziemlich beftimmten Cha—
rafter au, daß fich unter der Hand etwas vorbereite.
„Gott mit ihm, mit dem Herrn!“ ſchloß Matwej.
' „sch werde den Betrag erlegen, jobalb ich Gelb genug
jujammengeipart habe, Vielleicht hat der Herr auch
feine Rechte. Er ſoll aucd keine Papiere über und
in Händen haben, und doch läßt er uns nicht los.”
Er atmete ſchwer auf, der arıne Kerl,
„Wie fannjt du denn aber eine jo große Summe
erfparen?” fragte ih, „Vom Lohn kannt du's
ſchwerlich. Gar nichts efjen — das geht doch nicht.“
„Ich werde es verbienen, gnädiger Herr! Ein
Jahr, zwei — drei Jahre — Siebenhundert Rubel,
vielleicht noch mehr!“
„Auf welche Art?* fragte ich verwundert.
treibft doc fein Handwerk?“
„Durch Zinſen,“ verfehte er leiſe, mit einem
pfiffigen Lächeln. „Ich gebe Geld auf Pfänder, und
man zahlt dafür gute Zinfen, Zum Beifpiel, es
braucht einer fünfzig, fiebzig Rubel — und man
giebt mir manchmal drei Prozent für den Monat —*
„D, du elender Wucherer!” mollte ich jagen,
ſprach es jedod nicht aus. Er war jo beflagenswert.
Er firebte nad) Freiheit. Man mußte ihn entichuldigen.
„Wie kannſt du denn aber dienen?“ fragte ich
zweifelnd. „Bei mir giebt’3 zwar nicht allzuviel
Arbeit, Immerhin aber heit e8: Holz in den Ofen
thun, Feuer mahen, Zimmer aufräumen, Kleider
reinigen und fo weiter. Es kann vorlomnen, daß
bu Gänge zu machen haft. Und du bift jo hinfällig
— wie fannit bu das leiften?”
Zu meiner Verwunderung lebte Matwej bei dieſen
Morten plöglid) auf, als wäre er mit einem heil
kräftigen Wunderwaſſer beiprengt worden. Geficht
und Augen erhellten ſich, die Lippen zogen ſich zu
einem breiten Lächeln auseinander und ließen das
Zahnfleiich jehen. Er mujterte das Zimmer, die Möbel,
die Bücherichränte und bewegte Arme und Beine,
„Alles das kann id). Alles werde ich Ihun. Ein-
heizen, aufräumen, ſtleider pußen, den Samowar
richten, Thee fodhen, in den Laden gehen und Brot
holen — und wohin Sie mid) ſonſt ſchicken, alles
mögliche, alles, alles werbe ic) beſorgen.“ Er ſprach
nicht mehr mit der erloichenen Stimme von früher,
fondern feft und geläufig. Dabei machten Lippen
und Nafenflügel bei jedem Wort jeltfame, freisförmige
Bewegungen, und der ganze Kopf rührte und redie
fi) mit einem gewiſſen Selbftgefühl.
„Nun, das freut mid. Da haft du Geld, Geh
und hole deine Sachen!” jagte id.
Er trat zurüd,
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694
„Nein, gnädiger Herr! Dante ergebenft. Ich habe
mein eigned, Wie fann man denn... von borm«
herein... Ich Habe doch noch nichts verdient, und
für Sie ift es ein Schaden... Nein, nein,” ſagte
er und nahm zu meiner Verwunderung das Geld
nit. „In zwei Stunden bringe ich alles auf einer
Droſchke,“ ſchloß er.
Ic) zeigte ihm ſeine Kammer und meine Zimmer,
„Das ift dein, und das mein Gebiet. Halte alles
ordentlich und rein! Gehſt du oft aus?“
„Nur in die Kirche — am Sonntag — und aud)
nicht an jedem. Sonft nirgendähin.”
„Haft du Belannte?“
„Ih habe einen verheirateten Gevatter. Er
fommt aber nur jelten zu mir, vielleicht einmal im
Monat, nicht öfter. Sonft niemand.”
„Hier ift meine Wäſche — dies der Mleiderfchrant.
Dort im andern Zimmer ift das Geſchirr und das
Silberzeug.“
„Bitte, ein Jerefter.*) Ich will alles nachſehen
und übernehmen,“
„Ich habe fein Negifter. Ich vertraue dir,“
„Nun, jo werde ich jelbjt alles aufjchreiben.
Ohne Jerefter geht es nicht. Gott behüte! Es kann
etwas verloren gehen.“
Damit entfernte er fi, die Beine jpreizend wie
Stelzen. Es folgte nun, nachdem Matwej fich felber
eingerichtet hatte, eine jorgfältige Nevifion meiner
Habjeligfeiten, die zwei volle Tage in Anſpruch nahm.
Und alles jchrieb er auf: Wäſche, Kleider, Silber-
laden, Geſchirr, ohne auch nur ein Tellerchen zu
vergeſſen. Das Verzeichnis aber verjah er mit jeiner
Unterſchrift: „Uebernommen an dem und dem Tage
— Matwej.“
Dieſes „Jereſter“ überbrachte er mir. Ich wollte
es in den Papierkorb werfen, Matwej aber machte
ein jo flehentliches Geficht und bat mich mit jo Häg-
lihem Ton, es dod) durchzuſehen und in die Tiſch—
lade zu verjchließen, dab ich ihm wenigitens mit dem
legteren feinen Willen that. Zur Durchſicht jedoch
konnte ich mich nicht entjchließen.
„Wenn etwas verloren geht oder zerbrochen wird,”
drang er in mich, „jo belieben Sie, es auf dem
Derefter anzumerken. Und wenn ich etwas zerbredhe
oder verliere, jo ziehen Sie e8 mir, bitte, von meinem
Lohn ab!”
„Wenn du mid mit jolden Kleinigleiten plagft,
jo werde id) dein Jerefter in Fetzen reifen, hörft bu?
— ch) gebe dir volle Freiheit, Gefchirr zu zerbrechen
und Sachen zu verlieren, und werde dafür nie
einen Groſchen von dir verlangen. ch bitte dich
nur eins: trinke nicht!”
„In diefer Beziehung jeien Sie ruhig, gnädiger
*) Regifter,
I. Gontſcharow.
Herr!“ jagte er, mir mit feinem breiten Lächeln das
ganze Zahnfleiſch zeigend.
„In diefer Beziehung? Und in welcher Beziehung
nicht?" dachte ich bei mir.
Während der nächften Tage beobachtete ic) ihn
aufmerfjam und fand, da er eine Art Doppelweien
war. So, wie er gewöhnlich dafland: mit offenem
Munde, ſchwer atmend und mühjam rebend, machte
er den Eindrud eines völlig erichöpften, todmüden
Menſchen. Bei gewiſſen Anläfien jedoch war es, alt
ob er aus dem Schlafe erwachte oder Lebenszeichen
von ſich gäbe.
Jeden Abend aber legte ich mich mit dem Zweifel
nieder, ob er den kommenden Tag nod erleben
werde, Ich gab ihm unter anderm die Weifung, in der
Wohnung früh morgens aufjuräumen, jolange ih
noch im Schlafzimmer jei.
Am nächſten Morgen hörte ih, eben im Begriff
aufzuftehen, nebenan einen furchtbaren Tumult: ein
Schleppen, Schieben, Poltern, Stürzen — dann
ſchlug etwas mit Gellire zu Boden.
Ih ftede den Kopf durch die Thür, und wei
fehe ih? Mein Matwej ohne Rod, im der Weite,
die ungelenfen Beine auseinandergefpreijt und die
langen Arme ausgeredt, jpringt in meinem Kabinett
herum, als wollte er draußen auf dem Hofe cin
Huhn fangen. Im Zimmer ift nichts an feinem
Pla: die Möbel in der Mitte zufammengeichoben
und der ganze Inhalt herausgeworfen, die Bücher
in einem Haufen auf dem Boden, die feinen Sachen
auf dem fyenfter und jo weiter.
„Was treibft du denn da?” frage ich.
„Ich räume auf,“ jagte er, fid) zu mir wenden)
und mir das Zahnfleifch zeigend. „Da babe ih
bei den Dwornifs eine Leiter befommen — den Of
gewafchen, die Schränfe abgeftäubt — jeht werde ih
gleich die Lampe reinigen — dann bleiben mod) die
Bücher,” rühmte er id).
Ich wandte mich ab, um nicht in Lachen ausju-
brechen, jo komiſch war er.
Nichts von Müdigkeit, von Erjhöpfung, feine
Spur des Totengefihts! Einfach komiſch, unaus⸗
ſprechlich lomiſch!
„Womit haft du denn da fo gepoltert und ge:
irrt?” fragte ich.
„Da jehen Sie: als ich vorhin die Schränfe ab»
wiſchte, fielen Die Bücher herunter, und dann fiel auch
das Glas von der Lampe und zerbradh. Ich werde
ein andres faufen, gnädiger Herr! Auf meine Koften!’
Er fahte mit einer Hand bie Bürjte, mit der
andern einen Lappen und begann abermals zu jagen
und zu been: das Huhn zu fangen — warf den
Aſchbecher vom Tiſch und verjeßte mit der Bürfte
dem Spiegel einen Dieb,
„Hör auf! Es ift genug aufgeräumt,” jagte id
Diener IV. Matwej.
indem ich mich wiederum abwandte, um nicht auf
zulachen. Aber er hörte mich nicht, wie es jchien,
fie ih im feiner Emfigfeit nicht ſtören und flellte
ales auf jeinen oder vielmehr nicht auf feinen Plaß:
die ſchweren Folianten auf die ſchwache Etagere, die
für Fahence und andre leichte Sachen beftimmt war
und Äh unter der Laft der Bücher bog. Dagegen
brachte er verichiedene Statuetten, Briefbejchwerer
und andre Gegenflände geringen Gewichts hinauf
auf die Schränke.
„So iſt's beſſer, gnädiger Herr! Dort find fie
ſicherer,“ fügte er hinzu, ſich ſelbſt befobend, und
wunderte ſich fehr, als ich ihm befahl, jogleich die
frügere Ordnung berzuitellen.
„Da fieh, was du gemadt haft! Beinah die
Etagere zerbrüdt! Sich, wie jie wadelt!”
Er betrachtete die verbogene Etagere ganz ver—
blüht, den Mund anfgejperrt, ſeufzte und ftellte
unmutig alles jo, wie ich es haben wollte.
Am Sonntag, morgens vier Uhr, bat er mid)
um Erlaubnis zum ſtirchgang. j
„Was für einen Gottesdienft habt ihr denn jeht,
zu dieſer Zeit?“ fragte id.
„Heute ift Buße und Supplifation.”
„Und was giebt's noch außer der Supplifation ?*
„Den nächſten Sonntag fommt ‚Wiffenichaft‘
und dann, über eine Woche, die Predigt.”
Diefe Kirchgänge ausgenommen, entfernte er ſich
feinen Schritt vom Haufe. Bon Branntwein feine
Rede, Leider aber zeigte er ſich auch äußerſt ent«
haltjam, was das Efjen betraf. Wenigftens jah ic
bei ihm, außer einigen Reften von Hering, Gurten
und Kartoffeln, niemals etwas Eßbares. — Ich legte
es ihm nahe, die Refte meines Frühſtücks zu ver⸗
wenden, gab ihm den Rat, ſich Suppen zu kochen,
bot ihm Gelb am, fi Fleiſch zu kaufen. Ich wollte,
daß er jozufagen wieder zu Körper fomme, er aber
lehnte alles ab.
„Nein, gnädiger Herr, nein! Wozu joll ih Ihnen
Schaden machen? Mit Gottes Hilfe werde ich ſchon
durdhlommen.“
Und nachdem er einen feiner jchweren Atemzüge
gethan, fuhr er fort:
„Wir werden bis zu ben Feiertagen warten.
Da werde ich etwas baden, Ich werde Dfterbrot
mit Sahne maden, werde Eier färben, Der Gevatter
wird lommen, und wir werben eine Anbacht halten.”
Er wurde ganz heiter bei alledem. Seine Augen
leuchteten, auf feinem Mund erſchien ein lederes
Lächeln, feine Wangen röteten ſich beinahe, und es
fehlte nicht viel, daß er fich die Lippen ledte. Im
nähften Augenblid aber war alles zu Ende: ein
ſchwerer Seufzer, und daß alte, fahle, faltige Toten-
geficht blidte mich wieder an und erzählte mir eine
fumme Geſchichte von Not und Leiden, von Kummer
695
und Drangfal aller Art — eine Geſchichte, bie mit
unverwijchbaren Zügen auf diefem Antlitz gejchrieben
ftand und bei der mir jedesmal weh ums Herz wurde.
„Du haft viel gelitten, Matwej!* fagte ich eines
Tages zu ihm, als er mir den Thee brachte. „Was
für ſchredliche Leiden mußt du ausgeftanden haben!
Du bit ja wahrhaftig ein Märtyrer. Man könnte
dich in den Kalender unter die Heiligen ſetzen. Sieh,
wie mager du bift, und dieſe vorzeitigen Runzeln!“
„Nein, gnädiger Herr! Was find das für Schmer-
zen? Das ift ja nichts,” antwortete er leichthin,
„Wenn's feine andern gäbe! Das find ja Kleinig—
feiten. Aber die andern, die find arg. Das weiß ich.“
„Weihe Schmerzen jollen denn fo arg fein?“
fragte ich.
„Es giebt ihrer drei," fagte er mit Ueberzeugung,
„drei Märtyrerqualen. Unjer Pfarrer, Bater Jeronym,
jagte immer: ‚Es giebt,‘ jagte er, ‚nichts Aergeres ala
dieje Schmerzen: erftens,‘ jagte er, ‚wenn die Zähne
weh thun, zweitens, wenn ein Weib gebiert, und
drittens, wenn ein Menjch ftirbt.‘*
„Und woher weiß er denn das, dein Pfarrer?
Was die Zahnſchmerzen betrifft, num, davon mag er
willen, vorausgeſetzt, Daß er welche hatte. Aber was
das andre anbelangt — er hat doch nie geboren und
ift auch nicht geitorben —“
„Die Pfarrer wiſſen alles,” ſagte Matwej, an-
dächtig die Augen jchließend, „alles! Sie willen,
wozu der Menſch in die Melt geboren wird, und
wenn er flirbt, wiflen fie, was mit feiner Seele am
jechiten und neunten Tage wird und welche Qualen
fie durchzumachen bat. — Ja!“ ſchloß er und ſeufzte.
In dieſem Augenblid fchellte jemand. Mein
Matwej fuhr plölich in die Höhe. Wohin war die
Müdigkeit geſchwunden? Er warf beinahe das Prä-
jentierbrett zu Boden, war mit einem Sa im PVor-
jimmer und öffnete die Thür.
„Zu Haufe! Bitte, einzutreten!“ fagte er friſch
und flinf und zog dem Gaft jo eifrig den Ueberrod
aus, als wollte er ihn berauben, Diefer jah ihn
lächelnd von der Seite an.
„Sie haben einen neuen Diener?” fragte er mid).
„sa, und einen, der nicht trinft. Sie dürfen
fih wundern.”
„Wirklich? Nun, ih gratuliere, Das ift eine
Seltenheit. Aber wie komiſch er ift!” jchloß er, indem
er zujah, wie Matwej mit affenartiger Geſchwindigleit
das Präfentierbreit vom Tiſche nahm und, die Beine
auseinanderwerfend, nach dem Büffett jprang, wobei
er mit der Schulter an die Thür rannte.
Je länger ih Matwej beobachtete, deſto mehr
Attribute — außer jenem „lomiſch“ und „unglüdlich*
— mußte ih ihm geben. Er wurde für mich zu einer
ebenjo fomplizierten wie interefianten Charakterftubie,
bei der es jedoch ſchwer hielt, einen bervorftechenden
3
9—
ei
ei
4
nıE
iin
696 J. A. Gontſcharow.
Zug zu finden, der es ermöglicht hätte, Matwej in
eine bejtimmte Typenkategorie einzureihen. Einſt ⸗
weilen bemerkte ich als beionders fennzeichnend für
ihn feine Angft vor „Schaden“. Diefes Wort fam in
jeinen Reden am häufigften vor.
Außerdem war er unendlich accurat und graufam
ehrlih. Mit der erfteren Eigenſchaft machte er mir
nicht wenig Verdruß. Ferner war er eigenfinnig
wie ein Ochs, wodurd er mich zuweilen außer mir
brachte. Ich begriff, wie jein ehemaliger Herr, der
junge, heißblütige Yufar, barüberin Wut geraten lonnte.
„Bier Haft du diefes Buch! Gieb es dem Portier
und ſag ihm, er joll es gleich da und dahin tragen.“
Ich bezeichnete ihm das Haus,
„Ich werde es lieber jelbft bintragen, wenn ich
das Geſchirr gewaſchen habe und wenn Sie fort find.“
„Nein, es leidet feinen Verzug. Gieb es dem
Vortier, e8 muß fofort geichehen.“
Oder ein andermal ſage ih ihm:
„Bringe dies Palet und diefe Briefe zur Poſt!
Sieb alles auf! Dann geh zum Schneider und be=
zahle ihm diefe Nehnung! Hier haft du Geld, und
vergiß nicht, eine Quittung zu verlangen!”
Wie ich abends heimfomme, Finde ich Palet und
Briefeim Vorzimmer auf dem Tiſch. Ich wundere mich.
„Warum haft du fie nicht aufgegeben?” frage
ic) jtreng.
„Yu jpät gelommen, gnädiger Herr!” entichuldigte
er fi) mit betrübter Miene. „Der Schneider maß
gerade einigen Herren Kleider an, und id mußte
vielleicht eine Stunde lang warten. Dann wurde
auf der Poſt nichts mehr angenommen.”
Ich Habe dir doch aufgetragen, zuerft nad) der
Poft zu gehen.“
„Ich meinte eben, ich werde lieber unterwegs
gleich zum Schneider gehen.“
Und jo auf Schritt und Tritt ein Hang zum
Andersmachen, zum Widerjprud).
Einmal — etwa einen Monat, nachdem Matwei
bei mir eingetreten — hatte ich eine dringende Arbeit,
Ih trug ihm ftrenge auf — bis auf weiteres —
niemand bei mir vorzulafien. Und er machte jeine
Sade in der That richtig. Mehr als einmal hörte
ich draußen ſchellen. Es fam jemand, Matwej brachte
mir die Karte und — alles, wie es jein jollte.
Aber mit einemmal höre ih, wie er jemand an—
gelegentlihft auffordert, einzutreten. „Bitte, bitte!
Zu Haufe!“ jagt er. ch warte geipannt und ver
wundert, wer das jein fünne — und es fommt ein
langweiliger, geſchwätziger Menſch, dem ich aud) an
unbefchäftigten Tagen auszuweichen pflegte.
Als er ſich entfernt hatte, fragte ich Matwej,
warum er troß meines Verbote den Beſuch ein-
gelafjen hätte, |
„Er hat doch zwei Sterne auf der Bruft,* ente
ſchuldigte er ſich. „Wie fann man einen ſolchen
Herrn fortgehen lafien? Er ift ein Wineral.“ So
nannte er die Generale, und vor Generalen hatte r
einen abergläubifchen Reſpelt oder fürchtele fie mie
große Hunde — Gott weiß es!
In den nächſten Tagen jchidte er dann wieder
verſchiedene Leute weg. Ich arbeitete ruhig und un:
geftört, mit größtem Eifer — da plößlich, wie ih
gerade in ber heißeften Arbeit bin, höre ic) abermals
ein ſtarles Schellen und abermals Matwejs angelegent-
liches: „Bitte, bitte! Zu Haufe!“ Im Nebenzimmer
wird ein Rauſchen von fFrauenkleidern laut, wie
wenn der Wind durch den Wald ftreicht, und berein
zu mir jchwebt eine Dame „Froufrou“ und breitet
fi auf dem Diwan aus, den fie mit ihren Nöden
ganz bededt.
„Was treiben Sie da ?* begann fie mit eriärd:
licher Zungenfertigfeit. „Bei ſolchem Wetter fh
Sie da und jchreiben? Laſſen, laſſen Sie das alle!
Ich bin gefommen, Sie zu entführen. Ich will in
Villa juhen. Fahren Sie mit! Kommen Sie! Heinz
Widerſpruch!“
Der Vormittag war verloren. Als ich wiedet
beimlam, war «8 mein erftes, Matwej zu fragen,
warum er die Dame eingelaflen.
„Es ift doc eine Barina,“ *) entjchuldigte er fi.
Ich glaubte, fie würde zornig werden, wenn ic fie
nicht einliehe.”
„Aber erſt geftern haft du doch eine Dame niht
eintreten lajien! Warum haft du die weggeihidt!
Mer bat es dir erlaubt?“
„Die ift zu Fuß gefommen, gnädiger Hert! Wer
auch nicht befonders gekleidet. Ich dachte, fie werte
um Almojen bitten wollen, und hatte Angft, fie würd:
Ihnen Schaden machen. Darum Tief; ich fie micht vor.“
„Dein Herr würde did für dieſen Ungehoriam
tüchtig geichlagen haben. Was meint du?* fragte ih.
Er jeufzte.
„Er hätte mir den Kopf zerbrochen,“ antwortet
‚ er mit feinem traurigen Lächeln.
j
„Warum gehorchſt du nicht? Warum haft du
die Dame eingelajjen ?*
„Auf dem Kutſchbod figt bei ihr ein Kutſcher im
Livree, gnädiger Herr. Spricht nicht ruſſiſch. Wahr:
ſcheinlich ein Engländer. Da muß ich fie doch vor-
laſſen, dachte ih.“
Almählich gewöhnte ich mich auch daran. Woran
ich mich jedody nicht gewöhnen konnte, das war feine
Accurateſſe. Er erhält zum Beifpiel zehn, zwanzig
Rubel zu allerlei Ausgaben: für Thee, Zuder, Brot,
Sahne und dergleichen.
Nachdem er das Geld ausgelegt, lommt er zu
mir mit einem fledigen Fetzchen grauen Papiers, auf
*) Vornehme Frau,
Diener
dem jeder Poften bis zum allerfleinften geſchrieben
fteht, und verlangt, dab ich das Ganze nachrechne.
Dazu bringt er als Reſt des Geldes ein Zwanzig-
fopefenftüd und etwas Kupfermünze und vergiht nie,
hervorzuheben, was teurer und was wohlfeiler ge»
worben jei.
„Der Zuder koftet zwei Kopelen das Pfund weni—
ger,” jagt er mit ftrahlenden Augen. Ober umgelehrt
mit wehmütigem Ton, als ob es ji um einen herz—
fränfenden Verluft handle: „Das Brot hat um eine
Ropele aufgeichlagen.“
Alles ertrug er: die Mißhandlungen feines Herrn
und ewigen Hunger, Er verbrauchte jeine Kräfte
bei der Arbeit und verlor nicht Geduld noch Seelen=
frieden,. Nur eines jehte ihm zu und plagte ihn: bie
Angſt vor „Schaden“,
Ich that jo, als ob ich die Rechnung durchſähe,
gab ihm wiederum Geld und warf die Rechnung fHll |
in den Papierkorb, Aber er entdeckte fie da gewöhnlich
und legte fie unter meine Schriften, bis ich fie
endlich zerriß.
Manchmal hielt er mir unverjehens zehn oder
jwanzig Kopefen unter die Naje:
„Das haben Sie noch gut,* fagte er. In der
borigen Rechnung war aus Verjehen ein und Das
jelbe Brot zweimal aufgefchrieben. Bitte!“
Wenn ich einen furzen Blid in dieje Rechnungen
that, konnte ich nicht umhin, über die Orthograpbie
derjelben zu lächeln, die in der That eigenartig war.
Da gab es „Milig” ftatt Mil, „Puder* ftatt
Butter und jo weiter. Er aber faßte dieſes Lächeln
als Beifall auf und lächelte mit.
Nicht immer jedoch lief die Sache fo glimpflich
ab. Mandmal, wenn ich gerade tief in ber Arbeit
war und Matwej mit jeinen Reiten und Rechnungen
herangelrochen fam, da fonnte es geichehen, dab id) |
ihm furz und bündig den ganzen Plunder vom Tiſch
ftreifte und ihn mit einem Blid anſah, der dem eines |
Er entjernte ſich
gereizten Tieres gleichen mochte.
dann augenblid3 mit einem tiefen Seufzer.
Zumweilen fonnte er fid) betragen wie ein Kind. |
Diefer gebrechliche Organismus, diejer wandelnde |
Leichnam, in weldem der Lebensfunfe nur noch matt
zu glimmen jdien, wurde durch gewilje Vorfälle
gleichſam eleftrifiert und zu einem beweglichen, ſprin⸗
genden, zappligen, hopienden Weien.
Zum Beijpiel: er ift mir eben beim Anfleiden
behilflich, reiht mir das Handtuch, die Schuhe, den
Rod, oder er bringt mir das Frühſtüch, furz, er iſt
mit Ausübung feiner Funktionen beihäftigt — da
läßt fich plößlih von der Strafe herauf Trommel«
ihlag hören ober ber Schall einer vorüberziehenden
Muſik, und mein Matwej wirft alles weg, was er in
der Hand hält, und — fort ift er. Nur aus der
Ferne dringt ein Gepolter zu mir, al3 ob Steine
Aus fremben Bungen, 1897. II 15,
IV. Matwej.
697
über die Treppe follerten, das find jeine eilfertigen
Füße — und ih file da mit einem Schuh in der
Hand oder mit eingejeiften Baden und warte, Ihm
nachzurufen, er ſolle zurüdtommen, das wäre ver«
gebliche Mühe; wie ein ſcheues Pferd, dad den Zaum
zwijchen die Zähne genommen, fieht und hört er nichts
mehr, jondern rennt und rennt. Nach zehn Minuten
vielleicht ericheint er wieder, befriedigt und ftrahlend,
„Man beerdigt einen Wineral,* meldet er mir,
oder „einen Fürften,“ und nun erzählt er, welches
Regiment die Leiche begleitete, wie viel „Antirerie”
dabei war, wer zu Pferd, wer zu Fuß, wie viel
Magen im Zuge waren, und fo weiter,
Ich mache den Verſuch, böfe zu werden, ihn zu
ermahnen — umfonft. Den folgenden Tag jpielt die
Mufit abermals, und Matwej verſchwindet aufs neue.
Uebrigens waren es nicht nur Trommeln und
Mufit, welche dieſe Wirkung auf ihn übten, fondern
jedes ungewöhnliche Geräuſch, jeder Ton, jede Ber
wegung im Sof oder auf der Straße. Und ihm ent«
ging nichts. Die Schärfe feines Gehör war er«
ſtaunlich.
So entlief er mir einmal, ohne daß ich mir er—
klären konnte, warum. Als er zurücklehrte, glänzte
ſein Geſicht wie gewöhnlich vor Genugthuung. Zugleich
aber zeigte es den Ausdrud einer gewiſſen Betroffenheit.
„Was bat es denn gegeben?” fragte ih. „Und
warum läufft du denn wie ein Strakenjunge?“
„Dan hat Arreftanten zur Hinrichtung geführt,”
plate er heraus, übervofl von bem Gefühl diejes
nod nicht dageweſenen Erlebniſſes.
Sch jah ihn an, ob er nicht von Sinnen jei.
„Was hinrichten? Mas für Wrreftanten? Was
fajelft du ba?“
„Gewiß, gnädiger Herr! Es waren Schandaren,
Koſalen, Polizei mit ihnen — fie fuhren in einem
grünen Wagen — und hinterdrein gingen maſſen-
haft Frauenzimmer — und alle wifchten ſich die
Augen, denn fie weinten: es that ihnen um die
Männer, um die Söhne leid.“
Wie ich jpäter erfuhr, war die Erzählung Matweis
nur zum Teil richtig. Man Hatte allerdings einen
Zug von Verurteilten durch bie Litöjnajaftrae geführt,
aber nicht zur Hinrichtung, jondern lediglich in die
Verbannung.
Noch etwas gab e8, das in meinem blafjen Diener
alfe Lebensgeiſter wachrief. Das war das Einfangen
von Dieben. — Niemals, weder vorher nod nachher,
ift mir bei einem Jäger eine jo fieberhafte Leiden«
ſchaft begegnet, dem Wild nachzubirichen, wie Matwej
fie entwidelte, wenn es galt, einen Dieb zu heben
und — das war eigentlich die Hauptſache — ihn zu
juftifigieren, das heißt zu prügeln. Mehr als einmal
teilte er mir ſtrahlend und gleichſam aufblühend vor
Freude mit, dab irgendwo im Haufe oder in der
83
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698 3. U. Gontſcharow.
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Nahbarihaft auf dem Speicher, im Keller, in einer
Wohnung, in einem Laden ein Dieb erwilcht worden.
„Nun, hat man ihn zur Polizei gebracht?” fragte
ich gleichgültig.
„Nein, gnädiger Herr! Das wäre! Auf ber
Polizei hätte man ihm morgen wieder freigelafjen.
Nein, wir haben ihn jelber durchgewallt. Er wird
ſich's merlen.“
„Wir? Warſt auch du dabei?“
„BVeriteht ſich, gnädiger Herr!“ jagte er begeiftert,
mir fein Zahnfleifch zeigend. „Wie ihn die Dwornifs
gefangen hatten, war ich wohl da, gleich der erfle,
und half ihn Halten. Na, wir haben ihn ordentlich
geitrichen! Das ganze Geſicht blutig!”
„Und du haft mitgeſchlagen?“ fragte id, nicht
ohne Furcht vor der Antwort.
„Ein Hein wenig, gnädiger Herr! Ich hab’ ihn
mehr am Hals gehalten, an der Krawatte, bloß
damit er nicht wegläuft.”
„Und ſchämſt du dich nicht? Iſt denn das nicht
eine Sünde?" ſprach ich ihm zu,
„And warum nimmt er fremdes Gut, gnäbdiger
Herr? Was für einen Schaden hat der, den er beſtiehlt!
Alſo verdient er’8 auch,“ ſchloß er entſchieden.
Einmal gab's eine ſolche Diebshatz in der Billa
des Protohiereuß auf der Wyborgfeite, wo ich mit
einem freunde wohnte, Das Haus ftand inmitten
eines dichten Gartens. Im Erdgefhoß wohnte der
Wirt mit feiner Familie, Jh und mein fyreund
batten die vier Zimmer des Obergeſchoſſes inne,
Außerdem hatte Matwej daſelbſt feine Kammer.
Es war in einer dunfeln Naht gegen Ende
August. Ich ſaß mit dem Freund bei offenem Fenſter
an einem langen Tiih. In Haus und Garten laut»
Ioje Stille. Der Wirt war in der Stadt beichäftigt,
und die fyamilie war bei ihm. Das Haus war
beinahe leer.
Mein Freund ſaß über Stantsaften; ich hatte
ein Buch vor mir und lad. Da bemerfe ih, wie
mein Freund mit geſpannter Aufmerkſamleit in die
Finſternis hinausfpäht. Und jchließlih fragt er
jemand da draußen:
„Was thuft du hier? Was willft du? Warum
bift du auf den Baum geffettert?“
„Mit wen jprechen Sie?” frage id.
„Da fiht jemand auf dem Baum.“
Ih ſchaute aus dem Fenſter, fonnte jedoch nichts
iehen. Aber das Geſpräch hatte die Aufmerffam-
feit Datwejs erwedt. Er witterte etwas Ungewöhn-
liches. „Diebe, Diebe!” jagte er, und faum bes
Mleidet, im Hemd, den langen Graurod übergeworfen,
fegte er wie ein Sturmwind an uns vorbei, polterte
die Treppe hinunter und verſchwand im Garten.
Id) nedte meinen Freund, daß er fi an einen
Dieb mit der Frage gewendet, wozu er nachts auf
den Baum geflettert jei und was er da juche. Unten
gab's einigen Lärm, dann, nad) einer guten halben
Stunde, fam Matwej zurüd, ganz Freude und Jubel,
und brachte und die Nachricht, es feien wirklich Diebe
da gewejen. Er hatte den Divornif und die mei
Gärtner gewedt, und alle waren den Dieben nad.
Leider waren zwei bereits entwiſcht, ein dritter aber
war mit dem Rod am Zaun hängen geblieben und
ergriffen worden,
„Nun, und was habt ihr mit ihm gethan?*
fragte id.
„Geitrichen, und das ordentlich!” brüftete er ſich.
„Er wird ſich's merken. Als wir ihn losließen, warer
nicht mehr im ftande, zu laufen. Jeden Augenblid
bat er: Laßt mih um Jeſu willen! Wir aber ihm
nad), der eine ſchlägt ihm ins Genid, der andre in
den Hals —“
Er zeigte ung, wie man den Dieb gejchlagen.
„Und du auch?“ fragte ich mit Abjchen.
„Nein, gnädiger Herr, ich habe ihn mur am
Kragen gehalten und geführt, und der Storoſch —
der hat ihm tüchtig gejchlagen.“
„Und jiehjt du das nicht ald Sünde an?“
„Sie wollten do unten in der Villa alles aut
ftehlen, gnädiger Herr! Sogar einen Schublarren
hatten fie bereitgeftell. Den hatten fie aus dem
Nacbargarten. Auch Säde hatten fie mit. Wenn
es ihnen geglüdt wäre, hätte man gegen den Storoſch
Verdacht gehabt. Er hätte es gekriegt, demm ber
Pope ift ftreng und geizig. Der Schaden, den er
davon hätte!“
Mein Freund lachte.
„Wie komisch diefer Matwej ift!* ſagte er.
Nur mir erjchien er zugleich lomiſch und beflagens-
wert, bei diejen Diebshetzen jogar etwas wibertwärtig-
Aber troßdem — er war mein getreuer Hauswart
und der Hort meines Junggejellenheims. Ic) lebte
ruhig und behagli dahin, ohne mich um die Ord-
nung und Sicherheit meines Eigentums zu jorgen,
und jegnete den Zufall, der mir in meinem Diener
ſolch einen Freund beichert hatte, in der That einen
Freund, demn wenn ihm aud, aus der Zeit feiner
Leibeigenihaft her, jo manche Züge ſtlaviſcher Er-
gebenheit anhingen, jo zeugten doch auch dieje von
einer lebendigen Teilnahme an mir und meinen Ins
terefjen, natürlih meinen materiellen Interejien —
denn die andern gingen über jeinen Verftand, waren
ihm unfaßbar. Nie vermochte er zu begreifen, wie
ich, über einem „Büchlein“ oder irgend einem „Papier*
figend, fein „Jerefter” und jeine Rechnungen vernad-
läjfigen, ja wohl gar, ohne vom Buch aufzubliden,
dieje zerreißen und zwanzig, dreißig Kopelen mit
der flachen Hand wie Schmutz vom Tijch wifchen fonnte.
„Scaden!”...
Außer mit feinem Eigenfinn und feinen Rechnungen
8 —
f -
— —
Diener IV. Matwej.
plagte er mih noch mit dem Geſchäfte, das er
nebenbei betrieb. Ganz umverjehens zum Bei—
ipiel fommt er mit einer goldnen Uhr und Kette
und fragt mich, ob man fünfundzwanzig oder dreißig
Rubel darauf geben könne, ob fie jo viel wert jei.
Oder er bringt mir eine Broſche mit Steinen,
„Iſt's wahr, gnädiger Herr, daß die Broſche
fünfundfiebzig Rubel wert ift? Klara möchte dreißig
Rubel drauf für drei Monate.“
Klara war eine Perfon, die in demjelben Haufe
wohnte wie ich) und, mie Matwej ſich ausdrüdte,
‚Ihön wohnte”, Ich felbft befam fie niemals zu jehen.
Ich habe vergeflen, zu jagen, daß fich bei Matwej
ein ganzes Lager der verjchiebenartigften Gegenſtände
befand, Da gab es Pelze, Frauenlleider, Offizierd«
mäntel, Fuchsmäntel, Sammetmäntel, die meiften
an den Wänden feiner Kammer und im Sorribor
aufgehängt und forgfältig mit Xüchern bebedt.
Andre lagen auf Brettergeftellen und nod andre
einfach auf dem Boden. Da ragte aus dem Bett
ein engliicher Sattel, dort hingen an Nägeln
ein paar Piftolen. Die Gold- und Silberſachen be»
wahrte er augenfcheinlich in meinen Kleider- und Ge⸗
ſchirrſchtänken auf, Er machte ſich's zur verhängnis«
vollen Regel, mir alles, was man ihm bradite, zur
Begutachtung vorzulegen.
„Kann man auf dieien Shawl fünfundzwanzig
Rubel geben, gmädiger Herr? Er foll hundert ge»
foftet haben.”
Ober:
„Da will man fiebzig Rubel auf biefen Pelz.
IA er aus Zobel oder vielleicht gefärbt? Kann ich's
bis zum Winter geben? Im Winter will man ihn
auslöfen,*
Und fo weiter, jo daß ich ungefähr wußte, was
für Gegenftänbe er in Berſatz hatte.
Auf feine ftereotype Frage nach dem Wert der
Piänder befam er von mir die ftereotype Antwort:
‚Mad, daß du fortlommit! Störe mich nicht!” oder:
„Ich werde das Zeug aus dem Fenfter werfen, wenn
du mir nicht Ruhe damit läſſeſt.“
Alein trot dieſer beinah hundemäßigen Ent» |
gegnungen begannen nad) zwei bis drei Tagen feine |
Fragen aufs neue, und damit natürlich auch meine
Grobheiten.
„Du handelſt da geſetzwidrig,“ ſagte ich ihm
mehr als einmal. „Um Geld auf Pfünder geben zu
dürfen, muß man einen Gewerbſchein haben. Außers
dem können diejenigen, die bei dir Geld nehmen,
glauben, daß ich dic) dede oder gar mitthue. Das
ift abſcheulich.“
Er zeigte fich ein wenig betreten,
„Das weiß doch niemand. Ich gebe doch nur
an Belannte. Niemand wird fich beſchweren,“ ent«
chuldigte er ſich und fügte im Flüfterton raſch hinzu:
699
„Auch Herridaften thun das, und manchesmal durch
die Bedienten. In der Gorochowaſtraße beſchäftigt
fih ein Baron damit. Er ift Wineral und verleiht
ftellenweile Geld auf Pfänder durd feinen Kammer-
biener. Er joll jedes Jahr jechstaufend verdienen,”
Nüfterte er in einer Art freudigen Schreds. „Er hat
ein heidenmäßiges Gelb —“*
„Da fiehit du's! Von dem ſpricht man jchon.
Und id; habe feine Luft, dir zuliebe aud in Ver-
dacht zu fommen. Schränfe dein Geſchäft lieber ein,
Matwej, jonft werde ih noch Angft haben müffen,
dich zu behalten. Es ift doch abicheulich.*
„Das tft feine Sünde, gnädiger Herr! Auch
unfer Pfarrer — ich beichte bei ihm — fagte mir:
‚E83 macht nichts, ſagte er, ‚wenn du nur nicht zu
viel drüdft. Nur jei auch nicht geizig gegen die Kirche !*
— Nun, was denn? Ich verlange ja das Aller
' geringste — zwei Prozent monatlich — und rechne
nur die Hälfte voraus —*
„So einer bift du?”
„Ja, das ift nicht vie. Andre nehmen hundert
vom Hundert, Ein Kaufmann, er hat einen Faden,
verleiht Geld auf —“
Ich winkte ihm mit der Hand, wegjugehen.
„sch Habe ſchon wieder vierhundert," ſchloß er
mit vergnügtem Flüſtern.
Er war nun ſchon zwei Jahre bei mir, und ich
hatte mich vollftändig an ihn gewöhnt. Auch meine
Gäſte lächelten nur mehr, wenn fie ihn ſahen, be—
ſonders in ſeinem langen grauen Rock.
Dieſen zu verabſchieden, war er durch nichts zu
bewegen. Ich ſchenkte ihm alle Kleider von mir;
niemals aber ſah ich, daß er eins davon trug. Was
er damit anfing, erfuhr ich nicht und habe es bis
heute nicht erfahren. Nur das eine erreichte ich nad)
langem, hartnädigem Kampfe, daß er in Anweſen—
heit von Gäften das Zimmer nicht ander& betrat als
in dem fat neuen ſchwarzen Node, den ich ihm nebft
Beinkleid und Krawatte gegeben hatte. Auch ein
Paar Servierhandichuhe hatte ich ihm geftiftet. Ich
| muß aber geftehen: wenn er alles das anlegte, jah
er noch lomiſcher aus als ſonſt.
Uber was hatte das zu bedeuten neben den Eigen—
haften, durch die er mir wert war? Neben feiner
Aufmerffamkeit auf alles, was mid anging, feiner
' Sorge um mein Eigentum und meine Rube, feiner
Beicheidenheit und Orbnungsliebe und endlich jeiner
unbeſtechlichen Ehrlichkeit. Bei all jeinem Geiz
würde er mid auch um eine Million nicht verraten
haben. Ih wußte das und ſchähte ihn danad).
Wenn ich ihn verlor, jo gab es feinen Erfah.
Und doch hätte ich ihn um ein Haar verloren und
zwar wieberum infolge ber Feiertage.
Die Feiertage find natürlich eine heilige Sache.
Zugleich aber find fie auch ein großes Unglüd für
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Rußland. Die heiligen Tage werden durd) jo tiefe
Schatten verduntelt, durch jo elligen Schmuß ges
ſchändet, daß fein Gebet, kein Faſten fie davon rein
machen lann. Das wiſſen alle, und alle tragen
geduldig das Jod, das fie felber fich auferlegt
haben.
Es war zur Ofterzeit. Schon in der Karwoche
bemerkte id an Matwej eine höchſt lebhafte Geſchäftig-
feit. Er lief weg, fam wieder, brachte etwas, lief
neuerdings weg — ich hörte ihn beitändig die Treppe
auf und ab jpringen. Dabei hielt er die Falttage
nicht wie ein Katholik, fondern noch ftrenger als ein
Orthodorer; er aß buchitäblich nichts und trank nur
den Thee, den ich übrig ließ.
„Was haft du denn ewig zu beforgen und zu
laufen?” fragte ich ihn.
„Ich habe einen Schinken gefauft, gnädiger Kerr.
Auch Ofterbrot hab’ ich beftellt — drüben auf dem
andern Hof beim Koch des Winerald. Vielleicht
werden gnädiger Herr mein Ofterbrot und meinen
Schinlen verjuden?*
Ich gab ihm Geld, für mich Eier zu kaufen und
Dfterzöpfe oder ebenfalls ein Ofterbrot zu beftellen.
Ich wollte ihn jo vor „Schaden“ bewahren.
„Dfterzöpfe werde ich beitellen, wenn Sie befehlen,
gnädiger Herr! Aber was das Oſterbrot betrifft, jo
müffen Sie das meine verjuchen,” flehte er faſt. „Es
wird auch Schinken, Wurft und Paſteten geben.
Auch der Gevatter wird fommen, Sie brauchen gar
nichts zu beftellen.“
„Du mußt aber jegt, vor Oftern, noch efjen.
Das Faſten ift für Katholiken nicht unbedingt vor
geihrieben. Du kannſt Eier und Milch geniehen.
Schau, wie du ausſiehſt!“
„Es dauert nicht mehr lang, bloß noch zwei
Tage,“ antwortete er, das Zahnfleifch zeigend.
In der That, fein Ofterbrot war gut, das heißt
es blieb einem nicht, wie das jo oft der Fall ift, im
Halfe jteden, und aud) der Schinken roch nicht allzu=
jeher. Matwej war außer ſich vor freude, als ich
von beiden fojtete,
Während der Feiertage war id) von früh bis
abends vom Haufe abwejend, wußte aljo nicht, was
Matwei that.
Am vierten Tage geihah folgendes: Als ich
erwadhte, zog id) die Glockenſchnur neben meinem
Bett. Höchſt ungewöhnlicherweije erihien fein Matwej.
Ich wartete eine Weile und jchellte nochmals und
ſtärler. Niemand — nur aus ber Ferne ſchien
etwas wie ein dumpfes Stöhnen zu fommen. Ich
ſchenlte dem aber feine Aufmerfjamfeit und jchellte
nod) ftärfer. Das Stöhnen wurde lauter und beut=
liher als ob es in der Wohnung wäre. Zugleich
rührte fi etwas im Korridor, jemand bewegte ſich
da langſam umd leiſe. Ich fprang raſch aus dem
J. A. Gontſcharow.
Bette, zog den Schlafrod über und wartete. Das Ge-
räuſch fam näher, die Thür öffnete ſich langſam, und
aufdem dunfeln Hintergrunde zeigte ſich eine Geftalt.
Wer it das? Wirklich Matwej? Nein, das it
Lazarus, dem Grabe entjteigend ...
„Was ijt mit dir? Was giebt es?“ konnte ih
vor Schred faum fragen.
„Ih — eh— we,” ftöhnte er, zitternd und jhman-
fend, mit beiden Händen ſich an ber Wand haltend,
Seine Lippen ftanden weit offen. „Ich ſterbe,“
wollte er jagen, konnte aber vor Schwäche die Kon—
fonanten nicht ausſprechen.
Er wollte wieder zurüd, nad) feiner Kammer,
war aber dazu nicht mehr im ftande. Ich führte ihn.
Er fiel ſchwer und fraftlos auf das Bett. Ich Meidete
mid) eilends an und lief hinauf zu dem Arzte, der
einen Stod höher wohnte und auch mich gelegentlich
behandelte.
Er kam, bejah fih den Kranken und fand den
Beginn eines hißigen Fiebers, nur fonnte er nid
beftimmen, was für ein fyieber und wodurch es ent-
ftanden ſei, ob es von einer Erfältung oder vom
Faften komme. Die corpora delicti, das heikt
Schinken, Ofterbrot und Wurft, lagen teilweile zur
Anſicht vor. Ich berichtete kurz dem Arzt von der
asltetiſchen Enthaltfamfeit Matwejs und wie er den
eriten Fleiſchtag gefeiert hatte.
Der Arzt erflärte, nahmittags wiederlommen zu
wollen. Für den all, daß es fid) bis dahin mit
Matwej nicht bejjere, würde man gut thun, ihm nach
dem Kranlenhauſe zu ſchaffen. Borläufig ſchrieb er
ihm ein Rezept.
Unterdefjen hatten wir mit Mühe und Not den
Kranken zur Befinnung gebracht, Als er mid er
fannte, brad) er in Thränen aus:
„Was für Unruhe ic Ihnen mache, gnädiger
Herr! Gott!” jtöhnte er und faßte fi) am Kopf und
Unterleib. „Ich ſterbe, ich fterbe. Einen Dwornil
möchte ich, Jegor —“
So flehte er. Ich ging hinunter, ſuchte Jegor
ſchickte ihn zu dem Kranken und ging ſelbſt nad) der
Apothele, die Arznei zu beſorgen, kaufte auch efwas
Pfefferminze, Hoffmannſche Tropfen und was font
der Arzt angeordnet hatte,
Der Dwornil ftellte unterdeffen den Samowar
auf und entfernte jih dann auf Matweis Bitte. Ei
zeigte fich, dab Matwej jogar während jeiner Agonit
um mic Sorge getragen hatte. Der Dwornil brachte
mir nämlich einen jungen, jehr anftändig ausjehenden
Safai, einen Freund Matwejs, der fid) bereit erflärte,
einftweilen deſſen Dienjt zu übernehmen.
Nachmittags beſchloß der Arzt, Matwej nad dem
Kranfenhaufe überführen zu laſſen.
„Ich fterbe, ich jterbe,“ ſiöhnte Matwej. Dann
ließ er mich zu fich rufen, zog unter der Matraft
Diener IV. Matwei.
ein Päddhen hervor und fagte, ſchwach die Lippen
bervegend, laum hörbar:
„Hier, gnädiger Herr, find vierhundertunddreiund-
vierzig Rubel. Zählen Sie fie nah! Verſtecken Sie
das Geld! Und weun ich jlerbe —“ Er zerfloß in
Thrönen.
„Hör auf!” fagte ich beinah ftreng.
denn Sterben? Was für ein Unfinn! Du Haft zu
viel gegefien — wie kann da von Sterben Die
Rede fein?“
„Nein, gnädiger Herr, ich flerbe — o! — es
zudt mie im allen Adern.” Er griff fih an Bauch
und Bruft.
„Und was thun mit bem Gelde?“ fragte ich, indem
ih das Pädchen raſch öffnete und den Inhalt zählte,
„Wenn ich fterbe, gnädiger Herr, jo geben Sie
die eine Hälfte dem Pfarrer zum Seelengedächtnis,
die andre dem Gevatter. Er wei; ſchon.“
Er fahte meine Hand, wollte fie fülfen und weinte
wie ein Kind. Abends brachte man ihn ins Marien-
bejpital nach der Litejnaja. Ich wohnte damals in
der Nähe.
Am folgenden Tag bejuchte ich ihn. Er hatte
eine Schlechte Nacht gehabt, ſich hin und her geworfen
und phantafiert. Der Arzt fonnte noch nicht be—
fimmen, was für eine Wendung die Krankheit nehmen
und wie der geſchwächte Organismus des Patienten
das Fieber überftchen werde. Auf einer Tafel an
keinem Bett ftand der Name der Krankheit geichrieben:
Tysenterie.
Ich fuchte Matwej zu ermutigen, Er aber weinte,
wiederholte, daß er fterben werde, und bat, ihm ben
neuen Diener zu jhiden, dab er ihm jagen könne,
wo alles Tiege und wie er ſich überhaupt in feinem
Dienft zu verhalten habe.
Mir brachte dieje Sorglichfeit in ſolchem Zuftande
das Meinen nahe.
„Nein, er ift nicht komiſch,“ Dachte ich, die Thränen
jurüfdrängend.
Nah drei Wochen lam er blak und wanlend
kim und übernahm, tro meiner Abmahnungen,
wieder den Dienft, um mir „den Schaden zu eriparen,
überflüffigerweije einen Vertreter zu bezahlen”, Für
diejen Eifer mußte er mit einem Nüdfall büßen,
der ihn neuerdings ins Krankenhaus brachte, Erſt
im Sommer mit Beginn der ſchönen, warmen Tage
erholte er fich völlig.
Er war noch lange Zeit bei mir, ſechs Jahre,
wenn nicht mehr, und rüjtete mich zu einer großen
Reife um die Erde aus mit einer Sorgfalt, die ſich
auf die Heinften Kleinigkeiten erjtredte,
Unjer Schiff ſtach nicht fogleih in See. Eben
old wir uns reifefertig machten, wurde die Abfahrt
nd um einige Tage verihoben, und ich fuhr nad
Petersburg zurüd. Mein Meines Gepäck war da-
„Warum |
|
|
|
01
mals bereit? auf dem Schiffe, meine Möbel und
fonftigen Sachen Hatte ich irgendwen zur Auf—
bewahrung gegeben. Matwej allein war in der Ieeren
Wohnung zurüdgeblieben.
Welden Eifer, welche Geſchäftigleit entwidelte
er, als ich plöblid wieder in meinen Zimmern er»
ſchien! Er duldete es unter feiner Bedingung, daß
ich im Hotel übernachte. Gott weiß, wie er mir ein
Bett, eine Matratze, Kiffen und Deden verjdaffte,
und gar woher er mir, woran ich mid) noch wohl
erinnere, eine Frauenkazawejka,“) mit Hermelin
gefüttert, als Schlafrod brachte! Er machte mir das
Bett, verjorgte mic morgens und abends mit Thee
und gab mir mit einer fo betrübfam fummervollen
Miene feinen Abjchiedsjegen, daß ich nahe daran
war, zu weinen, wührend er jelbjt unter Thränen
jagte: „Ich werde für Sie beten, gnädiger Herr, und
werde ben Vater Jeronym bitten, zu beten, daß Sie
gefund — glücklich — als Wineral zurückkehren.“
Ich war zwei Jahre zu Schiff. Die Rückkehr
durch Sibirien auf Fluß⸗ und Landwegen beanſpruchte
etwa ein halbes Jahr, von Auguſt bis Fyebruar.
Unterwegs — id glaube aus Kaſan — ſchrieb
ih an meine freunde in Petersburg und bat fie,
mir eine Wohnung und einen Diener zu fuchen und
mir das Ergebnis nad) Moslau zu melden.
Man benachrichtigte mich, dab ſich eine pafjende
Wohnung auf dem Newäly-Proipelt gefunden, und
bezeichnete mir zugleich die Hausnummer.
Nicht ohne Bewegung fuhr ich mit meinem Gepäd
zu dem bezeichneten Haufe, auch nicht ohne eine ge=
wiſſe Angjt vor all den Unannehmlichkeiten, die mir
nun bei der Einrichtung der neuen Wohnung bevor»
ftanden, ftatt dab ih mid nad jo langer Neije
ausruhen durfte. Ein Dwornif begleitete mich zu
meinem neuen Heim. ch zog zaghaft die Klingel.
Die Thür öffnete fi, und auf der Schwelle erſchien —
Matwej.
Ich ſtieß einen Ruf der Freude und Ueber—
raſchung aus.
„Gnädiger Herr! Gnädiger Herr!“ ſchrie er aus
voller Kehle, alt ob er „Feuer! Hilfe!“ riefe. Und
mir jein Zahnfleifch zeigend, warf er ſich auf mid,
um mir Schultern und Hände zu küſſen, lachte, ſprang
bin und her und riß uns die Säde, den Plaid, und
was wir jonft trugen, aus der Hand.
„Alles ift bereit, Bitte, gnädiger Herr! Gott
bat mein Gebet erhört. Vater Jeronym — ich werde
bei ihm eine Meile beftellen. Das Bett ift ſchon
jeit fünf Tagen fertig — id) habe bereits Holz und
Kohlen gelauft — Kerzen — alles ift da — Thee
zwei Pfund Zuder —“
Nachdem er das alles ſchnell hergeiagt, riß er den
N Kurzer Daniel.
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702 J. A. Gontſcharow.
Mund auf, holte Atem und ſprang neuerdings um
mich herum, mir buchſtäblich mit Gewalt die Kleider
vom Leibe reißend.
„Berubige dich, mein Lieber!“ bat ich, aber ver-
gebens.
„Wo find die Sachen, der Koffer, die leider,
die Wäſche?“
„Dort im Wagen. Die Dwormnils werden es
bringen. Warte nur! Beruhige did!”
„Kommen Sie, fommen Sie, Waſilij!“ — Er
zog den Dwornif mit fih. Kaum daß ich ihm das
Geld für den Wagen in die Hand ſchieben fonnte.
Man brachte alles. Eine Stunde jpäter ſaß ich
bereits in meinem Armftubl beim Thee, mit einer
Bigarre, ald wäre ich nie verreift gewejen. Mativej
padte unterdeffen meine Sachen aus und legte fie
haufenweis auf Stühle, Tiihe und Diwan.
„Ein guter, braver, waderer, aber aud) lomiſcher
Burſch!“ dachte ich, während ic jeiner Beichäftigung
zuſah, die er mit einem wahrhaft rührenden Eifer
betrieb. Nicht umſonſt lachten die Lalaien über ihn.
Wie jollte er auch nicht komiſch fein? Er fügt nicht,
bütet fremdes Geld ebenio wie das feine, achtet auf
alles, was man ihm anvertraut, ißt wenig, trinft
feinen Branntwein, betrügt nicht, erzählt nicht mit
Zorn von den Schlägen, die ihm jein Herr gegeben,
und jtrebt bei alledem nad) Freiheit. Wie follte er
da nicht fomifch fein? Wer ihn anfieht, hält ihm
dafür, aber das Nichtlomische in ihm merft feiner
von allen, das Nichtlomiſche, das ihmen ſelbſt abgeht,
das aber in diefem abgezehrten, erichöpften Leibe brennt
und leuchtet und unverjehens in Funken nad) außen
iprüht. — Auch Don Duichote war komiſch.
Unterdeffen fuhr Matwej fort, meine Mäfche,
Kleider und fo weiter in häusliche Ordnung zu bringen,
natürlich nicht in die richtige, denn nad) wie vor
folgte er nur feinem eignen Kopfe. Ich bat ihn,
alles das für den nächſten Tag zu lafjen.
Am folgenden Morgen, faum dab ich aufgeftanden
war, ftellte fih Matwej ein — mit einem Jereſter,
das alles enthielt, was ich von der Neife mitgebracht,
und mit einer Rechnung über Zuder, Thee, Holz, kurz
über alles, was er zu meiner Ankunft eingefauft hatte,
Vor meinen Augen flimmerten wieder: Millig,
Puder und jo weiter.
„Das Holz ift um fünfundfiebzig KHopefen teurer
geworden als voriges Jahr,* bemerkte er traurig.
Dann aber Hellte ſich fein Antlik auf, und er fügte
binzu: „Dafür find Zuder und Kerzen billiger.”
Und damit job er mir Rechnung und Jerefter zu.
Id war nahe daran, verzweifelt die Hände zu—
jammenzuichlagen, mußte jedod laut aufladhen, und
auch Matwej zeigte das ganze Zahnfleiſch.
„Du bieibft immer derſelbe — unverbeſſerlich.“
Er ſtand vor mir in dem alten grauen Nod,
Für dich giebt's feinen Preis, weißt du, Matwejt“
„Der Herr ift jetzt mit dem Preis herumtergegangen,
er ijt jegt mit fünfhundert zufrieden,“ fagte er Ich»
baft, vor freude gludjend. „Ich habe dem Ant:
mann jchreiben laſſen und ihm dem Brief geihidt,
daß id; das Geld erlegen werde. Vierhundert hab’
ich ſchon,“ jagte er vertraulich flüfternd. „Im drei
Jahren, wenn es Gott giebt, werde ich vielleicht das
übrige erjpart haben.”
„Wie, vierhundert? So viel hatteft du ja ſchen
vor meiner Abreife. Jeht müßteft du doch das Dop
pelte haben. Haft du denn in meiner Abweſenhel
nichts erjpart oder haft du fo viel verbraucht ?*
Das Geſicht Matwejs verbüjterte ſich und wurde
totenartiger als je.
„Diejes Geld ift überhaupt nicht mehr vorhanden,
gnädiger Herr!” jagte er tief Atem holend und jet:
wärts blidend.
„Wo ift e8 Hingefommen? Hat man e& dir ge
ftohlen? Sind Diebe gelommen?*
Er wurde wieder munterer und zeigte jein Zahnfleiit.
„Diebe? Mein, gnädiger Herr. Wie wären die
dazu gelommen? ch hätte fie gepadt und jo...“
Er bedeutete mir mit beiden Händen, wie er die
Diebe zerrifjen hätte. „Sie hätten ihre Beine nid!
davongebracht, viel weniger das Geld.”
„Wohin ift es dann gelommen?*
Er jchwieg einen Augenblid.
„Der Gevatter hat e8 vertrunfen,“ murmelte
dann mit einem tiefen Seufzer und kniff die Augen ein.
„Vertrunfen? Weshalb haft du es ihm gegeben?
Du hätteft es in die Bank legen follen.”
„In der Bank kann ich es nicht haben. Das
Geld muß oft verliehen werden. Soll man da jede:
mal nad) der Bank laufen? Da hab’ ich es dem
Gevatter zum Aufheben gegeben. Er hat mit feiner
Frau allein eine Wohnung. Das Zimmer ift nie
leer. Entweder ijt er zu Haus oder fie. Ich hab
aud) meine Pfandſachen bei ihm liegen. Es mußt
auch niemand um das Gelb ala ich und die beiden.
Für mid) jelber hatte ich einen Winkel gemietet, In
einen Winkel, willen Sie, gnädiger Herr, fommt aber
alles mögliche Volt. Und da gab ich mein Geld
dem Gevatter zum Aufheben,“ ſagte er flüfternd mit
einem tiefen Seufzer. „Er hatte e8 im Ofenzohr,
in einem Topf, damit es nicht geftohlen würde. Ja,
und dann hat er es jelber ausgeführt, erjt im Heinen
Portionen, und dann nahm er alles aufeinmal, Drei
Monate lang war er nicht zu ſehen — immer betrunten.“
Wiederum ein tiefer Seufzer. Er ſah gam
äußerlich unbewegt und rubig, aber mit einem Schim-
mer jtiller Freude in den Augen, freude darüber,
daß id) wieder daheim und er bei mir war. Er ſchien
über mich wahrhaftig entzüdt zu jein.
erjhöpft aus. Armer Teufel! dachte ich bei mir. |
Diener IV. Matwej. 703
„Afo bat er dir gar nichts zurüdgegeben ?*
fragte ich.
„Wie fonnte er etwas zurüdgeben? Er hatte ja
jelber nichts, Als ich zu ihm Fam, ſchenkte ich ihm noch
meine alten Schuhe und eine Hofe, die ich von Ihnen
belommen hatte. Er hatte nichts anzuziehen, Auch Bars
geld, einen Rubel,“ endete er und ſchloß bie Augen.
„Und die vierhundert Rubel, die du jetzt haft —
woher find bie?“
Er lebte wieder auf, feine Augen begannen zu
glänzen: „Wieder erjpart, gnädiger Herr!” fagte er
triumpbierend. „Das Geihäft ging flott und gut.
In dem Haufe, wo id) wohnte, gab's einige junge
Herren. Die nahmen oft bei mir und zahlten Pro⸗
jente, jo viel man verlangte. Manchmal nahmen
fie aud) ohne Pfand und gaben alles pünktlich zurück,
Anderthalb Jahre lang hab’ ich alles zurüdbefonmen, |
ı beide mit Bedauern. Er heiratete wirllich, eröffnete
| ein „Ctabliffement“, eine Gartüche, und lud aud)
Jetzt liegen bei mir wieder verjehte Sachen.“
*
Seit meiner Rücklehr war ein Jahr vergangen.
Jh war mit Matwej jo zufrieden wie je. Um io
größer war daher meine Verwunderung, ald er eines
Tags die Abficht äußerte, eine Wohnung zu mieten
und Zimmerherren aufzunehmen, Eine traurige Zu-
funft that fich wieder vor mir auf,
„Wie? Du willft mid) verlaſſen?“ rief ich.
„Seht nicht, mein!“ beeilte er ſich, zu erwidern.
„Aber im Herbft," — wir befanden uns damals im
April — „im Herbft, gnädiger Herr, entlafjen Sie mich!
Im Herbft wird mir der Amtmann den Freibrief
ſchiden. Ich werde ihm da das Geld einjenden —
nicht das ganze, nur die Hälfte — die andre Hälfte |
fpäter. Ich werde noch fünfhundert übrig behalten,“
ſchloß er geheimnisvoll,
Ich ſeufzte.
„Was ſoll ich anfangen, wenn du gehſt?“
„Ich werde Ihnen einen andern Diener ver- |
ihaffen — gerade jo einen —*
„Nein, Datwei, fo einer ift nimmer zu finden.*
Er jagte nichts darauf, aber er ſah fo aus, ale
ob er noch etwas auf dem Herzen hätte, und plößlich
machte er mir eine Eröffnung, die mir in der That |
ganz umerwartet fam: nämlich, daß er ein Frauen» |
summer im Auge habe, und daß auch fie nicht ab«
geneigt jei, ihn zu heiraten.
Ich war außer ftande, ihn zu Ende zu hören und
Iprang vor Staunen vom Seſſel auf,
„Was? Du willft heiraten? Cs ift nit —“
Ih konnte nicht weiter. Das Laden übermältigte
mid. Auch er zeigte das Zahnfleiſch.
„Gewiß und wahrhaftig, gnädiger Herr!“ jagte
er ſchnell und einigermaßen beichämt,
„Du ein Familienvater mit Weib — und Pins |
ben —“ Ich lachte neuerdings.
„Öott mit ihnen, mit den Kindern! Was für Finder,
Oſtern und Neujahr.
gnädiger Herr? ch werde mich doch nicht mit ſolchen
Dummheiten abgeben. Das find Kindereien. Pfui!“
Er that ein paar Schritte, um in die Ede zu
Ipuden. Dann fam er wieder zu mir.
„Sie ift ja ſchon Hoc in Jahren,” fügte er binzu,
„Und was Haft bu für ein Vergnügen dabei, fie
' zu heiraten ?*
„Sie hat Geld,“ fagte er leife. „Die Leute fagen
— fie foll taufend ober mehr Haben — vielleicht zwei.
Sie weiß auch, daß ic was habe. Wir werden zu:
fammen ein Gejchäft treiben — werden eine große
Wohnung mieten — eine Garküche eröffnen — Mieter
nehmen — einen Saal für Bälle und Hochzeiten
halten. Wir werden reich werden, ſchredlich! Ja,
jehen Sie, gnädiger Herr, obne Frau lann man fo
etwas nicht machen.”
Im Herbft nahmen wir Abjchied voneinander,
mic ein, feinen Tiſch zu verſuchen. Ich kam nicht
bin, hörte jedoch von Bekannten, daß man bei ihm
nicht ſchlecht eſſe und daß das Geſchäft gehe. Er mietete
auch wirklich einen Saal für Hochzeiten und Bälle.
Drei Jahre lang beſuchte er mich regelmäßig zu
Er fam in rad und weißer
ſtrawatte, eine Uhrtette auf der Weſte. Mein Gott,
wie komiſch er war!
Als ich nach alter Gewohnheit eine Banknote aus
der Brieftafhe nahm, um fie ihm „zu einem roten
Ei* zu ſchenken, ſprang er zurüc wie ein verwundeter
Wolf und jagte in vorwurfävollem Ton:
„Nicht deshalb, gnädiger Herr, nicht deshalb!
Gott bewahre! Ich werde Sie nie vergefien.“
Barum? dachte ich bei mir, indem ich ihn be—
luſtigt und zugleich gerührt betrachtete.
Zum letztenmal beſuchte er mi, als er börte,
daß id) im Range befördert worden jei,
Er kam auf mic, zugeftürzt, jprang vor Freuden
und jah mich mit leuchtenden Augen an.
„Ich jagte es Ihnen, gnädiger Herr, id) jagte es
Ihnen. Ich wußte es — Sie werden noch Wineral
— ih habe darum gebetet.”
So beglüdwünfchte er mid, mir die Schulter
küſſend, und al& er wegging, rief er: „Gott gebe,
dab Sie ein Graf werden! Ich werde beten,“
Ich bedaure fehr, nicht auch dieſen Titel erworben
zu haben, wäre es auch nur, um die Freude Matwejs
' zu jehen. Wie würde er fpringen!
“
Später hörte ich, daß Matwej ſich freigefauft, daß
er das Geld bezahlt und ſeinen Schein empfangen
habe, und zwar furz vor dem Maniſeſt vom 19, Fe⸗
bruar 1861,*)
Durch welches die Leibeigenf haft aufgehoben wurde
a 3 ya
die Heldichte eines jungen Mädchens.
Roman von
Erna Inel-Hanfen,
Aus dem Däniſchen überfebt von Ernſt Braufewetter.
Schluß.)
IV.
Als Margarete nah Haufe ging, lag goldenes
Nahmittagslicht des Maitages über all dem Sproſſen ·
den und Grünenden in Gärten und Allen. Die Luft
war ein zitternder Nebel von ſchimmernden lichten
Farben, wie durdiwebt mit Duft der hervorquellen-
den Ueppigfeit. Nun ſah fie das alles.
Das Leben war neu für fie, das Dafein erfüllt
von einer niemals geahnten, geheimnisvollen, jtrahlen-
den Herrlichkeit. Und dann war es, als wäre fie
erit jet erwachſen — ja erſt jet ein ganzer Menſch,
ein ganzes Weib geworden — das hatte er mit den
ſüßeſten und wunderbarften Worten gejagt — ganz
Weib, geihaffen für die Liebe. Dieſe Worte waren
in fie wie eine Offenbarung niedergefahren, hatten
ihr gleihjam das Rätſel des Lebens gelöft, denn
„leben war lieben”, Mit dem eben gewonnenen,
jiegesficheren Bewußtſein von dem, was fie in fich
barg, was jie zu geben vermochte, jagte jie fich jelbit
mit feinen Worten, daß fie zu den Glücklichen, den
Auserlorenen gehörte, die gejhaffen waren für die
Siebe. Und jie war jein — o, wie fie e8 niemals ge=
träumt hatte, daß man eines andern merden könnte!
Wie glüdlich fie das machte, wie unbeſchreiblich,
unausſprechlich glüdlich!
Faſt übermütig lachte fie jet über all ihre mädchen⸗
hafte Angit in ihrem grübelnden Sinnen über das
Geheimnis des Liebesglüdes, das ihr ſoeben ent
ichleiert war, während fie jedes Wort, jede Liebkojung,
jede Freude wieder durchlebte.
Seit diefem Tage gab es feine Leere und feine
Dede mehr; alle Unruhe des Müfiggangs war fort;
daß fie feine Arbeit hatte, war ihr jet eine Freude
mehr, denn es gewährte ihr volle Freiheit, zu träu-
men, fich zu jehnen — und jet war feiner ihrer
Träume mehr unfruchtbar — die Sehnſucht hatte
nicht8 vom Vermiſſen an ji, denn fie fühlte jedes—
mal, wenn fie fich jahen, aus der Leidenjchaftlichkeit
feiner Küffe, jeiner Umarmungen, dab er liebte wie
fie, fich jehnte wie fie.
Aber mehr als alles andre bezauberte fie feine
Zärtlichkeit. Sie konnte weinen vor Glüd, wenn fie
daran dachte, wie gut er gegen fie war, wie liche:
voll und wie janft. Und dann veritand er fie —
0, wie fie niemals verjtanden worden war! — jede Be
wegung ihrer Secle fand gleihjam ein Echo in der
feinigen. Niemals fam fie vergebens, jondern wurde
jedesmal von ihm faſt mit größerer Wärme, mit
innigerer Liebe empfangen, — und fie jchaubderk,
wenn der Vergleich zwifchen ihm und Möller ſich ihr
unwillkürlich aufbrängte.
Sie hatte ihm nichts von ihrer Verlobung geiagt.
Was bedurfte es defjen? Sobald fie einen Brie
von Möller befam — und das konnte nicht vor dem
Herbft geihehen, von London aus, denn jo lange er
in Grönland war, könnte er nicht ſchreiben, hatte er
gejagt — wollte fie natürlich die Verlobung aufe
heben. Und damit war er aus ihrer Seele en
ihwunden, als wenn er niemals gelebt hätte.
Sie konnte nur nicht begreifen, daß fie ſich je
mals eingebildet hatte, in ihm verliebt zu fein, denn
fie glaubte feft, fie hätte niemals einen andern ge
liebt und würde niemals einen andern lieben ali
diefen Mann, an deſſen Herz fie erlebt hatte, mas
Ghriftian den „jüheften Augenblick“ genannt hatt,
den das Leben zu bieten vermöchte.
O, wie fie ihn num verfland, und wie er nö
gehabt hatte!
Wie jo viel ſchöner, glücklicher — ja heiliger ı
ſchien ihr ihre Hochzeit, wie fie es mannte, gerade
durch das Geheimnis, das fie umgab, und von
dem fein andrer etwas ahnte, als eine folde, wie
Dlivia und jelbft Ludovila fie gehabt hatten!
Es fonnte in ihr eine Freude emporjprubeln, die
gleihjam den Verftand überwältigte, wenn fie, de
heim oder aud) mitten unter Fremden, plößlid daran
dachte, daß fie heimlich geliebt, heimlich vermäblt
wäre. Dieſe Worte hatten für fie einen wunderbaren
Zauber an ih — daß niemand das Glüd ahnt,
das fie genoß, daß es ihr ganz allein gehörte. Und
dann jah fie, wie in einer fyata Morgana, das vor
edby zer
Ki
gem
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
705
grünlichem Lichte übergoffene Atelier, hörte die Vögel , ſättigter Seele umd befriedigten Sinnen, und doch
draußen zwitjchern, wie jenes erſte Mal, jpürte die
fonnengefättigte Luft dort drinnen, vermiſcht mit dem |
Geruch des Terpentins der Farben, jah die Skizzen
an den Wänden, die Staffelei und ihn — ihn an ber
Thür, um fie zu empfangen.
Der einzige, dem fie Luft gehabt hätte, von ihrem
Glück zu erzählen, war ihr Vater; bisweilen war fie
nahe daran, es zu thun. Aber alles fonnte fie ihm
ja doch nicht jagen und — er würde ja auch nicht
verftehen, warum fie und Ktrog es jo mwünjchten,
fondern würde verlangen, fie jollten fich öffentlich
verheiraten, wie andre Leute, und das war es ja
mit einer neugeborenen, ſchwellenden Sehnſucht, die
ihrem Dafein Fülle verlieh.
Und ihre Liebe war jo reich, jo erfinderiich in
ihrer Fähigfeit, ſich felbft zu erneuern, daß er anfangs
auch nichts vermißte und ſich dem vollen Genuß des
Glückes hingab, das fie ihm jchentte.
Er hatte vorläufig feine Reife aufgegeben oder
bis ins Ungewiſſe hinausgeichoben.
Er that nichts. Eine raftlofe Unruhe hatte fich
feiner bemädhtigt, weil er befländig wartete, Er
machte Entwürfe, zeichnete, begann auch ein Bild,
| aber e& wurde nichts Rechtes. Er wagte nicht, fich
gerade, was fie nicht wollten, Nein, das würde nur |
Trennung bedeuten, Aufhören bes wunderbaren Ge- |
nicht aus, bevor fie nicht dageweſen oder bevor es jo
heimniffes, in dem fie lebte — und außerdem, Frog
dachte wie Vetter Chriftian, daß die Liebe ihr eignes
Recht hätte, und fie dachte in allem, wie er. Dies
war ihr eigen, und nur jo war fie völlig glüclich,
ja, ohne Störung wollte fie den Tranf des Lebens ge=
niefen, nach dem fie all ihr Lebtag gebürftet Hatte,
Einen Fehler jedoch hatte die Geheimthuerei: fie
fonnten nicht viel miteinander reden.
fi nirgends, aufer bei ihm, da jet in den hellſten
Sommertagen Rendezvous im Freien unmöglich waren,
— und fie wollten nicht entbedit werden, nicht um
alles in der Welt.
Sie konnte fi nur zu ihm fehlen, und geſchah
& aud oft, fo doch felten auf längere Zeit, und
immer mußte fie einen Vorwand ſuchen, der ge
nügend glaubwürdig war. So lange Ludovika noch
in der Stadt war, ging ed no an. Papa und
Mama waren es ja gewöhnt, daß fie jo gut wie
füglih dorthin ging. Aber Lubovifa und ihr Dann
teilten zu Anfang des Sommers ins Ausland, und
dann war es ſchwer, etwas andres ausfindig zu
machen, ala daf fie jpazieren ging. Uebrigens ahnte
Ludovifa nichts. Schon am erften Tage hatte Mar«
garete fie jo gründlich auf den Holzweg geführt, daß
fie feinen Verdacht hegte.
Nein, niemand burjte etwas wiſſen, niemand,
nicht einmal Qubovifa,
Sein Atelier lag ein gutes Stüd außerhalb der
Stadt, und ber Weg erforberte Zeit, ſelbſt wenn fie fuhr.
So wurden ihre Zujammenfünfte jelten etwas
andres, ald ein Platzregen von Lieblofungen, bie mit
oft fieberhafter Haft ausgetaufcht wurden.
Margarete genügte das oder wenigftens beinahe.
Das Glüd der Liebe beftand für fie darin, Lieb-
tofungen zu geben und Liebkofungen zu empfangen,
Co lange feine Arme fie in Leidenſchaft an ſich
drüdten, feine Lippen Piebesworte ihr ins Ohr flüfter-
ten, vermißte fie nichts, und fie ging von ihm, wie
lutz ihr Zufammenfein auch gewefen war, mit ge
Aus fremden Sungen. 1997, II. 15,
Sa, jo gut |
wie niemals, denn fie waren jehr vorfichtig, fie jahen
ein Modell zu beihaffen, denn er war ja niemals
fiher, wann Margarete fommen konnte. Er ging
; jpät geworden war, daß er fie nicht mehr erwarten
fonnte.
Als die warme Jahreszeit fam, reifte der Etatsrat,
wie es feine Gewohnheit war, in einen Bade-Drt; er
brauchte das jeiner Verdauung wegen, wie er jagte.
Mama gehörte zu jenen richtigen, eingeborenen
Kopenhagenerinnen, die am liebften auch während des
Sommers in der Stadt bleiben. Ihr behagte das
Sandleben nicht, und dann hatte fie es fo ſchön
rubig, wenn der Etatörat fort war, denn: „Gott, wie
wäre das 2eben bequem, wenn man die Männer los
wäre!" Aber michtsbeitoweniger vermißte fie ihn
gründlich, ſchrieb jeden Tag an ihn und ging wie
ein eierfranfes Huhn umber, wenn die tägliche Brief-
karte fih nur um eine Poſt verjpätete,
Margarete brachte jonft den Sommer bald bei
der einen, bald bei der andern befannten Familie
auf dem Lande zu, aber heuer wollte fie nicht fort.
Sie hatte plötzlich eime ſolch zärtliche Sorgfalt
für Mamas Wohlergehen befommen und fagte, fie
bräcdte es nicht übers Herz, von ihr fortzugehen
und fie ganz allein in der leeren Wohnung zu laſſen.
Und außerdem fühlte fie ji jo wohl, fo wohl, daß
fie förmlich ftroßte vor Gefundheit — feine Spur
von Bleichſucht.
Na, da befam fie ihren Willen, und Mama
war ganz gerührt — fie war nicht gemohnt, daß
Margarete jo viel Rüdfiht auf fie nahm. Es war
ja unleugbar ein wenig traurig, in dem großen Haufe
mit den Dienftboten allein zu jein — man mochte
faum ordentliches Eſſen kochen.
Dlivia lag ihr auch ſchwer am Herzen, denn bie
Arne war, wie immer im Sommer, ſchon wieder in
andern Umſtänden.
Diefer Umftand gewährte Margarete bedeutend
mehr Trreibeit, ald gewöhnlid. Mama war immer
mehrere Stunden des Tages bei Dlivia; fie jelbft
machte regelmäßig Heine Ausflüge zu benjenigen
ihrer Berwandten und Belannten, die am Strandiveg,
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706 Erna Juel-Hanſen.
in Taarbäd und jo weiter auf dem Lande wohnten, |
und fand dabei Gelegenheit, für einige Stunden |
„aus der Welt zu verſchwinden“, wie fie es nannte
— und dann war fie bei ihm. Gin ewiges Kom-
binieren fand in ihrem Gehirn ftatt, und fie be= |
mußte jede Gelegenheit mit einer Lift und Schlaus |
beit, die Krog in Erftaunen verjeßte, um plößlic, |
wenn er es am wenigſten abnte, wie aus den
Wollen gefallen in feinem Atelier zu ftehen und ihm
zu erzählen, daß fie jo und jo viel Stunden, Mi-
nuten und Sekunden zu ihrer Verfügung hätte — |
fie wußte e$ immer ganz genau, denn es mußte in
der Kegel mit der Abgangs- und Ankunftszeit eines |
Eiſenbahnzuges dergleichen übereinftimmen. |
Wunderlih war es, dab ihm allmählich die '
Stunden zu lang eriheinen fonnten. Es fehlte nicht |
viel, daß er bisweilen, nun, da fie ſich faſt täglich)
ſahen, begann, die früheren haftigen, jeltenen Zu—
ſammenkünfte zurüdzumünjchen. Es überfchlic ihn |
allmählich etwas, was der Enttäufhung ähnelte —
denn fie war nicht recht das, was er erwartet hatte.
Ihr Verhältnis zwang ihn, üolierter zu leben,
als er e8 bisher gethan hatte, Er mußte jeine Thür
allen andern jo gut wie verſchließen, wenn fie freien
Zugang haben jollte, und er hatte den übrigens nicht
zablreihen Freunden und Slollegen, die noch in
ber Stadt waren, eingebildet, daß er eine Arbeit vor-
hätte, bei der er nicht geftört werden wollte. An feiner
Ihür befand fi ftändig der Heine Zettel: „Beſuche
werden nicht empfangen.” Aber defto mehr fühlte
er das Bedürfnis, ſich ihr mitzuteilen, bei ihr Ver—
ſtändnis zu finden, ſich durch geiftiges Zuſammen-—
leben mit dieſem jungen Weibe, das ſo friſch und
warmfühlend war und das jo viel enthalten mußte,
zu bereichern. Nun, wo fie Zeit hatte, mußten fie
da nicht etwas auseinander herausbringen fünnen ?
Und er verfuchte es wieder und wieder, aber ohne
Erfolg.
Er war ſo ſtarl von der Bewegung der neuen
Zeit ergriffen, dem damaligem Umſchwung des
Geiſteslebens in Dänemark. Er liebte alles Neue
in der Kunſt und Litteratur. Das war es, was ihn
erfüllt hatte, als er das Bild malte. Und es war
eines der erſten der neuen Schule, das Aufſehen er—
regt hatte. Er hatte damit auch für die Sache, der
er diente, einen Sieg davongetragen,
Uber von dem allen wußte fie nichts — abjolut
nichts, und was ſchlimmer war, fie hatte, wie er bald
entdedte, auch kein jonderliches Intereſſe für das,
was zum geiftigen Leben gehörte und was für ihn
ein Lebensbedürfnis war, jo notwendig wie die Luft,
bie er einatmete.
Das war ein unglaubliher Mangel. Und er
begriff es nicht, bis er allmählid aus ihr heraus—
brachte, wie fie erzogen war. Daß etwas Derartiges
möglich war in unjrer Zeit! Es war und blieb ihm
ein ungelöftes Rätſel.
Dann ſuchte er ihren Sinn und ihr Intereſſe jr
erweden, er wollte ihr far machen, was Vergangen-
beit und Neuzeit jchied, und ſprach ſich darüber
warm. Sie hörte ihm auch zu, ſcheinbar mit Jntereſt
Er wurde jo hübſch, wenn er jo jpradh. Aber er
merfte bald, es waren nur ihre äußeren Obren,
welche folgten. Gemüt und Seele waren für alle
andre verſchloſſen, als was ihn und fie rein periön«
lid) anbetraf. Ihre Liebe machte fie freilich jo jein-
börig, daß fie in der Regel wußte, was er wünjdte,
daß fie jagen oder antworten jollte, und fie war
immer berjelben Meinung wie er, lobte, was er dei
Lobes wert fand, und tadelte furzweg alles andre.
Aber niemals brachte eine Frage oder ein Zweiſel
ihm Botſchaft davon, daß das, was er ihr mit
teilte, Wiederhall in ihr jelbft fand, einem Drang
nad) Wiffen oder Verftändnis begegnete. Ein paar:
mal jtellte er fie auf die Probe und widerſprach ih
jelbft. Ja, dann war fie dod mit ihm einig.
Eo wurde es völlig zwedios, auf dieje Weit
mit ihr zu reden.
Er gab ihr Bücher — die neueften, die beiten,
die er fannte und die er liebte und bewunderte, troh
aller Mängel, nur weil in ihnen etwas von der neuen,
friſchen Meltftrömung vorhanden war, die enblih
auch hier daheim die Dämme durchbrochen hatte,
aber fie las fie nicht — oder jo langjam, daß ihm
die Geduld verging.
Sie verfuchte es ehrlich. Aber das Buch jant
in ihren Schoß, fobald fie nur zu lejen begann.
Itgend eine Einzelheit darin erinnerte fie ſogleich
an ihn. Sie juchte nur immer die Liebesjcenen auf,
und dann flogen die Gedanken vom Buche zu der
Wirklichkeit, in der fie lebte. Sie hatte ja num das
Leben — was kümmerte fie fih um die Bücher?
Und nicht beſſer ging es mit feiner Kunſt, für
die fie jo gerne Verſtändnis haben wollte. Aber
das fonnte nicht erlernt werden, wie fie jeinerzeit
Botanik gelernt hatte. Sie hatte fein Auge für
Linien, Farben und Töne. Sie hörte ihn außerdem
viel lieber das allergewöhnlichite Liebeswort ſprechen,
als von den Meijtern der ganzen Welt, ihren Bildern,
ihrem Leben und ihrem Schaffen erzählen.
Sie beſaßen einander, Was ging fie die ganze
übrige Welt an! Sie fonnten von ihrer Liebe reden.
Was war jo herrlich, wie diefe!
Niemals wurde fie müde, felbjt zu jagen und
jagen zu hören, daß fie ihn liebte und er fie, umd
fie fand jo reiche und ergreifende Worte, daf dit
Wiederholung aud) ihm lange neu ſchien und er im
Augenblid jedes Vermiſſen zurüddrängte und die
Worte von ihren Lippen abfüßte,
Aber während all dem fam er, wie gejagt, nicht
| by (soogle
S C
Be. „As.
Die Geſchichte eines jungen Mädchens.
dazu, etwas zu thun. Sein fünjtleriiches Gewilien
plagte ihn deshalb bisweilen ſchlimm. Die Reifes
ſehnſucht teilte Fich auch ein. Dieſe heigen Auguſt-
tage waren fait unerträglich unter dem Schieferdach
feines Ateliers. Im Anfang hatte er ihr gelagt
umd es auch geglaubt, daß ihre Liebe ihn zu neuen,
großen Aufgaben in weit reicherem Maße begeijtern
würde, als die Reife, die er beabfichtigt halte. Nun
fonnte er fich nicht von dem Gedanken freimachen,
daß diefer Sommer, den er in Kopenhagen zubrachte,
ſelbſt mit ihr, nicht gerade ſonderlich geeignet wäre,
ihn mit Eindrüden zu bereichern oder ihm Impulſe
zur Wrbeit zu geben.
Penn er, wie es oft geihah, in der dumpfen
Luft des Ateliers eingeichlofen, fie einen ganzen Tag
erwartet hatte, überfam ihn die Empfindung, ala
wäre er im Gefängnis. Die Luft, hinauszukommen,
frei zu fein, brüdte ihn wie ein Alp. Bilder von
Schnee und Alpen, von großen, freien Berghalden
mit Fühler Gebirgsluft zogen an ihm vorüber,
Wenn fie noch ein wenig im freien hätten zu—
fammen fein können! Aber was ihre Zuſammen-
fünfte fo ſeltſam eintönig machte, war diejes beftändige
Zuſammenſein auf demfelben led, in demſelben
Zimmer, in demjelben Farbenſchimmer. Al dies
Grüne, was fie immer umgab, peinigte fein Auge,
wie eine Melodie, endlos wiederholt, das Ohr mar-
ten fan.
Aber wenn fie fam, verihwand doch alles in dem
Glüd, das fie — meiſtens — mit ſich brachte.
In der letzten Zeit blieb jedoch bie und da eine
Unmutswolfe über feinem Geſicht lagern, bie ihr
nicht entging und die jie unruhig und bedrüdt machte,
obſchon es ihr bisher ſtets geglücdt war, fie durch
das einzige Mittel, das fie gegen alles hatte, zu ver-
jagen — durch ihre Liebfofungen, ihre Worte, die
fie boppelt warm, doppelt vieljagend zu machen juchte,
bis er fi) in eine roja Wolfe eingehüllt fühlte und
alles in ihren Armen vergaß.
Aber wenn fie nun fragte: „Liebft du mich ?“,
antwortete er jelten direft, er gebrauchte eine Um⸗
ſchreibung oder er machte die Antwort zu einer Frage:
‚Närchen,* fonnte er jagen, „was für eine Frage ?
Füblteft du e8 denn nicht eben an meiner Umarmung,
meinen Küſſen?“ Oder er antwortete verneinend mit
leicht durchſchaubarer Uebertreibung: „Nein, nicht im
geringften, das merfft du doch,“ und preßte fie an ſich.
Aber fie wurde darauf aufmerffjam, und jie
grübelte oft darüber, warum er fo antwortete, und
niemals ein ordentlihes Ja, niemals, wie im An—
fange, da er die drei Worte vor Entzücken hundert:
und wieder hundertmal wiederholt hatte.
Dann einmal — fie war gerade im Begriff, zu
gehen und. hatte ſchon den Hut aufgeſetzt — fragte
fie ihn: „Wirft du mich immer Tieben?“
707
Er war offenbar betroffen und zögerte einen Augen»
blid, als wenn er ſich bedächte; dann fagte er:
„Immer“ ijtein jo großes Mort — id) will e& mit
einem andern vertauſchen und antworten: Tange!”
Sie ſeufzte und jah ihn faft ſchmerzlich an. Da
fügte er mit ungebuldiger Haft hinzu:
„Aber warum beftändig nad dem fragen, was
wir beide wiſſen? Wir beide find jekt in dieſem
Nugenblid ja von Liebe erfüllt. War es geitern der
fall, wird es morgen aud fein und das nächte
Mal, das wir und wiederfehen, und viele, viele
Male jpäter vermutlich. Warum denn daran denen,
wie lange e& währen wird? Weißt du es? Weiß
ih es? O Kind, laß und das Glück genießen, jo
lange wir es befiken, und quälen wir uns nicht mit
dem, was darauf folgt! Liebe mid), folange du
kannt, gieb mir Dich ſelbſt, dein eignes ſüßes Ich,
wie dur es jetzt thuft, frei und ohne Vorbehalt, laf
uns die Put und den Jubel der Liebe miteinander:
teilen und genießen — und ift e& einmal vorbei,
dann trauere nicht! Lak uns den Mut haben, es
einander ehrlich, ohne Schen zu jagen! ch werde
mich nicht beflagen, ſondern alles deſſen gedenlen,
was du mir geſchenkt haft, als des Schönften, was
das Leben mir biäher gab. Nur jo kann man glüd«
lic) jein und es ganz fein —“
Sie legte die Hand auf jeinen Mund und jchmiegte
ſich an ihn, indem fie leidenschaftlich flüfterte: „O —
jtill — ich werde dich immer lieben — immer —
glauben, das ift mein Glück —“
Gr biß fie dur den Handſchuh in den Finger.
„Gelobe nichts, aber fomm, du Süße — und
fomm bald wieder, hörft du? — bald —!“
V.
Es war im September. Sie würde in der
Dämmerung kommen, hatte fie verſprochen.
Und nun ſollte es geſchehen. Es ſollte jetzt ein
Ende haben, bevor es zu jpät wurde. Noch war
nichts geſchehen, was ſich nicht wieber gut machen
ließe, hoffte er.
Aber er durfte nicht auf feine Ruhe, feine Be—
fonnenheit bauen, wenn fie fih im Zimmer trafen,
Noch ruhte etwas über ihr, was feine Sinne bezauberte,
wenn er fie nur in feiner Nähe fühlte, aber auch nur
dies war übrig. Sonft war er dieſes Verhältnifies
müde und überdrüffig, das ihn band und einfperrte,
jo dab er nahe daran war, zu erjtiden.
Iedesmal, wenn er fie in ber fehten Zeit gejehen,
hatte er jich vorgenommen, ſie auf den Bruch vor—
zubereiten, der fommen mußte. Aber er hatte es
nicht vermocht.
Sie fahen ſich wieder nur für flüchtige Augen«
blide, für die fie fich zu ihm au ftehlen vermochte —
und jo blieb e8 inımer wieder beim alten. Ihre leihen«
ichaftlichen Liebfojungen, die fühe Anmut ihrer warmen
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708 Erna Ju
Dingebung bliefen Lohe in die verglimmenden Kohlen
feiner Liebe. Aber er wollte den Becher nicht bis
zur Neige außtrinfen, nicht den bitteren Gejhmad
ber Hefe mitbelommen — nicht um ihretwillen und
nicht um feinetwillen. Er wog alle Bebenten da«
gegen ab, daß er im wahrften Sinne des Wortes
ein Unrecht beging, wenn er dies Verhältnis fortjeßte.
Er liebte fie nicht mehr, oder richtiger nicht mehr fo,
daß er ein Recht auf ihre Liebe hatte. Und doch
graufte ihm vor dem Schmerz, den er ihr bereiten
follte, e8 war fogar hart genug für ihn jelbft. Aber
fie, für die es unvermutet fam, die ihn nod mit
derielben hingebenden 2eidenihaft, wie am erſten
Tage, liebte — das fühlte er in jedem Kuß, jedem
Wort, jedem Blid, diefem Blid, der ſich in den
feinen ergoß, jo daß es unmöglich war, zu widerjtehen.
Nein, er konnte fie nicht wieder in der Stube
treffen, wo alle Erinnerungen mit ihr verknüpft
waren und ihn über jeine Kräfte verloden mußten.
Und nun, im nächſten Augenblid, würde fie hier jein
mit ihrem Lächeln, ihren warmen Augen — nein, fie
durfte heute nicht hierher fommen, wenn es geichehen
jollte — und es follte geſchehen!
Er jah nad) der Uhr. Ja, num war es an der
Zeit. Im einer Minute oder zwei würde es zu
fpät fein.
Er nahm jeinen Hut und ging hinaus,
Nur wenige Schritte und er begegnete ihr — er
wäre beinahe an ihr vorbeigegangen. Sie war bicht
verjchleiert und hatte einen langen, dicht ſchließenden
Mantel an, den er nicht fannte. Derjelbe machte
jie größer, und es war faft ſchon dunkel. Sie ergriff
ihn am Arm und jagte leife lachend, als fürchtete fie,
gehört zu werden :
„Was, fennft du mich nicht mehr? Ja, ich bin
auch beinahe verkleidet. Aber ed war jo kalt, dab
ich in meine Winterfleider kroch — o, wie falt deine
Hand ift — fomm, laß fie mid wärmen —*; aber
er zog feine Hand zurüd:
„Nein, nimm meinen Arm, wir wollen lieber ein
Stüdchen gehen.”
„Nicht nah Haufe zu dir? Aber — warum
nit?" Es Hang überrajcht, enttäuſcht — und dann
durchfuhr es fie mit eisfalter Angit, dad etwas nicht
in Ordnung wäre, daß ihr etwas drohte, etwas, was
fie ſchon die legten Male gleihjam in der Luft ge»
ipürt hatte — aber was — mas?
Er antwortete nicht. Sie legte den Arm in den
ſeinigen, drüdte ihn an ſich und hielt ihn feit. Er
fühlte die weiche Rundung der Bruft unter der Seide
des Mantel® und wie ihr Herz jchlug, und hörte den
bebenden Seufzer, ber ſich über ihre Lippen hervor-
drängte. Aber e8 wirkte nicht auf ihm, oder er wollte
es nicht auf ſich wirten laffen, wie es nur noch vor
wenigen Wochen der fall geweien war. Nein, und
el⸗Hanſen.
tauſendmal nein! Er wollte ſtark fein, ruhig jein.
Er nahm ummwillfürlih den Hut ab und lieh den
Herbitwind über die Stirn Hinftreihen. Er mußte
bejonnen fein, falt, wenn er num zu ihr reden jollte,
aber ihm war zu Mut, als wäre er ein Mörder
und fie das Opfer, dem er das Meſſer in die Kehle
ftoßen jollte.
Aber es mußte fein — alfo beſſer, ſchnell zuſtoßen!
und ſo kam es kürzer und härter, als er gewollt hatte,
ohne jede Einleitung:
„Margarete — wir müſſen ſcheiden!“
Sie jah ihn beftürzt an: „Scheiden — warum? —
was —?”
Er ſah durch den Schleier, wie fie bleich wurde
bis auf die Pippen. Es ſchnitt ihm ins Herz; aber
nun mußte er fortfahren.
Und er begann mit Umſchweifen, jo jchonend und
zart er konnte, zu erflären, warum, Er müßte leben
für jeine Kunſt, fönnte nicht gebunden fein, mühte
hinaus, fort von hier, und etwas werden — fie hätte
gejehen, wie e8 ben ganzen Sommer gegangen iar,
nichts hatte er thun können — er wäre arm, follte
leben, hätte nur jeine Kunſt und —
Sie jeufzte tief auf, wie befreit, etwas Blut zeigte
fi in ihren Wangen,
O, war es weiter nichts — er wollte nur reijen!
Sie legte ihre Wange an feinen Arm und flüfterte:
„Geliebter, reife — reife — ih will auf did
warten — und mid jehnen — und —"
Nein, es wäre nicht nur das, fuhr er fort; fie
müßten fcheiden für immer. Er wühte, Pflicht, Ehre,
alles, wa3 einen Mann an eine frau binden lann,
bände ihn an fie — aber — aber, fie hätten ein.
ander gelobt — ob fie fid) deſſen nicht entjänne? —
fich ehrlich zu jagen, wenn es bei einem von ihnen
nicht weiterginge und — und nun wäre es ihm jo er-
gangen, er fönnte nicht gebunden jein, ohne zu Grunde
zu gehen. Wollte fie, fonnte fie das Opfer bringen
und ihn frei geben?
Sie verftand ihn nicht. Was fümmerte fie ih
um Pflicht, Ehre und alles dad — ihre Liebe band
fie aneinander, nichts weiter — wie oft war fie nicht
gerade dadurd) jo glüdlich geweſen!
„Sprid nicht vom Scheiden,” jagte jie, „ich fann
es nicht. Ich will auf dich warten, ſolange es fein
muß. Reiſe oder bleibe hier, ich werde nicht fommen
und did ſtören — nicht nach dir jehen, bevor bu e#
jelbft willft, aber — aber nicht jcheiden! Ich kann
nicht leben ohne dich, ich kann nicht!”
Es lag Ungeduld in feinem Ton, als er antwortete:
„Das glaubt du jet, aber in kurzem —“
„Nein, nein, nein!” tönte es wie ein leijes Jam-
mern. Gin unerträglider Schmerz ſchnürte ihr die
Bruft zufammen, fie drüdte ſich feiter an ihn, ſchluch⸗
zend, ohne Thränen.
Die Geſchichte eines jungen Mädchens,
„Ra -— vielleicht? Dann bift du noch die Glück-
lichere von uns, ba beine Liebe in dir lebt. Das
Leben kann reich jein durch eine große Leidenſchaft,
jelbft wenn —“ und dann kam e3 .mit plößlichem
Ausbruch: „Aber ih — ih — o Margarete! Ich
weiß, was ich jeßt thun jollte, wünſche von ganzem
Herzen, ich Lönnte es thun. Und ich ſchwöre Dir,
menn ich dich liebte, wie nur noch vor wenigen
Wochen, dann — dann heirateten wir uns, obſchon
ih glaube, ja ich weiß es, daß wir beide doch ums
glüdlih werben würden. Wber jebt — o vergieb
mir, wenn es hart Mingt, ich muß e8 dir jagen,
jelbft wenn ich weiß, daß du darunter leibeft — aber
in mir ift die Liebe erlofchen — oder im Begriff, zu
erlöichen — und das ift meine Schuld — nur bie
meine. Ich Habe zu viel verlangt — oder es iſt
meine unglüdlihe Natur — niemals feft in etwas,
niemals! Sieht du, ih bin einmal fo, daß, wenn
du mich jeht zwängeft — und du fannft e8 thun —
würde ich dic Hafen, während — Margarete, es ift
wahr, jo niebrig und dumm es dir vorfommen wird
— vermagſt du in dieſem Augenblid edelmütig und
farf genug zu fein, mich freizugeben, werde ich dich
bewundern, dich lieben wie eine Schweiter, eine
Freundin, dir dankbar jein mein Leben lang für
deinen Edelfinn — und — und — wenn Jahre ver
gangen find und wir beibe uns beruhigt haben,
fönnen wir ung wieberjehen als — ala gute freunde —*
Es tam feine Antwort, nur dasſelbe leiſe jam—
mernde Stöhnen. Hilflos, gebrochen ging fie an
feiner Seite, ohne ein Wort, ohne Thränen,
Ein inniges Mitleid mit ihr ergriff ihm, während
ihn gleichzeitig ihr Schweigen reizte. Er fühlte jeht.
ba alles gejagt war, mehr als jemald, wie weit er
von ihr entfernt war, und Hatte doch Luſt, fie in
den Arm zu nehmen, fie zu Fieblofen, zu küſſen, wie
ein Kind, mit dem Bebürfniffe des Freundes, zu
tröften. Aber er wagte e8 nicht, er fürdhtete, fie könnte
ihn mißverjtehen.
Er ſchwieg noch eine Weile, dann begann er wieder:
„Margarete, du ſagſt nichts — du mußt mir eine
Antwort geben.*
Da ſchoß plöhlich ein jchrediicher Gedanke in ihm
empor. Er beugte ſich zu ihr nieder und flüfterte
ihr eine Frage ins Ohr. Sie jhüttelte energiſch
verneinend ben Kopf, während ihr Geſicht einen ein-
zigen Augenblid glühend rot wurde, Er jeufjte er-
leihtert auf. „Margarete,” bat er eindringlich, faft
zärtlich, „Tei mutig — id weiß ja, du haft Mut.
Ih lann nicht von dir gehen, bevor du mir gejagt
haft, daß du mich freigiebft. Du ſollſt es jelbft
jagen! Bedenle, wie glüdlih wir geweſen find, du
haft gefagt, ich hätte dich glücllich gemacht, aber wenn
ih es num nicht länger ſein kann — Margarete, um
bes Glüdes willen, das geweſen tft, antworte mir —“
709
Mühevoll ftammelnd, als veriagte die Zunge ihr
den Dienft, fagte fie mit ſeltſam ftarrer Ruhe:
„Wenn bu mich nicht mehr liebit, dann — dann —“
aber dann brach ihre Stimme. Mit heilerem, un»
ortifuliertem Laut drüdte fie fih an ihn, nahezu wie
im Wahnfinn. Ein frampfhaftes Schluchzen erichüt«
terte fie, jo daß fie faum flehen konnte. Er fühlte,
wie jie wanfte, und wollte fie umfaſſen, aber fie ſtieß
ihn wild von fi und flürzte davon, indem fie von
ber einen Seite des Weges nach der andern taumelte.
Er folgte ihr langſam nad) und behielt fie im
Auge von Laterne zu Laterne in der öden, menſchen⸗
leeren Seitenallee, ſah ihre Geftalt im Licht herbor-
fommen, mit dem Schatten unter den Bäumen zu—
jammenfließen, von neuem auftauchen. An der Ede
draußen an dem Hauptwege hielt eine Drofchke,
er fah fie dem Kutſcher winken und einfteigen.
Er fühlte ſich jo ſchuldbewußt, fo unglüdlih —
wußte, daß dies lange, lange auf ihm laften würde.
O, daß ber furze Schimmer von Glüd, den man
fih in dieſem verfluchten Dajein ftahl, immer jo
teuer bezahlt werden mußte!
Und doch Hatte er recht gethan, war ehrlich ge=
weien — ad, ehrlih! Aber wenn es nun feine
Dauer hatte — umd was konnte er dafür, daß das
nicht der iFall war! Es wäre ja für fie beide ein
Unglüf geworden. Wenn fie nur hätte weinen
lönnen! Dieje ftarre Stille, die über ihr lagerte,
flößte ihm Angft ein. Sie hatte wie eine Nadht-
wanblerin au&gejehen — er wuhte faum, ob fie recht
gehört oder verſtanden hatte, was er ſagte — eines
hatte jie verftanden, daß er fie nicht mehr liebte.
Welcher Unmenſch er war, daß er es nicht that! Wenn
er nur einen Troft für fie wühte, aber es gab ja
feinen... Er mochte nicht nah Haufe gehen. Er
ging zur Stadt, fehte fi in ein Cafe, ſchaute in
die Zeitungen, begann mit einem Belannten zu
plaudern, ohne zu willen, wovon fie jpradhen...
In der Nacht padte er feinen Koffer; am Tage
darauf reifte er nad) Italien,
VL
„Das Fräulein ift zu Bett gegangen. Sie fam
erft nad) Haufe, als es ſchon dumfel war, und hatte
fol furchtbare Kopfihmerzen. Sie wollte ihre
Schlafpulver nehmen und bat, nicht geftört zu wer«
den —” erflärte das Stubenmäddhen auf die Frage
der Etatärätin, die den ganzen Nachmittag bei Diivia
zum Beſuch gewejen war.
„Herr Gott, hat fie ſchon wieder Kopfichmerzen ?
Sie ift doch jo lange davon frei geweſen! Das ift
wirklich ein trauriges Erbe, das fie von mir be=
fommen bat. Aber ihr helfen doch wenigitens bie
Pulver, mir dagegen hilft nichts mehr — ad) Gott,
ja! Na, bitten Sie den Herrn Etatsrat zum Thee!*
nr 22 Dar Eidg en ERADTEe; *
Kenn Fa u en Ba — — — — —
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710 Erna Juel-Hanjen.
Aber Margarete war nicht im Bett. Sie lag
in ihrem Zimmer auf dem Boden, noch mit Hut
und Mantel, ganz platt am Boden, wie ein an»
geſchoſſenes Tier, und wand ſich, ohne weinen zu fönnen,
Sie litt jo unbefchreiblih, daf fie hie und da
gleichſam abwehrend, wie zu etwas außer ihr bat:
„Ad, wäre es doc) zu Ende, wäre e8 doch zu Ende!”
Aber es nahm fein Ende. Stüdmweiie famen
feine Worte gleihjam von draußen her und ver—
wundeten fie wie mit giftigen Stacheln. Nun ver«
ftand fie fie erft redht, und dann war es ihr, ala
biutete fie aus Hundert Wunden, denn es jchlichen
ſich Bilder und Erinnerungen aus ihrem Zujammen-
leben hinein, immer die glüdlichften, und dann hätte
fie vor Schmerz aufichreien können. Aber fie durfte
nicht. Imftinktiv erftidte fie jeden Laut, damit nie
mand fie hören ſollte. Unwillfürlih war fie auf
ihrer Hut, voll Angſt vor jedem Schritt, der ſich
näherte, vor jeder Thür, welche zufiel.
Endlich hörte fie die murmelnden Stimmen der
Eltern in der Schlafitube, und dann wurde alles
ftil. Nun war fie vor Ueberrumpelung ficher.
Dann fenkte ſich die Nacht über fie herab. Es
wurde dunkler. Der rote Widerfchein der Gas-
laternen draußen wurde zu grauſchwarzem Duntel.
Sie richtete fi halb auf — ihr Körper that ihr
vom Liegen auf dem harten Boden weh —, ſaß
aufrecht da mit um die Kniee gefalteten Händen,
und wiegte ſich Hin und ber, als brächte dieſe Be-
wegung ihr eine gewiſſe Erleichterung. Sie wurbe
immer ſchlaffer und jchlaffer, faft empfindungslos für
alles andre, als das eine, was fie unaufhörlich
wiederholte, daß es vorbei wäre — vorbei — vorbei!
Dann erfafte fie ein neuer, noch heftigerer Parorys=
mus, Cie flöhnte laut, rang die Hände und jchlug
mit geballter Hand gegen die Bruft, als wollte fie
daburd) den Schmerz da innen dämpfen; ihre Bruft
war jo müde, jo müde von diefem unaufhörlidhen,
peinlich jtöhnenden Schluchzen, das fie nicht zu unter-
drüdfen vermochte.
Das jhwarzgraue Dunkel draußen wurde grau,
dann graulihweiß, dann ſchwach leuchtend — noch
immer ſaß fie da. Mit flarren, thränenlojen Augen,
die ſchmerzten und brannten, beobachtete fie die Ver—
änderung draußen.
Als es Hell zu werden begann und fie die Dinge
um ſich ber unterſcheiden fonnte — war es, als wenn
mit dem neuen Tag das volle Bewußtjein von dem,
was fie verloren hatte, plößlich ihr Inneres mit
einem Schmerz durdhbohrte, als follte fie Davon fterben.
Ein halberftidter Schrei entrang ſich ihren Lippen,
und in dem unwiberjtehlichen Drang nad) einer Stüte,
nah Hilfe in ihrer Not kroch fie über den Boden
bin zum Bett, drüdte das Geficht in die falten Kiffen,
als wäre es eine menſchliche Bruft, und dann be=
gannen die Thränen unaufhaltiam zu fliehen, bie fie
infolge des frampfartigen Schmerzes in der Kehle
und Bruft nicht Tänger konnte.
Sie erhob fi und fuchte fi zu erinnern, wo
fie ihre Schlafpulver hatte. Ja, da ftand die Schachtel
auf dem Nachttiſch.
Sie rührte das Pulver im Waſſer ein und trant
die Frlüffigkeit aus, Dann warf fie fi) ins Bett,
Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Der
Krampf in der Bruft und Kehle, den das Opiat
einen Augenblid gedämpft hatte, fam wieder. Nein,
das wollte fie nicht Tänger ertragen.
Sie nahm ein zweites Pulver.
Da überfam jie ein bisher nicht gelanntes Wohl-
behagen. Der Krampf hörte auf. Das ſeeliſche Leid
blieb zwar, und fie vergaß nichts, aber es war gleid-
fam außer ihr. Ein eigentümliches, riejelndes Ge
fühl der Schwäde, das die Fähigkeit zu leiden be—
täubte, ergriff fie. Sie ſank und janf gleichſam in
ein weiches, Iinderndes Dunkel hinein.
Da durchfuhr es plößlich ihren Sinn, daß fie
gewiß zu viel Opium genommen hätte und daß dieſes
der Tod wäre. Aber e& bereitete ihr feine Angjt —
nur Frieden und Ruhe, denn dann war es ja vorbei
— alles vorbei...
Sie ſchlief.
VII.
Am nächſten Tage entſtand große Aufregung,
als das Mädchen, das zivei-, dreimal an ihrem Bett
gewejen war, nod) ſpät am Vormittag das Fräulein
ſchlafend fand und fie nicht zu erweden vermochte.
Sowohl Mama als Papa ftanden an ihrem Bett
und verfuchten alle möglichen Mittel — aber ver
gebens. Sie ſchlief noch immer, lag fo jeltfam fil
da, und fajt falt bis hoch unter die Arme hinauf.
Der Arzt wurde geholt. Er hob die Augenlider
empor, die über die glasartigen, ſchlaffen Augen
berabfielen, fühlte nach dem Puls, der nur ſchwach
ſchlug, und wuhte nicht recht, was er dazu jagen
jollte. Aber das Rätſel löſte fich bald. Er fand
die beiden Papiere von den Pulvern, die fie ae
nommen hatte. Durch die angeblidden Kopfſchmerzen
am Tage vorher erflärte ſich alles. Aber die Schadhtel
mit den Bulvern gab er Mama, um fie zu verwahren.
Margarete jollten fie nur ſchlafen laſſen, dann
ginge es ſchon von jelbjt vorüber.
Den ganzen Tag und die Nacht hindurch Tag fie
in jchlafartigem AZuftande da. Wenn Mama lam
und fie etwas fragte oder Papa hineinſchlich, wie er
es zu thun pflegte, wenn ihr etwas fehlte, und fie
ftreichelte und ein paar ermunternde, liebloſende Worte
ſagte, öffnete fie faum die Augen, fondern bat mur
wimmernd oder in gereiztem Flüſtern, fie in Ruhe
zu laſſen.
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ze ee —
Die Gejhichte eines jungen Mädchens,
Sie wollte jhlafen. Solange litt jie wenigftens
nicht — und dann träumte fie die jeligjten Träume,
Als fie am Tage darauf zum Bewußtjein fam,
war fie noch jo jchlaff und matt, dab es ihr jhon |
eine Qual bereitete, wenn fie nur die Hand oder den
Fuß bewegen mußte. Und dann war e3, al$ wenn ihr
Herz und ihr Gehirn leer wäre. Sie konnte und wollte
nicht denken, fie bemühte ſich, die Schlaffheit jo lange
wie möglich befichen zu laffen, und jchob alles von
ſich, was fie an das Leid erinnerte, das in ihrem
Innern gleich einer Kohlenglut brannte.
Ein paar Tage vergingen. Aber daun meinte
fie, der Arzt, der ein alter Freund des Haufe war
und fie von flein auf fannte, ‚begänne fie mit bes
denkfich forfchenden Hugen zu betrachten, und er ftellte
fo viele unbehaglich anzügliche Fragen, die fie be—
unruhigten, Bejonders als jie ein paar Worte auf-
ihnappte, die er im andern Zimmer zu ihrem
Vater fagte, da fie glaubten, fie ſchliefe. Was ihr
fehlte, wäre ein ſeeliſches Leid — ob fie nicht Herzens⸗
fummer hätte?
Da durchzuckte fie eine entjegliche Angft, ihr Ge- |
heimnis würde entdedt werden, und dies erjchien ihr
in dieſem Wugenblid als das Fürchterlichſte von
allem. Dann wollte fie tauſendmal lieber fterben.
Nein, fie mußte fih zufammennehmen, geſund
ericheinen. Aber Gott, wie jchwer war das!
Sie konnte auch Papas betrübte Augen nicht er—
tragen. Es lag immer eine befümmerte Frage
in ihnen; aber jie wollte nicht gefragt werben. Denn
er hatte begonnen, von Möller zu reden, und dab nun
bald von ihm ein Brief fommen müßte. Während
fie frant lag, hätten fie ein Telegramm von ihm
befommen, das feine Ankunft in London meldete, und
er würde bald von dort aus jchreiben.
Sie merkte wohl, dab Papa meinte, fie jehme ſich
nad ihm, und fie ließ ihn in dem Glauben, obſchon
fie hätte laut auffchreien mögen, wenn fie nur jeinen
Namen nannten,
Ja, einet Tages — fie hatte zufällig in einer
Zeitung gelefen, daß der Maler Otto Krog, deſſen
talentvolle Bilder im Frühjahr jo großes Auffehen
erregten, eine Stubienreife nad) Italien unternommen
hätte — hatte Papa fie in ihrem Zimmer überrafcht,
two fie zu Boden gejunfen war und krampfhaft
ſchluchzend, wie in jener erften Nacht, mit dem Kopf
auf den Seidenliſſen der Chaifelongue lag. Und da
hatte er fie in die Arme genommen und jie jo liebe—
voll und zärtlich ausgefragt, daß ihr war, als follte |
ihr das Herz brechen, und fie kam ſich jo ſchlecht und
erbärmlich vor, weil fie feine Frage bejaht hatte, ob
fie fih nah Möller bangte und deshalb meinte,
Aber fie durfte ja nichts andres jagen, denn begann
fie erft mit Geſtändniſſen, ad), dann mußten fie ja
dafinter fommen, dab —
711
Jeden Augenblid glaubte fie, nun wäre fie ent«
ı dedt. Am Tage ging ed noch. Dann war die An«
ſtrengung, gleihgültig oder lebhaft und vergnügt zu
ericheinen, jo groß, daß fie alles andre verichlang.
Am Abend blieb fie jo lange wie möglich fihen,
und veranlaite Papa und Mama, lange über ihre
| jonftige Zeit zum Schlafengehen wach zu bleiben.
| Sie fünnte nicht fo jrüh einſchlafen, fagte fie, und
es wäre jo langweilig, dort drinnen jo allein zu
liegen, Mama verzog ji) zuerſt — fie müßte zu
vernünftiger Zeit ins Bett, da fie ſonſt fiher Kopf«
ihmerzen befäme, und dann blieb Papa auf und
leijtete Margarete Gejellfchaft, oder fie jpielten Schadh,
Bartie um Partie, bis weit in die Nacht hinein,
Aber die Nächte — o, diefe Nähte! Ruhelos
ging fie im Zimmer auf und ab oder lag auf ber
Chaiſelongue mit offenen Augen, weil die Sehnſucht
und der jeelenzerreißende Schmerz ihr feine Ruhe ließ.
Hätte fie ihn doch nur Hafen können, ihm alles
Unglüd wünſchen, ihn wegen feines Wankelmutes
verachten! — aber jie fonnte nicht — alles ertrant
in dem verzehrenden Gefühl des Vermifjens umd der
nagenden Leere.
VII.
Drei Wochen vergingen, dann fam ein Brief
von Möller; er war an ihren Vater adrejfiert. Darin
lag aud) einer für fie.
Papas Hände bebten, und er hatte Thränen in
ben Hugen, als er, nachdem er den Brief gelejen
hatte, ihn in die Höhe hielt und triumpbhierend ausrief:
„Hier ift Medizin, die unjern Zipfel furieren ſoll!“
Er hatte ganz im geheimen feinem zulünftigen
Schmwiegerjohn einen, wie er meinte, ungeheuer diplo=
matiſchen Brief geihidt, in dem er ihn übrigens ziem⸗
lich peremtoriſch bat, jein langes Schweigen zu erflären
und jeine Abfichten gegenüber Margareten Harzuftellen,
Der Brief hatte augenjheinlih auf den Herrn
Doltor Eindrud gemadt. Die Abfichten ſchienen im
jedem Fall ganz gute zu fein. Er entſchuldigte ſich
wegen feines langen Schweigens, das feinen Grund
darin gehabt hätte, dab er feine Arbeiten ſchneller
zum Abſchluß bringen mußte, als er berechnet hatte,
infolge des Umſtandes, dab ihm eine außerordentlich
ehrenvolle und gut bejoldete Stellung in Kopenhagen
angeboten wäre, die feine Zukunft ficherftellte.
Und dann folgte ein höchſt forrelter Heirats—
antrag für Margarete an den Papa, jowie die Bitte,
die Hochzeit auf einen von Margarete näher zu be=
flimmenden Tag in Kürze feftzufehen. Es wäre für
in nämlid von Wichtigfeit, feine häuslichen An—
gelegenheiten geordnet zu haben, bevor er jeine Stel«
lung anträte. Und endlich fündigte er jeine Rückkehr in
‚ wenigen Tagen an. Der Brief an Margarete ent
bielt in etwas weniger umftändlichen Ausdrüden eine
‚ ähnliche Bitte,
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712 Erna Juel-Hanſen.
Mama vergoß die üblichen Thränen und fing
ſogleich an, von der Ausſteuer zu reden. Papa
ſchimpfte im ſtillen über dieſen Eſel von Schtwieger«
ſohn, der nicht einmal einen ordentlichen Liebesbrief
ſchreiben könnte, wenn er die Braut bat, den Hoch-
zeitstag zu beftimmen. Margarete wurde ohnmädhtig.
Aber Papa ſowohl ald Mama glaubten, es ge-
ichehe vor freude. Das wäre die Ueberraſchung,
fagte fie, als fie fich wieder erholt hatte. Den ganzen
Tag war fie jcheinbar froh, obſchon jehr ftill, und
fie umarmte Papa einmal nad) dem andern und
fühte Mama, als fie zu Bett ging, fo liebevoll, daß
Mama wieder zu weinen begann.
Aber in diefer Naht beſchloß Margarete, zu
fterben. Sie jah keinen andern Ausweg. Sie fonnte
nicht nod) mehr leiden, und das, was nun bevorftand
— nein, jo ſchwer konnte es nicht fein, zu fterben.
Hätte fie ihre Pulver bei der Hand gehabt, jo hätte
fie fie glei genommen — vier, fünf auf einmal,
dann wäre gleich alles vorbei geweien.
Aber wie ſich den Tod verihaffen, ohne daß es
allzu weh that? Dann fiel ihr ein, von jemand gehört
zu haben, es wäre ein leichter Tod, fi zu er-
tränfen.
Sie fand eine eigentümliche Ruhe in dem Ge—
danfen, dab alles jo bald vorbei fein fönnte, Leid,
Angſt, alles — fie dachte an nichts weiter, nicht
an die Trauer der Eltern, fie zu verlieren, nicht
daran, daß fie fie niemals wiederjehen würde, an
nichts weiter, als daß es leichter wäre, zu fterben
als zu leben, und dann, da fie dadurd) allem ent»
ſchlüpfte. Ihre religiöfen Vorftellungen war fie ſämt-
lich ſchon feit langem los. Der Tod ijt der Tod,
ſagte fie zu fich ſelbſt. Er giebt Frieden.
Sie war faft ganz froh in den paar Tagen, die
fie ſich Frift gewährte. Sie meinte, ohne zu wiflen
warum, Möller könnte früheftens am Sonnabend
eintreffen — jo hatte fie noch Donnerstag und Frei⸗
tag übrig, um gegen Mama und Papa gut und
liebevoll zu fein, und fie wich nicht von ihrer Seite.
Sie follten eine gute Erinnerung an fie zurüd«
behalten, dachte fie — oder eigentlich, fie dachte es
nicht; aber es lag in ihr, daß fie jo fein mußte, Es
ruhte etwas Feierliches über ihr, das fühlten fie.
Aber fie ſchrieben e8 der Freude über Möllers Heim-
fehr zu, der jeden Tag erwartet werden konnte. Es
waren zwei faft glüdliche Tage, dünfte ihr. Sie
fchlief des Nachts, und aud) am Tage war eine Art
Frieden über fie gelommen.
Freitag nahmittag, nachdem fie gegeſſen hatte,
ſchlich fie fi fort, während Mama bei Olivia und
Papa auf einer VBerfammlung war. Sie jagte nicht
adieu; num, da der Augenblid jo nahe war, fonnte
fie es nicht, fie fühlte ihren Mut ſchwinden.
Sie ging hinaus zur Lazarettbrüde.
Es war ein milder, grauer Oftobertag mit leichtem
Winde, der in ſchwachem Hauch über das Waſſer ſirich
Sie ging über die Brüde und ſuchte einen pafien-
den Plaf. Weit draußen war es ganz leer von Men
ſchen. Sie hatte Angſt; aber e8 wäre nicht jchlimmer,
meinte fie, al$ wenn fie im Sommer zum erftenmal
ins Seebad jollte,
Am Bollwerk lag ein Stapel Tonnen, mit einer
ſchwarzen Plane zugededt. Dort würde fie gut ver-
borgen fein. Sie trat hinter denjelben. Es war
gerade Plaf genug, daß fie dort ftehen konnte, und
fie lehnte fidh über das Bollwerk hinaus, Graugrün,
undurhfichtig Hof das Wafler dort unten hinaus mit
raſchem Strom und mit weichem, gludjendem Laut,
wie gegen die Seiten eines Bootes. Ein munderlih
ſchwindeliges Gefühl ergriff fie; es war, als wenn
etwas von dort unten nad) ihr emporlangte. Sie
lehnte ſich weiter hinaus und hatte die Empfindung,
ala würde ihr Kopf jo ſchwer — oder leicht, jie
wuhte nicht recht, was, und dann überfam fie eine
Luft, die immer ftärfer wurde, je länger fie ins
Waſſer hinabblidte, fih im den riefelnden Strom
binabzulafjen. Wie ſeltſam es dort unten leuchtet —
wenn fie nur Mut hätte faſſen fönnen! Nur einen
Sprung, dann war es vorbei!
Nein, nicht hinunterfpringen — gleiten, gleiten
— dort war die Stelle — auf den Ballen dort
längs der Wafjerflähe konnte fie den Fuß jegen —
aber wie war das? Kam man auch nicht wieder
empor? Hu, nein, nicht wieder hinauf — dafür
mußte man jorgen !
Sie jah ih um. Ein Stüd von ihr entfernt
lag ein Meines Branntweinfaß mit einem Stüd
eiferner Fette daran. Sie hob e8 empor. Es war
ſchwer. Wenn fie das an ihrem Gürtel befeftigte,
fam fie nicht wieder hinauf. Dann hinaus über das
Bollwerk, vorſichtig — die Füße auf den Balken
dort unten — hodend — und dann ganz bormüber,
dad Geficht jo nahe dem Wafjer wie möglich, ein
Saufen vor den Ohren, ein Brodeln und dann — hu!
Es war, als fühlte fie bereits das kalte Waſſer eifig
um die Glieder und den jalzigen Gef hmad im Munde.
Schnell hob fie den Kopf empor, die Brüde, das
Bollwerk, die Häufer und Schiffe, alles wogte vor
ihren Augen. Sie bebte am ganzen Körper und
beeilte fi, dem Waſſer den Rüden zu fehren.
Nein, nein, nein — fie fonnte nicht, fie wagte
es nicht. Es war allzu ſchrecklich — nicht das Sterben,
aber das Wafler und die Angit, bis es vorüber war
— ad Gott, fie durfte, fie fonnte doch nicht leben!
Möller fam am nächften Tage nod nicht, umd
fie ging wieder hinaus, ficher, daf fie es heute wagen
würde. Das Waſſer zog fie gleichſam, folange fie ei
nicht jah, aber als fie dort ftand und hinumterbfidte,
fam es ihr vor, al& wäre das ganze nur Lüge und
! by (sOHgle
⸗
Die Geſchichte eines jungen Mädchens. 713
Spiegelfechterei. Sie hatte fich gewiß gar nicht er=
tränfen wollen, hatte es nicht im Emft gemeint,
jo feig und jämmerlich war fie — nicht einmal das
war wahr, daß fie es gewollt hatte.
O, wenn fie einer hinuntergeftoßen hätte, fie hin—
ausgeworfen — denn was jollte fie tun? Wie einen
Ausweg finden, und wie leben — wenn leben fidh
verheiraten hieß — und mit Möller — das Tonnte
nicht gejchehen — oder konnte es doh? Ein Chaos
von Borftellungen und Gedanfen durchwirbelte für
einen Augenblid ihren Sinn, fie fonnte fich nicht Mar
werden darüber, aber alles jammelte fich in einer
tiefen, alles verichlingenden Verzweiflung, die feine
Ihränen, feinen andern Ausdruck hatte, jondern es
war nur, als fühlte fie ji) von einer Hand ergriffen,
die alles in ihr zerdrüdte und zerfchmetterte — ad
Gott, wie unglüdlih und elend fie war, und mas
ſollte aus ihr werben — nirgends ein Nat, nirgends
ein Trojt ?
Dann fam «8 erſt wie ein Einfall, den fie von
fi jagte, daß fie alles ihrem Vater jagen müßte,
ihn um Vergebung bitten, bis er fie ihr gewährte,
Und bei diefem Gedanken, vor dem fie früher zurüd»
geihaudert war, war es ihr, als löfte ſich ber er-
fidende Drud, obwohl die Angft um das Gefländbnis
ſelbſt ſie bereits fchüttelte — aber nein, fie fonnte es
nicht — wie follte fie das fünnen?
Langſam ging fie nach Haufe, mit fidh jelbft
tingend — fehrte um, viele Male — und ging wieder.
Und allmählich wurde der Beſchluß bei ihr immer
iefter, fie fand ihn immer weniger unvernünftig. Ein
Gtfühl des Troftes überfam fie. Sie genof gleihjam
im voraus die Ruhe, die fie haben würde, wenn fie
es geſagt hatte. Sie lernte auswendig, was fie jagen
wollte, fie glaubte zu hören, was Papa antworten
würde, fie fühlte, wie es jchließlich fein würde, wenn
fie an feinem Halſe hing und er fie fühte — und
dann — ja, dann würden fie weit fortreiſen —
Mama würde nicmal3 etwas davon erfahren, und
Möller würde fie nie mehr wiederiehen — o, es
würde fie dann ein himmliſcher Friede überlommen —
Sie ſchritt rafcher zu, das letzte Stüd des Weges
lief fie beinahe. Sie fam fich ſelbſt erhaben und groß
vor. Es gärte in ihr von hohen Gedanken und
weichen Regungen. Ein neuer und beiferer Menſch
wolte fie werden, immer gut und wahr fein, und
Mama wollte fie lieben wie niemals früher. Die
Thränen liefen ihr bei dem Gedanken über die
Dangen herab, und obſchon fie fo von Angſt erfüllt
wurde, daß ihre Hände fo falt wie Eis waren und
ihre Lippen zitterten, war es ihr doch, ala ob der
Annaplaß gar fein Ende nehmen wollte, — jo eilte
fie nach Haufe.
Sie ging gleich direfi in ihr Zimmer, warf Hut
und Mantel ab, ließ ſich nicht einmal die Zeit, ihre
Aus fremden Zungen, 1897, IL 16,
Handſchuhe abzuziehen, fondern Tief ſogleich durch
die Stuben in Papas Zimmer hinein.
Es war noch dunfel in demfelben; aber er jtand
gerabe dicht bei der Thür, als hätte er fie lommen
gehört und wäre ihr entgegengegangen. Mit halb
erſticktem Ausruf warf fie ſich an feinen Hals, wäh-
rend die Thränen ihr aus den Augen flürzten, und
fie vermochte nichts weiter zu jagen, als ſchluchzend:
„D Papa — ih — id —“
Papa ftrich ihr über die Wange hin, küßte jie
zärtlich, lachte ein wenig und trug fie faft ein Stüd
ins Zimmer hinein, wo er fie in ein Paar andrer
Arme legte.
Fin bärtiges Gejiht fam dem ihrigen nahe,
fie fühlte einen Kuß auf ihrer Stirn — fie ſchrie
laut auf und wollte ſich losreißen. Aber die Arme,
die fie jefihielten, waren flarf, und eine Stimme, Die
fie fannte, fagte ruhig und jeit:
„Du brauchſt nicht zu erjchreden, ich bin es,
Henning Möller — dein — bein Bräutigam —*
„Na — war dad midi eine Ueberraſchung?“
hörte fie Papa jagen, ein wenig jchnaufend, als wäre
er gerührt.
Ja, das war eine Ueberraſchung!
Sie wußte nicht, was über fie gelommen war;
aber fie vermochte ſich nicht loszureißen aus dieſem
Arm, der fie jo feſt hielt, hatte faum den Willen
dazu. Sprachlos, betäubt blieb fie ftehen — jeder
Gedanke, etwas zu jagen, war fortgejcheudt von
Angft, Scham und einem qualvollen Gefühl der
Mutlofigkeit gegenüber dem, was fie num ihr Schidjal
nannte.
Un diefem Abend fagte fie nichts.
Möller war lebhafter als font. Er erzählte
langes und breites von feinen Erlebniffen und war
förmlich galant gegen fie. Einen ganzen Koffer voll
grönländiicher Raritäten hätte er für fie mitgebracht,
und fie nahm fowohl diefe als feine Galanterien an.
Und dann in der raftlofen Geichäftigfeit, die nun
folgte durch den Einfauf der Ausſteuer und die Hoch—
zeitsvorbereitungen, wo fie bei allem mit dabei war
und zu allem ja jagte, wurde ihr Gehim ganz ger
lähmt, obſchon fie jeden Tag dachte, daß fie es mor⸗
gen jagen wollte, um fi von dem ſchlimmſten Un—
glüd, der Heirat mit Möller, zu befreien.
Schließlich gab fie den Gedanken, es ſelbſt zu
thun, auf und wartete, daß von außen her geſchehen
möchte, was ihr helfen könnte; aber es geſchah
nichts.
Und drei Wochen ſpäter war große Hochzeit bei
Etatsrat Holms. Margarete in weißem Atlasfleid,
Kranz und Schleier wurde an biefem Tage dem
Dr. phil. Henning Möller angetraut. Paftor Schou
hielt die Traurede, und diesmal waren auch alle
jungen Familienangehörigen mit dabei.
90
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Verbaftet.
WW, G. van Nouhunis.
Aus dem Holländiſchen überſetzt von Anna Herbfl.
„Schenten Se mir 'n Gent, liebes Herrchen,
bitte, bitte!”
Der Herr ſchaute nicht einmal auf, jondern eilte,
den Kragen jeines diden Ueberziehers body in die
Höhe geichlagen, raſch weiter.
Klagend fuhr der ſcharſe Oftwind zwiſchen den
fablen Baumäſten durh, dann und warın eine mit
vereinzelten dürren Blättern vermiſchte Staubwolte
in die Stadt hineimjagend.
68 war ſechs Uhr, kalt, ein büfterer FFebruar-
abend, der Himmel fahlgrau, baldigen Schnee ver«
fündend.
Sepp ſah dem Davonfchreitenden nad, gudte
nod) einmal in der öden Einjamkeit des Parls nad)
rechts und linfs, ſchaute dann die Parkſtraße hin«
unter, wo er weit, weit in der fyerne eine Gaslaterne
unruhig fladern ſah, lief trippelnd ein Weilchen hin
und ber, zog den Schirm feiner zerrifjenen Mühe
tiefer in die Stirn, jo daß ein Büſchel wirren Haares |
ſich durch die Oeffnung emporfträubte, blies ſich in
die Hände, jtedte fie dann wieder, fie feit an jeine
mageren Schentel drüdend, in die Hoſentaſchen und
ſchlenderte langjam der Stadt zu.
Heute gab's doch nichts mehr. Seit zwei Uhr
hatte er zähneflappernd dageitanden, uyd was war
das Refultat? — Bier Cents.
Faſt hatte er das Streichholzſchächtelchen mit den
erſtarrten Händen nicht mehr feitzuhalten vermocht.
Umd je fälter es wurde, deſto ſchlechter gingen die
Geſchäfte. Es war dem Leuten ſchon zuviel, ftehen
zu bleiben und in die Tafche zu greifen. Als ob's
ihn nicht erft recht fror!... Umd der magere Junge,
dem der Wind eifig durch die abgetragenen Kleider
fuhr, drüdte die Arme dicht an den Leib.
Vier Cents — wie durfte er wagen, damit nad)
Haufe zu fommen?... Das würde was geben — fie
würde ſchön wütend fein! Roja war nach der andern
Seite geichict, nach Tivoli — da würde wohl auch fein
Reichtum zu holen geweſen fein. Jedes von ihnen mußte
mindeſtens zwei dubbeltjes *) erbetteln — mindeftens
— denn jonit!... Nod fah er feine Mutter, mit
*) Doppelftüber, 10 Gents = 17—18 Pfennige.
der Fauſt drohend, daftehen. Nun ja — mas macht
er fi draus? Schlug fie, fo jchlug er wieder...
feinetwegen konnte fie... Der Vater würde mel
aus jein, und wenn nicht, jo ja er doch nur ftumpis
finnig dabei. Wenn der etwa auch anfing, dam
machte er e& wie Dirf, der voriges Jahr fortgelaufen
war... Von dem Alten lieh er fich ein für alleme!
nichts gefallen.
Das Nergfte aber war, wenn fie ihm nidhts mehr
zu eſſen gab. Und er hatte jolden Hunger. .. Ihn
überlief es kalt bei dem Gedanken an das Aümme-
hen unter dem Dach, wo er unter ein paar alken
Lumpen, auf einem Stüd fadenſcheinigen Teppiht
fein Lager hatte; — adj, da war's fo bitter lalt —
die Dachpfannen ſchloſſen nicht, er fonnte den Hinmd
durchſchimmern jehen — und wenn er Hunger hatt,
fonnte er ſchon gar nicht ſchlafen.
Jeht fteht er, an einen Laternenpfahl gelehnt, nor
einem großen Haufe, vor dem ein Wagen hält. Du
Kutſcher mit feinem großen Pelzkragen ſiht auf dem
Bod, und da ſich eben die Hausthür aufthut, deh
ı der Diener devot den Kutſchenſchlag offen. Au:
einer jchön gemalten Vorhalle fällt rofiges Licht anf
die Straße. Damenftimmen lafjen ſich aus dem
Korridor vernehmen.
„Nimm dich in acht, Mama, geh nicht an die
Thür, es ift kalt!”
„sit Heinrich warın genug eingehüllt?“
„a, gewiß !*
Eine dicht verfhleierte, in einen großen Mantel
gehüllte Dame und ein Knabe von etwa acht Jahren,
in langem Weberzieher, jteigen raſch in die Equipegt
ein. Der Schlag fällt zu, flin klettert der Diener
auf feinen Plaf, und fort rafjelt es.
Gleichgültig [haut Sepp dem Fuhrwerl nad, dann
läuft er hinter zwei Herren ber, die in lebhaſter Unter:
haltung vorwärts jchreiten. Der eine hat eine harte, in
| der ftillen Straße unangenehm wiederhallende Stimmt.
„Nen Eent, bitte — kaufen Sie mir 'ne Schadtel
Streichhölzchen ab!*
Die Herren hören nichts.
„Ad, bitte, bitte — 's ift fo alt, und id hab’
jo großen Hunger.”
Verhaftet.
Mit ausgeſtreckter Hand läuft er neben ihnen ber.
‚Willſt du gleih machen, daß du fortfommit, |
oder ich laſſ' Dich arretieren!“ jchreit ihn der mit der
Knarrftimme an, offenbar über bie Unterbrechung
ihres wichtigen Geipräches geärgert,
Sepp biegt um die Ede und geht nun zwiſchen
jehr hohen Gebäuden durch eine breite, vornchme |
Strafe. Aus den Souterrains, too hinter den Eijen«
gittern die Fenſter meift offen jtehen, fieigt die warme |
Küchenluft in die Höhe. Der arme Junge zicht die |
Speiſegerüche ein, pridelnde, appetiterregende Düfte
von ihm unbelannten ledern Gerichten. Er zittert |
vor Hunger, vor Gier und fauert fi vor einem
Kücenfenfter nieder. Die Wärme ift jo köſtlich, daß
er fich jo dicht wie möglich an die Eijenftäbe drängt.
Aber es dauert nicht lange, da wird ihm übel; er
fängt an zu gähnen, jold ein leeres Gefühl hat er
im Leibe, — zu gähnen, bis ibm die Hinnbaden wehe
thun.
„Hören Sie, Freileinchen, haben Sie nich ’n biß—
hen Eſſen für mid?” ruft er bittend hinein.
Eins der Mädchen ſchaut erichredt von dem
Küchentifch auf, wo fie eben befchäftigt ift, eine Schüfjel
anzurichten.
„Abſcheulicher Bengel — wie haft du mich er—
ichredt !”
„Ad, bitte, Freileinchen, nur ein bikchen was zu
eljen !”
„Nein, das giebt’ nicht.
fangen wollt’, hätt’ ich viel zu thun.
du weitertommſt.“
„Aber Sie — es koſt' Sie dod) nir.”
„Hörft du, Dina? So 'n frecher Bengel!.. .*
Und zu dem Hausknecht, der eben, ein Kleines
Mindipiel auf dem Arm, in die Küche tritt:
„Ah, Peter, jagen Sie doc mal den Bettel.
jungen vom Fenſter weg.“
„Gleich, glei," jagt Peter, „ich muß nur erft
für Beauty jürgen.“
Vorſichtig Teht er das Hündchen auf den Boden,
welches ihn munter umfpringt, umd ſchiebt ihm eine
Schale mit Efien hin. Schnüflelnd ftedt das Tier-
hen jein feines Schnäuzchen hinein, dreht fich um
und frippelt wieder zur Küche hinaus.
Der Haustnedht ift Dicht an das Fenſtergilter ges
treten und ficht Sepp an.
„Willſt wohl auf die Wache, was?”
„Beben Sie mir was zu eſſen — bitte! Nur das
da, was der Hund nicht frefien will... .*
„Nein — hier wird nichts zu effen gegeben. Geh
aufs Armenamt,.. Marſch, fort — flint!*
Sepp ſchaut dem Hausknecht in das rote Geficht
und ſteckt mit der ganzen Ungezogenheit des Strafen
Wenn id damit an«
Mach, daß
jungen die Zunge heraus.
„Marſch! Fort! jag’ ich dir ...“
715
Der Junge grinft boshaft.
„Ra, ſolch freien Rader hab’ ich doch mein Leb⸗
tag’ wicht geſeh'n! — Wart, ich fomm’ dir hin... .*
Und vor Wut dunkelrot, eilt der Hausknecht nad)
| der Küchenthür.
Doch Sepp wartet ihn nicht ab, ſondern läuft
ein Endchen weiter, fi) noch einmal nad) dem Diener
umſchauend, der fluchend vor der Thür fteht und
ihm mit ber erhobenen Fauſt droht.
Jept gelangt der Bettelfunge in eine weniger
vomehme Straße und bleibt vor einem Bäderladen
ftehen. Hell von den Gasflammen beleuchtet, liegen,
verführerisch mit der hell- oder dunfelbraunen Krufte
lodend, einige Reihen Brote im Fenſter. Auf dem
Ladentiſche ftehen flache, vieredige Körbchen mit
Brötchen.
Welche Berlodung! Sepp denkt noch an das viele
Efien in der föftlich warmen Küche und ſteht zähne-
flappernd in dem falten Wind, fich in feinen dünnen
ſtleidern an dem breiten Schaufenjter reibend.
Wenn er ein paar Brötchen laufte? Dann würde
er feinen Gent heimbringen und ſicher heilloje Prügel
friegen; aber brachte er nur vier Gents nad) Haufe,
jo war's auch nicht recht, und er befam vielleicht
nichts zu eſſen. Und noch länger konnte er e& vor
Hunger nicht aushalten. Nun denn, vorwärts!
Die Thür ift nur angelehnt — die Bode läutet
nicht, als er ben Laden betritt.
Er ift allein, ganz allein, und um ihn ber —
pon dem warmen Brot — eine jchwere, flaue Luſt.
Kommt denn niemand ?
Er ſchaut ſich Taufchend um. In dem Raum
hinter dem Laden ift es ſtill. Ob dort jemand iſt?
Er klopft mit dem Fuß auf den Boden. Alles
bleibt ftill. Doch hinten im Haufe, in dem langen
Gang, hört er Stimmen — eine feifende Frauen»
flimme und grobe Worte von einem Manne,
Auf eiher Bant an der Wand regt ſich's —
— langjam erhebt jich eine dide Habe, macht einen
Budel, gähnt, ſtredt fi auf allen vieren, ſpringt
herunter und jchleiht ins Hinterzimmer, wo alles
ftill bleibt.
Auf allen Seiten Brot — marmes, duftiges
Brot, in Stapeln und Reihen. Und dicht vor ihm
| auf dem Ladentiſch all das fleine Gebäd,.. Aber
jo ein großes Brot — wenn er das hätte!
Pıöglich bleiben feine Augen auf einem Weizen.
brot mit glänzend brauner Kruſte haften — eine
wilde Gier erwacht in ihm, von Selunde zu Sehunde
an Heftigfeit zunehmend,
Er ſchaut Hinaus auf die Straße — alles ift
ſtillz im Hinterhaus hört man nod immer die ganfen-
ben Stinmen.
Seine Hand läßt die Cents in der Tajche los —
noch einmal ſchaut er ih um — dann ein Griff
716 W. 6. dan Nouhuys. — Berhaftet.
nad dem Brot — ein Sprung zur Thür, die num,
bei dem haftigen Aufreißen, die Glode laut erſchallen
läßt — dann ſchleicht er, das Brot feft an ſich
drückend, jchnell längs den Häuſern dahin.
Noch ift er micht zwei Häufer weiter, da hört er
jemand hinter fi und fühlt eine Hand im Naden.
Hübſch geftohlen,“ brummt eine Stimme.
Sofort läht Sepp das Brot fallen und ſtößt es
mit dem Fuße Hinter fich.
„Nein, das hilft dir nichts, heb's nur wieder
auf,* jagt der Schuhmann, „Ich hab’ alles gejehn
— did wollen wir jchon kriegen. Und nun marſch
— vorwärts!”
„Ad, bitte, laſſen Sie mid los, befter Herr
Kommifiarius — meine Mutter wird's ehrlich be=
zahlen!“ jammert der Junge.
„Mad; keine Geſchichten, vorwärts!“ brummt ber
Volizift, ihn beim Aermel padend.
So geben fie ein paar Straßen weit — die
Vorübergehenden ſehen ihnen neugierig nach — ab
und zu macht Sepp eine vergeblihe Anftrengung,
den Mann zu erweichen — bis fie zu einer Polizei⸗
wache gelangen.
Der Junge wird in ein Meines, warmes Zimmer
geihoben, wo ein andrer Polizift unter einer Gas-
lampe jeine Zeitung lief. Der Beamte jchaut auf.
„Was haben Sie da mitgebracht?“
„Der Schlingel hat in der Koorftraat ein Brot
ftibigt.“ ;
„So! Leg’s bier her, du Taugenichts!“
Er wirst Sepp einen firengen Blid zu und fährt
in feiner Lektüre fort. Die behaglihe Ofenwärme
giebt dem Heinen Naum etwas Traulidhes, was den
Jungen angenehm anmutet. Mit größter Gemütsruhe
betrachtet er alles: die verräucherte Dede, den braun
geftrichenen Tiſch, das gleichfalls braune Täfelwerf und
endlich die beiden Beamten, deren Uniformfnöpfe im
Lichte funkeln. Der am Tiſch fihende Polizift hat
auf dem fahl werdenden Schädel nur noch wenig
dünnes ſchwarzes Haar, dafür aber einen flattlichen
ihwarzen, fait das ganze Geſicht bededenden Bart ;
der Schumann, der ihn verhaitete, ift fuchſig. Une
willtürlih muß Sepp auf deſſen Hände bliden,
tnochige, ſommerſproſſige Hände mit langen Kneif-
fingern. Er fühlt noch ihren Griff an feinem Hals
und Arm.
„Wann fommt Raders?*
„In einer Stunde, den!’ ih.”
„So!“ Und zu Sepp: „Seh dich dort auf bie
Bank!” :
Doc; der Junge bleibt ftehen, während der rot=
haarige Schuhmann auf ein Feines Pult in der Ede
zugeht und gleichgültig fragt:
„Wie heißt du?“
Sepp.“
„Weiter?“
Zeepers.“
„Wo wohnſt du?”
„Auf dem Roomſteeg.“
„Wie alt?“
„Bierzehn.“
„Bierzehn Jahre? ...“ ruft der Schwarze, ſich
halb umbdrehend und den Fuchfigen erftaunt anjebend,
„werben Sie's glauben, daß mein Kleiner mit nem
kräftiger ift?”
Der andre tritt zu dem armen Jungen beran
und blidt ihn an.
„Sa, ja, das glaub’ ich ſchon — der wird aud)
wohl ein bißchen beſſer genährt werden. Diejer arme
Kerl ſieht ja halb verhungert aus.”
Er vergleicht feine Taſchenuhr mit der Wanduhr
und geht.
„Haft du noch Eltern?“ fragt der Schwarze jeht;
und als der Junge nidt: „Was ift dein Water?“
„In guten Zeiten Handlanger — aber jeht...*
„Hat er gewiß feine Arbeit. Weshalb Haft du
das Brot geftohlen?”
„I war in dem Laden, um was zu faufen, aber
niemand fam — und id) hatt’ fold; argen Hunger.“
„Der ift nun doch nicht geftillt worden!“
„Nein...“ und Sepp jchaute mit zornigem Aus
brud auf das Brot.
Der Polizift betrachtete die elende Kleidung, alles
alte, abgelegte Sachen, die dem Jungen viel zu groß
waren: ein Nod, deſſen Schultern ihm bis auf die
Ellbogen herunterfielen, die Hofe mit einem Strid
um den Leib geichnürt und mit ungleichen Bein-
längen, niedergetretene, viel zu große Pantoffeln und
Strümpfe mit einem Loch neben dem andern, woraus
ichmußftarrendes Fleiſch hervorgudte,
Der Beamte jchüttelte den Kopf.
„Junge — unge, was joll aus dir werden...
Du mußt doc einjehen, daß du auf dieje Weije ganz
und gar aus dem Kurs fommjt! Das endigt mit
dem Zuchthaus.”
Sepp erwiberte nichts. Diele Worte gingen
fpurlos an ihm vorüber. Auf jeinem Heinen, gelb-
lichen Geſicht mit den eingefallenen Wangen und
den alten Fügen lag ein Ausdrud tieriſcher Apaihie.
„Haft du noch ſolchen Hunger?”
„D!...“ Es blitzte plöglich im den großen
hellblauen Augen, die den Poliziften ſtarr anjchauten,
begehrlich auf.
Dieſer ftand auf, nahm von einem Brett ein
fleine® Päckchen, wickelte e& auf und reichte dem
Jungen ein Butterbrot. So hajtig griff dieſer mit
beiden Händen danach, daß der andre erjtaunt feine
Hand zurüdzog.
„Gott bewahre mich!*
Sepp hatte jhon abgebiffen, geſchludt, biß und
Loſe Blätter, 717
ihludte wieder mit der Gier eines ausgehungerten | Handgelenf wurden die jkelettartig mageren Arme
Tieres, das fein Mahl ohne Geihmad hinunter ſichtbar.
ihlingt. In einigen Sekunden war das Yutterbrot Der Junge jchlief nicht ruhig. Offenbar quälten
ehrt. ihn wüſte Träume, Auf dem Rüden liegend, hielt
„Du hätteft wohl fo viel Anftand haben können, | er beide Hände zufammengepreßt, wie wenn er etwas
‚Danke‘ zu jagen. Seh did) dort auf die Bank am | fefthielte, was er abjolut nicht loslaſſen wollte, Seine
Dfen. Du mußt noch etwas warten.” Lippen bewegten fi, und ein böjer Ausdruck lag auf
Der Junge that, wie ihm geheißen ward, und | feinen Zügen.
firedte jeine Hand nad) dem warmen Ofen aus. Der Der Polizift beugte fich tiefer, um, wenn möglich),
Polizift nahm wieder die Zeitung auf und las. efwas zu verftehen.
Das Gas fummte, das Papier raſchelte, im Ofen Zwiſchen dem Spalt der Lippen zifchten Flüche
fnifterte es anhaltend und leije, und mit kurzem, | hindurch, verworrenes Geftammel von Flüchen. Plöß-
baftigem Tiden verfündete die Meine Wanduhr die | Lich firedte der Heine Kerl abwehrend die Hände aus:
enteilende Zeit. „Nicht ſchlagen, verdammtes... nicht ſchlagen ...“
Nah einer Weile ſchaute der Lejende auf. Der Polizeibeamte fing an, laut im Dfen zu
Der Junge war allmählich ſchräg gegen das | fehüren.
Getäfel gefunten, hatte die Beine auf die Banl ge- Erſchroclen fuhr Sepp empor und jchaute ſich mit
zogen und lag num ganz ausgeftredt, den Kopf auf | vor Angft weit aufgeriffenen Augen um, aber beim
feiner Müte, ruhig da. Er jchlief. Anblid de8 warmen Ofens, der Gasflammen und
Der Polizeibeamte ftand auf, näherte fi) dem | des Poligeimannes verſchwand der Ausdruck der Furcht.
Dfen und betrachtete einige Augenblide aufmerkjam Ruhig blieb er liegen — die Augen wurden Heiner
den Heinen Bagabunden. Das jchmale Gefiht, von | — die Lider jchloffen ſich wieder.
einer Farbe wie vergilbtes Papier, jah jeht noch ein« Kopfſchũttelnd blidte der Beamte auf ihn nieder,
gefallener aus, der Hals jtarrte von Schmuß. Das | fehrte dann langſam auf feinen Pla zurüd und
fahlbraune Haar wuchs ihm tief in den Naden, und | brummte leiſe vor fi hin:
von der Stimm war nichts zu jehen. Die viel zu „Dem träumt gewiß, dab er zu Haufe ift.
weiten Aermel waren zurüdgejchoben, und über dem | Lumpenpad!”
— ei — ES
— Lofe Stätten. tg
„Was jagen Sie da?... Ih habe nicht bie
Ghre, Sie zu kennen!“
„Nun gut, wenn Sie mid fo fortjchiden, jo
verſpreche ich Ihnen, jo oft an Ihnen vorübergehen
zu wollen, bis wieder einer meiner Knöpfe an Ihnen
hängen bleibt.“
„Aber Sie find merlwürdig ... wenn id) wenig«
Ihr Syſtem.
Bon
N. Eorazzini.
Nah dem Ialienifhen von 9. B.
„Mein Herr! Halt, mein Herr! Einer Ihrer
ſenöpfe iſt an einer Maſche meines Shawls hängen | ftens wüßte, wer Sie ſind!“
geblieben... „D, das ift höchſt einfah. Ich bin Friedrich
Gnadig⸗ Frau, ich bitte zu bemerken, daß ganz De Boni, Wechſelbankagent, Befiger eines Haufes in
im Gegenteil die Maſche Ihres Shawls es ift, die | der Stadt umd zweier Güter, natürlich auf dem Lande,
id) an meinem Knopf verfangen hat!” beziehe eine Rente von ſechs. bis fiebentaufend Fire
„So oder jo! Es handelt ſich jept einfach darum, — mein Gott, um mic) ein wenig vergnügen zu
daß wir voneinander losfommen — reißen Sie nit, | fönnen, bin Witwer, finderlos natürlich — aber das
um Gottes willen!” wird die Gnädige vielleicht wenig intereſſieren ..
„Ich reiße ja nicht ... Gott bewahre!“ „In der That..
„Danfe, aber Sie werden entihuldigen . . „Nun gut! & will ich's Ihnen denn einmal
. Gnädige Frau!” jagen, ic bin ein Menſch, der redet, wie ihm der
„But, mein Herr — meinen Gruß. Schnabel gewachſen ijt... Ich era Sie gejehen
„Wie, meine Gnädige, ich foll Sie wieder | und ich fühle, dab ich Sie liebe .
verlieren ?* „So? So plößlicd?”
na
718
„D, ich habe Sie früher ſchon öfters gejehen und
Sie beobachtet ... Nun, und dann ift ja die Liebe
auch gerade nichts Merkwürdiges; wenn fie fommt,
ift fie da, ohne daß man fie erft Quarantäne paffieren
laſſen muß.*
„Sie find fehr geiftreich!*
„Das haben mir jchon viele andre auch gejagt.“
„Mein Herr... .*
„Nur im Scherz, verftehen Sie, nur im Scherz.
Und nun, meine Gnädige, darf ich hoffen, daß Sie
mir ein Wiederjehen vergönnen werden... . Sie find
immer allein, Sie müſſen ſich ja zu Tode lang«
weilen !”
„DO, was mic betrifft, jo haben Sie nicht jo
unrecht... . und ba ich Witwe bin, habe ic) niemand.”
„Weld, ein Glüch!“
„Wiefo ?*
„Jawohl, welch Glüd muß es fein, Ihnen alle
übrige Welt erſehen zu dürfen... Werden Sie mir
aljo die Gnade eines Wiederſehens geftatten ?”
„br Name fowie Ihre guten Eigenſchaften be-
ftimmen mid dazu. Wenn Sie mich demnach wieder
ſehen wollen — Donnerstag nach drei bin ich ſtets
zu Haufe... .*
„Mit andern Worten, morgen nad) drei.”
„D, wie viele unnötige Erflärungen Sie ver—
langen! Leben Sie wohl!”
„sa, aber wenn Sie mir nicht jagen, wo Sie
wohnen, wo joll ih Sie dann ſuchen?“
„Montebelloftraße 46, Frau Brambillo.
Herr ...“
„Gnädige Frau...“
Dieſes höchſt ſonderbare Geſpräch fand ſtatt zwi⸗
ſchen mir und einer Dame, einer angehenden Drei—
Bigerin, und zwar zu Florenz, Via Tornabuoni, jujt
gegenüber der Maijon de Eluny — «8 dürfte jechs
Jahre her jein.
Und in der That: die Dame, die mich mit ihrem
Maſchenneß überfallen und eingefangen , verdiente,
dab man es verfuchte, fie mit ganz andern Neben
gefangen zu nehmen.
Blond, von ſchlanker, jedoch nicht zu ſchmaler
Statur, mit grauen, ausdrudsvollen, lebhaften Augen,
einem rojigen, fammetweichen Teint — wahrhaftig,
Frau Brambillo war ein jchönes Meib!
Wenige Monate vor unſrer ſeltſamen Begegnung
hatte id) ſie einigemal in der Gejelljchaft eines meiner
beiten freunde, Giorgio Solera, im Theater gejehen.
Ic hatte ihm öfters gebeten, mich ihr vorzuftellen,
aber mein freund that, ala hörte er nicht... Und
num der Zufall! Gepriejen jei die Voriehung! Wie
oft fügt fie nicht Dinge zufammen, die der menjch-
liche Verſtand weder vorauszujehen noch ſich einzu-
bilden gewagt hätte!
Tags darauf betrat ih um zwei Uhr fünfund-
fünfzig Minuten die Via Montebello und begegnete
juft meinen freunde Solera, der, nad) neuefter
Mode gefleidet, jedoch mit finftrer Miene, wie ein
Minifter bei eingetretener Kriſe, am gegemüberliegen-
den Trottoir vor Hausnummer 46 auf und ab ging,
Mein
Loſe Blätter.
aufmerffam die Fenſter des zweiten Stodwerfes
mufternd,
„Sehr gut,” dachte ih mir. „Das ift ein ım-
erwarteter Triumph! Doch feien wir vorfidhtig und
benußen wir den Sieg gemach!“
„De Boni... .!*
„DO, Solera! Du Hier? Erwarteft du jemand?
Du geht, wie ich jehe, hier fpazieren, als erwarteteft
du jemand, der nicht fommen will, oder al& ſuchteſt
du jemand, der nicht hier ift.. .“
„Jawohl, ich erwarte einen Freund .. . Und du?
Wohin jo eilig und jo — ſchön?“
„Diefes Lob gilt nicht mir, ſondern meinem
Schneider!... Aber entjchuldige! Du weißt, es
jchlägt drei, und ich will nicht auf mich warten lafen.*
Und meinen fluchenden Freund auf dem Trottoir
ſtehen laſſend, betrat ich ftrahlenden, triumphierenden
Angeſichts Nro. 46.
„Ic möchte wetten,“ fagte ich zu mir, al& id
die Stufen emporjtieg, „daß man vor zehn Minuten
Solera gejagt hat, die Gnädige ſei nicht zu Haufe
— für mid) wird fie fiherlich zu Haufe ſein.“
„Ist die Gnädige zu Iprechen ?*
„Ihr Name?*
„Friedrich De Boni.“
„Bitte einzutreten... Die Gnädige wird gleih
erſcheinen.“
Das hatte ich ja gewußt!
Der kleine Salon, welchen ich betrat, war ein
wahres Meines Paradies, das jedoch einen etwas ober«
flächlichen, wechielnden, leichten Geſchmack verriet,
Da gab «3 feinen Fautenil, der dem andern
ähnlich geſehen, feinen Stuhl, der diefelbe Bededung
oder Bauart gehabt hätte wie der andre. Sonſt
waren die Konſolen und andre Möobelſtücke mit Nippes,
Vaſen aus Sövres, China und Japan, mit Kafice
täschen, Photographien, Albums, kurz mit den ele ⸗
ganteften und koitbarften Dingen ausgeftattet.
Im flillen dachte ich mir, daß feien die Federn
der Galang, die meine „Gnädige“ gerupft habe. Nun,
wir werden weiter jehen.
Frau Brambillo erſchien in einer höchſt einfachen
Toilette aus ſchwarzem Sammet mit weißem Spipen:
beſatz. Aber wie jie ihr ftand!..
„Haben Sie meiner nicht vergeſſen?“
„Wie wäre das wohl möglich, gmädige frau?
Sie wiederzujehen, war der einzige Gedanle, welder
mir dieſe vierundzwanzig Stunden erträglich ge
macht bat.“
„Adıt Stunden werden Sie aber doch gewiß ge
ſchlafen haben ?*
„Elf, gnädige Frau!
trägt nicht weniger.“
„Alſo ift es gewiß, daß Ihnen die Liebe die
Träume nicht ſtört.“
„Im Gegenteil, fie ftört mich auch bei Tage...
und läßt mir den Schlaf um jo lieber erjdeinen.“
„Und warum?"
„Weil ih im Schlafe von Ihnen träume..."
„Dbo, das ift eine Galanterie!*
Meine Konftitution der
—
*
Loſe Blätter.
„Wenn Sie aufmerken, werben Sie deren noch
mehrere zu hören bekommen. Ic habe mir daraus
ein eignes Studium gemacht.“
Da die „Bnädige* über meine Dummheiten
lachte, ward ich fühner und rüdte mit dem albernften
Zeug, das mir gerade auf die Lippen fam, heraus
— und es wurde wie lautered Gold aufgenommen,
jo daß ih nah Verlauf von zehn Minuten voll
Händig überzeugt war, daß ich ein Dann von Geift
fei und bei ihr eine Eroberung gemacht habe.
Sie benahm mir auch nicht im geringften dieſe
Ueberzeugung, bis unjer Zwiegeſpräch, das ſich
ſtels wärmer und intimer geftaltete, ein Ende nahm
und ich nad) zwei Stunden mich erhob, um ihr leb⸗
baft die Hand zu drücken ... nicht aber, um mid)
zu entfernen. Tags darauf kehrte ich gegen Mittag
in meine Wohnung zurüd; beim Thor traf ich meinen
Diener in voller Verzweiſtung. Als er mich erblidte,
ſchlug er ein Kreuz, als jähe er einen Leichnam auf
fih zufommen.
„Ah, mein gnädiger Herr,” jagte er, „wo haben
Sie ih denn nur die vergangene Nacht herum—
getrieben? Ich habe Sie erwartet, ohme ein Auge
zu ſchließen.“
Ich ließ ihn ausreden und ging hinauf, um mic
angefleidet, wie ich war, zufrieden und glüdtich auf
mein Lager zu werfen; Dabei dachte und wiederholte
ih mir fortwährend: „DO, diefe Yiebe wird ewig
dauern! Ad, wie wir uns lieben !”
Id brauche nicht zu jagen, daß auch ich mein
Kontingent für Giorginas Salon beiftellte... ja
nicht nur für ihren Salon, auch für ihre Garderobe,
Sie verlangte jedoch; nie etwas. Es war burd)
ans feine Gefahr dabei. Wenn wir aber zuſammen
ins Theater gingen, jo hatte jie gar manches zu be=
merlen.
„Sieh mal, wie gut mir dieſes Hütchen ſtehen
würdet... Glaubii du nicht, daß es für mich wie
gemacht iſt? Sprich!“
„O, freilich glaube ich das!“ — eine andre Ant⸗
wort blieb mir nicht übrig. Und am nächſten Tag
mußte ich ihr das Hütchen kaufen.
Es ift jedoch wahrſcheinlich, daß ich in Wirklid)-
feit auf Giorgina feinen ſplendiden Eindrud machte,
da fie mic; gar oft einen Geizhals nannte — freilich
nur, um mid) ein wenig zu reizen.
Sonft waren wir einander von Herzen gut und
verlebten drei Dionate in vollfommenfter Freundſchaft.
Eines Abends waren wir im Theater Nicolini,
wo die Bejellichaft Meynadier die „Schöne Helena” gab.
Giorginas Hausherr, der alte Teodoro , ftattete
ihr einen Beſuch ab, während ich inzwiſchen auf
einen Augenblid ins Parterre hinabitieg, um das
Theater nad allen Seiten zu injpizieren,
Einer meiner Belannten, ein Franzoſe, Marquis
Jervais, welcher beim jhönen Geſchlecht außergewöhn⸗
lich viel Glüd hatte, näherte ſich mir mit ausgefuchter
Freundlichkeit, und nachdem er jeiner Freude dar-
über Ausdruck gegeben, daß er mich in Geſellſchaft
der jchönen Dame gejehen, fragte er mic gerade
— — — — —— ——— — —— — — —
— — — — —
719
heraus, ob es mir meine Beziehungen zu ihr geftat-
teten, ihn vorzuſtellen.
Ich fühlte mein Blut zu Eis erſtarren.
Gerade im Nicolini«-Theater war e8 gewefen, daß
ih — vor einigen Monaten — dieſelbe Bitte an
Solera gerichtet hatte, juft, als man die „Schöne
Helena“ gab.
Ich antwortete, ich wäre nicht jo befannt, daß
ih mir eine Worftellung erlauben dürfte... und
nahm jchließlich in gereizter Stimmung diefelbe Aus»
flucht zu Hüfe, die ja auch mir gegenüber angewandt
worden war,
Ich betrat wieder die Loge, als der Haußherr
fie verließ.
„Wer ift denn der jchöne Mann, mit dem bu
ſprachſt?“ fragte mich Giorgina, ehe ich nod) meinen
af hatte einnehmen lönnen.
„Der Marquis Jervais,“ war meine ziemlich
unhöflihe Erwiderung. „Ein Narr, ein Prahler,
ein Praſſer, der bald mit feinem Vermögen ab»
gewirtichaftet haben wird, wenn er feine Lebensweiſe
nicht ändert... Sieh nur! Ahr haltet diefen Progen
für einen jhönen Dann, während er mir doch wie
ein verfleibeter Kater vorlommt!“
Das Bild ſchien mir entinutigend genug ge=
zeichnet zu fein, und jo ſeßte ich mich emblich, mit
mir jelbft zufrieden.
Jeder wird begreifen, daß von jenem Abend an
zwiichen mir und Giorgina Mihtrauen und Argwohn
herrſchten.
Sch wurde eiferfüchtig und infolgedeſſen langweilig.
Ich fühlte jehr wohl, daß es mit mir bergab ging,
und dab ein neues Minifterium auf meinen Ruinen
entftehen werde.
So verging ein zweiter Monat, ald mir eines
Morgens, da ich mich zur gewohnten Stunde in ihre
Wohnung begeben wollte, dad Kammermädchen mit
bedeutungsvoller Miene die Mitteilung machte:
„Herr Friedrich, die gnädige Frau ift micht zu
Haufe...“
„Nicht zu Haufe? Wie, Marietia, zu dieſer
Stunde, um zehn Uhr vormittags?”
„Die guädige Frau ift nicht zu Haufe,” wieder-
holte fie in demjelben abweijenden Ton.
Ih nahm eine Zehnlirenote und reichte fie ihr.
Da Memmte Marietta ihr pfilfiges Näschen zwiſchen
Thür und Pfoften, bereit, jene ins Schloß zu werfen,
und jagte: „Sie ift drinnen — aber fie will nicht
drinnen jein!” und — iperrte ab.
Dieje Worte bedurften feines Kommentars.
Ich ging hinab, überjhritt die Straße und ſchlen⸗
berte, ihre Fenſter firierend, einigemal ihrem Haufe
gegenüber auf und ab, Dann dachte id) an meine
Begegnung mit Solera an bderjelben Stelle und
machte mic), um nicht einem Rivalen zu begegnen,
ber mir ebenjo zuvorfommen könnte, wie id) Solera,
auf den Weg ins Innere der Stadt. Nach ungelähr
zwei Stunden betrat ic das Lagerhaus der Maifon
de Cluny, in der Abficht, durch ein zierliches Geſchenl
das erlojchene Feuer meiner Schönen wieder zu ent«
720
fachen, als id; beim Austreten eine ſehr wohlbe-
fannte Stimme, welde an den Marquis Jervais
gerichtet war, jagen hörte:
„Mein Herr... Halt, mein Herr! Einer Ihrer
Knöpfe iſt an einer Maſche meines Shawls hängen
—
O, entſchuldigen Sie, meine Gnädige ..
ſchuidigen Sie!*
„Oder, meine Gnädige,* ſagte ih, mic als
dritter ins Gejpräd mijchend, „jehen Sie vielmehr
im Gegenteil, ob es nicht etwa die Maſche Ihres
Shawls war, die fih an dem Knopfe diejes Herrn
verfangen hat — es ift eine fo geididt eingerichtete
Maſche ...“
„Aber... Friedrich ... ich verſtehe nicht...“
„Ah, adieu, Marquis, recht viel Glüch!“
Und ich entfernte mich mit mitleidigem Lächeln
über uns alle drei. Auch eine ehrbare Art, Belannt-
ſchaften anzuknüpfen! dachte id).
Mein Gott, ed war eben ihr Syſtem!
, elti=
6
Fremoͤländiſche Sinnſprüche.
Sprichwörtern nachgebildet von Maximilian Bern.
Aus ruſſiſchem Vollsmunde.
Die Katze nie den Vogel frißt,
Bevor er noch gefangen iſt.
-
Wo gar nichts äft, giebt's feinen Raub,
Im trodnen Holz fucht niemand Kaub.
Aus polniſchem Vollsmunde.
Manchen um den Sieg gebracht
Hat Triumphruf vor der Schlacht.
[2
Mit verfprohnen Sceiten man
Keinen Ofen heizen fan.
—
Im 17. Heft beginnen wir mit der Veröffentlichung des neuen Wertes von
Eöward Bellamp:
Faſt zehn Jahre nad) dem Erſcheinen des „Rüdblic
aus dem Jahre 2000, der bei den Bebildeten der ganzen
Erde einen jo beilpiellojen Erfolg errungen und feinen |
Berfafler mit einem Sclage zum weltberühmten Manne
gemacht hat, tritt Edward Bellamy jet mit einem neuen
größeren Werte hervor. „Gleichheit behandelt denfelben
Stoff wie der „Nüdblid*; es ift eine unmittelbare
Fortſetzung desielben und enthält, gewiſſermaßen als
Loſe Blätter.
— 44
—5
*8
Der kleinſte Stern am Firmamen
Die Sonne feine Mutter nennt,
N ®.
Wer feinen Feind im £eben erhält,
Dem bringt die Mutter einen zur Welt,
Sranzöfifhe Sprüche.
Wer dem Armen etwas weiht,
Gott nur feine Spende leiht.
Eingegoff'ner Wein ift doch
Kange nicht getrunfen nodı.
Du follft einen Baum nicht loben noch jcdmähn,
Bevor du feine Frucht gefehn!
Aus engliibem Voltsmunde,
Selbft der Teufel ift ganz aut,
Wenn man ihm den Willen thut:
Schlechte Ware ſchwatzt mühfam man anf, k ß
Gute Ware macht Verkauf. = b
Nimm nie mit —— Waren fürlieh:
Ein billiger Kauf ug ein Tafchendieb!
Dem Tode wir F entgegenſehn
Wie Kinder ſich — ins Finſtte zu g
Mratifhe 3 Zprüche.
Das Leben gleicht dem ‚Feuer, denn mit 2
Beginnt es, und mit Aſche —— 2
Die Güter diefer Welt gehören
Iſt doch das Keben —
Der Körper ein geborgtes Kleid.
Gleichhe
Kommentar dazu, in 38 Kapiteln
lierte und vertiefte Schilderung des:
ſtaates, die in Bezug auf alle
ſchaftigenden wichtigen ſozialen 9
Anregungen bietet und, mie der
Sulturländern auf längere Zeit
den und fortidrittlich ic,
wird.
Berantworillchetr Redalleur: Karl Bolhoebenet in Stuttgart. Drud und Verlag der Deutſchen Gerla
Briefe und Sendungen find nur an die Deutſche Verlags · Aunalt in Stuttgart — ohne Pe
Sonnenmwolßen.
Erzählung
von
Briftian Elfter,
Aus dem Norweaifchen überfeßt von Cora Thams.
J.
Haſt bu jemals eines jener verheerenden Un—
wetter erlebt, welche die an den weſtlichen Fjorden
gelegenen Ortſchaften im Herbjte heimzuſuchen pflegen ?
Ueberall draußen ift es jo tief dunkel, dab man
fich verfucht fühlt, die einftige Wiederkehr des Tages
zu bezweifeln. Das Wort Regen würde eine jehr
ungenigende Worftellung von den wilden, einher- |
treibenden, peitichenden Waſſerſtreifen geben, die
fturmgejagt vom Meere daherlommen. Die Tropfen
Hatichen gegen die Scheiben, fie jchreien, winmern,
old jeien fie Iebende Weſen, die verfolgt werden und |
bald jammernd und verzweifelnd um Aufnahme
fehen, bald lärmend gegen Mauern und Fenſier
anftirmen, ala wollten jie ich jelbit einen Meg |
Es gieht draußen auf den
Der Sturmwind |
ftingt im der fyerne wie ein bedrohliches Saufen; |
durch diejelben bahnen.
Feldern, e& fiedet und brobelt.
wenn er etwas näher fommt, glaubt man das Ge—
beul biutdürftiger Raubtiere zu vernehmen, und plöße |
ih, wie von den Felſen herabftürzend, tritt er einen
wildtaumelnden Tanz über Höhen und Ebenen an,
bis er durch ben jenjeitigen Ausgang des Thales
entweicht.
Häufer und Bäume zittern und ächzen während
eines ſolchen Sturmes; in den Zimmern wird es
fill, man rüdt näher zufammen , und der eine oder
der andre jagt wohl: „Ein jchauerliches Wetter!“,
ober: „Bott helfe dem, der jebt auf der See iſt!“ l
Sobald die Hausthür geöffnet wird, fließt ein
Streifen Waflerd über den Fußboden; man hört im
ganzen Haufe Thüren auffpringen und mit Geräuſch
wieder zufallen. Der Zugwind fährt durd alle
Gänge, alle Treppen hinauf bis zum höchften Speicher.
Es if schwer, die Thüren gejchloffen zu halten,
wenn des Sturmes mächtige Hand fie in feine Ge—
walt befommen; man hat das Gefühl des Belagert-
eins — als drohe ein Haufe wilden Kriegsvolfes mit
Einbruch und Verwüftung des trauten Heims.
Am Tage darauf haben die fyelder ein ganz
Gira fremden Jungen. 1807. IL 16,
fables Ausſehen; aber rings um die Häufer liegen
\ zerbrochene Ziegelfteine verftreut, man fieht einen
geipaltenen oder gefällten Banm, ein herabgewehtes
Dad oder ähnliche Erinnerungen an den Sturm.
Alle Wege find zu Flußbetten geworden, und alle
: Brüden gefährdet. An den nächften Tagen begegnen
einem wohl fremde Seeleute auf den Landwegen,
und ab und zu werden Schiffätrümmer an die Stege
getrieben.
An einem jolden Abend wurde an unjre Hause
thür geflopft,
Der Vater ging felbjt hinaus; ich folgte ihm —
e3 jchien mir, als könne aus dem Dunkel und dem
Unmetter draußen nichts Gutes fommen, und id
wunderte mich fajt darüber, daß der Water über-
haupt aufmachen wollte. Er hielt eine Laterne in
der Hand und leuchtete hinaus, nachdem er die Thü
geöffnet hatte.
Das erjle, was ich durch den Sprühregen, der
mir gerade in die Augen fuhr, erblidte, war der
durchnäßte Erdboden, in dem der Lichtichein ſich
| jpiegelte. Gleich darauf tauchten zwei kupferfarbene
' harte Männergefichter unter tief herabfallenben „Süd:
weſtern“ im dem Lichtkreife auf. Das Wafjer riefelte
bon ihren Regenmänteln herab und tropfte aus ihren
Bärten. Eine Heine dunfle Geftalt bewegte ſich
binter ihnen.
„sit jemand da, der mit mir jpredhen will?“
fragte der Vater,
„Jawohl,* eriwiderte eine heifere Stimme,
„Tretet ein, wir befommen allen Regen ins Haus.”
Ein Paar ungeheure Seeftiefel kam dur die
| Thür, dann nod ein Paar und zuleßt die Meinere,
in Pelze gehüllte Geitalt. Nachdem die Thür wie
der geihlofjen, wurden die Anlömmlinge in die Küche
geführt.
„Biſt du es?“ ſagte der Vater zu dem einen der
Männer. „Aber, um Gottes willen, was macht ihr
in ſolchem Wetter draußen ?*
„sa, zum Vergnügen gefchieht es auch nicht,“
antwortete der Mann kurz.
9
*
—
*
Zu
ie = in
Ei
Br
722 Kriftian Eliter.
Es war der Gehilfe eines Handeldmannes, der
hart an der See wohnte und ein guter freund
meines Vaters war.
„Wir follten diefe da herbringen,“ ſagte ber
andre und zeigte auf das lebende Pelzbündel, von
dem das MWafler auf den Fußboden herniederfloß und
bier einen Heinen See bildete.
„Wer ift e8 denn?“ fragte der Water, zog das
fleine Wefen ans Licht und beugte fich zu ihm herab,
um es zu bejehen. „Elina!” rief er aus, erbleichte
und jah die Männer fragend an. Beide ftanden
ichweigend da. Dann hörte ich den einen flüftern:
„Es ift ein großes Unglüd gejchehen.*
Ohne zu antworten, zog der Vater das Heine
Mädchen, das in dem Bündel ftedte, näher an die
Stubenthür,
Die Mutter kam in diefem Augenblide dazu und
jragte erichredt, was es gäbe.
„Bringe fie in das Zimmer und nimm ihr die
ſchwere Kleidung ab,” erwiberte der Vater furz.
„Geh auch du hinein,” fuhr er, zu mir gewendet, fort,
der ich, erflaunt und peinlich berührt, ftehen geblieben
war, ohne doch recht zu begreifen, was das alles
zu bedeuten habe,
Drinnen in der Stube befreite die Mutter das
Kind von den jhweren Mänteln. Meine Verwunde⸗
rung war groß, als nad Entfernung der vielen
Reijehüllen ein niedliches Feines Mädchen mit vom
Negenwetter gerötetem Antlige zum Vorſchein kam,
das aus feinen großen grauen Augen ruhig und
verftändig die fremden Menſchen anblidte. Es jchien
mir plößlich, als habe das draußen tobende Unwetter
es auf irgend eine geheimnisvolle Weiſe hergeführt,
und ich mußte e8 unverwandt anjehen. Eine lichte
Haarlode, aus der noch das Waſſer tropfte, fiel ihm
in die Stirne. Nachdem die Mutter ihm die Mäntel
ausgezogen, legte es jelbft die Handſchuhe ab und
ftrich fi) mehrmals über das naſſe Gefiht. Es trug
ein rotfarierteß leid, ein Tuch feft um die Bruft
gebunden und hohe Stiefeldyen.
„Uber, Tiebes Kind, wer jchidt dich in ſolchem
Wetter über das Waller?“ fragte die Mutter, indem
fie die Meinen roten Hände zwiſchen den ihren rieb,
„Vater und Mutter find fort,“ antwortete das
Mädchen, „und da meinte Sara, es jei am bejten,
wenn ich gleich hierher reife.“
„Fort?“ Die Mutter hielt in ihrer Beihäftigung
inne, Es war klar, daß das Mädchen die Ber
deutung des Wortes nicht faßte. Sie hatte jehr oft
gehört, daß Leute auf der See „fort“ blieben; nun
hatte man dasjelbe in Bezug auf ihre Eltern gejagt,
und fie ſprach es mechaniſch nad).
„Sieb den Leuten etwas Warmes zu trinken,“
ſagte der Vater, welcher jet eintrat. Sein Geſicht
war aſchbleich, jeine Stimme Hang troden und heifer,
Das Dienftmädchen ging hinaus, und die Mutter
war ſtillſchweigend um bie Seine beſchäftigt, aber
ich bemerkte, daß ihre Hände bebten.
Sie wechjelte einen Blid mit dem Vater, worauf
diejer das Zimmer wieder verlieh.
Eine Weile jpäter ſaß das Heine Mädchen troden
und warm neben dem Ofen, feinen Thee aus einer
großen, blaugeblümten Tafje trinfend.
Die Mutter fragte es Verichiebenes: ob fie ſich
nicht gefürchtet Habe und dergleichen. Nein, gefürchtet
babe fie fi nit. „Wenn Hans (der Gehilfe) mit
ift, hat e8 feine Gefahr,“ jagte fie. „Der Wind kam
auch nicht ſtoßweiſe,“ jehte fie Mug und mit einem
ftillen, ernften, beinahe gereiften Ausdrucke im Antlige
hinzu. Man jah, das Find war troß feiner Jugend
„bollbefahren“.
68 verhielt fi den ganzen Abend ruhig, obgleich
es nicht gerade betrübt zu fein jchien. Aber die
Mutter erzählte, e8 habe beim Zubettegehen plöklid
angefangen zu weinen. Es ſchien ihm mit einem
Male Mar zu werden, was es bedeuten wolle, daß
die Eltern auf jener Fahrt zur Kirche, von der mur
ein gelentertes Boot heimwärts gejchtvommen, „fort“
geblieben waren.
Das war meine erfte Begegnung mit Elina Holt,
und jeitbem erlebe ich lein Unwetter, ohne daß jener
Abend lebendig vor meiner Erinnerung fteht.
Ich jehe die beiden braunen Gefichter unter den
Sübdweftern aus dem Dunkel hervortauchen, und vor
allem das eine, nafje, blonde Mädchen mit feinen
blauen Augen und feiner nachdenklichen Redeweiſe.
Nicht weit von unferm Haufe, näher an der Ser,
wohnte ein Onkel Elinas. Er betrieb ein Ge
ſchäft, bei weldhem es fi um Heringe handelte —
das war alles, was id) zu jener Zeit darüber mußte.
Künftig jollte Elina bei diefem Onfel wohnen; fie
blieb jedoch zunächft bei uns, weil der Onkel ım-
verheiratet war.
Unjer erftes Beifammenfein währte indeſſen nicht
lange. Ich kam bald nachher in die Stadt, um bie
Schule zu beſuchen, und als id die erſten Ferien
zu Haufe verlebte, war Elina ſchon zu dem Onlel über-
gejiedelt. Sie war jedoch Häufig bei uns, da fie
gewiffermaßen unter der Obhut meiner Mutter ſtand.
Doch reizte mich nichts, den Verkehr mit ihr zu
juchen, Es fränfte mein Ehrgefühl in hohem Grabe,
wenn fie Stadtneuigfeiten durch mid) erfahren wollte.
Uebrigens erinnere ich mic ihrer als eines äußerit
lebhaften Mädchens, mit geradem, durhdringendem
Bid; fie pflegte draußen barhäuptig umberzuftreifen
und den Bauern Beſuche abzuftatten.
Meiner Mutter jhien ihre Wildheit und Wander-
luft nicht zu gefallen. Ich bemerkte, daß fie in
Elinad Gegenwart manderlei über ftilles und fin-
niges Weſen zu reden pflegte. Gelegentlich rügte fie
Sonnenmwolfen,
au die bäueriihen Gewohnheiten des Heinen Mäd⸗
chens. Ich gewahrte allerdings nicht? davon; doch
iehlte mir damals die Schärfe der Beobachtung.
As ic ſpäter, nad) mehrjähriger Abwejenheit,
die Heimat wieder aufjuchte, um mid) nad ben erften
wiffenihaftlihen Anftrengungen einiger Muße bins
zugeben, verſuchten Elina und ich, einander etwas
näher zu treten,
Ih war Student, und ihre Konfirmation hatte
unlängft ftattgefunden. Unſer erjier Verkehr zeichnete
ſich dadurch aus, daß wir uns nad beiten Kräften
aegenfeitig zu beleidigen tradhteten. Später wurbe
eine Art von unficherem Frieden geichloffen, und wir
begannen unjre Gedanken auszutaufchen — oder rich—
tiger geſagt, ich begann ihr die meinigen mitzuteilen.
In eifrigem Lernen begriffen, lebte id Damals |
nur für die Wiffenfhaft. Ich empfand mein eigent-
liches Selbft gleichſam von der jündhaften Materie
loggelöft und nur erfüllt von dem reinen Gedanlen.
Die Heinen Intereijen des täglichen Lebens waren
mir verächtlich, und ich hielt es eigentlich unter meiner
Würde, mic) über andre als wiſſenſchaſtliche Dinge
zu unterhalten. Auf diefem Felde fuchte ih denn
auch Elina zu begegnen.
Und doch hat die Sonne kaum jemals ein fo
werig wiſſenſchaftliches Weſen bejchienen wie Elina
Holt. Alles, was ich fühlte, dachte oder that, geſchah
nad wiſſenſchaftlichen Grundſätzen; ſie fühlte, dachte
oder handelte ganz nach Luſt und Laune, und wenn
es ihr gerade gefiel, erließ fie ſich ſowohl das Fühlen
wie dad Nachdenlen. Ich hielt mic) zu der Zeit für
befonbers dazu auserforen, den Urgrund des Dajeins
zu enideden; aber Elina ging der Sinn für foldhen
Beruf gänzlich ab. Eines Tages teilte ich ihr gewilje
bedeutungspolle Rejultate mit, die fih aus den
neneiten Forſchungen in Bezug auf den Urfchleim
des Meeresbodens ergeben hätten, und äußerte, hier
wäre jedenfalls die Entitehung alles organifchen |
eben zu juchen. Auch machte ich fie auf die frap-
vante Thatjahe aufmerfjam, daß jhon der Jonier
Anaximandros — hoffentlich hieß er jo — die Anficht |
ausgeiprochen habe, alles Leben jei durch die Sonmen= |
wärme, welche der mit Sumpf und Waſſer bebedten
Erde zu teil geworben, entftanden; auch ſei der erite
Menih ein Fiſch geweſen.
„Das ift häßlich,“ war alles, was fie mir auf
dieje wichtige Entdedung erwiderte.
Bei derfeiben Gelegenheit äußerte ih, ber Menſch
ſtamme natürlich zunächſt vom Affen ab.
„Ja, fiehſt du, dasſelbe habe ich auch ſchon ge»
meint,” jagte fie, und id) fing gerade an, fie für ein
wirklich denfendes Weſen zu halten, als fie hinzu=
iepte: „nämlich feitdem du wieder nad Haufe ge»
fommen bift.“
Ya, ihr ging der wiffenjchaftliche Ernſt vollfom-
728
men ab. Sie habe einmal fein Zutrauen zu Büchern,
teilte fie mir in naiver Ummilfenheit mit, und hielt
' mit beifpiellofem Eigenfinn an ihren eignen unver»
nünftigen Ideen feſt. Einwendungen lieh fie nicht
gelten. „Ich weiß es aber ganz beſtimmt,“ pflegte
fie zu jagen. Ich traf fie einmal, als fie gerade
mit der Wäſche beichäftigt war, und wieder verjehte
mid) ihr beliebtes: „ich weiß e8 aber beſtimmt“ in die
äußerte Entrüftung.
„Es iſt Ihorheit, irgend etwas ganz beftimmt
wiljen zu wollen,“ verjeßte ich und erzählte ihr von
einem anbern großen griechiichen Weifen, ber behauptet
babe, mit Sicherheit könne man überhaupt von feiner
Sadıe etwas ausfagen.
„Dann hätte er feinen Mund lieber gar nicht
aufthun müfjen,“ antwortete fie und fehüttelte das
nafje Zeug, daß die Tropfen mich beiprikten,
Id redete über Liebe. Meiner wunderbaren
Meinung zufolge waren jowohl Männer wie Frauen
je eine halbe Individualität, deren verwandte Hälften
durch gegenjeitige Annäherung ein Ganzes bildeten.
Aber ein jo unpaiiendes, übermütiges Lachen,
wie fie es als Erwiderung auf dieſe Mitteilung hatte,
war mir noch niemals vorgefommen,
„Du biſt bumm,“ äußerte fie.
Tief gefränft fing ih an: „Aber, liebe Elina!*
„3a, du bift dumm.”
„Aber woher glaubft denn du, daß die Liebe
ftammt?
„Kennft du das nicht:
‚Eilig ſchwebt fie daber,
Ueber Band, üiber& Meer.
Das ift’s, was ih weiß
Bon der Liebe, jo heih.
Wohl von keinem gefandt,
Het fie alle gebrannt.
Dos ifl’s, was ich weiß
Bon der Liebe, fo heik.‘*
„Gott behüte und! Solche Lieder fingft du?“
„Barum nicht? Ih fan übrigens auch andre:
‚Sie tommt wie Laub zur Lenzedzeit,
Bringt Thränen mit und Seligleit —*'*
„Nein, das ift zu dumm,” fagte fie und brad) ab.
Ich verließ das Gebiet des „reinen Gedankens“
und verjuchte, fie für näher liegende praltiſche fragen,
politifche oder joziale, zu interejfieren, aber mit dem⸗
jelben Rejultat. Sie erllärte, dab ſich fein reller
Menſch mit Politif befaffe. Der einzige ihr befannte,
welcher ſich mit dergleichen beichäftige, fei der wegen
Trunfenheit verabichiedete Unteroffizier und Schul-
meifter Hans Sjurſen Grönveald, dem fein andrer
Zeitvertreib übrig bliebe. Sowohl die Arbeiterfrage
wie die Enthaltfamkeitsjadhe feien übrigens nur zu
dem Zwecke von den feinen Leuten in größeren
Städten erfunden, um nach abgehaltenen Feſtlichteiten,
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724 Kriftian Eliter.
wenn ihre Stimmung recht menſchenfreundlich und
heiter geworden, Reden über diejelben zu halten.
Sie war doch ſchauderhaft unwiſſend.
Uebrigens ahnte mir, wer derjenige war, dem ſie
alle dieſe Ideen verdankte — nämlich der Ontel.
Er mochte kaum vierzig Jahre zählen, ſprach wenig
und, wie mir ſchien, auch nicht ſehr gut, hatte blondes
Haar und waſſerblaue Augen. Er pflegte mitten in
ſeiner Rede abzubrechen und den Schluß derſelben
durch ein deutliches, drohendes „Was?“ zu erſetzen,
als wolle er jedem die Neigung benehmen, ſich nach
der Fortſezung zu erlundigen. Ich nahm an, daß
er einen Gelehrten als einen Thoren und den Po—
litifer als Spitzbuben anjah, wie mir aud) jein Sinn
für die Wiſſenſchaft in recht zweifelhaften Lichte
erſchien, weil er meine Belehrung, die Sonne ſei
brennende Gas, mit einem homeriſchen Gelächter
beantwortete. Elina wollte diejes ebeniowenig glau-
ben. Sie hatte ſich gerade gebüdt, um ihren Schuh
fefter zu ſchnüren, und ſchüttelte voll Mitleid über
mid), der ich jo etwas glauben könne, das Haupt.
„Aber, liebe Elina, die allerneueften Forſchungen
lehren ung doch ...“
„Weißt du, was meine allerneueften Forſchungen
mich lehren?“ unterbrach fie mich?
„Deine?“
„Sie lehren mi, daß meine Schuhe nächſtens
feine Sohlen mehr haben werden!” rief fie, tanzte
auf einem Bein und hielt mir den Maffenden Schuh
entgegen.
Und doc flöhte mir dieſer Onfel bei einer ger
willen Gelegenheit große Hochachtung ein. Ein
ziemlich harter Ausdrud feiner waſſerblauen Augen
ichien mich unausgefeßt zu fragen: „Biſt du ſchon
in einer unabhängigen Stellung? Haft du ſchon
jewals ein Geſchäft geleitet? Kaunſt bu «8 dir
herausnehmen, dic in die Unterhaltung erfahrener
Leute zu miſchen? Du Gudindiewelt!”
Eben diefe Augen imponierten mir einmal fehr.
Wir waren an einem fürmijchen Tage auf der See.
In feiner diden Joppe und im Schuße feines Süd»
weiters jaß er am Steuer, Ich muß geftehen, daß
id) niemals etwas jo Männliches, Unerjchrodenes
wie jeine Art und Weiſe, mit der er das Boot lenlte,
gejehen. Die waflerblauen Augen blidten jeht ſcharf
und durhdringend, jo daß ihnen feine der heraneilen⸗
den, ſich am Bug brechenden Wellen entging. Es lag
ein ſo kampfbereiter Wilingerausdruck in ihnen, daß
ich mir ſagen mußte: Er iſt ein Sproß von dem |
alten Geſchlecht, welches die Normandie eroberte,
Island beuölferte und „Winland“ entdedte. Aber
auf feftem Boden und in kultivierter Umgebung
machte er den Eindrud eines Spiekbürgert.
Unerflärlih war mir die Vorliebe diejes nüchter-
nen Menſchen für einen im jelben Orte wohnenden
Mann, dem man den Spinamen „Patriot“ gegeben
hatte, Seines Zeichens Juriſt, deffen eigentlicher
Name Bang war, hatte er zur Zeit der erften
Bauernoppofition eine nicht jehr glüdliche Rolle ge—
jpielt. Seither war es bergab mit ihm gegangen,
indem er ala Abvofat wenig Praris fand und
num nebenbei Hleinere Kinder unterrichtete. Außer
dem arbeitete er zuweilen auf dem Bureau bes
Vogtes.
Er war ein glühender „Freiheitsmann“ älteren
Stils, ſprach fortwährend über „Menſchenrechte“ und
teilte die Bevölferung Norwegens in „jervile Dano-
manen“ und „PBatrioten“,
Stets beſchäftigt mit irgend einer neuen ftaate»
bürgerlichen Idee, wollte er unabläjfig die vielen
Deipoten des Menjchengeichlechtes hingerichtet wifien.
Uebrigens war er einer der gütigften, manier-
lichſten Männer, die je auf der Erbe gewandelt, und
nur blutdürſtig in feinen Reden, ftet3 bemüht, die
Welt zu verbefjern. Obgleih Holt niemand mehr
verachtete als derartige „Schwärmer“ und „Ideali⸗
ſten“, verkehrte er doch täglich mit dem Patrioten.
Jeden Abend konnte man den ehemaligen Oppo-
fitionsmann in Holts Zimmer finden, fürdterlid
aus einer langen Pfeife qualmend und feine po»
litiſche Beredjamkeit entfaltend. Holt hörte alles
ſtillſchweigend mit an, nidte ihm zuweilen wohl-
wollend zu und war ihm bei jeder Gelegenheit ein
treuer Freund,
Wie man fid) erzählte, hatten ſich einige junge
Leute bei Gelegenheit einer Vollsverfammlung ver-
abredet, dem Patrioten einen Poffen zu jpielen. Sie
lodten ihn, der fein guter Schwimmer war, während
des Badens jehr weit in die See hinaus, bis Holt
ihm zu Hilfe fam und jeden der jungen Herren mit der
Aeußerung, dab er ihnen ihren Scherz verjalzen
wolle, zum Schluß jo gründlid unter Waſſer tauchte,
daß fie ihrem Schöpfer dankten, noch mit dem Leben
davonzufommen.
Das Verhältnis zwiſchen Holt und der Tochter
jeines Bruders war in jüngjter Zeit nicht das befte.
Ich hörte fie niemals ein übriges Wort miteinander
reden; ſprachen fie aber zuweilen zujammen, io
pflegten fie fid) dabei nicht anzubliden. Indeſſen
war ich völlig davon überzeugt, daß er es war, der
ihr die Geringſchätzung der Bücher und ihre vielen
jonjtigen Vorurteile eingeflöht habe.
Wie naiv fie litterariſchen Erzeugniffen gegen
über war, das zeigte ſich einft in höchſt lomiſcher
Weiſe. Sie fland, wie gejagt, gewifjernaßen unter
der Obhut meiner Mutter und kam in der Regel
täglich in unfer Haus, um nähen und dergleiden
zu lernen,
Eines Morgens fam fie nicht zur gewohnten Stunde,
und als fie endlich erjhien, jah fie übernädhtig und
Sonnenmwolten.
725
niebergefchlagen aus. Die Mutter fragte fie, ob fie | fie mit Rat und That beiftand. Die Art und Weiſe
tranl ſei; aber es war etwas andres.
Sie hatte in irgend einem Winkel des Haufes
ein dies Buch gefunden, das fie mit fortgenommen,
„weil es fid) abends jo gut bei Büchern einfchlafen
ließe.” Dieſes Buch nun trug eben die Schuld an
ihrem kläglichen Zuſtande. Sie war nämlich durch—
aus nicht über demjelben eingeichlummert, fondern
hatte bis zum hellen Tage darin gelejen; als fie es
beim Wiederfommen mitbrachte, ftellte es fich heraus,
daß e3 ein Roman von Eugöne Sue war.
„Unglüdliches Kind,” jagte die Mutter, „das ift
ein jehr unmoralifches Buch.“
„Ja, häßlich war 8. Ich Hätte nie geglaubt,
dab jo viel Sonderbares in der Welt pafjieren
fönnte!*
„Kind, es ift ja nur Dichtung.“
„Ditung? Iſt es denn nicht wahr?" fragte
Nie äußerft erſtaunt.
„Das ijt ja ein Roman!“
„A—-a—h! Das ift nur erdidtet! Ja, dann
it das ja gar nichts Wirkliches! Und ich habe ge=
glaubt, jedes Mort ſei wahr, und hätte beinahe dar—
über geweint! Nein, Gott bewahre, was fünnen
die Leute nicht alles erfinden! Nichts als Dichtung!”
Und Damit war ihre Luſt, mehr von diefem Zweige
der Fitteratur kennen zu lernen, gänzlich verſchwunden.
Sie begeiff nicht, wie jemand Freude daran finden
inne, „Sedankengefpinite” zu leſen. War fie aber
nicht in der Litteratur bewandert, jo wußte fie dafür
um jo beifer mit einem Boote umzugehen, Und
wenn ſich ihr Intereſſe für erbichtete Menjchen nicht
regte, jo hatte jie um jo mehr Herz für die wirklichen.
Ihre Kenntnis der Bücher war gering, aber über
die Preife der Heringe wußte fie ſtels Beſcheid.
Wenn die mit Heringen beladenen Boote zur Winters«
jeit anfamen, befand fie fich gewöhnlich auf der |
Landungsbrüde und pflegte zu jagen, dieſer Fiſch—
vorrat jei der herrlichfte Anblid, den fie kenne. Nun
werben die armen Leute einen guten Winter haben,
meinte fie, war heiter und that den Ausſpruch, welcher
ihre ganze Lebensweisheit enthielt: „Es ift ſchön zu
leben.”
Ja, mit den Bauern und ihren Angelegenheiten
war fie ungemein vertraut; befannt mit allen Men»
ſchen im Orte, eingeweiht in die Lebensgeſchichte |
eines jeden von ihnen, wußte fie nicht nur, wer
bereit „verſprochen“ war, jondern auch, weldhe mit«
einander „gingen“, ja, welche aneinander „dachten“.
Sie wußte, wie die Eheleute fich miteinander vertrugen
und wie die Finder ſich aufführten,
Kenntnis von den Zahlungsfäumigen und von den
Prozeffierenden und jo weiter. Auf unjern Spazier-
gängen redete fie häufig mit den uns Begegnenden
und führte mich oft in die Hütten der Armen, denen
Sie hatte |
ihres Verkehrs mit ihnen, und ihre Fähigleit, ſich
in ihre Berhältniffe Hineinzuverjegen, überrajchte mich
nicht minder als die Thatſache, dab fie überhaupt
Intereſſe für dergleichen hatte,
Als ih nad Ablauf der Ferien wieder nach der
Stadt jurüdfehrte, waren meine Gedanken über fie
ungefähr die folgenden: Du fiehft rofig und geſund
aus, aber bu erweckſt feine Sympathie. Deine Zunge
it ſcharf und dein Wille von ganz bejonderer Art —
ungezähmt, ungeregelt und dabei von einer mer!»
würdigen fFeitigfeit. Doc läßt fich nicht leugnen,
daß dir zuteilen — wenn aud) nur äußerit jelten —
eine gewiſſe Anmut eigen ijt und dab in deinen
Reden fih Humor zeigt. Eines aber jteht feit, näm«-
lid daß deine Erziehung ſchauderhaft vernadjläffigt iſt
und dab du lächerlich unfultivierte Anfichten haft.
II.
As ich das nächfte Mal nah Haufe fam, zählte
Elina zwanzig Jahre, und id war im Begriff, mein
Doltoreramen zu machen. Ich hielt feine Reden
mehr über den Urgrund des Daſeins, auch feine
über unfern Stammvater, den Affen, und wir be—
leidigten und nicht mehr gegenfeitig. Während meiner
Abweſenheit hatte fie allerdings nur wenig gelefen,
aber ihre Verachtung der Bücher ſchien doch geringer
zu jein als früher, und ihr Weien war ruhiger und
finniger geworden.
Den Winter verlebte ich bei den Meinen und
pflegte ihnen an den langen Abenden vorzulefen.
Elina war gewöhnlich unter den Zuhörern, und ich
bemerkte vol Verwunderung, daß fih niemand in
jo hohem Grade für die Sache intereffierte wie fie.
Anfangs ſprach fie ſich indeffen niemals darüber aus,
Wenn fie innerlich erregt war, verhielt fie fich ſchwei⸗
gend. Gefühlvolle Stellen liebte fie nicht, fie mochte
nicht, wenn wir länger bei den pathetiichen Scenen
verwveilten. Ungeduldig bewegte fie ſich auf ihrem
Stuhle und bat: „Lies weiter!" Pas ich ihr allein vor,
jo fonnte fie jogar bei derartigem raſch jagen: „Ueber-
ichlage «8, überfchlage es!" Ein einziges Mal nur
hörte ich fie jagen: „Das iſt herrlich!“ Sicher ift, daß
der Ausdrud, welcher in dieſem Augenblicke in ihrer
Stimme lag, taufendfadh ſchöner war als dag Ge—
bicht, dem ihre Bewunderung galt.
Zuerft glaubte ich, fie fönne die Stellen, welche
fie überichlagen haben wollte, nicht verftehen. Bald
fam ich von diefem Irrtum zurüd, Sie las dieielben
für fi allein, und nachdem wir dahin gelangt waren,
uns über das Geleſene zu unterhalten, zeigte jie eine
fehr lebendige Auffafjung alles Schönen, die mich in
das äußerfte Erftaunen verjehte. Sie las die Bücher
nicht nur, nein, fie durdhlebte fie geradezu, Für fie
war die Dichtung Wirklichkeit, wenn aud in andrer
Art als zu jener Zeit, da fie Eugene Sue las.
AN
IM .
EHER
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J
726 Kriſtian Elſter.
Es war gerade, als ob alles das, was fie dar⸗
geitellt las, fi) in ihrer nächſten Umgebung abgejpielt
habe, und als ob die in den Didjterwerfen vor«
tommenden Menjhen in engem Verkehr mit ihr
ſtänden. Sie beurteilte diejelben ebenſo eingehend
wie die Perfonen des wirflihen Lebens. Sobald
dieje erdichteten Menſchen ihr micht gefielen, nahm
fie mir meine Bewunderung ihrer dichteriſchen Schön»
heit und Wahrheit außerordentlih übel. Sie griff
fie voll moralifcher Entrüftung an und mwunderte
ſich darüber, daß ich diefe Charaktere intereffant finden
fonnte. Sie erflärte wohl, fie haſſe diefen Mann
oder jenes Weib, und niemand würde fie zu der
Ueberzeugung befehren, daß fie etwas Beſſeres ala
Abſcheu verdienten.
Sie veradhtete „Hamlet“, fie konnte „Wilhelm
Meiſter“, in welchem Buche auch „fein einziger reeller
Menſch“ vorfäme, nicht ausftehen und meinte, Werther
hätte nur ordentlid) arbeiten jollen, dann würde er
gar nichts von jeinen Leiden geipürt haben. Stein
Menſch hätte fie dazu bewegen können, dieſe Werfe
zum zweiten Male zu lefen, ebenfowenig wie fie ſich
dazu bequemt hätte, mit jemand, von defjen niedriger
Dentungsart fie überzeugt war, zu verfehren. Gret«
den umd Klärchen machten indes einen tiefen Ein-
drud auf fie. Ad, wenn ich fie mir zurückrufe, dieſe
ihönen Wintertage an der Weftküfte, mit ihrer feuchten
Luft, den leicht beeiften Wegen, kahlen Feldern,
dunfeln Bäumen, mit dem trüben Meer und ben
phantaftisch geformten Sonnenwolfen am Himmel —
wenn id) der ftillen Abende gedenfe, die wir bei
wohlverwahrten Thüren in der von mildem Lampen»
lichte erhellten, hübſchen und feftlihen Stube gemüt-
fi) verlebten, wo id), ihres Kommens harrend, auf
und ab ging; wenn ih mich erinnere, wie fie dann
endlich eintrat, fein und reizend, blühend und friſch
von der Winterluft, in ihrem rotem Kleide mit einem
kleinen weißen Kragen am Halsausjhnitt, wenn ie
mir wieder in den Sinn fommen, ihre vielen heiteren
Einfälle, ſehe id) fie vor mir, mit den großen, ruhigen,
nachdenflichen Augen, heißen Wangen und leicht ge=
öffneten Lippen, Taufchend, die neuen Bilder in fich auf-
nehmend, bingerifjen von der erften Kunde einer reichen
wunderbaren Welt, wenn ich diejer unſäglich ſchönen
Abende gedente, wo die uns umgebende Luft wie von
einem heimlichen, feftlichen Dufte durchzogen jchien, wie
fie, ihrer Schweigfamfeit ungeachtet, Durch die Dichter«
worte zu Bemerkungen veranlaßt wurde, wie ein Blid,
ein Erröten, eine Bewegung, der Ton ihrer Stimme
und einzelne Worte ihr tiefes Schnen nad) Liebe und
Hingebung verrieten, das fi für gewöhnlich unter
ihrem etwas kurzen, energifchen Weſen verbarg! — ein
feiner, jeder Schönheit erfchlofiener Sinn, eine un«
bejchreibliche Treue und Wahrhaftigkeit ihres Herzens
offenbarten ih mir in den Stunden — ja, wenn
ich fie wieder durchlebe und an unſre häufigen Spazier-
gänge zurüddenfe, bei denen wir mit der größten
Lebhaftigkeit alles Gelejene beſprachen, als hätten
wir es eben an uns jelbft erfahren — dann jdeinc
mir die herrlichſten Schöpfungen der Dichter mır
ein ſchwacher Abglanz des wirklichen Lebens zu fein,
und in meinem herzen lebt das Bild eine Weſent
das mir tauſendfach ſchöner zu fein dünlt als irgend
eines der von den erhabenjten Geiftern der Welt
geihifderten, ein Weſen, das gelannt zu haben, ein
großes, unauslöfchliches Glüd in ſich jehlieft,
Diejes Beifammenfein währte indes micht lange
Es war gegen Ende des Winters, an einem Tage,
wo ſchon ein Hrühlingsahnen die Luft durchzog und
feine, weiße, leicht gefräufelte Wölfen am Himmel
ſchwebten, als wir unfern Spaziergang am fer it
Meeres machten. Wider Gewohnheit verhielten wir
uns ziemlich ſchweigſam, Elina ſchien nicht geneigt,
fih an einem Geſpräch zu beteiligen, fie blick
gedanfenvoll in die Ferne und antwortete zerftreut,
in faltem, Manglojem Ton. Auch ich fühlte kin
Bedürfnis zu reden. Ein warmes, ſchönes Gefühl
von Glüd erfüllte meine Seele, taujend fröhliche,
närrijche Gedanfen fuhren mir durd den Sin,
allerlei unbeftimmte Erwartungen tauchten im mie
| auf und flüfterten mir lauter jüße, unkluge Dinge
zu, und vor meinem inneren Auge ſchwebten goldene
Bilder, wie Sonnenwolfen am Himmel. Alles, wa;
ich fühlte und dachte, ließ fich durch ein paar kurze
feine Worte ausbrüden, und unverjehens entichlüpiten
fie aud) meinem Munde. „Es ift ſchön zu leben,“
dachte ich laut, indem ich Elinas Wahlſpruch an
wendete. „Es könnte ſchön fein,“ jagte fie mit der-
felben tonlofen Stimme wie vorhin und ſchien mit
ihren Gedanlen weitab zu jchweifen.
Auf dem Heimmwege fanden wir auf einer An-
höhe fill, von der aus man den Fjord umd die
Ortſchaft liegen jah.
„Wie wunderhübſch liegt der Ort,“ rief ich auf.
Denn ich glaubte wirklich, nod nie etwas Schöner
geſehen zu haben als dieje jchneefreien Felder, dieie
laublojen, dunfeln Bäume, die noch winterliche See
und hoch über allem den im Weiten golden leuchten
den Himmel.
„Mir eriheint e8 Dunkel und ſchwer!“ ermiberte fie.
Dunkel und ſchwer! Das war mir unfahlid!
Mir ſchien alles in ftrahlende Glut getaucht zu jein.
Ich zeigte gegen Weiten: „Sieh, wie wunderbar
es dort erglänzt und leuchtet!“
Isa, außerhalb der Dorfſchaft,“ ſagte fie.
Ih ſah fie erftaunt an. Daß fie dieje friedliche
Heine Welt, in welcher fie doch mit allen ihren Ge-
danken, Intereffen und Hoffnungen weilte, dumtel
und ſchwer finden konnte, war mir ganz unverfländ-
| lich. Ihr mußte etwas Unangenehmes begegnet fein.
\OOgIIE
2 — |
— Ari 4
J
Sonnenwollken.
Bar fie doch während des ganzen Weges an der |
ihren Wahlſpruch: „Es ift ſchön zu leben“, zu eigen
' gemacht habe, nur mit der Heinen Variation: „Es
ift Schön, mit dir zu leben.“
fanden erft bei dem Eingange zu Holts Garten jtill. |
„Aber dort draußen ift e8 im Grunde gar nicht |
jo ſchön,“ fagte ih und dachte daran, wie oft aud)
einen Seite der Strafe für fi) dDahingegangen, und
mın fiel mir auch auf, daß fie mißgeſlimmt ausjah.
Wir Ienkten unfre Schritte den Häufern zu und
ich mich gefehnt Hatte nach etwas Unbekanntem,
Herrlihem in der Ferne, etwas Herrlichem, das ſich
immer weiter von ung entfernt und immer außerhalb |
der Welt ift, in welcher gerade wir uns befinden.
„Aber alles das, was wir gelejen haben, iſt das
wicht ſchön ?* fragte fie; „aber das ift dort draußen,”
Sie blidte noch einmal gedanlenvoll hinüber nad)
dem hellen Weiten. Ein jehnfüchtiger Ausdrud, ber
fie mir ganz fremd erſcheinen ließ, lag auf ihrem
Antik. So hatte ich fie niemald vorher geſehen;
fie pflegte auch öfter zu ſagen, daß fie ſich noch nie
nad) irgend etwas gejehnt hätte,
Ih zögerte beim Abſchiede; unwillkürlich wartete
id, ob irgend etwas, dem ich feinen Namen zu geben
wußte, geſchehen würde. Es jchien mir, als ob fi
etwas Bejonderes in diefer Stunde entjcheiden müfle,
und als ob die Entſcheidung von mir abhinge — ald
ob irgend etwas gejagt werden müſſe; — daß ich eines
großen Glückes verluftig gehen würde, wenn es gerade
jet ungefagt bliebe. Eine Wengftlichleit und Be—
llemmung überfam mid), meine Hände wurden feucht
und falt, wunderliche Nebel jchienen rings um mich
aufzufteigen, und der Boden ſchwanlte unter meinen
Füßen. Endlich wurbe mir doch Far, daß id) ihr
eiivas von bem, was mich in der Zeit unſers Zu—
jammenjeins bewegt hatte, geftehen wollte; zugleich
aber befiel mich eine furdhtbare Angft, es auszu—
ſprechen. Da erinnerte ic) mich ihrer leßten Worte:
„Mes das, was wir gelejen haben, ijt das nicht
ihön? Mber das ift draußen.” Und mit einer
Rühnheit, die mir abenteuerlich vorlam, fagte ich:
‚Das alles ift eigentlich gar nicht ſehr ſchön, aber
du fiehit es jo jchön.“
Sie drehte ſich rajch in halber Wendung gegen
mih um und ſah mid mit einem überrajchten,
wunderlich nüchternen, abwehrenden Blid an. Es
war ein Blid, der durch jede Hülle ber Seele bin»
durchging und fragte: „Was ift es, das du bezwedtit ?”
nähften Uugenblid ſah fie wieder in die Ferne, aber
ihr dem Abendhimmel zugewendetes Gejiht war |
Als ich beim Herannahen des Herbites in die Stadt
ebenjo gerötet wie dieſer.
Mehr jah ich nicht, denn mit einem haftigen
„Bute Nacht“ verſchwand fie durch die Pforte,
Während meines Nachhauſeweges wurde es mir
iur Gewißheit, daß ich mir, ungeachtet unſrer Un—
gleihheit, (denn wir waren in vielen Dingen voll»
fländige Gegenfäße) und troß meiner Lehre von den
DER
in ihrer Nähe weilte.
Es war wie das rajche Bliken eines Meflers; im |
127
einander anziehenden, verwandten Inbividualitäten
Ja, ich war verliebt, unwiſſenſchaftlich, unver
nünftig verliebt und unendlich glüdlich in der Unrube,
ber Sehnjucht, der Furcht und der Hoffnung diefer
Liebe.
Von diefem Tage an war unſer Verkehr nicht
mehr derjelbe wie früher. Wir hatten beiderfeitig
eine Entdedung gemacht und zwar die, daß wir ein»
ander fremd waren, Es gab feine Leje-Abende mehr,
feine Spaziergänge, fein vertrauliches Plaudern über
ben Ort und defien Bewohner. Ich fand mid une
gemein verlegen in ihrer Gegenwart, und e8 ums
gab fie etwas jo Nüchtern-Alltägliches, daß ich mid
unabläjlig fragen mußte, ob fie dieſelbe ſei, bie
mir an jenen Abenden gegenüber geſeſſen, in beren
' Antlik man den Abglanz alles Schönen, das gelejen
wurde, erſtrahlen ſah, und mit der ich in häufigen
Unterredungen Gedanfen ausgetaufcht Hatte über
alles mögliche, über Dichtung und Wirklichkeit, Unter«
redungen, bei denen fich mir ihre tiefe, heftige, aber
ehrliche Natur offenbart hatte. Es war, als läge
jene Zeit unendlich weit zurüd, und fie jelbft erſchien
mir jo fremd, dab ich mich auch nicht einmal über-
winden fonnte, auf das Vergangene mit feinem
vielen Schönen zurüdzufommen. Denn ic) erwartete,
nur einem verwunderten Nusbrude ihres Auges zu
begegnen, als könne fie nicht mehr verftehen, worauf
ich hindeuten wolle.
Berjhiedene Umftände veranlaßten mich in diefer
Zeit zu häufiger Abwejenheit, und ich empfand dies
wie eine Erleichterung; denn da3 Zufammenfein mit
ihr war mir zur Dual geworden, da wir nicht mehr
in gewohnter MWeije miteinander verfehren konnten.
Ich grübelte über das Gejchehene; einmal dadjte ich,
es habe jich doch eigentlich gar nichts verändert, und
dann drängte ſich mir die Leberzeugung auf, dab
die herrlichen Wintertage nur eine Tüuſchung gewefen
feien, und daß fie nie, nie wieberfehren würden.
Voll brennender Sehnſucht gedachte ich der ent-
ſchwundenen Zeit; Sehnſucht nad ihr erfüllte mic,
wenn jie abweiend war, und nod größere, wenn ich
Sp vergingen das Frühjahr
und der Sommer, ohne daß ich viel Davon bemerfte.
Da ich ſtets mit einem und demielben Gedanten be»
ſchäftigt war, jo floflen mir die Tage einförmig dahin.
zurüdfehren wollte, war mir, bei dem unausgejeßten
Nachdenken über das Rätjel unfrer Beziehungen zu ein⸗
ander, jede Luft zur Urbeit abhanden gelommen. Ein
bitterer Widerwille gegen die Außenwelt mit allem,
was fie bewegte, erfüllte mich, und nun wäre es mir
faft lieb geweſen, mic ungeftört in ihrer Nähe dem
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728 Kriftian Elſter.
aufreibenden Grübeln, das mir doch ſo unerträglich
geſchienen, hinzugeben. Ich lechzte nach einem Strahl
hres lieben Lächelns, einem freundlichen Blick ihrer
treuen Augen, um Luft zur Arbeit und Mut zum
Leben zurüdzugewinnen.
Und es wurde mir.
Den Anlaß dazu gab eine Duadjalberkur , und
diefe, meine erfte ärztliche That, hat ſich daher
meinem Gebächtniffe feſt eingeprägt. Ein balb-
erwachſener, an einem der benachbarten Fiorde
wohnender Burjche war jo unglüdlich gefallen, daß
er in augenjheinlicher Lebensgefahr jchwebte. Es
wurden Eilboten zum Doltor gejandt, aber alt und
überdies frank, konnte diejer bei dem jehr ftürmijchen
Wetter dem Rufe nicht folgen. In jeiner Not fam
der Bote zu uns, da ich ja „zum Doktor ftudierte*.
Ih begab mid) zum Arzte, holte jeinen Rat ein
und machte mid) auf die Reife.
Zunächſt galt es einen nächtlichen Ritt durch das
wilde Gebirge, den ich nicht leicht vergefjen werde ;
Regenihauer und eisfalte Winde beläftigten uns an
den offenen Stellen. Eine jo tiefe Dunkelheit umgab
ung, dab ich die Gejtalt meines Führers faum ge—
wahrte, Daß wir überhaupt vorwärts lamen, ver-
dankten wir nur unfern tapferen heimatlichen Pferden,
die jo zuverläffig find, die ihren Pfad da finden,
wo Menjhen irre an demjelben werben, die unver⸗
droffen gegen Wetter und Wind anfämpfen, ohne
zu ermübden,
Danach ging es ind Segelboot. Die völlige
Stille, welche in demjelben herrſchte, die ungewöhn-
liche Schnelligkeit, mit welcher Befehle gegeben und
ausgeführt wurden, mußten auch einen Nichtfundigen
überzeugen, daß mit jedem Windftoße eine Lebens—
gefahr drohte. Wir erreichten das andre Ufer indeſſen
wohlbehalten, und ich that mein Beftes in der Ber
handlung des Patienten. Schon während ich nod)
um den Knaben beihäftigt war, und nachdrücklicher
auf dem Heimmwege, fam es mir zum Bewußtjein,
dab Arbeit doch eine jhöne Sache jei. Sie hatte
mich wahrhaft heiter geftimmt, und ein ftärfendes
Gefühl von ermeutem Lebensmut durchzog meine
Seele. Da der Sturm etwas nachgelaſſen hatte,
legte ich den ganzen Weg zu Waſſer zurück. Ein
itrömender Regen durdnäßte mid) völlig, und da
wir zum Schluſſe dem falten Zugwinde ausgejeht
waren, ſah ich mit einem angenehmen Gefühl den
vichterfchein der Häufer auftauchen, wie eine freund«
liche Verheißung heimifcher Gemütlichkeit.
Raſch eilte ich den Weg hinauf und betrat den
Hofplag. Eine ſchwache Helle ftahl ſich durch die
verhängten Fenſter umd fiel auf bie entlaubten
Bäume, auf das weiße Gitter und auf die fleinen
Wafjertümpel zwijchen den Steinen. Nahdem ich
die naſſe Kleidung gewechſelt, ging ich im die feftlich
erleuchtete Stube; der Tiſch war mit einem weißen
Tuche bededt, dampfender Kaffee ftand auf dem
Kohlenfaß und eine Schüffel bräunlich glänzender
Kuchen mitten auf der Tafel, um die, außer den
Hausleuten, Elina, Holt und der Patriot Paf gr
nommen hatten,
Augenſcheinlich hatten fie auf mich gewartet; bei
meinem Eintreten erhoben ſich alle, um mid) mil:
fommen zu heißen, und erzählten, ein Bauer, der
über die Berge gefommen, habe ihnen von meinem
Ausfluge berichtet, und fie hätten die Stunde meine:
Nüdtehr einigermaßen berechnen fünnen. Da mir
nun alle wohlbehalten um den Tiſch ſaßen, als ih
die mir vertrauten lieben Geſichter amblidte und die
lebhaften Reden beim Geſumſe des Keſſels und dem
fnifternden Ofenfeuer durcheinander ſchwirrten, ſchien
mir das Dajein doch noch einigen Reiz zu befisen,
und ich begann größeres Vertrauen zu der bedeuten:
den Heilfraft, Arbeit genannt, zu gewinnen.
Als aber Elina jpäter am Abende auf mid zu
fam, als ich wiederum den warmen, treuherzigen
Blick ihrer ehrlichen grauen Augen mir zugewendet
jab und den alten zutraulihen Ton im ihrer
Stimme vernahm, mit dem fie, meine Hand er
greifend, fagte: „Ich danle dir dafür, daß du den
Weg machteſt,“ da waren alle meine Zweifel ge
hoben, Die Arbeit, welche meiner wartete, war nicht
länger nur ein Heilmittel, fie war eine Luft, eime
Freude, das eben war jchön, und ich wünschte mır,
fortzugehen, um den Kampf um das Dajein, weldes
mir jüngft jo unüberwindlich ſchwer erſchien, aufju-
nehmen.
’ UI.
Meine Studienzeit war zu Ende, und nichts hielt
mid) mehr in der Stadt zurück; furz vor Weihnachten
ſuhr ich im Schlitten der Heimat zu. Des Anfang:
diejer Heimreiſe entfinne ich mich jo deutlich, al
ob es geftern gewejen wäre. Es war eim herrlicher
Schneetag, ftill, milde und frieblih. Ich fuhr
in ſchwachem Trabe durch die feierlichen Tannen:
Ihonungen im Oſten des Landes, vorüber an großen
Bauernhöfen; der Weg zog ſich zwiſchen hodaui-
geworfenen Schneehügeln und eingefchneiten Bäumen
dahin. Nahe zufammenftehende Bäume waren durch
die Schneemafjen förmlich miteinander verbunden.
Kleinere vereinzelt jtehende Tannen hatten fih in
riefige Schneebälle verwandelt; die unterften Zweige
lagen in Schnee begraben, während die oberen, dicht
am Stamme, jchwer niedergebeugt hingen; es machte
den Eindrud, ala babe fi der Schnee nad umd
nach auf jeden einzelnen Baumzweig gelegt, um fit
zulegt alle in jeine Umarmung zu zwingen.
Die jungen Yaubbäume hatten ſich nad) einer
Seite geneigt; fie alle waren durch Wetter und Wind
gebeugt, und ihre zarten Gipfel berührten fait die
Sonnenmwolfen.
Schneedecle. Aber die größeren, deren fteifen Armen
der Wind nicht hatte Gewalt anthun fünnen, waren
über und über mit Schneekryftallen befät und hatten
das Ausfehen gewaltiger Eisblumen, die man bon
einer riefengroßen Glasſcheibe abgelöft und in ben
freien Raum gepflanzt hatte.
Es war ein wunderſchöner Aublick, den dieſes
milde Schneereich gewährte. Weihe Felder, weiße
Berge, weiße Bäume, Häufer und Scheunen und ein
weißbemwölfter Himmel, der große, weiße Flocken
langſam hernieberfandte. Die ganze Ortichaft, durch
melde ich fuhr, war in ein großes, reined und ges
ihmüdtes MWeihnachtäichlob verwandelt, mit vielen
tiefen, heimlichen Gängen, weichen Himmelbetten und
voll hellen Schneeſchimmers.
An diefem herrlichen Tage fühlte ich mich jo
durchdrungen von der Freude, frei zu jein, ber
Heimat entgegenzueilen, heim zu dem Trauten, Lieben,
daß ich bald da fein würde, wo ſich Elina befand, wo
ich fie fehen, Hören und mit ihr reden fünne, daß
fin Gedanke des Zweiſels oder Mißtrauens in
meinem Herzen Pla fand.
Und alles um mich her jchien diefelbe ſtille Freu—
digfeit, dasſelbe Slüdsgefühl innerer Befreiung, dies
ielbe warme Empfänglichkeit für alles Schöne bes
Lebens mit mir zu empfinden,
„Es ift Schön zu leben und fi von dem fanften
Schnee umfangen zu laſſen,“ jagten die Tannen der
Schonung.
„Es ift ſchön zu leben,“ jubelte der Hafe, welcher
mit Windesfchnelle vorübereifte, beinahe verborgen |
duch den tiefen Schnee zu beiden Seiten feines
Ihmalen Pfades.
„Es iſt ſchön zu leben,* flüfterten die Schnee
foden, indem fie wohlgefällig in weiten Bogen durch
die Luft einherjegelten, ehe fie ji) auf ihrem daunen-
weihen Lager zur Ruhe begaben. In den großen
Gehöften, an denen ich vorüberfuhr, ftanden Ziegen
und Schafe, fi an ihrem Futter ergöbend, und
fanden das Leben wundervoll, ſolange es noch etwas
zum Snabbern gab. Außerhalb der Scheune hüpften
unzählige Sperlinge und hielten das Dafein für ein
ebenjo glüdjeliges, da drinnen gedroſchen wurde
und überdies Weihnachten mit feiner Spende von
Arhrenbündeln fo nahe bevorjtand. Alles war fröhlich
und fang diejelbe Weiſe wie ich, der nun dem Stadt-
leben Valet gejagt hatte,
No ein paar Tage, und die Tannenihonungen
ſowie die großen Bauerngüter des öftlihen Landes
lagen weit Hinter mir; aud den jchneebebedten
Gebirgslamm Hatte ich paffiert und fuhr zu Thal,
der weitlich gelegenen Dorfſchaft entgegen, deren Um-
gebung von Bergen, Fiorden, reikenden Gebirgs«
ſtrömen, dunfeln Kiefernwaldungen und Heinen
Gehöften ich mac längerer Abweſenheit nie ohne
Aus frenben Zungen. 1897. II, 18.
129
einen wahren Jubel meines Herzens wiederiehen
fonnte.
Dieſes Mal aber gefellte ſich demjelben eine er-
wartungsvolle Unruhe hinzu, die fich vermehrte, je
näher ich meinem Ziele kam. Die frohe Feſtſlimmung
des eriten Tages war vorüber; tragen, Zweifel und
Furcht tauchten in mir auf, und hatten meine Ge—
danfen mich hoffnungsvoll, wie leicht beichtwingte
Walter, umgaufelt, jo lähmten meine heutigen Bes
denken ihren freudigen Flug.
„Es ift ſchön zu leben,” hatte nod vor wenigen
Zagen alles rings um mid ber geflüftert, „Es
iſt schön zu leben,“ hatte ich auch der einen ge
ſchrieben, der meine ganze Seele num zu eigen war.
Und ich hatte e& ihr mit dem kleinen Morte, das ich
unlängft im jtillen hinzugejegt, „mit dir, mit bir”,
gejchrieben. Ach, ich verjentie mich in alles, was
zwiichen uns geichehen, prüfend bedachte ich jedes
Wort, jede Miene — und plötzlich fand ich, daf bie
Fahrt allzuraſch thalwärts ging. Unveränderlich
behielt das Meine Pferd den ebenen Trab bei, ber
diejen Tieren eigen zu fein fcheint, und der weite
ländiſche Bauernfchlitten glitt jo eben dahin, wie es
allezeit ein ſolcher Schlitten zu thun pflegt. Aber
e3 ſchien mir doch, dab ſowohl Pferd wie Schlitten
fih unnötig ſchnell vorwärts bewegten; ich hatte ja
gar nicht jo große Eile,
„Nun zünden fie bei den Bornehmen Licht an,“
hörte ich plötzlich eine Kinderſtimme jagen.
Ih jah mih um. Vor einem am Wege gele-
genen Heinen, grauen, hölzernen Häuschen fanden
eine Frau und ein Knabe, nad) den Fichtern unten
im Ort ſpähend.
Richtig! Es war ja heiliger Abend, und dort
unten hatte man überall Weihnachtslichter angezündet.
Ich gedachte der vielen Taujende, die jo außerhalb
ihrer dunkeln Behaufungen fiehen, um die aus
warmen, gemütlichen Näumen erftrahlenden Lichter
zu jehen, und denen um Weihnachten nur Die himm—
lichen Sterne ihr Licht ſpenden.
Der Menich iſt ſchwach. Vielleiht lamen mir
dieje Gedanken, weil ih mich davor fürchtete, ſelbſt
einmal zu den Armen zu gehören.
Ich näherte mich unjerm Gehöfte. Ob fie wohl
heute abend bei uns war? Ob fie zufammen mit den
andern auf mich wartete? War fie wohl ſchon auf
ber Haustreppe geweien, um auf den Meg zu
jehen?
Einen Moment dachte ich fie mir, in der Haus—
| thüre ftehend, wie fie ihr blondes Haupt vorneigte,
daß die Schneefloden auf ihr helles, Todiges Haar
| fielen, auf ihrer Stirne zerſchmolzen und in ihren
Mimpern hängen blieben — wer fann jagen, was
fie in den Augen lajen?
Jeht Tag das Haus vor mir. Ein Gefühl von
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730 Kriftian Elfter.
Kälte beſchlich mich, und ein ftechender Schmerz durch-
zudte meine Bruft.
Noch eine Schwenfung, und das Pferd ftand vor
der Thür til. In dem Flur ſah ich Licht er-
icheinen und wieder verſchwinden. Mir war ganz
beengt zu Mute. Am Tiebften hätte ich mid) unbemerkt
hineingeſchlichen und nad) einigem Zögern meine An.
wejenheit tundgegeben.
Die Hausthür öffnete fi; ich jah eine Pelzmütze
und hörte bes Vaters Stimme fröhlih und ſcherzend
fragen:
„Haben wir did) endlich, du Landftreicher?*
Hinter ihm jtand die Mutter mit der Leuchte.
Co raſch meine Pelzftiefel es geftatteten, eilte ich
hinein, um mid) aus meinen winterlichen Hüllen los—
jujchälen, während die Eltern und ein Zeil des Ge-
jindes mir den Willlommengruß boten.
„Ufo jie ift nicht hier,“ dachte ich.
„Schnell ins Zimmer mit dir!” jagte der Vater, |
indem er mich jacht vor ſich her jchob.
Wir durchſchritten den Saal, wo es jo falt war,
daß fi der Atem verbichtete. Aus dem dahinter
liegenden Wohnzimmer ftrahlte uns das Licht großer
und Meiner Yampen feſtlich entgegen.
Ja, hier war fie gewejen. ch bemerkte das
an den hübich drapierten Vorhängen, an den Schling- |
pflanzen, welche fih um den Spiegel legten, ja, an
der Art und Weife, wie man die Sejjel gerüdt hatte. |
Aber fie befand ſich nicht im Zimmer.
Der feftlich gededte Tiich trug außer den alt«
väteriſch geformten Theetafien die fie weit über—
vagende, glänzend polierte Theemaſchine, welche, emfig
brodelnd, ein mildes hausmütterliches Kommando über
alle aufgetragenen herrlichen Dinge zu führen ſchien.
Ic ftellte mich an den Dfen, um mid) zu er-
wärmen; denn ich wünjchte mich möglichft unbefangen
ju zeigen und lieh mid) allmählich faft braten, während |
die jüngit empiundene Kälte jet einer unerträglichen |
‚ bezweifelte, ob ich das Examen auch wirklich ber
- landen babe,
Hitze Platz gemacht hatte. In der Unruhe meines
Herzens redete ic) unausgeſeht über eine Menge der
verfchiedenartigften Dinge.
Endlich öffnete fich die zur Küche führende Thür,
ruhigen Ausdrud, und fie redete und bemegte ſich
in ihrer gewohnten Art, als fei nichts geichehen, das
fie in Unruhe verjeßt hätte. Allmählich gewann auch
ich jo viel Herrfchaft über mich zurüd, um fie ger
nauer beobachten zu lönnen.
‚ Niemals, weder vorher noch nachher, habe ih
etwas jo Schönes gejehen als fie.
' Ih hatte gar nicht gewußt, daß fie jo wunderbar
ſchön ausjehen könnte wie heute, da fie neben dem
Tiſche ftand und das Lampenlicht auf ihr golden
Haar und ihre rofigen Wangen fiel. Nie hatte id
ihre Augen jo bezaubernd, jo tief und glänzend ge⸗
funden. Dabei aber blidten fie ruhig und verftändig.
Und obgleich ihre Geftalt weder beſonders feine noch
weiche Formen zeigte, jondern hauptſächlich den Ein-
‚ drud einer kräftigen Gejundheit machte, bejah fie
doch eine reizende Anmut. Mir war unbejchreiblid
‚ teoftlos zu Mute, denn es fam mir ganz unmöglih
vor, daß ich jo glüdlich werden fünne, ihr als das
Liebfte im Leben zu erfcheinen. Wäre dieje Seligfeit
weniger groß gewejen, hätte ich vielleicht mehr Zur
‚ verjicht beſeſſen. Aber id; konnte mir feinen Menſchen
vorſtellen, dem ein jo hohes Glüd beſchieden wäre
als mir, wenn — o, wäre es dennoch möglich, dann...
Sobald wir in Bedrängnis geraten, werden wir
alle wieder zu Katholilen, und ich fürchte, ich habe
dem Schußheiligen der Liebe an dieſem Abende mehr
als eine Kerze gelobt.
Später am Abend erſchien dann aud Holt.
Dieſer war mir von allen Fremden heute gerade
der unmilllommenfte. Es lag zwar michts zwiſches
ung vor. Aber diefer Mann, welcher, wenigiiens in
Bezug auf irdiſche Dinge, alles, was er nicht mit
‚ Händen greifen fonnte, bezweifelte, peinigte mic) durch
‚ feine bloße Anweſenheit, verftimmte mich — und num
‚ gar am heutigen Abend.
Während er mir Glüd wünſchte, ſchienen fein
Blick und feine Mienen zu jagen, daß er durdaus
Vieleicht war die ganze Geſchichte nur erfunden,
und er würde jich nicht eher von der Thatfache über»
und ganz undeutlich gewahrte ich ein blondes Haupt, | zeugt halten, als bis er die Zeugniſſe jelbft geprüft.
eine blaue Schleife, ein helles Tuch und eine von Mir verging der Abend traurig; die Eltern dar
einer Manjchette feſt umichlofjene Heine Hand. ; gegen ſchienen glänzender Laune zu jein. Elina wır
Mahrieinlic bin ich ihr entgegen gegangen, um beichäftigt mit einen häuslichen Verrichtungen, die
iie zu begrüßen, obgleich ich von diefer Thatfache nur , jie zumeilen hinausführten, und dazwijchen jcherjk
eine jehr unflare Erinnerung habe. Ich weiß nur,
daß fie mir Thee reichte, den ich jchleunigft trant,
mid) ſtark dadurch brannte, nod) eiliger tranf und
mir den Mund noch ſchlimmer verbrannte. Da fie
mir die zweite Taſſe bot, hatte ich erft jo viel Mut
gewonnen, um fie anzubliden. Es fam mir vor,
als umijpiele ein feines, faft unmerlliches Lächeln ihre
Lippen — ſonſt hatte ihr Gefiht einen offenen,
fie heiter mit der Mutter. Der Onfel und fie wed*
jelten weder Wort noch Blid. Offenbar war bus
Verhältnis zwiſchen den beiden jeit meiner lepten
‚ Anmejenheit um fein Haar beifer geworben.
Holt und der Vater hatten fich mit ihren Pfeifen
in einem Heinen Nebenzimmer niedergelafien, me
fie ſich über die verfchiedenartigen Viehraſſen unter:
hielten. Vater hatte fich eine jchottijche Kuh fommen
Sonnenmwollten.
laſſen, Holt indefjen ſchien fie nit für verwendbar
zu halten. Dann fam die Rede auf Schmieröl, und
der Vater, als Freund alles Neuen, hatte gerade
eine bejondere Art desſelben gefauft. Das ift aus
ländifcher „Dumbug“, meinte Holt. Hierauf ging
man zur Beiprehung eines Erbprozeſſes über, und
Holt fand, daß von feiten beider Parteien „zu did
aufgetragen würde“. Dieſen feinen Licblingsausdrud
wandte er auf jede jchriftliche Produftion an, deren
Stil etwas lebendiger gehalten war als der feiner
Preiscourante und Kaſſenbücher.
As ich mich veranlaft fühlte, ein Wort mit«
jureden, ſah Holt mich eine Weile aufmerffam an,
um endlich zu fragen:
„Haft du auch angefangen, dir einen Badenbart
zuzulegen?” Diejen Schmud trug id) bereits feit fünf
Jahren. Was mi aber am meiften gegen biejen
Menſchen aufbrachte, war, daß id; im Grunde meines
Herzens fühlte, ihm unrecht zu thun, wenn ich ihn
einen Müßiggänger und Spiekbürger ſchalt.
Ic überlieh bie beiden Freunde ihren Betrach-⸗
tungen und begab mid ins Wohnzimmer zurüd.
Elina und die Mutter jtanden, gebämpften Tones
ſprechend, in einer Ede desielben, Ich nahm in ihrer
Nähe Plaß. Die Mutter flreichelte meine Wange |
und fragte mid), ob ich mich wohl al& Arzt in meinem
Heimatsorie niederlaffen möchte.
731
ſchon fürdtete, etwas von dem verraten zu haben,
was ich fühlte und dachte, und mir vornahm, mehr
auf meiner Hut zu fein.
Gleich darauf ging fie hinaus, weil es bald
Effenzzeit war. Die Mutter ließ mich neben fich im
Sofa ſihen, nahm meine Hände zwiſchen bie ihren,
ſah mic; mit einer beinahe rätielhaften Zärtlichkeit
an und begann über die Sorgen und Freuden bes
Familienlebens zu reden. Sie teilte mir mit, weldjer
Einnahme ein neuvermähltes Paar bebürfe und wie
viel Eheleute mit Kindern jährlih verbraudten.
Schließlich gab fie mir nügliche Winke in Bezug auf
Kinderzudt. Ich konnte nur annehmen, daß mein
eben bejtandenes Eramen dieſe Ratſchläge veranlafte,
und wurde recht einjilbig.
Beim Abendeſſen ereignete ſich etwas Unertwartetes,
Mein Vater erhob fich mit einer gewiſſen fyeierlich-
feit, um eine äußerſt verblümte Rede zu halten. Er
begann mit der Bemerkung, dab wir am heutigen
Tage ein mehrfacdhes Feſt zu feiern verfammelt feien.
63 fei Weihnachten (unbeftreitbart), ich hätte mein
Eramen beftanden (wurde einitweilen noch von Holt
bezweifelt), und er hoffe, daß am heutigen Abend
ein Stern am Himmel leuchte, der für mehr denn
einen ber Anwejenden zum Glüdsfterne werden möge.
\ Dabei richtete er das Wort fpeziell an Holt, was
In Erwägung |
deſſen, wie leicht es geichehen könne, daß die Heimat |
der lebte Plaß jet, in dem ich wünfchen möchte zu
Ieben, ließ ich durchblicken, e8 könne mir aud im
bohen Norden eine Stätte bereitet fein.
Lächeln, „ich glaube nicht, dab du nach dem Nord»
land geht.“
Elina fragte: „Möchteft du praltiſcher Arzt fein?“ |
Dies waren die eriten Worte, melde fie an
mic richtete, nachdem fie mich willlommen geheiben.
Sie berühtten mich ganz ſeltſam, und «8 jchien
mir, als jei es draußen plöglih Sommer geworden;
ih empfand es wie weiche, warme Luft und Blumen»
duft um mich ber.
In ihrer Stimme halte ein eigner, vertraulicher
Klang gelegen, wie von etwas halb unterbrüdt Zärt⸗
lichem und einem flillen Glüdsgefühl; es war, ala
wollten ihre guten treuen Augen mir jagen: „Ich
bin dein,”
Sofort erfüllte mich die allergrößte Luft, Arzt
zu werden, oder jonft irgend etwas, überhaupt zu
fümpfen, zu wagen, um zu gewinnen. Der ber
ſcheldenſte Wirlungskreis ſchien mir in diefem Augen-
blid groß und verlodend, und ich jah eine leuchtende |
‚ boten in das Zimmer famen, um uns ein frohes
„Ich wüßte nichts, das ich Tieber jein möchte,” |
Zufunft vor mir.
war meine Antwort. Es fam mir vor, als bejchatte
ein unzufriebener Ausdrud ihre Züge, jo daß ich
mich zu dem Glauben veranlaßte, er jpiele auf irgend
eine zu erwartende glüdliche Geichäftsipefulation an,
' Dann fing au er an, fi) über häusliches Glüd,
über die hausväterlihen Pilihten, ſowie über die
' Aufgabe einer Familienmutter auszuſprechen, Holt
„Ad nein,” meinte die Mutter mit gütigem |
mit beinahe
ſtarrend.
Ich nahm an, daß Holt mit dem Gedanken um—
ging, „ſich zu verändern“, und wunderte mich jehr,
noch nichts von der Angelegenheit gehört zu haben,
Zuletzt ſtieß er in ftrablendfter Laune, in welche
ihn feine eigne Rede verjeßt, gerührt mit mir an.
firengen Bliden unverwandt ans
' Er war voller Freude, die Mutter ebenfalls, Elina
jah ganz warm und rot aus, mir war äußerſt fonfus
zu Sinne, Holt dagegen ſchien ruhig wie gewöhnlich,
aber außerordentlich bleich.
Wir erhoben die Gläfer, allen ein „fröhliches
Weihnachten“ wünjchend; der Bater wünjchte außerdem
jedem von uns „viel Glück“. Als die Reihe an Holt
fam, mit Elina anzuftoßen, bemerkte ih, daß er
plöglich fliehen blieb, ohne fein Glas dem ihren zu
nähern. Auch fie ftand eine Weile, das Glas in
ber Hand haltend, und nahm ihren Plah wieder ein,
ohne mit ihm angefloßen zu haben, Endlich jpielte
fich der leßte Alt des Abends ab, indem alle Dienit«
Weihnachtsfeft zu wünfchen, einen Augenblid bei uns
vermweilten und dann wieder fortgingen.
Gleich darauf erhob fi Holt, ung gute Nacht
132
fagend ; der Vater umd ich begleiteten ihn bis zur
Hausthür,
„Ja, wir jehen Sie natürlich morgen,” ſagte der
Vater.
Holt dankte ihn, und der Vater verſchwand. Als
ich die Stube wieder betrat, war auch die Mutter
binausgegangen. Das Zimmer war leer — nein,
dort ftand Elina, und — o du reiche, wunderherrliche
Welt !— fie jah mich wieder mit diefem warmen, eigen«
tümlihen Blide an, der mich vorhin jo in Ber«
wirrung gejeht. Ich hätte es in alle Lüfte hinaus-
jubeln mögen; mit einem Dale wußte ih, dab ich
— man entfchuldige den gewagten Ausdrud — den
ganzen Abend mit meinem Glüde zufammen zugebracht.
Die geheimnifvollen Andeutungen der Mutter, des
Vaters aſtrologiſche Tifchrede, Elinas Benehmen |
fowie ihr Hierfein, als erwarte fie etwas, ja, es
mußte etwas gejchehen und bejprochen fein. Indes
wirbelten alle meine Gedanfen wild durcheinander,
und wenn ich überhaupt geredet hälfte, wäre nur
eine unerhörte Dummheit zu Tage gelommen. Zur
nächſt ging die große Ueberrafhung und Freude in
firahlendjte, himmlische Glüdjeligfeit über. Ich weiß
nicht mehr, wie es geſchah, daß id) auf fie zuging,
unzujammenhängende Worte ſprach, dann eine höchſt
rätfelhafte Anrede an fie richtete, bis ich endlich
wagte, ihre Hand zu ergreifen und fie zu fragen,
„ob e& wirflid; wahr jei“.
„Du weißt e8 ja ganz gut,“ jagte fie und lachte, |
und mit ihrer Meinen, zitternden Hand in der meinen
fühlte ih mich endlich meines Glüdes gewiß, mid |
immer noch wundernd, dab es überhaupt möglich
fein fonnte. Ä
Im Haufe war alles jtill; ftill brannten die |
Lampen in den Zimmern, jtill, zufrieden und teil» |
|
nehmend, wie es mid) dünfte, und ſtill ſaßen auch
wir beiſammen. Ich jah nichts als zwei liebe, un«
ergründliche Augen, fühlte das weiche, lodige Haar
an meiner Wange und ihre warme Meine Hand in |
der meinen. Und da wir endlich jpradhen, waren
wir feineswegs beredt. Es waren einzelne Worte,
die wie die vom Himmel jchwebenden weißen Floden
um ihrer jelbft willen hinausgeſandt wurden, liche,
thörichte, Meine Worte, die gejagt und gehört zu
haben, das größte Glüd des Lebens ausmacht.
Indes erfuhr ich doch, dab meine Eltern alles
wußten.
„Gegen ihren Willen würde ich es nicht gethan
haben,” jagte fie. Doch hatten fie veriproden, die |
Sache fürs erfte geheim zu halten. Es war ihnen aber |
zu ſchwer geworden, jede Anjpielung zu vermeiden. |
Dem Onkel hatte man nod nichts mitgeteilt; _
„aber heute abend verftand er es,“ fügte fie Hinzu. |
Und dann erinnerten wir und vergangener Zeiten.
Wie unglaublich Vieles und Liebes uns da einfiel! -
Kriftian Elſter.
Wir gedachten unfrer erften Streitigfeiten, und
fie geftand mir, ich wäre ihr jchredlich eingebildet
borgefommen, während id) jagte, daß ich fie für ſeht
umilienichaftlich gehalten, worauf wir beide laden
mußten. Dann ſprachen wir von den vielen Leſe—
abenden und gemeinjamen Spaziergängen. Ich ver:
traute ihr an, dab mir manches Gedicht, wenn fie
es Schön gefunden, plößlid in einem viel idealeren
Licht erjchienen jei als jemals vorher, und daß vieles
von dem Gelejenen, welches mic, anfänglid, wenig
interejiert hätte, mir jpäter unendlich lieb gemorden
wäre, indem es mich an fie erinnerte, an eine Br
merkung, die ihr darüber entjhlüpft, an einen Blid
oder eine Bewegung — dab die ganze Orticait
mir erft jeit jener Zeit heimisch umd lieb geworben,
als fahten die fie umgebenden hohen Felſen alles
Herrlichjte der Erde in ihre Mitte,
Mit verwundertem Kopfichütteln meinte fie, des
ſei ihe nicht verftändlid. Sie habe ihre Neigung
zu mir erft an jenem Abende erfannt, al& id den
Beſuch bei dem verwundeten Knaben machen muhtt.
Zuerft hatte fie fi geängitigt, als müſſe fie alles
das verlieren, was das Licht und die {Freude dei
Lebens ausmacht; dann aber fei ihr ſtolz, froh und
zuperfichtlich zu Sinne geworden,
Wie fie erzählte, hatte fie an dem Abende an
dem Wege, den ich fommen mußte, geflanden, um
mir Lebewohl zu jagen, ſich aber doch nich
gezeigt.
Als fie dann hörte, daß man mid) zurüderwar-
tete, und fie mich zu ſpäter Stunde ins Zimmer treten
ſah — da hatte auch fie gewußt, wie e8 um fie fand.
Und dann jchilderte ich ihr die leßte Zeit meine
Aufenthaltes in der Stadt, wie unabläjfig ich ibrer
gedacht, mich nach ihr gejehnt und wie jpielend leicht
mir die Arbeit geworden jei. Gott weiß, daß ı
ſich jo verhielt, wenn ich fagte, daß ich niemals ge
ahnt hatte, welcher Reichtum von wahrem, herrlichem
Glüde ein Menjchenleben erfüllen kann, ehe ich fe
lieb gewonnen. Zuletzt ſprach ich ihr aud von
meiner Heimfahrt mit allen ihren Zweifeln und ihrer
Furcht, und nod) von der Verwirrung am Abende,
worauf fie wieder lachte und ſagte: „Wie bift du
doch närtiſch!“
Als ich ſie nach Hauſe begleitete, ſtanden wir
bei dem Eingange zu Holts Garten ftill, wie an
ı jenem Tage, an dem mir zuerjt Mar wurde, was ih
für fie fühlte.
Damals hatte fie gefunden, daß der Ort ſchwer
und dunfel jei, und ich erinnerte fie daran.
„Ih glaube, er erſcheint mir noch jo,“ erwiderte
fie; nad) einigem Bedenken feßte fie Hinzu: „Du
gehörjt ja eigentlich zu dem, was dort draußen ift.“
Ich blidte fie fragend an. „Ia, damals wuhte
ich noch nicht, wie's mir ums Herz war, — ic glaube
Sonuenmwolten.
aber doch — nein, gewiß weiß ich es nicht. Komm,
laß uns noch ein wenig auf und ab gehen.”
Die nächſte Umgebung meines Heimatsortes war
mir ſchon immer ausnehmend ſchön erjchienen, und
ich bewahre die Erinnerung an manden Spazier-
gang in derfelben.
Aber diefer Abend, mit halb verfchleiertem Monde
am leicht bewölften Himmel — der Schneefall hatte
aufgehört — mit jeiner ruhigen, milden, winterlichen
Luft, mit Schwach leuchtenden Sternen und vereinzeltem
Fihtihimmer aus verihiedenen Häufern, hat ſich
meinem Gedächtniſſe treuer eingeprägt als irgend
eine andre Naturfcenerie. Nachdem wir uns endlich
gute Nacht gewünjcht und fie in das Haus eingetreten
war, mochte ich noch nicht an Ausruhen denen. Ein
Erlebnis wie das heutige ift wie die Offenbarung |
von Schönheiten in unirer Umgebung, an denen |
man vorher blind vorüberging. Und man fühlt
das Verlangen in fih, auch zu dem Glüde andrer
ehwas beizutragen,
Ich eilte Die vertrauten Wege entlang und nidte
Häuſern und fyeldern, Bäumen und Steinen mie
guten Freunden und Bekannten zu. Jedes Heim
grüßte ich und erinnerte mich dabei an irgend eitwas
Gutes, Wahres und Hübſches feiner Bewohner.
Der ganzen Welt hätte ich ein frohes Weih—
nachten gewünſcht.
Ich betrat auch jenes Häuschen, vor dem der
ſtnabe und ſeine Mutter geſtanden hatte, als ich
vorüberfuhr.
Mas ich dort that und redete, jeßte die armen
Leute fiher im nicht geringes Erftaunen und wäre,
unter andern Umftänden, auch mir jelbit einiger»
maßen auffällig vorgeflommen. Aber am heutigen
Abende fühlte ich mich überall wie zu Haufe. Als
ih eintrat, befand ji der Mann in nicht ganz
nüchternem Zuftande, der Knabe fchlief, und die
Mutter war im Begriff, das Licht zu löſchen. Wahr-
ſcheinlich hatten fie mich im Verdacht, ihre häuslichen
Verhältniſſe infpizieren und nachjehen zu wollen, ob
alles bei ihnen orbentlid zuginge. Und mid er-
füllte doch nur die Luſt, ihnen ein Schloß zu bauen,
groß umd herrlich wie das, in welchem ich jeht ſelbſt
wohnte, und bafür zu forgen, daß fie an feinem
fommenben Weihnadht3abende wieder auferhalb der
Hütte ftehen mußten und jagen: „Jeht zünden fie
bei den Vornehmen Licht an.”
Auf dem Rückwege bemerkte ich noch Licht bei
dem „Batrioten”, welcher zur Miete bei einer Witwe
mohnte, bie in der Nähe von Holts Beſiß ein kleines
Haus inne Hatte, Nun zog es mich hinauf, um dem
einfamen Manne ein frohes Feſt zu wünſchen. Ich
fand ihn, aus feiner langen Pfeife rauchend, im |
Zimmer auf und ab gehend. Auf dem Tiſche fladerte |
ein einzelnes Licht, Er jah mich im höchften Grabe
733
erftaunt an und dachte offenbar, es ei ein Unglüd
geichehen. Ich bat ihn um die Erlaubnis, eine Pfeife
mit ihm rauchen zu dürfen, Die wohlmollende Seele
fuchte eifrigft die Ueberreſte verjchiedener Pfeifen
zulammen und legte fie mit einer Handvoll Tabat
auf den Tiſch.
„Wie freundlich ift es von Ihnen, beraufzu-
fommen!” jagte er.
„Ich dachte, es wäre vielleicht etwas einfam,
an einem Weihnachtsabende. Sie haben niemand,“
fing ich an, einigermaßen verlegen über meinen etwas
auffallenden Beſuch.
„Ach,“ antwortete er, indem er wieder begann,
hin und her zu gehen, „ja, jehen Sie —, die Witwe
ladet mic) wohl bei jolchen Gelegenheiten ein — fie
it eine gute Perfon — doch — im ganzen — Eie
fagten: einfam — jehen Sie, wenn man Ideen hat,
befindet man ſich im guter Geſellſchaft. Ich dente
nad. Die Welt wirb Hein um uns ber; was fagt
noch Wergeland? Nun, ich erinnere mich deſſen nicht
mehr. Doch, zuzeiten — es giebt ja Anläfje, bei
denen jelbit ein Mann von Ideen das Bedürfnis
fühlt — ja, e8 verhält jih, wie Sie jagen — man
fann ſich wirklich etwas — etwas — nun, um Weihr
nachten haben ja ſogar die Sperlinge ihr Felt...”
Er räufperte ſich einigemal ftarf, fam aber dann
auf mich zu und ergriff meine Hand: „Nehmen Sie
meinen beiten Danf dafür, dab Sie eines verhältnis-
mäßig einfamen Menſchen gedachten.” Er ſah plößlich
viel heiterer aus, ſehte fi in die andre Sofa-Ede
und äußerte: „Gewöhnlich pflege ich bei Holt zu fein,
aber, wie Sie willen, am Weihnachtsabend ...“
Ja, am Weihnahtsabend war Holt bei und, und
ich nahm mir vor, daß der Patriot fünftighin nicht
mehr allein fein ſollte.
Wir unterhielten uns eine Zeitlang über ver»
ichiedenes. Der Patriot ſprach ehr eifrig und dampfte
fürdterlih. Bei meinem Fortgehen dankte er mir
abermals für meine Freundlichleit, einen verhältnig-
mäßig einfamen Menjchen zu befuchen,
Bei unſerm Haufe angelangt, zögerte ich noch
auf dem Hofe. Es machte mir Spaß, alle die ganz
dunfeln Wege zwiſchen den Häujern zu verfolgen,
die Hehrenbündel auf dem Scheunendad und die
Reifighaufen außerhalb des VBorratshaufes für Brenn
bolz zu ſehen.
Zulegt that ich noch einen Blid in den Stall,
wo ich indeffen nichts gewahren konnte: ich hörte
nur die Pferde ihren Hafer mit Behagen zermalmen.
Endlich begab ich mich in mein Zimmer, aus
deijen Fenſter ich in die winterliche Mondnacht hinaus»
ichaute. Freundliche Erinnerungen an meine Find»
heit erachten in mir; viele heimifche, warme und
liebe Bilder jammelten fih in meiner Seele; alles
Herrliche, von dem id) je geträumt, verſchönte das
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734 Kriftian Elſter.
ſtrahlende Reich, im welches ich jeit heute abend
meinen Einzug gehalten.
IV
Auf die eben geſchilderte Art wurde ich zum |
reichſten Manne der Erde, und mir ſchien das Dajein
ruhig verweilenden Sonnenwolfen zu gleichen, Die
aus einer unauslöjchlihen Lichtquelle von warmen,
goldenen Strahlen durchglüht werden.
Darauf aber gejhah manches, wonad) die Sonnen»
wolfen anfingen, fi zu verziehen und Form und
Farbe zu verändern.
Oft hatte ich während meiner früheren {ferien
über das nicht jehr gute Verhältnis, welches zwiſchen
Holt und feiner Nichte beftand, reden hören, und
auch gejehen, wie falt fie miteinander verlehrten.
Mir war das alles jehr erflärlich vorgefommen. Holt
gefiel mir durchaus nicht, und das Zujammenleben
mit ihm dachte ich mir für jeden hödhit unangenehm.
Ws ic) aber Holt näher kennen lernte, war es
mir, wie vielen andern, unerflärlich, daß zwijchen den
beiden jo blutwenig Sympathie herrjchte.
Schon meine erfte Begegnung mit Holt am Tage
nad unfrer Verlobung machte den Wunjd in mir
rege, ihm näher zu treten. Wie mir Elina erzählte,
hatte er fie jpät am Weihnachtsabend, ihre Rücklehr
erwartend, gefragt, ob wir einig ſeien. Nachdem fie
jeine Frage bejaht, jei nicht mehr die Nede von
diefer Angelegenheit gewejen. Aber Elina fügte
binzu, fie habe ihm angejehen, dab er böje geworden
jei. AS ich fie fragte, was er möglicherweife gegen
ihre Verlobung einwenden fönne, antwortete fie:
„Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ihm ift niemals |
etwas recht, was ich thue.“
Es war am MWeihnachtstage, als wir im Begriffe
ftanden, uns zur Kirche zu begeben. Sie ging in
ige Zimmer, fi für den Ausgang anzulleiden, und
glei) darauf trat Holt ein. Mit jeinem gewohnten, |
ruhigen und bedächtigen Schritte fam er auf mid
zu; aber mit einem gewiſſen fonntäglihen Ausdrud
im Gefichte reichte er mir die Hand, blidte mid
offen, faſt Herzlih.an und fagte: „Ich wünſche dir
viel Glüch.“ Ich dankte ihm, wuhte aber nichts
weiter hinzuzufügen. Endlid fragte ih: „Haben
Sie etwas dagegen, Holt?“
„Nein, wie jollte ich etwas dagegen haben, wenn
ihr einig feid,“ gab er zur Antwort, indem er zum
Fenſter hinausſah. „Ich habe niemals andres über
did) gehört, als daß du ein braver, tüchtiger Menſch
bift. Ich wünſche euch alles erdenfbare Gute.”
Ih fühlte mic außerordentlich überrajcht und
ergriffen. So wert war mir noch niemals ein Lob
erſchienen, noch hatte mich je eines jo ſtolz gemacht.
68 war mir, als jei mir ein Ehrenzeugnis zu teil
geworden, das jedermann rejpeltieren müſſe. Mir,
der geglaubt hatte, er bezweifle jowohl meine Ehren-
baftigfeit wie meine Fähigfeiten! Wieder empfand ic
Beihämung darüber, ihn in meinem Innern häufig
einen bequemen Spießbürger gejcholten zu haben.
Uebrigend machte er es mir durch jein Weſen
unmöglich, etwas von meinen Gefühlen zu äußern,
| So wenig es mir früher gelungen war, eine Unter
haltung mit ihm in Fluß zu bringen, jo wenig
glückte es mir jet. Durch die Dazwiſchenkunft Elinas,
' die bereit war, in die Kirche zu gehen, fühlte ih
mich freier, und id) glaube, bei ihm war dasſelbe
der Fall.
Als ich Elina ſpäter mitteilte, was er mir gegenüber
geäußert, meinte fie: „Nein, gegen dich wird er wohl
nichts haben.“
„Aber was fann denn im Wege fein?“ fragte id.
„Ja, das weiß ich, wie gejagt, nit. Mir jagt
er gewiß nicht, was im Wege it.“
Ih deutete an, daß er fie vielleicht ungern ent»
behren würde,
„Mic, entbehren, Holt?" Sie lachte hart. „Ad,
ich glaube nicht, daß ihn das jein Leben often wird.“
Es lag jowohl Schmerz wie Zorn in ihrem
bitteren Tone, und es fam mir die Ahnung, daß
zwiſchen den beiden eine tiefere Spaltung beflände,
als ich bisher gedacht. Inzwiſchen geſchah zur Zeit
nichts, wodurd) Die verjtedte Abneigung der beiden
‚ gegen einander bemerfbarer geworben wäre, Ruhig
und eben flofien die Tage dahin, während id all
mählid) auf einen etwas vertraulicheren Fuß mit Holt
zu ftehen kam. Anfänglich beſchränkte ſich unfer
Verkehr auf ein freundliches Guten Tag und Adieu.
Außer zu den Mahlzeiten fam er jelten in das
Zimmer und verhielt fich dabei in der Regel jehr
wortfarg. Ungeachtet jeiner fteten Freundlichlei
gegen mich ſchien es mir, als fofte ihm jedes an mid
gerichtete Wort eine gewiffe Ueberwindung.
Nie beiprad) er Dinge, die ihn zunächſt angingen.
Seine Bemerkungen waren offenbar bie eines auf
merfjamen Gajtgebers, der jich verpflichtet fühlt, ſich
mit jeinen Gäften hauptſächlich über die Interefien
der letzteren zu unterhalten. Er ſchien ſich außerdem
in feinem eignen Zimmer nicht wohl zu befinden;
augenjheinlic lag e8 wie ein Drud auf ihm, und
es war nicht ſchwer, zu jehen, dab er förmlich auf-
atmete, jobald er ſich davonmaden, feine Pfeiſt
ſtopfen und fi in das Gomptoir oder auf den Pad-
boden begeben fonnte,
Ih jah ein, dab man den Mann am biefen
| Pläpen aufjuchen mußte, wollte man ihn näher kennen
lernen, und ich nahm mir vor, ihm auf fein eigenites
Gebiet zu folgen.
Eines Tages begab ich mich denn in den Speicher
und fand ihn in vollſter Thätigfeit zwijchen Tonnen
ı und Kiften, Mehl- und Kornjäden, Taurollen und
| Haufen von Häuten, Eiſen, Zimmerholz und Brettern.
Sonnenmwolfen.
Ein gemifchter Duft von Heringen, gefalzenem Dorſch,
Ein Tiih mit Tabal und einer Menge Pfeifen, ein
Hanf, Teer, Thran, Petroleum und frifhem Holz
machte fi) bemerkbar, und man mußte in feinen
Bewegungen vorfichtig jein, um der Berührung aller
diefer flarfriechenden Gegenstände auszuweichen. Für
nerbenſchwache Perſonen war der Aufenthalt durchaus
ungeeignet. Durch eine Menge großer Oeffnungen
des Fußbodens jah man hinab auf ben von See-
wafler umfpülten, mufcdelbejäten Strand. Bor ber
geöffneten Lufe gingen die Stride, melde Waren
in die verjchiedenen Stodwerte hoben, mit ſtarlem
Geräufch auf und nieder, und auf dem Boden über
ich hörte man ab und an gewaltige Laften auf den
Fußboden aufſtoßen. Alle Arbeiter waren in voller
Ihätigfeit und nahmen in ihrem Eifer wenig Rüd-
icht auf andre Peute. Endlich hörte man nod) vom
Arämerlaben, der einen Zeil des Padhaujes bildete, |
‚ Gläubiger, jo wie er im Verkehr mit den Bauern
die lauten Stimmen feilfhender Bauern.
Holt war aber bier, ebenſo wie auf der See,
in feinem Elemente. Es fiel mir wieder auf, wie
vorteilhaft ihm die ſchwere Joppe kleidete, während
er im Padraum auf und ab ging und das Ganze in |
jeiner ruhigen, aber feften Art leitete. Er war ent»
ihieden eine ftattliche Erjcheinung, und in diejer
Umgebung jah man, daß feine Perfon das Gepräge
der Bildung trug, was man bei andern Gelegen-
heiten nicht bemerfie.
Bei meiner Ankunft blidte er mich etwas fragend
on, wahrjheinlich in der Meinung, daß mid ein
beionderes Anliegen herführe.
Aber diefem fragenden Ausdrud in jeinem Ge—
ſichte geſellte ſich der bedenlliche des Mißtrauens,
nachdem ich ihm erklärt, daß ich eigentlich gelommen
iei, um einen Betrieb wie den jeinigen etwas mehr in
der Nähe zu jehen. Indeſſen führte er mich doch
gutmütiger Weife umher und erklärte mir manches,
während der Ton, in dem er mir auf meine fragen
Antwort gab, zumeift Verwunderung darüber verriet,
daß man fich überhaupt nad) Dingen erfundigen
tönne, Die feiner Idee nach jeder vernünftige Menich
von felber willen müſſe. Er hatte wohl vergefien,
daß auch er alle diefe Sachen, die er von Kindheit
an vor Augen gehabt, einftmals habe fennen lernen
mũſſen, und ſchien nun anzunehmen, dab biefe
Kenntnis dem Menfchen angeboren jei. Er hatte
aber wohl bemerft, dab ich feinen Erläuterungen
aufmerffam folgte; denn allmählich interefjierte es
ihn, mir den Gejchäftäbetrieb näher zu erflären, und
er war augenicheinlich bereit, mit mir in jein Gomptoir
zu gehen, nachdem id) ihn erſucht, mir zu zeigen, in
welcher Art er feine Bücher zu führen pflegte.
Meinem Geihmade nah war das Comptoir ein
böhft ungemütliches, Heines Gelaß. Ein großes,
grünes, tintenbefledites, beftaubtes Schreibpult ftand
wiſchen beiben Fenſtern, vor denen Rechnungen und
t
|
135
Dampferfahrpläne auf eine Schnur gereiht hingen.
paar Stühle, ein altes, fteinhartes Sofa, jowie zwei
hölzerne Spudnäpfe bildeten die Ausflattung. Eine
große Landkarte bededte die eine Wand, Nebenan
lag jein Schlafzimmer, und hier befanden fidh zwei
Borte mit Büchern.
Neugierig, zu erfahren, welcher Art Holts Leltüre
eigentlich jei, nahm ich Diejelben näher in Augenſchein
und fand zunächſt viele Hefte einer Zeitfchrift für
Landleute, dann verſchiedene populäre, naturwifien-
ſchaſtliche Schriften und endlich einige englifche und
franzöſiſche hiſtoriſche Werke in guten Ueberjegungen.
Als mir, meinem Wunſche zufolge, die Geichäfts-
bücher vorgelegt wurden, bemerfte ich aus denjelben,
dat Holt eine Menge ausftehender Voften in der
Ortſchaft hatte. Er galt auch für einen nachſichtigen
eine bejondere freundliche, aber beitimmte Art und
Weiſe beſaß, die ihnen, im Verein mit feiner Tüchtig-
feit, einen jo großen Reſpekt vor dem Manne ein«
flößte, daß man ihn überall bemerfte, jobald fein
Name genannt wurde,
Nachdem ich Die Bücher in Augenschein genommen
hatte, blieb mir nichts weiter zu fragen übrig; id)
nahm daher Abfchied, weil fich feine längere Unter-
haltung in Fluß bringen ließ. Sünftighin zeigte
| Holt ſich doch weniger zurüchaltend mir gegenüber.
Sobald er ſich überzeugt hatte, da mein Wunſch,
ı Näheres über jeine Gejchäftsthätigfeit zu erfahren,
feinen Urjprung nicht bloßer Neugierde verdantte,
fondern daß es mich wirklich intereffierte, etwas Ver—
ſtändnis für feine Arbeit zu erlangen, wurde er jo
milteilfam , als feine Eigenart es zulieh, und uns
fehlte fortan fein Geſprächsthema.
Ich war jebt häufiger Gaft in feinem Comptoir
und in den Padräumen; auch wagte ich zuweilen
meine Anficht über dieſes oder jenes zu äußern, Er
ſah mich dann wohl etwas argwöhniſch an, als fünne
hinter meinen Worten noch ein andrer Sinn ver—
borgen jein, und pflegte auf meine Bemerkungen wenig
zu erwibern. Schließlich gewöhnte er fi daran,
auf eine Unterhaltung mit mir einzugehen. War ich
zum Mittagefien in feinem Haufe, jo pflegte er nad
Tiſche länger als fonft im Zimmer zu bleiben. Es
geſchah wohl, daß er einen ganzen Abend bei uns
verweilte, und bei feinen Beſuchen in unjrer Woh—
nung hörte er meinte Aeußerungen mit beinahe der-
jelben Aufmerkſamleit an mie die meines Vaters,
deſſen praftijches Urteil er doch feit geraumer Zeit
Ichäßte,
Hatte Holt anfangs wirklich etwas gegen Die
Verlobung einzuwenden gehabt, fo ſchien er jekt
andern Sinnes geworben zu fein.
Es machte den Eindrud, als fühle er ſich in feiner
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736 Kriftian Eliter.
eignen Behaufung heimifdher denn vormals, und
nicht nur mir, jondern auch meinen Eltern fiel jein
neuerdings veränderte: Weſen Elina gegenüber auf.
Wenn er auch immer noch zurüdhaltend, oder richtiger
gejagt, etwas gezwungen in feinem Verkehr mit ihr
war, fo lag oftmals, jobald er das Wort an fie richtete,
ein warmer, janfter Ton in feiner Stimme, und er
ſah fie zuweilen jo gütig, ja beinahe bittend an, al&
erflehe er ihre Verzeihung für ein an ihr begangenes
Unrecht, und als erfuche er fie in feiner ftillen Art,
dad Vergangene dem Vergeſſen anheimzjugeben,
Scheinbar bemerkte Elina nichts von alledem,
und eines Tages konnte ich mid) überzeugen, daß fie
feineswegs das, was früher zwifchen ihnen vor«-
gefallen, vergefien habe. Einer meiner Zufunfts-
pläne war der geweien, mic in meinem Heimatsorte
als Privatarzt niederzulaffen, und ich hatte mit Elina
über die Sache geſprochen. Zunächſt war fie freudig
auf denjelben eingegangen und hatte gemeint: „Dann
fannit du den Armen, wenn fie frank werden, ärzt«
liche Hilfe angedeihen laſſen — jeht müſſen fie oft
auf joldje warten, bis es zu jpät if.”
Aber nachher ſchien fie ihre Anficht geändert zu
haben; denn als wir wieder darüber redeten, jagte
fie: „Das iſt nichts für did." Allerdings waren
die Ausfihten für einen Arzt feine bejonderen in
unfrer Gegend; wir ließen die Angelegenheit ruhen,
und ich faßte vorläufig feine weiteren Pläne. Eines
Tages jedoch bat mid der Vater, ihm in fein
Comptoir zu folgen, weil er etwas Wichtiges mit mir
zu überlegen habe.
Er jagte mir zunächſt, daß er keineswegs dagegen
jein würde, wenn ich Luft hätte, mic) einem andern als
dem ärztlichen Berufe zu widmen, im Falle ſich eine
günftige Gelegenheit dazu böte. Dann fragte er, ob
id) Neigung hätte, Kaufmann zu werden. Nachdem
ic ihm um nähere Erflärungen gebeten, teilte er mir
mit, dab Holt ihn aufgefucht und mit ihm über die
ungünftigen Ausfichten eines jungen Mediziner ge
redet habe; auch Hatte er gemeint, „ſpäte Heiraten
jeien ein Unding“, und endlich den Vater gebeten, bei
mir anzufragen, ob ich mic entjchließen könne, in
jein Gejchäft einzutreten. Ich jei ihm nicht ungeeignet
für dasjelbe vorgelommen, und er bedürfe einer Hilfe.
Selbjtveritändlih würde es mir ſowohl Arbeit
wie Zeit koſten, mich in die neue Stellung hinein-
zufinden, und ich müßte die Heimat für ein paar Jahre
verlaffen. Aber jobald dieje Lehrzeit vorüber jei,
würde ich mic) auch jogleich verheiraten fönnen. Der
Vater ſchloß mit dem Bemerken, daß diejes gütige
Unerbieten ihn höchlichſt überrajcht habe.
„Ic joll aljo fein Stellvertreter oder jo etwas
Aehnliches werden?” fragte ich.
„Nein, jein Compagnon,“ erwiberte der Vater
zu meiner Verwunderung; denn mir war wohl be»
fannt, dab Holts Geſchäft ein jehr gewinnbringend
war, und er konnte ſich denken, daß mein Vater mır
eine unbebeutende Summe zum Betriebstapital für
mid einzahlen konnte, Mich berührte die Sach
indes nicht angenehm. An umd für fich hatte ih
nichts gegen eine Derartige praftifche Thätigleit, aber
der von mir erforene Beruf war mir wert, und mein
Unabhängigteitsgefühl lehnte ſich gegen das ganze
Arrangement auf. Doch erjhien es mir aufer-
ordentlich hübſch von Holt, etwas Derartiges vorzu:
ſchlagen, und ich nahm mir vor, die Sache mit Eline
zu bereben.
Am jelben Tage noch juchte ich fie in Holt
Haufe auf und fand fie, mit ihrer Näharbeit beidät-
tigt, am Fenfter ſitzen. Sie ſchien es eilig zu haben,
und ohne jich ſtören zu laffen, nickte fie mir lächelnd
zu und zeigte auf einen Stuhl. Nachdem id Flo;
genommen, erzählte ich ihr von Holts Anerbieten.
Während meines ganzen Berichtes nähte fie jo emfn,
als höre fie gar nicht auf meine Worte. Ab und zu
warf fie einen Blid aus dem Fenſter, umd mir fiel
auf, wie bla fie ausjah. Nachdem ich geendet,
fragte fie: „Hätteft du Luft, diefen Vorſchlag an
zunehmen ?*
Ih glaubte, fie meine vielleicht, es würde mir
jehr ſchwer fallen, mich in eine ganz ungewohnt
Beihäftigung zu finden, und antwortete daher, di
es nicht die Arbeit fei, weldhe mich davon abjchreden
würde.
„Ja, dann würde ich e8 nicht wollen,” rief fe
aus, warf das Nähzeug mit einer heftigen Bewegung
hin und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab.
„Ich weiß nicht, weshalb er” — fie nannte ihn
nie Onfel — „ih in unfer Verhältnis einmilden
will. Gr meint wohl, daß ich zu lange im feinem
Haufe bleibe. Er will fich losfaufen. Aber, daß er
glauben kann, ich würde — würde... ad, mie
wohl wird mir fein, wenn dieſes Haus weit, weit
binter mir liegt!”
Ih ſah fie erftaunt an. hr Antliß brannte,
duchglüht von Zorn und Unmillen,
„Ich finde aber doc), daß es hübſch von deinem —“
„Hübſch?“ unterbrach fie mich, ſtand ftill und jah
mid; mit einem eigentümlichen, zugleich falten und
empörten Blide an. „Es it möglich, daß es hübſch
ift. Aber id fann dir jagen, daß ich nichts von
ihm annehme, jofern ich es irgend vermeiden famn
— id) habe genug an dem, was ich hinnehmen muß.“
Draußen wurden Schritte Taut, und gleich daran)
trat Holt ein. Elina nahm ihre Arbeit wieder zur
Hand.
Nahdem Holt mic begrüßt hatte, trat eine
Pauſe ein.
Endlich blidte Elina zu ihm auf, dod ohne ſich
im Nähen zu unterbrechen: „Ich höre, daß du Henril
—
Sounenmwolfen.
eine Stelle in deinem Gejchäft angeboten,” jagte fie,
und ihr Geficht war wieder bleich und ihre Augen
ihienen wunderlich verjchleiert.
„Ja, ih — habe... .,* begann Holt langjam,
beinahe verlegen; doch fie ließ ihn nicht fortfahren.
„Bedeutet dad, dab du es am liebſten ſäheſt,
wenn ich fogleich von Hier fortginge?* fragte fie falt
und hart. .
Dies war der einzige Anlaß, bei dem ih Holt
ſeine Faſſung verlieren ſah.
Langſam ergoß ein dunkelroter Strom ſich in
ſtin Antlitz, und ſeine Augen zeigten einen jo unbe»
ſchteiblich beichämten und jchmerzlihen Ausdrud, daß
mir der Mann in biejem Augenblicke wie ein ganz
fremder erſchien. Er ftand da, die Hände wie ge
wöhnlid in den Taſchen feiner Joppe, doc; ohne eine
Spur jeiner jonftigen ficheren Haltung. Er jah jo
ratlos und verzagt aus, als habe man ihn ſoeben
bei einer ganz nieberträdtigen Handlung ertappt,
und dabei lag in feinen Haren, für gewöhnlich etwas
phlegmatiichen Augen ein umendlich jchmerzliches
Etwas. Allmählic wid) die Farbe wieder aus feinem
Gefihte, und es zeigte fih in demjelben der gewohnte
ruhige, eruſte, wenn auch nod etwas eigentümliche
Ansdrud,
Bedächtig that er ein paar Schritte gegen ben
Ofen zu und lehnte ſich mit dem Rüden an denjelben.
„sh habe überhaupt nicht gedacht, daß mein
Anerbieten etwas Bejonderes bedeuten jolle,” verjehte
er langſam. „Will Henrik nicht auf dasjelbe ein-
gehen, fteht es ihm ja frei, e8 abzulehnen.“
„Dann halte id} e8 für das befte, wenn nicht
mehr über die Sache geſprochen wird," jagte Elina,
erhob ſich und verließ das Zimmer.
Mit gemischten Gefühlen blieb ich zurüd; ver-
fimmt, verwirrt und ratlos, wie ich war, glaubte id)
doch, ich müſſe ihm jagen, wie ich über feinen Vor—
ihlan dachte.
Er antwortete aber nur: „Ach mein, ich hätte
bebdenten jollen...“, worauf er feine Pfeife ftopfte,
dieielbe aber, ohne fie in Brand zu ſetzen, in feine
Taſche ſchob und hinausging.
Als Elina zurückkam, bat ich ſie, mir ohne Um—
ihweife anzuvertrauen, welcher Urſache das zwiſchen
ihre und dem Onlel beſtehende ſchlechte Einvernehmen
jujufchreiben ſei.
„Wie fann ich das wiſſen?“ erwiderte fie nur.
„Aber es iſt doch nicht immer jo geweſen ?*
Es war ſchon immer jo, jeitbem ich erwachſen bin.
Aber lab uns von eiwas anderm reden,” fügte
hie ungeduldig hinzu,
„Aber du... .?*
„Kun, ich bin jo geworden, wie bu fiehft — und
wie es ihm wohl aud gerade recht fein wird,
denfe ich.”
Bus fremden Zungen,
16897, U. 16,
737
Als ic nach Haufe kam, teilte ich dem Water das
Refultat mit. „Hm,“ meinte er, „zwijchen den beiden
befteht doch ein jonderbares Verhältnis, Elina ift
ein braves Mädchen, ein vorzügliches Mädchen, Aug,
tüchtig und warmberzig; aber ich glaube, fie hat zu
viel vom Onkel, — was fie einmal wollen, das
wollen fie.”
„Aber irgend etwas muß er doch gegen fie haben ?”
„Ja, wer kann das willen; über foldhe Dinge
äußert er fich ja nie. Solange jie Hein war, be—
handelte er fie mit einer gradezu rührenden Sorgfalt.
Aber ſpäter ...“
„Später... .?*
„sa, Gott mag willen, was dann dazwiſchen
gekommen ift, daß es allmählich jo wurde, wie du
es jet ſiehſt. Ich muß übrigens geftehen, daß man
die Veränderung zuerjt bei ihm gewahrte.”
Als wir nachher mit der Mutter über denjelben
Gegenitand redeten, erklärte fie: „Holt ift eigen«
tümlich; über alles, was er nicht verfteht, gerät er
in eine ärgerlihe Stimmung, die er dann im fich
verjchließt, bis gar fein Austommen mehr mit ibm
möglid if. Die ganze Sadhe wird die jein, daß
fie fid) nicht entwidelt hat, wie er es ih gedacht.
Sicher ift, dab Elina feine Schuld trifft und dab
jein Wejen fie wohl zu dem Glauben veranlafien
fann, er jähe fie am liebften aus feinem Haufe ſcheiden.“
T.
Bon diefem Tage an geihah e& nicht wieder,
dab Holt nad) der Mahlzeit im Zimmer verblieb,
Gegen Elina behielt er aud) ferner denſelben freund«
lihen Ton bei, der in jüngfter Zeit an die Stelle
feines früheren kurzen, ja falten Weſens getreten
war; zugleich aber lag es wie eine flille Trauer über
ihm, wie hoffnungsloje Verzagtheit, daß «8 ein förm-
liher Jammer war, ihn zu beobachten. — Eine
Zeitlang darauf nahın ich meine Beſuche im Speicher
und Eomptoir wieder auf. Er empfing mich ebenſo
gütig wie vorher, wenngleid er fi) weniger mit
teilfam zeigte. Ab und zu unterhielten wir uns eine
Weile miteinander und dann über ſolche Dinge, die
bis dahin noch nicht zwilchen und erörtert waren.
Das er manche Kenntniffe beſaß, wußte ich bereits
— daß er aber auch verichiedenes gelefen, was auf
jein eigentliches Fach keinerlei Bezug hatte, erfuhr
ich jetzt. Naturwiſſenſchaftliche Schriften las er mit
Vorliebe; doc gewöhnlich ſolche, die, aus etwas
älterer Zeit ſtammend, diefelben Gefichtspunfte feſt-
hielten, die während jeiner Schulzeit maßgebend
geweien. Er las aud) Gejchichte, befonders politiſche
Gefchichte. Die Verfajler, welche in einem nüchtern»
alltäglihen Stile jhrieben und in ihrem Urteil einen
gewiſſen praktiſchen Blid zeigten, waren ihm bie
liebften. Alles, was an Philoſophie ftreifte, war
feines Mißfallens ficher. Huch hatte ich bemerkt, daß
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738 Kriftian Elſter.
ſeine Sammlung kein einziges der ſchönen Litteratur
zugehöriges Buch aufweiſen konnte. Freilich wußte
ich, daß er nie ein derartiges zu leſen pflegte, und
wie ich vermute, hielt er Dichter und diejenigen,
welche poetiſche Erzeugniſſe laſen, für lindiſcher
als es ſich für erwachſene Menſchen gebührt.
Daß Elina die geſamte Geiſtesbildung ihres
Onkels für wenig bedeutend anſah, war vielleicht
durch ſeine Abneigung gegen einzelne Zweige der
Litteratur hervorgerufen. Sie traute ihm durchaus
fein Intereſſe an irgend welcher Lektüre zu; denn als
ich gelegentlich ſagte, er jchiene viel mehr gelejen und
gelernt zu haben, als man bei oberflächlichen Verkehr
mit ihm vermute, erwiderte fie nur fur: „So,
davon habe ich nicht das mindefte bemerlt.“ Und
ala während eines jpäteren Geſpräches Vangs Name
erwähnt wurde, verriet fich ihre geringe Meinung von
des Onkels Bildung noch deutlicher. Den „PBatrioten”
fonnte fie überhaupt nicht leiden und beurteilte ihn
ſehr ftrenge. Sie fand es feige oder ſchwach von
ihm, ji) in einem Winfel, wie unjer Ort es war,
zu begraben, wenn er wirklich Beruf und Kraft zu
größerem Wirken in ſich ſpürte. Wenn es ihm
wahrhaft ernft um die Sache gewejen wäre, jo hätte
er den Wahlplatz nicht zu verlafien brauchen, meinte
fie. Und feinen häufigen Beſuchen bei Holt läge
wohl auch kein ehtliches Motiv zu Grunde. „Er ift
doch einmal ein ſtudierter Mann,“ jagte fie, „ein
Mann, der für Holts Beſchäftigung fein Intereſſe
haben fann. Aus weldem Grunde mag er denn
Abend für Abend bei Holt figen? Er hat Holt zum
beiten“ — und hier nahmen ihre Augen einen eigen-
tümlich falten, drohenden Ausdrud an; „aber ich jage
dir nur: auf jolde Weije behandelt zu werden, dazu
ift Holt wirklich zu gut.”
Dies war das einzige Mal, daß ich fie fi) vor
teilhaft über den Onfel ausſprechen hörte; es geſchah
in einer Weife, die mich erfennen ließ, daß fie, alles
in allem genommen, feinen Wert alt Menſch fehr
wohl zu jhägen wußte und niemand geftattet haben
würde, ihm zu beleidigen, wennichon jie jelbft ſich
nicht zu einer Ausföhnung mit ihm verftehen konnte,
Vergebens verfuchte id) den Patrioten in Schu
zu nehmen. Sie glaubte nicht an Holts Geihmad
für Bücher und nod weniger daran, daß wilien«
ſchaftlich gebildete Leute im Ernſte Anteil an den
praftifchen Dingen nehmen könnten, die Holts Zeit
und Gedanken ausfüllten.
Wunderlicd genug war es, wie wenig Sinn fie
jet für die Verhältnifje der Dorfſchaft, ſowie für die
Angelegenheiten des Onfels, die ihr früher jo jehr
am Herzen lagen, übrig hatte. Ich entjann mich
der Zeiten, da jie beim Empfang der Heringsboote
an der Brüde ftand, da fie des Onfels Speicher und
jeine Bücher ebenio genau fannte wie ihn jelbit,
und feine Arbeiter noch beſſer. Ich erinnerte mid,
wie unbegreiflih ich es fand, daß dergleichen das
Dajein eines denfenden Menjhen ausfüllen könne.
Wie ſehr hatte jich alles geändert! Diejes ftille Land:
leben Hatte ſich in vielen Beziehungen meines Jnterefiet
bemächtigt. Diejes beicheidene Wirken, die vielen
„ruhigen Gedichten” hatten allmählich eine Anziehung
und eine Bedeutung für mid gewonnen, wie id fir
nod) vor wenig Jahren für unmöglid; gehalten hätte.
Für Elina aber jchien dieje ganze Heine Welt
verſchloſſen. Es langweilte fie, wenn ich über die
nabeliegenden Dinge ſprach. Sie hatte eben feine Luft
mehr, ji mit Sachen des wirklichen Lebens zu be
fafien, jondern mochte nur leſen und abermals leien
oder mich erzählen hören.
Und wir fingen wieder an zu leſen, wie in
früheren Tagen, machten unjre Spaziergänge und
beipradyen das Gelejene. Aber mit einem Male
ſchienen auch die Bücher ihre Gedanken nicht mehr
feffeln zu können. Während wir lajen, war fie oft
wie geiftesabwejend, oder e3 fam ein gejpännter, un»
rubiger, fpähender und fragender Ausdrud in ihr
Antlig, als erwarte fie, daß etwas Beſonderes ge⸗
ſchehen müſſe. Zuzeiten jah fie auch enttäufcht und
mißvergnügt aus, Es war, als müſſe fie eine früber
genährte Hoffnung aufgeben, oder als entdede fir,
dab etwas, an das fie früher geglaubt, ſich al:
Illuſion erweiſe.
Mehrmals wollte ich mit ihr darüber ſprechen
dann aber war diefer feltfam forjchende Ausdrud wir
burd) Zauber verfchwunden, und id) mußte mic) fragen,
ob ich nicht falſch geſehen. War fie doch jonft un:
verändert, wenn aud ein wenig verjchlofiener und
gedanfenvoller, al& fie zu jein pflegte. Oefſter ſchien
es mir, als zeige fich diefer eigne Blid ihrer Augen
bejonders in des Onkels Gegenwart und als gelte a
zunächſt ihm.
Ich mußte daraus fließen, daß aud ihr de
Ontels verändertes Wejen aufgefallen war und das
fie bemerkt hatte, wie wehmütig er auszuſehen pflegte,
lo daß «8 fie vielleicht reute, ihm jo viel ſchatje
Worte gejagt zu haben. Es war möglich, daß fir
in Gedanten alles, was zwiſchen ihmen vorgefallen,
noch einmal durchlebte und ſich dabei entjann, daß and
auf ihrer Seite zuweilen eine Schuld geweſen; ja, daß
fie eine Annäherung von ihm erwartete, um ihm ein
freundliches, verfühnendes Wort jagen zu können.
Von ganzem Herzen wünjchte id, daß meine Ver:
mutung richtig gewejen jei; denn von Tag zu Tag
ſah ich deutlicher, daß auch fie ſchwer unter dielem
Verhältniſſe litt und fi nach einer Nenderung
besjelben jehnte,
Zufälligerweife begegnete mir Bang in diejer Zeit
einmal auf dem Landwege. Ungeachtet er ſich übler
Laune befand, war er redfelig wie immer.
Sonnenwolken.
„Sie hatten doch ganz recht in dem, was Sie
mir am Weihnachtsabende jagten,* fing er an; „in
einem Winfel wie bier fühlt man ſich mijerabel
allein, Pbitifter, alte, fonfervative Nußlnader, jehen
Sie, da haben Sie die Bevölferung. Ich pflegte
Holt font ſeht häufig aufzufuchen, wie Sie willen;
er iſt ein jo prächtiger Menſch,“ ſetzte er gleichſam
entſchuldigend hinzu; „aber ſeildem er Miſanthrop
geworden iſt, hat man ſeine liebe Not mit ihm.“
„Miſanthrop?“
„Gewiß, haben Sie denn das nicht gemerlt?“
„Ih weiß nicht —“
„Sehr glaublich, daß Sie nichts davon gewahr«
ten. Man muß den Dann jeher genau kennen, um
zu wiſſen, wie e8 um ihn ſteht. Sehen Sie, er ift
num einmal fein bisfutierendes Mitglied der Menid)
beit, jonbern ein rauchendes und zuhörendes. Und
wenn der Mann jeine Pfeife im Stiche läßt und
außerdem ſtets zerjtreut ift, wird die Sache be—
denllich.“
„sa, ich babe wohl geſehen ...“
„Er ift eim merfwürbiger Menſch,“ unterbrach
mi der Patriot. „Sehen Sie, zum Beifpiel! Ich
bin überzeugt, dak im Grunde ein Freiheitämann in
diefem Holt ftedt.“
Er mag einen verwunderten Ausdrud meines
Gefihts wahrgenommen haben, denn er fuhr fort:
„Ja, das jeht Sie in Erſtaunen? Man merkt
jo etwas auch nicht ohne weiteres. Er ift, wenn ich
mid jo ausdrüden darf, nun einmal nicht zum
Staatsbürger angelegt, — Sie verftehen? Ueber all-
gemeine Intereſſen redet er höchſt ungern, obgleich
er ſtets ein offenes Auge und ein warmes, frei
mütiges Wort für diejelben Hatte. Ja, eigentlich
follte man ihn gar nicht für einen Patrioten Halten.
Spreche ich ihm von Politik, jo antwortet er nur
durh ein gemütliches Lächeln, als bielte er das
Ganze für höchſt unfinnig, und zumeilen jagt er —
anſcheinend jarkaftiih, willen Sie: Ja, dich hätte
man nur um Rat fragen follen!* oder: ‚Kreuz und
Tod, wenn jie dich mur bei der Regierung hätten !*
Aber im Grunde, jehen Sie, im Grunde hat er dod)
viel Beritändnis für das alles; er will nur nichts |
damit zu thun haben. — Uber jet ift da® vorbei;
er redet feine Silbe, lächelt nicht einmal und raucht,
wie gejagt, gar nicht mehr.“
139
Id) bat ihn um nähere Erflärung.
„Sie geftatten es? Sie ift troß alle und alledem
fein Augapfel. Unverbeiratet — finderlo8 — viel
Verdruß — glauben Sie mir’d, Und Elina hat er
gern gehabt wie eine Tochter. Ich glaube, es wird
Holt furchtbar ſchwer werben, fie zu entbehren.“
Meine Aufmerfiamteit war aufs äußerfte geipannt.
„Glauben Sie wirkiich?" Ich ftodte, denn mir fiel ein,
dab Holt jelbjt ihr Scheiben hatte beichleunigen wollen.
Er fuhr fort: „Ich habe ihn lange gefannt, und
ich verfichere Sie, da Holt mit dem Eintritt Elinas
in jein Haus ein andrer Menſch wurde, Diejes Milde,
Kindliche in feinem Weſen — haben Sie nie bemerkt, wie
weich er fein fann? Na, das iſt durch fie gekommen.“
Um meine deutlich) gezeigte VBerwunderung und
meinen Zweifel an jeinen Morten zu widerlegen,
redete ber Patriot weiter:
„Sie glauben das nicht? Sie denken wie viele
und wie Elina jelbit, daß er gegen fie eingenommen
ift? Ich begreife das. Aber jchen Sie, ich weiß,
daß er fie lieb hat; davon habe ich hundertfache Be—
Wir ftanden vor unfern Haufe, Ich bat den |
Patrioten , einzutreten, was er danfend annahm.
In meinem Zimmer angelommen, wählte mein Gaft
ſich die größte Pfeife, tweldhe zu finden war, und
iehte ſich dampſfend in die SofasEde.
„Wir jpraden von Holt,” fagte er. „a, fehen
Sie, fein ganzer Mißmut fommt von der Geſchichte
mit Elina ber — verzeihen Sie — id) vergaß -
Sie find ja — hm —*
| der Bucht gejehen?
weile. Hätten Sie, gleid) mir, gejehen, wie ängjt-
lich er zu erforſchen tracdhtet, ob fie irgend eine Ver—
änderung im Käuslichen wünicht, jo würden Sie
nicht länger zweifeln. Aber fragen würde er fie nie
danach, und wenn er ihre Wünſche auf Umwegen
erfahren hat, erfüllt er jie in fo barſcher, herrijcher
Meife, als führe er einen Einfall aus, gegen den er
feinen Widerſpruch dulde. Und hinterher ijt er ganz
unglüdlih, bis er in Erfahrung gebracht, ob er das
Richtige getroffen, oder ob nod) etwas fehlt. Ad, es
it ganz ſonderbar, Dielen ehrlichen Menjchen ſich
abmühen zu jehen, Lift zu gebrauchen und Schleich -
wege zu gehen, wenn er zum Beilpiel durch mich
bherausbelommen möchte, wie feine Einrichtungen ihr
gefallen haben, Im jolhen Dingen ift er ganz
dumm, aber ich habe mid) wohl in acht genommen,
ihm zu zeigen, daß id) ihn durchſchaute. Sie müfjen
wijen, daß er einen ganzen Vorrat von Sachen
bat, nach deren Befig fie gelegentlich ein Verlangen
ausgejprochen, und die er dann ſofort angefauft hat,
ohne doch zu wagen, ihr diejelben zu jchenfen. Da
ift zum Beijpiel eine ganze Kiſte voll Bücher — aus
jener Zeit, wo jie zuerſt Gejhmad an der Fitteratur
zeigte. Haben Sie das Meine Segelboot unten an
Daran ijt feine Planke feſt-
gemacht und fein Nagel eingeichlagen, ohne daß er
die Urbeit überwachte. Es ift das feinfle, reizendite
Heine Fahrzeug, das man jich denken kann; es ift
mit jo viel Ueberlegung, mit einer Fürſorge, ja id)
könnte jagen Liebe, gebaut, die außerordentlich rüh-
end iſt. Aber da liegt es unbenußt unten am
Strande — ich glaube, dak Elina es nicht einmal
gejehen ; feinenfalls hat er ihr je gejagt, daß es für
fie beftimmt fei. Und damals, als fie jo frank war!
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740 Kriftian Elſter. — Sonnenmwolten.
Ja, da trat feine Sorge um fie erft recht zu Tage.
Ich weiß nicht, wann der Mann zu der Zeit fchlief
oder Nahrung zu fi nahm Nie traf ih ihn
ruhend, nie bei Tiſche, nie außerhalb jeines Haujes,
ausgenommen, wenn er den Arzt aufjuchte. Er jah
aus, als ob er es jei, den die tödliche Krankheit
heimgefucht habe, und nicht fie. Und hätten Sie ihn
an dem Tage geiehen, nachdem das Schwerfte über-
wunden und man wuhte, dab fie ſich erholen würde!
Ih ging am VBormittage zu ihm. Aber ih habe
nie etwas jo — jo — mie joll ich es bezeichnen? —
etwas jo Unjchuldiges gejehen, wie feine Freude. Er
ſprach gar nicht von Elina, aber er ſchlug mir vor,
ein Glas Wein mit ihm zu trinten. Sie willen,
wie mäßig er ift, und daß er faum eine Weinjorte
von der andern unterfheiden fann. Sie hätten ihn
jehen müffen, mit welcher Kennermiene er die Flaſche
anſah, wie er fich über die Etifette und das Silber-
papier freute, wie er Farbe und Duft des Meines
bewunderte. Und jo war es mit allem, worauf fein
Blick fiel, gerade als ob die ganze Welt neugeboren
jei. Ihm war mertwürdig, wie heil die Sonne an
dem Tage leuchtete, merkwürdig, wie blau der Fjord
ihien, die Luft war merkwürdig leicht, das Gras er-
ſtaunlich gewachſen, und nachher, auf dem Speicher,
fand er alles während jeiner Abwejenheit von den
Commis und Arbeitern Ausgeführte ebenio merl-
würdig wie alles übrige. ‚Dafür jollen fie einen
Ertralohn Haben,‘ jagte er. So habe ich ihn nie ge=
jehen, weder vor« noch nachher. Als aber Elina ihr
Kranfenzimmer wieder verlieh, war er wie früher.
Zuzeiten hatte er komiſche Einfälle, wie damals, ala
er anfing, fi modern zu Heiden. Wahrhaftig, Holt
hat einmal ganze acht Tage lang den Stußer ge=
ipielt. Ich kann es gar nicht bejchreiben, in welche
Verwunderung ic) geriet, als ich ihn eines Tages in
ganz engen Beinkleidern traf, anjlatt jeiner gewöhn-
lichen weiten, in einem anichließenden foletten Röd-
chen, ftatt feiner geliebten Joppe, und mit modernem
Stehfragen,, ftatt des jonftigen breiten, nieder-
geflappten. Sobald er bemerkte, daß ich ihn mit
großen Augen mufterte, wurde er purpurrot. Aber
ich erinnerte mich jehr gut, kurz vorher die Neufe-
rung von Elina gehört zu haben, fie finde es durch-
aus nicht hübſch, wenn ſich die Leute auffallend alt-
modiſch Heideten, Indes gab Holt diejen Verſuch,
fi dem Modejournal anzupafien, jehr bald wieder
auf; er machte einen linkiſchen Eindrud in der uns
gewohnten Tracht und wird das auch jelbjt em—
pfunden haben, denn eines jhönen Tages traf man
ihn, angethan mit feiner Joppe, den weiten Bein-
fleidern und breitem Klappkragen, und da erjchien
er und wieder als der wirkliche Holt.“
Ih mußte dem „Patrioten“ beiftimmen. Im
Grunde hatte ih mir immer gedacht, daß fie Holt
lieb ſei. Aber rätjelhaft blieb ed mir, we&halb er
jeine Gefühle für fie jo ängftlich zu verſchleiern ſuchte.
„Ja, das ift das Sonderbare dabei,” ſagte
Vang, „daß er ihr nicht nur verhehlt, wie er in
Wahrheit gegen fie gejinnt ift, ſondern fie aud) zu
dem Glauben veranlaßt, als jei das Beifammenjein
mit ihr ihm nur läſtig. Verſchiedene Male war er
nahe daran, fie fortzufenden in die Stadt, ja jogar
ins Ausland. Das wußte ih. „Und aus melden
Grunde* Habe ih ihn damals gefragt. ‚Ad,
meinte er, ‚es wird befjer für fie jein, ala bier in
meiner Gejellihaft zu verfauern.‘ Womit er wohl
jagen wollte: ‚Was fönnte ich, der ich ältlich, ewas
jonderbar und ohne weitere wiſſenſchaftliche Bildung
bin, einem jungen Mädchen, wie Elina, fein?‘ Und
er kennt fie. Er weiß, daß fie es für ihre Pflicht
halten würde, in jeinem Heinen Haufe zu leben und
zu fterben, jobald fie auch nur ahnte, daß er fie un.
gern entbehren möchte. Eben, weil er nicht wi,
daß fie ihm gegenüber ein Gefühl der Abhängigkeit
empfinden joll, befümmert er ſich jcheinbar jo wenig
um ihr Thun und Fallen.“
Dieje Erflärung fam mir etwas geiucht vor; dad
auch id) vermochte feine befjere zu finden. Ab
geſchloſſen und einfam lebende Menſchen mögen je
eine jo große Scheu davor bekommen, ihre Gefühle
zu zeigen, dab fie völlig franfhaft werben fan.
Doch was ich hier von Holt vernommen, ſchien mit
feinen Urfprung unmögli in Schambaftigfeit und
einem Unvermögen, ſich mitzuteilen, zu haben.
Bang fuhr fort: „Ich bin überzeugt, dab ı
Ihnen, als Verlobtem Elinas, immer nur mit Woll
wollen begegnet tft.“
Letzteres war unleugbar,
„Ebenjo glaube ich ſicher, daß er alles thun
würde, was in jeiner Macht ftcht, um euch jo bald
als mur möglich ein eignes Heim zu bereiten.“
Davon hatte er mir allerdings Beweiſe gegeben,
die ich indejlen für gut fand, meinem Gaſte vorzu:
enthalten.
„Und doch verfichere ich Sie, daß er mit Tode*
angjt dem Tage entgegengejehen hat, an dem Elina
eine ſolche Verbindung eingehen und ihn infolge:
defjen verlaffen würde. — Ja, Sie finden das all?
vielleicht duntel? Ich meinesteils finde es jublim.“
Ich Hatte feine Antwort auf feine Rede. Der
„Batriot“ ſchwieg eine Weile, und das Geipräd
drehte fih dann um andres. Nach umd nad be
mächtigten ſich feiner die „ſtaatsbürgerlichen“ Ideen
wieder gänzlich. Schtweigend überdachte ich meint
eignen Angelegenheiten, was die Urſache war, dab
mich der Patriot beim Abjchied wegen meines „eb
haften Anteils an den Interefien der Menjchheit‘
befomplimentierte.
Schluß jolgt.)
Das Bauberkrauf von Lohina.
Erzählung aus dem Dorfleben,.
Don
Roloman
Wlikssdth.
Aus dem Angarifchen überfeßt von Irene $. Clerbalmi.
Wie mag das Zauberfräutlein wohl ausjehen,
welches an der Grenze von Lohina gedeiht? Das
iſt's, worüber id) mir den Kopf zerbreche!
Und wo wächſt es wohl?
In der Schiligegend? Zwiſchen den Feldhütten?
Oben auf dem Gipfel der fahlen Hrebenta? Auf
dem hajelnußftraudigen Hügelabhang? Im Haine,
auf den Wiejen oder auf den Kornfeldern ?
Warum wohl die ſchlanlen ſlowaliſchen Weiber,
wenn jie den jungen Kälbern und den milchenden
Kühen das Gras lorbweiſe nah Haufe tragen, «8
nicht auffinden; warum fie wohl das gewiſſe Kräut-
lein nicht noch einmal zu entdeden im ftande find?
Wie? Haben ſie's denn einmal ſchon entdedt?
Gewiß! Das iſt's ja eben. Doc) vielleicht ver«
mag ich's gar nicht recht zu erzählen,
I.
Dem Lohinaer Pächter, Herm Michael Szekula,
wurde eines Nachts von einem unbelannten Thäter,
von irgend einem Schurken, nad) Zerfplitterung der
Fenſterſcheiben eın Pasquill ins Haus geichleudert,
des Inhalts: Da der junge Geifiliche ein jo erbärm«
licher Menich jei, befehle er, nämlich der Pasquill-
ſchreiber, die Gemeinde jolle den erwähnten Geiſtlichen
fofort aus der Pfarrwohnung hinauswerfen und ihn
famt Weib und Hausrat außerhalb des MWeichbildes
der Gemeinde befördern, anfonften werde heute in adht
Tagen der rote Hahn nad) Lohina geflogen kommen,
Nun ift aber der rote Hahn ein jehr übel bes
leumundeter Vogel. Der rote Hahn ift nur dann
wilfommen, wenn er draußen auf dem Feuerherd
die weiß gerupiten Hühner bräunlich brät.
Und ber unbefannte Pasquillſchreiber hielt auch,
was er verſprochen — wer hätte das wohl gedadıt, o,
du mein Gott, wer hätte das wohl gedacht! Eine |
Woche darauf brad) im Dorfe richtig Feuer aus, und
faft ein Drittel der Gemeinde brannte ab.
In der graufigen Brandnacht aber jand ſich ein
zweites Pasquill, diesmal in dem Hofe des Küſters
Andreas Mirava. Genau diefelbe Schrift wie auf
| dem erften, dasſelbe gerippte, vergilbie Papierſchnitzel
mit einem ſchmutzigen Faden von unbeftimmbarer
Farbe zufammengebunden.
Nun, dem hochwürdigen geiftlichen Herrn wurden
auch in diefem Pasquill gründlich die Leviten gelejen :
daß fein Großvater Jude gewejen und er jelber im
geheimen ein Papiſt fei, daß er fein anjtändiger
Menſch, dab nichts ihm heilig und daß er Die junge
Frau Pfarrerin auch nur geheiratet habe, um mit
ihrer verheirateten Schwefter ſündige Liebelei zu
treiben. Daran war wenigitens jo viel wahr, daß
bie ältere Schweiter der Pfarrerin, die ſchöne Frau
Michael Paſſh, zur Zeit thatfählich auf dem Lohinaer
Pfarrhof zu Beſuch war.
Des weiteren waren jeine tollen Streiche aus den
Kaplanjahren der Reihe nad) aufgezählt. Das war
freifih auch feine gar erbauliche Lektüre. Und doch
mochte in dieſem und jenem aud ein Körnchen
Wahrheit fteden, bejonders in der Beſchuldigung,
daß der Herr Pfarrer feinen Köchinnen nicht abhold
gewejen jei. Aber mozu all dies an die große
Glode hängen?
Die wadern Lohinaer Bauern ſcherten fi denn
auch jehr wenig darum, obgleich die Bewohner des
Nahbardorfes fie nicht wenig gegen ihren geiftlichen
Heren aufſtachelten.
„Warum jagt ihr ihn nicht weg?“ fragten fie
nad dem erften Pasquill.
„Weil wir nicht daran glauben, daß wirflid
Brand gelegt wird. Wer droht, ift nicht gefährlich.”
Nach dem Brande, als ihnen im zweiten Pasquill
eine zweite Feuersbrunſt in Ausficht geftellt wurde,
» fpotteten die Durchreifenden Zuropolyer Bauern:
„Seht werdet ihr euern Geiftlichen aber doch über
die Grenze befördern ?"
„Wir wüßten niht, warum wir ihn an Die
| Grenze jegen jollten. Jetzt glauben wir's ja ſchon,
dab wirflic Feuer gelegt wird. So fönnen wir
uns ja helfen.“
So geſchah's aud. Die Bauern überfiedelten in
ihre Kufuruzfelder, in die Weingärten und zum Teil
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742 Roloman
zwifchen die „Lazen“.*) Dort jtoppelten fie aus Baum
zweigen und Sufurugblättern Hütten zujammen,
bauten Zelte aus ZTeerplahen und jchlugen neben
den Zelten Pflöde in die Erde. an die fie des Nachts
ihre Gäule banden. Drinnen im Dorfe ftanden die
Häujer leer; höchſtens in einigen Ziegelhäuſern regte
ſich noch etwas Leben.
Aber ſelbſt die gemütlichen Lohinaer erjchrafen
nicht wenig, als auch der zweite Termin getreulich
eingehalten wurde. Der größte Teil der Dörfler
ſtand im der bezeichneten Nacht Wade, und doch
ichlugen die Flammen aus der Gemeindejcheune empor.
Zum Glüd war volllommene Windftille, fein Lüftchen
wehte, und jo brannte nur die Scheune ab.
Dod was nüßte das, wenn gleichzeitig das dritte
Pasquill wieder da war, diesmal in dem Kellerhaus
des Kantors, Matthias Blozif. Darin ward für die
nächte Woche ein neuer Brand veriprochen, falls der
Geiftliche bis dahin nod) im Dorfe weilen jollte.
Der Fall war jhon ein jo erniter, dab ſich
das Komitat endlih aud rühren mußte. Das
Komitat aber rührt ſich gewöhnlich derart, daß es
fi) auf die andre Seite legt und weiterſchläft. Die
Unterfuhung wurde denn auch im gewohnten faulen
Sclendrian anberaumt und mit deren Führung Seine
Hochwohlgeboren der Oberftuhlrichter Michael Sotony
von Amts wegen betraut.
Den Stuhlrichtern gebührt wohl nur der Titel
Wohlgeboren, aber Michael Sotony gehörte einer
jener Familien an, die vierjpännig ausfahren. Ein
bochgeborener Herr, dem es nur jo mebenbei ein-
gefallen war, nachdem er die Frauen jo ziemlich jatt
befommen, einen andern Zeitvertreib zu ſuchen und
Vizegeipan zu werden. Das aber muß man der
Sitte und dem Anjtand zuliebe mit der Oberftuhl«
richterwürde beginnen, um fich etwas Praris an-
zueignen. Obwohl es ja doc gejchrieben ſteht:
wen Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch den
Verftand. Und erft, wenn einer auch noch Geld
hat. Da kann er ſich auch noch Wifjenihaft dafür |
kaufen.
Die Gelegenheit dazu ließ nicht lange auf ſich
warten, Eines ſchönen Tages ftellte ſich der Vize—
ftuhlrichter Martin Teresfey bei ihm ein, um fid
von ihm ein Wechielgiro zu erbitten, worauf Sotony
ſcherzend erwiderte:
„Ich unterſchreibe deinen Wechſel, aber nur unter
einer Bedingung.“
Ich veripreche blindlings alles, was du ver-
langit, lieber Freund.“
„Wenn du mir deinen Kopf leihſt.“
„Mit Vergnügen, wenn du ihn benußen kannſt,
ohne ihm abzujchneiden. Denn das, weißt du, wäre
*) Feldhütten.
Mitszäth.
mir doch nicht lieb. Und aud) dir wäre e# vieleicht
unbequem. Weißt du, das Zurüdgeben hätte dann
feine Schwierigkeiten!“
„Ih verlange von dir den fyreundihaftsdienft,
daß du mit mir nad) Lohina zur Unterjuchung fährſt.
Du als erfahrener Mann fannjt mir in vielem ber
hilflich jein. Der Vizegeſpan hat mich, entjende,
und es wäre mir lieb, wenn wir beide zulammen
dem Ding auf die Spur kämen.“
„Ich ftehe zu Dienften. Wann brechen wir auf?‘
Uebermorgen.“
„Bis dahin aber möchte ich den Sachvethelt
fennen lernen.“
„Hier ift die Eingabe ſamt den beigelegten drei
Pasquillen ; lies die Altenftüde zu Haus durch umd
jpefuliere etwas Gefcheites aus, denn mir ift gar
fein guter Einfall gefommen. Zum Teufel, wenn
die Fohinaer jelber nicht herausbefommen können,
wer dieſe Spottbriefe jchreibt und ihre Häufer in
Brand jtedt, woher joll ich es denn willen?“
„But, lieber freund, ich werde es jchon heraus
friegen.“
Martin Teresfey ftand in dem Rufe, ein aut
gezeichnete Unterfuchungsgenie zu fein; er hatte
reiche Erfahrungen, eine außergewöhnliche Beob»
achtungsgabe und originelle Einfälle. Er wußte mit
den Leuten in ihrer Weife zu ſprechen, mit ein
Ichmeichelnder, füher Rede, die den Sprödeſten mürbe
machte. Er hätte e8 auch weit gebracht — einmal
war jogar die Rede davon, daß man ihn nad) Buda-
peſt an die Spike des Polizeiweſens ftellen werde —
wenn nicht einzelne über ihn kurſierende Anefdoten
jeinen guten Ruf total zu Grunde gerichtet hätten.
Man flüfterte nämlih, daß er im Kreuzfragen Her
vorragendes leifte; das bedeutet aber im Komitat
ftil: übers Kreuz eins von lints, piff, eins von rechts,
paff, und daß er „Informationen* nur allzuwillig
Gehör jchente. Als der Schmied von Kapolt ihm
einft ein Kalb zum Gejchent brachte, joll er ibn
wütend angeſchnaubt haben: „Wofür jeht Ihr mid
an? Soll id) etwa das Kalb jäugen? Konntet Jhr
nicht gleich die Mutter mit bereinbringen ?* —
| „Die ganze Lohinaer Affaire ift ein Kinderfpiel,*
| erflärte er nad) drei Tagen, nachdem er die Pas
quille durchgelejen hatte. „Ich bin auf ficherer Fährte.
„Nun, das freut mich,” erwiderte ber junge
Sotony. „Denn id) will von nun an mein Leben
ganz den Öffentlichen Angelegenheiten widmen.“
„Eine miferable Laufbahn, lieber Freund, ber
fonders für ſolch einen Lebemann.“
„Ich Habe mit all meinen bisherigen Beidäfti-
gungen gebrochen. Die Karten Tangweilen mid,
der Landwirtſchaft kann ich feinen Geichmad ab-
gewinnen, etwas muß ich doch thun.“
„Hehre zu den Frauen zurüd!“
Main 4
Das Zaubertraut von Lohina.
„Rimmermehr!“ rief Sotony mit blajterter Miene.
„Nun aljo, laß anſpannen, gehen wir, ſuchen wir
den Sohinaer Brandftifter!”
Eines Schönen Morgens machten fie ſich denn auf
den Weg in Begleitung Georg Hamars, des kurz⸗
ſichtigen Schreiberö, von dem es befannt war, daß
er ſtets mit der Wafe vermilchte, was er mit der
Hand gelchrieben,
„Wo fangen wir an?” fragte Sotony unterwegs,
„Dei dem Geiftlihen. Der Rutjcher ſoll zuerft
dort vorfahren.“
Der Pfarrer von Lohina hie Samuel Belinta ;
heißen ja doch faft alle Iutherifchen Geiſtlichen ent—
weder Samuel oder Ludwig. Er war ein blau-
äugiger, ſchlank und hoch gewachſener jhöner Mann.
Mit einem Worte ein Geiſtlicher von gefälligem
Aeußern, einer, von denen man zu fagen pflegt: der
it dur Damenwahl zu einer Pfarre gelommen.
Sotony verhörte ihn liebenswürdig.
„Bie alt find Sie?”
„Dreißig Jahre.“
„Seit warn find Sie Seeliorger?*
„Seit drei Jahren.”
„Bann haben Sie geheiratet?“
„Bor zwei Monaten.“
Angenehme Flitterwochen!
„Haben Sie niemand im Verdadjt ?*
„Niemand !*
„Und doch ſcheint es,“ unterbrach ihn Teresleyh,
daß gegen Euer Ehrwürden bier nur der perſönliche
Haß thätig iſt.“
„Das iſt möglich,“ murmelte Belinla unſicher.
„Haben Sie nicht irgend einen Feind," jehte
Zeresfey das Berhör fort, „der Sie einft gehaßt hat,
der Sie nod) immer haft?“
Der Pfarrer begann nachzudenlen.
„Meines Wiſſens nicht.“
„Das ift eigentümlich! Lat mal ſehen.“ Teres-
fey fraute finnend jeinen ergrauenden roten Bart.
„In den Pasquillen find viele ſolche Dinge erwähnt, |
die nur intime, mit den Verhältniſſen jehr vertraute |
Eingeweihte wifjen fönnen. Wer waren Ihre Dienite |
leute?“
„Ein Knecht für alles, der jetzt noch bei mir ift,
und zwei Mägde, bie ſchon ausgetreten find.“
„Wie heißen die zwei Mägde?“
„Die eine heißt Magdalena Riczla, die andre
Anna Sztrelnyil.“
„Wo bienen fie jebt?“
„Soviel id weiß, find beide jet zu Haufe bei
Ihren Eltern.“
Georg Hamar nahm alle dieſe Ausjagen zu
Protofoll, und der Pfarrer unterjchrieb,.
„Das erite Altenjtücd, weldes während meiner
Oberftuhlrichterära zu ſtande kam.” |
|
|
L...
743
„Na, mager genug iſt's ausgefallen,” bemerkte
Teresfey mißmutig. „Wiſſen Sie font nichts, Ehr-
würden ?*
„Nichts. *
„Run, da find wir alio dort, wo wir waren,
nicht wahr?“ fragte der Oberftuhlrichter betrübt, mit
einer Naivität, die ganz und gar nicht zu feiner
Miürde paßte.
„Sei unbejorgt, lieber Freund, Wenn du den
alten Fuchs ſchon einmal herausgebracht haft, kriecht
er nicht eher in ſeinen Bau zurück, als bis er etwas
ausgeſchnuppert hat.“
„Haft du alſo Hoffnung?“
„Das Ganze iſt eine Kinderei, ſag' ich dir, Du
wirft iehen, den Schuft faſſen wir noch heute ab.
Denn dab ein Hiefiger die Pasquille jchreibt, das
feibet feinen Zweifel, Nun denn, wie viel Leute
| Können in jo einem jlovalifhen Dorf jchreiben ?
Wenn's gut gebt, fünfzig! Die müſſen alle vorgeladen
werden, punktum !”
„So iſt's! Volllommen richtig! Aber wo ift da
eigentlich das Dorf?“
Ringdum ftarrten rauchgejchwärjte, halbein—
geäfcherte Mauern in die Luft; hie und da ein Nfchen-
bügel, große Haufen Halbverfohlter Balfen und
Sparten; faum die Hälfte der Häufer fand noch
underfehrt, und auch Die waren Ieer,
„Wir begeben uns dorthin, wo die Gemeinde ſich
befindet,“ erwiderte Tereäfey. „Könnten Sie uns
nicht jemand zur Verfügung ftellen, ehrwürdiger Herr,
der uns dorthin führt, wo das Volk feine Zelte aufs
geſchlagen hat?“
Samuel Belinfa empfahl ihnen zu dieſem Zweck
den Kurator, Herrn Milulil.
"Der wird den Herrſchaften den Weg weijen.“
Herr Milulik ſchmauchte eben jein Pfeifchen auf
der Veranda, Herr Milulik war ein originelles,
dürres Männchen — nidt umionft hatte er ben
Spottnamen Hering bekommen — und fein Geſicht
glih einer Ofner Birne, in melde die Natur zwei
winzig Meine, ichrotförmige, funtelnde Aeuglein ein»
gefügt hat?
Sein Anzug beftand aus einer Hofe von grobem
Bauerntuch, während ein faffeebrauner Rod, wie ihu
die Kantoren tragen, feinen Oberlörper bededte,
Die Herren nahmen ihn zu fi auf den Bod,
| damit er dem Kutſcher Weifungen erteile, welchen
' Weg er auf den unwegjamen Aderpfaden einzuſchlagen
habe. So mußte denn der Heidud dem Wägelchen
per pedes nadtraben, weil für ihn fein Plah war.
„Ja, aber ich bitte unterthänigft, meine Herren,
das Dorf ift jebt auf zwei Pläße verteilt.“
„Bo ?”
„Der eine Teil hauft weit draußen im Gebirg,
der andre bier zerftreut zwiſchen den Meingärten.*
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744 KRoloman Mitszäth.
„Nun ift die frage, wo der Richter und der
Notar zu finden find.”
„Die lagern hier in den Weingärten.”
„So gehen wir dorthin !*
I,
Es ift fein Meines Ereignis, wenn die Komitats=
leiter in jo eine arme Ortſchaft hineingeſchneit fommen.
Im Verlauf einer Selunde verbreitet ſich die Kunde
mit Windeseile. Jeder verliert den Kopf. Gut, daß
nicht Alarm geläutet wird. Eine fieberhafte Thätig«
feit wird entfaltet, denn es muß doch für alles ge-
ſorgt werden. Des Dorfes Ehre mu gewahrt bleiben.
Der Heidud wird ausgefragt, welches die Lieblings-
jpeifen der hochwohlgeborenen Herren find (wenn ber
Jaͤnoſch Verftand hat, jagt er bei joldher Gelegenheit
jeine eignen Leibfpeifen an); dann werden die flinfjten
Burſchen aufs Pferd gejegt; der eine reitet in die
Stadt um Fleiſch und Spezereien, der andre um
Mein, der dritte um ein Päckchen Karten, denn die
Herren vom Komitat dürfen an nichts Mangel leiden.
Diesmal rief die Ankunft der Obrigkeit noch
größere Aufregung hervor als fonft, denn jetzt
mußte alles erſt beichafft werden. Der Notar im«
provifierte ein Amtslofal am Rande eines Kleefeldes,
wo ein paar Ejpen ihre filbernen Blätter gleich
Tauſenden und Abertaufenden Meiner Fächer ſchim—
mernd in den Lüften jchaufelten; dort ließ er im
Schatten drei Tiſche aufftellen. Links davon jchütteten
die Bauernmädchen aus friſch gemähtem Heu weiche,
duftige Ruhebetten auf, damit die Herren ein
Sclummerplägchen hätten, wenn fie nad) dem Speijen
die Luft anmwandelte, ein Mittagsfhläfhen zu thun.
Jawohl, nad) dem Mittagsmahl! Aber wo das
Mittagsmahl fohen? Dazu brauht man Plat.
Hurtig, ihr Jungen, grabt einen Feuerherd, und dann
ipannt rajd) einen Karren an und bringt, jo ſchnell die
Roſſe traben, die Apollonia Mitulit aus dem Dorf
herbei! Sie ift die beſte Köchin in der Umgebung.
Selbit der König würde ſich alle Finger ableden,
wenn er von dem äße, was die Apolfa gekocht hat,
Indes rennen die Zehenteinheber atemlos feldaus
feldein, bergauf bergab, um dem: Befehl des Ober-
ſtuhlrichters gemäß alle Schriftkundigen aufzutreiben;
denn vor der hohen Obrigkeit wird heute große
Schriftprobe abgehalten. Wehe dem, der nicht er
ſcheint!
Der Feuerherd wird fertiggeſtellt; die Bauern
fommen angerückt: Greiſe, Burſchen, Frauen, Mäd-
chen, Kinder.
„Meine Herren, wir fönnen an die Arbeit gehen,“
ordnet der Oberſtuhlrichter an, die Pasquille auf die
drei Tiſche verteilend, indes er dem Alten lachend
zuflüftert :
„Sollen wir auch die Weiber vernehmen ?*
„Natürlich,“ erwidert Tereäfey, „das find die
ihlimmften Pharifäer , befonders wenn fie jchreiben
fönnen. Ich möchte gern wiljen, warum nicht gerade
eine Frau die Pasquille geichrieben haben ſoll. Ya,
ich habe jogar einen leifen Verdacht.“
„Ab, ah,” Mang es neugierig von allen Seiten,
„Ahnft du etwas?" flüfterte Sotony.
„Still! Ich kann noch gar nichts jagen. Aber
ich wette meinen Kopf darauf, daß bei der Schrift
probe alles an den Tag kommt. Du wirft jhon
jehen. Alfo, fangen wir an.*
Der Reihe nach näherten ſich die Slovalen dem
Tiſche. Braunhaarige, hagere, hochaufgeſchoſſene
Burſchen, ein paar alte Männer, die langen, zurüd
geitrichenen Loden von einem Kamm gehalten. Unter
den älteren Weibern fand ſich feine, die des Bude
ftabenmalens fundig war ; die flinfen Jungbäuerinnen
im grünen Schurjrod — der Rod iſt rüdwärts had
geihürzt und vom Gürtel baumeln bunte Bänder
herunter — bieten mit ſchelmiſchem Lächeln ein Are.
hen als Unterfchrift an. Uebrigens ift eg dem Richter
famt den Zehenteinnehmern genau belannt, wie weit
die Wiſſenſchaft eines jeden reicht, und fie üben ge
naue Kontrolle, damit niemand jein Wiſſen verleugne.
Teresfey drüdt einem zuſammengebrochenen,
ſchlotternden Greiſe die Feder in die Hand.
„Schreibt die zwei Worte nieder: Ludja Bozsi!**)
Mit diejen Worten beginnt das Pasauill,
Die Feder zittert in der ſchwieligen Hand, und
die frummen, unficheren, großbäuchigen,, vorn umd
hinten ringelgeſchwänzten Buchſtaben neigen fid bald
rechts, bald linls.
„So hat man vor der Sündflut gejchrieben,*
lächelte Teresley. „Ihr Mönnt gehen. Der fol
gende!“
Jeht am die Reihe an einen podennarbigen
Burjhen. Kaum hatte der einige Buchftaben zu
Papier gebracht, als Teresleys Augen auch ſchon ge
witterdbrohend zu funfeln begannen.
„Heidud, ergreifen Sie den Mann!”
Aber im nämlichen Augenblid rief der Gerichts⸗
ſchreiber erregt auß:
„Das ift der Branbdftifter!*
Der Heidud, der auf Teresfey zugeeilt war, blieb
auf halbem Wege ſtehen, unſchlüſſig, wen er jeft
eigentlich gefangen nehmen folle; jedoch im jelben
Moment, als hätten fie ſich verabredet, ſchnellle auch
der Oberftuhlrichter mit großem Getöfe von feinem
obrigkeitlichen Sit empor und, den Seſſel beifeite
ſtoßend, padte er den vor ihm ftehenden ftämmigen
Bauern, den Lohinaer Kürſchner Martin ſtuſtar beim
Kragen, der, zu Tode erjhroden, den Gänſeliel,
welcher jolches Unheil über ihn gebracht, zur Erde
fallen ließ:
*) Männer Gottes,
Das Zauberfraut von Lohina.
„Hab’ ich dich, Galgenſtrich!“
Der Heibud mußte aus langjähriger ſtomitats-
pragis, dab im ſolchen Fällen immer derjenige der
Schuldige ift, den der Höchftftehende dafür erflärt;
o warf er ſich alfo auf den Kürſchner und begann
ihm das Fell zu gerben. Der unglüdlihe Kuftar
beteuerte mit leichenfahlem Gefichte laut heulend
feine Unſchuld.
Ich bin unfchuldig wie ein neugeborened Lamm.“
„Du haft die Pasquille gefchrieben, Schurte!*
„Ih habe kein Sterbenswörichen geichrieben, ge=
ſtrenger Herr.“
„Du lengneft umfonft, ich jehe es.
ihn binden.”
Und das wäre auch geſchehen, denn der Lohinaer
Mesger, der dem Kürſchner perjönlich feind war,
war im nächften Moment auch ſchon zur Stelle, um
dem SHeibuden beigujpringen, und fie hätten ihn
ipielend überwältigt, wenn ber alte Vizeftuhlrichter
nicht plötzlich dazwiſchengetreten wäre.
„Um Gottes willen, mein Sohn, mad) feine Ron»
fufionen! Ich Habe ja den Pasquillichreiber er-
wicht... aber ich wollte, er möchte mir indes ent»
wüchen.”
„Schweig!“ keuchte der Oberftuhlrichter mit der
Keidenihaftlichteit eines Jägers, dem man den er—
legten Hajen ftreitig machen will, „ſchau her, ift das
nicht aufs Haar die Schrift des Brandftifters?”
„Wunderbar! Dieje Schrift bier gleicht dieſer da
aufs Jota.“
„Sieb ber!“ rief der Oberſtuhlrichter begierig
und verglich die Handichriften. „Das ift ein wunderlich
tolles Ding, Freund Marczi. Schließlich fönnen doch
nicht zwei dad Pasquill gejchrieben haben.”
„Drei, Euer Hochwohlgeboren, drei,“ unterbrad)
fie der eben hinzutretende Schreiber, „denn ich habe
genau dieſelbe Schrift hier zu Papier befommen.“
„Da habt ihr's. Alſo hängt den Fuchs, wenn
ihr's lönnt!“ wütete Sotony.
Alle drei gafften einander ganz verblüfft an, nur
Syelula, der Dorfrichter, lachte die Herren aus.
„Aber was haben denn die geftrengen Herren
gemeint! Bitte jehr, es ilt doch Mar wie die Sonne,
dab die ganze Gemeinde nur nad zweierlei Art
ihreiben kann. Die Aelteren jchreiben jo wie der
jelige Schullehrer, die Jüngeren wie der jetzige Schul«
lehrer.“
So war's. Die Schriftzüge der Einwohner hatten
feinen individuellen Charakter angenommen, Die
Buchſtabenformen des verftorbenen ſtantors lebten
auch nach ſeinem Tode fort. So viel wurde jedenfalls
tonftatiert, daß die Handſchrift der Pasquille der
Schule des jekigen Schullehrers entftammte.
Sofort wurde diefer, der ftudierte Herr Matthias
DBlozif, vor Gericht citiert (was nicht Schwer ging, da
Aus fremden Zungen. 1897. II. 16.
Man muß
745
er vor dem Weinfeller des Johann Bißkup, im Graie
auf dem Rüden liegend, fein Pfeifchen raudhte), ob
er vielleicht die Schrift jeiner Schüler zu unterfheiden
bermöge.
„Die haben alle eine ganz gleiche Schrift,” be—
merkte Blozif, fich ftolz in die Bruft werfend, „Denn
ih bin ſchon fo ein Menſch, ich habe alle meine
Schüler gleich lieb, ih unterrichte alle gleih. Es
fol nicht einer mehr fünnen als der andre.“
Der biebere Matthias Blozit fahte die allgemeine
Gleichheit auf dieje Weiſe auf,
„Na, mit dem Bizegefpanähut iſt's aus,” feufzte
Sotony, „wenn id der Lohinaer Affaire nicht auf
den Grund fomme; damit aber hat es jeßt ſchon jeine
guten Wege. Aus iſt's.“
„'s it noch nit aus! Wohl iſt's wahr, dab
die Fährte, welche wir bei der Unterſuchung ein»
geihlagen haben, ſich als falſch erwieſen hat. Aber
mein Verftand hat mehrere Wege eingefchlagen. Ver»
zweifle aljo nicht und laß mich handeln. Bor allem
aber verlegen wir unjer Bureau anderwohin, denn
der Mind treibt den ganzen Rauch von der improvi»
fierten Küche uns ins Geficht.“
Ein hoher Holzſtoß loderte prafjelnd empor,
wellige bläuliche Rauchftreifen emporſendend; aber
darunter fladerte ein Iujtiges Feuer. Ein ftatiliches
junges Weib tummelte ſich in der Nähe des Herbes,
ſchnitt die Kartoffeln in Scheiben, zerlleinerte Die
Zwiebeln, ſchlug das Fleiſch mürbe und ſchob bie
Zöpfe und Kafjerolen hin und her. Mit dem Rauch
zugleich zog aud der mwürzige Speiſenduſt und das
Parfüm der Himbeeren aus dem nahen Gebüſch her—
über.
„Das ift die Apollonia Milulik,“ machte der
Notar die Herren aujmerkjam. „Eine jeltene Schön»
heit, und locht vorzüglich.“
„Ah! So werden wir alfo heute mittag uns an
einer Mahlzeit von jhöner Frauenhand ergößen.“
„Sie ift noh Mädchen,” mifchte ſich der Kantor
Blozik ins Gefpräh, der in der Nähe der hohen
Obrigkeit herumſcherwenzelte.
„Bon meiten ift fie jehr hübſch,“ meinte der alte
Teresley. „Wollen wir fie nicht in der Nähe ans
Ihanen?“
„Wenn fie ihrem Vater gleicht, jo ift nicht viel
an ihr,“ erwiderte Sotony gleihmütig. „Ihr Vater
ift ja doch der Kurator, der uns hierher begleitet hat.“
„Ja, der ‚Vierdereparateur‘ !*
„Was ift das für ein Handwerk?”
„sein beionders ehrliches Handwerk,“ bemerkte
achjjelzudend der Notar, „aber jetzt betreibt's der Alte
ſchon nicht mehr; er iſt ein anjtändiger Menſch ge»
worden, hat fich ein Meines Vermögen erworben und
ift gegenwärtig Kurator.“
„Und wie hat er denn eigentlich Die Pferde
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746 Koloman
repariert ?* fragte der Oberſtuhlrichter fichtlich inter»
eifiert, indes der alte Teresfen ſich zum Herde hin«
ſchlich, um dort jein Pfeifchen anzufteden.
„Er Hat ihnen Sittenzeugnifie ausgeftellt. Er
begab ſich auf alle Pferdemärkte.*
„Ab, alſo eine Art Roßlamm!“
„Nein, der hat noch nie ein Roß gelauft,“ be=
gann der Nichter zu erzählen, „aber nad) dem Marlt
faufte er die Päſſe all jener Pferde zujammen, für
die fich fein Käufer gefunden. Er ſchlug nämlid in
irgend einer wandernden Garküche jein Papeinlöfungs-
inftitut auf, und das Volk ftrömte ihm haufenweiſe
zu. Er zahlte vier, fünf Kreuzer fürs Stüd. Denn
nad) dem Markt braucht feiner den Viehpa mehr.”
„Dummer Kerl! Und wozu braucht er dieje Bälle?“
„Die Gegend ift geftedt voll von Roßdieben,
halten zu Gnaden, welche die jhönften Fohlen ab-
fangen. Und Herr Mitulif gründete jein Geſchäft
auf dieje Leidenſchaft; demm ich bitte nur micht zu
vergeiien, dab ein anjtändiger Menſch fein Pferd
fauft, welches nicht feinen Pak hat. Und fauft er’s
ihon, jo wirft er dem Dieb dafür ein Yumpengeld
bin. Uber wenn er ein gejchriebenes Dofument
dazu hat, jo iſt der Kredit des Pferdes hergeftellt,
und es fteigt jechsiach im Preis,”
„Aha! Ich fange an zu verftchen,* rief Herr
Sotony, große Augen machend.
„Die Diebe famen aljo zu unferm guten Mitulit,
und der bejah jich das Pferd und fuchte aus feiner großen
Eijentruhe den übereinftimmenden Paß aus, je nad-
dem es ein Schimmel oder ein Falber war. Unter
fo vielen Taufenden fand fich für jedes Pferd das
Nichtige, Der Roßdieb legte feine fünf Gulden
nieder, und das geftohlene Pferd wurde jofort jein
rehtmäßiges Eigentum. Für ſolche Dokumente aber,
die auf bejondere Kennzeichen ftimmten, verlangte er
aud zehn bis zwanzig Gulden. Aber dann zeigte
ihn jemand bei Gericht an.”
„Und jo fam er natürlich ins Kühle!“
„Ach was! Keine Spur! Er hieb ſich heraus.“
„Wie? Das Gericht hat ihn nicht bejtraft ?”
„Das hohe Gericht ift damals jelbft auf ge
ftohlenen Pferden geſeſſen.“
„Das ift wirklich interefiant ,* rief Sotony ver-
blüfft. „Und was ift mit den vielen gefammelten
Fällen gejchehen ?“
„Die hat das Gericht jpäter doch mit Beichlag
belegt. Aber feitdem hat fih Milulik vollftändig
gebeilert. Wenigitens hört man jebt nichts über ihn.”
Indes Sotony jeine nationalöfonomischen Kennt-
nilfe derart bereicherte, fam der alte Herr vom fyeuer«
herd zurüdgetrippelt.
„Nun, Euer Gnaden, wie finden Cie das Mädel?
Nicht wahr, ein hübſches Kind?”
„Fin lederes Hühnchen,” erwiderte Teresley jovial
Mitszäth,
und ſchnalzte begehrlih mit der Zunge. „Ja, wem
ich jünger wäre!“
„Wie alt bift du denn, Alter?“ forſchle der
Oberftuhlrichter.
„Stark in die Vierzig.”
„Nun, das ift doch noch fein Alter,” fprad der
Notar, den Alten mit zweifelndem Blide meſſend.
„Ei, ich mein’ das aber anders. Ich gebe mid
nämlich ſchon feit jechzehn Jahren für jo alt ans.
Tempi passati! Mich ftacheln feine leidenſchaſtlichen
Gelüfte mehr. Ich bin leider nur aus dem Grunde
am fFeuerherd geitanden, um mit dem Mäddhen eine
amtliche Unterredung zu haben.“
Amtlich?“ lachten die andern. „Schon gut, Die
amtliche Angelegenheit ift ein guter Dedmantel.“
„Scherz beifeite! Aber ich konnte nicht mit ihr
ſprechen, weil zu viel unberufene Maulaffen dert
herumlungern.“
„Und was wollteſt du eigentlich mit ihr ſptechen !
fragte der Stuhlrichter neugierig.
„Ih wollte fie fragen, ob fie jtriden kann.”
Daraufhin allgemeines Schmunzeln. Das gr
bührt fih jo, wenn der Stuhlrichter Wipe madt,
„Beftriden kann fie ficherlich, wen du das meint,“
bemerkte Sotony.
„Nein, nein, ich brauche in vollem Ernft jemand,
der mit Stridnadeln umzugehen weiß.”
„Apolfa kann ftriden,“ ſagte der Notar, ned
immer zögernd, da er nicht wußte, ob der Stuhl
richter nicht etwa doch nur ſcherze.
„Bitte, laſſen Sie fie auf einen Augenblid ber
rufen.“
Der Herr Notar ging felber, um fie zu hol,
denn, meinte er, jo ein Bauernmädchen fürchtet ſich
vor jo großen Herren zu erjcheinen ; die braucht Et⸗
mutigung.
„D, das unſchuldige Lämmchen!“ jpottete Sotom.
Aber alsbald kam fie gegangen, zögernden, uns
fiheren Schrittes, die großen ſchwarzen Augen, in
denen dämoniſche Flammen loderten, züchtig geientt;
unterwegs hatte fie ihre geſtickte weiße Ktüchenſchütze
abgelegt und läſſig über den vollen, runden Arın ge
jchlungen, jo wie die vornehmen Damen ihre Shawls
zu tragen pflegen.
Sie trug einen langen Rod, feinen bis zum
Knöchel reihenden, wie ihn die Bauernmädchen
tragen; auch war das reiche Haar nicht bäurijd zu
einem herabhängenden Zopf geflochten, jondern nad
Art der Handwerlertöchter zum Kranz ums Haupt
| gewunden. Ihre schlanke, jtattliche Geftalt wiegte
ſich beim Gehen rhythmiſch in den Hüften, und ihr
ftolzierendes Auftreten Meidete fie, wie den Pfau jeine
Eitelfeit.
„Eine echte junge Gemfe!* ging's flüfternd durch
die Neihen, wo fie vorüberging.
Das Zauberfraut von Lohina.
Durd die bräunlide Haut ſchimmerte rofig das
putpurne Blut, und auf dem Marmor ihrer Stirn,
gerade über den nachtſchwarzen Brauen, lag eine
imperatorifche Halte, die dem intereffanten Oval
ihrer Züge einen männliden Ausdrud verlieh und
gleichzeitig Zeugnis davon ablegte, daß fie fchon die
taufend Wochen hinter fi habe. Tauſend Wochen
braucht's nämlich unter Lohinas kaltem Himmeläftrich,
big das Mädchen zum Weibe reift.
Sotony lief feinen müben, blafierten Blick mit
febhaftem Intereſſe auf ihr ruhen. „Ab! Ziemlich
bübich!"
„Ih habe Sie rufen lafjen, mein Kind,” begann
Teresten janft, „um Ihre Hilfe in etwas zu erbitten.
Nun, nun, erjchreden Sie nicht vor und; wir find ja
feine Menſchenfreſſer. Der Herr Notar jagt, daß
Sie ſchön firiden fünnen,“
„0, das lann ich,“ erwiberte fie mit anmutigem
Knidks.
„So bringen Sie alſo Ihre Stricknadeln her, mein
Rind! Haben Sie fie da ?*
„Nein, zu Haufe.”
„Der Heibud wird fie holen. Sie haben ja
mit dem Kochen zu thun.“
„Rein, nein,” ſprach Apollonia mit abmwehrender
Gebärde, „ich laufe jelbft nad Haufe. Ein andrer
findet fie nicht. Und weit iſt's ja aud nicht. Wir
wohnen dort am Nande bes Dorfes.“
„Seib ihr denn nicht ausgezogen?“
„Nein, wir haben ein gemauertes Haus, das wird
wicht abbrennen. Ein Ziegeldach!“
Teresley mwinfte den Heibuden herbei.
„Sie begleiten die Jungfer!“ Dann flüfterte
er ihm leije zu: „Und dab mir das Mädchen auf
dem Wege ja mit niemand von den Stridnadeln
redet! Das muß ein Geheimnis bleiben.“
Ich kann's nicht begreifen,” brummte der Richter.
„Mir fteht der Verſtand ſtill.“
„Bas mag er nur wollen?“ ipintifierte Georg
Hamar.
„Sagen Sie es uns doch auch, Euer Gnaden!“
drängte der Notar; „mehr Augen ſehen mehr, viel-
leicht fönnen wir auch ein Wörtchen zur Sache reden.“
„Können die Herren warten?“ fragte Teresten
laͤchelnd.
„Nein, das können wir nicht,“ platzte Sotony,
der vor Neugier brannte, ungeduldig heraus.
„Ich aber kann es, drum warte ich erft bie
Etridnadeln ab.”
Und das alles machte er mit jo geheimnigvoll
wichtigthueriſcher Miene, daß er die allgemeine Neu-
gierde noch mehr fteigerte. Aber das Geheimnis lieh
er fh nicht einmal mit eijernen Zangen entloden,
obgleich fie zu jedem erbenklichen Mittel griffen.
Sotony verlegte fich zuletzt aufs Spotten.
747
„Darum alfo bift du ein jo großes Polizeitalent,
weil bu die Stridnadeln unter polizeilicher Bebedung
herbringen läßt. Ich könnte mich totlachen, wenn
ih mir die Sache überlege. Es ſoll's unterwegs ja
feiner hören! Ha — ba — ha! Was joll feiner
hören? Das große Geheimnis, daß die Jungfer
Mitulik ihre Stridnadeln bringt! Nachmittag laff’
id; dir glei eine Schlafmüße ftriden. Gut?*
„Es wird beffer fein, wenn du feine jchlechten
Witze macht. Aber ich ſehe jchon, daß ich vor dir
feine Ruhe haben werde; ich gehe aljo fort und werde
in dem Feltborf indeſſen einen feinen Spaziergang
machen.“
„Da geh' ich auch mit.“ :
„Gut! Aber da ſeh' ich ein ſtuhhorn; gieb den
Befehl, daß man ins Horn ſtoßen ſoll, wenn das
Mädel zurückkommt.“
Aſchenruß bedeckte die ganze Wieſe, Aſchenruß
ſchwärzte die Gräſer rings umher; wenn der Wind
die Baumfronen zaufte, ftoben Rußwöllchen empor,
und die Plachen ber Zelte waren auch rußgeſchwärzt.
Der rote Hahn hat überall mit leſerlicher Schrift
eingefchrieben, daß er hier vorübergegogen, und wen
irgend jemand, jo ift er's, der wirklich mit ſchwarzen
Leitern jchreibt.
Bor den Hütten trieben mutwillige jlowakijche
Bauernjungen ihr Spiel, Ihrer Laune that der
Umftand feinen Abbruch, daß ber rote Hahn das
Dorf hierher verjagt hatte. Sie Ineteten Figuren
aus klumpiger Roterde, höblten fie dann aus und
fchleuberten fie derb an die Brettermwände, fie mit dem
Zauberjprüchlein begleitend: „Dröhnet wie die große
Glode oder lauter, wenn ihr könnt!“ Sie jpießten
bie grünen Fruchtknötchen der Kartoffelitauden auf
jpige Stäbe und fangen dazu: „Fliege hurtig,
Snötchen mein, ſchnell wie ein Bleifügelein!“ Und
es flog auch fo raſch. Die Schelme verftanden gut
damit umzugehen.
In den Zwetichgengärten, wo jih Baum an Baum
reiht, jchaufeln Heine weiße Nadyen in den Lüften;
bon weitem ficht es aus, als wären’ große, weiße
fliegende Günſe. Das ift ein echtes, rechtes Märchen ⸗
dorf! Un die flämmigen Zweige zweier großen
Bäume wird je ein weißes Tiichtuch befeftigt, und
darein legt man die Säuglinge. Indes bie Mütter
das Feld bearbeiten, find bie Kleinen dort im Schatten
aut aufgehoben. Die Laubfronen flüftern ihnen ein
ſüßes Schlummerlied zu; der Wind aber, der au
ben Zweigen rüttelt, ift ein gutes Kindermädchen;
mit den Weiten fchaufelt er gleichzeitig aud) die win—
zigen weißen Kinderneſtchen.
Wenn ſich jemand eines ſchönen Tages unverfehens
bier einſchliche und die Kleinen, die feiner bewacht,
vertauſchen würde — mein Gott, weld ein Durch—
einander entſtünde ba!
748
Die Hütten ftanden meiftenteils leer; nur je eines
ber Kinder ftand Wade bei den geringen Habjelig«
feiten.
„Wo find die Großen?“ fragte Teresley mit
gutmütiger Vertraulichkeit einen diefer haushütenden
Jungen. In der Leutſeligkeit war er Meifter.
„Die find halt alle weg. Die Mutter bringt
das Heu der Wieſe ein, die Schwäher läßt in der
Mühle das Korn mahlen, und der Vater, der ift zu
Gericht gegangen, wo man den Brandftifter jucht,“
antwortete der Knabe veritändig.
„Na, und was haft du gehört, wird man ihn
finden?”
„Keine Spur! Die Leute fagen, daß die Herren
gar nichts wilfen. Und fie werden aud nichts
herausbringen, bis fie den alten Hrobat nicht um
Rat fragen.“
„Na, lieber Freund, das ift ein ſchönes Komplie
ment für und.”
„Hm! Macht nichts!“
„Wart einmal, mein Junge, ſag mir, wer ift
denn der Hrobaf?“
Weiß ich nicht," ſagte der Junge trogig, und
dem Stedenpferd, auf dem er jaß, zur Aufmunterung
eins mit der Zunge zuichnalzend, lief er davon.
Die Herren vom Komitat aber jeßten ihren
Spaziergang fort, bis ihnen wieder jemand in den
Wurf fam, mit dem fie ein Geipräd anknüpfen
fonnten.
Ein feifter Bauer lag vor jeiner Hütte auf feinem
Schafvelz.
„Wo fehlt's, Yandamann ?*
„Das dreitägige Fieber beutelt mid, gnädiger
Herr.“
„Das ift fein angenehmes Ding. Warum nehmt
Ihr nicht etwas ein?”
„Ih bitte unterthänigft, es wär’ ſchon längſt ver
gangen, wenn wir drin im Dorfe wohnen thäten ;
benn da giebt's fein fichereres Mittel dagegen, als
wenn man ich neunmal auf neun Gräbern rund
berummäljt. Aber in dieſer Hundsvermalebeiten
Gegend giebt's ja nicht einmal ein Grab.“
„Was meint Ihr, wie lang werdet Ihr noch da
wohnen?“
Der kranke Bauer jeufzte,
„Es möcht’ nur ſchon brennen, wenn's brennen
fol. Wir haben die Sache ſchon ſatt. Wir können
es ſchon faum erwarten, daß wir ganz abbrennen.
So könnten wir uns wenigftens Zeit zum Bauen
nehmen, folang noch die warmen Zeiten anhalten.”
So viel ſteht feit, in dem kranken Bauern wohnt
ein jehr gejundes Gemüt.
Aber das originellfte der vielen bunten Bilder,
die ſich vor ihnen ausbreiteten, war ein großer, ver⸗
borrter Hirihbaum am umteren Ende des Mein«
KRoloman Milszaäth.
gartens, von deſſen Stamm ein dürres Wacholder:
büfchel an einer Schnur baumelte, indes auf den
Zweigen aus Hobelfpänen gebundene Schleifen wie
toll im Winde Mnifterten und rauſchten.
„Sich da, das ift wahrjdeinlid das Wirte
haus,“
Freilich war's die Schenke. Der erfinderifc
Morig Kohn hat jein Geſchäſt auch hierher mit:
gebracht. Freilich bedurfte es dazu feines großen
Apparates. Ein Fähchen Branntwein und ein Stüd-
chen Kreide.
Mori Kohn ftand neben dem Faß, und weil er
mit jemand, den ein dichter Hajelnußftraud gan;
verdeckte, in jehr eifriger Verhandlung begriffen war,
bemerkte er die herannahenden Herren nicht.
„Geben Sie's für zwei Gulden? Ja oder nein!“
ertönte der unverfennbare Jargon des biebern Moris
Kohn.
„Unverjhämtheit!" zürnte der andre. „Bi
fönnen Sie ſich unterftehen, für jo einen Paß zwei
Gulden zu verſprechen ?“
„Wie ich mich unterfteh’?* reichte der Jude.
„Weil ich mir's hab’ ausgerechnet. Auf acht Gulden
haltet Ihr ihn; fo is e& doc ficher, daß hr ihn
für ſechſe hergebt; mu, jo demf’ ich mir, is er doch
vier Gulden wert, aljo verſprech' ich dafür zweie.”
„Echt jüdiſche Logik!“ ſchmunzelte Teresley, dem
Oberftuhlrichter einen zarten Rippenſtoß veriepend.
„Still! Seien wir ruhig!”
„Hol's der Teufel,“ begann jetzt der andre, „io
ſoll's alfo bei jeh® Gulden bleiben, wenn Sie ſchon
meinen, daß ich ihn für ſechs Gulden hergebe!*
„Was? Hab’ ich vielleicht tolle Schwammerl ge⸗
geilen?“ unterbrach ihn Köhn, „aber wiſſen Sie was,
ich geb’ Ihnen die vier Gulden, wenn's mir ſchon
einmal über die Zunge gerutjcht ift, daß der Tai
fo viel wert ift.”
„Nicht einen Heller lab ich nah. Billiger kann
ic) das Pferd nicht reparieren.“
Im jelben Moment erklang der Ruf des Aub
horns.
„Das gilt ung — gehen wir!“ ſagte Sotony auf
geregt.
„Nein, nein, diejes Zwiegeſpräch erwedt meine
Neugierde. Ich gäb's nicht um vieles, wenn ich der
Sache auf den Grund kommen fönnte. Kopp, der
Jude hat uns bemerft. Schau, ſchau, wie angjtvol
er mit den Händen fuchtelt! Der andre Kumpan
aber hat fyeriengeld gegeben. Sieh, wie der Galgen-
ftrid rennt! Ei, ei!“
„Laß dich's nicht kümmern, freund Margi,
ſprach Sotony, hochmütig fpottend. „Du braudit
nicht alles zu wiſſen. Genug, wenn ich's weiß!“
„Was weißt du?“
„Ich weiß, wer der Mann ift, der dort Reißaus
Das Zauberfraut von Lohina.
genommen hat, und um was es jich da gehandelt
hat.”
„Unmöglid, mein Sohn!
„Johann Mitulit.“
„Und der Paß und die Pferbereparatur ?*
„Damit bin id) auch im reinen,” triumpbierte
Sotony, „und id) fann dir jagen, da hab’ ich ein
rohe Ding herauägefriegt.”
„Spaß nicht, Miſchka,“ antwortete Teresfey, ihn
mit forihendem Blick meflend, in dem ſich ebenfoviel
Neid wie Zweifel ausdrüdte.
„Du wirft es feinerzeit ſchon ſehen.“
„Kannft du mir’s jeht nicht jagen?“
„Es fteht nicht mit der Brandftifterei in Zus
lammenhang. Gehen wir!”
Ich ſeh' ſchon, du willſt dich an mir rächen,
Alſo, wer war's?”
weil ih dir meinen Plan nicht enthüllt habe. Alfo
Zach um Tauſch.“
„Danke, ich brauch's micht mehr. Jeht werd’
ichs ohnedies gleich ſehen.“
„Ih ſag' dir, das ift eine wunderbare Idee,
So einfach und doch jo pfiffig.”
III.
Jungfer Apollonia mit ihren Nadeln war ſchon
zur Stelle.
„Schicken Sie die Leute weg!” wies Teresten den
Oberftublrichter an. „Wir brauchen fie nicht mehr,
im Gegenteil,*
„Brauchen wir feinen mehr zu verhören ?“
„O ja, aber das wird der Herr Hamar ſchon
achmittags allein bejorgen. Zu verhören find noch
alle jene, die bei dem jeweiligen Brand zuerft zur
Stelle waren ; dann die geweſenen Mägde des Pfarrers,
deren Namen wir notiert haben, die Magdalene
Rica umd die Anna Sztrelnyik.“
„Die find beide drin im Gebirg, im Dorf des
Bakula.“
„Wenn wir fie brauchen werden, jo werden wir
fie auffuhen. Und jet gehen wir ans Wert, Ent-
fernen Sie jeden von den Amtslotalitäten!“
Fin einziges Machtwort des Oberftuhlrichters
rreftrente im Nu die gaffende Menge, und am Tiſche
blieben mur die drei Komitatsherren, ferner der
Rihter, der Notar und Matthias Blozik, der Kantor,
der bier mit der Würde eines Küchen» und Seller
meifter$ betraut worden war. Das war das jchönfte
Amt,
„Kommen Sie doc näher, Apollonia!” jcherzte
Teresley mit feierlicher Miene. „Warum drüden Sie
Ach jo ſcheu? Sie find jeht hier die Hauptperion.
Sehen Sie fich hier an den Tiſch.“
Damit geiff er in die innere Rocktaſche. Aller
Augen hingen erwartungsvoll an ihm, ja die Zus
Ihauer hielten jogar den Atem an. Er zog bie
Vazquille hervor und begann behutfam die Fäden
749
abzumideln, mit denen bie einzelnen Papierſtückchen
in Päckchen gebunden waren.
„Das ift Wolle,” ſprach er mit dumpfer, ver—
baltener Stimme, „id hab's zu Haufe mit dem
Mikroſtop unterſucht und bin deffen ſicher, daß es
Wolle iſt.“
Merkliche Enttäuſchung malte ſich auf allen Ge—
ſichtern. Sie hatten etwas Außergewöhnliches er—
wartet.
„Und ich habe begründeten Verdacht,“ fuhr er
fort, „daß dieſe Fäden von einem Strumpf Ios-
getrennt find.“
„Das kann jehr leicht möglich fein," brummte
der Notar.
„Wir werden das fofort ſehen. Nehmen Eie
dieſe Fäden und ftriden Sie diefelben in Strumpf»
form zurüd. So werden mir die farbe und das
Mufter des Strumpfes herausbelommen. Auf das
bat der Brandftijter nicht gerechnet, ba, ha, ha!”
„Donnermwetter,” rief der Notar. „It das ein
Kopf! Iſt das ein Geift!*
Die ſchöne Apollonia nahm die Fäden in bie
Hand, und die Stridnabeln flogen Happernd zwijchen
ihren jchönen weißen Fingern auf und nieder, aber
fie ließ eine Maſche um die andre fallen. War's
etwa, weil ihre Hände zitterten ?
„Nicht Fo ſchuſſelig, Apolla!“ unterwies fie der
Notar,
„Die Jungfer ift verliebt,” nedte fie Szefula,
„denn jo viel Maſchen fie fallen läßt, jo viele Herzen
nimmt fie gefangen.“
Apollonia errötete, und ihre Hände begannen noch
mehr zu zittern. Jet riß ihr jogar der Faden.
„Schauen wir nicht hin!“ mijchte fi Sotony
drein, „Iann fie denn ftriden, wenn man fie jaft mit
den Bliden verſchlingt ?*
Dabei aber war er jelbjt nicht im ſtande, die
Augen von der reizendben Mädchengeitalt abzuwenden.
Mit großem Weh und Ach war die amtliche
Striderei endlich zuwegegebracht. Sie war aber
aud derart, wie amtliche Arbeit gewöhnlich aus—
zufchauen pflegt. Im ganzen waren’s etwa fieben
bis acht Reihen, und die waren auch jehr unvoll»
fommen gearbeitet. inerlei, es genügte! Beim
eriten Blick ftand das uriprüngliche Ausfehen des
Fadens vor Augen: es war ein hanbbreites Stüd
von einem blau und gelb geitreiften Strumpfe.
„Wir find auf der Spur,” ſchrie der Richter
gellend auf, „der Strumpf ift mir ſchrecklich be—
fannt.”
„Das ift eben dad Malheur, daß er Ihnen gar
jo befannt ift. In der Stadt verlaufen die Kräme—
rinnen in jedem Hausthor folde Strümpfe. Meiner
bejcheibenen Anſicht nach ift das eine ſehr ſchwache
Spur, aber jedenfalls beſſer ald gar feine, Bejonders
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750 Koloman Milszaäth.
in Lohina, wo gewiß ſehr wenige Weiber Strümpfe
tragen.“
Der Richter begann fofort an den fyingern ab»
auzählen.
„Die Frau Pfarrerin, das ift eins, die Kürſch-
nerin zwei, die Müllerin und ihre Tochter vier, bie
Frau des jüdifchen Arrenbators und ihre Mutter ift
ſechs, und Jungfer Apollonia trägt auch Strümpfe.“
Apollonias Antlip erglühte lichterloh.
„Apolla, Sie können jet zu Ihren Töpfen zu—
rüdtehren! Wir danfen Ihnen ſchön für Ihre Mühe.
Alſo weiter, Herr Richter! Wer trägt bier noch
Strümpfe?"
„Sonft niemand, außer meiner frau.”
„Sie feinen das Dorf gründlich von Kopf bis
Fuß zu kennen.“
„So gehört ſich's für einen Richter.“
„Ja, aber die Waden der Frauenzimmer gehören
doch nicht mehr zu dem richterlihen Wirlungskreis.
Ic werde mid; danach überdies bei Ihrer Frau
Richterin erkundigen. Doch genug der Nederei!
Gehen Sie mit dem Heiduden jept brühheiß in bie
erwähnten Häufer und ftellen Sie gründliche Haus-
durchſuchung an!”
„Und was follen wir thun, wenn wir die Strümpfe
finden ?*
„Wenn Sie Strümpfe von diefer Farbe finden,
fo nehmen Sie fie in Beihlag; find fie aber zum
Teil zertrennt, jo nehmen Sie die Eigentümer fejt.*
„Saubere Geſchichte das," brummte der Richter
im Abgehen. „Ich muß meine eigne Frau unterfuchen.”
Teresfen jah ihm mit ftolzem Selbſtbewußtſein nach.
„Seht hab’ ih meinen lehten Pfeil verjendet.
Jetzt bin ich beruhigt.“
Und zum Beweis deſſen, wie ruhig er jei, ſtopfte
er feine große Meerſchaumpfeife und fuchte Fidibus«
papier zwiſchen den Schriftftüden, die in der äußeren
Nodtajche jtedten.
„Marezi bäcsi, ſchade, jet ein Pfeifen an«
zufteden! Die ſchöne Apollonia dedt ſchon den Tiich,
tie ich ſehe. Wir werden gleich eſſen.“
„Bruder Milka, die Zeit ift foftbar. Bis dahin
fann ich noch ein halbes Pfeifchen rauchen.“
Aber wie er jo zwiſchen jeinen Papieren juchte,
welches davon wohl unnüß und gut zum Verbrennen
fei, wurde er plößlich freidebleich und kreifchte wütend:
„Ih bin entehrt! Schändlidh! Entſetzlich!“
Die Adern im Naden ſchwollen ihm did an; in
den Schläfen hämmerte es ihm fiedend heiß, und
jeine Augen waren ganz mit Blut unterlaufen.
„Um Gottes willen, was ift geichehen ?*
„Lies!“ feuchte er, einen Papierfegen vorweijend,
den er mit der Fauft zufammengeballt Hatte.
Sotony glättete es jorgfältig. Die dämonifchen
Buchſtaben des Pasquills tanzten winzigen, grinjen-
ben Teufelhen gleich auf dem meihen Blatt. Und
Wort für Wort ftand dort folgendes zu leſen:
„Du rotbärtiger, lüfterner Ziegenbod!* Hm, ein
recht nettes Titelchen! „Wenn du die Unterfuchung
nicht fofort im Stich läßt und deine Nafe weiter
in unfre Angelegenheiten ftedft, jo werden wir dein:
Gebäude und Sceuern auch niederbrennen. ln
deine Frau wird erfahren, was für ein fauberer
Vogel du bift, denn wir fennen deine lofen Streidk,
alter Sünder; wir willen ganz gut, warum bie
Zelenoer Weiber jo oft beim Gericht zu thun haben.“
„Das ift die höchſte Impertinenz!* meinte Sotom,
„Wo haft du das gefunden ?*
„In meiner eignen Taiche!”
„Unerbört.“
„Wie viel Köpfe hat der Schurke,“ wütete Teresten,
„daß er den feinen jo verwegen unter Henlerbeil
zu legen wagt?”
„Man hat dich lächerlich gemacht, Lieber Alter!“
„Nicht mich,“ ſchnaubte der Alte pruftend, „ion
dern das Gejeg, das Komitat, ja jogar Seine Majekit
den König jelbft.*
„Daraus erhellt nun Mar, daß der Branbditifte
oder feine Spiehgejellen in unfrer unmittelbaren Um:
gebung find. Aber wer iſt's? Das ift die große Frage.‘
„Das neunzehnte Jahrhundert hat feinen jolden
Fall aufzuweiien. Im Pitaval findet fid nid
Achnliches.”
„Ih jage dir, lieber Freund, der Teufel jelber
ftedt diefes Dorf in Brand.*
„Mit dem aber kann das Komitat nicht fertig
werben,” ftotterte Hamar.
„Denn nur der Teufel kann jo geſchickt fein oder...‘
„Eine Frau...“
„Mit der aber wird nicht nur nicht das Komitat,
fondern ſelbſt der Teufel nicht fertig.”
Von weitem ertönte die fchmelzende Stimm:
Apollonias:
„Herr Notar, e8 ift aufgetragen!”
Und der Küchenmeiſter fam träge herangemattli
und fündigte unter tiefen Büdlingen an:
„Die Suppe ift ſchon weichgekocht, ich bitte m |
gebenit.” |
Es war aud) ſchon die hödhfte Zeit. Der Shin
war ſchon längit auf feinen Schatten getreten, mat
in Lohina Mittag bedeutet. Das Mittagsmabl hatte |
fi) ein wenig veripätet. So ifl’3, wenn man die
Köchin mit unnügen Dummheiten aufhält.
„Uebrigens werden die gnädigen Herten dafür
entjhädigt werden, denn alles ift gelungen; nur &t
Fiſch ift etwas ftärker papriziert, ala er jein jolle,
aber das Hammelporköft ift köſtlich. Und erft die
Schneeballen! Wohl hätte auch in diefen etwas mehr
Zimmet nicht gejchadet, aber auch fo find fie ver
trefflich.”
Das Zauberfraut von Lohina. 751
An der Tafel nahmen die Herren der Rang»
orbnung gemäß Pat. Blozik fam ans unterſte Ende
als erfter von unten auf zu fihen. Gr hatte jchon
im vorhinein alles gefoftet ; er wußte, in mwelder
Reihenfolge Die Gerichte aufgetragen werden, und das
gab ihm ein gewiſſes Gefühl der Heberlegenheit, was
ihn außerordentlich geſprächig machte.
Obgleich, er im Grunde feines Herzens vielleicht
manden Speifefehler tief mitfühlte, jo lobte er dennoch
alles mit rhetoriſchem Schwung, um daburd den
Appetit zu ſtacheln. Einmal, zweimal kniff er jogar
Apollonia in die Wangen: „Vergolden follte man
diefeß fleine Patſchchen!“ Auf das Hammelporkölt
improvifierte er einen begeijterten Vers, den er unter
allgemeiner Seiterfeit zum beiten gab. Bei ben
Getränfen fchimmerte fein Auge feudht vor Genuß:
„Placeat, domine spectabilis. Istud vinum habet
colorem, odorem et saporem.* Obzwar ber Wein
etwas jänerlih war und ſtarl ans Faß erinnerte,
Nur bei dem Taprifafiich bemerkte er boshaft, als
der Paprika ihm faft die Zunge verbrannte: „O,
dab dich das Donnerwetter! So muß der Fiſch ge
ihmedt haben, mit dem unfer Herr Jeſus Ehriftus
die vielen Hungrigen bewirtete.” (So dab nämlich
die bibliſche Gäftejchar den Fiſch des Paprifas halber
nicht zu berühren im ſtande geweſen.)
Das Mittagsmahl jchmedte auch allen, nur
Teresley blickte mit nervöſer Aufregung auf den
Ungerweg, ob der Heidud mit dem Richter noch nicht
fomme. Das war jeine legte Hoffnung. Wenn die
ibn im Stich ließen, dann wüßte er wahrhaftig nicht,
wo aus und ein, und müßte mit Schimpf und Spott
unverrichteter Sache von dannen ziehen, Ber! Wie
viel ſchlechte Wie dann im Kaſino geriffen würden
über das Pasauill, welches man ihm in die Taſche
hineinpraftiziert hatte! Wütend knirſchte er mit den
Zähnen: „DO, wenn der Nichtswürdige mir in die
Hände gerät —!*
Sotony jelber wartete gleichgültig ab, was die
Zukunft bringen würde, und machte ih um Apollonia
berum zu jchaffen.
„Ei, ei, Bruder Mifchla, ſchon wieder!” verwies
ihm Teresley jein Beginnen,
DO, wie lang das dauerte! DO, wie fihwer war's
zu erwarten, bis die zwei endlich jenjeit® des ſtlee—
jeldes in Sicht famen. Sie kamen nicht raſch ge
gangen, fondern mäßig im Schritt, Auch ſchon ein
ſchlimmes Zeichen,
„Haben Sie etwas gefunden?” fragte er dumpf,
faft furchtſam, als fie zur Stelle waren.
„Nichts, gnädiger Herr, der Strumpf hat nichts
ausgejagt.”
„Dann Hol’ der eier die ganze Angelegenheit!”
ſchtie er zornig, die Alten zur Erde jchleudernd,
Dann wandte er fich zu Sotony: „Jetzt mad) du's,
wenn du's fannit;
gegangen.”
„Mir auch,” erwiderte diefer mit empörendem
Phlegma.
Worauf Herrn Blozik der Kamm ſchwoll und er
e8 wagte, den Vorſchlag zu machen, dab es in Ans
betracht der Umſtände vielleicht am beiten wäre, das
„Siebdrehen” zu verſuchen. j
„Das ift nicht ohne, was der Herr Kantor jagt,”
jpottete Sotony, „denn jo viel fann das Sieb aud
wiffen wie wir.”
Auch der Richter rüdte mit einem Vorjchlag heraus.
„Es wäre gut, den alten weilen Mann um Rat
zu fragen.“
Teresley machte es wie ein Ertrinfender, der fid)
an einen Strohhalm klammert.
„Wer ift der weile Mann?“
„su den Uderhütten wohnt ein Greis, ein wahrer
Prophet. In ſchwierigen Tragen geben bie Dörfler
immer zu ihm. Er heißt Hrobaf. In meiner Kinder»
zeit hab’ ich ihm einmal gejehen.“
„Hrobat?“ Tereäfey erinnerte ji des Bauern«
jungen, der auch den Hrobaf erwähnt hatte. Das
aljo ift der Vollsglaube: Hrobak wird die richtige
Spur finden, Wer wei? Wenn Vollesſtimme dennod)
Gottesftimme wäre! Das ijt das Vaterland des
Aberglaubens. Als ob die hehren Felſen, welde die
Gegend umringen, fagenerzähblende fteinerne Kirchen
wären. Der ſchwere, graue Nebel, der darüber lagert,
ſenlt fi) Kähmend auf den Geiſt. Das Rauſchen
der Wälder flüſtert mit geheimnisvollen Stimmen,
„Wie gelangt man dorthin?“ fragte Teresley.
„Zu Wagen nicht, höchſtens zu Pferd, denn der
Steig ift jehr teil.”
„Gehen wir, Here Richter, laſſen Sie jatteln!”
„Das wird um jo beiler fein, da wir auf dem
Ridwege aleich jm Dorf des Bakula einfehren können,
wo Euer Gnaden ohnedies noch zu thun haben,”
„Barum heit Ihr's das Dorf des Balula?“
„Weil derjenige Teil der Einwohner, der ins
Gebirg, in den Skringathalleſſel gezogen ift, den
bisherigen Kaſſier Stephan Bakula zum Richter ge—
wählt hat für die Zeit, die fie dort zubringen müſſen.
So ift alſo mein Dorf zum Unterichied das Dorf
des Szefula und feines das des Bafula.“
„O, davon habe ich Schon etwas läuten gehört.
Ihr lebt in Hader miteinander, nicht wahr?“
Herr Szekula lächelte,
„Der gute Bakula ift ein bischen närriſch. Alſo
haben Euer Guaden auch ſchon von der jehnurrigen
Geſchichte gehört ?"
„Was war das?“ forſchte Sotony neugierig.
„Das war nämlich jo, daß wir beide, da wir
Ratholiten find, in der Zelenoer Filiallirche die
Mefie hören. Herrn Balula, ber ein reicher,
mir ift ſchon der Verſtand au
752
hochmütiger Dann ift, uchſte es entjehlich, dab der
geiftlihe Herr immer meinen Namen während des
Gottesdienftes ausſpricht, und fo ging er eines ſchönen
Tages bin und verjprad ihm zehn Mutterjchafe,
wenn er von jekt an flatt ‚Secula s@culorum‘
‚Bacula baculorum‘ fingen wolle.“
Eilen wir, eilen wir," mahnte Teresley den
Richter zum Aufbruch, „denn wir müſſen nod im
Dorf des Bakula zwei Zeuginnen verhören. Es
wäre gut, wenn Sie vorausgingen, Herr Richter,
damit wir die Mädchen nicht in der letzten Minute
erjt juchen gehen müſſen.“
„Wie viel Pferde ſoll ich beitellen ?“ fragte Szelula.
„Laßt mal jehen. Der Herr Schreiber bleibt
bier und verhört diejenigen , die zuerft auf dem Schau»
platz des Brandes erjchienen find, Denn wenn wir
auch gar nichts herausfriegen, fo follen wir wenigftens
im Archiv ein Altenftüd darüber haben, daß Die
Unterfuchung bis aufs Meinfte Tüpfelhen erſchöpft
ift. Der Herr Notar fommt mit, dann der Herr
Oberſtuhlrich ter .. .*
„Ih rühe mich nicht vom led," erflärte Herr
Sotony. „Ich werde dich hier erwarten.”
„Und was geſchieht mit mir?” fragte Herr Blozit,
vortretend.
„Sie laſſen wir hier zur Kontrolle; wenn etwa
jemand mit ber jchönen Apollonia loſe Aurzweil
treiben follte, damit einer zur Stelle ift, der ihn zur
Ordnung ruft.“
„Und wenn id) jelber Luft dazu kriegen jollte?*
„Sie find ein geiftliher Herr; von Ihnen darf
man jo was nicht einmal voraußfeßen.*
„O, bitte ſehr,“ grinſte Matthias Blozik, „can-
tores amant humores. Auch ih bin nur aus
Fleiſch und Blut. Ja, als geiſtliche Perſon fühle
ich mich doppelt ſo ſtark zu den Engeln hingezogen.“
„Aber gehen Sie doch!“ widerſprach Apollonia,
„wer möchte Sie mit Ihrer häßlichen Naſe ?“
Die Naſe des Herrn Schulmeiſters war wohl
etwas rötlich. Aber ſeit wann iſt die rote Farbe
haßlich?
Ei, ei! Apollonia, mein Kind,“ ſeufzte der Kantor
verlegt, „nicht immer warſt du fo ſtreng gegen die
Kirche.“
Apollonia ließ in ihrer Verlegenheit einen Por«
zellanteller aus der Hand fallen, und ihre dunfeln
Augen funfelten in zornigem Feuer. Gewiß mußten
die Worte des gelehrten Blozik eine ſcharfe An—
ipielung enthalten,
„Ad was,” begann jet der Richter, „die Haupt«
ſache ift jeßt, wer den Weg zu Hrobals Klauſe weiß;
denn ich weiß ihn nicht? Wer noch?“
„Ih weiß ihm aud nicht. Nun, das ift eine
ihöne Geſchichte. Da wären wir beinahe ins Blaue
bineingegangen.“
Koloman Mitszäth.
„Aber ich weiß ihn,“ rief Apollonia. „Ich bin
oft genug dort herumgeftreift.”
„Und möchten Sie den Herrn Stuhlrichter führen?!
Doc wohl nicht?”
„Warum nicht? Laſſen Sie mir au) ein Pier
jatteln, Herr Richter!“
„Und getrauen Sie ſich, ſich drauf zu jepen?!"
„Glaub’& wohl,“ lachte fie hell und girrend au,
wie eine Turteltaube.
Ohne Sattel?”
Natürlich.“
Michael Sotony ſprang lebhaft auf.
„Dann ſattelt mir auch ein Pferd!”
IV.
Bald darauf wurden fünf Heine Gebirgspferde
vorgeführt. Apolta ſchwang ſich federleicht auf det
ihre, welches ungeſattelt war, und hielt ſich daran
jo ungezwungen lerzengerad, als wäre fie auf deſſen
Rüden feſtgewachſen. Sie ſchnitt ſich eine dünn:
Weidengerte ab und hieb damit auf das Rößlen
ein: „Hallo, Schöner!” Worauf der „Schöne” in
raſchem Trab davonftürmte und feine ſchöne Reiterix
dahintrug, deren herrliche Geitalt von den Schultern
bis zu den Hüften in graziöfen Wellenfinien ſich hob
und jenfte.
Die Herren konnten fie faum einholen. Der
Szekula ift doc ein ftilles Wäflerhen — da bat ır
aus purer Zuporfommenheit der Apollonia das beit
Pferd zulommen laſſen!
Nun aber gab's hier in dem Gehütte nicht überal
zum Laufichritt geeignetes Terrain.
Das Gehütte ift für den oberländifchen Slowalen
das, was die Tanya für den unterländifchen. Bon
der gebirgigen und jteinigen Gemarkung fällt jeder
Gemeinde ein jo großes, auf Meilen hin reichendes
Grenzgebiet zu, daß es unmöglich ift, dasfelbe von
einem Punkte aus zu bebauen. Vom Dorfe an
wäre es eine Tagesftrede, bis der Beſitzer vom Haut
zu feinen Saaten und wieder zurüc gelangen würde.
Im Dorf können nur reiche Bauern wohnen, die viel
Aecker haben, und deren Felder von Arbeitern bebaut
werben. Wenn man auch davon jtiehlt, bleibt nod
immer genug übrig. Oder aber der Blutarme, der
nichts auf den Feldern zu ſuchen hat. Und danr
noch diejenigen, deren Befigtum nah am Dorfe liegt.
In den ferne gelegenen Aedern hingegen, auf fahlen
Hügeln zwiſchen ſchwärzlichgrauen Felſen jchimmert
hie und da ein weißes Hüttchen hervor. Da:
ift das Gehütte. Nings um die Hütte ift der magert
Boden dann zum Gehorfam gezwungen. Es mode
dad Werk ganzer Generationen geweſen fein, bis man
die Steine aus einem ziemlich großen Stüd Stein
aders aufgelejen.
Aber was unter den Steinen zurüdblieb, die geld
Thonerde, troßt auch dann noch mit dem armen
Das Zauberfraut von Lohina. 753
ſlowatiſchen Bauern und grinſt ihn mit dem ewigen
Aummen Vorwurf an: „Warum habt ihr mir meine
Steine weggenommen? Drum bring’ id) euch gar
nichts hervor!“ Sie verſuchen's mit Roggen, mit
Wide, mit Mais, aber die Erde will nit, und was
fie unluſtig zurüdgiebt, ift nur die Parodie der an«
gebauten ehrlichen Pflanzen.
Jedoch mit zwei Pflanzen und mit zwei Tieren |
macht auch diejer Boden eine Ausnahme, Die liebt
er. Die Kartoffel und der Hafer gedeihen hier größer
und jchöner als anderswo , und den Biegen umd
Schejen bringt dieſe ummwirtliche Gegend würzigere |
ſträuter hervor als die Ebene. Dem Menjchen aber
ipielt fein Ader bier oft noch ärgeren Schabernad. |
Er geht ihm durch. Ein Wollenbruch fommt, ein
Plaßregen praffelt nieder, macht fih an die Arbeit,
wälcht die obere entjteinte Lehmſchichte ab, macht die
bild den Rüden kehrten, „ſchade, jammerſchade für
did, dab du bier zwiſchen den Bären und Mölfen
verwelten jollft!”
Aber mit Apolfa war's ſehr ſchwer, ein Geipräd
anzufnüpfen; denn fie gab nur ſehr laloniſche Ant«
worten, und ber Tonfall ihrer Stimme war zuweilen
jo falt, jo farblos und jo Scharf — wie die Schneide
einer Schere, jo daß fie jofort den Traben des Ge-
ſpräches abſchnitt. Wohl aber konnte fie, wenn fie
wollte, auch einjchmeichelnd und freundlich jein.
„Die Wölfe und Bären find mehr wert als die
Menden,” antwortete fi. „Die haben mir noch
‚ nichts zuleide gethan.“
„Wenn du gefcheit wäreſt, Apollonia, jo könnteſt
' du in Sammel und Seide einhergehen, vierjpännig
mübjelige Arbeit langer Jahre zu nichte, und fiche |
da, der Boden tft abermals voller Steine wie vorher,
denn unten find wieder nur Steine, bis hinunter in
den Grund der Hölle. Der biebere Hornyale kann
ieht aufs neue daran gehen, eine neue Steinſchicht
auszuroden.
Jenſeits des breiten, tiefen Grabens können bie
Heiter nut langſam im Schritt den ſteilen Fußpfad
entlang reiten, der wie der Aermel eines Bauern⸗
veljes ringsum mit Haſelnuß · und Evonymusiträuchern
verbrämt iſt. Beſcheidene Weiden und ftolje Buchen
wechſeln miteinander ab; bie und da ſchimmert ein
Frauenhaar weihlich empor, als wäre es eine Warze
auf dem nadten Slörper der Erde. Weiter oben
viefelt ein Gebirgsbach qurgelnd nieder, Heine farbige
Siefeliteine mit fich ſchiebend.
An einzelnen Stellen war der Weg fo eng, daß
fie nur im Gänſemarſch vorwärts fommen konnten.
Apollonia ritt hintendrein, indes der Richter voran
fit; aber bei dem Zelenoer Gnadenbild, wo die
Rrenjwege auseinandergehen, — dort tummeln ſich am
ı Holletag um Mitternacht die Heren und rollen mit
—
Windeseile rieſige Fäſſer vor ſich her, auf denen
grinſende Teufelsrangen ſitzen — trennte ſich Szekula
von der Geſellſchaft und ſchlug den Weg zum Dorf
dei Balula ein, um Vorbereitungen zum Empfang
der hohen Herren zu treffen. Infolgedeſſen fam
Abollonia an die Spihe des Fleinen Trupps und
übernahm die Führung. Ahr reiches Haar verfing
üd in einem hervorftehenden Aſt, die Haarnadel fiel
heraus, und die ſchweren, dichten Flechten fielen in
den Naden herab und tanzten verführeriſch hin und
ber, die marmorweihen Schultern jtreifend.
Sotony fprengte an ihre Seite, und ein Wunder
wat's, dab jein Schimmel feinen Fehltritt machte
ud ihn nicht auf eines der abſchüſſigen Felsgerölle
\hleuderte,
„Ad, Apolka,” jeufzte er, als fie dem Gnaden-
Aud fremiden Zungen, 1897. Il. 16.
ausfahren, und ein livrierter Bedienter würde dir
Thüren öffnen und jhließen, wo du gehſt und ſtehſt.“
Das Mädchen feufzte tief auf und ſagte dann
barſch:
„Ih brauch' ſchon gar nichts mehr.“
„Ah, willft du vielleicht Nonne werben ?*
Sie lehnte das Haupt an den Naden des Pferbes
und blinzelte unter bem Ellbogen hervor Sotony mit
einem Auge an, Ha, wie ſchön fie war!
„Vielleicht nod) etwas Aergeres,“ ertwiberte fie
leife und traurig.
„Du haft einen verborgenen Summer, Apolta.
Did) kränkt etwas, id) leſe dir das von der Stirn ab,”
Sie flarrte träumerifh auf die Bäume und
Kräuter, die am Weg an ihnen vorüberflogen, aber
fie antwortete nicht. Sie verlangjamte den Schritt
ihres Rößleins, jo daß die übrigen fie jofort ein-
holten. Sotony laute ärgerlid an jeinem Schnurr-
bart. Das bedeutet ja fajt jo viel wie: „Bier ifl
nichtö zu holen.“ Er war feine joldhe Behandlung
bei den Weibern gewohnt.
So ritten fie lange Zeit bergauf, ſtets auf dem«
felben Weg. Ringsum herrſchte tiefe Stille; kaum
daß ein Geiprädh in Fluß fommen konnte, da man
immer auf die Zügel achten mußte; da$ war daher
ziemlich langweilig. So waren fie alſo hocherfreut,
als unerwarteterweile eine melancholiſche ſlowaliſche
Liederweiſe an ihr Ohr ſchlug:
„Huf was ift denn gar fo ſtolz mein Liebchen fein?
Weder Haus noch Bich noch Ställe nennt er ſein.
Seinen Riemen jhnärt er wohl mit Schnallen feit,
Aber drin ift nur ein alter Zunderreſt.“
„Ih rieche Menſchenfleiſch,“ bemerkte Terestey,
dem Gejang laufend,
„Wir find ſchon nahe an Hrobals Hütte,” jagte
Apolka. „Jetzt müſſen wir nur dem Slang nad)
gehen.“
Einen Augenblid jpäter verftummte der Gelang,
und ftatt dejien unterbradh jämmerliches Weinen die
feierliche Stille des Gebirges. Und vom jenfeitigen
95
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754 Roloman Milszäth.
Felſen zählte der Kudud den Lohinaern ihre Lebens»
jahre auf. Er maß fie ihmen reichlich genug zu.
Als fie an der Bergwand einbogen, die ber
Vollsmund „fteinerne Spechſſchwarte“ nennt, ſtand
plöplih hinter dem Gebirge auf der Lichtung bie
niedere Hütte des Hrobaf vor ihnen mit ihrem
einzigen Kleinen fyeniterlein und dem Schilfdach, das
an taujend Stellen Luftlöcher hatte. Hier hatte es der
ſtüchenrauch gut. Er konnte hinaus, wo es ihm beliebte.
Under Seitenwand der Hütte hodte aufeinem Baum-
ftumpf ein rungeliges altes Weib und ſchluchzte bitterlich.
„Wir find zur Stelle," ſprach Apollonia und
glitt Flint vom Rößlein herunter. Der Ritt und bie
frische Gebirgsluft Hatten ihre Wangen gerötet. Sie
war ummiberftehlih. Der Stuhlrichter und der
Notar blinzelten einander verftändnisinnig zu; Sotony
verſchlang fie förmlich mit den Augen.
Dann wandte ſich Teresfey an die weinende Alte.
„Mütterchen, warum weint Ihr jo jehr?”
„Wie joll id nicht weinen,“ ſtieß fie feuchend
hervor, „wenn mid) mein Water durchprügelt ?”
Euch lebt der Vater noch ?” fragte Tereäfen ver-
wundert. „Unmöglich!”
„Na, na, Mütterhen,” beſchwichtigte Apolka die
Alte ſchmeichelnd, „das ſchickt ſich ja doch nicht,
gleich das Thränenjädlein fliehen zu laffen. Kennt
du mic) nicht, Mutti?“
„Wie ſollt' ich Dich nicht fennen? Du bift die
Tochter vom Pferdereparator.*
Indes ſchob ſich aus der Hütte ein ſchneehaariger
Bauer hervor, den der Lärm draußen hinausgelodt
hatte. Seine Wangen ftroßten von Kraft und Gejund-
beit. Er hielt in der Linken einen zerrifjenen Stiefel,
in der Rechten einen Pfriemen. Allem Anjchein
nad) war nicht der Pfriemen, jondern der Stiefel
reparaturbebürftig.
„Was giebt's?“ brummte er im tiefſten Baß.
„Was wünſchen die Herren?”
Tereäfey fiel aus einem Staunen ins andre.
„Seid Ihr der Vater diefer Frau?“
„Ja, leider, ich bin’s, Ach wollte, mein feliges
Meib hätte mir lieber ein Stüd Stein geboren.“
„Sit das wahr, daß Ihr fie geprügelt habt ?*
„Wreilich habe ich fie geprügelt,“ erwiderte er über die
Achſeln weg, „wie denn nicht, wenn fie unfolgjam ijt?*
Dann drohte er ihr wütend mit der Fauſt; fein
Hemd glitt ihm bei diefer Bewegung von den Achſeln
herab und emtblößte die Schnen an feinem Arme,
„Stil, du Balg!“ ſchnauzte er fie an. „Schämſt
du dich nicht, vor fremden Leuten zu raunzen. Gleich
friegjt du noch Schläge, wenn du noch nicht genug
gehabt haft.”
„Was hat fi die Arme zu jhulden fommen
lalien?”
„Was fie fih bat zu ſchulden fommen lafjen?*
braufte der Alte unwirſch auf. „Sie dubelt den
ganzen Tag Liebeslieder und jpielt mit den Kahen,
anjtatt ihren alten Großvater zu hutſchen.“
Aber bei diejen Worten entfiel Teresley die Mer:
Ihaumpfeife zwiichen den Zähnen.
„Was! hr habt nod einen Water?“ rief m
ungläubig.
„Warum ſollt' ich feinen Vater haben? Jeder
fennt den älteren Hrobat.“
„Zreibt feinen Spaß mit mir! Ihr habt wirklich
einen Vater ?*
„Na, was ift denn an dem zu verwundern, ten
jemand einen Vater hat?”
Dann jehte er brummend hinzu:
„Wenn’s der Herr nicht glaubt, jo joll er fid daten
überzeugen. Dort liegt der Alte unterm Schuppen.“
„Wie alt kann er fein?”
Ich zähl’ nicht einmal meine eignen Jahre, aberdie
beiten Jahre hat mein Alter — ſchon hinter fd.’
„Und Ihre Tochter?"
Wegwerfend erwiberte er:
„Die Ancſila? Wie alt ift fie nur? Die wir
heut morgen ſechzig Jahr’ alt. Ya, die Jahre ver
ftreichen, und aus Rindern werden Leute.”
„Können wir mit dem Alten ſprechen?“
„Warum denn nicht, wenn er nicht jhläft. Aber kei
einiger Zeit ſchlummert er jehr viel. Zu ſolchen Zeiten
hält's ſchwer, ihn aufzurütteln. Schauen wir, was ı
madht.”
„Kommt du nicht mit, Mijchka ?* fragte Tereiten
den Oberftublrichter.
„Nein,* erwiderte diejer kurz angebunden unb jet
ſich neben Apollonia auf einen Balken nieder. „Ic bir
ohnedies ſchon draufgefommen, werder Brandftifterift.‘
„Wer?“ fragte Apollonia, den Atem anhaltend.
Der Oberftublrichter rüdte näher zu ihr.
„Du,“
Apolla fuhr zufammen und erblaßte.
„Du haft mein Herz in Brand geitedt, trofden
das ſchon jo fühllos war wie ein nafjer Zunder.
Ich liebe di, Apolla.“
Das Mädchen atmete tief auf wie ein gemürgter
Vogel, der Luft befommt; dann ſchauerte fie zufommen
und ſenlte das Haupt, das ſchoöngeformte, liebliche Haupt
„Komm mit mir, ich nehme did) auf mein Schlob,“
fuhr Sotony mit brennenden Wangen und feuriger
Ueberredung fort. „Ich werde einzig nur für die
leben; die Erde werd' ic) füfien, die dein Fuß betritt
fo hoch werd’ ich dich halten.”
„Nein, nein,“ ftieß Apolta zifchend hervor, „Laflen
Sie mich gehen!“
Sie jprang auf und eilte dem Schuppen zu wie
ein aufgeſcheuchtes Rehweibchen.
Die Herren hatten indes den allwifjenden Hrobal
in ein eifriges Geſpräch verwidelt. Sie hatten ihn
I
|
1 Leit
BOSSE en
Das Zauberfraut von Lobina, 755
gerade wach angetroffen. Er lag in einem großen
„Das ift wahr, Väterchen. Das Ende des
Trog auf einer weihen Streu von Hanigefäde zu- | Strumpfes kann man nicht jehen, weil bie Maſchen
‚ borihin zurüdlaufen, wo fie anfangen.“
fein einziges Härchen mehr zu ſehen; die Kopfhaut |
iammengefauert. Auf dem fahlen Schäbel war
war zufammengeichrumpft und jah aus wie eine wollene
Mübe. Die aufgedunfenen, ſchwulſtigen Augenbrauen
und bie ſchneeweißen Uugenwimpern, mit denen er un⸗
aufhörlich blinzelte wie ein Hafe, machten einen gefpen=
fiichen Eindrud. Sein Geficht war gelb wie Wade.
Nur die Pfeife, die er zwiſchen den Lippen hielt, und
an der er jaugte wie ein Find an ben Mutterbrüften,
zeigte, daß er ein Wejen diejer irbiichen Welt jei.
„Alſo find die Herren in der Brandangelegenheit
bergefommen ?* ſprach er mit dünner, beiferer Stimme,
die aus dem Grabe zu kommen fchien.
„sa, in diefer Angelegenheit find wir gefommen,
deinen Rat zu erbitten. Du bift ein erfahrener Menſch,
haft viel erlebt und viel geſehen.“
„Sch habe darum viel gejehen, weil ich die Augen
immer geſchloſſen und die Ohren immer offen gehalten
habe. Sag mir alfo, mein Sohn, was ihr bis jeht
geihan habt.”
Der allwifjende Hrobaf duzte aud) den Stuhlrichter.
Teresley erzäßlte, daß fie anfangs von dem Ver—
gleichen der Schriften ein Rejultat erwartet Hatten. |
Der Alte gröhlte dem Notar zu:
„Hutiche mich, mein Sohn, hutſche mich; jo wird
mir daß Reben leidjter.”
„Alfo von der Schrift?” gurgelte ex, mit ber dürren,
ausgemergelten Hand nad) einer Fliege ſchnappend,
die fummend ben Trog umfreifte. „Dummheit! Wenn
ihr Hundert unausgebilbete Widelfinder herbringt, wer-
den fie alle gleich ſein; aber wenn wir warten, bis
fie heranwachſen, wird jedes anders jein. Die Budh-
Haben der Bauern find ſolche unentwidelte Säuglinge.
Bas habt Ihr noch gethan, mein lieber Sohn?”
Jeht brachte der Unterfuchungsrichter die Strumpf-
affaire vor. Das war doch ein fo feiner Aniff, dat
er ben Weifen der Gebirge gewiß überrajchen würde.
Gr hörte auch mit gejpannter Aufmerffamfeit zu.
Der Notar that auch das.
jähriger Greis doch jo heilig fein wie der Papit.
Während des Krauens der Sohlen ſpiegelte ſich
im Antlik des Greiſes ein eigentümliches Wohlgefühl;
feine Lippen zudten, als lächelte er; er hörte auf zu
blinzeln und bewegte die eine Hand jo rhythmiſch,
wie ein Lämmchen beim Salzleden die Füße hebt.
„Ra, das war eine ſchöne Sache — das mit dem
Strumpf... Aber weißt du, mein Sohn, die Wolle
hat feinen Mund. Die Nadel hat feine Augen. Der
Strumpf aber ift ein jehr faljches Ding. Denn der
Strumpf hat wohl einen Anfang, aber fein Ende.“
„Was habt ihr noch geihan, mein Sohn?”
„Wir haben den Geiftlihen verhört.”
„Das war flug gethan. Der Pfarrer kann's am
eheſten wilfen. Der, den man mit Steinen geworfen
hat, weiß am beiten, von wo der Stein gefallen iſt.
So ift’s, fo, jo!”
Das große Polizeigenie, der [harfgeiftige Martin
Teresley jtand am Kopfende bes Alten und fühlte
ſich jo Hein, fo zu nichts zuſammengeſchrumpft wie
ein mildhbärtiger Junge. Er fühlte die unbegründete
Lähherlichkeit diefer Empfindung, aber er fonnte fie
nicht loswerden. Ein eigentümliches Bangen über-
mannte ihn, ala ob er feine Lektion berjagte, als er
aus dem bervorgeholten Protofoll haarflein ausführte,
was für Fragen fie an Seine Ehrwürden Samuel Be-
linka geftellt hatten, und was dieſer ihnen geantwortet.
„Unerfahrene, thörichte Kinder feid ihr,“ ſchmälte
der ſlowaliſche Methuſalem, „ihr wißt gar nichts,
nichts! Ihr habt den Pfarrer gefragt, ob er nie-
mand weiß, der ihn gehaßt hat, oder der ihn jekt
noch glühend haft. Hub! Wozu joll das, was?“
„Was jollen wir alfo thun, Väterchen,“ fragte
Teresley bemütig, „um den Verbrecher zu erforſchen?“
„Geh nah Haufe, mein Sohn,” jagte der Alte
mit prophetifcher Stimme, „und ſag dem Komitat...“
„Was foll ih dem Komitat fagen?“ fragte
Teresley andächtig.
„Man ſoll geſcheitere Leute, als ihr ſeid, herſchicken.“
Der hochmütige Teresley verzog feine Miene bei
dieſer unverhüllten Grobheit.
„Warum ſagſt du das, Väterchen? Worin haben
wir gefehlt?”
Hrobat ſchloß die Augen, dann ſtieß er filben-
weiſe, zijchend und gurgelnd bie Worte hervor, da
er feinen einzigen Zahn mehr im Munde hatte und
die Stimme jhon im Munde fait verhallte. Es war
Ichwer, ihn zu verſtehen.
„Krak mir ein bißchen die Sohlen, mein Sohn.” |
„Worin ihr gefehlt Habt? Grab umgelehrt
' hättet ihr fragen follen, ob der Pfarrer nicht jemand
Wenn ein Säugling von zwölf Monaten ein jo |
großer Herr ift wie der König, jo kann ein hunderte | jeht laßt mich jchlafen .. .*
bat, der ihn glühend liebt oder geliebt hat? ... Und
„Gott mit Euch, Väterhen? Ich wünſche Euch
eine gute Gefundheit.“
„Die hab’ ih,” gröhlte der Alte, „aber etwas
Tabak fönnte mir nicht ſchaden.“
Tereöfey warf ihm feinen vollen Tabalbeutel in
den Schoß und ging mit gefenktem Haupt, tief in
Gedanlen verjunfen, zum Schuppen hinaus,
„Der alte Hrobaf hat recht. So ift’s, jo iſt's
dort ift der Hund begraben... .!"
Die Anſicht des alten Propheten eröffnete ihm
eine neue Perſpeltive, einen neuen Gefichtäfreis.
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756 Koloman
Er fühlte das Blut thatendurftig in feinen Adern
rollen. Seine Schaffensfreude, feine Spürluft er»
wachte in ihm aufs neue, jo daß er, vor bie Hütte
tretend, lebhaft außrief:
„Rafch zu Pierd! Gehen wir ins Dorj bes
Balula, die Mädchen zu verhören!”
V.
Das Dorf des Bakula glich dem des Szelula wie
ein Ei dem andern. Nur war Balula ein größeres
Adminiftrationstalent ; er wollte während feiner provi⸗
forijhen Regierung zeigen, was er fünne und wie
jehr er für dem richterlichen Weichjelftod geboren fei.
Kaum hatte er aljo von Herrn Szekula Funde vom
Herannahen der Komitatäherren erhalten, als er auch
jofort das ganze Dorf zufammentrommelte, um ein
Pittgefuch zu unterfertigen, in welchem das unglüd-
liche Dorf vom Komitat eine Feuerfprige verlangte.
Szelula war aber infofern doc) daß größere Talent
von beiden, als er genau mußte, daß fie feine be=
fommen würben.
Die tagsüber gefchehenen Dinge, welche Szelula
föftlic zu erzählen mußte, verbreiteten ſich mit
Mindeseile im ganzen Dorfe. Jeder lauſchte feinen
Berichten. Belonders die Strumpfepifode fand all»
gemeinen Beifall. Die Frauen lächelten darüber. Die
alte Frau Andreas Kosfar rief: „Ya, über ein Paar
guter, weicher Strümpfe geht nichts auf der Welt.“
Herr Szefula wurde von der neugierigen Menge
fast zerriffen. Wie die Schriftprobe vor fi gegangen
jei? Und ob die Herren ſchon irgend einen Verdacht
haben oder ob fie noch immer dabei halten, wer
bunte Strümpfe trage?
Nur Bauer Balula blieb gleihgültig; denn ihn
wurmte es gar tief, daß all das im Dorfe des Sze-
fula vor ſich gegangen war.
Aber was jetzt folgt, das wird fich bier abjpielen.
Er fühlte, was ihm und um feiner Perjon willen
auch dem Dorfe gebühre; aber er wußte aud), was
der Anftand erheiicht.
Als er die Herren am Hügelabhang erblidte,
ſchwang er fi) auf das ſchon vorher gejattelte Roß
und ritt ihnen entgegen, um dann mit ftoljer, maje-
ftätiiher Haltung an ihrer Seite zurüdzufehren.
Alles ftand ſchon bereit, der Amtstiſch und der
Dereich, die Prügelbanf. Ja jogar die Weinflafchen
fehlten nicht ; in einem großen Kübel Wafjer eingefühlt,
barrten fie der Durftigen. Der taftvolle Balula wußte,
was jich jchidt, was das wohledle Komitat verlangt.
Schade, daf er der Kürze der Zeit halber nicht auch
den Blod von Lohina hererpedieren laſſen konnte.
Die Dörfler bildeten zu beiden Seiten Spalier
und jtredten, auf den Fußſpitzen ftehend, die Hälfe
weit vor, ala ob ein Monard) mit feinem Gefolge
Einzug bielte. Einige riefen ſogar Vivat. Närriiches
Mort — Gott weiß, was es bedeutet! Das iſt noch
Mitszäth.
| von der Revolutionszeit in Lohina piden geblieben,
Iſt das eiwa nicht genug Augenweide für Bauen:
augen? Ein alter Herr, hoch zu Roß! Und mie
lerzengerade er ſich Hält! Aber noch viel jchöner firt
‚ der junge, blonde Herr zu Rob, dem das große
Schloß mit den dreihundert Fenſtern gehört, wohin
fie jeden Sommer zur Ernte geben. Die werden
noch lang von diefem Anblid reden. Lebendige
Herrihaften am Fuße der Hrebenfa. So was hat
dieſe grünumjponnene Wieſe auch noch nicht geſehen.
Aber ſieh da, das dort hinten iſt fein Schreiber und
auch fein Gejchworener, jondern die Apollonia Miluſil
Allgemeines Staunen. Mehrere redeten fie and
jpöttifch an, befonders die Weiber.
„Ei, ei, haft du auch ſchon eine Anftellung beim
Komitat befommen, Apolta ?”
„Schau, jhau, das ift nicht übel, auf was dat
Mädel fi da plöglic herauswächſt.“
„Sie wird wohl Gänjehirtin geworden fein,‘
wißelte Gregor Opuza, der ein geriebener Schelm
' war; „bei den Gänſen, die wir der Frau Stublricterin
zufragen, wenn wir Prozeß führen.“
Die Herren hörten das alles vielleicht gar nicht;
Apolta aber that wenigftens, als hörte fie nichts.
„Wir wollen hier zwei Mädchen verhören,“ fagte
Terestey, ji zu Balula wendend. „Eine gemiit
Anna Strelnyit und eine gewifje Magdalena Kiczla.
Wo find die Mädchen?“
„Beide find ſchon herberufen, ich bitt’ ergebentt;
aber die eine ift nod) draußen auf der Wieſe, fie it
Gras für die Kuh holen gegangen. Ich babe jhen
um fie gejchidt. Die andre ift da, ich bitte ergebentt
Anna Strelnyil, fomm ber!”
Eine hagere, bleiche Dirne näherte fih dem
Tisch, der mittels dider, an eingerammte Pilöde be⸗
feftigter Seile umzäunt war, damit die vordringlide
Zufhauermenge die Amtshandlung nicht ftöre.
Anna Streinyif wußte gar nichts und antwortet
auf alle Fragen mit ſtummem Kopfſchütteln oder
einem faſt unhörbar gelijpelten Nein.
„Du bift eine wahre Mamfell ‚Weißnichts‘, mein
liebes Sind,” kanzelte fie der Richter etwas ärgerlich
ab, „aber eins werd’ ich doch noch fragen: Könnteil
du mir nicht jagen, ob der ehrwürdige Herr deine!
Willens nicht etwa eine Liebichaft gehabt hat?“
„Das weiß ich nicht.”
„Hat er nicht zuweilen mit einer von euch jid
genedt? Haft du nicht bemerkt, daß er auf eins dr
Meibsbilder freundlichere Blicke geworfen hat ali
auf die übrigen ?*
„Das kann ich nicht jagen, bitt’ ergebenit —
„Sag’s nur frei heraus, fürdhte nichts! Dei
Komitat befiehlt, warum alſo follteft du es nich
jagen können?”
„Darum,“ jtammelte Anna Sztrelnyil, „weil et
Das Zauberfraut von 2ohina. 157
immer eine Brille trägt; jo Hab’ ich feine Blicke nicht
fehen Können.”
„Du bift ein Närrchen, mein Kind. Das läßt fi
ja au an andern Zeichen erlennen. Wenn man ein
Mäbdel in die Wangen fneift, wenn man einem Mädel
den Arm um die Hüften legt, und dergleichen.”
„Nein, das hab’ ich von unſerm geiftlichen Herrn nie
geſehen, aber geküßt hat er die Magdalena oft genug.”
„So? Und die Magdalena Hat fi küſſen laſſen?“
„Sie hat ihn ja auch mehr als einmal zurüdgeküßt.“
Teresfen rieb jich vergnügt die Hände.
„Genug, mein Kind! Jeht laßt uns die Mag-
dalena vernehmen!“
Und er wandte fi jelbjibewußt zu Sotony. |
‚Wieder eine Heine Spur,” flüfterte er. Sotony
nidte ihm Beifall zu, aber feine Augen juchten
Apolfa, die ſich bleich und zitternd an eine Afazie lehnte.
„Bas fehlt dir, Apolfa? Iſt dir ſchlecht?“
„Nichts, nichts. Nur ein bischen Herzkrampf
— es geht ſchon vorüber.”
„Kommt diefe Magdalena Kiczla nod immer
nicht?“ fragte Tereskey endlich ungeduldig.
„Da bin id ſchon,“ ertönte nun von weiten eine
traftuolle, mutige Stimme.
Ein ftämmiges Mädchen von athletiſchem Körper-
bau machte ſich Plah durch die Menge. Sie brad)
fih Bahn bis zu dem Richtertiſch. In der Hand
hielt fie eine Sichel, und auf den Schultern trug fie
einen großen Korb voll Gras, der um die Schultern
und unter den Achſeln mit Hanfjeilen befeftigt war.
Ihr breites, rotbadiges Geſicht Ichimmerte blühend
und frijch wie eine Pfingftrofe aus dem vielen ger
meinen Gras hervor; die Salbei, die Wolfsmilch,
das Taufendguldenfraut und noch tauſend andre
Kräuter umfränzten ihr, aus dem ſtorbe herabhängenb,
dad Haupt.
„Da bin ih,” rief fie; dann blickte fie mit ihren
llaren blauen Augen im ſtreiſe umher, und als fie
Apolfas anfihtig ward, wandte fie hakerfüllt den
Blid ab. „Da bin ich," wiederholte jie; „hoffentlich
wird man mich doch nicht aufhängen!”
„Halte deine oje Zunge, Mädel! Du wirft auf
das antworten, was man dich fragen wird.“
„So?“ rief Magdalena, die Hände fampfbereit
in die Hüften fiemmend. „Zu Scanden will man
mich jtellen? Bor den Augen des ganzen Dorfes
will man mid) verhören? O nein! An mir fuchen
Euer Gnaden die bunten Strümpfe nit. Ich bin
feine Brandftifterin. Mein Vater war auch ein ehr-
licher, braver Mann, Ich kann mid getroft vors
Gericht ftellen. Weil ich die Geliebte dei Pfarrers
geweien bin, darum bin id) doc ein anjtändiges
Mädel.”
Ihre Stimme wurde immer leidenfchaftlicher,
immer kreiſchender.
„Aber wenn Sie's grad willen wollen, wo die
bunten Strümpfe zu finden find,“ ſchrie fie mit zügel-
lofer.Heftigfeit, „dort jind fie, dort! Schauen Gie
nur der Apollonia Mitulit auf die Füße!“
Sotony |prang gereijt empor.
„Wie kannft du es wagen, fo eine Anflage zu
erheben ?*
„Weil fie bort find — ich fehe fie!“ Und fie beftete
ihre verglaften Augen ſtarr auf Apollonia, die regungs-
108 wie eine Statue an dem Nlazienbaum lehnte.
Ihre Lippen waren feft aufeinandergepreit, ihre
Augen funkelten wie die eines Adlers.
„Du fiehft es durch das Kleid hindurch?“ ſchnaubte
Sotony fie an.
„Sa, durch das Kleid durch !*
Das Volt begann unter lantem Fluchen und
wüſtem Geſchrei ih an den Seilzaun zu drängen.
„Im Gras ſteckt die Zauberfraft,“ riefen fie.
„Wir verlangen Gerechtigkeit,“ Hang es von andrer
Seite. Der Lärm fchwoll zu orfanartigem Toben
on. Teresfey und Sotony fonnten die Bauern nicht
mehr im Zaum halten. Eine Stimme, jchneidender
als die übrigen, donnerte: „Im Korb ſteckt das
Kraut der Erfenutnis.”
Einige fürmten auf Apollonia los, um fie zu
binden. „Dan muß fie dem Shenfer übergeben,“
donnerte ein handfefter, einäugiger Bauer, ber Muſcheln
um den Hut geſchlungen Hatte.
Wie ein Tiger, den eine Kugel trifft, taumelte
Apolfa einen Moment; ein Schwindel überfiel fie,
daß fie faſt zuſammenbrach, aber im nächſten Augen—
blick ſprang fie noch elaſtiſcher empor. Wutſchnaubend
ſtand fie mit einem Sprung vor Magdalena. Jeht
war fie nicht mehr lilienblaß, ſondern purpurrot.
Mit ihrer ehernen Rechten ergriff fie den Tragkorb
und ſchleuderle ihn mit einem Nud zur Erde, Der
Korb fippte um, follerte zur Erde, und bie ſträuter
flogen auseinander,
Die zügelloje Menge ftürzte ji darauf, und
einander zertretend, zerftampfend und Pülfe aus-
teilend, rifjen fie einander die halbwelten, zertretenen
Gräfer aus der Hand, zwiſchen denen fid) das Kräut-
fein der Erkenntnis befinden mußte. Aber welches
von den vielen Hunderten mochte es jein?
„Laßt mic!” ſchnaubie Apolka fie an. Sieben
Männer aus dem Meg jchiebend, ſchwang fie ſich
mit einem Sprung, der einem Panther Fhre gemacht
hätte, auf den Richterliſch.
„Die Perſon dort hat gelogen,” rief fie mit weit«
hallender Stimme, die über die Menge hintönte
wie eine fryftallene Glode „Ihr Lohinger Veute,
ſeht hierher!“
Im Ru wurde es jo fill ringsum, daß man den
dumpfen Flügelſchlag des Naben hören konnte, der
hoch in den Lüften über Apolkas Haupt freifte,
ich ——— —
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und
758 Koloman Mitszaäth.
„Seht her!“ wiederholte fie; ihr Bufen mogte
leidenſchaftlich; ihr aufgelöftes nachtſchwarzes Haar
reichte bis zur Erde, wie ſie ſich niederbeugte und
ihr blaugetupftes Kattunrödchen bis zu den jchön-
geformten Beinen — wohl auch nod darüber —
aufbob.
Sie jelbit ſchloß die Augen, um wenigſtens nicht
zu jeben, twie fie angegafft ward; die andern jperrten
dafür die Augen um jo weiter auf.
„Das Mädel ift unſchuldig,* riefen fie dann ver=
ftimmt und warfen die aufgelefenen Kräuter weg.
Apolfa trug weiße Strümpfe, ſchimmernd und
weiß wie ber friichgefallene Schnee.
*
Das war eine aufregende Scene. Die Männer
in Lohina werden dieſen finnverwirrenden Anblid
ebeniowenig vergeiien, wie Balula es nie vergefjen
wird, dab all dies in feinem Dorf gejchehen mar.
Apolfa ging triumphierend aus der Probe hervor ;
aber der verleumderifhen Magdalena folgte die
Strafe auf dem Fuße. Gevattern, es giebt doch
einen Gott! Sie fiel in Ohnmacht und wurde krank
vor Aufregung. Niemand bedauerte fie, außer viel-
leicht der Stuhlrichter, da man infolgedeflen das Ber-
bör nicht fortiegen konnte,
„Und grad die weiß etwas!” brummte Tereskey.
„Das ift ein brauchbares Material. Auf die werden
wir noch zurüdfommen.*
Er hinterließ dem Richter die Weifung, er möge
ein Auge auf fie haben, bi$ er von ihm neuere Befehle
belommen würde, und dann machten fie fih auf den
Weg, denn es dämmerte bereits. Die Sonnenjdeibe
ſchwankte noch eine Weile am rötlichen Himmel ein-
ber, dann jenkte fie fi langjam hinter die Hrebenka
nieder. .
Der Wind ließ die Baumfronen fröftelnd auf-
rauschen ; die Fröſche begannen ihre abendliche Kon-
fereng in den ginfterbewachjenen Sümpfen abzuhalten
und hüpften Matichend vor den Reitern einher. Das
MWaldgevögel flatterte mit fieberiſcher Eile umber,
und die Schar der Neftlinge zirpte unruhig in den
Neftern. Alles kündigte an, daß die Natur ſich um—
zukleiden begann und ihr braunes Nachtgewand anlegte.
Terestey, der Notar und der Richter ritten vor—
aus; Sotony blieb bei Apollonia zurüd, die noch etwas
blaß war umd blaue Ränder um die Augen hatte;
aber felbit dieje blauen Ringe ftanden ihr gut. Ihre
großen Augen funfelten wie Glühwürmchen.
„Siehft du, in welder Klemme du warft, armes
Ding?*
Sie erwiderte nichts, jondern zudte mit den Achſeln.
„Du mußt fort von hier. Du kannſt bier nicht
länger bleiben. Did achtet man hier gar nicht.“
„Warum nicht?" zifchte fie zornig. „Was kann
man mir Schlechtes nahjagen?”
| „Wegen deines Waters!“
„Was weiß man über meinen Vater?“ fragte
fie hochmütig.
„Ich weiß alles, Ich weiß, daß er mit falſchen
Päffen handelt.”
| Ihre Naienflügel erzitterten krampfhaft.
| „Das iſt Verleumdung.“
„Ih hab's mit eignen Ohren gehört, wie er
heute mit dem jübifchen Gaftwirt gehandelt hat.
Alſo entweder fommft du mit mir, Apolta — oder dein
' Vater.”
„Gott joll den Juden ftrafen!“ brad es mit
herzzerreißendem Klagelaut von ihren Lippen. „Er
bat ihn verraten.”
Es ward ihr finfter vor den Augen, fie begann
im Sattel zu jchwanfen, ließ den Zügel los, gif
fi an die Schläfen und fiel ohnmächtig vom Pferde.
| „Um Gottes willen, was ift dir?” Sotony ſprang
‚ erjhroden vom Pferde.
‚ aber er fümmerte fi nicht darum.
Das Pferd Tief davon,
„Apolfa, mein
Schatz, fomm doch zu dir!”
Apolfa aber lag regungslos mit bleichen Wangen
und geichlofjenen Augen im tauigen Grafe wie eine
abgebrochene Roſe. Am Wegesrand trauerte ein
verdorrter Heiberöschenftraud mit hervorſtehenden
jpigen Zweiglein und ſtechenden Dornen. Im diefem
war ihr der eine Fuß fteden geblieben. Welch ein
Glück, daß fie nicht fopfüber hineingefallen war!
Aus dem Füßchen fiderte das rote Blut hervor und
färbte das Gras und die Zweige des Zwergiträud-
leins. Wer hätte das gedacht, daß der erbärmlice
Straud) nad dem Tod noch Rojen tragen werde!
Sotony rief den Gefährten wie beiefjen nach, aber
Gott weiß, wo die ſchon waren. Die Unmaſſe von
quafenden Fröſchen, die Milliarden zirpender Grillen,
fummender Weſpen und pfeifender Heupferdchen über-
tönten jein Schreien.
In feiner Angft und Verlegenheit wußte er nidt,
was thun. Sollte er um Waſſer zu dem Badı
eilen und fie bejpriken? Oder jollte er erft ba:
Leibchen aufnefteln, damit fie zu Atem fomme?
Das Peibhen kam zuerft an die Reihe O
welch ein Gefühl! Das Blut fiedete in feinen Adern,
ein Feuerſtrom jagte durch feinen Körper.
„Apolfa, meine Wonne! Deffne deine Mugen
braunen Augen, du lebft ja!”
Er kniete an ihr nieder und begann zu ſchmeicheln
und zu bitten.
„Sieh mid nur noch einmal an! Dein Bujen
hebt fi ja.“
Wie ein Wahnfinniger rannte er fort, um Waſſer
zu holen. Dort unten zwijchen den Weiden murmelte
das filberne Waſſer des Bächleins, ja, er überjprang
es jogar, ohne es zu bemerken; endlich jchöpfte er aus
der Hanfſchwemme ein bißchen Waſſer in jeinen Hut.
Das Zauberfraut von Lohina. 759
Jeht war auch das gut! Er rannte damit zurüd
wie ein Geizhald mit jeinem Schatz, benekte ihr
Geficht, ſtrich ſanft mit der naffen Handfläche über
die helle, marmorglängende Stirn, und fiehe da, ein
Seufzer rang ſich von den Lippen, ein ſchwacher,
ftöhnender Seufzer, aber doch das Zeichen erwachenden
Lebens,
Das Blut fiderte no immer hervor. Wenn
das etwa eine große Wunde war? Es war noch etwas
Waſſer übrig geblieben, welches nicht durch den Filz
bes Hutes durchgeronnen war; wie, wenn er vielleicht
die Wunde damit auswaſchen würde? Ein mutwilliger
Dämon ſtachelte ihn und winfte ihm zu; von rüd»
wärts führte ihm wohl auch Amor die Hand und
figelte ihm mit feinen Pfeilen das Rüdgrat. Es iſt
wohl ein unfhidlih Ding! Aber fein muß es doch.
Alles eins! — er muß die Wunde anjehen. Und wenn
er zum Beiſpiel Arzt wäre? O armes, Heines
Füßchen! Der ganze Strumpf ift voll Blut. Raſch
herunter damit!
Er nahm Apollonias Fuß in beide Hände und
begann den Strumpf abzuziehen. Er jah die herr»
fihe Rundung des Being, feine Nafenflügel zudten,
das Blut jagte ihm wild durch die Adern — noch
ein Ruck — und plößlic blieb er wie gelähmt
fifen; feine Glieder verfagten ihm den Dienft, und
ein Ausruf des Entjehens entrang ſich jeinen
Lippen.
Unter dem weißen Strumpf jhimmerte das, was
die Unterſuchung zu finden begehrte: dort an ihrem
Fuß trug fie den vielgejuchten blaugelben Strumpf.
Im jelben Augenblid ſchlug das Mädchen die
Augen auf.
„Wo bin ich?" jeufzte fie.
Sotony ſaß neben ihr auf dem Rafen, aber er
antwortete nicht, fondern flarrte mit abgewandtem
Gefiht zum Himmel empor, der fi immer däm—
mernder färbte. Vielleicht fragte er die aufftrahlenden
Sterne, ob es möglid), daf der ſchöne Engel ein
ſchrecllicher Teufel ji. O Gott, warum betrügft
du denn ung arme, einfältige Menſchen mit jolchen
Zügen?
Aber die Sterne gaben feine Antwort.
Apolla blidte um ſich, und fofort hatte fie alles
begriffen. Sie nahm all ihre Kraft zufammen, rüdte
näher zu Sotony und fragte traurig:
„Haben Sie's geſehen?“
„Ich hab's gejehen.“
Tiefes Stilljhweigen folgte dieſer Frage, das
feiner von beiden unterbrach, endlich feuchte Sotony:
„Sit es wahr?*
Nur das fragte er, ſonſt nichts.
„Ja.“
Auch fie antwortete nur dies eine Mörtchen.
Eine Weile nachher ſetzte fie Hinzu:
„Nehmen Sie mid) gefangen; da bin ih! Ich
verdiene das Senferbeil.”
Sotony maß jie mit einem langen, langen, träu-
meriſchen Blid, in welchem umendlihe Wehmut
zitterte; dann näherte er ſich Apolfas Pierd.
„Komm, Apolla,“ fagte er ſanft, und feine Stimme
äitterte leicht ; „wir haben beide Plat auf dieſem Pferd.“
Er hob fie empor und nahm fie in den Schoß.
So ritten fie durch den dunleln Wald, der Ober»
ſtuhlrichter und die Verbrederin.
„Sag mir, warum haft du das gethan?“
„Weil ich den Pfarrer jehr geliebt habe; ich wollte
mid an ihm rächen,” flüfterte fie leidenſchaftlich; „er
hat mich verführt, er hat mich betrogen, er hat mir
geſchworen, daß er mic) heiratet !”
Wieder ritten fie ſchweigend weiter. Sotony fühlte
den fieberifch heißen Atem des Mädchens auf jeinen
Wangen umd hörte das Pochen ihres Herzens; das
war ihm Unterhaltung genug.
Als fie fich der herrſchaftlichen Sägmühle näherten,
erwachte neuerdings das Bedürfnis in ihm, eine
Frage an fie zu richten.
„Sag, Apolfa ! Woher hat jenes Mädchen gewußt,
dag du den Strumpf anhaft? Denn das ift doch
wunderbar, unbegreiflih. Hat fie wirklich das
Kräutlein der Erkenntnis im Korbe gehabt?”
Unausfprehliher Haß zitterte in Apollonias
Stimme:
„Ja, das Kräutlein der Erlenntnis, ha ha ha!
Auch Magdalena hat den Pfarrer geliebt. Und um
meinetwillen hat er fie verlaffen! Sie war immer
eiferfüdtig auf mid und hat mich immer verfolgt.
Sie glaubt auch jet noch, daß der Piarrer im ger
beimen zu mir fommt. Sicher hat jie heut auch am
Fenfter gelauert, wie der Stuhlrichter mic) um die
Stridnadeln gejhidt hat und ic die Sache jchon ge—
ahnt habe. Aber ich hab’ nur noch jo viel Zeit gehabt,
jchnell die weißen Strümpfe über die bunten zu ziehen.“
Der Oberftuhlrichter inquirierte nicht weiter; nur
das eine fragte er noch:
„Wohin ſoll ic) dich bringen?“
„Wohin Sie wollen,” erwiderte das Mädchen,
verihämt den Kopf jentend.
„Alſo weißt du, wohin ich dic führe, Apolfa,*
flüfterte er mit gejteigerter Leidenſchaftlichleit. „Ic
führ' did im mein Schloß. Dort wirft du glüdlic
jein, wirft auf Seidenpolftern jchlafen und dic mit
Roſenwaſſer waſchen. Kommft du mit?“
„Ja, ja, ich gehe. Werd’ id) dort auf Seibden-
polftern jchlafen ?”
„Warum jagjt du das jo falt?“
„Ach, jehen Sie denn nicht? — id) lächle ja ſchon,“
erwiderte fie, ihm ihr Geficht zuwenden,
„Dort werben wir zu zweien leben, denn ich werde
oft zu dir fommen. Bon diejer häßlichen Geſchichte
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760 Koloman Mikszäth. — Das Zauberfrautpon fohina.
wird feiner etwa® erfahren. Du wirft jehen, wie
gut du's haben wirft. Küffe mich, Apolla!“
Sie bededte abwehrend das Geſicht mit beiden
Händen,
„Dann! Zu Haufe!”
Und dasſelbe blafje Lächeln Hufchte wieder um
ihre Lippen. Sotony ſah es aud im Finjtern. Der
ganze Wald ſchien davon zu lächeln.
Jetzt famen fie zu der Zelenoer Bergſchlucht.
„Beben Sie adht!* machte ihn Apolka aufmerffam
und jchmiegte fich leiſe liſpelnd an ihn, wie's Verliebte
zu thun pflegen. „Das tft eine gefährliche Stelle.“
Sotony ergriff die Zügel mit beiden Händen und
blidte forichend den jchmalen Weg entlang, au
deifen Rand ein tiefer Abgrund gähnte.
Im nächſten Moment war ihm Apolla, flinf wie
eine Eidechje, aus dem Arm geglitten — ein Rud
ihres elaftiichen Körpers, und fie ſchwang ſich in den |
dunfeln Schlund hinab und flog — flog nieder — |
zur Tiefe. |
Als Höge eine Fledermaus jhwirrend zur Hölle |
hinab.
Und die Tiefe verſchlang fie lautlos, als hätte fie
ihrer gehartt...
Das eine Pferd war unterdeſſen herrenlos im |
Dorf angelangt.
War das ein Schreden! Herr des Himmels, was
war dem Oberftublrichter zugeſtoßen?
Dann fehrte daS zweite Roß mit feinem traurigen
Reiter zurüd. Die Sache ward immer verwidelter.
Wie fam er auf Apolfas ungefatteltes Pferd? Und
was war mit Apolfa gejchehen?
Sotony beganu endlich zu erzählen; zweimal er:
ftidten Thränen feine Stimme, als er berichtete, wie
Apolla vom Pferd in Ohnmacht gefallen war und
er unter den weißen Strümpfen dann die bunten
entdedte, und jo weiter und fo weiter.
„Der alte Hrobaf hat doch recht gehabt, rief
Teresley tief erjchüttert.
Sotony verbarg das Antlik mit beiden Händen.
Die Nachricht von dem jeltfamen Ereignis ver:
breitete fich wie ein Lauffeuer in beiden Dörfern,
und am nächften Tag begannen ſchon alle Bauern
ins Dorf überzufiedeln. „In Lohina wird’ nid
mehr brennen.“
Obſchon jeither wohl zwanzig Jahre verfteiden,
fuchen Mädchen und Frauen noch immer das Zauber:
fräutlein, welches an jenem denfwürdigen Nadmittag
in Magdalenens Korbe verborgen fein mußte, und
deſſen glücklicher Finder alles fieht und alles weiß.
Wenn's die Mädchen fuchen, das laun ic nod
begreifen, aber wozu wollen es die Frauen?
Gin früber Tag.
Von
Alice de Chambrier.
Aus dem Franzöſiſchen überfeßt von Dtto Saufer.
Es ward im Simmer mir jo dunkel; |
Ih ſprach: „Binaus zum Sonnenfchein, |
Denn Wärme braucht und Lichtgefunkel
Du diefer Stund’ die Seele mein.“
Doc; düfter hab’ ich angetroffen
Die Sluren auch; ich ſprach: „Sum Licht!“
Den fernen Berg in neuem Koffen
Erftieg ich, doch ich fand es nicht.
Den Berg umhüllten tiefe Schatten;
Ih jprady: „In die Unendlichkeit !
Sort von der Erde dunkeln Matten,
Sum Raum, den Dunkel nie entweiht!“
Doch keine Strahlen jah ich glänzen,
Das Blau verbarg ein nächt’ger Öraus,
Dergebens eilt’ ich zu den Grenzen
Des Unermeßlichen hinaus.
Micht fand ich Licht in fernfter Serne,
Erlofchen ſchien der Sonnenball,
Und Nebel barg die vielen Sterne,
Die jonft durchglüht das Meltenall.
Dann von der Mlühe ihres Strebens
Sank meine Seele hräftebar,
Und fie begriff, es fei vergebens,
Weil's Nacht in meinem Kerzen mar.
Ein Gonrfifenr.
- Cor Hedberg.
Aus dem Hchwedilchen überfeßt von Otto A. Wied.
Aſſeſſor Häger galt für einen ſtattlichen Mann.
Er war von hohem Wuchs, ſtark, beinahe derb ge—
baut, bewegte ſich jedoch mit einer geichmeidigen
Leichtigleit, die feiner ſchweren Gejtalt den Stempel
einer ungejuchten Eleganz verlieh. Am Wirbel zeigte
das gejtugte, dumfle Haar einen leijen Anflug von
Kahlheit und bildete über den Schläfen tiefe Buchten.
Der Blid war kurzfichtig, etwas blinzelnd, die Naje
gerade und wohlgeformt, auf jeinem Munde, der
bon einem ſchwarzen, ebenfalls kurzgeſchnittenen Voll-
arte verdedt wurde, lag ein etwas fteifes Lächeln.
1 f den erften Blid erichien fein Geficht nichtsjagend
oder nur die Sprache der Konvention redend. All
mählich enidedte man jedoch, daß es einen ziemlich)
önlichen Charakter trug, aus zwei einander wider-
Elementen zufammengejeßt: einem Aus«
drud von Intelligenz und Feinfühligfeit, der über
ai und den rein und schön gezeichneten Augen»
bra lagerte — und einem Zug don Müdigkeit,
f — Leben, der um den lächelnden Mund
herum lag und in den tiefen Furchen an den Naſen-
‚winfeln, welche das ganze Geſicht alt machten, wenn
die Beleuchtung fie nicht milderte.
Außerdem galt er für einen MWeiberfreund. Im
Sejellihaftsleben beliebt wegen jeines eleganten
Aeubern und feiner vornehmen Konverfation, hatte
er dort nad) und nad) einen befondern Platz als ein
2 ernifierter, leidenfchaftslojer und ungefährlicher
n En errungen, ein Don Juan, der nicht mit
jpielte, jondern mit gemachten Gefühlen,
. Kämpfe in Florettgefechten beitanden, und
— Blicke, ein Lächeln oder ein Hände⸗
waren. Bei den meijten Frauen, mit denen
— nie, war er eine Art Mittelding zwifchen
Berirauter und Anbeter. Er gewann ihr Vertrauen
feine Gabe, auf ihre Wetje jehen, auffaiien
nd b urteilen zu lönnen, dur ein jchnelles Ver—
nis ihrer zufälligen Stimmungen und Grillen,
£ doc) gleichzeitig männlich genug, um ihre
it zu weden. Das eine wie das andre
ur vorübergehend, flüchtig, ohne Forderungen
lichkeiten. Im Grunde verachteten fie ihn
ohne ihn jedod) entbehren zu fünnen, und
Er Sungen, 1807. If. ı6,
To dei
Areit )
dies konnten nicht einmal die, welche den Verdacht
begten, daß die Geringſchätzung gegenjeitig jei.
Dieſes Leben hatte er jegt ein Jahrzehnt hindurch
geführt, ohne ich während diejer Zeit zu verändern
oder zu altern. Er war jetzt nahe den Vierzigern.
Seine Sommerferien verbrachte er teils in Bade—
orten, teild auf Beſuch bei jeinen Belannten.
Mehrere Jahre hindurch hatte er veriprodhen,
einen jeiner bejten Umgangsfreunde, den Hütten-
befiger Wiborg, zu bejuchen, deſſen Frau einer der
Sterne der Geſellſchaft gewejen war, ſich aber ſchon
feit mehreren Jahren wegen Kränflichleit vom ges
jelligen Berfehr zurüdgezogen hatte. Im leßten
Winter war fie jedoch von neuem dort erjdhienen,
um ihre Tochter einzuführen, die eine glänzende
Nachfolgerin zu werden verjprad. Vielleicht trug
diefer Umftand mit dazu bei, dab fi Häger jetzt
jeines alten Verſprechens erinnerte und bereits Mitte
Auguft von Marjtrand abreifte, um den Reſt des
Monats in Kulla zu verbringen.
Er jand das Haus bereits voller Gäſte, vier,
fünf Herren und ebenjoviel Damen. Einige reijten
bald nad) feiner Ankunft ab, aber an ihrer Stelle
famen andre. Das einzige junge Mädchen war bie
Tochter des Hauſes.
In den wenigen Monaten, die verflofjen waren,
jeitdem er fie zum letztenmal in Stodholm auf einem
Balle gejehen, hatte fie ſich erſtaunlich ſchnell ent»
widelt, nicht bloß in ihrem Neußern, ſondern auch
in ihrem Wejen. Dort hatte er fie etwas ſchüchtern
gefunden, ein wenig naiv; bier zu Haufe trat fie mit
der Sicherheit einer vollendeten Weltdame auf. Da
die Mutter den größten Teil des Tages im Lehnſtuhl
zubrachte, und die Gäfte ihr dort nach der Reihe ihre
Aufwartung machten, hatte fie einen großen Teil von
den Pflihten der Wirtin übernommen und erfüllte
fie mit einem Takte und einem natürlichen Reiz, der
dadurd; noch einen bejonders pilanten Anftric er»
hielt, dab findlicher Stolz und Freude über ihre
eigne Stellung hindurdleuchteten. Man merkte, dab
fie eine Rolle jpielte, aber diefe machte ihr jelbjt
jolden Spaß, und fie hatte joldhe angeborene Anlage
dazu, dab das Spiel der Natur täufchend ähnlich
96
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|
762
wurde.
Gleichzeitig brachte fie durch ihre Jugend | immer unrecht.“
Tor Hedberg.
Der Widerfland hatte ihm gereizt,
und ihre friſche Vergnügungsluſt Leben in den Ver- | und er beſchloß, feine Reiſe aufzufchieben und die
kehr; Spazierritte, Wagenfahrten und Ruderpartien
löften einander ab, und manchmal wurde bes Abends
auch getanzt.
Häger begriff ſoſort den herrſchenden Ton und
ſchlug ihn mit jeiner gewohnten Anpafjungsfähigteit
an, wie er vom ihr angegeben wurde. Schon nad
ein paar Tagen hatte er es verſtanden, ſich als ihr
Ratgeber und Mithelfer unentbehrlih zu machen.
Er ernannte ſich ſelbſt zu ihrem Seremonienmeiiter
und fpielte dieſe Rolle mit einer guten Laune,
einer unerſchöpflichen Erfindungsgabe und einem
Anſtrich komischer Würde, weiche bald die etwas
fühle Zurüdhaltung befiegten, die fie bei feiner An—
tunft beobachtet hatte. Sie hatte ſicher ein Vorurteil
gegen ihn gehegt, aber bald ſchien dies völlig vers
ihwunden, und es entitand zwifchen ihnen ein faft
Tameradichaftliches Verhältnis, das zu flören er fid
wohl hütete, Eine Möglichfeit, dem Verhältniſſe eine
andre Richtung zu geben, hielt er fich jedoch dadurch
offen, daß er ihr beftändig mit aufmerffamer, ritter-
licher Unterthänigfeit begegnete, die fie, jolange fie
es wünſchte, als zu der Rolle zugehörig betrachten
tonnte, welche fie im Einverftändnis mit ihm jpielte,
Er hatte ſogleich bemerkt, daß ihre fcheinbare
Frühreife nicht jonderlich tiefe Wurzeln hatte, jondern
ein Maskenkoſtüm war, gewebt aus Erfahrungen von
zweiter Hand, Romanlektüre und Beobachtungen an
ihrer Umgebung. ber fie trug dieſes Koſtüm des—
wegen jo natürlich, weil fie mit ber Luft des Kindes,
ſich zu verfleiden, die Gabe des Weibes vereinte, |
völlig im einer beliebigen Stimmung aufzugeben ;
und um auf dem fürzeften Wege ihr Vertrauen zu
erreichen, beeilte er ſich, das gleiche Gewand an—
zuthun,
Doch das Rejultat entſprach nicht feinen Er—
wartungen,
durfte, und es reizte ihn mächtig, gerade dieje Grenze
zu finden. Sobald ihm dies Mar geworden, jpähte
er um fi), um zunächſt die äußere Urſache zu ent«
deden; denn er zweifelte feinen Augenblid daran, daß
die Urſache eine äußere war.
Er beobachtete ihr Benehmen gegenüber den
männlichen Gäften auf dem Gute, aber er ſah bald
ein, daß, wenn jemand einen Vorzug vor den andern
genoß, ex jelbft eg war. Er verſuchte dem Geheimnis
dadurch auf die Spur zu fommen, daß er die Mutter
ausforjchte, doch ohne Erfolg. Gab es ein Geheimnis,
io war fie ficherlich nicht Mitwifferin. Daß es ein
ſolches gab, bezweifelte er nicht und folgerte daher,
der, welcher ihm im Wege ftehe, müfje ein Abwejender |
fein. „Nun, dann nur Geduld,“ dachte er, „nur
Geduld! Die Abwelenden befommen ſchließlich
Zeit abzuwarten.
Da plößlih, eine Woche nad) feiner Ankunft,
erihien der Abwejende. Es war eim junger But
bejiger, der nächte Nachbar von Kulla, ein Jugend»
freund von Fräulein Elſa. Er war verreift gemein
‚ und hatte ſich deswegen bisher nicht gezeigt. Er hie
Wärn, war nahe an die Dreibig, ſah jedoch bedeutend
jünger aus, hatte ein friſches, jonnenverbranniet
Geficht, eine tiefe, fchöne Stimme, die mitunter einen
faft findlihen Tonfall befam, befonders wenn 1
ſcherzte. Er lachte leicht, und fein Lachen Manz
bejonderd wohlthuend, melodiih und anſiedend.
Durch jein offenes, zugängliches und vertrauensvolle
Weſen nahın er für fi) ein, machte jedod nicht den
Eindrud, reich oder originell begabt zu fein.
Hüger war bei Wärns erjiem Zujammentrefien
mit Elia zugegen. Sie errötete ftarf, als fie in
von ferne erblidte, und über ihr Geficht huſchle ein
Schimmer von freude; aber als er bei ihr mar,
batte fie ich bereit beherricht und begrüßte ibn mit
ruhiger, faſt Tühler Freundlichkeit. Im Anfange
ſchlug er den Ton eines alten Bekannten und Jugend
geipielen an; doc in feinem Blid Tag etwas Jar
haftes, und dieſe Zaghaftigkeit wuchs ſchnell und gab
jeinem ganzen Benehmen ihr gegenüber eine Unfider-
heit, die nur verſchwand, wenn er lachte. Sie wurde
; ihm gegenüber immer kühler und berablaflender, jt
länger fie zujammen waren.
Häger beobachtete fie mit Intereſſe und zog fein
Schlüſſe. Der Ausdrud in ihrem Geſicht, ala je
den Kommenden jah, hatte in ihm einen Augenblid
lang eine faft peinliche Ueberrafhung hervorgerufen,
aber diefen Eindrud ſchob er ala etwas, das er ih
jelbit nicht eingeftehen wollte, wieder zur Seite, nahm
‚ eine erprobte Ironie zu Hilfe und fam zu einem
Er fühlte, daß e8 eine Grenze gab, die |
er nicht ohne Gefahr, alles zu verlieren, überfchreiten |
beruhigenden Schlußurteil.
„Die erfte Liebe von ihrer Seite,” dachte er.
‚ „Aber er ift zu dumm umb begreift nichts. Yuher
dem Jugendfreund. Er ift ungefährlich.“
Ja, als Wärn nad) einem ziemlich kurzen Bernd
wieder Abſchied nahm, beglüdwünichte er ſich jogat
dazu, ihn in der Nähe zu haben.
„Es wäre jonderbar, wenn fie noch nicht jo diel
Weib wäre, um es mit ber Sofetterie zu verfuden,”
dachte er, „und dann ift mein Spiel gewonnen.“
Den Reft des Tages war Elſa zerftreut und mit
ihren Gedanken abweſend, dazwiſchen hatte jie dann
wieder plögliche Ausbrüche forcierter Munterteit. Ein
paarmal, als fie jehr in Gedanken verfunfen war,
überrajchte er ein Lächeln auf ihren Lippen. „In
dem Heinen Köpfchen wird ein Plan ausgebrütet,
dachte er zufrieden und vermied es abſichtlich, ſich
mit ihr zu bejchäftigen.
— —
vi Bi: — unternahm die ganze
eine Tärigere Reittour. Elſa war wieder
‚ja fröhlicher als fonft, aber Häger bemerkte
tung, daß fie ihm auswich. Er hatte cher
f erivartet und grübelte vergebens darüber
aß: Sie ebenen konnte. Er dachte einen
id, es ſei Kofetterie ihn gegenüber, glaubte
Abſt nacht recht daran, Es ſchien ihm cher,
Mens vor ihm ſcheute. Auch eim andrer,
meichelfafterer Gedante ſchwebte ihm ebenfalls
gern er auch am ihn geglaubt hätte,
R igert Ban doch fein Verſtand und bie Er—
ih er n Bezug auf die Frauen beſaß,
N ' Seine Schlußfolgerungskunſt
—* er wurde ſchlechter Laune und dachte
bald ſeinen Beſuch abzubrechen und
— —— als die ganze Geſellſchaft im
on verſammelt war, fand ſich Wärn wieder ein,
; war diejes Mal faft verletend kurz und
; An ihre Nähe zu ſehen ging er zu
ic und begann mit dieſer eine
e 3 fie geſpaunt. Er ſah, wie ſich
‚Bug über ihre Augenbrauen legte und
tlippe ſich etwas verjchob, wie immer, wenn
inzufrieden war. Sie hatte erft völlig verjtanden,
ſchon fie war, als fie fah, daß auch dieſe Miene
and. Dann lieh fie ihre Blicke Yangjam,
rſchend über die im Zimmer verſammelten
leiten... ne fonnte ein Lächeln über dieſe
zurü alte md er ſah mit Befriedigung, daf
bie te aufparte, Steh gt ih
m hinüber, er begegnete ihm ruhig, nod)
& .—. einen Schimmer on
te er zu ſich ſelbſt, aber gleich⸗
der dasfelbe peinliche Gefühl
fie bei Wärns Ankunft erröten
ganze
x Weije die andern Gäfte;
Ein Eourtijeur.
bereitete ihm nicht dasjelbe, wenn auch vorübergehende
Bergnügen wie gewöhnlih. Im Gegenteil, auf dem
Grunde feiner Gefinnung rührte ſich eine Art Er—
bitterung gegen fie, die fi in einem drohenden:
„Hüte dich, dies Spiel Tann dir gefährlich werden!”
Luft machen wollte. Und dies Gefühl ließ ihn etwas
von jener ſchmeichelnden Artigkeit und jenem geilt-
reihen Scherze ablegen, die fonjt feiner Hofmadherei
ſolchen Reiz verliehen. Er ließ feine Blide eine
faft brutale Spradje reden, aber fie hielt ihnen ftand,
ohne zu blinzeln, ohne daß fich die Mare Tiefe in
ihren dunfeln Augen verdüſterte. Nur einigemal ſah
fie ein wenig verwundert drein.
„So, du bift erfahrener, als ich geglaubt,“ dachte
er, und diefer Gedanfe vermehrte noch feine Er—
bitterung.
Wärn betrachtete fie mit einer Verwunderung,
die fich nach und nach in Unzufriedenheit verwandelte.
Aber er blieb doch, bis ſich die ganze Geſellſchaft für
die Nacht trennte,
Als Häger allein war, ging er mit fich jelbjt zu
Gericht. Was bedeutete dieje unvernünftige Gereizt⸗
beit, die über ihn gefommen? War es Eiferfucht?
Er lächelte ironiich über die bloße Annahme Er
war ſich feines andern Wunſches bewußt, als dem
jungen Mädchen ein wenig den Hof zu maden, ehe
er abreifte. Schon der Gebanfe an etwas Ernſteres
erihien ihm unvernünftig. War es verlehter Stolz?
Sonft war es fein Prinzip, nicht nad) den Gründen
zu fragen, aus denen ihm eine Frau ihre Gunft er
wies. Er ſchloß jeine Abrehnung am bemjelben
Punkte, wo er fie begonnen, mit der drohenden
Vorherſage, fie jolle «8 bereuen,
An den nächſten Tagen trieben fie es in gleicher
Weile. Sobald Wärn kam, — und er fam jebt regel-
mäßig wenigftens täglich einmal — beichäftigte ſich Elia
mit Häger, fofettierte mit ihm und nahm feine Cours»
macherei mit unbefangener Ruhe entgegen, als ob fie
eine alte, erfahrene Kofette wäre. Aber dazwiſchen
wich ſie ihm aus, machte alle jeine Verſuche, ungeftört
mit ihr zu fein, zu nichte, und ihr ganzes Weſen
erhielt eine gewiſſe Scheu, wenn er fie in der Gefell-
Ihaft anredete. Seine dumpfe Erbitterung wuchs
mehr und mehr, und mandmal empfand er eine
brutale Begierde, fie zu beſchimpfen.
Eines Abends jollte getanzt werden. Cine der
älteren Damen hatte ſich bereits an das Piano gejeßt
und ſchlug die erften Takte eines Walzers an. Häger
N ' ‚ unterhielt fi) mit Elfa an einem Fenſter — e8 war
©: = ? * Dann beihäftigte fie ſich
Katzen Abends mit ihm und ver-
Mondfhein, fie ſchaute hinaus, er ftand mit dem
Rüden dem Fenſter zugewandt neben ihr. Da fah
' er plößlidh, wie fie über ihr ganzes Geſicht errötete ;
aus einem der inneren Zimmer war Wärn in den
Saal getreten. Aber er war ſicher, dab fie fi
weder umgedreht, noch einen Blid Hinter ſich
Digitiz
— TTBITE RN EHER
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764
geworfen hatte, und Wärn war jo leife geflommen, daß
fie feine Schritte nicht hatte hören fünnen. Es fiel
ihm ein, daß fich vieleicht das Zimmer in der Scheibe
abipiegele, und er wendete fich um, weil er ſich darüber
Gewißheit verſchaffen wollte. Aber der Mond jchien
gerade auf das Fenſter, und die Scheiben fpiegelten
nit. Er betrachtete Elia nachdenklich. „Alt es fo
ernst?" dachte er. Und einen Augenblid lang war
jeine Erbitterung verſchwunden, und ein andres Ge—
fühl hatte ihren Plab eingenommen, ein Gefühl,
über das er ſich nicht Rechenſchaft geben fonnte, etwas
MWeiches und Trauriges,
Wärn hatte fie indeflen in der Fenſterniſche ent⸗
bedt und fam nun gerade auf fie zu, indem er ver-
mied, Häger anzufehen. Er blieb hinter Elſa ftehen
und fragte mit einer Stimme, die nicht jo Mar war
wie jonft:
„Darf ich den erften Walzer mit die tanzen ?“
Sie ftieh einen leifen Schrei aus, drehte ſich
dann um und lachte:
„D, wie du mich erichredt haft!”
„Das merke ih,” antwortete Wärn und verjuchte,
feinen Worten einen ſarkaſtiſchen Klang zu geben.
„Kann ich den erften Walzer belommen?“ wieder»
bolte er mit Nachdruck.
„Unmöglih,“ antwortete fie mit leichten Lachen
und blidte dabei Häger an. „Sch habe ihn bereits
vergeben.“
Wärns Blid war drohend, er verbeugte ſich furz
und ging heftig aus dem Zimmer.
Sie jah ihm nad), halb triumphierend, halb ängft«
lih. Gleichzeitig legte fie, wie in Gedanken, ganz
mechaniſch, ihre Hand in Hägers dargebotenen Arm.
Er hatte fie durchaus nicht aufgefordert und war
erftaunt über dieſe unverfrorene Unwahrheit ihm
gerade ind Geficht. Aber im jelben Augenblid
dämmerte ihm die wirfliche Erflärung für ihr wechſeln⸗
bes Benehmen ihm gegenüber auf, bald fühne Kofetterie,
bald wieder Schen. Sobald Märn zugegen war,
bedeutete er, Häger, abjolut nichts für fie, nicht mehr
ala ein lebloſes Ding, deſſen fie fich für ihre Zwecke
bediente, Nur wenn Wärn nicht anweſend war,
wurde fie fih einer Gefahr bewußt, und ihre weib⸗
lihe Schüchternheit juchte ſich dagegen zu ſchützen.
Diesmal war von dem Schlage fein Stolz, fein
Selbftbewuhtfein getroffen. Ohne ein Wort zu jagen,
legte er jeinen Arm um ihre Taille, drüdte fie feit
an fi und tanzte mit ihr. Seine gewohnte Kalt
blütigfeit hatte ihn ganz verlafjen; das einzige Ge-
fühl, das ihn jetzt beherrjchte, war der Wunſch, ſich
zu rächen.
Er tanzte Runde auf Runde, fie wollte mehrmals
aufhören, aber er hielt fie feſt und tanzte weiter,
Schließlich fühlte er, wie fie ſchwer, kraftlos in feinen
Armen ruhte. Er ſah fie an, fie war ganz bleid.
Tor Hedberg.
Da erſt lieh er fie los, und fie blieben bei der Thür
ftehen.
„Sind Sie warm?“ fagte er.
hinausgehen und uns abkühlen?“
Sie antwortete nichts, aber als er ihren Arm in
den jeinen legte und das Zimmer verließ, folgte fie
ihm ohne Widerftand. Er ging ſchnell durd den
Flur dem Garten zu.
Es war ein mondjcheinklarer Abend; Bäume und
Gebäude warfen dunkle, dichte Schatten. Er ging
mit ihr auf einen Weg zu, der im Dunkel zwiſchen
hoben Linden verſchwand. Plötzlich fuhr fie zufammen
und blieb ftehen.
„Nein, wir wollen wieder hineingehen!” jagte fir
und verſuchte ihre Hand zu befreien.
Da ſchlug er jchnell den Arm um ihren Leib,
preßte fie an fih und fühte fie auf den Hals,
Sie ſchrie auf, glitt mit einer blikichnellen Be
wegung aus feinen Armen, ſah ihn mit erichredtem,
verwirrtem Blid an, machte ein paar Schritte, wie
um zu fliehen, taumelte jedoch, lehnte ſich am einen
Baumſtamm und brad plößlih in Schluchzen aus,
eines Kindes hilfloſes, verzweifeltes Schluchzen.
Er betrachtete fie verwundert, empfand einen
Augenblid Gewiſſensbiſſe, dann aber lachte er fur;
und ging einige Schritte an ihr vorüber. Dod
plötzlich und unmwiberftehlich rührte ihn ihr Schludhzen,
feine Erbitterung verſchwand fpurlos, und dasielb:
weiche, wehmütige Gefühl, das ſich einen Augenblid
früher jeiner bemächtigt hatte, erfüllte ihn nun ganz. Et
blieb ftehen, ſchaute auf die jugendliche, konpulfioiih
weinende Geftalt und ſagte mit völlig veränderter,
milder und beichügender Stimme:
„So fo, beruhigen Sie fih nur, es ift nicht io
geiährlich!*
Er lächelte selbft über den Ausdrud, dem fein
Gefühl unmwillfürli gewählt, und gleichzeitig wer
auch der letzte Reft feiner früheren Gefinnung ver
ſchwunden.
Sie weinte noch immer ebenſo unaufhaltſam.
Leiſe ergriff er ihre Hand, führte ſie zu einer nahen
Bank, ließ ſie ſich dort ſetzen und blieb wartend neben
ihr ſtehen. Ihr Schluchzen nahm allmählich an
Heftigkeit ab. Er fühlte ſich jo alt, während er der!
ftand, den Lauten findlicher Verzweiflung lauft
und die jugendlihe, ringende Gejtalt beiraditete,
jo alt, jo weit von ihr entfernt, daß fein andre
Band als ein faft väterlicher Wunſch, ihr zu beifen,
zu raten, ihm jekt mit ihr vereinte.
Als ihr Weinen ſchließlich ganz aufgehört,
ſagte er:
„Laſſen Sie id) das zur Warnung dienen! Aud
Liebe kann man zu teuer erfaufen.*
Sie jah nachdenklih und fragend zu ihm aul.
Da kam das Bewußtſein deſſen, was vorgefalen
„Wollen wir
Gin Eourtijeur.
‚ wieder über fie; fie wurde glühend rot und jenfte
Er lächelte etwas verdrießlich.
Nicht wahr, Fräulein,” fuhr er fort, „in der
Tiefe Ihres Herzens finden Sie, daß ein Menſch
wie ich Ihnen widerlid, ja jogar etwas verachtens-
et iſt?“ Sie antwortete nichts, jondern beugte
mr den Kopf tiefer.
‚Wiſſen Sie,“ jagte er, „wie ic) jo geworden,
wie ih bin? — denn ih bin es nicht immer ge=
weſen. Durch Eiferſucht. Als ich zum erftenmal
ein Weib liebte, wedte fie meine Liebe dadurch, daß
meine Eiferfucht erwedte. Das Mittel glüdte:
es ift ein Mittel, daS beinahe niemals fehlichlägt,
aber es iſt ein gefährliches Mittel, denn — denten
je ie Ange mein Fräulein! — wenn Cie eines
Mannes Eiferſucht erweclen, Iehren Sie ihn auch
Sie mißachten. Alle Eiſerſucht beruht auf Mip-
achtung. Und jchlägt dieſe Mißachtung nur einmal
J, dann kann man werden — wie ich bin.
Ber Sie das?”
Ja,“ antwortete fie leife, ohne aufzujehen.
„Nun, dann laffen Sie dies Spiel bleiben, um
Ihrer jelbjt willen. Und follten Sie jemals Luft
empfinden, es wieder zu beginnen, dann können Sie
ſich ja meiner erinnern.”
In den legten Worten lag ein leifer lang jeiner
gewöhnlichen Ironie. Er verbeugte ſich furz und
ging von ihr fort dem Haufe zu. Kurz vor der
Treppe, im Schatten des Haujes ftieß er auf eine
männliche Geftalt. Es war MWärn.
Diejer hielt ihn mit einem düfteren, entichloffenen
Ausdrude in feinem Geſichte an und fragte drohend
„Wo ift Fräulein Elja?*
Häger jah ihn ruhig an und antwortete, indem
er nad) dem Wege deutete:
„Sie ſitzt dort.”
Die Blide der beiden Männer begegneten ſich.
Häger empfand einen Augenblid den Drang, dem
andern auf die Schulter zu Mopfen und einige be=
ruhigende Worte zu jagen, doch er that es nicht,
fondern lächelte nur ſelbſtironiſch.
„Ah nein, genug des Edelmutes!* dachte er,
drehte ji auf dem Abjahe um und ging hinein.
——
Das Seibroß.
Stefan Witwicki,
Aus dem Polnifhen überfeßt von Robert Braune.
Nun ift’s gut!
Eile! Alle Kraft vereine!
Scharre tief, damit nicht ſchwül
Mid; der Sonne Strahl befcheine,
Regen näfje meinen Pfühl.
Schon ergreift mich Todesſchauer —
Raſch! daß mich mehr Erde deckt,
Und mich nicht der Brüder Trauer,
Nicht der Mutter Meinen weckt.
Der erjte hören
Möchte ih den Engel gern,
Welcher einft zu felgen Chören
Ruft die Schläfer vor den Herrn!
—
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— Lofe Blätter. 8»
der Maler als Freiwerber.
Don Büti Kiamil.
Aus dem Perfifhen überfegt von Egmont Aladin.
D du, der du mein Gefährte bift, ich habe ge-
hört, dab jemand einmal einen weilen Mann gefragt
hat: „Was ift Liebe?" Er antwortete: „Liebe ift eine
Art von Tod mitten im Leben, ein ſchöner Traum
inmitten de Wachens ...“
Einft war ein König von Perfien. An einem
Frühlingsnachmittage, ald er unter der blühenden
Rofenlaube ſchlummerte, fam der Großvezier zu ihm,
um ihn über dringende Angelegenheiten des Staates
um Rat zu fragen, und wedte ihn.
Der Herricher rieb ſich erft lange verwundert Die
Augen, dann jprang er mit wütender Zornesmiene
vom Lager empor, zog fein Schwert und wollte auf
ben erſchreckten Großvezier eindringen. Dieſer wandte
ſich jchleunigft zur Flucht, und e8 gelang ihm noch
mit vieler Not, Leib und Leben zu retten.
Der König aber warf darauf jein Schwert weit
von fich zur Erde, ſchlug verzweifelt die Hände zu—
fammen und fing zuleßt gar jämmerlich zu weinen an.
Seine übrigen Beziere famen alle heran, nachdem
fie von dem merkwürdigen Vorfall vernommen Hatten,
und fragten erftaunt: „O Herr, was ift Eu Böſes
zugeftoßen?* Er antwortete ihnen, wie ein Trunfener
anzuihauen: „Dieſen Augenblid, als mid) der Bezier
aus dem Schlafe wedte, jah ih eben einen Ort,
einen ſchönen Garten voll blühender Blumen, und
eine Jungfrau wandelte darin, die an Schönheit und
Liebreiz alles Menſchliche übertraf, was ich je gejehen
babe. Bald füßte fie meine Stirne, bald legte ich
mein Haupt zu ihren Füßen. Nun wollte fie auch
ſprechen, ihre Purpurlippen öffneten fich zum Worte,
und in dem Augenblid des Glüdes wedte der uns
glüdjelige Vezier mid aus dem Traume.“
Ratlos gingen die weijen Kronräte von dannen;
einer von ihnen aber blieb zurüd und ſprach nad)
lurzem Belinnen zum König: „Du weißt, Herr, daß
ich einiges Gejhid als Maler befige; beichreibe mir
die Jungfrau genau, wie du fie im Traume gejehen,
und ic will jedes deiner Worte genau und forgfältig
mit dem Pinfel verzeichnen.“
Dem König gefiel diefer Vorſchlag, und fie gingen
allfogleih ana Werk.
Als das Bild zur volllommenen Zufriedenheit
des Königs vollendet war, ließ derjelbe Vezier an
einer Stelle der großen Heerftraße vor den Thoren
der Haupftadt einen Meinen Tempel erbauen und
ftellte das Bildnis hinein, auf daß es jeder jehen
lönne, der vorüber ging.
Dann jehte er einen Mann bin, der einem jeden
MWanderdmann, der aus fremden und fernen Landen
berbeigegogen fam, dasſelbe zeigen und ihn fragen
mußte, ob er irgendwo einmal fchon eine frau ge
ſehen oder von einer jolchen gehört, welcher dieſes
Bildnis gleichen fünnte,
Es verging eine geraume Zeit viele Wanderer
famen und gingen des Weges, aus vieler Hetten
Ländern, viele zogen vorüber, aber feiner jagte ja.
Endlich eine® Tages vermeldete ein Keijender aus
dem Reihe von Rum,*) nachdem er das Bilb gr
jehen hatte: „Ich lenne diejes Geſicht jehr gut, denn
es ift das getreue Abbild unfrer Prinzeſſin.“
Hierauf war er verſchwenderiſch in ihrem Lob
und ſagte zuleßt, bei all dieſer Schönheit und Herzen
güte wolle fie ſich jedoch nie vermählen.
Der Bezier war jehr begierig, die Urſache deikn
zu erfahren.
„Die Urfache, warum fie feinen Gatten nehmen wil,
ift mir wohlbefannt,* berichtete der fundige Reiſende
weiter, „und fie ift dieje: Einſtmals ſaß die Prin-
zejfin im Garten ihres Palaftes in einem Lufthauf,
in defien Nähe ein Pfauenpaar auf dem Gipfel eine
Baumes jein Neſt aufgeichlagen und eben Küchlein
ausgebrütet hatte.
„Plöglich wurde der Garten von einem Bliß ge
troffen, und der alte Baum fing am zu brennen.
ALS die Flammen ſich dem Gipfel näherten, war der
Pfau nicht im ftande, die Hitze zu ertragen, er flog
vom Nefte weg und brachte ſich in Sicherheit. Aber
die Henne blieb aus Liebe zu ihren Jungen im Neite
und verbrannte zu Aſche.
„AS die Prinzeifin diefen Mangel an Gefühl
und Familienliede an dem Männchen gejeben halte.
rief fie aus: ‚Die Männer find treulos; ich gelobt
mir und ſchwöre e8, nie von einem Manne mehr jı
reden und zeitlebens ungefreit zu verharren.‘
„&3 find denn auch bereits Jahre vergangen; dir
Prinzeffin hat ihren Schwur gehalten, alle reizt,
die inzwifchen famen, abgewiejen und fogar mie aud
nur den Namen eines Mannes ausgeſprochen.“
Sp die Kunde des Fremdlings.
Der Vezier eilte mit diejer Nachricht zum König,
welcher ſehr beſtürzt darüber ward, daß mım ale
feine Hoffnungen, in den jo lang erſehnten Beſiß der
Prinzeſſin zu gelangen, damit auf einmal ganz um
gar zu nichte wurden.
Doch der Vezier, ein ebenjo kluger wie treuer
Diener feines Herrn, ſprach zum König: „Her, lob
nod den Mut nicht ſinken, jondern gieb mir Beiell
Hin nad) Rum zu reifen, und ich will dafür forgen, daß
die Jungfrau, die dein Herz im Traume geliebt und
im Wachen bisher nicht vergeſſen hat, endlich dod
noch dein Weib werde,“
*) Byyany.
Loſe Blätter.
Der König war damit zufrieden, und der Vezier
machte ſich unverzüglih auf den Weg nad Rum.
Als er nad) langer Reife dort angelommen war,
gab er fich für einen fahrenden Maler aus. Die
Prinzeffin hörte nad) einiger Zeit von feiner Kunft-
fertigfeit,, ließ ihm zu fich bejcheiden und gab ihm
den Auftrag, ihren Palaſt mit einer Reihe von ſchönen
Bildern zu ſchmücken.
Er ging alsbald eifrig ans Werk und malte das
Bildnis jeines Königs, wie er auf einem Balkone in
ieinem großen Tiergarten jaß, von welch letzterem
verjhiedene Teile unter dem Gewäfler einer Ueber—
ihwenmung ftanden.
Als die Prinzeffin diefe Malerei ſah, ward fie von
einigem Erftaunen betroffen umd fragte den Maler:
Weſſen Bild ift das und was ift hiermit vorgeitellt ?*
Der Bezier antwortete: „Es ift das Bildnis
meines früheren Herrn, des erhabenen Königs von
Perfien ; dies ift fein Park und das hier find feine
Vieblingstiere, Hirfche und Rehe. Als der König
eines Tages auf dem Balkon ja, der zu dem Luit«
hauje gehörte, trat plößlich der Fluß infolge eines
großen Regengufjes in den Gebirgen, von denen er here |
abftrömt, aus den Ufern und überflutete den Garten.
„Am Ufer ftanden zwei Rebe mit ihrem Rehkalb.
Die Rehtuh hatte nicht den Mut, den andringenden
Wellen zu trogen, und ergriff die Flucht, ihr Junges
verlafjend. Dies ift das Bild des Meibchens, wie
es in langen Sätzen davonläuft. Der Rehbock aber,
den du bier untergehen ſiehſt, o Prinzeijin, blieb
aus Liebe zu feinem Jungen bei demjelben jtehen
und ertran? mit ihm in den Fyluten.
„O Prinzeifin, jeit jenem Tage, als der König
dieſe Gefühllofigkeit an der Rehluh wahrgenommen,
bat er feines Frauenzimmers mehr gedacht und ſich
feierlich gelobt, fie alle hinfort zu meiden,“
Als die Prinzeffin dieſe Erzählung gehört, ward
fie vorerft höchlichſt betroffen, und ſprach nad) längerem
Befinnen endlich zum Maler: „Die Lage des Königs
von Perfien ftimmt recht wunderbar mit der meinigen
überein; ich mied bisher alle Gemeinjchaft mit den
Männern, weil ich die Unbarmherzigteit eines Pfau-
hahns gejehen hatte, der jeine Jungen in Feuers—
gefahr verließ, während dasjelbe an der Rehkuh dem
Herzen des Königs fo jehr mißfallen hatte. Und ich
Jaube, wir waren beide lange Zeit hindurch von einem
Irrtum befangen.
„Denn eine Verbindung zwiſchen uns geftiftet
werden könnte, wie erfreulich würde es fein!“
„Ihr thut recht mit diefem Wunfche, einem durch
ein einzelnes Beiſpiel gefaßten Vorurteile zu ent—
Jagen, o Prinzeffin,* erwiderte erfreut der Vezier;
„denn Liebe und Treue find feineswegs bejonders
an ein Geſchlecht gebunden, fie find den Guten
unter den Kindern dieſer Erde gemeinjam beſchieden,
m haben gleichen Anteil daran.“
& darauf fandte die Prinzeſſin eine Gejandt-
haft an den FA bon Beten) 2 gab ei Ein«
willigung zur Hochzeit.
767
Fremoͤländiſche Sinnfprüde.
Spridwörtern nachgebildet von Marimilian Bern.
Arabifhe Sprüche.
Wer Hoffnung nur als Koft erwirbt,
Gefahr läuft, daf er Hungers ftirbt.
*
Der Kate Tyrannei
VNoch immer befjer ift
Als die Gerechtigkeit
Der Maus, die alles frißt.
Bastifhe Sprüche.
Ein Rückſchlag findet immer ftatt;
Es giebt gar feine hobe Flut,
Die nicht auch tiefe Ebbe hat.
”
Dein Geheimnis wahrft du nimmer,
Cockt es wer aus dem Derftecte ;
Sorg’, daß eigne Aſche immer
Dir im Haus das Feuer dede.
Binterm Buſch ift manchmal ein Ohr,
Hüte dein Geheimnis davor !
Geftehe, daß du Schwächen haft —
Kein Baum ganz ohne dürren Aſt!
Aus ſerbiſchem Dollsmunde.
Welch £os der grimme Tod für dich erforen,
Kein Anzeichen verrät es dir;
Auf eine Weife werden wir aeboren,
Auf taufendfade fterben wir.
*
Wenn auch die Seele oft ſchon feſſeln kann,
Das Antlitz bringt das Mädchen an den Mann.
heb auf — wer weiß, was noch fommen mag? —
Das weiße Geld für den ſchwarzen Tag !
Die Nerven in der Kunſt und der Litteratur,
Der franzöſiſche Arzt Dr. Touloufe, der vor einiger
Zeit einen detaillierten Bericht über den Zufammenhang
zwiſchen der phufiichen Beichaffenheit und der geiftigen
Veranlagung Emile Zolas veröffentlichte, hat fürzlich
einen Vortrag über die Beichaffenheit und Thätigfeit
des Nervenſyſtems bei Künftlern, Schriftftellern und
Gelehrten gehalten. Es giebt zahlreiche Litteraten,
Künftler oder Gelehrte, die an nervöſen Störungen
leiden; aber es ift in den meijten Fällen jehr ſchwer,
zu unterjcheiden, wie weit geiftige Weberanftrengung
und wie weit angeborene Veranlagung daran ſchuld
if. Auch fann die Wirkung neuropathiicher Zuftände
verſchieden fein: in vielen (wohl den meiften D. R.)
Fällen hindern und beeinträchtigen fie das geiftige
768 Loſe Blätter,
Schaffen, in andern ericheint die Schaffensfraft des | die Kunſt, die Gegenwart günftig auszunußen —
Neuropathilers geiteigert, die Empfindungen find | allgemeiner ausgebrüdt, die Bereinigung von ma
lebhafter und intenfiver, die zur fünftlerifchen Thätig- | teriellem und idealem Sinn ſcheint mir der Hauptzug
feit vorzugsweiſe notwendige Einbildbungsfraft ift | des deutſchen Charakters zu jein. Das Träumen hat
reger. Bei manden Schriftftellern und Künftlern | bei ihm nicht, wie beijpielsweije beim Italiener, die
treten infolge der nervöſen Erregbarfeit leicht Hallu- | Sorglofigfeit zur Gefährtin. Er weift ihm eine ganz
zinationen auf ; aber jelbft jo ausgeſprochen franthafte | beftimmte Stunde an. Wenn der Deutſche für jein
Erſcheinungen find dem fünftleriichen Schaffen in man» | leibliches Wohl hinreichend geſorgt und die ernften
chen Fällen fo günftig, daß der neuropathiſche Künftler | Pflichten des Tages redlich erfüllt hat, dann er
fie oft mehr befördert al& fich davon zu heilen fucht. | gewährt er der papillonne du logis (der Phantafie)
So mancher Schriftjteller wendet, um ein möglichft | freien Flug.
leichtes Funktionieren feines intellektuellen Apparates „Eine gute Mahlzeit ift beim Deutſchen die un:
zu erzielen, alle möglichen der Geſundheit jhädlichen | vermeidliche Begleiterin aller Feſte und Vereinigungen.
Mittel an, und verichlimmert dadurch feinen neuro- | Keine Mufilaufführung ohne gaſtronomiſche Genüſſe,
pathifchen Zuftand. So pflegte zum Beifpiel Nouffeau | fein Konzert, das nicht in der Rähe einer Reftauration
im Sonnenjhein fiend zu jhreiben, Schiller ftelte | abgehalten würde. Der Deutiche liebt es, mit Mufil-
beim Schreiben die Füße in Eis oder eißfaltes | Begleitung zu eſſen.
Waſſer; doch die gebräuchlichſten Erregungsmittel „Damals (bei einer Rheinfahrt in lauer Sommer:
find Altohol, Kaffee, Abſinth, Morphium, Anti» | nacht, während fentimentale Weiſen geipielt wurden)
pyrin und Ehloral in den verſchiedenſten Formen. | hatte ih das vollfommenfte Bewußtjein deutide:
Dr. Toulouſe verwirft alle diefe fünftlich ftimulierenden | ‚Gemütlichkeit‘, jenes Gemiſchs von äſthetiſchem Ge
Mittel unbedingt. Auf die durch fie hervorgebradte | fühl, von Sentimentalität, Schwärmerei und Liebe
Steigerung ber Nerventhätigfeit folgt ftet3 ein ent» | für alles Edle und Schöne, Empfindungen, die durd
iprechender Depreffiongzuftand, und die unaufhörlich den vorangegangenen Genuß aller möglichen guten
aufeinander folgenden Perioden der Erregung und | Sachen nod) erhöht worden waren.
der Erſchlaffung ihwächen den Organismus jo außer- „Schwer ift es, herauszufinden, was die Deuticen
ordentlich, daß der, welcher zu jolden Mitteln greift, | von ihrer Regierung denken. ch weiß nicht, ob fir
unfehlbar allmählich immer mehr von feiner förper- | unter ſich oft darüber ſprechen — ich glaube jedoeh,
fichen wie geiftigen Geſundheit einbüßt. Schriftjteller | der Reſpelt verbietet e8 ihnen. Ihr Takt läht fe
und Fünftler follten daher die Neuropathie, weldhe | in Gegenwart von Franzoſen alles vermeiden, mas
meift eine unzertrennliche Begleiterin ihrer Begabung | deren Nationalbewußtjein fränfen könnte, Troß ihrer
ift, nicht begünftigen,, indem fie zu künftlihen Er» | Zurüdhaltung ſcheint bei ihmen eine große Dant-
regungämitteln ihre Zuflucht nehmen, jondern durch barkeit für die Dynaftie vorzuherrichen, die dei
eine möglichſt gefunde, normale Lebensweiſe ji die | Deutiche Reich wieder geeint hat, ferner eine au
natürlihe Reaktionsfähigkeit des Nervenſyſtems zu | richtige Bewunderung für das vollendete Wert,
erhalten ſuchen. Niemand dürfte in Deutichland vom Kaiſer oder von
. hohen Staatsmännern mit jener Reſpeltloſigleit
Urteile eines Franzoſen über die Deutjchen. ſprechen, die wir nur zu oft gegen unſre Präfidenten
Profeſſor J., Direktor einer höheren Lehranftalt zu | und Minifter an den Tag legen. Bis im bie be
Paris, veröffentlichte nach feinem Beſuche in Deutfch- | jcheidenften Privathäufer trifft man, als Büſte oder
land im Sommer 1896 ein jehr deutfchfreundliches | Bild, die ewige kaiſerliche Dreieinigfeit, Großvater,
Schriften, dem wir folgende Urteile entnehmen: | Sohn und Enkel, die in der beiten Stube thronen.’
„Die Hohahtung vor der Vergangenheit und A, Br.
*
Im nächſten Heft beginnen wir mit der Veröffentlichung des neuen Werkes von
Köward Bellamy: „Gleichheit“.
Faſt zehn Yahre nad dem Erſcheinen des „Rükblik | Kommentar dazu, in 38 Kapiteln eine erweiterte, detuil:
aus dem Bahre 2000, der bei den Gebildeten der ganzen | lierte und vertiefte Schilderung des Bellamyichen Zukunfit-
Erbe einen fo beifpiellofen Erfolg errungen und feinen | ftante, die in Bezug auf alle die Gegenmart be
Berfaifer mit einem Schlage zum weltberühmten Manne | jhäftigenden wichtigen fozialen Fragen eine Fülle new:
gemacht hat, tritt Edward Pellamy jet mit einem neuen | Anregungen bietet und, wie der „Nüddlid’, im ale
größeren Were hervor. „Gleihheit‘‘ behandelt denjelben | Kulturländern auf längere Zeit das Intereſſe der Denfn:
Stoff wie der „Rüdblid”; es iſt eime unmittelbare | den und fortſchrittlich Gefinnten in Anſpruch mehmen
Fortiegung desielben und enthält, gewifiermaken als | wird.
Verantwortlicher Redakteur: Karl Bolboevener in Stuttgart. Drud und Berlag ber Deutſchen Berlagd-Anftalt in Stuttgart.
Briefe und Sendungen find nur an bie Dentfhe Berlags-Ankalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu richten
Sleichbeit
Edward —
"Rus dem ‚Amerikanifchen üderfeht von M. Jacobi.
5 —
t Bali „Ein Nüdblid“, das von bee
N, wie ich gervünfdit hätte. Auch it mir
N —— bat, wasfortbleiben mußte,
er erſchienen, als was es enthielt, daß
ſah, ein neues Buch zu ſchreiben.
i z Handlung if, wie im „NRüdblid*,
a 2000; ich habe überhaupt die frühere
4 a — Ausgangapunft für das Werk benußt,
im Leſer unter dem Titel „Gleichheit“ dar⸗
} f biejenigen, welche den „Rückblick“ nicht
will: ich in einem furzen Abriß hier das
hite/des Inhalts wiedergeben:
hre 1887 lebte in Bofton ein reicher junger
8 Julian Welt. Er ftand im Begriff,
b- Barileit, einer jungen Dame aus
Familie, zu verheiraten, und wohnte
Den in feinem väterlichen Befigtum
a Diener, welcher Sawyer hie.
Kofgteit titt, hatte ex fi) unter den
es Haujes ein Gemach bauen laſſen,
4 zimmer benußte. Doch ſelbſt in
bg, ejhloffenen Raume, wohin kein Laut
drang, floh ihn häufig derSchlummer,
; sn genötigt, die Hilfe eines
tifeurs-in Anspruch zu nehmen, der
* zpnotiſchen Schlaf verſehzte, aus welchem
F immten Zeit aufwedte.
dieſer hnheit des jungen Weſt, ſowie
n des unterirdiſchen Gemachs
a außer Sawyer und
"um 30. Mai 1887 lieh Weit
sufen umd wurde wie gewöhnlich
Vorher hatteihm der „Doftor“
iß er —— Stadt noch am ſelben
tlafjen gedächte, und ihm die
eure in Bofton gegeben,
« In jener Nacht geriet
d und wurde vom Feuer
** Leichnam ward
Ben entdedte man nicht
die Teifefte Spur. Daß er in den Flammen um—
getommen jei, galt aber allgemein für ausgemacht.
Einhundertunddreijchn Jahre jpäter, im September
des Jahres 2000 n. Ehr., wollte ſich Dr. Leete,
ein Boftoner Arzt, in feinem Garten ein eignes
Laboratorium errichten. Beim Ausgraben des Bau—
grundes fliehen Die Arbeiter auf altes Mauerwerk,
das mit einer Aſchen- und Kohlenſchicht bededt war.
Man grub weiter und fand ein Gewölbe, welches im
Innern ein reich ausgeſtattetes Schlafjimmer im
Stil des neunzehnten Jahrhunderts enthielt, und auf
beim Bett Tag die Gejtalt eines jungen Mannes aus—
geftredt, der ausjah, als hätte er fi) eben zum Schlafe
hingelegt. Obwohl es völlig ausfihtslos erſchien,
jo wollte Dr. Leete doch einen Verſuch machen,
den jungen Mann, deſſen Körper auf jo unerflärliche
Weije vor Verweſung gejhüßt worden war, wieder
zum Leben zu erweden. Zu feiner höchften Ver—
wunderung blieben feine Bemühungen nicht vergeblich.
Der Scläfer erwachte zum Bewußtſein und gewann
in kurzer Friſt die volle Kraft der Jugend wieder,
welche er, nach feinem Ausſehen zu urteilen, bejeffen
hatte, Er war fo entſetzt, als er erfuhr, was ſich
mit ihm zugetragen, daß er Gefahr lief, den Verftand
zu verlieren. Doch bewahrte ihn Dr. Leetes geſchickte
ärztliche Hilfe, forwie die Pflege und Teilnahme, welche
ihm die andern yamilienglieder — des Doltors
Frau und feine jchöne Tochter Edith — entgegen»
brachten, vor diefem Unglüd. Es dauerte nicht lange,
jo vergaß der junge Mann fein eigne® wunderbares
Erlebnis vor dem Erftaunen über die völlige Um—
wandlung, welche die Welt in jozialer Bezichung durch⸗
gemacht hatte, während er im Schlafe lag. Er hatte
das Leben nie anders gelannt als in der Geftalt eines
Kampfes um das Dafein, und jept erffärten ihm feine
Mirte Schritt für Schritt, faft wie einem Finde, die
einfahen Grundjäße der nationalen Arbeitsgemein-
ſchaft zum Wohl der Gejamtheit, auf welchen die ganze
neue Zivilifation beruhte, Er erfuhr, daß e8 niemand
mehr gebe, der reicher oder ärmer jei und fein
fünne als jeine Nebenmenichen, jondern daß alle in
wirtichaftlicher Beziehung einander gleid) feien. Seiner
arbeitete mehr für den andern, weder zwangsweiſe
97
Digitiz 8
1
Im J 1’, ..
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y Coogiä
770
noh um Lohn, Sondern alle fanden im Dienfte
des Ganzen und arbeiteten für den Nationalbefih,
der allen gemeinfam gehörte; jelbft die perjönliche
Pflege, welche jemand bedurfte, zum Beiſpiel ärztlicher
Beiftand, wurde von Staatäwegen geleiftet, wie bor«
mals durch die Militärärzte. Alle dieſe merlwürdigen
Einrichtungen, wurde ihm erflärt, feien auf die ein«
fachfte Weite zu ſtande gelommen, indem man das
Privatfapital in Volfsfapital verwandelt habe. Die
Leitung des Staatsweſens ebenfo wie die Probuftion
und die Güterverteilung feien derart organifiert, daß fie
dem Wohle aller, nicht bem Intereſſe einzelner dienen.
Das anfängliche Staunen des jungen Fremdlings
über die Geſetze und Ordnungen ber neuen Melt
fteigerte fich bald zu begeifterter Bewunderung, und
er gab mit Freuden zu, daß bie Menichheit jeht
zum erftenmal erfannt habe, was wahres Leben jei.
Doch beflagte er es bitter, daß das Schidial ihn
jelbft nur in die neue Welt veriegt habe, um ihn ber
boffnungslojeften Vereinſamung preisjugeben. Alle
Site, welche ihm die neuen freunde erwieſen, jei
außer flande, fein Gemüt von biefem bedrücdenden
Gefühl zu befreien ; denn er lönne ſich nicht verhehlen,
daß er ihre Teilnahme nur dem Mitleid verbanfe.
Es ftellt fich jet heraus, daß fein Geſchick noch
viel merfwürdiger iſt, als er es fich hatte träumen
laſſen. Edith Leete nämlich ift niemand anders ala
die Urenfelin jener Edith Bartlett, die einft feine
Verlobte war und bie fi) nad) langer Trauer um
den verſchwundenen Geliebten zuletzt hatte tröften laſſen.
Die Geſchichte ihres tragischen Verluftes, die damals
einen tiefen Schatten auf ihr junges Leben warf,
lebte noch als Meberlicferung in der Familie fort, und
Briefe von Julian Weſt waren als Erbftüde auf
bewahrt worden, nebft einer Photographie, die ihn ala
hübſchen jungen Mann darftellte. Edith fonnte es ihrer
Urgroßmutter jehr unbilligerweije nicht verzeihen, daß
fie jemals einen andern geheiratet hatte; das Bild
des jungen Mannes ftand immer auf ihrem Toiletten»
tiih. So fam «8, daß feine Retter feinen Augenblick
über die Perfon des Schläfers in dem unterirdifchen
Gemach im Zweifel geweſen waren ; aber Edith mochte
wohl ihre Gründe gehabt haben, darauf zu beftehen,
daß er nicht eher erfahren ſolle, wer fie ſei, biß fie
jelbft für gut finde, es ihm mitzuteilen. Als fie ſich
Julian Welt im geeigneten Moment zu erfennen
gab, konnte von einer Vereinfamung des jungen
Mannes nicht länger die Rede fein; denn deutlicher
hätte das Schidjal es nicht verkünden können, daß
die beiden für einander bejtimmt waren.
Sein Freudenbecher fchien voll zum Ueberfließen,
doch da trat ein Ereignis ein, das ihm plöhlich alles
Glück zu rauben drohte. Als er fi einmal in
Dr. Leetes Haus zur Ruhe gelegt hatte, befiel ihn
ein furchtbares Alpdrüden. Ihm war, als öffnete er
Edward Bellamy.
die Augen und gewahrte, dab er auf feinem Bette
in der unterirbifchen Kammer läge, wo der Magnetiieur
ihn eingefchläfert hatte. Sawyer machte eben neh
die letzten Handbewegungen, durd die er den hypne
tischen Schlaf zu verſcheuchen pflegte. Weit Iek
ſich die Morgenzeitung bringen und las das Datum.
Es war der 31. Mai 1887. Da wurde ihm Bar,
daß fein ganzes wunderbares Erlebnis vom Jahr 290
in der herrlichen Welt der verbrüderten Menichhe:
famt dem jhönen Mädchen, das er dort kennen yr
lernt hatte, nichts geweien war als ein Traumgebild
Noch ganz verwirrt ftand er auf und machte eine
Gang durch die Stadt. Er jah dort jeft alles mi:
andern Augen und verglich e8 unwilllürlich mit den
Bofton des Jahres 2000. Das thörichte, finnlor
gewerbliche Konkurrenzſyſtem, die graufamen Gegen
fäße von Luxus und Mangel, von Stolz und Er
würdigumg, der grenzenloje Schmuß, das Elend, de
Verkehriheit der ganzen Ordnung der Dinge, meld
ihm auf Schritt und Tritt in die Augen fieer,
empörten jeine Vernunft und thaten feinem Her
weh. Ihm war zu Mute wie einem geiftig gelund”
Menſchen, der aus Zufall in einem Irrenhauſe cin
geichloffen wird. Nachdem er fo einen Tag lan
berumgewanbert war, traf er gegen Abend mit einige
feiner früheren Gefährten zufammen. Diefen erjäh?
er jeinen Traum und jchilderte ihnen die gerechten
eblere und weiſere Gejellichaftsorbnung, welde fr
biefer Traum gezeigt hatte. Er ſetzte ihnen au—
einander, wie leicht e8 fein würde, die wirlliche Br
zu einer ebenſo glüdfichen zu machen, wie es len
geträumte Welt geweſen. Man brauche fid nur u
entſchließen, die ſelbſtmörderiſche Thorheit der Konkır-
renz aufzugeben und eine brüderliche Genofienigait-
arbeit einzuführen. Zuerft verfpotteten fie ihn; alt’
aber fahen, daß es ihm ernft war, gerieten fie in Jen.
nannten ihn ein gefährliches Subjekt, einen Anardiken,
einen Feind der menfchlichen Geſellſchaft, und jagn
ihn hinaus. Ganz aufgelöft vor Jammer erwahn
er, diesmal aber in Wirklichkeit, nicht fälihlid; —
lag im Bett in Dr. Leetes Haufe, und die Mergr-
ſonne des zwanzigſten Jahrhunderts jchien ihm St
ind Gefiht. Durchs Fenſter ſah er Edith, die —
Garten Blumen pflüdte, um den yrübhftüdstiie
ihmüden; raſch machte er ſich fertig, ging hinmt«
und erzählte ihr feinen Traum. Wir überlafen «+ Um
nun, den Fortgang der Geſchichte ſelber zu berät.
I.
Ein ſcharfes Kreuzverhör.
Mährend ich Edith meinen Traum erzählte, bar
fie mir mit- vielem Intereffe und der größten Zei
nahme zu, doch ſchwieg fte finnend ftill, als id mil
der Geſchichte zu Ende war.
„Worüber dentft du nach?“ fragte id.
340 ftellte mir vor,“ erwiderte fie, „wie es wohl
n würde, wenn bein Traum wahr gewejen wäre.“
‚Mein Traum wahr? Wie jollte das möglich fein?“
Er meine, wenn du wirklich nur im Schlaf
1 befommen und weder unjern herrlichen
ſtaa Eh mich je geſehen hättet; wenn das alles
ir nur im Traum erſchienen wäre und du am Mor«
en dann umhergegangen wäreft, um ben Leuten die
eb * it und Schlechtigleit ihrer Lebensweiſe zu
zu führen und ihnen zu zeigen, was für ein
und — Daſein fie ſich bereiten könnten.
stelle dir nur vor, wieviel Gutes du gewirkt hätteſt
1d melde Hilfe das für die Menſchen in jenen
fügen gewefen wäre, als fie des Beiftandes fo ſehr
eburften! Mir jcheint, es müßte dir faſt leid thun,
15 du zu uns zurüdgelommen bift.”
Du fiehft beinahe aus, als wäreft du traurig
ini se,“ fagte ich, denn ihr betrübter Gefichtäaus-
legte mir dieje Vermutung nahe.
ae *ervwiderte fie lächelnd. „Ich dachte
p nur an deine Stelle. Ich jelber habe ja alle
ade, froh zu fein, daß du zurüdgefehrt biſt.“
„Das will id meinen, Haft du wohl überlegt,
f du gar nicht geboren wäreft, wenn ich nur
räumt hätte? Nichts würdeſt du fein als das
geipinft eines Schläfers vor hundert Jahren,“
Dieſer Umftand war mir noch gar nicht ein«
' le ſagte fie halb im Ernſt, halb im Scherz,
" wenn ih der Menjchheit als Traumgeftalt
æ geweſen wäre als in Wirflichfeit, jo hätte
h wohl über eine jolde — Unannehmlichteit
m müſſen.“
auf erwiberte ich voll Eifer, daf id für
ine Perfon mich nun und nimmermehr mit einem
m berfühnt haben würde, bei welchem ich fie in einem
— Bere müſſen, und wenn es dem
ichengefchlecht im allgemeinen auch noch jo viel
\ rat fätte Vermutlich entſchuldigte fie die
enliche Selbftfucht dieſes Belenntniſſes mit der
jen Erziehung, die ich erhalten halte, und
ß es deshalb, mir einen beſonderen Vorwurf
Ueberdies fuhr ich fort, um mid) doch etwas
eihtfertigen, „wäre auch fein Segen daraus
Du haft ja eben gehört, daß meine
a umd jelbft meine beften freunde, denen
ste Nat im Traum Mar zu machen verjuchte,
—4 Daſein die Menſchen miteinander
nt inten, mich als einen Thoren und Zoll»
= verlacht und verjpottet haben. Genau jo
in Wirklichkeit gejhehen, wenn ich nur ger
* und nun als Prediger unter ihnen
ollte, wie du vorhin meinteſt.“
ge Hüte möglichertweije jo gehandelt wie
' Zraum,* erwiderte fie. „Der Segen
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Gleichheit.
771
einer wirtſchaftlichen Gleichberechtigung aller würde
ihnen vielleicht nicht ſofort eingeleuchtet haben, weil
fie fürdteten, auf eine niedrigere Stufe herabzus
finfen. Daß dadurd) das ganze Menſchengeſchlecht
in betreff ſeines materiellen Wohlbefindens und
feiner jittlihen Größe auf eine unendlid höhere
Stufe gehoben würde und ein glüdficheres Leben
genießen könnte, als jelbjt den Bevorzugteften je zu
teil geworden war, vermochten fie nicht zu begreifen.
Aber jelbft wenn du den Reichen zuerft als ein Feind
ihrer Klaſſe erichienen wäreft, jo hätten dich doc) die
Armen, die große Maffe der Bedürftigen — das
Bolt im eigentlichen Sinne — mit wahrer Begeifterung
anhören müfjen ; denn für fie wäre ja deine Gejchichte
eine frohe Botichaft geweſen.“
„Es wundert mich nicht, daß du das glaubft,”
erwiderte ich, „aber wenn id; auch in diejer neuen
Welt noch faum das Abe gelernt habe, jo kannte
ic) doch meine Zeitgenofjen und weiß, daß es anders
gelommen wäre, al& du dir vorftellft. Die Armen
würden ebenfowenig auf mich gehört haben wie die
Reihen. Zwar waren beide Klafjen zu meiner Zeit
über alles und jedes in erbittertem Kampf begriffen,
doch hielten fie an der Meinung feft, daß es immer
Reihe und Arme geben müſſe und ein Zuftand
wirtichaftlicher Gleichheit ein Ding der Unmöglichkeit
fei. Man nahm allgemein an, und nicht mit Un—
recht, daß dem MWeltverbefjerer, der den Zuftand des
Volkes zu heben verjudhte, die Hoffnungslofigfeit der
Maffen, denen er helfen wollte, ein unüberfteiglicheres
Hindernis bereitete als der thätige Widerftand der
wenigen, die fi in ihrer Herrſchaft bedroht jahen.
Auch muß ih, um meiner eignen Klaſſe gerecht zu
werben, zugeben, daß die Beſten unter den Reichen
wie durch bewußten Eigennuß, oft ebenfo jehr durch
jene nämlidhe Hoffnungslofigfeit zu jogenannten Son=
jervativen wurden. Du fiehft alio, daß es niemand
Nupen gebracht hätte, wenn ich als Prediger umher—
gezogen wäre. Die Armen hätten meine Worte über
die Möglichkeit einer gleihmäßigen Teilung des Bes
fißes für ein Märchen gehalten, dem zuzuhören für
den Arbeiter nichts als Zeitverjhwendung jei. Von
den Reichen aber hätten die Schlechteren mich verhöhnt,
die Beſſeren höchſtens geſeufzt; feiner würde mir
ernfthaft zugehört haben.“
„Es iſt vielleicht jehr fed von mir,” fagte Edith
mit heiterem Lächeln, „wenn ich mich unterfange, dir
einen befjeren Begriff von dem beizubringen, was
deine Mitmenjchen gedacht oder gethan;hätten; aber
fiehft du, die bejonderen Umftände, in denen wir
uns befinden, verjhaffen mir einen ungerechten Vor—
teil über did. Deine Kenntnis der damaligen Zeit
erſtredt ji) naturgemäß nur bis zum Jahr 1887;
von da ab verjantft du in Bewußtlofigkeit. Ich
dagegen bin im zwangzigften Jahrhundert zur Schule
ARTE TLTEHTTER
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772 Edward Bellamp.
gegangen und mußte fehr gegen meinen Willen bie
Geſchichte des meunzehnten Jahrhunderts lernen.
Daher weiß ich auch, was nad) dem Datum geichehen
ift, mit welchem deine Kenntnis aufhört. Wie
wunderlich e& dir auch vorlommen mag, ich weiß,
daß du faum in jenen langen Schlaf gefallen warft,
als im amerikanischen Volle das eifrige und weit
verbreitete Streben erwachte, eine allgemeine Gleich-
beit herzuftellen, ähnlich der, welche wir jeht genießen.
Bald darauf entftand auch die politiiche Bewegung,
aus der fich nach verjchiedenen Wandlungen im Anfang
des zwangzigften Jahrhunderts der Umſturz des alten
Syſtems und die Einführung des jetzigen entwidelte,“
Dies war allerdings eine höchft intereffante Nach-
richt für mich; als ich aber Edith näher zu befragen
anfing, ſchüttelte fie jeufgend den Kopf.
„Nachdem ich mich mit meiner höheren Weiäheit
gebrüftet habe, muß ich jet meine Umwiffenheit ein⸗
geftehen. Ich kann dir nur jagen, daß die Umſturz-
bewegung fehr bald eintrat, nachdem du in Schlaf
gefunfen warft. Alles übrige muß dir mein Vater
erzählen. Auch will ich nur gleich hinzufügen — denn
e3 würde dir doch nicht lange verborgen bleiben —
dab ich von dem Umfturz ſelbſt und aud) von den
andern Angelegenheiten des neunzehnten Jahrhunderts
fo gut wie nichts weiß. Du glaubft gar nicht,
welche Mühe ich mir gegeben habe, mich über ben
Gegenftand fo zu unterrichten, daß ich verftändig mit Dir
darüber reden könne, aber ich fürdjte, es ift ganz ums
fonft. Schon in der Schule konnte ich nichts davon
begreifen, und auch jett bin ich, Scheint mir, außer
ftande, die Sache zu verftehen; nad} unfrer heutigen
Unterhaltung bin ich mehr denn je überzeugt, daß
fie mir ewig dunkel bleiben wird. Seit du mir
erzählt haft, wie dir die alte Welt im Traum vor«
gefommen ift, jcheint mir die damalige Zeit jo nahe
gerüdt, als Fönnte ich fie mit Augen fehen, und
troßdem ift fie mir auch nicht im geringften ver
ftändlicher geworben,“
„Unfre Zuftände waren düfter und ſchlimm genug,
das fteht feſt,“ jagte ih, „aber weshalb fie fo ganz
unbegreiflich fein jollten, kann ich nicht einjchen,
Worin befteht denn die Schwierigfeit ?”
„Hauptjählic darin, daß die Thatfachen, welche
uns die Gefhichtäbücher berichten, auf feine Meife
mit den NAusjagen deiner Zeitgenoſſen in betreff
ihrer gejellfhaftlichen Ordnung übereiuftimmen.“
„Wieſo?“ fragte id).
„Es müßt, glaube ich, nichts, wenn ich verſuche,
dir meine Zweifel auseinanderzufegen,* jagte Edith,
„du wirft mich nur für jehr beichränft halten. Wenn
aber überhaupt jemand im ftande ift, mir die Sache
klar zu machen, fo jollteft du e8 thım können. Du
haft foeben von der entjeglichen Ungleichheit der
Menſchen geiprochen und mir den Gegenjaß zwiſchen
Not und Ueberfluß, zwifchen der folgen Maät der
Reichen und ber elenden Dienftbarfeit der Armen
geſchildert, nebft dem übrigen jchredlichen Zuftand,
ber damals herrſchte.“
„Ganz recht.“
„Diejer Gegenjak jcheint faſt jo groß geweſen zu fein,
wie in irgend einer der früheren Gejchichtäperioden.‘
„Ih glaube kaum,“ erwiderte ich, „daß es jemals
einen größeren Abftand unter den verjchiedenen Maffen
gegeben hat, als man auf einem nur halbftündiger
Gang durch die Straßen von Bofton, New Port,
Chicago oder irgend einer andern großen Etabt
Amerifas zu Ende des neunzehnten Jahrhundert
beobachten fonnte.”
„Und doch,“ warf Edith ein, „ftebt in ben Büchern,
daß bie Amerikaner ſich damals rühmten, fie länder
um ihrer Freiheit und Gleichheit willen höher ch
alle andern Nationen der Gegenwart und Vergangen-
heit. Man begegnet dieſer Phrafe fortwährend in
den Schriften jener Zeit. Nun haft du mir aber
gezeigt, daß jene Leute in der gewöhnlichen Be
deutung des Wortes weder Freie noch Gleiche waren,
jondern ſich als Reiche und Arme, als Herren un
Diener voneinander unterjchieden, wie bai dir
Menſchen bis dahin ſtets gethan hatten, Bitte, w
fläre mir doch, wie fie behaupten konnten, daß Fri-
heit und Gleichheit unter ihnen herrſchten.“
„Das follte, denfeich, heiken, daß vor dem Grit
alle gleich wären.“
„Du meint vor Gericht? Aber waren Reiche und
Arme wirklich dort gleih? Behandelte man fir in
ganz gleicher Weife ?"
„Leider muß ich geftchen, daß nirgends ein
größere Ungleichheit zu Tage trat. Der Form nad
war das Gejeg für alle gleich, aber thatſächlich ver
hielt es fi ganz anders. Der Unterfchied zwid
Reihen und Armen vor dem Gefech war vielaö
jo groß wie fein andrer. Die Reichen ftanden Ir
zufagen über dem Gefeg, und deſſen ganzer Drud
Taftete auf den Armen.”
„Aber worin beftand denn überhaupt die Gleiſ—
heit zwiſchen Armen und Reichen?”
„Man behauptete, daß fie die gleichen Ausſichte
hätten.“
„Die gleihen Ausfihten — worauf?”
Ihren Zuftand zu verbeffern, reich zu werden und
andern zudorzulommen im Kampf um den Bei.”
„Wenn das wahr ift, jo bedeutet es mit, dei
alle gleich waren, ſondern daß allen diejelbe Mixlii
feit geboten wurbe, zur Ungleichheit zu gelangen.
Aber hatten denn alle wirklich die gleiche Gelegen—
heit, reic) zu werden und in die Höhe zu kommen!”
„In gewifler Beziehung mag das ber Fall ır
weſen jein, folange das Land nody neu war, ale
damals nicht mehr. Das Kapital hatte thatlätiis
Gleichheit. 773
alle wirtfchaftlihen Machtmittel an ſich geriffen. Nur
durch beſonderes Glüd konnte einer ohne großes Ka—
pital ein gefhäftliches Unternehmen durchführen.“
„Aber,“ jagte Edith, „es muß doch wenigftens etwas
gegeben haben, worin wirkliche Gfeichheit beftand — wie
hätte man fonft auch mur den äußeren Schein aufrecht
erhalten und fo viel Wejens davon machen können ?*
Jawohl, ohne Zweifel. Es herrjchte politiſche
Gleichheit. Jeder beſaß fein Stimmrecht, und bie
Mehrheit war der höchſte Gejekgeber.“
„So fteht e8 im Geſchichtsbuch, aber dadurch
wird der wirkliche Zuftand nur noch unerflärlicher.”
„Weshalb denn?“
„Run, wenn jedermann wirflic eine Stimme
im Staatöwejen hatte — alle die arbeitenden,
darbenden, frierenden, elenden Maffen der Armen
— warum haben fie nicht, ohne aud nur einen
Augenblid zu zögern, der ganzen Ungleichheit, unter
der fie litten, ein Ende gemacht?“ — Da id nicht
auf der Stelle eine Antwort gab, fuhr fie fort:
„Was ich ſage, ift vielleicht ſehr thöricht. Gewiß
überjehe ich bloß irgend eine wichtige Thatſache —
aber haft du nicht gelagt, daß jeder einzelne im Volt,
wenigftens jeder erwachſene Mann, fein Stimmredt
bei der Wahl des geſetzgebenden Körpers hatte?“
„Gewiß; in der lehten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts war das allgemeine Stimmrecht in
ganz Amerika praktiich durchgeführt.”
„Das foll heißen, dab das Bolf dur die von
ihm gewählten Vertreter alle Geſetze gab. Nicht wahr,
das meinft du doch?“
„Verſteht fi.“
„ber ich erinnere mid, dab die ganze Nation
und die einzelnen Staaten Berfaffungen bejaßen.
Bielleicht hinderten dieſe das Volk daran, feinen
Billen durchzuſetzen ?*
„Nein. Die PVerfaffungen waren nur die ur
ſprünglichen Grundgeſehe; die Mehrheit ftellte fie
feft und veränderte fie nad) Gutdünken. Das Poll
hatte die einzige und höchſte beichließende Gewalt,
und fein Wille war unbeſchränkt.“
„Alfo, wenn die Mehrheit gegen irgend eine be=
ftehende PVeranftaltung etwas einzuwenden hatte und
diefelbe für umporteilhaft hielt, jo fonnte fie eine
Henderung von Grund aus bewirken?“
„Gewiß. Das Volt konnte alles durchſetzen, wofür
es mit Stimmenmehrheit entſchloſſen eintrat.”
„Und die Mehrheit, wenn ich recht verftanden
babe, daS waren nicht die Reichen, fondern bie
Armen — diejenigen, denen die herrihende Ungleich-
heit zum Nachteil gereichte ?"
„Jawohl. Die Reihen waren im Vergleich zu
ihnen nur eine Handvoll.“
„So ftand alfo dem Volk feinerlei Hindernis im
Wege, jobald e& wollte, dem Leiden ein Ende zu
machen und ein dem unfrigen ähnliches Syftem ein«
zuführen, das ihm Wohlſtand und Gleichheit ficherte ?*
„Nicht das geringfte.”
„Dann muß ich did) nochmals bitten, mir zu jagen,
warum in aller Welt bie Leute nicht Verftand genug
hatten, das auf der Stelle zu thun, ftatt in einem jo
jammervollen Zuftand zu verharren, daß wir nod)
jegt nad) hundert Jahren barüber weinen möchten ?"
„Weil,“ erwiderte ih, „man fie gelehrt hatte und
fie überzeugt waren, daß die Regelung von Handel
und Induſtrie und die Produktion und Verteilung
der Güter Dinge jeien, die ganz außerhalb der Re-
gierung&befugnis jtehen.”
„Aber, befter Julian, unfer Erdendafein und
alles, was es lebenswert macht, von der Befriedigung
der einfadhften Teiblichen Bedürfniffe an bis zu den Ge—
nüffen bes verfeinertiten Geſchmacks, alles, was mit
ber Entwidlung des Geiftes ſowohl wie des Körpers
zufammenhängt, beruht ja im großen wie im Heinen
einzig auf ber Art, wie die Erzeugung und Verteilung
der Güter geregelt wird, Das ift doch ſicherlich in
deiner Zeit ebenfo wahr geweſen wie heutzutage.”
„Berfteht ſich.“
„Und doch jagft bu mir, das Wolf hätte die
Hertſchaft der Könige abgejhafft, die Obergewalt in
bie eigne Hand genommen und dann mit VBorbebadht
darein gewilligt, ſich der Macht zu entäußern, über
feine allerwichtigſten Lebenäintereffen — die einzigen,
welche überhaupt in Betradht zu kommen brauchen
— jelbft die Enticheidung zu treffen?”
„Steht das nicht in den Geihichtsbüchern ?“
„Jawohl, und gerade das ift der Grund, warum
ich ihrem Bericht nie glauben fonnte., Mir ſchien
die Sache jo unbegreiflid), daß ich meinte, es müſſe
fi) noch irgend eine verborgene Erklärung dafür
finden. Sage mir nur das eine, Julian: Da die
Leute fih nicht zutrauten, ihre induftriellen Ein»
richtungen und bie Güterverteilung felber zu regeln,
wem überließen fie denn die VBerantwortlichkeit dafür ?*
„Den Kapitaliften,.“
„Wurden die Kapitaliften vom Volle gewählt?“
„Kein Menſch wählte fie.“
„Wer hat fie denn eingejeßt ?"
„Niemand.“
„Was für ein fonderbares Syſtem! Aber wenn
fie von feinem gewählt oder ernannt wurden, fo
müſſen fie doch ficherlich irgend jemand Rechenſchaft
abgelegt haben über die Art, wie fie ihre Macht
bandhabten, von welcher das Wohl, ja jelbft ber
Tortbeftand jedes einzelnen abhing!”
„Im Gegenteil, fie waren niemand dafür ver
antwortlich, außer ihrem eignen Gewiſſen.“
„Ihrem Gewiffen? Ja jo! Dur meinft, daß fie
fo wohlwollend, jelbjtlos und für das Allgemeine
bedadht waren, daß man ihnen aus Dankbarkeit die
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eigenmächtige Befigergreifung nachſah. Heutzutage
würde das Volk felbft von Halbgöttern fein unver«
antwortliches Regiment mehr dulden, aber vermutlich
war das dazumal nicht jo.”
„Da id) jelbft ein Exfapitalift bin, würde id)
froh jein, deine Vermutung beftätigen zu fönnen,
aber die Thatſachen lagen in Wahrheit ganz anders.
Jede wohlwollende Fürforge im Erwerbäleben war
bei den Rapitaliften auf das firengfte verpönt. Ihr
einziger Zweck war, ſich felbjt den größtmöglichen
Gewinn zu fihern, ohne dabei die geringfte Rüdficht
auf das öffentliche Wohl zu nehmen.”
„Mein Gott, du jehilderft ja die Kapitaliften weit
ihlimmer als die Könige, denn dieje gaben wenigfteng
vor, das Befte ihres Volles zu wollen, und die guten
Könige regierten ihre Unterthanen väterlih, wie man
unmiündige Kinder leitet. Alſo die Kapitalijten wahrten
nicht einmal den Schein, daß fie fi) für das Wohl
ihrer Untergebenen verantwortlich fühlten?”
„Nicht im mindeſten.“
„Und die Herrſchaft der Kapitaliften, ſagſt du,
ermangelte nicht nur jeder wohlwollenden Abficht
und folglid; aller moraliihen Berechtigung, jondern
war aud) in wirtichaftlicer Beziehung ganz verfehlt,
weil fie den Wohlftand des Volles nicht förderte?“
„Was ich Iegte Nacht im Traume ſah,“ verjegte
ich, „und verfucht habe, dir heute früh zu erzählen,
giebt nur einen jehr ſchwachen Begriff von dem Elend
der Welt während der Herrſchaft des Kapitalismus.“
Edith dachte eine Weile jhweigend nad), „Deine
Zeitgenofien,* fagte fie dann, „waren weder Thoren
noch Wahnfinnige; gewiß haft bu mir noch irgend
einen Umitand verfchwiegen — es muß ſich doch eine
Erflärung oder mindeftens eine Entjchuldigung dafür
finden laffen, weshalb das Volk nicht nur feine wich-
tigjten Intereffen aus den Händen gegeben, jondern
hie überdies einer Mlaffe von Menſchen anvertraut
hatte, die ſich gar nicht um fein Wohl fümmerten und
es auf feine Weije förderten.“
„D ja,” fagte ich, „eine Erflärung gab es wohl,
und fie Hang noch dazu ſehr ſchön: Um der indivi«
duellen freiheit, der unbeſchränkten Gewerbthätigleit
und bes Rechts der Selbftbeftimmung des einzelnen
willen war die Wirtfchaftspolitif des Landes ben Ka⸗
pitaliften ausgeliefert worden.“
„io wurde eine Regierungsform, die jo unums
ichräntt und dejpotiih war wie nur möglich, im
lamen der fFreiheit verteidigt ?“
„Jawohl; man wollte bem einzelnen die freie Selbjt=
bejtimmung in wirtfchaftliher Beziehung fihern.”
„Aber du haft mir doch vorhin ſelbſt gefagt, daß
jedes geichäftlihe Unternehmen zu deiner Zeit that«
jählih ein Monopol der Kapitaliften war.”
„Freilich. Wer kein Kapital beſaß, hatte feine
Ausficht auf Erfolg, und die Verhältniſſe gejtalteten
Edward Bellamyp.
fi immer mehr derart, daß nur die größten ſta—
pitaliften Unternehmer fein konnten.“
„Und doch joll der Grund, warum man die In«
duftrie unter die Herrſchaft des Kapitalismus geftellt
bat, fein andrer gemejen fein ala die Förderung
einer unbefchräntten Gewerbthätigfeit und des Rechte
der Selbftbeftimmung im ganzen Volle?“
„Gewiß. Man brachte den Leuten die Anficht bei,
daß der einzelne größere Unabhängigkeit und Fri.
heit des Handelns genießen würde, wenn er ſich mit
feiner Gewerbthätigfeit unter die Herrſchaft der Ra
pitaliften ftellte, als wenn fich alle zu einer induftrielen
Genoſſenſchaft mit eignem Gemwinnanteil verbänden.
Die Kapitaliften, verficherte man ihnen, würden mit
mehr Weisheit und Güte für ihre Wohlfahrt forgen,
als fie das ſelbſt zu thun im ftande wären, und mit
dem Keil ihres Arbeitsprodults, den bie Kapitaliften
willens jein würden, ihnen zu überlaffen, wären fie
beſſer geftellt, als wenn fie ihre eignen Arbeitgeber
wirben und den ganzen Ertrag unter fi} teilten.“
„Aber das war doc der reine Hohn. Das hieß
zu dem Schaden noch Schimpf hinzufügen.”
„Uns kommt es jeßt jo vor. Aber zu meiner
Zeit galt das für die gejundefte Rationaldfonomie.
Wer daran zweifelte, wurde für einen gefährlichen
Schwärmer gehalten.”
„Die vom Volt gewählte Negierung muß aber
doch etwas geleiftet haben. Die Bejorgung diejer oder
jener Angelegenheit müſſen die Rapitaliften der Staati«
verwaltung doch noch übrig gelaffen haben.”
„Natürlich; fie hatte alle Hände voll zu thun, um
Frieden unter den Leuten zu ftiften. Das war das
Hauptgeihäft aller Staatöregierungen zu meiner Zeit.”
„Was ftörte denn den Frieden jo jehr? Weshalb
erhielt er fi nidht ganz von felbft, wie e& jeßt ber
Hall it?“
"Die Ungleichheit der herrſchenden Lebenäbedin«
gungen war ſchuld daran. Der Kampf um Geld
und Gut und die Verzweiflung der Notleidenben
fachhten fortwährend alle hölliſchen Leidenschaften,
Habgier, Neid, Wolluft, Furcht, Hab und Rachſucht
in der Menfchenbruft an. Um dieſe allgemeine
Zügellofigkeit einigermaßen einzudämmen, damit nicht
das ganze foziale Syftem in einem großen Blutbad
zu Grunde ginge, brauchte man ein Heer von Sol
baten, Polizeibeamten, Richtern und Kertermeiftern
und war genötigt, fortwährend Geſetze zu erlaflen,
um die Streitigkeiten zu ſchlichten. Fügt man zu
diefen Elementen der Zwietracht noch eine Horde
ausgefioßener, entwürdigter und verzweifelter Menſchen
hinzu, die durch ihre Leiden zu Feinden der Geſell⸗
ichaft geworden waren und fortwährend im Schach
gehalten werden mußten, jo begreift ſich leicht, ba
es der Bollsregierung nicht an Arbeit fehlte.“
„Soweit ich es verftehen kann,“ jagte Edith,
Gleichheit.
„ſcheint mir das Hauptgefhäft der Regierung der
Kampf mit dem Chaos gewejen zu fein, welches
daraus entjtand, dak fie es berfäumt hatte, das
Wirtſchaftsſyſtem jelbft in die Hand zu nehmen und
es auf einer gerechten Grundlage aufzubauen.”
„Das ift volllommen richtig. Man könnte den
Fall nicht klarer darlegen, wenn man ein ganzes
Buch darüber ſchriebe.“
„Hat denn aber die Volfsregierung weiter gar
nichts gethan, al3 daß fie den Kapitaliämus vor den
Folgen feines eignen Syſtems jchügte?“
„D doch, fie ſetzte Poftmeifter und Zollbeamte
ein, erhielt das Heer und die Flotte und fing Strei=
tigfeiten mit fremden Ländern an,”
„Ich follte denken, daß ein Bürger feinen großen
Wert auf fein Stimmredt bei der Wahl einer Res
gierung legen könnte, deren Befugniffe fich auf den
engen Kreis bejchränften, den bu ſchilderſt.“
„SH glaube, der Durchſchnittspreis für eine
Stimme bei der geheimen Wahl war zu meiner Zeit
in Amerila etwa zwei Dollars.”
„Du meine Güte, fo viel!” fagte Edith; „zwar
weiß id) nicht recht, welchen Wert das Geld in jener
Zeit Hatte, aber der Preis fommt mir doch über«
trieben hoch vor.”
„Ich muß dir recht geben,“ erwiberte ih. „Das
mals teilte id) zwar die Anficht über die Unbezahls
barfeit des Stimmrechts und tadelte diejenigen hart,
welche fich durch den Drud der Armut bewegen ließen,
ihre Wahlftimme für Geld zu verfaufen. Aber auf
dem Standpunkt, ben ich nad) unfrer heutigen Unter-
haltung einnehme, bin ich geneigt zu glauben, daf die
Leute, die ihre Stimmen verkauften, eine weit befjere
Einſicht in das Scheinwejen der jogenannten Volts-
regierung hatten, deren beſchränkte Befugniffe wir be»
iprochen haben, ala wir andern, und da es nur unrecht
bon ihnen war, einen zu hohen Preis zu fordern,”
„Aber wer bezahlte denn die Wahljtimmen ?*
„Du ftellft ja ein erbarmungsiojes Kreuzverhör
mit mir an,“ jagte ih. „Die Klaſſen, welche ein
Intereffe daran hatten, einen Zwang auf die Res
gierung auszuüben, Fauften die Stimmen; das waren
die Rapitaliften und die Stellenjäger. Die Kapita«
liſten ftredten das Geld vor, um die Wahl der
Stellenjäger durchzuſeten, unter der Vorausjekung,
dab, wenn lehtere gewählt würden, fie alles thun
müßten, was bie Rapitaliften wollten. Aber du
darfft dir nicht etwa vorftellen, daß die Mehrzahl
der Stimmen geradezu gefauft wurde. Dadurch
wäre e3 ja offenkundig geworden, daß die Regierung
nur zum Schein vorhanden war; auch würde es zu
foftjpielig getvefen fein. Das Geld, welches die Ka—
pitaliften beifteuerten, um die Wahl der Stellenjäger
zu ermöglichen, biente meijt dazu, das Volk auf ins
direfte Weiſe zu beeinfluffen. Ungeheure Summen
775
wurben für diefen Zwed in den fogenannten Wahl«
fonds geſammelt und zu zahllojen, verſchiedenartigen
Beranftaltungen, wie Feuerwerlen, Anſprachen, Aufe
zügen, Blechmuſilen, Vollsfeſten und dergleichen ver—
braucht, um bei den Vollsmaſſen genügendes Intereſſe
für die Wahlen zu erweden, damit fie fih der Mühe
unterzögen, ihre Stimmen abzugeben. Wer nicht
wirflih einmal eine folde amerikanische Wahl des
neunzehnten Jahrhunderts mitangejehen hat, fann
ſich unmöglich einen Begriff von der Abgejchmadtheit
des ganzen Schaufpiel® machen.“
„Es ſcheint demnach,“ fagte Edith, „dab die
Rapitaliften nicht nur das Wirtſchaftsſyſtem als ihre
beiondere Domäne beherrſchten, fondern auch that-
ſächlich die Staatsregierung in ihrer Gewalt hatten.”
„Gewiß; ohne ihren Einfluß in der Politik hätten
die Rapitaliften gar nicht? ausrichten lönnen. lm
ihre Pläne durchzuſehzen, brauchten fie den Kongrek,
die geießgebende Gewalt, den Gemeinderat der Städte
zu Werkzeugen. Auch konnten fie zum Schuß ihrer
Perſon und ihres Vermögens vor den gelegentlichen Aus«
brüchen der Volkswut die Hilfe der Polizei, der erichts-
höfe und Soldaten nicht entbehren und trachteten daher,
ſich diefe geneigt zu machen; auch forgten fie dafür,
da die Präfidenten, Gouverneure und Bürgermeifter
feis” ihres Winks gewärtig waren.“
„Aber ich glaubte, die Gejehgeber, Präfidenten
und Gouverneure hätten auf der Seite des Volfes
gejtanden, das fie gewählt hatte.“
„Wo denkt du Hin? Weshalb denn? Den
Rapitaliften und nicht dem Volfe verdanften fie ja
ihr Amt. Das flimmberehtigte Volt durfte nicht
ſelbſt beichliegen, wen es wählen wollte. Dieſe Frage
wurde durch die politiichen Parteien entfchieben,
welche bei den Kapitaliften um Geldunterftüßung für
ihre Zwede betteln gingen. Seinem Manne, ber ſich
ben Intereſſen des Kapitalismus widerfegte, wurde
geftattet, fich dem Volt als Wahlkandidat vorzuftellen.
Wollte etwa ein Staatsbeamter das Interefje des
Volkes gegen bie Uebergriffe der Kapitaliften ver-
teidigen, jo war e& ficherlich mit feiner Laufbahn zu
Ende. Willft du verftehen, welchen unbeichränften
Einfluß die Rapitaliften auf die Regierung aus-
übten, jo darfſt du nicht vergeffen, daß ein Präfi«
dent, ein Gouverneur, ein Vürgermeifter, ein NRats«
herr immer nur eine Zeitlang im Dienft des Volfes
ftand und von feiner Gunft abhängig war. Er be—
fleidete feine öffentliche Stellung nur von einer Wahl
zur andern, und jelten lange. Sein lebenslanger
Unterhalt aber, der für ihn — wie es bei uns allen
der Fall ift — die größte Wichtigkeit hatte und bie
Hauptſache war, King nit vom Beifall der Menge
ab. Er verdankte ſein Auskommen nur den Kapita—
liften. Ihre Gewogenheit durfte er nit aufs Spiel
jegen um einer flüchtigen Aufwallung der Bolfsgunft
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Pi * 2 — — — —
— ET ET ED
a Te es
776 Edward Bellamy.
willen. Selbft wenn «8 feine Fälle von Beftehung
gegeben hätte, würben dieſe Umftände es zur Genüge
erflären, warum unfre Bolitifer und Beamten, mit
wenigen Ausnahmen, fi zu Bafallen und MWert«
zeugen der Rapitaliften hergaben, Die Juriſten,
welche infolge unſers verwidelten Syſtems faft allein
öffentliche Geihäfte führen fonnten, hingen ganz bes
ſonders umd direft in betreff ihres Einfommens von
ber Gunſt der großen Kapitaliften ab.“
„Aber warum wählte denn das Voll nicht Ab-
geordnete und Beamte aus feiner eignen Hlaffe, welche
für bie Intereflen der Menge eintraten ?*
„Man hatte feine Bürgichaft dafür, daß fie
größere Treue beweilen würden. Ihre Armut machte
fie der Beftehung noch zugänglicher, und die Armen
waren, wie du weißt, zwar bemitleidenswerter, aber
in moraliſcher Hinficht durchaus nicht befjer als die
Reichen. Ueberdies — und das war vielleicht der
Hauptgrund, warum das arme Volk nicht Leute aus
jeiner Klaſſe zu Vertretern wählte — gingen Armut und »
Unwiſſenheit meift Hand in Hand, jo daß die Fähigkeit
mangelte, jelbft wo die Abficht gut war. Sobald
der arıne Mann ſich geiftig entwidelte, Tag für ihn
die Verſuchung nahe, feiner Klaſſe untreu zu werben
und ſich um die Gunft des Kapitals zu bewerben.”
Edith ſchwieg eine Weile nachdenklich.
„sh glaube wirklich," fagte fie endlich, „jeht
weis id, warum id das Syſtem der jogenannten
Vollsregierung zu deiner Zeit nicht verftehen konnte.
Ich habe immer herausfinden wollen, welchen Anteil
das Bolt eigentlih daran Hatte, und jeßt jche ich,
daß es überhaupt nicht dabei beteiligt war.”
„Du madhft wunderbare fFortichritte,” rief ich.
„Ohne Zweifel dienen die unrichtigen Bezeichnungen,
die ſich in unjre Politik eingejchlichen haben, dazu,
die Begriffe anfänglich zu verwirren. Du braudjt
aber nur als Hauptjache feftzuhalten, da es ſich bei
unierm Syſtem vorzugsweiie darum handelte, den
Intereffen des Volles gegenüber bie Herrſchaft der
Reichen und die Obergewalt bes Kapitalismus auf»
recht zu erhalten, und daß dagegen jede andre Nüd-
ſicht in den Hintergrund trat — fo befiheft du den
Schlüffel zu allem, was dir rätjelhaft erſchienen ift.*
Il.
Warum bie Umwälzung nicht früher erfolgte.
In unjer Geſpräch vertieft, hatten wir Doktor
Leetes Schritte überhört. Er ftand jetzt neben uns,
Ich beobachte euch Schon jeit zehn Minuten vom
Hauſe aus,“ fagte er, „und fonnte endlich dem Ver«
langen nicht länger wiberjtehen, zu erfahren, worüber
ihr mit joldem Eifer verhandelt.”
„Ihre Tochter,“ verjeßte ich, „hat den Beweis
geliefert, daß fie die jofratifche Methode volllommen
beherricht. Unter dem Vorwand grober Umwiffenheit
bat fie eine Reihe jcheinbar leichter Fragen an mih
geftellt und e8 dahin gebracht, daß ich jet llar erkenne,
wie viel ſchlimmer das Scheinweſen unfrer angeblichen
Vollsregierung in Amerila geweſen iſt, als ich je für
möglich hielt, Da ich zu den Reichen gehörte, wußte
ih natürlich, daß wir eine große Macht im Staate
befaßen; aber daß daß Boll jo ganz ohne allen
Einfluß war, habe ih mir nie vergegenwärtigt.*
„Aha,“ rief der Doktor voller Freude, „alfe
meine Tochter flieht am Morgen zeitig auf, mit der
Abſicht, ihren Vater aus feinem Amt eines Lehrers
ber Weltgejchichte zu verdrängen?“
Edith war von der Gartenbanf, wo wir geſeſſen
hatten, aufgeflanden, um die Blumen zu ordnen,
welche fie mit ins Haus nehmen wollte. Sie jchüttelte
mit ernfter Miene den Kopf.
„Sei ohne Furt,” fagte fie, „Julian hat mid
heute früh gründlih von jedem Verlangen geheilt,
das ich etwa noch hatte, Näheres über den Zuftand
unfrer Vorfahren zu hören. Das arme Voll, das
damals lebte, hat mir immer entfeßlich Teid gethan,
weil e8 in feiner elenden Tage durch die Bebrüdung
ber Neichen fo viel zu erdulden hatte. Bon jeht an
aber überlaffe ich es ſeinem Schickſal und jpare mein
Mitleid für Leute, die es mehr verdienen.“
„D weh,” rief der Doltor, „weshalb hat ji
denn dein Herz jo plößlich gegen fie verhärtet? Was
hat dir Julian erzählt ?*
„Eigentlich nichts, was ich nicht Schon ſelbſt hätte
wiſſen können. Aber, wenn ich bie Gejchichte las,
ift fie mir immer fo unvernünftig und unglaublid
vorgefommen, daß ich ihrer Wahrheit nie recht traute.
Ich meinte immer, es müßte noch Miülderungs
gründe geben, die in ben Büchern forigelafjen wären.”
„Aber was hat er dir denn erzählt?”
„Dinge, aus denen ſich ergiebt,“ ſagte Ebith,
„daß die armen Maſſen des Volkes die ganze Zeit
über die höchſte Negierungsgewalt hatten. Sobald
fie nur einig und entſchloſſen waren, hätten fie aller
Ungleichheit und Bedrüdung, über die fie Hagten, im
Augenblid ein Ende machen und ſich einen Zuſtand
wie den unfrigen ſchaffen können. Sie haben dies
nit nur unterlafjen, ſondern als Grund ihres Ber:
harrens in der Sflaverei angegeben, daß fie ih
Freiheit zu verlieren fürdteten, wenn fie nit um
verantwortliche Herren hätten, bie ihre Angelegen-
heiten beiorgten; denn wenn fie dieſe jelbft in bie
Hand nähmen, würden fie ihre Unabhängigkeit ge
fährden, Um ber Seiden folder Menſchen willen
hätte ich feine Thräne vergiehen ſollen. Wer feige
das Unrecht duldet, das er bie Macht hätte, abju-
wehren, verdient nicht Mitleid, ſondern Gering
ſchätzung. Bisher war e8 mir ein etwas umangenehns
Gefühl, daß Julian zur Maffe der Bebrüder, zu der
Reichen, gehört hat. Aber num ich die Sache ordentlich
Gleichheit. 777
verſtehe, bin ich froh darüber. Ich fürchte, wäre er einer
von den Armen gewejen, die eigentlich die Herren waren
und, während fie die höchfte Gewalt beſaßen, fich zu
Leibeignen machen ließen, jo würde ich ihn verachten.”
Nachdem Edith auf ſolche Weile meinen Zeit
genofien förmlich angekündigt hatte, da fie feinerlei
Teilnahme mehr von ihr erwarten bürjten, ging fie
in das Haus, Ihre Worte hatten in mir die Ueber-
jeugung gewedt, daß, fall die Männer des zwanzig-
ften Jahrhunderts nicht im ftanbe fein follten,, ihre
Freiheit zu wahren, man dies getroft den frauen
überlaffen könne,
„Sie haben alle Urſache, Herr Doltor,“ fagte ich,
„Ihrer Tochter dankbar zu fein; fie bat Ihnen viel
Mühe und Zeit erſpart.“
„Inwiefern denn?”
„Weil fie Sie der Notwendigkeit überhoben hat,
mir noch weiter zu erflären, wie und weshalb man
dazu gefommen ift, das nationale Induſtrieſyſtem
und die wirtſchaftliche Gleichheit einzuführen. Wenn
Sie je in der Wüſte oder auf dem Meer eine Luft
ipiegelung gejehen haben, jo werben Sie fid) erin-
nern, daß das Bild jelbft zwar am Himmel Har und
deutlich ift, aber da, wo es die Erde berührt, jeine
Beienlofigkeit durch ein nebelhaftes Ausjehen, eine
gewiſſe Verſchwommenheit verrät. Faſt denjelben
Eindruch machte mir bisher die neue Geſellſchafts-
otdnung, in die ich auf ſo merlwürdige Art eingeführt
worden bin. Das Syſtem an ſich iſt wohlgeordnet
und ſehr beſtimmt und vernünftig; aber wie es auf
natürliche Weiſe aus den ſo gänzlich verſchiedenen
Zuſtänden des neunzehnten Jahrhunderts hervor—
gegangen ſein ſollte, war mir unfaßlich. Ich Tonnte
mir nur vorftellen, daß feit meiner Zeit neue Be—
geiffe und Kräfte entjtanden fein müßten, um eine
jolde Umwandlung der Welt zu bewirken. Einen
ganzen Sad voll hierauf bezüglicher Fragen hielt ich
ſchon für Sie in Bereitjhaft; aber jept können wir
die Zeit benußen, um von andern Dingen zu reden,
denn Edith Hat mir innerhalb zehn Minuten gezeigt,
dab das einzig Wunderbare bei der Organifation
des Induſtrieſyſtems zum Nutzen der Gejamtheit nicht
darin befteht, daß fie ausgeführt worden ift, jondern
darin, daß fo lange Zeit verging, bevor dies geichah.
Man begreift nicht, wie eine ganze Nation vernunft«
begabter Weſen zufrieden jein fonnte, unter nicht ver=
antwortlihen Machthabern in wirtihaftlicher Unmüns
digkeit zu bleiben, während fie ſchon jeit einem
Jahrhundert die Macht beſaßen, alle jozialen Ein-
richtungen, die ihnen Nachteil brachten, nach Belieben
abzuändern,”
„Wahrlih ‚” jagte der Doktor, „Edith hat fich,
wenn aud unbewußt, als eine jehr tüchtige Lehrerin
erwiejen. Es ift ihr mit einem Schlage gelungen,
Ihnen die moderne Anihauung von Ihrer Zeitperiode
Aus fremben Zungen, 1897, IL 17,
beizubringen. Wir find nämlich überzeugt, daß bie
alte umnfterbliche Vorrede zur amerilanifchen Unab⸗
hängigfeitserflärung aus dem Jahre 1776 im Grunde
ihon die ganze Auseinanderjefung ber Lehre von
der allgemeinen wirtſchaftlichen Gleichheit enthielt,
welche die gejamte Nation jedem einzelnen Mitgliede
zuſicherte. Sie erinnern ih wohl an bie Worte:
‚Die folgenden Wahrheiten halten wir für. jelbft-
verſtändlich: Alle Menſchen find gleich von Geburt
und befigen gewiſſe unveräußerliche Rechte, zu welchen
das Leben, die fyreiheit und das Streben nad; Glüd
gehören. Um dieſe Rechte zu fichern, werden Res
gierungen unter den Menjchen eingejeht, bie ihre
rechtmäßige Gewalt aus ber Zuſtimmung der Negierten
berleiten. Werden dieſe Rechte durch irgend eine
Form der Regierung gefährdet, jo ift es das Nedht
des Volfes, diefelbe zu ändern oder abzuſchaffen und
eine neue Regierung einzuſetzen, deren Gewalt in
einer Form organifiert ift und deren Grundlage auf
denjenigen Prinzipien beruht, die am beften geeignet
Heinen, dem Volle Glüd und Sicherheit zu ver
ihaffen‘ Kann man fi vorftellen, Julien, daß
irgend ein weniger unparteiiſches Regierungsſyſtem
al3 das unfre im flande wäre, das hohe Ideal
von dem, wa8 eine wahre Volfäregierung fein jollte,
zu verwirflihen? Der Grundſtein unjers Staates
ift wirtichaftliche Gleichheit, und nur dieje giebt bie
notwendige und einzig genügende Bürgfchaft, für die
Siherung unfrer drei Geburtsrechte, auf Leben,
Freiheit und Glück. Was ift das Leben ohne eine
materielle Grundlage, und was ift gleiches Recht
zu leben anders als das Recht auf eine gleiche ma—
terielle Grundlage? Mas ift die Freiheit? Mie
können Menfchen frei fein, die um das Recht, zu
arbeiten und zu leben, erjt bei ihren Mitinenjchen
bitten und darauf warten müfjen, daß andre ihnen
ihr tägliches Brot reihen? Mie fan ein Staat
den Menſchen die freiheit fihern, außer inbem er
ihnen eine Arbeit für ihren Unterhalt verfchafft, bei
ber fie ihre Unabhängigkeit bewahren? Das ift aber
nur möglich, wenn Die Regierung jelbjt bie Ober-
leitung des Wirtſchaftsſyſtems hat, nah weldem
Arbeit und Unterhalt verteilt werden. Und was joll
es endlich bedeuten, wenn von dem gleichen Necht
aller auf da8 Streben nah Glüd die Rebe ift?
Welches Glüd ift nicht an wirtſchaftliche Bedingungen
gefnüpft, wenn e8 irgendwie auf materiellen Umftänden
beruht? Wie läßt ſich die gleiche Möglichkeit, nad)
Glück zu ftreben, für alle herftellen, als dadurch,
dab man allen wirtjchaftliche Gleichheit zufichert ?*
„Ja,“ fagte ih, „es war wirflih ſchon alles
dazu vorhanden, aber warum hat es fo lange ge»
dauert, bis wir e8 einjahen ?*
„Bir wollen uns zuſammen behaglich bier auf
die Bank jegen,” verfehte der Doftor, „und dann
98
778 Edward
will ih Ihnen jagen, was die moderne Ant«
wort auf die höchſt interefjante Frage ifl, welche Sie
aufwerfen. Es erſcheint uns auf den erſten Bid
unbegreifli, weshalb die Welt im allgemeinen und
beſonders die amerifaniihe Nation jo lange Zeit
gebraucht hat, um ſich Mar zu machen, daß ein Nolfs-
ftaat gar nichts andres bedeuten fann, als daß an
Stelle der Reichen die Vollsregierung felbft die Ver-
waltung der Produktion und Güterverteilung über»
nimmt. Das war doch überhaupt von dem Begriff
einer Volldregierung ungertrennlih und lag außer»
bem ganz bdireft im Intereſſe der großen Maſſen.
Ediths Ausſpruch, daß Leute, die unfähig waren, zu
einer jo einfahen Schlußfolgerung zu gelangen,
wenig Teilnahme für ihre Leiden verbienten, von
benen fie ſich jo leicht hätten befreien können, ſcheint
bei oberflächlicher Betrachtung fehr natürlich).
„Nach reiflicher Ueberlegung werden wir ung aber
wohl überzeugen, daß die Zeit, weldhe die Welt im
allgemeinen und die Amerilaner insbefondere ge»
braucht haben, um zu erfennen, daß ein Vollsſtaat
eine ebenio große wirtſchaftliche als politische Aufgabe
zu erfüllen hat, nicht übermäßig lang geweſen ift,
wenn man die ungeheure Tragweite diejer Vorftel-
lung bedenft. Der demokratische Gedanke, daß alle
menschlichen Wejen, was ihr Recht und ihre Würde
betrifft, auf einer Stufe ftehen, hat zur Folge, daß
der einzig berechtigte Zwed einer Regierung nichts
anders fein darf, als bie Aufrechterhaltung und
Förderung des allgemeinen Wohls unter gleichen
Bedingungen. Diefer Gedanke war die größte foziale
Erfenntnis, zu welcher der menjchliche Geift fich je-
mals emporgeihwungen hatte. Er enthielt im Keim
die Verheißung einer volllommenen Umwandlung
aller damals beftehenden jozialen Ordnungen, welche
von jeher einzig und allein auf dem Prinzip ber
Klaſſenvorrechte und Klaſſenherrſchaft gegründet wor-
den waren und die Unterjochung der Mehrzahl durch
die Minderheit zu deren jelbftfüchtigen Sweden vor-
ausſetzten. Einen jo wunderbaren Gebanfen ver-
mochte der beſchränkte menſchliche Geift jedoch nicht
auf einmal zu faſſen. Es gehörte unbedingt Zeit
dazu, um ihn erft wachſen und ſich entwideln zu
laſſen. Im Samen ift ja auch der ganze Baum ent-
halten, aber ein wejeniliche& Erfordernis, damit er feine
volle Größe erreichen fann, ift hier wie dort die Zeit.
„Wir teilen die Entwidlungsgefchichte des demokrati⸗
{chen Gedankens in zwei voneinander grundverjchiedene
Phaſen. Die erfte nennen wir die Zeit des negativen
Vollsſtaats. Um das zu verftehen, müffen wir uns
daran erinnern, wie der demokratiſche Gedanke ent=
ftanden ift. Ein Gedanke entwidelt ſich aus früheren
Gedanten, und es dauert lange, bis er die Schranfen
durchbricht und die Eigenheiten abjtreift, welche von
den Umftänden unzertrennlih waren, unter denen
Bellamy.
er entfland. In Amerila, wie bei allen früheren
Verſuchen zur Herftellung einer Republik, dachte mar
ſich unter einer Vollsregierung nur den Proteft gegen
bie Herrſchaft der Könige und ihre Mißbräude,
Siherlih dachten die Unterzeichner ber herrlichen
Unabhängigfeitserflärung nicht daran, daß ein Boll
ftaat irgend etwas andre& zu bedeuten habe al& eine
Urt der Regierung, bei der die Fürſten entbehrlich
waren. Sie glaubten nur die Regierungsform ge
ändert zu haben; daß auch alle Grundfäge und Zwede
der Regierung andre geworden waren, wußten fie nid.
„Eine gewiffe Ahnung hatten fie freilich davon,
baf das ſouveräne Volt auch einmal auf den Einfal
fommen fönne, die Oberherrſchaft, die e8 beſaß, jur
Verbefjerung feiner eignen Lage zu gebrauchen. Sie
ſcheinen dieſe Möglichkeit ſogar ernftlic ins Auge
gefaßt zu haben; doch waren fie noch fo wenig im
ftande, die Logik und Kraft des demokratiſchen Ger
banfens zu würdigen, daß fie es für möglich hielten,
durch klug erdachte, ſchwarz auf weiß feftgefehte Mau.
feln das Voll an ber Selbfthilfe zu hindern, zu der
es die Macht hatte, jobald es nur wollte,
„Dieje erfte Phafe der Entwidlung bes Poll-
ftaats, jolange er nur als ein Erjaß für das Königtum
galt, umfaßt alle Verſuche zur Errichtung jogenannter
Republifen bis zum Anfang des zwanzigften Jahr:
bundert3, unter benen die amerifanifche Republit
natürlich bie wichtigite war. Während diejes Zeit:
raums beichränfte ſich der demofratifche Gedanle
allein auf den Proteft gegen die frühere Regierung!
form, ohne eigne, neue, beftimmte Lebensgrundjäkt
aufzuftellen. Obgleic) das Volk den König als Lenker
der fozialen Kutſche abgejeht und die Zügel ſelbſt in
bie Hand genommen hatte, dachte e8 body nur daran,
das Gefährt im alten Geleife zu erhalten, fo daß
die Injafjen die Veränderung faum gewahr wurden.
„Die zweite Phafe in der Entwidiung des demo»
fratiichen Gedanlens begann mit dem Zeitpunft, alt
dem Bolf die Erkenntnis aufging, daß die Abjekung
der Könige keineswegs der Hauptzwed bes Volle
ftaat8 fei, fondern nur die Einleitung für fein eignet
Programm, das in der Anwendung bes gelamten
fozialen Mechanismus zur Förderung der Wohlfahrt
des ganzen Volkes beftand,
„Es ift eine intereffante Thatſache, daß die Be-
wohner von Europa früher auf den Gedanken famen,
ihre politische Macht zur Verbefferung ihrer materiellen
Sage zu benugen, als die Amerifaner, obwohl dort
bie demofratifhen Formen weit weniger Aufnahme
fanden. Dies hatte natürlich feinen Grund in der
unaufhörlihen wirtichaftlihen Not der Vollsmaſſen
jener Länder, welche fie trieb, bei jeder Neuerung vor
allem daran zu denfen, was für ihren Lebensunter-
halt dabei herauslommen würde. Andrerſeits wird
e& auch durch den allgemeinen Wohlftand, der bis
Gleichheit. 779
zum letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts in
Amerika herrſchte, und durch die verhältnismäßige
Leichtigkeit, mit der jeder jein Auslommen fand, er=
tlärlich, dab die Amerikaner erft zu diejer Zeit an«
fingen, ernjtlid) daran zu denken, ihre wirtfchaftliche
Lage durch gemeinfames Handeln zu verbefjern,
„Während feiner negativen Phaſe unterſchied ſich
der Vollsſtaat von einer Monardie nur, wie id
zwei Maſchinen unterjcheiden, welche ben gleichen
Zweden dienen. Als der demofratiihe Gedanle in
feine zweite Phaſe — die pofitive — trat, erfannte
man, daß fi nicht nur die Form ber Regierung
geändert hatte, als man dem König und dem Abel
die höchſte Gewalt nahm und fie auf das Volt
übertrug, fondern daß die ganze PVorfiellung von
den Motiven, Zweden und Befugniffen einer Re
gierung von Grund aus anders geworden war. Es
hatte fi ein Umſturz vollzogen, bei bem daß ganze
foziale Syftem ſozuſagen auf den Kopf gejtellt wurbe,
wie wenn ſich plößlich der Kompaß umgelehrt Hätte
und ber Norben zum Süden, der Often zum Weſten
geworden wäre. Zugleich brach ſich eine Erkenntnis
Bahn, die uns jegt fo geläufig it, daß es faum
begreiflich fcheint, wie man ſich ihr je hat verjchließen
innen, Man ſah ein, daß das jouveräne Volk fi
nicht darauf beſchränken dürfe, diejelben Funktionen
auszuüben, wie die Könige und die herrſchenden ſtlaſſen,
als dieſe am Ruder waren. Im Gegenteil, da das
Interefje der Könige und der herrſchenden Klaſſen
immer im Gegenjag zum Interefje des Volles ge»
ftanden hatte, jo durfte das Volt, als es zur Herr
ſchaft fam, gerade alles das nicht thun, was jene
geihan hatten, fondern was fie unterlaffen hatten,
das mußte es thun. Der Hauptzweck des Volfsjtaats
aber, den feine der früheren Regierungen je ins
Auge gefaht Hatte, war, die Macht der jozialen
DOrganijation zu gebrauchen, um die materielle und
fittliche Wohlfahrt der Geſamtheit des ſouveränen Volls
auf die höchfte Stufe zu heben, auf welcher allen der-
jelbe Grad des Wohlergehens gefichert werden konnte
— nämlid) auf ein gleiches Niveau. Der Bolksftaat der
zweiten oder pofitiven Phafe feierte feinen Triumph in
feinem großen Umſturz und ift jeitdem die einzige
Regierungsform geblieben, welche die Welt kennt.”
„Nad dem, was Sie jagen,“ bemerkte ich, „hat
es aljo vor dem zwanzigfien Jahrhundert noch nie
eine wirklich demokratische Regierung gegeben,“
„Ganz recht,“ verjegte der Doktor. „Die for
genannten Republilen der erjten Phaſe bezeichnen
wir als Pjeudo-Republifen oder negative Vollsſtaaten.
Sie hatten überhaupt feine eigentliche Volfsregierung,
weil in ihnen die Gelbariftofratie am Ruber war;
die Reihen führten die Herrſchaft und zwar ohne jede
BVerantwortlichleit. Das konnte auch gar nicht anders
fein. Die Maſſen jind von Beginn der Welt an die
Unterthanen und Diener der Reichen geweſen, aber
über den Reichen jtanden die Könige und hielten ihre
Herrſchſucht im Zaum, Seit dem Sturz der Sönige
war die Macht der Reichen unumſchränkt; fie beſaßen
die höchſte Gewalt. Dem Namen nad fand zwar das
Volk an der Spihe, aber die einzelnen Glieder und
Klafjen des jouveränen Volls waren in wirtichaftlicher
Beziehung die Leibeigenen der Neichen und lebten
bon ihrer Gnade; hinter der jogenannten Vollsregie—
rung verjtedten ſich die Kapitaliſten.
„Als notwendige Entwidlungsjtufen der Gejell-
haft von der reinen Monarchie zum reinen Volks—
ftaat bezeichnen dieſe Republifen ber negativen Phaſe
zwar einen Fortſchritt, aber rein für jich betrachtet,
waren fie im allgemeinen weit weniger erfreuliche
Erſcheinungen als die anftändigen Monardien. Ber
ſonders in betreff der Beftechlichkeit und Zugänglich«
feit für die Einflüffe der Geldariftofratie war die re—
publifanifche Regierungsform die denkbar ſchlechteſte.
Zwiſchen der fräftigen abjoluten Monarchie des achte
zehnten Jahrhunderts und der Errichtung des wahren
Vollsftaats im zwanzigften Jahrhundert liegt das
neunzehnte Jahrhundert wie ein trübjeliges Inter
regnum. Es läßt fi mit ber Seit ber Minder⸗
jährigfeit eines Königs vergleichen, in welcher ſchlimme
Staatsbeamte die fönigliche Macht mißbrauchen. Das
Volk war zum Herrſcher ausgerufen worden, aber es
hatte noch nicht das Zepter ergriffen.“
„Und doc,” bemerkte ich, „Jagten uns unjre Führer
und Weiſen im lepten Teil des neunzehnten Jahr-
hunderts — zu einer Zeit, als es nad) Ihrer Anficht noch
fein einziges Beiſpiel einer echten Vollsregierung ges
geben hatte — daß das bemofratiiche Syftem nad allen
Seiten hin geprüft worden fei und man ji ein
genaues Urteil über das Ergebnis bilden könne. Sa,
viele gingen jo weit, zu behaupten, das Syſtem babe
ſich thatſächlich als verfehlt erwiejen, während man doch
noch keinen einzigen Berjuch gemacht Hatte, einen Volks»
ftaat im wahren Sinn des Wortes einzurichten.”
Der Doltor zudte die Achſeln.
„Weshalb die Mafjen jo langſam zum Wer-
ftändnis kamen, welde Bedeutung der bemofratijche
Gedanke für fie hatte, Täßt ſich leicht erklären,” ſagte
er. „Uber es ift eine ebenjo jchwierige wie undank—
bare Aufgabe, auseinanderzufegen, wie es fam, daß
die damaligen Philoiophen, Geſchichtsſchreiber und
Staat3männer nicht im ftande waren, die eigentliche
Bedeutung des Volksftaats richtig zu würdigen und
feine Entwidlung vorauszuſehen. Die geringfügigen
praltiſchen Erfolge, zu welchen es die demokratiſche
Bewegung bisher gebracht hatte, während ſie doch ſo
große Zwecke verfolgte und ihr jo ungeheure Kräfte
zur Verfügung ftanden, hätte jene Männer fiherlich
darüber belehren müſſen, daß die ganze Entwidlung
no in ihren Anfangsgründen ſtand. Wie konnten
780 Edward
Uuge Leute fich der Täufhung bingeben, daß die
einzige Wirkung des großartigfien ftaattumwälzen«
den Gebantens aller Zeiten die fein würde, daß
man ben Titel des Oberhaupt& der Nation veränderte,
aus dem Könige einen Präfidenten machte und die
gejehgebenbe Gewalt ftatt Parlament Kongreß nannte?
Wären Ihre Schulmeifter, Univerfitätsprofefjoren und
wer jonft noch für Ihre Bildung zu forgen hatte,
gu irgend etwas nuß geweſen, jo würde unfre jefige
Geſellſchaftsordnung — die wirtfchaftliche Gleichheit —
Sie nicht im geringften überrafcht haben; Sie hätten
fofort jagen müfjen, e8 jei nur eingetroffen, was ſich
erwarten ließ, denn man habe Sie gelehrt, daß dies
notwendigerweiſe die nächfte unvermeidliche Entwid-
fungsftufe des demofratiichen Gedanlens fein müſſe.“
Edith war vor bie Thür getreten und winkte ung ;
wir fanden von unfrer Bank auf,
„Die revolutionäre Partei,” fagte der Doltor,
während wir nad) dem Haufe jchlenderten, „hat bei
dem großen Umſturz das Werk der Agitation und
Propaganda unter den verſchiedenſten, mehr oder
weniger zutreffenden Benennungen betrieben, aber
daß eine Wort ‚Volfsftaat‘ erflärte und rechtfertigte
ihr Wirken, ihre Urfache und ihren Zwed beſſer, als
ganze Reihen von Büchern e8 vermocht hätten. Die
Amerifaner redeten fich ein, fie hätten eine Volls—
regierung errichtet, als fie fi) von England trennten;
aber das war eine Täufchung. Als das Volt die po-
litiſche Macht an fich riß, welche früher in der Hand
des Königs lag, hatte es nur die äußeren Feitungs«
werte der Tyrannei zerftört. Die Citadelle ſelbſt
— das wirtichaftliche Syſtem — das jeden Teil des
fozialen Gebäudes beherrichte, blieb in den Händen
unverantwortliher Machthaber. Solange das der
Zall war, nußte dem Volle die Befigergreifung der
Außenwerle nichts, e& behielt fie nur, weil die Be-
fapung ber Eitabelle es geftattete. Als die Leute
ſahen, daß fie entweder die Eitadelle erobern oder
die Außenwerfe räumen müßten, fam die Umwälzung.
Sie ſahen fi genötigt, das Werf zu vollenden, welches
durch ihre Väter kaum begonnen worden war, und eine
Bolferegierung einzuführen, wenn fie nicht alles aufs
geben wollten, wasihre Väterzu ftande gebracht hatten.”
II.
Ich werde in das Gemeinweien aufgenommen.
Als wir zum Frühſtück kamen, teilten uns die
Damen eine höchſt interefjante Nachricht mit, die fie
in der Morgenzeitung gefunden hatten. Es war
nichts Geringeres als die Verkündigung eines Be—
ſchluſſes, den der Kongreß der Vereinigten Staaten
über meine Perjon gefaßt hatte. In einer Sitzung
waren bie Thatjachen, die zu meiner rajchen Wieder-
belebung geführt hatten, aufgezählt worden, und um
allen Fragen zu begegnen, die ſich über meinen jetzigen
Bellamy.
Rechtsftand erheben könnten, hatte man, augenſcheinlich
einftimmig, bejchloffen, mich als vollberechtigten ameri-
fanifchen Bürger anzuerfennen. Ich ſollte Anſpruch
haben auf alle Rechte und Freiheiten eines Bürgers,
zugleich aber als Gaft des amerikanischen Volks
von allen Pflichten und Dienftleiftungen entbunden
werden, die jonft dem Bürger obliegen, wofern id
fie nicht freiwillig auf mid; nehmen wollte.
Da ich mid) bisher von der Außenwelt abgeſchloſſen
und nur mit der Familie Yeete verfehrt hatte, war
mir von dem großen und allgemeinen Intereſſe,
welches mein Fall in der Deffentlichkeit erregte, noch
nichts zu Ohren gefommen. Ich erfuhr nun von
meinen Wirten, daß dies Interefje ſich ſchon über
meine Perjon hinweg auf das ganze neunzehnte
Jahrhundert erftredte und man bereits anfing, das
Studium der Litteratur, der Politit und bejonders
der Gejchichte und Philojophie diejes Zeitalters mit
neuem Eifer zu betreiben. Hauptiächlich intereifierte
man ſich für die Uebergangsperiode, im der die alte
Ordnung der Dinge der neuen Plak gemacht hatte,
„Meiner Anficht nah,” jagte der Doktor, „hat
die Nation nur eine Pflicht der Dankbarkeit erfüllt,
als fie Ihnen das Gaftrecht gewährte. Denn Sie
haben durch die Förderung des Geſchichtsſtudium—
ſchon mehr für unſer Unterrichtswejen gethan, als ein
Regiment Schulmeifter in einer ganzen Lebenzzeit zu
leiften vermöchte.“
Der Doltor fam dann wieder auf den Kongrei-
beichluß zurüd; er bemerkte, derjelbe wäre jeiner Anſicht
nad) ganz überflüffig geweien. Zwar hätte ich zweifel—
108 auf meinen Bürgerrechten außergewöhnlich lange
geichlafen, aber daraus Tieße ſich doch nicht folgern,
da id) irgend eins derjelben verjcherzt hätte,
„Wie dem auch ſei,“ fuhr er fort, „jedenfall
hat der Beſchluß alle Zweifel über Ihren Rechts-
ftand bejeitigt, und deshalb möchte ich vorjchlagen,
daß wir gleich nad) dem Frühftüd auf die National
banf gehen, um dort Ihr Bürgerfonto zu eröffnen.“
„Natürlich bin ich froh,“ ſagte ich, als wir aus dem
Haufe traten, „daß ich nicht länger genötigt bin, Ihre
Gaftfreundichaft auf die Probe zu ftellen; aber mid
ergreift doc) ein unbehagliches Gefühl, wenn id) dieſe
großmütige Verforgung jo einfach annehmen fol.“
„Lieber Julian,“ erwiderte der Doktor, „ed wird
mir doch mandmal recht jchwer, Ihre Auffafung
unjrer Gefehe und Einrichtungen ganz zu verfichen.”
„Ih follte meinen, in diefem Fall wäre e& leicht
genug. Mir ift zu Mute, als wenn ich ein Gegen
ftand der Öffentlichen Wohlthätigfeit wäre.“
„Ah!“ rief der Doktor, „es fommt Ihnen vor, al
wollte die Nation Ihnen eine Gunft erweilen, alt
wären Sie ihr zu Danf verpflichtet. Entfhuldigen Sie
meine Schwerfälligfeit, aber wir fehen im der That
bie wirtſchaftliche Verſorgung unfrer Bürger von
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en u a a a ee ee LU
Gleichheit. 781
einem ganz andern Geſichtspunkt an, Uns erjcheint
die Sache fo, daß Sie eine öffentliche Pflicht erfüllen,
wenn Sie Jhren Unterhalt annehmen. Sie ver-
pflichten dadurch die Nation — das heit die Mehr-
zahl Ihrer Mitbürger — in höherem Grabe, als Sie
jelbft ihnen verpflichtet find.”
Ich fragte mich, ob der Doktor wohl Scherz mit
mir treibe, aber er jah ganz ernfthaft aus,
„Eigentlich follte ich mich nun endlich daran ge—
wöhnt haben, daß heutzutage alles auf dem Kopfe
ſteht,“ rief ih. „Aber jagen Sie mir nur: durch
welche Verdrehung deſſen, was im neunzehnten Jahr«
hundert für gefunden Menfchenverftand galt, haben
Sie herauäbelommen, dab id) der Nation einen Ge-
fallen thue, wenn ich mid) von ihr verforgen laſſe,
fatt da fie mir einen Dienft Teijtet?*
„Ich glaube, das fann ich Ihnen leicht erklären,”
erwiderte der Doktor, „ohne daß fie dabei der Denk»
weile, an die Ihre Zeitgenoffen gewöhnt waren, Ges
walt anzuthun brauchen. Soviel ich weiß, haben Sie
ein Syftem des unentgeltlichen Unterrichts auf Koften
des Staates gehabt.“
Ja.“
„Welche Idee lag dieſer Einrichtung zu Grunde?“
„Der Gedanke, daß ein ungebildeter Bürger fein
guter Wähler fein fann.“
„Ganz recht. Deshalb hat der Staat mit großem
Roftenaufwand den unentgeltlihen Unterricht im Volt
durchgeführt. Für den Bürger war es jehr vorteilhaft,
diefen Unterricht zu erhalten, ebenjo wie e8 für Sie
vorteilhaft ift, die Verforgung anzunehmen. Aber
der Staat hatte ein noch viel größeres Interefle daran.
Verftehen Sie, was ich meine?”
„Ih kann wohl einjehen, daß es im Intereſſe
bes Staates ift, mid) zu erziehen, aber nicht, daß «8
ihm nußt, wenn ich einen Teil des Nationalvermögens
berbrauche.”
„Trotzdem herrſcht dabei derſelbe Grundſaß: es
iſt für die Geſamtheit der Bürger von höchſter
Wichtigleit, daß gut regiert wird. Wir halten es für
Ielhftverftändlich, daß jeder, der das Stimmrecht auß-
übt, nicht nur gebildet fein muß, jondern aud) ein per»
Vönliches Interefje am Wohlergehen des Staates haben
jollte, derart, daß ber Eigennutz mit dem öffentlichen
Nupen zufammenfällt. Durch das Stimmrecht hat jeder
Bürger den gleichen Einfluß auf das Ganze, darum
jollte auch jeder dasſelbe wirtjchaftliche Interefje am
Ganzen haben, und jo fommen wir auf den Grund,
weshalb es für die öffentliche Wohlfahrt notwendig
it, daß Sie ohne weiteres Ihren Anteil am Gefamt-
vermögen des Landes hinnehmen, ganz abgefehen von
dem perjönlichen Vorteil, der Ihnen dabei zufällt.“
„Willen Sie denn,” fagte ih, „daß Ihre Idee,
jeder Wähler müfle ein wirtjchaftliches Intereſſe am
Staate Haben, ſchon von den ärgften Konjervativen
verfochten worden ift? Sie zogen aber barans einen
ganz entgegengefehten Schluß. Darüber wären fie
mit Ihnen völlig einig geweien, dafı politiihe Macht
und wirtichaftlihes Interefie am Mohlergehen des
Landes Hand in Hand gehen follten, aber die praf-
tifche Anwendung, die fie von dem Safe madıten,
war negativ ftatt pofitiv. Sie behaupten: da mit
dem Stimmrecht ein wirtſchaftliches Interejie am
Staat verbunden fein jollte, muß jedem Bürger ein
wirtſchaftlicher Anteil gefichert werden. Die Sons
fervativen dagegen wollten jedem das Stimmrecht
entziehen, der nicht wirtſchaftlich am Wohl des Staates
beteiligt war. Mehrere meiner Freunde hatten bie
fefte Weberzeuguug, daß eine ſolche Beſchränkung bes
Stimmrecht3 notwendig fei, wenn das demokratiſche
Erperiment nicht fehlichlagen jolle.”
„Das beit,“ bemerkte der Doftor, „fie haben
vorgeichlagen, das demofratiiche Experiment dadurch
zu retten, da5 man es aufgab. Ein jehr geiftreidher
Gedanke; aber es hat ſich gezeigt, daß die demokrati—
jche Bewegung fein Experiment war, das man auf:
geben fonnte, jondern eine Entwicklung, die ſich volle
ziehen mußte. Wie deutlich erfennt man aus diejen
Anfihten Ihrer Zeitgenoffen über Beichränfung
de3 Stimmrechts auf die wirtſchaftlich Starken, daß
jelbft die intelligenteiten Klaſſen der Gejellichaft
damald unfähig waren, die volle Bedeutung bes
demokratiſchen Glaubensbefenntniffes zu erfaſſen,
dem fie doch anzuhängen meinten, Es iſt der erſte
Grundſatz der Demokratie, Wert und Würde des
Individuums anzuerfennen. Dieje Würde, die auf
Eigenſchaften der menichlihen Natur berubt, ift
wejentlich in allen Individuen bie gleiche, und daher
ift Gleichheit der wichtigite Grundfah der Demokratie.
Dem inneren Wert, der jedem Individuum angeboren
ift, müffen alle materiellen Verhältnifie dienftbar ge»
macht werden; etwaige Zufälligfeiten und Unterſchiede
in ber perfünlidden Sage fommen dabei nicht in Bes
tracht. Die Erhebung und Förderung des Menjchen-
geſchlechts ohne Rückſicht der Perfon ift das fortdauernde
und einzig vernünftige Motiv der bemofratijchen
Staatsklugheit. Vergleichen Sie einmal diefe Auf
faffung mit dem föftlichen Einfall Ihrer Zeitgenofien,
das Stimmrecht zu beſchränken. Sie hatten bie
Verſchiedenheit in den wirtichaftlichen Berhältniffen
der Individuen erfannt und ſchlugen nun vor, das
Recht und die Würde des Individuums diefen mas
teriellen Verhältniſſen anzupaffen, ftatt umgekehrt bie
wirtichaftlichen Verhältniſſe mit der Hauptfache, dem
gleichen Wert aller Menſchen, in Einklang zu bringen.“
„Mit einem Wort," fagte ih, „während bei unſerm
Syftem die Menſchen mit den Dingen in Ueber-
einflimmung gebracht werden follten, haltet ihr es für
vernünftiger, die Dinge den Menihen anzupaſſen.“
„Das ift in der That der Hauptunterſchied zwiſchen
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782 Ebward
ber alien umd der neuen Ordnung,” erwiberte Leete.
Eine Weile gingen wir ſchweigend nebeneinander
ber, dann fagte der Doktor: „Mir ift ein Ausdrud
aufgefallen, den Sie vorhin gebraucht haben; er
machte mir Har, daß zu Ihrer Zeit ein gewiſſer Sah
in ganz anderm Sinne verftanden wurde als heut=
zutage, Ich Hatte unfre Anficht ausgeſprochen, daß
jeber Wähler ein wirtichaftliches Intereſſe am Staat
haben fol, und Sie bemerkten darauf, daß ſchon
zu Ihrer Zeit einige Leute denfelben Gedanken gehabt
hätten. Aber nad unfrer Anfchauung über ein
folhes Intereffe am Staat hat nie jemand bei der
damals herefchenden Wirtſchaftslehre diefen Gedanken
gehabt oder haben können.”
„Warum nicht?" fragteich. „Hatten nicht Männer,
die Eigentum befaßen — Millionäre wieich zum Beijpiel
— ein Intereffe am Wohlergehen des Landes?"
„Inſofern, als ihr Beſitz geographiſch in dem be=
treffenden Lande untergebradjt war, fann man wohl
jagen, daf fie ein Interefje am Lande hatten, aber
nit das Intereſſe, das wir meinen, Fin Stüd des
Grundes und Bodens oder ein Teil des Gtaatd«
bermögens gehörte ihnen ausichließlich zu eigen, und
der Befiger war nur für das Gebeihen feines fpeziellen
Anteils thätig, ofme an das Ganze zu denen. Ein
folder Beſitz, oder das Streben, ihn zu erlangen,
machte aber den Befiter oder den danad) Strebenden
durchaus nicht zu einem Bürger, der mit voller Hingabe
dem Wohl des Landes diente, ebenjogut konnte er
dem Staate gefährlich werden, denn ber Eigennuf
trieb den Befigenden dazu, feinen eignen Anteil auf
Koften der Mitbürger oder de Staatävermögens zu
vergrößern. Eure Millionäre — ohne perjönliche Be-
ziehung auf Sie felbft natürlich — ſcheinen die aller«
gefährlichiten Leute geweſen zu fein, und das rührte
naturgemäß gerade davon her, daß jie ein Intereſſe
am Wohlergehen des Landes im Sinne Ihrer Zeit-
genofjen, nicht in unferm Sinne, hatten. Reichtum,
den man fi auf diefe Weife aneignete, konnte nur
Zwietracht ftiften und einen antifozialen Einfluß haben.
„Was wir mit einem Intereſſe am Lande meinen,
fonnte niemand haben, ehe der Privatbeji ber wirt-
ſchaftlichen Gleichheit Pla gemacht hatte. Jeder, der
e8 wünſcht, darf natürlich jein eignes Haus, fein
eignes Örundftüd haben und ſtets eignes Einfommen
nad) Belieben verwenden; aber biejer Bejitanteil
ift nur zum Gebraud beftimmt und kann feinen
Anlaß zu Streitigkeiten geben, da er bei allen Bürgern
der gleiche it. Das Nationalvermögen, die Quelle
für den allgemeinen Verbrauch, ift der unteilbare
Beſitz aller, und ein Streit aus ſelbſtſüchtigen Gründen
über die Verwaltung dieſes allgemeinen Befiges, von
dem jeder Privatbefit abhängig ift, bleibt vollftändig
ausgeſchloſſen, wie auch jonft die Meinungen aus
einandergehen mögen. Der Anteil des Bürgers an
Bellamp.
biejem gemeinſchaftlichen Gut ift eine Art von Intereiie
am Sande, welches es ihm unmöglich macht, das
Wohl eines andern zu ſchädigen, ohne zugleich fein
eignes mit zu treffen, oder das eigne Wohlergehen zu
fördern, ohne daß e8 dem Wohl der Gejamtheit zu
gute fommt. Die wirtiaftlichen Folgen, die daraus
entftehen, machen fozufagen die alte goldene Sitten:
regel zu einem automatijhen Regierungsgrundfar:
Was wir wollen, daß uns die Menſchen thun, müſſen
wir mit Notwendigkeit auch ihnen tun. Che bie
wirtfchaftliche Gleichheit es möglich machte, den Ge—
banken, daß jeder Bürger ein Intereffe am Wohl
des Landes haben mülle, in diefem Sinne durd.
zuführen, fonnte daß bemofratijche Syſtem niemali
feinen wahren Gharalter entfalten.”
„Mir ſcheint,“ ſagte ich, „daß euer Grundprinzip
ber wirtſchaftlichen Gleichheit, von dem id) glaubte,
es jei vornehmlich im Intereffe der materiellen Wohl-
fahrt des Volles aufgeftellt, zugleich ein vortreffliäe:
Prinzip politifher Weisheit ift, das die Forldauet
und Orbnung des Staates fiderjtellt.*
„Ganz gewiß," erwiderte der Doktor. „Unier
wirtihaftliches Syftem dient ebenſowohl der Staat!
klugheit als ber Menjchenliebe. Glauben Sie mir,
die erfte Bedingung für die Wirfiamfeit und Feſtig
feit jeder Regierung ift ihr unmittelbarer, bauernder
und unlösliher Zufammenhang mit dem Gemein-
wohl, daß heißt mit dem Gedeihen bed Ganzen, ehne
Rückſicht auf einzelne Teile. Darin lag die Stürl
der Monardhie, daß ber König als Befiker des Landes
aus felbftfüchtigen Gründen fih den Intereſſen dei
Volkes anbequemte. Nur aus diefem Grunde bat die
autofratijhe Regierungsform immer einen gewiſſen
oberflädlichen Erfolg gehabt. Andrerfeits lag die ver-
hängnisvolle Schwäche der Demokratie während ihrer
negativen Phase, vor der großen Ummälgung, darin, ba
das Volk zwar die Gewalt in Händen hatte, aber mır
ein indirefte® Gefühlsinterejje an dem Staat al!
Ganzem in feiner Verwaltung bejaß; jein wahre,
vornehmftes, unveränderliches, unmittelbares Intereft
galt dem perfönlichen Glüd und dem SPrivatbeit,
die vom Gemeinwohl gänzlih unabhängig waren,
ja ihm oft feindlich entgegenftanden. In begeifterten
Augenbliden hat ſich wohl das Voll gelegentlich zur
Unterſtützung des Gemeinweſens vereinigt, aber in
der Regel hatte das Gemeinmwohl feinen Berfedte,
jondern war allen Parteiungen und ben Rünfen
hinterliftiger Menſchen preisgegeben, die darauf aut
gingen, den Staat zu berauben und den Mechanik
muß der Regierung für ihre perjönlichen Zwede oder
den Nupen ihrer Gejellihaftsklaffe in Bewegung ji
jegen. Diele Schwäche war unheilbar, folange dei
Nationalvermögen und alle wirtſchaftlichen Inte
eſſen de8 Staats in Privathänden lagen; mu
durch gründliche Vernichtung des Privatlapitals und
Gleichheit.
Bereinigung des ganzen Nationalvermogens unter ge⸗
meinſamer Kontrolle lonnte ihr abgeholfen werden.
Nachdem dies geſchehen war, wurde dasſelbe wirt-
ſchaftliche Motiv, — das, ſolange das Kapital in
Privathänden blieb, einen trennenden Einfluß übte
und jenen Gemeinſinn zerſtörte, der die Lebensluft
im Vollsſtaat fein ſollte — zum kräftigſten Binde—
mittel. Es machte die Vollsherrſchaft nicht nur im
idealen Sinne zum gerechteſten, ſondern auch praltiſch
zum wirkſamſten und erfolgreichſten aller politiſchen
Syſteme. Der Bürger, der bis dahin für einen
Teil gegen bie andern Teile gelämpft hatte, wurde
dur dieſe Ummälzung ein Beichüher det Ganzen.“
IV.
Ein Bankbureau im zwanzigften Jahrhundert.
Auf der Bank waren alle Förmlichkeiten ſchnell
erledigt. Dr. Leete ftellte mich dem Vorſteher vor,
und alles andre ergab ſich von ſelbſt; die ganze
Verhandlung dauerte nicht drei Minuten, Es wurde
mir mitgeteilt, baß ber Kredit bed erwachſenen Bür«
gers in diefem Jahr auf 4000 Dollars feftgeftellt ſei,
und daß der mir zulommende Betrag für den Reft
des Jahres — es war Ende September — 1075.41
Dollars betrage.
Ih bat, mir Scheine im Wert von 300 Dollars
zu geben, und ließ das übrige im Depot; ganz wie
id e8 auf einer Bank des neunzehnten Jahrhunderts
gethan haben würde, wenn ich mir Geld zum augen«
blidlichen Gebraud holte. Nachdem das gejchehen
war, forderte mich Herr Ehapin, der Vorfteher, auf,
in fein Bureau zu fommen,
„Wie erjheint Ihnen unjer Banlſyſtem im Vergleich
mit dem des neunzehnten Jahrhunderts?” fragte er.
„Jedenfalls hat e3 für einen armen Einbringling
wie mich einen großen Vorzug,” jagte id; „man
befommt Krebit, ohne ein Depot zu haben. Im übrigen
weiß ich zu wenig davon, um ein Urteil abzugeben.“
„Wenn Sie ımire Art und Weile erft näher
tennen gelernt haben,” erwiderte ber Vorfteher, „wer⸗
den Sie überraſcht fein, wie viel Aehnlichkeit fie mit
der früheren hat, Natürlich giebt e& bei uns fein
Geld und nichts dem Aehnliches, aber die Lehre vom
VWechielgeihäft hat ja von Anfang an der Abichaf-
fung des Geldes den Meg bereitet. Der einzige
Unterjchied ift eigentlich, daß bei unjerm Syitem
jeber das Jahr mit bemielben Saldo zu jeinen
Gunften anfängt, und daß diefer Kredit nicht über-
tragbar ift. Darin find wir aber ganzebenjo ftreng, wie
Ihre Banquierd waren, daß wir ein Depot verlangen,
ehe wir einen Kredit eröffnen; nur macht bei uns das
Volt gewieinfam das Depot für alle aufeinmal, Dies
gemeinfame Depot befteht aus Vorräten von allerlei
Baren und Anweifungen auf die verſchiedenen öffent«
lichen Dienftleiftungen, die vorausſichtlich gebraucht
783
werben, Dieje Waren und Dienftleiftungen werben
abgeihäßt, und bie Summe der Preife, bivibiert mit
der Bevölkerungszahl, ergiebt den Kredit des ein»
zelnen Bürgers, der in gar nichts anderm befteht,
als in feinem perjönlichen Anteil an den Waren
und Dienftleiftungen, die das Jahr über verfügbar
find, Jedenfalls Hat Ihnen Dr. Leete das alles ſchon
mitgeteilt.“
„Aber ich war doch nicht da, als der Ueberſchlag
für diejes Jahr gemacht wurde. Hoffentlich kommen
nicht andre durch meinen Kredit zu kurz.“
„Machen Sie fi darüber keine Sorge,“ er
widerte der Vorſteher. „Es ift zwar merfwürbig,
wie bei einer großen Bevölferung die verſchiedenen
Bebürfniffe fi ausgleichen, aber e8 wäre doch un«
möglich, einen fo großartigen Betrieb wie den unfern
ohne große Meberjchüffe zu verwalten. Wir haben
den Grundfaß, dab von Waren, bie dem Verderben
ausgejept find, und von Waren, in denen der Ge—
Ihmad oft wechjelt, jo wenige Vorräte wie möglich
über den Bedarf hinaus produziert werden follen;
aber von allen wichtigen Stapelwaren haben wir jo
viel auf Lager, daß zwei Mangeljahre den Preis der
haltbaren Produkte nicht ſteigern würden; ja, wenn
die Bevölkerung ſich unerwartet um mehrere Millionen
vermehrte, Lönnte fie doch jederzeit verforgt werben,
ohne da eine Störung zu befürdhten wäre.”
„Dr. Leete hat mir gejagt, daß alles, was der
Bürger am Ende bes Jahres von feinem Krebit nicht
verbraucht hat, ausgeftrichen wird, weil e8 für das
nächte Jahr nicht gilt. Das geichieht wohl, um ein
Anhäufen und Zurüdlegen zu verhindern, wodurd) bie
wirtjchaftliche Gleichheit untergraben werden könnte ?*
„Ganz richtig,“ jagte der Vorfteher, „aber dieje
Mafregel hat außerdem noch den Zweck, die Buch-
führung zu vereinfachen, damit feine Unordnung ein«
reißt. Der jährliche Kredit bezieht ſich auf ganz
beftimmte Warenvorräte, die während des Taufenden
Jahres zur Verfügung ftehen. Für das nädhfte
Jahr wird eine neue Berechnung auf etwas ver
änderter Grundlage gemadt. Zuvor muß aber in
den Büchern die Bilanz gezogen und jede Anweijung
vernichtet werben, bie nicht eingereicht worden ift;
dann wiſſen wir genau, wie wir ſtehen.“
„Und was gejchieht, wenn ich meinen Kredit er—
ſchöpfe, ehe das Jahr um ift?“
Der Borfteher lächelte. „Ich habe davon ge—
leſen,“ fagte er, „daß zu Ihrer Zeit die Verſchwen⸗
dung eim ſehr gefährliches Uebel war. Unjer Syſtem
bat den Vorzug vor dem damaligen, baß ber un«
verbefjerlichfte Verſchwender fein Kapital nicht an-
taften fann, denn es befteht aus feinem unveräußer-
lien Anteil am Vermögen der ganzen Nation, Im
ihlimmften Fall fann er nur die jährliche Dividende
verſchleudern. Sollte das bei Ihnen der Fall jein,
784
fo bin ich gewiß, daß Ihre Freunde für Sie forgen
werden, und wenn fie es nicht thun, thut es das
Bolt. Wir bringen es nicht mehr jo gut fertig wie
unfre Vorväter, im Hülle und Fülle zu leben, wo
andre hungern. Wenn Sie darauf beftehen wollten,
Mangel zu leiden, müßten Sie fi verfteden.“
Welchem Betrag hätte wohl im Jahre 1887 diefer
Kredit von 4000 Dollars entſprochen?“ fragte id.
„Ungefähr 6000 oder 7000 Dollars,“ erwiberte
Herr Ehapin. „Wenn Sie die wirtfdhaftliche Lage
unfrer Bürger abſchätzen, müfjen Sie bedenken, was
für eine Menge Dienftleiftungen und Annehmlid-
feiten jetzt auf öffentliche Koſten geliefert werden, bie
früher jeder felbft bezahlen mußte, Waffer, Licht,
Muſik, Zeitungen, Schaufpiel und Oper, aud) jede
Art von Transport und Verkehrsmitteln, wie Poft
und Telegraphie, ftehen jedem umſonſt zur Verfügung,
nebft taufend andern Dingen, bie man nicht alle
aufzählen kann.”
„Da jo vieles auf öffentliche Koſten geliefert
wird, warum nicht alles? Würde das nicht die
Angelegenheiten jehr vereinfachen ?*
„Im Gegenteil, wir glauben, dab es die Ver—
waltung erſchweren und jedenfall® dem Volle weit
weniger gefallen würde, Wir bejtehen zwar auf Gleich⸗
beit, aber wir hajjen die Gleihförmigfeit und geben
uns Mühe, den verſchiedenſten Geihmadsridhtungen
freies Spiel zu gewähren.”
Da Herr Chapin glaubte, es würde mid) inter«
effieren, hatte er einige Geſchäftsbücher der Bank in
jein Gomptoir gebracht. Trotzdem ich wenig von ber
Buchführung des neunzehnten Jahrhunderts verftand,
fiel mir jofort auf, wie einfach dieſe Rechnungen zu
fein jchienen, im Vergleich zu dem, was ich gewohnt
war. Ich machte eine Bemerkung darüber und fügte
hinzu, dies jei mir um jo auffallender, weil ich bis—
ber gebadht Hätte, daß bei allen Vorzügen, die das
nationale Genoſſenſchaftsſyſtem unzweifelhaft befige,
es doch eine viel umfangreichere Buchführung erfordern
müffe, als unfre Art der Verwaltung. Der Vorfteher
und Dr. 2eete jahen einander an und lächelten.
„Wiffen Sie, Herr Weit,“ jagte der erftere, „uns
tommt es jehr fonderbar vor, dab Sie die Sadıe fo
anjehen. Wir meinen umgelehrt, daß bei unjerm
Syftem ein Rechner genügt, wo zu Ihrer Zeit
mehrere Dubend gebraucht wurden.“
„Aber,“ entgegnete ich, „ieht Führt die Nation
doch eine bejondere Rechnung für jeden einzelnen —
Mann, Weib oder Kind — im ganzen Lande.“
„Natürlich,“ meinte ber Vorfteher, „aber war
das nicht früher aud) der Fall! Wie hätten fonft
die Steuern feftgeflellt und eingezogen werden können?
Wie hätte man über bie hunderterlei Pflichten der
Bürger Auffiht führen jollen? Das damalige
Steuerſyſtem allein, mit feinen Unterfuhungen und
Edward Bellamp.
Schäßungen, feinem Mechanismus zur Einziehung
des Geldes und feinen Strafen, war viel verwidelier
als die Beredinungen, welche Sie hier vor ſich haben.
Diefe fangen, wie Sie jehen, damit an, daß jedem
Bürger beim Beginn des Jahres derſelbe kredit er»
öffnet wird, und verzeichnen nur bie einzelnen Bezüge,
ohne Berechnung von Zinſen und andern Neben
dingen. Ich verfihere Sie, Herr Weit, die Sach
geht jo glatt und gleihmähig vor ſich, dak die Red
nungen mittel3 einer mechaniſchen Vorrichtung gr
macht werben und der Rechner nur auf einer Ma
viatur zu jpielen braucht.“
„Aber, wenn ich recht verftanden habe, verzeichnet
man aud) die Dienfte eines jeden Bürgers, um einm
Maßſtab für feine Leiftungen zu erhalten.“
„Gewiß, darüber wird fehr genau und forgfältig
Bud geführt, jo daß Irrtum und Ungeredtigleit
ausgeichloffen find. Aber dies Regiſter ijt bei weiten
nicht jo verwidelt, wie die früheren Geld» oder Lohn
berechnungen; es hat vielmehr eine Aehnlichteit mit
den einfahen Liften der Auszeihnungen in den Er
ziehungsanftalten, durch welche man die Grade der
Schüler und Studenten zu beftimmen pflegte.”
„Aber fteht nicht der Bürger außerdem nod in
Verbindung mit den öffentlichen Warenhäufern, aus
denen er feine Bebürfnifje bezieht?“
„Gewiß, er erhält jedoch nichts auf Rechnung.
Wie Ihre Zeitgenoffen jagen würden, werden alk
Einfäufe bar bezahlt, das heißt auf der Srebditfart:
eingetragen.“
„Da bleibt immer noch die Berechnung für
Maren und Dienftleiftungen zwijchen den Sager-
häufern und ber probuftiven Abteilung und zwiſchen
den einzelnen Abteilungen.“
„Natürlich, aber das Ganze ſteht unter einer
Oberleitung; alle Abteilungen arbeiten ſich frieblid
in die Hände, und es giebt feine Verſuchung jur
Unredlichkeit. Die Sache ift aljo ein Kinderfpiel im
Vergleich mit ben Schwierigkeiten, die beim Verleht
zwijchen den ſich gegenjeitig mißtrauenden Privat:
fapitaliflen entftanden. Zu Ihrer Zeit hatte jeder
feinen befonberen Gejchäftsbetrieb, und die Leute ſaßen
oft nächtelang auf, um fi) immer neue Kniffe aus
zudenfen, wie fie einander betrügen, überliften und
übervorteilen könnten.”
„Aber e3 find doch ausführliche ftatiftifhe Er-
hebungen notwendig, die bei der Regelung der Pro:
duftion als Grundlage dienen, Dieje können um
möglich ohne jehr viele Rechnerei gemacht werden?“
„Eure Staatöregierungen,* erwiderte Herr Ehapin,
„veröffentlichten auch alljährlich eine Menge folder
ftatiftifchen Berechnungen, die troß ihrer zweifelhaften
Genauigleit viel mehr Mühe gemacht haben müflen,
weil fie ein fehr unwillkommenes Eindringen in
Privatverhältniffe bedingten, während die unjrigen
Gleichheit. 785
nichts andres find als eine Sammlung der Berichte,
die aus den Büchern der verjchiedenen Abteilungen
des einen großen Geſchäfts zuſammengeſtellt werden.
Auch zu Ihrer Zeit mußte ſich jeder Fabrilant, jeder
Kaufmann und Labenbefiker von dem vorausſicht-
lichen Verbrauch vorher einen Ueberſchlag machen,
und wenn er ſich geiret hatte, war er zu Grunde
gerichtet. Dabei konnte er den Verbrauch mur un—
gefähr erraten, denn die Ziffern waren ihm bloß zum
Zeil belannt. Uns aber ſteht das volljtändige Material
zu Gebote, und daher find unſre Voranſchläge nicht
nur viel ficherer, ſondern auch viel einfacher,”
„Erlaffen Sie mir gütigft alle weiteren Beweiſe
für die Dummheit meiner Einwände.”
„Aber, lieber Herr Weft, von Dummheit ift gar
nicht die Rebe. Eine ganz neue Ordnung ber Dinge
fommt einem auf den erften Blid immer verwidelt
vor, wenn man fich auch bei näherer Betrachtung
überzeugen muß, daß fie die Einfachheit jelber ift.
Laſſen Sie mid), bitte, außreden, denn bis jebt habe
ih Sie die Sahe nur von einer Seite betrachten
laffen. Ich Habe Ihnen gezeigt, wie wenige und
wie einfache Berechnungen wir zu machen haben im
Vergleich mit den früheren. Aber die Hauptarbeit
verurfachten noch die vielen Nechnereien, die damals
notwendig waren und von denen wir gar nichts
wiſſen. Soll und Haben fennt man nicht mehr,
Zinen, Renten, Gewinne und alle Berechnungen,
die damit zufammenhängen, find aus der Welt ver-
ſchwunden. Zu Ihrer Zeit hatte jedermann neben
jeiner Abrechnung mit dem Staat noch ein ganzes
Retzwerl von Rechnungen mit feinen Nebenmenjchen.
Selbft der beicheidenfte Lohnarbeiter fland wenigftens
ein dußendmal in den Büchern der Handelsleute;
ein wohlhabender Mann fam wohl hundertmal darin
vor, ganz abgefehen von feinen Beziehungen zu
Leuten, die nicht dem Kaufmannsſtande angehörten,
Ein einigermaßen beweglicher Dollar wanderte an
jo viele Orte, aus einer Hand in die andre, daß
man wohl jagen kann, er hat in fünf Jahren ſich
jelber gefoftet an federn, Tinte, Papier und Scheiber«
lohn — von Mühe und Verger noch gar nicht zu
reden. Alle dieſe Arten von privater und gejchäft«
her Buchführung find gänzlich abgeſchafft. Fein
Menſch ift einem andern mehr etwas ſchuldig oder if
fein Gläubiger. Dan hat feinen Kontralt mit irgend
jemand, auch feine Rechnung bei irgend jemand,
ſondern ſchuldet nur jedem Menjchen die achtungsvolle
Freundlichleit, die feinen guten Eigenſchaften gebührt.“
V.
Ih babe ein ungewohntes Gefühl.
„Doltor,* fagte ih, al3 wir aus der Bank her-
austraten, „ich habe ein ganz jonderbares Gefühl.”
„Was für ein Gefühl denn?”
Aus fremden Zungen, 1897, IL 17,
„Es ijt eine Empfindung, die ich noch nie gehabt
babe, auf die ich nicht vorbereitet bin. Mir ift zu
Mute, ald möchte id) arbeiten. Ja, ih, Julien Wet,
von Beruf Millionär und Müßiggänger, der id) in
meinem Leben nie etwas Nüpliches gethan oder auch
nur ein Berlangen danach verfpürt habe, fühle das
unbezwingliche Bebürfnis, mir die Aermel aufzu—
ftreifen und eine Arbeit zu verrichten, bie als Entgelt
für meinen Lebensunterhalt gelten könnte,“
„Aber,” jagte der Doltor, „der Kongreh hat Sie
ja für einen Gaft der Nation erflärt und Sie aus»
drücklich von allen öffentlichen Dienften freigeſprochen.“
„Das ift alles recht jchön und gut gemeint, aber
ich fange an zu merlen, daß es mir fein Vergnügen
machen wird, von andrer Leute Arbeit zu leben.“
„Wodurch meinen Sie denn, daß diefe neue Ab-
neigung, auf andrer Leute Koſten zu leben, bei Ihnen
entſtanden ijt?* fragte der Doktor lächelnd.
„Ih habe mic, nie viel mit Selbſtbetrachtung ab⸗
gegeben,” ſagte ich, „aber in diefem Fall läßt ſich
die Veränderung leicht erflären. Ich jtehe hier mitten
in einer Geuoſſenſchaft, deren Mitglieder, foweit fie
nicht körperlich unfähig dazu find, alle ihr Teil dazu
beitragen, den Wohlitand zu begründen, deſſen Früchte
ich mitgeniehe. Man müßte doch gar fein Gefühl
haben, wenn man unter jolden Umſtänden ſich nicht
Ihämte, müßig dabei zu ftehen, ftatt mit anzugreifen.
Warum habe ich im neunzehnten Jahrhundert dieje
Pfliht der Arbeit nicht ebenjo empfunden? Run,
einfach deswegen, weil es damals fein Syftem ber
gemeinjhaftlihen Arbeit gab, ja überhaupt fein
Syſtem. Bei der Verteilung der Arbeit war feine
Spur von Gleihmäßigfeit und Gerechtigleit zu finden.
Der konnte, ging ihr aus dem Wege, und die, welche
arbeiten mußten, verwünſchten ihre glüclicheren Mit-
brüder und rächten fih am ihnen durch möglichit
ſchlechte Arbeit. Sehen Sie den Fall, dab ein
junger Menſch wie ich den Wunſch gehabt hätte, an
der allgemeinen Arbeit teilzunehmen. Wie jollte er
da3 anfangen? Es gab gar feine öffentliche Ein—
richtung, welche die Arbeit einigermaßen gerecht ver-
teilte. Ein Zulammenarbeiten war ganz unmöglid).
Bir Hatten nur die Wahl, ob wir und das herr=
ſchende wirtihaftliche Syſtem zu nutze machen wollten,
um von der Arbeit andrer zu leben, oder ob bieje
andern e3 jih zu nube machen jollten, um von
unfrer Arbeit zu leben, Wir mußten ihnen auf dem
Naden fiten, wenn fie uns nicht auf dem Naden
fiten follten. Entweder mußten wir aus dem uns
gerechten Syſtem Vorteil ziehen oder ihm zum Opfer
fallen. Das eine konnte uns moraliſch ebenjowenig
befriedigen wie das andre, und jo wählten wir na=
türlich erſteres. In jeltenen Momenten erfannten
bie anfländigeren Leute, wie unausſprechlich erbärm-
lich es jei, ſich von den Arbeitenden füttern zu lafien;
99
N
aber unjer Gewiſſen war vollftändig des Teufels
geworben durch dieſes hoffnungslos verwirrte wirt«
ſchaftliche Syſtem, bei dem fein Menſch klar jehen
und noch weniger richtig handeln fonnte. Ich kann
breift behaupten, daß in meinem Kreiſe, jedenfalls
unter meinen freunden, fein einziger war, der nicht
in meiner heutigen Lage, einem jo einfachen und
gerechten Syftem der Arbeit3verwaltung gegenüber,
ebenjo wie ich das Bedürfnis haben würde, ſich die
Aermel aufzuftreifen und mit anzupaden.“
„Davon bin ich ganz überzeugt,” jagte ber
Doltor. „Ihre Erfahrung beftätigt nur aufs jchla-
gendjte, was uns ein Abjchnitt in der Geſchichte der
großen Umwälzung erzählt: Raum war die gegen-
wärtige wirtidaftliche Ordnung eingeführt, da wurde
auch den unverbefferlichften Müßiggängern und Baga-
bunden der alten Ordnung die volllommene Gered-
tigkeit der neuen Einrichtungen Mar, und fie drängten
fi) mit Begeifterung zum Dienft des Staates. Was
aber Sie ſelbſt anbetrifft, hat Ihnen denn mein Vor«
ſchlag nicht gefallen, Sie möchten unferm Volke Vor-
lefungen über da8 neunzehnte Jahrhundert halten ?“
Zuerſt habe ih auch gemeint, das wäre ein
guter Gedanke, aber unjer Geſpräch Heute früh im
Garten hat mid) beinahe überzeugt, daß ich und
meine Zeitgenofjen die allerlegten waren, die ver-
fiehen tonnten, was das neunzehnte Jahrhundert
zu bedeuten hatte, und wohin es führte. Wenn id
ein paar Jahre bei euch geweſen bin, werde ich viel«
leicht genug gelernt haben, um mit Verftändnis über
mein eignes Zeitalter zu fprechen.“
„Das hat etwas für ſich,“ erwiderte der Doltor.
„Sehen Sie dort das große Kuppelgebäube jenſeits
des Platzes? Das ift unſre Induftriebörfe. Da wir
gerade davon ſprechen, was Sie thun fönnten, um
ſich nüßlich zu machen, würde e8 Sie vielleicht inter-
effieren, die Art und Weije näher fennen zu lernen,
wie unsre jungen Leute ihre Beichäftigungen wählen?“
Ich war gleich bereit dazu, und wir gingen quer
über den Pla nad der Börfe.
„Bis jet habe ich Ihnen nur einen allgemeinen
Umriß von unferm Syftem des Induftriedienftes
aller gegeben. Sie wiſſen, daß jeder Erwachſene
beider Geſchlechter, wenn er nicht aus irgend einem
Grunde zeitweije oder bauernd davon beurlaubt wirb,
im einundzwanzigften Jahr in den öffentlichen Dienft
eintritt und nach einer dreijährigen Lehrzeit in der
Kaffe der ungelernten Arbeiter fich feine beſondere
Beihäftigung auswählen kann, wenn er nicht vor—
zieht, weiter zu ftubieren und eine der wiſſenſchaft—
lichen Berufsarten zu ergreifen. Da durchſchnittlich
jedes Jahr fi) eine Million junger Leute auf diefe
Weiſe für einen Beruf entjcheidet, jo Fönnen Sie ſich
denken, daß es feine Feine Aufgabe ift, für jeden
bie Stelle zu finden, die feiner Neigung entjpricht,
Edward Bellamyp.
und dabei zugleich für alle Bebürfnifje des öffent.
lichen Dienftes zu ſorgen.“
Ich verficherte dem Doltor, daß ich thatjädlid
daran gleich gedacht hatte.
„Wenige Minuten werben genügen, Sie darüber
aufzuflären,* fagte er. „Es ift merkwürdig, wie ein
vernünftiges Syſtem dem Menjchen die Aufgabe er-
leichtert, feinen richtigen Leben&beruf zu finden, eine
Aufgabe, die zu Ihrer Zeit jo große Schwierigkeiten
hatte und fo felten glüdlidh gelöft wurde.“
Wir ſuchten ung ein behagliches Plätzchen in der
Nähe eines Fenſters der Haupthalle, und der Doktor
brachte eine Menge Probezettel und Formulare herbei,
deren Zwed er mir erflärte. Zuerſt zeigte er mir
die jährlichen Voranſchläge der Regierung für ale
Erforderniffe, die zugleich feftftellten, in welchem Ber-
bältnis die zur Verfügung ftehenden Arbeitskräfte zwi⸗
hen den verjchiedenen Beichäftigungen verteilt werden
müflen, um den Jubuftriedienft auszuführen. Das
war bie eine Seite unſers Gegenftandes, biejenige,
welche fi mit den Bebürfniffen des Gemeinweient
beichäftigte, die befriedigt werben mußten. Dann
zeigte er mir die Zettel, auf denen alle Jüngling:
und Jungfrauen, die in dem betreffenden Jahr aus
der allgemeinen Lehrzeit in die Dienjtzeit übertraten,
Erklärungen darüber abgeben, zu welchen von den
Öffentlichen Dienftleiftungen fie am meiften Neigung
hätten. Wenn fie den Zettel nicht ausfüllten, nahm
man an, daß fie zu jedem dem Gemeinwejen nüßlichen
Dienfte bereit waren.
„Aber,* jagte ih, „mandmal kommt einem
ebenfoviel auf den Aufenthaltsort an wie auf die
Berufsart. Dan möchte fi) zum Beijpiel nicht von
feinen Eltern trennen, und ganz gewiß ſehr ungern
von einer Braut, fo angenehm auch die ermwählte
Beihäftigung in andrer Hinficht jein mag.“
„Sehr wahr,” fagte der Doktor. „Wenn unfer
inbuftrielles Syftem Verlobte und Freunde, Männer
und Frauen, Eltern und Finder voneinander trennen
wollte, würde es jedenfalls feinen langen Beſtand
haben. Sie jehen hier eine Lifte von Ortſchaften.
Wenn Sie bei Bofton ein Kreuz machen, ijt die
Verwaltung verpflichtet, Ihnen eine Anftellung in
diefem Bezirk zu verſchaffen, fonjt könnten ja, mie
Sie jagen, Bande der Liebe und Freundſchaft ge
waltjam zerriffen werben. Aber natürlich fann man
nit alles zugleich haben. Wenn Ihnen daran liegt,
in Ihrem Heimatsort zu arbeiten, werden Sie
vielleicht mit einer Beihäftigung fürlieb nehmen
müſſen, die Ihnen weniger zujagt als eine andre,
die Ihnen offen fand, wenn Sie bereit waren, die
Heimat zu verlafjen. Uebrigens kommt es jelten vor,
daß jemand einen erwählten Beruf den Familien-
rüdfichten aufopfern müßte. Das ganze Land ift
in induftrielle Kreife eingeteilt, und jo viel wie möglid
Gleichheit. 787
foll jeder dieſer Kreife die ganze Induſtrie ums
faffen, fo daß alle wejentlihen Künfte und Hand»
werfe darin vertreten find. So können wir faft immer
die gewählte Beichäftigung ausüben, ohne uns von
unfern Freunden zu trennen. Dazu fommt noch,
daß die heutigen Verkehrsmittel alle Entfernungen
fo verringert haben, daß ein Mann, der in Bofton
lebt und feine Arbeitsftelle Hundert Meilen entfernt
in Springfield hat, ganz ebenjo nahe bei feinem
Geſchäft ift wie ein gewöhnlicher Arbeiter Ihter Zeit.
Wer in Bofton lebt und zweihundert Meilen von dort in
Albany beſchäftigt ift, wäre immer noch beifer daran
als der Vorjtädter vor hundert Jahren, der in Bofton
arbeitete. Viele möchten gern in der Heimat bleiben,
aber es giebt doch auch viele, welche die Abwechslung
lieben und es vorziehen, ben Schauplaß ihrer Kind-
beit zu verlaffen. Auch dieje bezeichnen ben Bezirk,
dem fie am Tiebften zugeteilt fein würden. Sie können
auch ihren zmweit- und drittliebfien Aufenthalt an«
geben, jo daß es fich fehr unglüdlich treffen müßte,
wenn jemand nicht wenigftens in dem Teil des Landes
untergebracht werben fünnte, den er vorzieht, obgleich
die Ortsbezeichnungen nur berüdfichtigt werden müfjen,
wenn ber Betreffende im heimatlihen Bezirk zu
bleiben wünſcht. Alle übrigen Wünſche in biejer
Beziehung werben fo weit erfüllt, als nicht andre An«
ſprüche ihnen entgegenftehen. Wenn num der Bewerber
feine Pifte ausgefüllt und fie dem zuftändigen Regi—
firator übergeben hat, wird fie mit einem amtlichen
Stempel verjehen, der jeine Rangitufe bezeichnet.“
„Was hat das zu bedeuten ?*
„Es ift die Ziffer, welche feinen Pla in ber
Schule und während der Lehrzeit angiebt. Man
nimmt an, daß fie am beiten geeignet ift, ala ein
Anhalt bei der Beurteilung feiner Intelligenz, feiner
Brauchbarleit und Pflichttreue zu dienen. Wenn fich
nämlich mehr Bewerber für beftimmte Befchäftigungen
anmelden, als gebraucht werden, muß, wer die nied⸗
rigite Rangſtufe hat, mit jeiner zweit« oder dritt
liebften Beihäftigung zufrieden fein. Die Vorzugs-
fiften werben ſchließlich auf der Induſtriebörſe
eingereiht und im Hauptbureau durchgejehen. Alle,
bie an ihrem Heimatsort arbeiten möchten, werben
zuerſt verforgt, je nad) ihrer Rangftufe. Dann werben
die Liften derjenigen, die anderswo arbeiten wollen,
nad) dem Nationalbureau gejhidt und dort mit denen
verglichen, die aus andern Bezirken eingelaufen find,
jo dab die Wünſche jedes einzelnen jo viel wie
möglich berüdfichtigt werden können. Wo wiber-
ftreitende Anſprüche zu Tage treten, entſcheidet die
NRangitufe. Es ift eine merkwürdige Erfahrung, daß
die perfünlihen Verſchiedenheiten der Individuen in
einer großen Körperſchaft immer dahin neigen, ſich
auszugleichen und zu ergänzen, eine Thatſache, die
durch unſer Syſtem der Berufs und Ortswahl glänzend
beftätigt wird. Die Vorzugsliften werben im Juni aus⸗
gefüllt, und am erften Auguft weiß jeder genau, mo er
fih im Dftober zur Dienftleiftung zu melden hat.
„Wenn aber jemand eine Aufgabe befommen hat,
bie ihm durchaus nicht gefällt, was die Art der Be-
ihäftigung oder die Iofalen Verhältniſſe anbetrifft,
fo ift e8 noch immer nicht zu fpät, ja es ift über«
haupt nie zu ſpät, fi um eine andre zu bemühen.
Die Verwaltung hat ihr Beftes gethan, um Befähigung
und Wünſche des Einzelnen mit ben Bebürfniffen
des Ganzen in Einflang zu bringen, aber ihre Ein-
richtungen ftehen ihm auch noch weiter zu Gebote,
wenn er den Verſuch machen will, fich eine angenehmere
Beſchäftigung zu verichaffen.“
Und num führte mich der Doktor auf das Weber:
tragungsamt und zeigte mir, wie diejenigen Perjonen,
welche mit ihrer Anweiſung nicht zufrieden find, fich
mit allen andern gleichfalls Unzufriedenen im ganzen
Lande in DVerbindung jeten fönnen, um mit. ihnen
einen etwaigen, beiderfeitig erwünſchten Stellenaus-
tauſch zu verabreden, wobei nur wenige Regeln zu
beobachten find.
„Wenn einer nicht geradezu einen Abſcheu vor
jeder Arbeit hat,” fagte er, „und ihm fein Teil
unſers Landes gefällt, jo wird er früher oder ſpäter
im ftande fein, fich ziemlich genau die Beichäftigung
und die Dertlichleit auszuſuchen, die ihm genehm
ift. Und wenn dennoch jemand jo fchwerfällig jein
follte, daf; er auf feinen Erfolg in feinem Beruf
hoffen fann und auch von einem Wechſel feine Per:
befjerung jeiner Lage erwarten darf, jo it doch
jede Beſchäftigung, die heutzutage vom Staate ge-
dulbet wird, jo befhaffen, daß fie dem glücklichſten
Arbeiter des neunzehnten Jahrhunderts wie eine
große Wohlthat erfchienen wäre, Es giebt feine
Arbeit mehr, bei der die Gefahr fir Leben und Ge—
ſundheit nicht auf das geringjte Maß beichräntt ift,
und babei find dem Arbeiter feine Rechte und feine
Menſchenwürde vollfommen gefichert. Die Verwaltung
ift fortwährend bemüht, die weniger angenehmen
Beihäftigungen mit jo großen Vorrechten, Annehm—
lichleiten und dergleichen auszuftaiten, daß fie ebenſo
häufig gewählt werden wie die andern. Wenn es
ſchließlich doch eine Arbeit geben follte, die allen wider:
fteht und zu ber ſich feine fsreiwilligen melden, jo wird
biefe eben von allen der Reihe nad übernommen.”
„So etwas, zum Beifpiel, wie das Initand-
halten und Reinigen der Abzugskanäle,“ fagte id.
„Wenn dieje Art Arbeit jo widerwärtig twäre
wie zu Ihrer Zeit, würde fie wahrfcheinfich niemand
anziehen und von allen der Reihe nad gemacht
werden müfjen,“ erwiberte ber Doltor, „aber unfre
Kanäle find ebenfo fauber wie unjre Straßen. Sie
führen nur Waſſer fort, das durch einen Apparat,
der fidh in jeder Wohnung befindet, chemiſch gereinigt
788 Edbwarb
und geruchlos gemacht worden ifl, che es in die
Röhren flieht. Durch den nämlichen Apparat werden
alle feſten Beitandteile mittels Eleftricität verbrannt
und als Aſche entfernt. Dieje Verbefferung des
Kanalſyſtems, die fehr fehnell auf den großen Um—
ſturz folgte, Hätte wohl ohne denjelben noch hundert
Jahre auf ihre Einführung warten laſſen, trogbem
die dazu nötigen wiflenfhaftlihen Kenntniſſe und
Vorrichtungen längft der Melt zur Verfügung fanden.
Dieſer eine Fall unter taujenden zeigt deutlih, daß
niemand fi die Mühe gegeben hätte, Erfindungen
zu madhen, durch welche wiberwärtige oder gefähr-
liche Arbeit vermieden wurde, folange die Reichen
an den Armen eine Schar williger Sklaven hatten,
denen fie alle ihre Laſten aufbürden konnten. Durch
die Folgen der wirtſchaftlichen Gleichheit wurbe es
fofort zu einem Intereſſe aller Bürger, dieſe un-
angenehmen Arbeiten möglichſt entbehrlich zu machen,
da alle an ihnen teilnehmen mußten. So verbanft
die Wiſſenſchaft auf chemiſchem, hygieniſchem und
mechanifhem Gebiet dem Umfturz einen ungeheuern
Fortſchritt, ganz abgefehen von der moraliſchen Seite
der Sache.“
„Wahrſcheinlich,“ ſagte ich, „giebt es doch auch bei
Ihnen mandmal excentrifche Leute — ‚Duerlöpfe:
pflegten wir fie zu nennen — die ſich unter leinen Umſtän⸗
den an irgend eine gejeliaftliche Ordnung gewöhnen
fönnen und nicht zugeitehen wollen, daß fie irgend
welche Pflichten haben. Wenn ein folder Menſch
fi nun ftandhaft weigert, dieſen oder jenen nüßlichen
und notwendigen Dienft zu leiften, was wird mit
ihm? Jedenfalls ift doc bei Ihrem Syftem aud) die
Möglichkeit vorhanden, einen Zwang auf foldhe Leute
auszuüben.”
„Keineswegs,“ erwiderte der Doltor. „Wenn
unfer Syſtem ſich nicht als bie befte Einrichtung zur
Förderung der Wohlfahrt aller bewährt, jo mag es
fallen. In Betreff des Induſtriedienſtes verorbnet
unfer Gejch einfah, daß derjenige, welcher nicht an
der Aufrechthaltung der gejellihaftlihen Ordnung
mitarbeiten will, auch ihre Vorteile nicht genießen
darf. Es wäre eine Unbilligfeit gegen die andern,
wenn er mit ihnen gleichberechtigt wäre. Aber ber
Gedanke, ihn mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen,
würde unferm Volke im höchſten Grade wiberjtehen,
Der Dienft zum Wohle des Ganzen ift vor allem
ein Ehrendienft, ber in ritterliher Gefinnung ge
leiftet wird, Wie zu Ihrer Zeit die Soldaten nicht
mit Feiglingen zufammen dienen wollten, fondern
fie unter Trommelſchlag aus dem Lager fliehen, jo
würben unfre Arbeiter fi) gegen die Geſellſchaft
folder Menſchen auflehnen, die fi) ihren öffentlichen
Pflichten nicht willig unterziehen.”
„Aber was fangen Sie mit ſolchen Menſchen an?“
„Wenn ein Erwachjener, der weber verrüdt nod)
Bellamy.
ein Verbrecher ift, ſich vorjäßlih und hartnädig
weigert, in irgend einer Weife zu arbeiten umd weder
eine jelbfigemwählte noch eine ihm zugewieſene Be
Ihäftigung übernehmen will, dann wird er mit ben
Sümereien und Werkzeugen ausgerüftet, die er not-
wendig braudt, und in einen Landesteil gejchidt, der
allein für ſolche Leute beſtimmt ift, etwa in der Art
bes Reſervatgebietes, das zu Ihrer Zeit ben Indianern
angemwiejen wurde, bie fi der Zivilifation nit be»
quemen wollten. Dort bleibt es ihm überlafjen, eine
befjere Löſung der fozialen Frage auszuarbeiten, als
unjre Gemeinſchaft fie ihm bietet, wenn er das Tann,
Mir glauben, daß unfer Syſtem das befte ift; wenn
e8 aber ein noch befjeres giebt, möchten wir es lennen
lernen und annehmen. Jeder neue Gedanke ift uns
willlommen, wenn er ſich bewährt.”
„Und giebt es wirklich Fälle, in denen ein Indi
viduum ſich freiwillig von der Geſellſchaft ausſchließt,
um ihre Pflichten nicht erfüllen zu müfjen?”
„Es hat ſolche Fälle gegeben, wenn ich auch jekt
von feinem mehr weiß. Jedenfalls ift auch hierfür
Vorſorge getroffen.”
VI.
Honni soit qui mal y pense!
Als wir zu Haufe anfamen, jagte ber Dolter:
„Heute morgen werde ih Sie Ediths Gejellihaft
überlaffen müffen. Wie jehr mir meine Pflichten
ald Mentor auch zufagen, ganz ohne Mühewaltung
find fie doch nicht. Die Fragen, auf die wir bei
unfern Gejpräden fioßen, zeigen mir oft, wie not
wenbig es ift, daß ich meine allgemeine Kenntnis
von den Gegenfähen zwiſchen Ihrer und unjrer Zeit
wieder auffrifche und Geſchichtsquellen darüber nad
ſchlage. Die Unterhaltung von heute früh bat mid
auf Gedanken gebracht, die zu allerlei Forjchungen
anregen, mit denen ich ben Reſt des Tages in der
Bibliothel beichäftigt fein werde,”
Ich fand Edith im Garten und nahm ihre Glüd«
wünſche in Empfang, daß ich nun ein vollberedhtigter
Bürger fei, Es wunderte fie nicht im geringften,
ala fie von meiner Abficht hörte, mir jo bald wie
möglich eine Stelle im Induſtriedienſt zu Juden.
„Daß du wünschen würdeft, gleich in den Dienft
einzutreten, habe ih mir wohl gedacht,” ſagte fir.
„Es ift das befte Mittel, um mit den Leuten in
Berührung zu fommen und fich wirklich als ein Glied
der Nation zu fühlen. Wir alle jehen von Kindheit
an dieſem großen Ereignis mit Ungebulb entgegen.‘
„Da mir gerade vom Induſtriedienſt reden,”
jagte ih, „fällt mir ein, daß ich dich ſchon mehr als
ein dutzendmal nad) etwas fragen wollte. Man bat
mir gejagt, daß jeder, der fein Krüppel ift, — Frauen
fowohl als Männer — vom einundzwanzigften bit
zum fünfundvierzigften Jahr die Pflicht hat, der
Nation in irgend einem nüplichen Beruf zu dienen.
Gleichheit. 789
Nun bift du zwar ein Bild von Kraft und Gefund-
heit, haft aber, foviel ich bis jetzt gejehen habe, feine
beftimmte Beihäftigung, fondern lebſt in behaglicher
Muße, ganz wie die wohlhabenden jungen Damen
unjrer Tage, die nichts zu thun hatten, als im Be—
ſuchszimmer zu figen und hübſch auszuſehen. Mir
ift es natürlich im höchften Grade angenehm, daß
du jo viel Zeit übrig Haft, nur verjtehe ich nicht,
wie jih das mit der allgemeinen Arbeitspflicht ver-
einigen läßt.“
Meine Worte ſchienen Edith ſehr zu beluftigen.
„Du dachteſt wohl, ich wäre ſchulkrank und wollte
mid drüden?“ rief fie. „If dir denn gar nicht
eingefallen, daß es auch jo etwas wie ferien ober
Urlaub im Induftriedienft geben faun? Da wir
einen jo ungewöhnlichen und interefjanten Gaft im
Haufe haben, war es wohl fehr natürlich, daß ich
mid eine Zeitlang frei machte, falls es anging.“
„Und darfft du denn Urlaub nehmen, warn es
dir gefällt ?”
„Einen Teil unfers Urlaubs können wir jederzeit
haben, nur darf der Dienft nicht darunter leiden.”
„Aber was thuft du denn, wenn du bei der Arbeit
bift — lehrſt du in der Schule, malft du Porzellan,
bit du Buchführerin, Ladenmädchen, Mafchinen-
ſchreiberin oder Telegraphiftin ?*
„Iſt das die ganze Lifte der Beſchäftigungen,
welche die Frauen zu deiner Zeit betrieben?”
„D nein; das waren nur ihre leichteren, an«
genehmeren Berufsarten. Die Frauen mußten auch
ideuern, waſchen und alle übrige Hausarbeit thun,
Die efelhafteften und niedrigften Dienfte bürbdete
man den Frauen ber ärmeren Klaſſen auf; aber
natürlich wirſt Du doch ſolche Arbeit nicht zu ver-
richten haben.”
„Den mir zufommenden Teil von unangenehmen
Geihäften nehme ich auf mich, fo gut wie jedes
andre Glied der Nation, das verfteht ſich. Doch
find alle unfre Einrichtungen Tängft jo getroffen,
dab e8 nur wenig dergleichen Arbeit giebt. Aber,
lage einmal, hattet ihr denn feine frauen, die fi
den Maſchinenbau, die Landwirtſchaft, Ingenieurfunft
oder Baufunft zum Beruf wählten, feine, die bag
Tiſchler- oder Maurerhandwerf betrieben oder irgend
eins der andern bedeutenden Gewerbe?”
„Diefe Beihäftigungen waren nur Sade ber
Männer; bie Frauen Hatten nichts damit zu thun.“
„Ad ja, das hätte ich wiſſen jollen, ich habe
davon gelefen. Aber es kommt mir jo fonderbar
bor, mit einem Manne aus dem neunzehnten Jahr-
hundert zu reden, der fi von den heutigen Männern
io wenig unterſcheidet, und mir dabei vorzuftellen,
daß die frauen damals Gejhöpfe ganz andrer Art
gewejen jein müfjen.“
„So gänzlich können ſich diefe Verhältniffe doch
faum geändert haben,” jagte ich, „wenn bie Frauen
nicht jet viel größere Körperfraft befiken. Sie waren
für die meiften Berufsarten, die du eben genannt
haft, nicht ftarf genug, und diefe wurden daher aus—
fhlieglih von Männern gewählt; jo wird es mohl
auch heute nod) fein.”
„Es giebt überhaupt gar feinen Beruf und fein
Gewerbe, in dem die Frauen nicht thätig wären,“
entgegnete Edith. Daß wir förperlich jo viel jtärfer
find als die armen Dinger von damals, ift aber
nicht der einzige Grund, weshalb wir die Arbeit ver
richten können, die für fie zu ſchwer war; auch bie
Bervolllommnung der Maſchinen hat bazu beigetragen.
Wir haben und gefräftigt, und alle Arbeit ift leichter
geworden. Schwere Arbeit wird jebt überhaupt
nit mehr mit Händen gemacht, die Maſchinen thun
alles, wir brauchen fie nur zu lenlen, und je ge
ſchidter das geichieht, um jo beſſer arbeiten fie. Du
fiegft alſo, daß heutzutage Körperkräfte bei der Wahl
des Beruf? weit weniger in Betracht fommen als
geiftige Eigenſchaften. Der Geift tritt in immer
engere Beziehung zn dem Werk, und Vater jagt,
wir werben vielleicht noch eines Tages jo weit fommen,
daß wir direlt mittels der Willenskraft arbeiten,
ohne die Hände zu gebrauchen. Gegenwärtig ſollen
mehr Frauen als Männer in ben Maſchinenwerlſtätten
beichäftigt fein. Meine Mutter war Direktorin eines
großen Eiſenhammers. Manche glauben, daß das
Gefühl der Macht, welches den Menfchen ergreift,
während er eine ſolche Riefenmafchine regiert, einem
Trauengemüt noch befier zum Bewußtſein fommt
als dem Manne. Uebrigens wäre es unbillig, wollte
ich dich erraten lajjen, was meine Beihäftigung ift,
da ich mich noch nicht beftimmt für einen Beruf
entjchieben habe.”
„Aber du jagteft doch, du hätteſt jchon eine Arbeit.“
„D ja, du weißt wohl, daß, ehe wir unſern
Lebensberuf wählen, wir drei Jahre lang zu ber
Kaffe der gewöhnlichen, ungelernten Arbeiter gehören.
Ich bin im zweiten Jahr meiner Dienftzeit.“
„Was haft du denn zu thun?“
„Ein wenig von allem und nichts lange. Wir
follen in dieſem Zeitraum einige praftifche Erfahrung
auf dem ganzen Arbeitsfelde fammeln, damit wir
befier im ftande find, uns für einen Beruf zu ent—
ſcheiden. Bor der Aufnahme in dieje Klaſſe müſſen
wir die Schulen durchgemacht haben, aber ich glaube,
ih habe mehr gelernt, jeit ich praltiſch arbeite, ala
in der doppelten Zeit beim Schulunterriht. Du
fannft dir gar nicht vorftellen, welchen Köftlichen Ge—
nuß man auf diejer Arbeitäftufe hat, Mich wundert
8 gar nicht, daß einige vorziehen, ihr Leben lang in
diejer Klaſſe zu bleiben, ftatt ſich eine regelcechte
Beſchäftigung zu wählen. Durch die verſchieden—
artigen Aufgaben, die man erhält, hat man die
790
angenehmfte Abwechslung. Gerade jeht bin ich in dem
landwirtichaftlichen Betrieb auf der großen Meierei
bei Lexington beſchäftigt. Es ift herrlih, und id
bin jo gut wie entſchloſſen, mid; ganz der Land»
wirtfhaft zu widmen. Das hatte ih im Sinn, als
ich dir fagte, du möchteft raten, was mein Gewerbe
ift. Hätteft du e8 wohl je herausbefommen ?”
„Das glaube ich ſchwerlich, und wenn fich der
landwirtſchaftliche Betrieb feit meiner Zeit nicht ganz
verändert hat, jo fann ich faum begreifen, wie du e8
möglich machſt, die Arbeit in Frauenklleidern zu thun.“
Edith jah mic einen Moment höchſt verwundert
an und machte große Augen. Dann betrachtete fie
ihren Anzug, und als fie wieder aufblidte, hatten
ihre Mienen einen halb finnenden, halb beluftigten
Ausdrud angenommen, der mir ganz unverftänblich
war. Endlich jagte fie:
„Haft du denn nicht bemerkt, Tieber Julian, daß
die Frauen auf der Straße anders gefleidet gehen
als damals im neunzehnten Jahrhundert ?*
„Natürlich ift mir aufgefallen, daß fie feine fangen
Röde tragen, aber ihr jeid ganz ebenfo angezogen, du
und beine Mutter, wie die Frauen zu meiner Zeit.“
„Wundert es dich denn gar nicht, daß unjre
Kleidung ſich von der ihrigen unterfcheidet? Haft du
dich nicht gefragt, weshalb wir allein lange Röcke
tragen ?“
„Bielleicht habe ich auch hieran gedacht, bei den
taufenberlei fragen, die täglich in mir auffteigen,
um wieder, bevor ich fie ausſprechen fan, von tauſend
andern Fragen verdrängt zu werden. Ich glaube,
in dieſem Fall würde ich mich aber eher darüber
verwundert haben, warum fich die andern Frauen
nicht Heiden wie ihr. Ich hätte euern Anzug, den
zu ſehen ich gewohnt bin, für muftergültig gehalten,
und der andre Stil wäre mir nur als eine Abart
erjhienen, deren man ſich um irgend eines mir un«
befannten Zweckes willen bediente, den ich fpäter er=
fahren würde. Du mußt mic aber nicht für ganz
einfältig halten. ch geftehe dir, daß jene andern
Frauen mir bis jet faum den Eindrud gemacht
haben, als wären fie echte Menſchen. Du warft
zuerft die einzige Perfon, an deren Wirklichleit ich
nicht gezweifelt habe. Alle andern ſchienen mir nur
zu einer phantaftiichen Wunderwelt zu gehören, bie
jein oder auch nicht fein Fonnte, und die erft jetzt für
mid Zufammenhang gewinnt und anfängt, mir ver=
ftändlih zu werden. Mit der Zeit würde es mir
vieleicht aufgegangen fein, daß es außer bir noch
andre frauen in der Welt giebt, und id, hätte mid
um fie befümmert und fie beobachtet.”
Als ih davon ſprach, wie völlig ih in jenen
erften Tagen entjehliher Verwirrung, als id an
meiner eignen Identität zweifeln mußte, in ihr allein
meinen Halt gejunden hatte, traten meiner Gefährtin
Edward Bellamy.
große Thränen in die Augen — und auf kurze Zeit
waren alle übrigen rauen mehr denn je vergefien,
Bald darauf jagte fie: „Wovon ſprachen wir doch
eben? O ja, ich erinnere mic) — von den andern
Frauen. Ih muß dir ein Belenntnis ablegen:
Während der ganzen Zeit habe ich mich dir gegen-
über einer Täuſchung ſchuldig gemacht oder dir
wenigftens die Wahrheit vorenthalten, und das will
ih auch nicht einen Augenblid länger thun. Jh
hoffe von Herzen, bu wirft mir vergeben, um ber
guten Abficht wegen und nit —“
„So ſprich doch weiter!”
„Nicht zu ſehr erjchreden!”
„Du machſt mich ordentlich neugierig,” fagte ih;
„was ift denn das für ein Rätſel? Ich glaube, ih
werde es ertragen Fünnen, die Löſung zu hören.“
„Nun gut, du follft alles wifjen: Im jener merl«
würdigen Nacht, ala wir dich zuerſt jahen, war natür-
lich unfer Hauptgedanfe, dir jede Aufregung zu er-
fparen, wenn du zu vollem Bewußtſein erwachen
würdef. Du follteft von den erjtaunlichen Ver—
änderungen, die fid) jeit deiner Zeit zugetragen haben,
anfänglich nicht mehr zu jehen befommen, als durd»
aus notwendig war. Wir wußten, daß damals ale
Frauen in langen Kleiderröden gingen, und glaubten,
es würde dir natürlich höchſt ſeltſam erjcheinen,
Mutter und mid) in einem modernen Anzug zu jehen.
Nun werden zwar ſolche Weiberröde gar nicht meh
getragen, aber es jind alle möglichen Trachten aus
alter und neuer Zeit, wie fie bei den verjchicbenften
Völkern in allen Jahrhunderten und auf allen Ent
widlungsftufen vorfamen, entweder auf Lager oder
fönnen in kürzeſter Friſt angefertigt werden. |:
hatte daher für uns feinerlei Schwierigfeit, leider
alten Stil zu erhalten, bevor Vater uns zu dir riel.
Er jagte, die Leute hätten zu deiner Zeit jo jonder-
bare Anſchauungen über weibliche Sitten und Anftand
gehabt, daß er dieſe Verkleidung für die befte hielte.
Kannſt du ung verzeihen, Julian, daß wir ung deine
Unwiſſenheit jo zu nuße gemadt haben ?”
„Glaube mir, Edith!“ verfeßte ich, „wir hatten
im neunzehnten Jahrhundert viele Einrichtungen, die
nur gebuldet wurden, weil wir nicht wußten, wie
wir fie 108 werden follten. Im Grunde gefielen fie
und gerade jo wenig wie jet auch, und dazu gehörte
auch die Tracht, durch welche fich die Frauen ver-
unftalteten und an ber Bewegung hinderten.“
„D, wie froh bin ih!" rief Edith. „Ich habe
einen förmlichen Abſcheu vor den greulichen Süden
und will fie auch feinen Augenblid länger tragen.”
Sie bat mich, ich möchte dableiben, bis fie wieberläme,
und lief ins Haus,
Nachdem ich etwa fünf Minuten in der Laube,
wo wir beijammen gejefjen, gewartet hatte, hörte ih
einen leichten Schritt auf dem Raſen. Ich blidie
—— = E
Gleichheit.
auf — vor mir fand Edith in ihrem mobernen
Anzug und jah mi mit erwartungsvollen Bliden
lähelnd an. Seitdem habe ich dieſe Tracht in
hunderterlei Abwechslungen gejehen, und bie enblofe
Mannigfaltigkeit derjelben ift mir nichts Neues mehr.
Schwerlid) wäre aber die Einbildungsfraft des größten
Künftlers im jtande, ein Gebilde an Stoff und Farben
zu erfinnen, das einen jo entzüdenden und über«
rajhenden Eindrud auf mich machen könnte, wie
ihr Anblid in dieſer einfachen, raſch übergeworfenen
Kleidung.
Wie lange ih jo in ihre Betradhtung verloren
dageftanden habe, ohne Worte zu finden, weiß ich
nicht; aber meine Augen jagten ihr ohne Zweifel in
beredter Sprache, wie jehr ich fie bewunderte. Ihr
ſchien jedoch mein Gefihtsausdrud noch etwas andreg
ju verraten, denn gleich darauf rief fie:
„Wenn id nur wüßte, was du jeßt in deinem
innerften Herzen dentft — ich gäbe viel darum!
Es muß etwas jehr Komijches fein. Weshalb wirft
du denn jo rot?”
„Ih erröte über mich jelbft,* erwiderte ich, und
mehr erfuhr fie nicht von mir, wie jehr fie mich auch
quälte, Aber jept, nad) jo langer Zeit, will ich bie
Wahrheit nicht mehr verjchweigen.
Außer der grenzenlofeften Bewunderung war
mein erſtes Gefühl eine gelinde Ueberrajchung geweſen
über die volllommene Ruhe und Unbefangenheit, mit
der fie meinen Bliden begegnete. Dies Bekenntnis
mag den Lejern des zwanzigften Jahrhunderts wohl
unverftändlich fein, und Gott verhüte, daß fie je
lernen, es in einem Lichte zu betrachten, welches es
ihnen Marer macht. Eine frau, die nicht von Berufs
wegen gewöhnt gewejen wäre, ſich biefer Tracht zu
bedienen, hätte zu meiner Zeit einen jo lange und jo
feft auf fie gerichteten Blid, wie den meinigen, nicht
ju ertragen vermocht, ohne in Verlegenheit zu ge-
taten und ſich unbehaglih zu fühlen — und wäre
es aud) nur der Blick ihres Vaters oder ihres Bruders
gewefen. Vermutlich erwartete ich wenigftens ein
leijes Zeichen der Verwirrung in Ediths Weſen zu
bemerken und erftaunte unwilllürlich über die völlig
unbefangene Art, mit welcher fie ihre Freude an meiner
791
Bewunderung zu erkennen gab. ch erwähne bieje
meine augenblidlihe Empfindung nur, weil fie mir
die Umwandlung aufs grellfte zu beleuchten jcheint,
welche fich ſeit meinem früheren Leben nicht nur in
den Sitten, jondern in der ganzen ſeeliſchen Be-
ziehung der Geſchlechter zu einander vollzogen hat,
Doch will ih, um mir jelbjt nicht unrecht zu thun,
gleich hinzufügen, daß mein erftes Staunen ebenfo
raſch, wie e# gelommen war — zwiſchen zwei Puls-
ſchlägen — wieder verſchwand. ch gewann aus ihrem
Haren, heiteren Auge die Auſchauung, die ber moderne
Mann vom Weibe hat, um fie nie wieder zu ver⸗
lieren. Vor Scham über mid) felbft mußte ich er—
töten, aber feine Macht der Welt hätte mich damals
bewegen fönnen, den Grund einzugeftehen. Jetzt
babe ich ihr alles längſt befannt.
„Mir jcheint, wir haben alle Urſache,“ ſagte ich,
„der Frau des zwanzigften Jahrhundert? dankbar
dafür zu fein, daß fie ung bie fünftlerifche Geftaltbar-
feit ber männlichen Meidung offenbart hat.“
„Der männlichen Kleidung?" fragte fie, als
hätte fie mich nicht recht verflanden. „Sprichft du
von meinem Anzug?”
Jawohl; e8 ift doch Männertracht, nicht wahr?“
„Weshalb denn nicht ebenjo gut FFrauentradht ?“
fragte fie und jah mich groß an. „Ja fo, im Augen-
blid hatte ich wirllich vergefjen, mit wen ich jprad).
Natürlich galt dies damals für die männliche Klei—
dung, als die frauen fi wie die Waflernigen
anzogen. Du magft mich einfältig jchelten, daß ich
deinen Gedanken nicht raſcher aufgefaßt habe; doch
ih ſagte dir ja ſchon, daß mein Verftändnis für
Geſchichte nur gering if. Seit mehr ala zwei Ge-
nerationen Heiden fich die Frauen ſowohl ala die
Männer jept bereit3 in dieſe Tracht, und nur ein
Profeſſor der Weltgeſchichte fönnte auf den Gedanken
fommen, daß fie mehr bem männlichen als dem
weiblihen Geichlecht angehört. Uns ericheint fie
nur al3 die natürlichjte und bequemjte Löfung der
Kleiderfrage, die im weſentlichen für Mann und
Frau die gleiche ijt, da doch beide Geſchlechter die-
jelben Gliedmaßen haben.”
Fortſetzung folgt.)
Berforgt.
Eduard Wilde,
Aus dem Efidnifchen überfeht von Paul Dange.
L
Eine jener Trauungen, die viel boshafte Neugier
errveden. Ein Summen in ber Kirche wie im Bienen-
torbe. Frauen und Jungfrauen, zahnlofe alte und
blühende junge, heiratäluftige und eheüberdrüffige,
liebende und ſolche, die geliebt haben oder es noch
wollen, alle find fie gelommen. Sie find gefommen wie
die Spaßen, die neugierig freifchend einen vom Habicht
gepadten Genoſſen umſcharen. Sie find gelommen, um
zu fritteln, zu bedauern, zu bemeiden, zu beladen.
Anlaß giebt's nämlich zu allem. Denn man denfe fid:
er fünfundjechzig, fie faum achtzehn! Er mit einem
Fuß im Grabe, ihr Großvater könnte er fein — fie
trägt womöglich noch ihr Konfirmationshemd*)....
Des lieben Geldes wegen, natürlich! Er ein Mann
von mindeftens fünzigtaujend, fie eine blutarme
Waiſe ... Sie ift ja nicht blind und nicht dumm,
die feine blonde Näherin! Wadelige Gebäude pflegen
bald einzuftürzen, Und bedt ihn nad) einigen Jähr—
hen ber grüne Rajen, jo wird ſich ſchon alles finden.
Reid) bleibt eben reich. Sammet und Seide, Kuticdhen
und Pferde, ein Leben in nie geahntem Ueberfluß
find immerhin Saden, um die man einen alten
Narren in den Kauf nehmen kann. Bejonders wenn
man eine hungernde Näherin ift...
Die Orgel beginnt leife zu fpielen. Der Geift-
liche erjcheint. Bewegung. Aller Augen richten ſich
nad der Hauptthür, in welcher ber weißſchwarze
Brautzug jihtbar wird. Voran das Brautpaar,
Aus der wallenden Schleierwolte über ſchimmern⸗
ber Seide ſchaut ein junges, mageres Antlitz hervor,
beinahe ängſtlich; es ift von gelblicher Bläſſe mit
einem rührenden Zuge von Bitterfeit um ben Mund,
Die großen grauen Augen haben einen fajt müden
Ausdrud, Man merkt nicht viel von Siegesfreude
an ihr. Man ift etwas enttäufcht. Sie heuchelt
natürlich . . An ihrer Seite der greife Bräutigam,
Kaum berühren ihre Fingerjpigen jeinen Arm. Sie
hat ihn ja ohnehin... Er geht im nagelneuen
Ihwarzen Frad, der um feinen dürren Körper mit
der eingebrüdten Bruft und dem gebeugten Naden
*) Efihnifche Nedewendung. Der Ucherfeker.
ironifche Falten wirft. Sein hoher, kahler Schädel
von einem ſchmalen Kranz ergrauter Haare bejüunt,
glänzt auf wie Elfenbein im gelben Schein ber
Kronleuchter, und die bläulichrote, dicke Nafe fiedt
gleich einem dunfeln Faßſpund in dem großen, run:
zeligen Geſicht. Er jchreitet ein wenig unſicher, mit
eingebogenen Knieen, indem er feine riefige, gewaltjan
in ben weißen, geplaßten Handſchuh gezwängte redıi:
Hand mit gejpreizten Fingern an feinen Leib drüdı.
Es folgt der heitere Zug der Marjchälle und
Brautjungfern — rad, Eylinder, lichte Roben —
darauf eine buntjdhedige Menge von älteren und
jüngeren Hochzeitsgäſten verſchiedener Gejeljdef-
Mafjen, in ftäbtijchen Kleidern und in Anzügen von
hausgewebtem Stoff, rauen in Hüten und Haube
Der Paſtor thut dem Zuge einige Schritte eni-
gegen, um den Einzug bed Brautpaares zu fegnen.
Am Altar drängt fi alles dicht zujammen, dem
Brautpaar möglihft nahe, während der feierlihe
Kantus des Kirchenchors mit des Küſters fiegreiden
Baß den weiten, düfteren Raum durchflutet. Die
Heinen, jtahlfarbenen Augen des beleibten Pfarrer:
ſchweifen fühl und ruhig vom Brautpaar zu de
Hochzeitsgäſten, über diefe hinweg zur Maſſe ber
ziihelnden Neugierigen. Nach vielen vorbereitender
Mundbewegungen beginnt er feine Anſprache, bie fd,
da der Bräutigam reich ift, ſehr im die Länge zieht
und Herzlichkeiten enthält, welche mit dem falten
Haud), der von des Paftors jtrenger Phyfiognomie
aufgeht, im recht jonderbarem Widerſpruch fichen.
Jetzt, wo bie beiden im vollen Kontraſt ihre
Erjheinungen, mit ihrer Jugend und ihrem Alter,
mit ihrer Schönheit und Häßlichkeit, aller Augen
preiägegeben find, entladen ſich erft die übernolen
Herzen der lieben Nächſten in ähzenden Stritifen.
Blide weibiſchen Neides überziehen gleichſam mit
ftaubigen Spinngeweben das koſtbare Hochzeitslieid
der Braut; Worte billigen Spotts klatſchen auf bir
Glatze des Bräutigams nieder; und ein flechende:
Wifpern von Ohr zu Ohr...
„Und wäre er ein Kröſus — niemals!...” ziſchelt
eine bejahrte Jungfrau, mit faltenreichem Munde,
der an eine zugebundene Sadöffnung erinnert,
Berjorgt. 793
„Sid jo wegzuwerfen, fih mit Leib und Seele
zu verfaufen für Geld — entſetzlich!“ grault eine
andre,
Eine dide Kaufmannsfrau, die neben ihnen fteht,
fihelt — wohl aus Abneigung gegen alte Jungfern —
etwas bom Fuchs, dem bie Trauben zu hoch gehangen,
und lobt mit überlegener Miene den praltifhen Sinn
der Meinen Näherin, die da wille, was Reichtum im
Leben zu bedeuten habe.
Zwei Mädchen, beide noch fehr jung, mit lächeln»
den, erregten Geſichtern, flüftern miteinander:
„Bird fie den küſſen mögen?”
„Pfui, ich nicht!”
„Nein, ih auch nicht!”
Sie ihern in ihre Tafchentücher hinein. Darauf
eine der andern tief ins Ohr:
„Wie wird fie fchlafen bei ihm!”
Sie plagen beide heraus, die lieben, unſchuldigen
Badfiihe, denen es zu Haufe verboten ift, Romane
zu leſen, und nachdem fie ihren Lachkrampf bewältigt,
heiten fie ihre ſinnlich-dreiſten Augen mit einer Zus
dringlichkeit an das bleihe, ernſte Gefiht dba am
Utar, daß es ein Stehen und Juden empfindet,
und ein großer, faft flehender Blid fucht die Grau-
lamen abzuwehren.
Das Ehegelübde mit dem Wechſeln der Ringe.
Den Näherftehenden entgeht es nicht, wie die
Ihmale Hand der Braut heftig zittert, wie die
blauen Aederchen an ihren durchfichtig weißen Schläfen
dunkler anfchwellen. Das mürtengefrönte blonde
Haupt wendet fich ein wenig zurüd, und ein Blick
fiebernder Angſt flüchtet einem jungen Manne zur,
der als Bruder der Braut und Marſchall ganz in
ihrer Nähe jteht. Derjelbe ſcheint in die Betrachtung
irgend eines Mädchengefichts drüben im Publikum
vertieft zu fein, wobei er mechaniſch an feinem
Reifgewichften,, ſchönen Schnurrbart dreht; plötzlich
gewahrt er den ſuchenden Blid der Braut, winft ihr
brüderfih zu und lächelt vergnügt... Etwas wie
ein gewaltſam unterdrüdtes, mit den Zähnen zurüd-
sehaltenes Schluchzen wird vernehmbar. Man glotzt
die Braut gutmütig an. Bräute weinen ſtets. Aber
rein, man hat ſich geirrt. Sie weint nicht. Ihre
Sippen find feft aufeinander gepreßt, ihre Füge ruhig
— fie weint nit. Sie antwortet dem Geiftlichen
mit einem vernehmlichen Ja und verſpricht, ihn zu
lichen, den alten Mann an ihrer Seite, und Freud'
und Leid, Glück und Unglüd mit ihm zu teilen; fie
erfennt ihn an als ihren Gebieter, und e3 ſoll fie
niemand jcheiden, bis daß der Tod fie jcheidet...
I.
Das mittlere Stodwert des Tammilſchen Haufes,
acht Fenſter zur Straße, ift glänzend illuminiert.
Die breite Hauptthür, den Flur und die Treppe
ihmüden grüne, mit bunten Fähnlein beſteckte Guir-
Uns fremden Zungen. 1897. IL 17.
landen; ein mächtiges Transparent über dem Ein-
gang läßt weit hinaus ein deutſches „Willtommen !
Bivat das junge Paar!” leuchten. Deutſch ift nun
einmal die feinere Umgangsſprache unſrer efthnifchen
Bürger...
Oben jauchzt das Klavier, und die ſchwankenden
Schatten der Tanzenden huſchen in enblojer Kette
an den hellbeleuchteten Scheiben vorüber. Unten
vor dem Haufe fteht eine gaffende Vollsmaſſe, dicht
und geduldig wie eine Mauer, obgleic fie außer den
zitternden Silhouetten der Tanzenden und den ge=
dämpften Tönen der Muſik vom Seite nichts zu
jehen und zu hören befommt. Es ift aber die Hochzeit
des alten Tammik, den jeder dritte Menich in der
Stadt kennt, und dazu eine jo drollige Hochzeit! ...
Selbſt an der Hinterjeite des neuen breiftödigen
Haufes, im großen Holzhof, wo Tammiks Dampfe
ſägemühle ihren rauchgeihwärzten Schlot erhebt, hat
ſich neugieriges Publikum, zumeift aus jugendlichen
Arbeitern und Gafjenbuben beftehend, auf den riefigen
Bretter- und Ballenſchichten feftgeiegt.
Drinnen in den Feſträumen herrſcht fröhliches
Treiben, In jedem Gemach, in jeglicher Niiche
iprubelt der Duell übermütigen Frohſinns. Man
fühlt ſich wohl in dem reizenden Neft, das ber alte,
verliebte Täuberich jeinem Meinen Weibchen ber«
gerichtet hat. Unten aus dem dumpfen Keller hat
er eö hinaufgetragen in Licht und Glanz und fojige
Wärme Es muß fie ordentlich blenden, ihr be»
icheidenes Herz von Dankbarleit überſchwellen Laffen,
was fie bier jicht und fortan ihr eigen nennen darf!
Der alte Tammil, als Auferft jparfam, beinahe
geizig allgemein befannt — er hat plötzlich in feinem
Bräutigamätaumel den Beutel nad) allen Richtungen
hin ausgejchüttet, als enthielte derjelbe ftatt Bank—
noten Sägejpäne, und einen Hang zum Luxus ent
widelt, der alle in Erſtaunen ſetzte. Ad ja, jpäte
Liebe jchlägt mitunter gewaltige Flammen!
Die junge Frau hat viel tanzen müfjen. Eine
flüchtige Nöte belebt ihre Wangen, Sie jieht nun
hübjcher, viel hübjcher aus als vorhin in der düftern
Kirche, in ihrer ängſtlichen Hilflofigkeit. Sie ift
bejtändig von einem Schwarm junger Kavalicre ums
ringt, die ihr mit ihren Galanterien ſchon recht
läftig zu werden beginnen, Sie muß lädeln, ant-
worten, auf jeden Scherz eingehen, und fie fühlt ſich
jo abgejpannt. Endlich gelingt es ihr, ihnen zu
entichlüpfen, und fie gerät unverjehens in jenes reizend
ausgeftattete Feine Gemach, welches fie ihr ‚Boudoir“
bat nennen hören ; „er“, jelbit hat es dazu beftimmt,
bat es ausihmücden laſſen und es ihr heute zum
erftenmal triumphierend gezeigt.
Sie zieht die Thür hinter ſich zu und atmet tief
auf. Ihre ängftlichen Augen ſchweifen mufternd
umber in dem Meinen eleganten Raum. Wie ein
100
N
Ir ana Amen
A . er —— ‘ mr
Bu mn m — — — — — — — —— — ET
794 Eduard Wilde.
bräutliches Schmuckläflchen! Sie ſchaut und ſtaunt.
Aber troden, glanzlos bleibt ihr Blick, kein Aufzuden
belebt ihre müden Züge. Keinen Gegenftand wagt
fie zu berühren. Als wär's fremdes Eigentum!
Als befürchtete fie, etwas davon umzuwerfen, zu
zerbrechen . . Jene Thür nebenan führt zum gemein»
famen Schlafgemadh der Neuvermählten. Sie nähert
fich derſelben und bleibt auf der Schwelle ſtehen.
Beängftigend prunkvoll fieht es auch dort aus. Eine
toitbare rolenfarbene Ampel hängt von der Dede
herab und verbreitet einen geheimnisvoll füßlichen
Dänmerjchein. Dort an der Wand thront ein
prachtvolles Himmelbett mit einem Dad aus hell«
blauer Seide, mit funftvoll drapierten Vorhängen,
diden, feidenen Schnüren und Quaſten. Schwellende
Kiffen, ſchimmernder Atlas Iugen verführeriich hervor,
und ein Duft von Roſen und Reſeda ſtrömt der
jungen Frau entgegen.
As ihre Blid das harrende Ehebett ftxeift,
zudt fie zufammen, und wie abmwehrend ftredt
fie die Hand aus... Eine fröftelnde Angjt macht
ihre Glieder erbeben, jaugt ihr das warme Blut aus
den Wangen. Es ift ihr, als fühlte fie einen falten,
knochigen Greifesarm mit widerlihem Koſen um ihren
Hals ſich ſchlingen — fie prallt zurüd und wirft die
Thür haftig zu...
Im Bondoir finkt fie auf eine Couchette nieder,
Ihr gegenüber blinkt ein großer Spiegel, in welchem
fie ihr bleiches Antlik erblidt, Mit einem Gefühl
namenlojen Mitleids beginnt fie ſich zu betrachten.
Ein junges, liebes Geficht mit großen, Tebensvollen
Augen, mit Lippen friſch und begehrlich; der Hala
io weiß und lieblich gerundet, ein Buſen von praller
Jungfräulichkeit, lauter unberührte Schäße ... Und
das alles verfauft! Erbärmlicher, verächtlicher Plünde⸗
rung preiägegeben!...
Uns ihren Nugen bricht es wie grenzenlofer
Janımer; das verzerrte Antlik im Spiegel, es ift
das einer Verbrederin...
III.
Weshalb ſie den Handel eingegangen?
Als ob es für ein armes Mädchen, das zwölf
Stunden täglich arbeiten muß, dabei kaum ihren
färglichen Lebensunterhalt erwirbt, ſich nur not⸗
dürftig Heiden kann, im Seller ein feudhtes Zimmer-
hen bewohnt — als ob e& für fie befonderer Gründe
bedarf, eine ihr helfend entgegengeftredte Dannes-
band zu erfaffen, und wäre dieſer Mann auch das
höhnende Gegenteil von allem Gebadten und Er—
jehnten! Und fommt da nod einer, der reich ift,
jehr reich, der Ausfichten auf ein lichtes, forgenfreies
eben eröffnet, auf eine Zulunft, davon fold ein
darbendes Menfhenkind nie zu träumen gewagt —
wäre es da nicht lächerlich, auch nur einen Nugen-
blick unfchlüffig zu fein? Nein, es bedarf da keiner
befonderen Gründe, die Wahl ift jo beihämend
einfach.
Dennoch — Paula Koppel wäre in der Lay,
eine „Beeinfluffung* ihrer Wahl, einen gemiflen
Zwang nachzuweiſen.
Sie hat einen Bruder. Ein netter junger Man,
Commis in der Galanteriewarenbrandje. Ex hat feier
Stellung verloren — eine folge der gebrüdten Gr
ſchäftslage in der Stadt. Die Herren Chefs verminderten
entweder die Zahl ihrer Angeftellten, oder fie jekten
deren Gehälter herab. Man fing am, auf beſſen
Zeiten zu warten. Die Herren Chefs Tonnen «,
die entlaffenen Commis zumeift nicht. Arthur Koppel
zum Beifpiel brachte e8 nur auf drei Wochen mit
dem Warten, dann war bie lebte Sopefe feines Ichien
Monatsgehalts aufgezehrt, die ſchlechte Zeit aber blich
Es änderte ſich auch in drei, vier Monaten, in einen
halben Jahr nichts daran, und der nette junge Dam
mußte fi von feiner Schwefter ernähren laſſen, von
der Schwefter, die fünfzig Kopeken täglich verdient.
Und nicht nur ernähren — ſogar für feine Kleidung
hatte fie zu forgen. Denn fold ein Handlungsgeiil:
von der Galanteriewarenbrande muß überaus fer
gefleidet gehen, tabellofe Wäjche tragen, in feinen
Aeußern dem Mobebilde in des Schneiders Shu-
fenfter möglihft ähneln. Der Prinzipal fieht &
gern, weil er meint, daß es die Runden gern jeher,
Bon Nod und Krawatte hängt jomit das Engagement
ab. Einen ſchäbigen Commis nimmt feiner. Hinter
der Schäbigfeit wittert man jogleich allerlei In
tugenden, mindeftens Neigung zur Unorbentliäfei.
Arthurs gute Garderobe und feine Wäſche bükten
aber nad und nad) ihre Untadelhaftigfeit ein ki
jeinen vielen Irrfahrten nah einer Stellung. &
juchte nicht nur die eigne Stadt wöchentlich einige
mal ab, er bereijte auch die meiften übrigen in dır
drei heimatlidhen Provinzen. Zur Beſchaffung de
nötigen Reijegelder trug Schweſterchen Paulı —
weil der Gang ben eleganten jungen Mann fo ieh
genierte — alles Entbehrliche und Unentbehrlicht ju:
Leihlaſſe. Bon feinen erfolgiofen Touren tehrt
Arthur immer wieder zum lieben Schweſterchen zuri‘
in die Feine niedrige Stube im Tammilſchen Kılı
Nah acht Monaten ftellenlojen Bummelus jc
Arthur Koppel nicht mehr aus wie ein feiner Gommi:
der Salanteriewarenbrande; dem Modebilde in di
Schneiders Schaufenfter glich er erjt recht nicht. Ir
feine hellgeftreiften Beinkleider fragen fich hinten as
den Haden gefranfte Segmente ein, der Kammgar-
tod nahm einen franfhaften Atlasglanz an, der v0
mals braune Filzhut begann zu changieren wie di
modernen jeidenen Blowienftoffe, und im ben ipikigen
Stiefeln rangen die tyrannifierten Zehen mit Erſolz
nad) Licht und freiheit... Und da der nette jung
Mann auch jelber eine leidenichaftliche Vorliebe
Verjorgt. 795
elegante Anzüge, neue Hüte und farbige Krawatten
begte, jo erjchütterte ihm die Tragif feines jehigen
Habitus jo tief, dab er, wie er jeiner ängftlichen
Schweſter einmal verriet, über Selbftmorbgebanfen
brütete. Der unglüdlihe Jüngling — er fonnte
den Jammeranblid jeines fieberglängenden Rockes,
feiner angefreffenen Hofen nicht länger ertragen! ...
Zudem war aud) die Verpflegung bei der Schiwefter
nicht befonderd, Er magerte ab, der Arme, er verlor
feine roten Baden, feine ganze Lebensluſt, und nie
jah man feinen font jo fröhlichen Mund unter dem
ihneidigen Schnurrbart mehr lachen.
Dos alles mußte der guten, ihn zärtlich liebenden
Schwefter zu Herzen gehen. Sie litt womöglich noch
mehr ala Arthur ſelbſt. Wohl bürftete und nähte
und flidte fie unermüdlich an ihm, ganze Nächte dafür
opfernd, ſchwerer Tagesarbeit folgende Nächte, und
trofdem ihr das Blut aus den zerftochenen Fingern
tröpfelte und die übermüden Augen fait nichts
mehr jehen lonnten — es half nicht viel, der Zahn
der Vernichtung war ftärker.
Und num noch der Nermften übrige Sorgen!
sh muß Sie nochmals um Nachſicht bitten,
Herr Tammik — die Miete für zwei Monate —
ih lann fie nicht... Mein Bruder — Sie wifjen —“
Der Alte pflegt verbiffen dreinzufchauen, wenn
man ihm flatt Geldes leere Worte bringt, Er ift
im Begriff, eine fcharfe Bemerkung zu machen — ba
blidt er die Meine Näherin an und verjchludt das
Wort. Es wird nur ein Grunzen vernehmbar. Er
will fi gedulden,
Nah einem Monat wieder:
Verzeihen Sie, Herr Tammik — mein Bruder
— er hat Schon bie beften Ausfichten — es kann fich
nur um ein paar Wochen handeln — bis dahin — *
Er wird aud diesmal nicht böfe. Kaum ein
Stirnrungeln, aber fein Grunzen. Er blidt ruhig,
beinahe freundfih. Er bietet ihr jogar einen Stuhl
an und erfundigt ſich teilnehmend nad ihren und
ihre Bruders Berhältniffen. Dabei ſchaut er fie
immerfort an, jo jeltfam forjchend und prüfend und
— noch etwas anders, fo daß die Heine Näherin vor
Furcht und geheimem Unbehagen abwechſelnd errötet
und erbleiht... Nein, nein, fie möge fich feine
Sorgen machen, er fei fein Tyrann, es würde fi
Ion einmal finden...
Es thut auch nichts, daß fie noch und noch einmal
mit derjelben abgedroſchenen Entſchuldigung kommt
— er bleibt bei ſeinen milden Troſtesworten, der
leutſelige alte Herr, den man als geizig verleumdet,
nur daß ſein Anftarren ein wenig dreiſter wird, da
fe ſich ſchon mehr kennen, und jeine fragen und
Bemerkungen vertraulicher, wärmer klingen, weil ihre
Kot ihm Mitleid einflößt. Immer längerer Gejpräche
würdigt er fie, wenn fie fommt, und wenn er ihr im
Treppenflur zufällig begegnet, erkundigt er ſich aufs
gütigite nad) ihrem Ergehen.
Eines guten Tages — wer fommt da? Es ift
ber alte Herr Tammil, der in Paulas unterirdijchem
Stübchen erſcheint. „Die Mietihuld!* zudt es ihr
durchs Herz. Bewahre! Der gute Alte will nichts
davon hören. Er komme nur, da e8 Sonntag fei,
um fi ein wenig zu unterhalten, denn er habe es
jo einfam und langweilig da oben in den großen,
ftillen Räumen; er fei ein einfadher Mann, habe
feinen Verkehr — und fo fort... Herr Koppel
nicht daheim? Nun, ganz gleih.... Er plaubert
und plaudert und geht dann wieder...
Noch ein zweites, ein brittes Mal fieht Paula
feine Glaße in der ſchmalen Thür aufleuchten, feine
hagere Gejtalt gebüdt in den niedrigen Raum treten,
jein welfes Gefiht mit füßlichem Lächeln ſich ihr
nähern. Und immer fein Wörtlein über die Schuld!
Was er nur will? Was es nur bedeuten mag?
Doch nidht etwa — pfui!...
Und doch!
Er legt jchließlich ein Bekenntnis ab — ernſt und
überzeugend. Er giebt Aufſchluß über feine Ver—
mögendverhältniffe; ihren Altersunterſchied gleicht er
mit dem Verjprehen aus, nicht lange leben und
jeine Witwe zur Univerjalerbin einfeßen zu wollen;
er jpielt auf die Annehmlichkeiten eines unabhängigen,
aller Sorgen, jeglicher Arbeit entrüdten Lebens ge=
ihidt an, und dem Schwager in spe ftellt er einen
Vertrauenspoften in feinem Geſchäft in Ausſicht.
Er verlangt nicht ihren fofortigen Entſchluß. Sie
foll Bedenkzeit Haben, fo lang fie will. Und damit
geht er...
Arthur, alser vernimmt, was geſchehen — er war
nicht zugegen gewejen — macht vor freude einen
Quftjprung. Er ift berauſcht. Im Geift ſieht er
ſich plöglich wieder daſtehen — neu equipiert vom
Scheitel biß zur Sohle, jeder Zoll ein Gentleman,
und mit Geld im Beutel — nah acht Monaten
wieder Geld im Beutel!... Er überfällt die Schwefter
mit unbändigen Lieblofungen, er lüßt fie und weint
vor Seligfeit wie ein großer Junge... Wie ift es
doch gut, eine Schweiter zu haben, deren Wert jo
hoch tagiert wird!
Wie? Bedentzeit? Wozu? Jft fie denn von Sinnen?
Bebentzeit, werın einem gegen Hunger und Elend ein
Vermögen angeboten wird? Darauf könne man nur
eine Antwort haben, und die laute: Ja, ja, ja!
Sollte ein Menſchenherz denkbar fein, das über
fi brächte, einem Freudentaumel von jold über»
wältigenber Intenfivität aus purer Eigenliebe ein
Ende zu bereiten? Mein! Für ein Schweiterherz
wie das Paulas — unmöglich!
Sie jchreibt dem Wohlthäter, der ihren Bruder
fo namenlos glüdli gemacht: „Ja, ich will.“
796 Eduard Wilde,
IV.
Die junge Frau fiht in ihrem Pruntgemad und
wähnt fih im Grabe. Und wie fie in den Spiegel
Ihaut und um ihre begrabene Jugend trauert, öffnet
fi plößlic) die Thür — es ift Arthur. Er ſchwitzt
vom Tanzen, fein Auge leuchtet, auf feinem hübſchen
Geficht malt fi ein fattes Wohlbehagen. Wenn er
nicht Rüdficht auf feinen nagelnenen eleganten Frad,
auf fein ſchönes Vorhemd zu nehmen hätte, er wäre
fähig, im Boudoir der Schwefler vor freubigem lleber«
mut ein Rad zu ſchlagen. Er ift jo zufrieden! Er
befigt nun wieder alles, was ein netter junger Mann
bejifen muß, der es liebt, auf fein Aeußeres Sorg⸗
falt zu verwenden. Er ift nun wieder ein feiner,
ein fehr feiner Commis. Der honette Schwager, er
hat auch ihm nicht vergefien in feiner Bräutigams-
laune, und außerdem ftand ihm Paulas reichgefüllte
Brautlalfe mit einem „Vorſchuß“ zur Verfügung.
Zum Dank fchlug er vor ihr ein Rad... Wie glüd-
lich machte ihn doc dieſe Ehe! ...
Der junge Mann jheint das Meine Gemad) auf-
geſucht zu haben, um ungejehen jeine Toilette und
feine Frilur zu ordnen.
„Du bier, Paula?” fragt er zerftrent, indem er
ſich vor den großen Spiegel ſtellt. „Geh doch tanzen,
mein Kind!“
Er muftert fih aufmerffam von allen Seiten,
fährt ſich Liebevoll durch das künſtlich gefräufelte
Haar, zupft Schnurrbart zurecht.
„Du, Paula, fieh mal nad, wie er hinten ſitzt
— den rad, meine ih. Gut? Bemerfft du nicht
eine Feine Falte an der Tinten Achlelhöhle? Nicht?
— fo antworte doch! ... Aber jchau mal her
— die Beinfleider, die haben jicher einen Heinen
Fehler — da, mein da... Wenn ich rafch gebe,
wenn id) mid wende — fieh nur — Über, mein
Gott, was ift dir denn ?*
Ein Schluchzen, erfchütternd wie der Angſtſchrei
eines brechenden Herzens, veranlakt ihn, fich über»
taſcht umzufhauen. Sie weint. Sie ſitzt da im
vollen, foftbaren Brautfhmud mitten im berrlichften
Luxus und weint... Worüber denn? Gott, dieje
Sentimentalität der jungen Mädchen! Er fragt fie,
redet ihr freundlich zu und jchüttelt ratlos den Kopf.
„Soll id dir etwas bringen? Ein Gläschen
Eelt, nit wahr?”
Er führt ihr ftreichelnd über das Haar und
wendet fi zum Geben; dabei wirft er aber noch
einen Blid in den Spiegel, findet an feiner weißen
Binde etwas zu ordnen, und indem er von neuem
ftehen bleibt, vergibt er darüber fein Vorhaben.
Die Thür öffnet fich leife; es wird ein bärtiges,
lächelndes Männerantlig fichtbar,
„Alſo bier finde ich meinen jchönen, treulofen
Flüchtling! Ad, gnädige Frau, ich habe Sie geſucht
wie mein Seelenheil... Aber was ift denn gejhehen?*
Das Lächeln auf feinem Iuftigen Geſicht matt
plögih einem übertriebenen Erſchreden lat.
„Ihränen?... Ja, jehen Sie, das kommt davon,
daß man einfame Winkel aufſucht, um zu grübeln,
flatt gedankenlos unterzutauchen im feftlichen Trubel!
Sagte ih Ihnen nicht, daß wir Eintagäfliegen find
— Sie und id) und die da drinnen aud? Nein,
das geht nit! Kommen Sie mit mir — id wil
Ihnen Troft verſchaffen. Zurüd ind Reich der freude,
mein Heiner Dejerteur!*
„Ganz recht, Herr Jürgens, zum Tanz mit ihr!“
meint Arthur. „Die Weiber bleiben fich alle gleich
Weinen und Lachen — bei ihnen ſteckt beides in
einem Rohr,“
Herr Provifor Jürgens bietet ber jungen Frau
galant den Arm, der zögernd angenommen wir
Ihre Augen teodnenb begiebt fie ſich mit einem
Lächeln, das einen Anflug von verzweifelter Nadjust
bat, zurüd ins wogende Tanzgemühl.
Provifor Jürgens, ein entfernter Verwandter und
Hausfreund des alten Herrn Tammil, bleibt für der
ganzen Abend begünftigter Tänzer und Kavalier der
jungen Frau, eine Rolle, die er feinen nahen Br-
ziehungen zum Hausherren, wie wohl aud) feiner ftatt:
lihen Erjcheinung und feiner bejwingenden Lieben;
würbigfeit verdantt. Herr Tammil, mit andern
tanzunfähigen alten Knaben vergnügt am Sartentüd
fitend, hat nichts dagegen, obgleich ihn jein gefähr⸗
licher Vertreter durch Meine Nedereien felber zur
Eiferfucht zu reizen oder — derſelben vorzubeugen
ſucht. Der Alte madjt ein abwehrendes Zeichen mit
der Hand und lacht; er erflärt die Eiferfuht für
eine Knabenkranlheit, die ihn nicht anfechten könne.
V.
Morgenlicht dringt durch die herabgelaſſenen
Vorhänge ins Brautgemach. Es färbt ſich unterm
Seidenzelt des Himmelbetts zur zartblauen Dän-
merung. Das junge Paar ruht noch. Es ruft,
aber nur eines ſchläft; das junge Weib liegt mit
geſchloſſenen Lidern da, aber es ift wach.
Ein Schlummer, wollüftigebleiern wie ein Cham
pagnerraufch, umfängt die alten, kraftloſen Glide
des glüdlichen Ehemaunes. Sein teuer erworbene
Kleinod mit der eiferfüchtigen Gier des Geizhalle
an den morfchen Bufen drüdend, ſchnarcht er einen
fatten, fröhlichen Hochzeitsſchlaf.
Er gewahrt nicht, wie fie neben ihm fiebert und
fröftelt, wie ihre Lippen zuden, wie fie mit den
Zähnen Inirfcht, Er ſieht nicht das trodene Glühen
unter ihren langen Wimpern, nicht die giftigen
Funten, die verftohlen hinaufbligen zur blauen Dede
über ihnen. Denn fähe er's — er würde nicht jo
ruhig daliegen in lächelnder Sorglofigfeit.
Verjorgt. 797
Es graut ihr. Sie hat ein Gefühl, wie wenn
fie für ein ſchreckliches Verbrehen an ein Zoten«
gerippe gefefjelt wäre; der Arm, der ihren weißen
Hals umſchlingt — es ift der Talte, harte Knochen
eines würgenden Skeletts. Sie wagt fih nicht zu
rühren, um ben blut- und fleifchlofen Körper, den
verhaßten, an ihrem blühenden Leibe nicht zu fühlen ;
fie getraut fi nicht, die Augen zu öffnen, in der
Furcht, meben ſich das verwitterte, blöde lächelnde
Mumiengeficht zu erbliden. Es bangt ihr vor allem
vor feinem Erwaden. Und jo brütet fie feit einer
Stunde regungslos in ber jchredlichen Umſchlingung.
Kein mitleidiger Schlaf betäubt ihre rafenden Sinne,
diaboliſch langſam nur rüdt der Morgen heran —
Ril, erbarmungslos ftill bleibt e& nocd) immer im
Haufe.
Und da erfaßt fie eine wahnwigige Wut, die
Wut des brutal unterdrüdten, vergewaltigten Weibes
in feiner jammervollen Ohnmadt. Sie jchlägt die
Augen auf. Sie will ihn jehen in feiner ganzen
Erbärmlichkeit, ihm ins Gefiht fpeien ihren Haß,
ihre Beradhtung, ihren Elel. Da liegt er und ſchnarcht.
Sein breiter, lippenlofer Mund ſteht weitgeöffnet,
ein einzelner pehihmwarzer Zahnftumpf ragt daraus
hervor; fein kahler Schädel gleicht einem gelben
Totenkopf in der bläulichen Beleuchtung, keuchend,
ſchnarrend Hebt und jenkt ſich die eingefallene, längſt
erfaltete Bruft.
Ein Ziſchen wie das einer getretenen Natter ent-
fährt ihren Lippen. Mit einem dumpfen Aufichrei
richtet fie fich empor. Ihre Hände zudten, die Finger
frümmen ſich, e& ift ihr, als müßte fie ihm an die
Rehle jpringen und ihn auf der Stelle erwürgen.
Denn er ift nicht ihr Mann, nicht ihr Lebens—
En
gefährte; er it ein fremder Menſch, ihr Todfeind,
ihr Ausbeuter. Eie reißt fi los von ihm; über
feinen Körper hinwegtretend, entflieht jie der ver—
haften Gruft mit der ſchlafenden Leiche,
VI.
Frau Paula fand auf dem Tiſch in ihrem Boudoir
einen großen Strauß herrlich duftender Roſen; auf
der Karte, die darin flat, las fie: „Der glüdlidhen
jungen rau zum Morgengruß ihr ergebener (auf
der andern Seite) — Heinrich Jürgens, Provijor.”
Als fie im rofafarbenen Morgenkleide, mit dem
Bouquet in der Hand, ans Feniter des Gaftzimmers
tritt und zerſtreut hinunter zur Straße blidt, erſcheint
in der Thür der gegemüberliegenden Apothele ein
junger Mann, verbeugt ſich leicht und lächelt zu ihr
hinauf,
Sie errötet, und in ihrer Verlegenheit drüdt fie
das Geficht tief in die Blumen,
Darauf macht der junge Mann mit dem finger
ein Fragezeichen in bie Luft.
Sie veriteht ihn nicht, nicht ganz, aber fie nidt.
Wie fie ſich ummendet, fteht der alte Tammil vor
ihr mit eingebogenen Knieen, gebeugtem Naden, aber
mit einem verliebten Lächeln um den zungeligen
Mund,
Mich heimlich verlafien und die Flucht ergreifen
— ei, ei!” droht er jherzend mit dem langen Feiges
finger, worauf er fie zärtlich umfaßt und zur Frübftüde-
tafel führt,
Nachdem er mit Arthur ins Geſchäft gegangen,
ertönt einige Minuten darauf die Glode, und das
ewig lächelnde Geficht des Herrn Frovijor Jürgens
wird in der Thür jichtbar,
—
Zwei Nachbarn.
Bon Anthero de Quental.
Aus dem Portugieffhen überfegt von £. Ey.
Der Kammern zwei umſchließt das Menfchenherz ;
Drin wohmen, obme fich zu Fennen,
Freud' in der einen, in der andern Schmerz.
Wenn früh in ihrer Kammer voller Sonne
Die Freud' erwacht zu heiterm Scherz und Lachen,
Entfchläft der Schmerz in feiner, mid’ vom Machen.
Sei leife, freud’! © zügle deine Wonne!
© juble nicht! Caß alles frohe Necken!
Du möchtſt — er ſchläft fo ſacht! — den Schmerz erwecken.
_ EA »
— —— — a PR
ba, 2.07 0:2 Br 1 ren a nn
Donnenmwolßen.
Erzählung
bon
Kriſtian Elſter.
Aus dem Norwegiſchen überſetzt von Cora Thams.
(Säluß.)
VI.
&s war einige Zeit danach, während bes Ueber⸗
ganges vom Winter zum Frühling, als mich Elina
bat, einen Spaziergang mit ihr zu machen. Wir
waren ſeit Wochen nicht miteinander im Freien ger
weſen. Anhaltendes Tauwetter hatte den Schnee
aus allen tiefer gelegenen Plägen verſchwinden laſſen.
Plöglih auftretender Froft ließ die Wege wieder
gangbar werben, und die bereiten Bäume und
Sträucher hatten beinahe das Ausſehen von Männern,
die in weiße Wolle gefleidet waren, Man hörte
beim Uebergang über Wiefen einen trodenen, fnarren-
den Ton zu feinen Füßen, und im dichten Ge—
büjch zerbrachen die fleifgefrorenen Zweige wie Glas
bei jedem Schritte duch dasjelbe. Kleine, im
Schatten gelegene Wafjertümpel hatten fih mit
blantem, grauem Eife bededt, welches runde Binjen-
halme oder fiejelbefäten Untergrund durchſcheinen
ließ. Wo die bereiften Triften von der Sonne be»
leuchtet wurden, war e3, als öffneten ſich auf Gräſern
und Bäumen Taufende Heiner, heller Augen, bie
ftrahlend zum Lichte emporjhauten. Es war einer
jener Tage, die zuweilen gegen Ende des Winters
eintreten und die uns verleiten, an eine Erneuerung
ber jtrengen Jahreszeit zu denfen, jtatt Frühling und
Sommer zu erwarten.
Schweigſam gingen wir nebeneinander dem Meere
zu. Plötzlich ſchaute Elina auf und fagte: „Id
muß bir etwas mitteilen, woran ich lange gedacht
habe, Ich möchte nicht, daß du Holt jo häufig be=
juchteft.”
Das Blut war ihr in die Wangen geftiegen, und
ihre Augen leuchteten vor innerer Erregung.
„Und was haft du dagegen?”
„Das werde ich dir fagen. Ich habe genau dbas-
jelbe gegen beine Befuche einzuwenden, wie gegen die
von Bang. Ihr müßt offenbar Holt etwas zum
bejten haben, ſonſt begreife ih wahrhaftig nicht,
was ihr bei ihm anfangt.“
„Du irrſt di, wenn du meinft, daß wir deinen
Onfel zum beften halten, und ich verftehe nicht,
woher bir ſolche Gedanken fommen. Oder glaubft
du wirflih, daß Holt der Mann wäre, fi der-
artiges gefallen zu laſſen? Ich kann bir vielmehr
erzählen, daß Holt zuweilen feinen harmloſen Schery
mit dem ‚Patrioten‘ treibt, aber niemals findet der
umgefehrte Fall ftatt.”
Sie jah eine Zeitlang nachdenkend vor ſich hin.
„Aber du Tangweilft dich doch entjchieden bei ihm
und beſuchſt ihn wohl nur, um ihm eine Aufmerl
ſamkeit zu erweifen?“
„In dem Punkte ircft bu dic) ebenfalls; bein
Ontel ift durchaus feine langweilige Perjönlileit.*
Sie ftand till und jah mid einigermaßen ver»
wundert an. „Sage mir, würde es Dir genügen,
dein ganzes Leben hindurch in Holts Gomptoir zu
ſihen ober Arzt in einem Heinen Orte, wie diefer,
zu jein ?“
„Gewiß, das lehtere jedenfalls,” erwiderte id
aufrichtig.
Sie ſetzte ſich wieder in Bewegung, während ihr
Geſicht einen grübelnden Ausdruck annahm.
„Wir leſen von ſo vielem Großen,“ fing ſie
wieder an, „du müßteſt doch etwas Beſſeres werden
lönnen,“ — fie brach ab.
„Was meint bu?*
„Ich meine, daß ich, wäre ich an deiner Stelle,
mic dahin jehnen würde, wo — mehr geſchieht als
bier — wo die Menſchen andrer Art find... .*
Da war er alfo wieder, der Gedanke an das,
was außerhalb ihrer Heimat fei, der fie behertſchte.
„Im großen Ganzen ift das Leben überall das⸗
ſelbe,“ antwortete id).
„Das meinft du doch nicht im Ernſt?“ fagte fit,
mid groß anblidend.
„sa, in gewiſſem Sinne ift das ber Fall, —
nicht im äußern... .*
„Aber giebt e8 denn niemand dort, der — der
— fie juchte nad) dem entſprechenden Ausdrude —
ſich für das Viele intereffiert" — fie machte abermals
Zus ns
Sonnenwolten
eine Paufe, um dann haftig, als jchäme fie fi
ihrer Worte, zu jagen: „für das Viele, was groß und
ihön if, und von dem man hört, daß die Menjchen
in der Melt draußen bafür leben.“
„Ah, in den engften BVerhältniffen fann man
ebenjo groß und jchön Leben; die Begebenheiten der
großen Welt haben nicht immer fo befonberen Wert,
Auch find es nicht immer die Begabteften, die am
ihönften und reichiten leben.“
„Das verftehe ich nicht,“ fagte fie nachdenklich ;
„mir fommt vor, ala müſſe es etwas Beſſeres geben,
für welches man leben könnte, als das, womit ſich
die Leute hier befaſſen. Als mühten die Menjchen
dort draußen größer jein, auch größere Aufgaben
haben, an denen fie arbeiten. Und ich würbe mich
niemal3 mit dem SPeineren begnügen, wenn id) die
Möglichkeit fähe, für etwas Größeres Teben zu
können, — Weißt du, daß e8 mich eigentlich immer
gewundert hat, wie bu bazu gelangteſt, mich liebzu—
gewinnen, bie ih doch genau jo Bin mie bie
andern bier.”
Ich lachte; aber fie nahm die Sache durchaus
ernft, grübelte offenbar gerade fo über diefelbe, als
gelte e8 einem jchwer lösbaren Rätiel.
Am Rande der See angelangt, wo der Weg auf-
hört, kehrten wir um, Die Dorfihaft lag vor ung,
ſonnenlos, winterlich falt und flarr. Um ſolche Zeit
beſchleicht uns wohl das Gefühl, als feien die ver-
einzelt gelegenen Meinen MWohnftätten eingefroren,
hätten fi der Winterruhe hingegeben und erhafchten
nur einen flüchtigen Gruß der Sonne von jenfeits
der Berge, mit dem fie den Schlummernden Bot-
haft bringe von der Schönheit ihrer eigentlichen
Heimat, der großen Welt draußen. Mir famen in
dieſem Augenblide andre Gedanken beim Anblid der
fillen Ortſchaft mit ihren gemütlichen Heinen Häufern.
Gerade jetzt erinnerte ich mic) deutlich alle Guten,
Wahren und Schönen, das ich jemals bort gefunden.
Ich dachte daran, wie viele mir in diefen Nebenthälern
begegnet waren, die fid) weder großer Geiftesgaben
noch beionderer Bildung rühmen konnten, und deren
Leben doch ein reicheres war ald dasjenige von
manchen, denen fowohl Talente, Gelehrſamkeit als
auch wichtige Aufgaben zu teil geworden. Ich ver-
gegenwärtigte mtir, daß wir und nur zu oft von
dem, was Aufſehen erregt, blenden laſſen und nicht
bemerken, daß fi) zumeilen mehr Geift in ärmlicher
Werkthätigkeit als in weltbelannten Thaten findet.
Mir trat vor die Seele, wie häufig ich die ftille
tägliche Beichäftigung am diefen entlegenen Plätzen
geiehen Hatte, wenn Liebe fie verflärte, die von einer
Selbftverleugnung, einer Treue und Geduld zeugte,
welche fie zu etwas Größerem jtempelte als viele
Ihaten, die durch Bücher und Gefänge verewigt
werden. Aber das alles vollzieht fich ftille, ohne
799
Worte und Gepränge, und wir find fo jehr daran
gewöhnt, dab es häufig auf ums und bie wenigen,
welche einen Blid für dergleichen haben, feinen Ein«
drud mehr macht, dieſes Große, dem feine wmelt-
erobernden Worte zur Gebote ftehen, um es berühmt
zu machen.
Gewiß erinnerte ich mich zugleich an unendlich
viel Kleinliches, Rohes und Gewöhnliches; zu genau
war es mir bewußt, daß bie Luft in jolchen Heinen
Gemeinden unerträglih did und erjlidend werben
lann. Es ift aber nicht anders möglich, dort, wo
der größere Bruchteil der Menſchen Zeit und Fähig«
feiten dem Kampfe um feinen Lebensunterhalt widmen
muß, und wo neue Ideen und Anſchauungen jeltene
Säfte find, Aber oft genug findet man da ein
wunderbar reich entwidelte® Gemütsleben, Ritter
weile und Ritterthaten, und e8 fehlt auch nicht an
Zielen, denen man zuftreben fünnte, ſobald das
Auge dafür offen und der Wille bereit für die—
jelben ift.
Während ich alles dies mit Elina, als Erwide-
rung auf ihre fragen, beſprach, fiel mir ein, daß
gerade Holt und feine Thätigfeit in vieler Beziehung
als Beifpiel für daß dienen fünne, was ich ihr zu
erffären wünjchte, und ich ſchloß damit, feinen Namen
anzuführen,
Sie hatte nur eine ungebuldige Bewegung als
Antwort. Ich fuhr fort: „Du benfft wohl, daß er
fein geiftreicher Mann ift und weder viel gelefen noch
gelernt hat. Ich will dir nur geftehen, daß aud) ich
ihn einmal für einen engherzigen, vorurteilsvollen
Bauern gehalten habe. Und ich kann nicht leugnen,
daß fein Urteil über Menſchen und Dinge zumeilen
ein höchſt unbilliges ift; aber e8 erfordert eine jehr
große geiftige Ausbildung, ſtets gerecht zu fein. In
feiner Weife aber ift er doch eine ritterliche Natur.
Sprich mit jenen, die zur Winterszeit mit ihm auf
dem Meere fahren, und du wirft hören, daß er ein
Held jein lann.
„Frage die, welche für ihn arbeiten, und du
wirft es bewundern, zu jehen, wie ſehr er fich die
Sorgen andrer zu eigen macht, und wieviel er allen
feinen Leuten gewährt hat. Du jelbft weißt es ja
auch, wie hoch er von ben Armen hier geihägt wird.
Sprid mit Vang, und du wirft dich davon über—
zeugen, nicht, daß er ein Freiheitsmann ift, fonbern
daß er auch den Menſchenwert derjenigen zu würdigen
vermag, bie ihm felbft im höchſten Grabe ungleich
an Begabung und Bildung find. Ehemals dachte
ich auch anders über Holt, aber feit meiner näheren
Belanntfchaft mit ihm weiß id), welche warme, treıre
Natur er befißt, daß er tiefer empfindet ala die
meijten andern, und dab er für die, welche er liebt,
jedes Opfer bringen fönnte, Sein unfreundlicdhes
Benehmen dir gegenüber ift mir immer rätjelhaft
800
erichiehen ; ich habe wieder und wieder gedacht, daß
dem ein Mißverſtändnis zu Grumde liegen müfle,
und fiher hat Vang recht, wenn er jagt...“
Ich ſtockte einen Augenblid, überlegend, ob ich
ihr meine Unterredung mit dem Advokaten mit«
teilen jolle.
„Nun, was jagt denn Bang?” fragte jie mid
mit bejonderer, ſcharfer Betonung.
Ich erzählte e8 ihr; hätte ich aber vorher gewußt,
welchen Eindrud mein Bericht auf fie herporbringen
würde, jo wäre ich zurüdhaltender geweſen.
Zuerft ſah fie mich mit dem fejten, inquifitori»
ſchen Blid an, bem ich ſchon einmal begegnet, und
der mich damals in jo große BVerlegenheit gefeht
hatte. Es war, als zmeifle fie an meiner Glaub-
würbdigfeit, und als wolle fie mir ins Gerz fehen,
um zu erforfchen, zu welchem Zwecke ich diefe ganze
Geſchichte erfände. Plöklich aber jchlug fie die Augen
nieder und lieh das Haupt finfen. Ihre heftigen
Herzſchläge und kurzen Atemzüge verrieten, mit
weldyer Spannung fie meinen Worten lauſchte. Nach⸗
dem ich aufgehört hatte zu fprechen, ließ fie meinen
Arm fahren und ftand, mich anjehend, fill. Ihr
Gefiht zeigte einen ganz eigentümlichen Ausdrud,
Sie blidte auf, groß, verwundert, als jehe fie
etwas ganz Neues an mir. Ihre mir immer noch
zugewendeten Augen wurden jtarr und falt, und es
fam mir vor, al& jähe fie nicht mehr mich, ſondern
etwas in weiter, unerreichbarer Ferne, oder als er-
blide fie jelbftvergefien ein Bild im ihrer eignen
Seele. Es wurde mir ganz jonderbar zu Sinne,
und fie erſchien mir eher wie eine gänzlid) Fremde,
als wie meine verlobte Braut.
AS fie dann meine fragende Miene gewahrte,
ſenkten fi ihre Augenlider, und fie nahm meinen
Arm aufs neue. Wir näheren uns Holt Woh-
nung. Sie wünjchte nod) nicht heimzufehren, fondern
ichlug mir vor, den Spaziergang zu verlängern, Wir
fehrten um und gingen ſchweigend wieder der See
zu. Sie hielt fi dicht an mich) und lehnte zumeilen
ihren Kopf an meine Schulter. Bald darauf lieh
fie meinen Arm wieder fallen und eilte jo raſch
voraus, als gelte es, jemand zu entfliehen.
Dann wieder ging fie ganz langfam und jah
ftarr vor fich nieder. Während fie jo einherichritt,
verbreitete fi) mit einem Male ein tiefroter Blut-
firom über ihr Antlik, ihr Auge glühte und hatte
zugleich einen folden Ausdrud der Herzensangft, daf
ich unwilllürlich ihren Arm faßte und erjchredt fragte :
„Bift du Frank, Elina?“ Raſch wendete fie das
Haupt zur Seite, „Nein, aber ich glaube, ich bin
— müde.”
Sie ſehte fih auf einige am Mege Tiegende
Breiter und jah niebergebeugt zur Erbe.
„Du fiehft jo gedanfenvoll aus, Elina, — hat es
Kriftian Elfter.
bich betrübt, daß ich dich an alles das von deinem Onfel
erinnert habe?“ Sie jchüttelte den Kopf, indem
fie ihm noch tiefer ſenkte. Ihr Geficht hatte feine
gewohnte Färbung wieder; vielleicht jah fie um einen
Schatten blafjer aus als vorher. Plößlich erhob fie
ih. „Mid friert,” fagte fie, zog ihr Tuch enger
um die Schultern und nahm meinen Arm. Wieder
wendeten wir uns ben Häufern zu, doch al& wir
und demjenigen Holts näherten, wollte fie abermals
umlehren; es war faft, als bange ihr vor dem Seins
fehren. Allmählich fhien die Bewegung, melde ſich
ihrer bemädhtigt hatte, geringer zu werben. Sie
fing an, fi ganz heiter mit mir zu unterhalten.
Sie wünſchte alle jene Pläte aufzuſuchen, am die fih
für ung liebe Erinnerungen fnüpften, fie ſprach von
den vielen gemeinjam mit mir verlebten Stunden
und erinnerte fi mit einem Male mancher Iuftigen
Geſchichten aus der Dorfichaft.
ALS wir an einem zugefrorenen Teiche vorüber:
famen, wo die Jugend fi mit Schlittichuhlaufen und
Glitſchen vergnügte, ftand fie ftill, indem fie fagte:
„Ad, ſieh doch, wie fie laufen; früher war es das
Amüfantefte, was ich mir denfen fonnte. Wenn &
im Herbfte zum erften Male Eis gab und mir alle
und nachmittags draußen auf dem Teiche verjam-
melten, wo wir beim Laufen fpielten und lachten, ba
war mir jo froh zu Sinne, als gäbe «8 feinen
Kummer in der Welt. Ah, wie lange jcheint mir
das her zu fein!“
Eine Miſchung von Wehmut, Sanftheit und Saum
lag in ihrem Wefen, wie ich fie bis dahin gar nicht
an ihr gekannt. Sehr oft hatte ich fie tief betrübt,
noch häufiger außgelaffen munter gejehen; aber dieſe
wechjelnde Stimmung, in der launige Einfälle gleid-
fam unter Thränen hervorſchimmerten, war ihrer ganzen
Art und Weiſe jo fremd, daß fie bei ihr unerklärlich
erjhien. Sie war zärtlicher als jemals, hielt ſich
nahe zu mir, al& ängftige fie etwas, und wiederholte
mehrmals: „Du bift gut — und mein bift du, nidt
wahr?”
Dazwiichen jchienen ihre Gedanken fie mieder
weit fortzutragen, als fei fie einem Jdeengange ver»
fallen, der fi) ihrer gänzlich; bemädhtigt hatte, Doch
gab fie fi dem nicht lange hin, Mit fefter Hand
ftrich fie fi über die Augen, fah mic) an, nidte mir
lächelnd zu und fragte ſcherzend: „Haft du mich auch
lieb, du böfer Menſch?“
Unten am Fjord, mo verfchiedene Boote feſt⸗
gebunden lagen, machten wir Halt.
„Wir nehmen ein Boot und rudern damit in die
weite Welt hinaus,“ jagte ji. „Wir wollen allem
bier Lebewohl jagen und es nie wiederſehen. Komm,
jehen wir uns, und dann höre zu. Ich Habe mir es
genau überlegt. Wir wollen in einem weißgemalten
Haufe mit grünen Thüren wohnen. Es muß recht
Sonnenwolten. R01
hoc liegen, damit wir das Meer jehen können. ſchwach lächelnd zu mir auf — „du mußt mid er
Draußen müſſen Rojen fein und eine Banf, von der |
aus wir die Sonne untergehen jehen können, Dann
wollen wir ein weißes Segelboot haben, denn id) |
glaube, ic) könnte an feinem Platze leben, von dem
aus fih nicht jegeln ließe. — Das joll dein und
mein Schloß fein.” j
„Und da wollen wir in Serrlichfeit und freude
leben, wir zwei, wie im Märchen.“
„Nein, wir wollen als nüßlihe Menſchen leben;
du bit Arzt, und ich werde dir helfen, die Armen
unter deinen Kranken zu pflegen...“
Plöglih wurde fie ernft. „Ad, es ift jo traurig,
alle die Armut,” jagte fie. „Es fann feine Gerechtig⸗
feit darin liegen, nein, gewiß nicht, daß es vielen
jo ſchlecht geht. Denfe nur an die Sleinen, die
fünnen es doch nicht verjchuldet Haben; ah — ad), ı
ed wird einem ganz gottlos und jammervoll zu |
Glücklich,
Wenn der Paſtor in der
Sinne beim Anblick des vielen Elends.
wer allen helfen könnte!
Kirche den lieben Gott bittet, allen denen beizuftehen,
die franf und betrübt jind, werde ich immer jo
traurig; weißt du, wir wollen recht gut gegen alle
fein, die unglüdlih find — aber wir wollen weit
von bier fort.”
Sie brach plößlid in Thränen aus; wenn fie
weinte, geichah es fajt lautlos, aber jo gewaltiam,
dab ihr ganzer Körper erbebte. Sie gehörte nicht
ju denen, die leicht weinen. Ich hatte niemals
Thränen in ihren Augen gejehen; vielleicht erjchien
fe nie ruhiger als eben dann, wenn ihr Kummer
am tiefiten war. Daher werde ich niemals dieſe
Stunde vergejien, da fie, die eine Gewalt über ſich
beſaß, wie fie jelbft nur wenigen Männern eigen ift,
io heftig, aber jtill ſchluchzte, als gälte es, fich für
ein ganzes Leben auszuweinen.
Schon den ganzen Abend hindurd Hatte ihre
wunderlihe Stimmung beängftigend auf mich gewirkt;
voll banger Erwartung hatte ich fie beobachtet; —
als aber dieſer Ausbruch kam, fürchtete ich allen
Ernſtes, die Erregung, in welche mein Bericht ihr
ganzes Innere verjeßt, möchte zu! ftarf für fie fein.
Wohl Hatte ich gedacht, daß die Entdedung, welche
fie machen würde, einen tiefen Eindrud zur Folge
haben und viele traurige Gedanfen weden würde,
Aber die Erjhütterung, deren Zeuge ich jeht war,
Ihien jo gewaltfam, jo übermädhtig, dab fie eine
andre Urjache haben mußte als die Erkenntnis, ſich
jo lange in ihrem Onkel geiert zu haben. Ich fragte,
ja, id} flehte fie mit Worten und Lieblojungen an,
mir ihr Vertrauen zu jchenfen und mid an ihren
Sorgen, von denen ich nichts wußte, teilnehmen zu
lafien. Aber fie jchüttelte nur das Haupt und er
widerte:- „Ich verftehe mich ſelbſt nicht — ich konnte
es nicht laſſen — es ijt dumm, aber“ — fie blidte
Aus fremden Zungen, 1897, II. 17
— — — —— — — — — —— —— —
tragen, wie ich bin; ich werde dir keine ſo gute
Gattin ſein, wie ich müßte,“
Ih wollte das Ganze forticherzen, aber fie
Schüttelte ernjthaft den Kopf, ſah über das Mailer
hin und fing an; „Nein, ich“ — brach aber wieder
' ab, erhob ſich und fagte nur: „Jetzt wollen wir nad
Haufe gehen.“
Unterwegs wiederholte jie mehrmals: „Wir wollen
treu zulammenhalten, e8 möge fommen, was da
wolle,“ und einmal ſagte jie wie zu fi) jelbit: „Ich
glaube, wenn man es nur ernſtlich will, fann man
einander das jein, wa8 man müßte. — Andernfalls
wäre es ja fürchterlich,” jeßte fie hinzu. Bei dem
Anweſen Holts angefommen, ftanden wir nochmals
fill. „Hier war es,“ ſagte fie, „hier verweilten
wir — vorher hatte ich nie an das gedacht, was bu
damals fagteft — weißt du, es war mir, als babe
ich dic) niemals vorher gejehen. Ich war jo ver»
wundert; übrigens wurde ich zuerft böſe; es fchien
mir fo dumm von bir, mir dergleichen zu jagen...
Wie jonderbar es doch zuweilen fommt; hätteſt du
mir nichts gejagt, ich würde, glaube id), nie in ſolcher
Meile an dich gedacht haben.“
„Sch glaube, daß diejenigen, die zufammen ges
hören, fi mit der Zeit auch verftehen, jelbft wenn
fein Wort geredet wird,”
„Diejenigen, welche zujammen gehören... .?
Vielleicht!” meinte fie. „Erinnerſt du dich deſſen,
was du mir einmal über Liebe ſagteſt?“ fragte fie.
„Und weißt du noch, was du antworteteft? ‚Du
bift dumm‘, ſagteſt du.”
Sie lade.
„Vielleiht war es gar nicht jo dumm. Die
verwandten... .“
„Ih glaube, deine Weile war beſſer ala meine
Philoſophie, beſonders — erinnerjt du dich? — :
‚Sie fommt wie Laub zur Lenjeszeit,
Bringt Thränen mit und Seligleit,‘*
Sie that einige Schritte dem Haufe entgegen,
meine Hand immer nod) in der ihren haltend.
Ich gehe mit hinein,“ jagte ich.
„Nein, heute abend nicht,“ wehrte jie jchnell ab,
„Morgen früh fomme ich zeitig zu euch,“ fügte fie
hinzu und ging rafchen Schrittes über den Hof.
vol.
Warum war e8 wohl, daß fie von dieſem Tage
an fein Buch mehr öffnen wollte? Warum kümmerte
e3 fie gar nicht, was in der großen Welt „draußen“
geihah, welche ihre Gedanken früher jo jehr in An—
iprucd genommen und lie dahin gebradjt hatte, ſich
nad ihr zu jehnen und alles in dem Orte dunfel
und jchwer zu finden...? Sie jei nicht dazu auf-
gelegt, jagte fie jelbit. Wollte ihre alte Vorliebe
für die Dorfichaft und deren Leben wieder aufwachen?
101
— era —
802
Das ſchien auch nicht der Fall zu fein. Sie fing
indes wieder an, die Armen häufiger zu bejuchen, ala
es im der letzten Zeit geſchehen, und im Hausweſen
arbeitete fie mit verboppeltem Fleiß. Nie jahb man |
fie müßig; fie ſchien feines Ausruhens bedürftig.
Ein Drang zur Arbeit hatte fich ihrer im ſolchem
Grade bemädhtigt, da fie ihm nur ſchien Genüge
feiften zu können, wenn ihre Thätigfeit ſich von
Tagedgrauen an bis tief in die Nacht hinein erftredte.
Dem Ontel gegenüber bemerkte man feine Ver:
änderung in ihrem Weſen, außer daß fie ihn viel-
leicht noch ängſtlicher auszuweichen fuchte als früher.
Das Gehörte hatte aljo nur dazu geführt, ihr das
Zufammenleben mit ihm noch jchwerer ericheinen zu
lajien als vordem. Ich hatte mir gedacht, daß «8
Krijtian
nun zu einer Erklärung zwifchen ihnen gelommen '
wäre. Aber died war ein Irrtum — das Verhältnis |
blieb unverändert; nur, daß dasjenige fie jeit mit
Sorge und Kummer zu erfüllen ſchien, was fie
ehemals bitter und zornig gemacht hatte.
es einmal „ſchön“ gefunden hatte, zu Ichen, war
jeßt ihr guter Humor untreu geworden, und fie ſchwand
täglich mehr dahin.
„Ich fange an, alt zu werden,“ ſagte fie ſcherzend,
wenn die Rede auf ihr bleiches Ausjehen fam.
Eines wurde mir bei diejem allem gewiß: mir
mußten, wie Elina jelbft es geſagt hatte, weit fort
von dem Ort und den heimijchen Verhältniſſen,
unter denen fie litt. Einer meiner Univerfitätsfreunde
hatte mir häufig von feinem Heimatsdorfe erzählt,
als einem weit nad) Often hin im Inlande gelegenen
Orte, wo ein Privatarzt ausreichende Beihäftigung
finden fönne. Dies fam mir jet in den Sinn, und
id) nahm mir vor, ihm zu jchreiben, wenn ich mit
Elina Rüdjpradhe genommen haben würde.
Zum erjten Male jeit dem Tage, an welchem ich
ihre Bericht über meine mit Vang gehabte Unter-
haltung abgeftattet, ſah id; wieder einen Schimmer
Ihr, bie ;
Elſter.
wir leerten ein Glas auf einen glücklichen Griolg
meines Borhabens und plauberten über verichiedene
Dorjbegebenheiten. Unter diefen war eine, melde
gerade jeht den einen Kreis lebhaft bejchäftigte,
Bor Jahren hatte ich öfters Gelegenheit gehabt,
Elina mit der Tochter des Wogies, Hanna Ström,
zulammen zu ſehen. Chne daß ich wußte, weshalb,
war dieſer Verkehr plöglich abgebrochen worden; aber
in ber letzten Seit beſuchte Hanna das SHoltice
Haus wieder. Es war ein jchüchternes Heine
Mädchen mit niedergeichlagenen Augen, deren ip
henden Blid man aber troßdem auf fich gerichtet
fühlte. Sie jchien e& immer nur darauf abgeichen
zu haben, ſich in irgend einem Winkel zu verbergen,
und gerade dadurch wurde man immer aufmerham
auf fie. Sie jprad einen harten, und fremden
Dialeft, und wohl um bes Gegenjages willen fiel
einem beionders auf, daß etwas Feines, Jungftäu—
liches fie umgab, was einen unmwillfürlih an den
Lenz und feine Erſtlingsblumen erinnerte. les,
woas von ihr gelagt wurde, war gänzlich) anders alt
des alten, hellen Ausdrudes in ihrem Antlige. Sie
warf die Handarbeit, mit der fie gerade beichäftigt
war, fort, jprang auf, ergriff meine Hände und jagte
ftrahlend, als fei ihr die Verkündigung eines großen,
unerwarteten Glüdes geworden: „Nein, willft du «8
wirflih? Tauſend Dank dafür! Du mußt wiſſen, daß
ich in der letzten Zeit an nichts andres gedacht habe
als nur daran, von bier fortzulommen! Hier Fönnte
ich es nicht aushalten!”
Ich fchrieb jogleih, doch Tief die Antwort erſt
gegen Anfang des Sommers ein. Sie war indes
ermutigend, und nod am felbigen Tage entſchloß ich
mich, nach Erledigung der notwendigften Vorbereis
tungen binzureifen.
Zur Mittfommerszeit war id) fertig zum Aufbruch, |
Am Vorabende meiner Abreife ſaß ich mit Elina,
meinen Eltern und Holt zufammen in unſerm Garten; |
der Eindrud, welchen ihre Verfönlichkeit hervorrief.
Sie jei juft ein eigenwilliges, hartes und rüdfichtlojes
fleines Mädchen, hieß es, und im Grunde weder fein
noch ſchüchtern.
Indeſſen mußten die meiſten geſtehen, daß &
nicht leicht ſei, Hug aus ihr zu werden.
Elina ſchien mir in die Sache eingeweiht zu kein,
doch fie gehörte nicht zu denen, welche Geheimniſſe
verraten. Dieſes Mädchen hatte ſich mit einem
Studenten verlobt, einem entfernten Verwandten dei
Vogtes; er hatte fie feit ihrer Kindheit gekannt, da
er alle jeine Ferien auf dem Hofe des Vogtes zuju⸗
bringen pflegte. Er war ein gejcheiter Mann mi
ausgeprägt wilienihaftlihem Sinn. Naturkundig,
wie er war, unternahm er während jeiner Beſuch—
zeiten viele geologifhe und botaniſche Streifereien
und Unteriuchungen. Gleich nad) dem Examen erbiei!
er eine vorteilhafte Stelle an einer Schule, die ıhm
in den Stand ſetzte, ſich zu verheiraten, und die
Hochzeit follte im Herbſte ftattfinden. Da erfuhr
man plöglih, Hanna habe die Verlobung aufgehoben,
und dieſe Begebenheit wurde, wie bei uns, aud) m
der ganzen Umgegend befprochen.
Der Vater verurteilte fie unbedingt, Er behaup-
tete, fie habe ihr Wort einmal gegeben, und num ie
es an ihr, dasſelbe zu halten, koſte es, was es wolle.
Die Mutter empfand Mitleid mit ihr; fie ſah e
als eine „Verirrung“ an. Ich verteidigte fie, jo gut
id) fonnte. — „Gelübde? Mas für Gelübde Tann
man einander geben? Man bat ſich lieb und jagt
es ſich gegenieitig in dem feſten Glauben, es werde
ewig dauern. Aber hängt diefes von unferm eignen
Willen ab? Kann man das geloben? Oder gelobt
man nur das, feſt zu einander zu halten, jelbft wenn
Sonnenmwolfen. 803
die Liebe eritirbt? Wie muß man den nennen, der
ein fo leichtfertiges Verſprechen giebt, den, der eine
ſolche Verpflichtung eingeht? Zu verſchweigen, wenn
ein derartiger Wandel in unjern Gefühlen jtatts
gefunden hat, ift ein umerlaubter Betrug, und es ift jo
unfagbar niedrig und ſchlecht, eine Verbindung auf—
recht erhalten zu wollen, wenn man weiß, daß Die
Gefühle, welche fie ins Leben riefen, nicht mehr |
erijtieren, daß ich gar feine Worte dafür habe, Die
|
landläufige Auffafiung dieſes Verhältniſſes ift bes |
dauerlich roh und oberflächlich.“
Der Bater ſowohl als die Mutter waren gleich
empört über diefen „unmoraliſchen“ Gedanfengang.
Sie fonnten gar nicht einjchen, daß eben in dem
Sade erläutern ſollte. Sie habe einen älteren Mann
Zujammenbleiben das Unmoraliſche Liegt, obgleich
das verfchwunden ift, was dem Verhältniſſe jeine
Schönheit und Wahrheit verleiht und jein Glüd ver-
bürgt.
„Wirklich ein netter Grundſatz, der jedem leichten
Ratron Erlaubnis giebt, in Süd und Nord Ver—
bindungen anzufnüpfen, um jie jpäter wieder zu
vergliche fie ihn ftet3 mit ihrem ehemaligen Ver—
löjen .
„Meine Anfichten geben ſolche Erlaubnis feines-
wegs. Das Leichtiinnige befteht darin, ſolche Verbin-
dungen einzugehen, ohne jich ernſtlich geprüft zu
haben, aber nicht darin, dab man fie abbricht, wenn
dad Unglück einmal geichehen ift. Oder um med
willen jollte die Verbindung beftehen bleiben? Könnte
jemand wirklich wünjchen, daß diejes äußerer Gründe
wegen geihähe? Würde dies nicht beiden Teilen
zum Unglüd gereichen ?“
Der Vater jchüttelte den Kopf.
dazu, Holt, ift das nicht gräßlich?“
„Was jagjt du
Holt jah auf den Sandboden hinunter, rüdte un= |
ruhig auf der Bank hin und ber und jchien äußerft
verlegen, ſich über diefe Angelegenheit ausſprechen
zu müſſen.
Endlih blidte er auf, lächelte ein wenig und
jagte: „Ich glaube wohl, daß Henrik recht hat.“
Nachdem er geiprochen, wandte er das Haupt raid)
zur Seite und wurde rot bis unter die Schläfen.
„Aber, Gott bewahre — du auch!“
„Es iſt wahrlich nicht gejagt, daß derjenige ein
leihtjinniger Menſch fein muß, der jih einmal in
feinen Gefühlen irrte. Es kann Leichtſinn fein, doch
ift Dies durchaus nicht immer der Fall. — Sie oder
er können jehr wohl eine tiefe, treue Seele jein und
einen andern glüdlich machen.“
Sch richtete dieſe Worte an Holt, al an meinen |
ſtampfgenoſſen; er jchien aber nicht von der Richtig= |
feit dieſes Satzes überzeugt. Er zeigte eine zweifel-
bafte Miene, und mit einem Zweige Figuren in den
Sand zeichnend, antwortete er zögernd: „Ich wei |
nit, ob es ratiam — für alle — wäre — ber |
andre — zu werden...“
Darauf warf er den Zweig fort, erhob ſich ſchnell,
zog jeinen Hut der Sonne wegen tiefer in die Stirn,
ſteckte Die Hände in die Taſchen feiner Joppe und
gudte den Vater an, als ob er jagen wollte: „Hier
| wird es mir reichlih warm; wollen wir nicht ein
‚ wenig aufs Feld gehen ?”
„Was meinen Sie?" (Ich hatte es niemals
über mich gewinnen können, ihn „du“ zu nennen,
obgleih er mich jeit meiner Kindheit geduzt hatte.)
Er blidte ins Weite und verjeßte nur: „Ja, ih
weiß nicht.
Die Mutter äußerte: „Ich verftehe jehr gut, was
' Holt meint.“
Und dann erzählte fie eine Gejchichte, welche Die
gefannt, der ji) mit einem Mädchen verheiratet
hatte, das ſchon vordem einmal mit einem andern
verlobt gewejen. Er konnte niemals ihre Vergangene
heit vergejien. In den harmloſeſten Dingen ſah er
Anzeihen dafür, daß ihre früheren Gefühle wieder
erwachten. Es verfolgte ihn da3 Mißtrauen, als
lobten, und daß er dabei den fürzeren ziehen müſſe.
Er war ein Mann, der einen jugendlichen Sinn
beſaß; aber bei dem fortgejekten täglichen Grübeln
über dieje Ideen wurde er alt und verbitterte feinem
Weibe das Leben in jo hohem Grade, daß fie ſich
wirklich nach ihrem erjten Jugendtraume jehnte und
an ihrer Sehnſucht krankte, wie er an feinen Zweifel.
— „Nein, nicht ein jeder fann ‚der andre‘ werben.”
Holt nickte. Die Mutter hatte feine Gedanten
illuftriert, An dieſem Geſpräche hatte Elina nicht
teilgenommen. Sie ſaß etwas entfernt von ung,
pflüdte ab und zu Blätter eines halbwelfen Rojens
bujches, der in der Nähe jtand, und jah auf den
Nord hinaus.
Nahdem der Vater mit Holt durch den Garten
und die Mutter ind Haus gegangen war, wendete
ſich Elina mir zu und fragte mit allen Zeichen innerer
Erregung: „Du fannjt doch unmöglich das meinen,
was du vorhin jagtejt?“
Sie war, wie gejagt, im Verlaufe des Winters
blaß und mager geworden; aber erft in biefem
Augenblid fiel mir auf, wie groß die Beränderung war.
Ihre roten Wangen waren eingefallen, die Lippen
blutleer und ichmal, und die größer gewordenen
Augen hatten einen gleihlam verwundeten, brennen—
den Ausdruck.
Dieje Wahrnehmung übte eine jo überwältigende
Wirkung auf mic) aus, daß ich vergaß, ihr zu ant—
worten. Sie fuhr fort: „Du kannſt doch unmöglich)
meinen, es fünne nicht alles gut werben, wenn man
es will ?“
„sa, da& glaube ich. Hier hilft auch ber feftejte
Mille nichts,”
es et er
win
ee en
804
„Aber,“ wandte fie mit beinahe fieberhaftem Eifer
ein, „wenn der andre es nun nie erfährt, wenn man
alles aufbietet ?“
Ich ging näher zu ihr hin. „Sage mir, meinft
du, du fönnteft ein ganzes Leben hindurch mit mir
leben, ohne zu empfinden, daß du mir nicht mehr
ſeieſt als jeder andre, für den ih Achtung und
Freundſchaft nähre?“ Sie blidte mich mit unficherem
Auge an, ſchlug es nieder und biß fich auf bie Lippen.
„Und wenn du dann einmal entdeden würdeſt,
dab ih dich Tag für Tag betrogen, und daß im
Grunde nichts von alledem, was du für mich gefühlt,
erwidert worden, ja, daß das, was bein höchſtes
Glüdwar, für mich unfäglichite Pein geweſen — würdet |
du mir dann vergeben fünnen, daß ich dich mit be»
wußter Ueberlegung in ſolches Unglück Hineingezogen ?
„Nein, lieber ein gejunder Schmerz, wie ſchwer
er auch fein mag, als jold ein krankes Glüch!“
Sie erwiderte nichts, aber die Hand, welche id
erfaßte, brannte und zitterte,
„Aber weshalb nimmft du alles jo ſchwer?“ fragte
ih. „Haft du Hanna Ström gegenüber etwas gejagt
oder gethan, was du bereuft ?*
„Hanna Ström?” fragte fie ganz geiftesabwejend,
indem fie auffah. „Ya, fie fagt dasſelbe wie du.
Ad, könnte man durd) den Tod befreit werden von
all dem Elend, das man fi) und andern bereitet!” |
rief fie haftig aus und erhob ſich.
„Aber Elina ...“
„Ach, wenn du ſehen könnteſt — wüßteſt du” —
ſie kam nicht weiter; der Vater und Holt zeigten ſich
am Garteneingang, und fie nahm wieder Platz auf
der Banl.
Kurz darauf gingen wir alle ins Haus. Mehr-
mals fuchte ich ein Alleinfein mit ihr; es fam mir
indes vor, als ob fie ſelbſt einem joldhen vorzubeugen |
ſuche, und jo war es uns unmöglich, unfre Inter
redung fortzufepen.
Als Holt uns abends gute Nacht wünfchte, fand
auch Elina auf. Ih geleitete fie nad Haufe.
Während Elina mir die Hand reichte, ſagte fie:
„Ih werde morgen früh aufpallen, wenn du zum
Dampfichiffe gehit.*
Als ich am folgenden Tage an Holts Haufe vor⸗
überging, gemwahrte ich nichts von Elina. Ich trat
hinein und traf Holt, der mir berichtete, daß fie ſich
ihon zur Schiffbrüde begeben habe. Ich verabjdhiedete
mid) von ihm und eilte ihr nah. Das Schiff lag
ihon an ber Brüde, und es wurde zum erften Male
entgegen. Sie jah vergrämt, müde und überwacht aus.
„Du fommft zu fpät,“ jagte fie und zog mid
mit ſich fort.
„Ih verliere alle Luft zum Reifen, wenn id
denke, wie franf du ausfiebft.“
Kriftian Eliter,
„Ich bin nicht krank — ich habe nur nicht ge—
ſchlafen,“ erwiderte fie haſtig, ihre Schritte ber
ſchleunigend.
Ich ſtand ſtille. „Elina, ſeit geſtern abend
ſchwebt mir eine Frage auf den Lippen, die du mir
beantworten mußt, bevor ich abreife. it es mır
das Verhältnis zu deinem Onkel, was dir Schmerz
verurfacht, oder iſt es auch etwas andres?“*
Nun gab man auf dem Schiffe das zweite Signal
zur Abfahrt.
„Eile dich, eile dich!“ rief ſie und wollte vor
wärts. Sie jah aſchfahl aus, ihre Lippen waren
‚ troden, und in ihren Augen lag ein angftvoller, ge⸗
fpannter Ausdrud,
„Ich Ichiebe die Reife auf,” fagte ich.
„Nein, nein,” unterbrach fie mich unrubig und
jah mit irren Bliden um ſich, als erwarte fie, daß
irgend etwas zu ihrem Beiftande herbeilommen lönne.
„Dann antworte mir...“
„Ach, laß mich,“ bat fie. „Frage nit — nid
jeßt — ich werde, ich fann nicht — id} bin io...’
Vom Dampficiffe her pfiff es zum dritten Male,
Ich blidte fie an. Ihr Auge Flehte wieder fo
heiß, nicht zu fragen und abzureijen, daß mir feine
Wahl blieb. Ich nahm meine Reiſeſachen, gab ihr
die Hand und überjchritt die Landungsbrücke. Die
Taue wurden gelöft, dider Qualm ftieg aus dem
Schornſtein empor, die Schraube ſetzte fid in Be
wegung, und langjam entfernten wir uns vom Ufer...
Ih hatte den Zeitpunkt meiner Abreiſe mit
Sehnſucht erwartet. Nach dem, was id) im der legten
Zeit erlebt, war mir die Luft in der Heimat zu
ſchwer geworden. Es war mir ungemein ſchmerzlich,
Elina unter Verhältniſſen leiden zu ſehen, die ih
nicht zu ändern vermochte. Außerdem fehnte id
mid) nach Arbeit und wünſchte von ganzem Herzen,
eine Stätte zu finden, in ber ich mir meine Fünftige
Heimat bereiten fönne. Aber als ich nun vom Verdei
aus das Schiff fi vom Lande abwenden ſah, ſchien
es mir, als ſteuere ich ziel- und heimatlos in die
Welt hinaus. Die Reife fam mir plößlich zwedios
vor, die Trennung unendlich, und mir war, ala über:
lafje ih Elina feindlihen Mächten.
Solange ich die Brüde ſehen konnte, ftand fie
nod da.
Ale andern gingen fort, nur fie blieb zurüd.
Sie ſchien mir jo unendlich einfam und verlafen,
wie fie daftand, und vielleicht noch mehr fo, weil die
Orrſchaft in diefem Augenblide hell und jommerlid
gepfiffen. Als Elina mid) jah, fam fie mir jchnell |
I
’
vor mir lag.
*
Während der ganzen Reife quälte mid) der Gr
danfe: Es ift aljo noch etwas andres, etwas, dad fie
dir nicht anvertraut hat, was fie bedrüdt. Was if
es, das diefe rofigen Wangen erbleichen, das ſonnigt
Sonnenmolten,
Lächeln ihres Mundes erfterben und ihre offenen, |
Maren Augen ſcheu und brennend werden ließ? Ich
riet und grübelte, verlor die Luft an meinem ganzen
Vorhaben und jehnte mich nur danach, zurüdzufehren,
um zu erfahren, was es war, das jie allen Lebens»
mutes, aller Freude am Daſein beraubte.
Als ich mich dem Orte näherte, der in Zufunft
meine Heimat fein jollte, Taftete diefe Stimmung
no schwer auf mir, Und der erfte Anblick dieſer
Gegend war auch nicht danach, mein Herz leichter zu
machen. Es war ein ganz enger Thaleinſchnitt mit
unſäglich melancholiſchen Tannenbeftänden zu beiden
Seiten. Meilenweit ringsumber waren alle einzelnen
Gehöfte von dieſen dunfeln oder graugrünen Wals
dungen umgeben, die für immer das Trauergewand |
angelegt zu haben jdhienen. Sie verjperrten Die
Ausſicht nach allen Seiten, und nit einmal ein
ihäumender Waſſerfall oder ein glänzenber See be= |
lebte die Landſchaft.
Was die Hauptjadhe anbelangt, jo fand ich bie
Verhältniſſe über alle Erwartungen günftig. Gier
war unzweifelhaft ein weites Arbeitsfeld für einen
thätigen Mann, und was das Befte dabei war —
ih fonnte gleich beginnen,
Friſcher Mut wuchs mir bei dieſen Ausfichten.
Was es aud) immer mit Elina fein mochte — eines
fiand feft: das einzige Heilmittel für fie war ihr |
Fottgehen aus der Dorfihaft. Und bier war Platz, |
bier fonnte unfer Heim jogleich gegründet werden,
bad wir fern von dem Orte aufichlagen wollten, wo
das Dafein ihr jeßt zu einem fo ſchweren geworben war.
Was jchadete e& denn weiter, wenn dad Meer nicht
unter unfern Fenſtern wogte und wenn am fernen
Horizont feine Segel jhwebten ?
Unverzüglich jchrieb ich Elina und meinen Eitern
über alles dieſes. Ich teilte ihnen mit, daß ſich
mein Aufenthalt bier, wie die Verhältniffe einmal
lagen, wohl verlängern und dab ich ſchwerlich vor
dem Herbſte nach Haufe fommen würde.
bat ich fie um regelmäßige Nachrichten. So fiedelte
ich mid denn fürs erſte in dem fremden Orte an.
Jede Woche ſchrieb ih an Elina, erzählte ihr von
dem Dorfe und feinen Bewohnern und von all meinen |
Endlich |
Zuhunftsplänen. Aber nie fam eine Antwort. Woche
auf Woche verftrich, doc; weder von Elina nod von
meinem Heim hörte ich ein Wort. Zuleit wurde es
mir unerträglich. Jch nahm mir vor, die nicht Heine
Reife bis zur nächſten Telegraphenflation zu maden
und dort die Antwort auf ein Telegramm abzuwarten,
als endlih ein Brief von meinem Vater eintraf.
805
Es herbftete ſchon, als dieſer Brief fam. Die
Dampfſchiffe hatten einen Zeil ihrer Touren ein-
geftellt, und es war nad) einer langen, ermüdenden
Reife, als ich endlich in den Fjord bineindampfte.
Mir bogen um den legten Feljenvorjprung, und
vor mir lag die Dorfichaft und die Brüde, auf
welcher ich Elina zuleßt gejehen, wie fie dajtand, dem
Schiffe nachblickend.
Niemand von den Meinigen war dort. ch eilte
die vertrauten Wege entlang und jtand bald vor
Holt? Haufe. Als ich e& das letzte Mal jah, hatten
die Bäume nod) ihren friſchen, reichen Laubſchmuch;
die ich längs des ganzen Hauſes hinziehenden Roſen—
büjche waren noch bededt geweien mit roten und
weihen Blüten, deren Duft alle Wege und Stege
erfüllte, und weiter abwärts im Garten hatten die
Blumenbeete wie farbenreiche Teppiche inmitten des
grünen Raſens ausgefehen. Daß das Laub der
Bäume jeht ſpärlich und vergilbt war, daß die Rofen
längſt verblüht und die Blumen verwelft waren,
ſchien mir nicht die natürliche Folge des Herbjte
eintrittes zu jein, jondern hervorgerufen durch ver=
zehrende Krankheit und verfümmernden Mißmut ...
Ich flog die Stufen hinauf und eilte über den Flur.
ZTotenftille herrſchte im Haufe; ich vernahm nichts
als meine haftigen Atemzüge und den heftigen Schlag
meines Herzens, Ich trat in das Wohnzintmer; es
war leer. Ich bemerkte, dab die Blumen in den
‘ Zöpfen troden waren und daß ein auf dem Zijche
im Glaſe ftehender Strauß vermwelft ausjab; er hatte
augenſcheinlich jeit Wochen fein friſches Waſſer er=
halten. Das Zimmer machte den Eindrud, ala ob
jeine Bewohner ausgewandert und ala ob alle Gegen—
ftände in demjelben in Verfall geraten jeien.
Ih begab mich über den Vorplak in Holts
Comptoir. Auch Hier feine Seele. Ich Hopfte an
die Thür feines Schlafzimmer — da lag er feſt
ſchlafend auf feinem Lager. Bei dem Geräufche des
Ihüröffnens fuhr er in die Höhe und rief noch halb
im Schlafe: „Was giebt’3?*
Als ic) nicht antwortete, blickte er mich eine Weile
ganz verwirrt an, erfannte mic endlich, erhob ſich
und gab mir die Hand.
„Bift du gekommen?“ ſagte er.
„Elina?“ fragte id; mir war, ald müſſe id) ver-
geben, ehe ich die Antwort hörte.
„Ja, bier gab es Krankheit nad) deiner Abreije,“
erwiderte er und ſtrich fich mit der Hand über das
Antik; „wir alle haben etwas gewacht — ich jpüre
es noch.“
Er unterrichtete mich in kurzem davon, daß Elina |
längere Zeit frank gewejen jei, und fügte hinzu, er
bielte e8 für das Befte, wenn ich nach Haufe füme,
ſobald es mir möglid) ſei.
*
„Aber Elina — iſt fie...“
Gr ſah mid an: „Nein, du irrſt dich — fie
hat es überftanden,“
Faſt hätte ich den Jubel, der mich nad) der langen,
fürdjterli_hden Spannung überfam, laut hinausgerufen.
806
Kriſtian Eliter.
Ich jpürte Luft dazu, Holt um den Hals zu fallen, | Zeilen wieder und wieder, ohne dat; ich fie veritehen
und begriff nicht, wie er mir dieſes mitteilen fönne, | fonnte. Es war mir, als ob das, was id; las, mid
als ſei es die gewöhnlichite Sache von der Welt.
Verſtand er nicht, was er felbft fagte: fie lebte, fie
lebte, fie hatte e& überftanden? Ich meinte, die ganze
Gegend ringsum müfle ein großes Felt feiern...
Aber es war ja richtig, für ihm und für dem ganzen
Ort war dies feine Neuigfeit mehr, und er hatte
gewacht — ja, er mußte viel gewacht haben, die
treue Seele, jeinem Ausjehen nad) zu urteilen.
„Du bift noch nicht zu Haufe geweien ?“ fragte er.
„Nein,“
„Ah,“ jagte er lang gebehnt und blicdte etwas
verlegen zur Seite,
„Dit denn jeht jede Gefahr vorüber?”
„Ja.“
„Iſt fie auf?“
Er jchwieg eine Weile. „Sie ift abgereift,” ver-
jehte er darauf, und wieder wendete er den unficheren
Blid von mir ab.
„Abgereiſt? ... gereiſt? ... Ich verfiche fein
Wort.“
„Ja, mit einem Male wollte fie fortreiſen und ...“
„Fortreiſen? Aber wohin ?“
„Nach Bergen.“
„gut“
„Sie ift bei meiner Schweiter. — Deine Mutter
wird einen Brief für dich haben,“ beeilte er ſich
hinzuzufeßen, als wolle er dieſen Fragen, die ihn
augenjcheinlich verlegen machten, entgehen.
Er begleitete mid) eine Strede Weges. Indem
wir Abihied nahmen, ſagte er: „Ach verftehe fie
nicht — es fam jo plötzlich; es muß ihr etwas Be—
fonderes geichehen jein — es find noch nicht gar fo
viele Tage ber, dab wir um ihr Yeben bejorgt waren.
Aber wahriheinlich fteht e3 in dem Brief, warum
fie durchaus fort wollte,” fügte er hinzu.
Ich ſagte ihm adieu und eilte heim. Die Mutter
ftand auf der Treppe, nad) der Anlegebrüde blidend.
„Da ift er,“ rief fie, als fie mic) gewahrte. „Kommit
du endlih! Ad, wie habe ich gewartet .. .*
Wir traten in das Zimmer, Ich bemerkte, daß
meine Mutter mich verjtohlen mit einem eignen
fragenden und traurigen Blide anjah. „Bilt du...
biit du ſchon bei Holt geweſen?“ fragte fie dann.
„Sa, ich weiß es. Sie ift fortgereiſt. Haft du
den Brief?“
Sie holte denfelben. Holt hatte recht. Im Brief
ftand, weshalb fie abgereift war.
„Es muß vorbei fein zwiſchen und. Ich lann
dir nicht das fein, was ich müßte. Ich habe nicht
gewagt, zu warten, bis du kämeſt. Ich ſchäme mid)
jo vor dir.”
*
Da blieb ih im Zimmer und las die wenigen
gar nichts anginge. Es war ganz ftill um mid) ber;
ich fühlte ein paar Augen mitleidig auf mir ruhen,
doc) wagte id nicht aufzubliden. Keines von un
ſprach. Es wurde uns beiden fo maßlos jÄhwer, dei
erite Wort zu reben.
Endlich jagte meine Mutter: „Sie war ehr
krank.“ Ich bat fie, mehr zu erzählen, An dm
Tage meiner Abreife war Elina ohne weitere Be
gleitung als die eines Knaben ausgejegelt. Auf dem
Ford hatten - fie Regen und Sturm gehabt. Aber
ohne auf die Vorftellungen des Jungen zu adıten,
war Elina draußen geblieben, bis er amgefangen
hatte zu weinen und zu jammern, dab er nimmer
nah Haufe kommen würde. Da endlich fei fie um-
gelehrt und habe auf das Ufer zu gehalten, Durch
näßt und durchkältet war fie heimgefommen, um am
nächften Tage jehr frank, ja für einige Zeit bein-
nungslos zu werden, jo daß ihr Leben in Gefahr
ſchwebte. Zuerſt waren alle jo jehr durch die Pilen
in Anjpruch genommen, daß fie nicht dazu famen,
mir zu Schreiben. Als Elina fi dann etwas erholt,
hatte ſie nicht gewollt, daß ich von ihrem Srankiein
erfahre,
Da fie aber fpäter hörte, daß der Pater mid
doch von demjelben benachrichtigt hatte und daf ih
erwartet werde, fonnte niemand fie zurüdhalten, Sie
wollte fort, und als das Dampfſchiff kam, fland fe
teifefertig an der Brüde, obgleich es nur wenige Tag:
ber war, daß fie das Bett verlafjen.
„Schon während meiner Nadtwachen bei ihr
wurde mir Mar, daß da irgend etwas im Bau
lei,” endete die Mutter ihren Bericht, „und vor ihren
Fortgehen vertraute fie mir auch an, was im Brieit
fteht!*
Nahdem die Mutter mir alles erzählt, erfahtt
mich erit die Wirklichkeit des Geſchehenen. Ich hört:
eine wunderherrliche Mufif, die der Seewind in weite
Fernen trug — die wonnige Muſik des Lebens.
VIIL
Einige Tage jpäter ftand id) vor einem niederen
weißen Haufe in einer der ftilleren Straßen Bes
gens. Hier jolte die Schwefter Holts wohnen. 4
läutete, und furz darauf hörte id) jemand die Treppe
berabfommen, Es wurde indes nicht aufgefchlofen,
jondern eine Frauenjtimme fragte: „Wer ift da!"
„Jemand, der Elina Holt zu ſprechen wünſcht!“
Ih höre Schritte treppauf gehen, Schritte treppab,
bis die Antwort kam: „Sie ift nicht zu Haufe, Mt
ift ſpazieren gegangen.” Wohin fie gegangen ki!
Wann fie zurüdtime? Das wuhte man nid.
Ih ſchlug einen Weg dem Meere entlang ein,
einen der mindeit belebten, denn ich war ficher, de
fi Elina zur See hingezogen fühlte und dab fe
Sonnenmolfen.
die Hauptftraßen vermied. Lange ftreifte ich umber, |
beftieg alle nahen Hügel und jpähte nad) ihrer wohl- |
befannten Geftalt aus. Hier war diejelbe Natur wie |
zu Haufe, aber für mid trug fie nicht denjelben
Ausdrud. Diefe grauen, maffigen Felſen jahen mid
mit denjelben toten, erlojchenen, gleihgültigen Mienen
an, mit denen fie jeit Jahrtaufenden auf die Not
und die Verzweiflung dahingegangener Geſchlechter
geſchaut hatten und mit denen fie wohl nod Jahr—
tauſende hindurch Zeugen desſelben Dramas jein
werden, das immer noch geipielt werben wird, folange
Menſchen da fein werden. Das Meer, welches ſich
unter einem feuchten Winde leicht fortbewegte, war
mir in diefem Augenblid nichts als der große, Falte
Begräbnisort für die vielen lichten Menjchenhoffe
nungen, die dort alljährlich zu Grunde gehen.
Und doch war dies diejelbe Natur, die ich kannte
und liebte, und die verwebt war mit meinen gelieb-
teiten Träumen und Erinnerungen.
Ich verfolgte einen Pfad, der ſich zwiichen heide—
frautbewachſenen Steinblöden durch Heine feuchte, mit
niederem Bujchwerf umſäumte Thäler binjchlängelte,
bis ih mich zulegt, müde dom Wandern, auf
einem borjpringenden Felſenabſatz niederließ. Müde
des einen Gedankenganges, der mich Tag und
Nat verfolgte, ließ ich mein Auge über die dunkle
Ser und bie gelblichen ſenlrechten Bergwände hin—
gleiten. Schon wollte ih dad Suchen aufgeben und
in die Stadt zurückkehren, als ich noch weiter hinaus
am Meeresufer eine weibliche Geftalt erblidte, die |
id, der weiten Entfernung ungeachtet, ſogleich erlannte.
Es war Elina. Da jaß fie, wie ich fie wohl taufend»
mal in der Heimat gejehen, den Kopf gejtüßt und
auf das Meer hinausichauend. Bei meiner An |
näherung wendete fie ihr Haupt langjam nad) mir
um, aber jobald fie mich erkannte, fuhr fie auf wie
ein gejcheuchter Vogel und machte eine Bewegung, |
als wolle fie flichen. Doch plötzlich hielt fie inne, |
fie blieb ftehen, ohne fich zu rühren oder ich umzu—
sehen. Erſt als ich ihr ganz nahe war und fie mit
einem „Guten Abend, Elina!* begrüßte, blickte fie |
auf und wiederholte mechaniſch: „Guten Abend!*
Wie war fie verändert! Daß die Sranfheit fie ans
gegriffen haben mußte, fonnte ich willen, und bleich
und mager hatte fie jchon bei meiner Abreiſe aus—
geſehen. Aber dieſer matte, fajt erlofchene Ausdrud
ihres Auges! Es war nicht nur Traurigkeit, die fie
807
Sie ließ jih wieder nieder, den Kopf abermals
mit der Hand ftügend, und blidte übers Meer, ohne
zu reden. Ich warf mid) ihr zur Seite ins Heide—
fraut und wartete, Plöplich richtete fie fih auf und
begann in heftigem, ſchmerzlichem, fich ſelbſt anflagen-
' dem Tone:
„Ih hätte nie fommen jollen, wenn du abends
vorlafeft, denn ich glaube, es war das, was mid) irre
führte. Ich hatte noch niemals jo etwas gehört; es
bielt mich während der Nächte jchlaflos, und ich weiß
nicht, was ich darum gegeben haben würde, dort jein
zu können, wo alle das, von dem du Tajeft und
erzählteft, geſchah. Mir ſchienen dieſe Lejeftunden
die jchönfte Zeit meines ganzen Lebens zu fein. Und
bei alledem — im Grunde babe ich feinen Sinn
für dergleichen. Ich bin aud nicht dafür erzogen.
Ich bin ja fat nur ein Bauernfind — das hätte ich
nicht vergeiien ſollen. Das Vorlejen übte feinen
guten Einfluß auf mid) aus. Ich gelangte zu dem
Glauben, daß dort zu Haufe alles Hein, Häglich und
dumm jei, und daß fi draußen alles Große und
Schöne fände Alle die, mit denen ich täglich ver-
fehrte, wurden mir gleichgültig und langweilig; nur
du warſt andrer Art, warft wie die, von denen du
lajeft und erzählte. So fam es, daß ich dich zu
lieben vermeinte, wie die Gattin ihren Gemahl lieben
jol. Ic jagte dir damals feine Lüge, nein, ficherlich
nicht. Seitdem habe ich oft und oft an alles gedacht
und jo lange darüber gegrübelt, daß ich glaube, jetzt
alles zu verfichen. Ich fonnte nicht leben wie jo
viele, ohne irgend etwas oder einen Menſchen lieb
zu haben. Ich fand, daß es herrlich jei, num jemand
gefunden zu haben, der mid gern hatte und den ich
das ganze Leben hindurch lieben könne, Ich glaubte
ficher zu fein, daß niemand jonft in guten und böfen
Tagen jo treu zu dir halten werde...
„Aber ich jollte mich ſelbſt beifer kennen lernen
und erfahren, wie ſchwach ich bin und einen wie
' wanfelmütigen Sinn ih babe. Ich jah ein, daß ich
umgab, jondern etwas Herbſtliches, möchte ic) fajt jagen
— fie ähnelte den halb entblätterten, verwellten
Büſchen, die in Heinen Gruppen am Rande der See
fanden und einem langen, öden Winter entgegenjahen.
„Biſt du gekommen?“ fagte fie. „Ich wußte,
dab du mir nachreifen würdeſt, und doc) war es mir
unmöglich, zu warten. Ich weiß, daß es feige war,
aber ich glaubte es nicht aufhalten zu fünnen.”
nicht in der Weiſe deiner dachte, wie ich hätte müfjen,
und auch, dab mein ganzes Sehnen nad) dem, was
fich draußen befand, nur eitel Dunſt geweien. Du
ſelbſt warit es, der mich zur Beſinnung brachte,
Schon ſeit unjrer Verlobung hatte ich mich darüber
gewundert, dab du in der Dorfichaft bleiben wollteft,
Ich dachte, du würdeft eines Tages zu mir fommen,
mir zu erzählen, daß du hinaus wolleft, um in der
Welt Schulter an Schulter mit den Beften zu kämpfen
und dir ein Reich zu gewinnen. Ja, das war dumm,
findifch von mir, aber ich mußte immer an die alten
Geihichten denken, die du mir vorgeleien, wie alle,
die tüchtig waren in früheren Tagen, nicht ruhten
noch rafteten, bis fie Schiffe und Menſchen beiſammen
hatten, mit denen fie auszogen, um Land und Ehre
| zu erftreiten, Das begriff ih. Ich glaubte in mir
808
zu fühlen, daß ih, wäre ih ein Mann gemeien, |
dasjelbe gethan haben würde. Und du jchienft mir
zu gut dazu, zu Haufe zu bleiben, um zu werden
wie die andern. Und danı wartete id) unabläffig
darauf, dich eines Tages ausrufen zu hören: ‚Seht
halte ich es bier nicht länger aus!“ Uber gerade ba
jagteft du, es fände fich überall Arbeit, und e& war |
mir, als fei ich undenklich lange abwejend gewejen
und jebt heimgefehrt, und ich jah alles mit denjelben
Augen an wie in früheren Tagen, fannte alle Menfchen
und hatte fie lieb wie vordem. Denn einjlmals
hatte ich ja ebenjo gedacht wie du. Ich begriff, wie
dumm und eitel ich geweien und dab ich unglücklich
geworden wäre, wenn mir das zu teil geworden,
wonach id) mich geiehnt. Aber zugleich wußte ich,
daß id) in etwas anderm geirrt, was uoch jchlimmer
war al® das erſte.
„Zuerſt wollte ich nichts davon jagen. Ich meinte,
Kriftian Elfter.
gehört, nur daß ich es jetzt eher verjland als das
mals, Als id) dieſer Unterredung entgegenging, hatie
id) ja gewußt, dab ſich nichts ändern würde, ba
alles vorüber jei, und doch fühlte ich im dieſtm
Augenblide, dab mir nicht voll zum Bewußtjein
gelommen war, wie fremd wir in Zufunft aneinander
vorübergehen würden. Aber nun, indem fie davon
ſprach, begriff ich es nur zu gut.
Ich kam mir plötzlich vor wie ein Mann, der
das Leben durd den Schleier eines ſchönen Traumes
etz könne alles bleiben, wie es gewejen, wenn man |
es nur ernftlih wolle. Und ich weinte, betete und
fämpfte, aber nichts, nichts half. Trotzdem hatte ich
mir vorgenommen, daß du nichts von dem erfahren
jollteft, wa& mich quälte; ich hielt es für fein Unrecht,
dasſelbe zu verbergen, Aber dann fagteit du — am
Vorabend deiner Reife, weißt du — daß man der—
gleichen nicht jein Leben lang verbergen fünne, daß es
Betrug jei, Died auch nur verfuchen zu wollen, und
daß bu es nie würbeft verzeihen fünnen.
„Das war die ſchwerſte Stunde, die ic) je erlebt.
Ach, id weiß nit, was ich hätte tragen und er—
dulden fönnen um den Preis des Schweigens. Ich
mochte gar nicht glauben, dab es deine wirkliche
Meinung fei, und date, irgend etwas müſſe ge—
ſchehen, damit ich des Ausſprechens überhoben werde.
Dann bat ich dic), abzureijen; es war nicht recht
von mir, ich weiß es; aber e& war mir, als fünne
dadurch eine Aenderung herbeigeführt werden. Doc
im Grunde wuhte ich, dab du recht hatteft und daß
ich dir nie vergeben haben würde, wenn du mir jo
‚etwas verſchwiegen hätteſt ... Ich konnte nicht ins
Haus gehen, als du fort warſt; ich nahm einen Jungen
mit mir und ſtieg in ein Boot. Ich weiß jelbit nicht,
was id) wollte; fait glaube ich, daß ich einen Sturm
berbeiwünjchte, der allem ein Ende gemacht hätte.
Aber da fing der Anabe an, fich zu fürdten; id)
hatte ihn gänzlich vergeſſen. Vielleicht dachte ich
au, daß es unrecht jei, daß es Gott verſuchen hieße
— ih weiß es nicht. Ich war fo außer mir, daß
id) meinte, es jei alles glei, was da fäme, nachdem
ich eine jo große Schande erlebt hatte.“
Mehr als einmal mußte fie während diefer Selbſt⸗
anflage ihre Thränen befämpfen, um fortfahren zu
können. Aber bei den letzten Worten war e3 mit
ihrer Selbftbeherrf—hung vorbei — wieder weinte fie
jo reuig und jammernd, wie ich es jchon einmal
geiehen hat, der num zerrifien wird. Alles, was mir
würdig geichienen, dafür zu leben, alles Grohe und
Schöne, von dem mir je geahnt, alle Hoffnung und
Freude, fern oder nah, war wie hinweggeweht. Die
warme, jchöne, farbenreiche Welt, die wir zu Zeiten
des Glüdes,jchen — wo war fie geblieben? In
diejem Falten Nebelmeer gewahrte ich nur ein Wrad,
das fih an Harte Klippen ftößt, ſich nad dem Ber
finfen in der Tiefe jehnt und es doch nicht vermag...
Ach, damals glaubte id) nicht, da fid ein jolde
Erlebnis ertragen ließe! ...
Sie weinte nit mehr, jondern ſah gebeugten
Hauptes, mit müdem, hoffnungsloſem Blid vor ſich
nieder. Dann erhob fie ſich, aber fie ftand ruhig, al?
warte fie auf ein Wort von mir. Ich hatte auf
eine Frage, die mir ſchon auf den Lippen brannte,
für fie, die Frage: „Haft du einen andern lieb ge
wonnen, Elina?“
Sie erwiderte nichts, und da fie abgemwendet von
mir daftand, war es mir nicht vergönnt, den Aus—
drud ihres Gefichtes zu jehen. Endlich antwortete fr
mit einer befonderen, jcharfen Betonung: „Meinft du,
daß mir nad diefem Tage jemand glauben könnte,
und fönnte ic mir jelbjt glauben ?*
Immer ftand fie noch neben mir mit abgewanbten
Antlig. Plötzlich Hörte ich weichen, gedämpften, jaſt
Ihüchternen Zones, der in direktem Gegenſaß zu
dem vorher jo harten Klang ihrer Rede ftand, die
Worte: „Kannſt du mir jemals verzeihen, was id
dir gethan habe?”
Als id) dieje Stimme vernahm, der ich jekt vide
leicht zum letzten Male lauſchte, erwachten tauiend
ſchöne, ftrahlende Erinnerungen in mir,
„Wie kannſt du jo fragen? Jetzt verftche ih
nur zu gut, wie wenig ich dir war umd Dir ſein
fonnte — und außerdem, was fannft du dafür, dei
— es — dab es — nicht mehr jo ift, wie es war!”
„sa, id hätte mich ſelbſt beijer kennen müflen.
Aber wenn ih dir Hummer verurfacht habe, ſo
weiß ich auch, daß das Gejchehene auch mir nit
leicht zu tragen fein wird.“
„Du braucht mich deifen nicht zu verfihent.
Weiß ih doch, da diefe Begegnung bir cbemo
ſchmerzlich ift wie mir,”
„ber du Haft michts zu bereuen. Eine, die ſo
Sonnenwolken.
iſt wie ich, kann feinem ordentlichen Menſchen mehr‘
ins Auge ſehen. Und wäre es nicht, weil — ja,
wäre es nicht —“
Sie ſtockte, wendete ſich raſch zu mir, blickte mich
ofen an und ſagte, meine Hand faſſend: „Wir |
müſſen jcheiden, und es geichieht am beften gleich
jet — es bleibt ja nichts mehr zu reden. Aber
vorher jollft du noch erfahren, daß die Tage, die
wir beifammen waren, die jchöniten find, welche ich
gelebt, und befiere als irgendwelche, die mir nad)
dieler Zeit beichieden jein werden, Lebe wohl!”
Sie wendete ſich ſchnell ab und ging eiligen
Schrittes der Stadt zu.
Wie oft hatte ich dieſer ſchlanken, Heinen und
doch fräftigen Geftalt nachgeblidt! Wie gut fannte
ich ihren rajchen, energiichen Gang! Lebhaft jah ich
fie in diefem Augenblid vor mir, wie fie war, che
die Sorge und Krankheit der letzten Zeit fie jo ver—
ändert hatten. Ich ſah ihre Haren grauen Augen
mit dem plößlichen Wechſel des Uusdruds vom Nüchtern⸗
Praftiihen bis zur tiefen, leidenſchaftlichen Glut,
ſobald fie erregt wurde. Ich jah ihre breite, Fräftig
bervortretende Stien, umrahmt von weichen, gewelltem
Haar, und den feinen Mund mit feinem zuweilen
jo friichen, ftrahlenden Lächeln, während er fi) dann
wieder hart und kalt jchließen konnte. Ich hörte
ihe helles, melodijches Lachen, das einen alle Not des
Lebens vergefjen machen konnte, und fühlte die innige
Wärme in ihrer Stimme, wenn fie von jemand
tebete, der ihrem Herzen nahe ftand. Es lag etwas
Unbegreifliches für mich darin, daß alles dieſes,
was doch mein geweſen, mir von jet an ewig fremd
iein müſſe. Vielleicht würde ich fie jehen, fie hören,
ihre Stimme den alten Zauber auf mich üben, warme
Liebe zu ihr mein ganzes Sein erfüllen und ich mir
doch Sagen müſſen, daß mir nichts von alledem mehr
ju eigen ſei. Es würde mir jein wie einem, der in
fein Heim zurüdtehrt und es in fremdem Befih findet.
Ich erinnere mich nicht, wie lange ich dort in
der Heide verweilte. Zuletzt dachte ich gar nicht
mehr an das Gefchehene, ich dachte überhaupt nicht,
Ein Gefühl unendliher Schwäche und Hilflojigfeit
übermannte mich), das dann von einem jlechenden
Schmerz in der Bruft abgelöjt wurde. Ich warf
mid wieder ind Heidelraut, als ob ich meine qual«
vollen Seufzer in demijelben erjtiden fönne. Ich
ichloß die Augen, um die Welt, welche gleich einer
Wüſte vor mir lag, nicht mehr fehen zu müſſen,
und hatte nur Sehnſucht danach, mic) in die Erde
verjenlen zu lönnen, um zu jchlummern — nur zu
ihlummern,
*
Wenige Tage naher lag die Heimat wieder vor
mir. Ja, war dies der liebe alte Ort, der immer,
ſobald ih fern von ihm war, im Glanze lieber
Zus fremden Zungen. 1897. IL 17.
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!
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erwartend.
809
Erinnerungen und lockender Hoffnungen vor meiner
Seele geſtanden, und den ich nie erblicken konnte,
ohne daß mein Herz ihm mit taufend warmen, froben
Gefühlen jubelnd entgegengrüßte?
Es war ein trüber Tag, der Himmel farblos
und die Luft ſchwer. Der Herbft fennzeichnete Felder
und Bäume Alles ſchien mir das unfreundliche
Gepräge von Alter, Müdigkeit, Leere und Einjam«
feit zu haben. Alles ſchien gleihfam eingefroren
und unbeweglich, und es fam mir vor, al& herrſche
eine Stille wie bei einer Leichenfeier.
Ih begab mich heimwärts. Es fam mir ganz
unerträglich vor, befannten Gefichtern zu begegnen
und jehen zu müſſen, wie das Werftagsgetriebe feinen
gewohnten Gang ging. Ich fuchte alle die Plätze
auf, die wir einſtmals die „unſern“ genannt hatten.
Ich jeßte mid; auf die Steine oder Bänke, wo wir
geweilt, und betrachtete die Bäume, die Waflerfälle
und dad Meer. Zuerit empfand ich nichts dabei,
denn es war fait, als habe mich dad Gedächtnis
verlaſſen. Dod dann gedachte id an einzelnes,
und jofort umgaben mic die geſamten Erinnerungen.
Ih fühlte ihren lieben Arm in dem meinen, ihre
Wange an die meine gelehnt, ed war mir, als küſſe
ich fie zum erften Male, und als jagten ihre guten,
treuen Augen: „Du bijt mein.“ Alle die kurzen,
ſchönen Worte, welche nur die Liebe erfindet und
denen fie ſolche Zaubermacht verleiht, umſchwebten mich,
und alles Herrliche, welches uns nur dann zugeflüftert
wird, wenn die Seele von ſüßer Sehnfucht erfüllt
ift, erjhloß fih mir wieder...
Als ich endlicd) ins Haus trat, dämmerte es bereits.
Aber bei dem Gedanken an die Gegenwart beichlich
mich die alte Eifesfälte, umd wieder glaubte ich im
Gefolge von des Lebens großem, unendlichem Leichen-
zuge zu wandeln,
In dem dunkeln Hausflur begegnete mir niemand
von den Meinigen. Als ic) in mein Zimmer gehen
wollte, hörte ich ein Geräufch und blieb vor dem—
jelben ftehen.
Plötzlich fühlte ic) zwei Arme fih um meinen
Hals legen, umd eine gebämpfte Stimme fragte:
„Kann es nie wieder gut werden ?*
„Rein.“
Dann trat id) ein. Der Mond ftieg gerade über
den Felskamm empor und erleuchtete mit Schwachen,
bläulihem Schimmer die beinahe jchwarzen Bäume
und die bräunlichen Felder. Ich fehte mid ans
Fenſter. Davor ftanden meine beiden Fyreunde, zwei
Eichenbäume, entblättert und refigniert den Winter
In diefem matten Mondſchein lagen
die Häufer wie dunkle, undeutliche Maſſen vor mir;
weiter draußen erglänzte das Meer wie ein grati
weißer, jhimmernder Streifen. Von der Scheune
ber erflang der Schlag der Dreier; er erinnerte
102
810
Kriftian Elfter.
mid an die Ruhe des Winters mit feinen flillen | plößlich durd eine im Zeitungsftil abgefahte Roti
Abenden hinter geichloffenen Thüren. Nirgends gab | eines öffentlichen Blattes zu leſen.
es Unruhe, nirgends ein Zeichen, das auf irgend
einen Hummer oder auf eine Zerftörung beutete,
Ich gedachte jenes verhängnisvollen Abends, an
dem ich wie heute an dieſem Fenſter jaß, mit der
Vorahnung zukünftigen ſtrahlenden Glüdes in die
Mondſcheinnacht hinausſchauend, und an dem id) es
„Ihön fand, zu leben“, Aber vor allen ftand der
nächte Morgen mit peinlicher Deutlichfeit vor meinem
inneren Yuge. Ich wußte, daß mid des Dienft«
mädchens „Guten Morgen!” und ihr „Fröhliche
Weihnachten!“ gewedt hatte, als fie den Kaffee
brachte. Der beichneiten Bäume erinnerte ich mich,
zwiſchen deren Zweigen einzelne Vögel jchwebten,
und der fernen Bergipiken mit ihren fonnenvergoldeten
Bipfeln, und der fraufen, leichten Wolfen, die hoch
oben in der Luft rafteten, Alles rief mir feinen
Feſtgruß zu. „Fröhliches Feſt!“ rief auch der Vater,
indem er jeinen Kopf durch die zum Nebenzimmer
führende Thür hereinftedte. Auch die Mutter erjchien
mit demſelben Wunſche, jehte fih auf den Rand
meines Bettes und berichtete über alle während meiner
Abweſenheit im Haufe vorgenommenen VBeränderun«
gen. Und ich entfinne mich, daß ich alles, was ich
ſah und hörte, jo merfwürdig und jo verheißungsvoll
fand, daß ich glaubte, nie vordem gewußt zu haben,
wie lieb mir das Haus mit jeinen Bewohnern, die
ganze Umgebung, und wie jhön und voll märden-
haften Glüdes das Dafein jei...
IX.
Viele, viele Jahre find verfloffen feit jenem
Abende, und nie habe ich meine Heimat wieder-
gejehen. Eine Zeitlang jchrieben meine Eltern mir
häufig, dann feltener, und niemals enthielten die
Briefe Nahrichten von Elina. Daher wuhte ich
nicht einmal, ob fie zu ihrem Onkel zurüdgefehrt
jet, als ich eines Tages in der Zeitung unter ber
Rubrik „Unglüdsfälle zur See” folgendes las:
„Während des Iekten, vor ungefähr acht Tagen
berrfchenden Sturmes fand in unfrer Gegend ein
Unglüd auf der See ftatt, das nicht verfchlen wird,
auch in weiteren Kreifen Teilnahme zu erweden. Es
betrifft den Landhändler Herrn Holt, deſſen Boot
auf dem Rüdwege vom Tingfted fenterte, wobei er
mit feiner ihn begleitenden Nichte umlam. Herr
Advokat Vang und ein Knabe, welche die Tour eben-
falls mit ihm machten, wurden gerettet, Herr Land«
händler Holt galt allgemein für einen auferorbents
lich tüchtigen, rechtichaffenen und humanen Mann,
und er ſowohl wie feine Nichte werden von den
vielen, denen fie mit Nat und That beigeftanden,
ſchwer vermißt werden.“
Man muß dergleichen erlebt haben, um begreifen
zu fönnen, wa& es heißen will, eine ſolche Nachricht
Unverzüglich jchrieb ic an den „Patrioten®, um
etwas Näheres zu erfahren, und die Antwort lautete:
„Geehrteſter!
„Der traurige Fall, deſſen Sie Erwähnung thun,
trug fi) während des letzten Herbſtes zu. Ich mar
mit Holt zufammen dorthin gereift, um verſchiedent
Geſchäfte zu erledigen. Elina ging mit und, um
Hanna Ström zu befuchen, die jekt mit dem Herm
verheiratet ift, der das Ting abhält. Nachdem Holt
mit allem fertig war, wollte er fi) auf den Heim
weg begeben; es herrichte aber ein Unwetter und
es wurde ihm von allen Seiten von der Seetout
abgeraten. Doch, wie Sie noch wiſſen werden, war
es nicht leicht, ihm zu etwas zu überreden. Wir
hatten nur ein jechäruderiges Boot, auf dem Holt,
id und ein halbwüchſiger Burjche die Bemannung
bildeten. Holt war von jeher ein verwegener Segler
und ſchien mit den Jahren nur immer kühner ju
werden, Der Burjche, ebenfalls ein Wagehals, ſah
fo wenig wie Holt eine Gefahr in diefer Heberfahtt.
„Es war ein ſchrecklich unfreumdlicher Tag, an den
ich ewig denfen werde. Schneeichauer, aufgeweichte
Wege, die Luft kalt und rauh. Ein foldyes Tingſted
unter derartigen Verhältniſſen iſt jo recht dazu an
gethan, dem Menſchen Abneigung gegen das Leben
an ſich einzuflößen. Alle Thüren ftehen offen, durd-
näßte Menjchen gehen aus umd ein, um den ober
jenen zu treffen, und beſchmußtzen noch dazu jeden
Raum mit ihren naſſen und unjauberen Stiefeln.
Ueberall riecht es nad Seewafler und Fiſchen.
Draußen auf den Wegen fieht man eine fompalte
Mafle von Menjchen, die zum Ting verfammelt
find, fi von den Booten nach den Käufern hinaui
und wieder zurüd bewegen. Alle Leute haben «
eilig, und es iſt weder ein vernünftiges Wort mit
jemand zu reden, noch; eine friedliche Ede zu finden,
wohin weder Zugwind noch Näfle und Fiſchgeruch
dringen. Holt war noch raitlofer als gewöhnlich
und lief den ganzen Tag bin und her. Endlich war
er fertig, und der Junge trug ihm fein Reifegeug
in das Boot. Ich rüjtete mich ebenfalls und traf
Holt auf dem Wege.
„Wohin willft du? ſagte er. — Nah Haut
natürlich!" gab id zur Antwort. — ‚Unfinn, du
bleibft bis morgen; für dich ſowohl als für Eline
ift Platz im großen Boote des Bogtes.‘ — ‚Ich laße
dich in dem Wetter nicht allein fahren,‘ erwiderte ih.
— ‚Dante vielmals; ich bin jetzt einigermaßen bei
Jahren und kann die Reife ganz wohl ohne Kinder:
mädchen machen. Einen Mann zum Rudern habe
ich befommen.* — ‚Gebjt du heute fort, thue ich es auch
Ich denke doc noch meinen freien Willen zubefigen.‘
— ‚Du wirftmir nur im Wege fein,‘ jagte er barſch.
Sonnenmwolten.
„Ehe ih antworten fonnte, fam auch Elina in
Reifelleidern. Holt machte große Augen. ‚Aber ich
jagte dir doch, daß ich dir für morgen einen Platz
im Boote des Vogtes gefihert habe!‘ — ‚Ich jahre
heute,‘ antwortete fie furz.
„Holt überlegte einen Augenblid, indem er prüfend
auf die See jah. ‚Aber — dem Metter ift nicht
ganz zu trauen,‘ wendete er etwas unficheren Toneß
ein, — Ich werde nicht genieren,‘ meinte fie und
ging vorwärts. Holt jchwieg hierauf, doch fandte
er ihr einen befonderen Blick nad).
„So fegelten wir denn ab. Elina ſaß möglichft
geſchützt, Holt führte das Steuer, ich befand mid) |
in der Mitte det Bootes, und der Junge blieb
vorne, Die Sade lieh fih ganz gut an, und es
ihien feine drohende Gefahr vorhanden, des Wetters
ungeachtet, bejonder8 mit einem Führer, wie Holt
es war. Doch nahmen wir unjre Aufgabe feine-
wegs leicht, und jeder von uns bejorgte jchweigend
die ihm zuerteilte Arbeit. Holt ſaß Elina halb zu«
gewendet und fing an, leife mit ihr zu reden. Sch
fing nur einzelne, abgerifjene Säße auf, die mir die
Vermutung, dab jet Abrechnung zwiſchen ihnen
gehalten werde, nahe legten, Endlich jchienen fie
lich gegemfeitig über alles auszuſprechen; was biäher
jwilchen ihnen gelegen. Jh hörte ihn antworten,
dab er ältlic) fei und weder habe glauben noch hoffen
innen! Den Schluß feiner Rede verftand ich nicht.
Ih hörte fie wiederholen: ‚Du hätteft e8 nie, nie |
verbergen ſollen.“
„Und ich dachte mir, er erzähle, wie lieb fie ihm
im Grunde gemwejen jei, und daß er es ihr nie gezeigt
babe. Nachher hörte ich ihn auch etwas über eine
Verlobung jagen, über etwas, das er nicht gewagt,
und daß man feiner ſelbſt ficher jein müſſe.
ih vernahm deutlich ihre Antwort: ‚Nein, num hätteft
du mir nicht mehr glauben können, und ich mir jelbft
ebeniowenig.‘ Doc was fie damit andeuten wollte,
lann ich nicht jagen. Ich bemerkte, daß Holt mehr
mals die Farbe wedhjelte und daß feine Hand das |
Steuer nicht ficher führte. Es lag etwas Geiftes-
abwejendes in jeinem Blick, und er gab nicht genau
acht auf die Sturzwellen. Plötzlich jah ich eine
ſolche heranlommen, e8 wurde ganz dunkel in unirer
Nähe, aber Holt bemerkte es nicht. Ich rufe ihm
zu, er rafft ſich fchnell auf und giebt die nötigen
Anweifungen, diesmal noch eben zur rechten Zeit.
Dasjelbe wiederholt ih nochmals. Ich warne ihn:
„Seht jegelft du aber unvorſichtig!‘ Er giebt feine Ant»
wort, ift aber eine Zeitlang aufmerffamer. Das
Better ſcheint etwas ruhiger zu werden. Holt ſpricht
wieder leiſe mit Elina, und indem ich meinen Ge:
danken nachhänge, achte ich nicht viel auf die Segel, |
Da fchreit der Junge plöglih: ‚Es kommt! ...
Mehr konnte er nicht jagen; ich höre ein fürdhter-
Und |
811
liches Brauſen, ſehe den Maſt über Bord gehen,
fühle mich kalt und naß werden, indem ich beinahe
erftide, und fann weder ſehen noch hören. Wieder
zur Befinnung gekommen, finde ich mich mit beiden
Händen angellammert an das gefenterte Boot, und
id; werde am Kragen in die Höhe gezogen, bis ich
oben auf demjelben bin. Holt war es, der mir
dieſe Hilfe leiſtete; er ſaß da, einen Arm um
Elina gelungen, die bleih und mit gejchlofjenen
Augen an ihm lehnte. Auch der Junge hatte fich
dorthin gerettet. ‚Halte dich gut feſt, jagte Holt,
nachdem er mir binaufgeholfen, indem er mid) [08
ließ. So ſaßen wir rittlings eine Weile auf dem
Kiel, nad) Rettung ausjpähend und uns Gott be=
fehlend. Da kam mir vor, ald ob Holt nicht mehr
ganz ficher ſäße, und feinem Ausjehen nad mußte
es ihm zu ſchwierig fallen, jowohl ſich wie Elina feft«
zubalten. Ich befragte ihn deshalb ; doch er antwortete
nur: ‚Gieb acht auf den Jungen, wenn du es ver«
magst.‘ Ich jah ihm nochmals prüfend an — er
ſaß aufredht wie ein ganzer Mann, und das Mailer
floß an ihm herab, In demjelben Augenblid befam das
Boot einen Stoß; eiäfalt umjpülte e$ uns, ich fonnte
nichts mehr wahrnehmen, hielt mich aber aus allen
Kräften feit. Als ich meine Augen wieder gebrauchen
fonnte, war niemand mehr vor mir, Himmelhoch
ichrie ich über See gegen das Land zu, aber meine
Stimme Hang wie die eines Kindes in dem Donnern
von Wogen und Wind, und ringsum ſah man nichts
als die tobende See.
„Es ift eine eigne Sache darum, folches erlebt
zu haben. Großer Gott! Die Erinnerung fann durch
nichts ansgelöjcht werden. ch jage Ihnen, man
wird alt von fo etwas und verliert die freude am
Leben. Wir beiden Heberlebenden wurden in ftilleres
Fahrwaſſer getrieben, man bemerkte uns vom Lande
aus, und jo famen wir mit dem Leben davon.
„Mas joll id; weiter jagen? Sie fünnen ſich
jelbit denken, wie mir zu Mute war, al ih Ihren
Eltern die Botſchaft brachte. Ihre Mutter jagte
ein Wort, an das ich oft denfen muß: Es war
vielleiht am beften jo,‘ meinte fie. Ich will Ihnen
befennen, dab ich ſelbſt etwas Wehnliches gedacht
habe. Zwiichen den beiden wäre es nie gut geworden.
Vielleicht jollte ich dies nicht weiter erörtern. Allein
‘ Sie haben mid) dringend um ausführliche Mitteilungen
über beide gebeten. Ja, es ift fonderbar, daß jte
ſich nicht verföhnen konnten. Sie war das ware
fühlendfte, großherzigite Weib, das ich je gelannt,
und was Holt anbetrifft — ja, er war mein einziger
Freund im Leben, treu wie wenige, zuverläſſig, wenn
man in Not geriet. Zu einer Erklärung zwiſchen
ihnen fam es erft, als es zu jpät war. Das Ver—
hältnis zwifchen ihnen hatte ih ſchon lange jehr
gegen frühere Tage gebeilert. Sie verkehrten freundlich
812
und viel weniger ſchweigſam miteinander. Aber
man fühlte doch, daß da etwas war, was nicht geheilt
werben konnte. In jener furdtbaren Stunde, da
fie wie leblos in jeinem Arme lag, hörte ich ein
Wort, das ich niemand anvertraut babe, nicht ein-
mal Ihren Eliten. Als Holt merkte, dab er fie
nicht mehr ſicher halten könne, jagte er: ‚Elina,
nimm dih zufammen, es gilt das Leben.‘ — ‚Lab
mid) fahren,‘ verſehte fie, ‚mir liegt nichts daran, jeht
ift es nicht ſchwer, zu fterben.‘ Sie ſprach vielleicht in
Phantafien, aber ich meine doch auch, daß ſich in
ihren Worten ein geheimer Wunſch verriete — fie,
die einmal fagte: ‚Es ift ſchön, zu leben.‘
„Don mir ift wenig zu berichten. Ich leide ſehr
durch die Kälte. Ich fühle Bellemmungen meiner
Bruft, die mich gewiß nie wieder verlaffen werden.
Wozu jollte ich auch noch leben? Das Haus dort
oben jteht leer; ich fanı nicht mehr hineingehen und
zwei gute Menſchen darin finden. Welchen Wert
bat das Leben, wenn der Menſch vereinfamt ift?
Ich will Ihnen ein Gejtändnis machen. Es iſt ein
gute Ding um allgemeine Ideen und Intereſſen;
aber es ift eine wunberlich fühle Gejellihaft, wenn
man alt wird. Gerade heraus! Wenn man nichts
andre3 mehr im Leben jein nennt, wird man jich jo
arm und verlafien fühlen, daß man gern jein Blut
ließe für einen einzigen Menfchen, den man lieben
darf und bei dem man Gegenliebe findet.
„Dies ift eine Lebenserfahrung, die ih in mein
Teſtament jchreiben will.“
%
In jedem Briefe, den du während der letzten
Jahre an mich abgejandt, kehrt die Frage wieder,
wie ich e8 aushalte, mein Leben in diefem abgelegenen
Thale zu verbringen und feine armen Bewohner
von ihren Gebreften zu furieren. Wo die Aufgabe
fei, die mich mit diefer Exiſtenz verſöhnen lönne?
Woher ich überhaupt das nötige Brennmaterial
nehme, um den alten Ofen warm zu halten? Ob
ih mich nicht hinausſehne in die große weite Welt
mit ihren gejhäftigen Menichen und ihren vielen
geiftigen Intereflen ?
In dem, was ich bir erzählt, wirft du die Ant«
wort finden. Ich babe einen Ausſpruch von Elina
beherzigt: „Dann wollen wir Derer gedenfen, Die
frant und traurig find.” Siehſt du, jobald man
fein Auge auf ſolche Dinge richtet und bereit ift,
ſolche Thätigkeit zu üben, jo findet man das Leben
überall unendlich reih an großen Aufgaben; denn
nirgends fehlt die große Familie der Aranfen und
Kriftian Elfter. — Sonnenwolten.
Traurigen. Ich bedaure nur, dab mein Wille jo
ſchwach ift und meine Kraft jo gering.
Allerdings ift das Brennmaterial nicht jedergeit
jehr reichlich vorhanden, und zumeilen droht der
Ofen zu erfalten. Mein Geichid ericheint mir ähnlich
wie das ber Sonnenwolten — fie entzünden fih am
Weſthimmel, leuchten eine Weile in herrlicher Glut,
verlieren dann aber plöklic ihr Sonnenfener und
ichweben farblos und einjam vorüber.
Aber doch habe auch ih, der gewann und verlor,
eines erlebt, habe einen Augenblid gewußt, was das
Leben in feiner größten Herrlichleit bietet, habe er:
fahren, daß es die Schmerzen, mit denen wir &
bezahlen, wert if. Ob ich Sehnſucht empfinde?
Ya, aber nicht die nad) der großen Welt und ihrem
bewegten Leben. Oft ſchaue ich gegen Weiten, wo
das Licht erloſch, und jehne mich dorthin, weih ih
glei, daß die Sonne untergegangen iſt. Ja, id
fehne mich nad der fern im Meften gelegenen
Heimat, ala ob alle Herrlichkeit des Lebens dort ju
finden jei. Hier jcheint mir noch heute alles fremd
ı zu fein. Diefe falten, Maren Winter haben nit:
Anziehendes für mich, und dieſe trockenen, heißen, duft-
lojen Sommer find nicht wie die, welche ich kenne und
liebe, Mit heißer Sehnſucht denfe ich am die feucht
Luft der weſtlichen Gegend, an wildſchäumende
Gebirgsflüffe, an zartes, friſchgrünes Gras, an dunfie
Kiefernwaldungen und an die feinen weißen Häuler
mit Gärten. Ich habe Sehnfucht nach hohen Zelle
mit jchneegefrönten Gipfeln, nach dem Atem der
See, nah dem Gepläticher der langen, ſchwath
twogenden Sommerwellen und nach dem Anbiid von
ihwimmendem Seegras und jchaufelnden Booten.
Ja, zuweilen überfällt mich ein brennenbder Durüi
ein verzehrendes Sehnen, dies allet nur mod din
einziges Mal zu fehen, zu hören und zu genieben,
— und doc weiß ich, daß es nur eine Illuſion if.
Ich ſehne mich nad einem Stüdchen Leben, dei
begraben ift. Wäre ich dort, fo würde ich mie an
einem Grabe weilen und meinen, Daß alles, wei
mir teuer, in die Ferne gezogen iſt. Dann würde ich
mich befinnen und willen, dak das, wonach id
Sehnſucht empfinde, in der falten Tiefe begraben
liegt, welhe man Vergangenheit nennt. Wieder
würde ich nach Weiten jehen und träumen, dab dick
| fernen, rötlichen Sonnenwolfen ausgewandert fin)
| aus jenem Lande, wo der Frühling ewig währt,
und dab fie mir einen flüchtigen Gruß von dem
Herrlichen jenden, das ic erjehne und das nid
erjtirbt.
LO · —
Hühneriana.
Gin Gleichnis von
GSuflav Wied.
Aus dem Dänifhen überfeßt von 6. Denwitz.
Es war einmal ein Hühnerhof, in welchem die
hähne mit Kamm umd Sporen und andern männ«
lien Zierden hochmütig einherftolzierten und ihre
Hennen insgefamt recht lieb hatten, wie Hähne ihun
iollen. Fanden fie auf ihren Wegen einige Iedere
Körnden, fo thaten jie natürlich zuerſt fich ſelber gütlich
daran, denn fie hatten ja vorher die Arbeit und
Mühe damit gehabt ; blieb dann aber noch etwas übrig,
jo richteten fie ſich hoch auf, frähten, um ihre Weiber
und Hinder herbeizurufen, und jagten ihnen: „Seht,
dies haben wir für euch gefunden!” Da kamen die
Hennen von allen Seiten herbeigewadelt, jie füllten,
ihre Kröpfe, danften, jchlugen mit den Flügeln und
liegen ſich's jchmeden, waren neidiſch, jchritten zum
Rampfe gegeneinander und pidten aufeinander [08 und
wurden gejchlagen und jo weiter, wie eben Hühner feit
Dlims Zeiten gewöhnt find, ſich die Zeit zu ver-
treiben. Dennoch aber hüteten fie ihre Nefter, legten
ihre Eier und brüteten ihre Küchlein aus und fühlten
fi verhältnismäßig glüdlich auf diejer Welt, indem
fie das alte Naturgejeg anerkannten: „Der Hahn iſt
dad Oberhaupt der Hennen.“
So war es damalä!...
Muhme Meyer war der Name einer älteren
perlgrauen Henne von ziemlich cholerischem Tempe»
rament.
Seit langer Zeit merkte Muhme Meyer, dab fie
den andern im Hühnerhofe, ihres zunehmenden Alters
wegen, jchon recht im Wege war, und darum war
ihr der Kropf oder vielmehr die Galle ſtark geichwollen,
Wenn fie num jah, wie ein heißblütiges junges
Huhn mit Flaum und Federn ſich einem Hahn er
gab, To jagte fie zwar nicht geradezu, das fei ein
Verbrechen, denn jie fonnte, bejonders zur Lenzeszeit,
ſich noch dunkel ihrer eignen Jugend erinnern, aber
fie gaderte doch halblaut etwas vor ſich hin, daß die
Kennen ihre Würde befjer zu wahren willen und fich
teinesfalld jo willig darein finden jollten, von den
Hähnen nad) eignem Gutdünfen behandelt zu werden,
„Denn,“ jagte fie, indem fie den Schnabel jenf-
teht hielt, „wenn man die Sache genau unterjuchen
wil, jo ift im Grunde nur ein Eleiner, unbebeutender
Unterſchied zwijchen Henne und Hahn, und diejer
fledt wejentlih in dem rein äußeren Apparat: im
Kamm, den Sporen und... und jo weiter!“
So ſprach fie, und immer zablreicheres, gleich—
alteriges Hühnerbein begann ihren Worten zu lauſchen.
Und fie wurde von Heiliger Wut ergriffen. Erſt
unternahm fie mit einigen beionders empfänglichen
Hennen einjame Spaziergänge an dem Brachfeld
bei der Wagenremije vorüber. Darauf wurden ge=
heime Sitzungen im Kuhſtall und in der Scheune ge=
halten, und endlich jehte fie öffentliche Verfammlungen
unter dem Fliederbuſch oder auf dem Pia mitten
im Hof an.
Und jie machte nun nicht länger mehr ein Hehl
daraus, dab es die Hähne jeien, weldhen fie zu Leibe
wollte,
Ganz reizend war es, die Aufmerkſamkeit ihrer Zu-
hörerinnen bei dieſen Verſammlungen zu beobachten ;
fie wendeten ihre Kleinen Hühnerköpfchen graziös
zur Seite und nahmen ſehr nachdenlliche Mienen an.
Und jedesmal, wenn fie dann etwas recht Gravieren-
des über das andre Gejchlecht geäußert hatten, klatſchten
fie begeiftert mit den Flügeln.
„Was iind denn die Hähne,” ſagte fie, ihren
Schnabel höhniſch verziehend, „daß fie fich einbilden,
die Herren der Schöpfung zu jein? Melden Vorzug
bejigen fie eigentlid vor ung?“
„Nun, ich denfe, den, daß jie nicht nötig haben,
Eier zu legen und zu brüten,” winfelte in weiner-
lihem Tone eine magere und zerzaufle jchwarze
Henne, Mutter von fünfzehn Küchlein.
„Brüten!” rief Muhme Meyer, „brüten” — und
ihre Federn flräubten ſich wie die Stacheln eines
gereizten Igels — „brüten! Immer wirft man ung
dieſes Brüten vor den Schnabel! Aber gerade darüber
haben doch zu guter Let nur wir allein zu bes
ſtimmen!“
„Ja—a!“ gackerten die Zuhörerinnen, „darüber
beſtimmen wir allein!“
Die meiſten von ihnen waren, wie geſagt, ältere,
bürre Hennen, welche nur in den wärmften Tagen
bes Maienmonds Nachlommenjchaftsgelüfte verſpürten
... Und ber Geift des Aufruhrs verbreitete fi mehr
und mehr im Hühnerhofe, und Muhme Meyers
Popularität fteigerte ſich faft biß zur Heiligipredhung,
als das Gerücht ſich zu befeitigen begann, da fie
nicht einmal mehr Eier lege, Denn daß man ihr
nachſagte, Ihon lange nidt mehr Umgang mit
Hähnen gehabt zu haben, konnte ja ebenfogut dem
Mangel an Begabung wie einem Uebermaß ihrer
Willenskraft zugejchrieben werden. Won dem Weih—
rauch, welchen man ihr ftreute, wurde jie ganz hoch—
beinig. Und wenn fie auf dem Stafet, weldjes den
Düngerhaufen umgab, oder auf dem Rande bes
Schweinetrogs ftand und ihre Brandreden hielt, dann
lag eine jolde Energie in ihrem Vortrag, ein jo
fanatifches Feuer blitte aus ihren Augen, daß man
mitunter verjucht war, zu glauben, es jei in ihrem
fleinen Hühnergehirn etwas entzwei gegangen. Und
ferner begab fich überdies, wenn fie manchmal gerade
jo recht aufgaderte, etwas ganz Eigentümliches mit
814
ihr, indem fie plöglich merfwürdig aufgeregt wurde,
in lächerlicher Weife auf den frühen hin umd ber
trippelte, die Augen ganz nervös verdrehte, id) ver
beugte und verſchwand. Sie verlieh ihren Redner—
ftuhl und ging abjeits; ob in die Scheune oder auf
den Heuboden oder draußen nad dem Heuſchober,
das wußte man nicht, denn fie erlaubte nie, daß
jemand ihr folge. Nach reichlich zehn Minuten kehrte
fie ruhig und gefaht zurüd, um ihren Vortrag jort-
zuſetzen.
Und nun raunten ihre frömmſten Anhängerin-
nen einander geheimnisvoll und feierlich zu, daß fie
in ihrem geheimen Gemad) gewejen jei, um ſich durch
Gebet und Anruf zu ftärten. Und höher und höher
flieg der Mut der aufrührerijhen Schar. Man
gründete ein Blatt mit dem Titel: „Was wir Hennen
wollen“, und ftiftete einen „Fortſchrittsverein der
Hennen“. Unter ungeheurem Gadern wurde Muhme
Meyer zum Präfes der „Direltion” (ein Wort,
welches man jelbft erfand und für eine außerordent-
liche Verbeflerung der Mutteripradhe anjah), gewählt,
während man einen alten, rötlichgelben Hahn ohne
bejonderen Namen, der an Zipperlein und Ber:
dauungsbeſchwerden litt, überredete, den Posten eines
Dirigenten und Bizevorftandes zu übernehmen.
Jetzt fteigerte der Mut fi zum Uebermut. Ja,
es begab ſich einigemal abends, wenn die jüngeren
Hähne auf ihre Stänglein geflogen waren, daß, von
Muhme Meyer und dem mit Verdauungsbeſchwerden
Behafteten geführt, die übrigen Vorftandsmitglieder
mit Hohn- und Schimpfworten auf fie eindrangen, jo
da die Hähne, teils, weil fie ihre Krähwerkzeuge nicht
gehörig gejchmiert hatten, teils, weil fie ſich vor
Lachen nur jo jhüttelten, ihre Stangen verlafjen und
die Naht, in Gemeinjchaft mit den jungen, warın«
blütigen Hühnchen, im Winfel auf einem Strohlager
verbringen mußten.
Nun, dort mochte es ihmen übrigens ganz gut
gefallen! ...
So rückte der große Tag heran, dem beide Par«
teien mit lebhafter Spannung entgegenjahen.
Der Hennenforticrittsverein hatte unter dem
Motto: „Auf mit den Schwingen!“ eine Maijen-
verfammlung einberufen.
Mitten im Hofe ftand ein leerer Erntewagen,
deſſen Trittbrett über die Hinterräder gelegt war.
Diejer follte ala Nednertribüne dienen. Die „Di—
reftion“ follte im Innern des Wagens, die Redner
nebft dem Borftande auf dem Wagenbrett unter
gebracht werden, während der „Dirigent“ jeinen
Pak auf dem linken Hinterrad erhalten jollte, um
ein wachſames Auge auf die Menge zu haben. Den
Zuhörern wurde der Grasfled rund herum ala Ver—
jammlungsort angewiefen. Die Sifung war für
drei Uhr nachmittags anberaumt worden.
Bereit3 um zwei Uhr begann das Publitum her—
beizuftrömen. Es waren die Vereinsmitglieder und
Muhme Meyers eifrigfte Anhängerinnen. Sie nahmen |
im Innern des Kreijes Aufftellung und hatten zur
Feier des Tages und für den Fall eines Handgemenges |
oje Blätter.
ihre Schnäbel frifch geweßt. Darauf kamen die ſchwan—
fenderen Seelen, Kennen, die nicht aus nod) ein
wußten.
Und außen ſtanden die jungen Hähne mit ihren
heißblütigen Damen, welche ihre Federn puhten, nach
rechts und links knickſten und halblaut gludſten.
Um Schlag drei Uhr tauchte der Präſes an der
Spike der gefamten Direktion auf.
Die Prozeffion bewegte fi von außen her um
die Menge herum, auf die Wagendeichjel zu, wo fie
vom Dirigenten empfangen wurde, der fie, jo gut er
es fertig brachte, mit einem Krakfuß begrüßte.
Darauf ftieg man die Deichjel entlang hinauf
und nahm unter endlojem Gadern der Berfammlung
feine Pläße ein. Es dauerte ziemlich lange, bis der
Dirigent auf dem Rade Fuß gefaßt hatte, weil er
abjolut auf einem Bein ftehen wollte, ohne doch die
Kraft dazu zu bejigen. Bereits tönte leijes Kichern
und Zuruf von den äußerften Reihen her, als der
alte Herr ſchließlich auf eindringliche Vorftellungen
der Direktion eimwilligte, auf zwei Beinen zu diri-
gieren. Zuerft erhielt Muhme Meyer das Wort,
welche jomit in doppelter Eigenſchaft, als Vorſtand
und Rednerin, fih auf das Wagenbrett ftellte.
Ein unmähiges Gadern wurde ihr von den Mit-
gliedern de& Vereins zum Gruße dargebradjt. Ber:
einzeltes Ziſchen ließ fich zwar vernehmen, wurde jedoch
bald übertönt. Und nachdem der Dirigent durd
dreimaliges energifches Krähen Ruhe geboten hatte,
begann fie:
„Meine Hennen und Hähne!
„As ih vor einem Jahre meine Agitation in
der Hühnerfrage begann, da wurde ich mit Kopi-
ſchütteln und Hohngadern begrüßt, nicht allein von
dem jogenannten ‚ftärferen Gejchledht‘, jondern ebenjo
von der Mehrzahl meines eignen Lagers. Doch ih
verlor feineöwegs den Mut!
„Denn Sie erinnern fi) gewiß alle, was Stuart
Mill in feinem weltberühmten Werte: ‚Die Unter
johung der Hennen‘ jagt! ‚Sobald nur eine ein
zige energiiche Henne mit einiger Schneid im Schnabel
auftritt,‘ jagt er, ‚umd das Panier der freiheit hoch⸗
bebt, jo werden bald Tauſende ihr zu Kampf und
Sieg folgen!‘ Und es geſchah, was diejer berühmte
Hahn vorausgejagt hatte: Von einem Heinen Häuflein
Mihvergnügter find wir zu einer Macht in der Ge
jellichaft, einem Staat im Staate, zu einem Heer ber
Freiheit herangewachſen, welches fich über alle
Lande ausbreiten wird!” (Jubelgadern der
Direktion nebft Anhang.) „Und was ift es, wofür
wir fämpfen, meine Hühner? Wir fämpfen für die
Abſchüttelung diefes unerträglihen Joches, welde:
die übermütigen Hähne jeit Jahrtaufenden auf unjern
Naden gelegt haben. Aber wir wollen nidt
länger ihre Suprematie anerkennen.‘
(Nein, nein!) „Denn nur kraft einer ziemlich dubita-
tiven“ — bei diejen beiden Fremdworten verdrebten
die Vorftandsmitglieder vor Entzüden die Augen —
„ich Tage, einer ſehr dubitativen Ueberlegenheit an
phyſiſcher Stärke haben fie ung bisher darniedergedrüdt.
oje Blätter.
‚Scufter, bleib bei deinen Leiſten!‘ ift ein Wort,
das fie mit Vorliebe anwenden, wenn es uns ber |
trifft, und mit diefem armjeligen Sprichwort haben
fie ſtets unſer Thun und Laſſen nur auf unire Häus—
lichleit, auf das Hüten der Nejter, das Eierlegen |
und das Auffüttern unſrer Küchlein zu bejchränfen |
geſucht. Daß fie ung geftatten, und zu Schaufpielerin-
nen, Sängerinnen und Tänzerinnen auszubilden,
erwähne ich nur als Anklage gegen fie, denn dieje
Erlaubnis ift nur von ihren Sinnen diftiert, Sie be=
trachten ung einzig und allein als ein Spielzeug! Aber
wir wollen dieſe Tyrannei nicht länger
dulden!” (Nein, nein! Nieder mit den Hähnen!) |
„Denn welche leiblichen und geiftigen Vorzüge befikt
eigentlich dieſes eingebildete Vieh vor uns?...”
(Hier krähte der Dirigent aufs beftigite: er müſſe
die geehrte Rebnerin erſuchen, fi ein wenig zu
mäßigen. Er gehöre jelbjt zum andern Geſchlecht
und Fönne Feinesfalls die Bezeihnung „Vieh“ auf
fh fihen laſſen; es fei fein parlamentarischer Aus-
drud! Die Rednerin errötete bit in den Kamm,
und ihre Stimme bebte, als fie in jpikem Tone fort
fihr): „ES war ganz und gar nicht meine Abjicht,
verſtehen!
denn hochverehrten Dirigenten zu beleidigen, ich bitte |
ihn daher um Entſchuldigung. Gleichzeitig will ich
mein Wort mortifizieren und in ‚Federvieh—
umänbern !* (Raſendes Begeifterungsgluden der Mei-
nungagenofien: Hurra! Bravo! Die Muhme wird
wigig! Kiferii—i! Der Dirigent: Ruhe!) „Alſo
frage ich wieder: Welche leibliche oder geiftige Vor—
züge zeichnen biejes Federvieh vor ung aus? Es ift
nur ein geringer Unterſchied,“ (Hurra, der geringe
Unterihied!) „Kamm und Sporen find nur Geſchlechts⸗
merfmale, wie Hörner und andre Stirnzierden“ (Uns
ruhe unter den Hähnen). „Und das Dogma von der
Inferiorität der Hennen ift zur Trivialität gewor—
den! Sie follin einigen fehlenden Hirmmwindungen
md einem überzähligen Schmwanzwirbel beitehen,
jowie in der ſchwächeren körperlichen Konftitution,
die vom Brüten, Eierlegen und fo weiter, was dazu
gehört, herrührt. Aber, meine Geehrten beiderlei
Geſchlechts, das mit dem Brüten, Eierlegen und fo
weiter ift doch eimas, worüber zu guter Yet wir
alleinbeftimmen! Ich habe ſeit der Gründung
unfer8 Vereins nit ein einziges Eige
legt!” (Hurra—a! Muhme Meyer joll leben! Der
Teufel ſoll's glauben! „Seht jemand Zweifel in meine
Worte,“ (Ja—a! Ni—in! Ja—a!) „oder glaubt
er das Gegenteil beweifen zu fönnen, jo trete er
hervor, wenn's beliebt!”
Einen Augenblick berrichte tiefes Schweigen in
der Verſammlung. Ueberall jtedte man leiſe flüfternd
die Köpfe zufammen. Die Vereinsgenofien jedoch,
jowie der Vorjtand jahen fi triumphierend um und
gaderten ſiegesgewiß. Plößlih ertönten Stimmen
von den Äußeren Reihen:
„Fräulein Weiß bittet ums Wort! Fräulein
Web weiß etwas! Laßt Fräulein Weiß hervor»
treten !”
Die Reihen öffneten ſich, und eine Meine weiße
815
Henne mit Schopf und ftrohgelber Schwungfeber
trippelte hervor. Sie jah ſchüchtern und beſcheiden
zu Boden und hielt die Flügel dicht an den Leib ge—
preßt.
„Ih wollte nur erzählen,” begann fie und ers
rötete über und über bis an die oberite Zade ihres
Kammes, „daß, als ich heut morgen .. .*
„Auf den Wagen mit ihr! Wir können nichts
Sie ſoll auf die Rednertribüne!“ ſchrie
die Menge.
Der Dirigent frähte:
„Darf id) das Fräulein erfuchen, ſich heraufzu-
bemühen!” bat er mit Teutfeligem Flügelſchlag.
Das feine Fräulein balancierte auf die Wagen-
deichiel und an dem gejamten Vorftand vorüber,
ber ſich ſchlimmer brüftete als eine Gans mit einem
Schwanenhalje und ihr furchtbare Blide zuwarf,
„Ich wollte nur,“ begann fie wieder, als fie faft
bis an den Rand des Wagenkaſtens gelangt war,
„ich wollte nur...”
„Höher hinauf!“ fchrie die Verfammlung. „Sie
joll neben Muhme Meyer ſtehen!“
Aber der feine Tauſendſaſa von einer Senne
warf beicheiden den Kopf zur Seite, drüdte bie
Flügel noch feſter an den Leib und ſagte mit feinem
Lächeln:
„So hoch fann ich mic) doch nicht aufichwingen!*
„Bravo, Bravo!“ ſchrie die Oppofition.
„Zur Sadıe, zur Sache!“ gaderten die Vereins-
hennen, und Muhme Meyer warf der jungen Dame
einen mie in Cyankalium getränften Blid zu.
„Nun ſeh mal einer an!” rief plöglich ein junger
Hahn, der im Stimmbrud war. Und alle jungen
Hennen jahen auf ihn und lächelten und gludten ;
fie fanden ihn ganz entzüdend,
Und zum drittenmal begann Fräulein Weiß:
„I wollte nur erzählen,“ jagte fie, „dab, ala
ich heut früh mit meinem Bräutigam* (Kichern und
Gratulation) „im Getreidefelde ipazieren ging, wir
plöglih Muhme Meyer aus einem der Heuſchober
berauslommen ſahen. Wir hatien natürlich große
Angſt, dab fie uns erbliden könnte,“ (natürlich!)
„und verbargen uns unter den großen Klettenſträu—
chern am Zaun. Da ftanden wir nun beide und
ſchauten hinüber, denn wir waren natürlich jehr neu»
gierig.” (Das tft begreiflich, liebes Fräulein!) „Und
da jahen wir, daß fie vorjihtig Umſchau hielt, und
als jie feine Hühner in der Nähe erblidte, machte
jie mit dem Schnabel ein Zeichen ins Neft hinein,
und da — und da...” (Nun, immer zu, friſch
drauf, Mamjellden!) „und da fam ein gelblichroter,
älterer Hahn lauſchend hervor, der unjerm verehrten
Direktor täuſchend ähnlich jah.“ (Das iſt gut! Hur«
ra—a! Pit, laßt weiter hören!) „Und fie beeilten
Äh, die Oeffnung wieder zuzudeden, dann ging jeder
feines Weges, in den Hof zurück.“ (Ha—ha—ha!)
„Ich war natürlich jehr neugierig,” (Natürlich! Das
haben wir gehört!) „und jcharrte das Stroh von dem
Loche hinweg, und da fand ich ein Neft mit vierzig
Eiern!* (Hurra! Kikeriki —i! Vierzig Eier! Es lebe
816
Muhme Perlgrau! Unfre fruchtbare und Vielfeitige!
Das war aber mal reihlih! Hi—hi! Es lebe der
Dirigent! Nieder mit Madame Meyer!)
Ein furchtbarer Aufruhr entitand in der Ver-
fanmlung, man rief und jchrie einander in die '
Schnäbel, die Hähne frähten, die Kennen gaderten,
und der Dirigent, dem es während der Enthüllungen
des Fräuleins mit vieler Mühe geglüdt war, auf
einem Beine zu ftehen, um der Gejellichaft zu im
ponieren, fiel wieder auf beide zurüd.
Muhme Meyer jelbft hatte einen ihrer Anfälle
von Aufgeregtheit befommen; fie trippelte mit den |
Füßen, wippte mit den Flügeln und verdrehte die
Augen, jo daß fie ihren Getreuen die ernfteften Be—
ſorgniſſe einflößte,
Aber plöplich jchritt eine der Bereinähennen gerades
wegs auf das Heine Fräulein Weiß zu, welches noch
mit dicht an den Leib gepreßten Flügeln daftand.
„Sie haben ja feinen Beweis!” rief fie mit
blikendem Auge und funfelndem Hamm, „Sie haben
ja feinen Beweis!
gewejen fein! Sie können falſch gejehen haben!”
Da erhob das Fräulein wie beichwörend feine
Flügel gen Himmel, und unter ihnen hervor auf bie
Verſammlung hernieder riejelte ein Regen von perl-
grauen und rotgelben Flaumfedern in lieblichem Verein.
„Diele Haben mein Verlobter und ih im Neſte
aufgeleien,* ſprach fie janft. „Und die Eier waren
faft geiprengt, es waren Küchlein drin!“
Diefe Mitteilung brachte eine ganz außerordent-
lihe Wirkung hervor.
Ein Siegesträhen und ein Hlagegadern brauften
über den Hof, denn die Federn entſtammten unver«
fennbar Muhme Perlgrauß und des Zipperleinbehaf-
teten platonifchen Brüften.
Schweigend und mit hängendem Schnabel ftanden
die Vereindmitglieder. Die Oppofition jubelte. Und
der Dirigent war verſchwunden.
Die arme alte Muhme Mever aber lag ohn—
mächtig auf der Rednertribüne. Und als man jie
bebutjam aufhob, um fie in eine Droſchle zu tragen,
da fand man, daß fie in ihrer tiefen Seelenqual
wiederum ein Ei zur Welt gebracht hatte,
Diesmal jedoch war es nur ein Winbei.
— —
Die dentiche Litteratur und das Ausland. Welch
hohes Anſehen die deutjche Geiftesbildbung in allen
Ländern des Erdballs genieht, läßt ſich durch nichts
bejier darthun als dur eine jüngft veröffentlichte
Statiftil des deutſchen Bücher-Erports und ⸗Imports.
Danach betrug der Bücher-Export im Jahre 1896
65 Tann dod) ein andres Huhn den Erport ganz erheblich. Sicherlich ift diefe That
oje Blätter
Nieverlande mt . .» 2 2 2 20 2 Boa Go Marl,
Trrantreih 2000660
Belgien nn da ihr er 1 200 000
Schweden . 1200000 ,
Italien ee Eee 300 000
Zinmart „on 2a 00 090
Der Import ausländiiher Bücher nach Deutih-
land belief fih im gleihen Jahre auf 20 Millionen
Marl, alio auf den dritten Teil de& Giporte
(1833: 8800 000 Marf. Am Import find die
hauptſächlich in Betracht kommenden Yänder beteiligt
wie folgt:
Defterreichellugarn mit . 7200 000 Marl,
Ediweiz R 300000
Frantreich 2 890.000
Niederlande r + 1600000 ,
Grohbritannien und Irland mit F 1600 000
Rußland miii— 720 000
Vereinigte Staaten von Nordamerita mit 650000
Wie man fieht, ift Frankreich das einzige Sand,
das mehr litterarifche Erzeugnifie nad Deutihland
erportiert, al3 von dort importiert werben. In allen
übrigen Ländern überwiegt der, Abſatz deutſcher Bücher
ſache zum Teile, namentli für Länder wie bie
‚ Vereinigten Staaten von Nordamerika, auf die be
; innerer Wert und Gehalt.
deutende Anzahl der im Auslande anſäſſigen Deutjhen
zurüdzuführen ; indefien beweift das Beifpiel einiger
Länder mit eigner litterarifcher Produktion in deuticer
Spradje, wie Oeſterreich Ungarns, Rußland! umd
der Schweiz, dab außer dem genannten Faktor nod
andre Momente das Anwachſen und Ueberwiegen
bes Bücherexports aus Deutſchland bedingen, und
diefe Momente find zweifellos nicht nur die auker
ordentliche Reichhaltigkeit und DVielfeitigfeit der deut:
ſchen litterariichen Produktion, jondern aud ihr
— 1.
—
Kleine Mitteilungen. Zum Andenfen an den
engliihen poöta laureatus Lord Tennyſon wurd
am 6. Auguft auf der Höhe von Freſhwater, einem
der Ihönften Punkte der Inſel Wight, wo der Dichter
einen Landſitz beſaß, ein Leuchtfeuer in Geftalt ein
cornwallifiichen granitenen Kreuzes eingeweiht. Da:
Kreuz ift 40 Fuß hoch und trägt die Juſchrift
| „Zum Andenten an Alfred Lord Tennyſon ift dickes
Kreuz, ein Leuchtzeichen für Seeleute, errichtet von
Leuten von fyreihwater und andern Freunden in
England und Amerifa.“ Das Kreuz ift der Obhut
des Leuchtamts, des Trinity Houfe, anvertraut. —
In Pézenas wurde am 8. Auguft ein Denkmal
Molieres enthüllt, eine Arbeit des Bildhauer
Injalbert. Das Monument zeigt die Büſte Molieres
1,7" , des geſamten deutichen Exports und repräs |
fentierte einen Wert von über 62 Millionen Mart
(gegen 26’, Millionen Marl im Jahre 1883).
An diefer Summe find die wichtigſten Staaten des
Auslands in folgender en beteiligt:
Oeſterreich ⸗ Ungarn mit . 28000000 Mark.
Schwe 7600 000
Bereinigte Staaten don Nordbamerifa mit 720 000
Ruklan mt . . 2: 2 2 2 2 0. 5 60 000
Geokbritannien und Irland mit . . 3200 000
Berantwortlicger Medafteur: Karl Bolhorvener in Stuttgart, Drud und Belag der Deutſchen Berlagt-Knflalt in Etuitgort.
auf einer Säule, an welche ji ein Satyr und eine
Soubrette anlehnen. Der Satyr bat viel von fid
reden gemacht, weil der Schaufpieler Coquelin cadet
ala Sohn für jeine Propaganda für das Denimal
verlangte, daß diefe Figur feine Züge trage. Der
Künftler nahm jedoch Anſtoß an der Barilofigkeit
des Schaufpielerg, die fich für einen Satyr nicht eignet.
Für die reizende Figur ber Soubrette nahm Injalbert
Fräulein Ludwig von der Comedie frangaise zum
Mech,
Briefe und Senbungen find nur an die Dentſche Verlans- Anftalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu riätem
Hleichbeit.
Edward Bellanı.
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von WM. Jacobi.
(Fortfehung.)
vo.
leberraihungen ohne Ende,
Edith war in jo wunderbar zarte Farben ge»
fleidet, daß ich mich zu der Bemerkung veranlaßt
ſah, die moderne Tracht jcheine es beſonders auf
belle fyarbeneffefte angelegt zu haben. In meiner Zeit
fei das weniger der Fall gemejen,
„Die damit erzielte Wirkung,“ fuhr ich fort, „ift
böhft angenehm, aber — entihuldige eine etwas
proſaiſche Aeußerung — wenn die ganze Nation in
io hellen Kleidern geht, müſſen die Wäſcherechnungen
jiemlih groß fein. Betrügen fie auch nur annähernd
jo viel wie ehemals, jo müßten fie das ganze National«
vermögen mit fortipülen, follte ich meinen.”
Ih hielt das für einen jehr verftändigen Ein«
wand, aber Edith lachte mid) aus.
„Natürlich könnten wir nicht viel andres thun,
wollten wir unjre Kleider wajchen, ſagte Mi „aber
das fällt uns auch gar nicht ein.“
„Aber weshalb denn nicht?“
„Weil wir e8 nicht hübſch finden, Kleider wieder
zu fragen, die jo beihmußt worden find, daß man
fie wajchen muß.”
„Es wäre unnüß, wollte ich jagen, dab mid |
das überraſcht. Ich bin, glaube ich, jekt aufer
fande, mich noch über irgend etwas zu verwundern ;
aber hätteft du vielleicht die Güte, mir zu erflären,
was aus einem Kleide wird, wenn es ſchmutzig ges
worden ift?*
„Bir werfen es fort — das heißt, es fommt
wieder in die Fabrik zurüd, wird eingeftampft und
erjteht in andrer form.“
„Was du nicht jagt! Einem Menſchen des
neunzehnten Jahrhunderts muß e8 noch koftipieliger
eriheinen, die Mleidung nad) dem Gebrauch) fortzu-
werfen als fie zu waſchen. Es ift doch eine große
Verſchwendung.“
„Ganz und gar nicht. Wieviel glaubſt du zum
Beifpiel, daß mein Kleid foftet, das ich anhabe?*
„Wie ſoll ich das willen? Ich habe nie eine |
dran gehabt, deren Rechnungen bei der Schneiderin
Aus fremden Zungen. 1897. IL 18.
ich bezahlen mußte.
falls koſten.“
„Dergleihen Anzüge kauft man bei ung für zehn
bis zwanzig Cents,” jagte Edith. „Rate einmal,
was für Stoff das iſt.“
Ic befühlte den Saum ihres Umhangs.
„Seide oder feine Leinwand, wofür ich es ge=
halten habe, ift e& nicht,” erwiderte ih, „vermutlich
eine neue, mir unbelannte Pflanzenfaſer.“
„Dergleihen haben wir viele entdedt, aber dieſer
Stoff ift gar fein Tertilgewebe, e8 ift Papier. Dar-
aus macht man Heutzutage die meiften leider.“
„ber was gejchieht denn, wenn diefe Papierkleider
in den Regen fommen? Werden fie nicht aufweichen
und bei der erjten Bewegung auseinanderfallen?”
„Auf Unwetter ift ein Anzug wie diefer freilich
nicht berechnet; doch würde er jelbit dem jtärfften
Regen ftandhalten. Bei raubherer Witterung tragen
wir meiit Kleider aus einem Papier, in das die
Näſſe auf keine Weiſe eindringen fann. Was aber
die Haltbarkeit betrifft, jo reißt das Papier nicht
leichter als gewöhnliched Tuch, wegen der großen
Dichtigfeit des Faſerſtoffes.“
„Aber wenigftens im Winter, wenn man Wärme
braucht, werdet ihr doch unjre alten freunde, die
Schafe, um ihre Wolle bitten.”
„D nein, wollene Kleider find ganz abgeſchaäfft.
Ein Anzug aus poröjfem Papier ift ebenfo warn
und weit weniger ſchwer als eure damalige Kleidung.
Höchſtens Eiderdaunen wären jo warm und jo leicht
zugleich gewejen wie unjer papierner Winterrock.“
„Und Baumwolle, Leinwand ? — Unmöglich tönnt
ihr doc das alles auch aufgegeben haben wie die
Wolle.”
„D nein, wir haben Fabriken, in denen allerlei
Planzenfajern zu Stoffen verarbeitet werben, die
faft jo billig find wie Papier; letzteres ift jedoch viel
leichter und nimmt am beſten die verfchiedenften
Formen an, jo daß es zur Belleidbung allgemein be—
vorzugt wird. Stoffe, die nicht nad) dem Gebraud)
weggeworfen werden fönnen, würden wir aber
10:
Aber viel Geld wird «8 jeden.
818 Edward
niemals zum Anzug verwenden. Der Gedanke, daß
wir Gegenftände, die am Körper getragen worden
find, wachen und reinigen follten, um fie wieder an«
zuziehen, wäre und unerträglih. Wir wollen zwar
ihöne leider haben, aber dauerhaft brauchen fie
nicht zu fein. Eine nod ſchlimmere Sitte als das
Waſchen der Kleidung, um fie wieder zu gebrauchen,
war zu beiner Zeit, daß man bie Oberfleider gar
nicht wuſch und fie doch Tag für Tag, eine Mode
nad der andern, jahrelang, ja vielleicht während
einer ganzen Lebenszeit behielt, wenn fie beſonders
wertvoll waren, um fie Schließlich noch zu verſchenlen.
Man jagt, Frauen hätten zumeilen ihre Hochzeits-
fleider aufbewahrt, damit ihre Töchter fie einft bei
der Trauung tragen könnten, Das würden wir ent-
jelich finden, aber ſelbſt vornehme Damen thaten
e8, Und was nun gar die Armen betrifft, jo mußten
fie damals ihre alten Kleider tragen und behalten,
bis fie in Lumpen zerfielen — es jchaudert einem,
wenn man nur daran Denkt.“
„Es ift ſehr verwunderlih," jagte id, „daß die
ichwierige Frage der Reinlichfeit in der Kleidung
dadurch gelöft worden it, daß man das Waſchfaß
abſchaffte; doch hätte wohl eine gründliche Löſung
des Problems auf feine andre Weiſe erfolgen können.
‚Garantiert waſchecht und haltbar‘ lauteten die An—
preifungen unſrer Kleiderhändler. Mir jcheint, wer
jegt Stoffe verfaufen wollte, müßte ſich verbürgen,
daß jeine Ware weder haltbar noch waſchecht ift.“
„Das: wäre unnötig,“ jagte Edith, „denn ehe
wir willen, ob unſre Kleider lange halten würden, |
haben wir fie ſchon fortgeworfen. Gerade jo ver=
hält es fi aud mit dem Bettzeug, den Teppichen
und Vorhängen, die wir in unfern Häufern brauchen,“
„Aber die können doch nit auch aus Papier
ſein!“ rief ich.
„Nicht alle, aber jedenfalls ift der Stoff, aus
dem fie angefertigt werden, jo billig, daß man fie
nur kurze Zeit im Gebraud behält, Wenn ihr euern
Teppich gereinigt haben würdet, erjegen wir ihn
durch einen neuen. Wir jhaifen ung andres Bett-
zeug an, während ihr e& zu wachen und zu lüften
pflegtet, und ebenjo verfahren wir aud mit allen
Borhängen im Haufe, wenn wir dergleichen über«
haupt benußen. Wir tapezieren mit Luft und Wafler
jtatt mit federn wie ihr. Es iſt mir völlig un«
faßlich, dab ihr esin den muffigen, ftaubigen, modes
rigen Zimmern nur habt aushalten fönnen, wo |
im Haar und in der Wolle, die zum Polftern der |
Möbel dienten, die Keime von dem Schmuß und den
Krankheiten ganzer Generationen aufgeſpeichert waren.
Wollen wir ein Zimmer puben, jo fprigen wir mit '
dem Waiferihlauh auf Dede, Boden und Wände.
Alles iſt mit Ziegeln belegt oder aus feſtem Stud,
daher geſchieht kein Schaden. Unfre Hygieniker Jagen, |
Bellamp.
daß die veränderten Sitten und Gebräuche in betreit
der Reinheit unfrer leider und Wohnräume mehr
ald alle andern Berbefierungen dazu beigetragen
haben, ſchädliche Keime zu vertilgen und die An
ftedungen und jonftigen Krankheiten ins Gebiet der
alten Geſchichte zu verweilen.
„Da wir einmal vom Papier reden,“ fuhr Edith
fort und jtredte ihren wohlbeſchuhten Fuß aus, „wie
gefällt dir unfre moderne Fußbelleidung ?"
„Die ift dod nicht etwa auch aus Papier ge
macht ?* rief id).
„Woraus ſonſt?“
„Das Schuhwerk , das mir dein Vater gegeben
bat, fam mir wunderbar leicht vor, im Verhältnis
zu allem, was ich bisher getragen hatie. Das it
wirflih ein großer Gedanke! Cine leichte Fuß—
befleidung ift ja das erite Erfordernis für unſer
Wohlbefinden. Zu meiner Zeit verfauften unredlice
Schuhmacher eine Art Schuhe mit papiernen Sohlen.
Offenbar waren fie Propheten, ohne es zu willen,
und wir hätten fie als ſolche verehren jollen, ftatt fie
des Betrugs anzuflagen. Aber ſage mir doch —
wie verfertigt man haltbare Schubjohlen aus Papier?”
„Es giebt zahlreiche Löfungen, durch welche dei
Papier jo hart wird wie Eijen.*
„Und dringt im Winter die Näſſe nicht ein?“
„Wir haben allerlei Schuhwerk für Die verichtebenft:
Witterung, natürlich ftet3 ohne Naht. Bei fendhtem
Wetter trägt man Schuhe, Die einen waſſerdichten
Lacküberzug haben,“
„Alſo Gummiſchuhe findet man jet aud nur
noch im Muſeum unter den Altertümern ?“
„Gummi wird zwar gebraucht, aber nicht zur
Fußbelleidung. Unſer wafjerdichtes Papier ift viel
leichter und in jeder Weile vorzuziehen.”
„DVermutlih fertigt man auch die Hüte und
Mützen aus Papier ?“
„Sum größten Teil,“ fagte Edith; „bei un:
würde man ſich für die jchwere Kopfbededung höch
lid) bedanfen, durch welche eure Männer frühzeitig
fahl wurden. Falls wir überhaupt einen Hut auf
dem Kopfe tragen, muß er fo leicht wie möglich fein.”
„Nur weiter!” rief ih. „Wenn du mir zunädhit
jagt, daß die ebenfo Föftlichen wie geheimnisvollen
Eßwaren, die durch den Quftdrudapparat vom Speile
haus hierher gejchafft oder dort verzehrt werden, auf
Papier gemacht find, jo bin ich bereit, e8 zu glauben.”
„Sanz jo ſchlimm ift e8 nicht,“ erwiderte meint
Gefährtin lachend, „wur die Teller, von denen man
fie ißt, Tind aus Papier. Das Hlappern von Öle:
und Geſchirr, das zu eurer Zeit eine Art unerläb:
lichen Zubehörs zum Haushalt geweſen fein muß,
ift im Lande nicht mehr zu hören. Unjre Schüfleln,
Pannen zum Ejjen und Kochen werden nad dem
Gebraud nicht gereinigt, jondern weggeworfen, oder
Gleichheit.
vielmehr in die Papiermühle zurückgeſchickt und wie⸗
der eingeſtampft, gleich allen andern nicht mehr be—
nugzten Gegenſtänden.“
„Aber Kteſſel aus Papier könnt ihr doch nicht |
brauhen? Wenn ihr auch alles andre umgeſtoßen
habt, was früher als Regel galt, jo wird doch das
Feuer auch heute noch brennen.”
„Jawohl, das feuer brennt noch, aber zum
ſtochen wie zu allen andern Zweden bedienen wir
und der eleftrifchen Wärme. Wir erhiten die Ge—
fühe nicht mehr von außen, jondern von innen, und
folglich können wir auf Holzöfen und in papiernem
Geſchirr kochen, nad der Art der Wilden, welche
Gefäße aus Birkenrinde und heiße Steine benubßten.
Denn — jagen die Philoſophen — die Gejchichte wieder⸗
holt fi in einer emporſteigenden Schnedentinie.*
Edith brach in helles Lachen aus, als fie mein '
verwundertes Geficht jah und erflärte, e8 würde un—
fiug fein, wollte fie mich noch ferner durch Berichte
über alle eingeführten Neuerungen beunrubigen und
mir zumuten, das alles zu glauben, ohne daß jie
Beweiſe für ihre Behauptungen lieferte. Sie ſchlug
mir daher vor, eine der großen modernen Papiers
fabriten zu beiuchen, um jo den Morgen vollends zu
verbringen.”
VII.
Das gröhte Wunder — die Enttbronung der Mode.
„Du machſt dir auch nicht die entferntefte Vor- |
fiellung von dem Wohlbehagen, das über mich fam, |
ſobald ich die greuliche Maslerade in den Mumien-
tüchern los wurde,” rief meine Gefährtin, als wir
das Haus verließen. „Wie jonderbar, daß wir jeht
zum erflenmal miteinander ausgehen!”
„Du haft wohl vergefien, daß wir jhon mehrmals |
jufammen aus waren,” erwiderte id).
„Ja, wir waren aus — aber gegangen find wir
richt, wenigftens ih nicht. Was der angemeſſene
zoologifche Ausdrud für die Art fein fann, wie ich
mich, innerhalb dieſer Säde, fortbewege, weiß ich
nit; aber gehen fann man das ſchwerlich nennen.
Siehft du, zu deiner Zeit waren die frauen bon
Kindheit auf an dieje jogenannte Gangart gewöhnt
und hatten fich natürlich eine gewiſſe Gejchidlichleit
angeeignet; ich aber habe nie im Leben lange Röde
getragen, ausgenommen bei einer Theatervorftellung.
Dies hier war der ſchwierigſte Verſuch, den ich je
gemacht habe, und ob ich dir noch einmal einen ſolchen
Beweis meines Wohlwollens geben würde, it mir
ſehr zweifelhaft. Mid wunderte nur, daß du gar |
nicht zu bemerken jchienft, in welcher jammervollen
Lage ich mich befand.“
Ich war von jeher gewöhnt geweſen, daß das Aus-
Ihreiten der Damen durd ihre Kleidung behindert
wurde, und hatte daher bei unjern früheren gemein»
famen Wegen an Ediths Schritt nichts Auffallendes |
819
bemerft. Ws fie aber jekt an meiner Seite ging,
| offenbarte ih mir in ihrer lebensvollen anmutigen
Haltung und der elaftiichen Kraft ihres Schrittes die
Möglichkeit eines kameradſchaftlichen Wetteifers, der
nicht wenig beraufchend für mid) war.
Es hieße den Leſern des zwanzigften Jahrhunderts
‚ eine alte Geſchichte erzählen, wollte ih einzeln be—
ſchreiben, was ich im Laufe diefeg Tages auf meinem
Gang durd die Papierbereitungs » Fyabriten geſehen
habe. Einen viel größeren Eindrud noch ala die
“wunderbare Mannigfaltigfeit der mechaniſchen Ver:
anftaltungen machten mir aber die Arbeiter jelbft
und die Umftände, unter welchen fie arbeiteten. Ich
‘ brauche euch, ihr modernen Leſer, nicht erft zu jagen,
was heutzutage die großen Fabriken find — hohe,
luftige Hallen, die Wände aus Ziegeln und Metall
in Ihönen Muftern zufammengefekt, palaftartig und
dabei aufs zwedmäßigfte ausgeftattet. Faſt geräufch-
los arbeiten die Majchinen; alles, was zur Arbeit
gehört und die Sinne irgend verleken könnte, wird
durch Flug erdachte Vorrichtungen möglichft bejeitigt.
Auch den Arbeiteradel in dieſen Paläften der In—
duftrie brauche ich euch nicht zu Schildern — Die
herrlichen, Fraftvollen Männer und frauen mit den
| feinen Hugen Geſichtern, die in wahrhaft fünftleriicher
Begeifterung bei ihrer jelbftgewählten Aufgabe das
' Nubbringende mit dem Schönen zu verbinden tradhten.
Ihr wißt ja alle, was die heutigen Fabrilen jind;
wahrſcheinlich findet ihr fie weder zu prächtig nod)
bejonders bequem, da ihr das alles euer Leben lang
nicht anders gewohnt jeid; vielleicht tadelt ihr jogar
dies und das an ihnen, als könnten fie noch beſſer
jein — jo ift Die menjchliche Natur. Wenn ihr aber
verfiehen wollt, wie fie mir erjcheinen, fo ſchließt
einen Moment die Augen und verjucht einmal, euch
vorzuftellen, was unfre Baummollipinnereien und
Bapierfabriten vor hundert Jahren geweien find.
Stellt euch niedere Räume vor, mit fahlen, wei;
getündhten Mauern und einer Dede von rohen, ge
Ihwärzten Balken. Denkt euch die Majchinen darin,
um der Naumerjparnis willen jo dicht aneinander
gedrängt, daß den Arbeitern faum Plat bleibt, ſich
an den jhwingenden Armen und flählernen Zangen
vorbeizuwinden, dab jede faljche Bewegung Tod
oder Verjtümmelung bedeutet. Denkt euch den freien
Raum oben, jtatt mit Luft, mit ftinfendem Oelgeruch
und den Ausdünſtungen ungewaichener Menſchen und
durchgeſchwitzter Kleider erfüllt. Stellt euch das
unausgejegte Klappern und Kreiſchen der Maichinen
vor, das dem Getöje eines Wirbelfturms gleicht.
Das find indefjen nur die örtlichen Zuftände und
Vorgänge. Schließt nochmals die Augen und ſchaut
im Geift — wie gern würde id) vergefjen, es je ge—
jehen zu haben — die endloſe Reihe von blaſſen,
bohlwangigen Weibern in gerfeßter, verblichener und
820
ſchmutziger ſtleidung, mit leeren, fhumpfen Gefichtern,
in denen nichts als Elend zum Ausdrud kommt.
Aber nicht nur Frauen, nein, Maflen von Eleinen
Kindern, in Sumpen, mit alten Gefichtern, fauın der |
Muttermild entwöhnt, noch ohne feſte Knochen.
Edith ftellte mich in einer Fabrik der Oberauf«
erflärte mir alles und war auch ihrerſeits jehr be=
gierig zu willen, was id) von den modernen Fabrilen
im Gegenfaß zu den früheren dächte. Natürlich ſagte
ich ihr, daß die Umwandlung in der Lage der Arbeiter
mir bei weiten mehr Eindrud gemacht habe als alle
mechaniſchen Neuerungen.
„Ja freilich,” verjeßte fie, „darin mag wohl ber
größte Gegenjak liegen.
wärtige Zuftand ganz jelbftverftändlich ; wir vergeſſen,
dab es nicht immer jo war. Wenn die Arbeiter jelbft
zu beftimmen haben, wie die Arbeit geſchehen joll, jo ift
es nicht wunderbar, daß fie ſich alles aufs angenehmfte
einrichten. Zu Ihrer Zeit, als die Klaſſe der Private |
fapitaliften, die nicht mitarbeiteten, ſämtliche An—
ordnungen traf, ließen fich wirklich barbariſche Zuftände
in der Induftrie wohl erwarten; bejonders da das
Konkurrenzſyſtem die, Kapitaliften nötigte, möglich
viel Arbeit unter den billigften Bedingungen von den |
Arbeitern zu verlangen.”
„Regeln denn aber die Arbeiter in jedem Geichäft
jelbft die Bedingungen ihrer Thätigfeit ?* fragte ich.
„Nein! Unjre induftrielle Verwaltung muß ihren
unpraftiih werben würde.
eines jeden Gewerbes jelbit ihre Bedingungen ftellten,
würden fie bald in Verjuhung geraten, eigenjüchtig
und dem allgemeinen nterefie entgegenzuhandeln;
indem fie gleich den alten Privatfapitaliiten ſich be=
jtrebten, jo viel zu gewinnen und jo wenig zu leiften |
wie möglih. Bald würde dann nicht nur jede be=
ſondere Klaſſe von Arbeitern diefer Verſuchung erliegen,
fondern auch die Unterabteilungen im gleichen Geichäft,
bis das ganze induftrielle Syjtem aufgelöft wäre und
wir bie Rapitaliften wieder aus dem Grabe rufen
müßten, um und zu retten. Die Gejamtheit der
Uns erfcheint der gegen- |
Wenn die Genofien |
|
|
Edward Bellamy.
Während unſers Aufenthalts in der Fabtil war
die Mittagsftunde berangefommen, und ic bat die
Vorjteherin und Edith, mit mir ins Speijehaus zu
geben. Hauptſächlich wünjchte ich mic) zu überzeugen,
' ob meine neu erworbene Kreditkarte wirklich gültig
‚ wäre oder nicht.
jeherin vor, einer ſchönen freundlichen Frau von |
ungefähr vierzig Jahren. Sie führte uns umher,
„Ueber einen Punkt in betreif des modernen
Anzugs wäre id begierig, Näheres zu erfahren,”
fagte ih, al wir an unſerm Tiſch in der großen
Halle jaßen. „Bon wen und wodurd; werden jekt
die Moden beftimmt?*
„Der Schöpfer beflimmt die einzige Mode, der
man jetzt allgemein folgt,” antwortete Edith.
„Und wie ift dieſe ?*
„Wie fie die Form unfers Körpers bedingt,“ er»
widerte fie.
„Ach, richtig, ſehr gut,“ rief ich, „und auch ieh
wahr in Bezug auf die jegige Hleidung ; früher traf
das durchaus nicht zu. Allein meine Frage bleibt
beftehen. — Ihr mögt wohl eine beftimmte Anſicht
über die Kleidung im allgemeinen haben, aber «
giebt doc) taufenderlei Unterfchiede und Abweichungen
des Stils, der Form, der Farbe, des Stoffs ımd
bergleihen. Die Anfertigung der Kleider wird vers
mutlich als öffentliches Gejchäft betrieben unter gemein:
ſchaftlicher Oberleitung wie alle andern Gewerbe!“
„Gewiß. Man kann fich natürlich, wenn man
es vorzieht, die leider ſelbſt anfertigen, jeder wählt
' ja feine Beſchäftigung; doch würde es ein großer
Zeit⸗ und Fraftaufwand fein.“
einheitlichen Eharafter wahren, weil fie fonft fofort
„Ganz recht. Aber die Anzüge, welche die Fabriken
liefern, werden immer nad gewiffen Muftern gemacht.
' Zu meiner Zeit wurden dieſe Mufter von einigen
Tonangebern in der Gejelichaft beftimmt oder durd
Modejournale, durch Parijer Edikte, und der Himmel
weiß wie. Yedenjall® wurde die Trage für ums ent
Ichieden, und wir hatten nur zu gehordyen. Ich will
nicht jagen, das fei die rechte Art, im Gegenteil, fe
war abſcheulich; id) möchte nur willen, was ihr flatt
deſſen eingeführt habt? Modejournale oder Parijer
Machtworte werden doch jetzt nicht mehr gelten. Wer ent»
Arbeiter iftes, welche Die Bedingungen der Arbeit regelt,
das heißt, das ganze Volk, welches ja heutzutage, wie
Sie willen, aus Arbeitern befteht. Sämtliche Einriche |
tungen bei den verfdhiedenen Zweigen des induftriellen
Syitems find vollitändig Sache der Staatsregierung.
Zugleich aber werden die Arbeitsbedingungen in jedem
Beruf weientlih, wenn aud mittelbar,
- Arbeiter ſelbſt geregelt, weil alle die Berechtigung haben,
ihre Thätigfeit zu wählen und zu wechſeln. Niemand
würde eine Beihäftigung wählen, deren Bedingungen
ungünftig find; man muß daher juchen, dieſe auf
die Dauer möglichſt befriedigend zu geftalten.
dur die |
| icheidet denn da die Frage, wie ihr euch kleiden jolt?*
„Wir ſelbſt,“ jagte die Vorfteberin.
„Natürlic) gemeinfam, nad) demokratiſcher Methode!
Wenn ih mih nun in dieſer Speijehalle umſchaue
und die Mannigfaltigfeit und Schönheit der Anzüar
jehe, jo jcheint mir das Ergebnis Ihres Syftem!
| durchaus befriedigend. Aber halten Sie es denn für
rihtig, dab die Herrſchaft der Mehrheit ſich auch auf
den Anzug außdehnt? Das geht doc entihieden zu
weit, jollte id) meinen. Wenn auch das Jod der
Mode, dem wir uns beugten, jehr läftig war, ie
fonnte doch jeder es abſchütteln, falls er den Mut
dazu hatte. Es gab freilich nur wenige, die e& thaten.
Beitimmt aber die Verwaltung den Stil der Stleider,
Gleichheöt.
und wird nur ein gewiſſer Stil von ihr zugelaſſen,
jo müßt ihr euch entweder dem Geſchmack der Mehr-
zahl unterwerfen oder im Bette liegen bleiben, Was
lacht ihr? — Iſt es etwa nicht jo?"
„Wir laden nur über ein kleines Mikverftändnis
Ihrerſeits,“ ermwiderte die Vorfteherin. „Bei ung
wird die Kleiderfrage keineswegs gemeinſchaftlich oder
durch einen Beſchluß der Mehrheit entjchieden, jondern
imdivibuell — ein jedes enticheidet darüber für fi.“
„Aber wie ift das möglich?” warf ich ein. „Wenn
die Regierung beftimmt, was für Stoffe fabriziert
und wie fie zu Sleidungsftiden verarbeitet werden
tollen, jo folgt ja daraus ganz von jelbft, daß fie
auch die Entſcheidung über die Moden hat.“
„Nein, durchaus nicht,“ rief die Vorſteherin.
„Unfrer Regierung, Herr Weit, iſt die Beimiſchung
von Willfür fremd, welche zu Ihrer Zeit herrichte,
wie wir aus der Geſchichte willen. Die Regierung
ift jet thatfächlich, was fie damals dem Namen
nad) in Amerika war — die Dienerin, Vermittlerin,
dad Werkzeug, durch welches des Volles Wille voll
zogen wird, während jie jelbjt feinen Millen hat.
Der Vollswille ſpricht ih auf zweierlei Arten aus,
die ganz voneinander getrennt find, fo daß jede ihr
beionderes Bereich hat. Erſtens: durch Mehrheits-
beihluß, bei allen gemeinjamen, fich gegenfeitig be»
rührenden Intereſſen, zum Beiſpiel den großen wirt«
ſchaftlichen und politiichen Fragen ; zweitens: durch
jedes Individuum für fi, bei allen perjönlichen
Angelegenheiten. Die Regierung ift zugleich die er«
babene Stellvertreterin aller in allgemeinen Dingen
und die Wermittlerin, Botin und redhte Hand eines
jeden einzelnen bei allen Privatziweden. Nichts ift
zu hoch oder zu gering, zu groß oder zu Hein, was
fie nicht für uns thäte.
„Die Abteilung der Aleiderverfertigung ftellt ihre
umfangreichen Yager von Stoffen und ihre Majchinen
einem jeden im Volke zur Verfügung. Man braucht
nur in eins der Magazine zu gehen und ſich irgend
ein Koftüm zu bejtellen, von welchem es noch eine
hiſtoriſche Beſchreibung giebt, von Evas Zeit an bis
geftern ; man kann aber auch ein jelbiterfundenes Modell
ju einem nagelneuen Koſtüm bringen, ſich einen bes
liebigen Stoff dazu wählen — und wird es rafcher
geliefert erhalten als je von einem Schneider des neun—⸗
zehnten Jahrhunderts, der eine Beftellung übernahm.
„Wenn es Sie intereifiert, möchte ich Ihnen noch
unire Schneidermajcdhinen in Ihätigleit zeigen. Die
Papieranzüge find natürlich ohne Naht und aus—
Ihlieglih mit der Maſchine gemadt. Da ſich die
Vorrichtung auf jedes Maß itellen läßt, jo fönnen
Sie einen fertigen Anzug geliefert erhalten, während
Sie der Maichine zujehen. Von sleidern im ges
woͤhnlichen Stile und Schnitt, wie fie dem Geſchmack
der meiften Leute entiprechen, haften die Geichäfte
821
einen Vorrat auf Lager. Das geſchieht aber zur
Bequemlichkeit des Volks, nicht des Geſchäfts, welches
ſtets bereit iſt, die Wünſche jedes Bürgers zu erfüllen
und alles Beſtellte in möglichſt kurzer Zeit zu liefern.“
„So kann aljo jeder die Mode machen?”
„Jeder kann etwas Neues zum Borichein bringen,
aber dab es in die Mode fommt, hängt davon ab,
ob es wirklich irgend weldhen Vorzug in betreff der
Zweckmäßigleit oder Schönheit hat. Iſt das nicht
der Fall, dann wird es ſich jchwerlich verbreiten.
Findet der Vollsgeihmad aber Gefallen daran, jo
wird es in Aufnahme fommen, gerade als ob ed eine
mechanische Erfindung wäre, die fich praftiich bewährt
bat. Dede gute, neu auftauchende Idee, die den
Anzug betrifft, wird jchnell aufgefaßt, denn den
Leuten ift viel daran gelegen, ſich möglichft vorteilhaft
zu Heiden; aud macht uns der Mangel einer will
fürlich feftgeitellten Richtſchnur jehr empfänglich für
Anmut und Neuheit in Form und Farbe. Es jcheint
wirklich, als ob unſre Tracht ſich hauptſächlich in der
| perjönlicher Prüfung feine Vorzüge bewährt.
Mannigfaltigkeit von der Ihrigen unterſcheidet.
„Zu Ihrer Zeit wurde der Gejhmad beitändig
durh das Machtwort der Mode umgewandelt, da
dieſe aber jeweild nur einen Geſchmack duldete, hatte
man nur ein Nacheinander der Abwechslung und
nicht wie wir ein Nebeneinander. Ich follte denfen,
daß diefe Gleichförmigkeit des Geſchmacks, welche ſich,
wie ich höre, oft ſogar auf Stoff, Form und Farbe
ausdehnte, Ihren großen Verſammlungen einen furdts
bar eintönigen Anſtrich gegeben haben muß.“
„Das war zu meiner Zeit eine allgemein an—
erfannte Thatſache,“ erwiderte ih. „Die Künſtler
waren der Mode jeind und mit ihnen alle vernünftigen
Leute, aber jeder Widerfiand war vergeblich. Könnte
ih ins meunzehnte Jahrhundert zurüdfehren und
meinen Zeitgenofjen von den Umwandlungen erzählen,
die ich geliehen habe, jo würde wohl nichts einen jo
tiefen Eindrud auf fie machen als die Nachricht,
daß ihr das Zepter der Mode gebrochen habt und
ihre Willkürherrſchaft nicht mehr anerkennt ; dab auch
fein Stil mehr Eingang findet, wenn er nicht bei
Wohl
haben die Mutigeren unter uns geglaubt, daß manches
Joch, weiches die Menichheit zu tragen hatte, dereinft
gebrochen werden würde, aber von dem Joche der
Mode befreit zu werben, erwarteten wir nie, außer
vielleicht einjt im Himmel.“
„Die Herrſchaft der Mode, wie die Geſchichts—
bücher es nennen, ift mir von der ganzen alten
Ordnung immer am unbegreiflichiten erſchienen,“
jagte Edith. „Man follte meinen, e8 müßte irgend
eine große Macht dahinter ftehen, um eine jo völlige
Unterwerfung unter ein tyranniſches Geſetz zu er—
zwingen; und dennoch jcheint feine Gewalt angewendet
worden zu jein. Erfläre uns das Geheimnis, Julian!“
822 Edward
„DO, fragt mid) nicht,“ entgegnete id, „Mir
müſſen das Opfer einer grauſamen Verzanberung
getvejen jein. Niemand gab aud) nur vor zu willen, |
warum wir uns unterwarfen. Vielleicht fönnten Sie
uns aber jagen,“
„wie man ſich heutzutage diefen Modewahnfinn er-
flärt, der und das eben jo zur Laft machte?“
Unſre Geſchichtsſchreiber,“ erwiderte die Gefragte,
„erklären die Herrſchaft der Mode in Ihrem Zeit
alter für das natürliche Ergebnis der Ungleichheit
in den wirtichaftlihen Verhältniſſen einer Gemein-
ichaft, in welcher die ftrengen Unterjchiede der Stände
nicht mehr galten. Sie entiprang teil aus dem
Wunſche des großen Haufens, es der höheren Klaſſe
wendete ich mich an die Vorfteberin, |
gleihzuthun, teild aus dem Verlangen der höheren
Klaſſe, fich gegen diefe Nahahmung zu ſchützen und
den Unterjchied im Aeußeren zu wahren. In Zeiten
und Sändern, wo jede Klaſſe eine Kaſte war — durd)
Geſetz und eiferne Sitte feſtbegrenzt — hatte jeder
Rang feine unterfcheidende Tracht, welche nachzuahmen
den andern Klaſſen nicht geftattet war, Die Formen
der Kleidung waren unveränderlich. Mit dem Empor-
fommen der Demokratie hörte der geſetzliche Schutz
ber Standesunterſchiede auf, während der thatſächliche
Unterſchied in den Gejellichaftäflaffen, infolge der
wirtichaftlihen Ungleichheit ,
beitehen blieb. Jetzt
fonnte jeder nach Belieben es der höheren Klaſſe |
gleihthun, und was war da natürlicher und leichter,
ala ihre Kleidung nachzuahmen. Das gejellihaftliche
Strebertum eröffnete den Neigen; bald ließen ſich
die weniger Ehrgeizigen verleiten, feinem Beiipiel zu
folgen, um nicht ihre untergeordnete Stellung in der
Geſellſchaft zuzugeben, und jo ging e& fort, bis end»
lich jogar die Philoſophen es dem Haufen nachmachen
und fid der Mode fügen mußten, um nicht Durch ihre
abweichende Erſcheinung aufzufallen.”
„Ih begreife wohl,“ jagte Edith, „daß die Maſſen
gejtrebt haben, es den reichen und höheren Klaſſen
gleichzuthun, und daB auf dieſe Weile die Moden
entitanden; warum wechjelten fie aber jo oft, da es
doch jchrediich foftbar und mühevoll geweſen jein
muß, fie immer wieder umzuändern ?*
„Die höheren Klaſſen,“ antwortete die Vorfteherin,
„hatten fein andres Mittel, ihren Nachahmern zu
entgehen und ihren Vorrang duch die Kleidung zu
behaupten, als immerwährend neue Moden an—
zunehmen und fie wieder fallen zu lafjen, jobald fie
nachgeahmt wurden. Was meinen Sie, Herr Weit,
ftimmt diefe Erflärung wohl mit den Thatſachen
überein, die Sie zu Ihrer Zeit beobachten konnten?“
„Bolltommen,* erwiderte ih. „Man lönnte nod)
hinzufügen, daß der Wandel in den Moden durd)
den Eigennuß der großen Fabriken und Handels—
geichäfte, weldhe die Kleiderftoffe und andre Dinge |
zu perfönlihem Gebraud; lieferten, nod bedeutend
Bellamn.
verbreitet und unterftüßt wurde. Bei jedem Wechſel
entitand eine Nachfrage nadı neuem Material, und
das vorhandene galt für veraltet. Der Kaufmann
nannte das einen Handelsvorteil, wenn auch mandes
Geſchäft, das unglüdlicherweife bei einem plötzlichen
Umſchwung in der Mode noch einen großen Lorrat
auf Lager hatte, dabei zu Grunde ging. In der
That brachte jeder Modewechiel dergleichen Verlufte
mit ich.”
„Aber wir leſen aud, daß es auch jonft nad
Moden gab, nicht nur bei den Kleidern.“
„Gewiß,“ meinte die Vorfteherin. „Die Kleidung
war zwar das hauptjächliche Bereich, das Feite Bol:
wert der Mode, weil man durd den Anzug am
leichteften eine Wirkung erzielte, aber beinahe alles,
was zur Lebensgewohnheit gehörte — Eſſen, Trinten,
Vergnügungen, Häufer, Möbel, Pferde, Wagen und
Diener, ja die Art des Grußes, der Bewirtung und
wer weiß was fonft noch — wurde von der Mode
beherriht. Man mußte ihr folgen, und fie änderte
fi, jobald man es that. Es war wirflich ein trans
riger, fonderbarer Wettlauf, und Herrn Weſts Zeit:
genofien jcheinen ſich deſſen vollftändig bewußt ge
weien zu fein. Solange die Gefellihaft aus Leuten
ungleihen Ranges beftand, ftrebten die Geringeren,
die Höheren nachzuäffen, und die Höheren mubten
ſich beftreben, dies Nachäffen jo viel wie möglich ju
hintertreiben, indem fie nad) einer neuen Form fuchten,
um ihren höheren Standpunkt zu bezeichnen.“
„Unfer langweiliges Einerlei in Anzug und Sitten
ſcheint Ihnen alfo, um es Furz zu jagen, das logüch
Ergebnis unſers Mangels an Gleichheit der Verhältnift
geweſen zu jein ?“
„Ohne Frage,“ antwortete die Vorfteherin. „Die
Menſchen waren nicht gleichgeftellt und machten ſich
häßlich und unglüdlih in dem Beftreben, es zu
ſcheinen. Die äfthetifche Buße für das moralijär
Unrecht der Ungleichheit war der künſtleriſche Abſcheu
vor der Einförmigfeit. Die Gleichheit ſchafft dagegen
eine Atmofphäre, welche die Nahahmung tötet und
von Originalität erfüllt ift, denn jeder handelt aus ſich
heraus, da er bei der Nachahmung andrer nichts ie
gewinnen hat.”
IX.
Etwas, dad nicht verändert war.
Als wir uns von der Vorfleherin getrennt hatten,
ſagte ich zu Edith, daß ich jeit heute früh reichlidh
jo viel neue Eindrüde und neue Weltweisheit in mid
aufgenommen hätte, wie ich geiftig verarbeiten könnt,
und daß ich ein dringendes Bedürfnis fühle, mid
bei der Betrachtung eines Gegenstandes auszuruben,
der im lebten Jahrhundert nicht anders ‘geworden
und nicht verbejlert worden jei.
Nach kurzer Ueberlegung rief Edith aus:
Gleichheit. 823
O, jeht habe ich es; frage mich nichts; komm
nur mit.”
Als wir nun in der Richtung vorwärts ſchritten,
welche fie eingejchlagen hatte, berührte fie meinen Arm
und rief: „Laß und doch ein wenig jchneller gehen!“
Ein raiher Schritt war jo recht eigentlich das vor—
ihriitsmäßige Tempo des neunzehnten Jahrhunderts |
' Gebäude ftanden; fie marichierten durch den Thor—
geweien. „Mac ſchnell!“ war damals jo ziemlich
die abgebrauchte Redendart und hätte viel pallender
das Motto des amerikanischen Volkes fein follen,
ald: „E pluribus unum“ ; aber feit ich im zwanzig—
ſten Jahrhundert lebte, war dies das erſte Mal, daß
ich zur Eile ermahnt wurde.
mir zum Bewußtjein fam, blidte id um mich, und
da — blieb ich plöglich jtehen —
„Was ift das?“ rief ich auf.
„Ad wie ärgerlich!“ jagte meine Yührerin, „ich
mollte dich vorüberbringen, ohne daß du es ſäheſt.“
Obgleich ich gefragt hatte, was für ein Gebäude
das fei, vor dem wir jtanden, wußte doch niemand
jo qut wie ich, was es war. Nur wie es hierher fam,
ihien mir ein Rätjel. Inmitten der prächtigen Stadt
der Gleichberechtigten, wo Armut ein unbelanntes |
Wort war, jtand ich plötzlich angeſichts einer echten
Mietslaſerne des neunzehnten Jahrhunderts von
der allerichlimmften Sorte, von denen das Nordend |
und andre Stadtteile damals wimmelten. Nur die
Umgebung diejes abicheulichen Krähenneftes war ganz
anders, Zu meiner Zeit lag ein ſolches Gebäube
gewöhnlich von einem Labyrinth ſchmutziger Gaſſen
und dunkler, feuchter Höfe eingeſchloſſen, aus denen
fanlige, ftinfende Gerüche aufftiegen, und deren hohe
Mauern weder Luft noch Licht hereinliehen. Diejes
Gebäude ftand frei, inmitten eines mit Strauchwerf
nd Blumen geſchmückten Platzes, als ob es ein
Schloß oder ein Ausftellungsbau wäre. Aber durch
diefe feine Faſſung trat Die Erbärmlichkeit des ſchmutzi⸗
gen Bauwerk nur ſtärker hervor. Es ſchien eine
Dunlelheit und Kälte ausjuftrömen, welche aller
Sonnenjchein des heiteren Septembernachmittags nicht
zu befiegen vermochte. Wären am hellen Tage Ge—
Ipenfter an den ſchwarzen Fenſtern erjchienen, es
hätte mich nicht gewundert. Weber dem Hauptein«
Als diefer Umftand |
; andres derjelben Art, während wir die Schulen be=
gang ſtand eine Inſchrift, und ich trat näher, um fie |
ju lefen, während Edith mir widerwillig folgte. Die |
' Hilfe anzuflehen, Es ift jo lange ber, und doch fühlt
Worte lauteten:
„Diefe Stätte der Graufamfeit wird für fom«
mende Gejchlechter erhalten, zur Erinnerung an die
Hertſchaft der Reichen.”
„Dies ift eins von den alten Geſpenſterhäuſern,“
ſagte Edith, „die man ftehen läßt, das Volt in Angit
ju jagen, damit die Bürger niemals die Rückkehr
jur alten Ordnung der Dinge verfuchen und feinem
aus ihrer Mitte unter irgend welchem Vorwande je
geftatten, einen wirtichaftlichen Vorteil über einen
andern davonzutragen. Ich meine, man hätte beiler
daran gethan, die Häufer niederzureißen. Es iſt
feine Gefahr mehr, daß die Welt wieder zur alten
Ordnung greift; eher könnte ſich der Erdball rüd-
mwärt3 drehen.”
Ein Trupp Kinder, von einer jungen Dame be=
gleitet, ging über den Pla, während wir vor dem
weg und fliegen die engen Treppen empor. Ihre
Geſichter waren jehr ernſt, und fie iprachen im Flüſter—
ton miteinander.
„Das find Schulkinder,” jagte Edith. „Man
führt ung alle einmal durch dies Gebäude oder ein
juchen. Die Lehrer erflären dann, was bier alles
gethan und erbuldet worden if. Ich erinnere mid
noch ganz gut, wie id) ala Kind durch dies Gebäude
geführt worden bin. Lange nachher konnte ich mid)
; erft von dem gräßlichen Eindrud erholen. Ich meine
wirflih, es it nicht gut, junge Kinder hierher zu
bringen; aber die Sitte ift in der Zeit nad) der
' Revolution eingeführt worden, als im Gemüt des
Volkes das Grauen vor der Knechtſchaft, der es ent-
ronnen, noch friih war und man die größte Angit
davor hatte, es fünne aus Mangel an Wachſamleit
die Herrihaft der Reichen wieder auffommen.
„Natürlich ,* fuhr fie fort, „Sind dieje Gebäude,
die zur Warnung ſtehen blieben, als man bie übri«
gen dem Boden gleich machte, durchweg gereinigt
und auägebejlert worden, aud in jeder Hinficht ger
fund und ficher gemacht; aber unjre Werkmeiſter
haben den alten abjcheulihen Schmutz und bie
Fäulnis jo fiunreich nachgebilbet, daß alles äußerlich
wieder jo erjcheint, wie e$. war. In den Zimmern
hängen Tafeln, auf denen verzeichnet ift, wie vicle
menichlihe Weſen darin zufammengedrängt waren
und was für ein entjeßliches Leben fie aushalten
mußten. Das Schlimmfte dabei ift, daß die That»
jachen alle aus gejchichtlichen Berichten geſchöpft und
volllommen wahrheitsgetreu find. In einigen dieſer
überfüllten Häuſer ſind die Bewohner in Wachs oder
Gips dargeſtellt, auch alle Einzelheiten ihrer Be—
fleidung, ihre Möbel und andre Gerätfhaften, die
man aus jicherer lleberfieferung oder aus Abbildungen
fennt. Die ſtummen Geftalten jcheinen uns um
man fi im Gewilfen beunruhigt, daß man nicht
im jtande ift, etwas für fie zu thun. —
„Aber fomm fort, Julian. Es war ein häßlicher
Zufall, daß ich dich hier vorüberführte. Als ich
übernahm, dir etwas zu zeigen, was ſich nicht ver-
ändert hätte, Dachte ich nicht daran, did) zu veripotten.“
Dant der modernen raſchen Beförderung ftanden
' wir nad) zehn Minuten am Meeresufer, Die Wellen
des Ntlantiichen Ozeans brachen fich tofend zu unfern
824
Füßen, und fein blauer Spiegel breitete fich glänzend |
bis zum Horizonte aus. — Ya, hier war etwas, das
feinen Wechjel fannte. — Ein gewaltiges Leben, für
welches taujend Jahre waren wie ein Tag und ein
Tag gleich taufend Jahren. Es gab fein beſſeres
Beruhigungsmittel für meine Seele als dieſen er—
babenen Anblid des wandellojen Zeugen aller irdiichen
Wandlungen. Wie winzig erſchien der Heine Hand«
ftreich der Zeit, der mir geipielt worden war, als
ich vor diefem Sinnbild der Ewigfeit ſtand, welches
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu Worten
von geringer Bedeutung machte! —
Edward Bellamp.
fie feftgehalten durch die Kraft meiner Liebe, während
die ganze übrige Viſion in nichts zerfloß, ſobald ich
die Augen öffnete.
Warum auch nit? Wie manchem jungen Dann
war jhon in jeinen Träumen ein Mädchenibeal er
ichienen, herrlicher ald fie auf Erden wandeln, nad
dem er beim Erwachen gejeufzt und deſſen ſchönes
ſchon halb entichmwundenes Angeficht ihn noch viele
Während ih Edith nad) der Bucht gefolgt war, |
an der wir flanden, hatte ich nicht anf die Richtung |
Nun ich aber anfing, |
geachtet, die wir einſchlugen.
mid) am Ufer umzuſehen, erfannte ih mit ber leb»
hafteſten Rührung, daß jie mid, ohne es zu willen,
zu der Stätte meines alten Luſthauſes am Etrande
bei Nahant geführt hatte. Die Gebäude jelbit waren |
freilic verschwunden, und die hohen Bäume, die jet
dort mwuchjen, veränderten die Landſchaft gänzlich,
aber die Uferlinie war dieſelbe geblieben, und ich er
fannte fie jogleih. Ich forderte Edith auf, mir zu
folgen, und führte jie um einen Vorfprung herum zu
einem feinen Küjtenftreifen zwiichen der See und
einer Felswand, welche und den Anblid des Landes
völlig entzog und auch feinen Laut von dorther zu
uns dringen lieh. In meinem früheren Leben war
dies mein Lieblingsplaß gewejen, wenn ich den Strand
befuchte. Hier pflegte id in dem mir jeßt jo fernen
Dajein, das mir doch noch gegenwärtig war, als fei
es erft geftern geweien, meinen Träumen nachzuhängen.
Jede Stelle des lieben Zufluchtsorts war mir ver-
traut wie meine Schlaffammer, und id fand alles
unverändert. Bor mir das Meer, der Himmel oben,
die Inſeln und die blauen Vorgebirge der fernen
Küfte — kurz alles, was der Blid umfahte, war bis
in die Heinfte Einzelheit noch dasfelbe. Ich warf
mid) in den warmen Sand am Meeredufer, wie ich
e3 zu thun pflegte, und ſchon im nächſten Mugenblid
hatte mich die Flut gewohnter Gedanken jo voll«
ftändig in mein altes Dafein zurüdgetragen, daß alle
Wunder, welche ich inzwiſchen erlebt hatte, mir wie
ein Traum am hellen Tage erfhienen, wie deren an
diefer Stelle des Ufer jo mancher über mich gelom—
men war, Aber was für ein Traum war dieje Viſion
ber fünftigen Welt, von allen meinen Träumen bier
am Meere ficherlich der zauberhaftefte!
Ich hatte von einem Mädchen geträumt — o, wie
war jie begehrenswert! — Wehe, wenn fie mir ver-
loren wäre! ber jie war mir nicht verloren, denn
dies war fie ja — das Mädchen in dem fremdartigen, |
anmutigen Gewand, das neben mir ftand und auf
mich herniederlächelte. Welch großes Glüd! Ich
hatte fie mitgenommen aus dem Traumlande, hatte |
Tage lang verfolgte? — Ich Glücklicher aber battı
den neidijchen Wächter am Thore des Schlafs über
liftet und meine Königin aus dem Traumlande mit
herübergebracht.
Als ich begann, Edith dies Spiel meiner Phantaſit
zur Erklärung ihrer Gegenwart vorzutragen, fand
fie es höchſt vernünftig, und wir beichäftigten un:
damit, den Gedanken noch weiter auszuſpinnen.
AZulegt beruhigten wir uns bei der Vorftellung, jie
jei die Vorausfpiegelung einer Frau des zwanzigften
Jahrhunderts und nicht ich das ausgegrabene Dent-
mal eines Mannes aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Wir fingen nun an, Pläne zu machen, was wir im
Sommer unternehmen wollten, und beſchloſſen, die
größten Vergnügungsorte aufzufuchen, wo fie obne
Zweifel unter den obmwaltenden Umftänden viel Aui:
merfiamfeit erregen würde, Zugleich könnte fie aber
dort die Gelegenheit benugen, eine Sorte Menſchen
zu ſtudieren, welche ihr bei ihren Anſchauungen au:
dem zwanzigiten Jahrhundert noch viel jeltiamer
vorfommen müßten als fie ihnen — nämlich Leute,
welche, umgeben von einer Welt der Not und dei
Jammers im ftande find, ſich bei ihrem leichtfertigen
und verſchwenderiſchen Müßiggang ihrerſeits glüdlich
zu fühlen. Sodann wollten wir nad Europa geben
und dort alles bejichtigen, was einem Mädchen aut
dem Jahre 2000 naturgemäß als eine Sehen“
würdigfeit erjcheinen mußte, zum Beiſpiel ein Roth»
ſchild, ein Kaijer und ein paar Eremplare menjchlider
Weſen, wie fie ſich zurzeit noch in Deutſchlaud,
DOefterreich und Rußland vorfanden, die ehrlich über:
zeugt waren, daß der liebe Gott gewiſſen Menicen
ein göttliches Vorrecht verliehen habe, über ihre Mit
menſchen zu berrichen.
X,
Ein mitternächtliches Bad.
Es dämmerte bereits, als wir zu Haufe anlangten,
und mehrere Stunden vergingen, ehe wir mit den
Bericht unfrer Abenteuer zu Ende waren. Meine
Wirte wurden nie müde, meinen Eindrüden vom ben
neuen Dingen zu laujhen. Deine Auffafjung der:
jelben intereffierte fie offenbar ebenjo ſehr, wie mid
die Dinge jelbit.
„Willen Sie," jagte Edith! Mutter, „es iſ
eigentlich ein Beweis unfrer Eitelfeit. Sie find für
ung eine Art Spiegel, in welchem wir jehen lünnen,
wie wir ung vom Standpunft eines andern ausnehmen
Gleichheit.
Ohne Sie würden wir niemals inne geworden ſein, was
für merlwürdige Leute wir find, denn ich verſichere
Sie, in umferm Kreiſe fommen wir und ganz ge»
wöhnlich vor.“
Ich erwiderte darauf: auch ich hätte beim Gefpräd |
mit ihnen das Gefühl, in einen Spiegel zu bliden,
der aber mir umd meinen Zeitgenoffen durchaus nicht
ſchmeichle.
Während wir noch ſprachen, wurde die Kugel der
Farbenuhr weiß; ein Zeichen, daß es Mitternacht
war. Wir wollten zu Bette gehen, aber der Doktor
batte einen andern Plan.
„IH Ihlage vor,” jagte er, „daß wir, um und
allen eine gute Nachtruhe zu fichern, in die Schwimm⸗
ſchule hinübergeben und ein Bad nehmen.”
„Giebt e8 denn öffentliche Bäder, die man jo
ipät benuben lann?“ fragte ich, „Bei und war um
dieie Zeit alles ſchon längſt geichloffen.“
Da machte mir der Doktor eine Mitteilung,
welche für Leſer des zwanzigften Jahrhunderts zwar
ganz jelbjtverftändlich fein mag, mich aber im höchſten
Grade überraichte. Er jagte mir nämlid, daß feine
Öffentliche Anftalt heutzutage das ganze Jahr hindurch
jemals bei Tag oder Nacht geichloffen wird, ſowie,
daß fämtlihe Einrichtungen fich zwar, je nach dem
Bedürfnis, in der Ausdehnung beichränfen, aber ſich
nie verichlechtern dürfen.
„Wir meinen,“ fagte der Doktor, „daß unter
den fleineren Unbequemlichfeiten des Lebens zu Ihrer
Zeit feine ftörender geweſen jein fann als die regel-
mäßige Unterbrechung faft aller öffentlichen Dienft-
leiftungen in jeder Nacht. Die meiften Leute jchlafen |
dann natürlich; aber einige haben doch Veranlafjung,
auf den Füßen zu fein; zumeilen bleibt wohl jeder
von uns einmal wach. Da würden wir nun den
Vienft der Deffentlichteit ſehr mangelhaft finden,
wenn nicht für die Nachtarbeiter ebenjogut gejorgt
würde, wie für die Tagarbeiter. Zu eurer Zeit
!onntet ihr das natürlich nicht leiften, weil euch eine
einheitliche, gewerbliche Organijation mangelte ; uns
aber ift es ein leichtes. Wir haben Tag» und Nadht«
dienft bei allen öffentlichen Anftalten ; der lehtere ift
natürlich viel bejchräntter.
„Wie fteht e8 denn um die allgemeinen Feiertage;
find die abgejchafft ?*
„Sp gut wie gänzlih. Bei euch waren Feier—
tage zwiſchen drin von großem Wert für das
Bolt, da fie ihm Zeit gönnten, einmal aufzu—
atmen, was jo dringend notwendig war. Gegen—
wärtig ift ber Arbeitätag jo furz und das Arbeitäjahr
fo oft durch Ferienzeiten unterbrochen, daß ber alte
modiſche fyeiertag aufgehört hat, zweckmäßig zu fein,
und für eine Störung gelten würde. Wir ziehen «8
vor, unfre Mußezeit zu wählen, wann es uns paßt.”
Wir richteten unire Schritte nad) der Seander-
Aus fremden Zungen. 1897, IE 18,
' Wolfe dabinzugleiten jchienen,
325
Schwimmfchule Die Bewohner Boftons wiljen, dab
dies eine der alten Bade-Anftalten ift, deren Ein—
richtungen hinter den neueren weit zurückſtehen. Auf
mich machten fie aber einen großartigen Eindrud.
Das hohe Gewölbe im Innern war von Licht durch-
flutet; das enorme Schwimmbaffin, die vier großen
Springbrunnen mit ihrem Diamantgeflimmer und
dem Geräufh der fallenden Wafler, dad Gedränge
der bunt gefleideten, lachenden Badegäfte, das alles
bildete ein erheiterndes, prächtiges Schaufpiel und
gab mir ben erjten hohen Begriff von den athletifchen
Uebungen im modernen Leben. Am reizendften war
e3, die ftrahlend helle, weite Wailerfläche zu jehen,
deren Licht der mit weißen Flieſen gededte Boden
zurüdwarf, jo dab die Schwimmer, dem ganzen
Körper nad) ſichtbar, auf einer blafjen, jmaragdgrünen
Der Anblid diejes
ı mühelojen Schwebens war erjchredend und bezaubernd
' zugleid).
Edith war indeilen jchnell bei der Hand, mir zu
erzählen, daß dies nichtS fei gegen die Schönheit der
neueren und größeren Bade-Anftalten, in welchen bie
Flieſen des Bodens verjchiedenfarbig wären, jo daß
das Waller alle Schattierungen des Regenbogens
annehme und dabei ebenfo durchſichtig bliebe.
Ich hatte den Eindrud, als müßte es Quellwaſſer
fein, aber die grüne Färbung lie darauf jchließen,
dab es Meerwajler war.
„Wir halten nit viel vom Süßwaſſer zum
Schwimmen, wenn wir Salzwafler haben können,“
jagte der Doftor. „Diefes Waller fam mit der
legten Flut aus dem Atlantifchen Ozean.”
„Aber wie bringen Sie es denn auf diefe Höhe?”
„Es kommt von ſelbſt herauf,“ erwiderte er
lachend, „es wäre doch jchlimm, wenn die Kraft der
Flut, welche das Waller im ganzen Hafen um gute
fieben Fuß höher treibt, al& die Meeresfläche, nicht
die geringe Mafje, welche wir brauchen, noch etwas
höher heben könnte. Sehen Sie mid nicht jo miß—
trauiſch an,“ fuhr er fort, „ich weiß, daß zu Ihrer
Zeit das Waſſer im Boftoner Hafen zum Baden lange
nicht rein genug war, aber das iſt alles ander& ge»
worden. Ihr Kanaliſationsſyſtem iſt ein vergeſſener
Greuel. Nichts, was verumreinigen fann, darf heut«
zutage die See oder den Fluß erreihen. Deshalb
fönnen wir dad Seewaſſer nicht allein für alle öffente
lichen Bäder brauchen, fondern wir verjorgen auch
unjre Privatbäder damit ſowie alle öffentlichen
Springbrunnen, melde, jo unerſchöpflich geſpeiſt,
immer in Thätigfeit bleiben. Aber wir wollen unier
Bad nehmen,”
„Meinen Sie wirklich?“ fragte ich fröftelnd.
„Sind Sie auch fiher, daß es warın genug ift? Wir
hielten das Seewaller Ende September für etwas zu
falt. zum Baden.”
104
826 Edward
„Glauben Sie, wir wollten Sie in den Tod
jagen? Das Waſſer ift doch natürlich bis zu einer
behaglihen Temperatur erwärmt; dieſe Bäder find
den ganzen Minter über offen.“
„Aber wie in aller Welt erwärmt man foldhe
ungeheure Waſſermaſſe, die fich fortwährend erneut,
bejonders im Winter?”
„DO, wir machen uns durchaus fein Gemilien
daraus, die Fluten für uns arbeiten zu laſſen,“ er—
widerte der Doltor. „Wir zwingen fie nicht allein,
das Wafler bier herauf zu heben, jondern fie müfjen
es ung auch noch heizen. Sehen Sie, Julian, falt
oder warın find eigentlich Worte ohne beitimmte
Bedeutung; es find nur nedifche Saunen, welche ſich
die Natur erlaubt, um anzubeuten, daß fie ein wenig
ummorben jein will. Wenn wir fie richtig zu nehmen
wüßten, würde fie uns ebenfo gern Wärme als Kälte
geben. Diejelben Schneeftürme, in denen Ihre
Generation hilflos erfror, hätten Ihnen die ſtohlen⸗
gruben erjegen fünnen. Sie jehen mich ungläubig
an; aber erlauben Sie mir, Ihnen als erften Schritt
zum Beritändnis der neuen Verhältniſſe jeht aus-
einanderzufegen, daß wir die Naturfraft, die ums |
Licht, Wärme und Triebkraft liefert, heutzutage loſten⸗
frei in unerichöpflicher Menge im täglichen Yeben
praftiih anwenden können, jo daß fie beim Ma»
ichinerbau faum in Betracht kommt.
„Die Benugung von Strömen, Winden und
Wafferfällen ift aber im Grunde nur eine jehr robe
Art, uns die Kraftquellen der Natur dienjtbar zu |
madyen, im Vergleich zu andern Methoden, durd)
melde nur aus der natürlichen Ungleichheit der
Temperatur eine ungeheure Sraft entwidelt wird.“
Einige Augenblide jpäter nahm ic das föftlichfte
Seebad, daS ich bisher je genofjen hatte. Das Ver-
gnügen, mid) von den Springbrunnen beiprißen und
begießen zu laffen, war groß und gab mir ein ganz
neues Lebensgefühl,
„In Ihnen belommt noch das zwanzigſte Jahr«
hundert einen Bürger erjter Sorte,“ ſagte der Doktor,
über mein Ergöben lachend,
bezeichnendes Merkmal der heutigen Ziviliiation,
daf wir zum Amphibien- Typus unter uralten Vor»
fahren zurückkehren. Nugenicheinlih werden Sie
nichts dagegen haben, mit dem Strom zu Schwimmen.“
68 war ein Uhr, ala wir unſer Haus erreichten,
„Ich denfe mir,” jagte Edith, ala ich ihr gute
Nacht wünſchte, „du wirft in zehn Minuten mitten
unter deinen Freunden im neunzebnten Jahrhundert
fein, wenn du träumft wie die vergangene Nadht.
Was gäbe id) nicht darum, die Reife mit dir zu unter«
nehmen und jelbft zu jehen, wie jene Welt ausſah.“
„Und ich möchte um feinen Preis die Erfahrung
no einmal machen,“ ſagte id, „außer in deiner
Geſellſchaft.“
„Man ſagt, es ſei ein
Bellamy.
„Fürchteſt du dich wirklich, wieder von den alten
Zeiten zu träumen?“
„So fehr,” verjegte ich, „daß ich nicht übel Puft
habe, die ganze Nacht aufzubleiben, Damit die Mög-
lichkeit eines foldhen Alpdrüdens ausgeſchloſſen it.‘
„Bewahre, das braucht du nicht zu thun,“ Tante fie.
| „Wenn du es wünſcheſt, will ich ſchon dafür forgen,
daß du nicht wieder auf ſolche Weiſe gequält wirft.“
„Bift du denn eine Zauberin ?*
„Wenn ich dir fage, daß du von einer bejtimmten
Sade nit träumen follft, fo geſchieht es nick,“
ı antwortete fie,
| „Du bift zwar die Herrin meiner wachen Ge
danken,“ rief ich, „aber fannft du ebenjo leicht meinen
Ichlafenden Geift regieren?“
„Du wirft es ſehen,“ jagte fie ruhig und ſchaute
mir feſt in die Augen. „Vergiß es nicht: Du jollft
heute naht von gar nichts träumen, was deinem
alten Leben angehört!” Und während fie jprad,
wuhte ich in meinem Herzen, dab es jo fommen
würde.
XL
Die Grundlage des Eigentumsrechts iſt Das Leben.
Zu der Einrichtung des unterirdbijchen Gemacht,
in welchem Dr. Leete mich jchlafend gefunden hatte,
gehörte auch ein eiferner Schranf mit einem Geheim:
ſchloß, wie er zu meiner Zeit zur Aufbewahrung von
Geld und Wertiachen gebraucht wurde. Die Kammer
: Tag jehr tief unter dem Boden, war aus fejlem Stir
gebaut und hatte fchwere Thüren, jo daß nicht nur
fein Lärm dorthin dringen fonnte, fondern fie aus
Dieben völlig unzugängli war. Da überdies nie
mand etwas von ihrem Vorhandenfein mußte, hatte
ich geglaubt, daß ich feinen geeigneteren Plak finden
fünne, um meinen Reichtum zu verwahren.
Edith hatte diefen Geldjchrant mit großer Nen-
gier betrachtet und mehrmals, wenn wir das Gewölbe
befuchten, den lebhaften Wunſch geäußert, zu eben,
was er enthielt. Ich erbot mich, ihn für fie zu
öffnen, aber fie meinte, ihr Vater und ihre Muiter
würden ich ebenfo jehr für dies Kunſtſtück intereifieren
| mie fie jelbft ; ich möchte Daher den Spaß noch ber-
ichieben, bis fie dabei wären.
Als wir am Morgen nad) deu zulegt geſchilderten
Erlebniljen beim Frühſtück ſaßen, fragte fie, ob heute
nicht ein guter Tag dazu wäre, ihnen das Immer:
des Geldſchranks zu zeigen, und alle waren damit
einverſtanden.
„Was enthält denn der Schrank?“ fragte Edith.
„als ich ihn im Jahre 1887 zufchloß,“ verlegte
ih, „waren Pfandbriefe und Staatspapiere der ver:
Ichiedenften Sorten darin, die eiwa einen Wert van
einer Million Dollars hatten. Wenn wir ihm beut:
Öffnen, werden wir, danf dem großen Umſturz, nicht?
als einen Haufen Mafulatur darin finden. —
Gleichheit.
Nebrigens möchte ich wiſſen, Doktor, was Ihre Richter
jagen würden, wenn ich mit meinen Wertpapieren
vor fie hinträte und das Vermögen, welches fie dar—
ftellten, feierlich zurüdverlangte ?
„Euer Gnaden,‘ würde id) jagen, ‚diefe Schäße
gehörten einft mir, und ich habe fie zu feiner Zeit |
freiwillig aufgegeben. Warum find fie denn jet nicht
mehr mein, und weshalb habe ich feinen Anſpruch
daß ih mich etwa gegen die jeige Ordnung aufs
zulehnen wünfche ; ich gebe bereitwillig zu, daß fie
weit beſſer iſt als unjre früheren Einrichtungen.‘
geruhten, ſich ernſtlich damit zu befaſſen.
iheinlih würden fie mid) unter Hohngelädhter zum
Gerichtshof hinausweifen. Mir fcheint aber dod),
ih hätte guten Grund zu behaupten, dab, da ich
nicht zugegen geweſen bin, al& die Revolution ung |
Rapitaliften unſers Beſitzes beraubte, ich wenigitens |
das Recht habe, eine Höfliche Erflärung darüber |
zu fordern, von welchem Gejichtspunft aus fie ihr |
Ich ver
damaliged Verfahren verteidigen wollen.
lange meine Million nicht zurüd, jelbft wenn eine |
Diedererftattung möglich wäre, aber e& würde mir |
doch eine gewifje Befriedigung gewähren, zu erfahren, |
unter welchem Rechtstitel das Gemeinweſen ſich mein
Vermögen angeeignet hat und e8 mir vorenthält,.*
„Hören Sie, Julian,“ jagte der Doktor, „es |
Perſon geftattet, der öffentlichen Verwaltung des
‚ Gefamtvermögens einen größeren Kapitalanteil zu
wäre wirklich ausgezeichnet, wenn Sie genau das
tbun wollten, was Sie joeben vorjchlagen, das heißt,
eine förmliche Klage auf Schadenerja gegen die |
Nation vorbringen und fordern, wieder in Ihr Beſitz⸗
tum eingejeßt zu werden. Ihre Angelegenheit würde |
das Öffentliche Intereſſe aufs lebhaftejte bejchäftigen |
und eine Erörterung über die ethiihe Grundlage |
unjrer wirtfchaftlichen Gleichheit hervorrufen, die für
das ganze Volt vom höchſten erzichlihen Nutzen
jein dürfte. Da die jetzige Geſellſchaftsordnung jhon
ieit jo langer Zeit befteht, denft außer den Geſchichts-
forjhern kaum noch ein Menſch daran, daß es jemals
ander war. Es wäre jehr heiljam für die Staats-
bürger, wenn fie einmal wieder gründlich über dieje
Berhältnifje nachdächten, ſich die Unterfchiede zwiichen
der alten und der neuen Ordnung zu Gemüte führten,
um die Vorteile und Nachteile beider gegeneinander |
abzuwägen und fi die Gründe klarzumachen, die
für das jegige Syſtem ſprechen. Welch eine echt
dramatiiche Scene wäre das, wenn Sie mit Jhren
Stoatöpapieren in der Hand, vor dem Gerichts-
hof erichienen! Das neunzehnte Jahrhundert würfe
fozufagen dem zwanzigften den Fehdehandſchuh bin; |
die alte Ziviliſation forderte Rechenſchaft von der
neuen. Sie könnten fid) darauf verlafien, von den
Richtern mit der größten Rüdficht behandelt zu werden.
827
Man würde Ihnen jofort zugeflehen, dab Sie unter
den obwaltenden Umſtänden das Necht haben, zu
verlangen, die ganze Frage der Güterverteilung und
des Eigentumsrechts von Anfang an erflärt zu ers
halten, und man würde aufs bereitwilligfte und im
weitherzigjten Sinne mit Ihren darüber verhandeln,”
„Wohl möglich,“ ermiderte ich, „aber es ift ein
ſchlagender Beweis von dem Mangel an uneigen—
daranf, fie zurüczuerhalten? Glauben Sie nur nicht, |
nüßigem Gemeinfinn, unter dem meine Zeit litt,
daß ich feine Luft verjpüre, mich lächerlich zu machen,
' jelbft wo es jih um die Vollserziehung handelt.
| Mebrigens bedarf es defjen nicht.
Aber willen möchte ich doch, was die Richter auf ein |
ſolches Anfinnen erwidern würden, falls fie überhaupt |
Wahı-
Sie fönnen mir
jo gut wie die Richter fagen, was die Antwort fein
würde, und ich möchte nur eben dieje Antwort haben
und nicht mein Vermögen.“
„Ih glaube wohl,” jagte Leete, „daß ich Ihnen
bie allgemeinen Gefichtspunfte darlegen könnte, die
fie ins Auge faſſen würden.”
„Nun gut, nehmen wir an, dab Sie der Gerichts—
bof find. — Aus welhem Grunde weigern Sie fidh,
mir meine Million zurüdzjugeben? Denn, daß Sie
fi) weigern würben, fteht doch wohl feit.“
„Natürlich aus demfelben Grunde, den die Nation
hatte, als fie jämtliches Privateigentum, von dem
jene Million zur Zeit des großen Umſturzes einen
Zeil bildete, zum Nationalgut machte.“
„Ganz recht, das möchte ich gerade wifjen. Welcher
Grund ift das?”
„Das Gericht würde jagen, daß, wenn man einer
entziehen oder vorzuenthalten, als der ift, welcher
jedem in gleicher Höhe zum perjönlichen Gebrauch
und Unterhalt zufteht, jo würde die Gejellihaft außer
ftande jein, die erfte Prlicht, welche ihr obliegt, gegen
ihre Mitglieder zu erfüllen.“
„Was ift denn dieje erfte Pflicht der Gejelljchaft
gegen ihre Mitglieder, die umerfüllt bliebe, wenn
gewillen Bürgern geftatiet wäre, fi mehr anzueignen
ala den für allen gleichen Anteil des Geſamtver—
mögens ?*
„Die Pflicht, ihren Mitgliedern ihr erfteg und
höchſtes Recht zu ſichern — das Daſeinsrecht.“
„Aber ich jehe nicht ein, weshalb die Geſellſchaft
ihren Mitgliedern das Daſeinsrecht nicht fichern
fan, wenn ein Menſch mehr Kapital befigt als jeine
Mitmenschen ?*
„Einfach deshalb,“ veriekte der Doktor, „weil die
Menſchen eſſen müſſen, um zu leben ; fie müſſen jich
auch Fleiden und eine gewiſſe Menge notwendiger
und nüßliher Dinge verbrauden, deren Summe das
ausmacht, was wir Bejik oder Kapital nennen, Wäre
nun der Vorrat an diefen Dingen immer fo uns
begrenzt wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen,
jo hätte man nicht nötig, dafür zu forgen, daß jeder
828 Edward
feinen Anteil erhält. Iſt aber der Belisitand zu
irgend einer Zeit bejchränft, jo folgt daraus, daB,
wenn einige unverhältnismäßig viel erhalten, die
andern nicht genug befommen, ja, daß vielleicht nichts
für fie übrig bleibt, wie das in der That bei Millionen
in der ganzen Welt der Fall gemejen iit, ehe die
große Revolution die wirtichaftliche Gleichheit her» |
ftellte. Wenn aljo das erjte Nedht des Bürgers der
Schub feines Lebens ift, und die erfte Pflicht der
Geſellſchaft darin befteht, diefen zu gewähren, jo muß
der Staat dafür jorgen, dab die Mittel zum Leben |
nicht unbilligerweife von einigen Individuen an fi
gerijjen, jondbern fo verteilt werden, da fie die Be—
bürfniffe aller befriedigen. Um aber allen die Mittel
zum Leben fichern zu können, genügt e& nicht, daß
der Staat Sorge trägt, die vorhandenen Güter zu
einer gewiſſen Zeit gleihmäßig zu verteilen; fonft
fönnte der Fall eintreten, da fich heute alle mohl
befinden und morgen alle verhungern müljen, wenn
nit inzwiſchen neue Vorräte produziert werben,
Die Pflicht der Gefellichaft, das Leben des Bürgers
zu fihern, bedingt daher nicht nur eine gleiche Güter⸗
verteilung zum Zwed des Verbrauchs, ſondern aud)
die beftmöglichite Verwendung der Güter ald Kapital,
um neue Vorräte zu erzeugen. Es ift Mar, daß die
Gejellihaft in der einen wie in der andern Be—
ziehung ihre erfte und wichtigfte Aufgabe nicht ausüben
würbe, wenn fie irgend jemand geitattete, mehr Güter
für ſich zu behalten, als der für alle gleich bemeſſene
Anteil beträgt. Ob der einzelne diejelben der öffent«
lihen Verwaltung für das Gefamtwohl entzieht, um
fie zu verbrauchen oder als Kapital zu benußen,
darauf fommt es nicht an.“
„Dieje moderne Begründung des Eigentumsrechts
muß einem Vertreter des neunzehnten Jahrhunderts |
wunderbar einfach erſcheinen,“ bemerkte ich. „Vieleicht
würden mid die Richter fogar fragen, woher ich
überhaupt da& Recht nehme, mein Eigentum zu bes
fien, und worauf ich meine Anſprüche gründe?“
„Gewiß nit. Kein Menſch, weder Sie noch
irgend ein andrer, könnte möglicherweile je ein jo
großes Anrecht an materielle Dinge befigen, wie der ;
geringfte Ihrer Mitbürger an fein Leben hat. Keiner
könnte je von der Staatögewalt verlangen, daß fie
für fein Recht auf gewiſſe Güter mit demſelben Nach—
druck eintritt wie für das Necht der andern auf ihr
Leben, jobald diefe beiden Rechte an irgend einem
Punkte direft oder indireft miteinander in Wider:
ſpruch geraten, Bei einem etwaigen unverhältnis-
mäßig großen Güterbefig eines Mitglieds der Ge—
meinichaft, wodurd; das Leben der übrigen gefährdet |
oder benachteiligt wird, fommt aber die Art, wie
diefe Güter eriworben wurden, gar nicht in Betracht.
Ihr unrehtmäßiger Erwerb fann, wie das in früheren
Zeiten häufig geſchah, die Allgemeinheit noch bejonders
Bellamy.
geihädigt haben, aber die Ungleichheit ſelbſt, woher
fie auch ftammen mag, bildete eine fortgeſehte
Schädigung, ganz abgefehen von ihrem Urſpruug.
Unjre Begründung des Eigentumsrechts ift, wie Sie
ganz richtig Jagen, ureinfah. Sie beiteht mur in
dem Recht der Selbfterhaltung, das im Namen aller
gegen die Uebergriffe irgend eines einzelnen zur
Geltung gebracht wird, Sie beruht auf einem Grund-
jaß, den ein Kind jo gut verftehen lann wie ein
Weiler, und den zu widerlegen noch nie ein Weiler
verjucht hat, nämlid auf dem Recht aller zu chen,
infolgedeflen fie durchſetzen müſſen, daß die Gelel-
ſchaft auf eine Weiſe organifiert wird, welche ihnen
dies höchſte Recht fichert.
„Aber,“ fuhr der Doktor fort, „eigentlich Follte
unfre wirtſchaftliche Bethätigung dieſes Grunbjages,
einem Manne auß Ihrer Zeit feine andre Em-
pfindung verurjahen als die der Ueberraſchung, daß
er nicht jchon früher durchgeführt wurde. Seit dem
Beginn beiten, was Sie moderne Zivilifation nannten,
haben alle Völker und Regierungen ſtets die Anfiht
verfochten, daß es die erfte und höchſte Pflicht des
Staates ei, daß Leben jeiner Bürger zu ſchühen
Died war der Zwed, um deſſentwillen die Polipi,
das Gericht, dad Heer und der größte Zeil dei
Regierungsmechanismus im Grunde vorhanden waren.
Man ging jogar joweit, zu behaupten, daß ein Staat,
der nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln das
Leben feiner Bürger zu ſchützen fuchte, den Anipruä
auf ihre Unterthanentreue verlor,
„Während ihr aber diefen Grundſaätz in jo be
redten Worten verfündetet, überjaht ihr in der Praris
die bei weitem wichtigite Hälfte feiner Bedeutung.
Ihr ließet die Gefahr gänzlich unbeacdhtet, welde
das Leben von der wirtihaftlichen Seite ber durt
Hunger, Kälte und Durft ausgejeft war. Da}
Leben, meintet ihr, fünne nur durch Kugel, Meter,
Keule, Gift oder irgend eine Form des gewaltfamen
Angriffs bedroht werden, als ob Hunger, Kälte und
Durſt — in einem Wort, wirtſchaftliche Not — nicht
der unabläjfigite und verderblichjte Feind des Leben?
wäre, weit gefährlicher als alle Arten der Gewalt
jufammengenommen. Ihr vergaßt die einfache That-
lade, daß, wer auf irgend eine Weiſe, jei fie auch
noch jo indireft, uns den Unterhalt entzieht oder
verkürzt, einen ebenjo gefährlihen Angriff au
unjer Leben begeht, als wenn er uns mit Piſtole
oder Mefjer bedrohte — ja er gefährdet uns noch
mehr, mweil wir uns gegen offene Gewalt beiier
verteidigen könnten. Sein Schub von Rolixi,
Gericht oder Militär würde einen Menichen, der
nicht genug Speile und Kleidung bat, davor be
wahren, elend umzulommen — das habt ihr midt
bedacht.“
„Wir vertraten den Grundſatz,“ ſagte ich, „dei
Gleichheit.
es nicht gut iſt, wenn der Staat ſich in Privat-
angelegenheiten mijcht und es übernimmt, dem ein-
zelnen zu helfen oder Dinge für ihn zu thun, die er |
im ftande iſt, jelbft auszurichten. Wir waren der
Anfiht, man folle die Staatsgewalt nur anrufen,
wo der einzelne der Aufgabe, ſich ſelbſt zu verteidigen,
nicht gewachſen jein konnte.”
„Diefe Theorie wäre gar nicht fchlecht geweſen,
hättet ihr demgemäß gelebt,“ jagte der Doktor. „Doc
ift die moderne Theorie bei weitem vernünftiger, |
Alles, was eine Genoſſenſchaft beifer verrichten fann
als der einzelne, joll man gemeinfam unternehmen, '
jelbft wenn es auf unvollflommenere Art au vom |
Aber glauben |
Sie nicht ſelbſt, daß bei den wirtichaftlichen Vers
einzelnen ausgeführt werden könnte.
bältniffen, wie fie zu Ende des neunzehnten Jahr-
bunderts in Amerika berrichten — von Europa gar
nicht zu reden — der Menſch im Durchſchnitt, wenn
er nur einen guten Revolver hatte, weit leichter die '
Aufgabe erfüllen konnte, ſich und jeine Familie gegen
Gewalt zu verteidigen, als die Verpflichtung, fie vor
Mangel zu ſchützen? War im lekteren Kampf die
Möglichkeit feines Sieges nicht viel ungewiſſer als
im erfteren, falls er fich als ein leidlich guter Schütze
erwies? Warum aljo jollte — nad Ihrem eignen
Grundjaß zu urteilen — die Geſamtmacht der Ger
ſellſchaft aufgeboten werden, ihn vor Gewalt zu |
bewahren, was er doch füglich jelbit hätte thun Fönnen,
während man ihn bei dem hoffnungslojen Ringen
im ſtampf um ein menſchenwürdiges Dafein fid)
ſelbſt überließ? Keine Stunde, fein Tag im Jahre
berging, an dem nicht zahlreiche Todesfälle und die
moralifchen und phyſiſchen Qualen, die aus der
Geieglofigfeitdeswirtfchaftlichen Kampfes entjprangen,
bei dem die Armen jo furchtbar im Nachteil waren,
die Zahl der Opfer, die zur nämlichen Stunde der
Gewalt erlagen, mehr als hundertjach überjliegen
hätten. Die Gejellichaft hätte ihre Pflicht, das Leben
der Bürger zu ſchützen, weit beſſer erfüllt, wenn jie |
dad ganze Strafreht abgeſchafft, jämtlicdhe Nichter
und Roliziften entlaffen und e& den Menichen anheim
geftellt hätte, fich gegen Gemwaltthat zu verteidigen,
jo gut fie fonnten. An Stelle der gejamten Gerichtä-
barteit aber hätte man eine wirtfchaftliche Verwaltung
einrichten jollen, bei der alle vor Mangel geſichert
waren. Dann würde jich fehr bald herausgeftellt |
haben, daß, wo ſolche wirtichaftliche Befamtorganijation
beftand, das ganze firafredhtliche und bürgerliche
Gerichtsweſen ebenjo emibehrlih war wie bei uns.
Die meiften Verbrechen, weiche damals begangen
wurden, waren ja die direfte oder indirefte Folge
Ihrer ungerechten, wirtjhaftlichen Zuftände und wären
mit dieſen verſchwunden.
„Aber entſchuldigen Sie meine Heftigkeit.
829
und nicht Ihre Perfon. Ich wollte Ihnen nur bes
weilen, dab der Grundfaß, es fei die erfte Pflicht
ber Gejellichaft, das Leben ihrer Mitglieder ficher zu
ftellen, zu Ihrer Zeit ganz ebenſo anerkannt wurde
wie zur unirigen. Man hätte diefen Grundjak nur
nicht in polizeilicher, gerichtlicher und militäriicher
Hinficht Feithalten und ihm in der wirtichaftlichen
Frage untreu werden jollen. Dadurd) hat Ihre Welt
fich einer Intoniequenz ſchuldig gemacht, die ebenjo
unlogiih war wie graufam in ihren Wirkungen.
Wir dagegen haben als Nation die Verpflichtung
übernommen, das Leben der Vollsglieder in wirt-
ſchaftlicher Beziehung ficherzuftellen. Dadurch ift
nur ein Grundjag, welcher jchon jo lange beiteht, wie
die Zivilifation überhaupt, zum erftenmal in Wahr-
beit durchgeführt worden.”
„Das liegt auf der Hand,” jagte ih. „Wer nur
die Sachlage kennt, muß zugeben, daß die anerkannte
Pflicht des Staats, das Leben feiner Bürger vor feind-
lihem Angriff zu ſchützen, die Verantwortlichkeit in ſich
ichließt, fie jowohl vor den Einflüffen zu bewahren,
welche die wirtichaftliche Grundlage ihres Dajeins
bedrohen, als vor direkten Vergewaltigungen. Eine
aufgeflärte Regierung war ſich auch ſchon zu meiner
Zeit diefer Verpflichtung bewußt und verſuchte ihr
durch Armengeiege und Armentommijfionen zu ent»
ſprechen. Doch war ihre Verjorgung der wirtichaftlich
Schlechtgeſtellten jo erbärmlich und überdies an jo
entwürdigende Bedingungen gefnüpft, da die Menichen
meijt lieber fterben wollten, als fie anzunehmen, Aber
zugegeben, daß unjre Art, dem Bürger jein Recht
auf Unterhalt zu fichern, eine größere Barbarei und
Veripottung war, als wenn wir e& ihm ganz ver—
weigert hätten, und daß der Staat jeine Verpflichtung
in viel weiterem Sinne hätte auffallen müſſen, jo
folgt doch daraus noch lange nicht, daß die Geiell«
ſchaft verpflichtet ift, allen Bürgern wirtichaftliche
Gleichheit zu gewährleiften und jeder berechtigt ift,
dies zu fordern.”
„Was Sie jagen, trifft zu,“ verjehte der Doktor.
„Die Gejellichaft hätte ihre Prliht, jedem Mitglied
die wirtſchaftliche Grundlage des Lebens zu fichern,
gewiſſermaßen auch erfüllen fönnen, ohne die wirt
ſchaftliche Gleichheit einzuführen. Gerade jo hätte
zu Ihrer Zeit der Staat jeine Pflicht, das Leben ber
Vürger gegen Gewaltthat zu jchühen, dem Namen
nad) erfüllen fönnen, wenn er fid) damit begnügte,
den direkten Totichlag zu hindern, aber im übrigen
ruhig zufah, wie einer dem andern willfürlich allerlei
Schaden zufügte, ſolange derjelbe ihm nur nicht ans
Leben ging. Setzten fich denn zu Ihrer Zeit, Jultan,
die Regierungen jo enge Schranten beim Schub der
' Bürger gegen Gewaltthat, oder wären die Leute mit jo
Ver⸗
geſſen Sie nicht, dab ih Ihre Ziviliſation anklage
beſchränktem Schuß zufrieden geweſen ?“
„Keineswegs.“
830 Edward
„Richt wahr, eine Regierung. die ih zu Ihrer
Zeit darauf beichränft hatte, den Mord zu verhüten,
märe auch nicht einen Tag lang am Ruder geblieben?
Die Menſchen hätten ja Barbaren fein müffen, um
fie zu dulden. Alle zivilifierten Regierungen über:
nahmen die Pliht, die Bürger nit nur vor
Angriffen gegen ihr Leben,
der geringften thätlichen Beleidigung ſicherzuſtellen.
Keiner durfte den andern im Zorn auch nur mit
dem Finger anrühren, ja, wenn er nur feine bod«
hafte Zunge gegen ihn gebrauchte, wurde er ins
Gefängnis geworfen. Das Geſetz jhügte die Menſchen
nicht nur körperlich, aud) in ihrer Würde durfte man
fie nicht verlegen. Denn man jah ein, daß beihimpft
oder angejpieen zu werden, ein cbenio großes Uebel
iſt als ein Angriff auf das Leben jelbft.
„Wenn wir das Dajeinsreht des Bürgers im
wirtichaftlihen Sinme fügen, jo folgen wir nur
Ihrem Beifpiel in betreff des thätlihen Angriffe.
Wollten wir feine Yage bloß infoweit jicherftellen,
dab er nit Hungers zu fterben oder zu erfrieren
brauchte, wie das Ihre Armengejege bezwedten, To
würden wir einem Staate aus Ihrer Zeit gleichen,
der zwar den Mord bei Strafe unterfagte, aber jede
andre Gewaltthat, die nicht geradezu tödlid war,
geftattete, Not und Entbehrung, die aus wirtichaft
lihem Mangel entjtehen, bei dem man nicht gerade-
wegs verhungern muß, bilden ein genaues Gegenitüd
zu den geringeren Gewaltthaten, vor denen hr
Staat jeine Untertdanen jo jorgfältig beſchützte wie
vor Mord. Dem Rechte des Bürgers auf Schuß
feines Lebens im wirtichaftlihen Sinne ift nicht
Genüge gethan, wenn man ihm nur den notdürftigen |
Er hat vollen Aniprucd auf die |
Unterhalt ſichert.
Befriedigung jedes Bedürfnifies, jo weit die Nation
im ſtande ijt, diefelbe, bei der Iparjamiten Verwal«
tung jämtlicher Quellen des nationalen Wohlitandes,
allen Bolksgliedern in gleihem Maße zu gewähren.
„Als wir die Herrihait von Recht und Geſetz
auch auf das wirtichaftliche Gebiet ausdehnten, find
wir nur jehr verftändigerweije Ihrem hochberühmten
Grundjag der ‚Gleichheit aller vor dem Gejeh' ge»
folgt, wie das unjre Pflicht war. Dieler Grundſatz
beiagte, dab, wenn die Gejellichait ald Ganzes irgend
eine Amtöthätigfeit übernahm, fie diejelbe ohne
Anjehen der Perſon, zum gleichen Nußen für alle |
ausüben müfle. Wollten wir daher nicht den Grunde
ja der ‚Gleichheit aller vor dem Gejeh‘ verwerfen,
jo konnte die Gejellfchaft, nachdem fie einmal die
Produktion und Güterverteilung als öffentliche Prlicht
übernommen hatte, für diefelbe feinerlei andre Grund«
lage wählen als die wirtichaftliche Gleichheit.“
„Der hohe Gerichtshof,” ſagte ih, „möge mir
nunmehr erlauben, den Antrag auf Wiedererftattung
meines früheren Eigentums jamt der Klage zurüd-
jondern jogar vor |
Bellamy.
| zuziehen. Zu meiner Zeit hielten wir alles feſt, was
wir hatten, und fämpften mit gutem Gewiſſen, um
ſo viel zufammenguraffen, al& wir irgend fonnten :
| denn unfre Gegner waren gerade jo eigennüßig wie
ı wir und bejahen fein höheres Recht und feinen
meiteren Gejichtäfreis. Aber dies moderne Suiten
mit jeiner Öffentlichen Verwaltung des Gejamtlapitals
zum allgemeinen Wohl verändert Die ganze Lage
der Dinge. Es madıt, daß jeder, welcher mehr wer-
langt als feinen Anteil, im Licht eine: Menſchen
erjcheint, welcher alle andern Vollsglieder an Lebens
unterhalt und Wohlbefinden zu ichädigen tradıtet.
Um ſich in dieſer Rolle zu gefallen, müßte man io
feft von der Gerechtigfeit feiner Ansprüche überzeugt
fein, wie ich e8 überhaupt niemals, ſelbſt nicht in
jener alten Zeit, geweien bin.“
XII.
Die Ungleichheit des Güterbeſitzes vernichtet die Freiheit.
„Bis jeht,“ fuhr der Doftor fort, „habe ich die
ı Gründe nur zur Hälfte dargelegt, welche die Richter
anführen würden, um zu beweifen, daß fie Jhnen
Ihr Vermögen nicht zurüdgeben können, ohne unier
beftehendes Wirtihaftsiyftem und die wirtſchaftliche
Gteichheit in der Nation zu jchädigen. Die Menihen
haben noch ein zweites großes Recht, das allen
gleichermaßen zuſteht, und wiewohl es eigentlid im
‚ Recht zu leben mit inbegriffen ift, von jedem hod«
gefinnten Geift jogar noch über diejes geilellt wird:
Ich meine die freiheit — das heikt das Recht, nicht
nur zu leben, jondern in perjönlicher Unabhängigkeit
von andern zu leben und nur die allgemeinen jozialen
Pflichten anzuerkennen, die zu erfüllen uns allen in
gleicher Weile gebührt.
„Nun wurde aber zu Jhrer Zeit die Verpflichtung
des Staates, die Freiheit der Bürger zu hüten,
ebeniogut amerfannt, wie es ihm oblag, deren
Leben ſicherzuſtellen, aber ebenfalls nur in dem
Sinne, daß er fie vor Gewaltthat zu behüten habe.
Hätte man berjucht, ih der Perjon eines Bürgers
zu bemädjtigen oder ihn zwangsweije in die Sklaverei
zu Ichleppen, jo würde ji der Staat ins Mittel
gelegt haben, aber jonft nicht. Und dennod wurden
zu Ihrer Zeit Freiheit und periönliche Unabhängig
feit — gerade jo wie das Leben — weit weniger
duch gewaltjame Angriffe gefährdet als durch wirt«
ſchaftliche Uebelſtände, die aus der ungleichen Ver—⸗
teilung der Güter entjprangen. Da der Staat dieſe
Seite der Freiheitsfrage — die bei weitem wichtigite
— pvolltommen überjah, war jeine Behauptung, et
verteidige die fyreiheit jeiner Bürger, ein ebenſo
ichnöder Hohn als die andre, dal er ihr Leben
ficher ftelle. Ia, bei der ungebeuern Tragweite, welde
die Sache beſaß, hätte man einen jhlimmeren Spott
gar nicht treiben lönnen.
Gleichheit.
„Ich habe zwar davon gefprochen, daß die Mono-
polifierung der Güter und der gewerblichen Produftion
durch einzelne vor allem eine Gefahr für das Leben
der übrigen in fich ſchloß, der man fich widerfeßen
mußte; aber die hauptjächliche Wirfung des Syſtems
war nicht etwa, daß das Leben der Maflen geradezu
bebroßt wurde, jondern dab man fie durch den Mangel
nötigte, fi ihr Leben auf Koften der Freiheit zu
erfaufen. Das heißt, fie begaben ſich in die Dienſt—
barkeit der befißenden Klaſſen und wurden ihre
Knete, unter der Bedingung, dat man ihnen die
Mittel zum Lebensunterhalt gewährleiftete. Obgleich
men fortwährend wiele dur; Not und Mangel ums
famen, jo legten die Reichen e8 feineiwens abſicht⸗
ih hierauf an. Am Tode der Leute war ihnen
nit8 gelegen, denn jie bedurften unabläjjig der
Dienitbarleit einer ganzen Schar menſchlicher Wefen,
nidht nur um neue Güter zu produzieren, jondern auch
ald der Werkzeuge ihres Vergnügend und ihres |
' Zwang auf fie auszuüben ?”
Luxus.
„Ih brauche Sie nicht daran zu erinnern, weil
es Ihnen ganz geläufig ift, daß das Induſtrieſyſtem
der Welt vor dem großen Umfturz einzig und allein
daranf berubte, dab fih die Maflen in die Knecht-
Ihaft der Beſitzenden begaben, weil die wirtichaftliche
Rot fie dazu drängte.“
„Das ift ganz richtig,“ ſagte ich, „die Klaſſe der
Armen ftand im Dienft der Reichen, oder wie wir '
zu jagen pflegten, die Arbeit juchte Beihäftigung |
beim Kapital; aber das war im neunzehnten Jahr-
hundert ein ganz freiwilliges Verhältnis von jeiten
de& Kncchts oder Arbeiterd. Die Reichen hatten nicht |
die Macht, die Armen zu ihrem Dienft zu zwingen. |
den Alleinbefik der Güter und des Produktions»
Sie ftellten nur Diejenigen an, welche von felbft
famen und fich anboten, ja jogar oft mit Thränen
um Beichäftigung flehten. Wenn ein Dienft auf
ſolche Weile begehrt wird, kann doch dabei von feinem
ſehr viel von der fFreiheit des Vertrages, von dem
Zwang die Rede fein.“
„Sagen Sie, Julian, baten denn die Reichen
au um das Vorredht, einer des andern Knecht und |
| dingungen. Wie heuchleriich war diejer Schein! Jeder
' Vertrag, der zwiichen dem Sapitaliften, der Brot
| hatte und es für fich behalten konnte, und dem Arbeiter
Arbeiter jein zu dürfen?”
„Bemwahre.*
„Weshalb denn nicht?”
„Weil natürlich feiner dem andern dienſtbar oder
unterthänig fein würde, der es nicht nötig hätte.“
„Das läßt fih denken; aber weshalb ftrebten
831
die Furcht vor Mangel trieb die Armen fo weit, daß
fie jih den Reichen zur Verfügung ftellten?”
„So ungefähr.”
„Und das joll ein freiwilliger Dienft jein? Meiner
Anficht nach ist er auf feinerlei Wetje vom Zwangs-
dient unterjchieden. Wenn man fagen kann, ein
Menich thäte aus freien Stüden, wozu er ſich nur
entjchließt, weil ihn die bitterfte Not treibt, dann hat
e8 überhaupt nie eine Sklaverei gegeben. Alles, was
ein Sflave thut, ift im Grunde immer nur die Wahl
eines geringeren Uebels aus Furcht vor einem größeren.
Nehmen wir einmal an, Julian, Ihnen oder einigen
aus Ihrem Kreiſe gehörte der ganze vorhandene
Vorrat an Wafler, Ehwaren, Kleidern, Sand oder
induftriellen Betriebsanftalten in einem Gemeinweſen.
Nicht wahr, wenn Sie dies Eigentumsrecht behaupten
fönnten, jo würde ſchon dieje Thatiadhe allein die
übrigen Glieder der Gemeinde zu Ihren Sflaven
machen? Sie brauchten dazu gar feinen bejonderen
„Wohl möglich.“
„Wenn Sie nun von jemand beichuldigt würden,
Sie behandelten die Leute wie Leibeigene, und Sie
verficherten dagegen, das jei durchaus nicht der Fall;
alle fämen mit Freuden und küßten Ihnen die Hänbe,
weil fie Ihnen Dienfte leiften dürften, um dafür
Waſſer, Speije und ſtleidung zu erhalten — wäre das
nicht Ihrerſeits eine jehr wenig ftihhaltige Abwehr
der Beſchuldigung, daß Sie jih Sklaven hielten?“
„Sa, ohne Zweifel,“
„Und war das nicht genau dasjelbe Verhältnis,
in dem der Kapitalift und Arbeitgeber zu den übrigen
Gliedern des Gemeinweſens ſtand, jolange er fi
mechanismus angeeignet hatte?”
„Das gebe ich zu.”
„Die Nationalölonomen jprachen zu Ihrer Zeit
beiberjeitigen Uebereinfommen zwiſchen Wrbeitgeber
und Arbeitnehmer über die aufzuftellenden Bes
‚ gemacht wurde, der es brauchte, wenn er nicht jterben
denn die Armen jo eifrig danach, den Weichen zu
dienen, während die Neichen es mit Verachtung von |
fih wiejen, einander zu dienen? Hatten die Armen
eine jo große Liebe zu den Reichen ?*
„Das nicht gerade.”
„Weshalb denn jonft?“
„Nur aus dem Grunde, weil das die einzige Art
war, wie fie ihren Lebensunterhalt verdienen konnten.“
„Das heißt, nichts als der Drud der Not oder
| Armen mit Tod bedrohten.
wollte, hätte jelbft von Ihren Geſetzen von Rechts
wegen für ungültig erflärt werden müfjen. Er wurde
ja aus Furcht vor dem harten Drud der Not, vor
Hunger, Kälte und Nadtheit, abgeichloffen, die den
Wer über die Dinge
verfügt, welche die Menichen haben müffen, der ver-
fügt aud) über die Menſchen, welche fie Haben müſſen.“
„Aber der Zwang der Not durch Hunger und
Kälte,“ fagte ich, „geht Doch von der Natur aus.
Sind wir denn nicht in gewiſſem Sinne alle Sflaven
der Natur ?“
832
Edward Bellamp.
„Aber niht Sklaven andrer Menjchen. Darin ı oft aud) niedriger. Den Lohn des Sklaven verwandte
liegt der ganze Unterſchied zwiichen Freiheit und
Knechtſchaft. Heute dient feiner dem andern, aber
alle ftehen im Dienfte des Gefamtwohls, an dem
jeder feinen Anteil hat. Unter Ihrem Syſtem bejaßen
die Reichen allein die Mittel, um die forderungen
der Natur zu befriedigen. Das benußten jie und
machten die Bedürfnifie der Armen zum Steden des
Treiberd, ber fie zwang, der Natur den Zoll der
Arbeit, nicht nur für fich jelbit, ſondern auch für die
Reichen zu entrichten, ſamt dem Zufchlag für die nuploje
Berſchwendung, die das Syitem mit jih brachte.“
„Nah dem, was Sie fagen, ift unfer Syſtem
wenig beſſer als Sklaverei geweſen. Das ift doch
ein hartes Urteil.“
„Es klingt hart — und wir wünſchen vor allem
nicht unbillig zu erjcheinen. Laſſen Sie uns bie
Frage einmal näher ing Auge fafjen. Ueberall, wo
ein Menſch den andern zwangsweiſe ausnüßt, beitcht
Stlaverei. Darüber, dab der Arme zu Ihrer Zeit
für den Reichen arbeitete, weil ihn die NRotdurft dazu |
drängte, find wir einig. Der Zivang war ftärler
oder ſchwächer, je nach der Lage des Arbeitenden.
Beſaß er ſelbſt einige Mittel, jo leiftete er nur Die
leichteren Dienſte unter mehr oder weniger guten
Bedingungen. Wer aber geringe oder gar feine
Mittel hatte, mußte mit jedem Lohn zufrieden fein
und alles thun, was verlangt wurde, mochte ed aud)
noch jo mühevoll oder entwürdigend fein. Die größte
Maſſe der Arbeiter litt unter ſehr hartem Zwang.
Der Sklave hatte die Wahl, ob er für feinen Herrn
arbeiten oder die Peitjche foften wolle. Der Lohne
arbeiter wählte zwiichen dem Dienft des Arbeitgebers
und dem Hungertod. In den alten, roheren Zeiten
der Stlaverei mußten die Herren fortwährend wachen,
damit die Sklaven ihnen nicht entilohen, auch lag
ihnen deren Verjorgung ob. Ihr Syſtem war be=
quemer. Sie machten die Natur zu Ihrem Fronvogt
und verließen ſich darauf, daß fie Ihre Anechte zur
Arbeit anhalten werde,
direfter Zwang ausgeübt wurde, jtand immer auf
dem Punkt, fi zu empören; bei dem Lohnarbeiter
wurde durch indireften Zwang diejelbe Dienftleiftung
erzielt, aber ſtatt fich gegen feines Herrn Obergewalt
aufzuichnen, war er noch dankbar dafür, daß er ihm
dienen durfte — darin lag der Unterſchied.“
„Aber,“ fagte ih, „der Arbeiter befam feinen
Lohn und der Sklave erhielt nichts.”
„Das beitreite ih. Der Sflave erhielt Unterhalt,
Kleidung und Obdach. Da ein Arbeiter fih für
jeinen Lohn mehr verſchaffen fonnte, war eine Selten«
heit. Der Lohnſatz — außer in neuen Ländern, bei
beionderen Umftänden und für geichidte Arbeiter —
war nur jo bo, dak man gerade babei beſtehen
fonnte, manchmal vielleicht etwas höher, aber ebenjo
Der Sklave, auf den ein |
der Herr für deffen Unterhalt, der Arbeiter beiorgte
dies ſelbſt. In mancher Beziehung war das befſſer
für den Arbeiter, in andrer nicht. Der Herr forgte
meift Schon in feinem eignen Intereſſe dafür, daß
der Sklave nebft Frau und Kindern nicht Mangel
litt. Der Arbeitgeber aber, der für Leben und Ge—
fundheit des Arbeiters nicht aufzulommen brauchte,
fümmerte ſich auch nicht darum, ob er lebte oder
ſtarb. Es hat niemald Sfiavenquartiere gegeben,
die jo erbärmlih waren wie die Mietshöhlen der
Lohnarbeiter in den fchmugigen Hintergafien,
„Aber ein wejentliher Unterſchied beitand dad
zu meiner Zeit zwiſchen dem Lohnarbeiter und dem
Sklaven; erjterer konnte jeinen Brotherrn nad Be
lieben verlajien und letzterer nicht.“
„Jawohl, aber diejer Unterſchied ſprach keineswegt
zu Gunften des Lohnarbeiterd. Ueberall — außer
in zweitweilig glüdlichen Ländern ohne dichte Be
völferung — wäre der Arbeiter froh geweſen, ſein
Recht, den Lohnherrn verlaſſen zu dürfen, gegen die
Gewißheit auszutauſchen, daß diejer ihn micht fort
fchidlen würde. Die Furcht, er könne die Gelegenheit
zur Arbeit verlieren, — jeine Stelle, wie man &
nannte — war das Schredgeipenit, das dem Arbeiter
verfolgte. Wir fefen das wenigitens in den Büdern
aus jener Zeit. Sind wir falich berichtet?“
Ich mußte zugeben, daß es jo geweſen jei.
„Das Vorrecht, den Lohnherrn zu wechſeln,“ fuhr
der Doktor fort, „hatte aber überhaupt wenig Wert
für den Arbeiter, weil der Lohnſatz faft überall der
nämliche war, er mochte gehen, wohin er wollte
Selbft auf die Sinnesart der verſchiedenen Herren
lam es nur wenig an, denn alle Beziehungen zwiſchen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern waren durch die Ge
ſchäftsordnung ſtreng geregelt.”
Noch gab ich mich nicht zufrieden.
„Einen wirklichen Vorteil hatte der Lohnarbeitet
aber doch über den Sklaven, den werden Sie zugeben
müſſen: Er konnte ſich durch Fleiß und Tüchtiglel
über ſeinen Stand erheben, konnte ſelbſt Arbeitgebet
werden und ein reicher Mann.“
„Sie vergeſſen wohl, Julian, daß auch die that⸗
fräftigfien,, klügſten und anſtelligſten Sklaben ſich
häufig loskauften oder von ihren Herren freigelaiten
wurden? Im alten Rom ftieg der Freigelaſſene gan
ebenjo oft zu Macht und Anjehen empor, wie der
geborene Proletarier in Europa oder Amerifa ſich
über jeinen Stand erhob.”
Ich wußte nicht gleich, was ich dem Doktor hieran]
erwidern jollte, und da er meine Verlegenheit jah,
fuhr er fort: „ES iſt höchſt bezeichnend für bie ver:
ichiedenen Gefichtspunfte unfrer Jahrhunderte, dab
gerade die Möglichkeit, über feinen Stand empot-
zufommen — die übrigens zu Ihrer Zeit für den
Gleichheit.
Arbeiter faum noch vorhanden war — in unfern
Augen die ſcheußlichſte Seite Ihres ganzen Syſtems
it. Wenn man dem Lohnarbeiter oder überhaupt
dem Armen, um ihn mit feinem Los zu verjöhnen,
die Ausficht auf fein Emporlommen vorhielt, was
hieß denn das anders als ihm zu jagen: ‚Sei ein
guter Sflave, dann wirft aud) du eigne Sklaven haben!“
Durch diefen Köder lodte man die gejchidteren Lohn
orbeiter aus ihrem Kreife fort und heiligte den Verrat
an den Brüdern, indem man ihn Ehrgeiz nannte. Ein
chter Mann follte nur wünjchen, in die Höhe zu kom—
men, um andre mit fi) emporzuziehen.“
„Eins werden Sie mir doch wenigftens zugeftehen,“
jagte ih. „Beim Sklavenſyſtem Hatte der Herr Macht
über die Perſon der Sflaven, der Arbeitgeber konnte
aber jelbft gegen den ärmſten feiner Knechte feine
Gewalt üben.“
„Das ift auch wieder ein Punkt, der zu Gunften
der Sklaverei ſpricht und fie uns in einem menid-
liheren Lichte erfcheinen läßt als das Lohnſyſtem.
Denn bie und dba der Zorn den Sflavenhalter
übermannte und ihn jo weit fortriß, daß er feinem
Sklaven ein Glied lähmte oder ihn zum Krüppel
ihlug, jo waren doch ſolche Fälle jelten und wurden
von der Öffentlihen Meinung verdammt, wenn auch
nicht vom Gejeh. Aber unter dem Lohnſyſtem gab
es nichts, was den Fabrifheren nötigte, Leben und
Gliedmaßen feiner Arbeiter zu fchonen, Er fühlte
and feine PVerantwortlichkeit, weil die Bebürftigen
bereitwillig und fogar mit dem größten Eifer um
des Broterwerb3 willen die gefahrvollften und müh—
ieligiten Arbeiten übernahmen, Wir lejen, daß in
den Vereinigten Staaten alljährlich wenigſtens zwei—
malhunderttaujend Männer, Weiber und Finder im
Dienft der Induſtrie ums Leben kamen, nicht weniger
als vierzigtaufend allein im Cijenbahndienft. Wie
viele indirekt durch die ſchädlichen Wirkungen jchlechter
induftrieller Einrichtungen zu Grunde gegangen find,
bat man wohl niemals feitzuftellen verſucht. Bei
welchem Sklavenſyſtem ift jemals ein jolcher Maffen-
verluft von Menfchenleben zu verzeichnen geweſen?
„Noch mehr — wenn der Herr feinen Sklaven
ihlug, jo that er es im Zorn und vielleicht nicht
ganz ohne Urſache; aber das Hinſchlachten der Lohn
arbeiter gejchah bei kaltem Blut und aus feinem
andern Beweggrund von feiten der Sapitaliften,
welde die Verantwortung trugen, als um des Ge-
winnes willen.
„Als eine der empörendften Seiten der Sflaverei
hat man es ftet3 betrachtet, daß die Sklavinnen den
Lüften ihres Herrn millenlos preißgegeben waren.
Die ftand es aber in diefer Beziehung während ber
Hertſchaft der Reihen? Wir lefen von ganzen Scharen
von Meibern, bie zu jener Zeit, durch die Armut
gezwungen, als Buhldirnen ihren Unterhalt juchten.
Kus fremden Zungen. 1897. II. 18,
833
Mir lejen, daß ihre Zahl fi) in den großen Städten
auf dreißig bis vierzigtaufend belief. Ja dieſe
Mädchenopfer, weldhe die ärmeren Klaſſen der Wolluft
derer brachten, die dafür bezahlen fonnten, nahmen
ſolche Ausdehnung an, daß die grauenvolliten Be—
richte aus dem Altertum kaum ähnliche Scheußlich—
feiten aufweijen. Sage id) etwa zu viel, Julian?“
„Sie jprehen nur von Thatjachen, die mir mein
Lebenlang ins Angefiht geftarrt haben,” erwiderte
ich. „Doch ſcheint es, daß erft ein Mann aus einem
andern Jahrhundert fommen mußte, um mir Har
zu machen, was fie zu bedeuten hatten.“
„Weil Sie und Ihre Zeitgenoffen das alles immer
vor Augen jahen, war Ihnen die Fähigkeit abhanden
gelommen, ein Urteil darüber zu fällen. Diefe Dinge
lagen Ihnen zu nahe, Sie fonnten ſich feinen Ueber-
blid verſchaffen. Jetzt find Sie weit genug davon
entfernt, um fie Har zu erkennen und ihre Bedeutung
zu begreifen. Je länger Sie unfern heutigen Stand»
punkt einnehmen, um fo befjer werden Sie veritehen
lernen, daß das Empörendfte bei dem Zuftand der
Menſchen vor dem großen Umſturz nicht der phufifche
Mangel war, den fie leiden mußten, und bei bem
“ganze Mailen infolge der ungleihen Güterverteilung
wirklich Hungers ſtarben. Weit ſchlimmer noch war
es, daß durch die indirefte Wirkung dieſer Ungleich—
heit faſt das gejamte Menſchengeſchlecht in die ent-
würdigende Knechtichaft einer Minderzahl von Mit-
menjchen geriet. Uns erſcheint die alte Gejellichafts-
ordnung noch verderblicher für die Freiheit als für
das Leben. Selbit wenn fie im flande gewejen wäre,
allen das Dafeinsredht zu ſichern, indem fie ihnen
reichlich Unterhalt bot, jo hätte fie doch zerftört werben
müfjen. War doch die Freiheit ein Ding der Inmöglich-
feit, folange infolge der ungleichen Güterverteilung und
des Privatbejihes der Produftionsmittel, die Menſchen,
welche ihr tägliches Brot verdienen mußten, vom Be»
lieben ihrer Mitmenfchen abhingen.“
XIII.
Das Privatlapital, ein Diebſtahl am Rationalvermögen.
„Sch jehe, dak Edith diefe trodenen Nuseinander-
ſetzungen recht jatt hat,” fuhr der Doktor fort. „Sie
meint, e8 wäre längjt an der Zeit, daß wir vom ab»
ftraften Reichtum zum fonfreten übergingen, wie er
ſich im Inhalt Ihres Kaſſenſchrankes darftellt. Lange
will ich die Geſellſchaft auch nicht mehr aufhalten;
erlauben Sie mir nur noch ein paar Worte: Wir
haben bie Trage, melde Ihre zurüdzuerftattende
Million betrifft, zwar nur im Scherz aufgeworfen,
aber fie fteht in jo genauem Zufammenhang mit dem
Haupt» und Grundprinzip unjrer Geſellſchaftsordnung,
daß ich Ihnen mwenigftend eine oberflähliche dee
von der heutigen Anschauung über Die Güterverteilung
geben möchte.
105
834
„Der Hauptunterfchted zwijchen dem neuen und
dem alten Gefichtspunft ift Ihnen jet ganz geläufig.
Die alte Moral betrachtete die Frage, was ein Menſch
rechtmäßig befiken dürfe, jo, als wäre ihr Anfang
und Ende das Verhältnis des Individuums zu den
Saden. Sachen haben einem vernünftigen Weſen
gegenüber feine Rechte, und daher ftand auch bem
Individuum nichts im Wege, wenn es fi zum
unbeichränkten Befiger aller Dinge machte, die ihm
erreichbar waren. Aber diefe Anſchauung ließ eines
vollftändig unbeadhtet: die folgen, welche aus einer
ungleidyen Verteilung der materiellen Güter entftehen
müſſen in einer Welt, in der das Leben jelbft und
jeder Lebenszweck eines Menſchen von feinem Anteil
an diefen Gütern ganz unzertrennlich ift. Das heißt
nichts anderes ald: Die alte jogenannte Moral
wußte nichts von der moraliichen Seite der Güter-
verteilung — von ihrer Wirkung auf die Beziehungen
der Menichen zu einander. Und gerade dieje Er—
wägungen find ed, auf denen unfre heutige Eigen-
tumsmoral beruht. Alle Menjchen haben von Natur
den gleihen Wert und die gleihen Rechte; daraus
folgt, daß fein Syſtem der Güterverteilung eine
Berechtigung hat, welches dieſe Gleichheit nicht be=
rüdfihtigt und ficher ftelt. Man wird Ihnen ge
wöhnlich diefes Prinzip ala Grundlage unfrer wirt
ſchafllichen Gleichheit nennen, aber wir haben nod
andre Gründe, die genügend beweifen würden, daß
die gleiche Verteilung der induftriellen Erzeugnifie
das einzig Richtige und alles andre Diebitahl ift.
„Der Hauptfaltor bei der Gewinnung von Geld
und Gut ift jetzt unter zivilifierten Böllern die Ge:
noſſenſchaſt, der Mechanismus gemeinjchaftlicher Arbeit
und eines Austauſches, bei dem hundert Millionen
Individuen für die Nachfrage nad) ihren Produkten
forgen und fi) durch ihre Arbeit jo ergänzen, daß |
das Hervorbringungd und Verteilungsſyſtem einer |
Nation, ja der ganzen Welt, ein großer Mechanis-
mus if. Das bewährte ſich ſchon zur Zeit des
Privatlapitals, troß der großen Kraftverſchwendung
und den Reibungen, welche die damaligen Methoden
mit fi brachten. Heutzutage, nun der genojjen-
ſchaftliche Mechanismus fih volllommen glatt ab»
wickelt und jedes Gramm Energie aufs befte verwertet
wird, tritt dieje Wahrheit noch viel deutlicher zu Tage.
Man erfieht leicht, wie viel die Juduſtrie der genofien«
Ichaftlihen Organifation zu verdanfen hat, wenn
man den Mert deifen, was ein Arbeiter in Verbindung
mit vielen andern produzieren fann, mit dem ver—
gleicht, was er vereinzelt leiften fünnte, Wenn er
mit feinen Gefährten zujammen arbeitet, Tann er
und fünnen fie, mit Hilfe der genoſſenſchaftlichen
Organiſation, genug hervorbringen, um der ganzen
Gejellihaft den größten Mohlftand und alle edeln
Lebensgenüſſe zu verichaffen. Arbeitet er aber ver—
höchſtens einen Pierteldollar verdienen.
Edward Bellamy.
einzelt, dann darf er — wie die Erfahrung zeigt —
von Glüd fagen, wenn er fich ſelbſt motdürftig er:
halten Tann. Ich glaube, man hat berechnet, daß
bei uns in Amerifa der durchſchnittliche Erwerb eine:
Arbeiters täglich fünfzig Dollars beträgt; wenn der-
jelbe Mann für ſich allein arbeitete, würde er gewiß
Nun jagen
Sie mir einmal, Julian, wen gehört die genofien-
Ihaftliche Organifation, diefer große Mecdaniämu:
menjchlicher Zujammenarbeit, weldyer die Produktions:
fähigfeit der Menſchen mehr als zweihundertmal
vergrößert?“
„Difenbar fann er feinem einzelnen angehören,‘
erwiderte ih, „sondern muß im gemeinſchaftlichen
Beſitz der ganzen menſchlichen Gejellichaft jein, Sie
allein hat ein Recht auf die Erbichaft, melde un
Verftand und Erfindungsgeift hinterlaſſen haben,
und fie allein kann für den unausgeſetzten, täglichen
Wettbewerb forgen, der es möglid) macht, die Erb
ſchaft zu verwerten.“
„Ganz recht. Die genoſſenſchaftliche Organifation,
mit allem was fie giebt und was fie möglid madt,
ift der gemeinſchaftliche, unteilbare Beſitz aller. Wen
gehört alfo von Rechts wegen jener zweihundertfade
Gewinn, der, dank der genoſſenſchaftlichen Organi-
jation, die den Wert der Arbeit jedes einzelnen erhößt,
uns zu gute fommt?”
„Natürlich der ganzen Gejellihaft gemeinfam —
dem Nationalſchatz,“ antwortete id.
„Bor dem großen Umſturz,“ fuhr der Dolter
fort, „hatte man wohl eine unbeftimmte Vorftelung
von einem ſolchen Nationalſchatz, welcher der Geltl:
ſchaft gemeinfam gehörte; aber man machte ſich dot
feinen Begriff von feiner Größe. Niemand war ihm
zum Hüter beftellt und niemand forgte dafür, daß
er eingefordert und zum allgemeinen Bejten verwendet
wurde, Erjt mußte die Induſtrie organifiert, ein
nationales Wirtſchaftsſyſtem aufgeftellt werden, che
der Nationalſchatz geihüßt und richtig verwaltet
werden konnte. Bis dahin diente er allen zum Raube
und wurde beruntreut und vergeudet. Abenteurer
bemädhtigten fi der Staatsmaſchine und bereicerien
ſich durch die Abgaben des Volkes, ftatt daß der
Mehaniämus des Staates das Wolf bereichert hätte,
Wenn man die Folgen des Umſturzes bejchreiben
wollte, fönnte man jagen: Das ganze Bolt nahm
Beſitz von dem fozialen Mechanismus, der immer
jein Eigentum gewejen war. Fortan follte er ein
Baum fein, deſſen Früchte zu gleichen Zeilen von
den rechtmäßigen Befigern geerntet würden und nid!
von Räubern.
„Sie verftehen gewiß," fuhr ber Doftor nad
einer Weile fort, „wie diefe Art der Produftion dazu
führen muß, die Bedeutung der individuellen Tüd-
tigleit des Arbeiters zu verringern. Wenn ein Mann
Gleichheit.
heutzutage mit Hilfe des ſozialen Mechanismus
Produkte im Mert von fünfzig Dollars liefern fann-
während er ohne Genoſſenſchaftsorganiſation nur für
einen Vierteldollar produzieren würde, jo geht daraus |
bervor, dab jedesmal von fünfzig Dollars neununde
vierzig dreiviertel Dollars dem allgemeinen Fonds,
zu gleihmäßiger Berteilung, gutgejchrieben werden
müſſen. Die induftrielle Tüchtigkeit von zwei Männern,
die außerhalb der Genoſſenſchaft arbeiteten, mag ji
verhalten haben wie zwei zu eins — das heißt,
während der eine täglich für einen Viertelbollar produ⸗
zierte, konnte der andre nur für zwölf und einen
halben Gent produzieren. Daß war unter den da»
maligen Berhältnifien ein großer Unterjchied, aber
zwölf und ein halber Gent ift ein jo Feiner Teil von
fünfzig Dollars, daß er faum der Erwähnung lohnt.
Verfichen Sie mich recht: der Unterſchied in der
perfönliden Tüchtigfeit der beiden Männer blieb ganz
derielbe, er hatte aber faft feine Bedeutung mehr,
wegen des außerordentlich großen Zuwachſes, den
die Produftionäkraft beider durch die ſoziale Organi-
jation erhielt. Oder, nehmen wir ein andres Beiſpiel:
Ehe das Sciebpulver erfunden wurde, Tonnte es
vorfommen, dab ein Mann im Kampfe jo viel wert
war wie zwei. Auch ſpäter blieb der Unterſchied
wwiſchen den Individuen beftehen, aber ein erbrüdender
Faktor, die Feuerwaffe, machte fie in Wirklichkeit
alle gleih. Bei Feuerwaffen fällt mir noch ein
beſſeres Beijpiel ein: Zwiſchen der Wehrkraft der
einzelnen Soldaten außerhalb der Linie ift gewiß
ein großer Unterſchied; aber wenn fie in Reih' und
Glied find, verleiht die Angriffsftelung ihnen fo viel
größere Kraft, daß die Verſchiedenheit der Individuen
vollftändig verichwindet. Nehmen Sie an, daß diefe
Formation zu der Wehrkrajt jedes Soldaten zehn
binzufügt; dann würde der Mann, welder außerhalb
der Linie fich zu jeinem Kameraden verhält wie zwei
zu eins, jobald beide in Reih' und Glied ftehen, fich
zu ihm verhalten wie zwölf zu elf — ein unbebeutender
Unterichied.
„sh brauche Ihnen kaum zu fagen, Julian,
welche Bedeutung das Prinzip des Nationalichabes
für die wirtichaftliche Gleichheit hatte, al$ das In—
duſtrieſyſtem verftaatlicht wurde. Aus diefem Prinzip
ging Mar hervor, daß es der Mühe nicht lohnen
würde, die verſchiedenen Leiftungen und Anjprüce
an das Gejamtvermögen abzuſchähen, auch wenn es
möglich wäre, fie annähernd richtig zu berechnen,
Selbit der hervorragend begabte Arbeiter, der am meijten
dabei gewinnen fonnte, würde noch mehr verloren
haben, wenn er auf die gefteigerte Leiftungsfraft des
Wirtihaftsmehanismus verzichtet hätte, der auf dem
Gefühl der Solidarität unddes Gemeinfinns beruht und
aus dem Bewußtjein einer volllommenen Gemeinfam-
teit der Intereſſen aller Arbeiter entjprungen iſt.“
8335
„Doktor,“ rief ih aus, „diefer Nationaljchat
gefällt mir ausgezeichnet, Nun verjiche ich unter
anderm auch, wie e8 möglich geweſen ift, mit dem
Lohnbegriif jo vollftändig aufzuräumen, ber doch zu
meiner Zeit in diefer oder jener Form die ganze
Wirtſchaftslehre beherrichte. Ihr jeid gewöhnt, dag
Gejamtvermögen als die Duelle eures Reichtums
anzufehen, und nicht eure eigne tägliche Anftrengung.
Ihr jeid aus Proletariern Kapitaliften geworden!“
„Gewiß, die große Ummälzung bat uns alle zu
Rapitaliflen gemacht,“ fagte der Doltor, „und die
Dividende ift an Stelle der Bejoldung getreten.
Unfer Lohn ift allein die Ehre. Bon unjerm Stand»
punft aus, der annimmt, daß der wirtſchaftliche
Mechanismus allen gemeinfam gehört, und daß die
ganze Gejellihaft ein gleiches Anrecht an feine Pro-
dufte hat, nimmt es fich beinahe fomijch aus, wie
Ihre Zeitgenoffen fich ftritten und abmühten, um
genau herausjubelonmen, wie viel oder wie wenig
Lohn dieſes oder jenes Individuum und dieje oder
jene Gruppe verdiente. Glauben Sie mir, lieber
Julian, wenn der gejchidtefte Arbeiter auf feine
eignen Produkte angetwiefen wäre und auf jede Ge—
noſſenſchaft verzichtete, würde er nicht mehr zu ver-
jehren haben, als ein halbverhungerter Wilder, Bei
uns hat jeder nicht nur ein Anrecht auf jeine eignen
Produlte, fondern auf jehr viel mehr — nämlich
auf feinen Anteil an der Gefamtproduftion; aber er
bat dies Anrecht nit nah dem Raubſyſtem, das
bei euch galt und durch welches einige zu Millionären
und andre zu Sklaven wurden, jondern unter den»
jelben Bedingungen wie alle feine Mitfapitaliften.*
„Dan hat aud zu meiner Zeit ſchon davon ge=
iprochen, daß das Privateigentum durch die ſoziale
Organifation eine nicht erworbene Vergrößerung
erhält,” ſagte ich, „aber ſoviel ich mich erinnere, be»
zog ſich das nur auf Grundbeſitz. Es gab Reforma—
toren, die behaupteten, die Geſellſchaft hätte das Recht,
fich durch Befteuerung den erhöhten Wert von Grund
und Boden anzueignen, der durch joziale Faktoren,
wie Zunahme der Bevölferung und der Kultur ent»
ftanden fei. Aber damals jchien man zu meinen,
der Grundjaß ließe fi nur auf Landbefig anwenden.“
„sa,“ jagte der Doktor, „und es ift jonderbar,
daß fie nicht weiter gingen, da fie den Schlüfjel zu
dem Syftem jchon in der Hand hielten.“
XIV.
Wir jehen meine Sammlung von Geſchirren an.
Man hatte elektriiche Drähte zur Beleuchtung und
Heizung in das Gewölbe gelegt, jo da der Raum
ebenjo warm und behaglih war wie vor Hundert
Jahren, als ich noch darin ſchlief. Ich fniete vor
dem Rafjenjchranfe und fing glei; an, die Stellicheibe
836
zu dreben, während meine Gefährten fi in großer
Spannung über mich beugten.
Hundert Jahre waren vergangen, jeit ich den
Schrank zum lehtenmal geſchloſſen hatte, und unter
gewöhnlichen Umftänden hätte ich in dieſer Zeit die
Stellung des Schlofjeß zwei oder dreimal wieder ver=
geſſen können; aber alles war mir jo deutlich im
Gedächtnis geblieben, als wenn ich fie erit vor vier-
zehn Tagen felbft erdacht hätte. Für mein Bewußtſein
war ja auch jeitdem fein längerer Zeitraum verftrichen,
„Sie ſehen,“ ſagte ih, „daß ich diefe Scheibe jo
lange drehe, bis der Buchſtabe K dem Buchſtaben R
gegenüberfteht. Dann drehe ich die andre Scheibe,
bis die Zahl 9 diefelbe Richtung hat. Seht ift der
Schrank offen; ich brauche nur noch an diefem Knopf
zu drehen, der die Riegel zurüdichiebt, und die Thür
geht auf, wie Sie jehen.”
Sie fahen aber für den Augenblid nichts, denn
ber Knopf ließ fi) nicht drehen, das Schloß ſprang
nicht auf, und doch wußte ich beſtimmt, daß ich die
Zeichen richtig geftellt Hatte. Vielleicht war einer der
Hemmbolzen nicht herabgefallen. Vergebens verjuchte
ih immer wieder, die Stellſcheibe zu drehen; ich
ſchlug darauf und jchlug auf die Thür — das Schloß
wollte nicht nachgeben. Offenbar hatte es ein jchlechteres
Gedächtnis als ich und erinnerte ſich nicht mehr, wie
es aufging; oder, was wahrjcheinlicher war, das Del
hatte ſich mit der Zeit jo verhärtet, daß es ein
Hindernis bildete. Berroftet fonnte das Schloß nicht
fein, denn die Luft im Gewölbe war ja vollfommen
troden — ſonſt hätte ich doch nicht am Leben bleiben
fünnen.
„Es thut mir leid, daß ich Ihre Erwartungen
nicht erfüllen kann,” ſagte ih. „Wir werden wohl
in die SHauptniederlage von Kaflenjchränfen nad)
einem Schloſſer hidden müljen. Jch weiß noch genau,
in welcher Straße fie früher war, aber feitdem wird
das Gejchäft wohl umgezogen fein.“
„Es ift nicht nur umgezogen,” ſagte ber Doktor,
„londern ganz verichwunden. Im hiſtoriſchen Muſeum
giebt es Schränke wie diefen; aber ich habe nie ge=
wußt, wie man fie öffnet. Die Erfindung ift wirklich
Schr ſinnreich.“
„Und Sie meinen im Ernft, daß es jeht feinen
Schloſſer mehr giebt, der diefen Schranf aufmachen
könnte ?*
„Jeder Maſchinenbauer fann den Stahl zer-
Ichneiden wie Pappe,” erwiderte der Doltor, „aber
ich glaube faum, dab e8 auf der Welt noch einen
Menichen giebt, der das Schloß regelredht öffnen
fünnte. Es giebt natürlich auch bei uns einfache
Schlöſſer, damit Kinder nicht Unheil anrichten, und
man für ſich fein fann; aber feine, die darauf be—
rechnet find, vor Arglift oder Gewalt zu fchüßen.
Die Kunſtſchloſſerei it ausgeſtorben.“
Edward Bellamp.
Edith, die vor Ungebuld brannte, den Schrant
offen zu ſehen, rief jetzt dazwiſchen: „Wenn das
zwangzigite Jahrhundert unfähig ift, ein Nätiel zu
löjen, das jedem geichidten Einbrecher des neunzehnten
eine Kleinigkeit war, dann jollte es ſich ſchämen!“
„Vom Standpunft einer ungeduldigen jungen
Dame aus mag das richtig fein,“ fagte der Doktor.
„Uber wir dürfen nicht vergefien, daß Kunſtfertig⸗
feiten, die nicht mehr geübt werden, oft Denkmäler
des menjchlichen Fortſchritts find, weil fie ſich auf
vergangene Beichränfungen und Bedürfniſſe beziehen.
Wir haben feine Schloſſer mehr, weil es Teine Die
giebt. Der arme Julian mußte e8 ſich ſauer werden
lafien, feine Papiere in dem Schranf ficher zu ver-
wahren, denn wenn fie verloren gingen, war er ein
Bettler. Statt Herr über viele zu fein, gehörte er
dann zur Dienerſchar der wenigen, und vielleiht
wäre er jelbft zum Einbrecher geworden. Kein Wunder,
daß damals die Schloifer viele Arbeit hatten. Aber,
wer braucht fie bei uns? Geſetzt auch, daß ein Menſch,
der einer Gemeinjchaft angehört, in der alle ſich dei
gleichen Wohljtandes erfreuen, dennoch Luft hätte,
fremdes Gut an ſich zu bringen — wo findet er
etwas, das er ftehlen könnte, um es zu verlaufen?
Unfer Reichtum befteht nur darin, daß und ein
Anteil am Kapital und der Einnahme der ganzen
Nation garantiert if. Die Garantie bezieht hd
auf unjre Perfon und kann ums nicht weggenommen
und verkauft werden; denn jeder wird mit diefem
Unrecht geboren, und nur der Tod fann es ihm
rauben, Sie jehen aljo, daß Kaſſenſchrankfabrilanten
und Schlofjer für uns ſehr unnüße Leute wären.“
Während wir jprachen, hatte ich immer men
Verſuche mit der Scheibe angejtellt in der Hoffnung,
das widerjpenftige Schloß doch nod) zum Gehorfam
zu zwingen. Da wurden meine Bemühungen plöß
fi) duch ein leiſes Knarren belohnt — die Thür
ging auf,
„Pfui!“ rief Edith, als die eingefchlofjene dumpfe
Luft herausſtrömte. „Deine Mitmenjhen thun mir
leid, wenn fie das einatmen mußten !*
„Jedenfalls ift es wohl der einzige Reſt von
ſolcher Luft, der noch übrig iſt,“ bemerkte der Doltor.
„Du meine Güte!“ rief Frau Leete, „das ift ja
innen ein lächerlich Heiner Raften gegen die anſpruchs-
volle Außenfeite!*
„Ia," jagte ih. „Die diden Wände mußten
nit nur vor Einbrechern jhüken, jondern auch vor
Teuer — und übrigens jollte ich meinen, daß feuer:
jejte Schränfe jegt noch ebenfo nötig find wie früher.‘
„Es giebt ja feine Feuersbrünſte mehr, außer in
ganz alten Gebäuden. Das Volk kann ſich dielen
Lurxus nicht mehr geftatten, ſeitdem es gemeinschaftlich
baut; denn jede Zerflörung von Eigentum bedeutet
einen Verluft für die ganze Nation. Unter der
Gleichheit.
Herrichaft des Privatfapitals konnte man den Verluft
in mancherlei Weije auf andre Schultern jchieben. Die
Feuerverfiherung mußte ihn tragen — jetzt verfichert
ich die Nation jelber.”
Ich öffnete die-innere Thür des Schranfes, nahm
mehrere Schubladen heraus, die mit Hypothelen und
andern Wertpapieren gefüllt waren, und leerte fie
alle auf den Tiſch aus,
„It das dein Reichtum? Diefe umanfehnlicen
Papiere?” fragte Edith, offenbar jehr enttäujcht.
„Richt die Papiere jelbft, aber was fie darftellten,“
ſagte id.
„Und was war denn das?“ fragte jie.
„Der Befit von Land, Häufern, Mühlen, Schiffen,
Eifenbaßnen und allerhand andern Dingen,“ erwiderte
ih und verfuchte nach beiten Kräften, ihr und ihrer
Diutter die Bedeutung von Renten, Zinjen, Gewinn«
anteilen und Dividenden zu erklären, aber ihre Ge—
fihter jahen jo verfländnislos aus, dab ih am Er-
folg meiner Bemühungen zweifelte.
Der Doktor hatte die Papiere inzwifchen mit dem
Eifer eines Altertumforfchers fiubiert; jetzt blidte er
auf und ſagte lachend:
„I fürchte, Julian, Sie find auf falſchem Wege.
Schen Sie, bei der Vollswirtſchaft Ihres Jahr—
hunderts handelte es ſich um Sachen, jeht handelt es
ſich um lebendige Wefen. Es giebt nichts, was euren
Renten, Zinſen und andern finnreichen finanziellen
Erfindungen entipräche; dieje Wörter haben nur
noch für Sprachforſcher eine Bedeutung. Wenn Sie
wollen, daß meine Frau und Edith Sie verftehen,
müfen Sie jene Wertbezeihnungen fo überjegen, daf
fie ih auf Männer, rauen, Kinder und ihr
Verhältnis zu einander beziehen. Würden Sie es |
übel nehmen, wenn id) verjuchte, den beiden Die
Sache etwas klarer zu machen?“
„sh würbe Ihnen großen Dank wiſſen,“ ant«
wortete ih. „Vielleicht geht mir dann auch ein Licht
darüber auf.”
„Bir werden alle die Beihaffenheit und den
Bert diefer Dokumente weit beijer verſtehen,“ fagte
der Doktor, „wenn wir nicht von Nechtätiteln auf |
Güter, Fabrifen, Bergwerte, Eijenbahnen und fo |
weiter ſprechen, ſondern einfad) jagen, daß die Bes |
Über diefer Titel ein Necht auf gewille Gruppen von |
Männern, Frauen und Kindern hatten, die an den
verichiedenen Orten Iebten. Dem Namen nad) er»
Närten dieſe Titel, wie Julian bemerkt hat, nur fein
Anteht auf Sahen; fie erwähnten gar nichts von
den Männern und frauen. Die Menjchen gehörten
jedod zu den Gütern, den Majchinen und verjchie-
denen andern Dingen ; ihre Lebensbebürfnifle feffelten |
fie an diefe Sachen, und erft durd) ihre Arbeit bes
famen diejelben einen Wert.”
„Hätte ed nicht — wie aud) ftilljchweigend an—
837
genommen wurde — Menfchen gegeben, die bereit
waren, für den Befifer zu arbeiten, nur um im
Lande wohnen zu dürfen, jo wären dieſe Urfunden
und Hypotheken gänzlich wertlos geweſen. Ebenjo
ift es mit den Fabrikaltien; man dachte dabei nur
an Waſſerkraft und Maſchinen, und fie hätten doch
feinen Wert gehabt, wenn nicht Taujende von Men—⸗
ſchen durch ihre Lebensbebürfniffe jo unlöslich mit
diejen Majchinen verbunden gewefen wären, ala hätte
' man fie feftgeichmiedet. Und die Bergwerlsattien ?
Wären nit Scharen von Unglüdlichen durch den
Mangel dazu verdammt worden, ſich lebendig be»
graben zu laſſen, jo hätten diefe Papiere nicht den
geringften Wert gehabt; aber jene Armen find frei-
lic nicht darin erwähnt, Daß man es nicht für
nötig Hielt, die Arbeiter im Feld, am MWebftuhl und
in den Bergwerfen aufjuzählen und bei Namen zu
nennen, iſt an und für ſich ſchon jehr bezeichnen.
Zur Zeit der Sklaverei hatte jeder Schwarze einen
Namen und feine befonderen Kennzeichen, damit man
ihn zurüdbelommen konnte, wenn er entflohen wäre,
und die Größe des Verluftes fich feftjtellen ließ, wenn
er ſtarb. Nber bei den Sklaven, die dem Befiger
biefer Urkunden gehörten, war feine Gefahr, daß fie
durch Flucht oder Tod verloren gingen, Sie flohen
nicht, weil es für fie nichts Beſſeres auf Erden gab,
| und weil fie dem Syſtem, das fie zur Fronarbeit
verdammte, doch nicht entgehen konnten, denn es um—
Ipannte die ganze Welt. Und wenn jie jtarben, hatte
der Beſitzer feinen Verluſt; es gab ja viele andre,
die mit Freuden an ihre Stelle traten. Wie unnüh
wäre e& gemwejen, fie näher zu bezeichnen,
„Heute morgen am Frühftüdstiich," fuhr der
Doktor fort, „habe id auseinandergeiekt, daß
man heutzutage das Wirtſchaftsſyſtem des Privat-
lapitalismus — der die Hauptmaſſe aller Erzeugniffe
und die Erwerbäthätigfeit der ganzen Welt mono»
polifiert — als eine Knechtung des Volles anfieht,
das durch den Drud der Not gezwungen wird, fi
unter da& Joch der befigenden Klaſſe zu beugen, die
| durch Polizei und Soldaten ausreichend gejchüßt ift.
Nun fommen mir diefe Dokumente gerade recht, um
Ihnen zu erklären, auf wie geichidte Weife die vers
ſchiedenen Arbeitergruppen zum Dienft der Kapita—
liften organifiert waren. Dan fann, wenn ich jo
jagen darf, jedes dieſer Wertpapiere als ein Joch
betradhten, mit deſſen Hilfe das Voll, von der Not
gebändigt und gezähmt, an den Wagen der Kapita—
liften geipannt wurde,
„Zum Beiipiel finde ich hier ein Paket Pfand-
verjchreibungen auf Güter in Kanſas. Nun wohl —
mit Rüdjicht auf diefe Urkunden haben eine Anzahl
| Pächter dort unausgefeht für den Beſitzer derjelben
‚ gearbeitet. Bielleicht Haben weder fie ihn jemals
geſehen noch er fie, und troßdem waren dieſe Pächter
838
fo gewiß und wahrhaflig feine Leibeignen, als wenn
er mit der Peitjche neben ihnen geftanden hätte, ftatt
in feinem Zimmer in Bofton, New Mork oder London
zu ſihen. An ein ſolches Pfandjoch pflegte man die
aderbauende Bevölferung anzuichirren. Gegen Ende
des neunzehnten Jahrhunderts trugen es faſt alle
Heinen Pächter des Weſtens. Nicht wahr, Julian?
Sagen Sie, ob ich unrecht habe?“
„Alles verhielt ſich genau ſo,“ antwortete ich.
„Seht fange ich an zu begreifen, wie es mit meinem
Reichtum beichaffen war.“
„Nun wollen wir das andre Paket anichen,”
fuhr der Doktor fort. „Ad jo! das find Aftien von
Baummollipinnereien in NeusEngland. Dieje Art
Joch wurde hauptfählih von Frauen und Rindern
getragen. &3 gab Joche von jo verjchiedener Größe,
daß ſelbſt Knaben und Mädchen von elf und zwölf
Jahren hineinpakten. Man pflegte zu fagen, daß
nur durd die fait foftenloje Arbeit der Kinder ein
Reingewinn in diefen Spinnereien erzielt wurde, der
fie zu einem einträglichen Beſitz machte. Ein großer
Teil der Bevöllerung von Neu-England wurde in
zartem Kindesalter unter dies Joch gezwungen,
„Bier haben wir eine etwas andre Art Papiere:
Eifenbahn-, Gas- und Wafjerleitungsaltien. Das
war ein allgemeines Joch, durd das nicht eine bes
fondere Klaſſe von Arbeitern, jondern ganze Gemein«
den vor den Wagen des Eigentümers geipannt wur»
den, und ihm Knechtsdienſte leiften mußten.
„Und hier haben wir endlich das allerjchwerfte
Joh): die Staaisichuldenverfhreibungen. Durd das
Dolument, welches ich in der Hand halte, wurden
fiebzig Millionen Menfchen an die Kutfche des Be—
fißers dieſer Schuldverichreibungen gefeilelt und, was
das Schlimmfte war, die Regierung jelbjt war bier
der Kutſcher und jedes Aufbäumen gefährlid. In
den andern Geſchirren wurde ſehr viel geſtampft und
hinten ausgefchlagen, jo daß die Kapitalilten oft
Unbequemlichfeiten hatten und zeitweije die Arbeit
der Menſchen entbehren mußten, die fie doch gekauft
und mit gutem Gelde bezahlt hatten. Daher ſtan—
den dem auch die Staatäjchuldverichreibungen bei
ihnen ſehr hoch im Preije, und fie verfuchten auf
jede mögliche Art die verjchiedenen Regierungen da—
hin zu bringen, daß fie dem Volfe immer mehr von
diejen drüdenden Laften auf den Naden legten. Die |
Regierungen wurden vom den Agenten der Kapita—
liften unterftüßt, deshalb thaten fie ihnen den Willen,
und jo wurde es immer jchlimmer, bis zum Vor—
abend des großen Umſturzes, der alle dieje Altien
und Schuldverichreibungen in Makulatur verwandelte.“
„AS Vertreter des neunzehnten Jahrhunderts,“
bemerfte ih, „muß ich geliehen, dab Ihre, allerdings
jehr abſchredende Schilderung unjerd Syſtems der
Kapitalanlage im ganzen richtig ift. Aber Sie wer«
Edward Bellamyp.
den zugeben, dab, wie ſchlecht es aud war und wie
hart das 208 der großen Menge fich unter dieſen
Syſtem geftaltete, die Kapitaliften der Welt doch
einen großen Dienft geleiftet haben. ft nicht die
Organilation und Oberleitung unjrer ganzen In
duftrie ihr Merk?”
„Gewiß, gewiß,“ erwiderte ber Doktor. „Dieier
Einwurf wird immer wieder bei der Verteidigung
jedes Syſtems gemacht, das die Menjchen zu Knechten
ihrer Mitmenſchen erniedrigt. Es wurde dabei
immer von einem wertvollen und wunentbehrlicen
Dienft geredet, den die Unterdrüder als Grund und
Entſchuldigung für die Frondienſte angaben, bie fie
bon andern verlangten. Als bie Menfchen kiüger
wurden, ſahen fie, daß fie einen Wucherpreis für
diefe Leiftungen bezahlten. Sie ſagten zuerit zu den
Königen: ‚Ihr helft uns wohl, den Staat vor fren-
den Eindringlingen zu jhüßen, und laßt die Diebe
hängen; aber wenn ihr und zu euern Sklaven mat,
zahlen wir euch zu viel. Wir wollen es bejler haben.‘
Und fie gründeten Republifen, Ebenſo ſagte das
Volk zu den Prieftern: ‚Ihr habt wohl etwas für uns
gethan, aber eure Hilfe ift zu teuer bezahlt, wenn ih
unjern Geift in Feſſeln jchlagt; das können wir nit
dulden.‘ Und jo entitand die religiöje Freiheit.
„Sn dem Fall, von dem wir vorhin jpraden,
jagte das Wolf jchliehlich zu den Kapitaliften: ‚Is,
es ift wahr, ihr habt die Induſtrie organifiert, aber
wir jind dabei eure Knechte geworben; wir fünnen
es beſſer haben" Sie feßten eine nationale Genoſſen⸗
ſchaft an Stelle des Kapitalismus und gründeten
die induftrielle Republif, die auf wirtichaftliger
Gleichheit beruht. Wenn es wahr wäre, Julian,
daß irgend eine Wohlthat, mag fie noch jo groß fein,
den Mohlthäter berechtigt, diejenigen, welche fie oe
nießen, zu Leibeigenen zu machen, dann hätte die
Sklaverei und jede Art von Gewaltberrihaft ihn
Entihuldigung gehabt.”
„sKannft du uns denn gar fein wirkliches Gel
zeigen?“ fagte Edith. „Nichts als dieſe Papiere!
Haft du nicht richtiges Gold oder Sifber, wie id «
im Muſeum gejehen habe?”
Im neunzehnten Jahrhundert pflegten die Yeuie
feinen großen Vorrat von barem Gelde im Hauſt
zu haben, Für alle Fülle hatte ich aber dod eine
Heine Summe in meinem Kafjenichrant, und alt
Antwort auf Edith Frage zog ich eine Schublade
heraus, die mehrere hundert Dollars in Gold ent.
bielt, und jchüttete den Inhalt auf den Tiſch.
„Wie hübſch das ausſieht,“ ſagte Edith, indem
fie mit den Händen in dem Haufen goldener Münzen
wühlte und jie aneinander Mlingen ließ. „JA c
denn wirflid wahr, daß den Leuten, die recht viele
von diefen Goloftüden hatten, Männer und Frauen
unterthan waren? Konnten fie mit ihnen maden,
Gleichheit.
was fie wollten, und fragte niemand danach, woher
ihe Reichtum kam ?*
„Iene Männer und Frauen ließen nicht nur alles
mit ſich machen, nein, fie waren noch dankbar dafür,
das man ihnen Arbeit gab, ftatt andern Leuten. Die
Armen riſſen fi darum, Knechte und Mägde derer
zu werden, die Geld hatten.”
„Nun verjtehe ih, was die Herren des Brotes'
für einen Sinn hatten,“ jagte Edith.
„Was bedeutet der Name ‚Herr des Brotes?*
fragte ih. „Wer find dieſe Herren?“
„Das war ein Name, den man in der Uebergangs—
zeit den Kapitaliften beilegte,” erwiderte der Doktor.
‚Edith ſpricht von einer Schrift, die Damals erjchien,
als dem Volfe darüber die Augen aufgingen, daß die
große Menge zur Sklaverei verurteilt war, durch ein
ſlaſſenmonopol auf die Mittel der Gütererzeugung.”
„Dielleiht erinnere ich mich noch an den Worte
laut,“ jagte Edith. „Der Anfang ift jo: ‚Ueberall
handen Männer, Frauen und Finder auf dem Marfte
und flehten die Herren des Brotes an, fie zu ihren
Ancchten zu machen, damit fie nicht Hunger leiden
müßten. Die ftarfen Männer fagten: O, ihr edein
Derren des Brotes, befühlt unjre Diusteln und Sehnen,
jeht, wie ftarf wir find. Wir wollen euch dienen;
wir wollen für euch baden und graben. Wir wollen
in eure Bergwerle friechen und die Kohlen heraus«
holen. Wir wollen auf dem Vorderkaſlell eurer
Schiffe hungern und frieren. Schidt uns in bie
Hölle des Heizlochs auf euern Dampfern hinunter,
!hut, was ihr wollt mit uns, aber erlaubt, daß wir
euch dienen, damit wir zu eſſen haben und nicht
fierben müfjen !
„Dann famen auch Die gebildeten Männer,
Schriftiteller und Advolaten, die mit dem Kopfe und
nicht mit den Händen arbeiten, und riefen: O, ihr
Herren des Brotes, nehmt uns zu euern Dienern;
wir wollen euern Willen thun. Seht, wie jcharf
unſer Wig ift und wie groß unfre Kenntniffe. In
unferm Gehirn find Schäge der Gelehriamkeit ver-
wahrt und die Spibfindigfeiten aller Philoſophen.
Uns ift ein jchärferer Verftand verliehen ala der
Menge, und wir befifen die Gewalt der Rede, denn
wir waren zu führern des Volls beflimmt, wir jollten
für die Blinden fehen und den Stimmen unfre
Sprache leihen. Aber das Volk, dem wir dienen
ſollten, giebt uns fein Brot. Gebt und Brot, ihr
Herren des Brote, dann wollen wir das Volk an
euch verraten, denn wir müſſen leben. Wir wollen
in den Gerichtshöfen gegen die Witwen und Mailen
für euch ſprechen. Wir wollen euch in Wort und
Schrift loben und preifen und mit argliftiger Rede
die zu Schanden maden, welche gegen eure Macht
und Herrlichkeit Einſpruch thun. Nichts, was ihr
verlangt, joll uns zu ſchwer fein; aber weil wir euch
839
nicht nur den Leib, ſondern auch die Seele verkaufen,
jo gebt und mehr Brot als denen, die euch nur mit
dem Körper dienen.
„Und wenn die Herren des Brotes über den
Markt gingen, riefen auch die Priefter und Leviten
hinter ihnen her: Nehmt ums zu euern Dienern, die
alles thun, was ihr wollt, denn wir müffen zu eſſen
haben, und euch allein gehört das Brot. Wir find
Hüter der heiligen Offenbarungen, die Menjchen
hören auf uns und mwideriprechen nicht, denn unfre
Stimme ift ihnen wie die Stimme Gottet. Aber
wir brauchen auch Brot, um zu leben wie alle andern.
Gebt und viel von euerm Brot, dann wollen wir
das Volk ermahnen, daß es ftille ift, und feine Klagen
eure Ruhe nicht flören. Im Namen Gottes des
Vaters wollen wir den Menſchen verbieten, ihre
Bruderrechte zu fordern, und im Namen des Trriede-
fürften wollen wir euer Sonfurrenzgejeh predigen.
„Und lauter alä das Nufen der Männer hörte
man dad Schreien der Frauen, die zu den Herren
des Brotes die Hände aufhoben und lebten: Geht
nicht an uns vorüber, wir haben Hunger. Die
Männer find ftärker als wir, aber fie brauchen viel
Brot, und wir nur wenig; darum verliert ihr nichts
an und, wenn wir auch ſchwächer find. Und wenn
ihr uns des Gemwinnes wegen nicht Dingen wollt, jeht
und an, wir find Frauen und werden euern Augen
wohlgefälig fein. Nehmt uns und thut, was ihr
wollt — wir müfjen zu eſſen haben!
„Und lauter noch als das Marktgetümmel, als
da3 heifere Rufen der Männer und die jchrillen
Stimmen der rauen, erhob ſich der Dislant der
Heinen Kinder. Und fie riefen: Laßt uns für euch
arbeiten, die Brüfte unſrer Mütter find vertrodnet,
unjre Väter haben fein Brot für uns, und wir find
hungrig. Wir find zwar Hein und ſchwach, aber
wir braudyen ja auch wenig, faft nichts. Ihr werdet
feinen Berluft haben, denn wir jind billiger als die
Männer, unfre Väter, die fo viel eſſen, und als unjre
Mütter, die doch mehr eſſen ala wir.
„‚Und die Herren des Brotes fuchten ſich Männer,
Frauen und Finder aus und gaben ihnen Arbeit
nad) ihrem Gefallen. Und als fie vorübergegangen
waren, blieb auf dem Marftplah eine große Menſchen⸗
menge zurüd, für die es auf Erden fein Brot gab.'*
Wir ſchwiegen eine Weile, nachdem Ediths Stimme
verfiungen war, dann jagte der Doftor: „Da war
allerdings die Entwürdigung der Menſchen, welche
euer Syflem nad) ſich zog, auf dem kiefſten Punkte
angelangt, als fie gezwungen waren, ſich freiwillig
jelbjt zu verfaufen. Freiwillig im wahren Sinn
des Wortes thaten fie es ja nit, denn ihre Not
oder die Furcht vor Mangel lie ihnen feine
Wahl. Und doc blieb ihnen noch genug Wahl bei
der Verhandlung jelbjt, um fie jhimpflich zu machen.
840
Sie mußten den aufjuchen, dem fie ſich verkaufen
wollten, und freiwillig handelnd dabei eingreifen.
In diefer Beziehung war das Mietöverhältnis der
Menſchen zu einander viel verächtlicher ala Sklaverei,
die ganz auf Gewalt beruhte. Der Shave mußte
ſich der phufischen Uebermadjt gefangen geben, aber
fein Geift fonnte frei bleiben, und er verzichtete nicht
auf den Groll gegen jeinen Herrn. Bei dem Miets-
verhältnis dagegen fucht ber Knecht fich jelbft einen
Herrn und bittet ihn um die Gunst, ihm mit Leib
und Seele dienen zu dürfen, Nach unfrer heutigen
Anſchauung war daher der Sklave ein jelbftbewußteres
und freieres Geſchöpf ald der Mietling eurer Tage,
der jich doch einen freien Arbeiter nannte,
„Der Slave konnte fich im Geift über jein Elend
erheben und in der Knechtſchaft ein Philofoph fein
wie Epiftet; aber der Mietling durfte die Knechtſchaft
nicht verabſcheuen, in die er ſich jelbjt begeben. In
feiner Page war nicht nur der Körper entwürbigt,
ſondern auch der Geiſt. Als er fich jelbit verkaufte,
hatte er auch jeine geiftige Unabhängigkeit dahin-
gegeben. Das eine Wort, das ihr merhwürdiger«
weile nur auf eine Art von Selbtverfauf anwendet,
den mande Frauen üben, beichreibt am allerbeiten
und genauejten euer ganzes Wirtſchaftsſyſtem.
„Die Arbeit für andre im Namen der Liebe und
Güte und die Arbeit mit andern zu einem gemein-
ſchaftlichen Zwed, der allen zu gute fommt, auch die
Arbeit aus Freude an dem Werke jelbft find ehren-
voll. Aber wenn wir unire Fähigleiten zum ſelbſt⸗
füchtigen Gebrauch andrer verdingen — eine Form
der Arbeit, die früher allgemein gebräudlid war —
dann entwürdigen wir bie Menſchennatur. Die
große Revolution hat zum erftenmal in der Geſchichte
der Menſchheit die Arbeit auf den Boden brüderlicher
Gemeinſamleit geftellt und fie dadurch wahrhaft ger
adelt. Bis dahin war fie im bejten Falle nur eine
traurige Notwendigleit.“
„Wenn eure Wißbegierde genügend befriedigt ift,*
jagte ich jet, „jo ſchlage ich vor, daß wir dieſe
Papiere den Flammen übergeben. Es ſcheint ja,
daß fie jet feinen größeren Wert haben als eine
Sammlung heidnijcher Fetiſche, wenn ihre Belenner
Ehriften geworden find.“
„Aber eine fjolde Sammlung hat doch hohen
Wert für den Geſchichtsforſcher,“ ſagte der Doktor.
„Natürlid in dem Sinn wie früher find die Papiere
jept unbrauchbar, aber in andrer Weije haben fie
großes Interefie. Ich glaube, es befinden ſich Stüde
darunter, die in den hiſtoriſchen Mujeen recht jelten
— — V0—
Edward Bellamy. — Gleichheit.
ſind. Wenn Sie Luſt haben, den ganzen Haufen
unſerm Muſeum zum Geſchenk zu machen, jo wird
das jehr anerfannt werden. Das große Freuden—
feuer, welches unjre Vorfahren entfachten, war zwar
ein natürlicher und berechtigter Ausdrud ihres Jubels
über die neue fyreiheit, aber vom archäologiſchen Ge—
ſichtspunkt find fie jehr zu bedauern.“
„Das für ein großes Freudenfeuer meinen Ei:
denn ?” fragte ich.
„Es war eine jehr dramatiſche Scene am Schluß
der Umſturzbewegung. Als der lange Kampf ein
Ende halte, und die wirtſchaftliche Gleichheit durch
Öffentliche Verwaltung des Nationalvermögens fider:
geftellt war, brachte das Volk aus allen Zeilen dei
Landes große Maffen von fogenannten Wertpapieren
herbei, die ſich zwar jcheinbar nur auf Sachen ber
ziehen, in Wirklichkeit aber auf Menſchen, und die,
wie wir gejehen haben, erſt durch fyronarbeiter, weld:
die Not an dieſe Sachen gefeflelt hat, ihren Wert
erhalten. Wie Sie fih denfen fünnen, war bei
Voll damals dur den plöglichen friſchen Luftzus
der Freiheit aufs höchſte erregt. In feiner Be
geifterung machte es auf dem Pla der New Vorker
Börfe — dieſes großen Plutustempels, in dem
Millionen Menſchen dem Götzen geopfert morden
find? — einen riefigen Haufen von ſämtlichen Ir
funden und zündete ein Freudenfeuer an. Seht ftebt
an diefer Stelle eine hohe Säule, von der unauf
börlih eine mächtige Fackel mit elektriſchem Lidt
berniederleuchtet, zur Erinnerung an jenes Ereignis
und zum Zeichen, daß das pergamentene Jod, melde:
ſchwerer drüdte als das Zepter der Könige, für
ewige Zeiten gebrochen if. Man glaubt, daß in
diefem Flammenmeer an Dokumenten, welde die
Herrſchaft über Menjchen bedeuteten , oder, wie iht
fie nanntet, an Wertpapieren, vierzig Billionen
Dollars verbrannt find, zugleich mit vielen hundert
Millionen in Papiergeld. Und wir find überzeugt,
dab von ben unzähligen Brandopfern, melde von
Anfang aller Zeiten an Gott dargebracht worden
find, dieſes ihm das allerangenehmite war.
„Wenn ich damals dabeigewefen wäre, hätte id
mic gewiß ganz ebenſo über biefes Feuer gefreut
wie die Allerausgelafienften, die es mit Frohlocen
umtanzten. ber in der ruhigeren Stimmung, die
jebt Platz gegriffen hat, bedaure ih, daß jo viel
hiſtoriſches Material verbrannt ift. Sie jehen allo,
daß Ihre Urkunden, Hypothefen und Staatspapiert
doch noch einen Wert haben,“
Fortſehung folgt.)
Der Tod des
Pallikaren.‘)
Erzählung aus dem Volksleben
von
Zoltis Valamãs.
Aus dem Gricchifchen überfeßt von Karl Dieterich.
1.
Niemand hatte fih zum Schlafen niedergelegt,
olles blieb wach. Wie jollte man auch ein Auge
ſchließen in einer jolden Nacht des Jahres, in der
ſtarfteitagsnacht! Denn Mitternacht war jchon vorbei, |
die Gloden aller drei Kirchlein von Thalaſſochöͤri
waren verftummt — aud) fie jchwiegen angeſichts
der Leiden des Herrn — und nur die Holzfnarren
in den Händen der Kinder betäubten das Ohr. In
der ganzen Nachbarſchaft ziehen Scharen von Kindern
umher, von Thür zu Thür, und flopfen an unter
wildem Gejchrei: „Zeit zur Kirche! Zeit zur Kirche!“
Und die wenigen, die noch in tiefem Schlummer |
liegen, ſpringen erfchredt auf und ftürzen ans Fenſter,
meinen, e8 dämmere eben, und der Epitaph *) ziehe
unten vorüber, Um der Liebe Chriſli willen ver—
ſtummen ja einmal des Jahres die Gloden des
Dorfes, fie allein, denn von einem Ende zum andern |
it dad ganze Dorf auf den Füßen, wieder um der
Liebe Ehrifti willen, einmal des Jahres.
So au in jener Karfreitagsnacht; Frauen und
Männer, teild zerftreut, teild zufammengedrängt,
famen aus den Häufern und Kaffeejchenten und zer»
freuten ſich hier- und dahin, den Kirchen zu. Die
Tritte dröhnen jchwer auf das Pflafter, und in einem
fort verflingen die Stimmen im Wiederhall der Nacht
einer taugquillenden Aprilnacht mit einem jchläfrigen
Mond, der im Untergehen ift und jeinen Glanz nur
noh trübe über die büflern, ungefalften Hütten
ergieht, hinein in die frummen, ſchmutzigen Gäßchen.
Die Kirche erftrahlte hell mit weit geöffneten Pforten,
Die und da drang die Stimme des Ghorknaben
heraus, ehe die Klageweifen begannen. Das große
Kirchweihfeſt aber findet draußen vor den Kirchen
*) Der Leichnam des Herrn, der am Rarfreitag früh in einer
Prozeſſion heeumgetragen wird,
|
Papierbomben . .
!
i
ftatt. Rings um große Feuer, die mit Weinreben⸗
holz, Brettern, Bejen, Trögen und Wajchlörben, hie
und da aud) mit einem ganzen Thürflügel unterhalten
werben, jpielen die Kinder und Straßenbuben,, und
zwijchen ihnen hindurch fpringen und laufen Männer
mit Schnurrbärten, jauchzen und jubeln, und Dä«-
monen glei bliken in der Finſternis und fnattern
in der Stille der Naht die Raketen und bie diden
.o hilf, Herr!. . . die Per
tarden und Die aus Pappe gemaditen und mit un—
endlich viel Schiekpulver geladenen Schwärmer. Ein
Teller für das Pulver ging in den Kirchen herum,
Männer, frauen und Finder verbrannten fi daran
zum Heil des Jahres, Nach Pulver roch das ganze
Dorf, und die Bewohner des einen Sprengels ftanden
mit denen des andern auf Kriegsfuß.
Richt nur die Kirchen waren zu jener Stunde
geöffnet; Hier und dort Tugte eine halbgedffnete
Garküche oder eine Kaffeefchenke hervor. Bis um
; drei Uhr in der Frühe, wo der Epitaph heraus«
‚ getragen wird, fonnte die Menge nicht in der Kirche
jtehend zubringen. Eine ſchwere Süßigfeit, einen
Lederbiffen, ein paar Schlud Wein nimmt man nad)
dem Faſten gern zu fi und ftärft fi, um den
Epitaph zu geleiten. Nun firömte «8 in Scharen
‚ der Kirche entgegen, Nur eine luftige Geſellſchaft
hatte man noch in der Weinjchenfe vergejjen: Mitros,
den Rumelioten, Jannalos aus Tarnanama, Marlos
aus Kanini und den Sohn der Gharitena, den nie
mand beim Namen rief, jo daß er ihn ſchließlich
jelbft vergaß und nur auf „Tari Tarela” hörte. Alle
vier waren Seeleute; der erite bejuß eine Fiſcher—
barfe, der zweite arbeitete auf der Barfe des erften,
der dritte fuhr als Handelsmann mit den Schonern
umber, und Tari Tarela war Fiſcher, jeder fünfund-
‚ zwanzig Jahre alt und von flein auf mit dem andern
*) Das Wort , Pallilare“ läßt ſich ebenfowenig überfchen mie das englifhe gentleman, das franzöflfche galant, das ſpaniſche
grandezza, daB deutſche Gemilt.
junger Burſche.
Es bezeichnet eine nationale Eigenart, das Ideal eines Griechen: ein jhöner, fräftiger, mutiger
Den Typus eines ſolchen ſchildert die nachfolgende Erzählung, die darum aud für das Verſtändnis des Nolts-
charalters wertvoll if. Die Pallilaren jpielten befanntlid im griechiſchen Frreibeitsiriege eine große Rolle,
Aus fremden Zungen. 1807. IL 18,
106
842
verbrübert.*) Der Wein und das Geplauder hatten
ihnen die Köpfe erhikt, und wäre es nicht Karfreitag
geweſen, jo wäre «8 zu wüſtem Lärm gelommen.
|
|
|
Weih und wie von jeibft entquoll das halblaut
bingefungene Lied ihren Lippen.
Endlih merften |
fie, daß fie fich verfpätet hatten; in der Kirche des
heiligen Nikola®, wenige Schritte von der Wein-
ſchenke entfernt, flimmte man gerade den Choral an. |
Der Wirt war im Begriff, zu fchließen. Augen-
blicklich ſprangen fie auf und waren auf der Straße.
„Alle Wetter, hab’ ic) das bengalijche Licht ver-
geſſen,“ ruft der Kapiniad. Das brauchten fie, um
es auf dem Epitaph anzuzünden,
„Am Fuße des Tiſches hab’ ich es hingelegt, |
links in der Ede,” ruft Mitros. „Wartet nur, id)
hole es.“ Und er lief in die Schenke zurüd.
Dod auf dem Wege gleitet er auf einem Sie
ftein aus und ftürzt der Länge nach Hin, Zugleich
hört man ein Inadendes Geräuſch.
Ein dreifaches, hart herausplapendes Gelächter
entfuhr dem Munde der drei Kameraden; dazwiſchen
eriholl Die Stimme des Mitros: „Ich bin des Todes!”
„Schon gut, mein Lieber; wie follit du des Todes
fein? Steh nur auf! Haft du dich denn geflogen?“
„Ah, ich kann ja nicht aufftehen! Glaubt ihr
mir's denn nicht?*
Und in einem Seufzer erftarb fein Wort, die |
Stimme entrang ſich MHagend und gebrochen der
Bruit, als hätte auch fie von dem Falle gelitten.
Sie drang an ihr Ohr, jo aus dem innerjten Herzen
herausgepreßt, jo plöblich vor Schmerz verändert, jo
entjeelt, dab allen dreien der Schweiß ausbrad.
Sie jahen nun, daß e8 fein Scherz war.
„Aber Mitros!* konnten fie nur herausbringen
und liefen, ihm die Hand zu reihen, damit er fi)
aufrichtete,
„Nur Mut, Mitros!*
Mitros konnte ſich nicht auf den Füßen halten;
fein linter Fuß war unbeweglih wie von Eijen.
Sie mußten ihn an den Schultern flüßen. Der
Wirt hatte feinen Faden zugemacht und trat nun
auch hinzu, um zu helfen. In der Ferne verflangen
ſtoſtis Palamas.
„Ruf ſeine Mutter, Kaninias! Sie iſt in der
Kirche.“
„Du haſt recht. Kaninias, geh am die Heine
Hinterthür. Sprid mit der Schließerin, damit fie
ihr jagt, man wolle fie ſprechen, aber in jchonender
Weiſe.“
Die Witwe Dimena war ſchon vom Abend an
mit den übrigen Frauen in der Kirche und hatte am
Epitaph Nachtwache gehalten. Au Haufe blieb fir
nur, um für Mitros, ihren einziggeliebten Sohn,
zu forgen, und fie verlieh ihr Haus nur, um dei
Weingärtchen zu bejtellen, das ihr jeliger Mann ihr
binterlaffen hatte. Dabei mußte fie an den Gräbern
vorüber; zuweilen zündete fie eine Kerze an und ver:
brannte etwas Weihraud) auf dem Grabe des Selig.
' Sie war ein arbeitfames, waderes Weib. Als ihr
Sohn herangewachſen war, mit den Booten umber:
fummend die Stimmen ber finder, die vor der |
Kirche ſpielten. Die Raketen ziichten in der Luft,
die Finſternis der Naht flammte auf, es krachte und
prafielte, und ein Funkenregen rieſelte hernieder.
Drinnen an den Fenjtern der Kirche ſchwebten ge
Ipenjtiich die angezündeten Kerzen und die Fackeln
des Epitaphs wie Sterne vorüber, und ein friiher
Kindergefang quoll heraus.
„Wir wollen ihn nad Haufe bringen.“
*) Die Verbrüderung, das heikt das feierliche Geläbde, auf
Lebenszeit treu und feit zu einander zu halten, fpielt bei ben
Grieden no eine ähnliche Rolle wie bei und das Gefolgfhafts-
weſen im Mittelalter.
fuhr — er trieb das Gewerbe des Vaters — und
almählih mit der Eltern Segen und dem eignen
Fleiße ein Segelboot ſich erworben hatte, da begann
die Witwe, als dächte fie daran, daß fie eine Chriftin
fei, ih auch um ihre Seele zu kümmern, nachdem
fie jo lange nur für ihr unflügges Vöglein geleht
hatte. Seitdem ging fie auch häufiger zur Kirche.
Und je mehr Jahre vergingen, — fie ftand an der
Schwelle der ſechjiger — um jo gottesfürdtiger
wurde fie. Dennob, um es offen zu geitehen, zitterte
jie noch immer vor Zauberei und Spuk, ohne «
jelbjt recht zu merken,
„rau Dimena, man verlangt draußen nad) dir,
dein Sohn...” und fie am Kleide zupfend, flüflerte
ihr die Schließerin etwas ins Chr.
„Mein Sohn? Was mag der von mir wollen!‘
Sie konnte es noch nicht recht fallen, da fand
Markos Kaninias vor ihr, ohne Mütze und mit ver:
ſtörter Miene.
„Nichts, Frau Dimena, Mitros hat ſich nur den
Fuß verſtaucht.“
Die Alte ſtürzte hinaus, es entſtand ein Ge—
tümmel um fie ber, die Weiber fingen an zu flüſtern.
„Ruhe, ihr Weiber!” gebot der Küſter. Aber
wie jollten fie Ruhe Halten? Etwas mußte ſich doch
ereignet haben. Was war das für eine Verſtauchung!
Es wird fich jemand an den Schwärmern verbrannt
haben; es wird einer eritochen worden fein, Im
Nu wurde die Sache ruchbar; im Nu war die halbe
Kirche Teer! Wie könnte fih das Weibervolk aud
halten laſſen! In die Kirche kommt man ſchon
wieder, aber jo etwas, Gott weiß es, kommt doch
nicht alle Tage vor!
„Mein Liebling, o Herr Jeſus!“ So rief fi,
während fie hinauslief. Und draußen vor der Kirde
erblidte fie vor fih den Sohn, aufreht an die
Mauer gelehnt. Die Stameraden und nod einige
| andre ftanden dabei.
Der Tod bes PBallifaren.
„Es iſt nichts, Mutter; ich bin gefallen und habe
mir etwas das Knie aufgeſchlagen. Wir wollen nad
Haufe gehen und etwas auflegen.“
Wie ein Stein fiel es der Armen vom Herzen.
Sie hatte ſich's in Gedanken weit jchlimmer vor—
geitellt, und wie fie ihn nun jo in dem halb er—
loſchenen Mondlicht aufrecht vor ſich ftehen jah, da
atmete fie auf.
„O Herr Jefus, welch böfe Stunde, mein Sohn!”
Aber fie wußte nicht, dab Mitros ſich nicht auf den
Füßen Halten fonnte und daß er ſelbſt zu ben
Kameraden gejagt hatte: „Stellt mich jo hin, daß
ih mid an die Mauer lehnen fann, damit mid
meine Mutter nicht plöhlich fieht und erichridt.”
Und während er die jagte, ſprach in jeinem
Innern noch eine andre Stimme, die nicht über jeine
$ippen kam:
„Gott, wenn mid) hier Phrofyne jehen würde!“
Vhrofyne war feine Braut.
Sie hoben ihn mun auf und braditen ihn nad
Haufe. Dies Jahr aber hatten die Witwe Dimena
und die drei Kameraden feine Freude an dem Epis
tapd. Sie erwarteten den Tag an Mitros’ Bette,
Er ſchloß kein Auge, Hatte Schmerzen und ftöhnte
entjeplih. Sein Fuß war wie abgejägt, er wurbe
fteif wie eine Säule, ie
Man holte den beiten Arzt von Thalajjochöri,
der einen Namen beſaß und ſchon viele vom Tode
gerettet hatte, ohne auf die Mutter zu hören; denn
die hätte lieber die Jungfer Marie aus der Stabt
geholt, die den böjen Blick beſchwor, Rüdenfchmerzen
heilte, außgedrehte Gelenke wieder einrenfte und zu
allem zu gebrauchen war,
Der Arzt bejah den Fuß. Es war ein verteufelt
böjer Fall aufs Gelent. Er ſchiente ihn fofort ein
und jagte: „Bewege dich nicht ; dein Fuß wird wieder
heilen, aber es braucht ziemlich Tange Zeit und viel
Geduld. Denke nur immer an das Gute, das ich
dir thun will.” Unb immer wieder jagte er: „Denke
ja daran!” Denn er wußte, was für Starrföpfe
die Bewohner von Thalafjohsri waren.
Mitros, der Rumeliot, hatte ein Heiteres Herz
und große Geduld. Aber das Unglüd, das ihn ge»
teoffen, war ein Fluch Gottes. Die Thalaffohöriten
hatten taufend verſchiedene Anfichten über denjelben
Gegenfland ; über Mitros hatten fie nur eine; Mitros
war ein Pallitare! Sie verfpotteten die Gelehrſam—
kit; die Pallifarentapferkeit beteten fie an. Mitros
hatte nie einen Fuß in die Schule gejeht. In der
Sonne, in der Luft, auf den Wogen hatte er fich
getummelt und war jo berangewadhjen. Er war
eine gewöhnliche Erſcheinung; feine Bruft war fein
grasbewachjener Turm, jein Haupt glich keiner Feſtung.
Er war weder groß noch Hein, eher mager als ſtark,
843
brünett mit feinem Schnurrbart und dichten, fraufem
Haar; die Mühe chief auf dem Kopfe, einen roten
Gürtel unzählige Male um die Hüften geichlungen,
in einem Flanellhemd, fo ging er Winter und Sommer.
Aber troß feines unſcheinbaren Aeußern ſprach aus
ihm der echte Pallifare, aus feiner Miene, feinem
Gang, aus jedem Blid und jeder Bewegung. Mitros
mit jeinen fünfundzwanzig Jahren, mit dem uns
ihönen Körper, dem etwas jchüchternen Geſicht, er
fonnte eine Welt vernichten und eine Welt aufbauen.
Niemand durfte ihm in den Meg lommen, Mit
feiner Fauſt fonnte er einen Ochſen niederjtreden.
Er brauchte nur feinen Fuß auf den Boden zu
flemmen, und niemand fonnte ihn von der Stelle
bewegen. Aber diejelben eifernen, unbezwingbaren
Füße flogen, ſchwangen und drehten ſich wirbelnd
herum, wie aus Ylammenflügeln und Windeswolfen,
wenn der Sohn der Dimena den Reigentanz anführte,
Alljährlich zum Kirchweiheit des St. Elias, am
Abbange des Zygosgebirges, da, wo der kühle
Bad) rinnt und die Platanen ein fhattiges Ruhedach
breiten, an der Stelle, wo einft die Lagerſtätten der
Kleften*) waren, dahin pflegte Mitros zu gehen,
angethan mit der Fuſtanella, dem goldnen Waffen-
ſchmuck feines Großvater, umd zu tanzen, als hätte
er ein Gelübde gelhan. Dann verließen die Feſt—
genoffen ihre eignen Luftbarkeiten und bildeten einen
Kreis um ihn. ſahen ihm ins Geficht und vergaßen
ſich jchier felbft dabei. Jeder feiner Schritte beim
Tanzen, windjchnell und feberleicht, quoll über von
Anmut und verbreitete Jugendluft und Friſche. Er
verjeßte alle in eine andre Welt, in die Welt der
Märchen und tapfern Gejellen, die auf dem Felde
mit den Dirnen tanzten und dann auf der Marmor-
tenne mit dem Charos **) rangen, Und die Mädchen
die ihn dort jahen, gedachten nod) monatelang feiner
und bewunderten ihn; e& famen ganze Scharen aus
den umliegenden Dörfern und den benadhbarten
Provinzen alljährlich zur Kirchweih des St. Elias,
weniger des Feſtes als des Tänzers wegen.
Dort ſah ihn Phroſyne, die Tochter des Sebdas
aus Meliſſi. Sie ſah ihn, er ſah ſie, und ſie waren
ein Paar. Und Monate darauf, gegen den Früh—
ling hin, ſchickte der alte Sebdas die Werberin zur
Dimena; die Werbung verlief gut und die Ver—
lobung fand in Meliſſt flat. Mitros mit jeiner
Mutter, den drei ungertrennlichen Freunden nebft
der ganzen Verwandtichaft zogen dorthin. Und nad
wenigen Tagen brachte er ſeinerſeits der Braut die
Geſchenke, wie es der Braud) if. Zwei Tage ver:
brachte er bei Spiel und Tanz in Saus und Braus,
Und gleich nad) Oſtern jollte die Trauung ftattfinden,
) Kämpfer im griechiſchen Freiheitsttieg gegen die Türken,
eigentlib „Räuber*,
**, Der Zotengott.
844
Aber noch bevor Ditern herankam, ereilte ihn das
jchwere Verhängnis, Er kam nicht wieder nad Meliſſi.
Diele Mädchen bemeideten Phroſyne um ihr Glüd,
und eine Heine Brünette, ein flinles Ding voll
Iprudelnder Fröhlichleit, die närrifche Morfo, wie fie
die Nachbarſchaft nannte, wäre vor Neid fajt ge
borften, als fie die Verlobung vernahm. Sie lieh
fich nicht mehr in dem Gärtchen bliden, ihre Blumen-
beete zu begießen und ihr Lieblingsliedchen zu fingen,
wobei ihr Auge umberichweifte, mochte es treffen,
wen es molltee Nur ganz ſpät fahen fie einige
Nahbarinnen vom Fenſter aus vor Mitros’ Haufe
auf und ab geben, mit einem Umbang bis zum
Scheitel verhüllt, plößlich vor feinem erleuchteten
Fenſter ftehen bleiben, dann ſcheu um fich bliden
und geſchwind wie ein aufgeitörtes Reh davoneilen.
Mitros hatte es ihr angethan, und fie hatte im
Herzen die duftige Hoffnung genährt, er würde fie
doch noch eine® Tages zur Frau nehmen.
Mitros war ein echter Pallifare; er beſaß alles,
was zu einem ſolchen gehört, Berebjamfeit, Ber
geifterung, Ehrgeiz, Schönheit, Stolz , Lebensfreude
und Todesverachtung. Meeresftürme hatte er be—
flanden, dem Ertrinfen war er entronnen, mitten im
weiten Meere hatte er feinen Mut erprobt. Nie
ließ er fih ohne Grund zum Zorn hinreißen; mur
durfte man ihm nicht reizen oder ihn bei feiner
empfindlichen Seite fallen; dann griff er jofort zum
Meſſer. Dom Piſtolenſchießen verftand er nichts;
er dachte gar nicht daran, Ya, ein Held war er,
feine Gefahr konnte ihn abichreden, feine Krankheit
ihn anfechten, jelbjt vor Charos war ihm nicht bange.
Nur ein Gedanke zehrte an feinem Herzen, machte
ibm das Blut gerinnen: er wollte nicht mit einem
Schandmale leben. Lieber das Leben hingeben, lieber
von allerlei Krankheit und Elend heimgefucht fein,
als jo leben. Und follte er wirflic) das Beit verlafjen,
jo wollte er es nicht mit lahmen Füßen. Um alles in
der Welt nicht! Mitros, der Numeliot, betete, ohne
es recht zu willen, nur einen Gott an, die Schönheit!
Die heilige Schönheit der Jugendfriiche und der
Gefundheit, die den Körper zur Kirche hat. Und
mochten fie mit feinem Körper anitellen, was fie
wollten, wenn es ihm nur feine Spuren zu Schimpf
und Entjtellung binterließe! Ein gezeichneter Körper
ift ein gejchändeter, häßlicher Körper, Und für
einen Pallifaren wie Mitros ift Häßlichleit eine
Ehrloſigkeit!
Seit der Nacht, wo er ſich verletzt hatte, bis zu
dem Tage, wo er zum erſten Male aufſtehen konnte,
um Gehverſuche zu machen, waren drei Monate ver—
ſtrichen. Gebuldig hatte er die ertragen. Der Arzt
hatte ihm gejagt, er würde unter allen Umſtänden
geheilt werden. Aber ſowie er merkte, daß jein Fuß
lahmte und ſich nicht biegen ließ, daß das franfe
Roftis Palamas.
Knie gejchwollen war und er auch beim Gehen
lahmte, da geriet er in Berzweiflung. Er brad) in
Klagen aus, und ein brennender Schmerz peinigte
ihn. Er jagte den Arzt mit feiner ganzen Arzneir
weigheit zum Teufel und janf gebrochen nieder, um
zu fterben. Umſonſt juchte ihn jeine alte Mutter zu
tröjften, die in den drei Monaten um zehn Jahre
gealtert war.
„Laß die Neden, Mutter! Entweder wird mein
Fuß wieder heil, ober ich will nicht länger leben.
Gezeichnet fol mich niemand nennen !*
Und ala eines Tages ein Freund zu ihm fagte:
„Ah, dire fehlt ja nichts mehr. Sei nur nicht
wunderlih. Wir wollen nad; Meliffi gehen. Das
Mädel hat ſich's in den Kopf gejeht, dich zu ſehen,“
— ba fuhr Mitros wütend auf:
„Saframent! Lieber will id) fie gar wicht ſehen
als in ſolchem Zuftande! Lieber ein Mönch auf dem
Berge und ein Einfiedler, ald ein Bräutigam mit
lahmem Fuß!”
Und jo brachte ihm die Erinnerung an die Schöne
nur SHerzeleid! Was jollte man aud mit ihm in
Meliffi anfangen? Sollte man ihn als Heiligenbild
an die Wand hängen? Und nun jah er fi al
Bräutigam, wie man ihn, mit feinem einen Fuß,
umringte, wie er nicht mit übereinander geichlagenen
Füßen bei Tiſch fißen, nicht den Tanz anführen,
nicht laufen, lämpfen, ſcherzen und ausgelaſſen jein
fonnte. Dann jah er ſich als Kapitän auf feinem
Schiffen, wie er ſich nicht auf den Füßen halten
fonnte, fi auf einen Stod ſtützen, an einem Seile
halten und alles von andern erwarten mußte. Der
Braut hatte man einen ſchmucken, Fräftigen Burjden
veriprodhen, und nun follte man ihr einen vom
Schickſal gezeichneten Menſchen geben! Er würde ı&
jelbft nicht über ſich bringen, fie zur Sklavin zu
machen. Und wenn fie es auch nicht zeigen würde,
im Innern müßte fie ein beimlicher Kummer ver»
jehren. Auch er würde es cbenjo machen: lieber die
Peſt auf ſich laden als ein gezeichneles Weib.
„Sch werbe mein Kind verlieren,” jagte die Dimos—
Witwe jammernd; „nicht durch feinen Fuß, durch
die Qualen, die ihm fein Fuß macht!“
Und fie meinte und befreuzigte fi. Die drei
Unzertrennlihen arbeiteten und dachten inmerfort
an ihn, den „Herrn Mitros“, ließen ihre Arbeit im
Stid und gingen zu ihm, ihm Gefellichaft zu leiften
und ihn zu tröften. Umſonſt! Er wollte von nidt?
willen, Er wollte eine Säge nehmen und das Bein
abjägen. Er wollte ein Beil nehmen und e8 abbauen.
„Es giebt feinen Gott! Es ift auß!”
So fam der Auguft. Der Kranke konnte ben
Fuß erheben. Aber keines Menichen Auge wollte
er auf fich fallen laſſen, und fo blieb er drinnen in
feinem Haufe. Vom Fenſter aus hatte er die ruhige
Der Tod des Pallikaren.
Bucht von Thalaſſochoͤri vor jich, die bei jedem Kuß
der Sonne von früh bis fpät in unzähligen Farben
ſpielte. Man hatte das Meer vor ſich: morgens
blänlich rot, mittags jilbergoldig, nach einer Weile
dunkelgrün, dann beim Sonnenuntergang einen
Augenblid veilhenblau. Und dann wieder jpielte
es in allen farben zugleih, wie eine ganze Welt
von Gedanken und Leidenſchaflen. Und die Winde
trieben die ruhige See bald tief in bie Bucht hinein,
bald jpülten fie Maffen ans Feſtland. Und ein
andres Ausjchen gab ihr der Nordwind, ein andres
der Ofiwind, einen andern Duft der Weit, andre
Wogen der Süd. Und der Kranke von feinem
Fenſter aus betrachtete mehr als alle die Farben,
das Braufen und Wehen und alle die Schönheit,
nur die Schiffe, die leicht gefräufelten Gewäſſer mit
den weißen Segeln, die man nur ſchwer von den
Ihwarzen Sturmvögeln und den Möwen mit den
weißgrauen Flügeln unterjcheiden konnte. Und er
ſah die beladenen Filcherbarfen gehen und kommen
und die Schoner, die Korinthen für die Hauptitabt
bradten. Und von der Nüdjeite des Haufes aus
ſah man die grüne Linie des Ackers. Wie von
Ambra funfelten die Trauben an den Reben, und
die Rorinthen ſchwärzten fi auf der Tenne. Welchen
Duft ftrömte das fruchtreiche Gefilde aus! Jeder
Landmann war vom Frührot bis zur Abendbämmes
rung auf den Beinen, Die Arbeiterjharen, Kefal—
lonier mit Haden und Weiber von Amphiſſa mit
Körben, zogen am Fenſter vorüber. Das Meer
ſandte ihm feinen Salzgeruch, das Feld feinen ſüßen
Duft Herüber. Und je mehr er fich jelbft verſtümmelt
vorfam, um jo jchöner jchien ihm die Welt; und je
mehr er jeine Jugend dahinwelken jah, um jo mehr
ihien die Welt ſich ihm zu verjüngen. Wo fonnte
er in folcher Jahreszeit fein! Wo lonnte er umber«
jegeln und arbeiten! Und das nennt man ein Leben!
Die Kameraden juhten ihn auf alle Weile zu
ermutigen, und da er nichts von den Aerzten in
hen willen wollte, ſprachen Jie immer nur von den
Wunderdolioren des Dorfes, die allerlei Krankheiten
heilten. Und wie es immer geht, ein jeder fand in
feinem Kopf eine Geſchichte von einem Kranken, der
von dem Arzt aufgegeben war und nur von Quad
jalbern geheilt wurde, Und alle, die ihn bejudhten,
Jung und Alt, vom Priejter bis zum Lehrer, alle
gaben ihm den Rat, er jolle fich nichts zu Herzen
nehmen und nur Geduld haben, aber aud ja die
Werzte meiden.
Eines Tages, am 15. Auguft, fam gegen Abend
eiligen Fußes Jannalos Tarnanamas angelaufen.
Es war aus dem Dorfe Lygaria ein berühmter
Arzneitundiger angefommen, Namens Ropanigas,
Er war weitberühmt in ganz Rumelien und noch
darüber hinaus, in halb Morea. Sobald man ihn in
845
Thalaſſochöri wittert, fommen ganze Scharen herbei,
ihn aufzufuchen. Jede Krankheit fennt er und jede heilt
er; er ift ein ausgezeichneter Chirurg. Alle, die Jan-
nakos befragte, jagten ihm, daß er Wunder verridhte.
Warum follte man ihn alfo nicht zum Mitros holen ?
Troß des Leides, dad Mitros zu tragen hatte,
brachte er allmählid alle, die ihn liebten und um
ihn befümmert waren, zu der Meberzeugung, nicht die
Verwundung feines Fußes an ſich fei dad Schlimmifte,
jondern die Befürchtung, daß er lahm bleiben könnte,
Solches Unheil zu verhüten, ſollte man alles auf»
bieten! So holte man denn den Kopanikas. Alle
verlangten nad) ihm, der Sohn, die Mutter, die drei
Freunde, die ganze Berwandtichaft.
Mit einer Fuftanella befleidet, etwa fünfzig
Jahre alt, ſchlank, mager, mit großer Nafe, bartlos
und — mit einem Worte, — das war der Kopanitzas.
Es mußte ein bitteres Gefühl für den Kranken
jein, wenn er vor ihm ſtand. Doc was lieh ſich
jegt maden? Auf einem Auge jhielend, jo daß es
wie für zwei aus den ſchwarzen, buſchigen Brauen
hervorjah , jo trat er ind Haus, mit einer gar wid.
tigen Miene! — Er beſah den Fuß, drüdte ihn,
drebte ihn und fprad dann:
„Ich werde ihn dir kurieren; ich werde thun,
was in meinen Kräften fteht.“
„Das giebt dir Gott in deine Hände, Doltor!*
„Es müfjen zunächſt drei bis vier Tage vergehen.
Wir werden dann bei Mondichein umhergehen. Jetzt
find teübe Tage. Denn es giebt welche, wo es dem
Menſchen ſchon große Krankheit bringt und ihn
ruinieren kann, wenn man ihm das Blut abzapft.
Heute haben wir den bdreizehnten, wir wollen den
jechzehnten abwarten.”
Dann wandte er ſich zur Dimena und gab ihr
ichnell das Rezept:
„5 Gramm Fenchel, 10 Gramm Maftir, 8 Gramm
Rhabarber, 5 Gramm Anis, 2 Gramm Pfefferwurzel,
2 Gramm Zimmet; das fein geftoßen, eine Ofa
Honig, den Schaum davon abgenommen, mit dem
Honig gekocht, gut durcheinander gemilcht, und ihm
dann zu eſſen gegeben. Das tft das befte Stärfungs-
mittel; dabei farın er alles aushalten.“
Bis der fechzehnte fam, blieb er feit zu Haufe
liegen; man mußte den Arzt vollftändig beföftigen ;
er hatte feine Luft, in die Garlüchen von Thalafjo-
choͤri zurüdzufehren und in feiner Herberge zu über«
nachten. Er verlor ſich ganz ins Reben und erzählte
nur immer von den Wundern feiner Kunſt. Und
Jannakos, Markos und Tari Tarela ließen ihn
nicht von ihrer Seite und hörten ihm mit offenem
Munde zu.
Der Tag, den man mit Herzflopfen erwartete,
brad an. Am fechjehnten des Keltermonats, bei dem
erften Mofl und dem erften Regen, bei den letzten
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Schwalben und ben Iehten Trauben, jagt ſtopanitzas
zu Mitros:
„Nur ein wenig Mut! E& wird dir etwas weh
thun, und dann ift alles vorbei.“
„Schmerzen halte ih jhon aus, Doktor, nur
mein Fuß...“
Der Kopanißas gab dem Markos und den beiden
andern einen Wink: „Haltet ihm ordentlich feit,
aber gut..."
In der Mitte des Zimmers breitete man Deden
und Tücher aus, darauf legte man den Mitros,
„rau, die Salbe fertig!” — „Da trinf, Mitros!”
Nachdem er getrumfen, faßt ihn der Wunberdoftor,
legt ihn auf den Rüden, nimmt den reiten Fuß,
den franfen, und legt ihm über& Kreuz auf die linte
Schulter und den linken auf die rechte Schulter;
darauf tritt er — ja, tritt er auf den kranken Fuß.
Ein Knacken und ein Stöhnen des Gequälten. Ind
alle drei konnten ihn nicht halten, wie er aufiprang
und zufammenzudte.
„Hilf, Jeſus Maria!* jchrie die Mutter.
„Ums Himmels willen, werde nicht ohnmächtig,
Mitros!” jagten die andern.
„Du haft mid) umgebracht, ach!“ ſtöhnte Mitros.
„Seht wirft du fliegen wie ein Bogel! In vier
zehn Tagen bift du gefund.“
So ſprach Kopanigas, wandte ſich wieder zur
Mutter und gab ihr ein neues Rezept, das dem
eriten nicht® nachgab.
Draußen vor der Thür erwartete ihn fein Maul«
ejel. Er ftedte die zwei Yünfgrofchenftüde in feinen
Gürtel, wünjchte dem Kranlen und den Gefunden
Lebewohl, und niemand fah ihn wieder,
Von nun ab jah aud Mitros feine Beſſerung.
Die vierzehn Tage vergingen, und noch fonnte er
nicht aufjtehen. Der Fuß wurde wund und fing an
zu jchwären. Mitros auf feinem Lager, wie ein
Gefolterter, verging dor Krankheit und Schmerzen.
So verfloffen zwei Monate. Es fam der Winter
heran; Südwind mehte; vierzig Tage und vierzig
Nähte ununterbrodyen Negen; die Mauern bebedten
fih mit Gras, und der bleierne Himmel bebrüdte
das Herz. Wehe dem Sranfen!
Mit dem Kranken aber ging es von Tag zu Tag,
von Stunde zu Stunde fhlechter. Der Arzt, der
den Fuß zuerft behandelt hatte, erichien wieder, man
fiel ihm wieder zu Füßen. Aber wie er den Patienten
nad) fieben bis acht Monaten wiederfah, da vergaß
er vor Schreden und Sammer alles Schelten; faſt
hätte er weinen mögen, doch feinen Augen entlodte
man feine Thränen.
„No zu Bett!“ jagte er. „Du mußt etwas
gethan haben. Aber könnt ihr denn nicht auf mic
hören? Habe ich dir denn nicht gejagt, du joljt
den Fuß nicht bewegen?"
Kofti8 Palamas.
Er jah den Fuß an, ſah ihn nochmals an, und
wie er ihn fo ſprachlos und erfchöpft Liegen ſah, ſprac
er abermald: „Ab, es fehlt dir nichts, es wird hen
beſſer werden.”
Heimlich aber jagte er zu feiner Mutter und den
andern, die bei ihr fanden, troden und gerade heraus:
„Unmöglich, ihn zu furieren! Die Kurpfuſchet,
auf die ihr gehört habt, haben ihn zu Grunde gr
richtet. Die Sehne ift zerrifen und leblos; der
Krebs frißt im Innern, wenn nicht der Fuß ab-
genommen wird, Seht zu, daß ihr ihn jo jchnel
wie möglich nad) Athen Schafft, aber rechtzeitig!”
Drei Tage und Nächte fuchten ihn Mutter und
Freunde zu überreden. Aber immer nur gab er eine
Antwort, immer diejelbe unveränderte:
„Lieber tot, als mit einem Fuße herumlaufen!*
In Wirklichkeit hatten alle ihn aufgegeben. Eie
glaubten an feine menschliche Kunft mehr. Es war
fein Geſchick, ſagten fie, und warteten auf ben Wil
Gottes. Sie wollten ihn weder viel beläfligen noch
bintergehen oder gegen feinen Willen nad Alben
bringen. Schließlich empfanden auch fie einen tieien
Schauder, wenn fie ſich Mitros mit einem Fußt
vorjtellten. Tot oder verftümmelt — fie konnten ſich
beibe Uebel gar nicht voneinander getrennt denen,
Die Witwe Dimena ſprach jeit Monaten wenig und
dachte viel. Nur ein Gedanke ftieg in ihr auf und
gewann Raum, je mehr er ihr den Sinn durchdrang:
Man hatte ihren Sohn behert! Die Krantheit war
nicht von Golt, fie war von Menſchen gejandt!
Die Mutter der Morfo, Garufaliä, die Karten
legte und Luftgeifter beſchwor, hatte einen Blid auf
den Jungen, hatte es ſich vorgenommen, ihn mit
ihrer Tochter zu bethören. Und als fie jah, dab er
ihr entwijcht war und die Tochter einer andern
nehmen wollte, da fann fie auf Rache. Die Atjhro
hatte ihr's ganz richtig gefagt: eines Abends, als fie
mit ihrem Kruge von der Quelle zurückkam, ſah je
zwei halbverhüllte Weiber vor dem Haufe der Dimena;
fie jah im Mondlicht, wie die größere, die Hund
gegen das Haus geftredt, Drohungen ausſtieß, un
die Heinere mit Hexenſtimme ausrief: „Ich befomme
dich ſchon!“ Und die Arjyro hatte erfannt, dab e
die Garufaliä und die Morfo waren! Es hatten ib
ſchon die Nahbarn gefagt. Das ganze Dorf tujcelte;
e3 war fein Geheimnis mehr: Die Garufalis hatte
fich’8 vorgenommen, Mitros durch Zauberei zu ver-
derben. Sie zog nad) Arta, fuchte die Türkin, die
Zauberin, auf und bat fie um Zauberformeln. Und
die Morfo, die Hünbin, ließ Mitros von dem Tagt
an, wo er fich in Meliffi verlobt hatte, unter die
Toten einfchreiben, ihm eine Totenmeſſe lejen und
ein Requiem für den Cebendigen abhalten. Und dieie
Zauberei ift unfehlbar. O, die falſche Morfo!
Ihre Mutter hatte der Dimos- Witwe eine Werbung
Der Tod des Pallikaren.
um Mitros geſchickt, und bieje hatte zur Werberin
gejagt:
„Ih habe ihn aufgezogen mit den Sorgen und
Leiden der Witwe und einen blühenden Burjchen von
adtzehn Jahren draus gemadt. Und nun, wo id
jein Glüd ſehe, ſoll ich ihn fo jung verheiraten?
Und welche jol er nehmen? Die Morfo?”
Und nochmals fandte fie eine Werberin, aber
auch dieſer antwortete fie:
„Denn er fie will, mag er fie nehmen; aber in
meinem Haufe will ich fie nicht wieder jehen.”
Und kurz darauf wechjelte Mitros mit Phrofyne
die Kinge.
Die Mutter ließ nun Aerzte Aerzte fein, und
anftatt ihn mit nad Athen zu nehmen, verließ jie
in eines Morgens und zog nad der Gegend von
Vatras zu. Sie fuchte eine Wahrjagerin auf, die
dort bei allen Griechen großes Anjehen genoß. Diele
gab ihr Zauberfräuter,; wenn fie dem ſtranken den
Saft davon gäbe, jo würde der Schmerz vorüber«
gehen. Aber die Dimena merkte, daß fie e8 ihr nur
zum Trofte gab, nicht als Arznei, denn fie hatte ihr
andertraut, ihr Eohn wäre nicht zu reiten,
So lehrte fie heim nad) Thalaſſachoͤri. Ihr Sohn
erwartete jie wie eine Märzſchwalbe. Bon Arznei
wollte er nicht willen, aber an Zauberei glaubte er,
Als man daher nad) einiger Zeit eine andre Wahr:
jagerin holen ließ, da empfing fie Mitros wie ein
Kapitän, der das erfte Lüftchen für feine Fahrt er—
wortet, In jeinem bleichen Gejicht blikte fein Auge,
und ein Lächeln wie ein Stern an wolfenjchwerem
Himmel jpielte um feine Lippen. Nur einmal hatte
ihn jo jeine Phroſyne gefehen, jonft niemand, Die
Zauberin fam: brünett, ſchlank, mit melodijcher
Stimme. Was bedurfte e8 noch der Zauberei bei
ihrem Bid? Sie beugte fi über Mitros und
blidte ihn jo janft und mitleidig an, daß er meinte,
mun feien die Qualen zu Ende. Er wartete nur
noch, daß fie ihn bei der Hand nehmen und zu ihm
iprechen würde: „Stehe auf und wandle!“ Er glaubte
an Zauberei, ihre Schönheit hatte ihn bezaubert.
Die Jüdin nahın feinen rechten Fuß, warf etwas
darauf, was wie Ducdfilber ausſah, und befahl, «8
während der Nacht hinaus in die Dachrinne zu legen.
„Was ihr auch diefe Nacht hört, Iprecht kein ein»
jiges Wort!”
Sie legten fi) abends zum Schlafe nieder. Es
war noch Winter, aber die Nacht mild und flernen«
hell wie im Frühling. Nur die Mutter wachte bei
Mitros, ſich an feinem Bette niederfiredend. In
diefer Naht, und mochte fie alle Gejundheit der
Welt und alle Sorgenfreiheit in fich bergen, fonnten
Mutter und Sohn fein Auge zuthun. Die Mutter
dachte an die Morte der Jüdin: „Was ihr aud)
dieje Nacht hört, Äprecht fein einziges Wort!" Und
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beide bejchlich eine Furt, und zugleich durchſtrahlte
fie ein Hoffnungsihimmer.
In der geräumigen Stube bämmerte die Hänge:
lampe; man ſah nichts als das Ilonoftafion *) mit
dem rauchgeihwärzten Chriftus und dem verfilberten
St. Nitolas jowie eine Flinte und ein Ruder, beide
in eine Ede an der Wand gelehnt. Mitros lieh feine
Ihlaflojen Augen von der Lampe auf die Heiligen-
bilder und von da an den Herd jchweifen, als wartete
er auf etwas, das aus der Finfternis herangeſchwebt
fäme, irgend ein unerwartete Geheimnis, Und in
dem Dämmerlichte flofjen der Schatten, den der Ehriftus
warf, der Silberjchein des heiligen Nitolas, das lange
Ruder und die Geftalt der Flinte ſeltſam ineinander
und mwurben zu gejpenflifchen ſchwarzen Geftalten,
bie fi emporredten, als flüfterten fie ſich zu, unheim—
liche Wejen, die ji jeden Augenblid als Luftgeifter,
Schidjaldgötter, abgeichiedene Seelen offenbaren
fonnten.... wer weiß, was nod) alles an den Tag
fommen würde! Dem Armen jhlug 's Herz, fein
Kopf war voll von Geſchichten aus einer andern
Welt, von Märchen aus einer andern Zeit, und er
wartete wie ein Sträfling, der nidht weiß, ob man
ihn töten oder Gnade ergehen lajjen würde, Und
als die Mitternadht herankam, die frieblih und
ſternenklar hineinſchaute, da brach auf den Ziegeln
des Daches ein Höllenlärm los, Kiefeljteine fielen,
als eröffnete man ein Kreuzfeuer auf das Haus,
als regnete der Himmel Hagel aufs Dad nieder.
Man hört ein Pfeifen, Stimmen werden laut. Der
Boden jhwanft, die Thüren und fFenfter ächzen, und
vor den Augen des Sohnes tanzen jeltfam Lampe
und Heiligenbilder, Lichter und Schatten. Der Atem
fteht ihm fill. Er fann nicht ſprechen, obwohl er
es gar nidjt will, Er denkt an die Worte der Jüdin,
zittert vor Furcht, die Neraiden **) könnten ihm die
Sprade rauben, er berührt feine Mutter mit dem
langen Steden, ben er an der Seite hält, ob fie
auch nicht ſchläft und ob jie merkt, was vorgeht.
Und die Mutter Hopft, ohne zu ſprechen, auf den
Boden, zum Zeichen, daß fie nod wach wäre und
es hörte, Bon jener Stunde an verharrten Mutter
und Sohn in regungslofer Stille und warteten, bis
jeder Lärm zu Ende und die Ruhe wieder eingezogen
war, Aber jie horchten noch immer und glaubten
das Pfeifen, Poltern und die Stimmen zu vernehmen
bis zur Morgendämmerung.
Wie es graute, war aud) die Zauberin da. Sie
verlangte nad dem Prlafter, das während der Nacht
draußen gelegen hatte, betrachtete es finnend, lächelte
dem Mitros freundlich zu und ſprach zur Mutter:
*) Die mit Heiligenbifdern bemalte, beitfhirmartig im der
Stube und in der Kirche aufgeftellte Wand,
” Weibliche Luft und Waffergeifter, ähnlich unfern (Elfen
und Rizen.
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„Hab' ich's euch nicht gejagt? Der Junge ift
behext. Unmöglih, ihm zu heilen! Hätte man ſich
gleih an die Wahrjagungen gehalten und fich nicht
mit den Werzten eingelaflen, er wäre nod) zu retten
geweſen.“
III.
Auch der Winter war vergangen. Der Schnee
auf dem Zygosgebirge war geſchmolzen, nur ſein
Gipfel ragte noch, wie im einen zarten weißen
Schleier gehüllt, hervor. Auf dem Felde blühten
ſchon die Mandelbäume, in den Häuschen des Dorfes,
auf jedem Altan, auf jedem Söller grünten Baſilikum,
Minze und Anemone in Blumentöpfen und Käſtchen.
Die ärmlichſten Hütten waren wie in ein Diclicht
von Blumen eingebettet. Die Dorſdirnen mit ſchön
geflochtenen Zöpfen und jchlanfem Wuchs maden
fih im Frühling ein bejonderes Gewerbe daraus,
die Blumen zu begießen und zu ordnen. Und auf
Altanen und Söllern, in Thür und Fenſterniſchen,
und zwijchen den Blumentöpfen hatten die Schwalben
ihre Meter gebaut. Wie leicht fanden jie alle dort
ein Plähchen, um fich einzuniften. Je ärmlicher das
Häuschen war, um jo reicher, um jo forgenfreier
fühlten fich die armen Schwalben. Faſt meinte man,
fie merften es jelbit.
In Mitros’ Gehöft hatte fich keine Blume aufs
gethan; zwei, drei Blumentöpfe ftanden leer auf den
Brettern. In dem Kopf ber alten Dimena hatte die
Sorge für Blumen feinen Raum. Im vergangenen
Winter hatten Wind und Wetter die Blumentöpje
an der Borberjeite des Haujes jamt den Brettern,
bie fie trugen, fortgerifien und mit ihnen aud) die
Neſter mit allen Schwalben. Niemand dadıte daran,
fie wieder aufzuftellen. Und als der Frühling fam
und auch die Vögel wiederfehrten, da ließen fie ſich
nicht in dem Haufe nieder, jondern ſchlugen mit den
Flügeln und flohen aus der Verwüſtung.
Der Karneval ging vorüber, die Faſtenzeit neigte
ih zu Ende, der April verjüngte das Leben und
ftreute neue Kräfte aus für den Kampf ums Dajein.
Neue Freuden füllten die Seele, neue Sorgen den
Sinn. Wie die Blume öffnete die Liebe Die Augen,
die geöffneten Kirchen jirömten Weihraudhduft aus,
und die Herzen, noch weiter geöffnet, waren von
neuer Hoffnung geſchwellt. Diele Zeit verfügt aud)
dem Gequälten dad Dajein, der Verzweifelte ſchöpft
neuen Mut; und wer ſchon aufs Ende gefaßt ift,
der umarmt nur um jo feiter das Leben, fucht e8 jo
teuer wie möglich zu verkaufen.
Für Mitros gab es feine Rettung mehr. Seine
Tage waren gezählt. Umſonſt waren die Aerzte mit
ihrer Arznei, die Zauberinnen mit ihren Wahr-
jagungen. Der Fuß war vom Krebs befallen. Das
Gift flieg immer höher und ging ins Blut über.
Dabei lag er ſtumm und unbeweglich, nur feine
Koftis Palamas.
Augen ſprachen und rollten umher, als erwarteten
fie den Charos.
Die arme Dimena war vor Nachtwachen und
Kummer unfenntlic geworden und bis zum Gerippe
abgemagert. Die drei Freunde ſprachen weder nad
rührten fie fi von jeiner Seite. Am Karfreitor
holte man den Papa Thymios, ihm das Abendmahl
zu jpenden. Der Tag brach an, nicht wie ſonſt mit
finfterem Himmel, ſondern ftrahlend blau. Mit dem
erjten Lichtjtrahl, der ſich durch die Wandrige ju
Mitros’ Lager ſtahl, fuhr dieſer auf, ſtieß einen
Schrei aus und rief: „Mutter, ich will Sonne, Kit!
— Mad das Fenſter auf!“
Und fie machte das Fenſter auf. Sonnenſchein
durchflutete das dunkle, öde Gemach. Wie feitlihe
Freude ergoß ſich das Licht über Dielen, Wände, ir
alle Winkel. Es umifpielte den Kranken, und man
meinte, das jei der einzige Arzt und der einjig
Zauberer. Die Frühluft, die belebend bereinftrömte,
jpielte in feinen langen, ungefämmten Haaren. Un
durchs offene Fenſter jchweilten feine Augen gerad:
hinaus und begegneten ſich mit der Stillen Budi,
berjelben, die unter dem Goldkuß der Sonne in
taujend Farben jchillerte. Nur daß der Auguit ihr
damals nicht jene geheimnisvolle Schönheit verieiken
founte, wie es heute der April that, der and al
Atemzügen und allem Sehnſuchtsdrange des Leben:
geihaffen if. Und in einer Ede des SHafendamme
erjpähte fein Auge ein Boot, fein eignes, bei
abgetafelt auf der Seite lag. Und gleich, al& ob
die Sonne feinen Sinn noch tiefer durchleuchtete alt
das Haus, merkte auch er, daß fein letztes Stünbdlein
gelommen, dab Charos auf ihm fag und er jih al
ein waderer Held ergeben müfje. Und die Sonne, di
Zauberin, berüdte und beraujchte ihn mit einem wunder:
jamen, ſchweren, aus Leben und Tod gefelterten Wein.
„Einen Spiegel, Mutter, einen Spiegel!”
Ein fehnfüchtiges Verlangen nah Schmud und
Pub hatte ihn plößlich ergriffen; er wollte feine alk,
blühende Jugendfrifche wieder herſtellen zur Reiſe in
die Unterwelt. Es war ihm, als made er ſich
fertig zum St. Eliasfeſte, das oben auf den Abhängen
des Zygos gefeiert wurde. Und die Mutter, web
fiagend über das Unheil, das fie ahnte und doh
nicht merkte, das jie merkte, ohne daran zu denken,
brachte ihm den Spiegel. Er nahm ihn und begann
fi) darin zu beſchauen, aber er ſah nicht ſich jelbil,
jondern nur taujend goldene Erinnerungen , taufend
Bilder von feiner Jugendzeit an bis jet; Bilder
und Erinnerungen, die in feinem Gemüt begraben
lagen, nod) einmal aus ihrem Grabe emporftiegen und
leicht beichwingten Vögeln gleich vor jeinem erlofchenen
Blide zitternd über das Glas hufchten. Der Spiegel
erihien ihm wie jener Zauberjpiegel, worin man die
ganze ferne Vergangenheit erblidte und die ganze
Der Tod des Pallifaren.
ferne Zufunft. Dann auf einmal jah er im Spiegel
nichts weiter als fein totenbleiches, abgezehrtes Geficht.
Ta rief er mit dem ganzen Herzeleid um bie
verlorene Lebensfriſche aus:
„Ah, die ſchöne Jugend, wie fie dahinwellt!“
Und bei den Worten „ſchöne Jugend“ ergriff ihn
noch einmal das Verlangen nach irdiicher Freude,
nach Put und Schönheit, die feinen echten Pallifaren
je verläßt, jelbjt nicht in des Todes Armen. Er |
begann fih die krauſen Haare zu kämmen, die in |
io dichten, langen Locken herabfielen, als hätten fie
die ganze Friiche und Fülle des Körpers eingelogen,
fo üppig wucherten und wuchſen fie. Dann drehte
er feinen Heinen Schnurrbart, als rüftete er jich zu
einer zweiten Verlobung. Und wie er damit fertig
war und auf einen Arm geftüßt dalag, ſprach er,
als ob ein plößliches Licht fein Gehirn durchzuckte,
jur Mutter:
‚Nun, arme Mutter, jo lange hatte ich guten |
Mut. Ich glaubte, id) würde nicht fterben... Um
einen Gefallen noch bitte ih did: Sing mir ein
Magelied, damit ich's höre.“ |
„Aber, mein Kind, was find das für Reden!
Magen fol ich jet um dih? Iſt es jo weit ges
fommen mit dir?“ ftammelte entſetzt die Alte,
„Ad, und ewig ad)! So finge doch ein Slagelied, |
Mutter! Sing und weine do! Siehft du, jo:
‚Die Jugend wird zu Erd’ und Staub, der Jünglingsmut zum
Rafen,
Zu Erbe wird der Fralfenleib, darauf man tritt mit Füßen!“
So, Mutter, da8 mußt du fingen, wo du gehſt
und ftehit!“
Er ſchwieg ein Weilden, dann fuhr er plößlich
auf und rief verzweifelt: )
Ich will nicht allein fterben; Leute will ich um
|
mi haben! Mad) die Thür auf, Mutter, daß die
Veute hereinlommen!“
Es mochte etwa gegen Mittag fein. Die Dorf—
bewohner famen aus der Kirche zurüd, Männer,
Weiber und Kinder, mit Blumen in der Hand,
Blumen von der Grablegung. Und wie das Singen
an die Chren der Leute drang, die aus St. Nifolas
lamen und gerade dort vorbeijogen, da Hang es
ihnen wie ein verhaltener, heiferer Klageton entgegen,
daß es fie wie ein Schauder durchfuhr, ein Ton wie
von einem lebendigen Weien, einem Menjchen, ein
Ton, der fiel und flieg, erftidt wurde und frei dahin»
ſtrömte, dab es ringaum wiederhallte. Es war fein
Sprechen, fein Klagen, fein Weinen, fein Lachen,
fein Fluchen und aud fein Singen. Es war das
Ausftrömen einer gequälten, wahnfinnigen und ver—
jeifelten Seele. Die Vorübergehenden horchten
auf, blieben ftehen, fuhren zufammen, jchüttelten den
Kopf, und einer jprad) zum andern:
| Rnechte und Tagelöhner.
„Ein Totenlied? Wermag denn nur geftorben fein?”
Aus fremden Zungen. 1897, 11. 18,
349
Da wies einer auf Mitros’ Haus hin und fagte:
„Wißt ihr's denn nicht? Aus Mitros’ Haufe
fommt der Gejang. Der Herr Mitros ift tot!”
Mitros tot! Mitros, der prächt'ge Burjche, ber
fih ein ganzes Jahr lang auf dem Sranfenlager
gequält hatte! Er, der von allen bewundert und be=
neidet wurde, ber Beherte, ohne alle Schuld zu Tode
Gemarterte! Wie Hagelfchlag fiel die Kunde auf
ganz Thalafjochöri nieder. Alle, die fie vernahmen,
jeufzten tief auf und rangen die Hände, die Frauen
zogen fih an den Baden, als hätte man nicht jeit
Monaten darauf gefabt jein müſſen. Man konnte
es nicht begreifen. Wenn ein Pallikare wie Mitros
ftirbt,, dann ftirbt ein ganzes Leben, dann erlischt
die Sonne!
Und nun begab ſich etwas, das aud im Gedächtnis
der ältejten Leute noch nicht in Thalafjohsri da—
gewejen war. Jeder, der die Nachricht hörte, fagte
fie dem andern, und jo fort; wie und wo er auch
war, jeder eilte gefchwind zu Mitros’ Haufe Wo
follte fi aber die ganze Menge zuſammenſcharen?
Frauen in Feſtlleidern mit ſchwarzen Kopftüchern,
Frauen im Alltagsrod, jo, wie fie aus ihrem Haufe
famen. Männer der verſchiedenſten Art, Hausbefiker,
Kleine Kinder, die man
an der Hand hielt, und ganz feine, die nod an der
Bruft lagen — alles 309 von der Kirche geraden«
wegs dorthin. Man glaubte, es würde in jenem
Haufe „das Yeiben Chrifti” gefeiert, und es ſei noch
ein Epitaph dort aufgeſtellt. Man meinte, die
Blumen, die fie noch in der Hand hielten, wollte
man dem Toten aufs Lager ftreuen, ihm damit den
legten Schlummer zu verfüßen.
Das Haus blidte ihnen mit offenen Thüren und
Fenſtern entgegen, in der Mittagsjonne gebadet.
Niemand fonnte die Menge zurüdhalten. Ale, die
zuerjt berbeifamen, eilten mit großen Schritten über
die Schwelle, ſtürzten die Treppe hinauf und zer—
ftreuten fi in alle Räume des Haujes. Die übrigen
warteten draußen. Und immerfort famen neue
Scharen herbei. Und immerfort famen fie herunter,
und immerfort drängten andre nad. Plötzlich er
Ichienen die, denen es gelungen war, zuerft ins Haus
zu fommen, drinnen an den Fenſtern, dann gingen
fie wieder hinab, niedergejchlagen, befümmert, mit
bleihen Gefichtern und brachten neue Kunde:
„Er ift ja noch nicht tot! Er liegt nur im Sterben
und bat verlangt, man jolle ihm ZTotenlieder fingen,
jolange er noch lebt. Was jagt ihr dazu? So etwas
it doch noch nicht dageweſen!“
Und es war wirflih jo. Alle, die ins Haus
traten, fanden wie verfteinert. Während fie erwartet
hatten, ihn tot zu finden und ihm den Totenkuß zu
geben, jahen ſie ihn vor ſich aufrecht im Bette ſitzen,
mit wilden Gelicht, ftieren Augen und geipannten
107
850
Ohren, wie ein ungeduldiger Hengft, der auf die
Wieſe binausftürmen will, wie ein Pallifare, der
wartet, daß man ihm jeine Waffen bringen joll, um
fih in den Kampf zu ftürgen. Und in einer Ede
jaß zuſammengekauert die alte Dimena, unbeweglich,
nur no ein Reſt von Körper, ohne Seele, ohne
Thränen; ihr ganzes Leben war zu einer Stimme
geworden, zur Stimme der Verzweiflung jelbft. Und
in einer jeltjam wunderbaren Melodie, die man nicht
wieder vernahm, fang fie die Worte:
Im Todestampf ein Jüngling liegt, ein ſchöner Jüngling flirbt;
So zündet grüne Kerzen denn und bleiche Lampen an,
Daß fie hinab den Hadesweg dem ſchönen Jüngling leuchten.
Denn Treppen auf und Treppen ab, jo geht's bort ohne Ende.”
Die Bafilo, ihre Schwägerin, die ih nicht
mäßigen konnte, unterbrach fie:
„Liebe Dimena, fo etwas ift doch unerhört! Dein
Kind Lebt noch, und du fingft ihm Totenlieder.”
Aber anftatt daß die Mutter antwortete, unter«
brad) fie der Sohn:
„Mach, daß du fortlommft! Ich will, da fie
um mid Hagen.“
Und ſich zu der Heinen Lolo wendend, feiner
Muhme, die vorm Bett auf den Knieen lag und
ihre ftillen Thränen im Taſchentuche verbarg, ſprach
er mit wilden Blid:
„Was, Lolo, warum Hagit du nit auch?“
Und weiter erjholl das Klagelied in der Ede:
„2a fand ihn wohl ein Würmelein, Das fragt’ ihn allfogleid:
‚Wohin denn ſchwindeſt, Silber, bu, was wirft du, Gold, fo bleich?
Wohin denn, Silberglödlein, du, daß dir dein Schall verftummtt‘*
Und von den Lippen der Mutter pflanzte ſich
das Rlagelied fort auf die Lippen der andern Weiber,
wie eine Kerze fich entzündet an der andern, wie die
Uferfluten, wenn fie anfhwollen und Thalaſſochsri
überſchwemmten. Und inmitten der Hagenden Weiber
taudhten andre Weiber auf mit Blütenkränzen umd
welten Sträußen in der Hand und weiterhin noch
andre in den andern Stuben, die Käften öffneten
und die Bahrtücher zurechtlegten für den Toten, der
noch atmete; und inzwiſchen ftrömte die Menge in
einem fort ein und aus, und darunter waren auch
Jannalog, Markos Raninias und „Tari Tarela” ;
abgemagert von dem Wachen und zerichlagen vor
Schmerz, jo jtarrten fie mit den Augen wie Blinde
vor ſich hin und hörten und ſahen nichts. Auf einem
Tiſche jtand die goldgeftictte Müte, ein letztes Gejchent
der Braut an den Unglüdlihen, der ihr nun für
immer entfliehen ſollte. Mit der Mütze wollten fie
ihn ſchmücken auf dem Totenbett.
Von Mittag ab begann der Todesfampf. Er
hielt den ganzen Nachmittag an, Und der Pallikare
ftöhnte laut und wurde aufgerüttelt. wie ein Stüd
Land, das ein dämoniſches Erdbeben aus den Grunde
fejten der Erde emporjchleudert.
RKRoftis Palamas. — Der Tod des Pallikaren.
Und in dem Seelenfampf, in dem lekten Ai:
fladern des Lebens entrangen ſich ihm ſtoßweiſe die
Worte:
„Ad, mein Gott, was habe id) ausgeitanden!
... Du trägft eine Fuſtanella ... ſachte, jahte...
tritt mir nicht auf den Fuß... ah was! Was find
das für Leute! ... Bitte, bitte! ... Mutter... tritt
nicht weiter hinauf, Pla, Platz! ... Ich will Luft!
Sühes Leben!... Geh aus der Sonne!... Is
hab’ mich ergeben...“
Und damit übergab er feine Seele dem Charsz,
Sie entfloh ihm vor den Augen der Menge, wie
wenn der Holzhauer nad langem Kampfe angefiät:
des ganzen weiten Waldes eine Pappel niederftredt.
„Schade um den Ballifaren, der ohne Schuld dahin
geht! Heil dir, Herr, der du ihn erlöft haft!" Co
ging e& durch die ganze Menichenmenge von Mitrot
Lager bis hinaus auf die Straße. Und vom Haie
des Toten aus erblidte man drüben am Rande de
Meeres die Sonne, die blutrot unterging. Dei
Waſſer am Strande fräufelte fein Haud. Ein tiefe
Friede in der Natur! Es ruhten Land und Mer,
als wollten fie nicht den zeitlihen Schlaf des Ewigen
ftören, nod) den ewigen Schlaf des zeitlichen Menſchen
Alsbald jahen die, die noch in der weiten Stube
bei dem Toten ftanden, wie die alte Dimena vom
Lager des Sohnes, woran fie wie fejtgebannt ſchien
ſchnell aufiprang und verftört mitten in die Mengt
hineintaumelte, wie eine Wildkatze mit ausgeftredten
Händen und gejpreigten Fingern, als mollte fie
jemand erwürgen. Sie hatte gejehen, wie eine weil
liche Geftalt wie eine Schlange in die Stube herein-
gejhlüpft war, unbeweglich und ſprachlos, wie ver:
fteinert ſtehen blieb und auf das Zotenbett ftarte.
Eine boshafte Freude leuchtete in ihren Augen, ihr
feſtgeſchloſſener Mund öffnete ſich nicht, nur ein
leichte Linie, wie von einem Lächeln, umzog ibn.
Sie war nicht groß, aber ferzengerade ragte ihr
Wuchs empor; ihre Geſicht jchimmerte nur mod
Ihöner durch den jhwarzen, wallenden Schleier bir
durch, der ihren ganzen Kopf bedeckte. Auf ſit
flürzte die Alte los. Ein Flüftern ging rings durd
die Menge:
„Ab, das Scheufal! Die Schändliche!”
„De, ſeht doch die närrifche Morfo!“
Dod ehe die Dimena fie noch paden konnt.
war fie ſchon verjchwunden wie ein böjer Traun
oder ein lodendes Trugbild. Zitternd und mit de
Hand drobend blieb die Alte ftehen, und ehe fie ih
wieder auf den Boden niederfauerte, rief fie ihr
nod) nad:
„Ah, du Here! So weit haft du's alfo getrieben
Zauberin! Du haft mir ihn vernichtet! Doch mag’
gut jein! Belommen haft du ihm doch nicht! Befier
denn, es hat ihn Charos befommen!*
Das gemietete Kind.
on
Iklarie Gorelli.
Aus dem Enalifchen überfebt von M. Schultz.
Es war ein büfterer, unfreundlicher Dezember-
abend, ein Abend, der ſich wie ein naſſes, ſchwarzes
Bahrtuch auf die Riefenftadt herniedergejenkt hatte,
ein Abend, an dem die jchweren, tief herabhängen-
den Dunftwolfen fi hin und wieder in langjam
und widerwillig herabträufelndem Regen, falt wie
Eiszapfentropfen in einer Felſenhöhle, auflöften,
Die Leute huſchten wie Gejpenfter eines böfen Traumes
dur die Straßen; im gelben, trübe brennenden
Gaslicht tauchten fie einen Augenblid aus dem Nebel
auf und entichwanden dann den Bliden, ala feien
fie plötzlich von einer dunftigen, ebenholzihwarzen
See verichlungen worden, Mit dumpf und zornig
füingendem Pfiff jehten die Züge der unterirdifchen
Stadibahn ihre zahlreichen, fröftelnden und huſtenden
Fahrgäfte an den verjchiebenen Halteſtellen ab, wo
Ihlaftrunfene Beamte, durd) das unfreundliche Wetter
verftimmt, ihnen mit beleidigender Haft und ſehr
unfanft die Fahrkarten aus der Hand riſſen. Om—
nibustondufteure wurden anjcheinend ohne ange»
meflenen Grund ſchlechter Laune und ausfallend,
Ladenbefiger waren furz angebunden, unliebenswürdig
und rückſichtslos gegen ihre Kunden; Droſchkenkutſcher
tiefen ihren Fahrgäſten, die einen jchnellen Rüdzug
antraten, Schimpfworte und Drohungen nad, —
turz, jeder war in unzufriedener, fait gehäjfiger
Stimmung, mit Ausnahme der wenigen, ewig heiteren
Yeute, die ftet3 allem, fogar dem jchledhten Wetter,
die befte Seite abzugewinnen wiſſen. Im der langen,
breiten Straße Gromwell Road, Kenfington, fonnte
ber Nebel nad) jeinem Belieben ſchalten und walten ;
er wogte immer fort, wie dichter Rauch aus einem
Riefenfhlot, drang erſtickend in die Kehlen der Fuß—
gänger und legte fid vor ihre Augen, jo daß
fie nichts mehr ſahen, ftahl ſich durch die Riken der
Häuſer und durchlältete jogar das Blut jener Glüd-
lihen, die in üppig ausgeftatteten Gemächern am
lodernden Kaminfeuer ſaßen und leicht vergaßen, daß
es draußen in der Welt, gegen die fie ihre Thüren
verrammelt und verriegelt hatten, jo bittere Dinge
wie ſtälte und Armut gab.
Bor einem Haufe im bejonderen — mit reich
verzierter Hausthür und etwas ſchmutzigen gelbfeidenen
Vorhängen an den Fenjtern — einem Haufe, das
für jeden, der fi) die Mühe nahm, feine Außenjeite
näher anzufehen, unverfennbar den Stempel trug:
„Nur Äußeres Blendwerk!“ — hielt ein geichlofienes
Coupe, das von einem Paar fich ſtolz bäumender,
wohlgenährter Pferde gezogen wurde. Ein Kuticher
von vornehmen Ausjehen ſaß auf dem Bod: ein
Bedienter von mafellofer Figur fand auf dem
Trottoir ; jeine gelb behandichuhte Hand ruhte elegant
auf dem blikenden filbernen Drüder der Wagenthür,
Diefe beiden Herren zeigten einen entichlofienen,
unbeugjamen Gefichtsausdrud ; fie jahen aus, als
trügen fte ſich mit irgend einer großen That, die Die
Welt zu ungeſtümem Beifalle hinreißen müſſe —
aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, — ſie
hatten eben ein jehr reichlic) bemeſſenes Veſperbrot
zu fid) genommen, und ehe dad ernite Schweigen,
das fie jet beobachteten, eingetreten war, hatten fie
erörtert, ob es geraten jei, Beefſteak und Zwiebeln
zum Abendeſſen zu wählen. Der Kutſcher hatte ſich
für einfache Hammelfotelett3 erflärt, der leichteren
Verdaulichkeit wegen; ber Bediente hatte höchſt ein-
dringlich die größere Saftigfeit und den Wohlgeſchmack
von Beefjteat und Zwiebeln betont, und jchliehlich
hatte er jeinen Willen durchgeſetzt. Nach Erledigung
dieler wichtigen Frage waren fie allmählich in Nach—
finnen verfunfen über die vergangenen, gegenwärtigen
und zukünftigen Freuden, ſich auf Koſten eines andern
fatt zu eſſen, und in dieſe holden und angenehmen
Beratungen waren fie noch vertieft. Die Pferde
wurden ungeduldig, ftampften den ſchmutzigen Boden
und jchüttelten die langen Mähnen und Schweife,
während der Dampf, der von ihrem glänzenden Fell
aufftieg, ſich mit dem immer dichter werdenden Nebel
vermiſchte.
Auf der weißen, fleinernen Haustreppe der
Wohnung, vor der fie warteten, lag ein fait unfichts
bares, ſcheinbar jorm- und regungslojes Bündel,
Keine der beiden ftattlihen Perſönlichkeiten in Livree
bemerfte es: es befand ſich zu weit zurüd in einer
dunfeln Ede und war zu unſcheinbar, um ben
852 Marie
zufälligen Blick ihrer erhabenen Augen auffich zu lenken.
Pıöglih flogen die vorhin erwähnten grell ange:
ftrihenen Thürflügel mit lautem Knarren auf; aus
dem dahinter liegenden Flur ftrömten Wärme und
firahlende Helligkeit in die nebelige Straße hinaus,
und in demjelben Augenblid machte der Diener, nod
immer mit ernitem, unbewegtem Antlitz, den Schlag
des Coupés auf. Eine ältliche, reich gefleidete Dame,
in deren grauem Haar Diamanten blikten, kam die
Haustreppe herabgeraufcht und brachte den ſchwachen
Duft von Patfchuli und Veilchenpuder mit jidh.
Ihr folgte ein junges Mädchen mit hübſchem Puppen-
gefichte, einem Stumpfnäschen und trogigem, Tleinem
Mund, das feine Atlas»: und Spikenröde mit einer
gewilien ftolzen Verachtung emporhielt, als empfände
es Abſcheu davor, den Fuß auf Erde zu jehen, die
nicht mit dem beiten Veloursteppich belegt jei. Als
fie fi dem Wagen näheren, fam Leben in das
regungslofe dunkle Bündel, das in der Ede fauerte
— ein Weib mit wirrem Haar und wirrblidenden
Augen, defjen bleiche Lippen ebenjo wie die Hägliche
Stimme von unterbrüdtem Weinen bebten, brach
plößli in lautes Jammern aus:
„D, gnädige Frau!” rief fie, „ſchenlen Sie mir
eine Sleinigteit um ber Liebe Gottes willen! O, gnü-
dige Frau!”
Aber die „Gnädige* raufchte mit verächtlichem
Naferümpfen, ihre parfümierten Gewänder zufammens-
raffend, an ihr vorüber, ehe fie ihr Flehen wiederholen |
fonnte, und fie wandte fih mit einer Art ſchwacher
Hoffnung an das Mädchen mit den fanfteren Zügen.
„Ad, mein liebes Fräulein, bitte, haben Sie
Erbarmen! Für die geringjte Kleinigkeit wird Gottes
Segen über Sie fommen! Sie find reich und glüd«
ih — und ih bin halb verhungert! Nur einen
Penny! Für das Kind — das arme, Heine Kind!”
Und fie machte eine Bewegung, als wolle fie ihr
zerlumptes Umſchlagetuch öffnen und einen darin
verborgenen Schaf enthüllen, wid) aber, durch den
falten, mitleidslofen Blick eingejchüchtert, zurüd , der
aus jenen Augen, in denen Jugend ohne weiche
Regungen wohnte, auf fie fiel.
„Sie haben auf unfrer Haustreppe nichts zu
ihaffen,” jprad) das Mädchen mit ſcharſer Stimme.
„Machen Sie auf der Stelle, daß Sie fortlommen,
jonft werde ich durch meinen Bedienten einen Schuhe |
mann holen laſſen.“
Dann, während fie nach ihrer Mutter in das
Coupe ftieg, redete fie, mit hochmütig näfelnder
Stimme, den ftattlihen Bedienten zornig an:
„Howard, weshalb laſſen Sie ſolch ſchmutziges
Bettelvolk in die Nähe des Wagens kommen? Ich
möchte willen, wofür Sie bezahlt werben? Es ift
geradezu eine Schande für das Haus.”
„Bedaure jehr, gmädiges Fräulein!“ erwiderte
Corelli.
der Diener ernſthaft.
erſt jetzt geſehen.“
Darauf machte er den Wagenſchlag zu und wandte
ſich mit würbevoller Miene zu dem unglüdlicen
Geichöpfe, das ſich no in der Nähe aufhielt, und
ſagte mit einer majeltätiihen Bewegung feines gold:
geitidten Rodärmels:
„Hörft du? Pade did!”
Nachdem er jo feine Pflicht gethan hatte, flieg
er auf den Bod, ſetzte fich neben feinen Freund, den
Kuticher, und die Equipage rollte ſchnell davon.
Ihre blikenden Lichter verſchwanden bald in ben
rauchgeſchwängerten Dünften, welche wie Trauerflor
von dem unſichtbaren Himmel auf den kaum ſicht
baren Boden herabhingen. Sich jelbft überlaflen,
blidte das Weib, das vergebens bei denen Barm-
herzigleit geſucht hatte, in deren Herzen fein Erbarmen
| wohnte, verzweiflungsvoll, faft wie eine Verftört,
um fih, und es jchien, al& wolle fie im wilde Ber:
wünſchungen ausbrechen, als ein ſchwaches Wimmern
kläglich aus den jchüßenden Falten ihres Tude
hervordrang. Sie bezwang fi jofort und ging
‚ Ichnellen Schrittes weiter, faum acht gebend wohin,
bis fie die katholiſche Kirche, Die unter dem Namen
„das Bethaus“ bekannt ift, erreicht hatte,
Die noch unvollendete Faſſade ragte dunlel ans
dem Nebel auf; das Gebäude hatte nichts Maleriſchee
' oder Ginladendes an fi, dennoch gingen Leute leiſe
aus und ein, und durch die aufgebenden und ſich
wieder ſchließenden, mit rotem Fries bezogenen Thüren
fiel ein teöftlicher, warmer Lichtichimmer. Tas
Meib blieb fteben, zögerte — und flieg dann, nach⸗
dem es anſcheinend zu einem Entſchlufſe gelommen
war, bie breiten Stufen hinan, blidte hinein und
trat jhließlih ein. Der Ort war ihr fremd — fie
wußte nichts von feiner religiöfen Bedeutung, und
fein faltes, unvollendeted Ausjehen machte fie ber
tlommen. Es war ungefähr nur ein halbes Dusend
Menſchen, wie jhwarze Pünktchen, in dem groben,
weißen Innenraume zerjtreut, und der Nebel bing
ſchwer unter dem gewölbten Kuppeldach und in den
dunfein, einen Seitenfapellen. Eine Ede nur er
ftrablte in Lichterglang und Farbenpradt — dat
war der Altar der heiligen Jungfrau. Auf ihn ging die
müde Bettlerin zu, und als fie dort angelangt war,
ſant fie wie erfchöpft auf ben nächſten Sif nieder.
Sie hob nicht die Augen zu dem wundervollen,
marmornen Madonnenbilde — einem der Meifler:
werfe alter italienifcher Hunft — empor; fie war mur
dur den Schimmer der Lampen und Kerjen ans
gelodt worden und dachte nicht Darüber nad, we&halb
ſie angezündet feien, obgleich fie ſich eines gewifien
Troftgefügls bei Dem milden Glanz, den fie ringäum
verbreiteten, bewußt ward. Sie ſchien nad jung;
ihr Antlik, das durch langen, bitteren Mangel mager
„Ih babe Die — die Perion
Das gemietete Rind.
und bohlwangig geworden, trug die Spuren früherer
Schönheit, und ihre Augen, in denen eine fieberhafte
Unruhe lag, waren groß, dunkel und noch immer
glänzend. Ihr Mund allein — der verräterifcdhe
Spiegel der guten und böjen Thaten des Lebens —
verkündete, dab es micht gut um fie fand. Ein
graufamer und ſchlimmer Zug lag um die Lippen,
und die hämiſch emporgezogene Oberlippe ſprach von
thörihtem Stolz und von forglojer Sinnlichkeit.
Sie ſaß eine oder zwei Minuten, ohne ſich zu regen,
— dann begann jie mit außerordentlicder Behutſam⸗
feit und Zärtlichleit ganz allmählidy ihr dünnes,
zerriſſenes Tuch auseinanderzuſchlagen und ſchaute
mit angſtvoller Beſorgnis auf den darin verborgenen
Gegenſtand nieder.
Es war nur ein Kindchen, und zwar ein jo
winziges, blafies und gebrechliches Kindchen, daß es
den Anſchein hatte, als müſſe es wie eine Schneeflocke
unter der leiſeſten Berührung ſchmelzen und vergehen.
Als ſeine Hüllen gelockert wurden, ſchlug es ein Paar
große, ernſte, blaue Augen auf und blickte mit einem
ſonderbaren, rührenden, ſinnenden Ausdruck dem
Weibe ins Antlitz. Es lag ganz ſtill, ohne einen
Laut von ſich zu geben — ein abgezehrtes, bleiches
Miniaturbild der leidenden Menſchheit — ein Säug—
ling, deſſen winzigen, verzerrten Zügen das Leid
gramvoll ſeinen Stempel aufgedrücht hatte. Auf
einmal ſtreckte es ein mageres Händchen aus und
fiebfofte leiſe ſeine Beſchützerin; dabei zeigte ſich auch
der ſchwächſte Schimmer eines Lächelns in dem kleinen
Das Weib erwiderte ſeine Zärtlichteit mit
Geſichte.
einer Art von Verzückung: ſie drückte es liebevoll an
die Bruft und bededte «3 mit Hüllen, während jie
es bin und her wiegte und abgerifjene Worte mütter-
licher Liebloſung hervorjtammelte,
„Mein kleiner Liebling!” flürfterte fie leiie. „Mein
Lämmchen! Ja, ja, id weiß! So müde, fo kalt
und hungrig! Mad; dir nichts daraus, Kind, mac
dir nichts daraus! Wir wollen uns bier ein wenig
ausruhen ; dann fingen wir ein Lied und befommen
Geld für die Heimfahrt. Schlaf weiter, Schägchen !
So! Nım find wir wieder warm und behaglich!*
Während fie fo ſprach, zog fie ihren Shawl feiter
in dichtere Falten zuſammen, um das Kind bejier
zu firmen. Als fie fich damit zu fchaffen machte,
ging eine Dame in tiefer Trauerfleidung dicht an
ihr vorüber, ſchritt bis unmittelbar an die Stufen
des Altars, kniete dort nieder und barg das Geſicht
in den gefalteten Händen.
merfiamfeit der müden Manbdererin ; fie ftarrte mit
einer Art ftumpfer Verwunderung auf die in ſchwere,
raufhende Seide und Sirepp gelleidete, knieende
Geftalt, und allmählich glitt ihr Bid weiter nad)
oben, bis er an dem holden umd mild lächelnden
Marmorbilde der Madonna mit dem Finde haften
Das erregte die Auf-⸗
853
blieb. Sie fchaute wieder und wieder hin — über—
raſcht — ungläubig ; dann jtand fie plößlic auf und
ging bis an das Altargeländer. Dort blieb fie ftchen
und blidte auf einen Korb weiher und duftender
Blumen, die irgend ein andächtiger Beter zurüd-
gelafien hatte. Sie jchaute ungewiß nad) den filbernen
Hängelampen, den leuchtenden Kerzen empor; fie
verjpürte einen feinen, merhvürbigen Wohlgeruch in
der Luft, als wäre eben ein Korb voll Frühlings-
veilden und Narzitjen vorübergetragen worden, dann,
als ihr umberjchweifender Blid zu der einfamen Frau
in Schwarz, die nod) immer regungslos neben ihr
fniete, zurückkehrte, ſchnürte ihr ein jeltjames Gefühl,
als müſſe ſie erftiden, die Kehle zufammen, und ein
brennend heißes Naß jtieg ihr in die Augen. Sie
bemühte ſich, dieſe Hufteriihe Anwandlung unter
einem leilen, verächtlichen Lachen zu erſticken. „Gott,
Gott,“ murmelte fie halblaut vor ſich hin, „was tft
das hier, wo fie zu einer Frau und einem fleinen
Finde beten?“
In diefem Augenblick erhob fi die Dame in
Schwarz ; fie war jung, mit ftolzem, ſchönem, aber
müdem Antlig. Ihr Auge fiel auf ihre unjaubere
Schweiter, die, ein Bild der Armut, daftand, und
fie blieb mitleidigen Blides ftehen. Die Bettlerin
machte fich diefe Gelegenheit zu nuße und flehte jie
in eindringlichem Tone um eine milde Gabe an. Die
Dame zog ihre Börfe hervor, hielt dann zögernd inne
und ſah wehmütig auf das Bündel im Shaw! nieder.
„Sie haben da ein Heines Kind?” fragte fie in
janftem Tone. „Darf ich es anſehen?“
„sa, gnädige Fran,“ und die Hülle wurde zurüd-
geichlagen und zeigte das winzige, weiße Gefichtchen, das
jebt im Schlafe nod) unendlich viel rührender ausjah.
„Ich habe meinen Kleinen vor einer Woche vers
foren,“ ſprach die Dame jhliht, während fie es
betradtete. „Er war mein Ein und Alles.”
Ihre Stimme bebte, fie öffnete ihre Börſe und
drüdte der erſtaunten Bittftellerin eine größere Silber-
münze in die Hand.
„Sie find glüdlicher als ich; vielleicht beten Sie
für mi! Ich bin jehr einfam!*
Dann zog fie den langen Kreppſchleier, der ihre
Züge gänzlich verhüllte, vors Geſicht, neigte den
Kopf und glitt leije davon. Das arme Weib blidte
| ihr nad, bis ihre graziöfe Geftalt im Dunkel der
großen Kirche verſchwunden war, und wandte ſich
danı wieder dem Altar zu.
„Tür fie beten!" dachte fie.
beten könnte!“
Und fie lächelte bitter. Wiederum blidte fie die
Statue im Altarſchrein an, fie hatte ganz und gar
feine Bedeutung für fie. Sie hatte niemals vom
Chriſtentum gehört, ausgenommen durch ein Traktät-
hen, defſſen tröftende Ueberſchrift gelautet hatte:
„Ich! Als ob ich
854 Marie
„Halt ein! Du kommſt in die Hölle!" Religion
jeglicher Art wurde von denen, unter denen zu leben
ihr 208 war, veripottet und verlacht; Chriſti Name
wurde nur, wenn es gelegen war, zum Fluchen be=
nutzt, und deshalb ftand fie dieſem rätjelhaften,
mild lächelnden, janft einladenden Marmorbilde ohne
Verftändnis gegenüber.
„Ale ob ich beten könnte!“ wiederholte fie mit
einer Art von Hohn. Dann blidte jie auf die
große Silbermünze in ihrer Hand und das jchlum-
mernde Kindchen in ihren Armen nieder. Einer
plöglihen Cingebung folgend, ſant fie auf die
ſtniee.
„Wer du auch biſt,“ murmelte ſie, die Statue
droben anredend, „du ſcheinſt ein Kind, das dein
eigen iſt, zu haben; vielleicht hilfſt du mir, für dieſes
zu ſorgen. Es gehört nicht mir; ich wollte, es wäre
mein! Jedenfalls liebe ich es mehr, als ſeine eigne
Mutter thut. Du wirſt wohl auf ſo eine, wie ich
bin, nicht hören. Aber wenn es irgendwo einen
Gott giebt, ſo würde ich ihn bitten, die gute Seele,
die ihr kleines Kind verloren hat, zu ſegnen. Ich
ſegne ſie von ganzem Herzen, aber mein Segen iſt
nicht viel wert. Ach!“ und ſie heftete von neuem
den Blick auf das milde, weiße Antliß der heiligen
Jungfrau, „du fiehjt gerade aus, als ob du mid)
verftändeft, aber ich glaube nicht, daß du das thuft.
Das ſchadet nichts. Ich Habe alles gejagt, was ich
für heute auf dem Herzen hatte.“
Nachdem fie mit ihrer ſeltſamen Bitte oder viel—
mehr Rede zu Ende war, erhob fie fih und ſchritt
davon. Die großen Kirchenthüren fielen ſchwer hinter
ihre zu, ala fie ins Freie trat und wieder draußen
in der I hmupigen Straße ftand. Es regnete — ein
feiner, kalter, durchdringender Regen riejelte unauf«
hörlih herab. Aber das Geldjtüd, welches jie in
der Hand hielt, war ein Talisman gegen äußere
Unbill des Wetters, und fie ſetzte ihren Meg fort,
big fie an eine fauber ausjehende Milchwirtſchaft
gelangte, wo fie für ein paar Kupfermünzen die
längjt geleerte Saugflafche des Kindchens wieder
füllen laſſen konnte, aber jie faufte nichts für ſich
ſelbſt. Sie hatte den ganzen Tag gehungert und
war zu erihöpit, um etwas zu geniehen, Bald
darauf jtieg fie in einen Omnibus und fuhr nad
Gharing Groß. Bei dem großen Bahndofe, der im
Fichte feiner eleftriichen Lampen in blendender Helle |
erftrahlte, flieg fie aus und ging draußen auf und
nieder, mehrere der Vorübergehenden anjprechend und
fie um ein Almojen bittend. Ein Mann gab ihr einen |
Penny; ein audrer, jung und hübſch, auf deilen von
Unmäßigfeit gerötetem Antlitz noch ein Haud des |
raſch ſchwindenden Knabenalters lag, fuhr mit der
Hand in die Taſche und zog alle Kupfermünzen ber
vor, die fie enthielt — es waren drei Pence — und
a
Gorelli.
‘ während er fie in ihre ausgeftredte Hand gleiten lieh,
fagte er mit frehem Scherz:
„Sie follten mehr herausichlagen fönnen mit
Ihren großen Augen!“
Sie wich zurüd und jchauderte; er brad in ein
rohes Lachen aus umd ging feiner Wege. Sie blieh
an der Stelle, wo er fie verlaffen, ftehen und ichien
eine Zeitlang in trübjelige Erinnerungen verjunten,
aus denen das Mägliche Wimmern des Kindes, ba:
fie trug, fie aufichredte. Es leiſe beſchwichtigend,
flüſterte fie: „Ja, ja, Liebling, es ift zu naß umd
falt für dich; wir wollen lieber gehen.“ Und infolge
diejes Entichluffes rief fie einen andern Omnibus
an, diesmal einen, der nad) Tottenham Court Road
| fuhr, und nad) langer, ermübender Fahrt murde fie
an ihrem Beftimmungsorte — einer jchmupigen
Gaſſe im jchlimmiten Teile von Seven Dias —
ı abgejegt. As fie in die Straße einbog, ward fie
| mit lautem, höhniſchem Lachen von einigen roh aus:
ſehenden Männern und Weibern, die ſich um einen
: niedrigen Schnapsladen an der Ede drängten, begrüßt.
„Da ift Liz!” rief einer, „da ift Liz umd ber
ı blühende Sprößling!“
| „Na, altes Mädchen, heraus mit dem Mammon!
Mieviel haft du, Liz? Spendiere ums allen, wir
wir da jind, einen Schnaps!“
| Liz ging ruhig und unbeirrt an ihnen vorbei;
' fie 30g die höhniſch gefchürzte Oberlippe in die Höhe,
und ihre Augen bligten verächtlich, aber fie jagte
nichts. Ihr Schweigen reizte ein etwa fiebzehn-
jähriges Mädchen mit wirrem Haar und fapenartigem
Gefiht, das mehr als halb betrunfen auf dem Boden
jah, die Arme um die Kniee gelegt, und ſich nad
läſſig Hin und her mwiegte,
| „Mutter Mawls,“ rief fie, „Mutter Mamts!
Hier iſt Liz wieder mit Ihrem Kind !*
Als wären ihre Worte eine mächtige Zauber
formel geweien, um einen böjen Geiſt heranfju:
beihwören, io flog die Thür eines der elendeſten
' Häufer auf, und ein wohlbeleibtes Weib, fait nadend
bis zur Taille herab, mit aufgedunjenem, fledigem und
äußerst abjchredendem Gejichte, jtürzte wütend herauf,
iprang auf Piz zu und rüttelte fie heftig am Arm.
„Wo ift mein Schilling?” jchrie fie mit gellender
Stimme, „wo ift mein Schnaps? Heraus damit!
Heraus mit dem Gelde! Dein friechendes Wehen
verfängt bei mir nichts: ein Handel ift ein Handel
in der ganzen Welt! Du madjt ein Bermögen mit
meinem Kind — das weißt du felbit; bezahlt ſich
viel bejjer als dein altes Handwerk! Sag nicht nein
— du weißt, daß ich recht habe. So ein fräntlices
Gör findeit du nirgends wieder, und nur die frünf
lichen Gören bringen Geld ein und rühren die Herzen
der gütigen Damen und der guten Herren —" fe
fegte einen unnahahmlichen, winjelnden Nachdrut
HR
Das gemietete Kind,
auf die legten Worte, der bei ihren Zuhörern Lachen
und Beifalläflatichen hervorrief. „Du haft es billig |
genug befommen, das fann ich dir jagen, und wenn
du nicht regelmäßig bezahlit, wie es jich gehört, jo
giebt es andre, die froh fein werden, das Geſchäft
zu machen!“
Sie hielt aus Mangel an Atem inne, und Liz
ſprach ruhig:
„Es ift alles in Ordnung, Mutter Mawfs,”
meinte fie mit einem Verſuch zu lächeln, „hier ift
Ihr Schilling, Hier find die vier Pence für Ihren
Branntwein. Ich jchulde Ihnen jetzt nichts für das
Kind.“ Sie ftodte und blidte zärtlich auf das
ſchwache Gejchöpfchen in ihren Armen nieder; dann
jetzte fie faft flehend Hinzu: „Ca fchläft jetzt. Darf
ich e8 heute abend mit mir nehmen?“
Mutter Mawls, die gerade die Geldftüde, welche
Liz ihr gegeben, probierte, indem fie ungeftüm mit
ihren großen gelben Zähnen darauf losbiß, brad)
in ein lautes Lachen aus,
„Mitnehmen! Das gefällt mir! Welche Unver«
ſchämtheit! Es mit dir nehmen!” Dann die diden
roten Arme auf die Hüften ftemmend, jehte fie mit |
einem Grinjen hinzu: „Will dir was jagen, wenn du |
Luft haft, mir 'ne halbe Krone*) zu bezahlen, jo
fannft du es meinetwegen gern mitnehmen, um es
zu herzen und zu füllen!“
Die betrunfenen Zuhörer dieſer Heinen Scene
liegen wiederum ein zuftimmenbes wieherndes Ge-
lächter hören, und das auf der Erde fanernde Mädchen
löfte die um bie Kniee geſchlungenen Hände und
Natjchte laut in biejelben, während fie ausrief:
„Bravo, MutterMawts! Dan vermietet feine Gören
nachts nicht umfonft! ’& mühte teurer fein, als bei Tage!”
Liz’ Antlik war blaß und ſtarr geworden.
„Sie willen, ic fann Ihnen das Geld nicht
geben,“ ſagte fie langſam.
fein Biſſen über meine Lippen gelommen. Ich muß
leben, obwohl es faum der Mühe wert zu jein jcheint,
Das Kind,” und dabei wurde ihre Stimme unwill-
fürlich weicher, „Ichläft ganz feſt; es ift ein Jammer,
es aufzuwecken, das ift alles, Es wird die ganze
Racht weinen und unruhig jein — und ich würde es
ibm warm und behaglich madhen, wenn Sie es mir
erlauben wollten.“ Sie blidte Hofinungsvoll und
do ängftlih auf: „Wollen Sie?”
Mutter Mawks war anjcheinend eine Dame von
leicht erregbarem Temperament, Die ſchlichte Bitte
ſchien fie faft zur Wut aufzureizen. Ihre Stimme
ging geradezu in eim Streichen über, und fie fuhr
mit ben ſchmutzigen Händen durch ihr noch ſchmutzi⸗
geres Haar — eine Gebärde, die eine pafiende Ber
gleitung für ihre Schimpfreden bildete.
*) Zwei und eine halbe Mark deuticher Reichswährung.
„Den ganzen Tag ift |
855
„Ob id will, ob ich will!” ſchrie fie gellend. „Ob
ich mein eignes Kind umfonft für die Nacht ausleihen
wii? Ob ih das will! Nein, das will ich nicht!
Zum Kudud auch! Gott im Himmel! Wie uns der
Kamm ſchwillt! Das Kind wird bei Ihnen rubig
fein, Fräulein Liz — wirklich? Und bei feiner leib-
lichen Mutter wird es jchreien und weinen — he?”
Und bei jedem Sabe fam fie Liz näher, und bei
jedem Worte fteigerte fi ihre Empörung „Du,
gemeine Dirne, du! Glaubft du, ich wirde dir mein
Kind auch nur eine Stumde laffen, wenn du nicht
bezaglteft! Und du bezaplft viel zu wenig! Ich bin
ne rechtſchaff'ne Frau, die ſich durch Arbeit ihren
Unterhalt verdient und mäßig trinft, viel beiler als
du mit deinem hochnaſigen Benehmen. ine nette
Schlampe bift du! Gieb mir das Kind, du haft fein
Recht, e& noch eine Minute länger zu behalten,“ und
dabei fuhr fie mit der Hand nad Liz’ ſchützendem
Tuche. „O, thun Sie ihm nicht weh!“ bat Liz zitternd,
„Es ift ein jo feines Ding; thun Sie ihm nicht weh!*
Mutter Mawkls ftarrte ſie jo wütend an, daß
ihre blutunterlaufenen Augen faft aus dem Kopfe
zu treten jchienen.
„Web thun! Habe ich nicht ein Recht, mit meinem
eignen Fleiſch und Blut zu thun, wie e& mir beliebt?
Weh thun! In meinem ganzen Leben ift mir jo
etwas noch nicht vorgefommen! Seht her!“ — umd
dabei wandte fie fich zu den verjammelten Nachbarn
— „Iſt fie nicht gut? Sie macht ſich nichts aus
dem Gejeh, die unverfchämte Perfon! Sie enthält
ein Kind feiner eignen Mutter vor!”
Und damit machte fie einen heftigen Angriff auf
den Shawl, und es gelang ihr, das Kind Liz’ wider-
ftrebenden Armen zu entreißen. Das arme Kleine,
das auf jo rohe Weile aus jeinem Schlummer geweckt
wurde, erhob ein ſchwaches Wimmern; feine Diutter,
dadurd noch mehr aufgebradt, jchüttelte es heftig,
bis es feuchend nad) Luft rang.
„Verwünſchter feiner Balg,“ jchrie fie, „warum
erftidt er nicht Lieber glei, und ich bin ihn los!“
Und ohne ſich weiter um Liz’ erichrodene Ein-
wendungen zu kümmern, warf fie das Kind heftig,
als wäre es ein Gummiball, durch die offene Thür
ihrer Behauſung, wo es auf einen Haufen ſchmutziger
Kleidungsftüde fiel und regungslos liegen blieb —
fein Wimmern hatte aufgehört.
„D das arme Kind!” rief Liz im Tone bitterften
Schmerzes jammend aus. „O, Sie haben es
fiherlich getötet! Ah, Sie find graufam, grauſam!
O Kind, Kind!“
Und fie brach in leidenſchaftliches Schluchzen und
Meinen aus. Die Umftehenden ſahen mit unge
ı rührtem Schweigen zu. Mutter Mawks rafite mit
einer herausfordernden Gebärde ihre zerfegten Ges
wänder zufammen und rümpfte die Naje, als wolle
856
fie jagen: „Jeder, der fih mit mir einlaffen will,
zieht den fürzeren,” Es trat eine furze Pauſe ein;
plöglih kam taumelnd ein Mann, der ſich mit der
Hand über den Mund fuhr, aus dem Schnapsladen
— er war ein derb gebauter roher Patron mit böjen
Zügen, firuppigem , ungefämmten rotem Haar und
feinen, geröteten Augen. Er ftarrte ftumpffinnig
die weinende Liz an, dann Mutter Mawls, jchlieh-
lich von einem der Umftehenden zum andern.
„Was ift denn los?“ fragte er mit lallender
Stimme „Mas ift los? Joe Mawks will zujehen,
dak jedem fein Necht wird. Nur munter aufeinander
(08, meine Lieben! Immer munter!“ Und mit
blödſinnigem Kichern fuhr er in die Taſche feiner
zerriffenen Barchenthoſe und zog eine Pfeife hervor,
die er gemädhlich aus einem jchmierigen Beutel mit
jo unficheren Fingern ftopfte, da& der Tabak ringsum
verfchüttet wurde; dann zündete er fie an und wieder-
holte dabei mit immer lallenderer Stimme: „Was
ift los? Immer drauf los!“
„Es ift wegen Ihres Kindes, Joe!“ rief das
vorhin erwähnte Mädchen und jprang jo ungeftüm
von ihrem Sik auf der Erde auf, dab ihr Haar
herabfiel und fie wie ein dunfler, feuchter Nebel ums»
haft hervorſchaute. „Liz it übergeichnappt! Sie
will Ihr Kind mitnehmen, um e8 zu herzen und zu
füffen!“ Und fie kreifchte förmlich auf vor Lachen,
„Ha, ha, denken Sie nur! Will ein Kind herzen!“
Joe zwinterte wie betäubt mit den Nugen und ſog
mit augenjcheinlihem Behagen an dem Stiel jeiner |
Pfeife. Dann, als wäre er in tiefes Sinnen über die
Sache verfunten geweſen, nahm er feinen räucherigen
Tröfter aus dem Munde und jagte: „W’rum nicht?
Schon gut. Laß ſie's haben. W’rum nicht?”
ihre Thränen empor, aber Mutter Mawls flürzte in
wütender Empörung vor. „Du großer, betrunfener
Narr!” kreiſchte fie ihrem bezechten Gemahl zu,
„Ihämft du dich nicht? Was! Dein Kind eine
ganze Naht umfonft ausleihen? Es iſt 'n Glüd,
daß ich meine fünf Sinne beifammen habe, und ich
jage, Liz joll es nicht Haben! Und damit Punktum!“
Der Mann biidte fie an, und eine eigenfinnige
Entſchloſſenheit trat im fein finfteres, abſtoßendes
Geſicht. Er Hob jeine mächtige Hand, ballte jie zur
Fauft und verjegte feinem wutſchäumenden Weibe
einen Schlag, der im Handumdrehen ein blutunter-
faufenes Auge zur Folge hatte. „Und ich jage, fie
joll es haben. Wo bift du nun, he?”
Als Antwort auf diefe Frage hätte Mutter Mawks
jagen können, dab fie in höchſteigner Perjon „zur
Stelle“ jei, denn fie gab ihrem Gatten den Schlag
mit Zinſen zurüd, und nad ein paar Sekunden
Marie Corelli.
fampf” begriffen, zum Gaudium fäntlicher Bewohner
des Gäßchens. Jeder aus der Straße drängte ſich
herzu, um den Kämpfern zuzufehen und die Lüfter
reden, die Verwünſchungen und Flüche, die bie
Schlacht begleiteten, mitanzuhören. Inmitten de
wüften Yärms machte ein verjchrumpiter, gefrümmter
Alter, der vor jeiner Thür geſeſſen und Qumpen in
einen Korb gelefen und dem Geichrei ringsum an
ſcheinend feine Beachtung geſchenkt Hatte, Liz ein
Zeichen,
„Nimm jet das Kleine,” flüfterte er. „Niemand
wird es merfen. Ich will Schon ſehen, daß fie dir
nicht nachlommen.“
Liz dankte ihm ftumm durch einen Blid, furzte
in die Wohnung, wo dad Kind allem Anſchein nad
leblog auf dem Fußboden unter den jchmukigen
Kleidungsſtücken lag, raffte es haftig auf und eite
ſchnell davon, in ihre eigne, armjelige Dachlammer
in einem balbzerfallenen Haufe am entlegeniten Ende
der Galle. Das Kindchen war durch jeinen Fall
‚ betäubt worden, aber in ihrer zärtlihen Obhut, und
gewiegt von ihren warmen, liebevollen Armen, erholte
es ſich bald, obgleih ein ſolcher Ausdrud der Be
ſtürzung und des Schmerzes in feinen blauen Augen
wallte, aus dem ihr mageres, erregte Geſicht bos-
lag, als es fie aufichlug, wie man ihn wohl in den
Augen eines zu Tode getroffenen Vogels ſieht.
„Mein Liebling, mein armer, Heiner Liebling!”
flüfterte fie immer wieder und fühte jein minziges,
blaſſes Gefihthen und die weichen Händchen. I
wollte, ic) wäre deine Mutter; weiß Gott, id) wolke,
id) wäre ed. Du bijt das einzige Wejen, für das
ich zu forgen habe. Und du haft mich lieb, Kind,
nit wahr? Ein Meines, Heines bißchen?“ Um
als fie ihre Lieblojungen fortjeßte, ließ das Heime
Geſchöpf mit dem traurigen Antlitz einen leiſen,
Bei diefen Worten blickte Liz hoffnungsvoll durch |
girrenden Laut, ein Zeichen, daß ihm wohl jei, al
Antwort auf ihre Zärtlichleiten hören — einen Laut,
der ihr Ohr wohlthuender berührte als die ſchönſit
| Mufit, und der ein Lächeln um ihren Mund zauberke,
während ein ergreifender Ausdrud in ihre dunleln
Augen trat, der ihr Geficht für den Moment faft
ihön ericheinen lieh.
Das Kind feit an die Bruft drüdend, fpähte fie
vorfichtig aus ihrem jchmalen Fenfter herab umd ge:
wahrte, daß ber eheliche Zwift zu Ende war. Naeh
dem wiehernden Gelächter und dem Beifalläjaudzen,
das an ihr Ohr flug, zu urteilen, war Joe Mamis
anſcheinend ala Sieger aus dem Kampfe heror
gegangen; fein Weib hatte das Feld geräumt und
war von der Bildfläche verſchwunden. Sie jah, wie
die Menge fich verlief; die meiften von ihnen gingen
in den Schnapsladen, und jehr bald lag die Gaſſt
verhältnismäßig ftill und veröbet da. Nicht lange
darauf hörte fie, wie jemand jie mit leifer Stimme
war das glüdlihe Paar in einem regelrechten „Gauft- | bei Namen rief: „Liz, Liz!*
Das gemietete Find.
Sie ſchaute hinunter und erblidte den alten
Mann, der ihr feinen Schuß verfprodhen, falls Mutter
Maris fie verfolgen follte,
„Sind Sie das, Jim? Kommen Sie herauf,
es jpricht ſich befjer hier oben als dort unten.”
Er gehorchte und ftand gleich darauf vor ihr in
der Ärmlichen Kammer und blicdte jowohl fie ala das
ſtleine mit neugierigem Intereſſe an. Eine jehnige
Geftalt mit einem Wolfsgefiht war Jim Duds, wie
er gewöhnlich genannt wurde, obgleich jein eigent«
liher Name der arijtofratiiche und merfwürdig un«
angebrachte James Douglas war. Er gli mehr
einem Tier ald einem menjchlichen Weſen mit jeinem
wirren grauen Paar, ftruppigen Bart und den
Iharfen Zähnen, die wie die Reißzähne eines Raub-
tiereö unter feiner Oberlippe bervorftanden. Sein
Beruf war, Küchenabfälle zu ftehlen, was ihn eine
ganz anftändige, achtbare Beſchäftigung düntte.
„Mutter Mawls hat diesmal ihr Teil weg—
befommen,“ fagte er mit einem Grinjen, das eher
ein Fletſchen war.
fie gehörig verhauen. Sie wird dich jeßt in Ruhe
laſſen; jolange du die Miete regelmäßig bezablit,
haft du Joe auf deiner Seite. Wenn mal ’n jchlechter
Zag kommen jollte, jo fomm lieber gar nicht nad
Haufe.“
„Joe war geladen, und er hat |
derte Jim; „bift du ſicher, daß es eine Kirche war?
|
„Sch weiß,” ſagte Liz, „aber fie hat immer da®
Geld für das Kind erhalten, und es war doch ſicher⸗
lich nicht zu viel verlangt, fie zu bitten, es mich an
einem jo falten Abende wie heute behalten zu laſſen,
um es zu wärmen.“
Jim Duds jah nachdenklich aus,
„Warum macht du dir jo viel aus dem Finde ?*
fragte er. „Deins ift es doch nicht.“
Liz jeufzte.
„Nein!“ jagte fie traurig. „Das ift wahr. Aber
es ijt etwas, was ic lieb haben kann. Was iſt
mein Leben denn geweſen!“ Sie brady ab, und eine
beiße Biutwelle rötete ihre bleihen Züge. „Yon
t
Mein auf nichts als die Straßen — bie langen, |
ſchlimmen Straßen! Und ih nur ein bißchen Schmutz
auf dem Trottoir — nichts weiter ; hierhin geworfen,
dorthin geworfen und ſchließlich in ben Ninnftein
gefegt!” Sie lachte fur; auf. „Denten Sie mır,
Jim! Ich bin nie auf dem Lande geweſen!“
„Ich aud nicht,“ ſprach Jim und faute finnend
auf einem Strohhalm. „Es muß mächtig jchön fein,
mit nichts als grünen Bäumen und Blumenfträußen,
die überall blühen und wachſen. Aber Ktüchenabfälle
giebt es dort nicht viel, habe ich mir jagen laflen.“ |
Kaum auf das achtgebend, was er ſprach, fuhr
Liz fort: „Das ſtleine fommt mir jo vor, wie es
auf dem Lande jein muß — fo harmlos und ſüß
und ruhig, und wenn id) es jo halte, wird mir ganz
friedlich ums Herz — ich wei nicht, warum.“
Aus fremden Jungen, 1897. II. 18,
857
Wieder ſah Jim gedankenvoll vor ſich nieder.
Er fuchtelte eindringlich mit jeinem zerbifienen Stroh
balm bin und ber.
„Du haft Erfahrung darin, Piz. Iſt dir nie
mals ein Mann begegnet, den du lieb haben fönnteft?*
Liz bebte, und in ihren Augen fladertees unruhig auf.
„Männer!” rief fie mit dem bitterften Hohn —
„Männer find mir nicht in den Weg gefommen, nur
rohe Kerle!”
Sim ftarrte fie an, fchwieg aber; er hatte feine
paſſende Antwort bereit. Gleich darauf hub Liz in
fanfterem Tone wieder an:
„Sim, willen Sie, daß ich heute in einer großen
Kirche gewejen bin?”
„Um jo jchlimmer!“ antwortete Jim, „Kirchen
find zu nichts nüße, ſoviel ich davon verftehe.“
„Dort war eine Figur, Jim,“ fuhr Liz ernſthaft
fort; „eine Frau, die ein Kind in die Höhe hielt,
und die Menſchen fnieten davor nieder. Was meinen
Sie wohl, daß das geweſen jein kann?“
„Kann ich nicht jagen,“ erwiberte der verwun—
Wahrſcheinlich war's 'n Mujeum.”
„Nein, nein,“ ſprach Liz. „Es war ganz gewiß
eine Kirche; es beteten Leute drinnen.“
„Na,“ brummte Jim mürriſch, „mög's ihnen be—
lommen! Ich bin nicht für das Beten. 'ne Frau
und ’n kleines Kind, ſagſt du? Geb bir nur feine
Verrüdtheiten in den Kopf, Lig! Frauen und Kin—
der giebt e3 genug — mehr als genug, und zu ihnen
zu beten —“
Jims grenzenloje Verachtung und Ungläubigteit
waren zu groß, um in Worten Augdrud zu finden,
und er wandte ſich zum Gehen, ihr kurz gute
Nacht wünjchend.
„Bute Nacht!” jagte Liz leife, und lange, nach—
dem er fie verlaflen, jaß fie ftill da, in Sinnen ver-
loren, das jchlummernde Kinddhen im Arm und
horchte auf den Regen, der in ſchweren Tropfen her—
abfiel, wie Erdichollen, die auf einen Sargdedel
fallen. Sie war fein gutes Weib — weit davon
entfernt, Sogar der Beweggrund, ber fie veranlafit,
das Find für fo viel pro Tag zu mieten, war durch»
aus nicht zu entſchuldigen — es war nur, um durch
faljche Vorjpiegelungen Geld zu erlangen, dadurch,
daf fie mehr Mitleid erregte, als fie jonft gethan
haben würde, hätte fie für jich allein gebettelt, ohne
das Find im Urme. Anfangs hatte fie das Seine
nur zu dieſem Zwede umbergetragen, aber der Heine,
bilffofe Körper, der fih Tag für Tag jo warm an
ihre Bruft ichmiegte, hatte durch feine Unſchuld und
rührende Schwäche ihr Herz weicher geftimmt, und
endlich hatte fie begonnen, es mit einer jeltiamen,
tiefen Innigfeit zu lieben, und zwar mit ſolcher Glut,
daß fie mit Freuden ihr Leben für das Fleine Weſen
108
858 Marie
zum Cpfer gebracht hätte. Sie wuhte, daß feine
eignen Eltern ſich nichts aus ihm machten, es Sei
denn wegen des Geldes, das es ihnen durch fie ein—
brachte, und oftmal8 durchfreuzten tolle Pläne ihr
armes, müdes Gehirn — Pläne, mit ihm auf und
davon zu laufen, fern von der alles verjchlingenden
Stadt mit ihrem lärmenden Getriebe, nad irgend
einem lieblihen, bejcheidenen Dorfe auf dem Lande,
fich dort Arbeit zu verichaffen und fich ganz diejem
einen Kindchen zu widmen und es glüdlich zu machen,
Arme Liz! Arme, ratlofe, tiefunglüdliche Liz! Eine
unwiſſende Heidin ber Großftadt, mie jie war, io
gab es dod) eine duftende Blume, die in der Wüſte
ihres befledten und vergeudeten Dajeins blühte —
die Blume einer reinen und ſchuldloſen Yiebe zu
einem jener „Kleinen“, von denen eine allerbarmenbe
Gottheit, von der fie nichts wußte, geſagt hat: „Laſſet
fie zu mir fommen und wehret ihnen nicht, denn |
ſolcher iſt das Himmelreich.“
Die trüben grauen Wintertage ſchlichen langſam
weiter, und als Weihnachten nahe war, gewöhnten
lich die Bewohner der Straßen, bie fi vom Strand
Gorelli.
abzweigen, daran, Abend für Abend eine traurige,
rührende Frauenſtimme in eigentümlich ergreifender
Weile einige der alten Lieder und Balladen, die dem
Herzen jedes Engländer lieb und vertraut find,
fingen zu hören, wie: „Die Ufer von Allan Water“,
„Lehte Roſe“ und andre mehr. Alle dieje belichten
Volksweiſen fang fie eine nad der andern, und ob«
gleich ihre Stimme weder friſch noch kraftvoll war,
jo klang fie rührend weich, bejonder$ bei der ab» |
gedrofchenen, noch immer fejjelnden Melodie: „Home,
sweet home*. Die Fenſter wurden geöffnet, und
Kupfermünzen wurden freigebig der Straßenlängerin
geipendet, die auf all ihren Wanderungen von einem
zart ausjehenden Meinen Kinde begleitet wurde,
welches fie mit beſonders zärtlicher Sorgfalt zu tragen
ihien. Mitunter jah man fie aud) an den rauhen
Nahmittagen durh Schlamm und Schmuk ihres
Weges geben, mit müdem Antlif gegen den icharfen,
bitterfalten Oftwind ankämpfend und geduldig weiter
fingend — und Mütter, die aus den reich verjehenen
Läden und Warenhäufern famen, wo fie Weihnachts«
einfäufe an Spielzeug für ihre eignen finder ger
macht hatten, blieben oft fliehen, um voll Mitleid in
das blaſſe, Schmale Kindergelichtchen zu jehen, und
jagten, indem fie ihre übrig gebliebenen Pence
Gelüſte des Menſchtums zu verlieren.
Und Weihnachten fam — der Geburtstag de
Chriſtlindes — ein Felt, von defien heiliger Bedau-
tung Liz nichts wußte: ihr war es nur ein ziemlih
langweiliger „Bantfeiertag“ *), wo ganz London in
die Kirche ging und Roaſtbeef und Plumpudding
ab. Das Ganze war ihrem Geifte unfaßbar —
aber ſelbſt ihr trauriges Antlik war fröhlicer als
ſonſt am heiligen Abend und ihr war faft heiter zu
Mute, denn hatte fie nicht dadurch, daß fie fd die
Billen am Munde abgeipart, einen wundervollen,
g0ld« und Icharlahfarbenen, aus Wolle gearbeiteten
Vogel, der an einer Gummiſchnur hing, faufen
fünnen — einen Vogel, der auf Befehl auf drollige
Weiſe auf und nieder hüpfte — und hatte nicht ihr
gemietetes Kind wirklich über das plumpe Spielzeug
gelacht — ein foboldartiges und unheimliche Lachen,
das erite, das es ſich jemals erlaubt Hatte? Und
Liz hatte ebenfalls gelacht, aus reiner Freude an der
Fröhlichkeit des Mindes, und der geitridte Vogel
wurde eine Art Zaubermittel, fie beide Luftig zu
madıen,
Aber nahdem Weihnachten gefommen und vorüber
war, und die melancholiſchen Tage, die letzten ſchwachen
Pulsihläge des alten Jahres, langſam und ichwer
dahinſchwanden, trat ein jonderbarer Ausdrud in
dem eingefallenen Gefichthen des Kindes hervor, ein
Ausdrud, der etwas Müdes, Leidvolles, Greiienhaftes
hatte. Seine blauen Augen wurden nod erniter,
noch finnender und träumeriicher, und mad einer
Weile jchien es allen Geſchmack an den fleinlichen
Dingen diefer Welt einzubüßen und die niedrigen
Es lag jehr
ſtill in Liz’ Urmen; es ſchrie nie und war nicht mehr
weinerlich und verdrießlich, und es jchien mit einer
Urt freundlicher Billigung den Tönen ihrer Stimme
zu laujchen, wenn fie duch die naßfalten Strafen
: Mangen, durch welche fie bei Tag und bei Nacht ge»
‚ duldig wanderte, Almählih fand es auch an dem
bunten geitridten Bogel fein Gefallen mehr; er hüpfte
und bligte vergebens, das Kind betrachtete ihn mit einer
unbewegten Miene überlegener Weisheit, gerade als
hätte es plöblich herausgefunden, wie wirkliche Vögel
ausjähen, und wollte fi durch eine jo fümmerlice
Nachbildung der Natur nicht täujchen laſſen. %iz
wurde unrubig, aber fie hatte niemand, dem fie ihre
hergaben: „Armes, Heines Ding, ift es nicht jehr |
trank?“ während Piz, deren Herz ein plößlicher
Schrecken eritarren machte, baftig auszurufen pflegte:
»
bischen ſchwach, das iſt alles!” worauf die freund⸗
lichen fragerinnen, denen die Verzweiflung in ihren
großen dumfeln Augen nahe ging, ihren Weg fort
fetten und nichts weiter jagten.
nein, nein! Es ift immer bla; es ift nur ein |
Befürchtungen anvertrauen konnte. Sie war in ihren
Zahlungen an Mutter Mawls jehr regelmäßig ge—
weſen, und die zornmütige Dame, die von ihrer Bull-
dogge von Mann in Ordnung gehalten wurde, war
in der legten Zeit jehr damit zufrieden, ihr das Kind
ohne weitere Einmiſchung zu überlafjen. Liz wußte
nur zu wohl, daß niemand in der elenden Gaiie,
in ber jie wohnte, ſich etwas daraus machte, ob da?
*, Kin Tag, an dem die Bant von England in der Gitn gr
Ihloffen bleibt; es gicht im Jahr vier folder »Bank-holidarz«.
Das gemietete Kind.
Kindchen frank ſei oder niht. Sie würden ihr nur
jagen: „Je kränklicher, je bejjer für dein Handmerf.*
Außerdem war fie eiferfühtig — fie konnte den Ge»
danken nicht ertragen, daß irgend jemand außer ihr
ed anrührte oder gar pflegte. Rinder waren oft nicht
ganz wohl, dachte fie, und wenn man fie fich jelbit
überließ, ohne fie mit Arzneien zu quälen, jo erholten
fie fich oft ichneller wieder, als fie franf geworben
waren. Auf dieſe Weiſe ihre geheimen Beiorgnifie
beſchwichtigend, jo gut fie es vermochte, hütete fie
ihren zarten Meinen Schüßling mit nod) mehr Sorg-
falt denn je umd darbte und jparte, um Nahrung
für ihn zu beihaffen, obwohl das Kindchen fich immer
weniger aus weltlichen Bedürfniffen zu machen ſchien
und ſich gleichſam nur mit geduldigem und jchweigen-
dem Widerſtreben füttern lieh.
Und jo rannen die Sandförner aus dem Stunden-
glafe der Zeit langſam, aber ficher dahin, und es war
Sylvefterabend. Liz war den ganjen Tag umher—
gewandert und Hatte ihr Kleines Repertoire volfs-
tümliher Balladen in den eifigen, Schnee mit fid)
führenden Wind hinausgefungen — in den Wind,
ber jo bitterfalt daherwehte, daß Leute, die fonft ein
weihes Herz und eine offene Hand hatten, ihre
Thüren und Fenfter feft verichlofen und ihre Stimme
nicht einmal vernahmen.
des alten Jahres ihr nur fargen Gewinn gebracht
und ſich troftlos für fie geftaltet; fie hatte noch feinen
Schilling eingenommen, faum die Hälfte; wie fonnte
fie mit dem beicheidenen Gewinn heimfehren und
Mutter Mawls und ihren Wutausbrüdhen gegenüber:
treten? Der Hals jchmerzte fie — fie war jehr
müde, und als die bleiche Nbendbämmerung dem
So hatte die lehte Spanne |
' ihren Schaf zu zeigen.
tiefen, ſternloſen Dunfel der Winternadht wid, |
ichlenderte jie mehanish vom Strand nad) dem
Ihemjeslifer. Sie ging eine furze Strede am Ems
bantınent entlang und jeßte ji in einen Winkel
nieder, dicht bei der Nadel der Kleopatra — jenem
Obelislen, der, jelbft fühl- und wandellos, auf den
Verfall von Weltreihen herniedergeichaut hat und
noh immer zu jagen jcheint: Geht vorüber, ihr
armjeligen Gejchlechter! Ich, nur ein behauener
Steinblod, werde euch alle überleben !
Zum erften Male dünkte fie das Kind auf ihrem
Arme eine jhwere Bürde, Sie jchlug ihr Tuch zurüd
und betrachtete e& zärtlich; es fchlief ganz feit; ein
ſchwaches, friedliches Lächeln auf dem jchmalen, ftillen
Gelichtchen.
und das Kleine feit an die Bruft drüdend, ſchlummerte
fie ebenfalld ein und verſank in den jchweren, traum—
lofen Schlaf äußerjter Ermüdung und phyſiſcher
Erihöpfung. Die ernfte, bedeutungsvolle Sylveſter—
naht, eine Nacht ſchwarzer Nebeldünfte, verſtrich
langjam, Sein einziger Stern erhellte das Toten-
Selbft zum Tode erjchöpft, lehnte ſie
den Kopf gegen bie feuchte Steinmauer hinter fid, |
namen; — umſonſt — umſonſt!
Körper war ſchon ſtarr und kalt: es war ſeit mehr
859
beit des alten Jahres, Seiner der Vorüberhaften-
den gewahrte die Müde, die in jener dunkeln Ede
Ichlief, und eine lange Zeit ruhte fie dort ungeftört.
Ploötzlich blendete ein greller Lichtichein ihre Augen;
fie jprang noch halb im Schlafe auf, aber das Find
doch inftinktiv feſt umjchlungen baltend, Eine dunkle,
bis unterd Kinn zugefnöpfte Geftalt, die eine hell—
ſtrahlende Blendlaterne in der Hand hielt, ftand
vor ihr.
„Komm,” jagte dieſe Perjönlichfeit, „das gebt
nit! Mari!“
Liz lächelte matt und abbittend.
„Schon gut,“ antwortete fie, und gab jih Mühe,
in heiterem Tone zu ſprechen, während fie die Augen
| auf das gutmütige Geficht des Schutzmanns heftete.
„Ich wollte hier nicht einjchlafen. Ich weiß gar nicht,
wie es gekommen ift. Natürlich muß ich nad) Hauie
geben.“
„Natürlich,“ ſagte der Wächter des Gefehes,
etwas belänftigt durd ihre Willfährigkeit und, troß
jeiner Barjchheit, gerührt durd) den gramvollen Aus-
drud ihrer Augen. Dann wandte er jeine Laterne
voll auf fie und fuhr fort: „Haben Sie da ein kleines
Kind ?*
„Ja,“ jagte Liz, halb ftolz, halb zärtlich. „Armes
fleines Herzchen, es ift ihm jehr kümmerlich gegangen
— aber ich glaube, e8 geht ihm jeht wieder beſſer,“
und durch jeinen freundlihen Ton ermutigt, jchob
fie die fyalten ihres Shawls auseinander, um ihm
Die Laterne bligte wieder
auf, als der freundliche Hüter de& Friedens an—
gelegentlih da8 Feine Bündel beſchaute. Er hatte
faum bingeiehen, als er mit einem Ausruf zurüdfuhr:
„Gott fteh mir bei!” rief er; „es ift tot!“
„Rot!“ ſchrie Liz auf. „O nein, nein! Nicht
tot. Sagen Sie das nit, ad), bitte, bitte, jagen
Sie das nit! O, das fann, fann Ihr Ernft nicht
jein! Es fann nicht tot, nicht wirklich tot fein, nein,
nein! O Kind, Kind! Du bift nicht tot, mein
' Liebling, mein Engel, nicht tot, o nein!”
Und atemlos, wie von Sinnen vor Angft, befühlte
fie Hände, Füße und Gelicht des Meinen Gejchöpfes,
fühte e8 ungeſtüm und nannte es bei taujend Koſe—
Sein kleiner
als zwei Stunden eine Leiche.
Der Schumann Huftete und fuhr ſich mit jenem
diden Stulphandichub über die Mugen. Er war ein
Wächter des Gejehes, aber er hatte ein Herz. Er
gedachte feines helläugigen Weibes daheim und des
rofigen Heinen Geſchöpfes mit den weichen Bädkhen,
das ſich zärtlich an ihre Bruſt jchmiegte und vor
Freude laut auffreiichte, jo oft er ſich blicken ließ.
„Kommen Sie,“ ſprach er jehr freundlich und
legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens, das
860
Marie Corelli.— Das gemietete Kind,
fröftelnd an der Mauer fauerte und in grenzenlojem ; Hang in feierlichen, melodiſchen Schwingungen durd
Jammer auf die regungsloſe, wachsbleiche feine
Geftalt in jeinen Armen niederftarrte.
„Das Grämen nüht nichts,” er hielt inne — ihm
jaß etwas in der Kehle, was ihm Unbehagen ver
urfachte, und er mußte wieder huften, um es herunter-
zubringen. „Das arme Geſchöpfchen ift tot — daran
ift nichts mehr zu Ändern. Im Jenſeits iſt's beffer
als in dieſer Welt, vergeſſen Sie das niht! Still,
fill! Nehmen Sie es ſich nicht jo zu Herzen“ —
dies leßtere jehte er Hinzu, ala Yiz erſchauerte und
feufjte, einen Seufzer jo namenlojer Verzweiflung,
daß es ihm das ehrliche Herz zerriß und ihm zeigte,
wie nußlos jeine Bemühungen, ihr Troſt zuzuſprechen,
jeien, Aber er durfte jeine Pflicht nicht außer Augen
laſſen, und er hub in feiterem Tone wieder an: „Jetzt
feien Sie jo gut und gehen bier fort, hören Sie,
und machen ſich auf den Heimweg. Wenn id Sie
hier einen Augenblid allein lafle, wollen Sie mir
dann verjprechen, geradenwegs nad) Haufe zu gehen ?
Ih darf Sie hier nicht mehr antreffen, wenn ic
auf meiner Runde wieder hierher komme, verftehen
Sie mid) ?*
Liz nidte,
„Daß ift recht,“ fuhr er freundlich fort, „ich gebe
Ihnen genau zehn Minuten; Sie madhen ſich gleid)
auf den Weg nad) Hauje.“
Und mit einem „Gute Naht“, das in einem
Zone, der tröftend jein jollte, vorgebradht wurde,
wandte er ſich ab und jchritt weiter; feine taftmäßigen
Schritte tönten erjt laut, dann ſchwächer und ſchwächer
dur die Stille ringsum, bis fie ſchließlich ganz
verlangen, als jeine umfangreiche Geftalt in ber
Ferne verſchwand.
Sich ſelbſt überlaſſen, richtete Liz ſich aus ihrer
fauernden Stellung auf; fie wiegte das tote Kind
in den Armen und läcdelte,
„Geradenwegs nah Haufe!” murmelte fie halb«
laut vor fih hin: „Heim, heim! Ja, Kind, ja, mein
Liebling, wir wollen miteinander nah Haufe gehen!”
Und vorfichtig im Schatten der Häufer und Mauer»
vorjprünge entlang ſchleichend, gelangte jie an eine
breite Steintreppe, die an den Fluß hinunterführte,
Sie ftieg die Stufen eine nad der andern hinab;
das ſchwarze Waſſer jchlug mit dumpfem Plätjchern
ſchwer gegen die Steinfliefen: e8 war Flut. Sie
blieb ftehen; eine tiefe, volltönende Metallitimme
— — — — — — — — —
die Luft. Es war die große Glocke der Paulslirche,
die zwölf ſchlug. Es war Mitternacht — das alte
Jahr war tot.
„Geradenwegs nad) Haufe!” wiederholte fie mit
einem ſchönen, erwartungsvollen Ausdrud in den
verftört blidenden, müden Augen. „Mein kleiner
Liebling! Ya, wir find beide müde, wir wollen heim
gehen. Keim, ſüßes Heim! Wir wollen geben!
Sie fühte das falte Antlig der Kindesleiche, die
fie jet an ſich drüdte, dann jprang fie hinab; ein
dumpfes Aufraufhen drunten folgte — ein kurzes
Ringen — und alles war vorüber! Das Wafler
ſchlug wieder plätichernd gegen die Stufen wie vorher;
der Schukmann fam noch einmal wieder des Meges
und ſah mit Befriedigung, dab die Luft rein war.
Durd den dunfeln Schleier droben am Himmel
ſchaute ein einzelner Stern und funfelte einen kurzen
Augenblid hernieder — dann verſchwand er wieder.
Lautes, vieljtimmiges Glodengeläute jchredte die Nacht
aus ihrem Brüten auf — hie und da wurden Fenſiet
geöffnet, und Geftalten erjchienen auf den Ballon,
um hinauszuhorchen. Die Gloden läuteten das
neue Jahr ein — das Feſt der Hoffnung, den Ges
burtätag der Welt!
Aber was waren ihr Neujahrstage, die ftil, mit
totenbleihem, nad) oben gewandtem Antlik und Armen,
die mit dem nicht Ioslafjenden Griff des Todes ein
Kindchen umfaßt hielten, den dunkeln Fluß hinunter
trieb, ungejehen und unbemitleidet von all denen,
die zu neuen Hoffnungen, zu neuem Streben an jenem
eriten Morgen einer neuen Prüfungszeit des Lebens
erwachten!
Liz war nit mehr — war gegangen, Frieden
mit Gott zu ſchließen — vielleicht mit Hilfe ihre:
„gemieteten Kindes” — der Meinen fündenloien
Seele, die fie jo innig geliebt hatte — war ein
gegangen zu jener jchönften Heimat, vom der wir
träumen und um die wir beten, wo die berirrten
und irregeführten Wanderer diefer Erde willfommen
geheißen und nad Leid und Berbannung Ruhe finden
jollen, — in das jchöne, ferne Reich der Glorie, wo
der göttliche Meifter herrichet, deſſen Worte noch
immer das Getümmel von Zeitaltern übertönen:
„Sehet zu, dab ihr nicht jemand von diejen Kleinen
verachtet. Denn ic ſage euch, ihre Engel jeben
allezeit daS Angeficht meines Vaters im Himmel.‘
—
—6| Lofe Blätter &
Bom armen Ladislaus Beöthn.
on Thoͤt Adlıman.
Aus dem Ungarifhen überfeht von A. Dirr.
Eigentlich weiß ih gar nit, warum man ihn
den „armen Ladislaus Bedihy* nannte. Aber man
nannte ihn einmal fo.
„Wohin gehit du?“
„Ich ſuche den armen Ladislaus Bedthy auf.“
„Wo fommjt du her?“
„Den armen Ladislaus Beöthy hab’ ich beſucht.“
Aber damals, am Anfang der fünfziger Jahre,
waren wir ungariſchen Schriftiteller alle arm; Ladis⸗
laus war jedoch noch der eleganteite von ung allen,
Und geſchickt war er; er band feine Krawatte jo
raffiniert um feinen abgeichabten Rodkragen, dab es
ihm immer nod) eine gewijje Eleganz verlieh, wenn
es auch nicht gerade ſchön war,
Ich ſehe ihm jetzt no vor mir, den armen
Ladislaus — ja, ja, den arınen — mit jeiner Heinen
Statur, dem fofett gefämmten blonden Haar und
feinen winzigen, blinzelnden Aeuglein, die er ganz
ſchloß, jowie er lachte.
Was für ein befähigter, herzensguter und ehrlicher
Schriftiteller war doch unſer armer Ladislaus!
Die Leute hielten ihn immer für jo etwas wie
einen großen Lump, aber nur, weil er ſich gewöhnlich
für einen ſolchen ausgab, Eigentlich war er ja viel
ju arm, um zu lumpen; feine Konjtitution war jo
ſchwach, dat er von einem Bierteldden Wein jchon
ordentlich taumelte. Nad) jeinen humoriftiichen Werten |
ju urteilen, war er ein jpöttijcher, mwohlgelaunter,
ewig lachender Menih; ich aber habe in meinem
Leben feinen jentimentaleren Menſchen gelannt. Ganze
Nahmittage lang ſprach er auf unſern Spaziergängen
im Stadtwäldchen bloß von jeiner Mutter und heulte
dabei wie ein Kind; Sentimentatität gefiel ihm nur,
wenn fie faft übertrieben war, und von der Liebe
iprad) er in einem Ton, als ob er im Sterben läge.
Der Heinejche Vers:
„Die Blumen fterben ohne Regen,
Und ich fierbe deinetwegen“
gefiel ihm ungemein. Er recitierte ihn zuerjt lang-
ſam, leije, dann mit Pathos, indem er zugleich Die
Hand aufs Herz legte, dann brüllte er ihn Hinaus,
und ſchließlich lachte er ſich ſelbſt herzlich aus: der
ganze Menſch beitand eben aus einer jonderbaren
Miſchung von Sentimentalität und Satire.
Er liebte es auch, zu behaupten, daß er ein großer
Schuldenmader jei, und in einer jeiner Humoresfen
beihrieb und zeichnete er jogar jein eignes Leichen»
begängnis: da ſaß er tſchibukrauchend in jeinem Sar
und jeine Gläubiger ſchreiend und heulend hinterdrein.
Mit dieſer Geſchichte verjpielte er feinen lebten ge—
ringen Kredit. Belonders jein Schneider — ein
feiner, galliger, jhwarzer Kerl — nahm die Sadıe
ſchief:
„Nicht zahlen und noch dazu Wibe machen. Nicht
einen Knopf nähe ich Ihnen mehr an,“ Mit diejen
Worten empfing er bei der nächſten Gelegenheit den
armen Ladislaus.
MWirdevoller nahm das Pasquill jein Schufter,
Ignaz Kiß, auf. Ich kannte ihn ſehr gut, denn er
arbeitete auch für mid. Kiß war ein grundehrlidher
Menſch, wie e& die ungariihen Schufter im all»
gemeinen jind. Der arme Ladislaus erzählte mir
jpäter, wie er Kiß nah dem Erſcheinen der Skizze
getroffen, und wie diefer ihm dann gejagt habe:
„Geehrter Herr, es ift durchaus nicht zweddienlich,
ehrliche Menichen zu beleidigen.“
Danad) aber borgte er ihm bis zu jeinem Tode.
*
Es war übrigens damals eine gewiſſe Art von
höherem Rappel dazu nötig, dab jemand zur Schrijt«
ftellerei ging; die Journaliftit, die eine ſichere Exi—
ſtenz bietet, exiflierte noch nicht; heute ericheinen
bundertmal mehr Blätter in der Hauptitadt, damals
gab es zwei: das „einzige“ politifche und das „ein«
zige” Titterarijche Blatt. Nicht, dab man der Schrüft-
ftellerei gegenüber fein Intereſſe gezeigt hätte, Aber
die Schriftfteller waren die Märtyrer der Verleger;
war ich doc einmal Zeuge, wie unſer „allgemein
beliebter Humoriit“, der arme Ladislaus Beöthy,
einen jeiner Romane um zweiunddreißig Gulben ver-
faufte, von denen er übrigens bar nur achtzehn be=
fan; den Reſt zog der Herausgeber für alte Schul-
den ab.
„Man bat mich bezahlt, wie man Milton für
jein ‚VBerlorenes Paradies‘ bezahlt hat,” lachte Beöthn,
auf, ala wir den Faden verließen.
„Bas hält dich denn eigentlich aufrecht, Ladis-
laus?“ fragte id) ihn.
„Mein Freund, die Begeifterung und die Donau—
ufer-Zwetichen.“ j
Damals geihah es auch, daß man mid einmal
ala Zeugen zur Polizei lud.
„Bas find Sie, mein Herr?”
„Schriftjteller.“
„Ja, alſo — was?”
Aber ih war ein „gemadter Mann“ damals im
Vergleich mit meinen Kollegen; id) war nämlich Re—
dafteur des „einzigen litterariichen Blattes“; ich
fritifierte, vezenfierte, jchrieb Humoresfen, ausländiſche
und inländiſche Berichte und jo weiter. Dafür be-
fam ich monatlich dreißig Gulden. Das war ſchon
862
etwas damald! Die jungen Schriftjteller jaben in
mir einen Kröfus; ich war natürlich) aud) der Gegen—
ftand ihres geheimen Neides. Da ſaß ich eines Tages
in meinem „Bureau“, weldes damals ein Heines |
Monatäzimmer war. Der arme Ladislaus trat ein.
„Ad, mein Freund, heute bin ich in Verzweif—
lung; das Leben ift ein Schmerz, jag mir nur gleid)
deinen traurigften Vers auf.“
Wo ift der zweinndzwanzigjäßrige Poet, der nicht |
einen traurigen Vers recitieren würde, wenn man
ihn darum bittet. Ich legte auch gleich 108.
Etwas recht Trauriges; jo ungefähr:
„Beinen muß id, fo dunkel und fhmar
Dat mir der Kummer mein Kerze gefärbt.“
Und jo weiter bis zum Abend. Plöplih nahm er
feinen Hut, ſchickte ſich zum Gehen an und jagte:
„Kannſt du mir nicht fünf Gulden leihen ?*
„Lieber Freund — wir find fait am Ende des
Monats — ich geſtehe —*
„Was? Du glaubjt aljo, dab ich deine Verſe
den ganzen Nahmittag umſonſt angehört hätte?“
Und damit jehte er ſich auf einen Seflel und
late, lachte, bis ihm fait die Thränen aus den
Augen traten. Er hätte fich vielleicht zu Tode gelacht,
wenn ich nicht auf einmal die Thüre geöffnet hätte,
Ein fleiner blauer Mantel trat ein; drinnen ftaf |
ein feines Männchen, von dem aber nur der obere |
Teil des Kopfes über den Mantel hervorragte.
„Bitte, macht man hier die Verſe?“ fragte er.
„Was für Berje? Hier werden feine gemadt, |
fondern nur heraudgegeben. Was wünſchen Sie?*
„Ja, bitte, dem reichen Bebauer jeine Frau ift
geftorben,” jagte der blaue Mantel.
„Soll ih das ins ‚Vermiſchte‘ hineinnehmen ?*
„Nein, bitte, man hat mid; hierher geſchickt, damit
Sie ein Grabgedidt machen, wofür Herr Bebauer
zwei Goldftüde zahlen wird.“
„Grabgedichte machen wir nicht.“
Da fteht Ladislaus würdevoll auf. „Der Herr
da,“ ſagte er, faltblütig mit dem finger auf mid) |
deutend, „it nur mein Gehilfe, der verfteht vom
Gewerbe noch nichts,
gedichte madt. Frau Bebauer war wohl ein recht
tüchtiges Weib, nit wahr?“
„Und ob! Neun Kinder hat fie gehabt.“
„Das Grabgedicht wird bis morgen früh fertig;
fommen Sie nur um neun Uhr in meine Wohnung,
Waitzengaſſe Nr. 9, denn hier wohnt bloß mein Ge—
hilfe; dann fönnen Sie das Epitaphium haben.
Vergeſſen Sie aber die vier Goldftüde nicht.“
„Der Bebauer will bloß zwei geben.“
„Ja, etwas Schlechtes lann man auch für zwei
Soldftüde machen; gute Gedichte foiten aber vier.”
„Na, machen Sie nur, bitte, ein gutes; der Be—
bauer iſt ja reich und giebt gewiß gern vier,“
Das lleine Männchen 309 jeinen Mantel nod)
etwas mehr in die Höhe und mantelte zur Ihüre
hinaus. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder mid)
ärgern jollte. Dem armen Ladislaus aber warf ich
von meiner Höhe einen verachtungsvollen Blick zu.
Ih bin es, der die Grab- |
Loſe Blätter.
| „Du, mich bitte ich mit ſolchen Dingen nicht p
ı fompromittieren; ich fchreibe die Grabſchriſt nicht
„Das brauchſt du auch gar nicht; ic werde «
Ihon thun.“
„Du haſt fein Ehrgefühl.“
„Ich thue es aus Patriotismus. Freuen wir ums,
daß in unfern Tagen die Yeute noch ungariihe Grob.
| Schriften verlangen. Und warum follte nicht irgend
jemand eine fchreiben, für eime jo tüdtige from
wie die?”
„Du haft fie ja gar nicht gefannt.”
„Alles eins, Sie hat neun Kinder auf die Bat
gebracht, und du weißt, was Napoleon zu Madamı
Stab! fagte: ‚Das jei das tüchtigfte Weib, dos die
meiſten Kinder hätte.‘*
„Thue, was du willft, aber bring meinen Namen
nicht in die Sache. Gott behüte dich.”
„Du jchidft mich umfonft weg. Hier, bei dir,
jchreibe ich das Gedicht; ich fühle mid; gerade in:
ipiriert.*
Auf das hin lachte ich gerade hinaus, weil ih
wußte, dab er in feinem ganzen Leben nod nidt
einen Vers gefchrieben hatte.
Er fepte ſich am den Schreibtiſch, fuhr mit der Hand
durch feine Haare, ſeufzte und blieb eine halbe Stud:
fo figen. Ich lächelte über feine Anftrengungen,
„Nun, haft du ſchon etwas geichrieben?” fragte
| ich nad langer Pauſe.
„Eine Zeile:
| ‚Hier rubt ein tüchtig Frrauenzimmer —
| Mad) mir doch einen Reim darauf,“ fuhr er aitia
| fort, „fonit zernag” ic) glei meinen Calamus.“
} „Na, zernag’ ihn nur nicht, ich helf' dir ans.
Schreib:
‚Engel trug'n fie in den Himmel,“
„Schlechte Reime, ‚immer: und ‚immel‘. Ab
du machſt ja immer ſolche.“
„Das verftehit du nicht; das ift poetijche Ligen,“
„Gut, gut; machen wir aljo weiter!”
„Ja, was willſt du denn eigentlich Tagen?‘
' fragte id.
„Fahr nur logiſch weiter; daß fie jetzt aud ein
Engel ſei, der Engel ihrer Kinder.“
„Gut, ſchreib:
‚Mög fie auch ein Engel werden
Für die finder bier auf Erden“
„Das ift ja prächtig! Ich werde ganz jente
mental! Nod zwei Zeilen jept, jo ungefähr, dab fe
ihre Kinder beſchützen folle und fie im Jenjeits wieder:
ſehen möge.“
„Schreib alſo:
‚Und für fie zum Hertgott flehen,
Und fie einſtens wiederiehen.‘”
„Na, ſehen wir und mal das Ganze an.“ Um
mit Stentorftimme recitierte er:
„Hier rubt ein tüdtig Frauenzimmer,
(engel trug'n fie in den Himmel;
Mög fe aub ein Engel werben
Für die finder hier anf Erden,
Und für fie zum Herrgott flehen,
Und fie einſtens wiederſehen.“
oje Blätter
Sein Geſicht firahlte von Zufriedenheit.
„Das hätt’ ich gar nicht gedacht, daß ich ein jo
ausgezeichneter Dichter bin. Weißt du, im Grunde
genommen, habe ich die Idee geliefert, du haft bloß
die Ihlehten Reime dazu gemacht. Auf Wiederjehen
morgen beim Primus. Und fort war er mit feinem
Gedicht.
*
t
Bei diefem Herrn mit dem jonderbaren Namen |
aßen damald wir junge Schriftiteller. Er hielt eine |
feine Wirtichaft in der Komitatshausftrage, Schred-
lich freigebig war er, ein echt ungarischer Wirt. Rieſige
Portionen gab er, und das Brot trug er im Gait-
jimmer herum; jeder fonnte ſich nad) Belieben davon
ebihneiden. Er hat's auch nie zu was gebracht.
Der arme Ladislaus ſaß ſchon da, inmitten einer
ihmanienden Gejellichaft, jein Seidel Wein vor ji
und ihon mehrere in ſich.
„Wie geht’s, Laus?“
„So, wie es einem Menjchen geht, der in Gold—
ftüden zahlt. Ich jchreibe feine Romane mehr, aber
morgen eröffne ich das ‚erfte, große ungariiche Grab-
Ihriftenbureau‘. Freund, feiern wir das. Es leben
die Toten!“
Der arme Ladislaus wußte nicht, daß er nad)
ein paar Jahren ſchon denen Gefellichaft leiſten jollte,
auf deren Wohl er jetzt trank.
Schnell ging er dahin, ohne daß jein Talent ſich
voll zu entwideln Zeit gehabt hätte, ohne dab ihm
Rürdigung und Erfolg zu teil geworden wäre.
Armer Ladislaus !
———
KRoſtis Palamäs.
Der Verfaſſer von „Der Tod des Ballitaren“,
gehört Äuferlich und innerlich zufammen mit dem den
Leſern diefer Zeitichrift bereits aus zwei Erzählungen
befannten Georg Droffinis. Beide jind 1859 ge
boren und ftammen aus Mefolongi. Beide haben
fh mehr auf lyriſchem ala auf novelliftiichem Gebiete |
einen Namen gemadt, doch iſt Palamäs auch ala
Lyriker der Bedeutendere und Tiefere von beiden.
Er hat bis jet zwei Gedichtfammlungen veröffent-
fit: „Lieder meiner Heimat”, 1886, und „Die
Augen meiner Seele“, 18983, außerdem eine fom-
bolijche Dichtung, den „Hymnus an Athene“. Von
einen wenigen Erzählungen iſt die vorliegende die
tigenartigfte und vollendetite; fie erjchien 1891 in
der „Heftia“ umd gehört mit zu ben eriten in der
teinen Vollsſprache gefchriebenen Erzählungen der
nengriehiichen Litteratur, wozu freilich auch der echt
vollstümliche Stoff und die Art der Meberlieferung
der Erzählung aufforderte — der Verfaſſer verdankt
ihten Inhalt der Mitteilung einer alten Frau aus
dem Volle. Weber den piuchologiihen Wert der
Erzählung Hat ſich der in Paris wirkende Grieche
Ran Pſichari in jeinem Buche „Autour de la Gröce*
(Baris, 1895) geäußert, dem wir einige harakteriftiiche
Stellen entnehmen. Er vergleicht Palamas’ Erzählung
mit dem berühmten Buche Edmond Abouts „Le roi
des montagnes“, einer fatiriichen Schilderung des
863
griehiichen Räuberlebens, und meint, dab Palamäs
„ung ein zarteres Gemälde der griedilchen Seele
gegeben hat ala About”. Auch enthalte unjre Er—
zählung eine höhere Philoſophie, die zugleih echt
antif jei: „Für Diele Raſſe, die in der Fülle aller
Lebensformen aufgeht, iſt jeder Kompromiß verhaßt,
jeder Fleck todbringend. Es genügt ein erfrorenes
Roſenblatt, daß der ganze Roſenſtrauch verwellt.“
— „Die antite Liebe zur Vollendung wohnt in dem
Herzen bes ſchlichten Menſchen, des Mitros...
Aber dieſer jchlichte Menſch iſt zugleich ein Held,
und der Rahmen der griehiichen Meere giebt der
ganzen Yandichaft eine gewille ideale Fernſicht.“ —
Eine andre Heine Erzählung von Palamäs, ein
Jugendiwverf, hat A. Bolt verdeutſcht in feiner Samm⸗
lung „Helleniſche (joll heißen: neugriehiihe) Er—
zählungen“ (Bibliothef der Öejamtlitteratur Nr. 116,7,
©. 78 fi.). K. D.
Der litterariſche Juternationalismus. In Paris
iſt der Gedanke aufgetaucht, ein internationales Theater
zu gründen. Es fehlt natürlich nicht an Widerſpruch,
der ſich in das Gewand des verletzten Nationalgefühls
kleidet, wenn er auch vielleicht nicht zu trennen iſt
von dem geſchäftlichen Standpunft, der von aus—
wärtiger Konkurrenz Schädigung der einheimiſchen
Produktion befürchtet oder doch wenigftens eine Tei-
lung des Intereſſes. Albert Lacroir, der ſich in der
„Revueinternationale” darüber ausſpricht, nennt diejen
Standpunft eine Hebertragung des Schutzollfyitems
auf das geiftige Gebiet und erflärt ihn für völlig
verfehlt. Wielfache Berührung mit dem geiftigen
Leben andrer Völker ift ein Gewinn; je mehr neue
Elemente eine Nation in ihr angeborenes Weſen
aufnimmt, umbildet und verbaut, defto mehr wird
dieſes gefräftigt. Lacroix beruft ſich auf die Geichichte
des franzöſiſchen Vollstums, in dein Gallier, Yigurer,
Yateiner, Griechen der phofätichen Kolonie Marjeille,
Belgier, Franken, Iberer, Weftgoten und jo weiter
zufammengeihmolzen find, und mit noch mehr Be»
weisfraft beruft er fih auf die wechlelnden Einflüſſe
fremder Litteraturen, auf die Entwidlung der fran«
zöfiichen. Rabelais und Ronfard gewannen aus dem
Studium des Lateinischen und Griechiſchen fruchtbare
Eindrüde, die ganze Renaiffance in Frankreich iſt
von ber italienifchen beherrſcht geweſen. Racine
lehnt ſich an die griechiſche Tragödie, Corneille an
die ſpaniſche. Shafeipeares Einfluß bricht fich im
18, Jahrhundert Bahn. Diderot jchöpft aus ihm
den Keim des erften bürgerlihen Schaufpiel® in
franzöfiicher Sprade. Die Homantit von Victor
Hugo, Dumas, Merimee ijt nicht zu trennen von
der Einwirfung der deutſchen romantiihen Schule.
Die neueite Zeit hat den ſchwediſchen, den englifchen,
den rufftihen Roman als Moment der litterariichen
Entwidlung aufgenommen. Ind gerade das fran-
zöftiche Theater der Gegenwart fann eine Rejormation
recht gut brauchen. Selbit bloße Verjuche, neue
Mege zu finden, find nicht zu tadeln; jo haben auch die
Stüdevon Hauptmann Anregungen hinterlaifen. Das
864
geplante „Theatre International” wird die lebendige
Berührung mit der dramatischen Dichtung des mo—
dernen Spaniens, des modernen Portugal vermitteln
können. Wer wei, ob nicht dadurch der franzöfiichen
Bühne ein neuer Gorneille oder Racine erwächſt.
Denn der litterariſche Internationalismus dient ftets
dem Fortſchritt der mationalen Litteratur; dieſe
Wahrheit gilt ebenjo in Deutichland, — 1 —
Die Akademie Goncourt. Das Teſtament Gon—⸗
courts iſt vom Gericht als gültig erklärt worden, die
„Alademie Goncourt“ wird alſo bald ins Leben treten
fönnen. Alphonſe Daudet, der Teſtamentsvollſtrecker,
hat der Neugier der Reporter Rede ſtehen müſſen, er
glaubt, daß nach Abzug aller Koſten für die Stiftung
ein Kapital von anderthalb Millionen zur Verfügung
ſtehen werde. Daudet möchte, um alles geſpreizte
Weſen fernzuhalten, am liebſten auf den Namen
Akademie verzichten und daraus ein Déjeuner Gon-
court maden. Hat dod) ſchon vor zwanzig Jahren
das Diner des cing beftanden, zu dem Edmond,
Goncourt, Daudet, Zola, Flaubert und Turgenjew,
troß ihres verfchiedenen Geihmads, ſich allmonatlich
vereinigten. Flaubert ſchwärmte für Enten und Butter
aus der Normandie, Goncourt für Ingwerlompotts,
Zola hielt fih an Seefifhe und Meine Schaltiere,
Zurgenjew blieb bei feinem ruffiichen Kaviar. Solche
Traditionen könnte alfo Daudet auf die neue Ala-
demie übertragen. Acht von deren zehn Mitgliedern
find von Goncourt jelbft beftimmt worden: Daubdet,
die beiden Brüder Rosny, Paul Margueritte, Geffroy,
Mirbeau, Huysmans, Hennique. Dieſe haben die
zwei noch fehlenden Mitglieder zu wählen, was erjt
im Herbſt geichehen joll. Man fpricht von Descaves,
dem Verfaſſer de8 Romans „Les Emmures*, von
Elifee Reclus, dem berühmten Geographen und
Anardiften, aber auch von Toljtoj und Ibſen —
alfo eine Ehrung der ausländiſchen Litteratur — do
ift das nicht mehr ala bloße Vermutung. Daudet
hält für das Wichtigfte die baldige Verleihung des
von Daudet ausgejegten Preijes von fünftaufend
Franken für das —— Werk eines Anfängers.
Scjreibt bien Norwegiſch Diefe Frage wirft
eine amerifanifche Wochenſchrift („Eritic”) auf, um fie
zu verneinen; denn Ibſen jchreibe ebenjo wie Björnjon
nichts andres als Däniſch. Es ift doch fraglich, ob
das in jo jchroffer Faſſung richtig ift. Allerdings
find die Beftrebungen, das Norwegiſche als Schrift-
ſprache zu gebrauchen, erft jeit der Mitte des neun=
zehnten Jahrhunderts lebhafter geworden. Die däniiche
Schrift und Umgangsiprade hat feit der Calmariſchen
Union von 1397, welche die drei nordiichen Reiche
vereinigte, in Norwegen ſich um jo fefler eingemwurzelt,
als diejes bis 1814 jtaatlich mit Dänemark verfnüpft
blieb. Norwegiſch jank zur Bauernmundart herunter.
Holberg, der aus Bergen in Norwegen nad) Ropen«
Loſe Blätter.
bagen überfiedelte, gab ſich die größte Mühe, um
die Anklänge an das Nortwegiiche aus feinem Däniih
ausjumerzen. Nur in den Volfsliedern und Volt:
fagen, die fpäter Asbjörnſen ſammelte, behauptete
das Norwegische feine Geltung. Aus der Mıumdart
geftalteten dann Ivar Najen und andre um die Mitte
des meunzehnten Jahrhunderts eine neunorwegiiche
Sprade (Norst Landsmaal), die in Zeitungen umd
Büchern angewendet wurde, um die ftaatlidhe Selb—
ftändigfeit Norwegens zu befräftigen. Belonder:
Björnjon hat fi bemüht, die Eigentümlichfeiten des
Norwegiſchen gegenüber dem Dänifchen jchärfer aus
zuprägen, im Wortſchatz, in den Formen und jelbft
im Sahbau, jo daß er, wie auch die genannte ameri⸗
kaniſche Wochenfchrift zugiebt, für den Durdignittt
dänen jchwer verftändiih. Demnach ift doch das
Neunorwegiiche, wenn aud noc feine durchaus
fertige Schriftipradhe, ſchon ftarf auf dem Wege dazu,
fid) vom Däniſchen ganz zu entfernen.
*
Schriftitellerhonorarevor 60 Jahren. Der Ahnhert
des modernen franzöfiichen Romans, Stendhal, oder
mit feinem eigentlichen Namen Henri Benle, bat in
ben vierundzwanzig Jahren feiner jchriftftelleriihen
Laufbahn von 1817—1839 im ganzen 2i Bände
veröffentlicht und dafür an Honoraren 5700 FFranten
erhalten. Auf feine eigne Koften ließ er 1817 kei
dem berühmten Verleger Didot in Paris einen Band
mit Lebensbejchreibungen Haydns, Mozarts und
Metaftafios (des Hofdichters des Kaifers Karl VL),
jowie eine „Geſchichte der Malerei in Jtalien“ er:
jcheinen ; vom erfteren Buch wurden 127, vom Teßteren
284 Eremplare verfauft, der Verfafjer hatte einen
Schaden von 3500 Franken. Sein nächſtes Wer
war der Roman „L’amour*. Im jchroffen Gegeniah
zum hohlen Pathos in der „Corinne“ der Madame de
Stael, ftellte er fich die Aufgabe, die Wirklichkeit
treu umd natürlich zu jchildern und den Leſer zu
unterhalten. Die Vorrede nennt „Corinne“ ein Meifter-
wert der Dummheit, aber fie meint zugleich, dab auf
hundert Zejer nur vier von „L’amour* treffen würden,
erft um das Jahr 1880 werde das Verjtändnis für
den Verfaſſer ſich eintellen. Stendhals Meifterwer!
„Rouge et Noir“ erſchien 1831, eine Schilderung der
Geſellſchaft vor der Revolution in Romanform, würdig
eines Balzac oder Thaderay, aber von den Zeitge
noſſen nicht beachtet. Für „L’amour“ hatte Stendhal
fein Honorar erhalten, „Rouge et Noir“ bradte ihn
1500 Franken, jein nächſtes Werk „La chartreus
de Parme* 2500 Franken. Aber er war jet durd
den Mangel an Erfolg jo entmutigt, daß er ſich mit
dem Gedanken an Selbſtmord trug; zum Glüd bei
ihm der franzöfiihe Konſul in Eivita Vecchia jein
Gaftfreundichaft an; dort ftarb Stendhal 1842.
Seine Prophezeiung aber hat ſich erfüllt, erft jet
find feine Bücher in weiteren Kreiſen gejchägt, *
Verdienſte ins Licht geſtellt.
Berantwortlider Redalteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart. Drud und Berlag der Deutſchen Berlagd-Anftalt in Stuttgari.
Briefe und Sendungen find nur an bie Dentfde Derlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu ridten
SHleichbeit.
Edward Bellanın.
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von W. Jacobi.
(Fortfekung.)
XV.
Wohin wir ohne die Nevolution gelommen wären.
„Die Geſchichtsbücher erzählen uns viel davon,”
iagte Ediths Mutter, „bis zu welchem Grabe es ein-
zelnen Individuen und Familien gelungen ift, die
Hilfsquellen ber Natur, den induftriellen Medanis-
mus jowie die Erzeugniffe der verjchiedenen Länder
in ihren Händen zu vereinigen. Julian hatte nur
eine Million Dollard; aber von manchen Perjonen
oder Familien wird berichtet, daß ihre Neichtum fich
auf fünfzig, hundert, ja zwei- bis dreihundert Millionen
belief. Man lieft von Kindern, welche ſchon in ber
Wiege die Erben von ungezählten Millionen waren;
nirgends aber finde ich in den Büchern eine beftimmte
Grenze erwähnt, — und die muß es doch gegeben
haben — bis zu welder ein Menſch fich die Erde
umd ihre Güter, den Boden zur Bebauung und die
Erzeugniſſe der Arbeit aneignen durfte.“
„Fine Grenze gab es nicht,” erwiderte ich.
„Du wirft doch nicht behaupten wollen,“ riej
Edith aus, „daß wenn jemand nur Mug und gewiſſen—
los genug war, er fih Grund und Boden eines
ganzen Landes aneignen konnte und den Leuten auch
feinen Fußbreit Erde übrig zu laſſen brauchte, auf
dem fie ohne feine Erlaubnis hätten ftehen dürfen?“
„Ganz gewiß,” erwiderte ich. „In vielen Ländern
der alten Welt beiaßen in der That einzelne Perjonen
ganze Provinzen. Auch in den Vereinigten Staaten
waren große Streden in Privatbeſitz oder in bie
Hände gewiſſer Körperjchaften übergegangen. Der
einzelne durfte jo viel Land befiten, wie er irgend
wollte. Natürlich ſchloß diefer Bei auch das Recht
in fich, jeden Bewohner diefer Yandftreden auszu«
weifen, wenn der Eigentümer es nicht vorzog, Die
Leute gegen Zahlung eines Tributs dableiben zu
lafien.“
„Und wie verhielt e& fich mit den andern Dingen
außer dem Grund und Boden?” fragte Edith.
„Sanz ebenfo,” jagte ih. „Ein Menſch konnte
in den ausfchließlichen Beſitz aller Fabriken, aufs
läden und Bergwerke gelangen, ſich aud) aller Hilfe»
Aus fremden Zungen. 1807. IL. 1%,
mittel der Induftrie und des Handels bemächtigen,
jo daß niemand irgend welche Gelegenheit mehr fand,
jeinen Lebensunterhalt zu erwerben, ausgenommen
als Knecht des Eigentümers und auf deſſen Be—
dingungen,”
„Wenn wir recht berichtet find,“ ſagte der Doktor,
„10 hatte, ſchon ehe Sie damals in Schlaf verfielen,
die Konzentration des Befikes von Produftion und
Güterverteilung, Handel und Induftrie durch Synbdi-
fate und SKonjortien, in den Wereinigten Staaten
einen Punkt erreicht, der allgemeine Beunruhigung
hervorrief.“
„Ganz gewiß,” beſtätigte ih. „Es ging ſchon
jo weit, daß ein paar Dubend Menfchen in New Mort
es in ihrer Gewalt hatten, nad Belieben jeden
Transport zu hemmen. Die vereinigte Macht einer
andern Gruppe von Kapitaliften würde volllommen
ausgereicht haben, um die Induſtrie und den Handel
des ganzen Landes zum Stillitand zu bringen, allen
Broterwerb unmöglich) zu machen und die gejamte
Bevölkerung dem Hunger preiöjugeben. Das eigne
Intereſſe, das diefe Kapitalijten am Fortgang der
Geſchäfte hatten, war die einzige Bürgſchaft, welche
dem Volke für den Erwerb feines Lebensunterhalts
von Tag zu Tag blieb. Wenn die Kapitaliften die
Leute dazu zwingen wollten, ſich bei einer politiichen
Wahl ihren Wünſchen zu fügen, jo drohten fie ihnen
regelmäßig, daß fie die Yabrifen im Lande ſchließen
und eine Gejchäftstrifis veranlafien würden, falls
das Ergebnis der Wahl nit ihren Erwartungen
entipräche.”
„Segen wir einmal den Fall, Julian, daß eine
Perſon, eine Familie, oder eine Gruppe von ſtapita—
liften in den alleinigen Befi von dem Grund und
Boden und dem ganzen wirtjchaftlichen Mechanismus
einer Nation gelangt wäre. Damit aber nicht zu-
frieden, wünjchte fie noch den unbefchränkten Beſitz
alles Landes und aller Induftriemittel auf der ganzen
Erde an ſich zu reißen — würde das wohl mit euern
Geſetzen über das Eigentumsrecht unvereinbar ge
wejen jein?”
109
866 e
„Durchaus nicht. Wenn ein Menjch, fei e8 durch
Schlauheit und Gejhidlichkeit oder durch Erbſchaften,
einen Rechtsanspruch auf den ganzen Erdball ger
wänne, jo würde diefer nach unjerm Gejch fein
Eigentum, und er fönnte damit anfangen, was ihm
beliebte, niemand hätte ihm etwas dreinzureden.
Uebrigens ift Ihre Borftellung von einer Perjon
oder Familie, die den ganzen Erbball beherricht, fein
reine® Phantaſiebild. Als ih damals in Schlaf
verfiel, gab es in Europa ein Bankhaus, deſſen
Madtmittel und Hilfsquellen ſich über die ganze
Welt verbreiteten und fo gewaltig waren, auch jo
raſch und auf jo wunderbare Weiſe zunahmen, daß
fie fchon einen ftärkeren Einflug auf die Gejchide
der Nationen hatten, als jemals ein Monard) aus-
juüben vermochte,“
„Hören Sie num, ob id Ihr Syſtem verjtanden
habe: Wenn die Betreffenden wirllich ben Erbball
in Befik genommen hätten, fo wären fie gefehlid)
befugt gewejen, im Namen des geheiligten Eigentums
rechts der Menfchheit den Aufenthalt auf der Erde
zu fündigen. Falls ji das Menſchengeſchlecht diejer
Anordriung nicht fügte, hätten fie ihm befehlen lönnen,
das Geſetz, von Polizei wegen, an fich felber zu voll-
jtreden und fi von der Oberfläche der Erde aus—
zuſtoßen. erhält fid) das jo?“
„Ohne Frage.”
„D Vater,“ rief Edith aus, „du und Julian,
ihr wollt ung zum bejten haben. Ihr meint wohl,
ihr könntet uns alles aufbinden, wenn ihr nur ernfte
Gefichter dazu macht? Aber das geht denn doch zu
weit.“
„Es wundert mid nicht, daß du das glaubft ;
aber du fannft dich leicht aus den Büchern über:
zeugen, daß wir die mögliche Ausdehnung des Eigen«
tumsrecht3 unter dem alten Syſtem durdaus nicht
übertrieben haben. Was damals Eigentumsrecht
genannt wurde, bedeutete für einen jeden, der klug
genug dazu war, die unbegrenzte Befugnis, alle
übrigen um ihr Eigentum zu bringen.”
„Dann jcheint es aljo,” fagte Edith, „daß unter
der alten Regierungsiorm der Traum einer Welt
eroberung durd) ein Individuum auf wirtichaftlichem
Wege ansführbarer gewejen wäre ald auf milis
täriſchem.“
„Sehr wahr,“ ſagte der Doltor. „Alexander und
Napoleon haben ihren Beruf verfehlt. Sie hätten
Banquierd werben jollen, nicht Soldaten. Aber aller=
dings war in ihren Tagen die Zeit noch nicht reif
für eine weltumfaſſende Gelodynaftie, wie wir fie
beiprochen haben. Die Könige hatten eine raube
Art, ſich in die jogenannten Eigentumärechte einzus
mifchen, wenn dieje das königliche Anjehen ſchädigten
oder eine gefährliche Unzufriedenheit im Wolle er=
zeugten. Selbſt Tyrannen, duldeten fie nicht willig
Edward Bellamy.
Nebentyrannen in ihrem Bereich. Erſt als die Könige
ihrer Macht entlleidet waren und das Interregnum
einer Sceindemofratie ſich zu entwideln begann,
blieb weder im Staat noch in der Welt männliche
Kraft genug übrig, um einer weltumfaſſenden Gewalt:
berrichaft des Geldes zu widerfiehen. Als dann gegen
das Ende des neunzehnten Jahrhunderts internationaler
Handel und finanzielle Verbindungen jede- nationale
Schutzmauer durchbrochen hatten und die Erde ein
einziges Feld wirtichaftlicher Unternehmungen geworden
war, wurde die Idee einer allgemein herrſchenden
und in einem Punkte gefammelten Geldmacht nicht
allein möglich, jondern hatte ſich, wie Julian jagte,
ichon fo verkörpert, daß fie ihren Schatten vorauswarf.
Wäre damald nicht der große Umfturz eingeireten,
jo hätte fidy ohne Zweifel eine unumfchränfte Pluto:
fratie irgend welcher Art gebildet; oder eine flarle
Dligardie, die auf volljtändiger Monopolifierung
alles Eigentums durd eine Heine Minderzahl be:
ruhte, würde lange vor unfern Tagen die Weli-
regierung in die Hände befommen haben. Abe
natürlich der Umfturz mußte fommen, als er fam;
wir brauchen daher nicht weiter Darüber zu reden,
was geworben wäre, wenn er fich nicht ereignet hätte.“
XVI.
Eine Rechtfertigung, die verdammt.
„Wie ich geleſen habe,“ ſagte Edith, „iſt fein
Syſtem der Bedrückung jemals jo verderbt geweſen,
daß nicht diejenigen, welche daraus Vorteil zogen.
nod) genug moraliſches Gefühl beſaßen, um nad
einer Rechtfertigung für fid) zu ſuchen. War eiwa
das alte Syftem der Befitverteilung, bei welchem
eine Heine Zahl die große Menge durch die Furdt
vor dem Verhungern in Knechtſchaft hielt, eine Aus
nahme von diefer Regel? Die Reichen hätten id
doch vor den Armen ſchämen müflen, wenn fie feinen
Vorwand, feine Vernunftgründe für den graujamen
Gegenjag in ihrer Lage anführen formten.“
„Vielen Danf, dab du uns an dielen Punft
erinnerft,” jagte der Doltor. „Du haft ganz recht;
jedes auch noch jo ſchlechte Syſtem Hat fich ſtets weiß
zu waſchen gewußt. Es wäre fat unbillig, das alte
Syſtem hurzweg abzufertigen, ohne die Entichuldigung,
die man dafür vorbradhte, in Betracht zu ziehen.
Andrerjeits jcheint es beinahe wohlwollender, fie gar
nicht zu erwähnen, denn jlatt es von Schuld frei«
zuſprechen, lieferte dieſe Rechtfertigung noch einen
weitern Grund zur Verdammung des Syſtems, welches
fie zu verteidigen dachte.“
„Worauf ftüßte ſich denn die Rechtfertigung ?*
fragte Edith.
„Auf die Behauptung, daß von Rechts wegen jeder
einen Anſpruch auf die Ergebnifle jeiner förperlicen
und geijtigen Anlagen habe, das heißt, auf die Früchte
Gleichheit. | 867
feiner Fähigkeiten und Anftrengungen. Da nun
die Fähigkeiten und Anftrengungen verjchiedener
Perſonen verfchiedene wären, jo veritünde es fich von |
jelbit, daß fie beim Gelderwerb wie bei andern Dingen
Rorteile übereinander davontragen mußten. Dies
jet jedoch in der Natur begründet, und aljo müſſe es
recht und gut fein. Es habe fih niemand zu be—
Hagen — wenn nicht über den Schöpfer.
„Nun ift aber eritens die Theorie, dag man im
Verkehr mit den Nebenmenſchen berechtigt wäre,
Vorteil aus jeiner höheren Begabung zu ziehen,
nichts andre als eine Kleine Umſchreibung des
Sprihworts: Macht geht vor Recht! Gerade um zu
verhindern, daß dies zur Wahrheit werde, ftand der
Schukmann an der Ede, ſaß der Richter auf der
Bank und erhielt der Henker feinen Lohn. Der
ganze Endzwed der Zivilifation war ja nichts andres,
als an Stelle des durch die Natur eingefegten Rechtes
der Macht des Stärkeren eine künſtliche Gleichheit
einzuführen, indem man die natürlichen Unterichiede
unberüdfichtigt Tieß und den Schwachen und Ein-
jältigen durch gejeßliche Verordnung die Unterftügung
der Öffentlichen Gewalt lieb, um fie den Starken und
Verſchlagenen gleichzuftellen.
„Während aber die Moraliiten des neunzehnten
Jahrhunderts ebenjo jcharf wie wir die Berechtigung
der Starlen verneinten, ihre phyſiſche Ueberlegenheit
im Verkehr Direkt geltend zu machen, waren jie der
Anfiht, daß die Menichen dazu berechtigt wären,
wenn es indireft und mit Hilfe von Dingen gejchehen
tönnte. Zum Beijpiel; Niemand durfte einen Menichen
anftoßen, der gerade ein Glas Waſſer trank, damit
er es nicht etwa verfchüttete; aber man durfte den
Brunnen an fi bringen, der die ganze Gemeinde
verforgte, und die Leute nötigen, jeden Tropfen
Waſſer mit einem Dollar zu bezahlen oder ſich ohne
Waſſer zu behelfen, Auch wenn der Bejiter bes
Brunnens diefen zufüllen Tieß und die Yeute ohne
Entihädigung des Waſſers beraubte, meinte man,
er wäre in feinem Recht. Mit Gewalt durfte er
nicht dem Hunde des Bettler feinen Knochen fort
nehmen, aber er durfte den Kornbedarf einer Nation
aufipeihern und Millionen dem Hunger preisgeben.
„Wenn man eines Menſchen Lebensunterhalt
ſchadigt, jo ſchädigt man ihn jelbft. Dieſe Wahrheit
ift jo einfeucdhtend, daß man fie faum noch aus—
zuſprechen braucht; aber unjern Vorfahren machte e&
nicht die geringfte Schwierigfeit, fie zu umgehen.
Sie fagten: Natürlich dürft ihr dem Manne jelbjt
nichts thun; wer ihn nur mit einem Finger verlept,
begeht einen gefeglich jtrafbaren Angriff. Aber fein
Vebensunterhalt ift etwas ganz andres, Der bejteht
aus Brot, Fleiſch, Kleidung, Haus, Ader und ber-
gleihen materiellen Dingen, welche ſich anzueignen
und nad Gefallen zu verwenden man ein unbejchränftes
Recht hat, ohne daß man dabei zu berüdjichtigen
braucht, ob für die übrige Welt auch etwas da ilt.
„Ich brauche, glaube ich, faum zu erwähnen, daß
der Unterfchied, welchen unire Vorfahren zwijchen
der unmittelbaren Anwendung phufilcher Gewalt und
der mittelbaren Ausübung wirtiaftlihen Zwanges
im Verfehr mit dem Nachbar zu machen pflegten,
jeder moraliihen Berechtigung entbehrt. Wer jeinen
Nebenmenſchen durch größere wirtichaftliche Gewandt—
heit oder finanzielle Schlauheit des Unterhalts be—
raubt, ift nicht mehr im Recht, als wer ihm mit dem
Knüttel zu Leibe gebt; und zwar einfadh deshalb,
weil niemand die Befugnis hat, den Nähten zu
übervorteilen oder irgendwie ander& ald gerecht gegen
ihn zu verfahren. Der Zweck ift unmoraliih, und
die angewandten Mittel können daran unmöglich
etwas ändern. Wenn die Moraliften in die Klemme
gerieten, pflegten fie zu behaupten, dab ein guter
Zweck die Mittel heilige; aber meines Willens gingen
fie nie jo weit, zu erflären, daß gute Mittel einen
böfen Zweck rechtfertigen. Das war aber genau, was
die Verteidiger des alten Bejigrechts thaten, wenn
fie den Saß aufftelften, dab man feinen Mitmenjchen
den Unterhalt nehmen und fie zu Knechten machen
dürfe, falls man durd mehr Talent oder größern
Eifer beim Erwerb materieller Dinge über fie trium—
phieren könne,
„Die Theorie aber, daß fih dad Monopol der
Reichen durd) ihre größere wirtichaftlicde Befähigung
rechtfertigen ließe, würde — jelbit wenn fie moraliſch
gejund wäre — durchaus nicht auf das alte Belih-
recht gepaßt haben. Bon allen denkbaren Plänen
für die Verteilung des Eigentums hätte wohl feiner
der Vorftellung eines auf wirtichaftlicher Anftrengung
beruhenden Verdienſtes entfchiedener fpotten können,
Nichts wäre jo gänzlich falſch geweſen, wenn Die
Güterverteilung ſich nad) der Fähigkeit und Betrieb«
jamfeit de& Individuums richten jollte,
„Diejes ganze Gerede ift nur aus der Beſprechung
über Julians Vermögen entjtanden. Nun, erzählen
Sie ung, Julian, war denn Ihre Million Dollars
das Ergebnis Ihrer wirtichaftlichen Begabung und
die Frucht Ihres Fleißes?“
„Natürlich nicht,” erwiderte ih. „Jeder Gent
war ererbt. ch habe Ihnen Schon oft gejagt, daß id)
niemal® in meinem Leben aud nur einen Finger
zu einem nüßlichen Zwed gerührt habe.“
„Und waren Sie der einzige, deſſen Beſitz durch
Erbſchaft ohne eignes Zuthun auf ihn fam?“
„sm Gegenteil; das Erbſchaftsrecht war die feite
Grundlage und Stüße des ganzen Eigentumsſyſtems.
Alles Land — ausgenommen in den neuelten Staaten
— jamt der ganzen Maſſe beweglicher Güter, vererbte
ih vom Vater auf den Sohn.”
„Hört ihr, was Julian jagt? Während die Mora—
868 Edward
liften und die Geiftlichfeit die Ungleichheit des Be—
ſitzes feierlich rechtfertigten und den Armen ihre
Unzufriedenheit zum Vorwurf machten, weil diefe
Ungleichheit von der verjchiedenen natürlichen Bes |
gabung und Betriebſamkeit herrühre, wuhten fie und |
alle, die ihre Worte hörten, die ganze Zeit über, daß |
das Eigentumsſyſtem fich nicht auf Geichiclichleit,
Arbeit oder Verdienft irgend welcher Art gründete, |
jondern allein auf den Zufall der Geburt. Und was
iprähe wohl mehr aller Moral Hohn als dieſe
Einrihtung?”
„Aber Julian,“ rief Edith aus, „du mußt dich
doc) in irgend einer Weile vor beinem Gewiſſen ent-
ſchuldigt haben, daß du, angeficht$ einer bebürftigen
Welt, in ſolchem Ueberfluß ſchwelgteſt!“
„Ich fürchte,“ ſagte ich, „daß du dir nicht leicht
vorjtellen fannft, wie verhärtet im neunzehnten Jahr»
hundert unfer Gewiſſen war, Mancher unter den
Befigenden hielt es wohl gar nod) für ein beſonderes
Verdienft, daß er als Glüdskind geboren war; aber
zu dieſer Sorte gehörte ich wenigftens nicht. Ich
habe niemals viel darüber nachgedacht, mit welchem
Recht ic eigentlich meinen Ueberfluß — zu deſſen
Erwerb ich doch nichts beigetragen hatte — inmitten
einer Welt von hungernden Arbeitern bejäße. Wenn
es mir aber gelegentlich einfiel, war mir zu Mute,
als müſſe ich den Bettler, der ein Almofen von mir
erflehte, um Verzeihung bitten, daß ich in der Lage
war, es ihm zu geben,“
„Ja,“ fagte der Doftor, „mit Julian ift nicht
leicht zu reiten ; aber e8 gab aud) weniger vernünftige
Leute in feiner Geſellſchaftsklaſſe. Fragte man diefe
nad) ihrem moraliſchen Anrecht auf ihre Beſitztümer,
jo beriefen fie fih auf die Vergangenheit. Ihre
Vorfahren, meinten fie, wären fihherlich durch Verdienft
zu ihrem Eigentum gelangt, und eben dieſes Verbienft
berechtigte fie, die Güter amdern zu übermitteln.
Natürlich verwechjelten fie dabei vollftändig die Bes
griffe von gejeglihem und moraliihem Recht. Der
Geſetzgeber durfte zwar, wenn er wollte, dem Menſchen
bie Macht verleihen, feinen Beſitz auf eine andre
Perſon zu übertragen; aber ein Verdienſt, das ſich
auf perjönliche Würdigfeit gründet, fonnte man nicht
an andre überweilen oder abireten, das war nad)
dem Wejen der Moral völlig ausgeſchloſſen. Selbſt
der gewanbdteite Advolat hätte niemals eine Urkunde
ausfertigen können, durd welche ſich aud nur der
kleinſte Rechtstitel an Verdienſt von einer Perſon
auf eine andre übertragen ließe, wie nahe auch ihre
Blutsverwandtichaft fein mochte.
„sn alten Zeiten war es Brauch, die Finder für
die Schulden ihrer Eltern verantwortlich zu machen
und fie zur Befriedigung der Gläubiger in die
Sflaverei zu verkaufen. Die Leute zu Julians Zeit
fanden es ungerecht, die jchuldlofen Nachlommen in
Bellamy.
diefer Weife für die Sünden der Väter büßen zu
lafjen. Wenn aber die Kinder nicht die Folgen der
Trägheit ihrer Väter tragen jollten, fo hatten fie
auch feinen Anſpruch auf die Früchte ihres Fleißes
Die Barbaren, welche auf beiden Arten der Ver:
erbung beftanden, waren logijcher ala Julians Zeit
genofien, welche das eine Erbrecht verwarfen und
das andre beibehielten. War aber lehteres vielleicht
wenigjtend menjchlicher, wenn auch einfeitig? —
‚ Ueber diejen Punft hätten Sie die Anſicht der ent:
| erbten Mafjen hören follen, welchen — infolge dır
‚ Monopolifierung der Erde und ihrer Hilfsquellen
‚ durch die Befiger ererbien Gutes von Geſchlecht zu
Geſchlecht — fein Fußbreit Raum und feine Mög:
lichkeit, ihr Leben zu friften, mehr übrig blieb, aufer
durch Vergünftigung der erbberehtigten Klaſſen.“
„Doktor, ich habe gegen das alles nichts zu er
widern,“ jagte ih. Wir hatten feinen moraliſchen
Anſpruch auf uniern ererbten Reichtum, das wußten
wir jelbft und alle andern auch, obgleich es nicht für
böflih galt, dies Faltum in unfrer Gegenwart zu
erwähnen. Wenn ich aber bier als Bertreter der
erbberedhtigten Klaſſe am Pranger fliehen mu, ie
jollten andre neben mir ftehen. Wir waren es nicht
allein, die fein Anrecht auf unfern Befik hatten.
Wollen Sie denn nichts über die Geldmenſchen jagen,
die Schurken, die binnen weniger Jahre große Ver
mögen durch Betrug und Erpreilung zulammen-
ſcharrten ?”
„Berzeihen Sie, id) war gerade dabei,“ jagte der
Doktor. „Ihr müßt euch erinnern,“ fuhr er, zu
Edith und feiner Frau gewendet, fort, „dab bie
Kaffe der Reichen, die zu Julians Zeit beinahe alles,
was Wert hatte, in der ganzen Welt bejak und den
Mailen nur den Abfall und die Krumen übrig lieh,
in zwei Zeile zerfiel: die, welche ihren Reichtum
geerbt — und die, weldhe ihn erworben hatten. Bir
haben geiehen, daß erftere fein Recht beſaßen, ſich
auf den Grundſatz zu berufen, durch welchen das
neunzehnte Jahrhundert den ungleichen Güterbeitt
entſchuldigte, daß nämlich jedes Individuum gerechten
Aniprud auf die Früchte feiner Arbeit hätte, Num
wollen wir einmal unterfuchen, wie es fich nad dem»
jelben Grundfat mit dem Befigredht jener andern
verhält, weldhe Julian vorhin erwähnte. Sie berieien
fi darauf, daß fie ihr Geld jelbjt erworben hätten.
Das Leben, das fie geführt, war von der Kindheit
bis zum Alter, ohne Ruhe und Raſt, einzig dem
Anhäufen von Schäben gewidmet geweſen. Natürlich
ſchließt die Arbeit an und für fi, wie eifrig fie
auch betrieben wird, fein moralijches Verdienſt ein.
Es fann eine verbrecheriiche Thätigkeit jein. Wir
wollen jehen, ob dieje Leute, die darauf pochten, ie
hätten ihr Geld felbft erworben, ein größeres Red
als Juliana Klaſſe auf ihren Beſit hatten.
Gleichheit.
„Die befte Begründung des Eigentumsrechts, bie
wir aus früherer Zeit überliefert befommen haben, ift
in dem Grundfaß enthalten: „Jeder Menſch hat ein
Recht auf das Produft feiner Arbeit, auf fein ganzes
Produft und auf meiter nichts als fein Produkt.“
Diefe Marime hatte aber eine doppelte Schneide,
eine negative ſowohl als eine pofitive, und die nega=
tive Schneide iſt jehr Scharf. Wenn jeder ein Anrecht
auf fein eignes Produkt hatte, fo durfte jonft nie
mand einen Teil desſelben beanſpruchen. Fand jich
alfo unter den Schäßen, die ein Menſch anhäufte,
irgend ein Produkt, welches, jtreng genommen, nicht
fein eigne® war, fo ftand er nad) obigem Grundjak,
zu dem er ſich ſelbſt befannt hatte, ala ein über-
führter Dieb vor der Deffentlichkeit. Börſenſpeku—
lanten, Eijenbahnfönige, Banquiers, große Grund»
beiper und andre Geldfürften rühmten fich oft, ihr
Leben mit einem Schilling angefangen zu haben,
und ihre Reichtümer wuchſen wie die Pilze, Enthielt
jedoch ein ſolches Kiefenvermögen irgend etwas, das
thatſächlich ſich als Produft der Mühe eines andern
ala des Beſitzers erwies, jo gehörte es ihm nicht, und
daß er es beſaß, verdammte ihn ala Dieb. Nur
dann war er beredjtigt, feine Güter zu befigen, wenn
er aufs forgfältigfte vermied, ſich etwas anzueignen,
was er nicht jelbft produziert hatte. Beftand er auf
dem Pfund Fleiſch, welches ihm durch das Geſetz
zugejprochen wurde, jo mußte er fi auch an den
Buchftaben des Geſetzes Halten und ſich wie Shylod
von Portia warnen lajien:
‚Schneid aud nicht mehr noch minder,
Als grad ein Pfund; iſt's minder oder mehr
Als ein genaues Pfund, ſei's nur jo biel,
(#8 leichter oder ſchwerer an Gewicht
Zu mahen um ein ermes Zwangzigſtteil
Von einem Skrupel, ja wenn ſich die Wagſchal'
Nur um die Breite eined Haares neigt —
So Hirbft du, und dein Gut verfällt dem Staat,”
„Wie viele von Ihren großen Männern, Julian,
die jozufagen durch eigne Anstrengung reich geworden
iind, würden diefe Probe beitanden haben?“
„Rad meiner Ueberzeugung,“ antwortete ich, „gab
es feinen Darunter, deifen Anwalt ihm nicht geraten
haben würde, es zu machen wie Shylod und lieber
jeinen Anipruch aufzugeben, als ihn auf das Rifito
der Strafe hin weiter zu verfolgen. Wie wäre es
denn überhaupt möglich geweſen, innerhalb einer
Lebenszeit ein großes Vermögen zu jammeln, wenn
man ſich auf fein eignes Produft beſchränkt hätte?
Die Kunſt, Reichtümer anzuhäufen, berubte ja ans
erfanntermaßen auf Runftgriffen, durch die man ſich
ohne offenbare Gefekesübertretung in den Beſitz der
Trodufte andrer Leute zu ſetzen verſtand. Es war
ein fanbläufiges und wahres Wort zu jemer Zeit,
da& niemand eine Million Dollars auf rechtichaffenem
Wege gerwinnen könne. Nur durch Erpreilung, Spelu—
869
lation, Börſenſpiel oder irgend eine andre Form der
Plünderung, weiche das Geſetz geftattete, fonnte eine
ſolche That gelingen; das wußte alle Welt. Selbft
heute würde man jene Blutiauger, welche Haufen
Ichlecht erworbenen Gewinns auftürmten, nicht härter
verbammen, als es die Öffentliche Meinung ihrer
eignen Zeit that. Der Fluch und die Veradhtung
aller folgte diefen großen Geldmenichen bis in das
Srab, und das mit vollem Recht. Ich kann nichts
zur Verteidigung meiner eignen Klaſſe jagen, die
ihren Neichtum ererbt hat; aber das Volk jchien
wirflih mehr Achtung vor uns zu haben al& vor
denen, die ſich rühmten, ihr Geld felbft erworben zu
haben. Beſaßen wir Erben auch feinen moralischen
Anſpruch auf den Reichtum, der uns in den Schoß
fiel, fo hatten wir doch wenigitens fein entſchiedenes
Unredt gethan, um ihn zu erlangen.”
„Ihr Seht,“ ſagte der Doktor, „wie ſchade es ge«
wejen wäre, wenn wir verjäumt hätten, die Ent«
ihuldigungsgründe näher zu beleuchten, welche das
neunzehnte Jahrhundert für die ungleiche Güter»
verteilung vorbrachte. Der ethiiche Maßſtab wird
mit jedem Zeitalter ein höherer, und es ift oft une
billig, wenn wir das Syftem einer früheren Zeit nad)
dem moraliichen Standpunft einer ſpäteren beurteilen.
Ein milderes Urteil als das des zwanzigften Jahr—
hundertS wäre aber dem Spflem bes neunzehnten
Sahrhunderts auch von feinem eignen moraliichen
Standpunkt aus nicht zu teil geworden. Um dies
Syſtem zu verdammen, that es nicht not, die moderne
Anſchauung zu verfündigen, welche das Eigentums
recht aus den allgemeinen Menſchenrechten herleitet.
Man brauchte dazu nur auf die praftiichen Ergebniſſe
des Syſtems ben moralischen Beweisgrund anzuwenden,
der zu feiner Verteidigung aufgeftellt worden war,
nämlih: dab jedermann Anſpruch auf die Früchte
feiner eignen Arbeit und feinen Anſpruch auf bie
Früchte der Arbeit eine andern habe — und das
ganze Baumwert war von Grund aus zerſtört.“
„Gab es denn aber damals gar feine Kaffe,”
fragte Edith Mutter, „welche auch nur nad dem
Maßſtab Ihrer Zeit zugleich ein ethiſches und ein ges
jegliches Anrecht auf ihren Beſitz beanſpruchen konnte?“
„Gewiß,“ erwiderte ih. „Die wirklich Reichen
hatten zwar in der Regel fein moralifches, auf Ver—
dient begründetes Beſitzrecht, denn entweder war ihr
Vermögen ererbt oder es bejtand hauptjächlich aus
den Erzeugniffen andrer, die fie auf allerlei Weife,
auch durch Gewalt oder Betrug, an ſich gebradt
hatten, Es gab jedoch eine große Anzahl Leute in
beicheidenen Pebensverhältniffen, die das, was jie
beſaßen, reichlich durch ihre Leiftungen für das Ge—
meinmwejen verdient hatten. Nach dieien fam die
unterfle laffe, der große Haufe völlig mittellojer
Arbeiter, das eigentliche Voll. Dieje hatten num
870
wirklich, vom ethifchen Standpunkt aus, großen An-
ſpruch auf Befik, denn durch fie war ja alles pro-
dugziert worden; aber außer den ſchäbigen Kleidern,
die fie am Leibe trugen, befaßen fie wenig oder nichts.“
„Im allgemeinen fcheint es,“ fagte Edith, „dab
ſelbſt nad der Anficht deiner Zeit gerade die befikende
Klaſſe wenig oder fein Eigentumsrecht hatte, während
die Maſſen, die ein Recht auf Eigentum hatten, nichts
beſaßen.“
„Der Hauptſache nach war das wohl der Fall,“
erwiderte ih. „Das heißt, wenn man ſämtlichen
Beſitz nahm, der fih nur auf gejehliche Vererbung
gründete, und alles hinzuthat, was durch Spekulation,
Frprefiung, Betrug oder erzwungene Dienſte ge=
wonnen worden war, fo blieb überhaupt wenig
Eigentum übrig, feinenfalla beträchtliche Reichtümer.“
„Wer die Predigten der Geiitlichen zu Juliana
Zeit hörte, hätte alauben müſſen, der Edftein des
Chriſtentums fei das Eigentumsrecht, und das hödhite
Verbrechen die unrehtmäßige Aneignung fremden
Beſitzes,“ fagte der Doktor. „Wenn aber ftehlen
nur jo viel hieß, als einem andern das nehmen,
worauf er einen ethiſch gültigen Anſpruch hatte, jo
muß das ein ganz bejonders jchwieriges Verbrechen
geweſen jein, weil es dergleichen nicht zu ftehlen gab.
Wer dem Armen das Seinige nahm, hatte dagegen
ohne Zweifel gejtohlen, aber die Armen beſaßen nichts,
was man ihnen ftehlen konnte.“
„Bei diefem ganzen abſcheulichen Zuftand ift mir
dad Allerunglaubliite,” ſagte Edith, „daß ein
Syſtem fih auch nur einen Tag zu erhalten ver—
mochte, welches von jo verhängnisvollen Folgen für
das Gemeinwohl war, und fidh nicht nur die großen
enterbten Volfsmajien zu bitteren Feinden gemacht
hatte, jondern jelbft von Leuten wie Julian, die doc)
ihren Vorteil daraus zogen, nicht als gerecht ver=
teidigt werden fonnte,“
„Mid wundert nicht, daß es dir unbegreiflic)
ericheint,“ verjeßte ich, da es mir jeht, im Küdblid
darauf, jelbit jo vorlommt, und ich in der neuen
Umgebung immer mehr die Fähigkeit verliere, es zu
verftehen. Du kannſt dir unmöglich eine Vorſtellung
davon machen, wie erftarrend der uralte Nimbus,
der bie Herrichaft der Reichen und unjer Beſitzſyſtem
umgab, auf das Gemüt wirfte. Nichts in der Welt
hatte eine ähnliche Dauer aufzuweijen; eine andre
wirtfchaftliche Ordnung hatte man nie gefannt. Alle
übrigen menſchlichen Einrihtungen waren dem Wechſel
von Sitte und Brauch unterworfen gewejen, aber
im Beſitzſyſtem war niemals ein gründlicher Wandel
eingetreten, Politijche, joziale und religiöje Syiteme,
die Herrſchaſt der Könige, der Kaifer, der Geiftlichen
und des Volkes, nebjt allen andern großen Phaſen
menfchlicher Entwidiung, waren vorübergezogen wie
Wollenſchatten; die Reichen aber regierten die Welt
Edward Bellamp.
fort und fort jeit dem grauften Altertum, Bedente,
wie tief eingewurzelt im menjchlichen Vorurteil und
wie weit verzweigt ein ſolches Syſtem fein mußte!
Wie vermeſſen erichien der Menge eine Auflehnung
Dagegen, wie undenfbar bie Vorftellung, daß dieſer
Gejellichaftsorbnung, deren Anfang fi in tieffiet
Dunkel hüllte, je ein Ende gemacht werben kinze.
Was bedurfte ein durch Gewohnheit und Alter fo
feft gegründetes Syſtem noch der Entſchuldigung
oder der Verteidiger? — Es iſt micht zu viel gelant,
wenn ich behaupte, daß man zu meiner Zeit das
Menichengeichleht in Reiche und Arme teilte, und
dat die Unterwerfung der lebteren unter die Her:
ichaft der erfteren beinahe ebeniogut für ein Natur:
gejeß galt wie der Wedel der Jahreszeiten. Et
mochte feine Unannehmlichkeiten haben, aber ändern
ließ es fich keinesfalls. Ich begreife wohl, daß cs
für die Urheber der Umſturzbewegung eine ebenio
ſchwere als notwendige Aufgabe geweſen jein mus,
das ungeheure, tote Gewicht des von alters her en:
erbten Vorurteil zu überwinden und an der Mög:
lichkeit feitzuhalten, daß man Mifbräude, die ie
lange Beftand gehabt hatten, noch los werden fünnt.
68 galt vor allem, den Leuten die Augen darüber
zu öffnen, daß das Syftem der Güterverteilung nur
eine menschliche Einrichtung fei wie andre auch.
Schreitet die Menſchheit in Wahrheit fort, ſo muß
jede Einrichtung um jo mehr aus dem Zufammenbange
mit dem Fortſchritt der Melt geraten, je länger ihre
Dauer gewejen ift, und um fo gründlicher muß auf
ihr Wandel fein, damit fie wieder in Einklang mit
der übrigen Gejellihaftsordnung gebracht werden fann.
„Webrigens beſteht zwijchen dem Niedergang und
Fall des Syitems der füniglichen und priefterlicen
Macht und dem Umfturz der Herrichaft der Reichen
ein recht bezeichnender Unterſchied. Erftere Syfiem:
wurzelten tief im Gefühle und in der Romantit.
Noch Jahrhunderte nach ihrem Untergang behielten
fie einen mächtigen Einfluß auf Herz und Phantafıe
der Menjchen. Unier großmütiges Geſchlecht gedachte
ohne Erbitterung an alle Bebrüdungen, die es je
erlitten hatte, mit alleiniger Ausnahme der Tyrannti
der Reichen; die Herrihaft der Geldmacht hatte von
jeher weder Würde noch moraliſche Grumbdlage be
ſeſſen. Kaum waren ihre materiellen Stüßen zeritätt,
fo fanf fie nicht nur dahin, ſondern ſchien ſogleich
in einen Zuftand von Fäulnis zu geraten, und die
Welt mußte fie jehleunigft begraben, damit fie iht
auf immer aus den Augen und der Erinnerung ber
ſchwand.“
XVII.
Die Nevolution bewahrt dad Privatvermögen baber,
zum Monopol zu werben,
„Wer hätte wohl daran gedacht," jagte Frau
Peete, „dab Edith Vorſchlag, den Kaſſenſchraul zu
Gleichheit.
öffnen, eine jo großartige Erörterung veranlajien
würde ?*
Ic erwiderte darauf, daß ich am heutigen Morgen
über die moralilche Baſis der wirtihaftlichen Gleich»
beit und die Gründe für Abſchaffung des Privat-
vermögend mehr gelernt hätte als während aller
meiner früheren Erlebniſſe, feit ich ein Bürger des
zwanzigſten Jahrhunderts wäre.
„Die Abjihaffung des Privatvermögens!” rief
der Doktor. „Was meinen Sie damit?”
„Ich gebe ja gerne zu, daß Sie etwas viel Bejleres
an die Stelle gejeht haben,“ fuhr ich fort. „ber
da& Privatvermögen ift doch jedenfalls abgeichafit,
nit wahr? Wovon hätten wir denn ſonſt die ganze
Zeit geredet ?”
Der Doktor ſah die Damen wie hüfeflehend an,
ala wolle er fich ihres Mitgefühls verfichern. „Sit
es denn möglich,” jagte er, „der junge Mann bier
« glaubt, wir hätten das Privatvermögen abgeihafit,
und trägt dabei im Augenblid eine Kreditfarte in der
Taſche, die ihm ein jährliches Einkommen von vier
taujend Dollars gewährt, welche er ausſchließlich für
ieine perfönlichen Bedürfniffe verwenden kann. Es
find die Zinien von jeinem Anteil am Gejamiver-
mögen der reichften und wohlbegründetften Gejellihaft
der ganzen Welt. Berechnet man fie zu vier Prozent,
jo beläuft fich der Wert des Anteilfcheind, den er
befigt, auf die Summe von hunderttaujend Dollars.”
Ich kam mir recht einfältig vor, als mir jo deut⸗
lich zu Gemüte geführt wurde, wie gedanfenlos meine
Aeußerung gemwejen war; doch der Doftor beeilte fich,
mir zu verſichern, er verſtehe vollfommen, was mir
im Sinne läge. Ohne Zweifel hätte ich zu meiner
Zeit von den Gelehrten hundertmal behaupten hören,
daß bei gleicher Güterverteilung unter den Menfchen
von Privatvermögen natürlich nicht mehr die Rede
jein fönne, Ohne weiter über die Sache nachzudenfen,
nähme ih nun an, daß mit der Seritellung der
wirtfchaftlichen Gleichheit auch, wie vorauägeiagt wor«
den, da8 Privatvermögen aufgehoben worden ſei.“
„Jawohl,“ verjeßte ich, „Io habe ich es mir ge=
dacht.“
„Die Revolution,” erklärte der Doltor, „hat den
Privatlapitaliamus abgeihafft, das heißt, fie hat
nicht länger geduldet, daß nichtverantwortliche Per:
ſonen fich der Leitung von Handel und Gewerbe
bemädhtigten, um ihren eignen Vorteil daraus zu
ziehen. Sie hat dieſes Amt dem Volle gemeinjam
übertragen, und e8 wird von verantwortlichen Beamten
zum Nuben des Geſamtwohls verwaltet. Durch diejen
Umſchwung entitand zwar eine ganz neue Beſitz-
ordnung, aber weder direlt noch indireft war darin
ein Verbot des Privateigentums enthalten. Im
Gegenteil, das neue Syſtem ficherte den Privatbefik
und das perjönliche Eigentumsrecht jedes Bürgers
871
auf einer Grundlage, die unvergleichlich feiter, aus—
gedehnter und dauerhafter war ala irgend eine, welche
man je zuvor gehabt hatte oder haben fonnte, jolange
der Privatlapitalismus am Ruder war. Laſſen Sie
uns die MWirfungen des Syſtemwechſels näher ins
Auge fallen, dann werden Sie fehen, ob ich nicht
recht habe:
„Nehmen wir an, Sie hätten mit einer Anzahl
Ihrer Zeitgenofien, von denen jeder in einem Berg-
werfäbezirk feine bejondere Parzelle beſaß, eine Ge⸗
noſſenſchaft gebildet, Ihre Befigtiimer vereinigt und
den Betrieb gemeinfam fortgeführt. Würde dann
jeder von Ihnen etwa weniger Privateigentum haben,
al3 da Sie noch die Stüde einzeln befahen? Zwar
die Art des Beſißtitels Hätte fich verändert, doc das
würde Ihnen nur zum Vorteil gereichen, wenn fi
das Ablommen als zweckmäßig eriwieje, nicht wahr ?
„Natürlich könnten Sie keine ebenjo jelbftändige
und perjöntiche Auſſicht über das Lonjolidierte Berg»
werk führen wie über Ihre befondere Parzelle. Sie
wären genötigt, im Verein mit Ihren Genoffen bie
Berwaltung des gemeinfchaftlihen Eigentums einem
von Ihnen gewählten Direktorium anzuvertrauen ;
doc würden Sie nicht glauben, dadurch Ihr Privat-
eigentum aufzugeben, jollte id) meinen.“
„Gewiß nicht. Das war die Form, unter welcher
ein großer, wenn nicht der größte Teil des Privat»
eigentums zu meiner Zeit angelegt und beauffichtigt
wurde.“
„Es jcheint demnach,“ jagte der Doktor, „daß
man Privateigentum befigen und genießen fann, ohne
es notwendigerweife in einem bejondern Bündel zu
haben oder eine direkte perjönliche Aufficht darüber
zu führen. Sehen wir nun ferner den Fall, daß
Ihr vereinigter Befik nicht einem Direltorium an—
vertraut würde, welches aus mehr oder weniger
ſchurkiſchen Privatleuten beftände, die fortwährend
darauf ausgingen, die Geſchäftsinhaber zu betrügen,
jondern daß die Nation jelbft die Verwaltung über-
nehme und von Beamten bejorgen ließe, die Sie jelber
wählen und die Ihnen verantwortlid; wären. Würden
Sie Ihr Eigentumsrecht dadurch für geſchädigt halten?“
„Im Gegenteil, der Wert des Beſitzes wäre
dadurch bedeutend erhöht. Die Regierung leiftete
ſozuſagen ſelbſt Bürgihaft für ein Privatunter-
nehmen,”
„Run wohl — ganz ebenjo ijt das Voll bei der
großen Ummälzung mit dem Privatbefiß verfahren.
Man hat das Gefamteigentum des Landes vereinigt,
das früher in einzelne Teile zerftüdelt war, und die
Verwaltung einem Nationalausfhuß übertragen, der
verpflichtet ift, die Dividenden an die Teilhaber zu
überweifen zu deren perjönlichem Gebraud. Sie
werden mir beipflichten, daß bierin durchaus feine
Abſchaffung des Privateigentums lag.“
872
„Das trifft zu,“ ſagte ich, „außer in einem
Punkte. Zum Weſen des perjönlichen Beſitzes ge—
hörte vor allem, daß der Eigentümer nad) Belieben
frei darüber verfügen durfte. Wer Bergwerfs- oder
Fabrilaltien bejaß, fonnte zwar nicht ein Stüd von
der Grube oder der Fabril verfaufen, aber doch feinen
Anteilfchein. Der heutige Bürger dagegen kann feinen
Teil des Nationalvermögens nicht verwenden, wie er
will. Nur die Dividende wird ihm ausgezahlt,“
„Ganz recht,” verjegte der Doktor. „Die Mög-
lichkeit, fein Kapital zu verbrauchen, lag damals im
Begriff des Privateigentums; aber daß fie notwendig
dazu gehörte oder für den Befiger jehr vorteilhaft
war, läßt fich nicht behaupten. Wer über fein Ver—
mögen verfügen durfte, für den lag aud) die Gefahr
nahe, dab andre es ihm rauben fonnten, Ich glaube,
es gab zu Ihrer Zeit feinen wohlhabenden Mann,
der nicht dem Recht, fein Vermögen zu verbrauchen,
mit Freuden entfagt haben würde, wenn man ihm
dejjen unantaftbaren Beſitz für jih und feine Kinder
verbürgt hätte, Bon jeher war es das Streben reicher
Leute, die ihre Güter den Erben ſichern wollten, ſolche
Beitimmungen über ihr Eigentum zu treffen, daß
der Nubnieber das Kapital nicht angreifen könne.
Denken Sie zum Beifpiel an den unveräußerlichen
Grundbeſitz. Der Eigentümer lonnte ein ſolches
Erbgut nicht verfaufen, und gerade wegen dieſes
Umftandes galt es für ein befonders wünſchenswertes
Beſitzuum. Ganz ebenjo macht die Thatiache, die
Sie erwähnen, — dab unfre Bürger nicht über ihren
Anteil am Nationalvermögen verfügen fönnen, auf
dem ihr Einkommen beruht — diefen Anteil nur um
jo wertvoller. Daß man ihn von dem Individuum,
dem er gehört, auf feine Weife trennen fan, ver—
ftärft noch feine private und perjönliche Bedeutung.
Man könnte jagen, dab durd die Neuordnung des
Eigentumsfoftems, von der wir jprechen, die ganzen
Vereinigten Staaten zu einem unveräußerlichen
Grundbejik geworden find, aus dem ihre jümtlichen
Bürger und deren Nadhlommen in gleicher Weije
Nutzen ziehen für alle Zeiten.“
„Die allerftärffte Maßregel, welche die Revolution
gegen das Privatvermögen zur Anwendung brachte,“
fagte ih, „haben Sie noch gar nicht erwähnt, Ca
ift dies die Einrichtung, daß jeder genau denielben
Zeil erhält wie alle andern. Das veritieß zwar
nicht gegen den Begriff des Privatvermögens über-
haupt, aber eö war dod jedenfalls eine ungeheure
Beeinträchtigung aller Beſitzenden.“
„Sie unterjcheiden ganz richtig ; dies iſt von hödhiter
Bedeutung für das Verftändnis des Genenjtandes,
Die Geſchichte ift voll derartiger Ausgleihungen des
Beſitzes durch Plünderung, Beichlagnahme oder
Eroberung. Mandhmal ließen fie ich rechtfertigen,
mandmal nicht, aber jelbjt wenn fie am allerunbilligiten
Edward Bellamy.
waren, bat man doch nie gemeint, daß Dadurch der
Begriff des Privatvermögens an ſich verneint würde;
denn man ging augenblicklich dazu über, ihn in einer
andern Form von neuem geltend zu machen. Weniger
als bei irgend einer jener früher erfolgten Ausgleih-
ungen wurde bei der allgemeinen Güterverteilung
durch die Revolution das Eigentumsrecht in Abredı
geftellt. Es war im Gegenteil eine Geltendmadung
und Bejtätigung dieſes Rechts in fo großartigem
Mapftabe, wie man es nie für möglich gehalten.
Vor dem Umſturz beſaßen überhaupt wenige Menſchen
Vermögen oder mehr ald eine Verſorgung von Tag zu
Tag. Durch das neue Syftem wurde allen ein aus
giebiger, gleicher und beftimmter Anteil am nationalen
Gejamtvermögen und Einkommen gefichert. Früher
hatten ſelbſt die, welche zu einem Vermögen gelangt
waren, feine Gewißheit, daß man «8 ihnen nidt
fortnehmen würde ; auch konnten fie es auf taufen-
derlei Weije verlieren. Selbſt der Millionär war
nicht ficher, ob nicht fein Enlel heimatlos umberirren,
feine Entelin in bitterfter Armut jchmachten müſſe.
Unter dem neuen Syſtem wurde das Recht jedes
einzelnen an feinen perjönlicen Beſitz unantaftbar;
er konnte es nur einbüßen, wenn die ganze Nation
zu Grunde ging. Alſo weit entfernt, das Privat:
vermögen zu verneinen oder abzuichaffen, hat die Um«
wälzung es im Gegenteil in einer weit beftinmteren,
wohlthätigeren, dauerhafteren und allgemeineren form
beftätigt, al$ das je zuvor der Tall geweien.
„Wie die menschliche Natur num einmal geartet
ift, war e8 ganz jelbftverftändlich, Julian, dab Ihre
Zeitgenoſſen ſich gegen die Vorftellung von einem ale
gemeinen Eigentumdrecht empörten, weil fie glaubten,
man zerftöre Dadurch den Grundbegriff des Eigentum:
überhaupt. Es hat ja auch nie einen Propheten oder
Reformator gegeben, der, wenn er für reinere, geiftigere
und vollfommenere religiöje Anſchauungen eintrat,
von feinen Zeitgenoffen nicht beſchuldigt worden wäre,
er wolle die Religion antaften. Ebenſo hat man in
ber Politik feiner Partei, die nad einem gerechteren,
weitherzigeren, weijeren Regiment ftrebte, den Bor-
wurf erjpart, fie wolle die Regierung abjhaflen.
So war es denn ganz folgerichtig, daß man diejenigen,
welde das Eigentumsrecht aller verfündigten, be
ſchuldigt hat, fie griffen das Eigentumsrecht jelber
an. Men aber joll man für die wahren Fyreunde und
Verteidiger des Privateigentums halten? Etwa die:
jenigen, die ein Syitem befürworteten, das einzelnen
Menſchen geftattete, den Erdball zu beherrſchen, wenn
fie flug und flark genug waren, um ihre Macht zu
behaupten, — eine Feine Anzahl befand fich ſchon auf
dem beften Wege dazu — und alle ihre Mitmenſchen
zu Proletariern zu machen? Oder ung, die wir den
Grundſatz aufftellen, daß alle Menſchen Eigentum
bejigen jollen und zwar zu gleichen Zeilen ?°
Gleichheit.
„Mir jcheint,” jagte ich, „ſobald es den Führern
der Umſturzbewegung gelungen war, dem Bolt dieje
Auffaftung der Sache klarzumachen, müjjen meine
alten Freunde, die Kapitaliiten, erfahren haben, daß
iht Geſchrei über ‚geheiligtes Kigentumsrecht‘ zu
einer gefährlichen Waffe wurde, die ihre Spitze gegen
fie jelber kehrte.”
„Das war auch der Fall. Wie wir gejehen haben,
fonnte nichts den Zweden der Revolution förderlicher
kin, ald wenn fie die ftrittige Frage über das Eigen-
tumstecht zur Entjcheidung brachte. Es war vor
allen wünjchenswert, daß das ganze Volk veranlaft
würde, ernftlich Darüber nachzudenlen, wie das geltende
Recht beihaffen war und wie es hätte fein follen.
Schr bald wurde dann der laute Ruf nad) dem ge=
heiligten Eigentumsrecht, den zuerſt die Reichen im
Namen einer Heinen Minderheit erfchallen ließen,
von den enterbten Millionen mit überwältigender
Wirlung im Namen aller wiederholt."
XVIIL
Ein Echo aus der Vergangenheit,
„Ah, was finde ich hier!* rief Edith, die im
Verein mit ihrer Mutter in den Schubfädhern des
Kaffenihrants geframt hatte, während ich mit dem
Doktor ſprach. „Ich glaube, das find Briefe!
Man bewahrte alfo in einem eifernen Schranf nicht
nur Geld auf, jondern auch andre Dinge.”
Und wirflich, e8 war ein Paket Briefe und Zeitel,
die mir Edith Bartlett während unfrer Verlobungs-
zeit bei verfchiedenen Gelegenheiten geichrieben hatte,
welche ihre Urenfelin Edith jebt in der Hand hielt.
Bon unbefchreibliher Rührung ergriffen, nahm ich
fie ihr ab und öffnete einen der Briefe; er trug das
Datum des 30, Mai 1887, des Tages, an welchem
ih mid auf immer von ihr getrennt hatte. Sie
bat mich darin, fie und die Jhrigen nad Mount
Auburn zu begleiten, um dort am Todestag ihres
Bruderd, der im Bürgerkrieg gefallen war, deſſen
Grab zu jchmüden. „Ich verlange nicht von dir,
Julian,“ fchrieb fie, „daß du, weil du mid) heirateft,
alle meine Verwandten als die deinigen betrachten
jolt. Aber mein Heldenbruder muß auch dir an«
gehören, und deshalb möchte ich, du gingeft heute
mit uns,“
Das Gold und die Pergamente, die einft jo foft«
bar gewejen waren, lagen im Zimmer verftreut ums»
ber und Hatten allen Wert verloren; aber dieſen
Liebeszeihen hatte die Zeit ihre herzbezwingende
Macht nicht rauben können. Wie durch Zauberichlag
tauchten fie mich plößlich in ein Meer von Erinnes
rungen und verſetzten mic) in eine Welt, Die mir allein
gehörte, an welcher die Gegenwart feinen Anteil
hatte. Ich weiß nicht, wie lange ich jo in mid)
verjunfen dagejeflen habe, ohne die ftumme Gruppe
Aus fremden Zungen. 1897. I. 18,
873
zu beachten, die teilnehmend neben mir ftand. Ein
tiefer Seufzer, der fih unwillkürlich meiner Bruft
entrang, wedte mic) endlich wieder aus meiner Geiſtes⸗
abweſenheit. Ich Fehrte aus der Traummelt Der
Vergangenheit zum Bewußtſein meines jeßigen Zu—
ftandes und meiner Umgebung zurüd.
„Dies hier find Briefe,“ jagte ich, „von der andern
Edith — von beiner Urgroßmutter, Edith Bartlett.
Vielleicht würde es dich interejfieren, fie durchzuſehen.
Nächft mir hat wohl niemand ein größeres Anrecht
darauf als du und beine Mutter,”
Edith nahın das Paket und betrachtete es mit
Neugier und Ehrfurdt.
„Die Briefe werden höchſt anziehend für ung fein,”
fagte ihre Mutter, „aber ich fürdte, Julian, wir
werden Sie bitten müjlen, fie uns vorzuleſen.“
Ohne Zweifel verriet mein Geſichtsausdruck die
Ueberrafchung, welche mir dies Belenntnis der Un—
wifjenheit aus dem Munde einer jo hoch gebildeten
Dame bereitete. „Sind etwa Handſchriften und das
Leſen von Gefchriebenem auch längft vergefiene Dinge
wie die Runftichlofferei ?” fragte ich.
„Allerdings,* verjehte der Doktor, „doch läßt ſich
dies nicht wie bei den Geheimfchlöffern aus der wirt-
ſchaftlichen Gleichheit erflären, jondern hat feinen
Grund im Fortſchritt der Erfindungen. Zwar lehrt
man die Finder noch Gejchriebenes leſen und jchreiben,
aber fie haben jo wenig Uebung darin, daß fie es
meift wieder vergejien, jobald fie die Schule verlaflen
haben. Edith aber jollte doc noch im ftande jein, einen
Brief aus dem neunzehnten Jahrhundert zu leſen.
Kannſt du es wirklich nicht, liebes Kind? Da müßte
ich mich ja ſchämen!“
Sie jah mit emporgezogenen Brauen von dem
Blatt auf, das fie zu entziffern bemüht war. „Doc,
Vater,“ rief fie, „dies hier fann ich lefen. Weißt
du nicht, ich habe ja Julians alte Briefe an Edith
Bartlett, die in Mutters Befik find, einmal heraus-
buchftabiert. Das ift freilich jchon zwei Jahre ber,
und ſeitdem bin id) aus der Uebung gefommen.
Aber ich habe jeht ſchon faft zwei Zeilen gelefen, es
ift wirflich gar nicht jchwer, und ich will jchon ganz
allein damit fertig werden; außer Mutter ſoll mir
niemand helfen.“
„Wie merkwürdig!” rief ich.
denn jeht feine Briefe mehr?“
„Haft gar feine,“ erwiderte der Doktor. „Das
Schreiben ift ganz außer Gebrauch. Statt des Brief»
wechſels telegraphieren wir oder benupen die Phono«
graphen, weldye auch im übrigen allen Zweden dienen,
für die man jonft die Handſchrift nötig hatte, Das
ift jet Schon ſehr lange eingeführt, man weiß faum
mehr, daß es je anders war. Aber dieſe Verände-
rung fann Sie doch ſchwerlich überrafhen. Den
„Schreibt man
| Phonographen kannten Sie ja jhon, und mozu er
110
874
fih würde verwenden laffen, war von Anfang an
Har erfichtlih. Auch jeßt gebrauchen wir bei wichtigen
Dokumenten gewöhnlih noch die Drudjchrijt, aber
der Satz wird nad) Phonogrammen gemadt, jo dab
man überhaupt faft feine Gelegenheit hat, mit der
Hand zu jchreiben, außer in bejonderen Notfällen,
Wenn man e3 recht überlegt, ift es wirklich jeltiam,
dab die Urkunden der Zivilifation immer vergäng-
licher werden, je weiter fie ſelbſt fortfchreitet. Die
Chaldäer und Aegypter verwendeten Fiegeljteine,
die Griechen und Römer ſchrieben in Marmor oder
Erz. Wenn unſer Geſchlecht heute zu Grunde ginge
und bie Erde in fünfhundert Jahren vielleicht von
den Maräbewohnern bejucht würde, fänden fie jeden-
falls von unjern Büchern feine Spur mehr vor, und
die Zeit des römischen Kaiſertums würde für bie
legte und höchſte Stufe menſchlicher Kultur gelten.”
XIX.
Kann auch eine Jungfrau ihred Schmudes vergeflen ?
Bald darauf ging Edith mit ihrer Mutter in das
Haus zurüd, um die alten Briefe zu entziffern. Der
Doktor war noch jo ganz in die Betradjtung der
Staatöpapiere und Induftrie-Aftien vertieft, daß ihm
ein Gefallen damit geichah, wenn man ihn in Ruhe
ließ. Ich hielt daher die Gelegenheit für günftig,
um einen Plan auszuführen, der mir j on lange am
Herzen lag.
Sobald ih in Beſitz meiner Kreditlarte gelangt
war, hatte ich mir vorgenommen, einen wichtigen
Einkauf zu machen; ich wollte nämlich einen Ver—
lobungsring für Edith bejorgen, Daß Geſchenle im
allgemeinen im zwanzigften Jahrhundert ihren Wert
verloren haben mußten, lag auf ber Hand; jeder
ſchaffte fi ja alles an, was er brauchte. Aber dieie
Gabe, dachte ich, würde ſchon aus Gefühlsrüdfichten
einem Mädchen ſicherlich noch ebenfo willlommen
jein wie früher.
So benußte ich denn ben Umftand, daß meine
Gajtfreunde mit andern Dingen befchäftigt waren,
und ging nad dem großen Bazar, den ich jchon
einmal bei einer früheren Gelegenheit mit Edith be—
ſucht hatte; in einen andern Laden war ich bißher
noch nicht gekommen. Da ic die Waren, weldhe ich
judhte, auf feiner der Wandtafeln, die über den
Ladentiſchen hingen, angegeben fand, bat ich eine
ber jungen Gehilfinnen, mid) nad; der Juwelier
abteilung zu führen.
„Entſchuldigen Sie,“ jagte das fyräulein und zog
die Augenbrauen ein wenig in die Höhe, „wonad
haben Sie foeben gefragt ?*
„Wo die Jumelierabteilung ift. Ich möchte einige
Ringe anſehen.“
„Ringe?“ wiederholte fie mit verwunderter Miene.
„Bitte, was denn für Ringe und zu welchem Zwed?*
Edward Bellamp.
„Bingerringe,” fagte ich und dachte bei mir:
Die junge Dame ift doch nicht jo Mug, wie ſie
ausſieht.
As ih das Wort ſprach, blickte fie auf mein:
linfe Hand, wo ich, wie es bei uns Sitte geweſen,
am finger einen Siegelring trug. Sogleich nahm
ihr Geſicht einen verſtändnisvollen Ausdrud an, der
daß lebhafteſte Intereſſe befundete.
„Bitte taufendmal um Verzeihung,“ ſagte fe,
„Das ich es nicht gleich begriffen babe. Sie find
Julian Weit, nicht wahr ?”
Ich fing an, etwas ärgerlich zu werben über biefe
Geheimnisfrämerei um ſolche Kleinigkeit.
„Freilich bin ich Julian Weſt,“ jagte ih; „mas
das aber mit dem Einkauf zu thun bat, den id
machen will, ift mir wirklich nicht recht erfichtlich.”
„Entihuldigen Sie, aber es bat ungemein viel
damit zu ihun,“ erwiderte das Fräulein, „Auber
Ihnen würde in ganz Amerika fein Menſch nad
Fingerringen fragen, weil fie jchon jo lange nicht
mehr im Gebrauch find, daß wir überhaupt feine
auf Lager halten. Wenn Sie aber einen jolden
Ring zu beftellen wünſchen, brauchen Sie nur eine
Beichreibung dazulafjen, wie Sie ihn haben wollen,
und er wird jofort angefertigt werden.“
Ich dankte ihr, beſchloß aber doc, in der Sacht
nicht weiter zu gehen, ohne zuvor erft nähere Er-
fundigungen einzuziehen,
Zu Haufe erzählte ich nichts von meinem Aben«
teuer, denn ich wollte mid; nicht mehr auslachen
laflen, als nötig wäre, Als ich aber den Dolter
nad Tiihe allein an feinem Lieblingspläschen auf
dem Hausdah fand, wo er im Freien zu ſtudieren
pflegte, begann ich ihn behutfam über den Gegenftand
auszuforjchen,
Ganz gelegentlich machte ich die Bemerkung, dat
ih noch niemand geſehen hätte, der einen Ring am
Finger trüge, und fragte ihn, ob man überhaupt
allen Schmud abgejhafft hätte, und aus welden
Gründen das wohl gejchehen jei.
Der Doktor erwiderte, das Tragen von Ge
ichmeide jei allerdings ganz veraltet und ſchon ſeit
mehreren Generationen nicht mehr gebräuchlich. „Die
Urſachen,“ fuhr er fort, „warum man die Sitte anf
gab, fliehen übrigens im genauften Zuiammenhang
mit unjerm heutigen Wirtichaftsigftem. Urſprünglich
mag wohl der Umftand, daß Gold und Silber ihren
Handelswert völlig verloren, al3 die Nation die nene
Güterverteilung auf der Bafis der Gleichberechtigung
aller Bürger einführte, der Hauptgrund geweſen ſein,
warum Juwelen und die fogenannten Edelmetalle
nicht mehr für Schmudjachen verwendet wurden. Wit
Sie wiffen, würde man für eine Tonne Goldes oder
einen Scheffel Diamanten feinen Laib Brot in unjern
Kaufläden erhalten, da dort nur der Kredit dei
Gleichheit.
Bürgers Geltung hat, der ihm infolge feines Bürger«
rechts zulommt, und zwar in gleicher Höhe wie allen
feinen Mitbürgern, Heutzutage ift für den Menfchen
nur das von Wert, was ihm perſönlich Nutzen ober
Vergnügen bereitet. Gold, Silber und Edelfteine
iheinen früher hauptſächlich deshalb zum Schmud
gebraudht worden zu fein, weil ihnen ein großer
Kaufwert innewohnte, der jie zu Sinnbildern von
Glanz und Reichtum machte, mit denen man in der
Geſellſchaft prunken konnte. Da fie nım dieſe Eigen—
ihaft gänzlich verloren haben, erklärt fich leicht,
weshalb man fie nicht mehr ald Schmudgegenftände
braucht ; auch fällt, jeitdem das Gejek der Gleichheit
beiteht, jeder Beweggrund für dergleichen Schau—
fellungen fort.“
„Freilich,“ jagte ich, „aber e8 gab doch auch viele,
die fie, ganz abgejehen von ihrem Geldwert, jehr hübſch
fanden.”
„Wohl möglich,“ erwiderte der Doftor. „Vers
mutlih Hatten zum Beifpiel wilde Völkerſchaften
wirflich die Anficht ; aber da dieſe Leute ganz aufe
richtig waren, machten jie feinen Unterſchied zwiſchen
Edelfteinen und Glasperlen, wenn dieſe ebenjo heil
glänzten, Daß gebildete Menjchen Juwelen oder
Goldihmud bloß aus Schönheitsrüdjichten, ganz
abgejehen von dem Geldwert, bewundert haben follen,
halte ih mehr oder weniger für unbewußten Selbft-
betrug. Wäre plößlich großer Ueberfluß an Edel—
feinen eingetreten, jo daß Diamanten vom reinten
Waſſer keinen höheren Preis gehabt hätten als
Fenfterglas, jo möchte ich willen, wie lange man fie
in Ihrer Zeit noch als Schmud getragen hätte!“
Ih konnte nicht umhin, zuzugeben, daß fie jehr
bald und für immer vom Schauplah verſchwunden
fein würden.
„Schon damals,“ jagte der Doktor, „galt es für
nicht jehr gefchmadvoll, zu viel Schmud zu tragen,
und diefe Anficht, verbunden mit dem Einfluß der
neuen wirtichaftlihen Ordnung, mag wohl dazu
beigetragen haben, daß man die Sitte aufgab. Als
die Juwelen und Edelmetalle den Glanz verloren,
der fie umſtrahlt hatte, jolange fie noch als Ver-
Üörperung des Reichtums galten, fonnten fie den
Geſchmack nicht mehr verblenden, und man begann
hi) ernftlich zu fragen, ob es wirllich den Schönheits⸗
finn befriedigt, wenn man ſich Heine, gligernde Steine
und blante Plättchen, Ketten und Ringe um Geficht
und Hals hängt und an die Finger fledt? Bald
ideint man denn aud) einftimmig zu dem Schluß
gelangt zu fein, daß dergleichen Verzierungen eiwas
Barbariſches an ſich hätten und im Grunde nicht
einmal ſchön wären.“
„Bas ift denn aber aus allen Diamanten, Rus
binen und Smaragden und dem Gold» und Silber:
chmuck geworben?” fragte ich.
875
„Die Metalle — Gold und Silber — verwendet
man natürlid) nad wie vor zu mechanischen und
fünftierifhen Zweden, Da, wo fie hingehören, find
fie immer jhön und werden noch ebenfoviel wie früher
zu Zieraten gebraucht, aber mur bei der Ausfchmüdung
von Bauwerken und Gerätichaften, nicht von Perfonen.
Einige Edeljteine finden in der Mechanik Anwendung,
auch hat man natürlich hie und da Sammlungen in
den Mujeen. Mehr als ein paar hundert Scheffel
Ebelfteine find wohl überhaupt niemald vorhanden
geweien, und man kann fich nicht wundern, baf eine
fo Meine Menge winziger Steinen im Laufe der
Zeit verloren ging und verſchwand, als fie aufhörten,
Koſtbarkeiten zu fein.”
„Durd) die Gründe, welche Sie anführen, läßt
ſich allerdings die Abſchaffung des Schmucks erflären,
aber Sie glauben gar nicht, wie ſehr fie mich über-
raſcht. Daß der Diamant auf die Stufe von Glas»
perlen berabgefunfen ift und nur noch zu Handwerls⸗
zwecken gebraucht wird, ift der deutlichfte Beweis, den
es geben fann für die durdhgreifende Umwerlung
der Dinge in ihrem Verhältnis zum menſchlichen
Leben der Gegenwart. Daß die Männer fi das
Tragen von Schmudjadhen abgewöhnen fonnten, ift
leicht begreiflih, denn man hat es nie für eine jehr
männliche Sitte gehalten, außer in barbarijchen
Ländern; aber jelbft den Propheten Jeremias hätte
es wunbergenorimen, wenn man feine frage: ‚Kann
auch eine Jungfrau ihres Schmudes vergeſſen * ein-
fach bejaht hätte.”
Der Doltor lachte,
„Jeremiad war ein weifer Mann,“ jagte er.
„Hätte man ihm das Syſtem ber wirtſchaftlichen
Gleichheit auseinandergefeht und ihm beffen Einfluß
auf das Berhältnis der Geſchlechter geſchildert, jo
würde er zweifellos vorauägeiehen haben, dab als
folgerichtiges Ergebnis hiervon die Frauen mit der
Zeit ebenfowenig Wert darauf legen würden, fid)
bejonders zu ſchmücken, als. e8 die Männer von jeher
gethan haben. Es hätte ihm nicht überrafcht, zu er
fahren, daß durch die Gleichheit von Mann und
Weib die ganze Anihauung der frauen in betreff
der Kleiderfrage jo umgewandelt worden ift, daß
jelbft der ärgfte Weiberhaffer — wenn nod) ein ſolcher
vorhanden war — ihnen nicht hätte vorwerfen können,
daß fie fi mehr mit Pub und Tand befchäftigten
als die Männer.“
„D Doktor, Doltor! Sie wollen mid doch nicht
glauben machen, daß bie Frauen jet nicht länger
von dem Wunſch beieelt find, bejonders reigend und
anziehend zu erjcheinen?*
„Entſchuldigen Sie, das habe ich keineswegs be—
bauptet. Ich ſprach nur von dem allzugroßen Hang
zu übertriebenem Schmud und Zoilettenfünften, bie
ihren Zwed, den weiblichen Reiz zu erhöhen, gänzlich
876 Edward
verfehlten. Rad den damaligen Berichten zu urteilen
war dies meiit das Ergebnis der außerordentlichen
Hingebung, mit der fich die frauen der Sorge für
ihren Pub widmeten, Habe ich nicht recht?“
„Verfteht fih. Ueberladung im Anzug und ein
zu fichtlihes Bemühen zu gefallen, war zu meiner
Zeit das befte Mittel, um eine Frau jeden Reizes zu
berauben,”
„Und wie ſtand es mit den Männern ?*
„Einem rechten Manne konnte man ſolchen Bor«
wurf nicht machen. Es gab natürlid) Stußer, aber
die meiften Männer legten cher zu wenig Wert auf
ihr Aeußeres.“
„Alſo das eine Geſchlecht beſchäftigte ſich zu viel
mit Kleidern und das andre zu wenig?”
„Ja, jo war es.“
„Sehen Sie wohl — und die Folge der wirt«
Ichaftlichen Gleichheit der Geſchlechter und der daraus
entipringenden Unabhängigkeit der Frau vom Manne
in betreff ihres Unterhalts ift geweſen, daß die rauen
heutzutage viel weniger an ihren Anzug denfen ala
zu Ihrer Zeit und die Männer weit mehr. Jetzt
fommt überhaupt niemand auf den Gedanfen, daß
es einem Gejchlecht mehr auf feine vorteilhafte äußere
Eriheinung ankommen jollte als dem andern. Bei
einzelnen mag fi) darin ein Unterfchied zeigen, aber
das Geſchlecht im ganzen ift frei davon,”
„Aber warum jchreiben Sie dieſes Wunder —
denn ein Wunder muß ic) es nennen — dem Ein«
fluß der wirtichaftlichen Gleichheit auf das Verhältnis
von Dann und Frau zu?”
„Weil e8 von dem Augenblid an, daß die Gleich-
heit eingeführt war, nicht mehr vorzugäweije im
Interejje der Frau lag, fi dem Manne anziehend
und begehrenswert zu machen, jondern für den Mann
ganz ebenfo wichtig war, den Augen der Frau wohl⸗
gefällig zu fein.”
„Das heißt jo viel, als daß vor ber wirtjchaft«
lichen Gleichheit der Geſchlechter die Frau es fi
entſchieden angelegener fein lafien mußte als ber
Mann, durch ein angenehmes Aeußeres die Blide zu
ſeſſeln ?*
„Ohne alle Frage,” fagte der Doltor. „Sagen
Sie mir, wie erflärte man ji denn zu Ihrer Zeit
den übertriebenen Eifer, mit dem fi) bie Frau ihrem
Pub widmete, während die Männer ihr Aeußeres
häufig vernachläffigten?“
„Sehr reiflih haben wir uns die Sache wohl
faum überlegt. Alles, was ſich auf das Verhältnis
der Geſchlechter bezog, wurde überhaupt faum jemals
ander8 behandelt als in jentimentalem oder ſcherz—
baftem Tone.”
„Das ijt allerdings ein auffallender Zug Ihres
Jahrhunderts, aber doch Leicht erflärlich aus der fon-
ventionellen Lüge des Verhältniſſes zwiichen Mann
Bellamp.
und Weib. Denn während man eine ritterliche Er-
gebenheit gegen die Frau zur Schau trug, wurde fie
in Wirflichfeit vollftändig unterjodht. Aber mwelder
Urfache pflegte man denn damals die große Kleider:
und Schmudjucht der Frau zuzjufchreiben?“
„Es wurde von alters her als feſtſtehend an-
genommen, daß bie frauen eitler jeien als bie Männer.
Aber das hörten fie nicht gern, und jo war man
denn böflih genug, als Grund ihres übermäßigen
Intereſſes für die Kleiderfrage ihren entwidelteren
Schönheitsfinn anzuführen oder ihre Selbitlofigfeit,
die gern andern Freude bereitete, und was dergleichen
angenehme Redensarten mehr waren.”
„Und ift e8 Ihnen nie eingefallen, daß die eigent-
liche Urjache, weshalb den frauen fo viel daran lag,
ihre Reize zu erhöhen, nichts andres war als ihre
wirtſchaftliche Abhängigkeit von der Gunft des Mannes?
Ein hübſches Geficht war ein Heiratägut. Die Männer
dagegen vernadläffigten meift ihr Neußeres, weil ihr
Ausfommen ganz und gar nichts mit ihrer Schönheit
zu thun hatte, ja ſelbſt wenn fie ſich um frauen:
gunft bewarben, fo fiel ihre weltliche Stellung dabei
meift mehr ins Gewicht als alle perfönlichen Bor:
züge. Ich glaube, durch biefe Erwägung ift dai
größere Interefje der Frauen an Puh und Schmud
jur Genüge erflärt, ohne daß man irgend melden
Unterfchied ber Geſchlechter in ihrem natürlichen
Hang zur Eitelfeit anzunehmen braucht.“
„Alſo,“ warf ih ein, „die Frau hat aufgehört,
ihren Hauptlebenszwed darin zu finden, den Augen
des Mannes wohlgefällig zu jein, als fie in wirt
ſchaftlicher Beziehung nicht Tänger von ihm abhängig
war?“
„Ganz richtig; und fie dat an Würde, Bebagen,
geiftiger Freiheit und Zeit, ſich wichtigeren Dingen
juzumenden, unendlich gewonnen.“
„Um jo mehr wird das Geſellſchaftspanorama
an Schönheit und Abwechslung eingebüßt haben.“
„Durchaus nicht; ganz im Gegenteil, Someit
wir es beurteilen können, beruht der Anfprud der
Frauen Ihrer Zeit, als anziehend zu gelten, nicht
auf ihren Bemühungen, es zu jein — im Gegenteil.
Wir reden ja doch von ber übertriebenen Sorge der
Frauen für die Erhöhung ihrer Reize, die zu einem
tollen MWettrennen führte, bei dem ſchließlich der
größte Teil das erftrebte Ziel verfehlen mußte. Fiel
num der wirtſchaftliche Beweggrund fort, eine Ber-
forgung zu finden, jo blieb nur noch der natürlice
Trieb der fyrau, die Bewunderung des andern Ge
ſchlechts zu erringen ; diefer Beweggrund ift far! ge-
nug, um der Schönheit förderlich zu fein, und um jo
wirfjamer, gerade weil er nicht zu ſtark iſt.“
„Daß durch die wirtjchaftlihe Unabhängigkeit
der rau ihr Streben nad Ausihmüdung ihrer
Perfon auf ein verftändigs Maß zurüdgeführt
Gleichheit.
worden ift, läßt jich leicht einjehen. Doch verſtehe
ih nicht, warum fie auf die Männer die entgegen»
geſetzte Wirkung ausgeübt haben joll, jo daß dieje mehr
Wert auf ihren Anzug und ihre äußere Erjcheinung
legten als früher?“
„Aus dem einfachen Grunde, weil fie ſich, nach—
dem ihr wirtjchaftliches Uebergewicht aufgehört hat,
einzig und allein durch ihre perfönliche Anziehungs-
fraft die Gunft der Frauen erwerben und bauernb
fihern fönnen,” verfeßte der Doltor,
XX.
Was der große Umſturz für die Frauen gethan hat.
„Wahrhaftig, Doktor,“ ſagte ih, „mir ſcheint, es
würde für eine Frau aus meinem Jahrhundert noch
mehr der Mühe gelohnt haben, in die Gegenwart
berüberzuichlafen, als für mid. Die wirtfchaftliche
Gleichftellung ift ja für das weibliche Gefchlecht von
weit größerer Bedeutung geweien als für uns
Männer.“
„Edith wäre vielleicht mit dem Tauſch nicht zu—
frieden,” jagte der Doftor. „Aber es ijt allerdings
viel Wahres in dem, was Sie jagen. Die Frau
bat durch die Einführung der wirtichaftlichen Gleich“
heit in der That mehr gewonnen als der Mann.
Damals war die große Maffe der Männer in einem
Zuftand, der erbärmlid genannt werden kann im
Vergleich zu dem jehigen, aber da& Los der Frauen
war noch weit befiagenäwerter. Die meiften Männer
waren freilich Knechte der Reichen, aber die Frau
mußte dem Manne unterthänig fein, ob er reich war
oder arm. In lehterem Falle, der am häufigften
vorfam, war fie daher nichts als die Magd eines
Knete. Wie tief der Mann aud in Armut und
Dürftigkeit verjanf, ftets hatte er Macht über ein
oder ein paar Welen, die nod niedriger ftanden als
er, dad waren die Frauen, die von ihm abhingen
und ihm dienen mußten. Auf der Frau lag bie
Gejamtlaft menjhliher Not und Beſchwerde; jie
fand auf der unterjten Geſellſchaftsſtufe und hatte
das Schwerfie zu tragen. Alles, was das Menſchen-
geihlecht an Geift, Seele und Leib jemals von der
Iyrannei zu erdulden gehabt, traf fie mit verboppelter
Kraft... Wie gering aud der Mann geachtet war,
die Frau ftand noch jo viel tiefer als er, daß es für
fie ein mächtiger Aufſchwung gemejen wäre, hätte fie
ih aud nur zu feiner Stufe hinaufarbeiten können.
Da fam die Revolution und madte fie nicht nur
dem Manne gleich, jondern erhob beide, Mann und
Frau, mit gewaltiger Kraft bis zu einer moraliſchen
Würde und Höhe und einem materiellen Wohlbefinden,
die jo hoch über der früheren Lage des Mannes
ftanden wie deſſen frühere Lage über derjenigen des
Meibes. Wenn alſo der Mann auch der Revolution
viel verbanft, fo ift die Dankesſchuld des Weibes
877
noch unendlich viel größer, Den Mann berief die
Revolution in eine eblere, beilere Lebensordnung;
für die Frau war fie die Stimme Gottes, die fie zu
einem neuen Dajein erſchuf.“
„Daß die Frau des armen Mannes ein recht
fümmerliches Leben führte, unterliegt feinem Zweifel,“
jagte ich; „aber die Frau des Reichen hatte durchaus
feine Bedrüdung zu erleiden.”
„Die Frauen der Reichen,“ verfehte ber Doktor,
„waren der Zahl nad ein zu unbebeutender Teil der
weiblihen Gejamtbevölferung, als daß fie bei der
Beurteilung des Zuftandes ber Frau zu Ihrer Zeit
überhaupt in Betradt fommen könnten, Aber wir
halten ihr 208 durchaus nicht für beneidenswerter
als das ihrer ärmeren Schweftern, Leibliche Not
hatten fie freilich nicht zu erbulden, im Gegenteil,
fie wurden verwöhnt und verzogen von ihren männ-
lihen Beihüßern wie verzärtelte Kinder; aber das
war fein Leben, wie wir es wünſchen würden, Nad)
dem zu urteilen, was wir au& den Berichten und
Gejellihaftsbildern Ihrer Zeitgenoffen willen, führ-
ten die Frauen der Reichen ein Treibhausleben in
einer Atmofphäre von Schmeichelei und Ziererei, Die
einer gefunden moraliſchen und geiftigen Entwid-
fung noch weit weniger zuträglih war al® die
harte Arbeit der rauen aus niederem Stande,
Wäre eine unfrer frauen verurteilt, in der da—
maligen Welt zu leben, fie würde ſicherlich das
208 einer Scheuerfrau dem Daſein einer reichen
Modedame vorziehen. Letztere erfcheint und noch weit
mehr wie erjtere als die Verförperung der Ernieb-
tigung des weiblichen Geſchlechts in Ihrem Jahr«
hundert.”
Da mir derfelbe Gedanke jogar ſchon in meinem
früheren Leben gelommen war, ftritt ich nicht weiter
mit dem Doftor über diefen Punkt.
„Die jogenannte Frauenbewegung, mit welcher
der große Umſchwung für das weibliche Geſchlecht
- begann,” fuhr Leete fort, „machte zu Ihrer Zeit
ſchon fehr viel von ji) reden. Sie müjlen manches
davon gejehen und gehört haben; vielleicht lannten
Sie jogar einige der ebeln Frauen, die an der Spike
ftanden.“
„D ja,” verfeßte ih. „Man machte damals
viel Weſens von den Frauenrechten, aber das Pro»
gramm, dad verfündet wurde, war durdaus nicht
revolutionär. Die frauen verlangten nur das Wahl-
recht und die Aenderung einiger Beſtimmungen in
betreff ihres Eigentums, über das fie nicht frei ver—
fügen durften, ſowie dab bei Ehefcheidungen die
Rinder ihnen zugeiproden würden und dergleichen,
An eine Ummälzung des wirtſchaftlichen Syftems
dachten damald die rauen ebenfowenig wie die
Männer, das fann ich Ihnen verfichern.“
„Jawohl, ich weiß,” jagte der Doktor, „In
878 Edward
dieſer Hinſicht glich der Kampf der Frau um ihre
Unabhängigkeit allen andern Umſturzbewegungen.
Nuf neuen Bahnen geraten die Menſchen bei den
Anfangsſtadien in fo viele Irrtümer und Abwege,
daß die größte Weltweisheit dazu gehört, um voraus-
zufagen, wohin dies unbejonnene Stolpern und Um—
bertappen jchließlih führen wird, Was aus ber
Frauenbewegung werden würde, ließ ſich jedoch ebenfo
leicht vorher berechnen, ala dies bei der jogenannten
Arbeiterfrage der Fall geweien war, Das Ziel,
nach welchem bie Frau firebte, war ihre Unabhängig«
feit von der Herrihaft des Mannes, während das
Verlangen der Arbeiter dahin ging, ihrer Knecht»
ſchaft im Dienft der Kapitaliften ein Ende zu machen.
Und derſelbe Schlüſſel, der die Feſſeln der Frau
aufſchloß, konnte auch den Arbeiter von jeinen Ketten
befreien. Es war der Schlüflel der wirtſchaftlichen
Gleichheit, das Recht, über die Mittel zum Lebens«
unterhalt zu verfügen. Das Gefchleht der Männer
berrichte über die Frau und die Klaſſe der Reichen
über den Arbeiter; aber beibes — ſowohl die Hörig-
feit des weiblichen Geſchlechts als die induftrielle
Dienftbarfeit — entiprang aus der nämlichen Urſache.
Nichts andres war ſchuld daran als die ungleiche
Verteilung des Beſitzes, und der Umſchwung, welder
beiden Formen der Knechtſchaft ein Ende machen
fonnte, war offenbar die wirtichaftliche Gleichftellung
aller. Nicht nur zwifchen den Gejchlechtern, ſondern
auch in der Arbeiterfrage mußte dadurch jofort die
Kooperation an Stelle eines Zwangsverhältniſſes
treten.
„Die Führerinnen der Frauenbewegung hatten
zuerft noch einen jo engen Horizont, daß fie ihre
Bebrüdung und die Dienftbarkeit, in der fie jchmach«
teten, nur der Schlechtigfeit der Männer zufchrieben;
fie glaubten, wenn ſich diefe moralisch befjern wollten,
jo wäre den Frauen geholfen. In jener Periode
hieß der Mann nicht anders als das ‚Ungeheuer‘
und der ‚Tyrann‘, dies wurde förmlich zum Lofungs«
wort. Die Vorlämpfer der Frauen waren in genau
denjelben Fehler verfallen wie die erften Führer der
Arbeiterbewegung, die eine Menge Worte verſchwen⸗
beten und viel böfes Blut machten, indem fie ganz
vergeblich gegen die Kapitaliſten wüteten und bieje
als die Urheber aller Leiden der Proletarier hin—
ftellten.. Das war weit ſchlimmer als müßiges Ge-
rede; es führte die Leute irre und machte fie blind,
Die Männer waren im Grunde nicht ſchlechter ala
die Frauen, welche fie bebrüdten, die Rapitaliften
nicht jchlechter ald die Arbeiter, die von ihnen aus—
gebeutet wurden. Hätte man die Arbeiter an ihre
Stelle gejeht, Nie wären genau fo verfahren wie die
Rapitaliften. Ja, die Erfahrung Ichrte, daß Arbeiter,
welche Rapitaliften wurden, ſich als die allerftrengfien
Herren erwiejen. Hätten die rauen die Stellung
Bellam.
der Männer einnehmen fünnen, fie würden biefe oßne
Zweifel nicht anders behandelt haben, als fie jeltit
zurzeit behandelt wurden, Die Wurzel alles Uebel
war das Syſtem, welches geftattete, dab menſchlich
Weſen zu einander in ein Verhältnis von Herridaft
und Dienftbarkeit gerieten, Wenn ein Menſch Ge
walt über andre befigt, jo wirft das naturgemäz
demoralifierend auf den Gebieter und ermiebrigend
auf den Knecht. Gleichheit ift der einzig moraliſche
Zuftand im Verhältnis der Menjchen zu einander.
Lebe Reform, welche den Zweck hatte, die Unter
brüdung der Frauen durch die Männer, der Arbeiter
durch die Kapitaliften zu befeitigen, mußte aljo darauf
ausgehen, fie in eine gleiche wirtjchaftliche Lage zu
bringen. Erft als die frauen und die Arbeiter das
thörichte Beginnen aufgaben, die Folgen der wirt:
Ichaftlihen Ungleichheit anzugreifen, und fiatt deſen
die Ungleichheit jelbft angriffen, war Hoffnung vor
handen, daß beide Klaſſen zur Freiheit gelangen
würben.
„Wie völlig verkehrt die Vorftellungen waren,
von denen die Bahnbrecherinnen der fFrauenfrage aus:
gingen, welche für Heil und Rettung ihres Gejchledhis
fämpften, zeigt fi am beften im ihrer Beneife-
rung für die verfchiedenen ſogenannten Mäsigteitt
betrebungen, durch die man der Trunkſucht unter den
Männern fteuern wollte. Die frauen hatten ein
fo großes Intereffe an der Reform diejer Unſitte der
Männer, — fie ſelber enthielten ſich in der Regel
der beraujchenden Getränfe — weil fie glaubten,
wenn die Männer nur nicht jo viel tränfen, würden
fie ihre Frauen weniger mißbandeln und reichlider
für ihren Unterhalt jorgen. hr ganzes Streben
beſchränkte fi alfo darauf, die Moral ihrer Herren
zu beffern, um ji eine mildere Behandlung zu
fihern. Der Gedanke an die Möglichkeit, daß die
Hertſchaſt jelbft abgejhafft werden könne, war ihnen
bis jeht noch nicht gelommen.
„Die damaligen Bemühungen der frauen, ein
Geſetz gegen die Trunkſucht zu erlangen, ftellen den
Unterjchied ihrer Lage von derjenigen, welche die
Frauen heute einnehmen, in das grellfte Licht. Wollten
die Männer ſich jet einer Gewohnheit hingeben, die
für die Frauen im allgemeinen abftoßend wäre, fo
würden bieje nicht daran denfen, fi um Abhilfe an
die Gefehgebung zu wenden, Das Recht der per
jönlihen Selbtbeftimmung und Unabhängigfeit des
einzelnen bei allem, was ihn allein betrifft, geitattel
nicht länger die Einmiſchung des Gejehes in jeine
Privatangelegenheiten, welche zu Ihrer Zeit nod
ganz an der Tagedordnung war, Aber die frauen
hätten auch gar nicht nötig, Gewalt zu brauden, um
die Männer zur Beobachtung beſſerer Sitten zu
zwingen. Ihre volllommene wirtſchaftliche Unab-
bhängigfeit, jowohl in der Ehe wie außerhalb der»
”
Yu
zemb
Gleichheit.
jelben, würde fie in den Stand jeßen, ein viel wirf«
ſameres Mittel zu gebrauchen. Sehr bald würde «8
offenbar werden, daß die Männer, die auf grobe
Weiſe das Gefühl der Frauen verlehten, ſich vergeblich
um ihre Gunft bemübten. Zu Ihrer Zeit war es
ein Ding der Unmöglichkeit für die Frau, ſich auf
diefen Standpunkt zu ftellen, um ihren Willen durch»
zujeßen und fich jelbft vor Unbill zu jchügen. Ihre
wirtſchaftliche Lage zwang fie, zu heiraten; wenigftens
war dies für fie jo vorteilhaft, daß nur ſehr glüd-
liche Umftände ihr geftatten konnten, ihren Des
werbern Bedingungen zu ftellen. Nach der Hochzeit
galt es aber als ſelbſtverſtändlich, daß fie fi zum
Erjak für ihren Unterhalt ihrem Manne unbebingt
fügen mußte.”
„Es klingt jchredlich, nun jo lange Zeit darüber
bingegangen ift,” ſagte ich, „aber glauben Sie mir,
es Stand nicht ganz jo ſchlimm, wie Sie meinen,
Die beiferen Männer waren jehr rückſichtsvoll im
Gebrauch ihrer Macht; in gebildeten Sreijen konnte
von einem Zwang gar feine Rebe fein, ja in vielen
Familien galt die Frau in Wirflichkeit für das Haupt
des Hauſes.“
„Gewiß, gewiß,“ verfeßte der Doltor, „das ift
immer fo gewejen, bei jeder Form der Dienftbarfeit,
die Herren haben ihre unbeichränfte Gewalt in jehr
vielen Fällen mit großer Menjchlichleit geübt, und
farfe Charaktere, jelbft wenn fie dem Namen nad
Sklaven waren, regierten oft ihre Herren vollftändig.
Doch können ſolche Ausnahmen nicht als ftihhaltiger
Entihuldigungsgrund dafür gelten, daß man menjd-
liche Weſen der Willfür ihres Mitmenſchen überläßt.
Ohne Zweifel ift nicht nur die Sage der den Männern
untergebenen frauen, jondern auch der Zuftand der
Armen, die von den Reichen abbingen, damals weit
erträglicher geweſen, als wir das jeht für möglich
halten. Wie der Körper des Menfchen im verjchies
denſten Klima, vom Pol bis zum Nequator, am Leben
bleiben und jogar gedeihen kann, fo jehen wir aud)
an zahlreichen Beiipielen, daß feine fittliche Natur
unter den entjeglichjten fozialen Bedingungen nicht
nur ihr Dafein zu friften, jondern jogar Blätter
und Blüten zu treiben vermag.”
„Wil man die ungeheure Danlesſchuld ermeſſen,
welche die Frau der großen Revolution gegenüber
bat,” begann der Doftor wieder, „jo muß man be—
denken, daß die Dienftbarfeit, aus welcher fie befreit
wurde, hoffnungslofer und erniedrigender war ala
jede andre, in welcher jemals die Männer geſchmachtet
haben. Sie hatte ein breifaches Joch zu tragen.
Das erfte Joch war ihre Unterwerfung jowohl unter
die perfönliche als die Klaſſenherrſchaft der Reichen ;
diejelbe bebrüdte die Mehrzahl der Frauen ganz
ebenjo wie die große Mafje der Männer. Die beiden
andern Laſten wurden nur ihr allein aufgebürbet,
879
Die eine beftand in ber völligen Unterthänigfeit, die
fie in betreff ihrer Perfon und ihres ganzen Ver—
haltens dem einzelnen Marne jchuldete, von dem ihr
Vebengunterhalt abhing. Die andre war geiftiger
und fittliher Art, eine ſtlaviſche Uebereinftimmung
im Denfen, Reden und Handeln mit einer NAuzahl
überlieferter und alt hergebradhter Regeln, die darauf
berechnet waren, alles Urjprüngliche und Eigenartige
zurüdzubrängen und dem äußern wie dem imnern
Leben eine künſtliche Einförmigkfeit zu verleihen.
„Dies lebte Joch war das ſchwerſte von allen
breien und hatte die verhängnisvollfte Wirkung, nicht
nur auf die rauen jelbit, jondern durch fie auf die
ganze Menfchheit, weil es die Mütter des Menjchen«
geihlecdhts herabwürdigte. Ahr Geift mußte dabei
verfümmern, und ihre Seclenkräfte wurden jo ſehr
gelähmt, daß man dies zum Vorwand nehmen konnte,
um fie überhaupt wie untergeordnete Wejen zu
behandeln. Die Männer, die das thaten, waren
jelbft nicht weife genug, um einzujehen, daß, was fie
als Grund für die Unterjohung der Frau angaben,
nichts als die Folge diefer Unterjodung jelber war,
Uns fommt es heutzutage unbegreiflich vor, daß die
Frau ih im Denken und Handeln einem Geſetz
unterwarf, welches eigens für ihr Gejchledht erfunden
war, nur für Sklaven gemacht ſchien und von den
Männern mit Hohn zurüdgemwieen wurde. Daß fie
es that, ift nur erflärlich, weil die Frau feine Aus—
ſicht auf ein einigermaßen erträgliches Dajein hatte,
wenn es ihr nicht gelang, die Gunft eines Mannes
zu erwerben, der ihre Verforgung übernehmen konnte,
Auch für den Mann, der eine Beihäftigung juchte,
war es unter Ihrem mirtidhaftlihen Syſtem jehr
vorteilhaft, wenn er in Gedanken und Worten mit
feinem Arbeitgeber übereinjtimmte. Doch wurde ihm
meift wenigſtens ein gemwilfer Grab der Selbjt«
beftimmung und geiftigen Unabhängigkeit von jeinen
Vorgeſetzten zugejtanden, folange er feinen Anſtoß
gab, denn im Grunde verlangte man nichts von ihm
al& jeine Arbeit. Das Verhältnis ber Frau zu dem
Manne, von dem fie den Unterhalt erhält, war ganz
andrer Art und viel perjünlicher. Sie mußte ihm
vor allem eine persona grata jein, wie man ſich
ausdrückte. Um feine Gunft zu erwerben, mußte fie
ſuchen, ihm wohlgefällig zu fein, und durfte weder
durch ihre Anfichten noch durch ihr Verhalten jeine
Vorurteile und feinen Gejchmad verlegen. Er hätte
jonft leicht eine andre wählen können. Hieraus
folgte, daß, während man bei der Erziehung bes
Knaben darauf ausging, ihn für einen Beruf vor«
zubereiten, man bei einem Mädchen das Haupt«
augenmerf darauf richtete, dab es den Männern
gefallen oder wenigftens nicht mißfallen ſollte.
„Hätte man num die einzelnen rauen darauf hin
erzogen, daß fie für beftimmte Männer paffen jollten,
880 Edward
fo wäre das ziwar immer noch ganz gegen bie weib-
liche Würde geweien, aber doch weniger verderblich,
weil viele Männer entihieden ſolche Frauen bei
weitem vorgezogen hätten, die felbitändig denken
fonnten und eigne natürliche Anſchauungen Hatten.
Da man aber niemals vorauszuſehen vermochte, für
welches Mädchen fich diefer oder jener Mann ent«
fcheiben würde, jo war es am ficherjien, wenn man
bei der weiblichen Erziehung mehr darauf jah, daß
die Mädchen nicht im aktiven, jondern im paffiven
Sinne anziehend waren, damit fie den Männern im
allgemeinen feinen Anſtoß gäben. Dies Ziel lieh
ſich am leichteſten dadurd erreichen, daß man das
Mädchen früh gewöhnte, fi in Gedanken, Worten
und Werfen nad den althergebradhten Sitten und
Gebräuchen zu richten und ſich ganz den bejtehenden
Regeln anzupaffen. Bor allem mußte fie ſich vor
anftedenden neuen und eigenartigen Ideen hüten,
durch welche fie auf religiöfem, politiſchem oder ſo—
zialem Felde vom herfömmlichen Geleife abgelenft
werden konnte. Das heißt, fie mußte ihren Geift
wie ihren Leib genau nad) den gerade herrſchenden
Modebildern formen und Heiden. Sollte ihre Hoff:
nung auf eine behaglidhe eheliche Verſorgung nicht
getäufcht werden, jo durfte niemand wiſſen, daß fie
irgend welche eigne ungewöhnliche oder beftimmte
Meinung über Dinge befaß, die wichtiger waren als
Kunftftidereien oder die Ausjhmüdung des Em—
pfangszimmers. War nun im wejentlichen für Be—
obadhtung des Herkommens gejorgt, dann ftanden
ihre Ausfihten um jo günftiger, je unterhaltender
und febhafter fie bei allen nichtigen Anläffen, ober
Hächlichen Dingen und geringfügigen Erlebnifien war.
Mad meinen Sie, Julian, ift meine Schilderung
zutreffend oder nicht?"
„Dhne Zweifel,“ erwiderte ih, „haben Sie das
Ideal einer weiblihen Mode-Erziehung zu meiner
Zeit genau beichrieben, wie es wirklich war. Doch
dürfen Sie nicht vergeſſen, dab es eine große Zahl
böchft gediegener und geiftvoller Frauen gab, die
gewohnt waren, jelbft zu denfen und zu jagen, was
fie daten.“
„Das verfteht fi von ſelbſt. Sie waren das
Urbitd der jegigen rau; durch fie erhielt man eine
Ahnung von dem, was fich heute erfüllt hat. Es
gelang ihnen, die Feſſeln des Herlommens zu brechen
und der Welt zu beweifen, daß eine Gleichheit von
Mann und Weib im Gebiet des Denkens und Handelns
fein Ding der Ilnmöglichfeit jei. Aber, während
große Geifter über die Verhältniſſe fiegen, laſſen ſich
die Durchſchnittsmenſchen von ihnen beherrichen und
bezwingen. Erft wenn wir bedenfen, welchen Einfluß
Ihr Syſtem auf die ungeheure Mehrzahl der Frauen
ausübte, durch deren Adern das Gift fittlicher und
geifliger nehtichaft in den ganzen Organismus des
Bellamy.
Menſchengeſchlechts eingedrungen iſt, erlennen wir,
wie furchtbar die Anflage war, welche die Menid.
beit gegen dies Syſtem vorzubringen hatte, Indem
die Revolution die Mütter des Menſchengeſchlecht
nit nur von ihren leiblichen, fondern aud von
ihren fittlihen und geiftigen Feſſeln befreite, hat fie
der Melt eine Wohlthat erwiefen, die gar nicht bed
genug angeſchlagen werden fann.
„Ih ſprach ſoeben davon, daß in Ihrer Zeit
die Lage des weiblichen Geſchlechts und diejenige dei
Induftrie-Arbeiter® mancherlei Bergleihungspunfte
bot. Auf einen derſelben muß ich noch näher ein.
geben;
„Die Unterjohung der Arbeiter durd die Kapi-
taliften wurde dadurch erleichtert, daß es zu jeder
Zeit eine große Maſſe Arbeitslojer gab, melde die
Arbeiter unterboten und, um nur Beichäftigung zu
befommen, fich mit jeden Preis und allen Bedingungen
zufrieden erflärten, Dies war der Popanz, mit dem
die Kapitaliften die Arbeiter jchredten und in Banden
hielten. Ebenſo ftand auch ſtets eine Schar unver-
forgter Frauen zur Verfügung, wodurch die fetten
der Dienfibarkeit des Geſchlechts noch fefter ae
ichmiedet wurden. Der Lebendunterhalt war zu Jhrer
Zeit jo ſchwer zu erlangen, daß viele Männer ſich
nicht einmal jelbjt verjorgen fonnten ; außerdem noch
eine Frau zu erhalten, war den meiften ganz unmöglid,
Der Mann, welder nicht heiraten fonnte, lebte
vielleicht weniger glüdlich, aber die Frau büßte nicht
nur ihr Glüd ein, jondern ſah fich auch in der Regel
dem Mangel und der Armut preisgegeben, denn für
fie war es eine noch weit ſchwierigere Aufgabe al
für den Mann, durch eigne Arbeit ihr Leben zu
friften. Hieraus entftand eins der empöremdfien
Schauſpiele, weldye die Welt je gejehen hat, nämlid
ein Wettbewerb und Wettlampf der Mädchen um
die vorhandenen Seiratsgelegenheiten. Will man
fi) Har machen, wie ſchwer es für die Frau zu jener
Zeit war, ihre geiftige, fittliche und leibliche Würde
dem Manne gegenüber aufrecht zu erhalten, jo braucht
man nur an ihre furchtbar ungünftige Stellung auf
dem jogenannten „Heiratsmarkt” zu denlen. Dieſes
Ausdrucks bedienten fih Ihre Zeitgenojien mit Vor«
liebe und brutaler Deutlichkeit.
„Aber das war noch nicht einmal die tiefite
Erniedrigung des Weibes. Es gab noch eine andre,
ichredlichere Form des Wettbewerbs innerhalb ihrer
eignen Klaſſe. Nicht nur war fortwährend eine um
geheure Meberzahl unverheirateter (Frauen vorhanden,
welche nad) der wirtſchaftlichen Verſorgung ftrebten,
die ihnen die Ehe bot, e& gab auch elende Weiber
in Menge, die auf der unterften Stufe ftanden. Sie
durften auf feine Verforgung unter ehrenhaften Ber
dingungen hoffen und waren bereit, ich für eine
Brotkrufte zu verlaufen. Wundern Sie fid noch,
Gleichheit.
Jultan, daß unter dem Haufen von Schmuß, den
ihr im neunzehnten Jahrhundert Zivilijation nanntet,
das Verhältnis der Geichlechter für uns den ab»
ihredendften Anblid bietet?”
„Unjre Philanthropen machten ſich viel Kopf:
zerbrechens über die öffentliche Unfittlichfeit und die
große Menge verworfener Weiber, die es gab; doch
betrachtete niemand die Frage als ein wirtfchaftliches
Problem. Man glaubte, fie ftamme aus ber Ver—
derbtheit des menſchlichen Herzens und jei ein jittliches
Uebel, gegen das nur die Einflüffe der Moral und
Religion etwas ausrichten lönnten.“
„Ih weiß, ich weiß! Natürlich durfte man es
zu Ihrer Zeit nicht laut werden laſſen, wie verrottet
Ihr ganzes wirtichaftliches Syitem war. Deshalb
pflegte man alle feine entjeglichen Folgen der armen
menichlihen Natur zuzuſchreiben. Es gab fogar
Menſchen, die der Meinung waren, man fönne der
Unfittlichleit durch Predigten feuern, während noch
Millionen Frauen auf Erden lebten, die in ihrer
verzweifelten Not fein andres Mittel hatten, fi Brot
zu verihaffen, ala die Lüfte der Männer zu befriedigen.
Id habe mich etwas mit Phrenologie befchäftigt und
öfters den Wunſch gehabt, den Schädel eines ſolchen
Philanthropen des neunzehnten Jahrhunderts unters
fuchen zu können, deſſen ehrliche Ueberzeugung dies
war. Aber vielleiht war gar feiner darunter, der
aufrihtig an eine joldhe Möglichkeit glaubte.“
„Etwas wollte ih Sie noch fragen,” fagte ich.
‚Schon zu meiner Zeit gab es Frauen von jo uns
abhängiger Geiftesrichtung, daß fie gegen die Sitte,
die fie zwang, ihres Mannes Namen bei der Heirat
anzunehmen, einen Einwand erhoben. Wie macht
man das heutzutage?”
„Durch die Ehe verändert fich der Name ber Frau
jo wenig wie der des Mannes.“
„Aber wie ſſeht e8 mit den Kindern ?*
„Die Mädchen führen den Namen der Mutter,
und als mittleren Namen den des Vaters; bei den
Knaben iſt es gerade umgelehrt.”
„Mir fällt eben ein," ſagte ich, „daß es doch
merlwürdig wäre, wenn die völlige Umwandlung im
Leben der Frau, welche ihr die wirtichaftliche Unab—
bängigfeit brachte, nicht auch den fittlihen Maßſtab
für das Verhältnis der Gejchledhter in mancher Hin«
ſicht beinflußt haben follte.”
„Sagen Sie lieber,“ verfeßte der Doftor, „daß
die wirtjchaftliche Gleichftellung von Mann und Frau
es uns zum erflenmal ermöglicht hat, ihr Berhältnis
auf eine fittliche Bafis zu bringen Die Haupt«
bedingung bei jeder ethijchen That ift die Freiheit
des Handelnden. Solange der Lebensunterhalt der
Frau noch vom Manne abhing, war fie außer ftande,
fich frei zu bethätigen, und es fonnte daher bei dem
Verhältnis der Geſchlechter von einer wahrhaft ethifchen
Aus fremben Zungen, 1897, II, 19.
881
Grundlage nicht die Rebe fein. Erſt als die Frau
in wirtſchaftlicher Beziehung unabhängig wurde,
fonnte ſich auch die moralifche Seite ihres BVerhält-
nifjes zum Mann richtig geftalten.“
„Die Moralijten meiner Zeit würden große Augen
gemacht haben,” bemerkte ich, „hätte man ihnen ge=
jagt, dab der Verkehr der Geſchlechter jeder Ethit
ermangle. Wir hatten doc fehr ftrenge, ausführliche
Regeln und Gebote in diefer Beziehung.“
Verſteht ſich,“ erwiberte mein Gefährte. „Machen
wir uns dieſen Punkt jo deutlich wie möglid, denn
er iſt von höchſter Michtigfeit. Sie hatten, wie Sie
jagen, jehr bejtimmte Vorfchriften über das Verhalten
der Gejchlechter zu einander — das heit, beionders
für die Frau — aber fie beruhten meift nicht auf
Gründen der Ethik, fondern der Klugheit; ihr Zwed
war, die wirtſchaftlichen Interefien der frau dem
Manne gegenüber ficherzuftellen. Für den Schuß
der frau waren dieſe Negeln im allgemeinen von
hohem Wert, wiewohl fie in einzelnen Fällen oft ſehr
grauſam jchienen. Sie bildeten das einzige Mittel,
um die Frau und ihre Rinder wenigftens einiger
maßen vor Mißhandlung und Bernadläffigung zu
ſchühzen, folange fie noch jelbft ein Hilflofes und ab»
hängiges Wejen war. ch bin weit davon entfernt,
den Wert diefer Gejehe geringzufchäßen ; fie wirkten
in hohem Grade jegensreich, folange fie notwendig
waren. Da fie aber nicht aus der bejonderen Heilig«
feit des Geſchlechtsverhältniſſes an ſich entiprangen,
fondern nur aus Fugen Erwägungen, bie ji auf
Fragen des Unterhalt3 bezogen, jo darf man ihnen
auch feine ethiſche Bedeutung unterjchieben. Es
waren nur geſehliche Vorjchriften und Gebräuche,
weldhe das leibliche Wohlergehen der Frauen und
Kinder in der Ehe und Familie ſchühen und fihern
ſollten.
„Den Heiratslontralt ſchmückte und umranlte die
Phantaſie mit einer Menge gefühlvoller und religiöfer
Vorftelungen; aber ich braude Sie faum daran zu
erinnern, daß er vor dem Gefek und in den Augen
der Geſellſchaft im mejentlichen nichts als ein Ver—
trag war, ein ftreng geichäftliches Abkommen mit
gegenfeitiger Verpflichtung; der Mann übernahm e8,
für den Unterhalt der Frau und efwaiger Finder zu
jorgen, und als Erſatz dafür gab fie fih ihm ganz
zu eigen — das heißt, unter der Bedingung, daß er
ihr die Nußnießung jeines Vermögens bewilligte,
wurde fie ein Teil desjelben. War nur diejer Ner«
trag in aller Form Rechtens gejchloffen, jo galt das
Verhältnis für fittlich rein und unantaftbar in jeder
Beziehung. Vielleicht waren die beiden Leute über-
haupt nicht geeignet, zu heiraten und Eiternpflicht zu
übernehmen ; die niedrigfte und gemeinjte Berechnung
fonnte fie zufammenführen; möglich, daß die Braut
durch die Not gezwungen wurde, einen Mann zu
111
882
nehmen, ben fie verabjcheute, vielleicht opferte man
die blühende Jugend dem wellen Alter und handelte
gegen die Stimme der Natur — aber nad) damaliger
Anfhauung war alles ſchön und gut, jobald mur der
Vertrag geſehlich vollzogen war. Hatte man im
Gegenteil dies vernadhläffigt, folgte das Mädchen
dem Manne ohne Vertrag, jo konnte ihre Liebe noch
jo groß fein und bie Verbindung noch fo natur«
gemäß und pailend, die Frau wurde dennoch ala
unfeufch und verworfen außgeftoßen und dem lebendigen
Tod gejellihaftliher Schande preisgegeben, Daß ſich
unter Ihrem abſcheulichen Syftem dies joziale Geſet
rechtfertigen ließ, gebe ich volllommen zu. Es war
dad einzige Mittel, die wirtjchaftlichen Intereſſen von
Frau und Rindern zu ſchühen, aber wenn man be=
haupten will, e8 habe eine eihijche oder moraliſche
Bedeutung gehabt, jo läht ſich das nur durch ein
völliged Mißverſtehen des Begriffs erllären. Wir
würden im Gegenteil jagen, es fei ein Geſetz ge—
wejen, bei dem man, um die materiellen Inter—
eſſen der rau zu jhühen, mit Vorbedacht alle Ge—
ſetze bintanjeßte, die im Menjchenberzen geichrieben
ftehen.
„Wie uns berichtet wird, war in Ihren Tagen
viel von der ſchändlichen Thatfahe die Nede, dab es
einen ganz verſchiedenen Moralfoder für den Mann
und die Frau gab. Die Männer weigerten ich,
dem Gejek zu gehorchen, dem die Frau ſich fügen
mußte, und die Gejelljchaft machte nicht einmal den
Verſuch, einen Zwang auf fie auszuüben. Die, welche
behaupteten, es dürfe nur eine Moral für beide Ge-
ſchlechter geben, hatten die Anfiht, daß Recht oder
Unreht bei Mann und Frau gleich fei, dab es nur
einen Maßſtab dafür geben jollte, was gut und böje,
rein und unrein, moraliſch und unmoralijd bei beiden
wäre Dffenbar war dies die richtige Anſchauung;
aber welcher moralifche Gewinn würde dem Menſchen⸗
geichleht daraus erwachjen jein, wenn man bie
Männer hätte bewegen können, ſich demjelben Gejeh
zu beugen wie die frau? Dies Geſeß war ja in
feinem Grundbegriff vom Verhältnis der Geſchlechter
jeder Ethik bar. Nur der bittere Zwang wirtſchaft⸗
licher Knechtſchaft Hatte die Frau dahin gebracht,
ein Gefeh anzunehmen, gegen welches die Verzweiflung
aller ichuldlojen Greichen und das zerflörte Leben
einer endlofen Menge von Frauen, deren einzige
Sünde eine allzugroße Liebe geweſen war, viel taujend-
ftimmig gen Himmel ſchrie. Ohne Zweifel jollte «8
für Mann und Frau nur ein Sittengejeß geben,
wie das jetzt der Fall ift, aber das darf fein Sklaven-
gefeh jein, das auf niedrigen Beweggründen rubt
und dem bie frauen fi aus Furcht vor Mangel
fügen müffen. Nur wern die Gejchledhter einander
in völliger Gleichheit frei und unabhängig gegenüber«
ftehen, kann das höhere Gefeh für Mann und Frau,
Edward Bellamp.
das im Herzen der Menſchen gefchrieben fteht, jur
Wahrheit werben und jeine Geltung behalten.“
„Zuerft hat es mich freilich überraſcht, Dolter,
das muß ich geftehen, als Sie fagten, bei uns habe
dem Verhältnis der Geſchlechter die ethiſche Grund-
lage gefehlt, Aber ſchließlich ift das nichts amdres,
als was auch unfre Dichter und Satirifer ausſprachen,
wenn fie diefen Gegenftand behandelten. Der großt
Abftand zwijchen der herfömmlichen Geſchlechtsmoral
und ber inftinktiven Moral der Liebe war ſprich
wörtlich bei uns und lieferte, wie Sie wohl wiſſen
werden, das Thema für einen großen Zeil unirer
dramatijchen und romantijchen Pitteratur.*
Jawohl,“ erwiderte der Doktor, „Ihre Schrift
fteller haben mit tiefem Gefühl und aller Kraft, die
ihnen zu Gebote ftand, die graujame Ungerechtigkeit
des ehernen Geſetzes der Gejellichaft geichildert, das
um jo empörender war, weil es jeine ganze Schärfe
ausſchließlich gegen die Frau richtete. Aber ihre ber
redten Worte verhallten nußlos, und mie jehr ie
aud die Herzen rührten, es hatte feinen praftiihen
Erfolg. Sie griffen das Uebel nicht bei ber Wurzel
an und vergaßen, was eigentlich die Schuld an dem
Gejeb trug, gegen das fie zu Felde zogen. Es war
ja nichts andres, wie wir gejehen haben, ala die
faljche Güterverteilung, welche es mit ſich brachte,
daß die Frau nur auf Schutz und Wohlbefinden
hoffen durfte, wenn es ihr gelang, ſich um den
Preis ihrer Perfon die Verſorgung durd einen
Mann mitteljt eines gejehlichen Vertrags fihern zu
laſſen.“
„Mir ſcheint,“ ſagte ih, „den Frauen braud-
ten nur die Augen darüber aufzugehen, welche Be
deutung die wirtjchaftliche Gleichheit aller, die von
der Revolution verkündet wurde, für ihr Geſchlecht
haben würde, um fie zu begeifterten Anhängerinnen
derjelben zu machen. Der Umſturz lag ja nod
weit mehr in ihrem Intereſſe als in dem der
Männer.“
„Ohne alle Frage,“ verjehte der Doftor. „Zwar
binderten bie Feſſeln des Herlommens, der Heber-
lieferung und des Vorurteils, ſowie die fFeigbeit,
an welche fie fid) in ihrer Dienftbarkeit jeit unden!-
lichen Zeiten gewöhnt hatten, die große Maſſe der
Frauen noch lange daran, einzufehen, welche munder-
bare Befreiung ihrer harrte; aber ala es ihnen end-
(ih Har wurde, traten fie einftimmig mit folder
Begeifterung für die Umjturzbewegung ein, daß ber
Sieg im Kampfe gefihert war, Für die Männer
war die wirtſchaftliche Gleichheit günftig oder un
günſtig, je nad) ihrer Vermögenslage, aber jede
Frau, ſchon allein um ihres Geſchlechts willen, mußtt
fie mit Freuden begrüßen, ſobald fie nur erft erfann!
hatte, um was es ſich für die Hälfte des Menjhen-
geſchlechts dabei handelte,“
m us
Gleichheit.
XXI
Auf dem Turnplak.
Edith war noch früh genug bei und auf dem
Hausdad angelangt, um den Schluß unfers Gejprädhes
mit anzuhören. Seht ſagte fie zu ihrem Vater:
„Nach dem, was du Julian über die Frauen der
Neuzeit mitgeteilt haft, würde es ihn vielleicht
intereffieren, unjern Turnplak zu beſuchen und zu
jehen, was wir dort für Uebungen machen. Heute
nahmittag wird um die Wette gelaufen und geflogen,
auch allerhand andre Proben werden angeftellt.
Unjer Jahrgang darf dicamal den Plab allein be»
nupen, und ich muß jedenfall dort jein.”
Diefem Vorſchlag, der natürlich mit Freuden
angenommen wurde, verdanfe ich eine ber intereſſan⸗
teften und Iehrreichiten Erfahrungen aus jener erften
Zeit, in der ich mit der Zivilifation des zwanzigiten
Jahrhunderts Belanntihaft machte.
An der Thür der Turnhalle verlieh uns Ebith,
um fi zu ihrer Klaſſe im Amphitheater zu gefellen,
„I Edith bei einer der Wettübungen beteiligt?“
fragte ich,
„Mehr oder weniger nimmt ihr ganzer Jahrgang,
das heißt alle, die ebenfo alt find wie fie, an den
beutigen Uebungen teil.”
„Worin zeichnet Edith fich denn bejonders aus?”
„sin allgemeinen werben bei ung die Spezialitäten
nicht jehr gepflegt,“ erwiderte der Doktor. „Natürlich
fann jeder zu Haufe thun, was er will, aber bei
unjerm öffentlichen Unterricht jehen wir hauptfächlich
auf eine nach allen Seiten ebenmäßige Entwidiung
des Körpers. Wir fireben zuerft danach, bei allen
ein gewiſſes Normalma von Kraft zu erzeugen, und
Beine, Rüden, Schenkel, Schultern, Brufttorb, Naden
und jo weiter auf bie normale Länge und Breite zu
bringen. Bei diefem Maß kann fi der höchſte
Grad von Peiftungsfähigkeit und Schönheit noch nicht
entwideln; es ift nur das Minimum, Alle, die dies
erreichen, können als normale, gejunde Männer und
frauen betrachtet werden, es bleibt ihnen dann über-
lafien, ſich nach verſchiedenen Richtungen, hin weiter
auszubilden.”
„Wie lange dauert denn biejer öffentliche gym-
naſtiſche Unterricht?“
„Er ift ebenjo obligatorijch wie alle andern Unter—
richtszweige, bis fich der Körper volllommen entwidelt
bat, was etwa im vierundzwanzigften Jahr der Fall
ift, wie wir annehmen; aber in Wirklichkeit wird er
dad ganze Leben lang fortgejeßt. Die Teilnahme
daran Hängt fpäter natürlich meift vom perfönlichen
Befinden ab.”
„Macden Sie denn jeßt noch regelmäßige Uebungen
in einer Turnhalle, Doktor ?*
„Warum jollte ich nicht? Man will doch mit jechzig
Jahren ebenjo gern gejund fein wie mit zwanzig.“
883
„Meine Ueberraſchung darf Sie nicht wunder-
nehmen,“ jagte id. „Zu meiner Zeit hieß e& immer,
wenn jemand über fünfundvierzig Jahre alt wäre,
dürfte er nicht mehr hinter einem Pferdebahnwagen
berlaufen, um jchnell hineinzuſpringen; und bie
Grauen hörten überhaupt von fünfzehn Jahren ſchon
auf zu laufen. Dann wurde ihr Oberkörper in einen
Panzer gezwängt, der Unterförper in einen Sad ger
ftedt, die Füße in Daumenſchrauben, und fie fagten
der Geſundheit für immer Lebewohl.“
„Ihr Scheint allerdings mit euerm Körper jehr
fchlecht umgegangen zu fein,“ verjeßte der Doftor.
„Die rauen nahmen auf ben ihrigen gar feine
Rückſicht, und ſoviel ich weiß, haben die Männer
ihren Körper bis zum vierzigften Jahr mißhandelt;
von da an mißhandelte der Körper fie — was nur
gerecht war; die große Mafje förperlichen Elends,
das durch Schwäche und Krankheiten entftand, die
leicht zu vermeiden geweſen wären, bildet zufammen
mit dem moralijchen Elend, welches die notwendige
Folge eures Syſtems der wirtihaftliden Ungleichheit
war, eine der jchwerften Anflagen gegen dasjelbe,
Es ift die Grundurſache, auf die ſich direft oder in-
direft alle Erſcheinungen diefes Zuftandes zurüd-
führen lafjen. Bei ihrer wahnfinnigen Jagd nad)
Erwerb und dem Streben, andern ihren Erwerb zu
entreiben, konnten die Männer zu Ihrer Zeit weder
auf Körper noch auf Geift irgend welche Rüdficht
nehmen. Auf den Frauen aber laſtete eine fo ſchwere
Knechtſchaft, daß Leib und Eeele verderbt wurben
und es al& ein Wunder betrachtet werden fonnte,
wenn irgendwo noch Gejundheit bei ihnen zu finden
war.”
Als wir das Amphitheater betraten, jahen wir
an einem Ende der Arena ziveis oder dreihundert
junge Männer und rauen lachend und plaudernd
bei einander ftehen. Dies, fo jagte mir der Doltor,
waren Ediths Hlaffengefährten von 1978, alle zwei«
undzwanzig Jahre alt, in dieſem Stadtviertel geboren
oder dorthin gezogen. Ich betrachtete mit Bewunde⸗
rung die Geftalten der jungen Leute, die alle ſtark
und ſchön waren wie die Götter und Göttinnen des
Olymp.
„Soll id denn glauben,” rief id), „daß die ganze
Jugend eures Landes jeht auß jo herrlichen Menſchen
befteht und dies nicht nur eine auserwählte Schar
der Kräftigften iſt?“
„Gewiß,“ erwiderte er; „Sie jehen bier ale
jungen Leute von zweiundzwanzig Jahren verjanmelt,
welche in dieſem Stadtviertel wohnen, mit Ausnahme
bon zweien oder dreien, bie aus einem bejonberen
Grunde fehlen.”
„Aber wo find Die Krüppel, die Vertvachjenen,
die Schwachen und Schwindjüchtigen ?*
„Sehen Sie dort den jungen Mann auf dem
884
Stuhl, den jo viele andre junge Leute umringen?“
fragte der Doktor,
„AH! Da giebt es wenigftens einen Kranken.“
„Ja,“ erwiderte mein Gefährte. „Der junge
Dann bat einen Unfall gehabt und wird nie wieder
ftart werden. Er ift der einzige Kränkliche von der
ganzen Klaffe, und fie jehen, wie die andern fi um
ihn bemühen. Bei euch gab es jo viele Lahme und
Franke, dab das Mitleid felbft ermattete. Eure
Thränen verfiegten, und euer Erbarmen ftumpfte ſich
ab beim Anbfid von jo viel Elend. Bei uns find
die Schwachen jo jelten, daß wir fie ganz bejonders
lieb und wert halten.“
In diefem Augenblid erflang ein Hornfignal,
und einige jechzig Jünglinge und Jungfrauen flogen
im Wettlauf an uns vorüber, Während fie liefen,
wurde auf dem Horn eine nervenanregende Weile
geblafen. Was mic aber jehr wunderte, war, daß
„alle faft zugleih das Ziel erreichten, ba die Teil
nehmer am Wettlauf dod nicht befonders dazu ein=
geübt waren, jondern nur aus der Gruppe beitanden,
welche heute an ber Reihe war, im Programme ber
Uebungen den Wettlauf auszuführen. Wenn zu meiner
Zeit eine fo zufammengewürfelte Schar um die Wette
lief, waren einzelne auf der ganzen Länge der Bahn
vom Ziel bis zur Mitte verzettelt, und bie meiften
famen nicht über die Mitte hinaus,
„Edith ift als dritte angelommen,“ las ber
Doktor von den Signalen ab. „Sie wird ſich doppelt
freuen, daß fie ihre Sache jo gut gemadt hat, weil
Sie dabei waren.”
Das nächſte Ereignis war jehr merkwürdig. Auf
einer hohen Plattform am äußerfien Ende bes
Amphitheaters hatte ich eine Gruppe von Jünglingen
bemerft, die irgend etwas vorbereiteten, und ich war
geipannt, was fommen würde Plöhlih auf ein
Trompetenfignal jprangen alle über den Rand ber
Plattform hinunter, Ih ftieh einen Schrei bes
Entjegens aus, denn der Sprung fonnte ihnen das
Leben koſten.
„Nur keine Sorge,” fagte der Doktor lachend,
und im nächſten NAugenblid ftarrte ih einer Menge
junger Leute nad, die fünfzig Fuß hoch über der
Rennbahn durch die Luft flogen. Dann folgten Wett«
kämpfe im Ballwerfen und Schießen.
„seht verftehe ich, weshalb die Frauen bei euch
eine jo breite Bruft und breite Schultern haben,”
jagte ich.
„Das haben Sie aljo bemerft?* rief der Doktor.
„Gewiß habe ich bemerkt, daß heutzutage bei den
Frauen der Oberkörper jo kräftig entwidelt ift, wie
es zu meiner Zeit nur höchſt jelten vorlam.”
„Dann wird ed Sie ohne Zweifel intereffieren,
zu jehen, wie Ihre Wahrnehmung ſich beftätigt. Wir
wollen das Amphitheater eine Weile verlajjen und
Edward Bellamp.
uns in die Anatomiefäle begeben. Für einen be
geifterten Anatomen wie mich ift es ein beſonderer
Glücksfall, wenn er einen empfänglichen Schüler hat,
dem er zeigen lann, weldyen Einfluß unfer Prinzip
der jozialen Gleichheit und der beften Gelegenheit
zur Ausbildung für alle auf die Vervolllommmung
des menſchlichen Körpers und befonbers bes Franen-
förpers gehabt hat. Ich fage, beionders des Frauen-
förpers, weil dieſer früher ganz verkehrt behandelt
wurde, ald hätten die Frauen fein Recht auf Lebens⸗
genuß. Hier ift eine Anzahl Gipsfiguren, die nad
ben anthropometriihen Mefjungen gefertigt find,
welde uns die Sachkundigen der Ichten Jahrzehnte
des neunzehnten Jahrhunderts, denen wir zu großem
Dank verpflichtet find, hinterlafien haben. Sie jehen
an diejen Figuren, daß oberhalb der Taille eine
Neigung zu verfümmerter, unvolllommener Enttwid-
lung beitand, während ſich unterhalb derſelben eine
übermäßige Fülle zeigte. Die Geftalt machte ben
Eindrud, ald wenn fie geſchmolzen wäre, wie Zuder-
guß bei warmem Wetter, und ſich unten alles ge=
fammelt hätte. Sehen Sie, die vordere Breite der
Hüften ift thatjählich größer als die Schulterbreite,
während fie einen bis zwei Zoll Heiner fein jollte,
Damals Hatte die Figur Aehnlichkeit mit einer
Zwiebel, wozu nod) die maflenhaften bauſchigen Ge—
wänder beitrugen, welche eure Frauen fih um Die
Hüften banden.”
Bei feinen Worten ſah ich zu dem fleinernen
Geficht der weiblichen Figur empor, deren Reize der
Doktor jo geihmäht hatte. Mir ſchien, ala ob fie
mid) aus ihren leeren Augen mit einem vorwurfs«
vollen Blide anfchaute, und das Herz jagte mir, daß
fie ein Recht dazu hatte. Ich war ja ein Zeitgenofje
dieſer Frauentypen gewejen und verbankte ihren
ihönen Augen alles, was das Leben lebenswert
machte, Ob nad) modernen Anfichten ihre Schön-
heit volllommen war oder nicht, fie hatten den Ein⸗
fluß des ewig Weiblichen auf mich geübt und mir
die heiligen Geheimniffe der Natur enthüllt. Kein
Wunder, daß dieje fleinernen Augen mich vorwurit-
voll anfahen, denn durch mein Schweigen gab ich
dem Manne eines andern Zeitalter recht, welcher
bie Reize läfterte, die mich jo glücklich gemacht hatten.
„Stil, Doktor, ſtill!“ rief ih aus. „Sie haben
gewiß recht, aber mir ziemt es nicht, folde Worte
zu hören.“
Sch Konnte feinen Ausdrud finden, um ihm zu
erklären, was mir das Herz bewegte, aber ed war
auch nicht nötig. Der Doltor verftand mid, und
feine jcharfen grauen Augen leuchteten, al& er mir
die Hand auf die Schulter legte.
„Recht jo, lieber Freund,” jagte er. „Es freut
mich, daß Sie fo jprechen, und Edith wird Sie audh
nur deſto lieber haben, denn heutzutage hält jede
Gleichheit.
Frau etwas auf die Ehre der andern, was zu eurer
Zeit wohl nicht jo der Fall war. Aber ich glaube,
wenn hier im Zimmer die abgejhiedenen Geifter
jener Frauen zugegen wären, fie würden fi am
allermeiften freuen, daß die Freiheit jetzt jo viel
ihönere und weitere Tempel gebaut hat, in denen
die Seelen ihrer Töchter wohnen fünnen.
„Nun jehen Sie," fügte er Hinzu, indem er auf
eine andre Figur deutete; „dies iſt die typiſche Frauen⸗
geftalt der Gegenwart. Stein deal, jondern nad
den Durchſchnittsmaßen gebildet, die wir zum Zwecke
wifienjchaftlicher Vergieihung genommen haben. Sie
werden gleich bemerken, daß dieje Figur zwei Zoll
größer ift als die erſte. Und nun fehen Sie dieſe
Schultern an! Sie haben im Berhältnis zur Hüft-
weite zwei Zoll an Breite gewonnen, wenn man fie
mit der Figur vergleicht, die wir vorhin geprüft
haben. Dagegen ift die Gürtelweite über den Hüften
größer, und dieje haben eine fräftigere Muskulatur.
Die Bruft ift anderihalb Zoll breiter, während das
Maß des Leibes reichlich zwei Zoll mehr beträgt.
Dieje Zunahme in den Verhältniſſen ift bedeutender,
als fie durch die größere Länge der Geftalt bedingt
wäre. Was nun gar das Muslelſyſtem anbetrifft,
jo jehen Sie, daß der Unterſchied gegen früher
enorm ift.
„Wie erflärt ſich aber diefe Erjcheinung? Sie ift
einfach die Folge des freien, vollen, fejjellojen phy—
ſiſchen Lebens, das bie wirtjhaftliche Gleichheit den
rauen zum Geſchenk gemadt hat. Damit fich die
Schultern, Arme, Beine, Schenkel und überhaupt
der ganze Körper entwideln fann, muß der Menſch
Bewegung haben — nicht eine mäßige und leichte,
ſondern eine jolche, die mit lebhajter Anftrengung
verbunden ijt und regelmäßig ausgeführt wird, nicht
nur zeitweife. Die Vorſehung erläßt den frauen
die Kraftübungen nicht, durch welche die Männer
ihren Körper gejtählt und ausgebildet haben. Aber
eure frauen hatten Hiervon feine Ahnung. Jahr«
hundertelang war ihre Thätigfeit auf zahlloje fleine
Aufgaben beichräntt geweſen, welche Körper und
Geift zwar aufs äußerſte ermüdeten, bei denen aber
die Lebenskräfte nicht angeregt und daher auch nicht
gefteigert wurden. Seit undenklichen Zeiten war ber
Knabe mit feinem Bater auf die Jagd gegangen,
hatte das Feld bebaut oder mit andern Jünglingen
jeine Kraft im Ringfampf geitählt, während das
Mädchen zu Haufe blieb und jpann. Bis zum fünf:
zehnten Jahr durfte fie an den weniger unterhaltenden
Spielen ihres Bruders teilnehmen, jobald fie aber
erwachjen war, hatte jede lebhafte Bewegung im
Freien für fie ein Ende. Was mußten die unaus-
bleiblihen Folgen jein? — Ein verfrüppelter, ges
ihwächter Körper und unaufhörliches Kränteln, Man
muß jih nur wundern, daß nad) jo langer Unter-
885
drüdung und jo verfehrter Behandlung der mweib-
liche Körper für die freiere Entfaltung, die ihm das
vergangene Jahrhundert gejtattete, noch empfänglich
war, wovon feine große Veränderung in verhältnid«
mäßig kurzer Zeit der befte Beweis ift.“
„Wir haben doch aber auch viele jchöne Frauen
gehabt; wenigften® zweifelten wir nie an ihrer phy=
fiiden Volllommenheit,“ jagte ic.
„Das war jehr natürlid. Sie find gewiß; auch
jo vollfommen geweſen, wie ihr glaubtet,* erwiderte
der Doltor, „Diefe Frauen waren eben ein Beijpiel
davon, wozu die Natur das ganze Geſchlecht beftimmt
bat. Aber habe ich nicht recht, wenn ich ſage, daß
Kränflichkeit bei euern rauen ein ganz allgemeiner
Zuftand war? Wenigftens erfehen wir das aus den
Regiſtern der damaligen Zeit. Nach diejen zu ur—
teilen, beftand die Prari$ der Aerzte zu vier Fünfteln
in der Behandlung von Frauenkrankheiten, und dabei
ichienen ihre Huren den frauen herzlih wenig zu
helfen. Das muß id) jagen, troßdem ich über meinen
eignen Stand feine hämiſchen Bemerkungen machen
jollte. Solange die Anſchauungen und Sitten,
welche die Frauen in jeder Weile behinderten, nicht
abgeſchafft wurden, konnten die Aerzte auch wirklich
nichts thun — das wuhten fie wahrſcheinlich.“
„Leider haben Sie im ganzen recht,“ erwiberte
ih. „Ih muß jogar geftehen, daß ein berühmter
Schriftſteller damals der allgemeinen Anſicht Aus—
druck gab, als er ſagte: ‚Schwächlichleit ſei der nor—
male Zuſtand der Frau‘.” .
„Ih erinnere mich, das gehört zu haben. Was
für ein bejhämendes Gejtändnis, daß es eurer
Zivilifation unmöglich geweſen ift, der Hälfte des
Menſchengeſchlechts aud) nur die erjte Grundbedingung
des Glüdes zu gewähren! Die Schwädlichleit der
frauen war eine der traurigften Erfcheinungen eures
Zeitalter und ihre Erftarfung ein wichtiges Element
bei der allgemeinen Verbreitung des Glüdes, welches
die wirtichaftlihe Gleichheit den Menichen gebracht
hat. Bedenlen Sie, was es jagen will, daß Die
Welt der frau, die eine Welt der Seufzer, der
Thränen und des Leidens war, jeht jo verwandelt
iit, dab Frohſinn und Heiterkeit, überſchäumende
Luft und Kraft die Lebensluft find, in der unjre
Frauen atmen |”
„Eins ift mir aber noch nicht ganz klar,“ ſagte
ih. „Wenn ich auch fein Arzt bin und nicht mehr
von ſolchen Dingen weiß, als man bei jedem jungen
Manne vorausjegen lann, jo hatte ich doch den alle
gemeinen Gindrud, als ob die Kraftloſigkeit und
Zartheit der weiblichen Konftitution ihre Gründe in
einer gewiſſen natürlichen Schwäche des ganzen Ge—
jchlechtes gehabt hätte.”
„sa, ich weiß, daß damals allgemein die Anficht
berrichte, die förperlihe Beichaffenheit der Frau
886
verurteile fie zu Siehtum und Freudloſigleit; auch im
beiten Fall könne ihr Leben in phyſiſcher Hinficht nur
tümmerlich fein. Eine verderblichere Läfterung der
Natur hat e8 mie gegeben! Keine natürliche Yunktion
jollte andauernde Leiden oder Krankheit verurfachen,
und wenn es doch geichieht, muß man vernünftiger-
weife den Schluß ziehen, daß ungefunde Lebende
verhältnifje daran die Schuld tragen, Die Orientalen
fanden in der Sage vom Parabiesapfel und dem
Fluch, der auf Eva lajtete, eine Erflärung für alle
Gebrehen und Schmerzen, welde in Wirflichfeit
nicht Gottes Zorn, fondern ein von Menſchen er-
fundenes Gefeh den Frauen auferlegt hat. Wenn
ihr annehmt, daß diefe Schmerzen und Gebrechen
untrennbar mit der phyfiichen Konftitution des Weibes
jujammenbängen, dann bleibt euch freilich nichts
andres übrig, als diefe Sage für hiſtoriſche Wahr:
beit zu nehmen, Aber es gab auch zu eurer Feit
ſchon viele Beifpiele davon, wie ganz anders ſich der
weibliche Körper unter andern Verhältniſſen und in
andrer Umgebung entwideln konnte, Ein vorurteils-
loſes Gemüt vermochte ſich leicht Davon zu überzeugen,
daß volllommen gejunde Berhältniffe, wenn fie lange
genug andauerten, die Kraft und MWiderftandsjähig-
feit der frauen auf eine jo hohe Stufe heben würden,
daß von einer angeborenen Schwäche des Geſchlechts
nicht mehr die Rebe jein fonnte und die Beihuldigung
der lingerechtigfeit gegen das Weib, durch die man
die Ehre ihres Schöpfers beleidigte, für immer ver
ſtummen mußte,“
„Wollen Sie etwa behaupten, daß die Muiter-
ſchaft jegt feine Gefahr und feine Schmerzen mehr
mit fi bringt?”
„Sie wird jeht als ein Vorgang angejehen, der
weder bei der Geburt jelbft, noch durd ihre Folgen
zu irgend welchen Sorgen Veranlaffung giebt. Was
aber die andern körperlichen Zuftände betrifit, von
denen eure klugen Männer jo viel Weſens machten,
weil jie ihnen zum Vorwand dienten, um die frauen
in Unmündigfeit zu erhalten — die haben längjt
aufgehört, eine Störung des körperlichen Wohl«
befindens zu jein.
„Und dieje Wiederherftellung der weiblichen Körper-
frajt hat noch lange nicht ihr Ende erreicht. Während
die Männer jeht noch bei gewiſſen athletiichen
Leiftungen den Borrang haben, glauben wir, daß
jpäter beide Geſchlechter auf derjelben Stufe jtehen
werben, daß fein größrer Unterſchied zwiſchen ihnen
jein wird als zwijchen einem Individuum und dem
andern.“
„IH babe noch eine Frage auf dem Kerzen,“
jagte ih, „die bei Ihrer Schilderung von dieſer
wunderbaren Wiedergeburt der Frau in mir aufe
geftiegen ift. Wie Sie jagen, ift die Frau phyſiſch
jeht ſchon faft gleichwertig mit bem Manne, und eure
Edward Bellamp.
Phyſiologen erwarten, daß fie nad) einigen Genera-
tionen ihm auf allen Gebieten ebenbürtig fein wird,
Das heißt doch — wenn ich nicht irre — daß fie
im normalen Zuftand von jeher ſeinesgleichen ge
wejen ift und nur die ungünftigen Bedingungen
ihres Lebens den Schein hervorriefen, als fei fe
Ihwäder als der Mann.”
„Ganz gewiß.“
„Wie können Eie fih denn aber die Thatfade
erklären, daß fie in allen Ländern und zu allem
Zeiten, foweit die Geihichte zurüdreicht, ihm unter-
than und dienftbar geweſen ift, mit nur jehr wenigen,
unverbürgten Ausnahmen? Wenn fie je ſeinesgleichen
war, warm bat fie aufgehört, e8 zu fein, und zwar
dauernd und an allen Orten? Wenn ihre allgemeine
Mißachtung auf Geſetze zurüdgeführt wird, welde
Männer erdacht haben, warum hat fie fich nicht
gegen diefe Gejeke aufgelehnt, da fie ihnen doch an
Körperfraft glei) war? Eine philoſophiſche Theorie,
die fih damit beſchäftigt, wie ein Zufland aufhören
jol, müßte fih auch damit befallen, wie er ent:
ftanden iſt.“
„Da haben Sie jehr recht,“ erwiberte der Dolter,
Ihre Frage trifft den Nagel auf den Kopf. Die
jenigen, welche ber Ueberzeugung find, daß bie Ftau
einftmals dem Manne an Körperfräften volllommen
gleich fein wird, ſetzen natürlich voraus, daß fie vor
Zeiten ebenjoviel Kraft gehabt hat wie er, und müſſen
nad) einer Erflärung juchen, wodurch fie derjelden
verluftig gegangen ift. Nehmen wir einmal an, daß
zu irgend einem Zeitpunkt in der Vergangenheit
Mann und Frau gleich ftarf waren, fo bliebe doch
immer noch ein großer Unterſchied zwiſchen ihnen
ala Vertreter der beiden Geſchlechter. Der Mann
fann fi aus Leidenihalt der Frau gegen ihren
Willen bemächtigen, jobald er fie bezwingen fanı;
die Frau vermag dad nicht, jelbjt wenn fie es wollte
und zehnmal ſtärker wäre als er. Ich Habe olt
darüber nachgedacht, was der Zweck diejer angeborenen
Verſchiedenheit geweſen jein mag, aus meldjer in
früheren Zeiten die grenzenloje Tyrannei des männ—
lichen Geſchlechts entiprang, die fich jept, Gott jei
Dant, für immer in gegenjeitige Wertſchähung ver
wandelt hat. Mir ſchien, ala hätte die Natur auf
diefe Weile die Fortdauer des Menſchengeſchlecht
ſicher jtellen wollen; denn es gab Perioden in jeiner
Entwidlung, in denen das Leben faum der Mühe
gelohnt hätte, ohne die Hoffnung auf befjere Zeiten
für fpätere Geſchlechter. Die Natur erreichte ihren
Zwed dadurd), daß fie demjenigen Teil die Möglid:
feit des Angriffs verlieh, welcher am mwenigften von
deifen Folgen zu leiden haben würde, Es war fan
edler Kunftgriff, möchte man fagen, defjen ſich hier
die Natur bediente, aber er erfüllte feinen Zwed.
Ohne ihn wäre das Menſchengeſchlecht wahrſcheiulich
a, — = 3
Gleichheit.
in folden dunkeln, hoffnungsloſen Zeiten ausge»
ſtorben; denn ein natürliches und vernünftiges
Widerfireben hätte das Geichlecht, welches die Kinder
zur Welt bringt, davon zurüdgehalten, eine jo ſchwere
und jcheinbar unnüße Laft auf fich zu nehmen,
„Aber jehen wir ung die Frage noch näher an:
Wenn auch Dann und Frau in einem früheren Zeit
alter gleich ſtark gewejen find, jo gab e8 doch immer
noch einen Unterſchied zwiichen den Individuen. In
beiden Geſchlechtern gab e8 Stärfere und Schwädhere,
Einige Männer waren jtärfer ald manche frauen,
und ebenfo konnte es Frauen geben, die jtärker waren
als manche Männer. Nun gut: es iſt Ihnen befannt,
daß im Altertum die allgemeine Sitte herrſchte, ſich
ein Meib zu rauben; und jehr wahrjcheinlid ift in
primitiveren Seiten noch häufiger von der Gewalt
Gebraud; gemacht worden. Das ftarfe Weib fonnte
nichts dabei gewinnen, wenn es fich einen ſchwächeren
Mann raubte, deshalb verfolgte e& ihn nicht. Da—
gegen war e8 für ftarfe Männer jehr vorteilhait,
ein ſchwächeres Weib zur Gefangenen zu machen und
zu behalten. Sie vermieden die ftarfen frauen, die
ihrem Willen widerjtanden hätten und wählten zu
ihren Genofjinnen die ſchwächeren, die ihnen feinen
Widerftand entgegenfegten. Die ſchwächeren Männer
fanden es verhältnismäßig ſchwer, ſich überhaupt eines
Weibes zu bemädhtigen und hatten infolgebeflen weniger
Nachkommenſchaft. Verftehen Sie, was ich meine?“
„Sa, die Sache ift ziemlih klar. Sie wollen
damit jagen, daß ſowohl die ftärferen fyrauen als
die ſchwächeren Männer mit der Zeit ausfterben
mußten, und daß bie überlebenden Typen flarfe
Männer und ſchwache Frauen fein würden,“
„Genau jo. Wenn Sie fi nun vorftellen, da
durch die Fortdauer dieſer Zuftände der Unterſchied
in der phyſiſchen Kraft beider Geſchlechter ſchon vor
Beginn der Ziviliſation volllommen feitfland, fo
folgt das übrige von jelbft. Das zur Herrſchaft
gelangte Geſchlecht wollte natürlich fein Uebergewicht
behalten und womöglid vermehren, und die mit ber
887
Zeit völlig unterjochten Frauen fingen an, ihr Schick⸗
ſal als natürlic), unvermeidlich und von Gott ge»
wollt geduldig hinzunehmen. So ging es weiter,
bis die Welt am Ende des vorigen Jahrhunderts
zum Bemwußtiein erwadhte, daß es notwendig und
möglich ſei, die menſchliche Gejelihaft auf einer
moraliichen Grundlage zu reorganifieren, deren erjtes
Prinzip die gleiche Berechtigung zur fFreiheit und
der gleiche Wert aller Menſchen fein jollte. Seitdem
haben die Frauen angefangen, ihre urfprünglichen
Kräfte zurüdzugemwinnen, und in nicht zu ferner Zeit
werben fie phyſiſch auf derjelben Höhe ftehen wie der
Mann,“
„Mir fällt etwas Schredliches ein,“ ſagte id).
„Wenn num die Frauen ſchließlich dem Manne nicht
nur gleihlommen, jondern ihn an leiblihen und
geiftigen Fähigkeiten überragen — werden fie diejen
Vorteil dann nicht ebenfo rückſichtslos ausnutzen wie er?“
Der Doftor lahte. „Ich glaube, daß Sie fi
darüber feine Sorgen zu machen brauchen, Nicht
deshalb, weil die Frauen eine jolhe Macht weniger
mißbrauchen würden, jondern weil jet das ganze
Menichengejchlecht nad einer fittlihen Höhe ftrebt
und fie zum Teil jchon erreicht hat, auf der nur noch
geiftige Kräfte alle Dinge beherrichen, fo daß die
Frage der förperlichen Ueberlegenheit im Verhältnis
der Menfchen zu einander feine Rolle mehr ſpielt.
Bereits jeßt wird die Gewalt und die Führerſchaft
unter den Menſchen denen in die Hände gelegt, welche
die größte Seele haben, das heißt denen, welche im
Geiſt dem ‚Höheren Ih‘ am nächſten ftehen. Das
allein ift jchon ein vollfoinmener Schub gegen den
Mißbrauch der Gewalt zu ſelbſtſüchtigen Zweden.”
„Das ‚Höhere Ich’? Was bedeutet der Ausdruck?“
fragte id.
„Es ift eine unfrer Bezeichnungen für die Seele
und für Gott,“ erwiderte der Doktor. „Aber dies
Thema ift zu erhaben, als daß ich jet näher darauf
eingehen möchte.“
(Fortfehung folgt.)
—— — —⸗ e ⸗
Kin Wunfd.
Bon Ginfeppina Milli.
Aus dem talienifchen überfegt von Otto Saufer.
Auf Adlersflügeln möchte ich
Auf hellſten Lichtes Spuren
Den Geift erheben, wandeln dann
Auf weiten Bimmelsfluren;
Daß ich im freien Aetherraum
für Augenblicke lebte
Und felig an dem Bufen der
Unendlichkeit erbebte.
© dürft’ ich einen Stern mir doch
Sur Wohnung dann erfiefen!
Den Morgenftern? — O niminermehr
Erwählte ich mir diejen.
In eines Sternes Schof, den noch
Kein fterblih Aug’ ermeffen,
Dort wollt’ ich weilen ganz allein,
Vergeſſend und vergeſſen.
erg i
Die Wölfin,
Skizze von
Giovanni Verga.
Aus dem Italienifchen überfeßt von E. v. Sopffaarten,
Die war groß und bager; nur ihre Brufi war
feit und üppig, im übrigen war fie nicht mehr jung;
fie mar bleich, ala ob fie beftändig von ber Malaria
beimgefucht würde, und aus diefem bleichen Geficht
leuchteten zwei große Angenfterne und ein Paar
frifcher roter Lippen, die jeden zu verſchlingen drohten,
Im Dorfe nannte man fie die Wölfin, weil fie
nie und von nichts genug befommen konnte. Die
Frauen fchlugen das Kreuz, wo fie mit jpähendem
Blick und ſcheuem, unheimlihen Weien, einer hungris
gen Wölfin gleich, vorüberihlih. Sie quälte ihre
Männer und ihre Kinder im Handumdrehen zu Tode,
und dennod mußten fie ihr folgen, wenn fie mit
diejen Teufeldaugen fie anſah, jelbft wenn fie vor dem
Altar der heiligen Agrippina auf den Knieen lagen.
Zum Glück aber fam die Wölfin nie zur Kirche,
weber zu Oftern noch zu Pfingften,, weder um bie
Meſſe anzuhören no um zu beichten.
Pater Angiolino von der Gemeinſchaft Jeſu, ein
ehrbarer Diener Gottes, hatte jein Seelenheil um
jie verloren.
Marichia, die Aermfte, ein gutes braves Mäd—
hen, meinte fich im ftillen die Augen aus, weil fie
die Tochter der Wölfin war und feiner fie deshalb
zur Frau wollen würde, troßdem fie eine ſchöne Aus-
fteuer im Schrein und ein großes Stüd Feld beſaß
wie jedes andre Dorfmädden.
Eines Tages verliebte ſich die Wölfin in einen
bildihönen Burfchen, der von den Soldaten heim»
gefehrt war, aber was man fo recht fich verlieben
nennt. Sie verſchlang ihn mit den großen, brennen⸗
den Augen und empfand ein Verlangen, dem Durft
gleich, den man in der Junihige um die Mittags-
ftunde in der fchattenlofen Ebene verjpürt. Der aber
fuhr, den Blick auf die Handhaben feiner Senfe ge—
richtet, unbeiert zu mähen fort und jagte nur:
„Was habt Jhr denn, Gevatterin Pina ?*
In den unabjehbaren fFeldern, wo man weit und
breit außer dem Flügelichlag der Grillen feinen Laut
vernimunt, wenn die Sonne jo glühend herniederprallt,
jchleppte die Wölfin Bündel auf Bündel zufammen,
häufte Garben auf Garben, ohne je müde zu wer«
den, ohne fih nur einen Augenblid aufzurichten,
ohne einen Zug aus ber Flaſche Weines zu thun,
nur um ſich Nanni an die Ferſen heiten zu können.
Der aber mähte und mähte und fragte fie von Zeit
zu Zeit:
„Was wollt Ihr, Gevatterin Pina?”
Eines Abends fagte fie es ihm, als die Männer,
müde von ihrem Tagewerf, in der Tenne jchlummerten
und das Geheul der Hunde in das dunkle, endloſe
Laud hinausdrang: „Did will ih! Did, der du
ihön bit wie die Sonne und janft wie Honig!
Di will ich!“
„So! Ich aber will Eure Tochter, die nod ein
Kälbchen ift," antwortete Nanni lachend,
Die Wölfin raufte fi) das Haar, fahte fd an
die Schläfen, ohne ein Wort zu fagen, und ging
davon, erſchien auch nicht wieder in der Tenne. Aber
im Oltober, zu der Zeit, wo das Del gepreßt wurde,
begegnete fie Nanni wieder, weil er gerade neben
ihrem Haufe Arbeit that, und das Knarren der
Preſſe ließ fie die ganze Nacht kein Auge zuthum.
„Nimm den Dlivenfad und fomm mit mir,’
fagte fie zur Tochter.
Nanni ſchob mit der Schaufel die Dliven unter
den Mühljtein und jhrie dem Maultier „Hüb!” m,
damit e8 nicht ftehen bleibe.
„Willſt du meine Tochter Maricchia haben!“
fragte ihn Gevatterin Pina.
„Was gebt Ihr denn Eurer Tochter Marichie
mit?” antwortete Nanni.
„Sie hat die Sachen ihres Vaters, und auftr
dem gebe ich ihr mein Haus; mir genügt es, wenn
ihr mir einen Winfel in der Küche laßt, auf dem ih
mir etwas Stroh ausbreiten kann.“
„Wenn es jo fteht, dann wollen wir Weihnadten
wieder davon reden,“ jagte Nanni. Er war ganj
fettig und fhmußig bon dem Del und dem Oliven,
die er bearbeitete, und Marichia wollte ihn wm
feinen Preis; aber ihre Mutter zerrte fie am den
Haaren vor den Ofen und zijchelte ihr zwiſchen den
Zähnen zu: „Wenn du ihn nicht nimmt, dann fit:
ich dich!”
Die Wölfn wurde faft krank, und die Leute be
gannen von ihr zu fagen, daß der Teufel im Akt
Die Wölfin
zum Ginfiebfer werde. Sie ſchlich nicht mehr um-
ber; fie fehte fich nicht mehr wie fonft mit uns
heimlich glänzenden Augen auf die Schwelle. Wenn
fie ihren Schwiegerfohn mit diefen Augen jo ſtarr an—
ſah, dann ladjte er und zog das Madonnenbildchen
aus dem Wams hervor, um ſich damit zu befreuzigen.
Marichia blieb zu Haufe, um die Kinder groß zu
ziehen, und ihre Mutter ging ins Feld, um dort
mit den Männern wie ein Mann zu arbeiten; fie
grub, fie hadte, fie hütete das Vieh, fie beſchnitt die
Weinſtöcke; mochte auch der Ichärffte Nordwind im
Januar oder der heißeſte Siroffo im Auguſt wehen,
bei dem die Schafe die Köpfe zu Boden hängen
ließen und die Männer an der Nordfeite der Mauer
im Schatten auf dem Bauche jchliefen. Zu der
Stunde zwijchen Veſper und Abendläuten, in der
feine ehrliche frau umberjtreift, war Gevatierin Pina
die einzige lebende Seele, die man durch das Land
über die ſonnenglitzernden Pflafterfteine des Hohl-
weges, zwijchen den verborrten Stoppelfelbern irren
jah, welche fi in unabiehbare Fernen hinzogen, bis
dahin, wo der Aetna ſich in zarte Nebeljchleier hüllt
und wo Himmel und Erbe zu einer Linie ber
ihwimmen.
„Bach auf!“ jagte die Mölfin zu Nanni, der
im Graben neben der ftaubigen Hede mit dem Kopf
auf dem Arm jchlief. „Wach auf, ich habe dir Wein
mitgebradht, um dich zu erfrifchen.“
Als Nanni fie zwifchen Wachen und Träumen
jo bleih mit dem mächtigen Buſen und den fohl-
ſchwarzen Augen vor ſich ftehen ſah, riß er die jchlafe |
trunfenen Augen weit auf und taftete mit den Hän—
den um ſich.
„Nein! Eine ehrliche Frau geht nicht zwiſchen
Veiper und Abendftunde umher!“ ftöhnte Nanni,
das Gefiht in das trodene Grad des Grabens
drüdend und ſich mit den Händen dur das Haar
fabrend. „Geht, geht! Und kehrt nicht wieder in
die Tenne zurüd,“
Sie ging wirkliih, die Wölfin. Sie wand ſich
die wunderbaren Flechten wieder um den Kopf und
ſchaute ſtarr mit den kohlſchwarzen Augen vor ſich
ber auf den Weg, ber zwiſchen den ſonnendurch—
wärmten Stoppeln dahinführte.
Aber fie tehrte dennoch oft in die Tenne zurüd,
und Nanni fagte nichts. Und wenn fie fich zwiichen
Beiper und Abendftunde veripätete, erwartete er
fie auf der Höhe des weißgligernden, verlaffenen
Weges, mit vor Schweiß periender Stirn; und her—
nad raufte er fich die Haare und wiederholte jedes-
mal: „Geht, geht! Kehrt nicht wieder in die Tenne
zurüd !”
Marichia weinte Tag und Nacht und ſchaute
der Mutter, jept felbit einer jungen Wölfin gleich,
mit den vor Thränen und Eiferfucht glänzenden
Aus fremden Zungen. 1897. IL. 10,
889
Augen ftarr ins Antlig, jo oft fie dieſe bleich und
ftumm von den Feldern heimlehren jah.
„Ruchloſe!“ jagte fieihr. „Mutter, du Ruchloſe!“
„Schweig !*
„Diebin, Diebin !”
„Scmeig!“
„Ih gehe zum Brigadiere, verlaß did darauf!”
„Geh hin!“
Und fie ging wirflih, das Söhnden auf dem
Arm, ohne Furcht zu empfinden, ohne eine Thräne
zu vergießen, einer Verrüdten gleich, denn jetzt liebte
auc fie dieſen Gatten, der ihr zur Erntezeit, vor
Schmutz und Fett ftarrend, aufgedrungen worden
wat.
Der Brigadiere lie Nanni rufen und drohte
ihm mit Galeere und Zwangsarbeit. Nanni ſchluchzte
und raufte fi das Haar; er leugnete nichts und
verfuchte nicht, fich zu entſchuldigen. „Es ift bie
Verſuchung!“ ſagte er; „es ift die hölliſche Ver—
ſuchung!“ Er warf fi dem Brigadiere zu Füßen
und flehte, er möge ihn auf die Galeere bringen
lajien.
„Um der Barmderzigfeit willen, Herr Brigadiere,
entreißt mic dieſer Hölle! Laßt mich töten, jchidt
mid ins Gefängnis! Nur laßt mid fie nie, nie
mehr wiederiehen !*
„Nein,“ erwiderte die Wölfin dem Brigabiere.
„I babe mir einen Winkel in der Küche ala Nadht-
lager vorbehalten, als ich ihm mein Haus zur Mit-
gift gegeben habe! Ich will nicht weichen!”
Bald darauf befam Nanni von dem Maultier
einen Tritt vor die Bruft und war nah’ am Tode;
aber der Pfarrer meigerte fi, ihm das Abendmahl
zu bringen, wenn bie „Wölfin” nicht das Haus ver»
laſſe. Die Wölfin ging, und nun fonnte aud)
ihr Schwiegerfohn ſich wie ein guter Chrift zur lekten
Reife vorbereiten. Er beichtete und nahm das Abend-
mahl mit folder Reue und folder Ergriffenheit, daß
alle die Nachbarn und Neugierigen vor dem Bette
des Sterbenden weinten.
Und es wäre ihm auch beſſer geweien, wenn er
zu jener Zeit geftorben wäre, ehe der Teufel mwieder-
fehrte, um ſich nad feiner Genefung aufs neue in
Leib und Seele feitzuniften. „Laßt mich in Frieden!“
jagte er zu der Wölfin; „ich flehe Euch an, laßt
mich in Frieden. Ich babe dem Tode ins Antlik
geichen! Die arme Maricchia ift verzweifelt. Jetzt
weiß es das ganze Dorf! Für mid) und Euch it
es beiler, wenn wir uns nicht mehr ſehen ...“
Und er hätte fi) am liebften die Nugen aus dem
Kopfe geriffen, um die der Wölfin nicht jehen zu
müſſen, wenn jie ſich jo ftarr auf ihn richteten, daß
er darüber Leib und Seele verlor. Er wußte nicht
mebr, was beginnen, um ſich von dem Zauber zu
befreien! Er zahlte Meflen für die Seelen im fyege-
112
890 Giovanni Perga — Die Wölfin.
feuer und flehte beim Pfarrer und beim Brigadiere | fommen ſah, hörte er auf, die Weinftöde un:
um Hiüfe Zu Oftern ging er beichten und that | graben, und nahm die Art von der Ulme heruntır.
öffentlich, auf den Kiefelfteinen vor der Kirche nieend, | Die Mölfin ſah ihn bleih und ftieren Blides auf
Buße. Als dann die Mölfin ihn wieder in Ver ſich zufommen, jah die Art im Sonnenſchein blinten
ſuchung führen wollte, fagte er: und ging, ohne einen Augenblid zu zaudern oder
„Hört einmal! Kehrt nicht wieder in die Tenne | aud nur den Kopf zu neigen, ihm entgegen. Ju
zurüd, denn fehrt Ihr wieder dorihin zurüd, um | den Händen Bündel roten Mohnes tragend, ſchien
mich zu juchen, jo töte ich Euch, jo wahr Gott lebt!” | fie ihn mit den großen ſchwarzen Augen verichlingen
„Zöte mich,” antwortete die Wölfin, „was liegt | zu wollen.
mir daran? Aber ohne dich kann ich nicht leben!” „Hab! So fahrt deun zur Hölle!” fammelt
Als er fie von weitem inmitten der grünen Saat | Nanni ...
ee ——
Nähen — Tiebchen.
Bon Midael Tompa.
Aus dem Ungarifchen überfeßt von Andor v. Sponer.
Man ſpricht, mid; reizen Hymens Bande, ' Wie Glanzgefieder, bunt und wonnig
Wei Gott, woher es fama nabm: Zeigt mir die Welt ihr Angeſicht;
Faft jedes Mädchen hierzulande ' Die Tage find fo heil und fonnia,
Befam mich ſchon zum Bräutigam. Die Nächte Tan und Mondenlicht.
Ich muß darüber lächeln, fehe So dann und warn ein Küfichen, hajtig
Jh aar fo thöricht aus? O nein! Geftohlen, iſt gar himmliſch fein.
Caßt, Jungen, laßt mich mit der Ehe, Seht, Jungen, mit der Ehe laßt mid,
Ein Mädchen foll nur Kiebchen fein! Ein Mädchen foll nur Liebchen fein!
Ein £ieb....! das ftrahlt gleich Himmelslichtern, Die Mädchenblät', die ſüße Nelke,
So ſonnig heiter alutenwarm. Ich ſteck' fie nicht auf meinen Hut,
Dagegen eine Gattin, — nlchtern ı Um ewig dann and noch die welfe
ft die Idee, wie falt, wie arm! ' Bu tragen, nein, das thut nicht aut.
Iſt diefe bleih wie Scmee und cifig, ! Kein Riefelbadh, ein ftiller See wär’
Iſt jenes heißer Sonnenſchein: Ja dann mein Leben, kein Gedeihn.
Sprecht nicht von Heirat, eines weiß ich: Drum, Jungen, ſprecht von keiner Eh' mehr,
Ein Mädchen ſoll nur Liebchen ſein! | Ein Mädchen ſoll nur Liebchen fein!
Wär' meine Frau wie eine Roſe
So friſch, ich fenfzt’: o wär' fie blaß!
Die braune wünſcht' ich blond, die große,
Die möcht' ich klein, ich kenne das.
Ach, gar ſo ſchwierig iſt's zu wählen,
Da alle ſchön, ob groß, ob klein!
Drum, Jungen, ſprecht nicht vom Vermählen,
Ein Mädchen ſoll nur Liebchen fein!
“
af
Nein
Erinnerung.
Don
A. Vlahutza.
Aus dem Rumänifchen überfeht von W. Rudow.
Es war ein jhöner Sommerabend, als ich von
Prinfipo nad) Stambul zurüdiuhr. Ueber dreihundert
Menichen waren auf dem Dampfer; ich fannte nie=
mand, und unter diejer lärmenden, in zabliojen
Spraden redenden Menge war mir's, als befinde
ich mich in einem Tollhaufe oder ſei auf einen andern
Stern verfdhlagen, von wo ich nie mehr zu den
Meinigen würde zurüdfehren können. Ein einziger
unter den Mitreijenden feijelte meinen Blid, jo daß
ih ihn faſt ungebührlich lange anjah: ein hagerer,
ihwarzhaariger junger Mann mit Brille, der mir
am jelben Tiſche gegenüber ſaß und lad. Soviel ic)
bemerfte, kannte auch er niemand. — ber wo habe
ich dieſes Geficht ſchon gejehen? fragte ich mid,
mir vergeblid dad Hirn zermarternd. Er mußte
bemerken, daß ich ihn beobachte: zuweilen warf er
mir über die Brille einen Blid zu, und dann jchlug
ih ſchnell die Augen nieder, unangenehm berühtt,
als hätte er meine Hand in jeiner Tajche gefaßt.
Schließlich) wurde e8 mir zur Gewißheit, daß ich
ihn Schon einmal geſehen. Aber wo und wann ?
Nicht nur die Geſichtszüge waren mir befannt, jondern
auch der eigentümliche Blid, die Art, wie er mit den
Augen zwinferte und zumeilen die Brauen hoch
emporzog, die weiße Hand mit den langen, dünnen
Fingern, die Art und Weije, wie er das Bud) hielt,
umblätterte, den Kopf in die Hand ftühte — alles
das ließ im der Tiefe meines Bewußtſeins cin be—
kanntes Bild wieder aufleben, das ſich bemühte, mir
deutlich zu werden, jedoch vergeblich. Ach babe nicht
die Gewohnheit, mit fremden Menichen ein Geſpräch
anzufnüpfen, Ich ärgere mich, daß ich ein jo un—
glüdfiches Gedächtnis habe, brenne vor Neugier zu
willen, wer er ift, wage aber nicht zu fragen,
Auf einmal fahre ich auf und blide ihm gerade
ins Auge. Er bat fein Buch geſchloſſen und fieht
mich ebenfall$ an. Ieht war e& nicht mehr anders
möglich, als daß einer von uns das Geſpräch beginne.
Unwillkürlich blidte ich auf das Bud, als das einzige
Weſen, das uns beide faunte und im ſtande war,
unſre Belanntihaft zu vermitteln.
„Kennen Sie dies Buch?” fragte er franzöſiſch,
mir Taines „Bemerkungen über England” weijend,
Ich bejahte und beeilte mich, ihm zu erflären,
weshalb ich ihn jo angeſehen: „Ich wei nicht warum,
aber mir fommt es vor, als wären wir ſchon einmal
zuſammengetroffen.“
„Auch ich habe dieſen Eindruck. Sie find nicht
von hier?“
„Nein, aus Rumänien, und jet zum erjtenmal
bier,“ worauf ich mic) vorftellte und erfuhr, daß er
Omeros Lagi heiße,
„Sind Sie nie in Athen gewejen?“ fuhr er fort.
„Nein.“
„sn Smyrna?“
„Nein.*
Seine Fragen fchienen meine Antworten voraus«
zuſehen.
„Auch ich bin nie in Ihrem Lande geweſen, und
dennod) ift mir Ihre Geftalt, Ihr Blid, Ihre Stimme
befannt. Ich bin Arzt in Smyrna und babe in
Athen ftudiert.“ ’
Solange er redete beobachtete ich feine Füge, die
Bewegungen des Mundes, die Geſtalt der Hände, die
Warze an dem Meinen finger der Linken, ich laufchte
feiner Stimme, deren Klang einen tieferen Eindrucd
auf mich machte als feine Worte, und mein Staunen
wuchs immer mehr. Wie fommt es, daß diejer Menid)
jo genau dem Bilde entjpricht, das ich feit lange in
mir trage? Warum läßt mic) jede jeiner Bewegungen,
jeder Blid, jede Wandlung feiner Stimme erzittern
wie das überraichende Erfafjen eines Gedankens, eines
Vorgefühles? Woher ift mir fein Bild fo ganz und
bolllommen in den Sinn gelommen? Ich muß ihn
irgendwo gejehen haben, es iſt nicht anders möglich.
Alles das ſage ich ihm. Er blidt mich lange
überlegen an und jchüttelt lächelnd langjam den Kopf.
„Nein, ich kann Sie verfihern, wir haben ums
nie gejehen, in diejem Leben, verfteht ſich. Vielleicht
haben wir voneinander geträumt. Im Traume tauchen
öfter Erinnerungen aus einem unfrer früheren Leben
auf; nicht nur Menſchen, fondern ganze verwidelte
Ereigniſſe des Alltagslebens jcheinen uns Wieder:
holungen früherer gleiher, Wo und wann wir fie
gejehen? — Wir willen es nicht mehr. Gewiß ift
uns dergleichen in früheren Lebensſtufen vorgefommen,
jo dab ihr ferner, unbeitimmier MWiederhall noch jetzt
im Grunde unfrer Seele nachklingt . . .
892
„Alles wiederholt fi, denn auch die Milliarden
von Stoffverbindungen haben ihre Grenze; die Natur
ermübet im Erfinden und muß auf ihre früheren
Werte zurüdgreifen. Im Verlaufe der Ewigleit be=
gegnen wir uns wieder nad) zehntauſend oder nad)
zehn Millionen Jahren hier auf dem Dampfer zwiſchen
Prinfipo und Konſtantinopel, werden uns ebenfo ans
jeben, unfre Belanntjchaft erneuern und und wundern,
daß wir nicht mehr wiljen, wo und warın wir uns ge=
ſehen, und werden uns nicht mehr entjinnen, was wir
heute find, wie wir uns heute nicht mehr entjinnen,
was wir vor humderttaufend Jahren geweſen.
„Ich will Ihnen hierfür einen jeltiamen Fall aus |
meiner Studentenzeit berichten. Ich entitamme einem |
Geſchlecht, das im vorigen Jahrhundert eine wichtige
Rolle in der Geſchichte Griechenlands gefpielt hat.
„In Vaters Bücherei fand ich ein altes Bud |
Indem id) eines Tages |
mit ſehr guten Stichen.
darin blätterte, fand ich ein Bild, das Vater auf
ein Haar gli. Ich war erft fieben Jahr alt, konnte
noch nicht lefen und erfuhr von einer Verwandten,
das Bild fielle Vaters Großvater dar. Dann blätterte
fie weiter und zeigte mir ein andres Bild, ein häß—
liches, finfteres Gefiht mit ſchwarzem Bart und
ftechendem Blid, der mir Furcht einflößte. Es ſei
ein böfer Menſch geweien, erzählte fie und berichtete
mir eine lange Gejdhichte von Ränken und Liebes |
bändeln — Dinge, die ich damals nicht verſtand,
von denen mir jedoch im Gedächtniſſe geblieben ift,
was ben tiefften Eindrud auf mich gemacht hat, daß
nämlich jener Böjewicht meinen Urgroßvater eines
Nachts meuchlings erftochen hat.
„Jahrelang habe ich nicht mehr an diefe Geichichte
gedacht und ging ſchließlich als Student nah Athen. |
Gewiß find aud Ihnen ſchon Menſchen begegnet,
die Ihnen gleich) beim erften Anblid Abneigung oder
gar Furcht eingeflößt haben, ohne daß Sie jelbft
einen Grund dafür gewußt hätten. So lernte auch
id einen Heinen braunen Kerl mit tief und nahe
bei einander liegenden Augen fennen, deſſen bloßer |
Anblick mich ſeltſam beunruhigte, ja mir Hak und
Furcht einflöhte. Zuweilen empfand id) ſogar den
Drang, mich auf ihn zu ſtürzen und ihn zu jchlagen.
Wo ich mit ihm zufammentraf, war ich mürriſch
und überhaupt wie ausgewechlelt, fein bloßer Anblid
machte mir übel, und dennod konnte ich die Augen
nicht von ihm wenden, fühlte mid von ihm an—
gezogen wie von einem Abgrunde . .. Und er, er
hatte mich lieb. In Worten, Bliden, in feinem
ganzen Benehmen mir gegenüber zeigte er eine Güte |
und Sanftımut, die oft an Unterwürfigleit jtreifte.
Als wäre er ein reuiger Verbrecher, der Verzeihung
zu erlangen jucht. Ich aber habe niemals die ge»
ringfle Gefälligfeit von ihm angenommen. Der erften
N. Vlahutza. — Erinnerung.
\ Prüfung haben wir uns am gleichen Tage unterzogen.
Bei der Ichriftlichen Arbeit jtedte er mir einen eng
‚ beichriebenen Zettel zu, worauf fi wahrſcheinlich
die Löſung der Aufgabe befand. Ich jage wahr:
ſcheinlich, denn ich habe ihn nicht gelejen, ſondern ihn
dem uns überwachenden Lehrer gegeben, um ihn auf
diefe Ejelabrüde aufmerffam zu machen. Ach wuhte
recht gut, daß ich eine Gemeinheit beging, die mir
ganz zumwider war, aber ich fonnte nicht anders,
und — merkwürdig — ich bedauerte es gar nicht.
Der Student wurde von der Prüfung ausgeſchloſſen.
As id) meine Arbeit beendigt, fand ich ihn draußen
wartend. Ich bereitete mich auf einen Angriff vor:
Endlih Tann ih meinen Tollen mal an ihm ans
lafjen! dachte ih. Aber wie erftaunte ih, als ih
ſah, daß er ſich mir ſchüchtern näherte und mid) bat,
ich möchte ihm die Dummpbeit verzeihen, die er be
gangen, und die ihm leid thue.
„Ich frug ihm unwirſch, was er wolle, weshalb
er mich nicht in Ruhe laſſe. Er fing an zu weinen
und antwortete mit einer Stimme, die nicht die feine,
jondern von weither zu kommen jchien: ‚Ich weiß
nicht, was mir ift, vielleicht werde ich wahnfinnig,
aber jehen Sie, ich fühle mid unter dem Einflufie
einer unmwiderftehlihen Macht, die mir befiehlt, Sie
um Berzeihung anzuflehen. Seit ich Sie geichen
beherrſcht mich diejes unerflärliche Gefühl, das mid
zu Ihrem Diener macht. — Nicht wahr, id habt
Ihnen bis heute niemals etwas zu leide geihan?
Sagen Sie es mir, bitte, ſprechen Sie mic los!
„Ich blidte ihm gerade ins Auge, ohne & zu
‚ wollen. Niemals werde ich das Grauſen vergeſſen,
das ih in diefem Augenblide empfand. Wie ſoll
ih e8 Ihnen erflären? Denken Sie ſich: Aus diefen
Meinen, janften, tgränenden Augen flarrte mihan —
wer, glauben Sie?! Das Scheufal, das meinen lie
großvater ermordet! Auf einmal jtand mir die Ge
dichte, weldye mir meine Verwandte erzählt, umd
die ich längft vergeiien, wieder jo Har im Gedächt⸗
nis, als hätte ich fie eben gehört,
„Dies wollte ih Ihnen mitteilen: es war wirt
lich der Urenfel des Mörders, der für das Werbreden
feines Urgroßvaters Verzeihung erbat. — Aber wir,
wir find Freunde geweien, nicht wahr? Denlen
Sie daran, was Themiftofles jeht vor zweitauiend-
dreihundertachzig Jahren bei Salamis über un:
gelagt bat! ....
„Auf Wiederfehen! — Ich weiß, was Sie über
mich denken, aber nad) einigen Jabrtaujenden werden
wir uns wieder treffen, und dann werde ich Sie au
das erinnern, worüber wir heute geſprochen.“
Er drüdte mir die Hand und blidte mir dabei
fo tief ins Auge, als wolle er jagen: Gieb adht, daß
| du mich nicht vergefjeft!
UL DIT — .
Das neue Leben.
Don
Alaxim Bjelinski.
Aus dem ARuffifchen überfeßt von Alexis Warkomw.
I.
Es war Nat. Stephan Ppilippowitih Manyfin
fuhr in der Eifenbahn und träumte Er fah im
Zraume das hohe, düjtere, von alten Bäumen um«
gebene Haus, in welchem er geboren war.
63 iſt Nachmittag, Manykins Vater ſitzt auf
dem Balfon und trinkt Thee. Er bat einen orien=
taliſchen Schlafrod an, welcher an der Bruſt offen
ſteht. Im der rechten Hand hält er ein Pfeifenrohr
mit einem Mundftüd von Bernftein, aus welchem
der Rauch in bläulichen Ringen aufjteigt. Die
Mutter jtridt an einem Heinen Tiſchtuch — die Strid»
nadeln klappern in ihren Fingern und geben einen
wunderlichen, metalliſch klingenden Ton von fi. Es
ſcheint Stephan, als ob er wieder ein Heiner Knabe
geworden jei. Er fteht neben der Mutter und horht
neugierig und furchtſam auf das Klappern der
Stridnadeln. Auf den Stufen des Ballkons erjcheint
der Gärtner Amdej. Er lächelt liſtig und hämiſch,
und Stephan ahnt jogleih, daß er gekommen, fi
über ihn zu beflagen. Doch es fällt ihm nicht ein,
was er begangen hat. Er firengt fein Gedächtnis
an, aber er kann ſich nicht erinnern. Awdej fagt:
„Wie Sie befehlen, Herr; aber ih lann den
jungen Herrn nicht entſchuldigen.“
Stephan ſieht auf die Mutter, aber fie antwortet
ihm mit einem falten Blid. Auch der Vater fieht
ihn kalt an.
Die Augen des Alten find matt, bleiern, uns
beweglich.
„sn feinerlei Weife!* fuhr Awdej fort. Und
mit diefen Worten nähert er fih Stephan, padt ihn
an den Schultern und fängt ihn zu fchütteln an.
„Was unterftehit du dich!” ſchreit Stephan.
Aber Ardej ift umerbittlih. Er bi fich auf die
Lippe, To daß jeine großen weißen Zähne zu fehen
waren, und fuhr fort, den Knaben zu quälen.
„Gieb's ihm gehörig!” befiehlt der Vater, indem
er weiter raucht.
„Gieb’s ihm gehörig!“ wiederholt die Mutter, ins
dem ihre Stridnadeln weiter Happern.
Mit einem Angſtſchrei erwachte Stephan,
Traumbild ftand ihm noch vor Augen.
Das
„Was ift denn meine Schuld ?* fragte er ſich,
von feinem Lager aufipringend.
Der Zug war in vollem Gange. Der Wagen
ſchüttelte, taftmäßig jchlug er an die Schienen. Stephan
rieb fi die Augen und fonnte nicht wieder ein—
ſchlafen. Er war jchwermütig; er fing an nachzu—
denten über alles Böfe, das er in jeinem Leben be=
gangen hatte. Was bedeuteten die guten Seiten
feines Charalters gegenüber der unendlichen Zahl
feiner Sünden! Wieviel Menjchen hatte er gefränft,
wie oft hatte er feine Freunde im Stich gelaffen,
wieviel Nächte hatte er ohne Schlaf in ſchlechter
Geſellſchaft zugebradt, weld ein ausjchweifendes
Leben hatte er geführt, wie oft hatten ihn Zorn und
Nahe verblendet und zu Ungerechtigfeiten verleitet;
welche herrlichen Mädchen hatte er betrogen und ver-
laflen !
Er beflagte feine Eitelfeit, feinen Stolz, feinen
Unglauben, jeine Wolluſt.
Und die Muſa Nilolajemna, diefe verkörperte
Lüge? — warum war er ihr fo ergeben? Vielleicht,
weil er jelber lajterhaft war? Fand nicht ihre
Schlechtigkeit in feiner eignen Seele einen Wieder-
ball? Aber das Schidjal hatte ihn bejtraft. Der
Sieg über ihre Tugend war leicht, jedoch die Befiegte
rächte jih an dem Sieger, indem fie jeinen Charakter
demütigte und ihn zu einem verhängnisvollen Ver—
gehen trieb.
Was wird aus meinem Finde werden, wenn es
auf die Welt lommt? Werden ſich in dem Knaben
oder dem Mädchen Manyfins Züge offenbaren? Ein
fleiner Zeil feiner boden und guten Seele? Die
Neigungen zum Schönen und Eden? Aber der
niedrige Gefellihaftsfreis und die gemeine Umgebung
werden dieſen glimmenden Funken göttlichen Feuers
bald eritiden! Und darin wird fich mein Verbrechen
weiter zeigen! fagte Manylin.
Auf einer der Stationen erblidte Manylin, ohne
den Wagen zu verlaflen , dur) das fyenfter, in ber
ferne, im Dunkeln, jeufeits des Fluſſes die hell be—
leuchtete Kirche, in welcher die große Abendmeſſe
ftattfand. Hunderte von Lichtern glänzten durch die
Nacht; Bauern umgaben die Kirche. Die Lichter
894 Marim Bjelinsti.
fpiegelten fih im Waller wie in einem jchwarzen
Spiegel, Man vernahm die freudige Beiglode.
11.
Manyfins Vater Philipp Stephanowitſch war
dreimal verheiratet gewejen. Stephan war die Frucht
der zweiten Ehe. Die dritte Frau, Kleopatra Iwa-
nowna blieb nad) dem Tode ihres Mannes, an deſſen
Seite fie kaum vier Jahre verlebt hatte, als junge
Witwe zurüd. Gegenwärtig war fie etwa fünfund«
dreißig Jahre alt. Sie hatte eine Tochter Eugenie,
welche fichzehn Jahre zählte. Kleopatra ſtammte
aus einer faufmännifchen Familie und war bejtrebt,
ihrer Tochter eine häusliche Erziehung zu erteilen.
Sie wohnte zufammen mit ihr auf Manyfins Stamm«
gute Woswiſchennoje und verwaltete dasſelbe ala
Bevollmächtigte ihres Stiefſohnes. Sie war mit
Leidenschaft der Wirtichaft ergeben, und das Gut
gedieh. Manylin beanfpruchte nur den britten Teil
des Einlommens, wofür ihn Stleopatra nicht genug
oben fonnte. So oft er auf dem Gute eintraf,
fam fie ihm mit allem verwandtichaftlichen Gefühl,
welches fie nur aufbieten fonnte, entgegen. Als er
jedoch einmal längere Zeit verweilte, beſondere Pferde
und Kutſchen unterhielt und viel Geld verausgabte,
benahm fie ſich ihm gegenüber fühler. Zurzeit war
fie ihm wieder geneigt.
Unangemeldet traf er in Moswilchennoje ein,
Er depeichierte zwar, daß man ihm nad) der Station
Pferde hinausjhide, allein Kleopatra Jwanowna
fam nicht dazu, fi auf feinen Empfang vorzu-
bereiten. Man mußte zum eriten Feiertage die Zim«
mer in Ordnung bringen, welche Stephan gewöhnlich
bewohnte. In jpäter Nacht erfchallte auf dem Hofe
das Bellen der Hunde. Aleopatra Iwanowna er
wachte und jchidte ihre Mägde nah den Zimmern
ihres Stieflohnes. Aber Stephan verlangte nichts.
Finſter ging er in feinem Arbeitszimmer auf und ab.
Und das dauerte bis zum Frühmorgen. Dann er
fchten er zum Thee, fühte Kleopatra die Hand und
begrüßte fie mit dem Oſterkuß.
Ein brünettes Mädchen von voller Figur, mit
lebhaften Augen und ſchönem roten Munde fand
ſchüchtern auf und ordnete die Bänder, welche ihr
rojiges Muſſelinkleid umgürteten, weldes bäueriſch
und altmodiſch genäht war. Das war Eugenie.
„Warum biſt du deinem Bruder gegenüber jo
ſchüchtem? Und Sie, Stephan, ſcheinen Ihre
Schweiter gar nicht zu erfennen? Geben Sie ihr
einen Kuß, fie ift ja bei uns groß geworben, nur
noch etwas unbeholfen; doch das ändert ſich mit
Gottes Hilfe.”
Stephan küßte das Mädchen, Er lächelte un—
freiwillig, jo herzhaft und laut füßte fie.
„Werden Sie längere Zeit bei uns bleiben ?*
fragte Kleopatra, indem fie dem Stiefjohn einen
Plap anbot und ihm das Glas zuſchob. Der Tiie
war voll von jühen Oſterſpeiſen, und rote, blau,
gelbe Eier lagen auf einem bejonderen Zeller,
„sch weiß es noch nicht; eine Woche werde ik
wohl bier bleiben; dann reife ich nach ChHruftiki zu
Alyfin und von dort vielleicht ins Ausland.”
„Bielleicht bringen Sie den Sommer bei uns zu,
Stephan! Sie müflen fi) erholen. Sie find gan;
blaß. Sie haben jogar ſchon graue Haare!“
„Jawohl, deren habe ich viele.“
„D, viele ſind's nicht, aber mein Vater ift ned
bi8 jeht ſchwarz wie ein Nabe. Warum eſſen Ei
nicht 9*
„Sch danfe; ich habe feinen Appetit."
„Sie haben wohl die ganze Nacht nicht ge
ſchlafen?“ fragte Kleopatra. „Fehlt Ihnen etwas’
Haben Sie Sorgen?”
„Ich habe Angſt, zu Schlafen!“ antwortete Ma
nylin mit Lächeln.
„Warum denn das?“
„Ih fürdte mich vor Träumen! Ich babe gerade
ein halbes Jahr verträumt; es war ein ſchlechtet,
aber verlodender Traum —- ich wollte nicht ermwaden.
Endlich erwachte ich und überzeugte mid, daß «
wirflih ein Traum war; aber jet kann id fein
Ange mehr jchließen,*
Hleopatra Iwanowna nidte mit dem Kopfe.
„Das ift wunderlich, was Sie erzählen! Sind
Sie des ſchlechten Traumes wegen befümmert?*
„Ja!”
„Sie hätten heiraten jollen! Warum haben Sie
in Petersburg nicht geheiratet? Sie wären doc ein
jehr wünjchenswerter Freier !*
Als aber Stleopatra bemerkte, daß Stephan cin
finfteres Geſicht machte, änderte fie die Unterhaltung,
„Haben Sie großen Erfolg gehabt? Eugenie
bat Ihr Porträt aus der illuftrierten Zeitung au%
gefchnitten und eingerahmt. Wir haben von Ihnen
gelefen und uns gefreut. Wieviel Geld haben Sir
eingenommen ?“
„sh habe es nicht gezählt!
taufend Rubel.”
Kleopatra Jwanowna ftieb einen Seufzer au.
„Ach, Geld, Gelb! Der Küfter Iwan fingt dot
jet auch im Theater. Seine Frau erzählt ja, daß
er ganz verrüdt geworden ift. Aus dem geiftlicen
Stande ift er ausgeichieden und doch fein Schau—
jpieler geworben. Willen Sie, dab Woswiſchennoſt
ein heiliger Ort geworden ift? Das Volt überläuft
das Gut, es jtrömt haufenweife zufammen, und bie
Zahl der Gläubigen ift jehr groß.“
„Handelt es ſich wieder um ein Heifigenbild?*
„Nein, um ein Heiligenbild nicht. Wber unkr
Vater Wiffarion vollzieht durch leiſes Gebet umd
Sp gegen zehn
A
F
Das neue Leben.
Auflegen der Hände Wunder, jo wie in den alten |
Zeiten. Das ift höchft wunderbar, Stephan!“
„sa, das ift wirflid wunderbar. Aber welder
Art find die Wunder?“
„Sehr einfahe! Die Kranken genejen, die Wahn-
finnigen befommen ihren Berftand wieder, und bie
Weinenden werben getröftet. Nett, während ber
Feiertage, ſtrömt das Volk jogar aus den Städten
hier zufammen. Wenn das jo fortdauert und ber
Vater Riffarion mich unterftüßt, werde ich ein Gaſt—
haus erbauen müſſen. Wenn e8 auch nicht viel
bringen wird, fo kann man doch auf zweitaufend
Rubel jährlich rechnen.”
„Werden denn dem Vater Wifjarion dafür Ge-
ſchenle gemacht?“ fragte Manpfin.
„Ja, und jehr viel, aber er ift ganz uneigennüßig,
Mit einer Hand nimmt er und mit ber andern giebt
er aus, Er ift wohlthätig gegen jeden, der nur
not leidet. Selber trägt er einen ganz einfadhen
feidenen Priefterrod, ift ſehr mäßig und trinkt
nicht mehr als ein Glas Waller mit Rotwein; er
it Witwer und hat feine Kinder. Er ijt ein bei»
liger Mann!“
„Wie ift er aber heilig geworden ?*
„Gott machte ihn dazu. Und er bat es ver-
dient, Gott hätte nicht jedem Beliebigen jeine Wohl:
thaten erwiejen. Wollen Sie ihn vielleiht einmal
Ichen ?”
„Nein, wo ift er hergekommen?“
‚Man bat ihn wegen der in Woswiſchennoje
berrfchenden Keberei zu uns verjeßt, damit er die
alte Rechtgläubigfeit wieder herftelle. Es wird hier
bald feinen einzigen Ketzer mehr geben.“
„Iſt er denn Prediger? Spricht er gut?“
„Einfah! Meiftens weint oder jeufzt er. Seine
Kraft Tiegt in feinen Thaten. Sie jollten doch, da
Sie Sänger find, jhon des firdhlichen Anitands
halber den Chor durch Ihre Kunft unterftügen. Sie
würden dem Vater Wiljarion dadurch einen großen
Gefallen erweiſen.“
„Ad was! Warum hat der Pater MWiffarion
den Küſter Iwan gehen laſſen?“ fragte Manyfin.
Er fühlte das Bebürinis, den Vater Wiflarion zu
veripotten, weil er die von ihm behauptete Gabe,
Krankheiten zu beilen, für Aberglauben hielt. „Der
Vater Wiffarion erwies fi) wohl ſchwächer ala ber
Küfter Iwan ?”
„Der Teufel ift ſtarl, Stephan,” erwiderte ſtleo⸗
patra. „MWie wollen Sie das ala MHuger Mann nicht
begreifen! Iwan wurde Zweifler, es fam oft vor,
daß er in der Kirche laut lachte, aud) hat er ent-
ihieden die Saframente geleugnet. Und als der
Bater Wilfarion zu uns fam und bie fterbende
Eugenie vom Lager hob, — daf fie wirflid) im Sterben
Ing, wird Ihnen der Arzt bezeugen — verbreitete
895
Iwan das Gerücht, dab ich in Uebereinſtimmung
mit dem Vater Wiffarion dies alles erfunden hätte!”
„Aber ein Gafthaus werben Sie doc bauen?”
„Gewiß! Das habe id ſchon beſchloſſen; fonft
würde mir ein andrer zuvorkommen.“
„Wieviel Priefterröde hat der Vater Wiflarion ?*
„Einen! Auch diefen habe ih ihm geichentt.
Einen Wagen, Pferde und einen Kutſcher jchentte
ihm die Saufmannsfrau Plawnilowa. Sonſt forgt
ja niemand für ihn, und er braucht jo wenig wie
ein Kind, Mir müſſen gegen den heiligen Mann
zuvortommend fein. Giebt e& denn viele joldyer
Leute in Rußland! Eugenie, zeig mal dem Bruder
deine Handarbeit!“
Nach dem Thee ging Manyfin auf fein Zimmer.
As Kleopatra Iwanowna die Magd fragte, was
der Herr thue, antwortete fie: „Der Herr durhmißt,
auf und ab gehend, das Zimmer.“ Dadurch ward
es der Witwe zur Gewißheit, dab Stephan wirklich
von irgend einem Summer gequält werde. Zum
Frühſtück verließ er gar nicht da8 Zimmer, und beim
Mittagstiſch lenkte fie die Unterhaltung wieder auf
den gottesfürdhtigen Vater Wiffarion.
III.
So verbrachte Manyfin in Woswiſchennoje vier
Tage. Nach jeinem eignen Ausdrud waren dieje
tot in feinem Leben. Einmal ließ er fein Licblings-
pferd fatteln und ritt ins Feld hinaus. Das Ge-
treide war grün; freudig erwärmte die yrühlings-
fonne die Erde. Stephan erinnerte fi, wie er vor
einigen Jahren mit einer Geliebten oft denjelben
Meg gemadt. Da ift die Schlucht mit ihrem fajur-
blauen, hellen, über grünliches und rotes Geftein
murmelnden Fluß. Dort hatte er, über das ausge-
tretene Waſſer fahrend, feine Geliebte getüßt wie einft
Petſchorin feine arme Fürftin. Gegen Ende des
Sommers hatte er diefen reinften Ruß, den er je
gegeben, vergeſſen. Er ritt in die Schlucht hinab,
bielt jein Pferd an und ſah auf den Fluß Bin,
weldyer wie goldige Schuppen in der Sonne glänzte.
Aber ſtatt der Fürſtin erichien vor feiner Phantafie
das Bild der Muſa Nitolajeona mit ihrem unfchul-
digen Munde, mit ihren dichthaarigen Wimpern um
die Dunkeln, Schwarzen Augen, mit den blaffen, zarten
Händen und mit ihren leijen, höhniſchen oder tollen
Reden, denen man feinen Glauben jchenfen konnte.
Er gab jeinem Pferde die Sporen; es machte
erjchredt einen Sprung und führte Manyfin ſchnell
fort. Erſt abends kam Stephan nah Haufe und
beitellte zum frühen Morgen Pferde. Er beichloß,
Alyſin, der fiebzig Werft entfernt wohnte, zu befuchen.
IV.
Einft waren die Alyſins dur ihren Reichtum
befannt. Der Vater des Alexander Ignatitſch diente
39
als Adelsmarſchall des Gouvernements, und in jechs
Jahren verſchwendete er fein Erbieil durch Ueppig-
feit und Pracht, ohne dadurd) in Moskau jonderlich
Aufſehen zu erregen. Jedenfalls blieb nod für
Alerander Ignatitſch ein Grundbeſitz, deffen Ertrag
zwiichen zehn= und zwanzigtaufend Rubel ſchwanlte.
Diefes Gut Namens Chruftifi lag auf einem langen,
ſchmalen Hügel, an deffen Fuße ſich das ſchiffbare
Flüßchen Glaſowka jchlängelte; fein linkes, niedriges
Ufer war mit einem dichten Walde bededt, welcher
das Eigentum Alyſins bildete. Das berrichaitliche
Haus, zur Zeit Alexanders des Gejegneten erbaut,
trat mit jeinen vier maſſiven weißen Säulen aus
dem dunfelgrünen Didicht des Tichtenparfes heraus.
Früher flatterte an der Spike des Hauſes eine
Flagge, von der aber jeht nur die vergoldete Stange
geblieben war. Als Manyfin diefe Stange jihon
aus ber ferne von der Brüde aus erblidte, fing
fein Herz zu ſchlagen an.
Die Pferde führten ihn ſchnell an den Eingang;
nachdem die Kutiche durch das gitterförmige guß-—
eiſerne Thor hineingefahren war, rollte ſie über eine
mit Gras bewachſene und von hohen hundertjährigen
Birken eingefahte Chauffee dahin. Die fahlen Wipfel
der Bäume raujchten wehmütig, und man hörte das
Gefrächze der Krähen, deren dunkle Nefter fihibar
wurden.
Ob Alexander zu Hauſe ſein wird und ob er
ahnt, daß id; fomme? Wie mag es jetzt hier aus—
ſehen?
Manyfin eilte Martin, ein grauer, alter Mann,
entgegen, der noch bei Alyſins jeligem Bater Kammer»
diener gewejen war.
„Buten Tag, Väterhen, Stephan Philippowitſch,“
fagte der Alte, ergriff jeine Hand und küßte fie ehr—
erbietig.
„Was joll das, Martin?"
„Nichts, das ſchickt fich jo! Alexander Ignatitſch
wird es hoffentlich nicht fehen, ſonſt würde er ſchimpfen.
Stügen Sie fih auf meine Schulter. Wie lange
waren Sie nicht bei ung!”
Den Alten leuchtete die fyreude aus den Augen.
„Ist Alexander Ignatjewitih zu Haufe?“ fragte
Manykin, inden er die breite fleinerne Treppe bin-
aufftieg.
„Der Herr wird bald zurüdfommen. Ad), was
für ein Unglüd! Seine Arbeit entipricht nicht mehr
jeiner Stellung.”
„Was ift denn geichehen ?*
„Etwas Trauriged. Ich werde es Ihnen er
zählen. Vor Ihnen braucht man nichts zu verhehlen.
Sie gehören zu und. Ach Gott!”
„Was giebt's denn? Sie erichreden mich! Iſt
Alegander etwas zugeitoßen ?*
„Der Herr hat viel zu viel geleſen!“ jagte ges
Marim Bjelinsti.
beimnisboll der Kammerdiener, ſich vorſichtig um-
ſehend.
„So?“
„Er fährt Dünger!” jagte Martin noch geheimniz
voller; feine Augen funfelten vor Aerger.
„Was für Dünger?”
„Gewöhnlichen Miſt,“ erflärte Martin, fait auber
fih vor Wut. „Der Herr hat ſich einen Lohn von
fünfzig Kopelen per Tag ausbedungen, und davon
lebt er, auf mehr habe er fein Recht.”
Er zog jeine dichten Brauen in die Höhe, zudte
mit den edigen Schultern und machte eine mitleidige
Bewegung mit den Händen,
Nachdem er Stephan ins Gaftzimmer gebradt
batte, half er ihm ſich umlleiden und betrachtete ger
rührt fein Reiſeneceſſaire, feine Parfümerien, feine
Kämme und Bürften und feine gejteilte Wäſche.
„Dergleichen haben wir nicht,” jagte er. „Denten
Sie ſich, der Herr fieht niemals in einen Epiegel
Mir riechen nad Pferden umd geben auch jo zu Bett.‘
„Beſchäftigt er fich nicht mehr mit Mufif?“
„Woran denken Sie!”
„Welche Bücher lieft er?“
„Bauernichriften und das Evangelium!“
„Belucht er die Kirche?"
„Niemals! Der Pfarrer fam, ihm zum eriten
Feiertag Glüd zu wünſchen, aber wir haben ihn mit
feinem Wagen wieder zurüdgejhidt. Wir hafen
alle Geiftlihen, Stephan Philippowitſch.“
„Beludt er die Bauern?“
„Ad! was find denn die Bauern? Nichts weütt
als Schufte. Sie find mit allem einverftanden, wa!
man ihnen jagt, und bleiben doch bei ihren Spiß
bübereien. Sie ftehlen ſchönungslos Holz bei und,
aber an das Gericht wenden wir und nidt, auf det
Gericht pfeifen wir — mit Eurer Erlaubnis —
guädiger Herr!”
„Worüber verhandelt denn Alerander mit den
Bauern?“
„Ueber Dinge, welche man ſchicklicherweiſe mil
Bauern nicht verhandeln darf. Dak fie fein
Branntwein trinken und ihre Frauen nidjt ſchlagen
ſollen. Er erzählt ihnen auch Märchen,“
„Märchen?“
„Jawohl. Er hat ihnen vorerzählt, daß ein ber
(iger Geift auf der Erde wandle und die Lüge be
ftrafe; aber inzwiſchen ftichlt der Bauer das beite
Holz und jchleppt es mad der Stadt oder md
dem Hafen, Oder er erzählt, daß ein Engel, de
ſich vergangen, vom Himmel habe herabfteigen
müffen, um auf der Erde Nägel zu jehmieden. 34
erlaube mir die frage: Iſt das eine Beſchäftigun
für einen Engel? Der Bauer aber, diefer Shut,
jperrt vor Erjtaunen den Mund auf, hört die Ee⸗
ſchichte von den Engelnägeln und jchlägt ander:
cosle
Das neue Leben.
tags wieber heimlich in unjerm Walde Holz. Dann
fommt er wieder auf unfern Hof mit feinem unver-
ſchämten Maul, mit Berlaub zu jagen, gnädiger Herr!”
„So, jo, Martin; aljo auch bei euch ift jet eine
neue Ordnung!“
„Ein neues Leben!
der Alte,
„Wird noch Thee bei euch getrunfen?*
„Kür Gäfte wird Thee mit Sahne, Rum, Gebäd
nad englijcher Sitte ſerviert!“ rief, vor Freude ftrah«
Iend, Martin. „Den Bäften wird nichts verweigert.
Befehlen Sie vielleicht Thee?“
„Bitte, ih habe Durft.”
„Ad, Väterchen! und ich babe fo viel Zeit ver—
plappert! Wie habe ich das vergefjen können!“
Eilig war er hinter der Thür verſchwunden;
Manpfin blieb an dem großen Fenſter ſtehen und
jah auf den Hof hin, auf Alyfin wartend.
Es ift natürlich fomifh! dachte er. Beſonders
in der Darftellung von Martin. Aber es it etwas
Rübrendes in dieſem neuen Leben. Oder finde ich
das vielleicht nur, weil ih Alyfin liebe?
Ganz neu!“ fagte betrübt
V.
Die Sonne ging unter. Die Abendröte färbte
mit ihrem Lichte die Wollen und die Wipfel der
Bäume. Auf der hohen Wand des Gaſtzimmers
erlofh die purpurrote Farbe und verteilte jich über
die Scheiben des gewölbten Fenſters. Martin jer-
vierte den Imbiß auf einem altmodijchen Präfentier-
teller von Rotholz, welcher mit Silber eingefaht war.
Dann brachte er eine Theemafchine und eine Heine
geſchliffene Karaffe mit Branntwein. Stephan griff zu.
„Fährt denn Alexander wirklih jo ſpät nod
Dünger ?” fragte er.
Martin zeigte mit der Hand. „Da, gnädiger
Herr! Menn man den Wolf ruft, iſt er nicht weit.
Bitte, jehen Sie!”
Manyfin jah ſich ſchnell um. Alyfin, gefleidet
in einen kurzen Raftan, ging neben einer ſchmutzigen
Fuhre, vor welder ein großes, jchediges Pferd unter
ein geftrichenes Joh gejpannt war. Es ſchien
Manyfin, als ob Alyfın fich bemühe, im Bauern«
Ihritte zu gehen, wohl weil er ihn der Beſchäftigung
entiprehend fand. Im den Händen hielt er die
Seine und ſchlug dann und wann das Pferd leicht
mit der Peitſche, indem er die Fuhre in den Hinter»
bof lenkte. Manyfin öffnete das Fenſter und rief:
„Guten Abend, Alerander !”
Alyſin erſchrak, erhob das Haupt, erfannte feinen
Freund, lieh das Pferd ftehen und eilte wie ein
Knabe auf ihn zu. Manykin flog ihm entgegen.
Sie trafen fih im Saale. Alyſin, rot und ganz
von Schweiß bededt, umarmte Manyfin Herzlich und
füßte ihn auf Lippen und Augen. Er hätte ihm
Aus fremden Zungen, 1807, I. 19,
897
vor Zärtlichkeit am Tiebften wehe gethan, denn er
wußte nicht, wie jeiner Liebe Ausdrud zu geben.
„Wie dankte ich dir; ich dachte ſchon, daß wir
uns ganz vergeſſen hätten und daß du mir ſchmollſt!
Hat dir Martin einen Imbiß gegeben? Ich werde
einmal mit Dir zufammen jpeifen. Es wäre aud
gut — ein wenig Branntwein! Ad was!“
Er ſetzte fi zu Tiſch und ſchenkte zwei Glas
Branntwein ein. Martin zitterte vor Freude, daß
fein Herr zu falten aufgehört. Er bediente mit den
feinen Manieren eined Kammerdieners der guten
Schule, von welchen er ji in ber legten Zeit zu
entwöhnen genötigt war. Sein Geficht wurde würdig,
böflih und ausdrudslos,
„a, id) bin außer mir vor freude, dich zu jehen !*
fagte Alyjin mit bligenden Augen, jeinen lang-
gewachſenen, zerzauften Rotbart ftreichelnd. „Erftens,
haft du mit mir zu ſprechen; alles genau zu jchreiben,
verstehe ich nicht, und das, was ich dir gejchrieben
babe, ift eigentlich gar nicht das, was ich wollte —
das Rechte und eigentlich doc nicht das Nechte, ver=
ftehft du?
„Zweitens, habe ich mit dir zu jprechen und über
etwas zu bisputieren. Menn ich einen Pfahl in die
Erde eingerammt habe, und aud du fannft ihn nicht
wanlend machen, jo werde ich ganz ruhig in meinen
Entichlüffen, in der vollen Ueberzeugung, daß ber
Pfahl feft ift. Allein fann ich mir nichts zutrauen!
Höchftens, wenn ber Pſahl anfault, dann merke ich
es auch ohne deine Hilfe. Wir haben uns über
Zaujende von Gegenjtänden zu unterhalten! Ich
babe viel gelejen, häßlich viel! Das alles aber ift
nicht das Rechte, nicht das Rechte.”
Er iprang auf.
„Martin, wir haben doc Champagner... Laſſe
ein glänzendes Abendefjen bereiten. Diejer Herr ift
etwas andres ala ich. Und ich Teifte ihm nur Gefell-
ſchaft. Ja jo — Stephan, du jollft aber nicht denfen,
daß ih etwa mit meinem Leben unzufrieden bin,
Ih bin zufrieden. Sobald ich morgens aufftehe,
arbeite ich wie jeder Bauer. Geſchickt gebrauche ich
die Art und die Schaufel, ic) lann aud) eggen und
jüen. Ich werde auch mähen und pflügen. ber
die verfluchte Gewohnheit! Heute jah ich im Traume
eine Geige, geftern ein Mädchen! Gemein!”
Manykin lächelte. Es war etwas Leichtfinniges
und Flottes, etwas noch Junferhaftes in der Art, wie
Ayfın das Wort „gemein“ ausſprach. Aber es
wurde ihm ſchwer ums Herz, als er bebadhte, mit
welchen Schwierigkeiten Alyſin einft jein mufitalifches
Talent erwedt hatte, und welche Qualen es ihn jet
foften mußte, es wieder zu erftiden. Als er Alyfins
rotes, fröhlichee Geficht betrachtete und feine haftigen
Reden hörte, dachte er: „Was für Kunftitüde wird
mein Freund noch machen? Wird er vielleicht wieder
113
898
ein jo Hiederliches Leben anfangen wie einft im
Regiment? Oder wird er fich vielleicht mit Aſtro—
nomie bejchäftigen, einen neuen Stern entdeden, dann
aber das Teleflop zerbrechen in der neuen Er—
fenntnis, daß dies wiederum nicht das Rechte jei —
nicht das Rechte.”
„Phyſiſch Bin ich gefeſſelt,“ fuhr Alyſin fort,
„aber wie kann ich meinen Geift in Feſſeln Tegen?
Das Lefen beflügelt ihn bloß. Fange id an, Ge—
ichichte zu leſen, phantafiere ich fogleich ; ich werde
auch mal Geſchichte ſchreiben. Wenn ich mich hin—
lege, lann ich nicht einjchlafen; böfe Gedanfen geben
mir feine Ruhe, ich fchreibe Romane, bin Prediger,
ich Iehre, und die Hauptſache ift, dab ich von allen
bewundert werde. Man zeigt auf mid mit den
Fingern — fieh diefen da! Ich habe mir aus
gedacht, Arabiſch, überhaupt orientaliihe Sprachen
zu ſtudieren, ich werde mich mit Kabbala beſchäftigen.
Es wird niemand ſchaden, und was ſich hier regt,“
— er zeigte auf die Stirn — „wird jedenfalls be—
ruhigt werden, Ja?"
„Das ift nicht das Rechte, nicht das Rechte!“
jagte Manylin laut auflahend. „Hör mal, lieber
Alexander, bift du endlich des Selbitfolterns über»
drüffig? Sag einmal aufrichtig.”
„Lab mich!" fagte Myfin, indem er ein finfteres
Gefiht machte und ernft wurde. Er legte die Hände
übers Kreuz unter die Schultern und fing an: „Was
denkſt bu denn? Bin ich ein Kind? Treibe ich denn
Spa? Ich werde dich morgen ind Dorf führen,
dann wirft du jelbft jehen, und erft dann wirft bu
jagen, ob es fo gut fei. Bift du denn einmal von
einer Bauernhütte zur andern gegangen? Doc nicht?
Das ift es eben!“
Er ftredte mechanifc feine Hand nad) Manyfins
Zigarettentaſche aus, nahm eine Zigarette und fing
“an zu rauchen, den Rauch gierig einziehend.
Rauchſt du ſchon?“ rief Manyfin aus,
„Was denn? Hol's der Teufel! Warum haft
du fie mir zugefhoben? Jetzt werde ich anfangen.
Es wird für mic gut fein. Es betäubt. Martin,
verlaffe ung! Warum erzählft du mir gar nichts
von dir? Fällt es dir vielleicht jhwer. Ich erzähle
dir immer meine Schmerzen, und du bebarfft eines
Arztes viel eher ald ih. Nun, erzähle doch!“
Er ſchlug ihm auf das Knie und jehte fich näher
zu ihn.
Manyfin legte vor Alyfin feine Beichte ab, ohne
etwas zu verhehlen. Zu Anfang feiner Erzählung
lachte er über jich ſelbſt: Matrena Nifolajewna , bie
Frau Laskowslys, welche ſich poetiſch Mufa nannte,
habe auf Schritt und Tritt gelogen. Die Gemein-
ſchaft mit ihr wäre fait fomijch geweien. Aber es
trieb ihn doch, die Komödie diefer Liebe in der Er-
innerung von neuem zu beleben, jo daß er unwill⸗
Marim Bjielinski.
fürlih einen andern Ton annahın und anfing, mit
Leidenſchaft und mit Entrüftung zu reden. Als er
geendet, ftüßte Alyfin den Ellbogen auf den Tiſch
und jagte, ihn mürriſch anjehend:
„Du batteft unreht! Wie man jät, fo ernte
man!“
„Das weiß ich ſelbſt,“ erwiderte Manylin, un
zufrieden mit dem Urteil bes fyreundes. „Aber al
diefe unbedeutende Liebſchaft aufloderte und zur
Feuersbrunſt wurde, da hatte ich ſchon recht.“
„Heiratet man denn für andre?“ ſchrie ihn Alyſin
an, Laslowsty verteidigend. „Du liebſt fie, aber
er liebt fie doch auch! Er liebt fie ja mehr ala du!
Du haft ihm ein Meffer ins Herz geflogen, ihn auf
der Pfanne gebraten, aber er hat fie nicht Fortgejagt
und wird fie nicht fortjagen. Du dagegen hätteft
fie in Jahresfrift und vielleicht noch früher verſtoßen!
Du hätteft nicht geduldet, was er geduldet bat und
dulden wird. Sie ift nun einmal eine Betrügerin,
das hat fie in ihrem Blut; auch dir hätte fie Hörner
aufgeſetzt. Wofür hätteft du fie lieben können? Da-
für etwa, daß fie deinetwegen ihrem Manne uniren
getvorden war? Und wenn fie Die deine geworden
wäre? Eben dafür hätteft du fie dann gehaßt und
fie durch Kälte und Widerwillen zu einem neun
Frevel getrieben. Nein, du hatteft durchaus nicht recht!”
„But, du bift logiſch. Ich gebe zu, dab ſich
meine Leidenſchaft zu diefer Frau mit dem Gefüßl
des unbefriedigten Stolzes verband. Es kränlte mid,
daß fie am Ende ihren alten, dummen Mann vor
mir bevorzugte. Aber was wird aus dem Finde
werben ?*
„Was heißt Kind? Das ift Einbilbung! Bir
find alle Väter, alle Brüder, alle Kinder, Die
Menſchheit — das ift unjer Vater! Die Nad-
fommenjhaft — das find unfre Kinder. Habe feine
Angit, das Kind wird nicht verloren gehen! Menſchen
werden es auferziehen und belehren!”
„Wie kannt du jo etwas jagen, Alerander? Bil
du etwa für gemeinſchaftliche Erziehungshäufer?“
„Nein, dagegen! Es jollen überhaupt feine
Kinder fein! Weniger Schmuß — das ift mein
Rezept!”
„Was foll ich aber thun? ch kann gegen das
Schidfal meines Kindes nicht gleichgültig fein. Es
verbindet mich auf ewig mit diefer Frau.”
„Sage dod) mal,” begann Alyfin, „mie wäre e,
wenn du jemand ermordet hätteit? Zum Beiſpiel
ein dummes Mädchen, welches man zwar Franzöfiſch
gelehrt hatte, aber nicht vor Mörbern fliehen...
Und du, wollen wir annehmen, wäreft unter die
Mörder gegangen. Sie jagt: ‚Ach, welch ein inter
effanter, brünetter Mörder! Wie ſchön war es, daß
ich allein in den Wald ging!“ Sie beginnt zu folet-
tieren. Aber unterdefien jchlägft du fie mit deinen
„Res
Das neue Leben.
Knüttel nieder. Dann fommft du zu mir und fragt:
Was thun, damit mid dad Gewiſſen nicht quälen
ſoll? Mas fol ih dir antworten?“
„Du bift graufam, Alerander! Uebrigens, was
für ein Heilmittel fann e8 geben? Wenn man einen
Mord begangen hat, muß man nad) Sibirien gehen.“
„Das Gewiſſen ift der größte Arzt,“ jagte Alyſin.
„Aber du wirft fo lange leiden, ald du an dem Ge-
danken fefthältft, daß außer dir noch jemand jchuld
bat. Ich Halte es für meine Pflicht, dich zu übere
zeugen, daß nur du allein der Schuldige bift, darum
höre mich zum lehtenmal an..."
Bis zum Abendeſſen dauerte dieſe für Manyfin
unangenehme Unterhaltung. Er brad) fie aber nicht
ab, weil der Mittelpunkt diefer Unterhaltung Muſa
Nitolajewna war. Er brach fie nicht ab aus dem⸗
jelben Grunde, auß welchem er einige Monate in T.
verweilte, troß der Seelenfhmerzen, welche er für
Liebe zu Muſa Nilolajewna hielt.
Beim Abendeffen in dem von Martin fejtlich er-
leuchteten Speijezimmer fing Manyfin, nachdem er
Champagner getrunfen, zu erzählen an:
„Auf meinem Gute Woswiſchennoje wohnt ein
Pfarrer, Bater Wilfarion Er foll heilig jein,
er fol Wunder vollziehen, förperlihe Wunder, und
Seelenfrankheiten heilen. Ich hätte mich an ihn
wenden müſſen.“
„Ich hörte von dieſem Pfarrer,“ antwortete
Ayfin. „Er interejfiert mih. Warum lachſt du
denn? Es giebt heilige Menſchen. Durch Faſten
und Uebungen, durch Elſtaſe im Gebet erreichen fie
wunderbare Erfolge. Ic las vor furzem die Lebens-
beihreibung der heiligen Therefa. Stell dir vor, fie
war jo heilig, daß fie fi etwa eine Elle von der
Erde hoch erheben fonnte. Sie erzählt davon mit
einer ſolchen Naivität und Einfachheit, daß man ihr
glauben muß. Ein beionderer Wohlgeruch verbreitete
fi von dieſer Heiligen. Es war der Geruch ber
Heiligkeit. Ich babe auch bei einem modernen Phy«
ſiologen gelefen, daß dies wahr ift, und daß nervöſe,
kranfhafte Frauen zuweilen einen ähnlichen aroma—
tiihen Duft von fi geben. Beſonders trägt das
eljtatiiche Beten dazu bei. Auch deinen Pfaffen muß
man erſt riechen.” a
Er lachte jelbft auf und fing Anekdoten über
Mönde und Einfiedler zu erzählen an. Er war roh,
md feine Augen brannten mit böjem Feuer. Martin,
an der Thür ſtehend, befreuzigte ſich jtill.
Ayfın trank nod einige Becher. Nah dem
Abendeſſen ließ er feinen Freund noch nicht ſchlafen
gehen. Er jprad mit ihm über Moral, über Land:
wirtjchaft, über die Prüfungen des heiligen Antonius,
über Bienenzucht, über Bismard, über die franzöfi«
ide Revolution, über die Sünden des Jugendalters,
und erzählend legte er feine Beichte ab.
899
VI.
Als Alyſin allein geblieben war, fing er an, ſich
langfam auszuziehen. Es war ſchon heil. Das Zim-
mer, welches für ihn beftimmt war, war einfach ein-
gerichtet wie das eines Handwerker oder eines Land⸗
manned, Gin Werltiſch mit Sägen verfchiebener
Größe, mit Hobel und Meißel; ein unangeftrichener
Th, Alyſins eigenhändige Arbeit, ein Breit mit
Büchern, einfache Holzichnitte an den Wänden, eine
Schlofjerbant, Kummete, Modelle landwirtſchaftlicher
Maſchinen, und in der Ede ein eifernes Bett, zu⸗
gedeckt mit einer baummollenen, wattierten Dede,
Das Licht brannte in einem bronzenen Leuchter,
welcher nicht fünfzig Kopeken gefoftet haben mochte.
Alyſin fehte fich auf fein Lager und ließ das Haupt
auf die Bruft finfen. Er dachte daran, daß Many—
fins Ankunft die von ihm eingeführte Ordnung plöß«
lich umftürzte; merlwürdig war ihm dabei, daß er
das jelber mit Ungeduld erwartete, da er wirklich
überdrüjfig war, nicht des Selbftfolterns, wie Ma—
nyfin fi ausdrüdte, jondern der Einförmigfeit und
Einſamkeit. Außerdem ſchien ihm zuweilen felbft
dies alles etwas dumm zu fein. Natürlich ift es
beſſer, als auf der Eftrade zu Pawlonsk zu konzer⸗
tieren oder andre Säle Peter&burgs zu beiuchen;
aber es muß doch noch etwas Bellereß geben, Was
ift e8 aber? Es ift fchade, daß der Verftand fo eins
gerichtet ift, dab man logiſch weder ſprechen nod)
denfen, jondern nur jehreiben kann.
Er nahm aus dem Nachttiiche ein von ihm vor
furzem angelegtes Heft, von weldem er Manyfin
nichts geiagt hatte, und las davon einige Seiten.
„Warum beichäftigte ich mich mit der Revolution?“
fo fing das Heft an; „daher, weil ich ein unflares
Streben nad) Freiheit hatte. Ich dachte, daß Frei—
heit dur Gewalt erworben werben könne, Erft
nachher fand ich, daß es noch etwas Stärferes als
Gewalt giebt, und dieſes Etwas iſt die Geſchichte.
Ich beuge mich vor der Geſchichte, weil ich jelber ein
Teil der Geſchichte bin. Daher verwarf ich jo leicht
die Revolution, Aber mit der VBerwerfung der Res
volution blieb mein Ich ohne Boden. Die Geſchichte
geht langjam, und ein Teil der Geſchichte zu fein,
heißt etwas fajt ganz Unbewegliches jein, und
wenn die Geſchichte ein Einer ift, jo ift ein Teilen
der Geſchichte ein Einer dividiert durch die Ewigleit.
Um das eigne Ich zu fühlen, verjenfte ich mid in
Gelage. Aber dank meinem angeborenen Talent,
welches meine Seele kitzelte, verjuchte ich die von mir
begierig verlangte Freiheit in der angeblichen Welt
der Töne zu finden. Und ich ſchien fie gefunden zu
haben; ich triumphierte über meinen Sieg, ald man
mich als Genius verfündigte. Bald aber wurbe ich
mir bewußt, daß es nicht das war, wonach ich ge—
ftrebt hatte, und daß es im Gegenteil eine Ente
900
würdigung war, ebenjo wie das Leben in Gelagen.
Denn ich fühlte meine Individualität nur auf dem
negativen Wege. Meine Perjönlichkeit rief müßiges
Händellatihen, müßige Unterhaltungen, müßige
Thränen und zuletzt auch die Sinnlichkeit hervor.
„Auf der Geige jpielend, rührte ich ein Mädchen,
riß es hin und verführte es. Sie fam jelbft zu mir,
ich konnte mich nicht beherrichen und verführte fie.
Da ih fie dann zu haffen anfing, jo heiratete ich fie
nicht, damit ich fie micht töte. Ich fing fie aber zu
bafjen an, jchon deswegen, weil fie der äußere An-
laß war, aus dem ich die Mufit verwarf, für welche
ich bejondere Vorliebe hegte. Es war eine jchwere
Zeit, ih kämpfte mit mir jelbft mit derjeiben Qual
wie der Grtrinfende, der nad dem Strohhalm greift,
und ich erwartete Hilfe, jelbit von einem Manpfin,
Schließlich verbrannte ich meine Geige,
„Als ich die Geige verbrannte, verftand ich erit,
daß ich jtarf war. Ich verfland es nicht zu jener
Zeit, ala ich da8 Spielen erlernte und ein Virtuos
wurde, jondern gerade damals, als ich die Geige
verbrannte. Es war mir angenehm, daß ich jo ge=
than. Da ich mid für den beften Violinfpieler in
Europa hielt und der KHunft diefen ſchweren Schlag
jufügte, ward mir die Stärke meines Ichs bewußt.
Ich zweifelte nicht, daß andre Künſtler mir folgen
würden. Wäre ich feine Kraft geweien, hätte nie
mand mein Verfahren beachtet.
„sh bin ftark, aber warum befriedigt mich nicht
das, was ich jegt thue? Bisher bin ich zufrieden,
aber ich ahne, daß meine Zufriedenheit bald zu Ende
ift. In Büchern fand ich taufend Erwiderungen auf
meine Theorie der Arbeit, welche der Perjönlichkeit
die Freiheit fihert, Meiner Anfiht nah ift die
Freiheit des Individuums dasfelbe wie Selbftachtung.
Ih muß jelbit alles das machen, was ich brauche.
Ich bin unmwürbig des Namens Menſch, wenn ich
ohne Iwans oder Sidors Hilfe nicht austommen
fann. Mein Stolz; wird herabgebrüdt, wenn Jan
freigebiger ift ala ih und mir für Geld das macht,
was ich ihm um fein Geld machen kann. Die Arbeits«
teilung hat Millionen von Menſchen zur Knechtſchaft
dur eine Meine Zahl Auserwählter geführt. Die
Urbeitäteilung ift eigentlih die Perteilung der
Menſchheit.
„Wenn der Menſch keine Leidenſchaften hätte, ſo
wäre er mit wenigem zufrieden. Macht iſt doch nur
ein relativer Begriff, und dieſelbe Macht hätten dann
alle, denn niemand hätte ſich aus feinem Niveau er«
hoben. Ih, Sibor, Iwan — wir wären alle gleich.
Uber ich weiß das und bin davon überzeugt umd
babe doch Leidenſchaften. Die ganze Frage wird
auf deren Unterbrüdung zurüdgeführt. Wie fol das
aber geichehen?
„Durch die Religion etwa? Ich wünjche fie nicht,
Marim Bijelinsfi.
denn bie Religion ift die Feſſel des Indibiduums
Das Individuum kann fih nur jelbft die Grenzen
beftimmen , jonft wird es feine Selbſtachtung ver-
lieren, und damit würde wieder dieje Munde er
ſcheinen, an welcher die ganze Welt leidet. eben
falls gehört die Religion zum Gebiete der Geſchichte,
deren Bedeutung ich bereits anerfannt und deren
Gange ich mich unterworfen habe. Es entjleht ſchon
ber cercle vicieux ...* _
Alyfın ſchlug das Heft zu und ſchleuderte es beifeite.
„Das iſt nicht das Rechte!” fchrie er auf. „Wo ift
denn die Wahrheit? Wer kann auf diefe Frage
antworten? Schreibe ich vielleicht der Gefchichte eine
Wichtigkeit zu, welche fie gar nicht einmal hat, und
liegt vielleicht darin mein Grundirrtum? Wenn ja,
dann ift alles, was ich gethan, nur ein fortwähren:
der Jrrtum! Das ift nicht wahr!”
Er jchlief bald ein, ohne das Licht ausgelöfät
zu haben. Im Traume erfhien ihm wieder eine
Geige. Er ſpielte allein in einem großen, leeren
Saale; von den Saiten ſtoben Funken, unter den
Strichen des Biolinbogens zudten Blitze. Und vor
Glück ſchien er hinzufterben.
VII.
Am folgenden Tage hatte Manykin feine Luft,
ind Dorf zu gehen.
„Habe ich denn noch nie Bauern gejehen?*
Aber Alyjin jhleppte ihn doch mit.
„Solde haft du noch nie geſehen,“ jagte er.
„Meine Bauern find ganz befondere.“
„I habe ſchon gehört, fie find alle Schurfen!*
„Sogar große! Trotzdem liebe ih fie. Wir
wollen zuerjt zu Kornei Timofejew gehen.”
Korneis Hütte war ganz am Ende des Dorfes,
ohne Zaun, ihre Seitenwände ftanden ſchief und
drohten jeden Augenblid einzuftürzen. Kornei, ein
großer Bauer mit dünnem Bart, kam aus der Stube
im offenen Raftan. Er verzog den Mund und fprad
lächelnd die ganze Zeit mit dem Herrn, Manpfin
jah diejes Lächeln und dachte: Es ſcheint diejer Ca»
naille doch ungemütlich zu fein; er wird bald nicht
mehr lächeln, nein — doch! er hält es aus!
„Haft du dich ſchon mit dem Vater verjöhnt?”
„Wozu ſoll ic) mich denn eigentlich mit ihm ver-
jöhnen? Zum Teufel!“
„War jchon wieder eine Schlägerei zwifchen euch?“
„Sehen Sie doch, meine Herren!“
Er ftredte unter dem Kaftan jeine Hand aus,
die bis zum Ellbogen zerfragt und von geronnenem
Blute ſchwarz war,
„Womit hat er did) jo verwundet?“
„Mit einem Pflugeifen. Hol ihn der Teufel!“
„Und du?“
„Er bat aud) feinen Teil befommen.”
Das neue Leben,
„Haft du ſchon beine Egge ausgebefjert?”
„Womit joll ich fie denn außbeifern! ch hätte
dazu Holz, Heine Stangen haben müfjen....“
„It es Schon lange her, feit du bei mir ge—
ftohlen haft?"
„Wahrhaftig, das habe ich nie gethan!“
„Ih würde dir Stangen, jogar Holz geben. Du
jolit dein Haus ſtützen. Es ftürzt jonft ein.”
„Das ift wahr! Es ift Schon nicht mehr darin
zu wohnen!“
„Aber du verjäufft es doch?“
Wirllich nicht! Ich hab’ ein Gelübde gethan!“
„Gut, ich werde Anweiſung geben.“
ſtornei verneigte fidh tief.
„Diefer Bauer ijt gar feine Seltenheit!“ jagte
Mamplin,
„Ein Faulenzer und Trunfenbold! Dentft du
etwa, daß der Water ihm wirklich die Hand mit
einem Pflugeifen verwundet hat? Er lebt mit dem
Toter in der beften Eintracht. Sie find beibe Diebe
und zanfen fi bloß zum Schein. Borgeftern nacht
haben fie auf meinem Gute eine hundertjährige
Fichte gefällt, und dabei hat ſich Kornei mit einem
trodenen Zweige jeine Hand aufgerifien. Ich weiß
es ganz genau. Sie find verfhlagen. Hier wohnt
Iwan Gawrilow.
„Guten Morgen, Iwan Gawrilom!” fagte er,
in eine geräumige Wohnung tretend. „Ich bin ge
fommen, mich nad dir zu erkundigen.“
„So?* jagte ein grauer, dider, zweiundfünfzig
Jahre alter Bauer mit Heinen, dumm blinzelnden
Augen, indem er fid) erhob.
„Haft du ſchon das Büchlein von Simeon Stolp-
nid durchgeleſen ?”
Jawohl!“
„Run, hat es dir gefallen?“
Jawohl!“
„Der da ſpielt vor mir die Rolle eines Idioten,“
erflärte Alyfin laut. „Währenddeſſen betrügt er
aber das ganze Dorf — er ift der größte Wucherer.
Ich ſuche noch immer das Gewifien in ihm zu er»
weden, aber es fcheint auf immer eingejchlafen zu
fein. Wo ift dein Junge?“
„Der Junge?”
„Ja, ja, dein jüngfter Sohn!“
„Ih weiß nicht.“
„Schide ihn zu mir. Schau, Stephan, ba fommt
line Schwiegertochter.”
Eine Meine, magere Frau in einem langen blauen
Ueberfleid trat herein. Sie grüßte mit nieber-
geihlagenen Augen.
„IR dein Dann zu Haufe?“
„Er wurde vor den Unterſuchungsrichter geladen.
Väterhen! Beſchütze uns! Geftern beläftigte man
den Schwiegervater, heute lub man den Mann vor,
1
morgen muß ich gchen! Bedenle do, mit einem
Heinen Kinde! Alle haben jet Feiertage, wir aber
— nur Schande und Unglüd!*
„Daß geht mich nichts an, Domna. Man muß
leiden. Ihr habt felber Schuld, wenn ihr fo jham«
[08 lebt.”
Als fie auf der Straße waren, erflärte Alyfin,
dab Iwan Gawrilow mit feiner Schwiegertochter
verbotenen Umgang habe und daß darüber jeht eine
gerichtliche Unterfuhung auf Beranlaffung des Pfar-
rers angeftellt jei.
„In diefer armen Hütte wohnt ein Mädchen, fo
ſchön, wie du wohl nie eines geiehen. Sie wohnt
allein mit ihrer Mutter und heiratet nicht, obwohl
fie ſchon zwanzig Jahre alt ift. Dahin werde id)
dic) aber nicht führen. Doc, da iſt fie ſelber!“
An der Thüre ftand ein wohlgejtaltetes Mädchen,
mit einem regelmäßigen, nod nicht verbrannten,
Ihönen, bis an die Ohren gerötetem Geſichte. Die
rabenſchwarzen Haare waren in einen langen, diden
Zopf verflochten; der bloße Hals und die bloßen
Hände waren ſymmetriſch gebildet, der weiche runde
Körper war milhweiß. Die großen, dunklen, ſchüch—
ternen Augen gliden denen eines Sheiligenbildes
byzantiniſchen Stiles. Ihr Sarafan war rofenfarbig.
„bie, ift fie nicht ſchön?“
„Ungewöhnlich!“
„Iſt fie ſchöner als deine Matjona Nitolajewna?
Uebrigens, ſie heißt auch Matjona.“
Manyfin hörte auf, das Mädchen zu betrachten.
„Wir wollen weiter gehen!”
Alyfin führte feinen Freund fait um das ganze
Dorf. Er kannte alle nad den Namen, fogar bie
Kinder. Im allgemeinen machte das Dorf den Ein-
drud der MWohlhabenheit. Aber in jedem Haufe
trafen die fyreunde etwas, was Manylin Widerwillen
verurfachte. So jahen fie, wie ein Mann jeine Frau
Ihlug. Sie hielten ihn zurüd, aber faum waren fie
fort, jo hörte man von neuem Stöhnen, Schreien
und Hiebe mit Striden.
Spiridon Kusmin, ein Mechaniker, Autodidalt,
bei welchem fie auf der Rüdkehr anſprachen, redete
mit Interejje über Bücher, und mit ernfien Augen
zeigte er Alyfin ein Kartenmodell des Kremls.
„Ach, du bift noch gar ein Kind!” ſagte Alyfin
gutmütig. „Wieviel Zeit arbeitelejt du am Kremi?*
„Ein halbes Jahr!“ antwortete Spiridon.
„Wozu aber?”
„Ich will es nah Moskau jchiden.”
„Nun?“
„sch werde eine Medaille befommen.“
Die erwachjenen Söhne des Mechaniker wohnten
mit ihren Frauen bei ihrem Vater. Spiribons
Frau, ein altes Frauenzimmer, war jchon betrunfen,
obwohl es noch ganz früh war,
902
„Sie ift eine Strafe Gottes!” ſagte der Mer
chaniler. „Fort von meinen Augen! Glauben Sie,
Alegander Ignatitich, unfer Glaube ift gut für alle,
nur eines ift ſchlecht, daß es feine Eheſcheidung giebt.“
„Würdeft du denn heiraten ?*
„Bott bewahre!“
„Er ift wohl von deinen Ideen durchdrungen?“
ſcherzte Manyfin, als er fih vom Mechanifer vers
abjchiedet Hatte.
„Nicht ganz! Siehft du, er hat den Kreml ge
macht und träumt von einer Medaille! Und er ift
doch ſchon fiebzig Jahre alt. Nun, wohin follen wir
denn weiter gehen? In die Schule etwa? Sie ift
aber gejchloffen, und der Lehrer hat ſich beurlaubt.
Vielleicht in die Schenfe?*
„Nein, erlaffe mir das!“
„Unjre Schenke bat auch Muſik. Wie habe ich
mich angeftrengt, um die Dorfleute zur Abſchaffung
der Schente zu beſtimmen!“ jagte Alyfin traurig —
„nein, die Schenke ift ihnen teurer als die Kirche!
Nun? du willſt nicht nad) der Schenfe? Dann gehen
wir nad) Haufe.”
Matjona ftand noch immer vor der Thüre.
„Warum lächelte fie?" fragte Manpfin,
„Sieh aufmerkjamer hin — fie wird noch mehr
lächeln. Sie wollte vielleicht ihre Zähne zeigen. Sie
fennt ihren Wert. Por etwa fünf Jahren hätte ich
nicht widerftehen fünnen. Aber jet ftcht die Sache
ſchon ander®. Haft du bemerkt, was für eine Hütte
fie haben? Auf dem Dache ragen nur einige dünne
Stangen hervor. Dffen geftanden, diefes Mädchen
ärgert mi. Wenn es nad mir ginge, hätte ich fie
aus dem Dorfe gejagt.”
„Beträgt fie ſich denn nicht gut?”
„Das eben ift daS llebel, daß fie ſich tadellos
beträgt!*
„Du haft Angjt vor ihr!” jagte Manylin leife,
VIII.
Martin benußle die Abweſenheit des Herrn, den
Dünger durd) die Arbeiter fortjahren zu laſſen. Als
Alyjin um zwei Uhr zurüdfehrte, war der Dünger
ihon ganz weggeſchafft. Alyjin hörte es und zeigte
feine Unzufriedenheit. Der Alte triumphierte und
ſah mit Dankbarkeit auf Manylin, dem er dieſen
ſegensreichen Einfluß auf feinen Herrn zuichrieb.
Unterdejjen disputierte Manyfin mit Alerander.
„IH kann mir gar nicht vorftellen,” ſagte erfterer,
„wie man jolches Vieh lieben kann, wie jenen zum
Beijpiel, welhem du den Simeon Stolpnif zu lejen
gegeben haft. Ich möchte ihn ordentlich durchprügeln.
Dein Mechaniker ift auch ein netter Kerl! Sie find
alle gut. Du zeigit ihnen Liebe; dieje Liebe aber
lommt aus dem Kopfe und nicht von Herzen.“
„Es ift noch die Frage, welche Liebe höher und
Marim Bielinski.
wahrhaftiger iſt,“ erwiderte Alyjin, „Die bes Sopieg,
das heißt die vernünftige, oder Die des Sperzens, das
heißt die unbewußte. Du ſcheinſt dies umgekehrt
aufzufaſſen und Haft einen ganz andern Ausgangd
punlt, Du bift Wefihetifer und willſt nur reine
Naturen haben. Meiner Anfiht nach wird im un
Liebe zum Menſchen nur duch deſſen Verſunkenheit
und Gemeinheit erwedt, Diefe Verworfenheit errest
in uns Widerwillen, und wir wollen jie bejeitigen;
das ift die wahre Liebe.“
„Alfo ift dein größter Liebling dieſer Wucheret
und Wüflling ?*
„Ja!“ fagte Alyfin, ohne zu überlegen. „Ich denke
oft an ihn. Ich bedaure ihm micht, ich möchte «
aber erreichen, dab man ihn endlich bedauern fünnte
— ih möchte aus biefem Kloße einen Menſchen
ſchnißen, ihn gewiſſenhaft machen und dazu bringen,
daß er fi zu beflagen anfängt. Darum gebe id
mich fo viel mit ihm ab.”
„Um des Müftlings willen haft du auch die Geige
verbrannt ?”
„Aus einem andern Grunde — bu weißt, au
welhen! — Ad, das Wort Unzucht! — Freilich
wenn es mir Ruhe und Frieden gebradt dat, ie
muß auch dieſer Wüftling moralijchen Nutzen davon
haben.“
„Aber bisher lacht er dich noch aus! Alerauder,
du ſagſt mir, daß ich die Kunjt liegen lafjen toll,
und ich bitie dich, höre auf, dic) als Sonderling
aufzuführen. Wozu willſt du auf Steine füen? Du
bift doch bet vollem Verſtande!“
„Und wenn ich nicht bei vollem Verſtande wäre!*
fragte Alyfin, rot werbend und mit dem Augen
zwinfernd. „Wo ift denn die Grenze zwiſchen dem
gefunden und ungejunden Berftande? ft denn nict
auch die Perle eine Krankheit? Bift du gelund!
Vielleicht bift du ungefund und ich bin gejund? Ober
vieleicht bin ich franf? Aber meine Krankheit if
normaler als beine Gefundheit, umd vielleicht wird
mein Zuftand nur darum als Krankheit betraditel,
weil er eine Ausnahme der häßlichen und allgemein
verbreiteten Regel ift?“
„D, wie wunderbar du urteilft!“
„Ich urteile aufrichtig. Ehe ich zu einem Schluß
fomme, zweifle ih lange. Am Ende urteile ic, und
damit baſta!“
„Aber auch dann zweifeljt bu noch!"
„Vielleicht, nad} einiger Zeit! Der Verſtand ift
ein lebendiger Mechanismus, das fchadet nichts!”
„Ich erinnere mich, Alexander, wie du noch ald
Gymnafiaft zu philofophieren pflegteft, daß mir die
Ohren wehe thaten! Erinnerſt du dich, wie du ein⸗
mal mit Kreide einen Punkt auf die Tafel zeichnetefl,
dann eine Linie zogeft und zwei Tage nadeinamder
fragteit: Warum ift hier ein Punkt? Warum ift hier
Das neue Leben,
eine Linie? Wer jhuf diefen Punkt? Wer ſchuf ben
Schöpfer dieſes Punktes? Was ift eine Tafel und
warum ilt fie eine Tafel? Warum habe ich blonde
Haare und der Lehrer der Mathematik ſchwarze?
Giebt es wohl einen Zujammenhang zwiſchen der
blonden Farbe und dem Punkte?”
„Run, das haft du dir ausgedacht!“ jagte Alyfin
lädelnd. „E3 war nur ähnlich ; offen geftanden, furz
vor deiner Ankunft ſaß ich hier, an dieſer Stelle,
und dort, wo du jebt ſiheſt, ftellte Martin einen
Krug mit Kwas hin. Ih begann über den Awas
nachzudenken: Wie wäre es, wenn der Krug jo groß
wie Martin wäre? Wie hätte er ihn gebradht? Und
wenn der Krug noch größer wäre? Das fam daher,
weil ih müde war, fchredlich Durft hatte und im
Ropfe feinen einzigen friichen Gedanten.“
Er fing zu laden an.
„Martin, ferviere das Mittagejien, aber recht
reichlich,“ befahl er.
Nady Mittag lieh er eine Barkaſſe augrüften. Die
Ürbeiter jegten fi an die Ruder, Alyfın jelbjt nahm
dad Steuerruder und führte das Boot über bie
Glaſawla, welche Hinter Chrustifi weit ausgetreten
war. Sie jah aus wie ein großer See, beſtreut mit
einer Menge Infelhen. Aus dem Waller ragten
Gipfel von Bäumen hervor. Verſchiedene Arten von
Enten flogen mit ſchrillem Geräuſch ſcharenweiſe
über ihre Köpfe und bebedten die Barkafje mit einem
durchſichtigen, beweglichen Schatten. Auf den Sand»
bänfen nifleten Schnepfen, Taucherenten berührten
mit ihren kurzen Flügeln das Waſſer, hinter ſich
eine gligernde, bewegliche Spur zurüdlaffend.
„Du kannſt ſchießen, wenn es dir Vergnügen
macht,” ſagte Alyfin zu Manyfin. „Die Flinte ift
deinetwegen mitgenommen. Sch jelbit habe ein Ge—
lübde gethan, nicht zu jagen. Es ijt ein biutiges
Vergnügen, fieh einmal — da ift ein Paar!”
Manpylin nahm die Flinte, zielte und erlegte einen
Enterich, der fi mit dem Leib nad oben drehte,
Das Weibchen flog fort. Der Hund jprang ins
Waſſer und holte das Wild,
Alyſin bemerfte Blut auf den grauen Federchen
und wurde blaf.
„Ein jonderbarer Genuß liegt im Morde!” jagte
er. „Einen Menjhen ermorden joll wohl ein noch
größerer Genuß jein. Hinter jenem Inſelchen liegt
ein Meines Dorf, welches von bier aus faum zu jehen
ift. Dort wohnen Leute, die aus dem Gouvernement
Wladimir übergefiedelt find. Sie find noch zur Zeit
der Leibeigenfchaft nach bem Dorfe gelommen. Diefes
Dörflein heißt Spafjowfa. Alle in Spaſſowka find
Setierer, Denke dir, wenn jemand von ihnen feine
Seele retten will, fo giebt er jeinen Freunden davon
Nachricht, und es findet fich immer einer, der ihn
mit einem Mefjer in Stüde ſchneidet. Solche Mord-
903
thaten werden jelten entdeckt. Im März verfchicte
man einen Greis nad Sibirien, der feinem eignen
fiebenjährigen Sohne den Hals abgefchnitten hatte.
Er ließ ihm ein weißes Hemd anziehen, legte ihn
auf eine Bank und opferte ihm bei Sonnenaufgang.
Ganz jo wie Abraham !*
„Ad, wieviel Roheit giebt es doch noch in
Rußland!“ fagte Manyfin mit Efel, eine Patrone
in die zweiläufige Flinte ftedend,
„Trotzdem,“ fuhr Alyſin fort, „find die Spaſſower
jehr gute Menſchen. Sie haben fein ererbtes Eigen«
tum, fie find Kommuniften; fie trinfen feinen Wein.”
„Sie find Wahnfinnige! Es ift ein ausartender
Stamm!”
„Dasſelbe hätten fie auch von dir gejagt, wenn
fie gebildet wären.”
Manpfin zielte nad) einem Waſſerhühnchen, welches
mit feinen langen, einen Halt juchenden Beinen über
das Fangnetß floh; er traf es. Mit dem zweiten
Laufe erlegte er dann eine von dem Schwarm ab»
gejondert hoch fliegende FKridente.
„Bis jeht haft du noch fein einziges Mal gefehlt!“
rief Alyfin aus und zitterte, als der Vogel ſchwer
ind Wafler fiel. „Ich bemeide did, warte!”
Er warf das Steuerruder hin, nahm die Flinte,
lud fie und traf eine Schwalbe,
„O!“ fagte Manylin.
Alyſins Hände zitterten. „Pfui! Das iſt eine
Schande,“ fagte er mit Reue, „Nein! in mir lebt noch
der Eitelfeitsteufel. Ich weiß nicht, was mit mir
geſchehen würde, wenn ich gutes Geigenfpiel hörte.“
Lange ſprach er nicht mit Stephan. Er übergab
ihm die Flinte und regierte ſchweigend das Gteuer-
ruder. Die Ruderer fingen zu fingen an. Als jie
endigten, fagte Stephan:
„But! Aber vielleicht läßt es ſich auch fo fingen!”
Und er begann dasſelbe Lied in einfacherer Melobie.
„Wie ſchön!“ flüfterte ein junger Nuderer, und
Thränen traten ihm in die Augen.
Die Stimme des Sängers floß wie ein breiter
ausgetretener Strom dahin, fie ſprach zum Herzen,
flog in die Ferne und enthielt jo viel wunderbaren
ruſſiſchen Kummer, daß den Hören Thränen in die
Augen traten, Plötzlich unterbrach Manylin das
Lied, da er ſelbſt gerührt war. Er bebedte fein
Geſicht mit einem Tuche, biß die Zähne zujammen
und nahm aus feinem Rode eine Zigarettentaſche.
Ich will aud) ein wenig rauchen,“ jagte Alyfin leiſe.
Die Sonne war ſchon untergegangen, als die
Barkajje nad Chrustifi zurückkehrte.
Abends erzählte Alyfin Stephan zaghaft von
feinem Hefte. Stephan lag es durch und fing die
Möglicheit der individuellen Freiheit zu beitreiten
an. Sie ereiferten ſich beide, aber jeder blieb bei
jeiner Meinung.
904
IX.
Manykin verweilte in Chrustifi noch einige Tage.
Alyfin gab fich alle mögliche Mühe, ihn zu zerfireuen,
aber der Borrat an Bergnügungen erihöpfte ſich am
Ende, und jo überließ er allmählich feinen Freund
fih allein. Er ſelbſt langweilte ſich ohne Arbeit
oder fpielte, wie Manyfin dachte, den fi) Lang-
weilenden; morgens fuhr er ins Feld oder in den
Wald, und einmal fam er aus dem Dorfe mit einem
verwundeten Finger, den er ſich bei Ausbeflerung
der Egge des Trunfenboldes Kornei verurſacht halte,
Ohne etwas zu thun zu haben, jchlenderte Stephan
duch alle Zimmer des Haufes, wühlte in der alten,
vernachläjfigten Bibliothef herum und pußte mit
einem Tuche die ſchwarz gewordenen Delgemälde in
dem Munjche, zwijchen ihnen ein vergeflenes Meifter-
werk aufzufinden. Aber faft alle Bilder ſtammten
aus dem Pinjel leibeigner Künftler. Eines von
ihnen jtellte einen Ahnen bes Alerander Ignatilſch
bar, eine Standesperjon aus der Zeit der Elifabeth,
der wegen Grauſamleiten, begangen gegen feine
jpäter vor Hunger gejtorbene Frau, aufs Yand ver-
bannt wurde. Diefe von den neun Muſen umgebene
Stanbesperfon ſaß unter einem Baume und fpielte
auf einer Geige. „ES ſcheint muſilaliſches Talent
in der Familie zu liegen,” dachte Manylin. Martin
erzählte ihm, daß Alexanders Großvater furdtbar
ſtolz gewejen wäre, jo daß er nicht einmal zum Hofe
fuhr; und wenn die Kreisbeamten Gejchäfte halber
zu ihm famen, jo mußten fie vom Thore an un»
bededten Hauptes gehen. Auch er vertrug ſich ſchlecht
mit jeiner Frau, Er ließ fie noch lebend in den
Sarg legen; der Pfarrer hielt das Totenamt, während
fie im Sarge meinte und jchrie. Bald darauf aber
wurde fie herausgenommen, und jie überlebte noch
ihren Ehegatten. Der Urgroßvater Alerander Ignati-
ſcheus jtand bei der Kaijerin Katharina in bejonderer
Gunſt; er zog fih den Zorn Potemfins zu, weil er
eine Tabalsdoſe, die diefer zufällig fallen ließ, nicht
aufheben wollte. Er wurde jpäter als Gouverneur
an der Wolga angeftellt, wurde plöglich ſchwermütig
und ging ins Kloſter. Ein Jahr darauf legte er
feine Mönchskutte ab, kehrte nach Ehrustifi zurüd und
errichtete ein Theater, auf deſſen Bühne nicht felten
ziemlich unanftändige Vorftellungen gegeben wurden.
Gegen das Ende jeines Lebens verbrannte er es.
Wie Mlerander feine Geige! Das jcheint im Ge-
ichlecht zu liegen! dachte Stephan. Und da jpridt
er noch von Freiheit des Individuums. Eine jchöne
freiheit das! Jeder unirer Schritte ijt vorherbeſtimmt
und borausgeichen!
Am frühen Morgen war Alylin aufgeitanden und
gab jeinem Freunde bis zur Brüde das Geleit. Er
umarmte ihn lange.
Marim Bjelinsti
„Entſchuldige, ich bin ein langweiliger Menjh!*
iprad er. „Ich verdarb dir die Laune, Aber mir
jheint, deine Herzenswunde bat ſich gebeſſert, nicht
wahr? Einmal beſuche ich did) auch — vor der
Erntezeit !”
Er drüdte Manykins Kopf an feinen fruppigen
Bart und verließ den Wagen. Manyfin wandte fih
um — Alyſin ging auf einen Damm, ſich auf den
Stod ftügend, und ſchaute ihm nicht nad). Und ih
wollte doch ins Ausland. Warum jagte id) ihm das
nicht? Ich fahre aber erſt im Juli. Es fällt mir
jchwer, Rußland zu verlaſſen, dachte Manylin und
jeufzte auf. Nach einigen Angenbliden ſprach er
wiederum zu jih: Und weshalb ſchwer? Wer hält
mich bier? Muja Nilolajewna? Alyfin? Aber mit
dem allen iſt ja längft gebroden. Alhſin fteht
mir jet am nächſten! und doch wie weit find wir
voneinander entfernt! Wie werde ich mich in Wo
wiſchennoje langweilen !
Die Sonne brannte. Am Himmel zog ſich eine
bunfle Wolfe zujammen. Sie wuchs ſchnell und
jhien in ein Gewitter ausbrechen zu wollen. Die
Schwalben flogen tief über ber Oberfläche des Waſſers
In der Ferne donnerte es. Die Sonne ver
finfterte fi, die Luft wurde ſchwül. Die Wolle ver:
größerte fi) und bededte die Sonne.
Dann fielen die erften großen Regentropfen. Die
Pferde zogen fchneller an, indem fie bie Ohren
jpigten. Allmählich begann es ftarf zu regnen; &&
blite fortwährend. Donnerſchläge ertönten. Dany
fins Kutſcher bemerkte in der Ferne ein Gafthaus
und Ienfte die Pferde direkt dorthin, um das Gewitter
abzumarten.
XI.
In dem Gaſthauſe bemerlte Manyfin einen diden
Herrn mittleren Alters mit großem Kopf, einer Vogel-
naſe und goldener Brille, Er tranf Thee, ohne auf
das Gewitter zu achten, und hielt in einer Hand eine
Zeitung, bemüht, zwei Gejhäfte auf einmal zu ber
forgen. ‚Uber er that noch etwas drittes, er hielt
nämlich eine jtarfe Zigarrenfpike zwilchen den Zähnen
und tauchte dicke Zigaretten. Der Tabatraud erfüllt:
das Zimmer und vermehrte deffen Dunkelheit. In
einiger Entfernung ſaß ein junger Mann auf einem
geflochtenen Stuhl, mit übereinandergejchlagenen
Beinen, den einen Arm über die Stuhllehne gelegt,
in einer gefucht ftußerhaften Stellung. Sein Gefiät
war belltot, und jeine matten Augen zeigten Selbil-
zufriedenheit. Er jchredte jedesmal auf, wenn ı
donnerte, ſah aber gleich darauf durch das Fenſiet
jobald er ſich überzeugt hatte, daß nichts gefchehen
war, zudte er mit den Achſeln.
Manykin jhüttelte den Regen von jeinem Rod;
faum hatte er einige Schritte nach dem Tiſch gemadt,
auf welchem der Samowar kochte, als ber vogelartigt
Das neue Leben.
Herr alle feine drei Gejchäfte aufgab, auf ihn zu⸗
iprang und liebenswürdig fragte:
„Wollen Sie nicht Thee teinfen? Bitte! Der
meinige fteht zu Ihrer Verfügung. Geftatten Sie,
daß ich mich Ihnen vorftelle: Landſchaftsarzt Scheres
metjew, und hier mein Sohn Scheremetjew, Student
im vierten Semefter. Unſer bedeutender Familien-
name ftammt daher, dag mein Großvater Leibeigner
der Fürſten Scheremetjew war und jeinen Namen
na dem Gutsheren befam. Als ih Student war,
war ich auf meine demofratijche Abkunft ftolz, und
wie follte ich nicht? Hat doch mein Großvater jelbit
das Feld gepflügt! Aber jegt pfeift man eine andre
Tonart, Mein Sohn iſt jogar, wie ſich jetzt heraus—
ftellt, verwandt mit den Scheremetjews und läßt auf
ſeinen Couverts und Bifitenfarten die Fürjtenktrone
druden. Mit wem habe ich die Ehre? Vielleicht der
Gutsbeſitzer Diejes Goudernements ?"
Manykin bemerkte, daß er vom Sohne des Arztes
Hart beobachtet wurde; diejer hatte wahrſcheinlich
von Manyfin gehört oder ihn gar auf der Bühne
geſchen. Manyfin nannte feinen alten, jeht ver
geflenen Theaternamen, der Student hörte auf, ſich
für ihm zu intereffieren, und der Arzt ſagte:
„Sehr angenehm, jedoch höre ich Ihren Namen
zum erftenmal. Ausländilcher Name, aber dem Aus»
jehen nach find Sie ganz und gar Ruſſe. Alfo darf
ih Ihnen ein Gläschen Thee anbieten oder eine
Zigarette ?*
Er öffnete feine Zigarettentajche und bot Manyfin
eine fingerdide Zigarette an. Manylin ſchlug den
Thee und die Zigarette aus,
„Was giebt's Neues in der Zeitung?“ fragte er
gühnend,.
„Alles jtill, vielleicht die Stille vor dem Gewitter;
der Rubel jteigt. Heute ift auch eine Korreipondenz
abgedrudt aus dem Dorfe Woswilchennoje über eine
gewiſſe Manykin, eine gottesfürdhtige Witwe, die eine
bedeutende Summe zur Verjchönerung der Ortskirche
geſchenkt Hat. Aber das Intereſſanteſte in diejer
Korrefpondenz ift der Pater Wilfarion, von dem
man erzählt, daß ein Budliger, für ben er betete,
gerade wurde. Wenn dad wahr ift, jo handelt es
ich um einen byfteriichen Kranken. ch habe jelber
mit jolhen jhon Wunder vollbradt. Ich brauchte
nur eine Pferdeportion von Brom zu verordnnen, und
alles war vorüber.”
„Aber der Vater Wiljarion verordnet doch fein
Brom?”
„Der Glaube wirkt ebenjo wie Brom. Ich jchreibe
manchen Nerventranken einfaches Wafler vor, und
das hilft. Ich kenne meine Leute, Sch bin ein
Mann in den Sechzigern. Jh bin nicht jo leicht
anzuführen,“
„sch hörte doch, daß die Tochter der Frau Many
Aus fremden Zungen. 1897. IL 19,
905
fin, ein junges Mädchen, welche die Aerzte bereits
aufgegeben hatten, dur die Gebete des Waters
Wiſſarion dem Leben wiedergegeben wurde, ich glaube,
fie hatte den Typhus. Iſt denn das eine Nerven»
krankheit? Wie iſt das zu erflären ?”
„Sie find wohl aus jener Gegend ?*
„Ja!“
„Sagen Sie, bitte, ift es wahr, daß das Bolt
diejem Wilfarion mafjenhaft nachläuft, jo dab er
häufig Gottesdienft auf freiem Felde abhält ?*
„Ich ſah es nicht, aber man jagt, er ſei ein
Heiliger.”
„Merkwürdig! und das im neunzehnten Jahr»
hundert, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts,
im Jahrhundert des Dampfes und der Elettricität!
Und was den Typhus betrifft, jo ift das eine jehr
eigenlinnige Krankheit; und der Tod ift noch eigen-
finniger. Die Diagnofe des Todes ift leicht, aber
der Menſch muß zuerſt tot fein. Nun, wenn der
Vater Wiljarion einen Toten lebendig machen wird,
dann ...“
„Dann werden Sie wohl glauben?“
„Nein! Ich werde auch dann nicht glauben. Ich
bin Arzt, meine Pflicht iſt, gegen Verirrungen zu
lämpfen, und nicht, ihnen Vorſchub zu leiſten.
„Die Auferſtehung des Lazarus kann vielleicht
phyſiologiſch erflärt werden! Jawohl! Der Glaube
fann vielleicht ein Gegenftand der Willenjchaft fein,
ein Ärztlihes Mittel, aber nicht mehr. Sie haben
doch vom Hypnotismus gehört?”
Manykin erwiderte: „O ja! Hypnotismus iſt
meiner Meinung nach ein großer Schwindel.“
„In den Händen eines Schwindlers ja,“ ſagte der
Arzt, „aber in den Händen eines Arztes der Hebel
des Archimedes. Jawohl!“ Er jchentte fih noch
ein Glas Thee ein, goß Cognac hinein und tranf
haftig.
„Der Spiritismus ift wirklich ein Unfinn,” begann
er wiederum, „ein hyſteriſcher Zuftand, nichts weiter.
Trotz der Autorität vieler Männer der Wiſſenſchaft
fann ich ihn nicht anerkennen; in meinen Zeiten,
Väterchen, haben die Autoritäten nichts bedeutet,“
fügte er prahlerijd) hinzu.
„Auh in unjern Zeiten erlennt niemand die
Autoritäten an,” miſchte ſich plöglich der junge Mann
leicht hinein, ohne feine ftußerhafte Haltung aufe
zugeben. „Wir verachten alles!"
„Nun, mein Lieber, ich denfe, nicht alle find dir
ähnlich,“ erwiderte der Vater. „Sehen Sie, er ift erft
zweiundzwanzig Jahre alt, und ich habe jchon fünf,
taujend Rubel Schulden für ihn bezahlen müflen.“
„Bater!” rief der Student, „zunächft ftellit bu mich
als einen falſchen Grafen vor, und nun beinahe als
einen Betrüger. Willft du deine päterliche Begeifterung
nicht ein wenig bezähmen ?!*
114
906
Ein Blitz zudte und beleuchtete mit feinem Licht
bie Dämmerung der Stube, glei darauf erfolgte
ein Donnerſchlag.
Der junge Mann ſchloß die Augen und fchnitt
eine unzufriedene Grimajle.
„Er zürnt jeßt auf Gott, auf feinen Vater aber
ſchon längft,“ jagte der Arzt mit einem Male nach—
fichtiger. In feinen Augen war zu lejen, daß er
jeinen Sohn liebte, ihn für jehr hübſch hielt und,
obwohl er ihn tadelte, im Herzen doch auf ihn
ſtolz war.
„Bitte! Woher kommen Sie?* wandte er ſich
fragend zu Manplin, fi noch Cognac in den Thee
gießend.
„Aus Chruſtiti!“
„Sie waren wohl zu Gaſt?“
„Ja!“
„Wahrſcheinlich bei Alyfin ?“
„Ja! Kennen Sie ihn?“
„Ja, ich hörte von ihm! DO, gewiß! Es muß ein
fonderbarer Mann fein! Derſelbe Vater Wiffarion,
nur aus Weizenmehl, Entjhuldigen Sie! Er ift
vielleicht Ihr Freund, und ich will nichts gegen feine
Perſon jagen, die ich übrigens aud gar nicht fenne;
nur etwas über feine Jdeen, Zu unjrer Zeit haben
fi) fonderbare und unbegreifliche Ideen Bahn ge
brodhen. In den jechziger Jahren waren die Ideen
Har, wir wuhten, was wir wollten; und was wollten
wir damald nicht? Alles! Freiheit der Liebe — eins;
Vereinäfreiheit — zwei; Zulaffung der rauen in
die Univerfität — drei; Rebefreiheit — vier; Frei—
beit — ...“
Der Arzt ſchien nad einem Worte zu ſuchen, er
hatte vergejjen, was für eine Freiheit die Leute in
den jechziger Jahren noch anjtrebten.
„Was für Freiheit noh...? Ja, Freiheit des
Gewiſſens — fünf! Wir wollten fünf Freiheiten,
und ob es gut oder jchleht war, wir gingen direlt
auf unjer Ziel los. Wir waren allgemein zugänglich,
jelbjt Heine Kinder verjtanden und. Gymnafiaſten
jhwärmten für die Prinzipien der ſechziger Jahre,
Und jet! Ich bitte Sie! erflären Sie mir, was ifl
Alyſin? Ich, ich verftehe ihm nicht!“
„Das ift auch ausgezeichnet für di, Vater!
Wenigſtens wird man did nicht nach Sibirien ver
bannen!“ fagte der Student, in jeiner Stellung ver-
bleibend und dem Regen zuſchauend, der in ftarfen
Tropfen gegen die Fenfterfcheiben ſchlug.
Manyfkin verfuchte nicht, den Arzt über Alyfin
aufzuflären. Er verjtand ihn ja jelber nicht und
hatte feine Luft zu ſprechen.
Wirklich!“ fuhr jener fort, „man ſchaut und ſchaut
dem Leben zu, man denkt darüber nad und lommt
ſchließlich zu einem für unfre Intelligenz wenig
ſchmeichelhaften Schluß. Sie hat jo viel Ideen ver-
Marim Bjelingtfi.
jpeift und bat fie nicht verbaut, fie hat fich die Nerven
ruiniert, fie ließ fih von Budle und Mill, von
Darwin und Büchner hinreißen, jebt aber, ſehen Sie,
verachten wir alles. Gieb uns etwas Unerhörtes,
Uebernatürliches! Selbft der kleinſte Menſch kritifiert
alles! Wollen Sie nit ein Bläschen Cognac!"
„Rein, ich danle!“
Vor dem Gaſthaus fuhr noch ein Wagen ver,
Es trat eine dide Gutsbeſitzersſrau mit zwei Ichmäd:
tigen Badischen ein. Der Student erhob fd,
flemmte dad Monocle in das rechte Auge und ber
trachtete die Mädchen.
Die Gutsbeligersfrau ging mit ihren Zöcten
in das Heine Nebenzimmer, befahl mit lauter Stimme
einen Samowar und etwas zum Frühſtüd. Dir
Backiſche plauderten miteinander, man hörte ftan
zoͤſiſche Phraſen.
Der Arzt unterbrad ſein Geſpräch mit Manyfin,
duch die neu Angelonmenen abgelenkt. Der Regen
hatte auch bereit$ aufgehört, das Gewitter entfernte
fi) langſam, in der Ferne bligte es noch dann und
warn, aber bald leuchtete die Sonne hervor.
XI.
Um ein Uhr nachts fuhr der Wagen Manplint
auf den Hof jeines Gutes. In jeinen Zimmern
brannte Licht. Man erwartet mid) wohl! dachte er.
„Sie haben Beſuch, gnädiger Herr!” erklärte das
Dienſtmädchen.
„Wer denn?“
„Ein Herr aus St. Petersburg!“
Er ging eiligft auf fein Zimmer und bemerkt:
zu feinem größten Erjtaunen den Theateragenten
Lion, Diefer ftand in der Stellung Napoleons
und jchüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„I depeſchiere nad D.,“ begann er — „feine
Antwort ; ich gebe ein zweites Telegramm auf — wir:
derum feine Antwort. Ich fahre in eiguer Perjon zu
ihm — er iftverreift. Ich fahre nad) Woswiſchennojt
— ebenfalld verreif. Morgen wollte ich zu Alfın,
um Sie endlich abzufangen, Stephan Philippowitid:
Was machen Sie aus mir? Ich kann ohne Sie mid
leben, ich bin ohne Sie eine Null!“
„Aber wovon ſprechen Sie denn?“ fragte Ma
nylin barſch.
„Sagen Sie mir doch wenigftens: ‚Guten Tag”
Ihre Hand, Meifter! Die Sadje verhält ſich nm
lich jo: Ich habe in Peteräburg ein Sommertheatet
eröffnet und muß dort Opern aufführen.“
„Aber darüber haben wir ja nie geſprochen! I4
verſprach ihnen nichts. Ich habe gar feine Lufl, in
Sommer in Peteräburg zu fingen.”
„Das lam unerwartet, ich bin felber überraiht.
Mitte Mai muß ic die Truppe zuſammen haben.
und Sie müflen fingen. Sie werden nicht weles,
Das neue Leben.
daß mid der Schlag rührt!“
$niee nieder.
Manykin zudte die Achjeln.
„sn Petersburg? Unſinn! Ich werde mich nie
bis zur Operette erniedrigen!”
„Aber e& ift feine Operette, es ift ja eine Oper,
Sie Unmenſch!“ rief aufipringend Limon. „Hier!“
— er zog eine Reihe Telegramme aus der Tajche —
„alle find einverftanden!”
„Und ift auch Tintorelli einverftanden !*
„Zintorelli — nein!”
Ich auch nicht!“
Liwon feufzte Schwer und fahte fih an den Kopf,
„Das geht nidht, das ift unmöglih! Ach ver
laſſe Sie nicht,“ erflärte er entſchieden und fing an,
mit großen Schritten im Zimmer bin und ber zu
gehen. Sodann hielt er piößlich wie ein gut dreſ⸗
fierted Pferd vor Manyfin. Indem er die Beine
ſpreizte und den Kopf zurüdlegte, rief er aus: „Sie
fönnen nehmen, was Sie wollen; Tenor reine en or.
Mir wird nichts zu viel fein! Ich Habe ja nichts!
Das Geld gehört ja den Sängern und nicht dem
Direftor. Unfre Pflicht ift, uns zu ruinieren.“
„Ich bin nicht ſelbſtſüchtig,“ erwiderte lächelnd
Manpfin.,
„Hören Sie!” ſagte der andre darauf. „Ich
fenne Ihre ſchwache Seite. Sie find in Mailand
durchgefallen. Aber id) werde Revanche für Sie
uchmen. Sie werden engagiert werden, und man
wird Sie bort mit Glanz und Entzüden empfangen.”
„Laflen Sie mich nachdenken,” ſagte Manykin,
die Brauen zufammenziehend.
„Wie lange wollen Sie nadhdenfen? Eine Stunde ?
Eine halbe Stunde?” fragte erfreut Liwon. Er zog
die Uhr aus der Weitentajche und hielt fie Manyfin
wie eine Piftole vor die Augen. „Denen Sie
ſchneller nah! Um Gottes willen ſchneller! Jch will
ſogleich abreifen, ich habe feinen Augenblid zu ver—
lieren. He, Franz! laffe die Pferde anfpannen!*
„Bor dem erjten Juli kann ich nicht,“ fagte
Manpfin.
„April, Mai, Juni... Nein! Das ift faft un«
möglich!”
„Es iſt doch möglich,“ erwiderte Manyfin mit
finfterem Geſicht. „Vor Juli kann id unmöglich
einwilligen. Ih bin jebt nicht bei Stimme, das
heißt nicht in der richtigen Stimmung; es ift ja das-
jelbe! Ich bin verſtimmt!“
Simon ſenlte den Kopf, legte den Finger an die
Stirn und rief nah minutenfangem Nachdenten:
„But, einverjtanden! Einftweilen wird Sokolow
fingen. Ich werde Sie als Lederbiffen reichen!
Aber ich werde Sie jeht ſchon ankündigen. Schreiben
Sie in mein Notizbuh! Sie lönnen auch mit Blei—
ftift ſchreiben: ‚Einverftanden vom 1. Juli bis 1. Sep⸗
907
Er ließ fich auf die ı tember, 300 Rubel den Abend.‘ Zu wenig? Dann
ſchreiben Sie ‚400°! Schreiben Sie ‚500‘! Das ift
ja gleichgültig! ‚Und ein Benefiz. — Manyfin.‘ Und
bier ift eine Quittung von mir! Schlagen Sie ein,
Saprifti!”
Liwon reifte am frühen Morgen ab,
As Manylin am nächften Morgen aufwachte,
war es ihm, als hätte er einen böfen Traum gehabt,
aber er fand Liwons Zettel in der Taſche. Ih muß
dod) etwas anfangen, juchte er fich zu entjhuldigen.
XIII.
„Alſo Sie wollen bei uns bleiben?” fragte Kleo—
patra, al8 fie in Begleitung Eugeniens Manyfin
morgens traf.
„Bis Juli, ja! Was fchreibt man da über Sie
in den Zeitungen, Kleopatra?“
„Von mir?* rief fie erſchreckt. Unmöglich! Ich
lefe gar feine Zeitungen, aljo wofür denn das?“
„Für Ihre Mohlihätigkeit! Sie follen ja für
eine Kirche viel Gelb geſchenkt haben.”
„Biel Geld? Ich habe ja bloß dreihundert
Rubel gegeben.“
„Auch von Vater Wifjarion wird gejchrieben, er
foll einen Budligen gerade gemacht haben.“
„Das ift nicht wahr! Er hat viele geheilt! Das
aber iſt erfunden!”
„Bielleicht hat der Vater Wiſſarion das felbft in
die Zeitung gebracht —“
Frau Sleopatra wurde böje,
„Sehen Sie doch! Der fchreibt doch nicht für
Zeitungen! Er ift ein Geiftliher und fein Komö—
diant. Wie können Sie ſolche Abjurbitäten von
ihm behaupten! Das ift nit hübſch von Ihnen,
Stephan!”
Aber Stephan wurde noch mehr gereizt, befonders
durd) den Ausdrud Komödiant, und juchte fie nod)
weiter zu neden. j
„Haben Sie nicht den bejonderen Gerud der
Heiligkeit bemerkt, der vom Vater Wifjarion aus—
geht?“
„Sottesläfterer!” rief fie und verließ erzürnt das
Zimmer.
„Warum jagen Sie mur jo etwas?“ fagte
Eugenie errötend und ernft. „Man muß den Vater
Wiſſarion erjt jehen und dann über ihn urteilen.
Wenn der Vater Wiffarion eintritt, wird einem das
Herz jo wohl und alle böjen Gedanken verlajien
einen. Die Mutter hat recht, wern Sie Ihnen böfe
geworden ift.*
„Ja, es thut mir leid, daß ich fie erzürnte! Aber
was joll ich tun? Es ift nur aus Langeweile ge-
ſchehen; und ich fürchte, ich werde fie noch häufig
erzürnen, Doc du, ſei mir nicht böfe!“
„Weshalb jollte ich Ihnen denn böfe fein? Sie
908
thun mir nur leid, weil Sie jo obenhin von Pater
Wiſſarion ſprechen. Sie müffen ihn unbedingt ſehen.“
Manpfin erzählte ihr von der heiligen Therefe
nad den Worten Alyſins. Sie jchüttelte mit dem
Kopf.
„Das ift möglich!“ fagte fie jodann; „bei Gott
ift alles möglich!“
Kleopatra verjöhnte fich jehr bald mit ihrem
Stiefſohn. Er entwarf ihr den Plan des Gafthaujes
und den Roftenanjchlag.
„Aber warum jo viel für Wandteppiche ?* fragte
fie, die Einzelheiten betrachtend.
„Daß iſt für dieſes Zimmer.“
„Bas ift das für ein Zimmer?“
„Das ift das Zimmer für die Tobſüchtigen!“
Sie jeufzte, aber wurde nicht böfe. Dann ver-
ſchloß fie Plan und Koftenanjchlag.
So vergingen die Tage Manpfins im dolce far
niente und im leeren Geſchwätz. Manpfin ſtudierte
Marim Bjelinski. — Das neue Leben.
dann und wann jeine Rollen, manchmal ſehr eifrig.
Dann warf er wieder alles hin. Des Morgen:
quälte er Frau Kleopatra mit Gefang oder Klavier:
jpiel, erteilte au Eugenie Unterricht. Dieje aber
war gar nicht muſikaliſch und hatte troß ihrer jchönen
Bruftftimme gar fein Gehör. Stephan ſpottete über
fie und gab ihr den Beinamen die „Tiſchſchweſier“.
Er nötigte fie, ſich mit mehr Geihmad zu Heiden,
nahm fie auf feinen Beſuchen in der Nachbarſchaft
mit und machte ſich, als er bemerkte, daß fie ſchlecht
tanzte, folgenden Scherz:
Sie mußte jeden Abend verſchiedene Pas bei ibm
üben, ſich hin und her drehen, Stellungen und Ver—
beugungen fludieren. Er jaß dann in dem Seid,
rauchte und fommanbdierte. Wenn fie müde wurde,
ſprach er mit fittlihem Ernſt: „Jetzt gute Nadt,
mein Rind, gehe beten!“
Der Juli nahte.
(Schluß folgt.)
— en
— Lofe Blätter &-
die Tanzorönung.
Don Emile Bola.
Aus dem Sranzöfiichen überfet von Irene 5. Cferhalmi.
Georgette war erft vor furzem aus dem Kloſter
gefommen, und bie firahlenden Flammen des Ball-
jaal& blendeten ihr findliches Auge.
Ihre zartgebräunten Wangen zeigten jene gols
digen Reflexe, die den Sizilianerinnen eigen, und
ihre nachtſchwarzen Augenbrauen verjchleierten bie
Glut ihrer Blide; aber im Balliaal war fie noch
das jchüchterne Penfionsfräulein, die bei jedem
Kompliment bis über die Ohren errötete.
Und wie fie jet im Halbdunfel ihres Zimmers,
aus welchem dichte Vorhänge die Strahlen der
Winterfonne ausſchließen, fich im leichten Halbſchlaf
auf ihren Kiffen bin und ber dreht, gaufeln die
Bilder des geflrigen Ballabends verworren durch
ihren Kopf.
Auf den Stühlen liegt nachläſſig verjtreut ihre
buftige Balltoilette, da ein weißes Gazerödchen, dort
ein Paar zjarter weißer Seidenfchuhe, bier eine fufe
tige Schärpe. Auf dem Toilettentifh funfelt in
einer Achatſchale ein blipender Schmud, und neben
der Tanzordnung haucht ein welfendes Bouquet feine
legten Düfte aus,
Ein Sonnenftrahl ftiehlt fi zwiichen den Vor—
hängen durch und huſcht über das Geficht der
Schläferin. Sie erwacht, blinzelt jchläfrig mit den
Augen, die Rechte greift unwillkürlich nad) der Zany
ordnung und gedankenlos jchweifen ihre Blicke darüber
hin. Mechaniſch durchblättert fie das Büchlein, und
wie fie Blatt um Blatt umwendet und auf jedem
einzelnen den Namen Karl wiederfindet, zudt etwas
wie Unmut über die Tieblichen Züge.
Immer Eoufin Kal! Er hat eine jehr jchöne
Schrift, jo runde, gerade Lettern. Seine Hand jit-
tert niemal®, nicht einmal, wenn er die meinige
drüdt. Er ſoll eines Tages mein Mann werden.
Bei jeden Ball nimmt er, ohne zu fragen, meine
Tanzordnung und fchreibt ſich für den erften Tanz
ein. Das fcheint ohne Zweifel ein Recht der Gatten
zu fein. Dies Recht mißfällt mir.
Traumverloren blidt fie vor ſich hin.
Ein Gatte, flüftert fie, dad Wort erfchredt mid.
Karl behandelt mich wie ein Schulmädchen. Uebri⸗
gens weiß ich gar nicht, warum er mein Gatte wer-
den fol, ic hab’ ihn nicht darum gebeten, und er
hat mich nie um Erlaubnis gefragt. Als wir nod
Finder waren und miteinander fpielten, erinnere id
mid) — war er jehr unartig. Jebt ift er jehr artig
— ich wollte, er wäre lieber ungezogen. Karl und
immer wieder Karl! Als ob ich jchon die Seine
wäre. Ich werde ihm fagen, er joll feinen Namen
nicht mit jo großen Buchſtaben herſetzen. ‚Dui
nimmt zu viel Pla ein.
Das Büchlein, dem Coufin Karl auch jchon läftig
zu fein jchien, klappte vor Langeweile zufammen. Die
Tanzordnungen verabjcheuen vermutlich alle Ebe
2oje Blätter.
männer!
Namen.
Ludwig, murmelte die Kleine. in fomifcher
Menſch. Er kam und bat mich um eine Duadrille,
faft ohne mich anzufehen. Dann, als die Mufit
anhob, zog er mich mit ſich in die entgegengejekte
Ede des Saales einer großen blonden Dame gegen«
über, deren Blide ihm folgten. Bon Zeit zu Zeit
lädhelte er ihr zu und vergak mich jo volljtändig,
dab ich mein Bouquet, da8 mir entfallen war, jelber
aufheben mußte. So oft die Dame vigra-viß an
ihm vorüberjchwebte, flüfterte er ihr etwas ins Ohr.
Ich horchte auf, aber ic) verftand nichts. Das war
vielleicht feine Schweiter, O nein! Er brüdte ihr
die Hand, und wenn er neben ihr jtand, rief ihn
die Mufif vergebens zu mir, jeiner Tänzerin, zurüd,
Ih and auf meinem Platz wie ein Haubenftod, und
alle Figuren wurden verborben. Ob das vielleicht
jeine frau war. Ad, wie dumm ich bin! Seine
Fran; Karl plaudert während des Tanzens nie mit
mir. Ober ift fie vielleicht ...
Georgette blidte mit halb geöffneten Lippen träume-
riſch vor fi bin, wie ein Kind, das einem uns
befannten Spielzeug gegenüberfleht und es neugierig
anſtarrt. Mechaniſch begann fie die Eicheln ihrer
Dede zu zählen, und die Rechte lag auf der Tanz-
ordnung. Die Meinen weißen Blätter raſchelten
und regten ſich, offenbar wußten fie, wer die blonde
Dame var.
Georgette blätterte weiter, Ein Name fiel ihr
wieder auf. Diejer Robert iſt ein ſchlechter Menſch.
Nie hätt’ ich gedacht, daß man fo eine elegante weiße
Weite und fo eine jchwarze Seele haben fan. In
einer kurzen halben Stunde hat er mid) mit Blumen,
Sternen und hundert ſchönen Sachen verglichen. Ich
fühlte mich geſchmeichelt, aber ich wußte nicht, was
ih ihm antworten jolle. Als er mich auf meinen
Pak zurüdführte, that er, als könne er ſich nicht von
mir trennen. Ich zog mich in eine fyenfterbrüftung
zurüd, umd die Vorhänge, die hinter mir zuſammen-
ihlugen, verbargen mid den Bliden. Da hörte ich,
wie er einem jeiner freunde lachend erzählte, er
babe mit einem Meinen Kloſtergünschen getanzt, das
bei jedem Wort feuerrot geiworden und die Augen
niedergeichlagen habe. Dann machte er fih auch
über die andern Damen luſtig. Ich habe zugehört,
aber nicht alles verjtanden. Fin Kloſtergänschen!
Bar ich das? Oder meine Freundin Thereje?
Die Tanzordnung flüfterte ihr tröftend eine Reihe
Vornamen zu, um ihr zu beweijen, es jei Therefe
geweſen.
Paul hat blaue Augen, Paul iſt kein Lügner, und
er bat dir jo ſüße, ſchöne Worte gejagt.
Ja, ja, wiederholte Georgette. Paul hat treue,
blaue Augen und Paul ijt fein Lügner.
Und was jagjt du zu Julius? begann die Tanz«
ordnung von neuem; er behauptet, du feiit die bejte
Walzertänzerin! Und Lucien und Georges und
Abert? Sie alle finden did, reigend und beiteln
um das Almoſen deines Lächelns.
Andre Blätter zeigten verführerijch andre
909
Georgette fühlte, wie da8 Büchlein ihr zwiſchen
den fFingern brannte, fie wollte e8 ſchließen und hatte
nicht den Mut dazu.
Denn du wart die Königin des Feſtes, flüjterte
der Verjucher ihr aus der Tanzorbnung zu. Deine
jechzehnjährigen Reize ließen die Farben deines Blüten-
franzes vor Neid erblaſſen. O Georgette, du haft
viele Köpfe verdreht!
Das junge Mädchen Iaujchte errötend den ver-
führerifchen Worten.
Ah, dachte fie jeufzend. Eine Schleife meines
Ballfieides hat fih gelöft. Gewiß haben mich die
jungen Herren ausgelacht. Diefe Schneiderinnen
find jo unachtſam!
Hat er nicht mit dir getanzt, raunte ihr die
Tanzordnung plößlid zu.
Wer, fragte Georgette bis auf den Naden er«
rötend.
Und der Name, der ſeit einer Viertelſtunde vor
ihren Augen flimmerte, und deſſen Lettern ihr Herz⸗
chen ſehnend buchſtabierte, trat endlich auf ihre Lippen.
Herr Edmund ſchien mir geſtern traurig. Ich
ſah, wie er mich aus der Ferne anblidte, Da er nicht
wagte, ſich mir zu nähern, ging id auf ihn zu. So
war er gezwungen, mich aufzufordern.
Edmund gefällt mir, liſpelte das Büchlein,
Georgette errötete noch tiefer.
Beim Tanzen fühlte ich feine Hand in der meinen
zittern. Als ich jah, daß ihm meine Blumen ge»
fielen, gab ich ihm eine der Rojen. Da iſt doch
nichts Uebles daran.
Nein, nein, Georgette. Und als er die Blüten
empfing, befanden ſich ſeine Lippen in unmittelbarer
Nähe deiner Finger, und er hat ſie ein klein wenig
gelüßt.
Daran iſt doch nichts Schlimmes! wiederholte
Georgette.
O gewiß nicht. Im Gegenteil. Du verdienſt
Schelte, weil du ihn ſo lang auf dieſen armſeligen
Handkuß warten ließeſt. Edmund wäre ein reizen⸗
der Gatte,
Edmund wäre ein reizender Mann, flüfterte
Georgette träumeriſch.
Ich liebe ihn, fuhr der Verführer fort. Wenn
ich an deiner Stelle wäre, id) gäbe ihm das Küß-
hen zurüd.
Georgette wied den Gedanfen entrüftet zurüd,
Der eifrige Apoftel fuhr fort:
Nur einen Kuß, hierher, auf feinen Namen! Ich
werd’ ihm's nicht jagen.
Sie ſchwur bei allen Göttern, nichts dergleichen
thun zu wollen.
Während dieſer heftigen Weigerung berührten
ihre Lippen den Namen einmal — zweimal.
Plötzlich hnarrle die Thire und das Kammer:
mädchen trat ein.
Die Tanzordnung ſchlüpfte rajch unter das Kiffen
und verbarg fi) im jchneeigen Spikengefältel.
— —
910
Loſe Blätter.
Folk-lore
aus der pyrenäifhen Halbinfel.
Ueberfeßt von Luife Ey.
Aus Portugal.
Wer fingt,
Sein £eid bezwingt.
®
Trugbild, du, voll Mirenichöne,
Mit den grünen Mondfcheinaugen ;
Nimmſt mir Herz und Sinn gefangen,
So, wie Meere flüfe fangen.
Crugbild mit den Tiebelauaen,
Grün umd tief wie Meereswogen —
Ad, zu diefen grünen Rätjeln
Hat’s midy feltiam bingezogen.
“
Nimm, Mägdlein, diefe Lehre wahr:
Es fpielen die Männer mit Herjen!
So Hein aud immer der Altar,
Es breimen darauf zwei Kerzen.
*
Wenn jede Chrän’, die ich geweint,
Ein Manerftein gleich wär,
So ließ' ich ſtolze Schlöffer ban'n
Mitten im Toten Meer.
Aus Andalufien.
Dein Duter war ohne Zweifel
Ein Zuderbäder;
Drum machte er dir die Lippen
So füß und leder.
%
Du machſt mir fo viel Grämen,
Daf ich bei mir gedacht:
Wie muß mich der wohl lieben,
Der fo mich leiden macht!
“
„Die Männer find lauter Teufel fürwahr
Und mögen mir fein geftohlen!“
So fagen die Weiber und wünſchen dabei,
Der Teufel möge fie holen.
=
Ein armer Teufel im Tollhaus,
Der fagte einftmals zu mir:
Nicht alle find toll, die hier find,
Und nicht alle Tollen find hier.“
”
Es träumte, Mädchen, mir neulich,
Du feieft mir hold und tren;
Doc träumt‘ mir zu gleicher Seit andy,
Daß es ein Traum nur fei,
Dem armen Derfchmähten werden
Nicht mal die goldnen Träume
Gegönnt auf diefer Erden!
*
Ich lebe, wenn von dir getrennt,
Diel länger, das ift wahr;
Denn es erfcheint mir ein Moment
Gerad’ wie hundert Jahr.
Jedoch, mein Schat, ich wünſchte mir
Wohl tanfendmal zu fterben,
Als leben weit von dir.
Edward Bellamy, der berühmte Verfaflervon „Rüd:
blick“ und defien Fortſetzung „Gleichheit“ ift im Jabre
1850 geboren in dem Dorfe Chicopee Falls im Staate
Maſſachuſetts, das jegt einen Teil der Stadt Chicopee
bildet und einer Gruppe von Anfiedlungen zugehört,
deren Kern Springfield darſtellt. Bellamy lebt noch
heute in feinem Geburtsort und bewohnt ein ſchlichtes,
doc; geräumiges und bequemes Haus als Erbe jeine:
Vaters, eines Geiftlihen. Den Einfluß diefer Ab»
ftammung findet ein Aufſatz im Juliheit der „Ameri-
can Monthly Review of Reviews*, dem wir Diele
Nachrichten entnehmen, auch in ber litterariihen
Andividualität Bellamys wirkſam. Er bejuchte das
Union College in Schenectady, hielt ſich ſodann ein
Jahr in Deutſchland auf und widmete fich hierauf
dem Studium der Rechtswiſſenſchaft, doch made
er von der erworbenen Befähigung zur Rechtsanwalt:
ſchaft feinen Gebrauch, jondern wandte fid ber
fitterarifchen Laufbahn zu, zunächſt als Redallions-
mitglied der New Yorker „Evening Poſt“, dann der
Springfielder „Union“. ine Reife nad Hawai
über Panama und die Rüdfehr quer durd Nord:
amerifa erweiterte feinen geographiichen Gefidhtäfteis,
Der Erfolg feines „Rüdblids" und glänzende An
erbietungen vermochten Bellamy nicht von feiner
Neigung zu einem ftillen, zurüdgezogenen Leben ab-
zubringen ; feine Freunde ſchähen feine beicheidene
und gewinnende Perfönlichkeit, jeine anregende Unter:
haltungägabe, feinen feinen Humor, der gelegentlid
zu fpielender Satire neigt; er verſchmäht es, ſich in
Streitgejpräche über feine Ideen einzulafien, und ver-
ſichert im Scherz fogar, er würde feinen Wohnſiß
ändern, wenn ſich praftiihe Reformer in feine
Nachbarſchaft niederlaffen wollten. 3a
Die Wiedererwedung der langue d’oe. Die neu:
provencgalifche Litteratur erfreut fi, wie wir ans
einem Artikel der Revue encyclopedique Larousse
(31. Zuli 1897) erfehen, eines wachſenden Kreiſes
von Freunden und Pflegern. Die langue d'oe,
die fühe Sprache des Südens, erjtrebt mit Mat
den lange verlorenen Nang einer neben dem Nord-
franzöfiichen ftehenden Schriftipradhe. Es liegt darin
eine Reaktion des provinziellen Partikularismus gegen
die einſchnürende Centralijation, die, vom alten fran-
zöſiſchen Königtum begründet, durch die Revolution
und das napoleonifche Kaifertum weiter ausgebildet
worden ift. Am 21. Mai 1854 vereinigten fid
fieben ſüdfranzöſiſche Schriftfteller, um bie provenga-
life Sprache von den Gallicismen zu reinigen, eint
einheitliche Schreibung durchzufeßen, die provencaliſcht
Litteratur aus ihrer jahrhundertelangen Erniedrigung
und Vernachläſſigung zu neuem Leben zu erweden.
Die fieben nannten ſich die Felibres, nad einem
geheimnisvollen Wort dunkler Bedeutung, das iht
Meifter Miftral in einem alten provengaliichen Licd
auf die Jungfrau Maria gefunden Hatte. Die
mittelalterlichen Blumenjpiele von Toulouſe wurden
gleichfalls von fieben Dichtern begründet, ficben
Buchftaben enthält Félibre wie der Name Mijlral.
2oje Blätter.
Im Jahre 1855 erſchien der erfte Almanac provengal ;
1859 gab Miftral durch fein hervorragendes Wert
Mireille der neuprovengaliichen Sprache eine litte—
torifche Norm; fie beruht auf. der Mundart von
Atles und ift bereichert duch Entlehnungen aus
den andern jüblichen Mundarten. Im Jahre 1862
gab fich der FFelibrige Satzungen. Die heilige
Siebenzahl der Trelibres darf nicht überfchritten
werben, ber Zweck ift, die Eigenart der Provence in
Sprade, Charakter, freier Bewegung, nationaler
Ehre zu bewahren, unter der Provence jei ganz
Südfranfreih begriffen. Im Jahre 1876 wurden
aber die Sagungen abgeändert; als der Zwed der
Foͤlibrige wird da genannt die Vereinigung aller
deren, die durch ihre Werke die Yandesiprache aufs
teht erhalten, jowie der Gelehrten und Künſtler,
die zum Vorteil des Landes arbeiten. Die Gliederung
nah Provinzen und Schulen, die Beftimmungen
über die Feſte und Zufammenkünfte und dergleichen
mehr laſſen ſich mit den Meifterfingern und Rede—
rijters vergleichen; die Wahl von „Königinnen des
Felibrige* lehnt fih an provengaliihe Traditionen
des Mittelalters,
Mittlerweile war 1875 in Paris die Gefellichaft
le cigale (die Gicade) gegründet worden; neben
den jpradhlichen und litterariſchen Geſichtspunkten
machte ſich dort auch eine partifulariftiiche Strömung
im politiihen Sinne geltend, eine Abneigung gegen
die völlige Gentralijation der Verwaltung. Schärferen
Ausdrud gab fi diefe Strömung in der 1879 ges
gründeten Gejellichaft der FFelibres von Paris; als
Milglied wurde nur zugelafien, wer jeine Aufnahme
rede in der langue d’oc abfaſſen fonnte und einen
Eid darauf ablegte, die Intereſſen der Sprache,
Litteratur, Kunft, Sitten und Gebräuche des Südens
zu befördern. Die fchärfere Richtung der Felibres
bat mehr und mehr die cigaliers ins Schlepptau ge=
nommen, beide Gejellihaften machten gemeinfame
Ausflüge nach verschiedenen Gegenden von Süd—
jranfreih zur Einweihung von Denfmälern mit
provengaliichen Aufjchriften oder zur Abhaltung von
Vorträgen. Die eigaliers bedienten ſich in der
Deffentlichfeit des Franzöſiſchen, die Felibres aber
nur des Provengaliihen, Der Widerſpruch gegen
die Betonung des ſprachlichen Partikularismus konnte
nicht ausbleiben; das Signal gab die offene Ver—
fündigung dieſes Standpunftes bei einem Feſt der
Félibtes von Paris 1892, daß die Entwidiung der
provengaliihen Sprache und Litteratur nur gefichert
werden lönne durch autonome Verwaltung ber
Provinzen — aljo ganz und gar eine Auffriſchung
der Gironde zur Zeit der Revolution. Im Som»
mer 1893 erflärte ſich der Vizepräfident der Félibres
be Paris für die Wahrung der ſprachlichen Einheit
des Franzoſentums, duch die langue d’oil; die
jöderatiftiichen Anhänger der langue d’oc, zwölf an
der Zahl, ſchieden aus und bildeten die „Parifer
Schule der Félibrige“, im engiten Anſchluß an die
Organijation der Felibrige in Südfrankreich, der
gegenüber die beiden älteren Pariſer Geſellſchaften
91
ihre Selbftänbigfeit ftets feftgehalten haben. Llebrigens
enthält fich jet die Parifer „Schule” jedes provo⸗
zierenden Wuftretens; fie hat aber den Gebanfen
fefigehalten , die dreiunddreißig füdlihen Departes
ments in der Idee eines provengalifchen Partifula-
rismus zu einen. Gin Sorrefpondenzbureau für
Provinziafzeitungen und Beröffentlihungen patrio»
tiihen und volfstümlihen Inhalts — beides in
provengalijder Sprache — jollen die Decentralifation
„der Verwaltung vorbereiten.
Man braucht derartige Beftrebungen, die ſich aus
der urjprünglich rein litterariſchen Bewegung der
provengaliichen Fyelibreg allmählich herausgebilbet
haben, nicht zu überſchätzen, aber ein gewiſſes Inter-
eſſe haben fie immerhin gerade für den Deutjchen
als Gegenftüd unfers ſüddeutſchen Partilularismus.
* 58.
Guftave Flaubert und die „Bovary“. Die vor
wenigen Jahren veröffentlichte Korrefpondenz Guſtave
Flauberts (Paris, Eharpentier) offenbart dem ftaunen-
den Leſer, mit welcher Langſamkeit, Schwerfälligfeit
und Sewifjenhaftigfeit der große Realift feine Meijter-
werfe ſchuf. Intereſſant find beſonders die Briefe
an jeine „Muje” (Madame H., alias Luiſe Collet,
bie ſich als Schriftitellerin einigen Namen gemacht
bat). Hier fehen wir den unvergleidhlichen Roman:
„Madame Bovary“ entjiehen. Flaubert brauchte
fünf Jahre zur Abfaffung diefes einzigen Bandes
und legte fi einen wahren Frondienſt bei feinem
Genius auf, indem er ein feiner Natur ganz entgegen-
geiehtes Süjet mit der Treue eines Momentphoto-
graphen darzuftellen juchte, Meiſt arbeitete er im
feinem Landſitz Croiſſet wie ein Einfiebler lebend,
vierzehn Stunden täglih. Dabei braudte er oft
acht Tage, um eine einzige Seite zu ſchreiben.
So erzählt er: „Es nimmt mich oft mehrere
Stunden in Anſpruch, ein Wort zu ſuchen. Wenn
Du wüßteft, was ich alles ausſtreiche und welch ein
Brei meine Manujfeipte find! Einhundertundzwanzig
Seiten find jetzt fertig und dazu habe ich etwa fünf-
hundert gejchrieben. Weißt Du, womit ich mich den
ganzen Nachmittag beſchäftigt habe? Die Gegend
durd farbige Gläſer zu bejehen, denn ich brauchte
diefe Eindrüde für eine Stelle der ‚Bovary‘, die
nicht zu den jchledhteften gehören wird,“ Dann
heißt e8: „Die ‚Bovary‘ fchreitet wie eine Schnede
vorwärls. Bisweilen bin ich verzweifelt, Welch
ſchwierige und vor allem verwidelte Maſchine ift zu
fonftrwieren, wenn man ein Buch jchreibt!*
Oder er teilt einen ganzen Plan mit: „Wie die
‚Bovary‘ mic) verdrießt! Trohdem fange ich an, mid)
ein wenig bineinzufinden. Nie in meinem Leben
babe ich etwas jo Schwieriges gejchrieben als jet
diefen trivialen Dialog. Dieſe Wirtshaußjcene wird
mich noch drei Monate in Anſpruch nehmen — oft
babe ic) Luft zu weinen, fo empfinde ich meine Ohne
macht. Allein ich will lieber darüber fterben, ala
ihr aus dem Wege gehen. Ich muß fünf bis ſechs
Perſonen zugleich in die Unterhaltung bringen, dazu
nod zwei, von denen geiprocdyen wird. ferner
912
müffen der Ort und bas Land, in dem fie fich befinden,
beichrieben,, die Leute und Dinge in ihrer äußeren
Erſcheinung glaubwürdig gemacht und das Milieu
des ganzen geihaffen werden. Dazu beginnen ein
Herr und eine Dame aus Nehnlichfeit ihres Ge—
ichmades fih ein wenig füreinander zu erwärmen.
Wenn ich nur noch Plaß hätte! Aber alles dies mu
raſch vor fich gehen, ohne troden zu jein.“
Und weiter: „Endlich beginne ich ein wenig Har
in meinem verwünjcten Dialog mit dem Pfarrer
zu jehen. Doch offen geftanden wird mir bisweilen
ganz übel dabei, jo niedrig ift die ganze Geſchichte.
Ich will die folgende Situation herausbringen: In
einem Anfall von Religion geht meine Heine Frau
(Emma Bovary) zur Kirche. An der Thür findet
fie den Pfarrer, der fi) jo dumm, fad und unfähig
zeigt, daß fie ganz angeelelt und erfaltet wieder weg
geht. Dabei ift der Pfarrer ein braver, vortrefflicher
Mann, der aber nur phyſiſche Leiden im Auge hat
und die moraliichen nicht verfteht. Diefer Dialog
ift ganz ohne Reflegionen zu machen. Nun kennſt
Du die Qualen, deren ich mich während vierzehn Tagen
ausjegen will.“
1856 ift die „Bovary“ endlich fertig und der
jeltene große Mann fucht fi, um nicht im „realisme
bourgeois* zu verflahen, im biftoriichen Realismus
eine andre gewaltige Aufgabe: „Salammbö*“. Auch
dieje bewältigt er mit eijernem Fleiß und einem Aufs
wand der jchwierigiten archäologiſchen Studien.
* —nn.
Wie Romane gemacht werden, Einem „bes
kannten“ Pariſer Romanfchriftfteller „in Fortſetzungen“
iſt vor einigen Tagen ein kleines Mißgeſchick drolligſter
Art begegnet. Eine große Pariſer Zeitung hatte
am Ende vorigen Jahres bei dieſem Schriftſteller
einen Feuilletonroman, wie der Vertrag beſagte, zu
einem Franken die Zeile beſtellt. Unſer Feuilletoniſt
ging zu einem alten Schriftjteller, einem geheimen
Mitarbeiter vieler lebenden Gelebritäten, der das
Feuilleton zu Schreiben für 25 Gentimes per Zeile
übernahm. Die Zeitung war vor einigen Wochen
im Begriff, den zweiten Teil des Romans in Angriff
zu nehmen, als unjer Schriftfteller erfuhr, daß jein
alter Mitarbeiter ſehr ſchwer erkrankt jei. Er lief
zu ihm bin und fand ihn im Sterben liegend. Sehr
beunruhigt über das Schidjal „jeines" Feuilleton—
romand beeilte er fi, in die Redaktion des Blattes
zu gehen, wo er fich die fünfzehn legten Nummern
der Zeitung geben ließ. Im zehn weiteren Forts
jeßungen führte er den Roman einem fchleunigen
Ende entgegen. Das Manuffript trug er dann zur
Loſe Blätter.
Kedaltion. „Was ift das?“ fragte ihn der Redations
jefretär.. „Nun, die Fortſetzung und das Ende
meines Romans!“ — „Sie wollen ihn wohl ändern,
denn bier ift er ja ſchon, wır erhielten das Manuftript
vor drei Tagen!“ .... Man kann ji) das verdußte
Geſicht des Autors vorſtellen ... Die Sache verhielt
fih nämlich wie folgt: Der alte Schriftiteller zu
25 Gentimes die Zeile hatte einem andern Lieferanten
jeinen Auftrag zu 10 Gentimes die Zeile überlafjen und
diefer hatte den Roman in aller Ruhe fertig gemadit!
Desinfizieren der Bücher. Seit den großen Ent:
dedungen auf dem Gebiete der Balteriologie haben
die ärztlichen Kreiſe in Deutichland mehrfad die
Gefahr einer Berfchleppung von Krantkheitsfeimen
buch die Bücher der Leihbibliothefen ins Auge ge
fast; find ja doc; die Kranken mit deren befte Kunden.
Die New Yorker Zeitichrift „Library Journal“ bringt
neuerdings Mitteilungen über Verfuche zur Detinf
zierung von Büchern, welche auf Anregung von
Dr. Billings zuerſt im hygieniſchen Inſtitut der
Univerfität Wafhington angeftellt worden find. As
geeignetes Desinfeltionsmittel erwiejen ih Dämpfe
von Formalin, das in den Droguerien und Apothefen
geführt wird. Die Verfuhe wurden neuerdings in
der Deffentlihen Bibliothef von New NYork ange
ftellt; e8 handelt ſich beſonders um die Vernichtung
der Ipezifiichen Bazillen des Unterleibstyphus, der
Diphterie und des Fäulniserregers Staphylocoecus,
Die Einzelheiten des Verfahrens zu bejchreiben hätte
feinen Wert; die Hauptſache ift, daß die Berjude
gelungen find. Demnach lafien id) Bücher genügend
besinfizieren in einem gewöhnlichen geichloffenen Raum
durch Formalindämpfe, ein Hubilcentimeter Formalin
genügt für 300 Jtubilcentimeter Luft, bei einer Dauer
der Desinfektion von 15 Minuten, Das Verfahren
beihädigt die Bücher nicht, das Wohlbefinden defien,
der die Desinfeltion vornimmt, ift nur vorübergehend
gejtört durch Reizung der Naſe und der Augen. Mi
der Frage der Uebertragung von Kraänkheitsleimen
durch Bücher beſchäftigt fi auch ein Aufſatz in dem
„Memorial de la librairie frangaise* vom 10, und
17. Juni d. 3. Der Verfaſſer, van der Haeghen,
Mitglied der belgischen Alademie der Wiſſenſchaften,
ſchildert lebhaft die Gefährdung der Geſundheit durch
die Schlechte Gewohnheit, beim Umblättern den Finger
zu befeuchten; der Herausgeber fügt dazu den Wunit,
daß die Schulfinder über die möglichen Folgen dieſet
üblen Gewohnheit durch einen ausdrücklichen Erlaß dei
Unterrichtäminifteriums aufgeflärt werben jollten.
Ss,
Unſre verehrlichen Mitarbeiter werden Freumdfichft erfucht, den für die Zeitſchrift „Aus fremden Zungen‘
beitimmten Ueberſetzungen
1) Angaben über Jahr und Ort des Erfdeinens des Originals, ſowie
2) Rurze Biograpbifde Paten über den Berfaler
beizulegen.
Die Redaktion behält fi vor, den Einfender im alle der Annahme einer Arbeit mit der Erweiterung der
biographijchen Daten zu einem biographiiden Yufjag für die Rubrit „Lofe Blätter” zu beauftragen,
Stuffgart.
Deutfche Verlags Anfalt
Litterariſche Abteilung.
Verantwortlicher Redakteur: Harl Bolboeener in Stuttgart. Drud und Berlag ber Deutſchen Berlags-Unftalt in Etutigart,
Briefe und Sendungen find nur an bie Deutſche Verlags -Auſtalt In Stuttgart — ohne Perfonenangabe — za rihiem
Gleich tzeit.
Edward Bellanıy,
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von M. Jacobi.
(Frortfegung.)
XXII.
Der wirtſchaftliche Untergang durch das Gewinniyitem.
Am folgenden Morgen erhielt Edith die Auf—
forderung, ſich wegen einer beſonderen Angelegenheit
auf ihrer Arbeitsſtelle einzufinden. Nachdem fie fort-
gegangen war, begab ich mich zu dem Doktor in die
Bibliothel und fing an, ihm allerlei Fragen vorzus
legen, Die mir, wie gewöhnlich, über Nacht in den
Kopf gelommen waren.
„Wenn Sie heute morgen Ihre hiſtoriſchen Studien
fortzujegen wünſchen,“ jagte er nad einer Meile,
„jo möchte ich Ihnen vorſchlagen, Ihren Lehrer zu
wechſeln.“
„Sc bin mit dem Lehrer ſehr wohl zufrieden,
den mir die Vorjehung zugewiejen hat,” animwortete
ih, „aber es ift nur natürlih, daß Sie fih nad
einer feinen Erholung von dem unaufhörlichen Kreuz-
verhör jehnen müſſen, das ich mit Ihnen anftelle,“
„Davon ift feine Rebe,” ermwiderte der Doktor.
„Eine anregendere Aufgabe als die meinige läßt ſich
überhaupt nicht denken; auch fommt es mir gar nicht
in den Sinn, fie ſchon aufzugeben. Aber es fiel
mir ein, da e& für alle Zeile angenehm fein würde,
heute morgen einmal eine fleine Veränderung in der
Methode und der Art der Belehrung zu verfuchen.“
„Wer joll denn mein neuer Lehrer jein ?“ fragte ich.
„Sie werden ihrer viele haben. Es find aber
nicht Lehrer, jondern Schüler.”
„Ei, Doktor,“ warf ich ein, „meinen Sie nicht,
daß ein Mann in meiner Lage genug Rätjel zu löfen
hat, daß Sie mir nod; neue aufgeben?”
„Richt wahr, es Mlingt wie ein Rätſel? Aber e3
ift keins. Ich will es Ihnen fogleich erflären. Als
einer der Inhaber des blauen Bandes, welches mir
meine Mitbürger für jogenannte öffentliche Dienfte
zuerlannt haben, befleide ich verjchiedene Ehrenämter
bei öffentlichen Angelegenheiten, bejonbers in Sachen
der Erziehung. Heute früh ift mir angejagt worden,
daf ein Eramen der neunten Klaſſe in der Arlington-
Schule ftattfindet. Dort hat man die Geſchichte der
Periode vor der großen Revolution durchgenommen,
Ans fremden Zungen. 1897. II. 20,
und bie Schüler follen nun ihre allgemeine An«
ſchauung darüber wiedergeben. Ich dachte, es würde
Sie vielleiht zur Abwechslung intereffteren, dabei
zuzuhören, bejonder& wegen des Themas, welches be—
ſprochen werden joll.*
Ih verjicherte dem Doktor, daß ich mit dieſem
Plan ganz einverftanden wäre, weil ich mir große
Unterhaltung davon verjpräde, und fragte, was es
denn für ein Thema fei, das zur Verhandlung käme.
„Das Gewinnſyſtem als Methode des wirtichaft-
lihen Selbjtmordes',“ erwiderte er. „Wir haben bei
unjern Gejprächen bis jet Hauptjächlich das moralijche
Unrecht der alten wirtihaftlihen Ordnung berührt.
In der Beiprehung aber, der wir heute morgen
zuhören werben, jollen moraliiche Erwägungen nur
beiläufig in Betracht fommen. Die jungen Leute
werden verjuchen, und zu zeigen, daß gewiſſe ver-
hängnisvolle Gebrechen bei Erzeugung des Reichtums
von dem Privatfapitalismus unzertrennlih waren
und — ganz abgejehen von eihiihen Rückſichten —
feine Vernichtung notwendig machten, wenn die große
Maſſe der Menſchen ſich jemals aus dem Schlamm
der Armut reiten follte,“
„Das ift freilich eine ganz andre Lehre, als id)
zu hören gewohnt war,“ fagte id. „Uns pflegten
Geiftliche wie Moralijten zu verfichern, es gäbe gar
feine fozialen Uebel, für welche die moralifhen und
religiöfen Heilmittel nicht ausreichten. Sie jagten,
die Armut ſei Schließlich nur die Folge der menſch—
lichen WVerderbiheit und würde verjchwinden, wenn
nur jedermann brav jein wollte.“
„Das habe ich gelejen,” jagte der Doltor. „Ob
die Geiftlihfeit und die Moralijten dieje Lehre von
Amts wegen verfündeten, um die Wichtigkeit ihrer
Dienfte als Sittenprediger zu erhöhen, ob fie dieſelbe
nur nachſprachen, um ihre geiftige Trägheit damit
zu entihuldigen, oder ob Das wirflich ihre aufrichtige
Meinung gewejen ift, fönnen wir nad) jo langer
Zeit nicht mehr beurteilen. Doc ift gewiß ein ver-
berblicherer Unfinn niemals gelehrt worden. Das
Syſtem des Handels und der Induftrie, nad) welchem
115
914
die Arbeit einer großen Bevölkerung angeordnet und
der Betrieb geleitet wird, bildet eine jehr fompligierte
Maſchine. Wird diefe Maſchine aus Unkenntnis
faljh zujammengefegt, jo muß Berluft und Unheil
entitehen, ohne daß es im geringiten darauf anfommt,
ob die Beiriebäleiter die größten Heiligen oder die
ihlimmften Sünder find. Die Welt ift von jeher
aller Tugend und wahren Gottesfurdt benötigt ge—
weien, welche die Menſchen nur irgend zu üben
vermodhten, und wird ihrer 'nie entbehren fünnen.
Wollte man aber einem Landwirt einreden, daß per«
jönliche Frömmigleit den Betrich bes willenfchaft-
lihen Aderbaus erjegen lann, oder dem Kapitän
eines jeeuntüchtigen Schiffes, daß ein ftreng fittliches
Verhalten feinerjeit3 das Fahrzeug ans Ufer bringen
würde, jo wäre das eine ebenſo große Kinderei, wie
fie die Priefter und Moraliften zu Ihrer Zeit be—
gingen, als dieje Herren der durch ein verfehrtes
Wirtihaftsigiten verarmten Welt verficherten, man
fünne durch religiöjen Sinn und quite Werke zum
Wohlſtand gelangen. Die Geſchichte ſpricht dieſen
blinden Führern des Volles ein hartes Urteil. Sie
haben während der Zeit der Umſturzbewegung mehr
Schaden gethan als diejenigen, welde die alte Ord«
nung offen verteibigten. Die ungejchminkte Selbit-
jucht der lehteren wirkte abſtoßend auf alle guten
Menſchen, während die Reben der erjteren fie irre
führten, jo daß fie lange nicht zu erfennen vermochten,
wie das Syftem an allem Uebel ſchuld jei; fie hätten
es ſonſt in ihrer Entrüftung ſchon früher zerftört.
„Dies ift ein höchſt wichtiger Punkt, Julian, auf
den ih Sie nod bejonder3 aufmerffam machen
mödhte: Erſt dann konnte die große Revolution fi
Eingang in der Welt verihaffen, als die Menſchen
jener kindiſchen Lehre entwachſen waren und die
Urſachen des Mangeld und Elends nicht in erſter
Linie ihrer eignen Werderbtheit, ſondern der wirt
ſchaftlichen Thorheit des Gewinnſyſtems zufchrieben,
auf dem der Privatfapitalismus berubte.“
Der Doktor hatte gejagt, die Schule, die wir
bejuchen wollten, ſei in Arlington. Dieſer Ort lag,
wie ich wußte, in einiger Entfernung außerhalb der
Stadt, und dad Examen follte um zehn Uhr beginnen,
Tropdem blieb mein Gefährte gemütlich im Arm—
ftuhl ſihen, obgleich «8 ſchon fünf Minuten vor
jehn war.
„Iſt das Arlington, von dem Sie jprachen, das—
felbe, welches zu meiner Zeit eine Vorſtadt Bojtons
war?" erlaubte ich mir endlich zu fragen.
Jawohl.“
„Es war zehn oder zwölf Meilen von der Stadt
entfernt,” ſagte ic.
„Wir haben es nicht von der Stelle gerüdt, das
verfichere ih Sie,“ erwiderte der Dollor.
„Werden wir dann aber nicht zu jpät fommen,
Edward Bellamp.
wenn das Eramen jchon in fünf Minnten anfangen
ſoll?“ bemerkte ich beicheibentlich.
„O nein,” lautete die Antwort, „wir haben noch
drei oder vier Minuten Zeit.“
„Doltor,” rief ih, „ih habe zwar in den Iekten
paar Tagen jo viele neue Arten der jchnellften Ber
förderung fennen gelernt, aber wie Sie mid noch
rechtzeitig von hier nad Arlington bringen werben,
wenn dad Examen in drei Minuten anfängt, kann
ich doc nicht einſehen. Bielleicht wollen Sie mid
in ein eleftrijches Fluidum aufldfen, mic per Draht
verjenden und am andern Ende wieder im meine
Perfon umwandeln? Aber felbft in dieſem Fallt,
follte ich glauben, wäre feine Zeit mehr zu verlieren.“
„Gewiß nicht, wenn wir die Abficht hätten, nah
Arlington zu gehen. Ich dachte nicht, daß Ihnen
etwas daran gelegen wäre, ſonſt hätten wir ja eben-
fogut früher aufbrechen können. Das thut mir leid!‘
„Ich habe fein bejonderes Verlangen, deu Weg
nad Arlington zu machen,“ erwiderte ich; „aber id
hielt e8 für notwendig, wenn wir dort bei einem
Examen zugegen fein wollten. Jetzt jehe ich meinen
Irrtum Schon ein. Mid wundert, daß ich nidt
längjt verlernt babe, es als jelbfiverftändlid) zu ber
trachten, daß von dem, was wir Naturgeiehe zu
nennen pflegten, nod irgend etwas in Kraft fichen
müſſe.“
„O, die Naturgeſetze find ganz underändert,“
jagte der Doktor lachend. „Aber ift es denn mög
lich, daß Edith Ihnen das Eleltroftop nicht gezeigt
bat?“
„Was ift das?“ fragte id).
„Das Elektroflop thut für das Sehvermögen,
was das Telephon für das Gehör thut.“
Gr führte mid in den Mufilfaal, zeigte mir den
Apparat und fagte dann:
„Es ift zehn Uhr. Zu Erklärungen haben wir
feine Zeit mehr. Nehmen Sie diejen Stuhl und
richten Sie das Inftrument, wie Sie e8 mid) thun
fehen. Yet! —“
Augenblicklich, ohne irgend ein Zeichen oder die
leifefte Vorbereitung auf das, was da fommen würde,
blidte id; in ein große Zimmer hinein. Etwa
zwanzig Knaben und Mädchen von vierzehn bis
fünfzehn Jahren ſaßen im Halbkreis auf einer doppelten
Reihe von Stühlen, einem Pult gegenüber, an melden
ein junger Mann, der uns den Rüden zuwendete,
Platz genommen hatte. Die Schüler waren anſcheinend
faum zwanzig Fuß von ums entfernt; mit Auge und
Ohr nahm ich jedes Geräufch ihrer Bewegungen und
jeden Wechſel im Ausdrud ihrer lebhaften Geſichlet
wahr, als befänden wir ung unmittelbar hinter dem
Lehrer, wie das in der That den Anſchein hattt.
In dem Augenblid, als das Schaufpiel ſich vor mir
aufthat, war ic) im Begriff, eine Bemerkung an
Gleichheit.
den Doktor zu richten. Er lachte, als ich plößlich
verilummte,
„Sie brauchen nicht zu fürchten, die Schüler zu
fören; diefe find ein Dubend Meilen von uns ent
fernt, fie jehen und hören uns nicht, obgleich wir
beide fie jo gut wahrnehmen.“
„Aber um alles in der Welt, find wir denn bier
ober bort?” flüfterte ich; denn troß feiner Berficherung
fonnte ih es mir nicht Mar machen, daß fie mid
nicht hörten.
„Wir find ganz ficherlich hier; aber unjre Augen
und Ohren find dort,“ ſagte der. Doktor. „Dies
it ein mit dem Telephon vereinigtes Eleltroſkop.
Natürlich) hätten wir die Prüfung ganz ebenjogut
ohne das Efektrojfop hören fünnen, aber ich meinte,
«3 würde unterhaltender für Sie fein, die Klaſſe
zugleich zu fehen und zu hören, Nette junge Yeute,
nicht wahr? Wir werden num bald erfahren, ob fie
nicht nur hübſch anzujehen, fondern auch klug und
aufgewedt find.”
Wie der Gewinn den Berbraud einſchränkt.
„Wir beſchäſtigen uns diefen Morgen,” begann
der Lehrer in lebhaften Ton, „mit ‚dem wirtichaft«
lihen Untergang der Produktion um des Gewinns
willen‘ oder ‚mit der Hofinungslofigfeit der Ver—
mögensverhältniffe des Bolfes unter der Herrſchaft
des Privatkapitalismus“. — Sage uns einmal genau,
Frank, was diefer Satz bedeutet.“
Sofort ftand einer der Knaben aus der Klaſſe auf.
„Der Gap bedeutet,” ſagte er, „daß, jolange der
Privatfapitalismus beftand und alle Produktion der
Lebensbedürfniffe — wie das nicht anders möglich
war — um des Gewinns halber betrieben wurde,
das Gemeinwejen immer Mangel leiden mußte, weil
es in der Natur des Gewinnſyſtems lag, die Pro-
duftion gerade bei dem Punkte zu hemmen und ihr
ein Ziel zu ſetzen, wo fie anfing, leiltungsfähig zu
werden,“
„Wodurd wird die äußerfle Grenze der Güter-
produftion beitimmt?*”
„Dur den Verbrauch.“
„Kann nicht der Ertrag geringer fein ala der
mutmaßliche Verbrauch? Könnte nicht der Bedarf
die Ertragungsquellen überfteigen ?*
„In der Theorie wohl, aber nicht in der Praris,
Das heißt, wenn die Nachfrage fih auf vernünftige
Anſprüche beihränft und nicht auf thörichte Wünſche
auägedehnt wird. Seitdem die Arbeitsteilung ein—
geführt wurde, und bejonders jeit die großen Er—
findungen die Leiftungsfähigfeit de Menſchen ins
Unendliche vermehren, wird ber Produktion thatſächlich
nur durch die Nachfrage, weldye von dem Verbrauch
abhängt, eine Grenze geftedt."
‚War das vor der großen Revolution ebenfo ?*
915
„Gewiß. Die Vollswirte waren alle der Mei«
nung, daß jowohl die Vereinigten Staaten als
England oder Deutihland allein den Bedarf der
ganzen Welt an Fabriferzeugniffen mit Leichtigkeit
würden deden fönnen. Sein Sand erſchöpfte feine
Produftionsfähigkeit in irgend einem Zweige aud)
nur annähernd.”
„Warum denn nicht?“
„Weil dad Gewinnſyſtem notwendigerweile die
Beſchränkung der Erzeugniffe zur Folge haben mußte.“
„Woraus entiprang dieje Notwendigkeit ?*
„Aus dem Abftand zwiichen der Produktionskraft
und der Konſumtionskraft des Gemeinweſens. Die
Leute waren nicht im ftande, jo viel zu verbrauchen,
als fie produzieren konnten.”
„Auf welche Weiſe führte denn das Gewinnſyſtem
zu dieſem Ergebnis ?*
„Da es unter der alten Ordnung feine Geſamt—
fommiffion gab,” fuhr der Knabe Frank fort, „welche
die Organifation der Arbeit und den Umſatz der
Werte in die Hand nahm, fo fiel dies Geſchäft
naturgemäß den Sapitaliften zu, denn es erforderte
bedeutende Geldmittel und Unternehmungsgeift. Die
Rapitaliften teilten fich in zwei Klaſſen. Die eine
organifierte die Arbeit zum Zweck der Produltion,
die andre bejorgte die Güterverteilung. Lebtere, die
Handelöherren, Makler und Ladeninhaber, jammelten
alle verichiedenen Produkte und Berbrauchsartifel,
um fie dem großen Publiftum zum Kauf anzubieten.
Die Maſſe des Volls — vielleicht, neun unter zehn
— waren Fohnarbeiter, weldye den Kapitaliften ihre
Nrbeitäfraft verfauften, oder Heine Gewerbetreibende,
die ihre eignen Erzeugnifle an die Zwiſchenhändler
abjegten. Auch die Landwirte gehörten zur letzteren
Klaſſe. Mit dem Gelde, weldyes die Lohnarbeiter
und Landwirte für ihre Arbeit oder ihre Produlte
erhielten, gingen fie jpäter auf den Markt, wo fänt-
liche Erzeugnille zu finden waren, und fauften zu
ihrem Verbrauch jo viel zurüd, wie fie fonnten. Nun
mußten natürlid) die Kapitaliften, mochten jie ſich
bei der Produktion oder der Giüterverteilung be=
thätigen, einen Beweggrund dafür haben, ihr Kapital
zu wagen und ihre Zeit joldher Arbeit zu widmen.
Diefer Beweggrund war der Gewinn.”
„Sage uns, wie der Gewinn einfajjiert wurde.“
„Die Fabrifanten bezahlten die Leute, welche für
fie arbeiteten, und die Handeläherren bezahlten Die
Landwirte für ihre Produfte mit Münzen, die man
Geld nannte, und für weldhe man die verjchiebenen
Erzeugniſſe aller auf dem Markte zurüdfaufen konnte.
Aber die Kapitalilten gaben weder den Lohnarbeitern
noch den Landwirten genug von dieſen Münzen, um
jo viel kaufen zu fünnen, wie das Produkt ihrer Arbeit
wert war, Die Differenz, welche die Stapitaliften
für fi) behielten, war ihr Gewinn, Er wurde dadurch
916
erzielt, daß auf die Produfte beim Berfauf ein
höherer Preis gefegt wurde, als die Koften des Pro—
dukts für den Kapitaliften betragen hatten.“
„Sieb uns ein Beilpiel.*
„Nehmen wir zuerft einen Sapitaliften, der
Yyabrifant war und Wrbeiter anſtellte. Setzen wir
den Fall, daß er Schuhe verfertigte und bei jedem
Paar Schuhe dem Gerber für das Leder zehn Cents
bezahlte, für die Anfertigung der Schuhe zwanzig
Cents und für alle andre Arbeit, die noch dazu ge—
hört, wieder zehn Gents, fo dab ihn ſchließlich das
Paar vierzig Cents foftete. Er verkaufte die Schuhe
an einen Zwifchenhändler für fünfundfiebzig Eents,
Der Zwiſchenhändler gab fie dem Kaufmann für
einen Dollar, und der Kaufmann ſetzte fie an den
Kunden im Laden für anderthalb Dollars ab, Oder
nehmen wir einen Landwirt. Diefer mußte nicht
nur jeine Arbeit verlaufen wie die Lohnarbeiter,
fondern auch die Erzeugniſſe feines Bodent. Er
verfaufte zum Beijpiel feinen Weizen an den Korn
händler für vierzig Cents den Scheffel. Der Korn-
händler, der ihn in die Mühle verlaufte, wird wahr-
ſcheinlich jechzig Cents für den Sceffel verlangt
haben. Der Müller überließ ihn dem Mehlhändler
zu einem Preis, der einen hübſchen Gewinn für ihn
abwarf, Der Großhändler erzielte wieder einen
Profit beim Verkauf an den Krämer und lehterer
beim Berfauf an den Kunden. Kaufte nun der
Sandwirt das fertige Mehl für feinen Verbraud)
zurüd, fo foftete es ihn, allein um des vielfachen Profits
wegen, der darauf geichlagen worden war — bie
wirklichen Ausgaben für die Arbeit gar nicht zu
reinen — mindeſtens zweimal fo viel, als er von
dem Kornhändler für feinen Scheffel erhalten hatte.”
„Sehr richtig,” jagte der Lehrer. „Wie fteht es
nun aber um die praftiichen Folgen dieſes Syſtems?“
„Es folgte notwendigerweife daraus,“ erwiderte
der Knabe, „dab zwiſchen der Produktionskraft und
der Konfumtionsfraft der Leute, welche die Dinge,
von denen der mannigfaltige Profit genommen wurde,
urſprünglich produziert hatten, eine Kluft entitand.
Ihr Verbrauch mußte fi nach dem Wert der Münzen
richten, die fie für die Produktion der Waren em—
plangen hatten. Dieſer Wert war aber, wie wir
geiehen haben, geringer als der Ladenpreis der Waren.
Durd die Differenz wurde die Kluft gebildet zwifchen
dem, was fie produzieren fonnten, und dem, was fie
fonfumieren durften,“
Margarete berichtet über die tiefe Kluft.
„Margarete,“ ſagte der Lehrer zu einem ber
Mädchen, „du fannft jet da weiter fortfahren, wo
Frank jtehen geblieben ift, und uns zeigen, welche
Wirkung es auf das Wirtſchaftsſyſtem eines Volkes
haben muß, wenn dur das Profitnehmen zwiſchen
Edward Bellamy.
feiner Konſumtionskraft und feiner Produftionstraft
eine Muft entftanden iſt, wie Frank fie uns ge
fhildert hat.”
Margarete antwortete: „Die Wirkung würde
von zwei Faktoren abhängen: zuerjt davon, wie groß
die Anzahl der Lohnarbeiter und erften Produzenien
war, deren Produfte mit dem Gewinn belaftet wurden,
und zweitens: wie hoch fich der gewonnene Profit
und der daraus entjtehende Abſtand zwiſchen ber
Konjumtionstraft und Produftionskraft eines jeden
Individuums der Arbeiterfhar belief. Wenn bie
Produzenten, deren Erzeugnifie man mit dem Gewinn
belaftete, nur ein Heiner Bruchteil des Volles waren,
dann würden die folgen für die Geſellſchaft als
Ganzes nicht von Belang geweien jein. Sobald fie
aber einen großen Teil der Bevölkerung bildeten,
mußte die luft dementiprechend ſehr bedeutend werben
und den Fortgang der Produktion in verhängnidvoller
Meife hemmen.“
„And weldyen Bruchteil der ganzen Bevölferung
bildeten denn die Lohnarbeiter und Produzenten,
die durch dieſes Syſtem verhindert wurden, fo viel zu
verbrauchen, als fie produzierten ?*
„Wie Franlk gejagt- hat, bildeten fie wenigitens
neun Zehntel des ganzen Bolles — wahrſcheinlich
noch mehr. Diejenigen, welche den Gewinn ein
nahmen — ob fie nun die Produktion organifierten
oder die Güter verteilten — bildeten eine der Zahl
nad jehr unbedeutende Gruppe, während die große
Maſſe der Bevölkerung aus Produzenten beitand.‘
„Gut. Jetzt wollen wir den andern Traktor in
Erwägung ziehen, von dem die Größe der Kluft
zwiſchen Produktion und Konfumtion der Gejellihait
abhängig war — die Höhe des Gewinnes. Sage
uns einmal, welche Regel die Kapitaliften bei ber
Berehnung ihres Gewinnes bejolgten. Als ver
nünftige Leute, denen es Mar fein mußte, dab hohe
Preiſe die Konſumtion beichränken, werden fie gewiß
ihren Gewinn jo niedrig wie möglich angejeht haben.“
„Im Gegenteil, die Kapitaliften wollten jo viel
gewinnen, wie fie irgend fonnten. Ihr Grundjaf
war: ‚Legt dem Handel jo ſchwere Laften auf, ald er
tragen fann‘.“
„War denn nicht ein ftarfer Verbraud in ihrem
eignen Interefje? Haben fie wirflid mit Abficht die
ichlimmen Folgen des Gewinnſyſtems nod ver-
größert ?*
„Sa, gewiß,“ erwiderte Margarete, „Die goldene
Regel des Gewinnſyſtems fautete: ‚Billig kaufen und
teuer verfaufen‘,*
„Und was bedeutete das?”
„Es bedeutete: die Kapitaliften follten denen,
welche für fie arbeiteten, und allen, welche ihnen ihre
Waren verkauften, jo wenig wie möglich bezablen.
Braten fie jelber aber dieſe Produfte auf den
*
br Gopaie
Gleichheit.
Markt, um fie dem großen Publikum zum Kauf an—
zubieten, dann follten fie die allechöchften Preiſe
fordern.“
„Dies große Publikum beftand ja aber aus den«
ielben Arbeitern, die von den Kapitalijten ſoeben
fait nichts für die Waren erhalten hatten, die fie
nun zu hohem Preife zurüdkaufen jollten,“ bemerkte
der Lehrer.
„Gewiß,”
„Dann wollen wir einmal verjuchen,, uns die
Geihäftsflugheit diefer Regel ganz Far zu machen.
Nicht wahr, fie verordnet, dab man ſich alles recht
billig, womöglich umfonft, verſchaffen ſoll? Gelingt
es einem nun, gar nichts dafür zu bezahlen, dann
hat man diefe Regel am treiflihiten befolgt. Wenn
alfo ein Fabrifbefiger feine Arbeiter Hupnotifieren
und fie zwingen fönnte, ganz ohne Lohn für ihm zu
arbeiten, jo würde er im Sinne diejer Regel handeln;
ift das richtig?”
„Ohne Frage; ein Fabrikant, dem Dies gelänge
und der die Produlte feiner unbezahlten Arbeiter zum
gewöhnlichen Preife auf den Markt bringen könnte,
mürde jchnell ein reiher Mann werden.”
„Und ganz dasjelbe würde wohl ftattfinden, wenn
ein Getreide-Großhändler die Landleute jo ausnußte,
daß er ihr Korn umjonft beläme und es dann zu
den höchſten Preifen verkaufte?”
„Jawohl. Der würde in fürzefler Friſt ein
Millionär fein.”
„Wenn nun das Geheimnis diefer Arbeitsleiftung
in der Hypnoſe unter den Sapitaliften allgemein
befannt würde, und fie alle im flande wären, ſich
Arbeiter ohne Lohn zu verjchaffen und Produkte zu
faufen, die fie nichts koſten — würden fie dann
alle in kurzer Zeit zu fabelhaften Reichtum gelangen?”
„Nein, durdaus nicht.“
„Ei was! Warum denn nicht ?*
„Wenn die Lohnarbeiter feinen Lohn für ihre
Arbeit belämen und die Landleute fein Geld für ihr
Korn, wer follte dann etwas faufen? Der Markt:
verfehr würde ſich auflöfen, weil keinerlei Ware mehr
begehrt wäre, außer dem Wenigen, was die Kapita=
liften und ihre freunde verzehren Lönnten. Sehr
bald würden bie Arbeiter verhungert fein, und die
Kapitaliften müßten dann jelbjt jede Arbeit ver
richten.“
„Was der einzelne Kapitalift mit Nutzen thun
lönnte, würde alſo für ihn jelbft und alle andern
verhängnisvol jein, wenn es allgemeiner Gebraud)
wäre, Wie geht das zu?”
„Weil der einzelne Kapitalift, der durch zu niedrige
Bezahlung feiner Arbeiter reich werden will, darauf
rechnen muß, jeine Produfte nicht diefen, fondern
einer andern Gruppe von Arbeitern zu verkaufen,
die von ihren Brotherren nicht um ihren Verdienft
917
betrogen worden find und folglih nod Geld zum
Kaufen haben. Der Kunftgriff fonnte dem einzelnen
Kapitaliften nur gelingen, wenn er den andern nicht
gelang. Hätten aber jämtliche Kapitaliften zugleich
den Wunſch und die Macht, ihre Arbeiter zu über
vorteilen — dann müßte alle Induftrie zu Grunde
gehen.”
„Es ſcheint aljo, daß wir in dem Gewinnſyſtem
eine Methode vor uns haben, die nur ftreng befolgt
zu werden braudjte, um das ganze Syftem zum Still
Hand zu bringen; das Syftem blieb nur deshalb im
Gange, weil die allgemeine Durdführung feiner
Grundjäße einige Schwierigkeiten hatte.”
„Genau jo war ed,“ erwiderte Margarete, „Der-
jenige Kapitalift wurde am ſchnellſten reich, der alle
zu Bettlern machte, die ihm ihre Arbeit oder ihre
Produkte verkauften; fobald aber eine genügende
Anzahl von Rapitaliften diefen Weg einſchlug, wurde
reih und arm ins Verderben geſtürzt. Es war
das Ideal jedes Kapitaliften, einen möglichft vorteil-
haften Handel mit dem Arbeitnehmer oder Produ«
zenten abzuichliegen, ihm jo wenig als möglich zu
geben; und doc ließ ſich mit mathematifcher Ges
wißheit vorausfehen, daß jeder derartige Vortrag
dazu diente, das ganze Gejchäft zu untergraben.
Wenn es vielen Kapitaliſten gelang, ſolche vorteilhafte
Handelsverträge abzuſchließen, fiel das ganze Gebäude
in Trümmer.”
„Roc eine Frage: Die Folgen eines ſchlechten
Syſtems werden gewöhnlid durch die Schlechtigkeit
der Menſchen, die es für ihre Zwede ausnußen, noch
verfhlimmert. So ift das Gewinnjuftem gewiß nur
durch den Eigennuß der Menſchen jo gefährlich ge=
worden. Vorausgeſetzt, dab alle Kapitaliften ehrlich
denfende Leute geweſen wären und feine Ausbeuter,
daß fie ihre Dienfte nur jo hoch berechnet hätten,
als es der Selbftihug und ein mäßiger Gewinn er«
forderten, würde dann das Wolf in der Lage gemwejen
fein, feine Produkte auch zu verbrauchen und damit
die Produltion im ganzen zu fördern?“
„D nein,“ erwiderte Margarete. „Das feindliche
Verhältnis, in dem das Gewinnſyſtem zu einer wirt«
lihen Bereicherung des Wolfes fteht, jlammt ans
Gründen, die vom Kapitalismus ungertrennlich find.
Solange der Privatfapitalismus nicht abgeichafit
wurde, fonnte das Gewinnſyſtem nie mit einem
Fortſchritt des Volles in wirtjchaftliher Hinficht
verbunden jein — felbjt wenn die Kapitaliften Engel
geweien wären. Die Wurzel des Uebels lag nicht
in der Moral; fie war rein wirtichaftlich.*
„Aber der Betrag des Gewinns würde doch in
dem angenommenen fall bedeutend heruntergegangen
fein?“
„sn manchen Fällen und auf Furze Zeit, gewiß;
aber nicht allgemein und niemals für die Dauer,
918 Edward Bellamyp.
Man weih ja überhaupt nicht genau, ob die Profite
damals höher gewejen find, als nötig war, um die
Kapitaliften zu Unternehmungen in Handel und In—
duftrie zu ermutigen.“
„Warum mußte denn dazu der Gewinn fo groß
jein ?*
„Zur Zeit des Privatfapitalismus,* erwiderte
Margarete, „beitand der erlaubte Gewinn, das heißt
ein jolcher, der zum Schub des Unternehmers hin»
reichte, aus drei Elementen, die aufs genaufte mit
dem Privatfapitalismus zufammenhingen, und von
denen jebt feines mehr befteht. Zuerſt mußte der
Rapitalift darauf rechnen können, dab ihm jein
Anlagelapital mindeftens ebenfoviele Zinſen trüge,
als wenn er es zum herrſchenden Zinsfuß ausgeliehen
hätte; war er deſſen nicht ficher, fo lieh er es lieber
aus. Allein das genügte noch nicht. Wenn er fi
auf Unternehmungen einließ, risfierte er fein ganzes
Kapital, was nidjt der Fall geweſen wäre, wenn er
es gegen gute Sicherheit ausgeliehen hätte. Deshalb
mußte er den Zinfen noch eine Summe hinzufügen,
bie fein Kapital ficher ftellte — das heißt, er mußte
im Fall des Gelingens einen jo großen Profit in
Ausficht haben, daß der Verlujt an Kapital gebedt
war, wenn das Unternehmen mißlang. Wenn zum
Beifpiel die MWahrjcheinlichkeit für beides gleich war,
mußte er im Fall des Gelingens auf mehr als Hundert
Prozent rechnen können. Die Chance, bei einem Ge—
ſchäft das Anlagefapital zu verlieren, war damals
in der That reichlich ebenfogroß wie die Möglich-
feit, zu gewinnen. Jede Unternehmung war Spefu«
lation, ein Glücksſpiel, in dem die Nieten die Gewinne
überwogen. Deshalb mußten die Gewinne groß
fein, um die Kapitaliften zu loden, Uebernahm num
ein Kapitalift noch perfönli die Leitung des Ge—
ſchäftes, in dem er fein Geld angelegt hatte, dann
fonnte er mit Recht eine Vergütung für jeine Mühe
erwarten — jozufagen als Entihädigung dafür, daß
er das Unternehmen mit jo viel Gefhid und Kluge
heit durch die flürmijchen Gewäſſer des Gejchäftslebens
bindurd) fteuerte; denn gegen den damaligen Zuftand
jener Gewäſſer ift der Atlantifche Ozean im Winter
jo glatt wie ein Mühlgraben. Für dieſe Leiltung war
er berechtigt, feinem Profit eine ganz bedeutende
Summe hinzuzufügen.”
„Du ſchließeſt alfo daraus, Margarete, dab ein
Kapitalift der damaligen Zeit, ohne eignen Schaden
nicht im ftande war, feinen Gewinn jo niedrig an=
zuſetzen, Daß die Nation dem Ziele näher lommen
fonnte, ihre Produfte auch zu konfumieren; jelbft
wenn er den beften Willen Hatte, dem Volle nicht
zu ſchaden ?*
„sa. Die Wurzel des Uebels lag eben darin,
dab der Privatfapitalismus die Produltion und
Güterverteilung in enorme Schwierigkeiten, Fehler,
Verluſte und Gefahren verwidelte, während die
nationale Kapitalverwaltung alles einfach, ſicher und
nußbringend geftaltet.“
„So braudht man aljo unfre vermögenden Bor»
fahren nicht für Ungeheuer zu halten, um die tragifhen
Folgen ihres Wirtſchaftsſyſtems zu erklären ?*
Keineswegs. Wahrfcheinlicd waren die Kapita—
liften nicht beſſer und nicht ſchlechter ald andre Leute
und mwehrten ſich, jo gut fie konnten, gegen den ver:
derblichen Einfluß eines Syftems, das den Himmel
jelbft in eine Hölle verwandelt Haben würde, wenn
es noch fünfzig Jahre am Ruder geblieben wäre.“
Marianne erflärt die Ueberproduftion.
„Nun genug, Margarete,” jagte der Lehrer. „Wir
wollen jet Marianne bitten, den Gegenfiand no&
weiter zu beleuchten. Wenn das Gewinnſyſtem eine
derartige Wirkung gehabt hat, find wir darauf vor:
bereitet, zu hören, daß fi in den Händen der Profit:
nehmer bedeutende Vorräte anhäuften, welche fie gern
verfaufen wollten. Daneben ſtand die große Menge
ber Produzenten dieſer Güter; fie bedurften der
Vorräte aufs dringendfte, waren aber außer Hande,
fie zu faufen. Wie ſtimmt dieje Theorie mit den
Thatſachen überein, welche ung die Geſchichtsbücher
erzählen ?"
„So gut,” erwiderte Marianne, „dab man bei-
nahe denten lönnte, Sie hätten fie geleſen.“ Tie
ganze Klaſſe lachte und ich aud).
„Dann bejchreibe uns den damaligen Zufland
der Dinge, ohne unnüße Spähe zu machen — denn
unjern Vorfahren war die Sade durdaus nicht
ſpaßhaft. Haben unfre Urgroßväter ſchon erkannt,
daß diejer leberfluß an Gütern, im Verhältnis ju
den Käufern, die vorhanden waren, die wirtidalt:
liche Entwidlung hinderte?“
„Sie haben bdiejelbe als die hauptſächlichſte und
dauerndfle Störung des Wirtjchaftslebens erfannt
und fortwährend über ſchlechte Zeiten, Handel
ftodungen und Ueberfüllung des Marktes geflagt.
Manchmal gab es fogenannte gute Zeiten, in denen
das Geichäft etwas Iebhafter ging, aber im beit
Fall war die Page der großen Maſſe des Volkes ned
unſern Begriffen unbeſchreiblich elend.“
„Mit welchem Ausdrud bezeichneten fie es ge
wöhnlid, wenn mehr Waren auf den Marlt kamen,
ala verlauft werden konnten?“
„Heberproduftion,“
„Sollte das bedeuten, daß wirklich mehr Lebens
mittel, Kleider und andre wünſchenswerte Ding:
produziert wurden, als das Volk brauchen konnte!”
„D nein! Die meiften Menjhen waren immer
in Not, Gerade wenn der Gejchäftsbetrieb wegen
Ueberprodultion ftodte, waren fie im bitterften Elend.
Wenn das Volk im ftande gewejen wäre, zu den
Gleichheit.
überprodugierten Waren zu gelangen, hätte es fie
alle in einem Augenblid verbraucht und laut nad
mehr gefchrieen. Das Schlimme war eben, dab der
Preis, den bie Produzenten für ihre Waren erhielten,
bei weitem nicht ausreichte, um fie zurüdzufaufen,
wenn fie mit dem Profit der Fabrilanten und Kaufe
leute belaftet waren.”
„Womit haben unfre Geſchichtsſchreiber den Zu-
fand der damaligen Gefellichaft unter dem Gewinn»
ioftem verglichen ?*
„Mit dem Zuftand eines Menfchen, der an
chroniſcher Magenſchwäche leidet — eine Krankheit,
die bet unfern Vorfahren fehr häufig vorfam.“
„Bitte, führe den Vergleich näher aus.“
„Ein Kranker, der an Magenſchwäche litt, konnte
die Nahrung dem Körper nicht aflimilieren. Wenn
auch alle Lederbifien der Welt ihm erreichbar waren,
ſchwand er doch langſam dahin, weil feine VBerdauungds
thätigfeit gelähmt war; der Patient fühlte fortwährend
dad Unbehagen eines überladenen Magens und
fonnte doch nicht einmal genug eſſen, um feine
Lebenskräſte zu erhalten. Die wirtichaftlihe Lage
einer Gemeinschaft unter der Herrichaft des Gewinn»
Ioftems bildete eine genaue Analogie zu dem Zuftand
eines ſolches Dyspeptiferd. Die Maſſe des Volkes
mußte Mangel leiden, während fie fehr wohl im
flande war, das zu produzieren, was jie brauchte.
Das Gewinnſyſtem erlaubte aber dem Volfe nicht,
zu fonfumieren, was es produzierte, und noch weniger
fo viel zu produzieren, wie es konnte. Kaum fingen
die Menfchen am, ihren Hunger zu befriedigen, jo
litt der ganze Geichäftsverfehr an den Schmerzen
eines berborbenen Magens und allen Symptomen
der gejtörten Verdauung, die nur durch eine Hunger⸗
fur wieder hergeftellt werden konnte. Nach einer
Weile wurde dann derjelbe Verſuch mit dem näms
fihen Erfolg wiederholt, und jo ging ed immer
weiter,“
Kannſt du ung erflären, warım man eine jo
falfche Bezeichnung wie ‚Ueberproduftion‘ auf Ver»
hältnifje anwendete, die einer Hungeränot viel ähn-
licher jahen? Warum man meinte, daß ein Zujtand,
der jo augenfcheinlich die Folge gezwungener Ent—
baltjamfeit war, von Weberjättigung herrühre? Das
ift ja ebenfo faljch, wie wenn bei einem Todesjall
aus Mangel an Nahrung die Diagnoje auf Tod
dur Unmäßigkeit lautet.“
„Das geihah deshalb, weil die gebildeten Klaſſen,
welche allein mitreden durften, die Wirtichaftsfrage
lediglih vom Standpunkt der Kapitaliften aus be—
trachteten und auf die Intereſſen des Volkes gar
feine Rüdfiht nahmen. Von diefem Standpunkt
aus war Ueberprodultion vorhanden, wenn die Pro—
dulte durch den Gewinn des Stapitaliften jo teuer
geworben waren, daf das Volk fie nicht mehr kaufen
9
fonnte, und deshalb nannte es der Nationalöfonom,
der in des Neichen Intereſſe jchrieb, bei diefem Namen.
Die einzige Frage, um die e8 ſich handelte, war ber
Zuftand des Marktes und nicht der des Mole, Es
war den Sapitaliften ganz glei), ob das Bolt Hunger
litt oder im Ueberfluß ſchwelgte. Ihr Grundjaß:
‚Die Nachfrage beherrſcht das Angebot, und das
Angebot muß der Nachfrage entſprechen‘, bezog ſich
in feiner Weije auf die Bebürfniffe, denen das Boll
nachfragte, jondern auf den Markt, der nichts andres
war als eine fünftliche Erfindung des Gewinnſyſtems.“
„Mas war denn eigentlid) der Markt?“
„Alle Leute, die Geld hatten, bildeten zufammen
den Markt. Wer wenig Geld Hatte, pielte eine ent»
ſprechend Heine Rolle, und wer gar leins bejaß, war
für den Markt nicht vorhanden. Die Bebürfnifle
des Marktes waren die Bedürfniffe derjenigen, welche
fie bezahlen fonnten. Die übrigen Menjchen hatten
auch ſehr viele Bedürfnifie, aber fein Geld, darum
zählten fie nicht mit, wenn auch ihr Verhältnis zu
den Reichen wie hundert zu eins geweſen wäre, Der
Markt war genügend verforgt, wenn alle, die faufen
konnten, genug hatten, einerlei ob die meiften Menichen
ſehr wenig und viele gar nichts empfingen. Der
Markt war überfüllt, wenn mehr da war, als bie
Reihen brauchen konnten, wenn auch zerlumpte und
hungernde Vollshaufen in den Straßen lärmten.”
„Würde heutzutage noch jo etwas möglich jein?
Könnte es volle Kaufhäufer geben und daneben ein
jchlecht gefleidetes und darbendes Bolt?!“
„Gewiß nicht. Ehe nicht jeder voll befriedigt
wäre, gübe es jeht feine Ueberproduktion. Bei unſerm
Syiten fann e3 nirgends zu wenig geben, fo lange
es irgendwo zu viel giebt. Uber das alte Syſtem
hatte feine Blutzirkulation.“
„Wie nannten unjre Vorfahren die wirtſchaft—
lihen Störungen, die jie der lleberproduftion zus
ichrieben ?*
„Diefe nannten fie Geſchäftskriſen. Das heiht,
e3 gab einen chroniſchen Zuftand der Meberfüllung,
den man eine hroniiche Krifis nennen konnte. Von
Zeit zu Zeit aber häuften fi die Nüdftände aus
dem Mißverhältnis zwijchen Nachfrage und Angebot
derart an, daß jedes Geſchäft ftodte. Wenn das
geihah, jagten fie, eine ‚Panik‘ wäre eingetreten,
weil diefer Zuftand blinden Schreden hervorrief.“
„Welchen Urſachen jchrieben fie dieſe Kriſen zu?“
„Allen möglichen Urſachen, nur nicht den einzig
wahren. Es ſcheint, daß die Litteratur ſich damals
aufs eingehendſte mit der Sache beſchäftigt hat. Im
Muſeum ſtehen ganze Bretter voll Bücher darüber,
und ich habe verſucht, ſie zu leſen oder wenigſtens
oberflächlich durchzugehen. Wenn dieſe Bücher nicht
in ſo trockenem Stil geſchrieben wären, könnten ſie
recht unterhaltend fein. Die Verfaſſer vermeiden
920 Edward Bellamn.
die natürliche und in die Augen fpringende Erklärung
der Thatjachen, von denen fie reden, mit ganz merf-
wirdiger Geſchicklichkeit. Sie verirren ſich jogar in
die Aſtronomie.“
„Wie meint du das?“
„Ich fürchte, die ganze Klaſſe wird denken, ich
erzähle Märchen ; aber es ift ein Faltum, daß eine
der verbreitetften Theorien zur Erflärung der immer
wiederfehrenden Geſchäftsſtockungen fi auf bie
Sonnenfleden bezog. Während der erften Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts geſchah es, daß in Zwijchen-
räumen bon zehn oder elf Jahren mehrere jehr ſchwere
Frien die Gejchäftswelt erichütterten. Nun hatte
aber auch die Sonne ungefähr alle zehn Jahre die
meiiten fyleden, und ein berühmter engliicher Na=
tionalölonom folgerte daraus, daß die Kriſen von
den Sonnenfleden veranlaft wären. Später konnte
dieje Löfung der frage die Menfchen nicht mehr be=
friedigen, und fie gingen zur Theorie vom Mangel
an Vertrauen über,“
„Und was war das ?*
„Dieje Theorie ift mir nicht ganz Mar geworben ;
aber jedenfall war es fein Wunder, wenn fich bei
einem Wirtſchaftsſyſtem, das ſolche Früchte zeitigte,
ein großer Mangel an Vertrauen entwidelte.”
„Ich fürchte, Marianne, du bringst der Art, wie
unfre Vorfahren die Sache fludierten, zu wenig
Teilnahme entgegen, und ohne Teilnahme fönnen wir
andre nicht verftehen.“
„Wahrjcheinli fann ich fie nicht verftehen, weil
fie jo ganz anderd waren.”
Die ganze Klaſſe Ficherte, und Marianne durfte
ſich ſetzen.
Johann ſpricht über die Konkurrenz.
„Nun wollen wir dir ein paar fragen vorlegen,
Johann. Wir haben gejehen, wie das Gewinnſyſtem
zur Folge hatte, daß die Produkte der Kaufkraft des
Volfes entzogen wurden, und wie dadurch eine chro-
niſche Ueberfüllung des Marktes eintrat. Welcher
Hauptcharakterzug im Gefchäftsverfehr unſrer Vor—
jahren entwidelte ih aus diefem Grunde?“
„Meinen Sie die Konkurrenz ?”
„Was war die Konkurrenz? und woher jtammte
fie, beſonders unter den Rapitaliften ?”
„Sie ftammte, wie Sie ſchon gejagt haben, aus
der ungenügenden Sonjumtionsfraft der großen
Menge, die binmwiederum aus dem Gewinnſyſtem
ſtammte. Wenn die Kauffraft der Arbeiter und
Produzenten jo groß gewejen wäre, daß fie ben Zeil
aller Waren an fih nehmen fonnten, welcher ihrer
Anzahl entiprah, dann würde der Markt in fürzefter
Zeit und ohne Anftrengung jeitens der Verkäufer
geräumt worden fein. Die Käufer hätten die Ver-
fäufer aufgefucht, und ihre Zahl wäre groß genug
geweſen, alles zu verbrauchen, Da aber die Auıi.
fraft der Maſſen durchaus nicht hinreichte, um all
Maren ded Marktes aufzufaufen, entjtand natücid
ein großer Wettlampf unter den Kapitaliiten, weil
jeder die Kaufluft der wenigen Zahlungsfähigen auf
feine Waren Ienfen wollte. Im ganzen wurde th:
dem nicht für einen Dollar mehr gekauft, folane
bas Wolf nicht mehr Geld in die Hände befam, cher
man fonnte dod die Richtung ändern, in derdei ;
wenige verausgabt wurde — und dies war da
einzige Biel und Streben der Konkurrenz. nie
Vorväter hielten fie für etwas jehr Gutes und meinten,
fie belebe den Handel, während die Konkurrenz mır
ein Symptom ber Folgen des Gewinnigftems war,
das die Konjumtion lahm legte.”
„Welche Methode wendeten denn die Kapitaliften
an, um die Käufer zu loden?*
„In erfter Linie baten fie Diefelben aufs dringend,
zu ihnen zu fommen, und priefen ihre eignen Waren
in ganz jhamlojer Weife an, während fie ihre Mit:
bewerber und deren Produkte in den Augen dei
Publikums verädhtlid machten. Es war damals io
allgemein Geſchäftsregel, ohne jedes Bedenken die
Dinge faljh darzuftellen, da; man den Kaufleuten
aud feinen Glauben jchenfte, wenn fie einmal die
Wahrheit fagten. Die Gefchichte lehrt uns, dab zu
allen Zeiten mehr oder weniger gelogen wurde, aber
im neunzehnten Jahrhundert entwidelte ſich durch
die Konkurrenz diefe Gewohnheit jo ſtark, daß nie
mand ohne fie leben konnte, Unſre Grofßpäter —
und die mußten es doch noch wilfen — fagten, das
einzige Oel, mit dem man die Maſchinerie dei Gr-
winnjuftems jchmieren fünne, wäre die Lüge — und
darum wurde fie jo eifrig betrieben.“
„Und wie du jagft, war diejes Lügenmeer bod
nicht im ftande, die Konſumtion um eines Dollar
Wert zu erhöhen ?*
„Natürlich nicht. Nichts konnte den Konfum ver:
größern als eine Vergrößerung der Kaufkraft de
Volkes. Das Anpreifungsiyitem, oder, wie man &
damals nannte, die Reklame, war weit davon ınl-
fernt, den Berkauf im ganzen zu Heben; im Gegen
teil, fie verringerte ihn !*
„Wie denn dad?”
„Weil fie außerordentlich toftfpielig war. Diele
Koften mußten dem Preis der Ware hinzugefügt und
vom Konjumenten bezahlt werden, der deshalb viel
weniger faufen fonnte, als wenn feine Rellame ge
macht wurde und der Preis der Waren um di
Nellameloften niedriger war,“
„Du ſagſt, daß nur durch Vergrößerung der
Rauffraft des Volkes die Konſumtion gehoben werden
tönnte. Nun wohl, unjre Vorväter behaupteten, dit
Konkurrenz erfülle gerade diefen Zwed; fie jei em
kräftiges Mittel, die Preife zu reduzieren und dem
Gleichheit.
Gewinn der Kaufleute eine Grenze zu fteden. Auf
diefe Weife mache fie e8 dem Volle möglich, mehr zu
kaufen. War dieſe Anſicht richtig ?*
„Rein,“ erwiderte Johann, „der Wettitreit der
Rapitaliften untereinander, um die Käufer anzu—
ziehen, veranlaßte fie allerdings, ſich gegenfeitig zu
unterbieten ; aber dieſe Preißverminderung, die oft
ſeht groß ausſah, verbeijerte die Lage des Volkes im
groben Ganzen durchaus nicht, weil die Mittel, welche
dabei angewendet wurden, den Vorteil wieder zu
nichte machten,“
„Du mußt uns das nod) deutlicher erklären.“
„Es war natürlich das Bejtreben des Kaufmanns,
die Preife jo zu reduzieren, daß fein Gewinn dabei
derjelbe blieb. Nun gab es verjchiedene Wege dieſes
Ziel zu erreichen. Der erfte war: den Wert der
Waren, die angeblich billiger verfauft wurden, zu
verringern, was durch Berfälihung und jchlechte
Arbeit geihah. Auf allen Gebieten des Handels
und der Jnduftrie war im neunzehnten Jahrhundert
dieſes Verfahren gebräudlich, jo daß alle Verbrauchs-
artifel darunter zu leiden hatten. Es ging joweit,
wie uns die Gejchichtsjchreiber jagen, daß fich nie—
mand mehr wundert, wenn der Gegenfland, den er
gelauft Hatte, ganz anders beichaffen war, als er aus—
ſah, und überhaupt nicht das war, wofür er aus—
gegeben wurde. Dieje Kniffe verpefteten die ganze
Handelsatmoſphäre. Kapitaliften, bie ſich mit den
wichtigften Zweigen der Fabrifation beichäftigten,
griffen zu dem Mittel, Waren anfertigen zu laſſen,
bie nur kurze Zeit halten konnten, damit fie deſto
ihneller erneuert werden mußten. Sogar ihre
Maſchinen waren betrügeriiher Schein, benn fie be=
fanden aus verfälfchten Kupfer und Stahl. Selbfl
die ftodblinden Leute jener Zeit täujchten ſich nicht
mehr über den Wert diefer Preisherabjekung und
bezeichneten die wohlfeileren Waren mit dem Aus«
drud: ‚billig und jchleht., Es ift ganz Far, daß
der Konſument dabei für jeden Dollar, den er zu
jparen glaubte, zwei bezahlen mußte. Ein Beifpiel
fol Ihnen beweiſen, wie trügertich dieſe niedrigen
Preife waren: Gegen Ende des neunzehnten Jahr-
hunderts wurden in Amerila ganz fabelhafte Er-
findungen gemadt, um das Schuhwerk billiger her—
zuftellen, und doc jagte man allgemein: wenn auch
der Preis für Schuhe viel niedriger fei als vor fünj-
zig Jahren, während fie no ganz mit der Hand
gemacht wurden, jo jei doch das Schuhwerk jett jo-
viel Schlechter, daß es in Wirklichkeit wenigſtens ebenjo
teuer wäre wie früher.“
„Baren denn Berfälihung und ſchlechte Arbeit
die einzigen Kunſtgriffe der Kaufleute bei diefer jchein«
baren Herabſetzung der Preije?”
„Sie war nod; auf zwei andern Wegen zu er:
reihen. Beim erilen rettete der Sapitalijt jeinen
Aus fremden Zungen. 1897, IL 2,
921
Gewinn daburd, dab er den Lohn jeiner Arbeiter
um foviel verfürjte, als er den ‘Preis niedriger jehen
mußte. Dies war die Methode, welche am meiften
im Schwunge war, und natürlich wurde hierbei die
Kaufkraft des Volkes um ebenſoviel verringert. Die
Gruppe von Rapitaliften, welche die Preije niedriger
ftellte, erreichte auf diefe Weiſe für kurze Zeit einen
lebhaften Umſatz — bis andre Kapitaliſten aud die
Preije niedriger ftellten. Schließlih war niemand
damit geholfen, auch nicht den Kapitaliften. — Nun
gab es aber nod) eine dritte Art der Preiäverringe-
rung, die aus der Konfurrenz entiprang. Sie wurde
durch allerhand Erfindungen und Arbeit jparende
Maſchinen erzielt, welche die Arbeiter überflüffig
machten. Hier beruhte die Preiäverringerung, ebenjo
wie bei der vorigen Methode, darauf, daß weniger
Lohn gezahlt wurde, folglich verringerte ſich auch auf
diefem Wege die Kauflraft der Geſellſchaft, jo daß
ber Vorteil der Preisherabjegung null und nichtig
war.”
„Du haft uns gezeigt,“ jagte der Lehrer, „daß die
Herabiekung der Preije gewöhnlich auf Koſten der
Produzenten oder Konjumenten geihah und ben
Gewinn des Kapitaliften nicht Meiner machte. Willft
du damit jagen, daß die Konkurrenz nie die Wirkung
hatte, den Gewinn des Unternehmers zu verringern?“
„Ohne Zweifel bat fie mandhmal auch dieſe
Wirkung gehabt, in Ländern, wo das Gewinnſyſtem
ihon jo lange herrichte, daß ſich überflüjfiges Kapital
angelammelt hatte, was die Kapitalanlage erfähwerte ;
aber wenn aus jolden Gründen die Preiſe janken,
fam dieſer Umjtand gewöhnlich zu jpät, um der
Konjumtion des Volkes aufzubelfen — jelbft wenn
die Kapitaliften bereit waren, Opfer zu bringen.“
„Wiefo zu ſpät?“
„Solange e8 nody möglid war, den Betrag der
Preisverringerung an den Löhnen abzuziehen, wollten
die Kapitaliften natürlich ihren Gewinn nicht opfern.
Das heißt, fie entichloffen fich erft einen Zeil ihres
Profits aufzugeben, wenn die arbeitende Benöllerung
ſich ihon mit dem Mindeſtmaß an Lebensbedürfniſſen
begnügen mußte. Nun war die Preisreduftion ver-
gebens — das Volk fonnte feinen Vorteil mehr daraus
ziehen ; jeine Kaufkraft war jo erſchöpft, daß fie einer
Wiederbelebung nicht mehr fähig war. Nur wenn
man die Waren ganz umſonſt gab, konnte dem Volt
geholfen werden. Daraus erflärt ſich auch die That«
jache, daß im neunzehnten Jahrhundert die Preije
in den Gegenden am niedrigften waren, wo bie
hofinungslofefte Armut herrſchte. Es war immer ein
ſchlechtes Zeichen für die wirtichaftlihe Lage einer
Gemeinſchaft, wenn die Kapitaliſten ſich entjchließen
mußten, große Opfer zu bringen, ein Zeichen, daß
die arbeitenden Maſſen bereits fo lange ausgepreßt
worden waren, bis es nichts mehr auszupreſſen gab.“
116
3
!
922 Edwarb Bellamy.
„So wurden alfo im ganzen genommen bie
Uebelſtände bes Gewinnſyſtems durch die Konkurrenz
gar nicht vermindert ?*
„Ich glaube, es ift uns Har geworden, daß fie
eine traurige Berichlimmerung desjelben war, Der
verzweifelte Kampf der Kapitaliften um einen Anteil
an dem jpärlichen Marktgewinn, den ihre eignen
Maßnahmen jo verringert hatten, trieb fie zu Ber
trügerei und Grauſamkeit, ja er erftidte jedes Gefühl
in einer Weiſe, wie es bei menſchlichen Wefen nur
unter jo ichwerem Drud vorkommen kann.”
„Was war denn im allgemeinen die Wirkung
ber Konkurrenz?“
„Sie beeinflußte alle Zweige der Inbufirie und
wirkte mit der Zeit auf alle Klaſſen der Gejellichaft,
Rapitaliften und Nichtlapitaliften, jo ficher und un—
aufhaltiam nieberziehend, wie die Schwerkraft. Bei
denen, die am wenigfien Kapital hatten, machte fid)
dieie Wirkung zuerft fühlbar. Die Lohnarbeiter, die
gar keins hatten, und bie Heinen Landwirte, die fait
nichts befaken, litten unter der nämlichen Schwierig«
feit; die einen mußten um jeden Preis Abjak für
ihre Produfte fuchen, die andern hatten Mühe, irgend
welche lohnende Arbeit zu befommen. Dieje Klafjen
waren bie eriten Opfer bes verzweifelten Kampfes
um den Verkauf, auf einem Markt der von Waren
und Menjichen überfüllt war. Zunächſt kamen die
Neinen Sapitaliften daran, bis jchließli nur die
reichften übrig blieben, und dieſe fanden es nötig,
ſich dadurch vor dem Untergang zu retten, daß fie
ihre Intereffen vereinigten, Es ift ein haralteriftifches
Merkmal der Zeit, die dem großen Umſturz voran—
ging, daß die Kapitaliften ihre Zufludt in der
Vereinigung zu großen Syndifaten und Handeld-
ringen ſuchten.“
„Wenn nun der Umſturz das Yortichreiten diejer
Vorgänge nicht unterbrochen hätte, würde dann ein
Spitem, bei welhem das Sapital und der ganze
Geſchäftsverlehr in den Händen einer Heinen Anzahl
von Kaufleuten vereinigt waren, nicht beſſer für die
Geſellſchaſt geweſen fein, als die Konkurrenz und
ihre Folgen?”
„Diele Art Ronfolidation würde jedenfalls zu
einer unleidlichen Tyrannei geworden fein; hätte die
Nation dies Joch auf fih genommen, jo würde fie
es wohl ſchwerlich je wieder abgejhüttelt haben. Eine
Rereinigung der Geldariftofratie, wie jie dem Handel
zur Zeit bes Umſturzes drohte, wäre für die Wohl«
fahrt des Volkes viel gefährlicher gewejen als die
Konkurrenz. Uber, was die unmittelbaren Folgen
beider Syfteme anbetrifft, jo hätte vielleicht das
Privatfapital in Form der Konfolidation einige Vor—
züge gehabt. Da fie eine Selbftherrichaft darftelte,
hätte hie und da ein mwohlwollender Deſpot bejler
jein fönnen als das Syſtem, jo daß er die Möglich-
feit gehabt hätte, die Lage des Volles etwas glüd:
licher zu geftalten — und das war bei ber fon
furrenz unmöglid).*
Ich verſtehe dich nicht.”
„sc meine, daß der Kapitaliſt unter der Kerr:
ihaft des Konkurrenzſyſtems gezwungen war, feine
befieren Gefühle zu unterdrüden, wenn er welde
hatte, Er konnte nicht beſſer fein als das Suiten;
bei jedem Verſuch der Art erdrüdte ihm bie Kom
furrenz. Wenn er mit feinen Gegnern nicht Schritt
bielt, ging er zu Grunde. Jedes jchändlice oder
graufame Berfahren jeiner Nebenbuhler mußte «x
nahahmen, wenn er im Kampf nicht unterliegen
wollte. Der ſchlechteſte, gemeinfte und ſchändlichſie
von allen, derjenige, welcher feine Angeitellten am
ihamlojejten ausbeutete, jeine Waren am geſchickleſten
verfälfchte und lügneriſch anzupreifen verftand, gab
für alle den Ton an,”
„Wenn du im Anfang der revolutionären Bes
wegung gelebt hätteft, würdeft du aljo nicht mit den
Reformatoren übereingeftimmt haben, die e& für ein
Unglüd hielten, wenn die großen Monopole der Ron
furrenz ein Ende gemadjt hätten?“
„Ih weiß nicht, ob ich in diefem Fall Hüger
gewejen wäre als meine Zeitgenoſſen,“ ermwiderte
Johann, „aber wenn id aud den Monopoliſten
dafür dankbar gewefen wäre, daß fie Die Konlurren;
bernichteten, jo würde ich doch mit großem Eifer zum
Sturz der Monopoliften beigetragen haben, um dem
Nationalkapitalismus Plaß zu maden.”
Robert fprihtoondemleberjlußan Menfden.
„Nun lommſt du an die Reihe, Robert,” fagte
der Lehrer. „Johann hat von dem Weberfluß an
Gütern geiprochen, welcher die Kapitaliften zu einem
MWettfampf untereinander veranlaßte, der jehr ver-
hängnisvolle Folgen für das Volk Hatte. Auher
diefem entjtand aber nocd ein andrer Weberfluß
aus dem Gewinnſyſtem. Kannſt du uns jagen,
welcher ?“
„Ein Ueberfluß an Menſchen,“ erwiderte Robert.
„Der Mangel an Kaufkraft des Volles, fei es au:
Mangel an Arbeit oder wegen zu niedriger Löhne,
bedeutete geringere Nachfrage nad) Produften, und
das bedeutete wieder weniger Arbeit für die Produ
zenten, Wo es überfüllte Warenhäufer gab, wurden
die Fabriken geichloffen, und Scharen von Arbeitern
mußten müßig geben, das heißt der Ueberfluß auf
dem Gütermarft veranlaßte Weberfluß auf dem
Menſchenmarkt. Und wie die Ueberproduftion die
Konkurrenz erzeugte, jo erzeugte der Ueberfluß an
Arbeitskraſt einen ebenfo verzweifelten Kampf unter
der Menge, die Arbeit juchte. Der Kapitalift, welcher
für feine Waren feine Käufer fand, verlor nur jein
Geld, während die Arbeiter, welche ihre Kraft und
Gleichheit.
Geſchicklichkeit, das einzige was fie beſaßen, nicht ver⸗
laufen fonnten, verhungern mußten. Der Kapitaliſt
tonnte auf den nächſten Marft warten, wenn jeine
Produlte haltbar waren; der Arbeiter mußte fofort
einen Käufer finden, oder jterben. Und in An—
betracht diefer feiner Unfähigleit, auf einen Käufer
ju warten, war der Landwirt, obgleich in feinem
Detriebe ein Kapitalift, wenig beffer daran als der
Taglöhner; denn er war bei ber Kleinheit feines
Kapitals ebenfomwenig im ftande, mit feinem Erzeug-
nis zu warten, wie der Arbeiter mit feiner Arbeit.
Diefe Zwangslage — für den Lohnempfänger, feine
Kraft zu verfaufen fofort und unter jeder Bedingung,
wie für den feinen Befiker, jein Erzeugnis zu ver»
werten — bot den großen Sapitaliften die Hand»
babe, unerbittlih den Arbeitslohn und die Preije,
die den eigentlichen Erzeugern für ihre Erzeugniffe
gezahlt wurden, herunterzudrüden.”
„Beftand denn diefer Ueberfluß an Menjchen
nur unter den Lohnarbeitern und fleinen Land»
wirten?
„Im Gegenteil, Handel und Gewerbe, jede Kunſt
und jeder Beruf, auch der allergelehrteſte, hatten
Ueberfluß an Menjchen. Feder neue Ankömmling
wurde mit fcheelen Augen angejehen; er war ein
Gegner mehr im Kampf ums Dajein, der ſchon
ſchwer genug war. Unmöglich konnte Damals irgend
ein Menſch rechte Befriedigung in feiner Arbeit
finden, wenn fie auch noch jo anjtrengend und auf-
opierungsvoll war. Gewiß hat ihn der Gebante
unaufhörlich verfolgt, ob es nicht beifer jei, einem
andern die Arbeit und auch den Lohn zu überlaſſen,
da doch weder Arbeit noch Lohn für alle vorhanden
war.”
„Haben denn unjre Vorfahren gar fein Ver—
ſtändnis für diefe Dinge gehabt? Erfannten fie nicht,
daß die wirtſchaftlichen Verhältniſſe fehlerhaft fein
mußten, wenn ein ſolcher Ueberfluß an Menjchen
entftehen konnte ?*
„Gewiß erkannten fie dies," erwiderte Robert.
„Sie waren jogar jehr unglücklich darüber. Viele
Schriftfleller erörterten die Frage, warum die Arbeit
in der Melt denn nicht für alle reichte, da doch
Armut und Not auf Erden ein Zeichen jei, wie viel
noch immer zu thun wäre. Die Kongreſſe und ge—
iehgebenben Körper beauftragten eine Kommiſſion
gelehrter Männer nad der andern, die Sache gründ»
lic zu unterfuchen und darüber Bericht zu erjtatten,*
„Und haben diefe Gelehrten die wahre Urfache
herausgefunden? Haben fie erflärt, daß es eine not=
wendige Folge des Gewinnſyſtems fei, wenn die
Kinft zwiſchen Produktion und Konfumtion immer
größer würde ?”
„D nein! Das Gewinnſyſtem zu tadeln wäre
Gottestäfterung geweſen! Die Gelehrten nannten es
923
ein Problem — das Problem der Arbeitälofigfeit —
und gaben die Löjung des Nätfels auf. Unſte Bor-
fahren liebten e&, einer Frage auf dieſe Weije aus
dem Wege zu gehen, wenn fie unfähig waren, biefelbe
zu beantworten, ohne gefeßlich feſtſtehende Intereſſen
zu verleßen. Sie galt ihnen für jo unerforjchlid)
wie die Vorſehung.“
„Aber gab es nicht einen Philofophen, Robert,
einen Engländer, der dem Weberfluß an Menſchen
auf den Grumd ging? Er hat dem einzigen Weg an—
gegeben, wie berjeibe vermieden werben konnte, auch
wenn das Gemwinnfyften beibehalten wurde. Kannft
du mir feinen Namen nennen?“
„Nicht wahr, Sie meinen Malthus?“
„3a. Welchen Vorſchlag machte er?"
„Er riet den armen Leuten, lieber nicht geboren
zu werden, das jei der befle Weg, nicht zu verhungern.
Mit andern Worten: er riet den Armen, keine Kinder
in die Welt zu ſetzen. Wie Sie jagten, war diejer
Mann der einzige von der ganzen Gejellichaft, der
dem Gewinnfyftem auf den Grund ging und er-
fannte, dab auf Erden fein Raum war für diejes
Syftem und die Menjchheit zugleih. Da er das
Gewinnſyſtem für eine von Gott verordnete Not—
wendigfeit hielt, konnte er gar nicht im Zweifel darüber
jein, daß unter den Umſtänden die Menjchheit den
Platz räumen müſſe. Man nannte Malthus einen
gefühllojen Philojophen — vielleicht war er das auch,
aber jolange das Gewinnſyſtem auf Erden herrſchte,
wäre es ein Akt der Menjchlichkeit geweſen, die rote
Fahne auszuhängen, um alle Seelen vor der Landung
auf unferm Planeten zu warnen.”
Emilie zeigt, wie notwendig Abzugsröhren
jind,
„IH bin ganz deiner Meinung, Robert,“ jagte
der Lehrer. „Und nun, Emilie, wollen wir did) bitten,
uns in dieſer interefjanten, wenn auch nicht erfreus
lichen Betrachtung weiter zu führen. Das Wirt:
ſchaftsſyſtem der Produktion und Güterverteilung
fann man jehr gut mit einem Wafjerbehälter ver-
gleichen, der ein Zuflußrohr (die Produktion) und ein
Ableitungsrohr (die Konſumtion) hat, Wenn der Be=
hälter richtig fonjiruiert ift, können beide Rohre ihren
Zwed erfüllen, jo dab man ebenjoviel Waſſer ab-
laffen, wie einpumpen fann, und nichts dabei über«
fließt. Bei dem Gewinnſyſtem unfrer Vorfahren
war ed aber anderd. Statt dagjelbe zu leiften wie
das Zuflußrohr (die Produktion), wurde das Ab«
feitungsrohr (die Konjumtion) zur Hälfte oder zu
zwei Dritteln durch die Schleufe des Kapitaliften-
gewinns verſchloſſen, jo daß es nur die Hälfte oder
ein Drittel des Waſſervorrats ablafjen fonnte, Der
durd) das Zuflußrohr eingepumpt worden war. Nun
jage mir, Emilie, welches die natürliche Folge fein
924 Edward Bellamp.
muß, wenn Zufluß und Abfluß bei einem Majjer-
bebälter nicht übereinitimmen ?*
„Dann würde fich jedenfalls der Mafferbehälter
zu sehr anfüllen,” antwortete Emilie. „Man würde
gezwungen fein, die Leitung des Zuflußrohrs zu
verringern, das heißt, fie auf die Leiftungsfäbigfeit
des Ableitungsrohrs zu beſchränlen.“
„Wenn aber dieſe Maßregel den Umfang bes
Ableitungsrohrs (Konſumtion) noch mehr verkleinerte,
dadurch daß es den arbeitenden Klaſſen ſelbſt die
geringe Kaufkraft entzog, die fie in Form von Lohn
und Ertrag ihrer Produkte noch beſaßen?“
„Wenn das der Fall it,“ jagte Emilie, „wenn
dadurd nur die Produftion gehemmt wird und der
ſtonſum nicht vergrößert, dann bleibt nichts andres
mehr übrig, als die Abzugsröhren zu öffnen.”
„Ganz recht. Nun fönnen wir uns auch vor—
jtellen, was für eine wichtige Nolle die Abzugsröhren
im Wirtſchaftsſyſtem unfrer Norväter geipielt haben.
Unter ihrem Syftem verfaufte die Hauptmafje des
Volks feine Urbeit und feine Produlte den Kapita—
liiten, fonnte aber nur einen Meinen Teil derjelben
fonjumieren — das übrige blieb in den Händen der
Unternehmer. Da e8 aber nur eine Kleine Anzahl
von Kapitaliften gab, konnte dur ihre Bedürfnifie
nur ein winziger Zeil der aufgehäuften Produfte
verbraucht werden, und doch ınußten fie Diefelben los
werben, jonft fodte der Handel. Die Kapitaliften
allein konnten ja über die Größe der Produftion
enticheiden und hatten natürlich feine Veranlaflung,
noch mehr Güter anzuhäufen, die fie nicht verlaufen
fonnten, Je mehr nun aber die Produktion erjchlaffte,
deito ſchneller verminderte ſich die Konſumtion des
Bollkes; es fand feine Arbeit, niemand kaufte ſeine
Produkte, und die Ueberfüllung in den Lagerräumen
ber Kapitaliften wurde immer größer, deun die Rauf-
fraft des Volles war erſchöpft. Was thaten nun
die Hapitaliften, nachdem alle ihre eignen Bedürfniſſe
befriedigt waren, um dieſen Leberfluß zu verwenden,
und Naum für neue Produktion zu fchaffen ?”
„Nenn die überflüffigen Produkte der Ueber—
füllung abhelfen jollten,* antwortete Emilie, „dann
mußten fie natürlich in einer Art verwendet werden,
die nichts einbradte. Sie mußten vollftändig ver—
geudet werden — wie Waller, da3 man ind Meer
gießt. Das geſchah dadurch, dak man Arbeiter-
klaſſen, die fi mit unfruchtbaren Unternehmungen
beſchäftigten, unterftüßte. Es gab zweierlei Arten
von dieſer unfruchtbaren Arbeit: die erfte beftand in
ben nußloſen Unternehmungen ber gewerblichen und
faujmänniichen Konkurrenz ; die zweite wurbe zum
Zweck und im Dienfte des Luxus unternommen,“
„Sage uns zuerft etwas über die fruchtfoje Arbeit,
melche die Konkurrenz veranlaßte.“
„Sie entftand durch Unternehmungen auf dem
Gebiet des Hanbels und der Induftrie, für die feinerlei
Bedürfnis vorhanden war. hr Zwechk mar einzig
und allein, dem Gejchäft des einen Kapitaliften durch
da3 des andern den Rang abzulaufen.”
„Und verurfachte das eine große Vergeudung?“
„Man kann ermeifen, wie groß die Vergeudung
war, wenn man bedenft, daß damals allgemein ge—
jagt wurde: fünfundneungig Prozent aller gemerb:
lichen und faufmännifhen Unternehmungen jchlügen
fehl, das heißt, die Unternehmer verlören ihr An—
lagefapital, weil fie für Bedürfniffe arbeiteten, die
nicht vorhanden waren, oder für die ſchon in aus
reichender Weiſe gejorgt war. Wenn dies Zahlen:
verhältnis annähernd richtig ift, fann man ſich einen
Begriff davon mahen, was für Unjummen von
angehäuften Gewinn bei diefer Art von Konkurrenz
vergeudet wurden. Man darf auch nicht vergelien,
daß ebenjoviel Kapital verloren ging, wenn es einem
Kaufmann gelang, den andern in feinem Geſchäft
aus zuſtechen, nur war in biefem Fall der Berluft
auf jeiten bes erjten Unternehmers, während im
andern Fall der zweite fein Kapital verlor. In
jedem einigermaßen fultivierten Lande gab es in
allen Gejchäftsjweigen viel mehr Unternehmungen
als das Geſchäft verlangte, und nur der geringfle
Zeil aller angelegten Rapitalien trug Zinfen. Man
fonnte nur neues Kapital anlegen, wenn man ba:
alte, ſchon angelegte, verbrängte und vernichtete. Die
immer neu anwachſende Maſſe des Gewinns, der
einen Markt fuchte, welcher doch durch ebem dieſen
Gewinn verftopft war, veranlaßte einen leidenfhaft-
lihen Kampf unter den Hapitaliften, der nad allem,
was wir davon gehört haben, jo verheerend wirkte
wie eine Feuersbrunſt.“
„Nun ſage und etwas über die andre große
Gewinnverſchwendung, durch welche der Ueberfluß
in dem Waſſerbehälter ſo verringert wurde, daß die
Produktion doch weiter gehen lonnte — ich meine die
Benützung des Gewinns zur Anſtellung von Arbeitern
im Dienfte des Lurus. Was verftand man unter
Lurus ?*
„Wenn man von dem Zuftand der Gefelihait
vor der Revolution jpricht, jo bedeutet der Ausdrud
Luxus die Güterverichwendung, welche die Neichen
trieben, um ſich einen verfeinerten Sinnengenuß zu
bereiten, während die Maſſe des Volles ſelbſt an
den nötigften Lebensbedürſniſſen Mangel litt.
„Nenne uns einige Beifpiele von dem Luxus und
der Verſchwendung, weldhen die Kapitaliften frönten!*
„Sie thaten es auf alle mögliche Art; zum Bei—
ipiel bauten fie fich koſtbare Paläſte als Wohnung
und flatteten fie mit Löniglicher Pracht aus, fie hielten
fi große Dieneriharen, genoſſen die jeltenfien
Speifen und Getränke, hatten jchöne Equipagen und
Vergnügungsboote, aud) prächtige leider und herrliche
Gleichheit. 925
Edelſteine in großer Menge. Man ftrengte feine
Erfindungsgabe an, um allerlei Beranftaltungen zu
treffen, die e8 den Reichen ermöglichen jollten, den
Ueberfluß zu verprafjen, um bejientwillen das Wolf
darbte. Eine ungeheure Wrbeiterjhar war fort»
während beichäftigt, zahlloſe Artifel zu fabrizieren,
die der Eitelkeit und Prunkſucht der Reichen dien»
ten, während die Arbeiter jelbft das Nötigfte ent—
behrten.“
„Welchen Eindruck macht dieſer Luxus vom mora=
lichen Standpunlt aus?”
„Hätte fih das geſamte Gemeinwejen in einem
MWohlftand befunden, der allen feinen Gliedern ge—
ftattete, den gleichen Luxus zu genießen,” erwiberte
dad Mädchen, „jo würde es ſich nur darum handeln,
ob mar Geſchmack daran fände. Aber die ungeheure
Güterverſchwendung der Reichen, in Gegenwart einer
armen nofleidenden Bevölkerung , zeugte von einer
Unmenfchlichkeit, wie man fie bei zivilifierten Völkern
nicht für möglich halten würde, wären die Thatjachen
nicht volllommen verbürgt. Man denke ſich nur eine
Gejellichaft, die bei einem Gaftmahl an reich be=
ſetzter Tafel ſitzt, während rings auf dem Boden und
in allen Eden de3 Saales eine Anzahl ihrer Mit
geihöpfe umberliegen und mit gierigen Bliden jedem
Biffen folgen, den die Schmaujenden zum Munde
führen! — Genau fo machten e8 aber die Reichen
in den großen Städten von Amerika, Frankreich,
England und Deutjchland vor der Revolution; bloß
mit dem Unterſchied, daß die Hungrigen und Not—
leidenden nicht drinnen im Banfettfaal waren, jondern
draußen vor der Thür auf der Straße.”
„Sagte man aber denn nicht, um den Luxus der
Kapitaliften zu entjchuldigen, daß fie auf diefe Weife
vielen Leuten Arbeit verjchafiten, die jonft feine er=
halten hätten?“
„Und warum fehlte e8 ihnen denn an Beſchäf—
tigung? Weshalb waren die Leute frob, wenn fie für
die luxuriöſen VBergnügungen und Genüffe der Reichen
arbeiten durften? Weshalb gaben fie fih zu den
untergeorbnetften und entwürdigendften Dienten her?
— Einzig und allein, weil diefe jelben Kapitaliſten
durch den Gewinn, welchen fie nahmen, die Kon—
jumtionätraft des Bolfes weit unter feine Produktions»
fraft herabdrüdten. Sie ſchränlten dadurd zugleich)
das Feld der probuftiven Arbeit ein, auf dem, unter
einem vernünftigen Wirtſchaftsſyſtem, jedermann Be—
ihäftigung gefunden hätte, bis alle Bedürfniſſe be«
friedigt waren, wie das heutzutage der Fall iſt.
Wenn die Kapitalijten für ihre Iururiöfen Ausgaben
die Entjhuldigung vorbradhten, die Sie erwähnt
haben, fo beriefen fie fi nur auf die Folgen eines
Unredts, um ein neues begehen zu können.“
„Die Sittenprediger haben zu allen Zeiten den
Luxus der Reichen verurteilt,“ ſagte der Lehrer.
„Weshalb hat denn ihr Tadel feine Beſſerung zur
Folge gehabt?“
„Weil fie die wirtjchaftlihe Seite der Frage
überfahen. Sie begriffen nicht, daß, folange das
Gewinnfyftem herrjchte, die Verſchwendung bes Ge-
winnüberichuffes durch unproduftive Ausgaben eine
wirtfchaftliche Notwendigkeit war, wenn die Produktion
weiter fortgehen jollte, wie Sie das an dem Beifpiel
mit dem Waſſerbehälter Har beiwiejen haben. Die Ge-
winnverfchwendung durch den Luxus war in wirtichafte
licher Hinfiht fo unentbehrlich, wie zum Beiſpiel in
gewiſſen Kranfheiten eine offene Eiterbeule, um die
unreinen Säfte aus dem Körper zu entfernen. Bei
unferm Syftem der gleichen Güterverteilung ijt der
Geſamtbeſitz des Gemeinmwejens an alle Glieder gleid)«
mäßig verteilt, wie das Blut in einem gefunden
Körper. Unter dem alten Syſtem aber fammelte
fi) der Bejik in den Händen einer Meinen Minder-
beit an und verlor dadurch feine lebenſpendende
Kraft; wie dad Blut, wenn es ſich in beflimmten
Organen ftaut, zu einem Gift wird, deſſen man id)
um jeden Preis entledigen muß. Der Lurus läßt
fi) daher mit einem Geſchwür vergleichen, das offen
gehalten werden mußte, wenn das Gewinnſyſtem
überhaupt Beſtand haben jollte.”
„Du ſagſt,“ warf der Lehrer ein, „baß die Pro-
duftion feinen Fortgang hätte haben fönnen, wenn
nicht der Meberfluß an Gewinn durch unprobuftive
Ausgaben auf irgend eine Weije verſchwendet worden
wäre. Aber hätten ſich denn nicht die, welche den
Gewinn hatten, eine verfländigere Art ausdenken
fönnen, ihn zu verbrauchen? Gab «8 fein befjeres
Mittel bazu, als bie bloße Konkurrenz, bei der einer
den andern verdrängte, oder die Güterverſchwendung
im berfeinerten Sinnengenuß, welde obendrein, in
Gegenwart der notleidenden Menge, jo wenig menjchen-
freundlich war ?*
„Gewiß. Es wäre weit menfchenfreundlicher und
weniger entjittlichend geweien, hätten ſich die Kapita—
liften auf andre Weile ihres Ueberfluffes entledigt.
Sie brauchten nur von Zeit zu Zeit ein großes
Feuer anzuzünden, um dem Gotte ‚Gewinn‘ ein
Branbopfer zu bringen, wenn fie nicht vorzogen, mit
ihren Schätzen ins Meer hinauszufahren und fie zu
verjenfen, wo es am tiefjten war.”
„Es läßt fih nicht leugnen, dab ein ſolches
periodifches DOpferfeuer oder die Sitte, überflüffige
Güter ins Waller zu verjenfen, den Göttern und
Menſchen angenehmer geweſen wäre, als das Schwelgen
in einem Luxus, der dem bitteren Mangel der Maſſen
Hohn ſprach. Welchen Einfluß aber hätte dies Ver—
fahren auf das Wirtſchaftsſyſtem gehabt ?*
„Einen weit bvorteilhafteren, nicht nur in fittlicher,
fondern auch in wirtjchaftlicher Beziehung. Durch
Konkurrenz und Luxus wurde der überflüjfige Gewinn
926 Edward Bellamy.
nur langfam und allmählich aus der Welt geichafft;
in der Zwiſchenzeit aber ftodte die Gewerbethätigfeit,
und die Urbeiter mußten müßig daftehen und warten,
bis der Ueberſchuß fich jo verringerte, daB wieber
Raum für neue Produktion entjtand. Wurde da—
gegen der Ueberihuß raſch zerftört, jobald er ſich
bemerklich machte, jo fonnte der Betrieb ohne Unter:
brechung fortgefeßt werden.“
„Bie fteht e8 denn aber mit den Arbeitern, welche
bie Lurusgegenſtände für die Kapitaliften fabrizierten ?
Hätten fie nicht ihre Beichäftigung verloren, wenn
ber Luxus abgeſchafft wurde?”
„Im Gegenteil; wenn ein regelmäßiges Opferfeuer
eingeführt worden wäre, hätten fie fortwährend Arbeit
gehabt, um neues Material zu produzieren, das in
die Glut geworfen wurde. Das wäre noch eine viel
würbigere Beichäftigung geweſen, als den Kapitaliſten
dazu behilflich zu fein, daß fie die Erzeugniffe der
Gemwerbethätigfeit ihrer Brüder im Taumel des Ge—
nuſſes verzehren konnten. Doch hätte ein ſolches
Opferfener, wenn ed an Stelle des Luxus getreten wäre,
vielleicht noc) größeren Nutzen geftiftet. Nachdem die
Nation dem Gewinn einige diefer jährlichen Brand»
opfer gebracht hatte, ja möglicherweile ſchon nach dem
eriten berjelben, würde ſich ihr aus eigner Anſchauung
die Frage aufgedrängt haben, ob denn die moraliichen
Vorzüge des Gewinnjyftems für dieſe großen Opier
an Güterbefik irgend welche Entſchädigung boten,“
Karl bejreit und von einer Befürdtung.
„Nun Karl,“ fagte der Lehrer zu einem Knaben,
„Huf du uns einen Zweifel zu befeitigen, der unfer
Gewiſſen beunruhigt, Wir haben alle viel Schlechtes
über das Gewinnſyſtem gejagt, jowohl in fittlicher
als wirtſchaftlicher Hinſicht. Iſt es denn aber nicht
möglich, dab wir es mit Unrecht jo hart tadeln ?
Haben wir das Bild nicht zu ſchwarz gemalt? Von
ethiichen Geſichtspunkt aus kann das zwar faum der
Fall fein, denn es läßt fi gar nicht mit Worten
ſchildern, wie ſehr e8 aller Menſchlichleit Hohn ſprach.
Aber vielleiht haben wir doc feine wirtfchaftliche
Schädlichkeit zu ftark betont und es als zu hoffnungs-
los bingeftellt, daß die Welt, jo lange fie jein Be—
ſtehen duldete, je zu materiellem Wohlbefinden ge-
langen könne? Kannjt du uns über diefen Punft
berubigen ?*
„Mit Leichtigkeit,“ verjeßte Karl. „Die National»
Ökonomen des neunzehnten Jahrhunderts ftellen uns
ielbit das ficherfte Zeugnis darüber aus, daß es unter
der Herrichaft des Privatlapitalismus feinerlei Aus—
ficht auf wirtidhaftliches Gedeihen gab. Sie konnten
feine verhängnisvolle Wirfung waren fie völlig im
flaren. Weit entfernt davon, die Menjchheit zu er—
mahnen, fie folle die beftehenden Uebel tapfer ertragen
und ſich mit der Hoffnung tröften, da befiere Zeiten
tommen würden, lehrten fie allgemein: das Gewinn:
inftem müſſe jedenfalls über furz oder lang den in-
duftriellen Fortichritt hemmen, jo daß ein Stillfland
in der Produltion unvermeidlich wäre,“
„Wie führten fie diefen Beweis?“
„Sie erfannten wie wir, daß ſich bei der Herr-
ſchaft des Privatfapitalismus Nenten, Zinfen und
Gewinne immer mehr in Form von Kapital in den
Händen der Kapitaliftenflaffe anfammeln muhten,
während andrerfeits die Konſumtionskraft der Mafien
nicht zunahm, fondern fic entweder verminderte oder
unverändert blieb. Die Folge diefer mangelhaften
Ausgleihung von Produktion und Konjumtion war,
dab es immer jchwieriger wurde, das Kapital mit
Gewinn in der Induſtrie zu verwenden, währen)
das anzjulegende Kapital mehr und mehr wucht.
Nahdem der einheimifche, ſowie der fremde Martt
mit Erzeugniffen überfchwenmt war, bemühten ſich
die Hapitaliften um die Wette, produktive Verwendung
für ihre Gelder zu finden. Zuerſt fehlen fie den
Lohn jo weit wie möglich herunter und gaben dann
foviel von ihrem Gewinn auf, als fich irgend thun
ließ, wenn es überhaupt für fie noch lohnen follte,
ihr Kapital zu riskieren. War diefer Punkt erreicht,
jo wurde weiter fein Kapital verwendet um Geſchäfte
zu madjen. Die Güterproduftion nahm nicht mehr
zu, ſondern geriet in Stillftand.“
„Du fagft, die Ergebnis des Gewinnfuflen:
hätten die Nationalöfonomen des neunzehnten Jahr
hunderts jelbit vorhergeſagt?“
„Gewiß. Ich könnte eine Menge Stellen aus
ihren beften Büchern angeben, welche dieſen Zuftand
der Dinge im voraus ſchildern; übrigens bedurfte
es gar feined Propheten, um das zu thun,“
„War die Welt — das heißt die in der induſtriellen
Entwidlung am weiteften vorgejhrittenen Völlet —
diefem Zuftand ſchon jehr nahe gefommen, als die
Kevolution eintrat ?*
„Sie hatten ihn faft erreicht. Die in wirtſchaft⸗
licher Beziehung entwideltjien Völfer hatten meift
die Kaufkraft des heimischen Marktes erſchöpft und
tämpften verzweifelt um ein Abjaßgebiet auf fremden
Märkten. Der Zinsfuß, welcher bezeichnete, bis zu
welchem Grade der Ueberfluß an Kapital geftiegen
war, fiel in Amerifa innerhalb dreißig Jahren von
fieben oder ſechs auf fünf, vier oder drei Prozent
und ſank immer mehr von Jahr zu Jahr; im Eng
fand betrug er noch zwei Prozent. Die probultiv:
Gewerbethätigkeit war faft überall gehemmt und nahn
nur dan und warın einen Aufſchwung. In Amerika
ſich zwar fein andres Syſtem vorftellen, aber über |
wurden die Lohnarbeiter zu Proletariern und die
Landbeſitzer zu Pächtern. Die allgemeine Unzufrieder-
heit mit dieſen Zuftänden und die Furdt, daß ned
Schlimmeres zu erwarten ftehe, hat mehr als al
Gleichheit,
andre dazu beigetragen, dem Volke zu Ende des
neunjehnten Jahrhunderts endlich die Notwendigfeit
far zu machen, daß es den Privatlapitalismus für
ewige Zeiten abſchaffen müſſe.“
„Und ift denn der Stillftand, nach deſſen Beginn
fih feine Zunahme der Güterproduftion mehr er—
warten ließ, wirfiich ſchon eingetreten, bevor noch
für die notwendigften Pebensbedürfniffe der Maflen
aejorgt war ?*
Jawohl. Die Befriedigung der Bedürfniſſe der
Maſſen fam bei der Vroduftion überhaupt nicht in
Belraht, folange das Gewinnſyſtem herrſchte, das
haben wir bereit zur Genüge geiehen. Je mehr die
Froduftion fi) dem Stillitand näherte, um jo größer
wurde das Elend des Vollkes, infolge des Wettſtreits
der Kapitaliften, die mit ihrem Ueberſchuß an Kapital
Geihäfte zu machen ſuchten. Zu diefem Zweck
drüdten fie, wie gejagt, die Preiſe aller Erzeugniife
herunter; dadurch ſank zuerſt der Lohnſatz der Are
beiter und die Einnahme der Landwirte jo tief wie
möglich, und endlich entſchloſſen ſich die Kapitaliſten,
au ihren Gewinn herabzuſetzen. Was die alten
Rationaldfonomen den Stillftand in der ‘Produktion
nannten, bedeutete alfo für das Boll einen fort
dauernden Zuftand der größten Not, unter der es
nur gerade noch beftchen konnte.“
„Das genügt, Karl. Nach dem, was du gejagt
haft, brauchen wir nicht mehr zu fürchten, dak wir
zu hart über das Gewinnfyiten geurteilt haben. Wie
wäre das auch möglich, wenn jelbjt die Leute, die
dafür eintraten, einen ſolchen Ausgang prophezeiten.
Die Schilderung, die fie von dem Stillftand der
Induftrie entwerfen, melde am Ende ihrer Hilje-
mittel angefommen ift, während ringsum die Mafjen
im bitterjten Elend ſchmachten, reicht allein ſchon
bin, um dem Syſtem das VBerbammungsurteil zu
iprehen. Das war die Zukunft, welche die National
öfonomen des neunzehnten Jahrhunderts den frierenden
und Hungernden Arbeiterjharen vorausjagten; eine
andre Hoffnung hatten fie ihnen nicht zu bieten. Es
ſollte ihnen noch ſchlimmer ergehen als je zuvor, und
von einer Bellerung ihres Zuftandes fonnte nie mehr
die Rede fein. Kein Wunder, daß unfre Vorfahren
die Volkswirtſchaftslehre als eine troſtloſe Willen«
haft bezeichneten, denn einen ärgeren Peſſimismus,
eine größere Hoffnungslofigteit, als fie verkündete,
hat e& niemals gegeben. Wie jchredlich wäre es für
die Menſchheit geweien, hätte diefe Wiſſenſchaft auf
Wahrheit beruht.
Eſther berechnet die Koften des Gewinn—
fyſtems.
„Nun, Eſther,“ fuhr der Lehrer fort, „möchte ich
von dir hören, wie viel die Beibehaltung des Gewinn-
igftems unjern Vorfahren etwa gekojtet Haben mag?
927
Emilie hat uns einen Begriff davon verjchafit, wie
groß die Verſchwendung geweſen ift, welche Kon—
lurrenz und Luxus verurſachten. War denn aber
die Vergeudung des Kapitald der einzige Verluft,
den das Volk durd das Gewinnſyſtem erlitt?“
„Seineswegs, auch nicht einmal annähernd,” ſagte
das Mädchen, „Wären die Güter, welche durch
Konkurrenz und Luxus verichwendet wurden, gleich“
mäßig unter das Volk verteilt worden, fo hätte der
Verbrauch derjelben natürlih den Zuftand im all
gemeinen weit behaglicher gemadjt. Aber bei dem
Ueberidylag der Koſten, welche einem Gemeintwejen
dur das Gewinnſyſtem erwuchſen, fam die Güter-
verſchwendung der SKapitaliften faum in Betracht.
Der größte Schaden beftand darin, daß das Gewinn⸗
ſyſtem die Güterprodbultion hemmte, indem es die
faft unbegrenzte Produftionsfraft des Menſchen in
Feſſeln ſchlug und der freien Bewegung beraubte.
Menn die große Mafje des Bolfes, die in Armut
verjunfen war und zum Teil bittere Not litt, genug
erhalten fjollte, damit fie alle ihre Bedürfniſſe ber
friedigen und zum vollen Lebensgenuß gelangen
fonnte, jo wäre die Produltion einer ungeheuern
Menge von Gütern erforderlid) gewejen, um ihrer
Konfumtionsfraft zu genügen. Danach läßt ji un-
gefähr berechnen, wie viel das Volt in Amerika oder
in irgend einem andern Lande damal3 produziert
haben würde, wäre das Gewinnfyftem nicht gewejen.
Man kann, je nad) dem Maßftab, weldden man an«
legt, behaupten, die Broduftion hätte auf das fFünf-
fache, Siebenfadhe oder Zehnfache fteigen müflen.”
„Aber ſage mir: wäre daß amerikanische Volt
am Ende des neunzehnten Jahrhunderts denn aud)
im ftande gewejen, jeine Produftion bis zu folcher
Höhe zu ſteigern, wenn die Kouſumtion es erheijchte ?*
„Ohne alle frage, und zwar mit Leichtigkeit. Die
Erfindungen hatten im neunzehnten Jahrhundert
ſolchen Fortſchritt gemacht, daß die Produftionstraft
der Induſtrie in ungeheuerm Maße zunahm. Während
des leiten Vierteljahrhunderts hätten zum Beiſpiel
die vorhandenen Betriebtanlagen in Amerika oder
irgend einem andern Sulturftaat in einem halben
Jahr den damaligen Bedarf für das ganze Jahr
liefern fönnen. Und dieje Betriebsanlagen ließen
ſich noch ins Unendliche vermehren. Auch die land«
wirtjchaftlihe Produftionskraft fonnte fih niemals
voll entfalten, denn jede reichliche Ernte brachte den
Landwirten einen faum zu ertragenden Preisabichlag,
jolange das Gewinnſyſtem herrſchte. Wie gejagt,
darin flimmten die alten Nationalölonomen alle
überein, daß es für die Produftionäfraft faum eine
Grenze geben würde, wenn nur genügende Nachfrage
zum Zwed des Verbrauchs vorhanden wäre.”
„Könnteft du mir ein andres Beijpiel in ber
Geſchichte nennen, daß die Völker jemals einen fo
928 Edward Bellamy.
hoben Preis bezahlt haben, wie unter der Herrichaft
des Gewinnfyflems, um eine altgewohnte Tyrannei
beizubehalten, bie ihre ganze Weiterentwidlung hemmte
und unmöglich machte?“
„In ähnlicher Weife fann das wohl nie geichehen
jein, jollte ih meinen. Zwar ifl der menſchliche
Fortichritt auf verjchiedenen Stufen feiner Entwidlung
durch volksbedrückende Inftitutionen verzögert worden,
bei deren Shurz die Welt einen großen Sprung bore
wärts that. Aber noch nie hat e8 eine Zeit gegeben,
in der alle Vorbereitungen für einen rajchen und
ungeheuern ſozialen Fortichritt ſchon jo lange und
in jo großartigem Maße getroffen worden twaren,
wie während der Periode vor der Revolution. Das
Gewinnſyſtem hielt alle mechanischen und induftriellen
Kräfte in Banden, und fie brauchten ſich nur zu bee
freien, um den ganzen wirtſchaftlichen Zujtand bes
Menſchengeſchlechts wie mit einem Zauberſchlag umzu⸗
wandeln. Wie groß aber auch der materielle Schaden
war, deu das Gewinnjyftem unjern Vorfahren be=
reitete, er läßt ſich auch nicht von ferne mit dem
Verluſt an Menfchenglüd vergleichen, den es mit ſich
brachte, Wollte man die Summe von Thränen und
Schmerzen, von moraliihem Elend und erlittenem
Unrecht zufummenzählen, welche die Welt an jedem
Tage für die Beibehaltung des Privatfapitalismus
bezahlen mußte, fein Menſch wäre im ftande, dieſe
Verluſte auch nur annähernd zu ſchähen.“
Vor der Revolution gab es nod feine
Nationaldöfonomen.
„But, Eſther. Nun Georg, berichte du uns einiges
Nähere über eine Klaſſe von Gelehrten im neune
zehnten Jahrhundert, die das Volk über deu wirt«
ihaftlihen Untergang, dem es durch die Herrſchaſt
de3 Kapitalismus entgegenging, hätten belehren ſollen.
Bei dem Studium ihrer Wiſſenſchaft konnten fie,
ebenjogut wie wir, den verderblichen Charakter des
Gewinnſyſtems erfennen, Ich meine die National«
öfonomen.”
„Es gab gar feine Nationalöfonomen vor der
Revolution,” entgegnete der Knabe.
„Aber eine große Anzahl Gelehrter nannten fih
doch Nationalöfonomen,“
„Das wohl, aber fie legten ſich einen falſchen
Namen bei,”
„Wie willft du das beweijen ?*
„Weil es vor Eintritt der Nevolution außer
denen, welche den Umsturz ins Werk zu ſetzen juchten,
überhaupt niemand gab, der eine Ahnung davon
hatte, was Nationaldlonomie war.”
„Was verjteht ınan denn darunter?”
„Delonomie,“ jagte Georg, „it ein weile Haus-
halten mit dem Beſitz mittels der Produftion und
Güterverteilung, Der einzelne richtet ſich dblonomiſch
ein, wenn er fein befonderes wirtjchaftliches Intereiie
verfolgt, ohne Rüdiicht auf andre. Die Oelonomit
einer familie befteht darin, daß fie den Vorteil ihrer
Angehörigen ſucht, ohne andre Familiengruppen
dabei in Betracht zu ziehen; Nationalökonomie kann
aber nichts andre bedeuten, als bie Verwaltung
des Belihes zum möglichft großen Ruben der Ge
jamtheit, da ja jämtlihe Bürger zufammengenommen
die Nation bilden. Eine ſolche Verwaltung jest
notwendigerweife das Borhandenfein eines ‚Wirt:
ſchaftsſyſtems voraus, welches das allgemeine Beite
fortwährend im Auge behält. Aber vor der Revolution
ahnte man noch nichts von ſolchem Syftem und fonnte
daher auch feine wirtihaftlichen Einrichtungen treffen,
welche Diefem Zwed entſprachen. Alle früheren Syſteme
und Lehren der Vollswirtſchaft waren nach Theorie
und Praris ausjchlieglih für das Individuum und
feine Privatintereffen berechnet. Auf andern Feldern
hatten unfre Vorfahren zwar die Wichtigleit der
politifchen Einheit und Sozialen Solidarität ſamt
ihren Rechten und entjprechenden Pflichten erfannt,
aber bei allem, was ſich auf Erwerb und Verteilung
der Güter bezog, zeigten fie ſich in Theorie und
Praris feindfelig, roh und ſelbſtſüchtig — antifozial
und antinational.“
„Halt du je in der hiſtoriſchen Bibliothek eine
der Abhandlungen gelefen, welche die jogenannte
Nationaldlonomie unfrer Vorfahren enthielten ?*
„Nein,“ fagte der ſtnabe. „Schon der Titel des
Hauptwerl& diefer Sammlung hat mic abgeichredt.
Es hieß: ‚Der Reichtum der Nationen‘, Das wäre
heutzutage ein herrlicher Titel für ein nationalöfono:
mifches Werk, weil bei uns die Produktion und
Güterverteilung durch und für das ganze Voll bes
trieben wird, Melden Sinn fonnte er aber mög
licherweije bei einem Buche haben, das hundert Jahre
früher geichrieben war, che man nod) überhaupt au
eine nationale Wirtichaftspolitif Dachte? Sein einziger
Zwed war, den Kapitaliften zu zeigen, wie fie auf
Koften ihrer Mitbürger reich werden fönnten, oder
wenigftend ohne die geringfte Rüdficht auf deren
Wohlbefinden zu nehmen. Ein Werteidiger bei
Privatlapitalismus und des Gewinnſyſtems kanntt
ja noch nicht einmal das Abc der Güterproduktion,
welches in der Erkenntnis von der Notwendigfeit der
Koordination und gemeinjhaftlichen Arbeit beiteht.
Die Wirtjchaftäpolitik, welche jene Schriftfteller lehrten,
beihäftigte jih dagegen hauptſächlich mit der Kon
furrenz, dem Streit der Parteien und zahliofen ſich
freuzenden Intereſſen.“
„Und doch,“ jagte der Lehrer, „beſteht der einzige
wirkliche Fehler diefer Bücher über Nationalöfonomie
in ihren abgejhmadten Titeln. Sobald man dirk
ändert, erweilen fie fi) als wertvolle Urkunden aut
der damaligen Zeit. Ein pafjender Name für fi
Gleichheit.
wäre zum Beijpiel: ‚Unterjuhungen über die wirt⸗
Ihaftlichen und fozialen fyolgen eines Zuftandes, der
jegliher Nationalölonomie ermangelt‘, oder auch:
‚Studien über den natürlihen Berlauf der Volls—
wirtihaft, wenn fie, durch den Mangel jeder An—
ordnung für das Gefamtinterefje, der Anarchie
preiögegeben wird‘. Erft wenn wir fie in dieſem
Lichte betrachten — als eine ausführliche und über
jeugende Darftellung der verderblihen Wirkung,
welche der Privatfapitalismus auf die Wohlfahrt bes
Gemeinwejens ausgeübt hat, erfennen wir den wahren
Zwei und Nutzen diefer Bücher. Die Verfaſſer
verbreiten ſich über die verjchiedenen Erſcheinungen
in der Welt des Handels und der Gewerbethätigkeit,
ihildern ihre Rüdwirtung auf die fozialen Verhält-
niffe und beweiſen, daß bei der Natur des Privat»
fapitaligmus gar fein andre Ergebnis zu erwarten
war. Solange diejer herrſchte, lonnte nur eine
ſchwache Gefühlzjeligfeit hoffen, daß die Sade eine
Wendung zum Befleren nehmen würde, modhten die
Abfichten der Menjchen auch noch jo vortrefflich fein.
Der Stil jener Bücher war zwar etwas ſchwerfällig,
doch habe ich oft gedacht, daß während der Umjturz«
periode nichts geeigneter gewejen wäre, um verftändigen
Menihen — falls man fie bewegen konnte, dieſe
Dofumente zu lefen — die Ueberzeugung beizubringen,
wie unumgängflid notwendig e8 war, den Privat«
fapitaliämus abzufhaffen, wenn die Menſchheit je—
mals vorwärts fommen jollte,
„Der verhängnisvolle und völlig unbegreifliche
Irrtum ihrer Verfaſſer beſtand darin, daß fie nicht
jelbjt zu dieſem Schluffe gelangten und ihn ver-
kündeten. Statt deſſen nahmen jie wunderbarer-
weile als Grundlage für ihre Wiſſenſchaft einen
Zuftand der Dinge an, den wir nur als ein bar«
barifches MWeberbleibjel aus früherer Zeit anjehen,
Sie hätten doch fofort erfennen müſſen, daß ſchon
der Begriff einer fozialen Ordnung überhaupt zu
jeiner Verwirklichung als erften Schritt die Abjchaffung
diejes Zuftands erheifchte,
„wei oder drei Punkte bedürfen aber noch der
Aufflärung, ehe wir den vorliegenden Gegenftand
verlaſſen. Wir haben miteinander über den Ges
winn geſprochen; aber das war nur eine ber drei
Hauptmethoden, weldhe die Kapitaliften anwendeten,
um von ber Wrbeiterwelt den Tribut einzufordern,
durch den fie ihre Macht erwarben und behaupteten.
Melde zwei Mittel benubten fie no) zu dem Zwed?“
„Den Zins und die Bodenrente.*
„Was verfteht man unter Bodenrente ?”
„Zu jener Zeit,” antwortete Georg, „beſaß nicht
jeder Menſch, wie jeht, das Recht, einen für alle
gleich bemefienen Anteil des Landes zu feinen Privat-
zweden zu benupen. Daß die Menfchen von Natur |
ein Recht an Grund und Boden haben, wurde von
Aus fremden Zungen, 1897. IL 20,
929
niemand anerkannt. Andrerjeits gab es feine Grenze
für den Bei an Land — und wäre es eine ganze
Provinz gewejen — deſſen Erwerb das Geſetz dem
einzelnen nicht geitattet hätte. Zufolge dieſer Ein-
richtung hatten die Starken und Liftigen ſich fait
des ganzen Grund und Bodens bemächtigt, während
die Mehrzahl des Volles gar kein Land beſaß. Der
Inhaber des Landes hatte überdies das Recht, jeden,
der jein Eigentum betrat, auszuweiſen und beftrafen
zu laſſen. Wünſchte das Volk felbft Grund und
Boden zu haben und zu benugen, jo mußte es fi
natürlich an die Rapitaliften wenden. Dieſe ließen
fh die fogenannte Bodenrente als Preis dafür ber
zahlen, daß fie die Leute nicht aus dem Lande ver»
trieben. *
„Hatte der Empfänger der Rente dem Gemein—
wejen irgend einen wirtſchaftlichen Dienft dafür ge
leiftet ?*
„Bar feinen, Der Entgelt für Benugung bes
Landes — natürlich abgejehen von etwaigen Ver«
befferungen — wurde dem Eigentümer nur bezahlt,
damit er fein gejeßmäßiges Recht, die Bewohner des
Landes zu verweiien, nicht in Anwendung brachte,
Er erhielt ihn nicht für etwas, das er gethan hatte,
jondern für etwas, das er unterlafjen hatte,“
„Nun fage uns, was verftand man unter Zinjen?*
„Zinſen waren der Preis, den man für Bes
nutzung von Geld bezahlte. Heutzutage braucht die
Gejamtverwaltung die induftriellen Kräfte der Nation
zur allgemeinen Wohlfahrt, Aber damals diente
jedes wirtjchaftliche Unternehmen dem Privatgewinn,
und die Urheber besfelben mußten die Arbeit, deren
fie bedurften, mit Gelb bezahlen. Wer Geldmittel
entlehnen wollte, die ihm unentbehrlich waren, hatte
einen hohen Preis dafür zu entrichten — das waren
die Zinjen.”
„Hatte der Empfänger der Zinfen dem Gemein»
wejen irgend einen wirtihaftliden Dienft dafür ge—
leiftet ?*
„Gar feinen. Im Gegenteil, der Gläubiger
verzichtete auf den Gebrauch feiner Arbeitätraft zu
Gunften bes Entleihers. Er erhielt das Geld dafür,
daß er einen andern thun ließ, was er jelbit hätte
tun fönnen. Der Unthätige erhob diefen Tribut
von dem Handelnden.“
„Wenn alle Grundbefiger und Geldverleiher über
Nacht geftorben wären, hätte das ber Welt irgend
welchen Schaden gebradjt ?“
„Richt den geringften, falls nur ihr Geld und
ihr Sand zurüdblieb, Sie jpielten eine pajfive Rolle
in der Wirtſchaftspolitik, im Gegenſatz zu den Ge—
winn ſuchenden Kapitaliften, die wenigftens thätig
eingriffen, jei e8 im guten oder böfen Sinne,”
„Welche allgemeine Wirkung hatten Zins und
Bodenrente auf die Konfumtion und folglich auch
117
930
auf die Güterproduftion durch das Gemein-
weien ?*
„Sie verminderten beides.”
„Wie geihah das?“
„Ganz ebenfo wie bei dem Gewinn. Die Em—
pfänger der Nente waren eine Minderheit, und faft
alle übrigen mußten fie entrichten. Nur wenige er=
hielten Zinjen, die meiften mußten fie zahlen. Rente
und Sins bedeuteten daher, gleich dem Gewinn, den
allmählichen Uebergang der Kaufkraft des ganzen
Gemeinmwefens in die Hände einer Meinen Anzahl
feiner Mitglieder.“
„Welche von den drei Methoden hatte mehr Ein-
fluß auf die Zerftörung ber Konſumtionskraft ber
Maflen und folglicd auf die Veränderung der Nach—
frage nad) Produkten ?“
„Das wechjelte in den verjchiedenen Ländern und
Zeitaltern, je nad) ihrer wirtihaftlichen Entwicklungs-
finfe. Man hat den Privatlapitaligmus einem Stier
mit drei Hörnern verglichen, deren Länge und Stärle
zunahm, je älter er wurde, Die drei Hörner waren
Rente, Gewinn und Zins. Zu der Zeit, von der
wir reden, war in den Wereinigten Staaten der
Gewinn noch das längſte von den dreien, aber die
beiden andern wuchjen mit furchtbarer Schnelligkeit.”
„Wir haben gejehen, Georg,” jagte der Lehrer,
„daß Ichon lange vor der großen Revolution, gerade
jo wie jeßt auch, die einzige Grenze der Güter«
produktion Durch die Konſumtionskraft der Geſellſchaft
gebildet wurde, Unter der Herrſchaft des Privat-
fapitaliamus ſchmachtete die Welt in Armut, weil
der Gewinn, verbunden mit Rente und Zins, die
Konfumtion verminderte und dadurch die Produltion
bemmte, jo daß die Kaufkraft des Volkes in den
Händen einer Minderzahl lag. Das war eine ganz
verfehrte Einrihtung. Nun jage uns in furzen
Worten, wie e8 hätte richtig gemacht werden müſſen.
Die Produktion wird durch die Konfumtion bedingt.
Welche Negel muß alſo in betreff der Verteilung
aller zur Sonfumtion bejtimmten Güter befolgt
werden, um die Konſumtion auf ein möglichſt hohes
Mar zu bringen und dadurch die Produftion, for
viel fich das thun läßt, zu vermehren ?”
„Um diefen Zwed zu erreihen, muß man die
produzierten Güter zu gleichen Teilen unter alle
produftiven Mitglieder der Gejamtheit verteilen.“
„Beweiſe uns, weshalb das jo ift.“
„Es beruht auf einer einfahen mathematiichen
Beredinung. Ein Laib Brot oder jede andre der-
artige Ding wird um fo jchneller verzehrt, je mehr
Perſonen zu gleichen Teilen davon erhalten, worauf
neue Nachfrage entjteht. Oder, um den Gedanlen
nod) anders auszudrücken: die Bedürfnifie der Menſchen
entjtehen aus derfelben natürlichen Konftitution und
find weſentlich die gleichen. Durch eine gleichmäßige
Edward Bellamp.
Verteilung aller Verbrauchsgegenſtände läßt ſich daher
bie Konſumtion am beften erweitern und ohne Unter:
bredyung in der nämlihen Ausdehnung erhalten, bis
alle Bedürfnifie vollfommen befriedigt find. Die
Einrihtung aljo, durch welche die größtmögliche
Konfumtion gefichert und folglich auch zur ftärkiten
Produftion angeregt wird, ift die gleiche Güter
verteilung.“
„Weihe Wirkung würde denn eine ungleide
Verteilung der Verbrauchsgegenſtände auf die Kon
jumtion haben ?“
„Daraus würde entjtehen, daß einige mehr hätten,
als fie in einer gegebenen Zeit verzehren könnten,
und andre weniger. Die Gejanttonfumtion wär
aljo geringer, als fie in derſelben Zeit bei gleicher
Büterverteilung geweſen fein würde. Teilt man eine
Million Dollars gleihmäßig unter taufend Perjonen,
jo würde das Geld jehr bald für Lebensbedürfnifſe
ausgegeben werden und ein neuer Antrieb für die
Produktion entfliehen. Bleibt das Geld in der Hand
eines Mannes, jo würde er wahricheinlic in der
jelben Zeit auch nicht den hundertiten Zeil davon
ausgeben und wenn er noch jo viel Luxus triebe. Das
allgemeine Grundgejek in betreff des Reichtums der
Nationen ift daher: daß die Wirkung einer gegebenen
Menge von Kaufkraft zur Vermehrung der Kon
jumtion um jo größer ift, je weiter fie ſich ausdehnt,
und am größten, wenn jie unter ſämtliche Konſumenten
gleich verteilt wird, weil fie Dann die denkbar weitejte
Ausdehnung erhält.”
„Du haft den Umftand nicht erwähnt, daß die
gleiche Verteilung der Güter unter alle Glieder der
Geſamtheit nicht nur die Produltionskraft aufs höchſte
fleigert, jondern auch Die größte Summe von Menfden
glüd erzeugt.“
„Ich habe mich nur an die wirtſchaftliche Seite
des Gegenftands gehalten.“
„Würde es nicht die alten Nationalölonomen in
Erſtaunen geſetzt haben, zu hören, daß das gedeihlichſit
Syftem der Güterprodbuftion auf nationaler Baſis
ganz übereinftimmt mit der ethiſchen dee einer
gleichen Gefinnung gegen alle Menſchen, melde Jeſus
Chriftus in den Worten ausgeſprochen hat: ‚Als
nun, was ihr wollt, das euch die Leute thun follen,
das thut ihr ihmen‘?“
„Ohne Zweifel, denn fie ftellten die ſfalſche Be
hauptung auf, es gäbe zweierlei Geficht&punfte für
das Verhalten der Menſchen untereinander, einen
moralifchen und einen wirtichaftlichen, von benen
jeder in feiner Weiſe berechtigt wäre. Wir aber
willen, daß ed nur eine Richtſchnur für das Verhalten
der Menſchen zu einander giebt, und fie ift ethiſcher
Art, Jede Lehre der Nationalöfonomie, welde den
ethiſchen Grundjägen widerſpricht, muß fih al!
falſch erweiſen. Eine gejunde Wirtfchaftspolitit wird
Gleichheit.
aud eihiich gejund fein. Es ift durchaus fein zu=
fäliges Zufammentreffen, fonbern eine logiſche Note
wendigfeit, daß, ſowohl in der Ethik wie in ber
Vollswirtſchaft, die höchſte Weisheit nichts andres
it als Brüderlichleit und Gleichheit. Die Nächften-
liche in ihrer jozialen Anwendung ift nicht nur der
Schlüjel zum Reichtum, fondern aud) zum Frieden.“
XXI.
Die Parabel von dem Waflerbeden.
„So, Georg, dabei wollen wir e8 bewenden lafjen
und für jetzt ſchließen. Unſre Erörterung bat ſich
weiter ausgedehnt, als ich erwartete, und wir werben
am Nahmittag noch einmal auf kurze Zeit zufammen-
fommen müflen, um ben Gegenfland zu erſchöpfen.
Jeht will ich auch zum Schluß noch meinerfeits einen
Heinen Beitrag liefern. Als ich neulich die Dent-
mäler der Litteratur aus der großen Revolutiongzeit
durchſuchte, fiel mir eine feine Flugſchriſft in bie
Hände, die, vergilbt und kaum noch leferlich, fich bei
näherer Unterfuhung als eine recht unterhaltende
Satire und Schmähſchrift auf das Gewinnſyſtem
erwies. Es fchien mir, daß unfre heutige Unterrichts-
funde vielleicht geeignet wäre, und das Verftändnis
für den Gegenftand zu Öffnen, und ich madhte mir
eine Abichrift. Das Flugblatt nennt fi: ‚Die
Parabel von dem Wafferbeden‘ und lautet wie folgt:
„&8 war einmal ein gewifles jehr dürres Land,
und die Bewohner litten großen Waffermangel. Bon
morgen& bis in die Nacht hinein fuchten fie fort und
fort nad Wafler, und mande lamen um, weil fie
feines finden konnten,
„Nun lebten aber einige Männer in dem Lande,
die Müger und fleißiger waren als die übrigen; dieſe
hatten ſich Waſſervorräte gefammelt, während die
andern fein finden konnten, und diefe Männer wur« |
den Sapitaliften genannt. Es trug ſich aber zu, daß
die Leute dieſes Landes vor die Kapitaliſten traten
und baten, fie möchten ihnen von dem Wafler geben,
das fie gefammelt hätten, auf daß fie tränfen, denn
ihre Not fei groß. Die Kapitaliften aber antworteten
ihnen und ſprachen: Hebt euch fort, ihr Thoren!
Warum jollten wir euch von dem Waſſer geben,
welches wir gefammelt haben ; würde es uns denn nicht
geben, wie es euch ergeht, und wir müßten mit euch)
umfommen? Aber fehet, was wir für euch thun
wollen: Werdet unfre Knechte, jo ſollt ihr Waſſer
haben.‘
„Und die Leute jagten: ‚Gebt und nur zu trinfen,
jo wollen wir eure Knechte fein, wir und unjre Kin—
der.‘ Und jo geſchah es.
„Run waren die Kapitaliften aber Männer von
Verftand und weife in ihrem Geſchlecht. Sie ord⸗
neten die Leute, welche ihre incchte geworden waren,
mit Anführern und Hauptleuten. Einige ftellten fie
931
an die Quellen zum Schöpfen ; andre ließen fie das
Waſſer tragen; noch andre ſchickten fie aus, um nad
neuen Quellen zu ſuchen. Alles Wafjer aber wurde
an einen Ort zuſammengebracht, und daſelbſt ließen
die Rapitaliften ein großes MWaflerbeden machen, um
es aufzunehmen. Das Beden aber wurde ‚ber
Markt‘ genannt, denn dort war es, wo das Voll
zufamt den Dienern der Rapitaliften hinkam, Wafler
zu holen. Und die Kapitaliften Sprachen zu bem Boll:
„Sehet, für jeden Eimer Waſſer, welden ihr
bringet, daß wir ihn in das Beden giehen, welches
„der Mari“ ift, wollen wir euch einen Pfennig geben;
aber für jeden Eimer, den wir herausziehen und
geben ihn euch, daß ihr davon trinfen möget, ihr
und eure Weiber und Finder, jollt ihr uns zwei
Pfennige geben. Der Unterfchied aber ſoll unjer
Gewinn fein; denn wenn es nicht um dieſes Ge—
winnes halber wäre, jo thäten wir die Sache nicht
für euch; ihr aber müßtet alle umfommen.‘
„Was fie jagten, ſchien recht und gut in der Leute
Augen, denn fie waren ſchwach von Verftand. Und
viele Tage brachten fie fleißig Wafler in das Beden.
Für jeben Eimer, den fie brachten, gaben die Kapi—
taliften einem jeden Mann einen Pfennig, aber
für jeden Eimer, den die Kapitaliften heraufzogen
aus dem Beden, um denjelben dem Wolf wiederzu-
geben, gab das Volk den Stapitaliften zwei Pfennige,
ein jegliher Mann,
„Nach vielen Tagen floh das Waflerbeden, wel-
es ‚der Marft‘ war, oben am Rande über, weil
die Leute für jeden Eimer, den fie eingojjen, nur
fo viel befamen, daß fie einen halben Eimer zurüd-
faufen fonnten. Wegen des Waſſers, das von jedem
Eimer drinnen blieb, floß das Beden über, denn der
Leute waren viele, aber ber Kapitaliften waren we—
nige, und fie fonnten doch nicht mehr trinfen als
andre. Daher floh das Wafjerbeden über.
„Als nun die Kapitaliften jahen, dat; das Waſſer
überfloß, jprachen fie zu dem Bolf:
„Sehet ihr denn nicht, wie das Beden, welches
der Markt ift, überfließt. Deshalb ſehet euch nun
nieder und wartet geduldig. Nicht cher ſollet ihr
ung wieder Waffer bringen, bis das Beden leer ift,‘
„As nun aber die Leute von den Kapitaliften
nit mehr die Pfennige belamen für das Waſſer,
das fie braten, konnten fie fein Waller mehr von
den Fapitaliften faufen; denn fie hatten nichts, um
damit zu faufen. Da die Hapitaliften ſahen, daß
fie feinen Gewinn mehr hatten, weil niemand mehr
Waſſer von ihnen faufte, wurden fie unruhig in
ihrem Gemüt. Und fie jandten Männer auf bie
Heerftraßen, auf die Landiwege und an bie Heden,
die da riejen:
„Wenn jemand dürjtet, jo komme er zu dem
Waflerbeden und Taufe Wafler von uns, benn es
932 Edbwarb
flieht über,‘ Und fie ſprachen untereinander: ‚Siebe,
die Zeiten find fchledt; wir müllen das Waller
öffentlich ankündigen.‘
„Das Rolf aber antwortete und ſprach:
„Wie lönnen wir faufen, wenn ihr uns nicht
dinget; woher follen wir ſonſt eiwad nehmen, um
damit zu faufen? Dinget uns beöhalb wie zuvor,
io werben wir gerne Waſſer faufen, denn wir bürjten,
und ihr habt dann nicht nötig, es öffentlich zu ver-
fündigen‘ Die RKapitaliften aber ſprachen zu dem
Rolf: ‚Sollen wir euch dingen, Waſſer zu tragen,
wenn das Beden, welches der Markt iſt, doch jchon
überflieht? Deshalb kaufet erit Waller; wenn dann
das Beden durch euer Kaufen leer ift, aladann wollen
wir euch wieder Dingen.‘
„So geihah e8, daß, weil die Kapitaliften die
Leute nicht mehr anftellten, das Mailer zu holen,
diele das Mailer nicht faufen fonnten, welches fie ſchon
gebracht hatten — und meil die Leute das Waſſer
nicht Taufen konnten, das fie ſchon gebracht hatten,
dingeten die Kapitaliften fie nicht mehr zum Waffer-
holen. Und überall ging die Rede: ‚Es ift eine
ſtriſis.
„Der Durſt der Leute aber war groß. Jeht lag
das Yand nicht mehr offen vor ihnen, wie zu ihrer Väter
Zeiten, jo daß ein jeder jelbft Waſſer für fi fuchen
fonnte, denn die Rapitaliften hatten alle Quellen und
alle Brunnen, jamt den Wafferrädern und Wajjerbehäl-
tern an ſich gebradt, jo daß fein Menſch zu Waller
fommen lonnte, ala aus dem Beden, welches ber
Markt war, Und die Leute murrten gegen die Kapi»
taliften und ſprachen:
„Siehe, das Beden läuft über, und wir fterben
vor Durst. Gebt uns daher von dem Wafler, auf
daß wir nicht umlommen.*
„Die Kapitaliften aber antworteten:
„Nicht aljo, das Waſſer ift unjer. Ihr werdet
nicht bavon trinfen, jo ihr es nicht von und faufet
mit euren Piennigen.‘ Und fie befräftigten es mit
einem ide nad) ihrer Art und ſprachen: ‚Geichäft
iſt Geſchäft.“
„Uber die Kapitaliſten waren unruhig in ihrem
Sinn, dat das Volk fein Wafler mehr kaufte, wo—
durch fie jeglichen Gewinnes entbehrten, und fie ver⸗
handelten untereinander und ſprachen: ‚Es jcheint,
daß unfer Gewinn unjerm Gewinn Einhalt gethan
hat. Um des Gewinnes willen, den wir gehabt
haben, können wir nichts mehr gewinnen, Wie geht
es denn zu, daß unjer Gewinn nicht mehr gewinn-
bringend für uns ift und uns arm madt? Laſſet
uns doch zu den Wahrfagern fchiden, daß fie uns
dieje Sache erllären.‘ Und fie jandten nad ihnen.
„Die Mahrjager aber waren gelehrte Männer,
wohl bewandert in dunfeln Sprüchen und dem ſtapi—
taliften willfährig, wegen des Waſſers der Kapita—
Bellamın.
liften, daß fie davon nehmen und leben könnten, ſie
und ihre Rinder. Und fie ſprachen an Statt der
Rapitaliften vor dem Volk und richteten ihre Bot-
ſchaften aus, denn bie Kapitaliften waren nicht Leute
von ſchnellem Verftändnis, noch gewandt in der Rede,
„Die Sapitaliften verlangten von den Wahr—⸗
jagern, daß fie ihnen dieſe Sache erflären jollten,
damit fie wüßten, woher es läme, daß das Bolt kein
Waſſer mehr von ihnen faufe, da dod) das Beden
voll fei. Und einige von den Wahrſagern antwor:
teten und fagten: ‚Der Grund ift bie Ueberprodul-
tion,*und einige jagten : ‚, Es liegt an der Ueberfüllung,
aber beide Wörter bedeuten dasjelbe. Andre aber
ſprachen: ‚Nein, jondern die Sonnenfleden find ſchuld
an der Sade.‘ Und nod) andre antworteten und
jagten: ‚Weder durch Ueberfüllung noch durd bie
Flechen in der Sonne ift dieſes Uebel entjtanden,
fondern wegen des Mangels an Vertrauen.‘
„Während nun die Wahrfager untereinander
ftritten, nad) ihrer Weiſe, ſchlummerten und jchliefen
die Gewinnſuchenden, und als fie erwachten, ſprachen
fie zu den Wahrfagern: Jetzt ift e8 genug. Ihr
habt tröftlih mit uns geſprochen — gehet num bin
und redet auch tröftlich zu dem Volke, daß fie mögen
zur Ruhe lommen und auch uns in Frieden lajlen.‘
„Aber die Wahrjager hatten fein Verlangen, hin
auszugehen zu dem Wolfe; fie fürdhteten, es möchte
fie wohl gar fteinigen, denn das Voll Tiebte fie
nit. Und fie fagten zu den Kapitaliften:
„Ihr Herren, es ift ein Geheimnis unfrer Kunft,
daß den Leuten, die fatt find und nicht dürften, jon-
dern ihr Behagen haben, unjre Rebe mwohlgefält,
wie euch joeben. Wenn fie aber durftig find und
ihr Magen Teer ift, jo finden fie fein Gefallen daran,
und jie verhöhnen uns, denn es fcheint, daß, wenn
ein Mann nicht jatt ift, ihm unſre Weisheit ganz
hohl und leer vorlommt.‘
„Aber die Kapitaliften fagten: ‚Gebet hinaus zu
den Leuten. Haben wir euch nicht angeftellt, dab
ihr unſre Botſchaften ausrichtet *
„Und die Wahrfager gingen hinaus zu den Leuten
und jepten ihnen das Geheimnis der Ueberproduftion
außeinander. Sie jagten ihnen, wie es zugehe, dab
fie vor Durft umfommen müßten, weil zu viel Waller
vorhanden fei, und wie deſſen nicht genug fein könne,
weil deifen zu viel jei. Desgleichen ſprachen fie zu
ihnen von den Sonnenfleden, und daß dieje Drang:
jal über das Volt gefommen fei wegen feines Mangel
an Vertrauen. Und es gefchab, wie die Mahrfager
erwartet hatten, denn ihre Weisheit ſchien dem Voll
eitel Thorheit. Die Leute verfpotteten fie und ſprachen
„Hebt euch fort, ihr Kabllöpfe! Wollt ihr euch
über und luftig machen? Erzeugt ber Ueberfluß je
den Mangel. Kommt Nichts etwa von Zuviel?
„Und fie hoben Steine auf, um fie zu fteinigen.
“ % =.
Per
Gleichheit.
„As nun die Kapitaliften jahen, daß das Volf
fortfuhr zu murren und nicht ftille fein wollte, noch
auf die Wahrjager hörele, fürdhteten fie, die Leute
möchten über das Beden berfallen und das Waſſer
mit Gewalt nehmen. Daher jammelten fie um ſich
gewiſſe heilige Männer — e8 waren aber falſche
Priefter — daß fie das Volk ermahuten,, es möchte
fih ruhig Halten umd nicht, weil es dürſtete, bie
Rapitaliften bedrängen. Und die heiligen Männer,
welche falſche Priefter waren, zeugten vor den Leuten,
daß dieſes Mifgeihid ihnen von Gott geſandt jei
zum Heil ihrer Seelen. Wenn fie e8 in Gebulb
tragen wollten, auch mit nad dem Waller be«
gehren, noch die Kapitaliften beunruhigen, jo würden
fie — nachdem fie den Geift aufgegeben hätlen —
in ein Land lommen, wo feine Kapitaliften mehr
wären und eine Fülle des Waſſers fein würde. Außer:
dem gab es aber auch einige wahre Propheten Gottes;
diefe hatten Mitleid mit dem Bolf, wollten nicht für
die Rapitaliften zeugen, ſondern fprachen vielmehr
ſtandhaft gegen dieſelben.
„Als die Kapitaliſten nun ſahen, wie das Volk
immer noch murrte umd nicht jtille jein wollte, weder
auf die Worte der Wahrſager noch ber falichen
Priefter, da traten fie jelbft hinaus zu ihnen, tauchten
ihre Fingerſpihzen in das Waſſer des Bedens, welches
überfloß, und jprigten die Tropfen von ihren Fingern
umher auf das Bolt, welches fih um das Beden
drängte. Der Name aber der Wallertropfen war
‚Almojen‘, und fie waren überaus bitter,
„Wiederum fahen die Rapitaliften, daß weder
auf die Worte der Mahrjager noch der heiligen
Männer, die faljche Priefter waren, noch auch wegen
der Tropfen, deren Name ‚Almojen‘ war, dag Rolf
fille wurde, jondern es wütete um fo mehr und
umdrängte das Beden, als ob e8 ſich des Waſſers
mit Gewalt bemädhtigen wollte. Da berieten fie ſich
untereinander und ſandten in der Stille Männer
hinaus unter das Volk, Dieſe Männer aber wählten
die Härfften unter den Leuten und afle, welche ge-
ſchidt im Streit waren, nahmen fie beijeite und
rebeten ſchlau zu ihnen, indem fie ſprachen:
„Hört auf ung; warum haltet ihr e& nicht mit
den Rapitaliften? Werdet ihr ihnen zu Willen fein
und ihnen gegen das Voll dienen, damit es nicht
dad Beden überjällt, jo ſollt ihr Waſſer die Fülle
haben, daß ihr nicht umlommt, ihr und eure Kinder.
„Die jtarfen Männer aber und die, welche im Streit
gewandt waren, horchten auf diefe Worte und ließen
fi überreden, denn ihr Durft bezwang fie; und fie
gingen hinein zu den Kapitaliften und wurden ihre
Diener. Man gab Stangen und Schwerter in ihre
Hände; fie wurden eine Schußwehr für die Kapitaliften
und jchlugen das Bolf, wenn es fich zu dem Beden
drängte. .
933
„Rad vielen Tagen ftand das Waſſer tief in
dem Beden, denn bie KHapitaliften machten Spring»
brunnen und Fiſchteiche von dem Waſſer und badeten
darin, fie, ihre Frauen und ihre Kinder, und ver—
ſchwendeten das Waller zu ihrem Vergnügen.
„AB die Kapitaliften ſahen, daß das Beden leer
war, fagten fie:
„Die Krifis ift zu Ende‘ Sie fhidten aber
hinaus und dingten die Leute, daß jie Waſſer bringen
follten, e& wieder zu füllen, Für das Waller aber,
welches die Leute brachten, erhielten fie für jeden
Eimer einen Piennig; für das Waller aber, daß die
Kapitaliften aus dem Beden jchöpften und ihnen
wiedergaben, nahmen fie von ben Leuten zwei Pfen—⸗
nige, auf daß fie ihren Gewinn hätten. Nad einer
furzen Zeit floß das Beden abermalß über wie
zuvor.
„Endlich, nachdem bie Leute vielmals das Beden
gefüllt hatten bis zum Weberfließen und gebürftet
hatten, bis das Waſſer von den Kapitaliſten vergeubet
war, trug es ſich zu, daß in dem Lande einige
Männer aufjtanden, welche man ‚Aufwiegler‘ nannte,
weil fie das Volk erregten. Dieſe Männer jagten
zu den Leuten, fie möchten ſich zuſammenthun, als—
dann brauchten fie nicht Knechte der KHapitaliften zu
fein und würden nie mehr nad Waſſer dürften. In
den Augen der Kapitaliften aber waren bie Auf—
wiegler verruchte Gejellen, und fie hätten fie gerne
gefreuzigt, wagten es aber nicht, auß Furcht vor dem
Bol.
„Und die Aufwiegler redeten mancherlei Worte
zu dem Molfe,
„Ihr thörichten Leute,‘ jagten fie, ‚wie lange
wollt ihr euch durch Lügen täufchen laſſen und zu
euerm Schaden glauben, was nicht wahr iſt? Denn
jehet, alle diefe Dinge, die vor euch von den Kapita=
liften und den Wahrjagern geredet worden find,
waren liftig erjonnene Fabeln. Desgleichen die hei—
ligen Männer, welche euch jagen, es jei der Wille
Gottes, daß ihr immerdar arm, elend und dürſtig
fein follt — fiehe, fie läftern Bott und find Lügner, melde
er furchtbar richten wird, wenn er allen andern ver=
zeiht. Wie geht es zu, daß ihr nicht zu dem Waſſer
in dem Beden fommen dürft? Iſt es nicht, meil
ihr fein Geld habt? Und warum habt ihr fein
Geld? Iſt es nicht, weil ihr nur einen Pfennig für
jeden Eimer befommt, den ihr zum Beden bringt,
aber zwei Pfennige für jeden Eimer zahlen müßt,
den ihr daraus nehmer, auf dab die Kapitaliften
ihren Borteil haben? Sehet ihr nicht, daß auf
ſolche Weife das Becken überfließen muß, da es ge—
füllt wird mit dem, was euch mangelt, und zum
Ueberfließen gebradht durd euer Notleiden? Und
wenn ihr noch jchwerer arbeitet und noch fleißiger
Waſſer ſuchet und bringt, jo wird es dadurch nicht
‚N
al
l
934 Edward Bellamn.
beiier für euch, jondern nur defto fchlimmer, um des
Gewinnes willen. Sehet ihr das nicht?
„Auf diefe Weile ſprachen die Aufwiegler viele
Tage vor dem Wolf, ohne daß jemand auf fie hörte.
Nach einer Zeit aber horchten fie doch auf. Und jie
antworteten umd jpradhen zu den Aufwieglern:
„Ihr redet wahr, die Kapitaliften und ihr Ge—
winn find ſchuld, daß wir Mangel leiden, denn um
ihres Gewinnes willen können wir nicht zu den
Früchten unfrer Arbeit kommen, jo daß biejelbe
vergeblich ift. Je mehr wir arbeiten das Beden zu
füllen, um jo früher fließt e8 über, und wir befommen
nichts, weil zu viel da ift, ganz nad) den Morten
der Wahrfager. Siehe, die Kapitaliften find harte
Menihen und ihre Mitdthätigkeit ift graufam! Sagt
e3 uns, wenn ihr ein Mittel wiljet, wie wir und aus
ihrer Knechtſchaft befreien fönnen. Wenn ihr aber
feinen fichern Ausweg wiffet, jo beſchwören wir euch,
verhaltet euch ruhig und laßt uns in Frieden, daß
wir unfer Elend vergelfen mögen.‘
„Die Aufwiegler antworteten und ſprachen: ‚Wir
wiſſen einen Weg.
„Die Leute aber ſprachen: ‚Betrüget und nidt.
Dieſe Sache ift von Anbeginn jo gewejen, und nie»
mand hat bis jeht einen "Ausweg zur Befreiung ges
funden, obgleih ihn jo viele in Sorgen und mit
Thränen gefuht haben. Wenn ihr aber einen Aus-
weg willet, jo jagt ihn uns ſchnell.“
„Da redeten die Aufwiegler zu dem Volk von
dem Ausweg und fagten:
„as braucht ihr überhaupt dieſe Kapitaliften,
dab ihr ihnen Gewinn an eurer Arbeit gejtatten
jolltet? Was für große Dinge thun fie für euch,
daß ihr ihnen diejen Tribut zahlen müßte? Sie
haben euch in Abteilungen geordnet, euch eure Aufs
gaben zugewiejen und euch nachher ein wenig von
dem Waſſer gegeben, das ihr gebradt habt — nicht
fie. Nun fuchet den Weg aus dieſer Knechtſchaft!
Thut das für euch, was die Kapitaliften thun —
regelt jelbft eure Arbeit, führt eure Abteilungen und
verteilt eure Aufgaben. So werdet ihr die Kapita—
litten nicht mehr brauchen, und fie werden feinen
Gewinn mehr an euch haben, jondern alle Frucht
eurer Arbeit jollt ihr ala Brüder teilen, auf daß ein
jeder das Gleiche habe. Dann wird das Beden nie=
mals überfließen, bis ein jeder genug hat und ihn
nicht nach mehr gelüftet. Nachher aber könnt ihr
mit dem MWeberfluß Springbrunnen und Fiſchteiche
machen, euch damit zu vergnügen, ganz wie Die
Sapitaliften thaten, jedod) zum Genuß für alle,‘
„Die Leute antworteten: ‚Was ihr redet, jcheint
ung gut zu fein, aber wie jollen wir die Sache an—
fangen ®
„Und die Aufmwiegler ſprachen: ‚Wählet unter
euch verfländige Männer, die vor euch ein» und aus-
gehen, eure Abteilungen anführen und eure Arbeit
verteilen. Diefe Männer jollen fein, wie die Kapila⸗
lijten waren, aber ſehet, fie follen nicht eure Sperren
jein, fondern eure Brüder und Hauptleute, die euern
Willen thun. Auch follen fie feinen Gewinn für
fih nehmen, fondern ein jeglicher feinen Teil er:
halten gleich dem andern, auf daß feine Herren ımd
Diener mehr unter euch find, fondern nur Brüder.
Von Zeit zu Zeit aber, wie es euch paſſend dünkt,
jollt ihr andre verftändige Männer wählen an die
Stelle der erften, auf daß fie eure Arbeit ordnen.‘
„Die Leute aber horchten auf und es ſchien ihnen
jehr gut. Auch dünkte es fie feine ſchwere Sadı.
Und fie riefen alle einflimmig aus: ‚So jol «
fein, mie ihr gejagt habt, denn wir wollen alio
thun !‘
„Die Kapitaliften aber hörten den Lärm und
das Rufen und was das Volf jagte; die Wahrjager
börten «8 gleichfalld. Desgleihen hörten es die
falſchen Priefter und die mächtigen Kriegsleute, die
den Stapitaliften zum Schuß dienten, und ala fie e—
hörten, überfam fie ein Zittern, alſo daß ihre Kniee
zufammenjchlugen, und fie jagten einer zum andern:
‚Daß ift unjer Ende!‘
„Und fiehe, da waren aud) einige wahre Priefier
des lebendigen Gottes, die nicht für die Kapitaliften
jeugen wollien, jondern Mitleid mit dem Bolte ge»
habt hatten. ALS dieje das Rufen der Menge ver-
nahmen und was fie jagte, da waren fie hocherfreut,
frohlodten und dankten Gott für die Befreiung.
„Das Voll aber ging hin und that, wie ihm die
Aufwiegler gejagt hatten. Und alles traf genau ein
nad) ihren Worten. . Es war fein Durft mehr in
dem Lande noch jemand”, der da hungerte oder fror
oder nadt war, noch jonft in irgend welcher Not.
Jeder Mann jagte: ‚Mein Bruder‘ zu feinem Mit-
menschen, und jegliche frau zu ihrer Gefährtin:
‚Meine Schweiler‘; denn fie waren untereinander
wie Geſchwiſter, die einträdhtiglich zujammen wohnen.
Und der Segen Gottes ruhte auf dem Lande immerdar.”
XXIV.
Mir werden alle Reiche der Welt gezeigt.
Die Schüler und Schülerinnen der Bolfswirt-
ſchaftsllaſſe erhoben fich bei des Lehrers verabſchieden⸗
den Morten, und ſchon im nächſten Nugenblid war
das Schaufpiel verſchwunden, das meine Aufmerlfan-
feit bisher gefeijelt hatte. Ich flarrte in Doktor
Leetes lächelndes Geſicht und verſuchte mid zu be
finnen, wo ich jei und wie id dahin gefommen war.
Faſt die ganze Zeit über, und bejonders während
der Ichten Hälfte der Prüfung, hatte ich mid jo
völlig der Illufion hingegeben, als bejände id mid
wirflih in dem Schuljimmer, und war der Er
Örterumg des Themas mit jo großem Interefje gefolgt,
Gleichheit.
daß mir die kunſtvolle Erfindung, die ed uns mög—
lih gemacht hatte, die Vorgänge zu ſehen und zu
bören, ganz aus dem Sinn gelommen war. Nun
id aber wieder daran erinnert wurde, wendeten ſich
meine Gedanken mit maßloſer Neugierde der Ein-
richtung des Elektroſktops und jeinen Wunder»
wirfungen zu. AR,
Nahdem mir der Doltor einige Erklärungen über
die mechaniſche Thätigfeit des Apparats gegeben und
mir gezeigt hatte, auf welche Art er die Funktionen
eines verlängerten Sehnervs verrichtet, jchritt er
dazu, mir feine Kraft in größerem Maßftabe vorzu-
führen. Im Lauf der num folgenden Stunde machte
id, ohne meinen Stuhl zu verlaffen, eine Reife rund
um die Erde und überzeugte mid aus eigner Anz
ihauung, daß die völlige Umwandlung, die feit
meinem früheren Leben mit Bofton vorgegangen war,
nur als eine Probe von dem zu betrachten jei, was
fi in der ganzen übrigen Welt ereignet hatte. Ich
brauchte nur eine große Stadt oder einen berühmten
Ort in irgend einem Lande zu nennen, fo glaubte
ih mich durch Gefiht und Gehör auf der Stelle dort-
bin verpflanzt. Ich blidte auf das moderne New
York, auf Ehicago, San Francisco und New Orleans
und fand dieſe Städte alle bis zur Unfenntlichfeit
verändert ; nur die äußern Umrahmungen, welche ihre
natürliche Lage bedingten, waren ſich gleich geblieben,
Ih befuchte London, hörte die Parifer franzöſiſch,
die Berliner deutich fprechen und begab mid) von
St. Peteräburg über Delhi nach Kairo. Wenn eine
diefer Städte in der Mittagsfonne badete, jo erhob
fih über der nächſten vielleicht der Mond, und die
Sterne begannen aufzuleuchten, während die dritte
in ſchweigender Mitternacht ruhte. Ich erinnere mich,
dab es in Paris tüchtig regnete, London ganz in
Nebel gehüllt war und in St. Petersburg dichter
Schnee durch die Luft wirbelte. Aus der wechſel—
vollen Welt der Menſchen wandte ich mid, jodann
der ewig wechjellojen Schöpfung zu und ermeuerte
meine alte Bekanntſchaft mit den großen Wundern
der Natur. Die flürmifchen Hüften des Ozeans
ſuchte ich auf, die donnernden Waſſerfälle, die ein-
935
jamen Bergesgipfel, die großen Flüſſe, die gligernde
Herrlichleit der Polarregionen und die öden Wüften-
fireden.
Der Doktor jehte mir dabei außeinander, daß
jowohl Zelephon wie Elektroſtop ſtets in dauernder
Berbindung mit allen merfwürdigen Orten der Erde
wäre, daß aber, wenn ſich irgendwo ein Schaufpiel
oder Ereignis von außergemöhnlichem Intereſſe ab-
ipielte, fogleich ein befonderer Anſchluß hergerichtet
würde. Die ganze Menjchheit Fönne ſich dann ohne
Auſſchub ſelbſt von der Sachlage überzeugen, jo daß
man nicht genötigt fei, erft wirkliche oder vorgebliche
Künfller nah dem Schaupla zu entjenden. Alle
meine Begriffe von Zeit und Naum löſten ſich in
ein Chaos auf, und beinahe Irunfen vor Staunen
und Bewunderung rief ich endlich:
„Mehr kann ich für jetzt nicht eriragen. Ich fange
ſchon ernftlih an zu zweifeln, ob id) überhaupt noch
in meinem Leibe bin oder nicht.”
Um dieſe Frage gleich praftiih zu entjcheiden,
ſchlug mir der Doktor vor, einen tüchtigen Spazier-
gang mit ihm zu machen, denn wir hatten den ganzen
Morgen das Haus nicht verlafjen.
„Haben wir für heute genug Vollswirtſchaſt ges
habt,“ fragte er, als wir ins Freie traten, „oder
hätten Sie Luft, beim Nachmittagsexamen, von dem
der Lehrer ſprach, zugegen zu fein ?*
Ich erwiderte, daß ich jedenfalls dabei fein möchte,
„Nun gut,” jagte der Doltor, „jehr lange wird
der Unterricht ja nicht dauern. Was meinen Sie
dazu, wenn wir ihm diesmal perfönlich beiwohnten?
Wir haben noch reichlich Zeit, ums Bewegung zu
machen, und können ganz bequem vor Anfang der
Schule dort fein, wenn wir an irgend einem Punlt
in den Straßenwagen fteigen. Sie haben das Eleltro-
jfop zum erftenmal benußt und beſitzen außer jeinem
Zeugnis feinen Beweis dafür, daß eine ſolche Schule
oder ſolche Schüler wirflih vorhanden find. Da
würde es doch die Eindrüde, die fie empfangen
haben, weſentlich verftärken, jollte ich meinen, wenn
Sie den Ort in eigner Perſon befuchten.”
Fortſehung folgt.)
Srabläuferinnen.
(Les Tombales.)
Bon
Guy de Maupaſſant.
Aus dem Iranzöfifchen überfeßt von $. Miller.
Die fünf freunde hatten eben ihr Diner beendet,
Sie waren alle fünf Männer von Welt, gereift und
reich ; drei davon verheiratet, zwei noch Junggejellen.
Sie famen jeden Monat einmal zufammen, um
Jugenderinnerungen aufzufriichen, und nachdem fie
gejpeift hatten, plauberten fie ſtets noch bis gegen
zwei Uhr bes Morgens. Weil fie Freunde geblieben
waren und ſich alle fo gut einander verftanden, waren
dies vielleicht die ſchönſten Abende ihres Lebens,
Man ſchwahte über alles, über alles, was Paris
gerade bejchäftigte oder amüfierte. Wie in ben
meiften Salons begann aud bei ihnen die Unter-
haltung damit, daß man über die Lektüre der Morgen»
blätter ſprach. Der Iuftigfle von ihnen war Joſeph
de Bardon, ein Junggefelle, der das Parijer Leben
auf die vollfommenfte und phantafievollite Weiſe zu
genießen verftand. Er war weder Lebemann ſchlimmſter
Sorte noch Wüftling, er war nur vomvihig, lebens—
luftig und noch jung, denn er zählte faum vierzig
Jahre. Weltmann im weiteiten und wohlwollendften
Sinne dieſes Wortes, geiftig ſehr begabt ohne gerade
große Tiefe, von einem vieljeitigen Wiſſen, aber ohne
wirflihe Gelehriamteit, von lebhafter Auffaffungs-
gabe ohne ernfthaftes Eindringen, zog er aus feinen
Beobachtungen, feinen Abenteuern, aus allem, was
er ſah und fand, Anekdoten und humoriſtiſche Bes
merkungen, die komiſch und zugleih philoſophiſch
waren und ibm den Ruf großer Intelligenz ein«
trugen.
Er war auch der Rebner beim Diner, Er hatte
jedesmal „Eine“, Cine Gefchichte, auf die man
ſicher zählte und die er vorzutragen begann, ohne
daß er befonders darum gebeten wurbe,
Nauchend, beide Ellbogen auf dem Tiih, ein
halbvolles Seftglas neben dem Zeller, erihlafft von
der Taballuft, die jih mit dem aromatischen Duft
des heißen Kaffees mijchte, fühlte er ſich bier voll«
ftändig zu Haufe, wie gewiſſe Geſchöpfe ſich an be—
flimmten Orten und zu beitimmten Momenten zu
Haufe fühlen, wie eine Nonne in einer Kapelle oder
ein Goldfiſch im Fiſchglas.
Er begann aljo zwijchen zwei behaglichen Zügen
aus feiner Zigarre:
„Da ifl mir vor einiger Zeit ein jeltiames Aber:
teuer paſſiert.“
Alle riefen wie aus einem Munde: „Erzählen!*
Er gab zurüd:
„Gerne... Ihr wißt ja, daf ic) viel und gem
in Paris herumjchlendere, und wie die Sammler und
Liebhaber die Schaufäften und Fenſter nad) Raritäten
durchſuchen, jo ſuche ih, aber Scenen, Menſchen,
"alles, was an mir vorüber oder um mid) her vorgebt.
Alſo, gegen Mitte September, es war gerade red
Ichönes Wetter, ging ich eines Nachmittags von Haufe
weg, ohne eigentlich zu willen, wo ich hinwollt.
Man hat ja gewöhnlich die Abficht, einer Schönen frau
einen Beiuch zu machen. Man wählt dann in jeiner
Galerie, vergleicht in Gedanken, wägt das Interefe
ab, das fie und einflöht, den Neiz, den fie ausübt,
und man emtjchließt ſich endlich doch dafür, wo &
einen an dem Tag gerade bejonders hinzieht. Aber
wenn die Sonne jo heil jcheint und die Luft jo lau
ift, verliert man manchmal ganz die Luft, Beſuche
zu madıen.
Die Sonne ſchien hell und die Luft mar lau;
ich zündete eine Zigarre an umd wandelte ftumpf-
finnig nad) den äußern Boulevard: Wie id nun
da jo herumflanierte, fam mir plößlich die Jder.
einmal nad) dem Friedhof Montmartre zu geben.
Ich Tiebe die Friedhöfe ſehr, ja, das wirkt io
beruhigend auf mid) und haucht mich jo ein bißchen
melancholiſch an; und das hab’ ich manchmal nötig.
Und dann — man bat aud gute Freunde den
draußen, die man hier oben nicht mehr befuchen lann,
und darum ſchon gehe ich gerne von Zeit zu Jet
bin. Gerade da, auf Montmartre, hab’ ich eine
Herzensgefchichte, eine Geliebte, die mir jehr nad
ging, ein reizendes Meines Weib, deren Erinnerung
mich ungeheuer jchmerzt und zugleich Bedauern in
mir welt... Bedauern jeder Natur. Und da gebt
ih auf ihr Grab, um zu träumen... Für fie il
alles aus,
Grabläuferinnen.
Dann lieb’ ich auch die Friedhöfe, weil fie jo
wunderlic bewohnte, riefenhafte Städte jind. Denlt
doch nur daran, wie viel Tote in diefem Heinen
Raume; die Generationen von Pariſern, die hier
wohnen für immer, Troglodyten, unwiderruflich ein=
geihloffen in ihre Heinen Höhlen, in den Fleinen
Löchern, die mit einem Stein bededt oder nur mit
einem Kreuz bezeichnet find, während die Lebenden
fo viel Platz beanjpruchen und jo viel Lärm machen,
Schwahlöpfe! Ferner findet man auf ben fFried-
böfen ebenfo intereffonte Monumente wie in den
Muleen. Das Grabmal Cavaignacs erinnert mid,
allerdings ohne es damit vergleichen zu wollen, an
das Meifterwerf Jean Gonjons: die Geſtalt Louis
de Bröz6s in der unterirdiichen Kapelle der Kathedrale
von Rouen; die ganze Kunſt, die man modern und
realiftiich nennt, ift hier beifammen, meine Herren.
Diejer Tote, Lonis de Bröze, ift wahrer, jchredlicher
und von leblojerem, todesfampfverzerrterem Fleiſch
als all die gequälfen Leichname, die man heutzutage
auf den Gräbern ausmeißelt, Aber auf Montmartre
it übrigens aud; noch das Grabmal Baudins bes
wundernswert. Grandios! Das von Gautier, das
Murgers, wo ich neulich einen Kranz gelber Immor—
tellen bemerkte. Wer mag ihn hingebradjt haben ?
Die letzte Griſette vieleicht, die jeht irgendivo in ber
Umgegend Concierge it? Es ift eine reizende Statuette
von Millet, aber Vernachläſſigung und Schmutz be—
ginnen fie zu zerſtören. O Murger, Sänger der
Jugend!
Ih trat aljo in den Friedhof ein und warb
fogleich von einer Traurigfeit erfaßt, einer Traurig-
feit, die nicht ſchmerzt und die einem, wenn man
ſich wohl befindet, den Gedanken aufzwingt: „Nun,
er ift ja gerade nicht luſtig, der Ort hier, aber für
dich ift ja auch der Augenblid noch nicht gefommen ...“
Und der Eindrud des Herbſtes, dieſer lauen
Teuchtigfeit, durch die der Duft der toten Blätter
firömt, und die Sonne, deren Strahlen geſchwächt,
müde und blutlos, verflärfte und poetifierte diejes
Gefühl der Einfamkeit und des untwiderruflichen
Zuendeſeins, das dieſen Ort der ewigen Ruhe durdh«
flutet.
Ich ging mit Meinen Schritten durch dieſe Gräber⸗
ſtraßen, wo die Nachbarn feine Nachbarſchaft mehr
halten, nicht mehr beifammen fißen und feine Zei—
tungen mehr leſen fönnen, Ich, ich las die Grab»
ſchriften. Das ift zum Beiſpiel eine der amüſante—
ften Sachen der Welt. Niemals hat mid) Labiche,
niemals Meilhac jo laden gemacht ala die Komil
diejer Gräberproja. Ad, das jind Bücher, zwerch—
fellerjchütternder ala Paul de Kocks fämtliche Werte,
diefe Marmorplatten und »freuzge, auf denen die
Berwandten der Toten ihre Herzensergüfie ausftrömen,
ihre Trauer, ihre Wünjche für das ewige Heil der
Aus fremden Zungen. 1897, I. 20,
937
Dahingegangenen und ihre Hoffnungen auf ein
Wiederjehen — Flauſenmacher!
Ganz bejonders ſchwärme ich auf diefem Fried—
bof für dem ganz verlaffenen Zeil, für das alte
Viertel Tängft Verftorbener mit feinen großen Tarus-
bäumen und Cypreſſen, dad nun bald wieder ein
neues werden wird, wenn man bie grünen Bäume
da fällt, die von Leihen gedüngt find, um dann
friſch Geftorbene unter Heinen Marmorfteinen ans
zureihen ...
Als ich ſo eine Zeitlang herumgeirrt war, um
mir den Geiſt zu erfriſchen, merkte ih, daß ich im
Begriff war, mich zu langweilen, und daß id) nun
der Iehten Rubeftatt meiner Heinen Freundin eine
ehrfurchtsvolle Bezeugung treuer Erinnerung zollen
müßte, Das Herz ward mir ein bißchen ſchwer,
als ih an dem Grabe anfam. Armes Liebchen, fie
war jo reizenb, jo verliebt, jo weiß, fo friih... und
nun... wenn man ba öffnete...
Auf das eiferne Gitter geftüßt, flüfterte ich ihr
all meinen Schmerz zu, den fie zweifelsohne nicht
hörte, und wollte fortgehen, al& id eine Dame in
Schwarz in großer Trauer auf dem nachbarlichen
Grabe fnieen jah. Ihr zurüdgeichlagener Krepp-
jchleier Lie einen hübſchen blonden Kopf jehen,
dejjen um die Stirne gewundenen Haare wie vom
Morgenrot beleuchtet ſchienen unter der Nacht der
Kopfbededung. Ich blieb.
Sie litt offenbar unter einem großen Schmerz.
Ihr Geficht hatte fie in die Hände vergraben, unb
ſtarr, mit der Unbeweglichfeit einer Statue in ihr
Seid verjunfen und von qualvollen Erinnerungen
gefoltert, Tieß fie unter, den vorgehaltenen Fingern
langjam Perle um Perle ihres Roſenlranzes hervor«
rollen und ſchien jo beinahe jelbft wie eine Tote, die
für einen Toten betet. Dann bemerkte id plöplic,
daß fie weinte; ich erriet es an der ſchwachen Bes
wegung des Rückens, Windesſäuſeln in Weiden»
zweigen vergleichbar. Zuerſt weinte fie leife, dann
ſtärler, mit bejchleunigten Bewegungen des Nadens
und der Schultern. Plötzlich lich fie die Hände von
ben Augen; die waren voller Thränen und fo ent-
züdend! Nugen einer Irren, bie fie herumjchweifen
ließ, ala ob fie eben von einem abjcheulichen Alp-
drüden erwacht wäre. Sie jah, daß ich fie betrachtete,
ſchien verſchämt und verbarg aufs neue ihr Geficht in
den Händen. Damn ſchluchzte fie lonvulſiviſch, und
ihr Haupt ſank langjam gegen den Marmor. Sie
lehnte die Stirn daran, ihr Schleier breitete fi um
fie aus und bededte die weiße Platte des geliebten
Grabes wie mit neuer Trauer. Hierauf beugte fie
jich nieder, die Wange auf der Platte, und blieb
vollftändig unbeweglich, leblos.
Ic ftürzte zu ihr hin, rieb ihr die Hände, hauchte
auf die Augendedel und las dabei die einfache In—
118
938
ihrift: „Hier ruht LonisTheodore Garrel, Kapitän
der Infanterie der Marine, gefallen durch Feindes⸗
band in Tonkin. Betet für ihn!”
Sein Tod datierte nur einige Monate vor. Ich
wurde zu Thränen gerührt und verdoppelte meine
Bemühungen. Und fie waren von Erfolg; fie lam
wieder zu ſich. Ich war fehr bewegt — ich bin
doch auch fein Unmenjch und noch nicht ganz vierzig
— ih mußte auf den erſten Blid, daß fie liebens-
würdig und erfenntlich jein würde. Sie war es.
Mit neuen Thränen erzählte fie ihre Geſchichte, in
abgebrochenen Stößen, mit feuchender Bruft, den
Tod des Offizier, der in Tonfin gefallen nad) faum
einem Jahr glüdlicher Ehe. Sie hatten ſich aus
Liebe geheiratet; fie war Doppelwatie und beſaß
gerade die vorſchriftsmäßige Mitgift.
Ich tröftete fie, ich redete ihr zu, ich ftüßte fie,
ih hob fie auf.
Dann fagte id:
„Bleiben Sie nicht bier, fommen Sie!”
Sie murmelte:
„D, ih bin unfähig, zu gehen.“
„sc werde Sie führen.“
„Danke, mein Herr, Sie find ſehr gütig. Sie
fommen auch hierher, um einen Toten ju beweinen ?*
„sa, gnädige Frau.“
„Eine Tote?“
„sa, gnädige rau,“
„Ihre Frau?“
„Eine Freundin.”
„Man kann eine Freundin ebenjo lieben wie
eine Frau, die Leidenſchaft kennt fein Geſetz.“
„sa, gnädige Frau.“
Und wir gingen zujammen fort, fie auf mid
geftüßt und ich fie beinahe die Wege des Kirchhofes
entlang tragend, WS wir außerhalb waren, mur-
melte fie mit erlöjchender Stimme:
„Ih glaube, e8 wird mir jchlecdht.*
„Wollen Sie irgendwo eintreten, etwas zu ſich
zu nehmen?"
„Ja, mein Herr,”
Ich bemerkte ein Reftaurant, eines jener Reſtau—
ranis, wo die Freunde der Verftorbenen fih von
dem überflandenen Pflihtgang zu erholen pflegen.
Wir traten ein. Ich ließ fie eine Taſſe heißen Thee
nehmen, der fie wieber zu beleben fchien, Ein mattes
Lächeln kam auf ihre Lippen, und fie fing an, von
fich zu ſprechen. Es wäre fo traurig, o, jo traurig,
ganz allein zu jein in feiner Wohnung Tag und
Naht, keinen Menjchen mehr zu haben, den man
lieben, bem man vertrauen, dem man Freundſchaft
ſchenlen könnte.
Das hatte alles ſehr den Schein der Aufrichtig«
feit, Es Hang jo hübih in ihrem Munde. Sie
war noch ſehr jung, höchftens zwanzig vielleicht. Ich
Gun de Maupaliant,
machte ihr Komplimente, und fie acceptierte fie ganz
gern. Dann aber, als die Zeit allmählich vorjeritt,
machte ich ihr den Borfchlag, fie in einem Wagen
nad ihrer Behaufung zu bringen. Sie nahm m
und wir ſaßen bald in einem Fialer nebeneinander,
Schulter an Schulter, und eines fühlte die Wärme
bes andern durch die Kleidurg hindurch, und nichts
verwirrt mehr auf der Welt als das,
Als der Wagen an ihrem Haufe hielt, hauchte fi:
„Ich fühle mid) unfähig, allein die Treppen hinaufe
zufteigen,, ich wohne im vierten Stod, Sie waren
fo gütig, wollen Sie mir auch nun noch den Arm
geben bis zu meinem Logis?“
Ich beeilte mih, ihn anzubieten. Sie flieg
langjam, ſchwer atmend hinan; dann, vor ihrer Thür
fagte fie:
Treten Sie doch eine Minute ein, dab ich Jhnen
wenigjtens danfen kann.“
Und id) trat ein, meiner Treu!
Es war beicheiden, beinahe ein wenig ürmlic bei
ihr, aber alles einfach und nett arrangiert. Wir
ſetzten uns Seite an Seite auf ein Heines Sanaper,
und fie ſprach mir wieder von ihrer Einjamleit.
Sie jhhellte ihrem Mädchen, um mir etwas zum
Trinfen anzubieten. Das Mädchen fam nicht. Ih
war fehr vergnügt darüber, denn ich vermutete, daß
diejes Mädchen überhaupt nur des Morgens da war,
was man jo eine Zugeherin nennt.
Sie hatte ihren Hut abgenommen. Sie war
wirklich reizend mit ihren Haren, auf mid) gerichteten
Augen, jo auf mich gerichtet, fo Mar, daß ich eine
ſchreclliche Verſuchung hatte, und — ich unterlag ihr.
Ich nahm fie in meine Arme, und auf ihre Augen:
lider, die fi ganz plößlich ſchloſſen, regneten meine
Küffe... Küffe... Küffe... zu viel und noch mehr.
Sie fträubte fih und ftieß mich zurüd, immer
wiederholend :
„Laflen Sie... lafien Sie... laffen Sie dai!*
Welchen Sinn gab fie dem Wort? Im einem
ſolchen Fall hat „laffen Sie das“ mindeftens zwei
Um fie zum Schweigen zu bringen, ging id) von den
Augen zum Munde über und legte dem Wort
„laſſen Sie das" die Bedeutung bei, die ich vorzog.
Sie widerftrebte nicht mehr jehr, und al® wir uns
wieder einander anſahen nad) dem heißen Ausbrud
der Erinnerung an den Kapitän von Tonkin, hatte
fie ein ſolch ſchmachtendes, gerührtes, ergebungsvolles
Ausjehen, das meine Beforgnis zerftreute.
Alsdann wurde ich galant und jehr eifrig.
Und nad) einer neuen Koje- und Plauderſtundt
fragte ih:
„Wo fpeilen Sie?"
„sn einem Gafthaus in der Nähe.”
„Ganz allein?”
„Allerdings.“
——
Grabläuferinnen.
„Wollen Sie mit mir jpeifen ?"
„Wo ift das?“
„sn einem guten Reſtaurant auf dem Boulevard,”
Sie zögerte ein wenig. Ich drang auf fie ein.
Sie gab nah, fich felbjt mit dem Argument be=
rubigend. „Ich langweile mich zu ehr... zu ſehr,“
worauf fie hinzufügte: „Aber ih muß bann eine
weniger düſtere Kleidung anlegen.“
Sie ging in ihr Schlafzimmer, und als fie wie-
der heraußtrat, war jie in Halbtrauer, entzüdend,
fein, ſchlank, in einer grauen, jehr einfachen Toilette.
Offenbar hatte fie Kirchhofs- und Straßentoileite.
Dad Diner wurde jehr gemütlih. Sie tranf
Champagner, wurde animiert, feurig, und ich ging
mit ihr zurüd, zu ihr.
Diejer Bund, auf den Gräbern geichlofjen, dauerte |
ungefähr drei Wochen. Aber man wird eben alles |
müde, befonders die Weiber. ch verlieh fie unter
dem Vorwand einer unaufihiebbaren Reife. Bei
meiner Abreije war ich jehr generöß, und fie bedankte
ich ſehr. Und ich mußte veriprechen, ſchwören, wie-
der zu ihr zu fommen, denn fie ſchien wirklich ein
bißchen am mir zu hängen.
Indes knüpfte ich andre zarte Bande, und un—
gelähr ein Monat war vergangen, ohne daß mid
gerade bejonders lebhaft der Wunſch erfaht hätte,
diefes Heine Liebihen von den Gräbern wiederzujehen.
Jedoh, ich vergaß fie auch nit... Die Erin-
nerung fuchte mich heim wie ein Myſterium, wie ein
piohologiiches Rätjel, wie eine jener unerflärlichen
Fragen, deren Löſung uns beunruhigt. Ich weiß
nicht warum, aber eines Tages bildete ich mir ein,
fie auf Montmartre wieder finden zu müſſen — und
id ging hin.
Ich fpazierte ange umber, ohne andern Leuten |
als den gewöhnlichen Bejuchern diejes Ortes zu be=
939
gegnen, folhen, die noch nicht allen Verkehr mit ihren
Toten abgebrochen haben. Am Grabe des zu Tonkin
|
|
gefallenen Kapitäns fniete feine weinende Trauernde
auf dem Marmor, noch waren Blumen oder Kränze
zu ſehen.
Aber als ih mid in ein andres Viertel dieſer
großen Totenftadt verlor, bemerkte ich urplögli am
Ende eines Kreuzweges ein Paar, er und fie in tiefer
Trauer, auf mid) zu fommen.
O Eritaunen! Als fie näher famen, erfannte
ich fie wieder. Sie war es!
Sie jah mich, errötete, und als ich fie, an ihr
vorübergehend, jtreifte, gab fie mir ein ganz kleines
Zeichen, einen furzen Blid nur, der jagte: „Erkennen
Sie mich nicht,” der aber auch jo viel heißen konnte
als: „Komm bald zu mir, Liebfter!“
Der Herr war elegant, vornehm und dic, Offizier
der Ehrenlegion und ungefähr fünfzig Jahre alt.
Und er ftüßte fie, wie ich jie geftüßt hatte, ala
wir den Kirchhof verließen!
Ich ging, ſtarr vor Erjtaunen, fort, mic; fragend,
was ic) denn ba gejehen hätte, welcher Art von
Weſen dieje Kirhhofsjägerin wohl angehören möchte,
War es einfach eine Dirne, ein überjpanntes Yrauen=
zimmer, das auf den Gräbern die Männer auflas,
welche, trauernd noch, vom Geijte des Weibes, ob
Gattin oder Geliebte, umfchwebt waren und ſich nad)
den verlorenen Zärtlichkeiten zurüdjehnten?
War fie vereinzelt? Giebt es mehrere? Iſt
dies eine Profeſſion? Hält man den Friedhof dem
Trottoir gleih? Grabläuferinnen! Oder hatte fie
nur allein diefe bewundernäwerte Idee? Wahrlich,
eine tiefe Philofophie, den Schmerz der Liebe, der
' an diejem düſtern Ort wieder auflebt, auszjubenten !
Ih hätte nur zu gern gewußt, weſſen Witwe fie
an jenem Tage gerade war?
Verlorene Siebe.
Bon Giofud Garducci.
Aus dem Italienifchen üderfeßt von Joachim v. Dürow.
Ich hab’ zerlanfen fieben Paar
Der Schuh’ von Eifen, dich zu finden,
Serbrochen fieben Eifenftäb,
Zu ſtützen mich auf fchwerem Ganae;
Doll Tränen weint ich fieben Krüg’
In fieben Jahren, bittre Chränen,
Doch du, du fchläfft bei meinem Schrei —
Es fräht der Hahn, dich wert er nimmer.
— re —
Das neue Leben.
Don
itlaxim Bjelinski.
Aus dem Ruſſiſchen üderfeßt von Alexis Warkom.
(Stluf.)
XIV.
„Das ireibt jet Alyfin? Das Leben in der
Natur? Die Gemeinschaft mit feinen einfachen
Menihen? Die Bauernarbeit? Ich wäre verrüdt
geworben, hätte ih in Woswilchennoje noch einen
Monat zubringen müſſen. Ich werde täglich dümmer;
fommt noch ein wenig Pharijäertum hinzu, dann ift
es aus mit mir!
Sp dachte Manylin, ald er am Abend von der
Jagd zurückkehrte. Es war am Ufer eines Grabeng,
der in einen Teich verlief, an welchem eine Mühle
und ein Badehäuschen jtanden.
Die Dämmerung nad dem ruhigen, heißen Tag
verbreitete fich golden über die Wieſen und die Heinen
Waldchen. In der Luft roch es würzig, und rechts
bod vom Himmel ftand in filberner Sichel ber zu-
nehmende Mond; lints die Abendröte. Unten im
Grafe zirpten die Grillen, der Hund lief vor ihm
her oder |prang an ihm empor. Aber Manyfin bes
merkte nicht feinen Eifer. In gleihmäßigem, nad»
läffigem Schritt, in Gedanlen verfunten, ging er
weiter.
Mann wird Alerander fommen? Er wollte mic
ja nod) vor der Heu-Ernte befuchen. Die it nun
bald beendet und er ift noch nicht da. Ich kann
ihn nicht länger erwarten; ich fchreibe ihm und reife
ab. Er fann mir nicht zürnen.
Als er fih dem Badehäuschen näherte, trat
Eugenie aus demjelben mit einem Tuche um den
Kopf, da die Haare noch nicht troden waren; fie eilte
ihrem Bruder entgegen,
„Haben Sie etwas erlegt?”
„Nein, Eugenie! Es ift eine Sünde, Gottes
Geihöpfe zu töten, jei es aud ein Fiſch!“
„Warum maden Sie fie immer verwirrt?" fagte
frau Kleopatra, die der Tochter aus dem Bader
häuschen folgte. Sie hatte ebenfalls ein Tuch um
den Kopf und ein feucdhtes Handtuch um die Schule
tern, um ſich beim Gehen nicht zu erhitzen. „Warum
follte e& denn eine Sünde fein? Selbſt die heiligen
Väter, jelbit Ehriftus hat Fiſche gegeſſen. Er hat
jogar befohlen, Nefe zu werfen.“
„Und Bater Willarion ?*
„Als Dater Willarion am erjten Feiertage bei
ung war, ſchnitt er ein Stüd vom Spanferfel,”
„Es war das Ohr, weldjes er ak,“ jagte Eugenie.
„Gratuliere!“
„Was ſoll eine Gratulation? Wäre er ein Heuchlet,
fo hätte er nicht gegeflen,“ jagte Kleopatra, „und
andre verurteilt. Aber da er,in der Welt lebt und
weiß, was wirflih Sünde iſt und was nicht, jo ver:
urteilt er niemand. Sehen Sie! Sie find noch
fein einziges Mal in der Kirche gewejen! As ih
ihn darauf aufmerffam machte, antwortete er ohne
Verdruß: ‚Es wird die Zeit fommen, da er beten
wird" Er jagte e8 beinahe heiter.”
„Wozu mußten Sie es ihm jagen?” fragte Ma
nyfin unzufrieden.
Troßdem er bereits zwei Monate in Woswiſchen⸗
noje lebte, hatte er noch nie den Pater Wiflarion
geiehen. Aus dem Gefühl des Eigenfinns, welches ale
Leute mit rationaliftifchen Anſchauungen über Glau
ben und Kirche haben, war er nod) nie im Gottes-
baufe von Woswiſchennoje geweſen und prablie vor
Kleopatra damit, daß er bereits drei Jahre nicht in
der Kirche geweſen jei und feit fünfzehn Jahren
nicht gefaftet und nicht das Abendmahl genommen
habe. In Woswiichennoje mußte er immer vom
Bater Wilfarion hören, feine ganze Umgebung jprad
von diefem Geiftlichen; und in der That, um ihn
nur zu jehen und von ihm Gegen und Geneſung
von Seelen und jogar von Körperleiden zu erhalten,
famen in letzter Zeit jehr viele Perfonen aus den
entfernteften Orten des Moskauer und andrer Gow
vernements nad) Woswiſchennoje. Water Wifjarion
erregte in Manyfin immer größere Neugierde, Aber
diefe fchrieb er dem Mangel an Zerftreuungen zu
Wären jedoch zum Beifpiel die Buddhiften nad
Woswiſchennoje gefommen und hätten dort ihren
Kultus getrieben, jo wäre Manykin wahrſcheinlich iu
ihren Tempel gegangen, Aber der Vater Wiſſarion
ſchien ihm gerade deshalb abzuftohen, weil er Be⸗
ſchützer jener Religion war, in welcher Manyfin ge
boren war, und von der er fid) durch Lebensweiſe,
Bildung und Entwidlung losgejagt hatte.
Aber trogdem Manykin durch das Bild des Pater!
u
Das neue Leben.
Wiſſarion abgeftoßen wurde, begann biejes Bild
anfangs unflar, allmählich aber beftimmter zu wers
den und in Manyfins Seele einzubringen, indem es
in ihm unbewußt eine Art von Bedauern darüber
bervorrief, dab ihm bereits jene Naivität fehlte,
welche ihm einft vor vielen, vielen Jahren in ber
goldenen Kinderzeit fo viel frohe Augenblide ver
ſchaffte. Manykin fühlte, wie fich dies in feiner
Seele Berborgene rührte, aber e8 jchien ihm lächer-
ih, ebenfo einfach wie Eugenie und Kleopatra zu
werden. Er beganı allmählid; über den Bater
Wiſſarion zu jpotten. Er zürnte ihm fogar von
Zeit zu Zeit und ftaunte über die Regierung, welche
der Popularität dieſes Popen fein Ende machte.
Zugleich aber begriff er, daf er doc ungerecht handle,
indem ex ſich doch zuerft überzeugen müſſe, was denn
eigentlich diejer Pope jei. Endlich begann er ihn
zu fürchten, Er ftellte fich ihn vor mit Augen, die
wie in einem Buche in der fremden Seele leſen.
Und darum vermied er noch mehr eine Begegnung
nit Vater Wiflarion.
As Manyfin mit Eugenie und Sleopatra nad)
Haufe ging, fagte er nochmals zu fi, da er in
Boswilchennoje genug habe und es jogar gefähr-
(ih für ihn jei, länger im Dorfe zu bleiben. Er
ſah fi das Lämpchen an, das Frau Kleopatra
vor dem Heiligenbilde anftedte, wurde nachdenklich,
ging in fein Zimmer und legte ſich dort auf das
Sofa.
Das Dienfimädchen brachte ihm Thee.
Was für ein hübjches Ding fie ift! dachte er.
Ad, nein, nein! ih muß fort von hier, morgen!
Die Luft befommt mir nicht! Meine wehmütige
Stimmung ift bier nicht verichwunden, Das Fau—
Ienzen bat die unangenehmen Erinnerungen nicht
nur nicht betäubt, jondern eher verjtärft.
Plöglich fam ihm der Gedante, daß es doch gut
wäre, mit dem Bater Wiſſarion befannt zu werden,
damit dieſer feine Verhältniffe fennen lerne, fein
Freund werde, und daß er es fo hätte einrichten
jollen, daß Mufa Nikolajewna ihren Mann verlieh
und zu ihm nah Woswiſchennoje gelommen wäre.
Er war heute viel gegangen, war müde, und feine
Augen ſchloſſen fih. Der Thee ſtand noch unberührt
vor ihm. Anfangs fchlief er nicht, und jeine Phan—
tafie, im Dienfte feines Herzens, ſchilderte ihm uns
aufhörlich helle Bilder ſolchen Glüdes, welches Muia
ihm nie geben fünne. Der Berfland jchlummerte
und gab ſich ohne Widerftreben der jchönen Lüge der
Einbildung hin. Endlich, nad einer Reihe von un—
Nlaren Traumbildern, ftand der Vater Wiffarion vor
ihm. Er ftand auf einem Stuhle und jegnete Muſa
mit erhobenen Händen; diefe war bucklig. Water
Wiſſarion aber hatte die Gefichtszüge Alyſins, und,
old Manykin ihn ſtarr anjah, erglänzten fie von
941
einem ſolchen Lichte, daß ihn die Augen ſchmerzten,
er die Hände vorhielt und zu flöhnen begann.
„Seht ift e8 aber genug!” jagte Alyfin.
Manyfin fuhr erfchredt auf und öffnete langſam
die Augen, Vor ihm ſtand, mit einem Lichte in der
Hand, Alexander und lächelte,
XV.
„Du wirft alfo wieder reiſen? Willſt dich wieder
über dich ſchämen?“ fragte Alyfin, ber bereit$ von
Frau Sleopatra erfahren hatte, dab Stephan zum
erften Juli nach Peteräburg ginge.
Ich reife, ich kann nicht anders! Ich verbumme
bier auf dem Lande!” antwortete Manyfin, vom
Sofa aufjpringend. „Man muß deine Nerven und
beine Anſichten haben, um bier zu leben, ohne un»
verbeiferlihe Dummbheiten zu begehen, und ich habe
ohnedies jhon davon genug auf dem Gewilfen. Wie
geht es übrigens deinen Brüdern?“ fragte Manyfin,
ihn begrüßend.
„Welchen Brüdern ?*
„Ja, du hatteft doc die Abficht, Bruder jener
gemeinen Kerle zu werden, zu denen du mid damals
führteft. Weißt du noch, wie du immer jagteft: „Ich
will ihe Bruder werden“ Dad Mort ‚Bruder‘
Hang wirklich zu jonderbar.”
„Ah, Höre doch auf zu ſpotten,“ fagte Alyfin.
„sener, der mit feiner Schwiegertochter verbotenen
Umgang pflegte, ift verbannt, und der betrunfene
Kornei hat ſich anfcheinend gebefjert.“
„Anſcheinend? Nun, wie gebt es deiner Schönheit?“
Alyfin errötete und antwortete nicht.
„Lebt fie noh? Geht es ihr gut?” fragte Ma—
nylin immer weiter, Er war in einer Gemütsftim«
mung, welche nad) einem unterbrochenen feften Schlaf
einzutreten pflegt. „Tugendhaft?“ fragte er gähnend,
„Geh doch mit deiner Schönheit!” ſagte Alyfin.
„Lafle mid in Ruhe!“ Aber plößlich ergriff er
Manykin bei der Hand, drüdte fie in feiner jehnigen
Rechten und zog fie an fih: „Du haft den Nagel
auf den Kopf getroffen. Ich bin deshalb fo lange
nicht zu dir gelommen, weil ich, kurz gejagt, dachte
und immer wieder mit mir fämpfte, ob ich fie hei-
raten jolle oder nicht,“
„Wen denn?* fragte Stephan erftaunt, „dieje
Dirne?“
„Nun ja, dieſelbe!“ erflärte Alyſin zornig. „Das
würde mich dem Volle nähern. Bis jeht bin ich doch
noch immer der Fremde. Wir wollen dieſe Frage
überlegen.“
„But; dab fie hübſch ift, das weiß ih. Jetzt
jehe ich auch, daß du fie liebft. Mber weiter! Du
bift doch Gegner der Ehe?“
„sa. Ich will fie heiraten, aber ih will mit
ihr nicht wie mit einer Frau leben.“
942
„Banz etwas Neues!“
„Ich will ihr Bruder fein!“
„Schönes Wort!”
„Was rätft du, zu thun?*
„Du bift energiicher als ih, Alexander. Unire
gegenjeitigen Ratjchläge haben für uns feine Be—
deutung. Wir lieben einander und bilden für ein-
ander ein Stubienftüd, damit erjchöpfen ſich unfre
Beziehungen. Ih will dir von der Heirat nicht
abraten, will fie dir aber auch nicht anraten. Biels
leicht wirft du glücklich fein, vielleiht aber aud
nicht!”
„Mein perfönliches Glüd hat gar nichts mit der
Sache zu thun. Verftehft du, Stephan, fie erregt
mid burd ihre Schönheit, durch ihren Stolz, und
fie thut mir leid; niemand wirbt um fie, und doch
fürchte ich, daB fie fich verheiraten fönnte, Ich bin
wütend vor Eijerjudt,”
„Aha!“
„Nur durch die Heirat kann ich fie von Armut
und Leid befreien. Dann aber würde id) auch ruhig
werben. Ich werde mid) jo mit dem Lande verbinden.
Verftehft du mich?”
„Nein, ich verftehe dich nicht!“
„Du mußt mid verftehen!” rief Alyfin ärgerlich.
„But, ich habe begriffen. Und liebt fie dich?”
„Sie wird mid) heiraten, und das ift mir genug.
Ich brauche weder ihre Liebe noch ihre Dankbarkeit.
Uebrigens ſprach ich nod gar nicht mit ihre. Ich
beſchloß, fie zu heiraten, und damit ift die Sadıe
erledigt!”
„Wenn du es beſchloſſen haft, wozu nod) weiter
darüber reden?“
„Wie das? Sch mußte es dir doch jagen; du
bift doc mein Freund, und wir verhehlen doch ſelbſt
nicht die ſchlechteſten Gedanklen voreinander. Alſo
ich muß fie heiraten, hörſt du ?* ſagte Alyfin erregt,
nit freudigem Lächeln.
„Sa, ich höre!”
„Sch habe mein Gut verlaffen, aber ich halte e8 hier
feine zwei Tage aus. Ich muß mein Leben unbedingt
in ein Syftem bringen. Es blieb ftehen! Das flört
mich. Aber wenn ich das ändere, wird alles anders
werden. Ich muß mein Ziel erreichen, ich will das
Gleichgewicht meiner Seele finden. Aber jetzt gleicht
meine Seele einer Wage, auf deren einer Schale eine
Zentnerlaft liegt und auf der andern nicht greifbare
Gegenftände, wie Arbeit, Freiheit, Brüderlichkeit,
Es iſt unerträglid!”
„Auf den Schalen lag eine Geige, aber du warfſt
fie von dir, Dieſe Zentnerlaft fühlft du jetzt!“
„Sprid mir nicht von der Geige! Ich bin nicht
zu dir gefommen, dab du mid) reigejt,“ ſagte Alyfin
erblaflend,
Manyfin erfaßte feine Hand:
Marim Bjielinski.
„Entihuldige mih, Freund,” ſagte er und be
mühte fich zu lächeln. „Ich erwartete dich mit folder
Ungeduld! Saum fehen wir uns, da liegen wir uns
ſchon in den Haaren, aber wenn du in meiner Serie
leſen würdeſt, jo würdeft du mir alles verzeihen,“
„Ich bin dir gar nicht böſe,“ fagte Alyfin weich
„Ih kenne dich doch zu gut. Sage einmal, Freund,
haft du dich immer noch nicht beruhigt ?*
„Rein!“
„Haft du dich nicht nach ihr erkundigt?“
„Wozu das?“
„Das ift gut!“ lobte ihn Alyſin.
du doch Charakter.”
Wie gewöhnlich blieben fie lange auf und aingen
im Garten umber; jchon bei Tagesanbrud; hört
Kleopatra, wie fie ſich ſtritten.
„Deiner Meinung nad ift die Freiheit der
Individualität das Gleichgewicht der Seele?”
„Und bein Ideal ift wohl Unbeftändigleit ?*
„Glaubft du, dab Schopenhauer verrüdt war!“
„Und war denn Schumann nicht verrückt? und
Mozart ?*
Nun zeigt
XVI.
Der Ankunft Alyſins in Woswiſchennoje folgt
ein trauriges Ereignis. Am Morgen nad) feine
Rückkehr trieb die Tochter des Gärtnerd, ein Mid
hen von etwa achtzehn Jahren, eine Kuh auf die
Weide. Ein Ochſe bemerkte das Mädchen, ging au
dasſelbe los, bob es, als es ihm mit der Peitſche
ſchlug, auf die Hörner und zerftampfte es, bis es
Vorübergehende befreiten.
Als Frau Kleopatra von diefem Unglüd erfuhr,
ichidte fie nach dem Arzt, aber diejer war nicht zu
Haufe. Jrgend eine Kurpfuſcherin verband fie, doch
am Abend trat der Brand hinzu. Die Kranke litt
jo, dak ihr Stöhnen auf dem ganzen Hofe zu hören
war. Den Tod ahnend, flehte fie verzweifelt, man
jolle fie töten, fie verfluchte alle Gefunden, die noch
am Leben blieben, und wurde dann bewußtlos.
Alyfin und Manyfin befuchten fie, verliehen fe
aber bald mit Schaudern. Bejonders ſchwer wirft:
ber Anblid der Unglücklichen auf Alyſin. Den ganzen
Tag ging er finfter umher unb wiederholte immer,
daß der Tod jehr ungerecht jei. Zum erſtenmal ber
merkte Manyfin, dab Alyfin den Tod fürdte. Und
um ihn von dem unangenehmen Eindbrude zu be
freien, führte er ihm in eim abgelegenes Schäfer
haus,
Die Freunde fchliefen auf dem Heu, gingen il
auf die Jagd, erlegten nichts, da Alyfin abſichtlich
vorbeiſchoß und vorzog, philoſophiſche Gejpräd
über den Tod zu führen. Gegen Mittag kehrten ſit
nad Haufe zurüd,
„Lebt fie nor?” fragte Stephan.
„Sie atmet noch,“ antwortete Kleopatra.
Das neue Leben,
„Warum ließen Sie nicht den Vater Wifjarion
holen? Es ift doch lächerlich, einen Arzt holen zu
laffen, wenn fol ein Mann in der Nähe iſt.“
„Ih weiß das beſſer ald Sie, mein lieber Herr
Sohn. Aber zum Unglüd ift der Vater des Mäd—
chens Raskolnik, und erft heute hat er ſich einver-
itanden erflärt, den Vater Wifjarion zu empfangen.
Diefer aber war jehr beihäftigt und eben von einem
diphtherielranlen Knaben gelommen. Auch der Knabe
fühlte ſich wohler, als er die Hände über ihn hielt.
Das Volk lief ihm dann bis hierher nad), jo daß er
faum zur Belinnung fam.“
„Sie hätten ihm Geld anbieten follen, dann
wäre er vielleicht jchneller gelommen.“
„Ad, was iſt ihm Geld! Machen Sie ihn nicht
io ſchlecht, Stephan! noch dazu in Gegenwart von
Fremden. Schämen Sie fih! Ich ſagte Ihnen
doch, daß er fein Geld mag, und wenn er etwas
erhält, e8 an die Armen verteilt. Er wünjcht nichts
weiter, als da man ihm mit Liebe und Einfachheit
entgegenfommt. Er wird ſchon zu ung fommen, jo-
bald er frei if. Alexander Ignatitſch, ich bitte zu
ih. Eugenie, nimm neben Alerander Ignatitſch
Platz.“
XVII.
Vater Wiſſarion fuhr auf den Hof. An der
Menſchenmenge, die fi vor dem Gärtnerhaus an»
ſammelte, erfannte Kleopatra ſofort jeine Ankunit,
Sie ftand gerade mit Alyſin und Manyfin am
Fenſter, im Geſpräch über das gejtrige Unglüd,
Plößzlich veränderte fich ihr Gefiht und freudig rief
fe: „Eugenie, Eugenie!“
Alyfin und Manyfin traten näher an das Fenſter
„Eugenie!” Meopatra wurde unruhig und beeilte
fih, ein Oelbild, eine Kopie des „badenden Mäd-
hen3” von Brüllow, mit einem Tuche zu verhängen,
obgleich fie e8 für jehr gut hielt und zur Erinnerung
an ihren Mann, welcher dieſes Bild ſehr liebte, jorg«
fältig bewahrte.
EEugenie, eile auf den Hof und erwarte dort den
Bater Wilfarion. Sobald er das Gärtnerhaus ver-
laſſen bat, rufe ihn zu uns! Sollte er es au
ihlagen, jo ſage ihm, daß ich dann annehmen müßte,
er wolle mein Haus nicht jegnen. Für dich wird
er alles thun, er liebt dich! Sage ihm nur, daß ich
inftändig bitte!”
Eugenie Tief aufgeregt dur den Saal, Man
börte fie die Stufen des Baltons heruntereilen. Sie
drängte fi durch die Menge, ftellte fih vor die
Thüre des Gärtnerhaufes, im jtillen Gott bittend,
daß er doch dem Water Wiljarion den Wunſch ein«
geben möchte, ihr Haus zu befuchen.
„So? es kann alfo auch vorfommen, daß er Ihr
Haus nicht befucht ?* fagte Manykin.
„Er bat feine Zeit, er hat jehr viel zu thun!
248
Ihn einzuladen, ift zwedlos und unbequem für ihn.
Mir ift e8 felber peinlich; kann er doch während der
Zeit jemand die Seele retten. Wenn Sie wühten,
wie müde er wird. Er ift doch ſchon über jechzig
Jahre,“ erwiberte Kleopatra und jah unverwandt
durd) das Fenſter.
Die Frauen, welche in dem Gemüfegarten Ma—
nyfins arbeiteten, verließen ihre Arbeit. Andre Frauen,
mit Säuglingen auf den Armen, famen auf den
Hof, in der Hoffnung, vom Bater Wifjarion ges .
jegnet zu werden. Die Menge barrte in ſrommer
Erregung feiner Ankunft.
Die Spannung übertrug fih aud auf Manyfin
und Alyſin. Manyfins Herz ſchlug heftiger. Als er
dies bemerfte, bemühte er ſich, feinem Geficht einen
gleihgültigen Ausdrud zu geben, obwohl niemand
auf ihn achtete, da die Aufmerffamteit aller auf die
Perſon des Vater Wilfarion vereinigt war.
Es vergingen einige Minuten. Plößtzlich trat Die
Menge zurüd und begab fih an den Balfon des
Haujes.
„Er kommt, er kommt!“ rief Sleopatra zitternd.
Sie nahm den roten Stoff, aus dem ein Kleid für
Eugenie werden follte und breitete ihn auf den Boden
aus bis direft zur Thüre. Sie war wie bewußtlos,
unb in ihren Augen jtanden Thränen der Freude.
Inzwiſchen ging Vater Wiffarion, unterwegs das
Volk fegnend, langſam bis zum Haufe. Aus der
Menge leuchtete fein blaues, ſeidenes Gewand,
Eugenie bat die Bauern, von dem Vater Wif-
farion abzulaffen, aber man gehorchte ihr nicht,
jondern ergriff den Saum feines Mantel, um ihn
nur zu berühren. Er trat auf die Stufen, fi) auf
Eugenie ſtützend. Aber auch hier verließ ihn die
Menge nicht. Endlich trat er ind Haus. Eugenie
ſchloß eiligft die Thüre, jo daß das Boll ausge
ſchloſſen wurde,
Er ging lähelnd am roten Stoff vorbei und
fegnete die vor Entzüden ftumm gewordene Rleopatra.
„Bitte, Vater Wiflarion, bitte jehr! Beehren
Sie und!” ſagte fie endlich und zeigte mit der Hand
auf den Saal.
„Soll ich vielleicht für jemand beten?“ fragte er
einfah, wie ein Arzt in der Wohnung nad) einem
Kranlken fragt.
„Bitte, Vater Wiffarion, bitte!” wiederholte fie
immer, al3 wenn fie die Sprache verloren hätte und
ihr nur diefe Worte im Gedächtnis geblieben wären.
Bater Wiffarion trat in den Saal und verneigte
fih gegen Manyfin und Alyſin.
Alyſin trat zurüd, um nur Zujchauer zu fein.
Er jah verjtohlen, aber durddringend auf ben
Geiſtlichen.
Unerwartet für ſich ſelbſt, trat Manykin auf den
Vater Wiſſarion zu und bat um ſeinen Segen.
944
Diefer jegmete ihn und küßte ihn jchüchtern auf
die Lippen.
Vater Wifjarion war ein Mann von mittlerem
Wuchs, Meinem Bart, magerem und im ganzen an—
genehmem Geſicht. ZTroß feines vorgerüdten Alters
war er noch gar nicht grau, und fein dunkles Haar
jah frisch aus. Seine von Fleinen Fältchen ums
gebenen Augen waren noch rein, heil und fchauten
jo guimütig drein, wie franfe Kinder, wenn fie dem
ſchmeichelnden Ausdrud der weinenden Mutter bes
gegnen. Seine Lippen verlieh nicht ein einfaches,
faum bemerfbared Lächeln, und er felbft zitterte am
ganzen Körper, vielleicht vor Müdigkeit, vielleicht aus
einem andern, höheren Grunde, ba er joeben für ein
entftelltes jlerbendes Mädchen gebetet hatte, welches
mit demütigem Lächeln und erlöſchenden Augen das
Kreuz gelüßt.
Er ſchaute um ſich und ſah, daß man ihn nicht
des Gebets wegen eingeladen, jondern als Gaſt, und
obwohl er wirllich nur jehr wenig Zeit hatte — er
mußte noch nad) dem Nachbardorf — entſchloß er
fi) doch, auf wenige Augenblide zu bleiben. Er
nahm nicht einmal Plab.
„Sie fingen?” fragte er Manyfin.
„Ja, ich finge,“
„Ich fang früher ebenfalls. Im Seminar war
ein Sänger, der einen wunderbaren Tenor hatte;
Archangelsky hieß er; er war jpäter in der faiferlichen
Kapelle, ging jhließlich zur Oper, wo er fich fehr
auszeichnete.“
„Ss hörte von ihm; er iſt jetzt tot!”
„Er ift tot, er war ein guter Menſch; Gott gab
ihm ein Talent, ebenfo wie Ihnen; ein feltenes
Glück, welches man verflehen muß, für die Mite
menjhen auszunußen. Wie alt find Sie?“
„Ich werde bald ſechsunddreißig Jahre.”
„Ein ſchönes Alter! Seien Sie eifrig, und Gott
wird Ihnen helfen. Talentvolle Menjchen find eben»
falls gefalbt, jedes Land ftüht fi auf fie und wird
durch fie geziert. Ohne fie bleibt gar feine Erin-
nerung an ein Bolt! Und das ift wohl Ihr Kollege?”
„Alyfın heißt er.”
„Wohl ebenfalls Künſtler?“ jagte Water Wil:
jarion mit wohlgefäligem Lächeln. „Stammen Sie
aus dem Moskauer Gouvernement?“
„Haben Sie denn nichts von mir gehört?”
„Nein! Und find Sie auch underheiratet ?*
„Wozu wollen Sie das wiſſen, Wäterdhen ?*
Bater Wiffarion wurde rot, ald wenn er in der
That etwas gejagt hätte, was ſich nicht ziemte.
„Entichuldigen Sie!“ verjehte er und jah nad
feinem Hut. „Das Leben bes Künſtlers,“ ſagte er
zu Manyfin, „ift vol Unruhe und Verführung.
Männer mit ſchwacher Seele werben oft ſchwermütig
und geraten in Zweifel, Wenn Sie oder Ihr Kollege
Marim Bjelinsfi,
etwas auf dem Herzen haben jollten, irgend eine
unangenehme Erinnerung oder einen Kampf mit
einer Leidenichaft, jo ſprechen Sie nur den Wunih
aus, und ih will in meiner freien Zeit für Eie
beten.“
Mit feuchten Augen ſchaute Manylin den Vater
Wiffarion an. Sein Herz ſchlug ihm fo, daß ef
faum zu jprechen vermochte.
„Schön!“ jagte gutmütig Vater Wiſſarion. „Nun
danfe ih Ihnen für die Unterhaltung und bitte,
mich zu entſchuldigen.“
Er verneigte fich, lüßte Eugenie und frau leo:
patra auf die Stirn, umarımte und fühte Mauyfin
und wollte ſich Alyfin nähern. Diefer aber wandte
fih ab und ging auf die andre Seite des Saalet,
Vater Willarion ſchien zu ſchwanken, ob es böf-
lich jei, fortzugehen, ohne fih von Alyfin zu ver:
abichieden. Aber er bemerkte die Menge auf dem
Hof, vergaß Alyfıin und ging eilig hinaus, über den
roten Stoff, den er jetzt nicht bemerfte.
Manyfin war es fo leicht auf dem Herzen, wit
ihon lange nicht. Er jchämte fich jetzt nicht, und
er lachte auch nicht darüber, dab ein Blid eins
Menſchen, den er entſchloſſen war, von ſich zu flohen
und über den er fortwährend jpottete, feine Seele jo
heben und ihn ganz anders flimmen fonnte. Sein
Gewiſſen ſchien ſich plöhlich beruhigt zu haben, und
er hielt fich für beffer, als er bis jetzt war. Lächelnd
trat er zu Alyfin.
Aber diejer ſchaute wehmütig feinen freund an.
Auf Alyſin hatte Vater Wiffarion ganz anders gt
wirft. Er ärgerte ſich, daß er niemals eine folde
Seelenreinheit, eine jo milde Leidenſchaftsloſigkeit
beſeſſen, wie diefer Priefter. Sein Herz that ihm
weh und jein Stolz war getroffen. Er erjchien ſich
jelber ſchlecht, ſchlechter als er bisher war.
„Was willft du jagen?“ fragte Alyfin.
„Altrander! fonderbar, ich bin glüdiih! Was
ſoll ich dir noch mehr jagen?”
„Er fagte dir fo viel Komplimente, und du freuft
dich num darüber. Höre, ich ſagte dir doch ſchen
früher, daß ich hier nicht Iange bleiben werde. Ich
muß fort! Laſſe meine Pferde anfpannen! Nein,
nein, halte mich nicht zurüd! Höre, Fremd, ih
habe meinen Weg, meinen eignen und feften, und
du wirft vielleicht dereinft mit mir gehen wollen.
Ich bin davon überzeugt! Ginftweilen aber lebt in
meiner Seele ein Etwas, was du nod nicht haft.
Daher verjtehit du mich nicht. Nicht die natür—
liche Ehrlichkeit eines Tieres wünſche ich, fondern
ein bewußt menjchliches Leben.” Seine Augen
glänzten mit einem Feuer, weldjes Manykin böje
erſchien.
Nach einer Stunde war er fort. Frau Kleopatta
nahm falt von ihm Abſchied.
Das neue Leben.
XVII.
frau Kleopatra war mit dem Benehmen ihres
Sohnes jehr zufrieden. Seine gute Stimmung dauerte
nod einige Tage, dann übergab er frau Kleopatra
für den Vater Wiffarion taufend Rubel zur Ver
teilung an bie Armen und machte ſich zur Abreije
nad Petersburg bereit.
Als er auf dem Bahnhof war und ſchon das
Billet in Händen Hatte, bebrüdte wieder die alte
Sehnfucht fein Herz. Er erinnerte fi), wie er doch
noch vor furzer Zeit gerade durch feine unglüdliche
Liebe zu Muja glüdlih war. Selbft Alyfin wollte
doch heiraten. Er ging mit großen Schritten auf
dem Perron umber und dachte an feine Einſamleit.
Aber ich werde doch endlich ein Mädchen finden, die
alle Erinnerungen aus meinem Herzen verdrängen
wird. Vor jeiner Phantafie jtand ein Mädchen,
der Mufa Ähnlich, frei, unverborben durch Lüge,
leidenihaftlih, zum Lafter geneigt und doch rein.
Er Hatte zarte und unſchuldige Mädchen jo wenig
gern wie den erften Schnee. Er hielt fie für be=
ſchränkt und nannte fie die Heinen Bürgerstöchter.
„Guten Tag, gnäbiger Herr!“
Er drehte fi um; über eine Wieje hinter ihm
lief mit einem großen Regenſchirm die budlige Köchin
der Muja.
„Bott hat es gefügt, daß ih Sie noch einmal
treffe, gnädiger Herr; ich freue mich über Sie wie
über einen nahen Verwandten, Ich fahre nad) meiner
Heimat, ich babe den Leuten gelündigt; es waren
gute Herrſchaften, aber wie jeht die Uneinigfeit zwi—
hen ihnen entjtand, und Frau Muja Ohnmachts-
anfälle befam oder in der Aufregung alles, was fie
in die Hände belam, an die Wand oder in den
Spiegel warf, da wurde es mir doch unerträglich.
Der Mann der Frau Mufa ijt freilich früher jehr
freundlich gemwejen, dann aber wurde er jehr unan-
genehm und rief fortwährend: ‚Ich bin der Kerr,
und mir gehört dein ganzes Vermögen.‘ Indeſſen
ſchlägt fih Frau Muſa mit den Fäuften an den
Kopf und ruft: ‚Hier ift dein Vermögen, bier haft
du es, hier ift es!“ Als fie noch das Kind Hatten,
zankten fie fi) mur des Kindes wegen, da ging es
noch; aber jeht lacht die Herrin fortwährend, putzt
fih, und ift etwas nicht nach ihrem Wunſch, jo wird
fie hyſteriſch. Ueberdies ift jet ein Arzt gekommen,
zu dieſem fuhr fie jeden Tag hin, ihn um Rat zu
fragen. Der Herr jah auch, wie fie uns quälte,
und ftellte fi auf die Seite der Dienerfhaft; da
wurde die Herrin eiferfüchtig, jelbft auf mich, jo daß
der gnädige Herr mic einmal ſchlagen wollte Da
bin ich böſe geworden und fünbigte. Die Leibeigen-
Ihaft hat doch in Rußland aufgehört!“
Manyfin hörte erregt die lange Erzählung. Die
Köchin fuhr fort:
Aus fremden Zungen. 1897, IL 20.
945
„Ja, wenn fie noch gut gezahlt hätten, dann
fünnte man bienen; aber fo, der Herr verfpielt alles
im Klub, und Frau Muſa pußt fh. Beſtechen läßt
fi der Herr auch nicht, daher ſpricht man davon,
daß man ihn fortjagen wil, Mir lag gar nichts
an der Stellung.“
„Haft du ſchon ein Billet?* unterbrach fie
Manyfin.
„Bis Mostau!“
„Hier haft du noch Gelb!”
Die Köchin erwartete nicht ſolche Freigebigleit.
Selbſt ihr jchielendes Auge drüdte Dankbarkeit aus;
fie füßte Manylin die Hand.
Er beeilte fi in einen Wagen zu fteigen, wo
viele Reilende waren, denn er wollte mit jeinen
dur) die Begegnung erregten Gedanten nicht allein
bleiben und bemühte ſich, mit jeinen Nachbarn ein
Geſpräch anzuknüpfen.
XL.
Alyſin kam nach Chruſtiki. Sein Kammerdiener
Martin erſchrak, als er ihn ſah, denn ſein Geſicht
war dunkel, und ſeine Augen funkelten unter den
finſter zuſammengezogenen Brauen. Er ſagte kein
Wort zu Martin, und rührte das Frühſtück, welches
aus einem harten Ei und einem Stück Schwarzbrot
beitand, nicht an. Er ſchien feine Ermübung von
ber Reife zu jpüren, denn er jchritt, die Hände auf
dem Rüden, unermüdlich vor dem Haufe auf und ab.
Sodann jah Martin, wie er ſich zu Korneis Hütte,
am Bergabhang des Dorfes begab,
Alyfin date: Das Leben ift eine ernfte Sache,
und doch ift es Unfinn, Es hängt davon ab, wel-
hen Standpunft man wählt. Ich wollte immer ernjt
leben, jelbft dann, als ich jo ausgelaſſen war wie
Manyfin. Aber weder das ernfte Leben noch über-
haupt eines befriedigt mich. ch hafle mein Talent,
das wie eine Krankheit an mir nagt, und ich haſſe
jenes Mädchen, zu dem ich jebt doch gehe. Ich hafje
aljo zweierlei, das heißt, ich liebe, weil Liebe und
Haß ein und dagjelbe ift. Habe ich mich verheiratet,
jo werde ich ohne Zweifel wieder anfangen, Geige
zu jpielen. Aber ich werde Teine Zuhörer haben,
wie meine Frau leine Belannten. Ich werde meine
beiden Lafter, die Frau und die Geige verfteden.
Die Menichen werden mid) nicht mehr ſtören. Ich
werde mich mit mir felber verföhnen, indem ich einen
Teil meiner Seele den Hunden zum Fraße bor-
werfe, jenen Zeil meiner Seele, mit welchem ich jeßt
nicht fertig werden fann, und welcher hundert Zent⸗
ner wiegt.
As Alyſin ſich der Hütte näherte, wo die ſchöne
Matrjona wohnte, ging er langjamer und riet: Iſt
fie zu Haufe, jo ſoll das heißen, daß ich fie heirate,
ift fie nicht da, jo gehe ich fort und heirate fie nicht.
119
946
Matrjona war zu Haufe, nur war ihre Mutter
nicht anweſend. Alyfin hatte diefe Leute nie befucht,
Nie Hatte er ihnen eine Hilfe erwiefen, aber nie
hatten fie ihn um eine ſolche gebeten. Sie hatten einen
Gemüfegarten, Matrjona pflanzte Hopfen, verfaufte
ihn an die nächſte Brauerei, und fie lebten davon.
Alyfin mußte zu gut, dab Matrjona nur zu
wollen brauchte, um reich gekleidet und mit Ge⸗
ſchenken jo überhäuft zu fein, daß alle Dorfmädchen
fie beneibet hätten; aber fie war bejcheiden. Das |
rührte und ärgerte ihn zugleih. Denn ihre Be—
icheidenheit und ihre Schönheit zogen ihn an.
Auf ihrem Gefiht war, als Alyfin eintrat, weder
Erftaunen noch Bewegung zu bemerken. Sie begrüßte
ihn und ſchlug ihre ſchwarzen Augen nieder.
„Ich bin zu dir gelommen,* begann Alyfin
finfter, „weil id} etwas mit dir zu bejpredhen habe.“
Sie lächelte laum wahrnehmbar, und da Alyfin
ſchwieg, fo fragte fie:
„Und dies wäre?"
Alyſin Tieß fich nieder, fie blieb ftehen. Dur
dad Meine Edfenfter fielen Sonnenftrahlen und
ipielten in den Falten ihres jauberen Sarafans. Sie
war von der Sonne voll beſchienen; groß und gleich⸗
mäßig gewadien, ſah fie aus wie eine Statue in
bäuerliher Kleidung.
„Willſt du Heiraten?” fragte Alyfin.
Er erwartete, daß das Mädchen erröten würde, |
aber fie fragte nur ruhig:
„Wen?“
„Mic!“ verſette Alyſin.
Sie ſchlug ihre ſonderbaren großen Augen zu
ihm auf, welche nicht mehr ruhig auf einen Punft
ſahen, jondern ſich nachdenklich hin und her bewegten,
was ihr wieder einen neuen Reiz verlich.
„Nein!“ erwibderte fie, „dich will ich nicht Hei»
taten!“
„Ich ſcherze nicht!” bemerkte er zornig.
„Ic glaube dir das auch, gnädiger Herr, warum
ſollteſt du auch ſcherzen? Doch will ich dich nicht
heiraten,“ wiederholte leicht lächelnd da8 Mädchen,
Alyfin erhob ſich; mit funfelnden Augen fragte er:
„Willſt du dir das nicht Lieber überlegen?“
„Was ſoll ich noch weiter überlegen?“ fragte das
Mädchen.
„Aber warum wilft du mid) nicht heiraten ?*
„Wir paſſen nicht füreinander!”
„Nur das? Nun, wir werden ſchon zu einander
paſſen, wenn wir uns heiraten,“ fagte er liebend«
würdiger.
„Ach nein! Ich würde es dir jagen, gnädiger
Herr, aber ich fürchte, du fünnteft mir zürnen.“
„Sprich nur!”
„sch liebe dich nicht!“ verfehte leife das Mädchen.
„sch werde dich bejuchen, dann wirft du mich
Maxim Bjelinstfi.
fennen lernen,“ erwiderte Alyfin erſtaunt. „Du wirkt
mich kennen lernen, wirft mich lieben.”
| Du bift rothaarig,“ fagte das Mädchen, „ic
haſſe die Nothaarigen; und was du für große Ohren
ı haft! Nein, beſuche mich Tieber micht!”
Das Mädchen heftete ihre jchönen Augen auf
ihn, als ob fie nad) weiteren Mängeln an ihm ſuchte.
„Lebe wohl!” verjegte er.
„Lebe wohl, gnädiger Herr!”
| WS er fortgegangen war, vermahm er das laute
| Laden des Mädchens. Sie ift nicht bei Sinnen,
dachte Alyſin. Das Herz that ihm weh vor Scham
und Zorn. Ihm war es, als ob das ganze Darf
ihn jet auslache und ſich von ihm losſage.
Aber was foll das bedeuten, was ſoll das bir
deuten? fragte er ſich beim Rüdweg und konnte feine
Antwort finden.
Die Antwort des Bauernmädchens war jelbft für
Alyfin zu einfad).
XX.
Bon Petersburg aus ſchrieb Stephan nad Mair
land; Liwon hielt Wort. Der Sänger erregte bie
allgemeine Aufinerffamfeit, man rief ihn nad London
und hörte ihn jchließlich auch in New Vorl. Selbſt
jene ruffiichen Zeitungen, welche ihn getadelt hatten,
waren jeht ftolz auf den Ruhm eines rujficen
Sängers und braten Depeſchen über feine un
geheuren Erfolge in Amerika. Im Frühling fehrte
er nad Rußland zurüd, und ohne in Woswiſchennoje
einen Beſuch zu machen, begab er fich ſogleich nah
Chruftiti zu Alyfin, von dem er jet gar feine Nad
richt hatte, troßdem er aus feinem Briefe von dem
Mißerſolg feiner Werbung gehört hatte,
Chruſtiki war abgebrannt, An Stelle der Bauern
hütten ſah man nur verräucherte Defen umd Ballen.
Die Bauern Iebten in fchnell erbauten Baraden und
in vom Brande verſchonten Speichern. Die Pferde
ftanden an die Wagen gebunden und fauten träge
Heu und Stroh.
„Ih kann mir vorftellen, wie unglücklich Alerander
darüber if. Es ift für ihm felber ein großer Bere
luft. Wahrſcheinlich wird er jetzt mißgeftimmt fein,
vielleicht ganz ofme Geld. Ich werde ihm etwas
anbieten, vielleicht braucht er es.“
Als er auf den Hof fuhr, bemerkte er mit Ver
wunderung, daß ber ganze Platz vor dem Haufe mit
Stroh belegt war. Er ift wohl krank? dachte er.
Martin fam ihm entgegen.
„Guten Tag, gnädiger Herr! Darf ih Ihte
Hand küffen? Ach, mein Gott! umd ich dachte, es
ift Vater Wilfarion. Schlecht geht es mir jeft.
Hier, bitte, hier! Still! wir müffen bier jet auf
den Zehen gehen. Der gnädige Herr ift jehr frant!*
„Was jagen Sie da, Martin ?*
„Großes Unglüd, gnädiger Herr!“
Das neue Leben
Er führte Stephan geheimnisvoll in ein ſchlecht
beleuchtetes, unbewohntes Zimmer, das einſtige Schlaf«
zimmer von Alyfins Vater.
„Sie werden jebt hier bleiben müſſen, gnädiger
Herr, das Zimmer, in dem Sie früher zu wohnen
pflegten, ift von Doktor Scheremetjew bewohnt.“
„Aber was ift gejchehen? Iſt Mexander jchon
lange frani?*
Martin machte eine Bewegung mit ber Hand:
„Schon lange! Ich vermute, die Krankheit datiert
noch vom vorigen Jahre. Aber fie ift infolge des
Brandes jehr ftark hervorgetreten.. Willen Sie, «8
bat Donate gegeben, wo der Herr fein Wort jprad).
Er ging nur im Zimmer umber von einer Ede in
die andre. Die jhwere Arbeit gab er auf, Anfangs
freute id) mid) darüber. Aber da wurde es noch
ihlimmer. Im Winter erhob er fih nachts und
ging auf dem Parkettboden hin und her. Er hat
einen Pfad auf dem Boden getreten. Denn er hat
einen ebenjo guten Tritt wie der alte gnädige Herr,
wenn er fein Geld hatte; diefelbe Manier zu gehen,
die Hände hinter dem Rüden, und marſch von einer
Ede in die andre,“
„Sage mir ordentlich! Iſt Merander beim
Brande verunglüdt?* fragte Manyfin, ohne feinen
böjen Ahnungen Glauben zu ſchenlen.
„Rod, ſchlimmer!“ fagte der Alte, und Thränen
flofjen aus feinen Augen. „Er redet irre! Der
Doktor ift ein gelehrter Mann, er fann fein Schwei«
gen nicht verfiehen. Der Herr befindet fi in einer
Störung jeines ganzen Geiftes, verſteckt fich in einer
Ede, jeufzt immerfort, und wenn er mit dem Kopfe
zu ſchütteln beginnt, wird es jelbft mir, feinem alten
Diener, fhaurig. Drei bis vier Stunden fchüttelt
er mit dem Kopfe, immer, unaufhörlich.“
„Aber man kann ihn jehen?“
„Ich denke, ja. Es wäre fogar gut, wenn Sie
ihn ſprächen. Nur weiß ich nicht, wie der Arzt dars
über denfen wird. Der macht mich ganz wirt. Ich
will ihn fragen. Warten Sie einen Augenblid,
gnädiger Herr!”
XXI
Der Arzt fam, erfannte Manpfin und erriet,
dab das jener berühmte Manpkin ſei. Neugierig
Ihaute er ihn an und jagte jelbftzufrieden die Hände
reibend :
„Sie find nicht zu verlennen, freue mich une
gemein, Sie wiederfehen zu dürfen. Ja, ja, unjer
Alerander Ignatitich ift ſchwach. Ich weiß gar nicht,
was thun, Gin fchwerer Fall! Ich fürdte, es
fönnte Blödfinn werden. Woher mag es nur fom-
men? Spridt fein Wort. Das Schlimmfte ift aber
dabei, daß er bereits jeit zwei Tagen nichts gegeſſen
bat. Solche Patienten müßte man in einer Spezial»
Hinif behandeln.”
947
Stephan folgte dem Arzt.
„Er tft wohl wahnfinnig?“ fragte er, „Aber wie
zeigt ſich ſein Wahnfinn ?*
Der Arzt blieb mitten im Saale ftehen und be»
gann zu erflären. Stephan hörte ihm ungeduldig
zu, ohne etwas zu verjtehen. Es war wie gewöhn-
lih bei einem Laien, er glaubte, der Arzt ver-
ftehe jelber nicht, was er ſprach.
„Bielleicht ift es aber einfah Melancholie,“ fagte
er, in dem Bemühen, den Arzt aus feiner Verlegen«
heit zu befreien.
„Freilich!“ rief lebhaft Scheremetjew, und ftolz
rüdte er jeine glänzende Brille zuredt. „Nun ja,
es ift die typiſche Melancholie.”
Aber das Wort Melandolie erfreute Manyfin;
für ihm war fie nicht gefährlih und ſchrecklich. Er
war ja zeilweije felber melandoliih. Für den Arzt
freilich Mang das Wort anders,
„Das ift e8 ja gerade, daß es die Melandolie
ift,“ wiederholte er beforgt und ging weiter.
An dem Zimmer Alyſins machte er vorfichtig die
Thüre auf und jah zunächſt, was der Stranfe thue.
Manykin Hielt e8 nicht Tänger aus, ſchob den Arzt
zurüd und ging direkt auf Alyfin zu.
„Alerander!*
Ayfın ſaß an feiner Drechslerbank, auf beide
Arme geſtützt. Er Hatte ein rotes Zitzhemd unter
einem furzen,, blauen offenen ſtaftan und Lachſchuhe
an. Er war mehr gelb ald mager. Seine ſonſt leb⸗
haften und blitenden Augen ſchauten düjter auf das
Bild des Sonnenaufgangs, den man vom Fenſter
aus fehen fonnte.
Er wandte nicht einmal den Kopf, obwohl er
Manykin an der Stimme erkannte, und fragte nur
leife:
„Iſt auch der Arzt bier?”
„Herr Scheremetjew? ja!”
„Erſuche ihn, daß er uns verläßt.
nicht, e8 ihm felber zu jagen.”
„Bitte, verlaffen Sie uns,“ ſagte Manyfin zum
Arzt.
„Gut, aber Sie werben mir nachher erzählen
müjlen, was er jpredhen wird, Denn fängt er ein«
mal zu ſprechen an, fo ift e8 jehr intereffant.” *
Der Arzt verlieh das Zimmer. Manylin ver
ſchloß die Thüre hinter ihm. Alyſin jah feinen
Freund an und ſagte mit derjelben leijen gedrüdten
Stimme:
„Alſo von jo weit her bift du zu mir gelommen ?
Aus Amerika, o, das ift ſehr weit! Ich dachte, du
babeft mich ſchon vergefien, weil ich in deinen Augen
lächerlich fein muß. Uebrigens verdiene ich Vers
achtung. Ich wußte, wie man zu leben bat, und
beritand es nicht. Niedere Leidenfchaften ergriffen
und beherrſchten mid. Dieje haben ihr Neft in
Ich wage
948
meiner Einfamfeit gebaut. Hier im Herzen wohnen
fie, bier im Herzen!“
Manykin fahte feine Hand und bdrüdte fie zart.
„Ad, leeres Gerede! Aber dies find...”
„Dummheiten?“ unterbrach ihn mit fauın wahr«
nehmbarem Lächeln Alyfin. „Es ift gut, dab du
bier bift und deinem Freunde die Hand brüdit. Ich
gab mir dad Wort, mit niemand zu ſprechen, ſelbſt
mit Martin nicht, um fie mit meinen dummen Mei—
nungen nicht in Erftaunen zu ſetzen. Sie behandeln
mich alle von oben herab, und ic) verdiene es frei-
lich nicht anders. Vor dir aber ſchäme ich mich nicht!
Mit dir bin ich fo viel zujammen geweſen, und an
dich habe ich mic) jo gewöhnt, da in meinem Gehirn
ſich immer ein Teil des deinigen befindet.”
„Denke dir, mir geht es ebenfo! Ich nenne dieſen
Zeil die Alyſinkammer!“ rief lachend Manylin, froh,
daß fein Freund wieder ebenjo vernünftig ſprach wie
bisher — in feiner Weile.
„Ganz richtig!" fagte Alyfin, „und ich habe
eine Manykinkammer. In Ddiejer Kammer liebe
id) dich wie meine nächſten Verwandten — ja noch
mehr!”
„Über jage mir, weshalb unterbrahft bu den
Briefwechfel mit mir ?*
„Was ſollte ich dir denn jchreiben? Worüber?
Ich will dir aufrichtig geftehen, für mich gab es in
biefem Jahre feine Daten, Mein ganzes Leben
wurde inhaltlos. Deine Briefe las ich freilich mit
Vergnügen, aber mit einer inneren Erregtbeit. Du
warſt tierijch glüdlich, das heißt du ſtandeſt jo hoch
über mir, weil id) tieriſch unglüdlih war.“
j Er lächelte wiederum.
„Du hältft jelber dein Glüd gefangen,“ bemerkte
Manyfin vorfihtig, Du könnteſt glüdlicher jein
als id.“
„Das ift nicht richtig, da ich in der Jagd nad)
dem menſchlichen Glüde nur das tierifhe Unglüd
erreichte, Etwas muß bier,“ — er deutete auf feine
Stim — „nit in Ordnung fein. Ich verſtehe wohl,
dab man mich für wahnfinnig halten muß, wie dies
Martin und der Doktor thun. Sie haben redht, denn
ich rühmte mid), ein Meer zu entflammen, und er=
trinfe in einer Pfüge. Der Arzt ſprach im Glauben,
ih höre es nit. Man will mid mit Gewalt er-
nähren und mir einen Schlaud) durch die Nafe führen.
Vielleicht drohte er nur wie Erwachjene einem eigen-
finnigen Knaben drohen, wenn fie fo thun, als ob
fie im Ernſt berieten, ob fie ihn wirklich dem Schorn«
fteinfeger ſchenken follen. Aber ich glaube, der Arzt
meinte es mit mir ernjt, Und jo habe ich abfichtlich
nicht gegeſſen, um zu erfahren, was Gewaltthat ift,
Eine ſolche Ermiedrigung, wie die Nahrung mittels
eines Schlauches durch die Nafe einzunehmen, glaube
ih, dannſt du dir faum vorftellen. Aber ich ftellte fie
Maxim Bijelinsti.
mir bor, und id) erwartete fie ald Strafe für alles,
was ich gethan habe, das heißt für alles, mas id
nicht gethan habe.“
„Aber du bijt ja der alte Alyfin, immer nod
berjelbe Alyſin, derjelbe originelle Philoſoph!“ rief
Manyfin aus. „Und jene wagten es, did für...
das ift unerträglich !”
„Rur ruhiges Blut, Stephan,” ſagte Alyſin,
„wenn meine Verwandten erfahren würden, dab id,
wie du meinft, nicht ganz bei Verftande ſei, ımd
wenn fie mich ins Irrenhaus bringen würden, würde
ih mich unterwürfig binbringen laſſen; und ein
Menſch in meiner Lage kann gar nicht anders! Ih
tauge zu nichts mehr. Da hatten einige junge Leute,
die nad) dem Guten und Idealen ftrebten, gebört,
daß ich ein neues Leben führe, und erfchienen in dielem
Winter unerwartet bei mir. Sie nannten mid ihren
Lehrer, fie wollten von mir aufgeflärt werden. Ich jekte
ihnen meine Theorie der Arbeit außeinander. Sie gingen
ins Dorf, ſchauten es fi an, lehrten wieder zu mir
jurüd und rieten mir in böflicher Weiſe, ich folk
doch den Bauern alles abgeben, was ich beſihe. Id
fagte ihnen, daß die Bauern das Gut ebenforwenig
brauchten wie ic) ſelbſt, daß am wichtigſten für den
Menſchen das Seelengleichgewicht fei, welches id je
doch bereit verloren habe. Als Antwort darauf ber
zogen fie fi auf die Rationalöfonomie. Ich wies
fie hinaus. Als ich allein blieb und mich von ihrem
Standpunft aus betrachtete, da kam mir der Ge
danke in den Kopf, daß fie mir nur deshalb jenen
Nat gaben, weil fie mid um meinen ſcheinbaren
Reichtum beneideten, der ihnen im Vergleich mit der
Iheinbaren Armut ber Bauern ungeheuer erſchien.
Deshalb beſchloß ich, in niemand mehr Neid hervor
zurufen, das heißt ein ſchlechtes Gefühl, und ic ber
gann alles Geld, welches ich beſaß, zu verteilen.
Dreißigtaufend verteilte ih troß meines Wider
willens zu menſchenfreundlichen Zweden, das heist
zur Erniedrigung der Armen durch die Reichen. Wat
entftand num? Die Männer begannen zu trinfen,
die frauen wurben ausgelaſſen, und es entjtand end⸗
lich ein folches Babylon, daß fie betrunfen das Dorf
anzündeten. Sage mir, wer hat ſchuld daran? Jh!
Alſo, weshalb ſoll man mich denn nicht ins Itren⸗
haus fperren?”
„Du jcherzeft, lieber Alexander! Glaubft du denn
im Ernft, dab dein neues Leben ein folder Mikgrif
ift, daß er gar nicht wieber gut gemacht werben fan?
Im Ernft geiprochen, ift doch die ganze Welt ein
Irrenhaus; wir brauchen nad) feinem andern zu
juchen. Dan muß leben, wie e8 ſich eben leben läht.
Bift du auf ‚einem Wege gejtrauchelt, jo giebt «&
deren noch viele andre. Rüttle dich auf, Alerander!
Dein Stern ift noch nicht untergegangen. Ich vers
lafje dich nicht, bis bu heiter geworden bift und den
Das neue Reben.
Unfinn im Bezug auf deine Perſon aufgiebit.
Hörft du?“
„Das ift jehr hübſch, nur bitte ich dich, entferne
den Arzt von bier. Ich fürchte mich vor allen Men—
ihen, die fich jelbft viel vertrauen. Selbft vor Martin
fürdte ih mid. Ich bin in jeinen Augen ein
Dummfopf, und ich ſchäme mich, ihm in die Augen
zu hauen. Weißt du, womit er mic) zu zerftreuen
dachte? Ich ſchwieg lange Zeit und ſprach fein Wort;
id war nahe daran, mid) zu erhängen, jo wehmütig
war es mir zu Mute. Da kauft er irgendwo im
Dorfe eine Geige für einen Rubel, tritt in mein
Zimmer und beginnt darauf zu fragen. Ich muß
nämlich vorausſchicken, daß er nie vorher im Leben
einen Bogen in den Fingern hielt. Er fraßte dar—⸗
auf eine volle Stunde; ich litt, aber ich hielt aus.
Er gewann die Heberzeugung, daß ich verrüdt ge=
worden jei, und ich gewann damals ebenfalls Die
Ueberzeugung, daß ich mindeftens objeltiv verrüdt
bin, das heißt für andre,“
Stephan lachte.
„Alyſin, Moyfin! Immer derjelbe, das heißt
wann wirft bu deine fchlechten Gewohnheiten aufe
geben? Uebrigens, wenn du aufrichtig wünjcheft,
daß ich dich für vernünftig halte, dann darfit du
nicht vergefien, daß du Wirt bift! Schon in New
York träumte ich davon, wie ich mit dir zufammen
hier fpeifen werde. Alſo laß auftiihen, was vor«
handen iſt.“
Alyſin erhob ſich langſam, trat an die Thüre
und blieb ſtehen, ohne ſich entſchließen zu Fönnen,
Martin zu rufen, Endlich einen Blid auf Stephan
werfend, rief er:
„Martin !*
XXI
Während Martin in der Küche zu thun hatte
und das Eſſen bereitete, ſuchte Manyfin Alyfins
Wunſch zu erfüllen und den Arzt zu entfernen, Er bes
gab ſich daher in das Gaftzimmer. Der Arzt lag
auf dem Sofa und rauchte eine dide Zigarette. Ma«
nplin, der nicht rauchte, dachte unwillkürlich, als er
den Arzt anjah, wie groß der Unterjchied ſei zwijchen
einem gefunden, nichtrauchenden Menjchen und einem
Kranken, der völlig vom Tabafraud; geträntt ift.
Eigentlich müßteft du auch in Behandlung genommen
werden, dachte er.
„Nun, wie ſteht's?“ fragte der Arzt.
„Wie foll es denn flehen, Doktor? Nichts Ber
jonderes, das Gefühl ift bei ihm nur niedergebrüdt,
oder, wie Sie da jagen, das Selbſtgefühl. Doc
müſſen Sie die Enttäujchung erleben: er ift bei vollem
Berftande. Sie haben da etwas erfunden?“ jagte
Manyfin erregt.
„Ich habe nichts erfunden, aber ic} verfolge ein
wenig die Wiſſenſchaft, und glaube in ihr ein wenig
949
bewandert zu fein,” antwortete Scheremetjew lächelnd.
„Das Gefühl ift alfo niedergebrüdt? So — jo —
jo! Und was ſpricht er denn?“ fragte der Arzt.
„Er bittet Sie, das Haus zu verlaffen und dies
in Empfang zu nehmen — hier!”
Er reichte dem Arzte Papiergeld. Diejer nahm
es mit feiner von dem vielen Tabafgenuß zitternden
Hand, beſchaute es, lächelte zufrieden und erhob fi.
„a, ja,” fuhr Manyfin fort, „nehmen Sie es
nicht übel, aber Ihre Anweſenheit übt auf ihn einen
ſchlechten Einfluß aus. Er wollte einfach nicht mit
Ihnen ſprechen — Sie halten das für Krankheit und
geben der Krankheit den Namen Blödfinn. Ich
zweifle nicht an Ihren Kenntniſſen, aber — Sie find
dod) fein Spezialift!”
„Nein, das ift richtig,” verjegte Scheremetjew.
„Ich bin nicht Spezialift. Ich fann nun aud) ab»
reifen. Und bat er fi einverjtanden erflärt, Speife
zu ji nehmen ?*
„Denken Sie fih nur, er hat fogar ein ganzes
Mittagefien beſtellt!“
„Hm, es kann ja fein! ber ich bin Steptifer,
Väterchen,“ verjeßte liebenswürdig der Arzt und blin«
zelte ſchlau mit den Augen, „mid; führt man nicht an!"
Manpfin erflärte ſich das Benehmen des Arztes
anders. Ihm that er leid, da er nun feinetwegen
einen Patienten verlor. Er fragte liebenswürdig:
„Und wie ſteht es mit Ihrem Sohn?”
Das Geficht des Arztes verfinfterte ſich plötßzlich.
„Mein Sohn? Haben Sie ihn nicht vergejien?
Ih mußte wiederum zweitaujend Rubel bezahlen —
für den Familiennamen nämlich. Fataler Familien-
name!”
„Der gnädige Herr bittet Sie zu fi!” meldete
der eintretende Martin, deſſen Geſichtsausdruck jehr
niedergejchlagen war.
„Ich hoffe, wir jehen ung noch,” fagte Manyfin,
brüdte dem Arzt die Hand und begab fi) auf das
Zimmer Alyfins.
Der alte Diener holte ihn im Saal ein und
flüfterte ihm zu:
„Sch meldete dem gnädigen Herm den Water
Wiffarion, aber der Herr ſchrie mid an. Freilich
ift das aud ein erfreuliches Zeichen — denn früher
war der Herr durch nichts zu erzürnen.“
„Ah, Martin! Der gnäbige Herr iſt ver«
nünftiger als wir beide!“ unterbrad ihn Manylin.
Martin jhaute verlegen und zugleich mißtrauiſch
Manylin an,
„Run ?*
„set aber jdrie der gnädige Herr mid an und
befahl das Thor zu ſchließen. Es ift nämlid) ge»
meldet worden, daß Vater Wifjarion in der Nähe
fi...“
„Wer hat ihn rufen Tafjen?*
950
„Ich! ...“
Manyfin dachte nach.
„Du brauchſt das Thor nicht zu ſchließen; laſſe
Vater Wiſſarion hinein.”
„Zu Befehl!“
„seht fannft du gehen.”
Manyfin traf Alyfin zitternd an, er wußte nicht,
ob vor Zorn oder vor Furcht.
„Der Arzt fährt gleich fort,“ erflärte er.
„Dieler Martin bringt mich noch ins Grab!”
rief Alyſin wehllagend. „Was joll mir Bater Riffarion ?
Aber er lich Vater Wiffarion, der fiebzig Werft von
bier wohnt, holen, und der fommt nun. Ich empfange
ihn nicht! Jch will niemand außer bir jehen! Er lommt,
erfommt! Hier iſt fein Wagen! Rette mid) vor ihm!
Sage, daß du jelbft frank bijt. Ueberdies bin ich ja
völlig gefund! Hier ift meine rechte Hand, hier meine
linfe! Ich jehe dich, ich jehe die Dinge um mich,
ich träume nicht von Zeufeln und Teufelchen. Ich
bin geſund!“ rief er nochmals aus und ſchlug auf
den Tiſch.
„Aber man muß ihn doc) empfangen!“ bemerkte
würbevoll Manytin, deſſen Herz heftiger zu jchlagen
anfing bei dem Gedanken, dab Pater Wiſſarion
fomme, wobei es ihm erfhien, daß die Verwirrung,
welche plößlich in der gebrüdten Seele Alyfins ent-
ftand, ein Zeichen fein müffe, daß in ihr eine Um»
wälzung vorgehe und fid) eine Wendung zum Befjeren
vollziehe. „Thue e8 um meinetwillen, Alexander!
Freilich bift du gefund, und deshalb mußt du ihn
empfangen. Du wirft ihn doch nicht fortjagen, nicht
wahr?“
Er nahm ihn am Arm und drüdte ihn. Es fehlten
ihm Worte, Alyfin genügend zu überzeugen, denn er
bemerkte, daß das, was er eben gejagt, nicht logiſch
genug war. Große Schweißtropfen traten auf jeine
Stirn, auf welcher eine blaue Ader erſchien.
Alyfin ſah, wie der Wagen des Vater Wilfarion
hinter dem Berge verſchwand und dann wieder in
der Lindenallee fihtbar wurde. Da hielt er vor der
Einfahrt, und es wurde ihm Mar, daß Wiſſarion
empfangen werden müſſe, denn alle wollten es, jelbit
Manylin. Ein Lächeln des Leidens zeigte ſich auf
jeinen zitternden Lippen,
XXIII.
Martin öffnete die Flügelthüren, fiel vor dem
Prieſter auf die Kniee und ftredte die Hand nad)
dem Saum des neuen Priefterrodes aus, den ihm
aus Eiferfucht gegen Frau Manyfin Frau Pladni—
fow gejchenft hatte. Bater Wifjarion fegnete den
Alten umd begab ſich ſchnellen Schrittes in den Saal,
jo daß der zitternde Martin ihm faum folgen konnte,
Der Arzt Scheremetjew ſchaute mit ſarkaſtiſchem
Lächeln, welches dem gutmütigen, wohlgenährten Ges
Maxim Bjelinstki.
|
ſichte wenig fland, aus feinem Seitenzimmer auf |
Vater Wiffarion: das ijt mein Kollege — der Ep
zialift! dachte er. Aber kaum traf fein Blid die |
feurigen und guten Augen des Vater Wifjarion, als |
feine Gedanlen fich veränderten und er zu ſich felber
fagte: „Es ift doch intereilant!”
Manyfin, der Alyfın unter dem Arm führte, trat
dem Vater Wilfarion entgegen.
„Guten Tag!” fagte Vater Wifjarion.
Uber Manylin, der diesmal in einer noch gröheren
Bewegung war als das erſte Mal, da er fi mehr
um Alyfin erregte, fühlte, daß feine Zunge veriagte.
Schweigend führte er Alyfin zum Segen und [ie |
ſich jodann jelber ſegnen. |
Ayfın zitterte. So zittert ein furchtſames, edles |
Roß, das am Wege in der Dämmerung einen Baur
bemerkt, deijen Zweige, vom Winde bewegt, rauſchen.
„Weshalb find Sie zu mir gekommen?“ fragte |
er leiſe.
„Um für Sie zu beten," antwortete Vater Bi:
jarion und legte feine lange jehnige Hand auf die
Alyſins.
„Iſt es wahr, daß bei Gott alles vorausgeſchit
wird?“ fragte Alyſin.
„Alles, und nie ſoll man verzweifeln!“ |
„Weshalb jol denn aber Ihr Gebet belfen?“
„Weil e8 meine Seele erhebt, jo hoch, daß ſich
auch die andre Seele mit erhebt. Sie fünnen auf
jo beten, wenn Sie nur wollen.“
Alyfın ſchlug die Augen empor und fchaute Patır
Wiſſarion an. Er konnte nicht das Feuer dei Wit
leids und der Liebe ertragen, das in dem Blide
Vater Willarions brannte, und erjchüttert fing er zu
weinen an. Er fiel auf die Kuiee nieder umd flüfterte:
„Beten wir!“
Und neben ihm ließ ſich Vater Wiſſarion nieder:
„Herr, unjer Gott!“ begann er mit lauter Stimme,
die alle erzittern machte. „Herr, unjer Gott! Her!
Du vermagft alles. Du bift ſtark und einig! Giebihm
das Licht der Seele wieder, welches bu jelbft angezündet
haft, lafje das von dir gepflanzte prächtig und jhön
aufblühen! Entferne das Schlechte aus deiner Saut,
Herr unfer Gott!” fuhr er ſchluchzend fort, „mie ih,
der Unwürdige, lebe und mich des Lebens freue, io
lafje die Seele, die du jelber zum Leben und zur
Freude geichaffen Haft, wieder auferftehen! Zerſtteut
feinen Summer, ſchone den von dir Ermwählten und
zeige ihm den Weg zur Ewigfeit! Herr, unfer Gott,
du vermagft e8!” wiederholte er, indem er den Kor!
emporhob und die glänzenden Augen, in benen Tirw
nen fanden, gen Himmel aufjchlug.
So vergingen einige Augenblide, während welder
nichts die eingetretene tiefe Stille flörte. Endlich
ſchlug Vater Wiffarion ein Kreuz, beugte den Kopf
zur Erde und erhob fih. Ihm folgte Ayfin, dem
— —— — —— — —
— * 5 GER
Das neue Leben.
Thränen über den Bart floffen. Dann fühte Vater
Riffarion Alyfin.
Er zog ein weißes Tafchentuh aus der Taſche
und trodnete den Schweiß, der auf feiner hoben reinen
Stirn hervortrat. Seine Hände zitterten, und da er
müde war, fuchte er mit den Augen einen Plaß, mo
er ſich hinſetzen könnte. Manyfin reichte ihm einen
Stuhl. Vater Wiffarion wurde verwirrt und ließ
ſich nicht nieder, ſondern ſtühte fih nur auf die
Lehne des Stuhle.
„Es ift doch gut, daß Sie zu mir gefommen
find,” begann Alyfin, indem er auf ihn zutrat und
fortiubr, ftille, leichte Thränen zu vergießen. „Trotz⸗
dem ich Sie nicht rief, ſcheint es mir doch, da in
meinem Herzen etwas lebte, was mich ſchon lange
zu Ihnen zog. Entihuldigen Sie mich, daß ich fo
Ihroff gegen Sie war, und entjhuldigen Sie, daß
id nichts mehr zu Ihnen jagen kann... Ich bin
äußerft erregt, jehen Sie, mid) drüden die Thränen,
AU dies erfcheint mir als etwas Webernatürliches.”
„D nein,“ bemerkte naiv und liebenswürdig Vater
Wiſſarion, Alyfin beobahtend. „Das Gebet Hilft
und wird immer helfen. Die Menjchen werden immer
nad dem Guten fireben und werden es finden.”
Martin zupfte Manyfin am Rochſchoße. Diefer
wandte ih um. Martin, welcher fürchtete, das
fromme Gejpräd zu unterbrechen, ſprach in Zeichen.
Er zeigte auf das Speifezimmer, jodann auf feinen
Mund und endlih auf Vater Wiffarion; und allen
diefen Zeichen folgte ein Kopfſchütteln.
„Dit denn das Mittageſſen fertig?” fragte Manyfin,
„Jawohl!“ fagte Martin, „ſchon längft! Ich
fürdte jogar, die Suppe wird lalt.“ Und ermutigt
ftellte er ſich ſtramm Hin und meldete, dag Mittag-
eſſen ſei ferviert.
Vater Wiſſarion blieb gern zu Tiſch, aber er aß
nur von der Fiſchſuppe, die vorher für ihn beſtellt
war, und tranf auf das Wohl Alyfins ein Glas er=
wärmten Rotweins,
Die ganze Zeit, während Vater Wiffarion dort
blieb, fühlte fi Manyfin jo überglücklich, daß er
nicht ſprechen und denken konnte, wie er ed gewohnt
war — ungezwungen und leicht. Und er vermutete
nad) Alyfins Bewegungen, daß auch diejer dasjelbe
fühlte. Deshalb war Manyfin doppelt glüdlich. Und
wenn man ihn jeßt gefragt hätte, ob er etwas Böſes
951
auf dem Herzen habe, er würde aufrichtig geantwortet
haben, daß er nichts Böſes auf dem Herzen habe
und nichts Böjes haben werde,
Als Vater Wiſſarion fortging, — der Arzt hatte
fich Schon früher entfernt — ging Manyfin noch lange
im erleuchteten Zimmer bin und ber. Beide ſchwie⸗
gen, weil jedem das Herz voll war.
Draußen war eine warme Frühlingsnadht, und
dur die offenen Fenſter jchaute der fternflare
Himmel, Im Gebüſch des Gartens ertönten die
erften Triller der Nachtigall.
„Ah, wie ſchön ift das alles!“ fagte Manyfin.
„Höre, Alexander! Du wirft mir doc) nicht böfe fein,
ic brachte dir aus dem Auslande ein Geſchenk mit!
Ih kaufte in London die Geige von Stradivarius,“
Er wartete, was Alyfin jagen würde.
„Bieb fie her!” jagte Alyfin.
„sch will fie dir bringen !*
Er holte einen Kaften und nahm aus demjelben
eine alte Geige mit furzem altmodifhem Griff.
Alyfin warf einen ſchüchternen Blid auf das In—
firument.
„Soll id) es verjuchen, wie?“ fragte er, und feine
Augen glänzten. „Was find das für Noten? Gieb
fie mir!“
Er fing an die Geige zu ftimmen und führte den
Violinbogen über die Saiten.
„Das klingt ja mehr wie eine Stimme, ald wie
ein Ton!“ rief er zitternd. Aber die Noten taugen
nichts. Hier ift Schubert! Tifj... Ich Habe
Furcht! Die Technik, glaube ich, ift bei mir zu
Grunde gegangen. Schubert will ich jpielen. Ich
liebe Schubert. Ich fange an! Ad was!“
Er führte den Bogen, die Saite fang leife. Aber
da fam fie in Bewegung, und plößlich tönte fie Hell;
neue Töne erflangen, einer feuriger als der andre,
einer verliebter als der andre; und fie floffen in—
einander in ein großes Lied einer unverjtandenen
und früh verirrten Seele. Der Violinbogen glitt
gehorjam über die Saiten; der Perlmuttereinſatz
glänzte und zitterte bald wie die Morgenröte im
Frühnebel, bald bewegte er fi langſam hin und ber.
Und ſchwiegen die Saiten einen Augenblid, jo ant«
wortete die ferne Nachtigall mit ihrem fterbenden
Seufzer, mit ihrem leidenjchaftlich wehmütigen Triller.
Alyfin jpielte und meinte...
Liſa.
Jane GernandtClaine.
Aus dem Schwediſchen überſetzt von Francis Maro.
Meine Erinnerungen an Eliſabeth Bratt reichen
zurüd bis zur Zeit als fie fünfzehn, ſechzehn Jahre
alt war, aber ich fannte fie damals ebenfowenig ala
jpäter; fie jchloß fich nie an jemand an, nicht ein«
mal in diefem zur Offenheit geneigten Alter hatte fie
je eine Vertraute. Sie hatte nicht viel anzuvertrauen,
und ich glaube nicht, daß fie im allgemeinen für be=
gabt angejehen wurde, aber ich weiß nicht warum —
ich habe fie nie etwas Dummes äußern hören. Es
lag etwas unbeſchreiblich Stilles und Gebämpftes
über ihr, und fam man einmal, um fie zu befudhen,
jo wurde man unmillfürfih weniger laut — es lag
dies bei Bratts in der Luft.
Ihr Vater war Ratsherr, ſehr lang, fehr ſchmal
und ebenjo fteif wie feine Altenrolle. Die Mutter
war eine geborene Barfoot, abgemeſſen und korreft,
mit einer unbeweglichen Falte um den Mund, und
der Ton in diefem Haufe war das Trodenfte, das
man fich denfen fonnte; das geht an, und das geht
nicht an, und zweimal zwei ift vier. Ich frage mic
noch heute, wie es möglich war, dak Kaj Rude —
der Komponiſt — je Schwiegerfohn in dieſer Familie
wurde. Aber Bratts hatten einen Sommer an der
Weſtküſte zugebracht, und e8 genügte wohl, daß er
Elifabeth fommen und gehen jah, weiß; und ftill wie
ein Schwan, mit ihrem ſchmalen, weichen Geſicht und
den großen, bdumfel befranften Puppenaugen, die
blauer als alles Blau zu jein ſchienen, um zu glauben,
fie jei aus irgend einer mittelalterlichen Legende
emporgeftiegen, um ihn zu einer Ballade zu infpirieren.
Er komponierte Tage hindurd; an feinem Klavier,
er widmete ihr feine Lieder, und der ziemlich uner«
wartete Schluß dieſer fyreierei in Muſik war, daß
Bratts ihm ihre Tochter gaben. Er lebte nur zu
ihren Füßen; es war der Anbeter, wie man ihn ſich
träumte: die Hand auf dem Herzen, das hohe C.
Er hatte jenen ftrahlenden Blid und jene MWeichheit
des Weſens, die unabläffige Verehrung iſt. Sie
brauchte nicht zu ſprechen, fie war das Wunder, fie
war dad Märchen, fie war die Zukunft, und ihr
Schweigen war das gelobte Land, voll holder Heim
lichleiten. Glücklich, ahnen, jehnen, begehrten zu
können, brachte er die Tage auf den Knieen vor ihr
| zu, aber ich weiß; nicht, ob er je das wohlbiscipfiniert
Feine Herz in einem andern Talie, ala dem rim
gelernten, ſchlagen machte.
Ih ſah fie als Neuvermählte, und ic) jah fir a
fie von Berlin zurüdfamen, wo er fi aufgehalten
hatte, um Kompofitionslehre zu ſtudieren — und mar
brauchte nicht jehr Icharffichtig zu fein, um die Ber
änderung zu bemerlen.
Jetzt war er nicht mehr jo eiferfüchtig anf den
geringften ihrer Blide, da er ausrief: „Aber wat
fiehft du denn dort am Wege?“ wenn fie ihn nich
lange betrachtete; und es geichah ſehr jelten, daß er
bat: „Erzähle mir deine Eindrüde,“ wenn fie von
irgend einem Konzerte famen. Er hatte zu oft gefragt,
ohne eine Antwort zu erhalten, und wenn er eine
erhielt, jagte fie nichts. Es ift wohl nicht notwendig
über Kontrapunkt ſprechen zu können, wenn man aud
mit einem Komponiften verheiratet ift, aber man mus
doch etwas andres zu fagen wifjen als ja und nein,
und ich glaube nicht, daß es Hug ift, entrüſtet aus—
zuſehen, wenn der Unglückliche einmal die unmiber:
ftehliche Luft empfinden jollte, fi in Hembärmeln
ana Klavier zu feßen umd jo zu jpielen, „Ihr feid
alle jo geſchniegelt,“ ſagte er dann und befand ſich
oft in einem jolhen Zuftand der Nervofität, daf tr
aufiprang, den Knopf aus feinem Kragen rik und
bie Achſeln jo heftig zudte, als wollte er Schwieger-
vater, Schwiegermutter und die Heine Frau ab:
ſchütteln, die er einft auf Händen getragen. Sein
Ungeftüm erſchreckte fie — fie begriff es nicht, fe,
die ihr Leben lang fein Gefühl gezeigt hatte, das nich
abſchattiert, zerftüdelt, gedämpft war, bevor fie &
einem andern offenbarte. Sie fonnte ihn zumeilen
mit einem großen, ſcheuen Blid anjehen, in dem auf
etwas Angft lag, ihn zu verlieren. Man jah es, er
war müde, und das geftand er mir eines Abends
ziemlich rüchhaltslos, ala wir bei einander jahen und
plauderten. Ich hatte ihn ganz arglos gefragt, wor
mit er ſich augenblicklich bejchäftigte, und erjäral,
ala ich ihn aufipringen und ſich mit beiden Händen
durch das Haar fahren jah: „Sprechen Sie mit mir
nicht über Muſik,“ jagte er, „ich bin muſikmüde —
das iſt ein furchtbares Gefühl und bedeutet bei mir
— —
Liſa.
jo viel wie daß ich alles ſatt habe. Ich brauche
Wärme, Licht brauche ich.“ Liſa lam gerade ins
Zimmer, und ob fie ihn nun verſtand oder nicht, es
war far, was er meinte.
Er jah wirklich aus, als könnte er nicht arbeiten.
Zumweilen war er jo nervös, daß er es mit fich jelbft
nicht ausbielt, und zuweilen jo gleichgültig, daß man
nicht glaubte, es fünne etwas in der Welt geben,
das ihn aufzurütteln vermöchte. Aber als ich eines
Abends hinaufkam, um Lija zu befuchen, ftürzte er
plöglih mit der Abendzeitung in der Hand zu uns
hinein,
„Sie fommt!” rief er.
„Wer?“ fragten wir,
„Sharlotte Armas!*
Lolo!“ jogte Lifa.
Lolo!“ bekräftigte er ftrahlend, und als ich wiſſen
wollte, wer Lolo jei, rief er alle Himmel als Zeugen
meiner unverzeihlichen Unmiljenheit an. „Eine Bes
rühmtbeit, eine gottbegnadete Liederjängerin,* mit
der fie in Berlin befannt geworden waren... Sch
mußte fie hören, wenn id) eine Ahnung haben wollte,
wie man Schumann fingen jolle... . Es war uns«
möglich, ihn wieder zu erfennen. Er ſprach voll Leben,
mit glänzenden Augen, und bevor wir uns verjahen,
jaß er am Flügel und ſpielte „Frauenliebe und Leben“,
„Ich will dich mit Lolo bekannt machen,“ jagte
Lila, „Tie wird dir gefallen. Lolo Armas gefällt
allen. Sie ift gar nicht jo übertrieben wie viele von
den andern. Sie ift jo einfach, ganz wie ein ge=
wöhnlicher Menſch, und fie war jo freundlich gegen
mich, als ich mich einfam und fremd unter all den
Mufiffeuten dort in Berlin fühlte.*
Drei Wochen darauf fam fie. Liſa und ich follten
zufammen in das Konzert gehen — Kaj fonnte nicht
mit uns fommen, er mußte zuerjt in irgend eine
Zeitungsredaltion, umd dann follte er noch einmal
Lolo Armas aufjuhen. Er zweifelte nicht an ihrem
Erfolge — das war eine ſtünſtlerin .. ein Pianiffimo,
wie ein Ylötenton, und eine Seele, ein Humor, eine
Grazie, ein Adel in dem Gefange — kurz, von
Gottes Gnaden ... Er jprang im Zimmer umber
und fuchte in allen Taſchen nad unjern Billetten,
aber fand nur drei zerdrüdte ragen, die er auf
Tiſch und Stühle warf. „Gott weiß, wo die her-
fommen,“ jagte er, „aber ich habe immer die Tajchen
voll,”
„Daber, daß du fie nie um den Hals haft,“
jagte Lila in ihrem ruhigen Ton.
„Um den Hals, um den Hals, warum nicht
gleih hinauf bis über die Chren. Du bift doch
immer biejelbe," jagte er und ging.
Es war mir immer peinlih, Zeuge diefer Nuss
brüche zu fein, aber Lija that nichts dergleichen und
legte ftil die Kragen zufanmen. „Es ift feine leichte
Aus fremden Jungen. 1897. IL. 20,
953
Sade, fie in Ordnung zu halten,“ fagte jie. „Wenn
er in Eifer fommt oder beichäftigt ift, dann reiht er
fie nur herunter und ftedt fie ein — das geſchieht
jogar mandmal, wenn er im Frack it.”
Wir verfuchten beide zu lachen, aber ich begriff,
welche Pein eine jolche Kleinigleit auf die Länge für
ein Weſen wie fie jein mußte — ordentlich big zur
Aeuperlichkeit, gejchniegelt, wie er fagte, und völlig
außer ftande, die bohtmeartigen Seiten einer Natur
wie der feinigen auch nur zu begreifen,
Nach fünf Minuten fam er zurüd, ohne eine
Ahnung von feiner Hejtigkeit eben erft. Die Billette
lagen in der Weſtentaſche, e$ war unerklärlich, er
fonnte e& nicht begreifen, aber dieſe Armas machte
ihn ganz wahnjinnig.
Mit ungewöhnlicher Neugierde betrat ich an diejem
Abend den Saal der Mufilalifhen Akademie, und
als die Armas auf die Ejtrade fam, von einem
ſchwachen Applaus begrüßt, denn es gab nicht viele,
die mehr von ihr mußten als ihren Namen, war
mein erfter Eindrud: wie gut fie ausficht. Es war
ein norddeutſches, ziemlich bürgerliche Ausſehen —
eine große, volle Geftalt, ein rumdes, weiches Geficht
und meizengelbes Haar, das wie eine Löwenmähne
um ihren Kopf lag. Die Stimme war groß, aber
vor allem war fie lyriſch, vor allem für bie innige
Poefie der deutjchen Liebesdichtung geſchaffen.
Ih war jehr glüdlih, fie zu hören, aber Kaj
Rude befand ſich offenbar in jenem fiebenten Himmel
der Mufifmenjchen, der für gewöhnliche Sterbliche
ein verſchloſſenes Reich ift; und als ic) Liſa begleitete,
um zu jehen, ob alles in Ordnung fei, die Armas
zu empfangen, die verſprochen hatte, bei ihnen zu
ſpeiſen, war er ſchon gegangen, fie zu beglüdwünſchen.
Sie famen nad) einer halben Stunde, fie und Rude,
und der Begleiter — mit einem MWolfshunger, wie
die Armas jagte, als fie Durch die Thüre trat, Und
fie aß und fie plauderte — alles mit derjelben Gründ-
lichkeit. Und als fie gegeffen hatte, fand fie auf
und umarmte erft Lila und dann Kaj, und dann beide
auf einmal und fagte ihnen, daß fie die herrlichften
Menfchen auf der Welt jeien. Hierauf war fie bereit,
Schumann: Widmung zu fingen, aber ihr Begleiter
hatte ſich kaum ans Klavier gejegt, als fie ihn ſchon
bei den Haaren riß und ausrief: „Aber — Sie Ejel,
was machen Sie? Jit das ein Talt? Diefer Samek,
diejer Samel, der macht mid noch grauhaarig.“
Der Begleiter war aud) ein Typus. Er ſah aus
wie eine große Ratte; und fie konnte ihm jagen, was
fie wollte, er ließ fich alles gefallen, und man fühlte,
daß fie die beften Fyreunde in der Welt waren, Wie
war ed übrigens möglich, ihr nicht gut zu fein? Sie
war unmwibderftehlih, und wir konnten den Blid nicht
von ihr wenden, Liſa, Kaj und ih. Als fie heim»
fuhr, begleiteten wir fie zum Hotel, und am nächſten
120
954 Jane Gernandt-Elaine.
Morgen ftanden wir alle drei dort — Kaj mit einem
enormen Roſenbouquet. Sie ichalt, weil wir jo früh
famen, aber empfing uns doch, im Morgenfleid,
beide Hände an ber gelben Mähne. „Blumen!“
rief fi. „Halte doch die Zügel ftraffer, Liſa, damit
er nicht joihe Dummbeiten macht. Wartet mal —
das ift für Sie, und das ift für die Lila.” Sie gab
uns ein paar Rofen, lächelnd und glüdlich, ihr großes
Bouquet in den Armen. In diefem Augenblid war
e3 nicht die Feine Lila, die von den beiden am
jüngften und reizendften ausſah.
Sie hatte mich ganz umb gar bezaubert, e8 war
etwas von „Freiluft“ um fie — eine Friſche, jo be
rüdend wie die der Felder nad einem Sommerregen ;
in ihrer Nähe fein, war wie in einer Yandjchaft mit
Fluren und Wieſen zu Iufiwandeln, mit breiten,
lachenden Flüſſen, in denen der Himmel ſich wider»
jpiegelt, groß, fröhlih und blau. Sie fonnte die
merfwürdigften Dinge jagen — alles wirkte friſch
und bezaubernd von ihren Lippen. Sie jelbft jah
das Häßliche nie — darin lag der große, unwider⸗
ftehliche Neiz, der in ihr war; das Leben war groß
und gefund und luftig, ein Lachen wert, einen Scherz,
eine Umarmung; und e8 gab feine Thorheit in der
Welt, mit der man fic) nicht verföhnt hätte, wenn Lolo
darüber lachte. Alles, was fie berührte, wurde gut,
man konnte es nicht erflären, man wußte nicht, wie
es fam, aber es war wohl dieſe Unſchuld, die ges
wife Menfchen in ihren Handlungen und ihrer
Art zu denken und zu fühlen haben, dieſe heilige
Offenheit des Herzens, die von Lug und Trug nichts
weiß.
Sie war Liſas Freundin, jo wie fie Kajs Freundin
war, mit ihrer ganzen ehrlichen Seele, ohne Hinter-
gedanfe und ohne Kompromiß, und fie nahın fie
gegeneinander in Schuß, mit jenem einfachen Ge=
fühl für das Necht des einen oder des andern, das
fie fo jelten beirog.
„Nt es nicht eine blutige Sünde,“ fagte fie ein»
mal zu mir, „daß dieje zwei herrlichen Menjchen
nebeneinander hergehen und fich gegenfeitig das Leben
verderben?“ Alle, die fie gerne hatte, waren herr⸗
lihe Menſchen — außer Samek. Ich habe fie nie
Samel einen „herrlichen Menſchen“ nennen hören.
„Es ift etwas in ihr, das ihn zu Boden brüdt,*
fuhr fie fort, „und doch ift fie zehnmal zu gut
für dieſen Schlampfad.” Aber als fie „Diefen
Schlampſack“ ſagte, fam ein Ausdrud in ihr Ge-
fiht, ein Lächeln um ihre Lippen, das ihn ent«
züdt haben würde, wenn er es gejehen hätte. Er
war glüdlid, wenn er nur am Flügel fiten durfte,
indes fie feine Lieder fummte oder mit ihm über
Mufit ſprach. Bon einem Worte von ihr entflammt,
fo wie der Feuerſtein den Stahl zündet, fonnte er
ſich in unendlihe Disfuffionen über Theorien und
Schulen verlieren, über die Muſik von Heute und die
Muſik von morgen.
Liſa ſaß ftil da und hörte zu; aber einmal, als
die Rede von irgend einem jungen Mufifrevolutionät
war, den er von Berlin fannte und bis in die Wollen
erhob, jagte fie in ihrer ſtillen, umperfönlichen Art:
„I weiß ja, daß er jo bedeutend fein joll, aber &
ift merfwürdig, ich verftehe ihn nicht.“
„Das fommt mir gar nicht merfwürdig vor,‘
jagte er, fland auf und ging in fein Zimmer,
„Der galante Gatte!“ Tachte Polo. Aber als fi
jah, daß Liſa Thränen in den Augen hatte, nahm
fie fie in ihre Arme und wußte gar nicht, was fie
thun jollte, um fie zu tröften. Kaj war den ganzen
Tag über in Ungnadbe, aber den Abend, bevor fie
reifen jollte, ſah ich, daß fie vollftändig verjöhnt
waren. Er jaß da und jpielte jeine neueften Kom
pofitionen, etwas unheimlich Keberijches, ein Greuel
für alle redhtgläubigen Mufici, wie er behauptete,
Sie ftand ganz nahe dem Inftrument, mit geienftem
Kopf, die Arme über einem Stuhl, Er umfaste fe
die ganze Zeit mit den Augen, ohne fie anzuſehen,
und fein Geficht trug einen Ausdrud, als wandelte
er in Fluten von Licht. Es war, als hätte fic alles,
was ihr Weſen an Fülle und Wärme bejah, auf
ihn gejentt und ihn reich gemadjt. Es wogte und
brannte um ihn in Strömen und Strahlen. €
ftand in der Sonne.
„Singen Sie,“ bat er, und indes er ein paar
Accorde anſchlug, begann fie leiſe:
„Ein Fichtenbaum ſteht einfam im Norden auf lahlet Hih'...*
Die Mufif war von ihm, aber fie war nicht auf⸗
regend, fie war nur jchön, und mit unbeweglichen
Gefiht ftand Liſa und betrachtete die beiden.
Ich weiß nicht, was fie dachte, ich weiß nidt,
was fie begriff, aber als fie am Morgen darauf zum
Zuge fam, um von Lolo Abjchied zu nehmen, war
fie bleic) wie der Tod. Dennoch lächelte fie, als fir
ihre Freundin auf dem Perron fliehen ſah, von einer
Schar Verehrer umgeben, ausgeruht und jchön, wie
verjüngt vom Morgen, und friſch und gut nach ihrem
Schlummer, wie ein Kind. Der Abfchied war heiter
— jie jprachen davon, ſich in einigen Monaten zu
treffen, denn Kaj beabfichtigte, feinen alten Lehrer in
Berlin wieder aufzuſuchen. Es dauerte jedod) kaum
einige Wochen, bis fie reiften; aber fie hatten nod
nicht ausgepadt, als Liſa an das Totenbett ihrer
Mutter heimberufen wurde. Kaj fam zum Begräbnis
nicht nach Haufe, und fobald es vorüber war, fuhr
Liſa wieder fort, tief niedergefchlagen, mit etwas im
Blide, das mir weh that. ch hörte von ihr immer
nur in ein paar haftigen Zeilen, aber nad) einigen
Monaten befam ich einen Brief von Lolo Armas.
„Alles ift entjchieden,“ jchrieb fie, als ob fie von
etwas ſpräche, deſſen Kenntnis fie bei mir voraus
Liſa.
ſetzte, „morgen reift Liſa nad) Haufe zu ihrem Vater,
Kommen Sie ihr entgegen, laſſen Sie fie fühlen,
daß fie Freunde hat, fie verdient es. Man muß ein
großes Herz haben, um fo zu Handeln mie fie.
Menſchen, die lügen, und Menjchen, die einander
beirügen, fünnen ein Verhältnis wie das unſre nicht
begreifen. Ih babe zu ihr hingehen können und
jagen: ‚Liſa, id} liebe deinen Dann‘ und fie ant—
mortete nur: ‚Ich wei e&.‘ Kaj ift frei, er bleibt
bier, bis die Scheidung ausgeſprochen iſt, ich jehe
meine Konzerttournee fort, wie jchwer es mir auch
fällt, von meinem Geliebten getrennt zu fein. Der
Standal joll feine Nahrung haben — um Liſas
willen, denn was fümmere ich mich um die Melt?
Zeit und Raum und Menichen find für mich vers
ihwunden. Ich lebe nur in der Erwartung meines
Glücks.“
Liſas Scheidung ſtand alſo bevor, aber lein Wort
von ihr ſelbſt gelangte an jemand, außer au ihren Vater,
Der Ratsherr grüßte mid) ſchweigend auf dem Bahn
hof an dem Tage, als er feine Tochter erwartete,
fleifer, gerader, aufrechter denn je; und als Liſa ihm
aus dem Koupefenfter zunidte, erfroren von der
Morgenfälte, aber mit ihrem gewohnten Blid und
ihrem ruhigen Lächeln, da ahnte wohl niemand, daß
fie fam, um für immer bei ihm zu bleiben. Als fie
fi in der Droſchle zurechtrüdte, fagte fie nur jehr
fill: „Wie mwunderlich es ift, jetzt nah Haufe zu
lommen, wenn Mama nicht mehr da ift.“ Das war
die einzige Andeutung, die fie in Bezug auf die Ver-
änderung machte, welche ſich in ihrem Leben voll
zogen hatte.
Am Nahmittag empfing fie mich in dem Heinen
Zimmer, das fie als junges Mädchen bewohnt hatte;
ein paar Kleinigleiten aus ihrem Koffer hatte fie
ihon ausgepadt — einige Glasmalereien und eine
Porzellanhirtin, die ich dort gejehen, jolange ich fie
lannte.
„Es hat ja keinen Wert,“ ſagte ſie, „aber ich
hänge ſo an allem, an das ich mich gewöhnt habe.“
Sie erwähnte kein einziges Mal ihren Mann, aber
als ich ging, ſagte ſie plötzlich errötend: „Ich habe
Lolo gebeten, wenn fie an mich ſchreibt, es unter
deiner Ndrefie zu thun. Papa darf nichts davon
wifien. Er glaubt, daß «3 ihre Schuld ift, er ſieht
nicht ein, daß ich nicht für ihn paßte.“
Das war alles. Ich ftellte ihr feine Fragen,
und ich fühlte, daß fie mir dafür danfbar war.
Es verging faum eine Woche, ohne daß fie Briefe
von Berlin befam, und gewöhnlich Tagen auch einige
Zeilen an mid) bei. Lolo beffagte ſich unaufhörlich,
von dem Geliebten getrennt zu fein.
„Ein Fichtenbaum — eine Palme, das ift fehr
poetiich,“ ſchrieb fie einmal, „aber er hat e8 nun jo
trübfelig, mein armer Fichtenbaum, in Berlin, und
955
die Palme verfteht ſich nicht darauf, in ber Wirf«
lichkeit tragisch zu fein. Mitten in al meiner Ente
behrung iſt doch etwas da, das mid unabläjlig
erfreut: ich denfe an meine Liſa. Wir hätten Tod»
feindinnen jein fönnen, und anftatt deſſen lieben wir
einander jo innig. Es ift meine Freude, ihr mein
Herz eröffnen zu fönnen, und jo groß ift unjre Zur
neigung, dab ich ihr alles jagen fann — davon
Iprechen, wie ih mich nad ihm jehne und wie er fich
nad mir jehnt.“
„Nun können fie froh fein,” fagte Liſa eines
Tages zu mir.
Sch mußte, dab fie von der Scheidung ſprach,
die nun entſchieden war, und ich fragte:
„Und du?*
„3?“ ſagte fie ſehr leije.
ih. Nicht um mich.“
Sie nannte fi wieder Bratt, und wenn id) fie
in der alten Umgebung ſah — das Haus, in dem
fie gewohnt hatte, ließ fie verfaufen, ich weiß faum,
ob fie es wiederſah — fragte ich mid) zunveilen, ob
dieſe Ehe je eine Wirklichkeit gewefen, und ob fie ihr
nicht felbft wie ein Traum erjchien. Sie war immer
thätig, immer mit irgend einer Arbeit beſchäftigt —
warn jollte fie Zeit haben, fi ihren Erinnerungen
hinzugeben? Nur des Abends, wenn der Ratsherr
mit dem Bezirfsrichter Barjoot Schad) fpielte, hatte
fie eine Weile für jih. Kam ich dann zu ihr hin«
auf, jo ſaß fie an ihrem Meinen Arbeitstiich in einer
Ede des großen Salons und ftidte, und während
wir von neuen Moden oder Handarbeiten ſprachen
— dieſem neutralen Gebiet, zu dem fie immer ihre
Zufludt nahm, um mir auszuweichen — jah ich
unter den Garnjträhnen in ihrem Arbeitskorb die
wohlbefannten Bogen mit Lolos großer Handſchrift,
eiferfüchtig verborgen, wie Liebesbriefe.
Manchmal erhob ſich der Bezirksrichter, kam auf
ung zu und bat, mit den Damen anftoßen zu dürfen.
Lifa nahm ein Meines Glas Glühwein, das fie ſich
jeden Abend braute, um ihrem Bater eine Freude
zu maden, und führte e& lächelnd an die Lippen,
Und der Bezirförihter, der glaubte, charmant ge=
wejen zu fein, ging wieder zum Spieltiſch mit ein
paar ſcherzhaften Worten — beinahe jeden Abend
diefelben. Er war ſehr korreft und jehr wohlerjogen,
mit eingefleifchten Junggejellenanfichten, die aber ſicht⸗
lich zu wanfen begannen. Dies war feine Art, den Hof
zu machen, und als Bratts alter Hausarzt wünjchte,
daß Lila fih von den Haushaltungsjorgen ein wenig
ausruhe, und fie nach Lufetil jchidte, wohin ich fie
begleitete, zweifelte ich nicht daran, daß er nahlommen
würde. Er zeigte ſich als ſehr disfreter und jehr
aufmerffamer Anbeter, der, dankt feiner Eigenſchaft
als Verwandter, gewiſſe Privilegien hatte, fie zu be—
ſchüßen; und man begann allgemein, feine Schluß»
„Um fie handelt es
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folgerungen zu ziehen. Sie hatte angefangen, die
Trauer um ihre Mutter abzulegen, und erſchien
mandmal in der Geſellſchaſt, fanit und ftill, mit
einem verbindlichen Lächeln um bie feinen Lippen,
freundlich gegen alle, und überall mit der wärmften
Sympathie aufgenommen. Es gab feinen Schatten
in dem fleinen, weißen, volllommen ruhigen Geficht,
feine Nuance in diefen Augen, die davon ſprach,
daß fie in ihrem Leben etwas durchzumachen gehabt
hatte, Sie verriet ſich nie, fie war jo wohl ein»
gehüllt wie eine Meine Mumie, und man wußte nichts
von den Schmerzen, die fie in ihrem zurüdhaltenden
Herzchen einbalfamiert hatte.
Sie jprad) nie mit mir von dem Berflojjenen, fie
fam nur manchmal ganz ruhig und fragte: „Haft
du feinen Brief?“ Und wenn ich nein antwortete,
fagte fie wohl: „Das ift, weil fie gar zu glücklich
find, aber ich finde doch, daß fie jchreiben könnte,“
Später habe ich jo viele Male an diejes Meine
„Doch“ gedacht ...
Wenn Briefe kamen — oft nur ein paar Zeilen
an ung beide zugleich — lajen wir fie zufammen. Es
war die große, friiche Freude eines übervollen, mun«
tern Herzens, das ſich in ihnen Luft machte:
„Wahrhaftig, Lieſel,“ jchrieb fie einmal, „du
jollteft mir Dank wifjen, daß id) dich von ihm be=
freit habe. Er ift unerträglich, ich kann nicht einmal
biefen einen Heinen Augenblid in Ruhe und Frieden
ſitzen. Er ruft beftändig nad mir. Ich fpiele die—
ſelbe Rolle für ihn wie die Theefanne für Halevy —
ohne mich kann er nicht komponieren,” Und ein
andermal: „Du warjt hundertmal zu gut für ihn,
und er war nit immer jo, wie er hätte fein follen,
aber du fannft e8 mir glauben, jeht muß er e8 ent«
gelten. Er ſteht Mäglich unter dem Pantoffel, ſchon
jet, wie wird es erſt werden, wenn ich verheiratet
und in meinem guten Rechte bin? Er zittert vor
einer Krümmung meines Heinen Fingers, ja, jo muß
man diefe Herren der Schöpfung, diefe Männer, ber
handeln.“ Und endlih: „Liejel, Lieſel, liebe, mein
Herzenäfind, liebe, damit du einmal erfährt, was
Süd iſt.“
Es war am Abend, bevor wir abreifen follten,
als wir dies laſen. Wir ſaßen unten am Strande,
und der Bezirfsrichter war eben dageweſen und
hatte fie gefragt, ob fie nicht friere. Sie hatte
nur mit ihrem artigen, Heinen Lächeln den Kopf
geſchüttelt.
„Wie lange wirft du ihn noch ſchmachten laſſen?“
fragte ich.
Sie ſah mid mit einem Paar Augen an, fo ab»
weiend, daß fie leer ſchienen:
„Du glaubt, das fünnte etwas für mich fein,”
jagte fie,
„Er iſt jo verliebt in dich —“
Jane Gernandt»-Glaine.
Sie fhüttelte den Kopf: „Wenn er mid; liebte,
müßte er fühlen, daß er mir gleichgültig ift. Aber
das thut er nicht. Er glaubt Eindrud auf mic ger
macht zu haben. Wenn er nur wüßte, wie er mid
ermüdet!“
Alles ſchien fie übrigens zu ermüden, obgleich fie
e8 felten jagte, alles, das nicht 2olo war, An fie
konnte fie lange Briefe ſchreiben, und im Herbſte
arbeitete fie bis tief in die Nächte an einem Teppid,
ber als Hochzeitsgeſchenk nad Berlin geſchickt werben
follte. Ihr Vater durfte nicht? davon wiſſen, und
wir padten die Gabe eines Abends auf ihrem Heinen
Zimmer ein, aber al3 wir damit fertig waren, war
fie jo ermattet, daß fie faum vermodte, ſich vom
Boden zu erheben.
Ih begann mich wirklich über fie zu beunruhigen,
und der Ratsherr ſprach ermjthaft mit dem Arzte,
Man konnte nicht eigentlich jagen, daß fie Iranf war,
und fie jelbft wollte e& nie zugeben; fie war ftet
mit einer diefer Handarbeiten beichäftigt, die fie
mehr al& irgend etwas andres zu zerfireuen jchienen,
oder mit dem Haushalt, den fie in muftergültiger
Ordnung verjah. Aber eines Tages, als fie mid
zu Mittag eingeladen hatte, bat fie mich, die Suppe
zu geben — fie lonnte den Arm nicht erheben. Und
als ihr Vater fie zwang, ſich einen Augenblid nad
dem Speijen auszuruhen, ſah jie jo bleich aus, wie
fie fo da auf dem Sofa lag, dab ich erſchral. Aber
faum war der Ratsherr in fein Zimmer gegangen,
ſchlug fie die Augen auf und jagte:
„Du haft etwas für mid —“
„Woher weißt du das?“ fragte ich.
„Ah, ich bin überzeugt davon. Das fühle ih
immer... .*
Diejes Mal hatte ich ihr nichts zu geben als ihre
Vermählungsanzeige, und dieſe war eigentlich an mid
gerichtet.
Sie ſah lange auf die gedrudten Zeilen: „Char
lotte Armas, Kaj Rude, Vermählte*.
„Unartige Menjchen, haben nicht daran gedadt,
mir aud) eine Karte zu jhiden.“ Und dann lächelnd:
„I bin neugierig, wie mein Teppich ihr gefallen
wird.“
Ich weiß nicht, was über mich fam, aber es er-
griff mich ſolch eine Luft, die blaffe, Heine Hand zu
ftreicheln.
„Was für ein munderliches Frauchen du bifl,*
fagte id).
„Wunderlich... wiefo®... wie fommft du dar:
auf? Weil ic) mich danach jehne, zu hören, was
fie über mein Geſchenl jagt ?*
Ein paar Tage darauf hatte fie einen langen
Brief, voll Dankbarkeit und voll Glüd, Der Teppich
lag in Lolos Zimmer, vor ihrer Chaiſelongue.
„Ich bin recht unartig, ich jollte mich bedanfen,
Liſa. 957
dab fie ihm ſolche Ehre erweift,” jagte fie lächelnd, | des Alters zu jein pflegt, zumeilen aber aud) des
ewa vierzehn Tage hindurd jedesmal, wenn ich | Kummers.
zu ihr binauflam, aber fie jchrieb dennoch nicht, Ich jchrieb dies Polo nicht, aber ala ich ihre Briefe
und eines Tages bat fie, ich möge es an ihrer Statt | unter Liſas Kopfliſſen fand, fragte ich mid, ob dieſe
thun: „Es ift recht häßlich, fie jo lange warten | fie nicht getötet hatten. Sie ließ es nie ahnen. Sie
zu laſſen — nicht, daß es ihr etwas macht, aber | empfing fie unbeweglich und lächelnd, wie der Mär-
bo...“ tyrer einen Regen von Pfeilen in jeiner biutenden
Ich that, was fie wünjchte, aber als einen Monat | Bruft empfängt; und es war ihr Geheimnis, wie
ipäter bie Antwort fam, war die, die fie lefen jollte, | tief dieje Enthüllungen einer Liebe, die jo glüdlich
nicht mehr da... war und eine ſolche Fähigkeit zu beglüden hatte, in
Alle, die fie gekannt, wunderten ſich über diefen | ihr Herz drangen. Ich fragte mid, ob fie nicht doch
jo unerwarteten Todesfall, und der Arzt, mit dem | bis zum Letzten Kaj liebte, und ob fie nicht an dem
ih ſprach, fagte, die Obduktion hätte gezeigt, dat | Opfer ftarb, das fie Lolo brachte, als jie ihr frei«
Frau Bratt an einem Schwähephänomen gejtorben | willig den Weg räumte, aber ich weiß es nicht, nie»
fei, daS bei jo jungen Perſonen jehr felten vor- | mand wird es je erfahren.
lam — das totale Uebergewicht der weißen Blute „Il ya un mystöre dans l’esprit des gens, qui
förperdhen über die roten — etwas, das eine Folge | n’en ont pas.“
— Lofe Blätter ®-
eine Probe zu machen, welches von ihnen am meiften
Frau Forluna und Herr NMammon. Macht hätte. — „Schau!“ ſagte die Frau zum Ges
Ein Märden. mahl, „Tiehft du da unter dem —— *
niedergeſchlagenen und mißmutigen Armen? Laß uns
Rus dem Spanifgen überfeht von 4. Gy. mal jehen, wer von uns beiden im ftande ijt, ihn
Frau Fortuna und Herr Mammon waren in | aufzumuntern und ihm ein bejjeres Los zu bereiten.”
Liebe zu einander entbrannt, jo daß man die eine ohne Der Gemahl war's zufrieden, und beide begaben
den andern gar nicht mehr jah. Wie der Eimer dem | fich nad dem DOlivenbaum, um dort Quartier auf
Brunnenfeil und der Stiel der Art folgt, jo folgte | zufhlagen, er friechend, fie mit einem großen Sahe.
Herr Mammon der Frau Fortuna auf den Füßen, Der dort Naftende, ein armer Teufel, dem fein
fo daß fie am Ende miteinander ing Gerede famen, | Lebtag weder die eine mod) der andre vor Augen
was fie beivog, ſich ehelich zu verbinden. gelommen war, fperrte Mund und Naje auf, ala ſich
Run war Herr Mammon ein wohlbeleibter Herr | plöglich diefe vornehmen Herrſchaften vor ihm auf-
mit großem rundem Kopf aus glänzendem peruanijhem | pflanzten.
Golde, einem Schmerbaud) von merifanishem Silber, „Bott fei mit dir!” grüßte ihn Herr Mammon.
Beinen aus Kupfer von Segovia und Papierpantoffeln „Mit Euer Gnaden gleichfalls!” erwiderte der
aus der großen Fabril in Madrid. — Frau Fortuna | Arme.
war eine mutwillige Dame, ohne Treu’ und Glauben, „Kennit du mich nicht?“
ſehr launiſch, jehr wetterwendiſch und blinder als ein „Nur um Euer Gnaden zu dienen!”
Maulwurf. „Haft du mich nie vorher gejehen?*
Kaum hatten die Neuvermählten bie Flitterwochen „Mein Lebtag nicht.“
hinter ſich, als fie fich entzweiten. Die junge Frau „Was, befigeft du gar nichts?“
wollte fommandieren; aber dem Herrn Mammon, „Doch, Herr; ich habe ſechs Kinder, nadt wie
der ftolz und dünkelhaft ift, war das nicht nach Thürriegel und mit Schlünden jo weit wie ein Paar
Geihmad. — Mein Vater (Gott hab’ ihm jelig!) | alte Hojen; aber Glüdägüter habe ic) nicht mehr als
pflegte zu jagen, daß das Meer, wenn es fich ver | von der Hand zum Mund, wenn es überhaupt mal
heiratete, zahm wie eine Pfübe werden würde; aber etwas giebt.”
Herr Mammon ift ftolger und proßiger als das | „Und warum arbeiteft du nicht?”
Meer und wollte fid) von feiner Würde nichts ver— „Schöne Frage! Weil ich feine Arbeit finde. Ich
geben. babe ſolch ein Pech, daß mir alles chief und krumm
Da nun beide mehr und feines weniger gelten | geht wie ein Ziegenhorn. Seitdem id) verheiratet bin,
wollte als der andre, jo kamen fie am Ende überein, | jheint e8, als wenn der Reif auf mid) gefallen wäre
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und ich die Zieljcheibe alles Unglüds fein müßte, Herr!
Da hat uns ein Herr aufgetragen, ihm einen Brunnen
im Verding zu graben und uns jedem eine tüchtige
Handvoll Dublonen verjprohen, wenn er fertig
wäre; aber vorher gebe er nicht einen Maravedi;
das war der Kontrakt.“
„Und wohl bedadht war's von deinem Herrn,“
fagte wichtigtöuend der andre, „denn das Sprichwort
lehrt: — Vorbezahlte Arbeit, lahme Arme. — Was
weiter, Mann?”
„Wir machten und an die Arbeit und gruben
und die Seele aus dem Leibe, denn, Herr, fo, wie
Ihr mich ſeht, zerlumpt und erbärmlich, bin ich doch
ein Mann, Herr!”
„Sa, ja,” jagte Don Mammon, „glaub’s ſchon!“
„Es giebt nämlich vier Mlafen von Männern,
Herr,“ fuhr der Arme fort; „es giebt Männer, was
man nennt Männer; es giebt Männchen, Stußer,
dumme Jungens und Graßaffen, die nicht einmal
das Maffer verdienen, das fie trinken. — Aber wie
ih ſagte, wie jehr wir auch gruben, wie jehr wir uns
auch abquälten, nicht einen Tropfen Waſſer fanden
wir. — Na, es war beinahe, ald wenn das Innere
der Erde ausgetrodnet wäre; wir fanden abjolut
nicht weiter, Herr, als jchließlih und zu guter Let
einen alten Schub.*
„sm Innern der Erde!* rief Don Mammon,
empört, daß fein herrſchaftlicher Palaft jo üble Nad-
barſchaft haben jollte.
„Nein, Herr, nicht im Innern der Erde, fondern
auf der andern Seite, im Lande der andern Leute.“
„Welcher Leute, Menſch?“
„Der ‚Antripulen‘, Herr.“
„Ih will dir aufelfen, Freund,“ ſagte Don
Mammon und ftedte ihm majeftätiih einen Duro
in die Hand.“
Dem Armen ſchien's, ald träume er, und er fing
an zu laufen, als hätte er Flügel an den Füßen,
bis er vor einem Bäderladen landete, wo er Brot
forderte. Als er aber das Goldſtück hervorziehen
wollte, fand er in feiner Taſche nur ein Loch, durd)
welches der Duro, ohne ſich weiter zu verabſchieden,
entichlüpft war.
Bol Verzweiflung machte er ſich auf die Suche.
Über er hatte gut juchen. Für das, was in den
Schlamm gefallen, kann nicht einmal der heilige
Antonius, der Schußpatron alles Verlorenen, aufs
fommen. — Hinter dem Duro her verlor er aud) noch
jeine Zeit; und hinter der Zeit her die Geduld, und
jo fing er an, fein Pech zu verwünjchen, dab einem
Hören und Sehen verging.
Unterdes barft Donna Fortuna vor Laden,
während Don Dammons Geficht vor Wut noch gelber
wurde, Aber was half’3? Er griff nochmals in den
Sädel und gab dem Armen eine Unze.
Der Beſchenlte firahlte vor Vergnügen. Diedmal
lief er nicht, Brot zu kaufen, jondern eilte in einen
Kaufladen, um für Weib und Kinder Kleider und
Tücher zu erftehen. Als er aber zur Bezahlung dem
Kaufmann die Unze reichte, fing derjelbe an laut zu
Loſe Blätter.
Ihimpfen und zu jagen, das fei ein faljches Golb-
ftüd und jein Eigentümer alfo ein Yalfchmünzer, den
er der Juftiz überantiworten werde, Als der Arme
dies hörte, wurde er jo voll Zornesglut, dab man
in feinem Geficht hätte Kaffeebohnen röften können;
er nahm die Beine über die Achſel und lief zu Don
Mammon zurüd, dem er das Vorgefallene erzählte,
wobei ihm die diden Thränen über die Baden
liefen.
Donna Fortuna wand fi) vor Faden, und Don
Mammon jchnitt ein Geficht, als ftiege ihm der Senf
in die Nafe.
„Da nimm,” jagte er und gab dem Armen zwei⸗
taufend Realen; du haft Pech, aber ich merde dir
ihon aufhelfen, oder ich will ein Stümper heiken.*
Der Arme wurde närrijch vor Freude und lief,
ohne aufzujehen, biß er plötzlich mit ein paar Halunlen
zufammenftieh, die ihn ausgezogen und nadt, wie
ihn feine Mutter zur Welt gebracht, auf der Land⸗
ſtraße liegen ließen.
Donna Fortuna jcherwenzelte ſpöttiſch um ihren
Gemahl herum, und dieſer ſchämte ſich wie ein ge»
prügelter Hund, — „Nun ift aljo die Reihe an mir,“
fagte fie, „und nun wollen wir einmal jehen, wer
mehr vermag, der Unterrod oder die Hojen.“
Sie näherte ſich dem Armen, der fid auf den
Boden geworfen hatte und fich die Haare raufte, und
blies ihn an. Sogleic fühlte er unter den Händen
den verlorenen Duro. „Beſſer wenig, als gar nichts,“
dachte er, „laufen wir aljo Brot für die Kinder, die
jeit drei Tagen auf halbe Ration geſtellt find, und
deren Magen leerer fein wird als eine Opferſchale.
Wie er fo an dem Laden vorbeiging, mo er die
Kleider gelauft hatte, rief ihn der Kaufmann und
bat ihn, er möchte es ihm doch nicht nachtragen, was
er ihm gethan; er babe geglaubt, die Unze jet falſch,
aber der Nichmeifter, der zufüllig vorbeigefommen
wäre, hätte ihm verfichert, daß fie gut und jo vol-
wichtig wäre, daß fie eher zu viel, als zu wenig
wöge. Hier folle er jie wieder nehmen umd all
Kleider, die er gewählt babe, dazu, er gebe fie ihm
zur Entihädigung für den Schreden.
Der Arme gab ſich damit zufrieden, lud ſich all
auf die Schultern und ging fort. Als er über den
Marktplatz ſchritt, denkt euch, da führte eine Abteilung
der Zivilgarde die Räuber gefangen, welche ihn aus
geplündert hatten, und der Richter, der ein Richter
nach dem Herzen Gottes war, ließ ihm die zwi-
taujend Realen wieder zuftellen, ohne Gerichtstoften
noch Sporteln.
Dies Geld legte der Arme mit einem Gevatier
zujammen in einem Bergwerk an, und kaum hatten
fie drei Faden tief gefhürft, als fie eine Goldader,
einen Bleigang und einen Eifenjteingang fanden.
Nach kurzer Zeit nannte man ihn Don, bald
darauf Euer Gnaden und endlich Eure Excellenz.
Seit jener Zeit führt Donna Fortuna ben ein-
geſchüchterten Gemahl am Gängelbande, und ft,
windbeuteliger und toller denn je, verteilt igre Gurt:
bezeigungen ohne Sinn und Berftand, aufs Gerate-
Loſe Blätter. 959
wohl, freuz und quer, wie ein blinder Krüppel, und
eine davon fällt auch wohl für den Erzähler ab,
wenn dies Märchen dem lieben Leſer gefallen hat.
— —
Die dekadente Richtung der heutigen frauzöſiſchen
Litteratur. „Le Livre des Masques“ nennt ſich ein
in der Bibliothek de „Mercure de France* er—
idienener Band, der Silhouetten und Biographien
aller jungen und jüngften franzöfiichen Schriftjteller
enthält, die ftolz darauf find, „Dekadente“ zu heißen.
Da find Dichter, Nomanjchreiber und Drama-
tifer, die die altlajfiichen, aber ausgetretenen Pfade
der franzöſiſchen Litteratur ängſtlich meiden, die
Schiffe Hinter fich verbrennen und oft mit mehr
Selbfibewußtjein als Genie das gelobte Sand ent«
deden wollen. „Individualismus, volle Freiheit in
der Kunſt!“ heißt ihre Loſung — welches aber iſt ihr
gelobtes Land? Alles, was neu, jeltiam, bizarr, ja
abiurd if. Sie haben wirklich eine Fülle wunder-
barer und wunderlier Dinge entdedt, weil fie, wie
die Kinder fterbender Kulturperioden, kräftiger Thaten
müde geworden find und nur in Gefühlen jchwelgen.
Von einer „Senfation* und „Impreffion” jagen fie
zur andern und jhäßen nur das, was diefem Em-
pfindungsvermögen die apartejten Eindrüde zu geben
im jtande if. So haben fie fi zu raffinierten
Stimmungsfünftlern ausgebildet und bejonders
zweierlei erfunden: die Nuance und das Symbol,
„Car nous voulons la nuance, la nuance encore,
Pas la couleur, rien que la nuance,
0, la nuance seule fiance
Le röve au röre et la flüte au cor —“
fo fingt ihr genialfter Vertreter Baul Berlaine.
Die Sprade in Roman und Dichtung muß nad
ihnen eine ganz andre werden; fie muß ſich dem
immer rajcher, immer nerpöjer pulfierenden Parijer
Leben anpafien. So wird die neue pittoresfrimprej=
ſioniſtiſche Schreibweife erfunden, die den Eindrud
der flüchtigen Ericheinung auf das virtuos ausgebil-
dete Wahrnehmungsvermögen in jo bezeichnenden
Worten, durch jo originelle, harakteriftiihe Epitheta
wiedergiebt, daß der Lejer von dem Bilde gepadt
wird, als ob er es lebendig vor ſich jähe. Mit Vor-
liebe wird es aber nicht jo wiedergegeben, wie es er=
ſcheint, jondern durd ein mehr oder weniger ver—
ftändliches Symbol überjegt. Solche hat es zu jeder
Zeit gegeben — aber Symbole, Allegorien von Harer
tlaſſiſcher Deutlichfeit. Die echten Symboliften da-
gegen fuchen entweder ihre aparten Gedanken durch
ein naives, faft kindiſches Symbol auszudrüden,
oder einen recht jimplen Gemeinplatz hinter einem
mühjam ausgeflügelten zu verjcheiern.
Ein Beifpiel des Meiſters Verlaine:
La lune plaquait ses teintes de zinc
Par angles obtus ;
Des bouts de fumte en forme de einq
Sortaient drus et noirs des hauts toits points.
Le ciel ötait gris. La bise pleurait
Ainsi qu’un basson.
Au loin un matou frileux et discret
Miaulait d’ötrange et gräle fagon.
Moi, j'allais, rövant du divin Platon
Et de Phidias
Et de Salamine et de Marathon
Sous l'cil clignotant des bleus becs de gaz.")
Diefe Heine Imprejfion mwimmelt von Wider—
jprüchen. Hat der Rauch, wenn der Nord heult, die
Form einer Fünf? Kann bei Mondſchein der Him—
mel grau fein? Die Worte aber haben gewiß einen
tiefen Sinn, allerdings nur für den Poeten jelbit
und feine Bewunderer. Verlaine hat fich jedoch jo oft
ala ein echter Dichter von Gottes Gnaden offenbart,
daß man ihm jolche Heine, affektierte Spielereien wohl
verzeiht. Als verfommenes Genie mit zerrüttetem
Nervenfyftem war er doch wiederum ein Poet von
jo zartem Empfinden, daß er das geheimjte VBibrieren
der Seele unter den mannigfaltigften Einwirkungen
der Außenwelt zu erlaufchen und wiederzugeben ver«
jtand. Seine Nahahmer find weniger Stimmungs-
fünjtler von Natur; fie haben ſich erft dazu abgerichtet.
Stephane Mallarme faht die neue Lehre vom
Symbol und von der imprefjioniftifchen Schreibweife im
„Traité du verbe“ zufammen; e8 werden darin alle
Regeln des ftrengen hochklaſſiſchen Vers- und Satz-
baus umgeftürzt: freie Verſe, formloje Zeilen, neue,
durh das Diltionär der Akademie noch nicht
janftionierte Worte, wunderlich verdrehte, unklare
Konftrultionen gehören bei den Dekadenten zur Regel.
Boileau muß ſich noch im Grabe herumdrehen. Die
Henri de Negnier, Jean Moreas, Frangois Viele
Griffin, Jules Laforgue, Arthure Rimbaud und andre
befolgen dieje Lehren getreulihd. Durch die große
Schwärmerei, die in den letzten Jahren für Richard
Wagner ausgebrochen ift, hat dieſe finnliheüberfinn«
liche Poeſie eine wejentliche Bereiherung an phan—
taftiichen Stoffen erfahren. Es wimmelt darin von
Nittern, Schwanenjungfrauen, geheimnisvollen Mife
jionen, heiligen Geräten, goldenen Rüftungen und
Zaubertränfen, Der eine laujcht nur auf den Wohl-
flang der Worte, ohne fich viel um den Sinn feiner
Verje zu befümmern. Der andre (De Regnier)
ihwärmt für die Neime „or* und „mort“ und jucht
dieſe überall anzubringen. Ein dritter endlich ver-
nadläffigt über tiefjinnigem, mühſam zujammen-
gequältem Symbol gänzlich die Form, und es fommt
nur eine Art bilderreicher Proja zu ſtande. Der eine
dichtet in Farben, der andre denft in Tönen, für
den einen find Vögel (meift Schwäne), für den an«
dern Blumen bevorzugte Symbole, und das Tollſte
feiftet der dichtende Graf Robert de Montesquiou-
Fejanzag, der in einem Bande feiner Poefien die
blauen Hortenfien, im andern die Fledermäuſe ver»
berrlicht.
Neben all diefen Wunderlichfeiten, von denen die
*, In ftumpfen Winkeln jandte der Mond feine zinffarbigen
Zinten nieder — Alleine Rauchwöllchen ftiegen did und jhmarz
in Form von Fuünfen aus den hoben ſpitzen Dächern auf.
Der Himmel war grau; der Nordwind heulte. Bon weitem
miaute ein Sater frierend und verſchwiegen mit feltfam dünner
Stimme.
Ih wandelte unter dem zwinkernden Auge der blauen Gas-
Nammen daher und träumte vom göttlichen Plato, von Phidias,
von Marathon und Salamis,
960
Litteraturgefchichte höchſtens einige als Kurioſa aufs
bewahren wird, finden ſich Perlen echter Poeſie vor.
Im übrigen find fie als harmloſe Verirrungen
des gejunden Menjchenverftandes anzufehen. Weit
gefährlicher ift die „defadente* Richtung für den
Roman. Hier werden die traurigften phyfiihen und
moralischen Kranlkheitsprozeſſe auf das ſubtilſte analy«
jiert und als Zuftände gepriefen, die zur inneren Berfei=
nerung und Entwidlung des Individuums unumgäng-
lid notwendig find, denn aus ihnen allein quellen
Empfindungen, von denen der nüchterne Alltagsmenſch
— ber jo verhaßte Bourgeois — feine Ahnung hat.
Das Tollſte leiftet Karl Huysmans in feinem Roman
„A rebours“. Sein Held, Des Effeintes, der Iehte
Sproß einer erlöfchenden Raſſe, deſſen Vater „an
einer vagen Krankheit ftirbt*, und deſſen Mutter,
„eine lange, blafle, ſchweigende Frau, an Erſchöpfung
binweltt”, ift ein ſolch ſtaunenswerter Typus der
faft für das Jrrenhaus reifen Empfindungsfünftler,
daß wir und nicht verjagen fünnen, ihn wenigftens
in einigen jeiner Verſchrobenheiten vorzuführen.
Keiner jeiner fünf Sinne ift normal. Er liebt die
Mufit der Farben, das Parfüm der Töne, den
Wohlklang des Gejchmades. Deshalb Hat er fi
eine Meine Kolleltion von Yiqueurflafchen zugelegt,
die er feine „Mundorgel* nennt... „Die mit ‚Flöte‘,
‚Engliih Horn‘, ‚voix c&leste* bezeichneten Regifter
waren gezogen. Des Efjeintes tranf bie und da
einen Tropfen und vernahm innere Sinfonien,
Jeder Liqueur entſprach in feinem Geihmad dem
Ton eines Injtruments. Der Curaçao zum Beifpiel
glich der Klarinette, deren Ton jäuerlid) und ſammet-
weich if. Der Kümmel war die Oboe, deren bei—
Bender Timbre näjelt* und jo weiter, Das Ge
fünftelte erjcheint Des Efjeintes als ein Zeichen der
Vornehmheit des Menichengeiftes.
„Deshalb verachtete er als leidenichaftlicher Blumen
freund jeit langem die gemeinen Blumen, wie fie
auf den Märkten ausgeftellt werden. Mit der Ver—
feinerung jeines Kunftgeihmades nahm jeine Vorliebe
für die von gequälten und jubtilen Gehirnen aus»
geflügelten Erzeugnifje zu. Nah den künſtlichen
Blumen, die wirflihe Blumen nadäfften, jammelte
er natürliche Blumen, die eine Nahahmung der
fünftlihen waren.”
Uebertrumpft wird Huysmans noch dur den
jet jo gefeierten Pierre Louys, dem die Parijer
Boulevarddefadenz nicht mehr genügt und der unter
dem Vorwand einer Renaiffance der hellenifchen
Lebensfreude feinen Landsleuten wüfte Orgien halb
griechiſcher, halb orientaliicher Verfallzeitler ſchildert.
Und diefes Gift, welches jeinen Roman „Aphrodite“
durchweg erfüllt, wird von den lüfternen Kindern
de3 fin de siecle mit Begierde eingejogen.
Einem gemütvollen, tieffinnigen Poeten, der ftatt
der raffinierteften Sinnlichkeit das Weberfinnliche,
die Seelen der Menſchen und Dinge in ihren ge—
heimſten Offenbarungen wiederzugeben verſucht, be-
gegnen wir in Maurice Maeterlind, dem Verfaſſer
inmbolifcher Dramen, Bon Geburt ein Belgier,
Loſe Blätter.
gehört er feit langem zur Blüte der franzöfilden
Neo⸗Idealiſten. Maeterlinds Geftalten find feine Lebe»
wejen, ſondern perjonifizierte Gefühle. Es find
Märhenprinzen und Prinzeſſinnen, die in einfamen
Schlöſſern an weiten Meeren haufen, unter düfteren
Cypreſſen Iuftwandeln oder in geheimnisvollen unter-
irdifchen Grotten träumen. Sie verftehen nur zu
leiden, zu lächeln und zu lieben — zu handeln nie
mals. Sie verförpern unjre geheimjten Impulſionen,
die wir oft jelbjt nicht ahnen, denen wir aber willen:
108 gehorchen müfjen und die unjre verzehrenden
Leidenſchaften vorbereiten. Sie verkörpern alles, was
Unmillfürliches in unfern Worten, Gejten und Bliden
liegt. In bejtändiger Furcht erzittern fie vor dem
unbefannten, aber unentrinnbaren Schidjal und laſſen
fih von ihm übermwältigen, ohne auch nur die geringfe
Anftrengung zu machen, dagegen anzufämpfen. Eine
ftile Refignation, ein faft freudiges Aufhören des
Willens zum Leben umjchwebt fie. „Die Sonn
bat fein Mitleid mit uns gehabt (das heikt, fie hat
unjre ſchönen Jlufionen vom Leben grauſam zerftört),
mir ift nicht mehr leid um die Strahlen der Sonne.”
Mit diefen Worten fterben Alladine und Pallomide,
ein holdes Liebespaar, glücklich, aus dem Leben gleiten
zu dürfen, das zu hart und graufam für ihre mır
zum Leiden bejtimmten Seelen war.
Durch die denkbar einfachſten Worte, durd) faft
findlic naive Neden ſucht Maeterlinck feine Wirkungen
zu erzielen, und neben ermüdenden, ja kindiſchen
Scenen gelingen ihm ergreifende Bilder von unüber-
troffener Anmut. Einige Beifpiele:
Der alte König Ablamore will die jüß jhlummernde
Alladine, die er liebt, heimlich küffen. „Ich werde jie
füflen, ohne daß ſie's bemerkt, denn ich werde meinen
armen alten weißen Bart zurüdhalten,“
Dder vom Kuß zweier Liebenden , bie frühen
Tode geweiht find:
„Wie feierlich küßt du mich heute!“
„Schließe die Augen nicht, wenn ich dich küſſe!
Ich will die Küſſe jehen, wie fie in deinem Herzen
wiederzittern; den ganzen Tau will ich jehen, der
aus deiner Seele auffteigt. Wir werden feine Küſſe
mehr finden wie diefe, denn man umarmt ſich nicht
zweimal am Herzen des Todes,”
So lieblih, zart und buftig diefe Poeſie er
iheinen mag, aud) in ihr liegt viel verborgenes Gift,
ein wehmütiger Peſſimismus und eine kranlhafie
Feinfühligkeit und Willensſchwäche, die dem Leben
wehrlos gegenüberfteht. Maeterlind3 Heine Dramen
find ausgeſprochene Produkte einer Verfallzeit. In
gefunden, aufftrebenden, lebens · und ſchaffensfreudigen
Epochen ift ein derartige Analyfieren von Em—
pfindungen und Stimmungen, ohne Bezug auf das
kraftvolle Bethätigen des wirklichen Lebens, nicht
denkbar. Mag die franzöfische Detadenzlitteratur von
einer noch jo großen Verfeinerung des Individuums
Zeugnis ablegen — fie entrüdt e8 immer mehr dem
gefunden Nährboden des normalen Lebens und führt
es zu krankhaftem, haltlofem Schwanlen in einem un«
natürlichen Ausnahmezuftande. A. Brunnemann.
Verantwortlicher Nebatteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart. Drud und Berlag der Deutichen Berlags-Anflalt in Etuttgart.
Brlefe und Senbungen find nur an die Deutfche Berlags- Anhalt in Stuttgart — ohne Perjonenangabe — zu ridten
Gleichtzeit.
Edward Bellamuy.
Aus dem Amerikanifchen überſetzt von M. Jacobi.
Fortſetzung.)
XXV.
Die Streiler.
In unſre Unterhaltung vertieft, gingen wir quer
durch die Anlagen der Stadt. Da fiel ein Schatten
auf unſern Weg. Ich blidte auf und jah vor uns
eine folofjale Marmorgruppe emporragen.
„Was ftellt das vor?“ rief ich.
„Sie müſſen das doch am beften wiſſen,“ jagte ber
Doktor. „ES find Ihre Zeitgenoffen, die in jenen Tagen
häufig genug Ruheftörungen veranlaßt haben.”
Allerdings war mir die Frage, wen die Figuren
darftellen follten, aud nur im NAugenblid der erften
Ueberraſchung unwillkürlich entfahren.
Euch, ihr Leſer des zwanzigften Jahrhunderts,
will ich erzählen, wa& ich hoch oben auf dem Poſta—
ment jah, und ihr werdet die weliberühmte Gruppe
wiebererfennen,
Schulter an Schulter, als gelte es, ſich vereinigt
einem Angriff zu widerſetzen, ſtanden drei Männers
geftalten im der Arbeiterffeidung aus meiner Zeit
dort barhäuptig beilammen. Ihre groben Hemden, am
Halje offen und mit über die Ellbogen aufgeftreiften
Aermeln, zeigten jehnige Arme und eine rauhe Bruft.
Bor ihnen auf dem Boden lagen ein paar Schau—
jeln und eine Spikhade. Die Mittelfigur wies mit
der außgeftredten rechten Hand auf die weggeworfenen
Werkzeuge. Die Arme der beiden audern waren
über der Bruft gekreuzt. Ihre Gefichter Hatten
grobe, harte Züge und ftarrten von ungefämmten,
firuppigen Bärten. Sie trugen einen Ausdrud ver-
fodten Troßes, und ihr Blid haftete gejpannt und
mit jo finfterm Groll auf dem leeren Raum vor
ihnen, dab ich unwillkürlich Hinter mic ſchaute,
um zu fehen, auf was jie dort blidten. Zu der
Öruppe gehörten auch zwei Frauen, deren Kleidung
und Gefichtözüge ebenjo grob waren wie die ber
Männer, Die eine fniete vor der Geſtalt rechts,
Auf dem Arm hielt fie ein abgezehrtes, halb nadtes
Kind empor, während fie mit lebender Gebärde auf
die Werkjeuge am Boden deutete, Das andre Weib
zog den Mann zur Linken am Wermel, ald wolle es
ihn zurüdhalten, und bededte fi mit der andern
Hand die Augen. Die Männer adhteten auf die Frauen
nicht oder jchienen vor Verbitterung und Wut gar
nicht zu bemerken, daß jie da waren.
Aus fremden Zungen. 1897. IL 21.
„Das find ja Streifer!” rief ic) aus.
„Jawohl,“ fagte der Doltor, „das find ‚die
Streifer‘, Huntington Meifterwert, die Herrlichite
Marmorgruppe unjrer Stadt und eine der berühm—
teften im ganzen Lande.“
„Wahrhaftig, dieſe Leute jehen aus, als wären
fie lebendig!“ ſagte ih.
„Schade,“ meinte der Doktor, „dab Huntington
zu früh geftorben ift, um dies Zeugnis eines Sach—
verftändigen zu hören, Es würbe ihn gefreut haben.”
Gleich der ganzen reichen und gebildeten Welt
meiner Zeit hatte auch ich die Streifer immer mit
Veradtung und Abſcheu angefehen. Wir hielten fie
für urteilsloſe, gefährliche Unheilftifter, die über ihre
eignen wictigften Intereſſen ebenjo verblendet wie
rüdficht8los gegen die Angelegenheiten andrer Leute
waren. Sie galten im allgemeinen für höchjt ver«
ruchte Menjchen, deren Kundgebungen man, jolange
fie nicht zu Thätlichleiten ausarteten, unglüdlicher-
weile nit mit Gewalt unterdrüden konnte. Ver—
dammlich jchienen fie uns immer, und fobald eine
Möglichkeit zum Einjchreiten der Polizei vorlag,
mußten fie, unfrer Anficht nach, mit eiferner Hand
niedergeworfen werden. Der wohlhabende Mittels
ftand zeigte fich gegen alle jogialen Reformer mehr oder
weniger duldjam. Man ließ fie in Büchern ober
öffentlihen Reben fogar für durdgreifende wirt«
Ichaftliche Veränderungen eintreten, jolange ſie ſich
mit Wort und Schrift in den herfümmlichen Grenzen
hielten; doc) zur Verteidigung der Streifer gab ſich
fajt niemand her.
Die Kapitaliften leerten natürlid) die ganze Schale
ihres Zorne® und ihrer Beratung über fie aus.
Aber jelbft Leute, die fich ſonſt für Freunde der
Arbeiterllaſſen hielten, jchüttelten die Köpfe, wenn
die Streils erwähnt wurden, weil jie diefe als ein
Hemmnis und nicht als eine Hilfe zur Befreiung
der Arbeit anfahen. Ich war in diefen Vorurteilen
aufgewadhjen und daher, wie ſich denten läßt, nicht
wenig verblüfft, dab man einen jo zweifelhaften
Gegenftand gewählt hatte, um ihm den höchſten
Ehrenplaß in der Stadt zu geben.
„Weber die Mortrefflichleit des Kunſtwerls kann
ja fein Zweifel jein,* jagte ich, „aber worin beſtand
das Verdienft der Streiler, um bejjentwillen ihr fie
121
962
als Gegenftand der Verehrung aus unirer Generation
ausgewählt habt?”
Der Doltor erwiderte: „Wir jehen in ihnen die
Pioniere der Erhebung gegen den Privatfapitalismus,
welche die gegenwärtige Zivilifation eingeleitet hat.
Gleich Arnold von Winfelried bahnten fie der fyrei-
heit eine Gaſſe und flarben; fie waren bie erften
Blutzeugen der fooperativen Induftrie und wirtichaft-
lichen Gleichheit — deswegen achten und ehren wir fie.“
„Ich verfichere Sie aber, Doktor, daß diefe Men»
ſchen, wenigftens zu meiner Zeit, weit entfernt davon
waren, ſich gegen das Syſtem des Privatfapitalismus
aufzulehnen. Sie waren jehr unwifjend und ganz un«
fähig, einen Gedanken von ſolcher Tragweite zu fallen.
Daß fie ohne die Kapitaliften beftehen könnten, fam
ihnen gar nicht in den Sinn. Eine etwas beflere
Behandlung jeitens ihrer Arbeitgeber, ein paar Cents
mehr für bie Stunde, ein paar Minuten weniger
Arbeitszeit täglich oder auch vielleicht nur die Ent«
lalfung eines unbeliebten Werfführers — das war
alles, was ihnen als möglih oder wünſchenswert
erſchien. Und um eine folche geringfügige Verbeſſe—
rung ihrer Lage durchzuſetzen, flanden fie feinen
Augenblid an, den ganzen induftriellen Mechanismus
in Berwirrung zu bringen.“
„Wir willen daß alles wohl,” erwiderte der
Doktor. „Sehen Sie fi) dod nur diefe Gefichter
an. Hat der Künſtler fie etwa ibealifiert? Sind das
Gefichtszüge von Philoſophen? Beitätigen fie nicht
Ihr Zeugnis, dab die Streifer, gleich den Arbeitern
im allgemeinen, in der Regel unwiſſende Menjchen
mit engem Horizont waren, beren Faſſungskraft für
jo weltbewegende fragen, wie der Umſturz einer jeit
undenklicher Zeit beftehenden Wirtſchaftsordnung, in
feiner Weife ausreichte? Erſt einige Jahre, nachdem
Eie in Schlaf verfallen waren, fingen jene Leute end«
lid) an einzufehen, daß fie es bei ihrem Kampf nicht
mit der Perſon einzelner Kapitafiften, jondern mit
dem Privatfapitalismus überhaupt zu thun hatten,
Nur langfam und jchiwerfällig enwachten fie zur vollen
Erkenntnis der Bedeutung ihrer Umfturzbewegung
und glihen darin genau den Pionieren aller großen
Freiheitsbewegungen. Die Scharfihügen von Concord
und Serington machten es ſich im Jahre 1775 nicht
Har, daß fie mit ihren Gewehren das ganze mon»
archiſche Prinzip bedrohten. Ebenjowenig erkannte
der dritte Stand in Frankreich, als er 1789 in die
Nationalverfammlung eintrat, dab fein Weg über
die Trümmer des Thrones hinwegführte. Auch die
Bahnbrecdher der Freiheit in England, die ſich dem
Willen Karls des Erſten widerjehten, ahnten nicht,
daß jein Haupt fallen müfje, bevor fie ihr Ziel er-
reichten. Sahen aber aud jene Pioniere bei ihrem
eriten Entſchluß und den rohen Anfängen der Bes
wegung noch nicht alle Folgen ihrer Handlungsweife
Edward Bellamy.
voraus, fo kann das doch die Danlesſchuld der Na:
welt für ihre Initiative, ohne welche der volle Triumph
niemals gefeiert worden wäre, nicht fchmälern.
Die eigentliche Bedeutung der Streils war der Stug
der Willlücherrihaft in der Induſtrie — mochten
dad die Streifenden wiſſen oder nicht. Wir aber
dürfen uns nicht der Folgen dieſer Umwälzung er-
freuen, ohne ihre Urheber zu ehren, Vielleicht würde
die Art, wie wir das ihn, die Ihnen jo wunderbar
vorfommt, aud jene Leute jelbjt nicht wenig über
raſcht haben. Laſſen Sie mid) jett verfuchen, Ihnen
unjre heutige Anſchauung über die Rolle auseinander
zuſetzen, welche die Originale diejer Gruppe in der
Geſchichte ſpielen.“
Wir nahmen auf einer Bank vor dem Denfmal
Plaß, und der Doktor fuhr fort:
„Sagen Sie mir doch, lieber Julian, wer bat
in Ihren Tagen zuerft die Welt zur Ertenntnis ge»
bradt, da es überhaupt eine induftrielle Frage gab?
Wer hat fünfzig Jahre lang mit rührender Ausdauer
den pafjiven Widerftand gegen das Unrecht fort:
geführt und die Öffentliche Aufmerffamfeit mit diejer
Trage bejchäftigt, bis endlich die Löſung erfolgte?
Maren es vielleiht Ihre StaatSmänner, Ihre Nar
tionalöfonomen, Ihre Gelehrten oder irgend einer von
Ihrer jogenannten weifen Leuten? O nein! Es waren
jene mißachteten, verhöhnten, geſchmähten und ver-
folgten Gejellen dort oben auf dem Poftament, die
mit ihren ewigen Streils die Welt nicht zur Ruhe
fommten ließen, bis dem Unrecht, das man ihnen ans
gethan, und unter dem zugleich die ganze Welt litt,
ein Ende gemacht war. Abermals hatte Gott bie
Thörichten diefer Welt erwählt, um die Weilen zu-
nichte zu maden; er hatte fi der Schwachen ber
dient, um die Mächtigen zu Falle zu bringen,
„Will man fich Mar machen, was für ein gewal ·
tiges Mittel diefe Streif® waren, um den Leuten bie
unerträgliche Gottlofigkeit und Thorheit des Privat-
fopitalismus zum Bewußtjein zu bringen, jo muß
man bedenken, daß lebendige Thaten einen weit
ftärferen erziehlichen Einfluß üben als die meijeften
Lehren, Dies ift befonders in einem Zeitalter wie
das Jhrige der Fall, wo die Mafjen weder genügende
Bildung nod) Fähigkeit huben, um felber ihre Schlüfie
zu ziehen. Zwar gab es zur Zeit der Revolution
viele Männer und Frauen, die in Wort und Schrift
für die Sache der Arbeiter eintraten und ihnen den
Rettungsweg zeigten; aber ihre Reben würden wohl
ungehört verhallt fein ohne den furdtbaren Rad:
drud, mit dem fie dur; die Männer dort oben be»
feäftigt wurden, welche Hungers jtarben, um ihre
Wahrheit zu beweiſen. Dieſe rohen Gejellen, die
wahrſcheinlich außer flande gewejen wären, aud nur
einen richtigen Sa zujammenzubringen, Tieferten
durch ihre vereinten Anftrengungen einen ſchlagenderen
Gleichheit.
Beweis für die Notwendigkeit der völligen Erneue-
rung des inbuftriellen Syſtems, als dies ſelbſt dem
geihidteften Redner hätte gelingen fünnen, Wenn
Menfchen ihr Leben daran jehen, um fich gegen die
Bedrückung zu wehren, wie e& jene ihaten, jo zwingen
fie ihre Mitmenfchen, aufzumerfen. Wir haben auf
dem Fußgeſtell, wie Sie jehen, eine Inſchrift ein-
graben laſſen. Es find die Worte, welche man der
Gruppe dort oben nad) ihrer Gebärde und Haltung
in den Mund gelegt bat:
„Mehr können wir nicht tragen. Lieber ver»
hungern als unter den Bedingungen weiterleben, die
ihr ung ftellt! Wir werfen unjer Leben, das Leben
unjrer Weiber und Rinder in die Wagichale gegen
euern ſchnöden Gewinn. Stellt ihr uns den Fuß auf
den Naden, jo wollen wir euch in die Ferſe ftechen!:
„Das war der Wutjchrei der durch Bedrüdung
zur Berzweiflung getriebenen Menſchen, denen ihr
jammervolles Dajein eine Laft geworden war. Der-
jelbe Schrei ift, wenn aud) in andrer Form, immer
das Loſungswort bei jeder Ummälzung gewejen, welche
einen Fortſchritt des Menſchengeſchlechts bedeutete,
‚Gebt uns die Freiheit oder gebt uns den Tod!«
Aber niemals ift diefer Ruf für eine gerechtere Sache
erhoben worden, nie hat er die Welt zu einem jo
mächtigen Aufjhwung erwedt, al da er aus dem
Munde diejer erften Rebellen gegen die Thorheit und
Tyrannei des Privatlapitalismus erichallte.
„Ich weiß es wohl, Julian,” fuhr der Doktor
in milderem Tone fort, „zu Ihrer Zeit war man
gewöhnt, ſich die Tapferkeit nur im Verein mit
Waffengeflirr, mit Kriegslärm und Gepränge zu
denfen. An unfer Ohr dagegen dringt der Wieder-
hall von Trommeln und Trompeten nur mit ſchwachem
Laut und verjeit uns nicht mehr in Aufregung. Der
Soldat hat ſich überlebt und ift zugleich mit dem
Ideal der Männlichkeit verichwunden, welches er dar-
jtellte,. Die Gruppe dort aber gilt uns als das
Sinnbild einer Selbftaufopferung, die uns tief er=
greift. Al jene Männer die Werkzeuge ihres Berufs
von ji warfen, fehten fie ganz ebenjo ihr Leben ein
wie der Soldat, der in die Schlacht zieht. Sie unter-
nahmen ein verzweifeltes Wagnis für fih und ihre
Familien, deren fi damals fein dankbares Vater—
land angenommen hätte, falls fie im Kampf erlagen,
Der Soldat zieht ins Feld, begleitet von den Klängen
der Mufif und getragen durch die Begeiflerung feiner
Mitbürger. Die Streifer aber betrachtete man all-
gemein mit Abjchen und Verachtung; ihre Mißerfolge
und ihre Niederlagen wurden mit Jubel begrüßt.
Und doch trachteten fie nicht etwa andern nad dem
Leben, jondern wollten nichts weiter, als da fie und
bie Ihrigen ihr Leben friften dürften, Dachten fie
auch anfangs nur an die eigne Wohlfahrt, jo Fämpften
fie doch für das Heil der Menjchheit und der fünfs
963
tigen Gejchlechter. Sie fümpften auf die einzige Art,
die ihnen offen fand, während noch niemand es
überhaupt gewagt hätte, ſich gegen das wirtichaftliche
Spftem zu erheben. Durd) fanfte Worte oder irgend
ein andreg Mittel als vernichtende Streiche hätte
man dies Ungeheuer, das die Welt un der Kehle ge—
padt hatte, wohl nun und nimmermehr vermocht, fein
Opfer loszulaſſen.
„Die Nationalöfonomen, die Schulmeifter und
die Geiftlichfeit hatten dieſe unwiſſenden Leute ſich
feibft überlafjen. Sie mußten nach der Löjung des
fozialen Problems ſuchen, jo gut fie es konnten,
während jene im Wohlleben ſaßen, leugneten, daß
es überhaupt ein ſolches Problem gäbe, und mit
glatten Worten die Verirrungen der Arbeiterllafle
tadelten. Und doch gab es überhaupt in dem jo-
zialen Labyrinth feinen verhängnisvolleren, thörich-
teren und jündhafteren Irrweg als denjenigen, wel
chen die Leute eingeſchlagen hatten, die nach gar feinem
Ausweg ſuchten. Kein Zweifel, Julian, ich habe den
Männern dort oben gewähltere Worte in den Mund
gelegt, als fie im Leben auch nur verjtanden hätten ;
aber wir fragen nicht nad) ihren Worten, ſondern
nah ihren Thaten. Wir ehren fie als die Vor—
fümpfer und Märtyrer unfrer heutigen indujtriellen
Republik und führen unfre Kinder hierher, daß fie
voll Dankbarkeit die grobbeſchuhten Füße derer küffen,
die uns den Weg gebabnt haben.”
Alle Erfahrungen, die ich jeit meinem Erwachen
im Jahre 2000 gemadht hatte, bejtanden auß einer
Reihenfolge plößliher geiftiger Ummanbdlungen ber
überwältigendften Art. Was mir früher böje er=
ſchien, war jet recht und gut; was mich Weisheit
dünfte, war zur Thorheit geworden. Hätte unſre
Unterhaltung über die ÖStreifer an irgend einem
andern Orte jtattgefunden, jo würbe fih mir nur
die neue Anfhauung, die id von dem Auftreten
diefer Männer bei dem großen jozialen Umſchwung
erhielt, defien Vorzüge ich jeht jelbft genoß, innerlic)
eingeprägt haben. Aber der Anblid der Gruppe mit
den lebensvollen Gejtalten nahm mid) ganz gefangen,
und während der Doftor zu mir ſprach, fühlte ich
mic jo ergriffen, daß ich plößlid) aufjprang und mit
entblößtem Haupt die grimmen Gejtalten dort oben
begrüßte, die ich einjt im Leben mit meinen Zeit
genofjen um die Wette geihmäht hatte.
„Willen Sie, Julian,“ fjagte der Doltor mit
ernitem Lächeln, „es geſchieht nicht oft, daß ſich die
Gerechtigteit im Kreislauf der Zeit auf jo dramatiſche
Teile vollzieht.*
XXVI.
Der auswärtige Handel unter dem Gewinniyiten ; Schuß-
zoll und Freihaudel oder die Wahl zwijchen zwei Uebelu.
Wir famen noh etwas vor dem Beginn
bes Schulunterrihts, dem wir beimohnen wollten,
964 Ebward Bellamp.
nad Arlington, und der Doktor ergriff die Gelegen«
heit, mich dem Lehrer vorzuftellen. Dielen intereifierte
es jehr, als ich ihm jagte, ich hätte am Vormittag
bei dem Examen zugehört; auch war er begierig zu
erfahren, welchen Eindrud es mir gemacht habe. Da
er glaubte, e8 würde die Schüler in Verlegenhei
bringen, wenn fie wühten, daß ein Gaft von jo be=
fonderer Art anmwejend fei, wollte er ihnen meine
Gegenwart erft am Schluß der Stunde fund thun und
bat mich, ihm dann zu erlauben, daß er fie mir per«
ſönlich vorftellen dürfe. Sie würben das als ein großes
Ereignis in ihrem Leben anjehen und ſicherlich noch
den fpäten Enfeln davon erzählen. Die Klaſſe war
jetzt verjammelt; wir mußten unſre Unterhaltung
abbrechen, und id nahm mit dem Doktor auf einer
Galerie Pla, wo wir, ohne jelbft gejehen zu werden,
alles hören und beobachten konnten.
Der Anfang des Unterrichts ließ micht auf fi
warten,
„Wir haben ung heute morgen darauf beſchränlt,“
begann der Lehrer, „um uns die Wirkung des Ge-
winnſyſtems recht Mar zu machen, diejelbe nur hin»
fichtlich ihrer Folgen für ein Gemeinwejen oder eine
Nation zu betrachten, als ob dieje allein auf der
Melt wäre und feine Beziehung zu andern Völlern
hätte. Zwar werden die für den Gewinn geltenden
Regeln, die wir Heute früh erörtert haben, durch joldhe
auswärtigen Beziehungen nicht im geringften um—
geftopen, aber lehtere beeinflußten doch deren Ans
wendung auf mancherlei Weife, jo daß unſre Be—
Iprehung des Gewinnſyſtems jehr unvolljtändig wäre, |
wollten wir den Handel mit dem Ausland dabei
nicht in Betracht ziehen.
„In den fogenannten nationalöfonomijchen Werfen
unfrer Vorfahren ſteht jehr viel über die Vorteile des
internationalen Handels zu lejen. Seine Befeftigung
und Ausdehnung ſcheint das Haupiſtreben aller
Staatömänner des neunzehnten Jahrhunderts geweſen
zu fein, weil man glaubte, darin den Schlüffel für
den MWohlitand der Völfer zu finden, Nun, jage
mir, Paul, was ftelt die Wirtichaftslcehre für eine
Theorie in betreff der Vorteile auf, die der aus—
wärtige Handel mit jich bringt?”
„Sie geht von der Thatjache aus,” erwiberte
der Schüler, „dab in den Ländern Unterjchiede bed
Klimas, der natürlichen Hilfsquelen und jonftigen
Bedingungen beftehen, jo daß es in einigen Gegen»
den gänzlich unmöglich oder wenigſtens jehr ſchwierig
ift, gewilfe notwendige Dinge zu erzeugen, während
andre Dinge mit Yeichtigkeit und in einer Fülle, die
den Bedarf überfleigt, erzeugt werden. Außerdem
machte ſich auch in früherer Zeit ein großer Abitand
in Hinfiht der Zivilifation und der Entwidlung von
Kunft und Gewerbe in den verjchiedenen Ländern
bemerkbar, wodurch ihre reipeftive Produktionskraft
noch weiter beeinflußt wurde. Es war daher ofien-
bar vorteilhaft für die Länder, wenn fie ihre Erjeng-
niffe gegenjeitig für diejenigen Dinge austauschen,
welche jie entweder gar nicht oder mur unter uns
günftigen Umſtänden bervorbringen konnten. Sie
gelangten dadurch nicht nur in den Befik einer Menge
von Gegenftänden, die fie ſonſt hätten entbehren
müſſen, ſondern vermehrten auch die Ertragsfähigfeit
ihrer ganzen Induſtrie, indem fie fich auf Artifel ber
Ihränften, für deren Prodbuftion die Umftände be»
fonders günftig waren. Sollten aber die Völler
aus diefem Austauſch wirklichen Vorteil ziehen, io
mußte er notwendigerweife zum allgemeinen Nutzen
betrieben werden, damit er dem ganzen Volle zu gute
lam, wie das jet geichieht; denn bei uns liegt der
auswärtige Handel, wie jedes andre wirtihaftlide
Unternehmen, in den verſchiedenen Ländern in den
Händen des Staats. Aber damals gab es natürlich
feine Nationalverwaltung für den auswärtigen Handel.
Diefer wurde vielmehr, ebenfo wie die Probuftion
und Güterverteilung im Lande, von ben Kapie
taliften nad den Regeln des Gewinnſyſtems be
trieben; daraus folgte, daß aller Segen, ber ſich
nad jener jchönen Theorie vom auswärtigen Handel
erwarten ließ, entweder völlig vernichtet oder in Fluch
verwwandelt wurde. Die internationalen Handels-
verbindungen der Völker ſchufen nur noch ein weis
tere Feld für die verberblichen Wirkungen des Ge
winnfyftems und lieferten einen neuen Beweis von
feiner unheilvollen Macht, Gutes in Böſes zu ver-
fchren und der Menjchheit jede Gnabdenpforte zu
verjchließen.”
Wie der Gewinn den Handeldvorteilver
nichtet.
„Erkläre uns jetzt die Wirkung des Gewinn
ſyſtems auf den internationalen Handel,”
„Nehmen wir an,” jagte Paul, „Amerila er
zeugte Korn und andre Nährprodufte jehr billig und
in größerer Menge, als das Wolf ihrer bedürfte;
England dagegen fünnte nur mit Schwierigkeit ein
geringes Maß von Nahrungsmitteln erzeugen. Do
gegen wäre England aus verjhiedenen Gründen im
ftande, Sleiderftoffe und Metallwaren billiger und
reichlicher zu produzieren als Amerika. Im diejem
Fall würde es anſcheinend günftig jein, wenn bie
Amerikaner ihre Nährprodulte gegen die Kleiderſtoffe
und Metallwaren der Engländer austauſchten. Man
follte glauben, das müßte beiden Völkern gleichen
Nugen bringen. Aber dies ift natürlich nur der
Fall, wenn eine Nationalverwaltung den Austauſch
zum Wohl ber beiderjeitigen Bevölkerung bemirl»
ftelligt. Wird dagegen, wie zu jener Zeit, der Austauſch
nur durch Privatlapitaliiten bejorgt, die miteinander
um ihren perjönlichen Gewinn auf Koſten dei
ur ns ann an — — —
Gleichheit.
Gemeinweſens im Wettſtreit liegen, ſo ſtellt ſich die
Sache ganz anders heraus.
„Der amerikaniſche Kornhändler, welcher die
Ausfuhr des Korns nah England unternahm,
wurde durch die Sonfurrenz der andern amerifanifchen
Kornhändler genötigt, von den Engländern einen
ſeht niedrigen Preis zu verlangen; um das zu fünnen,
mußte er dem amerikaniſchen Landwirt, der das Korn
baute, jo wenig dafür bezahlen, wie irgend möglich.
Aber der Händler mußte nicht nur ebenjo billig ver«
kaufen wie feine amerikaniſchen Konkurrenten, er mußte
auch alle Kornhändler andrer Getreideftaaten, wie
Rußland, Aegypten und Indien, noch unterbieten.
Was hatte aber nun das engliiche Volk für Borteil
von dem billigen amerifaniihen Kom? Durd die
Zufuhr ausländijcher Nahrungsmittel wurde das Leben
in England vielleicht um die Hälfte oder ein Drittel
weniger koſtſpielig. Das wäre gewiß ein großer
Nupen; aber die Sache hat nod) eine andre Seite:
die Engländer mußten zum Entgelt für ihr Korn bie
Amerifaner mit Kleiderjtoffen und Metallwaren ver-
iehen. Die englifchen Fabrilanten diejer Artilel waren
ebenjogut Konkurrenten untereinander wie die ame»
tifanishen Kornhändler — jeder trachtete danach,
jo viel Abſatz wie möglich auf dem amerifanifchen
Markt zu finden. Er mußte daher, joviel er konnte,
feine heimiichen Konkurrenten unterbieten. Ueberdies
mußte auch der englilche Fabrikant, ganz wie der
ameritanifhe Kornhändler, fid) gegen feine aus—
ländifchen Mitbewerber wehren, Belgien und Deutjch-
land lieferten jehr billige Kleiderſtoffe und Metall-
waren, und die Amerikaner konnten ihr Korn gegen
die belgischen und deutjchen Artifel umtaujchen, wenn
die Engländer die ihrigen nicht billiger verkauften,
Die Hauptloften bei der Fabrifation jener Waren
wurden aber durch die Arbeitslöhne verurjacht. Jeder
engliſche Fabrikant übte daher einen Drud auf feine
Arbeiter aus, damit fie fi mit einem geringeren
Lohn begnügten, jo daf er nicht nur feine englijchen
Konkurrenten, jondern auch die belgijchen und
deutichen Fabrilanten ausftehen fonnte, die den
amerilanifhen Handel an fi zu reißen juchten.
Kann mun aber der englijche Arbeiter mit weniger
Cohn austommen ala früher? Freilich kann er dag,
benn er erhält ja billigere Lebensmittel. Bald wird
denn auch jein Lohn um gerade jo viel herabgedrüdt,
als die billigere Nahrungszufuhr jeinen Unterhalt
weniger koftipielig gemacht hat. Er fteht aljo genau
auf demjelben Fleck, wie beim Beginn des amerila-
niſchen Handels. Und wie ift e8 dem amerilaniſchen
Landwirt ergangen? Er erhält jetzt feine importier-
ten Kleider und Werkzeuge weit billiger als früher,
und deshalb ift der niedrigjte Preis, für den er jein
Korn verfaufen und dod noch beftehen kann, viel
geringer ala vor Beginn des englifchen Handel —
965
genau um jo viel geringer, ala jeine Eriparnis für
Kleidung und Werkzeuge beträgt. Das macht fich
der Kornhändler natürlich raſch zu nutze, denn wenn
er jein Korn nicht billiger auf den englifchen Markt
bringt als die andern ſtornhändler, jo verliert er
feinen Abſatz; Rußland, Aegypten und Indien find
bereit, England mit Korn zu überſchwemmen, wenn
die Amerikaner fie nicht unterbieten. Und dann it
es mit den billigen Kleidern und Werkzeugen auf
immer vorbei! So fanf denn der Preis, den der
amerifanijche Sandwirt für fein Korn erhielt, jort
und fort, bi$ er jo weit herunterfam, daß jeine Er—
ſparnis an ben billigen importierten Artifeln voll»
fländig aufgewogen wurde. Er ift nun gleich feinem
Leidensgefährten, dem engliihen Fabrikarbeiter, um
fein Haar beifer daran, ala ehe man überhaupt an
den Handel mit England dachte.
„Aber geht es ihm wenigftens ebenfogut? Hat
weber der amerifanische noch der englische Arbeiter einen
Nachteil erlitten durd den Austauſch der Produfte,
welcher ihnen beiden bei richtiger Werwaltung fo
großen Nuben gebradt haben würde? Das kann
man durhaus nicht behaupten; im Gegenteil, beide
haben in mancher wichtigen Beziehung einen Rück—
ſchritt gemacht. Schon vorher erging es ihnen nicht
allzu gut, aber das Induftriefuftem, von dem fie ab»
bingen, herrichte Doch nur innerhalb der Yandesgrenze,
Es war auf Selbfterhaltung angewieſen, auch ver«
hältnismäßig einfach und wenig verwidelt, da es nur
fofale und vorübergehende Störungen zu befürdten
hatte, deren ſchädlichſte Wirkungen fi einigermaßen
voraugfehen und möglicherweile wieder gut machen
ließen. Jetzt aber war jowohl der englifche Arbeiter
wie der ameritanijche Landwirt von allerlei ſchwie—
rigen internationalen Berechnungen abhängig, die in
jedem Nugenblit in Verwirrung geraten fonnten,
Verloren fie aber ihren Lebensunterhalt, jo hatten
fie nicht einmal den armjeligen Troſt, zu willen,
weshalb das Unglüd über fie hereinbrach. Die Preiſe
ihrer Arbeit und ihrer Produkte richteten ſich nicht
mehr wie früher nad gewijlen Iofalen Gebräuchen
und der im Bolfe üblichen Lebenshaltung, jondern
wurden durch die eijerne Notwendigkeit einer Welt«
fonturrenz beftimmt. Der engliihe Handwerker jah
ſich gezwungen, mit dem oſtindiſchen Bauer, dem
ägyptiſchen Fellah, dem notleidenden belgiſchen Berg«
mann und dem beutjchen Weber in Wettbewerb zu
treten. Zur Zeit, als der internationale Handel
noch nicht allgemein eingeführt war, erging es oft
einer Nation gut, wenn es aud der andern jchlecht
ging, und jenjeits des Meeres fonnte man ſich immer
noch Troſt und Hoffnung holen. Aber welde Aus—
fiht bot die unbeſchränlte Entwidlung des inter-
nationalen Handels bei der Herrihaft des Gewinn-
ioftems der Menſchheit zu Ende des neunzehnten
966
Jahrhunderts? Nichts als eine in der ganzen Welt
feitftehende Lebenshaltung, die nad) einem Makftab
beredinet war, der für die unter den ungünftigften
Bedingungen Tebenden Völler galt. Schon waren
alle Anzeichen vorhanden, daß die Kapitaliften aller
Länder den internationalen Handelsverlehr als Mittel
benußen würden, um ihre Alleinherrichaft auf Erden
zu gründen. Da aber trat die große Umwälzung ein.”
„Bei deiner Schilderung des gegenjeitigen Aus—
taufches von Handelsartifeln zwiſchen England und
Amerifa,“ jagte der Lehrer, „baft du angenommen,
daß derjelbe unter gleihen Bedingungen vor ſich
ging. In diefem Fall ſcheint das Gewinnfyften be»
wirft zu haben, dab in beiden Ländern die Arbeiter-
maſſen etwas jchlecdhter daran waren, als wenn über-
haupt fein auswärtiger Handel beftanden hätte; der
Gewinn fiel ſowohl auf englifcher wie amerilaniſcher
Seite einzig und allein den Kapitaliften, das heißt den
Fabrikanten und Handeläherren zu. Die Handeld«
bedingungen waren jedoch jehr häufig ungleich. Die
Kapitaliften des einen Landes bejahen oft eine weit
größere Macht als die des andern und Hatten eine ftärfere
oder ältere wirtjchaftliche Organifation zur Berfügung.
Was war denn das Ergebnis in ſolchem Falle?”
„Die überwältigende Konkurrenz der Kapitaliſten
des ftärferen Landes vernichtete die Unternehmungen
der Kapitaliften des ſchwächeren Pandes, deifen Bes
wohner demzufolge gänzlih auf die fremden Kapita—
liften angewieien waren, um fid) viele Produlte zu
verichaffen, die jonft im eignen Lande produziert
worden und für die heimiſchen Kapitaliften gewinn-
bringend gewejen wären. Dadurch wurben die Kapi—
taliften des abhängigen Yandes immer umfähiger,
in wirtfchaftlicher Beziehung Widerftand leiften, und
die Hapitaliften des jtärferen Landes regelten die
Handelsbedingungen nad ihrem Belieben. Aus der-
artigen Berhältnifien entiprang zum Beiſpiel Die
Bedrüdung, weldhe die amerifanijchen Kolonien im
Jahre 1776 dazu trieb, ſich gegen die englijche Ober-
herrſchaft zu empören. Die Staatäkunft im fiebzehnten,
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ging bei der
Gründung von Kolonien hauptjählicd darauf aus,
daß neue Länderftriche in dies wirtjchaftliche Vaſallen—
verhältnis zu den heimifchen Sapitaliften gebracht
wurden, die den eignen Markt dur ihr Gewinn«
iyftem ausgejogen hatten und nun feine Ausficht
auf Mehrerwerb beſaßen, wenn fie fich nicht in frem—
den Ländern feftjehen Fonnten, um dort Beute zu
machen. Großbritannien, das bie ftärkften Kapita—
liften beſaß, Hatte natürlich die Vorhand in diejer
Volitif, und der Hauptzwed aller Kriege und diplo—
matiſchen Verhandlungen, die es viele Jahrhunderte
lang vor der großen Umwälzung geführt hat, war bie
Erwerbung jolder Kolonien. Es zwang die jchwä-
cheren Nationen, ihm Handelsbeziehungen und Vor«
‚Edward Bellamp.
teile zu eröffnen — auf friedlichen Wege, wenn es fein
fonnte, ober im Notfall auch mit Kanonenkugeln.“
„Wie war der Zujtand der großen Maflen in
einem Lande, das in fommerzielle Abhängigkeit von
den Kapitaliften eines andern Landes geraten war?
Befanden fie fi) notwendigerweije ſchlechter als das
Volk in dem Lande, welches den Vorrang hatte?“
„Das war nicht unbedingt nötig, Wir müſſen
und immer vor Augen halten, daß die Intereſen
ber Kapitaliften mit denen des Volles nicht Hand
in Hand gingen, Aus dem Reichtum der Kapitaliften
eined Landes darf man weder auf den Mohlftand
der ganzen Bevölkerung ſchließen noch umgelehrt.
Wären die Maſſen des abhängigen Landes nicht von
den fremden Sapitaliften außgebeutet worden, jo
hätten die heimiſchen Rapitaliften fie ausgenützt. In
beiden Ländern waren die Arbeiter gleichermaßen
die Werkzeuge und Sklaven der Kapitaliften, welche
ihre Landsleute durchaus nicht beſſer behandelten,
als wenn fie es mit Fremden zu thun gehabt hätten.
Die Kapitalijten des abhängigen Landes litten mehr
durch Die Unterdrüdung ihres ſelbſtändigen Geſchäfis
betriebs als die großen Maſſen.“
Die Wahl zwiſchen zwei Uebeln.
„Sp, Paul, du kannſt dich ſetzen. Jcht möchte
ih von dir, Helene, über einen Punkt, den Paul
angedeutet hat, noch nähere Auskunft haben: Wäh-
rend bes adjtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts
herrſchte unter unfern Vorfahren ein erbitterter
Meinungsftreit zwiſchen zwei politiichen Parteien,
die ih Schußzöllner und Freihändler nannten,
Erftere behaupteten, man müfje durch einen Einfuhr
zoll die Konkurrenz der fremden Kapitaliften vom
heimischen Markt ausſchließen, während leßtere dar⸗
auf beftanden, daß man dem freien Handelsverleht
fein Hindernis in den Weg legen dürfe. Was kannſt
du mir über die Hauptgründe jagen, die bei dieſet
Streitfrage vorgebradht wurden ?“
„Für die großen Maſſen,“ antwortete Helene,
„machte das Verfahren beider Parteien keinen Unter:
ſchied. Es handelte ſich nur darum, ob fie ſich lieber
von den heimijchen oder von den fremden Rapitaliiten
ausplündern laſſen wollten. Nach Freihandel riefen
alle Kapitaliften, die ſich ſtarl genug fühlten, um die
andern Nationen aus dem Felde zu jchlagen, wenn
fie jich mit ihnen im Wettbewerb maßen. Für Schuf-
zoll traten alle Kapitaliſten ein, die ſchwächer waren
al andre und fürdhteten, ihre Unternehmungen wür:
den beeinträchtigt werden, und fie müßten ihres Ge
winns verluflig gehen, wenn man die Konkurten;
freigab. Der fyreihändler gli einem Manne, wel-
her fieht, daß fein Gegner im Streit ihm nicht ge
wachen ift und mun ehrlichen Kampf verlangt,
ohne alle Begünftigung; der Schußzöllner dagegen
Gleichheit.
handelte wie ein Mann, der ſich von einer Weber-
macht bedroht fieht und nad) der Polizei ruft. Während
der Freihändler glaubte, daß der Rapitalift ein na=
türliches, ihm von Gott verliehenes Recht habe, das
Voll auszunutzen, wo er ed auch fände, und daß dies
Recht über alle Landesgrenzen, Raffen und Nationa=
fitäten erhaben ſei, berief ſich der Schubzöllner auf
die patriotifche Berechtigung des Kapitaliften, nad
weldher ihm allein die" Ausnügung feiner Landsleute
zuſtehe, ohne daß fi fremde Kapitaliften hineinzu—
mifchen hätten. Für die große Mafje des Volkes,
bie Ration im ganzen war es aber, wie Paul jchon
geſagt hat, völlig gleichgültig, ob fie bei berrichen-
dem Schubzoll von den Kapitaliften ihres eignen
Landes geplündert wurde oder von den Kapitaliften
fremder Länder, wenn man den Freihandel einführte,
Das läßt fi aud aus ben Streitfchriften beider
Parteien deutlich erkennen, Mancherlei Beweife für
die Richtigkeit ihrer Lehre blieben die Schußzöllner
zwar ihuldig, aber daß der Zuftand eines Voltes
in freihändleriihen Ländern ganz ebenjo jchlimm
war ald anderswo, vermochten fie far zu beweiſen.
Die Freihändler dagegen durften mit ebenjo großer
Betimmtheit behaupten, daß das Volf bei herrichen-
dem Schußzoll um nichts beffer daran war, ala wo
Freihandel beitand. Die Frage, was vorzuziehen jei,
war nur für die Kapitaliften von Wert. Für das Volt
bedeutete fie nichts ala eine Wahl zwiſchen zwei Uebeln.“
„Wir wollen die Sache burd) ein praktisches Bei-
jpiel erläutern,“ fagte der Lehrer. „Sehen wir ein-
mal England an. Sein ausmwärtiger Handel war
im neunzehnten Jahrhundert der bei weiten bedeu⸗
tendfte; es beherrichte faft alle fremden Märtie,
Wäre zur Zeit des Gewinnſyſtems der Welthandel
unter Bedingungen, bie faft ausjchließlid von den
Kapitaliften felbft diktiert wurden, eine Quelle des
Nationalwohlftands geweſen, jo Hätte ſich das britische
Volf am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im
Vergleich mit andern Völkern, eines ganz außer—
ordentlichen Glüdes und Wohlergehens erfreuen müfjen.
Noch nie zuvor hatte ſich ja der auswärtige Handel
einer Nation zu jo ungeheurer Größe entfaltet, Wie
aber ſtand es in Wirklichkeit ?*
„Unjre Borfahren,” erwiderte das Mädchen,
„derbanden mit den Ausdrüden ‚Nation und na—
tional’ nur einen jehr unbeftimmten Begriff. Sie
pflegten daher aud Großbritannien reich zu nennen.
Aber nur die dortigen Kapitaliften, einige zwanzig«
tauſend Individuen unter einem Volt von vierzig
Millionen, waren reiche Leute. Dieje beſaßen aller-
dings ungezählte Schäße, aber der Reſt ber vierzig
Milionen — das heißt, das ganze Volt bis auf
einen Heinen Bruchteil — war in Armut verjunfen.
Man jagt, dab in England die Armenfrage ein
größeres und jchwieriger zu Löfendes Problem bot ala
i
I
967
in irgend einem andern zivilifierten Sande. Die
Arbeitermafien ſchmachteten dort nicht nur in einem
elenderen Zuftand al& bei den meilten Völkern, ſon⸗
dern ihr Leben joll damals jogar dürftiger geweſen
fein ala im fünfzehnten Jahrhundert, ehe nod von
einem auswärtigen Handel überhaupt die Rede war-
Wem e8 zu Haufe wohl ergeht, der wandert nicht aus,
Aber die Menjchen, die durch den Mangel aus Eng«
land vertrieben wurden, fanden jelbft das vom Eije
ftarrende Kanada und die nördliche Zone gaftfreund-
licher als ihr Heimatland. Die Wohlfahrt der Arbeiter-
maſſen eines Landes wurde auf feine Weije dadurch
gefördert, daß feine Kapitaliften die Hauptrolle auf
den fremden Märkten fpielten. Wie hätten fid) ſonſt
die britiichen Auswanderer in den engliichen Kolo—
nien, deren Markt völlig von den engliſchen Kapita—
liften beherrjcht wurde, einen reichlicheren Lebens—
unterhalt verjchaffen fönnen als daheim, wo fie bei
jenen Kapitaliften in Arbeit ftanden? Wir dürfen
auch nicht vergeflen, daß es Malthus war, der den
Sab aufjtellte: Das größte Glück für einen Arbeiter
jei, nicht geboren zu werben. Als Engländer leitete
er jeine Schlüffe jehr logiſcherweiſe aus den Beob-
adhtungen ber, die er über die Pebensbedingungen
der Bevölferung in demjenigen Lande gemacht hatte,
dem es beifer gelungen war als jemals irgend einem
andern, den fremden Weltmarkt durch feinen Handel
zu beherrſchen.
„Dder,* fuhr Helene fort, „jehen wir nad) Bel«
gien hinüber. Die alten Niederländer hatten ohne
Unterbrechung und länger als jedes andre europäiſche
Volt auswärtigen Handel getrieben. Zu Ende des
neunzehnten Jahrhunderts aber joll es ber großen
Maſſe der Belgier, die eins der arbeitfamften Völfer
der Welt find, buchftäblih an genügender Nahrung
gefehlt haben, fo daß fie allmählich vor Entkräftung
dahinfiechten. Sie ſowohl als die Volksmaſſen in
England und Deuifhland haben ſich im fünfzehnten
und zu Beginn des ſechzehnten Jahrhunderts, als
man erit anfing, auswärtigen Handel zu treiben,
wirtichaftlich weit bejjer befunden als im neunzehnten
Jahrhundert. Das beweiſen die ftatiftiichen Ver—
gleihe, die uns überliefert worden find. früher
hatte das Volk wenigjtens die Möglichkeit, einen
Anteil von den Reichtümern eines fruchtbaren Landes
zu erhalten, weil jie innerhalb der Grenze blieben.
Aber die Einführung des auswärtigen Handels
machte dieſer Möglichkeit duch das Gewinnſyſtem
gleich ein Ende. Fortan wurde alles, was gut und
begehrenäwert war und über die bloße Notburft ber
Arbeiter hinausging, von den Rapitaliften ſyſtematiſch
zufammengetragen und aufgehäuft, um in fremden
Ländern gegen Gold, Edelfteine, Sammet und Seide
und Straußenfedern für die Reichen eingetauſcht zu
werben. Denn wie jhon der alte Dichter jagte:
968
„Was nur der Menſch bedarf, was ihn kann freun und laben,
Das ſchenkt die Erbe ihm; wer zählet ihre Gaben f‘*
„Womit hat man den Kampf ber Nationen um
den auswärtigen Marlt im neunzehnten Jahrhundert
häufig verglichen ?*
„Mit der Wettfahrt zweier von Sklaven bemannten
Galeeren, deren Bejiger um den Preis ftreiten.*
„Welchen Ruderfnechten erging es bei folder
Wette wohl am ſchlimmſten, denen auf der gewinnen»
ben oder denen auf der verlierenden Galeere ?“
„Aller Wahrſcheinlichkeit nach waren die Sflaven
auf der gewinnenden Galeere wohl am übeljten baran;
denn fie wurden natürlich am mwütendften gepeitjcht,*
„Jawohl,“ jagte der Lehrer, „und gerade jo ge—
ihah es, daß, wenn die Kapitaliften zweier Länder
ſich um das Nbjahgebiet eines fremden Marktes
ftritten, die Arbeitnehmer der ſiegreichen Kapitaliſten-
gruppe am meiften zu beflagen waren. Denn ihr
Arbeitslohn war ſicherlich am tiefjten berabgedrüdt
und ihr allgemeiner Zuſtand am erbärmlidhften. Aber
ſage mir, herrſchte denn nicht unter den Völfern,
die feinen auswärtigen Handel hatten, eine ebenjo
allgemeine Dürftigfeit wie in den Ländern, von
denen wir geredet haben ?*
„Freilich war das der Fall,“ ſagte das Mäd—
hen. „Ich mollte durchaus nicht den Eindrud er
weden, als ob die heimijchen Sapitaliften weniger
graufam geweien wären als die auswärtigen. Es
handelte fih nur um eine Bedrüdung im größeren
oder Heineren Maßſtabe. Ob man das Yand mit
einer Mauer umgab, damit das Volk ausſchließlich
von den heimijchen Kapitaliften ausgeplündert würde,
oder ob man die Mauer niederriß und das Land
den fremden öfinete, das machte überhaupt feinen
Unterjchied, jolange nod) das Gewinnſyſtem beitand,“
XXVII.
Privatintereſſen ſtehen dem menſchlichen Fortſchritt
feindlich gegenüber,
„Run wollen wir mit deiner Hilfe, Flora, die
Schlußbeiprehung des Wirtſchaflsſyſtems unjrer Vor«
fahren in Angriff nehmen,“ jagte der Lehrer, „nüm—
lich feine feindliche Stellung gegen den Fortichritt
und jede neue Erfindung, Wir haben leider ſchon
an zahlreichen Beijpielen zeigen müſſen, wie ſehr ſich
unjre Väter über Weſen und Wirkung ihrer wirt«
ſchaftlichen Einrichtungen im Irrtum befanden. Am
alleraufiallenditen ift ung aber, daß fie nicht einfahen,
wie der Privatfapitalismus notwendigerweile mit
jedem Fortſchritt in Widerfprud fteht. Uns Scheint
das ſonnenklar, jie aber waren im Gegenteil über-
zeugt, daß ihr Syſtem für fortichreitende Neuerungen
beſonders günftig ſei und durch feine außerorbent-
lien Vorzüge auf diefem Felde alle Nachteile wies
der gut made, die es etwa in ethiſcher Beziehung
Edward Bellamy.
haben lönne. Wir ftoßen bier auf eine ſehr be
beutende Meinungsverſchiedenheit, aber glüdlichermweiir
ftehen die Thatſachen fo unbeftritten feſt, daß es ums
nicht ſchwer fallen wird, zu entſcheiden, meldes bie
richtige Anſicht ift.
„Der Gegenftand zerfällt in zwei Teile. Erftens:
die natürliche Feindichaft des alten Syſtems gegen
jede wirtfchaftliche Veränderung, und zweitens: die
Berminderung und Zeritörung des Nutzens aller neu
eingeführten wirtichaftlichen Verbefferungen dur das
Gewinnſyſtem. Nun fage mir, fylora, woher lam
es denn, daß dad alte Wirtſchaftsſyſtem des Privat
fapitalismus allen durchgreifenden Weränderungen
notwendigerweije abhold fein mußte?“
„Die Urfahe war,“ ermwiderte das Mädchen
„daß e& auf feinem Prinzip der Genoſſenſchaft oder
Koordination beruhte, jondern aus lauter einzelnen
Privatinterefien beftand. Die wirtfchaftliche Wohl.
fahrt der Individuen und getrennten Gruppen hing
daher ausichließlih von der bejonderen Art ihrer
Kapitalanlage ab, ohne Rüdjicht auf andre oder auf
das Mohlergehen der Geſamtheit.“
„Erkläre mir das deutlicher durch den Vergleich
unfers heutigen Syſtems mit bem Privatfapitalismus.”
„Bei unjerm Syſtem fommt alles dem Ganzen
zu gute — das heißt, niemand hat irgend ein be
ſonderes Intereſſe an einem Teil oder einer Funk
tion der Wirtfhaftsordnung. Unjer einziges Intereſe
bejteht in der möglichft großen Wohlfahrt der Ge»
jamtheit. Zwar arbeitet bei uns jeder in jeinem
eignen Beruf, aber nur damit es dem Vollsvermögen
defto größeren Nußen bringt. Wenn wir uns für
ein bejonderes Fach begeiftern, fo ift das bloße Ge
fühlsjache, denn unjer wirtjchaftliches Intereſſe hängt
nicht von dieſer oder jener ſpeziellen Beichäftigung
ab, Wir haben alle das gleiche Anrecht auf das
Gejamtproduft, mag das fein, was es wolle.”
„Welhen Einfluß hat unſer Mirtjhaftsigften,
jeinem ganzen Weſen nah, auf unjre Stellung zu
allen Verbeſſerungen und Erfindungen auf volfäwirt-
ſchaftlichem Gebiet ?*
„Sie find uns aufs höchſte willlommen. Bie
jollte das auch anders jein? Alle Fortſchritte diejer
Art müſſen natürlich jedem einzelnen Gliede der
Nation Vorteil bringen, und zwar allen in gleihem
Maße. Sollte aud) durd eine Neuerung gerade die
Thätigfeit, welche wir ung gewählt haben, beeinträd-
tigt oder völlig überflüffig gemacht werden, fo ver:
lieren wir nichts dadurch. Höchſtens könnten wir
einiged Bedauern empfinden, weil wir eine alte Ge:
wohnheit aufgeben müflen. Aber wejentliche Inter»
eſſen find weder an dieſe noch an jene Beihältigung
geknüpft. Wir ftehen alle im Dienft der Nation,
und es ift ihre Sache und ihr Intereſſe, daß jedem
eine andre Arbeit zugewiefen wird, jobald jeine
Gleichheit.
frühere Beihäftigung für die allgemeine Wohlfahrt
entbehrlich geworden ift. Auf den Lebensunterhalt des
einzelnen hat das aber nicht dengeringjten Einfluß. Jede
Verbefierung in wirtſchaftlicher Beziehung ift daber
der gröhte Segen für das Gemeinweſen. Die Gabe,
welche der Erfinder den Menjchenkindern darreicht,
it eine Vermehrung von Wohlftand und Mußezeit
für alle. Sein Wunder daher, daß das danfbare
Volk ihn den größten und bemeidenswerteften Lohn
zuerfennt, den ein Wohlthäter der Gejamtheit zu er-
ringen vermag.“
„Kun jage mir aber, Flora, wie ging es zu, daß
die Kapitaliften dur die große Menge ihrer ver»
Ihiedenen Privatintereffen zu Feinden aller wirt-
ihaftlichen Reuerungen und Verbeſſerungen wurden ?“
Der Fortihritt und die Privatinterefjen.
„Das Intereſſe eines jeden Menſchen,“ ants
wortete da8 Mädchen, „war, wie gejagt, ganz an
die Thätigfeit gefnüpft, der er fih widmete, War
er Rapitalift, jo verwendete er feine Geldmittel für
feinen befonderen Zwed; gehörte er zu den Hand—
wertern, fo beitand jein Kapital in feiner Tüchtigfeit
in irgend einem Gewerbe, und fein Lebensunterhalt
ding davon ab, daß er gerade in dem Handwerk,
das er gelernt Hatte, Arbeit erhielt. Weder als
Kapitaliſt noch als Gewerbetreibender, weder als
Arbeitgeber nod als Arbeitnehmer hatte er irgend
ein wirtichaftliches Interefje außerhalb jeines eignen
Geſchäfts. Nun macht aber jeder neue Gebante,
jede Entdeckung oder Erfindung auf wirtſchaftlichem
Gebiet die Früher zum gleichen Zwed verwendeten Hilfä-
mittel entbehrlich und zerftört dadurch die wirtichaft-
lihe Grundlage des Gejchäftsbetriebs. Bei und ver-
urfaht das, wie gejagt, niemand einen Verluft;
die Arbeiter wechjeln nur, und es entfieht ein Vor—
teil irgend welcher Art für die Gejamtheit. Aber
damal3 waren alle, die es betraf, zu Grunde ge-
richtet, Der Kapitaliit büßte fein Geld, jeine Be-
trieböwerfzeuge, jeine Stapitalanlage ein, der Arbeiter
ging jeiner Stelle verluftig und war auf das falte
Mitleid andrer angemwiejen, das ihn oft mit wahre
haft eifigem Hauche anwehte. An einen Erfah oder
auch nur eine Entihädigung für ihn durch das Ge-
meintejen war gar nicht zu denken, jelbit wenn die
für ihn unheilvolle Erfindung der Gejamtheit den
größten Borteil brachte. Er fiel ihr unweigerlich
zum Opfer. Folglich wurde jede Erfindung, mochte
fie noch jo wohithätig fein, zu einer Graufamfeit für
die, welche fie ihres Unterhaltz oder des Gewinnes
beraubte, auf den fie bei ihrer Thätigfeit gerechneh
hatten. Die Kapitalijten verzehrten fi in Sorge
und Angjt vor Erfindungen, die in einem Tage ihre
toftbaren Werkzeuge zu altem Eifen machen konnten,
dad zu nichts mehr müßte, ald auf den Kehricht ge
Kus fremden Zungen, 1897, IL 21
969
worfen zu werben. Das Schredgeipenft des Hand«
werfers aber war eine Majchine, die feinen Kindern
das Brot vom Munde wegnahm, weil der Arbeit»
geber nun die Dienfte des Arbeiter entbehren
fonnte, Das Wirtjchaftägebiet war unter lauter
Privatintereffenten und Gruppeninterefienten geteilt,
die weder unter fi irgend welchen Zufammenhang
hatten, noch am Wohl des Ganzen Anteil nahmen.
Jeder ftand oder fiel für ſich allein, und auch der
kleinſte allgemeine Fortſchritt in Künſten und Wifjen-
ſchaſten geſchah auf Koſten eines Teils des Gemein—
weſens, dem er Verluſt und Verderben bereitete, als
ob ein Mißwachs oder die Peſt hereingebrochen wäre.
Ueber die Leichen ihrer Opfer hinweg machten ſich
die Erfindungen Bahn. Als die Spinnmajchine das
Spinnrad vertrieb, hielt der Hunger feinen Einzug
in den Dörfern Englands. Die neue Bodenkultur
des Weſtens machte die Landwirte des Oſtens zu
Bettlern. Sobald die Eijenbahn an Stelle der Poſt—
futiche erfchien, war e8 um taujend Städte geſchehen,
die am Bergabhange lagen, während ebenjoviele
drunten im Thal neu erftanden. Der Walfiichthran
machte dem Petroleum Pla, und Hunderte von
Seehäfen lagen verödet da. Man entdedte Kohlen
und Eijengruben im Süden, und das Gras wuchs
in den Straßen der Fabrikſtädte des Nordens. Die
Eleftricität verbrängte den Dampfbetrieb, und Billio-
nen von Eifenbahnaftien wurden wertlos gemadt.
Aber wozu eine Lifte noch weiter führen, die endlos
forigefeßt werben könnte? Alle dieſe Beijpiele be—
ftätigen nur die Regel, dab jede wichtige Erfindung
einem Teil des Voltes unerfelichen Schaden brachte.
Unzählige Leute wurden banferott, Scharen von
Arbeitslofen zogen umher, ein Meer von Leiden aller
Art war der Preis, den unfre Vorfahren für jede
neue Stufe des Fortſchritts entrichteten.
„Später, wenn die Opfer beijeite gefhafft und
begraben waren, pflegten unſre Väter dieje Triumphe
der Induftrie fejtlich zu begehen. Die Nedner, die
fi) bei ſolcher Gelegenheit hören ließen, führten unter
anderm gern eine Phraſe im Munde, welche lautete:
‚Auch im Frieden erfämpft man Siege, und fie
find nicht weniger glorreidh als gewonnene Schlach—
ten.‘ Bon der Thatiache, dab dieſe Siege ihres
jogenannten Friedens gewöhnlich durch ebenjoviele
Menichenverlufte und Leiden — ja oft jogar mit
größeren Qualen — erfauft werden mußten als
friegeriiche Triumphe, pflegten die Redner nichts zu
erwähnen, Man erzählt, Tamerlan habe einft in
Damaskus eine Pyramide aus fiebzigtaufend Schä—
bein der Erichlagenen aufgebaut. Hätte man aber
zu Ehren Stephenjons oder Arkwrights ein Dent«
mal aus den Schädeln der Opfer errichten wollen,
welche die Einführung der Dampffraft gefordert hat,
wie winzig wäre daneben Tamerlans Pyramide
122
970
erfchienen! Der Tatare war ein lingeheuer und
Urhvright war ein Genie, zum Heil der Menjchen
in die Welt gefandt. Aber durd; die ſcheußliche Ver—
wirrung des alten Wirtihaftsinftens wurde ber
Mohlthäter des Geſchlechts zum Urheber ebenjo großer
menjchlicher Leiden mie der blutige Eroberer. Es
war ſchlimm genug, als die Menſchen ihre Helfer
und Retter freuzigten und fteinigten ; aber der Privat-
fapitalismus that ihnen einen nod) größeren Schimpf
an, denn er verwandelte die edle Gabe, die fie
brachten, in einen Fluch.“
„Welche Mittel ergriffen denn die Arbeiter und
Kapitaliften, deren Intereflen durch den Fortſchritt
der Erfindungen gejhädigt wurden, um der Madt
Wiberfland zu leiften, die fie zu verderben drohte?”
„Sie thaten alles, was fie konnten. Wären die
Arbeiter ſtark genug geweſen, fie hätten ein für
allemal gegen jede Erfindung Einiprud erhoben,
welche den Bedarf an roher Handarbeit in ihren
verjchiedenen Gewerben verringerte. Wie die Sahen
aber ftanden, mußten fie ji damit begnügen, zur
Abwehr Gewerkvereine zu gründen, wenn fie nicht
Pöbelaufftände erregten oder zu andern Gewaltmah-
regeln jchritten. Man kann dies den armen Men—
ſchen aud) faum verübeln, denn ihr ganzer Lebens—
unterbalt ftand auf dem Spiel. Eine Arbeit erjparende
Maſchine war in jener ſchweren Zeit für die Leute
faft jo todbringend, als hätte man mit Hanonen«
fugeln unter fie geſchoſſen. Berlor ein Dann jeine
Beihäftigung in dem Handwerk, das er gelernt hatte,
und fonnte er feine andre Arbeit erhalten, jo war
jein Gejchid beflagenäwerter, ala wenn ihn im Kriege
beim Schall der begeifternden Schlachttrompete eine
Kugel dahinraffte, wobei er doch hoffen durfte, daß
für feine Frau und Kinder gejorgt werden würde.
Natürlih hätten die Arbeiter aber das Syſtem des
Privatfapitaliamus angreifen ſollen und nicht die
Arbeit erfparende Maſchine. Dieje wäre bei einem
vernünftigen Wirtſchaftsſyſtem die reinfte Wohlthat
für alle gewejen.”
„Wie widerſetzten fid) denn die Kapitaliften den
Erfindungen ?*
„Hauptfählih durch negative Mittel, die aber
weit wirfjamer waren als die Gewaltmaßregeln, zu
denen die Arbeiter griffen. Die Kapitaliften waren
im ftande, alles durchzuſetzen. Sein Menſch konnte
jeiner Erfindung Eingang verihaffen, mochte fie auch
noch jo vortrefflih fein, wenn es ihm nicht gelang,
die Sapitalijten zu bewegen, fie in die Hand zu
nehmen. Das thaten fie aber gewöhnlich nur, im
Fall der Erfinder willens war, den größten Teil des
Gewinnes, den er von feiner Entdedung erhoffte,
an fie abzutreten. Ein nod größeres Hemmnis für
die Einführung neuer Erfindungen bejtand darin,
daß. ſich ſaſt nur die Leute darum befümmerten,
Edward Bellamp.
welche bereits in bem beſonderen Betriebszweig
thätig waren, auf ben ſich die Erfindung bezog. In
ihrem Intereſſe lag es aber meift, eine Neuerung zu
unterdrüden, nach deren Einführung die Maſchinn
und Methoden für veraltet gegolten hätten, in denen
ihr Kapital angelegt war, Deshalb ließ ſich der
Kapitalift auf nichts ein, bevor er nicht genau wuhte,
da die Erfindung ſowohl an fi) gut war, als aud
daß fie ihm perjönlich einen Vorteil verſchaffen würde,
der alle Berlufte an feiner erjten Kapitalanlage
reihlih aufwog. Erfindungen, welche ein Geichäft,
das früher gewinnbringend gewejen war, ganz ju
vernichten drohten, brachten den Sapitaliften oft
großen Schaden. Konnten fie dieſelben nicht völig
unterdrüden, jo pflegten fie fie aufzufaufen und beis
jeite zu legen. Nach dem großen Umſchwung fanden
fih jo viele folder Patente vor, die von den Kapita-
liften aus Selbfterhaltungstrieb aufgejpeichert worden
waren, dab die Welt noch zehn Jahre lang reichlich
mit Neuerungen verjehen gewejen wäre, falld man
inzwifchen aud gar nichts mehr entdedt hätte
Eins der tragijchften Kapitel in der Gejchichte der
alten Geſellſchaftsordnung erzählt von den Schwierig:
keiten, Zurüdweifungen und lebenslangen Ent.
täufhungen, mit denen die Erfinder zu kämpfen
hatten, bevor fie ihren Enidedungen Eingang ver-
Ihafften. Die Kapitaliften, die ihnen dazu bebililid
waren, verfianden ed meift, fie durch ihre jchlauen
Kunftgriffe um die Früchte ihrer Anftrengung zu ber
trügen. Heutzutage fommen uns biefe Geſchichten
faft unglaublich vor, weil die Nation jede Regung
des Erfindungsgeijtes mit dem größten Eifer bewill⸗
fommnet und pflegt. Jedem, der irgend einen neuen
Gedanken hat, jteht die Unterftüßung der National
verwaltung völlig fojtenfrei zu Gebote, das Erfin«
dungsrecht wird ihm gefichert, und man erleichtert eſ
ihm auf alle Weile, ſich Belehrung, Material und
Werkzeuge zu verichaffen, wie er fie zur Ausführung
feines Entwurfes bedarf,“
„Wenn man nun bedenkt,“ fagte der Lehrer,
„twie viel Harer unfre Vorfahren erkannt haben müſſen
als wir, daß die Privatintereffen dem Fortfſchritt
feindlid; gegenüberftanden, wodurd läßt es ſich dann
erflären, daß fie wirflih aufrichtig überzeugt waren,
ihr Syitem des Privatlapitalismus jei den Er
findungen förderlich?“
„Ohne Zweifel fam das daher,“ antwortete das
Mädchen, „weil fie bemerkt hatten, daf jede neue
Erfindung mit Hilfe der Kapitaliften eingeführt wurde.
Das konnte natürlich gar nicht anders jein, da diele
allein bie Entſcheidung darüber hatten. Unfre Väter
überjaben dabei jedoch die Thatfache, da die Kapi-
taliften gewöhnlich erft alle Kraft anjtrengten, um
das Auflommen einer Erfindung zu hindern, bevor
fie ſich entſchloſſen, ihr nicht länger im Wege zu
Gleichheit.
ſlehen. Ebenſo gut könnten ſich Kinder einbilden,
wenn ſie den Fluß an einer Stelle über den Damm
ſtrömen ſehen, man habe den Damm errichtet, um
den Abfluß des Waſſers zu erleichtern, während er
doch ein Hindernis bildete, durch welches das Waſſer
ſo lange wie möglich zurückgehalten wurde, bis es
endlich überfloß.“
„Unſre heutige Erörterung,” ſagte der Lehrer,
„sollte fi, fireng genommen, nur auf bie wirtfchaft«
lichen Folgen der alten Ordnung beziehen; aber wir
flogen Dabei auf frühere joziale Zuftände, die zu wich«
tig find, um mit Stillſchweigen übergangen zu werben,
Wir haben uns überzeugt, wie hinderlic) der Kapita—
lismus mit feinen Privatinterefien allen Neuerungen
und Fortichritten auf wirtichaftlichem Gebiet gemwejen
it. Aber auch auf einem andern Felde machte fich
fein Einfluß geltend und führte dort zu Ergebnijien,
die thatſächlich von noch größerer und verhängnis-
vollerer Bedeutung waren. Sage uns etwas über
die Art, Flora, auf weiche fi) das Syſtem ber
Privatintereffen dem Fortfchritt aller neuen Gedanken
auf geijtigem und filtlichem Gebiet, in Wiſſenſchaft
und Religion widerſetzte.“
„Ehe bie große Ummälzung erfolgte,” ermwiberte
das Mädchen, „wurbe die höchſte Bildung nicht
allen zu teil wie bei ums, fondern nur einer
Heinen Gruppe von Menschen, die fich den gelehrten
Fächern und Berufswiffenichaften widmeten und na—
türlih die Lehrer und Führer der Nation wurden.
Sie beeinflußten die Gedanken des Volfes, ftellten
die Richtſchnur feines Handelns feit, beherrichten
dur ihren Geiſt auch alle materiellen Intereſſen
und beftimmten den Entwidlungsgang der Zivilifation,
Jeht befigt feine einzelne Klaſſe mehr eine derartige
Macht, weil e8 bei dem heutigen Standpunkt ber
allgemeinen Bildung ganz undenkbar wäre, dab das
Volf ſich blindlings der Führung einiger hervor—
tragenden Geifter überlaffen ſollte. Wenn aber da—
mals eine jolhe Einrichtung bejtand und die Bil
dung ſich auf eine verhältnismäßig jo Meine Anzahl
beihränkte, jo mußte es von höchſter Wichtigkeit fein,
daß dieje Leute auch ganz befonders geeignet waren,
ihre verantwortliche Pflicht mit aller Hingebung für
dad Gejamtwohl und ohne jede Nebenabjicht zu er
füllen. Bei dem Syſtem des Privatlapitalismus
war jebod) dies deal unerreichbar; denn jeder inter-
eifierte ſich ja ausſchließlich für denjenigen Beruf,
dem er ſich gewidmet hatte und von deſſen gedeih-⸗
ſchritt von vornherein Widerftand leifteten.
lichen Fortgang er in wirtfchaftliher Beziehung
abhing. Die gebildeten lafjen, Lehrer, Prediger,
Schriftfteller und Fachgelehrte, waren eigentlich ganz
in berjelben Lage wie die Handwerfer, die Schub-
macher und Zimmerleute. Ihre Wohlfahrt beruhte
völlig auf der Nachfrage nach den befonderen Lehren
und Vorftelungen, die fie vertraten, und auf ihren
971
Leiftungen in dem Beruf, durch melden fie ihren
Lebensunterhalt gewannen. In dem Fach, das je—
mand lehrte oder betrieb, gipfelte fein Privatinterejje,
es diente ihm zum Broterwerb. Diejer Umftand
brachte e& mit ſich, daß auch die gelehrten Berufs—
arten durd; jede Neuerung auf biefem oder jenem
Felde beeinflußt wurden, wie der Schuhmacher oder
Zimmermann durd Erfindungen, die fein Handwerf
betrafen. Entjtand nun irgend eine neue Idee auf
dem Gebiet der Religion, der Medizin, der Natur-
lehre, Nationaldfonomie, Sozialwiſſenſchaft oder
fonft wo in der Geifteswelt, jo fragten die Gelehrten,
beren Beruf und Lebentunterhalt die Sache anging,
nicht zuerft danach, ob die Idee an fi wahr und
gut jei und für die allgemeine Wohlfahrt erſprießlich,
fie überlegten vielmehr, welde unmittelbare Wir:
fung fie wohl auf die Lehren, Satzungen und Ein—
rihtungen haben würde, auf denen ihr perlönliches
Interefie und Anfehen beruhte. War eine neue re=
ligidje Vorflellung aufgetaucht, jo dachte der Geifte
lihe zu allererit daran, wie feine Gemeinde und feine
perjönliche Stellung in derfelben davon berührt werde.
Machte man eine neue medizinifche Entdeckung, fo
fragte fi) der Doktor, welchen Einfluß fie auf die
Schule, zu der er gehörte, üben könne. Werbreitete
ih eine Theorie über Wirtſchaftslehre oder Sozial«
wiſſenſchaft, jo überlegten alle, deren Kapital in ihrem
Nuf als Lehrer in diejem Fach beftand, wie die neue
Anſchauung zu den Ueberlieferungen und Lehrſähen
paßte, die ihr Handwerfäzeug bildeten. Da nun
jede neue Idee naturgemäß ältere Borftellungen
auf bemjelben Felde verdrängen muß, jo folgte
daraus, daß der wirtichaftliche Erhaltungstrieb der
gelehrten Klaſſen fie unmwillfürlih und fait durch—
gängig veranlaſſen mußte, fi der Reform oder
dem geiftigen Fortſchritt auf ihrem Berufsfelde zu
widerjeßen.
„Es war nur menſchlich, und man fonnte es ihnen
faum verdenfen, wenn fie die Neuerungen in ihrem
Fach injtinftmäßig mit derielben Abneigung ber
trachteten wie der Weber oder Ziegelbrenner die
neuen Erfindungen, melde ihn brotlos zu machen
drohten. Aber man bedenfe nur, welches furdtbare,
faum überfteigbare Hindernis der Entwidiung des
Menichengefchlechts in den Weg gelegt wurde, wenn
die geiftigen führer und Vorbilder der Nation aus
Rückſicht auf alte Vorftellungen, an die ſich ihre
wirtſchaftlichen Privatintereſſen Fnüpften, jedem Fort⸗
Sobald
wir dieſe Thatſache in ihrer ganzen Bedeutung er—
fennen, werden wir und feinen Augenblick mehr dar—
über wundern, daß die Welt jrüher jo langjam vor-
wärts geichritten if. Im Gegenteil, wir können
nur ftaunen, daß fie es überhaupt jemals zu einem
höheren Aufihwung gebracht hat.”
972
XXVII.
Turch das Gewinnſuſtem wird die Wohlthat neuer
Erfindungen zu nichte gemadt.
„Wir haben unfre Betrachtung über die feind-
liche Stellung, die der Privatlapitalismus gegen den
Fortſchritt einnahm, in zwei Zeile geteilt,“ ſagte
der Lehrer. „Zuerſt haben wir gejehen, daf ein
Spitem beftimmter und vereinzelter Privatintereffen
feiner ganzen Natur nad) überhaupt im Widerſpruch
zu Wechſel und Veränderung ftchen muß. Nun
möchte id von dir, Harold, etwas über den zweiten
Teil hören — nämlich über die Verminderung und
Zerflörung des Nubens aller neu eingeführten wirt«
Ihaftlihen Berbefferungen durch das Gewinnſyſtem.
Das Ende des achtzehnten und das ganze neunzehute
Jahrhundert zeichnen ſich durch eine ſtaunenerregende
Menge großer Erfindungen auf wirtſchaftlichem Ge—
biete aus, Was veranlaßte denn dieſen beiſpielloſen
Aufihwung des Erfindungägeijtes ?”
„Er entiprang aus derjelben Urſache,“ antwortete
der Stuabe, „wie die ganze demokratiſche Bewegung
und die Erkenntnis der Gleichheit aller Menſchen,
welche jih damals Bahn brad. Zum erftenmal
hatte ſich nämlich ein allgemeineres geiftiges Leben
im Volle verbreitet, feine Denkiähigfeit nahın taujend-
fältig zu, und in politiſcher Hinficht trat das Wohl
der Gejamtheit mehr in den Vordergrund, während
man biöher nur die Intereſſen einer Heinen Minder«
beit im Auge gehabt hatte.”
„Da die großen Erfindungen unter der Herrihaft
des Privatlapitalismus gemacht worden waren,”
bemerkte der Lehrer, „jo nahmen unjre Vorfahren
an, daß dies Syitem der Entfaltung des Erfindungs-
geiftes ganz bejonderd günjtig fein müſſe. Weißt
du mir noch etwas über diefen Punkt zu jagen, was
bisher nicht erwähnt worden iſt?“
„Nichts, als daß wir mit demfelben Recht bes
haupten fönnten, der demofratijche Gedanke, welcher
in der großen Ummälzung feine höchſte Entwidlung
fand, verdanfe feine Entftehung dem Königtum, der
Macht des Adels und der Geldherrihaft, weil dies
die Gewalten waren, unter deren Einfluß die da—
malige Zeit ſtand,“ antwortete der Knabe,
„Dann wollen wir, denke ich, dieſen Gegenfland
verlaſſen,“ jagte der Lehrer, „und und noch näher
mit der Aera der großen Erfindungen beſchäftigen,
welche gegen den Schluß des adhtzehnten Jahr-
hunderts ihren Anfang nahm.“
Harold giebt eine Ueberſicht der That-
jaden.
„Seit den älteften Zeiten bis zum lebten Viertel
des achtzehnten Jahrhunderts,“ jagte der Knabe,
„hatte die Mechanik faft gar keine Fortſchritte gemacht,
außer beim Schiffbau und der PVerfertigung von
Edwarb Bellamp.
Waffen. Etwa um das Jahr 1780 begann jede
eine ganze Reihe von Entdedungen neuer Naturkräfte
und deren Benugung zu wirtichaftlihen Zweden
duch Maſchinen, was eine völlige Ummälzung im
Handel und in der Induftrie zur Folge hatte, Wie
jehr die Kraft des Menjchen durch die Verwendung
von Dampf und Steinfohlen bei der Güterproduftion
gejteigert wurde, läßt fi faum berechnen ; man fann
wohl jagen: er war aus einem Zwerg plöglich zum
Niefen geworden. Unzählige Entdedungen der ver
ſchiedenſten Art folgten nun Schlag auf Schlag und
verurfachten eine ungeheure Erſparnis an Arbeitd
fräften in allen Gewerben, die dem Menſchen zur
Erhaltung und Förderung des Lebens dienen. Man
hätte glauben jollen, daß der menschliche Erfindungs-
geift auf die Prodbuftionsfraft des Aderbaus keinen
bedeutenden Einfluß haben könnte, weil im dieſem
Betrieb die Natur, die ſich nicht übereilen läßt, eine
größere Rolle jpielt als die Arbeit des Menſchen.
Und doch hatten die landwirtſchaftlichen Mafchinen,
bie in Amerifa zur höchſten Bolllommenheit ge
bracht wurden, nach ungefährer Schätzung das Arbeit!
produft des einzelnen um das fünfzehnfache vermehrt.
Alle Produktion aber, die nicht in direfter Abhängig»
feit von der Natur ftand, war durch die Maſchinen
in weit höherem Maße beeinflußt worden; es konnte
fünfzig«, Hunderte, ja viele taufendmal joviel pro:
duziert werden. Ein einziger Mann war im ftande,
mehr zu leijten als ein ganzes Heer in früheren Zeit-
altern.“
„Alſo,“ jagte der Lehrer, „während die Bebürf-
nifle der Menſchen nicht zugenommen hatten, war
ihre Fähigleit, für Befriedigung derjelben zu jorgen,
bis ins unendliche gefteigert worden. Diefer unge
beure Zuwachs an Arbeitsfraft war ein wirtjchaft-
licher Reingewinn für die Welt, wie ihn die Geichichte
bisher noch nie erlebt hatte, Wahrlich, es ſchien,
als hätte Gott der Menfchheit unumfchränfte Boll-
macht gegeben, alle Kräfte der Schöpfung in ihren
Dienft zu ftellen. Wenn du nun nichts andres wüßleſt,
Harold, als da die Produftionsfraft ſich in jener
Periode Humdertfadh vermehrt hat, und man es dir
überließe zu beurteilen, was für Verbejlerungen im
Zuftand des Menſchengeſchlechts daraus entiprumgen
fein müßten, — zu welcher Schlußfolgerung würdeſt
du gelangen?“
„Bor allem würde ich es für ganz ausgemacht
halten,“ verjegte der Knabe, „daß jede Art der Uns
vollfommenheit und des Leidens, die direft ober in-
direft aus Not und Mangel berrührt, auf immer
bon der Erbe verbannt wäre. Davon, was Armut
fei, hätte man natürlicherweije feinen Begriff mehr
haben jollen. Ja, man hätte glauben follen, der Luxus
in jeder Geftalt würde fi) über die ganze Welt ver-
breiten, und die kühnften Träume von Menſchenglüch
Gleichheit.
ſoweit fie auf materiellem Wohlfein beruhten, müßten
ſich verwirklichen laſſen.“
„Ganz recht, Harold. Das wäre vernünftiger—
weiſe zu erwarten geweſen. Nun laß uns ſehen, bis
zu welchem Grade ſich die wirtſchaftliche Lage des
Menſchengeſchlechts infolge der großen Erfindungen
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in
Wahrheit gebeſſert hat. Schildere uns den Zuſtand
der großen Maſſe des Volks in den Kulturländern,
nahdem die Dampffraft jamt den andern wichtigen
Erfindungen ein Jahrhundert lang im Gebraud
geweſen war, und vergleiche ihn mit ben Berhältniflen,
die etwa um das Jahr 1780 herrichten. Hatte jich
der allgemeine Wohlftand nicht zu einer unendlich
höheren Stufe emporgejchwungen ?“
„Man hat jehr viel darüber geftritten und genaue
Hatiftiiche Berechnungen angeftellt,“ erwiderte ber
Knabe, „um zu ermitteln, ob felbjt in ben fort
geihrittenften KHulturländern — wenn man von dem
bloßen Wechfel der Moden abfieht und die Klaſſen
im Durchſchnitt betrachtet — überhaupt bei der großen
Mehrzahl des Volfs von einer wirklichen Verbeſſerung
des wirtichaftlichen Zuftandes die Nede fein könne.“
„fo, der Fortſchritt war jo geringfügig, daß
man nicht ficher war, ob überhaupt eine Verbejlerung
fattgefunden hatte? Mie ift denn das möglich ?”
„Es jcheint ſchwer begreiffih, und doch war es
der Fall, Wie es dem englifchen Voll im neun»
zehnten Jahrhundert erging, bat und Flora ſchon
geihildert. England beſaß nicht nur den bedeutendften
auswärtigen Handel, jondern es hatte fih aud am
früheften und im ausgedehnteften Maße alle großen
Erfindungen zu nuße gemacht. Trotzdem war das
engliiche Voll, wie wir aus den Berichten der
Nationalölonomen willen, am Schluß des neunzehnten
Jahrhunderts in einem elenderen Zuftand als zur
Zeit vor Entdedung der Dampfleaft. Auch aus den
Niederlanden und von der großen Maſſe des deutjchen
Volles hören wir dasſelbe. Die Arbeiterflaffen in
Italien und Spanien aber find jelbit in gewiſſen
Perioden der Herrſchaft des römiſchen Kaifertums
wirtſchaftlich beſſer gejtellt gewejen ald damals, Wenn
in Frankreich im neumzehnten Jahrhundert etwas mehr
allgemeiner Wohlſtand herrfchte als im achtzehnten,
io war das nur die Folge der gleihmäßigeren Ver—
teilung von Grund und Boden während der fran«
zöſiſchen Revolution; den großen Erfindungen vers
dankte man das in feiner Weiſe.“
„Die jtand e3 in den Vereinigten Staaten?“
„Hätte fih im dem Zuftand des amerikanischen
Volls ein weientliher Aufihwung fund getban,“
jagte Harold, „jo brauchte man das deshalb noch
nicht den großen Erfindungen zugufchreiben. In
einem neuen Lande mit jo wunderbaren Hilfsquellen
bat das Bolf naturgemäß einen ungeheuren, wenn
973
aud nur vorübergehenden Vorteil vor andern Nationen.
Doch war man fehr zweifelhaft darüber, ob ſich in
Amerila der Zuftand im allgemeinen mehr gebefjert
babe als in der alten Welt. Im Iehten Jahrzehnt
des neunzehnten Jahrhunderts, als die Unzufrieden-
beit der Lohnarbeiter und Landwirte in beunruhigen-
dem Grade geftiegen war, lieh die Regierung der
Vereinigten Staaten ausführliche vergleichende Ta—
bellen über Lohn» und Preisverhältniſſe veröffent-
lien, aus denen hervorging, daß fich die wirtſchaft⸗
liche Lage der amerifanifchen Arbeiter im Laufe des
Jahrhundert? um einen Heinen Prozentjat günftiger
geftaltet Hatte. Nach jo langer Zeit können wir
natürlih über die Richtigkeit diefer Tabellen im
einzelnen fein Urteil mehr abgeben, aber hätte ſich
die große Mafje des Volkes wirflih in einer ge
beihlicheren Lage befunden, jo würde man ſchwerlich
nötig gehabt Haben, derartige Berechnungen anzu—
ftelen, um den wadjenden Mißmut der Bevöl-
ferung einigermaßen zu bejchwichtigen. Das Volt
mußte doch feine eignen Verhältniſſe am beiten
fennen, und wir willen, dab die amerikanischen
Ürbeiter während der lebten Jahrzehnte des neun«
zehnten Jahrhunderts der feften Ueberzeugung waren,
daß fie in wirtichaftliher Beziehung immer mehr
herunterfämen und Gefahr liefen jo tief zu finfen
wie das Proletariat und der Bauernjtand im alten
Europa. Die erjchredende Zunahme ber Bettelei
und des Vagabundentums, der Banferoft, dem die
Landwirtſchaft unaufhaltſam zuftenerte, und die er—
bitterten Aufftände der Pohnarbeiter, welche einen
fortwährenden induftriellen Kriegszuftand erzeugten,
geben uns ein richtigeres Bild von den bamaligen
Verhältniſſen, als jene mühjam ausgearbeiteten Ta-
bellen der Verteidiger des Kapitalismus.“
„Es wäre nutzlos,“ jagte der Lehrer, „auf ihre
Zahlen näher einzugehen. Uns genügt zu wifjen,
daß die durch ben menſchlichen Erfindungsgeift un—
endlich vervielfältigte Produltionskraft im jtande ge=
wejen wäre, die Armut aus der Welt zu verbannen
und einen allgemeinen Wohljtand herbeizuführen,
hätte man fie zum beten der Gejamtheit ausgenußt
und weiter entwidelt. Dieje Ihatjache ift ſonnenllar
und Hat mehr Wert für uns als die Haarjpaltereien der
Nationalötonomen, die fid) ftritten, ob im einen oder
im andern Lande dieje oder jene Klaſſe um eine
Kleinigkeit jchlechter oder beſſer geftellt war. Nies
mand dachte daran zu behaupten, daß irgendwo ein
weientlicher Fortſchritt zu verzeichnen wäre, oder daß
ih aud) nur ein Anfang von der günftigen Um—
wandlung des menihlichen Zuftands abjehen ieh,
den die Erfindungen hätten erzeugen fönnen und
jollen, wie allgemein anerfannt wurde.
„Nun jage uns, Harold, wie erflärten ſich denn
unſre Vorjahren diefe erjtaunliche Thatjache, die noch
974
wunderbarer ift als bie großen Erfindungen ſelbſt?
Welcher Urſache ſchrieben fie es zu, daß dieje der
Menſchheit feinen Segen brachten? Man follte doch
glauben, dab eine jo merkwürdige Erſcheinung, die
alle berechtigten Hoffnungen auf Menfchenglüd zu
Schanden machte, jeden verftändigen Menjchen zu
ernftem Nachdenken veranlaft haben müßte, Kamen
denn unfre Vorfahren, als fie dieſen furchtbaren
Mißerfolg erlebten, nicht ganz von ſelbſt zu der
Ueberzeugung, daß in ihrem Wirtſchaftsſyſtem irgend
etwas völlig verkehrt und jchlecht fein müſſe und fie
nichts Schleunigered zu thun hätten, ala es von
Grund aus zu ändern?”
„Seltjamertveife jcheint es unjern Urgroßvätern
gar nicht in den Sinn gelommen zu fein, dab ihr
Wirtihaftsiyftem ſchuld daran fei. Zwar gaben fie,
wie gejagt, im allgemeinen die Thatfache zu, daß die
großen Erfindungen fo gut wie nichts zur Erzeugung
befjerer Berhältniffe beigetragen hätten; aber woran
das lag, ſcheint ihnen nicht Mar geworden zu jein,
In den diden Bänden, die uns die alten National»
ölonomen hinterlafien haben, finden wir feine ein-
gehende Beiprehung über den Gegenftand, ja nicht
einmal ben Verſuch, eine Thatſache zu erflären, mit
der fi, nad) unjrer Anficht, in der ganzen MWirt«
Ichaftspolitif vor der Revolution Teine andre an
Wichtigkeit irgendwie mefien fann. Das jonderbarfte
babei ift, daß unfre Vorfahren es nicht verftanden,
einen auch nur nennenswerten Nußen aus den großen
Erfindungen zu ziehen, und froßdem voller Begeifte
rung für biefelben waren. Ganz trunfen vor Stolz
über ihre Thaten, die ihnen doch feinerlei Worteil
braten, träumten fie Tag und Naht von neuen
Entdeckungen, durch die fe fich fämtliche Kräfte der
Natur in noch höherem Grade unterthan machen
wollten. Aber was wäre e8 wohl den Menſchen
nütze gemwejen, hätte Gott ihnen aud) alle Schäße
und Geheimniffe feiner Schöpfung zur Verfügung
gejtellt, jo lange fie keine wirtſchaftlichen Einrich—
tungen bejaßen, um die Früchte der wunderbaren
Entdeckungen auf verfländigere Weiſe als bisher dem
Wohl der Gefamtheit zuzuwenden? Wenn die Ar—
mut unverändert beitehen blieb, jo wurde jede Ent»
dedung, welche die Produttionskraft fleigerte, zu
einer neuen furdhtbaren Anklage gegen die Thor—
heit und Ungeredhtigfeit der damaligen Wirtjchafts-
ordnung. Was waren denn die gewaltigen Maſchi—
nen anders als ein merfwürdiges millenichaftliches
Spielzeug, das für die Menſchen nicht mehr wirl-
lichen Wert hatte als irgend eine bejonders kunſt⸗
reich erdachte Gliederpuppe, wenn fie nicht dazu
bienen fonnten, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern ?
Das leidenjhaftliche Verlangen nad) immer größeren
und ausgiebigeren Erfindungen zu wirtſchaftlichen
Zweden, bei vollftändiger Gleichgültigkeit dagegen,
Edward Bellamp.
ob fie ben Menſchen Segen brädhten oder nicht, er
ſcheint uns wie eine jener ſeltſamen Epibemien, die
befonders im Mittelalter zumeilen ganze Voöller—
Ihaften in wahnfinnige Aufregung veriehten. Eine
vernünftige Erflärung dafür fucht man vergebens,”
„sh muß die recht geben,” ſagte der Lehrer,
„Was half e3 wohl, daß Steinfohlenlager entbedi
wurden, wenn nad wie vor fein Feuer auf bem
Herbe der Armut brannte? Was nüpten die Ma—
ihinen, mit denen ein Mann fo viel Tuch meben
fonnte wie taufend Arbeiter in einem früheren Jahr
hundert, wenn es noch ebenjoviele zeriumpte und
frierende Menfchen gab wie vorher? Konnte auf
der amerifanijhe Landwirt mit feinen Maſchinen
zwölfmal jo viel Lebensmittel erzeugen als fein Groß:
vater, jo ftarben doch mehr Menſchen vor Hunger,
es gab mehr elend geffeidete und elend gemährte
Leute im Lande als je zuvor, und noch nie hatte
man ſolche Scharen heimatlofer, verzweifelter Bago-
bunden umberziehen jehen, die ihr Brot von Ihür
zu Thür erbettelten. Unfre Väter hatten Dampfſchiffe
erfunden, die ala ein Wunder angeftaunt wurden,
aber ihr Hauptgeihäft war, Die verarmte Bevöllerung
ber alten Länder in ein neues Land binüberzufchaffen,
wo jie nad furger Zeit notwendigerweiſe abermals
an den Bettelftab fommen mußten, trob aller Arbeit
erfparenden Maſchinen. Um die Mitte des Jahr
hunderts geriet die Welt ganz außer fi vor Ent
züden über bie Erfindung ber Nähmaſchine; man
glaubte, daß fie der Menjchheit eine Rieſenlaſt von
den Schultern nehmen würde. Yünfzig Jahre fpäter
war jedoch das Verfertigen von Kleidungsſtüden,
das fo fabelhaft errleichtert werben follte, nicht mur
in Europa, jondern aud) in Amerifa zu einem wahren
Skiavendienft geworben, der unter dem Namen
Schwitzſyſtem‘ jogar der damaligen Generation dei
größte Aergernis bereitete. Statt Stahl und Feuer-
ftein gebrauchte man Zündhölzer, an Stelle von
Kerzen und Lampendl Gas und eleftriiches Licht, doch
beleuchtete es ebenjoviel Schmuß, Elend und Er:
bärmlichkeit, und das Schaujpiel nahm ſich in dem
helleren Glanz no abjhredender aus, Zu Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts gingen alle Bettler in
Amerila zu Fuß; gegen Ende besjelben ftahlen fie fih
in die Bahnzüge hinein und ließen fidh per Dampf
befördern, aber es gab fünfzigmal mehr Bettler als
früher. Man fuhr mit einer Gefchwindigfeit von
ſechzig Meilen die Stunde, ftatt der fünf oder zehn
zu Beginn des Jahrhunderts: aber bei der wilden
Hebjagd Tief die Armut immer getreulich nebenher
und begleitete fie, wie den Reiter fein Schatten.“
Helene erklärt die Thatfaden.
„Nun, Helene,” fuhr der Lehrer fort, „erfläre
ung einmal die Thatjadhen, von denen Harold
Gleichheit. 975
gefprodhen hat. Wie kam e3, daß die Erfindungen,
tropdbem fie die Produftionskraft fteigerten, der
Menſchheit feinen Nuben brachten, während jie doch
nad) vernünftiger Berechnung den ganzen Zuftand
auf Erden hätten umwandeln und allen Mangel aus
der Welt vertreiben jollen? Weshalb hatte das alte
Syſtem des Kapitalismus einen jo ungeheuren Miß⸗
erfolg zu verzeichnen ?*
„Der Privatgewinn war ſchuld daran,“ jagte das
Mädchen.
„Erfläre uns das deutlicher.”
„Die großen Erfindungen auf wirtiaftlichem
Gebiet,“ fuhr Helene fort, „hatten den Zwed, Arbeit
zu erfparen. Das heißt, fie machten e3 dem Men—
ſchen möglich, mit derjelben Anftrengung mehr als
früher zu produzieren — oder ebenjoviel wie früher
mit weniger Anftrengung. Bei einer gemeinjamen
Verwaltung der Imduftrie zur Förderung des Ge-
ſamtwohls, wie wir fie haben, würde der Mehrertrag
allen zu gute gefommen jein, oder wenn das Bolt
es vorzog und dafür flimmte, wäre der Ertrag der—⸗
jelbe geblieben und die durch die Arbeitäerleichterung
gewonnene größere Muße hätte von allen gleihmäßig
genofjen werden fönnen. Aber unter dem alten Syftem
gab es keine Gejamtverwaltung. Die Kapitalijten
allein Hatten da8 Heft in den Händen, weil außer
ihnen niemand im flande war, ſich auf induftrielle
Unternehmungen einzulafjen oder fie auszuführen.
Bei all ihrem Thun hatten fie aber weder das öffent-
liche Interefje, nod) das Geſamtwohl im Auge, jon-
dern nur ihren perfönlichen Gewinn. Führte der
Kapitalift eine neue Erfindung ein, fo ging er dabei
entweder von dem Gedanken aus, für bdenjelben
Arbeitslohn ein größeres Produft zu erlangen, oder
für dasfelbe Produkt einen geringeren Arbeitslohn
zu zahlen. Nehmen wir den eriteren Fall: Ein
Kapitaliſt hat ſich eine Arbeit erjparende Maſchine
angeichafft, will aber alle jeine Arbeiter beibehalten
und feinen Gewinn dadurch erzielen, daß er für die
gleihen Koften ein größeres Arbeitsproduft erhält.
Denn früher der Fapitalift jeinen Ertrag vergrößern
wollte, mußte er mehr Arbeiter dingen und ihnen
Lohn zahlen, für den fie dann ihren Bedarf auf dem
Diarkte faujten., Dadurd wurde zugleich mit der
Vermehrung des Prodults aud die Kaufkraft im
Gemeinweſen geftärkt, wenn auch in unzulänglichem
Make. BVergrößerte aber der Kapitalift feinen Er—
trag mit Hilfe der Majchinen, ohne die Zahl jeiner
Urbeiter zu vermehren, jo entſprach feine größere
Kauflraft im Gemeinwejen der größeren Güter:
produktion. Nur durch den Lohn, welchen die mit
dem Bau der Mafchinen beichäftigten Arbeiter er—
hielten, wurde die Kaufkraft erhöht; aber diejer war
gering im Vergleich zu der Vermehrung des Ertrags,
ben der Kapitalift für ſich erhofjte, jonjt hätte «8
für ihn feinen Zwed gehabt, fi eine Mafchine an»
zuſchaffen. Die Zunahme der Produfte diente aljo
nur dazu, den ohnehin ſchon überfüllten Markt noch
mehr zu überfüllen. Kauften ſich nun aber viele andre
Rapitaliften ebenfalls Mafchinen, jo fteigerte fich die
Meberprodultion zu einer Frifis, und im ganzen Be—
trieb mußte ein Stillftand eintreten,
„Die Kapitaliften fonnten durch verſchiedene
Methoden die Unglüd abwenden ober wenigftens
den Schaden verringern. Entweder, fie jehten den
Preis der vermehrten Mafchinenprodufte herab, jo
daß die ftodende Kaufkraft fi einigermaßen wieder
belebte und die Leute jo viel erjtehen konnten, wie
von der ſchlechteren Sorte ber feuern Produkte vor
Einführung der Maſchine. Bei diefem Verfahren
hatten die Kapitaliften aber feinen Ertragewinn durch
ihre Majchine, e8 fam nur dem Gemeinwejen zu gute,
und dab fie ihr Geſchäft nicht bloß dieſem zulieb
betreiben wollten, braucht nicht erft noch erwähnt
zu werden. So griffen denn die Kapitaliften meift
zu dem andern Mittel: fie behielten diefelbe Menge
der Produkte bei, und um einen Gewinn zu erzielen,
entließen fie einen Teil der Arbeiter und ſparten den
Ürbeitälohn an den Koflen des Ertrags. Sehte zum
Beifpiel die Maſchine einen Mann in den Stand,
fo viel zu leiften wie früher zwei Arbeiter, jo fonnte
der Rapitalift die Hälfte feiner Leute foriſchicken,
die erfparten Arbeitäfoften in die Taſche fteden und
doch genau jo viel produzieren wie vorher. Ueber—⸗
dies war hierbei noch ein bejonderer Vorteil, Die
entlafjenen Leute vermehrten die Scharen der Arbeits«
loſen, die einander unterboten, um Gelegenheit zur
Urbeit zu befommen. Je verzweifelter diejer Weit-
ftreit wurde, umfo leichter fonnte der Kapitalijt den
Lohn der Leute herabjeen, die er nod) behalten hatte.
Das gewöhnliche Ergebnis der Einführung einer
Maſchine war aljo zuerjt die Entlafjung von Ars
beitern und über fur; oder lang die Herabſetzung
der Löhne derer, welche im Gejchäft geblieben waren,“
„Wenn ich dich recht verjtanden habe,” jagte der
Lehrer, „vergrößerten aljo die Arbeit jparenden Er»
findungen entweder die Probuftionsfraft ohne ent»
Iprechende Vermehrung der Kaufkraft im Gemeinwejen,
wodurch ein Meberfluß an Gütern entftand, oder fie
verminderten die Kauflraft der Maffen wejentlic)
dur Entlafjung und Lohnherabjeung, während die
Menge der Produkte nod) jo groß war wie früher,
Das heißt nichts andres, als daß durch die Arbeit
erfparenden Maſchinen der Abſtand zwiichen Pro-
dultion und Konjumtion vergrößert wurde und als
Gewinn in den Händen ber Sapitaliften blieb.”
„Sa, jo meine ih es. Die Hapitaliften führten
die Mafchinen nur ein, um einen größeren Gewinn
für ſich zu erzielen, indem fie den Anteil der Arbeiter
verminderten. So fam es, daß die Arbeit erjparenden
976 Edbwarb
Maihinen, anftatt den Mangel aus der Welt zu
ſchaffen, bei dem herrſchenden Gewinnſyſtem ein
Mittel wurden, um die große Maffe des Volls noch
raſcher als je der Verarmung zuzutreiben.”
„Aber wurden die Kapitaliften nicht durch die
Konkurrenz gezwungen, einen Teil ihres vergrößerten
Gewinns wieder aufzugeben, weil fie die Preiſe herab⸗
jegen mußten, um ihre Waren los zu werden?“
„Ohne Zweifel, doch damit wurde die Kon—
fumtionsfraft des Volles nicht erhöht; denn, wie
wir fchon gehört haben, retteten die Kapitaliften
ihren Gewinn fo lange wie möglich. Mußten fie
den Preis herunterfegen, jo verichlechterten fie zuerſt
die Waren und verminderten dann den Arbeitslohn,
bis fie das Publilum und die Lohnarbeiter nicht
länger betrügen und ausbeuten fonnten. Dann erjt
opferten fie einen Teil des Gewinns, die Konfumenten
aber waren bereits jo verarmt, daß fie nicht mehr
daran dadjten, ihren Verbrauch zu erhöhen. Johann
hat uns heute morgen gejagt, daß in den Ländern,
welche die ärmſte Bevölkerung hatten, auch die
niedrigften Preije berrichten, aber dem Volk brachte
das feinen Nutzen.“
Der amerikaniſche Landwirt und die
Maſchine.
„Nun möchte ich dich aber noch fragen,” fagte
ber Lehrer, „was für einen Einfluß die Arbeit jpa=
renden Erfindungen auf eine Klaſſe jogenannter
Kapitaliften hatten, welche die Hälfte der amerifa-
nischen Bevölkerung bildeten, ich meine die Land-
wirte, Boden und Mdergeräte gehörten ihnen,
mochten auch noch jo viele Hypothelſchulden darauf
laften, daher zählten fie dem Ramen nad) zu den
Kapitaliften, waren aber in Wirklichkeit ebenfo gut
die Opfer des Kapitalismus, wie die Proletarierffafie
ber Arbeiter. Die landwirtſchaftlichen Majchinen in
Amerika leifteten im neunzehnten Jahrhundert wirf-
lihe Wunder an Arbeitserfparnis, und doch kam
der amerifanifche Landwirt immer mehr in Not, ſo—
bald man mit ihrer Einführung begann, Wie läßt
ſich das erflären? Warum häufte der Landwirt den
Gewinn, weldhen er den Majchinen verdanfte, nicht
ebenfo gut auf wie die andern Rapitaliften?*
„Der Gewinn, den die Maſchinen einbrachten,”
antwortete das Mädchen, „entfprang, wie bereits ge=
jagt, aus der größeren Ertragsfähigfeit der ver=
wendete Arbeitäfraft. Der SKapitalift fonnte ent«
weder mit denſelben Koften mehr erzeugen, oder
ebenjoviel mit geringeren Koſten, wenn er die Ars
beiter entließ und durch die Mafchine erſetzte. Der
Gewinn hing daher von der Ausdehnung des Betriebs
ab: das heit, es fragte fi, ob viele Arbeiter an«
geftellt waren und der Arbeitslohn eine bedeutende
Role im Geſchäft ſpielte. Wo die Landwirtſchaft
Bellamp.
in jehr großem Maßſtab betrieben wurde, wie da
mal® auf den jogenannten Bonanzagütern in den
Vereinigten Staaten, die zwanzig oder dreißigtaufend
Morgen umfaßten, hatten die Kapitaliften, die fie
bewirtjchafteten, zeitweije einen fabelhaften Gewinn,
welchen fie unmittelbar den Arbeit erfparenden Ma-
ſchinen verdankten und der ohne diejelben unmöglid
gewejen wäre, Die Maichinen jeßten fie in den
Stand, eine weit größere Menge ihrer Erzeugniſſe
auf den Markt zu bringen, ohne die Arbeitsloſten
bebeutend zu vermehren, oder Diefelbe Menge wie
früher mit jehr verminderten Koften. Die meiften
amerifanijchen Landwirte hatten jedoch nur einen
Heinen Betrieb, ftellten wenige Arbeiter an und be»
jorgten ihr Geſchäft größtenteils jelbit. Sie konnten
dur Entlafjung von Arbeitern bei Einführung der
Maſchinen nur wenig Gewinn erzielen. Statt da
ber die Koften ihres Ertrags zu verringern, mußten
fie ihren Borteil darin juchen, durch ihre vergrößerte
Arbeitskraft einen Mehrertrag zu erzielen. Die
Kauffraft der Gejamtheit hatte aber inzwiichen nidt
zugenommen: es war nicht mehr Geld zur Bezahlung
der Produkte vorhanden ala zuvor. Vermehrten alfo
ſämtliche Landwirte bei Einführung der Maſchinen
ihren Ertrag, jo konnten fie ihre Erzeugnifie nur zu
berabgejehten Preifen 108 werden, jo daß fie ſchließ⸗
li für den Mebrertrag gerade fo viel erhielten wie
früher für die geringere Menge. Ja, häufig erhielten
fie weit weniger, denn jelbjt ein unbedeutender Ueber
ihuß in der Hand ſchwacher Kapitaliften, die ges
zwungen waren zu berfaufen, drüdte Die Marttpreife
oft ganz unverhältnigmäßig herab. In den Ber
einigten Staaten waren dieſe Meinen Landiirte jo
zahlreich und ihre Geldnot oft fo drüdend, daß fie
zu Ende des Jahrhunderts die Marftpreife nicht nur
für fich jelber verbarben, jondern ſchließlich auch für
die großen Kapitalijten, welche die ausgedehnten
Sandgüter bewirtichafteten.“
„Wir kommen aljo zu dem Schluß, Helene,“
jagte der Lehrer, „dab durch die Arbeit erjparenden
Maſchinen die jämtlihen Meinen Landwirte ber Ver
einigten Staaten zu Grunde gerichtet wurden.“
„Gewiß,“ verfeßte das Mädchen. „In dieſem
Fall beftätigt die Geſchichte unſre Theorie voll»
ftändig. Die Erfindungen, welde des Yandwiris
Produftionäkraft um das fünfzehnfache vermebrien,
machten ihn banferott. Daran war allein das Ger
winnſyſtem jchuld, und fo lange es beitehen blieb,
gab es feine Rettung für ihn.”
„Waren denn die Landwirte die einzigen Heinen
Kapitaliften, welche durch die Majchinen mehr ge
ſchädigt als gefördert wurden ?”
„Nein, diefelbe Regel galt für alle Heinen Rapi-
taliften, mochte ihr Geichäft fein, was es mollt.
Bon der Größe des Betriebs hing es ab, ob fie bei
Gleichheit.
Einführung der Maſchinen viele Arbeiter entlaſſen
lonnlen. Wurden ihre Arbeitsfoften nicht auf dieſe
Weiſe verringert, jo gerieten fie in furdtbaren Nach»
teil gegen die Großfapitaliften. Daher waren es
hauptſächlich die Arbeit erjparenden Mafchinen, die
gegen Schluß des neunzehnten Jahrhunderts jede
Konkurrenz zwijchen Heinen und großen Rapitaliften
zu einent Ding der Unmöglichfeit machten und die
Zahl derer, welche in wirtichaftlicher Beziehung die
Herren der Welt waren, mehr und mehr beichräntte,”
„Wäre nun der Umſchwung nicht gelommen,
Helene, hätte man noch immer mehr Arbeit er-
iparende Mafchinen erfunden, und wäre ed ben
großen Kapitaliften gelungen, wie man bereit$ voraus»
ſah, alle Macht in ihren Händen zu vereinigen, jo
daß auch die Vergeudung des Gewinns durch ihre
Konkurrenz untereinander aufhörte — was wäre dann
die Folge geweien?”
„In diefem Fall,“ antwortete das Mädchen,
„würden alle überflüffigen Güter, die früher im
Weltbewerb verſchwendet worden waren, außfchließ-
li dazu gedient haben, einen immer größeren Qugus
zu erzeugen. Die neuen Maſchinen hätten es er—
möglicdht, daß Jahr für Jahr ein ftetS Meinerer Bruch⸗
teil der Menjchheit mit der Produktion der zu ihrer
Unterhaltung nötigen Lebensbedürfniſſe bejchäftigt
gewejen wäre, während die übrige Welt in unpro—
duftiver Thätigkeit dem Luxus der Reichen gefrönt
oder fich ihrem perſönlichen Dienft gewidmet hätte,
Die Menſchheit würde fi in drei Klaſſen geteilt |
haben: in eine Kafte von Herren, deren Zahl ſehr gering
war, in eine ungeheure Maſſe unproduftiver Arbeiter,
die dem Prunf und Luxus der Herren dienten, und
in eine Heine Schar wirklich produftiver Arbeiter,
die bei der VBervolllommnung der Maſchinen für jämt-
liche Bedürfniſſe zu jorgen vermochten. Alle außer
den Herren hätten ſich auf die farge Notdurft ber
Ihränten und ein höchſt armfeliges Leben führen
müffen, das verfteht ji) von ſelbſt. Im Altertum
haben wir bei untergehenden Reichen ſchon häufig
dad Schaufpiel eines glänzenden Kaiferhofes mit
feinen pruntenden Edelleuten gejehen, für deren
Ihwelgerifchen Sinnengenuß darbende Nationen zu
jorgen hatten. Aber etwas weit Verderblicheres als
die alte Herrſchaft der Ariftofratie wäre im zwanzig«
ften Jahrhundert eingetreten, wenn nicht die große
Ummwälzung gelommen wäre und dem Sapitaliß-
mus ein Ende gemadt hätte. Um die Lebend-
bebürfniffe der Welt zu befriedigen, war früher die
produftive Arbeit für die große Mafje der Bevöl«
lerung eine Notwendigkeit. Den Reichen ſtand nur
eine verhältnismäßig Meine Arbeiterzahl zur Ver—
fügung, weldje ihrer Genußfucht und Prachtliebe
diente. Bei der Plutofratie aber, mie wir fie im
Auge haben, würde der Erfindungsgeift mittels der
Aus fremden Zungen, 1897. IL. 21.
— — — — — —
— — — ——
977
Arbeit erſparenden Maſchinen den Herren der Welt
die Möglichkeit eröffnet haben, den größten Teil der
ihnen unterthänigen Bevölferung in den unmittel-
baren Dienft ihres Pomps und Lurus zu ftellen.
Das hatte zuvor noch fein Dejpot, von dem uns
die Geſchichte erzählt, in folhem Maße vermocht.
Das widerwärtige Schaufpiel von Menſchen, die als
Götter über ber großen Maſſe des elenden Boltes
thronen, welches vor ihnen anbetend im Staube liegt,
wie es Aſſyrien, Negypten, Verfien und Rom in
alter Zeit jahen, wäre durch die Plutokratie nod)
überboten worden.“
„Genug, Helene,” jagte der Lehrer. „Wir wollen
nunmehr unjre Erörterung über das Wirtſchafts-
ſyſtem des Privatfapitalisınus fließen, welchem durch
die große Ummälzung für immer ein Ende gemacht
wurde. Der Gegenitand ließe ſich natürlich noch
von vielen andern Geiten betrachten, aber das
Studium würde ebenjo uneriprießlich wie entmutigend
fein. Die wejentlihjten Punkte haben wir, glaube
ih, alle erwähnt. Sobald ihr verfteht, wie und
weshalb durh Gewinn, Rente und Zins die ſton—
fumtionsfraft des größten Teils der Geſamtheit
auf ein Bruchteil ihrer Produktionäfraft vermindert
und dadurch auch leßtere beeinträchtigt wurde, habt
ihr den Schlüffel zu dem Geheimnis, weshalb die
Welt vor der Ummälzung in Armut veriunfen ift.
Jede Verbejlerung in dem wirtjhaftlihen Zuftand
der Menfchheit, jeder wichtige und dauernde Forte
ſchritt war gänzlich ausgeſchloſſen, wenn nicht ber
Privatlapitalismus, von dem das Gewinnfgitem mit
Rente und Zins unzertrennlicd war, für ewige Zeiten
abgeſchafft wurde.”
XXIX.
Mir wird eine Huldigung dargebracht.
„Und nun habe ich eine große Ueberraſchung für
euch,” fuhr der Lehrer fort, indem er einen Blid auf
die Galerie warf, wo wir beide, der Doktor und ich,
ganz verftedt jahen. „Unter den Perjonen, welche
heute vor» und nachmittag bei eurer Prüfung zu—
gehört haben, ift jemand, der beſſer al$ irgend ein
andrer Menſch, ja, der jogar ganz allein von allen,
bie jeht auf Erden leben, beurteilen kann, ob ihr die
Verhältniffe im neunzehnten Jahrhundert richtig dar⸗
geftellt habt. Wer das ift, werdet ihr wohl erraten
können. Um euch nicht zu zerftreuen, habe ich es bis
zu diefem Augenblid verjchoben, euch mitzuteilen, daß
fein Geringerer als Herr Julian Weit, unſer verehrter
Gaſt, unter uns weilt, und daß er mir freundlichit
erlaubt bat, euch mit ihm befannt zu machen.“
Ich hatte dem Lehrer dieje Erlaubnis ziemlich un«
gern gegeben, denn ich fürdhtete, daß die Neugier
der Kinder jehr unbequem fein würde. Aber ich jollte
die Jugend des zwanzigften Jahrhunderts erft noch
fennen lernen. Als fie mich umringten, konnte man
123
978
in den ernften Augen der Mädchen umd ben ertegten
Gefihtern der Knaben Iejen, was für Gedanfen und
Gefühle meine Gegenwart bei ihnen wachrief. Sie
waren weit entfernt von oberflächlicher Neugier, und das
Intereife, welches fie meiner Perſon entgegenbrachten,
ſprach fi in fo zarter Weile aus, daß jelbit das
empfinblichfte Gemüt durch ihre Teilnahme nicht be=
leidigt worden wäre,
Aehnlich hatten fih ja auch alle Erwachſenen bes
nommen, mit denen ich bis dahin verfehrt hatte,
aber bei Schulfindern war mir jo viel Zartgefühl
jehr überrafchend. Es wurde mir erft Mar, welchen
Einfluß die geläuterte Atmoſphäre, in der die Kinder
jegt von fein auf leben, auf ihr Benehmen haben
muß. Sie hatten ja niemals einen rohen, groben
oder unhöflihen Menſchen gefehen, ihr Vertrauen
war nie getäuicht, ihr Herz nie verwundet worden,
und niemand hatte ihnen Grund zum Mißtrauen
gegeben. Da fie einen Standesunterjchied bei ihrer
Umgebung nicht fannten, braudten fie auch nicht
zweierlei Benehmen zu lernen; fie brauchten nicht zu
feinen, was fie nit waren, und hatten feine Heim»
lichfeiten.. Was fonnte da natürlicher fein, ala daß
jede Ziererei diefen Kindern fremd war?
In Wahrheit find e8 ja auch dieje weiteren Fol—
gen der wirtichaftlichen Gleichheit, die moralijchen und
jozialen Einwirkungen, welche am meiften zum Glüd
der Menjchen beigetragen haben, weil fie diejelben in
eine gereinigte, veredelte Atmoſphäre verjekten.
Ih fing jogleih an, mit den jungen Leuten fo
vertraut zu plaudern und zu feherzen, als wären wir
jeit langer Zeit miteinander befannt, Ihre Teils
nahme an allem, was ic) ihnen erzählte, und meine
Freude an ihren unbefangenen Yeußerungen war jo
groß, dab eine Stunde wie im Fluge verging. Die
Jugend ift immer anregend, und der Verkehr mit
diefen frischen, ſchönen, freimütigen Rindern wirkte
wie ein jtärfendes Bad.
Flora, Efther, Helene, Marianne, Margarete,
Georg, Robert, Harold, Paul! Nie werde ich euch
vergeſſen, ihr Mädchen mit den leuchtenden Augen,
ihr herrlichen Knaben, in demen ich zuerft die Jugend
bes zwanzigften Jahrhunderts verkörpert jah. Hat
Gott edlere Seelen auf die Erbe hermiedergefandt,
num die Welt jo viel würdiger ift, fie zu empfangen?
XXX,
Was iſt allgemeine Bildung?
Es war einer jener jhönen Nahmittage im Spät-
fommer, an denen es uns wie eine Sünde vorfommt,
eine einzige Stunde ohne Rot im Zimmer zu verbringen,
Da wir gar feine Eile hatten, mielete der Doltor
auf dem nächſten Halteplak einen Motorwagen für
zwei Perjonen, und wir fuhren in der Richtung auf
fein Haus zu, wobei wir allerhand verlodende Um«
Edwarb Bellamy.
wege machten, Während mir geräufchlos über die
glatten Wege rollten, auf welche die Bäume reits
und linfs ihre bunten Blätter geftreut hatten, brüdie
ih dem Doktor mein Erftaunen über die FFrühreie
diefer Schulfinder aus, die mit dreizehn und bier-
zehn Jahren ſchon über Dinge ſprechen konnten, die
zu meiner Zeit nur in Fortbildungsfurjen und auf
Univerfitäten erörtert wurden. Das nahm der Dolter
aber nicht ſchwer.
„Seit alle Menſchen gleichen Anteil am Arbeit
und Gewinn haben,“ jagte er, „ift die MWirtidaftz
lehre eine jo einfahe Wiſſenſchaft geworben, daß
jedes Kind, welches weiß, wie man feinen Apkt
redlich mit den feinen Brüdern teilt, ihre Rätfel zu
löfen verfteht. Es ift auch jehr leicht, die Fehler
einer falſchen Wirtichaftslehre auseinanderzufehen,
wenn man Gelegenheit hat, fie mit der richtigen zu
vergleichen. Was übrigens die geiftige Frühreife be⸗
trifft,“ fuhr der Doftor fort, „fo glaube ich gar nid,
daß fie bei unfern Kindern, im Vergleich mit der
damaligen Jugend, beſonders hervortritt. Jedenfalls
geben wir ung feine Mühe, dieje Eigenfchaft zu em—
wideln. Ein aufgewedtes Kind von zwölf Jahren
aus dem neunzehnten Jahrhundert würde ſich in
betreff der fFähigteiten ſehr gut mit uniern Zwölf⸗
jährigen mefjen können. Erft wenn Sie die beiden
zehn Jahre jpäter vergleichen, müßte fich der Unter»
ſchied in den Erziehungsprinzipien fühlbar machen.
Bei euch war die Durhichnittsbildung eines Jüng-
linge von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren
wahrſcheinlich nicht viel größer, als die des vierzehn
jährigen Knaben, denn etwa in dieſem Lebensalter
mußte er die Schule verlafien, um in eine Fabril
oder einen lanbwirtfchaftlichen Betrieb einzutreten —
wenn er nicht zufällig zu den Kindern ber begüterten
Minderheit gehörte. Unfre jungen Leute jehen ihre
Studien ununterbrodien fort, jo daß ihre Kenntnifie
von zweiundzwanzig Jahren dem entjprechen würden,
was ihr eine Univerfitätsbilbung nanntet.“
„Das Erziehungswefen muß ja jeht einen enormen
Apparat erfordern, wenn jeder Menſch eine höhere
Bildung erhalten joll. Unfre Elementarſchulen braten
allen Rindern die Grundlagen bei, aber faum der
zwangigfte Teil kam bis zur lateinischen Schule, und
böchitens der hundertſte fonnte ein Gymnafium be
fuchen. Eine Hochſchule jah kaum der tauiendite
Zeil der jungen Leute. Die großen Univeriitäten
aus meiner Zeit müfjen ja Meine Städte geworden
fein, wenn fie alle Studenten aufnehmen jollen, die
ihnen jebt zuſtrömen.“
„Sie mühten fi) jogar zu jehr großen Stäbten
entwidelt haben, wenn fie allein die Pflege det
höheren UnterrichtS der Jugend übernehmen jollten,”
erwiderte der Doktor; „denn während die Zahl
eurer jährlichen Promotionen einige taufend oder
Gleichheit.
zehntauſend betrug, beläuft ſich die unfrige auf ebenſo⸗
viele Millionen. Aus dieſem Grunde, das heißt
wegen ber großen Zahlen, mit denen wir rechnen
müffen, können wir ben höheren Unterricht ebenjo-
wenig zentralifieren, wie ihr früher ben Elementar«
unterricht. Jede Gemeinihaft hat jet ihre Univer-
fität, wie fie ehemals ihre Vollsſchulen hatte, und
aus der nächſten Umgegend ſtrömen derjelben mehr
Studenten zu, al3 eine eurer großen Univerfitäten
aus der ganzen Welt zujammenbringen konnte.“
„Aber zieht nicht der Ruf diejes oder jenes be=
deutenden Lehrers die Studenten nad) einer beftimm«-
ten Univerfität?*
„Dem fann leicht abgeholfen werden,“ erwiderte
der Doktor, „Unjre Telephone und Eleftrojfope find
io volllommen, daß man in jeder Entfernung den
Unterricht eines beliebten Lehrers genießen kann.
Jeder Profeſſor hält heutzutage mit Leichtigkeit jeine
Vorlefung vor Millionen von Zuhörern — wenn er
heiter jein follte, fogar mit halber Stimme — wäh«
rend fich eure Profefioren in einem Hörjaal, der
fünfzig Studenten faßte, jhon anftrengen mußten,
um verftanden zu werden.“
„Doltor,* jagte ich, „Leine andre Neuerung eurer
Zivilifation ſcheint mir jo erfreuliche Ausfichten zu
eröffnen, als dieſe Verbreitung einer höheren Bil—
dung, bie im voraus alle Schwierigfeiten bei der
Durchführung eures fozialen Syftems befeitigt. Ich
glaube, jede vernünftige Geſellſchaftsordnung müßte
Eingang finden, wo dieje Bedingung erfüllt ift. In
der Theorie haben meine Zeitgenofjen auch jehr wohl
erfannt, wie notwendig eine gute Vollserziehung für
die erfolgreiche Leitung eines demolratiſchen Staatd«
wejens fein muß; aber, mit der heutigen Vollsbildung
verglichen, war bod) unſer Syftem, bei dem Die große
Maſſe kaum lefen lernte, ein Poſſenſpiel.“
„Das fonnte nicht anders fein,“ erwiderte der
Doktor. „Die Bafis jedes Unterrichts ift wirtichaft«
licher Art, denn dieſer verlangt, daß der Schüler
während der Lernzeit jeinen Unterhalt hat, ohne
etwas zu erwerben. Wenn die Ausbildung ihren
Zwed erreichen foll, muß fie nicht nur die Kindheit,
fondern auch ein reiferes Alter, wenigitens bis zum
jwanzigften Jahr, umfaſſen. Das erfordert große
Ausgaben, die zu eurer Zeit unter taufend Vätern
faum einer zu tragen im ftande war. Der Staat
hätte fie übernehmen lönnen, aber das wäre darauf
binausgefommen, daß die Reichen den Unterhalt der
armen Kinder bezahlten, und davon wollten fie na=
türlid nichts wiſſen; fie fanden, daß Kenntnijfe in
den Anfangsgründen für die ärmeren Vollsklaſſen
genügten, Und jelbjt wenn das Geld feine Rolle
dabei jpielte, wären die Reichen doc Narren gewefen,
wenn fie den unteren Volksſchichten eine höhere Bil
dung zum Geſchenk gemacht hätten. Sie jollten ja
979
alle ſchmutzige Arbeit verrichten, und dagegen hätten
fie ji) gewiß bei Harer Einfiht empört. So war
denn euer Wirtichaftsfyften ganz unvereinbar mit
einer Vollsbildung, die diefen Namen verdient. Die
joziale Gleichheit dagegen betrachtete es als eine ihrer
eriten Aufgaben, allen den nämlichen Unterricht er—
teilen zu lajjen, und zwar den beiten, den die Ge—
meinſchaft bezahlen lonnte. Eins der intereffanteften
Kapitel aus der Geſchichte des Umfchwunges erzählt
ung, wie — unmittelbar nad Einführung des neuen
Syſtems — die jungen Leute unter zwanzig Jahren
fi in ſolchen Mafjen zu Schulen und Univerjitäten
drängten, daß faum Pla für fie gejchaffen werden
fonnte. Die meiften hatten auf dem Feld und in
ber Fabrik gearbeitet und wollten womöglid das
Verfäumte noch nachholen. Sie alle jahen, daß die
höhere Bildung, welche auch ihnen bei der wirtichajt«
lichen Gleichheit erreichbar war, die größte Wohlthat
der neuen Gejelljhaftsordnung fe. Die Geſchichte
erwähnt, daß nicht nur die Jugend, jondern Männer
und frauen, jogar alte Yeute, die feine Gelegenheit
gehabt Hatten, fich weiter zu bilden, jeden freien
Augenblid, den ihnen der Induſtriedienſt übrig ließ,
dazu benußten, die Lüden in ihren Kenntniſſen aus-
zufüllen, damit fie fi) nicht vor der jungen Gene-
ration zu ſchämen braudten.
„Wenn id) von unſerm jebigen Unterrichtsſyſtem
ſpreche,“ fuhr der Doltor fort, „muß id Sie vor
einem Irrtum warnen. Sie dürfen nicht glauben,
daß der Unterrichtslurſus, welcher mit dem einund⸗
zwanzigjten Jahre jchließt, den ganzen Bildungs-
gang unjrer Studenten beendigt. Im Gegenteil, er
ftellt nur das geringfte Maß von Kenntniffen dar,
die von jedem gefordert werden, der ein Bürger
unſers Gemeinweiens fein wil. Eine Bildung, die
damit ihren Abſchluß fände, würden wir nicht jehr
hoch jtellen. Nach unfrer Anficht ift die Promotion
der jungen Leute beim Berlafjen der Hochſchulen nur
ein Beweis, da fie ein Alter erreicht haben, in dem
angenommen werben darf, daß fie ihre Bildung
jelbftändig, ohne flaatliche Leitung oder Zwang weiter
verfolgen können, und daß fie hierzu als Erwachjene
auch daS Recht haben, Zu diefem Zweit unterhält
die Nation ein ausgebehntes Syſtem von forte
bildungsfurjen in allen Zweigen der Mijienjchaft.
Sie find unentgeltlich, und jeder darf fie auf kurze
oder lange Zeit, regelmäßig oder mit Unterbrechungen
beſuchen; er darf fleißig oder faul, aufmerlſam oder
zerjtreut fein — ganz wie e& ihm gefällt.
„Diele jehr wichtige Zweige der Wifjenichaft kann
der Verſtand ja nur in reiferem Alter erfailen; die
Freude daran erwacht erit jpäter, und dann wird in
einem Monat fleihiger Arbeit mehr erreicht, ala
wenn man auf denſelben Gegenjtand in der Jugend
\ Jahre verwendet hätte, Wir verjchieben deshalb
980 Ebwarb
foviel wie möglich das Studium foldher Fächer auf
die Fortbildungsſchulen. Die Jugend muß eine alle
gemeine Anſchauung der Dinge befommen, aber für
gründliche, tiefe und erfolgreiche Studien eignet ſich
dies Lebensalter nicht. Wenn Sie begeifterte Forſcher
ſehen möchten, deren größte freude es iſt, ihre
Kenntniſſe zu erweitern, jo müffen Sie diejelben unter
den älteren Vätern und Müttern in den fyortbildungs-
ſchulen ſuchen.
„Wir finden die Mußeſtunden unſers Lebens, die
euch fo lang ſcheinen, nur allzu kurz, um die Ge«
legenbeit zur Vermehrung unfrer Kenntnifie voll»
fändig auszunußen. Diefe Mufe, welche den halben
Tag, die Hälfte jedes Jahres und die ganze letzte
Lebenghälfte umfaßt, wird durch jede Arbeit er—
Iparende Erfindung nod) vergrößert. Sie darf aus-
jchließlich perjönlichen Zweden gewidmet fein, aber
troß alledem hätte fie wenig Wert für unfre Geiftes-
bildung, wenn nicht noch etwas hinzufäme, das zu
eurer Zeit nur wenigen zu teil wurde, das aber
durch unsre Einrichtungen Gemeingut geworden ift.
Ich meine die Atmojphäre ungetrübter Heiterfeit, die
daraus entiteht, daß der Geift vollfommen frei ift
von aller Angſt und Sorge um das eigne materielle
Wohl und um das Wohl derer, die wir lieben.
Unfer Wirtſchaftsſyſtem macht es uns leicht, Chrifti
Gebot zu erfüllen: ‚Sorget nicht für den andern
Morgen,‘ während es für euch faſt unmöglih war.
Natürlich müſſen Sie mid) nicht fo verftehen, als ob
wir alle Gelehrte und Philojophen wären, aber wir
ſtudieren doch alle mit mehr oder weniger Eifer und
gehen unfer ganzes Leben lang in die Schule.“
„Wahrlich,“ rief ih, „von allem, was Sie mir
mitgeteilt haben, bildet nichts einen fo grellen Kon—
traft zwiſchen euern Zuftänden und den früheren,
ala dieſes ftetige Wachien ber geiftigen Interefjen
das ganze Leben hindurch. Zu meiner Zeit waren
ſchließlich doch nur ſechs oder acht Jahre Unterjchied
in dem geiſtigen Leben des armen Knaben, der mit
vierzehn Jahren in die Fabril geſteckt wurde, und
dem des glücklicheren Jünglings, der die Univerfität
bejuchen durfte. Wenn bie Bildung des einen im
vierzehnten Jahre zum Stillftand fam, jo war die
des andern im zwanzigjten ober zweiundzwanzigften
faft ebenſo vollftändig am Ende. Statt daß fein
eigentliche Studium nad der Promotion erft recht
begonnen hätte, war diefe gewöhnlich für den Stu-
denten der Gipfel feiner ſtenntniſſe in Wiſſenſchaften
und Humaniora. Der Durchſchnittsſtudent wußte
nie in feinem Leben wieder jo viel wie beim Examen,
denn wenn er nicht zu den Allerreichiten gehörte,
mußte er fi) unmittelbar darauf in das Geſchäfts-
leben ftürzen und den Kampf um bie materiellen
Güter des Lebens auf fih nehmen. Ob er in diefem
Streit unterlag oder fiegte, jedenfalls welfte und
Bellamp.
erftarb von num am fein geiftiger Beſitz. Er Hatte
weber Zeit noch Gedanken für irgend etwas andres,
Glückte e8 ihm nicht, dann mußte er fich fein Sehen
lang in Sorgen verzehren; hatte er Erfolg, jo machte
ihn dies gewöhnlich zu einem jelbitbewußten, höheren
Anterefien abgeftorbenen Materialiften. Für einen
freien Aufihwung von Geift und Seele war in bei-
den Fällen feine Hoffnung mehr. Selbſt wenn den
Menſchen im fpäten Alter als Frucht ihrer An
firengung nod) ein wenig Ruhe vergönnt war, lonnten
fie faft feinen geiftigen Gewinn mehr daraus ziehen.
Verſtand und Gemüt waren ihnen durd Mangel an
Nahrung verfümmert, fie vermochten die günftige
Gelegenheit nicht mehr zu ergreifen.“
„Und dies elende Leben führten die Beneibeten und
Glüdlichen unter euch,” ſagte der Doktor, „diejenigen,
welche die Güter der Welt errungen hatten, Können
Sie ſich da wundern, daß es und vorkommt, als hätte
der große Umſchwung die Menjchen zum zweitenmel
erſchaffen, indem er der rein phyſiſchen Exiſtenz unter
mehr oder weniger angenehmen Bedingungen, — etwas
andres fannte Die Menjchheit kaum — das entſprechende
geiftige Leben hinzufügte. Der Kampf ums De
fein wäre an fi) ſchon ſchlimm genug geweien, benn
er hemmte die geiftige Entwidlung des Jünglings,
wenn er fauın dem Sfnabenalter entwachjen war, Wir
müſſen aber aud) bedenken, daß er mit unmoralijden
Waffen ausgefochten wurde, dab er nicht nur bie
geiftige Entwidlung hinderte, jondern aud) das ſitl—
liche Leben zerftörte — dann erit wird uns das Elend
der Generationen, die vor dem großen Umſchwung
lebten, völlig Mar. Die Jugend ftrebt nad) hoben
Zielen und träumt von Aufopferung und Volltommen:
heit; fie fieht die Welt, wie fie fein follte, nicht wie
fie ift. Und wohl dem Boll, deſſen Inftitutionen
dieſe edle Begeifterung nicht erftiden, ſondern fie für
daB ganze Leben erhalten und fördern! Ich glaube,
die heutige Gefellihaftsordnung hat dies erreit.
Danf unjerm Wirtihaftsiyftem, das die höchſten
fittlihen Ideen verförpert, findet der Jüngling bier
ein Uebungsfeld für alle Tugenden. Jeder edle Ge⸗
danfe und jedes begeifterte Streben Tann ſich im
Dienfte der Gefamtheit frei entfalten. Wo gäbe es
einen Jüngling, deifen Weltanſchauung von reineren
und ebleren Ideen getragen wäre, als diejenigen find,
welche bei ung Handel und Induftrie leiten?
„Auch zu eurer Zeit träumte die Jugend von
edeln Thaten und jah hoffnungsvoll in die Zukunft.
Aber wenn der Jüngling in die Welt des praftifcen
Lebens hinaustrat, jah er, wie überall jeine Träume
verjpottet und feine Ideale in den Staub getreten
wurden. Er mußte wohl oder übel die Waffen auf
nehmen und im Kampf ums Dafein feine hobt
Lebensanfhauung verleugnen und jein Gewiſſen be
täuben. Es gab verjchiedene Ausdrücke, um ben
Gleichheit.
Ubergang zu bezeichnen, ben jeder junge Mann
durhmachte, wenn er auf feine Jdeale verzichten
mußte und ſich endlih in bie Bedingungen biejes
gemeinen Wettftreit fügte. Man jagte: ‚Er hat
gelernt, die Welt zu nehmen, wie fie ift,‘ ‚er hat jeine
wmantiihen Jdeen aufgegeben,‘ oder ‚er ift praftiich
geworden.‘ In Wirklichkeit fiel aber bei dieſem
Uebergang eine Seele dem Verderben anheim. Habe
ich mich zu ſtark ausgebrüdt?“
„Nein, es ift nur zu wahr; wir Haben es alle
empfunden,“ antwortete id).
„Gott ſei Danl, diefe Zeit ift vorüber und wird
nie wiederkehren! Jetzt braucht der Bater den Sohn
niht in Menſchenverachtung zu unterweijen, damit
er jein gutes Fortlommen hat, und die Mutter
braucht der Tochter feine MWeltweisheit zu predigen,
damit ihr warmes Empfinden nicht mißbraucht wird.
Die Eltern find jetzt unverdorben wie ihre Kinder
und wert, mit reinen Geſchöpfen zu verfehren — dag
tonnten fie zu eurer Zeit nicht fein. Das ganze Leben
ift bei uns fo groß und ſchön, wie e& dem feurigen
Kinde erjcheint, und die Ideale, welche dem Jüng«
fing und ber Jungfrau vorſchweben: Vollkommenheit,
Aufopferung, Ehre, Liebe und Pflicht, weichen in
Ipäterem Aiter nicht niedrigen Beweggrünben, jons
dern erfüllen und ſchmücken das Leben bis and Ende.
Erinnern Sie fih, was Wordsworth jagt:
„Der Himmel Tiegt um unfre Kindheit her.
Der Knabe wächſt — und fiche, alljobald
Hullt ihn des ird'ſchen terlers Schatten ein.‘
„Ich glaube, wenn der Dichter an unſerm Leben
teil gehabt hätte, wäre e8 ihm nicht eingefallen, die
Rindheit auf often der reiferen Jahre zu verhert-
lien, denn bei ung wird das eben immer reicher und
edler bis zuleht.“
XXXI.
‚Weder auf dieſem Berge noch zu Jeruſalem.“
Am nächiten Morgen begleitete ih Edith zum
Bahnhof, da fie ſich wieder auf ihre Arbeitsjtelle be—
geben mußte. Während wir den Zug erwarteten,
fiel mir ein ungewöhnlich geiftreich ausjehender Mann
auf, der eben mit der Bahn angelommen war. Im
neunzehnten Jahrhumdert hätte ich ihn für einen
Sechziger gehalten, wahrfcheinlich war er aber achtzig
oder neunzig Jahre alt; die Erfahrung hatte mid
gelehrt, daß bei meinen neuen Mitbürgern die Zeichen
de3 herannahenden Alters viel langjamer zu Tage
traten. — Als ich Edith nach diefer merfvürdigen
Perſönlichkeit fragte, erfuhr ich zu meiner lleber-
rafhung, dab e& niemand anders jei als Herr
Barton, deſſen Predigt mich jo jehr ergriffen hatte,
ala ich fie am erften Sonntag meines neuen Lebens
dur) das Telephon hörte. Im „Rüdblid” habe ich
näheres davon erzählt.
Edith Hatte mur gerade Zeit genug, mid ihm
981
borzuftellen, ehe fie den Zug befteigen mußte. Als
wir nun den Bahnhof zufammen verließen, bat ich
meinen Gefährten, mir eine unbefcheidene Frage zu
geftatten. Es würde mich ſehr intereffieren zu ere
fahren, welcher befonderen Selte oder religiöfen Ge«
meinichaft er vorſtände?
„Lieber Herr Weſt,“ erwiderte er, „Ihre Frage
läßt mich vermuten, dab mein Freund Leete Ihnen
nur wenig über unjre Heutige Anſchauung in relis
giöfen Dingen gejagt hat.“
„Unjre Gejpräche haben allerdings dieſen Gegen-
ftand nur felten berührt,“ antwortete ih, „aber es
würde mich nicht überrafchen, wenn Ihre Vorftellungen
und Gebräuche mit den unfrigen gar nicht mehr über»
einflimmten, Die religiöjen Anſchauungen und kirch—
lichen Einrichtungen gingen ſchon damals einer ſchnellen
und geündlihen Auflöfung entgegen. Man konnte
mit Sicherheit voraugfagen, daß, wenn die Religion
no ein Jahrhundert überleben follte, dies nur in
Formen geichehen könne, welche von allen früheren
gänzlich verfchieden waren.”
„Sie find da auf ein Thema gelommen, das für
mid vom höchſten Intereſſe ift,“ jagte mein Ge—
fährte. „Wenn Sie nichts andres vorhaben und fi)
ein wenig mit mir Darüber ausjprechen wollen, jo
lönnte mir nichts erfreulicher fein.”
Auf meine Verfiherung, dab ich durchaus nichts
zu thun hätte, als möglichft viel Belehrung über das
zwanzigfte Jahrhundert einzufammeln, jagte Herr
Barton:
„Lallen Sie uns in dieſe alte Kirche eintreten,
welche, wie Sie ohne Zweifel ſchon erfannt haben,
noch aus Ihrer Zeit ftammt. Wir können uns da
in einer Umgebung, die dem Thema gerade angemefjen
ift, gemütlich zu unferm Geſpräch niederjegen.“
Mir landen in der That vor einer der Kirchen
des neunzehnten Jahrhunderts, die man als geſchicht-
liche Denfmäler bewahrt hatte. Merlwürdigerweiſe
war e3 gerade bdiejelbe, in der meine Familie dem
Gottesdienft beizumohnen pflegte, und auch ih —
das heißt, wenn ich überhaupt die Kirche befuchte,
was jelten genug geſchah.
„Was für ein jonderbarer Zufall!” rief Herr
Barton aus, als ic) ihm meine Entdedung mitteilte.
„Ber hätte das denfen können! Aber wenn Sie einen
Ort wiederjehen, an den ſich jo viele liebe und un—
vergebliche Erinnerungen für Sie fuüpfen, werden
Sie natürlich wünſchen, allein zu fein. Ich war mir
nicht bewußt, daß id) eine Rüdjichtslofigkeit beging,
ſonſt hätte ich Ihnen nicht vorgefchlagen, hier mit
mir einzutreten.”
„Ich verſichere Sie,” erwiderte ih, „das Zur
jammentreffen ift mir zwar intereffant, aber durd-
aus nicht rührend, Junge Leute nahmen zu meiner
Zeit ihre lirchlichen Beziehungen in der Regel nicht
982
ſehr ernft. Mich verlangt aber doch zu fehen, wie
ber alte Bau fich innen jept ausnimmt. Wir wollen
jedenfalls hineingehen.“
Das Innere der Kirche war im wejentlichen un«
verändert, ſeit ich e& vor mehr als einem Jahrhundert
zulegt betreten hatte, Ich wußte fogar noch, bei welcher
Gelegenheit. Es war ein Ojftergottesdienft geweſen,
zu welchem ich ein paar hübjche Couſinen vom Lande
begleitete, die gewünjcht hatten, die Mufil zu hören
und den Blumenſchmuck zu ſehen. Augenſcheinlich
waren im Lauf der Zeit notwendige Ausbellerungen
vorgenommen worden, doch beeinträchtigte das den
urſprünglichen Eindrud in feiner Weife.
As ih duch das Hauptihiff voranging, blieb
ich vor dem Kirchenſtuhl unjrer Familie ſtehen.
„Dies, Herr Barton,” jagte id, „ift nder war
mein Kirchenſtuhl. Zwar bin id) etwas im Rüditand
mit der Mietszahlung, aber ich darf es dod wohl
wagen, Sie zu bitten, fich hier neben mid) zu een.“
Mein Verhältnis zur Kirche war, wie ih Herrn
Barton ſchon der Wahrheit gemäß gejagt hatte, durch-
aus feine Sache des Gefühls geweſen. Yamilien-
überlieferung und geſellſchaftliches Herlommen hatten
weit mehr damit zu thun. Trotzdem war ich nicht
wenig bewegt, al& id mid von meinem gewohnten
Pag im Kirchenſtuhl aus in dem düſtern, ftillen
Raume umblidte. Während mein Auge von Stand
zu Stand irrte, jah ich im Geijte alle die Männer
und frauen, bie jungen Leute und Mädchen, die
vor hundert Jahren jeden Sonntag auf diefen Stühlen
zu ſihen pflegten. Ich rief mir ihre mandherlei Be—
ftrebungen, Anjchläge, Hoffnungen, Sorgen, ihren
Mettjtreit und ihre Lebensziele zurüd. Bei allem
und jedem fpielte das Geld die größte Rolle, das fie
entweder beſaßen oder verloren hatten oder mit
Begierde erfehnten. Nicht jowohl der Tod meiner
jämtlichen alten Belannten war es, was mid) jo
mächtig ergriff, als vielmehr der Gedanke, wie voll»
jtändig das ganze Geſellſchaftsſyſtem vergangen war,
in dem fie gelebt und gewebt hatten. Sie waren
dahin, und mit ihnen war auch ihre ganze Welt
verſchwunden — ihre Stätte kannte fie nicht mehr,
Wie wunderlich, wie gefünftelt und ſonderbar war
doch jenes Leben geweien! Und dod hatte ich es,
wie damals alle Welt, für die einzig mögliche Form
des Daſeins gehalten!
Herr Barton überließ mich mit zarter Rückſicht
meiner nachdenllichen Stimmung, bis ich das Schwei—
gen brad).
„Da Sie unfre Kirchen nur als merkwürdige
Denkmäler einer früheren Zeit ftehen laſſen,“ ſagte
ih, „lo haben Sie ohne Zweifel befjere zu Ihrem
jegigen Gebraud) ?*
„Wir haben überhaupt jo gut wie feine Ver—
wendung mehr für Kirchen,“ erwiderte mein Gefährte,
En
Edward Bellamp.
„Ach ja. Ich hatte im Augenblid vergeffen, baf
ich Ihre Predigt durch das Telephon gehört habe, Ei
muß in feiner gegenwärtigen Bollendung wirklich die
Kirche als Verfammlungsort ganz entbehrlich machen.“
„Mit andern Worten,” erwiderte Herr Barton,
„Wenn wir uns jet verfammeln wollen, brauchen wir
unfern Körper nicht mehr mitzubringen. Ich weih,
das klingt wunderlicd und ſcheinbar wiberfinnig. Aber
Telephon und Eleltroffop haben die Entfernung als
Hindernis für Geſicht und Gehör befeitigt und bie
Menſchheit in eine jo nahe geiftige Berührung ver-
jet, wie wir fie uns früher nie hätten vorftellen
fönnen. Zugleich find indefjen auch die Individuen
in ber Lage, wenn es ihnen wünjchenswert ericheint,
mit allem, was in der Welt vorgeht, im engften Zus
fammenhang zu bleiben und ſich dabei einer Ab
geihlofienheit zu erfreuen, wie man fie in Jhren
Zagen nur ala Einfiedler geniehen durfte. Unſte
vorzüglihen Einrichtungen in diefer Hinficht haben
und jo verwöhnt, daß wir nicht daran denfen würden,
und um eines Vergnügens willen in ein Gedränge
zu begeben — das wäre ein zu hoher Preis! Für
Sie dagegen war es der unvermeibliche Zoll, den
Sie zu zahlen hatten, um irgend etwas Bejonderes
zu jehen und zu hören,”
„Dhne Zweifel,” fagte ih, „find durch bie all-
gemeine Einführung des Telephons für den Gotiet-
dienft die firdhlichen Einrichtungen auch nod) in andrer
Meife beeinflußt worden. Da der Redner mit jeiner
Stimme doch nur eine beichränkte Anzahl von Zur
hörern erreichen fonnte, mußte man in meiner Zeit
notwendig eine ganze Armee von Predigern haben
— gewiß an fünfzigtaufend allein in den Vereinigten
Staaten — um die Bevölferung zu erbauen. Unter
vielen Hunderten gab es dabei faum eine Perfönlüh:
feit, Die etwas des Hörens Wertes zu jagen Hatte.
Denken Sie ſich nun, daß fünfzigtaufend Prediger
jeden Sonntag ihre Predigten vor ebenjovielen Ge
meinden hielten. Bier Fünftel diejer Reden waren
dürftig, die Hälfte der übrigen mittelmäßig, einige
gut, etwa zwanzig unter allen möglicherweiſe von
wirklich höherem Werte. Natürlich würde niemand
eine ſchwache Predigt über irgend einen Tert anhören
mögen, wenn er ebenjogut eine ausgezeichnete haben
fünnte. Hätten wir da8 Telephonjyften zu folder
Vollendung gebracht wie Sie, fo würde ſich gleich
am erften Sonntag nad; feiner Einführung jeder,
der eine Predigt zu hören wünſchte, mit der Kirche
in Verbindung gejeht haben, in welcher einer ber
wenigen weltberühmten Prediger feinen Vortrag hielt.
Die übrigen hätten gar feine Zuhörer gehabt und
hätten ſich bald nach einer andern Beichäftigung
umthun müjlen.“
„Sie haben wirflid den Nagel auf den Kopf
getroffen,“ erwiberte Herr Barton lächelnd. „Einer
—E
“Rn
j
Gleichheit.
der größten Gegenſätze zwiſchen Ihrer und unſrer
Zeit liegt darin, daß ein mittelmäßiger Unterricht
anf geiſtigem und religiöſem Gebiet heutzutage ganz
abgeſchafft iſt. Da wir im ftande find, unjre Lehrer
unter den größten Sittenpredigern und Weiſen zu
wählen, jo würden wir e8 für eine Zeitverfchiwendung
halten, wenn wir jemand hören wollten, der nicht
der geborene Verkündiger des Höchſten und Beiten
wäre und zu den bevorzugteften Geiftern gehörte.
Auf diefe MWeife find alle in der Lage, der Erbauung
teilhaftig zu werden, welche die Begabteften unter
ihnen jpenden können. Auch haben alle, dank der
allgemeinen höheren Bildung, ein einigermaßen rid)-
tiges Urteil darüber, was wirklich das Beſte ift. In
diefer Führerſchaſt des religiöjen und geiftigen Genius
fiegt zugleich das Geheimnis und der Schuß für die
Zivilifation, welche wir bis jet erreicht haben, jowie
die ſicherſte Bürgſchaft unjers Fortſchreitens zu
immer bejjeren Zuftänden. Für jemand, der, wie
Sie, in den demokratiſchen Vorftellungen des neun-
zehnten Jahrhunderts erzogen ift, mag es wieber-
finnig erjcheinen, daß die Einführung der gleichen
wirtihaftlihen Zuftände und einer allgemeinen
Bildung, dur welche erft die rechte Demokratie
geihaffen wurde, in der allervoflfommenften Ariſto—
fratie, die man fih denken kann — nämlich der
Regierung der Beten — ihren Gipfelpunkt erreicht
bat. Welches Ergebnis könnte aber jelbftverftändlicher
fein? — Unfer heutiges Bolt ift zu aufgewedt, um
fi) irre führen oder felbft von Halbgöttern zu eigene
nügigen Zweden mißbrauchen zu laſſen. Andrerfeits
ift e8 aber auch bereit, jeder befjern Leitung mit
Begeifterung zu folgen. So fommt es, daß unjre
größten Männer und rauen heutzutage eine jelbit-
lofe Herrihaft ausüben, die unumfchräntter ift, als
je ein Tyrann fie fi) hat träumen lafien, und neben
welcher die Siege des großen Alexander in nichts zus
jammenjchrumpfen. Es giebt Denfchen in der Welt,
die ihre Mitmenjhen bloß zur That aufzurufen
brauchen, um der gleichzeitigen Zuftimmung vieler
Millionen gewiß zu jein. Handelt es fi um einen
großartigen Anlaß und ift der Redner es wert, fo
wird die ganze Welt in ehrfurdtsvollem Schweigen
an des Führers Lippen hängen, im Süden und
Norden, im Oſten und Weiten, jeder an feiner Stätte,
Solche Gewalt wäre vielleicht in Ihren Tagen ge—
fährfich erichienen; wenn Sie aber bedenfen, daf
ihr Befig von der Weisheit und Selbftlofigfeit ab—
bängig ift, mit der fie ausgeübt wird, und daß fie
bei dem erften falſchen Schritt verfagen würde, fo
werden Sie ſich überzeugen, daß man diejer Herrichaft
jo ficher trauen kann wie der Vorjehung Gottes,”
„Doltor Leete hat mir zwar auseinandergejekt,
in welcher MWeife die allgemeine Verbreitung ber
Bildung mit Hilfe Ihrer wiſſenſchaftlichen Erfindungen
983
dieſe Führerſchaft der Auserwählten praltiſch er—
möglicht hat,“ ſagte ich, „aber — verzeihen Sie —
wie iſt es denn denkbar, daß ein Redner zu einer
fo ungeheuern Zuhörerſchaft ſpricht, wenn ſich nicht
das Pfingjtwunder wiederholt? Er muß fi doch
wenigſtens auf diejenigen beichränten, welche diejelbe
Sprade verftehen.”
„Hat Ihnen denn Doktor Leete wirklich noch
nichts von unjrer Weltipradhe gejagt?“
Ich habe nur Engliſch ſprechen hören.“
„Natürlich ſpricht jeder ſeine Landesſprache mit
feinen Landsleuten, aber mit den übrigen Nationen
redet man die Weltfprache — das heißt, wir brauchen
heutzutage nur zwei Sprachen zu fennen, um mit
allen Nationen zu ſprechen — unfre eigne und die
allgemeine. Lernen können wir ja jo viele Sprachen,
wie uns beliebt, und gewöhnlich treibt man mehrere
zum Vergnügen ; aber nötig find nur dieſe beiden,
wenn man die Welt bereifen oder ohne Dolmetſcher
nad) allen Orten hin verkehren will, Diele kleinere
Völker haben ihre Mutterfprahe ganz aufgegeben
und fprehen nur die allgemeine. Den größeren
Nationen, die in ihrer Sprache Schüße der ſchönen
Literatur befien, widerfteht es natürlich jehr, auf fie
zu verzichten; hierdurch haben die Meineren Bölter-
ihaften eine Art Vorzug vor den großen. Indeſſen
die Neigung, nur eine Sprache als lebende zu ge—
brauchen und alle andern ala tote oder abiterbende
zu betrachten, nimmt jo raſch zu, daß vielleicht nur
noch gelehrte Philologen im jtande geweſen wären
mit Ihnen zu ſprechen, hätten Sie noh um ein
Menſchenalter länger geſchlafen.“
„Aber trotz des Telephons und der Weltſprache
bleiben doch immer nod die religiöfen Gebräuche
und Feierlichkeiten in Betracht zu ziehen,“ fagte id.
„Zu ihrer Ausübung müffen fi) die Gläubigen doch
in den Kirchen verfammeln, wenn jie dieſelben aud)
zum Zwed der Unterweijung entbehren lönnen.“
„Wenn ein folches Bedürfnis vorhanden ift, jo
hindert nicht3, daß man fo viele Kirchen hat, als irgend
gewünſcht werden, um ſich darin zu verfammeln. Ich
glaube wohl, da manche dies auch noch thun. Bei
einem hohen Grade allgemein verbreiteter Geiſtes—
bildung konnte aber die Welt nicht umhin, den Zere-
monien ber Religion zu entwachjen, welche mit ihren
Formen und Symbolen, ihren heiligen Zeiten und
Orten, ihren Opfern, Feſten, Faſten und Neumonden,
der Kindheit des Gefchlechts jo wichtig waren. Die
Zeit, welche Chriftus in feinem Gejpräh mit ber
Samariterin am Brunnen voraudverfündete, ift num
vollftändig eingetreten — die Zeit, da der Tempel
und alles, was er dem Bolfe bedeutete, einer rein
geiftigen Religion den Pla räumen mußte — dem
Gottesdienft ohne Rückſicht auf Zeit und Ort, den
Jeſus für den Gott wohlgefälligften erklärt hat.”
984 Ebwarb Bellamy.
„Wenn die religiöjfen Feſte und Zeremonien be—
feitigt find, der Klirhenbefuh zum Zweck der Er
bauung entbehrt werden fann und fich jeder den
Prediger nad) perfönlicher Neigung wählt, jo würde
ih glauben, daß alles Seltenweſen beinahe ganz ver-
ſchwunden jein müſſe.“
„Das erinnert mich an den Anfang unſers Ger
ſprächs,“ jagte Herr Barton, „Sie fragten, zu welcher
Selte ic gehöre? — Es iſt ſchon lange nicht mehr
im Volke gebräuchlich, fi in Selten zu teilen und
ſich, auf Grund abweichender religiöfer Anfichten, ver«
Ichiedene Namen beizjulegen.”
„Ist es möglich?” rief ih aus. „Streitet man
jeßt nicht mehr über die Religion ? Haben die Menjchen
wirklich gelernt, verjchiedener Meinung über Dinge der
zukünftigen Welt zu fein, ohne daß fie auf Erden zu
Feinden werden? Doktor Leete hat mich genötigt, eine
Menge Wunder zu glauben; dies ift aber zu viel!“
„Ich begreife wohl, daß «8 einem Manne bes
neunzeßnten Jahrhunderts zuerft ganz unglaublich)
vorfommen muß," erwiderte Herr Barton, „Wer
hat denn aber die Streitigkeiten über Religion in
jenen Tagen angeregt und aufrecht erhalten ?*
„Natürlich die geiftlichen Körperjchaften, bie Priefter
und Prediger.“
„Das waren ja aber nicht viele, Wie konnten fie
ſolche Mißhelligkeiten veranlaffen ?*
„Durd die Maſſen des Volls, die, vollftändig
unmiffend, und demzufolge abergläubiih und ab»
göttiſch, zu Werkzeugen in den Händen der Geit-
lichen wurden.”
„Es gab aber doch eine Meine Zahl von Ge»
bildeten. Waren dieje auch Werkzeuge der Priefter?“
„Im Gegenteil, fie bewahrten in religiöfen fragen
eine ruhige, duldſame Haltung und waren ganz un=
abhängig von der Geifllihfeit. Wenn fie ſich ihrem
Einfluß überhaupt fügten, jo geſchah es, weil fie
glaubten, er jei notwendig, um den rohen Pöbel im
Zaum zu halten.“
„Sehr gut. — Sie haben das Wunder erflärt.
Es giebt jet feinen unwiſſenden Pöbel mehr, um
befientwillen es für die Gebildeten notwendig wäre,
die Wahrheit zu vertujchen. Die gebildete Klafie,
welde duldfamen und weilen Anfichten über die relis
giöjen Streitfragen huldigt und e8 als eine jündhafte
Thorheit erfennt, um ihretwillen zu zanfen, ift die
einzige Klaſſe geworden, die es giebt.“
„Wie lange ift es denn aber ber, daß die Leute
aufgehört haben, ſich Katholiten, Proteſtanten, Bap-
tiften, Methodiften und was ſonſt noch zu nennen?”
„Das hat wohl zur Zeit ber großen Umwälzung
vollftändig aufgehört. Schon früher hatten die mancher⸗
lei Unterfheidungen und Sakungen bedeutend von
ihrem Anjehen verloren; gänzlich vertrieben und ver-
Gefühl brüderlicher Liebe, weldyes die Menſchen bei
der Gründung einer edleren gejellichaftlichen Ordnung
zuſammenſchloß. Doc hätte die alte Gemohnbeit
möglicherweije wieder aufleben können, wäre nicht in
der erften, auf den Umſchwung folgenden Generation
der Boden der Unwiſſenheit und des Aberglaubens
zerflört worden, der den Firdhlichen Einfluß unter:
ftüßte. Seitdem hat die allgemeine Geiftesbilbung
jeine Wiedererhebung für immer unmöglid; gemacht.
Sie ift die einzige Urfache, die man zur Erflärung
des Verjhwindens der Sekten anzuführen braudt;
aber wenn Sie ſich die Kluft zwifchen den alten und
neuen religiöfen Gebräuchen noch deutlicher machen
wollen, jo dürfen Sie nur an gewiſſe wirtjchaftlihe
Bedingungen benten, die jet gänzlich verſchwunden
find, aber zu Ihrer Zeit die Macht der lirchlichen
Einrichtungen weſentlich verjtärkten. Man bedurfte
damals mandherlei zum Gottesdienft; vor allem Ge
bäude zur Feier der religiöfen Gebräuche und Fer
monien und für das Halten der Predigt. Auch machte
es der Umftand, daß die Heiligkeit der religiöien
Unterweifung hauptſächlich auf ihrer ehtwürdigen
Meberlieferung berubte, jtatt auf innern VBernunft-
gründen, notwendig, daß jeder Prediger, welder Zu⸗
hörer um fi ſammeln wollte, in den Dienit einer
der beitehenden Selten eintrat. Mit einem Wort:
die Religion — wie die Induftrie und Politit —
war fapitalifiert, von großen ober Heinen Körper:
ſchaften, welche ausſchließlich den Betrieb beherriäten
und nur den Glanz und die Macht ihrer Firma im
Auge hatten. Wer fi) an der Politik oder Induſtrie
zu beteiligen wünſchte, war genötigt, fi den Stimm-
führern der Partei oder den Leitern des Geſchäfte
unterzuorbnien, und in Sachen der Religion fand e
ebenjo. Wollte jemand Religionsunterricht erteilen,
jo konnte er das nur thun, wenn er fich einer bes
ftehenden Organifation anſchloß, weldye den Betrieb
in Händen hatte — das heißt, einer der groben
Kirchengemeinſchaften. Religiongunterricht außerhalb
dieſer Gemeinihaften zu erteilen war, wenn nidt
geradezu ungejehlich, doch ein höchft ſchwieriges Unter:
nehmen, mochte die Begabung des Lehrers für jeinen
Beruf auch noch jo groß fein. Ebenjogut hätte man
verfuchen können, in der Politik ein Rolle zu fpielen,
ohne ein Parteiabzeichen zu tragen, oder es in einem
Geihäft zu eimas zu bringen, wenn man fid die
großen SKapitaliften zu Feinden machte, Deshalb
mußte, wer Religionslehrer fein wollte, ji zum
Sprachrohr der einen oder andern Sekte hergeben,
wollte er ji überhaupt Gehör verſchaffen. Stand
er unter einer Prieſterherrſchaft, jo erhielt er jeine
Befehle von oben her, Hatte die Religionsgeielideft
Gemeindeverwaltung, jo erhielt er jeine Weiſungen
von unten ber. Die eine Kirche war monarchiſch, die
gejlen wurden fie jedoch in dem leidenſchaftlichen andre demokratiſch — beides gleich unvereinbar mit
BEE. En nn U on A DU DU uU OU LU um O0 DAR 00 ı 00 0 U Gl UT TU an m.
Gleichheit.
dem Amt eines Religionslehrers, deſſen erſte Be—
dingung, unſrer Anſchauung nach, die volllommenſte
Urfprünglichkeit des Gefühls und unbeſchränlkte Rede—
freiheit ſein ſollte.
„Man kann ſagen, das alte kirchliche Syſtem
babe unter einem doppelten Zwang gelitten, Diejer
beftand erften® in der Unterwerfung der unwiſſenden
Maffen unter ihre geiftlichen Leiter, und zweitens
in der Knechtſchaft diefer Leiter felbft, die in den
Safungen ihrer Selten gefangen waren, welde, ala
geiftliche Kapitaliften, alle Beftimmungen über das
Lehramt für fi allein in Anjpruch nahmen. Wie
die Feſſel zweifach war, fo auch die Befreiung —
eine Erlöfung jowohl des Volls, ald auch feiner
Lehrer, welche es fcheinbar geleitet hatten, aber jelbft
nur Puppen gewejen waren. Heutzutage ift das
Predigen fo frei wie das Hören und beides allen
zugänglih. Wer einen befonderen Beruf fühlt, über
religiöfe Dinge zu feinen Mitbrübern zu ſprechen,
bedarf feines andern Kapitals, ala daß er etwas zu
jagen weiß, was der Rede wert iſt. Hat er das, jo
braucht er feine weiteren Anftalten außer dem freien
Telephon, um fih einen Zuhörerkreis zu jammeln,
defien Größe fich nad) dem Maß der Ueberzeugungs-
fraft richtet, das er bejikt. Jetzt hängt fein Unter-
halt nicht von feinen Predigten ab. Sein Geſchäft
ift nicht ein beftimmtes Amt. Er gehört weder durch
feine Erziehung, noch durch feine Thätigleit zu einer
beſondern Klafje unter den Bürgern, und er braucht
niemals eine abgefonderte Stellung einzunehmen. Die
höhere Ausbildung, die er mit allen andern teilt, hat
feinen Verftand genügend ausgerüftet, und die voll«
Händige Enthebung von allen öffentlichen Pflichten
nad dem fünfundvierzigiten Jahr giebt ihm reichliche
Muße zur Ausübung feines Berufs. Kurz — ber
heutige Religionslehrer ift nicht ein Priefter, fondern
ein Prophet. Seine Weihe erhält er jedod nicht
duch irgend melde menſchliche Ermächtigung oder
firhliche Beftätigung. Die Kraft feines Wortes be:
zeugt fi ganz wie bei den Propheten des Altertums
— einzig und allein in dem Wiederhall, den es in
den Herzen ber Menſchen zu erwecken vermag.“
„Wenn aber num Leute,” warf id ein, „denen
noch die kirchlichen Zeremonien der alten Zeit und
das unmittelbare Anhören der Predigt am Herzen
liegen, wünfchen follten, beim Gottesdienft Kirche und
Geiftliche zu Haben, würbe dem etwas entgegenstehen?“
„Gewiß nicht. Freiheit ift das erfte und Tehte
Wort unjrer Zivilifation. Es fteht volljtändig im
Einklang mit unferm Wirtſchaftsſyſtem, wenn ſich
eine Gruppe zufammenthut und Beiträge aus ihrem
Einkommen giebt, um ſich Gebäude zu Vereinszweden
zu mieten und einen bejondern Prediger anzuftellen.
Sie brauden nur die Nation für den Verluft feiner
öffentlichen Dienfte jchadlos zu halten. Der Staat
Aus fremden Zungen. 1897. IL 21.
985
nötigt niemand, einen Privatvertrag einzugehen, aber
verbieten thut er e8 keineswegs. Auf dieſe Weiſe
wurde das alte Kirchenſyſtem nach der Umwälzung
noch eine Zeitlang von einem Zeil feiner Anhänger
feftgehalten. Das hätte aud) bis jeßt gefchehen können,
wenn es jemand wünſchte. Aber die Verachtung,
in welche jedes Mietsverhältnis fogleih nach der
Umwälzung geraten war, machte die Stellung ſolches
gemieteten Geiftlihen unerträglich, und bald gab ſich
niemand mehr dazu her. Obendrein mochte auch
fein Menſch noch dergleichen Dienfte, beſonders geift-
licher Art, unter folden Bedingungen annehmen.”
„Wie Sie die Sache erzählen,” fagte ih, „ſcheint
alles jo einfach, als hätte es nicht anders fommen
können. Aber Sie glauben nicht, welchen Eindrud
einem Mann de3 neunzehnten Jahrhunderts eine
Welt machen muß, die fih ohne den kirchlichen Ein»
fluß behelfen will, der damals eine jo große Rolle
bei allen menjchlichen Angelegenheiten ipielte und einen
jo breiten Raum im Leben jedes einzelnen einnahm.“
„zum Zeil kann ich mid) in Ihre Gefühle ver»
jegen,“ erwiderte mein Gefährte, „obgleih ohne
Zweifel faum annähernd, Und doch iſt durch die
Zeichen der Zeit in Ihren Tagen der Untergang bes
firhlihen Syſtems ſchon deutlich vorausverfündigt
worben. Es vollzog fih damals eine allgemeine
Auflöfung des Dogmatismus, welche es Ihren Zeit«
genofjen fraglich machte, was denn überhaupt noch
übrig bleiben würde, Die Geiftlichkeit verlor zufehends
an Macht und Einfluß, der Unterſchied ber Selten
verſchwand, die Glaubensbefenutniffe wurden gering
geachtet, und um die kirchliche Ueberlieferung fümmerte
man ſich nicht mehr. Wenn alfo irgend etwas mit
Sicherheit vorausgejagt werden fonnte, jo war e&,
daß die religiöfen Vorftellungen und Einrichtungen
ber Welt einer großen Umwandlung entgegengingen.”
„Das ift ganz richtig,“ jagte ih. „Hätten die
Prediger damals angenommen, daß die Geiftesrichtung
der Männer den Ausſchlag geben würde, fo wäre
ihnen wohl alle Hoffnung vergangen, ihren Einfluß
zu bewahren. Sie rechneten jedoch auf Unterftühung
von einer andern Seite.”
„Bon welder denn?”
„Sie verließen fi auf ihre treuen Anhängerinnen,
die rauen. Diefe wurden zu meiner Zeit bas
fromme Geflecht‘ genannt. Mußte die Geiftlidh-
feit aud) zugeben, daß es um das kirchliche Intereſſe
der gebildeten Klaſſe der Männer, ja vielleicht der
Männer überhaupt, ſchlecht beitellt jei, jo hegte fie
doch die Zuderficht, daß die Frömmigkeit der Frauen
die heilige Sache retten werde. Die Frauen waren
der Hauptanfer der Kirche, nicht nur, weil fie am
fleißigften die Gottesdienfte befuchten, ſondern auch,
weil fi die Männer duch ihren Einfluß meift be—
wegen ließen, die firhlihen Anfprühe ſtillſchweigend
124
986
zu dulden. Warum hätten denn unſre Geiftlichen nicht
auch ferner auf die Anhänglichkeit der Frauen zählen
follen, mochten bie Männer auch thun, was fie wollten?”
„Gewiß wäre das gerechtfertigt geweſen, hätte
fi die Stellung der Frau nicht gänzlich verändert.
Aber ihre Erhebung und die Erweiterung ihres Be—
reichs nad allen Richtungen hin ift ja gerade das
merfwürdigfte Ergebnis der Ummwälzung. Davon
haben Sie ſich jet ohne Zweifel bereits jelbft über-
zeugt. Wohl nannte man zu Ihrer Zeit die Frauen
das ‚fromme Geſchlecht‘, aber das jollte nicht etwa
heißen, daß fie beſonders geiftlich gefinnt waren,
Man wünjhte dadurch nur auf ſchmeichelhafte Weife
auszudrücken, daß fie ſich leichter Ienfen ließen als
die Männer. In der Regel weniger unterrichtet, zu
Unterordnung und Unfelbjtändigfeit erzogen, ohne
da& Gefühl der Verantwortlichleit, flüßten ſie ſich
in allen Dingen auf Sitte und Herfommen. Daher
hielten fie natürlih auch an den alten Lehren ber
Religion feit, nahdem die Männer fich bereits all«
gemein bon den Feſſeln des Dogmas freigemadt
batten. Mit dem Umſturz war das alles auf ein«
mal umgewandelt; freilich hatte ſich ſchon lange vor:
ber eine Veränderung angebahnt. Seitdem befteht
fein Unterfchied mehr in der Ausbildung der Ge—
ſchlechter. Sowohl in der Selbftändigfeit ihrer wirt«
ſchaftlichen Stellung, als was ihre Verantworklichleit
und praftiiche Lebenserfahrung betrifft, fteht die Frau
dem Manne gleich. Daraus ergibt ji ganz bon
jelbft, daß das weibliche Geſchlecht nicht mehr jo
gefügig ift wie früher. Weber in Sachen der Religion
noch der Politif oder Vollswirtſchaft find die rauen
jetzt unterwürfiger oder urteilglojer als ihre Mit-
brüder. An allen Beftrebungen der Männer haben
fie ihren gleichberechtigten Anteil, aud) an der höchſten
und widtigiten Aufgabe des Menjhen, dem Forſchen
nad der Erkenntnis der Natur, nach feiner eignen
Beftimmung umd feinem Zufammenhang mit ber
geiftigen und materiellen Unendlichleit, von der er
ein Teil iſt.“
XXXIL
Eritis sicut Deus.
„Wenn ih Sie recht verſtehe,“ fagte ih, „fo hat
das Verſchwinden der religidfen Spaltungen und der
Prieflerlafte das allgemeine Intereffe für die Reli—
gion durchaus nicht verringert.“
„Blaubten Sie, dab dies die Folge fein müſſe?“
„Ih weiß nicht. Ich habe niemals viel über
ſolche Dinge nachgedacht. Die Geifllichkeit ftellte «8
fo dar, ala ob fie höchſt wejentlich zur Erhaltung
der Religion fei, und wir übrigen nahmen be&halb
als jelbftverftändlih an, daß es der Fall wäre.“
Jede ſoziale Einrichtung, die längere Dauer gehabt
bat,“ erwiderte Herr Barton, „diente ohne Zweifel
einem Zwed, welcher zurzeit nützlich und unentbehrlich
Edward Bellamp.
war. Könige, Geiftlihe und Kapitaliften — lektert
waren fie übrigens alle, wenn auch Kapitaliften von
ſehr verjhiedener Art — haben während ihrer Herr
haft Aufgaben zu erfüllen gehabt, die notwendig
waren und damals auch faum befjer erfüllt werden
fonnten, Wie aber mit der Abſchaffung des König
tums eine verfländige Regierung begann und bie
Vernichtung des Privatfapitalismus der Anfang eines
wirklichen Wohlſtandes war, erjeugte auch die Be
feitigung der kirchlichen Anftalten, Regeln md
Safungen — aus denen ber geiftliche Kapilalismus
beftand — eine Erwedung der Welt zur innigften
Zeilnahme an allen großen Angelegenheiten, die das
Mort Religion umfaßte.
„Wie notwendig auch die Unterwerfung der Den
ſchen unter priefterliche Herrſchaft für ihre Entwid:
lung gewejen fein mag, jo war doch gerabe diee
Bevormundung am meiften dazu angethan, die
Fähigkeiten, auf die fie einmirfte, zu lähmen und ja
ertöten. Der Zufammenbruch des Kirchentums machte
jogleich die Bahn frei für eine begeifterte Teilnahme
an den großen fragen nad dem Weſen und ber
Beftimmung des Menſchen. Die würdigen Erl-
jorger Ihrer Tage, welche die ihnen amverteaute
Herde mit jo mühevoller Anftrengung und jo ges
ringem Erfolge für geiftlihe Dinge zu erwärmen
fuchten, würden diefes neue Leben unbegreiflid ge
funden haben. Der Mangel an allgemeinem Inter:
eſſe dafür war das natürliche Ergebnis der Alein-
herrſchaft der Geiitlichteit auf dieſem Gebiete. Die
Priefter ftanden als Dolmetſcher zwiſchen dem Men-
fhen und dem Miyfterium, das ihn umgab, und
übernahmen die Bürgihaft für bie geiftlide Wohl
fahrt aller, die ihnen vertrauen wollten. Als die
Macht der Kirche gebrochen war, jah ſich jede Seele
diefem Geheimnis felbjt gegenübergeftellt und mußte
es aufeigne Berantwortlichfeitzu ergründen ſuchen. Die
Erlenntnis vom Zufammenhang des Menjchen mit dem
Ewigen ftand mun nicht mehr unter der drüdenden
Beeinfluffung des Dogmas einer überlieferten Theo
logie, welches bis dahin die unbegrenztefte der Willen
haften zu der befchränfteften und engften gemacht hatte.
Als der Gottesdienst der Vergangenheit und die knech
tifche Unterwerfung unter das gejchriebene Wort den
Geift nicht mehr lähmten, drängte fich den Menſchen
die Ueberzeugung auf, dab es für ihre Erlenntnis
von der Natur ihres Weſens und ihrer Beftimmung
feine Schranfen gebe, und daß dieje Beitimmung
unendlich fei. An die Stelle der priefterlichen Lehre,
daß Gott ſich nur den Nätern offenbart habe und
die Vergangenheit göttlicher jei als die Gegenwart,
trat der Glaube, daß mir vorwärts und nicht rüd«
wärts fchauen müffen nad) der Quelle der Begeifter
rung; daß wir von der Gegenwart und der Zukunft
eine reichere und ficherere Erkenntnis hofien dürfen
Gleichheit,
über alles, was die Seele und Gott betrifft, als uns
die Bergangenheit gebracht hat.“
„Und Hat ſich diefer Glaube prakliſch beitätigt?”
fragte ih. „It man wirflich der Wahrheit näher
gefommen? Willen Sie in diefen Dingen mehr ala
wir? Haben Sie mit größerer Beſtimmtheit er-
fannt, was wir nur zu glauben verjuchten ?*
Herr Barton ſchwieg einen Augenblid, ehe er
antwortele : .
„Sie jagen, daß Sie bei Ihren Geſprächen mit
Doftor Leete bis jeht die religiöfen Dinge wenig
berührt haben. Als er Sie in die heutige Welt ein«
führte, war es auch durchaus richtig und logiſch, daß
er zuerſt hauptjächlich bei der Ummandlung im wirt»
Ihaftlichen Syjtem verweilte, da «3 die Grundlage
für alle Veränderungen bildet, die eingetreten find,
IH bin aber überzeugt, daß Ihnen auf die Frage,
welcher Fortjchritt im vergangenen Jahrhundert am
meijten dazu gedient hat, das Glüd der Menjchen
zu erhöhen, jedermann antworten würde: ‚Der Fort—
ihritt in der Erkenntnis der Seele und ihres Zus
jammenhangs mit dem Emigen und Unendlichen.“
„Dieje höhere Erkenntnis ift nicht allein das
Ergebnis einer verftändigeren Auffafjung des Gegen-
ftandes und ber volljtändigen geiftigen Freiheit bei
feiner Erforſchung, ſondern wir verdanken fie auch
zum großen Zeil den fozialen Verhältniſſen. Die
materiellen Interefjen nehmen uns nicht mehr aus—
ſchließlich in Anſpruch; feit ſaſt einem Jahrhundert
erfreuen wir uns einer wirtſchaftlichen Wohlfahrt,
die in Rückſicht auf phyfiiche Befriedigung nichts zu
wünjchen übrig läßt. Dabei hat fid) beſonders durch
gefteigerte Bildung eine Einfachheit des Geſchmacks
entwidelt, welche allen Lurus und alle Ueberladung
berwirft. Man legt weniger Wert auf die materielle
als auf die geiftige und moralifche Seite des Lebens;
je mehr wir haben, um fo geringer find unfre Be-
dürfnijfe. Nach der materiellen Seite hin hat unfer
Geſchlecht das Endziel der Entwidiung erreicht; das
hatten wir längft erfannt und hegen in diejer Rich—
tung feinen Ehrgeiz mehr. Die natürliche Folge
davon war, daß mir unfre Hauptlräfte auf die
geiftige Entwidiung der Menſchheit gerichtet haben,
welche durch die Vollendung der materiellen Entwid»
hung erſt ermöglidt wurde. Was wir bis jeht ge
lernt Haben, ift umfrer Heberjeugung nad nur ein
ſchwacher Schimmer von der Erkenntnis, die wir er
reihen werben. Sollten aber aud die Schranfen
diejes irdiſchen Zuftandes uns die Hoffnung rauben,
jemals hienieden mehr zu wijlen, jo würden wir
nit murren. Die Erfenntnis, die wir haben, reicht
bin, um den Schatten des Todes in einen ‚Bogen
der Verheißung‘ umzumandeln und allen menſchlichen
Ihränen ihre Bitterfeit zu nehmen. Wenn Sie fi
näher mit unfrer Litteratur befannt machen, werden
987
Sie bemerken, daß fie fih in einer Hinfiht ganz
entichieden von der Jhrigen unterjcheidet: ihr Fehlt
jeder mweltjchmerzliche Ton. Das fommt natürlic)
daher, daß unfer wahres eben in nicht zu erjchüte
ternber Sicherheit ruht, ‚verborgen in Gott‘, wie
Paulus jagt. Bei diefer Auffafjung haben die Be-
gebenheiten und Mechjelfälle im Leben des ein-
zelnen nur eine verhältnismäßig geringfügige Be—
deutung.
„In Augenbliden der Begeifterung haben Ihre
Meilen und Dichter wohl erfannt, daß der Tod nur
ein Schritt im Leben fei; aber den meiften Menjchen
ſchien das ein hartes Wort. Wenn fich heutzutage
ein Leben feinem Ende naht, wird es nicht vom
Duntel überjhattet, fondern von immer hoffnungs-
froherer Erwartung durchglüht. Die Jungen könnten
die Alten darum beneiden, wenn fie nicht wüßten,
da ſich über ein Kleines dieſelbe Pforte auch ihnen
Öffnen wird. Zu Ihrer Zeit ſcheint eine unaus«
ſprechliche Traurigkeit der Grundton des Lebens ge-
weſen zu jein, der — gleich dem Slagegejtöhn der
Wellen für die Küftenbewohner bes Meeres — immer
hörbar wurde, fjobald der Lärm und das Tages-
getriebe einen Augenblid aufhörte, Jeht ift diefer
Grundton jo wonnevoll, daß wir fill find, um auf
ihn zu lauſchen.“
„Wenn die Menjchen dergeftalt fortfahren, in
der Erfenntnis zu wachſen und teil zu haben am
göttlichen Leben, wohin werden fiedann noch fommen?“
fragte id).
Herr Barton lächelte:
„Sprad nicht die Schlange in der alten Er-
zählung: ‚Wenn Ihr von der Frucht diefes Baumes
eifet, jo werdet Ihr jein wie Gott! Das Ver—
Iprehen war dem Wortlaut nad) richtig; es jcheint
aber, daß in Betreff des Baumes ein Irrtum vor«
lag. Vielleiht war ed der Baum jelbftfüchtiger Er«
lenntnis — oder die Frucht war noch nicht reif. —
Die Geſchichte ift nicht recht Mar. Chriftus ſagte
jpäter dasjelbe, als er den Menjchen verhieh, daß fie
Gottes Kinder werden könnten. Er aber irrte ſich
nicht in dem Baum, welchen er ihnen zeigte — und
defjen Frucht war reif. Diefe Frucht war die Liebe;
denn die alles umſaſſende Liebe ift zugleih Saat
und Frudt, Urſache und Wirkung der höchſten und
vollfommenften Erkenntnis. Durch unendliche Liebe
wird der Menſch Gott gleich, denn durch diejelbe
wird er ſich bewußt, mit Gott eins zu fein, und alle
Dinge find ihm unter die Füße gegeben. Erſt feit
die große Ummälzung die Aera der menschlichen
Brübderlichfeit eingeführt hat, ift die Menjchheit im
Stande, dieje Frucht vom wahren Baum der Erkennt»
nis in Fülle zu genießen und dadurch mehr und
mehr zum Bewußtjein ihres eigentlichen Seins und
Weſens und des verborgenen Lebens der Seele in
988 Edward Bellamy. — Gleichheit.
Gott zu gelangen. — Ja, wahrlich, wir werben Gott | rechte Weiſe bereitet und bargebradht wurde. — Ohne
glei fein. Das Motto der modernen Zivilifation | Zweifel werben Sie, Herr Weit, von jener Kanzel
ift: Eritis sicnt Deus.“ dort wiederholt Worte gehört haben, wie: ‚So wir
„Sie ſprachen eben von Ehriftus. Verſtehe ich | uns untereinander lieben, jo bleibet Gott in ung,
Sie recht, daß die neue Religion als diefelbe an- und feine Liebe ift völlig in uns.‘ — ‚Wer jeinen
gejehen wird, welche Chrijtus gelehrt hat?” | Bruber liebet, der bleibet im Licht.‘ — ‚So jemand
„Sanz gewiß. Sie befteht zwar ſchon feit dem | ſpricht: Ich liebe Gott, und hafjet feinen Bruder, der
Beginn der Geſchichte, ja feit Urzeiten. Die Lehre | ift ein Lügner. — ‚Wer den Bruder nicht liebet,
Chriſti ift ung jedod am vollfommenften und Harften | der bleibet im Tode. — ‚Gott ift die Liebe, und wer
übermittelt worden. Er lehrte die Religion der Liebe; ; in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott
aber von der damaligen Welt fonnten nur wenige | in ihm‘ — ‚Wer lieb hat, der kennet Gott‘ —
fie in fih aufnehmen. Weberhaupt ijt die Welt im | ‚Wer nicht lieb hat, ber fennet Gott nicht, denn Gott
ganzen außer ftande gewejen, fie zu befennen ober | ift die Liebe,‘
aud nur zu verfiehen, bis zu dieſem gegenwärtigen „Hierin Liegt ber wahrhaftige Gehalt der Lehre
Jahrhundert,” Chriſti ſamt den Bedingungen für den Eintritt in
„Warum konnte die Welt denn nicht früher die | das Reich Gottes, Wir jehen darin auch eine ge»
Offenbarung empfangen, welche fie jept fo leicht zu | nügende Erflärung, warum die Offenbarung, welde
begreifen jcheint ?* Ehrifto ſchon vor fo langer Zeit zu teil wurde und
„Weil fi Gott der Menfchenjeele durch die Liebe | andern erfeuchteten Seelen nad) ihm, unmöglich bei
offenbarte, die Welt es aber von fich wies, der Liebe | der Menfchheit im allgemeinen Eingang finden konnte,
Gehör zu geben, und fie gefreuzigt hat. Die Reli» | folange eine unmenjchliche geſellſchaftliche Ordnung
gion Ehrifti, welche auf felbftlofer Begeifterung bes | eine Mauer zwifchen Gott und dem Menfchen auf:
ruhte, fonnte unmöglih von einer Welt aufgefaht | richtete. Im Augenblid, als jene Mauer fiel, über:
und verjtanden werden, deren joziales Syftem ſich flutete die göttlihe Offenbarung die ganze Welt
als Bedingung ihres Dafeins auf brudermörberijchen | gleich einem Sonnenaufgang.
Kampf gründete. Propheten, Seher und Heilige „Wenn wir einander lieben, jo wohnt Gott in
mögen wohl ihren Gott von Angeficht zu Angefiht | uns‘; achten Sie barauf, auf welche Weiſe dieſe
geihant haben, aber unmöglich fonnten alle Men- Worte in Erfüllung gingen, als das Menſchengeſchlecht
ſchen Gott erfennen, wie Chriſtus ihn offenbarte, ehe | endlich feinen Gott fand! Achten Sie darauf — &
die joziale Gerechtigkeit eine allgemeine brüderliche | geichah nicht durch abjichtliches oder bewußtes Suden
Liebe erzeugt hatte. Der Menſch mußte den Men» | Gottes. Die große Begeifterung der Menſchheit,
hen als feinen Bruder betrachten, ehe ihm Gott als | welche die alte Ordnung umftürzte und bie brüder-
fein Bater enthüllt werden fonnte, Dem Namen | liche Gemeinfhaft einführte, war urſprünglich feine
nad wollte zwar die Geiſtlichleit Chrifti Lehre, daß | unmittelbare Erhebung zu Gott. Es war eine rein
Gott ein Liebender Vater fei, annehmen und ver- | menjchliche Bewegung. Die Menfchenberzen zer
breiten; aber natürlih war es einfah unmöglich, | ſchmolzen und ftrömten einander zu; e& entitand ein
daß dieſer Gebanfe feimen und Wurzel ſchlagen Erguß reuevoller Zärtlichkeit, ein Teidenjchaftliche:
fonnte in Herzen, die falt und hart wie Stein und | Erwachen gegemfeitiger Liebe und opferfroher Hin-
von Hab und Mißtrauen gegen ihre Milmenſchen gabe für das allgemeine Wohl, Aber ‚mern wir
erfüllt waren, ‚Denn wer feinen Bruder nicht liebet, | einander lieben, fo wohnet Gott in ums‘ — das
den er fiehet, wie fann er Gott lieben, den er nicht | follten die Menſchen erfahren. Es fcheint, daß ein
fiehet.‘ Die Priefter beftürmten ihre Gemeinden mit | Augenblid eintrat — ber erhabenſte Augenblid in
Ermahnungen, Gott zu lieben und ihm ihr Herz zu | der Gedichte der Menjchheit, als fich zu der Glut
ſchenken. Sie hätten fie vielmehr lehren jollen — wie | neu entdedier Bruberliebe das unausſprechliche Ge
Epriftus es that — ihre Mitmenſchen zu Lieben und | fühl einer göttlichen Anteilnahme gejellte — als ob
ſich ihnen von Herzen zu ergeben. In jolden Herzen | Gottes Hand ſich auf die geeinigten Hände der Men-
würde fi die Liebe zu Gott raſch entzündet haben, ſchen Iegte. So ift es geblieben bis heute und wird
Die Alten berichten ung ja, daß himmliſches Feuer | jo bleiben immerdar.“
unfehlbar jedes Opfer in Brand jehte, das auf die | (Fortiefung folgt.)
— er —
Heimweh.
Von
Henryk Sienkiewicz.
Aus dem Volniſchen überſetzt von Leonhard Brixen.
J
Der Leuchtturmwächter von Aſpinwall, in der
Nähe von Panama, war eined Tages ſpurlos ver—
ſchwunden. Es geſchah während eines heftigen
Sturmes, man nahm daher an, dab der Unglüdliche
dem Ufer der felfigen Meinen Inſel, auf der ber
Kuchtturm ſteht, zu nahe gelommen und, von einer
hochgehenden Woge erfaßt, Hinmeggejpült worden
war. Da das Heine Boot, das in ber felfigen Ein-
buhtung ruhte, am darauffolgenden Tage gefunden
wurde, jo ſprach alles für die Richtigkeit der Annahme.
Auf diefe Weile war der Poften eines Leuchtturm«
wächters frei geworden, und es mußte um jo jehneller
an Erſatz gedacht werden, als der Leuchtturm für die
Bewegung am Plak jelbft, jowie für den Verkehr
der Dampfſchiffe zwifhen New York und Panama
feine geringe Rolle jpielt. Die zahlreihen Sandbänte
und Verjchüttungen find durch Moskitoſchwärme ge—
radezu verfinftert, und es wird ſchon am Tage ſchwer
genug, an ihnen vorüberzufommen. In der Nacht
wird die Durchfahrt durch dieſe von der Sonne durch⸗
glühten Gewäſſer faft zur Unmöglichkeit. Da ift der |
Leuchtturm den zahlreichen Schiffen der einzige Weg«
mweiler. Die Aufgabe, einen Leuchtturmmwächter zu
finden, fiel dem in Panama anfälfigen Konful der |
Vereinigten Staaten zu und war in Anbetradht defien,
daß binnen zwölf Stunden Erfah gefunden werden
mußte, feine geringe. Auch mußte der Neuzumählende
ein durchaus zuverläffiger Menſch fein, es paßte aljo
nicht jedweder für den Poften ; was aber das Schlimmite
war, es fehlte im allgemeinen an Bewerbern für die
Stelle. Das Leben auf dem Leuchtturm ijt ein jehr
ſchweres und fagt den Südländern, die ein müßiges,
Ihatenlojes Daſein vorziehen, wenig zu. Der Leudht-
turmwächter lebt faft wie ein Gefangene. Mit
Ausnahme des Sonntags darf er jein Hleines Felſen⸗
eiland Leinen Augenblid verlajien. Die Fähre von
Apinwall verfieht ihn einmal täglih mit den not-
wendigen Nahrungsmitteln und mit friſchem Waſſer,
worauf der Fährmann ſich alsbald wieder entfernt
und der Wächter auf der ganzen, einen Morgen
Land umfafjenden Infel mutterfeelenallein zurücbleibt.
Der Wächter bewohnt den Leuchtturm, den er in
Ordnung zu halten hat. Tagsüber giebt er jeine
j
Zeichen hinſichtlich des Barometerftandes durch Aus«
hängen verjdhiedenfarbiger Flaggen, am Abend wird
die Flamme angezündet. An fi wäre die Arbeit
nicht jo bedeutend, wäre damit nicht der Umftand
verbunden, daß der Wächter, um die Spike des Leudht-
turms zu erflimmen, vierhundert durch weite Zwiſchen⸗
räume getrennte Stufen einer [malen Wendeltreppe
erjteigen muß und gezwungen ijt, diejen Weg wieber«
holt im Laufe des Tages zurüdzulegen. Es ift ein
Kloſterleben, oder befler gejagt ein Einfiedlerleben.
Mas Wunder daher, dab Mr. Iſaak Folcombridge
fi in feiner geringen Berlegenheit befand, um einen
dauernden und entjprechenden Erjah für den Dahin-
gegangenen zu finden, und man wird jeine Freude
begreifen, als ganz umverhofft ſich nod an bemfelben
Tage ein Bewerber meldete. Es war ein alter
Mann, fait ein Siebziger, aber kräftig und uns
gebeugt, mit der Haltung und den Bewegungen eines
Soldaten. Er hatte ſchneeweiße Haare, und die Haut-
farbe war von der Sonne jo braun gebrannt wie
die eines Kreolen, doch nad den blauen Augen zu
ſchließen, war er fein Sübländer. Sein Antlig war
gramdurchfurcht und traurig, hatte jedoch einen biebern
Ausdrud, Schon auf den eriten Blid fand Fol-
combridge Gefallen an ihm. Es galt alfo nur, fi
ein Urteil über ihn zu bilden, infolgebefjen erhob
fi) das folgende Zwiegeſpräch:
„Was jeid Jhr für ein Landsmann?“
„sh bin ein Pole.“
„Was war biß jet Eure Beichäftigung ?“
„Ich habe mich Herumgetrieben,“
„Der Leuchtturmmwächter muß jeßhafter Natur
jein !*
„I bedarf der Ruhe.“
„Habt Ihr jemals gedient? Habt Ihr Zeugniffe,
daß Ihr dem Staat je ordentliche Dienfte geleiftet ?*
Der alte Mann zog aus der Brufttafche feines
Gewandes ein verjchoffenes Stüd Seidenftoff, das
einem Fahnenfetzen gli, breitete es auseinander
und ſprach:
„Hier find meine Zeugniffe. Diejes Kreuz er—
bielt ih im Jahre 1830: Dieſes zweite Ktreuz, das
ſpaniſche, im Karliftenkrieg; das dritte ift das Kreuz
der franzöſiſchen Legion, ein viertes erwarb ich mir
990
in Ungam. Dann kämpfte id in den Vereinigten
Staaten gegen den Süden, ba giebt e& feine Kreuze
— daher diefes Papier.“
Volcombridge ergriff ben Bogen und las:
„Hm! Stawinsfi? Das aljo ift Euer Name?
Hm! Eigenhändig im Handgemenge zwei Fahnen
erobert! Ihr wart ein tapferer Soldat!”
„Ich werde es auch verftehen, ein gewiffenhafter
Leuchtturmwächter zu ſein.“
„Man muß täglich mehreremal den Turm er
klimmen. Habt Ihr gejunde Beine?“
„Ih bin zu Fuß von New York nad Kalifornien
gewandert!*
„All right! Kennt Ihr den Dienft zur See?“
„Ih habe drei Jahre bei den Malfiihfängern
gedient.“
„Run, Ihr habt ja allerhand verſucht.“
„Nur die Ruhe habe ich nirgends gefunden.“
„Weshalb?”
„Das war jo mein Schidjal.“
„Nun, für den Dienft auf dem Leuchtturm finde
ich Euch doch zu alt.“
„Herr,“ entgegnete der Bewerber mit bewegter
Stimme, „id habe mic viel herumgeſchlagen und
bin ſehr müde. Ihr jeht, daß ich viel verjucht habe,
Dieje offene Stelle ift eine derjenigen, nad) der ich
mid) am heißeſten gefehnt, Ich bin alt und möchte
ausruhen. Ih muß mir jagen können: da bleibft
du, das ift der Hafen, in ben bu eingelaufen bift.
O Herr! Das hängt nur von Euch ab. Eine ſolche
Stelle findet jih vielleicht für mich nie wieder.
Welch ein Glüd, daß ich gerade in Panama war!
Ich flehe Euh an. So wahr mir Gott helfe, ich
bin wie ein Schiff, dad, wenn es den Hafen nicht
erreichen fan, untergehen muß. Wenn Ihr einen
alten Mann beglüden mwolltet! Ich ſchwöre, daß ich
ein ehrlicher Menſch bin — das Herumtreiben aber,
das habe ich fatt!”
Aus den blauen Augen des Greijes ſprach fo
heißes Flehen, daß Folcombridge, der ein gutes, braves
Herz hatte, ſich ganz ergriffen davon fühlte.
„Nun wohl," jagte er. „Ihr jollt die Stelle
haben, von jet ab jeid Ihr der Leuchtturmmächter.“
Eine unbejchreibliche Freude überſtrahlte das
Antlig des Alten.
„Tauſend Dant!*
„Könnt Ihr noch heute Euern Dienft antreten?“
Jawohl.“
„Alſo — good bye! Doch, noch ein Wort. Ihr
wißt, daß jedes Vergehen im Dienſt ſofort die Stelle
loſtet ?“
„AU right.“
Noch an demjelben Abend — der Sonnenball hatte
fich in die Meeresfluten gefentt, und auf den ſtrahlenden
Tag war faft ohne Dämmerung die Nacht gefolgt —
Henryf Sienfiewicz.
war der neue Turmwächter offenbar ſchon auf jeinem
Platz, denn aus dem Leuchtturm ftrömten wie immer
grelle Lichtgarben aufs Waller hinaus, Die Nadıt
war ruhig und lautlos, wahrhaft tropiſch, durdträntt
von lichtem Nebel, der um den Mond einen großen
regenbogenfarbigen Hof mit weich verſchwimmendemn
Rande bildete. Nur dad Meer war beivegt, denn die
Flut fam heran. Skawinski fand auf dem Balton
neben den mächtigen Feuern und erſchien, bon unten
gejehen, wie ein Meiner ſchwarzer Punkt. Er ver:
fuchte e8, jeine Gedanken zu jammeln und jeine
neue Lage ins Auge zu faſſen. Aber auf ihm ruhte
ein zu jchwerer Drud, um ihm ein regelrechtes Denlen
zu geftatten. Ihm war zu Mute wie einem geheßten
Wild, das nah langer Jagd auf einem unzugäng
fihen Felfen Schuß gefunden. So war für ihn
wirllih der Zeitpunkt der Ruhe gelommen, Des
Gefühl der Sicherheit erfüllte feine Seele mit un-
gefannter Wonne. War er auf diejem einjamen
Felfen thatfächlich vor dem Umherirren, dem Mik-
geihid, dem Unglüd geborgen? War er nicht wie
das Schiff, dem der Sturm den Maft gebroden, bie
Segel zerrifien, das, von der Höhe in die Tiefe ge:
jchleudert, von den ſchäumenden Wellen gepeiticht
und überjpült, dennoch den rettenden Hafen erreiät !
Im Hinbfid auf die unendliche Ruhe, die jeiner jet
harrte, lieh er die Erinnerung an die Stürme jeines
Lebens flüchtig an feinem Geifte vorüberzichen. Einen
Teil feiner Erlebnifje hatte er ja dem Konſul erzählt,
das meifte war unerwähnt geblieben. So oft er eſ
auch verfucht hatte, jein Zelt aufzuſchlagen, einen
eignen Gerd zu gründen, immer verfolgte ihn das
Unglüd und führte ihn dem Verderben zu. Während
er jo auf dem Balton des Turmes ſtand und auf
die beleuchteten Wellen niederblidte, entrollten fich
vor ihm die Bilder feiner Vergangenheit. Er halte
in vier Weltteilen gefochten und hatte es, herumirrend,
faft mit jedem Beruf verſucht. Ehrlich und arbeit
fam, wie er war, hatte er fi) jo mandes Mal einen
Notpfennig erworben und ihn gegen alle Wahr:
icheinlichleit und troß der größten Vorſicht wieder
verloren. Er war Goldgräber in Auftralien geweien,
hatte in Afrifa Diamanten gefhürft und in Wei
indien dem Staate als Jäger gedient. Ws a
feinerzeit fi) in Auftralien eine Farm anlegte, ward
diefelbe durch die Dürre vernichtet, Er verſuchte
mit den wilden Stämmen, die im Innern Brafiliens
haufen, Handel zu treiben. Sein Floß zerſchellte
auf dem Amazonenftrom, er jelbjt irrte wehrlos und
halb nadt wochenlang in den Wäldern umher, nährt
fi) von wilden Früchten und war fortwährend ber
Gefahr, von Raubtieren zerrifjen zu werden, ausgeieht
In Helena in Arlanſas legte er eine Echmiedemerl-
ftätte an; in der fyeuersbrumft, die den ganzen Urt
vernichtete, ging fie zu Grunde. In den Rody
Heimmeh.
Mountains geriet er in die Gewalt von Indianern
und wurde nur wie burch ein Wunder von kanadiſchen
Jägern gerettet. Er diente als Matroje auf einem
Dampfer, der zwifchen Bahia und Bordeaug verlehrte,
auf einem zweiten als Walfifchjäger ; beide Schiffe
gingen zu Grunde. Er betrieb eine Zigarrenfabrif
in Havanna und wurde, während er ſchwer franf
daniederlag, von feinem Gompagnon beſtohlen.
Endlich aelangte er nad Ajpinwall, und hier follte
feinen Leiden eine Grenze gejeßt werben. Was fonnte
ihm auf diejer Meinen Felſeninſel noch zulommen,
wer ihm etwas anhaben? Weber Feuer, noch Waller,
noch die Menſchen! Bon den Menſchen hatte Sta-
winski übrigens nicht viel Schlechtes erfahren. Ihm
waren mehr gute als böje Menjchen begegnet. Nur
die Elemente ſchienen ihn zu verfolgen. Diejenigen,
die ihn fannten, fagten, daß er fein Glüd habe, und
damit war alles gejagt. Schliehlid wurde es bei
ihm jelbit zur firen Idee, daß eine furchtbare rächende
Hand ihn zu Waſſer und zu Land verfolge. Doch
liebte er es nicht, darüber zu ſprechen. Nur mand»
mal, wenn man ihn fragte, weſſen Hand das wohl
fei, deutete er geheimnisvoll nach dem Polarftern
und meinte, daß fie dort zu fuchen wäre, That-
jählih waren jeine Mißerfolge jo dauernd, daß jie
faft umbegreiflich erjchienen, und fein Wunder, daß
fie den, der fie erfuhr, faft um den Verſtand brachten.
Er hatte übrigens die Geduld eines Indiers und
jene große zähe Widerftandäfraft, die dem braven,
rechtlichen Sinne entfpringt. In Ungarn hatte er
jeinerzeit eine ganze Anzahl von Bajonettftößen in
den Leib belommen, weil er den gebotenen Ausweg,
Pardon zu erbitten, nicht ergreifen wollte. Ganz
ebenfowenig ergab er ji dem Unglück. So emfig
wie die Ameiie verfuchte er e8, den Berg aufwärts
zu Mimmen. Neunundneunzigmal berabgeftoßen,
verjudhte er ruhig jeinen Weg zum bundertjienmal,
Er war in jeiner Weife ein ganz eigenartiger Sonder-
ling. Diejer alte Soldat, gehärtet durch jegliches
Unglüd, geprüft und gejchlagen, er trug ein wahres
Kinderherz in der Bruft. Bei einer Epidemie auf
Ruba erkrankte er einzig beshalb, weil er jeinen
ganzen bedeutenden Vorrat an Chinin den Kranken
hingegeben und nur ein Gramm für ſich behalten
hatte. Auch das war ganz merfwürdig an ihm,
daß er nach fo zahllofen Enttäuſchungen immer voll
Vertrauen war und die Hoffnung nicht aufgab, daß
alles ſich noch zum Guten wenden würde. Bejonders
befebte ihn der Winter und fand ihn ſtets in Er-
wartung irgend eines bedeutjamen Ereignifjet. Er
erwartete es ungeduldig und zehrte an dieſer Er—
wartung jo manches Jahr. Aber die Winter folgten
einander, doch Skawinsli erlebte nur, daß fie ihm
die Haare bleichten. Endlich alterte er und verlor
nad und nad feine Energie. Seine Geduld nahm
991
allmählich die Geftalt der Refignation an. Die ehe-
malige Gelaffenheit verwandelte fi in Weichmütig«
feit, und dieſer geftählte Krieggmann war bei jed«
weder Gelegenheit nahe daran, fi in Thränen auf«
zulöjfen. Ueberdies ergriff ihn von Zeit zu Zeit das
Ichredliche Heimweh, das oft durch die unbebeutendfte
Beranlafjung hervorgerufen wurde. Der Unblid
einer Schwalbe, eines grauen Vogels, der ihn an
einen Spaben gemahnte, der Schnee auf den Bergen,
ein Ton, der an eine einft gehörte Melodie erinnerte,
genügten. Schließlid kannte er nur noch einen Ge-
danfen — bie Sehnjuht nad) Ruhe. Diefer eine
Gedanke beherrſchte ihn jo vollftändig, daß alle
Wünſche und Hoffnungen daneben verftummten,
Ein ewiger Wanderer, kounte er fich nichts Beglüden«
deres ausdenlen als einen Erdenwintel, in dem es
ihm vergönnt fein würde, ftill und ruhig bis zu feinem
Ende auszuharren. Wohl eben deshalb, weil ein
fonderbares Geihid ihn zu Land und Meer fo uns
ausgejegt umberftieß, daß er gar nicht zu Atem zu
fommen vermochte, ftellte er ſich das Ausruben auf
einem Fleck als das größte irdifche Glüd vor. Als ob
auch nur ein jo befcheidener Wunſch für ihn erreichbar
gewejen wäre! Aber an Enttäujchungen gewöhnt,
träumte er von dieſem Glück, wie man von Unerreich—
barem träumt. Zu hoffen wagte er nicht mehr,
Da fiel ihm innerhalb zwölf Stunden eine Anftellung
in den Schoß, die unter allen auf der Welt eigens
für ihn geſchaffen ſchien. Es war aljo nicht zu ver
wundern, daß er am Abend, als er das Leuchtfeuer
anzündete, noch ganz verwirrt daſtand, ſich ſelbſt fragte,
ob das alles wahr jei, und «8 faum zu bejahen wagte.
Dabei ſprach die Wirklichkeit zu ihm mit unmwider-
leglichen Beweijen, und die Stunden verflogen
ihm, wie er jo auf dem Ballon ſtand. Er ſah um
fh und jog die Gewißheit ein. Es war, als ſähe
er das Meer heute zum erftenmal in feinem Leben
— Mitternadt ertönte von den Türmen von Aſpin—
wall, und noch dachte er nicht daran, jeine Iuftige
Höhe zu verlaſſen. Das Meer wogte zu jeinen
Füßen. Das feuer warf einen riefigen Lichtkreis
aufs Waller. Darüber hinaus irrte das Auge des
Greiſes in nächtliche, geheimnisvoll dunkle Ferne. Aber
jene Ferne ſchien dem Lichte zuzueilen, Lange, ge»
furchte Wellen rollten aus der Finſternis herbei und
ſchlugen braufend an das Ufer der Injel, während
der ſchäumende Gifcht rofig im Lichte erglühte. Die
Flut fam immer näher heran und überjpülte die
jandigen Flächen. Die geheimnisvolle Sprache des
Ozeans wurde immer gewaltiger und lauter vernehm-
bar, bald dem Donner der Kanonen, bald dem Braufen
des Urwalds, bald taufendjtimmigen menſchlichen
Lauten gleihend. Kurzes Schweigen, darauf Seufzen
und Stöhnen und wieder grollende Ausbrüche.
Darauf vertrieb der Wind den Nebel und fegte
992
ſchwarzes, zerriffenes Gewöll herbei, da8 den Mond
verhüllte. Vom Weiten ber blies es ftärfer und
immer ſtärler. Die Wogen ſchlugen immer wütender
gegen das Gemäuer des Leuchtturms, aus der Ferne
zog der Sturm heran. Auf der bunfeln bewegten
Oberflähe erglänzgten einige grüne Lichter an den
Maften der Schiffe. Die grünen Punkte erfchienen
bald hoch, bald niedrig, ſchwankten nach rechts und
lints. Da endlich begab fid) der Alte in fein Zimmer.
Der Sturm brad) 108. Da draußen auf jenen Schiffen
fämpften die Menichen mit Nacht und fFinfternis und
den Wogen, bier in diefem Gemache war es ftill und
friedlih. Selbft der Anprall des Sturmes drang
nur ſchwach durch die diden Mauern des Leuchtturms,
und das eintönige Tidtad der Turmuhr wiegte den
müden Greiß in den Schlaf.
II.
Stunden, Tage und Wochen flofien dahin. Ma»
trofen buldigen dem Glauben, daß fie mandhmal
auf wildfürmender See durch Nacht und Finſternis
ihren Namen rufen hören. Wenn die Unendlichkeit
bes Meeres dieſe Vorftellung hervorruft, dann fann
es ja fein, daß, wenn der Menſch altert, er aus einer
weit dbunflern und geheimmisvollern Unendlichkeit
eine Stimme vernimmt, die nach ihm ruft, und je
müder ihn das Leben gemacht, um fo lieber hört er
den Ruf. Um ihn hören zu fönnen, bedarf er der
Stille. Außerdem ift e8 eine Vorliebe des Alters,
fi abzufondern, ein Vorgefühl der Grabesftille.
Der Leuchtturm war für Stawinsfi faft ſchon ein
Grab. Eintöniger fann das Peben wohl nirgends
dabingehen ald an diejer Stelle. Wenn ſich ein
junger Menſch zu diefer Aufgabe entichließt, fo kann
man gewiß jein, daß er fie binnen furzer Friſt wieder
aufgiebt. Ein Turmwächter ift daher auch in ber
Regel ein älterer, düftrer, verfchlofjener Dann. Will
es der Zufall, daß er wieder den Poften aufgiebt
und unter Menſchen gerät, dann wandelt er unter
ihnen, wie aus ſchwerem Schlaf erwacht. Auf dem
Leuchtturm gebricht es an all jenen Fleinen Eindrüden,
die im Alltagsleben den Maßſtab geben. Alles,
womit der Turmwädhter in Berührung kommt, geht
ing Riefenhafte und entbehrt gefchlofjener, ſcharf
begrenzter Umriffe. Der Himmel ift eine Unendlich—
feit, ebenfo dad Meer, und innerhalb dieſer un—
begrenzten Welten die einfame Menſchenſeele! Das
ift fein Leben, nur ein ftetes Hinträumen, und aus
diefem Traumbafein erweckt den Wächter nichts, nicht
einmal feine Beihältigung. Ein Tag gleicht dem
andern, wie ein Waflertropfen dem andern, und höch-
ſtens die Verfchiebenheit in der Witterung bringt ein«
mal eine Abwechslung. Dennod) fühlte ſich Stawinsfi
jo glücklich, wie noch nie in feinem Leben. Mit Tages-
anbruch verließ er jein Lager, nahm eine Heine ; Leuchtturm und feiner Einjamteit.
Henryf Sienkiewiez.
Stärkung zu ſich, reinigte die Linſen feiner Laterne,
nahm darauf feinen Plab auf dem Ballon ein
und vertiefte fih in den Anblid der Unendlichlei
des Meeres, am deren mannigfaltigen Bildern ſich
fein Auge nie ſati zu fehen vermochte. Gemöhnlic
erblidte man auf ber riefengroßen, tiefblauen Ober
flähe zahlloje ausgeſpannte Segel, die jo ftarf in
der Sonne leuchteten, dab man vor dem Uebermaß
des Glanzes die Augen jchließen mußte; mandmal
machten die Schiffe von den Paſſatwinden Gebraud
und zogen in langgedehnten Reihen hintereinander
ber, wie große Fetten von Seemöwen. Die rotem
Täffer, die den Weg bezeichnen, wiegten ſich letie
und leicht auf den Wellen. Zwiſchen den Segeln
erhob ſich täglich um die Mittagsftunde eine mächtige
Ihwarzgraue Rauchfäule. Sie verfündete das Dampf
boot, das den Waren» und Perjonenverkehr zwiſchen
New Mork und Wipinwall vermittelte. on der
entgegengejeßten Seite des Balfons überblidte ber
Alte Afpinwall und jeinen belebten Hafen, den Bald
von Maften zahllofer Schiffe und Kähne. Eimas
entfernter die Stadt mit ihren weißen Häuſern und
Türmen. Bon der Höhe des Leuchtturms gejehen,
erichienen die Häufer wie Möwennejter, die Kühne
wie Käfer, und die Menſchen bewegten ſich mie winzige
Nunfte auf den weißen Steinen der Hauptitraße.
Des Morgens brachte eine leichte Briſe ans dem
Dften einzelne Laute des menschlichen Treibens herüber,
vor allem den jehrillen Ton der Dampfpfeife. Um
die Mittagsftunde hingegen herrichte abjolute Rue,
Die Bewegung im Hafen hörte auf, die Mömen
verftedten ſich in die Felſenſpalten, die Wellen wurden
ſchwächer und bewegten ſich faum, und über Sand
und Waſſer breitete fi einen Augenblid lautloſe,
ungetrübte Stille. Die Fleden gelben Sande, den
die Ebbe freigelegt, glänzten goldig zwiſchen den breiten
Waſſerflächen, ſcharf hob ſich der Leuchtturm von der
glänzenden Oberflähe ab. Eine Flut von Sonnen
ftrahlen ftrömte vom Himmel nieder und ergo ſich
über Waſſer, Sand und Felfen. Da fühlte auch
der Greis ih von einer unausſprechlich ſüßen
Mattigfeit’ergriffen. Er fühlte, daß die Ruhe, die
er genoß, köſtlich war, und wenn er bedachte, dab fie
dauernd bleiben würde, dann blieb ihm nichts zu
wünſchen mehr übrig. Er jhwelgte in feinem Gläd,
doc) da es in der Menſchennatur Liegt, ſich ſehr bald
an das Gute zu gewöhnen, fo gewann aud) er nadı
und nad) den Glauben und das Vertrauen wieder
und dachte: wenn die Menjchen ſchon auf das Schid«
jal ihrer Invaliden bedacht find und ihnen Häufer
bauen, wie follte Gott nicht feinem Invaliden endlich
ein ficheres Neſt bejcheert Haben? Die Zeit ging
dahin und befräftigte ihn in feinem Vertrauen. Der
Greis ging ganz auf in feinen Felſeneiland, feinem
Er wurde auf
Heimmeh.
mit den Möwen vertraut, die in den Felſen nifteten
und am Abend den Turm umſchwärmten. Der Alte
freute die Refte feiner Mahlzeiten für die Vögel bin,
und diefe wurden mit der Zeit jo zutraulich, daß,
fowie er fich zeigte, ganze Schwärme von weißen
Möwen hinter ihm berflatterten und er in ihrer Mitte
wie ihr Gebieter erjchien. Zur Zeit der Ebbe durch⸗
wanderte er die jandigen Ufer, ſammelte ſchmachhafte
Schaltiere und bunte, perlfarbige Mufcheln, die die
Wellen dem Lande überantworteten, In mondhellen
Nähten Holte er fich jeinen Vorrat an Fiſchen von
der überreichen Menge, die die Ufer umſchwammen.
Er gelangte dahin, dieſes Heine öde Felſeneiland
von ganzem Herzen zu lieben, War e8 innerhalb
der Felſen auch öde, jo wurde ihm andrerjeit3 mancher
unerwartet jchöne Anblid zu teil. Zur Mittagftunde,
wenn die Atmoſphäre ganz durchfichtig wurde, konnte
man die ganze Landenge bis zum Stillen Ozean,
von der üppigjten Vegetation bebedt, überjehen. Es
ſchien dem Alten, al3 ſähe er einen einzigen Riefen-
garten. Solosbäume und Palmen erfchienen wie
mächtige, weit ausfallende Blumenfträuße dicht hinter
den Häujern von Ajpinwall. Etwas weiter zwifchen
Apinwall und Panama überblidte man einen uns»
geheuern Wald, über dem morgens und abends die
Dünfte in rötlichem Nebel aufftiegen, ein wirklicher
Urwald, deifen Grund ftehende Waller dedten, von
Lianen durchflochten, in dem flurmgleich die Blätter
der Orchideen, der Gummi⸗ und Milhbäume raufchten.
Durd) jein Fernglas konnte der Alte nicht nur die
Blätter der Bananen erkennen, er jah auch Die Affen-
berden, Die Marabus und die Menge der Papa-
geien, die fi einer farbigen Wolfe gleich von dem
Grün des Waldes abhoben. Stawingfi fannte der—
artige Wälder aus eigner Anfhauung nur zu genau,
war er doch nad jeinem Schiffbruh auf dem
Amazonenfluß dur Wochen in einem ähnlichen grünen
Diclicht umbergeirrt. Er wußte, welche Todesgefahren
dieje lachende herrliche Oberflähe barg. Hatte er
doch den Todedgefahren ins Auge gejehen, das Brüllen
der Jaguare und andrer Naubtiere in nächfter Nähe
gehört, Hatte die Niefenfchlangen gejehen , die ſich
wie Lianen an den Zweigen wiegten, er fannte jene
fillen Waldfeen, die von Krampffiſchen überfüllt find,
und in denen die Krokodile haufen. Er mußte,
unter welchem Joch der unglüdliche Menſch in diejer
Wildnis lebt, wo einzelne Blätter ihn zehnfah an
Größe übertreffen und Schwärme blutgieriger Mos—
fitog, Baumblutegel und gefräßige Riefenfpinnen ihn
ftets bedrohen. Er hatte all das jelbft erfahren,
fennen gelernt und erlitten, daher gewährte es ihm
jebt eine um fo größere Befriedigung, aus feiner
ſicheren Geborgenheit die Schönheit bewundern und des
überftandenen Grauens gedenken zu können. Sein
Zurm barg ihn vor allem Böſen. Er verlieh ihn aud)
Aus fremden ungen. 1897. IL 21.
993
nur in langen Zwifchenräumen an einem Sonntags
morgen, Dann legte er feine dunkelrote, mit Sifber-
fnöpfen verfehene Wächteruniform an, heftete jich jeine
verjhiedenen Kreuze an die Bruft und warf feinen
Ichneeweißen Kopf ftolz zurüd, wenn er beim Aus-
tritt aus der Kirche die Kreolen hinter ſich jagen
hörte: „Wir haben wirflid) einen anftändigen Leucht-
turmwächter, und er ift fein Ketzer, wenn er auch ein
Dantee iſt.“ Kaum war die Meile vorüber, jo kehrte
er auch ſchon auf fein Eiland zurüd und fühlte fich
glüdlih, denn immer noch traute er dem feſten Boden
unter feinen Füßen nicht recht. Am Sonntag las
er auch eine jpanifche Zeitung, die er fih in der
Stadt faufte, oder den New York Herald, den er ſich
im Konfulat ausborgte, und forſchte eifrig nach Nadh«
richten aus Europa. Armes, treues Herz! Auf
diejer fernen Turmwarte auf ber andern Seite der
Erdkugel ſchlug es no warn fürs Vaterland. Hie
und da geſchah es auch, daß er von feiner Warte
herabftieg, um mit dem Fährmann John, der ihm
feine täglichen Vorräte bradjte, einige Worte zu
wechjeln. Allmählich zog er fi) immer mehr in ſich
ſelbſt zurüd, Er fam nicht mehr in die Stadt, las
feine Zeitung und politifierte auch nicht mehr mit
Sohn. Wochen verftrichen, ohne daß er mit Menſchen
verfehrte. Nur das mit größter Negelmäßigfeit
allabendlich wiederkehrende Aufleuchten des Turms
feuerd und das Verſchwinden der Lebensmittel vom
Ufer jprah dafür, daß der Alte lebe. Allem An—
Iheine nad) war die Außenwelt dem Greife gleich-
gültig geworden. Auch das Heimweh hatte ſich
endlich in Refignation umgewandelt. Seine ganze
Welt war ſchließlich diefes einfame Eiland geworben.
Er hatte jich mit dem Gedanken vertraut gemacht,
bier leben und fterben zu wollen; was außerhalb lag,
geriet einfach für ihn nad) und nad in Vergeſſenheit.
Nebenbei wurde er zum Myſtiker. Seine janften
blauen Augen waren wie die Augen eines Kindes
geworden, fragend ins Weite gerichtet. In der jteten
Einſamleit und in dieſer eintönigen und doch fo
großartigen Umgebung verlor der Greis das Be—
wußtjein des eignen Ichs, er hörte perjönlich zu exi=
ftieren auf und ging auf in dem, was feine Welt
bildete. Das war feine Sache der Ueberlegung,
unbewußt überfam es ihn, aber jchließlid wurden
ihm der Himmel, das Waſſer, bie Felſeninſel, die
Warte, Ebbe und Flut, die blinfenden Segel und
die flatternden Möwen zu einer einzigen großen
Einheit, zu einer mächtigen geheimnisvollen Seele,
er jelbft ging unter in diefem Myſterium, fühlte den
Geift, der lebt und alle Stürme befänftigt. Er ging
unter, ließ ich einwiegen und vergaß. In dieſem
Aufgeben des eignen Ichs, diefen dumpfen Empfin-
dungen, diefem Halbichlaf fand er ein fo unendliches
Ausruhen, daß «8 fait dem Scheintode glich.
125
994
III.
Da auf einmal fam das Erwaden.
Eines Tages, als Stawinsfi ang Ufer ging, um
feine täglihen Vorräte zu holen, bemerkte er, daß
neben denjelben ein Palet lag. Es war für ihn
beitimmt, trug die Marfen von Norbamerifa, und
auf der Adrejje war deutlich zu leſen: „Skawinsfi,
Esq.“ Da wurde er neugierig, jchnitt das Patet
auf und ſah, daß e8 Bücher waren. Er ergriff
einen Band, ſah hinein und legte ihn zurüd, wobei
feine Hände heftig zu zittern begannen. Er blinzelte
mit den Augen, als jehe er nicht recht — ihm war, ala
träume er. Ein polnisches Buch!! Was follte das
heißen? Wer konnte ihm dieſe Bücher gefchidt
haben? Im erften Augenblid fiel es ihm nicht ein,
daß er einige Zeit, nachdem er feinen Poften an-
getreten, im New Yorl Herald von der Gründung
eined polnischen Vereins gelefen, dem er fofort mit
der Hälfte feines Monatögehaltes beigetreten war.
Der Berein erwies ſich dankbar und ſchickte ihm einige
Bücher. Diejen natürlichen Borgang fonnte der
Alte im erften Augenblid nicht auffaſſen. Polnische
Bücher in Aipinwall, auf feiner Warte, inmitten
feiner Einjamfeit diejer lebenswarme Hauch aus fernen
Zeiten — ba war ein Wunder geſchehen! Jebt
war ihm widerfahren, was dem Schiffer in ftiller
Nacht, eine teure, faſt vergeffene Stimme hatte ihn
angerufen. Er ſetzte ſich, jchloß die Augen und war
faft ficher, daß, wenn er fie wieder öffnete, ber Traum
verſchwunden fein würde, Dod nein! Hier lag
das aufgejchnittene Packet vor feinen jehenden Augen,
überftrablt von dem Glanze der ſüdlichen Sonne,
und obenauf das aufgefchlagene Bud. Als der
Alte abermals die Hand danad) ausſtreckte, hörte er
inmitten ber tiefen Stille das Pochen des eignen
Herzens, Er jah hinein, es waren Berje. Er las
das Titelblatt und den Namen des Autors. Der
Name war ihm nicht fremd, er wußte, dab es ein
großer Dichter war; einzelne Sachen von ihm hatte
er in den dreißiger Jahren in Paris gelefen. Später-
bin, als er in Algier und in Spanien kämpfte, er»
zählten ihm Landsleute, die er traf, von ben großen,
immer wachjenden Erfolgen des Dichterd, er aber
war jo and Waffenhandwerf gewöhnt, daß er fein Bud)
mehr anjah. In jeinem neunundvierzigften Jahre
ging er nad Amerila, und in dem Abenteurerleben,
das er jührte, begegnete er faum je einem Polen,
nie aber war ihm ein polnifches Bud) in die Hand
gelommen, Mit um jo größerem Eifer und hoch—
Hopfenden Herzens begann er jet zu bfättern. Jetzt
fam es ihm vor, al& trüge ſich auf feiner Felſen—
injel etwas ungemein Freierliches zu. Es war ein
Augenblid unendlicher Ruhe und Stille. Die Uhren
von Aſpinwall verfündeten die jünfte Nahmittags«
ftunde. Kein Wölfen trübte das klare Blau des
Henryl Sienkiewiez.
Himmels, leiſe herüber ſchwebten einige Möwen. Re
‚gungslos lag dad Meer, kaum hörbar ſchlugen die
Wellen ans Ufer und zerfloffen ſanft in dem goldigen
Sand. Aus der yerne leuchteten die weißen Häufer
von Aſpinwall und ſchimmerten die herrlichen Palmen-
gruppen. Wahrlic fill, feierlich und ernit war «
ringsum. Da auf einmal erjchallte durch die Stille
bie zitternde Stimme des Alten, ber, um beijer zu
verjtehen, mit lauter Stimme las:
„Litauen, mein Vaterland, du bit wie die Ge
fundheit, Wie man did) wert halten muß, erfährt nur
der, ber Dich verloren. Heute jehe und bejchreibe ih
beine Schönheit und Herrlichkeit, weil mein Herz ſich
nad) dir jehnt.“
Dem Alten verfagte die Stimme, Die Bud
ftaben verſchwammen. In der Bruft ſchien ſich ehwas
loszulöfen und, einer Welle gleich, vom Herzen auf
wärts fteigend, ihn zu würgen, die Stimme zu breiben,
Noch einen Augenblid, dann beherrichte er fi und
las weiter, jene herrlichen Berje, die der Sehnfucht
nad dem Baterlande Ausdrud geben.
Was fih in der Bruft angefammelt, durchbrach
die Macht des Willens. Laut auf fchrie ber Alte
und warf ſich zu Boden. Seine ſchneeweißen Haare
vermiſchten fich mit bem Sande des Meeres, Vierzig
Jahre waren vergangen, jeitdem er das Baterland
nicht mehr gejehen — Gott mochte wifjen, wie viele
Jahre, feit er die Mutterſprache nicht mehr vernommen!
Und da fan fie zu ihm, dem Einfamen, auf der
andern Hälfte der Weltlugel, über das weite Meer
hinüber, jo innig und traut, jo warm und ſchön!
Indem Schluchzen, das feinen ganzen Körper ſchüllelte,
lag fein Schmerz, nur die plötzlich erwachte um
endiiche Liebe, neben der alles andre verfinft! Mit
diefen unendlichen Thränen wollte er einfad die Ge
liebte, faft Bergefjene um Vergebung anflehen, daß er,
alt geworden, fi jo in die Einfamfeit vergraben,
daß jelbit das Heimweh in ihm zu erfterben begann.
Und jetzt war es dur ein Wunder zurüdgerufen
worden, jetzt brach es in feinem Herzen auf. Die
Stunden verflogen — er lag da und meinte, reis
ſchend umfreiften die Möwen den Turm, als triebe
fie die Unruhe um ben alten Freund. Die Zeit
war gefommen, wo er ihnen jonft die Reſte feine
Mahles ausftreute, daher flogen einige der Vögel
bi8 zu ihm herab, Nah und nad famen immer
mehr herbei, fie pidten mit ihren Schnäbeln an ihm
und bewegten leicht die Flügel. Der Flügelſchlag,
der ihn umfreifte, wurde immer flärfer und bradite
ihn zum Bewußtjein. Die Thrünen hatten ihn er
leichtert, fein Antlig erfhien jet ruhig und ſtrahlend,
und die Augen blidten wie verflärt. Faſt unbemußt
ftreute erfein ganzes Efjen den Vögeln hin, die ſchreiend
darüber herfielen, er jelbjt griff wieder nach dem Buch.
Schon war die Sonne über den Gärten und bem
er
| — — — —
Heimweh.
Urwald von Panama niedergegangen und jenfte ſich
langfam über die Pandenge dem andern Meere zu,
aber voller Glanz lag nod; über dem Atlantifchen
Ozean, die Luft war Mar und durchſichtig, und jo
laß er denn weiter:
„Du aber trage inzwiſchen meine verſchmachtete
Seele zu diejen bewaldeten Hügeln, zu diefen grünen
Wieſen.“
Erſt die flüchtige Dämmerung verwiſchte die Buch⸗
ſtaben auf dem weißen Blatt. Der Alte lehnte ſein
Haupt an den Felſen und ſchloß die Augen. Da
nahm die Gottesmutter ſeine Seele in ihre Arme
und ſchwebte mit ihr hinüber zu jenen Feldern, die
bunt bemalt von blühendem Getreide.
Lange rotgoldene Streifen breiteten ſich über das
Himmelszelt, mit ihnen jchwebte die Seele fort, der
teuern Heimat zu, Er hörte die Fichtenwälder rauſchen
und die heimifchen Quellen murmeln. Er ſieht alles,
wie er es einft gejehen, und alles fragt: Weißt du
noh? Ob er daran benft, ob er ſich erinnert —
er ſieht fie ja leibhaftig vor fih, die ausgedehnten
Felder, die Wieſen, die Mälder, die Dörfer. Nacht
iſt's! Um diefe Zeit erleuchten fonft immer bie
Teuer des Leuchtturms die Finfternis des Meeres —
er aber weilt in feinem Heimatsdorfe. Das alte
Haupt ift auf die Bruft geſenkt — er träumt.
Schnell und unvermittelt ziehen die Bilder der Ver-
gangenheit an feinem Geifte vorüber. Er fieht nicht
fein Baterhaus, der Krieg hat e8 von der Erde ge=
fegt, er fieht weder Vater noch Mutter — war er doch
noch ein Rind, als fie ftarben ; aber das Heimatsdorf
fieht er vor fi, als hätte er es erft geftern verlafien,
die lange Reihe der Hütten, auß deren Fenſtern bie
fleinen Lichter Simmern, den Damm, die Mühle,
die beiden Teiche, aus denen die ganze Nacht hindurch
der Chor ber Fröſche zu hören iſt. Einit ſtand er
nachts in diefem jeinem Heimatsdorfe auf der Reiter-
wahe — dieſe Vergangenheit tritt jetzt in die Reihe
der Erſcheinungen. Da fleht er als Ulan wieder
auf feiner Wade, Wie mit Glutaugen blidt das |
Wirtshaus aus der Ferne herüber, wüſter Lärm,
Aufftampfen, Singen und Spielen ſchallt durch Die ſtille
Naht. Das find die Ulanen, die mit ihren Sporen
zufammenjchlagen, und er langmweilt fi fo einfam
auf feinem Pferde. Träge jchleihen die Stunden
dahin, da verlöjchen die Lichter, jeht, ſoweit das
Auge reiht, undurddringliche Nebel — fie fleigen
von den Wiefen auf und büllen die Welt in ein= |
fürmiges Grau. Du glaubft, e8 ift das Meer —
nein, das find die Wiefen. Wann wird im Dunfeln
die Wachtel anfhlagen, warn das Gezwitfcher ber |
995
Vögel das Weidengebüſch beleben? Welch eine
ruhige, fühle Nacht, eine wahrhaft polniiche Nacht!
Nicht fturmbewegt, nur von felbft raufcht in ber
Ferne der Fichtenwald — mie die Meereswelle.
Bald wird der Morgen grauen — der Hahn fräht
bereits jein Morgenlied. In den Hütten wird es
nach und nad lebendig, und man hört die Kraniche
von fernen Höhen. Der Ulan fühlt ſich friſch und
kräftig. Sprach man nicht etwas von der morgigen
Schlaht? Hei! da wird er aud hingehen wie die
andern, mit Kriegsgeichrei und wehendem Fähnchen!
Das junge Blut Freift heiß, wenn die Nacht auch
fühl ift. Aber da dämmert der Morgen, die Nacht
verblaßt. Aus der Umgebung treten die Einzel-
heiten greifbar hervor. Die Brunnen fnarren, wie
die Wetterfahne auf dem Turm. Wie jhön ift die
teure Muttererde im rofenroten Lichte der Morgen-
bämmerung! Du Teure, du Einzige!
Still! Horch! Der aufmerffame Wachpoſten hört,
daß jemand ſich nähert. Wahrſcheinlich ſoll der
Poſten gewechjelt werden,
Plötzlich Hört der Alte dicht neben fi eine
Stimme:
„Heda, Alter, wacht auf, was habt Ihr?“
Er ſchlägt die Augen auf und fieht voll Staunen
jemand neben ſich ftehen. Seine Träume und
Bifionen fämpfen noch mit der Wirklichkeit. End»
lich wird e8 Flar vor feinen Augen. Vor ihm fteht
der Hafenwächter John.
„Was habt Ihr,“ fragte John, „ſeid Ihr krank ?*
„Nein,“
„Shr habt die Peuchtfeuer nicht angezündet, Ihr
feid Eures Dienftes entlaffen. Der Kahn von
St. Jerome ift in den feichten Waflern zerjchellt.
Zum Glüd ift niemand verunglüdt, ſonſt hättet Ihr
Euch den Gerichten ftellen müſſen. Kommt, ſteigt
ein, alles übrige erfahrt Ihr auf dem Konſulat.“
Der Alte erbleihte. Es wahr ja wahr, er hatte
dieje Nacht das Anzünden der Leuchtfeuer vergefien.
Mehrere Tage darauf wurde Stawinsfi auf dem
Verded des Dampfers gejehen, der feinen Lauf nach
New York nahm. Er war feiner Stelle verluftig
geworden. Das Herumirren fonnte wieder anfangen.
Wie ein lofes Blatt ergriff ihn der Sturm, um ihn
über Fand und Meer, hierhin und dorthin zu treiben.
Er war in diefen wenigen Tagen gealtert und ge—
beugt, nur in den Augen lag ein merhwürdiger
Schimmer. Für feine weiteren Lebenswege trug er
als Talisman an der Bruft jein Buch, das er von
Zeit zu Zeit ängftlich befühlte, als fürchte er auch
dad nod) zu verlieren.
Yas nackte Modell.
Skizze von
Juhani Aho.
Aus dem Finnifchen überfeßt von Wathilde Mann.
Schon mit ſeinem erſten Gemälde erregte er un-
gewöhnlihe Nufmerffamkeit. Die Zeitungen wie
auch das Publifum nahmen es wohlwollend auf,
Das Bild ftellte das Innere einer Dorffate dar.
Am Ende des Tijches ſaß ein alter Mann und flidte
ein Neh, neben ihm auf der Bank fniete ein Meines
Mädchen, bemüht, leſen zu lernen. Durd) das Fenſter
im Borbergrund fah man eine Winterlandichaft mit
Zannenwald, und durch das andre ſchien bie Sonne
herein, Auf dem Fußboden fonnte ſich die Kahe
mit halbgeſchloſſenen Augen. Das Geficht des Alten
und das hellblonde Haar des Kindes feien bejonders
gut gelungen, fagte man. Ein fo durd und durch
finnifches und fo naturfrifches Bild hatte man felten
geſehen. Befonders die finniſch Gefinnten waren
über das NKunftwerf begeiftert. Erſtens war der
Künftler felber einer von ihnen, und dann hatte er
feinen Borwurf dem Bolfsleben entnommen, befien
Schilderung jeht an der Tagedordnung war, und
das der junge Maler von Grund aus verftanden zu
haben ſchien. Ueberall fprah man von dem „Nef-
flidenden Alten”, und Photographien nad) dem Ge»
mälde fanden einen Weg in jedes Familienalbum.
„Ihr Nepflider ift doch etwas ganz Brillantes !*
fo redete man ihn an, wohin er kam. „Das Bild
iſt gewifjermaßen ein Stüd von der Kulturgeſchichte
unſers Volles. Bringen Sie ung nicht bald etwas
Neues im jelben Genre? Etwa einen alten Fiſcher —*
„Und was jo bejonders anziehend auf uns alle
gewirft hat, ift die Reinheit, die Unſchuld in Ihrer
Kunſt — jeder einzelne Zug Ihrer Geftalten trägt
das Gepräge finnifcher Einfachheit, und aus Jhrer
Landſchaſt ftrahft einem förmlich eine Johannis—
Stimmung entgegen!“
Er war ein hübjcher, flattlicher junger Mann,
und er ward bald in das gejellige Leben der finniſch
gefinnten Kreife von Helfingfors hineingezogen, Die
Tochter eines höhern Beamten, eine Kammerrats,
verliebte ſich in ihn und er fih in fie. Sie ver-
lobten fi, und die Verlobung wurde in den Zeitungen
beiprodhen. j
Die Eltern der Braut, die fi jelbftverftändlich
auf Kunft verftanden, — der Kammerrat war Mit-
glied des Kunſtvereins — waren ganz entzüdt von
ihrem fünftigen Schwiegerſohn und jogar ein Hein
wenig ſtolz auf ihn. Für den umbemittelten jungen
Mann brach eine glüdliche Zeit an. Während der
Sommermonate malte er auf dem Lanbdfik jeiner
künftigen Schwiegereltern und führte dort ein jorgen-
freies Leben. Die Kritik behauptete, daß feine Aunkt,
die das Vollsleben mehr und mehr ergründete, ſich
auch mit jedem neuen Bild, dad er ausftellte, meh:
und mehr veredfe. Alle feine Gemälde ftellten die
ländliche Natur dar und waren Mein und fein, ja
oft idylliih. Es war ihm gelungen, dem Publikum
gerade das zu geben, was e& haben wollte, und er
fand eine ganze Menge von Nachahmern.
Nur eins von feinen Gemälden befricdigte weder
die Mefthetifer noh das Publikum. Er hatte einen
Strand gemalt, an dem Frauen ftanden und Wäſche
jpülten,
Man machte in den Zeitungen einige tabeinde
Bemerkungen über das Bild, weil nämlich die Bein
der einen Wäſcherin reichlich weit entblößt waren.
„Er ift gerade fo weit über das Knie gegangen, wie
er hätte darunter bleiben ſollen,“ bemerkte ein fird«
liches Blatt ſpitz und meinte in dieſem realiſtiſchen
Bild die frühere, edle, liebenswürdige Auffaſſungs-
weile des Künftlers überhaupt nicht jpüren zu können.
Die Kritif ärgerte ihn und verftimmte ihm auf
lange Zeit. Er hatte ſich eingebildet, daß biejes feiner
Anfiht nah wirkungsvolle Gemälde ala Fortihritt
in feiner Kunſt begrüßt werden würde. Die ftarl
fonnengebräunte Farbe an den Armen, den frühen
und der halb entblößten Brufi der Frauen hatte er
mit bejonderer Sorgfalt ftudiert und feine ganze
Kraft daran geſeht, die Schwierigfeiten, die ſich ihm
bei der Wiebergabe diejer Hautfarbe entgegenftelten,
zu überwinden. Er hatte das Verlangen empfunden,
ſich an ſchwerere, ernftere Nufgaben zu wagen und
nicht ausſchließlich „in Idyllen zu fchlummern*, wie
er jelber es bezeichnete,
Er Hatte fich gleichzeitig um ein Stipendium zu
einer Studienreife nad) Paris beworben, und er er
hielt e8. Aber es gab mand einen, der ganz offen
äußerte, es ſei wohl ſehr zweifelhaft, ob ihm dieſer
Ausflug zum Nutzen gereihen würde,
„Wenn dir dort nur deine ideale Auffaffung
Das nadte Modell.
nicht abhanden fommt,“ meinte der Kammerrat, —
„hüte dich vor dem ftarken Einfluß der franzöfifchen
Nealiften. Du haft niemals etwas fo Wahres und
dabei jo Ideales geichaffen wie deinen ‚Nepflider‘,
umd wirft es auch wohl ſchwerlich je wieder fertig
bringen. Ich habe Perjonen, auf deren Urteil ich
großes Gewicht lege, diefelben Befürchtungen auf
Grund deiner ‚Wäſcherinnen‘ äußern hören. ber
ih gebe die Hoffnung nicht auf, daß du unjre Bes
ſorgnis zu Schanden machen wirft.“
Er hatte ein Gefühl, als wenn ihm mit diejer
Staatsunterftügung Verzeihung für feine zufällige
Verirrung erteilt werde.
*
In Paris hielt er ſich zwei Jahre auf. Alle
Freunde der einheimiſchen Kunſt erkundigten ſich
neugierig nach ſeinen Studien im Ausland, und in
den Zeitungen las man hin und wieder unter der
Rubrik „Finnische Künſtler in Paris“ Notizen über
ihn. Eine Weile arbeitete er in Cormons, dann in
Juliens und ſchließlich ſogar in Bonnats Atelier,
Es hieß, er male an einem großen Bild, das
eine Scene aus der Nino-Sage darſtelle. Er jchrieb
begeijterte Briefe darüber an feine Braut, und dieſe
Briefe wurden allen Belannten der Familie vor—
gelejen und von dieſen auszugsweiſe in den Zeitungen
veröffentlicht,
„IH babe Aino in dem Augenblide dargeftellt,
wo fie:
Hat abgeftreifet dad Gewand,
Die Schuhe abzieht an dem Etrand
Und ſich anfdidt, zu ſchwimmen —
„Alle meine Kameraden rühmen das Bild und
meinen, es ſei das Befte, was ich je gefchaffen habe.
Das Thema ift nicht neu, aber ich glaube, ich habe
es ganz neu und jelbftändig aufgefaßt. In erfter
Linie Habe ich die völlige Unſchuld diefer mythiichen
Geftalt, ihre jungfräuliche Reinheit wiedergeben wollen,
Werden alle die Augen machen, die bejorgt waren,
dab ich meine aus der Heimat mitgebradhte Auf-
faffungsweife einbüßen Fönne! Im Gegenteil, die
ift mir befeftigt.*
Hatte man nicht immer geweigjagt, dab etwas
Großes aus ihm werden würde! Und bie fünftigen
Schwiegereltern ſprachen überall von dem künftigen
großen Dann, weldhe Fortſchritte das Gemälde
machte, wie die Landſchaft ſchon jo gut wie beendet
fei, und daß die Arbeit bald eintreffen werde, um
ausgeftellt zu werben,
Während defjen legte der Künstler eines Tages auf
ben Montmartre in Paris die lehzte Hand an fein
Wer. Das Fenſter nad dem Boulevard hinaus
war geöffnet, die Bäume prangten im erjten Frühlings«
ſchmuck, und der Iuftige, jchmeichleriiche Sonnenjchein
erfüllte das Zinnmer. Er befand fi in einem fürm-
997
lichen Rauſch ber Befriedigung und des Enthufias-
mus. Geine Reife war nicht vergebens gemwejen.
Er Hatte die ſchwerſte Aufgabe gelöft, die ein
Maler fich ftellen fanı. Es war ihm gelungen
die jhönften, feinften Schattierungen der Haut
wiederzugeben, und bie fleinen blauen Adern mit dem
pulfierenden Blut ſchimmerten förmlich durch dieſe
Haut hindurch.
Ein Paar von feinen Kameraden ſaßen bei ihm
im Atelier, während er malte,
„Berade in Bezug auf die Behandlung des
Fleiſches kannſt du es mit jedem franzöfiichen Meifter
aufnehmen.“
„Was mich bei deiner Aino am meiſten verwun—
dert,“ ſagte der andre Freund, „iſt, daß, obwohl ſie ſo
völlig unbekleidet und jo gänzlich realiſtiſch aufs
gefaßt ift, und obwohl der Körper fein Idealkörper
nad) der alten Schule ift, jondern ſchlecht und recht
der eined finniichen Bauernmädchens, man doch ein
Gefühl Hat, als bebürfe fie feines fyeigenblattes, um
ſich zu verhüllen. Das ift die Keuſchheit des Uns»
bewußten, die fo unvergleichlich nicht nur aus ben
Gefihtäzügen, jondern aus der ganzen Geftalt ſpricht.“
Und dann entftand ein Disput zwifchen den
beiden Beichauern.
„Aber was glaubft du, daß man baheim von
den Gemälde jagen wird ?*
Wieſo?“
„Da wird es gründlich heruntergemacht werden.“
„Und weswegen ?*
„Beil fie jplitternadend ift.“
„Aber zum Kudud aud), das ift ja gerade das
Teinfle an dem ganzen Gemälde! Der Grumb»
gedanfe!*
„Freilich, ic) verſtehe das, glaubſt du aber, daß
die Thoren daheim — Wie dentjt denn du darüber ?*
Der Maler jagte nichts, betrachtete nur das Bild
von weitem, pfiff eine Melodie vor ſich Hin und jah
vergnügt aus,
%
Schon mehrere Tage vor der Eröffnung ber
Frühlingsausſtellung berichteten die Zeitungen der
Hauptjtadt, daß das neue Gemälde angelommen jei,
und daß der Künſtler in den allernädften Tagen
erwartet werde.
Er fam und zeigte fid) bald auf der Promenade,
ein fompletter Pariſer, nach der neueften Mode ges
fleidet. Man beobadhtete ihn und feine Braut und
machte fich gegenfeitig auf fie aufmertjam, jobald
jie ſich nur bliden ließen.
Alle Bekannte, denen fie begegneten, riefen aus:
„Und dein neues Gemälde, — das foll ja etwas
ganz Ungewöhnliches fein. Welch ein Genuß, es zu
ſehen!“
Als das Bild aufgehängt war, lud er ſeine Braut
998
und deren Eltern ein, es zu bejehen. Er holte fie
ab und hatte in einem eleganten Reftaurant ein
Frühſtück beftellt, das nad der Befichtigung ein-
genommen werden follte — ganz auf Parijer Manier,
Er führte fie direft vor fein großes Gemälde und
tief lebhaft aus:
„Da ift ea! Was meint ihr dazu?” Er jah
feine Braut erröten und fühlte, wie ihre Hand aus
feinem Arm glitt. Die Kammerrätin wandte fi)
mit einer empörten Bewegung nad) ihm um:
„Haft du das Bild da gemalt?”
Ja.“
Da wußte die Kammerrätin nichts weiter zu
fagen ala ein beftiges:
„Pfui! — Komm, Anna, dies bier ift etwas
ganz Schamlofes.”
Und fie zog ihre Tochter mit ſich fort, zur Thür
hinaus,
Der Maler eilte ihnen nad und fuchte fie zurüd«
zubalten, aber es gelang ihm nicht.
„Ein Schande für die ganze Familie — hätte
ich nur eine leife Ahnung davon gehabt —“ jo Hang
e3 erzürmt von der Treppe zu ihm herauf,
Er mußte fie gehen laffen und kehrte wieder in
die Ausstellung zurüd,
„Aber was hat dies alleß nur einmal zu bedeuten ?*
fragte er den Kammerrat, der ſich balbverlegen von
dem Gemälde zurüdzog, das er in allernächiter
Nähe betrachtet Hatte.
Wie kannſt du nur fo ehvas ausftellen — was
denfft du denn, daß die Menſchen darüber jagen
werben ?*
„Ih mache mir gar nichts daraus, was die
Menſchen jagen!”
„Du mwillft das Bild alfo Hängen Taffen ?*
Natürlich!“
„Dann mußt du für die Folgen einſtehen.“
„Das werd’ ich ſchon thun!“
„Nun ja — dann empfehle ih mid.“ Und
auch der Kammerrat verichwand,
Er war wie vom Blitz getroffen. „Die Wäſche—
rinnen“ und das Gerede über die nadten Beine fielen
ihm ein. Er hatte das im Auslande ganz vergefjen.
„Aber ift denn darin etwas Anſtößiges?“ Er
drehte fi um und betrachtete das Bild. Nino jtand
dort, dem Beichauer zugewendet, im Begriff, fi) ins
Waſſer zu flürzen, fie jtand dort natürlich und aller«
dings entblößt, aber rein, fühl, ruhig, halb erjchauernd
in der frischen Morgenluft, die träumeriichen Augen
auf die See gerichtet.
„Sit es möglich, daß dieje Nadtheit fie hat ver—
legen können? Sollten fie wirklich fo einfältig, fo
beichränft, jpießbürgerlid) fein?”
Er bemühte jih, fie zu verftehen, als er aber
daran dachte, wie feine Braut fi ihm gegenüber
Jubani Abo.
benommen hatte, gab er feinen Entichluß, fie aufe
zuſuchen unb eine Erflärung von ihr zu verlangen,
wieder auf,
Den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht
fochte die Oppoſitionsluſt in ihm. Erft am nächſten
Morgen begab er fich, noch fehr ergrimmt, zu feinen
Schwiegereltern. Er bat, mit jeiner Braut reden zu
dürfen.
„Sie ift frank in Folge der Gemütsbewegung,*
antwortete die Kammerrätin, die ihm feierlich im
Salon empfing und ihm erflärte, einige Tragen an
ihn richten zu müſſen.
„Sage mir doc, ift bein Bild nad) der Natur
gemalt?“
„Ih war fo glüdlih, nad) langem Suchen ein
Modell zu finden, das mir vorzüglich paßte.“
„Sie hat alfo genau jo vor dir geflanden ?*
„sa, natürlich!“
„Die Modelle in Paris find ja —“
„Was meinft du?”
„Du verjtehft wohl, was ich jagen will —*
„Run, — was weiter?”
„Das war alles, was ich wiffen wollte,“
„Verfteht ihr euch wirklich nicht beſſer auf
KHunft?“
„Wenn dies Kunſt ift, jo danfe ih Gott, daß
wir fein Verſtändnis dafür haben. — Arme Anna!”
-Sie verſchwand durch die eine Thür im ſelben
Augenblid, als der Kammerrat durch die andre trat.
Er hielt die Morgenzeitung in der Hand und warf
fie vor ſich auf den Tiſch.
„Haft du gelefen, was man hier über dich
fagt?*
„Sa, ich habe es gelefen —: um fo etwas malen
zu können, hat mein Gemüt in dem Parifer Un—
zuchtsneft befledt werben müjlen — ih muß ale
meine befjeren Gefühle ertötet haben — ift das die
Art und Weile, wie ich mit Staatdunterftähung
ftudiert habe? — es ift Pornographie, Schweinerei
— id bin Schritt für Schritt zurüdgegangen ſeit
ih den nebflidenden Alten malte, und nun bin id
rettungslos verloren — ich habe die edelfte Sagen
geftalt Finnlands geſchändet! — Ich aber Sage
euch, ihr jeid nicht im flande zu beurteilen, was
vaterländifch ift — und ich ſage euch, daß ihr mir
nicht einmal leid thut, daß dies alles jo blödfinnig,
fo ſinnlos ift — und darin liegt die Gemeinheit,
nicht aber in meiner Auffaffung! — So fage mir
doch wenigſtens, was euch bei meinem Gemälde
anftößig ift!”
„Aber fie ift ja gänzlich unbelleidet!“
„Habt Ihr denn niemals nadte Geftalten auf
Gemälden geſehen?“
„Freilich hat man dad — auch Hier bei ums,
aber das ift ja etwas ganz andres — immer jedes
Das nadte Modell,
beliebige Bild — die Figuren find doch mindeftens
teifweije befleidet — ein Maler mit Anjtandagefühl
bängt ſtets einige Blätter davor oder legt einen
Zipfel des Gewandes um die Geftalt, du hingegen
— auf deinem Bild ijt ja nicht die fleinfte Faſer
von einer Bekleidung — was hinderte did, ebenjo
ehrbar zu fein wie alle die andern?“
Der Zom ftieg in ihm auf, er vermochte ſich
nicht mehr zu beherrſchen, er nahm feinen Hut, warf
die Zeitungen zu Boden und rief mit einem Hohn⸗
oelädhter aus:
„Und wenn ich dies Schamgefühl in mir gehabt
hätte, jo wäret Jhr nur um fo ſchamloſer gewejen!
Hätte ich meiner Geftalt ein paar Feigenblätter vor«
gehängt, jo würdet Jhr fiher dahinter gegudt haben!”
„Soll das auf mich gehen?“
„Ja, du bift nicht befjer als alle die andern.“
„Du wagft es — hinaus mit bir!“
„Bielleiht bin ich ein wenig übereilt gewejen,*
dachte er bei fi, als er ſich auf der Straße be-
fand.
„Aber richtig war es doch, daß ich mich ganz
rüdhaltlos ausſprach!“
Nahdem er eine Weile umbergewandert war,
begab er fih nah Haufe. Dort wartete ein Brief
999
bon jeiner Braut auf ihn. Der Berlobungsring
lag darin.
„Wenn du mich wirklich geliebt hätteft, würbeft
bu diefe Schande nicht über meine Eltern und über
mid gebracht haben. Du hätteft doc wifjen müffen —“
Er zerknitterte den Brief, richtete feine ſchlanke
Geftalt jo, daß fie in eine einzige, elaftiihe Sehne
verwandelt zu fein ſchien, erhob drohend Die geballte
Fauſt und rief:
„Ih will diefen thörichten Menſchen zeigen, was
ih kann. Ich will fie beſchämen, will fie zwingen
mid um Verzeihung zu bitten, will ihnen die Anſicht
der ganzen gebildeten Welt ins Geficht jchleudern —
ih will fie zermalmen!*
“
Und er hielt Wort, Er nahm Nahe und ward
einer der erjten Maler feines Landes, Wenn man
im Auslande gelegentlich, einmal von feinem DBater-
lande ſprach, ſo nannte man unwillfürlid) im jelben
Atem feinen Namen.
Und in allen feinen Biographien, die in ben
großen ausländiichen Zeitjchriften mit feinem Porträt
veröffentlicht werden, wird bie Geſchichte von ben
Weigenblättern erzählt, die vorzuhängen er unter«
laſſen hatte.
nn —
Die Weinlefe.
Don Gabriel d'Annunzio.
Aus dem Jtalienifhen überfegt von Valerie Matthes,
Es ftampft mit kräft'gem Fuß im eichnen Bottich
Ein Jüngling; den geräumig weiten Boden
füllt er aufs nene fiets mit faft’gen Trauben,
Und beim Serdrüden fließt der Moft in Strömen.
Auf einen grünen Waldesſtab gelehnet,
Begleitet er den Wechſelſprung der Fühe
Mit feinem Sange, und gleich Dionyfos
Scheint aus Achajas Marmor er gebildet.
Es lachen feine Glieder, die aus Grazie
Und Kraft gemifcht, bewealich-froh im Rhythmus;
Die ftoljen Bogen feiner Rippen treten
Hervor an feinem jugendlichen Körper,
\
ı
3
Als feien fie zum Studium einem Künftler
Beftimmt; die Arme, auf der Bruft verichlungen,
Sind -feft und nervig wie Athletenarme,
Die ftarf und wohlgeübt im Disfuswerfen,
Die Beine haben jene Mannesſchönheit
Der form, die gleichſam fliegend-langen Linien,
Die einft dem Altertum fo wert und teuer
Auf Leinwand und an Marmorbildern waren.
Es fommen zu dem Bottich rings die Mädchen
Dom nahen Weinberg her, den Korb voll Trauben
Auf ihrem Banpte tragend, Gruppen bildend
Wie ehmals in Athen die Kanephoren.
Zu beiden Seiten von des Winzers Ferfen,
Die purpurrot gefärbt find, fliegen Ströme
Don Moft hervor; die Sonne ftrahlet Segen
Freigebig nieder auf das Werk der Menfchen.
| ng
Eine Kußgeſchichte.
Bartholomäus Sralscry,
Aus dem Ungarifchen überfeht von Andor v. Hpöner.
Mein Amtsbruder in Baltony pflegte immer zu
fagen: „Dieje Predigerichaft wäre ja ganz gut, wenn
man nur nicht predigen müßte.”
Und er hatte recht. Müßte ich nicht jeden
Sonntag, gleichviel, ob ich Luft dazu habe oder nicht,
die Kanzel bejteigen, jo wäre ich der glücklichſte
Menſch auf Gottes Erdboden,
Uebrigens habe ich mich auch fo nicht zu beffagen.
Ich habe eine gute Pfarre, faft die befte hier im
Berglande. Ich habe ein braves, gutes Eheweib,
mit welchem ich ein ftilles, friedliches Leben führe,
jo dab ich auch ſchon Hierfür dem lieben Herrgott
nicht genug dankbar jein fann.
Aber neulich wäre biejer Friede beinahe geftört
worden. Umjonft — eine Frau bleibt immer nur eine
Frau. Sie denft nie jo wie ein andrer Menid.
An unjern Haufe gab ed nämlid eine Heirat.
Da und Gott feine Kinder gejhenft, hatten wir
das verwaifte Tödhterchen einer armen alten Be—
dienerin an Slindesjtatt angenemmen, aber nicht
etwa als Fräulein, Sondern fo al eine Art Dienft-
boten behandelt. Ich zog fie auf in großer Gottes«
furht und Frömmigleit.
Aus diefem Meinen Mädchen, aus Manczi, wurde
aber bald eine jchöne, Tiebliche, Tiederreihe Jungfrau,
Es war eine wahre Luft, ihr unfchuldiges Geplauder
anzuhören, ob in der Küche, ob im Garten oder auf
dem Felde. Ihre jchuldloje Seele, der Blid ihrer
blauen Augen machte manchem Jüngling das Herz
höher jchlagen.
Einige hielten auch um ihre Hand an. Manczi
indeſſen wollte vom Heiraten nichts hören, „Wozu
follte ich denn heiraten ?* — fragte fie. „Hier geht es
mir ja auch gut bei dem hochwürdigen Herrn und
der hochwürdigen Frau. Hier habe ich ja auch zu
eſſen. Heiraten — mozu denn? Iſt das nötig?
Ih weiß wahrhaftig nicht, weshalb id) mic ver—
beiraten ſollte.“
Dann fing aber der reihe Gabriel Pafti auf
einmal an, öfters unfer Haus zu beſuchen. Die
längfte Zeit wuhten wir beide es uns abjolut
nicht zu erflären, weshalb dieſer alte, hochmütige
Hageftolz jebt jo häufig zu uns fam. Bis endlich
meine rau wahrnahm, daß Herr Pajti auf Manczi
‚ find das etwa verächtlihe Dinge?
ein Auge geworfen hatte, denn jo oft er ſich ver-
abihiedete, fand er immer Gelegenheit, Manczt, die
fi in der Küche beichäftigte, in die Wangen zu
jiwiden.
Und das hielt ich dann auch einmal Herm Gabriel
Paͤſti vor.
„Was?“ verſehte Gabriel Päfti, indem er ſich
mit der Hand in das ergrauende Haar fuhr, „Sie
glauben doch nicht, hochwürdiger Herr, daß ic) dieſes
Mädchen verführen will? Nein. Aber zur frau
möchte ich fie nehmen. Nun, wir ſprechen noch darüber.“
Meine Alte war höchlich erftaunt, als ich ihr am
Abend Gabriel Paftis Abfihten mitteilte.
„Er wird doch nicht!”
Wird nicht?“ fprad ih; „und warum folk,
warum fönnte er nicht? Wielleicht, weil er ſechsund⸗
fünfzig Jahre alt ift? Ei was, diejer Gabriel Pati
ift noch ein ganz wohl erhaltener, febensluftiger Mar.
Und dann das große Stüd Feld in der Ebene, dat
Haus mit der Vorhalle, der prächtige Weinberg,
Herr Gabriel
Päfti thut gut daran, wenn er nad) feiner Neigung
heiratet; er kann ſich's erlauben und hat noch Feit,
das Leben zu genießen.“
„Aber, lieber Alter, bedenke doch, dab der Alter
unterjchied zwiſchen ihnen vierzig Jahre beträgt.“
„Nun ja, id) wußte voraus, daß du das einwenden
würdeft. Auch dein Verftand ijt nur jo ein Weiber
verftand, teuerfte Gattin. Was verfteht ihr alleſamt
vom realen Leben? Don Kindheit an bis zum jpäten
Alter beijhäftigt ihr euch immer nur mit Heiratie
angelegenheiten und verfteht doch nur jo viel davon
wie die Henne vom Abe. Bierzig Jahre Alter
unterfchied ift zwiſchen ihnen ... jagft du? Rum,
und was dann? Du möchteſt haben, nicht wahr,
daß — jo pflegft du zu fagen — ein Gleichgewicht
im Alter ſei. Freilich, damit beide unerfahren,
unbeholiene Kinder feien; eins könnte fingen und
tanzen, das andre unterdefien am Zaun ftehen und
die Hirtenflöte blajen. So könnten fie dann leben
von Singen, Tanzen und Flötenblaſen. Du verficht
das nicht, gute Alte, denn du biſt auch nur eine Ftau
Ahr wißt nichts von der Philojophie, und dieje iſt je
in der Ehe die Hauptjache.“
Eine Kußgeſchichte.
„Gut, gut, lieber Alter, du weißt das jedenfalls
beſſer als ich. Aber eines möchte ich Dich doc bitten:
Denn das Mädchen nicht jelber mag, jo zwinge es
nicht dazu.“
„Darüber fannft du beruhigt fein, das Zwingen
ift nicht meine Gewohnheit. Aber ich glaube, es
wird fein Zwang vonnöten fein, benn wenn biejes
Mädchen aud nur jo viel Berftand hat wie ein
Buchfink, jo wird «8 auch ohne jeden Zwang ein»
willigen.”
„Das möchte ich bezweifeln, lieber Alter.“
„Gut, alfo verjuhen wird, Manczi, hör, lomm
doch herein!“ rief ich dem in ber Küche jpinnenden
Mädchen zu.
Mangzi irat ein. Ihre fröhlichen, großen blauen
Augen ſchweiften lächelnd in der Runde umher.
„Alſo, Manczi, mein Kind, ſchon wieder hat ſich
ein freier gemeldet. Was benfft du über die Sache ?"
„Wieder ?” fragte das Mädchen erftaunt. „Sch
weiß ihon wahrhaftig nicht, was fie mit mir haben
wollen, daß fie mit der Sache jo drängen,”
„Und du fragft nicht einmal, wer es ift?“
„Mir ift’8 ja einerlei, wer immer !*
„Nicht doch, jet fteht Die Sache anders! Dies-
mal iſt e8 nicht ein unreifer, hergelaufener Junge,
der ein Auge auf dich hat, jondern Herr Gabriel
Pafti.”
„Der, welcher immer hierher kommt?“
„Jawohl, der! Der, welcher dort am Saume des
Wäldchens wohnt in dem großen Haufe mit der
Vorhalle.“
„Der jo viel Feld beſitzt?“
„Ja, der.”
„Der neben dem unfrigen den großen Wein—
garten hat?”
„sa, der.”
„Der die ſechs mächtigen Ochſen mit ben ge—
wundenen Hörnern hat?“
Ja, ber.”
„Und wenn ich einmal feine Frau bin, wird das
Haus, wird das Feld, werden bie ſechs Ochſen auch
mir gehören?“
„Hreilih, mein Kind. Du möchteft aljo jeine
Frau werden, wenn er did) verlangt?“
„Ajo willen Sie, hochwürdiger Herr, mir ift es
ja einerlei. Ich habe immer gehört, daß ein Mäds
hen heiraten muß. Gut, jo fann ich ja aud) heiraten,
Ob ich hier lebe oder dort. Ein bißchen werde id)
wohl bei der Hochzeit weinen, dab id Euer Hod)-
würden und die hochwürdige rau verlaffen muß,
aber jchließlich werde ich mich ja tröften in dem großen
Haufe mit der Vorhalle. . .“
Damit ging fie hinaus, Sie nahm wieder den
Roden in die Hand und fang, bei dem flimmernden
Lämpchen fihend, ihre Lieblingsweiſe:
Aus fremden Yungen. 1897. IL 21.
1001
„Kalter Sturmwind bläſt fo ſchaurig,
Mädchen ift fo bang, fo traurig... .*
Ich jah meine Frau an.
„Nun, was ſagſt du dazu ?* fragte ich.
„Nichts, mein Alter, als dab die Sade kein
gutes Ende nehmen wird.”
„O dieſer Weiberverftand !* ſprach ich ärgerlich.
„Wahrlih, vertraute man die Führung der Welt
euch an, nad) ein paar Tagen würde jchon das ganze
Weltall auf dem Kopfe ftehen.”
Damit ging id zu Bette mit dem feften Vor—
jage, weiter über die ganze Sache fein Wort mehr
zu jprechen.
Indeſſen war es nicht möglich, diefen ſchönen
Vorjak auszuführen, denn ſchon am Morgen des
nächſten Tages erjhien Herr Gabriel Päfti bei und
und hielt in aller Form um Mangis Hand an,
Manczi ſchlug mit unbefangenem Gelächter ein, und
nad) drei Tagen bot ich fie in der Kirche zum eriten»
mal auf; eine Woche jpäter zum zweiten, dann zum
driftenmal, fo daß wir nad) drei Wochen die Hoch—
zeit begehen konnten. Mit rot angeſchirrten Füllen
führte Herr Pafli feine Feine junge Frau heim, die
luftig und munter die Hochzeitstücher den Füllen
auf die Ohren band.
Während der erften Woche hörten wir nichts von
ihnen. Aber nad Verlauf einer Woche hörten wir,
Es war gerade — ich erinnere mich noch jehr
deutlich! — am Tage vor der Kommunion.
An diefem Tage pflege id — nah altem
Brauche — die Kirchenzucht auszuüben. Wenn
es umeinige Ehegatten im Dorfe giebt, beftelle ich
fie an diefem Tage zu mir. Dem jchuldtragenden
Teile gebe ich einen Verweis, ſuche etwaige Miß—
verſtändniſſe zu bejeitigen — mit einem Worte, ich
tradhte Frieden zu ftiften, und kann jagen: faft immer
mit Erfolg.
Ich erinnere mich nod) ganz genau, daß an diejem
Tage Julie Särfäny und Siegmund Tobeli zu mir
bejtellt waren. Beide waren in Uneinigfeit mit ihren
Ehehälften.
Bei Julie Särläny war das der Hafen, daß ihr
Gatte — ber, nebenbei gejagt, jo ein vierfchrätiger
Gefell war — feinen Strauß auf jeinen Hut fteden
wollte wie die übrigen. Darüber ärgerte fi Julie
und ſprach drei Wochen lang fein Wort mit ihrem
Manne. Ich gebot diefem, den Strauß aufzujteden,
und damit war der Friede hergeitellt.
Siegmund Tobeli aber beflagte ſich darüber, daß
jein Weib in der Abenddämmerung mit dem Rinde
immer gegen den rüdwärtigen Zaun zu fpazieren
ging. Schon Hundertmal hatte er ſie geheißen, es
nicht zu thun, und doch that fie es immer wieder,
Das wollte er nicht leiden, Ich verfühnte auch diefe,
indem ich der Frau fireng anbefahl, den rückwärtigen
126
1002
Zaun in Zufunft zu meiden. Warum dies Gieg-
mund Tobeli jo jehr wünſchte, weiß ich nicht. ber
es gehört ja auch nicht zu meinen Obliegenbeiten,
dies auszuſpüren.
Als ich all dieſe Dinge dermaßen in Ordnung
gebracht hatte, trat plößlich Herr Gabriel Pafti zu
mir ein,
„Nun, hochwürdiger Herr,“ polterte er unter jeinem
balbgrauen Schnurrbarte, „auch ich bin gelommen ;
id bin aud) ein uneiniger Gatte. Auch bei ung ift
bie Fehde ausgebrochen. Machen Sie aud) mit uns
Ordnung, hochwürdiger Herr.”
„Sie jherzen, Herr Pafti.”
„Bitte, nein, ich fcherze nicht, bin auch nicht im
mindeften zum Scherzen aufgelegt.”
„Dann jagen Sie alfo, Herr Pafti, was Sie
auf dem Herzen haben. Ich kann nicht recht glauben,
dab Manczi etwas Böſes gethan hätte. Das fieht
ihr gar nicht ähnlich. Ich habe fie hier in meinem
Haufe erzogen in Gottesfurdt und tugendhafter
Sitte.“
„Nur allzuſehr in tugendhafter Sitte, hochwürdiger
Herr.”
„sch verftche Sie nit, Herr Gabriel Paſti. Nur
allzuiehr in tugendhafter Sitte! Ich glaube, tugend«
bafte Sitte kann nie ſchädlich fein.“
„Nun, was weiß ich! Aber ich dbenfe, es wäre
doch befler, fie würde dieje tugendhafte Sitte nicht
jo ſehr beihätigen,, mindeftens nicht mir, ihrem an«
getrauten Gatten gegenüber.”
„Wieſo? Mas joll das heißen ?*
„Das joll heiten, hochwürdiger Herr, daß
Manczi ... wie jol ich e8 denn nur fagen?*
„Nur heraus damit, Herr Paſti.“
„Alſo das joll heißen, hochwürdiger Herr, daß
Manczi mich nicht... füffen will.“
„Sie will nit?“
„Nein, fie will nit. Und Kreuzſchockſchwere⸗
not, ich jage Euer Hochwürden, ſehen Sie ihr ben
Kopf zurecht! Denn fonft, ich fage nur jo viel, wird
die Sache fein guted Ende nehmen,“
Damit ftand er brummend und die breiten Achfeln
zudend von jeinem Stuhle auf und entfernte fich,
ohne auch nur zu grüßen, fo daß id; ihm bis auf
die Straße nachrennen mußte, um ihm zu jagen,
er möge aljo Manczi zu mir jchiden, damit ich mit
ihr rede.
Was in aller Welt können nur die miteinander
haben? Es wäre mir nicht lieb, wenn wirklich
Manczi in etwas gefehlt hätte. Wenn fie das ſchöne
Glüch, welches fich ihr getroffen hat, nicht zu ſchätzen
weiß, fo verdient jie aud nicht, glücklich zu fein.
Während ich noch jo vor mich hin brütete, öffnete
ſich mit großer Haft die Thüre, und Manczi trat ein.
„Guten Morgen, hochwürdiger Herr,“
Bartholomäus Szalscyy.
„Gott gebe auch dir einen guten Morgen, Manz.
Schon lange Zeit habe ich dich micht gejehen. Wie
geht's dir?“
„Danke der gütigen Nachfrage, es ginge ja or
weit gut.”
„Afo, Manczi, dein Gatte war aud) bier,"
„War er, hochwürdiger Herr?“
„Jawohl, aber er hat eine Klage wider did; tr
fagt, du erfüllft deine eheliche Pflicht nicht jo, wie
er e& will.“
„Ich, hochwürdiger Herr?“
„Du, mein Kind.“
„So, alſo ich erfülle meine Pflicht nicht! Aber
wie Tann er joldhes behaupten? Koche ich ihm denn
nicht, wie ſich's gebührt? Hat er denn nicht erft
neulich gejagt, daß er noch jein Lebtag nicht folde
getriebene Klöße gegeffen hat, wie ich fie ihm bereitet
babe? Und fümmere ich mich denn nicht um alles,
um Haushalt, um Vieh, um Dienftboten? Alſo wie
fann er nur jo etwas jagen?“
„Aber, mein Find, ich habe es ja nicht jo gemeint.
Nicht das hat er gejagt, und auch ich fage e& nicht,
daf du den Haushalt nicht gut führſt, ſondern ...
fondern „.. mit einem Worte, daß du ihn nicht
lüſſen magft, — nun aljo, das ift ed, wenn dus
wifjen willſt.“
„Daß ich ihn nicht küffen mag? Ah fo, alio
das ift ber Fehler? Alſo darum ift er lagen ge
fommen? Schaut nur, ſchaut! Alfo er trägt ned
den Kopf hoch! Was das für ein falfcher Menſch
it! Sehen Sie, hochwürdiger Herr, feitdem ich bei
ihm im Haufe bin, wollte ih immer hierher fommen,
um mich über ihn zu beflagen, aber ich Habe es nur
geduldet und geduldet. Und jeßt — da haben wir’s! —
jeßt fommt er noch, um ſich zu beklagen!”
_ „Und worüber wollteft denn du dich beffagen?“
„Worüber? Sie möchten es gar nicht glauben.
Sie glauben beftimmt, hochwürdiger Herr, daß dieler
Herr Gabriel Pafti irgend ein Heiliger ift. Ja,
der ein Heiliger! Wenn er zu Ihnen kommt, mag er
ein Heiliger fein. Würden Sie ihn aber nur zu
Hanje jehen! Glauben Sie mir, hochwürdiger Herr,
— jetzt jag’ ich's Ihnen nur ganz leife — er iſt näm-
lid) gerade fo, wie ber alte Michael Deſzkas, dem
Euer Hohwürden jo nachdrücklich den Text geleſen
haben, als er Elfe Dudas umarmen wollte. Glauben
Cie vielleicht, hochwürdiger Herr, daß Gabriel Pati
befier ift als jener? Ja, der beſſer! Niemals
läßt er mid in Frieden. Schon wie oft geſchah
es ... daß ...“
„Run, was geſchah ?“
„Alſo es geſchah ... ei was, ich nehme mir fein
Blatt vor den Mund, gejchebe, was wolle „.. es
geihah, daß er, feitbem ich zu ihm wohnen ging,
mid, wann es ihm nur einfällt, umarmen will wie
— 1
Eine Kußgeſchichte.
irgend ein Jüngling; denn ein paarmal hat er mic
ihon mit Gewalt gefüßt, daß mir vor Scham faft
die Augen ausbrannten; dann ... Aber jo fügen
Sie doch jelbft, hochwürdiger Herr, jchidt ſich das
für jo einen alten Mann, der nod obendrein im
Konſiſtorium fit?“
„Db es fich jchickt, Tiebes Kind? Wie würbe e8
fih denn nicht ſchicken, du bift ja jeine Gattin.“
„Seine Gattin, feine Gattin, auch er fommt mir
immer damit. Wenn ich ſchon aud feine Gattin
bin, lann ich jet darum doch nicht jene ſchönen,
göttlichen Dinge vergeflen, melde Euer Hochwürden
mich gelehrt haben. Und ich will fie auch nicht ver-
geſſen. Nein, wahrhaftig, ich küffe ihm nit. Warum
begehrt er denn das jo ſehr?“
„Warum begehrt, warum begehrt er e8? Er
begehrt es, weil er ein Recht darauf hat, weil, wie
ih dir ſchon gejagt habe, du feine Gattin bift,
Punltum!“
Dieſes Punktum ſprach ich ein bißchen nachdrück—
li betont aus, jo daß Manczi dabei zuſammenfuhr
und mich betroffen anjah.
„Und fo begehe ich aljo einen Fehler damit,
wern ich ihn nicht küſſe?“
„Freilich begehft du einen. Der Kuß, liebes
Kind, ift im ehelichen Leben nicht nur geftattet, ſondern
auch ein Zeichen und ein Erhalter der Liebe. Da—
nad mußt auch du dich richten.”
„Muß ich?” fragte fie erftaunt,
„Du mußt — nun ja, du mußt!”
„Aber das haben Sie mir ja nicht gejagt, hoch—
würdiger Water.“
„Aber, liebes Kind,” verjeßte ich, über ihre Worte
lähelnd, „weshalb Hätte ich auch davon ſprechen
ſollen? Es ift ja eine ganz natürlihe Sache, daß,
wer heiratet, den Gatten lieben muß.“
„Auch dann, wenn —“ fragte fie mit ausbrechen-
dem Schluchzen.
„Was willft du jagen, ſprich es aus, fürdhte dich
nicht.”
„Alſo aud dann... aud dann... wenn er fo
alt it?“
„Allerdings, aud dann.”
„Aber, lieber, hochwürdiger Vater, wenn ich nur
hätte wiljen können, daß ih muß... muß...“
„Laß fein, liebes Rind, laß fein, beruhige dich.
Gehe nad) Haufe. Sei deinem Gatten eine liebende
Genoffin. Du wirft jehen, es wird ſchon alles gut
werden. Sieh, du haft ja feinen Grund zu irgend
einer Klage, halt Haus, Hof und Feld, einen biedern
Ehemann, halte ihn in Ehren.”
Damit jhob ich fie zur Thür hinaus. Dann
ſpähte ich aber am Fenfter, um zu jehen, was fie
draußen machte. Wie fie den Hof entlang ging,
blieb fie zeitweije ftehen und blidte betreten, gleichſam
1003
fragend, zu meinem Fenfter hinauf. Auch als fie
Ihon zum Thore hinaus war, ſchaute fie noch zurüd
mit ihren großen, glänzenden Augen, als ob fie noch
auf etwas gewartet, etwas nicht verftanden hätte, als ob
fie darauf rechnete, daß ich fie noch zurüdrufen würde,
Als ih mid vom Fenfter abwandte, ſah ich, daß
meine Frau hinter meinem Rüden ftand.
„Bas fehlt Manczi ?”
„Nichts.“
„Beh, ich weik, daß ihr etwas fehlt. Ich habe
es ja voraus gewußt. Ich wußte es längſt, daß
aus der ganzen Sache nichts Gutes werden kann.“
„Uber jo ſprich doch nicht, Liebe, laß das doch
gut fein! Was verftehft du in dergleihen Dingen?
Ein bißchen Thränen, ein bißchen Schmollen find ja
ganz gewöhnliche Sachen bei jungen Eheleuten, ich
fenne das. Freilich, bein MWeiberverftand macht gleich)
eine große Gejchichte daraus, während id) darüber
nur lächeln fann, weil ich weiß, was davon zu halten
ift, und weiß, daß Manczis Geficht nad) acht Tagen
vor Glück ftrahlen wird wie eine Gentifolie. Du
verftebft das nicht, liebe Alte, denn du haft feine
Philoſophie.“
Indeſſen geſchah es nicht genau ſo, wie ich es
vorausſagte; denn als ich den dritten Tag darauf
nachmittags zum Fenfter hinausſchaute, jah ich, daß
Herr Gabriel Pafti wiederfam und zwar diesmal
auch Manczi mitbrachte.
Was mochte beim mit diefen beiden wieder 108 fein?
Mit hochgerötetem Angeiht und polternder
Stimme trug Herr Gabriel Pafti feine Beſchwerde
vor, welche wieder nur Die alte war: wieder hatte
ihn Manczi nicht füljen wollen.
Ich habe fie mitgebracht, Herr Pfarrer, hier ift
fie. Machen Sie etwas mit ihr, denn jo fann die
Sache nicht bleiben, Euer Hochwürden haben mich
mit ihr verbunden, Ihre Sache ift es nun auch, zu
forgen, daß, was Sie verbunden haben, gut verbunden
jei. Ich thue ihr mit feinem Finger, aud) mit feinem
Morte was zu leide, aber Euer Hochwürden Prlicht
ift, ihre zu bejehlen, daß fie mich küſſe, jo oſt ich es
haben will,”
„Sie find zwar ein wenig im Irrtum, Herr
Gabriel Paſti, denn «8 iſt ja wahr, daß ich es bin,
der die Eheleute verbindet, aber das, was dann ge—
ſchieht, iſt denn doch nicht ganz meine Sade; in»
defjen es joll geichehen nad Ihrem Wunſche.“
Hierauf richtete ich — wie ich zu thun pflegte —
eine verweijende, aber liebevolle Anfprade an Manczi.
Ich gründete meine Nede auf verichiedene Sprüche
de8 Evangeliums und auf die Erempel der alten
Kirchenväter, Gabriel Paſti gab mit großer Leb-
haftigkeit ſeine Zuflimmung zu erfennen, befonders
als ich aus Zjarnays „Moral“ Citate über die eheliche
Liebe vorbrachte.
1004 Bartholomäus Szalscyzy. — Eine Kußgeſchichte.
Meine Rede machte auch auf Manczi Eindrud,
Sie hob den Kopf, ſchlug ihre großen, melandholifchen
Augen auf, in welchen ich jenes Feuer aufleuchten
jah, das ich fo häufig an ihnen wahrgenommen
hatte, beſonders in ihrer Kinderzeit, wenn fie durch
irgend etwas auß dem gewohnten Geleife heraus-
gefommen war. Ihre blaffen Wangen wurden rot,
jo rot, daß ich gern meine Alte herbeigerufen hätte,
um ihr zu zeigen, wie jehr ich recht hatte, al& ich
jagte, Manczis Geſicht werde nad) einer Woche vor
lauter Glüdfeligleit fo rofig werden wie eine Genti«
folie. Schlieglih fing Manczi jogar zu plaudern
an, und lächelnd legte fie ihre Hand in die Herrn
Paſtis, gleihfam ala wäre es zum Pfande der Zus
funft.
Nachdem nun alles fo regelrecht und ſchön voll«
bracht war, verabjchiedete ih Manczi.
Als ich fie aber bis zum Thore hinaus begleitete,
wurde fie wieder traurig. Sie ergriff meine Hand
mit beiden Händen, jah mid; mit ihren blauen, un«
ſchuldigen Kinderaugen an und fragte in befangenem
Tone:
„Alfo, lieber, hochwürdiger Herr, alfo wirklich
muß ih... wirklich, wirffih muß ich ihn küſſen ?*
„Sa, wirklich, liebes Kind, du mußt wirklich.“
„Und wer befiehlt mir das?“
„Gott befiehlt es, der allgütige Gott, in deſſen
Namen du auch Treue gef hworen haft.“
„Sie jagen, Gott, der allgütige Gott. Und wie
lange muß ic) denn?“
„Wie lange, mein Kind? So lange du lebſt.“
„Alſo wenn ich jterbe, dann werde ich nicht mehr
müſſen, nicht wahr?”
Ih Tonnte mich eines Lächelns nicht erwehren,
„Beh nad Haufe, geh, du Meines Närrchen“ —
ſprach ich, fie zum Thore hinausſchiebend. — „Was
fragft du nur folche Dinge? Jawohl, wer tot ift,
füßt nicht mehr. Geh nad) Haufe, bald kommen
wir dir mit Herrn Pafti nad, bis dahin kannſt du
ung einen Krug von jenem feurigen Emöder bereiten,“
Damit ging fie. Lange noch, bis ans Ende der
Straße, jah ich ihr Hellrotes Tuch feuchten. Sie
ſchwebte dahin wie ein vom Farbenftaube behaudhter
Frühlingsfalter. Algütiger Gott — die wird aud)
nod) als Greifin ein Kind fein!
„Seht, Here Gabriel Paſti,“ ſprach id), in die
- Stube zurüdfehrend, „jeht begleite ih Sie nad
Haufe. Daſelbſt, auf dem Schauplatze der Fehde,
will ich die Friedensſtiſtung vollenden, welche — dem
Himmel ſei's gedankt — jo ſchön gelungen iſt. Dort
auf dem Schauplafe der Fehde muß Manızi Sie
vor meinen Augen umarmen und küſſen.“
Wir gingen aljo fröhlich und voll Vertrauen.
Als wir zu dem Thore Herrn Paſtis hineintraten,
fah ich gleich, wie jehr fich hier alles verändert hatt,
welche Ordnung und Sauberleit überall hertſchte,
auf dem Hofe, im Garten, in der Vorballe. Ja
nahm mir auch vor, Manczi dafür zu beloben,
Doch Manczi war nirgends zu jehen, mweber im
Hofe, noch in der Vorhalle. Die Stubenthür aber
war verſchloſſen.
Während wir an der Thüre pochten, jah id, ala
ich mich niederbeugte, dab der Schlüffel von in
wendig in dem Schloſſe ftedte.
„Alſo ſehen Sie, hochwürdiger Herr,* fprad
Gabriel Pafti ſchmollend, „jo geht e& immer, bei
Tag und bei Nacht. Manczi, hör! Mad) auf, wenn
ic dir's ſage!“
Wir drüdten heftig auf die Klinke, jo daß die
Thüre auffprang und wir eintraten.
Beide brachen wir in ein Gelächter aus.
Manczi lag auf dem Bette und fchlief.
„Eine prächtige Meine Hausfrau!” verjekte ih
ſcherzend, „erwartet einen Gaft und jchläft dabei ein.“
Als id) aber näher zu ihr trat, um fie zu weden,
nahm ich wahr, daß fie allerdings fchlief, aber einen
Schlaf, aus welchem es fein Erwachen giebt.
Ein Heines Meſſer mit buntem hölzernen Griffe,
wie es bie Landleute gewöhnlich bei fich tragen, fat
ihr in der Gegend des Herzens. Ihre Heinen Hände
hielten aud jet am Schafte ſeſt. Die ſchmalen
Lippen waren zufammengepreßt, als ob dieje Lippen
ſich vor etwas gefürdhtet Hätten — vielleicht dor einen
Kufie?
Ihr Brautfleid Tag zerfnittert auf dem Tiſche,
auf dem Bette die Blumen des Kranzes verftreut.
Jet drängten fich ſchon viele Menſchen ins Hans
herein. Aber ich weiß gar nicht, wer.
Ih weiß auch gar nicht, wie ich nad Haufe
gelangte.
Als id) eintrat, fand id) meine Frau am fenfter
figend. Sie lehnte den Kopf an das Fenſterkiſſen
und jchluchzte Teile,
Ich ſprach fein Wort, ging in mein Zimmer,
ftüßte die Ellbogen auf ein großes Bud) und verjanl
in Nachdenten.
Gott, lieber Gott! — dachte ich bei mir, — ih
habe Kövys, habe Somofys Vorträge gehört und muß
dennod) beiennen, daß e8 Dinge giebt, welde and
ich nicht recht verftehe. Ich muß anerkennen, daß
ſelbſt eine jo beſcheidene, ſchlichte Frau, wie es meint
Alte iſt, beiſpielsweiſe auch von der Ehe mehr ver:
fteht ala wir Männer allefamt, trofdem daß die
trauen feinen Dunft von Philoſophie haben.
—-& Lofe Blätter &-
die Legende vom Vogelneſte.
Erzählt von 5. Lagerlöf.
Aus dem Schwedifchen überfegt von Reinhold Hahn,
Hatto der Eremit fland in der Einöde und betete
zu Gott. Es war ftürmifch, fein langer Bart und
das verworrene Haar flatterten um ihn, wie die wind⸗
gepeitihten Grasbüjchel auf der Zinne einer alten
Ruine. Dod) er ftrich fi) das Haar nidht aus den
Augen und ftedte den Bart nicht in den Gürtel,
denn er hatte feine Arme zum Gebete aufgehoben.
Schon von Sonnenaufgang an hielt er die knochigen,
behaarten Arme zum Himmel empor, ebenjo uns
ermüdlicdh wie ein Baum, der feine Zweige dorthin
ausftredt, und er wollte jo ftehen bleiben biß zum
Abend. War es doch etwas Großes, um das er bat!
Er war ein Mann, der viel von der Arglift der
Belt erfahren hatte. Er hatte jelbft verfolgt und
gepeinigt, und Verfolgungen und Pein waren auf
feinen Teil gefommen, mehr, als fein Herz hatte
tragen können. So war er denn auf die große
Steppe hinaußgezogen, hatte ſich eine Höhle in das
Flußufer gegraben und war ein heiliger Mann ge—
worden, deſſen Gebete an Gottes Throne Erhörung
fanden.
Hatto der Eremit ftand dort am Flußufer vor
feiner Höhle und betete das große Gebet feines Lebens,
Er bat Gott, daß er den Tag des jüngjten Gerichtes
über diefe böje Welt hereinbredhen laſſen möchte.
Er rief die pofaumenblafenden Engel, damit fie das
Ende des Neiches der Sünde verfündigten; er be—
ſchwor die Wogen des Blutmeeres, fie möchten die
Ungerechten ertränfen;; er flehte die Peft herbei, damit
fie die Kirchhöfe mit Haufen von Leihen anfülle.
Rings um ihn war öde Heide, aber ein Meines
Stückchen am Flußufer weiter hinauf ftand eine alte
Weide mit furzem Stamme, aus deſſen diem, zu
einem fopfähnlichen Knollen angejhwollenem Ende
die neuen friſchgrünen Zmweigbüjchel herauswuchſen.
In jedem Herbſte pflegte der Baum von den Be-
wohnern diejer brennholzarınen Ebene um jeine friſchen
Jahrestriebe geplündert zu werden, in jedem Frühe
jahre fandte er neue, geſchmeidige Schößlinge aus,
und an ftürmifchen Tagen jah man dieſe um ihn
ſchwingen und wehen, wie Haar und Bart um Hatto
den Eremiten.
Das Bachſtelzenpaar, welches jein Neſt oben
auf den Stamm der Weide zwiſchen die aufjprießen-
den Triebe zu bauen pflegte, wollte gerade an diefem |
Sttrohhalme und hielt fie feſt, und vier Finger wölbten
Tage feinen Bau beginnen. Aber die Vögel fanden
unter den ungeftüm peitichenden Zweigen feine Nube. |
Sie famen mit Binſenſtroh, Wurzelfajern und dürrem
Riedgras angeflogen, mußten jedoch unverrichteter
Sade wieder umkehren. Da bemerften fie gerade
den alten Hatto, welcher Gott anrief, daß der Sturm
fiebenmal ftärfer werden folle, um die Nefter der
Singvögel wegzufegen und die Adlerhorfte zu zerftören.
Natürlich kann Fein Menſch Heutzutage begreifen,
wie moofig, vertrodnet und knochig, ſchwarz und
menſchenunähnlich ſolch ein alter Heidebewohner jein
konnte. Die Haut ſaß jo ftraff über Kinn und
Wangen, daß der Kopf einem Totenſchädel ähnlich
war, und bloß an etwas Glimmendem im Grunde
der Nugenhöhlen konnte man erkennen, dab er Leben
hatte, Die verdorrten Muskeln gaben dem Slörper
feine Rundung, jondern der emporgejtredte nadte
Arm beftand bloß aus ein paar dünnen Armbeinen,
die mit harter, zufammengefchrumpfter und rinden-
ähnlicher Haut bededt waren. Er trug eine alte,
enganjchließende ſchwarze Kappe, er war braun ges
brannt von der Sonne und ſchwarz von Schmuß.
Nur fein Haar und Bart waren hell, aber jo lange
von Regen und Sonnenſchein bearbeitet, bis fie die⸗
jelbe graugrüne farbe befommen hatten wie die
Meidenblätter an ihrer Unterjeite. Die Vögel, die
berumflogen und einen beſſeren Plak für das Neft
fuchten, hielten Hatto den Eremiten für eine andre
alte Weide, der in ihrem Himmelsftreben gleichwie
jener dort durch Art und Säge Grenzen geſetzt worden
waren. Gie freiften vielmald um ihn, flogen weg
und famen wieder, adhteten auf Merkzeichen für den
Weg zu ihm, unterfuchten, ob er Schuß gegen Raub»
vögel und Stürme gewähre, fanden ihn zwar ziem-
li) unvorteilhaft, entichieden fich ſchließlich aber doch
für ihn wegen der Nähe des Fluſſes und der Nied-
grasbüjchel, ihres Vorratshaufes und Materiallagers.
Einer von ihnen ſchoß pfeilichnell in die ausgebreitete
Hand hernieder und legte dort feine Wurzelfajer ab.
Der Sturm machte gerade eine Pauſe, jo daß die
Wurzelfajer nicht jofort aus der Hand hinweggeweht
wurde, aber in den Gebeten des Eremiten gab es
feine Baufe. Möchte doch der Herr bald fommen
und dieſe gefährlihe Welt vernichten, damit die
Menſchen nicht noch mehr Sünde über fi jammeln
fünnten! Möchte er doch die noch Ungeborenen vom
Leben erlöfen! Für die Lebenden gab es feine Er»
löfung.
Da ſetzte der Sturm wieder ein, und das MWurzel=
fäſerchen flatterte hinweg aus der großen, flachen
Hand des Eremiten. Aber die Vögel famen zurüd
und verjuchten die Grundpfeiler des neuen Heims
zwiſchen den Fingern feitzuflemmen. Plöglich legte
fi) da ein plumper, ſchmutziger Daumen über die
fi) über der Handflähe, jo daß fich eine gefchüßte
Nifche für den Bau bildete. Aber der Eremit fuhr
in feinem Gebete fort.
„Herr, wo find die yeuerwolfen, welche Sodom
1006
vernidhteten? Wann öffneft du die Schleufen bes
Himmels, welche die Arche auf die Spike des Ararat
trugen? Iſt das Maß deiner Langmut noch nicht
erihöpft, und find die Schalen beiner Gnade noch
nicht leer? Herr, wann frittft du hervor aus deinem
berftenden Himmel?“
Und da offenbarte fi vor Hatto dem Eremiten
ein Geficht vom Tage des jüngften Gerichte, Die
Erde bebte und der Himmel glühte. Unter dem roten
Dunft jah er Schwarze Wollen von fliehenden Vögeln,
über die Erde wälzte ſich brüffend und blöfend ein
Strom flühhtender Tiere. Aber während noch feine
Seele von dieſem Feuergeſicht eingenommen war,
begannen zu gleicher Zeit feine Augen dem Fluge
ber Heinen Vögel zu folgen, wie fie blitzſchnell hin
und wider flogen und mit einem leifen Gezwitſcher
der Genugthuung neues Stroh in das Neit ſchafften.
Der Alte dachte nicht daran, fi) zu rühren, Er
hatte fi) das Gelübde gegeben, den ganzen Tag
über mit emporgehobenen Händen ftilleftehend zu
beten, um jo unjern Herrn zur Gebetierhörung zu
zwingen, Je ermüdeter jein Körper mwurbe, befto
lebhaftere Erjheinungen erfüllten fein Hirn. Er
hörte, wie die Mauern der Städte einſtürzten, und
die menfhlihen Mohnftätten barften. Schreiende,
von Schreiten bethörte Menjchenhaufen raften an
ihm vorüber, ihnen nad) jagten die Engel der Rache
und der Vernichtung. Hohe Geftalten, mit ftrengem,
Ihönem Antlitze, ritten fie in Silberrüftungen auf
Ihmwarzen Pferden und ſchwangen Geißeln, die aus
weißen Blitzen geflochten waren.
Die Heinen Bachftelzen bauten und zimmerten
den Tag über wie gute Arbeiter, und das Neft machte
große Fortſchritte. Hier auf diefer hügeligen Heide
mit dem jleifen Riedgrafe, an diefem Fluſſe mit
feinem Schilfe und Binfen herrſchte fein Mangel an
Baumaterial. Sie hatten weder Zeit zur Mittagd«
raft noch zur Veiperbrotpaufe. Glühend vor Eifer
und Freudigleit flogen fie ab und zu, und che noch
der Abend fam, waren fie beinahe oben am Dachfirſte.
Aber ehe der Abend fam, hatte auch der Eremit
feine Augen mehr und mehr auf fie geheftet. Er
folgte ihnen auf ihren Fahrten, zanfte auf fie, wenn
fie ſich ungeſchickt anftellten, ärgerte ſich, wenn ihnen
der Wind Schaden zufügte, und vertrug e& am aller
wenigjten, wenn fie einmal eine Pauſe machten.
So ſank die Sonne bernieder, und die Vögel
flogen auf ihre befannten Schlafpläße drinnen im
Schilfe.
Wenn man abends über die Heide geht und ſich
jo weit nieberbüdt, daß das Geſicht in gleiche Höhe
mit den welligen Erhebungen im Grafe kommt, fann
man jehen, wie fi eine mwunderliche Erjcheinung
gegen den hellen Abenphimmel abzeichnet. Eulen
mit großen runden Schwingen jagen über das Feld
dahin, unfichtbar für den, der aufrecht fieht. Nattern
ringeln ſich ſchnell und geſchmeidig hervor, das ſchmale
Haupt auf dem ſchwanenartig gelrümmten Halfe
emporgehoben. Große Kröten friechen träg heraus,
Hajen und Mäufe fliehen vor Raubtieren, der Fuchs
2oje Blätter.
fpringt nad) einer Fledermaus, welche Müden über
dem Fluſſe jagt. Es ift, als ob jede Raſenwelle
Leben befommen habe. Aber unterdeſſen jchlafen
die Vögelchen fiher vor allem Böen auf ihrem
Nuheplafe, dem ſchwankenden Schilfrobre, welchem
fein Feind nahen fann, ohne daß das Waſſer plätſchern
ober das Rohr zittern und fie weden müßte,
Als der Morgen fam, glaubten die Bachſtelzen
erft, Die geſtrigen Ereignifje feien ein jchöner Traum
gewejen. Sie hatten ja ihre Merkzeihen und flogen
gerade auf ihr Neft zu, aber das war fort. Sie
jagten ſuchend über die Heide und fliegen gerade
auf in die Luft, um zu jpähen. Es fand ji aber
feine Spur von einem Neſte oder Baume. Julekt
jegten fie fi auf ein paar Steine am Flußufer und
grübelten nad. Sie wippten mit ihren langen
Schwänzen und drehten die Köpfe. Wohin mochte
nur der Baum mit ihrem Nefte gelommen fein? —
Doch kaum hatte fi die Sonne eine Hand breit
über den Waldgürtel auf dem andern Flußufer er-
hoben, al& ihr Baum angewandert fam und ſich auf
denjelben Platz ftellte, welchen er am vorigen Tage
eingenommen hatte. Er war glei ſchwarz und
fnorrig wie geftern und trug ihr Neft auf der Spike
von etwas, das ein teodener, aufrecht ftehender Zweig
fein mußte.
Da begannen die Badhfteljen wieder zu bauen,
ohne über die vielen Wunder in der Natur nad
zugrübeln.
Hatto der Eremit, welcher jonft die Vögel von
feiner Höhle fortjagte, indem er ihnen jagte, dab e&
das beſte für fie wäre, wenn fie nie das Tageslicht
erbfidt hätten, er, der in den Flußſchlamm hinein
watete, um Verwünſchungen über die jungen, fröhlichen
Menſchenkinder zu jchleudern, welche in bewimpeiten
Booten den Fluß heraufruderten, er, vor deſſen böſem
Blide die Hirten der Heide ihre Herde hületen,
fam nicht der beiden Singvögel wegen zu feinem
Plafe am Ufer zurüd. Aber er wußte, daß nicht
nur jeder Buchſtabe in den heiligen Büchern feine
verſteclte myſtiſche Bedeutung habe, jondern daß bie
mit allem fo ift, wa& Gott draußen in ber Natur
geichehen läßt. Er hatte jeht herausgefunden, wa!
es bedeuten jolle, daß die Bachſtelzen ihr Neſt in
feine Hand bauten. Gott wollte, daß er mit hoch
erhobenen Armen betend ſtehen bleiben follte, bis
die Vögel ihre Jungen groß gefüttert hätten; ver
möchte er das, jo jollte er erhört werden.
Aber an diefem Tage begannen bei ihm die Bir
fionen vom jüngften Gerichte ſchon jeltener zu werben;
dafür folgte er den Vögeln mit feinen Bliden, Er
jah das Neſt bald vollendet, Die Meinen Baumeifter
flatterten um dasſelbe herum und befichtigten «8.
Sie holten etwas Moos von der wirklichen Weide
und befeftigten e3 von außen daran, dies war Erſaß
für Bewurf oder Farbe, Sie ſchafften das feinſte
Mollgras herbei, und dad Weibchen nahm Daunen
von feiner eignen Bruft und beffeidete das Neft
damit inwendig ; das war bie Einrichtung und Mir
blierung.
Loſe Blätter.
Bauern pflegten ihm aus Furcht vor der ver—
derblihen Macht, welche die Gebete des Heide»
bewohners am Throne Gottes haben lönnten, Milch
und Brot zu bringen, um jeinen Zorn zu bejänftigen.
Sie famen auch jebt zu ihm und fanden ihn, wie
er unbeweglich, mit einem Vogelneſte in der Hand,
daftand. „Sieh, wie der fromme Mann die Meinen
Tiere liebt,“ jagten fie und fürdhteten jich nicht mehr
vor ihm, jondern hoben den Milcheimer an feinen
Mund und führten das Brot an feine Lippen. Als
er gegefjen und getrunfen hatte, trieb er die Leute
mit heftigen Worten fort, aber fie lachten bloß über
feine Verwünſchungen.
Sein Körper war feit langem der Diener feines
Willens geworden. Durd Hunger und Schläge,
durch tagelangen ſtniefall und wochenlanges Wachen
hatte er Gehorfam gelernt. Jetzt hielten eifenharte
Musteln feine Arme während Tagen und Wochen
ausgeftredt, und als das Weibchen auf den Eiern
laß und das Neft nicht verließ, juchte er aud) während
der Nacht jeine Höhle nicht auf. Er lernte ſitzend,
mit ausgeftredten Armen, zu jchlafen. Unter den
Freunden der Wüſte finden ſich wohl mande, die
noch größere Dinge gethan haben.
Er gewöhnte fid) an die beiden unruhigen Vogel»
augen, welche über den Nejtrand auf ihn herabjahen.
Er gab auf Hagel und Regen acht und ſchützte das
Net, jo gut er konnte,
So wurde denn das Weibchen eines Tages feiner
Baht ledig. Beide Bachſtelzen figen auf der Neft-
fante, wippen mit dem Schwanze, beraten ſich und
iehen Herzlich vergnügt aus, obgleich das Neſt von
einem ängſtlichen Piepen erfüllt zu jein fcheint.
Und aladann veranftalten fie die allerwildeite Müden-
jagd.
Mücke auf Mücke wird gefangen und nach jenem
gebracht, was da oben in ſeiner Hand piept. Und
wenn das Futter fommt, wird das Piepen am aller—
lauteſten. Der fromme Mann wird durch das Piepen
in ſeinem Beten geſtört.
Und ſachte, ſachte ſinkt der Arın, der faſt ſchon
das Vermögen, ſich zu rühren, eingebüßt hat, in den
Gelenfen hernieder, und jeine fleinen Feueraugen
farren auf das Neft herab.
Noch niemals hatte er jo etwas Hilflojes, Häßliches
und Elendes gejehen: Heine nadte Körper mit einigen
dünnen Daunen, feine Augen, feine Flugkraft, eigent-
ih bloß ſechs große, gähnende Mäuler.
Das kam ihm fo jonderbar vor, aber fie gefielen
ihm doch jo, wie fie waren. Ihren Vater und ihre
Mutter hatte er niemals von dem großen Untergange
ausgenommen, als er aber fünjtighin Gott anrief,
um von ihm die Erlöfung der Welt durch ihre Zer—
Hörung zu fordern, machte er eine jtille Ausnahme
mit diejen ſechs Wehrloſen.
As ihm die Bauernweiber jegt Nahrung brachten,
dankte er ihnen nicht damit, daß er ihnen den Unter«
gang wünſchte. Weil er für die Meinen da oben
notwendig war, war er frob, daß jie ihn nicht vers
hungern ließen,
1007
Bald bemerkte er, daß ſich ſechs runde Köpfe
während bes ganzen Tages über den Neftrand ftredten.
Der Arm des alten Hatto fanf immer öfter zu feinen
Augen herab. Er jah, wie die Federn aus der roten
Haut hervorfproffen, wie die Augen fich öffneten,
wie die Körperform ſich abrundete. Als glüdliche
Erben der Schönheit, welche die Natur den Iuft«
jegelnden Tieren gegeben hat, entwidelten fie diefe
bald in ihrer ganzen Pracht.
Und während all diefem kamen die Bilten um
bie große Vernichtung immer unficherer über die
Lippen des alten Hatte. Er glaubte das Gelübde
Gottes zu befifen, daß dieſe hereinbrechen jollte,
wenn bie Vögel flügge wären. Nun jtand er ba-
und fuchte gewilfermaßen eine Ausflucht vor Gott
dem Vater, Denn dieſe ſechs Kleinen, welche er
beihirmt und beihüht hatte, fonnte er nicht aufe
opfern,
Das war früher eimas andres geweſen, als er
noch nichts zu eigen hatte. Die Liebe zu den Kleinen
und Schwachen, weldhe den großen, gefährlichen
Menſchen unwillfürli von jedem Heinen Kinde ge=
lehrt wird, kam über ihn und machte ihn unſchlüſſig.
Er wollte bisweilen das ganze Neft in den Fluß
werfen, denn er hielt es für gut für fie, ohne Kummer
und Sünde fterben zu müſſen. Sollte er die Kleinen
nicht vor Raubtieren und Kälte, vor Hunger und
den vielfältigen Heimſuchungen des Lebens erretten?
Aber während er noch darüber nachdachte, rauſchte
der Sperber gerade gegen das Neft heran, um die
Jungen zu erwürgen. Da ergriff Hatto den Dieb
mit feiner linfen Hand, ſchwang ihn rund um jein
Haupt und jchleuderte ihn mit der Macht des Zornes
in den Fluß hinein.
Der Tag fam, an welhem die Jungen flügge
waren. Die eine von den Bachſtelzen arbeitete drinnen
im Nefte, um die Jungen an die Neftkante zu ftoßen,
die andre flog umher, um ihnen zu zeigen, wie leicht
das wäre, wenn fie nur den Verſuch wagten. Und
als die Jungen eigenfinnigerweife davor bange
waren, flogen die beiden Alten aus, um ihnen ihre
Ihönften Flugkünſte zu zeigen. Die Flügel plöglic)
zufammenjchlagend, flogen fie in Schlangenwindungen
vorwärts, fliegen aud) gerade in die Höhe wie Lerchen
oder jtanden mit heftig vibrierenden Schwingen in
der Luft ftill.
Aber als die Jungen trotzdem eigenfinnig blieben,
fonnte es Hatto der Eremit nicht unterlajjen, ſich
in die Sache zu miſchen. Er gab ihnen einen zarten
Stoß mit dem Finger und damit war alles gethan.
Sie fallen flatternd und unficher heraus, bie Luft
wie eine Fledermaus peitſchend, jinfen nieder, aber
erheben fih, erfahren, worin die Kunft liegt, und-
wenden fie an, um das Neſt jo bald wie möglich
wieder zu erreichen. Die Eltern famen ſtolz und
jubelnd zu ihnen herab, und der alte Hatto lächelte.
War er es doc) geweſen, der in der Sache jedenfalls
den Ausjchlag gegeben hatte.
Er grübelte nun ernjtlich nach, 06 fich nicht irgend
ein Ausweg für unfern Herrgott finden Tiche.
1008
Bielleiht kam ſchließlich alles darauf hinaus, daß
Gott Vater dieſe Erde in feiner reiten Hand hielt,
wie ein großes Vogelnejt, vielleicht hegte er Liebe
für alle die, welche dort bauen und wohnen , Liebe
für alle die ſchutzloſen Erdenfinder. Vielleicht em—
pfand er mit denen, welche er feinem Gelöbniffe nad)
verderben jollte, Mitleid, gleichtwie der Heidebewohner
mit dem Vogelneft Mitleid hatte.
Sicherlich waren die Vögel des Eremiten viel beffer
als die Menichen unfres Herrn, aber er fonnte wohl
verftehen, dab Gott Vater doch ein Herz für fie hatte,
Am nächſten Tage ftand das Vogelneft leer und
die Bitterfeit des Alleinfeins legte ſich über den
.Eremiten. Langſam ſank fein Arm an jeine Seite
herab, und ihm war es, als ob die Natur den Atem
anbielt, um auf die dröhnenden Pojaunen des jüngjten
° Tages zu lauſchen. Aber zugleich famen alle Bach—
fteljen wieder und ſetzten fih auf fein Haupt und
feine Achjeln, denn fie waren gar nicht bange vor ihm,
Da fuhr ein Fichtftrahl durch das verwirrte Hirn
des alten Hatto. Er hatte ja den Arm gejenkt, jeden
Tag hatte er ihn geſenlt, um nad) den Bögeln zu jehen.
Und da jtand er nun mit allen ſechs Jungen, die
um ihn flatterten und fpielten, und nidte wie zufrieden
mit etwas, was er nicht ſah: „Du fommft los davon,”
ſprach er, „du fommit los. Ich Habe mein Wort nicht
gehalten, jo brauchft du auch deines nicht zu halten.“
Und ihm dünfte, als ob die Felſen zu zittern
aufhörten und der Fluß in jeinem Bette ſich zur
Ruhe niederlegte.
Ein nenes Werf von Toljtoj. Der berühmte
ruſſiſche Schriftiteller und Philanthrop Tolſtoj jchreibt
zurzeit an einer neuen Novelle. Die Eröffnungscene
jpielt in einem Gerichtshofe. Ein junges Weib wird
wegen Diebftahls zur Deportation nad) Sibirien ver-
urteilt, Einer der Geſchworenen erfennt in ihr ein Mäd-
hen, mit dem er jich einige Jahre vorher vergangen
hatte, und um Buße dafür zu thun, begleitet er die
Verurteilte nah Sibirien, um ihre Strafe zu teilen.
*
Mark Twain. Ueber die finanziellen Schwierig—
feiten, in welche der amerikaniſche Humorift Mark
Twain infolge des Bankerotts feines Verleger ge—
raten ift, haben alle Zeitungen berichtet: feine Arbeits«
kraft ift dadurch nicht im mindejten gebrochen, er hat
zurzeit, wie die amerifanifche Wochenſchriſt „The
Critic* mitteilt, ein Werf unter der Feder, das den
Titel „Länge des Aequators“ tragen joll, und erhält
dafür ein Honorar von 40000 Dollars in Raten
zu 10000 Dollars. Seine Verpflichtungen betragen
Loſe Blätter.
60 000 Dollars. Major Pond Hat ihm den Antrag
gemacht, eine Reihe von Vorträgen gegen ein Honorat
von 50000 Dollars zu halten. Mark Twain hat
aber abgelehnt. Das New Yorker „Journal“ bezahlte
ihm unlängft 2000 Dollars für zwei Artikel, die er
über den Jubiläumsfeftzug gefchrieben hat; den einen
davon bdiltierte er einem Stenographen, während der
Feſtzug vor feinen Augen vorüberzog. Solche Unmittel-
barkeit und Lolalfarbe der Berichterftattung kann wohl
nicht mehr überboten werben, es gehört aber auch ameri-
laniſche „Fixigleit“ zu einer derartigen Straftleiftung.
* Sa,
Turgenjeff und feine Freunde in Frankreich.
Zurgenjeif, der fi befanntlich viel in Paris auf
gehalten hat, zählte zu feinen dortigen freunden
auch den vor kurzem geftorbenen Edmond Goncout,
der ihn „liebes Ungeheuer, teurer Barbar“ zu nennen
pflegte, dann G. de Maupafjant, der von Turgenjefi
fagte, er jei der ehrenhaftejte, tapferfte, aufrichtigte
und anhänglichite Menſch geweien, den man über:
haupt treffen fonnte, und bejonders eng befreundet
war er mit Daudet, der Turgenjeif als einen feiner
beten, intimjten Freunde betrachtete. Defto unan«
genehmer war die Ueberraſchung, als die bald nad
Turgenjeffs Tode in Paris erfchienenen „Souvenirs
sur Turgenjeff“ dieje jeine Freunde jehr unfteund⸗
Ichaftlich behandelten. Man bejchuldigte Turgenjefi
deshalb des ſchwärzeſten Undanls, der Verftellung.
Neuerdings erfchienen in der ruſſiſchen Zeitichrift
„Severni Wjestnik* (Neuigleiten des Nordens) bid-
ber ungedrudte Briefe Turgenjeffs, deren Herausgeber
Halperine-Staminsty in einer Einleitung den Beweis
liefert, daß ſolche Vorwürfe nicht gerechtfertigt waren.
Eine Anzahl der Briefe zeigt, wie Turgenjeff zeit
lebend jeinen franzöfiihen Freunden Sympatbien
bewahrt hat. Die Auslafjungen über Zola und bie
Gebrüder Goncourt, die ſich hie und da finden, ent-
halten nur eine Kritik ihrer Leifiungen; an ihrer
Perſon war nur das nicht nach feinem Geſchmad.
daß fie „zu jehr nad) Fitteratur rohen“. Gegen alle
Verlennung jollte Turgenjeff ſchon gefichert jein durch
feine Bemühungen, die Werke von Flaubert, Zola
und Goncourt in Rußland befannt zu machen. Von
jeiner Neidlofigfeit zeugt fein Verhältnis zu Toffto.
Die franzöfiiche Zeitung „Temps“ hatte Turgenjeff
um eine Novelle angegangen; er verſprach dem Her-
ausgeber eine jehr angenchme Ueberraihung — et
waren Tolftojs „Erinnerungen an Sebajtopol*. Tur-
genjeif jchrieb dazu, man brauche ſich über dieſen
Erjagmann nicht zu bejchweren, Tolftoj jei ihm un
ermeplich überlegen.
beftimmten Ueberjegungen
Unire "verefrlichen Mitarbeiter werden freundfichft erjudht, den für die , Beitichrift „I „Aus fremden Bungen‘
1) Angaben über Jahr und Ort des Erfheinens des Originals, ſowie
2) Aurze Biographifde Paten über den Berfafer
beizulegen.
Die Nedaktion behält fi) vor, den Einfender im alle der Annahme einer Arbeit mit der Erweiterung der
biographiichen Daten zu einem biographiihen Aufſatz für die Rubrik „Loje Blätter” zu beauftragen.
Stuttgart.
Deutfhe Perlags:Anftalt
Litterariſche Abteilung.
Verantwortlier Redakteur: Karl Bolhoevener in Stultgart. Drud und Berlag der Deutſchen Berlags-Anftalt in Etuttgari.
Briefe und Eenbungen find nur an die Deutſche Yerlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu ridtem
Sleichbeit.
Edward Bellamy.
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von M. Jacobi.
Gortſetzung.
XXXIII.
Noch allerlei Wichtiges.
Nach Tiſche ſchlug uns der Doktor einen Aus—
flug vor.
„Ich habe ſchon öfter daran gedacht,“ ſagte er,
„dab Sie mid) für einen recht ſchlechten Pädagogen
halten werden, wenn Sie ſich jept in die Welt hin |
ſten Teil der merkwürdigen Erlebnifje zu jchildern,
aus begeben, jie aus eigner Anſchauung kennen lernen,
und dann an meine Vorbereitungsftunden zurüd: |
denken. Ich bin ſelbſt ganz unzufrieden mit der Art, |
wie ich die Sache angefangen habe. Statt nad)
einem wijjenjchajtliden Lehrplan vorzugehen, haben
wir uns völlig planlos unterhalten, und der Inhalt
unires Geſprächs wurde mehr duch Ihre Wißbegierde
als durch eine bewußte Abficht meinerjeits beſtimmt.“
„sh war Ihnen jehr dankbar dafür, daß Sie
mie die wiſſenſchaftliche Methode eripart haben, mein
lieber Freund und Lehrer,“ erwiderte ih. „Wenn ich
aud) feinen Grund Habe, mid) meiner jchnellen Auf—
jafjung zu rühmen, jo glaube id) doc), daß ich ſchon
recht viel von dem jehigen Syſtem weiß, und zwar
gerade deshalb, weil Sie jo freundlich waren, meiner
Neugier freien Spielraum zu laſſen und mich nicht
in eine bejtimmte Methode zu zwängen.“
„Es würde mich jehr freuen, wenn id; glauben
dürfte, daß unfre Unterhaltungen für Sie ebenſo
Iehrreich geweſen find, wie fie mir angenehm waren,”
fagte der Doktor. „Wenn id Fehler gemacht habe,
jo muß mir zur Entidhuldigung dienen, daß wohl
jelten oder nie ein Lehrer vor eine jo große Aufgabe
geftellt wurde wie ich — vor eine Aufgabe, die ihm
ganz unerwartet fam, und die er wegen der begreifs
lichen Spannung jeines Schülers in kürzeſter Zeit
bewältigen mußte.”
„Spraden Sie nicht davon, daß wir zufammen
heute nachmittag einen Ausflug unternehmen wollten?“
„sa,“ antwortete der Doltor, „Es ſoll ein Ver-
ſuch fein, einige meiner jchlimmjten Verſäumniſſe
wieder gut zu machen. Viele wichtige Seiten unfres
Lebens find Ihnen noch ganz unbelannt, Was wür- |
den Sie Dazu jagen, wenn wir diesmal einen Lufts |
wagen mieteten, damit Sie die Stadt und ihre Um—
Aus fremben Zungen. 1897, IL 22,
| gebungen aus der Bogelperjpeftive ſehen fönnen? Sie
werden dabei gewiß allerhand Neues entdeden, was
wir dem Fortſchritt der Zivilifation verdanlen.“
Der Plan jchien mir vortrefflid), und er wurde
jogleich zur Ausführung gebracht.
Es ift mir natürlich unmöglich, in diefen furzen,
fragmentariichen Aufzeichnungen aud) nur den hunderte
die mir in der neuen Welt begegneten. Trotßdem
muß es aber euch, liebe Leſer, ſonderbar ericheinen,
dab ih euch jo wenig von meinem Eritaunen
über die vielen großen mechanischen Erfindungen
und Hilfämittel erzählt habe, welche eure Zivili-
jation hervorgebracht bat, und die euch nun zu
Gebote fliehen. So hatte ih ſchon mande andre
Luftfahrt gemacht, ohne euch über meine Gefühle bei
dieſer Art der Beförderung zu berichten, die dod)
einem Nepräfentanten des neunzehnten Jahrhunderts
über alle Maßen wunderbar vorlommen mußte. Zur
Erklärung diejer jcheinbaren Gleichgültigleit gegen
die Wunder der Mechanik muB id) jagen, daß fie
mich unendlich viel weniger überrajchten als die mo—
raliichen Fortichritte, die eure neue Geſellſchafts—
ordnung zu wege gebracht hat.
Unter denjelben Umständen wäre e8 jedem meiner
Zeitgenofien ebenjo ergangen. Schon während der
legten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte
man die großartigften Entdedungen und Erfindungen
gemacht, und jo ſchien auf dem Gebiet der Wiſſenſchaft
| und der Mechanik fein Problem für die Zukunft
unlösbar. Wir erwarteten zum Beiſpiel längft mit
Beſtimmtheit eure unterjeeiihe Schiffahrt und hatten
die Aufgabe beinahe jchon bewältigt. Die Entdedung
der Eleftricität machte faſt alles möglihd. Was die
Luftſchiffahrt anbetrifft, jo waren wir überzeugt,
daß unfre Enkel, wenn nicht Schon unjre Kinder, die
Frage erfolgreich, löfen würden. Es hätte mich jehr
überrajcht, wenn die Menſchen jetzt noch nicht fliegen
fönnten.
Aber während wir von dem Berjtand der Men
ſchen und ihrer Herrichaft über die Naturfräfte jo
viel erwarteten, verzweifelten wir an ihrer moraliichen
127
1010 Edward
Entwicklungsfähigleit. Wir glaubten, fie würden nie
über ſich hinaus wachlen und fittlih volllommenere
Geſchöpfe werden. Im Prinzip waren wir uns
darüber ebenjo Mar wie ihr, dab eine Geſellſchaft,
die ſich auf die Bafis der allgemeinen Menjchenliebe
gründete, unendlich viel glüdlicher jein müßte, als
Menjchen je geweien find, weil auf einer ſolchen
Grundlage das Wohl aller am beiten gefördert wer—
den fünne. Zu gleicher Zeit begten wir aber bie
fefte Ueberzeugung, dab die jündhafte Anlage des
Menidhen und feine blinde Selbftfucht ihn hindern
würden, dieſes Ideal je zu verwirflien. Bergebens
hatte Gott ihm einen Geift verliehen, der dem jeinen
ähnlich war, denn alle höheren Ziele des Lebens
waren ihm umerreichbar. Eine untilgbare fittliche
Verfehrtheit hinderte ihn daran, feinem befieren
Willen zu folgen, und machte ihn zum Sklaven feiner
gemeinen und ſchädlichen Triebe.
„Unmöglich! Es ift gegen die menjchliche Natur!”
Das war der Auf, welder allen Propheten und
Lehrern entgegentönte, fie übertäubte und zum Schwei-
gen brachte, wenn fie die Welt dazu aufrütteln wollten,
die Herrjhaft des Chaos nicht länger zu dulden.
Sie redeten von der Möglichkeit des Reiches Gottes
auf Erden — aber fie fanden feinen Glauben.
Iſt es da ein Wunder, daß ein Menſch wie ich,
der in diejer Hoffnungslojigfeit groß geworden iſt,
bem die fittliche Erhebung der Menſchheit für uns
möglich galt, allen euern Wundertpaten auf materiel=
lem Gebiet wenig Aufmerkjamfeit jchentt, um mit
immer wacjender Bewunderung fih in das Ge—
heimnis eurer gerechten und freudenreichen Lebens—
Jührung zu vertiefen?
Wenn id) jet zurücblide, jehe ih ein, daß dieſe
Anſchauung von der Schlehtigfeit der Menſchennatur
die größte Yäfterung Gottes und der Menschen war,
die je erfunden worden if. Aber ad), die Kirchen
haben dieje Lehre nicht verdammt, jondern fie durch
ihre Predigt von der hoffnungsiojen Sündhaftigleit
des Menjchen noch beftätigt.
Gerade die Luftſchiffahrt, von der ih ſprach,
giebt ein anjchaulidhes Bild davon, wie meine Zeit:
genofjen ein unbefchränftes Vertrauen in den orte
ſchritt der Menſchen auf materiellem Gebiet mit dem
größten Unglauben in betreif ihrer moralifchen Ver—
volllommnung verbunden haben. Ich erwähnte
ion, dab wir mit Beltimmiheit erwarteten, daß
unjre Nachlommen die Luftſchiffahrt einführen wür—
den, aber das Wichtigfte dabei war, wie man die
neue Kunft im Sriege dazu verwenden lönnte, Dyna—
mitbomben in das Menjchengedränge großer Städte
hinunter zu ſchleudern. Machen Sie fi eine Vor—
ſtellung davon, wenn Sie fünnen. Hat nicht ſelbſt
der Dichter Tennyjon dies Zufunftsbild gemalt,
wenn er jagt:
Bellamp.
„Die fylotten der Bölter mit Rriegsgetin
Sie fämpften im Uetherblau.
Laut ſchallte ihr Grimm durd des Himmels Höh'e,
Es regnete eifernen Tau.“
Wie das Voll die Zügel führt.
Jetzt lie der Doktor unfern Wagen in einer Höhe
von ungefähr taufend Fuß halten und fagte: „Run
zu unfrer Leltion! Sehen Sie da unten nicht eiwas
Mertwürdiges?*
Ich Hatte einen Blick auf die Kuppel des Rat:
hauſes geworfen und fagte: „Was in aller Welt habt
ihr denn da oben hinaufgelledt? Das Sieht ja ganz
aus wie eine jelbftthätige Windmühle, wie fie zu
meiner Zeit die Landleute aufflellten, um Waſtet
beraufzupumpen. ine jeher jonderbare Berzierung
für ein öffentliches Gebäude!”
„Es joll auch feine Verzierung fein, jondern ein
Symbol,“ ermiderte der Doltor. „Es ftellt dei
heutige Jdcal eines Regierungsſyſtems dar. Die
Mühle bedeutet den Mechanismus der Verwaltung,
und der Mind, der jie treibt, den Willen des Volles,
Das Steuerruder, welches den Flügel der Mühle
immer vor dem Winde hält, mag diejer noch io
plötzlich umjpringen, ſoll zeigen, wie die Verwaltung
jederzeit dem Wunſche des Volles entjprecdhen und
ihm gehorſam fein fol, wenn er ſich andy nur wie
ein feier Windhauch äußert.
„Ich habe jchon ſoviel über den Gegenftand mit
Ihnen geſprochen, daß ich mich jetzt nicht länger
darüber zu verbreiten brauche, wie jede bemofratiüce
Regierung, wenn fie diejen Namen mit Recht trägt,
auf der wirtichaftlichen Gleichheit der Bürger, jumt
allen ihren Folgerungen, beruhen muß. Das demo
fratiiche Negiment wäre immer eine Komödie ge
blieben, troh aller fonftitutionellen Einrichtungen und
parlamentariichen Kniffe, jolange das Privatwohl,
von dem Wohl des Ganzen getrennt, ihm feindlid
gegenüberftand, und folange das jogenannte ‚jour
räne Volk‘ jein Brot aus den Händen der KRapite
liften empfing. Nimmt man dagegen an, dab dai
Privatintereffe mit dem allgemeinen Intereſſe Haud
in Hand geht, daß kein Individuum mehr von irgend
einem andern abhängig ift, und daß alle auf gleide:
Bildungaftufe ftehen — dann könnten jelbjt Umvel-
fommenbeiten in der Verwaltung nicht verhindern,
daß das Volk fid) einer guten Regierung erfreut.
Mir haben aber den Mechanismus der Berwaltung
ebenjo verbefjert wie den ber Triebfraft. Eure Wahlen
fanden einmal im Jahre ftatt oder vielleicht ale
zwei oder alle ſechs Jahre; ihr wähltet die Männer,
welche über euch bereichen jollten, und von dem
Augenblid an, da fie gewählt waren, bis zur nächſten
Wahlperiode waren jie ebenſowenig verantwortid
wie der Zar, ja noch weniger als diejer. Denn ber
Zar hatte doch ein Interefje daran, feinem Sohn
Gleichheit.
das Erbteil ungeſchmälert zu hinterlaſſen, während
eure unumſchränkten Herrſcher fein andres Intereſſe
tannten als das, von ihrer Macht Nutzen zu ziehen,
jolange fie diejelbe in Händen hielten.
„Wir find der Anficht, dab bei einem demolra-
tiichen Regiment die Macht. an niemand auch nur
eine Stunde lang unwiderruflich übertragen werden
darf, fondern nur jo, daß die Wählerfchaft ihr Mandat
jederzeit zurüdziehen fann, Auch heute werden die
Beamten auf eine gewiſſe Zeit gewählt, weil das
jwedmäßiger ift, aber diefe Zeitbeftimmung bat feine
bindende Kraft ; fie fann durch Stimmenmehrheit der
Auftraggeber widerrufen werden, Ebenfo wird feine
Berordnung von einer Körperſchaft erlaflen, ohne
dem Volfe noch einmal vorgelegt zu werben. Kein
Abgeordneter darf über eine wichtige Vorlage ab—
ſtimmen, ohne feine Wähler zu befragen. Wenn ein
Vertreter des Volls der Anjicht feiner Wähler ent-
gegenhandelte, würde er abgeſetzt und der Beſchluß
am nähften Tage umgeſtoßen werden. Sie können
fich vorstellen, daß bei diefem Syitem dem Abgeord=-
neten jehr viel daran liegen muß, mit feinen Wäh—
lern Fühlung zu behalten. Das Bolt ijt durch dieſe
Beftimmungen vor unverantiwortlicher Gejekgebung
geſchühzt, jehr oft macht es aber auch jelbft Vorjchläge
zu neuen Maßregeln, ftatt ſich durch feine Abgeord»
neten vertreten zu laſſen.
„Das fompliziertefle Wahlſyſtem ijt durch unjre
Telephone jo volllommen geworden, dak im Not-
fall die ganze Nation wie ein organifiertes Parla—
ment vorgehen kann. Unſre Repräientantenhäuier,
die euren Kongreſſen und Parlamenten entiprechen,
haben unter diefem Syflem nur die Geſchäfte zu
führen, welche euern Kommiffionen oblagen. Das
Volt regiert nicht nur dem Namen nad, jondern in
Wirklichkeit. Wir haben die wahre Demofratie,
„Es ift unire tete Sorge, dab die Geſchäfts—
führung überwacht wird, aber nicht weil wir unjern
Abgeorbneten kein Vertrauen jchenfen. Die uns
widerrufliche, unveränderliche wirtſchaftliche Gleichheit
bietet weder Gelegenheit noch Veranlaffung zur Bes
ſtechlichleit. Kein Vorteil, den man auf unredht-
mäßige Weiſe erringt, lönnte den großen Porteil
aufwiegen, ich die Achtung des Volkes zu erwerben
— das einzige, was heutzutage die Bürger dazu be—
ftimmt, ein foldes Amt anzunehmen. Unfre Ger
jellichaftzordnung felbft fichert alle unfre Lebens»
intereffen vor jeder Störung. Wir könnten ruhig
einer auderwählten Gruppe von Bürgern die Leitung
der Dinge lebenslänglich übertragen; wir thum es
aber nicht, weil wir die Anregung, welche die divefte
Teilnahme an der Regierung uns bietet, nicht ent
behren wollen. Ich möchte uns mit einem reichen
Manne vergleichen, der eine Menge tüchtiger Kutſcher
in feinen Dienften hat, es aber doch vorzieht, die
1011
Zügel jelbit zu führen, weil es ihm freude macht.
Ihr habt einmal im Jahre gewählt; in fünf Mi«
nuten war der At vorüber, aber es that euch doch
leid um die Zeit, weil ihr fie nicht euern Privat:
angelegenheiten widmen fonntet — die waren immer
die Hauptſache. Bei ung find die allgemeinen An—
gelegenheiten unsre Brivatangelegenheiten; wir lennen
feine andern, die gleich wichtig wären, Wir ftimmen
wohl hundertmal im Jahr über die verjchiedenjten
Dinge ab, von der Temperatur der öffentlichen Bäder
oder dem Bauplan, der für ein öffentliches Gebäude
gewählt werben joll, bis zu den größten Fragen ber
ganzen Welt, und wir finden diefe Ausübung unjrer
Bürgerpflict ebenſo anregend wie lehrreich.
„Und num, Julian, jehen Sie, bitte, noch einmal
hinunter, ob Ihnen nicht noch etwas auffällt, worüber
Sie eine Frage ftellen möchten.“
Die Meinen Kriege und der große Krieg.
„Sch Sehe, daß die Hafenbefeitigungen noch vor—
handen find," ſagte ih. „Die werden wohl als
hiſtoriſche Beweiſe von der Barbarei eurer Vorfahren
und meiner Zeitgenofjen aufbewahrt, wie die Mietö«
fafernen, die ich gejehen habe?”
„Sie müflen e8 nicht übelnehmen, wenn ich jage,
dak wir wirklich eine vollitändige Sammlung ſolcher
Anftalten konſervieren müſſen. Die Kinder würden
es fonft nicht glauben wollen, was ihre Urgroßväter
einft für Pollen getrieben haben, wenn die Bücher
ihnen davon erzählen.”
„Man hält doch wohl die Garantie des Welt-
jriedens, den die neue Ordnung der Dinge den
Menſchen gebracht, für eine ihrer größten Leiſtungen,“
jagte ih. „Und doc) haben Sie noch jo wenig mit
mir darüber geſprochen.“
„Sie ift an umd für fi ein großer Segen,“
jagte der Doktor. „Aber unendlich viel wichtiger
it es, dab der wirtichaftliche Krieg der Menſchen
untereinander aufgehört hat! Die Anſchauungen
unjrer Borfahren in diefer Beziehung find uns höchſt
merfwürdig. Wenn gelegentlih ein Krieg zwiſchen
zwei Nationen ausbrach, konnten fie ſich über die
Härte und Graufamfeit, die er im Gefolge hatte,
gar nicht beruhigen, und body waren fie jcheinbar
ganz gefühllos den Greueln gegenüber, welche der
Kampf ums Dajein, in den ihr alle verwidelt wart,
täglich mit ji brachte. Von unjerm Gefichtspunft
aus waren eure Kriege zwar jehr thöricht, aber ver-
bältnismäßig menſchlich und geradezu unbedeutend,
wenn man fie mit dem brudermörderiſchen Interefion-
fampf vergleicht. Im Kriege griffen nur die Männer
zu den Waffen, ftarke, auserlejene Mannſchaften,
ein jehr Heiner Teil der gefamten Bevöllerung. Da
gab es feine Frauen, feine Kinder und alten Leute;
die Schwachen wurden außgejchloffen, die Verwundeten,
1012 Edward
ob Freund, ob Feind, forgfältig gepflegt und
dem Leben zurüdgegeben. Die Kriegäregeln unter«
lagten jtreng jede unnütze Graujamfeit, und der Bes
fiegte fonnte fid) jederzeit mit Ehren zurüdziehen, er
war einer guten Behandlung ficher, Die Schlachten
fanden gewöhnlich an den Grenzen ftatt, außer Sicht:
und Hörweite der großen Maſſe der Bevölkerung.
Außerdem wurden die Kriege nad) und nad) jo jelten,
dab manche Generation gar feinen erlebte. Sie
appellierten an die Hingebung und den Opfermut des
Volles, und wenn auch die Urſachen des Krieges diefer
Opfer nicht wert waren, jo gehörten die Tugenden,
welche er erzeugte, doch zu den jeltenften und größten.
„Bergleihen Sie mit einem ſolchen Kampf die
Umftände, welche den wirtfchaftlichen Krieg begleiteten.
Hier waren die Krieger nicht eine außerwählte Schar.
Die ganze Benöllerung aller Länder — wenige reiche
Bellamy.
erwiderte der Doktor; „aber es ift unglaublich, wie
furzfichtig fie waren. Ihre Anitrengungen, die Lrien
abzuihaffen, während fie dem wirtſchaftlichen Kampi
rubig zujahen, der doch in einem Monat mehr Leiden
und Opfer fordert al& die internationalen friere
einer ganzen Generation, machen den Eindrud, alt
hätten fie ‚Mlüden gejeihet und Kamele veriählude‘,
„Der Segen, welcher der Menſchheit daraus er:
wählt, daß es feinen Krieg mehr giebt, beficht
unfrer Meinung nad weniger darin, dab lein Blut:
vergießen mehr ftattfindet, al& darin, daß Eiferſuch
und Neid, welche die Völker nicht nur im Sriege,
fondern auch im Frieden gegeneinander erbitterten,
‚ Jeßt außgeftorben find. An ihre Stelle ift brüder:
Leute ausgenommen — wurde zum Dienft gezwungen, | 1
Die alte und die neue Vaterlandsliehe
Nicht nur mußten Frauen und Slinder, Alte und
Kranke daran teilnehmen, ſondern je ſchwächer der
Streiter, deſto jchwerer war der Kampf. In diejen
Gefechten fanden die Verwundeten feine Pilege und
die Beltegten weder Gnade noch Barmberzigfeit,
Nicht an den fernen Grenzen fremder Länder tobte |
diejer Krieg; nein, in jeder Stadt, jeder Straße und
jedem Haus. Seine erihöpften, verwundeten und
fterbenden Opfer wurden mit Füßen getreten,
und wohin das Auge jah, erblidte e3 das Elend in
immer neuer Geftalt.
Unterliegenden, ihre Seufzer und Klagen drangen
zu jedes Menjchen Ohr. Und diefer Krieg fam nicht
ein» oder zweimal in hundert Jahren, um eine Zeit
lang die Erde mit Blut zu färben und dann dem
Frieden Pla zu machen; nein, er war ohne Ende,
ohne MWaffenftillftand — lebenslang. Nicht Edelmut
und Selbjtlofigfeit wurden dabei entwidelt, jondern
Gemeinheit, Falſchheit und Graufamfeit — auf die
jchlechteften Regungen des Menjchenherzens war ein
für allemal ein Preis gejekt.
„Wenn wir auf euer Zeitalter zurüdiehen, jo kommt
und der Krieg, welcher dort vor jenen alten Be—
feftigungen ausgefochten wurde, nur tragiſch und beis
nahe erhebend vor gegen das grauenhafte Schaufpiel
bei dem Kampfe ums Dafein,
„Wir Fönnten beinahe den Soldaten von Beruf |
recht geben, weldye damals behaupteten, von Zeit zu
Zeit ſei ein Krieg ganz notwendig, um Großmut
und Opfermilligfeit unter den Menjchen neu zu bes
(eben, da ſich ſonſt die Gefellichaft in der Fäulnis
ihrer Selbſucht und Gemeinheit auflöjen müfſe.“
„Sch fürdte, daß die Nachwelt den Gründern
ber Vereine zur Beförderung des Weltfriedens feine
jo aroßen Denfmäler errichtet hat, wie fie ertvarteten,*
ſagte id.
„Diefe Leute hatten jedenfalls den beiten Willen,”
Das vergebliche leben der |
| fonnte das auch nicht anders fein.
liche Teilnahme und alljeitiges Wohlwollen getreten,
die feine Schranken der Nationalitäten oder der Fün-
ber fennen,“
Während der Doktor ſprach, fiel mein Blid anf
eine Fahne, Die ſich tief unter mir im Winde ent
faltete. Es war das Sternenbanner, Bei diefen
Anblid klopfte mir das Herz, und meine Augen wur«
den feucht. \
„Ach,“ rief ich aus, „da weht unfer ruhmreide:
Banner!”
Die Blide des Doftors folgten den meinen,
„Ja,“ jagte er, „aber jetzt verkündet es einen
neuen Ruhm. Wo dieſes Banner weht, giebt e
feine Not und feine Leiden mehr, welche menſchlich
Hilfe lindern kann.
„zu eurer Zeit waren die Amerilaner aud) patrie:
tisch gefinnt,* fuhr er fort, „aber der Unterjdie
zwiſchen dem alten und dem neuen Patriotismus it
jo groß, dab man beide faum für dasjelbe Gefühl
halten fann. Früher waren die Gedanfen und Gr
fühle, welche unſre Fahne erwedte, rein friegeriiber
Art, Aufopferung für die eigne Nation, wenn fie mit
einer andern im Kriege lag, dad war es, was man
unter Vaterlandäliebe verftand. Bei Zuftänden, in
denen die Nationen ſtets bereit fein mußten, zum Schuß
der eignen Exiſtenz Die übrigen Völker zu befämpien,
Aber die Folge
diefer WVaterlandsliebe war, daß das Gefühl der
nationalen Solidarität an Stelle der Solidarität
aller Menſchen gejeßt wurde. Eine bejchränfte Pflicht
erfüllung ftand einer umfalfenderen entgegen, und je
entitanden natürlich viele fittliche Konflikte, Sebt
oft war, was ihr als Vaterlandsliebe priefet, nur
Haß und Mikgunft gegen eine andre Nation, weil
fie nicht eure eigne war, nur ein blindes Vorurteil
gegen fremde Jdeen und Einrichtungen, aus feinem
andern Grunde, als daß fie nit euerm Wolfe an
gehörten. Diefe Art Patriotiemus richtete jahr:
bundertelang unüberfteiglihe Schranfen auf; fie ftellie
Gleichheit.
dem Fortſchritt der Zivilifation Hinderniffe in den
Meg, die höher waren ala Berge, breiter als bie
grökten Ströme und tiefer als das Meer.
„Der neue Patriotismus war die natürliche Folge
der veränderten fozialen und internationalen Zuftände,
die feit dem Umſturz eingetreten find. Schon zu
eurer Zeit wurden die ſtriege immer feltener — jet
bat die Entwicklung der allgemeinen Verbrüderung
fie unmöglich gemacht; jeit mehreren Generationen
ift fein Krieg mehr geführt worden, Die alten blut=
getränften Grenzen der Länder bleiben jeht nur be=
ftehen, weil fie die Verwaltung erleichtern, wie die
Grenzlinien der einzelnen Staaten unjrer Republif,
und jo ift der internationale Neid, das Miftrauen
ſamt aller Furcht und Feindſeligleit, eines natürlichen
Todes verbliden. Die Jahrestage der Schlachten
und Siege über andre Nationen, durch welche das
Feuer des alten Patriotismus gefchürt wurde, find
fängft vergeſſen. Mit einem Wort: die Vaterlands—
liebe ift fein friegerifches Gefühl mehr. Auch die
Fahne hat ihre alte Bedeutung verloren; fie joll
nicht mehr dem Feinde Troß bieten, jondern das
höchſte Symbol des Friedens und der Eintracht fein.
Sie ift das ſichtbare Zeichen der jozialen Solidarität,
durd; welche das Wohl aller auf unerjchütterliche
Weiſe gefichert ift. Wenn jetzt der Amerifaner feine
Augen zur Standarte erhebt, denft er nicht an bie
Heldenthaten feiner Nation im Kriege mit andern
Bölkern, nicht an vergangene Triumphe und zufünftige
Kriege. Die flatternden ahnen erweden in ihm
feine jolden Gedanken. Sie erinnern ihn vielmehr
an den Bruberbund, den er mit allen feinen Lands—
leuten geichlofien hat, zum Schuß der Ehre und
Wohlfahrt jedes einzelnen durch die Macht der
Gemeinschaft.
„Die alten Patrioten ftellten fi) vor, dab nur
fremde Nationen die Fahne beſchimpfen könnten, und
jobald das Volk hörte, daß jeinem Banner nicht die
vorjchriftsmäßige Ehre erwielen worden war, geriet
es in patriotifhe Raſerei. Jetzt würde dies Gefühl
uns wunverftändlic jein; wir meinen, daß fein
Fremder die Madt hat, unjre Fahne zu entehren;
er hat nichts mit ihr zu Schaffen und weiß nicht, was
fie uns bedeutet. Ihre Ehre oder Unehre hängt von
dem Volke ab, das ihr, als dem Sinnbild der Brubder-
liebe, Treue geihworen bat. Für den Patrioten in
alter Zeit war «8 fein Widerfinn, wenn dad Syms
bol der nationalen Einheit über einer Stadt ſchwebte,
in der die jchmählichjte Unterdrüdung, Proftitution
und Bettelei ihr Weſen trieben, und welche Höhlen
des namenlofeiten Elends in ſich barg. Nach unſrer
Anficht würde unfer Stolz auf das Banner zu einer
prablerifhen Lüge werden, wenn man in irgend
einem Winkel des Landes den geringiten Bürger un—
geftraft feiner Menjchenrechte beraubt hätte. Das
1018
Volk ſelbſt würde mit Entrüftung die Niederlegung
der Fahne verlangen und fie erft wieder aufrichten,
wenn das Unrecht gejühnt und gut gemacht wäre.“
„sa wahrlih,* ſagte ih, „ihr neuer Ruhm
ſcheint mir größer, al& der alte je gemejen tft,“
Während wir uns unterhielten, hatte der Doktor
unjern Wagen von dem Weſtwind dahintreiben
laſſen. Wir jchwebten jet über dem Hafen, und ich
wunderte mid), wie wenige Schiffe dort vor Anfer
lagen.
„Mir ſcheint,“ jagte ih, „daß die Anzahl der
Schiffe im zwanzigften Jahrhundert fi) gar nicht
vermehrt hat. Ich erwartete eine große Flotte zu
jehen, da die Bevölferung und der Handel doch zu—
genommen haben müſſen.“
„Die neue Ordnung hat im Gegenteil den über:
jeeifchen Handel ſehr eingefchräntt; dagegen wird
zur Belehrung und zum Vergnügen tauſendmal mehr
ind Ausland gereift als früher.“
„sn welcher Weile hat denn die neue Ordnung
den Austauſch der Produkte mit fremden Ländern
beichränft?* fragte ich.
„Auf zweierlei Weiſe,“ erwiderte der Doktor,
„Zuerft müſſen Sie willen, daß das Gewinnſyſtem
im ausländiihen Handel ebenjogut abgeihafft iſt
wie bei der imländijchen Güterverteilung. Ein in-
ternationaler Rat überwadht den Warenaustanjch
zwiſchen den Nationen, und das eingeführte Produft
muß zu demfelben Preis geliefert werden, welchen
die Bürger der ausführenden Nation dafür zahlen,
Deshalb bat auch Fein Volk ein Intereſſe daran,
Güter für den Erport zu fabrizieren, wenn «8 nicht
zu jeinem eignen Verbrauch folder Produfte eines
andern Landes bedarf, die in der Heimat nicht eben-
fogut herzuftellen find.
„Nod weit mehr trägt aber jet zur Beſchrän—
fung des überjeeiichen Handels der Umſtand bei, daß
alle Fähigkeiten und Senntniffe in gelehrten und
praftiichen Dingen ſich viel gleihmäßiger in den
Nationen verbreitet haben. Heutzutage würde jedes
Bolt ih Ihämen, irgend ein Lebensbebürfnis von
auswärts zu beziehen, wenn die natürliche Beſchaffen—
beit des eignen Landes es nicht unmöglich macht, die
betrejfende Ware zu produzieren. So wird jet aus»
Ichlieplich mit Waren gehandelt, die nur an beftimmten
Drten erzeugt werden fünnen, und je mehr es dem
Menſchen gelingt, die Natur zu beherrſchen, defto
Heiner wird ihre Zahl, Früher batten die Kohlen-
länder einen großen Vorteil, aber der beſteht jekt
nit mehr. Schon vor hundert Jahren find Er—
findungen gemacht worden, durch welche die Ent:
widiung eleftriicher Kraft in beliebiger Stärke fait
nichts mehr fojtet.
„Aber denten Sie ja nicht, daß die verichiedenen
Voller nur aus wirtichaftlihen Gründen oder aus
1014
Eitelleit danach fireben, alles felbit zu beichaffen,
ftatt von andern Nationen abhängig zu fein. Sie
thun es baupliächlih um des erziehlichen und ans
regenden Einfluffes willen, den ein mannigfaltiger
Betrieb in Heinen Verhältniffen mit fich bringt. Wir
geben nicht nur darauf aus, dab jede Nation ein
volllommenes Induftrieigitem haben follte, jondern
möchten aud, dab in jedem Lande die Gewerbe jo
gruppiert wären, baß jeder größere Diftrift gewiller«
mahen einen Mitrofosmos aller Induſtrie in der
ganzen Welt darjtellen fann, Sie werben fi er-
innern, daß wir fchon neulich auf der Indbuftriebörfe
davon gejprodhen haben.“
Wie leicht jet der Beruf des Arztes ifl.
Schon vor einer Weile hatte der Doktor uniern
Kurs verändert; wir fuhren jebt in weſtlicher Rich—
tung über die Stadt hin,
„Was ift das für ein Gebäude?“ fragte ich, „wir
befinden uns gerade darüber; es Hat jehr viele
Fenſter.“
„Das iſt eins von unſern Sanatorien,“ ant«
wortete der Doktor. „Hier gehen die Leute hin,
welche krank find und eine Luftveränderung brauchen,
aber doch ihre Heimat nicht verlaffen mödjten. Jeht
läßt fid) beides vereinigen. An diefen Gebäuden iſt
alles jo genau und jorgfältig auf den Auftand bes
Kranken berechnet, daß er e& nirgends befjer haben
fönnte,”
„Gewiß find feit meiner Zeit in jedem Zweige
Ihres Berufes große Fortichritte gemacht worden:
in der Arzneifunde, der Hygiene, der Chirurgie und
allem übrigen.“
„Ja,“ erwiderte der Doltor, „und zwar haben
wir pofitive und negative Fortſchritte gemacht; die
leßteren find fogar die allerwichtigften. Sie beſtehen
in der Abſchaffung aller Zuftände, die der Gefund-
beit ichädlih find, und die doch früher von den
Aerzten vergebens belämpft wurden. Ich will Ihnen
ein Beiipiel jagen: In den beiden letzten Öenerationen
bat die wirtjchafttiche Unabhängigkeit der Frauen jie
in den Stand gefeht, ihre Beziehungen zu den Männern
jelbftändig zu regeln, und Sie werden leicht begreifen,
wie infolgebdejfen die Supbilis bei unfrer Raſſe ſchon
längjt nicht mehr vorlommt. Die jeit drei Generationen
allgemein eingeführte äußerfte Sauberkeit in allen
Wohnungsverhältnifien, in Kleidung, Heizung und
der ganzen Lebensweiſe der Menſchen hat alle ans
jtedenden Krankheiten faft ganz vertrieben ; wer dennoch
franf wird, hat die bejte Pflege. Denten Sie jid)
nun zu diefer Umwandlung in den hygieniſchen Bes
dingungen, unter denen das Volk lebt, noch die alle
gemeine planmäßige Ausbildung und Abhärtung des
Körpers hinzu, die einen Teil der Jugenderziehung
bildet, und ſchließlich noch die Kräftigung, man könnte
Edward Bellamp.
jagen: die körperliche Wiedergeburt der Frauen —
dann müflen Sie geftchen, daß wir den Strom des
Lebens an feiner Quelle gereinigt und geftärtt
haben.”
„Weiter brauchen Sie nichts zu fagen, Dollot —
Sie haben ja ſchon den Merten ihre ganze Prarit
fortdisputiert.*
„Ganz recht,“ erwiderte der Doktor. „Die Er:
findungen und Verbefferungen, die feit Ihrer Zeit
gemacht worden find, haben den Aerzten verfchiedentlih
ihre Thätigfeit tweggenommen, ebenfo wie fie jedem
andern Gewerbe einen Teil der Arbeit entzogen — aber
nur um ihm neue Felder für reichere und eblere
Arbeit zu erichliehen.
„Dielleiht habe ich den wichtigſten negativen
Faktor bei den Berbeflerungen unfrer hygieniſchen
Verhältniſſe noch gar nicht erwähnt,“ fuhr mein Ge—
fährte fort. „Die Menſchen befinden ſich jet nicht
mehr im Zuftand gänzlicher Unwiſſenheit, was ihren
eignen Körper betrifft. Die Fortſchritte in dieler
Beziehung haben mit der allgemeinen Bildung Schritt
gehalten, Nad) allem, was wir darüber leſen, ſcheinen
früher jelbft Die gebildeten Klaſſen es als feine Schande
angejehen zu haben, von Phnfiologie und der Be
ichaffenheit des gefunden und franfen Körpers nicht das
Geringfte zu willen. Sie überließen dem Aerzten die
Sorge für ihe körperliche Wohl in demfelben Geift
cyniſcher Ergebung, wie fie ihre Seelen deu Geiftlicen
überließen. Jeht würde man jedes Erziehungsinften
lächerlich finden, das nicht dem Schüler jo viele Kennt:
niſſe in den Grundzügen der Phufiologie, der Hygiene
und der Medizin beibringen könnte, daß er im itande
wäre, ein gewöhnliches Unwohlſein jelbit zu behandeln,
ohne einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ich glaube
nicht, daß es eine zu gewagte Behauptung if, wenn
ic) jage, daß Heutzutage jeder jo viel von der Ber
handlung in Krankheitsfällen versteht, wie ein großer
Zeil der früheren Aerzte. Natürlich) kann man bei
diefer Lage der Dinge, ganz abgejehen von den großen
Fortjchritten im Gefundheitszuftand der Menſchen,
jeßt mit einem Arzt außfommen, wo früher zwanzig
genug zu thun Halten. Wir Aerzte find jet wur
Spezialiiten und Sacdverftändige in Dingen, von
denen bis zu einem gewiſſen Punkte jeder etwas ver-
fteht. Wenn man uns rufen läßt, ift es gewöhnlich
zu einem Konſilium — wenn ich einen Ausdtud
gebrauchen fol, der euch ganz geläufig war — die
andern Teilnehiner an dem Konfiltum find dann der
Fatient und jeine Freunde.
„Der allerwichtigfte Faktor bei dem Fortidriti
der medizinishen Wiſſenſchaft ift aber das Ber
ihwinden des Parteiweſens aus der Arzmeikunde,
was größtenteil® denjelben fittlichen und wirtſchaft
lichen Gründen zu verdanfen ift, welche die Seltiererei
aus der Religion verbannt haben. Sie werden ſich
Gleichheit.
erinnern, daß zu Ihrer Zeit nächſt der Theologie
feine Wiſſenſchaft dem lähmenden Einfluß des über—
lieferten Dogmas fo ſehr unterworfen war wie die
Medizin. Ob es fih um das Heil des Körpers
handelte oder um das der Eeele, in beiden Füllen
wurde jeder eigne, urſprüngliche Gedanke mit blindem
Eifer umterbrüdt und dadurch der Fortſchritt ges
hemmt,
„seht ift das Stubium der Werzte in feiner Weije
beſchränkt; ihre theoretifche Ausbildung it jo um—
fallend wie möglich, aber im einzelnen Fall bleibt
die praftiiche Behandlungsweiie ganz dem Doktor
und feinem Patienten überlajien. Man nimmt an,
daß ein jo gebildetes Volk wie das unjrige die Pflege
des eignen Körpers ebenjogut jelbit in die Hand
nehmen kann wie die der eignen Seele. Infolge
der gänzlichen Unabhängigkeit der praftiichen Aerzte,
die Durch die Kritik und den Beifall eines ganzen
Volles, das den Wert ihrer Leiltungen richtig be=
urteilen fan, zu immer neuen Eifer angeipornt
werden, hat die medizinische Wiſſenſchaft ganz an—
glaubliche Fortichritte gemacht. Nicht nur hat bie
Anwendung der Heilmittel unzählige Verbeſſerungen
aufzuweijen, wir haben ganz neue Prinzipien ent-
dedt und jind der Kenntnis vom Urfprung des
Lebens jo nahe gelommen, wie ihr es nie für mög—
lich gehalten hättet. Zu eurer Zeit wäre es Goltes—
läfterung geweſen, an dieſes Grundgeheimnis aud)
nur bon ferne zu rühren. Was den Schmerz an—
betrifft, jo dulden wir ihn nur als Symptom,
damit er uns bei der Tiagnoje den richtigen Weg
zeigt.“
„Aber den Tod werdet ihr dodp nicht abgejchafit
haben ?* :
„Wenn wirklich einer diejem Geheimnis auf die
Spur kommen follte,” jagte der Doktor lachend,
„dann können Sie fiher fein, dad das Volk ihn
fortjagen und jein Rezept verbrennen würde, Wir
wollen doch nicht ewig auf diefer Erde bleiben!“
Wie ift es nur möglich gewejen?
Ich wendete meine Aufmerkjamkeit num wieder
dem Panorama zu, das ſich ſcheinbar unter uns
jortbewegte. Dabei machte ich die Bemerkung, daß
twir über der Vorſtadt Brighton ſchwebten, wo fich
früher die VBiehftände zur Verforgung der Stadt mit
frischem Fleiſch befanden.
„Ich jehe, daß die alten Viehſtälle nicht mehr
da find,“ fagte ih. „Gewiß habt ihr weit bejiere
Einrichtungen. Uebrigens muß es doch jeht viel
ſchwieriger jein, eine große Stadt mit friſchem Fleiſch
zu verjorgen, da jeder in der Lage ift, ſich die beften
Stüde zu beitellen. Früher haben die armen Leute
fehr wenig Fleiſch fonjumiert und mußten ſich mit
der geringften Sorte begnügen.”
1015
Ein paar Minuten jchaute der Doftor aus dem
Magen hinunter, dann antwortete er:
„Sie haben wohl nody mit niemand über diefen
Punkt geſprochen ?”
Ich glaube nicht.
gefallen.”
„Das ſchadet auch nichts,“ fagte der Doltor.
„Sehen Sie, Julian, bei der gänzlichen Umwandlung
in den Sitten und Anſchauungen der Menjchen
fonnte e8 gar nicht anders fein, als daß die Ver—
änderungen in manden Fällen einen großen Wider:
willen gegen frühere Gebräuche mit ſich brachten.
Ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrüden joll,
aber ih bin doch frod, daß Sie zuerft mit mir von
der Sache geſprochen haben.”
Mir ging ein Licht auf, und allerhand Dinge,
die ich zwar bemerkt, aber nur halb verftanden Hatte,
wurden mir auf einmal Klar,
„Ah jo!” rief ih aus, „Sie wollen jagen, daß
man das Fleiſch der Tiere gar nicht mehr ißt.“
„Haben Sie das wirklich nicht früher erraten?
Hat man Ihnen denn Fleiſchſpeiſen angeboten?“
„Die Ernährung ift jeht in jeder Beziehung jo
verichieden von der jrüheren, daß ich es ganz aufs
gegeben habe, herauszubelommen, was ich eſſe. Ieden-
falls habe id) feinen einzigen angenehmen Geihmad
vermißt, an den ich mich von früher erinnere, während
mir vieles Neue jehr aut ſchmeckt.“
„Ja,“ jagte der Doftor, „Itatt des unvollfommenen
Verfahrens bei der Zubereitung der Speijen, das
ihr von euern Vätern geerbt hattet, kennen wir die
verſchiedenſten Methoden, um Nahrungsſtoffe zu ge—
winnen und zu bereiten. Ich glaube faum, daß es
einen Wohlgeihmad giebt, den wir nicht berftellen
lönnten — dagegen hat man jet viele neue Würzen,
von denen ihr nichts wußtet.“
„Wann ift denn die Fleiſchnahrung abgeſchäfft
worden?“
„Sehr bald nad) dem großen Umſchwung.“
„Und wie fam man darauf? Glaubtet ihr, daß
es für die Gejundheit vorteilhafter jei, fein Fleiſch
zu ejlen?“ '
„Das ift wohl nicht der Hauptgrund geweſen.
Es unterliegt feinem Zweifel, daß die phyſiſche Ver—
volllommnung der Raſſe damit zuſammenhängt, daß
fein Fleiſch mehr gegeſſen wird und die Krankheiten der
Schlachttiere nicht mehr auf die Menjchen übertragen
werden. Aber wie in alten Zeiten die Kannibalen nicht
aus Gejundheitsrüdjichten aufgehört haben, ihre Mit-
menjchen zu freſſen, jofann auch beiuns die Veränderung
in der Nahrungsweiſe nicht auf diefen Grund zurüde
geführt werden. Die Sache ift jchon ſehr lange ber;
wahrjcheinlich verſchwand die Gewohnheit, das Fleiſch
der Tiere zu eſſen, jo jchnell, weil man ſich ihrer
Ihämte und darum können und die Geſchichtsbücher
Es ift mir eben erjt ein—
1016
nur wenig von der Webergangszeit erzählen. Es
icheint aber, daß damals eine lebhafte Empfindung
des Erbarmens wie ein Strom über die Menfchheit
fam und fie von Reue ergriffen wurde über alle
Schmerzen, die fie verurfadht hatte. Das leiden-
Ihaftlihe Mitgefühl, das fie durchdrang, wurde
ſchließlich die treibende Kraft der ganzen Umwälzung.
Natürlicherweiie beeinflußte ihr wärmeres Empfinden
nicht nur das Verhältnis der Menſchen zu einander,
ſondern auch ihr Verhältnis zu allem Lebendigen.
Das Gefühl der Brüderlichleit und der Solidarität
beſchrünkte fich nicht auf Männer und frauen, jones
dern dehnte jich auf die bejcheideneren Geſchöpfe aus,
die auf Erden unfer Schidfal teilen — auf die Tiere,
Ein neues, grelles Licht fiel auf die Rechte und Pflichten
der Menfchen und lehrte fie, aud) die Rechte der Ge»
jchöpfe einer niedrigeren Gattung erfennen und achten,
Schon vor längerer Zeit hatte ſich im zivilijierten
Ländern ein Abjcheu vor jeder Art von Grauſamkeit
bei der Behandlung der Ziere entwidelt, — ein Zeichen,
daß eine menſchlichere Geſinnung erwacht war. Nad)
dem Umjchwung fteigerte ſich Dieje zur Begeifterung.
Die neue Anſchauung von der Tierwelt jprady zum
Herzen und ergrüf die Phantaſie der Menſchen. Sie
jahen ein, daß es ihre Pflicht ei, den ſchwächeren
Geſchöpfen in der großen Familie der Mutter Natur
wie ältere Brüder zur Seite zu ftehen, jie zu jhügen
und zu pflegen, ftatt fie ihren Bedürfniffen und
Freuden aufzuopfern. Das Wohl und Wehe ber
Tiere lag ja in unjrer Hand; wir waren ihre
Götter, — Nicht wahr, Julian, nun können Sie ji)
denfen, wie dieje neue Erkenntnis dahin geführt hat,
dab man die Site, feine Mitgeſchöpfe zu verzehren,
abſchaffte und fie beinahe jo abſcheulich fand wie
den Kannibalismus?*
„Das läßt ſich natürlich leicht begreifen. Aber
Doltor, Sie dürfen ja nicht glauben, daß meine
Zeitgenofien in diefer Beziehung gar fein Gefühl
hatten, Schon lange, ehe man an die neue Zeit aud)
nur dachte, hatten viele von meinen Belannten große
Sfrupel über den Genuß von Fleiſchſpeiſen, und es
gab gewiß wenig gebildete Leute, die ſich nicht zeit—
weije darüber Gedanten machten. Sie wußten aber
feinen Ausweg — ganz wie bei unjerm Wirtihafts-
ſyſtem. Zartfühlende Menſchen fanden e8 ſündhaft
und roh, Fleiich zu effen, aber jehr wenige Perſonen
hatten eine Mare Vorjtellung davon, wodurdh man
es erjegen ſollte. Bei euch jcheint die Kochtunſt ganz
gut ohne Fleiſch auszulommen; jie hat es jogar viel
weiter gebradjt al& bei uns. Aber Sie glauben gar
nicht, wie unmöglich es den Menjchen zu meiner
Zeit vorfam, ohne Fleiſchnahrung zu beitehen, denn
es gab feine Speife, die den Gaumen ebenſo be=
friedigte, jelbft wenn fie für gleich nahrhaft galt.“
Edward Bellamy.
ſtellen, daß es nicht leicht war, ebenſo wie es nicht
leicht war, euer Wirtſchaftsſyſtem zu verändern. Wenn
man einen beftimmten Gejhmad auf der Zunge bat,
iſt es ſchwer, ſich einen andern vorzuftellen. Dieier
Mangel an fchöpferiicher Phantafie bei dem Bolt
war immer das Hindernis, welches der Abjchaffung
aller eingewurzelten Mißbräuche im Wege jtand, und
jo mußte eine revolutionäre Kraft die Arbeit thun.
In dieiem Fall war es, wie id) Ihnen geichildert
habe, der Strom leidenihaftlihen Mitgelühls, welder
der jet eingewnrzelten Sitte des Fleiſcheſſens cin
Ende machte. Sobald die Empfindung der Menichen
ihnen den Fleiſchgenuß verleidete und ein dringendes
Bedürfnis nad) einem andern zweckentſprechenden
Nahrungsmittel entjtand, ſcheint ſich dieſes ſchnell
genug gefunden zu haben.”
„Und aus welder Quelle?“
„Natürlich zum größten Teil aus dem Pflanzen:
reich,“ erwiderte der Doltor, „aber doch leineswegs
aus diefem allein. Man hatte bisher nie ernſtlich
Verſuche augeftellt, um den Reichtum der Natur an
Nährſtoffen völlig zu ergründen; noch weniger wußte
man, was fi durch willenschaftliche Behandlung
aus denfelben herjtellen ließ. Solange man nur ein
geeignetes Tier zu ſchlachten brauchte, um ſich Nab-
rung zu verjchaffen, war das aud) nicht nötig. Die
Reichen lebten faft ganz von Fleiſch, und was das
arbeitende Wolf anbetraf, das jeine Krait aus degt⸗
tabilifcher Nahrung jchöpfte, jo lag niemand etwas
daran, ihm feine Koſt jhmadhafter zu machen. Kun
aber fing mit einem Schlage die ganze Menſchheit
an danad zu fragen, womit wohl die Natur denen,
welche dem Morden abgeichworen hätten, den Tiſch
zu deden vermöchte. i
„Gerade wie die Sklaverei, zuerit in Form der
Leibeigenichaft, dann als Lohnjflaverei, jo bequem
war, dab niemand daran dachte, ſie durch ein fünfte
liches Induſtrieſyſtem zu erjeßen, jo war aud bie
rohe Art der Ernährung durch das Fleiſch der Tiere
jo bequem, daß feiner mit Ernft daran ging, die
Nahrungäquellen der Natur zu erforichen. Außerdem
erflärt fi der Stillftand auf dieſem Gebiet noch
dadurd), daß die Kochkunft immer als Privatinduftric
betrieben wurde und folglich Hinter allen andern
Künften zurüdblieb,”
„Wieſo blieb fie hinter den andern Künften zurüd ?*
„Sie war von jeher Sache der einzelnen Haus
haltungen gewejen und al& ſolche fait ganz den
Dienftboten und den Frauen überlafjen worden,
welche in damaliger Zeit die fonjervativfte, an alten
Gewohnheiten fefthaltende Klaſſe der Bevölkerung
ausmachten. Die Negeln der Kochkunſt hatten ſich
im wejentlihen kaum verändert, feit die Frau dei
indogermaniſchen Kuhhirten ihrem Manne das Eſſen
„Bis zu einem gewifien Grade fann ich mir vor= | fodhte.
Gleichheit.
1017
„Nun wäre der Erfolg höchſt zweifelhaft geweien, ı Ti ans Werk, neue Stoffe und neue Zubereitungs-
wenn bie betreffende Familienlöchin, ob Hausfrau
oder Magd, in ihrer Privatfüche geblieben wäre,
um fi dort ganz allein mit dem Problem herum—
zuquälen, wie ein geeigneter Erjat für Fleiſchkoſt zu
finden jei. Aber dank der großen Bieljeitigkeit der
Umfturzbewegung traf der Zeitpunkt, in dem das
Wachſtum der Menfchlichkeit eine Empörung gegen
die SFleiichkoft hervorrief, genau mit dem Zuſammen⸗
bruch aller häuslichen Dienftverhältniffe und der
Emanzipation der Frauen zufammen. Seht mußte
auch die Zubereitung der Nahrung genoſſenſchaftlich
betrieben werden; jie wurde ein Teil des öffentlichen
Dienftes. Schon waren die Vorbereitungen ges
teoffen worden, um eine Abteilung in der Vertval-
tung einzufegen, welcher die wiſſenſchaſtliche Be—
gabung der Nation und die Hilfsquellen des ganzen
Sandes zu Gebote jtanden, um die Frage zu löſen:
was werben wir eſſen? Sie können ſich denken,
daß feine der neuen Abteilungen die Öffentliche Teil-
nahme in jo hohem Maße erregte wie dieje; fie wurde
durh das Intereſſe des Nolfes an feinem Küchen-
zettel zu immer neuen Verfuhen ermuntert. Auf
dieſes Zuſammenwirken aller Kräfte hatte die Er—
nährungslehre gewartet; jetzt erft fonnte fie eine
Wiſſenſchaft werden!
„Su allererft wurden bie in allen verfchiedenen
Nationen bisher gebräuchlichen Nahrungsmittel und
Zubereitungsmethoden, joweit man fie fannte, ge
ſammelt und verglichen, was noch nie geichehen war.
Angefihts der großartigen Ausdehnung und Ab—
wechslung dieſes fosmopolitifchen Speifezetteld famen
alle Nationen zu der Erkenntnis, daß fie ſich bisher
in alten Vorurteilen fetgefahren hätten. Gerade in
Sachen der Nahrung und des Kochens hatten ſich
die Völker tbörichterweife am meiften dagegen ge
fräubt, voneinander zu lernen. Jetzt entdedte man
— mas allerdings einfichtige Beſucher fremder Fän-
der jhon lange wußten —, da jede Nation, jedes
Land, ja man könnte jagen: jede Provinz, ein halbes
Dutzend gaftronomischer Geheimniffe beſaß, welche
nie die Grenze überſchritten hatten oder im günftig«
ften Fall nur zu kurzem Beſuch.
„Dabei will ich bemerken, daß dieje Kollation
de8 internationalen Speijezettel® nur ein Beiſpiel
von Hunderten war, wie die Nation, ſobald die neue
Ordnung eingeführt war, alle alten Vorurteile be»
feitigte. Man fing an, von rechts und links zu bor-
gen und die guten Einrichtungen, Methoden und
Ideen aus allen Ländern anzunehmen, was ſehr viel
zum allgemeinen Wohl beitrug.
„Über die Organifation eines wiſſenſchaftlichen
Ernährungsigitems blieb nicht bei der Verwertung
der ſchon vorhandenen Lebensmittel und Methoden
ftehen. Der Botaniker und der Chemiker machten
Bus fremden Zumgen. 1897. Il. 22,
arten zu entdeden, Da fand man gleih, daß bie
Menſchen nur einen verſchwindend Heinen Teil der
Naturprodukte, die fi zur Nahrung eignen, aus—
gebeutet hatten, nämlich nur diejenigen, weldhe man
auf die primitive Weiſe, mit der die Bölfer ſich
einfiweilen begnügt hatten, durch Sieben oder Braten
zubereiten konnte. Jetzt ſchlugen die Chemiker ein
neues Verfahren nad) dem andern vor, und die Ne=
fultate ihrer Bemühungen entzüdten unſre Vorfahren
durch Neuheit und Wohlgeſchmack. Bisher war es
der Kochkunſt ebenjo ergangen wie der Metallurgie,
lolange man nur die Anwendung des Feuers kannte.
„Es ſteht geichrieben, dab die Rinder Israels
fih nach den Fleiſchtöpfen Negyptens jehnten, als jie
in der Wüfte gezwungen waren, von Pflanzen zu
leben, und wahrjcheinlich hatten fie guten Grund
dazu. Unſre Voreltern jcheinen in diejer Beziehung
ganz andre Erfahrungen gemacht zu haben, Raum
war ein kurzer Zeitraum verjtrichen, jo jahen fie auf
die Fleiſchtöpfe, die fie hinter ſich gelaffen hatten,
mit Gefühlen zurüd, die weder der Sehnſucht nod)
der Reue ähnlich ſahen. Wir befigen ein Bild aus
dieſer Zeit, welches darſtellen joll, wie ſchnell die Leute
erfannten, daß fie ſich jelbft den größten Gefallen
gethan haben, als fie beichloffen, die Tiere zu ver»
ſchonen. Ich erinnere mich, daß das Gemälde zwei—
teilig ift. Auf der einen Seite fleht die Menſchlich-
feit, dargeſtellt durch eine weibliche Figur, welche
eine Gruppe von Tieren betrachtet, die aus einem
Ochſen, einem Schaf und einem Schwein beiteht.
Ihre Geficht drüdt die tieffte Neue aus, und unter
Thränen ruft fie: ‚Ihr armen Geichöpfe! Wie ift
es nur möglich gewejen, euch zu eſſen!‘ Auf der
andern Seite fteht diefelbe Gruppe mit der Ueber—
ſchrift: ‚Fünf Jahre jpäter.‘ Hier drüdt das Geficht
der Menjchlichfeit nicht Reue und Zerknirſchung aus,
ſondern Efel und Abſcheu, während fie fait mit den«
jelben Worten, aber mit ganz andrer Betonung, jagt:
„Ja, wie ift e8 nur möglich gewejen ?**
Was aus den großen Städten geworden ift.
Während wir weitwärts nad dem Innern des
Landes zu fuhren, ließen wir allmählich die dichter
bevölferten Teile der Stadt hinter und — wenn man
überhaupt irgend einen Teil diejer modernen Städte,
wo jedes Wohnhaus von einem Garten umgeben ift,
dicht bevölfert nennen fann. Die Wieſen und Wälder
wurden häufiger, und von Zeit zu Zeit fam ein Dorf.
Wir waren auf dem Lande,
„Doftor,” jagte ih, „bis jeht habe ich faft nur
das Stadtleben im zwanzigiten Jahrhundert gejehen.
Wenn das Landleben ſich ebenſo verändert hat,
möchte ich es ſehr gern näher kennen lernen. Ere
zählen Sie mir etwas davon,“
128
1018
„Haft in feiner andern Beziehung.” antwortete
ber Doltor, „hat die Verftaatlihung der Produktion
und der Güterverteilung eine jo große Ummälzung
hervorgerufen wie in dem Verhältnis der Städte
zum Sande, Mertwürdig, daß wir noch nicht davon
geiprodhen haben.“
„Als ich zuletzt unter den Lebenden weilte,“
jagte ich, „da war die Stabt im Begriff, das Land
zu verfhhlingen. Hat fich diefer Zuſtand weiter ent«
widelt, oder ift es jebt umgefehrt ?*
„Es iſt entichieden umgelehrt," erwiderte ber
Doktor, „und Sie werben leicht einfehen, warum,
wenn Sie daran denfen, daß das enorme Auwachſen
der großen Städte eine wirtichaftliche Folge des
Privatfapitalismus war, mit jeiner Abhängigleit von
den einzelnen Unternehmern und feinem Konfurrenz-
iyftem.*
„Der Gedanke ift mir ganz neu,* fagte id).
„Bei einiger Ueberlegung werden Sie aber fin»
den, daß ich recht habe. Unter dem Privatlapita-
lismus gab es ja fein öffentliches Syſtem, welches
Produktion und Güterverteilung regelte. Ebenſo—
wenig gab es eine Mafchinerie, welche Produzenten
und Konſumenten zufammenbradte. Jeder mußte
auf eigne Fauſt Arbeit und Lebensunterhalt fuchen,
und der Erfolg hing ganz davon ab, ob er eine
Selegenheit fand, jeine Produkte und feine Arbeit
gegen die andrer Leute einzutaufchen. Zu dieſem
Zwed eignete ſich natürlich der Ort am beften, wo
es zugleich viele Käufer und Verkäufer gab. Wenn
ih alfo zufällig oder abfichtlich eine Menge Men-
jchen zujammendrängten, famen nod) andre Scharen
dazu, denn jede ſolche Anfammlung eröffnete einen
Markt und beflere Gelegenheit zum Austauſch, als
fich da finden ließ, wo wenige Menfchen zufammen
waren. Go entjtand eine Stadt, und je größer fie
wurde, deſto jchneller mußte jie wachſen, aus dem«
jelben Grunde, dem fie ihre Entftehung verdantte,
Der Arbeiter, der jeine Musteltraft verwerten wollte,
der Kapitalift, dem als Unternehmer daran gelegen
jein mußte, große Auswahl an Arbeitsfräften zu
finden, der Großhändler, welcher bort auf kleinem
Kaume die meiften Konfumenten feiner Waren zus
jammen traf — fie alle famen in die Stadt.
„Trotzdem alſo die Städte zuerſt nur fo ſchnell
entftanden und größer wurden, weil fie den Austausch
der Güter unter ihren eignen Bürgern erleichterten,
jo war doch bald der Waren- und Arbeitämarft dort
jo viel beifer organifiert, daß fie auch für das Land
zu einem Mittelpunkt des Handels wurden. Auf |
dieſe Weife hatten die Stadtbewohner die beſte Ge-
legenheit, reich zu werden, denn eine große an»
geſeſſene Bevölkerung war auf fie angerwiefen, und
außerdem fonnten fie die Produkte der Landleute be=
fteuern, Nur durch ihre Hände gelangten diefe Er—
Edward Bellamn.
zeugniffe zu den Konſumenten, ſelbſt wenn fon
fumenten wie Produzenten auf dem Lande lebten
und vieleicht gar die nächſten Nachbarn waren.
„Almählich führte dieſe Konzentration der mate-
riellen Güter in den Städten dahin, daß ſich dort
auch alle höheren Genüſſe, aller Luxus, alle An
nehmlichfeiten und Bergnügungen vereinigten. Die
Arbeiter waren es nicht allein, welche nach der Stadt
ftrömten, um dort den Kapitaliften ihre Arbeitäfcaft
zu verfaufen — auch die gebildeten Klaſſen dräng—
ten fi dahin. Gelehrte, Pädagogen, Aerzte und
Redner, alle Männer, die ſich in irgend einem Be:
ruf auszeichneten, jahen ein, daß ihre Kenntniſſe und
Tähigfeiten dort die beite Verwendung und dem
reichften Lohn finden würden.
„Aus demjelben Grunde ftrömten auch alle nadı
der Stadt, weldhe Vergnügen für Geld anbieten
wollten: Künftler, Schaufpieler, Sänger, ja auch die
Sourtifanen. Und wer Vergnügen ſuchte und reich
genug war, es zu faufen, wer jein eben auf grobe
oder feine Weiſe genießen wollte, zog den freude
bringern nad. Schließlich kamen noch die Räuber
und Diebe, alle, welche die arge Kunſt verftchen,
von ihren Nebenmenicdhen zu leben; denn fie hofften
in der Stadt ein reiches Feld für ihre Ihätigfeit zu
finden, auf dem fie ihre Talente entfalten fonnten.
So wirde aus der Stadt ein reißender Strom, der
das Schönfte und Befte, aber auch alles Schlechte im
ganzen Lande in jeinen Strudel zog.
„Aus diefen Gründen, lieber Julian, find die
Städte entftanden und getwachjen; diefelben Urſachen
führten zur PVerödung und zum Untergang der
Dörfer und des Landlebend. Wenn die Aera dei
Privatfapitals noch länger gedauert hätte, wären bie
ländlichen Bezirfe jo heruntergelommen twie zur Zeil
des römiſchen Reiches und aller Reiche, die dat
Ende ihrer Entwidlung erlebten. Wer irgend konnte,
hätte jein Glück in den Städten gefucht und die
den Gegenden verlafjen, deren Einwohnerſchaft nur
nod) aus Leibeignen und ihren Aufjehern beitand.
„Ih will Ihren Zeitgenofjen nicht unredt thun;
fie wußten recht gut, daß es für die Zivilijation fein
Vorteil war, wenn die Städte auf Koften des Yande:
einen fo riefenhaften Umfang annahmen, und hätten
gern ein Mittel gewußt, ihr Wachstum einzuſchränlen
Sie fonnten aber nicht einfehen, daß der Privat-
fapitalismus allein daran ſchuld war, und daß nit:
zu machen fei, wenn er nicht abgejchafft würde,“
„Auf welche Weiſe hat denn die Abſchaffung dei
Privatlapitalismus und die Perftaatlichung de
Mirtichaftslebens dem Wachstum der Städte Ein
halt gethan?“ fragte ich.
„Dadurch, daß zum Austauſch der Maren umd
zue Gewinnung von Arbeitskräften oder Verdienfl
fein Markt mehr nötig war,“ erwiberte der Doktor.
Gleichheit.
Durch die nationale Organiſation der Produktion
und Güterverteilung wurden alle Handelserleich—
terungen in den Städten völlig unnütz und ungehörig.
Man hörte auf, die landwirtſchaftlichen Produlte in
den Städten zu verfaufen und einzuhandeln, wenn
fie nicht dort auch konſumiert wurden. Weberall war
die Güte der Maren diejelbe, ebenio wie alle das
gleiche Arbeitsmak im Induftriedienft leisten mußten.
Reiche und Arme gab es nicht mehr, und die Städte
hörten auf, größeren Luxus und Lebensgenuß zu
bieten als das Land. Ebenſo bejeitigte die gleich«
mäßige Verteilung von Arbeit und Verdienſt den
Vorteil der Stadt für diejenigen, welche ihren Lebens
unterhalt dort gelucht hatten. Mit einem Wort, jede
Veranlaffung, das Leben in ber Stabt dem auf dem
Lande vorzuziehen, fiel jet fort, wenn man nicht im
Gedränge leben wollte, bloß um fi zu drängen.
Wie Sie ſich denken fünnen, hörten die Städte nun
auf zu wachſen, und ihre Entvölferung begann, jo=
bald die Wirkungen des Umſchwunges ſich fühlbar
machten.“
„Aber es giebt doch jetzt noch Städte,“ rief
ich aus.
„Gewiß — das heißt an manchen Orten iſt die
Beböllerung noch immer dichter als an andern.
Reine eurer großen Städte iſt untergegangen, aber
ihre Einwohnerzahl ift nur ein Meiner Bruchteil von
dem, was fie früher war.“
„Jedenfalls fieht Bofton jegt viel jchöner aus
als zu meiner Zeit.“
„Alle Städte find jet viel ſchöner als früher
und bei weitem bejier dazu geeignet, den Menjchen
zum Wohnort zu dienen. Um das zu erreichen,
mußte man aber die überzäbligen Bewohner erft los
werden. Früher lebten in Bofton viermal jo viele
Menſchen wie jet auf demfelben Grund und Boden;
aber nur der vierte Teil hatte jo gute Mohnungen
und eine jo freundliche Umgebung, wie wir fie zu
einem gefunden und glüdlichen Leben für notwendig
halten, New Mork, das nod) viel übervölferter war
als Bofton, hat einen noch größeren Zeil feiner Ein—
wohner verloren. Wenn Sie jeht nad Manhattan-
Island lämen, würden Sie zuerſt den Eindrud
haben, als hätte ſich der Zentralparf auf die ganze
Strede zwifchen der Battery und dem Harlemfluß
ausgedehnt. Für unfre Begriffe ift die Gegend dort
aber noch ziemlich dicht bevölkert, denn zwiichen ben
Springbrunnen und Wäldchen wohnen über 250 000
Menſchen.“
„Und Sie ſagen, daß dieſe erftaunliche Ver—
änderung gleich nach dem Umſchwung ſtattfand?“
„Sie fing ſofort an, Die einzige Möglichkeit,
jo große Menſchenmaſſen auf feinem Raum unter
zubringen, beftand darin, fie wie Heringe in großen
Mietsfajernen zu verpaden. Sobald aljo feſtſtand,
1019
daß alle Einwohner ohne Unterſchied gute Quartiere
befommen ſollten, veritand es fi von jelbft, dab
eim großer Teil derjelben auf das Land überfiedeln
mußte. Natürlich konnte eine jo große Umwälzung
nicht augenblidlich ins Werl gejeßt werden, aber man
beeilte fi damit jo viel wie möglid. Zu den Leuten,
welche die Stabt verließen, weil fie dort nicht auf an«
genehme Weiſe leben tonnten, gejellte ſich noch eine
Menge andrer, welche, nun die Stadt feine wirtichafte
lichen Vorteile mehr bot, von den Naturjchönheiten des
Landes angezogen wurden. So beftand eine Haupt⸗
aufgabe des erften Jahrzehnts nach dem Umſchwung
darin, allen denen, die aufs Land zu ziehen wünſchten,
dort Heimftätten zu bereiten. Diejer Auszug aus den
Städten dauerte jo lange, bis es gelungen war, bort
durchgreifende Veränderungen ins Leben zu rufen,
Ein großer Teil der alten Gebäude, alle, die häß-
lich, unfünftleriich und zu hoch waren, wurden nieder»
geriſſen und an ihre Stelle niedrige, breite und ge=
räumige Wohnhäuſer gejeßt, wie fie zu der neuen
Lebensweiſe paßten. Ueberall wurden neue Parks,
Gärten und Fuftige Pläge angelegt und Einrich—
tungen getroffen, daß der Verkehr feinen Staub und
Lärm mehr machte; kurz, die alte Stadt, wie fie
zu eurer Zeit war, verwandelte fi in die neue, Es
lebte ſich nun dort ebenfo angenehm wie auf dem
Lande, niemand zog mehr fort, und das Gleich—
gewicht war hergeftellt.”
„Mir kommt es aber doch jo vor, al& ob heute
noch die Städte wegen der größeren Konzentration
der Bevölkerung beflere öffentlihe Einrichtungen
haben müßten als Feine Dörfer,“ jagte id. „Alles
rentiert fich doch natürlich viel befjer, wo eine große
Menge Menichen davon Nußen zieht.“
„Wenn jemand in großer Entfernung von feinen
Nachbarn zu leben wünſcht,“ ermwiderte der Doltor,
„dann muß er fich natürlich feine Unbequemlichkeiten
gefallen lafjen. Er wird feine Vorräte aus dem
nächſten öffentlihen Kaufhaus beziehen und auf
einige öffentliche Einrichtungen verzichten müſſen,
die ſolche Leute genießen, welche näher bei einander
wohnen. Aber um dieje Annehmlichkeiten ganz zu
entbehren, müßte er ſchon jehr weit entfernt jein.
Man darf nicht vergefien, dab unjre Verkehrs- und
Trandportmittel jo volllommen find, daß Ent»
fernungen, Die euch früher in Verlegenheit jeßten,
jest gar feine Rolle mehr fpielen. Dörfer, die fünf
oder zehn Meilen voneinander entfernt lagen, find,
was gejelligen Verkehr und wirtſchaftliche Lage an—
betrifft, einander jegt viel näher als zu eurer Zeit
ein Stadtviertel dem andern. Entweder allein oder
duch Verbindung mit andern Gemeinfchaften fönnen
die Bewohner der Hleinjten Dörfer alle Vorzüge der
öffentlichen Einrichtungen genießen, ebenfogut, ala
wären fie in der Stadt. Jeder Ort hat jeine
1020
Öffentlichen Kaufhäuſer und Küchen mit ZTelephon«
und Ablieferungsiyftem, feine Bäder, Bibliothefen
und Erziehungsanftaiten. Alles iſt an dem einen
Ort ebenjo gut wie am andern. Schließlich können
jelbft die Bewohner der tiefften Wälder und der
höchſten Berge, bei Benußung des Telephons und
bes Elektroſkops, mit demjelben Genuß Theatervor-
ftelungen, Konzerte und Vorträge anhören wie die
Bürger der größten Städte.“
Die Neubeforftung.
Wir flogen nım weiter nach dem Innern zu, eine
Meile nad) der andern hinter uns laffend. Noch
immer glich die Gegend unter uns einem wohlgepflegten
Park, wie in der unmittelbaren Nähe der Stadt,
Der eigentümliche Neiz jeder Gegend war zu vollfter
Schönheit entwidelt, als hätte ein geidhidter Land⸗
ſchaftsgärtner alle Einzelheiten mit Liebe und Gorg»
falt geordnet. Das Werk des Menſchen verband ſich
in vollfommener Harmonie mit dem Bilde der Natur.
Schon in meiner Zeit hatte man ähnliche Part-
anlagen, die in dem Umkreis großer Städte mit
ungeheuern Koſten angepflanzt wurden; aber in
jolhem Mapftab hätte ich dergleichen nie für möglich
gehalten.
„Wie weit erftredt ji) denn diefer Part?“ fragte
id endlid. „Es läßt fih ja gar fein Ende ab»
ſehen.“
„Bis zum Stillen Ozean,“ ſagte der Doltor.
„Bas? — die ganzen Vereinigten Staaten lönnen |
doch nicht auf ſolche Weiſe in Anlagen verwandelt jein?” |
„Bewahre, nicht gerade jo wie bier, jondern auf
hunderterlei verjchiedene Art, wie die Natur der
Gegend es eben mit ji bringt, Wo wir uns jebt
befinden, trägt fie weder fühne noch großartige Züge
und eignete ſich am beiten für ein lachendes, fried«
liches Landſchaftsbild, dem man jo viele Abwechälung
zu geben juchte wie möglid. Im Gebirge dagegen,
wo die Natur jelbjt Wirkungen erzielt, welche menſch—
liche Kunſt nicht zu erhöhen vermöchte, hat man alle
urjprünglichen Formen beibehalten und nur das
Reifen und die Beobachtung auf jede Weiſe zu er—
leihtern gejuht. Wenn Sie einen Ausflug nad
den Weißen Bergen oder dem Hügelland von Berkſhire
machen, jo werden Sie dort ohne Zweifel jteilere
Höhen, reißendere Ströme, höhere und bunflere
Wälder finden als vor hundert Jahren. Nur die
Straßen, die durd jede Schluht und über jeden
Gipfel führen und dem Wanderer alle wilden, ges
waltigen oder anmutigen Naturſchönheiten zugänglich
machen, find das Werk der Menjchenhand.”
„Mir tcheint, ich brauche nicht erjt ind Gebirge |
zu gehen, um mic) zu überzeugen, daß alle Walb-
bäume jet viel höher und in weit größerer Menge
vorhanden find als zu meiner Zeit.”
Edward Bellamy.
„sa,“ ſagte der Doktor, „diefer landbidaftlice
Unterjhied muß Ihnen natürlich auffallen. Man
fagt, es giebt jeht fünf» oder zehnmal mehr Bäume
als damals. Don denen, die Sie dort unten jehen,
find manche faft hundert Jahre alt und wurden jur
Zeit der Neubeforjtung gepflanzt.”
„Neubeforftung? Was ift denn das?”
„Die Wiederherftellung aller Wälder nad der
Ummälzung. Als der Privatlapitalismus berride,
hatte man aus Habgier oder Not jo viele Bäume ge
fällt, dab die Flüſſe ftellenweife austrodneten, uud
das Sand fortwährend an Waflermangel litt. Die
erſte und dringendfte Arbeit, die man vornehmen
mußte, war die Neuanpflanzung der Wälder, Natür-
lih hat dad Wahstum der Bäume lange Zeit in
Anſpruch genommen, aber jeit etwa fünfundzwanzig
Jahren haben fie fi zu faitlicher Höhe entwidelt,
und jomit find auch die lehten Spuren der früheren
Verheerung verſchwunden.“
„Etwas ganz Charalteriſtiſches vermiſſe ich aber
doch an der Landſchaft,“ jagte ic.
„Und das wäre?”
„Die Wiefen und Heuhaufen.”
„D ja, natürlich,“ fagte der Doktor. „Damals
war ja die Heuernte von größter Wichtigkeit in Neı
England,”
„Berfteht fi. Und jet braucht man wohl über:
haupt fein Heu mehr. Seit die Tiere dem Menſchen
weder zur Nahrung noch zur Arbeit dienen, mus
ja eine unzählige Menge von Beichäftigungen und
Intereſſen ganz abgefommen fein!“
„Ja,“ fjagte der Doltor, „und fo undanfbar &
fingen mag — der joziale Zuftand hat ſich dadurd
jehr wejentlich verbeijert. Denken Sie nur an dat
Pferd. Erſt jeit e8 von jeinem gedulbigen Knecht
dienft bejreit ift und den wohlerworbenen Lohn ge
niet, ift man im flande, glatte, reinliche und dauer
bafte Straßen zu bauen, jo dab Staub, Schmus,
Gefahr und jede Art von Unbequemlichteit wicht
mehr vom Reijen ungertrennlid find.
„Als man aujhörte, das Pferd zum Reiten und
fahren zu benupen, fonnte man alle Wege um bie
Hälfte oder ein Drittel ſchmaler machen und aus
glattem Gußmörtel herjtellen, dem weder Wind noch
Waſſer Schaden tun. Sie find dauerhaft wie alie
Römerftraßen, und es wächſt fein Gras und fan
Kraut darauf. In die entlegenften Eden und Bint!
des Landes führen jet ſolche Pfade, und durch fie
ift im Verein mit den eleftrifchen Motorwagen das
Reifen zu einem Genuß geworden, den ſich niemand
| verfagen mag. Kleinere Ausflüge, ja aud länger:
Fahrten, wenn die Zeit nicht drängt, unternimmt
man am liebften im eignen Gefährt. Wäre das
Reifen zu Lande jo unbequem geblieben, wie es war,
als man ſich dazu der Pferde bediente, jo würden
Gleichheit.
die Menjchen jeit Erfindung der Lufiwagen in großer
Verſuchung gewejen fein, fih nur wie die Vögel
zwiſchen einem und dem andern Fluge auf der Erde
niederzulafien, Aber jet find bie Anfichten darüber
geteilt, ob e& ſchöner ift, durch die Luft zu ſchweben
oder über den fejten Boden zu gleiten. Die eine
Bewegung ift beinahe jo jchnell, jo leicht und ge=
räujchlos wie die andre.“
„Schon vor 1887 fam das Fahrrad in Auf-
nahme,“ jagte ich, „und die mannigfadhe Anwendung
der Eleltricität begann den Menſchen einzuleudhten;
bereit Damals prophezeite man gelegentlich, daß die
Zeit der Pferde vorüber fei. Aber wenn fie aud)
nicht mehr zum Reiten und Fahren gebraucht wurden,
jo dachte doch niemand daran, daß man fie bei den
mancherlei Geſchäften der Landwirtichaft entbehren
könnte, Das kommt mir auch jelbft unbegreiflid
vor; wie fteht es denn damit?”
Der Aderbau im zwanzigften Jahrhundert.
„Gedulden Sie fi einen Augenblid,* erwiderte
der Doktor. „Wir wollen uns etwas tiefer finfen
laffen; dann kann ich Ihnen die Sache praktiſch
zeigen.“
Wir fliegen von unjrer Höhe, die etwa taufend
Fuß betrug, bis auf ein paar hundert Fuß hin—
unter,
„Sehen Sie dort nad) rechts hinab,” ſagte der
Doktor.
Als ich es that, erblicte ich ein breites Feld, das
ihon abgeerntet war. Große Mafchinen fuhren
darauf in einer Reihe, und hinter ihnen erhob ſich
der braune Erdboden zu wellenförmigen Hügeln.
Auf jeder Maſchine ftand oder jaß ein Mädden
oder ein junger Mann in jo bequemer Haltung, ala
handle es fi um eine Vergnügungspartie.
„Das find offenbar Pflüge,“ ſagte ih; „aber
wodurch werden fie getrieben ?*
„Durd) Elektricität,* lautete Die Antwort. „Sehen
Sie nit den Strid, der gleicd) einer Schlange hinter
jeder Maſchine über den aufgepflügten Boden friedht ?
Das ift das Kabel, welches die Kraft liefert; man
braucht e& nur mit einem der Pfojten in Verbindung
zu jeßen, die, wie Sie bemerfen, in regelmäßigen
Zwiſchenräumen am Felde entlang ſtehen. Jede
landwirtſchaftliche Maſchine erhält dadurch eine
Stärle von hundert Pferdefräften, und die Leitung
iſt jo einfad) und leicht, dab ein Kind fie übernehmen
lann.“
Doch das war noch nicht alles. Der Doktor
erflärte mir, man könne durch ein ſolches biegſames
Kabel die eleftrifche Kraft nicht nur zu der ſchwereren
Arbeit verwenden, die früher von Zugtieren verrichtet
wurbe, fondern fie aud mit allen Werkzeugen ver-
binden, welche der Landwirt zur Hand nehmen muß. |
1021
Er braucht jeßt nicht mehr feinen Rüden zu frümmen,
um den Spaten, die Schaufel und Miftgabel zu re=
gieren. An jedem Werkzeug, ſei es nod) jo flein,
läßt jid) der Motor anbringen; der Arbeiter hat
nichts zu thun als es zu leiten.
„Mit einer unſrer Schaufeln,* jagte der Doftor,
„tann ein aufgewedter Snabe einen Graben meilen-
weit führen oder einen Kartoffelader beftellen, an
dem ehemals eine ganze Schar Arbeiter beſchäftigt
war, umd jeine Anftrengung ift dabei nicht größer,
als wenn er einen Karren vor fich ber ſchöbe.“
Ich hatte ſchon öfters jagen hören, daß ber
Aderbau heutzutage eine ebenjo bequeme Beihäftigung
jei wie jede andre. Bei meiner früheren Vorftellung,
die ich von der Mühjeligfeit des Berufs hatte, fonnte
id) mir aber das nicht recht denlen. Jet erft ſah
id) die Möglichkeit ein.
Der Doktor ſchlug mir vor, zu landen, falls ic)
Luft hätte, etwas vom heutigen landwirtichaftlichen
Betrieb in der Nähe zu jehen, was ich mit Freuden
annahm. Zuvor aber zeigte er mir noch von unfrer
erhöhten Stellung aus das Netzwerl von Eifenbahnen,
auf denen der Transport bejorgt wurde, jo daß das
geſchnittene Korn fofort, falls es gewünſcht wurde,
verladen und ohne weiteres nad) jedem beliebigen
Ort des Landes geſchafft werden konnte, Wir ſtiegen
nun aus dem Wagen und gingen quer über das
Feld, bis zu dem erjten der großen Pflüge. Die
Leiterin desfelben war eine junge Dame mit ſchwarzem
Haar und zierlihem Anzug, eine Geftalt, wie fie
ficherlich fein Aderfeld des neunzehnten Jahrhunderts
jemals erblidt hat. Wie fie jo anmutig daſaß auf
dem Nüden des glänzenden, metallenen Ungeheuers,
das immer näher fam und mit feinen furdhtbaren
Hörnern die Erde aufwühlte, erinnerte fie mich une
willtürlih an die Europa, wie jie auf dem Stiere
reitet. Wenn ihr Urbild ebenjo reizend war wie
dies junge Mädchen, jo fann man es Jupiter nicht
verübeln, daß er fie entführt hat.
Sie hielt jetzt die Maſchine an und erwiderte
unfern Gruß aufs freundlichfte. Offenbar erfannte
fie mich beim erften Blick, wie alle andern auch, was
nicht zu verwundern war, da man mein Bildnis nad)
allen Himmelsgegenden verbreitet hatte. Das In—
terejfe, mit dem fie mid) anfah, wäre mir jchmeichel-
bafter gewejen, hätte ich es nicht ausſchließlich dem
Umftand verdankt, daß ich für ein Naturwunder galt;
meine Perjönlichkeit kam dabei nicht in Betracht,
Als id) fie fragte, was denn um dieſe Jahreszeit
noch gebaut werben ſolle, erwiderte fie, das Feld
werde nur ganz umgepflügt, wie das alljährlich zur
Verbeflerung des Bodens oftmals geichehe.
„Wir benügen natürlich die verihiedenften Düng»
mittel,” jagte fie, „betrachten aber als das befte
Mittel das völlige Umgraben des Aders.“
1022 Ebmward
„Dhne Zweifel,“ jagte ih. „Schon Aefop lehrte
uns das im Altertum durch feine Fabel vom ‚Ber-
grabenen Schatzt; aber zu meiner Zeit war dies
Umadern jehr koftjpielig; Menſchen und Tiere ver-
brauchten dabei zu viel Musfelfraft. Mehr als ein-
mal im Jahr fonnten unjre Landwirte ihr Feld nicht
pflügen, und ſchon das war ein jaures Geſchäft.“
„sa,“ verjeßte fie, „id habe gelefen, wie ſchlimm
es die armen Menſchen hatten. Aber das ift jetzt
anderd. Solange Ebbe und Flut nicht aufhören,
und Winde und Waflerfälle uns ihre Kraft liefern,
fann man, jobald man will, das Feld täglid) pflügen.
Es wird jetzt etwa zehnmal jo viel Kraft auf jeden
Morgen Landes verwendet als in früherer Zeit.“
Wir befichtigten num die Einrichtungen des Gutes
mit aller Muße.
wendung der Drudpumpe und das Entwäflerungs-
Der Doktor erklärte mir die Anz |
ſyſtem, wodurch jowohl der Mangel als der Ueber: |
fluß an Regen unſchädlich gemadt wird; auch fand
ich Gelegenheit, einige der wunderbaren Werkzeuge,
die er mir bejchrieben hatte, eingehend zu prüfen.
Mustelfraft war dazu von jeiten des Arbeiters fait
gar nicht erforderlich; nur jeinen Verſtand mußte er
gebrauchen.
Wir befuchten auch eine der großen Gewächs-
häufer, die zu dem Yandgut gehörten, wo man die
frifchen Gemüfe für den Winter zieht. Die Wunder |
ber Bodenfultur, die ih in dieſem Rieſengebäude
ſah, wirden dem heutigen Leſer alltäglich erjcheinen,
aber mir madıten fie einen unvergeßlichen Eindrud,
Wenn dem Gärtner Licht, Wärme, Feuchtigkeit und
die nötigen Beltandteile de Bodens ganz nad)
Wunſch zur Verfügung ftehen, ann er alle Gewächſe
jur volllommenften Entwidlung bringen. Mir war,
als Habe ich mich heimlich in die MWerfftätte des
Schöpfers eingeichlichen, wo er mit unfichtbarer Hand
dem Erdenſtaub und der geftaltlofen Yuft eine lebendige
Form verleiht. Ich hatte noch nie die Pflanzen vor
meinen Augen wachſen jehen und das Funftitüd des
indischen Gauflers für eine Fabel gehalten.
bier beobachtete ich, wie fie die Köpfchen heraus:
ftedten, Knoſpen anſetzten und ihre Blüten ent-
falteten ; jede neue Phaſe ihres Lebens fonnte ich
verfolgen, und id; begann ordentlich zu laufchen, ob
ich fie nicht miteinander flüftern hörte.
Zu meiner Zeit war die Gewächshauskultur nur
betrieben worden, um die Iuxuriöfen Bedürfniſſe
einer Heinen Zahl jehr reicher Leute zu befriedigen.
Von der Möglichkeit, ſolche Maflen zu mäßigen |
Preiſen für das ganze Volt zu erzeugen, hätte ſich
natürlich fein Menſch etwas träumen lafjen.
Inzwiſchen war der Nadjmittag vorbei, und bie
Aber |
Sonne neigte fih zum Untergang. Wir beftiegen |
wieder unfern Luftwagen, erhoben uns rajch bis zu
einer Höhe, wo wir noch die Wärme der Sonnenftrahlen
Bellamy.
empfanden, und traten den Heimweg an. Ron allen
Eindrüden, die id auf diefem wunderbaren Ausflug
empfangen hatte, prägte fi) mir der legte am tiefften
ein. Ih dachte mit Staunen an die völlige Um—
wandlung aller Bedingungen für die Bodenkultur,
biejer urſprünglichſten der menſchlichen Beſchäf-
tigungen, welche die Grundlage des ganzen Induſtrie⸗
joftems bildet. „Zu meiner Zeit,“ fagte ich endlich,
„tt die Landwirtſchaft vornehmlich unter zwei Uebel⸗
ſtänden. Da es euch gelungen ift, den erften der—
jelben, die übergroße Mühſeligleit der Arbeit, zu
überwinden, werdet ihr gewiß auch ein Mittel ge
funden haben, um dem zweiten abjubelfen, der in
der Abjonderung und Einjamfeit, dem Mangel an
gefelligem Verlehr und Gelegenheit zu feiner Bildung
beftand und von dem Leben des Landmann u
jertrennlid war.”
„Schwerlid würde jet jemand den Beruf des
Sandwirts wählen,“ erwiderte der Doktor, „wenn er
härtere Arbeit und ein einjameres Dafein erforderte
ald ein andrer. Der Landmann ift aber jeht in
feiner Weije anders geftellt ala der Handwerker umd
jeder andre Arbeiter. Er wohnt, wo er will, umd
benüßt irgend eine der jchnellen Verlehrsgelegenheiten,
die überall zu finden find. Wer auf dem Lande
arbeitet, braucht deshalb nicht dort zu wohnen, wenn
er feine Vorliebe für das Yandleben hat.“
„Die Arbeit des Ackerbauers wechjelte in unſtet
Zeit jehr, je nach ben verichiedenen Jahreszeiten,“
jagte ih; „bald hatte er wenig zu ihun, bald häuften
fi) feine Geſchäfte, wie zur Saat und zur Ernte
zeit, wo alle Kräfte aufs äußerte angeipannt werden
mußten. Gin Schwanlen zwiſchen Mangel und
Ueberfluß an Arbeit muß doch auch heute noch die
Landwirtihaft von allen andern Berufsarten unter
ſcheiden.“
„Allerdings,“ verſetzte der Doftor, „aber diejer
Wechſel bedingt weder ein unnützes Ausruhen noch
eine übermäßige Anſtrengung des Arbeiters. Gerade
dur die Erholung, welche die landwirtſchäaftlich
Beſchäftigung bietet, gewinnt fie noch einen befonderen
Neiz. Bei einem jo ausgedehnten Lande wie uniret
find die Saat» und Erntezeiten natürlich nicht überall
und in allen Bezirken Ddiefelben. Daher kann man
nadjeinander an jebem Orte jo viele Arbeiter aus
andern Gegenden einitellen, wie gerade gebraudt
werden. Wenn es irgendwo ungewöhnlich viel zu
thun giebt, ruft man in fürzefter Friſt viele Tauſendt
zur Hilfe herbei; das gejchieht jehr häufig. Eine
jolde Mafjenbewegung pflegt eine wahre Begeifterung
' zu erzeugen, ähnlich derjenigen, welche in früheren
Zeiten entjtand, wenn ganze Heere mobil gemacht
wurden, um in den Krieg zu ziehen.“
Wir ſchwebten eine Zeitlang jchweigend umter
dem immer dunkler werdenden Himmel dahin.
Gleichheit.
„Wahrlih, Julian,“ ſagte der Doktor endlich,
„die Umwandlung, welche die Landwiriſchaft jeit
Ihrer Zeit erfahren bat, iſt bedeutender und volls
tommener als jede andre im ganzen Gebiet der
Induftrie und hat auf einen jo großen Teil der Ge—
lamtbenölferung ihre Wirkung geäußert wie feine
andre. Alle Dichter von Virgil bis in die neuefte
Zeit haben in ländlicher Beſchäftigung und dem
Anbau des Bodens die bejten Bedingungen für
ein heiteres und glüdliches Dajein gefunden.
Dod Hat bis zu unſrer Zeit der wirkliche Zur
ftand der Pandwirtichaft ihre Phantafiebilder Lügen
geitraft, denn das Los des Bebauers der Erde, des
Ernährers aller Welt, war das traurigfte, mühes
vollfte und erbärmlichjte von allen. Seit den Ur—
zeilen bis zum lebten Jahrhundert ift der ders.
mann das geplagtefte Gejhöpf auf Gottes Erdboden
gewefen. Als die Sklaverei herrichte, war er ber
niedrigfte der Knechte. Später wurde fein Beruf
anftrengender, forgenvoller und hoffnungslojer ala
irgend ein andrer; feine Armut war größer als die des
Lohnarbeiters, er hatte alle Sorgen des Rapitaliften
ohne deſſen Hoffnung auf Entihädigung und Gewinn.
Einesteil® hing fein Ertrag ganz von den Wechſel—
fällen der Natur ab, andrerjeit8 war er ausſchließlich
auf die Zwiſchenhändler angewiefen, um feine Pro-
dufte zu verwerten. Er durfte fi) wohl fragen, wer
graufamer ei, die Natur oder die Menſchen. Schlugen
die Ernten fehl, fo ging der Landwirt zu Grunde;
waren fie ergiebig, jo nahm ber Zwiſchenhändler ben
Gewinn. Er war ein Spielball der Naturgewalten
wie der menschlichen Geſellſchaft; an feinen Befik ge:
feflelt, geriet er in eine Abhängigfeit vom Bedarf
der Städter, die ſchlimmer war als die mittelalterliche
Veibeigenihaft. Sein einfames, abgeiondertes Leben
machte ihn ungelent und ungejellig; es jchnitt ihm
aud jede Gelegenheit zu geiftigem Wortichritt ab,
jelbft wenn ihm feine jchwere Arbeit noch Zeit und
Kraft übrig gelaffen hätte, ſich weiter zu bilden.
Darum jahen die Städter verächtlich auf ihn herab,
als jei er ein untergeordnetes Weſen. Ueberall und
jederzeit hat der Landmann felbft dem nichtsnupigiten
Städter zum Gegenftande des Spottes gedient. Der
bungrige Proletarier verhöhnte den unwiſſenden
Bauer. Feiner nahm jich feiner an oder redete zu
feinen Gunften, und feine eignen ſchwachen und un«
verftändlichen Klagen empfing man mit Hobngelächter.
Wie Bileam, der Prophet, erftaunte, al& der Ejel,
auf dem er ritt, plößlid den Mund aufthat, jo
verwunberten ſich auch die herrichenden Klaſſen in
Amerika, als zu Ende des letzten Jahrhunderts ber
Landwirt ſich erhob, um auch bei der Regierung ein
Wort mitzureden.
„Im Laufe der Weltgeichichte hat es dann und
wann eine beſſere Zeit für den Landmann gegeben.
1023
Der englifhe Freibauer durfte dem Edelmann ted
ins Antlib ſchauen. Auch der amerikanische Land»
wirt lebte bis zur Mitte des meunzehnten Jahr-
hunderts im goldenen Zeitalter des Aderbaus, Eine
Meile verbrauchte er dann nod) feine eignen Erzeug-
niffe, genoß einen verhältnismäßigen Ueberfluß und
war einer der unabhängigiten Menſchen auf Erden.
Aber dieſe idyllische Periode nahm nod vor dem
Schluß des Jahrhunderts ein Ende, Der Privat-
fapitalismıus brachte den Landwirt mehr.und mehr
herunter, bis er unaufhaltiam der Knechtſchaft ver—
fiel. Diefe war von alter her fein normaler Zus
ftand geweſen. Er hätte fi aud nie wieder em—
porraffen lönnen, folange die Menjchen einander
noch gegenjeitig ausbenten durften. Die wirtichaft-
liche Gleichberechtigung ift ein Segen für das ganze
Menſchengeſchlecht geweſen; zwei Klaſſen aber hatten
Urſache, fie mit befonderer Freudigleit zu begrüßen,
weil fie fih aus einer tieferen Erniedrigung em—
porgehoben jahen als bie übrige Menjchheit. Die
eine diejer beiden Klaffen waren Frauen, die andre
Landwirte,“
XXXIV,
Was den großen Umſchwung berbeiführte,
Als wir nad Haufe famen, empfing mid Edith
mit der Frage, ob ich Luft hätte, heute abend eine
Theatervorftellung zu jehen. In Honolulu follte ein
berühmtes geichichtliches Drama aus der Zeit der
Revolution gegeben werden, und fie glaubte, daß
das Stüd mid; intereffieren würde.
„Du mußt das Stüd wirklich ſehen,“ fagte fie,
„denn eigentlich wird e8 bir zu Ehren aufgeführt.
Das allgemeine Interefie an der Gejchichte der großen
Ummälzung ift durch deine Gegenwart neu belebt
worden, und da hat man dies Drama wieder her«
vorgeholt.“
Eine beſſere Anwendung des Abends hätte ich
mir gar nicht wünſchen lönnen, und auch die übrige
Familie war mit dem Plan einverftanden,
„Das Schlimme ift nur,” fagte ih, ald wir um
den Theetifch verfammelt waren, „daß ich nod) zu
wenig von dem Gang der Ereigniffe weiß, um dem
Stüd mit Berftändnis folgen zu können. Einzelne
Vorkommniſſe aus jener Zeit habe ich zwar häufig
erwähnen hören, aber eine zujammenhängende Ans
Ihauung vom Ganzen fehlt mir noch.“
„Das ſchadet nichts,“ ſagte Edith. „Water kann
dir vor Anfang des Stücks noch alles, was nötig ift,
erzählen. Die BVorftellung fängt erft um drei Uhr
in Honolulu an, jeßt ift es faum jedhs, und bei dem
Unterschied in der Zeit müſſen wir noch eine gute
Stunde warten, ehe der Vorhang aufgeht.“
„Das ift allerdings feine lange Frift und eine
recht Schwierige Aufgabe, jo ohne alle Vorbereitung
ein Bild der großen Ummälzung zu geben,“ warf
1024 Ebwarb
der Doktor ein. „Aber unter den Umſtänden werbe
ich es wohl jo gut machen müſſen, wie ich Tann.
„Aller Anfang ift meift in Nebel gehüllt,“ fuhr
er fort, ala ich ihm gleich mit der frage auf ben
Leib rüdte, warn die Umwälzung begonnen babe.
„Bielleicht hat Johannes, der Evangelift, die einfachste
Antwort darauf gefunden, wenn er jagt: ‚Im Ans
fang war Gott‘ Ja, man darf eigentlich wohl
behaupten, daß Jeſus Chriftus den Grund zu der
großen Ummälzung gelegt und ihren Hauptzwed ges
lehrt hat, als er die goldene Kegel der allgemeinen
Nächſtenliebe zur Richtſchnur für den Verkehr der
Menſchen untereinander machte. Wie bei allen
wichtigen Ereignifjen überhaupt nehmen Die Gejchichte-
ichreiber auch für den großen Umſchwung zweierlei
Urſachen an, eritens die allgemeine und urjprüngs
liche, die fie ſchließlich notwendigerweiſe herbeigeführt
hätte, ganz abgefehen von allen Nebenumftänden, und
zweiten die unmittelbare nächſte Veranlaſſung, welche
vorherging, und nad) der ſich die Zeit und alle Ein»
zelheiten einigermaßen bejtimmen laffen. Diefer un«
mittelbare Anlaß war natürlih in allen Yändern
verſchieden, aber die Grundurjache war überall dies
jelbe, denn, wie Sie willen, bat die große Um—
wälzung in der ganzen Welt bei ſämtlichen Kultur:
völfern faft gleichzeitig ftattgefunden.
„Diefe Grundurſache war, wie ich in unfern Ge—
ſprächen ſchon öfters angebeutet habe, die wachſende
Geiſtesbildung und Verbreitung von Kenntniſſen
unter der großen Maſſe des Volls, welche ſich ſeit
Einführung der Buchdruckerlunſt während des jech- |
zehnten, fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
langjam vollzog, dann im neunzehnten Jahrhundert
plöglih einen raſchen Auffchwung nahm und in
einigen Ländern faſt allgemein wurde, Ehe dieje Zeit
der Aufflärung begann, war der größte Teil der
Menjchheit jeit dem Altertum faft anf derjelben,
noch jehr rohen Entwidlungsftufe ftehen geblieben,
Ohne jelbitändigen Gedanten oder eignen Willen
ließen fie ſich widerftandslos von ihren klügeren und
mächtigeren Mitmenſchen zu deren Zweden ausnüßen ;
fie waren ‚wie der Thon in des Töpfers Hand‘. So
ging es weiter, viele Jahrhunderte lang, und niemand
dachte an eine Veränderung, bis endlich die Seit
erfüllt war, und alle Umſtände zufammenwirkten, um
den ftumpfen, unempfänglichen Geſchöpfen geiftiges
Leben einzuhauchen. Diejer Vorgang vollzog ſich in
alfer Stille, almählih und unmerklich; aber in der
ganzen Geſchichte der Menjchheit hat nichts auf deren
Entwidiungsgang einen jo entſcheidenden Einfluß
gehabt. Won da ab trat mehr und mehr das Interefie
aller in den Vordergrund, an Stelle des Vorteils
einer Heinen Minderheit; es fam nun Darauf an,
die Wohlfahrt des Ganzen zu fördern und nicht nur
die eines bevorzugten Teild, Nach diefer Richtung
! danke einer Vollsherrſchaft verwirklicht.
re — — — —
Bellamy.
bin entwickelte ſich die Geſellſchaftsordnung; dies Fiel
ſtrebte ſie zu erreichen.
„Die Philoſophen des neunzehnten Jahrhunderts
icheinen eine ſchwache Ahnung davon gehabt zu haben,
daf die Vermehrung der Geiftesbildung von großer,
entjcheidender Bedeutung fei und einen neuen jozialen
Fortſchritt bezeichne. Aber dak fie notwendigerweilt
eine vollftändige Umwälzung des Wirtſchaftsſyſtemt
der Geſellſchaft herbeiführen müſſe, vermochten fie
nicht zu erlennen. Sie waren blind gegen die That:
jache, daß nun das Klaſſenintereſſe und Privatintereie
aufhören und das Wohl der Geſamtheit zur Richtſchuur
werden müſſe. Zuerſt entjtand eine politische Be
wegung ; das perjönliche Regiment und die Safe:
regierung wurden geftürzt und der bemofratifche Gt—
Uns Icheint
es faum begreiflih, daß unter den bedeutenden
Männern jener Zeit fein einziger geweſen iſt, dem
es Mar wurde, dab die politiihe Demokratie nur
das PVorjpiel der wirtihaftlihen Demokratie war.
Sie follte nur für das Hauptftüd des ganzen Pro-
gramms — die gleiche Verteilung von Arbeit und
Beli — den Weg ebnen und alle Vorbereitungen
treffen.
„So haben wir alfo die Grundurſache der großen
Ummandlung erklärt: fie lag in der fortjchreitenden
Geiftesbildung der Maflen vom jechzehnten bis zum
Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Dadurd war
auch der Umſturz der wirtichaftlihen Grundlage der
Gejellfhaft bedingt. Früher oder jpäter mußte er
jedenfalls erfolgen, mochten auch die Art und Weile,
twie dies geſchah und die einzelnen äußeren Umflände,
je nad) der Bejchaffenheit der verichiedenen Länder,
voneinander abmweichen.
„sn Amerifa begann die Umſturzbewegung, die
mit der Einführung unſrer jehigen Ordnung ſchloß,
faft unmittelbar nad) dem Bürgerkrieg. Einige Ge
ſchichtsſchreiber legen ihren Anfang in das Jahr 1879.*
„Achtzehnhundertdreiundſiebzig!“ rief id ver
wundert, „Das ift ja mehr als ein Duhend Jahr,
bevor ich in Schlaf verfiel. Alfo war ich Zeuge eines
Teils der Ummälzung und habe doch nichts davon gr
jehen! Die ernfte Lage und die große Verwirrung, in
der fich die Induſtrie befand, erfannten wir wohl;
auch war uns die allgemeine Unzufriedenheit nich
verborgen; aber daß eine völlige Ummälzung dr
Verbältnifie im Gange fei, davon hatten wir fein
Ahnung.“
„Das lieh fich nicht anders erwarten,“ jagte ber
Doktor. „Die Zeitgenoffen großer revolutionärt
Bewegungen haben ſelten ein Verftändnis für ihre Br
deutung, biß fie faft vorüber find. Spätere Geſchlechter
glauben dann jtets, daß fie Die Zeichen der Zeit
beſſer erfannt haben würden; vermutlich ift das je
dod ein Irrtum.“
En. PRREL er 1
Gleichheit.
„Aber warum ſetzen bie Geſchichtsſchreiber den
Anfang des großen Umſchwungs gerade in das Jahr
1373?“
„Weil damals die wirtichaftliche Not im ame—
rifanifchen Volle bejonders Far zu Tage trat. Zwar
wurden die Verhältniffe jpäter eine Zeitlang wieder
beſſer, und es fanden zum Zeil Erleichterungen ftatt;
im ganzen aber dauerte die Drangjal fort bis zur
Abſchaffung des Privatfapitalismus. Aus der alle
gemeinen Unzufriedenheit, welche durch dieſen Zuftand
der Dinge herbeigeführt wurde, entiprang fchliehlich
die neue Ordnung der Dinge. Sie wedte die Ameri—
faner aus ihrem jelbjtgefälligen Traum, daß das |
joziale Problem durch eine nur auf politische Formen
teichränfte Voltsherrihaft bereits gelöjt worden jei
oder überhaupt gelöft werden fünne, und bewog fie,
nad) der wahren Löjung zu juchen.
„Die wirtichaftliche Not, welche im letzten Drittel
des Jahrhunderts begann und die Umwälzung zur
Folge hatte, war übrigens nur gering im Vergleich
zu dem Elend, in dem fi) andre Nationen jchon von
alterd ber unausgejeht befanden. Die Amerikaner
hatten in ihrem neuen Lande jo reiche Erwerbäquellen
und einen jo weiten Raum, daß fie noch ein Jahr-
hundert lang von dem allgemeinen Geſchick der Aus—
nugung durd den Kapitalismus verſchont blieben.
Diefe Vorteile beſaßen fie jett nicht mehr; bie Friſt
war verjtrichen, und aud) fie jollten nun den Naden
unter dasjelbe Joch beugen, das vor ihnen ſchon alle
Völker getragen hatten. Aber durch ihren langen
verhältnismäßigen Wohlſtand ſtolz und kühn ge—
worden, widerſetzten fie ſich der Zumutung, und da
der bloße Widerſtand nichts half, ſo führten ſie eine
Umgefialtung der beſtehenden Verhältniſſe herbei.
Das iſt in kurzen Worten der Verlauf der Umſturz—
bewegung in Amerika. Die Sade ijt jetzt ſchon fo
lange ber, daß ein Zuhörer aus dem zwanzigften
Jahrhundert ſich mit dieſer Erflärung zufrieden geben
würde; aber Sie, Julian, werden vielleicht wünjchen,
noch einige Einzelheiten zu erfahren. In Storiots
‚Geichichte der Umfturzbewegung‘ ift ein Kapitel, das
mir in meiner Schulzeit einen tiefen Eindrud gemacht
bat. Es jchildert die wachſende Macht des Kapita-
lismus und die allgemeine Erhebung, welde fie
ſchießlich zur Folge hatte. Ich glaube, ic kann die
nur jo furz bemejjene Zeit nicht beijer anwenden,
als wenn ich Ihnen einige Abjchnitte Daraus vorleſe.“
Edith holte das Bud) aus der Bibliothef — denn
wir ſaßen nod immer am Theetiſch —, und der
Doltor las:
„In Bezug auf die Entwidlung des Privat-
fapitalismus bis zu dem Punkt, wo er Leben und
Freiheit des Volles bedrohte und die Urjache des
Umfturzes wurde, teilen die Hiftorifer die Geſchichte
der amerifanijchen Republik von ihrer Gründung im
Uus fremden Zungen, 1897. IL 22,
1025
Jahre 1787 bis zu der großen Umgeftaltung, die fie
erft zu einem wahren Freiſtaat machte, in drei
Merioden ein.
„‚Die erite umfaßt die Zeit von der Gründung
der Republif bis etwa um das Yahr dreißig oder
vierzig des neunzehnten Jahrhunderts. Damals hatte
fih die Macht des Privatlapitalismus dem Volke
noch nicht geradezu feindjelig gezeigt. Die Zahl der
Geldariftolraten war Mein und die Summen, die fie
bejaßen, geringfügig. Die ungeheure Ausdehnung
und die reihen Erwerbäquellen des jungfräulichen
Bodens befriedigten nod die menſchliche Habgier
und ficherten jedem feine Unabhängigkeit als Preis
der Arbeit. Man durfte ſich jo viel Land nehmen,
als man wollte, und feiner brauchte dem andern
untertgan zu fein. Dies war die idylliiche Zeit der
Republik, wie fie De Tocqueville jah und bewunderte,
obgleich er ſchon das Verhängnis ahnte, welches über
ihr jchwebte. Der Freiſtaat barg einen Todesleim,
ber ihn zu verderben drohte. Das war der Private
fapitalismus. Fürs erfte begünftigten die Um—
jtände deſſen Wachſen und Reifen nod) nicht. Alles
jchien im beften Gange, und es iſt nicht zu ver—
wundern, dab fi) das amerifaniihe Voll der Hoff-
nung bingab, es habe mit feiner Republik die joziale
Frage gelöſt.
„Etwa um das Jahr 1830 oder 1840 begann
die zweite Periode mit der rajchen Zunahme und
Konzentration des Kapitals. Die Geldarijtofratie
wurde mächtig und ftredte die Hand nad allen
Seiten aus, um ſich die natürlichen Hilfsquellen des
Landes anzueignen und ſich die Arbeiterbevölferung
dienftbar zu machen. Mit einem Wort: das Ger
winnſyſtem bildete ſich aus, und die Plutofratie be—
fam immer größere Gewalt. Der llebergang von
der erjten zur zweiten Periode wurde durch die all,
gemeine Anwendung der Dampfkraft in Handel und
Induftrie verurſacht. Begonnen hatte er eigentlich
ihon mit der Einführung des Fabrifwejens über-
haupt; aber wäre der tyabrifbetrieb aud nicht Durch
die neuen Erfindungen ermöglicht worden, jo würde
e3 doc) nur eine frage der Zeit geweſen fein, wie
lange die Kapitaliftenflafje gebraucht hätte, um ſich
zu Herren des Grund und Bodens zu machen, durch
ihr Wucherſyſtem die Mafjen in ein Lehensverhält«
nis zu bringen und die Demofratie umzuftoßen,
wie das im Altertum gejchehen iſt. Die neuen Er-
findungen beichleunigten jedoch das Wachstum der
plutofratifchen Herrſchaft auf fabelhafte Weife. Zum
erftenmal in der Weltgeichichte bediente fi der Ka—
pitalift der Mafchinentraft zur Unterjohung feiner
Mitmenjhen, und fie erwies fid) als eine mächtige
Verbündete. Nur dadurch, daß fie die Gewalt des
Kapitals vervielfältigte und die Bedeutung des Arbeits-
mannes verhältnismäßig verringerte, läßt ſich die
129
1026
ungeheure Schnelligkeit erklären, mit welcher während
der zweiten und dritten Periode die Plutofratie ihre
Eroberung der Republif vollendete.
„Es ift eine Thatſache, die jehr zu Gunſten der
Amerikaner ſpricht, dab fie jchon zu Anfang der
vierziger Jahre erlannt haben, welche neue und ge—
führliche Richtung in ihrem Freiſtaat Eingang zu
finden ſuchte und die Hoffnung auf eine weite Ber-
breitung des Wohlſtands zu vernichten drohte. Wäh-
rend jenes Jahrzehnts fanden allgemeine Beratungen
darüber flatt, ob es nicht möglich ſei, eine beſſere
Geſellſchaftsordnung einzuführen, und zahlreiche Ver⸗
fuche wurden angeftellt, um den Privatfapitalismus
durch fooperativen Induftriebetrieb zu erfegen. Schon
tonnten die umfichtigeren und für das öffentliche
Wohl beforgten Bürger die Beobadhtung machen,
daß ſich ihre jogenannte Volfsregierung die Herrſchaft
der Neihen und die wirtichaftlihe Unterjohung der
Maſſen ganz ruhig gefallen ließ. Sie fragten fich,
ob das jo weiter gehen jolle, und welchen Wert dann
eigentlich ihre republifanifchen Einrichtungen hätten,
auf die fie jo ſtolz gemefen waren.
„Eine gründliche Erörterung der fozialen Frage
war indeſſen jürs erjte ausgeſchloſſen, weil fie in
Amerika durch einen befonderen Umftand unmöglich
gemacht wurde — nämlich durch das Borhanbenjein
großer Sklavenjharen aus Afrifa, Bei einer grund«
fäglihen Anerlennung der menſchlichen freiheit konnte
diefe rohe und gewaltihätige Form der Dienftbarteit
nicht länger beftehen, War jie aud im ganzen faum
graufamer als die Knechtſchaft des Lohnarbeiters, jo
mußte fie doch vor allem aus dem Wege geräumt
werden, Diejen beionderen Verhältniffen ift es zu«
zufchreiben, daß der große Umſchwung ſich nicht ſchon
fünfundzwanzig Jahre früher in Amerika vollzog.
Von 1840.bis 1870 nahm die Stlavenfrage, die jo
furdtbare Kämpfe und Streitigleiten im Gefolge
hatte, nicht nur die geiftigen und fittlichen,, jondern
auch alle phyfifchen Kräfte der Nation vollftändig in
Anſpruch.
„Während der dreißig oder vierzig Jahre vom
ernftlihen Anfang der Antijflavereibewegung an,
— — — — —— — —— — ——— —
bis der Bürgerkrieg beendet und feine Wunden ges |
heilt waren, hatte man in Amerika für nichts andres
Sinn. Diefe Verhältnifje benußte nun die Hapita«
liftenklaile, um ganz unbemerkt und ohne Widerjtand
zu finden, den Reichtum bes Landes einer feinen
Anzahl ihrer Mitglieder in die Hände zu jpielen.
Diefe hatten in der Kriegäzeit und den unrubigen
Perioden, die ihr vorangingen und folgten, Gelegen-
heit gehabt, eine feſte Stellung einzunehmen, aus
der fie ſich nicht wieder vertreiben ließen.
„Etwa um das Jahr 1873 jah fih das Land
endlich von den folgen des Krieges befreit und nicht
länger durch fittlihe und religiöje Streitfragen in
Ebwarb Bellamp.
Anſpruch genommen. Da gingen den Amerifanern
plöglid) die Augen auf, und fie jahen, welchen furdt-
baren Konflitt da8 Wachstum des Kapitalismus
beraufbejchworen hatte. Die Macht des Reichtums
ftand gerüftet da, um gegen den demokraätiſchen Ge
dauken — das gleiche Recht aller auf Leben, freie
heit und Glück — zu Felde zu ziehen. Von dielem
Zeitpunft datieren wir daher den Anfang der fehten
Periode der amerifanifchen Pſeudorepublil, welcht
deren Umſturz herbeiführte und das heutige Syſtem
zur Herrſchaft brachte.
„Im Lauf der MWeltgefhichte hatte man zwar
ſchon manche Republif infolge der Anhäufung und
Konzentrierung des Privatbejiges zu Grunde geben
ſehen; aber e& war noch fein Beifpiel von einer jo
vollftändigen und plößlichen Umwandlung des ganzen
Wirtjhaftsfyftems einer großen Nation jemals vor:
gefommen. or dem Kriege war in Amerila, wie
wir gejehen haben, die Güterverteilung jo allgemein
und gleihmäßig gewejen, wie man das früher nie
gefannt Hatte. Sehr reiche Leute und jehr große
Belistümer waren höchſt jelten, Weder einzeln noch
Maflenweife fonnten daher die Kapitaliften die übri»
gen Glieder des Gemeinweſens bedrüden. In dem
furzen Zeitraum von fünfundzwanzig oder dreikig
Jahren hatten ſich aber alle wirtichaftlichen Ber
dingungen jo gänzlid verändert, da man Amerila
in den fiebziger und achtziger Jahren nur noch das
Land der Millionäre nannte. Nirgends in der ganzen
Melt hatte ſich der Privatreihtum zu jo ungeheuren
Maſſen angehäuft, und dieje riefige Konzentration
der Güter übte die verderblichfte Wirkung auf die
induftriellen, fozialen und politifchen Zuftände des
Volles — fein Wunder, daß jie zum Umſturz führte.
„Der freie Wettbewerb im Gejchäft hatte ganz
aufgehört. Ehemald war das Feld imduftrieller
Unternehmungen allen offen gewejen; jeht beherrjchten
e3 die Kapitalijten allein, und zwar nur die größten
unter ihnen. Amerifa, das früher die befte Erwerb
gelegenheit bot, hatte ji in dem Zeitraum einer
Generation in das Land der Monopole umgewandelt.
Der Wert eines Mannes beftand nicht mehr in dem
was er war, jondern in dem, was er hatte. Wenn
jemand Fleiß und Kenntniſſe mit höflihem Benehmen
vereinigte, durfte er hoffen, das Amt eines höheren
Ungeftellten im Dienft des Kapitals zu befleiden,
aber eine jelbjtändige Laufbahn war ihm nicht be—
ſchieden.
„Dadurch, daß eine verhältnismäßig Heine Zahl
großer Kapitaliſten die ganze wirtjchaftliche Verwal
tung des Landes an fid) geriljen hatte, war aud) die
Produktion und Güterverteilung völlig in ihre Hände
geraten. Einzelne mächtige Handelshäufer, die über
ungeheure Geldfummen geboten, hatten weite Streden
des geichäftlichen Gebiets für ich in Befik genommen,
Gleichheit.
auf denen früher zahlloſe kleinere Firmen thätig ge—
weſen waren. Bei dieſem Vorgang war natürlich
eine Unmaſſe Heiner Gefchäfte elendiglich zu Grunde
gegangen, und ihre früher unabhängigen Beſitzer
mußten frob fein, wenn fie wenigſtens eine Anitel»
fung in den großen Handelshäufern fanden, durch
die fie verdrängt worben waren. Während der ſieb—
ziger Jahre verging fein Monat, feine Woche, fein
Tag, an dem nicht irgend eine neue Provinz des
Wirtichaftsftaates, irgend ein Zweig der Induſtrie
oder des Handels, der vormals allen für ihre Unter:
nehmungen offen geſtanden hatte, in den Alleinbefik
mehrerer vereinigten Kapitaliften überging, die ſich
in ihrem Monopol wie in einem feiten Lager ver—
ſchauzten. Für ſolche gewaltige Verbindungen ers
fand man die Namen „Truft* und „Syndifat“ ; die
alte Geſchäſtswelt befah in ihrer Sprache fein Wort,
um fie zu bezeichnen.
„Es war jchwer zu jagen, welche der beiden
großen Abteilungen der Arbeitermafien am meiften
unter der veränderten Ordnung der Dinge gelitten
hatte, ob der Pohnarbeiter oder der Landwirt. Das
alte periönliche Verhältnis und freundliche Wohl«
wollen zwijchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer war
nicht mehr vorhanden. An die Stelle des früheren
Brotheren war die große Altiengeſellſchaft getreten,
eine umperjönliche Macht, für welche der Arbeiter
nicht mehr als Menſch, jondern als Srafteinheit galt.
Man brauchte ihn nur, um die Majchine zu be=
dienen; die Direftoren betrachteten ihn als ein
notwendiges Uebel, das man leider noch nicht los
werden fonnte und mit möglichft geringen Soften
beibehielt, bis e8 durch eine neue Erfindung gänzlich
aus der Melt geichafft wäre.
„Auf ganz ähnliche Weife war auch die Thätig-
feit des feinen Landwirts und die Möglichleit jeines
Erwerbs dur die Konzentration des Betriebs der
Bodenkultur beichränft oder ganz gehemmt worden.
Die Eifenbahnen und der Kornmarkt verfchlangen
den früheren Gewinn des Landmanns und ließen
ihm nichts als einen dDürftigen Tagelohn, wenn die
Ernte gut ausfiel, und eine Hnpothelenfhuld, wenn
jie mißlang. Dabei trug er aber nod) afle Werant«
wortlichteit de Kapitaliſten, weil fein Geld in dem
Landbeſitz ſteckte. Doch diefe Sorge quälte ihn
natürlicherweile nur kurze Zeit, da er unter joldhen
Umftänden von Jahr zu Jahr nur beftehen fonnte,
wenn er Schulden machte, ohne die leiſeſte Ausſicht,
fie je bezahlen zu können. Bald verfiel fein Gut
den Gläubigern; er ſank von der früher jo ftolzen
Stellung eines amerifaniichen Landwirts herab, wurde
zum Pächter und war bald nur noch ein gewöhn-
licher Bauer.
„Von 1873 bis 1896 wird uns über mehr ala
ſechs verichiedene Geichäftäfriien berichtet. Die Er-
1027
holungspauſen zwiſchen denſelben waren jedoch fo
kurz, dab man füglih von einer fortgefekten Kriſis
während diejeß ganzen Zeitraums reden kann. Auch
in der erjten und der mittleren Periode der Nepublif
waren zahlreiche, jchlimme Geſchäftskriſen eingetreten,
aber damals ruhten Handel und Induſtrie noch auf
einer breiten und ſtarken Grundlage im Volke; die
Erhebung folgte unmittelbar auf den Niedergang
und hatte ſtets einen größeren Wohlftand zur Folge,
al& der frühere geweien war. Davon fonnte jet
aber feine Nede mehr jein. Nad den Srifen der
fiebziger, achtziger und neunziger Jahre entftand fein
günftiger Rückſchlag mehr; im Gegenteil, die Preiie,
die Yöhne, jowie die allgemeine Wohlfahrt und Zu-
friedenheit der Landwirte und der Arbeiterklafle
nahmen unaufhaltiam und immer mehr ab.
„‚Der befte Beweis für die Verfchlechterung in den
Verhältniſſen der Lohnarbeiter und Landwirte war die
große Verminderung der Zahl der fremden Einwanderer
und ihre Minderwertigleit während dieſer Periode.
Seit einem halben Jahrhundert galten die Nereinigten
Staaten für die Armen als ein Sand der Verheißung ;
in Scharen wanderten die Europäer ein, und Diele
Bevölkerung, die fort und fort herbeiftrömte, beftand
aus den füchtigften Kräften der Alten Welt. Bald
nad dem Bürgerfriege wurde das jedoch anders; in
den achtziger und neunziger Jahren famen faft nur
noch die niedrigiten und elendeſten Menſchen und Die
barbariſchſten Völler, der Auswurf Europas, zu ung
herüber, Und jelbft um ſolche erbärmliche Rekruten zu
befommen, mußten die Agenten der transatlantijchen
Dampfer und der amerifaniihen Synbifate oben»
drein ihre Sendlinge in die ärmſten Länder ſchicken
und ganz Europa mit lügenhaften Zirkularen übers
ſchwemmen. Es war ſchon fo weit gefommen, daß
fein europäifcher Bauer oder Taglöhner, der noch
nicht ganz heimatlos und am PBelteljtab war, das
208 des amerikaniſchen Landwirts und Arbeiters teilen
mochte, um welches diejen noch vor kurzem die ganze
Arbeiterwelt beneidet hatte,
„Während die Politifer, bejonderö vor ben
Wahlen, den Arbeitern Mut zu machen fuchten mit
der Verfiherung, daß beifere Zeiten unmittelbar be—
vorjtünden, ſcheinen ſich die erufteren nationalöfono«
miſchen Schriftfteller offen darüber ausgeiprochen zu
haben, daß es mit den Vorteilen, welche die Arbeiter
in Amerifa vor denen andrer Länder früher voraus
hatten, für immer vorbei fei. Alle Preife und Löhne
in der ganzen Welt, fagten fie, würden ſich mehr
und mehr ausgleichen, das heikt, biß zu dem Maß»
ſtab desjenigen Landes herabfinfen, wo fie am niedrig-
ften wären. Es flimmt ganz und gar mit diejer
Prophezeiung überein, daß ſich der amerikanische
Fabrikant in den neunziger Jahren durd die Ver-
minderung der Produftionstojten, welche hauptſächlich
1028 Edward
mittels Lohnherabjegung erzielt wurde, zum erften-
mal in der Lage jah, auf dem fremden Markt die
Produkte der ſchlecht bezahlten Arbeiter britischer,
beigifcher,, franzöſiſcher und deutſcher Kapitaliften
zu unterbieten,
„‚Gerade während dieſer Periode, als die wirt«
ichaftliche Not der Maffen einen Induftriefrieg herauf:
beihwor und and) die amerifanifche Fandbevölferung,
die zufriedenjte und vormals wohlhabendfte, welche
08 je gegeben hat, zum Aufruhr brachte, wurde der
riefigfte Privatbeiit angehäuft. Vor dem Bürgers
frieg hatte niemand eine Million Dollars beſeſſen,
und noch bis in die fiebziger Jahre war das ein
höchſt jeltener und ungewöhnlicher fyall. Aber bald
darauf gab es Herren vieler Millionen, und höher
als jie erhoben ſich noch die wirtichaftlichen Titanen,
die über Hunderte von Millionen verfügten, ja esjchien, |
als ob die Villionäre nicht lange mehr auf ſich war-
ten lafjen würden. Es war daher nicht ſchwierig zu
erfennen, und alle Welt wußte es wohl, wohin der
Reichtum fam, den die große Mafle des Volls ein-
büßte. Zehntauſend verloren ihr bejcheidenes Ein-
fommen, das in den Händen eines Mannes als
ungeheures Vermögen wieder zum Vorſchein fan. —
Der Körper der Spinne Shwillt zufehends, wenn fie
ihren Opfern das Blut ausfaugt; jo wuchſen auch
die ungeheuren Geldhaufen der Kapitaliften, während
der Belik des früher wohlhabenden Volles mehr und
mehr zulammenjchrumpfte,
„Daß die wirtjchaftlichen Zuftände fo vollfländig
aus dem Gleichgewicht gelommen waren, mußte not=
wendigerweije zu einer revolutionären Bewegung
führen. Ehemals war in Amerifa der Reichtum
meift durch perſönliche Anſtrengung erworben worden ;
er war felten groß und jein Beſitz ungewiß. „Die
dritte Generation arbeitet wieder in Hemdärmeln,“
lautete ein vollstümliches Sprichwort, womit man
ausdrüden wollte, dab, wenn jemand ein Feines Ver-
mögen jammelte, fein Sohn es meiſt wieder verlor
und der Enkel von vom anfangen mußte. Inter
diejen Umſtänden fehlten bei der geringen wirtichalt-
lichen Ungleichheit alle Klaſſenunterſchiede. Es gab
feine beftimmte Klaſſe der Arbeiter und der Müßig—
gänger; die Menfchen teilten ſich nicht in Arme und
Neiche. Wenn man viel beſaß oder wenig, ſich aus—
ruhen konnte oder arbeiten mußte, jo galt das nicht
für einen dauernden Zuftand, jondern für eine zeit-
weilige Gunſt oder Ungunſt des Schickſals. Wie
ganz anders war das alles geworden! Ein großes
Vermögen bildete nad) der neuen Ordnung der
Dinge, ſchon wegen der ungehenren Summen, die
es umfaßte, einen feften Beſitz, der nicht leicht ver—
loren gehen fonnte, ſondern fih von Geſchlecht zu
Geſchlecht To ficher vererben lieg, wie ein Adelstitel.
And made es die Monopolifierung aller gewinn-
Bellamy.
bringenden Erwerbögelegenheiten durch die großen
Kapitaliften jedem, der nicht zu ihrer Klaſſe gehörte,
jo gut wie unmöglich, reich zu werden. or dem
Kriege durfte ein thatfräftiger Amerikaner immer
hoffen, einmal zu Wohlitand zu gelangen; jeht lag
das ganz außerhalb des Bereich! eines Mannes, der
in der Armut geboren war. Zwiſchen den Armen
und Reichen erhob fi von mın an eine Scheidewand.
Kein Weg führte mehr aufwärts, und die Thür war
mit Geldjäden verrammelt.
„‚Bald jpiegelten ſich auch die veränderten fozialen
Zuftände des Landes in der neuen Klafleneinteilung
wieder, die bald nad) dem Bürgerkrieg in den Ber»
einigten Staaten Eingang fand und der Alten Welt
entlehnt war. Die Amerifaner hatten früher damit
geprablt, dab alle Bewohner ihres Landes Arbeiter
feien, aber jeßt fing man mehr und mehr an, durch
dieje Bezeichnung die Armen von den Wohlhabenden
zu unterjcheiden. Zum erftenmal leſen wir in ameri-
faniihen Büchern von unteren, oberen und mittleren
Volklsklaſſen. Vor dem Kriege hätte man gar nicht
gewußt, was das bedeuten ſolle; jet aber entſprachen
dieje Benennungen jo jehr der Wirklichkeit, daß
jeder fie gebrauchen mußte, er mochte wollen oder
nicht.
„Die Befiker der großen Reichtümer umgaben
fich mit einem Purus, in dem es ihnen Europa nicht
gleichthun konnte, eine nie gejehene Pracht und
Herrlichkeit, ein föniglicher Pomp und grenzenloie
Verihwendung begannen ſich zu entfalten. Solde
Zuftände jpotteten der Unzufriedenheit des Volles
und warfen ein grelles Licht auf die weite und tiefe
Kluft, die ſich zwifchen den Herren der Erde und den
großen Maſſen aufgethan hatte.
„Dabei gaben fich die Geldfürften feine Mühe,
die Thatjache zu verbergen, daß ihrer Weberzeugung
nad die Tage der Demokratie gezählt jeien, und der
Traum der Gleichheit aller Menjhen zu Ende gebe.
Als das Volk anfing, jeinen bittern Gefühlen über
dieje Bebrüdung Luft zu machen, Sprachen fie ganz
unummunden ihre Abneigung und ihren MWidertvillen
gegen das Land und jeine bemofratifchen Einrichtungen
aus. Die amerifanifchen Millionäre waren inter:
nationale Perfönlichkeiten geworden; fie verbradten
ihr Leben größtenteild in Europa, wo fie ihre Schäke
ausgaben and ihre Kinder erziehen ließen; ja, einige
trieben ihre Vorliebe für die Alte Welt jo weit, dab
fie Unterthanen einer fremden Macht wurden. Bie
groß die Neigung der amerilaniichen Sapitaliften
war, dem Volfsftaat den Rüden zu kehren und ſich
den europäiſchen und monardijchen Einrichtungen
anzuschließen, läßt fich deutlich aus der fangen File
von Heiraten erfennen, welche reiche amerikaniſche
Erbinnen in jener Zeit mit ausländiichen Ebdelleuten
eingingen. Man glaubte, dab die Tochter eines
Gleichheit.
vielfachen amerikaniſchen Millionärs durch ſolchen
Ehebund eine für ſie paſſende Stellung erhalte. Die
großen Kapitaliſten pflegten in Geldſachen ſehr ſchlau
zu ſein, und daß ſie es ſich ſo ungeheure Summen
toften ließen, für ihre Nachlommen einen Adelstitel
zu kaufen, war ber ſtärkſte Beweis dafür, daß fie
feft überzeugt waren, die Zufunft der Welt gehöre
nicht dem Volle, jondern einzelnen Bevorzugten aus
ben oberen Klaſſen.
„Der Einfluß, den die Geldariftofratie auf die
politiiche Regierung ausübte, war unter dem Mor:
wand geichäftlicher nterefin — momit natürlich
die Intereffen der Reichen gemeint waren — von
jeher bedeutend gewejen und hatte oft zu ärgerlichen
Auftritten geführt. Ye mehr ſich der Reichtum des
Landes bei einer Minderzahl anhäufte, die ſich unter-
einander verband, um jo färfer wurde natürlich ihre
Macht in der Regierung, und während der fiebziger,
achtziger und neunziger Jahre übten jie eine förmliche
Diltatur aus. Damit die jogenannten Vertreter des
Volkes nicht aus Irrtum gegen ben Willen Der
Kapitaliften handelten, jtellten dieje überall, wo die
Regierung ihren Sik hatte, eine Schar ihrer ver-
trauten Agenten an. Dieje beobachteten das Thun
und Treiben aller Männer der Oecffentlichfeit, und
wenn fie fahen, daß einer in feiner Treue gegen bie
Kapitaliften wanfend wurde, jo wandten fie alle
Mittel der Einfhüchterung oder Beſtechung bei ihm
an, die jelten erfolglos blieben. Die Leute Hatten
jogar eine halbamtliche Stellung im politiſchen Partei-
getriebe; fie durften die Abgeordneten in den Vor—
räumen der Sikungsjäle auffuchen und beeinfluffen,
ohne daß man ihnen ihr Handwerk legte,
„Es iſt ſchmachvoll, wenn man in der Geichichte
diefer Zeit lieſt, wie nicht nur die Regierung in jeder
Stadt und in jedem Staat, fondern aud bie ganze
legislative und erefutive Gewalt, ſamt den Gerichts-
höfen, miteinander wetteiferten, durch Verleihung
von Grund und Boden, Vorrechten, Monopolen und
Gerechtſamen aller Art das Land mit feinem ganzen
Ertrag und allen Bewohnern der Herrichaft der
Kapitaliften und deren Erben und Rechtsnachfolgern
zu überantworten, bi in die ſpäteſten Zeiten. Von
den Öffentlichen Ländereien, die noch wenige Jahrzehnte
zubor eine Quelle unerſchöpflichen Reichtums für alle
fommenden Gejchlechter hatten fein jollen, wurden
riefige Streden an Syndilfate und einzelne Kapita=
liften abgetreten, um eine Fünftige neue Ariftofratie
von Grundherren zu bilden, denen die ganze Land—
bevölferung zinspflichtig umd unterthänig wäre, Aber
nicht nur das von den Bätern ererbie National-
vermögen war einer Tleinen Minderzahl überliefert
worden; aud) auf dem Gebiete des Handels und der
Induftrie hatten dieſe Leute jih durch Privilegien
und Monopole alle wirtſchaftlichen Vorteile zu ſichern
1029
gewußt, jo daß den jpäteren Geichlechtern jede Ge—
legenheit abgejchnitten war, Erwerb oder Beſchäf—⸗
tigung zu finden, außer ald Diener und Lehend-
männer einer erblihen Kapitaliſtenllaſſe. Die Gejchichte
der Monarchien erzählt uns von manchen Miffethaten
unter ber Herrihaft der Könige. Lafterhafte oder
ſtumpfſinnige Fürften haben gelegentlich ihre Unter—
thanen in die Knechtichaft verfauft oder den Wohl:
ftand ihrer Neiche zu Grunde gerichtet, um fittenlofe
Günftlinge mit Schägen zu überhäufen. Doch find
jelbjt die jchwärzeften Nergehen diejer Art Thaten
des Lichts im Vergleich zu der Schuld, welche die
Regierungen des jogenannten Volksſtaats auf ſich
luden, ala jie das Nationalerbe der Amerikaner an
den Meifibietenden verichacherten.
„Beſonders wegen der erbitterten und verzweifelten
Stimmung der arbeitenden Klaſſen war es ber
Plutokratie äußerſt erwünſcht, daß fie ſich der Re—
gierungsgewalt nach Belieben bedienen konnte.
„Die Arbeiterausſtände führten häufig zu Un—
ruhen, die ſo weit um ſich griffen, daß die Polizei
ihrer nicht Herr werden fonnte. In ſolchen Fällen
pflegten bie Rapitaliften fi an die Staatsregierumg
zu wenden und die Hilfe dee Militärs in Anſpruch
zu nehmen, um ihr Eigentum zu ſchützen. Das
Hauptgejchäft der Truppen war damals die Unter-
drüdung der Streils durch Kugel und Bajonett oder
die Bewachung der Betriebdanlagen der Kapitaliften,
bis der Hunger die auffälligen Arbeiter zur Unter-
werfung zwang.
„Im Laufe der achtziger Jahre waren bie
Regierungen der Staaten eifrig bemüht, das Militär
für diefen neuen und nüßlichen Beruf anzulernen,
der ſich zuſehends erweiterte. Die Nationalgarde
verwandelte ſich in eine Sapitaliftengarde. Die
Truppenmacht wurde vergrößert, reorganifiert, einer
ſtrengeren Disciplin unterworfen und bejonders für
den Zweck eingeübt, widerfpenftige Arbeiter tot»
zuihießen. Der Straßenfampf wurde förmlich ein-
exerziert — cine ſehr verhängnisvolle Neuerung bei
der Ausbildung der amerifanischen Milz. Ai
itrategifch wichtigen Pläen der großen Städte erhoben
ſich ſtark befeftigte fteinerne Zeughäufer mit Schieh-
ſcharten; auch wurden Kanonen aufgepflanzt, welche
die Straßen beherrſchten. Es waren jedoch Beifpiele
vorgefommen, daß die Miliz, welche ziemlich genaue
Fühlung mit dem Volfe behielt, eine jolche Abneigung
an den Tag legte, auf die Ausſtändiſchen zu ſchießen,
und jo großes Mitgefühl für ihre Beichwerden zeigte,
daß die Kapitaliſten fih nicht auf ihre Treue ver—
lafien mochten, jondern im Ernftfall lieber die regu—
lären Regierungstruppen zu Hilfe riefen, die fein
Erbarmen fannten. Auf Verlangen der Kapitaliften
ließ daher die Regierung befeitigte Lager in der
Nähe großer Städte aufichlagen und mit ftarfen
1030 Ebwarb
Befahungen verſehen. Der Krieg gegen bie Indianer
ging damals zu Ende, und die Truppen, welche auf
den Ebenen des Meftens ihr Standbquartier gehabt
hatten, um die Nieberlaffungen der Weißen gegen
die Rothäute zu verteidigen, wurden nad dem Dften
geihafft, um die Kapitaliften vor den Arbeitern zu
ſchützen. So weit hatte es der Privattapitalismus
gebracht.
„Man fann fi einen Begriff davon machen, in
welcher Ausdehnung die Kapitaliiten ſich die Militär«
gemalt der Regierung bei ihren Streitigfeiten mit
den Arbeitern dienftbar machten, wenn man ver»
nimmt, daß zu Anfang der neunziger Jahre oft
Heere von acht⸗ bis zehntauſend Mann mobil gemacht
wurden, um die Aufftände in New Vorl oder Thila-
beiphia zu unterdrüden. Im Jahre 1892 ftand zu
gleicher Zeit die Miliz von fünf Staaten, durd
reguläre Truppen unterftüßt, gegen die Streifer unter
Waffen. Vereinigt wäre diefe Militärmadht gewiß
größer geweſen als die ganze Armee, melde General
Waſhington einft befehligte. Konnte man da nicht
jagen, daß der Bürgerkrieg bereit3 ausgebrochen
ji? —
„In früherer Zeit hatten die Amerifaner mit
Hohnlachen von den europätichen Monardien ge
ſprochen. Sie fagten ganz ridtig, daß es um eine
Regierung, die ſich nur durch die Gewalt der Bajo-
nette vor ihrem eignen Volke jchügen könne, höchſt
täglich bejtellt ei. Die Vereinigten Staaten waren
aber infolge ihres Induftriefyftems nicht mehr weit
von diefem Zuftand entfernt, und auf dem bejten
Wege, ein Militärjtaat zu werben.
„So war durch die Stonzentration des Beſitzes,
welche man jchon unmittelbar nad dem Bürgerfrieg
nicht ohme Sorge zu betradhten anfing, die Verfajlung
des amerikanischen Volkes im ganzen und großen
umgewandelt worden. Man braudt gar nicht näher
auf Einzelheiten einzugehen, um zu dieſer Ueber—
jeugung zu gelangen.
„Die Heere des Nordens waren einft im Bürger-
Trieg ausgezogen, um die Republif von ihren offenen
Gegnern zu befreien. Unterdeilen hatte ſich aber
ein viel gefährlicherer Feind, der daheim geblieben
war, unbemerkt in die Regierungsgemalt eingeichlichen.
Sie hatten die Kaftenherrfhaft der Stämme des
Südens niedergeworfen; im Norden war jedoch in—
zwiſchen die Klaſſenherrſchaft der Reichen ans Ruder
gekommen, die ihre Macht über Süden und Norden
gleichermaßen ausbreitete. In dem Beftreben, die
politijche Einheit der Nation aufrecht zu erhalten,
hatten die Voltsheere Ströme von Blut vergoſſen.
Die foziale Einheit aber, welche die Grundlage jeder
Republik bildet, war durd) den Beginn einer Klaſſen⸗
ipaltung zeritört worden, bei welcher die früher ge—
einigte Nation ſchließlich in feindliche Parteien zer
Bellamy.
fallen mußte, die einander beargwöhnten und nur
durch den eifernen Arm des Dejpotismus zufammen:
gehalten noch als ein politiiches Ganzes beftanden,
Vier Millionen Neger hatte man aus der Sklaverei
befreit, dem Wolf der Meißen jedoch ein Jod auf
erlegt, das es zur wirtichaftlichen und jozialen Knedt-
Ichaft verdammte. Dies war zwar das gemeiniam
208 ber europäiſchen Völker in der Alten Welt, aber
die Gründer der amerifanijhen Republik hatten
ſtolzen Mutes darauf vertraut, daß ihre Nachlommen
dies Geſchick niemals teilen würden.‘“
Der Doktor Schloß das Buch, nachdem er jo writ
gelefen hatte, und legte e8 aus der Hand,
„Julian,“ jagte er, „dieſe Schilderung bon der
Unterjohung der Republif durd die Piutofratie if
höchſt merfwürdig. Sie haben das alles miterlebt
und müfjen am beften beurteilen fönnen, ob die That:
fachen übertrieben find.“
„Im Gegenteil," erwiderte ich; „es war fall, al
läfen Sie mir das alles aus den damaligen Tage
blättern vor. Alle politifchen, fozialen und geſchäft⸗
lichen Vorlommniſſe, die der Verfaſſer erwähnt,
waren allgemein befannt und wurden öffentlich, ber
fproden. Wenn fie mir nicht denjelben Eindrud
machten wie jebt, fo fam das nur daher, daß nie
mand fie überfichtlih zufammenftellte, um und ihre
Bedeutung Har zu machen.”
Der Doktor lieh ſich jekt von Edith nod ein
andres Buch aus der Bibliothef holen. Er blätierte
darin, bis er die Stelle gefunden hatte, die er fuchtt,
und jagte dann:
„Damit Sie nicht glauben, daß der Eindrud
von Storiot® Schilderung der wirtſchaftlichen Zu:
ftände in den Wereinigten Staaten während des
letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durd
feine Darftellungsweife fünftlich hervorgerufen wird,
möchte ich Ihnen nur noch einige trodene, ftatiftiih:
Angaben über die wirkliche Güterverteilung im jener
Periode unterbreiten. Man erfieht daraus, bis auf
weldjen Grad die Konzentration des Befites bereit
gelangt war. Diefer Band enthält eine Sammlung
von Berichten über Vermögensabjhäkung, Steuer
veranſchlagung, Alten der Erbſchaftsgerichte und
andre öffentliche Urkunden. Ich will Ihnen dreierlei
Berechnungen vorlegen, die, alle von verſchiedenen
Behörden veranſtaltet, auf ganz voneinander ge
trennten Ermittlungen beruhen. Trotzdem ftimmen
fie mit folcher Genauigfeit überein, daß man ſich bei
einer jo umfangreichen Berechnung nur höchlich dariiber
verwundern fann. Jeder Zweifel an der Richtigkeit
der Reſultate wird dadurd völlig bejeitigt.
„Aus den eriten Tabellen, welche Auszüge der
Vermögensabſchätzung nad den ſtatiſtiſchen Zuſammen
ſtellungen der Vereinigten Staaten vom Jahre 18%
find, geht hervor, daß von den zmeinmdiedhzig
Gleichheit.
Billionen, die den Beſitzſtand der Republif bildeten,
zwölf Billionen oder etwa ein Fünftel Eigentum
einer Gruppe vielfacher Millionäre war, welche nur
drei Hundertjtel Prozent der Bevölkerung ausmachten.
Dreiunddreigig Billionen teilte die reiche und wohl—
habende Klaſſe unter fich, zu der aber feine Millionäre
zählten, und die nicht ganz neun Prozent des ameri—
taniſchen Volls betrug. Alfo: die Millionäre, die
Neihen und Wohljabenden — zujammen neun
Prozent der Nation — bejaßen fünfundvierzig Billio-
nen von den zweiundjechzig Billionen, auf die das
ganze Nationalvermögen gejchägt wurde. Der Reit
von einundneunzig Prozent der Gejamtbevölferung,
die großen Maſſen, galt für unbemittelt und teilte
die übrigen fiebzehn Billionen Dollars unter fic).
„Nach der Schätzung einer zweiten Lifte, die im
Jahre 1894 veröffentlicht und aus den Regiltern des
Nachlaßgerichts über den Landbejik im Staate New
York zufammengeftellt wurde, beſaß ein Prozent des
Volles — aljo der humdertite Teil der Nation —
mehr als die Hälfte, nämlich fünfundfünfzig Prozent,
des Geſamtvermögens. Ein zweiter Bruchteil der
Benölferung, die Wohlhabenden, etwa elf Prozent,
war im Belik von über zweiunddreißig Prozent
des nationalen Reichtums, von dem folglid nur
dreizehn Prozent übrig blieben, in die ſich der Reſt
von achtundachtzig Prozent der Nation teilen mußte.
Diefe achtundachtzig Prozent zerfielen in die Armen
und die Aermſten; letztere bildeten ungefähr fünfzig
Prozent, das heißt, die Hälfte der ganzen Nation,
und ihr Befig war jo gering, daß er bei der Schätzung
überhaupt nicht in Betracht kam; offenbar lebten fie
meift von der Hand in den Mund.
„Die dritte Zählung, die ih anführen möchte,
beruht auf ganz andern Daten, bezieht ſich aber auf
die nämliche Periode und ſtimmt merkwürdig gut
mit den beiden bereit8 erwähnten überein. Sie
wurde in den Jahren 1889 und 1891 veröffentlicht
Hiernad)
und erregte ebenfalls großes Aufjehen.
|
— — — — — — — — — — — — — — — — — —
1031
zerfällt die Nation in drei Klaſſen, nämlich: bie
Reichen, der Mittelftand und der Arbeiterftand. Den
Reihen — ein und vier Zehntel Prozent der Be-
völferung — werden jiebzig Prozent des Gejamt-
befies zugejchrichen. Der Mittelftand — neun und
zwei Zehntel Prozent der Bevölkerung — verfügt über
zwölf Prozent des Nationalvermögens. Die reiche und
die mittlere Klaſſe — zufammen zehn und ſechs Zehntel
Prozent der Bewohner — hat alſo zweiundachtzig
Prozent des Gejamtvermögens, und der Arbeiter-
ftand — neunundachtzig und vier Zehntel Prozent
der Nation — behält nur achtzehn Prozent von dem
Gejamtvermögen für fi) übrig.”
„Doktor,“ rief ih, „dab die Güter zu meiner
Zeit recht ungleich verteilt waren, wußte ich wohl,
aber ich hatte feine Ahnung davon, daß die Sachen
jo ſchlimm ftünden. Es wäre unnüß, wollten Sie
ſich noch weiter bemühen, um mir zu erflären, warum
das Volt fi gegen die Herrſchaft des Privat-
fapitaliamus empört hat. Wen diefe Zahlen nicht
zum Revolutionär maden, der müßte ja von Stein
fein.” .
„IH dachte mir gleih, dab Sie das fagen
würden,“ verjeßte der Doktor. „Vergeſſen Sie aud)
nicht, daß durch dieſe ungeheuerlihen Zahlen nur
der Fortichritt in der Konzentration des Beſitzes
innerhalb einer einzigen Generation dargeftellt wird.
Wohl mochten die Amerikaner zu einander jagen:
‚So man das thut am grünen Holz, was will am
dürren werden? Wenn der Privatlapitalismus in
einem Gemeinwejen, welches früher eine Art wirt
ichaftlicher Gleichheit bejejlen hatte, nur eines Zeit-
raumes von dreißig Jahren bedurfte, um der ganzen
Nation ihr Eigentum zu rauben und eine Heine
Minderzahl zu bereichern, was würde er wohl dem
Volke nad) hundert Jahren noch übrig gelafien haben ?
Was war denn überhaupt für die nächfte Generation
eigentlich noch) vorhanden ?*
(Fortfeßung folgt.)
Wie gebeiratet wird.
Fmile Zola.
Aus dem Franzöſiſchen überfeßt von B. C.
Im fiebzehnten Jahrhundert ift Amor in Fran:
rei ein vornehmer Herr in prächtigen Kleidern,
mit einem Federbuſch, der, von einer ernſten DMufit
angekündigt, durch die Salons ſchreitet. Er unter-
wirft fich einem jehr verwidelten Zeremoniell und
wagt feinen Schritt zu machen, ohne daß derjelbe
im voraus geregelt ward; im übrigen ift er ein Edel—
mann vom Scheitel bis zur Sohle, gemeſſen in
feiner Zärtlichkeit, ehrbar in jeiner freude. Im
achizehnten Jahrhundert ijt Amor ein aufgelnöpfter
Taugenichts. Er Tiebt, wie er lacht, um des Liebens |
und des Ladens willen, führt fi zum Frühſtück
eine Blonde, zum Mahl eine Braune zu Gemüte
und behandelt die frauen als Göttinnen, die die
Luſt mit offenen Händen unter alle ihre Berehrer
verteilen. Ein Haud von Wolluſt jtreift über die
ganze Gejellichaft, führt den Reigen der Hirtinnen
und Nymphen mit den entblößten, unter Spiken
erjchauernden Buſen; es ijt eine anbetungswürdige
Zeit, da die Sinnlichkeit Königin war, ein großes
Geniehen, deflen jerner Atem zugleich mit dem Duft
gelöften Haares nod warm zu uns herüberjchlägt. |
Im neunzehnten Jahrhundert ift Amor ein geießter
junger Menſch, forreft wie ein Notar, der Staatö«
papiere befißt, Er geht in Gejellichaft oder ver—
fauft irgend etwas im Hintergrunde eines Ladens; |
die Politit beichäftigt ihm, die Geſchäfte nehmen |
feinen ganzen Tag von neun Uhr morgens bis
ſechs Uhr abends in Anſpruch, und feine Nächte
widmet er der Praxis in der Liederlichfeit, entweder
einer Geliebten, die er bezahlt, oder einer legitimen
Gattin, die ihn bezahlt.
So ift alſo die heroijche Liche des fiebzehnten
Jahrhunderts, die finnliche Liebe des achtzehnten zur
pofitiven Liebe geworden, die man wie ein Geihäft |
auf der Börſe abmacht. Neulich Hörte ich einen
eine Maſchine zum Slindererzeugen erfunden babe.
Man maht ja Mafhinen zum Dreſchen des Ge
treides, zum Weben der Leinwand, um bei allen
Arbeiten die menſchlichen Muskeln durch Räder zu
erjegen; von dem Tage an, da eine Machine für bie
großen Arbeiter des Jahrhunderts, für jene, welde
jede Minute der modernen Thätigkeit ſchenlen, lieben
wird, werden fie Zeit erjparen und in den Kämpfen
des Lebens härter und männlicher fein. Seit der
furdtbaren Erjchütterung der Revolution haben die
Männer in Frankreich noch feine Muße gefunden,
an die rauen zu denfen. Unter Napoleon 1. Bit:
derten die Kanonen die Liebenden, ſich zu veritehen;
während der Reftauration und während der Juli:
monardie Hat ſich der Gejellichaft ein wütende
Bedürfnis nad) Reichtum bemächtigt, und jhlichlid
bat die Regierung Napoleons II. nur die Gelb
gelüfte jchwellen gemacht, ohne auch nur ein origineles
after, eine neue Schwelgerei herbeizuführen. Es if
auch noch) eine andre Urfache vorhanden: die Willen:
ichaft, der Dampf, die Eleftricität, alle Entdedungen
der lekten fünfzig Jahre. Man muß dem modernen
Mann nur jehen, wie er mit jeinen vielfachen Beihil-
tigungen, immer draußen lebend, verzehrt von der
Notwendigkeit, jein Vermögen zu bewahren und ju
vermehren, den Geiſt von den ſtets meuerftchenden
Problemen gefangen, die Sinne von den Strapayn
jeines täglihen Kampfes eingeichläfert, jelbit ein
bloßes Räderwerk in der in voller Arbeit befind-
lichen riejenhaften fozialen Maſchine geworden il,
Er hat Geliebte, jo wie man Pferde hat, um fih
Bewegung zu machen. Wenn er heiratet, jo geſchiehl
es, weil die Heirat eine Unternehmung if, wie jede
andre, und wenn er Sinder hat, jo fommt bas da:
her, weil jeine Gattin es wollte.
Die traurigen Heiraten von Heute haben ned
eine andre Urſache, bei der ich verweilen will, eb
ich zu den Beilpielen gelange, Diefe Urſache it
der tiefe Graben, den bei uns Erziehung und Unter:
richt von Kindheit auf zwiſchen den Knaben um
Mädchen aushöhlen. Ich nehme als Beijpiel die
Meine Marie und den feinen Pierre. Bis zu jed?
‚ oder jieben Jahren läßt man fie zuſammen jpiden,
Induftriellen darüber Hagen, dab man nod nicht |
ihre Mütter find Freundinnen, fie duzen ſich, ver-
jeßen einander geſchwiſterliche Klapſe, wälzen fie
ohne Scham in den Winkeln herum. Mit fieber
Jahren aber trennt die Gejellihaft fie und bemäd-
tigt fi ihrer. Pierre wird in ein Gymnaſium
eingejperrt, wo man alle Kräfte aufbietet, um jeinen
Schädel mit dem Reſumé aller menjchlichen Kent
niffe anzufüllen; jpäter tritt er in Spejzialſchulen
Wie geheiratet wird.
ein, wählt eine Saufbahn, wird ein Mann. Sid
jelbft überliefert, während diefer langen Lehrzeit des
Lebens mitten unter das Gute und Böſe losge—
laſſen, hat er die Gemeinheit geftreift, Schmerzen
und Freuden gefojtet, ſich Begriffe von Dingen
und Menichen gebildet. Marie im Gegenteil hat
die ganze Zeit in der Wohnung ihrer Mutter zu=
gebracht; man lehrte fie, was ein wohlerzogenes
junges Mädchen wilfen muß: gereinigte Litteratur
und Geſchichte, Geographie, Arithmetit, den Kate
chismus, und außerdem kann fie Klavier jpielen,
tanzen, mit zweifarbigem Stift Landſchaften zeichnen.
Marie kennt daher die Welt nicht, die fie mur durchs
Fenſter gejehen hat; ja, man hatte jogar das Fenſter
geſchloſſen, wenn das Leben zu lärmend durch bie
Straßen ging. Nie hat fie ſich allein auf das
Trottoir hinausgewagt; fie wurde jorgjam gleich einer
Treibhauspflanze bewacht, indem man ihr Luft und
Licht zuteilte umd fie fern von jeglicher Berührung
in einer künſtlichen Umgebung entwidelte. Nun
ftelle ic; mir vor, daß Marie und Pierre einander
zehn oder zwölf Jahre jpäter wieder gegenübertreten.
Sie find einander fremd geworden, die Begegnung
iſt voll Befangenheit, fie duzen einander nicht mehr,
foßen fi nicht mehr zum Spaß in den Zimmer-
eden herum. Grrötend fteht fie unruhig dem Un—
befannten gegenüber, das er mit ſich bringt, und er
fühlt, wenn fie unter fih find, den Strom bes
Lebens, die graujamen Wahrheiten, von denen er
nicht ganz laut zu jprechen wagt. Was könnten
fie einander auch jagen? Sie reden eine verjchiedene
Sprache, find nicht mehr Ähnliche Wefen. So bleiben
fie auf die alltäglichen landläufigen Gejpräcdhe be»
ſchränkt; eim jeder hält fi in Defenfive, faft wie
Feinde, und ſchon belügt eins das andre.
Gewiß will ich nicht behaupten, daß man unire
Söhne und Töchter miteinander aufwachſen laſſen ſoll
wie das Unkraut in unjern Gärten. Die Frage diefer
zweifadhen Erziehung ift für einen einfachen Beob—
achter zu ſchwierig. Ich begnüge mich, zu jagen, wie
8 ſteht: unſre Söhne willen alles, unſre Töchter
wiffen gar nichts. Einer meiner Freunde erzählte
mir oft von dem jeltfamen Gefühl, das er während
jeiner Jugend empfand, ala er merkte, daß feine
Schweftern ihm nad und nad fremd wurden. Jedes
Jahr, wenn er vom Gymnafium beimfam, fühlte er,
daß der Graben tiefer, die Kälte größer geworben
jei. Schließlich kam ein Tag, da er ihnen nichts
mehr zu jagen wußte, und nachdem er fie herzlich
umarmt hatte, blieb ihm michts weiter übrig als
jeinen Hut zu nehmen und zu gehen, Wie ſteht es
aljo in dem wichtigen Fall der Ehe? Dort treffen
die beiden Welten in einem unvermeidlichen Zufammen«
prall aufeinander, und ftet3 drobt der Stoß die Frau
oder den Mann zu zerbrechen. Pierre heiratet Marie,
Aus fremden Zungen. 1897, IL 22,
1033
ohne fie fennen zu Fönnen, ohne daß er ſich ihr zu
erfennen zu geben vermag; denn es ift nicht er=
laubt, eine gegenfeitige Probe zu verjuchen. Die
Familie der jungen Dame iit gewöhnlich glücklich,
fie endlich zu verforgen: Sie übergiebt fie dem
Bräutigam, indem fie ihn darauf aufmerffjam madjt,
daß man fie ihm in gutem Zuftand, intakt über-
giebt, wie eine Braut fein muß. Dept iſt es der
Gatte, der über ſeine Frau zu wachen hat. Nun wird
Marie jäh in die Liebe, ins Leben, in die jo lange
behüteten Geheimniffe hineingejchleudert; das Un—
befannte enthüllt fi ihr von einer Minute zur
andern. Die beiten Gattinnen behalten davon manch-
mal eine tiefe Erjchütterung zurüd; aber das
Schlimmſte ift, daß der Antagonismus der beiden
Erziehungen weiter dauert. Wenn der Ehemann
jeine frau nicht nad) jeiner Weiſe umbildet , wird
fie ihm mit ihren Weberzeugungen, der Richtung
ihrer Natur, der unheilbaren Einfalt ihrer Erziehung
erwig fremd bleiben. Welch ein ſeltſames Syitem
ift es, daß man die Menſchheit in zwei Lager teilt,
die Männer auf der einen, die Frauen auf der
andern Seite, um die beiden Lager, nahdem man
fie gegeneinander bewaffnet hat, zu vereinigen und
zu ihnen zu jagen: „Lebet in Frieden miteinander!”
Mit einem Wort, der Mann unſrer Zeit hat
feine Zeit, zu lieben, und er heiratet jeine Frau,
ohne fie zu fennen, ohne von ihr gefannt zu werden,
Das find die zwei untericheidenden Merkmale der
modernen Ehe. Ich vermeide e8, die gegebene That—
fache durch weiteres Spezifizieren zu verwideln, und
gehe zu den Beijpielen über,
I
Der Graf Marime de la Roche-Mablon ift
zweiunddreißig Jahre ‘alt und gehört einer der
älteften Familien von Anjou an; jein Vater war
Senator während des Kaiſerreichs, ohne, wie er jagt,
eine einzige feiner Tegitimiftifchen Ueberzeugungen
aufgegeben zu haben. Die la Roche-Mablons haben
übrigens während der Emigration fein Stüd Erde
verloren und werden nod) unter den großen Grund—
befigern Frankreichs angeführt, Was Maxime ber
trifft, jo hat er eine ſchöne Jugend verlebt, Dienfte
ala päpftlider Zuave genommen, iſt dann nad)
Paris zurüdgelehrt, wo er Pferde laufen lieh,
ipielte, Maitreſſen hatte, ſich duellierte, ohne ſich
ins Gerede bringen zu können, iſt ein großer, blon—
der junger Menſch, ein guter Reiter, von mittel«
mäßiger Intelligenz, ohne extreme Leidenidaften,
und denft jet daran, in die Diplomatie zu treten,
um ein Ende zu machen,
Der ftarte Geiſt der Roche-Mablons ift eine
Tante, die Baronin von Buſſiere, eine alte, unruhige
Dame, die ſich in der akademiſchen und politijchen
130
1034
Gefellichaft bewegt. Kaum vertraut ihr Marime
feine Pläne an, fo fchreit fie, daß er vor allem
heiraten müffe, denn die Heirat jei die Grundlage
jeder ernjlen Laufbahn. Marime bat gegen die
Ehe gar keinen ernftlichen Einwand zu erheben. Er
bat nicht daran gedacht, würde e& vorziehen, Jung«
gejelle zu bleiben, aber ſchließlich, da es abjolut
notwendig iſt, zu heiraten, um feinen Rang in der
Sefellichaft einzunehmen, wird er aud) dieje Förm—
lichkeit durchmachen wie jede andre, ber da er,
wie er lachend gefteht, gar feine Liebe im Herzen
trägt, müßt es ihm nichts, wenn er jein Gedächtnis
duchhftöbert: es fcheint ihm, daß alle junge Mäd—
hen, mit denen er in den Salon getanzt hat,
dasjelbe weiße Kleid und dasjelbe Lächeln haben.
Frau von Bufficre ift entzüct und nimmt alles auf ſich.
Am nächſten Tage erzählt ihm die Baronin von
Fräulein Henriette von Salneuve. Beträchtliches
Vermögen, alter normannifher Adel, auf beiden
Seiten vollftändige Konvenienz. Bejonderes Gewicht
legt fie auf die forrefte Seite dieſer Verbindung:
eine Partie, welche die Forderungen der Welt beijer
befriedigen würde, ließe ſich nicht finden; es wäre
eine jener Heiraten, die niemand in Erjiaunen ſetzen.
Maxime jcpüttelt mit wohlgefälliger Miene den Kopf.
In der That, all das fommt ihm jehr vernünftig
vor. Die Namen find einander gleih, das Ver—
mögen ebenfalls, und wenn er dabei beharrt, in die
Diplomatie eintreten zu wollen, ftellen ſich die Ver—
bindungen als jehr koftbar bar.
„Sie ift blond, glaub’ ich?“ fragt er zuleht.
„Nein, braun,“ antwortet die Baronin, „Das
heißt, ich weiß nicht mehr recht.“
Uebrigens liegt wenig daran, Sicher ift, daß
Henriette neunzehn Jahre alt if. Marime fommt
es vor, daß er mit ihr getanzt hat — vielleicht ift
es aber auch ihre jüngere Schwefter geweien. Von
ihrer Erziehung wird nicht geſprochen; das wäre
unnüß: fie ift von ihrer Mutter erzogen worden,
das genügt. Was ihren Charakter betrifft, jo Lönnte
davon gar nicht die Rede jein; niemand fennt ihn.
Frau von Buffiere behauptet, daß jie fie einmal
einen Chopinſchen Walzer mit ſehr viel Seele fpielen
gehört habe; im übrigen joll nod) jelbigen Abends in
einem neutralen Salon eine Begegnung ftattfinden.
Als Marime am Abend Fräulein von Salneuve
erblidt, ift er jehr überraſcht, das fie hübſch if. Er
tanzt mit ihr, macht ihr Komplimente über ihren
Fächer und erhält zum Dank ein Lächeln. Vier—
zehn Tage ſpäter wird der offizielle Antrag geitellt,
und der Ehevertrag vor dem Notar abgeichlofien.
Marime bat Henriette fünfmal gejehen. Sie ift
wirllich jehr hübſch, hat eine weiße Haut, eine runde
Taille und wird es verftehen, fich zu Heiden, jobald
— — — — — — — — — — — — — — — — ——— —
Emile Zola.
Mittlerweile ſcheint fie Muſik zu lieben, verabſchent
den Geruch von Moſchus und hat eine Freundin
gehabt, die Elaire hieß und tot if. Tas ift ale.
Marime findet übrigens, daß dies genügt: fie ift
eine Salneuve, er übernimmt fie aus der Hand
einer flrengen Mutter. Später werden fie Zeit
haben, einander fennen zu lernen, und mittlerweile
gedenft er ihrer ohne Mißfallen. Er ift nicht gerade
verliebt, aber es ift ihm durchaus nicht unlieb, daß jie
hübſch ift; denn wenn fie zufällig häßlich geweſen
wäre, hätte er fie offenbar ebenfalls geheiratet.
Acht Tage vor der Hochzeit jchlieht der junge
Graf mit feinem Junggejellenleben ab. Seine Geliebte
ift zurzeit die große Antonie, eine ehemalige Kunft:
reiterin, die diamantenbededt von Brafilien zurüd:
fehrte. Er erneuert jeine Einrichtung und bricht mit
ihr in aller Freundihaft, nad einem Souper, bei
dem auf fein eheliches Glüd getrunfen wird. Dann
bezahlt er die paar Echulden, die er haben fan,
entläßt feinen Kammerdiener, verbrennt unnüke
Briefe, läßt die Fenſter öffnen, damit fein Palais
gelüftet wird, und iſt nun bereit. Troßdem giebt
es ganz tief in feinem Innern einige Yebensftunden,
die er aufbewahrt, und er hält es für genügend,
dab er die Thüren feines Herzens für ewig hinter
ihnen geſchloſſen bat.
Die Notare der beiden Kamilien haben den Ehe
vertrag aufgejeßt; dieſe ganze niedrige Geldfrage ift
ihnen überlajlen worden. Nichts einfacher: das Zus
gebrachte der Gatten ift befannt, die Ehe ſoll nad dem
Dotaliyitem ftattfinden. Während der Berleiung
des Vertrags verhalten fi die beiden Familien
ftumm; dann unterjhreibt man ohne jede Bemerkung,
indem man einander lächelnd die Feder reicht, und
jpricht von etwas anderm — von einem Wohlthätig-
feitöfeft, das die Baronin ſich ausgedacht, von einer
Predigt, bei der Pater Dulac wirklich viel Geiſt
gezeigt hat.
Die ſtandesamtliche Trauung geht an einem
Montag vor ih, an einem Tage, an dem auf der
Mairie gewöhnlic Feine Hochzeiten ftattfinden. Die
Braut trägt ein jeher einfaches graues Seidenkleid,
der Bräutigam Ueberrod und helles Beinkleid. Reine
einzige Einladung ift ergangen; nur die Yamilie
und die vier Zeugen, hervorragende Perlönlichteiten,
find anmwejend. Während der Maire die Geſetzes
artifel verlieft, begegnen fi) die Blide Marimes und
Henrietteng, und jie lächeln einander zu. Wie bar:
bariſch ift dieje Sprache des Gejehes! Iſt die Ehe
wirflih etwas jo Schredliches? Eines nad) dem
andern jpricht daß feierliche „Ja“ ohne die geringiie
Bewegung aus, denn der Maire ijt ein beinabe
budligs Männden, dejjen kränkliche Ericheinung
jeder Majeftät entbehrtl. Die Baronin, in dumfler
fie einmal ihre Badfıfchkleiver wird abwerfen fönnen. ! Toilette, betrachtet den Saal durd ihr Lorgnon
Wie geheiratet wird.
und findet, daß das Geſeß eine recht ärmliche Be—
hauſung habe. Beim Verlaſſen der Mairie hinter
legen DMarime und Henriette je taufend Franken
für die Armen.
Aller Pomp, alle Thränen der Rührung wer:
den jedod) für die Firchliche Zeremonie vorbehalten.
Um nicht mit den gewöhnlichen Hochzeiten vermengt
zu werden, bat man eine Privatfirdhe, die Heine
Miffionskapelle, gewählt; das verleiht der Hochzeit
ſofort einen Duft höherer Frömmigkeit. Monfeigneur
Felibien, ein Biſchof aus dem Süden, ein ent-
fernter Nerwandter der Salneuves, ſoll den Bund
einjegnen. Als der große Tag erfcheint, erweiit fich
die Kapelle als zu fein; drei Nebenjtraken find von
Equipagen verjperrt; durch das Innere, durch das
Halbdunkel der Kirchenfenſter geht ein Raufchen von
reihen Stoffen, ein diäfretes Gemurmel. Ueberall
find Teppiche gelegt; vor dem Altar fliehen Fünf
Reihen Lehnftühle; der ganze Adel Frankreichs ift
da, zu Haufe bei jeinem Gott. Marime jedoch, in
tadellojer Kleidung, fieht ein wenig blaß aus. Hen«
riette erjcheint, ganz weiß, von einer Tüllwolke um—
geben; auch fie ift jehr bewegt, ihre Augen find rot,
fie hat geweint. Als Monſeigneur Fölibien die
Hände über ihre Häupter breitet, verharren beide
einige Sekunden in gebüdter Stellung, mit einer
Inbrunſt, die den beiten Eindrud madht. Dann
fpricht der Bijchof mit fingender Stimme von den
ehelichen Pilihten, und die Familienmitglieder
wilchen fi Thränen aus den Augen, insbejondere
Frau von Bulfiere, die eine jehr unglüdliche Ehe
führte. Dann endet die Zeremonie inmitten von
Weihrauchduft und der Pracht brennender Kerzen,
Es ift dies fein bürgerlicher Luxus, ſondern eine
höhere Vornehmbeit, welche die Reliaion zum Ge—
brauch hochgeborener Leute verfeinert. Bis zu den
legten, nad) der Unterzeichnung der Dokumente ge-
wechielten Händedrüden bleibt die Kirche ein Salon.
Am Abend Diner im Familienkreiſe, bei ge
ichloffenen Fenſtern und Thüren, und plößlich,
gegen Mitternacht, ala Henriette, das Gefidht der
Wand zugefehrt, in ihrem Ehebeit vor Froſt zittert,
fühlt fie, wie Marime einen Hub auf ihr Haar
drüdt. Er ijt geräufchlos Hinter den Eltern ein-
getreten. Sie Htöht einen Schrei aus, fleht ihn an,
fie allein zu laſſen; er lächelt und behandelt fie wie
ein Kind, das man beruhigen will, Er ift zu galant,
um nicht zuerft alle mögliche Schonung walten zu
lafien; aber er fennt die frauen, weiß, auf welche
Art man gegen fie vorgehen muß, bleibt alfo und
füßt ihr mit ſchmeichelnden Worten die Hände. Sie
hat nichts zu fürchten; ift er denn nicht ihr Gatte,
muß er nicht über ihr teures Leben wachen? Dann,
als fie immer mehr erfchridt und unter Schluchzen
nach ihrer Mutter zu rufen beginnt, glaubt er die
1035
Sade ein wenig brüsfieren zu müjjen, damit die
Situation nicht ind Lächerliche umſchlage. Uebrigens
bfeibt er Weltmann und entjinnt fich zu jehr ge
fegener Zeit an die Art und Weile, wie er es mit
der Kleinen Laurence von den Folies angefangen hat,
die nach einem Souper nichts von ihm willen wollte,
Henriette it viel beffer erzogen als Laurence: fie
kratzt ihn nicht, verfegt ihm keine Fußtritte; von
einem Furchtſchauer gejchüttelt wehrt jie ſich kaum und
gehört ihm, Sie weint, fie fiebert und wagt nicht mehr
die Augen aufzuſchlagen. Die ganze Nacht weint
fie und drüdt den Mund ins Kiffen, damit er es
nicht hört. Diefer Mann an ihrer Seite verurjacht
ihr Entſetzen und Widerwillen. Ach, wie ſchrecklich!
Warum bat man ihr nie davon erzählt? Sie hätte
gewiß nicht geheiratet. Daß ihre lange, frenge und
unwiſſende Jugendzeit zu dieſer brutalen Einweihung
führte, erjcheint ihr als cin unbeilbares Unglüd,
über das fie fich nie tröften wird.
Vierzehn Monate fpäter betritt der Graf nicht
mehr das Zimmer der Gräfin. Die Flitterwochen
dauerten drei Wochen; die Urſache des Bruches war
eine ſehr heille. Maxime, an die große Antonie
gewöhnt, wollte aus Henriette eine Geliebte machen,
und dieſe, eine falte Natur mit noch jchlummernden
Sinnen, wehrte ſich gegen gewiſſe Launen. Andrer—
ſeits entdedten fie gleich am zweiten Tage, daß fie
fidy niemals miteinander vertragen würden, Marime
befikt ein ſanguiniſches, heftige und jlarrfinniges
Temperament, Henriette eine große Schlaffheit, eine
lähmende Ruhe in ihrem Weſen, troßdem jie bei
der geringften Sade eine ähnlihe SHartnädigfeit
zeigt. Sie beſchuldigen daher einer den andern der
Ihwärzeften Bosheit, aber da Peute ihres Ranges
immer den Schein wahren müflen, leben fie auf jehr
böflihem Fuß miteinander. Jeden Morgen lajjen
fie ſich gegenfeitig nad ihrem Befinden erkundigen,
trennen jich abends mit einem zeremonidfen Gruß
und find einander fremder, als wenn fie Taufende
von Meilen voneinander wohnen würden, während
bloß ein Salon ihre Zimmer jcheidet.
Mittlerweile hat Marime ſich mit Antonie aus-
gejöhnt und auf die Idee, Diplomat zu werden,
gänzlich verzichte. Das war eine dumme bee.
Ein de la Rode-Mablon bat es nicht nötig, ſich in
diejer Zeit des demofratiichen Gejchreis in der Por
Titit zu fompromittieren. Was ihn mandmal, wenn
er die Baronin von Buſſière trifft, lächeln macht,
ift der Gedanke, daß er fih jo gänzlich unnützer—
weile vermäblt hat. Uebrigens bereut er es nicht:
Titel, Vermögen, alles ift da, Er läßt abermals
Pferde laufen, verbringt die Nächte im Klub und
führt das vornehme Leben eines Edelmannes aus
großem Geſchlechte.
Henriette bat ſich zuerft ſehr gelangweilt, dann
1036
ſehr lebhaft bie fyreiheit der Ehe geloftet. Sie läßt
zehnmal des Tages anipannen, beſucht die Kauf:
läden, ihre Freundinnen, genieht die Gejellichaft,
befibt alle Benefizien einer jungen Witwe. Bißher
bat die große Ruhe ihres Temperamentes fie vor
ernften Wehltritten bewahrt; das Höchfte war, daß
fie fich die Finger füllen ließ. Aber es giebt Stun—
den, da fie ſich für jehr dumm bält, und fie tft jo
weit, gelaffen mit ſich ſelbſt zu erörtern, ob fie ſich
nicht im nächſten Winter einen Geliebten nehmen Toll.
II.
Herr Jules Beaugrand iſt der Sohn des Ad—
volaten Beaugraud, des berühmten Redners auf
unſern politiſchen Verſammlungen. Antoine Beau—
grand, der Großvater, war ein friedlicher Bür—
ger don Anger, aus einer in der Provinz jehr
geihäßten Notarsfamilie. Er hatte am Notariat
feinen Geſchmack gefunden und verjehrte ruhig feine
Renten. Sein ältejter Sohn hingegen, der berühmte
Veaugrand, ein jehr thätiger und ehrgeiziger Menſch,
hatte fi ein jchönes Vermögen geihaffen. Was
Jules Beaugrand betrifft, jo befikt er die großen
Abſichten feines Vaters, die eitle Sucht nad einer
hohen Stellung, das Bedürfnis nad fürftlichem
Luxus. Leider ift er eben dreißig Jahre alt ge—
worden und beginnt, jich für mittelmäßig zu halten.
Anfangs träumie er von einem Mandat, von Tri-
bünenerfolgen, einem Minifterportefeuille bei der
eriten Regierungsfataftrophe; aber in dem Mlubzimmer
der jungen Advokaten, wo er fi in der Berediame
feit verjuchte, entdedte er an ſich ein unerträgliches
Zungengeitammel, eine Xrägheit in Ideen und
Worten, die ihm politiiche Triumphe unbedingt ver-
jagten. Später ſchwankte er einen Augenblid und
überlegte bei ſich, ob er ſich nicht auf die Induſtrie
werfen jolle; allein die Spezialſtudien erjchredten
ihn. Schließlich entjchied er fih ganz einfach für
eine Anmwaltsfanzlei, und fein Water, der nicht wußte,
wie er fich benehmen follte, kaufte ihm zu ſehr hohem
Preife eine der beften Kanzleien, deren leßter In—
haber ein paar Millionen verdient hatte.
Seit einem halben Jahr iſt Jules aljo Anwalt.
Die Kanzlei befindet ſich in einer büfteren Wohnung
in der Rue Sainte-Anne, aber er jelbit bewohnt ein
Palais in ber Rue d'Amſterdam, verbringt jeine
Abende in Geſellſchaft, ſammelt Gemälde und giebt
ih jo wenig wie möglich als Advokat. Troß-
dem findet er, dab die Sache langſam geht; es
fehlt ihm ein größerer Luxus in feiner Umgebung,
zum Beijpiel ein Diner wöchentlich für hervor—
tragende Perfönlichkeiten oder ein Jour am Diend-
tagabend, der alle politischen Freunde jeines Vaters
vereinigen würde. Er redet ſich jogar ein, daß ein
größerer Haushalt, Empfänge, fünf Pferde im Stall,
Emile Zola,
furz eine Vergrößerung feines ganzen Heims eimas
Vortrefflihes wäre, wodurch feine Kundſchaft ſich
verdoppeln würde.
„Heirate,“ jagt fein Vater, den er um Rat
fragt. „Eine Frau wird dir Leben und Glanz ins
Haus bringen. Nimm eine Neiche, denn unter
diejen Borausjegungen foftet eine Frau ſehr vie.
Halt, Fräulein Defoignes, die Tochter des Fabri—
fanten... jie befommt eine Million Mitgift. Das
paßt für dich.”
Jules beeilt ſich nicht, er läßt den Gedanken reifen,
Ohne Zweifel, eine Heirat würde feine Stellung
feitigen; aber das ift eine ernjte Sache, die nicht
jo leichthin abgejchloffen werden darf. Er ihäkt
alfo die Vermögen in feiner Umgebung ab. Sein
Vater mit feinem überlegenen Blid hatte redt:
Fräulein Marguerite Desvignes ift wirklich die
folidefte Partie. Nun zieht er genaue Erkundigungen
über die Profperität der Desvignesichen Fabrik ein,
bringt ſogar geihidt den Notar der Familie zum
Reden. In der That, der Bater giebt ihr eine
Million mit; vielleicht wird er jogar bis zu zwölj-
malhunderttauiend Franlen gehen. Wenn der Vater
zwölfmalhunderttaujend Franken giebt, jo ift Jule
entſchloſſen zu heiraten.
Drei Monate lang wird das Unternehmen Hug
geführt, und der berühmte Beaugrand ſpielt dabei
eine entjcheidende Rolle. Er ift es, der mit Dei-
vignes, einem feiner ehemaligen Kollegen in der fon
ftitwierenden Verſammlung, in Verbindung tritt; er
ift es, der ihn allmählich blendet und dahin treibt,
feine Tochter ſamt den zwölfmalhunderttaujend fran-
fen anzubieten.
„Ich Habe ihn in der Hand!” jagt er lachend
zu Jules. „Jetzt mache du ihr den Hof!”
Jules bat Marguerite als Kind gefannt; die
beiden Familien verbradten den Sommer auf dem
Sande, in der Nähe von Yyontainebleau, und waren
Nahbarn. Marguerite iſt bereits fünfundzwanzig
Jahre alt — aber, du lieber Gott, wie häßlich
fommt fie ihm vor, als er fie wiederfieht! Gewiß
fie ift nie ſchön geweſen; fie war früher ſchwarz
wie ein junger Maulwurf; aber fie ift beinahe
budlig geworden, und ein Auge ift größer al& da?
andre. Indes ift fie das liebenewürdigfte Mädchen
von der Weit, ſehr geiftreich, wie es heißt, und in
Bezug auf die Eigenihaften, die fie von einem
Manne fordert, außerordentlich anſpruchsvoll; ſie
bat die beſten Partien abgewiejen, wodurd ih er:
klärt, warum fie bei ihrer Million fo lange Mäbd-
hen geblieben ift. Als Jules fie nad) der erſten
Begegnung verläßt, erklärt er, daß fie ganz hübſch
ſei; fie kleidet fich entzüdend. jpricht über alles mü
prächtiger Zuverſicht und ſcheint die Frau zu fein,
die einen Salon zu führen verfteht, eine echtt
Wie geheiratet wird.
Pariſerin, der ihre Häßlichkeit einfach einen Stich von
Originalität verleiht. Und dann: ein Mädchen mit
zwölfmalfunderttaufend Franken darf fid) wirklich
geftatten, häßlich zu fein.
Fortan geht die Sache glattweg. Die Ver-
lobten find nicht Leute, die fi) bei unwichtigen
Dingen aufhalten; beide wijfen jehr gut, was für
einen Handel fie jchließen, und haben fih mit einem
Lächeln verftanden. Marguerite ift in einem arifto-
fratiichen Penfionat erzogen worden; fie hatte ihre
Mutter mit fieben Jahren verloren, und ihr Vater
fonnte nicht über ihre Erziehung wachen. So ift
fie bis zu ihrem fiebzehnten Jahre in der Penfion
geblieben, wo jie alles lernte, was ein reiches junges
Mädchen fönnen muß: Mufil, Tanzen, gute Manieren,
ſogar ein bißchen Grammatik, Gejchichte und Arith-
metit. Ihre Erziehung vollzog fid) jedoch vor allem
in der Gejellichaft ihrer Kameradinnen, der fleinen
Damen, die aus all den vornehmen Bierteln von
Paris zujammenfamen. In diefer engen Welt,
die das verfleinerte Abbild der ungeheuren Welt war,
zwiichen den vier Mauern des Garten®, in dem
ie aufwuchs, lernte fie von ihrem vierzehnten
Jahre ab die Süßigkeiten des Reichtums, den prak—
tiihen Geift des Jahrhunderts, die Macht der Frau,
alles fennen, was unfre vorgefchrittene Zivilifation
ausmacht. Wenn fie auch bei irgend einer haus—
wirtfchaftlichen Frage ſchwanlen mag, jo unterjcheidet
fe mit einem Blid alle nur denkbaren Spipen,
Ipricht über Moden wie eine große Schneiderin,
fennt die Schaufpielerinnen bei ihren Taufnamen,
wettet bei den Rennen und beurteilt die Pferde mit
tehnijchen Ausdrücken. Sie weiß aud nod andre
Dinge — in aller Ehrbarfeit übrigens; denn fie hat
jeit den acht Jahren, jeit fie das Penfionat verlaijen
bot, ein wahres Junggefellenleben geführt.
Mittlerweile ſchickt ihr Jules täglich einen Blumen
ftrauß für drei Louisdor, und wenn er fie befucht,
it er jehr galant gegen fie; aber das Geſpräch
ſchlägt raſch um: fie fehren ſtets zu ihrer bevor«
ftehenden häuslichen Einrichtung zurück. Außer ein
paar gebräuchlichen Komplimenten ſprechen fie von
nichts anderm als von Tapezierern,, Wagenbauern,
Lieferanten jeder Art. Marguerite hat fi endlich
entſchloſſen, Jules’ Werbung anzunehmen, denn er
erjcheint ihr genügend mittelmähig, und fie hat fich
im borigen Winter bei ihrem Vater zu jehr gelang»
weilt. Ihr erſter Liebesipaziergang bejteht darin,
daß fie dad Palais in der Rue d’Amfterdam be—
fihtigen. Sie findet es etwas klein, aber fie will
zwei Zwilchenwände abtragen und die Thüren ver-
ändern laſſen. Dann erörtert fie die Farbe der
Möbel, will willen, wo ihr Schlaizimmer liegen
wird, fleigt jogar in die Ställe hinunter, mit denen
fie zufrieden ift, und fehrt nod zweimal in das
1037
Palais zuräd, um dem Architekten ſelbſt Befehle zu
erteilen, Jules iſt entzüdt; er bat die Frau ge—
funden, die er brauchte.
Acht Tage vor der Trauung find beide Familien
mürbe. Der berühmte Beaugrand und der alte
Desvignes haben bereits drei Konferenzen mit den
Notaren gehabt und überwachen als mißtrauiſche
Leute, die ſich über die menſchliche Redlichleit Feine
Ylufionen machen, die geringfte Klauſel. Jules
jeinerjeit3 giebt fi) wegen der Brautgeſchenke un—
erhörte Mühe, Gegen alle Sitte hat Marguerite
ihn mit dem Lächeln eine verzogenen Kindes ge
beten, jelbft die Juwelen und Spiken ausſuchen zu
dürfen, und jo maden fie fih, blo von einer
armen Verwandten begleitet, auf, um die Kaufläden
zu durchftreifen und vom Morgen bis zum Mbend
Diamanten und Balenciennesipigen abzuſchätzen. Sie
gehen nicht wie ein naives Piebespaar mit ver—
ihlungenen Händen die Heden entlang; vor dem
Pult ſihend lächeln fie einander zu, indem fie fid)
mit den von den fojtbaren Steinen fühl gewordenen
Fingern Ringe und Broden reichen.
Endlich ift der Ehevertrag unterzeichnet. Während
ber Verlefung entfteht zwijchen dem berühmten Beau—
grand und Desvigned noch eine lehte Distuffion ;
aber Jules mengt ji ein, während Marguerite mit
großen, aufmerffamen Augen zuhört, wöllig bereit,
ihre Intereſſen zu verteidigen, jobald fie fie gefährdet
ſähe. Der Vertrag ift jehr verwidelt; er ſtellt die
Hälfte der Mitgift zur Verfügung des Gatten und
bildet aus ber andern Hälfte ein unveräußerliches
Gut, hinfichtlich dejjen Gütergemeinjchaft beftehen jo,
jedbod) unter der Bedingung, dab der Ehefrau eine
Summe von zwölftaufend Franken jährlich für ihre
Toilette zugeftanden werde, Der berühmte Beau—
grand, der Verfaſſer diejeg Meifterwerfes, ijt ent—
zückt, daß er feinen alten freund Desvignes „dran«
gekriegt” hat.
Höchſtens zehn Perfonen werden zur jtanbes-
amtlihen Trauung geladen. Der Maire ift ein
Better Jules’; er nimmt bei der Verleſung des Code
eine ernjte Miene an, aber faum hat er das Bud)
niedergelegt, jo beeilt er fi, wieder Weltmann zu
werden, macht den Damen Komplimente und befteht
darauf, den Zeugen, unter denen fich zwei Sena—
toren, ein Minifter und ein General befinden, felbit
die Feder zu reichen. Marguerite bat das ſakra—
mentale „Ja“ mit etwas lauter Stimme und erniter
Miene ausgeſprochen, denn fie fennt das Gejch.
Ale Anwejenden find ernft, als würden fie durch
ihre Gegenwart zum Abſchluß eines Gejchäftes ver-
helfen, das große Kapitalien verrüdt, Jeder der
Gatten binterläßt fünfzehnhundert Franken für bie
Urmen, und am Abend findet bei Desvignes ein
Diner ftatt, zu dem die Zeugen geladen wurden;
1038
bloß der Minifter konnte nicht fommen, was die
beiden Familien lebhaft ärgerte.
Die firdhliche Trauung findet in der Madeleine-
fire jlatt. Drei Tage früher gingen Jules und
fein Bater hin, um fich über den Preis zu einigen.
Sie verlangten allen nur möglichen Lurus und
machten gewiſſe Ziffern ftrittig: jo und jo viel für
die Meſſe am Hauptaltar, fo und fo viel für bie
Drgel, jo und fo viel für die Teppiche. Es wird
abgemacht, dab ein Teppich über die zwanzig Stufen,
bis zum Trottoir, gelegt werden joll; desgleichen
fommt man überein, daß die Orgel den Eintritt
des Auges mit einem Triumphmarſch begrüßen jolle.
Das koſtet fünfzig Franken mehr, wirb aber große
Wirkung mahen. Eintaufend Einladungen find
ausgegeben worden. Als die Wagen in einer langen,
forrelten Reihe anlangen, ift die Kirche bereits voll
von Männern im rad und Frauen in großer.
Toilette. Durd ein Wunder der Kotetterie ficht
Marguerite unter ihrem weißen Schleier und ihrem
Orangenblütenkfranz faft gar nicht mehr häßlich aus,
Jules ſchwillt vor Wichtigkeit, als er fieht, daß jo
viele Leute fich jeinetwegen in ihrer Ruhe geſtört haben.
Mittlerweile dröhnt Die Orgel, die Sänger haben
metallene Stimmen, die Jeremonie unter dem maje-
ftätiichen Gewölbe dauert faſt anderthalb Stunden.
Alles ift jehr ſchön. Dann beginnt in der Safriftei
ein endloſes Defilee; Belannte, geladene Gäjte, jelbit
Unbelannte fommen zu der einen Thür herein und
gehen zur andern hinaus, nachdem fie den Gatten
und den Mitgliedern der beiden Familien die Hand
gedrüdt haben. Dieje Förmlichkeit nimmt wieder
mehr als eine Stunde in Anſpruch. Es find jehr
viele Politifer, Advofaten, Rechtsanwälte, Grof-
induftrielle, Künſtler, Journaliſten anweiend, und
Jules jchüttelt beſonders herzlich die Hand eines
feinen, blaffen jungen Mannes, mit dem er ein
wenig befannt ift, und der für ein Boulevardblatt
ſchreibt, in dem er vielleicht eine Notiz über die
Hochzeit bringen wird.
Da weder die Beaugrands noch die Desvignes
einen Salon befigen, der groß genug wäre, um darin
das Mahl zu geben, wird im Hotel du Louvre ge
geffen und abends getanzt. Das Mahl ift mittel=
mäßig, der Ball im Feſtſaal des Hotels jehr glänzend.
Um Mitternadht trägt ein Wagen die Neuvermäblten
nad der Rue d'Amſterdam, und fie fcherzen während
des ganzen Weges, inmitten des nachtichwarzen
Paris, während an den Straßeneden weibliche
Schatten herumftreichen. Als Jules das Brautgemach
betritt, findet er Marguerite, einen Ellbogen auf
das Kiſſen aufgeftüßt, ruhig feiner harrend. Sie ift
ein wenig blaß, ihr Lächeln ift etwas befangen,
aber das ift alles, und die Ehe vollzieht ſich ganz
natürlich, wie etwas längjt Erwartetes,
Emile Zola,
Die Beaugrands find jeit zwei Jahren ver:
heiratet; fie haben nicht miteinander gebroden, aber
ein halbes Jahr lang vergeflen fie einander, Wenn
Jules don einer neuen Laune für jeine Ftau er
griffen wird, muß er ihr eine ganze Woche den Hoi
machen, ehe er in ihr Zimmer eingelaflen wird; am
bäufigfien geichieht es, daß er, um feine koflbare
Zeit zu jparen, feine Laune anderwärts befriedigt.
Er bat ja fo viele Geſchäfte! Er ift heute ein ſehr
thätiger Mann, begnügt ſich nicht mehr mit feiner
Ranzlei, fondern iſt bei mehreren Gejellichaften und
Ipielt jogar auf der Börſe. Sein Vergnügen beitcht
darin, Paris mit ſich zu beichäftigen, und die Zei-
tungen jchreiben ihm geiftvolle Ausſprüche zu. Hebrigens
ichlägt er feine Frau nicht und hat froß der Rat:
ſchläge feines Vaters noh fein Mittel gefunden,
die vom Ehevertrag feflgelegten jechamalhundert:
taujend Franken anzugreifen.
Marguerite ift eine reizende Frau; das junge
Mädchen hielt, was es verſprach. Sie hat das
Palais in der Rue d'Amſterdam zum Stelldichein
des Luxus und der Feſte gemacht, und die ganze.
tolle Verihwendung von Paris, Die Toiletten zu
taufend Ihalern, die an einem Abend zu Grmde
gehen, die Banknoten, die zufammengerolit werden,
um damit Kerzen anzuzünden, legen darüber den
Glanz außerordentlichen Reichtums. Vom Morgen
bis zum Abend rollen die Equipagen durch das Thor,
und in gewilfen Nächten hört das Stadtviertel bis
zur Morgendämmerung eine ferne Mufil, die das
gebämpfte Lachen der Tänzerinnen wiegt. Marguerite
ſtrahlt in ihrer Häßlichfeit; fie hat es jo eingericiet,
dab fie begehrenäwerter ift als eine hübſche rau;
fie ift mehr ala ſchön, Ärger als ſchön, wie fie ſelbſt
lachend jagt. Die zwölfmalhunderttaufend Franfen
ihrer Mitgift flammen wie ein Strohfeuer auf, und
wäre fie nicht fo intelligent, jo würde fie ihren
Dann in weniger als einem Jahr zu Grunde richten.
Man weiß, dab fie für ihre Toilette bloß tauſend
Franlen monatlich zur Verfügung hat; aber niemand
ift jo geſchmacklos, fich zu wundern, wenn man fieht, dab
fie in einem Monat auägiebt, was fie ein ganze:
Jahr bezieht. Jules ift entzüdt, denn feine andre
Frau würbe fein Haus auf dieſem Fuß erhalten
haben, und er ift ihr für alles, was fie thut, um den
Kreis ihrer Beziehungen zu erweitern, aufrichtig
dankbar. Im Augenblid benimmt ſich Marguerite
jehr töchterlich gegen einen der Senatoren, die bei
ihrer Hochzeit Zeugen waren, läßt fich hinter der
Thür auf die Schulter küſſen und in Paflillenſchächtel-
chen Rentenſcheine ſchenken.
III.
Luiſe Bodin hat ihr dreißigſtes Lebensjahr über⸗
ſchritten. Sie iſt eine große, weder ſchöne moch
Wie geheiratet wird.
häßliche Perſon, mit einem flachen Geſicht und
Wangen, die das Cdlibat kupfrig zu machen be—
ginnt. Ihr Vater iſt ein kleiner Krämer in
der Rue Saint-Jacques, der dort ſeit mehr ala
zwänzig Jahren in einem bdunfeln Laden etabliert
ift und noch nicht mehr ala zehntaufend Franken
beifeite legen konnte; zu dieſem Behufe durfte er
höchſtens zweimal die Woche Fleiſch eſſen, mußte
drei Jahre diejelben Kleider tragen und im Winter
die Schippen Kohle zählen, die in den Ofen ge—
worfen wurden. Seit zwanzig Jahren jteht Luiſe
binter dem Ladentiſch und fieht nichts andres als
die Fialer, die die Fußgänger beiprigen. Zweimal
war fie auf dem Lande, einmal in Vincennes, das
andre Mal in St. Denis. Menn fie fi unter die
Thüre ftellt, bemerft fie am unteren Ende der Straße
die Brüde, unter der der Fluß fließt. Uebrigens ijt
fie ein anftändiges Mädchen und wuchs in der Ach—
tung vor den Nähnadeln für einen Sou und dem
Zwirn für zwei Sons auf, die jie an die Arbeiterfrauen
des Viertels verlauft. Ihre Mutter jchidte fie in ein
fleines Penfionat in der Nachbarſchaft, nahm fie
aber mit zwölf Jahren wieder herauf, um fein
Ladenmädchen nehmen zu müflen. Luiſe kann leſen
und fchreiben, ohne in der Orthographie bejchlagen
zu fein; am beften fennt fie die vier Spezied, und
“jo, wie fie fie mit ihrer gemeſſenen Stimme herjagt,
ift fie für das Geſchäft gelehrt genug.
Indes hat ihr Vater erklärt, daß er ihr zwei—
taujend Franfen Mitgift geben wolle, Diejes Ver—
ſprechen verbreitete fih im Stadtviertel, und alle
Welt weiß, daß Fräulein Bodin zweitaufend Franken
mitbefommen wird. An Partien hat es daher nicht
gefehlt, aber Luiſe ift ein vernünftiges Mädchen;
fie jagt jehr beftimmt, dab fie nie einen Mann
heiraten werde, der nichts habe. Man thut fich nicht
zuſammen, um die Arme zu verjchränfen und ein-
ander anzujehen. Es können Kinder fommen, und
dann, wenn man alt wird, ift man recht froh, ein
Stüd Brot zu haben. Sie will aljo einen Gatten,
der mindeftens jo wie jie zweitaufend Franken befipt.
Dann können fie einen feinen Laden mieten und
ehrlich ihren Lebensunterhalt verdienen. Allein wenn
auch Gatten mit zweitaufend Franken nicht felten
find, jo fordern fie gewöhnlid rauen, die das
Doppelte oder Dreifache befigen. Aus diefem Grunde
ift Luife auf dem Wege, eine alte Jungfer zu werden.
Sie ift den Taugenichtjen, den Männern, die fich in
der Hoffnung, ihre Mitgift zu verfchlingen, um fie
drehten, aus dem Wege gegangen und will ja gern
ihres Geldes wegen geheiratet werden, da das Geld
eigentlich alles im Leben iſt — allein fie gedenkt einen
Gatten zu finden, der ebenfalls das Geld achtet.
Endli erzählt man der Familie Bodin von
einem jehr braven jungen Mann bon vortrefflichen
1039
Sitten, einem lihrenarbeiter, der mit feiner Mutter,
die von einer Heinen Rente lebt, in der Nachbar»
ihaft wohnt. frau Meunier hat dur Wunder
der Sparjamfeit die Summe von fünfzehnhundert
Franken beijeite gelegt, um ihrem Sohne das Hei—
raten zu erleichtern. Werander Meunier, ein Jahr
jünger al& Luiſe, ift ſehr Ichüchtern, jehr geeignet;
aber Luiſe jagt, als fie von den fünfzehnhundert
Franken hört, rund heraus, daß es nutzlos fei, die
Sache weiter zu betreiben: fie will zweitauſend
Franken haben, fie hat alles berechnet. Mittlerweile
treten die beiden Familien in Beziehungen zu ein=
ander; rau Meunier kommt jelbft dahin, eine
günftige Heirat für ihren Sohn zu wünſchen, und
ala fie hört, was für eine Summe Luije verlangt,
billigt fie diefen weifen Entſchluß des jungen Mäd—
hend und verſpricht, die zweitaufend Franken in
anderthalb Jahren komplett zu machen. Von da
ab ijt alles abgemadt. Die Familien leben auf
eng vertraulihem Fuß miteinander, die Sinder,
Alerander und Luije, warten ruhig, indem fie ſich
freundfhaftlid die Hände jchütteln. Jeden Abend
fommt man zujammen, und dann ſitzen fie hinterm
Laden, zu beiden Seiten des Tiſches, ohne Erröten,
ohne Ungeduld, jprechen über die Nachbarn, das
Glüd der einen, die jchlechte Aufführung oder das
Pech der andern. In den anderthalb Jahren wechjeln
fie fein Liebeswort miteinander. Luiſe hält Ale—
rander für ſehr chrenhaft, aber vielleicht ein wenig
charakterſchwach; denn fie hat gehört, wie er eines
Tages jagte, daß er nicht wage, zehn Franken zurüds
zufordern, die er vor ſechs Wochen einem Freunde
geliehen hatte. Alexander erklärt, daß Yuije fürs
Gejhäft geboren ift, was in feinem Munde ein
großes Kompliment bedeutet.
Zum beftimmten Tage, wie bei einem Wechjel,
hat Frau Meunier die zweitaujend Franken bei—
jammen. Seit anderthalb Jahren entzieht fie ſich
den Kaffee und knappt die Sous vom Efjen, der
Peleuhtung und Beheizung ub. Der Termin der
Hochzeit wird nun auf drei Monate jpäter feſtgeſetzt,
damit man Zeit zu den Vorbereitungen hat. Es
wird beſchloſſen, daß Alerander ſich in einem Heinen
Laden, der in bderjelben Aue Saint-Jacques entdedt
ward, als Uhrmacher etablieren ſoll. Es ift der
Laden einer Obfthändlerin, deren Geſchäft ſchlecht
ging, und vor allem handelt es ſich darum, ihn in
Stand zu ſetzen. Man begnügt ſich ſchließlich da—
mit, den Plafond zu weißen und die Malerei zu
tünchen, denn der Maler würde für dad Neumalen
deö Ganzen zweihundert Franken verlangen. Was
die Waren betrifft, jo werben fie zuerjt aus einigen
gewöhnlichen Schmudjadhen und einigen Dccafions-
uhren bejtehen. Alexander wird damit anfangen,
die Ihren im Stadtviertel zu reparieren, und nad)
1040
und nad, wenn fie befannt geworben find, werden
fie mit großer Ordnung dahin fommen, den ſchön—
ſten und reichhaltigiten Laden in der Straße zu
haben, Wenn alles berechnet, der Yaden bereit, die
Herrichtungsfoften bezahlt jein werben, bleiben ihnen
dreitaufend Franken, mit denen fie vorteilhafte Ein-
füufe abwarten fönnen. Dieſe Anordnungen be=
ichäftigen fie bis zum Vorabend der Hochzeit.
Als man vom Ehevertrag ſpricht, zuckt Luife
die Achjeln, und Alerander beginnt zu lachen, Ein
Ehevertrag foftet mindeftens zweihundert Franken.
Sie werden alles zujammenthun und dann alles
miteinander teilen: das iſt doch viel natürlicher.
Indes find fie entichloflen, alles zu thun, jo wie es
ih ziemt. Außer dem Trauring, einem Trau—
ring für fünfzehn Franken, jchentt Wlerander Luife
eine Uhrkette, und die Hochzeit jo in einem Re—
jtaurant in der Bannmeile, in St. Mandé, beim
„Blumenkorb“, ftattfinden; die Familie Bodin ers
Märt, die Koften des Mahles tragen zu wollen,
Die Hochzeit wird auf einen Sonnabend feite
gejegt, weil man derart den ganzen Sonntag zum
Ausruhen hat. Die Hochzeitsgeſellſchaft befteht aus
fünf Wagen, die für den ganzen Tag gemietet wur—
den, Wlerander hat jich einen Weberrod und ein
ſchwarzes Beinfleid machen laflen, Luiſe ihr weißes
Kleid jelbjt angefertigt und eine Tante ihr Kranz
und Strauß aus Orangenblüten gejchenft. Uebri—
gens haben fi alle Gäfte — beinahe zwanzig Per—
jonen — in Unkoften für die Toilette geftürzt: Die
Damen tragen roja, grüne und gelbe Seidenkleider,
die Herren Ueberröde, ein ehemaliger Möbelhändler
jogar einen Frack. Bor allem drehen ſich die Vor—
übergehenden nad den Brautjungfern um, zwei
großen, blonden Mädchen in weißen Mufjelinlleidern,
mit breiten, blauen Gürteln um den Yeib. Um elf
Uhr Bormittag ſeht jih der Zug in Bewegung und
begiebt ji nad) der Mairie, wo die Hochzeitägejell»
ſchaft den Trauungsſaal überflutet. Der Maire
läßt beinahe drei Viertelftunden auf fi warten.
Es ift ein dider Mann mit einer gelangmweilten Miene,
der die Gejehesartifel raſch abfertigt, indem er fort
während die Uhr ihm gegenüber anblidt; wahr:
ſcheinlich hat er irgend eine geihäftliche Zufammens
funft. Frau Bodin und Frau Meunier weinen ſehr
viel, Die Brautleute jpreden das „Ja“ aus, in—
dem jie dem Maire eine höfliche Verbeugung madıen.
Mittlerweile erlaubt ſich der ehemalige Möbelhändler
Wie, die die Herren zum Lachen bringen, Dann
befteigt die Hochzeitsgejellichaft wieder die Wagen,
fährt über den Pla und jteigt vor der Kirche wie—
der aud. Tags zuvor waren Alexander und Herr
Bodin dort, um die Zeremonie zu regeln, und
nahmen das Allereinſachſte, denn es ift nicht nötig,
die Pfaffen fett zu mahen; Herr Bodin, der ein
Emile Zola.
Freidenler ift, wollte jogar nicht, daß man in bie
Kirche gehe, und gab nur der Konvenienz wegen
nad. Der Priefter lieft raſch die Meſſe, eine ſtille
Meſſe am Altar der Jungfrau Maria; die An-
wejenden erheben ſich und laffen fi nieder, wenn
der Firchendiener ihnen ein Zeichen macht; bloß die
Frauen haben Mehbücher, in denen fie nicht leſen.
Die Brautleute find ernft und fehen gelangweilt
und zerftreut aus, als dädten fie an nichts. is
die Hochzeitägefellichaft endlich die Kirche verläkt,
ftößt alles einen Seufzer der Erleichterung aus. Et
iſt alfo vorüber; nun wird man ein bißchen laden
fönnen!
Gegen zwei Ihr langen die Wagen in St. Mande
an. Das Diner joll erjt um ſechs Uhr flattfinden;
man fährt alfo bis zum Wald von Vincennes, und
drei Stunden lang jpaziert alles wie am Sonntag
inmitten der Bäume umber; die Brautjungfern
laufen wie Schulmädchen herum, die Damen ſuchen
den Schatten auf, die Herren zünden ſich Zigarren
an. Da die ganze Hochzeitsgefellihaft vor Müdig-
feit umfällt, läßt man ſich ſchließlich inmitten einer
Lichtung nieder und bleibt dort fißen, um den Trom-
peten der nahen Feitung, den fcharfen Pfiffen der
vorüberfahrenden Lokomotiven, dem fernen Grollen
bes am Horizont ſichtbaren Paris zuzuhören.
Mittlerweile naht die Stunde des Diners, und
man fehrt ind Reftaurant zurüd. Der Tiſch ift in
einem großen, gleich einem Kaffeehaus von zehn
Gasbrennern erhellten Saal gededt; an den zwei
Enden der Tafel jtehen zwei große, künſtliche Sträuße,
deren Blumen vom häufigen Gebrauch verblaßt find.
Das Eſſen wird nun aufgetragen, während die Lönel
in den Suppentellern Happern, und allmählid er—
bien fich die Gäſte, herzen von einem Ende der
Tafel zum andern hinüber. Der Iuftigfte Augen»
blid des Abends ift der, ald ein junger Mann, ein
Modewarencommis, unter den Tiſch ſchlüpft und
das Strumpiband der Braut, eine Flut von Bän-
bern, losfnüpft, deifen Enden die Herren unter
ſich verteilen, um damit das Knopfloch zu ſchmücken.
Luiſe wollte, daß man ihr diejen klaſſiſchen Scher;
eripare; allein ihr Vater gab ihr zu verjtchen, daß
dies die Geſellſchaft betrüben würde, und jo fügte
fie fi mit ihrem gewöhnlichen, gefunden Menſchen—
verftand in dieſe Eitte. Alexander lacht jehr laut
und überfließt vor Freude, der Freude eines braven
Jungen, der ſich nicht oft amüfiert. Das Strumpf-
band hat übrigens jehr gewagte Scherze hervor
gerufen, und wenn einer gar zu arg iſt, verfteden
die Damen daß Geficht hinter der Serviette, um
nad Herzensluſt lachen zu Fönnen.
Es iſt neun Uhr, Die Kellner bitten die Hoch
zeitögejellichaft, einen Augenblid in ein Nebenzimmer
zu treten, entfernen indes raſch dem Tiſch, umd der
Wie geheiratet wird, 1041
große Speifefaal ift in einen Tanzjaal verwandelt,
Zwei Violinen, ein Waldhorn, eine Klarinette und
ein Kontrabaß werden auf einer Eftrade inftalliert,
der Ball beginnt, und die von den blauen Gürtel»
ichleifen gepeitjchten Kleider der Brautjungfern flat
tern die ganze Nacht inmitten der ſchwarzen Ueber—
röde von einem Saalende zum andern. Es ift
iehr heiß; die Damen öffnen die fyenfter und atmen
die friſche Luft von draußen ein. Auf Servier—
brettern werden Gläjer Johannigbeerfirup herums
gereicht. Gegen zwei Uhr ſucht man überall die
Braut; allein fie ift verſchwunden, mit ihrer Mutter
und dem Gatten nad) Paris zurüdgefahren, während
Herr Bodin zurüdgeblieben ift, um die Familie zu
vertreten umd die gute Laune der Gäſte aufrechtzu-
erhalten. Denn bi8 Tagesanbrucd muß getanzt werden.
In der Rue Saint-Facques angelangt, machen ſich
Frau Bodin und zwei andre Damen an die Nadıt«
toilette der Braut. Sie bringen fie zu Bette und
fangen dann alle drei zu weinen an, worauf Yuije,
die das verdrießt, fie wegſchickt, nachdem fie jelbft
ihnen Mut hat zufprechen müfjen. Sie ift jehr
ruhig, bloß müde, hat große Luft zu jchlafen, und
in der That, als der eingejhüchterte Alerander jein
Erſcheinen allzu jehr verzögert, ſchläft fie ſchließlich
auf ihrem Plage Hinten im Bette ein. Wlerander
lommt jedod auf den Fußſpihzen herein. Er bleibt
ftehen, betrachtet die Schlafende einen Augenblid
erleichtert, dann entfleidet er ji mit größter Vor—
ſicht und ſchlüpft, jede Erjchütterung des Bettes
vermeidend, unter die Dede. Er küßt fie nicht ein-
mal; das hat bis morgen früh Zeit — jie haben ja
Zeit genug, da fie fürs Leben verbunden find.
Und jo führen fie ein jehr glücliches Leben. Sie
haben das Glüd, feine Kinder zu belommen —
Kinder würden fie ſtören. Ihr Geſchäft gedeiht,
der Heine Laden wächſt, die Auslagefenjter füllen
fh mit Schmudjahen und Uhren. Luije ift der
Chef des Haufes. Sie fteht flundenlang am Laden-
tiſch, Tächelt die Kunden an, giebt außer Mode ge—
lommene Schmudjahen als Fabrikate von gejtern
aus und fieht des Abends, eine Feder hinter dem
Ohr, die Rechnungen dur; ſehr oft auch bringt
fie der Beftellungen wegen die Tage mit Laufereien
durch alle vier Winkel von Paris zu. Ihr ganzes
Leben verläuft in der bejtändigen Sorge um das
Geihäft; das Weib verjchwindet; nichts bleibt übrig
ala ein thätiger, jchlauer, geichlechtslojer Commis, der
die fire Idee hat, fih mit fünf bis ſechstauſend
Franken zurüdzuziehen, um fie in Suresnes in einer
Vila von der Form eines Schweizer Schlößchens
zu verzehren. Alexander ift daher vollftändig ruhig
und legt ein blindes Vertrauen in jeine Frau an
den Tag. Er beichäftigt fi bloß mit den Uhr—
macherarbeiten, der Reparatur der Tajchen- und
Aus fremden Zungen. 1897, IL 22.
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Wanduhren, und es iſt, als ſei das Haus ſelbſt eine
große Uhr, deren Pendel dieſe beiden für immer
geregelt haben. Sie werben nie wiſſen, ob fie ein—
ander geliebt haben; aber fie wiſſen bejtimmt, daß
fie ehrliche, auf Geld erpichte Compagnons find, die
weiter miteinander jchlafen, um ein doppeltes Waſchen
der Bettwäſche zu erjparen.
IV,
Valentin ift ein großer, ftarfer Burj von fünf—
undzwanzig Jahren, jeines Zeichens Tiſchler. Er
ward im richtigen Faubourg Saint-Antoine geboren,
und fein Vater wie jein Großvater waren Tiſchler.
Inmitten von Hobeljpänen wuchs er auf und fpielte
auf dem Trottoir des Baftilleplahes, rings um die
Julifäule, bis zu jeinem zehnten Jahr mit Klötzchen.
Jetzt jchläft er in der Rue de la Roquette, in einem
ärmlichen Logierhaus, wo er für zehn Franken
monatlich ein Loch unterm Dad) hat, gerade Platz
genug für ein Bett und einen Stuhl; dabei muß er
fi) noch, um ins Bett zu fteigen, büden, wenn er ſich
nicht den Kopf an der Zimmerdede zerhauen will,
Uebrigens ſcherzt er jelbft darüber. Er hält in feinen
Gemädern keine Empfänge ab, fommt um zehn Uhr
heim, um fid) ſchlafen zu legen, und jchüttelt Winter
und Sommer um fünf Uhr morgens feine Flöhe
aus. Nur wenn er eine Belanntihaft macht, jagt
er, daß ihn das ärgert, denn er wagt nicht, Damen
in jein Zimmer zu führen, Es iſt jo Hein, daß,
wenn zwei darin jchliefen, der eine ficherlich jeine
Beine auf der Treppe laſſen würde.
Ein braver Teufel, der Valentin! Er arbeitet
fleißig, weil er noch jung ift und an der Arbeit
freude hat; dabei ift er fein Trinfer, fein Spieler,
vielleicht nur ein bißchen Schürzenjäger. Die Weiber,
das ijt jein größter fehler! Wenn er des Mor-
gens feinen Hobel ſchlapp zieht, neden ihn die Ka—
meraden und rufen ihm zu, daß er Fräulein Life
getroffen hätte. Eine alte Flamme Valentins hieß
nämlich Life, und er pflegte an Tagen, da ihn Die
Faulheit padte, zu jagen: „Saframent, es geht
nicht; ich Hab’ geftern Life getroffen!“ In den
Tanzichenfen des Faubourg nennt man ihm den
ſchönen Tiſchler. Er hat einen diden, Iuftigen Kopf
mit fraufem Haar, und wenn er tanzt, jchiebt er
fih mandmal die Aermel feiner Bluje hinauf —
der Bequemlichkeit wegen, jagt er; in Wirklichkeit
aber, um feine ftarfen Arme zu zeigen, die weiß
find wie Frauenarme. Seine Eroberungen find daher
aud) befannt. Er hat die jhönjten Mädchen gehabt,
die große Nana, die Heine Auguftine, die dicke
Adele, die nur ein Auge bat, bis zur Bordelaiſe,
einer Brojchiererin, um derentwillen ſich zwei Sol—
daten umgebracht haben. Jeden Abend macht er
die Runde durch die Ballfäle und wirft einen Blid
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1042 Emile
dahin, einen Blick dorthin, bloß um zu fehen, ob
nicht in den Winkeln Mädchen fiken, die er fennt,
Eines Abends, als er in den „Floragarten”,
eine Schenke in der Rue de la Charonne, tritt, er-
blidt er Glemence, eine jechzehnjährige Blumen
maderin, und ihr jchönes blonde Haar kommt
ihm wie eine Sonne vor, die im Saale brennt.
Auf der Stelle ift er toll, und während bes ganzen
Abends fpielt er den Liebenswürdigen, tanzt mit der
Kleinen, zahlt ihr einen Vin à la frangaise, Als
Cloͤmence dann gegen elf Uhr heimgeht, begleitet er
jie und will natürlich zu ihr hinaufgehen; aber jie
weiſt ihn in beſtimmtem Ton ab, Sie bringt gern
einen Abend beim Tanz zu, aber weiter gebt es
nicht. Und fie macht ihm die Thür vor der Nafe
zu. Am nächften Tag zieht er Erkundigungen ein.
Elömence hat bereit3 einen Liebhaber gehabt, der
fie figen ließ, indem er ihr zwei Zinstermine auf
dem Halfe lieh. Da bat fie geihworen, fih an
dem eriten Manne zu rächen, der jo dumm wäre,
fi in ſie zu verlieben,
Indes pabt Valentin während der nächſten Tage
fie auf der Strafe ab, wagt ed, in ihre Wohnung
binaufzugehen, um ihr guten Morgen zu wünjchen,
verfolgt fie überall.
„Nun, wie ſteht's, auf Wieberjehen heut abend ?*
ruft er ihr lachend zu.
„Nein, nein, auf Wiederjehen morgen,” antwortet
fie jedoch mit fröhlicher Stimme.
Jeden Sonntag trifft er fie im „Floragarten“.
Da ſitzt fie neben der Mufiffapelle, nimmt jehr gern
den Vin ä la frangaise an, tanzt mit ihm, aber ſo—
wie er fie küſſen will, verjegt fie ihm einen Klaps,
und wenn er davon jpricht, daß fie ich zufammen«
ihun jollten, antwortet fie mit fehr vernünftiger
Miene, daß er unrecht habe, ſich das in den Kopf
zu jehen, daß fie nicht will, weil fie feine Luft dazu
habe. So ſcherzen fie ſechs Wochen lang und laden
dabei unaufhörlich.
Zu Ende des zweiten Monats wird Valentin
traurig. Er kann des Nachts in feinem Loch unterm
Dad nicht mehr jchlafen; er erftidt darin. Wenn
er mit weit offenen Augen baliegt, erblidt er im
Dunfeln das weiße Geſicht Glömencens, deren blondes
Haar mit feinem Sonnengefunfel leuchtet. Da padt
ihn das Fieber, bis Tagesanbruch wälzt er ſich mie
auf Kohlen herum, und am nächſten Morgen kann
er in der Werkſlätte nichts thun, ſtarrt ins Leere,
und die Werkzeuge fallen ihm aus der Hand, „Du
haft aljo Fräulein Lije getroffen?“ rufen ihm Die
Kameraden zu. Ach nein, er hat Fräulein Lije
nicht getroffen! Dreimal war er bei Glömence, fiel
vor ihr auf die Kniee und flehte fie an, ihm gut zu
jein; aber fie jagte nein, immer nein, jo daß er
wie ein Narr auf der Straße meinte. Er träumt
30la.
davon, vor ihrer Thür, auf dem Flur zu jchlafen;
denn es fommt ihm vor, daß ihm dort beſſer wer«
den wird, wenn er durch die Niken der Thür ihren
leichten Atem hören könnte. Die Sehnſucht nad
dieſem Meinen Mädchen, dem er wie einem Huhn
den Hals mit zwei Fingern umdrehen könnte, lüht
ihn nicht eſſen und nicht trinfen,
Endlich geht er eines Abends zu Elemence in
die Wohnung und erbietet ſich unvermittelt, fie zu
heiraten. Sie ift betroffen, willigt jedoch raſch ein;
fie jelbft liebt ihn ja von ganzem Herzen — fie bat
bloß gar jo geweint, al& der Erite fie verlief. So—
bald es fih darum Handelt, ſich für immer zu
jammenzuthun, iſt es ihr jehr recht.
Am nächſten Tage begeben fie fich auf die Mairie,
um ſich zu erkundigen. Die Länge der Förmlich
feiten macht fie bejtürzt: Glömence weiß nicht, wo
der Tolenſchein ihres Vaters zu finden iſt, Valentin
läuft von Amt zu Amt, um das Dofument zu er-
langen, das jeine Befreiung vom Militärdienft ber
ſcheinigt. Sie treffen einander jet jeden Tag, geben
auf den Wällen fpazieren und jchmaujen mit»
einander auf den vorſtädtiſchen Feſten. Abends,
wenn fie durch die langen Straßen der Vorflädte
heimgehen, ſprechen fie nichts, jondern drüden ein-
ander leife den Arm. Eine Freude jchmwellt ihr
Herz, von ber fie nicht zu reden willen. Einmal
fingt Elömence ihrem Valentin eine Romanze vor,
in der eine Dame auf einem Ballon und ein Prinz
vorlommen, der fie aufs Haar füßt; Valentin finde
das jo ſchön, daß ihm die Augen feucht werden.
Die Förmlichkeiten find erfüllt, die Trauung iſt
auf einen Sonnabend feftgejeßt worden. Es ſoll
eine ganz ftille Hochzeit werden. Valentin erlundigt
fid) in der Kirche, allein da der Priefter ſechs Franlen
von ihm verlangt, antwortet er, daß er jeine Meſſt
nicht brauche, und Glemence ruft, daß die Hochzeit
auf der Mairie die einzig richtige jei. Zuerſt wollen
fie gar feine Hochzeitsfeier veranftalten, aber dann
ftellen fie, damit es nicht ausjehe, als verliedten
fie fih, bei einem Meinhändler auf der Place du
Tröne ein Pidnid zu hundert Sous pro Kopf, ju-
fammen achtzehn Perſonen. Glemence joll drei ver:
heiratete yreundinnen mitbringen; Valentin hat eine
ganze Bande von Schreinern und Kunfitijchlern mit
ihren Damen angeworben. Die Zujammentunit
beim MWeinhändler fol um zwei Uhr ftattfinden,
denn es wird geplant, vor dem Mittageiien noch
einen Spaziergang zu maden.
Auf der Mairie erfcheinen Valentin und Ele
mence bloß in Begleitung ihrer Zeugen. Valentin
bat feinen Ueberrod von fyettfleden reinigen Lafien,
Elömence die drei lehzten Nächte damit zugebradt,
fi) ein altes, blaues Kleid herzurichten, das eine
Freundin, die größer ift als fie, ihr für zehn Franken
Wie geheiratet wird.
verfauft hat. Sie trägt einen mit roten Blumen
gepußten Hut und ift mit ihrem weißen Kinder—
geſichtchen, unter ihren loſen, blonden Löckchen jo
hübſch, dab der Maire jie väterlich anlächelt. Als
die Reihe des „Ja“ an fie fommt, fühlt fie, daß
Valentin ihr einen Stoß mit dem Ellbogen giebt,
und fängt zu laden an, Der ganze Saal, bis zu
den Amtsdienern, lacht mit; etwas wie ein Hauch
von Jugend ſtreiſt durch die vergilbten Blätter des
Geſetzbuchs. Dann, ala unterjchrieben werden fol,
laſſen die Zeugen es ſich angelegen fein; Balentin
zeichnet ein Kreuz, da er nicht Schreiben kann, Ele=
mence macht einen dicken Zintenfleds. Beim Ein-
jammeln für die Armen jpendet ein jeder zwei Sous;
bloß die Braut giebt, nachdem fie lange ihre Tajchen
durchſucht hat, Schließlich zehn Sous.
Um zwei Uhr findet ich die Geſellſchaft bei dem
Weinhändler auf der Place du Tröne ein. Von
dort macht man fid) auf den Weg, wandert auf die
Feſtungswerke und gebt gerade vor fih hin; dann
veranstalten die Männer eine Partie Blindefub im
Graben, Wenn einer der Tiſchler eine Dame er:
wiicht, hält er fie einen Augenblid feft und kneift
fie in die Hüften; die Dame jtöht leiſe Schreic
aus, jagt, das fei verboten: gefniffen dürfe nicht
werden. Die ganze Gejellihaft lacht laut und ftört
diefen einjamen Winfel durch einen ſolchen Lärm,
daß die erjchredten Spaben von den Bäumen längs
des Nundenganges auffliegen. Beim Rückweg müſſen
drei Kinder von ihren Vätern SHudepad getragen
werden, da fie nicht mehr laufen können.
Das hindert niemand, abends beim Diner
wütend dreinzuhauen. Ein jeder will für feine hundert
Sous eſſen. Man zahlt ja dafür; da lann man
doch den Zeller rein ejien, nicht wahr? Man muß
nur jehen, mit welcher Sorgfalt die Knochen gepußt
werden; nichts darf in die Küche zurüd. Valentin,
den die Kameraden zum Spaß betrunfen machen
wollen, giebt auf jein Glas acht, aber Elömence,
die gewöhnlich feinen puren Wein trinkt, iſt jehr
rot im Geſicht, ipricht wie eine Elfter und ftöht
Schreie aus wie ein Vogel. Alles ift jehr luſtig,
alles geht ſehr gut von flatten. Beim Nachtiſch
fängt das Singen an; ein jeder fagt fein Lied auf,
und drei Stunden lang herricht ein unaufhörliches
Gegirre von Couplets. Der eine fingt eine Romanze,
eine Geſchichte, in der Venedig und Gondeln vor-
tommen; die Spezialität eines andern find fomijche
Liedchen, und er erzählt die Mifjethaten des billigen
Weines, indem er beim Refrain einen Trunfenen
nachahmt; ein dritter ſtimmt ein ſchmutziges Scherz»
lied an, das die Damen unter lautem Gelächter
begleiten, indem fie mit den Mefjerfliugen auf die
Gläſer jhlagen. Als es jedod ans Zahlen geht,
giebt es Merger. Der Weinhändler rechnet Zu—
1043
gaben auf. Wie, Zugaben? Hundert Sous war
abgemacht; bei hundert Sous bleibt's, mehr nicht!
Us aber der Weinhändler droht, die Poliziiten zu
rufen, nimmt die Sache eine böfe Wendung; Fauſt⸗
ichläge werden gewedhjelt, und ein Zeil der Hochzeits-
| geſellſchaft muß die Nacht auf der Wache zubringen.
Die Brautleute find zum Glüd Hug genug geweſen,
glei zu Beginn des Streites zu entichlüpfen.
Es iſt vier Uhr morgens, als Balentin und
Glemence in das Zimmer der letzleren zurüdtchren.
Sie haben ſich entichloffen, es bis zum nächſten
Termin zu behalten. Bei leichtem, kaltem Wind,
den fie nicht ſpüren, jo raſch jchreiten fie aus, find
fie zu Fuß durch den ganzen Faubourg Saint-Antoine
gegangen, und faum hat fich die Thür geſchloſſen,
jo nimmt Valentin Glömence in feine Arme und bes
bet mit einer ungejlümen Leidenſchaft, die fie zum
Lachen bringt, ihr Geficht mit Küſſen. Sie hängt
ih an feinen Hals und küßt ihn ebenſalls aus
aller Macht, um ihm zu beweijen, daß fie ihn liebt,
Das Bett ift nicht einmal gemacht; fie hat jih am
Morgen jo geeilt, daß fie bloß die Dede darüber
breitete, Er Hilft ihr, die Matratze umkehren. Als
fie fich niederlegen, geht die Sonne auf. Der Zeifig
Elömencen®, deſſen Bauer beim Fenſter bängt,
zwitfchert jehr jüß, und es ift, ala ob in dem
arınjeligen Zimmer hinter den verblichenen Bettvor-
hängen Amor mit den Flügeln rauſche.
Alles wohl berechnet find Valentin und El&mence
mit dreiundawanzig Sous in die Ehe getreten. Am
Montag ehrt ein jeder von ihnen ruhig an feine
Arbeit zurüd, und die Tage verftreichen, das Leben
geht vorüber. Mit dreißig Jahren ift Elömence häß-
lich; ihr blondes Haar ift ſchmuhßiggelb geworden,
und die drei ſtinder, die fie jelbft genährt hat, haben
fie entjtellt. Valentin Hat jih ans Trinken gewöhnt,
fein Atem ift übelriechend, feine jhönen Arme find
vom Hobeln hart und mager geworden, An Löhnungs-
tagen, wenn ber Tiſchler betrunten, mit leeren Tajchen
heimtommt, prügelt fich das Ehepaar, während Die
Kinder heulen. Nach und nad gewöhnt ſich die
Frau daran, den Mann beim Weinhändler abzus
holen, und ſchließlich jet ſie ſich mit an den Tiſch,
um inmitten des Pfeifenrauchens ihr Teil an den
Litern Wein zu haben. Aber fie liebt ihren Mann
troß alledem, entſchuldigt ihn, wenn er ihr eine Obr-
feige verjeht, bleibt im übrigen eine ehrbare Frau;
man fann ihr nicht vorwerfen, daß fie es wie ge=
wiſſe Geſchöpfe mit dem erften beften hält, und in
diefem Leben voll Streit und Elend, in dieſer
ſchmutzigen Behauſung, in der es oft lein Feuer
und fein Brot giebt, in dem [augjamen Verfall der
Mirtichaft giebt es bis zum Tode Nächte, da hinter
den zerlumpten Bettvorhängen Amor jchmeichelnd
mit den Flügeln rauſcht.
— mb es
Hir Williams Frau.
Bon
iu, &, Lorris,
Aus dem Englifchen überfegt von Marie v. Schmid.
Der geräumige Kranlkenſaal jah ftrahlend, friſch
und heiter aus an jenem jonnigen Junimorgen, und
Schweſter Luiſe, die flinf die Reihen binabichritt
und den Inhabern der eifernen Bettftellen rechts
und links ein Lächeln zuwarf, worauf viele von ihnen
den müben Kopf erhoben und zurüdlächelten, ſah aleich»
falls ftrahlend, friſch und heiter aus. Sie hatte allen
Grund, heiter auszuſehen, da der heutige Tag, nad) |
welchem fie fich leidenschaftlich geiehnt, fie in falten-
reicher, ſchwarzer Tracht jah, die ſich Icharf von der
weißen Wand abhob, und der Hoipitaldienft, welchen die
Sabungen ihrer Religionsgejellichaft verlangten, fein
Ende erreicht hatte. Nichtsdeſtoweniger empfand fie
einiges Bedauern.
„Es ift jeltfam!” fagte fie zu ih. „Ich wußte, id;
würde dies Leben halfen, und in mander Hinficht
habe ich es gehaßt; doch jetzt thut es mir faſt leid
zu gehen. Ich glaube, man gewöhnt ſich ſchließlich
an alles und jedes.“
Ohne Zweifel thut man das, und an ſolchen Er—
fahrungen ift gar nichts Seltfames; aber der armen
Schweiter Luiſe, die eine Meine Alltagsnatur war,
muß man es verzeihen, wenn fie Ulltagsreflerionen
macht und dieſe für Entdedungen hält. Als das
einzige Find eines verwitweten Landpfarrers, der
num auch geftorben war und jie ohne genügendes
Austommen zurückgelaſſen hatte, hatte fie ſich einer
Schweſterſchaft für Krankenpflege angeſchloſſen, —
nicht, weil ſie den Beruf dazu fühlte, ſondern weil
mit einem Einlommen von insgeſamt fünfzig Pſund
Leib und Seele nicht zufammengehalten werden
fönnen, und weil der Himmel ihr ein Geficht,
das ein Vermögen aufgewogen hätte, verjagt hatte.
In der Folge war ihr offenes, freundliches Geficht«
hen oft von Thränen entjtellt worden, während das
nerböſe, empfindliche Temperament feiner Belikerin
mehr als einmal an die Grenze des Zuſammenbruchs
gebracht worden war; denn, fürwahr, die Pflege
Kranker und Verletzter ift feine jo hübſche Beſchäfti—
gung, wie fie Fernftehenden erfcheinen mag, und dies
jenigen, welche fie übernehmen, müflen gewöhnlich
ein ziemlich ernftes und hartes Noviziat durchmachen.
Aber zu diejer Zeit war Schwefter Luiſe mit ſich
und ihrem Berufe zufriedener, als fie jemalä er:
wartet hatte, Sie hatte gelernt, Wunden mit einer
Zartheit und Gewandtheit zu verbinden, welde ihr
einige Worte vorfichtigen Lobes eingebracht hatten;
jie hatte gelernt, ihre Patienten zu lieben; vor allem
aber hatte jie gelernt, ſich deren Gegenliebe zu er
werben.
So würde fie jeßt gern ihnen allen Lebewohl ge
fagt und eine fchnelle Geneiung gewünſcht haben,
wenn Seit dazu geweien wäre; aber e3 war feine
Zeit; denn Sir William Savill konnte jeden Augen:
blid erjcheinen, und unter den Dingen, wovor {hau
bernd in Schreden und Beftürzung zurüdzumeiden
diejes junge Mädchen verlernt hatte, war ſicherlich
nicht der Anblid des berühmten und gefürdteten
Wundarzies. Zudem war fie ſich wohl bewußt, daf
auc ihr Anblid in diefer Nonnentracht Sir Willen
nicht angenehm fein würde Er hatte fi der
Neuerung ſtark widerjegt, durch welche Glieder ihrer
Religionsgeſellſchaft im Hoipitale Fuß gefaßt heiten.
Er war in religiöjen Dingen ein notoriſcher Slep
tifer, und man jagte, ein ſchwarzes Gewand bringe
auf fein Temperament diefelbe Wirkung hervor wie
ein rotes Tuch auf dasjenige eines Stiered,. Mi
Operateur hatte er feinen Rivalen in England; aber
er hatte den Ruf, graufam zu fein, und allerdings
war feine Art und Weije raub und roh, beinabe
brutal. Schwefter Luiſe floh wie ein erichredies
Kaninchen bei dem Ton feines ſich nähernden ſchweren
Trittes; fie würde ſich auch jeht, al® jener Ton ibe
Ohr erreiht hatte, geflüchtet haben; nur gab «#
nirgends ein Loch, in welches fie fich hätte unter
duden können. Daher trat fie Hopfenden Herzen
zur Seite, um das Ungeheuer vorbeizulafien.
Wenn er fein Ungeheuer war von Gharafter, in
phyſiſcher Beziehung war er es jedenfalls, In feiner
ftattlichen Größe von ſechs Fuß drei Zoll, mit breiter
Bruft, ſtruppigem Haar und grauem Bart, trat tr
in den Saal, gefolgt von dem Aiffiftenten, der den
Infteumentenfaften trug, und von einer Wärterin in
' Hofpitalfleidung, nicht in der Tracht, welche die
Sir Williams Frau.
jitternde Schwefter Luiſe ſchmückte. Die lehtere zog
zu ihrem Schreden feine Aufmerffamfeit auf ſich, trotz
aller Anftrengungen , die fie machte, jehr Mein aus—
zufehen. Er ftand vor ihr ftill, richtete jeine grim—
migen Augen auf fie und fragte ſchroff:
„Wer jind Sie?“
„Schwefter Luiſe, Sir William,“ antwortete fie
janft.
„Schweſter — was? Das ift fein englifcher Name
und fein engliicher Titel. Warum, zum Xeufel,
fönnen Sie fi nicht Pflegerin Johanna nennen?
Nicht daß es darauf anfäme, wie Sie ſich nennen,
jolange Sie thun fünnen, was von Ihnen verlangt
wird. Schon einmal bei einer Operation ajfiftiert?”
„sh habe eine oder zwei gejehen, Sir William,”
antwortete Schweiter Luije, und ihr fanf das Herz;
denn fie wußte, was fommen würde, und, um die
Wahrheit zu jagen, fie war nicht ganz abgehärtet
der „Schredendfammer* gegenüber, wie fie ben Opes
rationsſaal im flillen nannte.
Der große Mann hielt eine furze Beratung mit
jeinem Kollegen ab und jagte dann: „Gut, Sie wer-
den jetzt bei einer ſchwierigen Operation zu affiftieren
baben, Wir haben Mangel an Hilfsfräften und
müſſen nehmen, was wir kriegen können.“
Er legte ihr feine ungeheure Hand auf die
Schulter und fügte mit etwas weniger herausfordern»
der, doch noch genügend ftrenger Betonung hinzu:
„Run, mein gutes Mädchen, machen Sie, bitte,
feinen Unfinn. Thun Sie genau, was Ihnen ges
jagt wird — Gie werden nichts zu thun geheißen
werden, was Sie nicht thun fünnen —, und denfen
Sie daran, daß, wenn Sie ſich ſchwach zeigen, Sie
einem Mitgefhöpf den Tod bringen können.“
Sie hielt es nicht für ſehr wahricheinlich, daß
fie ſich Schwach zeigen werde; denn fie hatte ja im
Grunde einige Erfahrung, was den Anblid häßlicher
Dinge betraf, und obgleich fie dergleichen fürchtete
und haßte, hatte doch bis jekt noch nichts vermod)t-
fie dazu zu bringen, daß jie den Kopf verlor. Aber
diefe Angelegenheit, welcher fie fich möglicherweiſe
durch den Einwand, dab ihre Zeit im Hofpital zu
Ende fei, hätte entziehen fünnen, wäre fie nicht zu
ängſtlich dazu geweſen, erwies ſich als ein langwieri«
ges und fchrediiches Geihäft. Der unglückliche Pa—
tient, welcher allerdings injoweit glüdlich zu preijen
war, dat ihm die Dienfte des glänzendſten aller
lebenden Operateure zur Verfügung ftanden, ohne
daß er etwas dafür zu bezahlen hatte, war durch die
Angft ganz außer ſich gebradht und bot einen Wibder-
ftand, der allein durch Gewaltmaßregeln überwunden
werden konnte; die Natur des Falles war derart, daß
Betäubungsmittel nicht angewendet werden fonnten,
und ein Auftritt folgte, deſſen ausführlide Schilde»
rung, wie man annehmen darf, niemand leſen möchte.
— — — — — — — — — — — — — —— — —
1045
Von den vier Perfonen, welche Zeuge davon
waren und daran teilnahmen, waren drei be-
wunbernde Enthufiaften, welche nur den erhabenen
Triumph der wiſſenſchaftlichen Gewandtheit jahen ;
die vierte, deren Herz von Jammer und Mitleid zer—
riffen wurde, empfand felber Todesqualen und fühlte
TH um zwanzig Jahre älter geworden, als alles vor«
über war, und ihr daß Zeichen für ihre Freilaſſung
gewährt wurde,
Sie hatte ihre Pflicht gethan ; fie hatte fich feinen
Vorwurf zugezogen; fie war weder in Ohnmacht ge=
fallen, noch war fie ermattet. Aber jebt, da fie allein
war indem langen, weißgetündhten Korridor draußen,
gaben ihre Nerven, denen zu viel zugemutet worden,
plöglich nad); fie fiel in voller Länge auf eine Bank
und brad in leidenihaftliches Weinen aus, Es jchien
ihr, wie es ihr ſchon ein- oder zweimal früher er
gangen war, daß das Leben faft zu ſchrecklich und
graufum jei, um ertragen zu werben; daß die Vor—
ftellung von einem barmberzigen und Liebenden
Schöpfer eines Geſchlechtes wie des unfern zu
jhwierig oder zu phantaftiich jei für den menſch—
lichen Geilt, und dab der Fluch, der auf den Erden»
bürgern liegt, ganz außer Verhältnis zu ihrer Schuld
ftehe. Wie unendlich viel beffer würde es für neun
unter zehn Sterblichen jein, wenn fie niemals ge—
boren worden wären!
Sie hatte feine Zeit, ihre Flucht ins Merk zu
jeßen oder auch nur ihre Thränen zu trodnen, bevor
die beiden Doktoren geräufchvoll in den Gang traten,
Sir William Savill blieb ftehen, um fie anzujehen,
und Hopfte ihr wohlwollend auf die Wange, Er
war in fehr guter Saune, wie er immer war nad)
einer glüdlichen Operation.
„Na nu, Maria Johanna oder Schwefter Luife,
oder wie immer Sie fich zu nennen für gut befinden,
was ſoll das alles heißen, he?“ ſagte er nicht un—
freundlih. „Sie find ein gutes eines Mädchen
geweſen und haben mitgeholfen, einen armen Teufel
vom Grabe zurüdzureiien — dabei ijt doch nichts
zu weinen, was? Sie lieben es nicht, Blut zu jehen,
und fieben es nicht, Leute Frei herausjchreien zu hören,
wenn fie verleht werden, jcheint mir. Du lieber
Himmel! Blut ift doch fein bißchen erfchütternder,
als Thränen es find, und ein Kerl, der unter dem
Meſſer fchreien fann wie der vorhin, ift ein glüde
licher Burſche, der eine Fülle von Lebenskraft in ſich
bat. Kommen Sie mit, und laſſen Sie fi) Riechſalz
geben. Sie werden in zehn Minuten wieder jo wohl
wie je jein, und unſer freund wird Luftiprünge
machen, ehe er ſechs Wochen älter ift.”
Schwefter Luife nahm die Unterfiüßung von Sir
Williams ftarlem Arm an — wer hatte ſich jemals
geweigert, Sir William Savill zu gehordhen? — und
wurde in jein Privatzimmer geführt, wo fie, wie er
1046
borausgejagt hatte, bald ihre Haltung wiederfand,
Er verließ fie auf eine Weile, und als er zurüdfehrte,
nidte er ihr mit einem beifälligen Lächeln zu.
„Kommen Sie! So iſt's beſſer,“ ſagte er. „Sie
werden mieder vernünftig, wie ich Sehe, und thun, wie
Sie geheißen werden. Jetzt habe ich eine Arbeit für
Eie heraudgefunden, die Jhnen zujagen wird. Ich
möchte Sie in das Haus einer leidenden Dame
bringen , welche abjolut fein organijches Leiden hat.
Allgemeine Schwäche, jagt man — Hyſterie vielleicht.
Nicht mein Fach, aber ganz das Yhrige, follte id
meinen. Kurz, id) brauche eine mitfühlende Frau,
welche feine Närrin ift, und ich nehme an, dab Sie
diefer Anforderung entfprechen. Nein, Sie brauchen
ſich nicht bei Ihrer Frau Oberin abzumelden; ich
habe alles das geordnet. Ich hörte von ihr, daß
Ihre Sachen ſchon gepadt ſeien; jo bleibt für mic
nur übrig, Sie nad) dem Portman Square zu fahren.*
Fünf Minuten fpäter jaß die nicht widerftrebende
Schweſter Luife in Sir William Savills Brougham
und plauderte mit ihrem Nachbarn mit einer Frei—
mütigfeit, die fie jelber in Eritaunen ſetzte.
Ja,“ jagte fie in Beantwortung einer feiner Be—
merfungen, die darauf berechnet waren, fie etwas
auszuhorhen. „Das ift es gerade, Ich liebe die
Krankenpflege und glaube einiges Geſchick dafür zu |
haben; aber Operationen kann ich nicht vertragen.
Mir ift dabei zu Mute,“ — fie hielt atemjchöpfend
inne und ſchloß dann mit leiſer, von Ehrfurcht er
griffener Stimme: „Mir ift dabei zu Mute, ala ob
es feinen Gott gäbe !*
„Es faun einen Gott geben, und es fann aud
fein, daß es feinen giebt," erwiderte der große
Chirurg; „es ift das eine von denjenigen Fragen,
in deren Beantwortung die größten Autoritäten von»
einander abweichen. Aber ich möchte jo weit gehen,
zu jagen, daß ich feinen Pfennig für eine Frau
geben würde, die feine Religion bat.
religiöfen Uebungen anbetrifft, jo ſpreche ih nicht
von denen; denn, um die Wahrheit zu jagen, fie
üben diejelbe Mirfung auf mich aus wie die Ope—
rationen auf Sie. In kurzen Worten: Ih bin ein
Mann, während Sie eine Frau find; das erflärt
alles, Lady Savill ift aud) eine Frau.“
Der letzte Punkt feiner Ausführung Mang ein
wenig überflüffig, und möglicherweife drüdte Schwefter
Luiſens Geſicht eine ftille Frage aus; denn Sir Wil⸗
liam beeilte ſich hinzuzufügen:
„O, id) glaube, ich habe zu jagen vergefien, dat
meine Frau Ihre Patientin jein ſoll, bis es ihr
befler geht. Meine Gattin ift nicht nur eine Frau,
fondern eine firhlide Frau; jo werden Sie es in
W. E. Norris.
Ihnen, dab Sie, wenn Sie das können, fie über:
zeugen, daß ihr Magen ganz geſund ift. Später
Lönnten Sie — wer weiß? — fie dazu überreden,
zu glauben, da fie einen Gatten hat, deſſen Bellen
ſchlimmer ift al8 fein Biß, und der es gut meint,
obgleich er nicht zur Kirche geht. Aber ich beftehe
nicht auf diejem lehteren Punkte,“
Der große raue Mann bellte nicht, noch bih er,
als der herrſchaftliche Wohnfik erreicht war, und er
Schweſter Luiſe in ein verdunfelte®, auserleſen
möbliertes Bouboir führte. Er trat auf den Fuß—
ipigen ein und fagte in freundlichen, fanften Tönen,
welche feiner von Sir Williams Patienten wieder:
erfannt haben würde:
„Meine Liebe, ich habe dir die befte Feine Pile-
gerin in London gebracht.“
Die Dame, welche auf einem Sofa lag, in einem
Anzug, der eine beträchtliche Summe Geldes gefoftet
haben muhte, erhob ihr ſchönes Haupt von den
Kiffen, auf welchen es geruht hatte, und jagte mit
einem Stoßfeufzer in mattem Tone:
„Welch ungewöhnliche Stunde für dein Er—
ſcheinen!“
„O, id bin gleich wieder fort!” antwortete ihr
Gatte mit der Miene eines, der ſich bewußt ift, ſich
entihuldigen zu müflen. „Ich bin nur anf einen
Augenblick zurüdgelommen, um dir unſre junge
Freundin hier vorzuftellen. Fühlſt du did — fühlſt
du dich etwas leichter ?* wagte er nach einer kurzen
Pauſe zu fragen.
„Dauke dir; es geht mir immer gleich, das heißt
ganz gut,” antwortete Lady Savill, ihrem Kopfe ae
ftattend, wieder zurüdzufinten, und die Augen weg:
wendend. „Nach deiner Anſicht geht es mir immer
gut, wie du weißt, Ich will dich nicht länger auf—⸗
halten; ich bin ficher, daß jemand auf dich wartet,
ı um in Stüde zerhadt zu werden.”
Was eure |
Thatjählih warteten mehrere Leute auf Eir
William, der fich ebenjo geräufchlos zurüdzjog, wie
er eingetreten war. Seine Stiefel knarrten nicht,
noch jchlug er die Thür zu; doc die Dame auf dem
Sofa hätte nicht mehr die Stirn runzeln und zu
jammenfahren fönnen, wenn fein Abgang ſich obne
die geringfte Rüdficht auf ihre empfindlichen Nerven
vollzogen hätte. Bis jebt hatte Schweſter Luiſe feinen
jehr günftigen Eindrud von ihr gewonnen; aber e
traf fih, daß Lady Savill einen günfligen Eindrud
von Schwefter Luiſe gewonnen hatte, und Yadu
Savill verftand es — wie jo mander Mann neben
Eir William auf feine Koften erfahren hatte —
Lady Savill verjtand es, unwiderſtehlich zu fein. In
der That, fie hatte zu dieſem Zwede hundert Mittel
beiden Punkten treffen. Ihre vorige Pilegerin, welche | zur Verfügung, und es gefiel ihr, eine$ davon der
ich aus dem Haufe jagen mußte, überzeugte fie da—
von, daß fie Magenkrebs habe. Ich wünſche von
Heinen Schweiter gegenüber anzuwenden, deren Hände
fie in die ihrigen nahm, und welche fie mit janfter
Sir Williams Frau,
Gewalt zwang, fih auf eine Fußbank neben dem
Sofa niederjulalien. Sie war eine Tiebliche, bleiche
Frau mit Haren, blauen Augen, fein gezeichneten
Brauen, bronzefarbenem Haar und einem gewinnens
den, rührenden Lächeln.
„Meine Liebe,” rief fie aus, „wie müde Sie auf»
iehen! Ich kann mit Ihnen fühlen; denn ich bin
Tag und Naht müde. Klingeln Sie, und beftellen
Sie ſich eine Taſſe Thee oder ſonſt etwas. Es jcheint
mir, dab ich damit anfangen muß, meine Pflegerin
zu pflegen!”
Es jah ihr nicht im mindeften ähnlich), dies zu
ihun, noch war e& jemals in Wahrheit ihre Art ges
wejen, ſich viel mit den Leiden andrer zu quälen.
Aber fie liebte es, auf ihren eignen zu verweilen,
und fie fuhr fort, jo hübich und geduldig davon zu
erzählen, daß fie bald das Herz eines Weſens ge—
wann, deſſen Temperament in jeder Hinficht von
dem ihrigen verjchieden war. Lady Savill war, was
der unerfahreniten aller Srankenpflegerinnen kaum
hätte entgehen fünnen, nicht wirklich franf; aber fie
war zart, und jie war unglüdlic, und ohne Zweifel
hatte fie dann und wann einen Anfall von Neuralgie.
Menſchen, die unglüdtich find, leiden oft an Nerven»
zufällen, und dieſe reizende fyrau, die faſt vom Schul»
jimmer weg an einen Mann verheiratet worden war,
der zweimal jo alt war wie fie (und nod dazu an
ſolch einen Mann!), Hatte ficherlich ein Recht, uns
glücklich und neuralgiſch zu jein. Ehe Schwefter Luiſe
an jenem Abend zu Bett ging, hatte jie Die Geſchichte
ihrer Patientin gehört — oder auf jeden Fall jo
viel davon, wie ihre Patientin ihr mitzuieilen für
angemeijen erachtet hatte — und hatte Thränen
darüber vergoffen. Es war ſo ſchrecklich traurig!
Und jelbft, wenn Sir William nicht beabfichtigte, ein
Barbar zu fein — was er, um ihm Gerechtigkeit
wiberfahren zu laſſen, jehr wahrjcheinlich nicht that
— lonnte man ſich leicht vergegenwärtigen, was für
ein beftändiges Fegefeuer es jein mußte, mit ihm
als jeine Gattin zu leben. Darüber indejjen hatte die
arme Lady Savill, welche mit Vorliebe die Kirche zu
bejuchen ſchien, und deren Schlafzimmer voll hübſch
eingebundener Heiner Andachtsbücher war, kaum ges
flagt. Das Schlimmfte, was fie von ihm gelagt
hatte, war, daß es fie manchmal ſchaudern mache,
fich für das ganze Leben an einen Schlächter gefeitet
zu haben.
Kun, man konnte es nicht leugnen, daß er ein
Schlädter war. Sein Handwerk war allerdings der
Gebraud des Meijers, und wenn das Leben ber
Leute davon abhängt, dab man das Meier in ihre
Leiber jentt, jo iſt es vielleicht am beften, ſchnell
und bejtimmt mit ihnen zu verfahren. Doch er hätte
ein wenig mitfühlender jein fönnen, dachte Schweiter
Luiſe; er hätte verſtehen können, daß nicht alle Welt
|
1047
mit feinen eifernen Nerven gefegnet war, und daß
das, was den einen nur ein ganz erträgfiher Schmerz
ift, für den andern faft unerträgliche Pein fein lann.
Sein gefeierter und fajhionabler Kollege, Sir James
Gurney, der täglich vorijprah, um Lady Savill zu
bejuchen, war ein praftiicher Arzt von weit feinerem
Empfinden. Sir James war voll Güte, Mitleid
und unermüdlich in Verordnungen. Seine Patientin
— das ift freilich wahr — wurde nicht geſund; aber
welcher Arzt kann gerechterweiie getabelt werden, wenn
es ihm nicht gelingt, einen Patienten zu furieren,
der feine bejtimmte Krankheit zum Kurieren hat?
„Es ift einer von jenen Fällen von Schwäche und
Niedergeſchlagenheit,“ jagte er zu Schweiter Luiſe
mit feiner angenehmen, harmonischen Stimme, „welche
mehr eine einfichtevolle Behandlung als Arzneien
erfordern, obgleich ich nicht jage, dab Arzneien ganz
nublos find. Es ift, wie Sie ſicherlich bemerft haben
werden, ein gut Zeil — jollen wir es geiltige Ab»
jpannung nennen? — dabei. Mit Ihrer janften
und taftvollen Geſellſchaft, mein liebes Fräulein,
werben wir bald, das glaube ich zuverſichtlich, in
jener Hinficht einige Bellerung erzielen; aber wir
dürfen nicht — wirflih nicht — unmittelbare Er—
folge erwarten. Das ijt es, was id dem armen
Sapill beizubringen mid; bemühe, der wie jo viele
Chirurgen geneigt ift, etwas ungeduldig und ſleptiſch
zu fein,”
Es war einige Tage, nachdem Schwejter Luije in
das Haus am Portman Square eingezogen war,
dab Sir James ihrer Sanftmut und ihrem Takt
diejen anmutigen Tribut zollte. Sie hatte miitler-
weile entdedt (oder e& war ihr vielmehr ziemlich
deutlich gejagt worden), daß Lady Savills unbefrie⸗
digender Gejundheitäzuftand faft gänzlich) ſeeliſcher Ber:
fünmerung zuzuſchreiben war; aber man fanı nicht
jagen, daß Sir Williams Ungeduld und Skeptizismus
ihr fichtbarer geworden wäre. Im Gegenteil, fie
hatte angefangen, den großen rauhen Dann zu be»
mitleiden, der, wenn er nichts andres verfiand, Far
genug zu verftehen ſchien, daß feinem Weibe, das er
augenscheinlich anbetete, jein Anblid allein verhaßt
war. Lady Savill wurde nicht oft von feinem Anz
blid beläftigt. Er war von morgens bis abends nicht
zu Haufe; er drängte ſich ihr nicht auf, wenn fie
erflärte, jie fühle jich zu frant, um eine Unterhaltung
zu führen, noch beflagte er ji, wenn fie abends das
Haus verlieh, um Diners und „Klatſchgeſellſchaften“
aufzujuchen, welche mit ihrer Gegenwart zu ſchmücken
fie ſich nicht zu krauk fühlte,
„Das ift alles ganz in der Ordnung jo, müflen
Sie willen,“ bemerkte Sir William zu Schweiter
Luife. „Die Hauptſache ift, fie in guter Stimmung zu
erhalten, und weun Gejelligfeit das bei ihr erreicht,
jo bin ich der Gejelligfeit jehr verpflichtet. Vielleicht
1048
verzeihen Sie mir, wenn ich ſage, daß — nad) meiner
Anſicht — Geſelligkeit heilfamer ift als Ohrenbeichte.“
Schweſter Luiſe, die zwar verſchwiegen war, aber
ſcharf beobachtete, antwortete nicht; aber im Laufe
der Zeit war ſie nicht mehr ſo ſicher, daß alles in
der Ordnung ſei, und ſie fing an zu argwöhnen,
daß Lady Savills anglifanifcher Veichtvater ein ges |
fälliger oder ein ziemlich beſchränkter Mann jein
müfle, Das war ein unjhidlicher und unwürdiger
Verdacht, der zu einem jo unſchuldigen Gemüte feinen
Zugang hätte finden follen, und die gute kleine
Schweiter wies ihn jeden Abend, wenn fie ihr Gebet
ſprach, mit geziemender Zerknirſchung zurüd. Nichts-
deftoweniger fehrte er mit uneingejchränfter Kraft
am folgenden Tage wieder — verftärft einerjeits
durch gewiſſe Umftände, und andrerjeits durch ver=
ſchiedene Andeutungen, die von Fady Savill$ eignen
Lippen fielen. Ihrer Ladyſchaft Andeutungen wiejen
far auf das Borhandenfein einer geheimen und
boffnungslojen Neigung ihrerjeits hin; der Umfland,
welcher die Deutung jener Winfe ergänzte, war
der, daß Schweiter Luiſe öfters um die befondere
Gefälligfeit gebeten wurde, die Briefe ihrer Lady»
haft zur Poft zu bringen. Nun, man mag die
argloje Tochter eines Landpfarrers und eine Kranlen⸗
ichwefter dazu fein, — was joll man wohl daraus
ſchließen, wenn unter verjchiedenen unintereſſant aus»
jehenden Schreiben fi immer ein dider Brief be—
findet, adrejfiert an „Captain the Hon. Frederick
Pomfret?* Schwejter Luife gelangte zu einem fo
beftimmten und jo durchaus vernunftgemäßen Schluß,
daß ſie fich verpflichtet fühlte, feiner gegen Lady
Savill zu erwähnen, welche fie damit überrajchte,
daß fie in Lachen ausbrach:
„Sie liebe, Heine Seele! Als ob ich nicht die
ganze Zeit mein Beſtes gethan hätte, um Ihnen zu
enthüllen, was Ihnen joeben zu entdeden gelungen
ift! Es ift wahr, e8 würde mir nicht bejonders lieb
jein, wenn die Dienftboten wüßten, daß ich mit Fred
forreipondiere ; aber abgejehen davon wünjchte ich
itet3, daß Sie davon wühten, fürdtete mich nur
halbwegs, es Ihnen zu jagen. Sehen Sie nidht jo
betroffen drein; es iſt feine Sünde, an ihn zu jchreis
ben — und wenn es ſelbſt eine wäre — aber nutür«
lich iſt es feine, und ich finde es ziemlich unfreundlich
von ihm, niemals zu fommen und mich zu bejuchen.
Es ijt ein jo jämmerliches und unbefriebigendes
Zujammenfein, das und in andrer Leute Haus zu
teil wird, wo wir faum ein paar Worte wechfeln
fönnen, ohne daß man uns hört.“
Schwefter Luiſe war eine von jenen jeltenen, beis
nahe unnatürlichen rauen, die e& niemals gelemt
baben, mit ihrem Gewiſſen einen Vergleich zu ſchließen.
Folglich blieb fie traurig und enttäuſcht, ſelbſt als jie
Lady Savill® rührende Heine Liebesgeſchichte angehört
W. © Norris,
hatte, obgleich fie nicht umhin fonnte, das ſchlichte
Pathos derfelben anzuerkennen. Der hübiche, aber
arme Garde-Dffizier; Die eben in die Gefellihaft
eingeführte, ſchöne, aber unglücklicherweiſe mitgiftloie
junge Dame; die Unmöglichkeit einer Verbindung;
der reiche Anbeter mittleren Alters, der fid) in einem
Augenblide vorgeftellt hatte, als feinerlei Ausſicht
auf Berwirflihung ihrer Hoffnungen mehr vorhanden
zu jein ſchien; die drängenden Eltern umd die nad»
folgende liebeleere Ehe — all diefer Stoff zu einer
häuslichen Tragödie ift nur zu alltäglich, aber er
ruft deswegen nicht minder da8 Mitleid weicher
Herzen an. Zugleich aber konnte Schweiter Life
es wirklich nicht für richtig halten, daß Kapitän
Pomfret ins Haus käme. Nod weniger konnte fie
da®, als verlautete, daß Sir William, der fid) im
ganzen der Sache gegenüber bis zu einem gewiſſen
Grade großmütig benommen, beftimmt hatte, daß
die Beziehungen feiner Frau zu dem jungen Herm
aufgören müßten,
„Es ift abjcheulich von ihm — und fieht ihm jo
ähnlich!” rief Lady Savill aus. „Sie willen, ob
gleich ich vermute, er thut's nicht, daß id; nicht im
Zraum daran bene, etwas wirklich Unrechtes zu ihun;
aber es jcheint mir doc, dak man, wenn man kein
Vertrauen findet, auch nicht verpflichtet ift, Befehlen
zu gehordden. Iſt es nicht zugejtandene Thatjade,
daß ein Gefangener vollfommen im Recht ift, wenn
er entflieht, jobald er fan?“
Das konnte Schwefter Luiſe nicht jagen, ſondern
fie antwortete unter dem Eindrude deſſen, daß fie
einmal von einem Gefangenen gehört hatte, der er:
ſchoſſen worden war, während er jeinen Fluchtverſuch
ins Werl jehte,
„Ah, das ift es ja eben! Ich bin gewiß, er
würde den armen Fred töten, wenn er ihn bier im
Haufe fände.“
„Dann follten Sie um Kapitän Pomfrets jelber
willen ihn nicht bitten, ins Haus zu fommen,“ er⸗
flärte Schweſter Luiſe.
„Aber wenn er nicht kommt, werde ich jelber
jterben!* rief die arme Kranle aus. Und bei dem
bloßen Gedanfen an eine jo jammerbolle Kataſtrophe
brad) fie in leidenfchaftliches Weinen aus, das jchlieh-
lih zu einem hyſteriſchen Anfall wurde.
Am folgenden Tage richtete Sir James Gurne
einen gemejlenen Verweis an Lady Savills Wärterin.
„Das geht nicht! Verzeihen Sie mir, wenn id
fage, daß ich Ihnen mehr gefunden Menjchenverftand
zugetraut hatte. Sie erzählt mir, da geftern eine
Erörterung zwijchen Ihnen flattgefunden bat, welcht
fie jehr außer ſich brachte, und Sie können jelber
jehen, daß wir den Grund verloren haben. Wirflid,
wirklich, mein liebes Fräulein, es darf feine Die
fujfionen mehr geben!*
— 7
Sir Williams Frau.
So geihah es, daß Schweiter Luijens feinem
Kompromik zugänglices Gewiſſen zu einer ſchweren
Bürde für fie wurde, und dab Lady Savill ohne
weitere Veranlaffung zu hyſteriſchen Zufällen erhielt,
was fie wünjchte. Man braucht faum zu jagen, daß
das, was Lady Savill wünſchte, eine treue und ber«
trauenswürdige Freundin war, welche freundlich
darein willigte, biäweilen für Kapitän Pomfret die
Hausthür zu Öffnen, anftatt dab der Portier dazu
aufgeboten wurde; aber Schwefter Yuije würde, jo
jehr fie ihrer Patientin zugethan war, e& ficherlich
nicht über ſich vermocht haben, dieſen ſehr zweifel—
haften Freundſchaftsalt zu leiſten, hätte fie nicht be—
ftimmt gefühlt, daß die Bejuche, welche ſich daraus
ergaben, verhältnismäßig harmloſer Natur waren.
63 war unrecht, ohne Zweifel, und e8 war betrüge-
nid, und fie mußte es infolgedeflen aufgeben, zur
Beichte zu gehen; dennoch hatte die Sade ihre be»
ruhigenden Seiten, von denen nicht die unmichtigite
Kapitän Pomfrets eigne Behandlung der Angelegen-
heit war. Der hübſche, fonnverbrannte, blonde
baarige junge Krieger ſprach nicht oft vor, und es
war augenjcheinlih, daß er überhaupt nicht gern
vorſprach.
„IH wünſchte, Sie blickten mich nicht jo vor—
wurf8voll an,“ jagte er eines Nachmittags zu Schwefter
Luiſe, mit welcher er gewöhnt war, auf der Treppe
ein paar verlegene Bemerkungen zu tauſchen. „Es
ift nicht alles meine Schuld, wie Sie willen. Wenn
die arme Marion nicht jo elend wäre, würde es
etwas andres jein, aber —*
„Sie haben fein Recht, fie Marion zu nennen,”
unterbrach ihn Schweſter Luiſe herb; „und ich glaube
nicht, daß Sie ein Recht haben, ji jo in Sir Wil-
liom Savilld Haus zu ſchleichen.“
„Schon gut; aber man hat nicht das Herz —
fommen Sie, Sie willen ja, daß Sie jelber nicht
das Herz haben! Das einzige, was ich befürchte,
ift, daß der alte Burjche fich eines ſchönen Tages
unerwartet zeigen und mic) hier finden wird. Dann,
vermute ich, würde ih ein Seziermejler im Leibe
baben, ehe ich bis drei zählen könnte.“
Schweſter Luiſe erwiderte, wenn ein joldes
Schickſal über Kapitän Pomfret fommen jollte, jo
würde er nicht mehr empfangen, als er verdient habe.
63 gewährte ihr einige Erleichterung, einen Delin-
quenten zu jchelten, der nicht mit Thränen und
Obnmachten antworten konnte, und es war eine
große Erleichterung für fie, zu bemerken, daß ber
junge Mann fi aufrichtig ſchämte. Der Schluß
der Londoner Saijon ftand in einigen Wochen bevor.
Sir William und Lady Savill würden bald während
der alljährlichen fyerien ins Ausland gehen, und fie
ſelbſt, jeßte fie voraus, würde dann abgerufen wer-
den, um andre Pflichten auf fich zu nehmen, Im
Uus fremden Zungen, 1897. IL. 22,
1049
übrigen wurde fie nit von der Vorftellung ſolch
eines Zujammentreffens wie das, auf welches Ka—
pitän Pomfret angeipielt hatte, gepeinigt, da jie jah,
daß Sir William niemals durch irgend einen Zufall
während des Nahmittags nah Haufe fam. Was
jie mit Summer und Gewiſſensbiſſen erfüllte, das
war der Gedanke, daß fie zur Hintergehung eines
Mannes hilfreihe Hand bot und Vorſchub leiſtete,
für welden ihre Zuneigung und Hodadtung ſich
vergrößerte, je mehr fie von ihm ſah.
Sie jah freilich nicht viel von ihm; aber er hatte
immer ein freundliches Begrüßungswort für fie, wenn
fie einander begegneten, und fammelte glühende Kohlen
auf ihr Haupt, indem er die offenbare Bellerung in
Fady Savilld Befinden ganz ihrer Hugen Behandlung
eines ſchwierigen Falles zuſchrieb. Vielleicht reipet-
tiert man einen Mann nicht gerade bejonders dafür,
daß er ſich anführen läßt; aber man lann ihn gern
haben, weil er zu ehrenhaft ift, um andre eines un-
ehrenhaften Betragens zu verdächtigen, und ed war
unmöglih, lange unter Sir William Savills Dad
zu leben, ohne jeine volltommene Selbjtverleugnung
anzuerfennen und zu bewundern. Sein Dajein war
das unaufhörlicher und befonders jchwieriger Arbeit ;
er nahm jeine Mahlzeiten, wann und wie er fie be«
fommen fonnte, nicht jelten eine oder zwei hinter«
einander auslaſſend. Seine Dienſte wurden, wie
Schweſter Luife bald entdedte, ebenjo bereitwillig
nichtzahlenden wie wohlhabenden Leidenden gewährt.
Wenn er riftlihe Dogmen verwarf, jo jchienen
jeine Handlungen von etwas der chriſtlichen Richt-
ſchnur jehr Aehnlichem geleitet zu werben.
„Laborare est orare,* bemerlte er eines Abends.
„Wenn an diefem Safe etwas Wahres ijt, dann
können Sie mid) an der Spitze ganzer Kongregationen
frommer Damen in das himmlische Königreich ein-
marjchieren jehen. Nicht, daß ic) begierig wäre, mir
mit den Ellbogen den Weg zur Front zu bahnen.
Ich neide euch nicht Die Freuden des Paradiejes, wo
wenig los jein wird für einen armen Chirurgen.
Ich werde mic für reichlid) belohnt halten, wenn
mir geilattet wird, mich Hinzulegen und für immer
jhhlafen zu gehen, wenn mein Werk gethan ift.*
Er jah müde und franf aus. Mehr ala durch
feine Worte wurde Schweiter Luiſe durch ein Etwas
in dem Zittern feiner Stimme berührt; ſchüchtern
jagte fie:
„Nur ſchlaſen! Das heißt nicht zu viel erbitten.
Ich habe auch gedacht, daß, wenn Sie nicht über
das Grab hinausbliden können, Sie die Empfindung
haben würden, daß Sie bier ein Recht auf etwas
Glück hätten.“
Sir William lachte. „Das haben Sie gedacht?
Wie ſteht's dann um die Pferde, die tagtäglich in
den Strafen bis zum Tode audgenußt werden und
132
1050
hungern müſſen? Wie um die Schafe und Ochſen,
die wir töten und zu Mittag eſſen? Ich will nicht
von den armen Teufeln in den Hofpitälern ſprechen,
weil ich vermute, daß Sie mir jagen werden,
ihrer warte Entjhädigung nad) diejem Leben; aber
es jcheint mir, je weniger wir in einer Welt wie
diejer von ‚Nechten‘ iprechen, je beſſer iſt es. Was
mich betrifft, ich beanipruche feine.”
Er war ficherlich berechtigt, einige zu beanſpruchen,
oder jedenfalls eines — fonnte Schweſter Luiſe
nicht umbin zu denfen. Sie ftußte und errötete, als
er, als ob er ihre Gedanken erraten babe, hinzufügte:
„Die Zumeigung derer, die man liebt? Yun,
die mag man jo lange beanjpruchen, bis man ſchwarz
wird; aber es entipricht nur der Vernunit, daß man
jie nicht erlangen fann, wenn jene fie nicht haben,
um fie einem zu jchenfen. Gin Mann könnte Ge
horſam beanspruchen — vielleiht — oder ehrliche
Handlungsweife oder Hunderterlei andres; aber «8
würde wirklich nicht der Mühe wert fein. Denn die
Wahrheit ift, daß man niemals verjuchen jollte,
etwas zu fordern, was man nicht erzwingen faun.
O, dieje Erde ift ein fchnurriger, ein famojer Meiner
Planet, meine liebe junge Freundin, und es wird
für uns alle ein trauriger Tag fein, wenn wir fie
verlaflen müſſen.“
Bon jenem Augenblide an war es fir Schweiter
Luiſe klarer als ein bloßer Verdacht, dab die Falſch—
beit, deren fie ſch jo jehr ſchämte, ihren Zweck ver—
fehlt habe, und dab Sir William fi in Bezug auf
feine Frau feinen Illuſtonen bingebe; er ſprach fein
zweites Mal in diefem Zone zu ihr, während Lady
Savill, nahdem jie von der obigen Unterredung
unterrichtet worden, auf einmal jo erregt wurde, daß
nicht daran zu denfen war, bei ihr auf Bekenntnis
und Buße zu dringen,
Etwa zehn Tage jpäter wurde Schwejter Luife,
die gerade ihrer Franken zugeredet hatte, ein jehr
jorgfältig zubereitetes und einladendes Meines Früh—
ſtück zu fich zu nehmen, benachrichtigt, daß Sir Wil-
liam wünjche, fie auf einige Minuten in feinem
Stubdierzimmer zu ſprechen. Es war die Stunde,
die für den Empfang von Patienten feſtgeſehzt war,
deren viele mit Beben darauf warteten, die Vers
fündigung ihres Urteil® zu hören; aber der große
Mann war allein und hatte augenjcheinlich etwas freie
Zeit zur Verfügung. Er war dabei, feinen Schreib-
tiſch zu verichließen, als Schweſter Yuije eintrat, und
er warf jetzt das Schlüfjelbund hin, indem er jagte:
„Wollen Sie jo gut fein, diefe Schlüffel unter
Ihre Obhut zu nehmen, bis fie gebraudht werden?
Sie werden die Geldfaffette in der oberſten Schub- |
lade finden. Ich weiß nie, wieviel Geld ich in Häns
den habe; aber es jollte genug da jein, um die |
laufenden Ausgaben zu bejireiten, und obgleich es
W. € Norris,
im höchſten Grade unwährſcheinlich ift, daß ic je
mals in dieſes Haus zurüdfehre, fönnen Sie e& mid
ja wiſſen laſſen, wenn Sie meiner bedürfen, um
einen Check unterzeichnen zu laſſen. Nun, was ftarrer
Sie mid) an?“
„SH — ich verftehe nicht,” flotterie Schweiler
Luiſe, welche am vorhergehenden Nachmittag Kapitän
Pomfret eingelaffen hatte, und welche fürchtete, daß
fie nur zu gut derfland, Sir Williams Antwort
war jedod) nicht, was fie erwartet hatte,
„Und Sie nennen fi eine Krantenpflegerin!
Nun jehen Sie mir, bitte, einen Augenblid in das
Geficht, und wenn Sie dann nicht verftehen, warum
ic im Begriff bin, diefen Nadmittag ins Holpital
zu gehen, jo müſſen Sie dümmer jein, ala ih an-
genommen babe,”
Cie fam feinem Anfuchen nad und wurde jäh
betroffen durch feine eigentümliche Bläffe, von wel-
cher er ohne Zweifel gemeint hatte, dab dieſe ihre
Aufmerkfamfeit wachrufen müſſe. Auch bemerkte jie,
dab jeine Wangen Hohl geworden und mit einer
Menge Heiner Runzeln bededt waren.
„Sie ſehen?“ ſagte Sir William, ziemlich grim:
mig lächelnd. „Ein Fall, an dem ich meinen Meifter
finde. Ich werde nicht geflatten, dab man mid
operiert; e& würde bloße Verſchwendung von Zeit
und Mühe fein. Dennoch, aus vielen Gründen,
thäte ich befjer, meinen alten Kadaver jeht nad) dem
Hofpital zu verſetzen; wir fönnen nicht zwei Jnvaliden
in einem Hauie haben. Sehen Sie deshalb nicht
jo traurig aus. Wie Sie ſich denken fönnen, habe
id) alles dies feit einer langen Zeit vorausgeſehen,
und ich bin ganz verjöhnt mit dem, was fommt.
Nur wünjche ich, dab Sie den wahren Stand meine:
Falles vor Lady Savill verbergen, die natürlich un
tröftlich fein würde, wenn ihr etwas aufdämmern
ſollte.“
Sprach er ironiſch? Es war unmöglich, eine
Antwort aus ſeinen Zügen zu entnehmen, die gar
nichts anzeigen, als entjchloffen unterbrüdten
Schmerz — phyſiſchen oder feelifchen. Aber Schwelter
Luiſe, deren Kraft der Selbftbeherrihung nicht der
jeinen gleichfam, und welche ſich Hingeriffen fühlte
von einem plößlichen Strom von Mitleid und Fer:
knirſchung, brach, ehe fie ihre Worte abwägen konnte,
weinend aus:
„D Sir William!
allein weggehen fallen !
ich thun ſoll!“
„Aber ich weiß es,“ ſagte er ruhig. „Sie wer:
den thun, wie Ihnen gejagt wird, ohne irgend wel»
hen unnötigen Lärm darüber zu jchlagen — als das
verftändige Mädchen, welches Sie find. Sie werden
Fady Savill erllären, daß ich eine ziemlich läſtige
Krankheit an mir entdedt habe, die mich zwingen
Ich kann Sie nicht jo ganı
Ich — id) weiß nicht, wa!
Sir Williams Frau,
wird, mich auf einige Wochen zurüdguziehen; Sie
werben fie freundlich befreien von den Sorgen de&
Haushalts, den ih — mie Sie wohl nicht willen
werden — biß jept in meinen eignen Händen ges
halten habe; endlich werden Sie aufhören zu weinen
— guter Gott, was ift da zu weinen? — und mic
verlafjen, damit ich den letzten Schub Patienten
unterſuchen kann, die jemald mein Konjultations-
zimmer noch betreten werben.“
„Aber, Sir William, ficher darf ich jeden Tag
im Hojpital nachfragen, wie es Ihnen geht?“
„D, das natürlih! Und jeden Tag wird Ihnen
geſagt werden, mein Befinden jchreite ganz jo zu—
friedenftellend fort, wie man erwarten fünne. rüber
oder jpäfer wird ein Tag fommen, da man Sie
bitten wird, bei mir vorzufprechen; aber bis dahin
wäre es mir lieber, wenn Sie mid) nicht jähen, weil
es in der Natur der Sache liegt, daß meine Er—
ſcheinung ſich nun ſchnell zum Schlimmeren verändern
wird, und ich wünjde, Ihre Aufgabe, Fady Savill
zu täuschen, nicht ſchwerer zu machen, als fie ohnehin
iſt. Die Aufgabe, fich zu verftellen, kommt Sie nicht |
jehr leicht an, nicht wahr?“
Er mochte etwas mehr gemeint haben, als er
jagte, und der juchende Blid, unter welhem Schweiter
Luiſens Augen ſich ſchuldbewußt jenkten, mochte alles
entdedt haben, was es zu entdeden gab. In jedem
Falle hatte er die Wirkung, fie jchleunig aus dem
Zimmer zu treiben.
Mas folgte, bewahrheitele Sir Williams Vor—
ausficht in jeder Beziehung. Lady Savill war nicht
im geringften beitürzt; die Botjchaften, welche jeden
Tag vom Hoipital aus zu ihr gelangten, waren be—
ruhigenden Charakter, und obgleich fie eine Zeit
lang murrte wegen ihres erzwungenen Zurüdbleibens
in London (welches Kapitän Pomfret verlafien hatte,
wie es jchien), hatte es gar feine Schwierigkeit,
irgend weldhe unbeſtimmte Bejorgnig, die fie möglicher»
weije wegen ihres Gatten hätte fühlen können, zu
beichwichtigen. Unbeſtimmt auch und erfolglos waren
die Appellationen, welche ihre Pilegerin ſich nicht
enthalten fonnte dann und wann an fie zu richten.
Schweſter Luiſe, welche ja beftimmt wußte, daß Sir
William ein fterbender Mann war, welder aber von
einer Autorität, der fie nicht ungehorſam zu fein
wagte, verboten worden war, zu enthüllen, was fie
wußte, hätte jo gern wenigſtens den Anſchein einer
Ausföhnung zwiichen zwei Menſchen zu ſtande ge—
bracht, die gut zu ihr geweſen waren; aber die Bes
Handlung dieſes verwidelten Falles war zu ſchwierig
für Sie.
„Was wollen Sie mir eigentlich jagen?* fragte
Lady Savill ungeduldig, „Natürlich thut es mir
feid, daß er tranf ift; jedermann, der franf ift, thut
mir leid, Aber es würde lächerlich fein, zu behaupten,
\ ihe, fie brauche nicht zu erichreden.
' jeßt feine Schmerzen — feine körperlichen, heist das.
1051
daß jeine Abwejenheit nicht vielmehr eine Erleichter
rung für mich ſei.“
Solch eine Tächerlihe Behauptung wurde aljo
nicht aufgeftellt, noch wurde irgend welche direfte
Verbindung mit dem fiehen Manne unterhalten,
bis endlich Schwefter Luije die Aufforderung erhielt,
auf welche fie vorbereitet worden war. Auf was fie
nicht ganz vorbereitet war, das war, fich nicht vor
einem dem Tode .erft Entgegengehenden, jondern
einem bereit3 im Sterben Liegenden zu finden. Als
fie in das Zimmer trat, wo Sir William lag, ver-
lief; dieſes gerade ein berühmter Vertreter feines Ber
rufe®, mit ernitem Gefiht und einem fchnellen,
fragenden Blid zu ihr hin. Im folgte eine der
Hoipitalwärterinnen, und dann fam von der ab-
gemagerten Geftalt auf dem Bett das ſchwache Echo
defien, was einige Wochen zuvor noch eine Hare,
Ichallende Stimme gewejen war.
„Schnellere Arbeit, als ich erwartete — nun, um
jo beifer! Nur wird meine ran ſich beeilen müſſen,
| werm fie mich noch lebendig wieberjehen joll, — und
ich würde ihr gern Yebewohl jagen. Sagen Sie
Nein, ich habe
Was Sie betrifft, jo habe id) Ihnen zu danten für
alle Ihre Güte gegen und beide — und — und id)
habe Ihnen in meinem legten Willen eine Kleinig«
feit binterlajien, wie Sie finden werden,“
Er hielt, nah Atem ringend, inne, während
Schweſter Luiſe an der Seite feines Bettes auf ihre
Kniee niederfant. Die meiften Menſchen würden ges
dacht haben, es fei faum der Mühe wert, bes armen
Mannes Gemüt in diejem ernjten Augenblide nicht
zu beunrubigen; aber fie war in einer etwas ftrengen
Schule erzogen worden, hatte auch vielleicht eine Ein-
gebung, dal; er vorziehen würde, die Wahrheit zu
hören — in jedem Falle plaßte fie mit ihren Em—
pfindungen heraus,
„DO Eir William, id kann fein Legat nehmen!
Ic bin nicht gut zu Ihnen geweien. Ich habe Sie
getäufht — und Ihre Frau Hat es ebenjo gethan.
Sie hat Kapitän Pomfret: bei fich gefeben, und ich
habe ihn in das Haus eingelaſſen. Ich bitte nicht,
daß Sie mir vergeben! Ich bitte nur und flehe Sie
an, ihr zu vergeben! Vielleiht — wenn Sie daran
denen wollen — hat fie auch etwas zu vergeben,
und —“
„Sie Närrchen!“ unterbrad fie der jterbende
Mann mit dem Schatten eines Lächelns. „Sie haben
mich niemals nur einen Hugenblid getäufcht. Wenn
ich noch ein Leben vor mir gehabt hätte, würde ich
diefem Treiben jeit langem haben, Einhalt gebieten
müſſen; aber da ich wußte, dab ich dem Tode ent—
gegenging, hielt ich den Mund. Ich tadle niemand,
und — nun, da ich im Regriff bin, den Schauplaß
zu verlaflen — nehme ich an, daß auch mid) niemand
tabeln wird. Unſinn mit dem Heinen Legat! Wenn
Sie es nicht annehmen , werde ih Sie ald Geſpenſt
heimfuchen. Ich möchte jagen, Sie thäten am beiten
daran, bei der Krankenpflege zu bleiben, — wenn
Sie nicht heiraten; aber die Heirat ifl ein gejähr«
liches Experiment. Ich kann nicht mehr reden. Gehen
Sie, fo Schnell Sie lönnen, und bringen Sie lady Sapill
mit zurüd hierher, Denfen Sie daran, ihr zu jagen,
daß ich um alles weiß, und daß fie nicht erichreden
ſoll.“
Aber Lady Savill war entſetzlich erſchrocken.
Thränen, hyſteriſche Anwandlungen, Proteſte unter
Berufung auf ihre phyſiſche Unfähigkeit, aufzuſtehen
und ſich anfleiden zu lafien, waren zu befämpfen ;
foftbare Stunden wurden mit fruchtloſen An—
ftrengungen vergeudet, ihren Mut bis zu ber er—
forderlichen Höhe emporzufchrauben, und als Schweiter
Luiſe in Verzweiflung zu dem Hoſpitale zurüdilog,
um zu fragen, ob nicht ein weiterer Aufſchub gewährt
werben könne, traf fie an der Thür mit der Nach—
richt zufammen, daß alles vorüber jei. Wenn Sir
William feiner Frau irgend etwas Wichtiges zu ſagen
gehabt hatte, jo mußte fie jeht für immer in Un-
fenntnis deſſen bleiben.
Rad) einem gewifien Alter hört für die Mehrzahl
von uns die meunſchliche Natur auf, fi von allem
möglichen in Erftaunen jehen zu laſſen; aber
Schweſter Luiſe hatte erft ungefähr zwanzig Jahre
in einer Welt gelebt, von der fie jo gut wie nichts
gejehen hatte, jo dab fie ebenjofehr erftaunt wie
entjeßt war über die unbeftimmten und gänzlid) über«
flüffigen, vorfihtigen Bemerkungen, mit welchen Lady
Sapill die Todesnachricht aufnahm.
„Er gab Ihnen jeine Schlüffel, nicht wahr?
Lafjen Sie uns um des Himmels willen fofort gehen
und nachjehen, ob ein Zeitament da ift! Er ift im
ftande und bat mir einen graufamen Streid) ge—
ſpielt!“
Die Frau erleichterte ſich mit ſolchen Ausrufen,
durch welche ſie die Achtung eines freilich nicht ſehr
wichtigen Mitgeſchöpfes ſtetig mehr verlor. Es iſt
wahr, fie ließ ſich herab, beſchämt zu ſein und nach—
träglich Entſchuldigumgen vorzubringen, als es ſich
erwies, daß Sir William ihr keinerlei grauſame
Streiche geſpielt hatte, daß fie unbeftrittene Herrin
eines großen Vermögens war, und dab es ihr frei—
ftand, fi), jobald e8 ihr gefallen würde, wieder zu
verheiraten. Manche Menſchen find zu gerader
Natur, um liebreich zu fein, und zu beichräntt, um
elwas zu verjichen, das außerhalb der Grenzen ihrer
geringen Erfahnung fällt — jo wurde von Lady
Savill das Urteil gefällt über ihre fich ftillichweigend
zurüdziehende Wärterin, gegen welche fie in der Folge
ein Etwas empfand, das nicht weit von einem Dor-
a — —
W. E. Norris.
wurf entfernt war; denn zehntauſend Pfund find
wirflich eine unpaflende Summe, um fie einer Kranlen⸗
pflegerin zu vermachen, wie nützlich und zuvorlom—
mend fie ſich auch während eines oder zweier Monate
erwieſen haben mag.
„Richt, da ich Ihnen das Gelb im geringfien
mißgönnte, meine Liebe; bitte, denken Sie das nicht!
Nur ſetze ich voraus, dab Sie mit einem jolden
Eintommen laum Luft haben werden, noch länger
in Ihrer gegenwärtigen Stellung zu verbleiben, und
in der That geht es mir ſchon jo bedeutend befier,
dab ich e& nicht bedarf, gepflegt zu werden.”
63 war auf der Inſel Wight, wohin ſich Lade
Savill wegen des nötigen Luft» und Ortswechſels
begeben hatte, wo Schweſter Luife diefen willtomme:
nen Winf erhielt, daß man ihre Dienfte entbehren
fünne. Lady Savill ging es gewiß viel bejier, und
jweifello® war, um fie ganz geſund zu machen, nichts
erforderlich als die Ankunft Kapitän Pomfrets. Hatte
fie Kapitän Pomfret, welcher, wie fie gelegentlich
erwähnte, zufällig um dieſe Zeit an Bord der Jadıt
eines Freundes in Cowes war, herbeigerufen — oder
hatten Erwägungen des Anftandes fie davon zurüd-
gehalten, zu jo jchleunigen Maßnahmen ihre Zuflucht
zu nehmen ?
Eines Nachmittags, ala Schwefter Luiſe, die gerade
in Vorbereitung ihrer für den nächſten Morgen feſt⸗
geſetzten Abreije ihre leider eingepadt hatte, zu einem
einiamen Spaziergange außgegangen war, erſchien
Kapitän Pomfret in Perfon, um Antwort zu geben. Er
hatte die Miene eines Hundes, der die Ohren hängen
läßt und den Schweif einzieht. Er ſchien ängfllic be»
jorgt, dem Bemerktwerben auszuweichen; doch ſobald
er die Meine Schwefter erfannte, ftürzte er mit einem
Freudenrufe auf fie zur.
„So, da find Sie enblih! Ich habe die ganze
Zeit in Erwartung gejchwebt, daß Sie fidh zeigen
möchten. Ich jage Ihnen, daß ich ſchrecklich mötig
babe, eine Minute mit Ihnen zu ſprechen, wenn Sie
nichts dagegen haben.”
„Mir ſcheint,“ antwortete Schweiter Luiſe ziem-
li fteif, „Sie meinen, daß Sie mit Lady Savill
zu Sprechen wünſchen.“
„Nein — auf Ehre! Das ift gerade, was id
nicht wünſche. Doch wenn fie Schreibt und mid) bittet
herüberzulommen, dann fann ich nicht jehr gut ab»
lehnen, nicht wahr?“
„Sie würden es alfo vorziehen, abzulehnen?“
„Nun — die Sache ift die, jehen Sie, dab id
verlobt bin. O, ic) mwuhte, Sie würben entſetzt und
angeefelt fein; aber ich bin nicht ganz der Verräter,
für den Sie mi halten. Wollen Sie mid nidt
Ihnen die ganze Gejchichte erzählen laſſen? Dann
werden Sie, deſſen bin ich ficher, bereit jein, einem
armen Burjchen hilfreiche Hand zu leihen.“
Sir Williams Frau.
Die Geſchichte feiner Beziehungen zu der ver
witweten Marion, welde Kapitän Pomfret zu er—
zählen begann, wich ficherlich in mehreren wichtigen
Punkten von dem ab, mad Lady Savill bei einer
früheren Gelegenheit erzählt hatte, und fie jchien den
Stempel der Wahrheit zu tragen. Daß er des ver-
ftorbenen Sir William Sapill Weib einft jehr ge—
liebt Hatte, leugnete er nicht; aber fie hatte ihn aus
dem guten und genügenden Grunde abgewiefen, daß
er zu arm jei, um heiraten zu fönnen, während fie aus
eignem, freiem Willen ben berühmten Wundarzt ans
genommen hatte — aus dem guten und genügenden
Grunde, daß er reih war! Dann hatten zufällige
Zufammenkünfte ftattgefunden, die, wie Schweiter
Luiſe wußte, zu Zufammenkünften geführt hatten,
die nicht zufällig gewejen waren,
„Natürlich Hätte ich nicht nach dem Portman
Square gehen jollen, und wenn id) es that, jo hätte
ich ehrlich geſtehen jollen, dab — nun, daß ich andre
Nur ift es nicht leicht, der-
Hoffnungen hatte,
artiges einer frau zu jagen, die jeden Augenblid
ebenjo wahrjcheinlic wie nicht einen dadurch um den
Verſtand bringen fann, daß jie in Ohnmacht fällt
und jtirbt, Es muß jeßt gejagt werden ; jedoch ich
vermute und — und — glauben Sie nicht, daß Sie
es ihr viel freundlicher und weniger plump jagen
fönnten als ich?“
1053
„Ich weiß nicht,” antwortete Schweiter Luiſe; „aber
ich bin ganz ſicher, daß ich nichts von der Art verfuchen
werde. Sie haben fein Recht, es von mir zu verlangen.”
Nichtsdeſtoweniger war fie von ſolcher Herzend-
‚ güte, daß dringende Bitten es endlich über fie ver
mochten, der Herold der poetijchen Gerechtigkeit zu
werden — das unmittelbare Rejultat davon war,
ſoweit es fie betraf, daß fie die Inſel Wight noch
am ſelben Abend zu verlaſſen hatte anſtatt am folgen—
den Tage. Denn es ift unangebradht, den Meg einer
Frau zu freuzen, welche droht, in Ohnmacht zu fallen ;
noch unangebradhter ift es, unter dem Dache einer
Fran zu verbleiben, weldhe, nachdem fie di als
einen falichen und ränfevollen Skorpion bezeichnet
hat, Dir zu veritehen giebt, daß dein bloßer Anblid
ihren fofortigen Tod veranlafien wird,
Lady Savill ift jedod) noch am Leben und zwar
bei jehr guter Geſundheit. Im Gegenſatz zu den
Erwartungen einiger Yeute fährt fie fort, Witwen—
Heider zu tragen, und affeltiert — zur Erbauung
andrer — die Miene untröftlicher Trauer über ihren
Berluft. Von ihrem verftorbenen Gatten fann fie
nicht zu bewundernd und zärtlich jprechen.
„Der einzige Mann,” pflegt fie zu erflären, „der
mich jemals wirklich verftanden hat.“
Diefes Kompliment mag, ganz fo, wie es lautet,
| woblverdient geweſen jein,
Meine Siebe.
Don Minka Ezöbel.
Aus dem Angariſchen überfeßl von Andor v. Sponer.
So weißt du’s nicht, daß ich dich liebe
Und wer ich bin, woher entftammt? —
Bin funfe, der, im Sturmgetriebe
Entfacht, zu heller Glut entflammt.
Der Funke, der in mir entfacht ift,
Erfüllt die Bruſt mit heißer Glut
Und leuchtet, daf es eine Pradt ift;
Es löfcht ihn Feines Meeres Flut.
Die Gluten, die das Herz verjehren,
Than grimmig weh, doch einerlei:
Man muß das Feuer fchüren, nähren,
Damit die Flamme heller fei.
f
I
Schau in die Flamme, fürchte nimmer,
Sie blende dir der Augen £icht;
Die Sonne hat den hellſten Schimmer,
Doch Adler fchaun ihre ins Geficht.
Komm, laf uns in die Höhe ſchweben
Sum blitzdurchzuckten Himmelszelt,
Uns war ja Stanb und Erdenleben
Von jeher eine fremde Welt.
Komm, laß uns fliegen, bis die Seelen
Dor BHimmelsalanz veralühn im Flug —
Mär’ folben Flammentod zu wählen
Nicht ſchon des Glücks und Beils genug
— Lofe Blätter &-
der Zeilungsſchreiber und der Kefer.
Von Schtſchedrin (M. Saltykow).
Aus dem Ruſſiſchen überfegt von Nina Boffmann.
Es waren einmal ein Zeitungsſchreiber und ein
Lejer. Der Zeitungäfchreiber war ein Lügner —
immer und über alles log er —; der Leſer aber war
leihtgläubig — alles glaubte er. So geht «8 ſchon
von Alterdzeiten her: die Lügner lügen und betrügen,
die Leichtgläubigen glauben. Suum cuique,
Da figt der Zeitungsfchreiber in feiner Höhle und
lügt und fügt drauf los.
„Hütet euch,“ jagt er, „die Diphtheritis hält
reihe Ernte unter den Stadtbewohnern.*“ — „stein
Regen,” jagt er, „feit Frühlingsanfang; ſicherlich
droht ung Hungersnot. — Brände verheeren Stäbte
und Dörfer. — Srongelder, öffentliche Gelder wer—
den verjchleppt — “
Und der Leſer lieft und denkt, da ihm der Zeitungs⸗
jchreiber die Augen öffnet.
„Solch eine Preßfreiheit befigen wir ſchon,“ jagt
er, „wohin man den Blid nur wenden mag, überall |
entweder Diphtheritis oder Brände, oder Mikernten.”
Es wird immer beſſer. Der Zeitungsichreiber
bat gleich begriffen, daß feine Lügen nad) des Leiers
Geihmad find. Da fängt er an, ftärker aufzutragen.
„Bei uns ift gar feine perjönliche Sicherheit,“ jagt
er, „wage dich nicht auf die Straße, lieber Leſer,
gleich Fällft du ins Loch.”
Und der leichtgläubige Lefer geht auf der Gafle |
ftolz einher und jagt dabei: „Ad, wie richtig hat
ſich doc) der Zeitungsfchreiber über unsre Umficherheit |
ausgeſprochen!“ Nicht genug an dem; trifit er einen
zweiten leichtgläubigen Leier, jo fragt er auch ihn:
„Haben Sie's geleien, wie herrlich ſich Heute der
Zeitungsichreiber über unfre Unficherheit ausgeiprochen
hat ?*
„Die denn nicht!” antwortet der zweite leichte
gläubige Leer, „unvergleichlich!
nein, man kann durchaus nicht bei uns auf der
Straße geben, jofort kommſt du ins Loch!“
Und alle können fie fi) über die Preßfreiheit
nicht genug glüdlich preifen.
„Wir haben gar nicht gewußt, dab bei und die
Diphtheritis wütet,“ rufen im Chor die leichigläubi-
gen Leſer, „und da haben wir’ nun!“ Dabei wird
ihnen jo leicht ums Herz!
Und jagte ihnen jeßt der Zeitungsichreiber: „Die
Diphtheritis hat gewütet, es ift aber ſchon aus da—
mit," jo würden fie wahrjcheinlich ſein Blättchen gar
nicht mehr leſen.
Dem Zeitungsfchreiber ift das aber gerade recht,
denn der Betrug iſt für ihn der reine Vorteil, die
Mahrheit ift ja nicht jedermanns Sache — geb, Plage
dich, wie du willjt, du befommft fie nicht heraus,
nicht für zehn Kopeken das Zeilen. Die Lüge aber,
das ift Schon ganz was andres. Kehre dich am nichts,
ſchreibe und Lüge! Fünf Kopelen das Zeilden, und
ganze Haufen bringt man dir von allen Seiten!
Und es entjteht folch eine Freundſchaſt zwiſchen
dem Zeitungsfchreiber und dem Leſer, daß du jie mit
Wafleriprigen nicht auseinander brädteft.
Je mehr der Zeitungsichreiber lügt, Deito reicher
wird er (und was braucht ein Betrüger denn jonft?),
ber Leſer aber, je mehr er betrogen wird, deſto mehr
fünffopefenftüdchen trägt er dem Zeitungsichreiber
zu. Sei's ala Geld oder Ware, immer ftreicht der
Zeitungsichreiber feine Kopele ein.
„Keine Hoien hat er früher gehabt,” jagen feine
Neider, „und jet, ſchaut ihn an, wie er aufbaut!
Einen obredner hält er, einen Vollserzähler bat er
fih angeichafft — der jißt in der Wolle!“
Einmal verjuhen es andre Zeitungsjchreiber,
ihm mit der Wahrheit ein Bein zu ftellen. Wer
weiß, denfen fie, vielleicht beißt ein Abonnent auf
an unjre Lodjpeife an! Ya, was nicht gur! Nichts
will er davon hören, der Lejer, nur bei einem bleibt
er ftehen und wiederholt nur immer:
„Ein Trug, der mich erhebt, der ift mir licher,
Als ihlimmer Wahrheiten ein ganzes Schod.“
Ob die Gejchichte eine fange oder eine kurze Zeit
jo fortging — genug, es fanden fich brave Leute,
welche mit dem leichtgläubigen Leſer Erbarmen hatten.
Sie beriefen den lügenhaften Zeitungsichreiber und
redeten jo zu ihm: „Laß e8 genug fein, du Unver-
Ihämter, du jalfcher Menſch! Bis jet haft dur mit
der Lüge Geſchäfte gemacht, von nun an mußt du
mit Wahrheit handeln —“
Und gerade zur felben Zeit begannen auch die
| Leſer nad) und nad) zu erwachen, fingen an, ihm
Man kann nicht, |
Zettelchen zu jchreiben, ungefähr fo: „Hören ie,“
jagt einer, „heute ging ich mit meiner Tochter längs
des Newski⸗Proſpelts jpazieren und dachte, wir wür-
den auf dem Polizeiamt übernachten (meine Tochter
' hatte ſich für alle Fälle mit Butterbemmchen veriehen;
fie fagte : ‚wie Iuftig!‘), und anftatt deſſen find wir
doch beide ganz wohlbehalten wieder nach Haufe ge»
fommen. Wie fol man nun eine jo erjreulice
Ihatjache mit Ihren Leitartifeln über unsre Unſicher-
heit in Einklang bringen?”
Natürlich hat der Zeitungsichreiber jeinerjeit® nur
darauf gewartet. Offen geſtanden, ihm jelber war
das Lügen ſchon überdrüffig! Sein Herz hatte fih
— —
Loſe Blätter.
ihon längjt der Wahrheit zugeneigt. Ja, was ijt aber
zu thun, wenn der Leſer nur an der Füge anbeißt?
Beine, Herz, dennoch mußt du weiter betrügen!
Jeht aber, da man ihm von allen Seiten mit dem
Meſſer an die Kehle rüdt, damit er die Wahrheit
ichreibe, warum denn nicht? Er ift bereit, Wahr»
beit bleibt Wahrheit, hol’& der Teufel!
Mit dem Betrug hat er fich zwei Zinshäuſer aufs
gebaut — jetzt heißt «8, weitere zwei mit der MWahr«
heit aufbauen.
- Und nun begann er fich täglich mit der Wahrheit
Leſer einzutreiben. Keine Diphtberitis und Punktum.
Auch feine Arreftlöcher, feine Brände mehr; und ijt
auch Konotopje abgebrannt, jo hat man’s nad; dem
Brande doc) viel ſchöner aufgebaut. Die Ernte aber
bat ſich nach den eingetretenen Regengüſſen jo gläns
zend erwielen, dab ſich jeder ſelbſt jatt gegeſſen und
noch dem Deutichen unterm Tifch etwas hingeworfen hat,
„Da, eritide!" Das merfwürdigfte aber bei alledem
ift: der Zeitungsichreiber drudt bloß die reine Wahr«
heit und zahlt immer nod) fünf Ropefen bie Zeile; auch
die Wahrheit ift von der Zeit an im Preife gejunfen,
als man angefangen hat, fie im Kleinhandel anzu—
bieten. Ob Wahrheit oder Lüge — alles eins —
jedes ift um einen Örojchen zu haben. Die Zeitungs:
ipalten aber find darum nicht nur nicht langweiliger,
ſondern im Gegenteil noch viel amüjanter geworden,
weil, wern man erft anfängt, die Neinheit der Lüfte
tüchtig auszuſchattieren, ſolch ein Bild hervorlommt,
daß du's mit Gold nicht bezahlen kannſt.
Schließlich wurde der Leier endgültig nüchtern
und fam zu fi. Und war es ihm jchon früher nicht
Ichlecht gegangen, da er nod den Betrug für die
Wahrheit nahm, jo fiel ihm jet ganz und gar ein
Stein vom Herzen. Tritt er in den Bäckerladen
ein, jo bört er: „Sicherlich, mit der Zeit wird das
Brot billig werden.” Kommt er in den Geflügel»
laden, dort jagt man: „Sicherlich, mit der Zeit wird
man bie Hajelhühner umjonft belommen!”
„Nun, und wie flehen fie einſtweilen?“
„D, einfiweilen einen Rubel zwanzig das Paar!
Seht aljo, was für eine Wendung mit Gottes
Hilfe!”
Und nun ging einmal der leichtgläubige Leſer,
ganz fein herausgepußt, auf die Straße. Er ging
jo dahin, „froher Erwartungen voll*, und fuchtelte
mit jeinem Spazierflödchen in der Yuft herum. Merlt
es num alſo, dachte er bei fih, in wie volllommener
Sicherheit ich bin!
Aber dieſes Mal, wie zum Troß, geihah das Fol
gende: Er hatte faum einige Schritte gethan, ala
ſich ein juridischer Irrtum ereignete, und man ſteckte
ihn ins Loch.
Dort jah er einen ganzen Tag, ohne zu eſſen,
denn man jehte ihm zwar ein Eſſen vor, aber er
Ihaute e$ nur an und ſchaute es wieder an und
jagte dann bloß: „So fehen fie aus, umjre Ernten ?*
Dort Hat er auch die Diphtheritis gefriegt.
Am andern Tage, verfteht fi, hat ſich der juris
diſche Irrtum aufgeflärt, und man hat ihn gegen
1055
Bürgihaft (wer weiß, vielleicht fann man ihn ein
andermal brauchen) auf freien Fuß geiekt.
Er kehrte nad Haufe zurüd und farb.
Der lügenhafte Zeitungsichreiber lebt aber heute
noch. Er bringt eben fein viertes Zinshaus unter
Dad und finnt vom Morgen bis zum Abend nur
über das eine nad: womit er fünitighin den leicht«
gläubigen Leſer am beten betrügen wird, mit der
Füge oder mit der Wahrheit?
— ⸗ —
Zolas „Paris“. Zolas neuer, mit Spannung
erwarteter Roman „Paris“ hat in dieſen Tagen
im „Journal“ zu erfcheinen begonnen und wird,
wie wir bereit$ zu erwähnen Gelegenheit hatten, im
nächſten Jahrgange unfrer Zeitjchrift in deuticher
Ueberjegung veröffentlicht werden. Der Roman wird
nicht nur durch feinen Stoff das Intereſſe, welches
man einem Merk Zolas entgegenzubringen gewohnt
ift, in ſtärkſtem Make auf fih ziehen — kann doch
jeibft Rom, das moderne Rom, ſich nicht mit Paris,
der „Königin der Städte”, meſſen —: aud) die Dar-
ſtellung und die Behandlung des gewaltigen Stoffes
ftempelt „Bari“ zu Zolas bedeutendftem und größtem
Werke, hauptſächlich weil Zola fich diesmal in einer
Welt bewegt, die er nicht erfi zu durchforichen und
fennen zu lernen brauchte, ſondern längjt aus eigner
Anſchauung und gründlich wie nicht leicht ein zweiter
moderner Schriftiteller kennt.
Zola jelbft hat einem Mitarbeiter de „Temps”
gegenüber fih über den Inhalt und den Eharafter
des Wertes in folgender Weile ausgeiprocden:
„Paris‘ hat mehr dramatijches Yeben und eine
bewegtere Handlung als ‚Rom‘; der befchreibende
Zeil umfaßt nur wenige Seiten. Es wäre mir
lächerlich erjchienen, eine ausführlihe Schilderung
von Paris geben oder für ‚Notre-Dame‘ das thun
zu wollen, was ich für St. Peter in Rom gethan
babe. Was die Schwierigkeit vermehrte, ift, daß
Paris von jeinen verjchiedenen Seiten bereits in
meinen früheren Merten geſchildert ift: die Marlt—
ballen im ‚Ventre de Paris‘, die großen Berfaufe-
läden in ‚Au Bonheur des Dames', die Prole-
tarierviertel im „Assommoir‘, Eine allgemeine
Schilderung von Paris iſt übrigens ein gewagtes
Unternehmen. Bei Gelegenheit der Weltausftelung
von 1867 machte ſich eine Gruppe von Schriftftellern
daran, ein ſolches Werk zu fchreiben, und arbeitete
ein umfangreiches Buch aus, zu dem, wenn ich nicht
irre, Victor Hugo die Vorrede ſchrieb. Von dieſem
Werk find nur wenige Exemplare verfauft worden,
und die ganze Arbeit hat feine Spuren binterlafien.
Diefe Erfahrung hat mir meinen Weg erhellt.
Ueberhaupt jollte ‚Paris‘ fein Fremdenführer werben.
Ebenjowenig hätte es jih mit meinem Beruf ala
Romanſchriftſteller vertragen, die Geſchichte dieſer
Stadt zu ſchreiben, die jetzt die Königin der Städte
iſt, wie es in vergangenen Zeiten Rom war. Alſo
weder Plagiat meiner ſelbſt noch Führer noch Ge—
ſchichtswerk. Ich glaube, daß es mir gelungen iſt,
1056
diefe drei Klippen zu vermeiden, aber jedenfalls nicht
ohne Mühe.
„Ih laffe in dem Roman zahlreiche Perjonen
auftreten, in dem ganzen Milteu, deſſen charakteriſtiſche
Eigentümlichkeiten fie an fih tragen — Finanz—
männer, Litteraten, Gelehrte, Künftler, Leute aus
der Geiellichaft, Proletarier, Politifer, Nebenbei
möchte ich Sie bitten, diejenigen zu beruhigen, welche
mich bereits beichuldigt haben, Porträts von Zeit-
genofien gezeichnet zu haben. Ein ſolches Verfahren
liegt mir fern und widerjtrebt meiner Nechtlichfeit.
Der ‚roman & clef ijt meine Eradtens eine un—
geſunde Schöpfung und dem dauernden Erfolg, den
jeder Künftler anftrebt, nur unzuträglid. In Ya
Bruyered ‚Caractöres‘ unterhält ſich ein halbes
Dutzend Pitteraten damit, auszuflügeln, auf welche
belannte Perjönlichkeit des Hofes oder der Stadt
ſich diejes oder jenes Gemälde beziehen falle; die
große Menge kümmert fi) darum wenig, und 2a
Bruyeres Ruhm beruht glüdlicherweiie auf andern
Berdieniien, Leute, Die am Standal Geſchmack finden,
werden ſich aljo enttäufcht jehen.
„Paris entzüdt und bezaubert den fremden —
um wieviel mehr muB e8 dem Herzen eines Pariſers
teuer fein! Ich habe eine tiefe Liebe und Bewunderung
für die Stadt. Allein wie der Hexenkeſſel in ‚Mac«
beth‘ birgt e& in feinem Innern von allem etwas,
das Schlimmfte wie das Befte, die edelften Tugenden
und die abjcheulichften Yaiter, heroiihe Selbftver-
leugnung und die gemeinften Verbrechen, kurz, alle
die verjchiedenen Manifeftationen der menschlichen
Natur. Kein Schleier verdedt feine Fehler in meinem
Buche, und wenn darin eine Pietätlofigfeit zu liegen
ſcheint, jo dient es doch nur dazu, jeine unvergleid)-
lichen Vorzüge in einem helleren Licht ericheinen zu
lajien. An diefem Herde des Wiſſens und der
Güte will ſich das Herz des Abbe Froment wieder
erwärmen. Er belommt bort einen Begriff von der
Religion der Zukunft, von einem beiferen ſozialen
Zuftande, der ſich hier in der gewaltigen, von der
Rieſenſtadt Tag für Tag geleifteten Arbeit ent—
widelt. So thut Paris, jo mildthätig es iſt, das
Unvermögen der Nädjitenliebe dar, die ein chriftliches
Loſe Blätter,
und antijoziales Gefühl ift. Notwendigerweiſe muß
die dee der Gerechtigkeit, an der die Schwachen
einen Halt finden, die Nächitenliebe töten, welde
fie in ihrem Elend ftüßt. Eine Aera der Gerechtig⸗
feit — das ift die Verheißung der Zukunft, und
über Paris wird ſich dieſe Morgenröte erheben.
Jeder arbeitet dort, mit ehrlihem Willen oder un
freiwillig — der Strom reißt das Hindernis wit
ih fort, das ihm den Weg verfperrte, und benust
ed, um jeine Gewalt zu verftärfen, Innerlich mürbe
geworden nad) jo vielen Erfahrungen, lebt der Abbe
endlich wieder auf, und der Schrei der Herzensangft,
den er bei feiner Flucht aus Rom ausgeftoßen hatte,
Mingt aus in ein ſanftes Gemurmel der Dankbarkeit
nad) einem dreijährigen Aufenthalt in Paris,
„Dieje aufeinanderfolgenden Seelenzuftände bilden
den leitenden Faden der Trilogie, der dem Leer
nicht irregehen läßt. Und der Ausgang, dem ich hier
angedeutet babe, entipricht meinen Anſchauungen
über das Glüd des Dajeins, über die Erhabenheit
des menfhlihen Schidjals, wenn die Geſellſchaft
einmal zur alleinigen Bajis die Arbeit haben
wird.”
Zum Schluß fügte Zola hinzu:
„Ich bin bei dieſem neuen Buche auf dieſelben
Kritilen gefaßt, welden meine früheren Werte bei
ihrem Ericheinen begegneten. Ich hoffe jedoch, nad
meinem Tode gerechter behandelt zu werden. Man
wird alsdann erfennen, daß ich weder ein Peſſimiſt
noch ein Sittenverderber war. Wer bei jeder Ge—
legenheit dem Leben Hymnen fingt, ift fein Peilimitt,
und fein Gittenverderber, wer unermüdlich die hoben
Wohlthaten der Arbeit verfündigt. Wenn man bie
Serie der „Rougon-Macquart“ durchgeht, wird man
finden, daß auf jeder Seite die Liebe zum Leben
und die Vegeifterung jür die Arbeit durchbrechen...
Nichts ift Schlimmer ala die Dede und der Tod.
Die Furde, die id in das wunergiebige Feld der
Fitteratur eingegraben habe, ift die Liebe zur re
beit und zum Leben. Es ijt nicht wahr, daß id
die Geifter habe verderben und entmutigen wollen,
und wie mich dieſe Anficht im Augenblid gleichgültig
läßt, fo glaube ich auch nicht an ihre Dauer.”
Der Jahrgang 1898 diejer Zeitjchrift wird mit den Romanen
„e ar is“ m „Die Stütze der Familie“
von
Emile Bola
von
Alphonfe Daudet
eröffnet. Wir freuen uns, unjern verehrlichen Leſern wiederum die neueiten Werfe der beiden
größten zeitgenöffiichen Nomanjchriftiteller Frankreichs bieten zu fünnen.
Die Redaktion von „Aus fremden Sungen“.
Berantwortliger Nedakieur: Karl Bolhoevener in Stuttgart, Druck und Berlag ber Deutihen Berlagd-Anftalt in Stuttgart.
Briefe und Sendungen find nur au bie Deutſche Derlags-Anfalt in Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu rider
Gleichheit.
Edward Bellampy.
Aus dem Amerikanifchen überfeßt von M. Jacobi.
(Fortiegung.)
XXXV.
Der langſame Anfang und der ſchnelle Fortgang.
„Do viel von den Urfachen des Umſturzes. Wir
haben gejehen, wie ein neuer Faktor in der jozialen
Evolution — die Aufflärung der Maſſen — un—
aufhaltjam zur Herftellung der Gleichheit führte, und
daß es an den Zuftänden lag, die damals in Amerifa
berichten, wenn die große Umwälzung gerade zu
diefer Zeit ftattfand und gerade diefen Verlauf
nehmen mußte, Nun noch ein paar Worte über den
Verlauf jelbft.
„Diejenige Klaſſe, welche feine eignen Mittel hatte,
die Arbeiter, drüdte der wirtſchaftliche Schuh natürlich
zuerft, und man kann wohl jagen, daß ihre Auf-
lehnung gegen die Konzentration des Befites den
Anfang gemacht hat. 1869 bildete fi in Amerifa
die erfte große Arbeitergenoffenihaft zum Widerftand
gegen die Macht des Kapital. Vor dem Kriege
fonnte man die Streifs im ganzen Sande noch an
den Fingern herzählen. Ehe die ſechziger Jahre zu
Ende waren, gab e8 derem Hunderte, während ber
fiebziger Jahre Tauſende. In den achtziger Jahren
führten die Wrbeitäberichte beinahe zehntaufend
folder Ausftände auf, am welchen ſich zwei bis drei
Millionen Arbeiter beteiligten. Viele dieſer Streits
verbreiteten fich über den ganzen Kontinent, er—
jhütterten die Handelswelt und verurfacdhten eine
allgemeine Panil.
„Auf die Empörung der Arbeiter folgte jchnell
die der Landwirte. Sie machte weniger Lärm, war
aber ernfter und nachhaltiger in ihren Folgen. Es
bildeten fich teild geheime Verbindungen, teils poli«
tiſche Parteien, weldhe offen den Kampf gegen die
Macht des Geldes auf ihre Fahne ſchrieben. Schon
in den fiebziger Jahren brachten diefe Organifationen
den Staat in Verwirrung, und fpäter wurden fie der
Kern der revolutionären Partei.
„Man kann Ihre Zeitgenoffen nicht bejchuldigen,
daß fie diefen Vorzeichen gegenüber gleichgültig ges
blieben wären. Es wurde öffentlih darüber ver
handelt, und auch in der Litteratur der damaligen
Zeit fpiegelt ſich deutlich wieder, in welche Unruhe
Aus fremden Zungen, 1897, IL 24,
und Verwirrung die unerhörten Ausbrüche der Un—
zufriedenheit des Volles alle ernft benfenden Men-
ſchen verfeßt haben. Die alten Prahlereien am vierten
Juli verftummten. Alle waren darüber einig, daß
aus irgend weldem Grunde die demofratifche Re—
gierungsform ihr Verfprechen, die allgemeine Wohl-
fahrt zu fördern, nicht gehalten habe. Sie hatte ſich
unfähig erwiejen, bie Uebel, an denen die alte Welt
Iranfte, auch die des Klaſſen- und Saftengeiftes,
welche doch, wie man meinte, in republifanifcher Luft
nicht gedeihen Fünnten, von ber Neuen Welt fern zu
halten. Von allen Seiten fonnte man hören, daß
die alte Organifation immer fchlechter würde, daß
der Republik und allen Ideen, die fie einft vertreten
hatte, Gefahr drohe. Man rief nad einem Mittel,
diefem Niedergang Einhalt zu thun ; von allen Lippen
tönte das Wort ‚Reform‘; dies war der Schlachtruf
aller Parteien, der aufrichtigen wie der heuchlerifchen.
Aber ich brauche wohl feine Zeit damit zu ver—
ſchwenden, Ihnen bie damaligen Zuftände zu ſchildern.
Bis 1887 haben Sie ja alles mit erlebt,“
„Es ijt genau jo geweſen, wie Sie es befchrieben
haben. Im Erwerbsleben und in der Politik herrſchte
die größte Verwirrung; man hatte ganz allgemein das
Gefühl, wir jeien auf falfchem Wege, und rief nad)
Reformen, Allein, wie gejagt, die Bewegung war,
wenn auch ſehr beunrubigend, doch viel zu unflar und
ziellos, um zu Refultaten zu führen, Alle wußten,
dab etwas nicht in Ordnung jei, aber was es war
und wie bem abgeholfen werben lönne, wußte nie
mand zu jagen.“
„Sehr richtig,” erwiderte der Doftor. „Unire
Geſchichtsſchreiber teilen die ganze Umwandlungsepodhe
— vom Ende des Krieges oder dem Anfang der fieb-
jiger Jahre bis zur Einführung ber jehigen Orb«
nung beim Beginn des zwangzigften Jahrhundert? —
in zwei Perioden: die planlofe und die zielbewußte.
Bon der erfteren haben wir joeben geſprochen; fie ift
in den Paragraphen geſchildert, die ich aus Storiot
vorgelefen habe. Sie, Julian, formen jene Zuftände
zum Zeil aus eigner Erfahrung. Sie milfen am
allerbeiten, wieniel Angft und Unruhe, Verwirrung
133
1058 Edward
und zweclloſer Aufruhr in dieſer Periode herrſchten.
Es war ein Gefchrei und ein Durcheinander wie
beim Turmbau zu Babel. Die Leute wehrten fich
im Dunkeln blindlings gegen die Schläge des Kapi-
talismus und hatten feine Ahnung, was dabei alles
mit Füßen getreten und zerbrochen wurde.
„Arbeiter ſowohl wie Landwirte befanden ſich
über die Lage der Dinge und die Natur der Macht,
welder fie zum Opfer fielen, völlig im unflaren.
Die Urbeiter ſehten ihre einzige Hoffnung darauf,
daß durch Organifierung de3 Handwerls die Löhne
in die Höhe getrieben werben könnten. Sie waren
wie die Kinder und wußten nichts davon, daß das
Gewinnſyſtem die Konſumtionskraft der Geſellſchaft
unweigerlich unter das Maß ihrer Produllionskraft
herunterdrückt und fortwährend eine mehr oder weniger
große Ueberfüllung des Arbeits- und Warenmarktes
herbeiführt. Solange das Gewinnſyſtem geduldet
wurde und den Verdienſt des Arbeiters belaſten
fonnte, bis ihm faum das Notwendigſte zum Leben
übrig blieb, war an eine Beſſerung nicht zu denken.
Das ſahen aber die Arbeiter nicht ein; darum
erſchöpften fie ihre Kräfte vergebens in fruchtlofen
Streits, ftatt fi zum Sturz des Gewinnſyſtems zu
vereinigen, und einftweilen brauditen die Rapitalijten
nod) feine Furcht zu haben,
„Die zweite Klaſſe der Geplagten, die Landwirte,
nahm gar feinen Anteil an den Plänen der Ar—
beiter, weil dieje nur das Befte der Lohnempfänger
bezwedten. Sie widmeten ſich ebenjo fruchtlofen
Verfuchen zum Nuben ihrer eignen Klaſſe, die hin-
wiederum bei den Arbeitern feine Teilnahme fanden.
Ihr Streben ging dahin, die Regierung zu veranlafjen,
fie, die Heinen Rapitalijten, gegen die großen Kapi—
taliften, welche Handel und Verkehr des Landes be-
berrichten, in Schuß zu nehmen. Als ob es irgend
ein Mittel gegeben hätte, die natürliche Entwidlung
des Privatkapitalismus zu verhindern, die dahin führt,
daß der fleine Kapitalift von dem größeren erbrüdt
wird.
„Es ſcheint, daß man die ſchlechte Lage der Yand«
wirte hauptjählicd auf gewilfe fehlerhafte Finanz—
gejeße jchob, die das Geld verteuert hätten, und daß
man glaubte, allen ihren Beſchwerden wäre ein Ende
gemacht, wenn nur diefe Gefeße aufgehoben würden,
io daß mehr bares Geld in Umlauf füme. Hiervon
jollte vornehmlich die Landwirtihaft Nutzen ziehen,
indem es dann möglich wurde, die Schuldzinfen herab»
zujeßen und den Preis der Produfte zu erhöhen,
„Ohne Zweifel hatten die Kapitaliften das Münz—
wejen und den Kurs des Geldes, ja das ganze
Finanzſyſtem der Regierung auf unverantwortliche
Weiſe dazu mibbraudt, das Vermögen der Nation
an fid) zu reißen. Aber diefer Mißbrauch war nicht
jchlimmer als ihr Verfahren in den andern Zweigen
des Molfes zu verfchlingen,
herbeizuführen, war fein beſonderes Währungsiyfiem
Bellamy.
des wirtſchaftlichen Lebens. Ihre Kunſtgriffe bei der
Mährungsfrage Hatten ihnen nur Dazu verholfen,
etwas ſchneller ans Ziel zu gelangen, als wenn fir
ſich bloß durch die erlaubten Operationen, duch
Renten, Zinfen und Gewinn, bereichert hätten, Auch
ohne den Einfluß der Kapitaliften auf den Umlauf
des Geldes hätte ihr großer Plan, die wirtſchafiliche
Lage des Volles ganz zu beherrichen, gelingen müſſen.
Sie hatten es gar nicht nötig, ihr Gaulelſpiel mit
ben Münzweien zu treiben, wenn fie ſich mit dem
langjameren Verfahren begnügen wollten, das fie in
ftand ſehte, allmählich den Landbeſitz und alle Habe
Um dies Ergebnis
erforderlich, und fein Geldſyſtem irgend welcher Art
hätte e& verhindern fünnen. Gold, Silber, Papier,
teures und billiges, jchlechtes und gutes Geld in jeder
Form, vom Mufchelgeld bis zu den Guineen, alle
hatte zu verjchiedenen Zeiten den Zweden der Kapi-
taliften gedient, und nur Nebenfächliches wechſelle
dabei, je nad) den Umftänden.
„Der amerifanishe Landwirt brauchte fih nur
in andern Ländern umzuſehen, wenn er zu der Er-
fenntni® fommen wollte, wie thöricht es jei, die
Notlage feiner eignen Mafje wie die des ganzen
Bolfes einem Kongrekbefhluß über die Währung
zuzufchreiben. Er hätte gefehen, daß die Landwirt
ſchaft überall mit noch viel größeren Schwierigfeiten
zu fämpfen hatte, einerlei, ob dieſe oder jene Währung
im Lande herrichte.
„War die Erjcheinung, daß der Aderbauer in die
Enge getrieben wurde, denn überhaupt jo überrajchend,
daß der amerilaniſche Landwirt eine Erflärung dafür
in ber Politit fuchen mußte? Iſt das nicht zu allen
Zeiten fein Schidjal gewejen? War das Verhängnis,
das über dem amerifanifchen Farmer jchwebte, nict
dasfelbe, weldhes feinen Stand in jeder Generation
an allen Enden der Welt bedroht hatte? Er durfte
die Gründe diefes Elends nicht in Lofalen Verbält:
niffen juchen ; fie ſtammten aus einer allgemeinen,
von jeher beftehenden Urſache. Die Geſchichte hätte
ihn darüber belehren können, daß dieſe Grundurjade,
welche in allen Ländern, zu allen Zeiten und bri
allen Raffen fortwirkte, in dem Zwang beftand, den
die Kapitaliften auf das Volk ausübten, deſſen Ver
mögen fie ſich durch ihre Renten, Zinfen und Profit:
aneigneten. Die Maſſe des Volles wurde durch ie zu
wirtichaftlicher, jozialer und politijcher Abhängigkeit
verdammt, und die allerveradhtetite Klaſſe ift immer
die gewejen, welche den Ader beftelltee Dank dem
Reichtum eines noch unausgebeuteten, ſchwach be
völterten Kontinents gelang es eine Feitlang in
Amerika auch den Landleuten, diefem umerbittlihen
Geſetz zu entgehen; aber jet waren fie nahe daran,
dem allgemeinen Schidjal zu verfallen, und nichts
Gleichheit.
hätte e8 abwenden fünnen, wenn nicht der Privats
fapitaliamus, die Wurzel aller ihrer Leiden, aus—
gerottet worden wäre.
„Die Zeit würde nicht ausreichen, wenn ich bie
taujenderlei Mittelhen aud nur aufzählen wollte,
welche von ben verſchiedenſten Reformatoren bvor«
geihlagen wurden, um bie franfe Nation zu heilen.
Sie umfaßten alle möglichen Gebiete, von der Theorie
der Mäßigfeitävereinler, welche behaupteten, daß die
beraufchenden Getränfe am wirtichaftlichen Elend
jhuld feien, bis zu der Anficht, die Notlage fei ein
göttliches Strafgericht, weil in der Verfafjung feine
feierliche Anerfennung der Dreieinigfeit enthalten
wäre. In jolden Anſchauungen waren natürlich nur
die überfpannten Leute befangen, aber auch Die,
welhe den Grund des Uebels in der Konzentration
de3 Beſitzes jahen, waren weit davon entfernt, ſich
Mar zu machen, dab die Konzentration jelbft nur
eine natürliche Folge des Privatfapitalismus fei, und,
wenn man biejem nicht ein Ende mache, der Zuftand
niemals gehoben werden lönne.
„Es war vorauszuſehen, daß der planlofe Wider-
fand der Arbeiter und Landwirte ebenfo mie die
Berfuche einer Menge Meiner Reformvereine in der
erfien Periode der Umfturzbewegung wirkungslos
bleiben mußten. Nach zwanzigjährigem Kampfe hatte
es fich gezeigt, dab die großen Arbeiterorganijationen,
die fi unmittelbar nad) dem Kriege gebildet hatten,
nicht im flande gemwejen waren, die Rechte des Ar-
beiters mit Erfolg zu verfechten oder jeine Lage im
geringjten zu beffern. Während dieſer Periode hatten
zehn- bis fünfzehntaufend Streils und Ausftände
fattgefunden, aber diefer induftrielle Bürgerkrieg,
der ſich jo lange hinzog, Hatte fein andres End⸗
refultat gehabt, als daß jeht auch der beſchränkteſte
Arbeiter einſah, wie unmöglich es fei, durd eine
Klaffenorganifation oder durch Klaſſenanſtrengungen
nennenswerte Worteile zu erreichen und bie Rechte
der Arbeiter vor Uebergriffen zu ſchützen. Nach bei—
jpiellojem Leiden und einem verzweifelten Kampf
hatte ſich ihre Lage nur verſchlechtert. Auch die
zweite große Abteilung der aufftändifchen Maſſen,
die Landwirte, hatte keinerlei Erfolg bei ihrem Kampf
gegen die Geldmacht. Wenn auch ihre Verbindungen
über Millionen Stimmen geboten, jo vermodten fie
ihren Mitgliedern womöglich noch weniger zu helfen
als die Arbeitergenoſſenſchaften. Selbſt wenn fie
iheinbar gefiegt hatten und ſich der politifchen Lei»
tung eines Staates bemädhtigten, konnten die Kapi—
taliften doch auf taufend indirelten Wegen ihre Be-
ftrebungen zu nichte machen, jo daß bie Früchte ihres
Triumphs fih gleid) den Sodomäpfeln in den Händen
derer, die fie pflüdten, zu Aſche verwandelten.
„Mit Angft und Sorge hatte das Volt wohl
fünfundzwanzig Jahre lang gefragt: Was foll ge—
1059
ſchehen? Und wo war mın das praftiiche Ergebnis
jeines verzweifelten Ringens? Nirgends ließ ſich
etwas davon ſehen. Wenn hier und dort unbedeutende
Reformen eingeführt wurden, fo hatten auch die
Mißbräuche, denen diefe Reformen fteuern jollten,
bedeutend zugenommen, Die Macht der Plutofratie
war jeit 1873 auf bedrohliche Weile gewachſen. Es
mußte dem oberflädhlihen Beobachter jo jcheinen,
als hätte der Kampf ſchnell umd ficher eine Ent-
ſcheidung zu Ungunften des Volles herbeigeführt, als
wären die amerifanishen Rapitaliften, welche für die
gewonnenen Millionen ihren Kindern Adelsbriefe
tauften, ‚Hüger in ihrem Gejchlecht, denn die Kinder
des Lichts‘, weil fie die Zeichen der Zeit bejier ver=
ftanden hatten,
„Zroßdem war diefer Schluß fo falſch wie nur
irgenb möglich, Während der Jahrzehnte vergeblichen
Streites und fortwährenden Mißlingens hatte die
revolutionäre Bewegung ſolche Fortſchritte gemacht,
daß die BVerftändigen und tiefer Blidenden ihren
endlichen Triumph über das Privatlapital in nicht
zu ferner Zeit hätten vorausjehen fünnen.“
„Worin beftand denn der Fortſchritt? Ih kann
feinen entdeden,” jagte ic).
„Inder Entwidiung der revolutionären Stimmung
unter der Maſſe bes Volfes,” erwiderte der Dottor,
„Das Bolt wurde auf diefe Weiſe befjer als auf
irgend einem andern Wege dazu vorbereitet, die
Notwendigleit einer Reorganifation des Wirtſchafts-
ſyſtems von Grund auf einzujehen. Sie müſſen
bedenken, daß eine große Umwälzung, welche bie alten
Formen zerbrechen joll, erjt eine riefige moralifche
Kraft anfammeln muß. Solange die Gründe für ihre
Rechtfertigung nicht viel jchwerer wiegen ala alles,
wos fie aufs Spiel ſetzt, kann fie nicht beginnen.
Die Vorgänge, durch welche diefer Impuls allmählich
an Kraft gewinnt, fallen weniger ins Auge als die
Ereignifje der jpäteren Periode, in welcher bie
revolutionäre Bewegung einen jo fräftigen Schwung
befommen hat, daß fie ohne Widerſtand alle ein»
dämmenden Hinderniſſe mit fortreißt, als wären es
Strohhalme. Aber für den denfenden Menſchen ift
die Zeit der Vorbereitung ein noch intereffanteres
Feld der kritiſchen Betrachtung. Das amerifanifche
Volt mußte erft durch eine harte Pehre und viele
bittere Erfahrungen zu der Erkenntnis fommen, daß
feine halben Mafregeln helfen könnten, um eine jo
welterjhütternde Reform wie den Sturz des Privat-
tapitals und die Einführung der Nationalverwaltung
zu unternehmen. Es mußte ihm durch zahlreiche
Verfuche Mar werden, daß der Privatfapitalismus
ſchon zu weit außgeartet war, um nod) einer Beſſerung
fähig zu jein, damit es zu dem Entſchluß fam, ihn
über den Haufen zu werfen. Diele ſchmerzliche, aber
durchaus notwendige Erfahrung machte das Volk in
1060 Ebmwarb
den erften Jahrzehnten des großen Ringens. Seine
unzähligen Niederlagen und Demütigungen bei jedem
neuen Verſuch, die Macht des Geldes einzufchränfen
und ihrer Willfür zu feuern, trugen in den fiebziger,
achtziger und im Anfang der neunziger Jahre mehr,
als alle Siege gethan hätten, zu der Vollfommenheit
und Größe feines jchließlichen Triumpbes bei. Alle
diefe Kämpfe und Leiden mußten dem Umfturz den
Weg bahnen. Der Privatlapitalismus, dies Syftem
der Tyrannei, mußte das Maß feiner Mifjethaten
erfüllen, er mußte zeigen, daß er ein unverjöhnlicher
Feind der Demokratie, des Lebens, der freiheit und
des Glüdes der Menjchen fei, damit das Verlangen,
ihn zu ftürzen, immer gewaltiger würde. Ummälzungen,
die zu früh beginnen, haben zu früh ein Ende, und
dieje durfte nicht ftille ftehen oder aufhören, bis
die legte Spur eines Syſtems, welches dem ein-
zelnen Menſchen Gewalt über Leben und Scid-
jal feiner Nebenmenſchen verlieh, auf immer ver«
tilgt war. Deshalb war feine Schmach, fein Alt
der Unterbrüdung, feine Neuerung gewiffenlojer
Habgier, kein jhamlofer Mißbrauch der Staate-
gewalt und der Gejehgebung, feine Thräne ber
Scham über die Herabwürdigung der Nation, fein
Schlag mit dem Knüttel der Poliziften, feine einzige
Kugel ber Soldaten, fein Stoß mit dem Bajonett
vergebens, Nur diefe harte Schule der Prüfungen
und Miherfolge konnte das Volk dazu erziehen, den
Baum, der ſolche Früchte trug, mit der Wurzel aus»
zureißen.
„Wir jehen den Anfang der zweiten Periode in
die Zeit, in welcher fi bei einem großen Teil
ber Gejellihaft eine Hare Anſchauung gebildet hatte
von dem, was not that. Sie erfannten, daß es ſich
bier um Menichenredhte handelte, die einer unverant»
wortlihen Macht, dem Privatlapitalismus, gegen-
überftanden, daß ein völlig neues Wirtichaftsigflem
gegründet werden müfle, bei dem das Voll jelbft,
zum allgemeinen Beften, Produftion und Güter
verteilung fontrollierte, ftatt daß fie durch einige
Privatperfonen beforgt wurden.”
„Haben Sie eine Idee, wann Die revolutionäre
Bewegung aus dem planlojen in das zielbewuhte
Stadium eingetreten iſt?“ fragte ich.
„Natürlich konnte von einer augenblidlichen Um-
wandlung nicht die Rebe fein,“ erwiberte ber Doktor.
„Es war vorerft nur das Erwachen eines neuen
Geiftes und einer klareren Erfenninis. Die Vers
wirrung, Planlofigfeit und Verblendung der erflen
Periode ragte noch lange über die Zeit hinaus, in
der ein verftändigerer Geiſt fih Bahn brach und den
Menſchen ein beftimmtes Ideal vor Augen ftellte.
Dom Beginn der neunziger Jahre datieren wir das
erſte Nuftauchen einer gewiſſen Planmäßigkeit in den
revolutionären Befirebungen ; von da an entwidelten
Bellamy.
fie fih aus formlofen Empörungen gegen unerträg-
liche Zuftände zur logifhen und zielbewußten Ser
beiführung der neuen Gefellihaftsorbnung.“
„Ich hätte fie aljo beinahe noch erlebt,“ rief ih.
„Sa,“ erwiderte der Doktor. „Wenn Sie nur
noch ein oder zwei Jahre länger wach geblichen
wären, daun hätte unjer Induſtrieſyſtem und bie
mit demfelben eng verbundene wirtſchaftliche Gleich⸗
heit Sie gar nicht jehr überraſcht. Ein paar Jahre
nad) Ihrem vermeintlichen Ableben ſprach man ſchon
in ganz Amerifa davon, daß möglicherweile aus der
Krifis, in der fich die Gejellichaft befand, eine jolde
neue joziale Ordnung hervorgehen könne.
„Die Idee eines Wirtſchaftsſyſtems, bei dem die
Kräfte aller zufammenwirken, um das Gemeinmchl
zu fördern, ift natürlich jo alt wie die Philoſophie
ſelbſt,“ fuhr der Doktor fort. „Schon bei Mato
findet ſich diefer Gedanke, auf dem unſer heutiger
Staat beruht, in der Theorie, und niemand fanı
wiſſen, ob er nicht ſchon viel früher aufgetaucht if,
benn er ift ganz natürlich und muß jedem einleuchten,
Aber die Aufklärung mußte fich erft über weite Kreiſt
verbreiten und ein Vollsregiment möglich maden,
ehe die Welt reif war, dieſe Siaatäidee zu ver
wirllichen. Bis dahin hatte jie feine fichtbare Ge⸗
ftalt, wie die Seele, ehe fie Fleiſch geworben iſt.
Selbſtſüchtige Herrſcher betrachteten das Poll nur
ala Mittel zu ihrer eignen Erhebung, und wenn fie
die Induftrie zwedmäßiger organifierten, jo geſchah
es ausichliehlih, um ihre Tyrannei mit noch größerer
Macht zu umgeben. Erft als die Maſſen einen
Standpunkt erreicht hatten, der fie befähigte, die
Zügel felbft in die Hand zu nehmen, war eine
kräftige Agitation für das Wirtſchaftsſyſtem auf ge
nofjenschaftliher Baia möglih und wünichenswert,
NIE ſich in Europa zum erftenmal der demolratiſche
Geift regte, war die Möglichkeit einer ſolchen Organi-
jation lebhaft erörtert worden. Schon Mitte dei
neunzehnten Jahrhunderts hatten in der Alten Wat
ſcharfſichtige Beobachler diefe Bewegung als ein
Zeichen der Zeit erkannt, aber Amerika hatte ſich
bisher der Ngitation in Europa nicht angeſchloſſen
— wenn man bie kurzen, verunglüdten Erperimenit
der vierziger Jahre ausnimmt.
„Wie ih ſchon gejagt habe, lebte das Boll in
Amerifa damals unter viel günftigeren Verhältnifien
als irgend eine andre Nation feit Menfchengedenten,
und das war der Grund jeiner Gleichgültigleit. Die
individualiftiiche Methode, bei der jeder für feinen
eignen Unterhalt forgte, hatte jo befriedigende Re
jultate, daß niemand an andre Methoden dachte. Es
fehlte ein ftarfer Beweggrund, um bie jchwerfälligen,
am Alten hängenden Maſſen aufzuftaheln und mit
neuen, revolutionären Gedanken zu erfüllen. Die
Periode des Umſchwungs hatte ſchon begonnen, alt
Gleichheit.
es noch unmöglich war, ben Anjchauungen über eine
Neuordnung ber Gefellichaft, die Europa bereit3 mächtig
erregten, bei und Eingang zu verjchaffen. Am Ende
der achtziger Jahre mußte es aber jedem Mar wer-
den, wie kläglich die verzweifelten Verſuche des Volts,
ih aus der Gewalt des Privatfapitalismus zu bes
freien, nad) zwanzigjährigen Anftrengungen gejcheitert
waren, und nun lonnten die Amerikaner den Ge-
danken fajjen, daß man möglicherweife ganz ohne
Rapitaliften austommen könne, wenn man an ihre
Stelle eine Organifation jehte, durch welche die Er—
werbäthätigfeit, wie jede öffentliche Angelegenheit, zum
Wohl des ganzen Volkes geregelt wurde.
„Das amerifaniihe Volt war ganz bejonders
dazu befähigt, die beiden Hauptpunkte des Umfturz-
programm zu würdigen und zu verjtehen. Die
Adoofaten hatten für die Vereinigten Staaten eine
Berfaffung erdacht; aber die wahre amerifanifche
Ronftitution, die, welche im Herzen des Volkes ge-
ihrieben ftand, blieb immer die unjterbliche Unab-
bängigfeitserflärung, mit ihrer Anerfennung der
unveräußerlichen Gleichheit aller Menjchen. Auch
die Verftaatlihung der Erwerbsthätigkeit konnte den
Amerikanern im Prinzip nicht fremd fein, obgleich fie
eine völlige Umwandlung der Gejellichaft hätte nad)
ih ziehen müſſen. Sie war ja nur eine Weiterentwid»
lung der bemofratifchen Grundidee des amerifanijchen
Staated, Die Anwendung bdiefer Idee auf die
Wirtichaftsverwaltung war allerdings neu, aber fie
war jo unverkennbar jchon in dem ganzen Prinzip
enthalten, daß jeder aufrichtige Demokrat, jobald die
Nationalverwaltung einmal in Vorſchlag gebracht war,
fh nur darüber wunderte, daß eine jo Mare und
vernünftige Ergänzung des Vollsregiments nicht
ſchon lange Eingang gefunden hatte. Die Verkün—
diger einer gemeinfamen Verwaltung des Wirtichafts-
ſyſtems im Intereſſe aller hatten in Europa eine
doppelte Aufgabe: zuerſt mußten fie die Lehre ver
breiten, daß das Volk ein abfolutes Recht Habe, jelbft zu
regieren, und dann mußten fie bie Anwendung dieſer
Lehre auf die Volfswirtichaft darlegen. In Ame—
tifa dagegen brauchten fie mur die Folgerungen eines
befannten, aber bis jegt nicht beachteten Grundſatzes
zu ziehen, der im Prinzip Schon längſt nicht mehr
beftritten wurbe,
„Die Annahme des neuen Ideals ſchloß nicht
nur eine Programmänderung in fi, ſondern bedingte
aud) eine ganz andre fyrontjtellung der revolutionären
Bewegung. Bis jet war fie ein Verſuch geweſen,
Äh gegen neue wirtſchaftliche Zuftände aufzulchnen
und das alte Syftem des freien Wettbewerbs, das
vor dem Krieg herrichte, wieder einzuführen; dieſer
Verſuch war natürlich erfolglos, da die Verſchlech—
terung der wirtfchaftlichen Lage des Volles in ber
natürlichen Entwidlung des Privatkapitalismus lag,
1061
und fomit jeder Widerftand vergebens war, jolange
biejer jortbeftand.
„Vorwärts, marſch!‘ jo lautete das neue ſtom—
mando, ‚fämpft gegen die Feinde vor euch und laßt
das Alte dahinten! Schreitet mit der wirtſchaftlichen
Evolution weiter und ftreitet nicht gegen fie! Der
freie Wettbewerb fann nie wieder eingeführt werden;
er ift es aud) nicht wert, denn im beften Yall war
dies Syftem unmoraliſch, eine Vergeudung der Kräfte,
ein brutaler Kampf um das tägliche Brot. Neue
Fragen verlangen neue Löſungen. Vergebens ruft
ihr das altersſchwache Syſtem des freien Wettbewerbs
gegen den jungen Rieſen Privatmonopol zum Kampf
auf. Schidt ihm den größeren Riejen entgegen,
das Vollsmonopol. Die Konjolidation des Geſchäfts
im Privatintereffe muß durch die feftere Konfolidation
im Interefie des Volkes verdrängt werden; der Truft
und das Syndilat ſollen der Stadt, dem Staat, der
Nation weichen, der Privatfapitalismus dem Natio-
nalismus, Die Kapitaliften haben das Syftem des
freien Wettbewerbs zerflört; ſtellt es nicht wieder ber,
fondern dankt ihnen dafür, dab fie die Arbeit ge
than haben, wenn ihre Motive auch nicht Tauter
waren! Baut euch nicht wieder Hütten des Elends,
fondern errichtet endlich auf dem frei gewordenen
Raum den Tempel, deifen die Menſchheit ſchon fo
lange hart!‘
„Im Lichte Diefer neuen Lehre wurde es ben
Menſchen klar, daß der Engpaf, in dem die Re—
publif augenblicklich ſteckte, nichts als der Durchgang
voll Angft und Schreden zu einer Zukunft de all«
gemeinen Glüdes fei. Man hätte mit jo glühenden
Farben malen müfjen wie die Propheten bes alten
Bundes, um die Herrlichkeit diejer Zeit würdig zu
ſchildern.
„Der Streit, welcher ſich zwiſchen dem Voll und
der Plutokratie erhoben hatte, war nun fein uner=
Härliches und beflagenswertes Ereignis mehr, ſon—
dern eine notwendige Phaſe in der Evolution einer
Geſellſchaft, die von einem niedrigen zu einem un—
endlich viel höheren Niveau emporftieg, Er mußte
mit Freuden begrüßt, nicht gemieden, nad) bejten
Kräften gefördert, nicht verhindert werben; denn ba
jebt Auftlärung und demofratijche Denkweiſe über
die ganze Welt verbreitet waren, konnte der Ausgang
diejes Streites nicht mehr zweifelhaft jein. An dem
Meg, welchen alle Republifen aufwärts gezogen find,
aus den dürren Niederungen der Arbeit und Mühſal,
hat immer gerade an der Stelle, wo der fteile Hügel
erllommen ift, und ſich Tiebliche Hochthäler der Freude
und des Glüdes aufthun, eine Sphinx geftanden
und ihnen das Rätjel aufgegeben: ‚Wie läßt fi in
einem Staat die demofratifche Gleichheit bei wachſen⸗
dem Reichtum bewahren?‘ Die Löjung wäre ein-
fach genug gewefen. Das Bolt hätte nur fein
1062
Wirtſchaftsſyſtem fo einrichten müflen, daß der Gewinn
immer an alle gleihmäßig verteilt wurde, dann konnte
er der Gleichheit des Volkes nicht ſchaden, fo jehr
er auch zunahm,. Das gerechte Prinzip der Gleich.
heit ift der Brunnen lebendigen Waflerd für das
politifche Leben der Völker; ‚jo eine Nation davon
trinfet, wird fie ewig leben.‘ Troßdem hatte nod)
feine von allen Republifen das Rätſel löſen Fönnen,
und darum ‚bleichten die Gebeine ihrer Söhne auf
dem Hügel, und niemand durfte die lieblichen Thäler
betreten, welche fie geſchaut hatten‘. Jeht aber war
die Zeit gefommen, da die Menſchen Hug genug
waren, die rechte Antwort auf diefe Frage zu geben,
die jo oft geftellt und nie gelöft worden war. Die
Sphinx verſchwand — und für alle Völler der Erde
war der Meg nun frei.
„Ein Geift volllommener Sicherheit und Sieges-
gewißheit erfüllte die neue Bewegung. Sie wirkte
um fo hinreißender und erhebender durch den Gegen-
fat zu dem freublofen Peſſimismus der Kapitaliften«
partei und zu ben kleinlichen Zielen, den Klafjen-
intereffen, der Blindheit und Zaghaftigfeit aller Re—
formatoren, die bisher diefe Partei befämpft hatten.
„Man hätte glauben follen, daß eine Lehre von
ſolcher Kraft und Schönheit, die den Menſchen jo
viel Gutes verſprach, in fürzefter Frift das note
feidende Volt um fi fcharen würde. Aber bie
Unterweifung des Volles und feine geiftliche Leitung
lagen nit in den Händen der Neformatoren, ja
überhaupt nicht in uneigennüßigen Händen; fie hingen
faft ganz von den Kapitaliften ab. Ehemals waren
die Zeitungen nicht große Kapitalanlagen geweſen,
deſto mehr aber hatten fie fi dazu geeignet — wie roh
und unreif fie auch) waren —, die Stimme des Volles
zu repräjentieren. In der Iehten Hälfte des neun«
zehnten Jahrhunderts erforderte aber jede Zeitung
mit ausgedehnten Leferkreis ein bedeutendes Kapital.
Folglich waren alle großen Zeitungen im Befik der
Kapitalijten; natürlich wurden fie au im Sinne
der Eigentümer redigiert. So vertraten die großen
Zagesblätter immer die beftehende Ordnung ber
Dinge und befämpften die revolutionäre Bervegung —
die feltenen Fälle ausgenommen, in denen der Kapi—
talift, unter defien Oberaufficht die Zeitung fand,
bejonders freifinnige Grundfäße hatte. Sie monopo«
lifierten das Einſammeln und die Verbreitung aller
öffentlichen Nachrichten und übten auf diefe Weiſe
eine Zenjur aus, die nicht viel beſſer war ala die—
jenige, welche zu derjelben Zeit in Rußland und der
ZTürfei die Dinge auswählte, die zu den Ohren des
Boltes dringen durften.
„Nicht die Preſſe allein, auch die religiöfe Unter-
weifung des Volkes wurde von den SKapitaliften
überwadht. Die Kirchen waren Anftalten, welche von
den Kapitaliften und einem wohlhabenden Bruchteil
Edward Bellamıy.
des Volkes aufrecht erhalten wurden; fie fonnten ohne
Unterftügung des Kapitals ihre Arbeit weder forte
ſehen noch ausdehnen. Ebenjo waren alle Univerfir
täten und höheren Unterrichtsanftalten mit goldenen
Ketten an den Triumphwagen der Plutolratie ges
ipannt. Ihr Beftehen und ihr Gebeihen Bing von
den Gaben der Reichen ab, und es wäre Selbitmord
gewejen, dieje zu beleidigen. Außerdem waren ja
auch nur die Sapitaliften und der wohlhabende
Bruchteil der Bevölkerung in der Lage, ihre Kinder
in dieſe höheren Unterrichtsanſtalten zu jchiden, und
die bejißende Klaſſe gab natürlich ſolchen Schulen
den Vorzug, welche eine Lehre verfünbeten, die ihr
angenehm war.
„Wenn die Neformatoren über Preſſe, Kanzel
und Univerfität hätten gebieten fönnen, um dem Ber
ftand, dem Herzen und dem Gewiſſen des Volles
ihre Lehre einzuprägen, dann würden jie gejiegt und
da8 Sand belehrt haben, ehe ein Monat zu Ende
war. „Im Gefühl, wie ſchnell ihnen die Herzen zur
fliegen würden, wenn fie dem Boll nur nahe fommen
fönnten, grollten fie mit Recht über den Aufſchub,
denn fie mußten es ja vor Augen jehen, mie die
Menjchheit immer wieder and Kreuz gejchlagen wurde
und ohne Not unbeſchreibliche Qualen erduldete.
Welcher Menſch wäre unter folhen Umjtänden nicht
ungeduldig geworben und hätte gerufen wie fie: ‚Wie
lange, Herr, wie lange‘ Jeder Tag, der verging,
ohne die Erlöfung aus jo großem Elend zu bringen,
mußte ihnen wie ein Jahrhundert jcheinen. Da fie
mitten im Staub und Lärm unzähliger Heiner Ge»
fechte ftanden, war e8 für fie ebenfo ſchwer wie für
den Soldaten inmitten der Schladt, den Verlauf des
Kampfes und die Operationen der Streiifräfte, die
den Ausgang beftimmen, zu überbliden, Uns aber er-
icheint e3 wahrhaft wunderbar, wie ſchnell das ame:
rilaniſche Volt in den neunziger Jahren für das
Programm des Umfturzes gewonnen wurde; es fonnte
feine Frage mehr fein — der Sieg war errungen.
„Bom Anfang der zweiten Phaſe der revolutio-
nären Bewegung an jpricht ji) in der Tageslitteratur
ein neuer Geift Fraftvollen Proteftes gegen die Uns
gerechtigfeiten der Geſellſchaftsordnung ganz offen
aus, Nicht nur in Abhandlungen und Journalen
mit ernjterem Inhalt, jondern auch in den Romanen
und Dichtungen der damaligen Zeit überwog ba®
Thema der fozialen Reformen, ja es beherrſchte
die Litteratur fat ganz. Die Verbreitung einiger
Bücher, die eine völlige Neorganifation der Gefell-
ſchaft forderten, war jo enorm, daß man an dieſen
Zahlen allein ſchon das Herannahen des Umfturges
ſpüren konnte. Die Antifffaverei hat nur ein ‚Onkel
Toms Hütte gehabt, der Antilapitalismus Hatte
viele ſolche Bücher.
„Eine höchſt bedeutſame Thatſache war bie ein
Gleichheit.
ſtimmige Begeiſterung, mit der die ausſchließlich ader-
bauende Bevölkerung des fernen Weftens die neue frohe
Botſchaft von der wirtfchaftlichen Gleichheit begrüßte.
Auf Umfturzbewegungen aus den Reihen der ftädtie
ſchen Proletarier waren die Regierungen von jeher
gefaßt geweſen, aber fie zählten ſtets mit Beftimmt«
heit darauf, daß der aller Neuerung abgeneigte
Bauernftand ihnen helfen würde, die leicht erregbaren
Sohnarbeiter im Zaum zu halten. Bei diefer Um»
wälzung ſah man jebod) den Landmann in der vorber«
ften Reihe ftehen, ein Umftand, der jchon allein den
tafhen Verlauf und den zweifellofen Ausgang des
Kampfes im voraus verfündete, Gleich beim Beginn
der Schlacht hatten die Rapitaliiten ihre Reſerven
verloren.
„Zu Anfang der neunziger Jahre gewann die
Umfturzbewegung eritmals eine Bebeutung auf poli»
them Felde. Nach dem Schluß des Bürgerfrieges
hatte die feindfelige Stimmung zwijchen Norden und
Eüden zwanzig Jahre lang den Ausſchlag bei ber
Porteibildung gegeben. Dadurch waren die unzu«
friebenen Induſtriellen bisher von jeder politischen
Kundgebung zurüdgehalten worden, um jo mehr, als
fie fich nicht für ein beftimmtes Verfahren entſchließen
und darüber einigen konnten. Gegen das Ende der
achtziger Jahre war endlich die Erbitterung zwifchen
Norden und Süden fo weit gejhwunden, daß das
Volk ih zu dem neuen Kampfe rüften konnte, der
fi) bereit& feit dem Kriege drohend und unabweisbar
am Horizonte gezeigt hatte. Es war ein Kampf auf
Leben und Tod zwiſchen ber Demofratie und ber
Plutokratie zur Verteidigung der Menſchenrechte
gegen die Tyrannei des Kapitals.
„Man hatte früher in Amerika dem öffentlichen
Betrieb wirtfhaftliher Unternehmungen durch Na—
tionalverwaltung weder Aufmerkſamkeit noch Gunft
jugewendet; aber jobald die Angelegenheit überhaupt
zur Sprade fam, jhon im Jahre 1890, Hatten
politifche Parteien, die eine derartige Verwaltung
wichtiger Gefchäftszweige als wünfchenswert erfannten,
eine bedeutende Anzahl Stimmen dafür abgegeben.
1892 bildete fih in faft jedem Staate ber Union
eine Partei, weldhe verlangte, daß wenigjtens bie
Eifenbahnen, Zelegraphen, Bankinftitute und andre
zu Monopolen gewordene Einrichtungen in Staats-
verwaltung genommen werben jollten. Damals ver-
fügte die Partei über eine Million Stimmen, aber
ihon zwei Jahre jpäter war fie weit zahlreicher;
1896 nahm fogar eine der großen hiftoriichen Par«
teien des Landes ihr Programm im weſentlichen an,
und die Nation teilte ſich num in zwei faft gleiche
Hälften, die dafür und dawider waren.
„Der Schreden, welcher ſich der befitenden Klaſſe
bemächtigte, als fih die joziale Unzufriedenheit in
folcher Ausdehnung fund that, ſcheint uns jegt, nach⸗
1063
bem fo lange Zeit darüber verftrichen ift, in hohem
Grade auffallend. Denn der Angriff richtete ſich
noch keineswegs gegen den Privatfapitaliamus über«
haupt, fondern nur gegen bie ſchlimmſten Mißbräuche
der Rapitaliften. Was diefe am meiften beunrubigte,
waren ohne Zweifel nicht die einzelnen Forderungen
der Aufftändifchen, fondern die Erbitterung des
Volkes gegen fie und all ihr Thun und Treiben, die
dabei zu Tage trat und beutlich erfennen lieh, dab
dies nur der Anfang jei, und man fpäter noch weit
mehr verlangen würde. Auch die Abolitioniften
hatten zuerft nicht die Abſchaffung, jondern nur die
Beſchränkung der Sklaverei gefordert, und doch hatten
fih die Sklavenhalter über ihre eigentliche Abſicht
nicht getäufcht. Die Kapitaliften hätten thörichter
fein müſſen als ihre Vorgänger, um nicht die
politifche Tragweite der Bewegung einzujehen. Sie
mußten recht gut, daß es ih um den Kampf der
Maffen gegen die Klaſſen handelte — wie man fid)
damals ausdrüdte —, und daß die wirtſchaftliche und
foziale Revolution in der nächſten Zufunft bevor
ſtehe.“
„Aber gewiß beſaßen doch viele Kapitaliſten einen
ruhigen Einblid in die Lage der Dinge,” ſagte id;
„warum machten fie denn nicht von jelbft die nötigen
Zugeftändniffe, um fi wenigftens einen Zeil ihrer
Vorrechte zu wahren?“
„Dann wären fie ficherlich der Tyrannei zum
Opfer gefallen; denn dieſe pflegt bei jeder revolu—
tionären Erhebung erft einzulenfen, wenn e3 zu jpät
ift und an feine Rettung mehr gedacht werden kann.
Während bei den großen Revolutionen fittliche Kräfte
im Spiel find, pocdhen die Tyrannen ftet auf ihre
materielle Macht und fönnen ihr Geſchick niemals
vorausjehen, biß es unabwendbar über fie hereinbricht.*
„Nun müfjen wir aber bald unjre Sitze ein«
nehmen,” unterbrad) jet Edith das Geſpräch. „Ich
möchte nicht, daß Julian den Anfang des Schau-
ſpiels verfäumt.“
„Wir haben gerade nod ein paar Minuten Zeit,“
erwiderte der Doktor, „und da nun einmal die Rebe
auf den Verlauf der Ummälzung gefommen ift, will
ich noch einige Worte über die großartige Begeijte-
rung jagen, mit der fi das Volk ber Bewegung
bemädhtigte und fie wunderbar rafch zum Ziele führte.
In diefer Periode jpielt au das Stüd, dejjen Auf»
führung wir jehen wollen.
„Sie müflen nämlich wiſſen, Julian, daß zwar
viele der Anfiht waren, es werde ſchließlich ſowohl
in Amerifa wie überall ein Syſtem der Kooperation
an die Stelle des Privatfapitalismus treten, aber
fie glaubten, diefer Vorgang fünne fih nur langjam
und allmählich vollziehen, vielleicht im Laufe mehrerer
Jahrzehnte oder eines halben Jahrhunderts, Das
ſcheint die allgemeine Auffafjung geweſen zu fein.
1064
Aber jobald es den Maflen Mar geworden war, daß
die Sache Ausfiht auf Erfolg hatte, drängten fie
unaufhaltfam vorwärts. Zuerft freilich fam der
Plan eines nationalen Induftrieigftems dem Volke
wie ein Märchen vor. Die gleihe Güterverteilung,
die Abjihaffung der Armut, ein allgemeiner Wohl⸗
ftand und alle die andern Verheißungen, bie man
ihm machte, ſchienen ihm unfaßlich. Im ihrem hoffe
nungslofen Elend hatten die Mafjen laum zu
glauben gewagt, daß die Armut einft im Himmel
aufhören werde, aber daß es im Bereich ber Möglich-
feit fein folle, bier und jet, in dem nüchternen
Amerila ein jolches irdiſches Paradies zu errichten,
das vermochten fie ſich nicht zu vorzuftellen.
„Als aber nun die revolutionäre Propaganda
immer weiter um ſich griff und feften Grund und
Boden gewann, famen felbft die Mutlofeften zu ber
Ueberzeugung, da die Stunde des Triumphes nahe
fei. Die Hoffnung des Volles wurde zu froher Zus
verfiht, und bald loderten die Flammen der Be-
geifterung hoch empor. Hatte die Größe der Ber-
heißung die Menge zuerft erfchredt, jo war jeht ber
Jubel grenzenlos, Alle glühten vor Eifer, dies
wonnevolle Leben zu beginnen; feinen Tag, feine
Stunde wollte man mehr warten, Die Jungen
riefen: ‚Laßt uns eilen, in das gelobte Land zu lom«
men, folange wir noch jung find, damit wir er-
fahren, was es heißt, zu leben!: und die Alten ſagten:
‚Laßt und noch vor unferm Ende bineingehen, auf
daß wir in Frieden fterben können, weil wir wiſſen,
es wird unjern Rindern wohlergehn, wenn wir bie
Augen jhließen‘ Die Führer und Pioniere ber
Bewegung, deren Bemühungen lange Jahre an dem
Unglauben und der Gleidhgültigfeit des Volles ge
jcheitert waren, zu dem fie rebeten, ſahen fich jetzt
von einer mächtigen Woge der Begeijterung mit fort-
geriffen, die fie unmöglich aufhalten oder in ruhigere
Bahnen Ienfen konnten.
„Aber der Weg lag Mar vor ihnen, und um die
Erregung des Volfsgemüts nod höher zu fleigern,
erfolgte jebt die ‚große Erwedung‘ und verlieh der
ganzen Bewegung eine religidje Färbung.”
„Auch wir hatten zu meiner Zeit fogenannte re
ligiöfe Erwedungen, die ſich manchmal in weite Kreije
verbreiteten. War dieſe ähnlich beichaffen ?”
„Wohl kaum,” erwiderte der Doltor. „Bei der
‚großen Erwedung‘ begeifterte man fich für die joziale
Erlöfung, nicht für die Rettung der einzelnen Seele.
Es galt die Gründung des Reiches Gottes auf Erden,
des Reiches der brüderlichen Liebe, welches Chriftus
verfündet hatte, auf welches er die Menſchen hoffen
ließ und wofür fie wirken jollten nad feinem Gebot.
Am Schluß des vorigen Jahrhunderts waren den
Amerikanern die Augen darüber aufgegangen, daß
ein Induſtrieſyſtem, welches die wirtfchaftliche Gleiche
1
Edward Bellamy.
heit aller Menſchen einführte, auf einer wahrhaft
ethiihen und religiöfen Grundlage beruhe.
„Daß die Bewegung von Kriftlichem Geift und
Sinn getragen war, Tiegt auf der Hand. Sie ber
abfihtigte ja nichts Geringeres, als Chriſti Lehre,
daß man feinen Nächſten lieben ſolle wie ſich jelbit,
zur Grundlage der ganzen Gejellihaftsordnung zu
machen. Der erfte Schritt dazu mußte natürlich die
Sorge für dad materielle Wohlergehen aller fein.
Man follte denfen, daß man Leuten, welde ſich
Ehriften nannten und mit dem Neuen Teftament
vertraut waren, das alles nicht erft zu erflären
brauchte. Sie mußten ja fofort erfenmen, daß das
Programm der Reformpartei nicht? war als eine
Anwendung ber chriftlichen Nächftenliebe auf wirt-
ſchaftliche und politifche Verhältniſſe. Die gläu
bigen Chriften hätten ohne Zögern berbeieilen müffen,
um fi aus allen Kräften, mit ganzer Seele und
vollem Herzen der Bewegung anzufchließen. Das
fie nur jo langjam herzufamen, daran war bie falfche
oder mangelhafte Belehrung ſchuld, welche fie von
denen erhalten hatten, die vor allen andern berufen
und verpflichtet geweſen wären, fie zur That zu trei-
ben — von den riftlichen Predigern.
„Seit vielen Jahrhunderten, ja gleich nad dem
Beginn der hriftlihen Aera, hatten die Kirchen ſich
von dem chriftlichen Ideal abgewendet, das in der
Gründung des Reiches Gottes auf Erden beitand,
unter Einführung bes Geſetzes gegenfeitiger Hilfs
bereitjhaft und brüberlicher Liebe. Die Geiftlichteit
hielt die Regeneration der menjchlichen Geſellſchaft
in dieſer Welt für ein hoffnungslofes Unternehmen
und verfündete dem Volk im Namen deſſen, der uns
das Vaterunfer gelehrt hat, dab Gottes Wille auf
Erden nicht geichehen würde. Statt wie Chriftus
die beftehende Gejellihaftsordnung für böje, ver»
derblih und ber Erneuerung bebürftig anzujehen,
übernahmen fie den Schuß und die Verteidigung der
ſozialen und politiſchen Injtitutionen und brauchten
ihren ganzen Einfluß, um das Streben des Volle
nad) einer gerechteren und gleichmäßigeren Güterver-
teilung zu unterbrüden, In der Alten Welt kämpften
fie für die Gewalt und das Vorrecht der Mächtigen
und erftidten jedes Verlangen nad) Freiheit und
Gleichheit. Wenn bie Könige und Kaifer ſich den
Wünſchen ihrer Unterthanen wiberjegen wollten, jo
leifteten ihnen die Geiftlihen nützlichere Dienite als
die Polizei und das Militär. In der Neuen Welt
hatte das Königtum bei jeiner Wbdanfung das Zepter
binterrüds den Rapitaliften in die Hand gelegt. Da
übertrugen aud) die Priefter ihre Unterthänigfeit auf
die Geldmacht. Hatten fie früher das göttliche Recht
der Könige verkündet, über ihre Mitmenſchen zu
herrſchen, fo lehrten fie jet: der erworbene oder er-
erbte Reichtum verleihe feinem Beſitzer ein göttliches
Gleichheit.
Recht, ſich andre dienſtbar zu machen, und es ſei die
Pflicht des Volkes, ohne Murren zuzuſehen, wie die
Reichen ſich alle Güter ausſchließlich aneigneten.
„Die Stellung, welche die Kirchen beim Streit
der Mächtigen gegen die Menſchenrechte und die
Gleichheit aller einnahmen, hatte von jeher viel
Hergernis verurfacht und ihrem Anjehen und Einfluß
bei jeder revolutionären Kriſis großen Abbruch ge=
than. Da nun der jehige Kampf zwiſchen dem
Privatlapitalismus und der wirtjhaftlichen Gleichheit
von jo großer Wichtigkeit war, wie fein früherer je
geweien, jo mußte auch die Haltung, welche bie
Rirhen dabei annahmen, über ihre ganze Zukunft
entiheiden. Stellten fie ſich in diejer großen Lebens-
frage auf die Seite der Gegner des Volfs, fo be—
gingen fie einen ungeheuren Jrrtum, der für fie ver-
hängnisvoll werden Fonnte, indem er ihnen den legten
Halt raubte, den fie noch in Geift und Herz des
Volkes bejejen hatten, Wären dagegen bie fir»
lihen Führer im ftande gewejen, die volle Bedeutung
der großen Umkehr aller Herzen zu Chrijti Menjchheits-
ideal zu verftehen, welche ih am Schluß des neun
jehnten Jahrhunderts vollzog, jo hätten fie hoffen
dürfen, die allgemeine Achtung und Ehrfurcht vor
der Kirche wiederherzuftellen und fi troß aller be—
gangenen fehler als die wahren Vertreter des drift-
lichen Geiftes und der chriftlichen Lehre zu erweiſen.
Unter den Geiftlichen gab es aud) einige — ja ver»
bältnismäßig viele — die dies einjahen und ben
verzweifelten Verſuch machten, ihre Standesgenofjen
davon zu überzeugen. Aber das Herfommen und
die alten Weberlieferungen machten dieſe blind; fie
vermochten dem Drängen des Kapitalismus nicht zu
widerjtehen und erfannten die Zeichen der Zeit erft, als
es zu fpät war. Auch andre gelehrte Körperfchaften
verichloffen fih der Einficht, daß die Menſchen- und
Bruberliebe, welde fih wie ein gewaltiger Strom
über die Erde ergoß, von Gott gewollt und im flande
fei, die Welt umzuwandeln und zu erneuern. Aber
wern es aud zu beflagen war, daß viele weile
Männer das Weſen der großen Krifis mißverftan-
den, jo war doch die Blindheit der Geiftlichfeit am
Ihlimmften, denn ihr Beruf Hatte ihnen ausdrücklich
die Pflicht auferlegt, das gleiche liebevolle Verhalten
gegen alle zu predigen und auf daß Reich der brüder-
lihen Liebe zu warten, das durch den Umfturz ge=
gründet werben jollte, und deſſen Kommen fie jet
mit Verwünjhungen begrüßten.
„Die damaligen Reformatoren ſprachen ſich jehr
bitter gegen die Geiftlihen aus und bejchuldigten
fie eines doppelten Verrats an der Menſchheit und
dem Chriftentum, weil fie fich der Revolution wiber-
ſetzten, ftatt fie zu unterftüßen. Aber die Zeit hat
alle harten Urteile gemildert, und jet denken wir
nicht mehr mit Entrüftung, ſondern voll tiefen Mit-
Aus fremden Yungen, 1897. II. 24
1065
leids an jene Unglüdlichen zurüd, denen die Führer»
ſchaft bei dem größten Fortfchritt, den die Menſchheit
je gemadht hat, angeboten wurde, und welche bieje
unvergleichliche Gelegenheit von ſich wieſen. Ihr
Mißgeſchick ift ohnehin jchon groß genug, warum
jollten wir es noch duch unfre Vorwürfe ver-
ſchlimmern?
„Infolge der wachſenden Aufklärung hatte der
kirchliche Einfluß in Amerifa um dieje Zeit zwar
jehr abgenommen, aber daß ſich die Geiftlichfeit gegen
das Programm der wirtjchaftlihen Gleichheit jo ab—
Ichnend verhielt, trug doc entjchieden dazu bei, die
ausgeſprochen chriftlichen Sereife der Umfturgbewegung
abgeneigt zu machen, welcher fie ſich jonft natur
gemäß hätten anſchließen müſſen. Allein das war
nur eine Frage der Zeit; die öffentlichen Beiprechungen
bes Gegenitandes madten bald ihre erziehliche Wir⸗
fung geltend, jo daß jeder in den Stand gejeßt
wurde, fich ein jelbftändiges Urteil zu bilden. Nun
folgte die ‚große Erwedung‘ ; die Maſſen des Volkes
waren zu der Ueberzeugung gelangt, dab die Ume«
mälzung, vor der die Priefter fie warnten, weil fie
unchriſtlich fei, in Wirklichkeit den wahren Geiſt bes
Chriftentums atmete und fo tief und innig von ihm
durhdrungen war wie feine andre geiftige Erhebung
jeit jener Zeit, da Ehriiius feine Jünger berief,
Jeder, der Chriſti Lehre liebte und an fie glaubte,
mußte fi daher der neuen Bewegung aufs eifrigfte
anjchließen.
„Unter allen großen Völkern der Erde jheinen
die Amerikaner in Bezug auf das, was man damals
Religion nannte, am aufgeflärteften und am meijten
von chriſtlichen Gefühlen befeelt gemwejen zu jein.
Als die Nation erkannte, daß die gleiche Wohlfahrt
aller, dieg Jdeal ber Welt, das die Priejter als ge-
fährlihen Irrwahn verdammten, nichts anders jei
ala das Reich Gottes, welches Chriftus gründen
wollte, war die Begeifterung groß. Nun wußten fie,
daß die Hoffnung, die den Anhängern des Um-
ſchwungs voranleudhtete, fein verzehrenbes Feuer Sei,
wie die Kirche es lehrte, fondern nichts andres als der
Stern von Bethlehem mit der neuen froben Botſchaft.
Kein Wunder, daß die Umfturjbewegung von da ab
immer mehr den Charalter eines Kreuzzug: annahm;
es war der erfte Ktreuzzug in der Weltgeſchichte, der
jeinen Namen mit Recht trug und in Wahrheit den
Anſpruch erheben durfte, das Kreuz zu feinem Sinn-
bild zu machen. Die von jeher religiös gefinnten
Mafien kamen zu der Erkenntnis, daß die Wohlfahrt
aller Menſchen auf einem göttlichen Plan berube,
fo daß fie zugleich ihre höchſte Glücfeligfeit erlangen
und Gottes Willen erfüllen fönnten. Auf ſolche Weije
murde die Umfturzbewegung zu einer religiöjen Er—
wedung. Wie damals nad der Predigt Peters des
Einfiedlers, jo rief auch jetzt das Volk nad) der Rebe
134
1066
der Reformatoren aus: ‚Es ift der Wille Gottes!‘
und feiner zweifelte mehr daran, daß die Verheißung
fich erfüllen würde. Die Ummälzung, welche ihren
Lauf umter dem Bann der Kirche begonnen hatte,
fand ihre Vollendung in einem hohen fittlichen und
religiöfen Aufſchwung.“
„Was wurde aber aus den Kirchen und ben Geift-
lichen, als das Wolf die Blindheit ihrer Führung
erkannt hatte?” fragte ich,
„Sie werden wohl geglaubt haben, der jüngfte
Tag fei erſchienen,“ erwiberte der Doktor, „als ihre
Gemeinden mit der Bibel in der Hand Rechenſchaft
von ihnen forderten, warum fie jeit Jahrhunderten
das Evangelium verborgen und Gottes Dffenbaruıngen
gefälicht Hätten, ftatt fie richtig auszulegen, wie fie
doc vorgaben. Allein der Jubel und die freude
des Volkes über die Entbedung, daß freiheit, Gleich.
heit und Brüderlichfeit nichts andres als ber praf-
tiiche Inhalt des Ehriftentums fei, war jo groß, daß
feine Bitterfeit gegen irgend eine Menſchenllaſſe
mehr in den Herzen Raum fand. Die Welt Hatte
nur für alle Zeiten die Erfahrung gemacht, daß fie
fih auf die Führung der Geiftlichkeit nicht blindlings
verlaffen dürfe. Daß die Priejter ihr Amt jo
mangelhaft verwaltet hatten, lag aber — wie ji
das von ſelbſt verfteht — nicht etwa daran, daß fie
weniger gut waren al3 andre Menſchen. Die Schuld
trug nur ihre hoffnungslos falſche Stellung, das
heißt, ihre wirtichaftliche Abhängigkeit von denjenigen,
deren Leiter fie hätten fein follen. Sobald die
‚große Erwedung‘ in vollem Gang war, “beteiligten
fie fi) mit demfelben Eifer daran wie das Volt,
ohne jedoch eine Führerrolle zu beanſpruchen. Sie
folgten ber Menge, an deren Spike fie hätten fiehen
fönnen.
„Mit der ‚großen Erweckung‘ fängt aud) die
Hera der heutigen Religion an, einer Religion, die
weder heilige Zeremonien und Gebräuche noch Dog-
men und Glaubensbefenntniffe fennt und alle leib-
lihe Furcht und Sorge aus dem Leben verbannt hat.
Daß innigfte Gefühl von der Zufammmengebörigteit
der ganzen Menjchheit untereinander und der Ver—
bindung des Menſchen mit Gott erfüllt alle Herzen
und bethätigt fi) in der Lebensführung, Der Menſch
ift jich feines göttlichen Urfprungs bewußt und fürchtet
nichts Böſes, weder auf Erden noch jenjeits des
Grabes.“
„Nach den weiteren Entwicklungsſtufen der Um—
wandlung brauche ich Sie faum noch zu fragen,” ſagte
ih, „denn vermutlich hat ihre Vollendung nad der
‚großen Erwedung‘ nicht lange auf ſich warten laſſen.“
„Freilich, fie gab den höchſten Antrieb für die
unmittelbare Einführung der gleichen Wohlfahrt aller,
der jedes Hindernis fiegreich überwand, Aber nicht
gewaltfam wurde der Wideritand bejeitigt, er ſank
Edward
Bellamy.
von ſelbſt dahin. Daß die Kapitaliſten, zu denen
Sie ſelbſt gehörten, nicht ſchlechter waren als andre
Leute, brauche ich Ihnen laum zu ſagen. Sie waren
gleich allen übrigen genau das, wozu das herrichende
Wirtſchaftsſyſtem fie gemacht Hatte. Auch fie ver-
mochten der Vegeifterung für das Menſchenwohl, die
fi) aller Welt bemächtigte, nicht zu wibderjtehen; fie
fühlten ſich mit ergriffen von der Flut der unend-
lichen Liebe und des Erbarmens, welche bei ber
‚großen Erwedung‘ die Menjchheit durchſirömte.
Die Erkenntnis, daß es fi in dem Kampf der alten
mit der neuen Ordnung nur darum handelte, ob der
allmächtige Dollar auf Erben herrſchen jollte ober
der allmädtige Gott, machte allem Wiberftreit ein
Ende. Eine Meine Minderzahl von SKapitalifien
ſcheint freilich noch bis zufeßt heftig gegen die Um—
fturzbewegung aufgetreten zu jein, aber fie fonnten
nichts erreichen. Der größere und beffere Teil ihrer
Partei machte gemeinfame Sache mit dem Bolle und
half die neue Geſellſchaftsordnung vollenden, welät,
wie jet jedermann einfah, die Wohlfahrt aller ber
zwedte.“
„Und es entſtand fein Krieg?“
„Ein Krieg? Bewahre. Wer hätte auf feind⸗
licher Seite kämpfen follen? Sonderbar, daß die
alten Reformatoren fi; den Umſturz bes Privat-
fapitalismus nur auf gewallfame Weije vorſtellen
fonnten! Sie erinnerten fortwährend an den Bürger:
frieg in den Vereinigten Staaten und an die fran-
zöſiſche Revolution, um ihre Befürchtungen zu recht-
fertigen; aber in dieſen beiden fällen war bie
Sadjlage eine ganz andre, Als es fich um die Ab⸗
ſchaffung der Sklaverei handelte, ſtanden zwei gto-
graphiſch gejchiedene Ländermaflen, deren jebe für den
auf der Gegenfeite vorherrfchenden Gedanlen unzugäng-
lich war, einander feindlich gegenüber, und der Krieg
ließ fi) nicht vermeiden. Bei der franzöſiſchen Re
volution aber wäre es zu keinem Blutvergießen in
Frankreich gelommen, hätten fich nicht die benachbarten
Fürften und Völker unberufenerweife eingemijcht. Das
die große ‚Revolution‘ in Amerika einen fo frieblicden
Verlauf nahm, wurde überbies noch dadurch erleichtert,
daß es feine von alteräher beftehenden laffemunter
ſchiede und folglich auch keinen tief eingemurzelten
Klaſſenhaß gab. Zwar begann fi dies Gefühl
bereit3 mit großer Schnelligkeit im Bolfe zu ent-
wideln, aber noch war e8 nicht fo weit gebiehen, daß
die foziale Begeifterung bei der großen Ummälzung
nicht im ſtande gewefen wäre, es zu überwinden und
die ganze Nation in gemeinfamer Liebe und Treue
zu bereinigen.
„Man darf auch nicht vergefien, daß die Umſturz⸗
bewegung in Amerika durchaus feine Ummälzung im
politiichen Sinne war, wie alle früheren Roll
erhebungen. Bisher hatte fich das Volk ſtets gemötigt
Gleichheit. 1067
geſehen, um eine wünſchenswerte Veränderung durch⸗ „An kleinen Unruhen und Zuſammenſtößen, bei
zuſeten, bie Regierung zu ſtürzen und die Zügel | denen es auch zuweilen zum Handgemenge kam, jo
ſelbſt in die Hand zu nehmen. In einem demokra- daß Blut fließen mußte, hat es wohl nicht gefehlt.
tiſchen Staat wie Amerika brauchte die Nation aber | Aber ein allgemeiner Kampf, wie ihn die Neforma-
nur zu beſchließen, was geändert werden follte, und | toren erwarteten, blieb gänzlich aus, Im Lauf der
damit war die Ummälzung fchon im wejentlichen volle | Weltgeſchichte find bei ganz unbebeutenden Streitig«
bracht. Das Volk befah die Macht und das Recht, | keiten zwiichen Heinen Fürften und Sönigen mehr
feinen Willen zu behaupten; das konnte ihm niemand | Menjchenieben verloren gegangen als in Amerifa
bejtreiten. So vollzog fich die ‚Revolution‘ alfo nicht | bei der größten aller Umwälzungen.“
mit Kanonendonner und Blutvergießen; fie glich mehr „Und ift es den europäiſchen Völfern ebenjogut
der Verhandlung eines Rechtsfalles vor Gericht. | ergangen, als fie diejelbe Krijis durchmachen
Der Gerichtshof war das Volt, und der Kläger mußten?“ :
fonnte feine Sache nur getwinnen, wenn die Richter „Die Zuftände in jenen Ländern waren einer
ihm beipflichteten; denn eine Berufung gab es nicht. | friedlichen Ummwälzung nicht jo günftig wie in den
„Es entjtanden weber Verſchwörungen, Intriguen, | Vereinigten Staaten, und bei den meiften dauerte
Mord und Totſchlag noch alle die taufend Zwiftig- | die Entwidlung länger und forderte härtere Kämpfe.
feiten, wie bei den revolutionären Bewegungen in | Aber zu Mord und Totſchlag, wie die alten Volls—
den italienischen und vlämiſchen Städten des Mittel- | verbeijerer befürdhteten, ift e8 auch unter den Völlern
alter. Für den dramatijchen und romantifchen | Europas nirgends gelommen. Im ber ganzen Welt
Schriftſteller lieferte die große ‚Revolution‘ in Ame= | gelangte die Bewegung hauptſächlich durch Die
rifa feinen dankbaren Stoff.” Macht ihrer fittlichen Sräfte zum endgültigen
„Ist e8 denn möglih, daß fich die Ummälzung | Siege.”
wirllich ohne jede Gewaltthätigleit vollzogen hat?* (Schluß folgt)
von
a. ©. Euja.
Aus dem Rumänifchen überfeßt von W. Rudom.
l. Den Menfchen wohl erniedrigt, die Menfchheit doch erhebt.
© füße Nactigallen, o fehnfuchtsvolle Sterne, Doch ſuchſt du hinter allem den letzten Swed und Grund:
Gebt, daß mein Kerze Ruhe, daß ſich's befrieden ferne! | Wozu dann die Gefege? Wer thut mir diefes fund?
Und du, o Mond, o ziehe mich auf zum Himmelszelt, So bleibft du, wo die Menſchheit vor taufend Jahren ftand:
Daß ich nicht immer hafte an diefer Meinen Welt! Sie mögen Zweck wohl haben — uns ift er unbefannt,
Dom Schmutz; des Alltagslebens, o reinige mich, Quelle, 2.
Daf mir der Wind von oben des Geiftes Segel ſchwelle! Wie fönnten wir auf Erden fo froh u —
NE — nd glücklich leben,
Und tret’ ich, Wald, in deine geweihten Sauberfchranten, Wenn fich die Menfchen wollten nicht ftets fo überheben,
O gieb die Auhe wieder den ftürmenden Gedanfen! | ern nicht die niedre Selbftfucht fie zöge in den Staub,
Beruhigt oben fchwebend im offnen Himmelsraum, ; sn: . *
Sehr ich im Exdentreiben mr einen wäßen Tamm. Drin fie wie Dieh ſich wälzen, gemeiner £üfte Raub!
Dann bin ich nicht gleich andern entwürdigt unters Tier, 3.
Am Felſen feftgefchmiedet der niederen Begier. Der Kampf ums Dafein zwingt uns, die andern zu ver-
Und find des Berzens Wünfche gewelft im Sturm der Zeit, geffen,
So werd’ ich ruhig ftehen, von Keidenfchaft befreit. Und uns mit Haut und Haaren einander aufzufreffen.
Ich werde um mich bliden und werde freudig fehen, Und fragft du: Wird die Zukunft nicht ändern diefes
Wie durch das ganze Leben Gefetze waltend gehen; Treiben? —
Daß auch die Selbftjucht, welche ins Herz die Krallen gräbt, | So hörft du: Ewig, ewig wird diefer Jammer bleiben!
Neubau.
Novelle von
Auguſt Strindberg.
Aus dem Schwebilchen überfegt von Guſtav Lichtenfein.
&s war an einem MairAbend am Genferjee.
Die Meinftöde trieben ihre erfien Blüten, Die
Nachtigall ichlug Tag und Nacht in der Libanon-
jeder des Beau Rivage, die Rofen befleideten
Mauern und Wände, der Bambus neigte fid) vor
dem warmen Seewinde und bie fyeigenbäume be»
dedten fih mit jungem Laub. Die frifh anges
ftrichenen Bergnügung&boote Tagen ſchaukelnd in dem
Heinen Hafen und hatten die Flaggen aller Nationen
gehißt. Die bunten Wimpel flatterten in friedlichen
Spiele, einander peitj—hend oder fi um einander
ihlingend wie badende Knaben; der bleiche Halb» |
mond neben dem glänzenden Sternenbanner, der
ſchwarze Adler die Trifolore liebfojend, Albions
bluteote Leinwand mit der blaugezeichneten Ede
ala Andenfen an die blutgetränften blauen Berge
und Seen des Schwefterlandes, Spaniens rotgelbe
und Griechenlands blauweiße Flagge, alle augen= |
blidfich in Gottes Frieden glänzend durd das weiße |
Kreuz auf rotem Grunde der Eidgenoſſenſchaft, alle |
beleuchtet von berjelben Abendjonne und fih ab»
zeihnend an den für unverleglich erflärten Savoyer
Alpen, wo nad dem legten Donner und Knallen
der für immer verwiefenen Kanonen und Ehaffepot-
gewehre nur die Büchſe des Gemsjägers die Ruhe |
ftören darf.
Frohe, freundliche Menſchen firömten hinab in |
den Park im Bean Nivage, um die Magnolien
biühen zu fehen. Das Unterholz mit feinen dunklen,
gejhmeidigen Zweigen zeigte nod) fein Blatt, aber |
es war von der Spike bis zur Wurzel mit wohl
taujend weißen Glödchen, deren Grund violette
Farben zeigt, bededt. Der Gärtner hatte zwijchen
Lorbeer und japanifcher Mifpel für fie Platz gemacht,
damit fie, die Königin aus frembem, jonnigem Lande,
den bewundernden Menſchen ihre Schönheit zeigen
fonnte,
Lachen veritummt, und ber Fremde, der fie zum
eriten Male fieht, bleibt ernit und verwundert, wie
vor einer Offenbarung ſtehen. Man will heran-
treten, um fie zu berühren, fie mit feinen Sinnen
zu empfinden, aber der wohlgejhorene Rajen hält
die Profanen in einem gewilfen Abftand. Die
Man nähert fi ihr mit Ehrfurdt, das
ı fchreienden Tulpen auf den Rabatten werden von
| der einfachen, weißen Blumenpradht zum Schweigen
| gebracht, weiß wie der Schmud einer Braut oder
einer Leiche, und die ſchwarze Zeder ftredt ihre
‚ langen Zweige mit dem aufwärts gebogenen Sproß
wie Finger aus, ala wolle fie die Schönfte auf der
großen Hochzeit des Frühlings jegnen.
Auf einer Bank in der Nähe des See⸗Ufers fahen
zwei alte Damen, beide elegant gefleidet, vielleicht
' für ihre fünfzig Jahre in etwas zu lebhaften Farben
und zu modernem Schnitt. Die eine hielt eine
Nummer der „Saturday-Review* in ber Hand,
deren Leitern fie durch ein goldenes Binocle be
tradtete. Ihr Gefiht war weißgelb und ftreng, und
ihre Nafe hatte jene vornehme Form, die zugleich
auf reihe Eltern und ein edles Gemüt hindeuten
jol, Als fie von ihrem Bude aufjah und bie
ſchönſte Ausficht der Welt betrachtete, geſchah dies
mit einer Miene, als ob ie in der Anordnung der
Alpen und ber Sonne irgend etwas Tadelnswertes
gefunden habe,
Die andre Dame, ihre Schwefter, ſah mie die
Güte, die Nahfiht und Zufriedenheit jelbft aus,
‚ und ihr rundes, freundliches Geficht midte allem,
was fie ſah, Beifall zu; jedem Schatten, allen
Flecken wich fie aus, und wenn dies nicht anaing,
ſchloß fie die Augen und dadte an etwas Schöne.
Wenn jemand von einem Unglüd, einem Verbrechen
' erzählen wollte, fo bat fie für fih um Schonung;
es thue ihr nur wehe, und fie könne ja dod ge
ſchehene Dinge nicht ungejchehen machen.
Zwiſchen ben beiden Damen faß ein junges
Mädchen mit dem in der Schweiz ala jchön an-
gefehenen Typus: ovales Geſicht, niedrige Stim,
gerade, ſchmale Nafe, welche die Mütter daburd)
bervorzubringen ſuchen, daß jie recht fleißig dir
Stumpfnafe des Kindes zufammendrüden, hochbuſig,
mit geraden Schultern und ſchmaler Taille, wie die
Mode der Frauen im Mittelalter war. Ihr Haar
aber war faft weiß. Sie hatte ein Buch auf den Knieen
und betrachtete unruhig alles und alle, bald ben
Schwan, der mit feinen kürzlich außgebrüteten Jungen
am Ufer auf und nieder ſchwamm, bald die
Neubau.
amerilaniſchen Anaben, die mit ihren Schwimmfleidern
in dad Badehaus hinunter gingen. Sie betrachtete
die Segelboote, die auf dem See freuzten, und Die
Möwen, die mit breitem, ruhigen Flügelſchlag ihre
Kreije zogen. Endlich Mappte fie dad Buch zu und
jagte mit müder Stimme:
„Wer doch ein Schwan fein könnte!“
„Ein Schwan?" antwortete die firenge, unver-
heiratete Tante. „Weldhe Einfälle! Und jedes Jahr
im April fünf Yunge befommen!“
„Was ift denn meiner Blanche heute abend?“
fragte die freundliche Tante, eine Witwe, deren ein«
jiges Kind geſtorben war.
„O, nichts,“ antwortete Blandje und errötete,
Es wurde wieder ftill,
Nun ging ein Trupp Bergfteiger, englifhe Damen
und Herren mit Alpenftöden und Rudjäden, an ihnen
vorüber. Sie gingen Arm in Arm und blidten
froh und glüdtich drein. Wie männlich die Mädchen
ausſehen! dachte Blanche, ala fie die Gamaſchen,
bie furzen Nöde und die fchottiichen Wollmüßen
derfelben erblidte, Und fie würden in einer Senn«
hütte übernachten und bei Sonnenaufgang auf die
Gipfel fteigen, Käſe und Brot efjen und weihen Wein
trinten — ohne Eltern, Tanten oder 2ehrerinnen,
Sie fühlte fi wie eine Gefangene, von zwei Wäd-
terinnen, die niemals einfchlafen konnten, bewacht.
Hätte fie um Erlaubnis zum Baden gebeten, fie
wären ihre mit zwei Thermometern gefolgt; hätte
fie gewünfcht, auf den See hinausrubern zu dürfen,
fie hätten drei Männer und zwei Pfalmbücher mit
fi) genommen; hätte fie um die Erlaubnis gebeten,
mit Hameradinnen auszugehen, fie wären mit ihr
gegangen. Fiel ihr einmal ein fühner Gedanke ein,
die beiden Tanten lafen ihn fofort von ihrem Ge—
fiht und ertappten fie; empfand fie einmal ein auf-
rührerifches Gefühl, fie wurde ſogleich durchſchaut.
Sie hafte diefe Tanten. Sie wollte ihnen davon-
laufen, fid in den See flürzen, aber da fühlte ihr
gutes Herz einen Stid. Sie war undankbar; dieſe
beiden Menſchen lebten nur für fie, und fie war
deren einzige freude. Sie war deren Freude!
Welche Freude aber gaben fie ihr? Sie gaben ihr
Lebensunterhalt und Erziehung; ein Kind kann in«
bes für den Lebensunterhalt nicht dankbar jein, denn
es ift noch nicht zu der Erkenntnis gelommen, daß
man für das bloße Leben dankbar fein müjle.
Aber die Erziehung! Das ift wahr; fie war
dazu augerloren, ihr ganzes Gejchlecht zu rächen,
fie durfte ftudieren und ber Welt zeigen, daß das
Weib dem Manne nicht untergeordnet jei, was die
Welt niemals bezweifelt hatte, was aber der ſtrengen
Tante von vornherein Har war. Sie jollte Rache
nehmen, Rache an dem Unrecht, welches die frenge
Tante durch das ganze Männergeſchlecht erlitten
1069
hatte, weil nicht ein einziger ihrer Freier Kavallerie
lieutenant gewejen war. Sie jollte außerdem ber
andern, der gütigen Tante den verlorenen Mann
und das tote Kind erſehen. Das war ihre doppelte
Aufgabe, aber diefe befriedigte fie nicht. Sie hatte
neulih von den anthropomorphen Affen gelefen, die
von einem einzigen iyrannifiert werben, der bie
ganze junge Truppe für ſich leben läßt, bis die
jungen heranwachſen, dann regelmäßig revoltieren
und ſich befreien. Die Orbnung ber Natur fhien
in der Natur ungleich zu fein.
Run kam eine Schar Studenten unter Gejang,
mit Trommeln und Fahnen an das Ufer, wo be-
flaggte Boote ihrer warteten, um fie zu einer Re»
gatta zu führen, Ihre Couleur-Mützen, ihre bunten
Berbindungsbänder über den MWeften, ihre freien
Bewegungen in den Booten, das anfeuernde Trommel»
ſchlagen, das alles machte Blanche noch unrubiger.
Die Tante mit der „Review“ betrachtete die
Studenten dur ihr Binocle mit mürriſchem, bo3«
haftem Auge, als ob fie dächte: Wartet nur! Blanche
aber fam der Gedanke: In drei Wochen bin auch
ih Student! Ein Dann aber werde ich doch nie»
mals,
Was bedeutet diefer Seufzer des weiblichen Ge—
fchlechtes, den man durch die Stürme der Zeit ver-
nimmt? Wäre ih ein Mann! jo grübelte fie weiter.
Iſt es die Empörung gegen die männlichen Unter
drüder? Nein, Blanche wurde ja von zwei Frauen
unterbrüdt, und aud alle Männer widerjegen ſich
der Unterbrüdung! Iſt es das Urteil der Kultur
über ſich jelbft? Iſt es die verftümmelte, unter
jochte Natur, die Tieber nichts fein will als etwas
Halbes? Bedeutet die Sehnſucht des Weibes nad)
Freiheit nicht Dasjelbe wie die des Mannes? Blanche
fühlte ſich kranl. Sie wollte nah Haufe gehen.
Es fing an falt zu werden. Die beiden alten
Frauen ftanden auf; die firenge Tante Bertha,
deren Füße unficher waren, ergriff aus alter Ge-
wohnheit Blanche Arm. Und jo gingen fie, Schritt
für Schritt. Blanche hörte den Gejang der Stu:
denten auf dem See — fie mußte dem ſonnigen
Bilde den Rüden fehren und zurüd in die graue
Stadt. Ihre Füße wollten eilen, aber der magere
Arm der Tante hielt den ihrigen wie eine Ktrücke
umjpannt; fie war an das Alter feftgefettet, gefeſſelt
an eine ſelbſtiſche Zärtlichkeit, die zu geben glaubte,
wo fie allein empfing, Schritt für Schritt, wie
eine Wanderung zum Grabe, ging die Rüdfehr zur
Eifenbahnitation von ftatten ; dazwiſchen mußte man
ftillftehen, damit Tante Berta Atem jchöpfe. Sie
Hletterten in ein Coupe, ftarrten auf die Anſchläge
in der Bahnhofshalle und wurden endlich durch den
Tunnel hindurch nad Yaufanne geichleift. .
1070
Nah beendigtem Abendefien durfte Blanche zu
einigen fyreundinnen gehen, die Geburtstag feierten;
bad Dienftmäddhen aber follte fie um zehn Uhr
holen. Blanche fühlte ſich unwohl, fie hatte Kopf-
jchmerz und fror und zog e& daher vor, zu Haus
zu bleiben, Sie begab ſich auf ihr Zimmer, das
vor dem der Tanten lag, und bat, fie allein zu
laſſen, da fie leſen wolle. Es war ein großes,
ſchönes Zimmer, mit allerhand einen Lurusgegen-
ftänden angefült. Die Möbel waren gepolſtert
und mit Kiffen belegt, die Dielen mit Matten be»
dedt, die Wände mit Bildern behängt. Anftatt der
Toilette war ein Schreibjefretär vorhanden, anftatt-
einer Kommode ein koloſſaler Mahagonitiih mit
Fächern und Saften und zu beiden Seiten bes
enter paradierten gewaltige Büchergeftelle. Aus
der Büherfammlung leuchtete die „Revue Suiffe*
in ihrem blauen Umfchlag, die „Revue des Deur-
Mondes“ in ihrem fleifchroten Einband hervor ; hier
ftanden „Thomas a Kempis“ und „Bunyan“, „Eurer
Bell“, „Miftreß Gore“ und „Miß Cavanagh* fried-
li nebeneinander, Der Schreibtiih war mit allerlei
Büchern bededt. Blanche jehte fih an den Tiſch
und blätterte in benjelben. Hier aljo lagen bie
Bejreier aus den engen Banden, welde um das
Weib gezogen find — dies waren die Zaubermittel,
die fie dem Manne gleich; machen follten. Wunber«
bar genug, meinte fie; noch hatte fie von einer Ber
freiung nichts gemerft. Ihr Kopf war jcdhwerer,
aber ihre Gedanken waren nicht freier. Sie hatte
in all diefen Büchern, die vom Staate gebilligt und
garantiert waren, nicht ein Wort von Befreiung
gelejen. Sie hanbelten ja nur von unwirfliden
Dingen, von dem, was gewejen und niemals wieber
werden fonnte; aber von dem jefigen Leben, von
der Zukunft ftand fein Wort darin. Es war nur
eine Berberrlihung menſchlicher Thorheit. Bon dem
großen Reformator Ealvin, der, faum den Flammen
entgangen, weil er nicht an das Mofterium bes
Abendmahls glaubte, Michael Servet verbrennen
ließ, weil dieſer in der Dreieinigleitslehre einen
Widerſpruch ſah. Hier pries man den Meineidigen
und Anardiften Wilhelm Tell, der, „ſtreng genom»
men“, fein ehrenwerter Mann war, ba er feinen
Eid gebroden und das Volk aufgemwiegelt hatte.
Sie hatte feine Hoffnung, im Leben jemals ein
Dreied mit drei rechten Winkeln anzutreffen ober
dag Vergnügen zu genießen, einen Kleinmütigen
zu überzeugen, daß das Quadrat der Hypotenuſe
gleih dem Quadrat der beiden Katheten jei. Sie
wußte nicht, wozu die Logariihmen anzumenden
wären, da fie nit Seemann werden wollte, und
Chriſtoph Kolumbus Amerika übrigens ohne Loga—
rithmen entdedt hatte, an deren Aufitellung ſich
Leibniz erjt ein paar humdert Jahre jpäter ergöhte,
Augufi Strindbberg.
Sie wußte mit dem neueren Entdeckungen der Aſtro-
nomie nichts anzufangen, da ſchon bie Wegupter
ohne Herſchels Zeleftop den Kalender aufgeitellt
hatten; fie begriff nicht, was fie mit den Sähen
des Archimedes und mit Mariottes Gejeen beginnen
folte, da Edifon das Zelephon ohne dieſelben er»
funden hatte, Worin lag alſo der Wert der Bücher?
Im Diplom, das ſie fid erringen follte, oder in
der Rache der frauen gegen die Männer, von der
die Tante ftets jprah? An wen follte fie ſich
rähen? Männer hatten fie nicht unterdrüdt; dies
war nur von frauen geichehen. Ihre verftorbene
Mutter hatte jie bewacht; der Water war nie zu
Haufe gemwejen; ihre Lehrerinnen hatten fie wie eine
Gefangene eingeſchloſſen, Lehrer hatte fie nie gehaht,
außer einem Slavierlehrer, der. für fie in den Tod
gehen wollte und deshalb verabjchiebet wurde; ihre
Zanten hatten fie wie ein Schoßhündchen gehütet.
Warum? Um fie vor fallenden Dachziegeln, vor
Feuersgefahr oder Erdbeben zu fügen? Bewahre!
Bor andern Dingen? Vor weldhen? Bor bölen
Buben? Die Jungen waren jtet3 freundblid und
dienfibeflifien, und Blanche hatte fie lieber als bie
Freundinnen, die fi nur neidiih und boshaft
zeigten. Warum aljo ſollte fie vor jenen beſchüht
werden, warum fi rädhen? Sollte fie einmal zu
der Macht gelangen, ihre Hand gegen Feinde er-
heben zu können, jo würde es nicht gegen Männer
geihehen. DO, wenn dod ein Dann füme, fie zu
befreien! Er jollte ſchmutzige Stiefel tragen, nad
Tabak riechen und unrafiert fein dürfen, alles Eigen-
Ihaften, welche Tante Bertha verabjcheute.
Sie blidte im Zimmer umber, wie nad) einem
Ausgang; es gab feinen; es war ein Sad, eine
Mäufefalle, und draußen lagen die Katzen auf der
Lauer, Sie fand auf und jchritt wie eine Ge
fangene auf dem Teppich auf und nieder, Ihr
Kopf ſchmerzte. Sie holte aus einem Schrank eine
Flaſche Eifig heraus , befeuchtete ein Handtuch mit
demfelben unb legte e8 um ihren Kopf. Darauf
blidte fie in den Spiegel; außer um die Augen
war fie völlig rot im Gefiht. War es die Geſund ⸗
beit, welche den Büchern nicht ganz zu zerflören ge-
lingt, oder war es Krankheit? Die rote Farbe
ſchien ihr nicht zu behagen, fie jehte die Flaſche an
den Mund, trank einen Schlud, ohne Grimafjen zu
ſchneiden, al& wäre fie daran gewöhnt, und jtellte
darauf die Flaſche beijeite. Sie öffnete das Feniter
und juchte tief Atem zu holen, aber die Luft war
heiß und troden, und die Brije hatte viel Staub
aufgewirbelt, jo daß fie fofort das Fenſter ſchloß
und die Gardine vorzog. Sie zündete die Lampe
auf dem Tiſche an. Auf einer Etagere Daneben
ftand ein Raften mit Parfümerien. Blanche richtete
die Augen auf denjelben, blicte erft zur Thür, ſchlich
Neubau.
dann mit leiſen Schritten hin, Taufchte und ſchob
den Riegel vor. Sie trat an den Schranf, nahm
einen mit blauer Seide gefütterten Pelz heraus, zog
ihn über die Schultern, ſchmiegte fi) in die Sofa-
Ede, jehte den Kaſten auf ihre Kniee und enttorfte
ein Fläſchchen nad) dem andern.
Es Tag etwas Unbeftimmtes, Baftardartiges über
diefem Bilde, das der gebämpfte Schein der Lampe
beleuchtete. Das Zimmer eine Mifchung eines
Mädchenbouboirs, eines Stubentenzimmerd und
eines Taufmännifhen Comptoirs. Die Befigerin
auf dem Sofa, mit dem Geficht eines Mädchens,
dem Naden eines Knaben, den mit Tinte beſudelten
Fingern eines Schreiber und ben hochgewölbten
Füßen einer Tänzerin. Der Stehfragen mit einem
Seemannsfnoten auf dem weiblichen Bufen. Der
widrige Geruch des Eſſigs, der fi) mit dem ber
Parfümerien vermengte. Erft umfprühte fie ſich
mit Ylang-Plangs Narziffenertraft, der betäubend
dad Zimmer füllte. Blanche öffnete die Nafenflügel
und den Mund und atmete den beraufchenden Duft
mit vollen Zügen ein, während das Blut im bie
dur den genofienen Eſſig gebleichten Wangen ftieg.
Darauf folgte ein Staubregen von Maiblumen,
mit feinem feufchen, reinen Frühlingsduft. Jetzt
ſchloß Blanche die Augen, als ob fie eine Pifion
hätte, eine Frühfommerlandichaft mit ungemähten
Wiejen und blühenden Fruchtbäumen, fpielenden
Kindern und bahinziehenden Wollen; fie hörte das
Alphorn und das Raufchen der Bäche, Dampfer-
gloden und Jünglingschöre.
Ihre ganze trifte, ewig graue Jugend war ver
geffen; Gebete und Schulbücher, Kataplagmen und
Kampfer, Konferenzen und Eramenrede mit Dante
barfeitägeplapper, Zärtlichleit mit Gezänt und Liebe
mit Strafarbeiten, Die Träume verdunfteten, die
Bilder verblaften, und die Etinnerungen an das
friſche, pulfierende Leben fliegen empor. Sie öffnete
den Kaſten auf neue, und über den Teppich ergoß
fih ein frifcher Regen. Jetzt war es der Spät»
ſommer, der vor ihren Sinnen auftaudhte. Das
friih gemähte Heu der Wiejen; die Blumen und
Gräjer als wohlgetrodnetes futter, bereit, in Export⸗
butter verwandelt zu werden. Die Sonne geht
zeitig zur Rüſte, wie ein bejahrter Menſch; die
Bögel haben ihr Singen eingeftellt, und die Nuß-
bäume find mit Früchten beladen. Der Herbft ift
nahe. Nein, noch nicht Herbit! Und Blanche er
greift eine neue Flaſche, Violette. Nun ſprießen
Beilhen und Tazetten aus dem flaubigen Teppich
empor, Tauben girren, der Schnee ſchmilzt; Schwäne
jchnäbeln fi, Fiſche ſpielen, Heimchen zirpen, und
die herzigen Knoſpen der Kaſtanie ſpringen auf,
damit die Blüte hervorlomme und im Sonnenlicht
ihre Beſtimmung erfülle.
1071
Nun ſchloß Blanche die Augen, ihr Buſen wogte,
während das Blut flammend in ihre Wangen ſtieg.
Sie befand fid) an einem Sommerabend im KHalb-
dunfel in der Kathedrale zu Freiburg; die Thür
zur Kapelle des heiligen Grabes ift geöffnet; bier
liegt der Erldjer; daneben ftehen trauernde Weiber ;
die Orgel tönt und brauft: dies irae, dies illa,
dies irae, dies illa; es find Menfchen-Engeljtimmen,
es find Stimmen der Titanen, welche die Kuppel
von ihrem Plage heben wollen ; aber draußen dunfelt
es immer mehr, und die gemalten enter mit
Königen und Heiligen verlieren die Farbe; bie
Pfeiler rüden näher aneinander wie eine Pappel-
allee, die Bänke und Betftühle rotten fi zufammen
wie eine Menfchenmafle; da hört man ein Donnern,
als ob Kanonen über ein Kupferdach gezogen wür—
den, ein bläulicher Blitz ſchlägt mitten burd) bie
Kuppel und beleuchtet das Altarbild in der Kapelle
deö heiligen Franziskus, und es ift jo far, daß
man die gefchriebenen Worte leſen kann: Kafteie
dich! Aber die Orgel, vom Donner übertönt, nimmt
den Zweilampf auf; der unſichtbare Organift ver-
bindet die Regifter; es entfleht eine Paufe, während
welcher die Flötenſtimme allein einen Ton aushält,
einen Ton, der von andern in höheren und tieferen
Oktaven ergänzt wird, er wird durch Terzen ber»
ftärft, bricht fi an Septimen, wird durch Duinten
gereinigt, neue Stimmen ertönen, Oboe und Fagot,
vox humana und bie Bojaunen, und nun ftürmen bie
Tonmaſſen hervor wie Titanenchöre, wie Heraugforde-
rungen an neidifche Mächte, herzzerreißend wie das
Jammern unglüdjeliger Menſchen, aber der Donner
vermehrt fi), das Krachen wird verboppelt durch
das Echo in den Freiburger Alpen und in bem
tiefen Thal der Savine; die Orgel ahmt jeine
Stimme nad und fohnaubt und brauft, ſchreit und
kracht, aber nun — ein Blitz, von einem Knall be»
gleitet, als ob alles Eifen der Welt vom Himmel
auf die hängende Brüde gejchleudert würde, Fenfter
flirren, Thüren krachen. Da ſchweigt die Orgel,
und bie Flöte begleitet die Menſchenſtimme, die alle
mählih aus einer Romanze in eim mweltliches Lied
übergeht, aus dem Lied in einen zügellofen Tanz;
die blanfen Pfeifen der Orgel werden riejengroße
Fliederbüſche, die runden Baden der vergolbeten
Engel fallen ein, das Kinn verliert fi) in einem
Ziegenbart, und durd) die Loden treten die Spigen
Heiner Hörner hervor; grinſend blafen fie in die
Zinnpfeifen, fie blafen Hymnen Pant, des Wald»
gottes, des Nilbefruchters der Natur; die Pfeiler
ſchäfte ſchlagen Laub aus, und im der Luft fingen
glüdliche Vögel. Unter der blaugeiprenfelten Haut
des heiligen Franzislus bildet ſich rofenrotes Fleiſch,
und er wandert wie ein glüdficher Jüngling mit
Maria Magdalena empor zur Apfis, wo fie einander
1072
ſüße Sünden beichten; aus der Kapelle des heiligen
Grabes fteigt Apollo mit fchwellenden Schenteln
und fräftiger Bruſt; troig und froh blidt er bie
weinenden Weiber an, und mit auägeftredter Hand,
ein Siegerlädeln auf den Lippen, jpricht er: „Ehriftus
ift auferftanden.“ Und aus den Gräbern unter
dem Boden vernimmt man ein Poltern, ald ob Ge-
fangene ins Freie wollen, und ſie rufen und ant«
worten:
„Das Wort werde Fleiſch!“
Blanche erwacht aus ihrem Rauſch. Die Lampe
brennt noch auf dem Tiſch; die Luft im Zimmer
iſt erſticend. Es klopft an die Thür. Sie ſpringt
auf, ſchiebt den Riegel zurück und finft auf einen
Stuhl, weinend, daß ihr Körper ſich jchüttelt. Die
Tanten bringen fie zu Bett, bereiten im Kamin ein
Teuer und machen ihr Kamillenthee.
*
Der Examentag war vorüber und Blanche am
Abend bei den Tanten, die einige Freundinnen zum
Thee geladen hatten. Tante Bertha flrahlte vor
Vergnügen. Blanche war ruhig wie nad) einer
überftandenen Gefahr. Die Fenfter fanden offen;
von der Straße herauf hörte man fröhliches Summen,
Blanche wuhte, daß die neuen Studenten ein Feſt
feierten, zu dem man auch fie geladen hatte, aber
fie bejaß nicht den Mut, die Tanten zu bitten, dem—
jelben beimohnen zu dürfen, und noch weniger das
Herz, fie an diefem Abend zu verlaffen, Ihr Ge-
fängnis war gejprengt, die Hoffnung auf freiheit
war erwacht; das machte fie froh, obgleich fie wußte,
daß bie Ketten nur verlängert, nicht gebrochen wer«
den würden.
„Nun,“ jagte Tante Bertha, „die Zeitung bringt
einen hübjchen Artikel über Blande. ‚Die Be-
freiung des Weibes ſcheint zur Wirklichkeit zu wer«
den‘,“ lad fie; „Jahrhunderte alte Vorurteile, daß
die Beitimmung des MWeibes darin befiehe, zu ge-
bären und zu nähren, haben das glänzendfie De—
menti erfahren, da wir heute mit Vergnügen mit-
teilen fönnen, daß Fräulein Blanche Chappuis das
Eramen beftanden bat, um fi an der Univerfität
Zürich als Aerztin auszubilden.‘“
„Ih bin erjtaunt,* jagte Blanche, die von dieſer
Art Befreiung nichts wiffen wollte, „daß man es
als etwas Merkwürdiges betrachtet, wenn ein Mäd—
hen das Mbiturienteneramen beſteht, was doch
jeder mittelmäßig begabte Knabe kann,“
„Darin hat Blanche recht,“ fiel eine Penfions-
Ichrerin ein. „Auch die ‚Revue‘ bringt eine jehr
richtige Bemerkung. ,‚E3 ift eigentümlidy‘, jagt fie,
‚daß jedes Gramen eines Mädchens vom unfern
fonjervativen Kollegen als ein Sieg begrüßt wird,
während fie gleichzeitig über die Vermehrung des
wiſſenſchaftlichen Proletariats jammern, da bekanntlich
Yuguft Strindberg.
das Abiturienteneramen, zum Vorrecht der oberen
Klaffen geworden, nur den Vermögenden erreichbar
if. Unfre Studentinnen follten ſich für die Ehre
bedanken, ala ein Wunder gefeiert zu werden, denn
das ift ein Schimpf gegen ihr Geſchlecht, und daß
unfre fonjervierenden Elemente ihnen unter die Arme
greifen, beweift, daß jene eine gute Verftärkung ihrer
Neihen durch fie erwarten. Wenn der Tag kommen
wird, wo das Maturitätseramen ein andres umd
das gleiche für alle Mafjen und für beide Geſchlechtet
jein wird, dann werden wir mit in den Lobgejang
einftimmen.‘“
„Ja, hört nur,” rief Tante Bertha aus, „Die
Männer des Fortſchritts! Ein Eramen für ale.
Dann wäre es ja feine ſtunſt mehr.“
„Das ſoll es auch nicht fein,“ antwortete Blande,
„und id; meine, die ‚Revue‘ hat recht.“
„So, alfo ſolche Lehren empfangt ihr jeht,“ fagte
Tante Bertha.
„Ja, weißt du, Tante, aus Euflid oder Julius
Gäfar erhalten wir fie nicht, aber troß diefer Bücher,“
antwortete Blanche, die ſich ungewöhnlich mutig
fühlte. „Bedenke doch, wie fi alle armen Schnei-
derinnen, Wäfcherinnen, Arbeiter und Bauernfrauen
gedemütigt fühlen müfjen, die tro ihrer Begabung
nicht dasſelbe Wunder verrichten fönnen, wie e&
mir dank eurer freigebigfeit vergönnt war, ber
meinft du, daß alle Frauen das Examen machen
jolen? Warum nicht alle Knaben, alle Handwerler,
Arbeiter, Bauern und Gomptoiriften? Es ift je
nur eine ölonomifdhe Frage, und wenn es einem
gelungen ift, fi etwas Wiſſen anzueignen, weil
man vermögende freunde oder Angehörige hat, jo
ſoll man damit nicht in den Zeitungen prahlen,
denn es ift genau dasjelbe, als ob man anmoncieren
würde, man fei in der glüdlichen Lage geweſen, ſich
ein neues Sammetlleid zu kaufen.“
„Du bift jo philoſophiſch geworben, liebe Blande,“
antwortete die Tante Bertha, „daß deine alte Tante
dir kaum antworten kann. Aber du jollteft dein
tiefes Willen lieber dur die Anwendung einer
Sprache beweifen, die nicht jo voller Mut, um nicht
zu jagen Uebermut, ift. Denn man kann ſehr viel
Wiſſen befiten, ohne gebildet zu fein. Die Bildung
fit nicht in dem Büchern, fondern im Herzen. Yu
Herzen, liebe Blanche!“
Blanche that es Leid, die Tante gefränft zu
haben, aber fie war ſtark verſucht, deren verwortent
Argumente zu widerlegen. Sie ftand jedoch davon
' ab. Einen Vorwurf hatte fie nicht verdient, im
Gegenteil, aber die Tanfe war jo voller Groll und
Leidenfchaftlichteit, daß fie es nicht hören Tonnte,
wenn ihre geliebte Nichte fich jelbft aufs Obr ſchlug
Beim Abendeffen erhob Tante Bertha ihr Ga!
und tranf auf den Sieg des Tages (des Kapitalt!);
— — ._%
Neuban.
„sie hoffe (ganz wie Blanche), daß der Tag fommen
werde, da alle frauen (aber nicht alle Männer)
das Eramen machen werden; fie jei überzeugt, daß
das Weib eines Tages als Siegerin aus dem
Rampfe (gegen die Naturgejee) hervorgehen werbe,
und dann würden die Männer erfahren... .”
Dur das offene Fenſter drang ber Laut von
Hornmufil, Blanche Tannte fie ehr genau. Es
war die der Studenten, die zum Feſte nad) Beate
Nivage hinunter zogen. Blanche vermochte nicht
ruhig zu fißen, fie jprang auf und trat an das
Fenſter. Da gingen fie, der ganze Trupp mit
fliegenden Fahnen und leuchtenden Bändern. Wenn
fie hätte dabei fein fünnen! Freie Gedanfen aus—
ſprechen, aus voller Bruft fingen, fie unter den
Arm nehmen, vielleicht mit ihnen tanzen dürfen!
Jeht wurde fie gejehen! Die Fahnen jenkten jich,
Mügen wurden gejchwenft, und die Muſik ſchwieg
einen Augenblid infolge der fräftigen Hurrarufe,
Sie wurde von dieſem Gruß — al Huldigung wollte
fie es nicht auffaffen — fo ergriffen, daß ihr die
Thränen in die Augen traten, aber zugleich empfand
fie einen Stih im Herzen. O, die lähmenben
Feſſeln an ihren Händen und Füßen!
Der Laut der Schritte erftarb, aber unten in
dem Gäßchen ſah fie einen ihr befannten Studenten
jeine Müte ſchwingen, als ob er ihr winfe, hinaus,
fort, fort mit ihnen zur Freude, zur freiheit und
zum Sampf! Als Blanche vom Fenfter fortgehen
wollte, erblidte fie auf der entgegengejeßten Seite
der Straße in einem Thorweg einen Schuiterjungen
mit einem Paar Stiefel in der Hand, der der ber=
Ihwindenden Jünglingsſchar nachſah. Lange, fange
ſchaute er ihnen nad, er jo wie fie. Es giebt aljo
no mehr Menſchen, die nad) Freiheit jeufzen, außer
uns rauen. Der ärmlich gefleidete Junge ſchlich
aus dem Thor, um ungeſehen feinen Weg fortzujegen,
ungejehen von den Rindern des Glüds, eines Glüds,
das für ihn nur Leiden birgt, ohne es zu wollen,
ohne es zu wiſſen.
Das Abendeſſen war vorüber, und bie Gäſte
gingen fort. Blanche ſchützte nach den Aufregungen
des Tages Mübdigfeit vor und ſchloß fi in ihrem
Zimmer ein. Das erfte, was fie that, war, daß
fie fämtliche Lehrbücher in einen Winfel warf.
Darauf fehte fie ih an den Schreibtiſch und über-
fie fih ihren Gedanken, Welches Wunder, dachte
fie, daß es überftanden ift! Wenn nun der Era-
minator nad dem Spaniſchen Erbfolgefrieg, nad
dem dritten Bud; Livius, nach der Proportionslehre,
nad den Niedgräfern, nach der Witrologie, nad) den
deutichen Präpofitionen gefragt hätte... Dann
wäre biefer Tag ein Tag der Schande gemejen!
Welches Glück, Hindurd zu fein, und wie gering
das Verdienſt! Und nun war fie für dieſes Wunder
Aus fremden Qungen, 1897. IL 23,
1073
in der Zeitung gelobt worden. Für das Wunder
durften nur die Tiebenswürdigen Eraminatoren ge—
lobt werden! Für das Glüd — niemand! —
Uber die Befreiung! Die würde nun fommen! In
welcher Form? Chemie, Anatomie, mehr Latein,
Phyſil. Wovon war fie bisher befreit worden?
Don dem Unbehagen, weniger zu wiſſen al& viele
andre! Das ift zwar eine Erleichterung, aber eine
geringe und ganz etwas andres, als was fie er-
träumt hatte. Ihre frifcheften Gedanken hatte fie
in müßigen Stunden ohne Bücher gedadt. Und
von ihren Wächterinnen war fie auch jeht gefangen,
aber wenn der lange, der jehsjährige Kurſus vor«
über war, und fie als Aerztin hinaus mußte in die
Praris, dann — dann war fie doch frei? Doc,
ſechs Jahre! Es ift eine lange Zeit! Aber immer-
hin eine Hoffnung! Nun fommt der Sommer.
Eine Penfion in Interlafen mit den Tanten. Dort
würde fie wenigftens Menſchen treffen, was in ben
Büchern nicht gefchehen war, benn die find fo vor-
fichtig geſchrieben, daß die Wirklichkeiten des Lebens
gewiſſenhaft verborgen werden. Mit dieſer Hoffnung
ging fie zu Bett; bald war fie eingeſchlafen.
Sie hatte nicht lange geſchlafen, vielleicht einige
Stunden, als jie erwachte. Der Mond ſchien in
das Zimmer und zeichnete gelbe Striche und Flächen
auf die Dielen. Sie hörte Gejang, eine klingende
Männerftimme, die eine italienische Romanze mit
Buitarrebegleitung fang, und am Schluß jeber
Strophe fiel ein Chor ein. Sie lauſchte eine Weile.
Weshalb fingt man fo jpät auf der Straße, und
wer kann es jein? — Sie ſchlüpfte in ihre Pantoffel
und trat an die Gardine. Unten ftand eine Gruppe
Studenten, die fie an den Mützen erkannte. Und
alle jahen nad ihrem Fenſter. Eine Serenade!
Für fie? Ohne Zweifel.
In demfelben Augenblid trat Tante Mathilde
im Morgenrod ein.
„Laß die Gardine herunter und zünde Licht an,
Kind! Eine Serenade für dich!“
„Aber Tante Bertha?” fragte Blanche unruhig.
„Sie ftellt ſich ſchlafend,“ flüfterte Tante
Mathilde,
„Beeile dich, fie fingen ſchon eine ganze Weile!“
Die Gardine wurde herabgelafjen und Licht an—
gezündet,
Als es auf der Straße wieder till getvorden
war, lag Blandje in ihrem Bett und grübelte. Die
fröhlichen Menſchen hatten ſich heute abend vergnügt
und boten ihr das Deſſert an. Wohin gingen fie
von bier aus mit ihrer Guitarre und ihren halb»
heiferen Stimmen? Und warum hatte man fie
gefeiert? Sie brachten doch den andern Studenten
feine Serenade? Mein, man feierte fie ala Weib!
As Weib! Das war der Grumd! Es iſt alfo
135
1074
etwas Bejonderes, eiwad mehr, Weib zu fein? Ver-
mutlih! Aber das ift langweilig! Vielleicht ift
es ein Vorteil, ein Gewinn? Das kann ſchon fein.
Blanche erinnerte ſich, diefer Tage in einer Zeitung
von einem Ehemann gelefen zu haben, den feine
Frau gejchlagen hatte; aber e8 war in der Form
einer fcherzhaften Anekdote unter „Vermiſchtes“ er
zählt worben, während fie unter der Ueberjchrift
„Unnatürlihe Gewalt“ Geſchichten von Männern
gelefen hatte, die ihre Frauen ſchlugen. Schützt
denn das Geſetz den Mann nit, wenn er der
Schwächere ift, da e8 das Weib jhüßt, ohne Rück-
ficht, ob fie die Stärfere ift, was ja bie amüfante
Anekdote als möglic gezeigt hatte? Dann ift das
Geſetz ungereht! In gewilfen Fällen ift es alio
ein Vorteil, Weib zu jein, in andern wieder nicht.
Iſt es in wichtigeren Fällen ein Vorteil? Vielleicht!
Marum ift Tante Bertha fo wütend auf die Männer
und nennt fie Tyrannen, die geftürzt werden müſſen?
Ja, warum?
Und damit jchlief fie wieder ein.
—
Es war wieder Herbſt, als Blanche in das
chemiſche Laboratorium am Polytechnikum zu Zürich
eintrat, Sie wurde von den Aſſiſtenten in den
großen Saal geführt, wo ihr ein Tiſch mit Kaſten,
Fächern, Flaſchen und Gläfern, Reagentien in allen
Farben enthaltend, angewielen wurde, Ein Gas
rohr mit einer Lampe und ein Wafferrohr mit einem
Spülfaß. Ferner eine Anzahl von Röhren, Kolben,
Vorlagen, Retorten, Trichtern, Filtern und Pinzeiten.
Mitten in dem Saal ftand ein folofjaler Schorn-
ftein mit Rapelle, Zugfenftern und Gasflammen,
um die ſchädlichen Dämpfe zu entfernen. Alles
erichien Blanche neu und geheimnisvoll, Alles hatte
bier ein Aeußeres, was ſich im täglichen Peben nicht
wieder fand, Die veraltete Form der Retorten er=
innerte an die Alchymie des Mittelalters, die Pro-
bierröhren an das Seziergimmer des Arztes und
die Reagentien in den Gläſern an die Myſterien
des Apothefers, Das chromſaure Kalium Teuchtete
wie der Untergang der Sonne; das fchwefelfaure
Kupferoryb mar blau wie der Genferjee, und die
Arſenikſäure glänzte wie der Neif auf Birfenzweigen.
Mit einer langen blauen Schürze befleidet
jchritt fie an das Merk, die Geheimniffe der Natur
zu erforichen und zu jehen, wie die Schöpfung in
ihrem Innern beſchaffen iſt. Der Aifiitent, der fie
am erjten Tage unterweifen jollte, fam zu ihr und
begann ohne weiteres die Inſtruktion.
Er ſprach mit ruhiger, trodener Stimme, ohne
höflich oder unhöflich zu fein, Er ergriff ihre Hand
wie eine Zange und lehrte fie daß Probierrohr
richtig faſſen, er ermahnte fie, den Gaskran ficher
geichloffen zu Halten, wenn die Flamme nicht mehr
Auguſt Strindberg.
benußt würde, und das Spülfaß gut zu reinigen,
wenn bie Leltion vorüber war. Darauf ging er
in die andern Säle.
Er war der erfte Dann, der nicht höflich gegen
fie gewefen, und Blanche fühlte fich faſt gedemütigt.
Aber das geſchah ja möglicherweife auf Grund feiner
Ueberlegenbeit.
Um fie herum an den übrigen Tiſchen ftanden
Studenten und arbeiteten. Bei ihrem Eintritt hatten
fie gelacht, geſchwatzt und gefungen, aber jeßt waren
fie ruhig und flüfterten untereinander. Blande
hörte, was jie ſprachen, denn ihre Nerven waren
dur die neue Situation aufs äußerſte geipannt,
„Wie fieht fie aus?“ flüfterte einer hinter einem
Tiſche.
„Häßlich!“ wurde ihm von einem andern ge
antwortet,
Blanche fühlte fich unangenehm berührt. Wer
fragte danach, ob fie, die Herren, häßlich oder ſchön
feien, wenn fie Chemie ftudieren wollten? War jie
denn aber wirklich häßlich? Sie blidte im den
großen Glaskolben, der über der Spiritusflamme
Bing. Dort ſah fie ihr langes Geficht mit der
fräftigen Nafe durch die fonvere Form bes Glaſes
in folder Berzerrung, daß fie fein rechtes Urteil
erlangen konnte, Aber jene Herren hielten fie für
häßlich. Nun, das mwollte fie fich nicht zu Herzen
nehmen.
Als ihr die erfle Reaktion gelungen war, wollt
fie dieſe dem Affiftenten zeigen, um feinen Beifal
zu erhalten. Er war nicht in dem Zimmer. Sollte
fie ihn aufſuchen? Nein, fie wollte nicht an al
den Herren vorübergehen. Sie wollte warten, bit
er wieder füme.
Mährend der Zeit öffnete fie alle Flaſchen und
Büchſen, um daran zu riechen. Dann pußte fie
ein paar Probierröhren, wobei ihr etwas Schwefel⸗
jäure an bie Finger fam, die jofort ſchwarz wurden.
Der Alfiftent fam. Blanche zeigte ihm ihr
Arbeit, als wolle fie ein Lob hören. Er ſah ie
an, wie man ein Kind anfieht, und fagte: „Es if
nett. Fahren Sie fort!“ und damit ging er.
Blandhe war mit diefer Anerkennung nicht zu⸗
frieden. Er behandelte fie überlegen. „Es ift nett!“
Er hätte jagen müfjen: „Sehr gut, mein Fräulein!*
Sie war ja Studentin und fein Schulmädden.
Bei der Heimfunft mußte Blanche ganz genau
berichten, was am Vormittag paffiert war. Tante
Bertha biß die Lippen zuſammen, jagte aber nur:
„Neid!“
Am Abend hatte „Aeskulap“, der Verein ber
Mediziner, Kommers und Blanche nad langen Die
fuffionen die Erlaubnis erhalten, demjelben bey
wohnen; um zehn Uhr follte fie jedoch zu Haufe
fein,
Neuban.
Um fieben Uhr betrat die junge Studentin die
Brafjerie Nuß. Sie mußte dur den großen Saal
gehen, um in das Zimmer zu gelangen, wo ber
Kommers abgehalten wurde. Der Saal war mit
Rauchenden und Trinfenden angefüllt, die Dielen
feuht, das Ganze jah nicht einladend aus. Sie
hatte fich den fröhlichen Aufenthaltsort, wo die Herren
fo gerne ihre Abende zubringen, anders vorgeftellt.
Sie betrat das Verjammlungszimmer. Niemand
empfing fie, niemand half ihr die Kleider ablegen,
wie es früher geichehen war, wenn fie zum Balle
ging.
Das Zimmer fah ungemütlih aus. Die Herren
rauchten Zigarrenftummel, die zum Zeil widerwillig
in die Ede geworfen wurden, als fie eintrat. Das
Lachen verſtummte, und das Gefpräd ward unter-
broden. Hinter der Thür wurde fie von zwei
Studenten durch das Pincenez betrachtet. Dasſelbe
Flüftern wie im Laboratorium, — „Iſt jie hübſch?“
— Antwort: „Häßlich wie die Nacht!”
Der Vorfigende war noch nicht anwejend. Da—
ber jtand niemand auf, um fie zu empfangen, und
fie fannte niemand. Man verbeugte fih nur
leicht im Sitzen. Es wurde ganz ruhig. Blanche
ſah fih um und bemerkte, daß fie das einzige
weibliche Wejen war. Sie nahm auf einem Stuhl,
der frei war, Platz, aber niemand verließ der
jeinigen.
Endlich kam der Vorfigende. Er grüßte wirklich,
ohne jedoch ein höfliches Wort zu ſprechen. Darauf
erichienen fünf Mädchen.
Sie wurden jogleic einer Mufterung unterzogen,
welde ergab, daß eine das Prädifat ,hübſch“ erhielt.
Blanche juchte fih den Damen zu nähern, jie waren
aber nicht zugänglid.
Die Verhandlungen begannen. Wahlen wurden
vollzogen, Statuten verlefen. „Langweilig!“ dachte
Blandye. Darauf wurde ein Vortrag gehalten:
Ueber die Deicendenztheorie.
Das war neu für Blanche, aber roh, Der Bor«
tragende verglich die Menſchen mit Tieren, und,
Gott hatte doch den Menſchen geichaffen fih zum
Ebenbild, die Tiere dagegen zum Nußen des Men-
ſchen. Der PVortragende behauptete, daß das Pferd
nicht geichaffen jei, um zu ziehen oder geritten zu
werden, denn Noah fei weder geritten noch habe er
kutjchiert. Das Kamel ſcheine mit einem natürlichen
Sattel geboren zu fein; dies jei jedoch nicht jo; da—
gegen ſcheine das Dromedar geſchaffen zu fein, um
einen Neiter nicht aufzunehmen. Das Ganze war
„abjcheulich“, wie Blanche meinte, Nah Schluß des
Vortrags ftand man auf und promenierte im Zimmer
umber. Die Herren liebäugelten mit ihren unan«
gebrannten Zigarren und beftellten Bier, Der
Kellner eilte mit den Seideln ab und zu. Bon
1075
Zeit zu Zeit vernahm man in einer ifolierten Gruppe
eine Lachſalve, die aber jtet3 von liftigen Bliden
nad rechts und links begleitet wurde. Die fünf
Mädchen ſaßen wie Mauerblümden auf einem
Balle, und Blanche fühlte fih unbehaglid. Es
war langweilig. Sie fand, daß die Herren geniert
waren, daß fie fi von feindlichen Elementen ums
geben fühlten. Die Herren witterten Konkurrenten,
und die Damen lagen auf der Sauer nad Riva-
linnen. Die Herren wagten feine galante An—
näherung, weil das als Huldigung aufgefaßt wer-
den fonnte; fie wußten ja, daß emanzipierte Damen
vor allem feine Weiber jein wollen. Die Stuben-
tinnen waren hierher gelommen in ber Vorausjekung,
daß fie wie Kameraden behandelt würden, aber ın
diefer Gleichheit lag etwas Demütigendes, Blanche
empfand, daß mit Gleichheit die Unterordnung ver—
bunden war, und fand es ficher angenehmer, ala
es früher gewejen. Dann war fie erflaunt, daf
feiner der Herren den Damen etwas anbot. Aller-
dings beftellte Hier ein jeder jein Bier jelbft, und
e8 wäre von ben Herren höchſt unpafjend gemejen,
fremden Damen etwas anzubieten.
Blanche, die fih immer mehr geniert fühlte,
fahte enblih Mut und fragte die andern Mädchen,
ob fie etwas trinken wollten. Man warf ihr er«
ftaunte Blide zu, und fie erhielt zur Antwort:
„zrinten? Bier? Pfui!“ Die Situation wurde
immer ſchwüler. Der Vorjigende, der mit den
Damen über Chemie geſprochen hatte, jchidte num
die Herren der Reihe nad zum Reden vor; Phyfit,
Latein, alles mögliche, das nad) nichts weniger ala
einer Huldigung ausjah, wurde in die Unterhaltung
gezogen. Die Mädchen wurden immer einfilbiger.
Das ſchöne Mädchen hatte jedoch eine geſchickte
Wendung im Gefpräh gemadt und es mit ihrem
Herm auf menſchlicheres Gebiet Hinübergeleitet.
Infolgedefien war fie bald von drei Herren ums
geben, die munter plaubderten und lachten. Die
übrigen Mädchen zogen ſich zurüd und folgten aus
der Entfernung mit bitterböfen Mienen dem un—
würdigen Betragen. Die Schöne vergaß fi jchlieh-
lich jo weit, daß fie ein großes Seidel Bier beftellte.
Da wurde die Gruppe um fie herum immer dichter
und die Oppofition am Ofen, wohin fid) die andern
jungen Damen jurüdgezogen hatten, immer ſchärfet.
Mit einem Schlage waren fie num gute freunde
und in einer jehr lebhaften Disluſſion begriffen,
die jedoch bei jedesmaliger Annäherung eines Herrn
verſtummte.
Man verſpürte ein Gewitter in der Luft, und
die Batterie, die am Ofen geladen wurde, erſchien
immer beunruhigender, denn jeder Verſuch eines
Herrn, die Elektricität durch ein Geſpräch abzu—
leiten, wurde mit einem Stoß beantwortet, der ihn
1076
zurüdwarf. Die Schöne hatte den Kampf auf einen
andern, gerade ben gefürchteten und verbotenen
Boden gelenkt und deshalb gefiegt.
Um die Entladung zu ſtande zu bringen, ergriff
der Vorfigende fein Seidel, Mopfte auf den Tiſch
und räujperte fich zu einer humoriftifchen Rebe.
„Kameraden!“ begann er, dann hielt er einen
Moment inne, und die Damen fpikten die Obren
bei diejer ifmen neuen Anrede, weldhe dem üblichen
„meine Damen und Herren!” jo unähnlid war.
„sn unfrer Jugend lehrte man uns, dab das
Weib aus der Rippe des Mannes geichaffen jei,
und dab alfo der Mann vor dem Weibe vorhanden
war; deshalb konnte auch der unbefannte Berfafler
der Bücher Mofis — der fih, wenn er jetzt gelebt
hätte, vermutlich eine Anklage auf den Hals geladen
hätte, weil er den Mormonismus empfiehlt — mit
Recht von dem Weibe fordern, dem Manne unter-
than zu fein, denn Adam war ja der Vater Evas
und Eva aljo nad Mofis Code civil $ 4 verpflichtet,
ihren Bater zu ehren. Nun bat uns aber die
Wiſſenſchaft gelehrt, daß das Weib vor dem Manne
gelebt bat, Die erfte Zelle war Weib, und fie
allein erhielt das Geſchlecht aufrecht. Ich halte mich
bei der unregelmäßigen Lebensweife der ſchönen
Blumen nicht auf, ſondern werfe mich auf bie
Tiere, indem ich bei den niedrigften beginne, um
mit ben höchſten zu fchliegen — den Menſchen.
Bei den Mollusfen finden wir Hermes und Aphro«
dite, wenn ih mich jo außbrüden darf, noch un-
individualifiert, und Männer giebt es noch nidt.
Zum erften Male tritt Adam nicht im Paradies
auf, jondern in der Tiefe des Meeres bei den ung
altbefannten Cirrhipeden, wo er wie ein armfeliger
Zropf ein Parafitenleben führt, mit unlöslichen,
aber echten Fejjeln an die viel ftärfere und größere
Eva fejtgelettet, jo daß er eher als eine — ver-
zeihen Sie den Ausdruch — dem Weibchen gehörige
klaſſiſche Rippe erfcheint, um die ganze Theorie der eng⸗
lichen Bibelgejellichaft von der Erſchaffung des Weibes
über den Haufen zu werfen. Aber wir wollen bie
niedrigeren Tiere verlajjen, um uns hoch und höher
zu erheben. Noch bei ben Inſekten lebt die Mutter
in ihrer natürlihen, überlegenen Stellung; fie tft
Königin bei der Ameije und der Biene. Sie iſt
die Herrjcherin, die Urmutter, und nur durch fie ift
der Bienenkorb ein Korb und der Ameijenhügel ein
Hügel, die Gefellfhaft eine Gefellichaft. Aber die
arbeitenden Mitglieder find nicht die Männden ;
die Ehre, zu arbeiten und ein jelbfländiges, indie
vibuelles Leben zu führen, fällt ihnen erft viel jpäter
zu. Die Arbeittameife ift ein verfümmertes, une
fruchtbares Weibchen, die das Eſſen ſchafft, Woh—
nungen baut, Srieg führt und die Jungen erzicht,
Es ift aljo das Meib, das zuerft Kriegerin war!
Auguft Strindberg.
Die Männchen — verzeihen Sie den Ausdrud —
haben ſich nicht emanzipiert. Sie find unfelbftändige
arme Teufel, die einzig und allein bie Aufgabe
haben, Väter von Kindern zu werben, die fie
nie zu ſehen befommen, und dann zu fterben!
Ein großer Schritt höher hinauf, und wir find bei
den Fiſchen. Das Männden hat feine Freiheit
und ein individuelles Leben gewonnen. Es ift jhon
zum Sindererzieher veredelt, aber bamit noch Slam.
Einen Schritt höher — dem Ideal entgegen —
und wir find in der Luft bei den Vögeln, Das
Männden ift Urbeiter, Krieger und Gatte. Dei
Weibchen hat ihn emanzipiert und in die Feſſeln
der Liebe geſchlagen. Die Arbeit ift bier geteilt.
Bei den Säugetieren variiert die Arbeitseintei⸗
lung, denn die Entwidlung geht nicht gerade wie
eine Schnur, nicht ſchnell wie der Blitz, aber im
Zidzjad wie dieſer. Und nun find wir bei ben
Engeln, ich wollte fagen: bei den Menſchen. Bei
wilden Bölterftämmen ift bie untergeordnete Stellung
des Mannes, wie man es nennt, noch in Blüte,
Das Weib fiht zu Haufe am Feuer, fpielt mit den
Kindern, pußt das Tifchgerät, wen folches vorhanden
ift, und bereitet die Speifen, wenn fie überhaupt
zubereitet werben. Die Männer werden in bie
Wälder getrieben, um Ziere zu töten, Eſſen zu
ſchaffen, und darein finden fie ih. Aber bei einigen
Stämmen merkt man noch Spuren, Rüdfälle oder
Ntavismen, wie wir Gelehrte es nennen, in ältere
angeftammte Verhältniſſe. Die Sagen und Ge:
ihichtsjchreiber erzählen von Amazonenreichen in
verfloffenen Zeiten. Das find Neminiscenzen an
den Ameifenhügel. Die Frauen find fich ſelbſt
genug, führen Krieg und ernähren ſich und die
Kinder; die Männer werden bloß einmal im Jahre
einberufen,
„Solche Verhältniſſe beftehen noch bei den X:
ghanen, wo der Dann das Eigentum der Frau if,
und bei den Dahomeys, wo die Frauen ſtrieg
führen. Bei den zivilifierten Völkern, um zu uns
zu fommen, iſt die Verteilung ber Arbeit zwiſchen
den Geſchlechtern ziemlich ungleich, meift von den
jozialen Berhältniffen abhängig. Bei den Armen
arbeiten beide, der Mann allerdings am jchwerfien,
weil die Frauen noch nicht darauf dringen, zum
Holzfällen oder in die Kohlengruben gehen zu dürfen.
Die Familie war in ihrem Urjprung eine Gejant-
heit mit Eigentumsgemeinſchaft. Das Eigentum
gehörte der familie, und da der Mann allein ver»
pflichtet war, frau und Kinder zu verforgen, braudte
das Weib nicht zu erben, was auch nicht geſchah,
weil das Beſißtum, als der Familie gehörig, durd
Heirat der Tochter nicht an einen andern übergehen
durfte. Die Beweisführung enthält hier zwar manche
Lüden, die ich aber lieber verftopfe; ſonſt müßten
Neubau,
wir in die Myſterien des Eigentumsrechtes hinab-
jehen, und das fpare ih mir für ein andermal auf.
„Für die Gefamtheit, die man familie nennt,
brauchte die Gefellihaft ein Haupt. Das Weib
hatte feine Beihäftigung mit den Kindern innerhalb
des Haufes; die Kinder find zu umverftändig und
bedürfen jorgjamer Pflege und Aufſicht; deshalb
übernahm der Mann die Sorge für die Allgemein-
heit und Fam jo ſcheinbar ans Ruder, Aber in
höheren, das heißt in den nicht arbeitenden Klaſſen,
wo die Degeneration allmählih um ſich gegriffen
hat, machen ſich gewiſſe Symptome bemerfbar. Das
Weib fühlt ſich erniedrigt, Königin zu jein, und will
wieder Arbeitgameife werden: das heißt, in ben
Ameifenhaufen zurüdkehren. Damit geht natürlich
Hand in Hand ber Niedergang des Mannes zum
Herrn. Nun frage ich: jchreiten wir vorwärts mit
der Emanzipation, oder gehen wir zurüd? Hat das
Weib recht, wenn e8 die Macht an fich reißen will,
bie ihm urſprünglich gehörte, und hat der Mann
recht, wenn er Wiberftand leiftet? Ich glaube, daß
die Emanzipation eine Antizipation ijt, etwas, das
zu zeitig fam, denn wir flehen vor einem neuen
Wendepunft in der Entwidlung ber Geſellſchaft.
Wie weit die Arbeitsteilung in der neuen Gejell-
ſchaft gehen wird, willen wir nicht, aber daß fie
ſich nicht über die natürlichen Grenzen jedes Ge-
ſchlechts erjtreden wird, das nehmen wir für gewiß an,
denn num jcheint Die Menjchheit ihre geſunde Vernunft
wiebdererlangt zu haben, und Vernunft ift Natur,
„Meine Damen, wenn ih mich an Sie wende,
To geichieht e8 in Ihrer Eigenfchaft als Frauen und
mit der Ehrerbietung, mit der ich ſteis zum Weibe
aufgejehen habe, einer Ehrerbietung, die nicht ver
mindert wird durch Ihre VBerjuche, das ſchwere Joch
des Mannes don feinen Schultern zu nehmen und
mit ihm die Arbeit zu teilen; Sie, meine Damen,
haben den erjten Schritt zur Befreiung des Mannes
gethan, und darum bringe ich Ihnen im Namen
meines Geſchlechts einen herzlichen Dank dar!“
Das ſchöne Mädchen lachte und die Herren
gleichfalls, aber am Ofen blieb e8 ruhig, unheimlich
ruhig. Und bald erhoben fi die Damen, um die
Ueberfleider anzulegen. Wie auf ein gegebenes
Zeichen eilten die Herren herbei, um den Damen
behilflich zu fein, die jedoch mit deutlichen Gebärden,
daß fie zum Fortgehen feiner Hilfe bebürften,
danften,
As fie zum Gehen gerüftet waren, zogen fie
ihre Handſchuhe an und warfen lange Blide in
den Saal nad) ber Stelle, wo die Schöne jap.
Die aber wollte nichts verftehen, fondern tranf
lachend ihr Bier. Blanche, die mit dem Mädchen
befannt war, hielt es aus Höflichkeit für ihre Pflicht,
ihr zu jagen, daß die andern Damen gingen. „Ja,
1077
geht nur,“ antwortete fie — und fie gingen. Sie
durchſchritten das rauchige Reftaurant und wurden
mit frechen Bliden betrachtet; endlich gelangten fie
auf die Straße, Hier warteten fie auf die Pferde
bahn. Zufällig drehte fih Blanche noch einmal
um. Da vernahm fie von innen ein Lied und
Klavierfpiel. Sie trat an das Fenſter heran und
bfidte in das Zimmer: Zigarren und Streichhölzer
in allen Händen, frohe Mienen, Gejang und Spiel,
und mitten in einer Gruppe ftand Luiſe — fo hie
die Schöne — und raudhte,
Blanche fühlte einen Stich im Herzen. Jetzt
amüfieren fie ih! Jetzt! Und Luife war allein
mit allen Herren. Welche Unmoralität! Welch
ihledhtes Mädchen! Aber fie amüjiert fi auf alle,
Fälle!
Zu Haufe wartete Tante Bertha bereit auf
den Rapport.
„Dar es ſchön?“
„Schön? Entſetzlich langweilig! Und bie Herren
waren unhöflich,“
„Haben fie geraucht?”
„Rein, aber Bier getrunken und unmoralifche
Reden gehalten. Der Vorfigende hat die Frauen
mit Zellen und Scaltieren vergliden! Ja, und
dann hat er über Dinge geiprodhen, die man zwar
in Büchern leſen fann, über die man aber nur in
Borlefungen ſpricht.“
„Bas hat er gejagt? Etwas Unpafjenbes?*
„Jawohl, beinahe. Und dann find die Mädchen
fortgegangen, aber Luiſe blieb da.“
„Allein ?”
„Allein, und raudte!“
„Raudte, allein! Das wollen wir ihr doch
anftreihen,“ jagte Tante Bertha. Darauf lieh fie
ſich ale Einzelheiten berichten.
Blanche ging ſpät zu Bett. Sie hatte über jo
vieles nachzudenken. Weshalb war es heute abend
langweilig geweien? Weshalb hatten ſich die Herren
jo jteif, unhöflih und feindlich gezeigt? Was Hatte
ber Redner mit feinen Worten gemeint? Das aljo
ift die erträumte freiheit, ofne Bewachung höfliche
Kavaliere in der Nähe zu fehen! Vielleicht find
fie gar nicht jo liebenswürdig, wie fie ji den Ans
jchein geben wollten, Aber gegen Luiſe betrugen
fie fich ganz jo, wie fie auf Bällen zu jein pflegen,
Wie anders ift doch alles in der Wirklichkeit im
Vergleich zu unfern Vorſtellungen. Wie anders!
Aber auf jeden Fall hat Luife ſich amüfiert!
Am folgenden Morgen Meidete fi Tante Bertha
frühzeitig an, um bei dem Rektor der Univerfität
Klage zu führen. Der Profefjor war unglüdlicher-
weiſe ein Grobian, der die häßliche Angewohnheit
hatte, zu jagen, was er dachte, und die Tante hatte
unglüdlicyerweife die Vorſtellung, ein Profeſſor müſſe
1078
ein gebildeter Mann jein und willen, was zu jagen
ſich ſchide.
Die Tante erſchien natürlicherweiſe zu einer
Zeit, wo der Profeffor nicht empfing. Was ging
das fie an? Er mußte fie empfangen, da es bie
Ehre der Alademie und das Wohl der Jugend be=
traf. Schließlich wurde fie vorgelafen. Sie ſprach
ihr Anliegen aus und referierte über die Rede. Der
Profefior blidte fie an wie eine neue Spezies und
antwortete endlich:
„Und was geht das mich an?”
„Was das Sie angeht?“
„Was geht es denn Sie an?”
„Wie? Was? Die Moralität der Jugend ift
ja in Gefahr!”
„Wiejo? Erzählen Sie! Was ilt gejchehen?
Er hat die Frauen mit Zellen verglihen. Das
ift natürlich Lüge, Schlimmer wäre es gewefen,
wenn er fie mit Engeln verglichen hätte! Glauben
Sie an Gottes heiliges Wort? Natürlich. Nun?
Er hat gejagt, das Weib jei die Herricherin und
der Mann der Save. Das ift ja ſchön gejagt!
Mollen Sie hören, was die Bibel jagt: Dein Wille
joll deinem Manne unterworfen fein, und er fol
dein Herr fein! Iſt das nicht richtig?"
„Das ift nit richtig!”
„Wie? Dann find Sie ja eine Freidenlerin,
die Gottes heiliged Wort verleugnet! Iſt das
nicht jo?“
Die Tante fühlte ih wie auf einer Folter.
Sie war einer Ohnmacht nahe. Der Profeffor aber
fuhr fort: „Mit Schmerzen jollft du Kinder gebären!
Haben Sie dieſes Gebot Gottes erfüllt?”
Nein, das wolle fie nicht!
„So? Alſo Sie lehnen fih auf gegen Gottes
heilige Geſetze! Aber zur Sade! Die Herren
haben nicht geraucht, ſich nicht unpafiend betragen,
fie haben Ihre Anfichten geteilt, dab die Lehren der
Bibel falſch find, und im übrigen — was biejelben
innerhalb ihrer Vereinigungen zu thun belieben, geht
niemand etwas an. Was geht e8 Sie an, ob
Fräulein Luiſe gern Bier trinft oder raucht? Tabak
ift weder im Code civil nod im Code moral
verboten. Es giebt Weiber, die fchnupfen. Und
dann find alle alten Damen auf junge Mädchen
neidiich, die fi amüfieren — befonders in Herren«
gejellichaft. Wem es dort nicht behagt, der ift ja
nicht gezwungen hinzugeben, und wer die dortigen
Vorgänge ausplaudert, der fann einfadh hinaus»
geworfen werden.“ So liegen die Dinge! Man
babe nicht das Recht, ſich in eine gefchloffene Ge—
ſellſchaft einzudrängen und nachher abfälige Be—
merfungen zu machen. „Die Achtung, die man dem
Weibe jchuldig ift?* Welche Achtung jei man denn
dem Manne ſchuldig? Gar feine? Ihm komme das
Auguft Strindberg,
ganz fo vor; jonft würde man fich nicht zu ungelegener
Zeit eindrängen und fi) mit Klatſchereien abgeben!
Im übrigen: Weshalb bilden die Mädchen nicht
jelbft einen Verein? Wie? Das fei nicht intereſſant
genug! Er bitte um Entjhuldigung, er müſſe in
die Vorlefung! Er fei Lehrer an der Univerfität,
aber kein Polizift.
Das Rejultat ber Unterredung war die Gründung
eines Vereins zur Erörterung der Frauenfrage und
das Merbot für Blanche, noch jemals einen Kommers
zu bejuchen. Dem Frauenverein durfte fie dagegen
beitreten, und bier verbrachte fie entjeßliche Abende.
Das Leben in Züri, von dem fie ſich jo viel ver-
ſprochen hatte, wurde immer unerträglicher. Ständige
Bewachung, endloſes Studieren: neue Auflage von
römischen Kaiſern, Königen und Königinnen, immer
mehr Philoſophie.
Wann würde das ein Ende nehmen? Und würde
es überhaupt jemals aufhören? Was minfte ihr
nad abgelegtem Examen? Die freiheit? Nein,
dann begann eine neue Sflaverei. Wie ein Drojäten-
futiher mußte fie für jeden, der fie anrief, bereit
fein; treppauf, treppab, wie ein Wunderthäter ber
handelt, obwohl man bei ſich weiß, wie wenig man
thun kann, Und die Freiheit? Wird fie mit einem
Mann zu verfehren wagen, wenn fie feine Gefel-
ihaft der von Frauen vorzöge? Keineswegs, denn
dann wäre ihr Anfehen erichüttert; die Patienten
würden fie fliehen und fie jelbft aus der Geſellſchaft
ausgeſtoßen werben. Sein Ausweg! Jawohl, einer!
Heiraten! Die Frauen haben dann das Recht, mit
einem Manne zufammen zu wohnen, an demfelben
Tiſche zu effen, im jelben Bette zu fchlafen, mit
andern Männern zu verfehren, foviel fie wollen,
auf der Straße allein zu gehen! Aber es giebt
ein „Aber“. Die frauen eſſen das Brot andrer,
bewahen den Haushalt, die Wäſche andrer und
behaupten im allgemeinen, Sklavinnen zu jein.
Das wollte Blanche nit. Alſo auch dort feine
Freiheit ?
Eines Tages follte fie im Laboratorium eine
chemiſche Analyje herftellen. Die Arbeit war jiem-
lich ſchwierig und erforderte große Aufmerlſamleit.
Zu diefem Zwecke war ihr ein Pla in einer ab»
jeit3 gelegenen Küche angewiefen worden, damit jte
fi) beifer bewegen konnte, Sie hatte eine Maßte
vor das Geſicht gebunden und in ber Kapelle, wo
ihr Apparat ftand, ftarfen Zug hervorgebradt, weil
die Einatmung des Chlorgafes mit Gefahren ver
Inüpft war.
Der Ajliftent am Laboratorium, mit dem fie
jeit dem berüchtigten Kommerſe nicht mehr geſprochen
hatte, ging durd) das Zimmer. Das Geſicht hinter
der Maske verborgen, fühlte Blanche ein trogiges
Berlangen, ihn anzureden. Sie wurde nämlich nad}
Neubau.
dem Beſuch der Zante bei dem Profeſſor ala
Klatſchbaſe behandelt, und niemand hatte ſich ihr
wieder genähert. Deshalb fühlte fie das Bedürfnis,
ſich zu rechtfertigen. Aber auch der Aififtent war
auf die gleiche Idee gefommen, in ſchicklicher Weife
ein Geſpräch zu eröffnen.
„Es ijt wohl recht amüjant, in der Küche zu
ſtehen?“ fragte er ſpitzig.
„Hier iſt's noch erträglid, aber in ber Küche
verheirateter Leute joll e8 weniger amüjant fein,“
antwortete Blanche.
„Auch ich glaube nicht, dak die Köchinnen, die
in der Küche verheirateter Frauen ſtehen, das be=
ſonders luſtig finden,“ fagte der Aififtent. „Die
Frauen jollen nämlich bisweilen recht wunderlich
fein!”
Blanche errötete unter der Maske. Die Phraje
der Tante, daß Frauen Köchinnen jeien, war in
eine Scharfe Säurelöfung des Antagonijten ver—
wandelt,
„Sie fommen nicht mehr zum Kommers?“ hub
er wieder an.
Blanche ſchwieg.
„Sie haben fih gelangweilt?” fuhr er fort.
„Wollen Sie in einen andern Verein geben, wo es
nicht jo langweilig it? Wollen Sie mit mir zu
den Ruſſen gehen?“
Blanche hatte von den Ruffen fo viel gehört, daß
ihre Neugierde gewedt wurde,
„Ih glaube nit, daß ich die Erlaubnis von
der Tante erhalten werde,” jagte fie kindlich.
Der Aſſiſtent lachte.
„Weshalb ſollte es die Tante nicht wollen? Es
liegt ja feine Gefahr darin, Iſt es denn gefährlich,
neue, friſche Gedanken zu hören ?*
„Nein,“ antwortete Blandıe.
ſollen jo frei fein!“
Er lächelte wieder und ſah ihr in die Augen.
„Wollen Sie nicht auch frei ſein?“
Blanche fühlte ihr ganzes Verlangen, ihre ganze
verzehrende Sehnſucht von feinen Lippen ausgeſprochen.
Und der zu ihr ſprach, jah aus wie ein Mann, der
ihr würde helfen können, Feſſeln zu brechen.
„Jamohl,” jagte fie, „ich möchte frei fein. O,
frei!”
„Schen Sie, fehen Sie! Kommen Sie alfo
morgen mit!”
„Aber die Tante!“
„Lügen Sie ihr etwas vor!”
Blanche fuhr zujammen. Er, der wie die Ehr-
lichkeit und Wahrheit jelbft ausjah, er riet ihr zu
lügen!
„Iſt es nicht unehrenhaft, zu lügen?“
„Nicht immer! Wenn ein Mörder, defjen Ab—
fichten ich fenne, mid) nad dem Wege zu jeinem
„Aber die Ruffen
1079
Opfer fragt, fo zeige ich ihm ben unrechten und
lüge mit frohem Gemüt.“
„Über die Tante ift doch fein Mörder!"
„Nein, aber eine Mörderin! Fühlen Sie nicht
ihr Gift, das nahe daran ift, Ihr Blut gerinnen
zu madhen? Ihr Hab, ihre Nahe, die Sie ber
friedigen jollen, fließen in Ihren Adern, werben
von Ihren Lungen abjorbiert, paralyfieren Ihr
Merveniyflem! Sind Sie frei? Sie efjen das
Brot dieſes Vampyrs, dad Sie nicht dur Ihre
Arbeit verdienen, Sie find von ihr bezahlt, um
ihre Rache auszuführen, Sie haben Ihre Seele ver»
fauft, wie andre frauen ihren Körper. Was treibt
Sie auf Ihre Lebensbahn? Iſt es das Pflichtgefühl
gegen Ihre Mitmenfchen, ift es die Luft, mit Uns
fauberkeiten zu hantieren, Sranfenzimmerluft zu
atmen, Wehegefchrei zu hören, aus dem Schlaf und
bei den Mahlzeiten gejtört zu werden? Nein, e&
ift Rache! Rache, an wem? An den verabjchiedeten
Liebhabern Ihrer Tante? Sind Sie als Arzt nötig?
Sind auch nur fünfzig Prozent von den ſchon vor«
bandenen nötig? Glauben Sie, es fehlen Rezept
ichreiber? Sie treten einander unter die Füße und
können doch nicht helfen. Warum die Ruſſinnen
Herzte werden? fragen Sie. Nicht, um Rezepte zu
ſchreiben, nicht, um der Ehe zu entgehen; o nein,
es geichieht, damit die Menfchheit von größeren
Schäden geheilt werde, jo daß jpäter einmal über»
haupt fein Arzt mehr nötig fein oder die gleich
mäßige Verteilung des Wiſſens jedermann zum
eigenen Hüter feiner Gejumdheit machen wird.”
Blanche ſtand da wie ber Nezipient in einer
Eleltriſiermaſchine; fie nahm alles auf, was ber
funlenſprühende Dann um fi warf, aber zugleid)
fühlte fie ein ummiderftehliches Beftreben, ihn zurüd«
zuichleudern. Vorher war es im ihr leer gewejen,
und jetzt wollte er fie mit dem Ueberſchuß feiner
Seele anfüllen. Seine Augen flammten, und jein
kräftiges, männliches Gefiht jah wie die Wahrheit
jelbft aus, als er ſprach: „Lüge!” Sie ſuchte an ihm
nad) einem Punkte, wo fie verwunden und entwaf-
nen fonnte, und dies fonnte gerade in dem leptern
geichehen. Er fand jo hoch und flar vor ihr, höher,
als fie zugeftehen wollte, aber fie mußte ihn herunter-
ziehen. Und doch wollte fie ihn groß, ſtark jehen,
als die Stütze, den Befreier, den fie ſuchte. Un—
bewußt fühlte fie, daß der Befreier auch der Herrſcher
werden Tonnte; fie ſuchte ihn und flieh ihn von ji.
Endlih ſprach fie: „Sie predigen die Moral der
Jeſuiten.“
Uber er, der jedes Schlagwort kaunte, war jo»
gleich mit der Antwort bei der Hand:
„Nein, das thne ich nicht. Das Geheimnis bes
Iefuiten liegt in den falihen Schlußfolgerungen; er
macht ein Kartenkunftftüd mit Worten, und Sie find
1080
büpiert. Er jagt: Der Zwed (gut oder ſchlecht)
beiligt die Mittel. Ich Tage: Der heilige, große,
fchöne Zwed, den Sie erftreben, heiligt das Mittel,
Ein niedriges Ziel entweiht jedes Mitte, Die
neue Moral, die ſchon neu war, als Montes-
quien fie ausſprach, lautet folgendermaßen: ‚Wenn
ih etwas weiß, was nühlih für mich ift, aber
ſchädlich für meine Familie, muß ich es aus meinem
Sinne verbannen; wenn id etwas weiß, was für
meine familie nützlich ift, aber ſchädlich für mein
Vaterland, muß ich es zu vergeſſen fuchen; wenn
ih etwas weiß, was für mein Vaterland nüßlich
ift, aber ſchädlich für ganz Europa oder die Menſch-
beit, dann muß ich es für ein Verbrechen halten!
Der Egoismus, dieſes herrliche Geſchenk, das unter
dem Namen des Selbjterhaltungstriebes alles Leben-
bige leben läßt, wird ſich gleichfalls entwideln; ſchon
jept hat er einen großen Schritt nad) vorwärts ge-
than zum Altruismus oder zur Liebe gegen andre.
Diefe Liebe hat ſich zuerft gezeigt in der Liebe zum
Kinde, dann zur familie, Aber die Familie hat
ein Stadium erreicht, das wir hinter ung legen
müfjen, und bat fi zur Geſellſchaft entwidelt, zur
fünftigen Gejellihaft. Sie liegen nod in den
Feſſeln der Familie, die nur eine blonomiſche In—
ftitution iſt; reißen Sie fi) 108 aus den engen
Bienenzellen der Familie, ſchwärmen Sie hinaus
und bauen Sie jelbft einen Korb; verlaffen Sie
die Familie mit ihrem Agglomerat Meinlicher In—
tereffen und iolierten Egoiftenlebens und leben Sie
für das Geſchlecht.“
Blanche ſah die Wände zurüdweichen, die Thüren
in unendlicher Flucht fich öffnen; feine Rede wirkte
wie Wärme und Feuchtigkeit auf alten Samen, der
im falten Raum gelegen hat. Sie fühlte ihr Weſen
feimen, fühlte, daß die Zeit bald kommen würde,
wo die Schale gefprengt werden mußte! Aber dann
wurde fie von einer jonderbaren Luft ergriffen, mit
dieſer Seele, die fie befruchten wollte, zu ringen.
Sie flatterte wie das Schmetterlingsweibchen davon,
das, vom Gatten verfolgt, fühlt, daß der Tod in feinen
Küffen liegt, der Tod für fie ala Individuum in der-
jelben Stunde, in der fie dem Geſchlechte Leben giebt.
„Barum jagen Sie das alles mir? Weshalb
verihwenden Sie all diefe Worte auf mid, ein
unbedeutendes, fremdes Mädchen ?" fragte fie.
„Das haben Sie ſchon erraten!* antwortete er;
„aber wollen Sie, daß ich es ausjpreche, jo fommen
Sie morgen abend mit mir zu den Rufen!“
Er ergriff ihre Hand, „Sie fommen? Nicht
wahr?“
„Ich komme fiher,“ antwortete Blanche,
fonnte nicht anders.
Als Blanche wieder zu Haufe am Mittagstifch
faß, fühlte fie, dak das Geheimnis, welches fie be—
Sie
Auguſt Strindberg.
ſaß, fih wie eine Mauer zwifchen ihr und ben
Tanten erhob. Das Band war morjc geworden.
Sie befah etwas, was fie nicht von jenen empfangen
hatte. Es war ihr Eigentum, e& waren ihre neuen
Gedanken, ihr Geheimnid. Sie dachte daran, wie
ſchwach doc jenes Band gewejen fei. Es war nicht
das Band ber Liebe, denn fie liebte jene Gefangen
wärterinnen nicht, ed war das Band des gemeinen
Intereſſes. Sie bedurfte ihrer wie die Miftel der
Pappel, wie der Parafit der Wirtäpflange. Eie
erwartete, daß die Stimme des Blutes reden würde,
aber die jchwieg. Keine Gewiſſensbiſſe, feine war
nende Stimme! Das Alte flürzte zufammen mie
ſchlecht gefleifterte Tapetenwände, und fie fühlte,
wie fie wuchs. Jeht erft empfand fie den erften er-
frifchenden Flügelſchlag der freiheit um ihre bei-
tiichen Wangen; nicht bloß der ſtörper war gefangen
gewejen, nein, auch ihr Geift!
Blanche erſchien zeitig an dem beftimmten Plape
in Baufhänzlis Park. Der Schnee fiel ruhig jur
Erde, und draußen lag der ſchwarze See. Sie war
fehr erregt, und wenn der Fuß zufällig ein dürtes
Blatt berübrte, fuhr fie zufammen, aber der Schne
fiel dicht, fo dicht, daf fie den Laut ihrer Schritte
bald nicht mehr hörte. Hie und da knirſchte wohl
noch der Sie, aber der Schnee brachte auch ihn
bald zum Schweigen. Sie fühlte, daß jeder Schritt,
den fie that, fie auf eine neue Bahn führte, hinaus,
einem unbefannten Geſchick entgegen, aber er führte
fie wenigftens hinaus. Wohin? Sie war fi be—
wußt, eine Vereinbarung zu brechen! Sie hatte
den beiden alten frauen ihre Freiheit verkauft, und
die gaben ihr dafür die Mittel zum Leben. Yept ftelte
fie ihre Bezahlung ein — durfte fie dann noch von
jenen nehmen? Im Grunde war es alfo nur ein
ölonomifches Problem. Nur wer die Mittel zum
Lebensunterhalt befiht, ift frei; alle andern find
Sklaven. Ein verborgener Haß gegen die Alien
begann in ihr emporzuwachien. Hätte Blanche Ver«
mögen gehabt, dann wäre fie frei gewejen. Was
fchreien da die Völler nad Freiheit, wenn fie fein
Geld befigen! Freiheit ohne Geld ift ja unmöglich!
Sie lief vom Hauje fort, hinaus aus dem Gefäng-
nis der Schule, in das Gefängnis der Univerfität,
wieder hinaus in das Gefängnis der Praris, der
Gunſt des Publikums. Ueberall Gefängnifie. Und
erjheint der Befreier, der ftarfe Mann, der ihre
Ketten zerreiben ſoll, dann gefchieht e8 nur, um fie
in ein neues, ftarfummauertes Gefängnis zu führen,
in das Ießte, das nur der Tod öffnen fann, Sie
vermochte das Problem nicht zu löſen. Würde er
e8 thun, der auf jede frage eine Antwort hatte,
fonnte er es löjen?
Der Schnee wirbelte um ein paar kräftige Füße
auf, und die Luft beivegte ſich von feinen feuchenden
ul |
Neubau,
Atemzügen; er ftand an ihrer Seite und legte ihren
Arm in den feinigen.
„Böſes Gewiſſen?“ jagte er. „Das giebt fi).
Dem Korjen, der es verfäumt hat, ben Feind jeiner
Familie zu ermorden, ſchlägt aud) jein böſes Ge—
wiſſen. Es ijt das fonventionelle Gewiſſen, das
jemanden eine® unterlafjenen Mordes anklagt. Wort
damit!”
Und er führte fie mit ſich. Sie gingen im
gleichen Schritt, und ihr Arm Tag jo ſicher in dem
jeinigen.
„Iſt es weit?” fragte Blanche.
„Vor der Stadt,“ antwortete Emil.
Auffen lieben die Städte nicht !*
Und fie wanderten hinaus über weiße Weder,
Hügel hinan, zwiſchen Weinbergen, und famen end»
lich zum Cafe des Alpes, einem Meinen, von Lärchen
und Tannen umgebenen Holzhauſe. Es jah idylliſch
und traulich aus, nicht wie ein Reftaurant oder ein
Cafe, wo beichäftigungslofe Menſchen die Zeit töten,
fondern wie eine Herberge am Wege, wo der müde
Wandersmann Ruhe findet.
Sie fliegen eine Holztreppe hinan und gelangten
auf einen Ballon, der von dem Lichte im großen
Saale erleuchtet wurde. Als fie noch den Schnee
von ben Füßen und Kleidern jchüttelten, Tam ein
Herr aus dem Saal und bewilllommmnete fie wie
alte freunde. Es war ein großer, dunfler Mann
mit einem auf breiten Schultern ſitzenden Kofafen-
fopf. Er ergriff Blanches Hand, bdrüdte fie wie
die einer Schwefter, nahm ihr den Mantel ab und
führte fie in den Saal. Es war ein altmodifches
Zimmer mit niedriger Dede, an welcher die Balten
freilagen. Oberhalb der hohen Holzpannele erblidte
man Alpenlandjhaften und Bärenjagden; in gleid)«
mäßigen Nbftänden Hingen Heine Wandlampen,
deren blanfe Meffingreflettoren den Lichtſchein zu-
rüdwarfen. Mitten in dem Raum ftand ein langer
Tiſch, an welchem ungefähr zwanzig Herren und
Damen jaßen, die Thee tranfen und Zigaretten
raudten, während in der Mitte ein mächtiger Sa—
mowar von frifchgepußten Kupfer funmte. In
dem großen, jhranfartigen, grünen Kachelofen, um
welchen Holzbänte liefen, brannte ſtarles euer.
Als Blanche und ihr Begleiter eintraten, erhoben
Jich die Anweſenden und drüdten ihnen die Hände.
Die Mädchen fühten Blanche auf die Bade und
machten ihr Platz. Wie die warme Luft aus einem
traulihen Heime ſchlug es ihr entgegen, und der
Eindrud bier war nicht der düjtere, Falte wie in
der Brajierie Nuß. Hier herrjchte feine Feind—
feligfeit, feine Nivalität, fein Konkurrenzneid, und
Blanche fühlte fich gleich wie zu Haufe. Die Herren
waren gegen die Damen höflih, ohne Galanterie,
und die Damen nahmen deren Achtungsbeweiſe mit
Aus fremden Zungen. 1897. IL 23.
„Die
1081
Dankbarkeit und Freundlichkeit entgegen. Sie
rauchten Zigaretten, trugen aber weder furzes Haar
nod) blaue Brillen; fie waren anmutig in ihren
Bewegungen und ſuchten weder durch Worte nod)
durch derbe Geften den Männern nachzuahmen. Sie
ſprachen ernit und ohne Furcht, mißverftanden zu
werben, denn fie ftanden alle auf gleicher Bildungs»
ftufe und teilten fich einander mit, ohne fich belehren
zu wollen,
Man jervierte Thee für Blanche, troßdem die
Zeche eine gemeinfame war, Dies erſchien ihr an-
genehmer, ala daß jeder ſelbſt beftellte, und der
Kellner jeden Augenblid durch das Zimmer rannte,
Man bot ihr Zigaretten an, die fie ablehnte. Sie
fand in dem Rauchen der Damen nichts Anftößiges,
denn es ift ja bei jenen „Sitte”, alfo „ſittlich“, während
es in WWeftenropa nicht Sitte, alfo unſittlich ift.
„Paul Beſtuchew,“ begann eines der Mädchen,
weldhes für den Abend den Borfik führte, „Hat
darum gebeten, Heute abend ſprechen zu dürfen,
Aber nicht länger als dreißig Minuten, Väterchen.“
Der mit Beſtuchew Angeredete jchob feinen Stuhl
etwas vom Tiſche zurüd, blieb aber figen und holte
einen Bogen Papier hervor, auf dem er ſich einige
Anmerkungen gemadht hatte.
„Ih will über ‚das Allerheiligite‘ ſprechen,“
begann Paul und tranf von feinem Thee.
„Es handelt doch nit von Religion?“ fragte
ein Rotbärtiger.
„Nicht do,“ antwortete Paul. „Darüber jpricht
man nicht. Nein, ich will darüber reden, was
heiliger ift ala das Heilige, über
Das Allerheiligfte.
„In der Kindheit der Gefellfhaft, che die Ar«
beitseinteilung höhere und untere Klaſſen geihaffen
hatte, war die Erde die Mutter Aller. Der Stamm
beſaß jein Territorium ungeteilt oder parzellierte es,
wie bei den Landwirten, zur Benußung auf eine
beitimmte Zeit, ohne fein Eigentumsrecht aufzugeben.
Solchen Kommunismus haben wir noch in ruſſiſchen
Dorfihaften, und unfer Vaterland beſitzt ungefähr
vierzig Millionen legalifierter Kommunisten. Da
das Glück deſſenungeachtet fi bei unjern armen
Mujchiten nicht wohl befindet, das beruht auf an⸗
dern Dingen, denen jeht abgeholfen werden joll.
Da nun die fiegreihen oberen Klaſſen bie urfprüng-
ih kommuniſtiſche Erde ih anmahten, das heist
einen Diebftahl begingen, jo erflärte man in dem—
jelben Moment den Diebftahl für heilig. Das
geftohlene Eigentum wurde für Die oberen Klaſſen
heilig; die untern aber, die dem Beiſpiel folgen
und das Geftohlene zurücdnchmen wollten, mußten
ihren Tribut an die Gefängnifie bezahlen.
„Inzwiſchen wurde das widerrechtlich angeeignete
Eigentum immer mehr und mehr den Anfprüden
136
1082
der Heimzahlung ausgeſezt. Die Heiligleit wuchs,
Jetzt kann man den Kaiſer erfchießen, Goit leugnen,
die Moralgeiege angreifen und doc unter Staats»
Ihuß fliehen, wie wir in der Schweiz, aber wir
werden ausgeliefert wegen eines Angriffs auf das
Eigentum. Das Eigentum ift aljo heiliger gewor-
den al& der Zar, als die Moral, als Gott,
„Aber die Zeit jchreitet vorwärts, und die Schlinge
um den Hals der oberen Klaſſen ift zugezogen wor=
ben. Unſre Zeit bat drei große legalifierte Angriffe
geſehen, fonftitutionelle, Taiferliche, Löniglidhe, fon-
greßliche Angriffe auf das Eigentum. Der erfte ift,
wie befannt, die Aufhebung der Leibeigenſchaft in
Rußland (die Leibeigenen waren Eigentum), der
zweite die Befreiung der Neger in Amerifa (bie
Neger waren Eigentum, folglich heilig), den dritten,
den wir 'täglid vor Augen fehen, nennt man Ex—
propriation. Mein Vater hatte eine Befikung und
einen ſehr Ichönen Garten, den er jehr liebte. Er
batte jeden Baum jelbft aufgezogen; jeder Buſch
war ihm wie ein freund. Er war ihm um nichts
feil, denn ‚er liebte ihn, wie man ein lebende: Weſen
liebt. Eines Tages erihien ein Ingenieur einer
Eijenbahngeielfchaft und jhlug alle Bäume nieder,
riß jeden Buch aus der Erde. Der Bater meinte
und fluchte. Der Ingenieur jagte, das Land jei
erpropritert, und der Water werde dafür bezahlt be-
fommen, Der Bater wollte feinen Garten nicht
verfaufen, wollte ihn nicht bezahlt haben. Da
wurde er ihm genommen,
„Diele großen Beifpiele haben die Unverlehlich-
feit des Eigentums erichüttert. Nicht, daß die
Menihen der Zukunft es ebenſo machen werben
wie der Staat und einfach nehmen werben; fie
werden im Gegenteil geben. Aber das werben wir
erft erleben, wenn jedermann den Vorteil eingeichen
haben wird, dak niemand befibt, was er morgen
verlieren fann, und daß alle befigen, was fie nicht
verlieren fönnen.
„Aber ich will jeht nur die ‚moralifche‘ Seite
des Eigentums betrachten, die vielleicht am meiften
zu dem unmoralifhen Zujtand der Gejellichaft bei-
getragen hat.
„Der Begriff und das Gefühl des Befikes ift
in unfer ganzes Seelenleben eingedrungen, hat unfern
Egoismus amplifiziert. Selbft unjre Gedanken find
zum Gegenjtand unfrer Habgier geworden. Der
Gelehrte hütet jeine Entdedung. Weil fie ihm Ehre
bringt, giebt er fie nit zum Nuben der Menich-
heit frei. Der Erfinder beeilt fih, ein Patent zu
nehmen, um bie Menfchheit daran zu hindern, Nutzen
aus feinem Werk zu ziehen; die Priefter, die Diener
des Herrn, ſchlagen fi um das Brot und hohe
Aemter, einige geben jogar, wie die Sängerinnen
im Café chantant, mit dem Teller in der Kirche
Auguft Strindbberg,
umber. Der Volfävertreter, der im Reichstage die
Wahrheit jagen ſoll, überlegt es fich zweimal, ehe
er das entjcheidende Wort ſpricht, denn hinter ihm
lauern jeine Gläubiger; der Journalift, der die
Art an die Wurzel des morſchen Baumes jeher
ſoll, windet fih wie ein Wurm, ehe er zuſchlägt,
denn er fieht, wie Frau und finder die Köpfe
darunter legen. Für Frau und Kinder! Wie
mander Wille ift um ihretwillen gebrocden, wie
mande Seele verblutet! Der Mann ift das Eigen-
tum der Familiengefamtbeit, er iſt Leibeigener, Er—
nährer, und darum — tie ſchlau! — hat ihm die
Oberllafle das Stimmrecht und die fcheinbare Leitung
in die Hand gegeben, denn fie weiß, daß er am
Fuß eine Feſſel trägt. Um wie viel freier würde
fih das Weib in der Deffentlichkeit bewegen, fie,
die eine blonomiſche Stüße hinter fi bat! Was
bei ihr Stärfe ift, ift bei dem Manne Schwäche.
Deshalb ift die Stellung des Weibes freier als bie
des Mannes, und darum ift fie fühner. Menn der
Mann ſich von einem Kaufmann an der Ware be—
trügen läht und feinen Lärm jchlägt, um ſich feinen
Feind zu ſchaffen, jo wirft die Frau dem Schelm
bei ſolchen Verfuchen die Ware ins Geſicht.
„Aber der Eigentumsbegriff hat fi auch in
unfre heiligflen Gebiete eingefhämuggelt , deshalb
beiligften, weil die Natur fie felbit abgeftedt hat.
Der Yüngling wirft die Augen auf ein Mädchen;
er gefällt ihr, ihre Seelen lieben fich, aber eine
Kleinigkeit ift dabei zu erwägen, die allerdings die
Hauptſache ift: Hat er Geld? Mein! Dann mag
er ruhig gehen! Die Kinder, die das Eigentum
der Gejellichaft jein jollten, werden als Privat
eigentum der Eltern behandelt, denen die Aufgabe
zufällt, die Kinder, ſolange fie Hein find, durch
Liebfofungen, durch Spielen zu unterhalten und,
wenn fie älter geworden find, ihnen „Ehren“ zu
ſchenken — und warum nicht auch Geld. Die Gatten,
die gef hworen haben, einander „anzugehören”, fangen
durch die Macht der Gewohnheit bald an, jid al
Eigentum zu betrachten.
„Zum Schluß einige Worte über das ſchlechte,
aber darum gefährlihe Symbol des Eigentums,
das Geld,
„Das Geld ift ein Gedicht, ſchön für den Be—
fißer, aber trügeriſch wie alles Schöne. Es ift cin
ſchlechter Wertmefler, denn es mißt nicht den Wert.
Heute erhält man einen Sad Weizen für einen
Louisdor, morgen nur einen halben. Es mit weder
den Nutzen nod den Wert, denn eine Flaſche Kap
wein, die einen Louisdor koſtet, fommt am Wert
einem Sad Weizen nicht glei. Denn während
ih den Sad Weizen aufeije, ift meine Seele fri,
frei von Nahrungsjorgen, vielleicht für einen Monat,
in dem meine Seele arbeiten fann, während eine
Neubau.
Flaſche Kapwein mich für einige Stunden einjchläfert
und dann zum Sflaven madt.
„Das Geld ift ala Wertmeſſer gefährlich, weil
es in ſolch Fongentrierter Form auftritt, daß das
Auge den ihm innewohnenden Nußen nicht jehen
Tann. Tauſend Franken in Golb auf einem Tiſche
geben feinen wahren Begriff des Wertes, aber taujend
Franfen Getreide in Süden ſehe ih. Deshalb war
die erfte Münze Vieh, pecus, pecunia, Ein Rind,
das zum erften Male ein Geldftüd erhält, darf ſich
dafür Bonbons faufen. Das ift ein jämmerlicher
Fehler, denn das Kind fieht dann im Gelbe ein
Genußmittel.
„Das ſchlimmſte am Gelde iſt, daß es falſch iſt.
Es behauptet, ein Repräſentant vorhandener Nütz-
lichleiten zu ſein. Das iſt unwahr. Dean bat
Banken ſtürzen geſehen, die mehr Papiergeld aus—
gegeben haben, als Gold vorhanden war, aber jo
lange bejtanden haben, folange der Glaube an das
Papiergeld gewährt bat. Wenn nun der Tag fommt,
an dem der Glaube an das Gold erjchüttert wird,
an dem man für das unnüße Gold nichts Nüßliches
mehr erhalten fann? Man hat ba bei der Ber
lagerung von Paris gejehen. Die Stadt war mit
Gold angefüllt, aber niemand wollte Gold; jeder
mann wollte Speilen haben, die nicht vorhanden
waren; deshalb war der Wert des Goldes für den
Augenblid annulliert. Der Araber, der in der
Wüſte einen Sad Perlen findet, ift ebenjo arm
wie der belagerte Parijer.
„Der Markt ift mit Getreide überfüllt, während
Millionen Menſchen hungern. Das ift ein fyehler
in der Perteilung ber Probufte, ein fyehler des
Geldes und der jalihen Münze, der Wertpapiere |
jowie der ausgedehnten Arbeitsteilung, Wenn die
Selbjthilfe zum Prinzip wird, wenn das Privat»
«igentum Solleftiveigentum fein, wenn man bie
Arme benußen wird, um Brot zu jchaffen, anftatt
Lurusgegenjtände, dann wird die Not verjchwunden
jein! Darum wollen wir arbeiten, um die Menjchen
den Borteil der Aufhebung des Privateigentums
zu lehren!”
„Seht find die dreißig Minuten ficherlich vorüber,
liebe Schweiter!“
Hierauf wurde in die Diskuffion eingetreten,
„sch möchte einwenden,” begaun Anna, „dab,
wenn man die Schäße der ganzen Welt verteilen
würde, jeder Menſch fünfzig Gentimes befäme, und
damit wäre niemand geholfen.“
„Diefe Einwendung,“ antwortete Beſtuchew, „ift
Nr. 1 der von uns regiftrierten ‚Elih6s‘, wie wir
es nennen. Die Schwefter mag fih die Antwort
aufjchreiben: Wenn man die drei Milliarden Dollars
der Vanderbilts, Stewart3 und Aſtors unter die
anderihalb Milliarden Einwohner der Erde verteilen
1083
würde, jo befäme ein jeder zwei Dollar& ober zehn
Franken. Wenn wir aber annehmen, daß nur Europa
und Amerifa bei der Zeilung bedacht wären, jo
würde ſich dabei die Summe von zwölf Dollars
oder jechzig Franken pro Kopf ergeben. Mit jechzig
Franken fann ein Tiſchler ſich Werkzeuge, ein Fiſcher
Nee, ein Krämer Waren, ein Dienftjuchender neue
Kleider und jo weiter anſchaffen. Dieje Teilung
wäre aljo nicht uneben, obwohl fie nur die Teilung
dreier Vermögen von jo vielen berührt, Aber nun
will ich ſelbſt, da ich die Einwendungen kenne, fort
fahren, damit fie in der richtigen Ordnung er«
jcheinen. Alfo Cliché Nr. 2: ‚Wenn man die Erde
um acht Uhr des Morgens verteilen würde, jo hätten
die Schlauften und Stärkiten die ganze Erde um
zwölf Uhr im Beſitz.“ Antwort: jehr wahricheinlic.
Daher hat fein Sozialift, ſondern nur ein fleines,
fonjervatives Gehirn diefe Stupidität erjonnen. Es
iſt nämlih nicht im entfernteften die Rede von
irgend einer Teilung, denn gerade die gegenwärtige
‚Zeilung‘, vermöge deren zwanzig Berfonen den Grund
und Boden Englands befigen, ſoll ja aufgehoben wer⸗
den. Der Staat joll allmählich jedes Eigentum, das
ja dem Staate gehört, erpropriieren, da der Staat
Staatsſchulden machen fann. Und dann wird ber
Staat fih wohl hüten, nod einmal eine Teilung
vorzunehmen! Iſt das Mar? — Elihe Nr. 8: ‚Die
Spyialijten, die auch Darwiniften find, jollten das
Erbrecht nicht angreifen, denn das Erben von
Mitteln zum Leben wäre ja ein gutes Erbteil zur
Beredlung der Kaffe.‘ Halt! Das Gefühl, etwas
zu bejifen, was man nidt erworben, bringt bie
Kaffe zur Entartung. Beweis: die alten Königs«
und Adelsgeſchlechter. Jeder, der nicht arbeitet,
wird jterben, eines natürlihen Todes, wenn bie
Krifis über die Welt jchreiten wird. Das ſchlimmſte
Erbe, das du deinem Finde geben Fannit, ift Eigen»
tum, jobald es aufgehört hat, Mittel zur Arbeit zu
jein, und ausjchließlich Genußmittel geworden ift. —
Clichéè Nr. 4 (wir lennen fie alle, wie die Schweiter
fieht!): ‚Die Menfchen werden, wenn das Erbrecht
aufhört, es unterlajien, mehr zu produzieren, als
fie gebrauchen.‘ Antwort: So joll es jein. Dadurd
hört das Anwachſen des Kapitals in einer Hand
auf und zugleich die Ueberprodultion, die alle Kriſen
bervorbringt. Und — das übrige ſpare ich mir für
das nächſte Mal auf — ein jeber, der feinen Kindern
feine Erbſchaft binterlaffen fann, eine Erbichaft, Die
jo oft von VBormündern, von den Erben felbjt ver
geudet wird, bie ihren Wert verlieren fann durch
Teuerägefahr, Erdbeben und jo weiter, wird feinem
Kinde ftatt deſſen das Befte geben: eine Erziehung!
Mit Starken Armen und einer gefunden Seele. Dann
werben die heiligen Gefühle des Sohnes am Toten»
bette des Vaters nicht entweiht werden durch ſchändliche
1084
Gedanken an das Erbe, an den Nuben, den ihm
der Geliebte durch feinen Tod gemährt, und der
Sterbende wird das angenehme Gefühl haben, der
Nachwelt einen ftarfen, nüßlichen und guten Mit
bürger zu binterlaffen, während fein Eigentum zum
Mohle aller verwendet wird, alfo aud) zum Mole
des Sohnes, der fi dadurch ſolidariſch fühlen wird
mit dem Gejchlecht, das in Eintracht genießen wird,
was ein jeder befonders für dasſelbe erarbeitet hat.“
Die Verhandlungen wurden geſchloſſen. Die
Theemaſchine fummte, und man leerte friiche Gläfer
des duftenden Trankes. Der ernfte Teil war vor«
über, und nun wollte man fi duch Scherz und
Spiel erholen. Emil holte eine Guitarre herbei
und fang. Dann ſchob man die Tiſche beijeite und
tanzte. Hierauf wurde ein leichtes Abendeſſen auf-
getragen, Die Stunden verſchwanden unter herz-
licher Freude und Luftigfeit. Man vergnügte ſich
wie außgelaffene Kinder, in dem Bewußtjein, daß
da& Leben ernft genug jei, und man nicht nötig
babe, um eines Nichts willen der Freude zu entjagen.
Es wurde fpät, und Blanche mußte gehen. Emil
begleitete fie.
Draußen hatte fih der Himmel aufgeflärt, und
der Mond beleuchtete den See umd die Alpen.
Blanche ergriff Emild Arm, und ftumm gingen
fie nebeneinander ber.
„Haben Sie ſich heute abend amüſiert?“ fragte
Emil,
„Wie nie zuvor,“ antwortete Blanche. „Aber
fagen Sie mir nur eins. Sind diefe jungen Men«
ſchen heimlich verheiratet?“
„Wiefo ?“
„Hm! Mir ſchien, ald wären fie ſo — wie fol
ih jagen? — intim.“
„Jawohl, fie find verheiratet, heimlich.”
„Getraut?”
Es entftand eine Paufe,
„Nein, nicht getraut,” jagte Emil.
Blanche fuhr zufammen.
„In welche Geiellichaft haben Sie mid dann
geführt ?"
„In die Geſellſchaft verheirateter Leute.“
„Uber nicht getrauter?”
„Ihre Tante war verheiratet, aber nicht getraut.“
„Meine Tante?”
„Ja, denn fie war cine Zivilehe eingegangen.
Die Trauung ift eine fpäte Erfindung, die im
vierten Jahrhundert gebräuhlih, im vierzehnten
obligatoriih und nah der Revolution freiwillig
wurde.”
Blanche Tann eine Weile nad).
„Wohnen fie zufammen ?“
„Nein,“ ſprach Emil, „Die einander lieben,
brauchen nicht in derjelben Wohnung zu wohnen,
Auguft Strindberg.
nicht diejelben Möbel abzunugen und nicht an einem
Tische zu eſſen. Auch das Zivilgefeh jchreibt das
nidjt vor.”
„Sie verteidigen aljo das Laſter?“
„Das Lafter, liebe Freundin, das Sie, mid
und alle Menſchen zur Welt gebracht hat, das Laiter,
auf welches der Pfaffe bei der Trauung Gottes
Segen herabruft, das Laſter, deſſen Folgen bie
Eltern der jungen Eheleute mit Sehnfucht entgegen
jehen, und deſſen Folgen die höchſte Freude der
Menſchen bilden — ja!”
„Sie ſprechen jo jonderbar!” ſagte Blande.
„Aber Sie haben ja recht!”
Sie wanderten ruhig weiter und waren balb in
ber Stadt.
„Was wird bie Tante ſagen?“ meinte Blande.
„Ih kann mid) von dem Gedanken nicht frei
machen, daß es unehrenhaft ift, ihr Brot zu eſſen
und meine Verpflichtungen nicht zu erfüllen.“
„Ihr Brot? Woher hat fie 8? Hat ſie &
ſich erarbeitet? Nein, fie hat nie gearbeitet. Sie
hat es von ihrem Vater, einem Kaufmann, ererbt,
der e& durch Angebot und Nachfrage, das Heikt durch
die Not andrer, ſich angeeignet hat!*
„Durch die Not andrer ?*
„sa, gewiß. Wenn Getreide genügend vorhan-
den ift, das heißt, wenn feine Not herricht, dann
fällt der Preis; ift Not vorhanden, das heißt, ift
die Nachfrage groß, jo fteigt der Preis. Bon jelbft?
Nein, der Kaufmann beitimmt den Preis und nüft
die Not der Menjhen aus. Das ift ein ſchönes
Recht, ein äfonomifches Recht! Ein Großhändler
ſetzt als Gehalt für einen Commis zwölfhundert
Franlen aus. Er annonciert die Stelle. Bewirbt
fi) nur einer darum, jo giebt er jeine zwölfhundert
Franken, denn er fürchtet jonft, allein zu bleiben
und felbft in Not zu geraten, Bewerben fid) zwanzig
um die Stellung, jo bietet er taujend fyranten; hat
er fünfzig Bewerber, fo giebt er fünfhundert Franten.
Das heift, er macht fi die Notlage andrer zu
Rufe, Wer hat ein folches Geſetz gemacht? Mit
Hilfe dieſes Geſetzes genieht Ihre Tante jeht die
Zinfen! Wie vieler Menihen Tod, wieviel Hunger
und Leiden haben dieſe Zinſen geloftet! Jeht jollen
Cie die Miffethaten der Väter gutmachen und ber
leidenden Menjchheit dienen — natürlich; gegen
Honoraf. Sie werden Enzian gegen Magenbe
ſchwerden, bie durch unregelmäßige Mahlzeiten ent»
ftanden find, verichreiben und vier Franken für ben
Kranfenbefuh nehmen und der Apotheler, Ihr
Eompagnon, einen Franken für den Enzian, der auf
den Bergen gratis wächſt, und einen halben Fraul
für die Flaſche, denn die Glashütten wollen aud
leben. Weld herrliche Aufgabe Ihnen da blüht!
Anftatt dem Armen ſechs Franken für Fleiſch zu
Neubau.
geben, nehmen Sie ſechs Franken, damit er mur die
privilegierte Gentiana des Apothekers kauft, die
nicht jättigt, und die der Arme mit einiger Kennt«
nis der Geiundheitspflege jelbit pflüden faun! Welch
edle Aufgabe — gefeßlihen Humbug zu treiben !“
„Aber Sie zerftören ja alles vor meinen Augen!
Sagen Sie mir doch: warum werben die Ruſſinnen
Aerzte ?*
„Um das Elend, bloßzulegen; um in den falfchen
Karten zu leſen; um danad) zu forſchen, ob nicht
die Urſachen der Krankheiten in der Armut liegen
ober im Wohlleben, in ber Tugend oder im Laſter;
um die Möglichkeiten zu ftudieren, den Sranfheiten
vorzubeugen, anftatt fie zu heilen! Werjchreiben
Sie den Blutarmen Filet und ftarkes Bier an Stelle
von Enziantinftur, dann werden Sie hören, was
man Ihnen antworten wird. — ber jetzt find wir
zu Haufe! Leben Sie wohl! Sehen wir uns
morgen im Schänzli? Um mehr zu befpredhen ?*
„Ja,“ ſagte Blande, „Warum fünnen Sie
nun nicht mit mir fommen, neben mir ftehen und
für mid; ſprechen, wenn ich der Tante etwas vor⸗
lügen werbe?“
„sa, warum?“ antwortete Emil und ging.
*
Am nächſten Abend, als der Mond den See
beleuchtete, promenierten Blanche und Emil zu—
jammen,
„Was ift die Liebe?" fragte Blanche, indem fie
fih auf Emils Arm ſtützte.
„Sie ift ein Myfterium, deifen profaifche Löſung
Sie noch nicht anzuhören ertragen! Wir find näm—
ih jo mit Lügen gefättigt, daß uns die Wahrheit
widerlich erfcheint.“
„Aber jagen Sie es mir dennoch!
es, ohne von Zellen zu fprechen!“
„Das fann- ich nicht!"
„Sagen Sie es dennoch! Sagen Sie, was fie
nicht it.“
„Sie ift nit die Schönheit, denn Sie find
nicht Schön; fie ift nicht der Geift, denn Sie find
laum ſcharfſinnig; fie ift nicht die Tugend, denn
die Begriffe darüber find unſicher; fie ift nicht bie
Feſtigkeit des Willens, denn Sie find ſchwach; fie
ift eine Ericheinung, nichts weiter, Ich liebe Sie,
obwohl Sie nicht ſchön, nicht geiſtvoll, nicht ftarf
find, Ich liebe Sie, trofdem mein Verftand mid)
vor Ihnen warnt, id) liebe Sie, troßdem ih Sie
nicht bemundere, Bisweilen kan ich Ihnen eine
Menge Eigenjhaften andichten, die Sie nicht be»
Ren, aber — dann fommt mein fcharfer Verftand
und ftreicht alles dur, das Faktum aber bleibt trotz⸗
dem beſtehen — id liebe di, weil — ih did
liebe! Dein Bild ift auf dem Grunde meines
Sagen Sie
Auges photographiert, jo daß ic) feinen Gegenftand ı
1085
betrachten fann, ohne ihn durd) dein Bild zu jehen;
wenn ich auf die Uhr fehe, erblide ich dein Bild
zwiſchen den Zeigern; wenn ich eine Dame auf der
Straße ſehe, nimmt fie deine Geftalt an. Wenn
ich dich fehe, jehe ich das Vollkommenſte, deine
Linien nehmen Töne an und feßen meine Nerven
— die Saiten meiner Seele, verzeihe — in Harmonie;
deinen Gang betraditen macht mid glücklich und
bein Bild mich trunfen! Ich bin überzeugt, daß,
wenn man mich jebt totſchlüge und jofort obduzierte,
ein Mitroftop dein Bild auf meiner Nekhaut, in
jeder Sungenzelle, in jedem Gewebe des Herzens, im
Rückenmark jehen könnte; jebes Blutkörperchen würde
dich widerjpiegeln, jede Gehirnzelle — verzeihe den
Ausdrud — wie ein Mikrophon beine liebe Stimme,
du Geliebte, wiedergeben!“
Er umfahte fie und drüdte fie feit an fih. Ihr
Pelzkragen mit den weichen Federn berührte jeinen
Mund, und er fühte fie auf die Stirn.
„Wir müflen uns verloben,“ ſagte Blanche ſchnell
und ftieß ihn zurüd.
„Wir find verlobt,” antwortete er.
„sa, aber die Tante...“
„Was geht das die Tante an?”
„Aber fie giebt mir das Brot.”
„Das ift wahr! Und darum!! 8 liegt fonft
in ber Natur der Liebe, fich zu verbergen. Man
nennt dad Keuſchheit. Mir ericheint es unkeuſch,
zu zeigen, was nicht gejehen werben joll, was nur
uns beide angeht! Liebſt du mich, Blanche?“
Ich liebe di! Aber deshalb, weil du ftärker
bift als ich, weil du mir neue Gedanken giebft, weil
du mid) tragen kannſt, wenn id; mübe werde, weil
du alle Eigenjhaften befigeft, die ich entbehre.”
„Dann bijt du ja eine Egoiftin, Blande! Du
verleumbeft dih! Du liebſt mid aus Berechnung.
Weil du etwas von mir empfängft, Nuben, eine
Stütze an mir haft. Glücklicherweiſe bin ich arm;
fonft müßte ich glauben, du liebt mich des Geldes
wegen.“
„Pfui, wie du jcherzeft!” ſagte fie.
Und damit trennten fie id.
*
Am nächſten Abend trafen fie fich wieder,
„Haft du gehört, dab die Deputiertenfammer
einem Gejeh über das Erbrecht uneheliher Kinder
zuzuftimmen im Begriffe ift?* begann Emil,
„Nein, aber es fommt nicht zu früh.“
„Zu früh und zu ſpät wie jede Halbreform.
Hebrigens ift es mehr gut gemeint als ſcharfſinnig.
Die PVaterfchaft kann nie bewiefen werden; die
Mutterfchaft ift das einzige, worauf man fich ver-
laſſen kann. Aber das Weib hat feine Erwerbs-
mittel zu jeiner Dispofition, deshalb mußte es
den Mann zum Sklaven maden, daß er für fie
1086
arbeite. So hat fie es jeit undenflidhen Zeiten ge—
madt; aber die Sflaverei hat immer den Sflaven-
‘halter demoralifiert; daher ift das Weib entartet,
egoiftiih und für die Gefellihaft faſt unmöglich,
Sie ift in dem Entwidiungsftadium der Familie
ftehen geblieben. Dur den Verfuh, den Mann
frei zu machen, durch Selbftarbeit tritt fie als Kon—
furrentin auf, und der überfüllte Arbeitämartt wird
zum blutigen Wahlfeld der beiden Geſchlechter für
den Kampf ums Brot werden. Diefer Kampf wird
die Gefellichaft fprengen und den Eintritt einer
neuen Gejelihaftsordnung vielleicht beichleunigen,
vielleicht aber aud) aufhalten. In dem Augenblid,
wo die Erbſchaft ganz aufgehoben werden joll, mit
neuen Erbſchaftsgeſetzen hervorzufommen, das ift
fein Fortichritt. Den Unterſchied zwiſchen ehelichen
und unehelihen Rindern fann nur die neue Ge»
jellichaft auslöſchen, wenn der Staat alle Kinder
gleihmäßig in jeinen Schuß nehmen wird.“
Blanche wurde unaufmerfjam und wollte von
andern Dingen reden. Der Schnee war gefchmolzen,
und zum Spazierengehen war es naß und häf«
lich; vom Waſſer her blies ein rauber, feuchter
Wind.
„Es ift nicht angenehm, hier zu gehen,” fagte fie,
„Nein, es wäre behaglider, in einem warmen
Zimmer mit Teppichen zu fiken,“ antwortete er,
„Wie jollen wir dahin gelangen?”
„Wir müſſen uns verloben,” fagte Blanche,
„Und zu Haufe bei der Tante ſitzen und über
die Männer berfallen! Nie mehr von dem ſprechen,
was wir denlen, ſondern aus Höflichfeit mit ihr
über gleichgültige Dinge plaudern!”
„Dann müflen wir heiraten!”
Emil wurde ftill.
„Ja, natürlih,* ſprach er. „Wir müflen heis
raten. Wir können doch nicht unſer ganzes Leben
lang im Dunkeln auf der Straße umberwandern!
Über deine Lebensbahn ?*
„Wird wohl dadurch nicht gehindert werben!“
„Dielleicht! Oder wir werden durch deine Lauf-
bahn gehindert. Der Herr geht des Morgens aus,
Kommt mittags nad Haus. Iſt die frau zu Haus?
Nein, fie ift ausgegangen, Nachmittags kehrt fie
zurück. Iſt der Herr zu Haufe? Nein, er ift
ausgegangen. Man trifit ſich möglidherweile am
Abend. Das feuer im Ofen brennt, die Lampe
it angezündet, Nun wollen wir plaudern. Da
flingelt e8, die Frau muß fort. Und jo jieht man
ich nicht mehr, denn der Mann fchläft, wenn die
frau nah Haufe fommt. Man fpielt blinde Kuh,
ohne ſich jemals zu erhafchen.”
„Uber wenn ich meinen Beruf aufgebe? Ich
babe, aufrichtig gejagt, gar feine Luft dazu!”
„Dann mußt du allein zu Haufe fihen und
Auguſt Strindberg.
trifft mich nur bei den Mahlzeiten an! Was iſt
dann zu thun?“
„Du fragft mih? Du müßteft antworten, wenn
ih frage.“
„Nur die Zulunft kann antworten! Nur bie
Zukunft kann uns Freiheit geben; jetzt find wir
alle Sklaven, und jeder Verfuch, die Ketten zu durd«
feilen, ſtraft ſich durch verftärkte Kerlerhaft. Lebe
wohl, Die Uhr ſchlägt! Die Kerfermeifter warten!“
In Zürich herrichte große Aufregung. Vor dem
Polytechnilum fanden Gruppen von Studenten im
Geipräh, ebenjo auf den Straßen, und in den
Reftaurants ſaßen fie in dichten Haufen in lebhajter
Diskuffion. Ein Schreiben der ruffiichen Regierung
an ben Rektor der Univerjität hatte um die Be
fanntmadhung gebeten, daß Diejenigen Studierenden
beiderlei Geſchlechts, welche durch ihr regellojes Leben
der Nation Schande gemacht Hätten, das ruſſiſche
Unterthanenredht aber behalten wollen, umverzüglid
in ihre Heimat zurüdzutehren haben.
Hierauf war eine Unterfuhung vorgenommen
und viele nichtruſſiſche Studierende fompromittiert
und relegiert worden.
Der Aififtent am chemiſchen Laboratorium, Emil
Suchard, wurde unter den Ausgewiejenen genannt.
Dies machte einen um fo peinlicheren Eindrud, ala
der Mann allgemein beliebt war und man wuhte,
daß er jeine Studien allein durch das geringe
Honorar beftritt, das er als Affiftent empfing.
Emil ſaß des Morgens in jeinem Zimmer und
ſchrieb Briefe. Nicht an Angehörige, denn die beſaß
er nicht.
Sein Schiff war gefheitert. Es galt ein neues
zu bauen. Mit einem unvollendeten Eramen blieb
ihm nur übrig, den Verſuch zu maden, in eine
chemische Fabrik hinein zu gelangen. Aber wo?
Es Hopfte an die Thür, Blanche trat ein. Kot,
verweint.
„Hier haſt du mich! Tante weiß alles!“ ſagtt
fie und warf ſich weinend auf das Sofa,
„Was weiß die Tante?” fragte Emil.
„Alles.“
„Daß du bei den Rufjen warſt?“
„ya!“
„Daß wir uns im Parke trafen?“
„Ja!“
„Mehr kann fie nicht wiſſen, denn mehr if
nicht geſchehen. Was follen wir thun ?*
„Reifen !*
„Wohin?“
„Wohin es iſt.“
„Und dann ?”
„Beiraten!“
Emil jhwieg eine Weile,
Neubau.
„Wie die andern,” ſagte er ſchließlich.
„Nicht wie die andern,“ antwortete Blandhe,
„jondern wie wir,“
„Wie wir? Was bebeutet das: wie wir? Unter
alfen Berhältniffen können zwei Fälle eintreten; wir
befommen Finder, dann bift du die Magd ber
Rinder; oder wir belommen feine Rinder, und bu
wirft meine Magd.”
„Wir werden feine Kinder und feinen Haushalt
haben; ich werde Arzt.“
„Wovon?“
Blanche ſchlug die Augen nieder und juchte am
Boden.
„Es ift wahr,“ hub fie wieder an, „meine
Reflourcen find zu Ende.“
„Und meine auch,” fagte Emil.
Blanche, die über Emils Bermögensverhältnifie
nie etwas erfahren hatte, ſchien unangenehm über-
raſcht. Sie hatte als fiher angenommen, daß er
Mittel beſaß. Es war ja nun peinlich, gerade jet
ölonomiſche Verhältniffe zu berühren. Aber das
ganze Dafein hing ja in dieſem Augenblide von
der Defonomie ab. Sie jah zu Emil auf, ihn mit
Bliden bittend, die Frage zu löfen. Er ſah un—
abläffig auf die Erde. Gerade jekt, wo die Hinder-
niffe gefallen, wo die Feſſeln geiprengt waren, und
fie einander in die Arme hätten fallen können, jebt
trat ein Ungebetenes dazwiſchen.
Blanche war zu ihm gefommen, edelmütig, ftolz
auf fich, ihm zu zeigen, daß fie für ihn ein Opfer ge=
bracht, und nun, da ihre Seelen in himmelftürmen«
den, gemeinfamen Gedanken ſich begegnen follten,
nun ſaßen fie einander gegenüber, verlegen, voller
Scham, Blanche obendrein zerfniricht, als ob man
ihr die Bitte um eine Geldanleihe abgeſchlagen hätte.
Und er, ihre Gedanken leſend, litt um ihret-
willen; er war gedemütigt, er jah jedoch feinen
Ausweg. Aus dieſem entſetzlichen Schweigen aber,
das deutlicher ſprach, als Worte es gefonnt hätten,
mußte er fie retten.
„Wenn wir beide auch,” ſprach er, „unjern
Beruf fortjegen, ſo glaube ich an eine Ehe zwiſchen |
zwei Aerzten ebenjowenig wie an die zweier
Tiſchler oder Schuhmacher. Was gejchehen ift, ge» |
ihah ohne unfer Verfchulden. Blanche, unfre Wege |
trennen fi; fehre zu den Deinen zurüd! Verfolge
deine Laufbahn!”
„Zurüdtehren! Unmöglih! Dort winft mir
das Gefängnis.”
„Mit der Freiheit im Hintergrunde!
aber bift du lebenslänglich gefangen!”
„Was haft du denn von mir gewollt? Du haft
mic an einen Abgrund gelodt, und num jagit du:
Kehre um!”
„Weil ich jehe, daß du den Sprung nicht wagſt.“
Mit mir
1087
„Welchen ?*
„Ueber die alten Gedanken! Tritt hinaus in&
Leben und arbeite; du fannft Lehrerin werben, bu
lannſt nähen, verfaufen ...“
„Nähen ſoll ich?“
„Was weiß ih? ch werde Seife ſieden oder
Knochen mahlen! Wir müflen ja leben! Mas du
auch thun magjt, made dich frei, frei von mir,
denn nur frei kann ich zu bir aufſehen; als meine
Frau würde ich dich unter meine Füße treten!”
Ich joll alfo deine Geliebte werden?”
„Und id) bein Beliebter! Das ift etwas andres
a3 Mann und Frau jein!”
„Und du ſchämſt di nicht, mir ſolche Vor—
ftellungen zu machen? Ich werde Näherin und beine
Geliebte! Iſt dies dein Ernſt? Emil, Emil!“
„Das ift mir ebenjo ernft, wie daß ich Geifen-
fieder und dein Geliebter werden fol! Iſt das
nicht gleiches Spiel?”
Ich veritehe dich nicht.“
„Ih Tange an, es einzufchen. Deshalb bat ich
dich: Kehre zu deiner Tante zurüd!”
„Du verhöhnft mich obendrein!”
„Rein, nur mich ſelbſt. O, dieje alten Lügen—
ideale, die unfre Augen blenden und unfern guten
Verſtand abjtumpfen! Du verwirfft meinen Vor—
ſchlag; du haft alfo andre. Was haft du dir ge»
dacht, als du hierher lamſt?“
Blanche war aufgeftanden und hatte ihre Hand«
ſchuhe zugefnöpft.
„Ih will Ihnen jagen, mein Herr,“ ſprach fie
mit bebender Stimme, „dab ein Mann, ber ein
Weib an ji lodt, eine gewiſſe Berantwortung
trägt... .”
„sowohl! Das weiß id. Schabloshaltung,
Erfah... Nein, nein, Blanche, nicht diefen Romane
Ihluß zwifchen ung! Willſt aud) du die Rechnung
für deine Liebe präjentieren, den Waſchzettel für
zerfnüllte Kragen und Manjdetten, o pfui! Laß
uns zu Ende fommen! Mas willft du? Daß wir
ung heiraten? Zwei Betten, einen Eßtiſch, ſechs
Rohrftühle. Sich im jelben Zimmer entfleiden, am
felben Tiſche zanfen, fih mit demjelben Kamme
fümmen! O, ich wollte, ich wäre tot!”
Blanche ftand an der Thür und hielt die Klinke
in der Hand.
„Du glaubft alfo feine Pflichten zu haben für
die Opfer, die ich dir gebradht?*
„Dpfer? Du Haft mir deine Liebe geopfert
und ich dir die meine! Hätten wir ein Kind ge—
habt, dann wäre es meine Pflicht geweſen, für diejes
Kind und für dich zu forgen, denn die Frau hat
feine Pflichten gegen ihre Kinder, und fie kann fie
auch nicht haben, da fie auf dem Markte des Er-
werbes nicht volle freiheit genießt oder nicht genießen
1088
wollte. Aber jeht! Noch haft du deinen Beruf
nicht aufgegeben, fehre um! Ich biete dir die
freiheit, und du verlangft nad dem Keerler.“
„Ih werde umkehren,“ ſprach Blanche mit fefter
Stimme „Und fein Mann wird mid) je wieder
verloden. Lebe wohl!“
Sie ging.
Er hörte, wie ihre Heinen Stiefel auf die Stufen
auſſchlugen; hinab, hinab die teile Treppe. Dann
fiel die Hausthür dumpf, ſchwer wie ein Seufzer, zu.
Er lief an das Fenſter, riß es auf und lehnte
fi hinaus. Hier jah er Blanche wieder, aber aus
der Höhe ſah er fie in einer Verkürzung. Ihre
Figur wurde durch die Perfpeltive entjtellt; fie ſah
aus wie eine jener groteäfen Figuren, bie eine
Gartenkugel wiedergiebt. Ihre feinen Linien waren
verzerrt und das ganze Bild entftellt.
Sein jhöner Traum war zu Ende, er ging ba»
bin, indem er fi in eine Mißgeftalt auflöjte und
nur die Erinnerung an etwas Häßliches Hinterlieh.
*
„Sit der Doktor zu Haufe?” fragte ein Patient,
der an eine Thür Mopfte, an der ein Meſſingſchild
mit der Inſchriſt: „Blanche Chappuis, praltiſcher
Arzt” befeitigt war.
„Der Doktor ift frank," antwortete Tante
Bertha, „aber ich) werde einmal nachfragen, ob ie
empfängt.“
Mademoifelle Bertha, die in den fummernollen
Jahren, welche dem Verluft ihres Vermögens gefolgt
waren, bedeutend gealtert hatte, ging in Blanches
Zimmer, um zu fragen, ob fie empfangen wolle,
Hier war es voliftändig finfter, und auf dem Sofa
lag Blande, den Kopf verbunden. Zwei Tage
batte jie, wie gewöhnlich, im heftigen Kopfweh ge—
legen, ohne etwas genießen zu fünnen, unfähig, zu
jprechen ober fich zu bewegen. Einmal im Monat
markierte fie „Leichenparade”, wie fie e8 nannte; ein
Mittel dagegen gab es nicht.
„Ein Patient ift da,* jagte die Tante jo janft
wie möglich).
„Lab mich in Ruhe,” braufte dat arme Mädchen
auf und wand fi auf dem Sofa.
„Über liebe Blanche, du weißt, wie jchwer wir
es haben.”
„Ich weiß, ich weiß! Iſt's der Krämer oder
der Schlähter? Ich ertrage das nicht.”
„Aber liebes Kind, wir müflen doc) leben, und
du darfit die Patienten nicht fortgehen laſſen. Du
mußt rechnen!”
„Die Wohlthäter der Menfchheit follen vom
Elend der Menjchheit leben,” ftöhnte Blanche. „Welche
Widerſprüche, welche faliche Stellung!”
„Aber liebes Kind, wer nun einmal geboren
ift, der muß doch auch leben, und wenn bu beine
Auguft Strindberg.
Patienten nicht verſcheuchen würdeft, fönnteft du «
jehr gut haben.“
„Jawohl, wenn ich jener reichen Frau nicht ger
ſagt hätte, daß ihre Hyſterie Ziererei ift, dann hätte
ih jet Frauenpraxis gehabt. Aber ich Habe fie
ja mit einer Karaffe falten Waſſers geheilt, und
ihr Mann ift mir für diefe Kur ewig dankbar, die
Frau allerdings nit! O! — Gieb mir mein
Notizbud. Sieh mal meine Gejchäfte durch; ih
kann heute nicht leſen. Ein Mervenfieber Rue de
Montblanc, zehn Beſuche & drei Franken; das wird
vermutlich bezahlt. Mafern bei dem Portier Route
de Garouge: bezahlt nit. O! Nein, das mußt du
erledigen, Tante, das ift zu demütigend. Was will
der Menfh draußen? Sage ihm, daß ich ihn heute
nicht empfangen kann! Unmöglich, börft du? Und
gehe jeht hinaus! Jh muß allein fein!“
Tante Bertha verabfchiedete den Patienten.
Blanche Hatte feit der ſchweren Krifis in Zürid
bittere Tage und viele zerftörte Jlufionen durchlebt.
Die beiden legten Stubienjahre hatte fie umter vol:
ftändiger Bewachung und ſcharfen Kämpfen zugebradt.
Sie arbeitete und arbeitete, um die Eiſenkette zu
durchfeilen, mit der die wirtichaftlichen Werhältnifie
fie an die Alten ſchmiedete, und ala fie endlich das
Eramen bejtanden hatte, und die freiheit ihr winkt,
da mußte fie wie früher mit den Alten leben, die
jet aber eine Laſt waren, bie fie zu tragen hatte,
weil die beiden Alten nad) dem Verluſt ihres Ber
mögens ſich jelbjt nicht ernähren fonnten,
In Genf, wo fie ſich zuerft niedergelaſſen hatte,
gab es bereit3 mehrere weibliche Aerzte, To da fi
die Ehre, die erfte zu fein, nicht mehr geniehen
fonnte, Außerdem durfte fie weder auf Hilfe nod
auf Rat oder Freundihaft von jeiten ihrer männ
lichen und weiblichen Kollegen rechnen. Der Kamp
ums Dajein ift hart, und überall begegnete jie einem:
„Hilf dir ſelbſt!“ Die männlichen Aerzte behandelten
fie nicht mehr mit Höflichkeit wie eine Dame, ſon⸗
dern mit ber Kälte, die einem Konkurrenten ji
kommt.
Worauf fie ſicher gerechnet hatte, das war natür
licherweije die Frauenpraxis. Aber hier befand fie ih
in einem großen Jrrtum, denn die Damen hatten zu
einem männlichen Arzte mehr Vertrauen oder fanden
größeres Gefallen an jenen intimen, zwar für die
Keuſchheit peinlichen, aber doc fo herzitärfenden
Tete⸗a⸗tetes. An die Wiſſenſchaft zu denken, blieb
ihr gar feine Zeit, denn die Eriftenz nahm ale
Kräfte in Anſpruch, und nad zweijähriger Prazit,
unter umendlichen Kämpfen mit ihrem Zartgefühl,
umbergeworfen in ihrer Zwitterrolle ala Wohlthäterin
und Gejhäftsperjon, war Blanche ſchließlich zu einem
genügjamen Praktifus berabgefunfen, dem jet
Arbeit recht jein mußte. Sie hatte viele Arme zu
Neubau,
Patienten und wurbe bisweilen bei ſchweren Fällen
ala Hilfe der Hebamme zugezogen. Den Reiz, ihr
eignes Brot zu effen, fühlte fie faum, da es mit
jo vielen Demütigungen des Erwerbes verbunden
war, und bie Freiheit, das heißt die Freiheit, feine
Stunde für ji zu haben, faft Feine Nacht ruhig
ichlafen zu Fönnen — der jhöne Traum war vorüber,
Aber wenn fie wenigſtens die Freiheit beſeſſen hätte,
fiet3 ihrem Gewiſſen folgen, dem Patienten bie
Wabrheit jagen zu dürfen! Doch die harte Hand der
Not zwang fie jehr bald, diefen Kampf aufzugeben.
Bei den Damen hatte fie einen ſchlechten Anfang
gemacht mit der Verordnung, das Korfett' und die
hoben Abjähe abzulegen ; jolche Verordnungen, meinte
man, fönne man fich ſelbſt geben; ein Arzt, deſſen
Hüfe man in Anfprucd nehme, den man bezahle,
müſſe etwas „verſchreiben“. Dann fam der Kampf
gegen ihr eignes Fleiſch. Sie ftand in der Blüte
ihres Alter, wo fie auch ein gejchlechtliches Leben
führen jollte, aber nach dem Bruche mit dem erften
Manne, den fie geliebt hatte, war ihr das andre
Geſchlecht gleichgiltig geworden, und das andre Ge-
ſchlecht wollte aud) von ihr nichts willen.
Es war ein trauriges Dajein, an dem die Un»
ruhe um die Eriftenz nagte. Ihre menjchenfreunds
lihen Gefühle wurden durch ſolche Gedanken, die
jie nicht 108 werben konnte, entweiht.
Wäre es in der Ehe nicht bejjer geweien? fragte
fie ſich mitunter, aber jeht, wo fie jo manchen Ein»
blid in das Familienleben gewonnen hatte, war fie
überzeugt, daß es dann mindeftens ebenjo traurig
gewejen wäre. Sie hatte hineingeblidt in die Sad-
gafje halber Mafregeln, die man zur Befreiung bes
Weibes ergriffen hatte. Es erforderte ganz andre
Reformen, um alles in das rechte Geleiſe bringen
zu können, Aber welche?
Eines Tags bejuchte fie eine Hebamme, die ver
heiratet war und ihr in der Praris zu helfen pflegte.
Sie fand weder den Mann nod) die Frau zu Haufe.
Der Mann war Schuhmader. Im Zimmer hinter
ber Küche fchrieen vier Kinder. Das ältefte war ein
Mädchen von fieben Jahren, das nad) den andern
Geſchwiſtern jehen follte. Sie mußte Mil; wärmen,
die Saugflaſchen voll halten, die Heinen Geichwijter
tragen und wiegen und hatte ſchon infolge der
ſchweren Laft einen frummen Rüden und einen her=
vortretenden Unterleib, Sie mußte die ganze Schwere
des Lebens und ber Mutterfhaft tragen, noch ehe in
ihr ein Gedanfe vorhanden war, Mutter zu werben.
„Aber Hebe Frau, wie fonnten Sie fih aud) |
berbeiraten?“ jagte Blandje vorwurfävoll, als die
Frau jhließlih nah Haufe kam.
„Man muß doch einen Mann haben, willen
Sie,“ antwortete die Hebamme, die zu Haufe eine
tüchtige Mutter war,
Aus fremden Jungen, 1897, IL 29,
1089
Blanche jah diefe Notwendigkeit nicht ein. Aber
die Hebamme erklärte ihr, daß ihre Kinder es nicht
ſchlimmer hätten als andrer armer Leute Kinder,
deren Eltern auf Arbeit gehen müſſen.
Und das ift, dachte Blanche, die ideale refor«
mierte Ehe, in der beide Gatten arbeiten, und die Frau
von der Sklaverei des Mannes befreit ift! Hier
ift ja die behauptete Freiheit der Mutter mit der
Sklaverei der Siebenjährigen erfauft! Ueberall
SMaverei! Und wenn aud) die Siebenjährige ihrer-
ſeits durch die erhöhten Einkünfte der Eltern befreit
werden könnte, jo gejchähe es auf SKojten einer
neuen Sflavenarbeit — der einer Dienftmagd!
Unter den weiblichen Werzten hatte nur eine ge»
heiratet. Die Ehe blieb Finderlos und endete mit
ber Trennung. Eine Ruffin, die nicht heiratete,
aber mit einem Manne Verbindung unterhielt, ver»
lor ihren „Ruf* und damit ihre Praxis und mußte
die Stadt verlajjen,
Wäre Blanche allein im Leben gewejen, jo hätte
fie vielleicht gewagt, ihre eignen Wege zu gehen,
aber jeht hatte fie an den beiden Alten zu ziehen.
Bisweilen fühlte fie fi) gegen dieſe tief undanfbar.
Sie haben ja, jo meinte fie, ihre Forderungen der
Dankbarkeit, des Gehorſams recht gründlich ein-
gezogen; num verlangen fie noch bare Bezahlung oben⸗
drein. Und dieſen beiden unproduftiven Weſen,
ohne welche die Welt ebenjogut beftanden hätte,
follte fie ihr Leben opfern, ihre Sehnjucht, in ihrem
Berufe ehrlich fein zu dürfen!
Dann traten noch traurigere Tage ein, Blanche
hatte das Unglüd gehabt, daß ihr eine Operation
mißlang. Ebenjo folidarish, wie wenn es die
Dogmen und Interefien der Zunft, des neuen
Priefterftandes gilt, ebenſo rajch find fie bei der
Hand, einen Konkurrenten zu töten. Die Praxis
war vernichtet, und die Not ftand vor der Thür,
Blandjes Kredit war gejhädigt, und fie ſah zum
erften Male ein, daß es thatjächlich Tebensgefährlich jei,
ohne fichere Zinfen zu leben. Vor dem bungernden
Leibe wurde der Menſch all feines angehängten Pubes
als Geiſtesweſen entfleidet, Auge in Auge ftand fie
ſich jelbit ala ein Tier gegenüber, das ohne Ejjen und
| Trinken bald aufhören wird, den chemischen Kräften
MWiderftand zu leiften, und das feiner Verwandlung
in Erbe entgegengeht. Aus Angſt um das Dafein
ichlief fie des Nachts nit. Es war ganz einfach
die Armut! Ohne Ejien leidend und tot, ohne
Eſſen feine Seele, keine „hohen“ Gedanken, feine
„Ideale“. Und doch predigen die Jdealiften ftets
gegen den „rohen Vorteil“, gegen das materielle
Streben, fiherlich, weil fie nicht zu erjtreben brauchen,
was jie ſich längſt angeeignet haben.
Tante Bertha, die gute und ſtolze Tage gejehen,
und deren ganze Menihenwürbe auf ihren Renten
137
1090
gerubt hatte, war gar; verzweifelt. Sie fluchte den
Kapitaliften und fing an, Sozialiamus zu predigen,
natürlich ohne es zu wiffen. Zu einer Eriftenz ges
boren werden, in der man micht die Mittel für
alle (jeht rechnete fie fich bereits zu den unglüdlichen
„allen“) vorrätig babe, das jei ja ein gefährlicher
Zuftand der Dinge, der jo jchnell ala möglich ge=
ändert werben müſſe. Einen Augenblid kam fie
wirflich auf die Idee, zu arbeiten, und begann zu
nähen, aber der Arbeitämarft war jo von Näherinnen
überlaufen, daß für fie fein Pla vorhanden war.
In diefem Halle konnte fie beim beſten Willen die
Männer nicht beihuldigen, daß fie den Markt in
Beihlag genommen hätten.
Die Not ſchtie immer lauter, die Seelen bes
reiteten ih aus Mangel an Nahrung vor, zur
ewwigen Ruhe zu gehen, und nun mußten alle zu=
geben, daß es ohne Nahrung feine Seele gäbe.
Endlih, nad monatelangem Suchen, gelang es
Blande, in Norbeffrantreih eine Anftellung als
Fabrilarzt zu erhalten.
An einem ſchönen Frühlingsmorgen langte Doktor
Blanche Chappuis in der Meinen Stadt Guife im
Departement Aisne an, von wo man fie jogleich
an ihren neuen Beitimmungsort in die große Eijen-
gießerei des Deputierten Godin brachte. Nachdem
man fie in ihr Zimmer geführt und Blanche Toilette
gemacht hatte, wurde fie in das Gomptoir geleitet,
um ihren Prinzipal zu begrüßen. In einem feinen
Gebäude in der Nähe der Giehereien hatte Frank—
reichs edelfter, wenn nicht berühmtefter Mann fein
Arbeitszimmer, und hier ftand Blandje, nicht ohne
eine gewille Unruhe, bald einem Manne gegenüber-
zutreten, von deſſen gutem Willen ihr Dafein ab-
bing. ber das wohlwollende Aeußere und die ein«
fache Freundlichkeit des alten Herrn beruhigten fie
jofort.
„Doktor Ehappuis,” begann er, „ich fenne Sie,
aber Sie werden vermutlich weder mich noch ben
Ort fennen, an dem Sie eine Wirffamfeit ſuchen.
Vielleicht beginnen wir zunächſt damit, daß id) Sie
mit diefer Heinen Gemeinde befannt mache, ehe Sie
irgend welche Verbindungen zu berfelben eingehen.“
„Mit Vergnügen, Herr Prinzipal,“ antwortete
Blanche.
„Ih bin weder Ihr Prinzipal noch Ihr Patron,”
entgegnete ber alte Herr, „denn bier find wir alle
Prinzipale, und auch Sie werden einer werden, aber
wir find arbeitende Prinzipale.”
Er ergriff feinen Hut und jeinen Stod und
führte jeinen Gaft auf den Hof hinaus.
„Nehmen Sie zuerjt einen raſchen Ueberblick
über das Ganze“, fagte er, „über das Exterieur.
Hier rechts der nervus rerum, die Gießereien; bort
Auguſt Strindberg.
im Hintergrunde der Geſellſchaftspalaſt, das Pha-
lanftöre, drei rechtwinflige Gebäude mit glasbebedten
Höien, Wohnungen für zweitaujend Perjonen eni-
baltend.
„Houriers und Owens Utopie,“ jchaltete Biande
ein.
„Eine verwirffidte Utopie! Eine der vielem
verwirflichten Utopien, deren Dajein die alten
Menjhen leugnen. Ebenſo wie fie die Möglichkeit
internationaler Schiedögerichte zum Erſatz des Krieges
beftreiten, trotzdem fie die Löjung der Mlabamafrage
miterlebt haben. Die faljche Logik des böfen Willens,
Ferner: das Kinderhaus, in dem jämtliche Kinder
gepflegt und erzogen werben; die Schulfäle, Theater,
Reftauration, Cafe, Billardzimmer, die Bibliothet,
dad Badehaus, der Stall, die Meieret und bie
Gärten. Das tft, wie Sie fehen, ein vollftändiger
Staat. Und diefer Staat bafiert auf der Arbeit.
Iſt das nicht richtig?*
„Sowohl,“ antwortete Blanche, „aber Arbeit
ohne Kapital?“
„Ganz recht! Arbeit ohne Kapital kann Kapital
ſchaffen, denn jo ift jebes Kapital entftanden, aber
das Kapital ohne Arbeit bedeutet nichts. Das habe
ih erfahren, aber leider erft ziemlich jpät. Mein
Vater legte dieſe Gießerei an und gelangte zu einem
Vermögen, das ich erbte. Ich ſetzte das Geſchäft
fort und wurde ſehr reich. Ich hatte mich in große
Lieferungsunternehmungen eingelafjen und jollte zu
Anfang der jechziger Jahre das Eijenbahnmaterial
für die Staatsbahnen liefern, Die Arbeiter ftreitten,
und mein ganzes Vermögen fand auf dem Spiel,
denn ein Konkurrent Iodte die Arbeiter von mir
fort. Da jah id die Ohnmacht des Kapitals ein
und erlannte die Arbeit als dauernde Triebfrait,
die erjt dem Kapital feine Macht verleiht. Im den
fummervollen Tagen, die ich nun durdjlebte, wurden
mir die Augen geöffnet für die Wahrheit, jeht, wo
ich jelbft auf dem Wege war, ärmer zu werben als
jeder meiner Arbeiter, und ich fand, daß id) ein
Dieb geweſen. Dieje Maſchinen und Gebäude, die
id von meinem Vater geerbt habe, find ja von den
Vätern diefer Arbeiter für jenen zufammengearbeitet
worden; was ijt natürlicher, als daß fie alle an
dem Erbe und dem Kapital, das fie mitgejchaffen,
teilnehmen? Dies wurde mir Mar; ich berief jäntlice
Arbeiter und erflärte fie als Teilhaber der Gicherei
mit all ihrem beweglichen und unbeweglichen Eigen
tum, Wir haben die Affociation verwirklicht und
in zwanzig Jahren zur Blüte gebradjt.”
„Seht, da Sie mir das jagen,“ antmworielt
Blanche, „finde ich es volllommen in jeiner Ordnung,
ebenfo wie ich früher das Wegenteil für richtig hielt.“
„Ganz recht,“ meinte der Fabrikant, „Sie jehen
daran, wie gut die Wahrheit in Irrtümer eingehüllt
Neubau,
ift, da es ihr jo ſchwer fällt, ans Tageslicht hervor⸗
zufommen. Aber nun bitte ih, Ihre Einwendungen
zu machen, damit ich alle beaniworten Tann,“
„Sawohl, es ſeht mich einigermaßen in Er-
ftaunen, daß alle diefe Menſchen in einer Kaſerne
wohnen wollen, da jonft befanntlic ein jeder nad
jeinem eignen Heime jtrebt.“
„Wir alten Menfchen ftrebten nach eignem Herde,
bis wir fanden, wie unficher dies fei, wie feindlich
‚mein Heim‘ dem Heim andrer gegenüberfteht, und
wie ſchließlich das gemeinfame das ficherjte ſei.“
„Aber ber Zwang,“ wandte Blande ein.
„Es giebt feinen Zwang! Wir haben ſechs—
hundert Haushaltungen. Denken Sie fich doch ſechs-
hundert Küchen, ſechshundert arme Hausfrauen, die am
Herde ftehen; wie viel verjchwendete Kraft! Jetzt
haben fie gemeinfame Küche und, wer Gejellihaft
liebt, einen Speifefaal; wer die Einjamleit wünſcht,
ißt auf feinem Zimmer, Da haben fie die Frau
von ber Küche freigemacdt. Aber jebt eſſen alle
lieber in Geſellſchaft, denn auf die Dauer ift ein
Tete⸗a⸗tete jelbft zwiſchen Gatten langweilig, Es
bat ſich herausgeſtellt, daß die Verheirateten den
Speifejaal früher aufjuchen als die Unverheirateten!“
„Aber bie Kinder!”
„Es ift uns gelungen, aud die härtefte aller
Nüffe zu fnaden. Wir haben das Kinderheim.“
„sh bitte, welche Mutter wird ihr Kind da
hinein geben?“
„Ale! Jawohl! Alle! Hören Sie, bitte,
Denn wir von einem Kinderheim ſprechen, jo dürfen
Sie nicht an die Waifenhäufer der Gemeinden
denken, in denen die Eltern ihre Kinder faum zu
jehen befommen. Hier liegt die Sache fo: an Stelle
von jechshundert Kinderzimmern haben wir nur
eines, ftet3 zugänglich, ftet3 überwacht. Wie war
es früher? Früher, jage ich, ala ob die alte Gefell-
ſchaft jchon zu Grunde gegangen wäre! Wie haben
3 denn die Armen im fapitaliftiichen Staat? Die
Rinder werben in einem Heinen Zimmer eingeichloffen,
während die Eltern zur Arbeit gehen,”
„Aber die Mutter bat fie dann wenigjtens in
der Nacht.“
„Ganz wie bier, denn jedes Find hat zwei
Miegen oder zwei Betten; eins im Kinderheim, eins
im Zimmer der Mutter. Aber ich werde Ihnen
eine Beobachtung mitteilen: Die Mutterliebe jcheint
meiftens auf ber Furcht für das Wohlbefinden bes
Kindes zu beruhen. Hier, wo diefe Furcht bejeitigt
ift, ſcheint mir dieſe Liebe, wenn fie auch noch jo
übertrieben war, im Abnehmen begriffen zu fein.
Nur eine geringe Anzahl von Müttern behält ihre
Kinder des Nachts bei fih. Sie fehen aljo, bie
Ichwerfte aller Fragen ift gelöft.”
„Aber das Familienleben?“
1091
„Früher, Hm! Wie fteht es denn mit dem
Tamilienleben draußen in der alten Welt? Die
Wohnung durd das Zufammenleben vieler Menjchen
und die linfauberfeit der Kinder dumpfig. Der
Mann flüchtet zuerft in die Kneipe. Was ift die
Kneipe? Eine Stätte bes Laſters? Nein, bewahre!
Es ift das Geſellſchaftszimmer, wo man jeinem
fozialen Inftintt das rechtmäßige Opfer bringt.
Aber der Mann wird bort nidht recht froh. Er
weiß, daß jemand zu Haufe auf ihn wartet und
ſich langweilt. Macht er es wie fo viele andre und
nimmt die Frau mit, dann find beide der finder
wegen unruhig, und beide langweilen fih. Wie. ift
e3 hier? Des Abends gehen Mann und Frau in
die Vorlefung, in das Theater oder in das Café.
Sind fie unruhig, jo fragen fie nur burd das
Sprachrohr nad) dem Befinden ber Kleinen und
brauchen nicht ängftlic zu jein. Oft entfernt ſich
die Mutter für einige Augenblide, um zu jehen, ob
das Kind bewacht wird oder ſchläft.“
„Hier ift aber eine Lüde vorhanden," wandte
Blanche ein,
„Bitte, zeigen Sie fie mir, damit id) fie fehen
kann,“ ſagte der Fabrilant.
„Die Mütter übertragen ihre Laſt einer Frem—
den.“
„Zugegeben, dies ſei eine Lüde! Denn bier
berricht natürlich feine Volllommenheit, jondern nur
das Beſſere. Aber dieje Laft übernimmt niemand,
der nicht die Luft dazu verfpürt, und wenn es
Menſchen mit ausgejprochener Neigung zu Kindern
thun, jo fällt ihnen die Laſt nicht ſchwer!“
„Aber wer verjpürt denn Luft zu Kindern andrer
Menſchen?“ fragte Blanche,
„Der feine eignen Finder hat und feine eignen
befommen kann, ber pflegt feine Liebe auf fremde
zu übertragen! Wer eine Neigung befriedigen fan,
ber empfindet die Arbeit nicht ſchwer. Um nun
aber zu Ihnen zu fommen, glauben Sie, daß es
Ihnen in diefer Umgebung gefallen wird? Es giebt
in unfern Tagen flarfe Jndividualitäten, die es
nit vertragen, fih an andern zu reiben, Ueber—
nervdje, die durch fremde Eleftricität leiden; wenn
Sie zu diefen gehören, jo werden Sie ji zunächſt
nicht wohl fühlen, aber Sie können daraus nicht
ichließen, daß dies immer der Fall fein wird, Unſer
Necomodationdvermögen ift jehr groß.”
„Das fann ich noch nicht beurteilen,“ antmoxtete
Blanche, „aber da ich mein ganzes Leben lang an
zwei Perjonen feftgefettet war, deren Dentart von
der meinigen grundverjchieden war, jo hoffe ic, daß
ein freier Umgang mit Gleichdenfenden mir nicht
jchmerzlid; werden kann. Es ift bier ja feine
Kaferne, keine Mauern, fein Trommeljchlag und
fein Reglement.”
1092
„Wir wollen aljo einen Verſuch machen,“ ſprach
der Yabrifant. „Was Ihre Bedingungen betrifft,
jo find dieſelben nur vorläufige, bis Sie fi für
den Eintritt in die Gejellichaft als Mitglied ent-
ichloffen haben. Sie erhalten fein Honorar, haben
aber das Net, für Ihre ſämtlichen Bedürfniſſe
die Gefellihaft forgen zu laffen; Sie bürfen
effen und trinken, was Sie wollen, ſich nad Ge-
ihmad und Gewiſſen Heiden, fi) nah Neigung
amüfieren, Bücher und Inſtrumente auf unjern
Kredit nehmen. Außerdem find Sie gegen Unfall,
Krankheit und Alter verfihert. Soweit man im
Leben garantieren fann, ift alfo Ihre Exiſtenz ver
bürgt, aber Sie befommen fein Geld in die Hänbe,
denn das Geld haben wir als ſchlechten Wertmeſſer
abgeſchafft.“
„Gerade das iſt der Wunſch meiner Träume,“
antwortete Blanche; „für mic hat das Geld, jo
notwendig es auch unter den jebigen Verhältniſſen
ift, ftet3 etwas Unſicheres und Unlauteres an ſich ge=
habt. Ich nehme daher Ahr Anerbieten mit Danf«
barleit an.”
„seine Dankbarkeit, denn wenn Sie fid) aud)
gegenwärtig in Not befinden, fo ift unfer Bedürfnis
nah einem Arzte nicht minder groß. Von Ihren
Pflichten will ich nicht prechen ; fie beftehen, wie Sie
ja willen, darin, die Kranken zu pflegen und, ſo—
weit es möglich ift, zu verhindern, dab die Gefunden
frant werden. Keine Ronden, feine Mufterungen!
Mit einem Worte: Sie haben volle Freiheit, nad)
Ihrem Gewilfen zu handeln. Und nun gebe ich
Ihnen die freiheit. Mic jehen Sie nur dann,
wenn Sie es wünſchen. Leben Sie wohl!”
Und Herr Godin verließ Blanche vor dem Ein-
gang des Haufes.
Nun begann für Blanche ein neues Leben. Be—
freit von jedem Gedanfen an Ausgaben und Eits-
nahmen, das Dafein verbürgt ohne Furcht vor dem
fommenden Tage, konnte fie ſich ungeteilt ihrem
Berufe widmen, ohne fi um bie Saunen oder bie
Kitelfeit der Patienten zu fümmern. Sie lebte für
andre, beſaß aber die Freiheit ihres Gedantens,
Willens und Gewiſſens. Sie brauchte nicht feig
ihre Meinung zu verbergen und durfte ihre Patienten
ausſchließlich als Leidende betrachten, ohne baran
zu benfen, ob fie bezahlen würden oder nicht. Seine
Koufurrenten, feine gelehrten Rechenſchaftsberichte
für die Fakultät.
Es war ein Leben voller Ruhe. Und ihre ganze
Umgebung beitand aus ruhigen, ſtillen Menſchen.
Ihre Gefichter hatten einen Zug des Friedens, den
fie draußen in der Welt nicht bemerkt hatte, und
fie bewegten fi ohne jene fieberhafte Unruhe, der
man jo häufig im eben begegnet. Sie, fahliefen
Yuguft Strindbberg,
ohne böfe Träume von Nahrungsmangel, von Ars
beitölofigfeit, von einem Alter in Not und Ent:
behrungen. In ben Häufern herrſchte Ordnung
ohne Reglement; man ſchlief bei offenen Thüren,
denn man fürdjtete feine Diebe; wer einen Dieb-
ftahl beging, beging ihn ja an ſich jelbfi. Sein
Streit und fein Neid, denn jeber hatte, was er
braudte. In dem großen, Rate, der über die
Finanzen der Geſellſchaft beſchloß, ſaßen Männer
und Frauen, Herren und Diener. Die Diener, die
aus Neigung Beihäftigung im Haufe gewählt halten,
waren gleichfalls Mitglieder der Gejellichaft, und in
der Küche wie in der Waſchſtube und im finder:
heim waren ebenfalls Männer beichäftigt.
Obwohl in der Reftauration ſtarle Getränfe
verabfolgt wurden, ſah man dod niemals einen
Beraufchten. Zwar hatte man in den eriten zehn
Jahren jtarle Getränke verboten, aber dies wurde
nur als eine Uebergangsmaßregel betrachtet, die ſeht
bald fortfiel. Dadurch, dab die Ware leicht zu-
gänglid war, verlor fie ihren Reiz, nicht zum
wenigiten dadurch, dab man ihrer nun als eines
Tröfters in der Verzweiflung nicht bedurfte, da man
nicht mehr verzweifelt war,
Auch den jhönen Künften war ein Platz an-
gewiefen, aber als freies Spiel lediger Stunden.
Man führte Theaterftüde auf, die von Mitgliedern
der Gefellihaft verfaßt waren und Probleme aus
der neuen Gejellichaft behandelten. Man verjah
die Wände des Speifejaales und der Zimmer mit
Gemälden, um fie zu jhmüden und dadurch den
Aufenthalt für alle behaglich zu machen.
Eine Kirche gab es nit. Die Religion, die
früher ein Surrogat für das gewejen war, was das
Leben nicht bieten Tonnte, bisweilen auch ala Schreden
benußt wurbe für die Unzufriebenen, fie war in bas
Leben eingedrungen, und jeber behielt jeine Religion
für ſich.
Die Ehe war im allgemeinen dauerhaft. Die
meiften Anläfle zur Scheidung waren befeitigt. Jeder
Mann, jede Frau hatte ein eigned Zimmer. Die
Frau war nicht mehr vom Manne abhängig und
der Mann nicht mehr das Lafttier der Frau. Die
wenigen Mifhelligfeiten, die unter Gatten entjtanden,
leiteten fih aus abnehmender Neigung oder dem
Stehenbleiben des einen Teiles auf älteren Ent
wicklungsſtadien her. Unter folden Berhältnifien
war die Trennung leicht und geſchah ohne jebe
Pitterfeit; man hörte ganz einfach auf, als Gatten
zu leben, während das Gejchid der Kinder unver:
ändert blieb, da bie Gejellihaft die Kinder erzog-
Auch das Erbrecht gab zu Streitigkeiten feinen An
laß, denn die Gejellihaft war der einzige Exbe.
Die einzige Sorge Blanche war die um die
Tanten. Sie hatte die Erlaubnis erhalten, ihnen
Neubau.
die Stellung von BVorjleherinnen in der Plättanſtalt
anzubieten, allein mit der Verpflichtung, daß fie an
ber Arbeit teilnähmen, denn Müßiggänger wurden
nicht geduldet. Tante Bertha war rajend, als ihr
der Eintritt in das „Arbeitshaus“ angeboten wurde,
aber die Not zwang fie allmählich dazu, Sie traten
ſchließlich ihre Aemter an, lonnten ſich jedoch nie
recht darein finden. Sie waren zu alt, um die
Ebenbürtigkeit eines Arbeiters anzuerlennen, aber
es blieb ihnen eben feine andre Wahl. Tante Bertha
hielt da Alte ftets für das Beſſere, wenn fie nur
ihre Renten hätte behalten dürfen, die ihr Vater
„ehrlih” erworben — durch die Not anderer.
Innerhalb des Haufes wurden mandherlei Ver—
gnügungen veranftaltet, denn man hatte wieder
Beranlaffung dazu und durfte nunmehr heiter fein.
Auch Vorlefungen wurden gehalten, aber nicht zu
oft, denn die Schule vermittelte das Notwendige für
dad gegenwärtige Leben, kümmerte fid) dagegen um
das Vergangene, das beffer der Vergefjenheit über-
liefert wurde, nicht. Leere Spekulationen auf ein
fommendes Leben nahmen feine Zeit in Anfprud,
denn darin war man einig, daß das ganze irdiſche
Dajein der Sorgen genug habe, und die Unficher
heit eines jpäteren Lebens gab alle Weranlaffung,
vom gegenwärtigen einen jo nüßlichen und ange=
nehmen Gebrauch wie möglich zu maden. Die
Ordnung wurde von dem wohlverftandenen Intereſſe
aufrecht erhalten. Niemand verjuchte des Nachts
ruheftörenden Lärm in feinem Zimmer zu machen,
aus dem einfahen Grunde, weil er damit ja die
Luft des Nachbars, ebenfalls Lärm zu machen, hätte
hervorrufen fünnen,
Da das ganze Etabliffement von Parkanlagen
und Gärten umgeben war, jo vertrieb man ſich
meiftens die Zeit im Freien mit Balljpiel, Turnen,
Schaufeln und jo weiter, während in dem bebedten
Hofe des Haufes häufige Feſte abgehalten wurden.
Das heißt Feſte, die dem Vergnügen galten, nicht
der Feier eined großen Mannes oder einer bes
rühmten frau, denn von Menſchenverehrung hielt
man fi) ebenjo fern wie von der Verehrung jed-
weder Theorie; nicht einmal die neuen naturwijien«
Ichaftlichen waren davon ausgenommen, Theorien,
die ebenfo gefährlihe Dogmen zu werden drohten
wie die alten religiöfen. Man hütete ſich auch,
irgend ein Belenninis zu firieren, benn jedes Bes
fenntnis von heute fonnte nach den Geſetzen der
Entwidlung morgen fajfiert werden, und bann war
das alte nur mit Schwierigkeit auszurotten.
Ei
Es war wieder Frühling geworden, Des Abends
ging Blanche hinaus in den Park zu einem Spazier-
gang. Man hatte entdedt, dab ein ftändiges Zu-
jommenjein Teiht einen Zwang zum Verkehr mit
1098
führen könnte, und aus dem Grunde war aus fi
ſelbſt die Sitte entflanden, niemand anzureden, an
dem man bemerkte, daß er für ein Geſpräch feine
Neigung verfpürte. Blanche fonnte alfo inmitten
der Spaziergänger in der großen Allee umbergeben,
ohne grüßen oder ſich aus Höflichkeit in ein Geſpräch
einlaffen zu müffen, wenn fie mit ihren Gedanfen
allein jein wollte.
Die großen Raftanien hatten ausgejhlagen und
die düſteren Baumffelette mit dem ſchönſten Grün
befleidet; der Boden war troden, und die Luft um«
ſchmeichelle die Haut wie laues Wafler; aber auf
Blut und Lunge wirkte fie wie edler Wein. Blanche
dachte an den Frühling am Genferfee, an die Träume,
die fie von einem vergangenen, fieberfranten Ge-
jchlechte ererbt hatte, deſſen Gehirn mit jeiner hohen
Temperatur alle feften Körper in gasförmigen Zu—
ftand verjeßte, jo daß fie den Sinnen unzugänglid)
wurden. Dur intime Berührung mit der that»
ſächlichen Wirklichkeit, dur das Studium ber Bio-
logie hatten ihre Gedanken fich der Erde zugewandt,
wo fie fi ruhiger fühlten als hoch oben in ber
Luft. Aber jene Träume? Wovon handelten fie?
Bon unerreichten Wirklichleiten. Wohl hatte fie ben
Traum vom Manne feiner Berwirklichung entgegen-
gehen gejehen, aber fie hatte ihn aus Furcht wieder
aus den Händen gelafien.
Blanche verließ die Allee und gelangte in den
Garten. Hier blühten Kirfhbäume in weißen und
grünen Farben wie eine Braut, aber fie hatte fich
daran gewöhnt, die Blide zur Erbe zu richten, und
fah dies alles nicht.
Sie jegte fih auf eine Bank und beobachtete,
wie der Gärtner die Erde mit feinem Spaten Ioderte,
damit fie jo beffer der auflöfenden Wirkung der
Luft ausgefeht werde und durch ihre Auflöfung, durd)
ihren Tod ala Mineral höheren Pilanzeneriftenzen
Leben gebe. Neben dem Gärtner ftand ein Karren
mit Dünger, von dem er ab und zu einen Spaten
voll in die Erde miſchte. Der Heine Sohn des
Gärtnerd jpielte neben ihm und blieb bisweilen
ftehen, um der Arbeit zuzuſehen.
„Bater,“ fagte er, „was haft du hier in dem
Karren?" - .
„Siehit du, Jean,” antwortete ber Vater, „das
jollen Erdbeeren werben.“
„Das ift ja Schmutz,“ ſagte Jean.
man Erdbeeren aus Schmuß?“
„sa, mein Kleiner, das thut man. Aus Schmuß
madht man Weizen, und aus Weizen Brot, und
aus Brot macht man Menſchen. Du mußt nicht
verädhtlih vom Schmuß fpredhen, denn wenn du
ftirbft und in die Erde fommft, wirft auch du zu
Schmutz. Nur unverftändige Menjchen ſprechen mit
Geringihägung von der Arbeit im Staube, weil
„Macht
1094
fie durch Nichtarbeiten höheres Anſehen zu erhalten
glauben.”
„Aber die Seele, macht man die auch aus
Weizen?“
„sa, mein Sohn, denn der Weizen hat aud)
eine Seele. Es erfordert viel Nachdenfen bei bem
Weizenkorn, ehe es den beften Pla für feine
Burzeln finden fann; der Weizen, der aus dem
Süden fommt, mußte feinen ganzen Verſtand auf«
wenden, um ſich allmählich gegen bie Kälte bei uns
durch didere Schalen zu ſchütßen; die ganze Dent«
fraft der Aehre war nötig, ehe fie dahinter lam, daß
der Frühling die, günftigfte Zeit der Blüte fei. Der
Weizen bat ſchon feine Seele!“
„Hm,“ fagte der Knabe, der feinen Neligiond-
unterricht genoſſen hatte. „Aber flirbt demn bie
Seele, wenn ber Weizen ftirbt ?“
„Nein, das nicht, denn nichts ſtirbt.
nur jo aus!”
„Ach jo! Aber wenn wir fterben ?*
„Dann hört unjer Leben auf, aber aus dem
unjrigen entfleht wieder neues, ſiehſt du! Nur unfer
Hochmut fonnte auf den Gedanken fommen, wir
leben ein egoiftiiches Leben weiter; deshalb hat die
neue Geſellſchaft uns vor allem gelehrt, für umd
mit andern und zugleih für uns felbft zu leben,
und dies ift aud die einzige Bedingung, um das
Leben erträglih zu mahen! Ja! Nun werde ich
bier Melonen und hier Blumen machen, aus Schmuf,
wie du es nennft!“
Blanche ftand auf und ging davon. Das eben
gehörte Geſpräch war die Frucht ihrer Vorlefungen
über organijche Chemie, die der Gärtner zu beſuchen
pflegte. Er hatte ben Mut gehabt, die Schluf-
folgerungen daraus zu ziehen, aber fie fonnte e3 nicht!
„Er hat recht,“ dachte fie, aber, aber... bie
Träume, die ſaßen im ihr feft. Unerfüllte Träume!
Das that ihr weh! Der Gram, daß ihr Leben
verging, ohne daß fie ihre wichtigſte, herrlichſte Be—
flimmung erfüllt hatte, zwang fie, den Notanter
auszumerfen: ben Glauben an ein andres Dafein!
Sie jehte fih an dem KHarpfenteiche nieder, um
— zu träumen. Das Leben lag ruhig und Ilar
vor ihr. Sie beſaß ihre Gedanken und ihr Ge
willen. Sie hatte den relativen Wert ihres Berufes
ald eine Notmaßregel durchſchaut, die fortfallen
würde, wenn bie Urſachen der Krankheit gehoben
wären, Dies hatte den Ehrgeiz aus ihrer Seele ge-
ftrichen; das Bewußtjein, zu leben, ift ja auch etwas,
vielleicht das einzige, aber fie lebte nur ein halbes
Leben, Jene Hälfte, an die alle andern ein Recht
hatten ; die andre Hälfte aber, die ihr gehörte, bie
es ihr zur Pflicht machte, zu leben, die fehlte ihr.
Die Sonne neigte ſich ihrem Untergange zu und
entfachte Hinter den Kronen der Bäume ein uns
Es fieht
Auguft Strindberg.
geheures Flammenmeer; die Amfeln jchlugen, die
Sänger im Laube ſchnäbelten ſich zum letzten Male,
ehe die Naht anbrach. Der Laut froher Stimmen
ließ fih aus dem Parfe hören, und abgeriſſent
Aceorde aus der Borftelung im Feſtſaale ftrömten
hinaus aus den Fenſtern. Es war die Ouvertüre
zu Wilhelm Tel. Die Introdultion der Eefli war
nur undeutlich zu Hören und mwogte leife durch die
warme, bampfende Luft. Blanche lauſchte nicht auf
bie Muſik, aber fie verjpürte das leife Wallen dei
Blutes, da ihr Gemüt, das nocd mit den Gedanken
auf ihrem eingefchlagenen Wege kämpfte, in ein
wunderbare Unruhe verjeßte. Aber nun Mang die
Mare Stimme der Flöte mit ihren Alphornklängen
dur, und plößlich liehen die Zähne im Rabe der
Gedanlen nad, und Blanche laufchte. Teure, längtt
belannte Töne aus dem Oberland, von den Alpen;
die weißen Berge von Lauſanne und Zürich wurden
fihtbar. Das Hochgebirge, zu dem die Jugend zog,
wenn es Frühling wurde, zu dem bie Jugend zog
an jenem Frühlingsabend am Genferjee, wohin fir
jelbjt aber nimmer fommen jollte. Ja, wenn er fir
geführt hätte, aber er hatte fie ja verlaffen! Hatte
er das wirflih gethan? Nein, fie wurden durch
eine ſtarle Hand getrennt, der fie damals nicht hatte
entgehen können, die fie jept aber nicht mehr trennte.
Wo war er? Wie hatte er von ihr gehen fönnen!
Er hatte ihr halbes Weſen genommen und war be
mit in die weite Welt gezogen. Dazu hatte er kein
Recht! DO, fie war jo unglüdlih, jo unglüdiid.
Und fie weinte, als jtände fie an der Leiche bei
Teneriten, das fie beſaß; die Thränen floffen jo
reichlich, daß ihr Kleid vorn an der Bruft feucht
wurde! Plötzlich fland fie auf, als wäre fie jet
entichloffen, ihn zu ſuchen, ihm emtgegenzugeben,
ihn zu Holen und ſich im feine Arme zu werfen,
wie wenn fie wüßte, daß er ihr nahe jei.
In demjelben Augenblide Täutete die Tijchglode.
Blanche trodnete mit ihrem Tuche, daS fie ins Waller
tauchte, ihr Geficht und lenlte ihre Schritte heimmärt“.
*
Blanche jehte fich in dem großen Reſtaurant an
einen Tiſch, denn fie war jeht fo daran gewöhnt,
Menjchen um ſich zu ſehen, daß fie nicht allein fein
fonnte, und den Zanten, die auf ihrem Zimmer
aßen, wollte fie feine Gejellihaft Ieiften, um ihr
Seufzer nicht zu hören, wenn fie ihr „Brot“ (Fleiſch
Gemüje und Defjert) „mit Thränen der Demütigung
negten“,
Sie hatte ihren üblichen Pla an dem großen
Kamin eingenommen, von wo fie einen Weberblid
hatte über den hellen Saal mit jeiner ſchön ge
malten Dede, die ein Weinlaubdach vorftellte, und
feinen mit großen, jonnigen Landſchaften geſchmüdten
Wänden. Um fie herum vernahm fie ein Summen
Neuban.
von Männer- und Frauenftimmen, die in friedlichen
Geſpräch begriffen waren, und wo Eheleute bei
einander ſaßen, da zankte das eine nicht über das
Ejien, und das andre widerſprach nicht im Gefühl
ſeines Rechtes. Hier gab es dazu feine Veran.
laſſung, und die Finder jtörten niemand durch ihr
Schreien; das durften fie in ihren Zimmern thun,
ſobiel fie wollten.
Blanche ſaß allein; fie verfpürte feine Neigung
zum Efjen. Ihre Gedanken jehten den einmal ein-
geihlagenen Weg fort, ruhig, gleihmäßig, über:
zeugt, den zu treffen, dem fie galten,
Plötzlich blidte fie von ihrem Teller auf und
betrachtete mit einer Ruhe, die fie lange nicht ge
fannt hatte, ein Geficht, das dem ihrigen zugefehrt
war, und deſſen Augen ſich tief in die ihrigen
jenkten. Ihre Kehle war wie zugeſchnürt, und ihr
Atem ſtockte. War er es, oder war es nur ein
Mann, der ihm glich? Diefelbe Lage des Haares,
derjelbe Ausdrud in den tiefliegenden Augen; auch
der Bart, der in reichen Wellenlinien die etwas
barten Züge verbarg, war der feinige. Und wie
fie bei der plötzlichen Gemütserregung ihre Mienen
veränderte, ſah fie gleichzeitig, wie auf jeinem Ge—
ſicht fih alle Empfindungen wideripiegelten. Es
founte fein andrer fein.
Da ſtand er auf, näherte ſich achtungsvoll ihrem
Tiſche und blich in einiger Entfernung ftehen, wie
um durch Blide zu fragen, ob fie geitatte, daß er
fie ſtöre. Vermutlich lautete die Antwort bejahend,
denn im der nächſten Minute war er bei ihr und
ergriff ihre Hand,
„Sie ertennen mich und wundern ſich, wie id)
bierher tomme?” fragte er. „Ich habe mich auf einer
Gejhäftsreife befunden; ich bin hier al3 Chemiker
angeftellt. Wie geht es Ihnen?“
„I danke, gut,“ antwortete Blanche, „hätte
ih aber gewußt, dab Sie hier find, jo wäre ich
nit jo unzart geweſen, mich hier niederzulaffen.“
Und dann fügte fie, um ihn zu verſöhnen, da er
verlegt zu fein ſchien, Hinzu: „Sie werben mich
wohl nicht fliehen, und ich verſcheuche Sie Hoffent-
lich nicht? j
„Nein, das thun Sie nicht. Aber werde id) Sie
verjcheuchen, wenn ich Ihnen nad) beendeter Mahl-
zeit im Parke zufällig begegnen würde?”
„Das haben Sie nie gethan,” antwortete Blanche,
„und hier fann ja eine Dame mit einem Herrn im
Mondſchein fpazieren gehen. Ich erwarte Sie alfo
am Ausgange.“
Er entfernte fih und ging wieder an feinen
Tiſch zurüd, r
„Was fleht num eigentlich noch zwiſchen ung?“
fagte Emil, als fie am Abenb zum achten Male
m
1095
die große Allee durchwandert hatten. „Das vorige
Mal war es eine Stellung, ſechs Rohrftühle . . .*
„Ein Tiſch und die Küchengeräte,” ergänzte
Blande. „Seht haben wir nicht einmal an die
Wohnung zu denken,“
„Und die Kinder ſetzen wir in das Kinderhaus
wie Roufjeau,* meinte Emil.
„Jawohl, mit dem größten Vergnügen, denn
dort hätte ich fie wenigjtens unter den Augen, was
in meinem Zimmer nicht der Fall jein würde,“
antwortete Blandhe.
„Welches Monftrum von Mutter, die ihre Kinder
ind Waiſenhaus geben will!“
„Sa, unter den alten Verhältnifien! Ober
richtiger, welch unglüdliche Mutter, die ihre Kinder
fortgeben muß! War es Ihnen nicht unheimlich,
draußen in ber alten Welt herumzureifen® Ich
bin jeit einem Jahre nicht von hier fortgefommen !*
„Mir war es, ala ob ich in Pompeji und Her-
culanum umberginge. O, ich will nicht Daran benfen!
Leibende Kinder, Kranke, Halbverhungerte am Rande
des Trottoirs; blutlofe, angemalte Kadaver reicher
Leute in ihren Wagen auf der Strafe. Alle Ge-
ſichter entftellt, die der Armen von Haß und Sorgen,
bie der Reichen von Furcht, zu verlieren! Als wir
ſelbſt unter ihnen lebten, vermochten wir das nicht
zu erfennen, aber jet fann ich es.“
„Und doch find wir noch weit von ber Volle
fommenbeit entfernt,“ ſagte Blanche.
„Jawohl, weit entfernt! Denn unjer ftolzes
Gebäude fteht auf dem unfichern Grunde bes Alten.
Bebenten Sie, daß wir Lurus produzieren: unjre
Schirmſtänder, Spudnäpfe, Randelaber, Fontänen,
Figuren und andre Schmudgegenjtände werden ein-
mal bei der großen Kriſis nicht mehr verlangt wer⸗
den — und dann jtehen wir da!“
„Was werden wir dann thun?“
„Dann haben wir ein neues, hartes Leben zu
beginnen, aber wir werben doch Ieben, denn wir
befißen in der Erbe große Fonds; von der Erbe
find wir gelommen und fönnen von der Erde leben,
Aber die Kriſis wird dennoch ſchwer werden. Unter
Berüdfihtigung deſſen jollten alle Kinder die Land⸗
wirtihaft erlernen, denn wir werben vielleicht bei
dem letzten großen Krach nicht mehr zugegen jein!
Deshalb wollen wir leben, Blanche! Diefes Leben
durchleben wir mit Sicherheit nur einmal! Willſt
du mit mir leben oder ohne mich?”
„Mit dir, Emil, denn fonft Iebe ich nicht!”
„Als meine Gatlin frei, als Menſch frei, dein
eignes Brot ejjend; da haben wir ja unfre Utopie
verwirflicht, und die böfen Menichen behaupten, daß
fie nie verwirflicht werden fünne,*
„Weil fie e8 nicht wollen!“
„Oder vielleicht nicht willen!“
Ein Enkel des Eid.
Bon
Emilia Bardo-Bayan.
Aus dem Spanifchen überfeßt von A. Rudolph.
Der alte Pfarrer von Sanlt Elemens in Boa |
ſaß friedlich in einer Ede feiner großen Küche beim
Abendbrot. Das Licht der Oellampe mit drei Dochten
fiel auf die markierten Züge des Geiftlichen und die
von filbergrauen Locken umrahmte Tonfur, Für feine
Gefundheit und Rüftigfeit ſprach aber die rote Haut«
farbe und der fräftige Naden.
Der Pfarrer ſaß oben am Tiſche, in der Mitte
fein Neffe, ein hübjcher junger Dann von zweiund«
zwanzig Jahren, der ſich das Eſſen jchmeden lieh,
und am Ende, mit bis über den Ellbogen aufgerollten
Hemdsärmeln, der Tagelöhner, welder feinen Holz—
Löffel in einen großen Napf dampfender Suppe ſenkte
und zum Munde führte,
Die drei bediente ein Bauernmädchen. Sie jpeifte
nicht mit, mifchte ſich aber von Zeit zu Zeit in bie
Unterhaltung. Ihre Pflichten erlaubten es ihr, denn
fie waren nicht ſchwer und beftanden nur darin, ein
riefiges Brot hinzuftellen, aus dem Schranfe Wein
und Teller hinzuzufügen und darauf vorfidtig eine
große, did an den Rand mit Kartoffeln in Fett an«
gefüllte Schüffel auf den Tiſch zu jehen.
„Herr Xaver,” fragte fie während ihres Hin» und
Hergehens, „was haben Sie von der Diebesbande
gehört, die fich hier herumtreibt ?*
„Bon der Räuberbande, Kleine? Warte, halt...“
erwiderte der Jüngling und erhob fein lebhaftes, ge=
bräumtes Gefiht. „Was hörte id) doch von ber
Bande? Richtig, man jprad) auf dem Markte davon.
Ja, man erzählte... .”
„Die Leut’ jagen, dem Herrn Abt Qubrego
babe man viel Geld geftohlen — hundert Unzen.
Sie haben gewartet, bis er den Zehnten und die
Ochſen auf dem Marlte am fünfzehnten verfauft
hatte, und dann haben fie fich beeilt, das Gelb zu
holen.”
„Und er verteidigte ſich nicht?”
„Wien Sie nicht, daß er ein alter Herr ift?
Außerdem hat er fürzlih an Glieberjchmerzen zu
Bett gelegen.”
Der Pfarrer, welcher bisher geſchwiegen hatte,
bob jegt die Augen in die Höhe, die unter den ſchnee⸗
—— — — — — — — — — — — — m nn
weißen Brauen wie ſchwarze Diamanten glängten,
und ſprach:
„Was das Verteidigen anlangt, hat Lubrego ſein
Leben lang mit der Flinte umzugehen gewußt.“
„Er ift alt.“
„Ach was, alt! Ich bin zu Pfingften fünfund
jehzig geworben, und zu Corpus Chriſti wird er
ſechsundſechzig. Ich weiß es genau, er jelbit hai
mir’3 gejagt. — Alſo, was da3 Alter angeht —, mun,
Gott jei Dank, ich kann noch zielen.”
Der Neffe ftimmte lebhaft zu.
„Jawohl! Und die NRebhühner geften! Das
leßte, welches ich fehlte, trafen Sie!“
„Und die Hafen heute, mein Junge?”
„Und der Fuchs am Sonntag,” fiel der Kucht
ein und erhob den Kopf über die Schüflel. „Ei
ihn der Herr Pfarrer am Stride gejchleppt bradie,
und ſchwer war er! Hm, Hm!“
„Dort hängt der Räuber!” brummte der Pfattet
und wies nad der Thür, an der man das Fell zum
Trodnen aufgenagelt hatte,
„Der frißt keine Hühner mehr,“ verfeßte die
Magd und drohte mit der Fauſt nad) dem Felle zu.
Die Jagdunterhaltung brachte wieder die vorherigt,
ruhige Stimmung zurüd, und Xaver dadte nit
daran, das zu erzählen, was er von der Räuberbande
wußte. -
Der Pfarrer fprad das lateinische Dantgekt,
tranf einen Schlud Wein, zündete fi eine Zigaretr
an, reichte jeinem Neffen die noch zufanmengefalkt:
Zeitung und brummte: „Nun laß hören, was di
Zeitung ſchreibt.“
Xaver fing an, den Leitartikel zu leſen. Die Mor
lieh das Geſchirr ruhig auf dem Tiſch ftehen, ſchöpftt
ih eine Schüffel Suppe ein und jehte fich dam!
auf eine Banl beim Herde. Bald darauf wurde di
wohlklingende Stimme des Vorleſers durch ein heftige
und andauerndes Heulen des Hundes unterbrodir.
Die Magd behielt den gefüllten Löffel in der Han,
Xaver lauſchte eine Sekunde und fuhr dann fort zu
leſen, während der Pfarrer gleichgültig große Raud-
wollen blies, wobei er häufig ausſpuckte. Es vergingen
Ein Entel des Eid,
zwei Minuten, da wurde die Stille außerhalb aber:
mals durch wütendes Hunbebellen und Heulen unter
brochen. Jetzt ließ ber junge Mann das Leſen fein,
Die Magd ftand erfchroden auf und ftammelte:
„Herr Xaver! — Here Pfarrer — Herr Pfarrer!”
„Sei ſtill!“ befahl Xaver und ging leife an das
Fenſter, von welchem das Bellen der Hunde herfam,
aber dieſes verftummte plößlich.
„Ontel,* flüfterte Xaver.
„Mein Junge,“ antwortete diefer.
„Die Hunde find ruhig geworden, aber ich möchte
ihwören, daß ih Stimmen höre.“
„Nun, wie würden fie da ruhig geworden fein?“
Der junge Mann antwortete nichts. Er war
dabei, den FFenfterriegel leiſe zurückzuſchieben, den
Laden zu öffnen und, von der Stille veranlaßt, das
Fenſter aufzumachen. Ein fühler Luftzug drang ins
Zimmer. Dan ſah ein Stüd Sternenhimmel und
im Hintergrund die dunfeln Umrifje der Bäume vom
Walde. Gleichzeitig drang ein ſcharfes Ziſchen durch
die Luft, man hörte einen Knall, und eine Kugel
ſtreifte das Haar Xaverd und drang in die gegen«
überliegende Wand. Xaver ſchloß unwillfürlic das
Fenſter. Der Pfarrer ftürzte auf feinen Neffen zu
und Hopfte ihm zutraulich auf die Schulter.
„Verwünſcht! Das galt dir, Schlingel!”
„sa, fie ſchießen mit jcharfen Patronen — das
ift hübſch!“ fagte Xaver etwas außer Faſſung.
„Sind fie da unten?”
„Hinter den erſten Kaſtanienbäumen.“
„Mach den Riegel vor — jo — bring raſch bie
Büchſe — die Kugeln, das Pulverhorn ... Auch die
Lefaucheux — Hörft du?“
Hier mußte der Pfarrer ſchon die Stimme er—
beben, als ob er ein Negiment Soldaten befehligte,
benn das mwütende Bellen der Hunde ertönte immer
ftärfer.
„Seht bellen fie... Warum waren fie vorhin
ruhig, zum Henker?”
„Sie werben jemand von der Bande gefannt
haben. Er hat ihnen vielleicht gepfiffen oder fie ge-
rufen,“ verjeßte der Schäfer, der aufgeftanden war
und eine Meine Heugabel ergriffen hatte, während
die Magd am Feuer fauerte. Sie zitterte am ganzen
Körper und quiefte von Zeit zu Zeit wie eine Ratte...
Der Pfarrer öffnete einen Meinen Schieber im
Laden, ſteckte die Fauft durch und zerbrad) eine Scheibe,
Dann legte er den Mund an die Deffnung und
ſchrie mit gewaltiger Stimme den Hunden zu:
„Drauf, Diana, Morito, Linda! — Drauf, Diana,
beiß! 208, Linda, reiß fie in Stüde!”
Daß Bellen wurbe wütender, toller. Man hörte
Kampf unter dem Fenſter, ein fchmerzliches „Aut“,
einen Fluch und dann das Stöhnen eines jterbenden
Tieres.
Aus fremden Zungen. 1997, IL 23
1097
„Der arme Morito wird feinen Fuchs mehr jagen,“
brummte der Schäfer.
Inzwiſchen hatte der Pfarrer aus Xabvers Hand
feine Flinte genommen und Iud fie erftaunlich fchnell.
„Mir laß meine alte Hübnerflinte,* fagte er.
„Du verſtehſt dich auf die Lefaucheux. Ich bleib’ bei
meiner alten ſpaniſchen. Haft du Patronen ?*
„Ja,“ erwiderte Xaver und macht fich daran,
den Karabiner zu laden.
„Sind fie unten?”
„Gerade unter dem Fenſter. — Kann fein, fie
legen die Leiter an.“
„sit Gefahr fürs große Thor?“
„Ich glaube nit, Sie müſſen über die Lehm—
mauer vom Hof jpringen, und wir fönnen fie vom
Gang beſchießen.“
„Und die Gewölbethür ?*
„Wenn fie fie nicht in Brand fteden, zerhauen
fönnen fie die nicht.”
„Run, wir fönnen uns eine Meile beluftigen. —
Wartet nur, wartet nur, Freundchen!“
Xaver jah feinen Onlel an. Diejer hatte ein
farbonifches Lächeln um den Mund, die Zungenfpibe
ihaute zwifchen den Zähnen hervor, bie Wangen
waren gerötet, und die Augen leuchteten. Er ſah aus
wie auf der Jagd, wenn ber Hund im Geflrüpp einen
Flug Rebhühner aufgejagt hatte. Xaver waren dieſe
Vorbereitungen zur Jagd auf Menjhen jchrediich,
In dem wichtigen Augenblid, al er die Flinte (ud,
wünſchte er im Hörfaale der Univerfität zu fein, im
Café oder auf dem Marlte, um für Fräulein Pazo
Zudergebäd und Bonbons einzufaufen. Er jah in
Gedanten den Markt vor fi, die ftörriichen Ochſen
und gebuldigen Kühe, die Pferde und Fohlen, und
hörte die friiche Stimme von Gafildita Pazo, die
in dem hübſchen, anmutigen Landesdialefte zu ihm
ſagte:
„Ach, bitte, reichen Sie mir doch den Arm um
Gottes willen! Hier bei den vielen Leuten kann man
gar nicht gehen!“
Er glaubte den Druck eines Armes zu fühlen.
Es war die rauhe, feſte Hand des Pfarrers, die
ihn nach dem Fenſter ſchob.
„Die Lampe aus!“ — Er blies dreimal kräftig.
„Nun kann der Tanz losgehen. Während ich lade,
jchießeft du, — und umgekehrt. — He, Tomaja!” rief
er der Magd zu, „quiefe nicht wie ein Wieſel! Koche
Mafier, Oel, Wein, fo viel, wie da if. Du,“ rief
er dem Knechte zu, „auf den Balton! Wenn fie auf
die Mauer Nettern, melde mir's.“
Vorſichtig machte er das Fenſter auf und lieh
nur eine Oeffnung für den Flintenlauf. Xaver
ſchauerte, al& er die falte Nachtluft ſpürte. Er ers
mannte ſich aber bald, denn er war nicht feig. Er
ſah nad) unten. Da bewegten ſich dunkle Geftalten
138
1098
durdeinander, und man hörte eine leiſe geführte
Unterredung.
„euer!“ Flüfterte ihm der Onfel ins Ohr.
„Es find an die zwanzig und mehr,” antwortete
Xaver.
„Ad was,“ brummte der Pfarrer, ſchob den Neffen
ungeduldig beifeite, legte den Flintenlauf am Fenſter⸗
gewölbe an und ſchoß.
Es gab eine Bewegung in der Gruppe, und ber
Pfarrer rieb ſich die Hände.
„Einer ift gefallen — quoniam!” brummte er.
Er bediente fich dieſes lateiniſchen Wortes, um alle
in der ſpaniſchen Sprade jo reichlich enthaltenen
Verwünſchungen zufammenzufaflen. — „Iebt ift es
an dir, Schlingel. Sie haben eine Leiter — der erfte,
der herauffteigt ...*
Die Finger Kavers umflammerten die jchöne
Lefaucheux⸗Büchſe, aber er ließ fie wieder los.
„Dntel,” wagte er leife zu diefem zu jagen, „Es
find befannte Leute darunter; ich erinnere mich, was
man auf dem Markte jagt. Man behauptete, ber
Chirurg von Solas, der Feuerwerler von Gunsende
und der Bruder des Arztes von Doas feien dabei.
Grlaube, daß ic) mit ihnen rede. Es iſt möglich, daß
fie fi) mit etwas Gelb begnügen und uns in Ruhe
lafien, ohne daß wir Menſchen zu töten brauchen.“
„Geld! Geld!“ rief der Pfarrer rauf. „Du
glaubft wohl, daß e& im Haufe Millionen giebt?”
„Und die Kirchengelder?“
„Die gehören dem Kirchenſchatz, — quoniam! —
und ehe ich ihnen einen Heller gebe, laſſe ich mir bie
Füße röften, wie fie es voriges Jahr dem Pfarrer
von Solas taten, Beſſer ift e8 aber, wenn fie einem
gleich die Haut durchlöchern, ehe man geröftet wird.
Teuere darauf! Wenn du Furcht haft, gehe ich Hin.“
„Furcht habe ich nicht,“ erflärte Xaver und legte
den Karabiner an.
„Sieb ihnen die beiden Schüſſe!“ befahl der Onkel.
Zweimal drüdte Xaver ab, und auf jeden Schuß
folgte von unten ein furdtbarer Schrei. Der junge
Mann Hatte keine Zeit gehabt, die Hand zurüd-
zuziehen, als auf den Fenſterſims eine Ladung nieder⸗
krachte, die das Holz zerjplitterte, Es war eine Salve
aus den verſchiedenſten Gewehren, Piſtolen, Flinten
und Donnerbüchſen. Xaver taumelte zurüd, Sein
rechter Arm hing ſchlaff herab; die Büchſe fiel auf
den Boden.
„Was haft du, Schlingel?* fragte der Pfarrer,
„Sie müffen mir das Handgelenf getroffen haben,“
jeufjte Xaver und ließ ſich erfchöpft auf eine Bank
fallen.
Der Pfarrer, der feine Büchje wieder lub, fühlte,
dab man ihn an den langen Schöken feines Rodes
zog, und jah beim matten Schein des Herdfeuers, wie
fih eine bleihe Geftalt ihm zu Füßen warf. Es
Emilia Pardo-Bazän.
war die Magd, die mit faum vernehmlider Stimm:
bat: „Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, ergeben Sie fh
— um der Seele Ihrer Mutter willen — fie morden
ung — fie bringen uns alle um —“
„Laß los, quoniam —!” rief der Pfarrer un)
ftürzte nad) dem Fenſter.
Xaver war unfähig, weiter zu fämpfen, er ftühnte
und juchte mit der linfen Hand fih ein Tuch um:
zubinden. Die Magd ftand nicht auf; der Schret
hatte fie gelähmt. Aber der Pfarrer kümmerte fid
nicht um die andern. Schnell riß er den Laden aui,
erblidte eine Leiter und ftieß beinahe mit dem Royi
an zwei Männer, welche daran aufitiegen. Er jhei
fofort auf den unteren, ber hinabjtürgte, und veriekte
dem andern einen Kolbenichlag, der ihm hinabwarl.
Es folgten weitere Schüffe, aber der Pfarrer war
ihon wieder im Zimmer und lub von neuem,
Xaver hörte auf zu ftöhnen und trat entidlofien
zu ihm:
„Auf diefe Weiſe, Onkel, können Sie feine Viertel
ftunde Widerftand leiften. Ich rieche Petroleum; fi
werden die Gemwölbethür anbrennen. Ich lann nit
mehr ſchießen, aber ich möchte Ihnen etwas helfen.‘
„Bieh kochendes Del mit ber linken Hand auf
die Leute,“
„Ich will die Stute herausholen und nad) Don;
galoppieren.“
„Zum Wachpoften ?*
„Ja, zum Wachpoſten.“
„Dazu ift feine Zeit mehr. Du wirft mid) tot
finden, Lebe wohl, Junge! Bete für mich und lei
Mefien leſen.“
„Sehen Sie, daß er fich ergiebt,“ rief Xaver der
Magd zu, „halten Sie die Leute auf! Ich werde
jagen!“
Man ſah noch einen Augenblid den Schatten dei
jungen Mannes, als er am Feuer vorbeiging, und
dann verjhwand er auf dem dunfeln Gange. Der
Onkel zudte die Achſeln, drehte jih um und gab
noch einen Schuß auf die Angreifer ab. Dann lief
er nad) dem Herde, machte den ſchweren Keſſel von
der Eijenfette los, öffnete das Fenſter ganz, und oda:
ſich umzuſehen, hob er den Keſſel in die Höhe m
goß das fiebende Del auf die Feinde. Man hört
ein fchredliches Heulen, und als ob dieje rohe Br
grüßung ihre Wut über die heldenmütige Verteidigung
entflammt hätte, ftürzten ſich alle auf die Leiter.
Einige ftiegen über die Brüftung bes Balfons und
rangen mit dem Knete. Ein Menſchenknäuel län
auf den Pfarrer, der noch mit Kolbenjchlägen Wider:
ftand leiftete. Als der Menfchenhaufe fich zerteilte
fonnte man bei der von den Einbrechern wieder um
geftedte Lampe den Alten gefeffelt am Boden jeben.
Die Räuber hatten geſchwärzte Gefichter, juli
Bärte, Tücher um den Kopf, breitfrempige Hüte und
Ein Enfel des Eid,
allerlei Bermummungen, was ihnen ein wildes Aus-
jehen gab. Sie wurden von einem großen Manne
befehligt. Sofort ließ diefer die Thür fließen und
berrammeln und ben Knecht und die Magd feſſeln.
Einer der Räuber flüfterte dem Anführer etwas zu,
worauf diejer zu dem beſiegten Geiftlichen trat.
„Herr Abt, ftellen Sie ſich nicht tot. Bier ift
ein durch Sie Verwundeter, der beichten will.“
Man hörte ſchon Tritte auf der Treppe, und bald
darauf traten vier Männer ein, die einen mit Blut
bededten Menſchen trugen, Der Kopf des Berwunbeten
wadelte, die Augen waren ftier, der Mund ftand offen,
und das Gefiht war geichwärzt.
„Ad was, beichten!" jagte der Anführer.
iſt ſchon vorbei mit ihm.”
Aber der Sterbende, den man auf eine Bank ger
legt hatte, machte eine Bewegung, und fein Blid
belebte fich wieder,
„Beichten!“ rief er laut und deutlich.
Man band den Pfarrer 108 und zerrte ihn nad
der Bank. Die Lippen des Verwundeten bewegten
Äh im Gebet. Der Pfarrer erfannte den nahen
Zod und bemerkte den rötlihen Schaum, der vor
den Mund trat. Er erhob nur die Hand und ſprach:
„Ih gebe dir Abfolution.” Darauf fiel der Kopf
zum legtenmal auf die Bruft jurüd.
„Bringt ihn fort,” befahl der Anführer. „Und jet,
Herr Abt, jagen Sie ung, wo Sie Ihr Geld haben!”
„Es
1099
„I habe nichts für euch,“ antwortete entſchloſſen
der Pfarrer.
Seine Stirn rungelte ji, fein Geſicht war nicht
mehr rot, jondern freideweiß vor Zorn, und feine von
ben Striden zerjhundenen Hände zitterten.
„sn zehn Minuten werden Sie anders ſprechen.
Mir werden Ihnen die Finger in dem Del braten,
welches Sie auf und warfen. Wir jehen Sie auf
bie Kohlen. Eins, zwei —“
Der Pfarrer blidte um fih und ſah auf dem
Tiſche das Mefjer, womit fie das Brot zerjchnitten
hatten. Mit einem Tigerfprung flürzte er ſich hin,
bemädhtigte fih der Waffe, warf Tiſch und Lampe
um, verſchanzte fi dahinter und wehrte ſich im
Dunkeln wie ein Löwe. Er fühlte die Schläge nicht
und dachte nur daran, heldenmütig zu fterben, während
man ihn mit Kugeln überjchüttete,
Der Anführer der Gendarmerie von Doas fam
eine halbe Stunde jpäter auf den Kampfplatz, während
die Räuber noch vergeblich überall in Betten, Da»
tragen und fogar im Gebetbuche nad) Geld fuchten.
Er verſicherte jpäter, daß die Leiche des Pfarrers fein
menschliches Anjehen gehabt habe, jo verftümmelt war
fie. Er erzählte auch, daß e8 jeit dem Tode des Pfarrers
viel mehr Rebhühner in der Gegend gebe, und zeigte
mir auf dem Marfte Xaver, der nicht mehr auf die
Jagd gehen kann, denn er ift an der reiten Hand
gelähmt.
— —
Die Wolke.
Bon Seweryn Goszczynski.
Aus dem Polnifchen überſetzt von Robert Braune.
Dom Eichenbaum, dem Teich entgegen,
Im Blute wälzt fi ein Mosfal,*)
Heult wie ein hungriger Schafal
Und lechjt nach einem Tropfen Regen.
Derfengend ruh'n auf ihm die Strahlen
Der Sonne; Waffer ift fo nah,
Doch niemand, ihm’s zu reichen, da,
Und niemand adytet feiner Qualen.
Und eine Wolfe ſchwimmt im Blauen
Mit Regen, der ihr leicht entquillt,
Nur feine Pein bleibt ungeitillt;
Er hört im Domnerfchall voll Grauen:
*) Auffe.
„Schweig, Sproß verfluchter Kreaturen!
Don den Karpathen fomm ich her,
Der Weichfel Tochter, regenfchwer,
Erquidung bring’ id; Polens Fluren.
Doch löfchen werd’ ich nie und nimmer
Des Polenfeindes heiße Gier;
Su viel der Chränen tranfet ihr
Des Dolfs, zu viel ſchlugt ihr in Trümmer!
Sur Newa geh, dort zu erfahren
Des Durftes £abung, dorten buhl
Darum aus blut’ger £ache Pfuhl,
Entitrömt dem Eingeweid' des Zaren!“
— el —
Brautfahrt.
Oskar Angaard.
Aus dem Norwegiſchen überfeßt von Marlott.
Große Eisftüde trieben den Bergftrom hinab.
Scholle auf Scholle prallte aneinander; zuweilen
fließen fie gegen bie Ufer, ftauten fich nirfchend und
frachend gegen das Geftein des Strombettes, riſſen
ſich wieder los und trieben weiter.
Zwifchendurd tauchte das ſchwarzblaue Waſſer
des Stromes auf. Ab und zu bildete es ſchäumende
Strudel oder ftürzte in weißem Gicht dahin; doch
zumeift flutete e& in glatter Strömung auf feiner
ewigen Wanderichaft zum Meere hinab.
Ringsum dehnte ſich die Eindde aus, ſchnee—
bededte Höhenzüge. Keine dunfle Tanne, feine
ihwarzbraune Kiefer unterbrach ihre Eintönigkeit.
Die weite, unendliche Einöde der weiten, undurch—
dringlichen Wildnis.
Graue Schneewolten hingen über der Land»
ſchaft, — zogen ſacht landeinwärts nad Norden zu.
Nirgends eine Hütte, joweit das Auge reichte,
Nirgends eine menſchliche Stimme zu hören.
Nur weit in der fyerne ertönte in Zwiichenräumen
langgezogenes Geheul, wie von Wölfen, die Leichen
wittern.
So lag fie da, dieſe Landſchaft, wie eine un—
geheure Begräbnigftätte, und der finitere Strom war
der große Abzugsfanal diefes Kirchhofs.
*
Gegen Abend zu fiel Schnee.
Aber als er über alles eine weiche, mehrere Zoll
hohe Dede gebreitet hatte, teilten fi die Wolfen,
und ein fternflarer Himmel öffnete fi gegen Norden
bin und breitete fi) allmählich mehr und mehr aus,
bis die Molfenfhicht faft ganz verdrängt war und
nur wie eine dunfle Mauer noch am jüdlichen Hori-
zont ſtand.
Gleichzeitig nahm die Kälte zu.
Das Waller des Stromes fror zu, dort, wo e&
ſich längs des Ufers hinzog, und an andern Stellen,
wo die Strömung am jchwächlten war.
Im Laufe einiger Stunden lag eine ſchwache
Eisdede überall, wo das Waſſer nicht reißend dahin»
ſchoß und die Scollen ſich nicht im Strombett
brachen.
Millionen von Sternen erglängten über ber
Plötzlich — wie auf ein Machtgebot — ergoh
ih ein Meer von flammendem, vielfarbigem List
über das Himmelögewölbe — ſchoß in langen Zungen
nad) allen Seiten — dehnte ſich wie breite Bänder
von Horizont zu Horizont — ftand wie ein gezadte:
Diadem im äußerften Norden — flimmerte im Zenit
wie furze, blendende Blike.
Ueber den mweißbededten Totenader, über die öde
Wildmark zitterte das Licht wie der Wiederſchein
eines im Himmel gefeierten Feſtes.
Jeder funkelnde Stern fah wie ein geſchlifentt
Diamant aus, jeder der ftillen Planeten wie eine
blafje Perle.
Das Nordlicht aber war der Strahlenglanz du
Kronleuchter und Kandelaber des ungeheuren König
ſaales, der ſchwebenden Prismen und funfelnden Ede
fteine. Es erjchien, als habe der Herrſcher geboten,
daß die breiten Flügelthüren geöffnet werden jollten,
damit das Volk all diefe Herrlichkeit erſchaue.
Aber der Abglanz jenes Feſtes nahm fid) jo jet:
fam aus, jo fremd auf der armen Erde,
*
Nachdem der furdtbare Froſt einige Stunden
angehalten hatte, trat ein Umjchlag ein,
Mit einem Male wurde e8 milder. Und als Luna
hinter den Höhen emporftieg, hatte fie ihr Antlig in
den Brautſchleier gehüllt. Sacht glitt fie dahin,
Ihüchtern und blaß, ummallt von einem ſpinnweben⸗
feinen Schleier, aus den leuchtendften Silberfäden
gewoben. Einen Augenblid lang ftand der Himmel
in regenbogenfarbene Glut getaucht — mur eine
Augenblid,
Dann, während der Mond ſich mit dem jeidenen
Mantel des Nebeldunftes und dem daunenweichen
Pelzwerk der Wolken umhüllte, ſchwand dieſe Be
leuchtung,
Jedes Thor in der Königäburg da droben wurd
verriegelt, jedes Fenſter geſchloſſen.
Die Sterne und Planeten verjchlang das Dunke,
Und die weichen Schneefloden ſchwebten in lauf:
loſem Elfentanz zur erftarrten Erde nieder, legien
Schneewüſte. Es war, als ob ihre zitternden Strahlen |
die fchneidende Kälte mit ſich führten, die für eine
Zeitlang fogar die brodelnden Waller des Stromes
zu binden vermochte.
ſich Leicht über die fyelfen und Berghalden und kr
bedten da& längs der Ränder des Stromes niw
gefrorene Eis,
Düftergraue Nacht Tag über Himmel und Er.
*
Brautfahrt.
Zwei phantaftiche Geftalten tauchten aus dem
Schneegeftöber auf, zwei Männer.
Der eine, hochgewachſen und kräftig, in heller
Frieäfleidung, den Rudjad auf dem Nüden, das
Gewehr über die Schulter gehängt und den Berg—
ftod in ber rechten Hand.
Der andre, Hein und gekrümmt, in ber Kleidung
ber Finnen. Beide trugen Schneeſchuhe an den Füßen.
Sie famen von Oſten ber, glitten in gleich—
mäßigem Laufe über den Schnee hin und gelangten
zum Strom,
Da hielten fie an, jahen ſich rings um, und der
fleine Mann, der einen großen Sad auf dem Rüden
trug, fehte diefen am Ufer ab.
„Hier wird's nicht gut brüberzufommen fein,”
jagte der Kleine; feine Stimme war heifer und hatte
einen fremdartigen Klang.
„Hinüber müſſen wir!“ antwortete der Große.
„Wir wollen ein wenig ausruhen,“
Sie ſetzten fi auf den Sad.
„8 wird fpät, eh’ wir zum Gehöft kommen!”
jammerte der Kleine.
„Wir müflen Hin, noch heute Nacht!” verjeßte
ber andre,
„Aber wir können unmöglicd über den Strom,
er!”
„Nichts ift unmöglid. Wir wollen bier etwas
effen, ehe wir weiter gehen!“
Sie holten Mundvorrat aus dem Rudjad und
aßen.
„Ein Schnaps würde uns gut thun, Herr!“
Der andre hatte ſich erhoben und ſchien bie
Feſtigkeit des Stromeijeg zu erproben und den beiten
Uebergang zu ſuchen.
„Iſt der Flußlauf nicht ſchmäler höher Hinauf?”
wandte er fih an den Kleinen.
„Er ift noch mehrere Meilen aufwärts gleich breit .
und gleich gefährlich zu paffieren.”
„But! So verſuchen wir's bier!“
Der Heine Mann warf einen rajhen Blick auf
ben Großen, und in feinen Heinen ſchwarzen Augen
glimmte e8 wie Feuerfunlen.
„Ein Schnaps würde und nicht gut fein,“ jagte
der andre etwas barſch. „Wir brauchen einen Maren
Blick und fihere Füße heut nacht. Und zum Gehöft
müjjen wir, che der Tag graut.”
„Shr ſeid ftreng, Herr!“
„Ich bin ein Mann!”
Der Kleine jchüttelte den Kopf, wandte fi um
und zog aus der Brufttafche eine flache Flaſche, die
er heimlich an den Mund jehte,
„Eine Pfeife Tabat wenigftens macht einen nicht
wirr im Kopf,“ murmelte er, während er die Flaſche
wieder verbarg und Pfeife und Feuerzeug hervor—⸗
holte.
„Meinetwegen, rauche!“ jagte der Große geiftes-
abwejend,
Darauf ftemmte er den Bergftod gegen das Eis
des Stromes, ſtarrte nad) der andern Seite hinüber
und fann nad.
1101
„Wir müffen es verfuchen,” fagte er dann leife,
wie zu fich jelbft.
Ab und zu ſchielte der Kleine nad ihm hin, jog
an feiner Pfeife und fand noch ein paarmal Ger
legenheit, eine Herzſtärkung zu fi zu nehmen
„Sie erwartet mid) morgen früh,“ ſprach ber
andre weiter mit fich felbit. „Sie erwartet mid).
Folglich komme ih. Nicht jeden Tag feiert man
Hochzeit. Sie erwartet mich ſicher morgen.“
Er jah in die Höhe und ringsum, dann fagte er
laut:
„Bir müſſen aufbrechen. Es ficht nad) einem
Unwetter aus!"
Der Kleine erhob fih und band den Sad wieder
auf feinen Rüden,
„sa, das Unwetter kommt herauf,“ meinte er.
„Es giebt Sturm.”
„Wir müffen verſuchen, über die Eisſchollen zu
jpringen.*
„Das giebt ein Unglüd, Herr!”
„Unfinn! Der Wille eines Mannes erzwingt alles.
Und id bin Bräutigam.”
„Um fo jhlimmer für deine Braut; jo wird fie
noch vor der Hochzeit Witwe,” dachte der Kleine.
Der Große unterfuchte das Niemenzeug feiner
Schneeſchuhe, zog es feſter an und machte ſich bereit.
Ihr zuerft gehen ?* fragte jein Begleiter.
a u
„Wollt Ihr denn nicht den Rudjad und das
Gewehr ablegen ?*
„Nein!“ erflang es kurz und beftimmt.
Und indem er das Eis mit dem Stod unter
juchte, glitt er vorwärts.
„Seid vorfihtig! Das Eis knirſcht! Paßt auf,
jept prallen die Schollen an!“ ſchrie der Seine und
nahm dabei einen Schlud aus der Flaſche.
„Folg mir, ich zeige den Weg,“ rief der andre
und wandte den Kopf einen Nugenblid nad) feinem
Gefährten um.
Im jelben Augenblid barft das Eis, das bünne
Eis unter der Schneedede,
Er verjuchte den Oberkörper und ein Bein auf
eine große Scholle zu heben, die gerade vorbeitrieb.
Es glüdte ihm nicht.
Und im Berfinfen riß ihn die Strömung unter
das Eiaftüd,
Der Kleine ftand mit weit offenem Munde und
funfelnden Augen dba und ftierte ihm nad).
„Hola!“ jchrie er gellend, al der Kopf und ein
Arm des andern wieder auflauchten. „Holla, Herr!
Ih komme jhon! Hier ift mein Stod! Ergreift
ihn!“
Aber der Untergehende fonnte ihn nicht mehr
falten.
„Haltet Euch an der Scholle,” brüflte der Kleine,
„Wartet ein wenig!“
Er jprang jo raſch in den Strom hinaus, daß
das Eis augenblidlih unter ihm zerſchellte und er
bis zu den Schultern im Waſſer ftand,
Und während er jich erjchroden wieder an das
1102
Ufer hinaufarbeitete, hörte er Die Stimme des andern
etwas rufen, was das Getöje des wilden Stromes
verjchlang.
Als der Begleiter wieder auf dem feften Lande
ftand, jehüttelte er fich wie ein naffer Hund, warf
einen jpähenden Blid über den Strand, that einen
langen Zug aus der Flaſche und lachte trunfen:
„Glück auf die Brautfahrt, guter Herr!”
%*
Der Schnee fiel dicht die ganze Nacht hindurch.
Aber gegen Morgen machte fih ein Wind auf. Er
fam aus Norden, wuchs raſch zum Sturme an, jagte |
die Wollen vor fi ber, fegte die Luft mit einem
Beſen aus Fisnadeln, peitichte den loſen Schnee in
ftöberndem Flug ſüdwärts, lieh die offene Halde
nadt zurüd, wie fie vorher gewejen, und häufte ganze
Schichten an jeder fperrenden Felswand auf.
Und als der Sturm ermattete und eine kurze
Loje Blätter.
Weile raftete, lag die Einöde fill und ſtarr da wie
zuvor. Feine Menichenftimme war zu hören, nichts
Lebendiges rings zu erbliden, außer drei hochbeinigen,
mageren Wölfen, die aufrecht jaßen und mit blut
unterlaufenen Augen und hängenden Zungen auf
einen Heinen Mann in der Sleidung der Finnen
niederflarrten, der zufammengelauert, halb vom Schnee
zugededt, mit einer leeren Flaſche in der Hand, offenem
Mund und einem erlojchenen Blid in den glanzlofen,
ſchwarzen Augen balag.
Das Geräuſch des Eisgangs aber auf dem Strom
durchſchnitt wie wildes Geichrei die eifige Stille der
Eindde.
Und von der Hüfte ber drang das dumpfe, liefe
Gedröhne der Meereöbrandung gegen das Bollwert
der Bergwände wie der Klang ferner Kirchengloden,
die von ſtarken Händen in Bewegung geſetzt wurden,
um die Toten zur Ruhe zu läuten.
u nr 9
— Lofe Blätter &-
Mein erffer litterariſcher Erfolg.
Don Iulie Elofon Keuley.
Aus dem Englifchen überfeht von Guntram Frank.
Gefchrieben babe ich die ſchwere Menge, aber mit
dem Drudenlafien haperte es meiftens gewaltig. Die
Redakteure fandten mir meine Manujkripte zurüd
und fügten ben guten Rat hinzu, id) folle ihre Zeit«
ihriften faufen und den Inhalt ftudieren. Ich kaufte
mir fieben Stück und las die Geſchichten forgfältig
duch. Bei Tiſch fand meine Familie, daß ich aus—
jähe wie Gift und Galle,
Ih lernte recht viel, was Geſchichten angeht.
Sie müfjen handeln von einem Helden, von einer
Heldin und von Liebe. Am Anfang pflegt der Held
diejes fFrauenzimmer zu haſſen — warum, wurde
mir nie Mar; ich hätte ebenjogut daran denfen
fönnen, einen hübſchen Meinen Lampenſchirm zu haſſen.
Gegen das Ende zu lernt er fie lieben. Das Ein—
treten dieſes Ereigniſſes merkt er daran, daß „fein
Herz in ihm erſtirbt“, wenn fie ihn allein läßt. Das
ſcheint aber fein lebensgefährlicher Vorgang zu fein;
e8 wird ihm dabei nicht einmal übel. Zuweilen find
dieſe zwei Figuren alte Belannte — ihr wißt es nur
nicht — von den Jlluftrationen abgefehen; fie ſprechen
um fein Haar vernünftiger.
Ich brauchte Geld, mein gewöhnlicher Fall, des⸗
halb entſchloß ich mid, eine Gejchichte zu jchreiben
nad) dem Gefchmad der großen Maffe. Ich fchrieb
auf blaßrotes Papier mit einem filberplattierten
Treberhalter. Ich war überzeugt, daß das das einzig
Richtige wäre, um burdichlagende Geſchichten zu
ſchreiben.
Die erſte Damenrolle belam den Namen „Grace“,
der wichtigfte von den Herren war „George“. Georac
traf Grace beim Tennisjpielen, „als die Vögel über
ihren Häuptern zwitjcherten“, ch weiß zwar, dab
auf gutgehaltenen Spielpläßen feine Bäume zu ftehen
pflegen — aber die Vögel hatten in jeder der Ges
ſchichten gezwitſchert, die ich gelefen hatte, und id
hielt e8 darum für nötig, daß auch die meinigen
zwitſcherten. George fagte:
„Miß Silverthorn, ich habe Ihnen etwas zu
‚jagen, etwas jo Großes, daß es für mich Leben oder
Sterben bedeutet.” Denn ich erinnerte mich daran,
daß er fie gerade allein getroffen hatte.
Ich wollte den Ausſpruch unverändert laſſen, ob⸗
gleich ih — o die liebe alte Leier! — es nur ab»
ſchrieb, es lautete eigentlich ſo:
„Miß Silverlhorn, ich habe Ihnen etwas zu
jagen, etwas jo Großes, daß es für mich Leben oder
Tod bedeutet. Eſſen Sie gerne Flaben ?*
Ich Tagte das, weil ich mir nicht denken Tonnte,
was er fonft zu jagen hätte, und ich ſchloß: wenn
ih nichts anderes wüßte, fo wüßte der Dummlopf
George es erft recht nicht.
Dann ließ ich fie auf einen Hügel bei einem
Sommerhaufe fteigen. Ich kam mir dabei wie ein
DOchjentreiber vor. Den Hügel machte ich jehr fteil, jo
daß George „den leifen, unwillkürlichen Drud ihrer
Finger, die in dem feinen Handichuh ſtaken,“ fühlen
fonnte. Das Sommerhaus war „ein ländlicher Bes
mit dem Ausblid auf einen murmelnden Fluß und ein
wogenbes Kornfeld“. Wie das Korn wogte, fann
id) mir nicht vorftellen, denn George ſagte zu Grace,
es rege fich fein Lüftchen. Vielleicht verneigte fi) das
Korn George zu Ehren, weil fie jo alte Belannte waren.
Loſe Blätter.
Im Fortgang meiner Gefchichte wurde die Ver«
widlung hoffnungslos. „Der Wind wehte die Loden
auf ihrem Naden an jeine gebräunten Wangen.“
Es fam aljo zu allem andern nicht nur ein ruchlofer
Gegenwind dazu, es lag darin auch no, daß Georges
Mangen nur bis zu Grace Naden reichten, und ich
hatte doc) erzählt, daß George „hochgewachſen war,
mit einem feingefchnittenen Antlig*, und daß „Grace
flein und zierlich wie eine Frühlingsblume war“.
Gleichviel, ich beſchloß, der Sache ihren Lauf zu lafien,
um zu ſehen, was der Jlluftrator damit anfangen
würde, Der wußte ſich gleich zu helfen; er gab
George einen Bollbart. ch blieb mäuschenftill, ich
fenne die Zeichner; ich war froh, daß Grace auf den
Bilde feinen Geisbart befam.
Die beiden waren nicht lang in dem Sommer«
haus, da brach George ein Bein. Es war zu ſchlimm,
dab das geſchah — aber Grace mußte doc eine
Gelegenheit haben, „um fein bewußtloſes Antlik mit
leidenjhaftlichen Küſſen zu bebeden“.
Als er wieder die Augen aufichlug, blidte er fie
an und rief: „Sie haben mein Leben gerettet. Wie
fol ich Ihnen das vergelten?*
IH wußte nicht, was man darauf zu antworten
pflegt, deshalb biß ich die Enden von zwei Zünb-
hölzern ab zum Loſen. Ich zog das längere. Sie
fagte aljo, den Blid weggewendet und mit Thränen
in ihren großen Augen:
Teurer Weatherſpoon, es hat nichts zu bedeuten;
denken Sie nicht einen Moment daran.“ Es war
eine recht unglückliche Wendung, aber ich gab es dem
langen Zündholz ſchuld.
George verbarg ſein Geſicht in den Händen und
ſeufzte: „Wehe mir! Grace Silverthorn, mein Herz,
ach, ift gebrochen!“
Grace war vernünftiger — ich habe fie immer
gern gehabt. Sie fagte: „Seien Sie ein Mann,
George Weatherjpoon !”
Dann heirateten fie fih, und „die Braut war
Ichlanf und bla wie eine Oſterlilie“.
George betrug ſich wirflich wie ein Mann, — ich
war entzüdt von George. „AUS er fie zum Altar
führte, war feine Haltung jtolz und jet“, fein Bein
war in vierzehn Tagen geheilt.
Das letzte, was ich von ihm hörte, war, als er,
Grace in die Augen jchauend, jagte:
„Süßes Weib, laß uns jederzeit den Preis der Liebe
gewinnen auf dem großen Tennisplaß des Lebens!“
Es war eine reizende Geſchichte — jo lebens—
wahr, jo ganz, wie das Publikum fie liebt. Ich
zeichnete ald „Anthony Trollope“. Der Redakteur,
an den ich fie jandte, jchrieb fofort zurüd, ob
ih mit dem englijchen Novelliften Trollope ver—
wandt fei. Ich antwortete: nein, aber meine Groß
tante habe einft Trollopes Stiegen geſcheuert. Er
fandte mir eine Anweiſung auf dreißig Dollars,
Er ließ meine Geſchichte erjcheinen mit einer Notiz,
daß id) eine Stiefbafe des engifchen Novelliften ſei.
Die Naht darauf träumte mir, ich flände vor
einem Grabmal mit der Injchrift:
1103
„George und Grace ruhen in dieſem Grab,
Ihre Seelen bliden vom Himmel herab —
Und das ift der Grund, ich will ihn verkünden,
Daß ihr meine Seele könnt anderäwo finden,“
Am nächſten Tage faufte ich Papier mit Trauer-
tand und band der Katze eine Kreppſchleife um.
(„Bolton Herald.“
— —
Das Ende Maupaſſauts. Die jüngſt erfolgte
Enthüllung des Denkmals, das Raoul Vernet für
Maupaſſant gefhaffen, und das in dem idyllischen
Park Monceau feine Aufftelung gefunden hat, bringt
das traurige Ende des genialen franzöſiſchen Novel-
liften wieder in jchmerzliche Erinnerung. Maupaſſant
wurde befanntlich nad einem Selbſtmordverſuch als
unheilbar wahnfinnig in der am Quai von Paſſy
gelegenen Anftalt des Doktors Blanche untergebradit.
Dort verlebte er achtzehn Monate in rapid zu—
nehmender Geiflesumnachtung, bis ihn furdtbare
Gehirnfrämpfe von feinem Leiden erlöften. Zahl—
reiche teilnehmende Kollegen und Freunde beſuchten
ihn während der erjten Zeit feines Aufenthaltes.
Er jhüttelte den Kopf, ala ihm ihre Karten gezeigt
wurden — „Ich kenne fie nicht!“ Er wollte fie nicht
empfangen. Als ſich einft ein befannter Journalift
meldete, fchleuderte er zornig die Karte fort und
murmelte: „Bel Ami — Bel Ami —“ Mit diejem
Titel fuchte er feiner Beratung gegen die Journa«
litten Ausdrud zu geben. Er ſchrieb und las nicht
mehr und jprad nur noch unzufammenhängende
Worte. Ein einziged Mal nahm er eine Feder und
jehrieb ein paar ſinnlos zufammengeftelte Silben
nieder. Anfangs weigerte er fi), von den Speiſen,
die man ihm vorjeßte, zu eſſen. „Gift — Gift,“
äußerte er argwöhniſch. Im übrigen war er ruhig;
mur bei den Mahlzeiten zeigte er Anfälle von zorniger
Wut. Er ging jehr friedlich jpazieren, arbeitete
jedod niemals im Garten, wie oft erzählt wurde.
Seine Erinnerungsfähigfeit war gänzlich entſchwunden;
er wußte weder, wer er war, noch, wie er früher
gelebt hatte. Als die „Comödie Frangaise* jeine
zweialtige Komödie: „La paix du ménage“ auj-
führte, überreichte man ihm das Buch — er jah
nicht einmal hinein. Sein Verleger, der ihn damals
bejuchte, wollte ihn von der Autorjchaft überzeugen,
Er fträubte ſich lange, plößlich rief er: „Ah — ja —
ja — von mir!” Dann warf er das Bud) haftig
beijeite und jagte: „Nein, nein! Das habe ich nicht
gemacht!” — Bergebens bemühte fi) eine Frau, eine
Schriftftellerin, für die er einft eine Neigung gehabt
hatte, ihn durch Aufmerkjamfeiten zu erfreuen. Sie
wurde niemals vorgelaffen, und als fie ihm einjt
Trauben jandte, wies er fie von fich, indem er un«
aufhörlih wiederholte: „Sie find aus Kupfer!“
Seine Mutter, felbjt jchwer leidend, und jein Bater,
gelähmt und an den Lehnſtuhl gefefjelt, konnten ihn
nie bejuchen, doch die Schwefter jeiner Mutter wich
bis zum letzten Augenblid nicht von jeiner Seite.
Sie hatte ihn ſchon in feiner Kindheit gepflegt,
1104
feinen Sinn für die fo heiß geliebte Litteratur er=
ſchloſſen und oft befruchtend auf die junge Phantafie
eingewirft, die num für immer erlojdden war. A. Br.
Tv
Das höchſte Schriftitellerhonorar. Rudyard
Kipling hat für feine Eiſenbahngeſchichte „Nr. 007"
in der Auguſtnummer von „Scribners Magazine*
das höchſte Honorar erhalten, das jemals einem
Autor gezahlt worden ift. Die kurze Gefchichte zählt
7000 Wörter, das Honorar betrug 1500 Dollars, es
ſchließt jedod alle Rechte buchhändleriſcher Ver—
wertung ein; zwanzig Cents für jedes Wort, das ift,
jagt die amerikaniſche Wochenſchrift „The Critic*,
die Hodwallermarfe der Honorierung. In England
erzielt Kipling nicht jo hohe Honorare; feine Arbeiten
werden von amerikanischen Verlegern erworben, die
dann das Abdrucksrecht für England weiter verfaufen,
x.
Wie ein moderner englifher Schriftiteller ar-
beitet. ©. R. Erodett ſchrieb unlängft dem „New
Illustrated Magazine“, er jei jehr jchwerfällig im
‚ Ausdenten feiner Stoffe und trage eine Geſchichte
oft Monate und Jahre lang im Kopfe herum, ohne
ein Wort zu Papier zu bringen; aber wenn es fi
dann um die eigentliche Niederjchrift handle, jo
arbeite er rapid. Ein Befucher des Schriftitellers
in deſſen Heim zu St. Andrews macht darüber an«
ziehende Mitteilungen. Grodett hat zwei Schreib-
maſchinen von ungewöhnlihem Format und be—
jonderer Peiftungsfähigfeit, die er ih eigens hat
bauen lafjen, jede um 500 Dollars, und er arbeitet
damit blitzſchnell. Während er mit der Schreib»
maſchine feine Erzählung ausgeftaltet, Tiebt er es,
zugleid an der allgemeinen Unterhaltung einer ganzen
Menge im Zimmer Anmwejender teilzunehmen. Er
fegt fi) jhon morgens um fünf Uhr an die Arbeit;
bis zum Frühftüd um neun hr pflegt er bereits
5000 Wörter gejchrieben zu haben. Niemals, urteilt
der Befucher, habe er einen ſolchen Mann gejehen ;
er jcheine geradezu unerſchöpflich an Geftaltungstraft
und fei jedenfalld nicht zu ermüden. Sechs Fuß
und drei Zoll groß und 280 NIS rn R er fo
2ofe Blätter.
flint wie eine Katze. Man darf daraus freilich nicht
jchließen, daß ein großer, ftarfer Mann immer ſchon
deshalb Teiftungsfähiger fein müßte als andre. So
war zum Beifpiel Littre, der große franzöſiſche Lerilo:
graph, ein Meines, dürres Männchen, aber er arbeitete
doch an feinem Wörterbuch noch viel angeftremgter
ala Grodett, von der Morgendämmerung bis in die
Nacht hinein; nur bei feinen haftigen Mahlzeiten lieh
er fich einige Augenblide Ruhe; für förperlihe Er—
holung gönnte er ſich feine Zeit, denn ſelbſt bei den
fpärlihen Spaziergängen dachte er beftändig an jein
Wörterbudd. Und dabei wurde er achtzig Jahre alt.
Grodett dagegen hat ebenfoviel Zeit zur Erholung
wie zum Arbeiten; er widmet ſich mit Leidenihait
und Ausdauer dem fchottifchen Nationaljpiel mit dem
Treibball auf den Feldern bei St. Andrews; wie ein
Wirbelwind jauft er über die fünf engliichen rg
des Spielplatzes hinweg.
Geniehen Büdhertitel gr Schutz des geiftigen
Eigentums? Wie jeder Schriftiteller weiß, ift es
gar nicht jo leicht, einen guten, zugfräftigen Titel zu
finden, und es giebt feine größere Verdrießlichleit,
ald wenn man einen paflenden Titel gefunden zu
haben glaubt und dann erfährt, daß er ſchon gebraudt
worden ift. In vielen Fällen aber läßt fih gar
nicht mit Sicherheit herausbringen, ob ein Titel neu
ift oder ſchon verwendet. Die amerifanifche Zeit
ichrift „The Critic* wirft die Frage auf: Wenn ein
Buch vergefien und verſchollen ift, gleichſam tot, fann
jein Verfaſſer die Klage auf Schuß feines geiftigen
Eigentums erheben gegen einen andern Autor, der
für ein neues Buch den bereit3 abgejtorbenen Titel
wieder belebt? Der Fall ift wohl nicht nur in Ame⸗
rifa vorgelommen, daß ein Schriftitellee von hervor
ragender Geltung bei der Veröffentlichung eines neuen
Merts fi den Vorwurf gefallen lafjen mußte, dab
defjen Titel bereit3 von einem andern in Beſchlag
genommen jei. „The Critic* hält die Sade für
wichtig genug, daß Buchhändler und Schriftiteller ſich
förperjhaftlih darüber ausſprechen, ob die Titel
geiſtiges Eigentum feien, und wie ein Schub dafür
I Tefaeieht werden fönne, Ss.
Der Yahrgang 1898 diefer Zeitfchrift wird mit
„»aris“ von EGmile Bola
eröffnet.
Diefem Werke lafjen wir unmittelbar
„Die Hfüße der Jamilie“ von Alphonfe Daudet
folgen.
Wir freuen uns, unfern verehrlichen Lejern wiederum die neueften Werfe der beiden
größten zeitgenöffischen Romanfchriftiteller Frankreichs bieten zu können.
Die Redaktion von „Aus fremden Sungen“.
Berantworilicder Redakteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart. Drud und Verlag ber Deutichen Berlagk-Anflalt in Sluttgart.
Briefe und Sendungen find nur an die Deutſche Yerlags-Iuftalt im Stuttgart — ohne Perfonenangabe — zu richtes.
Gleichheit.
Edward Bellamy.
Aus dem Amerikanifchen überſetzt von M. Jacobi.
(Schluß.)
XXXVI.
Theaterbeſuch im zwanzigſten Jahrhundert.
‚Ss thut mir leid, wenn ich ſtöre,“ ſagte Edith,
„aber in fünf Minuten geht der Vorhang auf, und
Julian jollte doc nicht die erfte Scene verfäumen.“
Auf dieje Ankündigung gingen wir ſogleich in
das Mufifzimmer, wo vier Lehnſeſſel behaglich für
uns zulammengerüdt waren. Während der Doktor
den Anſchluß von Zelephon und Eleltrojfop ber-
richtete, beiprach ich mit den beiden Damen den
Unterfchied zwijchen dem Theaterbefuh im neun—
zehnten und zwanzigiten Jahrhundert, der jo groß
ift, daß bie glüdlichen Bürger der jegigen Welt ihn
fih, bei aller Anftrengung ihrer Phantafie, faum
dvergegenwärtigen fünnen. „Zu meiner Zeit,“ jagte
ih, „waren nur die Bewohner der großen Städte
oder die Befucher derjelben im ftande, den Auf—
führungen guter Schaufpiele und Opern beizumohnen;
der Maſſe des Volks blieb diefer Genuß notwendiger-
weife verfagt und unbefannt. Uber felbjt wer fich
nad den Ortsverhältniſſen eine jolde Erholung
geitatten fonnte, war genötigt, ſich dabei den ab—
icheulichiten Unbequemlichkeiten auszufegen, Gedränge,
Unkoften und Störung des gewohnten Behagens
ließen ſich nidht vermeiden, und man zog es daher
meiſtens vor, zu Haufe zu bleiben, Wünſchte jemand
große Künſtler andrer Nationen zu jehen und zu
hören, jo mußte er jih auf Reifen begeben oder
warten, bis die Künſtler in jeine Gegend famen,
Wie anders das heute ift, brauche ich Ahnen ja nicht
zu jagen. Sie bleiben zu Haufe und jhiden Ihre
Augen und Obren über Land, Wie fern aud eine
menjchliche Wohnung von den Hauptftädten liegen
mag, ja jelbft bis zu dem Luftballon, der im Himmels-
raume jchwebt, biä zu dem Floß des MWächters, dem
die MWetterbeobadhtung mitten im Ozean obliegt, ober
der Eishütte des Polarforſchers — überallbin reicht
die eleftrijche Verbindung und macht es jedem mög-
lich, in Schlafrod und Pantoffeln, wenn es ihm be—
liebt, unter den öffentlihen Bergnügungen zu
wählen, welde an dem Tage irgendwo auf der Erde |
vor fich gehen.
Aus fremden Jungen. 1897. IT. 24.
Spiel gejehen noch ſchlechten Gejang gehört. Das
fommt aber daher, weil jet eine Truppe bor der
ganzen Welt fingen oder jpielen fann, und durch dieje
Möglichkeit alle erbärmlichen Schaufpieler und Sänger
aus der Welt geſchafft worden find. Denn mer bie
beften Künftler jehen und hören fann, findet an
mittelmäßigen Leiftungen fein Vergnügen mehr.“
„Da läutet die Glode, der Vorhang geht auf,”
fagte der Doktor, und im nächſten Augenblid hatte
ich alles über dem Schauſpiel vergeffen, das wir zu ſehen
befamen. Auf die Handlung des Stücks, „Die Ritter
| der goldenen Regel“, brauche ich nicht näher ein-
zugeben, da fie allen wohlbelannt it. Ich erwähne
nur die Thatjache, daB fämtliche Koftüme und Ge»
rätichaften dem neunzehnten Jahrhundert angehörten
und aus der Welt jtammten, wie fie zu meiner Zeit
geweſen war. Ein paar Anachronismen und Un—
genauigfeiten, bie mir auffielen, find fpäter von der
Theaterleitung auf meinen Rat verbeilert worden.
Vom eriten Augenblid an hatte ic) aber während
der Voritellung meine gegenwärtige Umgebung gänz«
lich vergeiien, und das ift wohl der befte Beweis für
die Nichtigkeit der Wiedergabe im allgemeinen, ch
ſah mic) einer Gruppe meiner lebendigen Zeitgenoſſen
gegenüber; Männer und frauen waren gefleidet,
wie ich fie von jeher gefannt, und glichen in Sprache
und Benehmen genau den Leuten, mit denen ich
noch vor wenigen Wochen verfehrt hatte, Ihre
Leidenſchaften und Vorurteile, ihre Sitten und jelbit
die alltäglidhften Gewohnheiten hatte der Verfaſſer
des Stüds jo genau zur Daritellung gebracht, daß
mich diefe Heinen Züge noch mehr anheimelten alt
die Aehnlichfeit im großen und ganzen. Das einzige
Gefühl, welches mich binderte, mir vorzuftellen, das
ic; einem Schauſpiel des neunzehnten Jahrhumderts
beiwohnte, war ein verwirrte® Erftaunen darüber,
dab ich jo viel mehr von dem Ausgang der fozialen
Ummälzung wußte als die handelnden Perſonen;
denn dieſe jpradhen von dem Umfturze, als fei er erit
in der Entwidlung begriffen.
Als der Vorhang nad dem erften Alt fiel, blidte
Sie jelbjt haben weder jchlechtes | ich mich um und ſah Edith, ihre Mutter und ihren
139
1106
Vater neben mir im Muſilſaal fißen.
Schlage fühlte ih mid in die Wirklichkeit meines
gegenwärtigen Dafeins verjegt. In der früheren Zeit
Edward Bellamn.
Mit einem ı Durhführbarfeit überzeugt waren, vor ber unüberjche
|
baren Verwirrung und Echwierigfeit zurüdichredten,
die nad ihrer Meinung von dem Uebergang ums
meiner Laufbahn im zwanzigften Jahrhundert würde | zertrennlich war. Natürlich benugten die Kapitaliften
eine ſolche Erjchütterung mir ficherlih die Sinne
verwirrt haben; aber jet ſtand ich ſchon zu feft auf
den Füßen, um etwas derartiges zu befürchten,
Während der übrigen Aufzüge erhöhte das Bewußt⸗
jein meines wunderbaren Geſchicks, das mid) zwei fo
weit außeinanderliegende Zeitalter miterleben lieh,
meinen Genuß an dem Spiel nur auf ganz un«
beichreiblicdhe Weiſe.
Nachdem der Vorhang gefallen war, blieben wir
nod im Geſpräch über dad Stüd und viele andre
beifammen, bis die Kugel der Farbenuhr vom Grün
ins Weiße überging und und mahnte, daß e8 Mitter-
nacht jei. Die Damen zogen ſich zurüd und ließen
mich mit dem Doktor allein.
XXXVI.
Die Uebergangsgeit.
„Es ift zwar ziemlich ſpät, aber doch möchte ich
Ihnen gern no ein paar fragen über die große
Ummälzung vorlegen,” jagte ih. „Trotz allem, was
ih ſchon geliehen und gebört habe, bin ich noch außer
ftande, mir vorzuftellen, auf welche Weiſe der Ge-
famtbefig aller an Stelle des Privatfapitalismus
eingeführt worden fein fann, ohme daß Gewalt
maßregeln nötig wurden, und ein furdhtbarer Aufruhr
losbrach. Wir hatten in unjern Tagen ſehr geſchickte
Ingenieure, denen es ein Leichtes war, große Ge—
bäubde von einem Standort auf einen andern zu ver-
feßen, ohne die Bewohner während des Transports
zu beläftigen, jo daß fie ihre täglichen häuslichen
Verrichtungen ununterbrochen jortjegen fonnten. Eine
ähnliche Aufgabe, die jedoch millionenmal größer
und verwidelter war, muß entitanden fein, als es
galt, die Grundlage aller Produftion und Güter
verteilung gänzlich umzuwandeln. Sämtliche Ber
dingungen, auf denen Geſchäft und Unterhalt eines
jeden berubte, wurden plößlid; verändert, während
gleichzeitig die verfchiedenen Teile des wirtſchaftlichen
Mechanismus in ihrem Lauf nicht gejtört werden
durften, da die Erhaltung des Volta von Tag zu
Zage hiervon abhängig war. Es würde mic) höchlich
intereffieren, wenn Sie mir erflären wollten, wie man
das möglich gemacht hat.”
„Ihte Frage,“ erwiderte der Doktor, „entfteht
aus demjelben Gefühl, welches das Volk zur Zeit der
Ummälzung in hohem Grade beeinjlußte, Troß der
wadhjenden Empörung gegen den Privatkapitalismus
fuhr man fort, ihn zu dulden, weil ein vollftändiger
Wechſel des Syftems als ein jo ungeheures und ges
wagtes Unternehmen erſchien, daß ſelbſt viele, welche
die neue Ordnung heiß erſehnten und feſt von ihrer
und alle Verfechter des Beſtehenden dieſe Stimmung
zu ihrem Vorteil, Sie forderten die Reformatoren
auf, ihnen doch die bejonderen Maßnahmen zu nennen,
welche fie anwenden würden, jobald fie die Gewalt
in Händen hätten, um an Stelle des gegenwärtigen
Syſtems eine Nationalinduftrie einzuführen, deren
Ertrag allen gleihmäßig zu gute fommen würde.
„Eine Partei der Neuerer lehnte jede Aufftellung
eines Programms für die Entwidlung und Vollendung
des Umfchwunges rundweg ab. Wenn die Krifis ein-
träte, fagten fie, würde ſich die Methode der Ause
führung ſchon von jelbft ergeben; es fei thöricht und
zwedios, jede Möglichleit im voraus zu erwägen.
| Diejer Beicheid fonnte natürlich die Gemüter nicht
beruhigen. Jeder gute General macht fich vorher
\ feinen Feldzugsplan, obwohl er weiß, daß er ihn
unter Umftänden wejentlih verändern oder aud
gänzlich aufgeben muß. Es war daher den ängfl-
lichen und fonjervativen Leuten nicht zu verübeln,
wenn fie jo ungewifien Reformvorichlägen mit Mik-
trauen begegneten.
„Andre Reformparteien erfannten denn aud bie
Notwendigkeit, einen beflimmten Sclachtplan auf
juarbeiten. Nah dem einen Entwurf jollten die
Gewerkvereine ſich zujammenjhließen, bis fie die
Aufiht und Verwaltung aller großen Geſchäfte in
Händen hätten, und dann Beamte nad) ihrer Wahl
anjtellen, ſtatt der Kapitaliften. Hätte diefer Plan
berwirflicht werden lönnen, jo würde ein Gruppen
fapitalismus entftanden jein, der im weiteren Sinne
eine ebenjo trennende und antijoziale Wirkung ge
habt hätte wie der Privatlapitalismus felbft. Aber
ber Gedanke wurde bald aufgegeben, da ſich heraud-
fteflte, dab ein Bund ber Gewerfvereine überhaupt
nur eine jehr bejchränfte Machtvolllommenheit be
figen würde.
„Bon andrer Seite wurde der Vorſchlag gemadit,
eine Anzahl freiwilliger Kolonien mit fooperativen
Einrihtungen zu gründen. Dieje jollten durch ihr
Gedeihen zur Bildung von immer mehr Stolonien
aufmuntern, die zuleht, wenn der größte Teil der
Bevölterung ſich ihnen augeſchloſſen hätte, einfach
jufammenfließen und ein Ganzes bilden würden.
Viele edle und begeifterte Seelen widmeten ſich dielen
Beftrebungen. Die zahlreihen Kolonien, welde in
den Vereinigten Staaten während ber Periode det
Umſchwungs entftanden, lieferten den offenfundigen
Beweis, wie jehr fih aller Menſchen Herzen nad
einer beiieren Gejelljhaftsordnung jehnten. Senf
aber führten diefe Verſuche zu feinem Ergebnis, wie
ſich das von ſelbſt verftand. Wirtſchaftlich zu ſchwach.
2,
Gleichheit.
nur der gleichen Gefühlsrichtung entiprungen, konnten
ſich dieſe Vereinigungen meift jehr waderer, aber
ihwärmeriicher Leute inmitten einer feindlichen Welt,
die über alle fozialen und wirtf&haftlichen Vorteile
verfügte, nicht behaupten. Ein ſolches Unternehmen
hätte überhaupt nur unter einem hervorragenden
Führer oder den günftigften Umftänden ein prafs
tiſches Ziel zu erreichen vermocht. Eine dritte Partei
behauptete, die befjere Ordnung werde allmählich
aus den alten Einrichtungen hervorgehen, wenn nur
verjhiedene menfchenfreundliche Verbeſſerungen eins
geführt würden. Durch fyabrifgejeße, verkürzte Ar—
beitäftunden, Altersverſorgung, gute Arbeitermoh«
nungen, Bejeitigung der Schmutzhöhlen und eine
Menge ähnlicher Notbehelfe hoffte man den bejonderen
Uebeln zu fteuern, die der Privatkapitalismus er-
zeugt hatte. Wenn dann in einer unbeftimimten,
fernen Zeit alle böjen Folgen des Kapitalismus
vernichtet wären, würde es, jo meinte man, ver—
bältnismäßig leicht jein, den Kapitalismus jelbft
abzuſchaffen. Das heißt, man mollte die faulen
Früchte des böfen Baumes eine nad) der andern
von den Aeſten pflüden und zuleßt erft den Baum
jelber fällen. Als ob nicht, jolange der Baum ftand,
die böje Frucht ebenfo jchnell wieder wachjen würde,
wie man fie abgepflüdt hatte.
„Diele, jowie eine Menge andrer Maßregeln,
welche die NReformatoren zur Berbeflerung der Zus
ftände vorjchlugen, waren in ihrer Art gewiß vor-
trefilich, aber feineswegs außreichend, um ben Kapi-⸗
talismus zu zerjtören. Davon waren fie weit ent
fernt; im Gegenteil, fie verhaljen dem Kapitalismus
wahrjcheinlich zu einer längeren Lebensfrift, weil fie
ihn etwas weniger verabjcheuungswert machten. Nach—
dem die Umfturzbewegung jchon bedeutend fort«
geihritten war, fam wirklich eine Zeit, in der be=
fonnene Führer die Befürchtung Hegten, fie möchte
wieder von ihrem wahren Ziele abgelenft und alle
Kraft in ſtückweiſen Reformen vergeudet werden.
„Sie fragen, auf welche Weile die Männer der
neuen Ordnungden Privatfapitalismuszulekt doch noch
ftürzten, als fie endlich die Macht gewonnen hatten?
Ich will es Ihnen jagen: fie führten ein militärijches
Manöver aus, das in der Kriegsgeſchichte häufig
vorfommt; man nennt es dem Feind ‚in die Fylante
fallen‘. Durch eine ſolche Flanlenbewegung umgeht
eine Armee ihren Gegner auf einer Seite, ftatt ihn
geradezu in der Front anzugreifen, und nötigt ihn
ohne Schwertjtreich, feine Stellung aufzugeben. Ganz
diefelbe Kriegsliſt wendeten die yührer der Bewegung
gegen die Rapitalijten an, ala es fih um die leßte
Enticheidung handelte.
„Die Kapitaliften hatten es für jelbftverftändlich
gehalten, daß man ſich mit Gewalt ihrer Güter be=
mächtigen würde. Davon war aber feine Rede. Der
1107
gemeinfame Befig wurde erſt an die Stelle des
Privateigentums geſetzt, als das ganze Syften des
Kapitalismus durchbrochen und zerfallen war —
um es zu jürgen, bediente man fid) andrer Mittel.
Wie bei der vorhin erwähnten Flanlenbewegung
griff die Revolutionsarmee die Feſtung des Kapi-—
talismus nicht direft an, jondern mandvrierte jo, daß
fie zur Räumung gezivungen wurde, weil fie ſich
nicht länger zu halten vermochte.
„Sie dürfen aber nicht glauben, daß man dies
Verfahren aus Rüdfiht gegen die Anſprüche der
Rapitaliften einſchlug. Das Volk hatte ſich längſt
gewöhnt, im Privatfapitaliämus die Quelle und den
Inbegriff aller Schlechtigkeiten zu jehen,; es war
überzeugt, daß die Menichheit fich jeden Tag einer
Todfünde jchuldig machte, an dem fie ihn nod
buldete. Wenn die Männer des Umſturzes nicht
direft zum Angriff jchritten, jo geſchah das nur im
Intereſſe des Volles, und um deilen wirtfchaftliche
Angelegenheiten während des Uebergangs der alten
zur neuen Ordnung jo viel wie möglich vor ernftlichen
Störungen zu bewahren.
„Und nun will ich Ihnen einfach erzählen, was
geſchah — das Heißt, inſoweit mir die Sade noch
erinnerlich ift. Ich habe mich jeit meiner Schulzeit
nicht wieder eingehend mit ber Umfturzperiode be
ihäftigt, und wenn Sie jpäter die Geſchichte nach-
lefen, werden Sie vielleicht finden, daß ich mid) in
betreff der Einzelheiten öfters geirrt habe; ich will
Ihnen nur, jo gut id) fann, eine Vorftellung von dem
allgemeinen Verlauf der Ereigniffe geben: Der erfte
Schritt, den die Gegner de Privatfapitalismus
thaten, befland wie gejagt darin, daß fie das Volt
dazu braten, gewille öffentliche Veranftaltungen zu
monopolifieren und zu verftantlichen. Died waren
meiſt Einrichtungen wie: Wafjerleitung, Beleuchtungs⸗
werte, Fähren, Fotalbahnıen, Telegraph und Telephon,
Eifenbahnbetrieb, die Gewinnung von Kohlen und
Petroleum, jowie der Handel mit geiftigen Ge—
tränfen — lauter Saden, deren Verwaltung nicht
direft in da® Syitem der Produktion und Güterver-
teilung im allgemeinen eingriff, jo daß jelbft die
Aengſtlichen und Konjervativen diefen Schritt mit
geringer Beforgnis anjahen. Man konnte aud) in
der That alle derartigen Angelegenheiten in öffent-
lichen Betrieb nehmen, ohne daß damit notwendiger«
weile ein Angriff auf den Privatfapitalismus ver»
bunden war; denn jelbft wenn man dieſe Geſchäfte
in Staat&betrieb übernahm und Die Betriebsfoften vom
Ertrage dedte, jo wäre die für die Gemeinſchaft ge-
wonnene Lebenserleichterung fogleich wieder durch die
Beſchränkung der Löhne und Preiſe zu michte gemacht
worden, welche von der gewiſſenloſen Konkurrenz des
Profitſyſtems unzertrennlich war.
„Wenn daher die Gegner des Kapitalismus die
1108
Öffentliche Verwaltung ſolcher Geſchäfte begünftigten,
fo verfolgten fie damit einen andern Zwed, Sie
wollten dem Volle die größere Einfachheit, Wirf-
jamfeit und Menfchenfreundlichteit der öffentlichen
Verwaltung, im Bergleih zum Privatbetrieb, bei
wirtichaftliden Unternehmungen zeigen. Zugleich
aber jollte durch dieje teilweife Berftaatlichung eine
Anzahl öffentlicher Arbeiter vorgebilbet werden, bie
ala Konſumenten auftreten konnten, jobald die Re—
gierung das allgemeine Syſtem der Produktion und
Güterverteilung ohne Privatgewinn einführen wollte.
Die Arbeiter der verftaatlichten Eijenbahnen allein
beliefen fich auf nahezu eine Million, und wenn
man ihre Frauen und finder dazu rechnete, waren
es etwa vier Millionen Leute, In den Kohlen» und
GEifengruben und den Gewerlken, die, ald zum Eijen-
bahnbetrieb gehörig, von der Regierung übernonmen
waren, zählte man zufammen mit den Arbeitern auf
den Telephon= und Telegraphenftationen, die gleich-
falls im öffentlichen Dienit ftanden, und ihren An—
gehörigen wieder einige hunderttauſend Perionen.
Schon früher hatte die Regierung etwa zweihundert-
fünfzigtaufend Angeftellte im Zivildienſt gehabt;
dazu lieferten Heer und Flotte noch weitere fünfzig—
taufend. Dieſe beliefen ſich mit ihrem ganzen Anhang
fiherlih auf eine Million Köpfe. Nechnet man
hierzu die erwähnten Arbeiter aus dem Eiſenbahn-,
Bergwerlö» und Telegraphenbetrieb, jo erhält man
ungefähr fünf Millionen Geute, die im Dienfte der
Nation jtanden. Außer diefen gab es aber nod) in
den verichiedenen bürgerlichen Körperſchaften öffent-
liche Beamte aller Grade, von den Gouverneuren der
einzelnen Staaten biß herunter zu den Straßenfegern.”
Die öffentliden Warenlager.
„Sobald die Umfturzpartei zur Macht gelangte
und von ber Vollämehrheit den Auftrag erhielt, die
neue Ordnung einzuführen, richtete fie zuerjt in allen
bedeutenderen Städten öffentliche Warenlager ein,
wo die Urbeiter ſämtliche Lebensbebürfnifie und
Lurusgegenftände, die jie bisher in Privatläden ge»
fauft hatten, zum Selbitkoftenpreije geliefert erhielten.
Das fonnte niemand überrafhhen, da der Gebante
nicht ganz neu war. Schon früher pflegte die Re—
gierung für gewilfe Lebensbebürfnifie der Matrojen
und Goldaten durch Niederlagen zu jorgen, in
welchen alle Vorräte von befter Beichaffenheit waren
und genau zum Herftellungspreife abgegeben wurden.
Die Waren ftanden in betreff der Billigfeit und
Güte in feinem Vergleich zu irgend einem Xrtitel,
den man anderdwo faufen fonnte, und die Soldaten
wurden um ihres Vorrechts willen vielfach von den
Ziviliften beneidet, welche ſich mit den verfälichten
Waren der gewinnfüchtigen Krämer begnügen mußten.
Die neuen Niederlagen, die jeßt von der Regierung
Edward Bellamp.
eröffnet wurden, übertrajen jedoch an Vollſtändigleit
alle ähnlichen Einrichtungen aus früherer Zeit, da
fie allen Bebürfniffen einer Bevöllerung genügen
follten, welche eine Nation im Heinen darſtellte.
„Die Waren für dieje Kaufhäuſer bezog die Verwal-
tung notwendigerweile anfangs von den Privatfapi-
talijten, den Produzenten und Großhändlern. Dabei
erjparten die Arbeiter im öffentlichen Dienit ſchon
den Profit des Zwiſchenhändlers und Kleinkrämers.
Sie befamen die Saden vielleicht zur Hälfte oder zu
zwei Dritteln des Preiſes geliefert, den fie im Laden
hätten zahlen müfjen; überdies fonnten fie ſich darauf
verlafjen, daß die Beihaffenheit der Waren einer
jorgfältigen Prüfung unterlag, Sehr weienilid
wurden dieje Vorzüge noch erhöht, als die Regierung
auch die Güterverteilung in die Hand nahm und
fo raſch wie möglid dazu überging, die Produlte
jelbft zu erzeugen, fiatt fie vom den Kapitaliften zu
faufen.
„Zu dieſem Zwed wurden große Tandwirtidaft-
liche Betriebe und Baummwollpflanzungen in allen
Gegenden bes Landes angelegt und zablloje Fabriken
gegründet, jo daß die Regierung bald nicht allein
die urſprünglichen fünf Millionen, jondern wohl
noch einmal jo viele Landwirte, Handwerker und
Arbeiter aller Art in ihrem Dienft beichäftigte. Diele
hatten natürlich alle den Anſpruch, aus den öffent
lihen Warenlagern verjorgt zu werden, und man
mußte die Einrichtungen dementfprechend erweitern.
Die Käufer in den öffentlichen Warenlagern eriparten
nun nicht allein den Profit der Zwiſchenhändler und
Krämer, jondern aud) den der Fabrikanten, der
Produzenten und die Koſten der Einfuhr.
„Aber dieſe Kaufhäufer verforgten die Angejtellten
nit nur mit dem ganzen Bedarf für ihren Lebens—
unterhalt, auch andre Erfordernifie wurden berüd
fihtigt. Die Regierung ließ Küchen, Wafchanftalten,
mandherlei Aushilfe für Die Hausarbeit und dergleichen
einrichten, alles ausſchließlich zur Benutzung für die
im öffentlichen Dienft jtehenden Arbeiter, denen nur
die Betrieböfoften angerechnet wurden. Sie fomnten
nım daheim oder in einem Gaſthaus die vor
trefflichiten Speifen genießen, die nicht nur aufs
jorgfältigfte zubereitet, fondern auch weit billiger
waren ala die grobe Koſt, mit der ſich die Leute
früher begnügen mußten.“
„Wie verſchaffte fih aber die Regierung bie
Ländereien und Fabrilen, deren fie bedurfte?“ fragte
ich, Kaufte fie Aeder und Felder von den Befigern
und baute fie die Fabriken?”
„Das hätte fie natürlich thun können, aber es
bedurfte deſſen gar nicht. Millionen Landwirte waren
nur zu froh, ihre Güter an die Regierung abzutreten
und eine Anftellung zu erhalten, welche ihnen einen
geficherten Lebensunterhalt für ſich und die Jhrigen
Gleichheit.
verbürgte. Auch übernahm der Staat alle noch un»
benußten Ländereien, die fi für den Anbau eigneten,
‚und entihädigte die Befiger durch Steuererlaf.
„Aehnlich verfuhr man mit den Fabriken und
Warengefchäften, deren das nationale Syſtem be-
durfte. Zaufende der verjchiedenften Betriebe in
allen Teilen des Pandes ſtanden fill inmitten einer
bungernden Bevölferung von Arbeitslofen. Sie
wurden in Beſitz genommen, in Thätigfeit geſetzt und
die früheren Arbeiter darin beichäftigt. Auch bie
Inipeftoren und Werfführer traten meift mit Freuden
wieder in die alten Stellungen ein, nun die Nation
ihe Arbeitgeber war, Den Befigern ſolcher Fabrilen
wurde, wenn ich mid) recht erinnere, eine Summe
ausgeſetzt, welche einem niedrigen Zinsfuß entſprach,
und die fie zur Entihäbigung für den Gebraud)
ihres Eigentums bis zur vollftändigen Durdführung
der neuen Ordnung erhalten jollten. Nach dieſem
Zeitpunkt verbürgte die Nation allen ihren An—
gehörigen gleihmäßig den Lebensunterhalt, und nie
mand zweifelte Daran, daß es jehr bald jo weit fommen
würde. inftweilen aber waren die Befiter der
toten Geſchäfte glüdlich, irgend etwas für die Bes
nugung berjelben zu erhalten. Um die öffentlichen
Raufhäufer ausjuftatten, bedurfte man auch einer
Maſſe ausländijcher Artikel, an denen gleichfalls die
Zahlung des Profits der Kapitaliften erfpart werden
ſollte. Die Regierung brachte zu diefem Zweck alle
unbenußt liegenden Schiffe an ſich, lie neue bauen,
foviel fie brauchte, und betrieb den überſeeiſchen
Handel jelbit. Sie führte Die Erzeugnifje der ſtaat—
lichen Inbuftriearbeit in fremde Länder und brachte
dagegen die notwendigen auswärtigen Waren zurüd,
Auch zogen ganze fylotten, welche die Flagge der
Nation trugen, auf den Fiſchfang und kamen mit
dem Ertrag des Meeres wieder heim. Balb war
die Zahl diejer friedlichen Handelsjchiffe weit größer
als die Kriegsflotte, welche bis dahin allein als Be—
vollmächtigte der Nation gegolten hatte. Auf diefen
Schiffen war der Seemann fein Slave mehr.“
Wie das Geld jeinen Wert verlor,
„Und nun wollen wir noch eine andre Seite des
neuen Handelsſyſtems betrachten: Die öffentlichen
Raufhäufer nahmen gar fein Geld mehr an; man
bediente fih einer Art Zettel, die nur furze Zeit
Gültigkeit behielten und nah dem Gebraud ver-
nichtet wurden. Gegen Ddieje durfte der öffentlich
Angeftellte jein Geld, das er ald Lohn erhielt, al pari
eintaufchen. Die Regierung teilte ſolche Zettel nur
an ihre Angeitellten aus, während jie in den Kauf:
häuſern von jedem, der fie vorzeigte, an Zahlungs»
ſtatt angenommen wurden, jolange der Gefamtbetrag
nicht den ausgezablten Lohn überjtieg, worauf man
ftreng achtete. Auf dieſe Weife famen die Zettel
1109
in Umlauf und erhielten einen vielhundertfad)
höheren Wert als das Geld, für weldes man nur
die teuren und verfälichten Waren, faufen konnte,
die in den noch übrig gebliebenen Geſchäften der Kapi-
taliften feilgeboten wurden. Das früher vergötterte
Gold, das man ala Zahlungsmittel für unvergäng-
lich gehalten hatte, wurde in den Kaufhäufern ebenfo
wenig angenommen wie Silber, Kupfer oder Bapier-
geld, und die Leute, welche die befte Ware zu haben
wünjchten, priefen ſich glüdlid, wenn fie einen ber
Öffentlichen Arbeiter trafen, der thöricht genug war,
für drei oder vier Dollars in Gold einen Dollarzettel
herzugeben.
„Zu dieſer Entwertung des Geldes beim Einkauf
fam noch der. Umſtand, daß e8 von der immer wadh-
fenden Zahl der Menfchen, die im öffentlichen Dienft
ftanden, bald gar nicht mehr gebraucht wurde, Auch
wollte niemand mehr Geld entlehnen zum Zwechk einer
etwaigen Erweiterung jeines Geſchäfts, da es ja auf
der Hand lag, daß für das Privatfapiral bald fein
Feld der Unternehmungen mehr vorhanden jein
würde. Geld aufjujpeichern fiel aber erft recht feinem
mehr ein, denn es ließ fich deutlich vorausjehen, daß
es über furz oder lang ganz wertlos fein mußte.
Hatte man im Anfang der Umfturzperiode noch jein
Geld gegen Zetiel umtaujchen fünnen, wenn auch
mit ungeheurem Verluft, jo hörte das jpäter ganz
von jelbft auf; der Wert des Geldes ſank, wie ge—
jagt, zufehends, und e8 war bald zu gar nichts mehr
nüße.
„Wenn Sie den vollftändigen Verfall des ganzen
alten Geld- und Finanzſyſtems begreifen wollen, jo
brauchen Sie ſich nur vorzuftellen, welhen Einfluß
es zu Ihrer Zeit auf alle Verhältniſſe gehabt haben
würde, wenn ſich die beftimmte und nicht zu be=
zweifelnde Nachricht verbreitet hätte, daß die Welt
innerhalb weniger Wochen oder Monate untergehen
würde. Im vorliegenden Falle war zwar von feinem
Untergang der Welt die Rede; fie jollte im Gegen-
teil neu verjüngt werden und in einen Zuftand viel
böberer, glüdlicherer und fräftigerer Entwidlung ein»
treten, aber das Geldiyftem und alles, was damit
zulammenhing, war do der Vernichtung geweiht;
denn die neue Welt brauchte fein Geld, und es diente
ihr nicht mehr zum Maßſtab für alle Anſprüche und
Berhältniffe der Menſchen.“
„Wenn das Geld aber jo ganz wertlo8 geworden
war,” ſagte ih, „können die Steuern des Volls der
Regierung aud nichts mehr eingebradht haben.”
„Steuern,“ erwiderte der Doftor, „waren nur
eine Frucht des Privatfapitalismus und mußten
mit diejem aufhören. Ihr Zweck war gewejen, dem
Staat die Geldmittel zu verſchaffen, um die für die
Gejamtheit nötige Arbeit ausführen zu laffen. Jetzt
arbeitete das ganze Volk für das allgemeine Wohl,
1110
und man bedurfte der Steuern ebenfowenig wie des
Geldes. Je mehr die Volfsarbeit und der Gejamt-
befiß für allgemeine Zmwede verwendet wurden, um fo
mehr nahm die Beiteuerung ab, und als der Um—
fturz vollendet war, fiel fie gänzlich fort,“
Die übrige Bevölkerung.
„Hat denn aber nicht um dieje Zeit, wenn nicht
ſchon früher, die Maſſe des Volks, die noch außer |
halb ftand, aufs lebhaftefte darauf gedrungen, in
den öffentlichen Dienft aufgenommen zu werden, um
Teil an allen Vorzügen zu haben, die er bot?”
„Gewiß war das ihr dringender Wunſch,“ er
widerte der Doktor; „das ließ ſich nicht anders
erwarten. Sie jollten aud Aufnahme finden, jobald
das neue Syftem der Produftion und Güterverteilung |
im vollen Gange war. Für diefen Zeitpunkt wurde |
alles vorbereitet; doch erſt ald er eingetreten war,
wagte es bie Regierung, nicht allein ausgewählte
Gruppen von Arbeitern, jondern alle, die ſich meldeten,
im öffentlichen Dienft anzuftellen. Zu zehn» bis
fünfzigtaufend traten fie dann täglid ein, biß in |
kurzer Zeit das Bolt ald Ganzes allen gemeinjamen
Zweden diente.
„Natürlich wurde jeder, der ein Gewerbe oder
Geſchäft hatte, zuerft auf dem Pla verwendet, an
dem er ſich biäher bethätigt hatte ; durch den bereits
gebräuchlichen Arbeitsaustaufh bejorgte man das
übrige. Später, als alles in Gang gebracht war,
ließen fi) die wünjchenswerten Umänderungen immer
noch bewerfitelligen,“
Wahrſcheinlich wurden doc; bei der öffentlichen
Anftellung die früheren Lohnarbeiter zuerft berüd-
ſichtigt,“ fagte ich. „Die Reihen und Wohlhabenden
find wohl am längfien außerhalb geblieben und
dann — jozujagen — alle auf einen Schub ein-
getreten ?*
„Ganz richtig,” verjeßte der Doktor. „Die An-
geftellten, für welche die Kaufhäuſer eingerichtet
wurden, waren lauter Arbeiter; auch die Landwirte,
Handwerker und Kaufleute, die fpäter famen, ger
hörten zu diefem Stande. Nichts Hinderte aber einen |
Kapitaliften, fich dem öffentlichen Dienft anzujchließen,
wenn er es ala Arbeiter thun wollte, gleichberechtigt
mit den andern. In den öffentlihen Warenlagern
fonnte er nur fo viel faufen, als jein Arbeitslohn
betrug. Sein übriges Geld war dort nicht zu brauchen.
Während der Umfturztage hatten zwar viele Männer
und frauen unter den Reichen, von der allgemeinen
Begeifterung ergriffen, ihre Ländereien und Fabriken
der öffentlihen Verwaltung übergeben und ſich zu
jedem Dienft erboten, den fie zu leijten vermochten.
Der Mehrzahl aber war, wie ſich erwarten lieh, der |
Gedanke, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten und
mit ihren ehemaligen Dienftboten wirtichaftlich gleich-
Edward Bellamn.
geftellt zu fein, feineswegs erfreulich; fie famen erft,
ala ihnen nichts andres mehr übrig blieb.“
„Wurden fie denn ſchließlich gewaltſam dazu ge
nötigt ?*
„Bewahre, wo denken Sie hin!” rief der Dottor.
„Bon irgend welchem Zwang war feine Rede. Nah
und nad) hatte es aber immer größere Schwierigleit,
Leute zu finden, welche perjönliche Dienfte über—
nahmen; auch wurde es ſchließlich zur Unmöglichkeit,
ſich feinen Lebensbedarf anderswoher zu verſchaffen
als aus den Kaufhäuſern und mit den neuen Zetteln
Ehe die Regierung zu der Maßregel jchreiten konnte,
jeden, der ſich bei ihr meldete, anzuftellen, ſuchten
die Arbeitslofen noch bei den Kapitaliften Beſchäf ⸗
tigung. Aber jpäter konnten dieſe niemand auf»
treiben, ber für fie auf den Feldern und den Fabrilen
oder im Haushalt arbeiten mochte. Das entwertete
Geld, welches ihr einziger Beſitz war, hatte nichts
Verlodendes mehr, im Vergleich zu den Vorzügen
des öffentlichen Dienjtes. Auch wußte jedermann,
dab die Zeit der Reichen vorüber war, und ihre
Gunft feinerlet Gewinn brachte. Weberdies wurden
auch bald alle diejenigen vom Volk mit Beratung
angejehen, weldhe ſich dazu erniedrigen mochten,
andern für Geld zu dienen, während fie für die Na-
tion arbeiten fonnten, deren Bürger fie waren. Das
machte die Stellung eines Dieners oder Angeitellten
im Privatdienft vollends unerträglich, wie Sie ſich
leicht vorftellen können. So fanden denn bie uns
glüdlichen Kapitaliften feine Leute mehr, die für jie
‚ kochen, waſchen, ihre Stiefel puben, ihre Zimmer
fegen oder ihre Wagen kutſchieren wollten. Sie ge
rieten- in die größte Verlegenheit, wie fie auf den
erbärmlichen Privatmärkten, wo allein ihr Geld noch
etwaß galt, die notwendigiten Lebensbedürfniſſe er-
ftehen ſollten. Auch das wurde bald unmöglid.
Eine Zeitlang ſcheinen fie noch gegen das unbarm«
berzige Geſchick angelämpft und ſich mürrifch im den
Winkeln ihrer vereinfamten Paläfte verborgen zu
haben; endlich aber mußten fie doch ihren früheren
Untergebenen folgen, denn es gab überhaupt fein
Leben mehr, außer im Zujammenhang mit der
nationalen Wirtjhaftsorganifation. Auf jo jchlagende
Weiſe wurde es den früheren Reichen ſchließlich noch
bewiejen, wie abhängig das Kapital von der Arbeit,
welche e3 verachtet und tyrannifiert Hatte, war und
immer gewejen ijt.“
„Und wurde wirflich gegen niemand Zwang ange
wendet, um ihn in den Öffentlichen Dienft zu treiben?“
„Eine gewiſſe Nötigung lag, wie Sie jehen, in
den angeführten Verhältniſſen,“ antwortete der Doktor.
„Aber die neue Ordnung hatte feinen Raum für
wiberwillige Genojjen. Sie jelbft brauchte niemand,
doch jeder bedurfte ihrer, Mer nicht wünfchte, in
den öffentlichen Dienft zu treten, und außerhalb
Gleichheit.
desjelben leben konnte, ohne zu jtehlen oder zu betteln,
dem jtand es frei. Nah den Berichten aus jener
Zeit waren die Wälder zuerft voll von Leuten, die
die Einſamleit juchten, aber einer nad) dem andern
wurde deſſen überdrüffig und fam in das neue, gafl«
freie Haus. Nur wenige Gemeinjchaften blieben noch
jahrelang außerhalb.“
„Aller Widerftand ift jehr gründlich überwunden
worden,“ bemerkte ich, „und doch muß man bei dem
Aufbau no auf manche Schwierigkeit geſtoßen fein,
ichon wegen des von Natur widerjpenftigen Materials,
das es zu bearbeiten gab. Nehmen Sie zum Bei«
jpiel meine eigne Klaſſe, die der müßigen Reichen, die
fein andres Geſchäft fannten als ihre Vergnügungen.
Welche nüpliche Arbeit fonnten ſolche Leute wie wir
wohl verrichten, mochten wir auch noch jo willig ge=
worden fein, der Gejamtheit zu dienen? Wobei hätte
man uns anjtellen jolen? Wir wären überall ein
Hindernis und feine Hilfe gewejen.”
„Das hätte allerdings eine bedenkliche Aufgabe
werden können, wenn die Anzahl jener müßigen
Reichen nicht im Verhältnis zur Bevölkerung nur
gering geweſen wäre. Sie hatten zwar bisher eine
große Rolle gejpielt, aber gegen die Mafje der nüß-
lichen Arbeiter famen fie faum in Betracht. Die
gebildeten unter ihnen — und im allgemeinen waren
fie doch wenigjtens oberflächlich unterrihtet — fans
den Beihäftigung als Lehrer. Natürlich, gute Lehrer
waren fie ja nicht, umd bei der Erziehung konnten
jie wenig helfen, Aber unmittelbar nad dem Um—
ſchwung, als es galt, die Finder und jungen Leute aus
der früheren Armenklaffe zu Millionen von den Fel—
dern und Fabrilen weg in die Schulen zu jchiden,
und auch die erwachjenen Arbeiter dringend nad
einem mäßigen Grade von Bildung verlangten, der
fie befähigte, fih den befferen Lebenszuftänden an—
zupafien, da entjtand überreichliche Nachfrage nad)
allen, die etwas lehren konnten, und wenn es nur
die erften Anfangsgründe waren: Leſen, Schreiben,
Geographie oder Rechnen. Bejonders die Frauen
der ehemals reichen Klaſſe, die meijt gut unterrichtet
waren, widmeten ſich der Aufgabe, bie Rinder bes
Volls, die Erben der neuen Welt weiter zu bilden,
Sicherlich fanden fie bei diejer Beichäftigung in dem
Gefühl, der Menichheit nülich zu fein, mehr wahres
Glüd, als ihr ganzes früheres, leichtfertiges Dajein
ihnen je hatte bieten fönnen. Es gab wirflih nur
wenige Perjonen, bei denen ſich nicht irgend eine
phyſiſche oder geiftige Befähigung entdedte, durch
welche jie, zu ihrer eignen Freude, ihren Mitmenichen
förderlich werben fonnten.”
Die Lafterhaften und die Verbreder.
„Mit einer Klaſſe meiner Zeitgenoſſen,“ fagte
ih, „muß man in der neuen Ordnung doch noch
1111
mehr Mühe gehabt haben als mit den Reichen; ich
meine die Lafterhaften und verbredheriihen Müßig-
gänger. Die Neichen hatten wenigftens Verftand
genug, um feinen Anftoß zu geben; fie hielten es
für Hug, fi) der neuen Ordnung zu fügen und ſich
in das Unvermeidliche zu ſchicken. Mit jenen andern
aber muß doc viel ſchwerer auszulommen geweſen
fein. Wir hatten eine große, überall verbreitete Be—
völferung von Landflreihern, Spigbuben und Ber-
brechern jeder Art, männlichen und weiblichen Ge-
ſchlechts, wie Sie ohne Zweifel wifjen. Zwar mochte
unfre verderbliche Geſellſchaftsordnung dafür ver—
antwortlich fein, aber die Leute waren nun einmal
da, und die neue Welt mußte mit ihnen jertig wer«
den. Völlig entartet und gefährlich wie wilde Tiere,
fonnten fie durch ein Heer von Poliziſten und bie
Macht der Strafgefege nur notdürftig im Zaum ges
halten werben. Sie bildeten jlets eine Gefahr für
Ordnung und Gefeh. Ju Zeiten ungewöhnlicher
Aufregung, und ganz bejonders bei revolutionären
Kriſen, pflegten jie fich in bedrohlichen Maſſen zu
jammeln und zum Angriff zu rüften. Auch während
des Umfturzes, den Sie bejhreiben, haben fie ſich
ohne Zweifel höchſt zügellos benommen,. Was konnte
da die neue Ordnung mit ihnen anfangen? Ihre
gerechten und menſchenfreundlichen Abfichten werben
auf die Glieder der Verbrecherllaſſe ſchwerlich großen
Eindrud gemacht haben. Es waren feine verſtän—
digen Wejen; fie lehnten fich gegen Recht und Sitte
auf, verübten Thaten roher Gewalt und wollten
jelbft unter den günftigften Bedingungen nit von
ihrer Hände Arbeit leben. Derartige Bürger müſſen
für die Nation recht jchwer zu ertragen gewejen jein.”
„Nicht ganz jo ſchwer wie in der früheren Ge—
ſellſchaft,“ erwiderte der Doftor. „Da dieſe ſich auf
Ungerechtigleit gründete, fehlte ihr aller Glorienſchein
und jedes eihiiche Uebergewicht im Verkehr mit den
verbrecheriſchen und gejeplojen Klaſſen. Die Gejell«
ſchaft jelbft ftand verurteilt vor ihmen da, und mit
dem von ihr begangenen Unrecht rechtfertigten fie
ihre eignen Uebertretungen, Die ganze jogenannte
Strafgerechtigfeit wurde dadurch zu Spott und Hohn.
Jeder vernünftige Menſch war überzeugt, dab bie
Verbrecher meift dur Vernachläſſigung und Un—
gerechtigteit auf den Pfad des Laſters geraten waren,
fowie durch die verberblichen Einflüfe einer Um—
gebung, für welche wiederum die verfehrte gejellichaft«
lie Ordnung die Verantwortung trug. Wenn e8
nad) Recht und Gerechtigkeit gegangen wäre, fo hätte
die Gejellichaft, ftatt fie zu verdammen, mit ihnen vor
einem höheren Richterftuhl ericheinen müſſen, um ein
weit jchwereres Urteil über fich ergeben zu laſſen.
Das erfannten auch die Verbrecher im Grunde ihres
Herzens, und die Bewußtjein machte es ihnen une
möglih, das Geſetz zu achten, welches fie fürchten
1112
mußten. Sie fühlten, daß die Gefellihaft, die ihnen
befahl, jich zu befiern, der Beſſerung noch mehr be=
durfte als fie. In der neuen Orbuung war das
ganz anders. Man hatte fih den Ausgeftoßenen
gegenüber feine Schuld vorzumerfen und ſtreckte hilf-
reich die Hände nad) ihnen aus. Das Unrecht, unter
welchem jie in der Vergangenheit gelitten hatten,
ward anerkannt; man ermumterte fie zu einem neuen
Leben in ganz neuen Verhältniſſen und ficherte ihnen
unter den für alle gleichen und gerechten Bedingungen
ihren Anteil an dem jozialen Erbe, Können Sie
ſich eine jo niedrige Natur vorftellen, die nicht ein= |
mal fähig fein jollte, zu verftehen, ob ihr recht ober
‚unrecht geichieht, und ſich in gewiſſem Grade daburd)
beeinfluffen zu lafien ?
„Eine überrafchend große Anzahl von Menfchen,
welche Ihre Zivilifation als verloren aufgegeben
hatte, ergriff. mit Begierde die erſte Gelegenheit,
die ihnen jemals geboten worden war, ehrbare Leute
zu werden. Es gab matürlih auch einen anfehn-
lichen Reit jolher, die zu hoffnungslos verdorben,
au jehr von Geburt an jeeliich verfrüppelt waren,
um noch troß aller Hilfe ein geordnetes Leben zu
führen. Diefe behandelte die neue Gejellichaft zwar
mit Erbarmen, aber auch mit Feſtigleit. In ihrer Mitte
dulden konnte fie weder Verbrecher noch Bettler, wie
das die alte Geſellſchaft gethan hatte, die fein mo—
raliſches Recht bejah, den Diebjtahl zu verbieten und
ben Räuber zu bejtrafen. Ihr ganzes wirtfchaftliches
Spitem berubte ja darauf, daß fich einzelne Perfonen
den Grund und Boden jamt jeinen Früchten und
den Arbeitsertrag der Armen durch Gewalt oder
Betrug aneigneten. Noch weniger hatte fie ein Recht,
den Bettel zu unterfagen oder die Gewaltthat zu
ftrafen, da ihre wirtichaftlihen Einrichtungen förm—
lich darauf angelegt waren, Bettler zu erjeugen und
ben Menjchen zur Gewaltthat zu reizen. Die neue
Ordnung hingegen, welche allen den gleichen , reich—
lien Unterhalt verbürgt, bietet dem Diebe und dem
Räuber feinen Vorwand für ihr Thun, dem Bettler
feine Entihuldigung, dem Gemwaltthätigen feinen
Anlaß. Wenn foldhe Perjonen ihren böjen Lebens—
wandel einem guten und ehrbaren eben vorziehen,
jo Kefern fie dadurch jelbft den Beweis, daß fie für
den menschlichen Bertehr ungeeignet find. Deshalb
Ihritt man in der neuen Ordnung mit reinem Ger
willen dazu, die Yafterhaften und die Verbreiher als
moraliih unzurechnungsfähig zu behandeln. Man
ſchickte fie am geſicherte Orte, wo fie ihr Leben ver—
bringen jollten, nicht zur Strafe oder unter Mühſal
und Beichwerden irgend einer Art, jondern nur mit
ausreichender Arbeit für ihren Lebensunterhalt. Dort
blieben fie, ganz von der Welt abgefondert, und es
war ihnen vollftändig unmöglich gemadıt, ihre Gat—
tung fortzupflanzen, Durch diejes Mittel gelang es
|
Edward Bellamn.
dem Menſchengeſchlecht in der erften Generation nad;
dem Umſchwung, ſich für immer von der Laſt angebomer
Verderbiheit und gemeiner, ererbter Triebe zu be»
freien. Mit der Zeit wurde das Streben, fid von
aller Unreinigfeit zu läutern, immer ftärfer, und io
ift e8 fortgegangen von Generation zu Generation.“
Die farbige Rafſe.
„Zu meiner Zeit,“ bemerkte ih, „war in den
Südftaaten eine befonders jchwierige joziale Aufgabe
für Amerita durch die Befreiung der Negerjfiaven
entftanden, die zum Zeil für die Selbitverantwort-
lichkeit no durchaus nicht reif waren, melde bie
Freiheit mit ſich bringt. Bitte, wollen Sie mir
fagen, welche Stellung man in der neuen Geiellidafte-
ordnung zu dieſer Frage einnahm?*
„Dies Problem, welches jonft eine endloſe Plage
für das amerifanische Volk geblieben wäre, fand
feine jofortige Löfung,* erwiderte der Doktor. „Die
Bevölkerung vonerft kürzlich befreiten Sklaven bedurfte
einer wirtichaftlichen Lebensordnung unter zwar wohl
wollenden, aber feften Bedingungen, Die zugleich
darauf binwirkten, fie geiftig zu heben, zu erziehen
und zu bilden. Dafür war das neue Syftem geradegu
wie geihaffen. Die unter dem neuen Syjtem berr-
chende Zucht und Ordnung, welche nicht auf Gewalt:
maßregeln, fondern hauptſächlich darauf berubte, das
niemand im ftande war, außerhalb diefer Ordnung
zu leben, übte den ſanſten, aber ummiberfich-
lihen Zwang aus, deſſen der befreite Leibeigite bes
durfte. Auch war die allgemeine Erziehung, dıe
Milderung der Sitten, die angenehme Lebensweiſe,
die zugleich mit der wirtichaftlihen Wohlfahrt allen
zu gute fam, ein nocd weit widhtigeres Bildung»
mittel für die farbige Raſſe als für die weiße Be
völferung, welche verhältnismäßig weiter vorgeichritien
war.”
„In manchen Fandesteilen würde ſich aber jeitent
ber Weißen ein ftarfes Vorurteil gegen jedes Suften
erhoben haben, das eine größere Vermiſchung der
Raſſen mit ſich brachte,“ bemerkte ich.
„Andiejem Vorurteil brauchte, wo es bejtand, burd»
aus nicht gerüttelt zu werden. Es handelte ſich mr
um das Wirtſchaftsſyſtem, das mit den jozialen Be—
ziehungen damals jo wenig etwas zu thun hatte wie
jest. Selbjt die induftriellen Zwecke bedingten feinen
engeren Verfehr der Raſſen als in früherer Zeit; dieſt
fonnten fich beim Induftriebetrieb jo volljtändig bon.
einander trennen, als e3 das blindefte Vorurteil mur
irgend für wünjchenswert hielt.”
Wiederllebergang hätte bejdleunigt wer
den fönnen.
„Auf einen Punlt, der die Uebergaugszeit betrifft,
möchte ich noch zurückkommen,“ ſagte ich. „Als die
ot ]
Gleichheit.
Entiheidung eintrat, haben die Rapitalijten, wie Sie
erwähnten, ihr Kapital fejtgehalten und ihre Gejchäfte
folange fortgeführt, als fie noch jemand fanden, der
für fie arbeiten oder von ihnen faufen wollte, Das
lag wohl in der menjchlihen Natur — jedenfalls
in der Natur der Kapitaliften; aber es war auch
zugleich günjtig für den Umfturz. Durch deifen lang»
fameren Verlauf erhielt das neue Wirtſchaftsſyſtem
Zeit, feinen Aufbau zu befejtigen, che es die Laft
auf fich nehmen mußte, die ganze Bevölferung zu
verforgen. Hätten num aber bie Kapitaliften einen
andern Ausweg ergriffen und in dem Augenblid
ihre gejamte Thätigfeit eingejtellt, ald die National-
regierung durch Beichluß der Volfsmehrheit den Um—
fturzmännern übergeben wurde — was wäre dann
geihehen? Die neue Regierung hätte noch feine
Zeit gehabt, auch nur die erften Anfänge des Syſtems
zu ordnen, und die zu löjende Aufgabe wäre weit
verwidelter geworden. Meinen Sie nicht au?”
„Das glaube id) faum,“ erwiderte der Doltor;
„man hätte nur ein raſcheres und jummarifcheres
Berfahren anwenden müllen. Die Regierung wäre
genötigt gewefen, auf der Stelle den ganzen Mecha—
nismus der Induſtrie an fich zu bringen und die
von den Kapitaliften aufgegebene Produftion fort-
zuführen, um zugleich den Unterhalt für die Be-
völferung berbeizufhaffen bis zu dem Zeitpunft,
da die neuen Erzeugnifje benußt werden konnten.
Man würde zur materiellen VBerjorgung der Bevöl—⸗
ferung etwa diejelben Maßregeln ergriffen haben,
wie jie die Regierung gewöhnlich traf, wen durch
Ueberſchwemmung, Hungersnot, Belagerung oder
andre Notjtände plößlich der Unterhalt einer ganzen
Gemeinde gefährdet wurde. Der erfte Schritt wäre
gewejen, die jämtlihen Worräte an Getreide, Klei⸗—
dungsjtüden und Pcbensbedürfniffen jeder Art im
ganzen Lande für den Gebrauch aller zu jammeln.
Bei zivilifierten Nölfern gab es doch immer einen
überſchüſſigen Vorrat folder Bedarfsartifel, die für
mehrere Monate, jelbit für ein Jahr ausgereicht
hätten. Während diefer Zeit fonnte man leicht die
Produktion wieder in Gang bringen, die aus dem
Privatbetriebin die Staatsverwaltungübergehen mußte,
An alle Bürger, die ſich meldeten und ſich in den
öffentlichen Induſtriedienſt flellten, wären An—
beijungen auf Nahrungsmittel und Kleidung aus»
geteilt worden. Auch die fyabrifen, welche die Kapi—
taliften verlaſſen hatten, würde die Regierung jofort
wieder in Betrieb gejegt haben. Jeder, der früher
dort gearbeitet hatte, wäre einfad in jeiner Stelle
geblieben, und den Arbeitslojen hätte man jo rajch
wie möglich VBeihäftigung gegeben. Die neuen Pro-
dulte wären ſodann in öffentlichen Kaufhäuſern ge—
jammelt worden, und der ganze Verlauf würde thats
ſachlich derjelbe geweſen fein, wie ich ihn beichrieben
Aut fremden Jungen. 1897. 11. 24,
1113
babe, nur daß er ſich in viel fürgerer Zeit abgejpielt
hätte. Die Entwidiung wäre vielleicht nicht jo glatt
von ftatten gegangen, wegen der notgedrungenen Eile;
aber man würde jchneller mit dem llebergange fertig
geworden jein. Mir fünnen uns faum vorftellen,
dat das Volk dadurch in größeren Notftand geraten
wäre als bei ben Gejchäftskeifen, melde nad An«
ſicht Ihrer Zeitgenoſſen alle fieben Jahre unvermeib-
lich wieberfehren mußten, und die gegen das Ende
der alten Ordnung unausgeſetzt fortdauerten.“
Die Arbeitälojen.
„Ihre frage erinnert mid) indejjen an einen andern
Punkt, deu ich vergeffen habe zu erwähnen," fuhr
der Doltor fort. „Ih muß Ihnen doch erflären,
auf welche Weile man den Arbeitslofen Beihäftigung
verſchafft hat, bis der Staatsbetrieb in der Indufirie
vollftändig eingeführt war, Das Gewinnſyſtem Ihrer
Zeitgenofjen hatte bie jogenannte Klaſſe der Brotlojen
erzeugt, welde immer anwuchs und während ber
Umfturgperiode nah Millionen zählte. Einerjeits
erleichterte diefe Lage der Dinge die revolutionäre
Propaganda, weil fie den anſchaulichſten Beweis für
die Unfähigleit des Privatlapitalismus lieferte, das
Problem der Volfsernährung zu löfen. Andrerjeits
wurde dadurch der Einfluß, den die Arbeitgeber auf
ihre Angeftellten und die Arbeitjuchenden ausübten,
wejentlich geſtärlt. Durch die Furcht, ihre Beichäf-
tigung zu verlieren, oder die Hoffnung, eine Stelle
zu erhalten, wurden die Arbeiter wie Wachs in den
Händen der Arbeitgeber. Bei den Wahlen zum
Beiſpiel gaben fie ihre Stimmen ab, wie es ihnen
vorgejchrieben wurde. Cine Wahl nad der andern
ward auf dieſe Weife von den Sapitaliften entjchieden,
welche «8 in ihrer Gewalt hatten, den Arbeiter zu
jwingen, gegen feine Heberzeugung zu jlimmen,
„Bei diefer Sadlage ſah fih die Umſturz—
partei genötigt, den Leuten wenigftens vorläufig
Beihäftigung zu verſchaffen, um fie in den Stand
zu jeßen, zu Gunſten ihrer eignen Befreiung zu
ſtimmen; aud mußte fie den Fohnarbeitern ihren
Lebensunterhalt ſichern, wenn fie bei den Privat»
fapitaliften feine Stelle fanden.
„Als die Umfturzpartei zur Macht gelangte,
wurden in den Stauten ber Union verjdiedene
Methoden angewendet, um diejer ſchwierigen Yage
zu begegnen. Die Leute jamt und jonders ohne
Unterſchied bei den öffentlichen Arbeiten anzuftellen,
wie die Regierung früher in ähnlichen Notfällen zu
thun pflegte, das paßte nicht mehr in die neuen Ver—
hältniſſe. Eine eimfichtövollere Methode war er-
forderlih und auch bald gefunden. Gewöhnlich
fiherte der Staat jedem Bürger, der darauf antrug,
die Mittel zum Lebensunterhalt als Lohn für jeine
Arbeit. Mit dem Erwerb aller, die fih an der
140
1114
Arbeit beteiligten, wurden Lebensbedarf und Wohnung
für fie beſchafft. Die überflüffigen Produfte ver—
faufte man zu Marftpreijen und fand ein bejonderes
Abjaggebiet in den Staatögefängnifen, jowie den
Kranken- und Waifenhäufern. Für den Erlös wurden
dann das nötige Rohmaterial und die Einfuhrartifel
angeſchafft. Diejes Syſtem, durd welches der Staat
die jonjt Arbeitslojen in den Stand jehte, gegen-
feitig für ihren Unterhalt zu forgen, während er jich
jelbft nur die Einrichtung und Oberaufſicht vor-
behielt, fam während der Llebergangsperiode in jehr
ausgedehnten Gebrauch und jpielte eine wichtige Kolle
bei der Vorbereitung de& Volls für Die neue Ordnung,
zu der es gewiljermaßen das Voripiel bildete.
„Da der ganze Koftenüberichuß unter die Arbeiter
verteilt wurde, jo erfreuten ſie ih an Orten, wo
der Induftriedienit ſchon ziemlich ausgebildet war,
eines viel befieren Unterhalts als in jeder Privat-
anftellung und hatten daneben nod ein Gefühl der
Sicherheit, das ihren Genuß unendlich erhöhte. Des
Arbeitgebers Macht war gebrochen; er konnte jeine
Untergebenen nicht mehr durch die Drohung ber
Dienitentlaffung jchreden, jobald die fooperative
Arbeit begann, As dann jpäter der Staatsbetrieb
fertig ausgebildet war, ging die frühere Organifation
naturgemäß darin auf.”
Die rauen.
„Wie jtand es denn um die frauen?” fragte
ih. „Haben jie wirflid von Anfang an, wenn jie
förperlich gejund waren, ihre Stelle beim öffent-
lihen Induſtriedienſt gleih den Männern einge:
nommen?“
„Wo die Frauen don außreihend im Haushalt
und der eignen Familie beihäftigt waren,” erwiderte
der Doktor, „nahm man an, daß fie dadurd dem
allgemeinen Wohl genugfam dienten, bis bei ber
neuen gemeinlamen Haushaltung die Notwendigkeit
befondrer Küchen und andrer umftändlicher häuslicher
Einrichtungen für jede einzelne Familie fortfiel. Im
übrigen aber traten die Frauen — unter Berüds-
fihtigung von Ausnahmefällen — mit den Männern
als gleichwertig in den Induſtrieſtaat ein. Wäre
der Umſturz hundert Jahre früher erfolgt, ala die
Frauen nod feinen andern Beruf fannten außer
der Hausarbeit, jo hätte das wohl befremblid) er«
icheinen können; aber zu jener Zeit hatte ſich die Frau
ihon eine Stellung in der Geichäjtswelt erobert, und
als die Immälzung erfolgte, gab es fait feine un=
verheiratete Frau, die nicht ihre regelmäßige Ber
ihäftigung außerhalb des Hauſes hatte, wenn jie
nicht zu der Klaſſe der reihen Müßiggängerinnen
gehörte. Als die neue Ordnung die Thatſache an—
erfannte, dab die Frauen ebenjo berechtigt und
verpflichtet zum öffentlichen Dienſt feien mie Die
Edward Bellamp.
Männer, beftätigte jie den Arbeiterinnen nur die
Unabhängigkeit, welche fie bereit gewonnen hatten,“
„Aber wie ſtand es um Die verheirateten
Frauen ?”
„Zu gewiſſen, oft beträchtlich langen Zeiten waren
Mütter und verheiratete Frauen gänzlich von aler
Zeilnahme an öffentlichen Pflichten befreit. Im
übrigen aber war durchaus fein Grund vorhanden,
warum die verheiratete Frau ein zurüdgezogeners
und nuplojeres Leben führen jollte ala der Mann.
Bei der neuen Geſellſchaftsordnung beitanden die
Frauen jelbit — mehr noch al& die Männer —
darauf, daß fie an den Pflichten und Rechten dei
Bürgertums ihren vollitändigen Anteil erhielten. Die
Männer würden e8 nicht von ihnen verlangt haben,
Um dies zu verjtehen, muß man bedenfen, daB gleid-
zeitig mit der Umfturzbewegung das Perlangen nad
größerer Freiheit im Leben der Frau, nah Er
weiterung ihres Wirfungsfreijes, nach ihrer Gleid-
jtellung mit dem Manne bervorgetreien war. Die
verheirateten jowohl wie Die unverheirateten Frauen
waren ed müde geworden, immer beijeite geichoben
zu werden, und hatten ſich gegen das Uebergewicht
der Männer empört. Wäre bei dem Umſturz nicht
die Gleichheit und Genoffenihaft der Geichledter
eingeführt worden, die ſich die Frauen jchon fait
jelbft erfämpft hatten, jo würden die Männer nidt
auf ihre Unterftügung haben rechnen können.“
„Aber wie wurde ed mit der Sorge für die Kinder,
für den Haushalt und dergleichen?"
„Glauben Sie, man hätte fid) nicht Darauf verlaſſen
tönnen, daß die Mütter die Wohlfahrt ihrer Finder
überwachen würden? Ihre Obliegenheiten im öffent:
lihen Dienft binderten fie daran gewiß nidt. Die
Zujammengebörigleit von Mutter und Sind ver«
bietet der frau aber feineswegs für alle Zeiten die
Ausübung ihrer jozialen Pflichten. Das war audı
in Ihren Tagen nicht der Fall, wenn die Frauen
wohlhabend genug waren, um fich die nötige Hilfe
zu verichaffen. Daß die unbemittelten Frauen, jobald
fie Kinder hatten, ihr unabhängiges Dajein umd
eignes Leben aufgeben mußten, war nur ein Zeichen
von der Unvolltommenheit Ihrer gejellichaftligen
Einrichtungen und feineswegs eine natürliche oder
moraliiche Notwendigkeit. Was aber die Sorgen
für die Hauswirtichaft betrifft, jo nahmen dieſe jebr
bald ein Ende. Als der gemeiniame Haushalt mit
feinen mannigfaltigen Abteilungen und Zweigen des
öffentlichen Dienftes eingerichtet worden war, mußte
die frühere Hausfrau durchaus einen andern Bern
finden, wollte fie nicht müßig gehen.“
Die Wohnungsirage
„Da wir vom Haushalt ſprechen — wie murde
es denn in betreff der Häuſer gehalten?“ fragte ih.
Gleichheit.
„Wie beftimmte man, wer die guten und wer Die
dürftigen Wohnungen haben jollte?”
„Für die große Anzahl,derer, die ſchlecht unter
gebracht waren, befjere Wohnungen zu bauen, war
eine der erſten und, größten Aufgaben der Nation,“
erwiderte der Doltor. „Aber dazu brauchte man
Zeit. Inzwiſchen wurden alle bewohnbaren Häujer,
je nad) Umfang und Annehmlichkeit, abgeſchätzt.
Wer in jeinem früheren Quartier bleiben wollte,
hatte die Miete aus feinem neuen Einfommen als
Bürger zu entrichten. Für eim bejcheidenes Haus
war die Miete jehr gering, aber für eine allzugroße
Wohnung war fie jo hoch, dab niemand fie zahlen
fonnte. Man hätte ja auch einen Palaft der Millio-
näre, zum Beijpiel, ohne ein Heer von Dienftboten
gar nicht bewohnen können, und wo jollte man dieje
bernehmen? Die großen Gebäude mußten baher als
Hotels, Mietshäufer oder für öffentliche Zwede Ver-
wendung finden. Nur wenige jcheinen ihre Wohnung
gewechjelt zu haben, ausgenommen die ganz; armen
Leute, deren Häufer überhaupt unbemohnbar waren,
und die jehr reichen, die unter den neuen Werhält-
niſſen feinen Gebrauch von ihren früheren Wohnfigen
machen konnten.“
Die völlige Durdhführung der wirtihaft«
lihen Gleichheit.
„Ein Punkt ift mir nicht ganz far,“ ſagte ich.
„sn welchem Augenblid fonnte denn ber Staat die
Garantie für den Unterhalt aller Bürger über-
nehmen ?”
„Ich glaube, die Nation hat die VBerjorgung des
ganzen Volles übernommen, als der lehte Reit bes
Privatlapitalismus zuſammenbrach,“ erwiberte der
Doktor. „Bis dahin mußte der Öffentliche Dienjt
noch mit Hilfe von Lohn und Gehalt geregelt. werden.
Nur auf diefem Wege konnte der Plan einer Verjtaat-
lihung der Induftrie allmählich Eingang finden, denn
der größte Teil aller Gejchäfte befand fich noch in den
Händen ber Kapitaliften, und das neue Syſtem mußte
ſich in vieler Beziehung an Beftehendes anlehnen. Das
induftrielle Arbeiterheer wuchs in der Uebergangszeit
mit jo rajender Schnelligfeit von Woche zu Woche,
daß es ganz unmöglich geweien wäre, einen Maßſtab
zu finden, nad) dem die gleiche Verteilung hätte er-
folgen können; ſchon nad) vierzehn Tagen waren
alle Verhältniife verändert. Um aber die Arbeiter
an gleiche Teilung zu gewöhnen, hatte die Regierung,
ſoweit es anging, einen beitimmten Lohn für alle
im öffentlichen Dienft ftehenden feftgejtellt. Da durch
die Abſchaffung des Profits alles billiger geworden
war, konnte fie diefe Neuerung einführen, ohne das
Einfommen irgend eines Angeftellten herabzuſetzen.
„Nehmen wir zum Beiipiel zwei Arbeiter, von
denen der erfte täglich zwei Dollars und der zweite
1115
anderthalb Dollars erhielt. Wegen der niedrigen
Preije in den öffentlichen Kaufhäuſern hätten fie für
ihren Cohn zweimal fo viel faufen können als früher.
Statt daß man nun diefen höhern Wert ſich multiplie
zieren ließ, fo daß der urjprüngliche Unterjchied in
den Einnahmen der beiden Arbeiter ſich verdoppeln
mußie, gab man beiden die gleiche Zulage. Sie
befamen beide mehr, aber der Unterſchied zwiſchen
ihren Löhnen war geringer geworden. Der, welder
früher mehr Geld erworben hatte, durfte ſich auch
nicht über Ungerechtigfeit beffagen, denn er verdankte
die Zulage nicht jeiner eignen Anftrengung, jondern
der neuen Organifation, die ihm nur dasſelbe
ſchuldete wie feinen Gefährten. Als nun die Nation
jo weit fortgefchritten war, daß die gleiche Teilung
vorgenommen werden konnte, bielten fich die Löhne
ſchon fo ziemfich auf derjelben Höhe. Was aber die
großen Einnahmen einzelner Beamten betraf, die zu
dem Lohn des Arbeiters in gar feinem Verhältnis
ftanden, jo wurden fie gleich im Anfang des nationalen
Regiments unerbittlich verkürzt.
„Die größte Neuerung bejtand aber nicht in einer
Ausgleihung der Löhne, jondern darin, dab die
ganze Bevölkerung — die Thätigen ſowohl als die
Alten und Untüchtigen — den gleichen Anteil an
der Produktion des Landes haben jollte. In der
Uebergangsperiode hatte die Regierung gezwungener⸗
maßen ebenjo gehandelt wie die Kapitaliften, das
heißt, fie hatte fich die tüchtigften Arbeiter ausgeſucht
und ji um die Frauen, die Kinder, die Alten, Ge—
brechlichen, Verfrüppelten und Kranken gar nicht
gefümmert. Sobald die Nation aber alle wirtichaft«
lichen Hilfsquellen des ganzen Landes zu ihrer Ver—
fügung hatte, verteilte fie biejelben nad) dem Grundjak,
daß alle menſchlichen Weſen ein gleiches Anrecht auf
Leben, Freiheit und Glück hätten, daß es daher die
Aufgabe der Regierung ſei, dem Wolfe diefe Güter
zu verihaffen und zu erhalten. Zwar hatte jhon
die Unabhängigkeitserflärung dies Prinzip verkündet,
aber es war niemals zur Wahrheit geworden; die
Republik hatte es bisher ſtets verleugnet. Jetzt
wurden alle Erwachſenen, die der Nation nühliche
Dienfte leiften fonnten, veranlaßt, zu arbeiten, wenn
fie die Vorteile des neuen Wirtſchaftsſyſtems genießen
wollten, aber aud) die, welche der Geſamtheit nicht
dienen konnten, erhielten den gleichen Teil von den
Produlten der Nation wie jeder andre. Auch für
die Bedürfniſſe der Kinder wurde geiorgt, jo daß
ihre Interefien nicht mehr durch Vernachläſſigung
oder die Paunen jelbftjüchtiger Eltern gefährdet werben
fonnten. i
„Die erite Folge dieſer Mafregel war natürlich
die, dab alle beichäftigten Arbeiter ein geringeres
Einfommen bezogen al& zu der Zeit, da fie allein
die Vorteile der neuen Ordnung genießen durften.
1116
Aber wenn fie, wie guten Menſchen geziemt, ihren
Sohn früher mit denen geteilt hatten, die auf ihren
Beiftand angewieien waren, dann blieb ihnen jeßt
zum perjönlihen Gebrauch noch reichlich ebenjoviel,
wie fie damals für fi ausgeben durften. Nur die
alleinjtehenden Arbeiter und diejenigen, welche bie
Pflichten gegen ihre Angehörigen vernadpläffigt hatten,
befanden ſich jeßt im Nachteil — aber das hatten
fie aud) verdient. Uebrigens verlor dieſe Trage jehr
ſchnell alle Bedeutung. Eobald die neue Wirtſchafts—
ordnung vollitändig im Gange war, beichäftigte ſich
jeder mit der Verwendung feines eignen Anteils und
hatte feine Zeit, über den der andern nachzudenken.
Natürlih hat die Einführung der wirtichaftlichen
Gleichheit aller Bürger auch dem Dienfthotenverhältnie
ein Ende gemacht — mern dasſelbe überhaupt bis
dahin noch beitanden hatte; denn wenn jemand einen
Dienfiboten halten wollte, hätte er ihm ebenfoviel
bezahlen müflen, wie er im öffentlichen Dienft be=
fam, und das wäre genau jo viel gewejen, wie der
vermeintliche Arbeitgeber jelbjt einnahm — er hätte
gar nichts übrig behalten.“
Die Übrehnung mitden Kapitalijten.
„Kun erflären Sie mir noch eins,“ jagte id.
„AS die Nation ſchließlich alles Land, alles Kapital
und den ganzen VBerwaltungsmechanismus für immer
in Beſitz nahm, wird wohl eine Art Schlußrehnung
ftattgefunden haben. Das Volk mußte ſich doch mit
den Kapitalijten, deren Eigentum verftaatlicht wurde,
auseinanderſetzen. Wie ging das vor fih? Was für
Beitimmungen wurden getroffen ?*
„Das Bolt verzichtete auf eine Abrechnung mit
feinen Feinden,“ erwiderte der Doktor. „Guillotine,
Galgen und Pelotonfeuer haben bei dem Schlußaft
diejer großen ‚Revolution‘ feine Rolle gejpielt. Aller-
dings hat man im Anfang prophezeit, dad Bolt
werde in der Stunde feines Triumphes ftrenge
Rechenſchaft fordern für alle jeine Leiden; als aber
diefe Stunde fam, da flammte in den Herzen der
Menſchen die Begeifterung jo mächtig auf, daß fie
allen Haß und alle Rachſucht verzehrte, Nein, nie
mand verlangte eine Abrechnung — das Volk hat
alles vergeben!”
„Dottor,* jagte ih, „Sie. haben meine Frage
zur Genüge, ja ic möchte jagen mehr als genügend
beantwortet; aber ihren Sinn haben Sie doch falſch
verftanden. Sie dürfen nicht vergeifen, da meine
Begriffe und meine Moral noch die eines gewöhnlichen
Kapitaliſten aus dem Jahre 1887 find. Ich wollte
eigentlic) fragen, welche Entihädifung denn die Kapi⸗—
taliften für ihr Eigentum erhalten haben, als es ver-
ftaatliht wurde? Bom Standpunkt des zwanzigiten
Sahrhunderts jcheint es allerdings, als ob das Volk bei
dieſer Abrechnung noch etwas zu fordern gehabt hätte.“
Edward Bellamy.
„Ich Habe mir eingebildet, daß ich dem Unter⸗
ſchied zwiſchen Ihren Anſchauungen und den unirigen
immer im Wuge behalten fünnte,” ertwiderte der
Doktor; „aber diegmal jehe ich ein, daß ich aus der
Role gefallen bin. Wenn wir an die Umwälzung
zurüddenfen, ericheint una immer die Großmut det
triumphierenden Volkes, weldes jeinen früheren
Unterbrüdern die Strafe erlieh, als einer der ſtrah—
lendſten Züge im Bilde der damaligen Zeit.
„Wenn der Privatlapitalismus recht hatte, dann
war die Revolution im Unreht; wenn aber die
Revolution recht hatte, dann war das Unrecht der
Rapitaliften größer als irgend eine andre Schuld
auf Erden. Sie mußten dem Bolf, das fie fo lange
gefnechtet hatten, Genugthuung leiften; es durfte
ihnen ohne Entihädigung die Machtmittel entziehen,
die fie jo ſchändlich mißbrauchten. Wenn das Volt
jich bereit gezeigt hatte, feine {Freiheit der früheren
Tyrannei abzufaufen, dann hälte e8 die Berechtigung
jeiner Sflaverei anerkannt. Sllaven, die ſich em-
pören, bezahlen ihren Peinigern nicht die Reiten,
welche fie zerriffen haben; die einftigen Herren find
jehr froh, wenn fie mit- dem Leben davonkommen.
Es war ein Glüd für die Kapitaliften, daß damals
feiner den Borihlag machte, mit ihnen abjurechnen
— fie wären ſchlecht dabei gefahren. Auf ihre Frage
‚Wer bezahlt die Güter, welche das Volk uns ge
nommen bat?‘ würde die Antwort gelautet haben:
‚Wer entjhädigt das Volt für alles, was ihr ihm ge-
nommen habt? Ungezählte Generationen find durd)
euch des Lebens und der Freiheit, des Lichts und der
freude beraubt worden.‘ Diefe Rechnung wäre jo
groß gewejen und hätte jo weit zurüdgereidht, daß die
Schuldner gern auf eine Berichtigung derjelben ver:
zichteten. Durch Betrug hatte man dem Bolt jein
Erbe und die Frucht feiner Arbeit entzogen, und e:
nahm nur das Seine zurüd, ald es von der Erde
und ihren Erzeugniffen, von den Werten menſchlichen
Fleißes und allen Erfindungen Belig ergriff. Wenn
der rechtmäßige Erbe kommt, mögen die ungeredhten
Haushalter, die ihn verdrängen wollten, frob jein,
wenn er Gnade für Recht ergehen läßt.
„Der Gedanke, die Kapitaliften dafür zu ent:
ihädigen, daß ihre Tyrannei nun aufhören mußte,
wäre nicht nur vom ethiſchen Standpunft aus ver-
fehrt geweſen — wie die Dinge lagen, fonnte er gar
nicht ausgeführt werden. Sobald man ben Slapite-
liften bei der Neuordnung einen Erjaß gab, ber
ihrem früheren Bei einigermaßen entſprach, richtete
man den Privatfapitalismus noch vor jeinem gänz
lichen Zufammenbrud) von neuem auf — die ‚Repo-
Intion‘ wäre mitten im Siege geſchlagen und ver-
ipottet worden.
„Sie jehen, daß dieje größte und letzte aller
Revolutionen ſich von ihren Vorgängerinnen dadurd
Gleichheit.
unterichied, daß fie reinen Tiſch machte, Bei allen
jonftigen Ummälzungen war es möglich gewejen, die
Bürger auf irgend eine Weile zu entjchädigen, wenn
die Negierung ihre Güter einzog oder zu öffentlichen
Sweden verwendete. Die früheren wirtjchaftlichen
Borteile der Betroffenen beftanden weiter, wenn aud)
in andrer Form. Wurde zum Beifpiel Landbefik
fonfisciert, jo fonnte man ihn mit Gelb bezahlen,
und ebenjo konnte man den Beſitz an Menichen-
material erjegen, als die Sklaverei abgeſchafft wurde.
Das Privilegium der Befikenden war nicht ganz
vernichtet, jondern gewiflermaßen in andre Werte
umgejeßt worden. Aber der große Umfturz, deſſen
Aufgabe es war, jedes Vorrecht, jede Herrichaft und
jede Ungleichheit unter den Menfchen für immer zu
jerftören, mußte dem Kapitalismus die Möglichkeit
abſchneiden, in irgend einer Form jeine Uebermacht
neu zu begründen. Alle Formen, unter denen in
vergangenen Zeiten Menihen ihre Mitbrüder ge—
fnechtet hatten, waren durch die früheren Revolutionen
eine nad) der andern zerbrodyen worden und zuleht
nur noch die wirtichaftliche Ueberlegenheit übrig ges
blieben. Als auch dieſes letzte Bollwerk der eigen-
nüßigen Herrſchſucht gefallen war, hatte fie feine Zus
flucht mehr auf Erden. Die ‚Revolution‘ riß ihr die
Maske vom Gefiht, und ihre Häßlichkeit ward am
Licht der Sonne offenbar,”
„Seht haben Sie mich über die Abrechnung des
Volls mit den Sapitaliften gründlich aufgellärt,“
jagte ich. „Aber nicht wahr, als zuerft die National-
verwaltung der öffentlichen Einrichtungen, wie Gas»
und Wafferleitung, Eifenbahnen und Telegraphen,
an Stelle der Verwaltung dur die Kapitaliften
trat, ift man dod nad) einer Art Entihädigungs«
theorie vorgegangen? Wahrſcheinlich verlangte das
die öffentliche Meinung, denn damals hatte man ſich
das Programm der ‚Revolution‘ nod nicht ganz
zu eigen gemadt. Wie lange hat das mohl ge—
dauert ?*
„Sehen Sie, lieber Julian,“ erwiderte der Doltor,
„je mehr fich die Erkenntnis verbreitete, daß die
wirtichaftliche Gleichheit nahe bevorftand, defto Tächer-
licher erſchien es den Leuten, die Kapitaliften mit
Geld abzufinden, das doch in fürzefter* Zeit allen
Wert verlieren mußte. So ließ man die Idee fallen,
ihnen die öffentlichen Einrichtungen, von denen Sie
iprahen, abzufaufen, und verfuchte ftatt deſſen, fie
während der Uebergangsperiode vor zu großem Uns
gemach zu ſchühen. Im eriten Stadium des Umſchwungs
bezahlte das Voll alle Geſchäfte, deren Führung
es übernahm, mit Geld oder Sthuldicheinen, und
jwar zu reifen, welche für die Sapitaliften jehr
vorteilhaft waren. Mas die größeren Betriebe an—
langt, wie Eijenbahnen und Bergwerfe, welche die
Nation erft jpäter übernahm, jo wurde dabei anders
1117
verfahren. Die öffentlide Meinung war damals
ſchon genügend herangereift. Jeder fonnte mit ziem⸗
licher Wahrjcheinlichfeit vorausfehen, daß das revo-
Iutionäre Programm durchdringen müfle, und dann
wurde das Geld im’ jeder Form ebenſo wie alle
Schuldverfhreibungen zu wertlojem Trödel. Natürlich
lag bei ſolchen Ausfihten den Kapitaliften auch nichts
mehr daran, diefe Münzen und Obligationen zu
erhalten, das Volt aber hatte feine Luſt, die Staat$-
ſchuld um fünf oder ſechs Billionen zu vermehren,
denn fo viel wäre nötig geweien, um alles aufs
zufaufen. Die Eifenbahnen und Bergwerle verblieben
aljo den bisherigen Eigentümern. Man hatte ſich
ja nur über ihre ſchlechte Verwaltung beflagt, und
das empörte Voll verlangte die Verſtaatlichung des
Betriebes. So wurde der Betrieb verjtaatlicht,
und die Eigentumsverhälmnifje blieben unverändert.
„Das heißt, die Regierung übernahm aus volts-
wirtjchaftlichen Gründen, und um unerträgliche Uebel⸗
fände abzuſchaffen, die ausfchließliche und dauernde
Verwaltung aller Eijenbahnlinien. Der Gewinn,
den fie erzielten, wurde bis zu einem beftimmten
Prozentfag unter die Aktionäre verteilt. Diefe
Maßregeln erfüllten den doppelten Zwed, ſowohl
dad Boll als die Altionäre von den Erprejlungen
und der Mißwirtſchaft der früheren Privatunter-
nehmer zu befreien; auch trat auf dieſe Weiſe eine
Million Bahnıbeamte in den öffentlichen Dienft und
genoß jeine Wohlthaten, jo daß ed ganz ebenjogut
war, als hätte man die Eifenbahnen den Rapitaliften
regelrecht abgelauft.. Derjelbe Plan wurde bei ben
Kohlengruben und andern Bergwerfen befolgt, und
diefe Verbindung von Privatbejis mit Boltsverwal-
tung bejtand fo lange, bis die Vollendung der Um—
wälzung die Verftaatlihung alles Kapitals durch ein«
malige Verordnung herbeiführte.
„sn ihrem Berhalten gegen die Bejikenden ging
die ‚Revolution‘ von dem Grundſatz aus, daf zwar
die Güterverteilung bisher durchaus ungerecht ges
weien jei, und daß die früheren Beſitzanſprüche feine
moralijhe Gültigfeit hätten, daß aber die geſetzlichen
Rechte der Eigentümer berüdfichtigt werden jollten,
jolange nicht ein ganz neues, alles umfaſſendes
Syſtem eingeführt jei. Wenn die Kapitaliften im
öffentlichen Intereſſe ihren Befik hergeben mußten,
wollte man jie mwenigitend vor Not und Mangel
ſchützen. Der Febensunterhalt aus Privatmitteln follte
ihnen nicht entzogen werden, bis die Verjorgung
aller Bürger durch die Nation in ſtraft getreten war,
Die Revolutionäre jcheinen dies Prinzip auf fehr
logische, ſcharfſinnige und bejtimmte Weile durch—
geführt zu haben. So ſchlecht die alten Eigentums»
rechte aud begründet waren, fie wurden nicht zügel«
los mit Aufruhr und Plünderung über den Haufen
geworfen. Das Bolt ftellte ſich unter ein logiſches
1118 Edward Bellamy.
|
und ftrenges, aber auch gerechies Geſetz. Nie ift in
den Ölanzzeiten des Kapitalismus der Diebftahl
ſchärfer verurteilt worden als am Vorabend ber |
Einführung des neuen Syftems.”
„Laſſen Sie mich noch einmal alles zujammen« |
fallen,“ jagte ich. „Es erging den Reichen bei dem
Uebergang aus der alten in die neue Ordnung ebenio
wie beim llebergang aus diejer Welt in die jenjeitige
— fie mußten ihre Neichtümer hinter ſich laſſen.“
„Ein fehr guter Vergleich,“ rief der Doktor
fachend, „aber er paßt doch nicht ganz. Die Bibel
erzählt, dab es dem reihen Manne jehr jchlecht
erging, als er in die andre Melt fam; aber bei uns
war das neue Wirtſchaſtsſyſtem faum jechs Jahre in
Thätigfeit, da gab e& feinen Er-Millionär, der nicht
zugegeben hätte, dab ſein Leben jegt viel ſchöner und
menjchenwürdiger ſei als früher.“
„Iſt die neue Ordnung denn jo jchnell in Gang
gefommen?“ fragte ich,
„Natürlich war fie erit nah Jahren jo aus
gebildet wie heutzutage. Das Merjonal ift bei der
wirtjchaftlichen Leiſtungsfähigleit einer Geſellſchaft
immer der Hauptfaktor. Erſt nachdem eine Generation
in der neuen Ordnung geboren und herangewachſen
war — unter den denkbar günftigften Erziehung®-
verhältniffen —, fonnte das Syſtem feine Vortreff-
lichfeit bewähren, Als die nationale Regierung das
ganze Volt zum öffentlihen Dienjt berufen und
allen dafür den gleichen Anteil an der Produktion
verjprocdhen hatte, da dauerte es faum ein paar
Jahre, bis die Welt mit Staumen die Früchte bes
neuen Wirtſchaftsſyſtems bewundern fonnte. Durch
die größere Billigfeit und beilere Beichaffenheit der
Maren in den Kaufhäujern, welche die Regierung
bereitö übernommen hatte, befam das Volk einen
Begriff davon, welche Vorteile die Abſchaffung des
Profits, jelbit unter einem Lohnſyſtem, mit ſich
bringen könne; aber erit als das ganze Wirtſchafts—
igftem verjtaatliht war, und alle zum allgemeinen
Beiten zufammenmwirkten, fonnte die Gefamtproduftion
geihäßt und alles gleihmäßig verteilt werden. Auf
diefe wunderbare Leiſtung der Wirtihaftsmaihine
war das Volk nicht vorbereitet. Es hatte alle Ver-
iprecjungen für übertrieben gehalten; jetzt ſahen die
Menjchen, wie der Wohlftand wuchs, und beſchuldigten
die Neformatoren im Gegenteil, ihnen die Wahrheit
verheimlicht zu haben, Und doc hätte jeder Dies
Ergebnis vorausjehen fünnen, jobald er fich die
Mühe gab, die ölonomiſche Wirkung der beiden
Syſteme zu berechnen. Die großen Erfindungen des
legten Jahrhunderts hätten ja ſchon längft den Neid)
tum der Nation ungemein vergrößern müjjen, wenn
das Gewinnſyſtem nicht geweien wäre; nun aber
wurde die fange verfchobene, aber überreiche Ernte
endlich eingeheimit,
„Unter der Herrſchaft des Gewinnſyſtems hatte
man die Produftion zurüdhalten müſſen, jeht wußte
das Volf nicht, wie es gemug produzieren jollte, Die
geringe Nachfrage hatte das Angebot beichräntt; jekt
galt e8, einen ſchrankenloſen Bedarf zu deden, Unter
dem Kapitalismus war die Nachfrage ein Zwerg
gewejen, und zwar ein lahmer Zwerg, und dod hatte
diejer Krüppel dem Rieſen Produftion den Schritt
angegeben. Jetzt, bei dem Zujammenwirfen der
ganzen Nation, waren dem Zwerge Flügel gewächſen,
und die Sandalen des Dierfur bejchwingten jeine
Füße. Nun mußte der Rieſe alle jeine Kräfte zu
fammennehmen und jeine Musfeln von Stahl und
Eijen jcharf anfpannen, wenn er dem Zwerge folgen
wollte, der vor ihm herflog.
„Es würde Ihnen ſchwer werben, ſich einen Be—
griff davon zu machen, welde ungeheure Energie
jebt auf induftriellem Gebiet entfeſſelt ward, wie die
verjüngte Nation ji am Morgen der Ummälzung
mit Begeifterung der Aufgabe widmete, das Wohl
ergehen aller Klaſſen auf ein jo hohes Nivea zu
bringen, dab jelbit der frühere Reiche, der das all-
gemeine Pos teilte, nichts zu entbehren brauchte.
Etwas Nehnliches wie die titaniſchen Anstrengungen,
welche ein ſolches Ergebnis erzielten, ift in der Ge—
Ihichte noch nicht dageweſen, und wer weiß, ob je
wieder ein fo großes Merk vollbradt werben wird.
In früheren Zeiten hatte man nicht Arbeit genug
für das Volk gehabt. Millionen Menfchen, Reihe
und Arme, die einen aus Bequemlichkeit, die andern
gezwungenermaßen, hatten ihr Yeben lang nichts getban,
und außerdem wurde noch die Hälfte aller Arbeit
auf Reflame und Lurusgegenftände verfchwendet, um
ber Nachfrage einer Heinen Anzahl entgegenzulommen,
während die dringenden Lebensbebürfnijie der großen
Mafle unbefriedigt blieben, Es jchien, al& wollte
man die Not des Volles verhöhnen, jo viele unnüte
Maſchinen, jo viel unproduftiveg Land, jo viel tote:
Rapital aller Art war noch vorhanden. Yeht auf
einmal waren nicht Hände genug im Sand, um al
Arbeit zu thun, nicht Räder genug in den Wer:
fätten, nicht Kraft genug im Dampf und der Ele
tricität, der Tag hatte nit Stunden genug, und
in der Woche waren zu wenige Tage, um die große
Aufgabe zu erfüllen, dem ganzen Voll ein behagliches
Dajein zu verjchaffen. Erft wenn für alle genug
da war, wenn alle eine gute Wohnung, gute Nahrung
und gute Kleider hatten, durfte ſich auch der einzelne
diejer Güter erfreuen. So wollte es die neue Ord-
nung der Dinge.
„Man jagt, daß im erften Jahr nad) der Ein-
führung des neuen Wirtſchafteſyſtems die Gefamt-
produftion bes Landes ſich verdreifachte, und daß fie
im zweiten boppelt jo groß war wie im erften, und
doch wurde alles biß auf den lekten Reſt verbraudt.
Gleichheit.
„Natürlich war in den erften Jahren die Ver:
befierung der materiellen Sage der Nation das, was
am meijten in die Augen fiel; jehr bald machte ſich
aber auch eine große Wereblung der Sitten, eine
zunehmende Herzlichkeit im Verkehr deutlich bemerf«
bar. Bei der lebenden Generation fonnten Die er»
erbten linterjchiede, die fih in den Gewohnheiten,
der Erziehung und Bildung ber einzelnen Klaſſen
lundthaten, nicht ganz verwiſcht werden; mehr oder
weniger bildeten jie nod immer eine Schranfe. Aber
das Bewußtſein, daß die Bafis dieſer Schrante für
immer verſchwunden war, daß die Nachkommen der
Hohen wie der Niedrigen nicht nur in wirtichaftlicher
Gleichheit, jondern aud in geiftiger, moraliſcher und
geielichaftliher Gemeinſchaft zufammen aufwachſen
würden, jcheint einen mächtigen Einfluß gehabt zu
haben. GSelbit die älteren Leute, die nicht mehr
hoffen durften, bie Früchte des Umſchwungs ganz zu
genießen, waren von einem Gefühl der Brübderlichfeit
bejeelt.
„Noch etwas andres verdient Erwähnung: Kaum
hatte ſich der allgemeine Wohlftand fo erftaunlic
gehoben, da konnten fich die Menſchen faft nicht mehr
erinnern, daß fie noch vor furzer Zeit einen jo maß-
lofen Wert auf geringe Unterjchiede in Yohn und
Gehalt gelegt hatten. Als das ganze Volt noch arm
war und unter jo großen Schwierigfeiten jeinen
Lebensunterhalt erfämpfen mußte, da machte es dem
Arbeiter einen bedeutenden Unterjchied, ob er fünfzig
Cents oder einen Dollar mehr oder weniger befam,
jo daß er fich eine wirtjchaftliche Gleichheit, bei der
es feinen großen und feinen Heinen Yohn mehr gab,
gar nicht vorftellen fonnte. Das war auch ganz
natürlich. Mo die Menjchen am Verhungern find,
freiten fie um eine Brotrinde; wenn fie aber beim
Gaſtmahl fiben, wo es Speije die Fülle giebt, fällt
ihnen das nicht ein. So ging ed auch in den Jahren
nad der Ummälzung. Der Hunger war nicht mehr
der Beweggrund zur Arbeit; der Neid und die Miß-
gunft des darbenden Volkes wurden nicht länger
durch das Wohlleben der Reichen genährt. Jeht waren
die Luft am Schaffen, die freude am Bollbringen
und Wohlthun das treibende Motiv. Die Arbeit
erichien in verflärtem Licht, und aus dem kriechenden
Sklaven des neunzehnten Jahrhunderts war ein Held,
ein Vorkämpfer der Menjchenliebe geworden.“
XXXVIII.
Tas Bud der Blinden,
Jeder, der dieje Blätter lieſt, wird höchſt wahre
icheinlih denten, ich hätte mich während der Tage,
von denen ich bier berichte, vollftändig in das Stu—
dium der neuen Nationalöfonomie und Sozialwiljen-
ſchaft vertieft, welches ich unter Doktor Leetes Leitung
betrieb. Das ift jedoch ein großer Irrtum, Wie—
1119
viel Anziehendes und Staunenerregendes mir dieje
Beichäftigung auch bot, fie hatte doch nur ein
profaisches Interefle für mich, im Vergleich mit einer
gewiſſen alten Gejchichte, welche feine Tochter und
ich zufammen durchlebten. Ich habe mit Fleiß nur
wenig davon geſprochen, denn es ift eine Sache, die
jeder jelber erfährt oder erfahren jollte. Der gute
Doktor, der den gewöhnlichen Verlauf ſolcher Ge—
ſchichten kannte, jah ohne Zweifel ein, daß die unfrige
bald an einem Punkt anfommen mußte, wo fie meine
ganze Aufmerkfamteit in Anfpruc nehmen und mid
wenigftens eine Zeitlang für andre Dinge unem-
plänglid machen würde. Dieſe Erwägung hatte ihn
wohl veranlaßt, unjre Geſpräche jo einzurichten, daß
ic eine ausführliche und abgerundete Ueberficht der
Inftitutionen in der neuen Welt erhielt, ſoweit Dies
die Größe des Gegenjtandes und die Kürze der Friſt
zuließ. Nachdem er mir die Gejchichte der Ueber—
gangsperiode erzählt hatte, vergingen einige Tage,
bevor wir wieder zu einer längeren Unterhaltung
Zeit fanden, und die Wendung, welche er feiner Rede
bei diejer Gelegenheit gab, ſchien mir anzudeuten,
daß fie eine Art Schluß der Vorträge bilden jollte,
die er mir biäher gehalten hatte.
Edith und ich waren an jenem Abend erit ſpät
nad Hauje gelommen, und als fie ji von mir ge—
trennt hatte, begab ich mich in das Bibliothefzimmer,
wo nod Licht brannte, ein Zeichen, dab id) den
Doktor dort finden würde, Er war wirklich noch auf
und blätterte in einem jehr alten, vergilbten Buche,
defjen jonderbarer Titel mir gleich ind Auge fiel.
„Kenloes Buch der Blinden‘,“ rief ih, „wie
merfwürdig das Klingt!”
„Jawohl,“ jagte der Doktor, „aber der Titel iſt
nicht wunderlicher al3 das Merk ſelbſt. Das ‚Buch
der Blinden‘ ift fait hundert Jahre alt, da es un»
mittelbar nad) dem Triumph der großen Umwälzung
entjtand. Alle Welt war damals glüdlih, und das
Volk zeigte ſich in der Freude jeined Herzens bereit,
den erbitterten Widerftand zu vergeben umd zu ver
gefjen, durch welchen die Kapitaliften und die Männer
der Wiſſenſchaft die jegensreiche Veränderung fo lange
gehindert hatten. Die Geiftlihen, die Lehrer und
Scriftfteller, welche gegen die neue Ordnung geeifert
hatten, waren jet deren größte Lobredner geworden
und hegten feinen jehnficheren Wunſch, ala daß man
ihre früheren Neußerungen vergeiien möchte, Aber
Kenloe, ein Dann von ftrengem Gerechtigleitägefühl,
wollte das nicht zugeben. Mit großer Sorgfalt und
unter genauer Angabe aller Namen, Daten und Orte
unterzog er fi der Arbeit, eine Maſſe Auszüge aus
den Reden, Büchern, Predigten und Zeitungen zu
ſammeln, in welchen die Anhänger des Privatlapi-
talismus dieſes Syſtem verteidigten. Sie hatten
während der langen Periode der Umfturzbewegung
1120 Edward
die Verfechter der wirtjchaftlichen Gleichheit unaus-
gejegt mit ihren Angriffen verfolgt, und Kenloe war
entjchlofien, dieſe blinden Führer, welche alles
gethan hatten, was in ihrer Macht fland, um die
Menichheit irre zu leiten, zur Strafe dafür vor der
Nahwelt an den Pranger zu jtellen. Er jah die
Zeit lommen, da man es für ganz unglaublid
halten würde, daß vernünftige Menichen und ges
lehrte Körperichaften ji jemals. der Einführung
der wirtſchaftlichen Gleichheit widerfeht hatten, einer
Mafregel, die doch einzig und allein die allgemeine
Wohlfahrt bezwedte. Deshalb beſchloß er, durch
diejes Bud die Erinnerung an ihre Thorheit zu ver-
ewigen und ein unvergängliches Zeugnis gegen fie
abzulegen. Jene Leute hätten die Vergangenheit jo
gern begraben, und es war jehr graujam, daß Kenloe
ihnen diefe wenig ehrenvolle Unjterblichkeit verlich ;
man fann fich denfen, wie fie ihn verwünjcht haben
müfjen, als das Bud) erſchien. Aber es läßt ſich
auch nicht leugnen, daß fie es reichlich verdient hatten,
für alle Zeit erbarmungslos gebrandmarlt zu werben.
„Als mir neulich diefer alte Band im oberjten
Fach meines Bücherfchranfes in die Hände fiel, fam
mir der Gedanfe, ob er nicht dazu dienen Fönne,
Ihre Eindrüde über die große Ummälzung zu ver-
volljtändigen. Sie würden daraus auch die andre
Seite der Frage fennen lernen und die Gründe
hören, weldye die Rapitaliften — Ihre eigne Gejell-
ihaftstlaffe — gegen die Einführung einer gleichen
und allgemeinen Wohlfahrt vorzubringen hatten.”
Natürlich erregte das mein lebhafteites Intereffe,
wie ic) dem Doftor verfiherte. Ich war jeht jchon
ein jo eingebürgerter Ameritaner des zwanzigſten
Jahrhunderts, daß es mir höchſt ergöklid vorkam,
mich an meinen Rapitaliftenjtandpunft aus dem neun»
zehnten Jahrhundert erinnern zu laſſen.
„Das dachte ih mir wohl,” jagte der Doftor.
„Wenn e8 Ihnen recht ift, wollen wir heute abend
Kenloed Buch zufammen durchgehen; ich habe mir
zu dem Zwed einen Auszug aus jeiner Sammlung
gemacht, welcher die Haupteinwände enthält, die er—
hoben wurden. Vieles, worauf wir jchon in unjern
Geſprächen zu reden famen, oder was mir weniger
wichtig erjchien, habe ic) dabei natürlich ganz weg»
gelajjen.“
Als ich mich behaglich neben dem Doktor nieder»
gejeßt hatte, fuhr er fort:
Bon der Kanzel aus erhobene Einwände.
„Zu Ihrer Zeit hatten die Prediger die Führer:
rolle im Volke übernommen; jo wollen wir denn mit
gebührender Achtung zuerft den Haupteinwand in
Betracht ziehen, der jich von der Kanzel aus gegen
die wirtfchaftliche Gieichheit aller erhob. Er Klingt
mebr wie eine Entſchuldigung als wie ein Angriff,
Bellamn.
Einen ſolchen hätten Leute, die ſich Ehriften nannten,
auch faum wagen dürfen, da das neue Syitem nichts
andres bezwedie, ald das Gebot der Nädhitenliebe
zur Ausführung zu bringen,
„Die Geiftlichen predigten, die Grundurſache des
gejellichaftlichen Elends fei die menschliche Sünde und
Verderbtheit. Man könne unmöglih irgend eine
große Verbefferung im Zufland der Menſchen durch
veränderte joziale Formen und Jnjtitutionen er
zielen, wenn das Volt nicht in moralifcher Beziehung
einen entiprechenden Aufihwung nähme. Bis die
Wiedergeburt erfolgt jei, nüße es daher nichts, ein
geläutertes ſoziales Syjlem einzuführen, weil dat
Ergebnis ein ebenjo ichlechtes fein würde, jolange
die Menjchen jelber ſich nicht bejierten und belehrten.
„Es iſt etwas Wahred an diejer Behauptung.
Nur was man verfteht und zu ſchätzen weiß, fann
man ſich auch zu nuße machen. Sein Gedanle und
feine Einrihtung fann Frucht bringen, jolange im
Gemeinweſen die nötige Einficht dafür fehlt.
„Andrerjeits ift es aber nicht minder wahr, wie
auch die Geiftlihen fofort zugeben muhten, da,
wenn ein Volk erft in fittlicher und geiftiger Be—
ziehung jo weit gebildet ift, um befiere Inftitutionen
zu begreifen und zu würdigen, ihre Einführung die
jegensreichfte Wirkung ausüben fann. Ein Beiipiel
biervon jehen wir an der religiöjen Freiheit und der
Demofratie. Hätte man dieſe zu einer Zeit ein
geführt, da die Menſchen noch nicht reif genug waren,
um ihr Weſen richtig aufzufallen, jo wäre nichte
Gutes daraus entjtanden. Als aber die Welt in
ihrer Entwidiung jo weit gefommen war, um dieſe
Gedanken in jih aufzunehmen, führte ihre Nerwirk-
lihung durch joziale Inftitutionen zu einem großen
Fortichritt in der Zivilifation.
„Aljo: wenn das Voll noch zu unreif ift, nüßen
befiere Einrichtungen nichts; beginnt es aber ein
Verſtändnis zu zeigen, jo entjteht ein großer Verluft,
wenn man bie wünichenswerten Verbeijerungen auf
ſchieben oder der Welt vorenthalten will. Bei jeder
einzuführenden Neuerung gilt es alfo, die Frage zu
entſcheiden, ob die für den Fortichritt notwendige
Reife ſchon vorhanden ift, oder in welchem Zeitpuntt
fie eintreten wird,
„Die Gejhichte lehrt uns, daß es hierfür nur eine
untrüglice Probe giebt, nämlich das dringende Ber-
langen nad) der Aenderung, weldyes im Bolte jelbit
entfieht. Als die Völker jelbit anfingen, nad Re
ligionsfreigeit und Gewifjensfreiheit zu rujen, waren
lie offenbar auch fähig, fie anzunehmen. Als die
Nationen fidh eifrig fr eine Volfävertretung erklärten,
war dies der beite Beweis, daß fie die geijtige Reife
dazu beſaßen. Daraus folgte nicht etwa, daß fie
nun jogleih den beitmöglihen Gebraud von der
neuen Inftitution machen würden; das konnte fie nur
Gleichheit.
die Erfahrung lehren und eine ſtetige Weiterentwid«
lung, zu der fie ohne die neue Einrichtung niemals
gelangt wären, Hatte das Volt aber erjt einmal
diefen Punkt erreicht, dann wurde die alte Inftitution
jofort unbrauchbar. Mochte die Neuerung aud) ans
fänglich noch jo viele Hebelftände mit fi bringen —
die Menjchheit verlangte danach, und wer ſich ihr
wiberjeßte, hemmte den Fortſchritt.
„War denn nun aber am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts der Beweis geliefert, daß die Welt
befähigt fein würde, die völlige Ummälzung zu er
tragen und eine menichenfreundlichere Gejellichafts«
ordnung einzuführen? Ohne Zweifel; denn das Volt
forderte fie mit einem Eifer und einer Ausdauer wie
nie zuvor. Die Bewegung hatte ſich der ganzen
zivilifierten Welt bemächtigt und trat mit großer
Kraft und Entſchiedenheit auf. Dieſe Thatſache war
jo offenkundig, daß die Geifllichen, welche ſich dem
Berlangen des Volkes nad) befjeren Zuitänden wider:
jeßten, fi) dadurch Hätten warnen laſſen jollen. Sie
würden gut daran gethan haben, fi) die Frage vor—
zulegen, ob fie nicht vielleicht gegen Gott jelbft und
jeinen heiligen Willen fämpften. Den klarſten Bes
weis dafür, daß die Welt der alten Wirtſchaftsord⸗
nung entwachjen war, lieferte der Schrei des Abicheus
und Entjeßens, der fich gegen ihre graufame Willkür» |
berrfjchaft erhob. Die Menſchen hatten während diefer
Beriode in humaner und philanthropiicher Beziehung
ſolche NRiefenfortichritte gemacht, fie hatten dem neuen
Gedanken einer allgemeinen Bruberliebe und jozialen
Gleichberechtigung mit ſolcher Begeijterung zugejubelt,
dab fie dadurd) aufs deutlichite fund thaten, fie jeien
reif genug, um wenigſtens den Verſuch zu machen,
ihr joziales Leben auf eine höhere Stufe zu heben.
„Hätten die Geiitlichen, die fi) dem Umſturz
widerjeßten, dies aufrichtig aus dem Grunde gethan,
da die befieren Jnjtitutionen den Menſchen nichts
nüßen könnten, wenn fein bejjerer Geift unter ihnen
berrjchte, jo würde ihr Widerftand nicht lange ges
dauert haben. Sie hätten bei näherer Unterſuchung
der Stimmung im Volke bald einfehen müflen, dab
diefer beijere Geiſt fich bereits in ganz ungewöhn-
lihem Grade bemerfbar machte, und folglich die Be-
dingungen ſchon erfüllt waren, von welchen allein fie
ſich einen Erfolg verſprachen.
„Aber es mangelte ihnen zumeift leider an Auf-
richtigfeit. Hätten fie an Chriſti Lehre feftgehalten,
daß der Menjc von neuem geboren werden fünne,
jofern er nur fein altes Leben haft und von Herzen
nad) einem befjeren verlangt, jo würden fie den
dringenden Wunic des Volkes, von der Knechtſchaft
einer jündhaften Geſellſchaftsordnung befreit zu wer—
den und fortan in Liebe und Güte miteinander zu
leben, auf freudigfte begrüßt haben. Statt dejjen
jagten fie dem Volle etwa folgendes: ‚Ihr klagt mit
Aus fremden Jungen, 1897, IL 24,
1121
Recht, daß die heutige joziale und wirtichaftliche
Ordnung fittlih höchſt verwerflih und unchriſtlich
ift, und daß die Menjchen dabei an Seele und Leib
zu Grunde gehen müflen. Trotzdem dürft ihr nicht
daran denfen, ein beſſeres Syſtem einzuführen, denn
ihr ſeid noch nicht gut genug, um den Verſuch zu
maden, bejier zu werden. Ihr müßt erft warten,
bis ihr gerechter jeid, ehe ihr beginnt, von der Sünde
zu laſſen. Ihr müßt fortfahren, zu jtehlen und mit-
einander zu ftreiten, bis ihr zur Heiligung durd)=
gedrungen jeid.*‘
„Was würde wohl die Geiftlichkeit dazu jagen,
wenn ein chriftlicher Prediger auf ähnliche Weile zu
dem reuigen Sünder ſpräche, ber ihm befennt, daß
er jein früheres Leben verabjcheut und ſich zu be—
' fehren wünjcht? Es giebt leine Worte, die jtarf
genug find, um das Berfahren der jogenannten
Diener Chrifti zu verdammen, die in feinem Namen
das Streben einer Welt tadelten und veripotteten,
welche die ungerechte Geſellſchaftsordnung nicht länger
dulden wollte und nad) einem Ausweg fuchte, um zu
bejleren Zuftänden zu gelangen.”
Ein weiterer Einwand: die Lähmung der
Thatkraft.
„Aber wir wollen den armen Geiſtlichen auch
nicht unrecht thun,“ fuhr der Doktor fort, während
er in Kenloes Buch blätterte; „ſie waren weder un—
duldjamer noch verblendeter als andre Klaſſen von
Berufsgelehrten, zum Beiſpiel als die Nationalöfo-
nomen. Dieje behaupteten, e& würde bei wirtſchaft—
liher Gleichheit und flaatliher Organijation der
Arbeit an jeder Aufmunterung zu Fleiß und That-
fraft fehlen, ſo dat alle gebeihliche Thätigkeit aufs
hören müſſe.
„Wir wollen diefen Einwand einmal näher ins
Augen faflen: Unter dem alten Syflem gab e$ zweierlei,
was die Menſchen zur Arbeit trieb, Lebten fie von
der Hand in den Mund und durften nur hofien,
ihre farge Notdurft zu befriedigen, jo war es der
Drud der Armut, Gehörten fie ſchon zu den Be—
fißenden, jo war es der unerjättliche Wunſch, immer
mehr Güter zu ſammeln, ber fie zu ftetS vermehrter
Anftrengung Ipornte. Das neue Syjtem, welches
allen ihren Unterhalt unter günftigen Bedingungen
ficherte, ſchloß zwar jeden Drud der Not, jede Furcht
vor Mangel aus, eröffnete aber auch feinem Men—
ſchen die Hoffnung, daß er wirtjchaftlich befier gejtellt
jein werde als jeine Nebenmenjchen, mochte er ji
abmüben, foviel er wollte, Da num jeder mehr Wert
auf einen perſönlichen Anteil legte als auf jeine
perjönliche Leiftung, jo würde, meinte man, fein
Arbeitzeifer entftehen. Jeder würde möglichſt wenig
thun und fi mit dem Minimum von Anftrengung
begnügen, welches das Gejeß verlangte, Die Gejamt«
141
1122
heit fünnte durch das Syſtem daher nicht zu wirt«
ſchaftlichem Wohlſtand gelangen, jondern müßte ſich
mit dem notbürftigften Lebensunterhalt begnügen.”
„Das klingt nicht unwäahrſcheinlich,“ jagte ich;
„einen ſolchen Einwand würde ich für ſehr ſchlagend
gehalten haben.“
„Ihre Freunde, die Kapitaliften, waren derjelben
Anſicht, und doch enthält gerade dieje Beweisſührung
dad Belenntnis einer wirtſchaftlichen Einfältigfeit,
die nichts zu wünfchen übrig läßt. Bebenten Sie
doch, Julian, was das heißen will, wenn man zu—
giebt, da unter Ihrem Wirtſchaftsſyſtem die Mafjen
des Volls niemals dem Drud der Not oder der
Furcht vor Mangel entfliehen fonnten! Der ärgfte
Feind des Privatfapitaliamus hätte ja feine ſchlim—
mere Anklage dagegen erheben fönnen. Wenn man
eingeftand, daß bei der alten Ordnung die Mafjen
immer Humger litten, war das der erdenklich ftärtfte
Grund, um ohne Zögern wenigitens einen Verſuch
mit dem neuen Syſtem anjufiellen. Sclimmeres
ließ jich doc) davon feinesjall® erwarten, als daß es
einer fortdauernden Hungersnot bedurfte, um e& im
Gang zu erhalten.”
„Will man die Sache von diefem Gefichtöpunft
aus betrachten, jo muß man ihnen allerdings unrecht
geben,” ſagte ich. „Und doch fam mir das Bedenten
zuerst jehr einleuchtend vor.“
„Da die Güterproduftion zu Ihrer Zeit fein
andres Ergebnis hatte al& eine fortgejegte Hungers-
not,” fagte der Doftor, „Io fann der Trieb, ſich ihr zu
widmen, nicht jehr groß geweſen fein. Trotzdem priejen
Ihre Nationalölonomen den Munich, reich zu werben,
als ein vorzüglidhes Hilfsmittel in wirtſchaftlicher
Beziehung und widerſetzten fich der Gleichheit haupt«
ſächlich aus dem Grunde, weil fie dies Verlangen
ausſchloß. Aber hatte denn das Streben des ein«
zelnen, fich zu bereichern, einen wirklichen Wert ?
Diente es dazu, den Gejamtbefiz des Gemeinmwejend
zu vermehren? Die Antwort auf diefe Frage iſt
ſehr bedeutſam. Ein ſolches Streben hatte nur Wert,
wenn «8 zu neuer Güterproduftion anregte. Setzten
fi) dagegen die Menſchen bloß in den Beſitz fertiger
Produfte, welche ihren Mitmenſchen gehörten, jo än»
derte fich zwar die Güterverteilung, aber das Gejamt-
vermögen vergrößerte fich in feiner Weile; ja es ver»
minderte ſich noch durch den nußlojen Kampf um
das Eigentum. Ch nun diejenigen, welche die meiften
Güter anhäuften, ihren Reichtum hauptſächlich durch
neue Produktion erwarben oder dadurd, daß fie Die
Produkte andrer Leute in Beſitz nahmen, ich Die
Früchte ihrer Anftrengungen zu nuße machten und
ernteten, wo fie nicht gejät hatten, darüber, Ju—
lian, werden Sie am beiten ſelber enticheiden fönnen.“
„Natürlich erwarben fie ihre Güter auf letztere
Art,“ erwiderte ich. „Die Produktion ging nur
Edward Bellamy.
langjam von ftatten und erforderte jaure Arbeit.
Große Reichtümer gewann man dabei nicht, ba&
wußte alle Welt. Am leichtefien und ficherften
fonnte man reich werden, wenn man fich die Pro-
dufte andrer zueigneie und ihre Unternehmungen be»
nußte. Wer Mug und geichidt genug war, das zu
thun, fonnte große Schäße ſammeln.“
„Das habe ich gelefen,“ jagte der Doktor. „Der
Wunſch, reich zu werden, trieb die Kapitaliften jedoch
auch mehr oder weniger zu produftiver Thätigfeit,
welche die Duelle alles Wohlftands ift. Aber joldie
Produktion um des Gewinns willen war wirtſchaft⸗
licher Untergang; wir haben das ſchon neulich im
Examen der Volfswirtichaftsflafle gehört. Sie be
ſchränkte die KHonfumtionäfraft eines Gemeinwejens
auf einen Bruchteil jeiner Produftionsfraft, hinderte
dadurch die Produftion felbft und zwang den größten
Zeil der Menichheit zu fortdauernder Armut. Was
bie Welt einbüßte, als fie das Jagen nad Erwerb
und den Privatfapitaligmus aufgab, war nur die
allgemeine Armut und das Gewinnſyſtem. Wahrlich
fein großer Schaden!
„Daß unter dem heutigen Syilem niemand daran
denkt, daß er je Mangel leiden könnte, will id) nicht
beftreiten; aber wir halten die Furcht vor Entbehrung
für einen ebenfo ſchwachen wie graufamen Sporn zu
produftiver Thätigkeit. Um des bloßen Erwerbs
willen würden wir fie unter feiner Bedingung dulden.
Sogar zu Ihrer Zeit wuhten die Kapitaliften, daß
der bejte Arbeiter nicht der mar, weldher von der
Hand in den Mund lebte, fondern der, welcher ſich
jo gut ftand, daß feine unmittelbare Nahrungsiorge
jein Gemüt bedrüdte, Selbſtachtung und jFreude an
ber eignen Leiftung bildeten einen mächtigeren Ans
trieb als der Gedanke an den zu erwartenden Tage-
lohn. Und war das damals ſchon der Fall, um wie
viel mehr heute! Arbeiteten zwei Männer neben-
einander für benjelben Herrn, jo mochte der eine
nod) jo viel faulenzen und betrügen, der andre fün-
merte ſich nicht darum. Er hatte ja feinen Berlufl
dadurch, ſondern der Arbeitgeber. Jetzt ſchaffen aber
alle für den gemeinjamen Fonds, und wer Pfujcer-
arbeit macht oder die Zeit vertröbelt, ſchädigt alle
jeine Mitmenſchen. Lieber würde man ji heutju-
tage am eriten beiten Baum auffnüpfen, als für
einen Müßiggänger zu gelten.
„Wer da glaubte, daß die wirtichaftliche Gleid-
heit der Thatkraft und dem Eifer der Menjchen Ab«
bruch thun würde, weil der einzelne feinen Yohn für
feine perfönlichen Leiſtungen befommt, bat ſich gründ-
lich über die Wirfung des Syſtems getäuſcht. Es
wäre ganz lächerlich, anzunehmen, daß fein Wett:
ftreit von Fleiß und Tüchtigkeit ftattfinden fann,
ſobald die Bezahlung fortfält. Im Gegenteil, einem
jeden fommen jeine Verdienfte viel unmittelbarer und
Gleichheit.
gewiſſer zu gute als zu Ihrer Zeit, wenn auch nicht
in klingender Münze. Wie Sie wiſſen, wird bei
uns jede Öffentliche und ſoziale Stellung und Führer»
ihaft, fowie jede Staatsauszeichnung nach dem Wert
der Dienfte bemeiien, die der einzelne für bie Ge—
ſamtheit leiftet. Durch dies Syitem des Verdienft-
adels entfteht ein Wetteifer, der zu viel größeren
Anftrengungen treibt al$ der frühere Lohnerwerb.
„Ihre Zeitgenoffen jcheinen in dem noch ſehr
findiihen Wahn befangen gewejen zu fein, dab es
zu Fleiß und Tüchtigfeit auf jedem Felde haupt-
fählicd; eines äußeren Sporns bebürfe , während es
doch vor allem auf den inneren Trieb ankommt.
Trägheit oder Thatlraft find dem Menjden an—
geboren. Der eine wird nur das Heinjte Maß von
Arbeit verrichten, mag die Gelegenheit noch fo günitig,
das Ziel noch jo verlodend fein. Der andre ſchafft
fih die Gelegenheit jelbjt und ftedt ſich feine eignen
Ziele; mur mit Gewalt kann man ihn verhindern,
jein möglichites zu thun,. Wenn die Triebfraft nicht
von Anbeginn im Menjchen ift, nüben äußere Be-
weggründe wenig, und es giebt überhaupt feinen
Erjag dafür. Das Uhrwerk im Menſchen muß gleich
bei der Geburt aufgezogen jein; fpäter läßt ſich das
nicht nachholen, Auch das beite Induftriefoften fann
zur förderung des Fleißes nichts andres thun, als
alle Bedingungen fo einrichten, daß jedes Verdienſt
feinen gerechten und angemeflenen Yohn findet. Dies
gelingt unjerm Syitem volltommen, während das
Ihrige aller Gerechtigkeit und Billigfeit ermangelte.
Die Inglüdlichen, denen die Trägheit angeboren ift,
lann auch unjer Syſtem nicht durdy einen Zauber«
ſchlag thatkräftig machen, aber es forgt aufs be-
flimmtefte dafür, daß jeder Menſch mit gefunden
Gliedmaßen, welcher jeinen wirtjchaftlichen Unterhalt
von der Nation empfängt, wenigftens dad Minimum
an Dienfien leitet. Selbft der Trägfte zahlt fo viel,
wie er koftet. Zu Ihrer Zeit dagegen mußte die
Gejellihaft viele Millionen arbeitsfähiger Müßig—
gänger füttern, die fie als totes Gewidht mit fich
fchleppte. Auch von dieſer Yajt ift die Welt durch
die große Umwälzung befreit worden.“
„Doktor,“ jagte ih, „gewiß hatten meine alten
Freunde doch noch etwas Bellered vorzubringen.
Lafjen Sie uns zu andern Einwänden übergehen, die
fie gemadjt haben.”
Die Beforgnis, daß die Gleichheit die
Menſchen völlig gleihartig machen würde,
„Heber einen Punkt ſcheinen fie viel nachgedacht
zu haben. Sie behaupteten, die wirtjchaftliche Gleich—
heit werde die Verjchiedenartigkeit der Menjchen zer-
ftören; alle würden über einen Kamm gejchoren und
das Leben jo eintönig werden, daß die Leute fich vor
Ueberdruß umbringen müßten, ehe noch vier Wochen
1123
vorüber wären. Diejer Einwand ift höchſt dharafte-
riſtiſch für ein Zeitalter, welches Menfchen und Dinge
nur nad) ihrem Geldwert beurteilt. Da einer nur
fo viel Geld als der andre haben jollte, nahm man
TEE
bon vornherein als jelbftverftändlich an, daß daburd)
aud) alle wejentlichen Unterjchiede zwiſchen den Indi—
viduen verloren gingen. Dieje Schlußfolgerung giebt
einen deutlichen Begriff von der Lebensanſchauung
eines Geſchlechts, das gewohnt war, von einem
Manne zu jagen, er jei jo und fo viele Taufende,
Humderttaufende oder Millionen Dollars ‚wert‘!
Solchen Leuten muß es natürlich vorfommen, als
fönnte man die Menſchen überhaupt nicht mehr von-
einander unterfcheiden, wenn ihre Bantlontos alle
gleich wären,
„Uber wir wollen nicht ungerecht gegen Ihre
Zeitgenofien fein. Bielleiht würden die Verfechter
diejes Einwands ſich gefräntt fühlen, wenn man
ihnen eine fo niedrige Gefinnung zutraute. Nach
Kenloes gejammelten Auszügen zu urteilen, jcheinen
fie ernftlich befürchtet zu haben, daß die wirtſchaft-
liche Gleichheit zu einer einförmigen und langweiligen
Achnlichkeit der Menſchen untereinander führen müßte,
jo daß nicht nur ihre Banklontos ſich glihen, ſon—
dern auch alle ihre Eigenſchaften. Man bejorgte,
daß ſich die Verfchiedenheiten in der Naturanlage
und Begabung verwiſchen würden, welde dem ge=
jelligen Verkehr feinen ganzen Reiz verliehen. Uns
erjcheint eine jo widerfinnige Annahme faft unglaub-
lich. Ihre Zeitgenoffen brauchten ja nur die Augen
aufzuthun, um zu erfennen, dab gerade die wirt«
Ichaftlihe Ungleichheit die Figenart des Individuums
unterdrüdt, weil fie zu ſtlaviſcher Nahahmung der
Höherftehenden treibt. Unabhängige Gefinnung findet
id) nur unter einander Gleichgeftellten. Hätten Sie
Julian, zum Beijpiel eine Abteilung Refruten vor
ih, deren Größenunterfchied Sie auf einen Blid zu
überjehen wünſchten, wo würden Sie diejelben auf-
marjchieren laſſen?“
„In der ebenften Gegend, die ic) finden könnte.“
„Natürlih. Auch jene Leute würden das ohne
Zweifel vorfommenden Falls gethan haben. Aber
daß die wirtfchaftlihe Gleichheit auf die Gejamtheit
gerade dieje Wirkung haben mußte, jahen fie nicht
ein. Gleiche wirtſchaftliche Stellung, gleiche Er-
ziehung und gleich günftige Gelegenheit war das
ebene Feld, der Standpunkt in derſelben Höhe, welchen
bei der neuen Ordnung alle einnehmen mußten, fo
daß die natürlichen Unterjchiede deutlich hervortraten,
und man jeden nach feiner Beichaffenheit ertannte,
Nicht das neue, jondern das alte Suftem hätte man
bejchuldigen fünnen, daß es alle Eigenart zerftöre,
denn die tauſend fünftlichen Einrichtungen und Ver—
anjlaltungen, die aus der wirtichaftlichen Ungleich—
heit entiprangen, machten es unmöglich, zu entfcheiden,
1124
ob die zu Tage Iretende Verichiedenheit der Men»
ſchen eine natürliche oder fünfilich hervorgebrachte
jei. Sobald alle auf gleichem Boden jlanden, famen
zum erjienmal die von Natur angeborenen Unter:
ſchiede der menſchlichen Anlagen Har und deutlich
zum Vorſchein. Die wirtihaftliche Gleichheit ift die
erfte Bedingung, wenn von einer Wertmeſſung der
Menjchen überhaupt die Rede fein foll.“
„Wirklich,“ Tagte ih, „mir ſcheint, alle diefe Ein-
wände fallen auf ihre Urheber zurüd und thun dieſen
mehr Schaden als ihren Widerſachern.“
„Jawohl,“ erwiberte der Doktor, „die Gegner
der neuen Ordnung drüdten den Anhängern des Um—
fturzes felbft die Waflen in die Hand. Was joll
man zum Beijpiel davon denfen, wenn fie behaup⸗
teten, bei wirtichaftlicher Gleichheit würde die Welt
feine Abwechslung und Unterhaltung mehr bieten,
weil der Gegenfaß zwilchen Armen und Reichen in
Wegfall käme? Wahrhajtig, da möchte man doch
fragen: Für welche Klaſſe machten dieje Gegenfähe
das Leben wohl unterhaltend? Gewiß nicht für die
Armen, die großen Maffen des Volles, die fie em«
pörend fanden. Aljo hätte man zum Vergnügen
einer Handvoll Reicher und Glüdticher die Armut
aufrecht erhalten jollen? Das hieße doch die Thor-
heit zu weit treiben! Kenloe legt Diefe Beweisführung
den ſchönen Damen aus der feinen Gejellichaft in
den Mund; der dunkle Hintergrund des allgemeinen
Elends erjcheint ihnen notwendig, damit der Pomp
des Reichtums fich um fo glänzender abhebe.. Das
ift jedoch eine ebenfo rohe wie oberflächliche An-
ſchauung. Gewiß giebt es nur wenige Menjchen,
denen der Weberfluß größere Freude bereitet, weil
fie die andern darben jehen; im allgemeinen gilt die
Regel, dab das eigne Behagen wädhft, wenn man
auch jeine Nebenmenſchen glüdlih weiß. Auch fteht
die Thatjache feit, daß die Reichen keineswegs ges
wünſcht haben, an das Vorhandenjein von Armut
und Elend erinnert zu werden; fie fuchten es ſich
vielmehr jo fern wie möglich zu halten, weil jie nicht
dadurd im Genuß gejtört jein wollten.
„Dergleihen völlig unhaltbare Behauptungen ent-
Hält das Buch noch in großer Zahl. Unter anderm
ift davon die Rede, dab man in der neuen Gejell-
ihaftsordnung gejehlich gemötigt fein fönnte, mit
aller Welt zu verfehren, ohne Rüdjiht auf Wahl-
verwandtichaft oder perjönlice Neigung. Kenloes
Leute widerjegten ich diefer Zumutung mit größter
Heftigkeit. Natürlich erhigten fie fich ganz unnötiger-
weiſe. Ebenjowenig, wie früher alle Menden, die
das gleiche Finfommen hatten, gezwungen waren,
miteinander umzugehen, ift das jept der Fall. Die
allgemeine Bildung und Verfeinerung der Sitten
vergrößert zivar den Kreis, aus welchem man fi)
gleihgeitimmte Genoffen wählen fann, jehr bedeu—
Edward Bellamp.
tend, aber wer es vorzieht, ein ganz ungeſelliges und
einfames Leben zu führen, wird auf feine Weile
daran gehindert; er kann ſich jo völlig abjondern
wie der ärgite Menſchenhaſſer in alter Zeit.
Die Gleichheit und der Wettbewerb,
„Wir fommen nun zu einem Einwurf gegen bie
wirtichaftliche Gleichheit, welcher Kenloes jorgiältige
Aufzeichnungen beionders rechtfertigt. Man jollte &
wirklich nicht für möglich halten, daß es Leute gab,
die fi gegen die Neuerung auflehnten, weil jie.der
Konkurrenz und dem Kampf ums Dafein ein Ende
maden würde. Sie behaupteten jedoch, dadurch gebe
der Welt eine unſchätzbare Schule für Die Charafter-
bildung verloren, und fie büße den ficherften Prüf-
ftein für den Wert der Menjchen ein, denn alles
Mittelmäßige ſei jtets untergegangen, und nur daö
Beite habe ſich entwideln und fortpflanzen können,
Hätten Ihre Zeitgenofjen ſich wegen der Beibehal-
tung des Konkurrenzſyſftems damit entjchuldigen
wollen, daß, wie ſchlecht und graufam es auch ſei,
die Welt doc; noch nicht reif genug wäre, um ein
andres zu wählen, jo würden wir das zwar unver
ftändig, aber doch erflärlich gefunden haben. Allein,
dab fie die Konkurrenz an fi als wünſchenswett
binftellten und fie vom moraliihen Standpunkt aus
nicht entbehren zu fünnen glaubten, ift uns unbegreij⸗
lid. Die Konkurrenz; war ja nichts andres al ein
erbarmungslofer, unaufhörlier Kampf um bie Eri-
ftenzmittel, der deshalb jo erbittert geführt wurde,
weil nicht für alle genug da war. Wer im Kampfe
erlag, mußte daher zu Grunde gehen oder ſich die
farge Notdurft fihern, indem er der Knecht des
Siegerd wurde. Zwiſchen joldhem Ringen um das
täglihe Brot und dem Krieg auf Leben und Tob
mit den Waffen in der Hand war jchliehlich der
Unterichied nicht groß. Aber fallen wir einmal den
Konturrenztampf noch näher ins Auge: Bei jeden
Wettſtreit, deffen Ergebnis in irgend einer Weije er»
ſprießlich fein fol, muß vor allem Gerechtigfeit und
Biligleit herrſchen. War nun dieje erfte Bedingung
bei Ihrem Sonkurrenzioftem, erfüllt? Kämpften die
Streiter mit gleichen Waffen ?*
„Im Gegenteil,” erwiderte ich, „die meiften waren
bon vornherein durch Mangel an Kenntniſſen und
Ungunſt des Gejchids gehemmt und hatten nicht die
geringite Ausficht auf Erfolg. Manche erhielten einen
gemaltigen Vorſprung auf der Rennbahn durch ihre
geficherte wirtſchaftliche Stellung, während andre
weit dabinten blieben, wenn ihnen nicht eine un-
gewöhnliche Begabung zur Seite ftand. Uebrigens
waren alle großen Preife bei dem Mettlauf ſchon
zum voraus vergeben; der Zufall der Geburt ent-
ichied darüber, wer fie erhalten ſollte.“
„So war aljo die ganze Konkurrenz nichts alt
“
Gleichheit.
ein erbärmliches, ungleiches, betrügeriſches Poſſen⸗
ſpiel; kein ehrlicher Kampf, ſondern nur rohes und
feiges Niederhauen wehrloſer Menſchen durch eine
Schar wohlbewaffneter Gegner! Und zu dieſem
hoffnungsloſen Ringen für ihr Leben und ihre reis
heit jahen fich die Mermiten gezwungen, jie mochten
wollen oder nicht. — Auch die alten Römer ergöbten
jih daran, Menjchen zu ſehen, die um ihr Leben
fämpiten ; aber fie wählten dazu Gladiatoren aus,
die fih an Kraft miteinander meſſen fonnten. Die
verhärtetften Zujchauer im Koloſſeum würden eine
Vorftellung in der Arena ausgezifcht haben, bei der
die Kämpfer einander jo wenig gewadjen waren
wie in dem jogenannten Konfurrenztampf zu Ihrer
Zeit, wo auch auf Tod und Leben geitritten wurde.“
„Sie fennen zwar diefe Dinge nur aus den
Bühern, Doktor,“ verſetzte ich, „aber was Sie jagen,
ift leider nur allzuwahr.”
„Bas hätte man denn billigerweile thun müſſen,
wenn von einem ehrlichen Metttampf überhaupt die
Rebe jein jollte?“
„Alle Streiter hätten zum mindejten die gleiche
Bildung und geiftige Ausrüftung, fowie die nämlichen
wirtichaftlihen Borteile haben müſſen.“
„Ganz recht, und dies wollte ihnen eben unjer
Syſtem gewähren. Die wahre, echte Konkurrenz
wurde durch die wirtichaftliche Gleichheit nicht zer—
ftört, wie Ihre Zeitgenofien wunderbarerweije
meinten, jondern erft recht zur Geltung gebracht.”
„Bei diefem Einwand haben fich die Leute mit
ihren eignen Waffen geichlagen,“ jagte id.
„Das läht fi nicht leugnen. Aber wäre auch
bei dem Kampf alles mit rechten Dingen zugegangen,
fo würde es ſich nod immer fragen, ob aud der
Zwed, um den es ſich handelte, überhaupt wünjchend-
wert war. Es fonnten ſich ja dabei menſchliche
Eigenſchaften entwideln, die durchaus nicht dem
öffentlichen Wohl zu gute famen. Da nun die
Verteidiger Ihres Konturrenzinftems behaupteten, es
jei der Gharatterbildung bejonders zuträglich, jo
darf man wohl mit Recht annehmen, daß die Sieger
in diejem Streit, die großen Geldfürften Ihrer Zeit,
im geiftiger und moraliiher Hinfibt wahre Mufter
des Menjchengeihlechts waren. Wie fland es denn
damit ?*
„Seien Sie doch nicht jo ſarkaſtiſch, Doktor!”
„Das ift gar nicht meine Abficht; es fommt ganz
von ſelbſt. Sagen Ste mir dod: was hielt denn
die Welt im allgemeinen von den großen Kapitaliften
Ihrer Zeit? Was waren es für Menjchen? — Es galt
als Erfahrungsjah, dab, wer ein guter Geichäfts-
mann jein jollte, feine gelehrte Erziehung erhalten
dürfe — und das war ganz natürlich. Yede Kenntnis
allaemein bildender Willenichaften mußte ja den
Menſchen unfähig machen, fih an dem gemeinen
1125
Kampf um Geld und Gut zu beteiligen. So hören
wir denn auch, daß die Sieger im ſtonlurrenzlampf,
denen die größten Preiſe zufielen, meift damit praßlten,
daß jie feine geiftige Erziehung genofien und nie
mehr als die erften Anfangsgründe alles Wiſſens
gelernt hätten. Die Kinder und Enkel ſchämten ſich
meift des groben Ausſehens und Benehmens ihrer
Väter, weil es von dem Luxus, ber fie umgab, un«
angenehm abſtach. Ihre erworbenen Weichtümer
ließen fie ſich aber gern gefallen.
„So itand e& um die Geifteteigenjchaften jener
Geldmenjhen. Und in fittlicher Beziehung war es
um fein Haar befjer mit ihnen bejtellt. Ihr Leben
lang hatten jie jih die Schwächen, die Not und die
Irrtümer ihrer Nebenmenjchen zu nutze gemacht und
ſich erbarmungalos jedes Vorteil® bedient, den ihnen
der Zufall oder ihre Schlaubeit in die Hände pielte.
Bei allem, was fie faufen wollten, hatten fie ſich
gewöhnt, den Preis herabzudrüden, und beim Ber-
fauf getrachtet, den höchſten Gewinn zu erzielen.
Der Eigennuß war der Pol geweſen, um den fid)
all ihre Thun und Denken von jeher gedreht hatte,
und jo war ihnen jeder großmütige oder jelbitloje
Trieb allmählih abhanden gelommen, Zu jolcher
Seelen« und Gemütsverfaffung gelangte der Menſch
damals dur den Wettjtreit um Geld und Gut. Am
deutlichiten trat das natürlich bei denen hervor, welche
die höchſten Preije gewannen.
„Wäre aber dieſer entfittlihende Einfluß nur
auf die geringe Zahl derer befchränft geblieben, die
als Sieger aus dem Kampf hervorgingen, jo hätte
fih der Schaden nod ertragen laſſen. ber ber
Mettftreit war für den Gharafter der Millionen,
welche unterlagen, ganz; ebenjo verberblih. Ihr
Mißgeſchick befiel fie ja nur, weil fie weniger Fähig«
feit oder Glück hatten als die Sieger; fie brauchten
durchaus nicht tugendhafter zu jein als dieje oder
vor den Kunſtgriffen zurüdzuichreden, welche fie an»
wandten. Obgleih es faum einem unter Zehn-
taujenden glüdte, reich zu werben, jo mußte dod
jeder diejelben Regeln befolgen, ob es galt, jein Leben
zu friiten oder ein Vermögen zu gewinnen, ob er
einen Sad alter Lumpen laufen wollte ober eine
Eijenbahnlinie. Daher fam es, daß unter dem
ſtonturrenzſyſtem auch der ärmſte Mann, der den
Kampf ums Dajein fämpite, dabei den Troft eines
guten Gewijiens verlor, jo gut wie der Reiche. Die
Sage erzählt, daß der Teufel den Menjchen, die ihm
ihre Seele verkaufen, dafür die Güter dieſer Welt
verfpricht. Das war ein ehrlicher Vertrag in jeiner
Urt, Wer fi dem Teufel verjchrieb, erhielt immer
den ausbedungenen Preis. Das Konkurrenzſyſtem
aber war ein Hinterlifliger Teufel; es forderte die
Seelen aller und verlieh dod unter Tauſenden nur
einem die Güter der Welt.
1126
„Auf den erjten Blid wird e8 ung nun Mar
werden, Julian, dab der Erfolg unter dem alten,
verkehrten Konkurrenziyften etwas gang andres be=
deutete als heutzutage. Damals beftand jeder Ge—
winn nur darin, daß man andern fo viel wie mög⸗
lih von ihrem Gelde fortnahm. Die Sieger im |
Wettſtreit dachten gar nicht daran, das Wohl der
Gejamtheit zu fördern; geſchah dies trogdem einmal, |
fo war e8 der reine Zufall. Meiſtens ‚erzielten fie
ihren Gewinn nur durch den Verluſt der andern.
Kein Wunder daher, daß der Befit von Reichtümern
und der Triumph im Konkurrenztampf zur Schmad)
und Schande wurde Heute ift das ganz anders.
Wer am meiften dazu beiträgt, die Wohlfahrt aller
und den Beſitzſtand der Gejamtheit zu vermehren,
gilt als der Sieger im Wettlauf. Die, weldhe zurüd-
bleiben und feinen Preis erringen, find aber nicht
feine Opfer; er hat nur ihren Intereifen zugleich
mit denen des Gemeinwejens beſſer gedient, als fie
es allein hätten thıun können. Da nun die höher
begabten Menichen ihre Fähigkeiten ausſchließlich zum
allgemeinen Beften verwenden, jo gereichen fie aud)
den Minderbeanlagten zum Segen, Die Nemter und
Würden jamt allen Ehrenzeichen, welche die Sieger
im Wettjtreit erringen, dienen nur dazu, der Liebe
und Dankbarkeit des Bolfes Nusdrud zu verleihen,
als defjen größte Wohlthäter und hingebendſte Diener
jie ſich erwiejen haben.”
„Ih muß geftehen, Doktor,” fagte ih, „was
Sie mir biöher mitgeteilt haben, Klingt wahrhaftig,
als hätte man jemand angejtellt, um eine Lifte von
den ärgſten Schwächen und Hebelftänden des Privat»
fapitaliamus anzufertigen, Wie konnten die Ver—
teidiger des alten Syſtems nur glauben, dies jeien
ftihhaltige Gründe gegen die Einführung der neuen
Wirtihaftsordnung?“
Die Gleichheit als Feindin der Selb
ftändigfeit und Eigenart betradtet.
„Mid wundert nicht, dak es Ihnen jo vor—
kommt,“ jagte der Doktor. „Auch der nun folgende
Einwand wird Ihre Anficht beftätigen. Man ftellte
nämlich die Behauptung auf, dab, wenn dem ganzen
Volk die Erlangung des wirtſchaftlichen Unterhalts
gefihert und auf jede Weile erleichtert werde, alle
Selbitändigfeit im Denken und Handeln aufhören
und die Entwidlung unabhängiger und eigenartiger
Charaktere unmöglich werden würde. Dies hängt
im Grunde genau mit den beiden vorhergehenden
Einwürfen zufammen, aber die Gegner der neuen
Ordnung betonten es mit ſolchem Nahdrud, daß ich
es noch ganz beſonders angemerft habe,
„Es ift ſchwer zu begreifen, weshalb eine äußer-
lih unabhängige Stellung die unabhängige Ge-
finnung des Menjchen beeinträchtigen follte. Wenn
Edward Bellamy.
ih Sie num fragte, Julian, welches zu Ihrer Zeit
die günftigften Lebensbedingungen für den Menichen
waren, der ſich im geiftiger und fittliher Selbftändig-
feit erhalten und furchtlos nad feiner innerften
Ueberzeugung handeln wollte — was würden Sie
antworten ?“
„Ih würde jagen, daß bie Grundbedingung bier»
für die Sicherung des Lebensunterhaits ift.“
„Natürlich. Und gerade diejen geſicherten Unter
balt verfchaffte die neue Ordnung allen Menſchen.
Troßdem warf man ihr vor, fie untergrabe die Selb-
ftändigfeit des Charakters. Uns ſcheint im Gegen
teil, dab eine der größten Wohlthaten, welche bie
wirtichaftliche Gleichheit dem Menſchen gewährt, feine
Befreiung von jeglichem Zwang ift; denn für jeine
Meinungen, für fein Reden und Thun ift er nie
mand veraniwortli, außer feinem eignen Ge—
wifjen.
„Es war mwirflid eine Kühnheit obmegleichen,
daß die Verfechter des Privatlapitalismus e8 wagten,
zu behaupten, irgend ein andre Syilem fönne mehr
als das ihrige der menjhlihen Würde und Un—
abhängigkeit Abbruch thun. Der Hauptichaden, den
der Privatfapitalismus verurjachte, beftand ja eben
darin, daß er feige, liebedienerische und Friechende
Geſchöpfe erzeugte. Dies war die unausbleiblide
Folge einer Geſellſchaftsordnung, bei der faft jeder
in betreff jeine® Unterhalts von einer Perjon oder
einer Gruppe von Menſchen abhängig war.
„Sehen wir und ben Zuftand, der Welt einmal
aus diefem Gefihtspunft an. Betrachten wir zuerft
die Frauen, die Hälfte des Menſchengeſchlechts. Da
fie ſich faſt allefamt in wirtfhajtlicher Abhängigfeit
befanden und meift ihren Unterhalt von einem be
ftimmten Manne erhielten, blieben fie ihr Leben lang
teils den Befehlen des letzteren unterthan, teil& waren
fie genötigt, fi) einer ganzen Reihe ihren Geift be
ſchränkender Vorſchriften zu fügen, welche nach Gut
dünken der Männer von alters ber für fie ſeſtgeſtellt
waren. Fehlte e8 aber auch der Frau an jeder
Selbftändigkeit, jo erging es den Männern nicht viel
befjer. Der größte Teil der männlichen Bevölkerung
beitand aus Mietlingen, die von ihren Arbeitgebern
abhingen, und deren größtes Intereſſe es war, fih
die Gunft ihrer Herren zu fihern. Sie mußten
fo viel wie möglich ihren Meinungen, Vorurteilen und
Anjhauungen beipflidten und, wo fie das nidt
konnten, ftilljchweigen. Ein Beweis hiervon war die
geheime Abftimmung bei den Wahlen. Man bielt
diefe Einrichtung für notwendig, um es dem Arbeiter
überhaupt zu ermöglichen, feine Stimme zu geben,
wen er wollte. Daß die Arbeitgeber die Arbeitnehmer
einzufhüchtern und zu beeinfluffen ſuchten, wo fie
nur fonnten, war ein offenes Geheimnis, Die Kauf
leute und Handwerker hatten es noch ſchwerer, ihre
Gleichheit.
Unabhängigkeit zu wahren; fie mußten aller Welt
zu Willen fein, um die Kunden anzuziehen und feft
zubalten. Wie fland es denn aber mit den ſoge—
nannten gebildeten Klajjen, mit den Vertretern von
Kumft und Wiſſenſchaft? Waren fie wenigitens un—
abhängig im Denfen und Handeln? Laſſen Sie uns
auch diejer Frage einmal näher treten. Betrachten wir
zuerſt die Geiftlichfeit, die Prediger und Religions»
lehrer. Sie waren in wirtfchaftlicher Beziehung ent
weder die Diener einer firchlichen Behörde oder ihrer
Gemeinden und mußten für ihr Gehalt die An—
ſchauungen ihrer Herren verfündigen und feine andern.
Iedes Wort, das aus ihrem Munde ging, wurbe
lorgfältig auf die Wagichale gelegt, und wenn ſich
jelbjtändige und eigenmächtige Gedanken darin fund»
thaten, verlor der Geiftliche jeine Stelle. Ober jehen
wir uns ben weltlichen Unterricht der Profeſſoren
an den Gymnafien und Univerfitäten an. Beim
Studium der toten Sprachen jcheint noch einige Un—
abbängigkeit geherricht zu haben; wollte der Lehrer
fich aber über irgend einen Gegenftand von lebendigen
Interefje in einer Weile ausſprechen, die den Kapi—
taliften nicht zujagte, jo war es bald um ihn ge»
ihehen. Und wie ſtand e8 mit den Schriftſtellern
und Journaliften, die zu Ihrer Zeit einen jo großen
Einfluß befaßen? Eine bedeutende Zeitung war im
neunzehnten Jahrhundert gerade jo gut ein kapita—
fiftifches Unternehmen wie eine Tertilfabrif, und den
Redakteuren war es ebenfowenig gejftattet, nad} ihrer
perfönlichen Weberjeugung zu jchreiben, wie die
Arbeiter fih die Mufter ausiuchen durften, welche
fie weben wollten. Sie wurden dafür bezahlt, daß
fie die Anterefien und Anfichten der Kapitaliften
verfochten, denen die Zeitung gehörte, und feine
andern. Ein Unterfchied beitand jedoch zwiſchen dem
Prediger und dem Journaliften; erjterer halte die
auf alter Ueberlieferung beruhenden und daher feſt—
ftehenden Glaubensbelenntniſſe zu verfündigen, wäh—
rend die politijchen Anjchauungen, die der Redakteur
vertrat, häufig wechjelten, jobald die Zeitung in andre
Hände überging. Wie fonnte bei joldhen Zujtänden
überhaupt noch von geiftiger und fittlicher Unabhängig»
feit und einer freien Entfaltung der Eigenart des
Individuums die Rede fein? Wir beftreiten gewiß
nicht, daß alles, was die Selbſtändigkeil und Eigen-
art des Individuums bejchränft, verwerflich iſt, aber
diefe Selbjtändigfeit war damals jo jelten geworden,
daß fie bei einem Wechjel nur zunehmen fonnte.
Am allerwenigjten konnte fie dur die Einführung
der wirtjchaftlichen Gleichheit gefährdet werden, wie
Ihre Zeitgenojjen bejürdhteten.”
„Den Anhängern der Revolutionspartei fann es
wahrlich nicht ſchwer gefallen fein, die ſchwache Be-
weisführung ihrer Gegner zu nichte zu machen!“
„Das war allerdings eine leichte Aufgabe. So—
1127
wohl vom ethiſchen und politiſchen als vom wirtfchaft«
lichen Standbpunft aus war es jo ſchlecht um die Sache
ber Kapitaliften beftellt, daß fich überhaupt nichts
Stichhaltiges zu ihren Gunften vorbringen ließ. Der
befte Rat, den man ihnen geben fonnte, war, jtill«
zuichweigen, und fie würden ihn nur allzu gern be—
folgt haben, wenn nicht das Volt darauf gedrungen
hätte, daß fie fi gegen die Anlagen verteidigen
jollten, mit denen man fie überhäufte. Wie wenig
Anftrengung es aber auch den Revolutionsmännern
foftete, die Gründe ihrer Gegner aus dem fyelde zu
ſchlagen, jo blieb ihnen doch eine Riefenaufgabe zu
erfüllen, nämlich, die geiftige und fittliche Schlafiheit
der Mailen zu überwinden und fie zu eignem, ver«
nünftigem Denken anzuregen,“
|
Die Wirfung der Gleichheit auf die poli«
tiſche Beſtechlichkeit.
„Nun habe ich nur noch zwei oder drei Einwände
anzuführen, die des Erwähnens wert ſind. Der erſte
richtet ſich gegen die Art und Weiſe, wie das neue
Induſtrieſyſtem gehandhabt werden ſollte. Wenn
die Vollsregierung ſich auch auf Handel und Induſtrie
erſtreckte, ſo mußte natürlich eine öffentliche und
politiſche Verwaltung in großem Maßſtabe an die
Stelle der früheren, unverantwortlihen Macht der
Rapitaliften treten. Nun hatte fi aber die Re—
gierung der Vereinigten Staaten im ganzen und
einzelnen während des lehten Drittels des neun«
zehnten Jahrhunderts ungemein verſchlechtert — das
wußte jedermann. Einer jo fäuflihen und erbärm-
lichen Regierung noch größere Befugniſſe zu über«
tragen, erflärte man für den reinjten Wahnfinn.”
„Das läßt ſich Hören,“ rief ich; „es ift der erfte
wirklich vernünftige Einwand. Ich wenigſtens würde
großes Gewicht darauf gelegt haben, denn die Ktor—⸗
ruption unjers Regierungsſyſtems war wirklich himmel⸗
ſchreiend.“
„Ohne Zweifel,” ſagte der Doktor, „war die
politiſche Beftehlichkeit groß, und es herrichten viele
Mißbräuche. Um aber verjtehen zu können, welchen
Einfluß diefe Thatjache auf die Einführung der
wirtſchaftlichen Nationalverwaltung haben fonnte,
| müſſen wir fie etwas eingehender betrachten,
| „Ein Häufig vorfommender Mißbrauch war es
| zum Beijpiel, daß der öffentliche Beamte die ihm
; anvertraute Macht benüßte, um einen Privatgewinn
| zu erzielen, ſtatt das allgemeine Intereſſe zu fördern,
| ganz als ob e& ſich um jein eignes Geihäft handle,
bei dem er einen Profit machen wollte. Argwöhnte
man ein joldyes Verfahren, jo erhob ſich jedesmal
ein großes Geichrei dagegen, und zwar mit Recht.
Deshalb mußten die ungetreuen Beamten mit höchiter
Vorjicht zu Werke gehen und liefen fortwährend Gefahr,
| entdedt und bejtraft zu werden. So fam es, daß jelbit
1128 Edbwarb
unter der jchlechteften Regierung zu Ihrer Zeit bie
meisten Gejchäfte ordnungsgemäß und zum allgemeinen
Beten ausgeführt wurden, und fi nur dann und
wann unrehtmäßige Einflüſſe geltend machten.
„Wie Hand es dagegen mit dem Verfahren der
Kapitaliften, welche den wirtichaftlichen Mehanismus
in Händen hatten? Sie nahmen gar nicht einmal |
die Miene an, als ob fie das öffentliche Intereſſe
irgend etwas anginge, und verfolgten feinen andern
Zwed, als ihre Stellung zu benußen, um ſich den
größten perjönlichen Gewinn aus dem Geſamtver—
mögen zu fihern. Das heißt alio: die Benugung
de3 öffentlihen Mechanismus zum Privatgewinn,
welche bei dem Beamten verurteilt, als Verbrechen
befttaft und dur die Wachſamleit des Publifums
meijt verhindert wurde, war bei den Kapitaliften ein |
feftitehender Gebrauh, wie fie unummunden ein=
geitanden. Der Beamte war ſtolz darauf, wenn er
feine Stelle ebenjo arın verließ, wie er fie angetreten
batte; der Kapitalift prahlte damit, wenn er die
Gunft der Verhältnifie benutzt hatte, um jich ein
Vermögen zu erwerben. Der Gewinn des Kapita—
liften galt nicht für unreblich, wie der des Mannes,
welcher ein öffentliches Amt bekleidete. Aber diejer
fogenannte rechtmäßige Profit foftete dem Volk, das
ihn bezahlen mußte, gerade jo viel wie ber gejeh-
widrige Naub der Beamten.
„Und doch lehrten die Mugen Leute in ſtenloes
Sammlung das Bolf, es jei gefährlich, der öffentlichen
Verwaltung noch meitere Befugniſſe zu erteilen, weil
es trotz aller Vorſicht den angeftellten Beamten bis—
weilen gelänge, ihre Stellung zu Privatzweden zu
mißbrauchen. Dan behauptete, es ſei ficherer, den
Privatfapitaliften die Verwaltung zu überlafien, und
Bellamp.
wachten, war ganz in der Ordnung, aber dab auf
der Profit der Kapitaliften aus dem Gemeindeſäck
fam, fonnten fie nicht einjehen. Obendrein war bei
ben Geſchäften der lekteren der Prozentjah viel höher
als bei den Mißbräuchen, welche ſelbſt die unredlichften
Beamten treiben fonnten,
„Das. Gewinninftem der Kapitaliften war bei
weitem verderblicher für die Gejamtheit als bie Un—
treue ber Beamten. Damit ſoll jedod nicht geſagt
fein, daß dieſe geduldet zu werben brauchte, wenn
man mit gehöriger Wachſamkeit verfuhr. Die gröte
Wachſamkeit herrſcht aber immer da, wo den Beamten
wichtige Interejien anvertraut werden. Wenn die
öffentliche Verwaltung über das tägliche Wohl oder
\ Wehe des Gemeinweſens zu entiheiden hat, jo wird
dod) thaten dieſe offenkundig und gemwohnheitsmäßig |
das, wofür die Beamten beftraft wurden, wenn man
fie einmal dabei ertappte — fie bereicherten fich auf
Öffentliche Koften. Mit demjelben Recht hätte man
einem Gutsbeſitzer, der es jchwierig fand, Verwalter
zu befommen, auf deren Redlichfeit er ſich feit ver«
fafien konnte, den Nat erteilen müflen, feine An—
gelegenbeiten berufsmäßigen Spigbuben anjuver-
trauen.“
„Sie wollen damit jagen, daß bei der politischen
Korruption das Gewinnſyſtem den Beamten nur in
einzelnen Fällen ald Handhabe diente, während es
bei allen Privatgeihäften die Grundlage bildete?“
Jawohl.
vergaß er ſeines Eides und janf zu der moraliſchen
Stufe herab, auf der alle Privatgeichäfte anerfannter-
maßen betrieben wurden. Wie Ihre Zeitgenofjen
diefe Thatjache jo gänzlich überjehen fonnten, ift mir
wirflid; unverftändlih, Julian. Daß fie die Hand«
lungsweife der angeftellten Beamten genau über-
Wenn ein öffentlicher Beamter fich |
eine Veruntreuung zu Schulden fommen lieh, fo |
e8 auch an der nötigen Ueberwachung nicht fehlen
Die größten Mißbräuche famen immer in denjenigen
Regierungsdepartements vor, für die ſich die Mafıe
des Volls am wenigften interejfierte. Die Leute,
welche ji dagegen auflehnten, daß die Regierung
die Verwaltung des neuen Wirtſchaftsſyſtems über:
nehmen follte, weil die Beamten nicht zuverläflig
feien, hätten im Gegenteil dafür ſtimmen müſſen,
| weil es das befte Mittel war, um dem Uebel zu fteuern.
„Die Gegner der neuen Ordnung zeigten ihre
Kurzlichtigkeit noch bejonders darin, daß fie niät
die große Gefahr erkannten, welche für Amerika in
der Beitechlicyleit der Geſetzgeber lag, von denen ſich
die Privatlapitaliften FFreiheiten und Privilegien
verbürgen ließen. Im Vergleich zu dieſem Mißbrauch
famen direfte lnterjchleife oder Beftechungen gar
nicht in Betracht, und er hätte auf der Stelle auf
hören müflen, jobald die Regierung mit der öffent:
lihen Wirtjchaftäverwaltung betraut wurde; denn
gerade derartige Unternehmungen der Sapitaliften
wollten die Revolutionsmänner am ftrengiten be
aufſichtigen.
„Es handelte ſich dabei natürlich nur um dir
Zeit während der Einführung der neuen Ordnung.
Später war überhaupt jede Möglichkeit einer Ber:
untreuung abgejchnitten, da alle nad) dem Get
genau das gleiche Einkommen bezogen,”
„Mit der Thorheit der Leute in Kenloes Bud
wird es ja immer jchlimmer,“ rief ih. „Num habe
ich auch genug gehört; laſſen wir es hierbei be
wenden !”
Noch einen Augenblid Geduld,“ jagte der Doktor.
„Wir wollen die Sache zu Ende bringen, num wir
einmal dabei find. Zwei Einwürfe, die gemadıt
wurden, möchte ich noch mit Ihnen beſprechen.“
Die angeblide Bedrohung der Freiheit
durch die neue Ordnung.
„Vor allem behauptete man, durch die wirtjhaft:
lihe Nationalverwaltung befäme der Staat ein
Gleichheit.
Macht in die Hände, welde für die Freiheit der
Nation gefährlich werden Zönne, und wenn die Re
gierung noch jo volfstümlidh wäre,
„Hierbei wurde ftillichweigend vorausgeieht, daß
das Volt unter dem Privatlapitaliamus in indu= |
‚ und jehen wir lieber zu, welche Wirkung die wirtjchaft-
liche Nationalverwaltung ihatfählih auf die Volls—
ſtrieller Peziehung frei und unabhängig gewejen jei.
Aber das entſprach, wie wir wijien, feineswegs dem
Thatbeftand. Unter dem alten Syſtem waren Handel
und Induftrie, welche der großen Maſſe Beihältie
gung und Lebensunterhalt gaben, in der Gewalt
einzelner deſpotiſcher und unverantwortlicher Herren.
Das Verlangen nad) wirtihaftlicher Nationalverwal«
hing war überhaupt nur entitanden, weil das Bolt
unter dem Jod) der Kapitaliften jo Schweres zu er»
dulden hatte.
„Sm Jahre 1776 hatten die Amerifaner die
königlich britiiche Herrihaft in den Kolonien ab-
geihüttelt und fi; ihre eigne Nationalregierung
gewählt. Was würden fie wohl gejagt haben, wenn
ihnen der englische König damals eine Botichaft ge—
ſchickt hätte, um fie zu warnen, weil fie Gefahr liefen,
ihre Freiheit zu verlieren, wenn fie der neuen Re—
gierung die Funktion übertrügen, weldhe England bie-
ber auszuüben pflegte? Man hätte die Gejandten |
einfach verladt und fie mit dem Auftrag heim= |
geichidt, dem Könige zu verfünden, daß die Ameri- |
faner ſich nicht mehr einer ſremden und feindjeligen
Gewalt beugen, jondern ſich jelbit regieren wollten,
wie es für ihre eignen Intereſſen am förderlichſten
ſei. Einen andern Zwed hatte auch die wirtſchaſt—
lihe Nationalverwaltung nit. Die Frage war
nur, ob e3 der Nolfsfreiheit dienlicher fein würde,
wenn nicht verantwortliche Perſonen mit feindlichen
Interefien die Macht in Händen hatten, oder wenn
das Wolf ſelbſt darüber verfügte und fie verante
wortlichen Beamten übergab? ine Enticheidung
hierüber zu treffen, war nicht ſchwer. j
„Und dennod hat ein befannter Philojoph, der |
zu jener Zeit lebte, durch eine Abhandlung, welche |
noch vorhanden ift, zu beweiien verjucht, daß, wenn |
der demofratijche Gedanke aud auf die wirtſchaftliche
Nationalverwaltung außgedehnt würde, das Bolt |
bald in eine Stiaverei geraten müfje, gegen welche
die Zeiten eines Nero und Galigula noch erträglich
zu nennen wären, Sätte id) nur jenen Philoſophen
bier, um ihn zu fragen, wie er fi das eigentlich
vorgeftellt hat! Sollten ſich die Leute etwa jelbft
das Jod) der Knechtſchaft auflegen? Oder erwartete
er, daß ein Gemwaltherricher fich des ſozialen Me—
chanismus bemächtigen und das Volk unterwerfen
merde? Wie war das denkbar in einem Staat, der
geſchlechtlicher Selbfibeitimmung und Unabhängigfeit
feine Klafjenintereffen fannte, wo es weder Ariſto—
fratie noch Pöbel gab, und an deffen ruhigen Fort»
bejtand das Lebensintereſſe jedes einzelnen Bürgers
gefmüpft war? Wer den Umfturz einer jolhen Re»
Aus fremden Qungen, 1897. IL 24.
1129
publif befürchtete, hätte ebenſogut glauben fünnen,
daß die Pyramiden ſich plöglih, allen Ratur-
‘ gefegen zum Trotz, umkehren und auf die Spihe
' ftellen würden.
„Aber laſſen wir die Toten ihre Toten begraben,
regierung hatte. Selbſt wenn der Regierungd-
mechanismus, der alles regelte, fontrollierte, bejtimmte
und Teitete, ebenſo umfangreidy geblieben wäre, jo
würde er umter der Selbjtverwaltung des Volles dod)
erträglicher gewejen fein, als da nod die Kapitaliften
das wirtjchaftliche Leben beherrichten, weil afles nur
im Intereffe und zum Nuben der Gejamtheit ge-
ſchah. Aber das MWirtfchaftsiyften erhielt durch
feine Verftaatlihung nicht nur einen ganz; andern
Gharalter und Zwed, fondern die Verwaltung jelbft
wurde auch weientlich vereinfacht. Dies war bie
natürliche Folge der Einheitlichfeit des Syftems, in
welhem alle Zeile miteinander und füreinander
arbeiteten, während die frühere taujendföpfige Ber—
waltung den verſchiedenſten und entgegengejepteiten
Intereifen gedient hatte. Den Arbeitern mußte «8
vorfommen, als feien fie plöglih dem Taunenhaften,
perjönlichen Regiment zahllofer Feiner Dejpoten ent=
ronnen und einer gejeßmäßigen Regierung unter-
worfen worden, die nad) jo einfachen und geordneten
Grundfäßen verfuhr, daß niemand mehr das Gefühl
hatte, als ſtehe er unter einem perjönlichen Regiment.
„Der Vorwurf, den man der neuen Ordnung
machte, daß unter ihr zu viel regiert werde, mußte
fi) befonders im weiteren Verlauf als haltlos er-
weilen. Sobald die vollfommenfte joziale Ge-
rechtigfeit hergeftellt war, wurde faft der ganze frühere
Regierungsmehanismus völlig überflüffig. Zu Ihrer
Zeit beitand das Hauptgeſchäft der Regierung in
' dem Schub des Eigentums und Lebens gegen bie
Verbrecher, wobei nicht felten ganz unichuldige Per—
fonen fälfhlih angeflagt wurden. Mit dergleichen
bat der Staat jeht gar nichts mehr zu thun. Jeder
erhält jo viel, wie er braucht, aber nicht mehr und
nicht weniger als jeine Nebenmenjchen. Früher
entitand aud eine große Zahl von Verbrechen aus
Liebe oder Eiferſucht. Das war die Folge jener ſeit
urdenflihen Zeiten bejtehenden, barbariichen Vor—
itellung, dat Mann und Weib ein geſchlechtliches
Eigentumsrecht aneinander bejähen, welches auch
gegen den Willen des einen oder andern Teils bes
hauptet werden könne. Alle derartigen Verbrechen
hörten auf, al® die erſte Generation umter der
Herrſchaft der wirtichaftlichen Gleichheit in vöfliger
aufgewadhfen war. Da es feine höheren Klaſſen
mehr giebt, weldje e& für ihre Prlicht halten, die
niederen Klaſſen zu lehren, was fie thun und laſſen
142
1130
follen, jo macht auch die Geſetzgebung feinen Verſuch
mehr, das perfönliche Verhalten der Menſchen bei
ihren eignen Angelegenheiten zu regeln. Eine
foordinierende Oberleitung unjrer Genofienidhafts-
indufirie werden wir immer brauden, aber von
anderweitiger Regierung ift jeßt bei uns jo gut wie
gar nicht mehr die Rede. Es ift von jeher ein
Traum der Philoſophen geweſen, daß dereinſt Ver«
nunft und Gerechtigkeit in der Welt zur Herrſchaft
gelangen würden, jo daß die Menſchen ohne Geſetze
miteinander in Frieden leben könnten. In betreff
aller Zwangs- und Strafbeftimmungen haben wir
dieſen Zuitand bereits erreicht. Die freiheit des
Handelns wird jo wenig durch die Geſehe beſchränkt,
daß man faft jagen könnte, wir lebten in völliger
Anardie.
„Auch mit Bezug auf die allgemeine Pflicht bes
Öffentlichen Dienftes herrfcht im Grunde fein Zwang ;
das habe ih Ihnen ſchon neulich gelagt, als wir auf
der Arbeitsbörje waren. Wir verlangen nur, daß
alle, die ſich gänzlich weigern, an der Erhaltung der
jozialen Wohlfahrt mitzuarbeiten, aud) deren Vorteile
nicht mitgenießen dürfen. Sie müffen fi von den
andern abjondern und allein für ſich jorgen.“
Die Malthusihe Theorie.
„Seht kommen wir zu dem lepten Einwand, der
auf meiner Liſte fteht. Er unterſcheidet ſich dadurch
ſehr weientlih von allen andern, daß die Leute,
weldje ihn vorbrachten, bie wirtſchaftliche Gleichheit
fowohl für praktiſch ausführbar als für wünſchens—
wert hielten. ‚Das neue Syſtem', jagten fie, ‚würde
von Erfolg gelrönt fein, die Wohlfahrt der Menjchheit
ungemein fördern und alle Zuftände auf Erden jo
angenehm wie möglid machen.‘ Aber gerade diejer
zu erwartende Triumph des Syſtems machte fie zu
feinen Widerſachern.“
„Das ift ja höchſt wunderbar,“ rief id; „was
hatten fie denn dagegen einzumenden?“
„Wir wollen einmal annehmen‘, jagten fie, ‚daß
die Armut und alle verderblihen Einflüſſe auf Leben
und Gefundheit, die fie in ihrem Gefolge hat, aus
der Welt verſchwinden, und feinem Menſchen feine
natürliche Spanne Zeit auf Erden verkürzt wird.
Da nun einem jeden der Unterhalt für ſich und feine
Kinder gefichert ift, jo würde feine weile Vorficht die
Zahl der Rachlommenſchaft mehr beihränten. Die
Menſchen würden ſich mit weit größerer Schnelligkeit
vermehren als früher und die Erde übervöltern, welche
jchließlich ipre Bewohner nicht mehr mit Lebensmitteln
verjehen fünnte, wenn man nicht ganz neue, un
erichöpfliche Nahrungsquellen entdedte.‘*
„Das ſcheint mir gar nicht unverjtändig,“ ſagte
ich. „Ein ſolches Ergebnis ließe fich allerdings er-
warten, wie die Sachen fliehen.“
Edward Bellamp,
„Ja, aber die Sachen fliehen ganz anders,” meinte
ber Doktor, „und deshalb würde auch ber Erfolg ein
ganz andrer jein,“
Wieſo?“ fragte ic.
„Schon wegen der allgemeinen Verbreitung von
Bildung, Kultur und Verfeinerung der Sitten. Sagen
Sie mir doch, gab es denn zu Ihrer Zeit im der
wohlhabenden und gebildeten Klaſſe in Amerika ſeht
viele zahlreiche Familien ?*
„Im Gegenteil. Die Geburten und Sterbefäle
glichen ſich meift gerade aus.“
„Gründe der Klugheit und Vorſicht werden jene
Leute aber jchwerlih bewogen haben, ihre Zahl zu
bejchränfen. Sie waren in dieſer Beziehung ganz
ebenjo unabhängig geftellt wie wir heutzutage bei
wirtfchaftlicher Gleichheit und gefichertem Unterhalt.
Haben Sie wohl je darüber nachgedacht, warum die
gebildeten und mohlhabenben Familien zu Ihrer
Zeit nicht größer waren?“
„Bermutlich fam dabei die Thatſache in Betradt,
daß, wo durd Kultur und Bildung geiftige und
äfthetifche Interefjen geweckt wurden, der rohe Natur»
trieb feine jo bedeutende Rolle mehr im Leben Ipielte.
Auch hörte bei zunehmender Zivilifation die Frau
auf, im geſchlechtlicher Beziehung die leibeigene
Sklavin des Mannes zu fein, und ihre Wünjche fanden
demgemäß Berüdfihtigung.“
„Ganz redt. Was Sie eben gejagt haben, ge
nügt, um bie Verfehrtheit der Malthusſchen Theorie
zu beweilen, two e8 jih um die Zunahme der Be
völferung infolge der beſſeren fozialen Bedingungen
handelt. Malthus behauptete, wie Sie wiſſen, dab
die Menſchen ſich rafcher vermehren als die Mittel zum
Unterhalt, daß daher die Armut und die mit dieler
verbundene große Sterblicdhfeit unumgänglich nötig
fei, wern die Welt nicht wegen Uebervölklerung dem
Hungertode verfallen jollte, Diefe Lehre fand natürlich
bei den Reichen und Gebildeten, welche für das Elend
der Welt verantwortlich waren, ungeheuren Anflang.
Sie freuten ſich jehr, zu hören, daß ihre Gleid-
gültigfeit gegen die Leiden der Armen, ja die Ber
größerung derjelben durch ihre Mithilfe im Plau
ber Vorſehung liege und deshalb eher lobenswert alt
verwerflich jei. Auch ließ fi die Malthusiche Theorie
ſehr bequem gegen alle Vollsfreunde ins Feld führen,
weldye der Armut fteuern wollten. Man bewies ihnen,
dab ihre Reformen der Menfchheit feinen Segen
bringen, jondern nur Uebervölkerung erzeugen würden,
bei der alle Welt verhungern müßte. Der elendefte
Bedrüder der Armen konnte ſich auf dieſe Lehre bee
rufen, um als ein verfappter Wohlthäter der Menid-
heit zu erjcheinen, und der edelſte Philanthrop richtete
nur Schaden an,
„Wäre es nicht jo wunderbar bequem geweſen,
| die Malthusiche Lehre ala Entihuldigungsgrund für
a
Gleichheit.
alle herrjchenden Uebelftände zu benußen, jo hätte
man fich die große Verbreitung und den Beifall, den
diefe abgejhmadte Theorie fand, auf feine Weije
erflären können. Sie behauptet zwar mit vielem
Nahdrud, daß die Armut, mit Lafter und Elend im
Bunde, die größte Sterblichfeit erzeugt, aber daß die
Armut zugleich eine Verrohung mit ſich bringt, Die
ih in allzu großem Bevölkerungszuwachs kundthut,
läßt fie gänzlich außer at. Wenn auch Hundert-
taujende durch Mangel und Not umlamen, jo wur-
den ohne jegliche Borfiht Millionen von Menichen
in die Welt gejekt.
nur auf die Verminderung der Bevölkerung durch
Not und Mangel hin; ihre ungeheure Zunahme ger
rade bei den roheſten, elendeften Zuftänden lieh fie
unberüdfihtigt, und darin lag ihr verhängnispoller
Irrtum.
„Diejer Irrtum ließ fi um fo weniger ent«
ihuldigen, al Malthus und jeine Anhänger in einer
Zeit lebten, die in völligem Widerſpruch zu jeiner
Theorie jtand. Sie brauchten nur die Augen zu
öffnen, um zu jehen, daß gerade da, wo Armut, |
Schmußt und Elend berichten, die fie ald Hemmung |
der Uebervöllerung anſahen, die unbegrenzte Fort⸗
pflanzung im Schwange war, während ſich in jeder
Klafje, die eine höhere Lebensführung anftrebte, die
Zunahme verringerte. Es jtellte ſich aljo als un—
beftreitbare Thatjache heraus, daß man den twirt«
ſchaftlichen Zuftand der Mafjen nicht herabdrüden,
ſondern ihn heben und ihre allgemeine Wohlfahrt
fo viel wie möglich fördern müfle, um einer uns
verftändigen Vermehrung der Menichen zu jteuern.
Wäre Malthus ein Anhänger der Umfturzpartei ge=
wejen und nicht ein Verteidiger des Kapitalismus,
jo hätte man ihm den gröblichen Irrtum, der jeiner
Die Maithusiche Lehre wies |
1131
‘ ganzen Theorie zu Grunde lag, nicht jo ruhig hin—
gehen laſſen.
„Tod genug von Malthus. Die Verhältniffe,
in denen die gebildeten Klaſſen zu Ihrer Zeit lebten”
— alſo auch die beichränfte Zahl der Geburten —,
‚ waren vorbildlich für den Zuftand aller, jobald die
‚ wirtjchaftliche Gleichheit eingeführt wurde, und damit
ift die Behauptung, daß Mebervölferung eintreten
müßte, bereit8 widerlegt. Aber der Gegenbeweis
läßt ſich auch noch auf eine andre Weife führen, wie
die Zukunft gelehrt hat. Sie haben foeben gejagt,
daß ein Grund, warum in den gebildeten Familien
| weniger Kinder geboren wurden als in den unteren
Klaffen, der war, dab man in erfteren die Wünſche
der frauen mehr berüdjichtigte al® in legteren. So—
' bald die wirtſchaftliche Gleichheit für beide Ge-
ſchlechter beitand, war der Wille der Frau bei allen
| derartigen Angelegenheiten natürlid) der entjcheidende.
Ehe die große Ummälzung eintrat, beftimmte das
Geichlecht, welches die Kinder nicht zur Welt bringt,
| über ihre Zahl, und die natürliche Folge davon war,
dab Malthus es wagen durfte, mit feiner Lehre auf-
zutreten. Die Natur hat durch die Mühen und
Sorgen der Mutterfhaft für eine genügende
Hemmung gelorgt, wie fie aud) alle andern natür-
lihen Funktionen vor Mißbrauch ſchützt. Soll aber
diefe Hemmung der Natur ihre geeignete Wirkung
üben, jo müfjen auch die Frauen frei über fich ver-
fügen fünnen. Die Grundbedingung diefer freien
Verfügung ift aber die wirtfchaftliche Unabhängigkeit.
Wird nur diefe erft geſichert, jo fünnen wir ung feſt
darauf verlaflen, dab die Menjchheit nicht ausſtirbt
— dafür forgt Schon der Naturtrieb —; aber aud)
vor einer unvernünftigen Webervölferung der Erbe
ı braucht uns niemals bange zu fein.”
2.
a
Miſchka.
Gljeb Ulpensky.
Aus dem Ruffifchen überfeßt vor A. Diſchwang und G. Kryzanowski.
Iwan Jermolajewitſch entſchloß ſich, feinen Sohn
zur Schule zu jchiden. Hierzu muß bemerft werden,
daß Iwan Jermolajewitich über die Notwendigfeit,
etwas zu lernen, höchſt unflare Gedanten hatte. Er
ſelbſt brauchte für gewöhnlih feine Schultenntnifie.
Sein eigned Beben wie das jeiner familie — den
elfjährigen Sohn miteinbegriffien — lieferte ihm
außer viel Arbeit eine ſolche Maſſe von Erfahrung,
daß nicht das mindeſte Bebürfnis nad fremdem
Wint und Rat, furz, nad) irgend etwas, das nicht
in feiner Wirtihaft, aus jeinem Brunnen geichöpft war,
fi geltend machen fonnte. Aber zuweilen, minuten»
weile, erjchredte ihn irgend etwas Unbeftimmtes,
Unbegreifliches, etwas weit, weither Kommendes.
Eine Ahnung dämmerte ihm auf, daß irgendwo |
draußen in der Ferne etwas Schlimmes, Schwieriges
feime, deifen man aber mit Hilfe des Verſtandes
Herr werden könne, Und wie er aus einem fernen
Glodenllang auf eine Feuersbrunſt ſchloß, wenn er
auch nicht wußte, wo oder bei wen es brenne, jo
witterte er bei gewillen Anläjlen irgendwo irgend |
| e8 muß fein, e8 muß.“
eine Gefahr, wenn er auch nicht jagen fonnte, worin
fie beftebe.
Und in ſolchen Augenbliden war es,
daß er die Bemerkung machte: „Miihutfa muß
ſagt immer aufs neue: „Nein, e8 muß fein, es muß.“
' Und ich antworte:
lernen!“
Erftaunlih merlwürdige Umftände feiteten ihn
zu diefem Gedanken. Einmal, zur Zeit der Heu—
mahd, gingen wir über Wiejenland, das von deutfchen |
Kurländern gepadtet war. Wir jtießen auf einen
Kurländer, der da auf einem Haufen Heu ſaß und
etwas verzehrte. Näher tretend, jahen wir auch,
daß es Fiſch war.
„Was ift das für ein Fiſch?“ erfumbigte ſich
Iwan Iermolajewitic.
„Brätling.”
„Laß mal koſten!“
Der Deutihe gab ihm; Iwan Jermolajewitſch
betrachtete den Fiſch, drehte ihn in der Hand, maß
ihn, biß ein Stüdchen ab, faute e8 und fragte:
„Wie teuer?“
Der Deutihe nannte den Preis.
Iwan Jermolajewitih ab den Fiſch zu Ende,
dankte, und wir gingen weiter. Und nun, bei diejer
Gelegenheit that er einen tieftiefen Seufzer und
fagte: „Nein, Mituſchla muß lernen! Auf Ehr' und
Eeligfeit, font gebt alles zu Grund! Haft du ge
jehen, was für einen Fiſch er ißt?“
Der er fuhr irgendwohin, nad) einer Mühle,
einer Bahnftation, ſah dort allerlei Leute, hörte
allerlei ipredhen, und niedergedrüdt durch die Maſſe
von Eindrüden, unwirſch und einfilbig jagte er:
„Nein, e8 muß fein — er muß fort — im bie
Schule!”
Aber daheim bei der Arbeit entſchwand ihm al
das wieder. Er vergaß, warım Miſchla mit einem:
mal lernen ſollte. Kurz, nur ein unangenehmer
Drud, den er außerhalb des Haufes fühlte, ein ge
wies Unbehagen, Zeitwehen fozufagen, die er nidt
in bejtimmte Worte faflen konnte — dies, nur dies
brachte ihn auf den Gedanken, daß Miſchka lernen
müſſe. Was er jedoch eigentlich lernen jollte, dam
über wurden wir ung nie fo redht far. In unjern
Geſprächen über dieſes Thema wurde vielmehr immer
nur das eine wiederholt: „Es geht nicht anders —
Er fiht da, in etwas gebrüdter Haltung, fidt-
lid) von einem einzigen Gedanken beherrſcht, und
„Sa, es muß jein, Iwan Jermolajewitſch!
„Wie denn?” fragt er, indem er wahriheinlid
nad ein paar tüchtigen Gründen jucht, um feine
Worte zu unterftügen. In der Regel aber findet
er die Stühen nicht, die Worte bleiben, wie fie ſtehen,
| und nad langer Zeit ſeufzt er nur abermals und
jagt: „Ad, es muß fein, ed muß. Es geht nicht
anders.“
Und ih darauf: „Natürlich, es muß jein.“
„Run, was jag’ id denn? Das jag’ id ja
eben — es muß jein. Anders geht's nicht.“
„Natürlich muß es. Und warum denn wicht?
Was fleht denn im Weg?”
Dergeftalt erörterten wir die Sache oft ziemlih
lang und gingen dann auseinander mit dem jdhred-
lihen Gewicht auf der Seele: „Es muß jein, e&
muß,“ Iwan Jermolajewitfch ratlos ergeben in dus
7
— ——
Miſchka.
Unbegreifliche und ich zu bequem, es ihm zu er—
Hären. Ja, oft wußte ich ſelbſt nicht mehr, wie
diejes furdtbare Muß begründen.
Schweren Herzens und jo widerwillig wie mög«
li begann Iwan Jermolajewitich endlich fein Vor—⸗
haben ind Werk zu ſetzen. Die Getreidearbeit ift
längjt gethan, ber Herbft geht zu Ende, und der
Winter ftellt fih ein, und immer noch ift Miſchla
nit in der Schule. Immer noch denft Iwan
Jermolajewitſch nad, wen er ihn übergeben ſolle.
Zunächſt denkt er an eine Lehrerin. Aber auf
der Station macht man ihm llar, daß eine Lehrerin
nichts tauge.
„Meberleg doch mal jelbit," jagt man ihm.
„Was fanı ein Frauenzimmer denn leiften? Lernen
ift doch eine ernjthafte Sache. Und nun, Bruber,
nehmen wir zum Beiipiel deinen Mijchla! Den
zu verhauen, was für ein Lehrer gehört nicht dazu?
Verſuch mal, ihm die Dummheit auszutreiben! Du
meinft, Bruder, das wäre jo leiht? Oho, Bruder,
gefehlt! Du wirft ſchwitzen. Hier heißt's jo...
Lieber Gott, wie joll ein Frauenzimmer das leiten?
Nein, ih rate Dir: ſuch dir einen Lehrer, der’s
ernſt nimmt. So ſteht's. Einen, der deinem Michailo
gleich bei erften Wort die Courage abfauft, der ihm
Drdnung beibringt, der nicht nachläßt, der ihn auf
feinen Fleck ftellt und mit einem Schlag bändigt —
ihm den Bauernjchädel — ſchwapp, ſchwapp — aus-
treibt! So!“ — er zeigt eine Fauſt —, „daß er glaubt,
fein letztes Stündlein hat gejchlagen! Dann wird
er zur Befinnung fommen. Sonſt kriegt er zwei
Jahr lang den Bauernteufel nicht los. Ich weiß
ed nah mir. Mein Vater, nicht aus den Augen
Hat er mich gelaffen, wie ich angefangen habe zu
lernen: immer mit dem Steden hinter mir her. Und
wie er fi nur umbdreht, ich wupps über den Zaun!
Serrgott, was der mich geprügelt hat! Was meint
du, he? Und dafür bin ih ihm jekt danfbar, ja!
Aber die Prügel! Vom Haus bis zur Schule
in einem Ritt! Immer hat er mir mit dem Steden
das Geleit gegeben. Ich made eine Wendung —
eins! — ich will ein bißchen ſeitaus — zwei! Mandj-
mal war's ein förmlicher Kampf, mich in die Schule
hineinzufchlagen — und du jprichjt von einem Frauen⸗
zimmer, du willft Ordnung von einem Weibsbild ?*
So murde denn der Beihluß gefaßt, Miſchka
einem Lehrer zu überantworten. Iwan Jermolaje-
witſch fuhr eigens zu diefem Zwede in eins ber
nächſten Dörfer, wo eine Semftwojchule bejtand,
ſprach mit dem Lehrer, und endlich rüdte der Tag
heran, wo man mit Michailo zur Schule fahren
mußte,
„Siehft du?" jagt Iwan Jermolajewitſch. „Jetzt
geht's bald zur Schule. Schau zu, daß du mas
lernſt!“
————— —— — — — in =
1133
Miſchla fchmeigt, antwortet feine Eilbe. So
macht er es immer, wenn das Geipräh auf bie
Schule fommt. Sonſt ein lebhafter, munterer, ger
jprädjiger Junge, wird er dann: wie ein Gtein:
ärgert fich nicht, freut ſich nicht und blidt verftodt
und verjchlagen vor fidh hin.
Der Tag der Abfahrt ift nun da, und Iwan
Jermolajewitich jagt unter ſchweren Seufzern:
- „Nun, Micha, jebt werden wir gleich fahren !
Mutter, zieh den Miſchka an!“
Die Mutter thut es und weint. Auch dem Iwan
Jermolajewitich ftehen die Thränen nahe, und dabei
fann er nicht begreifen, weshalb, warum, wozu er
all dieje Dual erdulde, Dagegen giebt Miſchka
feinen Laut von fid.
Man fragt ihn: „Freuſt du did, in die Schule
zu fommen?“
Er ſchweigt.
Man fragt: „Du gehft wahrjheinlich nicht gern
zur Schule?”
feine Antwort,
Oder vielmehr, er antwortet doch. In dem Augen-
blid nämlid, da er angefleidet und überhaupt alles
zur Abreiſe bereit ift, da der Knecht das angejchirrte
Pferd vorführt, und Iwan Yermolajewitih nad
hartem Kampf mit fich felbft in tiefer Schwermut
den Schlitten bejteigt und feufzend jagt: „Kriech
herein, Miſchutla!“ — in demſelben Augenblid ftellt
es ſich heraus, daß Miſchutla, der ſich bisher jtarr
und fteif verhalten wie ein Stüd Eifen — daß
Miſchutla nicht da ift.
Man ruft, man jchreit — feine Antwort. Man
beginnt zu ſuchen — er ift nicht zu finden: im
Stall, jeder Winkel in Haus und Hof wird durd-
jucht — nirgends ein Michailo. Iwan Jermolaje—
witjc wird unruhig.
Ich fragte ihn doch, den Teufelsrader,” grollt
er, „willſt du lernen oder nicht?" Er jchweigt wie
ein Stein, dieſer Hloß, und jet reißt er auß!
Komm du mir nur wieder! ch werde die Ant-
wort jchon aus dir herausſchlagen.“
Aber diefer Zorn im väterlichen Herzen wid
bald dem Mitleid, und nicht lange, jo reute es
Iwan Jermolajewitich tief, daß er die „ganze Mufit”
angefangen. „Er hätte eben daheim gelebt, ſich an
die Arbeit gewöhnt, und da muß mid plößlich der
Satan plagen... .*
Abends neigten fi die Gedanken Iwan Jer—
molajewitſchs endgültig dahin, dab die ganze Mufik
umjonft angefangen worden, Die Dämmerung fam,
aber fein Miſchta. Alle, auch der Knecht nicht
ausgenommen, verjanfen in tiefen Kummer, der fich
aber plößlih in helle freude verwandelte, als jpät
abends ein Bauer aus dem Nachbardorfe den Miſchka
nad) Haufe brachte. Alles ſchwamm in FFröhlichkeit.
1134
Niemand dachte mehr an Schule und Bildung; die
Prügeldrofung war vergelien. Man fragte nur:
„Bift du nicht erfroren? Du haft wohl Hunger?“ |
Und die andern Bauern drüdten offen ihren
Beifall aus:
„Das haft du gut gemacht, Miſchenka, wirklich gut!”
Miichenfa fühlte fit als Sieger. Er war in
der furzen Zeit jeiner Flucht gleihlam größer und
ftärfer geworden. Sofort nad jeiner Heimkehr
tleidete er fih um, und wenige Minuten jpäter lief
er auf dem Hofe umber und fchaute in die Vich-
ftäle, Kammern und jo iveiter, als wolle er fi
überzeugen, ob alles wohlauf und in derjelben Ord⸗
nung ſei wie früher.
Man fragte Miichenta gar nicht mehr, ob er
lernen wolle oder nicht, und eine Woche lang lieh
Iwan Yermolajewitich fein Wort über Schule und
Unterricht fallen. Er hatte feine Plage mit dem
Heu und dachte nicht an dieje Dinge. Aber da
widerfuhr es ihm abermals, daß er auf der Bahn
ftation unter Leute fam und mit unruhigen Ger
danken heimfehrte. „Nein, er muß unbedingt lernen!
Es geht nicht andere. Es ift eine ſolche Zeit.“
Und damit begann er fich wieder über Miſchka zu
ärgern.
„Diesmal werde ich dich hinkriegen,“ jagte er,
„du ſollſt mir nicht mehr entlaufen. Ich kenne dich
jeßt. Ich werde mit dir nicht erft reden.“ Und
in der That jagte er Mijchka nichts von feiner Ab»
jicht und traf mit mir eine Verabredung: Ohne
gegen jemand etwas verlauten zu laffen, wollten wir
einen Tag auswählen, Milhla auf den Schlitten
jegen umd ihn nad einem andern Dorfe bringen, |
das etwa zwölf Werft entfernt an der Eijenbahn
lag. Dort würden wir ihn unverfehens in die Schule
jteden und in Koft und Mohnung geben. Dort
hatte Iman Jermolajewitſch Belannte, die auf ihn
act haben und, falls nötig, ihm eins ins Genid
geben würden. „Das macht nichts, Er kann es
aushalten. Er ift ein gutes Vieh.”
In der That, Miſchka ahnte nichts, ald Iwan
Jermolajewitih befahl, das Pierd zu ſchirren, mit
dem Bedeuten, daß er nad der Mühle fahre. Wie
immer half er anjpannen, wobei er es liebte, das
Pferd an der Schnauze zu ziehen, dieſe hin umd ber
zu bewegen und es wie ein großer Bauer anzu—
ſchreien.
Das Fuhrwerk war bereit. Da plößlich ſagte
Iwan Jermolajewitih zu Miſchka: „Zieh dich an!
Du fährjt mit mir.“
Mifchla wurde weiß wie Ceinwand. Er fühlte,
dak er meuchlings überfallen werde, ſprach jedoch
fein Eterbenäwort, jondern fleidete jih an. Jetzt
fam auch ich zu Hilfe Wir nahmen Miſchka zwi—
ſchen ung, und fort ging es.
Gljeb Uſpensky.
| Miſchka ſchwieg wie ein Steinbild, aber in einem
Blid, den er gelegentlich auf mich richtete, Tas ih
einen furchtbaren Proteſt. Er wußte nicht, wohin
wir fuhren, aber er vermutete ed. Auf dem guten,
bartgefrorenen Wege famen wir wie der Wind nad,
dem Dorfe, wo die Schule war, und machten die
ganze Sadje in weniger denn einer Stunde ab,
Dem Schulhaus gerade gegenüber fanden wir bei
einer alten Witwe, deren Enlel ebenfalls bie Schule
beſuchten, Wohnung für Miſchla, gaben Vorſchuß,
führten dann Milka zum Lehrer und gaben auch
diefem Vorſchuß, worauf der Lehrer unverzüglich
unfern Miſchla in die Schule bradhte, in der be-
reits vierzig Kinder ſaßen und mie bie Fliegen
jummten.
Der Uebergang von dem heimatlichen Dorfleben,
wo ihm alles vertraut und interellant war, zur
fremden und langweiligen Schule, von den Be
fannten zu Haus, unter denen Miſchla ſich bereits
als „großen Burſchen“ zu betrachten begann, in
einem Schwarm wildfremder Jungen war ums
gemein raſch und ſchroff. Miſchla hatte ficherlic
gute Nerven, aber als ihn ber Lehrer mitten in das
Schülergedräng jeßte, erglühte der Kleine und brannte
vor Verlegenbeit.
„Gerade jo muß es fein,” fagte Iwan Ier-
molajewitfch, als wir die Schule verliehen, vor der
er jelbft übrigens nicht weniger erichroden war als
Miihle. „So mu man direft unter das Beil.
Er wird fi) auf die Art ſchneller abichleifen. Dan
muß ihn mit einem Schlag betäuben. So wird ır
aufmweihen. Gott jei Dank, daß es direlt gelom-
men if. Es macht nichts. Dabei ſoll's bleiben!“
So Iwan Sermolajewitih, worauf wir weg«
fuhren.
Unterwegs kamen wir zu einem Huf und Sur
ihmied Namens Lepilo, bei dem ich gerade ein
| Pferd Iwan Iermolajewitihs in Behandlung be
fand. Pepilo war ganz zufällig Kurjchmied geworben.
Das Geihäft hatte es jo mit ſich gebracht. Zuerit
war er fimpler Hufichmied und beiching Werde.
Die Bauern aber pflegten ihn um Auskunft zu
fragen, ob er nicht wiſſe, warum das Pferd hinle,
warum ihm da und da das Bein geſchwollen jei,
| und jo weiter. Fünf Jahre lang hatte Lepilo auf
diefe Fragen geantwortet:
„Sch weiß es nit. Woher ſoll ich es wiien?*
und jo weiter. Dann aber fing er an, allmählid
auc Antworten zu geben wie dieje: „Iſt's geſchwollen!
Ya, es ift geſchwollen, es bildet ſich eine Gejhwulft.
Daher kommt's.“ Oder: „Es hinkt. Es hinkt von
einer Krankheit, Es giebt eine ſolche Krankheit.“
Und daraufhin begann er zu furieren. Auf diefen
Gedanken aber hatte ihn jeine Frau gebradit.
„Was iſt's mit dir?“ hatte fie gejagt.
|
5
1
{
I
ı
|
„Ber
Miſchka.
ſoll kurieren, wenn nicht du? Wenn andre Kur—
ſchmiede da wären, dann wär's was andres. Du
läßt ja den Profit aus.“
Meiner Treu, fie hat recht, dachte Lepilo umd
begann nad) und nad) fi an die Heillunft zu ger
möhnen. Wie befannt, ftellt bereits ein ganz gewöhn⸗
fiher Lappen, wofern man nur eine franfe Stelle
damit ummidelt, an und für jich ein Heilmittel bar.
Dergeftalt begann Lepilo mittel® unterſchiedlicher
Lumpen, wie er fie in der Nähe des Haufes fand,
zu heilen, Er wird doc) nicht erft zehn Werft weit
in die Apotheke gehen, und was jollte er aud) dort
faufen? So ftreicht er denn allen Schmub feines
Hofes auf den Lappen, mengt zuweilen einen Unrat
mit dem andern und befleiftert damit die Fetzen.
Manchmal geichieht e8 wohl auch, dab die Frau
Aſche aus dem Ofen, Ruß oder jonft etwas Un—
nüßes auf einem Blech herausgeichleppt bringt und
zu ihm jagt: „Da!“ Lepilo weiß, was dieſer kurze
Ausdrud bedeutet und wirft Aſche und Ruß in den
präparierten Dred. Die einzigen Heilmittel, die er
ſonſt gebrauchte, und die gewifjermaßen ihren Namen
verdienten, waren Branniwein, Terpentin, Bitriol
und in neuefter Zeit aud) Petroleum. Daß aud
glühendes Eifen unter den Heilmitteln des Schmiebs
Lepilo eine Rolle fpielte, verfteht ſich von jelbit.
Nichts war ihm leichter, als eine Eifenftange zu
erhigen und damit an die kranke Stelle zu fahren.
Iſt das doch auch eine Arznei und wird bezahlt.
Wir famen zu Lepilo, befahen uns das franfe
Pferd, um deſſen Bein ein Lappen mit einer auf
die bejchriebene Art hergeflellten Schmiere gewidelt
war, begaben und dann in einen Laden, um Ein-
fäufe zu machen, faßen hierauf ein paar Stunden
in der Stube, wärmten und, plauderten und famen
gemächlich gegen ein Uhr nachts heim,
„Miſchla ift zurüd,* war das erfte Wort, mit
welchem die Frau Iwan ermolajewitihs uns em—
pfing, al& wir vor der Treppe jeines Hauſes an«
langten,
Sowohl ih als Iwan Yermolajewitih waren
unausjprechlich verwundert.
Iwan Yermolajewitih kroch aus dem Schlitten
und trat ſchweigend in die Stube. Ich begab mich
ebenfalls ſchweigend nah Haufe. Es war ſchon
ipät, und jo jah ih Iwan Jermolajewitich erft am
nächſten Morgen wieder,
„Der Lehrer hat ihm gefchidt — er braucht einen
Griffel — er braucht ein Bud — Papier —*
Wir befprahen uns über die nötig gewordenen
Ausgaben und beſchloſſen, Miichta mit Geld zum
Lehrer zu jchiden, der ihm den Griffel und das
übrige kaufen ſollte. Man jandte ihn andern Tags
mit einem Knechte fort. Aber den Morgen darauf
erjchien er wieder,
1155
„Weshalb fommft du ſchon wieder?”
„Die Wirtin hat mich Hinausgeworfen, Sie be-
trank fi, fing an mic; zu jchlagen und jagte mid)
hinaus. Ich Habe noch nichts gegeſſen, nichts ge—
trunken.“
Miſchka erzählte eine unerhörte Geſchichte bon
den Thaten der Wirtin.
Allen war es leid um ihn. Beſonderes Mit-
gefühl erwedte der Umjtand, daß er ſich die Schuhe
zerriffen und die Füße wundgelaufen hatte,
Aber Miſchutka kümmerte fi) während feiner
furzen Ammvejenheit weder um das Mitleid noch um
die Füße felbit. Er hatte die lange Wanderung
durch Schnee und Froſt faum hinter fi, jo machte
er ſich jhon wieder daran, nachzuſehen, ob alles in
der alten gewohnten Ordnung ſei. Er lief in den
Kubftall, den Schweineloben, zu den Schafen und
Vierden, in die Kammer, zum Ententeih — alles
ſchnell, förmlich fieberhaft — er riß die Thüren
auf, blidte Hinein und herum, zählte, ichlug wieder
zu, flog nad der Kammer, bejah und betaitete
da alles — mit einem Wort: er konnte ſich über die
Heimat nicht genug freuen. Jedes Staubkörnchen
ſchien ihm teuer zu jein.
Am andern Morgen fuhr Iwan Jermolajewitich
ſelbſt mit Miſchka, da «8 nötig jchien, die Sache zu
unterfuchen. Nah jeiner Abfahrt fam der Knecht
zu mir und fagte:
„Miſchla wird nicht lernen. Nein, er wird nicht.”
„Warum denn ?*
„Er hat nicht das Zeug dazu, Er ijt für die
Wirtihaft. Er liebt Pferde, Vieh, aber das Lernen
iſt nicht für ihn. Es wird nicht gehen, Ich fenne
feinen Charakter. Wenn er ein Pferd Ienft oder
Heu führt, zittert er vor freude. Aber das Lernen
... nein, er hat mir jelbit gejagt, daß er das alles
mit der Wirtin nur jo zuſammengedacht hat, daß er
falſche Worte erzählt hat, alles, damit der Bater
ihn zu Lepilo in Koft geben joll, denn dort jteht
unjer Pferd. Er hat e$ mir jelbit gejagt:-,Als id)
unfern Fuchs dort jah,‘ ſagte er, ‚wie er da mit
dem kranken Bein ftand, da erinnerte id mid an
daheim‘ Darum ift er aus der Schule gelaufen.
Nein, nein, er wird nicht. Er ift fein ſolcher —“
Iwan Jermolajewitſch fehrte in tiefer Trauer
zurüd. Mijchla Hatte alles gelogen, nicht nur mas
die Wirtin, jondern auch was ben Lehrer betraf.
Der Lehrer hatte nicht einmal daran gedacht, ihn
wegzuſchicken, und die Wirtin gab angeſichts einer
folhen Unverjchämtheit Iwan Jermolajewitid das
Geld zurüd. Sie wollte Miſchla nicht mehr be-
halten. Wohl oder übel mußte man ihn bei Lepilo
einquartieren. Aber dies geſchah nicht, ohne daß
ihn Iwan Jermolajewitſch erjt tüchtig beim Schopi
; nahm.
1186
Hiermit jedoch hatten die Leiden noch nicht ihr
Ende. Nad zwei Tagen erzählten Bauern, die von
der Station famen, daß Milchfa ſich dort um die
Wagen herumtreibe, beim Beilagen der Pferde |
behilflich jei und dafür allgemeines Lob ernte. Aber |
was ſchrecklich ſei: er beffage fi) dort vor den |
Bauern über die flechte Behandlung von feinem |
Bater; man babe ihn geichlagen und aus dem Haufe |
gejagt. Er bitte, ihn aufzunehmen. Vor dem ge—
meinften Voll beihäme er den Vater zju Tod,
Iwan Jermolajewitih geriet vor Zorn außer
fih und machte ſich jofort auf den Weg, um Miſchla
zu paden. Dies ging aber nicht ohne einen förm—
lichen Sampf ab. Eben hat zum Beiſpiel Iwan
SJermolajewitih den Miſchla bei einem Wagen er—
wicht, aber Miſchka entjchlüpft unter den Wagen,
und Iwan Jermolajewitſch im Schreden, daß der
Junge nicht etwa zerqueticht werde, weiß nicht, was
tun, Miſchla riecht unter dem Wagen hervor und
läuft davon. Iwan Jermolajewitic fährt ihm nad).
Aber ihn zu finden, ift unmöglid, denn Miſchla
weiß folde Dinge von feinem Vater zu erzählen,
daß man ihn überall verjtedt und verleugnet: „Bei
uns ift er nicht.” Drei Tage hintereinander kam
Iwan Jermolajewitic ohne Erfolg und mit wachjen-
dem Ingrimm nad Haufe: „Wart, Halunte, ich
werde dich paden! Du lommſt, du ko —0 — ommſt,
Halunk! Ich werde dir's eintränken.“
Miſchka ahnte wohl, was ihm drohte, doch ergab
er ſich nicht, ſondern leiſtete zähen Widerſtand.
Woher er die Kraft nahm, ſo lange Zeit Tag für
Tag ſeine zwölf Werft zurückzulegen, iſt unbegreif-
id. Endlich aber fahte man ihn und bradite ihn
beim.
Damals waren alle auf Micha jo erboft — er
Glieb Ufjpensty — Miſchka.
Miſchka jchrie fürchterlich, weinte und wehllagte,
aber die Züchtigung wurde jhonungslos vollzogen.
Dies bedeutete indes nichts andres als da
ſchließlichen und endgültigen Sieg Miſchlas. Nah:
dem Iwan Jermolajewitich feinen Zorn auägelafien,
wurde er aläbald ftill und begann ſich höchlich dar:
über zu wundern, daß all der Verbruß doch nur
von dieſer Lernerei herfomme. Er fand es un—
begreifli, wozu das Lernen eigentlih dem Miſchla
plößlich nötig fein jolle, ihm, deſſen Anlagen dod
jo zweifellos und heil zu Tage traten. Was be
deutete jeine Lernicheu im Vergleich mit diefem uns
beirrbaren Feſthalten am Bauernleben, diejer Treue
gegen den väterlichen Stand, wie fie fich in jeiner
Neigung zum Vieh, zu „unjerm Fuchs“, in dieſem
unbändigen Drang nad Haufe offenbarte, wo jedes
Huhn, jede Ente lieb umd teuer war? Mit jeder
Minute überzeugte fih Iwan Jermolajewitſch mehr
und mehr, dat in Miſchka ein Familienhaupt her
anwuchs, auf dad man ſich verlaflen könne, ein
| Arbeiter, der mit ungerreißbaren Seiten an jeinem
' Boden hange — und ber biäherige Zorn berwandelte
fih in Entzüden.
Am folgenden Tage kam Iwan Jermolajewitid
zu mir, erzählte von Miſchka, der feinen Zeil be
fommen hätte, und ging nad und nad) zu einem
Lobe jeines feften, unbeugjamen Charakters über,
der kein Nachgeben kenne, und jeiner körperlichen
Kraft, die in diefem Alter wunderbar jei. „Er bat
ja anderthalbhundert Werft in dieſen Tagen zurüd-
gelegt,“ jagte Iwan Jermolajewitich begeiftert. Mit
einem Wort, wie Jwan Jermolajemwitjc als Oelonom
und Bauer die Sache betrachtete, ftellte ſich in
' Mifchla ein vorzüglider Junge dar, der ſich mit
hatte fo viel gelogen, Bater und Mutter in jo ſchlechten
Ruf, in ſolche Schande gebracht, daß feine Ankunft nicht
mehr {Freude bewirkte, jondern den einjtimmigen
Ruf des Elternpaares: „Prügel!”
Fedor!“
Fedor aber weigerte ſich und zog ſich zurück.
Nach ſeiner Meinung ſollte man den Jungen nicht
ſchlagen, ſondern loben für den mufterhaften Wider—
ftand, ben er fo einem Lehrer entgegengejept
hatte,
Auch die Magd weigerte ſich und lief bavon aus
denjelben Gründen.
Da entihloß fi die Mutter, ihn zu halten.
der Zeit zu einem ausgezeichneten Exemplar jeiner
Gattung entwideln mußte.
Aber dieje Figenichaften waren es nicht allein,
‚ die Miſchka Anerfennung und Beifall eintrugen.
; Nicht wenig wurde er auch für die Streiche gelobt,
Ruten waren in Bereitihaft gelegt, und faum |
betrat Miſchta die väterliche Schwelle, als Iwan |
Jermolajewitih dem Knecht zurief: „Halt ihn mal,
die er zu ſpielen mußte, namentlich von jeiten des
Gefindes, Und in diefer Maſſe von Lob verſchwand
vollftändig feine Neigung zur Lüge, die Unverſchämt⸗
heit, die fich micht fcheute, jogar den eignen Vater
vor fremden zu beichimpfen, wenn damit nur ein
gewiſſes Ziel erreicht wurde. Dafür war Miſchka
geprügelt worden, und jo war es vergeſſen.
Iwan Jermolajewitſch ſpricht nicht mehr von
Bildung und Unterricht, Mifchla aber ift, der er war:
alles it verbeilt und vernarbt, und al& wäre nie
etwas gejhehen, vertreibt er fih den langen Tag
bei Kühen und Schafen, Getreide und Heu.
Br
Ein Anglücszeichen.
Andreas Barkammibas.,
Aus dem Griechifchen überfeßt von Karl Dieteric).
Donmenuntergang: ereilte uns zwiſchen Siphnos
und Seriphos, zwei und eine halbe Meile unterhalb
des roten Cherjones. Bis dahin war ung der Nord-
weit günftig, und mit Vorder- und Hinterjegeln
waren wir in fünf Stunden von Myfonos herunter»
gelommen. Die Brigg des Kapitän Kremydas war
flint und fonnte bei gutem Wetter leicht acht bis
zehn Meilen die Stunde machen. Aber von bier
aus weiter machte fie kaum drei in der Stunde,
Denn plößlid) fuhr aus der Richtung von Milos
mit einem harten und unaufbörlichen Getöje, als
braufte er durch einen unendlichen Schilfwald , ber
Südweſt daher und verfchlug uns auf einmal unter
balb Kimolos. Kaum war Kapitän Kremydas in
dem Getöje zur-Befinnung gefommen, jo ließ er. Die
Segel reifen. Uber ehe er es noch jagte, hatte ſchon
das Wetter außgetobt, und bald gerann das Meer
und wurde zu einem fiehenden Teich.
„Vorwärts, zum Teufel!“ ächzte Kapitän ſtremh—
das voll Wut.
ein andermal fommen wir nicht vom led!”
Kapitän Kremydas war ein fünfziger, unterfeht,
ftämmig, mit einem Kopf jo rund wie eine Kanonen ⸗
fugel, einem feuerroten Geficht, ſchneeweißen Haaren,
Heinen, freisrunden Augen, rotblonden, Brauen und
Schnurrbart, mit- heiferer und ſchwerer Stimme,
gleich dem Rollen der Woge, die ſich an den Riffen
des Strandes bricht, und mit einem io arglofen
Herzen, daß ihn felbft ein Meines Kind hintergehen
fonnte,
unermüdlich im Arbeiten und Zujammenhalten. Nach
und nad hatte er fich Geld geipart,, ein altes Segel«
boot gemietet und trieb num ‚hier fein Gewerbe auf
eigne Fauſt. Dann wurde das alte Segelboot
jein Eigentum; er dehnte nun. feine Fahrten bis
nah Attalia aus ‚und, als er die Brigg erworben,
jelbft bis ins Schwarze Meer. Damals, waren noch
andre Zeiten; das Meer warf etwas ab, und wer
zu fparen. wußte, Matroje oder Kapitän, hatte bald
Haus und, Hof.
Heute war Kapitän Rrempdas voll Gift und |
Galle. As wir vom Schwarzen Meere herunter
famen, ba legten es die Matroſen, die. jeine Lands-
Aus jremden Zungen, 1897, IL 24, |
„Einmal bringt er ung zum Sinfen, |
Dom Matrofen an war Kapitän Kremydas |
ı leute waren, darauf an, ihn au feine Heimat und
jeine Häufer zu erinnern.
„He, Kapitän, wenn nun jo 'n Unglüdstind bier
drunter wär, und es füm’ ein fteifer Nordoſt in
den Sund gefahren, wir friegten Sturm bei Kap
Doro,*) und es freuzte unfre Brigg unterhalb des
Tſilnias!“ **) ſagte der eine.
„Statt Tſiknias follteft du lieber Mykonos jagen!“
meinte der andre und jah dem Kapitän gerade ins
Geſicht.
Der wandte ſeine Augen nach der andern Exike,
als höre er nicht, und begann jo lange ein Geſpräch
mit dem Steuermann Barbatrimis. Und wenn ſie
ihn mit ihren Worten beläftigten und mit ihren
Bliden, die noch zudringlicher und hämiſcher waren,
dann riß er jeine rote Mühe ab, und blaurot
werdend wie eine Tolllirfche ſagte er zum Steuer:
mann:
„Berflucht der Kapitän, der Yandäleute anwirbt!
An der Maftjpige jolft du mich zappeln jehn, wenn
ich nochmal einen -MWiyfoniaten in meine Brigg
nehme! ...“
Die Matroſen duckten ſofort den Kopf und
ſtoben auseinander, blutrot vor Scham, das traurige
Lächeln wie verſteinert auf den Lippen und mit einer
Thräne, die fein und faſt unſichtbar in ihrem Augen-
quell ſtand. Und der Kapitän, ärgerlich, daß er fie
geärgert hatte, und wütend, weil fie ihn feſteinge—
ſchlummerte Erinnerungen gewaltjam gewedt hatten,
ging fort, in feinen Schuhen das Verbed entlang
ſchleifend, in der Abſicht, recht furchtbar und grimmig
auszufehen, und ſchloß ſich in feine Kabine ein.
Kapitän Kremydas’ Herz ſchlug vor Sehnſucht
| nad) feinem Mykonos. Er hatte dort jein liebes
| Weib, die große, brünette Elephanto, mit einem
Meinen Sinde in. der Wiege und einem unterm
Herzen zurüdgelafien. Aber das widrige Weiter
hatte ung lange im Schwarzen Meere aufgehalten,
and anftatt nah Marjeille zu gelangen, hatten wir
noch nicht den halben Weg zurüdgelegt.
*) Borgebirge von Eubsea.
**) Bergipitie von Tinos, gegenübst Motonos.
143
1138
Aber nun war da ein Unglüdstind an Borb:
es machte ſich ein fräftiger Nordoft auf und fuhr
in den Sund, wir befamen Sturm am ap Doro,
und unfre „Evangeliftra® freuzte vor Kap Tſiknias.
Als der arme Kapitän Mylonos vor ſich liegen ſah,
wie jollte er fid) leichten Serzens davon losreigen ?
Anftatt aber von Reigen und Spiel, von Freun—⸗
den und Berwandten begleitet in die Brigg zurüd-
zulehren, fam er ſprachlos und verftört wieder, wie
der Tſiknias, wenn er ſich rüftet, den wilden Nord
loszulaſſen. Und wenn er aud) jekt auf der Fahrt
das Vorderteil nad Südweſt zu halte, waren doch
feine Augen nad Norboft gerichtet, und mitten unter
den glänzend weißen Häuſern und den ſchönen
Kirchen, ben fanften Abhängen und den felien«
umſchloſſenen Hafenbuchten von Mylonos jah er
immer nur ein Häuschen und darin fein Weib, das
im Bette lag und mit dem Tode rang; wie fie
ihre hellen und feuchten Augen bier- und dahin
wandte und mit ſchwacher Stimme langſam vor fich
hinſprach: „Wo bijt du, lieber Manolis, armer
Kapitän?" Wie follte er da Ruhe finden, ber
Kapitän Kremydas? Er lief mit großen Schritten
vom Hinter biß zum Worderded, wie ber Löwe im
Käfig; bald ſprach er laut allein, bald geftifufierte
er ohne Grund, bald raufte er ſich in den Haaren,
fließ feinen Kopf gegen den Maft und fluchte über
fein Geidhid und fein Gewerbe. Und es ift wahr:
welch Gewerbe trennt jo lange Mann und Weib ala
die Schiffahrt?
Auf der Brigg waren alle Segel aufgeipannt,
vier vorn und fünf am Hintermaft, aber das Schiff
biieb unbeweglid, wie in feftem Schlafe. Man
meinte, es ſchlüge Wurzel auf dem Grund und
wollte anfangen zu keimen. Schwüle Schläfrigleit
herrichte rings bei Befeeltem und Unbejeeltem, von den
Menſchen bis zum Schiff, vom Meer bis zum Himmel.
ſtaffeebraune Woltenfegen hingen riefigen Spinnen
glei hier und da, und ein -afchroter Staub lagerte
feiht rings auf Feſtland und Meer. Bißweilen
wurden die Segel vom Winbe bewegt, blähten ſich
etwas auf und legten fih auf die Seite. Mir
durchfurchten eine Strede lang das Meer unter
ſanftem Murmeln, das aud etwas Einjchläferndes
hatte. Dann legte fich der Wind, ſchweigend wogten
die Segel, die Seile jchlenkerten, ringelten ſich und
ſchlugen gegen das Verded, bis fie ſchließlich regungs⸗
(08 und tot niederfielen. Und Kapitän Kremydas
murmelte wiederholt aiftig, indem er fi auf die
Zähne biß:
„Vorwärts, zum Zeufel! Einmal bringt er
uns zum Ertrinfen, ein andermal fommen wir nicht
vom Flech!“
„Nur rubig, Kapitän, glei nimmt der Eüd zu,”
ſprach plößlich zu ihm der Steuermann Barbatrimis.
Undreas Karkawitzas.
„Sieh nur, was für eine Mauer er bei Gerigo auf-
gebaut hat.“
Wirklich, unterhalb Eerigos türmten ſich jhmarj-
rote Wolfen vierfady übereinander, und bahinte
ſchoß Die untergehende Sonne zwifchen jranien
bejegten Spalten, aus bdunfelgelben oder blutrot
gefärbten Höhlen, Bündel von Strahlen hervor und
badete die liebliche Schöpfung in Strömen älheriſcher
Lichter und Farben. Man ſah das Meer ſich
bläulichweiß färben, ganz wie mit Schuppen bebeit
von dem Hauch der Abendbrije, ſah die lange
geftredten Eilhouetten der Injeln fich wiederſpiegeln,
gefurdt von den Strömungen und über umd über
von Giraßen und Fußpfaden durchzogen wie ein
meites SKreidefeld. Und die Inſeln und Stüflen
rings umber, Milos und Erimomilos, das die wil⸗
den Ziegen ernährt; dahinter Siphnos und Seriphes
mit jeinen ſcheckigen Ejeln und noch fchedigeren Be
wohnern; Naxos weiter oben und Paros mit feinen
Marmorbrüchen; das budlige Polybos und Kimolok,
den Salamander; Sikinos und Pholegandros die
ſeits, unterhalb zur Seite Jerafunia, wie ein Edelftein
auf dem weiten Meere von ben Wogen umher:
getrieben, und Betrofaravo, — alle ſah man, jede
nad) ihrer Eigenart, eine farbe aufnehmen und
taufend zurüdftrahlen; man jah, wie ein Strahl auf
die Uferfiefel fiel, auf das Geftein des Berges, auf
die Scheiben der Häufer, auf den Rajen des Berg:
rüden®, und wie dann eine golbigrote, blendend:
Flamme daraus emporloderte. Und man fah die
eine Infel bier mit einem Wölkchen Iuftgewoben auf
bem Gipfel, die andre dort mit einem dumfelblanen
Nebelgürtel um die Hüfte gefchlungen ; die Hier mit
jafranfarbiger Spitze, die dort mit einer Burg ge
frönt; bie weiterhin mit einem blendend weißen
Dörfchen, wie eine Handvoll Schnee, die der grimme
Winter in dem Rinnfal vergefjen hatte. Und zur
Rechten, auf dem Meere, das ſich dehnte wie eine
Seidendede, bis hin zu den Buchten und Borgebir-
gen Rumeliens und Moreas, an den kryſtallenen
SHimmelsfeften, jchienen wie mit der Feder hin
gezeichnet die Schiffe, die gingen, und die Dampfer,
die famen, und der ſchwarze Rauch, wie er, geadelt von
dem Kuß der Sonne, emporftieg und in golbblonde
Tloden ſich auflöjte, die dann der Wind vermwehte,
Und hoch am Himmel jah man eine Wolfe von
Nögeln wogenartig flatiern und ihre fchneemweihe
Bruft filbernen Blättern gleid) erglänzen, bie ber
Mind aus einer Golbwerkjtätte entführt hatte; und
unten von dem nahen Strande ber hörte man ba?
Summen des Feſtlandlebens heranwogen, wie ein
bejtridendes Sirenenlied, voll von Jubel und Laden,
jrei von Bitternid und Thränen. Und aufer dem
Kapitän, den die Sorge um fein armes Weib un.
empfindlich gemacht hatte, hatten wir alle uns hinten
vgl
Ein Unglüdszeiden.
niedergelegt ‚und. behnten Leib und Seele, um das
Paradies einzufaugen, mit deutlicher Eiferſucht in
ben Augen gegen bie, die e8 genießen konnten,
Und plößlich, ich weiß nicht, wie, fenkte das glänzende
und farbenreiche Bild, das ih um mich hatte, ein
fanftes Glüd und eine. noch janftere Wehmut Teife
in meine Sinderbruft, daß ich mid) davon freis
machen, fie hinausjauchzen mußte, wenn fie mich
nicht ertränfen jollte in ihrem reißenden Echwalle,
Und da fand ich fein andres Mittel, als daß ich
das Liedchen anjtimmte:
„Des Scemannd Mutter badt dem lieben Sohne Zwiebach! —
Sie badt ihn wohl mit Thränen und Inetet ihn mit Seufjen“ ...
„Satansferl, daß ich dir nicht das Steuer am
Kopf zerſchlage!“ unterbrach mich plöhlich die wilde
Stimme des Kapitäns.
Ich vergab fofort Singen und Gefühle und
verfroch mich in eine Ede des Hinterdeds wie ein
geprügelter Humd. Plöplich erhebe ich meine Augen
und jehe im Hintermard vor dem untern Segel eine
Eule fipen. Ihre Schwarzen Krallen, ringförmig ge—
frümmt, umflammerten die Ränder des Korbes und
ſtüßten ihren Körper, der jo regungslos dajaß, ala
wäre er künſtlich; es war die ſchönſte Eule, die ich
mein Lebtag gejehen babe! Und wenn es wahr ift,
daß bie Eule einmal.eine fyrau war, und daß ihr
das Nebhuhn das Futter ihres Jungen gab, um es
ber ſchönſten zu geben, da fand fie feine andre ala
die Eule, — jo hatte fie nicht jo unrecht. Ihr Ge—
fieder mit den herablaufenden, erbjenfarbigen Linien,
ſpärlicher auf der vorfpringenden Bruſt, dichter auf
ben Flügeln und dem Rüden, jchimmerte wie reine
Seide und ging weich wie Schnee in die fcheren-
förmigen Flügeljpigen über,.die fi) mit dem Schweif
vereinigten und als breiter Vorhang hinter den
buſchigen Nohrfüßen niederfielen.. Und was für ein
Mondgefiht fie hatte! — Ihr kugelrunder Kopf,
nad) hinten ausladend wie eine Nu und vorn wie
eine ‚vollftändige Platte, ſaß zwifchen den Schultern
wie der Vollmond zwiichen zwei Bergrüden. Aus
jeinem „Zentrum. fprang die Naje hervor. wie ein
Dreied, mit der Spiße oben und.der Bafis unten,
und bort jeßte der Schnabel an den Knochen: an,
ſpitz und gebogen wie eine Sichel. Linls und rechts
von der, Naje ‚gloßten aus Höhlen, die von: zarten
Hlaumfebern umfjäunt waren, die Augen. hervor,
ohne Lider, fühn, freidrund, mit ihrer Hornhaut, die
von einer: hellgelben Flüffigkeit übertündt war, und
mit der Rupille, die, ſchwarz umd groß, unbeweglich
feftjaß, wie ein Stein im Ringe, der ſchön in feinen
Reif gefaßt ift. : Und rings umher, vom Zentrum
nad der Peripherie zu, zogen ſich feine Flaumfedern
gebogen hinauf: und bildeten einen Kranz. ‚Und wie
fie jo zufammengebudt daſaß, mit den Augen.rings
ins Blaue ſtarrend, da machte jie gar nicht ‚den ver—
1139
haften Eindrud, den jonjt immer bie Eule macht;
fie glich einer Hausfrau, die. ihre Arbeiten beendet,
ſich gewaſchen und gefämmt bat und nun vor ber
Thüre fitt, um ihren Mann zu erwarten. Ich be=
fam Luft, mit dem böſen Vogel zu fpielen, und be—
gann ihn zu neden, indem ich Hände und Füße
bewegte: „Kiriri! — xixixi!“
„He, was machſt bu ba?“ ruft: mir der Kapi—
tän zu.
„Eine Eule fit im. Korbe.“
„Eine Eule!“ — fpricht er mit wilder und entſehier
Stimme, als hörte er, es ſei der Teufel ſelbſt.
Er ſtand ſofort von feinem Platze auf und ging,
nad der Eule zu ſehen. Dod der Bogel flog,
ſowie ich meine Hand erhob, um fie ihm zu zeigen,
hinüber auf die andre Seite; der Kapitän verfolgte
ziemlich Tange fein unrubiges Geflatter, und dann,
als hätte er nicht die Kraft, wieder auf feinen Platz
zu gehen, jehte er fich wie feitgebannt auf dem Dache
der Kajüte nieder, - Dort blieb er lange mit ge=
beugtem Haupte ſitzen; dann jagte er, mir gerade
in die Augen jehend, mit halb gebrochener Stimme:
„Ein Unglüdszeihen, mein Junge; - ein großes
Unglüdgzeihen! — Haft du -gejehen, wie der Un»
jelige fi) nad) fints wandte? — Wäre er nach rechts
geflogen, hätten wir gute Yabrt; aber jo ift e8 ein
böjes Zeichen. Entweder bei und oder zu Haufe
wird es ein Unglüd geben!" —
Auch ich hatte damals den gleichen Gedanten,
Die Eule, heißt es, war früher ein Mädchen geweſen,
ihrer Mutter Lieblingsfind, die Schweiter des Kon—
ftontin, und hatte noch acht andre Brüder. Ihre
Mutter hegte und pflegte fie und ließ ihr fein Haar
frümmen,
„Sie wuſch fe und flocht ihre im Dunkeln den Zopf,
Strählt fraus ihr das Haar bei des Morgenfterns Schein!"
Wie fie zwölf Jahre alt wurde, famen Freier
und wollten fie als Frau mitführen, weit weg nad
Babylon. Die Mutter und die acht Brüder wollten
fie nicht jo weit fort lafjen; fie fonnten die Trennung
von ihre nicht ertragen. Aber Konftantin beftand
darauf, und jeden Tag wiederholte er zur Mutter:
„So gieb in die Fremde fie, Mutter, doch bin,
Bin ein Sandeldmann ja, hab’ dort ein Quartier,”
Mit vielem Reden und Flehen brachte es Kon»
ftantin endlich dahin, Arete von der Familie zu
trennen. &3 dauerte aber nicht lange, fo beftätigten
fich die Sorgen der unglüdlihen Mutter. Eine jchred-
liche Peft befiel das Land. Sie fegte alles fort, hoch
und niedrig, und mit ihnen auch die neun Brüder.
Die Mutter, einſam und verlaffen, weint und jam—
mert an den falten Grabjteinen der. adıt Söhne; aber
vom Grabe des Kaufmanns ſtößt fie mit dem Fuße
die Platte fort und brüllt und flucht hinein: -«..
1140
- „Steh auf, Konſtantin,
Als Zeugen riefft Gott und die Heil’gen du art,
Sei's zu Freud’ oder Leid, fie zu ſchaffen zur Stelle!“
Der Fluch der Eltern, wie aud ihr Segen, wird
exhört. Konjlantin wird, halbverweit, aus dem
Grabe aufgerüttelt,
„Nimmt die Wolle als Rob, als Zügel den Stern,
Den Mond als Genofien und bringt fie herbei.*
Wie die befümmerte Mutter die Tochter erblidt,
traut fie faum ihren Augen. Und als fie fie fchlieh-
lich erlennt und erfährt, wer fie aus der fremde
geholt hat, da bricht ihr alter Körper tot zufammen,
elend von Sünde und Martern. Und Arete, in—
mitten jener furdptbaren Ausrottung ihres Geſchlechts,
fällt vor Goit nieder, bittet und jagt:
„Bott, made zum Vogel, zum. Rachtvogel mic,
Daß in Dede ich irrend die Brüder beiveine!*
So wurde die bildidhöne Maid zur Eule. Sie
veränderte ihre Geftalt, aber nicht ihre Seele. Die
Vertilgung ihres Geſchlechts verfolgte wie ein gött«
licher Fluch noch ihr Geflatter, und wohin fie fommt
und ſich ſetzt, bringt fie auch VBertilgung und Ver—
mwüftung mit. Da fie nun auf unjer Schiff fam
und ſich dort niederließ, fam fie gewiß nicht zum
Heile. Doch um den Kapitän zu Fröften, ſtellle ich
mich gleichgültig.
„Ad, glaub dod nur fo was nicht, Kapitän,“
jagte ih ihm; „Gott gut, alles gut!”
. Kapitän Kremydas jagte nichts, fondern ging,
traurig den Kopf ſchüttelnd,
Kabine,
„Er geht, eine Kerze mehr anzuzünden,“ jagte
feife der Steuermann Barbatrimid. Die Bußen
und Kerzen hatten fein Ende genommen, jeitdem wir
von Myfonos fort waren,
Kapitän Kremydas war wirllich fehr fromm.
Seine Kabine jah von Heiligenbildern und Lampen
wie eine Kirche aus. Im Hafen, wenn wir bor
Anker lagen, oder bei Windftifle auf dem Mecre
that er nicht® andres, als religiöje Bücher leſen,
und fang jo viel, als wäre man auf einem Schiffe
vom heiligen Berge.) Bon Buße und Faften erft
gar nicht zu ſprechen; denn darin übertraf er. den
heiligen Antonius ſelbſt. Wohin follte er ih auch
jept flüchten, um demütig zu flehen für die Nettung -
feines Weibes, als zum Göttlichen?
Sodann war es auch nicht das erfte Unglüde-
zeichen, dad dem Kapitän begegnete, Bevor er nod)
von Haufe aufbrah, um zur Brigg binabzugehen,
waren ihm alle Zeichen nngünjtig und wibrig.
Zuerft, als er einen Kapitän ſuchte, der jeine Brigg
fahren ſollte, um jelbft zurüdzubleiben und jeine
Frau zu pflegen, fand er feinen; alle waren mit
Hagion Oros, d. h. der dis: der jet mit — wie
bedeckt iſt.
—
Andreas Karkawihas.
ihren Schiffen fort. Dann, wie er ſah, dab gün
fliges Wetter eintrat, und er ſich zur Abreife ent:
fchlofien hatte, war es gerade Dienstag, und r
hob es auf. Er macht fih am Mittwoch auf,
an den Strand hinunter zu gehen, und ba& erfte,
was er vor ſich fieht, it — eine Ziege. Was fol
er machen? Er kehrt alſo wieder nad) Haufe zurüd.
Endlich am Donnerdtag, mit taufend Vorſichts
maßregeln, nachdem. er zuerft feine Verwandten
vorausgejhidt hatte, um die Straßen und die Winkel
zu unterfuchen, und bie: Weiber vorangegangen
waren, um jede böje Begegnung zu verhüten, gelang
es ihm, in die Brigg zu fommen. Und nicht nur
das, nein, ſelbſt des Nachts, wo er zu Haufe machte,
jaß die Eule beftändig. auf dem Dache und ſtieß
ihren blutbürftigen Ruf aus. Auch jeht, meinte man,
folgte fie ſeinen Schritten und dachte nicht daran,
fih von dem Schiffe zu trennen. Es dauerte auch
nicht lange, jo fam fie wieder und jegte ſich auf
den Maft. Sie ſaß dem Kapitän zugefehrt und
beftete ihre großen, runden Augen gerade auf. ihn,
al& wäre er ein Kadaber, und fie wollte ihn zer
fleiihen, Sowie ich fie jab, ſuchte ich fie durch
Geftifulationen zu verſcheuchen, damit fie nicht der
Kapitän ſähe und feine Unruhe vergrößerte, Aber
ſoviel ih auch thun mochte, die Verfuchung wid
nit. Zuweilen drebte fie fi um, und fah einen
Angenblid meine Gejtitulationen mit an,. bamı
N drehte fie plöglih mit großer Gleichgültigleit den
hinunter in jeine
Kopf auf die andre Seite, mit einer jo verächtliden
Miene, als wollte fie mir jagen: „So pad bid
doch fort!" —
Endlih kam der Kapitän wieder und ſah die
Eule; wie er jie erblidte, jchauderte ihn.
„Zurüd von mir, Satan!” fagte er und bi
freuzigte fi. Er bob die Augen auf und blidte
dem Bogel feft ind Auge. Und der wieder blidte
dem Rapitän auch gerade ind Auge, mit derjelben
Ausdauer, als wollte er ihn beheren. Und wirküd
beberte ihm zuletzt die Verfuhung. Der Kapitän
tam zurüd und wurbe bieich wie eine Kerze. Dam
auf einmal änderte er.die farbe und wurde bunfel-
rot: das Blut ſchoß ihm ins Geſicht, wie um ihn
zu erfliden. Seine: Haare fträubten ſich, feine
Augen. ichofien Blitze, und fei es vor Zorn, ei c
von der Behexung, er fing.an, am ganzen Leibe
wie Eipenlaub zu zittern. Er jah den Vogel au
und ließ nicht ab, mit Zorn und. Klagen zu mur
meln, wie eine ungerecht geauälte Dulderjeele: .
„Pfui, ich. bejchwöre dich bei der Raute, Ver
fucher! Was willſt du von mir, Ruchloſer? — Fort
von mir, ftraf mich nicht; jo laß mich, einen armen
Familienvater, doch fein Brot verdienen!”
Aber der Vogel verftand nichts davon; regungs
los blieb: er..auf ‚feinem Plahe, die Krallen. feſt an
Ein Unglüdszeiden.
dad Holz gedrüdt, wie eine ägyptiſche Gottheit, die ı der Treppe aus feuerte er fie,
von ihrem Poftament herab unbeweglich die Klagen
und bie Bilten ihres Verehrers anhörte.
als hörte fie Sehertöne,
Nether vorm weit ber herantrug. Dann erhob jie
ihn ſchroff, mit den großen, gligernden Augen
regungsloß, ohne Ausdruck und Leben in die Luft
flarrend, abgewandt vom Idiſchen, ala wollte fie
bie Sehertöne erflären; und plölich jentte fie den.
Kopf mit einem drohenden Ausdruck des Selbit-
bewußtſeins, als wollte fie fagen: „Sieh nur ja zu:
wenn ich will, dann wehe und dreimal wehe deinem
Haufe!" —
Darauf fledte fie den gefrümmten Schnabel in
ihre zottige Bruft, firäubte die Flaumfebern ihres
Kopfes wie hafenförmige Schuppen empor, gloßte
mit ihren flammenden Augen, nahm die Miene
eines wütenden Tieres an, jo daß man meinte, fie
wollte ein großes Unglüd anrichten, und ſchonungs-
108 zerriß fie ihr Fleiſch, um ſich Luft zu machen. —
Wie der arme Kapitän fie jo ſah, ſchlug er bie
Augen nieder und lief zitternd fort, um fie nicht
noch mehr zu reizen. Aber ungeduldig, nervös, ganz
erhigt blieb er, naddem er eine Weile auf dem
Verdeck hin.und her gegangen war, gerade under ber .
Rabe ſtehen, und die Arme eilig auf ber Bruft
freuzend, hob er voll Furt und Mut zugleich den
Kopf empor und ſprach zu ihr:
. „port mit Dir!
Gottes und „meiner Eltern Segen; laß mid doch
meines Weges ziehen und jtraf mich nicht! —
Schändlide, Hündin, Scheufal, Auswurf! — Scher
dic zum Teufel! —
Und die Stimme des armen Kapitäns. ftieg all
mähli von dem anfangs fanften und. flehenden
Zone. immer höher, je mehr feine. Wut zu fochen
begann, und ſchließlich ſchäumte fie vor Schmähungen
über, wie die Woge, die an die eine Küſte weich
und. Zofend heranplätjchert und an ber gegenüber-
liegenden zur furdtbaren und fchredlihen Welt-
vermwüfterin wird, . Aber ber Vogel, wie befriedigt
über jein Entjehen. und feine Wut, öffnete den
Schnabel, zeigte eine Heine, ſpitzige Zunge und einen
blutigroten Rachen und jperrte. ihn weit auf mit ver=
ächtlichem Lachen. Und wie Kremydas das ſah, wurde
er immer hikiger ; er: fluchte, ſchimpfte, geitifulierte
und biß ſich trotzig in. ben. Finger, bis er blutete,
„De, bring mir die Büchſe!“ ächzte er plötzlich
vor Wut; „bring mir die Büchſe, * ich ihm. 's
Blut abzapfe!” . »
Ich machte mid): auf, Die Büchfe zu holen. Aber
er hatte feine Geduld. Mit großen Schritten jehte
er übers Berded wie ein Toller, fam zuerft in ber
Kajüte an, riß die roftige Flinte herab, und von
Von Zeit
zu Zeit neigte ſie den Kopf leicht auf die Seite,
die der blutig gefärbte
Zieh in Frieden; geh mit
"ort, du
1141
ohne zu zielen, auf
den Vogel ab.
Man vernahm einen harten Fall, aber weiter
nichts. Der Hahn fiel nieder, aber er traf. nicht die
Pfanne. Wir waren alle wie ftarr. . Unglüdäzeichen
über Unglüdszeichen! Alles ging heute ſchief! Hätte
die Flinte getroffen, wäre der Vogel getötet worden,
jo wäre damit das Unglüdszeichen bejeitigt geweſen,
und es hätte feinen andern Ausweg gehabt. Jetzt
aber zog es anderäwohin. Ganz richtig hatte Kapitän
Kremydas gejagt: entweder auf dem Schiff. oder zu
Haufe wird es ein großes Unglüd geben! . .
Bei jenem harten Knall flog die Eule auf. Aber
fie flog nicht jo weit. fort, um uns zu entſchwinden;
fie flatterte troßig um die Brigg, durchſchnitt pfeifend
die Luft mit ihren Scherenflügeln,, ſtrich wie ein
Schnelljegler über das ruhige Meer, ließ ſich plößzlich
auf dem Maft nieder, und den Körper zwijchen den
bochgerichteten Flügeln feft aufießend,. mit aufs
geblafener Bruft, den Hals zwiſchen die. diden
Schultern gedudt, ftieh fie plögli einen ſcharfen
und jchrillen Ton aus, der uns das Blut gerinnen
machte:
„ſtuluwaau! — ſtukuwaau!“ —
Jetzt war die Sonne untergegangen, und man
jah am Horizont nur noch blutigrote Wollen und
einen dunfelroten Dunft wie. den Abglanz einer
geoßen Feuersbrunſt auffteigen und unmerklich mit
ber blauen Farbe des Himmels verſchmelzen. Drüben
bei Gerigo vollendete der Südwind als ein tüchtiger
Baumeijter jeine Mauer, Wollen aufeinanbertürmend,
tiefſchwarz und unregelmäßig wie Blöde von Blei
felfen, darauf hellere und blaugefärbte, auf die
Spite dunfelblaue, und oben auf die fchwanfen
Zinnen, auf die Türme und Schießſcharten, goß er
wie ein Goldſchmied eine breite Borte von ſiedendem
Goldfhmud, darauf nod) eine von lauterem Silber;
und .ganz oben auf die Spitze jehte er, als feine
toftbare Krone und jein. Wahrzeichen, ben Abend»
ftern , in friedlicher Ruhe und. göttlicher Schöne zu
leuchten, wie eine Hymme auf die ganze Schöpfung.
Und hinter diefer Iuftgebauten Mauer hervor ſchoß
den lauernde Wind jeden Augenblid Breſche auf
Breſche in den Bau, auf den kritiſchen Augenblid
harrend, jelbft mit jeiner ganzen Heerſchar hervor-
zubrechen und alles zujammen über den Haufen zu
werfen.
Aber auch dieſe Küftenwinbe begann das Meer
zu jpüren; unſre Segel begannen ſich zu füllen und
das Fahrzeug feinen Lauf zu befchleunigen. Barbar
trimig, der Steuermann, der ſchon lange. Zeit nach—
denklich den Bau der Wolfenwand. erfolgte und
jein. Auge nah rechts und links wandte wie ein
Jagdhund, der in.der Luft — des Wildet
wittert, jagte plötzlich zum Slapitän: .
1142
„Kapitän Aremydas, der Südwind wird uns
eine fteife Brife bringen; ich meine, wir ziehen ein
paar Segel ein.”
Aber Rapitän Kremydas, von dem Vogel ab«
gelenft, der die Brigg unaufhörlich umfreifte, als
wollte er fie ins Berberben ziehen, ſprach gleid;-
gültig:
„Ad was!
lommen.“
Der Kapitän war ein herzensguter Menſch, ein
vollftändiges Kind. Nur durfte man ihn um Gottes
willen nicht reizen; halte man ihn gereijt, dann
zurüd von ihm! Iſt doch jelbft der Norbwind in
den erfien Tagen am flärkften. Jetzt war er wütend
über den Vogel und jah weiter nichts vor ſich. Er
hatte ji vorgenommen, ihn entweder zu töten oder
ihn nicht auß dem Auge zu laſſen.
„Wenn id dir nit das Blut abzapfe, dann
will ich nicht mehr Kapitän Kremydas beißen,“
jagte er und riß voll Wut feine rote Mütze ab,
Er wechjelte ſofort die Lunte der Büchſe, brachte
den Hahn in Ordnung, und dem Steuermann das
Steuer gebend fagte er:
„Lente grad auf den Schändlichen los! Beobadhte
ihn ſcharf, daß du ihm nicht aus den Mugen ver-
lierft.*
„sh meine, Kapitän, wir reffen ein paar Segel;
der Süd bringt uns Wind,“ wiederholte mit leijer
Stimme der Steuermann Barbatrimis.
„Ad, jo laß ihn doch, alter Dummkopf!“ rief
wütend Kapitän Kremydas. „Lenfe gut und grab
auf ihn 108, fage ich dir! *
Barbatrimis knurrte wie ein Hund, ber. bellen
will und wieder nicht will, ſehte ſich ans Steuer
und nahm den Griff in die Hand, ber ganz in
Schuppen gejehnipt war und am Ende einen Schlangen«
fopf trug. Inzwiſchen nahm der Wind befländig
zu. Die Küftenwinde wurden ftärfer; Die Segel
füllten fi, eins nad) dem andern, wölbten fid) wie
riefige Mufeln, die Maften und Winden knarrten,
die Seile wanden ſich; Barbatrimis gab die Befehle
Schlag auf Schlag, die Matrofen liefen von Schote
zu Schote; die Brigg hüpfte auf den Wogen wie
ein hurtiges Roß auf dem ebenen Felde, und das
Hinterteil betreute da8 Waller mit Reis. Aber
Kapitän, Matrojen und Steuermann, wir alle adhteten
weder auf Brigg noch Wetter, fondern nur auf die
Eule, die unaufgörlich über uns kreiſte, immer nad
recht3 und linf8 fliegend. Diefes beftändige Fliegen
nad rechts und linfs war es, das uns alle entjekte.
Anfangs erſchien uns die Hartnäckigleit bes
Kapitäns, es mit einem Vogel aufzunehmen, höchſt
fonderbar. . Außer dem Barbatrimis, der der Aelteſte
war und noch bie alten Anjchauungen hatte, waren
wir andern mißtrauiſch. Aber allmählich vergaßen
Es ift Sommerwind ; Taf ihn nur
Andreas Karkawitzas.
wir uns einer nad) bem anbern,. ohne es jelbit zu
merken, und folgten dem Fluge des Vogels. Troh
und Aberglaube fämpften jet in uns und beihörten
uns. Wir wünjchten alle, der Kapitän möchte jeinen
Zwed erreichen; es ſchlug und das Herz, ob nidt
vieleicht der Vogel jortfliegen und in der blenben-
ben Luft ung entrinnen würde, Ja, entweder über
ihn oder ung mußte das Unglüdszeichen hereinbrecen.
Wenn er ihn tötete, waren wir, dad Schiff und
unſre Häufer gerettet. - Unſre Häufer, unjre Ber-
wandten und freunde. Denn wer weiß, ob bie
Eule nur für den Kapitän beflimmt war und nicht
auch für irgend einen andern von und. Allerdings
war er der Herr hier drinnen; er hatte zu befehlen,
er hatte ein Franfes Weſen zu Haufe gelaflen.
Gleichwohl konnte es aucd und gelten. Wer wollt
das jagen? Die Bellemmung befiel uns alle, nnd
das Ende diejes Kampfes bebrüdte unfre Eeele.
Der Kapitän, jo konnte man meinen, teilte und.von
feinem Zorne mit, und ich fanı jagen, hätte uns
jemand zu diejer Stunde gejehen, er hätte glauben
müſſen, wir hätten alle Tollfirichen gegeſſen, und feiner
wäre bei Verſtande.
„Da ift er, vorwärts!“ ſchrie einer nad) dem
andern, mit Händen und Füßen nad) dem Kapitän
fuchtelnd. Und der, mit jeiner Büchſe in. der Hand,
mit emporgefträubtem Haar, mit flammendem Ge—
fit, lief vom Hinterded zum Vorderded und vom
Vorderded zum Hinterded, acht gebend, die gloßen-
den Augen umherrollend, als kämen Seeräuber auf
das Schiff los, das er verteidigen wollte,
Aber der Vogel war mit allen Hunden gehekt.
Machte uns der zu ‚jeinem Spieljeug wie ein ver:
nünftiges Weſen! Er flog nicht fo.weit weg, dab
wir ihn aus den Augen verloren, blieb aber aud
nicht jo nahe, daß ihn die Büchfe erreichen konnte.
Plötzlich zeigte er fich zw unſrer Rechten, und
mit günftigem Winde ſchoß die Brigg gerade auf
ihn los; er flog vor dem Vorderteil Her, immer die
gleiche Entfernung haltend, wie ein böjer Geift, der
mit unſichtbaren Schlingen vor dem Schiffe herzog
So lam es unterhalb von Milos an. Da, um vor
den lauernden Klippen geſchützt zu fein, ftoppte die
Brigg; aber während wir noch wütend fluchten, das
wir ihn verfehlt hatten, tauchte er plötzlich . hinter
der Nahe. des Hinterbedmaftes auf,. um jeine wein.
roten Augen auf den Kapitän zu heften, mit einer
Wut, daß man meinte, jet würde er ſich auf ihn
ſtürzen, ihn zu zerfleiſchen. Und kaum hatte dieſer die
Büchſe viſiert, jo ſtieß der Vogel feinen ſchrillen Schrei
aus, wie Spott und Hohngelächter, und flog kreiſend
hierhin und dorthin, mit einem zitternden, ſchweren,
unregelmäßigen, wie beraufchten Fluge. Und mir,
noch mehr berauſcht durch ihn, fuhren gerade auf
ihn los, mit vollen Segeln, daß: die Brigg auf ben
Ein Unglüdszeiden.
ihäumenden Wogen tanzte wie ein Hurtiges Roß
auf weitem Felde. Der Kapitän mit feiner Büchfe
in den Händen, erihöpft von Kampf und Wut,
und wir alle, mit verwirrtem Haar, feuerrotem
Geſicht, geftitulierend und irre redend, ald wären
wir von Sinnen! —
Jetzt flieg der Vollmond Hinter dem Ge—
birge. auf Naxos empor, und dem lebendigen, feuer
roten Sonnenlicht folgte ein milder und weicher
Schimmer, der die ganze Natur im Traumfchlummer
zeigte. Die fernen Inſeln und verfinfterten Hüften
jehienen fi wie riefige Maſſen in die Dämmerluft
zu flechten und ließen ihre Umriſſe mehr erraten
als unterjcheiden. Die näher gelegenen, wie Kimolos
und Polybos, Milos, Erimomilos und Jeralunia,
hoben ſich deutlich ab, in einen weißblauen Nebel
gehüllt, mit ihren Klüften und tieſſchwarzen Spalten,
ihren PVorgebirgen und helleren Bergrüden, mit
ihren ſanften Hängen, ihren flachen Rinnſalen und
den Küften ohne Steine und Felsblöde. Alle, in
dem magijchen Lichte gebadet, nahmen einen be—
firidenden Ausdruck an, als wären es die Injeln
der Seligen.
Der Vogel hatte uns bis unterhalb Erimomilos
verjchlagen, und wir ſahen gegenüber auf der Burg
von Milos und unten in den fretiichen Gewäſſern
Lichter auf dem Waller tanzen, wie Spiegelungen
von Sternen, und zwei große euer auf Erimomilos,
die ſich wie PLichtjtröme übers Meer ergofien und
Hadernd bis and Schiff famen, daß man meinte,
jet müßte es fi auch entzünden; und von ber
entgegengejehten Seite glitt der Glanz des Mondes
herab und beledte mit filbernen Zungen ben über
und über ſchwarz geteerten Schiffärumpf von einem
Ende zum andern, fiel auf das Verdeck, auf bie
roftigen Sletten und bie helle Leinwand, die Anlege-
pfeifer, die Bootftänder und Anferwinde, auf die
Taue und Ruderpflöde, ſtieg an den flogen Maiten
empor, die mit Eijen, Seilen und Stangen jchwer
beladen waren, fiel auf die aufgeblähten Segel,
ichlüpfte zwifchen den Kreuzungen hindurch, beleuchtete
dies, beichattete jenes, als wäre das Fahrzeug ein
gemeißelter Marmorbiot, der mitten im Meere
emporgewadhjen war.
Der Wind ward indes immer ſtärler; man hörte,
wie er in den Seilen und Segeln pfiff und uns
zählige Töne erjchallen ließ, von dem wilden Heulen
einer Herde Schafale und Wölfe bis zu dem melo—
difchen Liede und dem jchwingenden Pfeifen einer
Flöte. Der Steuermann Barbatrimis, immer une
ruhig wie ein Schiffähund, der das Feſtland mittert,
fo weit «8 auch noch entfernt ift, und in einem fort
beilt, horchte jeht auf den Lärm des Windes, und
in dem Augenblid, wo der Kapitän ſich ihm näherte,
wiederholte er unruhig die Worte:
1143
„Kapitän, der Südwind wird flärfer; wie wollen
die Segel reffen, meine ich, jonjt wird er uns ver
ſchlingen.“
„Mach, was du willſt,“ ſagte der Kapitän mit
einem Ausdruck des Ueberdruſſes.
Und ermattet, mit Schweiß bedeckt, lehnte er ſich
leuchend auf die Ruderpflöcke, die Büchſe loslaſſend.
Und wie toll vor Zorn ſchrie er wild:
„Ans Steuer, Barbatrimis! Ans Steuer und
gerade los auf ihn!" —
Wir ließen alle die Segel im Stich, und jeder
nahm feinen Pla ein. Der Steuermann drehte
mit einer Steuerwendung die Brigg von Erimomi-
los nah Jeralunia zu. Jene Stelle war gefährlich),
denn fie hat reißende Strömungen, und leicht kann
fie einen verderben, „Du fommft von Erimomilos
und gerätjt nad) Jeralunia,“ jagten die Alten, Aber
Barbatrimis hatte eine nervige und geſchickte Hand.
Wenn er das Steuer padte, wurde es wie von
einem Zuden befallen. Er hatte auch ein jo ſcharfes
Auge, daß er die Plejaden unterſcheiden fonnte,
wenn fie erjt drei Tage alt waren. Wir hatten
aljo Feine Furcht, und mit vollen Segeln begannen
wir wieder den tollen Kampf.
Wir waren aber alle wie aufgelöft von Mühe
und Schwindel, Mein Naden war fteif vom Drehen,
und die Adern traten hervor, did wie Bindfäden.
Es fam jo weit, daß ich nicht mehr meinen Kopf
nad) linf$ und rechts drehen fonnte, jondern aud)
meinen Körper mitdrehen mußte. Jeden Augenblid
zog eine jchwarze Wolfe vor meinen Augen vorüber,
ein brüdender Schmerz legte fi wie ein eilerner
Reif um meine Stirne, und ein Schwindel ergriff
mid, daß ich meinte, jet würde ich von meinen
Füßen herunterfallen.
Und der verführerifche Vogel hatte nicht die Ab-
ſicht, fein Spiel aufzugeben. Schwarz wie eine
Handvoll Erde, zufammengedudt, jo ſchwamm er in
dem blaſſen Aether, ganz langfam, als forgte er
dafür, daß wir ihm nicht aus den Augen verlieren
follten. Und bald 309 er Sreife um die Brigg,
bald flatterte er niedrig und ſchoß wie. ein Pfeil
zwiſchen den Segeln hindurd über den Steg hinweg,
ritt auf dem, Bormaft, flog unten bei dem Seiten»
maftjegel bindurd und jehte ſich auf den äußeren
Fockmaſt. Und plöplich flog er mit Geſchrei und
Flügelſchlagen über die Brigg, lieh fi zu dem
Hintermaft herab, und von da, nod einen Schrei
ausjtoßend, ſchwang er ſich in die leere Luft hinaus
und begann dasjelbe Spiel, fein ewiges Umklreiſen,
von netiem.
„Zurüd von mir, Teufel!“ jagte der arıne
Rapitän, ſich befreuzigend und zu Tode erfchredt
durch diefe Bewegungen.
„Den Kopf will ich mir abfchlagen laſſen, Kapitän,
1144 Andreas Karkawitzas.
wenn biefer Vogel nicht ein Berjucher iſt,“ jagte
der Steuermann. Barbatrimis plößlich; „nimm die
Büchſe in die Linke, fage ich, damit er fie dir nicht
fortreißt! — Hörft du nit, wie der Hund nun
ihon eine Stunde lang fnurrt?*
Wirllich, unſer treuer Hund, am Hinterbed
niebergeftredt, zufammengefauert, als wollte er fi
- jo fein wie möglich machen, den Schwanz zwiichen
den Beinen, den Kopf auf feine WVorderpfoten ger
ftredt, die Ohren herabhängend, öffnete und ſchloß
die Augen und Inurrte, ohne es zu wagen zu bellen
wegen der Anwelenheit eines böjen Geipenftes,
Einen nah dem andern begann aud uns Furcht
zu bejchleihen, und wir befreuzigten uns, indem
der eine jein Amulett lüßte, der andre eine Serze
von der Grablegung in die Taſche ftedte, und cin
andrer im jtillen religiöje Lieder herſang. Der
Teufel ipielt den. Schiffen Häufig ſolche Streiche.
Wie der Kapitän den Hund jo jah, befreuzigte er
fih und griff mit der linfen Hand nad) dem Hahn.
Endlih fam ein Augenblid, wo wir uns jagten,
nun müßten unfre Qualen zu Ende jein. Die Eule,
ermüdet, wie es Ihien, begann jeht langjam zu
fliegen und fich herabzulaſſen, und plößlich ſchwebte
fie nieder aufs Verdeck.
„Ziel auf ihn!“ riefen wir alle wie aus einem
Munde.
Aber che der Kapitän zielen fonnte, war die
Erſcheinung vor unfern Bliden zerronnen wie Qued»
filber,
Kapitän Kremydas fing an, die Schuld auf uns
zu Ichieben und uns zu jchelten, dab wir es. ihm
nicht rechtzeitig geiagt hätten. Aber zugleich jehe
id), wie der. Steuermann den Steuergriff losläßt,
triehend fi dem Kapitän nähert und mit Gejtifu-
lationen ihm auf dem Tau der mittleren Majtftange
den Vogel zeigt.
„Biel auf ihn!“ — Bum! drößnte es durch
— Ein Unglüdszeiden.
die ruhige Luft, und Schrot und Werg yrajieite
qualınend dicht auf die Segel nieder, wie wenn fie
ſchwerer Hagel peitichte. Aber zugleich mit jenem
Schuß erllang noch ein andrer dumpfer Schlag,
wie wenn ein Baum jamt Zweigen, Stamm und
Wurzeln niederftürzt, und wir fielen alle vornüber
aufs Verdeck.
Der Teufel hatte jeinen Zwed erreicht. Im dem
Moment, wo der Steuermann das Steuer verlaſſen
hatte, wurden wir von der Strömung in ihre Strudel
gerifjen, oberhalb Jerafunia getrieben, und .unire
unglüdliche Brigg Haffte in zwei Teile auseinander
wie eine Nuß. Und aus der dämmernden Eindde
der Inſel flieg zum leßtenmal, noch wilber und blut ⸗
gieriger, die Stimme der Eule empor wie ein Siege
ruf aus Unheil und Thränen.
ſtuluwaau! Kukuwaau! —
„Ach, du haſt mich vernichtet, Verſucher!“ —
brüllte der Kapitän, feine Haare raufend.
Doch Barbatrimis, der Steuerntann, lief freudig
herbei und hielt ihm den Mund zu.
„Spei auf deine Bruft!” fagte er eilig zu ihm;
„ſpei auf deine Bruft und läftere nit Gott! —
Sieh, das Unglüdszeichen hat ſich in nichts auf
gelöft; beijer auf dem Schiff als zu Haufe!“
Der Kapitän drehte fih um und blickte ihn
ſprachlos an. Plößlich war das traurige Bild jeinet
Haujes vor feine Seele getreten, wie es war, al
er es und jeine frau verließ, die, betilägerig und
mit dem Tode ringend, die thränenfeuchten Augen
hier⸗ und dorthin wandte, ihn zu fuchen, und zu
ihren Füßen die Kinder, die umberkrochen und
weinten, einfam und allein. Und der arme Kapitän
| fiel unter Schluchgen und Thränen dem Steuermann
‚ in die Arme,
„Sa,“ ſagte er mit halberfticdter Stimme, alt
| wollte er fie jelbjt nicht hören, „Gott ſei gelobt!
Bejier auf dem Schiff als zu Haufe!“
Weißnactslied für meine Tochter.
Von Saroslav Prolichy.
Aus dem Wöhmiſchen überfebt von Victor Graf Boos-Walded.
„Hofianna! Ehre fei Gott in der Föh’
Und Friede den Menſchen auf Erden!”
Es jauchzt die Welt — du beagreifft das nicht;
Bift Mein, mußt größer erft werden.
Das Drängen und Treiben verftehft dm nicht,
Das Flüſtern, das heimliche Bliden,
Und dann die Freude — Auge in Aug' —,
Wenn Zwei fich die Hände drücken.
| Die goldne Nuß am Weihnachtsbaum,
Das Naſchwerk im Glanz der Kerzen, -
Und unfer Lächeln — alles vereint
Sum Traum fich in deinem Herzen.
Meinen Geiſt, dem nicht die Melt genügt;
Du lehrteft ihn, was er nicht wußte: =
Erjt jetzt begreif' ich's, daf ein Kind
Die Welt erlöfen mußte!
-———>-e -I-cIie ———
Das Feſt der Dächer.
Ein Weihnahtsmärchen
von
Alphonfe Daudet.
Aus dem Franzöffchen überfeßt von Gunfram Frank.
J
O, wie die Dächer von Paris dieſe Nacht funfel-
ten! Welches Schweigen, welche Ruhe, welch über«
natürlicher Glanz! Drunten die Straßen waren
ſchwarz von Schmuh, der Fluß träge vom Eis, das
tlägliche Gaslicht ertrant im Tauwaſſer der Gofien.
Oben, in ſchwindelnder Höhe, über den Paläften,
den Türmen, den Terraffen, den Kuppeln, auf der
dünnen Spike der Sainte»-Chapelle und den
Taufenden gedrängter Dächer, die fi) gegeneinander
neigten, glißerte der Schnee, ganz weiß mit bläu«
lihem Schimmer, und all das bildete gleichſam eine
zweite Stadt, ein Paris der Luft, ſchwebend zwiſchen
der jchattenlofen Dede und dem phantaftiichen Licht
des Mondes.
Es war nod) nicht ſpät, aber alle Feuer waren
ihon erloſchen, nicht eine Spur von Rauch wallte
über den Dächern. Doch ließen ſich die glüdlicdhen
Eſſen, in denen Tag für Tag das Holz flammt
und kracht, leicht erfennen an den ſchwarzen Ringen,
die. der Rauch um fie herum gezogen hatte, und an
dem laulichen Hauch, der in die eijige Luft empor—
flieg, wie der Atem des jchlafenden Hauſes. Die
andern, froftig, begraben in didem Schnee, zeigten
noch Nejter vom letzten Frühjahr, ohne Wärme und
eben, wie fie ſelbſt . . Und in diefer Etadt der
Höhe, mit ihrem ftarren Weiß, welches die Straßen
von Paris durchſchnilten wie ungeheure Sprünge,
freuzten ſich die Schatien all der Schornfteine, uns
gleich, zadig und ſchwarz wie Bäume des Winters,
auf den öden Allen, die nie jemand betreten hatte
als die Parifer Spaken, deren jharfe, hüpfende
Spuren den feiten Schnee da und dort rißten.
Selbſt zu diefer Stunde trieb ſich eine Rotte dieſer
dreijten feinen Landftreicher herum, flatterte am
Rand einer Dahrinne, und ihr Lärmen allein ftörte
das fromme Schweigen, dies feierlihe Harren ber
Dächerſtadt, die mit einem unermeßlichen Teppich
von Hermelin überdedt war, wie für den Durchzug
eines Königskindes.
Die Spaßen von Paris.
Zum Kuckuck! Wie falt es it! Nicht die Mög-
lichkeit zu jchlafen. Umfonft, daß man ſich aufbläft,
die Federn fträubt, der Froſt wedt und peitjcht
einen auf,
Ein einzelner Spaß (von weiten).
Heda, ihr andern, heda!... Schnell hierher!
Aus fremden Qungen, 1897. IL 24.
ı Ih Habe eine alte Efje gefunden mit gegofjener
Kuppe, wo man jehr jpät noch Feuer gemacht hat.
| Da haben wir's warm- genug, wenn wir uns ſeſt
dran drüchken. Baer
Der ganze Schwarm (zu ihm Hinfliegend).
Schaut, es ift wahr. ‚Wie einem behaglid)
wird! Wie das erwärmt!... Gar nicht zum Sagen.
Es lebe die Freude! Piuh, piuh! Kwi, kwi,
twi.
Die Eſſe.
Wollt ihr gleich Ruhe geben, ihr Windbeutel!
Niemand außer euch getraut ſich zu ſchreien in
einem ſolchen Augenblick, wo alles ſich zuſammen—
nimmt und ſtill iſt. Seht, ſogar der Wind hält
den Atem an. Nicht eine Wetterfahne rührt ſich.
Die Spatzen (leiſer).
Was iſt denn los, Alte?
Die Ejje.
Was — ihr wißt nit, daß dieſe Naht das
Feſt der. Dächer ift? Ihr wißt nicht, daß das Chriſt-
find kommt, um ben Kindern zu bejcheren ?
Die Spaßen.
| König Chriftfind ?
Die Eſſe.
Ja freitich!... Wenn ihr drunten in den Häufern
alle die Heinen Schuhe jehen könntet, wie fie vor
der warmen Aſche jtehen — von allen Arten, von
allen Größen, von den winzigen Schühchen der
Heinen Strampelfühe bis zu den großen GStiefeln,
die jo feſt auftrappen, daß es durch die ganze Woh-
nung dröhnt; vom pelzbejeßten Halbſtiefelchen bis
zu den Heinen Holzpantoffeln der Dürftigen, und
| bis zu den Stiefeln, die viel zu weit find für die
ı bloßen Füße, die nur der Zufall damit beffeidet hat,
als ob der Arme weder das Alter nod) das Recht
hätte, ein Kind zu jein.
Die Spapen.
Und um wie viel Uhr joll er denn: fommen
diejer wunderbare feine Junge?
Die Eſſe.
Jetzt gleich, um Mitternacht ... St! horcht!
Die Uhr (mit feierlicher Stimme).
Dang... dang... dang...
Die Eſſe.
Schaut, wie dort hinten der ganze Himmel aufs
leuchtet!
144
1146
Die Spapen (mit der Begeifterung der Heinen
Pariſer Maulaffen beim Feuerwerk).
Ah! Fein!
Die Uhr (fortichlagend).
Dang... dang... dang... Mitternacht!
II.
... Kaum ift der lehte Schlag Mitternadht
verflungen, fo wiederhallt ein ganzer Schwarm von
Gloden von allen Seiten zugleih. Unter den Tür-
men, die in ihren Schneefapuzen jteden, Täuten
fie wie für fie allein in der Höhe der Dächer,
bald abmwechjelnd, bald zufammenklingend, das Ge-
läute im tiefen Baß begleitend, bald nah, bald fern,
mit der Fülle, mit dem Abjchwellen des Tones, wie
es durch die Windrichtung ſich ergiebt, daß man
meint, der Turm müſſe ſich drehen wie ein Leucht-
feuer.
Die Gloden.
Bim... bam... bim... bam... Da ift
er, er ift es, das Chriſtlind, der Meine König!
Der Wind,
... bü... Läutet feit, meine guten Gloden,
läutet mit vollem Schwung, nod) jtärfer! Chriftfind
ift da, es folgt mir auf dem Fuße... Riecht ihr
diefen feinen Duft von grünen Stedhpalmen, von
Weihrauch, von wohlriehendem Wachs, den ich auf
meinen Schwingen mitbringe?
Die Slodenklänge.
Dig däng dong... dig däng dong...
find, Chriftfind!
Ghrift«
Der Wind,
Friſch zu, ihr Efien! Was fteht ihr da und
jperrt das Maul auf? ... Ruft mit mir Chrift-
find! Vorwärts, ihr Dächer, vorwärts, ihr Wetter«
fahnen!
Die Ejjen.
Ui, Wil... Chriſttind, Chriftfind!
Die Wetterfahnen,.
Kra, Kra!... Ehriftkind, Epriftfind!
. Ein Dachziegel (in übergroßer Begeiflerung).
Chriſtkind, Chri... (in jeiner Freude macht er
einen Sprung und fällt auf die Straße). Pata—
. beng!
Die Spapen.
Was für ein Pati!
Die Eſſe.
Nun, ihr Spaßen, jonft jagt ihr nichts? ...
Jeßtzt ift es an der Zeit, zu zirpen.
Die Spapen.
Piuh, piuh, piuh! Kwi, kwi, fwi..
find, Chriſtlind!
Die Eji
liegt doch auf meine ra; da könnt ihr
beijer jehen.
Die Spapen (auf dem Kamin).
Schönen Dant, Alte... Ei, wie ift das hübſch,
wie ift das hübſch . . . All dieje rofa, grünen und
blauen Lichter, die auf den Dächern tanzen!
, Ghrifte
Alphonſe Daubdet.
Die Eſſe.
Und diefer Zug von Körben, voller Spieliaden,
Bänder, Blumen, Bonbons; der ganze Parijer Win-
ter geht da vorbei, umringt von Vergolbung und
bunten farben.
Die Spaßen.
Was find denn das für Heine Männer, die die
Körbe tragen? Sind das lauter Chriftfinder?
Die Ejje.
Nein doc, das find die Kobolde.
Die Spatzen.
Wie, was?,.. die...
Die Efje
Die Kobolde, die Hausgeifler jeder Familie, die
das Ghriftfind zu allen Eſſen führen, wo Heine
Schuhe harren.
Die Spatzen.
Und das Ghrifttind, — wo iſt denn das?
Die Ejje.
Der Iete von ihnen allen ift e8, der blonde
Knabe mit den fanjten Augen, mit den goldftrahlen:
den Haaren, die ihn umgeben wie verftreute Stroh
balme aus jeiner Krippe, mit den von der frijſchen
Luft geröteten Wangen. Schaut, wie er jchreitet...
jeine Füße freifen den Schnee, ohne Spuren ju
binterlajjen.
Die Spapen.
Wie jhön er it! Wie ein Bild...
Die Eſſe.
St! Hordt!
II.
In diefem Augenblide tönte eine ermfle, junge
Stimme, rein und hell wie Kinderlachen, durch die
eifige Luft, wie fie ſtarler Froſt und Mondſchein über
die Höhen breite. Das Chriftfind war auf einem
Terraſſendach jtehen geblieben, und dort jprad es,
ſich hoch aufrichtend, umgeben von allen feinen Heinen
Korbträgern, zu feinem Volle.
Das Chriſtkind.
Guten Tag, ihr Dächer! Guten Tag, meine
alten Glodentürme! Die Naht ift jo beil, daß id
euch alle jehe, rings um mic zerfireut in dem großen
Paris, das ich liebe... Ya, ja, mein Paris, id
liebe dich, weil du, das über alles lacht, noch nicht
gelacht haft über das Heine Chriſtlind, weil du an
diefes glaubft, du, das jonjt an nichts glaubt!...
Du fiehft, ich fomme auch alle Jahre. Niemals bin
ich ausgeblieben... Ich bin fogar während ber
Belagerung gefommen, erinnerft du dih? ... Es
war damals wirklich jehr traurig, Weder feuer
noch Licht, die Efjen alle falt. Die Granaten, die
über mein Haupt bin pfilfen, ſchlugen durd die
Dächer, ftürzten die Efjen um... Und dann, von
den Ileinen Rindern waren gar jo viele nicht da!...
Ich hatte zu viele Spieliachen jenes Jahr; ich habe
volle Körbe zurüdgebracht . . . Glüdlicherweije wird
mir dieje Nacht nichts übrig bleiben. Man bat mir
angefündigt, daß ich viele Heine Schuhe zu füllen
haben würde. Ich habe auch; entzüdende Spielſachen
bei mir, lauter franzöſiſche ...
Das Felt der Däder.
Ein Parijer Spatz.
Bravo! Ich ſehe mich nicht fatt an dieſem
Kind,
Alle Spapen.
Piuh, pin... Kwi, wi...
Ghriftfind!
Ein Schwarm von Störden (in langgefiredtem
Dreied am Himmel vorüberziehend).
Uah, uah ... Es lebe das Chriſtkind!
Der Wind (den Schnee durdeinanderwirbeind).
Rufe doch Eprifttind, du auch!
Der Schnee (jehr leiſe).
Ih lann nicht, aber ich freue ihm Weihrauch.
Sieh die Wirbel feinen weißen Staubes, die ich
um die Körbe blaje, in dus Haar meines Königes-
findes... Wir fennen uns jeit lange gegenjeitig;
denke doch, ich jah ihn zur Welt kommen, dort unten
in feinem einen Stall... j
Der Wind, die Gloden, die Eſſen (zujammen
aus Leibesträften rufend).
Chriſtlind, Chrifttind! Es lebe das Chriſtkind!
Das Chriſtkind.
Nicht io laut, meine freunde, nit jo laut!
Man darf nicht alle die kleinen Peute da drunten
aufweden ... Es it jo was Schöne um bie
Es lebe das
Freude, die einem im Schlaf kommt, ohne daß man
daran denkt . . . Und jetzt, meine Herren Kobolde,
kommt mit mir auf die Böſchung der Dächer, wir
wollen mit der Beſcherung anfangen. Allein für
dieſes Jahr habe ich bejchloijen, etwas zu probieren.
Das Allerihönfte, was wir haben an Spielſachen, an
Goldhanswurjteln, an Atlasſäckchen voll gebrannter
Mandeln, Pralinen, an großen Puppen mit lauter
Spigen, all das, will ic, foll in die armfeligjten
Schuhe fallen, in die Eſſen ohne Feuer, in die
froftigen Dachfenſter. Und dafür wollen wir in die
Häufer des Glüds, auf die jammetenen Teppiche,
auf die diden Pelze alle diefe Heinen Spielſachen
um einen Sou werfen, bie nad Harz und blankem
Holze riechen.
Die Spaben von Paris,
Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Das ijt ein guter
Einfall.
Die Robolde.
Verzeih, Ehrifttind! Bei deiner neuen rd»
nung werben die Armen glüdlic fein, die Reichen
aber werden weinen. Ind, poptaufend, ein Find,
das weint, ift weder reich noch arm. Es iſt ein
|
|
weinendes Kind, und es giebt nichts Trübfeligeres... |
ſchöne Winterjonne, ein rofiges Kunftwert, und ihre
Laßt nur, ich fenne das bejjer als ihr... Die |
Das Chriſtkind.
Urmen werden außer ſich fein vor Vergnügen, dieſe
funjtvollen Spieljachen anfallen zu lönnen, die ihnen
N
1147
bünfen, und deren vergoldeter Glanz den Wert als
Spielzeug, den Reiz der Unterhaltung nicht erhöht.
Uber ich wette, daß die reichen Finder das eine Mal
ebenjo zufrieden fein werben mit ihren Hampel-
männern von Bindfaden, mit den Springpuppen
und all den Podvögeln der Dreizehn-Sous-Bazare,
wo fie nie hinfommen... Alſo jeht, jo ift die
Sache. Und jet vorwärts, und eilen wir uns! Es
giebt jo viele Efien in Paris, und die Nacht ift iv
kurz!
IV.
Dort oben die Meinen Lichter verbreiteten ſich jetzt
in der ganzen Runde, als hätte man auf den Schnee
der Dächer alle mit Lichtern beſteckten Zweige eines
Weihnahtsbaumes hingeſchüttet. Nicht eine einzige
Efje .war überjehen, von den Paläften, umgeben von
Terrafien und meihbereiften Bäumen, bis zu den
armjeligen Dächern des Elends, die ausfehen, ala
ob ich eines ans andre lehnen müſſe, um nicht
unter ihrem Gewicht einzuitürzen. Bald hörte man
über all den Häufern von Paris das Gellingel
der Schellen, alle die verfchiedenen phantafliichen
Geräuſche aus den Spielwarenläden, dad Bähen
der Hammel, das Lallen der Puppen, das Rauſchen
von geftidtem Atlas, die Stlappern, die Trom«
peten, die Trommler, die Räder der Poſtpſerde, den
Peitſchenknall der Poftillone, das Flügelrad der
Windmühlen. Al das rührte ji, verlor ji dann
und verflang zwiichen den Schornfteinen. Wo es feine
Kinder gab, da ging das Chriſttind, geführt von
jeinen Kobolden, raſch vorbei, ohne fich zu täujchen;
aber mandmal, gerade wenn es ſich mit vollen
Händen näherte, flüfterte die Efje mit ihrem ſchwarzen
Mund: „Es ift geflorben, 's ift unnötig... es giebt
feine Heinen Schuhe mehr im Haufe... Behalte
deine Spielfahen, mein Königstind. Die Mutter
müßte weinen, wenn fie ſähe ...“
Lange, lange noch ſchwebten die Meinen Lichter
fo umber. Da frähte plößlich ein heiferer Hahn
mitten im Dunfel, ein Streifen des Tageslichts durd)-
brach den Himmel, und alsbald verjchwand der ganze
Weihnachtszauber. Das Felt der Dächer war zu
Ende, das der Häufer begann. Schon entftiegen
liebliche, entzüdende Laute den Eflen, zugleich mit
dem Rauch der angezündeten feuer, Das war
ein Jubelgeichrei, ein tolles Gelächter, findliche
Stimmen, die num ebenfall® ausriefen: „Chriſtkind,
Chriſtlind! Hoch das Ghriitfind!" während über
den verddeten Dächern die Sonne ſich erhob, eine
eriten Strahlen ausjandte; fie glichen im Flimmern
des Schnees Silberblättchen, Perlmutter und Gold-
franjen, die aus den Körben des Königskindes ge—
binter dem Schaufeniter der Läden jo verjührerijch | fallen waren...
—
* * — ⸗
— Lofe Blätter Bo
So blieben fie zufrieden. Es gab wenig Arbeit, die
D as g ro ß e Ss 08. Bezahlung ftieg von Zeit zu Zeit, und dann kamen
Von Emilia Pardo-Bazän. noch die Ueberrafhungen durch Gejchente. —
Einmal im Dezember war es fälter als nötig.
Das Weichbild und die ganze Umgebung von fFuencar
Zur Zeit Godoys zählte das Vermögen der | waren mit einer eine Viertelelle hohen Schneedede
ZTorreänobled von Fuencar zu den bejtfundierten | überzogen. Der Marquis fühlte ſich in feinen großen
und größten des fpanifchen Reiches. Politiiche und | Zimmern einjam und ftieg häufig abends in die
andre Ereignijje brachten den Ertrag herab, und | Küche hinab, um aus Inſtinkt die Gefelichaft der
ganz bejonders dezimierte es die leihtfinnige und | Menjchen zu ſuchen. Er jteilte ſich an das Herdieuer,
verſchwenderiſche Lebensweije des lezten Marqui® | märmte fich die Hände, Mnadte mit den Fingern und
von Torresnobles, worüber man ſich bei Hofe vicle | Lachte faft über die Geſchichten, die ber Vogt und
Geſchichten erzählte. ' der Hirte mit andalufijhem Humor erzählten. €r
Als der Marquis von Torresnobles ſich fhon | bemerkte auch, daß die Köchin ſehr ſchöne Augen
den Sechzigern nahte, faßte er den Entſchluß, jih | Hatte. Unter andern ländlichen Unterhaltungen, die
auf fein Gut Fuencar zurüdzuziehen, den .ein- | ihm Spaß machten, vernahm er auch, daß alle feine
zigen Beſitz, den er nicht verpfändet hatte. Dort | Diener beabfidhtigten, fi) zufammenzuthun, um
befaßte er ſich ausichlieglih damit, feinen Körper | ein Zehntel in der Weihnachtslotterie zu jpielen.
zu pflegen, der ebenſo gelitten hatte wie jein Beſitz. Am nächſten Tage frühzeitig ſchidte der Marquis
Da der Ertrag von Fuencar ihm nod ald Land» | einen Boten in die benachbarte Stadt, und ki
edelmann ziemlich gut zu leben ermöglichte, jo | Dunkelwerden kam der freigebige Herr in die Kühe
richtete er feinen Hausftand derart ein, daß ihm | und fündigte feiner Dienerfchaft an, dab er ihre
feine Bequemlichfeit mangelte. Er hielt fi einen | Wünſche erfüllt und cin Lotterielos genommen hab,
Kaplan, der ihm an Sonne und Feſttagen die Meſſe wovon er ihnen zwei Zehntel ſchenke. Die andern
las und außerdem mit ihm Karten fpielte und ihm | adıt Zehntel behalte er felbit, um auch das Glüd zu
die reaftionärften Zeitungen vorlad und erflärte; | verſuchen. Als man dies hörte, gab es in der Hüde
ferner einen Verwalter oder Vogt, der die Feldwirt- einen Freudenausbruch, Hochs und Dankestufe.
ſchaft leitete; einen dien, phlegmatiichen Kutſcher, Nur der Hirt, ein alter, gefehter Mann, jepüttelte
der feierlich die zwei Maultiere des Wägelchens den Kopf und meinte, wenn man mit großen Herren
lenkte; eine würdige, jlille Haushälterin in gejehtem | fpiele, verfcheuche man das Glüd. Dies fränkte den
Alter; einen Kammerdiener, den er als Ueberbleibfel | Marquis jo, dab er ihn mit feinem Seller bei den
und Andenken an jein leichtjinniges Leben mit aus | bewußten zwei Zehnteln beteiligte.
Madrid gebracht hatte, und der ſich mit jeinem Herrn Diefe Nacht ſchlief der Herr nicht jo gut wie
jept eines geordneten Lebenswandels befleihigte, Dabei | früher in fyuencar. Er hatte trübe Gedanken, wie
verjhwiegen und pünktlich wie vorher war. Schließ- | fie nur Hageftolze kennen, Die Begehrlichkeit, mit
lich hatte er noch eine jaubere Köchin, die geichidt | welcher die Diener von dem Gelde ſprachen, melde:
in der Herftellung der ihmadhaften, alten Nationale | fie gewinnen könnten, hatte ihm ſehr mißfallen.
gerichte war, die ben Gaumen kitzeln, ohne zu ſchaden. „Diefe Feute,* jagte fi) der Marquis, „warten nur
So vortrefflich organifiert, funktionierte das Haus» | darauf, ich den Beutel zu füllen, um mich im Stich
wejen wie eine gute Uhr, und der Herr freute ſich zu laffen. Und was für Pläne haben fie! Caledonio
täglich mehr, aus dem bewegten Meer von Madrid | (der Kutſcher) will eine Schenke aufmahen — natür-
entronnen und in den ftillen, bübjchen Hafen von | Lich, um felbft den Wein zu trinfen! Die einfältige
Fuencar eingelaufen zu fein. Seine Gefundheit er- | Dona Kita (die Wirtjchafterin) will ein Galihaus
holte fi, die Verdauung und andre Thätigfeiten | errichten! Jacinto (der Kammerdiener) ift wohl fill,
der gebrechlichen Hülle des Geiſtes famen wieder in | aber er wirft der Pepa Blide zu, daß ich ſchwören
Ordnung. Nah einigen Monaten wurde der Marquis | möchte, fie wollen fich heiraten. Ach was!“ jagte
forpulenter; ohne an Beweglichkeit zu verlieren. | der Marquis, wandte ſich im Bette um und dedie
Sein Rüden wurde wieder fteifer, und jeine gefunden | ſich beffer zu, weil e& ihn im Genid fror. „Was
Atemzüge zeigten, daß der böje Magenlrampf ihn ! gebt mid jhliehlich alles dad an? Das große Los ge
nicht mehr plagte. winnen wir doch nicht. Sie mögen nur mir teiter
Wenn der Marquis ſich wohlbefand, jo ging es geboren.“ Und bald darauf ſchnarchte der gute
feiner Dienerichaft ebenfalls gut. Damit es ihr Herr.
gefiele, bezahlte er fie beifer wie irgend jemand in Zwei Tage darauf fand die Ziehung flatt.
der Provinz, und außerdem beſchenkte er fie bisweilen, | Jacinto, der nicht umionft viele Jahre Kammerdiener
Aus dem Spanifchen überfezt von A. Rudolph.
Loſe Blätter.
geweien war, wußte es jo einzurichten, daß fein Herr
ihn nad) der Stadt ſchickte, um irgend welche nötigen
Saden zu holen. Bei Einbruch der Nacht ſchneite
es gehörig, und Jacinto war immer nod) nicht zurüd,
obgleich er zeitig aufgebrochen war.
Die Diener waren in der ſtüche, wie immer, ver«
jammelt, als fie leiſes Pferbegetrappel auf bem
friſchen Schnee hörten, und bald darauf kam Jacinto
wie eine Bombe zur Thür hereingefallen. Er war
blaß, zitterte und ſprach mit matter Stimme:
„Das große 203!”
Der Marquis befand ich gerade in jeinem Arbeits-
zimmer, hatte die Beine in Deden gehüllt und raudhte
eine Havanna, während der Kaplan die politischen
Neuigkeiten aus der Zeitung vorlat, Bald wurde
die Borlefung unterbrodyen,, und beide Taufchten auf
den Lärm, der aus der Küche drang. Es ſchien
ihnen anfangs, als ob die Leute ſich zanften, aber
bald hörten fie, daß es nur große, ſtürmiſche FFreuden-
ausbrüche waren. Der Marquis fühlte ſich in feinem
Anfehn bedroht und jandte den Kaplan nach der
Küche, um ſich zu erfundigen, was gejchehen fei, und
Ruhe zu gebieten. Nach wenigen Minuten fam der
Abgefandte zurüd, ließ fih auf das Polfter fallen
und ſprach mit röchelnder Stimme: „Ich erjtide,“
riß ſich den Kragen ab und zerrte an der Weite, um
fie aufzumaden. Der Marquis kam ihm zu Hilfe
und fächelte ihm mit der Zeitung Luft zu. Darauf
fam von feinen Lippen in abgebrocdhenen Worten:
„Das große Los ... haben wir ge — wonnen !“
. Troß feiner Gelenfleiden eilte der Marquis mit
nie gejehener Schnelligfeit nad) der Küche. Als er
unter die Thür trat, blieb er erftaunt über den ſich
ihm Ddarbietenden, merkwürdigen Anblid flehen.
Galebonio und Dona Rita tanzten und hüpften wie
eleftrifch gewordene Holumderfügelhen. Jacinto
tanzte mit einem Stuhl, Pepa ſchlug mit einem Stiel
an eine Pfanne und machte eine jchredliche Mufif,
Der Vogt Tag am Boden, wälzte ſich herum und
ſchrie wie ein Beſeſſener: „Gelobt fei die heilige
Jungfrau!“ Kaum bemerkten dieſe Tollen den
Marquis, als fie fih mit offenen Armen auf ihn
flürzten. Ohne daß er es hindern konnte, hoben
fie ihn in die Höhe, fangen und tanzten und warfen
ihn ich wie einen Gummiball zu. Sie jdhleppten
ihn in der ganzen Küche herum, und als fie ihn
wütend fahen, ließen fie ihn auf den Boden jallen.
Die Köchin hob ihn auf und tanzte mit ihm Galopp,
während der Vogt ihm einen Schlauch Wein hinhielt
und ihn drängte, zu irinfen. Er fagte, er märe
ausgezeichnet, was er ficher wilfen mußte, denn er
hatte ihn allein faft ausgetrunfen.
Sobald er fid) losmachen konnte, flüchtete ſich der
Marquis nad feinem Zimmer. Er hatte üble Laune
und gedachte fie an dem Kaplan ausjulafien. Zu
feinem großen Erftaunen traf er den Kaplan in
feinen Mantel gehüllt und im Begriff, fi den Hut
aufzuſetzen.
„Um Gottes willen, wo wollen Sie hin?“ rief
der Marquis.
1149
Nun, mit ſeiner Erlaubnis ging Don Calixto
nad) Sevilla, feine Familie zu bejuchen und ihnen
die angenehme Nahricht zu bringen. Auch wollte
er ſelbſt ſeinen Anteil am Zehntel eintafjieren, eine
Summe von einigen taufend Thalern.
„Und da verlaffen Sie mich ? Und die Meſſe?“
Da ftedte der Kammerdiener feinen Kopf zur
Thür herein. Wenn der Herr Marquis erlaubten,
wollte er auch gehen, um feinen Anteil einzufajjieren.
Der Marquis erhob die Stimme und ſagte, man
müſſe vom Zeufel bejeijen jein, wenn man zu dieſer
Stunde und bei einer Biertelelle Schnee fortginge.
Darauf antworteten beide, um zwölf fäme der Zug
an der nächſten Station vorbei, und bis dahin kämen
fie ſchon zu Fuß, oder wie fie könnten. Schon
wollte der Marquis jagen: „Jacinto bleibt da, denn
ich brauche ihn,* als fi) in der Thür das rote Ge—
ficht des Kutſchers zeigte, der, ohne um Erlaubnis
zu bitten, und mit umverjchämter Freude ſich von
feinem Herrn verabjchiedete, denn er ginge fort, um
die Moneten zu holen.
„Und die Maultiere?* ſchrie der Herr.
der Wagen, wer ſoll ihn bejorgen?*
„Der, den Eure Gnaden beftellen, ich werde aber
nicht mehr fahren,“ antwortete der Kutjcher und drehte
fih um, um Dona Rita vorbeizulaffen, die nicht
wie gewöhnlich, demütig, und als ob fie auf Eier
trete, anfam, jondern mit aufgelöftem Haar, lebendig
und lachend. Sie ſchwenkte ein Schlüffelbund in
der Hand, das fie dem Herrn reichte.
„Willen Sie, Euer Gnaden, der ift zur Vorrais—
fammer, der zum Wäſcheſchrank, der ...“
„Der Teufel hole euch alle zufammen!” fuhr der
Marquis auf. „Jetzt ſoll ich jelbft kochen, Sped
und Bohnen herausnehmen! Gehen Sie zur...”
Donna Rita hörte den Schluß der Verwünjchung
nit, denn fie war trällernd fortgegangen. Die
übrigen folgten ihr und hinterher wütend der Marquis,
der fie in der Küche beinahe eingeholt hätte. Aber
nad) dem Hofe wagte er, der Kälte wegen, nicht zu
folgen. Beim Mondſchein fah der Marquis, wie fie
fi entfernten. Voran ging Don Galirto, dann
Galedonio mit Donna Rita am Arm und zuleßt
Jacinto, dicht an eine weibliche Geſtalt geſchmiegt,
in weicher er Pepa, die Köchin, erlannte. „Alfo bie
Heine Bepa au!" Der Marquis lieh feine Blide über
die verödete Küche jchweifen. Er jah das ausgehende
Teuer und hörte ein furchtbares Schnarchen. Am
Teuer hingejtredt, jchlief der Vogt feinen Rauſch aus.
Am nächften Tage bereitete der Hirt, welcher
dem Glüd nicht getraut hatte, für den Marquis
von Torresnobles eine Brotfuppe und ein Knoblauch—
gericht, damit der edle Herr an dem eriten Tage,
an dem er ald Millionär aufwachte, etwas Warmes
eſſen konnte.
„Und
*
Es ſcheint überflüffig, die prachtvolle Einrichtung
zu bejchreiben, Die der Marquis fi in Madrid an«
ſchaffte, aber erwähnenswert iſt, daß er einen Koch
annahm, deſſen Speiſen gaſtronomiſche Meiſterwerke
1150
waren. Man vermutete, dab die Merle dieſes vor-
trefflichen Künſtlers die Sranfheit erzeugten, welche
den Marquis ind Grab brachte. Dennod glaube
ih, daß der Schred und der Fall, welchen er erlitt,
als jeine prächtigen engliſchen Pferde durchgingen,
der wahre Grund feines Todes war. Seinen neuen,
prädtig eingerichteten Palaft in der Alcalaſtraße
hatte er nur wenige Monate bewohnen fünnen.
Als man das Teftament des Marauis öffnete,
ftaunte man, dab er zu feinem Erben den Hirten
von Fuencar ernannt hatte,
— —
Folk-lore aus Andaluſien.
Aeberſetzt von Luife Ey.
Gar ſchwierig iſt's, in allen Sachen
Den Leuten es recht und aut zu machen.
Was Peter zu weit, ift Micheln zu enge,
Bans fchmält über Kürze und Kunz über Länge
Und Klas gar anf beides zu gleicher Zeit:
Kurz, feinem, feinem paßt das Kleid.
“
Wie glaubt’ ich an die Reize wohl,
Die ohne Zweifel dich zieren?
Wenn id, o Schöne, dran alauben fol,
So laß fie mich erft ftndieren!
*
Trau nicht, noch mißtrau ohne Grund,
Straf andrer Kinder nicht, noch Hund!
Zahme fein Füllen, verpflanz feinen Wein,
Behalte dein Weib für dich allein!
®
Uebel nenn’ ich folche Keiden,
Die nicht töten, fondern quälen;
Die auf einen Streich uns töten,
Möcht' ich zu den guten zählen.
*
Warum willſt du, o Kerze, dich
In Ungeduld verzehren?
Weit beſſer: Begehren ohne Beſitz
Als beſitzen ohne Begehren.
—— —
Drientaliſche Lebensweisheit.
Arabiſchen Schriftquellen entnommen und überlſeht
von Egmont Aladin.
Ein braver Diener, jagt Kisra, ift beſſer ala
der eigne Sohn; denn nur in dem Leben jeines
Herrn fieht der Diener fein Glüd, der Sohn da«
gegen erhofft jein Glüd nad) dem Tode des Vaters.
#
Diener ift, wer jelber viele Diener hat,
(Arabifches Sprichwort.)
Wenn ein Menſch, der einen Fehler begangen
hat, bereuend ſich dir naht, und du verzeihjt ihm
nicht, jo ruht hinfort die Schuld auf dir,
(Mohammed Benulhazim, arabifher Dichter.)
—— — —— — —— — — — — — — — u u — —
Loſe Blätter.
Der Kalif Omar ging nachts durch die Strafen.
Da hörte er aus einem Hauje Geſang und Bedher-
‚ Hirten ſchallen. Er ftieg über die Mauer, ging
| feife hinein und jah im Gemad einen Mann mit
' einem Weibe Wein trinten. „O du Feind Gottes, *
| rief er aus, „glaubft du, Allah wird dich beſchühen,
wenn du feinen Geboten ungehorfam biſt?“ — „Sei
nicht fo raſch in deinem Urteil,” erwiderte der Fröh—
lie dem Fürſten der Gläubigen. „Wenn id ein
Gebot Gottes verlekt habe, jo haft du num gleid
drei auf einmal übertreten. Denn Gott ipricht im
Koran: ‚Forſchet nicht heimlich umher‘, und du bift
ausgegangen bei nachtſchlafender Zeit, um heimlich
herumzuforſchen. Ferner: ‚Gebet nicht von rüd:
wärts in die Häufer‘, du aber bift jogar über dic
Mauer in mein Haus gefliegen, — und endlich ſagt
Allah: ‚Betretet nicht fremde Häufer, außer euren
eignen, bis dab ihr angefragt und die Erlaubnis
erhalten und die Einwohner begrükt habt‘, und du
haft nicht angellopft und bift ohne Gruß bier ein-
getreten!” — „Ih Habe unrecht gethan,“ ſprach
darauf Omar; „willft du mir verzeihen ?“
Hoffe nicht auf Beilerung eines Echuldigen, der
die Entichuldigung jeines Vergehens wit Gründen
miſcht.
Wer auf Ohreubläſer hört, der ſtopft ſein Ohr
mit diden giftigen Jungen voll. (Mbur-Temmän,)
*
Der Edle iſt milde bei Verteilung feiner Gunſt.
der Unedle hart bei jeiner Wohlthätigfeit:
(Sad ben Zfäbit.)
«
w
„Ih kann dem Manne meine Bewunderung
nicht verjagen,” ſprach der Kalif Moavia, „der,
wenn er etwas mit Gewalt erreichen könnte, es durd
Beweis feines Rechts erreicht und, wenn er etwas
mit Härte erzwingen fönnte, durch Milde zum Ziele
lommt.“
Andreas Karkawitzas.
Der Berfaffer der Erzählung „Ein Unglückszeichen“,
den Leſern dieſer Zeitichrift bereils aus dem „Berfehm:
ten“ befannt (f. „Aus fremden Zungen“ 1894 Rr.6i,
gehört zu den bedeutendften Vertretern ber jungen Er:
zählungslitteratur Griehenlands. Der erjt etwa füni:
unddreifig Jahre alte Schriftfteller Hat fich um die
Ausbildung einer nationalsvollstümlichen Pitteratur
bereitö ſehr verdient gemacht, indem er mit umter
den eriten den reichen Rohſtoff des Vollslebens für
die Fitteratur nutzbar gemacht, ihn künſtleriſch ge
ftaltet und pſychologiſch vertieft hat — kurz, er ift
der Schöpfer der neugriehiichen Vollserzählung, im
Stoff wie in der Form. Sein zweites großes Ver
dienft ift, daß er in richtiger Erkenntnis des orgar
niſchen Zufammenhangs zwiſchen jahlichem Inhalt
und jpradjlicher Form mit der bisher in der griechiichen
Proja allein herrſchenden altgriechiſch-byzantiniſchen
Kirchenſprache gebrochen, die frifche, Fernige und
Loſe Blätter.
bilderreiche Vollsſprache an ihre Stelle gejekt und
io den Grund zu einer wirklich nationalen Litteratur«
ipradhe gelegt hat, die den Griechen biäher noch
fehlt. Dieje Erkenntnis hat fich aber erjt allmählich
in ihm vollgogen. Die erfte Sammlung feiner Er-
zählungen (1892), welche unter anderm auch ben
1888 entjtandenen „Verfehmten“ enthielt, war nod)
in der alten fonventionellen Kunſtſprache geſchrieben;
aber inzwilchen hatte er dieje abgejchworen, und das
Vorwort diefer Sammlung ift bereits in der lebendigen
jogenannten Vollsipradhe verfaßt. Es zeigt ſich in
diefer Wandlung ein Hebergang wie etwa in Italien
zur Zeit und in der Perſon Dantes, der ja in
jeiner Jugend noch lateinisch jehrieb, oder wie be»
deutend jpäter bei den flavijchen Völkern, zum Beijpiel
bei den Rufjen jeit Karamſin (geb. 1765), bei den
Serben jeit Obradovicz (geboren 1739) und be=
ſonders jeit Vuk Karadzicz (geboren 1787), die aud)
erſt die nationale Sprache aus dem Banne des bis
dahin allmächtigen, aber erftarrten Altjlavischen (das
jogenannte Kirchenſlaviſch) befreien mußten, Dieier
interejjante Prozeß vollzieht ſich jetzt auch bei den
Griehen, und Karlawißas ijt fein eifrigfter und
begabtefter Förderer.
Für die Beurteilung feiner Litterarijchen Bes
deutung ift bemerfenswert, daß er feiner fremden
Sprade mächtig ift, und daher fremde litterarifche
Einflüſſe auf die Entwidlung feines Darftellungs-
talentes nur in beſchränltem Maße einwirken fonnten.
Sodann ift nicht zu überjehen, daß fein Name auf
ſlaviſche Abſtammung weil. Belanntlich ift ber
Peloponnes, aus dem Karkawitzas gebürtig ift, im
Mittelalter ſtark jlavifiert worden. Diefe Thatjadhe
jtellen zwar die Griechen aus falſchem Batriotiamus
immer noch gern in Abrede; gerade das Beifpiel Karka—
witzas' zeigt aber, daß fie fich der ſlaviſchen Beis
miſchung durchaus nicht jo ſehr zu ſchämen brauden,
Iebenfalls jcheint Karkawitzas' Kunſt in der pſycho-
logiſchen Schilderung und Analyje ein jlavifches Erb»
teil zu fein.
Seinem bürgerlihen Beruf nad) ijt Karkawißas
Arzt, und gewiß darf man annehmen, daß aud
dieje Berufsthätigfeit auf die Entwidlung jeiner
pſychologiſchen Beobachtungsgabe nicht ohne günftigen
Einfluß geblieben iſt. Ihr verdankt er aud den
Stoff zu der vorliegenden Erzählung: zwei Jahre
als Schiffsarzt thätig, hatte er Gelegenheit, das an
charakteriſtijſchen Eigentümlichkeiten reiche Leben ber
griechiſchen Seeleute, wie es fi in dem maleriſchen
griechiſchen Injelmeere abjpielt, mit eignen Augen
zu Studieren. Aus dieſem Studium erwuchs eine
Reihe erzählender Schilderungen, die als „Plaudereien
vom Vorderded” nacheinander veröffentlicht wurden,
Zu ihnen gehört auch die Erzählung: „Ein Unglüds-
zeichen“ (1895 erjchienen), die ebenſoſehr wegen der
feinen Charakteriftit der Hauptfigur wie wegen der
ftimmungsvollen Ausmalung des landſchaftlichen
Hintergrundes Intereſſe verdient. x. D.
1151
Eine Namensändernng in Zolas „Paris.
Jedes neue Werk, das Emile Zola erſcheinen läßt,
pflegt feinem Autor neben enthuftaftifcher Bewunderung
auch eine Anzahl von Angriffen einzutragen, die der
Dichter mit Refignation oder gutem Humor über ſich
ergehen läßt. Sein neuer Roman „Paris“ jcheint
von dieſer Regel keine Ausnahme zu machen. Zolas
erbittertfte und prinzipielle Gegner, die Indersflons
gregation und der grimme Kritiker Ferdinand Brune—
tiöre, haben fich zwar noch nicht geäußert und werden
ihr gewohntes Verdammungsurteil erit ſprechen, wenn
der Roman vollftändig erjchienen tjt; aber die Klafje
der argwöhnifchen und ängftlichen Leute, die in den
Figuren eines Romans ihre eignen Porträts zu er-
fennen oder ihren guten Ruf gefährdet glauben, weil
ihr Name zufällig darin vorkommt, fängt bereits an,
dem Autor von „Paris“, faum dab die Veröffentlichung
des Romans begonnen bat, durch Refriminationen
das Leben jauer zu machen. Schon hat ſich Zola in
einem kürzlich mitgeteilten Geſpräch mit einem Parifer
Journaliften gegen die ihm gemad)te Unterftellung
verwahren müfjen, daß er in „Paris“ beftimmte zeit—
genöſſiſche Perjönlichkeiten habe zeichnen wollen, und
jeht hat ein Herr Andre Sagnier, chemaliger Direktor
der Bibliothek der republifaniichen Propaganda, da—
gegen Einipruch erhoben, daß ein in dem Roman
vorfommender Publizift, der Chefredakteur der „Voix
du peuple*, der in jeinem Blatte jenjationelle Ars
titel über angebliche „Standale“ veröffentlicht und von
andern Perfonen des Romans mit wenig jchmeichel-
haften Bezeichnungen, wie,imbecile* „foudangereux*
und jo weiter, belegt wird, feinen, Sagniers, Namen
trägt. Er hat in einer Eingabe an den Polizei—
präfelten, geftütt auf Enticheidungen aus den Jahren
VIII und IX (!), die fofortige Umtaufung feines
Namensvetters indem Roman verlangt. Zola,derficher-
lich nicht daran gedacht hat, Herrn Andre Sagnier
nahezutreten, jondern den Namen völlig frei erfunden
hatte, hat fich ohme weiteres bereit erflärt, aus dem
„Sagnier“ einen „Sanier“ zu machen, fo daß Herrn
Sagnierd Ehre nun wieder als gerettet gelten darf
— ein Rejultat, das er bei der befannten Liebens—
würdigfeit Zolas wahricheinlic auch ohne das ſchwere
Geſchütz, deſſen er fich bedient hat, erreicht hätte.
Dem geplagten Autor aber ift zu wünjchen, daß nun
nicht aud) ein Herr Sanier jeinen guten Ruf durch
ihn angetaftet findet. —r.
*
Zur Charakteriſtik Tolftojs. Ein Mitarbeiter der
ruſſiſchen Zeitſchrift „Orlowsky Wjeſtnif“, der kürze
lich mit Tolſtoj zu ſprechen Gelegenheit hatte, weiß
einige intereſſante Mitteilungen über den berühmten
Dichter zu machen. In feiner Stellung zur Muſik
iſt Tolſtoj konſervativer, als nach ſeinen litterariſchen
Werfen und Anſchauungen zu erwarten wäre, Richard
Wagner ift in jeinen Augen ein Defadenter, der
die Inſpiration durch Verftandesthätigkeit erſetzt; er
hat in jeiner Muſil wenig Melodie, liebt den Lärm
und ift für die große Menge unverſtändlich. Tolſtoj
giebt der anſpruchsloſeſten Volksweiſe den Vorzug
1152
vor Wagners großartigiter Kompoſition. — Für die
Politik hat der Dichter ein äußerft lebendiges Inter-
eſſe und ſpricht fich im ſehr fräftigen Worten über
die politiichen Verhältnifje in Rußland aus, Die
litterariiche Thätigfeit nimmt indefjen im feinen Zus
funftsplänen die erite Stelle ein, und aus einer
Feder iſt nod manches Werk zu erwarten, um jo
mehr, als er alle körperliche Arbeit und Beſchäſti—
gung, die ihm font befanntlich Bedürfnis und Ge—
wohnheit war, jeit einiger Zeit hat aufgeben müfjen.
Sein Alter und fein Gefundheitäzuftand, erflärte er,
erlauben ihm nicht mehr, jo zu leben, wie er es
nad) den Naturgejegen und nad den Vorjchriften
des Evangeliums für geboten erachtet.
*
Ein moderner Magier. Zu den wunderlichiten
Erſcheinungen des franzöfiichen Defadententums fin
de siöcle gehört die originelle Perjönlichkeit des
Schrijtitellers Jojepbin Pöladan (geb. 1858 zu Lyon),
„Sar Peladan* oder „Sar Merodach“ genannt.
Er zeigte vielverjprechende jchriftitellerijche Begabung,
dod genügte e& ihm nicht, banale Lorbeeren wie
andre Leute von Talent zu pflüden. Er erhob fi
über jeine Kollegen in das Neid) des Myſtizismus,
Spiritismus und Occultismus, und fuchte einen
ejoterijchen Neufatholizismus im Geifte des „dia=
boliſchen“ Dichters Barbey D’Aurevilly zu gründen,
Selbftverftändlih fand er, wie jeder überjpannte
Kopf, feine Anhänger und Bewunderer. Einft
gerierte er fi als Mephiftopheles und jpazierte in
ihwarzem Sammetanzug, furjem Beinfleid und
jeidenen Strümpfen einher; eine brennend rote ſtra—
watte zierte feine Bruft. Jetzt läßt er ſich „Sar“
nennen und giebt fi für einen Ablömmling chal—
däifcher Fürften aus, Haar und Bart hat ſich der
„Sur“ nad dem Mufter der ajiyriichen Fürſten—
häupter im Louvremuſeum zuftugen und ſich jo jür
jeine Bewunderer malen lajien. Als er ji vor
zwei Jahren mit einer reichen Witwe vermählte,
unterbrach er die Trauungszeremonie und jehte maje-
jtätifch, wie Napoleon auf dem befannten Bilde von
David, jeiner Gattin ein Diamantengefhmüdtes Dia-
dem auf das Haupt. Neuerdings hat Peladan die
Hünftlerfette der „Roſenkreuzer“ gegründet, die alle
jährlich unter feiner Leitung eine Ausjtellung ſym—
boliiher und myſtiſcher Kunftwerfe, vorwiegend Ge—
mälde, in der Nue de la Pair veranjlaltel. Der
‘ Bund, „Ordre de la RosefCroix du Temple et du
Graal*, hüllt jih in allerhand myjteriöje Bräuche
und Formeln, die mittelalterlichen Geheimbünden
entlehnt find; übrigens zählt er bedeutende Künſtler
ju feinen Mitgliedern, und jeine „Salons“, das
heißt die Ausftellungen diejer Vereinigung, ſpielen
im Sunftleben von Paris eine große Rolle. Eine
gewiffe Beachtung hat der „Sar“ aud) als Schriſt-
jteller gewonnen, und man muß ihm, um gerecht
zu jein, eine hohe poctiiche Begabung zuerlennen.
Loſe Blätter.
„Le vice supreme“ und „La victoire du mari*,
die er jelbft zu den Werten der „D&cadence latine*
zählt, find ein wunderliches Gemiſch von Simnlid:
feit, fauftijcher Grübelei, Bejhwörungen und märden:
hafter Symbolif, womit die jüngfte franzöfiihe De:
fadenz mit Vorliebe ihre Erzeugniije füllt. A. Dr.
*
Der Geheimpolizift im englifchen mud franzö«
ſiſchen Roman. Charles Didens hat den englifchen
Geheimpoliften zuerft für den Roman entdedt; jein
Inſpeltor Budet in „Bleafhouje” ift der Fitterarifche
Typus, die Verförperung von Findigkeit, Klugheit
und Gewandtheit, die fid) in den Dienft des Rechtt
und der Ordnung gejtellt hat. Seitdem hat jeder
Romanjchreiber ſich verpflichtet gefühlt, feinen Iekten
Vorgänger in der Schilderung des Geheimpoliziften
zu überbieten, und jo ift allmählich ein Ideal des
Geheimpoliziften entftanden, vor defjen übermenid-
licher Klugheit, vor deifen geradezu wunderbarer frait
logiſchen Schließens der gewöhnliche Sterblide in
Erftaunen dajteht. Wir kennen alle den Mann, der
den kleinſten Riß in einer Witwenhaube bemerkt und
dann ſchnurſtracks nach Whitechapel geht und den
Mann ergreift, der allein von allen Uebellhätern
gerade an dem betreffenden Stüd der Witwenhaub:
und gerade auf die betreffende Weiſe Riſſe hervorju-
bringen pflegt; wir fennen den Mann, der eine
Fußſpur nad) anatomijchen Anhaltspunkten beurteilt,
den Betrag der geftohlenen Lebensmittel hinzu addiert,
das Ergebnis dividiert durch das Metter zur Zeit
des Einbruchs und dann unfehlbar den Namen der
Kneipe herausbekommt, wo der Schuldige gerade mit
feinen Kumpanen den Erlös verjubelt. Wir ale
fennen dieſen Mann, der mit der ganzen Bande
von Verbredhern auf du und du fteht, und ber nur
den Finger aufzuheben braudt, um jeden zum’ Fil-
tern zu bringen; und wir möchten diefen Mann wicht
vermiſſen, wenn wir eine Erzählung zur Hand nehmen,
um uns einen litterarifchen Genuß zu leiſten. Abet
nit nur die Engländer haben diejes litterariſche
Bedürfnis befriedigt und das Jdealbild des Geheim-
polizijten geichaffen, nein, aud) die Fyranzofen, immer
überlegen an Phantafie, haben ſich auf diejes Fild
geworfen. Die Geheimpoliziften der franzöfiiden
Erzähler erfüllen in noch höherem Grade alle Ans
forderungen einer idealen Bolllommenheit in ihrem
Berufe. Die franzöfiiche Kriminalgeichichte wird auf
beiden Seiten des Kanals mit Heißhunger verjhlungen;
der franzöſiſche Geheimpolizift de Romans ijt dem
englijhen an Spürkraft und Fernblid weit über. Et
ift zwar auch im Anfang verblüfft, aber jchliehlih
triumphiert er über alle Schwierigkeiten und erfüllt
den Leſer mit dem Eindrud, daß er die Fäden in
der Hand Hat und die ganze Geſchichte längſt zu
Ende hätte führen fönnen, wenn das dem a
in den Sram taugen würde. (Mad dem „London
Journal“,) Ss
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DEE” uUm freundliche Beachtung der Ankündigung des neuen Jahrgangs auf der zweiten
und dritten Seite des Umſchlags wird gebeten. ;
Berantworilicher Redakteur: Karl Bolhoevener in Stuttgart, Drud und Berlag der Deutſchen Derlagd-Anfalt
Driefe und Sendungen find nur an die Deutſche Berlags- Iufalt in Sinttgart — ohne Perjonenangabe — zu rien
in Stuttgart,
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